Thorin Band 9 Welt am Abgrund von Al Wallon & Marten Munsonius Sie fliehen vor der Finsternis sie sind die letzten eine...
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Thorin Band 9 Welt am Abgrund von Al Wallon & Marten Munsonius Sie fliehen vor der Finsternis sie sind die letzten einer sterbenden Welt...
Die Sonne war vor kurzem als glühender Feuerball am fernen Horizont untergegangen und die Schatten der Abenddämmerung breiteten sich immer mehr aus. Kalter Wind kam weiter von Norden, der die Flammen des kleinen Feuers unruhig flackern ließ. Immer wieder stoben Funken auf, wenn ein Knoten im Holz mit einem knackenden Geräusch zerplatzte. Der Wind ließ den weißhaarigen Mann leise frösteln. Die Kleidung, die er trug, war an vielen Stellen zerrissen und schützte ihn nur notdürftig vor der eisigen Kälte des rauen Winters hier oben im einsamen Norden. Und noch dem tagelangen Marsch voller Mühen und Hindernisse war sein gebrechlicher Körper erschöpft und sehnte sich nach Ruhe. Die Einsamkeit, in die sich er und die knapp hundert Menschen jedoch geflüchtet hatten, würde ihnen nur vorübergehend Schutz bieten können - nur so lange, bis es den dunklen Mächten gelungen war, diese letzte Bastion von freien Menschen aufzuspüren. Und wenn dies der Fall war, erwartete sie alle ein grauenhafter und schrecklicher Tod. Die Welt außerhalb dieser Region war bereits tot oder lag schon im Sterben. Die Mächte der Finsternis hatten die letzte Schlacht gegen die Götter des Lichts gewonnen und das war auch das Ende der Menschen. Ganze Reiche und Länder waren bereits erobert worden, andere wurden vielleicht in diesem Moment von den dunklen Horden überfallen und vernichtet. Die Miene des weißhaarigen Mannes war eine Mischung aus Bitterkeit und Melancholie. Sein Name war Trondyr. Vor vielen Wintern war er einmal einer der besten Krieger des ganzen Volkes gewesen. Aber das war schon sehr lange her - so lange, dass es ihm selbst manchmal wie ein unwirklicher Traum aus einer mittlerweile fremden Welt erschien. Erneut meldete sich eine Windbö und hätte die Flammen beinahe erstickt. Es grenzte schon fast an ein Wunder, dass das Feuer sich immer noch hielt - aber vielleicht war das ja auch ein gutes Zeichen. Die letzten Überlebenden seines Volkes hatten sich tief ins Herz des Eislandes geflüchtet, während die übrigen, die im Dorf an der Küste zurückgeblieben waren und nicht geglaubt hatten, wie ernst die Lage war, schon längst alle tot waren. Trondyr hatte auf der Flucht 4
ganz weit am Horizont die dunklen Rauchwolken gesehen - genau dort, wo sich einst sein Heimatdorf befunden hatte und das jetzt sicherlich nicht mehr existierte. Ausgelöscht und vom Erdboden getilgt mitsamt allen Bewohnern, denn die Mächte der Finsternis und ihre schrecklichen Heerscharen kannten keine Gnade... Unwillkürlich hob Trondyr den Kopf, als er Schritte im Schnee hörte. Er blinzelte gegen die im Wind treibenden Schneeflocken und erkannte dann die junge Arna, die aus der Höhle gekommen war und wenige Schritte vor ihm stehen blieb. Kurz hinter ihr folgte ein junger Hund, den das Mädchen aus dem Dorf mitgenommen hatte und ihr seitdem nicht mehr von der Seite wich. Der Hund beäugte den alten Mann mit den weißen Haaren und beobachtete, wie er mit einem Stock in der Asche des Feuers rührte, um ihm noch mehr Glut zu geben. »Wie weit ist es?«, fragte Trondyr das junge Mädchen, ohne sie dabei anzusehen. Stattdessen blickte er weiterhin gedankenverloren in die Flammen des Feuers, während allmählich die Schatten der Nacht kamen und das letzte Licht des sterbenden Tages verschlangen. »Ist das Kind schon geboren?« »Nein, Trondyr«, erwiderte Arna. »Sventa hilft Lorys, Wo sie nur kann. Aber es ist... so als wenn das Kind sich weigern würde, das Licht der Welt zu erblicken...« Natürlich bemerkte Arna den erstaunten Blick des weißhaarigen Mannes und fuhr deshalb rasch fort. »Die Wehen sind immer kräftiger geworden in den letzten Stunden«, klärte sie Trondyr auf. »Eigentlich hätte das Kind schon da sein müssen - aber irgendwie verzögert es sich. Ist das ein schlechtes Zeichen, Trondyr? Du bist alt und weise und müsstest es eigentlich wissen...« »Warum hast du Sventa nicht gefragt?«, erwiderte Trondyr. »Ich bin nur ein alter Mann, der dem Ende seines Lebens entgegensieht. Sventa ist eine kluge Frau - sie wird darauf sicher eine Antwort wissen. Oder bist du deshalb gar nicht zu mir gekommen, Arna? Du kannst es mir ruhig sagen - ich werde es keinem anderen erzählen, wenn du Sorgen hast. Ich kann schweigen...« 5
Trondyr hatte das Mädchen lange genug angesehen, um zu wissen, dass da noch mehr war als nur die bloße Ungewissheit über das Kind der fremden Frau, die die Götter ins Dorf geschickt hatten. Arna hatte viel durchmachen müssen in den letzten Tagen. Die Unbeschwertheit eines jungen Mädchens - dieses Gefühl hatte Arna verloren. Sie war ernst und zurückhaltend geworden, manchmal sogar ängstlich - jedes mal dann, wenn sie in die Richtung schaute, aus der sie und die letzten Überlebenden ihres Volkes hierher gekommen waren. Jenseits der Horizontes regierte nur noch der Tod - und er streckte seine knöcherne Hand langsam aber sicher auch nach den Menschen in dieser Zuflucht aus. »Ich habe Angst«, flüsterte das Mädchen leise und sah immer wieder zurück zur Höhle - als habe sie Angst, mit dem alten Mann jetzt zusammen gesehen zu werden. »Angst vor dem, was noch kommen wird. Wir werden alle sterben, oder? Wir können den Mächten der Finsternis doch gar nicht entkommen...« »Warum denkst du so genau darüber nach?«, sagte Trondyr und legte einen weiteren Ast ins Feuer, nach dem die Flammen sofort gierig leckten. »Sei dankbar, dass wir es bis hierher geschafft haben. Ist das nicht genug? Andere hatten nicht soviel Glück wie wir...« »Aber es macht mich verrückt!«, stieß Arna hastig hervor und Tränen zeichneten sich in ihren Augenwinkeln ab. »Meine Familie - ich weiß nicht, was aus ihnen geworden ist und ob sie überhaupt noch leben. Weißt du, an einem Grab kann man trauern - aber gar nichts zu haben, an das man sich erinnern kann, ist grausam.« »Wenn du weinen musst, dann tu es«, riet ihr der weißhaarige Mann und erhob sich mit diesen Worten. Er ging auf das junge Mädchen zu und nahm Arna einfach in seine Arme. Erst jetzt löste sich die Anspannung von ihr und sie schluchzte laut auf, aber auch befreit von all dem, was sie die ganze Zeit über bedrückt hatte. »Da draußen gibt es nichts mehr, Arna«, sagte Trondyr. »Wir sind die letzten Menschen dieser Welt - und deshalb müssen wir einfach überleben. Auch wenn es fast unmöglich ist. Aber so lange man noch hoffen kann, ist nicht alles vergeblich. Schau dir doch den Hund an er weiß nichts von dem Unheil, das über die Welt gekommen ist...« 6
Arna wischte sich die Tränen aus dem Gesicht und folgte dann mit ihrem Blicken dem Fingerzeig des weißhaarigen Mannes. »Der Hund braucht dich, Mädchen. Kümmere dich um ihn - dann wird er immer dein Freund sein und du bist nicht mehr allein...« Eigentlich wollte er noch mehr sagen. Jedoch brach Trondyr mitten im Satz ab, als plötzlich ganz weit am Horizont ein heller Schimmer am nächtlichen Himmel auftauchte. Ein Schimmer, der sich allmählich in ein blaues Leuchten verwandelte, das nahezu das gesamte Firmament erfasste. Die Sterne, die sich am klaren Nachthimmel abgezeichnet hatten, wurden nun ganz in das blaue Leuchten getaucht - und mit ihm kam auch ein weißer Nebelschleier, der senkrechte Bahnen bis hinunter zum Horizont warf. Wie ein gigantischer Vorhang aus hauchdünnem Gespinst, der sich über das Eisland senkte und es einzuhüllen versuchte. »Trondyr!«, rief Arna entsetzt, als auch sie den Schleier sah, der sich vor dem blauen Licht ganz deutlich abzeichnete. »Bei allen Göttern - was ist das?« Hätte Trondyr es gewusst, so wäre er Arna ganz sicher keine Antwort schuldig geblieben. So aber spürte er nur eine leise Furcht, die sich in sein Herz schlich. Eine Ahnung dessen, dass die Stunden des Schutzes in der Zuflucht sich jetzt wahrscheinlich dem Ende näherten. Aber diese Gedanken behielt er lieber für sich. Das war auch der Moment, wo drüben im Eingang der Höhle eine der Frauen erschien, die sich zusammen mit Sventa um Lorys kümmerten, um ihr bei der Geburt zu helfen. »Es ist soweit!«, hörten Trondyr und Arna sie rufen. »Das Kind, es...« Dann sah auch sie das bläuliche Leuchten und das feine Netz, das nun immer größere Ausmaße annahm - vergleichbar mit einem gewaltigen Spinnennetz, das sich von Horizont zu Horizont erstreckte. Ihre Augen weiteten sich vor Angst und gleich würde sie voller Furcht zu schreien beginnen. »Schweig!«, fuhr sie Trondyr an, der zu ihr geeilt kam und sie hart am Arm packte. Mit einer Kraft, die sein Alter Lügen strafte. »Es soll 7
niemand wissen - noch nicht. Nur das Kind ist jetzt wichtig, sonst nichts. Geh jetzt zurück und hilf Sventa. Vergiss nicht, die Götter haben uns diese Frau geschickt und die Geburt des Kindes ist von großer Bedeutung.« Die Frau nickte, immer wieder hin und her gerissen von den zwiespältigen Gefühlen, die sie angesichts des weißlichen Netzes überkamen. Aber dann siegte doch die Sorge um das ungeborene Leben, das jetzt jeden Moment das Licht der Welt erblicken würde - fast genau zur selben Zeit, als das bläuliche Leuchten am nächtlichen Himmel erschienen war. Ein seltsamer Zufall! »Komm mit«, sagte Trondyr zu Arna. »Wir sollen alle zugegen sein, wenn es soweit ist. Sventa hat es so gesagt - und ich spüre, dass es wichtig ist, wenn wir ihren Rat befolgen. Nun komm schon!« Er war fast ein wenig grob zu ihr, aber der alte Mann fühlte sich jetzt sicherer im Inneren der großen und geräumigen Höhle, die all denjenigen Platz bot, die es geschafft hatten, sich bis hierher zu schleppen. Arna gab ihrem Hund ein Zeichen und beide folgten nun dem alten Mann, der als erster die Höhle erreichte und bald darauf im schmalen Spalt verschwand. Weder er noch Arna sahen jetzt noch das blaue Leuchten und das feine nebelhafte Gespinst - und vielleicht sah es die Menschen in der Höhle ja auch nicht... * In der großen Höhle brannten zwei Feuer, deren flackernde Flammen bizarre und stetig wechselnde Schatten an die rauen Felswände warfen. Das Licht vertrieb die bedrückende Dunkelheit der weit verzweigten Höhle, die noch tiefer in den Felsen führte - aber bisher hatte es noch niemand gewagt, den engen und verschlungenen Pfaden zu folgen, die weiter hinten im dunklen Berg verschwanden. Nur die Götter mochten wissen, welche Gefahren dort womöglich lauerten. Aber die Götter waren tot und längst verstummt! Drüben, gegenüber vom schmalen Spalt, der hinaus in den eisigen Winter führte, hatten Sventa und ihre Helferinnen einige Decken und Felle ausgebreitet, die sie aus ihrem Dorf noch hatten mitnehmen 8
können, bevor die dunklen Mächte es in Schutt und Asche gelegt hatten. Auf diesem notdürftigen Bett lag eine blonde Frau mit ebenmäßigen, aber von Schmerzen verzerrten Gesichtszügen. Feiner Schweiß glänzte auf ihrem Gesicht und auf dem ganzen Körper, der vor Fieber glühte. Immer wieder stöhnte sie leise mit geschlossenen Augen, wenn eine erneute Wehe ihren Körper erfasste und schüttelte. »Du musst tapfer sein, Lorys«, sagte die alte Sventa zu ihr, während sie neben Lorys kniete und nach ihrer Hand griff. »Alles wird gut werden - du musst es nur wollen...« Jetzt schlug Lorys die Augen auf. Wieder kämpfte sie gegen die Schmerzen an, bemühte sich, das Fieber zu überwinden, dessen Hitze sie mit jeder Faser ihres Körpers spürte. Sie fühlte das Leben in sich, das danach drängte, das Licht zu sehen. Aber irgend etwas hinderte das Kind daran - nur was? »Es... es geht nicht«, stieß Lorys mühsam hervor, während sie von zwei weiteren Frauen fest an den Armen gehalten wurde. »Ich kann es... einfach nicht!« »Aber du musst!« Sventas Stimme klang jetzt einen Ton ärgerlicher. »Jede Mutter kann es - also auch du! Oder willst du dein Kind umbringen, wenn du dich verweigerst? Tu jetzt, was jede Frau in solch einer Stunde tut - lass deinen Körper das besorgen. Und vergiss das, an das du gerade denkst - es verwirrt dich doch nur...« Lorys wusste, dass Sventa sie nur beruhigen und auf die Geburt vorbereiten wollte. Aber sie wusste selbst nicht, warum das so war sie musste ausgerechnet jetzt wieder an die grauenhaften Stunden im Reich Modors denken, wo sie zum ersten mal gespürt hatte, dass es ein ganz besonderes Kind war, dem sie das Leben schenken würde. Ein Kind, das schon in diesem frühen Stadium auf geheimnisvolle und unfassbare Weise einen der drei dunklen Götter vernichtet hatte nämlich den grauenhaften Modor, ehemals Herrscher über die Sümpfe von Cardhor. »Pressen - sie muss pressen!«, rief nun eine der beiden anderen Frauen, die natürlich auch schon längst begriffen hatten, dass es alles andere als eine leichte Geburt werden würde. Unter Umständen konnte Lorys dabei sterben. 9
»Du hast es gehört - also gehorche jetzt!«, verlangte Sventa von ihr. Und diesmal tat Lorys, was man ihr sagte. Sie schrie dabei laut auf und eine unbeschreibliche Welle des Schmerzes tauchte den ganzen Körper in ein Meer aus Feuer. Keiner der Menschen, die sich jetzt alle in der weiträumigen Höhle versammelt hatten, sprach jetzt ein Wort. Fast hypnotisch richteten sich alle Blicke auf die blonde Frau, die nicht zu ihrem Volk zählte trotzdem war jeder der Menschen in Gedanken bei ihr. Denn sie wussten um die Bedeutung dieser Stunde. Lorys Verstand driftete ab. Sie sah Thorin vor sich, den entschlossenen Krieger, der ihr Gefährte geworden war und für den sie dann mehr empfunden hatte als nur Freundschaft. Es war keine Zeit mehr geblieben, ihm das zu sagen, denn das Schicksal hatte sie beide getrennt. Lorys wusste nichts über seinen derzeitigen Aufenthaltsort, konnte noch nicht einmal sagen, ob Thorin überhaupt noch am Leben war. Irgendwie spürte sie, dass etwas Folgenschweres geschehen war etwas, das sie mit ihren Sinnen nicht ganz erfassen konnte. Aber es war dennoch da - ein Gefühl der Trauer. Ohne dass sie wusste, warum das so war. Lorys war seit ihrer Trennung von Thorin mit ihren Gedanken und Hoffnungen allein. Selbst die alte Sventa wusste nicht alles, was Lorys bewegte. Auch wenn schon einige Wochen ins Land gegangen waren, seit Sleipnir, der Götterhengst, sie auf wundersame Weise hoch über den Wolken weit nach Norden bis ins Eisland zu Thorins Volk getragen hatte, so war sie immer noch eine Fremde im Dorf. Lorys spürte manchmal die argwöhnischen Blicke einiger Menschen - immer dann, wenn sie glaubten, dass es Lorys nicht bemerkt hatte... Wieder erreichte eine neue Wehe ihren bis jetzt schlimmsten Punkt und Lorys schrie. Sie war in Schweiß gebadet, während ein heftiger Krampf ihren ganzen Körper befiel. Und dann spürte sie, dass etwas geschah. »Das Kind!«, hörte sie ganz von fern eine der Frauen neben Sventa rufen. »Bei allen Göttern - nun ist es soweit!« 10
Ein stilles Lächeln schlich sich in die faltigen Züge der alten Sventa, als sie sah, dass das Kind nun gleich das Licht der Welt erblicken würde. Nur noch wenige Augenblicke, dann war es soweit. Aber in dieser schmerzhaften Situation wurden aus Sekunden ganze Ewigkeiten voller Qual. Lorys hatte die Augen geschlossen und versuchte, gegen die Schmerzen anzukämpfen. Und dann kam der Augenblick, wo sie die Augen wieder öffnete und plötzlich erkannte, dass die Frauen etwas Winziges in ihren Händen hielten. Etwas, das sich schwach bewegte und dann auf einmal zu schreien begann. Tränen des Glücks liefen Lorys die Wangen herunter, als ihr bewusst wurde, dass dies ihr Kind war. »Es ist ein Junge, Lorys«, sagte Sventa und wischte ihr den Schweiß aus dem Gesicht. »Bleib ruhig liegen und überlass alles andere uns - es ist gleich vorbei...« Völlig erschöpft streckte sich Lorys aus, fühlte sich von einer schweren Last befreit, die sie fast das Leben hätte kosten können, wenn die Frauen ihr nicht zur Seite gestanden hätten. Allein und ohne sachkundige Hilfe hätte sie solch eine schwere Geburt gar nicht geschafft! »Mein... mein Kind«, flüsterte Lorys. »Gebt... es mir...« Sie nahm überhaupt nicht wahr, wie ein leises Raunen durch die Menge der in der Höhle versammelten Menschen ging, als Sventa der jungen Mutter ihr Kind in die Arme legte und dann zufrieden zusah, wie sich ein heller Schimmer in Lorys Augen abzeichnete. Sventa wusste, was dieser Moment für eine Frau bedeutete - sie hatte selbst zwei Söhnen das Leben geschenkt. Aber die Götter hatten sie ihr noch im Kindesalter wieder entrissen - als ein wilder Bär ins Dorf eingefallen war und dort schrecklich gewütet hatte. Ihre beiden Söhne waren den Klauen der Bestie zum Opfer gefallen - niemand hatte sie mehr retten können... Lorys nahm das Kind ganz eng zu sich und flüsterte dem Jungen leise einige Worte ins Ohr, die sonst niemand hören konnte. 11
»Weißt du schon einen Namen für ihn?«, erkundigte sich Sventa nun bei ihr. »Der Junge sollte so bald wie möglich einen Namen haben.« »Dion...«, murmelte Lorys. »Er soll Dion heißen... zum Gedenken an seinen Vater, der ihn nie zu Gesicht bekommen hat. Es ist der Name eines alten Fürstengeschlechtes...« »So soll es sein«, sagte Sventa. »Und jetzt schlaft ihr beide euch aus. Du musst dich noch schonen - für deinen Sohn, Lorys. Er braucht dich. Sei ganz unbesorgt - du wirst schon sehr bald wieder zu Kräften kommen...« Lorys nickte nur. Sie war jetzt zu schwach, um noch etwas sagen zu können. Ermattet schloss sie die Augen und war wenig später auch schon eingeschlafen - ebenso wie das Kind, das sanft an ihrer Brust ruhte. Trondyr hatte ebenso wie Arna und die anderen mit angesehen, wie die blonde Frau das Kind zur Welt gebracht hatte. Trotzdem war noch eine Unruhe in ihm, die ihn auch jetzt nicht losließ. Als die Frauen das Neugeborene säuberten und es Lorys gaben, hielt der alte Mann den richtigen Augenblick für gekommen, um ungesehen zum Spalt zu gehen, der ins Freie führte. Niemand bemerkte es. Trondyr fürchtete sich zwar vor dem weißen Gespinst und dem bläulichen Schimmer am Himmel - aber er musste einfach jetzt gehen und nachsehen, ob es wirklich noch da war und sich womöglich noch vergrößert hatte. Sein Herz schlug schneller, als er jetzt den Spalt hinter sich gebracht hatte und im Freien stand. Fassungslos blickte er hinauf in einen nächtlichen Himmel, in dem ein Meer von Sternen glänzte und die schneebedeckte Ebene mit einem hellen Leuchten erfüllte. Von der unheimlichen Erscheinung und dem nebelähnlichen Gespinst war nichts mehr zu sehen - es war fast so, als wenn Trondyr das nur geträumt hatte. Aber er wusste, dass dem nicht so war, denn auch das junge Mädchen hatte es gesehen. Merkwürdig, das weiße Netz schien fast im selben Moment verschwunden zu sein, als das Kind das Licht der Welt erblickt hatte. Nein, das konnte kein Zufall sein - das musste etwas zu bedeuten ha12
ben. Denn das blaue Licht und das gespinstähnliche Netz - das waren Manifestierungen der dunklen Mächte, die ihre Klauen nach den letzten Menschen der Erde ausgestreckt hatten. Merkwürdig war nur, dass es den Mächten der Finsternis immer noch nicht gelungen war, die Zuflucht zu finden. Als wenn eine unsichtbare schützende Aura wie eine riesige Glocke über der großen Höhle lag und die Wesen der Dunkelheit aus irgendeinem Grund in die Irre führte. Trondyr ertappte sich bei dem Gedanken, dass er diese wundersame Fügung dem Kind zuschob, das gerade geboren worden war. Eine Frau, die unter dem Schutz der Götter des Lichts stand - auch wenn diese sicher schon längst nicht mehr am Leben waren - musste ein besonderes Schicksal haben. Ein Schicksal, das sich womöglich auch auf das neugeborene Kind auswirkte. Kopfschüttelnd wandte sich Trondyr wieder ab und ging zurück in die Höhle. Nur Arna schien ihn jetzt hereinkommen zu sehen und blickte ihn natürlich fragend an. Das junge Mädchen wollte wissen, ob es noch da draußen war - das gigantische Netz. Trondyr winkte nur mit einem erleichterten Lächeln ab und sah den erstaunten Blick Arnas. Für das Mädchen grenzte das fast an ein Wunder - hatte sie schließlich doch schon das Schlimmste befürchtet. Aber irgend eine andere Macht schien die letzten Überlebenden einer sterbenden Welt zu beschützen vor den bösen Mächten. Eine Macht, die ihnen Hoffnung versprach - das glaubte jedenfalls der alte Mann. Zumindest in diesem Moment spürte er nicht mehr das Alter seines Körpers und die üblichen Beschwerden. Neuer Lebenswille erfasste ihn - ebenso wie den größten Teil der in der Höhle versammelten Menschen, die die Bedeutung dieses Augenblickes spürten. Es war wie ein leiser Hauch von Hoffnung, die das neugeborene Kind signalisierte und diese Hoffnung würde sie hier weiter ausharren lassen. Bis die dunklen Mächte ihnen nicht mehr folgten... * 13
Die grausamen Skirr waren furcht erregende Wesen, deren Reich jenseits der Flammenbarriere lag - eine Region, die so unfassbar war, dass jeder wahnsinnig geworden wäre, wenn er sie jemals zu Gesicht bekommen hätte. Die Mächte der Finsternis hatten die Skirr gerufen, hatten sie um Beistand im Kampf gegen die Mächte des Lichts gebeten und der RUF war von den Skirr erhört worden. Sie hatten ihr unbegreifliches Reich verlassen, hatten die Flammenbarriere durchdrungen und zusammen mit Azach und R'Lyeh, den beiden Herrschern der Finsternis, eine entsetzliche Schreckensherrschaft auf der Welt der Menschen begonnen. Stahlburgen manifestierten auf markanten Punkten der Welt und von hier aus begannen die Skirr ihren Eroberungsfeldzug gegen die Menschen - und diese konnten ihnen nichts mehr entgegensetzen. Denn seit die Götter des Lichts in der letzten entscheidenden großen Schlacht von den dunklen Mächten und ihren Helfershelfern geschlagen worden waren, verdunkelte sich selbst das Antlitz der Sonne. Nachdem die große Schlacht verstummt war und die Götter des Lichts an einem verborgenen Ort gefangen gehalten wurden, den selbst sie aus eigenen Kräften nicht mehr verlassen konnten, triumphierten die dunklen Mächte. Denn der Krieger der Götter des Lichts hatte ebenfalls den letzten entscheidenden Kampf gegen den Ritter der Finsternis verloren. Nun war auch Thorin gefangen für alle Zeiten in einer schimmernden Blase aus Licht und Energie inmitten der wabernden Sphären aus Raum und Zeit... Irgendwo ganz oben im Norden, in einer Region, die sich noch weit jenseits der Eisländer erstreckte und von denen die Menschen in diesem Teil der Welt noch nicht einmal wussten, dass diese Region überhaupt existierte, befand sich das kalte Reich des mächtigen Azach, des Herrschers über Sturm und Wind. Nachdem er zusammen mit seinem Götterbruder, dem gewaltigen R'Lyeh, die Mächte des Lichtes vernichtend geschlagen hatte, widmete er sich nun den Völkern, von denen auch der einst so gefährliche Thorin abstammte. Während weiter im Süden sich das Schicksal der dort lebenden Stämme und Völker bereits erfüllt hatte, genoss es der mächtige Gott, nun seinen tödlichen Plan zu beginnen - und R'Lyeh half ihm dabei. 14
Zuerst schickten sie ihre dunklen Heerscharen in die etwas dichter besiedelten Küstenregionen der nördlichen Länder. R'Lyeh, der Herrscher über die weiten sturmgepeitschten Meere und die Tiefen der Ozeane, schickte eine Sturmflut nach der anderen, die an den Küsten und in den dort errichteten Stätten ein Chaos anrichteten. Ganze Landstreifen wurden von den gewaltigen Wassermassen von einem Augenblick zum anderen verschlungen - und mit ihnen auch die Menschen, die dort lebten. Für manche von ihnen kam alles so schnell, dass sie noch nicht einmal im Tod begriffen, warum sie eigentlich sterben mussten. Und was die Sturmflut nicht beseitigen konnte, das erledigte das dunkle Heer der furcht erregenden Kreaturen, die von den Skirr nun geführt wurden. Denn der Ritter der Finsternis, der einst so mächtige Orcon Drac, war von Thorin kurz vor dessen eigener Niederlage dennoch besiegt worden. Auch wenn Thorin dann selbst alles verloren hatte, so war es ihm doch noch gelungen, den Mächten der Finsternis einen schweren Schlag zu versetzen. Wahrscheinlich hatten deshalb Azach und R'Lyeh beschlossen, sich dafür an den Menschen der nördlichen Länder besonders grausam zu rächen. Was ihnen auch gelungen war - denn die einst autarken Eisländer des Nordens existierten nicht mehr. Sturmfluten hatten die Küstenstädte vollständig vernichtet und die langen Drachenboote der einst so erfahrenen Nation aus Kriegern und Entdeckern waren alle in den Fluten der tosenden Wellen versunken. Zusammen mit den Skirr hatten die dunklen Heere diesen Teil der Welt betreten und eroberten sie im Nu, denn es gab nichts und niemanden mehr, der sich ihnen noch entgegenstellen konnte. Diejenigen, die die große Flut überlebt hatten und trotz ihrer Ausweglosigkeit es dennoch wagten, sich den finsteren Horden entgegenzustellen, starben einen schrecklichen und grausamen Tod - denn die Kreaturen der Nacht kannten keine Gnade. Blut floss in Strömen, während die tapfersten Krieger der Völker aus den Eisländern ihr Leben ließen. Azach und R'Lyeh wussten von der Begleiterin Thorins - und auch von dem Kind, das in ihr heranwuchs. Kraft ihres Geistes waren sie in die Seele Thorins eingedrungen und hatten darin gelesen wie in einem offenen Buch. Der Krieger des Lichts hatte sich nicht dagegen wehren 15
können - er spürte sogar noch nicht einmal, was mit ihm geschah. Denn sein Geist war gefangen in einer Vielzahl von Träumen aus seiner bewegten Vergangenheit. So erfuhren die dunklen Götter von Lorys und ihrem Kind, das schon vor der Geburt ihren Bruder Modor getötet hatte - allein durch die Kraft einer unfassbaren geistigen Macht. Diese Frau war von den Göttern des Lichts in die Eisländer des Nordens gebracht worden, kurz bevor Thorin zum Kampf gegen Orcon Drac angetreten war - und zwar an den Ort, wo Thorin selbst viele Jahre seiner Jugend verbracht hatte. Ein Ort, der jetzt vom Erdboden getilgt worden war. Die Skirr hatten zusammen mit den dunklen Heerscharen ganze Arbeit geleistet - aber dennoch war es ihnen nicht gelungen, diese Frau ausfindig zu machen. Azach tobte in seiner dunklen Bastion fernab der menschlichen Reiche. R'Lyeh spürte den Zorn seines Götterbruders und versuchte ihn zu besänftigen - auch wenn er sich selbst dabei beherrschen musste. Denn auch in ihm steckte ein ohnmächtiger Hass auf das ungeborene Kind, dem es gelungen war, einen so mächtigen Herrscher wie Modor zu besiegen. Dieses Kind durfte nicht geboren werden, sonst würde es eine noch größere Gefahr für die Götter der Finsternis darstellen. Und deshalb musste es gefunden und sofort getötet werden, zusammen mit der Frau und all denjenigen, die sich bisher dem Zugriff der dunklen Horden hatten entziehen können. Dass dem so war, hatten Azach und R'Lyeh mittlerweile herausgefunden, denn die Skirr hatten ihnen berichtet, dass eine fast zugewehte Spur hinaus in die Eisregionen führte. Die Spuren einer Handvoll Überlebender - und die Frau mit dem Kind war unter ihnen. SUCHT SIE, FINDET SIE UND TÖTET SIE!, befahl der mächtige Azach den dunklen Kreaturen und diese gehorchten ihm. Sie nahmen die Fährte auf, verfolgten sie und bekamen dabei Hilfe von den Skirr, die auf ihre eigene Weise die Flüchtenden aufzuspüren versuchten. Nur mit Hilfe ihres Geistes woben sie ein gewaltiges Netz aus tödlicher Energie, das sich über die gesamte unwegsame Region aus Eis und Schnee legte. Der Himmel veränderte sich und ein kaltes Licht erfüllte das Firmament. Die Skirr registrierten mit ihren feinen Sinnen alles und 16
sie wären auch fast erfolgreich gewesen - aber buchstäblich im letzten Augenblick zerriss das Netz aus Energie wieder. Genau in dem Moment, als sie ihre Opfer beinahe mit ihren geistigen Fühlern entdeckt hätten! Aber irgend etwas verhinderte die finsteren Pläne der grausamen Skirr - eine Kraft, die sich erst noch zu formen begann, aber doch schon so stark war, dass sie die verfolgenden Mächte der Finsternis auf einen falschen Weg weisen konnte - weg von der Zuflucht, in der die Handvoll Überlebender Schutz vor den Feinden gesucht hatte. Das gewaltige Netz, das den Himmel erhellt hatte, verschwand sofort wieder, nachdem es zerrissen war. Und irgendwo weiter im Norden tobten Azach und R'Lyeh - denn auch sie hatten gespürt, dass sie beinahe ihr Ziel erreicht hätten. WAS HAT DAS ZU BEDEUTEN?, wandte sich Azach an seinen Götterbruder R'Lyeh. DU HAST ES DOCH AUCH GESPÜRT. ES IST ETWAS... ANDERS GEWORDEN... ES IST DAS UNGEBORENE KIND, meinte R'Lyeh daraufhin. ES ENTWICKELT VIEL ZU GROSSE KRÄFTE - EINE SOLCHE MACHT HABEN WIR NICHT VORAUSSEHEN KÖNNEN. DU WIRST DICH DOCH NICHT VOR EINEM KIND FÜRCHTEN, BRUDER?, erwiderte Azach daraufhin. ODER FÜRCHTEST DU SCHON UM UNSERE HERRSCHAFT, NUR WEIL DIESER BALG GERADE ERNEUT SEINE KRÄFTE EINSETZT? ES IST NUR EIN KIND, R'LYEH. UND EIN KIND KANN MAN AUCH BESIEGEN... DAZU MÜSSEN WIR ES ABER ERST EINMAL FINDEN, hielt ihm der Herrscher der Ozeane und Meere entgegen. UND WARUM GESCHAH DIES BIS JETZT NICHT? DU BIST ZU UNGEDULDIG, antwortete Azach und blickte vom Thron seines Eispalastes mürrisch auf seinen Götterbruder hinab. WIR HABEN BISHER JEDEN KAMPF GEWONNEN - DIE DUNKLEN HORDEN WERDEN NICHT AUFGEBEN, BIS SIE DAS KIND GEFUNDEN HABEN. R'Lyeh erwiderte nichts mehr darauf. Der Gott der Finsternis konnte nur hoffen, dass Azach mit seinen Vermutungen recht hatte. Denn irgendwie beunruhigte es ihn sehr, dass ein noch ungeborenes Kind bereits solche gewaltigen Kräfte entwickeln konnte. Wie mächtig wür17
de es wohl sein, wenn es erst das Licht der Welt erblickt hatte? Und vor allen Dingen - woher besaß es solche Macht? Denn darüber hatten die beiden finsteren Götter auch noch keine Erklärung finden können. Selbst Thorins Erinnerungen, die sie dabei zu Rate gezogen hatten, gaben darüber keinen Aufschluss. Bedeutete dies vielleicht, dass hier noch eine weitere Macht auftrat? Eine Macht, von der weder die Götter des Lichts noch die der Finsternis bisher etwas geahnt hatten? Und wenn dem so war, welche Bedeutung hatte dies dann für das weitere Schicksal dieser Welt? All dies waren Fragen, auf die die beiden dunklen Götterbrüder keine Antwort wussten. Es gab nur einen, der einen Teil der wahren Zusammenhänge kannte - aber davon wussten Azach und R'Lyeh nichts... *
Zwischenspiel I Dunkelheit umgibt ihn von allen Seiten. Da ist die unbeschreiblich wohltuende Wärme, die ihn vor all den Dingen schützt, die ein Teil seiner jetzt schon stark ausgeprägten Sinne zu erfassen beginnt. Angst und Verwirrung ergreifen ihn, weil er zu vieles auf sich einstürmen sieht. Bunte verwirrende Bilder sind es, die er nicht versteht. Er kann grässlich entstellte Fratzen sehen und solche, die blutige Waffen über ihren grauenhaften Köpfen schwingen. Er hört Dutzende, nein Hunderte von Schreien - und sie klingen merkwürdig klar. Obwohl er sie eigentlich in diesem Dunkel gar nicht hören könnte... MUTTER, schreien seine verwirrten Sinne, obwohl er in diesem Stadium eigentlich nur ahnen kann, was dieses Wort bedeutet. Denn er kennt nur Wärme und Geborgenheit, kann zwischen Hell und Dunkel sowie Kälte und Wärme unterscheiden. Aber seine Sinne sind wachsam, können nun Dinge sehen, die er nicht begreift - und das verwirrt ihn. Dann fühlt er, wie die Schrecken wieder von ihm weichen und ein beruhigender Impuls seinen Körper erfasst. Aber die Unruhe bleibt, sie will nicht weichen und nun spürt er auch, warum das so ist. Er fühlt 18
die Anwesenheit des BÖSEN, das seine Klauen nach ihm ausgestreckt hat - nach ihm und seiner MUTTER! Gleichzeitig geschieht noch etwas, das er nicht begreift. Die Dunkelheit um ihn herum beginnt allmählich zu weichen und macht einem hellen Grau Platz, das irgendwo weiter oben (oder ist es unten?) zu einem bunten Schimmer wird. Er kann diese Farben schmecken und riechen und er hat auf einmal verstanden, was geschieht. NEIN, schreit er mit tonloser Stimme, die selbst seine MUTTER jetzt nicht mehr hären kann. NICHT JETZT - ICH MUSS DAS BÖSE ZUERST... Er sammelt seine verwirrten Empfindungen und will sie bündeln und lenken, aber das gelingt ihm nicht gleich. Denn gleichzeitig spürt er, wie sein winziger und dennoch schon so empfindsamer Körper in diesen großen Tunnel aus Licht und Farben gerissen wird. Es ist ein Erlebnis, wie er es nicht kennt und begreift deshalb nicht, was gerade mit ihm geschieht. Er versucht sich zu konzentrieren, denn das BÖSE kommt immer näher, hat den Ort schon fast erreicht. Er versucht es erneut, will das kommende Unheil abwenden. Während er das tut, hört er jemanden laut schreien und begreift, dass es seine MUTTER ist. Er fällt jetzt schneller in diesen eigenartigen Schacht und mit jedem Augenblick, der hier seine Empfindungen aufs höchste reizt, verliert die Dunkelheit und die alles umgebende Wärme an Kraft. Die bunten Farben, sie waren vorher noch ein Kaleidoskop, das in allen Tönen schillerte - aber jetzt wird es immer deutlicher - alles nimmt allmählich Konturen an. Erneut hört er jemanden schreien, wieder ist es seine MUTTER. Aber dann vernimmt er auch andere Stimmen. Stimmen voller Erleichterung und Zuversicht, er weiß das, obwohl er die Worte noch nicht verstehen kann. Das Ende des Schachtes kommt in Sicht. Er weiß längst nicht mehr, was mit ihm geschieht, aber er spürt, wie wichtig es ist, das Ende dieses Schachtes zu erreichen und einzutauchen in dieses Meer aus Farben und fremden Tönen, die von nun an sein Leben bestimmen werden. Da ist etwas, was ihn daran hindern will, hinauszugehen in diese bunte Welt und er spürt auch, dass er es in der Hand hat, diesen 19
Weg zu beschreiten. Seine Mutter ist schwach, diesmal muss er ihr helfen, sonst... ICH WILL, formieren sich die Gedanken zu einem Entschluss im Kopf. JA, ICH WILL HINAUS IN DIESE WELT! Und dann kommt auch schon der entscheidende Moment. Eine Flut aus warmer Flüssigkeit umhüllt seinen Körper, lässt ihn eintauchen in ein tiefes Rot - aber diese seltsame Empfindung hält nicht lange an. Dann ist da diese Helligkeit und sie nimmt an Intensität zu. Jetzt ist es soweit - er verlässt den dunklen Schacht und erreicht die Helligkeit, sieht noch alles verschwommen vor sich. Und er ist erleichtert, weil er weiß, dass er das BÖSE vorerst noch aufhalten konnte. Aber für wie lange? Dann aber machen diese Ängste anderen Gefühlen Platz. Er spürt die Aura des Guten, die ihn von allen Seiten umgibt. Er sieht vielerlei Gesichter um sich herum und eines davon erregt sein besonderes Interesse. Weil er weiß, dass dies seine MUTTER ist. Und der erste laute Schrei kommt aus seiner Kehle. Es ist ein Schrei voller Lebenskraft... * Draußen vor der Höhle hatte sich das Wetter zwischenzeitlich verschlechtert. Nur wenig später nach der Geburt des Kindes hatte heftiger Schneefall eingesetzt und der Wind blies in Böen immer wieder einige weiße Flocken in den vorderen Teil der Höhle. Dennoch reichte der heftige Wind nicht aus, um die beiden großen Feuer zu stören, die nach wie vor den Menschen Wärme spendeten. Trondyr stand etwas abseits von den übrigen und beobachtete immer wieder die Mutter mit ihrem schlafenden Kind. Auch wenn er nicht sagen konnte, warum das so war, so fühlte er dennoch, dass diese Geburt etwas ganz Besonderes gewesen war. Die Augen des Jungen, sie waren sie hell wie der sommerliche Himmel. Nur wenige Atemzüge, nachdem er das Licht der Welt erblickt hatte, hatte Trondyr für einen winzigen Moment geglaubt, dass dieses kleine Kind trotzdem irgendwie wusste, in welcher Situation es sich hier befand. Obwohl das eigentlich kaum möglich sein konnte. Wahrscheinlich bildete er sich das doch nur ein... 20
Er beschloss, diese Gedanken lieber für sich zu behalten und warf stattdessen einen Blick hinaus in den wirbelnden Schneesturm, der jetzt an Heftigkeit zunahm. Was für eine Fügung des Schicksals, dass sie diese schützende Höhle gefunden hatten, bevor dieser heftige Sturm ausgebrochen war. Trondyr mochte gar nicht daran denken, was geschehen wäre, wenn sie jetzt noch irgendwo da draußen in der Ebene eine Zuflucht hätten suchen müssen. Der Sturm war so wild, dass es ganz sicher einige Menschenleben gekostet hätte - die Alten und Schwachen hätten das nicht überstanden. Vielleicht auch er nicht, denn Trondyr hatte mittlerweile den Winter seines Lebens erreicht. »Es sieht so aus, als wenn wir uns hier einige Zeit einrichten müssen«, hörte Trondyr jetzt eine besorgte Stimme hinter sich. Er wandte den Kopf und blickte in das Gesicht der alten Sventa. »Was glaubst du, wie lange dieser Sturm noch anhält?« »Ich weiß es nicht«, erwiderte der alte Mann und winkte ab. »Wir sollten den Göttern dennoch dankbar sein, dass wir überhaupt soweit gekommen sind. Ich hatte eigentlich nicht gedacht, dass wir...« Er brach ab, weil er nicht darüber reden wollte, welche merkwürdigen Leuchterscheinungen er vorhin am Himmel gesehen hatte. Aber Sventa war das Zögern in Trondyrs Stimme natürlich nicht entgangen und deshalb blieb ihm jetzt nichts anderes übrig, als auch Sventa einzuweihen. In kurzen Sätzen berichtete Trondyr von dem spinnenähnlichen hellen Netz, das er am nächtlichen Himmel beobachtet hatte. Er erwähnte auch, wie rasch es wieder verschwunden war - fast im gleichen Moment, als das Neugeborene den Schoß seiner Mutter verlassen hatte. »Ich sehe, du denkst das gleiche wie ich, Sventa«, sagte Trondyr, als er bemerkte, wie die Frau zu grübeln begann. »Das ist kein Zufall mehr - das hat etwas zu bedeuten. Ich glaube ganz fest daran, dass die Geburt dieses Kindes für uns alle eine Verheißung darstellt. Die Welt ist noch nicht tot, Sventa - vielleicht wird sie wieder anders werden...« »Und wie soll das jemals geschehen können, Trondyr?«, hielt ihm Sventa mit ziemlicher Verbitterung entgegen. »Du weißt doch auch, dass wir der Rest unseres Volkes sind. Und in den anderen Ländern 21
dieser Welt sieht es bestimmt auch nicht anders aus. Die dunklen Mächte haben unsere Welt im Griff und sie werden sie allmählich ersticken. Glaubst du wirklich, dass ein kleines Kind das ändern kann?« »Ich glaube nur das, was ich erlebt habe, Sventa«, erwiderte Trondyr. »Du hättest es sehen müssen. Für einen kurzen Atemzug spürte ich... die Nähe der Finsternis und den Tod. Aber dann... das Netz zog sich zurück und das Gefühl der Bedrohung mit ihm. Halte mich nicht für einen Narren, aber ich weiß, dass uns dieses Netz gefunden und getötet hätte, wenn nicht...« »Was geschieht mit uns, Trondyr?«, flüsterte Sventa so leise, weil sie auch sicher sein wollte, dass sonst niemand Zeuge dieses Gesprächs wurde. »Sind wir nur ein Spielball zwischen unbegreiflichen Mächten, die uns zerreiben werden wie mächtige Mühlsteine? Noch vor kurzem lebte ich in einer Welt, die feste Gesetze kannte - und jetzt gilt überhaupt nichts mehr. Ich weiß manchmal nicht, was ich noch glauben soll...« »Aber solange du glaubst, besteht noch Hoffnung, Sventa«, fiel ihr Trondyr ins Wort. »Es ist die Hoffnung, die uns am Leben hält. Die Finsternis hat gesiegt über unsere Götter, aber ist es wirklich ein Sieg für immer?« »Thorin wüsste wahrscheinlich eine Antwort auf all diese Fragen«, sinnierte Sventa. »Aber auch er ist verschwunden und niemand weiß, ob er noch am Leben ist.« »Niemand weiß das«, sagte Trondyr. »Aber ich habe keines dieser unglaublichen Dinge vergessen, von denen uns Lorys berichtet hat, als sie zu uns kam. Der Krieger mit dem mächtigen Schwert der Götter ist das wirklich noch der junge Heißsporn, der vor einigen Wintern unser Land verließ, um ferne Länder zu sehen und Abenteuer zu erleben? Er kommt mir so fremd vor - als hätte er das Wissen um Dinge, die anderen Sterblichen für immer verschlossen bleiben. So ein Krieger wie er - es bedarf doch besonderer Mittel und Wege, um ihn zu besiegen. Erinnere dich doch nur daran, wie Lorys uns von dem Kampf mit dem Dämon aus dem Feuersee berichtete. Ein Mann, der solche Wesen besiegen kann, darf nicht sterben!« 22
»Ich möchte deinen Worten so gern glauben, Trondyr«, seufzte Sventa. »Aber noch kann ich es nicht - es ist zuviel geschehen, das mir die Hoffnung auf bessere Zeiten nimmt. Gut, sie haben uns noch nicht gefunden - aber sie werden es ganz sicher. Die Mächte der Finsternis sind stark - und dieses schlafende Kind dort drüben ist so... schwach und winzig.« »Ich werde zu den Göttern beten, Sventa«, sagte Trondyr. »Und wenn sie noch am Leben sind, dann werden sie uns nicht vergessen haben. Sie werden eines Tages wiederkommen - genau wie Thorin. Und ich hoffe, dass ich diesen Moment noch erleben kann.« Sventa erwiderte nichts darauf, sondern ergriff nur die Hand des weißhaarigen Kriegers und drückte sie kurz. Ihre Blicke sprachen eine ganz eindeutige Sprache - die Sprache einer Frau, die vom grausamen Leben ganz hart gezeichnet war. Aber dennoch hatte sie die Kraft besessen, die Handvoll Menschen in dieser Höhle dazu zu bewegen, ihr Dorf zu verlassen und in die Einsamkeit der Eiswüste zu fliehen. Wäre Sventa nicht gewesen, dann wäre jetzt keiner mehr am Leben. Aber das Schicksal hatte es anders gewollt. Oder war das gar kein Schicksal gewesen, sondern tatsächlich der Wille einer weiteren Macht, die sich jetzt den Mächten der Finsternis entgegenzustellen begann? * Der dichte Schneefall hielt die ganze Nacht über an und ließ erst gegen Einbruch des Tages allmählich nach. Der harte Winter, der in diesen Regionen sowieso schon herrschte, hielt das Land gefangen. Die weite Ebene war so dicht mit Schnee bedeckt, dass man nur noch ahnen konnte, wo die Pfade einst entlang geführt hatten. Auch der Eingang zur Höhle war halb zugeweht worden, so dass es einige Kraft gekostet hatte, um sich den Weg ins Freie zu bahnen. Trondyr blickte mit gemischten Gefühlen zurück in die Richtung, wo sich die schützende Höhle befand. Er hatte sich mit den vier Kriegern und der jungen Arna schon soweit davon entfernt, dass er sie gar nicht mehr sehen konnte - sie lag schon jenseits des Horizontes. Auch wenn sie jetzt mit zahlreichen Gefahren rechnen mussten, so blieb 23
ihnen doch nichts anderes übrig, als die Höhle zu verlassen und auf Jagd zu gehen. Denn die Frauen und Kinder brauchten Nahrung. Ein Blick in die hungrigen Gesichter der Schwächsten reichte aus, um ihnen den Ernst der Lage vor Augen zu halten. Sie mussten handeln und zwar noch heute. Jeder weitere Tag würde fatale Folgen haben, denn die wenigen Vorräte, die sie noch hatten mitnehmen können, als sie aus ihrem Dorf geflohen waren, reichten höchstens noch zwei Tage - vielleicht drei, wenn sie sparsam damit umgingen. Trondyr spürte die Last seines Alters, als er durch den tiefen Schnee stapfte. Es waren viele Jahre vergangen, seit er als junger Mann einen Jagdtrupp angeführt hatte. Aber er war der erfahrenste von allen, die das namenlose Grauen überlebt hatten und deshalb hatten sie alle einstimmig beschlossen, dass er diese Aufgabe übernehmen sollte. Er drehte sich kurz um und ein Lächeln war in seinen faltigen Zügen zu erkennen, als er kurz Arna beobachtete, die einen Speer bei sich trug und der Jagd schon entgegenfieberte. Der Hund trottete dicht an ihrer Seite. Arna war zwar noch ein junges Mädchen, aber sie hatte unbedingt mitkommen wollen. Trondyr hatte zugestimmt, denn es würde die Jugend sein, die den Alten und Schwachen das Überleben sicherte. Seine Gedanken brachen ab, als er plötzlich weiter vorn einen lauten aufgeregten Ruf vernahm. Er erkannte Oric, einen Mann in seinem Alter, der jetzt seinen Speer hoch erhoben hatte und den übrigen damit zuwinkte. Nun beschleunigte der weißhaarige Krieger seine Schritte und sah wenig später zusammen mit den übrigen, was der Grund dafür gewesen war. Fassungslos blickten die Menschen auf die Spuren im Schnee, die weiter nach Westen führten. Es war Arna, die als erste das Wort ergriff. »Forcas«, murmelte sie ergriffen. »Das sind die Fährten von Forcas. Wie viele werden es sein, Trondyr?« Der alte Krieger nickte anerkennend, als er sah, dass Arna die Spuren richtig gedeutet hatte. Ein erneuter Beweis dafür, dass das junge Mädchen dieser Aufgabe gewachsen war. Auch der Hund schien auf einmal etwas zu wittern und war jetzt nicht mehr zu halten. Er 24
stürmte einfach los, in die Richtung, in die die Fährte im Schnee führte. Arna wollte ihn zurückhalten, aber Trondyr winkte nur ab. »Lass ihn«, sagte er. »Es ist sein Jagdtrieb, der nun über ihn bestimmt. Er wird uns zu den Forcas führen. Kommt, gehen wir...« Alle beschleunigten jetzt ihre Schritte, auch wenn ihnen das schwer fiel. Denn es kostete viel Kraft, sich den Weg durch den mehr als knöcheltiefen Schnee zu bahnen. Irgendwo weiter vorn erklang das Bellen des Hundes. Arna kannte ihren Hund wie kein anderer und wusste, dass er auf etwas gestoßen sein musste - und wenig später erkannte sie dann genau wie die übrigen, um was es sich handelte. Es war eine kleine Herde Forcas, die sich in einer Senke aufhielt. Eine windgeschützte Stelle, die die zottigen gehörnten Tiere aufgesucht hatten, um das Ende des Schneesturms abzuwarten. Mit ihren Hufen hatten sie Teile des schneebedeckten Bodens aufgewühlt, um dort nach Resten von Wurzeln und Gräsern zu suchen. Auch die Tiere hatten das gleiche Problem wie die Menschen - es war ein hartes unbarmherziges Land während dieses Winters und nur die Starken konnten überleben! Arna rief den Hund zu sich. Das Tier fügte sich und trottete zurück zu dem jungen Mädchen, wartete ab, was weiter geschah. Trondyr beobachtete die kleine Herde und lächelte. Sie hatten wirklich Glück heute, denn der Wind kam an diesem Morgen aus der entgegen gesetzten Richtung und verhinderte so, dass die Tiere die Witterung der Menschen aufnehmen konnten. Außerdem waren die Forcas ohnehin träge Tiere, deren Sichtvermögen stark eingeschränkt war. Deshalb hatte ein erfahrener Jäger meistens immer Erfolg bei der Jagd. Alles was er brauchte, war ein scharfer Speer... Sie blickten alle zu Trondyr, denn nun war es an ihm, zu entscheiden, wie sie weiter vorgehen sollten. Der alte Mann sah das und nickte schließlich. »Oric, du gehst mit Renno und Arna zur Flanke«, befahl er. »Ihr anderen kommt mit mir. Es muss schnell gehen - haltet eure Speere bereit.« 25
Jeder der Krieger wusste nun, was er zu tun hatte und wenige Augenblicke später begann dann auch die Jagd. Die Menschen der kalten Eisländer waren alle erfahrene Jäger und jeder von ihnen wusste seine Waffe auch zu handhaben. Aber diesmal war es eine andere Situation als sonst - denn sie waren die Letzten ihres Volkes. Und irgendwo jenseits des Horizontes regierte das Grauen. Trondyr ignorierte die Ermüdung seines Körpers. Mittlerweile hatte ihn ein kaum zu beschreibendes Fieber erfasst - nur derjenige, der selbst Erfahrung als Jäger gesammelt hatte, konnte dies jetzt nachvollziehen. Der weißhaarige Mann gelangte mit den anderen seitlich an die Herde heran, bis auf Speerwurfweite. Dann war es auch schon soweit und die Männer schleuderten ihre tödlichen Waffen. Trondyrs Arm war nicht mehr so stark wie in früheren Jahren, aber an Treffsicherheit hatte der alte Mann noch nichts eingebüßt. Sein Speer flog zielsicher durch die Luft und bohrte sich in die Seite eines der Forcas, das mit einem dumpfen Brüllen mit den beiden vorderen Hufen einknickte und dann zu Boden fiel. Die anderen, in unmittelbarer Nähe befindlichen Tiere blickten nur kurz zu dem sterbenden Forca und wühlten dann weiter im Boden nach Nahrung. Sie schienen gar nicht begriffen zu haben, dass sich Jäger auf ihrer Fährte befanden. Auch Oric, Renno und Arna waren in der Zwischenzeit erfolgreich gewesen. Arnas Speer hatte nicht das Ziel getroffen, dagegen hatte Renno mehr Glück gehabt. Das junge Mädchen dagegen schien verärgert darüber und eilte nun auf die Stelle zu, wo der Spee im Schnee gelandet war. Dabei ließ sie allerdings die Tatsache außer acht, dass sie immer näher auf die Forcas zuging. Und dort, wo der Speer wippend im Schnee steckte, befand sich ein kräftiger Forcabulle, der nun doch schnaubend den Kopf hob und zu Arna blickte. Ein erneutes Schnauben war zu hören und er wühlte mit den Hufen den Schnee auf. »Arna, pass auf!«, schrie Oric, aber war er noch zu weit entfernt, um das Unheil zu verhindern. Denn nun geschah genau das, was ein erfahrener Jäger natürlich wusste. Nicht aber Arna, die nur an ihren Speer dachte und ihn wiederhaben wollte. 26
Der Forcabulle erkannte nun die Konturen eines Wesens, das sich ihm näherte und reagierte genauso wie jedes in die Enge getriebene Tier - es griff jetzt mit gesenkten Hörnern an, stürmte direkt auf Arna zu. Die sah nun den Bullen und erstarrte vor Schreck. Sie sah nur das zottige Ungetüm, das aus dieser Nähe so schrecklich groß wirkte. Ihre Beine versagten ihr den Dienst. Sie konnte einfach nicht weglaufen. Das war der Augenblick, wo der Hund jetzt eingriff und mit lautem Gebell den Bullen auf sich aufmerksam zu machen versuchte. Auch wenn dies nur ein kurzer Moment war, so reichte diese Zeitspanne doch noch für Oric aus, um seinen Speer zu schleudern. Die scharfe Waffe bohrte sich direkt in die Kehle des Bullen. Das Tier wurde abrupt zum Stehen gebracht und es knickte mit seinen Vorderhufen nur wenige Schritte von Arna entfernt ein, während die anderen Forcas mittlerweile in Panik gerieten und einfach davon stürmten. Keiner der übrigen Jäger kümmerte sich jetzt noch um die fliehenden Tiere. Sie hatten drei der zottigen Forcas erlegt - das war mehr als sie erhofft hatten. Dennoch zeichnete sich Unmut in Trondyrs Gesichtszügen ab, als er zu Arna geeilt kam und sie mit vorwurfsvollen Blicken bedachte. »Du hättest sterben können, Mädchen!«, tadelte er sie. »Wenn dein Hund nicht gewesen wäre, dann hätte dich der Bulle mit seinen Hörnern aufgespießt. Musstest du denn so leichtsinnig sein?« Erst jetzt legte sich allmählich der Schock, der Arnas Körper gelähmt hatte. Sie schluckte und suchte verzweifelt nach Worten. Erst jetzt wurde ihr so richtig bewusst, in welch gefährliche Situation sie sich eigentlich gebracht hatte. »Verzeih mir, Trondyr...«, stammelte sie. »Aber ich wollte doch nur den Speer...« »Danke Oric, dass er mit seinem zielsicheren Wurf das Schlimmste verhindert hat«, unterbrach sie Trondyr. »Und dein Hund hat dir auch beigestanden. Vielleicht wird dir dies eine Lehre sein - denn ein guter Jäger wartet immer ab, bevor er handelt.« Arna nickte, sie hatte ihre Lektion gelernt. So schnell würde sie gewiss nicht vergessen, wie nahe sie an der Schwelle des Todes gestanden hatte. 27
»Machen wir uns an die Arbeit«, entschied Trondyr, als er die getöteten Forcas sah. »Es gibt noch viel zu tun für uns - wir wollen die Hungrigen unter uns nicht unnötig warten lassen!« Nun begann der eigentliche aufwendige Teil der Jagd - eine Aufgabe, die normalerweise den Frauen des Stammes überlassen wurde, wenn die Jäger ihr Wild erlegt hatten. Ausnehmen und Abhäuten zählte zu den Pflichten der Frauen - aber jetzt war eine andere Situation. Nichts war mehr wie früher, alles hatte sich verändert. Mit dieser neuen Lage mussten sie sich nun abfinden und deshalb machten sich die Jäger sofort ans Werk. Geschickt verrichteten sie diese Arbeiten und Arna machte sich hier besonders nützlich, weil sie das Gefühl hatte, etwas gutmachen zu müssen. Die Sonne hatte ihren höchsten Stand schon längst überschritten, als die Jäger das Abhäuten und Zerlegen der Tiere beendeten. Es würde noch anstrengend genug werden, all diese Vorräte zurück zur Höhle zu tragen. Aber jedes Stück Fleisch sicherte ihnen das Überleben in dieser winterlichen Wildnis. Zum ersten mal seit einigen Tagen breitete sich so etwas wie Optimismus unter den Menschen aus, als sie sich mit den besten Stücken ihrer Jagdbeute zurück auf den Weg zur Höhle machten. Immer wieder hielten Trondyr und seine Gefährten Ausschau nach Gefahren, blickten des öfteren zum fernen Horizont - aber nach wie vor blieb alles still. Hätten sie nicht gewusst, dass weiter südlich alles menschliche Leben brutal vernichtet worden war, so hätte man fast von einem normalen Tag sprechen können. Mittlerweile hatte sich sogar die winterliche Sonne gezeigt und hatte die dichten Wolken für eine kurze Zeit lang vertrieben. Es war zwar immer noch bitter kalt, aber die Sonne gab den Menschen ein weiteres Stück Hoffnung. Sie hatten ungefähr die halbe Strecke bis zur Höhle hinter sich gebracht, als sich der Himmel auf einmal schlagartig veränderte. Plötzlich zuckten im Nachmittagslicht grelle Blitze auf und der ganze Himmel wurde ein Meer aus Farben. Aber kein einziger Donnerschlag war zu hören - also war es kein Gewitter. 28
»Was... was hat das zu bedeuten, Trondyr?«, erkundigte sich Renno mit unterdrückter Angst in der Stimme bei dem alten weißhaarigen Krieger. »Dieses Leuchten... ich habe so etwas noch nie gesehen...« Trondyr konnte nicht gleich darauf antworten, denn in diesem Augenblick wurde er ebenfalls von zwiespältigen Gefühlen hin und her gerissen. Er blickte zusammen mit den anderen hinauf zum Himmel und glaubte für einen kurzen Moment, irgendwelche eigenartige sphärenhafte Klänge vernommen zu haben. Aber dann schüttelte er doch kurz den Kopf und schrieb dies seinen angespannten Sinnen zu. »Kommt, lasst uns zurückgehen«, forderte er dann die anderen auf. »Man wartet in der Höhle auf uns - die Frauen und Kinder sind hungrig...« Sie hatten es nun eilig, an den Ort zurückzukehren, der für sie bis jetzt eine Zuflucht dargestellt hatte. Kurze Zeit später waren lächelnde Gesichter der Dank für die Jagd. Die herzhaftesten Stücke Fleisch wurden über offenem Feuer geröstet und jeder aß sich zum ersten mal seit Tagen wieder richtig satt. Dann erschallte draußen plötzlich ein lauter Donnerschlag, dessen Echo geisterhaft von den Höhlenwänden zurückgeworfen wurde. Voller Sorge erhoben sich die Menschen vom Feuer und die Mutigsten von ihnen eilten hinüber zum Höhleneingang. Trondyr, Arna, Sventa und Renno waren die ersten, die nun Zeugen eines nur schwer zu beschreibenden Ereignisses wurden. Der Himmel hatte sich auf einmal seltsam verfärbt. Die einst blaue Farbe hatte sich für kurze Zeit in ein warmes Violett verwandelt und die Farbe nahm an Intensität zu, je heftiger die Donnerschläge wurden. Dieses seltsame und zugleich beängstigende Spektakel hielt für einige Minuten an, die sich für die besorgten Menschen fast zu einer Ewigkeit hinzogen. Dann war es aber auch schon wieder vorbei und Stille kehrte ein. Aber diesmal war es keine beängstigende Stille - nein, es ließ sich vielmehr mit einer schützenden Ruhe beschreiben. »Irgend etwas geschieht...«, murmelte Trondyr. »Etwas, das auch Folgen für uns hat. Wir sollten herausfinden, was das alles zu bedeuten hat. Es ist...« 29
Er brach ab, als er genau wie die anderen sah, wie sich der Himmel ganz weit am Horizont plötzlich veränderte. Dort blieb die violette Farbe, die bis vor kurzem noch am ganzen Firmament zu sehen gewesen war. Hatte das womöglich zu bedeuten, dass die finsteren Mächte näher gekommen waren? »Wir müssen... dorthin«, sprach Arna das zum ersten mal aus, was die meisten der anderen jetzt gedacht hatten. Trondyr nickte nur, denn er wusste, dass das junge Mädchen recht hatte. Er hatte gespürt, dass etwas Folgenschweres geschehen war, etwas, das man nicht mehr rückgängig machen konnte. »Gut«, entschied er schließlich. »Renno und Oric - ihr werdet gehen«, trug er den beiden Kriegern auf. »Aber seid vorsichtig - sobald ihr bemerkt, dass Gefahr droht, kehrt ihr sofort wieder zurück. Habt ihr das verstanden? Ihr dürft auf gar keinen Fall euer Leben riskieren. Wir brauchen euch!« Die beiden Männer nickten nur. Sie wussten, was man von ihnen erwartete und deshalb brachen sie auch schon kurze Zeit später auf. Die Frauen hatten ihnen noch etwas von den Vorräten mitgegeben und schon bald verschwand die Zuflucht aus ihren Blicken. Die weite, winterliche Ebene nahm sie auf und ihr Weg führte jetzt in Richtung des violett schimmernden Horizontes. * Sie wussten nicht genau, wie viel Zeit verstrichen war, seit sie die Letzten ihres Volkes verlassen hatten und in Richtung Horizont aufgebrochen waren. War es ein Tag, zwei oder vielleicht auch schon drei Tage? Irgendwann hatten sie nicht mehr darauf geachtet, denn mittlerweile waren sie fast von einem Fieber ergriffen, je mehr sie sich dem violetten Leuchten näherten, das nun deutlich an Intensität zugenommen hatte. Renno und Oric hatten sich während dieser Zeit nicht viel Ruhe gegönnt. Sie wollten so rasch wie möglich herausfinden, was das alles zu bedeuten hatte und dann wieder zu ihren Leuten zurückkehren, die sicherlich schon voller Sorge auf sie warteten. 30
»Siehst du das Leuchten?«, unterbrach Oric jetzt das Schweigen, das zwischen den beiden schon seit geraumer Zeit herrschte. »Genau dort vorn - es sieht aus wie...« Er hatte große Mühe, seine Empfindungen in Worte zu kleiden, aber Renno hatte auch so begriffen, was sein Gefährte ihm damit sagen wollte. Auch er hatte mittlerweile erkannt, dass das eigenartige Licht auf einmal milchig geworden war. Der Horizont erschien jetzt seltsam verwaschen und undeutlich. Und dann sahen die beiden Krieger auch, warum das so war. Weiter vorn, wo das Gelände ein wenig anstieg und zahlreiche eisbedeckte Gletscher die Landschaft prägten, breitete sich auf einmal ein dichter Nebel aus, der die gleiche violette Farbe besaß wie der gesamte Himmel an dieser Stelle. Unwillkürlich hielten Oric und Renno inne und blickten misstrauisch auf den Nebel, der so dicht und intensiv wirkte, wie sie es noch nie zuvor gesehen hatten. »Sollen wir... wirklich weitergehen?«, wollte Oric nun von seinem Gefährten wissen. »Ich habe kein gutes Gefühl, wenn wir jetzt in diesen Nebel eindringen. Irgendwie denke ich, dass wir das auch nicht sollen.« »Meinst du etwa, dass dieser Nebel eine Art Grenze ist?«, führte Renno die Gedankengänge seines Gefährten fort. »Das würde ja dann bedeuten, dass...« »Vielleicht ist es eine Grenze«, unterbrach ihn Oric. »Wichtig ist nur, dass niemand diesen Nebel durchdringen kann - erst recht nicht von der anderen Seite, verstehst du?« Renno nickte heftig, als ihm klar wurde, was Oric damit sagen wollte. Wenn dieser Nebel eine Barriere war, die die Finsternis daran hinderte, weiter vorzudringen - wer bei allen Göttern hatte ihn dann erschaffen? »Komm, lass uns zurückkehren«, murmelte Oric ergriffen. »Vielleicht weiß Trondyr ja eine Antwort darauf.« Renno wusste, dass sein Gefährte recht hatte. Angesichts dieses violetten Nebels, der niemals zuvor existiert hatte, wurden auch diese beiden Menschen sich allmählich der Tatsache bewusst, dass nach wie vor Dinge geschahen, die das Äußere ihrer Welt völlig veränderten. Aber sie wussten nicht, was das nun zu bedeuten hatte... 31
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Zwischenspiel II Der Kosmos ist gewaltig und unermesslich. Im Rahmen der Schöpfung entstehen und sterben immer wieder neue Welten. Ganze Universen werden neugeboren, während anderswo Sonnen eruptieren und die ihr nahe stehenden Planeten dadurch in den Strudel der Vernichtung geraten. Weit draußen, irgendwo am Rande des Kosmos, zwischen Sternen und Nebeln, zog die Barke des FÄHRMANNS ihren Weg, nahm Kurs auf neue Universen, die erst noch im Entstehen begriffen waren. Und wie jedes mal registrierte das unfassbare Wesen Geburt und Tod mit ausdrucksloser Miene - denn für den FÄHRMANN war die Lebensdauer eines Planeten nur ein winziger Hauch von Zeit. Er sah Welten kommen und gehen, hatte Kulturen aufblühen und sterben sehen - so viele, dass er deren Namen bereits wieder vergessen hatte - sie waren auch schon längst untergetaucht im Strudel der stetig strömenden Zeit. Und wieder streifte die Barke diesen Teil des Universums, wo er noch vor kurzem gewaltige Unruhen erlebt hatte. Die alte Ordnung war schwer erschüttert worden - und die Herrscher dieser Welt von neuen Eroberern vernichtet. Er selbst hatte diejenigen, die sich ›Götter des Lichts‹ nannten, lange beobachtet, weil er wissen wollte, was weiter geschah. Wie jedes Wesen, das von jenseits der Sphären kommt und so alt ist, dass selbst die ältesten Götter sich nicht mehr daran erinnern, wartete der FÄHRMANN erst einmal den Lauf der Dinge ab und sah nur zu. Er erkannte die Bedeutung der letzten Schlacht zwischen Licht und Finsternis, aber er griff nicht ein, denn es war nicht seine Aufgabe, das Schicksal einer Welt zu verändern. Er war nur ein kosmischer Beobachter, dessen Bestimmung eine ganz andere war - er erfüllte eine Aufgabe, die selbst die herrschenden Götter der zahlreichen Welten mit ihren Sinnen nicht mehr erfassen konnten. Und doch - einmal hatte er eingegriffen, als die Kreaturen von jenseits der Flammenbarriere ihre Herrschaft auf dieser Welt ange32
treten und zusammen mit den Mächten der Finsternis die Kräfte des Lichts vernichtet hatten. Der FÄHRMANN hatte mit seiner Barke Raum und Zeit durchquert und hatte mit seinen unvorstellbaren Kräften diejenigen, die sich ›Götter des Lichts‹ nannten, dem Zugriff der dunklen Wesen entrissen - zwar nur für eine vergleichbar winzige Zeitspanne. Aber es hatte trotzdem ausgereicht, um ihnen die Ausweglosigkeit ihrer Situation vor Augen zu halten. Sie waren nach wie vor Gefangene - auch wenn der FÄHRMANN ihnen nun Dinge zeigte, die selbst für sie neu waren. Ihr Mut und ihre letzte Hoffnung schwand in dem Moment, als die Barke die Blase aus Licht und Zeit streifte, die den Krieger des Lichts für immer und ewig dort fesselte und ihn nie wieder freigeben würde - dafür hatten die Mächte der Finsternis schon gesorgt. Und die grausamen Skirr waren auf ihrer Seite! Mit ausdrucksloser Miene sah er, wie ganze Kontinente dieser Welt in Flammen aufgingen und Menschen zu Tausenden ein Opfer der schrecklichen Kreaturen der Finsternis wurden. Aber auch der Tod ließ ein Wesen wie den FÄHRMANN kalt - denn er kannte Anfang und Ende der Zeit, war mehrmals dort gewesen, hatte Mysterien und Realitäten erfahren, die selbst die Götter der Welten niemals begreifen werden. Dazu lebten sie schon zu lange auf diesen Welten - sie hatten vergessen, von wo sie einst gekommen waren... Der FÄHRMANN wendete schon wieder seine Barke und wollte sie erneut in den Strudel aus Zeit und Raum gleiten lassen, als er plötzlich inne hielt. Zuerst blieb sein Gesicht ausdruckslos, als seine unfehlbaren Augen und Sinne die Geschehnisse auf dieser Welt weiterhin beobachteten - aber dann änderte sich auf einmal etwas. Genau in dem Augenblick, als der FÄHRMANN erkannte, welche Absicht die Skirr in Wirklichkeit verfolgten. Er begriff den wirklichen Sinn der Stahlburgen, die diese spinnenähnlichen Wesen auf der Welt errichtet hatten und er hörte das Klagen der Sphären. Er wusste, was geschehen würde, wenn er jetzt diesen Teil des Universums verließ. Zum ersten mal seit Äonen geschah nun etwas völlig Unbegreifliches. Ein Wesen aus Raum und Zeit griff ein in das Schicksal einer eigentlich eher unbedeutenden Welt. Der FÄHRMANN erschrak darüber, weil die Dinge schon so weit fortgeschritten waren. Die Skirr 33
hätten es niemals wagen dürfen, ihr Universum zu verlassen und diesen Teil des Kosmos zu bevölkern. Er sah nun die großen Veränderungen, die ganz sicher kommen würden. Für einen unermesslich winzigen Augenblick glitten seine Sinne zurück ans Ende der Zeit - und er erschrak, als zur Gewissheit wurde, was sich hier immer deutlicher abzeichnete. Ein unbeschreiblicher Zorn ergriff den FÄHRMANN, weil die Skirr es gewagt hatten, mit den bestehenden Ordnungen der übergeordneten Sphären zu experimentieren und dadurch alles ins Wanken zu bringen. Selbst er, der FÄHRMANN war dadurch indirekt bedroht - und wenn ein Wächter des Universums durch gewissenlose Eingriffe anderer Wesenheiten in Gefahr gerät, dann darf auch er das nicht länger ignorieren. Der FÄHRMANN erkannte in aller Deutlichkeit, dass er nicht länger zögern durfte. Seine Sinne fühlten die schlafenden Kräfte eines neugeborenen Wesens und je näher er sich daran herantastete, um so mehr wusste er, dass es richtig war, was er nun tat. Zusammen mit den grausamen Skirr hatten es die Mächte der Finsternis geschafft, ein Reich des Schreckens auf dieser Welt zu errichten - und auch jetzt noch drangen ihre furcht erregenden Kreaturen immer weiter vor, um selbst die letzten, noch lebenden Menschen zu vernichten. Soweit würde es aber nicht mehr kommen, denn nun wirkten die Kräfte des unfassbaren FÄHRMANNS. Nur mit der Macht seines Geistes erschuf er nun etwas, was man viel später als INSELN DES LICHTS bezeichnen sollte. Sein Geist tauchte ein in die ihm bekannten Sphären, vermischte sich dort mit einem Teil einer kaum zu begreifenden Energie und transferierte diese in den Teil der Welt, wo sie gebraucht wurde. In nur wenigen Augenblicken manifestierte diese Energie an verschiedenen Orten der Welt. Die Mächte der Finsternis, die schon auf dem Vormarsch gewesen waren, wurden abrupt gestoppt und begriffen nicht, was hier geschah - und in dieser Zeitspanne gewannen die INSELN DES LICHTS immer mehr an Kraft... Schließlich hielt der FÄHRMANN irgendwann ein. Ein winziger Schritt war nun getan, um hier auf dieser Welt erst einmal Einhalt zu 34
gebieten - den verantwortungslosen Wesen nämlich, die es gewagt hatten, die ORDNUNG verändern zu wollen. Dies kam einem ungeheuren Frevel gleich und deshalb wusste der FÄHRMANN, dass er jetzt nicht mehr länger zögern durfte. Er lenkte seine Barke wieder in den Strom, hatte diesmal aber ein festes Ziel. Nämlich die unfassbaren Sphären, die sich zu verändern begannen. Er musste sich beeilen, wenn er die Dinge noch aufhalten wollte! * Ein Seufzen entrang sich Thunors Mund, leise und gequält - und in dieser Zeit verdunkelte sich das Antlitz der Erde noch ein wenig mehr. Ansonsten herrschte Stille in dem dunklen Verlies, in das die übermächtigen Skirr die drei Götter gebracht und dort angekettet hatten die Stille des Todes umgab sie von allen Seiten und es war eine Stille, die man hören und fühlen konnte. Der FÄHRMANN schien bereits vor undenklicher Zeit wieder verschwunden zu sein, nachdem er zuletzt auch den Donnergott Thunor aus seiner Barke entlassen hatte und in den unergründlichen Tiefen des ätherischen Kosmos wieder untergetaucht war. Nur mit Schaudern erinnerte sich Thunor an die zartgliederige Hand, an das kindlich wirkende Geschöpf, dem sich selbst ganze Sterne beugen mussten, wenn es denn für nötig empfunden wurde. Wie viel Zeit ist seit unserer Gefangennahme inzwischen verstrichen?, fragte sich der einäugige Einar zum wiederholten male. Was ist wohl aus Thorin geworden, der eingeschlossen ist in dieser seltsamen Blase? Er war doch die einzige Hoffnung für die Welt der Menschen und jetzt ist diese Hoffnung zunichte gemacht worden. »Bei den unerklärlichen Kräften des Kosmos«, murmelte Einar vor sich hin und dachte dabei auch an solche Wesenheiten wie die-überdie-man-nicht-sprechen-sollte. »Ist denn niemand da, der uns Hilfe gewähren könnte?« Während er das sagte, sackte er in den Ketten der Skirr - die selbst er und seine Götterbrüder nicht sprengen konnten kraftlos zusammen. Niemals hatte er sich in seinem schon seit Äonen währenden Leben so hilflos gefühlt. 35
Azach und R'Lyeh hatten ganze Arbeit geleistet und auch die Skirr mit ihren Stahlburgen schienen unüberwindbar. Ausgeschlossen, dass es irgendeinem Sterblichen gelingen konnte, die Stahlburgen zu überwinden. Und falls dies einmal geschehen sollte (womit eigentlich nicht zu rechnen war), dann waren da immer noch Legionen von fremdartigen Skirr, die es zu besiegen galt. Allein dieser Gedanke war schon so unvorstellbar, dass Einar ihn schon wieder ganz schnell aufgab. Denn da waren ja auch noch die beiden Götter der Finsternis selbst - nämlich Azach und R'Lyeh, die es niederzuringen galt. Und deshalb nützte es auch nichts, dass Einar in den Augen seines Götterbruders Odan unbeschreiblichen Hass auflodern sah, geradezu brennenden Hass auf die spinnenartigen Wesen von jenseits der Flammenbarriere. Es war eine wilde, alles verzehrende und zugleich auch ohnmächtige Wut, die einem Gott irgendwann in seiner Hilflosigkeit zum Verhängnis werden musste. Denn sie hatten einmal diese Welt beherrscht. Aber die letzte Schlacht zwischen Licht und Finsternis hatte alles verändert. Nun regierten die dunklen Mächte auf dieser Welt! Wieder und wieder hatte sich Einar in dem dunklen Verlies umgesehen. Anfangs waren sie noch in einer Art Turmzimmer gefangen gehalten worden - in einem Raum, wo an den Wänden in einem Regal zahlreiche Bücher in unbekannten Sprachen aufgereiht gestanden hatten. Der wissbegierige Einar hatte diese Gelegenheit natürlich sofort genutzt und hatte sich einige dieser Bücher vorgenommen, um in ihnen vielleicht Hinweise zu finden, die ihnen weiterhelfen konnten. Aber die Skirr wollten auf Nummer Sicher gehen und verhinderten das sehr rasch. Sie schafften ihre Gegner daraufhin in die unheimlichen Tiefen einer der zahlreichen Stahlburgen. In ein dunkles Verlies, das nach außen hin dutzendfach gesichert war. Keiner der beiden Götter der Finsternis hatte sich seitdem mehr sehen lassen - diese schienen ihre besiegten Gegner mit ihrer Gefangennahme ganz vergessen zu haben. Tatsache war jedoch, dass sie alle Hände voll damit zu tun hatten, die Dunkelheit über die Länder der Erde auszubreiten. Sie suhlten sich in den abgrundtiefsten Schlechtig36
keiten, die ihren krankhaften Gehirnen entsprangen. Ganze Völker bekamen ihre strenge und ungerechte Herrschaft zu spüren. Und die Götter des Lichts konnten nichts mehr tun - denn die dritte Macht von jenseits der Flammenbarriere hinderte sie daran. Das Verlies war nur mit drei spartanisch ausgestatteten Lagern eingerichtet. Die Wände bestanden aus einem bläulich-schwarz poliertem Metall, das selbst die Götter in ihrem langen Leben noch nicht gesehen hatten. Dünne, nur wenige Zentimeter breite Schlitze ließen etwas Licht von der Außenwelt zu. Die Skirr selbst schienen sich auch in dieser Dunkelheit ausgezeichnet zurechtzufinden. Es gab scheinbar keinerlei Schwachpunkte. Immer wieder suchte Einars magisches Auge das Gefängnis ab. Aber er konnte einfach keine vernünftig erscheinende Möglichkeit sehen, wie sie ihrem Gefängnis in der Stahlburg möglicherweise doch noch entfliehen konnten. Anfangs hatten sich die drei Götterbrüder noch die kühnsten Pläne zugeraunt, bis die bösartigen Skirr diese Absicht brutal zunichte gemacht hatten. Sicher - Götter sind erstaunlich widerstandsfähige Lebewesen in der Hierarchie des Kosmos, doch auch ihnen sind Grenzen gesetzt - und die Skirr fanden diese Grenzen sehr schnell heraus! Trostlosigkeit - selbst für Einar, Thunor und Odan, war kein angenehmer Begleiter. Und mit jedem fahlen Sonnenaufgang, spärlich durch einige Ritzen in das Verlies der Dämmerung sickernd, wurde den Göttern ihre eigene Ausweglosigkeit bewusster. Ihnen selbst erschien es als größte Strafe, angekettet zu sein und auf Ewigkeiten der Rettung von Außen harren zu müssen - so wenig wahrscheinlich dieser Gedanke auch war. So musste es kommen, wie es eines Tages das unergründliche Schicksal auch vorgesehen hatte. Die Dämmerung in dem Verlies der Götter des Lichts war noch ein wenig intensiver und die Stimmung zwischen den drei Brüdern ausgesprochen schlecht. Einar hatte schon seit einigen Wachzyklen gar nichts mehr gesagt. Er reagierte noch nicht einmal, als Thunor und Odan leise auf ihn einredeten. Selbst die Skirr verhielten sich in ihrer kaum zu begreifenden Fremdheit äußerst merkwürdig an diesem Tag. In den Ecken waren sie dutzendweise übereinander gekrochen und hatten metallisch wirkende 37
Spinnweben bis unter die Decke gewoben. Genau davon kam ein Schwall übel riechender Luft, gepaart mit seltsamen Tönen aus zangenbewehrten Mündern. Einar saß ganz zusammengesunken. Sein Kopf hing vorn auf der Brust, fast schien es, als lebe er gar nicht mehr. Plötzlich kam ein tiefer keuchender Ton aus seiner Brust. Gleichzeitig fiel sein Kopf wieder nach hinten und der Mund öffnete sich zu einem markerschütternden Schrei. Sein Gesicht schien nicht mehr ihm selbst zu gehören - es war schrecklich anzusehen. Das milchige Auge war ohnehin schon ein Mysterium der besonderen Art und nun hatte sich auch noch sein gesundes Auge so verdreht, bis nur noch das Weiße zu sehen war. »Schweig, Einar!«, rief der besorgte Thunor, denn er ahnte, dass die Skirr auf dieses eigenartige Verhalten seines Bruders sicher reagieren würden. Er und Odan hatten natürlich schon bemerkt, dass die Skirr in der Ecke plötzlich aufgehört hatten, ihr seltsames Netz zu weben. »Einar, hörst du nicht? Sie werden auf dich aufmerksam!« Doch Einar bekam gar nichts mit. Aus den Rändern seiner Lippen tropfte Speichel. Sein Mund war ganz weit aufgerissen und sein unmenschliches Schreien wurde immer lauter und hallte von den metallisch-schwarzen Wänden des Verlieses als gespenstisches Echo wider. Thunor stieß einen leisen Fluch aus und sein Bruder Odan zerrte vergebens an den schweren Ketten. Beide konnten nicht mehr verhindern, was nun geschah. Wieselflink huschten die aufgeschreckten Skirr über den kalten, aber trockenen Boden des Verlieses. Direkt auf den angeketteten Einar zu, der immer noch aus vollem Halse schrie. Selbst als die ersten Skirr über den gefesselten Gott herfielen, verstummten Einars Schreie immer noch nicht. Die mächtigen, spinnenähnlichen Wesen verbissen sich regelrecht in den zuckenden Körper Einars. Immer noch kamen sie zu Dutzenden aus den dunklen Ecken des Verlieses, wo sie sich bisher vor den Blicken der drei Götter verborgen hatten - sie waren die ganze Zeit über in greifbarer Nähe gewesen
(etwa so, wie es Kindern geht, die ihren Eltern erzählen, dass eine fette monströse Spinne in der Ecke hängt - doch der Vater kann beim 38
besten Willen nichts in dieser Ecke finden. Bis er das Licht löscht und gegangen ist - dann beginnt das Rascheln erneut...) Irgendwann war Einars Körper unter einem wimmernden Knäuel zuckender Spinnenleiber verschwunden und die Luft war erfüllt mit dem schauderhaften Knacken der Gebisse, mit dem Zischen und Fiepen der eigenartigen Skirr-Sprache. Doch Einar - denn Götter gehören schließlich nicht zu den sterblichen Lebewesen - schrie immer weiter, kreischte aus vollem Halse in glockenhellen, erbarmungswürdigen Lauten. Schließlich wandten sich Thunor und Odan in ihrer Hilflosigkeit ab, denn sie wurden durch die Ketten gehindert, ihrem Bruder beizustehen. Hoffungslos und ohnmächtig vor Wut mussten sie zusehen, wie die Skirr Einar auf unmenschliche Weise quälten und bissen. In ihre Herzen nistete sich eine alles umfangende Dunkelheit ein. Irgendwann ließen die Skirr wieder von ihrem hilflosen Opfer ab und das Schaben und Knacken der vielen Glieder verstummte zur Gänze. Sie verschwanden genauso schnell in den dunklen Ritzen und Ecken des dämmrigen Verlieses wie sie aufgetaucht waren. Odan und Thunor atmeten erleichtert auf, aber das war nur ein schwacher Trost, als sie im fahlen Licht, das durch die winzigen Ritzen fiel, erkannten, wie schlimm die Spinnenwesen ihren Götterbruder zugerichtet hatten. Einar atmete ganz flach. Sein Gesicht sah völlig verquollen aus, übersät mit zahlreichen Bisswunden, üblen Verfärbungen und Schwellungen. Jeder andere wäre an diesen Wunden womöglich gestorben nicht aber ein Gott, dem eine höhere Bestimmung von den Mächten des Kosmos zuteil geworden ist. Selbst wenn das die drei besiegten Götter des Lichts in diesem Augenblick nicht wahrhaben wollten. »Einar!«, rief Thunor mit stockender Stimme. »Was ist? Bist du wieder...« Der einäugige Gott öffnete jetzt mühsam den Mund. Zuerst verstanden weder Odan noch Thunor irgendein Wort. Vielleicht lag es aber auch an der Angst in ihrem Herzen, die sich dort wie ein eisiger Schrecken eingenistet hatte und einfach nicht mehr weichen wollte. Sie hielt die drei Götter gefangen in dieser kalten und feuchten Däm39
merung des Verlieses. Deshalb vergingen bange Augenblicke, bis Einar schließlich wieder soviel Kraft gesammelt hatte, dass seine beiden Brüder verstehen konnten, was er ihnen nun zu sagen hatte. Erste Wortfetzen brachen den Damm des Vergessens in Einars Erinnerungen. Nun begriffen auch Einars Brüder, was er ihnen zu sagen hatte. »... der Hohe Herr. Kommt, Brüder, der Hohe Herr hat uns gerufen!« Gleichzeitig mit diesen wenigen Worten kam etwas zum Vorschein, was äonenlang in Einars Erinnerungen und denen seiner Brüder verschüttet gewesen war. Dinge, die sehr, sehr lange zurücklagen und nun wiederkehrten... * Einar war nur einer der vielen Söhne des Hohen Herrn und der Hohen Dame. Schon lange hatten sie den Hohen Herrn nicht mehr zu Gesicht bekommen - schließlich kümmerte sich ihr ältester Bruder METHUSALEM um die Menschentraube, die nur wenige Tagesreisen von der KUPPEL entfernt lebte. Der Hohe Herr und die Hohe Dame waren - so lange sich Einar erinnern konnte - immer unterwegs. Es hatte etwas mit der KUPPEL zu tun, doch trotz aller Kameradschaft zu ZEUS, einem entfernten Verwandten, hatte Einar niemals mehr über das erfahren, was die KUPPEL betraf. Einar mochte das einfache Leben, das Dasein eines Hirtenjungen auf den Weiden. Jeder im Dorf hatte eine bestimmte Aufgabe und über allen wachten der Hohe Herr und die Hohe Dame. Einar konnte sich bereits jetzt schon nicht mehr an die Sonnenaufgänge und Sonnenuntergänge erinnern, die er erlebt hatte. Aber ATON, der starke ATON, behauptete immer noch, Einar sei nur ein kleines Kind. Womit er vielleicht recht hatte, denn Einar zog sich oft von den anderen zurück. Er liebte die endlosen Steppen, die immerwährenden milden Sommer. Das Leben hätte so ewig weitergehen können, wäre nicht in dem Verlauf eines einzigen Tages für Einar alles anders geworden. 40
Einar durchstreifte das Gelände, vorbei an den Stallungen in Richtung Marktplatz. Auf einmal war das Gerücht in der Luft. Zuerst achtete Einar gar nicht darauf, sondern hing vielmehr seinen sommerschweren Träumen nach. Doch schließlich drangen einzelne Wortfetzen in seinen Kopf.
»... der Hohe Herr ist wieder da! Er braucht uns - eine Mission...« Einar fühlte sich plötzlich äußerst lebendig. Alles versammelte sich in der Mitte des großen Marktplatzes. Ein Windstoß kam auf, der Einar etwas Sand in die Augen trieb. Man drängelte sich an ihm vorbei, während er sich die Körner aus den tränenden Augen zu wischen versuchte. Seine Verwandten bildeten vor ihm eine fast undurchdringliche Mauer. Alles Schubsen und Drängeln half nichts - er kam nicht näher heran an den Hohen Herrn, der auf einem hölzernen Lehnstuhl in der Mitte des Platzes saß. Einar wurde es schwer ums Herz, als er die Stimme seines Vaters nach endlos erscheinender Zeit das erste mal wieder hörte. Er liebte seinen Vater, er liebte auch seine Mutter, die Hohe Dame - aber ganz besonders seinen Vater, der eine Rippe für sie alle gegeben hatte, damit sie leben konnten... Lange Zeit war sein Vater im WEITDRAUSEN gewesen, den unbekannten Landstrichen mit ihrer seltsamen Flora und Fauna. Er war immer wieder bei der KUPPEL gewesen, um dort nach einem Eingang zu suchen, denn ein großes Unheil schwebte unsichtbar über ihnen allen, solange sie noch verstoßen waren. Auf einmal schauderte es Einar, als sich die Stimme seines Vaters mit einer früheren, aber immer noch mit derselben Stimme vermischte. »... ich werde nicht aufgeben... niemals. Es ist... unsere Bestimmung...« Zustimmendes Gemurmel machte sich unter den Anwesenden breit. Gleichzeitig wurde das Wetter immer schlechter. »Ich lasse mich nicht abhalten und bin auf eure Mithilfe angewiesen!«, erklang erneut die Stimme des Hohen Herrn. »Die Jungen unter euch und die Starken - versammelt ihr euch alle morgen früh. Dann brechen wir auf zur KUPPEL!« 41
Einar erschrak, als er diese Worte aus dem Munde seines Vaters vernahm. Er sah die klaren, himmelblauen Augen des Hohen Herrn in dem gütigen Gesicht mit den hellen Haaren, die im Sonnenlicht zu glitzern schienen. Ein Raunen ging durch die Menge seiner Verwandten. Einar konnte erst leise und dann immer deutlicher das Wort ›KUPPEL‹ hören - und schließlich stimmte er lautstark mit ein. * In dieser Nacht schlief der junge Einar sehr unruhig. Er sah den Hohen Herrn und die Hohe Dame vor einem Baum stehen. Aber da war noch etwas - etwas, was ihm sehr merkwürdig, ja fast unheimlich erschien. Ohne dass er darauf eine Erklärung finden konnte. Obwohl es nur ein Traum war, spürte er die Furcht, die ihn gepackt hatte und nicht mehr loslassen wollte. Ein greller Lichtblitz erfüllte die Nacht und fror ein. Kein Schatten. Alles so erbarmungslos klar. Wieder konnte er den nackten Körper seines Vaters sehen. Zuerst vermutete Einar, dass der Hohe Herr aufgebracht war, als er dessen wirbelnde Arme erkannte. Doch dann sah er das schiere Entsetzen in dessen Augen. Er schrie der Hohen Dame etwas zu, die nahe beim Baum stand - und Einar rannte daraufhin in den Dschungel. Er wusste nicht wirklich, wo er sich befand, denn die Szene des gesamten Traums war ihm unbekannt. Doch das Böse in den Bäumen wirkte selbst dann noch real, als er schreiend und schweißgebadet aus diesem Traum erwachte. Am Nachmittag desselben Tages war ein großer Treck unterwegs in Richtung KUPPEL. Sie würden der Sonne auf diesem Weg mehrere Tagesreisen folgen. Einar, der sich allen anderen angeschlossen hatte, spürte zwischen allen seinen Brüdern und Schwestern, dass jetzt der Tag einer neuen Zeit anbrach. Etwas ganz Eigenartiges geschah, etwas, das er mit seinen Sinnen noch nicht ganz erfassen konnte. Und doch spürte er diese gewaltige Veränderung mit jedem verstreichenden Tag immer deutlicher - je näher sie der KUPPEL kamen. Am Abend des vierten Tages nach dem Aufbruch kam ein Sturm auf, der rasch an 42
Stärke zunahm. Schließlich wurde es so schlimm, dass man die mitgeführten Tiere zusammenbinden musste. SETH sprach mit dem Hohen Herrn und schlug ihm vor, nur mit einigen Auserwählten das letzte Stück des Weges zur KUPPEL zu gehen. Einar konnte nicht alles hören, was sein älterer Bruder SETH dem Hohen Herrn zu sagen hatte, denn die Wucht des Windes riss einem die Worte von den Lippen und trug sie mit sich in unerreichbare Fernen. Er konnte jedoch sehen, wie der Hohe Herr nickte und Einar fühlte, dass es noch viel schlimmer werden würde, je näher sie der KUPPEL kamen. Schließlich einigte man sich darauf, wer zurückbleiben würde und Einar war traurig, als er erfahren musste, dass das Los auch auf ihn gefallen war. Hinter ihnen, vielleicht eine halbe Tagesreise zurück, erstreckte sich ein Tal, das über einen gewissen Zeitraum (der sogar für die Ewigkeit mehr als einen Lidschlag lang war) als Oldoway-Schlucht eine gewisse Bekanntheit erlangen würde. In diese Schlucht zogen sich nun Einar und die anderen Mitglieder der großen Familie zurück, um die Rückkehr der Übrigen abzuwarten. Es war ein großer Talkessel, umgeben von mehr als hundert Meter hohen Steilhängen, übersät mit einem Geröllfeld loser, scharfkantiger Steine und einer spärlichen Vegetation. Es sollte sich schon bald als Fehler herausstellen, dass SETH sie hierher geschickt hatte, denn das Wetter wurde stürmischer. Mehr und mehr verdichteten sich die schwarzen Gewitterwolken und mit ihnen kamen die Wassermassen. Niemand dachte in diesem Moment an das spärliche Rinnsal am südlichen Rand der Schlucht, das sie alle passiert hatten, ohne sich darüber lange Gedanken zu machen. Ein kleiner Einschnitt schräg vor ihnen sollte sich binnen weniger Stunden verbreitern und mit dem Wasser kamen Steine - und danach dann die große Flut! * Der Hominide stand mit hoch erhobener Schnauze und sog kräftig die Luft ein. Verschiedene, unartikuliert wirkende Kehllaute drangen aus 43
seinem Mund. Die Gruppe von affenähnlichen Wesen begann aufgeregt durcheinander zu schnattern, pendelte mit den Armen dicht über dem Boden. Sie würden ihr Lager im Mündungsgebiet des Quellbaches bald aufgeben müssen. Sorgfältig sammelte man die primitiv behauenen Steinwerkzeuge ein und rief die Halbwüchsigen zu der Gruppe zurück. Nur ungern gaben sie ihre Plätze im seichten Wasser auf, wo sie bereits einige Fische in die Enge getrieben hatten, um so für Nahrung zu sorgen. Der alte Hominide blickte mit wachen Augen hinauf zum Himmel. Sein dichtes Fell blähte sich durch den anschwellenden Wind förmlich auf. Erneut knurrte er ein junges Weibchen neben ihm an, die deshalb verschreckt aufsprang und dann die Schar der Halbwüchsigen um sich sammelte. Jetzt war es soweit - alle würden das Gebiet um den Quellbach verlassen, denn die Schlucht bot nicht mehr lange Schutz. Der Hominide wollte alles tun, um wenigstens einem Teil der Gruppe das Überleben zu ermöglichen. Deshalb brachen sie alle rasch auf. Gerade noch rechtzeitig - denn schon kurze Zeit später kam die erste Flutwelle und riss alles mit sich, was sich ihr jetzt noch in den Weg stellte. Der Hominide wusste von den ANDEREN, die sich ganz in der Nähe aufhielten. Trotzdem wollte er ihnen nicht begegnen und deshalb nahm er es auch in Kauf, einen längeren und umständlicheren Weg einzuschlagen, ehe sie aus der Falle der Schlucht herauskamen. Auf halber Höhe unter einem Felsvorsprung legten sie eine kurze Ruhepause ein - und hier bekamen sie auch wenigstens etwas Schutz vor dem einsetzenden Regen. Der alte Hominide bedauerte es, dass sie keine Zeit mehr gehabt hatten, um auch das heilige Feuer noch mitnehmen zu können. Aber es würde ihnen sicher gelingen, dieses Feuer wieder zu entfachen - auch wenn das einiger Mühe bedurfte. Das junge Weibchen, das die Halbwüchsigen um sich geschart hatte, verließ zu diesem Zeitpunkt die Nähe der Gruppe. Der peitschende Regen tat ihr gut und es störte sie nicht im geringsten, dass ihr Fell völlig durchnässt war. Voller Trauer musste sie jetzt an das kleine Wesen denken, das sie unter größten Qualen geboren hatte. Doch es war tot - und dumpfe Trauer erfüllte sie seitdem. Behände 44
kletterte sie zwischen die Felsen. Längst hatte sie die Gruppe aus den Augen verloren - deshalb war sie um so erschrockener, als sie plötzlich einen lang gezogenen Schrei hörte. Wegen des brausenden Windes konnte sie die ungefähre Richtung nur ahnen, aus der der Schrei gekommen war, obwohl sie ihre Ohren steil aufrichtete. Zwischen den zerklüfteten Felsen, die sich zu ihrer linken Seite Dutzende von Metern in den wolkenverhangenen Himmel erhoben, konnte sie keine Bewegung ausmachen und auch nichts riechen. Es musste unter ihr sein, zwischen den immer weiter anschwellenden Wassermassen. Aber der Blick dorthin wurde jetzt durch weitere Felsen versperrt. Das Schreien klang nun noch lauter und der Fluss wurde breiter und schneller. In den Wassermassen glaubte das junge Weibchen ein affenähnliches Wesen hilflos treiben zu sehen - ein Spielball der reißenden Flut! Die Hominidin sah das Verhängnis. Die Wassermassen sammelten sich unweit der Stelle, wo sie stand - nämlich an einem Trichter. Und genau dort schäumten die Fluten schon und warteten auf weitere Opfer. Das Weibchen blickte zurück in die Richtung, wo sich ihrer Meinung nach die Gruppe befinden musste. Sie dachte an das tote Neugeborene, an die Schmerzen, an die Trauer - und an die schreckliche Leere, die seitdem oft in ihr herrschte. Dann ging ein Ruck durch ihren Körper und sie überwand die letzten Felsbarrieren. Der Weg führte abwärts, aber das ansteigende Wasser kam ihr unaufhaltsam entgegen. Sie spürte schon, wie ihre Ahnen sie willkommen hießen. Ein klagender Laut entrang sich ihrer Kehle. Sie würde Mutter Sonne niemals wieder sehen. Trotzdem verharrte sie an dieser gefährlichen Stelle, denn das kreischende und in den Fluten treibende Wesen wurde von den Wellen genau auf sie zugespült. Jetzt zögerte sie nicht länger. Ihre unteren Pfoten wateten durch den angeschwemmten Schlamm, suchten im Untergrund sicheren Halt. Dann beugte sie sich vor, um das Wesen fassen zu können. In diesen bangen Sekunden war sie auf einmal wie gelähmt vor Angst, als sie jetzt erst erkannte, dass es einer von den ANDEREN war, 45
der in den Fluten trieb. Die fünf Finger der linken Hand verkrampften sich. Doch das Wasser war gefährlich und das in den Fluten treibende Wesen schien verletzt. Ein Auge blutete bereits und das Gesunde sah sie mit solch einer flehenden Hilflosigkeit an, die die junge Hominidin nicht länger zögern ließ. Entschlossen streckte sie ihre Pfoten nach den hilflos rudernden Händen aus und bekam sie auch zu fassen. Sie zog den zappelnden ANDEREN näher zu sich heran. Doch die Gefahr der reißenden Fluten war noch immer noch gebannt. Das Wasser zerrte und zog auf fast widerwärtige Weise an ihren unteren Pfoten, die immer größere Mühe hatten, in dem felsigen Untergrund sicheren Halt zu finden. Sie spürte die nackten Arme und den keuchenden Atem des ANDEREN ganz nah vor sich und ließ sich davon nur eine winzige Sekunde ablenken. Aber diese verhältnismäßig kurze Zeitspanne reichte dennoch aus, um dem Unheil den Weg zu ebnen. Auf einmal waren die Situationen vertauscht. Die Affenähnliche drohte von den reißenden Fluten mitgerissen zu werden und der junge Mann mit dem blutenden Auge verschätzte sich, als er noch nachgreifen wollte. Das bepelzte Wesen, das ihn vor den tödlichen Fluten hatte retten wollen, wurde stattdessen von ihnen mitgerissen und sogar regelrecht von den Wassermassen verschlungen! Er hörte keine Geräusche mehr von dem Lebewesen. Kein Schreien, kein Betteln. Er sah nur noch kurz die Augen, die er nie mehr vergessen würde. Sie tauchten noch ein letztes mal auf, kreuzten seine Blicke... und dann war nichts mehr. Die reißenden Fluten hatten das unglückliche Wesen endgültig in den Schlund des Todes gerissen! Einar spürte eine abgrundtiefe Leere, die ihn zu verschlingen drohte. Ein irres Lachen entrang sich seiner Kehle, weil er selbst so knapp dem Tod entronnen war und durch eine widerwärtige Ironie des Schicksals das andere Wesen hatte sterben müssen. Langsam wurde Einars verletztes Auge trübe und milchig. Niemals sollte er später etwas von dem affenähnlichen Lebewesen finden, obwohl er für eine sehr lange Zeit nach den Überresten suchte. Er hätte gern gewusst, wem er eigentlich sein Leben zu verdanken hatte - aber es sollte noch mehr als eine halbe Ewigkeit verstreichen, ehe Men46
schen diesem affenähnlichen Wesen den Namen LUCY geben würden. Doch dieser Augenblick lag selbst für Einar noch in einer unerreichbaren Zukunft... * In seinem dunklen Verlies in einer der Stahlburgen ließ sich ein lauter Seufzer vernehmen, der über Einars angeschwollene Lippen kam. Es war äußerst selten, dass er sich noch an Bruchstücke seiner Jugend erinnern konnte. Und ausgerechnet seine Todfeinde hatten diese Reaktion ausgelöst, die die Schatten des Vergessens für einen kurzen Moment vertrieben hatten. Selbst Götter wie Einar, Thunor und Odan sind höheren Gesetzen unterworfen und es war schon ein großer Glückstag (auch für einen Gott) wenn man zwischen zwei Zipfeln des Vorhangs etwas von den GROSSEN GEHEIMNISSEN erfährt. Deshalb ignorierte der Einäugige jetzt die Schmerzen, die seinen Körper in ein Meer aus Feuer tauchten. Stattdessen zeichnete sich in seinen faltigen Zügen sogar ein wissendes Lächeln ab. Weil er sich wieder erinnert hatte! Er und seine Brüder würden weiterhin in diesem dunklen Verlies ausharren, bis sich ihr Schicksal änderte. Diese Hoffnung gab den drei Göttern Kraft, darauf zu warten. Auch wenn es noch sehr lange dauern sollte... *
Zwischenspiel III Das Universum hat seine eigenen Grenzen und Gesetze. Aber davon zu berichten, wäre vergeblich, denn hier betreten wir Bereiche, die jenseits des menschlichen Erfassungsvermögens liegen. Jenseits der Grenzen der Universen - und sogar noch weit entfernt von den unfassbaren Welten hinter der großen Flammenbarriere erstrecken sich die unfassbaren Sphären, zu denen nur der FÄHRMANN Zugang hat. Er kennt die Geheimnisse und Mysterien, die dort schon seit Äonen verankert sind und seitdem auch die Gesetze des 47
Kosmos und der Universen bestimmten. Es gibt Gesetze, an denen niemand rütteln darf - auch nicht die-über-die-man-nicht-sprechensollte - da sonst die Existenz all dessen gefährdet ist, was bisher das Leben von Millionen verschiedener Wesen garantiert hat. Experimentiert man jedoch mit den Gesetzen des Kosmos und versucht, die Sphären zu manipulieren oder sogar zu VERÄNDERN, dann bricht alles zusammen - und übrig bleibt nur das SCHWARZE NICHTS! Die Barke des FÄHRMANNS tauchte ein in die Silbernebel der Sphären, während der Geist des kaum fassbaren Wesens seine Sinne aktivierte und zu erkennen versuchte, was in der Zeit seiner Abwesenheit hier bereits geschehen war. Er brauchte nur eine kurze Zeitspanne (für sterbliche Lebewesen waren das vielleicht Ewigkeiten, aber nicht für einen wie ihn), um sofort zu erkennen, dass die Sphären in Bewegung geraten waren. Er sah, dass sie schon Teile des SCHWARZEN NICHTS in sich trugen und sich allmählich immer mehr zu verändern begannen. Er spürte, dass sich dadurch auch die Gesetze des Kosmos zu verändern drohten. Auch einem Wesen wie dem FÄHRMANN war ein Gefühl, das man normalerweise mit Furcht vergleichen konnte, nicht fremd. Er wusste, dass ihm nicht mehr viel Zeit blieb und hoffte, dass die Schäden, die sich bereits in den Sphären eingenistet hatten, überhaupt noch behoben werden konnten. Das SCHWARZE NICHTS - diese wahnsinnigen Kreaturen von jenseits der Flammenbarriere hatten es tatsächlich gewagt, ihre Bemühungen in diese Richtung zu lenken! Der FÄHRMANN hatte zwar miterlebt, wie sich die unheimlichen Stahlburgen auf der Welt der Menschen manifestiert hatten, aber selbst ein abgeklärtes Wesen wie er hätte niemals ernsthaft daran gedacht, dass diese Schöpfungen der Skirr nur dazu dienen sollten, um damit dann auf geheimnisvolle Weise die Sphären zu manipulieren. Warum die Skirr diese Absicht überhaupt verfolgten, würde noch herauszufinden sein. Diesen spinnenähnlichen Wesen musste doch klar sein, dass es auch ihren Tod bedeutete, wenn sich das SCHWARZE NICHTS erst auf diesen Teil des Universums verlagerte. Oder legten die Skirr womöglich überhaupt keinen Wert mehr auf eine körperliche 48
Existenz, sondern setzten vielmehr alles daran, um dem SCHWARZEN NICHTS den Weg zu ebnen - um jeden Preis? Der FÄHRMANN kannte nur wenige Wesen von den unfassbaren Welten auf der anderen Seite der Flammenbarriere. Es waren etliche Geschöpfe darunter, deren Handeln und Sinne man kaum begreifen konnte. Natürlich kannte er das Volk der Skirr, hatte diesen Geschöpfen aber bisher keine große Bedeutung auf der kosmischen Bühne zugemessen. Aber auch das hatte sich jetzt ganz abrupt geändert. Oder gab es vielleicht noch einen ganz anderen Grund für das Verhalten der Skirr, den der FÄHRMANN bisher noch nicht bedacht hatte? Auf jeden Fall verlor der Wächter des Universums keine Zeit mehr. Seine Gedankenströme vermischten sich mit den Sphären, tauchten immer tiefer ein in die Regionen unfassbarer Dimensionen und versuchten sie wieder in die richtigen Bahnen zu lenken. Bei einem Teil gelang ihm das auch, andere Bereiche wiederum waren ohne jegliche Materie. Er spürte sogar nicht einmal die letzten Reste von Lichtwärme, die normalerweise von den Sphären immer gierig aufgesogen wurden. Dort, wo er besonders intensiv danach suchte, fand er gar nichts mehr. Als hätte dort nie zuvor jemals etwas existiert. Da wusste der FÄHRMANN, dass er noch einen Schritt weitergehen musste. Dass er die INSELN DES LICHTS erschaffen hatte, war nur der Beginn gewesen - der Anfang einer längst fälligen Kette von Handlungen, die er hatte auslösen müssen. Und nicht nur das, er musste sogar noch mehr tun. In den Sphären erkannte er die Zusammenhänge so deutlich wie niemals zuvor. Die Bedrohung durch das SCHWARZE NICHTS war klar zu erkennen. Als der FÄHRMANN seinen tastenden Geist aus den Myriaden der unterschiedlichen Sphärenbereiche zurückzog, wusste er, was er als nächstes zu tun hatte. Er lenkte seine Barke wieder in den Strom aus Raum und Zeit und kehrte zurück an den Ausgangsort, wo alles begonnen hatte. Die Barke materialisierte unweit der Welt, die von den dunklen Mächten und ihren fremdartigen Helfershelfern so arg geknechtet wurde. Der FÄHRMANN richtete seine wissenden Blicke auf die seltsame Erscheinung, die losgelöst von allem zwischen Zeit und 49
Raum schwebte - es war eine Blase aus Licht und Energie und in ihrem Inneren befand sich ein Gefangener... * Er schwamm in einem Meer von bunten und stetig explodierenden Träumen. Seine Sinne sahen und erfassten Dinge, die jenseits seines Bewusstseinshorizontes lagen und deshalb verstand er diese Bilder nicht, die sich wie ein buntes Kaleidoskop mit den Erinnerungen aus seiner Jugend mischten und somit ein verwirrendes Spektrum an Bildern darstellten. Sein Körper schwebte, drehte sich mehrmals um sich selbst. Aber das nahm der Träumende gar nicht wahr - ebenso wenig wie die Tatsache, dass er sich in diesem geheimnisvollen Gefängnis aus Wärme, Licht und Energie befand. Wo die Zeit stillstand und sie außerhalb der Blase um so schneller voranschritt! Sein Geist glitt durch Hunderte von bunten Korridoren. Während er träumte, versuchte er sich dennoch irgendwo festzuhalten und diesen Teil des Bewusstseins in dem Meer aus Farben und Empfindungen nicht wieder entgleiten zu lassen. Aber es war vergeblich. Die geheimnisvollen Kräfte, die ihn hier gefangen hielten, waren stärker als er. Sie verhinderten jeden weiteren Versuch sofort und zwangen Thorins Bewusstsein, noch weiter abzudriften, sich noch mehr von der Realität zu entfernen. Erneut stürzte er haltlos in einen tiefen Strudel aus Farben und Empfindungen, dessen Ende er nicht sah. Gerade noch hatte er in der vergessenen Dschungelstadt gekämpft, aber diese Bilder seiner Erinnerung waren bereits längst verblasst und zusätzlich noch von anderen überlagert. Er konnte seine Augen nicht öffnen, weil die Lider schwer wie Blei waren, aber er konnte spüren, wie tief der Schacht in seiner Erinnerung war, in den er mit immer schneller werdender Geschwindigkeit stürzte. Das war auch der Augenblick, wo eine feine, dafür aber um so intensivere Stimme in sein Hirn eindrang und dort zuerst gewaltige Verwirrung auslöste.
WACH AUF, THORIN. DU MUSST JETZT DEINE TRÄUME HINTER DIR LASSEN. ES IST NICHT DIE ZEIT FÜR ERINNERUNGEN! 50
Thorin spürte den Schock, den die Präsenz dieser unheimlichen Stimme in seinem Kopf auslöste. Er sah und hörte nichts, aber er wusste trotzdem, dass irgend jemand - irgend etwas da war. Sprechen konnte er nicht, er war höchstens in der Lage, einige unartikulierte Laute von sich zu geben. Aber dieses Etwas in seinem Kopf verstand ihn trotzdem - indem er oder es sich einfach seiner Gedanken bemächtigte und diese in die richtigen Bahnen zu lenken begann.
ICH SPÜRE DEINE VERWIRRUNG UND DEINE FURCHT. ABER ICH BIN NICHT DEIN FEIND. ICH WERDE DIR HELFEN UND DICH AUS DEINEM GEFÄNGNIS BEFREIEN. DU MUSST DEINE AUFGABE ERFÜLLEN - ES IST HÖCHSTE ZEIT DAFÜR... Aufgabe - was für eine Aufgabe? Er versuchte sich daran zu erinnern, während seine Sinne sich verzweifelt in dieser merkwürdigen Welt zu orientieren versuchten. Beinahe wäre es ihm gelungen, aber der Sturz in den dunklen Schacht setzte sich fort, nachdem er für eine winzige Zeitspanne innegehalten hatte. Das war auch der Moment gewesen, wo sich die eindringliche Stimme in seinem Hirn manifestiert hatte.
ICH BIN DER FÄHRMANN - EINER DER WÄCHTER ZWISCHEN DEN UNIVERSEN, meldete sich die Stimme wieder und diesmal fühlte sie Thorin noch intensiver als jemals zuvor. SAMMLE DEINE EIGENEN EMPFINDUNGEN UND LASS DICH AUF KEINEN FALL WEGZERREN VON DEN SCHIMÄREN DER VERGANGENHEIT UND DER ZUKUNFT. JETZT IST DIE WELT, IN DER DU LEBST. SIE WIRD FALLEN, WENN DU DICH NICHT BESINNST. DIE AUFGABE, KRIEGER -BESINNE DICH AUF DEINE AUFGABE! Thorins Kopf drohte beinahe zu zerspringen, als er das Echo der Stimme spürte. Und doch war da etwas, was ihm auf einmal bekannt vorkam. Er... erinnerte sich plötzlich an verschwommene Ereignisse, die noch nicht ganz klar waren, aber die immer wiederkehrende Stimme half ihm dabei, dass diese undeutlichen Fetzen der Gedanken immer konkretere Formen annahmen. Und dann wusste er auf einmal wieder alles! Seine unter Druck gehaltenen Empfindungen und Gedanken brachen mit einer solchen Kraft aus dem Gefängnis seiner abgeschotteten Seele hervor, dass 51
selbst die finsteren Mächte, die dafür gesorgt hatten, dass es überhaupt soweit gekommen war, diesen Prozess nicht mehr verhindern konnten.
DU WIRST GLEICH FREI SEIN UND AN DEN ORT ZURÜCKKEHREN, WO MAN DICH UND DEINE WAFFE BRAUCHT, meldete sich erneut die beschwörende Stimme in seinem Kopf. SEI BEREIT, NUN IST ES SOWEIT! Im selben Moment zerplatzte die schillernde Blase aus Licht und Energie mit einem gewaltigen Knall und Thorin wurde einfach weggeschleudert. Auf einmal konnte er sehen und zuckte zusammen, als er erkannte, in welcher Umgebung er schwebte und dann allmählich tiefer glitt hinab auf eine eigenartige blaue runde Kugel. Er drehte sich um sich selbst und bemerkte jetzt erst, dass seine rechte Hand die ganze Zeit über etwas krampfhaft festgehalten hatte. Sternfeuer, zuckte ein Blitz der Erinnerung durch seine aufgewühlten Gedanken. Ich bin Thorin, ich bin der Krieger des Lichts und... Erschrocken brachen seine Gedanken ab, als er irgendwo über sich (oder auch unter sich, je nachdem wie man es sah) die konturenhaften Umrisse einer schwarzen, länglichen Barke entdeckte. Am Ruder stand eine ganz in wallende Gewänder gehüllte Gestalt, die ihm ihr Gesicht nur für die Zeitspanne eines einzigen Atemzuges zuwandte. Thorin blickte in ein Augenpaar, das so alt war wie die Welt - aber dennoch war es so jung und kindlich. Es war... kaum zu beschreiben - es gehörte einem Wesen, das so große Macht besaß, wie sie Thorin bisher noch nicht gekannt hatte. Er wollte dem FÄHRMANN (hatte er sich nicht so genannt?) etwas zurufen, aber das Wesen in der Barke hatte diese bereits schon wieder gewendet und steuerte sie auf einen silbrig schimmernden Strom aus Licht und Energie zu, der direkt im Nimbus einer der zahlreichen Sonnen endete, die Thorins Augen erblickten. Es waren nur kurze Empfindungen, dann wurden seine Sinne wieder auf andere Dinge gelenkt. Er stürzte hinab auf diese... Kugel, die ihm so unheimlich und doch merkwürdig vertraut erschien. Das ist 52
meine Welt, schrie ein Gedanke in seinem Kopf. Und hierher kehre ich jetzt zurück! Aber aus so großer Höhe - er musste doch unweigerlich zu Tode stürzen. Nichts geschah aber stattdessen. Sein Fall in die Tiefe setzte sich weiter fort, aber er verlangsamte sich zusehends, je mehr er sich der Kugel näherte. Bereits jetzt schon erkannte er einzelne gewaltige Landmassen und zahlreiche Meere, die sich seinem Blickfeld erschlossen und er konnte es nicht fassen, was das Schicksal ihm jetzt eröffnete. Nie zuvor hatte jemals ein Wesen seiner Art so etwas zu sehen bekommen. Der FÄHRMANN gab ihm einen Einblick in geradezu unglaubliche Dinge, die alles veränderten, was zuvor jemals Gültigkeit besessen hatte. Thorin spürte den rauschenden Wind in seinen Ohren und glaubte noch ganz leise die verklingende Stimme des FÄHRMANNS zu hören, der sich von ihm verabschiedete. Oder träumte er schon wieder? Nein, was hier und jetzt geschah, war wirklich! Er glitt durch Wolken und Winde und er sah, wie weiter östlich der Kugel plötzlich die Sonne aufging, wie ihr Licht den hellen Tag ankündigte. Er sah aber auch die vielen schwarzen Schatten, die sich auf zahlreichen Stellen der großen blauen Kugel manifestiert hatten und das Licht der Sonne dort nicht mehr durchließen. In seinem Kopf sprudelte es vor Empfindungen und Energie. Er atmete reinen Sauerstoff und dies machte ihn schläfrig. Sein Geist und seine Seele hatten zwar nur für wenige Sekunden die Gnade erhalten, ein Stück von der WIRKLICHKEIT schauen zu dürfen, aber das war schon zuviel gewesen - zumindest in diesem Augenblick. Er war schon besinnungslos, als sein Körper sanft wie eine Feder auf dem kalten Boden aufkam. Thorin rollte noch herum, dann blieb er still liegen. Und das Götterschwert Sternfeuer hatte er immer noch nicht losgelassen... * Irgendwann erwachte Thorin wieder aus seiner Bewusstlosigkeit, als er die Kälte spürte, die sich in seinen Körper schlich. Zuerst öffnete er die 53
Augen und sah die Umgebung nur wie durch einen undeutlichen Schleier vor sich. Dann aber klärte sich der Blick und der dumpfe Druck in seinem Schädel ebbte ab. Thorin seufzte leise, wälzte sich herum und versuchte sich dann zu erheben. Was ihm nicht gleich beim ersten mal gelang. Er war noch sehr entkräftet, schaffte es dann aber doch wieder, auf beiden Beinen zu stehen - wenn auch zu Beginn noch ziemlich unsicher. Er spürte den kalten Wind, der über seine Haut strich. Thorin fror. Seine Kleidung, die er trug, war nicht geschaffen für die Kälte dieser Region, die ihm auf einmal seltsam vertraut erschien, je länger er seine Blicke in die Runde schweifen ließ. Er sah die schneebedeckte Ebene und irgendwo weiter westlich erhoben sich markante Felsformationen, wie es sie eigentlich nur in den Eisländern des Nordens gab. »Das sind die Eisländer«, murmelte Thorin vor sich hin, um sich selbst eine Bestätigung zu geben, dass er mit seiner Vermutung richtig lag. Dann aber erschrak er, als er an die letzten Worte des unfassbaren Wesens denken musste, das sich FÄHRMANN genannt hatte. Dieses Geschöpf hatte Thorin gesagt, dass er an den Ort zurückkehren würde, wo er dringend gebraucht wurde. Bedeutete das dann, dass die Mächte der Finsternis auch in diesen Teil der Welt eingedrungen und ihn womöglich bereits erobert hatten? Was war dann mit seinem Volk geschehen? Lebten die Menschen aus seinem Dorf überhaupt noch? Oder waren sie alle umgebracht worden von den Geschöpfen der Finsternis? Thorin spürte eine tiefe, stetig wachsende Unruhe in sich, als er ausgerechnet jetzt an das Bild seiner Welt denken musste, das sich vor seinen Augen offenbart hatte. Er hatte die Regionen erblicken können, die bereits von schwarzen Schatten überzogen worden waren - und bei allen Göttern, das waren gewaltige Landstriche gewesen. Nur hier und da hatte es noch vereinzelte helle Flecken gegeben, die praktisch wie Inseln aus einem Meer der Dunkelheit herausragten. »Es sind nur noch Inseln des Lichts«, murmelte Thorin, als er aus diesen Gedanken die richtigen Schlussfolgerungen zog. »Bei Odan, dem Weltenzerstörer - wie lange bin ich eigentlich in diesem Gefängnis 54
gewesen? Ich erkenne nichts mehr wieder, wie es einst war. Die Götter des Lichts - sie müssen die letzte Schlacht verloren haben...« Dieser Gedanke erschreckte ihn mehr als er sich selbst eingestehen wollte. Er fühlte auch nicht mehr die Nähe der drei Götter, die sich ihm angesichts solch einer dramatischen Veränderung auf dieser Welt sicherlich längst offenbart hätten, um seine Hilfe zu fordern. Sie hatten aber stattdessen noch nicht einmal etwas unternommen, um ihn aus seinem seltsamen Gefängnis zu befreien - und dafür gab es nach Lage der Dinge nur eine einzige Antwort: die Götter konnten ihm nicht mehr helfen, weil sie vermutlich gar nicht mehr existierten. Sternfeuer, die Götterklinge, war noch das einzige, was an diese Zeit erinnerte. Thorin blickte unwillkürlich auf das schwarze, meisterhaft geschliffene Schwert, das jetzt immer wieder in einem hellen Licht erstrahlte und Thorin daran erinnerte, welche schrecklichen Zustände er jetzt hier vorgefunden hatte. Der Nordlandwolf brauchte einige Zeit, um seine sprunghaften Gedanken zu ordnen. Er sah den violetten Schimmer ganz weit am Horizont und erkannte auch, dass sich die Farbe des Himmels dort auf seltsame Weise verändert hatte. Auch wenn er sich das nicht so recht erklären konnte, schien er förmlich zu spüren, dass irgendwo jenseits des violetten Lichtes Gefahr drohte. Eine Gefahr, die existierte und die greifbar nahe war! Erneut spürte er die Kälte, die in seine Haut biss und er erinnerte sich daran, dass er jetzt zuerst einmal an sich selbst denken musste. Was nützte das Wissen um die Geschehnisse auf dieser Welt, wenn er in der klirrenden Kälte erfror? Deshalb entschied jetzt sein Überlebenswille und bestimmte sein weiteres Handeln. Thorin steckte das Götterschwert in die Scheide auf seinem Rücken und stapfte dann weiter durch den knöcheltiefen Schnee. In Richtung des violett schimmernden Horizontes... * In dem Palast aus schwarzer Kälte flackerte ein großes Feuer inmitten des großen Raumes, das ebenfalls keine Wärme ausstrahlte. Es waren 55
kalte Flammen, die diesen Raum erhellten und sie warfen bizarre Schatten auf die rauen Wände, die ein wahnsinniger Baumeister erschaffen haben musste. Denn Hunderte von dämonischen Fratzen waren in die Wände gemeißelt - ihre grauenhaften Antlitze waren erstarrt, schienen nicht mehr zu leben. Aber der spiegelnde Schein des kalten Feuers schien sie zu einem eigenartigen Leben erweckt zu haben, denn es sah so aus, als lebten diese dämonischen Gesichter. Auf einem podestähnlichen Thron saß der finstere Azach, dessen knochenbleiches Gesicht ebenfalls kurz vom Feuer erhellt wurde, auch wenn er es größtenteils unter einem wallenden Kapuzenumhang verborgen hatte. Azach tobte vor Zorn, als er und R'Lyeh von der dramatischen Wende der Ereignisse erfahren hatten. R'Lyeh weilte zwar nicht in der kalten Burg seines Götterbruders - sein Körper befand sich in dessen Herrschaftsbereich in den tiefsten Stellen des südlichen Meeres. Aber mit seiner dunklen Magie hatte es der finstere Gott dennoch ermöglicht, hier vor Ort zu sein - indem er seinen Geist über solch große Entfernung hinweg zu seinem Bruder Azach geschickt und dort als leuchtende Erscheinung Gestalt angenommen hatte. Denn R'Lyeh war ein Wesen, dessen Heimat das tiefe Meer war... Azach tobte vor Zorn, als zur schrecklichen Gewissheit wurde, was er in seinen kühnsten Träumen niemals mehr vermutet hätte. Die Skirr hatten es ihm berichtet - eben jene Wesen, von denen er eigentlich erhofft hatte, dass sie die Kräfte des Lichts hätten bändigen können. Und dann musste er erfahren, dass doch noch alles anders gekommen war - weil eine unbegreifliche Wesenheit eingegriffen hatte, die die Skirr als FÄHRMANN bezeichnet hatten. Azach und R'Lyeh wussten nichts von dem FÄHRMANN und den elementaren Gesetzen des Kosmos, die auch die Skirr nicht alle kannten. Sonst hätten sie sicher sofort mit ihren folgenschweren Experimenten aufgehört (und davon erfuhren sogar Azach und R'Lyeh nichts - denn ihre spinnenhaften Verbündeten hatten ganz andere Ziele). Azach wusste nur, dass dieser verfluchte Götterkrieger selbst von diesem Gefängnis nicht hatte festgehalten werden können. 56
WIR MÜSSEN IHN FINDEN, BRUDER, ergriff nun R'Lyeh das Wort, weil er die Gedanken Azachs natürlich sofort erkannt hatte. UND ES BLEIBT UNS NICHT VIEL ZEIT DAZU. ER IST UNTERGETAUCHT IN DEN ZONEN DES LICHTS, erwiderte Azach. DORT IST ER ZUMINDEST JETZT SICHER. GENAUSO WIE DIESES KIND, VOR DEM UNS DIE SCHRIFTEN VON USHAR BEREITS GEWARNT HABEN, setzte R'Lyeh die Gedanken Azachs fort. AUCH AN DIESES BALG KOMMEN WIR NICHT HERAN DIESE ZONE IST UNDURCHDRINGLICH FÜR UNS... ES WIRD UNS GELINGEN, SIE BALD ZU ÜBERWINDEN, versuchte Azach ihn zu beruhigen. Auch wenn ihm das selbst alles andere als leicht fiel. WIR MÜSSEN NUR DIE SCHRIFTEN GENAU STUDIEREN, meinte R'Lyeh daraufhin. DORT IST ALLES AUFGEZEICHNET, AZACH. IN DEN SCHRIFTEN STEHT DAS SCHICKSAL DIESER WELT - UND WIR SIND ES, DIE ÜBER DIESE WELT HERRSCHEN. AUCH ÜBER DIESE WENIGEN SCHUTZZONEN, DIE DEN ANDEREN NOCH GEBLIEBEN SIND. ZUSAMMEN MIT DEN SKIRR WIRD ES UNS GELINGEN, AUCH DIESE BASTIONEN FÜR DIE DUNKELHEIT ZU EROBERN! Der dunkle Gott mit dem bleichen Totenschädel nickte stumm. R'Lyeh hatte recht. Im Grunde genommen war es nur eine Frage der Zeit, bis die dunklen Horden auch diese Zonen erobern und vernichten würden - und mit ihnen all die Lebewesen, die dort jetzt noch ausharrten... *
Zeitsplitter: Blick zurück zur Schlacht Welle um Welle brandete die Flut der Leiber Kriegsgeschrei echot Schlägen gleich doch die Finsternis lacht... 57
Die Länder entmenschlicht, wo ist die Frucht menschlicher Leiber? Selbst in den Städten nichts weiter als trauriger Nachhall wo einst Leben pulsierte Die Streitmacht des Lichts verloren der General Kang und seine verwegenen Horden Es bläst ihm der Odem des dunkelsten Todes entgegen. Lasset alle Hoffnung fahren... Zitat des blinden Sehers Suinosnum aus der Rolle von USHAR Bei Sonnenuntergang gab es einen stillen Moment auf dem Schlachtfeld. General Kang, der Hochmütige, der Selbstbewusste, der Gerechte und manchmal auch Weise schaute auf zum Horizont, wo die Sonne gerade hinter den Bergen als glühender Ball unterging. Als Vor-Kah, sein persönlicher Offizier, in das provisorische Lager eintrat, sah er seinen Herrn verloren und mit einem düster-grimmigen Gesichtsausdruck in die Ferne starren. General Kang war etwa zwanzig Jahre älter als Vor-Kah und doch besaß sein ganzes Wesen immer noch den jungenhaften Ausdruck, der den Offizier so sehr beeindruckte. Hinzu kamen noch Schnelligkeit und Gewandtheit, beides Eigenschaften, die solch ein hoher Führer wie General Kang einfach besitzen musste. Sonst wäre er nie Befehlshaber einer solch gewaltigen Streitmacht geworden. Groß und mächtig war es einst gewesen, dieses gewaltige Heer, das sich mutig und entschlossen den Horden der Finsternis entgegengestellt hatte. Aber um welchen Preis? Die Mächte der Finsternis hatten die letzte, alles entscheidende Schlacht so gut wie gewonnen und es war nur noch eine Frage der Zeit, bis auch die letz58
ten Tapferen unter den Schwertern der dunklen Kreaturen ihr Leben aushauchen würden... Ein weiterer Blick in General Kangs Gesicht zeigte Vor-Kah, dass die letzten Tage auch an dem Befehlshaber des Heeres nicht spurlos vorüber gegangen waren. »Mein Herr und General«, richtete Vor-Kah nun mit demütiger Stimme das Wort an ihn, aber mit einem gewissen Zögern in der Stimme, denn Vor-Kah war unbehaglich zumute. Der hünenhafte Körper des Generals wandte sich seinem untergebenen Offizier zu, während der Vorhang fiel und mit ihm die letzten Reste der abendlichen Sonne aussperrte. In der Dämmerung des Zeltes wirkte das Gesicht des alten Generals noch eingefallener und verbrauchter. Nur seine Augen leuchteten noch in einem kaum zu beschreibenden Feuer unter den buschigen Augenbrauen. »Mach etwas Licht, mein Freund Vor-Kah«, trug er dem Offizier auf. Während er das sagte, nahm er an einem Holztisch in der Mitte seines Zeltes Platz und schob die darauf ausgebreiteten Landkarten achtlos beiseite. »Setz dich zu mir und berichte - ich will alles wissen!«, forderte er dann Vor-Kah auf. Der Offizier kam dieser Aufforderung nach, nachdem er eine Talglampe angezündet hatte, deren Licht in dem ansonsten düsteren Zelt daraufhin für etwas Helligkeit sorgte. Der General hatte indes sein Kurzschwert abgeschnallt und griff nach einem Ziegenlederschlauch, der mit würzigem Wein gefüllt war. Er goss sich daraus einen Becher voll ein und stürzte den Wein mit einem einzigen Zug herunter. Einige Tropfen, die am Ende seines geflochtenen Backenbartes hinunterliefen, glitzerten im schwachen Kerzenlicht. Es sah aus, als bahne sich ein kleines Rinnsal Blut seinen Weg durch das Barthaar des Generals. »Mein Herr und General - wollt Ihr noch etwas Wein?«, erkundigte sich jetzt Vor-Kah. »Wollt Ihr, dass ich Euch noch nachschenke?« »Lass nur«, winkte der General ab. »Später vielleicht. Im Moment interessiert mich dein Bericht über die momentane Lage unserer Truppen weitaus mehr. Wie sieht es mit den Söldnern von Kh'an Sor aus, 59
die an der Nordflanke kämpfen und dort versuchen, dem unaufhaltsam vordringenden Bösen Einhalt zu gebieten? Ist der Feind wirklich schon so nah, Vor-Kah? Ich habe am fernen Horizont gewaltige Rauchwolken gesehen - das ist alles andere als ein gutes Zeichen...« Vor-Kah zögerte einen Moment mit seiner Antwort. Denn es würde keine Antwort sein, die ihm viel Auswahl ließ. Er beugte sich etwas vor, weil er es nicht wagte, General Kang die verzweifelte Lage lauthals ins Gesicht zu schmettern. »Mein Herr und General«, versuchte er es dann, während er verzweifelt nach Worten suchte, um das bereits geschehene Unheil irgendwie abzumildern. »Eure düsteren Gedanken wurden möglicherweise sogar noch übertroffen«, fuhr er dann fort und konnte dabei dem prüfenden Blick seines Heerführers nicht standhalten. »Wie es aussieht... rennen die Echsenkrieger spätestens in einer Stunde über sämtliche unserer Stellungen hinweg. Wir haben keine Chance mehr!« Jetzt war es heraus. Unwillkürlich hielt Vor-Kah die Luft an, weil er nun mit einem Wutanfall General Kangs rechnete. Doch der letzte Heerführer des Lichts drehte sein Gesicht bei dieser Hiobsbotschaft in den Schatten, so dass Vor-Kah für einen kurzen Moment dachte, es mit einer in Stein gemeißelten Figur zu tun zu haben. »Und kam noch Nachricht von den beiden anderen Stoßkeilen?«, fragte der General nach einer endlosen Minute des Schweigens. Ein Windstoß erhob sich indes zwischen den Zeltbahnen und brachte die ohnehin schon stark flackernde Kerze beinahe ganz zum Erlöschen. »Nein, mein Herr und General!« Die Worte des untergebenen Offiziers kamen bitter über die Lippen. »Einige wenige haben sich noch retten können. Diese versprengten Reiter berichteten mir, dass die Horden der Finsternis diesen Teil unserer Streitkräfte bis auf den letzten Mann aufgerieben haben...« Wieder legte Vor-Kah eine kurze Pause ein, versuchte ebenfalls, seine arg in Mitleidenschaft gezogenen Nerven zu beruhigen. Aber angesichts dieser verzweifelten Lage war das sehr schwer. »Wir sind vollkommen auf uns allein gestellt«, berichtete er weiter. »Nur wenige Überlebende stoßen noch zu uns aber die können auch nicht mehr verhindern, was uns erwartet. Wir 60
haben die letzte Schlacht schon verloren, mein Herr und General. Die Wahrheit schmeckt manchmal bitter...« Die Schultern General Kangs sackten bei dieser furchtbaren Nachricht sichtlich zusammen. Vor-Kah seufzte, als er sich erhob, den leeren Weinbecher an sich nahm und dabei General Kang beobachtete. Er konnte sehr gut verstehen, was dem einzigen noch lebenden Heerführer des Lichts jetzt durch den Kopf ging. General Kang war ein erfahrener Stratege und legendärer Kämpfer dazu. Aber gegen diese schrecklichen Heerscharen der Finsternis zu kämpfen - das bedeutete den sicheren Untergang - auch wenn er noch nicht stattgefunden hatte. Der General, dessen Gesicht noch immer im Schatten lag, bemerkte gar nicht, wie Vor-Kah den Becher an sich nahm. Er hatte beide Hände zu Fäusten geballt und die Knöchel leuchteten weiß in der Dämmerung des Zeltes. Die mächtigen Armsehnen des Generals traten unter dem verrutschten Umhang hervor - sein ganzer Körper war gespannt wie ein Bogen selbst. »Mein Herr und General«, begann Vor-Kah den entscheidenden Satz, den er sich mindestens schon Dutzende male im stillen zurecht gelegt hatte. Nun war der Augenblick gekommen, vor dem er sich insgeheim ein wenig fürchtete. Er beugte sich nahe zu dem alten General heran, während seine Arme hinter dem Rücken wuselten wie kleine lebendige Tiere. »Es stehen Pferde und einige ausgesuchte Reiter bereit«, sagte er nun. »Sie warten nur auf ein Zeichen von Euch - dann werden sie Euch sicher durch die feindlichen Linien bringen. Jetzt ist das an unserer Südflanke noch möglich, denn die Reihen des Feindes sind dort noch nicht so geschlossen wie überall anders. Ihr wisst es doch selbst - das unwegsame Gelände unweit von unserem Lager bietet während der Nacht möglicherweise eine letzte, winzige Chance, dass einige Entschlossene noch ungeschoren entkommen können...« General Kang nickte stumm bei diesen Worten. Und auch wenn sein Blick jetzt etwas abwesend wirkte und sein Verhalten kühl und unnahbar, so musste er dennoch immer wieder an die noch bevorstehenden Stunden denken und wie es ihm gelingen konnte, mit den 61
restlichen Truppen dem Feind bis zum letzten Schwerthieb Widerstand leisten konnte. Nicht dass dies noch etwas genutzt hätte. General Kang war sich natürlich der hoffnungslosen Lage bewusst. Aber seine restlichen tapferen Männer einfach im Stich lassen und mitten in der Nacht fliehen wie ein feiger Hund? Nein, das konnte er nicht! Niemals in seiner bewegten Vergangenheit und erst recht nicht heute auf diesem blutigen Schlachtfeld hatte er vorgehabt, so etwas zu tun. Aber was konnte er denn noch ausrichten, um der Vernichtung seines Heeres Einhalt zu gebieten? »Nein!« Seine Stimme klang entschlossen und fest zugleich. Und mit diesem einen Wort war alles gesagt. »Aber mein Herr und General«, versuchte es Vor-Kah erneut. »Ihr dürft keinesfalls dem übermächtigen Feind in die Hände fallen. Ihr wisst doch selbst, was dies zur Folge hätte und dann...« »Nein, Vor-Kah!«, schnitt ihm General Kang scharf das Wort ab. »Nein und nochmals nein! Lass mich jetzt allein, ich muss nachdenken.« Vor-Kah hatte mit dieser Entscheidung seines Generals natürlich gerechnet (und mit allem anderen natürlich auch). Er ließ den obersten Heerführer in dieser schweren Stunde nur ungern allein zurück. Das Kurzschwert lag auf dem Tisch dicht bei der Kerze und es lag noch so, wie es General Kang vorhin abgelegt hatte. »Mein Herr und...« Vor-Kah kam nicht mehr dazu, diesen Satz zu beenden. »Schließ die Zeltplane hinter dir«, trug ihm der resignierende General auf. »Und achte darauf, dass ich jetzt nicht mehr gestört werde. Ich möchte allein sein!« Vor-Kah sah, wie sich die glühenden Augen des Generals starr auf das Kurzschwert richteten. »Die Götter des Lichts mögen Euch segnen, mein Herr und General«, sagte Vor-Kah, kippte etwas Wein in den Becher und stellte ihn dicht zu dem Schwert. Er nahm einen zweiten Becher und sagte: »Zum Abschied...« Und er dachte, wie unsicher er doch in diesem so entscheidenden Moment aussah. »Ich schwöre meinem Herrn und 62
General Treue«, kam es dann stolz über seine Lippen. »Sogar bis in den Tod!« Erst jetzt registrierte General Kang den gefüllten Weinbecher, der direkt vor ihm stand. Nun griff er danach, blickte seinen treuen Offizier kurz an, bevor er den Becher hob. »Mein Freund Vor-Kah«, murmelte er. »Ich wünschte, es hätte noch bessere Zeiten für uns beide gegeben...« Dann hob er den Becher zum Gruß, setzte ihn anschließend an die Lippen und trank den Wein in tiefen Zügen. »Und nun geh...«, sagte er danach. Vor-Kah nickte nur, er konnte nichts mehr sagen, selbst wenn er es noch gewollt hätte. Deshalb stellte er seinen Becher auf der Anrichte ab und hob eine Zeltbahn. Gut, dass General Kang in diesem Moment das kurze, schmerzerfüllte Lächeln Vor-Kahs nicht sah - vielleicht wäre er dann doch noch misstrauisch geworden. So aber fiel der Vorhang zu diesem Drama und gab den Auftakt zum letzten Akt. Manchmal enden die Dinge eben anders wie sie begonnen haben und das unergründliche Schicksal stellt sich erst viel später als treibende Kraft heraus... * Währenddessen war es draußen schon ziemlich dunkel geworden. Der Lärm der großen und grausamen Schlacht war nur noch wenige Steinwürfe weit entfernt. Überall kämpften Soldaten des Lichts gegen die schrecklichen Kreaturen der alles verschlingenden Finsternis. Vor-Kah musste sich beeilen, denn er hatte nur noch wenig Spielraum. Bei den Pferden warteten bereits drei ihm ergebene Reiter, die keine unnötigen Fragen stellen würden. Unter seinem umgeworfenen Mantel holte der Offizier ein Säckchen Gold hervor. Es verschwand in den Händen eines der drei Reiter. Wenn sie den Rest der Börse haben wollten, mussten sie sich erst einmal durch die feindlichen Linien schlagen. Das Versteck lag in den Bergherzogtümern von Arnish. VorKah vertraute zwar diesen Männern, er wollte aber dennoch kein unnötiges Risiko eingehen - selbst jetzt nicht, wo sich die Situation schon zugespitzt hatte. 63
Dann kehrte Vor-Kah mit zweien der Männer noch einmal zurück, befahl ihnen, sich vor dem Zelt des Generals nicht von der Stelle zu rühren und trat schließlich mit einem entscheidenden Ruck ein. Vor-Kah hatte sich nicht getäuscht. Der General hatte sich mit dem Kurzschwert selbst richten wollen, doch das Gift, das er in den Weinbecher unbemerkt gegeben hatte, war noch schneller gewesen. Erleichtert atmete der Offizier auf. Nun drängte die Zeit. Er rief die draußen wartenden Reiter zu sich herein, die beim Anblick des vermeintlich toten Generals sehr bleich im Gesicht wurden. »Steht nicht herum - holt Decken und rollt ihn ein!«, befahl er mit schneidender Stimme den schockierten Männern. »Habt ihr nicht gehört, was ich gesagt habe? Beeilt euch - es bleibt uns nur noch wenig Zeit!« Die Männer befolgten Vor-Kahs Befehle ohne zu zögern, denn auch sie wussten, was auf dem Spiel stand. Sie packten den General und hüllten ihn in Decken ein, brachten ihn dann rasch hinaus zu den Pferden, wo sie ihn über den Rücken eines der Tiere warfen und dann dort festbanden. Vor-Kah trat noch einmal zu seinem Herrn. Er schlug die Decken beiseite, so dass er das Gesicht des Generals sehen konnte. Es wirkte ganz friedlich, wenn auch totenblass. Vor-Kah wollte sicher gehen und tastete nach dem Herzschlag. Er fühlte - nichts! Dann zauberte er aus einer seiner vielen Taschen eine unscheinbare metallene Phiole hervor und gab sie dem ersten aufsitzenden Reiter - dem einzigen, der von Anfang an Bescheid über Vor-Kahs Plan gewusst hatte. »Du weißt was du zu tun hast!«, richtete er noch einmal das Wort an ihn. »Spätestens bei Sonnenaufgang musst du ihm diese Flüssigkeit verabreichen. Vergiss es nicht, sonst war alles umsonst. Ich werde für euch alle beten. Einar möge sein magisches Auge über euch halten. Ich wünsche für euch, dass ihr es schafft, durch die Reihen der Feinde zu gelangen...« Der Söldner nickte stumm. Vor-Kah konnte sofort erkennen, was in dem Mann vorging. Schließlich hatten beide zusammen unzählige 64
Schlachten zusammen gefochten, waren mehr als nur einmal im letzten Augenblick dem Tod entronnen. Die kräftige, nervige Hand des Söldners, dessen Name Albiron war, umfasste die Hand Vor-Kahs mit einem letzten Druck. Keine weiteren Worte waren jetzt mehr nötig, denn beide wussten, dass sie sich nicht wieder sehen würden. Es war ein Abschied für immer. Albiron war der erste, der seinem Pferd die Zügel freigab und ihm die Hacken in die Weichen drückte. Als das Pferd mit dem ›toten‹ General Kang an Vor-Kah vorbei ritt, strich seine Hand noch ein letztes mal über die Decke. »Verzeiht mir, mein Herr und General«, kam es leise über seine Lippen. »Aber ich konnte es einfach nicht zulassen, dass Ihr hier sterben würdet. Die Götter des Lichts und diese Welt braucht Euch einfach zu sehr. Die Zeit wird kommen - eines Tages. Verzeiht...« Er wandte sich abrupt ab, während die Reiter mit ihrer wichtigen Fracht das Lager der Armee verließen und schon bald im Dunkel der Nacht zwischen den Hügeln untergetaucht waren. Vor-Kah blickte ihnen nicht mehr nach. Er hatte alles auf eine Karte gesetzt und konnte jetzt nur noch hoffen, dass es den Männern gelang, lebend durch das Feindesland zu gelangen. Vor-Kah spürte plötzlich eine unendliche Trauer in sich aufsteigen. Vor ihm lag sein schwerster Kampf und er wusste, dass er wahrscheinlich nicht mehr sehen würde, wie die Sonne in einigen Stunden aufging. Trotzdem lachte er wie befreit auf, denn den grausamen Mächten der Finsternis hatte er ein Schnippchen geschlagen. Wenn es General Kang gelang, am Leben zu bleiben, dann würde es eines Tages wieder Hoffnung geben für diese schrecklich gebeutelte Welt. Schließlich tat er das, was seine Aufgabe war. Er sammelte die letzten Reste seiner Hundertschaften und wartete auf den Angriff der dunklen Horden. Die Rauchschwaden und die rötlichen Lichter der großen Feuerbrände am Horizont kamen immer näher - und dann schlug auch schon die Stunde der Tapferen. Als die Heere der Finsternis auf den Hügelkuppen erschienen, sammelte Vor-Kah alle um sich und stellte sich den todesmutig den Angreifern entgegen. Als die Ge65
schöpfe der Finsternis ihr Blutbad begannen, starb der wackere Offizier mit einem Lächeln... * Manchmal verlaufen die Bahnen des Lebens ganz klar und regelmäßig - aber es gibt auch immer wieder Menschen, deren Schicksal von Anfang an von unbekannten Einflüssen vorherbestimmt ist. Der Weg all dieser Menschen ist vorgezeichnet und man kann dem nicht entfliehen... So wob das Schicksal auch im Falle des Generals Kang seine Fäden unaufhörlich. Die treuen Söldner, die die Aufgabe hatten, den General in Sicherheit zu bringen, wussten, was sie erwartete, wenn sie erst in die Hände der dunklen Mächte fielen. Und sie beteten alle im stillen zu ihren Göttern, von denen sie nicht wussten, ob es sie überhaupt noch gab. Aber Vor-Kah (der von den Horden der Finsternis mittlerweile längst getötet worden war) hatte recht gehabt mit seiner Vermutung. Aus irgendwelchen Gründen, die weder die Söldner noch Vor-Kah verstanden hatten, war die Südflanke der Schlacht noch passierbar. Die Echsenkrieger und die übrigen furcht erregenden Geschöpfe der Nacht waren hier nicht ganz so dicht gedrängt wie an anderen Stellen des weiten Talkessels. Zudem war hier das Gelände auch noch etwas hügeliger und darüber hinaus von etlichen Büschen und Bäumen bewachsen. Es war eine mondlose Nacht und das kam den flüchtenden Reitern zugute. Während nur wenige Steinwürfe von ihnen entfernt laute Todesschreie erklangen und kurz darauf ein schreckliches Schmatzen und Schlürfen zu hören war, galoppierten die Pferde durch die Bresche. Sie brauchten dafür nur wenige Atemzüge - aber diese Zeit, die den Söldnern dennoch unglaublich lange erschien, reichte aus, um die Kette der Echsenkrieger und der übrigen Geschöpfe zu durchbrechen. Die wütenden Schreie der dunklen Kreaturen und das Bellen der anderen Wesen der Nacht blieben hinter ihnen zurück. Albiron, der an der Spitze des kleinen Trupps ritt und die Zügel des Pferdes, das den ›toten‹ 66
General Kang trug, die ganze Zeit über fest in den Händen hielt, erschauerte bei diesen Lauten. Dann aber dachte er nur noch daran, möglichst viel Entfernung zwischen sich und den Ort des schrecklichen Kampfgetümmels zu bringen - was ihm und seinen Männern dann auch gelang. Stunden vergingen und als sich ganz weit am fernen Horizont schließlich die ersten hellen Schimmer der bevorstehenden Morgenröte zeigten, wusste Albiron, dass er nun das tun musste, was ihm Vor-Kah geraten hatte. Er hob die rechte Hand und gab den übrigen Männern ein Zeichen, ihre Pferde zu zügeln. Zum Glück befanden sich einige schützende Büsche in der Nähe, so dass sie nicht gleich entdeckt wurden. Dennoch spürte er die Furcht der übrigen Männer, die sich immer wieder im Sattel umdrehten und zurücksahen. Aber alles, was sie erkennen konnten, war ein rötliches Leuchten weit am Horizont - das Licht des Todes! Albiron stieg aus dem Sattel und mit der Hilfe eines der anderen Söldner wuchtete er den in Decken gehüllten General vom Rücken des Pferdes, legte ihn dann ganz sanft auf den Boden. Dann holte er die metallene Phiole aus seinem Gewand und zögerte im ersten Moment noch. Weil er nicht wusste, ob diese Flüssigkeit wirklich das bewirkte, was Vor-Kah behauptet hatte. Nun, gleich würde er es wissen! Er öffnete die Phiole, setzte sie an die Lippen des Generals und ließ dann die schwärzliche Flüssigkeit in dessen Mund laufen. Bange Augenblicke des Wartens verstrichen, ohne dass etwas geschah. Alle Augen waren gespannt auf den General gerichtet. Dann - als die meisten der Söldner schon nicht mehr daran geglaubt hatten - ging auf einmal ein leichtes Zittern durch den Körper des alten Kämpfers. Die Brust hob und senkte sich ganz langsam wieder und nur wenige Augenblicke später öffnete der General die Augen und blickte sich im ersten Moment völlig verwirrt um. »Den Göttern des Lichts sei Dank«, hörte er dann die murmelnde Stimme Albirons. »Es ist ein Wunder geschehen...« General Kang wollte sich erheben, aber er war noch so schwach, dass es ihm nicht sofort gelang. Es bedurfte zweier Männer, die sich zu ihm hinunterbeugten, um ihm beim Aufstehen zu helfen. Seine Beine 67
fühlten sich noch ziemlich taub an, weil die Kräfte erst allmählich wieder zurückkehrten - aber sein Gesicht war eine Mischung aus Verwunderung und Entsetzen zugleich. Das bemerkten die Männer natürlich, aber keiner von ihnen wagte es jetzt, etwas zu sagen. Das wollten sie alle dem General überlassen. »Ich... ich hatte einen Traum«, murmelte General Kang, während er den beiden Männern mit einer kurzen Geste andeutete, dass sie ihn jetzt loslassen konnten. »Einen verwirrenden und zugleich erschreckenden Traum. Ich sah unsere zerstörte Welt vor mir und erkannte, dass sie verloren war. Und dann erblickte ich auf einmal... eine seltsame Blase aus Licht und Energie weit oben am Himmel... und in dieser Blase befand sich ein... Krieger...« Er brach ab, um weiter nach den passenden Worten zu suchen, weil er noch zu sehr unter der Wirkung dieses eigenartigen Traumes stand, dessen Sinn er noch nicht verstand. »Mein Herr und General«, richtete Albiron nun mit einer kurzen Verbeugung das Wort an ihn. »Ihr lebt und nur das zählt. Gepriesen sei die Weisheit Vor-Kahs!« Als die Rede auf seinen Offizier fiel, verbitterte sich General Kangs Miene. Denn nun war ihm natürlich klar, was in der Zwischenzeit geschehen war. Der treue Vor-Kah hatte geahnt, was General Kang beabsichtigt hatte und er hatte es geschickt verhindert! »Es ist Euch noch nicht bestimmt, diese Welt zu verlassen, mein Herr und General«, meldete sich nun ein anderer Söldner zu Wort. »Vor-Kah hat uns befohlen, Euch mit unserem Leben zu schützen und in ein sicheres Gebiet zu bringen. Dort müsst Ihr neue Kräfte sammeln und dann weiter gegen die Horden der Finsternis kämpfen.« General Kang erwiderte zunächst nichts auf diese Worte, denn wieder erinnerte er sich an das, was er in seinem Traum gesehen hatte und das machte ihm Angst. Er hatte Teile der Welt gesehen (irgendwo von weit oben) und hatte erkannt, dass sie dem Untergang geweiht war. Gleichzeitig war ihm aber auch mit seltsamer Klarheit bewusst gewesen, dass der in der Blase gefangene Krieger damit etwas zu tun hatte. War das nur ein Traum gewesen, oder war es die Wirklichkeit, von der der alte General bisher noch nichts geahnt hatte? 68
Und wer hatte ihm dann diesen Traum geschickt, damit er all dies erfuhr? Lebten die Götter des Lichts noch? War dies eine wichtige Botschaft gewesen? Der alte Kämpfer behielt diese Gedanken für sich, weil er wusste, dass die übrigen Männer dies wahrscheinlich nicht verstehen würden. Mit einer Mischung aus Trauer und Zorn blickte er zurück zum Horizont. Er kannte das Land, in dem sie sich jetzt befanden. Es gehörte zu den Ausläufern der Bergherzogtümer von Arnish - aber wie sehr hatte es sich verändert! Wo sich einst blühende grüne Wiesen befunden hatten, gab es nur noch verbranntes und verdorrtes Gras. Die dunklen Horden hatten auch in diesem Teil des Landes ganze Arbeit geleistet. Würde dies überall so sein, wohin sie jetzt kamen? »Diese Welt darf nicht sterben!«, kam es nun mit solch entschlossener Stimme über die Lippen des alten Generals, dass zwei der Söldner unwillkürlich zusammenzuckten. »Wenn ich etwas tun kann, dann werde ich es verhindern. Irgendwo muss es doch noch Menschen geben, die die Hoffnung noch nicht aufgegeben haben - und die müssen wir finden, Männer. Wenn nicht hier - dann ganz bestimmt irgendwo jenseits des Horizontes. Die Mächte der Finsternis haben die Schlacht gewonnen, aber ich werde mit all meiner Kraft dafür einstehen, dass es nicht die letzte war!« Diese Worte General Kangs kamen einem heiligen Schwur gleich das spürten auch Albiron und seine Söldner. Sie hielten ihre Häupter demütig gesenkt, während der alte Kämpfer seine Blicke gen Himmel richtete. Als wenn er jetzt versuchte, irgendwo zwischen den Wolken des morgendlichen Himmels die Lichtblase zu erkennen, die er in seinem Traum gesehen hatte. Dann bestieg General Kang sein Pferd und ritt voran - vorbei an zerstörten und ausgebrannten Dörfern, in denen schrecklich zugerichtete Leichen lagen. Und das Herz des alten Kämpfers füllte sich zusehends mit Hass und ohnmächtigem Zorn. Was hier geschehen war, das forderte Rache und Vergeltung. Und er würde die Speerspitze all derjenigen sein, die von den dunklen Mächten geknechtet und geschunden worden waren! 69
* Sie ließen die Bergherzogtümer von Arnish hinter sich und gelangten auf ihrem langen Weg weiter nach Süden. Und irgendwann gelangten sie an Orte, wo es noch Leben gab. General Kang zögerte nicht und sammelte diese Menschen um sich, zog mit ihnen weiter nach Süden. Und mit jedem Tag wurden es mehr. Natürlich musste er damit rechnen, dass auch die Mächte der Finsternis irgendwann erkennen würden, dass es hier noch Menschen gab, die noch nicht besiegt worden waren. Der alte General fürchtete zwar die Kräfte der Finsternis, aber er ließ sich nicht von seiner Absicht abhalten, weiter Versprengte und Verlorene um sich zu sammeln und sie neu zu formieren. Trotzdem wäre dieser Plan beinahe noch gescheitert, denn je weiter er nach Süden vordrang, um so mehr geriet er unwissentlich in den Einflussbereich des finsteren R'Lyeh, dem dunklen Meeresgott. Und der hatte bereits erkannt, was hier geschah und rief seine Geschöpfe der Nacht zusammen. Unbemerkt näherten sie sich von verschiedenen Seiten und hätten es auch beinahe geschafft, erneut ein fürchterliches Blutbad anzurichten, ohne dass es selbst der erfahrene General Kang noch rechtzeitig bemerkt hätte. Aber das war der Moment, wo plötzlich die INSELN DES LICHTS entstanden - und das betraf auch die Region, in der sich der alte Kämpfer mit seinen Getreuen aufhielt. Fassungslos beobachteten die Menschen, wie sich auf einmal der gesamte Horizont in ein violettes Leuchten verwandelte und alles ganz anders wurde. Diese Ereignisse hielten nicht lange an, aber General Kang hatte sofort begriffen, dass hier ein weiterer Stein des unbekannten Mosaiks in seinem so seltsamen Traum Gestalt anzunehmen begann und sich auf der Welt manifestierte. Der alte Kämpfer begriff auf einmal, dass nichts mehr zufällig geschah. Höhere Mächte hatten dafür gesorgt, dass er noch lebte und unter unsäglichen Strapazen bis hierher gelangt war. An einen Ort, der nun eine sichere Schutzzone geworden war. Seine Gedanken bestätigten sich, als die von ihm ausgeschickten 70
Spähreiter nach einigen Tagen zurückkehrten und von einer gewaltigen, undurchdringlichen Nebelwand am Horizont berichteten. General Kang hatte jetzt erst einmal Zeit gewonnen. Zeit, die er nützen würde, um weitere Kräfte im Kampf gegen die Finsternis zu mobilisieren. Und immer wieder kehrten seine Gedanken zurück zu dem Krieger, der in der Blase gefangen war. Insgeheim wünschte er sich, ihn an seiner Seite zu haben. Aber vielleicht bewahrheitete sich ja auch dieser Teil seines Traumes irgendwann... * Er wusste nicht, wie lange er schon durch den tiefen Schnee gestapft war, als sich die Wolken am Himmel zusehends verdichteten. Nur wenige Augenblicke später fielen auch schon die ersten Schneeflocken, die vom Wind hin- und hergewirbelt wurden. Eine unangenehme Kälte blies Thorin ins Gesicht, während der Schneefall sogar noch zunahm. Schon bald wurde ein kräftiger Sturm daraus, der ihn nur noch wenige Schritte weit sehen ließ. Den fernen Horizont und den violetten Schimmer konnte er schon gar nicht mehr erkennen. Um ihn herum befand sich ein weißer wirbelnder Sturm, der ihn die Orientierung verlieren ließ. Zuerst glaubte er sich getäuscht zu haben, aber dann hörte er irgendwo weiter vor sich in den tanzenden, vom Wind aufgepeitschten Schneeflocken ein klagendes Brüllen. Da, nun hörte er es wieder - es schien gar nicht weit entfernt zu sein. Thorin beschleunigte seine Schritte, auch wenn ihm das alles andere als leicht fiel. Dann er war ziemlich entkräftet. Die Sekunden und Minuten verstrichen zu quälenden Ewigkeiten, bis er irgendwo vor sich im weißen Schnee die verschwommenen Umrisse eines großen, zottigen Körpers ausmachen konnte. Sofort riss Thorin seine Klinge aus der Scheide und näherte sich ganz vorsichtig der betreffenden Stelle. Für einen winzigen Augenblick ließ das Pfeifen des Windes kurz nach, so dass Thorin ganz genau erkennen konnte, was sich da vor ihm befand. Es war ein alter Forcabulle, der fest im Schnee steckte 71
und sich kaum noch bewegen konnte. Thorin ließ sein Schwert sinken, als er langsam näher an das Tier herankam. Das zottige Geschöpf schnaubte wild, als es das zweibeinige Wesen dicht vor sich sah, aber es konnte weder angreifen noch sich verteidigen. Die beiden Hinterläufe standen in einem unnatürlichen Winkel vom zottigen Körper ab. Thorin erkannte sofort, dass das Tier in den Schneemassen eingebrochen war und sich dann die Hinterläufe dabei gebrochen hatte. Für den Forcabullen bedeutete das das Ende. Er würde nur noch so lange leben, bis irgendwann die Schneewölfe seine Fährte entdeckt und ihn gewittert hatten. Dann würden sie über ihn herfallen und ihn bei lebendigem Leib zerreißen. Wieder kam Wind auf - und Thorin spürte, dass die beißende Kälte noch zunahm. Plötzlich schoss ihm ein rascher Gedanke durch den Kopf. Ein Gedanke, der aus Verzweiflung und purem Überlebenswillen geboren worden war. Aber wenn er diesen schrecklichen Schneesturm überstehen wollte, dann gab es für ihn eigentlich nur diese einzige Möglichkeit. Kurz entschlossen näherte er sich dem schnaubenden Forcabullen, hob sein Schwert und schnitt dann dem Tier rasch die Kehle durch. Blut spritzte auf und färbte den Schnee rot. Ein letztes Zucken ging durch den Körper des sterbenden Bullen, dann hatten seine Qualen ein Ende gefunden. Thorin bückte sich rasch und schlitzte mit der scharfen Klinge Sternfeuers die weiche Unterseite des Bullen auf. Dampfende Gedärme quollen ihm entgegen und für einen winzigen Moment fühlte Thorin eine leichte Übelkeit in sich aufsteigen. Aber daran durfte er jetzt nicht denken - sonst würde er in diesem furchtbaren Schneesturm sehr bald erfrieren! Er holte ein letztes mal tief Luft, steckte das Schwert wieder ein und bückte sich dann nieder. Dann bahnte er sich mit den Händen einen Weg durch die Gedärme des Bullen und zwängte sich selbst hinein. Blut, schleimige Massen und dampfende Innereien umgaben Thorin. Es war stickig feucht hier drin und es roch irgendwie alt. Aber da war auch diese wohltuende Wärme, die ihm hoffentlich das Leben ret72
ten würde. Wärme, die er dringend brauchte, um die Kälte dieses fast schon unnatürlich wilden Sturms überstehen zu können. Während Thorin sich in der Bauchhöhle des getöteten Forcabullen ganz eng zusammenkauerte, erreichte draußen der winterliche Orkan seinen Höhepunkt. Die Schneeflocken verdichteten sich zusehends und Thorin sah nur noch eine einzige weiße, dichte Wand. Er bewegte sich kaum, versuchte ruhig zu bleiben. Denn er musste am Leben bleiben auch wenn seine jetzige Umgebung immer wieder einen Brechreiz in ihm auslöste. Aber es gelang ihm zum Glück, diesen rasch wieder zu unterdrücken. Nach der beißenden Kälte dort draußen war die Wärme des Forcakadavers eine wahre Wohltat für Thorin. Wäre er jetzt noch länger da draußen umhergeirrt, dann wäre es wahrscheinlich zu spät für ihn gewesen, denn seine Hände hatten sich ganz taub und klamm angefühlt. Er spürte jetzt erst, wie das Blut allmählich wieder in die Bahnen zurück schoss und dabei ein sanftes Prickeln verursachte. Er ertappte sich dabei, dass er müde wurde, aber er wollte nicht einschlafen. Immer wieder zwang er sich, wach zu bleiben und geduldig abzuwarten, bis irgendwann der heulende Wind verstummte und das dichte Wirbeln der Schneeflocken nachließ. Es dauerte seinem Empfinden nach zwar sehr lange, fast eine Ewigkeit erschien ihm das an diesem ungewöhnlichen Aufenthaltsort - aber dann war es schließlich soweit. Der Schneesturm hatte aufgehört! * Thorin zwängte sich mühsam aus der Bauchhöhle des Forcas heraus und atmete die frische Luft tief ein. Er war über und über mit glitschigem Sekret bedeckt und stank wahrscheinlich gotterbärmlich. Aber er hatte den furchtbaren Schneesturm überlebt - und nur das zählte für ihn. Nun musste er noch den zweiten Teil seines Vorhabens in die Tat umsetzen. Wieder nahm er sein Schwert an sich und begann dann mit dem Abhäuten des Tieres. Das Fell des toten Forcabullen war zottig 73
und schwer - es würde ihn ganz sicher gut wärmen auf seinem langen Marsch durch die weite winterliche Ebene. Es waren zwar viele Jahre vergangen, seit Thorin zum letzten mal einen Forcabullen erlegt und fachmännisch abgehäutet hatte, aber was er einmal in seiner Jugend gelernt hatte, vergaß er so schnell nicht wieder. Anstrengend war es dennoch, aber schließlich hatte er es geschafft. Er hatte ein großes Stück Fell abgezogen, das ausreichte für seine Zwecke. Dieses warf er sich jetzt um die Schultern und war erleichtert darüber, dass nun die Kälte nicht mehr ganz so beißend war wie er es noch zuvor empfunden hatte. Dann schnitt er sich einige Fleischstücke aus dem Kadaver heraus und stärkte sich erst einmal - Thorin fühlte sich, als habe er einen Äonen lang dauernden Schlaf hinter sich. Er schlang das Fleisch roh und blutig hinunter und fühlte, wie die Kräfte in den ausgelaugten Körper allmählich wieder zurückkehrten. Dann erhob er sich, hüllte sich noch dichter in das wärmende Fell und setzte seinen Fußmarsch durch die schneebedeckte Ebene fort. Und das violette Leuchten am Horizont war wieder so deutlich wie ein Fanal zu erkennen! * Auch wenn er sich nach dem Stand der Sonne richtete, so fühlte sich Thorin dennoch unsicher. Das waren nicht mehr die Ebenen der Eisländer, die ihm einst so vertraut gewesen waren. Etwas erschien ihm anders - aber er wusste nicht, was es war. Viel Zeit war vergangen, seit er den Kadaver des getöteten Forcas irgendwo hinter sich zurückgelassen hatte. Zeit, in der er immer wieder versuchte, die Flut seiner verwirrten Gedanken zu sammeln und in geordnete Bahnen zu bringen. Da war eine große Lücke der Erinnerung, seit er zum letzten im Kampf gegen den Ritter der Finsternis, Orcon Drac, angetreten war. Als hätte eine unsichtbare Macht ihn gepackt und gegen seinen Willen in eine andere Zeitebene entführt, so kam es ihm jedenfalls jetzt vor. 74
Er wusste, dass in der Zwischenzeit folgenschwere Dinge geschehen sein mussten. Und wieder erinnerte er sich an die seltsamen Bilder, die er erlebt hatte, als diese Blase - oder was bei allen Göttern war das sonst gewesen? - ganz plötzlich zerplatzt war und er von dem geheimnisvollen Wesen namens FÄHRMANN wieder zurück zur Erde geschickt worden war. Bisher war sein Glaube an die intakte Götterwelt des Lichts eigentlich sehr gefestigt gewesen - aber auch das hatte sich mittlerweile stark verändert. Denn Thorin hatte nun begriffen, dass es noch andere Wesenheiten gab, die sogar noch über den ihm einst so mächtig erscheinenden drei Göttern Odan, Thunor und Einar standen. Die Sonne senkte sich allmählich zum fernen Horizont hin, als er in einiger Entfernung plötzlich die konturenhaften Umrisse dreier Gestalten ausmachte. Sofort duckte er sich, verschwand hinter einem halb von Schnee bedeckten Felsen und wartete ab, welche Richtung die drei Gestalten einschlugen. Gleichzeitig zog er sein Schwert aus der Scheide und beobachtete weiter, was geschah. Je näher die drei Gestalten kamen, um so mehr Einzelheiten konnte Thorin erkennen. Kein Zweifel, das waren Menschen - dennoch blieb er misstrauisch. Denn die Erfahrung hatte ihn mittlerweile gelehrt, dass die äußere Erscheinung nicht immer wirklich war, seit die finsteren Mächte das Zepter über diese Welt schwangen... Es waren drei Krieger, die durch den Schnee wateten. Jeder von ihnen war mit einer langen Lanze bewaffnet und der vorderste von ihnen hatte sich sogar ein Schwert umgegürtet. Thorin beobachtete sie ungesehen von seinem Versteck aus und musste dann feststellen, dass irgend etwas (wenn er jetzt auch noch nicht sagen konnte, was das war) ihm an diesen drei Männern bekannt vorkam. Die Männer trugen dichte Bärte - trotzdem wirkten ihre Gesichtszüge jetzt seltsam vertraut, je näher sie der Stelle kamen, wo sich Thorin hinter dem Felsen verborgen hielt. Sie waren bereits jetzt schon so nahe, dass Thorin ganz deutlich ihre Stimmen hören konnte - und er zuckte zusammen, als er den Dialekt seiner Heimat vernahm. »... müssen noch weitersuchen, Renno«, hörte Thorin den Vordersten der drei Männer sagen. »Die Wildfährte ist ganz deutlich...« 75
»Wir sollten uns nicht zu weit vom Dorf entfernen, Oric!«, hielt ihm der andere entgegen. »Der heftige Sturm ist jetzt abgeflaut - aber er kann auch wieder ausbrechen...« Ein Schock der Erkenntnis überkam Thorin, als er die Namen der beiden Männer hörte und ihm dann klar wurde, was das zu bedeuten hatte. Oric und Renno waren zwei Krieger aus seinem Heimatdorf gewesen. Damals als er die Eisländer des Nordens verlassen hatte, um weiter im Süden Ruhm und Abenteuer zu suchen, waren die beiden noch jung gewesen. Aber warum bei allen Göttern sahen sie jetzt so alt aus? Sie erschienen noch älter als Thorin selbst und das verwunderte und erschreckte ihn zutiefst. Schließlich konnte er es nicht mehr länger in seinem Versteck aushalten. Rasch erhob er sich und trat mit dem Schwert in der Hand hinter dem Felsen hervor. Das geschah so plötzlich, dass die drei Krieger zusammenzuckten und im ersten Moment ihre Speere zur Abwehr hochrissen. »Wollt ihr einen eures Volkes töten?«, richtete Thorin nun mit krächzender Stimme das Wort an die drei Krieger. »Oder habt ihr mich schon vergessen?« Bange Augenblicke vergingen, bis sich in den Gesichtern der drei Krieger ein Schimmer des Erkennens abzeichnete. »Bei den Göttern des Lichts - Thorin!«, rief nun Oric mit stockender Stimme und blickte fassungslos zu seinen Gefährten. »Thorin, du bist es wirklich? Aber das ist doch...« Oric brach ab, weil ihm die Worte fehlten. »Ich bin es«, erwiderte der Nordlandwolf und ließ sein Schwert wieder sinken. Auch die anderen Krieger hatten die Speere jetzt gesenkt - aber da war noch etwas in ihren Augen, was Thorin nicht übersah. Es war eine Mischung aus Verwunderung und Furcht. »Bei den Göttern des Lichts«, fuhr Thorin nun fort. »Ich hatte schon nicht mehr darauf gehofft, anderen Menschen in dieser Einöde zu begegnen. Es ist lange her, seit wir uns alle das letzte mal gesehen haben.« »Jahre sind vergangen«, ergriff nun Renno das Wort. »Viele Jahre, Thorin. Keiner von uns hat mehr daran geglaubt, dass wir dich je76
mals wieder sehen würden. Selbst Lorys hoffte bis zuletzt noch. Dann aber hat sie es auch aufgegeben, weil...« Zuerst wurde Thorin nicht ganz klar, was der Krieger ihm damit hatte sagen wollen. Aber dann überkam ihn die Gewissheit wie ein Schock. Die veränderten Gesichter ergaben jetzt einen Sinn - einen Sinn, der Thorin den Kopf schütteln ließ, weil er seine Emotionen nicht mehr unter Kontrolle halten konnte. »Wie viel Zeit ist es genau, Renno?«, wollte Thorin mit unsicherer Stimme wissen. »Sag es mir - jetzt gleich! Wie lange ist es her, seit Lorys zu euch kam?« »Fünf Jahre, Thorin!«, erwiderte Oric nun an Rennos Stelle, weil dieser natürlich die Verwirrung des Nordlandwolfs bemerkt hatte. »Fünf lange Jahre, in denen wir viel erduldet haben, seit die Mächte der Finsternis unser Dorf in Schutt und Asche gelegt haben. Nur wenige von uns konnten damals ihr Leben retten und...« Er begann zu erzählen, was sie alle erlebt hatten, aber Thorin konnte nur noch mit halbem Ohr zuhören. Denn der Schock über die Wahrheit, die er jetzt erfahren musste, saß sehr tief. Fünf lange Jahre, schrie eine Stimme in seinem Inneren immer wieder und das Echo ließ sein Hirn fast zerplatzen. Fünf Jahre und in dieser Zeit hat sich ALLES VERÄNDERT! »... deshalb mussten wir noch einmal von vorn anfangen«, hörte er Oric sagen und bemerkte dann auf einmal, wie ihn dieser verwundert ansah. »Thorin, was ist mit dir? Du blickst so verwundert drein und...« Der Nordlandwolf winkte mühsam ab. Oric und den beiden anderen jetzt von den Problemen zu erzählen, die ihn angesichts dieser Neuigkeiten erfasst hatten, wäre wahrscheinlich vergeblich gewesen. »Das Dorf am Eismeer ist also vernichtet«, murmelte Thorin. »Und die Kreaturen der Finsternis - welche Gefahr droht euch noch von ihnen?« »Ich glaube, du solltest am besten mit Trondyr und Sventa darüber sprechen - du erinnerst dich doch noch an die beiden, oder?« Er sah, wie Thorin heftig nickte und sprach deshalb rasch weiter. »Zuerst hatten wir alle gedacht, es bedeute das Aus für unsere Welt. Aber 77
dann geschah etwas, was uns noch hoffen lässt. Es hat etwas mit diesem violetten Licht am Horizont zu tun. Du hast es doch sicher schon bemerkt?« Thorin nickte. »Es ist... eine Art Barriere, die man nicht durchdringen kann«, berichtete Oric weiter. »Renno und ich sind schon mehrmals dort gewesen. Aber alles, was man dort sehen kann, ist ein dichter, undurchdringlicher Nebel. Trondyr glaubt, dass es eine Grenze ist, die die Mächte der Finsternis nicht durchdringen können. Es sind seit dem einige Jahre vergangen und wir haben nie wieder etwas von den dunklen Mächten gehört oder gesehen. Aber diese sichere Region haben wir auch nicht zu verlassen gewagt. Wir wissen nicht, wie es an anderen Stellen der Welt aussieht - bestimmt wirst du mehr darüber sagen können.« Thorin schüttelte nur kurz den Kopf. Es war besser, jetzt diesen Menschen nicht all zu viel zu sagen. Sonst würde ihr ohnehin schon arg erschüttertes Weltbild noch mehr ins Wanken geraten. »Ich komme mit euch«, sagte er stattdessen ausweichend. »Ich möchte die Menschen wieder sehen, die ich einmal gekannt habe. Was ist mit Lorys? Sie erwartete doch ein Kind? Ist es wohlauf?« »Mehr als das«, meldete sich nun der dritte Krieger zu Wort. Er war noch sehr jung und Thorin erinnerte sich nicht mehr an ihn. Sein Name war Kyn. »Der Junge trägt den Namen seines Vaters - er heißt Dion und Lorys kann stolz auf ihn sein. Aber ich will nicht vorgreifen du sollst dich selbst davon überzeugen. Bei allen Göttern, es tut gut, dich zu sehen, Thorin. Nun können wir alle hoffen, dass die Schatten der Finsternis wieder von uns weichen. Ist dies das legendäre Götterschwert Sternfeuer, von dem wir durch Lorys erfahren haben? Du musst viel in diesen Jahren erlebt haben. Wir alle sind sehr begierig, mehr darüber zu erfahren. Komm mit uns - es ist nicht mehr weit bis zu unserem Dorf. Es ist zwar kleiner als das, das du vielleicht noch in Erinnerung hast - aber wir haben überlebt. Das ist mehr Glück als es andere hatten...« Thorin wusste, was der Krieger damit sagen wollte. Auch wenn er sich sehr freute, nun viele derjenigen wieder zu sehen, die er früher einmal gekannt hatte, so schmeckte dennoch die Wahrheit ziemlich 78
bitter. Fünf Jahre waren verstrichen - aber nicht für ihn. Thorin war nicht älter geworden. Zusammen mit Oric, Renno und dem jungen Kyn machte er sich dann auf den Weg zum Dorf der letzten Überlebenden seines Stammes. Und die Sonne neigte sich gen Westen... * Wind kam auf, zerrte an Lorys langen blonden Haaren, deren Glanz in den letzten beiden Jahren etwas stumpfer geworden war. Die ehemalige Fürstin von Samara hatte viel erlebt, seit sie zusammen mit den letzten Überlebenden des Küstendorfes landeinwärts geflüchtet war und hier in den einsamen Regionen des Eislandes eine neue Zuflucht gefunden hatte. Ihre Augen leuchteten in einem warmen Schimmer, als sie ihren jetzt fünfjährigen Sohn Dion beobachtete, der zusammen mit drei anderen Kindern unweit einer Anhöhe im Schnee spielte. Das Lachen der Kinder drang bis zu ihr herauf und Lorys ertappte sich bei dem Gedanken, dass es den Kindern trotz der vielen Entbehrungen doch relativ gut ging. Die meisten von ihnen waren hier draußen geboren worden, irgendwann nach der Flucht. Sie kannten gar nichts anderes als die Abgeschiedenheit der weiten Ebenen des Eislandes, hatten auch noch niemals das große Meer gesehen. Wahrscheinlich würden sie das auch niemals zu Gesicht bekommen, denn seit vor fünf Jahren am fernen Horizont das violette Leuchten manifestiert war, hatte sich ihre Welt ziemlich verkleinert. Sie war im Grunde genommen sehr überschaubar geworden, denn dort bei diesem violetten Licht endete die Welt für Lorys und die anderen Menschen. Was drüben auf der anderen Seite war, darüber konnten sie alle nur spekulieren - und einige von ihnen wollten es gar nicht mehr wissen. Für sie war nur wichtig, dass die unsäglichen Schrecken der Finsternis gewichen und nicht mehr wiedergekommen waren. Weiter drüben, vielleicht zweihundert Armlängen entfernt, erhoben sich die primitiven Häuser des kleinen Dorfes. Kein Vergleich zu den Gebäuden des Dorfes, das von den Kreaturen der Finsternis wäh79
rend der großen Katastrophe vernichtet worden war - aber hier waren sie in Sicherheit. Besser ein Leben in Bescheidenheit und Armut als erneut den schrecklichen Gefahren ausgesetzt zu sein, die viele der hier lebenden Menschen auch nach mittlerweile fünf Jahren nie wieder vergessen würden... Auch Lorys Gedanken waren oft in die Vergangenheit zurück geglitten und immer wieder hatte sie sich an den Mann erinnert, dem sie und der kleine Dion ihr Leben zu verdanken hatten. Doch sie hatte nie wieder etwas von Thorin gehört. Vielleicht lebte er ja noch, befand sich aber auf der anderen Seite der schützenden violetten Nebelbarriere und konnte nicht bis zu ihnen vordringen. Das und ähnliche Dinge waren ihr immer wieder durch den Kopf gegangen - bis sie es aufgegeben hatte, sich weiter mit der Vergangenheit zu beschäftigen. Sie musste nun an die Zukunft denken, denn der kleine Dion war jetzt der Mittelpunkt ihres Lebens. Sie hatte von Anfang an gewusst, dass der Junge etwas Besonderes war. Das hatte schon bei der Geburt in der Höhle begonnen und hatte sich in den späteren Jahren fortgesetzt. Dion war ungewöhnlich wachsam und wissbegierig für seine fünf Jahre. Er interessierte sich für alles und stellte auch den Älteren im Dorf entsprechende Fragen. Sventa und der weißhaarige Trondyr, die mittlerweile ältesten Bewohner des kleinen Dorfes, erkannten die Neugier des Jungen sofort und verbrachten oft sehr viel Zeit mit ihm - um ihm von Dingen zu erzählen, die schon sehr lange zurücklagen. Und Dion war immer ein gelehriger Zuhörer. Jetzt aber war er nur ein normaler fünfjähriger Junge, der zusammen mit anderen ausgelassen im Schnee herumtollte. Helles, befreiendes Lachen drang bis zu Lorys hinauf und sie freute sich darüber, dass sie und der Junge mittlerweile vollwertige Mitglieder des nordischen Volks geworden waren. Die Zeit vor ihrem Eintreffen im Dorf an der Küste - all dies schien schon so lange zurück zu liegen, dass es ihr selbst wie ein unwirklicher Traum vorkam. Sie beobachtete weiter die spielenden Kinder und bemerkte auf einmal, wie der kleine Dion plötzlich innehielt und sich nicht mehr dafür interessierte, wie die anderen Spielgefährten aus dem weichen 80
Schnee große Kugeln zu formen begannen. Stattdessen erhob sich Dion, ging einige Schritte zur Seite und blickte immer wieder hinauf zur Anhöhe, die sich nur wenige Schritte entfernt befand - als wenn er dort etwas bemerkt hatte, was nur er sehen konnte... Natürlich war das Lorys nicht entgangen, wie sich der Junge auf einmal verhielt und sie konnte nicht verstehen, warum das so war. Von einem Atemzug zum anderen hatte er mit dem Spielen aufgehört und sich zurückgezogen. Die anderen Kinder riefen ihm etwas zu, aber das hörte Dion gar nicht. Nach wie vor hatte er seine Blicke auf die Anhöhe gerichtet. Und dann sah Lorys auf einmal die vier Gestalten, die sich auf dem höchsten Punkt der Anhöhe abzeichneten. Oric, Renno und Kyn kamen zurück. Sie hatten schon vor Stunden das Dorf verlassen, um auf die Jagd zu gehen und... Plötzlich brachen Lorys Gedanken ab, denn erst jetzt bemerkte sie, dass es nicht drei Männer waren, die dort oben auf der Anhöhe zu sehen waren - sondern vier! Und der Vierte machte selbst von hier unten aus einen seltsam vertrauten Eindruck auf Lorys. Immer noch stand Dion ganz still und richtete seine Blicke auf die zurückkehrenden Jäger. Er musste gespürt haben, dass sie jetzt zurückkehrten, dachte Lorys kopfschüttelnd. Aber nur wenige Atemzüge später wurde ihr bewusst, dass es nicht die drei Jäger waren, denen Dions Aufmerksamkeit galt - nein, es war der vierte Mann, den Dion genau ansah. Warum nur? Jetzt verließen die Männer die Anhöhe und kamen mit langsamen Schritten herunter. Bei den Häusern des kleinen Dorfes hatte man ebenfalls die Ankunft der Jäger bemerkt, ebenso wie die Tatsache, dass sie nicht allein zurückgekommen waren. Der vierte Mann war groß und hünenhaft und er hatte ein zottiges Fell um seine Schultern gehüllt. Noch hatte er den Kopf in Richtung des Dorfes gewandt, so dass ihn Lorys von ihrem jetzigen Standort aus nicht genau erkennen konnte. Aber dann drehte sich der Mann um und Lorys erschrak, spürte ein Zittern, das ihren gesamten Körper überfiel. 81
»Nein...«, murmelte sie kopfschüttelnd und schlug beide Hände vors Gesicht. »Das ist... das kann einfach nicht wahr sein. Thorin...« In diesem Moment dachte sie gar nicht darüber nach, wie es ihrem Sohn eigentlich möglich gewesen war, die Ankunft der Jäger so früh zu bemerken. Ihre Gedanken kreisten einzig und allein um den Mann, den sie schon verloren geglaubt hatte. Jetzt kehrte er zurück, nach so langer Zeit... Auch Thorin hielt für einen winzigen Augenblick inne, als er die Frau mit den blonden Haaren in der Nähe der Kinder bemerkte. Ja, auch er schien sie jetzt erkannt zu haben und er lenkte seine Schritte nun in ihre Richtung. Die Jäger bemerkten das natürlich, aber sie unternahmen nichts, um ihn zu halten. Sie alle wussten um das Band, was diese beiden Menschen einst verknüpft hatte. Er kam näher. Sie erkannte seine blauen Augen, die markanten Züge und den gleichen entschlossenen Willen wie früher. Und dann erkannte sie die Wahrheit - er sah noch genauso aus wie sie ihn zum letzten mal vor sich gesehen hatte. Nicht um einen einzigen Tag gealtert! »Thorin, weshalb...«, kam es ihr dann hastig über die Lippen. Dann brach sie aber wieder schnell ab, weil sie nicht wusste, wie sie ihre Gedanken in Worte kleiden sollte. Stattdessen gab sie einfach ihren Gefühlen nach, ging rasch auf ihn zu und warf sich in seine Arme. Thorin drückte sie fest an sich, streichelte ihr durch das Haar und sah sie dann erst wieder an. »Du hast dich nicht viel verändert«, sagte er zu ihr. »Auch wenn es schon sehr lange her ist...« »Du bist ein Lügner«, lächelte sie leise und genoss dieses Kompliment aus seinem Mund. »Es sind fünf Jahre vergangen und ich bin älter geworden - du dagegen überhaupt nicht. Thorin, was bei allen Göttern ist nur mit uns geschehen? Jetzt, wo du so plötzlich wieder hier bist, weiß ich gar nicht, was...« Plötzlich stand der kleine Dion neben ihr. Er war ganz lautlos zu den beiden getreten und sah immer wieder Thorin an, der natürlich jetzt ebenfalls den Jungen bemerkte. Deshalb löste er sich rasch wieder aus Lorys Armen und erwiderte den Blick Dions. 82
»Ist das dein Sohn, Lorys?«, wollte er dann von der ehemaligen Fürstin von Samara wissen und diese nickte daraufhin. »Bei allen Göttern!«, fuhr Thorin daraufhin fort. »Nun sehe ich wirklich, wie viel Zeit verstrichen ist...« Er beugte sich hinunter zu Dion und legte seine Hand auf dessen Schulter. »Bist du Thorin?«, fragte der Junge nun mit zögernder Stimme. »Bist du der, von dem meine Mutter immer erzählt?« »Ja«, nickte Thorin. »Ich hoffe, sie erzählt nicht ganz so haarsträubende Geschichten über mich.« Dabei lächelte er und dieses Lächeln übertrug sich auf den Jungen. »Warum bist du erst jetzt gekommen, Thorin?«, fragte ihn nun Lorys, denn dies brannte ihr förmlich unter den Nägeln. »Fünf lange Jahre haben wir warten müssen - warum geschah es nicht früher?« »Ich war gefangen von den Mächten der Finsternis«, erwiderte Thorin wahrheitsgemäß. »Und wahrscheinlich hätte ich mich nie selbst befreien können, wenn nicht...« Er brach ab, weil der Junge ihn jetzt noch neugieriger anschaute. Als wenn er die Antwort darauf schon wusste! »Wir werden Zeit haben, um in aller Ruhe noch darüber zu sprechen, Lorys«, fuhr er fort. »Aber sieh doch - im Dorf ist man schon darauf aufmerksam geworden, dass die drei Jäger nicht allein zurückgekommen sind. Ich glaube, wir sollten jetzt zu den anderen gehen. Auch sie haben ein Recht darauf, zu erfahren, was geschehen ist.« Lorys nickte. Thorin hatte recht. Sie nahm den kleinen Dion an der Hand und folgte dann Thorin. * Es wurde ein recht nachdenkliches Wiedersehen für den Nordlandwolf. Als er mit den anderen das kleine Dorf erreichte, erkannte er so manches bekannte Gesicht, musste zahlreiche Hände von Menschen schütteln, die er fast schon vor Ewigkeiten zum letzten mal gesehen hatte. Die Blicke und die Gesten all dieser Menschen hatten eins gemeinsam - sie sahen in Thorin nicht mehr den jungen Krieger, der vor einigen Jahren das Dorf verlassen hatte, um ferne Länder zu sehen. Nein, dieser Mann war ein legendärer Held geworden, dem die Götter des 83
Lichts ihre Gunst und das Schwert Sternfeuer geschenkt hatten. Für einen Sterblichen war das eine Ehre! Jeder von ihnen kannte mittlerweile die geradezu unglaublichen Taten des Mannes, der aus ihrem Volk stammte und der zweifelsohne ein Günstling der Götter gewesen war - aber bevor die Welt ins Chaos gestürzt war. Die Tatsache, dass er jetzt zurückkehrte, gab den Menschen wieder neue Hoffnung. All dies konnte Thorin in den von Kummer und Not gezeichneten Gesichtern der Menschen erkennen und es stimmte ihn traurig, dass er den einen oder anderen hier nicht mehr sah. Das waren die Opfer der Finsternis! Einer der Menschen fiel ihm besonders auf - es war ein weißhaariger alter Mann, dessen Blick noch nicht getrübt war und Mut ausstrahlte. Thorin erkannte ihn sofort wieder. Es war Trondyr, den Thorin als Junge schon wegen seiner Kühnheit bewundert hatte. Er war alt geworden, seit Thorin ihm das letzte mal begegnet war - aber von ihm ging noch eine kaum zu beschreibende Stärke aus. Eine Stärke, an der sich die Überlebenden seines Volkes noch festhalten konnten. »Willkommen, Thorin!«, begrüßte ihn der alte Trondyr, zu dem jetzt eine Frau geeilt kam, die Thorin ebenfalls noch kannte. Es war Sventa, die heilkundige Frau seines Dorfes. Zusammen mit Trondyr schien sie hier Verantwortung zu tragen. »Den Göttern sei Dank, dass du wieder zu uns zurückkehrst. Du kommst doch in ihrem Auftrag, oder?« »Ich wünschte, ich könnte dir und euch allen darauf eine Antwort geben«, erwiderte Thorin wahrheitsgemäß. »Aber ich habe keine Verbindung mehr zu den Göttern des Lichts. Sie sind... verschwunden!« Erschrockenes Murmeln breitete sich bei den Umstehenden aus. Jetzt wurde zur Gewissheit, was sie alle längst schon befürchtet hatten. Die Welt war nun ganz in den Händen der Finsternis - bis auf die wenigen Zonen, die durch den violetten Nebel vor dem Zugriff der dunklen Mächte geschützt wurden. »Wir werden darüber reden, Thorin«, sprach Trondyr jetzt zu ihm und allen anderen, die sich in der Mitte des Dorfes versammelt hatten. »Wir werden ein großes Feuer entzünden und dann beraten - wie im mächtigen Thing in alten Zeiten...« 84
* Flackernde Flammen erhellten die dunkle Nacht. Der Schein des Feuers erhellte die Gesichter der zahlreichen Menschen, die sich am großen Ratsfeuer versammelt hatten, um Thorins Bericht zu hören. Der Nordlandwolf war sich seiner großen Verantwortung bewusst, die jetzt auf ihm lastete und war froh darüber, dass es sich Lorys nicht hatte nehmen lassen, den Platz an seiner Seite einzunehmen. Auch der kleine Dion hatte sich bisher standhaft geweigert, zu Bett zu gehen und zu schlafen, wie es zu dieser Stunde für Kinder in seinem Alter eigentlich üblich war. Lorys hatte schließlich eingewilligt, dass der Junge sowie einige seiner gleichaltrigen Freunde ebenfalls noch aufbleiben konnten. Thorin wählte seine Worte bedacht aus und berichtete den Menschen seines Volkes von dem Moment an, seit er sich von Lorys getrennt hatte und wie es dann zur letzten folgenschweren Entscheidung zwischen ihm und dem Ritter der Finsternis gekommen war. »Ich habe ihn besiegt«, murmelte Thorin und blickte dabei gedankenverloren in die Flammen des flackernden Feuers. »Zumindest glaube ich das, denn ich hatte ihn fallen sehen, durchbohrt von meinem Schwert. Dann aber geschahen Dinge, die ich auch jetzt noch nicht so richtig begreifen kann. Irgend etwas - vielleicht eine höhere Macht, packte mich und zog mich in einen schwarzen Schacht!« »Von da an wusste ich nicht mehr, was mit mir geschah«, fuhr Thorin fort. »Ich habe geschlafen - und ich hatte auch verwirrende Träume«, erzählte er weiter. »Und wie ich jetzt weiß, hat dieser Schlaf sehr lange gedauert...« »Es sind gewaltige Kräfte, die diese Welt nun im Griff haben«, sinnierte die alte Sventa und erinnerte sich wieder daran, dass sie damals geahnt hatte, dass die dunklen Mächte ihr Dorf heimsuchen und vernichten würden. »Sventa hat recht«, fügte Trondyr hinzu. »Wir können nur ahnen, was auf der anderen Seite des Eismeeres geschehen ist. Aber seit un85
serer Flucht sind wir keinen anderen Menschen mehr begegnet. Also müssen wir wohl glauben, dass wir die einzigen sind...« »Nein!«, unterbrach ihn Thorin und erntete dafür erstaunte Blicke. »Es ist anders - ich kann es natürlich nicht beweisen, aber ich bin sicher, dass es ähnliche Schutzzonen gibt wie diese hier. Die Mächte des Lichts sind noch nicht ganz untergegangen. Ich habe zahlreiche, von Schatten überzogene Länder gesehen, aber auch Flecke wie diesen hier. Wenn jede dieser Zonen von solch einer sicheren Nebelbarriere umgeben ist, dann muss das bedeuten, dass es Kräfte gibt, die nicht zulassen werden, dass die Mächte der Finsternis sich diese Erde Untertan machen. Kräfte, die noch höhere Bedeutung haben als die Götter des Lichts. Solche Wesen wie der FÄHRMANN.« In kurzen Sätzen schilderte er Trondyr und den anderen Menschen von seiner kurzen Begegnung mit dem seltsamen Wesen, das ihn aus der Energieblase befreit und dann zurück in diese Welt geschickt hatte. Und während er davon erzählte, dachte er zum ersten mal daran, dass die Mächte der Finsternis nicht stark genug gewesen waren, um diesen Eingriff des FÄHRMANNS zu verhindern. Die dunklen Herrscher - bis jetzt waren sie ihm so übermächtig und unbesiegbar erschienen. Aber damals hatte er solche Wesen wie den FÄHRMANN noch nicht gekannt, für den es ein Leichtes gewesen war, nur mit Hilfe seines Geistes die Fesseln der Finsternis zu sprengen und Thorin an den Ort seiner Bestimmung zurückzuschicken. Selbst wenn die dunklen Götter das hatten mit ansehen müssen - und Thorin war sich ziemlich sicher, dass Azach und R'Lyeh mittlerweile wussten, dass ihr Todfeind nicht mehr außer Gefecht war - so waren sie doch wehrlos gegen die ungeheuren Kräfte des FÄHRMANNS. Er war so in seine Schilderungen versunken, dass ihm gar nicht das Leuchten in den Augen des kleinen Dion auffiel, der jetzt noch gespannter zuhörte, als Thorin von dem geheimnisvollen Wächter des Universums berichtete. Auch Lorys sah das nicht, denn mit ihren Augen hing sie an den Lippen Thorins und für sie war es genauso wie für alle anderen Menschen in diesem Dorf - was sie von Thorin erfuhren, war so unglaublich und faszinierend zugleich, dass ihre Ehrfurcht vor 86
dem Krieger, der auf der Seite des Lichts im Namen von drei Göttern gekämpft hatte, noch mehr wuchs. »Wenn es diese anderen Schutzzonen wirklich gibt, wie du es gesehen haben willst«, schlussfolgerte die alte Sventa jetzt, »dann gibt es noch mehr Menschen außer uns. Nur vereint können wir etwas gegen die Mächte der Finsternis unternehmen - sonst wird sich nie etwas an unserer Lage ändern.« »Es muss sich etwas ändern - sobald feststeht, was aus den Göttern des Lichts geworden ist«, meinte Trondyr daraufhin. »Mit ihnen zusammen könnten wir es schaffen, unsere Lage noch einmal zu ändern - falls die höheren Mächte uns auch weiterhin beistehen werden. Aber wer weiß das schon?« »Wenn wir es nicht wissen, dann müssen wir es herausfinden«, meinte Thorin daraufhin. »Hätte ich nicht Hilfe von außerhalb bekommen, so wäre ich dazu gezwungen gewesen, auch weiterhin in diesem Gefängnis auszuharren. Und diejenigen, die mich dorthin gebracht haben, werden es büßen. Ich werde alles tun, um gegen diese Mächte zu kämpfen und jetzt ganz sicher noch entschlossener als jemals zuvor!« Er bemerkte nicht, wie Lorys bei diesen Worten zusammenzuckte. Noch bis vor wenigen Stunden hatte sie nie daran gedacht, ihn jemals wieder zu sehen und nun wollte er schon wieder weiterziehen, um den Kampf gegen die Mächte der Finsternis fortzusetzen. Und der Ausgang dieses Kampfes war Ungewisser als jemals zuvor! »Was willst du tun, Thorin?«, fragte der mutige Oric in die Runde. »Ich bin bereit, mit dir zu gehen und an deiner Seite gegen die Kreaturen der Finsternis zu kämpfen. Und Renno würde es auch ganz sicher tun.« Er vergewisserte sich mit einem kurzen Seitenblick zu dem Angesprochenen, dass dieser heftig nickte. »Ich glaube nicht, dass dies gut für euch wäre«, meinte Thorin daraufhin und winkte entschieden ab. »Ich weiß, dass ihr tapfere und entschlossene Krieger seid - aber gegen die Mächte der Finsternis werdet ihr nicht ankommen können. Dazu bedarf es mehr als nur Mut und Entschlossenheit. Nein, ich werde allein weiterziehen, gleich morgen früh bei Sonnenaufgang. Ich will diese Nebelwand mit eigenen 87
Augen sehen - und wenn es einen Weg gibt, dort hindurch zu kommen, dann werde ich ihn finden. Egal wie lange es dauern mag - aber wenn die Götter der Lichts noch am Leben sind, dann muss ich das herausfinden!« Damit war eigentlich alles gesagt. Mehr hatte Thorin dem nicht hinzuzufügen. Er schwieg und blickte in die Runde. Schließlich war es der alte Trondyr, der sich wieder zu Wort meldete. »Wir hätten es gerne gesehen, wenn du bei uns geblieben wärst, Thorin. Aber ich sehe ein, dass dir eine andere Aufgabe vorherbestimmt ist - eine Aufgabe, deren Sinn die meisten von uns nur erahnen können. Es sei so, wie du es gesagt hast. Du bist gekommen und wirst schon bald wieder gehen. Aber in dieser Nacht wollen wir uns alle noch an alte Zeiten erinnern und über sie sprechen. Über Zeiten, in denen unser Herz noch keinen Kummer kannte...« Beifällige Worte erklangen in der Runde, als Trondyr verstummte. Nur Lorys konnte diese Meinung nicht teilen. Sie war traurig darüber, dass Thorin jetzt schon wieder weiterziehen wollte. In diesen fünf Jahren hatte er sich entscheidend verändert. Der Krieger, der wieder zurückgekehrt war, war nun entschlossener als jemals zuvor, wenn es darum ging, den Mächten der Finsternis den Kampf zu erklären. Schweren Herzens erhob sie sich vom Feuer und nahm auch den kleinen Dion an der Hand mit sich. Thorin, der gerade in ein Gespräch mit Sventa und Trondyr vertieft war, sah es erst, als sich Lorys schon erhoben hatte und mit dem Jungen die Hälfte des Weges bis zu ihrer Hütte bereits zurückgelegt hatte. Trondyr bemerkte Thorins nachdenkliche Blicke. »Es bedeutet immer einen Preis, den man zahlen muss, wenn man sich für etwas endgültig entschieden hat, Thorin«, murmelte er. »Sie hat lange auf dich gewartet - sehr lange sogar und es war schwer für sie, irgendwann zu verstehen, dass du wahrscheinlich gar nicht mehr kommst. Jetzt ist ein Wunder geschehen, aber dieses Wunder hält nur kurze Zeit an. Verstehst du, was ich damit sagen will?« »Ja«, nickte Thorin. »Aber ich kann es nun mal nicht ändern. Die Götter des Lichts brauchen Hilfe - ich kann nicht zulassen, dass unsere 88
Welt stirbt. Viel Zeit bleibt mir nicht mehr, Trondyr - es ist schon sehr spät...« Etwas in Thorins Worten ließ den weißhaarigen Mann zusammenzucken. Aber er konnte den Nordlandwolf gut verstehen... *
Epilog Einar, Thunor und Odan spürten die merkwürdige Unruhe, die auf einmal die Skirr ergriffen hatte. Außerhalb ihres Verlieses hörten sie immer wieder schabende Geräusche und vernahmen auch die klickenden Laute der spinnenähnlichen Wesen, die rege miteinander kommunizierten. Und was noch wichtiger war - die drei Götter spürten ebenfalls die Präsenz der Mächte der Finsternis. Azach und R'Lyeh, die beiden dunklen Geschöpfe, waren persönlich in die Stahlburg gekommen und das war seit ihrer Gefangennahme bisher noch nie der Fall gewesen. Die drei Götter des Lichts beobachteten, was weiter geschah. Ihr Verlies wurde von dem finsteren R'Lyeh selbst mit einem mächtigen, zusätzlichen Zauberbann belegt - und eine Horde von zehn Schattenkreaturen bewachte die Zugänge zu den unterirdischen Kerkern, während die Skirr ihre Präsenz ebenfalls verstärkten. »Es geht etwas vor«, murmelte Odan so leise, dass es nur seine beiden Götterbrüder hören konnten. »Etwas von großer Bedeutung...« Auch Thunor, der Herr des Donners nickte und ballte beide Fäuste vor Zorn. »Ich wünschte, ich wüsste, was außerhalb unseres Verlieses geschieht, Brüder«, flüsterte er. »Mir kommt es so vor, als wenn sich da etwas zusammenballt. Etwas, das irgendwie auch mit uns zu tun hat. Seht doch, wie sie unser Verlies abgeriegelt haben! Es reicht wohl nicht mehr aus, dass sie unsere Ketten magisch an uns gebunden haben, so dass wir uns nie selbst befreien werden können. Das kann doch nur bedeuten, dass...« »... sie sich davor fürchten, dass sich dieser Zustand eines Tages ändern könnte«, vollendete Einar nun die Gedankengänge seines Göt89
terbruders. Auch wenn sein Gesicht noch gezeichnet war von den Bissen der Skirr, so war nun doch ein Aufleuchten in seinen Augen zu erkennen. »Und das bedeutet nur eins für uns, Brüder. Thorin ist wieder frei - und sie wollen verhindern, dass er uns zu Hilfe kommt...« »Woher willst du das wissen?«, zweifelte der skeptische Odan. »Wir sahen ihn doch selbst in dieser Lichtblase - daraus konnte er sich niemals aus eigener Kraft befreien.« »Vielleicht hat ihm jemand geholfen«, antwortete Einar. »Und ich ahne auch schon, wer das gewesen ist. Brüder, ich kenne die alten Prophezeiungen von Ushar wie kein anderer. Ich war ein Narr, weil ich selbst für eine kurze Zeit daran gezweifelt habe. Nun aber weiß ich, dass alles seine Bestimmung finden wird. Wir können wieder hoffen und das ist sicher. Geben wir diese Hoffnung nicht auf - die Mächte der Finsternis und ihre Verbündeten werden bald begreifen, was es bedeutet, sich gegen die uralten Gesetze aufzulehnen...« Jetzt begriffen Thunor und Odan, was Einar ihnen damit hatte sagen wollen. Und das ließ sie in ihrer augenblicklichen Situation wieder Hoffnung schöpfen. Hoffnung darauf, dass das eintrat, was Einar ihnen angedeutet hatte... Ende
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