Ren Dhark Drakhon – 15- Welt der Goldenen
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Es war ein Alptraum..
Rückzug! dachte Ren Dhark. Wie versteinert saß e...
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Ren Dhark Drakhon – 15- Welt der Goldenen
1.
Es war ein Alptraum..
Rückzug! dachte Ren Dhark. Wie versteinert saß er da, die Bildkugel ins Auge gefaßt - die Bildkugel, die jene Sequenzen übertrug, die dem Commander der Planeten und Leiter der Orn-Expedition ein spürbares Gruseln verursachte - ebenso wie jedem anderen Beobachter. Schuld daran waren die Statuen. Goldene, gigantische Statuen - so weit das Auge reichte.
Sie waren herumgeschwenkt, waren dem Irrflug der POINT OF gefolgt und hatten dann, wie in einer absurden Choreographie, ihre Arme erhoben und gegen den Ringraumer gerichtet. Arme, die schreckliche Waffen waren... Rückzug! wiederholte Dhark seinen Befehl an die Adresse der Gedankensteuerung. Die nicht reagierte. Nicht in der befohlenen Weise jedenfalls. »Eines Tages werde ich diese alte Blechkiste eigenhändig in ihre Bestandteile zerlegen«, knurrte Dan Riker im Kopilotensitz neben Dhark. Und Dhark dachte: Er hat recht. Er hat verdammt noch mal recht. Was hat dieser vermaledeite Computer vor? Warum stellt er sich taub?
Gedankensteuerung und Checkmaster waren eins in seiner Vorstellung. Und oft genug hatte das mysteriös agierende Bordgehim bewiesen, daß es sich nicht als simpler Befehlsempfänger und ausführendes Organ verstand. Besaß es wirklich eine Biokomponente? Besaß es, wie ihm vielfach angedichtet worden war, Seele} In manch stiller Stunde hatte sich Dhark gefragt, ob sich nicht einer der geheimnisvollen Erbauer der POINT OF, Margun oder Sola, von denen kaum mehr als ihre Namen überliefert waren, mit dem Checkmaster sein eigenes Denkmal gesetzt hatte. Oder mehr noch: Ob sie nicht vielleicht sogar beide eine sehr spezielle Abart der Unsterblichkeit für sich kreiert hatten. Die Galoaner hatten bewiesen, daß es machbar war. Für ihr Nareidum, ihre Regierungsspitze, hatten sie einen Supercomputer entwickelt und eine Möglichkeit erschaffen, die Seelen verdienter Verstorbener zu konservieren - ihnen nach dem Tod der biologischen Hülle neue Heimat in einer kybernetischen Vollprothese zu gewähren. Die Mitglieder des Bundes der Weisen Toten waren sogar imstande, sich auslagern zu lassen - in vergleichsweise winzige Chips, die dann von lebenden Galoanern wie Schmuck getragen wurden und den Nareidums-Angehörigen, so erforderlich, Mobilität verliehen... Theoretisch konnte der Checkmaster also durchaus die Bewußtseine von Margun und Sola enthalten letztgültige Beweise dafür fehlten jedoch nach wie vor. Auch das Innenleben des Checkmasters war und blieb ein Rätsel. Bislang hatte man hinter der Uni-tallverkleidung nur einige fast banal anmutende Module entdeckt. Und etwas, von dem man annahm, daß es eine permanente Verbindung zum Hyperraum darstellte - dem Ort, wo der eigentliche Checkmaster-Komplex vermutet wurde. »Anja?« Dhark wandte sich Anja Riker zu, der Expertin für M-Mathematik, die im allgemeinen einen besonderen Draht zum »Orakel« der POINT OF besaß. »Warum blockiert die Gedankensteuerung?« Anja stand vor dem Terminal und wirkte ebenso ratlos wie Dhark selbst. »Keine Ahnung.« Schulterzucken. »Er reagiert auch auf keine manuelle Eingabe...« »Seh... eibenkleister!« fluchte Dan Riker, der sich genötigt fühlte, aufzustehen und zu seiner Frau zu eilen. Dhark blieb sitzen. Seine Finger flogen regelrecht über die Sensorschalter der Lehnen. Nichts an den Anzeigen verriet, daß jedes Gerät, jedes Instrument, mit dem versucht wurde, aktiv ins Geschehen einzugreifen, wert- und nutzlos geworden war. Die Anzeigen, auch auf den Konsolen rundum, wirkten normal. Als spiele der Checkmaster Katz und Maus mit der Besatzung. Und dies in einer Situation, die prekärer kaum sein konnte. Von überallher klangen jetzt Rufe, in denen blankes Entsetzen mitschwang: »... Ortung tot...« Tino Grappa saß wie ein Häufchen Elend hinter seinem Pult. »... Funk-Z meldet Verbindungsabbruch zu Orbitaleinheiten...« Dhark sah Glenn Morris förmlich vor sich, wie er sich an den Sende- und Empfangsgeräten zu schaffen machte. »Intervallum läßt sich nicht mehr schalten...« Auch Leon Bebir schien an der Grenze seiner Beherrschung angelangt zu sein. Er huschte wild gestikulierend von einem Platz zum anderen. Dann rief plötzlich eine Stimme, die alle anderen übertönte: »Achtung - Manöver! Schiff verläßt seine Position!« Das war Hen Falluta, der die ganze Zeit über die Navigation im Auge behalten hatte. Er trat neben Dhark und sprach aus, was dieser auch schon begriffen hatte. »Sir, wir landen.« Dhark war kaum imstande zu nicken. Sein Blick suchte Gisol. Der stand neben Juanita, dem Mädchen, das eine Art Halbgott in dem Worgun zu sehen schien. Oder auch nur den starken großen Bruder - so ganz war Ren Dhark noch immer nicht hinter das Verhältnis gestiegen, das die junge Terranerin und den Mysterious zu sammenschweißte. Aber er vertraute Gisol auch diesbezüglich. Genau wie er in anderer Hinsicht Vertrauen in
ihn setzte - nämlich was Gisols Schilderungen anging, daß sein Volk in der 10 Millionen Lichtjahre von der Milchstraße entfernten Galaxis Om ein geknechtetes Dasein führte, seit es von den »Zyzzkt« überrannt und besiegt worden war. Dennoch: Getreu dem alten Wahlspruch »Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser« hatte Dhark sich entschlossen, eine Expedition nach Om zu entsenden. Zwei Raumschiff s verbände waren gestartet. Der eine setzte sich aus der POINT OF und neun S-Kreuzern zusammen, der andere aus Gisols EPOY, die mit neun weiteren Schiffen aus dem Besitz des Worgun gekoppelt war. Laut Gisol war diese Kopplung die einzige Möglichkeit, um eine Triebwerksleistung zu erreichen, die es ermöglichte, die Kluft zwischen den Galaxien zu überbrücken. Und nun... nun befand sich der Verband auf halber Strecke, rund fünf Millionen Lichtjahre von daheim entfernt - sowohl dem Daheim Gisols als auch dem der Menschen - und drohte auf dem Zwischenstop, den Dhark befohlen hatte, zu scheitern. Ein einsamer Planet, der eine einsame rote Sonne im intergalaktischen Leerraum umkreiste. Ein Planet, bei dem die Femortung aus dem Raum keine noch so schwachen, verwertbaren Ergebnisse erbracht hatte. Über dem eine Art Schleier zu liegen schien - den die POINT OF Minuten zuvor durchstoßen hatte. Und nicht zuletzt ein Planet, der - wie sich jetzt herausgestellt hatte - in unmittelbarer Verbindung mit den Worgun/Mysterious stehen mußte, denn seine Oberfläche war übersät mit 8 Kilometer hohen, goldenen Statuen, die identisch mit den Monumenten zu sein schienen, denen Terraner in der Milchstraße bereits häufiger begegnet waren, auf Babylon und anderswo. All diese Eindrücke brauchten nicht länger als Sekundenbruchteile, um sich in Dharks Gehirn zu manifestieren. Die Kontaktaufnahme zur Gedankensteuerung scheiterte indes auch weiterhin. Die Möglichkeit, lenkend in den Kurs des Ringraumers einzugreifen, war auf Null gesunken. Der Checkmaster mißachtete jeden Befehl, blockierte die Gedanken- wie die Normalsteue-mng... ... und übernahm selbst die Regie. »Dieser vermaledeite Blechkasten!« variierte Riker seinen Fluch geringfügig - während die POINT OF dem Boden der Fremdwelt auf Antigravpolstern entgegensank. Umringt von Goldenen, groß wie Gebirge.Auch in der Folge scheiterten alle Versuche, die Kontrolle über das Schiff wiederzuerlangen. Schließlich berührte der 180 Meter durchmessende, blauviolette Ring den felsigen Boden der mutmaßlich in Worgunbesitz befindlichen Welt - umzingelt von gok denen Giganten, die den stolzen Raumer zum lächerlich zwergenhaften Spielzeug degradierten...»Wie viele Arme sind auf uns gerichtet?« »Wir sind auf die normalvisuelle Verbindung nach draußen beschränkt«, antwortete Leon Bebir auf Dharks Frage. »Demnach mindestens zwei Dutzend.« Dhark hatte die letzte Phase der vom Checkmaster erzwungenen Landung stumm, fast in sich gekehrt, auf seinem Sitz verbracht und die hilflose Hektik in seinem Umfeld kaum noch wahrgenommen. Tausend Dinge gingen ihm durch den Kopf. Er wog ab und verwarf - ohne zu einem brauchbaren Resultat zu gelangen. Nicht genug damit, daß der Planet sein Geheimnis mit massiver Waffendrohung verteidigte, nein, sehr viel schlimmer wog aus Dharks Sicht, daß der Checkmaster sich offenbar zum Komplizen der Instanz machte, die die POINT OF ins Visier genommen hatte. Oder hatte der Checkmaster nur die größere Voraussicht und tat, was nötig war, um Schiff und Besatzung vor größerem Schaden, vielleicht sogar der Vernichtung, zu bewahren? Aber warum kommuniziert er dann nicht einfach mit uns?, dachte Dhark. Nein, hier ist etwas faul. Es kommt mir vor, als hätte er uns schon hierher gelockt. Er hat als einziger einen Funkspruch aufgefangen, nicht einmal Gisols EPOY war es möglich, ihn wahrzunehmen. Als ob die Sendung nur für ein Schiff mit einem Checkmaster an Bord bestimmt gewesen wäre...
Welche Schlüsse ließen sich daraus ziehen? Laut eigener Aussage war Gisol ein Gerät wie der Checkmaster vollkommen fremd. Die POINT OF selbst hatte er als in weiten Teilen »veraltet« tituliert - ohne bislang einen Beweis für diese These erbringen zu können. Aber der Checkmaster hatte es ihm von Anfang an angetan, ihn regelrecht fasziniert. Was für eine Büchse der Pandora, was für einen Unheilsbringer hatten Margun und Sola vor tausend Jahren auf Hope ersonnen? Waren all die Aussetzer der Vergangenheit nur Vorboten dieses Moments gewesen, in dem er sein wahres Gesicht zeigte und sich gegen seine Besitzer verschwor? Aber wer - oder was - hatte ihn zu diesem Verrat bewogen? Wer oder was wußte, wie man mit einem Checkmaster verfahren mußte, um ihn zu einem gehorsamen Diener umzufunktionieren? »Anja?« »Unverändert, tut mir leid, da ist nichts zu machen. Er blockiert. Aber gleichzeitig...« »Ja?« »... gibt es immer mehr Anzeichen dafür, daß der Checkmaster hochaktiv ist.« »Kannst du das näher definieren? Wahrscheinlich wendet er alle Energie auf, um uns die Führung des Schiffes aus der Hand zu nehmen...« »Nicht nur das.« Anja schüttelte den Kopf. Sie kniete neben der offenen Verkleidung des Checkmasters, in
dem seltsame Ver-schachtelungen zu sehen waren. Und etwas, das Arc Doorn einmal als »Antenne« bezeichnet hatte. Als Schnittstelle zum Hyperraum. Über der Spitze der Antenne züngelte eine Art grünliche Flamme. Ren Dhark ging neben Anja in die Hocke und seufzte, als er das Phänomen entdeckte. »Ich verständige Are.« Anja nickte. »Vielleicht kann er meinen Verdacht bestätigen.« »Welchen Verdacht?« »Daß der Checkmaster Impulse abstrahlt. Meinem Diagnose-Suprasensor zufolge...«, sie hielt ein etuigroßes Instrument hoch, über dessen Anzeige verwirrende Amplitudenfolgen huschten, »... handelt es sich dabei um hyperelektrische Wellen. Mit anderen Worten...« »... er kommuniziert?« »Es ist nur ein Verdacht.« »Aber naheliegend«, erwiderte Dhark und richtete sich wieder auf. Hinter ihm standen Dan Riker und Gisol. »Ich wußte von Anfang an«, sagte der Worgun unaufgefordert, »daß ein Schiff, das unbekannte Komponenten wie diesen >Checkmaster< enthält, eine Gefahr für seine Besatzung darstellt. Ich verstehe nicht, daß ihr nicht rechtzeitig viel mehr Anstrengungen unternommen habt, hinter das Geheimnis dieser... Installation zu gelangen. Nun ist es zu spät...« »Es ist nie zu spät«, widersprach Dhark heftiger als gewollt. »Dan - verständige Arc Doorn. Er soll zusammen mit Anja versuchen, ihren Verdacht entweder zu entkräften oder zu bestätigen. Und... er soll sich beeilen.« An Gisol gewandt, der seine Jim-Smith-Gestalt trug, von der kein Uneingeweihter vermutet hätte, daß sie nur »Maske« war, fragte er: »Kannst du mir immer noch nichts über diesen Planeten der Statuen sagen?« Gisol schüttelte in perfekter Adaption menschlicher Verhaltensweise den Kopf. »Wie ich schon erklärt habe: Es befinden sich in den Speichern meines Schiffes keinerlei Hinweise auf ein System inmitten der Großen Leere. Aber ich vermute wie du, daß es Verbindungen zu meinem Volk gibt und dieses sowohl die hiesige Sonne als auch den Planeten dereinst hier stationiert hat. Womöglich als Etappenstation auf dem Weg zur Milchstraße - oder in andere Galaxien des Clusters.« Dhark nickte. »Falls die Statuen tatsächlich über den kompletten Planeten verteilt sind... was mögen sie wohl bewachen? Es muß von enormem Wert sein. Handelt es sich vielleicht um waffenstarrende Tankvorrichtungen, ähnlich wie auf Babylon? Wurden hier einst bei Bedarf Tausende und aber Tausende Ringraumer mit To firitstaub versorgt, um sie in die Schlacht gegen die Zyzzkt zu schicken...?« »Das macht keinen Sinn«, verwarf Gisol den Gedanken. »Mein Volk verfügte nie über genügend Vorkommen an Tofirit, um ein solches planetenumspannendes Netz von >Tankstellen< betriebsfähig zu halten.« »Wer weiß.« Dhark zuckte mit den Achseln. »Vielleicht irrst du, was das angeht. Da sich in den Speicherbänken deiner Schiffe und auch in deinem Gedächtnis keine Hinweise auf diese Basiswelt finden lassen, könnte doch alles möglich sein.« Damit war Gisol nicht zu überzeugen. Er setzte zu einer Erwiderung an. Doch in diesem Moment geschah zweierlei. Zum einen öffnete sich fauchend das Zentraleschott, und der bullige Sibirier Arc Doorn trat ein. Zum anderen rief eine aufgeregte Stimme, in der Dhark Hen Falluta erkannte: »Da! Da bewegt sich etwas! Allmächtiger - das... das kann doch nicht wahr sein...!« Dhark folgte dem perplexen Blick seines Ersten Offiziers. Und erstarrte. Grundgütiger, dachte er - und blickte in die Bildkugel, die die Außenwelt wiedergab. , Jene gigantischen, goldfarbenen Statuen... ... von denen gerade eine von ihrem Sockel herabstieg und in steifem Gang auf die POINT OF zukam...
Die Realität schien in Brüche zu gehen. Als wäre sie aus Glas. Glas, auf das ein unsichtbarer Titan mit seiner Keule eindrosch. Waren die Riesenstatuen etwa Roboter? Dhark schloß kurz die Augen. Nur für einen Sekundenbruchteil. Erinnerungen schössen ihm durch den Sinn. Er hatte Vonnock, den Wächter kennengelernt. Vonnock, den Fanjuur, dessen Seele auf einen eigentlich seelenlosen Roboter übertragen worden war -einen Wächterrobot der Mysterious. Der aus Tofirit bestand. Formbarem Tofirit, in das auch biologische Elemente eingewoben waren. Die wahnsinnigste Legierung, die ein Mensch sich vorstellen konnte. Ausgerechnet Tofirit, dachte Dhark. Wie paßt das zusammen mit Gisols Behauptung, es habe den Worgun immer daran gemangelt? Lügt er mich an? Habe ich immer noch ein gefälschtes Bild der Mysterious? Sind sie am Ende doch nicht die Geknechteten, und Gisol ist der Betrüger, den manche ohnehin in ihm sehen?
Die Konsequenz daraus wäre gewesen, daß auch in Orn völlig andere Machtverhältnisse herrschten, als der Worgun es geschildert hatte. Doch soweit wollte Dhark nicht gehen. Dieser Planet war auch keine von Gisol
gestellte Falle - die Idee, hier einen Zwischenstopp einzulegen, ging einzig auf Dhark selbst zurück, nachdem der Checkmaster die mysteriösen Funkimpulse aufgefangen hatte. Der Checkmaster, der sich seit der Landung totstellte. Er ist der Verräter, dachte Dhark. Nicht Gisol. Anscheinend gehörten die Zeiten, da der Checkmaster sich als undurchschaubare Graue Eminenz an Bord der POINT OF aufspielte, doch nicht, wie erhofft, der Vergangenheit an. Seine Aufmerksamkeit fand zum Geschehen zurück. Was hatte der Goldene vor?
»Verdammt!« krächzte Dan Riker. »Gleich ist er da! Er wird uns zertreten wie eine Blechdose!« Dhark zögerte nicht länger. »Clifton! Rochard!« rief er über Bordsprech. »Wir nehmen den Giganten unter konzentriertes Feuer...« »Negativ«, wurde er unterbrochen. »Wir haben keinen Einfluß auf die Steuerung der Waffensysteme. Hier ist auch alles blok-kiert.« »Das heißt, daß wir verloren sind«, eine Kleinmädchenstimme. »Wir werden alle sterben... Gisol!« Dhark drehte sich um und sah den Worgun auf das Mädchen zugehen, tröstend den Arm um es legen. Die Angst stand Juanita ins Gesicht geschrieben. Und Gisol? Was mochte in ihm vorgehen, der sich innerlich bereits auf seine nicht unproblematische Heimkehr nach Om vorbereitet hatte? Verfluchte er den Leichtsinn seiner terranischen Verbündeten? Als er Dharks Blicke bemerkte, sagte er: »Wir müssen evakuieren. Die Transmitter...« »... funktionieren auch nicht mehr«, übernahm Riker die Erwiderung an Dharks Stelle. »Wir sitzen hier wie in Isolationshaft! Alles um uns herum ist zur Staffage geworden, zur Kulisse für ein Trauerspiel, das unser hochgeschätzter Checkmaster inszeniert!« Seine Stimme troff vor Sarkasmus. »Wahrscheinlich müssen wir dankbar sein, daß er uns noch nicht die Frischluftzufuhr und Heizung abgedreht hat...« Dhark warf einen Kontrollblick zur Bildkugel. Der Goldene bewegte sich plump, fast zeitlupenhaft. Entweder konnte er nicht schneller oder er nutzte seine Langsamkeit zur weiteren Steigerung des Terrors, den er ohnehin schon verbreitete. Nur noch Sekunden, dann würde das eintreten, was Dan Riker prophezeit hatte. Das - oder etwas völlig anderes. Aber etwas würde geschehen. Vielleicht würde er seine Waffen aus nächster Nähe sprechen lassen, nachdem sich der Ringraumer als wehrlos erwiesen hatte. Weder im Defensiv- noch im Offensivbereich gehorchte auch nur ein einziges Element den Befehlen der Besatzung. »Ein mieser Ort zum Krepieren«, murmelte Riker. Er stand auf und eilte zu seiner Frau, die nur noch ein Schatten ihrer selbst war. Die nackte Angst waberte in Anjas Augen... ... genau wie in denen der übrigen Besatzung. Hilflos. Wehrlos. Wann hatte sich die POINT OF jemals in einer so aussichtslosen Situation befunden, in der gar nichts mehr gehen wollte? Evakuierung war zum unerfüllbaren Wunschtraum geworden. Und falls es noch eine Rettung gab - woher sollte sie kommen? Aus dem Orbit? Dort oben wußte mit Bestimmtheit niemand, was hier unten vorging. Der Funk streikte wie alles andere, und die Femaufklärung war nach wie vor nicht in der Lage, die Wolkenschleier zu durchdringen. Wenn sie klug sind, werden sie auch keinen Versuch unternehmen, uns w folgen, dachte Dhark. Wenn sie klug sind, koppeln sie wieder und treten die Rückreise in die Milchstraße an.
Er dachte es, ohne wirklich zu glauben, daß dies das Ende sein sollte. Seines, das der POINT OF und das der übrigen Besatzung. Der Goldene erzeugte eine Unwirklichkeit, die es fast unmöglich machte, an eine reale Bedrohung zu glauben. Und doch... »Jetzt!« kreischte Juanita, heftig an Gisol geschmiegt. Der ohne Sockel immer noch sieben Kilometer hohe Gigant, dessen Füße bei jedem Schritt jeweils einen quadratkilometergroßen Flecken Boden zerstampften, war tatsächlich da. Die Bildkugel erzeugte eine Darstellung, in der Schiff und Statue zu sehen waren - der Goldene noch einen seiner mächtigen Schritte entfernt und innehaltend, als würde er kurz überlegen, mit welchem seiner beiden unzählige Tonnen schweren Füße er den Ringraumer in die Planetenrinde treten sollte. Dhark hielt den Atem an. Wie jeder andere, der die Bilder sah, wußte er, daß die nächsten Momente über Tod oder Leben entschieden. »Das ist Wahnsinn - er wird uns nichts tun«, stöhnte Anja. »Dein Wort in des Goldenen Ohr«, seufzte Riker. Und Dhark hörte sich etwas sagen, was ihn selbst überraschte: »Wir sollten auf unseren Beschützer vertrauen. Er hat uns noch nie im Stich gelassen, auch wenn es oft so schien. Auch diesmal wird er...« »Der Checkmaster?« fragte Riker. »Du hast Nerven. Wenn er nicht schnell handelt, wird ihm keine
Gelegenheit mehr bleiben, wiedergutzumachen, was er vermasselt hat. Dieser...« Seine Stimme brach. Weil der Goldene draußen sein kurzes Innehalten beendete. Es ist soweit, dachte Dhark. Er hat seine Entscheidung getroffen - oder von irgendwoher seine Befehle erhalten. Wenn man uns als Bedrohung ansieht, wird er uns vernichten. Aber falls man sich unsicher über unsere Natur ist...
Er betete förmlich, daß sie Gelegenheit erhalten würden, die Herren des Planeten, und sei es auch nur eine kybernetische Instanz, von ihrer Friedensliebe zu überzeugen. Aber es konnte genauso gut... Vorbei sein.
Jetzt. Trotz Schwerkraftausgleichern an Bord glaubte Dhark die Erschütterung bis in seinen Körper hinein zu spüren, als der Gigant sich draußen in unmittelbarer Nähe wieder rührte. Erhob ein Bein. Nein... er knickte es ein! Für einen Augenblick sah es aus, als wolle sich der Gigant selbst zu Fall bringen, die POINT OF nicht nur unter seiner Sohle, sondern unter dem ganzen Körper begraben. Doch dieser Eindruck täuschte. »Er... er kniet sich neben uns nieder...!« Wieder war es die kleine Juanita, die ihre Beobachtung in Worte faßte. Und sie hatte Recht: Der goldene Riesenroboter ging neben der POINT OF in die Knie... ... winkelte den Arm an... ... streckte die gigantische Hand nach dem Schiff aus... ... legte sie beinahe zärtlich auf das Flaggschiff der terranischen Rotte... ... und nagelte es auf diese Weise, die so absurd war, so grotesk und bizarr wie alles Vorausgegangene, am Boden der fremden Welt fest. Henner Trawisheim, Stellvertreter des Commanders der Planeten, konnte den Panoramablick über Alamo Gordo nicht genießen. Er hatte zu arbeiten und bedankte sich dafür innerlich ganz herzlich bei Ren Dhark, der lieber im Weltraum herumzigeunerte, als sich den Regierungsgeschäften zu widmen, wofür er eigentlich gewählt worden war. Über Dharks Aktivitäten konnte man geteilter Meinung sein. Sicher lag dem Commander das Wohl der Erde und der Menschheit am Herzen. Oft genug hatte er mit Risikoeinsätzen auch unendlich große Gefahren abgewehrt. Aber hätten andere das nicht ebensogut erledigen können? Mußte er immer an vorderster Front stehen und überall an den Brennpunkten persönlich eingreifen? Mußte er immer wieder seinem Hirngespinst, den Mysterious, nachjagen? Jahrelang hatte er gehofft, sie in den Weltraumtiefen zu entdekken, jene Rasse, die vor tausend Jahren aus der Galaxis verschwunden war, um nichts Persönliches zu hinterlassen, was Rückschlüsse auf ihr Aussehen und ihre Lebensart ermöglicht hätte. Nur ihre technischen Relikte waren geblieben, von den Ter-ranem hier und da entdeckt und in Besitz genommen. Und nun war er endlich dem ersten Mysterious begegnet. Es gab sie noch, aber in einer anderen Galaxis, und sie schienen in Schwierigkeiten zu stecken. Prompt erbot sich der Commander, ihnen zu helfen! Verdammt, was konnten die Terraner mit ihrer vergleichsweise steinzeitlichen Technik schon tun, um einem Volk zu helfen, das vor tausend Jahren schon mit perfektester Supertechnik mehrere Galaxien beherrscht hatte, als sich auf Terra noch christliche Kreuzritter und islamische Krieger gegenseitig mit Schwertern, Säbeln und Streitkeulen die Schädel einschlugen und noch glaubten, daß die Erde eine Scheibe sei und die Sonne sich um sie drehte? Trawisheim wünschte sich inständig, daß Dhark sich endlich einmal um das kümmerte, was näherlag. Schließlich war er der Regierungschef! Aber der Commander hatte in Trawisheim ja einen erstklassigen Stellvertreter, der noch dazu der erste und einzige Cyborg auf geistiger Basis war. Nicht für Kampfeinsätze geschaffen, sondern für Verwaltung und Logistik prädestiniert und mit einem Goldhändchen für richtige und schnelle Entscheidungen. Noch dazu fehlte Trawisheim jegliche Machtsucht. Mit seinen Fähigkeiten hätte er Dhark längst stürzen können. Aber er war loyal. Es reichte ihm, die Nummer Zwei zu sein. Denn de facto war er ja ohnehin längst derjenige, der die Entscheidungen traf. Wann war Commander Dhark denn mal auf Terra zu finden, um gefragt zu werden? »Ren Dhark«, formten seine Lippen lautlos, und er sah über die Köpfe der anderen im Konferenzraum hinweg durch das große Panoramafenster, das ihm aus der Höhe des 43. Stockwerks des Regierungsgebäudes die bis zu 800 und mehr Meter aufragenden Stielbauten zeigte, die das moderne Alamo Gordo repräsentierten: Riesige, himmelhohe Säulen, auf denen noch riesigere Wohnkugeln langsam rotierten, die jede eine Art Stadt in der Stadt waren, mit autarker Versorgung. Das Regierungsgebäude repräsentierte das alte Alamo Gordo. Es war ein grauer Betonklotz. Unansehnlich, aber funktionell. In diesem Konferenzraum waren sie versammelt, sieben Staatssekretäre der verschiedenen Ministerien und
dazu Finanzminister Lamont persönlich. Der sah wie Trawisheim endlich einen kleinen Hoffnungsschimmer, was den desolaten Staatshaushalt anging, seit der Planet Hope im Col-System Versorgungsgüter produzierte und nach Terra lieferte, die hier dringend fehlten oder nicht produziert werden konnten, weil kein Geld dafür zur Verfügung stand. Der Mysterious Gisol hatte die Produktionsanlagen im Industriedom von Deluge entsprechend umgestellt. Die Maschinengiganten arbeiteten und lieferten die gewünschten Produkte. An Kosten fielen auf Terra nur der Transportaufwand, die Einfuhrsteuer und eine kleine Gewinnmarge an - und die Waren kosteten den Endverbraucher weniger als ein Drittel dessen, wofür terranische Fabriken sie hätten herstellen können. Somit konnte sich auch das Heer der Arbeitslosen und Sozialhilfeempfänger wieder Produkte leisten, ohne damit gleich den ganzen Monatsetat zu verbraten. Es blieb genug, um mit der verbliebenen Kaufkraft die terranische Wirtschaft anzukurbeln. »Es bleibt eben nicht genug!« polterte Dale Earnhardt, Staatssekretär im Arbeitsministerium. »Es bleibt nicht genug bei unseren Firmen hängen, daß sie ihre Produktion erhöhen und mehr Arbeiter einstellen könnten. Dazu die Flut von Wallis-Arbeitsrobotem, die nahezu wartungsfrei sind, praktisch nur einmal bei der Anschaffung teuer sind und sich nach spätestens drei Jahren amortisiert haben, aber bis zu 30 Jahre lang nutzbar bleiben, da sie durch billige Modultechnik stets auf den neuesten Stand gebracht werden können...« »Sie reden, als wären Sie nicht im Ministerium, sondern bei den Gewerkschaften tätig«, knurrte Lamont ihn an. »Dann werfen Sie doch mal einen Blick auf die Zahlen!« verlangte Earnhardt. »Wir haben immer noch mehr als zwei Milliarden Arbeitslose weltweit. Die müssen finanziert werden. Wovon, bitte, wenn die Steuern und Sozialabgaben nicht drastisch erhöht werden? Das aber senkt die Kaufkraft wieder und verteuert zudem die Lohnnebenkosten. Also noch weniger Konsum, noch weniger Produktion, noch mehr Arbeitslose. Die Schraube dreht sich endlos weiter, während Hope uns mit den Gratisprodukten totwirft.« »Beinahegratisprodukte«, warf Arkadij Klisskow vom Sozialministerium ein, der wie ein Preisboxer aussah, aber keiner Fliege etwas zuleide tun konnte - weil die Biester einfach zu schnell für ihn waren. »Machen Sie mal einen Punkt, Genösse Earnhardt. Wir hatten noch weit höhere Arbeitslosenzahlen, bevor der Genösse Lamont auf die glorreiche Idee kam, Produkte vom Planeten Babylon einführen zu lassen. Babylon kann nicht mehr liefern, weil so gut wie alle M-Technik durch die Galaktische Katastrophe zu Schrott wurde, aber wo liegt der Unterschied zwischen den Lieferungen? Und die Arbeitslosenzahlen sind seither erheblich gesunken. Sie werden auch weiter sinken.« Der »Genösse« Lamont sah Klisskow strafend an. »Ich finde es bewundernswert, wie Sie Ihre Titulierung aus der Mitte des vorigen Jahrhunderts in die Gegenwart retten konnten. Man sollte Sie ins Museum stellen. Genösse Klisskow.« Der grinste nur. »Ganz so einfach, wie Mister Klisskow es darstellt, ist es nicht gerade«, fuhr Lamont fort. »Aber in gewisser Hinsicht hat er schon recht. Ich kenne meine Zahlen durchaus sehr gut, Mister Eamhardt, und ich bin noch längst nicht zufrieden. Aber wir sind auf dem Weg nach oben. Es sollte auch Ihnen klar sein, daß es drei- bis viermal so lange dauert, eine Verschuldung abzubauen, als sie zu schaffen. Wir mußten sie schaffen, weil wir den Wiederaufbau Terras nach der Giant-In vasion zu finanzieren hatten, weil wir eine schlagkräftige Abwehr aufbauen mußten - und weil schließlich der Krieg gegen die Grakos uns überrollte. Das alles ist jetzt vorbei. Wir können durchatmen und...« »Bis uns der nächste Krieg überrollt«, grummelte Klisskow. »Unser Commander wird schon dafür sorgen...« »Was wollen Sie damit sagen, Mister Klisskow?« fragte Trawis-heim peitschend scharf. Klisskow lehnte sich zurück und verschränkte die Arme vor der Brust. »Sehen Sie, wenn Commander Dhark nicht ständig draußen im Weltraum in Wespennestern herumstochern würde, hätten wir sicher weniger Probleme. Dann würden weniger außerirdische Mächte auf uns aufmerksam, die nichts Eiligeres zu tun haben, als uns mal eben ein bißchen zu überfallen. Wie die Rateken, wie die Grakos... oder auch wie die Robotflotten der Mysterious, die uns fast die gesamte Asteroidenverteidigung und einige Dutzend Kampfraumer zu Klump geschossen haben, ehe sie gestoppt werden konnten.« »Durch Dhark und seine Mitarbeiter!« hielt Trawisheim ihm entgegen. »Und vergessen Sie nicht, daß der Commander auch Freunde und Handelspartner für uns gewonnen hat. Utaren und Nogk... und ohne ihn und seinen selbstlosen Einsatz würde uns vielleicht jetzt schon die Galaxis Drakhon zerschmettern, deren letzte Transition für diesen Monat, April 2059, vorausgesagt wurde!« »Dieser selbstlose Einsatz hat uns wiederum -zig Milliarden Dollar gekostet!« »Lieber ein lebendiger Bettler als ein toter Millionär!« warf einer der anderen ein. »Richtig erkannt«, sagte Trawisheim. »Aus diesem Grund hat der Commander den Notstand ausgerufen.« »Der inzwischen beendet werden sollte«, verlangte Klisskow. »Bevor er sich endgültig etabliert und schließlich in eine Diktatur mündet. Darf ich an den Regionalbereich Deutschland in der ersten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts erinnern, mit Brünings >Notverordnungen<, seiner hohen Arbeitslosigkeit und...« »Es reicht jetzt«, unterbrach Trawisheim ihn. »Wir sind nicht hier, um Geschichtsunterricht abzuhalten. Ren Dhark ist kein Diktator.« »Aber vielleicht der Mann, der Dhark nach der Wahl folgt und der neue Commander der Planeten wird?«
»Wir gewinnen die Wahl«, sagte Trawisheim leise. »Und wenn Sie daran nicht glauben, dann halten Sie wenigstens den Mund. Außerdem geht es bei dieser Konferenz um ein ganz anderes Thema.« »Richtig. Wir sind dabei, uns zu konsolidieren«, sagte einer der anderen Staatssekretäre. »Das sollten wir im Wahlkampf besonders herausstellen. Die anderen versprechen, wir machen.« Trawisheim winkte ab. »Schöner Spruch. Schreiben Sie ihn auf. Natürlich sind wir auf dem Weg der Besserung, was Versorgungsund Haushaltslage angeht. Es geht derzeit rapide aufwärts.« Er wechselte einen schnellen Blick mit Lamont, der lächelte und nickte. »Aber auch ohne so pessimistisch sein zu wollen wie Mister Klisskow, muß ich doch vor verfrühter Euphorie warnen. Fakt ist, daß wir auf die Lieferungen von Hope angewiesen sind. Fakt ist aber auch, daß Terra dadurch in eine neue Abhängigkeit gerät. Wir können unseren wieder wachsenden Wohlstand nicht mehr autark erzeugen. Die angesprochenen zwei Milliarden Arbeitslosen weltweit belegen das deutlich. Dieses Mahnmal dürfen wir nicht einfach beiseite schieben. Wir müssen uns über kurz oder lang aus der Abhängigkeit von Hope wieder befreien. Lassen Sie sich dazu etwas einfallen, meine Herren. Einige detailliert ausgearbeitete Vorschläge meinerseits finden Sie in den vor Ihnen liegenden Arbeitsmappen - von denen, wie ich sehe, Mister Lamont als einziger bereits Notiz genommen hat; die anderen wurden noch nicht eingeschaltet. Sie sollten Ihren Ministern kurzfristig neue und bessere Ideen vorlegen.« »Was heißt kurzfristig?« fuhr Eamhardt auf. »Wir können nicht von heute auf morgen...« »Ich konnte es immerhin«, fuhr ihm Trawisheim in die Parade. »Wenn Sie alle weniger Zeit mit Reden verschwenden würden, täte das unserem Staatswesen sicher gut. Die Opposition hat bereits Vorschläge formuliert, die mir zum Teil die Haare zu Berge stehen lassen. Außerdem sollten Sie nicht vergessen, daß Ihre Jobs davon abhängen, daß unsere Partei und Ren Dhark wiedergewählt werden.« Vor ihm blinkte eine Rufleuchte. Sein Platz am Konferenztisch war mit einer Kommunikationseinheit ausgestattet, die sich nicht auf der Tischfläche, sondern nur für ihn sichtbar an der Kante befand. Er schaltete ein, deaktivierte aber den Ton und steckte einen miniaturisierten Funklautsprecher in die Ohrmuschel. Das Vorzimmer seines Büros meldete sich. »Mister Wallis ist eingetroffen und möchte sofort mit Ihnen reden, Sir. Er hat zwar keinen Termin, aber er macht es sehr dringend und wichtig.« Trawisheim seufzte. Er hatte plötzlich eine böse Ahnung. Er berührte die OKAY-Sensorfläche, schaltete wieder ab und setzte den Ohrhörer zurück in seine Verankerung. Dann sah er in die Runde. »Meine Herren, Sie haben jetzt einiges zu tun - und ich auch. Ich danke Ihnen für die kostbare Zeit, die Sie für diese kleine Besprechung geopfert haben.« »Jetzt wird er auch noch sarkastisch«, murmelte Klisskow. Trawisheim erhob sich und verließ als erster den Konferenzraum.
Der Antigraviift brachte ihn eine Etage tiefer. Terence Wallis saß auf der Schreibtischkante im Vorzimmer und erhob sich, als Trawisheim eintrat und ihn gleich in sein Büro durchwinkte. Der hochgewachsene Industrieboß, der allein schon durch seine Anwesenheit Räume füllen konnte, pflegte wieder einmal sein Ego mit einer besonders bunten Weste. Ebenso besonders freundlich strahlte er den Stellvertreter des Regierungschefs an, nur traute der dem Braten nicht. Besonders unauffällig hielt Wallis nämlich eine schon etwas ältere Ausgabe von »Starship Soldier« zusammengerollt in der Hand; die Zeitschrift für Angehörige der Terranischen Flotte. Auch im Zeitalter der Suprasensoren und Kalkulatoriken erfreuten sich die Printmedien immer noch einer beachtlichen Nachfrage, trotz aller Unkenrufe Anfang des Jahrtausends. Ebenso wie im Zeitalter der Schweber und Jetts immer noch jede Menge Räderfahrzeuge ihre Kunden fanden. Trawisheims böse Ahnung verstärkte sich angesichts dieser Zeitschrift, und sie wurde zur Gewißheit, als Wallis ihm gegenüber Platz nahm und das auf Hochglanzpapier gedruckte Heft in genüßlicher Langsamkeit entrollte. »Ich habe hier eine entzückende Geschichte entdeckt«, sagte Wallis, »die ich Ihnen gern zur Lektüre empfehlen möchte. Wirklich spannend, die Story.« Er blätterte in dem Magazin und schlug eine Doppelseite auf, die er Trawisheim auf die Schreibtischplatte legte. »Schauen Sie mal, ist das nicht eine fantastische Sache?. Marschall Bulton war ganz begeistert.« Bulton war der stellvertretende Chef der TF. Daß er von dem Artikel begeistert war, konnte Trawisheim sich kaum vorstellen. Immerhin wußte Bulton wie sein Vorgesetzter Dan Riker, der sich ebensowenig um seinen Job kümmerte wie sein Freund Ren Dhark, sondern lieber zusammen mit dem Commander zwischen den Sternen herumzigeunerte, welche Brisanz darin steckte. Trawisheim wunderte sich, daß dieser Artikel überhaupt genehmigt worden war. Da schien wieder mal etwas aus dem Ruder gelaufen zu sein. Wie so oft in den letzten Jahren...
Und ausgerechnet Wallis oder einer seiner Mitarbeiter hatte dieses Magazin mit diesem Artikel in die Finger bekommen! Damit war zu rechnen gewesen. Trawisheim hätte versucht, die Veröffentlichung zu stoppen, wenn er rechtzeitig davon erfahren hätte. Aber
auch er hatte das Heft erst in die Hand bekommen, als die Auslieferung längst erfolgt war. Deshalb brauchte er auch jetzt keinen Blick auf den Text zu werfen; er wußte, was darin stand. Es war ein geradezu euphorisch geschriebener Bericht über den erfolgreichen Einsatz der terranischen Wuchtkanone durch die Nogk. Was ja an sich eine positive Sache war; immerhin war das Raumschiff, in dem sich der Nogk-Herrscher Charaua befand, dadurch vor der Vernichtung bewahrt worden. Aber... »Auch wenn ich es gutheiße, daß der Rattenschaumer... pardon, der Schattenraumer ausgeschaltet wurde, ehe die Grakos Charaua und seinen Leuten den Garaus machen konnten«, sagte Wallis betont heiter, »so frage ich mich doch, wie die Nogk an die Unterlagen für die Konstruktion einer Waffe gelangten, auf die Wallis Industries das Patent hat.« »Sie sind doch nicht hierher gekommen, um mich das zu fragen«, sagte Trawisheim. »Natürlich nicht. Ich sagte doch - ich frage mich. Nicht Sie. Und ich habe eine Antwort erhalten, die mich gar nicht erfreut. Den Recherchen zufolge, die ich nach dem Erscheinen dieses Magazins anstellen ließ, hat Ren Dhark persönlich diese Unterlagen an die Nogk weitergegeben und damit gegen terranisches Recht versto ßen.« »Dhark ist kein Rechtsbrecher«, sagte Trawisheim kühl. »Nein? Spitzen Sie bitte freundlichst die Ohren, Sir«, sagte Wallis. »Es gibt einen Lizenzvertrag zwischen Wallis Industries und der Sternverwaltung. Die terranische Regierung erhält gegen entsprechende finanzielle Gegenleistung das Nutzungsrecht des Wuchtkanonen-Patents. Das ist absolut in Ordnung. Terra hat gezahlt, und Wallis Industries hat die Konstruktionsunterlagen zur Verfügung gestellt. Dieser Lizenzvertrag erlaubt aber nicht, ohne vorheriges schriftliches Einverständnis des Lizenzgebers diese Unterlagen an Dritte weiterzugeben. Was haben die Nogk für die Wuchtkanone gezahlt, Mister Trawisheim?« »Sie sind ja verrückt!« entfuhr es dem Cyborg. »O^er größenwahnsinnig.« »Sie sind nicht der einzige, der diese Meinung vertritt. Das ändert aber nichts an den Fakten. Sie haben meine Frage noch nicht beantwortet.« »Die Nogk haben nichts bezahlt!« »Ihr Pech, Mister Trawisheim. Dann wird die Regierung für den Schaden einstehen müssen, der Wallis Industries durch das Fehlverhalten Ren Dharks entstanden ist und weiter entstehen wird.« »Was wollen Sie damit sagen?« »Hören Sie doch auf mit dem Versteckspiel«, mahnte Wallis. »Sie wissen so gut wie ich, daß Dhark die Unterlagen einfach so an die Nogk weitergegeben hat. Sie können es drehen und wenden, wie Sie wollen - es ist und bleibt ein Rechtsbruch.« Trawisheim beugte sich vor. »Jetzt spitzen bitte Sie Ihrerseits freundlichst die Ohren, Sir«, sagte er. »Vielleicht ist es Ihnen auf Ihrem Golfplatz und in Ihrer gebirgigen Skihütte entgangen, daß die Regierung den Notstand ausrufen mußte. Für diesen Fall gibt es entsprechende Notstandsgesetze. Zudem trat der Bündnisfall ein. Wir waren im Rahmen dieser interstellaren Notlage sogar verpflichtet, waffentechnische Unterstützung an die Bündnispartner zu liefern. Wenn die ütaren gekommen wären, hätten wir auch ihnen die Wuchtkanone zur Verfügung stellen müssen, wie jede andere Technologie ebenso. Das alles ist gesetzlich geregelt.« Wallis' Augen wurden schmal. »Haben Sie den Ütaren die Wuchtkanone zur Verfügung gestellt?« »Nein!!!« Gleich drei Ausrufezeichen standen hinter dem energischen Wort. Es war eines der wenigen Male, daß Trawisheim Emotionen zeigte. »Ich sagte, hätten'. Aber die Ütaren kamen nicht zu uns.« »Schön für Terra«, sagte Wallis, ohne sich von Trawisheims Zorn beeindrucken zu lassen. »Sehen Sie«, fuhr er fort, »mir sind diese Notstandsgesetze durchaus geläufig. Selbst auf Golfplätzen und in Skihütten werden sie publik gemacht. Und ich wäre ein schlechter Bürger Terras, würde ich Terras Gesetze nicht kennen. Schließlich muß ich mich nach ihnen richten. Aber...« Trawisheim sah ihn mißtrauisch an. »Aber gerade weil ich die Gesetze kenne, darf ich Sie daran erinnern, daß es einen speziellen Paragraphen gibt, der... bitte, lesen Sie selbst.« Er zog eine gefaltete Folie aus der Innentasche seiner Weste und legte sie neben dem Magazin auf Trawisheims Schreibtisch. Der faltete sie auf. Er brauchte den Text nicht zu lesen; der Titel verriet ihm genug. Er, der nichts vergaß, kannte den Gesetzestext auswendig. Diesem Paragraphen zufolge hatte die Regierung sehr wohl das Recht, unter bestimmten Umständen terranische Patente an befreundete Völker weiterzureichen. Zu diesen bestimmten Umständen gehörte auf jeden Fall der Krieg gegen die Grakos. Bis dahin war Dharks Vorgehen also durchaus legal. Aber dieser Paragraph besagte auch, daß die Regierung für die entsprechenden Lizenzkosten einzustehen hatte. Ob sie sich das Geld dann von den jeweiligen Völkern zurückholte, blieb ihre eigene politische Entscheidung; Fakt war, daß der Patentinhaber angemessen entschädigt werden mußte. »Es würde mich gar nicht wundem, wenn Sie an der Entstehung dieses Gesetzes mitgewirkt hätten, Mister Wallis«, sagte Trawis-heim ruhig. »Sie überschätzen mich. Ich habe niemals Druck auf die Politik ausgeübt, auch wenn ich vielleicht die Macht dazu hätte und oft genug auch gute Gründe. Aber das ist nicht mein Stil. Ich spiele in einer anderen Liga, in der Korruption nichts zu suchen hat.«
»Ich habe nichts von Korruption gesagt. Sie könnten ja zwischenzeitlich ein politisches Amt innegehabt haben.« »Davon wüßten Sie doch, Trawisheim«, sagte der Mann, der in einem halben Leben den größten Industriekonzern der Erde aus dem Boden gestampft hatte. »Nein, ich habe dieses Gesetz nicht vorgeschlagen, aber es freut mich, daß es existiert. Es würde mich auch freuen, wenn nicht meine, sondern irgendeine andere Firma davon profitieren könnte. Was heißt profitieren - es ist einfach so, daß jemand dafür, daß er Rechte eines anderen nutzt, bezahlen muß.« Er lehnte sich zurück und schmunzelte. »Eigentlich muß ich Dhark sogar dankbar sein, daß er die Wuchtkanone an die Nogk weitergab. Mit denen in Handelsbeziehungen zu kommen ist nämlich fast unmöglich.« »Werden Sie nicht zynisch.« Wallis schüttelte den Kopf. Er nahm einen Datenkristall aus der Tasche und legte ihn auf die Folie. »Vielleicht sehen Sie sich das noch an, Sir.« Trawisheim aktivierte das Terminal eines kleinen Suprasensors. Er legte den Datenkristall in den Aufnahmekubus und schaltete auf 30
»Abruf«. Ein holographisches Feld entstand über seinem Schreibtisch. Trawisheim las. Und schüttelte den Kopf. »Das können Sie nicht wollen«, sagte er. »Sie vernichten Terra, Wallis!«
Vor nicht einmal einer halben Stunde hatte er noch mit Lamont und den Staatssekretären einiger Ministerien konferiert; hatte einen Silberstreif am Horizont gesehen, was den Staatshaushalt anging. Die Zahlen, die Finanzminister Lamont vorgelegt hatte, waren ermutigend. Aber das hier... Es handelte sich um ein Rechtsgutachten, erstellt von einem neutralen Unternehmen. Trawisheim erkannte sehr rasch, daß die genannten Zahlen und Fakten nicht widerlegbar waren, auch wenn er es gern anders gesehen hätte. Aber sein Cyborg-Programmgehim kalkulierte alles blitzschnell durch, extrapolierte Daten und Fakten und verriet ihm, daß es keine nennenswerten Angriffspunkte gab. Sicher ließ sich ein Gegengutachten erstellen, aber die Kosten dafür würden die mögliche Einsparung fressen. Hinzu kamen psychologische Effekte. Wallis Industries galt bislang in der Öffentlichkeit als Wohltäter. Die mehrjährige Steuervorauszahlung, welche die Firma im vergangenen Jahr geleistet hatte, um der Regierung aus einer vorübergehenden akuten Finanzkrise zu helfen, war selbstverständlich in den Medien publik gemacht worden, um zu verhindern, daß jemand den Eindruck bekam, Wallis Industries würde sich Vorteile erkaufen. Diese Vorauszahlung war dann auch ganz offiziell parlamentarisch abgesegnet worden. Das Fatale daran war: Der Grako-Krieg hatte diese Reserve längst verschlungen, und durch die Vorauszahlung stand Wallis Industries in den nächsten Jahren steuerfrei da. Der größte
Industriekonzem Terras mußte keine Zahlungen an die Stemver-waltung mehr abführen. Also waren aus dieser Richtung keine Einnahmen mehr zu erwarten. Aber nun einen langwierigen und wohl aussichtslosen Prozeß gegen den »Wohltäter« zu führen, konnte zwar die Lizenzzahlungen verzögern, würde die Regierung aber in Mißkredit bringen. Und angesichts der bevorstehenden Wahl... Überlegungen speichern und zum Diktat vorbereiten, befahl Trawisheim seinem Programmgehim und fragte sich, warum Echri Ezbals »Zauberer« in der Cyborgstation im Brana-Tal es immer noch nicht geschafft hatten, eine Schnittstelle zu entwickeln, die implantiert wurde, um das Programmgehim an einen Suprasensor oder eine Kalkulatorik anzuschließen und Gedächtnisprotokolle direkt zu übertragen. Das würde ihm in diesem Fall die Arbeit etwas erleichtern, weil er den Text nicht extra einer Schreibeinheit diktieren mußte, und es wäre auch für die Cyborgs im Kampfeinsatz sinnvoll, wenn sie anschließend Rechenschaft über ihre Aktionen abzulegen hatten. Er wandte sich wieder dem Rechtsgutachten zu. Es umschrieb den finanziellen Wert der Wuchtkanonentechnik und schätzte auf erstaunlich realistischer Basis die Weiterproduktion und Nutzung durch die Nogk ein. Die Gutachter schienen sich mit der rasanten Produktivität der Nogk verblüffend gut auszukennen, fast zu gut... Entsprechend hoch waren die zu zahlenden Lizenzgebühren angesetzt. Es war nicht nur Trawisheim klar, auch Wallis mußte es wissen, daß die Nogk niemals für diese Technologie zahlen würden. Es war auch aussichtslos, sie dazu aufzufordern. Sie hatten von sich aus einen Teil ihrer Technologie Terra zur Verfügung gestellt. Der planetare Schutzschirm, der die Erde umspannte und vor Angriffen aus dem All schützte, war reine Nogk-Technik - und kostenlos geliefert worden. Sie hatten niemals eine Gegenleistung irgendwelcher Art gefordert, wie sie auch nichts dafür forderten, daß Colonel Huxleys CHARR und seine FO-1 ständig von ihnen gewartet 32
und auf den neuesten Stand der Technik gebracht wurden. Die CHARR war ein Geschenk der Nogk, einer ihrer modernsten Raumer überhaupt. Für die Wuchtkanonen-Lizenz mußte mithin Terra aufkommen. Aber die Lizenzgebühren waren so hoch, daß sie dem ohnehin defizitären Staatshaushalt den endgültigen Todesstoß versetzten. Es war schlicht unmöglich, die zu Trawisheims Leidwesen berechtigten WallisForderungen zu bedienen. Aber, verdammt, wenn Dhark den Nogk die Wuchtkanone nicht so einfach und unbürokratisch zur Verfügung gestellt hätte, hätten die Nogk ihren Herrscher Charaua verloren. Was daraus für das Bündnis zwischen Terranern und Nogk gefolgt wäre, ließe sich nur schwer abschätzen. Und bürokratische Dinge verstanden die Nogk ohnehin nicht. Persönliches Profitstreben war ihnen unbekannt. Jeder arbeitete für das Gemeinwohl. In gewisser Hinsicht waren sie wie Bienen oder Ameisen. Jeder tat, was er zu leisten imstande war, und erhielt, was er benötigte. Einen krasseren Gegensatz zum terranischen Merkantilismus konnte sich Trawisheim nicht vorstellen. »Wallis, diese Forderungen sind in ihrer Höhe...« »... berechtigt«, unterbrach der Mann mit der schreiend bunten Weste. »Das werden Sie selbst mit zehn Gegengutachten nicht widerlegen können.« »Diese Forderungen können wir nicht bedienen. Wenn Sie darauf bestehen, ruinieren Sie den gesamten Staatshaushalt. Terra muß den Staatsbankrott anmelden.« »Ein Staat kann nicht in Konkurs gehen«, widersprach Wallis sanft. »So sagt es die Theorie, so sagt es das Gesetz. Aber jeder Staat existiert nur durch sein Bruttosozialprodukt. Gerade Sie als Arbeitgeber müßten wissen...« »Kommen Sie mir nicht damit. Wissen Sie, wie viele tausend Mitarbeiter wir allein im letzten Quartal neu eingestellt haben, während anderswo Entlassungen an der Tagesordnung sind? Undwissen Sie, weshalb wir Leute einstellen können? Weil unsere Konjunktur brummt. Warum brummt sie? Weil Wallis Industries vorsichtig und schlau taktiert und nicht nur dasitzt und heult, wie schlecht doch die Welt sei. Wir tun etwas.« »Zum Beispiel, die Regierung in den Bankrott treiben.« »Wenn die Regierung sich Blößen gibt, nutzen wir die natürlich aus.« »Das ist Kapitalismus in seiner schlimmsten Form.« »Das ist Marktwirtschaft, Trawisheim. Nicht mehr und nicht weniger. Wir sind nicht das Sozialamt, wir sind eine Firma. Wir schaffen und sichern Arbeitsplätze. Um das zu können, müssen wir Gewinne erwirtschaften. Denn von nichts kommt nichts. Um Gewinne zu erwirtschaften, müssen wir aber in jede Lücke greifen und fest zupacken. Wir können nicht anders, Trawisheim. Und wir dürfen nicht anders. Wenn wir jetzt für die Nogk-Lizenz kassieren, was glauben Sie, wie viele Arbeitsplätze wir davon schaffen können? Arbeitsplätze, die wiederum Steuern und Sozialabgaben in die Staatskasse bringen! Überlegen Sie sich das mal, ehe Sie mich anprangern. Es gibt genug firmen, die Geld kassieren und ihre gierigen Aktionäre damit füttern, statt Arbeitsplätze zu schaffen, wie wir es seit sechzig, siebzig Jahren zur Genüge kennen. Wallis Industries erscheint vielleicht auch gierig, aber wir schaffen diese Arbeitsplätze tatsächlich!« »Was hilft es, wenn darüber der Staat zahlungsunfähig wird? Wenn wir den Arbeitslosen, die Sie nicht
einstellen können, keine Sozialhilfe mehr zahlen können? Wenn wir den Rentnern ihr Geld vorenthalten müssen? Weil einfach nichts mehr da ist, weil einfach alles in der Kasse von Wallis Industries gelandet ist? Wenn wir keine Polizisten mehr bezahlen können, keine Raumflotte... wollen Sie das alles übernehmen, Terence? Will Wallis Industries dann zum Zahlmeister der Nation werden, oder schauen Sie dann nur zu, wenn es Ihren Arbeitern gutgeht, aber Millionen andere zugrunde gehen?« »Selbstverständlich nicht«, sagte Wallis. »Und Sie können mir 34
glauben, daß ich auch darüber ernsthaft nachgedacht habe. Ich bin bereit, der Regierung in erheblichem Maß entgegenzukommen. Gestatten Sie, daß sich mein Begleiter zu uns gesellt?« »Ihr Begleiter?« Von dem hatte Trawisheim vorhin nicht einmal einen Schatten gesehen. Wallis sah auf sein Chrono. »Er dürfte gerade vor einigen Minuten eingetroffen sein. Darf ich?« Trawisheim nickte. Wallis erhob sich, ging zu Tür und bat einen Mann herein, dessen weißes Haar ihn wesentlich älter erscheinen ließ, als er vom Gesicht her wirkte, wenn man es isoliert betrachtete. Der Mann wies sich als Notar aus, nahm unaufgefordert neben Wallis Platz und legte Trawisheim einen Vertrag vor. Der Cyborg las ihn - und schüttelte den Kopf...
»Sie sind verrückt, Wallis. Das können Sie nicht verlangen.« Der Industrielle schwieg. »Die Wallis Star Mining - das ist entschieden zu teuer«, sagte Trawisheim. Der Notar hüstelte. »Sir, Sie können gern ein Gutachten über den Wert Ihrer 25 Prozent Regierungsbeteiligung an der Firma erstellen lassen. Sie werden feststellen, daß Wallis Industries den Wert eher zu niedrig als zu hoch geschätzt hat.« »Der Wert der von den Nogk nachgebauten Wuchtkanonen dürfte...« »Entschuldigen Sie, Sir«, unterbrach ihn der Notar. »Der Wert der nach bisherigen Hochrechnungen von den Nogk nachgebauten Kanonen. Es ist doch allgemein bekannt, mit welcher Schnelligkeit die Nogk neue Techniken in alle ihre Raumschiffe einbauen. Seit jenem Vorfall sind etwa zehn Monate vergangen. Ist Ihnen klar, was das bedeutet?« Trawisheim nickte. »Daß die Rechercheure der Wallis Industries verdammt lange gebraucht haben, um der Sache auf den Grund zu gehen.« »Das klingt, als hätten Sie versucht, den Vorgang zu verschleiern«, sagte der Notar scharf. Trawisheim winkte ab. »Machen Sie sich doch nicht lächerlich. Wenn wir es hätten verschleiern wollen, wäre dieser Artikel niemals gedruckt worden.« Er wies lässig auf die Flottenzeitschrift. »Wir kennen die Nogk doch«, sagte Wallis. »In der Hälfte der Zeit können sie jedes ihrer Raumschiffe mit Wuchtkanonen ausgerüstet haben. Also ist es nur realistisch, wenn wir von der Gesamtstückzahl der Nogkflotte ausgehen. Da es darüber keine exakten Daten gibt, haben wir uns übrigens an der Schätzung der Ter-ranischen Flotte orientiert. Daraus ergibt sich die Hochrechnung für unsere Wertermittlung.« »Richtig«, pflichtete der weißhaarige Notar bei. »Und dieser Wert entspricht ziemlich genau dem 25prozentigen Anteil, den die Regierung an Wallis Star Mining hält. Sie treten diese 25 Prozent an Wallis Industries ab, und im Gegenzug erklärt Wallis Industries seine Ansprüche aus der Weitergabe der Wuchtkanonentechnik an die Nogk für abgegolten.« Trawisheim schüttelte den Kopf. »Natürlich steht es Ihnen frei, unsere Angaben anzuzweifeln, ein Gegengutachten zu erstellen und unsere Forderung gerichtlich anzufechten. Aber die Gesetzeslage ist eindeutig. Terra muß zahlen, auf die eine oder die andere Weise. Daran kommen Sie nicht vorbei.« »Wenn wir die WSM aufgeben, verlieren wir die Kontrolle über den Tofiritmarkt«, sagte Trawisheim. »Das kann ich nicht zulassen.« »Das ist Marktwirtschaft, mein Lieber«, schmunzelte Wallis. »Es ist ohnehin nicht gut, wenn die Regierung die freie Wirtschaft; kontrolliert. Dabei ist selten Vernünftiges herausgekommen.« »Wir verlieren Einnahmen, die die Staatskasse dringend benötigt«, sagte Trawisheim. 36
»Sie verlieren mehr, wenn Sie bar für die Weitergabe zahlen müssen. Dann wird die Summe auf einen Schlag fällig. Und wir wissen beide, daß Terra momentan nicht in der Lage ist, diese Summe aufzubringen. Durch sinkende Einnahmen auf lange Sicht wird die Staatskasse nicht so stark belastet.« »Auf lange Sicht verlieren wir mehr, wenn ich zustimme.« »Die Tofirit-Vorkommen im Achmed-System werden nicht ewig vorhalten«, warnte Wallis. »Überschätzen
Sie das nicht. Beim jetzigen Tofiritverbrauch werden wir das Asteroidenfeld in wenigen Jahrzehnten komplett ausgebeutet haben. Dann können wir die WSM ohnehin schließen.« »In wenigen Jahrzehnten? Den Angaben Art Hookers zufolge wird es Jahrhunderte vorhalten.« »Und wenn schon. Denken Sie daran, daß die Firma auch ständig Geld kostet. Sie brauchen dann nicht mehr die Unterhalts- und Investitionskosten für Ihren Anteil aufzubringen. Sie sparen also im Endeffekt.« »Sie sind ein Gauner, Wallis«, sagte Trawisheim. »Ich weiß«, schmunzelte der Mann mit der bunten Weste. »Und Ihre Argumente sind fadenscheinig.« »Gut, Sie haben die Wahl. Eine unmittelbare Komplettzahlung, ruhig auch unter dem Vorbehalt des Widerspruchs und der Rückforderung, oder die Übertragung der Regierungsbeteiligung an Wallis Industries.« »Zudem verpflichtet sich Terra«, erläuterte der Notar den Vertragstext weiter, »Wuchtkanonen nur von Wallis Industries zu kaufen respektive für jede Wuchtkanone, die künftig von den Nogk erworben oder selbst nachkonstruiert wird, die gleichen Lizenzgebühren an Wallis Industries zu zahlen wie für die Geschütze, die in regierungseigenen Werften und Waffenfabriken selbst gebaut werden.« »Erpressung!« »Verträge dieser Art sind durchaus üblich, Mister Trawisheim«, erwiderte der Notar. Trawisheim schwieg für eine Weile. Er überlegte. Dann griff er nach seinem Lux-Script, einem Spezialschreiber, mit dem er nicht nur seine Unterschrift leistete, sondern zugleich auch einen »Stempel« seines Gehimstrommusters »aufprägte«. Diese Schreiber waren zeitweise unzuverlässig gewesen, weil es Robonen gelungen war, die gespeicherten Muster zu kopieren und zu fälschen; damals hatte der Terra-Pre s s-Reporter Bert Stranger diese Angelegenheit an die Öffentlichkeit gebracht und aufgeklärt. Aber die Stifte der neusten Generation waren absolut fälschungssicher. Der Notar legte den Kopf schräg. »Sind Sie überhaupt befugt, diesen Vertrag hier und jetzt eigenmächtig zu unterschreiben, Sir?« fragte er mißtrauisch. »Muß der nicht erst vom Parlament genehmigt werden?« »Es gelten immer noch einige der Notstandsgesetze«, erinnerte ihn Trawisheim. »Wenn ich nicht befugt wäre, hätte ich nicht unterschrieben.« Der Notar wollte den Vertrag wieder an sich nehmen, aber Trawisheim war schneller. »Der bleibt noch hier und wird kopiert. Wir senden Ihnen das Original unverzüglich zu, sobald die Kopie erstellt wurde.« »Dann sind wir uns ja einig«, sagte Terence Wallis zufrieden und erhob sich. »Es ist immer wieder ein Vergnügen, Geschäfte mit der terranischen Stern Verwaltung zu machen.« Freu dich nicht zu früh, alter Gauner, dachte Trawisheim. »Da wäre noch eine Kleinigkeit, Mister Wallis«, sagte er. Schon fast in der Tür, wandte Wallis sich lächelnd um. »Und das wäre?« »Wirklich nur eine unbedeutende Kleinigkeit. Der Schutz des Achmed-Sy stems durch die TF.«
Langsam kam Terence Wallis zum Schreibtisch zurück und setzte sich wieder. Er beugte sich vor. »Was soll das heißen?« 38
»Ich darf Sie an einen Bestandteil unseres bisherigen Vertrages über die Wallis Star Mining erinnern«, sagte er. »Diesem Passus zufolge übernahm die Terranische Flotte bisher den Schutz des Achmed-Sy stems vor Aggressoren jedweder Art - Grakos, Piraten, was auch immer. Gut, das geschah ja auch in eigenem Interesse. Schließlich gehörte der Regierung ein Viertel der Firma. Das ist mit Unterzeichnung und Rechtskraft des neuen Vertrages nicht mehr der Fall.« »Und...?« Wallis runzelte die Stirn. »Somit hat die Regierung auch kein Interesse mehr daran, diesen Schutz zu gewährleisten. Die WSM ist nun völlig in privater Hand, somit ist auch der Schutz des Systems eine Privatangelegenheit. Sie wissen, wie wertvoll Tofirit ist. Die Existenz der enormen Vorkommen im Achmed-System beginnt sich in der Galaxis herumzusprechen. Sie sollten schon einmal damit beginnen, eine eigene Wachflotte einzusetzen. Dabei muß ich Sie aber darauf hinweisen, daß private Raumschiffe nur mit leichten Waffen ausgestattet sein dürfen, und das auch nur nach Sondergenehmigung. Ihr Notar wird Ihnen die entsprechenden Gesetze und Vorschriften sicher besser darlegen können als ich.« Das war reiner Hohn; alles, was in terranischen Gesetzesdatenbänken stand, war in Trawisheims Programmgehirn gespeichert. Er hätte sofort die entsprechenden Paragraphen abrufen und zitieren können, inklusive Datum des Inkrafttretens und Fundstelle. Wallis atmete tief durch. »Das heißt im Klartext«, fuhr Trawisheim ruhig fort, »wenn sich herausstellt, daß auch nur einer Ihrer Wachraumer über stärkere Waffen als Triple-Hy-Laser und Paralysestrahler verfügt, vielleicht sogar über eine firmeneigene Wuchtkanone, machen Sie sich strafbar.« »Das ist doch lächerlich!« fuhr Wallis auf.
»Das ist Gesetz«, lächelte Trawisheim. »Terra hat sich vertraglich verpflichtet!« »In dem alten Vertrag, ja«, sagte Trawisheim. »Der ist aber jetzt hinfällig. Es gibt keinen Schutz zum Nulltarif mehr.« »Mann!« grollte Wallis. »Wie stellen Sie sich das vor? Wenn die Tel oder auch nur die Caldarer versuchen sollten, das Achmed-Sy stem zu okkupieren, können wir mit den gesetzlich erlaubten Spielzeugwaffen nichts anfangen! Wir können höchstens hoffen, daß die anderen sich darüber totlachen!« »Das wäre doch auch eine Option.« »Sie werden zynisch, Trawisheim. Wir wissen doch beide, welchen Wert das System hat. Wir benötigen kampfstarken Schutz.« »Sehen Sie - den kann Terra Ihnen auch weiterhin bieten. Aber nicht mehr kostenlos. Künftig werden Sie für die Stationierung der TF-Raumer zahlen müssen. Ich darf Ihnen jetzt schon versichern, daß die Gebühren für den Einsatz kampfstarker Schiffe recht saftig ausfallen.« »Ist das jetzt Ihre billige Rache?« »Nein«, versicherte Trawisheim. »Sie können gern die Gebührensätze der TF einsehen. Wenden Sie sich an das Büro von Marschall Trawler. Er wird Ihnen auch mitteilen, daß diese Gebührensätze zu Beginn dieser Legislaturperiode eingeführt und seither nicht erhöht wurden.« Dabei vergaß er allerdings zu erwähnen, daß diese Gebühren bislang noch nie eingefordert worden waren. Einfach deshalb, weil noch nie eine Privatfirma um militärischen Schutz im Weltraum gebeten hatte. Die Gebühren waren seinerzeit, wie viele andere Gesetze, Vorschriften und Regelungen, nur vorsorglich geschaffen worden. Niemand hatte geahnt, daß dieser Fall tatsächlich einmal eintreten würde. Immerhin: Der Unterhalt eines Raumschiffes kostete Unsummen. Für Technik, Wartung, Personal. Das war mit einer Handvoll Dollar nicht getan. Und falls tatsächlich auch nur ein Tel-Raumer das Achmed-System des Tofirits wegen angreifen sollte, bedurfte es der Kampfstärke wenigstens zweier 400-Meter-Kreuzer, ihn abzufangen. Oder der eines SKreuzers, aber die für derartige Wacheinsätze zu vergeuden, kam ohnehin nicht in Frage. Trawisheim fragte sich, woher Wallis von den Caldarern wußte.* Der Industrielle erhob sich wieder. »In Sachen Schutzflotte werden Sie in Kürze von uns hören.«
»Nicht ich. Das fällt nicht in meinen Zuständigkeitsbereich. Wenden Sie sich vertrauensvoll an Marschall
Trawler«, empfahl Trawisheim.
Die Bürotür krachte hinter Wallis und dem Notar ins Schloß. Mit ein paar Sekunden Verzögerung folgte
Trawisheim den beiden durchs Vorzimmer bis zur ebenfalls zukrachenden Tür zum Korridor. Die Sekretärin sah
ihren Chef irritiert an. »Welche Laus ist dem denn über die Leber gekrochen?«
»Lausiges Geld«, schmunzelte Trawisheim und öffnete die Tür lautlos, um zu lauschen. Er bekam gerade noch
mit, daß Wallis seinen Notar anschnauzte: »Damit hätten Sie rechnen müssen! Wofür bezahle ich Sie eigentlich?
Warum haben Sie diesen Passus nicht in den neuen Vertrag mit aufgenommen? Sie sind gefeuert!«
Lächelnd schloß Trawisheim die Tür wieder. Er war sicher, daß der finanzielle Verlust, den die Regierung
hinnehmen mußte, bei weitem nicht ganz so empfindlich ausfiel wie zunächst gedacht. Marschall Trawler würde
Wallis schon genügend Raumschiffe aufschwatzen, um einen gehörigen Batzen Geld in die Staatskasse zu
saugen.
Vielleicht sollte Trawisheim ihn vorsorglich anrufen und darauf hinweisen, falls der vogelgesichtige Marschall
nicht von selbst auf diesen kapitalistischen Gedanken kam...
2. »Ich habe Angst.«
Die Worte perlten regelrecht von Juanitas Lippen.
Sie wollte ihren Traum nicht verlieren, wollte ihn nicht zwischen ihren Fingern zerrinnen sehen wie feinen Sand!
Schon beim Verlassen der Milchstraße war sie überwältigt worden von den auf sie einstürmenden Gefühlen. Ihr
war gewesen, als würden die Sterne, die mit immenser Geschwindigkeit hinter dem EPOY-Verbund
zurückfielen, aus ihr selbst herausgesogen. Jedes einzelne Gestirn.
Unheimlich.
Da hatte sie zum erstenmal begriffen, was die Sterne für einen Menschen tatsächlich bedeuteten. Wie sehr er auf
ihre Nähe, nicht nur auf ihr Licht und ihre Wärme, angewiesen war.
Dann war es zur Flugunterbrechung gekommen, und Gisol hatte beschlossen, zur POINT OF
hinüberzuwechseln.
Juanita war ihm durch den Transmitter gefolgt.
Sie wäre ihm überallhin gefolgt.
Er war zur einzigen Konstanten in ihrem jungen Leben geworden. Ein Freund, kein Vaterersatz. Und der einzige,
der sie nicht wie ein unerfahrenes, elfjähriges Mädchen behandelte, sondern wie ein gleichwertiges Geschöpf.
Sie liebte und verehrte Jim - wie sie ihn manchmal immer noch nannte, obwohl sie sich bemühte, seinen wahren
Namen zu respektieren.
Gisol.
Gisol, der Worgun.
Angehöriger einer Spezies, die vor langer Zeit, vor rund 50 000 Jahren, auf dem irdischen Urkontinent Lemuria
die Salter gezüchtet und sie im Zuge einer künstlich forcierten Evolution lange vor der Menschheit an die
Raumfahrt herangeführt hatte. Als Hilfsvolk der Worgun hatten die Salter viele Großleistungen vollbracht, auch
Kriege geführt. Gegen Gegner wie die Grakos, von denen inzwischen bekannt geworden war, daß auch sie nur
die Schergen einer anderen Supermacht gewesen waren - der Zyzzkt.
Und diese Zyzzkt hatten nach vielen Jahrhunderten die Worgun in deren Heimatgalaxis, in Om, zu einem Volk
von unterwürfigen Sklaven degradiert...
Unvorstellbar!
Nicht so sehr für Juanita, die Mühe hatte, sich Geschehnisse und Verhältnisse von kosmischer Bedeutung
überhaupt vorzustellen -aber erkennbar für Ren Dhark, den Mann, der, das wußte jedes Kind, seit acht Jahren
hinter den Mysterious herjagte. Der alles daran gesetzt hatte, das Geheimnis um ihr Verschwinden vor einem
Jahrtausend zu lüften.
Und der nun begreifen mußte, daß die Mysterious dem Mythos nicht gerecht wurden, der sich im Laufe der Zeit
um sie gerankt hatte.
Die Mysterious, nach denen Ren Dhark gefahndet hatte, waren immer eine Spezies von übermenschlicher
Intelligenz, Ethik und Durchsetzungskraft gewesen.
Die Worgun, die sich aus diesem Mythos herauskristallisiert hatten, waren nur ein Schatten all dessen.
Weniger noch.
Die Worgun, die Gisol ausgesuchten Menschen - und in stillen Stunden auch Juanita - geschildert hatte, waren in
ihrer eigenen Heimat nur mehr geduldete Geschöpfe, von perfider Technik in die Sklaverei gezwungen.
Juanita schauderte.
Sie wiederholte ihre Aussage: »Ich habe Angst!«
Und Gisol, der mitfühlend seinen Arm um sie legte, mußte glauben, ihre Aussage bezöge sich auf das aktuelle
Geschehen - darauf, daß die POINT OF zum Spielball einer fremden Macht geworden war.
Aber das war nur die halbe Wahrheit. Juanita hatte Angst um die Worgun. Um Gisol. Und um sich selbst.
Alles war in Gefahr - all das mühsam aufgebaute Vertrauen, die
Geborgenheit, die sie in Gisols Nähe gefunden hatte - zum erstenmal in ihrem leidgeprüften Leben.
Sie hatte es nie so offen ausgesprochen, aber sie hatte von Anfang an befürchtet, daß ihr Traum von einem Leben
an der Seite des Worgun mit Erreichen Oms wie eine Seifenblase zerplatzen könnte.
Und nun...
... nun drohten ihre Illusionen noch viel früher zerstört zu werden.
Um gut fünf Millionen Lichtjahre eher, dachte sie, den Blick gebannt auf die Szenerie gerichtet, die von der
großen Bildkugel übertragen wurde.
Der goldene Koloß, der von seinem Sockel herabgestiegen war, nagelte die POINT OF wie ein Spielzeug auf
dem Boden des einsam im intergalaktischen Raum kreisenden Planeten fest. Ein Riese, wie aus den alten
Märchen, die in den Elendsvierteln kursierten - die die Kinder sich dort gegenseitig erzählten, um sich von
Hunger, Durst, Nässe oder Kälte abzulenken.
Juanita hatte all dies hinter sich gelassen - wie die Sterne. Doch jetzt wünschte sie sich, sie wäre mit Gisol auf
der Erde geblieben. Ich hätte es versuchen müssen, ihn dazu zu bewegen, die Nabelschnur nach Orn zu kappen,
alle Brücken hinter sich abzubrechen. Wir hätten ein glückliches Leben führen können - auf Terra oder auf
irgendeiner x-beliebigen Welt in den Tiefen der Milchstraße.
Warum? Warum hat es nicht sollen sein?
Sie wußte genau warum. Gisol hatte von Anfang an mit offenen Karten gespielt und keinen Hehl daraus
gemacht, daß es ihn zurück nach Om zog - mochte Om noch so weit von einem Paradies entfernt sein. Gerade
weil Om zur Hölle für die Worgun geworden war, trieb es ihn dorthin zurück.
Deshalb war er das Bündnis mit Ren Dhark eingegangen.
Diese Expedition war mehr, als er sich je zu erträumen gewagt hatte...
... um so schmerzvoller mußte es für ihn sein zu erkennen, in
welche Lage Ren Dhark die Expedition mit seinem Befehl, einen Zwischenstopp einzulegen, gebracht hatte.
Der Planet drohte zur Endstation zu werden.
Vielleicht sogar zum Grab.
Der Tod war eine Realität, mit der Juanita auf gewachsen war. Doch früher hatte er ihr sehr viel weniger
anhaben können als jetzt.
Sie wollte nicht sterben, wollte nicht, daß irgend jemand starb!
»Ich habe... Angst...«
»Ich weiß.« Gisols Stimme war nur ein Hauch - als wolle er vermeiden, daß ein anderer ihn hörte, während er
ihr Trost spendete.
Sie schmiegte sich enger an ihn, als Ren Dhark mit raumgreifenden Schritten auf sie zukam.
Sie hörte ihn sagen: »Unternimm etwas, Gisol, ich beschwöre dich. Unternimm irgend etwas! Ich weiß, daß du
immer einen Trumpf im Ärmel hast - falls du die Bedeutung dieser Redensart verstehst...«
»Ich verstehe sie.«
»Dann...«
»Ich kann nicht, Ren Dhark. Ich fürchte, daß du nicht verstanden hast. Es ist zu spät. Wir hätten diese Welt von
Anfang an meiden müssen. Wenn dies wirklich ein uralter Stützpunkt meines Volkes ist - und dafür spricht
vieles, auch wenn sich keinerlei Aufzeichnung in den Speicherbänken meiner Schiffe befindet -, dann würde uns
nur retten, wenn wir uns als befugte Besucher identifizieren könnten. So aber droht uns...«
»Was?« Ren Dhark stand düster vor ihnen, die Fäuste in die Hüften gestemmt. In sorglosen Momenten hatte er
oft jungenhaft auf Juanita gewirkt, wie ein großer Bruder, den Schalk im Nacken. Dieser Eindruck war völlig
verflogen. Der Leiter der Expedition strahlte augenblicklich nur noch eines aus: unbeugsame Autorität. Und
diese Autorität ließ ihn furchtbar altern, umgab ihn mit einer Aura der Unnahbarkeit, so daß Juanita nicht wagte,
eine Bemerkung in das Gespräch einzustreuen, obwohl ihr so vieles auf der Zunge lag.
Die Pause, in der Gisol geschwiegen hatte, endete. Mit ebenso steinerner Miene, wie Dhark sie zur Schau stellte,
vollendete er den begonnenen Satz: »... die Vernichtung. Zumindest die Gefangenschaft... was in Anbetracht der
Umstände aber wohl auf das Gleiche hinausliefe. Ich bezweifle, daß es hier irgendwo einen lebenden Wärter
gibt. Wenn die verwaltende Instanz des Planeten beschlossen hat, uns festzuhalten, werden wir unser Leben hier
beschließen. Dann wird sich dieses Schiff nie mehr von der Oberfläche erheben. Und alle, die uns nachfolgen,
werden das gleiche Schicksal ertragen müssen.«
»Dann wäre«, fragte der Mann, der auf Terra schon in jungen Jahren eine lebende Legende war, »der Goldene,
der sich unser angenommen hat, so etwas wie ein... Henker... ?«
Den Beinamen, den Ren Dhark dem selbst im Knien noch kilometerhohen Titanen verliehen hatte, hallte
unheilvoll in Juanita nach. Sie duckte sich regelrecht, wie sie es früher unter den Schlägen getan hatte, mit denen
sie mißhandelt worden war.
Wieder spürte sie den Druck von Gisols Arm. Er zog sie fester an sich. Es schien ihn nicht zu stören, daß Dhark
ihm dabei zusah.
Nicht zum erstenmal spürte Juanita die unsichtbare Verbindung, die zwischen dem Terraner und dem Worgun
bestand. Sie war anderer Natur als das, was Juanita mit Gisol verband. Achtung, Respekt... vielleicht der Beginn
einer Freundschaft, die auf diesen Prämissen basierte. Aber es war nicht diese tiefe Anziehungskraft, die ihre
Beziehung auszeichnete.
Es erfüllte Juanita mit Stolz, daß Gisol sich ihr gegenüber mehr öffnete, mehr von seinem wahren Wesen zeigte
als bei jedem anderen .
Schließlich war es umgekehrt genauso.
Der Unterschied zwischen meinem Verhältnis zu Gisol und dem der anderen zu ihm ist, dachte sie in ihrer kindlichen Weisheit: Wir haben einander gefunden, ohne je nach dem anderen gesucht zu haben.
Die Menschenmaske, in die sich Gisol gehüllt hatte, zuckte die Achseln. Seine Mimikry war selbst in kleinsten Details perfekt. »Ich weiß es nicht. Ich kann selbst nur spekulieren. Einen Vorgang wie diesen habe ich nie zuvor beobachtet. Daß ein Goldener mit dieser Mobilität ausgestattet ist...« »Und gehört?«, warf Dhark ein. Sein Ton war drängend. Er befürchtete, daß ihnen die Zeit davonlief, daß die Aktion des Kolosses, deren Zeuge sie gerade geworden waren, nicht das letzte war, womit er auf sich aufmerksam machen und die Besatzung des Ringraumers das Fürchten lehren würde. »Auch nie gehört«, antwortete Gisol bereitwillig mit seiner wohlklingenden Stimme. Er zeigte keinerlei tiefergehende Verunsicherung mehr, wie noch im Orbit, als die Diskussion über den Nutzen des Vorstoßes zur Oberfläche des Planeten geführt worden war. Dhark wandte sich kurz um. Unablässig schwirrten Situationsmeldungen durch den Raum. Alle Stationen kommunizierten miteinander... ... was erstaunlicherweise nicht vom Checkmaster unterbunden wurde. Er machte Unterschiede. Erführt sich auf wie ein Diktator! dachte Juanita. Einer, der es nicht nötig hat, sich mit seinen »Untergebenen« zu besprechen.
Für sie war der Checkmaster nur ein anderes Wort für einen völlig irregewordenen Computer.
»... immer noch keine Verbindung zu unseren Orbitaleinheiten...«, fing Juanita einen Gesprächsfetzen auf.
Verschüchtert blickte sie zu Gisol auf. »Ist es wahr, was du gesagt hast?«, fragte sie flüsternd. »Werden wir
wirklich sterben müssen?«
Seine Augen waren ihr noch nie so abgründig tief vorgekommen. Für einen Moment fürchtete sie, sich darin zu
verlieren.
Dann sagte er: »Ich werde nicht zulassen, daß dir etwas passiert, kleine Juanita.«
Mit diesen Worten löste er sanft seine Umarmung und erhob sich. Juanita wollte auch aufstehen und ihm folgen,
aber er bedeutete ihr sitzenzubleiben.
Sie gehorchte und beobachtete, wie er neben Ren Dhark trat. Gi-sol war um einiges größer und kräftiger als
Dhark.
Zu verwechseln waren sie auch sonst nicht.
»Was ist?«, fragte Dhark. »Ist dir doch noch etwas eingefallen? Eine Idee, wie wir dem Kameraden da draußen
etwas Feuer unter den Allerwertesten machen können?«
Gisol sah ihn lange an, ehe er antwortete. »Möglicherweise. Ich kann nicht garantieren, daß es funktioniert. Es
ist unerprobt, aber... ich will es versuchen...«
Mit einem mysteriösen Lächeln, das seine Züge erstmals künstlich erscheinen ließ, zog er einen unscheinbaren
Metallbügel aus der Tasche seiner Kleidung hervor. Der Gegenstand erinnerte an einen Schmuckreif aus einer
silbrigglänzenden Legierung, sehr filigran gearbeitet, fast zerbrechlich.
Juanita wünschte sich unwillkürlich, dieses Ding selbst aufzusetzen - aber natürlich kam das nicht in Frage.
Auf Gisols Kopf wirkte es deplaziert, anachronistisch - aber niemand nahm Anstoß daran, schon gar nicht Ren
Dhark. der schweigend wartete, daß Gisol sich erklärte.
Der Worgun schloß die Augen.
Wie er dastand, erinnerte er selbst an eine Statue, denn es gelang ihm, jede noch so geringfügige Bewegung zu
unterdrücken. Nicht einmal der Atem hob und senkte seinen Brustkorb. Wie aus hellem Stein gemeißelt stand er
da.
Eine Figur.
Juanita spürte eine vage Beklemmung, gegen die sie ankämpfte.
Sekunden, Minuten verstrichen.
Die Geräuschkulisse der Bordzentrale schien von Juanita abzurücken. Sie fühlte sich unwohl. Gisols Starre,
Gisols Schweigen waren ein Vorgeschmack darauf, wie es wäre, wenn er aus ihrem Leben verschwinden würde.
Sie haßte den Gedanken.
Und wartete.
Ren Dharks Blick suchte den ihren.
Sie vermied es, ihn anzuschauen, obwohl sie seine Augen brennend heiß auf sich ruhen spürte.
Komm zurück, dachte sie. Komm bitte, bitte zurück...
Sie hatte das instinktive Gefühl, daß Gisols Körper immer noch bei ihr verweilte, sein Geist aber weit, weit weg
war.
Und dieses Gefühl trog sie nicht...
Das Schiff löste sich aus seiner Orbitalposition, wo es bis zu diesem Moment ein »Steinchen« im Gesamtmuster
gewesen war, das die Schiffe der Orn-Expedition bildeten, nachdem sie sich schon im Vorfeld entkoppelt und
über dem Planeten verteilt hatten.
Das Muster, aus dem sich der Ringraumer entfernte, besaß nun einen Fehler. Doch der eigentliche Fehler,
befürchtete Gisol, der mit seinen Gedanken in die Steuereinheit des Schiffes eingedrungen war, bestand
wahrscheinlich darin, die Macht, die den Planeten auf ihre ganz eigene Weise beherrschte und schützte, noch
mehr zu provozieren.
Dennoch wollte er es versuchen.
Er war es nicht nur sich selbst, sondern allen Lebewesen an Bord der POINT OF schuldig.
Insbesondere seinem Schützling Juanita. Er spürte ihre Furcht wie die starke Ausdünstung eines in die Enge getriebenen Raubtiers. Sein Befehl hatte sofort Widerhall in dem Ringschiff ohne Eigennamen gefunden. Und dank des Prototyps jenes Geräts, das Gi-sol wie ein Magier aus seinem imaginären Hut gezaubert hatte, stand er sogar in Kontakt mit dem Raumer, der gerade in die oberste Atmosphärenschicht eindrang. Das Gerät arbeitete auf telepathischer Grundlage, wandelte Hirnwellen in Parasignale um, die so eine Verbindung zur Gedankensteuerung des anvisierten Schiffes herstellten. Besagtes Schiff war unbemannt - wie jedes Modul, mit dem sich die EPOY für die intergalaktische Reise zusammengekoppelt hatte. Ein Verlust an Leben war nicht zu befürchten, aber auch der Verlust eines toten Schiffes wäre für Gisol von folgenschwerer Konsequenz gewesen. Deshalb versenkte er sich regelrecht in die Aufgabe, Hilfe für die POINT OF herbeizuholen. Rettung in Gestalt eines Worgunschiffes, in dem es keinen unberechenbaren, ja verräterischen Checkmaster gab... Er hüllte den Kreuzer in sein Intervallum, teilte sich die Navigation mit der Automatik, die unter Einsatz aller Ortungsmittel versuchte, der Kollisionsgefahr mit den acht Kilometer hohen Statuen auszuweichen. Aber genau diese Ortung versagte auf ganzer Linie - eine Erfahrung, die auch die POINT OF schon hatte machen müssen. Gisol riskierte dennoch den Vorstoß zur Oberfläche, stieß in die undurchdringlichen Schleier, die selbst einen simplen Sichtkontakt aus dem Orbit heraus zur Oberfläche unterbanden... ... und erreichte nach kurzer Zeit die »nebelfreie« Zone unter dieser Sperrschicht. Der S-Kreuzer schwebte irgendwo über dem Planeten. Möglicherweise auf der entgegengesetzten Seite. Ein Koordinatenaustausch mit der Landestelle der POINT OF war nicht möglich, da niemand an Bord wußte, wo
das Ringschiff vom Checkmaster hingeleitet worden war. Wie von Gisol erhofft, funktionierten die Ortungsgeräte unterhalb der Sperrschicht jedoch plötzlich wieder perfekt, und so leitete er unverzüglich ein Routinesuchprogramm nach dem energetischen Eigenmuster der POINT OF ein, das in den Datenbänken des Worgunschiffes gespeichert war. Gleichzeitig forderte er über seine Verbindung zur Gedankensteuerung einen Situationsbericht über die Umgebung an, in der sein Späherschiff schwebte. Noch während die Ortung unablässig nach der POINT OF fahndete, aber nicht fündig wurde - wofür es verschiedene Ursachen geben konnte - bildete sich vor Gisols geistigem Auge ein abstrahiertes Bild der Umgebung ab, wie es sich den kybernetischen Sinnen seines Kreuzers darstellte. Das Überraschungsmoment, von goldenen Giganten umgeben zu sein, hielt sich in Grenzen. Wo immer der Kreuzer sich gerade in Relation zur POINT OF befinden mochte - es war damit zu rechnen
gewesen, daß sich die Statuen über weite Teile des Planeten erstreckten.
Doch dann geschah das, was Gisol auf brutal-spektakuläre Weise zu der Einsicht führte, daß der zum Verräter
ernannte Checkmaster die POINT OF aller Wahrscheinlichkeit nach durch sein undurchschaubares Verhalten
vor der sofortigen Vernichtung bewahrt hatte.
Denn aus zahllosen Winkeln gleichzeitig brandeten plötzlich Hochenergiebahnen gegen das Intervallum des S-
Kreuzers an -mit einer Gewalt, die das schützende Mikrouniversum binnen weniger Augenblicke zum
Zusammenbruch bringen und die dahinter-liegende Konstruktion in eine kurzlebige Sonne verwandeln mußte!
Unbemerkt von Gisol selbst rann ein Stöhnen über seine Lippen.
Er löste eine Nottransition des S-Kreuzers fast aus der Bewegungslosigkeit heraus aus. In seinem Kopf schien
etwas zu explodieren, dann strömten die friedlichen Muster des offenen Weltalls auf ihn ein.
So rasch es möglich war, führte er das Schiff zu seiner ursprünglichen Position im Orbit zurück. Dann schlug er
die Ausen auf und
begegnete den erwartungsvoll auf ihn gerichteten Blicken sowie der drängenden Frage des obersten Terraners:
»Was ist passiert? Rede,Gisol!«
Noch ehe der Worgun antworten konnte, brach um die POINT OF hemm und überall sonst auf dem Planeten ein
Inferno aus.
Bert Stranger hatte sich verändert.
Innerlich.
Nach außen hin bekam das keiner mit. Stranger hatte es zeitlebens verstanden, sich perfekt abzuschotten und
nichts von sich preiszugeben. Das kam ihm in diesem Fall zugute. Kein Mensch schöpfte Verdacht.
Er, der Starreporter der Terra-Press, war süchtig!
Ich bin nicht besser als eine Versuchsratte im Labor, dachte er. Jemand drückt auf einen Knopf, und die Ratte
reagiert. Sie wird stimuliert, dieses oder jenes zu tun, sie stürzt sich auf Dinge, die sie unter normalen
Umständen verabscheuen würde, nur um das per Knopfdruck gereizte Lustempfinden zu erleben.
Nicht viel anders erging es ihm. Auch sein Wunsch nach Lust war gereizt worden.
Er kam nicht dagegen an. Er konnte sich nicht wehren, das andere, die Sucht, war stärker als er. Er war süchtig
nach den sexuellen Erlebnissen aus dem Sensorium, und er tat fast alles dafür. Ein zwielichtiger Kerl brachte ihm
immer mal wieder Speicherchips und gleichzeitig Aufträge.
Das Sensorium war das Gerät, dem die Zukunft gehörte.
Durch Werbung war Stranger darauf aufmerksam geworden. Das Gerät, äußerlich gesehen nicht viel mehr als
ein Kopfhörerbügel mit Brille, welcher allerdings die Gläser fehlten, war besser als jedes Holo-TV, weil es seine
Bilder direkt ins Bewußtsein des Trägers sandte. Es bestand die Möglichkeit, fertige Aufnahmen -Filme - zu
kaufen, oder beschreibbare Chips; mit dem Sensorium
ließen sich eigene Filme aufzeichnen und jederzeit wieder abspielen. So, als erlebe man sie unmittelbar mit,
nicht so, als sehe man sie auf einem Holoschirm. Man war einfach mittendrin, ganz gleich, ob es sich um
selbstproduzierte oder um gekaufte Aufnahmen handelte. Die Geräte waren leicht zu tragen und einfach zu
bedienen, und bei der Qualität, die sie boten und damit jedes Holo-TV-Gerät und jedes Holokino weit übertrafen,
mußten sie einfach ein Verkaufsschlager werden.
Dabei war das Gerät nicht einmal billig. Sechstausenddreihundert und ein paar zerquetschte Dollar hatte Stranger
dafür ausgegeben; das war mehr als das Doppelte des Durchschnittsverdienstes eines Durchschnittsterraners.
Stranger hatte das Geld nicht aus seiner privaten Kasse genommen, sondern sein Spesenkonto bei der Terra-
Press damit belastet.
Sein Ressortchef Maik Caroon hatte ihn dafür zunächst gewaltig zusammengestaucht und ihn dann darauf
angesetzt, Informationen über den Hersteller zu beschaffen. Aber das gefiel offenbar jemandem nicht. Plötzlich
wurde Stranger überfallen, bekam ein anderes Sensorium übergestülpt - und erlebte in dem davon abgespielten
Chip-»Film« die größte sexuelle Erfüllung seines Lebens.
Alles war so unglaublich echt...
Und danach konnte er nicht mehr davon lassen. Denn während die im offiziellen Handel erhältlichen Geräte nur
Bild und Ton aufzeichneten, handelte es sich hier um eine »Vollversion«, die er mit allen fünf Sinnen, mit jeder
Faser seines dicklichen Körpers durchlebte.
Er wußte, daß er durch diese Aktion süchtig geworden war, abhängig gemacht worden war. Aber er kam nicht
dagegen an. Er mochte sich noch so oft dagegen sträuben - es zog ihn immer wieder zu dem »Stoff«.
Der Stoff, aus dem die Träume waren. Er war nicht gerade der Traummann, den keine Frau von der Bettkante schubsen würde. Untersetzt, ziemlich
rundlich, mit einem nahezu kugelförmigen Kopf mit kurzen roten Haaren und ei
nem unschuldigen Babygesicht. Natürlich fand er sich immer wieder in kurzen, vorübergehenden Beziehungen,
aber die Frau fürs Leben hatte der 29j ährige Reporter bislang nicht gefunden.
Mußte er auch nicht; er war bislang immer allein zurechtgekommen, und was das Sexuelle anging, reichte ihm
das, was sich ihm bot. Aber jetzt...
Das Sensorium...
Und zwar das, welches ihm die anderen aufgezwungen hatten.
Es war anders als jenes, das er gekauft hatte. Das Gekaufte warlangweilig. Es bot nicht so viele Möglichkeiten.
Es speicherte und reproduzierte Bild und Ton in einer bisher nicht gekannten Qualität, aber damit hörte es auch
schon auf. Bei dem Gerät, das man Stranger aufgezwungen hatte, gab es viel mehr. Alle fünf Sinne wurden in
Anspruch genommen, es gab Gerüche, Berührungsempfindungen, und...
Und man wurde süchtig.
Zumindest bei Bert war das der Fall.
Und mit dieser Sucht setzten die anderen ihn unter Druck. Sie forderten, daß er für sie arbeitete. Sie hatten ihn
süchtig gemacht und damit auf ihre Seite gezogen, weil es ihnen nicht gefiel, daß er ermittelte und Fragen stellte.
So machten sie ihn abhängig und verfügten über ihn.
Er wußte es. Er haßte sich dafür. Er kämpfte. Aber er kam gegen diese verdammte Sucht nicht an. Die Chips, die
man ihm gab, sorgten immer wieder für sexuelle Extasen; er fand sich in den Sensoriumsbildem mit einer Frau
zusammen wieder, die geradezu hungrig nach ihm war, die ihm alles abforderte, aber auch alles gab, was er sich
in dieser Hinsicht jemals erträumen konnte - und noch viel mehr.
Er wußte, daß sie nicht echt war, daß sie nur eine virtuelle Person in einem Speicherchip war. Und doch wollte er
immer wieder mit ihr zusammen sein.
Wenn er unter dem Einfluß des Sensoriums stand, war sie für ihn real. Er konnte sie spüren, sie riechen. Sie ging
auf ihn ein. Sie
forderte ihm alles ab, mehr als alles. Und wenn er gezwungen war, den Kopfbügel des Geräts wieder abzusetzen,
fieberte er bereits dem nächsten Kontakt entgegen.
Er war bereit, für die Chips, in denen seine Traumfrau »lebte«, nahezu alles zu tun.
Immer wieder versuchte er sich von dieser Sucht zu lösen. Aber er schaffte es einfach nicht. Selbst wenn er sich
in seine Arbeit stürzte, tauchte regelmäßig ihr Bild in seinen Gedanken auf. Und wenn er in seiner Wohnung das
Gerät sah, war es wie ein Zwang, einen neuen Chip einzulegen und das Sensorium aufzusetzen und zu
aktivieren. Auch wenn er in der TV-Werbung, die immer noch ausgestrahlt wurde, ein Sensorium sah, erwachte
dieser Drang. Manchmal mußte er sich zwingen, wenigstens vorher etwas zu essen. Oft war er völlig übermüdet,
wenn er mit seiner Arbeit begann, und er war froh, daß er sie sich einigermaßen einteilen konnte und nicht stets
pünktlich zu einer gewissen Uhrzeit im Büro erscheinen zu müssen.
Dennoch begann seine Arbeit unter der Sucht zu leiden. Bert hoffte, daß niemand es so schnell bemerkte. Oft
genug hatte er ja wochenlang an Fällen gearbeitet und sich hineingekniet, um erst in der Schlußphase Resultate
zu liefern, wenn er genug Mosaiksteine für seine Enthüllungsreportagen zur Verfügung hatte, um sie dann
endlich zu einem Bild zusammensetzen zu können.
Den Auftrag, mehr über die Hersteller des Sensoriums herauszufinden, verschleppte er bewußt. Man hatte ihm
klar gemacht, daß man das nicht so gern sah, daß er zu neugierig geworden war. Und man hatte ihn süchtig
gemacht, um ihn besser unter Kontrolle zu haben.
Immer noch wußte er nicht, wer wirklich dahintersteckte. Die Firma »Sensorium Inc.« war eine anonyme
Kapitalgesellschaft, und er hatte nicht herausfinden können, welche Geldgeber diese Firma stützten. Statt dessen
hatte er herausgefunden, weshalb sein Arbeitgeber, der Medienkonzern Terra-Press, ihn auf diese Firma
angesetzt hatte: Man sah durchaus die Marktchancen des Sensori
ums und wollte über eine Beteiligung am großen Kuchen mitzehren. Aber um über eine Beteiligung zu
verhandeln, mußte man erst wissen, mit wem man zu verhandeln hatte.
Doch er durfte seine Recherchen in dieser Richtung nicht weitertreiben. Denn dann - bekam er keine Chips
mehr!
Man hatte ihm das unmißverständlich klargemacht. In Frankreich hatten sie ihn erwischt, als er in einem kleinen
Gasthof übernachtete. Verfolger hatte er schon vorher registriert, glaubte aber, sie abgeschüttelt zu haben. Und
als er sich sicher fühlte, waren sie da.
Sie setzten ihm ihr Sensorium auf, das sich rein äußerlich nicht von den anderen unterschied, die es überall im
Handel zu kaufen gab. Wenn man etwas mehr als 6300 Dollar für einen kopfhörerähnlichen Haltebügel
abzweigen konnte.
Was hatten die Hersteller des Sensoriums aber wirklich vor?
Lag es an den Geräten selbst, daß Menschen süchtig gemacht werden konnten? Würde man irgendwann, wenn
alles nach den Sensorien gierte und sie durch Massenproduktion auch noch deutlich erschwinglicher wurden,
plötzlich Suchtgeräte auf den Markt werfen? Oder lag es nur an den Chips? Handelte es sich dabei um
Spezialanfertigungen?
Das herauszufinden, hätte Stranger die beiden Geräte, die er jetzt in seinem Apartment in einem der Stielbauten
Alamo Gordos hatte, zerlegen und vergleichen müssen. Genauer gesagt, er hätte das von einem befreundeten
Techniker machen lassen. Aber das konnte er nicht riskieren.
Er tendierte ohnehin dazu, daß es das Gerät war und nicht der Chip selbst - oder beides zusammen. Denn warum
sonst hätte man ihm das zweite Gerät lassen sollen, wenn's nur am Chip lag? Immerhin hatte er in seiner
Wohnung ja schon das selbst gekaufte Sensorium. In dem kleinen Landgasthof im Bourbonnais war das etwas
anderes gewesen, da stand kein Sensorium zur Verfügung...
Wie auch immer; er konnte und durfte sich nicht damit befassen, weil man ihm sonst keine neuen Chips mehr
liefern würde. Ohnehin war der halbseidene Typ, der immer wieder mal vor der Tür stand und neue
Speicherchips und neue Aufträge brachte, jetzt schon seit einer Woche nicht mehr aufgetaucht. Bert besaß aber
inzwischen nur noch einen einzigen »vollen«
Chip!
Das Problem war, daß die verdammten herrlichen Dinger nicht immer wieder abspielbar waren, sondern daß die
darauf gespeicherten Erlebnisse sich mit dem Abspielen selbsttätig löschten.
Er stellte fest, daß er in der Klemme saß.
Er brauchte dringend neue Chips.
Verdammt dringend.
Wenn S am Patterson rief, tat man gut daran, seinem Ruf hurtig zu folgen. Patterson war der oberste Chef der
Terra-Press und so etwas wie der »Herr über Leben und Tod«; Spötter nannten ihn hinter vorgehaltener Hand
»Gottes Aufsichtsratsvorsitzenden«, nur riskierten diese Spötter es nicht, ihre Bemerkungen jemals bis zu
Patterson vordringen zu lassen. Patterson hatte Bert Stranger in sein Büro bestellt. Jetzt haben sie mich am Ar...,
dachte Stranger. Sie haben herausgefunden, daß ich...
Welchen Grund sollte es sonst geben, daß der Alte seinen Starreporter ins Allerheiligste zitierte? Eine
Belobigung stand garantiert nicht an. Die hatte Bert in all den Jahren seiner Firmenzugehörigkeit nur zweimal
erlebt, und für alle anderen Dinge des Alltags war Maik Caroon zuständig. Strangers Ressortchef. Also konnte es
sich nur um Anschiß und Rausschmiß handeln. Trotzdem versuchte Stranger, nicht als das personifizierte
schlechte Gewissen zu erscheinen, als er Pattersons Büro betrat. Der Vorzimmerdrache war in der Tat
drachenhaft und bedachte Stranger mit einem Blick, der kein Mitleid, sondern sadistische Vorfreude auf den
Untergang eines anderen zum Ausdruck
brachte.
»Ich bin aber noch nicht tot. Gnädigste«, hauchte Stranger ihr im Vorbeigehen zu, »und bei nächster Gelegenheit
sollten Sie mir verraten, was ich in Ihren Nachruf schreiben soll...«
Damit hatte er bei ihr endgültig verspielt.
In Pattersons Büro ging er wieder in seiner typischen Rolle auf. »Die Gehaltserhöhung ist ja eine nette Geste,
Chef, aber mich deshalb von meiner Arbeit wegzuholen...«
Auf Pattersons Stirn entstand eine steile Falte.
»Setzen!« brüllte er übergangslos.
»Doch keine Gehaltserhöhung? Um so weniger verstehe ich diese Audienz...«
»Und das Maul halten!« brüllte Patterson weiter, nur hatte Stranger sich von Menschen, die fehlende Argumente
durch Lautstärke wettmachen wollten, noch nie beeindrucken lassen. »Chef, dann wird das aber ein sehr
einseitiges Gespräch, und mit meinen 29 bin ich auch noch nicht so alt, daß ich Sie bei normaler Lautstärke nicht
hören könnte. Außerdem würde ich dann eine Hörhilfe nutzen, Sie aber gern im Rollstuhl durchs Haus fahren...«
Das war wieder der typische Bert Stranger mit seiner großen Klappe, aber hinter der steckte auch journalistisches
Können.
Doch dieses Können zweifelte Sam Patterson jetzt an!
»Stranger, wenn ich gleich mit Ihnen fertig bin, brauchen Sie selbst keinen Rollstuhl mehr, weil Sie auf den
Brustwarzen nach Hause schleichen! Sie Total Versager! Was ist mit Ihnen los? Sie sollten Informationen über
Sensorium Inc. beschaffen, und alles, was Sie bisher erreicht haben, ist ein Datei mit dem Wert Null! Und Sie
sind auch eine Null, Mann! Weshalb Caroon so große Stücke auf Sie hält, ist mir ein Rätsel! Für Versager gibt es
bei der Terra-Press keinen Platz!«
»Ach, dann waren immer Sie der Verantwortliche, wenn man mich mal wieder glorreich fallenließ wie eine
heiße Kartoffel, wenn ich bei meinen Recherchen in Schwierigkeiten kam? Von Caroon kann ich mir das
nämlich nicht vorstellen, der ist eine ehrliche Haut.«
Patterson lief dunkelrot an.
»Vorsichtig«, warnte Stranger. »Nicht platzen, Chef. Wer soll hinterher den Dreck wegmachen? Ihr
Vorzimmerdrache? Dieses jugendlich-zarte, überaus freundliche Geschöpf?«
»Hören Sie auf, von sich abzulenken, Sie Trottel!« führ Patterson ihn an.
»Dann darf ich vielleicht erfahren, welche Trotteligkeit Sie mir vorzuwerfen wünschen?«
»Wünschen? Wünschen?« Patterson schäumte fast. »Die Pest wünsche ich Ihnen an den Hals, Stranger! Seit
zwei Monaten -zwei Monate! Können Sie so weit zählen? Eins, zwei? - arbeiten Sie daran, Informationen über
die Hintermänner und Geldgeber von Sensorium Inc. zu beschaffen, und seit zwei Monaten kommt nichts,
nichts, nichts von Ihnen! Nicht einmal ein lausiger Zwischenbericht! Stranger, damit treiben Sie Terra-Press in
den Ruin!«
»Wohin bitte?« Stranger begriff nicht, worauf Patterson jetzt hinaus wollte.
»Sie haben ganz richtig gehört«, knurrte der. »Ruin.«
»Was kann die Terra-Press ruinieren, wenn ich ausnahmsweise mal ein paar Tage länger für meine Recherchen
brauche? Es gibt da ein paar Probleme, die...«
»Und wie es die gibt«, zürnte Patterson. »Um mithalten zu können im Wettbewerb, müssen wir unsere
Sendungen so schnell wie möglich auf Sensorium-Technik umstellen.«
»Ich hörte davon«, sagte Stranger vorsichtig, weil er nicht sicher war, wieviel davon er offiziell wissen durfte.
Caroon jedenfalls hatte ihm bei der Auftragsvergabe nichts davon erzählt; Bert hatte erst später herausgefunden,
worum es der Terra-Press ging. »Sie wollen eine Beteiligung an Sensorium Inc. erwerben und...«
»Beteiligung!« Patterson sprach es so aus, als ekele er sich vor dem Wort. »Übernahme, Mann! Für uns geht es
um nichts anderes als um eine totale Übernahme!«
Das war Stranger neu.
»Vermutlich sind Ihnen dann auch zwei andere Dinge neu«, sagte Patterson ätzend. »Nämlich erstens, daß wir
dank Ihrem Versagen die Firma nicht aufkaufen können und somit horrende Lizenzgebühren zahlen müssen, um
die Technik verwenden zu dürfen. Und zweitens, daß wir sie einsetzen müssen, weil Intermedia mittlerweile auf
Sensorium-Technik umstellt und wir gezwungen sind, nachzuziehen, wenn wir am Markt präsent bleiben wollen.
Schaffen wir das nicht, sind wir weg vom Fenster. Schaffen wir es, zahlen wir uns dumm und dämlich. Was
übrigens auch unmittelbare Auswirkung auf die künftige Höhe der Reporterhonorare hat. Aber das betrifft Sie ja
nicht mehr, wenn ich Sie feuere.«
Stranger bemühte sich, ein Zusammenzucken zu vermeiden. Weniger aus Sorge um seinen Job; er war sicher,
daß ein Mann von seiner Qualität auch bei der Konkurrenz sehr schnell wieder Arbeit fand. Allein Intermedia
würde ihn mit Kußhand nehmen. Aber - was Patterson ihm da gerade eröffnet hatte, hatte er tatsächlich nicht
gewußt!
Kein Wunder, wenn ich nicht mehr wage, mich mit meinem Auftrag z.u befassen! dachte er.
»Wie soll diese Umstellung denn funktionieren?« fragte er so neutral wie möglich. »Die Geräte sind noch exorbitant teuer; das Heer der Arbeitslosen wird sie sich nicht leisten können. Auch viele Verdienende bringen das Geld dafür nicht auf. Können es sich Intermedia und Terra-Press leisten, für unbestimmte Zeit einen Großteil der Zuschauer von unseren Filmen, Reportagen und Nachrichtensendungen fernzuhalten?« »Die normale Holo-Schiene wird selbstverständlich aufrechterhalten«, stellte Patterson klar. »Das Sensorium wird ein Zusatzangebot, von dem im Lauf der Zeit immer mehr Menschen Gebrauch machen werden. So wie es bei technischen Neuerungen immer der Fall ist. In spätestens zehn Jahren wird es in jedem Haushalt wenigstens ein Sensorium gehen, und die alte Technologie hat ausgedient. Wenn wir als Medienkonzern überleben wollen, müssen wir von Anfang an dabeisein. Wir dürfen nicht die zweite Geige spielen, Stranger. Wenn wir Sensorium Inc. übernehmen, müssen wir keine Lizenzgebühr mehr zahlen, sondern kassieren selbst -speziell von Intermedia. Verstehen Sie endlich, wie wichtig der Auftrag ist, an dem Sie arbeiten?« Stranger nickte. Und er dachte an die andere Sensoriumstechnik. Nicht die, welche nur Bild und Ton aufzeichnete oder sendete, sondern die mit der »Vollversion«, die süchtig machte. Von einem Gerät zum anderen war es nur ein kleiner Schritt. Aber nur er wußte von diesen speziellen Chips. Patterson und die anderen konnten nicht einmal ahnen, was alles möglich war und wie gefährlich diese Technologie werden konnte. Aber er konnte es Patterson nicht sagen. Er konnte sich nicht selbst entlarven. Nicht, ehe er es aus eigener Kraft fertigbrachte, die Sucht zu besiegen. Aber danach sah es nicht aus. Im Gegenteil. Allein das Gespräch über das Sensorium weckte in ihm schon wieder das Verlangen, das Gerät aufzusetzen und den nächsten Chip beziehungsweise dessen Speicherinhalt zu genießen. Den letzten Chip... »Ich denke. Sie haben mir jetzt lange genug verdeutlicht, daß es Ihnen nur um Profit und Macht geht, Mister Patterson«, sagte er schroff und erhob sich. »Dabei begreifen Sie Ihrerseits überhaupt nicht, vor welchen Problemen ich bei eben diesem Auftrag stehe. Sie...« »Probleme? Wie sehen die aus?« unterbrach ihn der Chef. »Sie«, sagte Stranger, »haben mir von Anfang an verschwiegen, worum es Ihnen wirklich geht. Vermutlich wußte nicht einmal Ca-roon alles. Warum sollte ich jetzt meine Karten auf den Tisch legen? Sie erhalten das Resultat meiner Arbeit, wenn ich damit fertig bin. Und denken Sie nicht einmal daran, mir den Auftrag zu entziehen. Ich bin der einzige, der ihn ausführen kann. Halten Sie mich also nicht länger mit Ihren Tiraden von meiner Arbeit ab.« Er wandte sich um und verließ das Büro ohne ein weiteres Wort. Er verschaffte »Gottes Aufsichtsratsvorsitzendem« nicht einmal die Genugtuung, die Tür zuzuknallen, aber dem Vorzimmerdrachen raunte er im Vorbeigehen noch zu: »Vielleicht sollten Sie sich schon mal nach einem Job bei
der Konkurrenz umsehen. Wenn das eintritt, was der oberste der Götter gerade prophezeite, ist die Terra-Press
am Ende...«
Als er sich in seinem eigenen Minibüro, das er mit keinem Kollegen teilen mußte - ein hart erkämpftes Privileg -
in seinen Sessel fallenließ, fragte er sich ernsthaft, ob er den Verstand verloren hatte.
Mit Personen so umzugehen, die Gegenstand seiner Reportagen waren, war für ihn normal. Aber mit dem Chef,
dem Oberboß...?
Der feuert mich! ahnte Stranger, und vorsorglich rief er die Viphonummer des Intermedia-Personalbüros aus
seiner Datenbank ab. Aber dann verzichtete er doch auf einen Anruf bei der Konkurrenz.
Wenn Patterson ihn wirklich vor die Tür setzen wollte, hätte er das gleich getan.
Es gab also noch einen Hoffnungsschimmer.
Hoffnung - worauf?
Als er am späten Nachmittag nach Hause kam, lag ein unscheinbarer Brief im Posteingangskorb seiner
Wohnung. Er enthielt keinen Absender und keine Anschrift. Als Stranger ihn öffnete, fielen ihm zehn
Speicherchips für das Sensorium entgegen.
Er stieß einen leisen Pfiff aus. Man geruhte sich jetzt also auf diese Weise mit ihm in Verbindung zu setzen!
Hatte der schräge Vogel, der bislang den Kurier gespielt hatte, plötzlich Probleme, oder steckte noch etwas
anderes dahinter?
Wie und was auch immer: Es gab endlich wieder Chipnachschub!
Stranger fieberte danach, sich den Sensorium-Genüssen hinzugeben. Alles in ihm schrie danach, einen der Chips
in das Gerät zu stecken, es aufzusetzen und einzuschalten.
Da war aber noch der andere, der letzte Chip der vorigen Lieferung.
Dennoch - die Neugier siegte. Es mußte einer der neuen sein. Es gab keinen neuen Auftrag, wie ihn der Kurier
sonst zu überbringen pflegte, aber einer der neuen Chips war deutlich mit einer »l« gekennzeichnet.
»Schauen wir uns den mal an«, brummte der Reporter.
Er schob ihn in den Eingabeschlitz des Sensoriums, setzte es auf und schaltete es ein, nachdem er es sich in
seinem Sessel so gemütlich wie möglich gemacht hatte. Er fieberte der erneuten »Begegnung« mit seiner
virtuellen Traumfrau entgegen.
Aber auf diesem Chip zeigte sie sich ihm nicht!
Statt dessen sah er sich in einer ihm fremden Umgebung, kalt und nüchtern. Es gab keinen Hinweis darauf, wo
sich dieser Raum befand. Er sah... ... einen der beiden Männer, die ihn in jenem Landgasthaus überfallen und
paralysiert hatten, um ihren Gefangenen anschließend mit ihrem speziellen Sensorium süchtig zu machen. Der
verdammte Halunke kam grinsend näher. Stranger wußte: wenn er einen Blaster besäße, würde er den Lumpen
ohne Zögern erschießen.
Er haßte ihn, wie er sich selbst haßte für seine Abhängigkeit, gegen die er nicht ankam. Er fragte sich, ob der Chip auf eine solche Aktion eingehen konnte. Oder ob er, Bert Stranger, gezwungen war, auszuführen, was der Chipinhalt von ihm forderte. Wenn Bert mit seiner Traumfrau zusammen war, hatte er zumindest hin und wieder das Gefühl, daß er das Geschehen teilweise lenken konnte. Allerdings geschah in diesen Filmen ohnehin nichts, was ihn nicht sexuell erregte und deshalb vielleicht nicht so ganz seine Zustimmung erhalten hätte. Somit war jenes Gefühl sicher kaum mehr als eine weitere Illusion. Vermutlich würde er also diesen virtuellen Verbrecher nicht aus der »Filmhandlung« entfernen können. Der Mann blieb kurz vor Bert Stranger stehen. Dem Reporter zuckte es in den Fingern, sich auf ihn zu werfen und ihn zu verprügeln. Aber es war unmöglich. Das Programm ließ es nicht zu. Es erlaubte ihm keine eigenen Aktivitäten. Es zwang ihn in eine Rolle, mit der er sich abzufinden hatte. »Mister Stranger«, sprach der Verbrecher ihn an und fuhr in süffisantem Ton fort: »Sie haben bisher zu unserer Zufriedenheit gearbeitet - teilweise wenigstens. Wir würden es allerdings begrüßen, wenn Sie mit Ihrer Arbeit in Zukunft die Fortschrittspartei unterstützen. Haben wir uns verstanden?« »Was soll das heißen?« fragte Stranger unwillkürlich. Zu seiner Überraschung ging der Lump tatsächlich auf die Frage ein. Wer auch immer dieses Szenario entworfen hatte, mußte Stranger verdammt gut kennen und seine Frage vorhergesehen haben. »Nicht mehr und nicht weniger als das, was ich sagte, Stranger«, erwiderte die Aufzeichnung. »Sie sind Reporter. Sie sind der Öffentlichkeit als kritischer Enthüllungsjournalist bekannt. Werfen Sie dieses Gewicht in die Waagschale und unterstützen Sie die Fortschrittspartei. Wir verlangen nicht mehr und nicht weniger von Ihnen.« Der Gauner machte einen Schritt zur Seite und wies auf die Tür, die sich hinter ihm befand. »Und nun wünsche ich Ihnen viel Vergnügen.« Er verschwand einfach aus Strangers Blickfeld, ehe der noch auf die unverschämte Forderung eingehen konnte -
was innerhalb des
Sensorium-Szenarios ohnehin mißlungen wäre. Bert konnte zwar denken, aber nicht aussprechen, was ihn
bewegte, solange ihm das Programm nicht den entsprechenden Freiraum gewährte.
Sein Freiraum im Kontakt mit seiner Traumfrau beschränkte sich indessen meist auf begeistertes Stöhnen.
Jetzt setzte er sich in Bewegung, obwohl er das gar nicht wollte. Aber die virtuelle Person, zu der er im
Sensorium mutierte, verließ den Raum durch die von dem Lumpen freigegebene Tür und stieg eine Treppe
hinab.
Was tue ich hier eigentlich? fragte sich der Reporter, der gehofft hatte, auf diesem Weg wieder in das
Schlafzimmer seiner Traumfrau zu gelangen, die ihn bereits sehnlichst erwartete.
Die Treppe war schmal und endete vor einer großen, düsteren Holztür. Stranger drückte die Klinke nieder und
stieß die Tür auf. Sie knarrte erbärmlich in den Angeln.
Nicht weniger schaurig war der Anblick, der ihn erwartete.
Es handelte sich um einen Folterkeller!
Fackeln brannten in Halterungen an den Wänden, verbreiteten flackerndes, unstetes Licht und rußten. In einem
offenen Feuer lagen Brandeisen und Zangen; für den Folterknecht lagen Handschuhe bereit, die ihn selbst vor
Verbrennungen schützen sollten, wenn er die Instrumente in die Hände nahm. Es gab eine Streckbank, ein
Nagelbrett, einen Tisch, der mit Blutrinnen versehen war und neben dem auf einem Stuhl Skalpelle lagen; es gab
jede Menge weiterer Folterinstrumente. Und es gab die Wände des Folterkellers.
Wände, an denen schöne junge Frauen nackt angekettet waren und Bert verängstigt anstarrten. Denn er war der
Foltermeister...
Als Stranger »erwachte«, stieß er einen Schrei aus. Die Aufzeichnung war beendet, ihm war übel, und er war
durchgeschwitzt und völlig fertig.
Was er diesmal erlebt hatte, war ganz sicher nicht seine Welt.
Mit Sado-Maso hatte er nichts am Hut. Mochte es Menschen geben, die darauf abfuhren - er gehörte nicht dazu.
Er war erschüttert und aufgewühlt. Als virtuelle Person war er gezwungen gewesen, die Exzesse zu durchleben.
Aber im Gegensatz zu den Erlebnissen mit seiner »Traumfrau« widerten sie ihn an - und faszinierten ihn auf
gewisse Art dennoch, wie er sich entsetzt eingestehen mußte.
Trotzdem - das war etwas, was er nicht noch einmal erleben wollte.
(Oder vielleicht doch?)
Nein!
Da war die Sucht, auch die anderen Chips durchlaufen zu lassen. Aber da war die Angst, daß die Show mehr und
mehr in eine Richtung ging, die ihm nicht gefiel.
(Oder vielleicht doch?)
Nein! Er wußte jetzt, daß er etwas unternehmen mußte. Wenn nicht, war er rettungslos verloren. Die holographische Bildkugel wechselte ihre Einstellung just in dem Moment, da Juanitas Blick kurz zu ihr schweifte, sich löste von Gisol, der seine Starre aufgegeben hatte. Die Erleichterung darüber hielt nur kurz in Juanita an. Weil sie etwas sah, was sie zutiefst beunruhigte. »Da!« stieß sie kurzatmig hervor, hob den Arm und streckte ihn aus. »Seht nur - da!« Gisol unterbrach seine Schilderung, was es mit dem spangenartigen Ding auf sich hatte, das er sich kurzzeitig vor die Stirn geklemmt hatte. »... unausgereift...«, hatte Juanita zuvor Wortfetzen aufgeschnappt. »... Verbindung zur Gedankensteuerung an Bord meiner Schiffe...« Nun endeten seine Erklärungen jäh. Sein Blick folgte Juanitas ausgestrecktem Arm, und auch andere waren inzwischen auf die Veränderung aufmerksam geworden, die sich außerhalb des Schiffes vollzogen hatte und weiterhin vollzog. Die Schonfrist ist vorbei, dachte Juanita, jetzt geht es uns endgültig an den Kragen. Und noch ehe sie den Gedanken vollendet hatte, begannen die Giganten rings um die POINT OF auch schon, den Wahnsinn auf die Spitze zu treiben.
Ren Dhark kämpfte um die Souveränität, die ihn in so vielen scheinbar ausweglosen Situationen der Vergangenheit ausgezeichnet hatte. Gerade noch hatte Gisol erklärt, wie er Hilfe hatte herbeiholen wollen - und dabei gescheitert war - als die Ereignisse, in deren Brennpunkt sich die POINT OF befand, auch schon in die nächste Phase rückten. Wie alle anderen innerhalb der Zentrale wurde Dhark zunächst von Juanitas Schrei aufgeschreckt - dann sah er es mit eigenen Augen. Bei den goldenen Giganten, die von den Bildübertragungssystemen der POINT OF erfaßt wurden, wurde erneut Bewegung sichtbar - ausgenommen der eine, der von seinem Sockel herabgestiegen war und den Ringraumer nach wie vor regelrecht am Boden festpinnte.
Alle übrigen hoben ihre Arme senkrecht zum Himmel, spreizten schon in der Aufwärtsbewegung ihre gewaltigen Finger und steckten sie in den grauen Nebel, der den Planeten knapp über den Köpfen der Riesen, also in rund acht Kilometer Höhe, umschloß. »Sieht aus, als wollten sie sich etwas greifen, was für uns unsichtbar ist«, mutmaßte Dan Riker, der vom Checkmaster-Terminal zurückkehrte, wo ohnehin nichts auszurichten war. Dhark bezweifelte diese These. Aber er schwieg, wartete ab, was geschehen würde. Denn daß etwas im Anzug war, stand für ihn außer Frage. Die Giganten taten nichts ohne Kalkül. »Tino?«, rief er in Richtung des Ortungsspezialisten, der seinen Platz am Pult einnahm, obwohl er buchstäblich lahmgelegt worden war. »Immer noch keine Möglichkeit, den Schleier zu durchdringen?« Grappa verneinte. Dafür zoomte die Bildkugel, ebenso wie jedes andere Instrument an Bord mit dem Checkmaster vernetzt, eine einzelne Statue heran, deren erhobene Arme in der Nebeldecke verschwunden waren. Und dort, im Nebel, begann es zu brodeln, zuckten fahlrote Blitze auf wie bei einem schweren Unwetter. Das damit einhergehende Donnergrollen drang selbst bis in die nahezu perfekt isolierte Ringzelle der POINT OF vor. »Sie feuern«, brachte Dhark auf den Punkt, was allmählich jedem dämmerte. »Womöglich greifen sie die im Orbit geblichenen Schiffe an...« Gisol zuckte unmerklich zusammen. Der Blick, den er mit Dhark tauschte, verriet, daß er sich Vorwürfe machte. Offenbar glaubte er, diesen gebündelten Angriff, so es einer war, durch sein Manöver ausgelöst zu haben. Dhark atmete einmal tief ein und aus, dann straffte er sich und winkte Gisol, ihm zu folgen. Riker schloß sich ihnen an, und gemeinsam gingen sie zum Sitz des Kommandanten, wo Dhark dem Worgun bedeutete, Platz zu nehmen. »Setz dich. Wir brauchen Verbindung zur Flotte. Dringend. Du weißt, daß wir dazu nicht in der Lage sind. Die Funk-Z ist so ohnmächtig wie jede andere Station an Bord. Die einzige Hoffnung bist jetzt du.« Gisol nahm die angebotene Möglichkeit, sich zu setzen, nicht wahr. Umgeben von der Stimmenkulisse der Zentrale und dem sich dumpf durch die Schiffshülle fressenden Donnergrollen, wirkte er ratlos. »Ich fürchte, ich verstehe...« »Das Ding, das du gerade benutzt hast«, fiel Dhark ihm ins Wort. »Wenn du damit die Isolationsschicht, die um den Planeten liegt, durchdringen konntest und Kontakt zur Gedankensteuerung beliebiger Schiffe herstellen kannst, müßte es doch auch möglich sein, über diese Krücke mit unseren Schiffen im Orbit zu kommunizieren!« Der Ausdruck, der sich auf Gisols Gesicht bildete, schien die Frage widerzuspiegeln, warum er darauf nicht selbst gekommen war. Ein Ruck ging durch seinen Körper, wie zuvor durch den von Dhark. Er nickte. »Das könnte funktionieren...« Er nahm den Bügel, den er bereits zurück in die Tasche geschoben hatte, wieder heraus und setzte ihn auf. Dhark warf derweil einen skeptischen Blick auf die Bildkugel, die jetzt wieder einen größeren Ausschnitt der Umgebung einschließlich des sich über den Giganten spannenden Himmels zeigte. Die Willkür des dabei Regie führenden Checkmasters schien begrenzt. Der Verdacht, daß er sich bei jeder angebotenen Übertragungssequenz etwas dachte, lag nahe. Jedenfalls zeigte der aktuelle Ausschnitt einen Himmel von gespenstischer Farbe, der immer wieder von verästelten Blitzen durchwoben wurde. Wenn es sich tatsächlich um einen Angriff gegen die Schiffe im Orbit handelte, wurde er mit einer Wucht ausgeführt, die womöglich den Planeten selbst gefährdete. »Ich kann nicht in direkten Kontakt mit deinen Schiffen treten oder gar deren Gedankensteuerung ansprechen«, sagte Gisol in diesem Moment. »Es war sehr aufwendig, den Prototyp mit meinen Einheiten zu synchronisieren. Dazu haben wir weder die Zeit noch die Ruhe. Ich werde versuchen, die EPOY als Relaisstation zu benutzen, um damit in Funkkontakt zu deinen Einheiten zu treten...« »Was immer du sagst - nur tu es!«
3. Zur gleichen Zeit an Bord der CALAIS.
John Martell führte seit dem Ausscheren der POINT OF das Kommando über den terranischen Verband.
Er war ein Urgestein der terranischen Streitkräfte.
Zurückgezogen im Geheimstützpunkt T-XXX hatte er selbst die lange Giant-Invasionszeit auf Terra überstanden
- und danach tatkräftig beim Wiederaufbau der Erde mitgewirkt. Die Übertragung eines eigenen Kommandos über einen der Expeditionskreuzer und nun sogar über den gesamten Verband betrachtete Martell als späten Lohn seiner Treue und seines unermüdlichen Engagements - als Freibrief betrachtete er es nicht. Er fühlte sich als Stellvertreter bis zu Ren Dharks Rückkehr. Mit dem jähen Abbruch jeglicher Verbindung zur POINT OF wuchs aber auch in ihm die Besorgnis, daß der Schiffsbesatzung etwas zugestoßen sein könnte.
Etwas, das den Sinn der gesamten Expedition in Frage gestellt hätte.
Ohne Dhark und Gisol wäre die Weiterreise nach Orn sinnlos geworden.
Sowohl Martell als auch den übrigen Kommandanten der einzelnen Schiffe fehlte das nötige Hintergmndwissen,
um in Om bestehen zu können.
Doch daran dachte Martell momentan nicht.
Seine Aufmerksamkeit wurde von einem Geschehen beansprucht, für das er keine Erklärung hatte. Sein Beginn
lag wenige Minuten zurück. Zunächst hatte sich einer von Gisols Räumern übergangslos aus der Umlaufbahn
Richtung Oberfläche abgesetzt. ..
... nur um kurz darauf in relativer Planetennähe zu rematerialisieren und auf seine ursprüngliche Position
zurückzukehren. Was auf der Oberfläche, unter der »Dunstschicht« passiert war, konnten
die Menschen im Orbit nur erahnen - die Transition des Schiffes deutete allerdings auf eine überstürzte Flucht
hin. Anfragen, die Martell sofort in Richtung des entsprechenden Schiffsrechners gestartet hatte, waren
unbeantwortet geblieben. Offenbar kommunizierten Gisols Schiffe nur mit Gisol - der ebenso verschwunden war
wie Ren Dhark. Es war nicht einmal mehr sicher, ob die Vermißten noch lebten...
Und jetzt... jetzt verwandelte sich der verhangene Planet unter den neunzehn Schiffen in einen Feuerball!
Wie das Aderwerk eines enthäuteten Organismus schimmerten Blitze durch die Schicht, die sich um die
eigentliche Planetenkugel ballte. Die vormaligen Schleier hatten sich zusammengezogen, verändert und zu einer
zumindest dem Anschein nach greifbaren Masse verdichtet. In dieser Schale aus Feuer tobten Energien, die von
keinem Instrument an Bord der S-Kreuzer identifiziert werden konnten!
Martell brauchte fast sein gesamtes Repertoire an Flüchen auf, ohne daß auch nur ein einziger über seine Lippen
kam. Er beherrschte sich eisern, wußte um die Vorbildfunktion, die er zu erfüllen hatte.
An Argson, seinen Ersten Offizier, gewandt, sagte er: »Befehl an unsere Schiffe - wir verdreifachen den
Abstand, sofort.«
Argson bestätigte, fügte dann die Frage an: »Was ist mit den Schiffen des Worgun? Sie reagieren nicht auf
unsere Befehle.«
»Das liegt in Gisols Verantwortung«, erwiderte Martell angespannt.
Neun von neunzehn Schiffen lösten sich von ihren Positionen und brachten die befohlene Distanz zwischen sich
und die einsame Welt im Leerraum.
Noch immer gab es keine Verbindung zur POINT OF.
»Entweder hat der Commander diesen Prozeß ausgelöst«, sagte Martell, »oder das Schiff aus Gisols Verband,
dessen Alleingang wir beobachten konnten. Mir wäre es lieber, wenn die POINT OF dahintersteckte.«
»Erklären Sie mir, warum, Sir?«, fragte Argson.
»Weil es ein indirektes Lebenszeichen der POINT OF wäre.«
Argson wiegte skeptisch den Kopf, während pausenlose Anfragen der anderen Schiffe die Kulisse prägten. »Es
könnte«, sagte er, »auch ihr letztes Aufbäumen gegen eine Übermacht gewesen sein.«
Martell nickte. Diese Möglichkeit war ihm nicht entgangen. Aber er wehrte sich dagegen, sie in seiner Liste der
Wahrscheinlichkeiten ganz nach oben zu setzen.
Eine Legende stirbt nicht so banal, dachte er. Es wäre der Treppenwitz. der Geschichte.
Gleichzeitig wußte er so gut wie jeder andere Expeditionsteilnehmer, daß Ren Dhark weder ein Übermensch
noch unsterblich war.
Die Atmosphäre des Planeten wirkte zwischenzeitlich wie die Oberfläche einer Sonne. Als würden Millionen
Grad heiße Gase darin brodeln und nukleare Prozesse ablaufen.
»Ist es möglich, daß sich der Planet selbst vernichtet hat?«, wandte er sich erneut an Argson. »Vielleicht hat
unser >Anklop-fen< einen Selbstzerstörungsmechanismus in Gang gesetzt, der verhindern soll, daß die Welt in
Feindeshand fällt...«
Argson zuckte die Achseln. »Unwahrscheinlich. Auch wenn wir die sich entfaltenden Energien nicht zuordnen
können, sieht das Ganze weniger nach Vernichtung aus als nach... Schutz.«
»Schutz?«
Argson hielt Martell ein tragbares Gerät vor die Nase, über das er in Kontakt zum Bordrechner stand.
»Die Auswertung der wenigen klar erkennbaren Fakten ergibt eine fast achtzigprozentige Wahrscheinlichkeit,
daß der Planet sich lediglich in eine uns unbekannte Form von Schild gehüllt hat - die extremste und
gefährlichste Art von Schutzschirm allerdings, der wir je begegnet sind.«
»Das soll ein Schild sein?« Martell schnaubte verächtlich.
Doch je länger er sich mit den vorhandenen Werten und Argsons
Aussage befaßte, desto mehr mußte er einräumen, daß ihr eine gewisse Logik nicht abzusprechen war.
»Aber warum hat man... wer immer >man< auch sein mag... diesen Schild nicht schon aktiviert, bevor die
POINT OF hinabgeflogen ist? Wenn man wirklich darauf aus ist, niemanden an sich heranzulassen...«
Er verstummte. Die Erklärung, die es dafür gab, wurde ihm selbst noch während des Sprechens bewußt.
»Ich hoffe«, meinte er nach einer kurzen Pause, in der ihn Argson vielsagend musterte, »ich irre mich.«
»Das hoffe ich auch«, erwiderte sein Erster Offizier. »Denn wenn nicht, ist die POINT OF mit Mann und Maus
in eine eiskalt gestellte Falle getappt. Und der jetzt aktivierte Schirm dient nicht nur dem Zweck, es uns
unmöglich zu machen nachzufolgen, sondern er soll in erster Linie verhindern, daß die POINT OF je wieder von
dieser Welt abhebt...«
Martell wollte auf Argsons These eingehen. Doch bevor er dazu kam, meldete die Funk-Z: »Achtung! Uns
erreicht ein Funkspruch!«
Martell verarbeitete seine Verblüffung sekundenschnell. »Ausgangspunkt? Der Planet?«
Benson, Chef der Funk-Z, verneinte. »Es ist die EPOY.«
Vielleicht ist Gisol via Transmitter an Bord zurückgekehrt, dachte Martell. Er hatte selbst schon mit dem
Gedanken gespielt, einen Arbeitsroboter durch den Ring gehen zu lassen - mit anvisiertem Ziel POINT OF.
Das Risiko, unter den gegebenen Umständen einen Menschen durch den Transmitter zu schicken, war
unkalkulierbar hoch. Falls die POINT OF nicht mehr existierte, die Gegenstation also zerstört war, wären die
Atome der Person für alle Zeiten im Hyperraum verstreut worden. Oder falls die »Schale« um den Planeten
Transmittersendungen ebenso unterband wie Funksprüche und Orterstrahlen - was nur logisch gewesen wäre.
Aber es war nicht auszuschließen, daß Gisol dieses Risiko ein-gegangen war - beziehungsweise mit seinem
immensen technischen Wissen umschifft hatte.
»Spruch auf mein Display!« ordnete Martell an.
»Enthält er eine Signatur?«
Benson bestätigte. »Gisol.«
»Also doch...«, murmelte Martell.
Im nächsten Moment lief der Spruch bei ihm ein.
Die künstlich modulierte Stimme sagte: »Hier spricht Gisol. Dies ist die einzige Möglichkeit der
Kontaktaufnahme, die geblieben ist. Ich kommuniziere über die Gedankensteuerung meines Schiffes mit euch,
befinde mich aber selbst noch immer auf dem Planeten an Bord der POINT OF. Bestätigt, daß ihr meinen Ruf
empfangt.« .
»Bestätigung ist raus«, meldete Benson unaufgefordert. »Der Spruch wird zeitgleich auf allen bemannten
Expeditionsschiffen empfangen.«
Es folgten Sekunde der Stille im Funkäther. Dann meldete sich die ungewohnte Maschinenstimme abermals:
»Ein kleiner Lichtblick«, sagte Gisol. »Wir fürchteten schon, sämtliche Schiffe seien vernichtet. Wie ist die Lage
bei euch?«
Martell ergriff das Wort: »Geben Sie mir Ren Dhark. Ich will mit ihm persönlich sprechen.«
Kurze Pause, dann: »Das ist leider nicht realisierbar. Das Gerät, über das ich mit der Steuerung der EPOY
kommuniziere, arbeitet zum einen auf Gedankenbasis und ist zum anderen Checkmaster-unabhängig. Er hat
keinen Einfluß darauf und vermag es dementsprechend auch nicht zu blockieren. Andererseits ist es individuell
auf mein Gehirnwellenmuster abgestimmt und nicht auf andere Personen übertragbar.«
Martell sah die Skepsis in Argsons Gesicht. Auch er selbst zweifelte am Wahrheitsgehalt von Gisols
Behauptung, war aber nicht in der Lage, sie argumentativ zu widerlegen.
»Spricht er über Sie?«, fragte er.
»Ich spreche für mich selbst. Ich bin ein Worgun.«
»Aber nicht der Expeditionsleiter«, erwiderte Martell mit aller Schärfe. »Ich möchte...«
»Du beleidigst mich.«
Du beleidigst mich ebenfalls, dachte Martell erbost. Zu seinen Charaktereigenschaften zählte ein gesundes
Mißtrauen, ohne das er die Giant-Ära nicht überlebt hätte.
Für ihn war dieses Mißtrauen gegenüber dem Angehörigen einer weitgehend unbekannten Spezies normal und
legitim. Und er hatte nicht vor, es ausgerechnet jetzt abzulegen.
»So kommen wir nicht weiter«, sagte er. »Wie ist die Lage an Bord dort unten? Ist die POINT OF gelandet?
Was wissen Sie über das planetenweite Phänomen, das vor wenigen Minuten eingesetzt hat? Hier gibt es
Spekulationen, bei der >Feuerschale< handele es sich um einen unbekannten Typus von Energieschild... was
können Sie uns dazu sagen?«
»Nichts«, gab Gisol unumwunden zu. »Wir sind nicht in der Lage, entsprechende Messungen anzustellen. Der
Checkmaster hat sämtliche relevanten Schiffsfunktionen blockiert. Nur die reinen Lebenserhaltungssysteme
arbeiten unverändert störungsfrei.«
Es folgte eine Schilderung des Geschehens, in dessen Verlauf die POINT OF vom Checkmaster zur Landung
genötigt worden war und seither von einem Goldenen noch zusätzlich festgehalten wurde.
Als die Sprache auf die Goldenen kam, zuckte Martell wie elektrisiert zusammen. Auch Argson riß die Augen
auf. Er machte eine Geste, die Martell nicht verstand und auch nicht weiter beachtete. Statt dessen fragte er:
»Acht Kilometer hoch? Uns sie steigen bei Bedarf sogar von ihren Sockeln? Sind Sie sicher?«
Offenbar befand es der Worgun nicht für nötig, diese Frage aufzugreifen.
»Wenn ich den Ortungssystemen meines Schiffes trauen kann«, sagte er, »gibt es keine Verluste auf eurer Seite.
Ihr habt die Distanz zum Planeten erhöht, das war klug. Ich werde meine Einheiten veranlassen, nachzuziehen.
Ansonsten solltet ihr Ruhe bewahren. Zur Zeit besteht keine Möglichkeit, uns zu Hilfe zu eilen. Der Test, den
ich startete, hat die Risiken eindeutig aufgezeigt. Inzwischen dürfte es noch unmöglicher geworden sein, sich
der Oberfläche auch nur zu nähern. Ich befürworte die These von einem sehr speziellen Energieschild. Die Lage
hat sich jedoch stabilisiert. Weder auf eurer noch auf unserer Seite besteht momentan akute Gefahr für Leib und
Leben. Solange dieser Status Quo anhält, halte ich es für angeraten, den Aggressor nicht zu provozieren.«
»Worgun«, sagte Martell. »Es sind aller Wahrscheinlichkeit nach Worgun, die für all dies verantwortlich sind.«
»Das ist unbewiesen.«
»Die Goldenen«, erinnerte Martell.
»Es scheint einmal eine Stützpunktwelt meines Volkes gewesen zu sein«, bestätigte Gisol. »Aber das muß viele
Jahrhunderte her sein. Niemand weiß, was in der Zwischenzeit geschah. Ob wir es lediglich mit einer
Sicherheitsschaltung und einem entsprechenden Computerprogramm zu tun haben, ob es am Ende sogar noch
lebende Worgun auf dieser Welt gibt - oder ob eine andere Macht die vorhandenen Anlagen übernommen hat.«
Martell mußte sich eingestehen, daß dies nicht einer gewissen Logik entbehrte.
»Wenn du dich in die Hände eines Psychiaters begibst, solltest du dich auf deinen Geisteszustand untersuchen
lassen«, zitierte der Reporter Robert Anson Heiniein, einen der größten SF-Autoren des vergangenen
Jahrhunderts.
»Was beliebten Sie eben vor sich hinzunuscheln?« fragte Al-fonso Crasso, der gleich drei Doktortitel mit sich
herumschleppte und mit seinem Buch »Die Seele als solche und der ganze Rest« ein kleines Vermögen gemacht
hatte. Ein ganz kleines nur - es reichte eben für eine Dreißigzimmervilla mit eigenem Sportplatz in einer der
teuersten Wohngegenden von Los Angeles und eine kleine, superschnelle und mit allem erdenklichen Luxus
ausgestattete Raumyacht, mit der er häufig seinem Zweithobby nachging -Mini-Asteroiden mittels des Triple-
Hy-Lasers abschießen! Sein erstes Hobby dagegen befaßte sich mit einer ganz anderen Art von Abschüssen; man
munkelte, in seinen 43 Lebensjahren habe der kahlköpfige, untersetzte Crasso schon doppelt so vielen jungen
Damen höchstpersönlich zu größtem Liebesglück verholten. Und es gab keinen Tag, an dem man ihn nicht in
Begleitung mindestens einer jungen, langbeinigen Schönheit sah.
Was hat der Knabe, was ich nicht habe? dachte Bert Stranger kopfschüttelnd. Die Antwort lag auf der Hand:
Eine Dreißigzimmervilla, eine Raumyacht und ein kleines Vermögen. Stranger konnte nur mit einem bisweilen
abenteuerlichen und nicht besonders gut bezahlten Job dagegenhalten.
Vielleicht hätte ich auch Psychiater werden sollen, überlegte er. Wieso wurden immer nur die anderen mit allem,
was sie anfaßten, steinreich? Er selbst wurde nur weltberühmt.
Allerdings war er nicht sicher, ob er wirklich mit Dr. Dr. Dr. Al-fonso Crasso hätte tauschen mögen. Sich
dreimal in der Woche den seelischen Müll anderer Leute anhören und ihnen Ratschläge geben müssen? Drehte
man da nicht irgendwann selbst durch?
Stranger verstand nicht sehr viel von der Seelenklempnerei. Er wollte es auch gar nicht. Er wußte nur, daß die
Psychologiestudenten die höchste Suizidrate aller Fakultäten aufwiesen; irgendwann begannen sie im Laufe
ihres Studiums, sich selbst zu analysieren, und nicht jeder kam mit den Abgründen zurecht, die er in sich zu
entdecken glaubte.
Crasso hatte es geschafft. Und nun kam Stranger, um ihm seinen
Seelenmüll auch auf die Couch zu kippen.
»Da lege ich mich nicht hin!« protestierte er gleich zu Anfang. »Ich kann mich in einem bequemen Sessel viel
besser entspannen als auf dieser Totenbahre.« Außerdem erinnerte ihn die liegende Position zu sehr an den
virtuellen Sex mit seiner Sensorium-Traumfrau.
»Wie Sie wollen«, sagte Crasso schulterzuckend. »Aber beschweren Sie sich hinterher nicht. Die Erfahrung
zeigt, daß Liegen wesentlich besser entspannt.«
»Sie müssen's ja wissen...«
Und dann begann er von seinem Problem zu erzählen, mit einer schonungslosen Offenheit, die ihn selbst
überraschte. Es war, als habe er eine Schleuse geöffnet, und alles strömte aus ihm heraus. Die Selbstanklagen,
die Ängste, die Sucht, sein Kampf dagegen, seine Niederlagen.
»Daß Sie zu mir gefunden haben, ist zumindest schon mal ein Teilsieg«, behauptete Crasso. »Sie müssen sich
deshalb aber nicht unbedingt auf Ihren Geisteszustand untersuchen lassen - ich kenne diesen Spruch von
Heiniein auch, mein Lieber. Sie sind hergekommen, weil Sie Hilfe benötigen.«
»Und ich hoffe, daß ich nicht umsonst gekommen bin.«
»Umsonst sicher nicht; meine Rechnungen sind für ihre Höhe berüchtigt«, kalauerte Crasso. »Nein, keine Sorge,
notfalls lasse ich Sie meine Yacht blankpolieren...«
»Verzeihen Sie, wenn ich darüber nicht unbedingt lachen kann.«
Der Psychiater, einer der besten, wie man Stranger glaubhaft versichert hatte, winkte ab. Er ließ sich selbst auf
seine Couch fallen und grübelte. Nach einer Weile richtete er sich wieder auf.
»Ein seltsamer Fall«, sagte er. »Fast wie bei Versuchstieren, die man elektrischen Gehimstimulationen unterzieht
und die dann bestimmte Dinge tun. Aber wenn die Stimulans fehlt, verhalten sie sich wieder völlig normal. Sie
werden davon nicht süchtig. Bei Ihnen ist es wohl radikal anders.«
»Ich bin ja auch kein Versuchstier.«
»Was Sie sind, spielt dabei keine Rolle, Sir«, sagte Crasso. »Kann eine Droge im Spiel sein?«
Der Reporter schüttelte den Kopf.
»Schade. Dann scheidet diese Möglichkeit also aus. Es ist Ihnen sicher bekannt, daß es Drogen gibt, die schon
beim ersten Kontakt süchtig machen. Das klassische Crack, oder die neuen Gummidrogen wie Happytime und
Sunshine, von denen vermutet wird, daß sie in robonischen Giftküchen entstanden sind. Aber von einer
dermaßen starken, rein psychisch erzeugten Abhängigkeit wie bei Ihnen habe ich noch nie gehört. Da muß noch
etwas anderes im Spiel sein.«
Nach einer kurzen Pause fuhr er fort: »Was halten Sie davon, wenn wir Sie einer eingehenden medizinischen
Untersuchung unterziehen? Tomographie, Blutanalysen und so weiter.«
»Sie halten es also eher für einen medizinischen Fall?«
Crasso zuckte mit den Schultern. »Ich weiß es eben nicht, aber ich möchte nichts außer acht lassen. Kennen Sie
den? Kommt ein Mann zum Arzt und läßt sich untersuchen. Danach sagt der Arzt:
>Zuerst die gute Nachricht: Wir werden die Krankheit nach Ihnen
benennen. <«
»Ich bin einverstanden«, sagte Stranger. »Sofern Sie mich künftig mit Ihren dummen Witzchen verschonen.«
Das Medo-Center von Alamo Gordo kannte Bert Stranger bisher nur als Besucher. Dr. Dr. Dr. Alfonse Crasso
ließ die Untersuchung nicht in einem normalen Krankenhaus vornehmen, sondern in der Spezialklinik, die Teil
des gigantischen unterirdischen Forschungskomplexes war, der sich unter der Stadt befand. Hier war es möglich,
auf kürzestem Weg Forschungsergebnisse an andere Fakultäten weiterzugeben, wenn es erforderlich war, um
unbürokratisch und effizient arbeiten zu können. Strangers anfänglichen Vorschlag, die Untersuchung im Brana-
Tal vornehmen zu lassen,
hatte Crasso kategorisch abgelehnt.
»Da läßt man Sie 'rein, aber nicht mich, weil ich nur ein einfacher kleiner Psychiater bin und kein
Geheimnisträger wie Sie, Mister Stranger, und außerdem ist die Cyborgstation zu spezialisiert. Da mögen die
besten Mediziner der Welt arbeiten, aber im Forschungszentrum von Alamo Gordo zählen die Leute auch nicht
zu den sieben schlechtesten.«
Ungeduldig ließ Stranger die Untersuchungen über sich ergehen. Immer wieder mußte er gegen den Drang
ankämpfen, einfach aufzuspringen, das Medo-Center zu verlassen und in seinem Apartment das Sensorium
aufzusetzen, um den nächsten Chip zu erproben. Da war ja noch der letzte alte, und von den neuen waren ja
hoffentlich nicht alle im Sado-Maso-Bereich angelegt...
Allein deshalb hätte er das Brana-Tal vorgezogen. Das, im tibetischen Himalaya gelegen, war ausschließlich
über Transmitter zu erreichen, und Stranger hätte einfach gefordert, seinen ID-Code so lange zu sperren, bis alles
vorbei war, damit er nicht einfach wieder verschwinden konnte. Außerdem hatte er Vertrauen zu Echri Ezbal
und seinen Ärzten und Forschern; die im Medo-Center von Alamo Gordo kannte er so gut wie gar nicht.
Irgendwann empfing Professor Webster ihn und den Psychiater in seinem Büro. Mehrere Holoprojektionen
zeigten unterschiedliche Bilder, Muster und Strukturen. Ein Plasmaschirm zeigte einen längeren Analysetext,
den der Suprasensor auf Knopfdruck als Folienausdruck auswarf.
»Wir haben in Ihrem Blut einige seltsame Stoffe festgestellt, Mister Stranger«, begann Frederick Webster,
dessen Urgroßvater noch versucht hatte, als Farmer den Wohlstand des Schwarzen Kontinentes zu mehren. Ein
blutiger Aufstand hatte ihn aus seiner geliebten Heimat vertrieben.
»Also doch«, entfuhr es Crasso.
»Keine Drogen im eigentlichen Sinn, Kollege«, dämpfte Webster. »Diese Stoffe, die ich als seltsam bezeichnete
und deren ellenlange Fachbezeichnungen ich Ihnen ersparen möchte«, er wies
auf die Folie, »weil sie da ohnehin aufgeführt sind, werden vom Gehirn selbst produziert. Sie erzeugen die Sucht
nach neuen virtuellen Sexualerlebnissen.«
Stranger nickte. »Dann brauchen wir ja nur die Drüsen, die diese Stoffe aus senden, zu entfemen...«
Webster lachte leise.
»Sie stellen sich das zu stark vereinfacht vor, Mister Stranger. So etwas kann man nicht einfach machen.
Skalpell, Schnitt, weg damit... wenn es so einfach wäre, hätten wir mit vielen Krankheiten erheblich weniger
Probleme. In der Regel haben diese Drüsen nämlich noch andere Funktionen. In diesem Fall aber liegt es noch
ganz anders: Es gibt keine Drüsen, die die Suchtstoffe ausschütten. Irgendwie produziert das Gehirn sie, aber wir
wissen nicht, wie das geschieht. Vermutlich wird diese Produktion durch Reizungen
ausgelöst.« »Die von dem Sensorium während seiner Benutzung initiiert werden«, vermutete Crasso. »Wenn das so ist, besteht eine sehr große Gefahr«, sagte Webster. »Dann muß die Gesundheitsbehörde diese Geräte verbieten.« »Es sind nicht die normalen Sensorien, die süchtig machen«, widersprach Stranger. »In meinem Fall handelt es sich um ein ganz spezielles Gerät, das vermutlich manipuliert wurde.« Vorsichtshalber vereinfachte er die Angelegenheit; er wollte zu diesem Zeitpunkt noch keine Pferde scheu machen. »Dann sollten Sie schleunigst zur Polizei gehen«, empfahl Webster. Wenn ich das könnte, dachte Stranger. »Was schlagen Sie darüber hinaus vor?« fragte er. »Medizinisch gesehen, meine ich.«
»Eine absolute Radikalkur!« Stranger ließ sich erklären, was Professor Webster mit ihm anstellen wollte. Ganz wohl war ihm bei der Sache nicht - aber welehe Alternative blieb ihm? Wenn es nur diese eine Möglichkeit gab, seine Sucht zu überwinden, mußte er sie ergreifen. Andernfalls ging er über kurz oder lang zugrunde. Denn irgendwann würden die Forderungen seiner Chiplieferanten noch weit über all das hinausgehen, was sie bisher von ihm verlangten. Er war, wie es Crasso so treffend formuliert hatte, ein Geheimnisträger. Er war in Dinge eingeweiht, die zu den absoluten Staatsgeheimnissen Terras gehörten. Er verdankte dieses Wissen seinen guten Beziehungen zu Regierungs- und GSO-Kreisen, auch wenn man ihn da gar nicht so gerne sah, und seiner Verschwiegenheit. Er hatte oft genug unter Beweis gestellt, daß er zuverlässig war und diese Geheimnisse für sich behalten konnte -andere hätten vielleicht eine Wahnsinnsstory daraus gemacht. Stranger verzichtete auch schon mal auf solche Sensationsberichte, um sich seine Quellen nicht zu verschütten. Aber der Druck, unter dem er jetzt stand, konnte ihn dazu bringen, daß er dennoch zum Verräter wurde. Und vielleicht mehr als das. Er kam überall hin. Mit Genehmigung oder ohne - wenn er etwas erreichen wollte, schaffte er das. Über sein Netzwerk von Informanten und Verbindungen konnte er immer wieder jemanden dazu bringen. Türöffner zu spielen. Weil Stranger entweder in der Lage war, sanften Druck auszuüben oder sich denjenigen durch eine frühere Hilfeleistung verpflichtet hatte. Deshalb mußte er dieser Radikalkur zustimmen, auch wenn sie ihm nicht gefiel. Bei der Terra-Press hatte er sich krankzumelden. Immerhin war er durch das Verfahren für mehrere Tage völlig außer Gefecht gesetzt. Maik Caroon war von dem Ausfall seines besten Mannes alles andere als begeistert, stimmte aber zu. Denn so besonders gute Arbeit hatte Stranger in den letzten Wochen nicht gerade geliefert, daß man nicht vorübergehend auf ihn verzichten konnte -eher war das Gegenteil der Fall. »Jetzt werde ich wohl doch in die Cyborgstation im Brana-Tal müssen«, vermutete er, als er erfuhr, was man mit ihm vorhatte. Aber sowohl Webster als auch Crasso schüttelten einmütig die Köpfe.
»Was die können, können wir hier in Alamo Gordo auch«, behauptete Webster.
Einen Tag später befand sich Bert Stranger bereits in Behandlung. Sein Körper wurde radikal entgiftet. Sein
Blut wurde komplett ausgetauscht. Man verwendete synthetisches Blut, das zudem mit einer Chemikalie
versetzt war, die auf die süchtigmachenden Reizstoffe aggressiv reagierte und sie zerstörte.
Noch während des Austauschs stieg die Fieberkurve rapide an. Die biochemischen Prozesse erhöhten die
Körpertemperatur enorm. Innerhalb einer Stunde glühte Stranger förmlich und fiel ins Koma.
Körpertemperatur 41,7° C!
Tendenz steigend!
»Das bringt ihn um!« befürchtete Alphonse Crasso, der durch eine Glaswand die Aktion beobachtete. »Hören
Sie auf damit, Kollege Webster! Wenn seine Temperatur noch weiter steigt, stirbt er!«
Webster stoppte nicht.
Strangers Temperatur erreichte die 42°-Marke.
»Pumpen Sie den verdammten Chemiedreck wieder ab!« verlangte Crasso über die Viphoverbindung zwischen
Nebenraum und OP immer drängender. »Wollen Sie an dem Mann zum Mörder werden?«
42,3° C! Der Wert war tödlich. Stranger hatte vielleicht noch Minuten zu leben. Die Hitze, die in ihm kochte,
verriet, welcher Abwehrkampf in seinem Körper stattfand. Der Körper wehrte sich gegen die Chemikalien im
Synthoblut, weil er sie als fremd erkannte, während die Suchtstoffe als körpereigen akzeptiert wurden.
42,8° C!
Der Psychiater hielt es im Nebenraum hinter der Glaswand nicht mehr aus. Er zog sich eine Atemmaske übers Gesicht und Plastikhandschuhe über die Hände, und stürmte in den OP. Er bekam Webster an der Schulter zu fassen und riß ihn herum. »Kollege, wenn Sie das nicht unverzüglich stoppen, informiere ich die Polizei und klage Sie wegen Mordes an!« »Meinetwegen informieren Sie auch die GSO oder die Amphis!« konterte der Mediziner. »Aber jetzt 'raus hier!« Da zeigten Überwachungsinstrumente Strangers Tod an! Sein Herz hielt der Beanspruchung nicht mehr stand und stellte seine Arbeit ein! »Sie Mörder...!« brüllte Crasso. »Ich werde Sie...« Webster hob die Hand. Einer der Medoroboter drehte sich und zeigte, daß er nicht nur für medizinische Arbeit gerüstet war. Ein Paraschocker fauchte. Neben Webster brach der Psychiater zusammen. »Abtransport! Irgendwo wird ein Zimmer frei sein, in dem der Herr Kollege wieder zu sich kommen kann«, befahl Webster und wandte sich wieder Stranger zu. Er interessierte sich nicht mehr dafür, daß ein Roboter Crasso fortbrachte. :. Er injizierte dem Reporter ein hochaktives Stimulantium. Die Dosis reichte, einen toten Elefanten ins Leben zurückzurufen. Gleichzeitig lief der Blutaustausch weiter, jetzt aber wurde natürliches Blut zugeführt, das nicht mit zerstörerischen Chemikalien versetzt war. Strangers EKG zeigte weiterhin Nullwert. Aber sein Gehirn arbeitete noch. Wieviel Zeit war vergangen? Anderthalb Minuten? Zwei? Nach drei Minuten Sauerstoffmangel traten
Himschädigungen
ein, die auch im Jahr 2059 noch irreparabel waren. »Nun komm schon«, murmelte Webster. »Komm schon...«
Er überlegte, ob er den Defibrillator einsetzen sollte, aber in
Strangers momentaner körperlicher Verfassung würde ihn der
Elektroschock eher endgültig umbringen. Zwei Minuten 40 Sekunden...
Die Temperatur des Reporters begann zu sinken.
Webster riskierte es, noch eine weitere hohe Dosis des Stimulan-tiums zu injizieren und jagte diese Dosis direkt
ins Herz des Patienten.
Zwei Minuten 55 Sekunden!
Da zuckte das Herz wieder. Zweimal, dreimal. Aus.
»Verdammt, komm!« schrie Webster auf. »Bleib hier!«
Zwei Minuten 59 Sekunden.
Wieder ein Zucken. Wieder wurde Blut durch die Adern in Richtung Gehirn gepumpt. Unregelmäßig, aber dann
immer kräftiger und regelmäßiger werdend kamen die Herzschläge. Bert Stranger lebte.
Die Temperatur sank innerhalb der nächsten zwanzig Minuten unter die gefährliche Grenze.
Nach zwei Stunden war auch der letzte Rest des Synthoblutes aus Strangers Adern gespült. Aber damit war noch
nichts beendet.
»Ab zur Intensivstation... und Dauerkontrolle!«
In den nächsten drei Tagen wurde Strangers Blut mehrmals hintereinander im Zwölfstundenrhythmus
ausgetauscht. Seine Körpertemperatur sank auf den Normalwert zurück, und er war am zweiten Tag bereits
wieder ansprechbar.
»Was zur Hölle haben Sie da mit mir angestellt, Professor?« wollte er wissen. »Könnte Doktor Crasso nicht
recht haben, und Sie wollten mich tatsächlich umbringen, haben es sich aber im letzten Moment wieder anders
überlegt?«
»Wie kommen Sie darauf?« wunderte sich Webster. »Hat der Kollege Crasso Ihnen das gesteckt?«
Stranger schüttelte den Kopf. »Der nicht, mein Lieber. Das habe ich alles selbst mitbekommen, und am liebsten
möchte ich Ihnen den Hals umdrehen, aber ganz langsam! Haben Sie eine Vorstellung davon, was ich für
Schmerzen hatte?«
»Sie waren im Koma!«
»Und trotzdem habe ich alles mitbekommen, auch daß Sie Crasso paralysieren ließen!«
»Das können Sie nicht mitbekommen haben!« protestierte Web-ster. »Schon allein, weil Sie zu dem Zeitpunkt
klinisch tot waren!«
»Aber mein Hirn arbeitete noch, und wie immer äußerst präzise«, konterte Stranger und klopfte sich mit dem
Zeigefinger an die Stirn. »Hat Ihre Killermethode wenigstens Erfolg?«
»Fühlen Sie sich noch zu den Sensoriums-Erlebnissen hingezogen?«
»Ja! Und ich habe gleichzeitig Angst davor!«
»Darum werden wir uns jetzt in der zweiten Phase Ihres Heilungsprozesses kümmern, und ich denke, daß wir
hierbei Doktor Crassos intensive Mithilfe ebenso benötigen wie Ihre eigene, Mister Stranger. Haben Sie noch
Vertrauen zu uns?«
»Zu Crasso, nicht zu Ihnen«, erwiderte Stranger offen. »Wenn Crasso die Kontrolle hat und Ihrem Vorgehen
zustimmt, werde ich auch einverstanden sein. Ich denke, ich bin entgiftet worden. Wieso kann ich dann immer
noch die Verlockung spüren, die mich wieder zum Sensorium ziehen will?«
»Möglicherweise produziert Ihr Gehirn immer noch den Suchtstoff, allerdings nicht in dem Maße, wie es bei
einer Reizung durch das Sensorium der Fall ist. Anscheinend reicht Ihre Erinnerung an die Erlebnisse bereits
aus.«
Stranger richtete sich in seinem Bett auf.
»Mein lieber Professor Webster«, säuselte er. »Noch einmal lasse ich diese Prozedur nicht über mich ergehen.
Eher bringe ich nacheinander Sie, den Mistkerl, der mir die Chips unterjubelt und dann mich um!«
»Warten Sie damit, bis Sie wieder richtig fit sind«, schlug Webster vor. »Wir müssen erst wissen, was die
Encephalokaskade bewirkt. Dann läßt sich feststellen, ob eine zweite Entgiftung nötig ist.«
»Hätte man diese Elefantenkarawane, oder wie immer sich das
ausspricht, nicht ohnehin zuerst anwenden können?«
Webster schüttelte den Kopf. »Wir hätten danach keine sichere Erfolgskontrolle mehr. Die haben wir jetzt.
Springen Sie jetzt bitte nicht vom fahrenden Zug, Mister Stranger. Sonst war alles umsonst, und bei nächster
Gelegenheit sind Sie wieder süchtig wie
zuvor.«
Angesichts dessen, was er erlebt hatte, fiel es Stranger schwer dabeizubleiben. Er fragte sich, wie es möglich
war, daß er in seinem Zustand alle Details präzise mitbekommen hatte. Darauf wußte auch Crasso keine
Antwort, der immer noch sauer war, daß . Webster den Roboter auf ihn angesetzt hatte.
»Ich werde diesen Halbgott in Weiß dafür vor Gericht bringen«, erklärte er, als er einen Tag später mit Stranger
darüber sprach. »Lassen Sie's«, warnte Stranger. »Sie werden damit nicht durchkommen. Es gibt seit einem Dutzend Jahren ein Gesetz, das Kliniken extraterritorialen Status verleiht. Welcher Obertrottel das durchgebracht und abgesegnet hat, mögen die Götter und Götter-chen wissen, aber es ist so. Der Chefarzt der Klinik ist damit das Gesetz diesseits und jenseits des Rio Grande. Er hätte Sie sogar einsperren lassen können. Immerhin sind Sie einfach so in den OP hereingepoltert.« »Um Ihnen zu helfen und einen Mord zu verhindern.« »Das in dieser Form zu beweisen, wird schwierig, Doc. Nehmen Sie die Paralyse einfach in Ihren Erfahrungsschatz auf. Nebenbei -wenn Sie jetzt Anzeige erstatten, wird die ganze Sache von vom bis hinten auf gerollt,und gefährdet meine eigenen Pläne...«
Zwei Tage später saß der Reporter unter einer Haube, die fast seinen gesamten Kopf umschloß. Überall waren Elektroden und Sonden an seinem Körper angebracht, die ihn mit einem weiteren Kontrollapparat verbanden. »Ein graues Relikt aus einer dunklen Zeit«, erläuterte Dr. Crasso. »Geräte dieser Art hat der Geheimdienst der damaligen Weltregierung vor der Invasion angewendet. Weniger die Apparate waren umstritten, sondern ihr Einsatzzweck. Mittlerweile ist dieser nur noch medizinischer beziehungsweise therapeutischer Art. Die GSO verfügt nicht über diese Geräte, die nebenbei wesentlich verbessert wurden.« »Wie tröstlich. Was exakt kommt jetzt? Gedächtnislöschung und Neuprogrammierung des Zombies Bert Stranger?« »Keine Neuprogrammierung«, versicherte Crasso. »Wir haben das doch vorher schon alles durchgesprochen.« »Da war aber auch nicht die Rede davon, daß der da«, er wies auf Webster, »mich umbringt.« »Ich habe Sie nicht umgebracht«, wehrte sich der Professor. »Aber viel hätte nicht daran gefehlt«, gab Stranger zurück. »Sie werden Ihre Persönlichkeit auf jeden Fall behalten«, sagte Crasso. »Wir löschen nur sämtliche expliziten Erinnerungen an Ihre Sensoriums-Erlebnisse. An alles andere werden Sie sich hinterher erinnern können.« »Hoffentlich!«
Am Abend war es dann vorbei. Stranger war erschöpft, aber auch Dr. Crasso sah nach schweißtreibender
Schwerstarbeit aus. »Gar nicht so einfach. Ihre Erinnerungen zu filtern und nur das zu löschen, was wirklich
blockiert werden soll. Sie haben eine Menge erlebt, scheint mir.«
Stranger wollte etwas sagen, aber Crasso hob abwehrend die Hand. »Keine Sorge, ich habe Ihre Intimsphäre
nicht verinnerlicht. Ich habe systematisch alles weggedrängt, was nicht nach Senso-rium aussah. Wissen Sie
überhaupt noch, was das für ein Ding ist?«
»Ja«, sagte Stranger. »Aber ich werde mich hüten, es jemals wieder aufzusetzen.« Nicht das süchtigmachende,
und auch nicht
das normale. Mir reicht's, fügte er in Gedanken hinzu.
»Warum?«
»Ich weiß es nicht«, sagte Stranger. Er dachte nach, versuchte sich zu erinnern. Er wußte nur noch, daß da etwas
Gefährliches war. Aber die vagen Erinnerungsreste drängten ihn nicht mehr dazu, erneut die gefährlichen Chips
zu erproben. Die Sucht war vorbei.
Er wußte, daß man ihn in diese gezwungen hatte. Aber er war jetzt außer Gefahr - solange man ihm das
Sensorium und die Chips nicht erneut aufzwang.
Er wußte auch noch um seinen Auftrag.
Und er war gewillter denn je, ihn zu Ende zu bringen.
Um fast jeden Preis.
Arc Doorn hatte seine Unterkunft sofort verlassen, als ihn der Ruf aus der Bordzentrale erreichte. Gemeinsam
mit Anja Riker nahm er sich seither den Checkmaster »zur Brust« - was eine deutlich übertriebene, an der
Realität vorbeigehende Umschreibung darstellte.
Denn der Checkmaster hatte »dichtgemacht«. Daran änderte auch nichts, daß seine Verkleidung beseitigt war
und sein Innenleben offen ausgebreitet vor dem Sibirier und der M-Mathematikerin lag.
Doorn war seit jeher versucht, die Checkmaster-Box als Attrappe zu bezeichnen. Als Gegenstand, der nur der
Irreführung und Verschleierung galt. Nach all den Jahren, die er sich bemüht hatte, dem Checkmaster seine
Geheimnisse zu entreißen, war sein anfänglicher bloßer Verdacht, den wahren Checkmaster nirgendwo auf der
POINT OF zu finden, zur festen Überzeugung gereift.
Er war der glühendste Verfechter der Hyperraumtheorie.
Die Mysterious hatten nachgewiesenermaßen eine Affinität zum »Überraum« besessen - erst jüngst hatte
Vonnocks Bericht diesbe
züglich eine weitere Facette hinzugefügt. Der Wächter Vonnock hatte von einem Depot im Hyperraum erzählt,
in dem die originalen Körper all jener Lebewesen aufbewahrt wurden, die zu irgendeiner Zeit als Verteidiger des
Friedens und der Ordnung im Dienste der Hohen rekrutiert worden waren.* »Die Hohen« war dabei lediglich
eine weitere Bezeichnung für die Mysterious oder Worgun.
Doorn hielt inne und schielte an Anja vorbei, die neben ihm am Boden kniete, hinüber zu Gisol, der sich bei Ren
Dhark und Dan Riker befand. Doorns wettergegerbtes Gesicht war gerötet, auf seiner Stirn glänzte feiner
Schweiß. Weniger die Anstrengung als die Hilflosigkeit und Ohnmacht versetzten ihn in Streß.
»Ich könnte wetten«, flüsterte er Anja zu, »daß dieser Halunke mehr über unser Baby hier weiß als wir alle
zusammen - er rückt nur nicht mit der Sprache heraus!«
Es bedurfte keiner weiteren Erklärung, wen er mit Halunke meinte - und das gleiche galt für die launige
Umschreibung »Baby«.
»Ich weiß nicht«, hielt sich Anja bedeckt. »Warum sollte er uns sein Wissen vorenthalten? Ich finde, er hat von
Anfang an ziemlich glaubwürdig überrascht auf den Checkmaster reagiert. Es handelt sich offenbar tatsächlich
um ein Unikat, das sich Margun und Sola ausgedacht haben - im ganzen Worgun-Einflußgebiet scheint nie mehr
ein zweites, vergleichbares Aggregat aufgetaucht und zum Einsatz gekommen zu sein.«
»Kein Wunder«, knurrte Doorn, keineswegs von ihren Argumenten überzeugt. »Hätte ich bei den Worgun das
Sagen gehabt, hätte ich dieses rebellische Ding auch aus dem Verkehr gezogen, bevor es den Untergang eines
ganzen Reiches heraufbeschwört.«
Anja lächelte. »Das mit dem Untergang haben dann auch offensichtlich andere übernommen. Fehlt nur noch«,
sie zwinkerte
Doorn gutmütig zu, »daß Sie den Zyzzkt unterstellen, den Checkmaster als eine Art fünfte Kolonne bei den
Mysterious eingeführt zuhaben...«
Doorn strahlte. »Sie erstaunen mich, Anja. Soviel Phantasie hätte ich Ihnen gar nicht zugetraut.«
Sie winkte ab. »Konzentrieren wir uns lieber auf das aktuelle Problem.« Sie klopfte mit den Knöcheln gegen die
neben ihr stehende Platte aus Unitall. Dann zeigte sie zu dem Pol einer mutmaßlichen Antenne, über dem noch
immer der Energiebogen züngelte, den sie nie zuvor daran bemerkt hatte.
»Wofür haken Sie das?«
»Für die Sende-Empfangseinheit, die den permanenten Kontakt zum Hyperraum herstellt«, antwortete Doorn
ohne Zögern. »Zum Megarechner, der sich dort verbirgt und der das eigentliche Hirn ist. Das hier ist nur der
Mittler. Aber das...«
»Ja, ja, wärmen wir nicht wieder Ihre Lieblingsthese neu auf. Für die es im übrigen nicht den geringsten Beweis
gibt. Aber selbst wenn wir voraussetzen, daß Ihre Vermutung stimmt, müßte das, was wir hier sehen, nicht
permanent sichtbar sein? Immerhin müßte der Checkmaster doch in pausenlosem Austausch mit seinem
Hyperraum-Pendant stehen...«
»Der sichtbare Energieausstoß ist neu«, räumte Doorn ein. »Aber vielleicht ist er auch nur deshalb sichtbar, weil
der Checkmaster unter dem Schild, der sich über uns spannt, ungleich mehr Energie aufbieten muß, um die
Verbindung zum Hyperraum aufrecht halten zu können.«
Anja wirkte überrascht. Dann nickte sie. »Das wäre eine Möglichkeit.«
»Und die andere?«
»Wie ich schon sagte: Ich vertrete die Meinung, daß der Checkmaster über diese Antenne - falls es denn eine ist
- mit etwas ganz anderem kommuniziert. Mit der Macht, die diesen Planeten beherrscht nämlich.«
»Er hätte andere Antennen zur Verfügung.«
»Aber die fingen auch kein Signal auf, als wir im Leerraum unterwegs nach Orn waren. Nur der Checkmaster
selbst hat die Signale empfangen, die von dieser Welt kamen - es ist, als wäre er persönlich angesprochen
worden.«
»Das ist verrückt. Haben Sie darüber mit dem Commander gesprochen?«
»Ja.«
»Und was sagt er?«
»Er verlangt Beweise. Hieb- und stichfeste Beweise.«
»Die er nicht bekommen wird.«
Sie nickte. »Es ist unmöglich. An diesem Kasten...« sie bedachte den Checkmaster mit einem grimmigen Blick
»... beißen wir uns wahrscheinlich für alle Zeiten die Zähne aus.«
»Noch Ihre und meine Kinder werden dasselbe sagen«, grinste Doorn.
In diesem Augenblick ging ein Raunen durch den Raum.
Doorn und Anja richteten sich auf.
Sekunden zuvor war unbemerkt von ihnen aus der Bordsprechanlage ein überraschter Ausruf von
schwerwiegender Bedeutung gedrungen: »Sie funktionieren! Heilige Galaxis, das ist verrückt, aber... sie
funktionieren...!«
Ren Dhark hatte sich von Gisol einen Bericht zur Situation außerhalb des Planeten geben lassen. Was er erfuhr,
beruhigte ihn zwar nicht vollends, trug aber auch nicht zur weiteren Verschlechterung seiner Stimmung bei.
Immerhin hatte sich ihre Annahme, die Goldenen würden die Flotte direkt attackieren, nicht bewahrheitet. Ihre -
immer noch anhaltende - Reaktion diente offenbar einzig der Erzeugung eines in dieser Form noch nie erlebten
Schutzschirmes, der jeden Versuch, den Planeten neuerlich anzufliegen, unterbinden sollte.
Dhark ging davon aus, daß die »Feuerschale«, jene aufgeheizte
Region, die in rund acht Kilometern Höhe begann und sich bis in die Stratosphäre fortsetzte, selbst
Intervalldurchquerungen verhinderte. Immerhin hatten sie es hier mit Worguntechnik zu tun - und Worgun
wußten, daß wirksame Schilde sämtliche Eventualitäten abdecken mußten.
Die Lage war also alles andere als rosig. Während Anja und Arc Doorn ohne großen Optimismus dem
Checkmaster zu Leibe rückten, war das Bild in der holographischen Kugel eingefroren.
Es wechselte nicht mehr, vom Checkmaster gesteuert, sondern gab seit geraumer Zeit nur noch einen groben
Überblick der unmittelbaren Schiffsumgebung - den knienden Koloß Inbegriffen.
Unverändert war auch die Situation, daß der Checkmaster alle relevanten Systeme blockierte, die es der
Besatzung ermöglicht hätten, aktiv zu werden.
Die Menschen und der Worgun waren zu Gefangenen auf ihrem eigenen Schiff geworden. Und der
Kerkermeister, der von draußen über sie wachte, war ein kilometergroßer, absonderlicher Roboter, der für sich
alleingenommen schon an ein technisches Wunder gegrenzt hätte - gänzlich absurd wurde seine Existenz, wenn
man bedachte, daß er nur einer von unzähligen war, die sich ganz offenkundig über die gesamte Oberfläche
dieser Welt verteilten.
»Was willst du tun?«
Es war Dan Riker, der dem Freund die Frage stellte. In offensichtlicher Erregung. Unübersehbar leuchtete der
rote Fleck auf seinem Kinn, der immer dann zutage trat, wenn sich Riker in extremer Anspannung befand.
Sie standen immer noch vor der Kommandokonsole. Auch Gisol wirkte trotz des Teilerfolgs, den er mit seinem
selbstentwickelten Gerät erzielt hatte, unruhiger als während der ganzen Zeit davor.
Die Gefangenschaft schmeckte ihm nicht; möglicherweise erinnerte sie ihn an die Bedingungen, unter denen er
lange Zeit in seiner Heimat gelebt hatte - und unter denen Millionen oder Milliarden andere Worgun in diesem
Moment lebten.
Dhark nickte zur Bildkugel hin. »Ist euch überhaupt schon auf
gefallen, daß die Goldenen Gesichter haben?«
Niemand hatte bislang einen Blick für dieses Detail gehabt -was sich nun aber abrupt änderte.
Jeder, der Dharks Frage aufschnappte, überprüfte sie sogleich. Mit dem Resultat, daß Dan Rikers hektischer
Fleck noch deutlicher hervortrat.
»Himmel, ja«, keuchte er. »Sie... sie sehen wunderschön aus!«
»So wie Olan einst die Grakos beschrieb«, nickte Dhark.
Gisol hörte aufmerksam zu. Er kannte die Geschichte der letzten 108 Salter, von den Terranem auf dem Planeten
der Shirs in Galaxis Zwei entdeckt - Olan war ihr Anführer gewesen, und sie alle waren auf Terra einem
heimtückischen Robonen-Anschlag zum Opfer gefallen.*
»Wunderschön...«, wiederholte Dhark das Wort, das auch Riker gebraucht hatte, um die sorgfältig gearbeiteten
Gesichter der goldfarbenen Giganten zu beschreiben.
Olans Aussage hatte sich als Lüge entpuppt. Die Grakos, Hilfsvolk der Zyzzkt, des erbarmungslosen Feindes der
Mysterious, waren nach menschlichem Ermessen alles andere als berechtigt gewesen, dieses Attribut zu tragen.
In ihrer Form hatten sie irdischen Insekten geähnelt, sogenannten Gottesanbeterinnen.
Insekten verursachten in vielen Menschen Phobien.
Und die Grakos waren die Schlächter der Galaxis gewesen - die Pest der Sterne...
Dhark schob die Erinnerungen, die so viele Nebenerinnerungen weckten, beiseite.
Plötzlich, ohne daß er selbst hätte sagen können, warum seine Gedanken ausgerechnet dahin sprangen, sagte er:
»Hat eigentlich schon jemand die Flash überprüft?«
»Die Flash?«, echote Riker.
Dharks Hand schlug auf die Sitzlehne und aktivierte die SprechVerbindung zum Depot. Mit knappen Sätzen
formulierte er dieselbe Frage, die er gerade seinem Freund gestellt hatte, neu.
Und die Antwort, die ein Raunen durch die Zentrale gehen ließ, erfolgte postwendend: »... verrückt, aber wenn
nicht alles täuscht, sind sie voll einsatzbereit... heilige Galaxis, Sir, sie... funktionieren tatsächlich...!« Nach
dieser Entdeckung drohte die Lage endgültig ins Absurde abzugleiten.
Die Lage: gefangen auf einem einsamen Planeten in der Großen Leere; festgehalten von einem goldenen
Giganten, der seine Hand auf das Schiff gelegt hatte und dem es seiner Physis wegen zuzutrauen war, daß er den
Raumer jederzeit nach Belieben zerquetschen konnte wie ein lästiges Insekt; sämtliche relevanten Systeme vom
Checkmaster blockiert, der wiederum in permanenter Verbindung mit einer unbekannten Adresse draußen zu
stehen schien.
Daß der Checkmaster ausgerechnet das Depot und die darin befindlichen Beiboote der POINT OF aus seiner
Totalkontrolle aussparte, ergab nicht wirklich einen Sinn. Über Möglichkeiten, die Flash an die Kette zu legen,
verfügte der »Tyrann« zweifellos.
Im Laufe der Diskussion, die sich darüber zwischen Ren Dhark, Riker und Gisol entwickelte, gelangte Dhark
zur Überzeugung, daß der Checkmaster ihnen damit möglicherweise ein »Zeichen« geben wollte.
Offenbar sollten sie das Schiff verlassen - und den Planeten in Augenschein nehmen. Allerdings nur in den
Beibooten.
»Die Möglichkeit, daß der Checkmaster tatsächlich in ununterbrochener Verbindung mit dem oder den Herren
dieses Planeten steht und die Weisungen umsetzt, die er erhält, wird immer wahrscheinlicher«, sagte Dhark an
die Runde gewandt, zu der sich inzwischen auch die beiden Offiziere Falluta und Bebir gesellt hatten. »Ich bin
fest entschlossen, der Aufforderung Folge zu lei
sten.«
»Aufforderung?«, fragte Bebir.
Das Schott der Zentrale sprang auf, und eine Gruppe von Cy-borgs betrat den Raum. Unter ihnen befanden sich
Bram Sass, Holger Alsop und Amy Stewart.
Dhark nahm ihr Erscheinen zur Kenntnis und nickte ihnen zu.
Sie erwiderten den Gruß, hielten sich aber abseits. Nur Amy Stewart verließ die Gruppe und kam auf Dhark zu.
»Wir haben gehört, daß die Flash einsatzbereit sind«, sagte sie, »und wollten Ihnen einen Vorschlag unterbreiten,
Commander.«
Die Blicke der um Dhark Versammelten richteten sich nun ausnahmslos auf den weiblichen Cyborg.
»Ich fürchte, Sie kommen zu spät«, mischte sich Dan Riker ein. »Unser Commander hat gerade beschlossen, mal
wieder alle Grundsatzregeln über Bord zu werfen und sich höchstselbst in Gefahr zu bringen - mit anderen
Worten, und ich müßte ihn schlecht kennen, wenn ich ihn falsch interpretiere: Er will selbst in einen Flash
steigen. Aber«, fügte er nach einer kurzen Pause hinzu, »das werde ich nicht zulassen.«
Ein spöttischer Zug umspielte Dharks Mund. »Ach, nein? Was willst du dagegen tun?«
»An deinen Verstand appellieren. Ein Kapitän verläßt nicht zuerst sein Schiff - er hat fähige Mitarbeiter, die für
ihn in die Bresche springen können.«
»Du meinst nicht zufällig dich?«
Riker nickte. »Genau das meine ich.«
»Du hältst dich also für gegebenenfalls ersetzbarer als mich.«
Riker zuckte die Achseln.
»Wollen wir deine Frau befragen, was sie dazu sagt?« In Dharks Augen blitzte es belustigt auf - angesichts der
Lage verwunderlich genug. »Möglicherweise pflichtet sie dir ja sogar bei. Ihr seid schon ziemlich lange
verheiratet...«
Irritiert war nicht nur Amy Stewart der Unterhaltung gefolgt -auch Gisols Menschengesicht spiegelte
Unverständnis wider. Für
ihn mochte es verwirrend sein, daß Menschen sich Bemerkungen zuwarfen, die völlig an der Sache
vorbeigingen. Andererseits hatte er lange genug unter Menschen gelebt, um sich dieser Wesensart eigentlich
bewußt sein zu müssen.
»Überdies bist du nicht nur unersetzlicher Ehemann«, führte Dhark das Geplänkel fort, »sondern auch Chef der
Terranischen Flotte. Und du möchtest deinen Stellvertreter doch nicht unbedingt zu deinem Nachfolger
machen?«
»Klingt«, erwiderte Riker, »als gingst du davon aus, daß es ein Himmelfahrtskommando wird.«
»Davon nicht auszugehen, grenzte an Narretei.«
»Um so unverständlicher, daß du dieses Himmelfahrtskommando selbst anführen willst.«
»Ich bilde mir ein, die Risiken abschätzen zu können - und ich trage eine Verantwortung für jedes einzelne
Besatzungsmitglied an Bord. Bevor ich andere in Gefahr bringe...«
»Mit Verlaub«, warf Amy ein. »Sie streiten hier um Dinge, die leicht lösbar im Sinne aller Beteiligten wären.
Wir Cyborgs wurden nicht erfunden, um däumchendrehend in der Ecke zu sitzen und zuzusehen, wie andere die
Kastanien aus dem Feuer holen. Wenn ich alles richtig verstehe, ist das, was erledigt werden muß, kein Job für
den Commander dieser Expedition und auch kein Job für den Chef der TF - aber es wäre sozusagen
Arbeitsalltag für einen Cyborg.«
Sie hielt inne, musterte zunächst Dhark, dann Riker und schließlich wieder Dhark.
Der mit gefurchter Stirn nachdachte.
Und schließlich nickte.
»Suchen Sie sich einen Freiwilligen als Piloten, Amy«, entschied er. »Seien Sie sich der Gefahr bewußt und
passen Sie gut auf sich auf. Ich möchte, daß Sie Om mit uns erreichen... wobei wir bedenken sollten, daß noch
gar nicht klar ist, ob der Checkmaster es wirklich zuläßt, daß ein Flash das Depot verläßt...«
In Windeseile waren die Vorbereitungen für einen Erkundungsflug abgeschlossen.
Erst an Bord des torpedoförmigen Kleinstschiffes, das lediglich Platz für zwei Personen bot - die noch dazu
absonderlicherweise Rücken an Rücken sitzen mußten - traf Amy Stewart auf den Piloten, der sich bereiterklärt
hatte, das immens hohe Risiko einzugehen. Es handelte sich um Kartek. Er begrüßte Amy in reserviertem Ton,
war sich offenbar sowohl der Bedeutung als auch der Gefahr des Einsatzes voll bewußt.
Amy kannte den baumlangen, introvertierten Mann bislang nur flüchtig.
»Na, dann wollen wir mal.«
Die Zustiegsluke schloß sich, verschmolz scheinbar nahtlos mit dem übrigen Unitallgehäuse.
Ein Flash verfügte wie sein Mutterschiff über SLE- und Sternensog-Antrieb. Transitieren konnte er nicht. Auch
seine Bewaffnung war eingeschränkter, bestand aus Dust, Strichpunkt und Nadel -drei Strahlarten von
unterschiedlicher Wirkungskraft, die sich nötigenfalls ideal mixen ließen.
Die bordeigenen Systeme des Flash liefen an.
Kontrollen vor jedem Insassen. Holographische Umgebungsdarstellung über den Köpfen.
Unhörbar strömte Sauerstoff ins Innere der Zelle und setzten sich Umwälzungssysteme in Gang. Die Dunkelheit
wurde von den Anzeigen der Instrumente erhellt. Die Steuerung erfolgte über kleine Hebel.
»Wir wären soweit«, sagte Amy, nachdem sie die Verbindung zur POINT OF-Zentrale hergestellt hatte.
»Toi, toi, toi«, wünschte Ren Dhark.
Und Dan Riker setzte den guten Wünschen noch eins drauf. »Hals und Beinbruch!«
Amy beschloß, nichts davon wörtlich zu nehmen.
Kartek löste den Flash aus seiner Bettung, aktivierte das Intervallfeld und steuerte das Fahrzeug durch die feste
Wandung des Schiffes hinaus ins Freie.
Wo die Goldenen warteten.
Und eine Welt mit einem Geheimnis, das es so rasch wie möglich zu ergründen galt.
Diese Stimme hätte Martell aus Tausenden heraus erkannt. Verblüfft fragte er: »Wie ist es Ihnen gelungen, die
Sperre ohne Gisol zu umgehen, Sir?«
»Wir haben entdeckt, daß die Flash weiterhin in vollem Umfang einsatzfähig sind. Was lag da näher, als deren
Repertoire zu nutzen?«
»Dann unterbindet der planetare Schild also nicht jeden Funkkontakt...«
»So sieht es aus. Davon gingen wir auch zunächst aus, da Gisols Verbindungsgerät mit der Gedankensteuerung
seiner Schiffe auch eine künstlich erzeugte paranormale Komponente besitzt - aber wie Sie hören, ist das nicht
der Fall. Auch >normaler< Hyperfunk durchdringt die Schale. Womit wir den Checkmaster ausgetrickst
hätten...«
»Ich verstehe sein Verhalten immer noch nicht.«
»Niemand versteht es, John. Aber wir arbeiten daran. Bei Ihnen alles klar?«
»Unverändert. Wie Gisol Ihnen sicher übermittelt hat, haben wir uns auf zirka 300 000 Kilometer Distanz
zurückgezogen. Es gibt keinerlei Anzeichen auf Bewegung im System. Wir sind nach wie vor die einzigen, die
sich für diese Welt interessieren. Aber etwas anderes war auch kaum anzunehmen. Es wäre wohl allzu unwahr
scheinlich, daß in zeitlicher Übereinstimmung mit uns eine weitere Rasse neugierig hier vorbei schaut...«
»Das könnten wir auch nicht gebrauchen. Wir haben auch so
schon Probleme genug.« Dhark berichtete Martell von dem Aufklärungseinsatz, der soeben gestartet worden und
dessen Risiko noch nicht abzuschätzen war. Er schloß mit den Worten: »Wir bleiben in Kontakt.«
Und Martell an Bord der CALAIS fragte sich, warum Hyperfunk die energetische Barriere mühelos überwand.
Orterstrahlen auf gleicher Basis aber weiterhin versagten...
Amy Stewart spürte die Anspannung, die Besitz von ihr ergriffen hatte. Sie hatte absichtlich noch nicht auf ihr
Zweites System umgeschaltet, das jede Adrenalinausschüttung unterbunden hätte.
Sie wollte die Situation pur erleben.
Ungefiltert.
Auf einer Ebene, wie auch Kartek das Risiko empfinden mußte.
Langsam, fast in Schrittempo, entfernte sich der Flash von der POINTOF...
... und blieb wider Erwarten völlig unbehelligt von dem knienden Koloß.
Auch die anderen Giganten reagierten nicht erkennbar auf das Ausschleusen des Beiboots. Noch immer
verschwanden ihre Arme in dem brodelnden »Feuermeer«, das den Himmel bedeckte und die Landschaft in
unwirkliches Licht badete.
Die Landschaft.
Kaum jemand an Bord der POINT OF hatte bislang Augen für die Beschaffenheit der Umgebung gehabt, in der
das Ringschiff zur Landung gezwungen worden war. Zumal die willkürliche Bildregie des Checkmasters jede
Detailbeobachtung fast unmöglich gemacht hatte.
Solcherart beeinträchtigt war der Flash nicht. Es gab kein Hemmnis, das die Außenbeobachtung störte oder gar
völlig verhinderte.
»Es ist... wunderschön«, rutschte es Amy heraus - und ihr
wurde nicht bewußt, daß sie damit dasselbe Adjektiv wählte, mit dem auch schon die Gesichter der Statuen
bedacht worden waren.
Wunderschön.
An Bord der POINT OF fing man jedes ihrer Worte auf. Die Verbindung von Flash zu Flash ermöglichte dies.
Dhark hatte eigens die Verlegung eines der Beiboote in die Schiffszentrale angeordnet. Ein einmaliger Vorgang
in der Geschichte des Ringrau-mers. Die Checkmaster-Blockade schrie geradezu nach unkonventionellen
Methoden, sie zu umgehen.
»Was genau ist wunderschön, Amy? Die Statuen?«, fragte Ren Dhark. Seine Stimme klang so klar und
unverfälscht, als befände er sich mit an Bord des Flash.
»Die Landschaft«, sagte Amy. »Die geologischen Strukturen des Planeten wirken sehr alt, das Klima ist mild -
zumindest in diesen Breiten - und alles, was ich überblicken kann, erinnert an die Nationalparks der Erde. Kein
englischer Rasen, wenn Sie verstehen, was ich meine - aber überall gibt es Hinweise darauf, daß hier nichts
völlig wild und ungeordnet wächst. Hier gibt es ordnende Hände - auch wenn uns bis jetzt noch keine über den
Weg gelaufen -«
Sie stockte.
»Was ist?«
»Da bewegt sich etwas.« Sie verständigte sich mit Kartek darauf, tieferzugehen.
Der Flash glitt hinab. Die Flächenprojektoren erhöhten den Schub geringfügig.
»Sehen Sie selbst, Sir«, sagte Amy.
Ihr Flash war mit dem in der Zentrale synchron geschaltet. In der dortigen Deckenholographie bildete sich
demzufolge genau das ab, was auch der weibliche Cyborg und Kartek sahen.
Ein Tier.
Zumindest sprach sein Verhalten dafür, daß es sich um eine relativ intelligenzarme Spezies handelte, eine
Mischung aus terrani-schem Leguan und einem Vogel. Nur daß es weder Schuppen noch
Gefieder besaß, dafür ein wie rotlackiert glänzendes Kurzhaarfell. Selbst seine eng an den Körper gelegten
Flügel waren fellüberzogen. Seine Größe entsprach etwa der eines ausgewachsenen Krokodils. Es saß im
blattlosen Gezweig eines eigentümlich kahl, wie verbrannt aussehenden Baumes, dessen Äste wirr nach allen
Seiten abstanden. Sie wuchsen nicht beliebig aus dem Stamm hervor, sondern allesamt aus dessen oberem Ende.
In der Mitte des Baumes existierte eine Art Nest, aus dem ein ständig die Farbe wechselndes Leuchten drang.
Wovon es verursacht wurde, blieb unklar. Der »Vogel« indes bemerkte nun die Annäherung des Flash, entfaltete
erschrocken seine Flügel, die eine Spannweite von mindestens fünf Metern aufwiesen - und erhob sich damit in
die Lüfte.
Er flog jedoch nicht weit davon, sondern legte die Flügel unvermittelt wieder an und raste in fast senkrechtem
Sturzflug, den mit Homwülsten gepanzerten Schädel voran, in die Tiefe.
Er fiel wie ein Stein. Der tödliche Aufprall schien unvermeidlich.
Doch dann durchstieß er den Boden, der sich an dieser Stelle als entweder sehr nachgiebig entpuppte - oder als
eine Stelle, die vielleicht von dem »Vogel« selbst präpariert worden war, um im Gefahrenfall darin abtauchen zu
können.
»Es scheint Feinde zu haben, denen zu entkommen eine ziemliche Erfindungsgabe voraussetzt«, murmelte Amy,
die noch ganz im Bann des Gesehenen stand.
»Erstaunlich«, urteilte auch Dhark von der POINT OF aus. »Ein allzu sorgloser Spaziergang im Freien ist wohl
nicht zu empfehlen.«
»Ich schreibe es mir hinter die Ohren«, gab Amy lächelnd zurück.
Der Flash setzte seine Erkundung knapp dreißig Meter über der Oberfläche fort. Dabei mußte er immer wieder
den Riesenstatuen ausweichen, die eine Art »Gebirgsersatz« zu sein schienen. Von den Goldenen abgesehen
schien es keine größeren Erhebungen zu' geben.
Aber genau diese Goldenen rückten kurze Zeit später erneut in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit.
Irgend etwas stimmte nicht.
Irgend etwas war oberfaul an dem vermeintlichen Frieden, der sich über die Landschaft gesenkt hatte und den
Flash auf seinem in immer weitere Feme gehenden Flug begleitete.
Man will uns einlullen, uns in Sicherheit wiegen, dachte Amy. Es kann nicht echt sein. Wir werden beobachtet, aber aus unerfindlichem Grund geduldet.
Auf das Warum gab es keine Antwort. Noch nicht zumindest.
Fakt war, daß die POINT OF alles andere als friedlich oder freundschaftlich empfangen worden war.
Fakt war, daß sich die hinter den Goldenen stehende Macht gleich zu Beginn gehörigen Respekt verschafft und
das Flaggschiff der Expeditionsflotte kompromißlos auf Eis gelegt hatte.
Und jetzt durfte mal eben ein Flash zu einem Flug ins Blaue starten...?
Es war verrückt.
Unter brennendem Himmel erreichten Amy und Kartek schließlich eine Region, die sich in einem Punkt
frappierend vom Landeplatz der POINT OF unterschied.
Es war Kartek, der den Riesen als Erster bemerkte.
»Wer hätte das gedacht...«
Amy verstand sofort, worauf er anspielte. Und dann übertrug der Flash das Bild auch zur POINT OF.
Wo das Staunen sich in einem unbedachten Ausruf Dan Rikers entlud, der sein Herz einmal mehr auf der Zunge
trug: »Es gibt also auch die häßliche Version dieser Dinger...«
Einen Moment herrschte betretenes Schweigen.
Riker grinste verlegen und wischte seine eigene Bemerkung mit einer burschikosen Geste beiseite. Schon gut,
sollte das heißen. Ich weiß, man soll Geschöpfe nicht nach ihrem Aussehen beurteilen...
Doch niemand nahm sich die Zeit, auf seine flapsige Bemerkung überhaupt einzugehen.
Zu fünft umstanden sie die offene Luke des Flash und streckten ihre Köpfe ins Innere, um dem Bordhologramm
folgen zu können.
Und darin bildete sich plötzlich eine ganz neue, nie gesehene Version eines Goldenen ab.
Eines Goldenen, der eine Echse war.
Eine aufrechtgehende Echse, mit stämmigen Stummelbeinen und viergliedrigen Händen. Der Kopf war fast
gewaltiger als der Rumpf, aber auch hier...
... gab es ein liebevoll detailliert ausgearbeitetes Gesicht.
Es hatte nur nichts mit einem menschlichen gemein.
»Sauroid«, stellte Gisol kurz und knapp fest. Er nickte, als beinhalte die Entdeckung für ihn keinerlei
Überraschung.
Dhark drehte sich zu ihm um. »Du wußtest von dieser Variante?«, fragte er.
Gisol schwieg.
»Sollen wir den Flug fortsetzen?«, fragte Amy an.
Dhark bestätigte. »Ich habe die dumpfe Ahnung, daß dies nicht die letzte Überraschung ist, die uns erwartet. Wie
groß ist die momentane Distanz?«
»Achthundert Kilometer.«
»Gut. Setzen wir mal voraus, wir wären ungefähr in der Mitte dieses Territoriums gelandet«, sagte Dhark, »dann
sollte das Szenario spätestens nach der doppelten der bereits zurückgelegten Strecke abermals wechseln - falls
mein Verdacht stimmt.«
»Welcher Verdacht?«, fragte Riker.
Statt einer Antwort wandte sich Dhark erneut an Gisol. »Stimmt er?«
»Das kann ich nicht beurteilen. Mir ist dieser Planet, wie ich
bereits mehrfach betonte, unbekannt. Auch sein Sinn und Zweck.«
»Aber das Auftauchen der Echsenstatuen hat dich nicht sonderlich verblüfft.«
»Nein.«
»Warum nicht?«
»Warten wir ab, ob sich dein Verdacht bestätigt«, wich Gisol aus. Neben ihm stand Juanita, die zu alledem
schwieg.
»Ich verstehe«, sagte Riker in diesem Moment. »Du denkst, es gibt noch weitere Varianten der Statuen. Aber
wie kommst du dar
auf?«
»Spontane Eingebung.« Dhark lächelte. »Und was für ein System könnte dahinter stecken?« »Das wird uns Gisol verraten. Er hat es gerade versprochen.«
Ren Dhark stellte hellseherische Kräfte unter Beweis - oder zumindest ein stark ausgeprägtes
Vorstellungsvermögen.
»Da!«
Wieder war es Kartek, der den Wandel in der bildhauerischen Gestaltung als Erster bemerkte.
Via Gedankensteuerung zoomte das Deckenhologramm die am Horizont auftauchende Gestalt heran. Ihre Höhe
war identisch mit den Ausmaßen der humanoiden Goldenen und den Echsenabkömmlingen - die Statur
unterschied sich jedoch beträchtlich.
Gedrungener, massiger Körperbau, dachte Amy. Und es fehlt am Wesentlichen - am Köpfchen.
Die neu auftauchende Figur war in der Tat köpf-, aber nicht gesichtslos - wie sich nach eingehendem Studium des Hologramms herausstellte. Nur breitete sich die Physiognomie dieser Statue über ihren Brustbereich aus, ebenso wie die stilisierten Sinnesund Atmungsorgane! »Unglaublich...! Sehen Sie das, Commander?« »Klar und deutlich«, antwortete Dhark. »Fliegen Sie weiter.« »Noch weiter?« »Umrunden Sie den Planeten - erhöhen Sie Ihre Geschwindigkeit und achten Sie dabei hauptsächlich auf das Auftauchen weiterer Varianten. - Wie groß ist die bislang zurückgelegte Strecke?« »2300 Kilometer.« »Das stützt meine These, wonach der Planet in Parzellen unterteilt sein könnte. Jede Parzelle umfaßt im Durchmesser etwa 1500 Kilometer, plus/minus ein paar hundert. Die POINT OF muß nicht im Mittelpunkt einer Parzelle gelandet sein. Deshalb werden wir mit üngenauigkeiten in der Schätzung leben müssen, bis die Kartographierung abgeschlossen ist.« »Wir sollen den Planeten kartographieren?« »Nur hinsichtlich der Statuen-Verteilung.« Kurz nach dieser neuen Anweisung beschleunigte der nach wie vor im Intervallschutz fliegende Flash auf
nahezu Schallgeschwindigkeit. Kartek gelang es dabei, sämtlichen Hindernissen mit traumwandlerischer
Sicherheit auszuweichen.
Dennoch fragte sich Amy ein ums andere Mal, was wohl passiert wäre, wenn sie mit einer der Statuen
»kollidiert« wären - kollidiert in dem Sinne, daß der Flash sie einfach im Mantel seines eigenen
Mikrouniversums durchdrungen hätte.
Im Regelfall hätte es dabei zu keiner Gefährdung kommen dürfen - aber gab es diesen Regelfall auch auf diesem
Planeten?
Sie teilte ihre Überlegung Ren Dhark mit. »Sollen wir versuchen, in eine der Statuen einzudringen und auf diese
Weise etwas über ihr Innenleben herausfinden?«
»Ein klares Nein! Damit würden wir nur riskieren, daß der Status Quo erlischt. Und das könnte sowohl Ihr als
auch unser Leben kosten.«
Amy verstand und drängte nicht weiter darauf. Kartek, der mitgehört hatte, schien fortan aber noch
konzentrierter zu steuern.
Bald darauf tauchte die nächste Variante von Goldenen auf -aufrechtstehende, unbekannte Insektoiden, die
grazile Extremitäten in den brennenden Himmel getaucht hielten.
Auch ihre Gesichter, so fremdartig - oder häßlich, folgte man Rikers Urteil - sie für den menschlichen Betrachter
auch aussehen mochten, waren mit ungeheurer Detailfreude modelliert.
»So langsam wird mir Golden unheimlich«, brummte Amy. »Ich fühle mich wie in einem Gruselkabinett.«
»Golden?«, fragte Dhark. »Ist das kein passender Name für eine seltsame Welt wie diese?« Sie erhielt Zustimmung. Überdies war niemand in der Stimmung, sich einen eventuell passenderen Namen auszudenken. Der Flash setzte seinen Weg fort - und machte die Feststellung, daß ab der nächsten »Grenze« erneut Humanoide auftauchten, wie sie die POINT OF umzingelten. Danach folgten wieder Echsen, Kopflose und Insektoiden. Humanoide, Echsen, Kopflose, Insektoiden... Andere Artefakte waren nicht auffindbar. Stunden, nachdem der Flash gestartet war, kehrte er zur POINT OF zurück, wo bereits hitzige Diskussionen entbrannt waren. Und wo Dhark auf die Einhaltung von Gisols »Versprechen« pochte.
Juanita sog die Nähe Gisols regelrecht in sich ein. Allmählich wich ihre Angst und machte einer Neugierde
Platz, von der sie selbst überrascht wurde.
»Du wolltest mir erklären, warum dich das Auftauchen der Echsenstatuen - und wohl auch das der anderen
Figuren - nicht wirklich erstaunt hat. Wirst du uns jetzt teilhaben lassen an deinem Wissen?«
Gisols Hand lag auf Juanitas Schulter. Er wirkte ruhig und gefaßt. »Es wird uns nicht wirklich weiterbringen«,
sagte er und streichelte über Juanitas Haar.
Sie lächelte, hob ihren Arm und bekam Gisols Hand zu fassen.
Sie war warm und weich, und nichts daran verriet, daß sie jederzeit zur Klaue oder einer anderen Form hätte
mutieren können.
Gisol, der Gestaltwandler.
Gisol, der Außerirdische aus einer fernen Galaxis.
Gisol, der Freund.
Sie spürte das Mißtrauen, das ihm seit der Landung von den anderen entgegenschlug, und sie hätte sich
gewünscht, etwas dagegen unternehmen zu können.
»Mag sein. Laß uns trotzdem an deinen Kenntnissen teilhaben.«
Gisol zierte sich nicht länger.
»Für euch«, sagte er, »mag es eine neue Erfahrung sein, Statuen unterschiedlicher Ausprägung zu Gesicht zu
bekommen. Ihr konntet bisher nur auf das zurückgreifen, was euch in eurer eigenen Galaxis begegnete - und dort
sind sämtliche Relikte dieser Art humanoid.«
»Worauf willst du hinaus?«
»Die Eingriffe der Worgun in die Natur von Planeten beschränkten sich nicht nur auf die Milchstraße. Die
Goldenen repräsentieren die in einer Galaxis gepflegte Grundform, mit der mein Volk experimentierte. Bei euch
war es die humanoide Lebensform, anderswo dominierten die Sauroiden, wieder anderswo die Insektoiden und
zu guter Letzt jene methanatmende Abart eines Humanoiden, die ihr mit dem Gesicht auf dem Oberkörper gese
hen habt.«
Seine Worte hinterließen ungläubiges Staunen.
»Auch in der Milchstraße«, sagte Dhark schließlich, »gibt es Insektenabkömmlinge, Amphibien, amorphe
Lebensformen... was auch immer.«
»Die Worgun nahmen nie für sich in Anspruch, die einzigen Lebens- oder Intelligenzbringer zu sein. Es ist keine
Frage, daß sich viele intelligente Völker aus freiem Antrieb heraus entwickelt haben.«
Dhark ließ nicht erkennen, was diese Aussage in ihm hervorrief. »Was ich immer noch nicht verstehe... warum
haben die Figuren
hier samt und sonders ausdrucksstarke Gesichter, während sie den Statuen in der Milchstraße ausnahmslos
fehlen? Was für einen Grund gab es, die Monumente in meiner Heimatgalaxis gesichtslos
zu halten?«
»Auch darauf vermag ich dir keine Antwort zu geben.« Gisol erweckte nicht den Eindruck, als versuche er sich
vor einer Aussage zu drücken. Offenbar kannte er die Antwort wirklich nicht. »Die meisten Daten, die sich mit
der Historie meines Volkes beschäftigen, sind heutzutage unter Verschluß. Ein normaler Worgun wie ich hat
keine Chance, an dieses heute von den Zyzzkt bewachte Wissen heranzukommen.«
Dhark nickte. »Vielleicht gelingt es uns gemeinsam, uns Zugang zu dem Hort zu verschaffen, wo es verwahrt
wird.«
»Dazu müssen wir zunächst einmal einen Weg finden«, sagte Gisol, »diese Welt wieder zu verlassen.«
»Das sehe ich genauso.« Dhark wandte sich mit einem Ruck an die Zentralebesatzung. »Insbesondere durch den
reibungslos verlaufenen Ausflug von Amy Stewart und Kartek bin ich zu dem Entschluß gelangt, einen weiteren
Vorstoß mit den Flash zu wagen. Ich zähle jetzt die Namen derer auf, die mich begleiten werden...« Er schüttelte
den Kopf, was Dan Riker galt, der bereits zu einer Erwiderung anhob, aber gar nicht erst dazu kam, weil Dhark
unbeeindruckt fortfuhr: »Nein, diesmal lasse ich mich nicht davon abbringen, selbst an dem Erkundungsflug
teilzunehmen. Neben mir werden Gisol, Artus, Doorn und Sass insgesamt fünf Flash belegen. Jedem
zugewiesen wird von mir noch ein Pilot - die Namen gebe ich später bekannt. - Irgendwelche Einwände, die
sachlicher Natur sind?«
Dan Riker konnte seinen Mißmut kaum verbergen. »Und ich darf wieder mal hier an Bord die Stellung halten.«
Dhark verzichtete darauf, noch mehr Salz in die offene Wunde zu streuen.
»Start ist in einer Stunde«, sagte er. »Treffpunkt Depot.«
4. Ein erneuter Blutaustausch, um die Giftstoffe aus Bert Strangers Körper zu schwemmen, erwies sich als nicht
erforderlich. Allein die fehlenden Erinnerungen verhinderten, daß die wenigen nach der Entgiftung neu
entstandenen Partikel aktiv werden konnten. Sie wurden auf normalem Weg vom Körper abgebaut.
Professor Wehster warnte ihn dennoch eindringlich. »Mister Stranger, Sie sind wieder fit wie eh und je, aber Sie
sollten sich hüten, ein weiteres Mal mit dieser heimtückischen Variante der Sensorium-Chips in Kontakt zu
kommen. Noch einmal entgiften können Sie nicht, weil es dann mit höchster Wahrscheinlichkeit zu einer
Deformation des Gehirns kommt, die eine nochmalige Heilung unmöglich macht.«
»Was wollen Sie damit sagen? Deformation?«
»Wissen Sie, was Robonen von Terranem unterscheidet?« fragte Webster trocken. »Nicht nur ihr Wille, sich
Terra Untertan zu machen, und nicht nur ihre enorme Reaktionsschnelligkeit, sondern vor allem eine
Deformation einer ganz bestimmten Gehirnpartie. Durch die Behandlung der Giants wurden dort bestimmte
Teile miteinander verschmolzen. Der Commutator-Enzephalo, mit dem Commander Dhark seinerzeit die von
den Giants zu verdummten Marionetten gemachten Terraner und auch die Robonen wieder umschaltete, konnte
diese Verschmelzung bei den Robonen nur teilweise rückgängig machen.«
Stranger nickte. Er erinnerte sich an das, was Manu Tschobe und der Cyborg Holger Alsop einmal berichtet
hatten. Die beiden hatten sich wie kaum jemand sonst mit den Robonen befaßt.
»Dann seien Sie mal völlig unbesorgt«, versicherte er. »Ich habe nicht vor, jemals wieder ein Sensorium zu
benutzen. Nicht das eine und nicht das andere.«
»Dann wünsche ich Ihnen Standhaftigkeit«, lächelte Webster. »Denn das Sensorium wird seinen Weg machen -
so oder so...«
Der Reporter meldete sich noch nicht sofort nach der Entlassung aus dem Medo-Center bei seinem Arbeitgeber
zurück. Er wollte zuvor noch etwas erledigen.
Er nahm die Chips, über die er noch verfügte; sowohl die bereits gebrauchten, die er noch nicht weggeworfen
hatte, als auch die ungebrauchten, und suchte einen ihm bekannten Suprasensorspe-zialisten auf. Niklas Bratislav
war ihm einen Gefallen schuldig. Besonders begeistert zeigte er sich nicht gerade, als Stranger vor seiner
Wohnungstür auftauchte. Er packte den Reporter und zerrte ihn herein.
»Nett, daß du mal vorbeischaust«, fauchte er. »Wenn dich hier jemand sieht...«
»Was dann, Nik?«
»Ach, verdammt.« Bratislav winkte ab. »Du bist doch nur hier, weil du wieder Ärger mit dir herumschleppst.
Und das ist das letzte, was ich jetzt gebrauchen kann. Die suchen nur nach einem Grund, mich aus dem Projekt
zu feuern, und wenn jemand ausgerechnet jetzt einen Reporter deines Kalibers mit mir zusammen sieht, bin ich
den Job los!«
»Was ist denn das für ein Job?« fragte Stranger.
»Einer, der dich 'nen feuchten Dreck angeht. Regierungsprojekt, und man traut mir wieder mal nicht.«
»Dann denk daran, daß ich dir schon mal aus 'ner Mißtrauensfalle geholfen habe.«
»Was willst du, Rotfuchs?« Damit spielte er auf Strangers dünne Haarpracht an.
»Einen Willkommensdrink, einen Sitzplatz und daß du dir mal ein paar Chips anschaust.«
»Was sind das für Chips?«
»Das sollst du für mich herausfinden.«
»Du kannst mich mal«, knurrte Bratislav, streckte aber die Hand
aus und nahm die Chips entgegen. »Hm«, brummte er. »Sehen ganz normal aus. Was ist da Besonderes dran?«
»Untersuch sie einfach mal. Du bist der Spezialist.«
Bratislav bot ihm keinen Drink und keinen Sitzplatz an, sondern verschwand wortlos mit den Sensorium-Chips
in seinem Arbeitszimmer. Die Tür zog er hinter sich zu, aber Stranger hörte kein Vemegelungsklicken.
Er wußte, daß Niklas Bratislav in seinem Arbeitsraum einen der besten Suprasensoren hatte. Der war für die
GSO bestimmt und vor einem halben Jahr ganz. zufällig von einem Lastenschweber gefallen. Welch ein Zufall,
daß Bratislav gerade zur Stelle war, um das Gerät vor der Schrottentsorgung zu retten... seitdem stand der
Suprasensor im Arbeitszimmer seiner Privatwohnung. Damals hatte jemand den Namen Bratislav ins Spiel
gebracht, als es darum ging, das Verschwinden des Gerätes zu untersuchen, aber Bert Stranger hatte dafür
gesorgt, daß dieser Name ganz schnell wieder von der Liste der Verdächtigen verschwand. Unterschlagungen
technischer Geräte waren gang und gäbe, und sowohl Bratislav als auch Stranger wußten, daß sie sich strafbar
machten - der eine wegen Diebstahl, der andere wegen Begünstigung einer Straftat. Aber schon damals ahnte
Stranger, daß ihm dieses Gerät einmal nützlich werden könnte.
Jetzt trat dieser Fall ein. Wenn Stranger die Chips an einem öffentlichen Institut untersuchen ließ, erregte das
Aufsehen. Das wollte er aber vermeiden. Es konnte seiner Arbeit und vor allem ihm selbst schaden. Besser war
es, zum Schluß mit einem Paukenschlag aufzutreten und somit dafür zu sorgen, daß der Gegner keine Chance
mehr bekam, etwas dagegen zu unternehmen.
Langsam näherte er sich der Tür zu Bratislavs Arbeitszimmer. Lautlos öffnete er sie - nicht lautlos genug.
Bratislav knurrte ihn an, ohne sich zu ihm umzuwenden: »Dachte ich's mir doch, daß du neugierig bist. Ich bin's
auch. Erzähl mir was über die Chips. Was ist Besonderes daran?«
»Stichwort Sensorium.«
»Dazu gehören diese Speicher?«
»Ja. Mehr kann ich dir nicht sagen. Einige sind leer. Da war mal was drauf, wurde aber gelöscht, nur nicht von
mir.«
»Du hast so ein teures Ding? Stimmt auch nur die Hälfte von dem, was die Werbung verspricht?«
»Es stimmt alles«, sagte Stranger. »Oder auch gar nichts... und deshalb bin ich hier.«
»Gelöscht, aber nicht von dir«, murmelte Bratislav. »Hm... selbstlöschende Programme? Die gibt's seit
Ewigkeiten, das ist völlig normal und müßte selbst jemandem wie dir bekannt sein.«
»Untersuch die Dinger bitte trotzdem.«
»Weil du's bist...«
Bratislav schob einen der Chips in die Aufnahme des Suprasensors. Er startete ein Analyseprogramm. »Ganz
gewöhnlicher Datenträger«, murmelte er. »Kompatibel zu nahezu allen Aufnahme-und Wiedergabegeräten.
Oberflächenstruktur... normal. Kapazität... ups. Ziemlich groß. Aber noch im normalen Rahmen. Müssen sehr
neue Chips sein, die mit spezieller Datenkompression mehr speichern können als gewöhnlich. Aber kein
Problem. Das läßt sich trotzdem mit den gängigen Wiedergabegeräten auslösen.«
»Was heißt das?«
»Die entpackten Daten werden in einem Puffer zwischengelagert und abgerufen. Kennen wir alles schon. Ich
frage mich, weshalb du hier bist, Rotfuchs. Was ist da so Besonderes dran?«
»Das aufgespielte Programm.«
»Hm«, machte Bratislav, Er betrachtete die Detailauswertung der Analyse, die auf drei Monitoren parallel
ausgegeben wurde. »Willst du einen Ausdruck?« Stranger nickte. Der Spezialist berührte eine Sensortaste. Augenblicke später warf der Suprasensor ein halbes Dutzend Folien aus. Stranger warf keinen Blick darauf, faltete sie und ließ sie in der Jackentasche verschwinden. Bratislav aktivierte jetzt das auf dem zu analysierenden Chip aufgespielte Programm. »Mal sehen, was da drauf zu sehen ist...« Unwillkürlich zuckte der Reporter zusammen. Aber dann entspannte er sich wieder. Wenn dieser hochmoderne Suprasensor in der Lage war, die Erlebnisbilder abzurufen und wiederzugeben, dann nur in Form einer normalen Holoprojektion. Es war kein Sensorium, die Bilder würden Stranger nicht wieder süchtig machen können. Über einen der Holomonitore zuckten blaue Blitze. Augenblicke später erlosch die Wiedergabe. Der Suprasensor schaltete auf den zweiten Monitor um, der gleichfalls Sekunden danach erlosch. Dann der dritte... »Verdammt!« stieß Bratislav hervor. Er hieb auf die Unterbrechertaste, dann auf Stop. Der Suprasensor reagierte nicht darauf. Im Gegenteil, plötzlich knisterte und knackte es im Inneren des Gerätes. Der Speicherchip ließ sich nicht auswerfen! Kleine Farbanzeigen signalisierten die Katastrophe. »Stranger!« brüllte Bratislav. »Was hast du Schweinepriester mir da für ein Kuckucksei ins Nest gelegt? Ich bring' dich um!« Seine Finger tanzten auf den Sensortasten, versuchten zu stoppen und zu retten. Aus einer der Öffnungen des Suprasensors drang ein dünner Rauchfaden. Dann tanzten Funken über das Zugriffsterminal. Kurzschlüsse zischten.
»Das ist eine Chaosschaltung!« tobte Bratislav. »Verdammt noch mal, was soll das? Hast du das absichtlich...?« »Hältst du mich für so idiotisch?« fauchte Stranger ihn an. Im Gerät rauschte und knisterte es weiter. Nacheinander erloschen die Kontrollen. Der Suprasensor war irreparabel zerstört. »Wie konnte das passieren?« überlegte der Reporter. »Weiß ich nicht!« knurrte Bratislav. »Aber du nimmst jetzt deine verdammten Chips und verschwindest, um dich hier nie wieder sehen zu lassen. Wir sind quitt, hast du mich verstanden? Und jetzt hau ab, oder du lernst mich von einer Seite kennen, die du sicher gar nicht kennenlernen willst!« Stranger zuckte mit den Schultern. »Tut mir leid, das war so nicht geplant.« »Dann plane jetzt deinen strategischen Rückzug, oder ich prügele dich hinaus! Verdammt noch mal, ausgerechnet dieses Wahnsinnsgerät... durch deine verfluchten Dreckchips... ich könnte dich totschlagen, Mann, wirklich!« Strangerging. Was sollte er noch sagen?
Stunden später rief Bratislav ihn an.
»Dein verdammter Chip hat eine Chaosschaltung ausgelöst«, berichtete er. »Ich habe versucht, die Aktion
nachzuberechnen. Das Programm muß eine Sicherheitssperre haben, die jeden unberechtigten Zugriff abwehrt
und zerstörerisch wirkt.«
»Was heißt das?« fragte Stranger.
»Es heißt, daß diese Chips nur von einem Sensorium ausgelesen werden können. Eine Analyse ist demzufolge
nicht möglich, denn ich kann mir nicht vorstellen, daß ein Sensorium selbst diese Option zuläßt.«
Da mußte Stranger ihm zustimmen. Er verstand zwar nichts von diesen Geräten, aber warum sollten deren
Erbauer eine solche Möglichkeit zugelassen haben?
Er stand also wieder am Anfang.
Die Folienausdrucke, die er mitgenommen hatte, besagten nichts weiter, als daß es sich um ganz normale Chips
handelte. Das half ihm nicht.
Bratislav war immer noch stinksauer über den Verlust seines Rechners. Den Suprasensor konnte er als
Totalschaden sehen. Wie gewonnen, so zerronnen... und Bert Stranger hatte mit diesem Analyseversuch nichts
erreicht.
Tags darauf ließ er sich endlich wieder in seinem Terra-Press-Büro sehen. Von dort aus rief er über Vipho
Veronique de Brun im französischen Le Puy an. Sie hatte er ja schon vor ein paar Wochen aufgesucht, weil er
den Verdacht hatte, Wallis Industries könnte hinter der Sensorium-Technologie stecken. Immerhin hatte er in der
Patentschrift gelesen, daß die Geräte mit induzierten Deltawellen arbeiteten. Bei den letzten Aktionen der
Robonen, ehe diese im September des vergangenen Jahres Terra endgültig verließen, war es zu Manipulationen
von Deltawellen gekommen, und die zum Wallis-Konzern gehörende Firma Biotechnologique befaßte sich mit
der Erforschung dieses Phänomens.
Aber de Brun hatte ihn enttäuschen müssen. Da es sich bei jener Psychowaffe um eine robonische Erfindung
handelte, war nach dem Verschwinden der Robonen die Forschung daran eingestellt worden; es bestand ja nun
keine unmittelbare Gefahr mehr.
Stranger war mit seinem Schweber nach Paris weitergeflogen, um sich dort mit einem Informanten zu treffen.
Aber er hatte festgestellt, daß er verfolgt wurde, die Verfolger abgeschüttelt und dadurch Zeit verloren. Als er in
einem kleinen Landgasthof im Bour-bonnais übernachtete, mußte er feststellen, daß seine Verfolger sich
durchaus nicht hatten abschütteln lassen, wie er geglaubt hatte, sondern ihn in der Nacht überfielen und ihn mit
ihrem speziellen Sensorium schon beim ersten Einsatz süchtig machten.
Danach hatte er logischerweise kein Interesse mehr gehabt, den Informanten zu treffen. Und inzwischen war er
schon gar nicht mehr sicher, ob der Mann ihm tatsächlich helfen konnte.
»Sie schon wieder?« hörte er de Brun fragen, als sie sein Konterfei auf ihrem Viphoschirm sah. »Was wollen Sie
diesmal?«
»Es geht immer noch um das Sensorium - Sie erinnern sich an unser letztes Gespräch vor einigen Wochen?«
»Da sagte ich Ihnen doch schon, daß ich Ihnen nicht weiterhelfen kann«, erwiderte sie.
»Vielleicht doch, wenn auch unter anderen Voraussetzungen«,
hoffte er. »Da gibt es nämlich ein nettes kleines Problemchen.«
»Ausgerechnet Sie haben ein Problemchen, Stranger?« staunte sie. »Ich hätte Ihnen ja fast alles zugetraut,
aber...«
»Es ist mir verdammt ernst. Können Sie mir ein paar Minuten lang zuhören?«
Sie konnte. Er schilderte ihr sein Problem und schloß: »Ich hoffe, daß Biotechnologique vielleicht eine
Möglichkeit hat, die von den Spezialchips erzeugten Deltawellen zu analysieren. Kann ich Sie in Le Puy
aufsuchen?«
Sie zögerte. Stranger glaubte plötzlich auf heißen Kohlen zu sitzen. Vorsichtshalber hatte er das Fiasko bei
Bratislav nicht erwähnt. Roch de Brun den Braten trotzdem?
Schließlich gab sie sich einen Ruck.
»Weil Sie es sind. Stranger. Weil ich weiß, daß ein Reporter Ihres Kalibers sich nicht mit Nebensächlichkeiten
abgibt. Ich lasse ein Labor für Sie bereitstellen, nur sollten Sie pünktlich sein. Biotechnologique ist ziemlich
unter Auftragsdruck. Wir haben dermaßen viel zu tun, daß wir Probleme bekommen, wenn wir ein Labor länger
als einen halben Tag nicht nutzen können.«
»Hoffentlich reicht ein halber Tag«, unkte Stranger.
»Ein halber, keine Sekunde länger. Seien Sie morgen früh mit Ihren Chips hier. Mehr kann ich Ihnen nicht
gewähren.«
»Werden wir schon hinkriegen«, brummte er. Überall herrschte Rezession, aber Biotechnologique hatte volle
Auftragsbücher - offensichtlich fiel der Wallis-Konzern samt seinen Tochterfirmen selbst in wirtschaftlich
schlechten Zeiten immer wieder auf gesunde Füße - sicher ein Verdienst der erstklassigen Geschäftsleitung.
Stranger beendete die Vipho Verbindung und rieb sich die Hände. Er hätte gleich auf die richtige Idee kommen
und es in Le Puy versuchen sollen!
Zufrieden rief er das Terminal des Interkontinentalflughafens von Alamo Gordo an, um einen Jett nach
Frankreich zu buchen.
»Welches Konto, bitte?« flötete die bildhübsche Angestellte und strahlte ihn so fröhlich an, daß es einfach nicht
echt sein konnte.
Er nannte sein Geschäftskonto der Terra-Press.
»Einen Moment, bitte, Sir...« Und dann, eine halbe Minute später: »Es tut mir leid, Sir. Aber Sie sind nicht
autorisiert, über dieses Konto zu verfügen.«
»Moment mal«, stieß er verblüfft hervor. »Da liegt ein Irrtum vor.« Noch einmal nannte er die Zahlenkette.
»Kein Irrtum, Sir. Es gibt keine Autorisierung für dieses Konto.«
»Das ist ein Geschäftskonto, eingerichtet für Bert Stranger, Mitarbeiter der Terra-Press. Ich bin dieser Bert
Stranger. Bitte prüfen Sie meinen ID-Code. Er lautet - Moment, bitte...« Wann zuletzt hatte er es nötig gehabt,
sich auszuweisen? Er mußte erst mal nach dem Ausweis suchen, weil er den auch schon lange nicht mehr
benötigt hatte. Ihn mit seiner unglücklichen Figur und dem rothaarigen Kugelkopf kannte doch jedes Kind auf
Terra. Sein Aussehen war Ausweis genug.
»Sony, Sir. Ich sagte doch, daß es keine Autorisierung für dieses Konto gibt. Ich glaube Ihnen gern, daß Sie
Mister Bert Stranger sind, aber Sie haben auf dieses Konto dennoch keinen Zugriff.«
»Das kann einfach nicht sein! Vor ein paar Tagen...«
»Vor ein paar Tagen wurde die Zugriffsautorisierung gelöscht, Sir«, sagte die Hübsche.
»Von wem?« stieß er hervor. Sollten seine Gegner etwas gemerkt haben und ihn jetzt auf andere Weise unter
Druck setzen? Hatten sie sich in den zentralen Suprasensor der Terra-Press gehackt und seinen Zugriff gelöscht?
»Die Löschung erfolgte durch einen Mister Patterson, Sir. Er wies sich als autorisiert aus.«
»Patterson«, ächzte Stranger und ließ sich gegen die Sessellehne zurückfallen. »Danke, Miß. Verdammt,
Patterson...«
Er tastete die Verbindung aus.
Im gleichen Moment glomm der Viphoschirm wieder auf. Pat-tersons Gesicht erschien in Großaufnahme. »Zu
mir, Stranger. Sofort.«
Als Stranger das Büro seines obersten Chefs betrat, sah er seinen Ressortleiter Maik Caroon. Der lehnte an der
Seitenwand des Raumes, die Arme vor der Brust verschränkt, und machte ein Gesicht wie drei Jahre
Regenwetter und Urlaubssperre hintereinander. Unaufgefordert ließ Stranger sich in den Sessel vor Pattersons
Schreibtisch fallen.
Er betrachtete seinen Oberboß.
Der ignorierte ihn zunächst und zeigte sich in das Studium irgendwelcher Unterlagen vertieft. Auch Caroon
sagte kein Wort, runzelte aber die Stirn über Strangers Verhalten.
Gerade, als der Reporter etwas sagen wollte, blickte Sam Patterson auf. »Ach ja. Stranger«, sagte er. »Der letzte
Nagel zu meinem Sarg.«
Er klappte den Hefter mit den Unterlagen zu und schob ihn beiseite.
»Mein lieber Bert Stranger«, säuselte er. »Mein bester Mann, Hansdampf in allen Gassen, immer gut für
Sensationen und absolute Knüller. Wie lange ist es jetzt her, daß Sie uns den letzten großen Knüller beschert
haben? Helfen Sie mir doch mal auf die Sprünge.«
»Ich liefere ständig Knüller und bin gerade jetzt wieder dabei«, sagte Stranger, der sich fragte, ob Patterson ihm
seinen letzten Auftritt in diesem Büro nicht doch wesentlich übler genommen haben könnte als befürchtet. »Und
deshalb muß ich Sie jetzt fragen, aus welchem Grund Sie meine Arbeit behindern.«
»Welche Arbeit?« fragte Patterson trocken zurück. »Sie haben seit Wochen nichts mehr zustandegebracht. Sie
benutzen Ihr Büro,
ohne Leistung zu erbringen, Sie...«
»Manche Dinge benötigen eben etwas mehr Zeit als andere«, fuhr Stranger ihm scharf in die Parade. »Sir, auch
wenn Sie mein oberster Boß sind: Wie und in welcher Zeit ich meine Arbeit erledigen kann, bestimme immer
noch ich selbst.«
»Das bleibt Ihnen künftig unbenommen«, sagte Patterson.
Stranger machte eine abwehrende Handbewegung.
»Sie müßten das aus eigener früherer Erfahrung wissen, Sir«, fuhr er frostig fort. »Sie haben doch auch mal als
Reporter angefangen, nicht wahr? Und sind langsam die Karriereleiter hochgeklettert. Könnte es sein, daß Sie
ein paar Kleinigkeiten vergessen haben, was den Ablauf eines Arbeitsvorgangs angeht? Warum haben Sie
meinen Kontozugriff gelöscht?«
Pattersons Augen wurden schmal.
»Ihre Frechheit ist fast noch bewunderungswürdiger als Ihre Faulheit«, sagte er. »Mann, Stranger! Haben Sie
immer noch nicht begriffen, weshalb Sie gerade jetzt hier in meinem Büro sitzen? Oder wollen Sie es nicht
begreifen?«
»Vielleicht können Sie's ja mal in allgemeinverständlichen Worten erklären, statt das Orakel von Delphi in den
Schatten stellen zu wollen«, konterte Stranger.
»Also gut. Ganz langsam zum Mitschreiben: Sie sind gefeuert.«
Es dauerte ein paar Sekunden, bis die Worte in Bert Strangers Bewußtsein eindrangen. Etwas irritiert sah er
Caroon an. Der schwieg immer noch.
Stranger sah wieder zu Patterson. »Begründung?« fragte er knapp.
»Geht Ihnen schriftlich zu. Unanfechtbar. Die juristische Abteilung hat alles genau abgesichert. Sie bekommen
nicht mal eine Abfindung, falls Sie darauf hoffen. Sie sind einfach weg vom Fenster, draußen, erledigt.«
»Intermedia nimmt meine Story mit Kußhand«, konterte Stranger. Er bemühte sich, nicht zu zeigen, wie es in
ihm aussah. Gefeuert! Von einer Minute zur anderen! Deshalb die Kontosperre. Sein Chef hatte schon
beschlossen, ihn vor die Tür zu setzen, als Stranger noch als krankgemeldet galt. Verdammt!
Es war nicht so, daß Stranger sich wirklich Sorgen um seine Zukunft machte. Er war gut, das wußte er, und das
wußten auch alle anderen. Er war sogar sehr gut. Und selbst wenn ihm ungünstigenfalls niemand eine
Festanstellung geben würde, konnte er sich noch als freier Journalist und Rechercheur verdingen und seine
Storys allen anbieten, die gut zahlten. Und wenn alle Stricke reißen, bewerbe ich mich bei der GSO, dachte er
spöttisch.
Was ihn schockierte, war das Plötzliche dieses Rausschmisses. Damit hatte er nicht gerechnet.
Und das alles verdanke ich euch Sensorium-Dreckschweinen, dachte er zornig. Wenn ihr mich nicht so kaputtgemacht hättet... Freunde, euch mische ich noch richtig auf, und wenn es das letzte ist, was ich jemals tue...
»Welche Story denn. Stranger?« fragte Patterson derweil in gespielter Langeweile. »Seit Wochen laborieren Sie
an dieser Sen-sorium-Geschichte und kommen keinen Schritt vorwärts. Falls Sie noch ein rudimentäres
Erinnerungsvermögen besitzen, fällt Ihnen möglicherweise ein, daß wir uns erst vor ein paar Tagen darüber
unterhalten haben. Sie wollten die Karten nicht auf den Tisch legen. Sie haben sich hier aufgeführt wie Graf
Koks von der Gasanstalt. Sie seien der einzige, der diesen Job machen könne. Und? Es gibt immer noch keine
Resultate. Warum wir die brauchen, dringend brauchen, habe ich Ihnen begreiflichzumachen versucht. Aber
wenn Sie Ihre Ohren auf Durchzug geschaltet haben...«
»Langsam, Mister Patterson, Sir. Denken Sie an Ihren Blutdruck«, warnte Stranger betont höflich.
»Daran denke ich seit Tagen!« brüllte Patterson ihn an. »Aber der sinkt erst wieder, wenn Sie Parasit Ihren
Schreibtisch geräumt haben und mein und Ihr bisheriges Büro nicht mehr mit Ihrer ver
dämmten Anwesenheit verpesten!«
Endlich regte sich auch Caroon.
»Sir, Stranger hat immerhin stets zu unserer Zufriedenheit gearbeitet...«
»Er hat - in der Vergangenheit! Aber die Welt dreht sich weiter! Wenn wir jeden Faulenzer und Nichtskönner
durchfüttern, der jemals in der Vergangenheit etwas geleistet hat, können wir gleich Bankrott anmelden. Was
früher war, war früher. Was zählt, ist das Jetzt! Und jetz.t leistet Stranger seit über zwei Monaten nichts, gar
nichts, absolut nichts!«
Er wandte sich wieder dem Reporter zu. »Sind Sie immer noch nicht draußen?«
»Da Sie mich noch vor sich sehen - nein«, blieb Stranger seiner großspurigen Linie treu. Mit der hatte er sich oft
genug eher Feinde als Freunde geschaffen, und in diesem Tonfall seinem wütenden Chef entgegenzutreten, war
ein Risiko besonderer Art. »Sie haben mich gefeuert, okay. Aber vielleicht...«
»Nichts vielleicht! Raus, Sie Laus!« brüllte Patterson, der Choleriker. ^
Ritt Stranger der Teufel, als er eine Hand ausstreckte, Zeige- und Mittelfinger zu einem V formte, dessen Spitzen
auf Pattersons Augen zielten?
»Ganz ruhig, Sir. Ganz ruhig bleiben, hinsetzen und zuhören«, sagte er und hatte selbst nicht an seinen Erfolg
geglaubt, aber tatsächlich schwieg Patterson verblüfft und ließ sich in seinen Sessel zurückfallen.
»Vielleicht möchten Sie noch erfahren, was Ihnen durch die Finger gleitet, wenn ich gehe. Sie haben mich auf
Sensorium Inc. angesetzt, weil die Terra-Press die Firma gern übernehmen möchte.« Neben ihm schnappte
Caroon plötzlich nach Luft; damit bestätigte er Strangers Vermutung vor einigen Tagen, daß auch der
Ressortchef nicht hundertprozentig eingeweiht war.
»Aber es geht hier weniger um Sensorium Inc. oder um diese Übernahme. Es geht um eine ganz andere Sache.
Die ist heiß wie
eine Sonne, und ich bin jetzt so dicht dran, wie keiner meiner Kollegen es jemals schaffen wird. Ich bin nicht nur
dicht dran, Boß, ich bin drin!«
»Wovon, zum Teufel, reden Sie?« fragte Caroon, als Patterson immer noch schwieg.
»Von Politik!« sagte Stranger kalt. »Von Gangsterpolitik! Von Manipulation, von Bewußtseinskontrolle, von
Sucht!«
»Was soll das heißen? Und wieso sind Sie da drin?«
Der rundliche Reporter lachte bitter auf.
»Ich war eines der Opfer! Ein Opfer, das man zum Täter machen will! So tief bin ich schon drin! Hören Sie -
das normale Sensorium, das in den Läden frei verkauft wird, ist ein harmloses Ding! Es gibt aber auch noch eine
zweite Version, und es könnte passieren, daß die plötzlich auch in den Handel kommt, nur merkt das keiner,
weil es keine äußerlichen Unterschiede gibt! Die stecken innen drin, und sie stecken in den Erlebnischips!
Verdammt, ich hab's erlebt und bin darüber süchtig geworden. Unter diesem Suchteinfluß habe ich die
Recherchen verschleppt und verschoben. Aber seit ein paar Tagen bin ich wieder Herr über mich selbst! Meine
Krankmeldung - das war die Entgiftung. Ich bin nicht mehr süchtig.«
»Süchtig durch das Sensorium?« hakte Patterson nach. Er war schlagartig ruhig geworden. Etwas Lauerndes war
in ihm; etwas von einem Alligator, der jeden Moment zuschnappen konnte. Nur einen Moment lang fragte sich
Stranger, ob Patterson mit zu den Verschwörern gehörte. Aber das war unsinnig. Es wäre für ihn zu riskant
gewesen. Stranger in der Angelegenheit arbeiten zu lassen, und erst recht hätte er ihn nicht gefeuert.
Der Reporter nickte.
»Süchtig durch das Sensorium«, echote er. »Hören Sie zu.«
Wieder erzählte er seine Geschichte, offen und schonungslos sich selbst gegenüber. Caroons Gesicht verdüsterte
sich. Patterson lauschte aufmerksam. »Diese Entgiftung hat funktioniert, ich habe die Sucht überwunden«, sagte
Stranger schließlich. »Das einzige Risiko für mich ist, daß ich noch einmal mit diesem speziellen Sensorium zu
tun bekomme und mit den speziellen Chips. Dann erwischt es mich vermutlich zum zweitenmal. Ich bin zwar
geheilt, aber nicht resi-stent.«
»Robonentechnik?« fragte Caroon. »Sie sagten eben etwas von Deltawellen.«
»Es gibt keine Robonen mehr auf Terra, oder ich wüßte etwas davon«, erwiderte der Reporter. »Also ist es auch
keine Robonentechnik, es sei denn, jemand bediente sich ihrer.«
»Gianttechnik«, spann Caroon seinen Faden weiter. »Die Robonen haben eine Menge von den All-Hütem
übernommen, und die haben uns Menschen doch vor Jahren schon mal aufs Kreuz gelegt mit ihrer
Verdummungsstrahlung, die aus Menschen funkferngesteuerte Roboter machte... könnte es sein, daß jemand
entsprechende Gianttechnik gefunden und weiterentwickelt hat?«
»Das werden wir hoffentlich bald herausfinden. Was aber eigentlich dahintersteckt, ist mir erst vor ein paar
Tagen begreiflich geworden - nach unserer letzten freundlichen Aussprache, Boß!« wandte Stranger sich wieder
Patterson zu. »Da war ich noch sen-soriumsüchtig. Ich fand einen Briefumschlag mit Chips, und gleich der erste
zeigte mir einen meiner Kidnapper, der mich aufforderte, künftig im Interesse der Fortschrittspartei tätig zu sein.
Daß das die derzeit größte Partei der Erde ist, dürfte wohl auch dem letzten Mohikaner geläufig sein...«
In Pattersons Augen funkelte es. »Sind Sie da absolut sicher?«
»Absolut.«
»Ich hoffe, es ist Ihnen bewußt, was Sie da für einen Verdacht äußern«, warf Caroon ein.
»Und wie mir das bewußt ist... deshalb rede ich von Gangsterpolitik, und deshalb sage ich, die Story ist heißer
als die Sonne.«
»Sie bleiben dran«, sagte Patterson.
Stranger schüttelte den Kopf.
»Den Teufel werd' ich tun. Ich verlasse jetzt diesen Raum,
räume mein Büro und gehe zur Konkurrenz.«
Patterson sprang schon wieder auf. »Dann nagele ich Sie persönlich ans Kreuz, Stranger!« drohte er lautstark.
»Sie werden diese Story nicht der Konkurrenz zuspielen!«
»Wem denn sonst? Sie wollen sie doch nicht haben. Sie sind ja nicht daran interessiert und haben mich statt
dessen gefeuert. Also bin ich dahingehend frei und kann...«
Patterson kam um den Schreibtisch herum und zu Strangers Sessel. Er legte dem Reporter eine Hand auf die
Schulter.
»Mein lieber Junge, nun nehmen Sie doch nicht gleich alles wörtlich, was ein alter Mann sagt. Sie sind natürlich
nicht gefeuert. Damit wollte ich Sie doch nur einschüchtern. Selbstverständlich arbeiten Sie weiterhin für uns.
Die Story ist wirklich heiß. Wenn Sie's richtig anpacken, kann sogar eine Extraprämie für Sie dabei
herausspringen.«
Fehlte nur noch, daß Patterson ihn abknutschte. Sein lieber Junge sah zu, daß er aus dem Sessel herauskam und
ein paar Schritte Abstand zu Gottes Aufsichtsratsvorsitzendem gewann. »Was die Prämie angeht, nehme ich Sie
beim Wort. Ein Jahresgehalt extra!«
Da war Patterson nicht mehr in Knutschlaune. »Jetzt werden Sie nicht unverschämt! Liefern Sie erst mal Ihre
Resultate ab, dann reden wir über die Finanzen.«
»Aber daß es eine gibt, steht fest. Maik, Sie haben's gehört!« machte Stranger seinen Ressortchef zum Zeugen.
»Und mein Geschäftskonto...«
»Ist selbstverständlich wieder für Sie verfügbar. Ich richte Ihren Zugriff unverzüglich wieder ein.
Fortschrittspartei... Mann, die Sache ist wirklich heiß. Wenn wir die bringen können, ist der Wahlkampf
gelaufen. Und wir sind diejenigen, die Terras Geschichte schreiben!«
Er strahlte Stranger an.
Der schenkte ihm einen tiefsinnigen Blick aus seinen unschuldigen großen Babyaugen. »Boß, Sie sind wie
immer genial«, ätzte er
ausgesucht höflich. »Was wäre die Galaxis ohne Ihre gloriosen Ideen? Ein lebensfeindlicher Sternendschungel,
in welchem die Menschheit nicht die geringsten...«
»Jetzt halten Sie mal die Klappe, Bert«, unterbrach Caroon ihn. »Gehen Sie an die Arbeit.«
»Aye, Sir«, spöttelte Stranger.
»Was haben Sie als nächstes vor?« wollte Patterson wissen.
»Ich will nach Frankreich, nach Le Puy. Die Experten von Bio-technologique sollen diese verdammten
Speicherchips untersuchen. Für morgen früh habe ich ein paar Laborstunden bewilligt bekommen.«
Patterson grinste.
»Gut. Sehr gut. Buchen Sie zwei Plätze.«
Auf dem Rückweg in sein Büro versuchte Bert Stranger, mit seiner Verblüffung fertig zu werden. Buchen Sie
zwei Plätze! Hieß das, daß Sam Patterson höchstpersönlich mitkommen wollte? In seinen Augen lag dieser
seltsame Glanz, den Bert Stranger nur zu gut kannte... hatte es den alten Knaben doch noch einmal gepackt,
selbst mit aktiv zu werden?
Er hielt das nicht für gut.
Patterson mochte einst ein guter Reporter gewesen sein - Bert konnte das nicht beurteilen, weil er keine der
Arbeiten seines Chefs kannte - aber er war schon viel zu lange raus aus dem Geschäft und hinter seinem
Schreibtisch eingetrocknet. Außerdem paßten sie beide nicht zusammen. Der konservative Patterson und das
enfant terrible Stranger gemeinsam, das konnte nicht gutgehen.
Stranger seufzte. Er ließ sich in seinen Schreibtischsessel fallen und wartete einige Minuten ab. Zwei Plätze
buchen... verdammt, wenn Patterson selbst mitwollte, warum ließ er die Buchung dann nicht von seinem
Vorzimmerdrachen durchführen? Stranger war
doch nicht sein Lakai!
Was steckte wirklich hinter dieser Anweisung?
Gerade wollte er erkunden, ob sein Geschäftskonto wieder freigeschaltet war, als jemand sein Büro betrat, ohne
vorher anzuklopfen. »Raus«, knurrte Stranger automatisch, aber der Besucher dachte nicht daran, der
Aufforderung zu folgen, sondern legte eine Art Aktenkoffer auf Strangers Schreibtischrand ab.
Stranger sah auf.
Vor ihm stand ein Vielzweckroboter.
Einer vom »Blechmanntyp«, entfernt menschenähnlich, aber kaum mehr als eine Stahlplastikkonstruktion, wie
die Zeichner der SF-Romantitelbilder der 60er- und 70erjahre des vorigen Jahrhunderts sie sich vorgestellt
hatten. Die reinste Horrorgestalt.
Unwillkürlich mußte Stranger an »Artus« denken, diesen Blechmannroboter, der seit ein paar Monaten durch die
Medien geisterte und der angeblich eine eigene Persönlichkeit entwickelt haben sollte. Bert war da eher
skeptisch; er war davon überzeugt, daß Roboter vielleicht menschliches Verhalten nachahmen, aber nicht selbst
entwickeln und weiterentwickeln konnten. Von daher sah er diesen Artus nicht anders als einen Gag.
Dieser Roboter hier, das stellte er ebenso rasch wie erleichtert fest, besaß jedenfalls keine Persönlichkeit. Er war
nicht mehr und nicht weniger als eine leistungsfähige Maschine von hoher Effizi-enz. Zumindest behauptete sein
Mini-Suprasensor das, als Stranger ihn danach fragte.
Der Reporter atmete auf. So ein überkandideltes Unikum, wie es Artus den Berichten zufolge sein sollte, hätte
ihm gerade noch gefehlt, um ihn endgültig in den Wahnsinn zu treiben. Da war ihm Chris Shantons Robothund
Jimmy wesentlich sympathischer.
»Ich bin Theta 3«, erklärte der Roboter. »Ich bin beauftragt, für Ihren Personenschutz zu sorgen, Mister
Stranger.«
»Ich kann sehr wohl auf mich selbst aufpassen«, protestierte der Reporter. Das fehlte ihm noch, daß er diesen
Blechkameraden als Leibwächter ständig hinter oder neben sich hatte! »Also mach die
Fliege.«
»Dieser Ausdruck ist nicht in meiner Datenbank gespeichert«, behauptete Theta 3. »Erbitte Information.«
»Vergiß es und hau ab! Mach die Parfümnummer und verdufte! Verschwinde! Laß mich in Ruhe, du
Schrottskelett!«
»Diese Ausdrücke sind nicht in meiner Datenbank gespeichert. Erbitte Information.«
Das konnte ja heiter werden. »Ich habe dich nicht angefordert«, sagte er. »Also entferne dich. Und nimm das da
mit.« Dabei deutete er auf das Köfferchen.
»Mich aus Ihrer Nähe zu entfemen widerspricht einem Vorrang-befehl.«
»Wer hat den erteilt?«
»Mister Sam Patterson. Er teilte mich Ihnen als Personenschutz zu. In diesem Behältnis befinden sich diverse
Waffen, die zu dem genannten Zweck meines Einsatzes angewandt werden können. Möchten Sie die Waffen
überprüfen?«
»Ich möchte dich mitsamt deinen Waffen in die nächste Schrottpresse werfen«, seufzte Stranger, der noch nie
Freund gewaltsamer Auseinandersetzungen gewesen war. Er trug seine Fehden lieber mit spitzer Zunge und
scharfem Intellekt aus, gepaart mit einer gehörigen Portion Frechheit. »Ich brauche keinen Leibwächter.«
Theta 3 reagierte nicht.
Stranger schaltete sein Vipho ein und ließ sich mit Patterson verbinden. »Haben Sie mir diesen Konservenheini
auf den Hals geschickt? Wenn ja, pfeifen Sie ihn zurück! Ich brauche keinen Rosteimer, der auf mich aufpaßt.«
»Sind Sie da sicher? Ich wäre es an Ihrer Stelle nicht«, erwiderte Patterson. »Angesichts der Brisanz Ihrer Aktion
und des damals erfolgten Überfalls auf Sie in Frankreich bin ich in Sorge um Ihr Wohlergehen. Ich werde Theta
3 auf keinen Fall zurückbeordern. Finden Sie sich mit ihm ab. Der zweite Platz, den Sie reservieren sollen, ist
übrigens für Theta 3. Haben Sie schon gebucht?«
Stranger schaltete wortlos ab.
Er schüttelte den Kopf.
Ein Roboter als sein Leibwächter. Das hatte ihm gerade noch gefehlt. »Warum immer ich?« murmelte er.
Aber ihm blieb keine andere Wahl.
Er buchte zwei Plätze in dem Transkontinentaljett. Einen für sich und einen für den Blechmann. Dabei wünschte
er sich, es mit einem Mysteriousroboter zu tun zu haben; die sahen wenigstens nicht ganz so unmenschlich
menschlich aus. Und sie redeten nicht.
Am Jettport wunderte sich niemand über die Reservierung. Es war längst üblich, daß Vielzweckroboter für
Kurierdienste eingesetzt wurden.
Aber vorsichtshalber buchte Stranger den Roboterplatz weit hinter seinem eigenen Sitz. So hatte er mit etwas
Glück wenigstens während des Fluges Ruhe vor der Maschine.
Glaubte er.
Ren Dhark hatte es sich zur Gewohnheit gemacht, sich vor einem Außeneinsatz - und solange der zeitliche
Rahmen es zuließ -noch einmal zurückzuziehen und sich zu sammeln.
Nachdem sich die Versammlung aufgelöst hatte, war er mit Dan Riker übereingekommen, daß der in der
Zentrale geparkte Flash auch weiterhin als Verbindungsglied zwischen Außenteam und POINT OF genutzt
werden sollte.
Als erstes Ziel des neuerlichen Erkundungs verbände s hatte Dhark den Sockel ausgewählt, der von seinem
Goldenen verlassen worden war.
Erfahrene Piloten wie Rui Warren, Pjetr Wonzeff, Mike Doraner und wiederum Kartek würden am Einsatz
teilnehmen.
Nach diesen Absprachen, die sich auch auf den psychologischen Umgang mit der Besatzung erstreckten - der
Streß durfte bei einzelnen angesichts dieser absurden Form von Gefangenschaft nicht unterschätzt werden - zog
sich Dhark in seine Kabine zurück.
Ein paar Minuten Privatsphäre.
Ein paar Minuten Ruhe.
Von Abschalten war nicht die Rede. Den Knopf, der ihm dies auf Wunsch ermöglicht hätte, hatte er in all den
Jahren noch nicht an sich entdeckt. Es reichte ihm, mit sich alleinzusein. Mit sich und den Erinnerungen, die die
Wände seiner Kabine pflasterten.
Bilder, Schmuck von fremden Planeten, Artefakte, teilweise auf Welten der nicht mehr in diesem Universum
befindlichen Galaxis Drakhon gefunden...
Über allem »thronte« das Konterfei seines Vaters, mit dem alles begonnen hatte - seine eigene Weltraumsucht,
sein Aufbruch zu den Sternen, sein Kontakt mit dem Erbe der Mysterious...
Ren Dhark lächelte, während er in die ausdrucksstarken Augen des Toten schaute. Sie waren miteinander im
reinen. Sam Dhark, dessen von kosmischer Strahlung gegerbte Haut (die alten Raumschiffe mit dem Time-
Effekt-Antrieb waren bei weitem nicht so perfekt isoliert gewesen wie heutige oder gar die Schiffe der Wor-gun)
ihn fast wie einen Angehörigen eines nordamerikanischen Indianerstamms wirken ließ, war immer für seinen
Sohn dagewesen - auch in schwierigen Zeiten. In den sehr schwierigen Zeiten, die jeder junge Mensch
durchmachte, wenn er die Schwelle zwischen Kind- und Erwachsenensein überschritt.
Ren Dhark hatte seine Mutter, die unter so tragischen Umständen ums Leben gekommen war, immer vermißt -
aber er hatte immer auf seinen Vater bauen können. Trotz manchmal wochenlanger Abwesenheit, die den
Commander Sam Dhark in die Tiefen des damals erschlossenen Raumes geführt hatte, war sich Ren nie allein
oder im Stich gelassen vorgekommen. Schule und Akademie hatten den Großteil seiner Energie beansprucht,
und dort, auf der Raumfahrerakademie, hatte er auch Dan kennengelernt.
Ein Anfang nicht ohne Mißverständnisse, dachte er wehmütig, aber dann...
Mit Dan verstand er sich nicht immer blind, Dan tolerierte nicht jede Marotte - aber ihre Freundschaft hatte sich über die Jahre hinweg hundertfach bewährt. Dhark schloß die Augen. Für ein paar Sekunden fühlte er sich in die »wilde Zeit« seiner Ausbildung zurückversetzt - als er noch nichts von den Geheimnissen hatte ahnen können, die der Kosmos für ihn bereithielt. Die Mysterious... mysteriös waren ihm damals allein die Frauen erschienen. Und eigentlich... ... eigentlich hält das bis heute an, dachte er in Anspielung auf Joan Gipsy, mit der ihn eine gescheiterte Beziehung verband - und ein knapp einjähriger Sohn. lonAlexandru...
Er ertappte sich dabei, daß er seit Erreichen dieses unglaublichen Systems mitten im Abgrund zwischen den
Stemeninseln noch kein einziges Mal an seinen Sprößling gedacht hatte.
Es versetzte ihm einen Stich.
Die Erinnerung an die mit harten Bandagen ausgefochtene jüngste Begegnung mit Joan und Ion in Acapulco
war noch frisch. Erneut hatte ihn Joan zu linken versucht - mit Hilfe eines Fernsehteams, das Dhark einem
Milliardenpublikum als Rabenvater hatte vorführen wollen... in letzter Minute war dieses Vorhaben gescheitert -
dank der Einmischung von Terra-Press, die den Konkurrenzsender als Schwindler entlarvt hatte...
Dhark spürte die unguten Gefühle, die in ihm erwachten - nicht Ions wegen, sondern wegen der Frau, die er
einmal geliebt hatte und die diese lange Zeit enge Verbindung nun mit Füßen trat, immer auf Kommerz und
Profit erpicht. Offenbar war er für Joan von Anfang an nichts weiter als Mittel zum Zweck gewesen...
Er würde trotzdem nicht zum Frauenhasser werden. Joan war eine schmerzvolle, aber heilsame Lehre.
Was nichts daran änderte, daß Frauen weiterhin vor allem eines für ihn blieben: mysteriös.
Mit diesem Gedanken beendete er die Klausur, in die er mit sich gegangen w^r.
In der Hygienezelle erfrischte er sich noch rasch, dann verließ er die Kabine und begab sich auf kürzestem Weg
zum Flashdepot.
Während sich der Flash-Pulk dem verlassenen Sockel des herabgestiegenen Giganten näherte, fragte sich Artus,
wie er selbst in dieses Sammelsurium von Persönlichkeiten paßte, das Ren Dhark zusammengestellt hatte.
Er war ein Roboter.
Ein »Blechmann«, wie Chris Shanton ihn erst jüngst tituliert hatte. (»Aber einer mit Seele«, hatte er dem
untersetzten Ingenieur erwidert - selbstbewußt, wie es seine Art war.)
Wäre es um philosophische Fragen gegangen, die gelöst werden mußten, hätte Artus es eher verstanden, daß er
Berücksichtigung gefunden hatte. Doch nach Lage der Dinge war nicht auszuschließen, daß sie in Kämpfe auf
Leben und Tod verwickelt wurden.
Ein Kämpfer war er von allem am wenigsten.
Ich hätte mich weigern können, dachte er. Hätte ich?
Selten hatte er sich so verunsichert gefühlt wie in diesen Minuten. Und der verwaiste Sockel rückte unaufhaltsam
näher.
Auch Gisol fand die Zusammenstellung der Gruppe, die die POINT OF verlassen hatte, gelinde gesagt...
merkwürdig.
Aber er hörte spätestens in dem Moment auf, darüber nachzudenken, als er ins Freie kletterte und ein warmer
Wind um seine Nase strich. Warm und würzig.
Er konnte sich nicht erinnern, jemals zuvor eine Welt betreten zu haben, deren Düfte und Aromen derart stark
ausgeprägt gewesen waren, zugleich aber in keiner Weise aufdringlich wirkten.
Und zudem vertraut wirkten.
Als hätten die Worgun, die vor unbestimmter Zeit eine Sonne samt Planet bewegt und hier in der gewaltigen
Leere deponiert hatten, ein Stück Heimat mit nach Golden genommen.
Golden.
Der Name bot Wohlklang selbst für das Gehör eines Worgun, dessen Idiom sich gravierend vom Angloter der
Terraner unterschied.
Gisol sah, wie sich Ren Dhark von der Fünfergruppe absetzte und auf den Sockel zuging, der auch ohne die
Figur, für die er geschaffen worden war, von imposanter Höhe war.
Gut einen Kilometer hoch und ebenso breit. Quadratischer Grundriß. Das Baumaterial: unbekannt.
Unbekannt?
Gisol stutzte. Insgeheim fragte er sich, ob sie nicht einem gigantischen Betrug auf den Leim gingen. Was, wenn
die Statuen gar nicht von den Worgun erbaut worden waren, sondern einzig dem Zweck dienten, Worgun
anzulocken?
Er überlegte, ob er Dhark Einblick in seine Befürchtungen gewähren sollte, entschied sich aber dagegen.
Nachdem er einen letzten Blick zurück zu den auf spinnenbein-artigen Auslegern geparkten Flash geworfen
hatte, folgte er den vier vorauseilenden Gestalten, unter denen sich auch der sonderbar primitiv anmutende
Roboter befand, dem Gisol schon mehrfach begegnet war.
Die Piloten blieben bei den Beibooten zurück, hatten Weisung erhalten, in Startbereitschaft zu bleiben.
Unter Gisols Sohlen raschelte sprödes Gras, in dessen weißlichen Büscheln sich das Feuermal des Himmels
spiegelte. Eine bleierne Atmosphäre herrschte; der brennende Schirm hing wie ein Gewicht über ihren Köpfen,
das jederzeit herabstürzen konnte.
Von Schwermut erfüllt, erreichte Gisol die Gruppe, die am Fuß des Sockels stehengeblieben war.
Dhark drehte sich zu ihm um und sagte: »Wir brauchen deine Hilfe, Gisol. Are hat Schwierigkeiten, den
Eingang zu finden...«
Aus der Entfernung betrachtet schien die POINT OF schon nicht mehr zu existieren. Sie war unsichtbar. Der
Arm des Kolosses verdeckte sie komplett.
Ren Dhark überwand die Beklemmung, die versuchte, Besitz von ihm zu ergreifen. Als er sich umdrehte, erhob
sich vor ihm eine gewaltige Steilflanke - eine der vier Sockelseiten.
»Nichts zu machen«, seufzte Arc Doorn, der die Wand mit einem Mobiltaster untersucht hatte. »Entweder es
existiert auf dieser Seite kein Zugang - ich entdecke nirgends den üblichen Schattenriß, der ein verborgenes
Portal kennzeichnet - oder meine Instrumente sind nicht in der Lage, ihn anzumessen.«
»Notfalls müssen wir den Klotz komplett umrunden«, sagte Dhark. »Aber vielleicht kann uns Gisol helfen.« Er
winkte den Worgun, der sich hatte zurückfallen lassen, herbei.
Gisol nickte, als er von Doorns Scheitern erfuhr. Selbstsicher erklärte er: »Kein Problem. Ich habe schon auf
Babylon einen komfortablen Weg ins Innere des dortigen Goldenen gefunden. Ich nehme jedoch an, daß sich die
Mechanismen wesentlich unterscheiden. Auf Babylon handelte es sich um eine Mixtur aus Worgun- und
Gianttechnologie. Hier rechne ich eher mit purer Wor-guntechnik - was mir aber entgegenkommen sollte...«
Sein Optimismus erfuhr in den folgenden Minuten einen herben Dämpfer. Schließlich stellte er seine
Bemühungen sogar ganz ein. »Es gibt ein Portal - dessen bin ich mir sicher«, erklärte er sichtlich enttäuscht.
»Aber es spricht auf keinen Impuls an.«
Resignierend ließ er das Instrument sinken, mit dem er zu Werke gegangen war - offenbar eine verfeinerte
Ausgabe des Werkzeugs, mit dem er auf Babylon bei der dortigen Plastik zum Erfolg gekommen war.
»Heißt das, wir müssen unverrichteterdinge wieder umkehren?«, fragte Bram Sass, der genau zugeschaut hatte,
dessen Cyborg-Fähigkeiten hier aber ebenfalls nutzlos schienen.
»Nein«, erwiderte Dhark entschieden. »Ich bin sicher, daß wir an Bord nicht weiterkommen - keinen noch so
winzigen Schritt.
Im nachhinein kommt es mir vor, als liefe der Checkmasterstreik -ich zögere, länger von Verrat zu sprechen -
nur auf eines hinaus:
Uns dazu zu bewegen, in kleiner Gruppe mit der hier herrschenden Macht in Verbindung zu treten. Auch der
unbehelligte Flug von Amy und jetzt unser Verlassen der POINT OF spricht dafür, daß man von uns erwartet,
die Initiative in einer Weise zu ergreifen, von der sich der oder die Unbekannten nicht bedroht fühlen müssen.«
»Es fällt schwer zu glauben, daß sie sich überhaupt von irgend etwas bedroht fühlen müssen - wenn ich mir die
auf diesem Planeten zusammengezogene Kampfkraft anschaue...« Doorn schüttelte den Kopf. »Davon
abgesehen hat der Commander recht: Wir müssen uns alle Seiten des Sockels vornehmen. - Worauf warten wir
also?«
Um die anderen mitzureißen, setzte er sich selbst in Bewegung. Er hatte jedoch noch keine zehn Schritte getan,
als er von Ren Dharks Stimme aufgehalten wurde.
»Warten Sie, Are! Hier stimmt etwas nicht...«
Doorn drehte sich um und sah Dhark neben Artus stehen.
Etwas stimmte mit dem Roboter nicht.
Der plötzlich zu torkeln begann...
... und schließlich der Länge nach zu Boden schlug.
5. Stranger hatte den Direktflug nach Lyon mit dem 19-Uhr-Jett gebucht. Er hielt es für besser, ein Zeitpolster zu haben. Wenn er jetzt flog, war er zwar trotz der unterschiedlichen Zeitzonen etwa zwei Stunden zu früh in Frankreich, aber er mußte von Lyon dann ja auch noch nach Le Puy gelangen. Dafür mietete er ohne Rücksicht auf die Kosten bereits jetzt einen superschnellen Schweber an, der die Strecke in nur wenig mehr als einer halben Stunde zurücklegte, wenn man das Äußerste aus der Maschine herausholte. Da er wieder Zugriff auf sein Geschäftskonto hatte, spielte Geld keine Rolle mehr. Caroon und Patterson würden das schon alles genehmigen. Angeblich sollte irgendwo zwischen Lyon und Le Puy ein Parapsychologe leben, dem man eine ähnliche Unsterblichkeit nachsagte wie dem legendären Grafen von Sankt Germain. Stranger hatte schon einmal überlegt, eine Reportage über diesen Mann zu machen, aber er hatte nie die Zeit dafür gehabt. Daran würde es auch jetzt scheitern. Andererseits... wenn die Experten von Bio-technologique scheiterten, war dieser Mann vielleicht auch ein Ansprechpartner. Immerhin war es nicht auszuschließen, daß die Manipulation der Deltawellen in den Parabereich ging. Aber das war jetzt irrelevant. Er mußte erst einmal zusehen, daß er überhaupt nach Frankreich kam. Nachtruhe würde er höchstens im Jett finden, und dort auch nur etwa drei Stunden lang. Mehr Zeit brauchte die Maschine nicht, den halben amerikanischen Kontinent und den Atlantik zu überqueren. Sie flog gegen die Zeit; im Osten
war es gute acht Stunden später als in Alamo Gordo.
Von einem Schwebertaxi ließ Stranger sich zum Jettport bringen. Gepäck führte er nicht mit sich. Wenn die
Laborarbeit vorbei war, wollte er unverzüglich nach Alamo Gordo zurück. Eine Übernachtung in Prankreich
plante er erst gar nicht ein. Er ahnte, daß die Zeit drängte. Über kurz oder lang würde die andere Seite
erfahren, daß er nicht mehr süchtig war, und erneut versuchen, ihn unter Druck zu setzen. Dem mußte er
zuvorkommen. In Alamo Gordo hatte er wenigstens »Heimspiel« - da konnte er notfalls für eine Weile im Terra-
Press-Gebäude untertauchen oder besser noch Bernd Eylers persönlich um Unterstützung bitten. In Frankreich
gab es zwar auch ein Regionalbüro der Galaktischen Sicherheitsorganisation, aber dem Pariser GSO-Rayon
traute er nicht über den Weg. Dort mochte man Reporter im allgemeinen und Bert Stranger im besonderen nicht
sehr...
Aber auf den von Sam Patterson angeordneten robotischen Personenschutz konnte er gern verzichten. Er
vertraute den Maschinen nicht, die stur ihrem Programm folgten und daher unflexibel sein mußten. Deshalb hatte
er den »Mülleimer auf Beinen« angewiesen, ihm in einem zweiten Taxi zu folgen. Die Maschine hatte das
widerspruchslos akzeptiert, aber um eine Definition des genannten Begriffs gebeten, welcher nicht in ihrer
Datenbank gespeichert sei...
Mehrmals sah der Reporter sich um. Von dem zweiten Taxi war im regen Luftverkehr nichts zu sehen.
Unwillkürlich grinste er bei dem Gedanken, daß Theta 3 vielleicht den Anschluß verlor und begann, nach seinem
Schutzbefohlenen zu suchen, statt auf dem kürzesten Weg den Jettport anzusteuern und Stranger dort
einzuholen. Aber diese Hoffnung war bestimmt illusorisch.
Ganz so schlecht war die Programmierung dieser Blechkameraden nun doch nicht.
Nach einer Weile landete der Schweber vor dem Haupteingang des Gebäudekomplexes. Stranger ließ den Preis
des kurzen Fluges von seiner TP-Kontokarte abbuchen und speicherte im Gegenzug mit einer Sensorberührung
die Quittungsdaten auf der Karte; damit konnte er sie zur Verrechnungsstelle senden, sobald er wieder in seinem
Büro war. Eigentlich hieß jene Abteilung »Spesenkonten-Abrechnungszentrum«, aber der Begriff
»Verrechnungsstelle« hatte sich unter den Kollegen eingebürgert, weil es öfters vorkam, daß sich das
Computersystem verrechnete - mal zu Gunsten, mal
zu Ungunsten der Mitarbeiter. Was dann immer für heilloses Durcheinander und wilde Proteste sorgte - mal von
den Mitarbeitern, mal von den Ressortleitern oder der Chefetage.
Das Taxi verschwand.
Von dem anderen Schweber mit Theta 3 an Bord war weit und breit nichts zu sehen.
So dicht der Luft- und Straßenverkehr Alamo Gordos um diese Stunde war, so dicht war auch das Gedränge in
der Halle des Jettports. Tausende von Menschen hegten die Absicht, unbedingt zu dieser Uhrzeit mit einer
schnellen Maschine andere Städte oder Kontinente anzufliegen. Die typische Feierabendszene. Stranger seufzte;
er wäre lieber auf einen späteren Flugtermin ausgewichen, zu einem Zeitpunkt, an dem es etwas ruhiger zuging,
aber der nächste Direktflug nach Lyon fand erst am nächsten Morgen statt, und dann konnte er seine Laborzeit
vergessen. Eine Maschine nach Paris ging eine Stunde später, aber von Paris nach Lyon oder direkt nach Le Puy
weiterzukommen, kostete ebenfalls Stunden. Damit schied diese Option aus. Wenn de Brun einen anderen,
späteren Termin zur Verfügung gestellt hätte, wäre alles wesentlich einfacher gewesen...
Aber Stranger mußte nehmen, was er bekam. Anders ging es einfach nicht.
Also stürzte er sich ins Getümmel. Ellenbogen rechts ausfahren und anstoßen, links ausfahren und anstoßen, dem
Vordermann dezent auf die Hacken treten, permanent nicht wirklich ernstgemeinte Entschuldigungen murmeln...
langsam aber sicher kämpfte er sich in Richtung Terminal voran. Er sah einige Roboter, aber keiner von ihnen
war Theta 3. Der schien den Anschluß tatsächlich verloren zu haben.
Stranger grinste unwillkürlich.
Aber nur so lange, bis er die Blastermündung in der Seite spürte.
Der »Schwindel« erfaßte Artus ohne jedes Vorzeichen. Er hatte sich an der Suche nach einem verborgenen
Portal beteiligt und dabei all seine Sinne strapaziert.
Dann hatten plötzlich sonderbare Schwingungen auf ihn eingedroschen - eingedroschen, ja!
Die Nachanalyse ergab, daß es sich dabei um unbekannte Schwingungsmuster im subatomaren Bereich
handelte.
Die Nachanalyse erfolgte Hegend.
Artus fand sich am Boden wieder. Er war gestürzt, konnte sich aber nicht daran erinnern. Kurzzeitiger
Gedächtnis- und Orientierungsverlust. Ein klassischer geistiger Kurzschluß...
Ren Dhark kniete wie eine Miniaturausgabe des weit entfernten Goldenen neben ihm und fragte besorgt: »Was
ist passiert, Artus?«
Aus dem Hintergrund näherte sich Arc Doorn, der eigentlich schon ein Stück weit vorausgegangen war.
Offenbar war er wieder umgekehrt.
Wegen mir. Ein Gefühl wie Scham überkam den Roboter mit der einzigartigen Entstehungsgeschichte. Er hatte nie
Ambitionen verspürt, als menschlich betrachtet zu werden. Normalerweise analysierte er die Menschen, machte
sich ihre Schwächen bewußt.
Nun hatte er selbst Schwäche gezeigt.
Wie konnte das passieren?
Die eigentliche Frage aber war: Was für eine Art Schwingung hatte ihn da aus der Bahn geworfen? Welche
Bedeutung hatte die Frequenz, auf die er zunächst in ungewohnt heftiger Weise reagiert hatte?
Inzwischen war es ihm gelungen, sich darauf einzustellen. Seine Sicherheit kehrte zurück. Wortlos erhob er
sich. Fremde Hilfe benötigte er dabei nicht.
Zu viert umstanden sie ihn: Dhark, Doorn, Sass und Gisol.
Artus begriff, daß sie warteten.
Inzwischen war die interne Auswertung der noch immer anhaltenden Impulse abgeschlossen.
»Ich glaube«, wandte sich der Roboter an seine Begleiter, »ich habe eine interessante Entdeckung gemacht. Da
ist... etwas. Ich glaube, ich kann Kontakt mit ihm herstellen.«
Genau das war, noch während er die Worte formulierte, bereits geschehen.
Kontakt. Aus dem Sockel heraus begann etwas mit ihm zu kommunizieren...
»Es handelt sich um einen Rechner«, sagte Artus. »Eine Art... Steuerung.«
»Woher willst du das wissen?« fragte Ren Dhark skeptisch. »Kommuniziert er in M-Algorithmen mit dir?«
»Ja.«
»Seit wann beherrschst du die?« Noch während er die Frage stellte, fiel ihm ein, daß sich Artus seit dem Start
der Expedition verdächtig häufig in Anja Rikers Nähe herumgetrieben hatte. Möglich, daß er sich von ihr in die
Geheimnisse der M-Mathema-tik hatte einweihen lassen.
Artus schwieg, drückte sich um eine Antwort. Nachdem er eine Weile in sich gelauscht und die »Ansprache« des
Fremdrechners offenbar zaghaft erwidert hatte, sagte er: »Ich glaube, ich weiß jetzt, wie wir uns Zugang
verschaffen können. Er wird das Tor für uns öffnen. Es sind nur noch ein paar kleine Verständigungsbarrieren zu
überwinden, aber... jetzt. Jetzt ist es schon soweit.«
Wäre er in der Lage gewesen, ein Lächeln auf seinen metallenen Zügen abzubilden, er hätte es in diesem
Moment wahrscheinlich getan.
Das Portal materialisierte gleichsam in der Sockelwand - gut hundert Meter von der Gruppe entfernt.
Seine Ausmaße waren gewaltig. Ren Dhark schätzte das entstandene Fünfeck auf mindestens vierzig Meter
Höhe. Er verständigte sich über Armbandvipho mit den Flashpiloten und trug ihnen auf, die POINT OF über die
neue Entwicklung auf dem laufenden zu halten. Dann setzte er sich mit seinen vier Begleitern in Bewegung und
schritt auf das Tor zu.
Auf dem Weg dahin betonte Gisol mit Verweis auf die Goldenen dieses Planeten noch einmal, daß ihm eine
vollbewegliche Version dieser Plastiken unbekannt war - für ihn selbst hatten sie bis zur Entdeckung von Golden
immer nur Tank- und Verteidigungsanlagen mit variierendem Innenleben dargestellt.
Bei seinen Worten wurde Dhark an den museumsähnlichen Komplex im Sockel der Statue auf Babylon erinnert,
wo die Wor-gun Exemplare von fremden Spezies, mit denen sie über die Jahrtausende in Kontakt getreten
waren, ausgestellt hatten. Nogk hatten sich darunter befunden, Utaren... mehrheitlich aber Geschöpfe, wie sie
noch nie zuvor eines Menschen Auge erblickt hatte.
Die Milchstraße war reich an Leben, unabhängig von seiner äußeren Gestalt. Die Frage, die sich dabei stellte,
war, warum die Worgun das Gleichgewicht der Artenvielfalt hatten stören wollen. Welche Intention hatte sie auf
die Idee gebracht, ausgerechnet der Milchstraße ein Übergewicht an humanoiden Intelligenzen aufzwingen zu
wollen - während sie anderenorts, in anderen Gala-xien, wiederum Echsenartige oder Insektoiden privilegierten.
Was er längst ahnte, schien sich hier zu bestätigen: Auch die Worgun, Unterlegene im Großen Krieg gegen die
verwerflich handelnden Zyzzkt, waren moralisch nicht makellos. Zumindest nicht, wenn man menschliche
(humanoide?) Moralvorstellungen als Maßstab nahm.
Unter dem brennendem Himmel erreichten sie das Portal, hinter dem sich ein in kaltem Blaulicht erstrahlender,
riesiger Raum auftat. Anders als auf Babylon, erkannte Dhark auf Anhieb, beherbergte er keine Ausstellung,
sondern gewaltige Maschinenaggre
gate. Eine Produktionsstätte wie im Industriedom von Deluge? . Er bedeutete den anderen, ihm in den Sockel zu folgen. Dabei inspizierte er beiläufig die Kanten der
entstandenen Öffnung. Nirgends war zu erkennen, wohin die Wand, die sie zuvor nahtlos verschlossen hatte,
verschwunden war. Sie hatte sich nicht einfach abgesenkt oder beiseitegeschoben - von einem Augenblick zum
anderen hatte sie schlichtweg aufgehört zu existieren.
War sie nur ein Trugbild gewesen, eine Projektion?
Nein, dachte Dhark. Wenn, dann eine materielle Projektion -wie auch immer das funktionieren soll. Verdichtete Energie...
Es war nur eines von vielen Rätseln, für die sie vielleicht keine Antwort finden würden.
Plötzlich schob sich Gisol an ihm vorbei und übernahm die Führung. Er erreichte das nächststehende Aggregat
als erster, blieb davor stehen und legte die Hände auf die Oberfläche.
Als Dhark ihn erreichte, sagte der Worgun: »Tot. Nicht die leiseste Vibration. Diese Maschinen stehen still.«
»Das erkennst du durch bloßes Handauflegen?« spöttelte Dhark.
Gisol lächelte mysteriös, so daß Dhark die Möglichkeit in Betracht zog, daß die Hände eines Worgun über eine
höhere Sinnesschärfe verfügten als die eines Terraners - selbst wenn er sich in der Maske eines solchen bewegte.
»Was wir sehen«, meldete sich aus dem Hintergrund Arc Doorn zu Wort, »ist nur eine von vielen Hallen, die
hier untergebracht sind. Der Raum wirkt groß, aber er nimmt nur einen Bruchteil des Gesamtgrundrisses ein.
Dort vorne... dort ist ein Durchgang. Wahrscheinlich die Verbindung zum nächsten Saal.«
Dhark folgte dem ausgestreckten Arm des Sibiriers.
»Gibt es Hinweise auf den Zweck der Maschinen?« wandte sich Ren Dhark nicht an Gisol speziell, sondern an
alle in seiner Nähe.
Sowohl Doorn als auch der Worgun verneinten. Von Bram Sass und Artus erfolgte überhaupt keine Antwort.
Der Cyborg phantete seit Betreten des Sockels, und Artus schien nach wie vor der
»Stimme« in sich nachzuspüren.
Dhark hatte genug Vertrauen in den Roboter, aber er wußte auch, daß nach dem merkwürdigen Checkmaster-
Verhalten nicht auszuschließen war, daß es auf Golden eine Macht gab, die Computergehirne umdrehen konnte.
Demnach stellte Artus nicht nur eine Hilfe dar, wie er es gerade eindrucksvoll bewiesen hatte, sondern auch eine
stete, latente Gefahrenquelle. Allerdings glaubte Dhark eher, daß der Checkmaster eine Ausnahmestellung
einnahm. Artus entsprang terranischer Fertigung, der Checkmaster war ein Worgun-Produkt.
Genau wie diese Welt.
Letzte Zweifel an seiner Integrität beseitigte Artus bereits Minuten später.
»Vorsicht!« rief er mit ungewohnt schriller Stimme.
Und schon im nächsten Moment entströmte dem Verbindungsgang, auf den Arc Doorn noch kurz zuvor
hingewiesen hatte, eine Schar von Robotern, die ohne Vorwarnung das Feuer eröffneten.
Die Nervosität überfiel Artus fast so machtvoll wie die vorherige Bewußtlosigkeit, die er inzwischen fast
vollständig wieder abgestreift hatte.
Daß er neuerlich unter äußeren Einfluß geriet, ließ alle Alarmglocken auf einmal in seinem Programm
aufheulen.
Er spürte, daß etwas auf sie zukam. Etwas...
»Vorsicht!«
Mehr als diese Warnung war ihm nicht möglich, als auch schon die kugelförmigen Roboter aus dem Korridor
auf der gegenüberliegenden Seite quollen - auf Antigravpolstern heranjagende Maschinen, deren ungestüme
Ankunft nichts Gutes erahnen ließ.
Artus, der mehr menschliche Regungen unter seiner Karosserie verbarg als die meisten Menschen, stellte sich
sofort vor Ren Dhark, um ihm Schutz und Deckung zu geben.
Und schon einen Augenblick später schlug der erste Treffer in ihn ein.
Defensive! dachte Gisol.
Diesen Gedanken zu fassen und nach dem an seinem Gürtel hängenden Blaster zu greifen war eins.
Die heranjagenden Kugelroboter wirkten moderner und auch etwas kleiner als jene, mit denen er sich im
Goldenen auf Babylon hatte herumschlagen müssen - aber ihre Absicht war die gleiche.
Verteidigen! Das Innere der Statue gegen unbefugte Eindringlinge sichern!
Die Frage, warum man erst Tür und Tor geöffnet hatte, um die Eintretenden dann als unbefugt zu kategorisieren, stand im Raum, blieb aber unbeantwortet. Gisol legte den Worgunblaster an, stellte auf breite Fächerung, um möglichst viele der Defensiven auf einmal auszuschalten - und drückte ab. Der nachfolgende Schock malte einen entgeisterten Ausdruck auf sein Jim-Smith-Gesicht. Der Schock darüber, daß keinerlei Energie den Abstrahlpol seiner Waffe verließ. Nicht einmal genug, um einer Fliege gefährlich zu werden. Nichts. Gar nichts! Von irgendwoher rief eine blecherne Stimme: »Sie haben ein Dämmfeld errichtet, das deine Waffe blockiert, Gisol!« Artus! Der Primitivroboter düpierte den Worgun zum zweitenmal an diesem Tag - erst hatte er scheinbar mühelos gefunden, wonach Gisol vergeblich gesucht hatte, und nun analysierte er fast beiläufig, worauf das Versagen des Blasters zurückzuführen war... Gisol stieß einen Fluch in seiner Muttersprache aus. In seiner Nähe wurde Arc Doorn getroffen, der sprintend versuchte, den nächsten Maschinenblock zu erreichen und dort in Deckung zu gehen. Mitten im Laufen wurde er von einem weißlichen Strahl getroffen, der sich kurz vor dem Auftreffen spaltete wie die Zunge bestimmter Reptilien. Aber statt zusammenzubrechen, schrie Doorn nur auf, als hätte ihn ein kurzer Stromschlag ereilt. Bevor Gisol sich näher mit dem Bild befassen konnte, züngelten schon mehrere Strahlen auf ihn selbst zu.
Aus dem Stand heraus warf er sich zur Seite. Der harte Aufprall auf dem Boden irritierte ihn keine Sekunde.
Und während er sich den Kopf über eine Möglichkeit zerbrach, die Defensiven auch ohne einsatzfähigen
Blaster zu stoppen, hörte er Ren Dhark aufstöhnen. Der Terraner war von Artus' Körper verdeckt und
trotzdem getroffen worden.
Gisol wurde Zeuge, wie sich die Strahlen förmlich um den Blechmann herumbogen, der selbst keine Zeichen
von Beeinträchtigung zeigte. Die Treffer perlten an ihm ab.
Keine tödlichen Waffen, erkannte der Worgun. Sie wollen uns nur Schmerzen zufügen.
Schmerzen, die er in der nächsten Sekunde am eigenen Leib zu spüren begann, denn vier, fünf Strahlen auf
einmal konnte auch er nicht mehr ausweichen.
Die Energie biß sich buchstäblich in seinem Körper fest. Gisols Muskeln kontrahierten. Der Schmerz war
quälend, aber erträglich.
Doch kaum verdaut, schlug auch schon der nächste bleiche Strahl in Gisols Menschenkörper ein, und für
einen Moment drohte eine Spontanverwandlung davon ausgelöst zu werden. Nur mühsam schaffte es der
Worgun, seine Zellen unter Kontrolle zu halten.
»Schocker!« rief Ren Dhark ihm zu. »Sie feuern nur mit einer Art Schocker - Schwachstrom...«
Plötzlich raste ein Schemen an ihnen vorbei geradewegs auf die Defensiven zu.
Bram Sass!
Der Cyborg wurde von unzähligen Strahlen getroffen und zeitweilig ganz allein ins Visier aller Kugelroboter
genommen - doch anzuhaben vermochten sie ihm nichts. Völlig unbeeindruckt er
reichte er die ersten Angreifer. Auf sein Zweites System geschaltet, war er offenbar völlig immun gegen die
verwendete Strahlenform.
Plötzlich flogen Trümmer durch den Raum. S äs s hatte einen der Defensiven mit bloßen Händen aus der
Luft gefischt und mit unheimlicher Wucht gegen den nächststehenden Maschinengiganten geschleudert - wo
die Kollision den kleinen Roboter in seine Einzelteile zerlegte.
Für einen Moment fragte sich Gisol, wie der Krieg gegen die Zyzzkt wohl ausgegangen wäre, wenn die
Worgun jemals über Soldaten vom Kaliber der Cyborgs verfügt hätten.
Wehmut umschlich sein Herz...
... wurde aber brutal von einem weiteren, schmerzhaften Treffer der Defensiven verscheucht, die nun
ausschwärmten und dabei wieder alle Eindringlinge unter Beschuß nahmen.
Der Cyborg erhielt indes Schützenhilfe. Artus setzte sich in Bewegung, etwas linkisch zwar, aber den
Defensiven fiel dies nicht weiter auf. Sie mußten erkennen, daß sie es mit zwei Gegnern zu tun hatten, die
von ihren Salven nicht im mindesten beeindruckt wurden. Bei Artus sah es im Gegenteil so aus, als genieße
er das Bad in dem Strahlenschauer!
Doch immer mehr, unübersehbar viele Defensive strömten in den Raum - eine wahre Flut. Die Zerstörungen,
die Sass und Artus unter ihnen anrichteten, fielen kaum ins Gewicht. Eine riesige Schar sonderte sich ab,
widmete sich, während die Kämpfer anderweitig beschäftigt waren, ausschließlich den Nicht-Immunen...
Sinnlos, dachte Bram Sass ohne Emotion. Es ist vollkommen sinnlos.
Er sah, wie Dhark, Doorn und Gisol jetzt gezielt von Energiestößen durch den Raum getrieben wurden.
Auf den Korridor zu, dem die Defensiven entsprungen - wo sie
hergekommen waren!
Roboter scheuchten Lebewesen wie eine Herde vor sich her...
»Genug!« fauchte Sass der Maschine zu, die an seiner Seite kämpfte - einer Maschine mit Seele, wie
inzwischen unstrittig feststand. Artus als Individuum zu akzeptieren fiel Sass aber nach wie vor schwer, und
damit stand er nicht alleine.
»Wir dürfen die anderen nicht verlieren!«
Die hatten jetzt den Durchgang erreicht, der in einen Korridor von unbekannter Länge und danach
wahrscheinlich in die nächste Halle führte.
Artus stellte sich sofort auf die veränderte Situation ein, begriff scheinbar intuitiv, was von ihm erwartet
wurde. Ohne eine Antwort zu geben, ließ er die Kugelroboter links liegen und eilte der Gruppe nach, die aus
Dhark, Doorn und Gisol bestand.
Bram Sass hatte Mühe, mit ihm Schritt zu halten - was aber daran lag, daß ihn die Angreifer inzwischen wie
Trauben umgaben und bei jeder Bewegung behinderten.
Ganz offenbar schätzten sie ihn als den gefährlicheren der beiden Kämpfer ein.
Damit war Sass einverstanden.
»Keine Gegenwehr mehr!« keuchte Ren Dhark, eingekeilt zwischen Gisol und Doorn. »Wenn wir uns fügen
und genau dorthin bewegen, wohin sie uns haben wollen, verzichten sie auf ihre Schläge - zumindest wenn
meine Beobachtung zutrifft. Ich glaube, sie wollen uns mit den Stromstößen nur lenken.«
»Den Versuch ist es wert«, knurrte Doorn, der trotz seiner bulligen Statur ein ums andere Mal aufstöhnte
unter den Treffern und zwischenzeitlich ebenso schweißgebadet war wie Dhark.
Der einzige, der nicht schwitzte, war Gisol. Wobei fraglich war, ob die Worgun überhaupt so etwas kannten.
Als sie den Durchgang erreichten, drehte sich Dhark um und rief
in Richtung von Sass und Artus: »Versucht uns zu folgen!«
Offenbar hatte das ungleiche Paar dies ohnehin gerade vor.
Vor Dhark öffnete sich ein kurzer Korridor, und Gisol sagte: »Mir gefällt das nicht. Es ergibt keinen Sinn. Warum setzt sich die Instanz, die für unseren Abstecher zu dieser Welt verantwortlich ist, nicht direkt mit uns in Kontakt? Ich gehe fest davon aus, daß man uns hier hergelockt hat - über euren Checkmaster. Nur der Grund ist mir schleierhaft...« »Es kann nichts Gutes bedeuten«, vertrat Doorn seine Überzeugung. »In friedlichen Kontakt mit uns zu treten wäre sehr viel einfacher gewesen, als Aktionen wie diese zu starten... Stromschläge! Die sind doch völlig durchgeknallt!« Nach friedlicher Kontaktaufnahme sah es wirklich nicht aus. Aber auch in der Gewaltskala gab es Bereiche, die die angewendeten Methoden mühelos übertroffen hätten. So gesehen bewegte sich die Gewalt im gerade noch akzeptablen Bereich. Die Frage aber blieb, was die unbekannte Macht damit bezwekken wollte. Eine simple Gefangennahme konnte es nicht sein. Dann wäre es einfacher gewesen, Artus zu vernichten und die übrigen Mitglieder der Gruppe zu betäuben, damit die Kugelroboter sie ohne Gegenwehr verschleppen konnten. Warum dies nicht geschah, warum man Widerstand billigend in Kauf nahm, blieb ebenso unklar wie vieles andere auch. Sie wollen uns bei vollem Bewußtsem, nicht narkotisiert, nicht paralysiert - wir sollen denken und handeln können.
Dhark hoffte, daß er mit dieser Einschätzung richtig lag.
Der Raum, in den sie getrieben wurden, unterschied sich deutlich von dem, aus dem sie gerade kamen.
Er war leer.
Weit und breit war kein Aggregat oder ein sonstiger Gegenstand auszumachen - als wäre dieser Bereich vor
langer Zeit schon geräumt worden.
Ein Phänomen, dem Menschen in Zusammenhang mit den Mysterious nicht zum erstenmal
gegenüberstanden. Vielerorts in der
Milchstraße hatten die Worgun bei ihrem Rückzug vor tausend Jahren alle Spuren mit großer Akribie
verwischt.
Hinter Dhark entstand Tumult, als Bram Sass und Artus zu ihnen vordrängten. Auch sie hatten den
Widerstand eingestellt und wurden nur noch selten beschossen.
Sass blieb dennoch und vernünftigerweise im Zweiten System.
»Dann wären wir also wieder komplett«, frotzelte Doorn.
Schritt um Schritt wurden sie in den leeren Raum dirigiert. Er war kleiner als der erste, und als sie seine
ungefähre Mitte erreichten, zogen sich die Kugelroboter unvermittelt bis an den Rand zurück. Kein Schuß
fiel mehr.
»Wir sollen offenbar hier warten«, meinte Gisol. »Vielleicht erfahren wir jetzt endlich, wer hinter alledem
steckt...«
Dhark ließ seinen Blick durch den Raum schweifen, in dem aus verborgener Quelle das typisch blaue Licht
der Mysterious strömte. Weit und breit gab es keinen Anhaltspunkt auf das, was ihrer Verschleppung folgen
sollte.
Bis das andere Licht plötzlich aufflammte, sie einhüllte...
... und verschlang.
»Das gefällt mir nicht. Das gefällt mir ganz und gar nicht...« Rui Warren lehnte an der Außenhaut seines Flash und schaute den Rauchkringeln nach, die jedes Mal seinen Mund verließen, nachdem er genüßlich an seiner obligatorischen Pfeife gezogen hatte. »Was genau gefällt dir nicht?« Der Mann, der fragte, war ukrainischer Abstammung, 33 Jahre jung und hatte mit Warren und Doraner zusammen schon die legendären Scoutboote des Kolonistenraumers GALAXIS geflogen: Pjetr Wonzeff.
Auch der ein Jahr jüngere Mike Doraner kam zu ihnen geschlendert. Dabei watete er regelrecht durch das an dieser Stelle etwas höhere Gras, das spröde wie morsche Knochen war und sofort knirschend zerbrach, wenn man den Fuß von oben darauf setzte. Schlurfte man dagegen, teilte es sich vor den Schuhspitzen und blieb unversehrt. Doraner tat es aus Achtung vor einer Welt, auf der sie nur Besucher waren. Und das Gras konnte sicherlich am allerwenigsten etwas dafür, daß die Begrüßung von Seiten des Planeten nicht unbedingt freundlich ausgefallen war... Warren nickte in die Richtung, in die er auch den Rauch schickte - zum Eingang des Sockels hin, der gut hundert Meter vom Landeplatz der Flash entfernt lag. »Das gefällt mir nicht.« »Ich habe schon immer geschätzt, wie präzise du dich auszudrücken vermagst«, spöttelte Doraner und grinste breit von einem Ohr zum anderen. »Macht nur eure Witze...« »Sie können selbst auf sich aufpassen«, erwiderte Wonzeff in väterlichem Ton. Auch er konnte ein Schmunzeln nicht verhindern. »Zur Erinnerung: Wir haben genaue Anweisung, hier zu warten. Als Kindermädchen wurden wir nicht engagiert - dafür ist offenbar diese Blechbüchse zuständig.« »Artus?« Warren hob die Brauen. »Klar.« »Was haltet ihr eigentlich von dem Kameraden?« »Dürfte mir jederzeit vor den Flash kommen«, frotzelte Doraner weiter. »Ich bremse auch für Konserven.« Allgemeines Gelächter. Auch Kartek und Scott, der fünfte im Bunde, gesellten sich jetzt zu ihnen. Von ihnen schlurfte keiner. »Wie lange sind sie jetzt schon da drin?« »Ein paar Minuten.« »Sollten wir nicht die Verbindungsachse zur POINT OF darstellen?« »Ich seh mal nach...« Es war Warren, der im Schlendergang, die Pfeife zwischen die Zähne geklemmt, die Hände in den Hosentaschen vergraben, auf das Tor zuschritt. Die anderen tauschten Blicke, dann schlössen sie sich ihm wortlos an. Zwei Minuten später erreichten sie das Portal. Es stand nach wie vor offen - was sie auch schon aus der Entfernung erkannt hatten - aber statt der Personen, die sie dahinter zu sehen erwarteten, hatten sich mehrere hundert kugelförmige Roboter wie Perlen an einer unsichtbaren Schnur entlang des Eingangs aufgereiht - und verwehrten jeden Zutritt. Warren, der es als Erster entdeckte, prallte regelrecht zurück. Seine Hand fuhr zur Waffe. Aber die Kugelroboter machten keine Anstalten anzugreifen. Sie begnügten sich damit, einen Kordon zu
bilden. Eine Schranke, durch die es gewaltfrei kein Durchkommen geben würde.
Wonzeff und der Rest der Gruppe schlössen zu Warren auf; auch sie erkannten den Ernst der Lage auf
Anhieb.
»Verdammt!« fluchte Scott. »Verdammt, verdammt, verdammt!«
Wonzeff bewies Galgenhumor, indem er die Flüche trocken kommentierte: »Nicht gewußt, daß wir die
Verdammten sind?«
Scott grunzte.
Doraner hob die Hände vor den Mund und formte einen Trichter: »Commander! Doorn! Artus... Hört mich
jemand?«
Keine Antwort.
Die Stille wirkte wie gefroren im blauen Licht der Mysterious.
»Gottverdammt!« fluchte Scott noch einmal. Dann drehte er sich um und rannte zu seinem Flash zurück, um
die POINT OF zu verständigen.
Unwillkürlich wollte Bert Stranger zur anderen Seite ausweichen. Aber da spürte er einen zweiten Blaster.
Langsam wandte er
den Kopf.
»Weitergehen«, zischte der Mann rechts neben ihm. »Ganz unauffällig. Nicht umschauen.«
Was blieb ihm anderes übrig? In dem Gedränge hatte er keine Chance, sich zu wehren. Ihm fehlte die
Bewegungsfreiheit. Zudem gefährdete er damit die anderen Flugreisenden, die den Abfertigungsterminals
entgegendrängten.
Die beiden Halunken dagegen hatten sicher keine Skrupel zu schießen, und ihre Chancen standen gut,
anschließend im Gedränge unterzutauchen, ohne daß jemand sie erkannte oder gar aufzuhalten versuchte.
Der Reporter unterdrückte eine Verwünschung. Sie hatten ihn viel schneller wieder erwischt, als er anfangs
befürchtete.
Mit ihren Strahlwaffen dirigierten sie ihn wortlos, als wäre er ein Pferd, dem man die Sporen gibt, um es in
eine bestimmte Richtung zu zwingen.
Sie trieben im Strom, steuerten dabei aber seitwärts einem Nebenraum entgegen. Am Rand der
Menschenmenge ging es dann ein wenig zurück, aber auch hier gaben sie Stranger keine Chance, sich zu
wehren.
Und niemandem fiel auf, daß zwei Blaster auf ihn gerichtet waren! Die beiden Männer drängten sich so dicht
an ihn, daß keiner die Waffen bemerkte.
Sie passierten einen Robonenspürer, der wie überall an Flug-und Raumhäfen oder Magnetbahnterminals
auch nach einem Jahr immer noch in Betrieb war, getreu dem GSO-Motto »Traue niemandem«. Im nächsten
Moment befanden sie sich vor einer Tür, die lautlos vor ihnen aufglitt und sich hinter ihnen wieder schloß.
Jetzt erst gingen die Männer auf Abstand zu dem Reporter. Einer von ihnen aktivierte die
Sicherheitsverriegelung der Tür.
Stranger erkannte die beiden Entführer wieder. Es waren jene, die ihn vor Wochen in Frankreich erwischt
hatten.
»So sieht man sich wieder«, sagte einer von ihnen spöttisch. »Sie glauben doch nicht ernsthaft, daß wir nicht
mitbekommen
hätten, was Sie treiben? So einfach kommen Sie uns nicht davon, mein Bester.«
»Und? Was habe ich getrieben?« Stranger sah den schmalen Koffer, den der andere Mann jetzt langsam auf
der Tischplatte absetzte. Daneben gab es noch zwei ziemlich unbequem aussehende Stühle. Stranger
vermutete, daß dieser Raum hin und wieder von den Kontrollorganen des Jettports für Verhöre benutzt
wurde.
»Sparen Sie sich das Theater, Stranger«, sagte der Mann. »Sie waren im Medo-Center und haben sich
behandeln lassen. Sie sind der Ansicht, sich vom Einfluß unseres wunderschönen Gerätes befreit zu haben,
nicht wahr?«
»Woher wollen Sie das wissen?« War jemand im Medo-Center zum Verräter geworden? Arbeitete Professor
Webster möglicherweise mit diesen Halunken zusammen? Oder Crasso, der Psychologe?
»Ach, Stranger, Sie haben Spuren hinterlassen, die wir lesen konnten. Die jeder lesen konnte. Eine Spur so
breit wie der Amazonas. Sie standen unter permanenter Beobachtung. Wir wußten die ganze Zeit über jeden
Ihrer Schritte Bescheid. Wenn wir gewollt hätten, wäre es uns leichtgefallen, die Entgiftung zu verhindern
oder zu manipulieren. Aber so, wie es jetzt ist, ist es doch viel schöner, oder?«
Er grinste wölfisch.
Einerseits war Stranger erleichtert. Wenn er selbst diese Schurken hinter sich hergezogen hatte, war
wenigstens kein Verrat im Spiel. Andererseits mußte er sich selbst ungeheuren Leichtsinn bescheinigen. Er
hatte nie geprüft, ob jemand ihn überwachte!
Das war doch sonst nicht seine Art! Er, der mit Kameras, Mikrofonen und anderen Aufnahmetechniken
bestens vertraut war, weil sie zu seinem Job gehörten, hätte daran denken müssen, daß jemand
Überwachungstechnik gegen ihn einsetzte!
Die Sucht hatte ihn leichtsinnig werden lassen und seinen Verstand ausgeschaltet. Er hatte an kaum noch
etwas anderes gedacht als daran, den nächsten Chip genießen zu können. Alles andere
war nebensächlich gewesen.
Sein verdammter, großer Fehler! Und der wurde ihm jetzt zum Verhängnis.
Er ahnte, was sich in dem schmalen Koffer befand.
»Setzen Sie sich«, sagte der Mann an der Tür und deutete auf einen der beiden Stühle.
»Danke, ich stehe lieber«, sagte Stranger. »Ich habe heute schon in meinem Büro lange genug gesessen.
Aber das wissen Sie doch sicher, das haben Sie doch bestimmt auch verwanzt.«
»Setzen!« Beide Blaster waren wieder auf Stranger gerichtet.
»Sie werden mich nicht erschießen«, sagte er. »Sie brauchen mich noch. Sonst würden Sie nicht so viel
Aufwand betreiben, um mich unter Ihre Kontrolle zurückzubekommen. Sie beziehungsweise Ihre
Fortschrittspartei. Euch Brüdern muß der Hintern ja gewaltig auf Grundeis gehen, daß ihr zu solchen
Methoden greift. Haben eure Oberschurken soviel Angst, sie könnten die Wahl verlieren?«
Der Mann an der Tür streckte den Arm aus. Die B lastermündung zielte jetzt direkt auf Strangers Kopf. Der
zweite Mann trat etwas zur Seite, um nicht in die Schußbahn zu kommen, falls Stranger eine
Ausweichbewegung machte oder sich in seine Richtung fallen ließ.
Genau das hatte der Reporter eigentlich beabsichtigt.
Er schüttelte den Kopf. »Nein«, sagte er. »Sie erschießen mich nicht. Ich bin zu wertvoll.«
»Da wäre ich an Ihrer Stelle nicht so sicher«, warnte der andere. »Wir müssen Sie nicht töten; es reicht. Sie
zu verkrüppeln. Dann können Sie uns immer noch von Nutzen sein. Vielleicht sogar mehr als zuvor.«
»Wir können Sie aber töten«, sagte der an der Tür. »Dann schnappen wir uns eben einen Ihrer Kollegen. Wir
brauchen Sie nicht wirklich. Stranger. Sie dürfen es als Ehre ansehen, daß unsere Wahl auf Sie gefallen ist.
Übrigens - könnte sein, daß Ihr Sterben sehr langsam stattfindet und sehr weh tut. Wenn ich Sie
stückchenweise amputiere... Sie werden nicht mal schnell genug verbluten können, weil die Strahlhitze die
Adern verschweißt.«
»Also überlegen Sie es sich«, sagte der andere. »Aber schnell. Unsere Geduld ist begrenzt. Wir sind nicht
auf Sie angewiesen, aber Sie auf uns, wenn Sie überleben wollen. Wir können jeden anderen Mann nehmen.
Bei Ihnen ist es aber einfacher, weil ja schon Vorarbeit geleistet wurde.«
Er weiß es, verdammt noch mal, dachte Stranger. Er weiß, daß es beim zweitenmal keine Heilung mehr gibt.
Aus den Augenwinkeln sah er, daß der Verbrecher mit seinem Blaster auf Strangers linken Fuß zielte. Von ihm ging die Gefahr aus, nicht von dem Mann an der Tür, dessen Strahlwaffe immer noch auf den Kopf des Reporters gerichtet war. »Na schön«, murmelte er unbehaglich. Vielleicht bekam er ja noch den Hauch einer Chance, wenn sie versuchten, ihm das Sen-sorium überzustülpen. Dann mußte zumindest einer von ihnen die Waffe beiseite legen und direkt an Stranger heran. Er war kein Kämpfer, er verabscheute Gewalt. Aber er wußte sich zu wehren. Vielleicht schaffte er es ja noch mit etwas Glück. Wenn nicht, war er erledigt für alle Zeiten. Dann konnte er es auch auf die Spitze treiben und sich tatsächlich erschießen lassen. In ihm tobte die Angst. Er wollte nicht sterben. Er wollte aber auch nicht wieder süchtig werden. Verdammt, warum hatte er diesen Mülleimer auf Beinen nicht in seiner Nähe behalten? Wenn Theta 3 da gewesen wäre, hätte der sie alle drei paralysieren können, ehe die Entführer zum Schuß kamen. Aber er hatte den Roboter ja unbedingt auf Distanz halten müssen. Zur Hölle! Ich bin der größte Idiot dieser Galaxis!
Langsam schlurfte er auf den Stuhl zu, als könne er durch sein Zögern noch etwas ändern. Aber dann saß er. Jetzt mußte zumindest einer der beiden Männer den schmalen Koffer öffnen und ihm das Sensorium aufsetzen. Dazu mußte er die Waffe weglegen und an Stranger heran... jetzt mußte er es tun... Strangers Chance... Der Mann öffnete den Koffer mit einer Hand und klappte ihn auf. Wie hypnotisiert starrte Stranger das darin liegende Sensorium an. Der Mann schob den Koffer zu ihm herüber. »Nehmen Sie das Gerät heraus«, sagte er. »Der Chip ist schon eingesetzt. Setzen Sie sich das Sensorium auf.« »Nun machen Sie schon«, drängte der andere an der Tür. Scheiße. Die sind m vorsichtig, diese Dreckskerle!
Es war vorbei. Die winzige Chance, die Bert Stranger sich erhofft hatte, existierte nicht. Er konnte jetzt nur wieder süchtig werden oder sterben. Und er glaubte dem Schurken bedingungslos, daß er sich mit dem Töten eine Menge Zeit lassen würde. Der Reporter überlegte fieberhaft. Vielleicht gab es ja doch noch irgendeine Möglichkeit, etwas, das er übersehen hatte, einen kleinen Trick, mit dem er wenigstens einen der beiden Männer ablenken konnte. Wäre es einer, war es relativ leicht. Drei Gegner hätte er gegeneinander ausspielen können. Aber sie waren zu zweit. Da war nichts zu machen. Langsam streckte Bert die Hand nach dem verfluchten Apparat aus und hob den »Brillenbügel« aus dem Koffer. Die Hand zitterte. Er fühlte den Angstschweiß auf seiner Stim. »Nun machen Sie schon. Sie kommen ja doch nicht daran vorbei. Je schneller Sie das Sensorium aufsetzen, desto schneller haben Sie es hinter sich«, sagte der Mann an der Tür.
Es waren seine letzten Worte.
Etwas krachte gegen die sicherheitsverriegelte Tür. Beim zweiten Schlag flog das gesamte Türblatt, das bei
normalem Öffnen und Schließen zur Seite glitt, nach innen. Das abgesprengte Schloß flog wie ein Geschoß
durch den Raum, haarscharf an Bert Stranger
vorbei. Die Tür knallte dem Entführer in den Rücken und schleuderte ihn zu Boden. Er kam halb unter der
Stahlplastikplatte zum liegen, sein Blaster schlidderte durch den Raum.
Der andere Mann riß die Waffe herum und feuerte. Der blendend grelle Blitz fauchte aus dem Abstrahlpol
der Mündung und verfehlte sein Ziel nur um Millimeter. In der Wand neben der Tür entstand ein Loch mit
glühenden Schmelzrändern und verriet Stranger, welche enorme Kapazität diese Blaster aufwiesen.
Ein anderer Strahl blitzte auf. Er traf den Schützen. Dessen Oberkörper wurde glatt durchschlagen. Er sah
ungläubig an sich herunter, sah die riesige Wunde und konnte schon nicht mehr atmen, als er den Blaster
noch einmal hob und auf Bert Stranger richtete.
Der war nicht fähig, sich zu rühren. Das blanke Entsetzen hatte ihn gepackt, lahmte ihn. Wieder feuerte der
Ankömmling. Plötzlich besaß der Entführer keinen Unterarm mehr. Er taumelte einige Schritte zurück, war
schon tot, obgleich er sich noch auf den Beinen hielt. Er stieß gegen die Wand und rutschte dann langsam an
ihr herunter.
Der andere hatte sich unter der von Theta 3 eingetretenen Tür hervorgearbeitet und seinen Blaster doch noch
wieder erwischt. Er zielte auf den Roboter. Der feuerte aus zwei Blastem zugleich. Die Strahlschüsse
hämmerten in den Körper des Entführers und zerschmolzen ihn förmlich. Ein weiterer Schuß fegte Stranger
das Sensorium aus der Hand, ohne den Reporter dabei zu verletzen. Die Reste des verglühenden Apparates
rutschten über die Tischkante hinweg und zerschellten am Boden. Das Ganze hatte nur ein paar Sekunden
gedauert. Für Bert war es, als seien Jahrtausende vergangen. Jede Einzelheit des Geschehens hatte sich ihm
unauslöschlich eingeprägt. Der Gesichtsausdruck des Mannes, der ihn zu töten versucht hatte und jetzt halb
an die Wand gelehnt tot hockte, die Wut in den Zügen des anderen, der auf Theta 3 schoß... Und irgendwie
empfand Stranger Enttäuschung, weil die beiden
Männer angesichts ihres Todes nicht mehr die Zeit bekommen hatten, selbst jene furchtbare Angst zu
empfinden, die sie in ihm selbst ausgelöst hatten.
Langsam drang das bösartige Jaulen einer Sirene an Strangers Ohren. Das Aufsprengen der Tür hatte ihn
ausgelöst.
Theta 3 stand da, die dünnen Unterarme angewinkelt und in jeder Stahlhand einen Blaster. Die
Projektionsdome glühten immer noch.
»War...«, murmelte Stranger, räusperte sich, um den Kloß herunterzuschlucken, der in seiner Kehle steckte,
»war das nötig? Hättest du sie nicht paralysieren können?«
»Die Exekution der beiden Kriminellen erwies sich aufgrund der von ihnen gegen Sie ausgerichteten Gefahr
als zwingend erforderlich, Sir«, schnarrte der Blechmann.
Bert Stranger nickte langsam.
Der Blechmann wurde ihm unheimlich. Galten für ihn die Robotergesetze nicht?
Ein Roboter, der kompromißlos tötete... nicht nur ein Leibwächter, sondern ein Killer! ,
Was hatte Patterson ihm da nur für einen Klotz ans Bein gebunden?
Die Sirene heulte immer noch. Und Bert, der versuchte, aufzustehen, schaffte das nicht, weil die Knie unter
ihm nachgaben.
Er wußte, daß er dem Tod selten so nahe gewesen war wie jetzt. Weder seinerzeit im Brana-Tal, als er einen
durchdrehenden Cy-borg-Anwärter zur Strecke brachte, der die ganze Station vernichten wollte, noch im
vergangenen Jahr, als Robonen auf Borneo eine Atombombe zündeten.
Endlich hörte das schrille Heulen auf.
Und es wimmelte von Polizisten, die mit schweren Blastem auf Theta 3 zielten...
»Nicht schon wieder«, murmelte Stranger. Er fühlte sich müde, unendlich müde. Er sah nicht einmal auf sein
Chrono, um zu prüfen, wieviel Zeit ihm noch bis zum Abflug des Jetts verblieb. Er hatte jegliches Zeitgefühl
verloren, und er wollte es in diesem Moment auch nicht zurückgewinnen.
Er starrte die Polizisten an, die hinter der Tür in der Halle standen, ihre Blaster auf Theta 3 gerichtet. Und er
starrte Theta 3 an, der seinerseits mit beiden Waffen auf die Polizisten zielte. Unschuldige gefährden konnte
er nicht; die Halle war in der Schußlinie geräumt worden. Stranger staunte über das Tempo, mit dem diese
Räumung abgelaufen sein mußte, bis ihm einfiel, daß er einige Zeit mit seinen beiden Entführern in diesem
Raum zugebracht hatte. Da konnte ein großer Teil der Reisenden schon normal zu den Startfeldern der
diversen Maschinen durchgeschleust worden sein.
»Theta 3«, sagte er brüchig. »Die Waffen 'runter. Diese Männer bedrohen mich nicht.«
»Sind Sie ganz sicher, Sir?« schnarrte der Blechmann.
»Ich sagte, Waffen 'runter. Und sichern«, befahl Stranger etwas schärfer.
Das Glühen der Dome erlosch. Theta 3 senkte die Arme, so daß die Blastermündungen nach unten gerichtet
waren.
Jetzt entspannten sich auch endlich die Polizisten. Einer von ihnen betrat vorsichtig den Raum und sah sich
um. Er runzelte die Stirn, während er die beiden Toten genauer betrachtete.
Dann wandte er sich Stranger zu. »Ist das Ihr Auftragskiller?«
»Mein Wachroboter«, sagte der Reporter. »Eigentum der Terra-Press. Er hat den Auftrag, mich zu schützen.«
»Terra-Press? Warten Sie mal - dann sind Sie Bert Stranger? Ich hab' Sie schon mal im Holo gesehen, glaube ich.« »Genau der bin ich«, sagte Bert. »Und, glauben Sie mir, nur auf der Durchreise. Ich habe nicht vor, den Jettport auf den Kopf zu stellen.« »Dafür, daß Sie das nicht vorhaben, haben Sie's aber ganz nett hingekriegt«, warf einer der anderen Polizisten ein. »Sagen Sie dem Roboter, daß er sich zur Überprüfung bereithalten soll.« »Ich bin bereit«, sagte Theta 3. »Eine dahingehende Instruktion durch meinen Mandanten ist nicht erforderlich. Da Sie offenbar meinem Mandanten keinen unmittelbaren Schaden zufügen wollen, akzeptiere ich Ihre Autorität.« »Reden diese Blechkerle immer so geschraubt?« fragte der Einsatzleiter, während der andere Beamte eine kleine Klappe am Brustteil des Robots öffnete und einen Diagnosesensor andockte. »Wachroboter mit Waffenlizenz vom Paraschocker bis hin zum Triple-Hy-Lasergeschütz«, las er ab. »Lizenz ausgestellt vom Justizministerium am 4. Januar dieses Jahres, identisch mit Fertigungstag des Roboters. Eigentum der Terra-Press.« Stranger hob die Brauen. Am Tag der Fertigung war der Rob garantiert noch nicht an die Terra-Press ausgeliefert worden. Das hieß, daß die Waffenlizenz der Maschine noch von Wallis Indu-stries beantragt worden war. »Bis zum Triple-Hy«, murmelte der Einsatzleiter kopfschüttelnd. »Also höchste überhaupt erlaubte Privatlizenz. Alles, was darüber hinausgeht, ist nur noch für die TF und Terra Defense reserviert... mein lieber Schwan! Da hat aber einer ganz weit ausgeholt.« Er sah Stranger an. »Haben Sie dafür gesorgt? Man munkelt ja, daß Sie Verbindungen bis in Regierungskreise haben sollen.« »Man munkelt viel«, sagte der Reporter. »Der Blechkasten wurde mir regelrecht auf gezwungen. Ich wollte den gar nicht haben. Bin aber jetzt froh, daß er hier war.« »Was ist passiert?« »Diese beiden Männer wollten mich entführen. Im Gedränge bin ich wohl für kurze Zeit aus dem Wahrnehmungsbereich des Robots geraten. Er kam etwas später dazu«, wich Stranger aus. Er wollte diese Sache jetzt so schnell wie möglich hinter sich bringen, und das ging nur mit einer möglichst simplen Geschichte. Die ganze Wahrheit konnte er den Polizisten nicht erzählen. Erstens 1^ würden sie ihm vermutlich nicht glauben, und zweitens begannen dann Nachforschungen, die Strangers eigene Arbeit erheblich behinderten und ihn vielleicht sogar in noch größere Gefahr brachten. Denn wenn diese Fortschrittsparteiknechte ihn bislang intensiv überwacht hatten, entging ihnen auch dieses Fiasko nicht. »Entführen? Wieso?«
»Ich weiß es nicht«, sagte Stranger. Er hoffte, daß niemand die Reste des verglühten Sensoriums
beachtete, oder wenn, dann erst später.
»Und Ihr Roboter hat dann die Entführer niedergeschossen.«
»Sie bedrohten mich mit Blastern. Er war bei der Entführung selbst nicht in der Nähe und ging wohl
davon aus, daß die beiden Männer mich töten wollten. Also hat er geschossen.«
»Man hätte das verdammte Scheißding ja auch mit Paraschok-kem ausstatten können«, knurrte einer der
anderen Polizisten.
»Wäre mir auch lieber«, sagte Stranger. »Hat man aber wohl nicht. Es war nicht meine Entscheidung.«
»Wir werden uns darüber mal mit Ihrer Firma unterhalten«, versprach der Einsatzleiter. »Nur noch als
Formalität: Ich hätte gern auch Ihren Ausweis noch gesehen.«
Stranger reichte ihm die Karte und bekam sie sofort zurück. »Hoffentlich erreiche ich meinen Flieger
noch«, murmelte er.
»Keine Sorge. Derzeit ist der ganze Flug- und Abfertigungsbetrieb gestoppt. Wohin fliegen Sie?«
»Weg von hier«, sagte Stranger. »So weit weg wie möglich.«
»Ihr Ziel?«
»Muß ich Ihnen nicht verraten, Sir.« In Bert erwachte die alte Vorsicht. Natürlich würden sie es
herausfinden, aber nicht jetzt sofort. »Kann ich jetzt gehen?«
»Ich habe die Protokolldatei abgerufen und gespeichert«, sagte der Mann mit dem Diagnosesensor und
schloß die Klappe am Roboter wieder.
»Dann wünsche ich Ihnen und Ihrem metallenen Blasterhelden einen guten Flug«, sagte der Einsatzleiter.
Stranger erhob sich. Er fühlte sich wieder etwas besser. Er stieß Theta 3 an. »Auf geht's. Alter. Wir wollen
die Leute doch nicht mehr länger auf ihre Flieger warten lassen. Jede Verspätung rächt sich irgendwann.«
Der Robot verließ den Raum. Neben der Tür bückte er sich kurz nach seinem Köfferchen, öffnete es und ließ
die beiden Blaster blitzschnell darin verschwinden - so schnell, daß niemand sehen konnte, was sich noch an
Waffen darin befand.
Der Einsatzleiter aktivierte sein Armbandvipho.
»Alarm beendet. Normalbetrieb kann wieder aufgenommen werden«, hörte Stranger ihn sagen.
Zehn Minuten später befanden sie sich bereits im Jett. Es war eine Interkontinentalmaschine, die rund dreihundert Passagieren Platz bot und gut besetzt war. Einige Sitze blieben jedoch frei. Für einen Moment hockte Stranger sich neben den Roboter, dessen Waffenkoffer problemlos durch die Kontrollen gekommen war. Noch vor 50 oder 60 Jahren, dachte Bert, wäre das völlig unmöglich gewesen. Aber die Zeiten änderten sich; trotz der über-standenen Robonengefahr und tel'scher Separatisten, die sich vermutlich immer noch auf Terra hemmtrieben, schätzte man das Attentatsrisiko auf einen Flieger als kaum noch gegeben ein. Und Maschinen mit den entsprechenden Lizenzen galten als äußerst zuverlässig. »Es war wirklich nicht nötig, die beiden Männer zu töten«, sagte Stranger leise, aber vorwurfsvoll. »Wenn du sie paralysiert hättest, hätte man sie verhören können. Dann wären wir ihren Hintermännern vielleicht schneller auf die Spur gekommen.« »Die Exekution der beiden Kriminellen erwies sich aufgrund der von ihnen gegen Sie ausgehenden Gefahr als zwingend erforderlich, Sir«, wiederholte Theta 3. »Meine Sensoren registrierten die energetischen Streuwerte scharfer Blaster hinter der Tür. Ich han delte entsprechend meiner Programmierung.« »Zum Teufel damit«, knurrte Stranger. »Kennst du die asi-niov'sehen Gesetze?« »Dieser Ausdruck ist nicht in meiner Datenbank gespeichert«, leierte Theta 3 seinen alten Spruch herunter. »Erbitte Information.« »Gesetz l: Ein Roboter darf keinen Menschen töten oder verletzen oder durch Untätigkeit zulassen, daß ein Mensch getötet oder verletzt wird. Gesetz 2: Ein Roboter hat menschlichen Befehlen zu gehorchen, es sei denn, sie stehen im Widerspruch zu Gesetz l. Gesetz 3: Ein Roboter hat seine eigene Existenz zu schützen, es sei denn, das steht im Widerspruch zu Gesetz l und Gesetz 2.« »Diese Gesetze sind nicht in meiner Datenbank gespeichert und daher irrelevant.« »Dann speichere sie jetzt gefälligst.« »Ich kann meine Datenbank nicht selbst verändern, Sir«, widersprach Theta 3. Dann kann ich nur hoffen, daß ich nicht noch einmal in eine solche Situation gerate wie vorhin, dachte Stranger kopfschüttelnd. Er erhob sich und suchte seinen eigenen Platz weiter vorn auf. Theta 3 blieb im hinteren Bereich des Passagierraums zurück. Stranger sehnte sich nach den alten Zeiten, in denen die von dem Physiker und SF-Autor Isaac Asimov erstmals aufgestellten drei Robotergesetze noch allgemeine Gültigkeit hatten. Aber - natürlich, ein Wach- oder Kampfroboter konnte bei Anwendung dieser Gesetze in einen unlösbaren Entscheidungskonflikt geraten, bei dem ihm nicht einmal Fuzzy-Logik weiterhalf. Hier das Opfer, da der Täter - um das Opfer zu schützen, mußte er eventuell den Täter töten, was im Widerspruch zum l. Gesetz stand. Tötete er den Täter nicht, löschte der das Leben des Opfers aus, was ebenfalls im Widerspruch zum l. Gesetz stand. Selbst Asimov hatte diese Problematik seinerzeit erkannt und eine Menge Kurzgeschichten um die Robotpsychologin Dr. Calvin geschrieben, die sich mit die sen Problemen befaßte. Eine Stewardeß riß Stranger aus seinen Gedanken. Sie erkundigte sich nach seinen Wünschen, brachte ihm sein Getränk. Der Jett starte mit nur wenigen Minuten Verspätung, versicherte sie ihm auf seine Nachfrage, und der Pilot sei zuversichtlich, diese Minuten über dem Atlantik wieder einzuholen, da eine günstige Wetterlage für starken Westwind sorgte, die Maschine so vor sich hertrieb und nicht nur die Fluggeschwindigkeit etwas erhöhte, sondern zudem für Treibstoffersparnis sorgte. - So genau wollte Bert das eigentlich gar nicht wissen... Er beobachtete die Stewardeß, während sie sich um die anderen Fluggäste kümmerte. Irgendwie erschien sie ihm fahrig und un-konzentriert. Noch dachte er sich nichts dabei; so etwas kam schon mal vor. Vielleicht war sie mit ihren Gedanken schon bei ihrem Freund, der in Lyon auf sie wartete. Nach einer Weile verschwand sie in einem der kleinen Personalräume. Es dauerte etwa 15 Minuten, bis sie wieder auftauchte, um sich erneut den Fluggästen zu widmen. Und jetzt wirkte sie regelrecht euphorisch! . Verdammt, das kannte er doch! Aus eigener Erfahrung... Er erhob sich von seinem Sitz und schlenderte durch die Großraumkabine in Richtung Toiletten. Dabei mußte er zwangsläufig an dem Personalabteil vorbei. Das Kämmerchen war nur durch einen schweren Vorhang vom Gang getrennt. Stranger tat, als stolpere er über seine eigenen Füße, mußte sich dabei an dem Vorhang festhalten und zog ihn eine Elle weit auf. Der Raum dahinter war mit einem kleinen Wandklapptisch, zwei Hockern und einem Schränkchen ausgestattet, auf dessen Bord eine Kaffeemaschine, zwei Tassen und eine Packung Zigaretten lagen. Aber auf einem der beiden Hocker lag noch etwas ganz anderes. Das Gestell eines Sensoriums...!
6. Ren Dhark wußte sofort, wo er sich befand, als er sich umblickte
- nicht nur im Raum, in dem das Transportfeld sie abgesetzt hatte, sondern über dessen Grenzen hinaus. Die Wände ringsum waren durchsichtig und erlaubten einen glasklaren Blick bis in weite Feme, wo die goldenen Kolosse aufragten; wo der Himmel lohte, wie in flüssiges Feuer getaucht, durch das immer wieder Blitze jagten. Und der Umstand, daß er zu den Köpfen der entfernteren Statuen emporblicken mußte, erlaubte ihm weitere Rückschlüsse auf ihren Aufenthaltsort... »Das war ein Transmitterfeld - wir wurden räumlich versetzt!« konstatierte Arc Doorn, was ohnehin jedem bewußt war. Bram Sass nahm Verteidigungshaltung ein. Unklar blieb, ob er einen erneuten Ansturm von Kugelrobotern erwartete oder einen gänzlich anders gestrickten Gegner. »Die Defensiven folgen uns nicht - sie hatten nie die Absicht«, sagte Gisol in diesem Moment. »Deshalb zogen sie sich zum Rand des Raumes zurück, in dem die Transportvorrichtung versteckt war.« In dieser Einschätzung stimmte Dhark mit ihm überein. »Wir befinden uns im Kopf des Goldenen, der die POINT OF am Boden festhält«, sagteer. Und prompt fragte Artus: »Woraus schließen Sie das?« »Ganz einfach: Ich weiß, wie es im Schädel einer Statue aussieht - zumindest dort aussah, wo ich schon einmal Gelegenheit hatte, sie zu besuchen... Gisol wird mir beipflichten.« Gisol nickte. Dann fuhr er fort: »Die Schlußfolgerung ist naheliegend. Es gibt nur eine Figur, die niederkniet - eben die, welche die POINT OF festhält. Wir befinden uns auf eindeutig niedrigerem Höhenniveau als die umstehenden Statuen... Ren Dhark hat Recht. Auch mit allem anderen. Dies hier ist die Kopfzone eines Gol denen. Die Bestückung...« er wies auf die sie umgebenden Bestandteile der Einrichtung »... läßt diesen Rückschluß zweifelsfrei zu.« Dhark hörte den Erläuterungen des Worgun kaum mehr zu. Er blickte sich um, stellte Vergleiche an zu der Situation, wie sie im Goldenen auf Babylon anzutreffen gewesen war, nachdem auch dort ein Transmitterfeld die Versetzung in den Schädel der Statue ermöglicht hatte. Unweit von ihm hing freischwebend etwas in der Luft, was an ein riesiges Knäuel aus Drähten erinnerte auch das hatte es auf Babylon gegeben. Sein Sinn und Zweck war bis heute unbekannt. Bis zu dieser Sekunde. Gisol war seinem Blick gefolgt. »Es ist ein Rechner«, sagte er. »Seine unsichtbare Vernetzung reicht wahrscheinlich bis tief in die Planetenrinde...«
Ein Rechner...
.
Gisols Behauptung fand großen Nachhall in Ren Dharks Bewußtsein. Dennoch hielt er sich nicht lange damit
auf, den Blick auf dem schwebenden »Knäuel« zu belassen.
»Are... Artus... schaut euch um. Hier gibt es viel zu entdecken, vielleicht...«
»Du denkst, du findest den Mechanismus, der den Goldenen zwingt, von der POINT OF abzulassen und
wieder auf seinen Sokkel zurückzusteigen?« fiel Gisol ihm ins Wort.
»Wäre das so undenkbar?«
»Für euch -ja. Ich respektiere, was die Menschen geleistet haben. Ohne Vorkenntnis ist es euch nach und
nach allein durch Geduld und Hartnäckigkeit, gelungen, viele Funktionsweisen der Worguntechnik zu
entschlüsseln. Aber hier...« Er schüttelte den Kopf, als wäre ihm menschliche Gestik längst in Fleisch und
Blut übergegangen. »Hier würdet ihr scheitern. Zumal wir nicht unbe
grenzt Zeit haben.« Er stockte kurz, dann fügte er hinzu: »Laßt es mich versuchen.«
Dhark hob die Schultern. »Laß es uns alle versuchen«, erwiderte er. »Acht Augen und eine künstliche Optik
sehen mehr als zwei.«
»Einverstanden.«
»Bleibt nur zu hoffen, daß man uns die Zeit gibt, uns umzusehen«, knurrte Doorn schwarzmalerisch.
Damit sprach er allen aus dem Herzen.
Selbst Artus, der keines besaß.
Ein überraschter Ausruf... Bram Sass hatte eine Sensorfläche berührt, ohne sich bewußt zu sein, daß es sich
um eine solche handelte... und schon veränderte sich das Innere des Kopfes der Statue grundlegend.
Die Transparenz der Wände wurde aufgehoben.
Etwas anderes rückte an ihre Stelle und unterband den freien Ausblick nach draußen, der ohnehin
gewöhnungsbedürftig gewesen war.
Staunend akzeptierten die Besucher (oder waren sie in Wahrheit nicht eher Gefangene?), daß es sich um
keinen Angriff handelte, sondern um eine Neukomposition der Verhältnisse. .
An Stelle der durchsichtigen Wände trat ein Hologramm.
Ein rundum laufendes Hologramm, das eigentlich aus etlichen Einzelholos bestand, deren Grenzen aber
verwischten und die kaum merklich ineinander übergingen.
»Das ist... Holotechnik in Vollendung!« schwärmte Arc Doorn, noch bevor er mehr als einen flüchtigen
Blick darauf geworfen hatte. »Bei allen Schwarzen Löchern des Universums - das übertrifft sogar die
Qualität der Bildkugeln auf der POINT OF und auf Gisols EPOY um ein Beträchtliches...!«
Niemand fragte, woran er das so schnell meinte festmachen zu können.
Jeder, der mit ihm Zeuge des Aufbaus der Holoflächen wurde, spürte, daß es stimmte.
Binnen eines Sekundenbruchteils (kein Flackern war erkennbar geworden, nichts, keine noch so klitzekleine
Störung während des Aufbaus) war innerhalb des Kopfes der Statue eine gigantische Schaltzentrale
entstanden, die jene umlaufende Holoprojektion beinhaltete!
Nach einer Weile, in der Ren Dhark die veränderte Umgebung auf sich hatte einwirken lassen, meldete sich
der Verdacht in ihm, daß möglicherweise gar nicht Bram Sass der Auslöser der Veränderung gewesen war.
Denkbar war auch, daß sie vorsätzlich für die Besucher herbeigeführt worden war - von der immer noch in
kognito agierenden Macht, die auch dafür gesorgt hatte, daß sie hierher gelangten.
Grund für diese Annahme waren die Bilder, die von den Holo-sektionen wiedergegeben wurden - zum einen
Ausschnitte der Außenwelt, Landschaft, Statuen, verlassener Sockel... zum anderen aber auch Szenen, die
eindeutig im Weltall spielten, im nahen Raum um den Planeten. ,
Mühelos identifizierte Dhark neunzehn Ringschiffe, und um die Gefahr, in der die kleine Flotte schwebte,
nachhaltig klarzumachen, legte sich plötzlich ein Zielraster über jedes Schiff...
Kein Zweifel: Die Raumer, die sich unter Martells Kommando in genügendem Sicherheitsabstand zum
Planeten wähnten, befanden sich in Wirklichkeit voll im Visier weitreichender Waffen!
Gisol sonderte sich von den anderen ab. Kurz beobachtete er noch, wie Arc Doorn und Artus auf ihre Weise
versuchten, die Funktionsweise dieses Ortes zu erkunden, dann widmete er sich ganz den eigenen
Recherchen.
Er war klar im Vorteil. Die hier verwandte Technik ähnelte dem, was er kannte... und unterschied sich
dennoch gleichzeitig in einer
Weise, die ihn seltsam berührte.
Die hiesige Technologie mußte älter als die in Om aktuell gebräuchliche sein. Trotzdem empfand er sie in
vielerlei Hinsicht als progressiver und ausgereifter, was eigentlich unlogisch hätte sein müssen; es sei denn...
... es sei denn, meine Spezies hat in den Jahrhunderten der Unterdrückung schon eine spürbare Degeneration durchlaufen.
Rückschritt statt Fortschritt - unter der »Fürsorge« der Zyzzkt.
Gisol spürte einen brennenden Haß, und als sein Blick die Ho-lowiedergabe eines Himmelsausschnitts
streifte, fand er diesen geradezu symbolhaft für die in ihm streitenden Gefühle.
Verzehrende Flammen... was würde ich darum geben, die Zyzzkt in dieses Höllenfeuer stürzen zu können!
Er wußte, daß es beim Wunschdenken bleiben würde. Selbst mit Hilfe der Terraner - und vorausgesetzt, sie
erreichten Orn überhaupt - würde es ein Ding der Unmöglichkeit sein, die Herrschaft der Zyzzkt zu beenden.
Alles, worauf Gisol realistisch betrachtet hoffen konnte, war, daß die Expedition nach Orn die Menschen von
der Notwendigkeit überzeugte, nach ihrer Rückkehr in der Milchstraße eine riesige Armada
zusammenzustellen, mit der sie den Worgun zu Hilfe eilten.
Aber all dies stand in den Sternen.
Mehr denn je.
Kleine Schritte, ermahnte er sich. Du mußt in ganz kleinen Schritten vorangehen. Zunächst müßt ihr die Prüfung bestehen, die dieser Planet für euch bereuhält...
Er wünschte, er hätte mehr Geduld besessen. Mehr Gelassenheit. Aber schon seit dem Aufbruch aus der Milchstraße spürte er, wie sich seine Erwartungen hochschaukelten, gleichgültig wie stark er dagegen ankämpfte. Wenn du wüßtest, kleines Mädchen, wie es wirklich in mir aussieht, wanderten seine Gedanken kurz zu Juanita. Aber ich bin nur stark für dich. Du sollst nicht merken, wie meine Gefühle mich manchmal überwältigen. Es wäre nicht gut für dich. Nicht gut...
Es war nicht das einzige Geheimnis, das er vor ihr verbarg. Es gab noch ein größeres. Er liebte dieses Kind.
In einer Form, wie nur Worgun es vermochten...
Ren Dhark wirbelte herum, als in seiner unmittelbaren Nähe bunte Felder materialisierten.
Hologramme.
Ein jedes knapp handflächengroß und zwei bis drei Zentimeter dick. Die geometrische Form variierte. Es gab
Rechtecke, Trapeze, Kreise, Dreiecke, Oktaeder, Tetraeder...
»Schon gut«, meldete sich Gisol und trat zwischen Dhark und die Projektionen. »Ich bin dafür
verantwortlich. Ich habe die Schaltung gefunden, die sie erzeugt.«
»Worum handelt es sich?« Auch Arc Doorn war aufmerksam geworden und stellte die Frage.
»Wenn ich nicht völlig daneben liege«, antwortete Gisol, »um die gesuchte Steuerung.«
»Eine Steuerung...?« Dhark machte gar nicht erst den Versuch, seinen Unglauben zu verhehlen.
»Die Erbauer dieser Einrichtung waren kreativ«, bestätigte Gisol ungerührt. »Mein Volk war über lange
Zeitalter kreativ.«
»Niemand stellt dies in Abrede«, beruhigte ihn Dhark, weil er plötzlich spürte, an welch seidenem Faden
Gisols vorgespielte Selbstbeherrschung hing. »Kannst du es auch bedienen?«
»Ich werde es versuchen.«
Gisol berührte scheinbar willkürlich eine Reihe von projizierten Flächen mit der Hand. Zunächst sah es aus,
als würde keine Reaktion erfolgen. Dann rief Bram Sass, der zufällig einen der Holoschirme, auf dem das
Außengeschehen wiedergegeben wurde, im Auge behielt: »Sofort aufhören! Nein... nicht aufhören! Sofort
rückgängig machen - was immer Gisol ausgelöst hat!«
Er zeigte auf die Szene, die auf dem Holoschirm erschien. Die POINT OF unter der Hand des Goldenen. Der
das Schiff plötzlich nicht mehr nur festhielt, sondern den Ringraumer in den Boden zu drücken begann!
»Kannst du es rückgängig machen? Dann tu es!«
Ren Dhark spürte einen Anflug von Panik, während er den Zuruf des Cyborgs auffing und mit eindringlichen
Worten an die Adresse des Worgun wiederholte.
Gisol zögerte keine Sekunde. Offenbar hatte er nicht willkürlich getestet, zumindest aber die Abfolge der
Feldberührungen noch perfekt in seinem Gedächtnis gespeichert.
Nun kehrte er sie um, wenn Dharks eigene Erinnerung nicht trog.
Sofort meldete Sass: »Okay. Die Hand geht wieder nach oben -aber nur soweit, daß sie die POINT OF nach
wie vor festklemmt.«
»Gisol?« Fragend blickte Dhark den Mann aus der zehn Millionen Lichtjahre von der Milchstraße entfernten
Galaxis an.
»Es ist nicht ohne Risiko - ich kann einen weiteren Versuch starten, aber dieses Instrumentarium ist selbst
mir weitestgehend fremd... nicht bei den Worgun gebräuchlich. Nicht mehr...«
»Darf ich mal ran?«
Aus dem Hintergrund näherte sich Arc Doorn. »Ich habe zugesehen und glaube den Mechanismus
durchschaut zu haben. Jede Berührung löste auch eine Reaktion auf dem holographischen Diagramm aus.«
Er wies auf die Stelle in der Rundumprojektion, die er meinte. »Das sich daraus ergebende Muster macht
Sinn. Es steht in direkter Relation zu der schematischen Darstellung der Statue-dort...«
Wieder folgten ihm alle Blicke.
Und während Dhark und Sass noch skeptisch wirkten, trat Gisol unvermittelt beiseite, um seine
Bereitwilligkeit auszudrücken, den
Menschen Doorn probieren zu lassen, was ihm, dem Worgun, zumindest auf Anhieb nicht gelungen war: die
Befreiung der POINT OF.
Das Veto kam schließlich von anderer Seite - noch bevor Doorn das erste in der Luft schwebende Lichtfeld
berühren konnte.
»Ich rate davon ab. Wirklich!«
Alle Augen richteten sich auf Artus, der mit hocherhobenem Zeigefinger dastand und wie die Karikatur eines
altmodischen Schulmeisters wirkte.
»Ich empfange neue Signale, und ich verstehe sie als eindringliche Warnung, es nicht einmal zu versuchen,
die Sperre, die unser Schiff festhält, zu beseitigen...«
Artus hatte schon zweimal richtiggelegen mit seinen Behauptungen; niemand wollte darauf bauen, daß er
sich ausgerechnet beim drittenmal täuschte.
»Diese Signale«, wandte sich Dhark an ihn. »Kannst du uns etwas über den Absender sagen? Stehst du
soweit in Kontakt mit ihm, daß du seine Natur durchschaust?«
Artus bejahte. »Es handelt sich eindeutig um einen anderen Rechner - er gehört zu dieser Anlage.«
»Bist du sicher?«
»Absolut.«
»Ist er identisch mit... diesem Gellecht, das wir hier sehen und von dem Gisol meint, es handele sich um
einen Computer unbekannter Bauweise?« Dhark zeigte auf das freischwebende Knäuel aus golden
schimmernden Drähten.
Golden.
Allmählich entwickelte er eine erschreckende Aversion gegen diese Farbe, auf deren Namen Amy den
ganzen Planeten getauft hatte.
»Ich kann seinen Standort nicht eruieren.«
Dhark beließ es dabei, wandte sich statt dessen der umlaufenden Holoprojektion zu und begann sie schärfer
als bisher in Augenschein zu nehmen.
Er war kein Techniker wie Doorn, aber er besaß Mentcap-Wis-sen, über das nur wenige verfügten - und
schon nach kurzer Zeit glaubte er, gewisse Muster zu durchschauen und Hinweise darauf zu finden, daß es
von hier aus Verbindungen gab, die bis tief in die Planetenrinde reichten.
Hatte nicht Gisol vorhin in Zusammenhang mit dem schwebenden Computer von einer Vernetzung bis ins
Innere des Planeten gesprochen?
Spontan streckte Dhark die Hand aus, um mit dem Finger dem Verlauf einer besonders auffälligen
Schemadarstellung zu folgen.
Seine Hand tauchte in die Projektion ein, stieß auf keinerlei Widerstand.
Daß sie verschwand, bemerkten nur die Umstehenden, nicht Dhark selbst.
Aus dem einfachen Grund, weil er mit ihr verschwunden war...
»Auch das noch!« Auf Arc Doorns Stirn schwoll eine Zomesa-der - Ausdruck hilfloser Wut auf sich selbst
und auf Ren Dhark. Der wieder einmal zuviel riskiert und dafür die Quittung erhalten hatte. Sie alle hatten es
auszubaden, denn wenn er verschwunden blieb...
Nicht auszudenken.
»Wo ist er hin?«
Es war ausgerechnet Artus, der die Frage stellte, von der er selbst wissen mußte, daß niemand der
Anwesenden sie ihm beantworten konnte. Eine aufgeregte Suche nach dem Commander begann. Die
Hoffnung, es könnte ihn lediglich in einen anderen Winkel der Zentrale verschlagen haben, sorgte anfangs
dafür, daß die Besorgnis nicht in gegenseitige Vorhaltungen umschlug.
Als Dhark verschwunden blieb, untersuchte Gisol das Hologramm, an dem sich der Commander vor seinem
Verschwinden zu schaffen gemacht hatte. »Seltsam...« die Lippen des Worgun kräuselten sich »... so etwas
ist mir noch nie begegnet.«
Wie die Goldenen, die Roboter waren.
Wie der Schild, der sich flammend um den ganzen Planeten spannte.
Wie...
Er spürte, wie sich Niedergeschlagenheit unter den anderen Mitgliedern des Unternehmens breit machte.
Furcht und Ratlosigkeit.
Gisol vertiefte sich noch stärker in das Hologramm, glaubte ein Signal zu bemerken, das die schematisierte
Darstellung des Statuenkopfes mit einer Stelle tief im Untergrund des Planeten verknüpfte...
Mehr fand er jedoch selbst bei stärkstem Bemühen nicht heraus.
Die Minuten verstrichen. Eine Art Lähmung hatte die Menschen befallen. Selbst ein Geschöpf wie Artus,
immerhin ein Roboter, schien davon nicht völlig ausgenommen zu bleiben.
»Was sollen wir tun?«, fragte Doorn. »Was können wir tun?«
Niemand antwortete. Bis Artus das Schweigen brach. »Ich habe versucht, Kontakt zu den Flash
aufzunehmen. Aber das Dämmfeld, das schon Gisols Blaster funktionsuntüchtig machte, wirkt sich offenbar
auch auf Kommunikationsversuche aus. Zumindest auf solche, die nach draußen gerichtet sind. Denn
erstaunlicherweise empfange ich ja permanent Impulse.«
»Vom hiesigen Fremdrechner«, sagte Doorn.
»Exakt.«
Ein fatalistischer Zug trat in die Augen des sibirischen Kraftpakets. »Was würde wohl geschehen, wenn wir
dieses Knäuel zerstörten?« Er zeigte auf das schwebende Gebilde, von dem sie mittlerweile alle annahmen,
daß es sich um den Computer handelte, der den Goldenen steuerte.
Gisol trat einen Schritt auf ihn zu. Zum erstenmal seit Betreten des Sockels flackerte auch in seinem Blick
eine kreatürliche
Angst, die fast an Hysterie grenzte.
»Das würde niemand überleben.«
Die Art, wie er »niemand« betonte, bezog offenkundig die POINT OF mit ein.
»Wer garantiert uns, daß wir es überleben, wenn wir das Ding nicht kurz und klein schlagen?« erwiderte
Doorn in angriffslustigem Ton.
Den plötzlichen Luftzug spürte er so intensiv wie jeder andere, Artus ausgenommen.
Unmittelbar vor dem Wust aus goldenen Drähten, etwas abseits des Zentrums der Steuerzentrale, stand Ren
Dhark in leicht gebeugter Haltung.
Stand da und schaute drein, als sei er gerade einem Zyzzkt begegnet. »Commander... dem Himmel sei
Dank!«
Ren Dhark hatte noch nie gesehen, daß sich Arc Doorn bekreuzigte - in diesem Moment, in dieser
unwirklichen Situation jedoch tat er es.
»Es tut mir leid, wenn ich für Aufregung gesorgt habe«, sagte Dhark. »Aber es kam auch für mich
überraschend.« Er machte einen Schritt nach vom, zögerlich, tastend, als mißtraue er der Festigkeit des
Bodens unter seinen Füßen.
»Wo warst du?« Gisol nickte ihm zu. »Die ganze Zeit hier und unsichtbar, oder...?«
»Oder«, antwortete Dhark launig. Seine Frisur war zerzaust, als ob er sich die Haare gerauft hätte - immer
und immer wieder.
»Sir...« Bram Sass trat neben ihn. Katzenhaft geschmeidig. Alarmiert wie jeder andere. Darüber hinaus aber
auch fest entschlossen, es nicht zu einer Wiederholung des Verschwindens kommen zu lassen - koste es, was
es wolle.
»Ich bin da auf etwas gestoßen...«
»Wo?« Doorn platzte fast vor Neugier. Die Erleichterung, wieder mit Dhark vereint zu sein, putschte ihn
förmlich auf, reaktivierte verschüttete Kraft und Motivation.
»Ich nehme an, es handelt sich um eine tief unter der Erde gelegene Anlage - jedenfalls gab es keine Fenster
oder Vergleichbares. Außerdem spricht dafür, womit ich mich gerade beschäftigte, als es mich... fortzog...«
Fortzog.
Welch verharmlosende Umschreibung für das, was geschehen war.
»Eine unterirdische Anlage - abseits des Goldenen... vielleicht unter seinem Sockel gelegen? Die Fortsetzung
des Sockels nach unten?«
Gisols Bemerkungen waren weniger ein Dialog mit den anderen als eine Zwiesprache mit sich selbst.
Dhark hatte seine Souveränität wiedererlangt. Unmittelbar nach der Rückkehr hatte er leicht benommen
gewirkt, eben unter dem Eindruck des Erlebten stehend.
Das war abgeklungen. .
Er sagte: »Sehen wir uns das umlaufende Hologramm genauer an - alle gemeinsam. Und niemand berührt
irgend etwas.«
»Haben Sie etwas berührt, Sir?«
Dhark beantwortete die von Bram Sass gestellte Frage mit einem schuldbewußten, fast lausbübischen
Grinsen.
»Ich war nie ein Musterschüler«, sagte er.
Gisol hinterfragte die Bedeutung des Wortes nicht. Er drängte darauf, fast mehr noch als Dhark, das
Hologramm zu untersuchen.
»Offenbar ist es an bestimmten Stellen mit einem Transmitterfeld gekoppelt - aber einem, das anders arbeitet
als das, von dem wir aus dem Sockel hierher verfrachtet wurden. Diese eindringliche Lichterscheinung
fehlte...«
»Licht hin. Licht her - es funktioniert jedenfalls tadellos und absolut schmerzfrei. Ich habe es unfreiwillig
getestet. Es unterscheidet sich ein wenig vom Gang durch eine Ringantenne, es ist...
sanfter. Man hat das Gefühl, eine winzige Zeitspanne vergehen zu fühlen. Also kein absoluter
Nullzeittransfer - zumindest dem Gefühl nach nicht.«
»Wie sieht die Anlage aus, in der du herausgekommen bist?«, fragte Gisol, ohne die Untersuchung des
Holos zu unterbrechen.
»Erklärungen hinken - man muß es gesehen haben.«
»Dann werden wir es vielleicht nie erfahren...«
Dhark schwieg. Auf eine Weise, die zumindest Arc Doorn und Bram Sass veranlaßte, sich ihre ganz eigenen
Gedanken zu machen. Gedanken, die sich bald darauf bestätigen sollten.
Die Untersuchung des Hologramms ergab keinen Hinweis auf eine Transferverbindung zu einem anderen
Punkt als dem, den Ren Dhark zufällig angewählt hatte.
Durch Berührung eines ganz bestimmten, durch das Hologramm hindurchfließenden Datenstroms.
»Ich habe nichts anderes erwartet, wollte aber die Bestätigung«, sagte Dhark. »Stimmen wir ab: Wer möchte
hier oben versauern -und wer möchte mich dorthin begleiten, von wo ich gerade komme...?«
Die Antworten fielen einhellig aus. Selbst Artus' Votum wurde zur Kenntnis genommen.
»Stellt euch neben mich und streckt eure Hände in den Bereich des Hologramms, den ich schon einmal
berührt habe...«
Er machte es vor.
Und verschwand. Im Sekundentakt folgten ihm die anderen.
Den Abschluß bildete Gisol.
Zuvor sah er sich noch einmal in der Steuerzentrale des Goldenen um, ließ seinen Blick für ein paar
Herzschläge auf dem leuchtenden Knäuel verharren, das aber keine merkliche Reaktion zeigte.
Dann berührte auch er den Signalfluß, der den Molekularverbund seines Körpers auflöste, in eine Ungewisse
Tiefe trug - und dort, so hoffte Gisol zumindest, wieder fehlerfrei zusammenfügte...
7. »... ALARMSTART! ALARMSTART!«
Lautstarke Audiowarnungen pulsierten durch die Korridore und Räume der CHARR. Die normale Helligkeit
der Innenbeleuchtung in dem Fünfhundertmeterriesen nogkscher Fertigung war vom Taktiksuprasensor
heruntergefahren worden, um die visuelle Erkennung der Instrumente und Tastenfelder mit ihrer
Eigenbeleuch-tung zu erleichtem, während der eiförmige, golden schimmernde Druckkörper der CHARR das
Geret-System mit hoher Fahrt hinter sich ließ.
Lee Prewitt, leicht nach vom gebeugt im Konturensessel sitzend, ganz angespannte Konzentration, ließ den
Blick von einer Anzeige zur anderen und dann wieder zu den Darstellungen auf der Allsichtsphäre
schweifen, um sich ein Urteil über ihre Lage zu verschaffen. Sein Gesicht wirkte ungerührt, als gäbe es
nichts in diesem Universum, was ihn erschüttern könnte - dennoch fühlte er sich ziemlich unbehaglich. Ein
mulmiges Gefühl, das den Ersten Offizier der CHARR und Huxleys Stellvertreter beherrschte, seit sie
überstürzt und mit fliegenden Pulsen aus dem Nogk-Archiv, dem Kraat-kal-meeg, geflohen waren. Gerade
noch rechtzeitig, ehe sich die Herberge des Wissens, wie Kraat-kal-meeg ins Anglo-ter übersetzt lautete,
durch einen automatisch in Gang gesetzten Selbstzerstörungsmechanismus in ihre atomaren Bestandteile auf
gelöst hatte, und mit ihr ein schier unersetzliches Wissen unwiederbringlich verloren gegangen war.
Immerhin, dachte der I. 0. jetzt in einem Anflug von leichtem Fatalismus, sind wir noch zur rechten Zeit in
den Raum gekommen.
In der Tat hatte das atomare Inferno auf der Oberfläche von Ge-ret III die CHARR nur marginal tangiert.
Was von den Ausläufern der Druckwelle doch durchkam, war von den Schutzschirmen mühelos abgefangen
worden.
Prewitts forschender Blick kehrte zur abgeschrägten, bogenförmigen Konsole des Leitstandes zurück; mit
ihrem Kaleidoskop von Lichtern, Instrumenten und Datenterminals, Anzeigen und Monitoren bot sie einen
sinnverwirrenden Anblick für jeden, der zum erstenmal die Hauptzentrale des Ellipsenraumers betrat.
Trotz der terranischen Besatzung war die CHARR ein durch und durch nogksches Erzeugnis. Und doch, das
ehemalige Schlachtschiff der Nogk-Streitmacht wich in seinem Inneren von seinen baugleichen Pendants ab,
den 500 Meter hoch aufragenden Ellip-senraumern, die das Rückgrat der Hauptflotte der Nogk bildeten. Sie
war zwar, ehe sie vom Rat der Fünfhundert an Frederic Huxley als äußeres Zeichen der Anerkennung für
seine Dienste um das Volk der Hybridwesen in Form einer feierlichen Schenkung übergeben wurde, auf
menschliche Bedürfnisse hin verändert worden, trotzdem herrschte noch überall die nogksche Symbolik vor.
Dank der im Sonnenhangar der CHARR periodisch durchgeführten Mentalschulungen hatten Huxley und
seine Besatzung jedoch keine Mühe mit deren Interpretation. Ja, man konnte fast schon behaupten, daß sich
die Mannschaft der CHARR inzwischen zu Nogk-Ex-perten gemausert hatte.
Zu Prewitts Linken saß Frederic Huxley vor seiner Kommandantenkonsole. Dahinter, am anderen Ende des
bogenförmigen Leitstandes, ließ Ortungsoffizier Perry seine Systeme nicht aus den Augen. John Butrovich
assistierte ihm. Der Funktechniker der CHARR hatte bereits zur Mannschaft gehört, als der grauhaarige,
hagere Colonel noch ausschließlich die FO-1 befehligte...
Die CHARR beschleunigte mit hohen Werten. Mit einem Viertel der Lichtgeschwindigkeit jagte sie im
steilen Winkel aus der Ekliptik des Planetensystems der Sonne Geret in den freien Weltraum.
Es war nicht die Selbstzerstörung des Archivs, die die Mannschaft aus Terranern, diesmal verstärkt durch
zehn kobaltblaue Nogk und dreißig Meegs, bewogen hatte, Hals über Kopf das System zu verlassen und eine
Nottransition einzuleiten.
Der wahre Grund lag darin, daß die Sonne Geret zeitgleich mit der atomaren Vernichtung des Kraat-kal
meeg alle Merkmale einer unmittelbar bevorstehenden Verwandlung in eine Supernova zeigte.
Und wenn das geschah, wollte Huxley sich auf gar keinen Fall mit der CHARR in der Nähe aufhalten.
Lee Prewitt war ihm dankbar dafür. Zwar hatte der I. 0. großes Vertrauen in die Fähigkeiten des
Fünfhundertmeterriesen, aber daß ein Raumschiff, mochte es noch so ein Wunderwerk der Ingeni-eurskunst
sein, den Ausbruch einer Supernova in unmittelbarer Nachbarschaft, sozusagen in ihrem Hinterhof,
überstanden hätte, davon hatte er noch nie gehört.
Die CHARR hätte bereits unmittelbar zwischen den Planeten die Sprungetappe einleiten und in Transition
gehen können, aber Frederic Huxley schien sich aus einem ganz bestimmten Grund dazu entschlossen zu
haben, die Transition weiter nach draußen zu verlegen.
Der 1.0. warf einen schnellen Blick auf den Kommandanten; er forschte nach der gleichen Anspannung, wie
er sie verspürte. Doch Lee Prewitt hatte Pech. Die hageren, ledernen Züge Frederic Huxleys verrieten nichts
von dem, was den hochqualifizierten Raumschiffer bewegte.
Jetzt sagte Huxley, und seine Stimme klang aufreizend ruhig:
»Mister Perry!«
Der Kopf des Dritten Offiziers und Ortungsspezialisten wandte sich ihm zu.
»Sir?«
»Alles klar mit den Sonden?«
»Positiv, Kommandant.«
»Gut. Starten Sie die Operation.«
Perry tastete einen Schalter.
»Sondenausstoß aktiviert.«
»Raus mit ihnen!« nickte Huxley.
Ein Schwärm winziger Robotsonden, jede einzelne autark und
vollgestopft mit Nanotechnologie, verließ die Abschußköcher in der Außenhülle der CHARR und jagte zurück ins Geret-System. Sie sollten die Aktivitäten der zur Supernova mutierenden Sonne an die außerhalb der Gefahrenzone wartende CHARR übermitteln, damit die Astrometrie eine Datenauswertung in die Wege leiten konnte. Huxley verfolgte den Flug der Fernerkunder einen Augenblick auf der segmentierten Allsichtsphäre, auf dem eine Dreihundert-sechziggraddarstellung des Geret-Systems zu sehen war, dann wandte er sich an seinen Ersten Offizier. Er nickte scharf. »Jetzt, I. 0.! Jetzt dürfen Sie!« Na endlich! dachte Lee Prewitt und leitete die Sprungetappe ein. Hab mich schon gefragt, wie lange der Chef noch warten will! Seine Finger glitten über die Bedienfelder der Konsole... Die Transition der CHARR verlief absolut unspektakulär. Unter der Schaltung Prewitts tauchte sie in das übergeordnete Kontinuum des Hyperraums... ... und erschien einen praktisch nicht meßbaren Augenblick später wieder weit, sehr weit von ihrem Eintauchpunkt entfernt im Normaluniversum. Zwischen den Koordinaten der Entstofflichung und der Rematerialisation lag ein halber Lichttag. Es war für Lee Prewitt nach wie vor ein über alle Maßen erstaunlicher Prozeß. Obwohl er auf der CHARR und im Leitstand der in einem Hangar des Ellipsenraumers verankerten FO-1 sozusagen nur noch von nogkscher Technik umgeben war, glich der Vorgang der höherdimensionalen Fortbewegung der nogkschen Ovoide für ihn - wie auch für die anderen Männer und Frauen der Besatzung, dessen war er sich sicher einem technischen Wunder, das er noch nicht ganz verinnerlicht hatte. Transitionen nogkscher Raumschiffe erfolgten sozusagen aus dem Stand. Mußten terrani-sche Schiffe noch knapp auf Lichtgeschwindigkeit beschleunigt werden, um die Sprungetappe einleiten zu können, erzeugten die Hochleistungsgeneratoren der Ellipsenraumer eine Antisphäre um die Schiffshülle, die in einem nicht mit normalen Methoden meß baren Zeitrahmen als Fremdkörper aus dem Normaluniversum ausgestoßen wurde - mit allem, was sich innerhalb dieser Sphäre befand - in den Hyperraum eintauchte und innerhalb eines Myons - der Zeitspanne, die zur erneuten Umpolung der Antisphäre nötig war - wieder im Einsteinkontinuum und am vorberechneten Ziel erschien. Als die Sterne wieder auf den Schirmen zu sehen waren, war eine Veränderung der Konstellationen mit bloßem Auge nicht feststellbar. Geret war unter den Myriaden von Sonnen lediglich ein weiterer Lichtpunkt. Unter dem Einfluß des Navigationscomputers verringerte sich die Geschwindigkeit der CHARR innerhalb kürzester Zeit auf Null. In der Tiefe der Antriebssektion, Chief Erkinssons Heiligtum, wurden die Aggregate auf Bereitschaft heruntergefahren, was den Konverterbänken Gelegenheit gab, sich zu regenerieren. Scheinbar antriebslos schwebte die CHARR im Raum. Was nicht ganz zutreffend war. In Wirklichkeit griff der Hauptrechner ständig mit winzigen Korrekturen ein, wann immer die Gezeitenkräfte ferner Sonnen oder winziger Schwarzer Löcher an der goldenen Hülle des Schiffes zerrten und es von seiner Position abzudriften drohte. Frederic Huxley studierte die Allsichtsphäre und die in sie hin-einprojizierten Datensätze. Suprasensorische Signale wisperten aus den Tonphasen, während die Scanner den umgebenden Raum durchforsteten und die Zentrale fortwährend mit Daten und Informationen versorgten... Schließlich fuhr Huxley seinen Gliedersessel etwas in den Schienen zurück und stemmte den rechten Fuß auf die Raste. »Statusbericht, I. 0.!« »Alle Systeme okay, Skipper«, meldete der Erste Offizier. Lee Prewitt war vermutlich der Einzige an Bord der CHARR, der den Kommandanten hin und wieder Skipper nannte - und es auch durfte. »Ausgezeichnet«, nickte Huxley. »Mr. Perry? Irgendwelche An zeichen in der näheren Umgebung, worüber wir uns Sorgen machen müßten?« »Negativ, Sir. Nichts weit und breit, Kapitän. Wir sind sozusagen allein im Revier.« »Ausgezeichnet«, brachte der hagere, grauhaarige Mann seine Genugtuung zum Ausdruck. Seine Hand schloß einen Kontakt. »Astrometrie hier. Colonel?« Der Erste Bordastronom der CHARR blickte von einem Monitor der Kommandantenkonsole. Wie viele an Bord der CHARR, so hatte auch Professor Allister Bannard bereits Dienst auf der FO-1 getan - war schon dort Leiter der Astroabteilung gewesen. Ein integrer Wissenschaftler und Astronom mit einem immensen Wissen über Sterne. »Mr. Bannard«, wollte Frederic Huxley wissen, »schon etwas Konkretes über die Sonne?« »Teils, teils, Sir!« zögerte der Professor. »Wir bekommen zwar gerade die ersten Daten der Sonden über Hyperfunk herein. Aber die Meßergebnisse in Bezug auf das Zentralgestirn des Geret-Sy-stems werden immer widersprüchlicher.« »Werden Sie konkret, Mister Bannard!«
»Wenn ich das könnte...« gab der Wissenschaftler unumwunden zur Antwort. Über seiner Nasenwurzel
bildete sich eine Unmutsfalte, während er das Kinn zwischen Daumen und Zeigefinger nahm und es
grübelnd massierte.
»Erzählen Sie mir doch nichts, Allister«, Huxley versuchte, die Skepsis in seiner Stimme abzumildern, aber
es gelang ihm nicht ganz. »Sie werden doch irgendeine Erklärung parat haben, oder?«
»Wenn, dann nur eine sehr unwissenschaftliche«, gestand der Professor.
»Lassen Sie hören! Ich bin dankbar für alles.«
Bannard schwieg zunächst. Schließlich meinte er zögerlich: »Was mich über alle Maßen irritiert, ist die Tatsache, daß sich nach dem ersten Ansteigen der Amplituden Helligkeit und Größenausdehnung des Sterns wider Erwarten verringert haben - was an sich bei einer beginnenden Supernova schon unmöglich ist -nur um wenig später erneut um wenigstens zwei Klassen zuzunehmen.« Er warf die Arme in einem plötzlichen Ausbruch von Fatalismus in die Höhe, ehe er fortfuhr: »Es ist fast so, als knipse jemand ein Licht in unregelmäßigen Intervallen an und aus. Aber das ist...« Unmöglich, wollte er sagen, kam aber nicht mehr dazu, seinen Satz zu vollenden. Ein Alarm ertönte. Er kam aus der Astrometrie selbst! Huxleys Brauen wölbten sich fragend. »Was geht da vor bei Ihnen, Professor?« wollte er wissen. »Höchstwahrscheinlich steht die Explosion unmittelbar bevor, Sir«, meldete sich eine andere, aufgeregt klingende Stimme. Auf Huxleys Konsole war kurz das Gesicht des Wissenschaftlers Bemard neben dem des Professors zu sehen. »Sie irren sich nicht?« »Die Muster sind eindeutig«, bekannte der Astrophysiker der FO-1. »Ich... o Himmel!« Bernard verschwand vom Schirm. Huxleys Stirn furchte sich. »Was geht da vor bei Ihnen, Alli-ster?« »Augenblick, Colonel.« Plötzlich wurde leises Gemurmel vernehmlich. Allister Bannard richtete mit gedämpfter Stimme Fragen an einen seiner Astronomen außerhalb des Erfassungsbereichs der Vipho-Optik, dann wandte er sich wieder an den Colonel und sagte: »Gerade wurde das Licht...« »Sagen Sie ja nicht, es wurde wieder ausgeknipst!« Huxleys Miene sprach Bände. »Nein, Colonel, nur... nur gedimmt...« Professor Bannard brachte ein verunglücktes Lachen zustande. »Ehrlich. Ich habe noch nie dergleichen beobachtet, und ich kann mit Fug und Recht von mir behaupten, so ziemlich jede Sternanomalie zu kennen.« Huxley machte eine Handbewegung, doch der Wissenschaftler fuhr unbeirrt fort: »Ich weiß, wie das für Sie klingt, aber ich kann nichts dafür. Schlagen Sie nicht den Boten...« »Früher wurden die Überbringer schlechter Nachrichten vom Leben zum Tode befördert«, warf Prewitt ungerührt ein. »Nun, wir wollen hier doch keinen Rückfall in die zivilisatori-sche Steinzeit praktizieren, Mister Prewitt«, mahnte Huxley an, und ein winziges Lächeln nistete in seinen Mundwinkeln. »Obwohl diese Methode sicherlich auch etwas für sich hatte...« »Aber Sir! Colonel!« Der Professor erschrak sichtlich. »Mir geht's schon mies genug.« Frederic Huxley zog überlegend die Stirn in Falten. »Wann werden Sie wissen, wie sich die launische Diva entschieden hat, Professor?« Allister Bannard hob die Hände und kehrte die Innenflächen nach außen. »Das steht in den Sternen«, bekannte er. »Womit er irgendwie recht hat«, murmelte Perry an seiner Konsole, was ihm einen verweisenden Blick des Colonels einbrachte, der abschließend an die Adresse aller in der Hauptzentrale sagte: »Üben wir uns also ein wenig in Geduld, meine Herren...« Er konnte das unbedenklich tun, ohne die Titulierung »und Damen« hinzuzufügen, da sich im Augenblick kein weibliches Besatzungsmitglied auf der Brücke aufhielt, auch nicht Sybilla Bontempi, die Anthropologin und Fremdvölkerexpertin der CHARR. Die Geduld, die Colonel Huxley seinen Leuten abverlangte, wurde für Lee Prewitts Begriffe auf eine sehr harte Probe gestellt. Tantal kam in die Zentrale und nahm seinen üblichen Platz im Leitstand ein. Captain Bontempi schaute dann doch kurz mal vorbei - und zog sich wieder in ihre Arbeitsräume zurück, als sie die angespannte Stimmung mitbekam, die in der Zentrale vorherrschte. Lee Prewitt hatte seinen Sitz dem Zweiten Piloten Henroy überlassen und lief im hinteren Teil der Hauptzentrale hin und her, einen Thermobecher mit Kaffee in den Fingern. Für Stunden hatten die Fernerkunder nur verwirrende Daten über die widersprüchlichen Spektrallinien Gerets an die Warteposition der CHARR übermittelt. Langsam machte sich eine Stimmung der Frustration breit. Dann zeigte sich ein verwirrter Professor Bannard auf Huxleys Schirm. »Tut mir leid, Colonel«, bekannte er, »doch Geret ist wieder völlig normal.« Frederic Huxley schüttelte verwundert den Kopf. »Aber das ist...«, begann er, nur um von dem
Wissenschaftler unterbrochen zu werden.
»Ich weiß, Sir. So etwas ist physikalisch unmöglich. Dennoch geschieht es. Warum und wie? Das entzieht
sich meiner Kenntnis und der der gesamten wissenschaftlichen Abteilung hier an Bord -vorerst zumindest.«
Huxleys graue Augen wurden schmal.
Seiner Miene sah man an, daß ihn etwas bewegte, daß etwas in ihm arbeitete. Aufblickend bemerkte er, daß
Professor Bannard noch immer auf dem Schirm war und auf eine Entscheidung von ihm wartete. [ »Danke, Allister«, sagte er und nickte. »Das war's für den Augenblick. Sie informieren mich, sobald wieder
eine Änderung erfolgt?«
»Umgehend, Sir.«
Der Schirm wurde dunkel.
Huxley schloß kurz die Augen. Als er sie wieder öffnete, war sein Gesichtsausdruck völlig beherrscht.
Er wandte sich an Lee Prewitt, der seine Wanderung aufgegeben und hinter dem Colonel Aufstellung
genommen hatte, als Professor Bannard seine Erklärung abgab.
»I. 0.! Setzen Sie Kurs auf das Geret-System.«
»Sir?«
»Sie haben richtig gehört, Mister Prewitt. Wir kehren zurück. Ich will wissen, was dort abläuft!«
»Aye, Skipper.«
Henroy räumte auf ein Zeichen Prewitts den Pilotensitz und zog sich auf seinen Platz zurück. Von dem aus
konnte er jederzeit eingreifen, falls es nötig sein sollte.
Minuten später verschwand die CHARR im Hyperraum...
Der Commander der Planeten, der Mysterious/Worgun Gisol, der Cyborg Bram Sass, der Allroundtechniker
Arc Doorn und der lebendige Roboter Artus fanden sich in einer überdimensionalen unterirdischen Anlage
wieder.
Ren Dhark kam unwillkürlich der neunhundert Quadratkilometer große Industriedom auf dem Inselkontinent
Deluge in den Sinn. Er erinnerte sich noch gut an die Entdeckung jenes fünfhundert Meter hohen
Höhlenkomplexes und an die Faszination, die damals alle Anwesenden befallen hatte. Immer wieder hatten
sie in die scheinbar endlosen Straßenschluchten hineingestarrt oder empor zur fernen Decke. Der Anblick
mächtiger Wolkenkratzeraggregate hatte bei manch einem Beklemmungen und Erschütterung ausgelöst. Die
Menschen waren sich dort wie Ameisen vorgekommen.
Hier und jetzt genügte dieser Größenvergleich aus dem Tierreich nicht mehr. Dhark und seine Begleiter
waren kaum mehr als ein winziger Teil von Fliegenkot, denn gegen die Anlage, in der sie sich gerade
aufhielten, nahm sich der Industriedom wie eine Miniatur aus. Die hiesigen Straßenschluchten waren nicht
endlos -sondern nahezu unendlich. Und zur Hallendecke emporzustarren war für Normalsterbliche überhaupt
nicht möglich, weil man dafür die Decke hätte sehen müssen. Nur wenn Dhark und Doorn lange und intensiv
genug hinblickten, konnten sie sehr weit oben verschwommen so etwas wie eine Überdachung erkennen,
besser gesagt: erahnen.
Hunderte (oder sogar Tausende?) von Aggregaten, so breit und hoch, daß sich Beschreibungen wie
»gewaltig« und »riesig« eher verniedlichend angehört hätten, fuhren auf Vollast. Umgeben waren sie von
immens dicken Schallschutzwänden, ansonsten hätte der höllische Lärm zur völligen Taubheit bei den
Menschen geführt.
»Zweifelsohne die Energieerzeugungszentrale des Planeten«, stellte Are nach einer ersten
Inaugenscheinnahme und einer kurzen Fachberatung mit Gisol fest.
Gemeinsam mit dem Worgun machte er sich daran herauszufinden, nach welcher Systematik die Anlage
einst aufgebaut worden war. Dazu waren einige Berechnungen notwendig.
»Die Steuerungszentrale müßte sich in der Mitte des Komplexes befinden«, sagte Doorn schließlich - mehr
zu sich selbst, als zu den anderen.
»Sicher?« fragte ihn der Commander skeptisch.
»Nein«, lautete Ares gewohnt knappe Antwort.
»Exaktere Ergebnisse können wir erst nach einer intensiveren Begehung liefern«, erklärte Gisol. »Aber auf
den ersten Anschein stimme ich Doorn zu. Leider wissen wir nicht, wie weit es bis zur Mitte ist, weil wir
noch nicht ermitteln konnten, an welchem Punkt der Anlage wir uns befinden. Wegweiser gibt es hier nicht,
wir müssen uns daher anderweitig orientieren.«
Dhark fühlte sich unwillkürlich an seine letzte, schon sehr lange zurückliegende Bergwaldwanderung
erinnert - und an die elektronischen Wegweiser, die vom Tourismuszentrum an jeder größeren Kreuzung
eingerichtet worden waren. Eine leichte Berührung genügte, und auf einer übersichtlichen, durch
unzerbrechliches Glas geschützten Landkarte blinkte ein Licht auf. Und über dem Licht erschien der digitale
Schriftzug: Sie befinden sich hier. Um an sein Ziel zu gelangen, mußte man lediglich einen weiteren Sen
sorschalter betätigen. Dem Wanderer standen dann mehrere Routen als Auswahl zur Verfügung.
Heutzutage hatte der Commander für derlei Vergnügungen keine Zeit mehr. Wenn er einen Wald
durchquerte, dann geschah dies meist in höchster Eile, beispielsweise während einer wichtigen Mission auf irgendeinem fremden Planeten. Mal war er auf der Suche nach außerirdischen Relikten, mal waren ihm bewaffnete Verfolger dicht auf den Fersen... von Vergnügen konnte dabei kaum die Rede sein. Arc Doorn ging langsam weiter, Gisol neben ihm her. Beide konzentrierten sich auf die Begutachtung des Umfelds sowie ihre Messungen und Berechnungen. Sass und Dhark folgten ihnen vertrauensvoll und stellten dabei eigene Beobachtungen an. Artus sonderte sich von der Gruppe ab, er ging lieber allein auf Erkundungstour. Um die anderen nicht zu verlieren, prägte er sich alle Wege und Abzweigungen genau ein.
Meine vier Begleiter waren so sehr mit sich selbst beschäftigt, daß sie mein Verschwinden überhaupt nicht registrierten. Ich wollte ein bißchen allein sein, in der Gruppe konnte ich nicht frei denken. Auch mir war natürlich daran gelegen, die Zentrale dieser mächtigen Anlage zu finden. Dort gab es sicherlich einen Rechner, der uns nähere Auskünfte über den künstlich hierher gebrachten Planeten geben konnte. Möglicherweise ließ sich von der Zentrale aus die flammende Energiewand deaktivieren, die uns von unseren Raumschiff s verbänden im All trennte. Ich schaltete meine Sensoren auf Empfang und versuchte, irgendein Signal anzupeilen, an dem ich mich eventuell orientieren konnte. Es gelang mir, ein paar eintönige Funksignale auszumachen, die aber nur sehr schwach ausgeprägt waren. Irgendwo verständigte sich irgendwer mit irgendwem - wobei fortwährend dieselben Signallaute verwendet wurden. Das ganze war vergleichbar mit einer Ansammlung von Menschen, die alle miteinander redeten, insgesamt aber nur sechs, sieben Wörter beherrschten. Die Signale kamen von oben. Ich stellte meine Optik schärfer ein und suchte alles über mir gründlich ab. Am unteren Teil der weit entfernten Überdachung entdeckte ich eine Vielzahl schwarzer Flecke. Nach einer weiteren Schärfeeinstellung nahmen die Flecke Konturen an. Sie sahen aus wie Schwalben, die mit ausgebreiteten Flügeln unter der Decke klebten. Plötzlich lösten sich mehrere von ihnen und ließen sich in die Tiefe gleiten. Mit eleganten Bewegungen segelten sie durch die Lüfte, teilten sich in zwei Gruppen auf. Die kleinere Gruppe hatte es offensichtlich auf mich abgesehen. Vier der S chw albenähnlichen hielten direkt auf mich zu. Je näher sie kamen, um so größer erschienen sie mir. Schon bald sahen sie nicht mehr wie Vögel aus, sondern wie fliegende schwarze Rochen. Obwohl sie bereits dicht über mir schwebten, rührte ich mich nicht. Bisher gab es noch keinen Grund zur Gegenwehr. Das änderte sich schlagartig. Eins der Rochenwesen flog von vorn auf mich zu und breitete dabei weit die Segelflügel aus. Dicht vor mir änderte es seine Flugrichtung und bog abrupt nach links ab. An der Unterseite der Flügel befanden sich mehrere nebenein-anderliegende Saugnäpfe. Daß die Saugnäpfe noch eine weitere Funktion hatten, erkannte ich erst, als es beinahe schon zu spät war. Aus zweien davon schoß ein weißliches Sekret, nicht als flüssiger Strahl, sondern in Form von Tröpfchen ähnlich wie bei einer Spraydose oder einem Parfümzerstäuber. Gerade noch rechtzeitig konnte ich dem Angriff ausweichen. Nur ein paar vereinzelte Tropfen erwischten meinen rechten Oberarm. Ich wollte sie wegwischen, doch sie klebten wie Mikrokletten an mir. Der zweite Angriff erfolgte aus dem Hinterhalt. Damit hatte ich jedoch gerechnet. Ich drehte mich blitzschnell um und schlug mit der Handkante zu, noch bevor der Sprühvorgang ausgelöst wurde. Der Flugrochen zerbrach in zwei Teile und fiel zu Boden. Nunmehr wurde ich von drei Seiten attackiert. Ich duckte mich und entging dadurch einer doppelten Sprühattacke. Zwei der Angreifer sprühten sich gegenseitig ein, es schien ihnen jedoch nichts auszumachen. Mit einem Fußfeger, der jeden Jiu-Jitsu-Meister vor Neid hätte erblassen lassen, holte ich einen weiteren Rochen aus der Luft. Ich riß ihn zu Boden und zertrat ihn dort. Besonders widerstandsfähig waren die fliegenden Maschinen nicht. Mein Versuch, ihnen durch Änderung ihrer Programmierung meinen Willen aufzuzwingen, scheiterte kläglich. Sie waren nur auf einen einzigen Befehl programmiert, und der lautete: Sprühangriff! Löschte ich diesen Befehl, baute er sich sofort wieder neu auf. Jedwede Kommunikation mit ihnen war unmöglich, dafür hatte man sie nicht erschaffen. Sie waren lediglich in der Lage, das Angriff s signal zu aktivieren und an andere Flugrochen weiterzuleiten. Ihre hartnäckigen Attacken gegen mich würden sie erst einstellen, wenn sie ihr Ziel erreicht hatten - oder wenn sie alle zerstört worden waren. Den nächsten Angreifer ergriff ich mit beiden Händen und brach ihn in der Mitte entzwei. Jetzt hatte ich es nur noch mit einem Gegner zu tun. Aber wo war er? Plötzlich lösten sich weitere »schwarze Flecken« von der Decke und segelten zu mir herab. Dadurch wurde meine Aufmerksamkeit für eine Sekunde abgelenkt. Zeit genug für den noch verbliebenen Gegner, meinen
Rücken mit einer vollen Ladung des weißlichen, klebrigen Tröpfchensekrets einzusprühen.
Ich kam mir vor wie ein Insekt in einem Salatfeld, das mit Gift bekämpft werden sollte. Auf der Erde waren
derlei gesundheitsschädliche Maßnahmen längst verboten. Scheinbar hatte sich das bis Golden noch nicht
herumgesprochen.
Die nächste volle Ladung traf mich von vom. Wieder hatte ich nicht aufgepaßt.
Die Übermacht war zu groß. Bald klebten die Tropfen überall an
mir. An meinem gesamten Metallkörper gab es vermutlich keine freie Stelle mehr.
Erst jetzt ließen die schwarzen Biester von mir ab. Sie schwebten wieder empor. Die einzige in ihrer
Programmierung enthaltene Aufgabe hatten sie erledigt.
Die zweite Gruppe stieß wieder zu ihnen. Ich konnte mir denken, von woher sie zurückkam. Wahrscheinlich
hatte man auch Dhark und die anderen einem Luftangriff ausgesetzt.
Ich wollte zu ihnen - doch ich konnte mich keinen Zentimeter vom Fleck rühren. Obwohl ich aus garantiert
rostfreiem Material bestand, fühlten sich meine Gelenke an wie eingerostet.
Vorsichtig näherte sich Mokkzera dem vermeintlich leblosen Raubtier und stupste es mit dem Speer an. Sie
wollte kein Risiko eingehen. Manchmal kam es vor, daß sich die Slaat nur totstellten, um die Aasfresser zu
täuschen. Kaum war man nahe genug heran, wurden sie plötzlich quicklebendig.
Diesmal war ihre Furcht jedoch unnötig. Der Slaat - normalerweise ein gefürchteter Jäger auf sechs
muskulösen, schnellen Beinen - konnte niemandem mehr etwas antun. Ein stärkeres Raubtier hatte ihn
gerissen, sich den besten Teil seines massigen, fleischigen Körpers einverleibt und die Überreste zum
Verfaulen im Gras liegenlassen.
Ein noch warmer, weicher Kadaver - so mochte Mokkzera ihre Mahlzeiten am liebsten. Mit einem leisen
Zischen machte sie sich über das Aas her. Jetzt war sie froh, nicht auf ihren Anführer gehört zu haben, der
allen Stammesangehörigen geraten hatte, im Dorf zu bleiben, um den Zorn der Flammendämonen nicht noch
mehr zu entfachen. Innerhalb der Reviergrenze fühlte sie sich verhältnismäßig sicher.
Mokkzera gehörte dem Stamm der Lekkraner an, einem Volk, das man auf Terra wohl als Riesenechsen
bezeichnet hätte. Aller
dings pflegten terranische Echsen nicht auf den Hinterbeinen zu gehen, und nur wenige ihrer Art erreichten
einen Meter und achtzig.
Die Lekkraner kannten Terra nicht. Sie wußten überhaupt nicht, daß es andere Planeten gab. Nicht einmal die
Existenz des Weltalls war ihnen bewußt. Der unerreichbare, trübe Himmel stellte für sie die Grenze allen
Seins dar.
Jener Himmel, der sich vor kurzem auf unheimliche Weise in eine Feuerhölle verwandelt hatte...
Das Leben der Lekkraner beschränkte sich überwiegend auf ihre nähere Umgebung, und ihre Erinnerungen
reichten kaum weiter zurück als ein paar Jahrzehnte. An den Ursprung seines Volkes konnte sich keiner von
ihnen mehr besinnen. Soweit sie sich erinnerten, waren sie schon immer in dieser Gegend angesiedelt. Ein
einfaches Hüttendorf war ihr Zuhause, und ihre fleischliche Nahrung bestand aus dem, was gefährlichere
Lebewesen für sie übrigließen. Sie waren von mäßiger Intelligenz und verließen sich lieber auf ihren
Urinstinkt denn ihren Verstand.
Mokkzera vernahm ein Geräusch hinter sich und drehte ihren beweglichen Echsenkopf etwas zur Seite.
Tikkum, ein Lekkraner-mann, näherte sich. Die Echsenfrau sah ihm an, was er von ihr wollte - und hatte
nichts dagegen, solange er sie nicht beim Fressen störte.
Es gab verhältnismäßig wenige Tiere im lekkranischen Revier, weshalb sich die aufrechtgehenden Echsen in
erster Linie von Pflanzen ernährten, in allen Variationen. Fleisch schmeckte ihnen zwar besser, doch es war
rar. Wer zufällig auf ein getötetes Tier stieß, war eigentlich verpflichtet, die Aassucher zu benachrichtigen,
damit der Kadaver zum Teilen ins Dorf gebracht wurde. Mokkzera war sich lieber selbst die Nächste.
Der Echsenmann hob ihren starken Stützschwanz leicht an. Damit machte er ihr deutlich, daß er sich zu
paaren wünschte. Mokkzera signalisierte ihm Zustimmung und ließ ihn gewähren. Lekkraner paarten sich zu
allen möglichen Gelegenheiten, wobei
es eine untergeordnete Rolle spielte, wer mit wem Zugange war. Feste Partnerbindungen kannte man
innerhalb des Stammes nicht. Wichtig war nur die Arterhaltung, ein Naturtrieb, der in jedem Lebewesen
steckte.
Daß es trotzdem erhebliche Nachwuchsprobleme gab, war den Lekkranern nur recht. Die Existenz des
Volkes zu sichern war eine Sache - Übervölkerung eine andere. Das in einem großen Kreis aufgestellte
Hüttendorf bot nur einer begrenzten Anzahl von Bewohnern Platz, und eine Ausweitung des Reviers kam für
die aufrechtgehenden Echsen nicht in Frage. Sie fürchteten sich vor dem Unbekannten außerhalb ihrer
Grenzen.
Nachdem er den Paarungsvorgang beendet hatte, forderte Tik-kum seinen Anteil an Mokkzeras Aasfund ein.
Sie teilte mit ihm, schließlich war genügend da.
Obwohl jeder Lekkraner einen angespitzten Holzspeer bei sich trug, benutzte er ihn so gut wie nie zur Jagd.
Die Speere dienten ihnen lediglich zur Abwehr von Raubtieren und eventuellen Angreifern von außerhalb.
Zu ihrer weiteren Bewaffnung zählten schwere Keulen, die sie allerdings selten mit sich führten.
Solange die Lekkraner zurückdenken konnten, hatten sie noch nie einem Feind gegenübergestanden, den
man nicht mit Zähnen, Speeren oder Keulen hätte besiegen können. Seit kurzem war das anders. Die
Flammendämonen, die sich am Himmel ausgebreitet hatten, waren unerreichbar für die primitiven Waffen
des Echsenvolkes.
Selbst die ältesten und somit klügsten Stammesmitglieder standen vor einem Rätsel. Was konnte man tun,
um die Dämonen zu besänftigen?
Ob ihnen wohl ein Blutopfer gefallen würde...?
Begleitet von der unvermeidlichen Gravitationsschockwelle -die sich allerdings nur von Hypertastern
erkennen ließ - glitt das
golden schimmernde Ovoid der CHARR aus dem Gefüge des übergeordneten Kontinuums zurück in den
Normalraum.
Diesmal hatte das Ellipsenschiff in zwei Sprungetappen die Distanz von einem halben Lichttag zwischen
seiner letzten Position und dem 14-Planeten-System mit seinem Zentralgestirn Geret überwunden.
Die CHARR, in einer etwas erhöhten Position zur Ekliptik verharrend, blieb zunächst außerhalb der
Umlaufbahn des äußeren Planeten, von dem sie nicht mehr als vier Astronomische Einheiten entfernt war.
Das war viermal die Entfernung Erde - Sonne.
Oder 598,4 Millionen Kilometer im Mittelwert.
Eine riesige Entfernung, wenn man einen festen Bezugspunkt hat, wie beispielsweise die Oberfläche eines
Planeten. Ein Nichts allerdings in der Unendlichkeit des Weltraumes, in dem selbst eine Anhäufung von
zigtausend Sonnen nicht mehr als ein flüchtiger Gedanke war.
Huxleys Hand schloß einen Kontakt. Der Erste Bordastronom blickte vom Monitor der
Kommandantenkonsole.
»Colonel?«
»Gibt es Neuigkeiten, Professor?«
»Die Sonne betreffend?«
Huxley nickte, ein wenig ungeduldig, wie es den Anschein hatte.
»Nein«, bedauerte Professor Bannard. »Unverändert, seit sie wieder normal geworden ist.« Ohne es zu
wollen, hatte er das Wort »normal« hervorgehoben. Erst als ihm die Vipho-Optik das leichte Grinsen der
Offiziere um Huxley übermittelte, ging ihm auf, wie man seine Erklärung aufgenommen hatte. Er räusperte
sich. »Ich meine...«
»Wir wissen, was Sie meinten, Allister«, winkte Huxley ab. »Bleiben Sie am Ball und melden mir jede
Veränderung. Ich möchte nicht überrascht werden, wenn wir einfliegen. Verstanden?«
Während das Bild aus der Astrometrie verblaßte, wandte sich
der Colonel an seinen 1.0.
»Fliegen Sie uns nach Geret III, Mister Prewitt.«
»Aye, Sir!«
Aus ihrer überhöhten Position ließ sich die Entfernung ins Innere des Systems bis zur Umlaufbahn von
Nummer drei in einem fast geradlinigen Sprung überbrücken.
Die CHARR nahm weit außerhalb der Atmosphäre über dem ehemaligen Nogk-Archiv eine geostationäre
Position ein; der Femscan zeigte die hohe Reststrahlung, die vom atomaren Arma-geddon übriggeblieben
war.
Nun, sie würden sich hüten, auch nur in die Nähe der Ruinen zu kommen.
Mit einemmal spürte Huxley die Anwesenheit Tantals hinter sich.
Er drehte sich mitsamt dem Sitz herum und sah sich von den schwarzen Facettenaugen des Kobaltblauen
fixiert.
Nogk waren eine faszinierende Mischung aus Insekt und Reptil, knapp zweieinhalb Meter groß, langbeinig,
mit kräftigen Armen, an deren Enden sich vierfingrige Hände befanden. Sie konnten sich mit einer
Schnelligkeit bewegen, die an die frühen Raubechsen der Erdgeschichte gemahnte. Ihre lederartige, braune
Haut, so sie nicht von Kleidung bedeckt wurde, war gelblich gepunktet. Das absolut Fremdartige an ihnen
war der mächtige libellenartige Kopf mit den gefährlich wirkenden Mandibeln, den großen, seitlich am Kopf
stehenden schwarzen Facettenaugen und den zwei langen Fühlerpaaren dazwischen.
Tantal wich allerdings vom Ideal der Nogk erheblich ab. Der Kobaltblaue war der erste seiner Art gewesen,
deren Anderssem sich vor allem in ihrem Äußeren manifestierte und sie grundlegend von den alten Nogk
abhob. Er war im Oktober 2057 auf dem längst verlassenen Planeten Nogk II aus einer vergessenen Puppe
geschlüpft, in der er unter den Strahlen der mutierten Sonne Tantal herangereift war. Ausgestattet mit dem
gesamten Rassegedächtnis seines Volkes, war er der primus inter pares einer Reihe weiterer
kurz nach ihm geschlüpfter Nogk-Mutanten. Tantal und seine Artgenossen waren im Gegensatz zu den
normalen Nogk nur noch zirka zwei Meter groß und besaßen eine kobaltblaue Haut. Außerdem waren sie
resistent gegen die Strahlung des Exspects, was jetzt allerdings an Bedeutung verloren hatte, nachdem diese
Barriere verschwunden war.
Tantal war ein unbequemer Nogk und sich seiner herausragenden Stellung durchaus bewußt, was ihn immer
wieder auf Kollisionskurs zu seinem Eivater Charaua und leider auch zu Frederic Huxley führte.
»Was kann ich für dich tun, Tantal?« fragte der Colonel.
Der Kobaltblaue sagte es ihm.
Huxley hob die Brauen.
»Du willst was?«
Tantal wiederholte sein Verlangen.
»Habe ich mich doch nicht verhört«, brummte Huxley. Er lehnte sich in seinem Gliedersessel zurück. »Was
bringt dich zu dieser Vermutung? Eine Vorahnung? Ein Vorherwissen? Eine innere Stimme? Oder einfach
nur eine bislang brachliegende Erinnerung deines Rassegedächtnisses?«
Tantals Libellenschädel bewegte sich ruckartig, als lausche er einem schwachen Echo aus längst
vergangenen Dekaden.
»Es ist wohl von allem etwas«, drangen dann seine Bildimpulse sowohl in Huxleys Geist wie auch aus dem
Implantat des Colo-nels.
Tantal hatte einen Verdacht, wie er es formulierte. Eine, wie er argumentierte, begründete Vermutung, die
einen ursächlichen Zusammenhang zwischen dem rätselhaften Verhalten des Zentralge-stims und den
Vorgängen auf Geret III herstellte. Er schlug vor, einige Robotsonden auf dem dritten Planeten abzusetzen,
die, mit Spezialrobotem für die unterschiedlichsten Aufgaben besetzt, einige der alten Nogk-Anlagen
aufsuchen sollten.
Zu den vielfältigen Aufgaben, die die FO-1 zu absolvieren hatte, gehörte auch das Erkunden von Welten, die
für das Betreten durch
Menschen nicht geeignet waren. Aus diesem Grund führte das terranische Forschungsschiff eine Reihe von
Spezialrobotern mit sich, vielgliedrige, autark operierende Maschinen, die in Me-thanathmo Sphären ebenso
einsetzbar waren wie in den Tiefen von aus basischer Säure bestehenden Ozeanen, die in fremde Indu
striekomplexe eindringen und Aggregate und technische Vorrichtungen stillegen und gleichermaßen
aktivieren konnten. So gesehen, bot Tantals Wunsch keine Schwierigkeiten. Und vielleicht ergaben sich doch
Zusammenhänge, die zur Lösung des Rätsels um die fluktuierende Sonne führten.
Deshalb stimmte Huxley Tantals Vorhaben zu und beauftragte das technische Personal unter Chief
Erkinssons Leitung mit den Vorbereitungen. sorgten dafür, daß die Astrometrie kein besonders großer Raum
an Bord der CHARR war. Lediglich ein knappes Dutzend Konsolen befanden sich in halbkreisförmiger
Anordnung vor dem großen Allsichtschirm, auf dem das die CHARR umgebende Raumsegment in der Art
einer Merkatorprojektion den Blicken der Anwesenden dargeboten wurde.
Professor Bannard aktivierte eine computergenerierte dreidimensionale Darstellung des Systems, mit der
Sonne als dominierendem Mittelpunkt. Er würde sie nicht aus den Augen lassen, würde als erster jedwede
Veränderung sofort erkennen und den Erfolg von Tantals These anzeigen.
Dann machte er Platz für den Kobaltblauen. Der Nogk-Mutant wollte von hier aus den Einsatz der
Robotsonden überwachen und gegebenenfalls korrigierend eingreifen. Ihm zur Seite Skett, ein anderer
Kobaltblauer, sowie der Meeg Srool, der schon den Einsatz im Kraat-kal-meeg vor wenigen Stunden
mitgemacht hatte.
Huxley saß im Sessel des Chefastronomen, den Bannard bereit
willig geräumt hatte, und vertiefte sich für Sekunden in die Betrachtung der von den Astro-Computern
virtuell aufbereiteten Systemsonne, die als holographische Projektion abgesetzt vor der gekrümmten
Hauptsichtsphäre sich um eine imaginäre Achse drehte, die Nord- und Südpol schnitt.
Dann schloß seine Hand einen Kontakt.
Ein kleinerer Bildschirm auf der Konsole vor ihm wurde hell und zeigte ihm einen Ausschnitt der
Ortungszentrale mit dem 3. Offizier Perry im Fokus der Bilderfassung.
»Alles klar bei Ihnen, Mister Perry?«
Der Ortungsoffizier hob die zur Faust geballte Linke und streckte den Daumen nach oben.
»Dann raus mit den Dingern.«
Drei Robotschiffe, jedes versehen mit einem Sprungtriebwerk in Mikroausführung, verließen die CHARR.
Eine Datenzeile in einem Holo meldete alle Systeme positiv, Sensoren und Sichtanzeigen waren aktiviert.
Die Mikro-Suprasen-soren führten eigenständig notwendige Anpassungen durch.
Dann zeigten alle Parameter Grün.
»Mister Perry!« wandte sich Huxley an den Ortungsoffizier. Die Phase zur Ortung stand permanent. »Legen
Sie die Kommandocodes der Sonden auf die Steuerkonsole der Astrometrie. Ab hier übernehmen wir.«
»Verstanden, Sir!«
Frederic Huxley sagte: »Tantal, die Robotschiffe gehören euch!«
Der kobaltblaue Nogk bestätigte.
Die Finger seiner viergliedrigen Hand tanzten über die Kontrollen an seinem Pult. Hin und wieder beugte
sich er sich vor und betrachtete eingehend irgendein Detail.
Auf einem Nebenschirm machten sich Skett und der nogksche Wissenschaftler Leroo an die Entzifferung der
Daten, die in binärer und tertiärer Symbolschrift in das Holo eingeblendet waren. In den Computern der
Robotschiffe waren die Daten über Standort und Lage der verlassenen nogkschen Ansiedlungen ver
ankert, welche die CHARR beim ersten Kontakt mit Geret III aus dem Orbit und beim Abstieg auf die
Planetenoberfläche gesammelt hatte. Sie waren zu einem Suchmuster zusammengestellt, nach dem sich die
vollautomatischen Aufklärer orientierten. Jetzt teilten sie sich auf und gingen, jeder in eine andere Richtung,
auf Erkundungsflug.
»Nun heißt es wohl warten«, meinte Sybilla Bontempi auf ihrem Platz schräg hinter Huxley. Die
Anthropologin und Fremdvölkerexpertin hatte es sich nicht nehmen lassen, dem Experiment beizuwohnen.
Und Huxley ließ sie gerne gewähren.
Erste Schnappschüsse aus der Sicht der Sondenoptiken huschten über die korrespondierenden Schirme der
Astrometrie und im Leitstand der CHARR. Staubschleier in den oberen Luftschichten gaben die
Planetenoberfläche zunächst verzerrt wieder. Dann stabilisierten sich die visuellen Eindrücke, nachdem die
Robotschiffe einen tieferen Flugkorridor aufgesucht hatten.
»Sonden erreichen in wenigen Augenblicken die Zielgebiete«, meldete der gelbuniformierte Meeg.
Und dann war es soweit... .
»Da!« Sybilla Bontempi deutete auf den Schirm.
Eiförmige Objekte von zum Teil mehreren hundert Metern Ausdehnung erhoben sich aus dem Wüstenboden.
Der Hochauflösungszoom zeigte die zerschrammten, staubüberkru steten Wände der Gebäude - alte,
verlassene Nogk-Anlagen, aufgegliedert über mehrere Ebenen, die terrassenförmig anstiegen. Auf der
windab-gewandten Seite waren die Gebäude vom Sand einer gigantischen Wanderdüne nahezu vollständig
zugeschüttet, die Luvseite jedoch hatte der Wind freigelegt.
Die korrespondierenden Sichtschirme der anderen Robotsonden zeigten mit kleinen Abweichungen die
gleichen, zumindest jedoch ähnliche Bilder.
»Geret III ist zweifelsohne eine nogkspezifische Welt, mit Nogk-Architektur!« stellte Bontempi fest.
Unvermittelt wandte sie sich an Tantal: »Aber ist sie auch eine der >alten< Nogk-Welten,
besiedelt noch vor der Zeit, als eure Rasse im Charr-System zu Hause war. Was ist, was sagt dir dein
Rassegedächtnis?«
Tantal antwortete zunächst nicht, sondern erwiderte nur den Blick der Terranerin. Stumm, mit starren
Facettenaugen, in denen sich die Beleuchtung der Astrometrie spiegelte, die aber ansonsten keine Regung
ihres Trägers verrieten. Schließlich erreichten seine Impulse doch noch die Menschen. »Ich habe es schon
einmal erklärt - die Anordnung der Gebäude ähnelt zwar jener, wie sie in der Anfangszeit im Charr-System
üblich war. Aber das ist auch alles, was ich dazu sagen kann.«
Tantal wandte den Libellenkopf in Richtung des Kommandanten.
»Wir werden das Rätsel hier und heute nicht lösen können, Huxley«, stellte er abschließend fest, während
nun doch ein leichtes Zittern seine Fühler in Unruhe versetzte. »Wir sollten uns auf das Problem
konzentrieren.«
»Welches was ist?«
»Herausfinden, ob etwas auf diesem Planeten der Grund für die physikalische Anomalität des Zentralgestirns
sein könnte.«
Huxley straffte sich.
»Das sollte unser vorrangiges Ziel sein. Ich muß dir beipflichten.«
Tantal wandte sich wieder seiner Konsole zu.
»Ich lande jetzt die Sonde und schleuse den Roboter aus«, ließ er sich vernehmen.
Huxley nickte, obwohl es der Kobaltblaue nicht sehen konnte, aber möglicherweise hatte er ja
Sinneseinrichtungen, die ihm auch das ermöglichen konnten, nach hinten sehen nämlich, ohne sich umdrehen
zu müssen. Wer konnte das mit Sicherheit ausschließen? Es waren längst nicht alle Geheimnisse der Nogk
ergründet, und die Menschheit war noch weit davon entfernt, dieses Volk von Hybridwesen in allen Nuancen
zu kennen.
»Mister Perry!«
»Sir?« Das Gesicht des Ortungsoffiziers kam ganz nahe an die
Aufnahmeoptik heran.
»Schon irgendwelche Energiesignaturen geortet? Wird irgendwo ein Meiler hochgefahren?«
»Keinerlei Anzeichen, Kommandant.«
Huxley, den Sichtschirm nicht aus den Augen lassend, sah, wie die Sonde landete, die Ladebucht aufklappte
und der vielgliedrige Spezialroboter sich auf den Sandboden herabließ. Unverzüglich setzte er sich in
Richtung des nächstgelegenen Gebäudekomplexes in Marsch.
Wieder wandte sich der Colonel an Perry.
»Werden irgendwelche Waffensysteme oder Verteidigungsanlagen aktiv?«
»Negativ, Sir. Ich...« Perry verstummte mit einem Laut der Überraschung.
»Was haben Sie, Perry? Reden Sie, Mann. Was gibt es?«
Perrys Stimme klang lauter als sonst, als er erwiderte: »Sir, ich lokalisiere ein energieerzeugendes System
von erheblichem Umfang in dem Komplex, den Ihr Schirm zeigt. Die Energiesignaturen sind die eines
Fusionsreaktors!«
Also doch, durchzuckte es Huxley, und laut: »Genaue Koordinaten?«
»Kommen!«
Tantal zoomte die entsprechende Stelle größer, wobei er die Optik des Roboters benutzte, der unbeirrbar auf
den Außenbezirk der Ruinenstadt zuhielt.
Aber dort war nichts zu sehen.
Noch nicht, wisperte eine kleine Stimme in Huxleys Geist.
Die Sekunden zerrannen zur Minute...
Über die Außenmikrophone war ein Grollen zu vernehmen, das die Windgeräusche übertönte. Ein
unheimlicher Ton wie von Millionen Sirenen breitete sich aus. Huxley wechselte einen schnellen Blick mit
Captain Bontempi, die einigermaßen ratlos die Schultern hob; sie schien beunruhigt und wartete auf das
Ereignis, das sich durch dieses entnervende Geräusch ankündigte.
Zu sehen war auf dem Schirm nichts.
Huxley wandte sich an Perry.
»Was machen die anderen beiden Sonden? Sind in den dortigen Ruinen ebenfalls Fusionsreaktoren
angelaufen?«
»Negativ.«
»Hmm...«
»Es sind nur Wohnbezirke«, ließen sich Tantals semitelephati-sche Impulse vernehmen. »Sie besitzen keine
Verteidigungskomplexe.«
Huxley verzichtete darauf zu fragen, woher der Kobaltblaue das wußte. Er nahm sich nur vor, bei
entsprechender Gelegenheit den Nogk-Mutanten gehörig zur Brust zu nehmen ob seiner ewigen
Geheimniskrämerei.
Der Roboter folgte den Koordinaten, die ihm von Tantal übermittelt wurden, bewegte sich über eine Düne
auf einen flachen Hügel vor den Mauern der Nogk-Ansiedlung zu.
Dann sahen sie es, die Menschen und die Nogk in der CHARR.
Und Huxley sog scharf die Luft ein.
Unter Grollen und Donnern und während dieses schrillen Heulens begann sich der Hügel zu bewegen. Zuerst
wuchs er, dann teilte er sich horizontal und bildete einen breiten Spalt. Auf allen Seiten regnete es
Gesteinstrümmer und lange Sandfontänen herunter. Hinter den Schleiern aus Sand und Staub wurden
wuchtige, metallene Wände sichtbar. Und aus dem Untergrund von Geret III wuchs ein unförmiges Etwas
wie ein Geschwür ans Tageslicht. Gestein und Geröll rutschte von der flach gewölbten Oberseite.
»Ich werde verrückt!« murmelte Professor Bannard, der für einen Augenblick seine Sonne vernachlässigte
ob des ungewöhnlichen Schauspiels, das sich ihnen bot.
»Ich traue meinen Augen nicht«, hieb Captain Bontempi in die gleiche Kerbe. »Ein unterirdisches Fort!«
»Wir mußten uns wehren«, vermittelten Tantals Bildimpulse. »Mit allen Mitteln. Gegen einen uralten,
gesichtslosen Feind, wie ihr wißt. Offenbar hat die Annäherung des Roboters einen Kontakt
aktiviert und die Abwehrmechanismen des alten Forts in Gang gesetzt.«
»Kannst du das nicht stoppen?« fragte Sybilla Bontempi.
»Wenn du mir sagst wie, gerne!« Die Physiognomie Tantals war zu keiner Ironie fähig, aber Huxley spürte
aufgrund seines Implantats, daß der blauhäutige Nogk eine Spur zu abfällig von der Ter-ranerin dachte.
Du vergißt dich, Tantal! schickte er ihm einen scharfen Impuls zu, ohne Einschaltung des Translators.
Tantals Fühler gerieten in Aufruhr; offenbar hatte er nicht erwartet, daß Huxley zu einer tonlosen
Verständigung fähig sein würde.
Du lernst schnell, Ratsmitglied Huxley, du könntest einer der unseren werden!
Das bin ich bereits, schickte der Colonel seine Impulse. Gerade deshalb solltest du uns Menschen mit mehr
Respekt begegnen.
Für einen Moment schien die Zeit stillzustehen. Dann senkte Tantal den Kopf, und seine Fühler knickten nach vome. Du hast recht, Ratsmitglied Huxley. Ich bitt6 um Vergebung für meine Überheblichkeit. Gewährt.
Die ganze, auf geistiger Ebene geführte Diskussion hatte kaum einen Augenblick gedauert und war von niemandem in der Astro-metrie bemerkt worden.
»Sehen Sie nur, Colonel!« rief die Anthropologin aufgeregt.
Das Fort hatte jetzt seine ganze Tarnung abgeschüttelt und wehrte sich. Eine dunkle, drohende Masse aus Metall, ausgerüstet mit Geschütztürmen, die nach allen Seiten starrten wie die Stacheln eines Igels.
Das Fort begann zu feuern.
Die Luft war erfüllt von Blitzen und langen, leuchtenden Strahlen, die sich auf den kleinen Roboter fokussierten und ihn regelrecht zu Atomen pulverisierten. Der korrespondierende Sichtschirm zeigte nur noch Schnee. Tantal schaltete ihn ab.
»So etwas nennt man wohl Unverhältnismäßigkeit der Mittel«, konnte Professor Bannard sich nicht verkneifen zu sagen. »Der arme kleine Roboter und das riesige Fort...«
»Sir!« Perry in der Orterzentrale hatte einen eigenartigen Unterton in der Stimme, als er sich einschaltete. »Ich höre?« sagte Huxley alarmiert und von einer unbestimmten Ahnung erfüllt. »Die Überwachung zeigt, daß immer mehr alte Abwehreinrichtungen zum Leben erwachen. Wir registrieren rund um den Planeten mehr oder weniger starke Energiesignaturen. Da muß noch eine ganze Reihe der alten Meiler anlaufen. Ich habe vorsorglich die Kapazität der Schirme erhöht.« »Die Abwehrforts auf diesem Planeten haben einen Rechnerverbund. Wird irgendwo Alarm gegeben, fahren alle Meiler hoch, um die Energie für eine planetenweite Verteidigung bereitzustellen«, erklärte Skett, der andere Kobaltblaue. Noch ehe Huxley weitere Fragen stellen konnte, zeichnete sich bereits die zweite Hiobsbotschaft ab. »Sir! Da, sehen Sie doch!« Professor Bannard zeigte auf die holographische Projektion der Systemsonne. Der Wissenschaftler stand vor dem Geländer, das den Astroschirm vom übrigen Raum trennte, und es hatte den Anschein, als verlöre er jeden Moment die Fassung. »Was soll ich sehen?« »Können Sie es denn nicht erkennen? Warten Sie, ich vergrößere die Darstellung.« Er nahm eine Schaltung an seiner Instrumentenkonsole vor. Augenblicklich erfüllte ein bösartiges Leuchten die Astrometrie, als die virtuelle Sonne anschwoll, sich ausdehnte, bis die Anwesenden das Gefühl hatten, von dem feurigen Ball verschlungen zu werden. Auf der Sonnenoberfläche wurden Details deutlicher -verzerrte Linien, die auf magnetische Feldlinien hindeuteten. Zarte Schleier erschienen und verflogen wieder wie der feine Dunst eines Morgennebels. Dazwischen hell strahlende Gruppen tanzender Funken. »Dies hier«. Bannard deutete mit seinem Leuchtzeiger auf eine bestimmte Stelle, an der sich Plasmabänder ineinander verflochten wie Zöpfe, »müssen Sie sich genau ansehen.« Er war jetzt ganz in seinem Element und begann zu dozieren. Huxley richtete seine Aufmerksamkeit auf die bezeichnete Stelle und vertiefte sich in die Betrachtung der von den Astro-Computern suprasensorisch aufbereiteten Systemsonne. Aber er konnte nicht erkennen, was Bannard in Aufregung versetzte. Er war kein Astrophysiker, glaubte aber dennoch zu wissen, was der Professor ihnen zeigen wollte. »Wollen Sie sagen, daß die Sonne schon wieder Anzeichen einer beginnenden Supernova-Explosion aufweist?« »Exakt«, sagte der Wissenschaftler fast triumphierend. Huxley nickte, als er seine Befürchtungen bestätigt sah. Es hat also wieder angefangen, dachte er und seine Kiefermuskeln spannten sich »Wie ich erwartet habe«, ließen sich Tantals Bildimpulse über die Translatoren vernehmen. »Es gibt einen ursächlichen Zusammenhang zwischen der Energieerzeugung auf diesem Planeten und der Sonnen Veränderung.« »Aber das ist ja schrecklich«, rief Captain Bontempi halblaut aus. »Sollten wir uns nicht besser aus dem Staub machen?« »Kein Grund zur Panik«, erwiderte Huxley. »Geret III ist zehn Lichtminuten von seinem Zentralgestirn entfernt. Mister Perry läßt mit Hypertastern überlichtschnell die Sonne überwachen. Sollte sie tatsächlich zur Supernova explodieren, können wir rechtzeitig durch eine Nottransition aus dem System verschwinden. Der Zeitrahmen ist ausreichend groß.« Sein Blick ruhte einen Moment auf der zweiunddreißigjährigen Frau mit der blauschwarzen Pagenfrisur. Die schlanke, fast zierlich wirkende Anthropologin und Fremdvölkerexpertin hatte ihm im Sommer 2057 bei den schwierigen Verhandlungen mit den Utaren mit Rat und Tat zur Seite gestanden. Es war fast zwangsläufig, daß sie nach Beendigung der schwierigen Mission der FO-1 als neues Besatzungsmitglied im Rang eines Captains zugeteilt wurde. Eine Entscheidung der TF, die Huxley noch zu keiner Stunde bereut hatte. Der Blick ihrer mandelförmigen Augen - Erbe der thailändischen Großmutter, wie Huxley aus ihrer Personalakte wußte -drückte noch immer Skepsis aus, auch schien sie nur halbwegs beruhigt, als sie meinte: »Wenn Sie es sagen, Sir.« Sie dachte einen Moment nach, ehe sie hinzufügte: »Hat man eigentlich schon ein mal in Betracht gezogen, daß sich die Erschütterungen einer Su-pemova-Explosion bis in den Hyperraum hinein erstrecken? Was, wenn es dort zu einem Unfall kommt?« »Hab ich noch nie von gehört«, brummte Allister Bannard. »Vielleicht weil die, die davon betroffen wurden, nie mehr aufgetaucht sind«, gab sie zu bedenken. Es war Huxley, der ihre Zweifel auszuräumen versuchte, indem er sagte: »Die Explosionen von Sonnen breiten sich nicht schneller als mit Lichtgeschwindigkeit aus. Wir sind durch unsere Fähigkeit, quasi aus dem Stand zu transitieren, davor gefeit, von den Auswirkungen dieser stellaren Katastrophe eingeholt werden zu können. Trägt das zu Ihrem Seelenfrieden bei, Sybilla?« Sie wurde einer Antwort enthoben. Im Hintergrund hatte sich das Schott geöffnet. Ein gelbgekleideter Meeg kam herein und trat zu Tantal. Huxley runzelte ärgerlich die Stirn; am Spiel der Fühler erkannte er, daß die beiden Nogk auf einer Ebene miteinander kommunizierten, die bewußt alle anderen davon ausschloß. Ein erneuter Affront. Der Colonel räusperte sich nachdrücklich. Tantal wandte sich von dem Meeg ab und Huxley zu. »Verzeiht«,
kamen seine Bildimpulse für jedermann verständlich. »Aber was ich gerade von Leroo erfahren habe, ist von einer solchen Tragweite, daß ich für einen Augenblick in unsere uralte Sprache verfallen bin. Es wird in Gegenwart von Terranem nicht mehr vorkommen.« »Was ist geschehen?« wollte Huxley wissen. »Die Meegs haben den alten Code entschlüsselt, den wir in der Herberge des Wissens gefunden haben. Jetzt erhalten wir Zugriff auf die Rechner der noch aktiven Anlagen auf Geret III.« Tantal konnte das Triumphgefühl kaum unter Kontrolle halten, das ihn durchströmte. »Wir können uns als Nogk zu erkennen geben und alles deaktivieren.« »Das«, so sagte Huxley mit Nachdruck, »ist nun wirklich mal eine gute Nachricht.«
»Wo ist Artus?« Ren Dhark war der erste, dem das Verschwinden des eigenwilligen Roboters auffiel. »Hatte ich nicht angeordnet, daß wir alle zusammenbleiben sollen?« »Nicht direkt«, antwortete ihm Arc Doorn »Selbst dann gibt es für ihn keinen Grund, sich unerlaubt von der Gruppe zu entfernen«, erwiderte der Commander ärgerlich. »Es versteht sich doch wohl von selbst, daß wir auf diesem riesigen Gelände möglichst nah beieinander bleiben. Wenn er nicht zu uns zurückfindet, werden wir ihn suchen müssen, so etwas hält nur unnötig auf.« »Unser talentierter Blechkamerad wird sich schon nicht verlaufen«, meinte Bram Sass. »Der Bursche kann gut auf sich selbst aufpassen und wird sicherlich bald wieder zu uns stoßen.« »Vielleicht war es ja ein Fehler, ihn an Bord zu holen«, knurrte Dhark. »Als ob es auf der POINT OF nicht schon genug Besatzungsmitglieder gibt, die für ihre Alleingänge berüchtigt sind.« Der letzte Satz war auf Arc Doorn gemünzt. Der Sibirier benahm sich jedoch so, als hätte er es nicht gehört. Er ahnte, warum der Commander so gereizt war. Die Suche nach dem Zentralgehirn dieser Anlage ging ihm nicht schnell genug voran. Doorn und Gisol taten, was in ihrer Macht stand, doch die Sache erwies sich als äußerst schwierig. In diesem Augenblick deutete Sass nach oben. Gleichzeitig griff er nach seinem Strahler. Mehrere schattenhafte Flugmaschinen stürzten sich auf die Männer herab. Dabei versprühten sie massenhaft ein geruchloses Sekret, das zum Teil an der Kleidung, überwiegend aber den Waffen und Geräten haften blieb. Sass, Doorn und Dhark waren gute Schützen. Es gelang ihnen, einige der rochenartigen Angreifer herunterzuholen. Die Maschinen gingen bereits bei leichten Streifschüssen kaputt und fielen in Einzelteilen zu Boden. Kurz darauf zogen sich die schwarzen Rochen wieder zurück. Ihre Arbeit war getan. Dhark untersuchte die Trümmerteile der seltsamen Flugmaschinen näher. »Einfache Computertechnik, eingebettet in einer nicht sonderlich stabilen Umhüllung«, sagte er nachdenklich. »Das verstehe ich nicht. Wieso konzipiert jemand fliegende Angriffswaffen, die derart leicht zu zerstören sind?« »Vielleicht sind es gar keine Waffen«, entgegnete Sass. »Wie kriegen wir bloß dieses klebrige Zeug von unseren Meßgeräten runter?« warf Gisol ein. »Nur Geduld, es verschwindet gleich von selbst«, vernahm er plötzlich Artus' vertraute Stimme. »Es wirkt kurz ein und löst sich dann in seine Bestandteile auf.« Der Roboter trat aus einem Gang zwischen zwei dicht beieinander stehenden Aggregaten hervor. »Verdammt, wo hast du gesteckt?« herrschte der Commander ihn an. »Ich hatte eine kleine Auseinandersetzung mit den fliegenden Spraydosen, genau wie ihr«, antwortete der Roboter. »Sie gaben erst Ruhe, nachdem sie mich vollständig eingesprüht hatten. Danach konnte ich mich für eine halbe Minute nicht rühren. Das war allerdings kein unangenehmes Gefühl. Ganz im Gegenteil. Fast volle dreißig Sekunden lang fühlte ich mich so wohl wie schon lange nicht mehr. Das hat vermutlich dieses seltsame Sekret bewirkt. Ich schätze mal, es handelt sich dabei um eine Art Metallpflegemittel. Völlig unschädlich für normale Roboter - doch auf Roboter mit Bewußtsein hat es eine nahezu berauschende Wirkung.« »Eine Droge?« bemerkte Doorn. Artus verneinte. »Dafür war die Wirkung zu harmlos. Ich denke mal, die schwarzen Biester, die zu Tausenden hoch oben unter der Überdachung kleben, wollten mir nur etwas Gutes tun. Und ich undankbares Subjekt habe drei von ihnen zerstört.« »Hättest du sie nicht in die Wüste schicken können?« fragte Dhark ihn. »Aus deiner Akte weiß ich, daß du über die bemerkenswerte Fähigkeit verfügst, andere Rechner zu manipulieren.« »Das habe ich versucht«, antwortete Artus. »Doch ich konnte ihre Programmierung weder ändern noch löschen. Sie entzogen sich meinem Einfluß, indem sie ihren einzigen Programmbefehl jedesmal wieder selbsttätig erneuerten. Auch sonst war es mir unmöglich, mit ihnen zu kommunizieren.« »Sie wollten nicht mit dir reden?« »Sie konnten es nicht. Zwar verfügt jede der Flugmaschinen über einen eingebauten Minirechner, dessen
Funktion beschränkt sich jedoch aufs Allemötigste. Auf äußere Einflüsse reagiert er nicht, weil er sie gar nicht wahrnimmt.« »Willst du damit sagen, Artus, diese Minirechner seien schlichtweg zu dumm, um eine Kommunikation mit einem außenstehenden Computer zu führen?« »So ist es, Dhark. Stell dir vor, ein Wesen auf niedrigster Intelligenzstufe verrichtet fortlaufend eine einfache Aufgabe, immer dieselbe, ohne darüber nachzudenken. Nun kommt ein hochintelligentes Wesen hinzu und sagt ihm, es solle die Arbeit einstellen und sich lieber mit etwas Nützlicherem beschäftigen. Das dümmere Wesen kapiert jedoch nicht, was das klügere von ihm will, also macht es mit stoischer Gelassenheit weiter. Dagegen ist das intelligente Wesen letztlich machtlos.« »Ein dummer Computer - eigentlich ein Widerspruch an sich«, sinnierte Bram Sass. »Und genau das ist wiederum das Geniale daran.« »Die meiste Zeit über verharren die Sprühautomaten an ihrem Ruheplatz«, fuhr Artus fort. »Sobald sie in ihrer Nähe Metall erfassen, das noch nicht mit dem Sekret behandelt wurde, verständigen sie sich untereinander und schwärmen aus. Nach Erledigung ihrer Arbeit kehren sie an ihren zugewiesenen Warteplatz zurück und versetzen sich in Ruhestellung bis zu ihrem nächsten Einsatz.« »Wir sind nicht aus Metall«, sagte Sass. »Warum haben sie uns besprüht?« »Haben sie doch gar nicht«, stellte Dhark richtig. »Sie hatten es ausschließlich auf die Metallteile abgesehen, die wir mit uns führen. Nicht nur unsere Waffen und Geräte sind teilweise aus Metall, auch an unserer Kleidung tragen wir welches, beispielsweise die Gürtelschnalle. Daß wir beim Dekontaminieren dieser Dinge selbst einiges abbekamen, blieb nicht aus.« »Dekontaminieren?« wiederholte Doorn. »Eben war noch die Rede von Metallpflege.« »Glauben Sie wirklich, Are, die Erschaffer dieses künstlichen Sonnensystems haben zahllose fliegende Maschinen hergestellt und über der gesamten Anlage positioniert, nur zu dem Zweck, hin und wieder das Metall aufzupolieren?« fragte ihn der Commander. »Nein, es steckt mehr dahinter. Ich vermute, bei dem Sekret handelt es sich um ein Entgiftungs- oder Schutzmittel.« »Schutz?« wiederholte Sass. »Wovor?« Dhark hob die Schultern und wandte sich Gisol zu. »Kannst du uns mehr darüber sagen?« »Ich bin ebenfalls auf Spekulationen angewiesen«, erwiderte der Worgun. »Möglicherweise gab es hier früher Bakterien, die imstande waren, Metall zu zersetzen. Um die Aggregate und sonstigen Maschinen zu schützen, entwickelte man das Sekret und versprühte es überall. Wie schon gesagt, das ist nur eine Mutmaßung. Hätten wir Zeit für eine gründliche Analyse, wüßten wir bald mehr. Ich bezweifle ebenfalls, daß es sich um ein reines Pflegemittel handelt. Für die Pflege von Geräten sind üblicherweise Wartungsroboter zuständig.« »Apropos«, warf Doorn ein. »Wo stecken die Handwerkerkolonnen eigentlich? Solche Monstermaschinen müssen doch regelmäßig gewartet und überwacht werden.« »Vielleicht üben die Roboter ihre Tätigkeit nur in sporadischen Abständen aus, mal in diesem, mal in jenem Sektor der Anlage«, überlegte Sass. »Oder aber die Maschinen warten sich selbst.« »Die Bakterientheorie halte ich gar nicht mal für so abwegig«, griff Dhark den Faden wieder auf. »Metallviren, die den natürlichen Zersetzungsvorgang beschleunigen, könnten hier einen Haufen Schaden anrichten. Als wir damals den Industriedom auf Deluge entdeckten, wateten wir durch dicken Metallstaub, der ganze Boden war damit bedeckt. Stellt euch vor, die Riesenmaschinen hier fallen plötzlich in sich zusammen, aufgrund von Bakterienbefall oder aus welchen Gründen auch immer. Der gesamte Planet wäre zum Untergang verdammt. Und wir würden im Staub erStikken. Lebend kämen wir nicht mehr ins Freie.« »Wie auch?« entgegnete Sass. »Weit und breit ist kein Ausgang zu sehen. Wenn wir nicht bald die Zentrale finden, werden wir wohl umkehren müssen.« »Keine Sorge«, beruhigte ihn Gisol. »Doorn und ich sind schon nahe an der Zentrale dran. Die Richtung, die wir einschlagen müssen, steht inzwischen fest.« Mittlerweile hatten sich die klebrigen Tropfen aufgelöst, wie Artus es angekündigt hatte. Dem Weitermarsch stand somit nichts mehr im Wege.
»Wie weit ist es schätzungsweise noch?« erkundigte sich Dhark nach wenigen Kilometern. »Kommt darauf an, wie groß die Anlage insgesamt ist«, antwortete Arc Doorn - und damit hatte sich's. Der Commander seufzte leise. Warum hatte er den maulfaulen Kerl überhaupt gefragt? Dhark verspürte Durst und leichten Hunger. Mehr als einen kleinen Lebensmittelpillen-Notvorrat für unterwegs hatten sie nicht bei sich, darauf konnte er allerdings getrost verzichten. Ihm stand der Sinn nach einem deftigen Steak - nicht nach einer Tablette mit Steakgeschmack. Ein Schluck Wasser aus der röhren förmigen Feldflasche am Gürtel genügte ihm daher fürs erste. Immer wieder stieß die Gruppe auf größere Freiflächen mit mehreren Abzweigungen. Dort wurde jedesmal eine kleine Pause eingelegt, und alle warteten ab, bis Gisol und Doorn weitere Berechnungen durchgeführt hatten. Mitunter schienen sie nicht derselben Meinung zu sein und stritten im Flüsterton miteinander, doch letztlich einigten sie sich dann doch auf einen gemeinsamen Weg.
Denn sie wissen hoffentlich, was sie tun, dachte Ren Dhark, dessen Vorrat an leisen Seufzern sich langsam
erschöpfte.
Wieder kam es zu einer kurzen Rast. Um sich die Wartezeit während des »Expertenstreits« zu verkürzen,
ließ Dhark seine Phantasie spielen und überlegte, auf welche Weise man die triste Freifläche hätte
verschönern können. Am Schnittpunkt der Abzweigungen hätte er einen Goldenen aufgestellt, mitsamt
Sockel. Inmitten der gigantischen, gebäudeähnlichen Maschinenklötze würde die kilometerhohe Statue
aussehen wie ein normales Denkmal in einer normalen Großstadt.
Außer den gewaltigen Aggregaten verstreuten sich innerhalb der Anlage diverse kubusförmige Apparaturen,
deren Sinn und Zweck Dhark ein Rätsel war. Auch Gisol konnte ihm nicht weiterhelfen -zumindest nicht
ohne intensivere Untersuchung, und dafür war nicht genügend Zeit.
Artus versuchte, mit den fremden Apparaten, deren Kantenlänge in etwa fünfzig Meter betrug, in Kontakt zu
treten, doch seine Bemühungen schlugen wieder einmal fehl - diesmal aus anderen Gründen als bei den
fliegenden Rochen.
»Ich vermute mal, die würfelförmigen Maschinen füngieren als Bindeglied zwischen den Aggregaten und
dem Zentralrechner«, überlegte der Roboter laut. »Es sind sozusagen die kleinen Brüder des großen
Rechners. Leider blockiert eine eingebaute Schutzsperre mein Signal, weshalb ich nicht an sie
herankomme.«
»Demzufolge werden die Riesenaggregate nicht direkt vom Zentralrechner gesteuert, sondern von solchen
Zwischenstationen aus«, entgegnete Bram Sass. »Wozu soll das gut sein?«
»Sicherheitsgründe«, meinte Ren Dhark. »Hat eine der Stationen einen Defekt, fällt lediglich ein Teil der
Aggregate aus. Und kommt es zu einem Ausfall in der Zentrale, arbeiten die Stationen trotzdem noch eine
Weile weiter, nehme ich an.«
Auch er war in dieser respekteinflößenden Umgebung auf Vermutungen angewiesen. Genaueres hätten ihm
nur die Erbauer der unterirdischen Anlage sagen können.
»Irre ich mich, oder vibriert der Boden unter meinen Füßen?« erkundigte sich Sass, als die Gruppe wenig
später auf einer Viererkreuzung eintraf.
»Ich spüre es auch«, bestätigte der Commander. »Ein unterirdisches Beben?« Artus betätigte sich umgehend
als lebender Seismograph. Seine Messungen dauerten nur wenige Sekunden.
»Die Vibrationen kommen nicht von unten«, teilte er den anderen mit. »Ich schätze, wir kriegen Besuch.«
Automatisch legten die Männer ihre Handflächen auf die Griffe ihrer Waffen. »Hört sich nach einem
schweren Räderfahrzeug an«, sagte Dhark.
»Nach mehreren«, verbesserte Sass ihn. »Sie scheinen von allen vier Seiten heranzurasen.«
Noch hatte man keinen Augenkontakt mit den vermeintlichen Fahrzeugen, aber man konnte sie immer
deutlicher hören. Und weit und breit gab es kein sicheres Versteck.
Plötzlich waren sie da. Zunächst waren sie nur verschwommen in der Feme zu sehen, doch mit rasanter
Geschwindigkeit kamen sie immer näher.
Sie - hunderte von Robotern. Unförmige Metallklumpen auf Rädern, ausgestattet mit zahlreichen
Extremitäten und Werkzeugen. »Hattest du vorhin nicht nach den Wartungsrobotern gefragt?« sagte Artus zu
Doorn. »Das sind sie.«
»Müssen die ausgerechnet jetzt und hier aktiv werden?« entgegnete der Sibirier, der sichtlich unruhig wurde,
was selten bei ihm war. »Sie werden uns überrollen!«
»Kannst du sie stoppen?« fragte Dhark den Roboter.
»Unmöglich, dafür sind es zu viele«, antwortete Artus. »Einige der eingebauten Rechner könnte ich
manipulieren, aber nicht alle auf einmal.«
»Und was unternehmen wir jetzt?« wollte Doorn wissen.
»Nichts«, erwiderte Ren Dhark. »Rein gar nichts. Wir bleiben stehen, wo wir sind.«
Sass und Doorn blickten sich ratlos an. Der Kommandant steckte auf und ergab sich in sein Schicksal? Das
paßte überhaupt nicht zu ihm.
Vier Robot-Arbeiterkolonnen rollten von vier Seiten auf das kleine Grüppchen zu. Es war den Männern
unmöglich, auszuweichen. Der Zusammenprall war nur noch eine Frage von Sekunden. ..
Bei fast allen Völkern, gleich in welcher Galaxis sie lebten, zählten die Heilkundigen zu den angesehensten
Personen. In der Hierarchie standen sie meist ganz weit oben. Niemand wollte es sich mit ihnen verderben,
denn irgendwann benötigte jeder mal einen Mediziner, Arzt, Doktor...
Bei den Lekkranern war das anders. Der Stamm der aasfressenden Echsenwesen strotzte nur so vor
Gesundheit. Schwere Krankheiten kannten sie nicht. Schlimmstenfalls kam es mal zu einer harmlosen
Infektion oder leichten Magenverstimmung, wenn jemand allzu frisches Fleisch verzehrt hatte. Zum
Auskurieren ge
nügten meist die körpereigenen Abwehrkräfte.
Der Heiler war somit das überflüssigste Mitglied der Horde -weshalb man wenig respektvoll mit ihm
umsprang.
Jeden Tag zogen die Pflanzensammler los, um frische Nahrung für den Stamm zu besorgen. Nach ihrer Rückkehr verteilten sie Blüten, Blätter, Wurzeln und Gräser zu gleichem Anteil an die Hüttenbewohner. Nur den »nutzlosen« Heiler ließen sie dabei regelmäßig aus, er mußte sich seine Mahlzeiten selbst pflücken. Beim Teilen von gefundenem Aas verfuhr man genauso; er bekam selten etwas davon ab, durfte später nur die Knochen abknabbern. Ikkol, der derzeitige Heiler der Lekkraner, war sich seines niederen Standes bewußt. Mit Langmut ertrug der Alte die fortwährenden Demütigungen. An seine ihm zugewiesene Rolle als Untertänigster unter den Untertanen hatte er sich längst gewöhnt. Seine Hütte war die kleinste im Dorf. Damit das auch richtig zur Geltung kam, hatte man sie direkt neben der größten Hütte plaziert, in welcher Pakkuma, der Stammeshäuptling, lebte. Begegneten sich beide vor ihren Unterkünften, grüßte Ikkol seinen Herrn stets ehrerbietig - und jedesmal wurde er von ihm wie Luft behan delt. Obwohl Ikkols Zuhause alles andere als pompös ausgestattet war, fühlte er sich darin wohl. Er hatte es nach seinem persönlichen Geschmack gestaltet - mit aus Lehm gefertigten Beschwörungsmasken, selbstgeschnitzten kleinen Holzstatuen und rahmenlosen Bildern, die er mit Fingerfarben auf Baumrinde gemalt und mit kunstvoll drapierten Grashalmen verziert hatte. Sogar das Regal, in welchem er seine Kräuterheiltränke und Pülverchen aufbewahrte, hatte er mit Pflanzenranken künstlerisch veredelt. So ganz zufrieden war Ikkol mit der Ausstaffierung seiner Hütte allerdings noch nicht. Ihm fehlte gewissermaßen das Tüpfelchen auf dem i (obwohl er diesen Buchstaben nicht einmal kannte). Nur zu gern hätte er seinen Kunstwerken das Whuu hinzugefügt, das nebenan in der Unterkunft des Häuptlings an der Wand hing und von den Frauen des Stammes täglich mit Blumen geschmückt wurde. Aber Pakkuma würde es ihm niemals geben. Der Echsenführer erlaubte niemandem, das Whuu auch nur zu berühren, denn es war das Symbol seiner uneingeschränkten Macht über sein Volk. Ikkol schielte nicht heimlich nach der Macht, darauf legte er keinen Wert. Er wollte nur das Whuu. Schon des öfteren hatte er daran gedacht, sich heimlich in die Häuptlingshütte zu schleichen und das Whuu zu stehlen. Allein der Besitz hätte ihn bereits zufriedengestellt. Ikkol hätte das Whuu irgendwo draußen versteckt und es immer mal wieder heimlich hervorgeholt, um es zu betrachten... Ein Wunschtraum, weiter nichts. In der Realität war er ein Feigling, der es niemals wagen würde, seinen Anführer zu bestehlen, ganz egal, wie gemein Pakkuma zu ihm war. Nur in Ausnahmefällen wurde der Heiler höflicher als sonst behandelt, immer dann, wenn sich ein Stammesangehöriger verletzt hatte. Unfälle kamen zwar selten vor, weil die Echsen durch ihre Schuppenpanzer weitgehend geschützt waren, so daß ihnen beispielsweise bei Stürzen kaum etwas passierte, doch manchmal fügten ihnen wilde Tiere Verletzungen zu, und die mußten dringend versorgt werden. Von Ikkol. Für ihn brachen dann jedesmal glücklichere Zeiten an. Er konnte allen zeigen, wozu er fähig war, und die Dankbarkeit seines schmerzgepeinigten Patienten war ihm gewiß. Der Heiler wurde nunmehr gegrüßt, man brachte ihm seine Pflanzennahrung ins Haus, und bei der Faulfleischverteilung kam er nie zu kurz. Leider hielten weder die allgemeine Bewunderung noch die Dankbarkeit sonderlich lange an. Sobald der Verletzte geheilt war, geriet die gute Tat allmählich in Vergessenheit. Und schon bald war Ikkol wieder der unwichtigste Untertan des gesamten Stammes, einer, der so gut wie nie gebraucht wurde und daher keinen Respekt verdiente. Ikkol wünschte sich, wenigstens ein einziges Mal irgend etwas Großes, Außergewöhnliches zu vollbringen, das ihm für den Rest seines Lebens dauerhaften Stammesruhm einbrachte. Als der Himmel in Flammen aufgegangen war, hatte er kurz mit dem Gedanken gespielt, das unerklärliche Phänomen für sich zu nutzen und zu behaupten, magische Kräfte zu besitzen. Aber letztlich hatte er diese kühne Idee wieder verworfen. Die Feuerdämonen hätten ihm seine Aufschneiderei bestimmt übelgenommen. Oder der Häuptling hätte ihn an einen der heiligen blauen Pfähle fesseln lassen und den Stammesgöttem geopfert. Der Heiler der Lekkraner war ein Traumichnicht. Seine eigenen Bedenken standen ihm immer im Wege. Nur ein einziges Mal hatte er eine riskante Idee erfolgreich in die Tat umgesetzt. Danach hatte er viele Nächte wachgelegen, aus Furcht, daß man ihm noch im nachhinein auf die Schliche kommen und ihn aus dem Dorf verbannen würde. Glücklicherweise war nichts dergleichen passiert, keiner hatte etwas gemerkt. Während Ikkol aus sicherer Entfernung Mokkzera und Tikkum beim Paarungsvorgang beobachtete, überlegte er, ob es ratsam war, das Risiko ein zweitesmal einzugehen. Würde man ihm auch diesmal wieder unbesehen glauben? Mokkzera war eine Echsenschönheit sondergleichen. Dennoch verzehrte sich Ikkol nicht nach ihr, und er war auch nicht eifersüchtig auf Tikkum. Der Heiler befand sich bereits im fortgeschrittenen Alter, sein Geschlechtstrieb war mittlerweile versiegt. Erst als sich das Paar gemeinsam über das leckere Aas hermachte, packte Ikkol der Neid. Hoffentlich ließen sie ihm noch ein bißchen was übrig. Wenig später verließen Mokkzera und Tikkum den Platz. Jeder ging in eine andere Richtung davon. Voller Gier verspeiste Ikkol die spärlichen Reste des Slaat. Nachdem er den letzten Knochen abgenagt hatte, machte er sich auf die Suche nach Tikkum. Der Heiler war
jetzt fest entschlossen, ein weiteres Mal aktiv zu werden - auch wenn ihn das wieder viele schlaflose Nächte kosten würde. Doorn schloß die Augen, als die vier Roboterkolonnen heranwaren. Doch seine Furcht war unnötig. Die klobigen Wartungsmaschinen bogen in verschiedene Richtungen ab und suchten jeweils den Arbeitsplatz auf, den ihnen ihre Programmierung zuwies. Einige rollten ganz dicht an der Fünfergruppe vorbei, ohne sie auch nur zu streifen - man verspürte bestenfalls einen Luftzug. Wenig später war der ratternde Spuk vorüber. Die Hälfte der Roboter war bereits hinter den Schallschutzmauern verschwunden, um die Arbeit aufzunehmen. Die andere Hälfte war noch unterwegs. Der Lärm, den ihre Rollen verursachten, wurde leiser und verlor sich bald in der Ferne. »Woher wußtest du, daß uns nichts passieren würde, Comman-der?« erkundigte sich Gisol. »Von Wissen kann keine Rede sein«, gab Ren Dhark offen zu. »Ich vertraute darauf, daß die Programmierung der Roboter Zusammenstöße aller Art verhindert, um Beschädigungen zu vermeiden. Im übrigen war auf der Mitte der Kreuzung einwandfrei der sicherste Platz. Warum sollten die Worgun teure Wartungsroboter so programmieren, daß sie von mehreren Seiten auf eine Weggabelung zurasen und mittendrauf zusammenprallen? Das ergab für mich keinen Sinn, daher erschien es mir logisch, daß sie abbiegen würden.« Daß auch er größte Angst verspürt hatte, zeigte er nicht - vor allem nicht dem wortkargen Sibirier. Doorn ließ ihn schließlich auch nicht in sich hineinschauen. Die Suche nach der Zentrale der Anlage wurde fortgesetzt. Auf weitere böse Überraschungen waren alle gefaßt, doch jeder wünschte sich insgeheim, es würde nichts Aufregendes mehr passieren - wenigstens eine Zeitlang. Stunden vergingen, ohne daß sich an der Umgebung sonderlich viel änderte. Mitunter hatte Dhark das Gefühl, im Kreis zu gehen, aber Gisol und Doorn versicherten ihm hoch und heilig, sich auf dem richtigen Weg zu befinden. Der Erfolg gab ihnen recht - plötzlich standen sie mitten in der Steuemngszentrale. Dhark wurde allerdings das Gefühl nicht los, daß sich die beiden »Fährtensucher« selbst am meisten darüber wunderten. »Ist etwas nicht in Ordnung?« fragte er sie. »Wir sind hier doch richtig, oder?« »Schon möglich«, erwiderte Arc Doorn ausweichend. Jetzt langte es dem Commander. »Was heißt hier > schon mög-lich« fuhr er den Sibirier unwirsch an. »Wird die Anlage von hier aus gesteuert? Ja oder nein?« »Das trifft zumindest auf den Teil der Anlage zu, den wir bisher kennen«, antwortete Gisol an Doorns Stelle. »Der gesamte Komplex ist wahrscheinlich größer als wir ursprünglich berechnet haben. Eventuell gibt es mehrere Zentralen. Diese hier könnte die Hauptzentrale sein, mit der weitere Nebenstellen verkoppelt sind.« »Hauptzentrale, Nebenstellen, Zwischenstationen«, zählte Dhark auf. »Wer auch immer das Ganze einst errichtet hat, er wollte offenbar auf Nummer sicher gehen.« »Ist doch verständlich, oder?« warf Sass ein. »Immerhin speist die Anlage den gesamten Planeten mit Energie.« Der quadratische Platz, auf dem sich die fünf Raumfahrer aufhielten, maß etwa einen Kilometer Kantenlänge und war umgeben von verhältnismäßig dicht aneinandergereihten Gigantaggregaten. Oberflächlich betrachtet sah es innerhalb des Quadrats aus wie bei einem Sonderverkauf von übergroßen Suprasensoren. Rechner reihte sich an Rechner... Eine erste Untersuchung ergab zweifelsfrei, daß sie alle untereinander verbunden waren. Genaugenommen handelte es sich um einen einzigen Rechner, dessen Bedienung über ein kolossales Schaltpult im Zentrum des Platzes erfolgte. Gisol und Doorn machten sich an dem Pult zu schaffen. Mit ratlosen Gesichtern und tragbaren Meßgeräten versuchten sie, die genaue Funktionsweise zu erkunden. Are räumte ein, diesmal vor der fremdartigen Technik passen zu müssen. »Ich brauchte viel mehr Zeit, um die komplizierte Logik, die in diesem System steckt, nachzuvollziehen.« Auch der Worgun mußte zugeben, daß er etwas Derartiges noch nie zuvor gesehen hatte. »Zwar begreife ich die technischen Zusammenhänge weitgehend in den Grundzügen, doch das bringt uns wahrscheinlich nicht viel weiter. Fest steht nur, daß dieser Zentralrechner augenblicklich Schwerstarbeit leistet. Man könnte meinen, er steht kurz vor dem totalen Absturz.« »Kein Wunder, angesichts der mächtigen Aggregate, die ständig in Gang gehalten werden müssen«, meinte Sass. »Das dürfte ihm nur wenig Probleme bereiten, schließlich wurde er zu diesem Zweck konstruiert«, sagte Doorn mit nachdenklicher Miene. »Ich schätze, die verstärkten Anstrengungen des Rechners hängen mit der Blockade des Checkmasters zusammen.« »Vielleicht gelingt es mir, seinen geschwächten Zustand auszunutzen und mir Zugang zur Gedankensteuerung zu verschaffen«, murmelte Gisol. Bevor ihn jemand daran hindern konnte, betätigte er am Schaltpult einige Steuerschalter. »Laß das lieber...« setzte der Commander an - doch das Fiasko war nicht mehr aufzuhalten.
Überraschend löste sich ein gepulster Strahl aus einem etwas abseits befindlichen Bauteil des Zentralrechners und hüllte Gisol vollständig ein. Daraufhin stieß der Worgun einen langgezogenen, lauten Schrei aus - einen Schrei, der nichts Menschliches an sich hatte. Unter Zuckungen verwandelte sich Gisol in seine ursprüng liche Gestalt zurück. Aus dem attraktiven Abenteurer Jim Smith wurde wieder der undefinierbare Blob, ein nach menschlichem Geschmack unansehnliches Gebilde, dessen Anblick auf empfindsame Gemüter wie ein Schock wirkte. Während der Verwandlung befreite sich Gisol von seiner Kleidung, eine etwas umständliche Prozedur, die er inzwischen fast automatisch vollzog. Gisol konnte jede äußere Form annehmen - diese hier wählten die Worgun, wenn sie sich entspannen wollten, sich im Ruhezustand befanden. Von Entspannung konnte in diesem Augenblick allerdings keine Rede sein. Gisols Schrei erstarb, doch er wand sich weiterhin unter Schmerzen. Dhark wollte ihm zu Hilfe eilen, schaffte es aber nicht, ihn zu berühren. Eine unsichtbare Kraft ließ das nicht zu, stieß ihn fortwährend zunick. Doorn versuchte, den Strahl abzuschalten. Doch kaum streckte er die Hand nach den Schaltern aus, erfaßte ihn ebenfalls ein Strahl, der aus einer anderen Richtung kam. Beim Betreten der Zentrale hatte sich Ren Dhark gefragt, warum man den wichtigsten Rechner des Planeten ohne Energiezaun einfach so zwischen den Aggregaten plaziert hatte, wo er völlig schutzlos im Freien stand. Nun wurde ihm erschreckend klar, daß die Maschine durchaus in der Lage war, auf sich selbst aufzupassen. Arc Doorn verschwand von einer Zehntelsekunde auf die andere. Allerdings nur sein Körper - Kleidung, Ausrüstung und Waffen blieben auf dem Boden liegen. Der Strahl blieb weiterhin intakt. Dhark und Sass griffen nach ihren Impulswaffen, fest entschlossen, Gisol notfalls gewaltsam zu befreien. In diesem Moment wanderte der gepulste Strahl, der Doorn aufgelöst hatte, auf die beiden zu. Geistesgegenwärtig wichen sie nach links und rechts aus. Bram Sass nutzte seine gesteigerte Schnelligkeit überhaupt nichts, ihn umhüllte der Strahl als nächsten. Er verschwand auf die selbe gespenstische Weise wie Arc Doorn. Noch bevor der Commander seine Waffe betätigen konnte, traf es auch ihn. Kurz darauf waren nur noch sein Impulsstrahler, seine Kleidung und sämtliche nichtorganischen Gegenstände aus seinem Besitz vorhanden. Wie gebannt hatte Artus die Geschehnisse mitverfolgt. Er ging davon aus, jetzt ebenfalls an die Reihe zu kommen. Doch der zweite Strahl kümmerte sich nicht um ihn und erlosch. Der erste Strahl bestand weiterhin und bereitete Gisol offensichtlich großen Schmerz. Typisch! dachte der Roboter. Jetzt hängt mal wieder alles von mir ab.
Fünf Stunden später berief Frederic Huxley eine Zusammenkunft ein, um über die nächsten Schritte zu beratschlagen. Als Tagungsort wählte er die Astrometrie, weil es ursächlich um das merkwürdige
8. Verhalten der Systemsonne ging.
Lee Prewitt als 1.0. war ebenso Teilnehmer wie Tantal und Skett, dazu Leroo, der Meeg, der
maßgeblich an der Entzifferung des uralten Codes in den Verteidigungsanlagen von Geret III beteiligt
war. Auch Ortungsoffizier Perry war anwesend - und natürlich Professor Bannard als Hausherr.
Die Gefahr, daß Geret binnen Stunden zur Supernova werden konnte, war gebannt. Tantal und seine
Blauen hatten die Robotschiffe zurückbeordert und den noch aktiven Verteidigungsanlagen auf Geret
III signalisiert, daß es Nogk seien, die die ge-schichtsträchtigen Stätten nach über 2000 Jahren
aufsuchen wollten und nicht der Gesichtslose Feind.
Unmittelbar nachdem die alten Anlagen ihre Energieproduktion auf Null heruntergefahren hatten,
hatte sich auch die Sonne wieder bemhigt.
Jetzt war sie erneut so friedlich und so stabil, wie es ihrem Alter entsprach.
Ein Vorgang, der immer rätselhafter wurde, je länger man darüber nachdachte.
Der Colonel eröffnete mit harter Stimme die Besprechung: »Beginnen wir also damit, unsere Situation zu analysieren. Ich wüßte wirklich zu gern, was da vorgefallen ist.« Er blickte auffordernd in die Runde. »Hat irgendeiner eventuell eine Idee?« Allister Bannard beugte sich vor. »Schwer zu sagen, was da wirklich geschehen ist«, erwiderte er. Als Leitender Astronom an Bord verfügte er über das profundeste Wissen von allen. Und wenn er sagte, daß er nicht wüßte, was die Ursache der Sonnenveränderungen war, konnte man davon ausgehen, daß er gründ liehst recherchiert hatte.
»Kommen Sie, Allister«, sagte Huxley. »Ist das alles, was Sie darüber zu sagen haben?«
Der Bordastronom arbeitete schon seit langem unter Huxley, und die Jahre intensivsten Einsatzes hatten ihre
Spuren hinterlassen. Die Falten auf der Stirn und um die Augen kündeten davon. Aber trotz seiner weißen
Haare umgab ihn nach wie vor eine Aura der Stärke und Autorität.
»Nein«, sagte er ruhig, aber mit einem nicht eindeutig zu verifizierenden Unterton. »Ich glaube, wir haben da
ein Problem.«
Huxley sah ihn stimrunzelnd an.
»Ein weiteres aus der Vielzahl schon vorhandener?«
Professor Bannard nickte ernst.
»Berichten Sie!«
Der Wissenschaftler sprach mehrere Minuten lang eindringlich und ohne Floskeln. Knapp schilderte er die
Geschehnisse um die Sonne Geret, um dann mit den Worten abzuschließen: »Es ist nicht so sehr die
Tatsache, daß hier versucht worden ist - wieder einmal, möchte ich hinzufügen und von einem Feind, den
noch immer niemand zu Gesicht bekommen hat - das Volk der Nogk von einer seiner Heimstätten zu
vertreiben, indem man kurzerhand das Zen-tralgestim zur Nova entarten läßt, um auf diese Weise jegliches
Leben innerhalb des Planetensystems für immer auszulöschen. Was uns Kummer bereitet...« mit uns schloß
er die gesamte Astrometrie ein, »... und meine Experten kopfstehen läßt, ist etwas anderes...« Bannard
zögerte. Fast schien es, als fürchte er sich vor dem, was er zu sagen im Begriff stand.
»Allister...!« Huxley sagte es fast drohend.
Mit einer um Entschuldigung bittenden Handbewegung fuhr Professor Bannard fort: »Aufgrund der
Geschehnisse muß es in unmittelbarer Nachbarschaft der Sonne etwas geben, was als >Zünd Vorrichtung <
den Prozeß in Gang setzt.«
Es war Perry, der mit der nächsten Überraschung aufwartete. »Während der Vorgänge auf Geret III haben
meine Systeme starke
hyperenergetische Impulse aus dem Bereich der Sonne registriert. Der Vorgang war nur so kurz anzumessen,
daß ich versucht war, an einen Fehler der Systeme zu glauben. Aber die Systeme der CHARR machen keine
Fehler.«
»Merkwürdig«, brummelte der Professor und blies die Backen auf. »Starke hyperphysikalische
Erschütterungen in Sonnennähe...«
»Transitierende Schiffe?« mutmaßte Skett.
Leroo bewegte den Libellenschädel in einer Geste der Furcht. »Der Gesichtslose Feind«, kamen seine
erregten Bildimpulse, »er ist doch hier im System, um sein Vemichtungswerk zu Ende zu bringen.«
»Mit einer Verspätung von über 2000 Jahren?« warf Huxley kopfschüttelnd ein. »Eher unwahrscheinlich...«
»Nein, es handelte sich um keine transitierenden Schiffe«, erwiderte der Ortungsspezialist langsam, fast
zögernd. Irgend etwas beschäftigte ihn. »Die Signaturen entsprachen nicht den üblichen
Triebwerksemissionen. Es handelte sich mehr um« - er konsultierte seine Aufzeichnungen - »um
Hyperraum-Turbulenzen.«
»Hervorgerufen durch was?«
»Das entzieht sich meiner Kenntnis«, erwiderte Perry. »Es schien fast so, als fände ein Energieaustausch
zwischen dem Planeten und der Sonne statt.«
»Was zum...«, entfuhr es Lee Prewitt. »Wissen Sie, was Sie damit in die Welt setzen?«
»Das würde eigentlich genau zu dem passen, was ich festgestellt habe«, bemerkte Professor Bannard.
»Vielleicht haben wir die Umgebung der Sonne nicht gründlich genug überprüft. Nein, nein, ich kenne mich
mittlerweile im Raum um diese vertrackte Sonne besser aus als in meiner Hosentasche. Vielleicht...« Er
brach ab und versank in nachdenkliches Schweigen.
Huxley und die anderen mutmaßten eine ganze Weile über Sinn und Zweck dieses Energietransfers, wenn es
denn einer war, ohne jedoch zu einem Ergebnis zu gelangen, das Hand und Fuß hatte.
Prewitt flocht ein, er hätte mehr den Eindruck, als drohe etwas damit, die Sonne in eine Supernova zu
verwandeln, könne aber den letzten Schritt - aus welchen Gründen auch immer - nicht vollziehen. Vielleicht,
weil ein letztes, entscheidendes Detail fehle. Die Frage war allerdings, ob ein technisches Gerät eine derart
stabile Sonne so beeinflussen konnte, daß sie zur Nova wurde.
»Ein technisches Gerät wohl kaum«, mischte sich der Meeg in die Diskussion ein.
»Sondern?« Huxley sah ihn auffordernd an.
»Eine Station. Ein künstlich geschaffenes Gebilde.«
»Eine Raumstation?«
Leroo bejahte.
Lee Prewitt winkte ab. »Wenn ja, dann müßte sie riesig sein. Eine derart große Station läßt sich nicht
verstecken, oder, Professor?«
»Wohl kaum«, bestätigte der Wissenschaftler. »Außerdem können wir diese Vermutung ausschließen. Als
wir in das System einflogen, wurden auf mein Geheiß hin mehrere Sonden in eine Umlaufbahn um das
Zentralgestirn geschickt. Aufgabe der Astrome -trie ist es nämlich unter anderem, die Strahlenkomponenten
von Sonnen zu erforschen. Wir haben nichts gefunden, was auf ein künstlich geschaffenes Gebilde
hindeutete...«
Huxley hörte nicht mehr richtig zu.
Seine Gedanken glitten zurück.
Nicht sehr weit, gemessen an der Zeitspanne seines Lebens. Aber dennoch einige Jahre. Und sie führten ihn
ins Tuumus-Sy-stem und zu der furchtbaren Auseinandersetzung mit Nanghkor, demNogk-Klon...
Wie elektrisiert sprang Huxley auf und nahm Aufstellung vor Professor Bannard, der sichtlich erschrak.
»Allister! Allister, erinnern Sie sich noch an das Tuumus-Sy-stem?«
»Natürlich«, erwiderte Bannard mit gebotener Vorsicht. Erregten Menschen sollte man mit Umsicht und
Verständnis begegnen,
war seine Devise. »Hatten Sie damals nicht diese Auseinandersetzung mit dem Nogk-Klon, Nanghkor hieß
er, glaube ich. Richtig?«
»Ja, ja, das auch. Ich meine jedoch etwas anderes!«
Man konnte förmlich sehen, wie die Erinnerung in Bannard aufstieg.
»Aber ja! Jetzt, wo Sie es sagen! Der fremde, über einen Kilometer große Satellit, den wir in der Korona von
Tantal aufgestöbert haben. - Leider hat er sich selbst zerstört, als die Nogk versuchten, ihn mit ihren
superstarken Traktorstrahlen zu bergen und nach Nogk II zu schleppen. Hmm... Sie meinen...?«
»Richtig, das meine ich.«
Bannard schüttelte entschieden den Kopf.
»Wir haben gründlich sondiert. Es war nichts zu finden. Wenn tatsächlich eine derartige Station vorhanden
wäre, müßte sie so tief in der Sonne stecken... aber nein, das hält kein Material aus. Selbst die CHARR mit
ihren überragenden Feldschirmen könnte sich nur am äußersten Rand der Korona längere Zeit unbeschadet
behaupten.«
»Wenn es nur eine Materialfrage sein soll... sagen Sie, Professor, haben Sie noch die Daten über den
Zerfallsprozeß des unbekannten Metalls parat, aus dem das Trümmerstück bestand, das wir in der Gaswolke
des ehemaligen Charr-Systems gefunden haben?«
»Ja, warum fragen Sie?«
»Sie haben bei dem Material mit Sicherheit auch eine Spektraluntersuchung durchgeführt, nicht wahr?«
»Richtig, die Ergebnisse sind im Computer.«
Huxley verschränkte die Finger ineinander, kehrte zu seinem Platz zurück, setzte sich und sah Bannard
unverwandt an.
»Könnten Sie diese Sonne dort«, er deutete auf Gerets virtuelles Abbild auf dem Allsichtschirm der
Astrometrie, »nach den gleichen Spektrallinien durchsuchen?«
»Jetzt gleich?«
»Jetzt sofort«, präzisierte Huxley mit ernster Miene. »Wie heißt
es doch so treffend: Was du heute kannst besorgen...«
»... das verschiebe flugs auf morgen«, warf Lee Prewitt ein und griente leicht.
»Mister Prewitt, Mister Prewitt«, tadelte ihn Huxley. »Immer ein Späßchen auf den Lippen, wie?«
Mit einem »Das Leben ist ernst genug« zuckte der I. 0. die Schultern.
Allister Bannard machte sich unverzüglich an die Arbeit und ließ die Korona vom Computerverbund der
Astrometrie nach Spektrallinien durchsuchen, die denen des Fragments im ehemaligen Charr-Sy stem
ähnelten.
Die Suche zog sich über mehrere Stunden hin.
Stunden, die die Konferenzteilnehmer dazu benutzten, in ihre Kabinen und Arbeitsräume zu gehen, um dort
auf das Ergebnis zu warten.
Als es kam, traf man sich erneut in der Astrometrie.
»Wir haben die Korona des Zentralgestirns durchforstet«, erklärte Bannard, der sich keinerlei Zeit zur
Erholung gegönnt hatte.
»Und?« Huxley nickte auffordernd. »Gibt es Erkenntnisse, die Sie daraus ableiten können?«
»Es war schwierig«, sagte Bannard anstelle einer Antwort, »aus den mehr als 25 000 Absorptionslinien des
Spektrums der Sonnenstrahlung die gesuchten Spektrallinien herauszufiltem. Es war - wie die Suche nach
der Nadel im Heuhaufen hoch zehn.«
»Sie haben die Suche gemeistert, Allister, wie ich Sie kenne«, schmeichelte Huxley, um das Verfahren ein
wenig abzukürzen.
»Natürlich!«
»Und? Das Ergebnis?«
Bannard drehte sich zum Sonnenabbild herum. Er aktivierte seinen Zeigestab; der elektronische Pfeil
verharrte über einer Stelle am rechten Rand der Darstellung. Ein Koordinatennetz legte sich über den
virtuellen Sonnenball. Unter den Schaltungen des Professors zoomte ein Fenster hervor, expandierte und
gebar binäre Zahlenkolonnen, die von oben nach unten rollten. Nach einer
Weile erkannte Huxley deren Gesetzmäßigkeit und auch, daß sie sich wiederholten: die binäre Darstellung
der gesuchten Spektrallinien.
Bannard bestätigte Huxleys diesbezügliche Frage.
»Sie sind nicht nur ähnlich denen des Trümmerstücks, sondern vollkommen identisch.«
»Und wo genau versteckt sich das Objekt?«
Bannard drehte an seinem Zeigegerät, und das Blickfeld begann sich zu verschieben. Hin zu einer Stelle
etwas unterhalb des fiktiven Nordpols der Systemsonne.
»Da! An der Stelle muß es sich verbergen.«
»Mister Perry«, wandte sich Huxley an den Offizier, »lassen Sie feststellen, ob etwas an den angegebenen
Koordinaten zu erkennen ist.«
Perry sprach mit der Orterzentrale, wartete sichtlich ungeduldig auf das Ergebnis, und schüttelte dann
enttäuscht den Kopf.
»Mit der normalen Ortung ist nichts anzumessen, Sir. Das Objekt besitzt vermutlich einen perfekten
Ortungsschutz. Es strahlt auch offensichtlich keine Energie ab, wir können keine diesbezüglichen Signaturen
auffangen. So gesehen können wir auch gleich an jeder x-beliebigen anderen Stelle nach ihm suchen. Wir
finden nie eine Spur von dem Ding, falls uns nicht ein riesengroßer Zufall auf die Sprünge hilft.«
»Nicht gleich die Flinte ins Korn werfen, Mister Perry. Es gibt da schon ein paar Möglichkeiten...«
Huxley wandte sich an Tantal.
»Du warst doch derjenige, der als erster einen Zusammenhang zwischen den Meileraktivitäten auf Geret III
und der Sonnenveränderung zur Nova vermutete. Du könntest für diese These jetzt den Beweis antreten.«
»Was soll ich tun, Huxley?«
»Aktiviere ein paar der alten Anlagen in den verlassenen Nogk-Städten. Wir wollen doch mal sehen, ob und
was sich auf der Sonne tut. Vielleicht können wir die Maus aus ihrem Bau hervor
kitzeln.«
»Maus?« erreichten die fragenden Impulse des Nogk-Mutanten die Terraner.
»Ein kleines, niedlich anzusehendes Nagetierchen«, klärte ihn Prewitt auf, »das einige Menschen reizend
finden, andere sind weniger von ihm angetan. Besonders die weibliche Komponente unserer Spezies tut sich
schon schwer mit Mäusen.«
Tantal beäugte den I. 0. mit seinen Facettenaugen. Seiner Physiognomie war nichts zu entnehmen, aber die
Stellung der Fühler besagte, daß er das Gesagte abschätzend beurteilte. Eine Sekunde lang schien es, als
wolle er antworten. Doch dann wandte er sich ab und begab sich an eine Konsole, wo er eine
Hyperfunkverbin-dung mit einer der alten Anlagen auf der Oberfläche herstellte.
Auf welche Weise er auch immer die betreffenden Codes durchgab, die Terraner bekamen nichts davon mit.
Die Verbindung mit den entsprechenden Computersystemen auf dem Boden geschah auf einer anderen,
vermutlich verschlüsselten Kommunikationsebene.
Huxleys Miene verfinsterte sich einen Moment, doch dann zuckte er mit den Schultern. Wenn schon! Was
zählte, war einzig und allein das Ergebnis. Und das ließ nicht lange auf sich warten.
»Da! Sehen Sie doch, Colonel! Sehen Sie!« Bannard hantierte nervös mit seinem Zeigegerät, das die
betreffende Stelle im Hologramm der Sonne hervorhob.
Tatsächlich, ich kann es sehen, dachte Huxley.
Im Zentrum eines Filaments wurde ein heller Punkt sichtbar, er wurde größer, pulsierte ein paarmal - und
erlosch, als hätte er nie existiert.
Huxley fixierte Bannard.
Der hob die Schultern.
»Die Emissionen der Sonne überdecken alles.«
»Sie verwandelt sich schon wieder in eine Nova?«
»Natürlich, was dachtest du, Huxley?« ließen sich Tantals Bildimpulse vernehmen. »Soll ich die Meiler auf
dem Planeten wieder
deaktivieren?«
Huxley stieß einen Laut aus, der von jedem der menschlichen Anwesenden als Grunzen empfunden wurde.
»Unterstehe dich«, gab er zur Antwort. »Nicht eher, als bis ich es dir sage.«
Er wandte sich an seinen Ortungsoffizier.
»Haben Sie die Koordinaten, Mister Perry?«
»Ja, Sir.«
»Gut. Wir wissen also, wo das Objekt steckt, aber nicht, was es ist, wie groß es ist, und welchem Zweck es
dient.«
»Aber eines wissen wir, daß es das technische Produkt einer uns weit überlegenen Rasse sein muß«, mischte
sich Skett in das Gespräch ein.
Huxley nickte langsam. »Davon können wir ausgehen. Kein natürliches Objekt käme mit den
Schwerkraftverhältnissen einer Sonne zurecht, und schon gar nicht mit deren Temperaturen. Es hat eine fixe
Position, was bedeutet, daß es über unbegrenzte Energie verfügen muß, um seinen Standort zu halten.
Darüber hinaus über eine uns unbekannte Tarn Vorrichtung, weil es sich so gekonnt verbergen kann. Wer
käme schon auf die Idee, in den zigtausenden Absorptionslinien des Sonnenspektrums ausgerechnet jene
herauszufiltern, die Merkmal seiner Hülle sind - außer uns natürlich«, fügte er nicht ohne berechtigten Stolz
hinzu. Wobei er auch den Singular hätte verwenden können, denn eigentlich war es ja sein Geistesblitz
gewesen.
»Das bringt uns zu der Frage, was wir jetzt als nächstes unternehmen.«
»Wir fliegen in die Sonne und schauen uns die Station oder den Satelliten genauer an«, schlug Tantal vor. Lee Prewitt hob abwehrend die Hände. »Kommt nicht in Frage. Nicht mit der CHARR. Die Schutzschilde sind bereits in der Glutwolke des ehemaligen Charr-Systems auf dem Zahnfleisch gerobbt. Die 65 000 Grad Kelvin dort hätten bald zu ihrem Zusammenbruch geführt. Wenn ich mir die Lage dieses fremden Objekts in der Sonnenkorona ansehe, hält es sich in einer Tiefe auf, in der noch weitaus höhere Temperaturen herrschen können. Unsere Schutzschirme halten das gerade mal ein paar Minuten durch. Länger nicht.« »Eine Pattsituation also«, ergriff Huxley das Wort. »Sollen wir uns einfach zurückziehen und das System den Unbekannten überlassen, die offensichtlich nichts anderes im Sinn haben, als eine Heimstätte der Nogk nach der anderen zu zerstören?« Der Meeg trat einen Schritt auf Huxley zu. »Es gäbe einen Weg, sich diesen Satelliten - oder wie immer man dieses Objekt bezeichnen mag - näher anzusehen, ohne die CHARR in irgendeiner Weise zu gefährden.« »Ich bin ganz Ohr«, versicherte der Colonel und ließ auf telepa-thischem Weg Tantal wissen, daß er die Anlagen auf Geret III deaktivieren könne. »Wir Meegs haben uns die aufgezeichneten Daten über den Zerfallsprozeß des unbekannten Metalls angesehen, aus dem das Trümmerstück bestand«, erklärte Leroo und verschränkte die Hände vor der Brust. Huxley hob die Augenbrauen. »Ja? Gab es irgendwelche Erkenntnisse, die ihr daraus ableiten konntet?« »Das Metall ähnelt einem Material, welches wir verwenden, um unsere Sonnentaucher tief in das Innere unserer Sonnen zu schik-ken. So gewinnen wir Erkenntnisse darüber, ob und wann sich deren Konstanten verändern...« Sonnentaucher... wie poetisch, dachte Frederic Huxley. Immer mehr gewann er die Erkenntnis, daß es sich bei den Nogk um ein Volk handelte, das näher zu kennen ein Privileg war. Und daß er als Terraner einer der Auserwählten war, denen dieses Privileg zuteil wurde, erfüllte ihn mit Freude. Und mit Stolz, das gestand er sich unumwunden ein. »... wenn es auch lang nicht dessen Widerstandskraft aufweist«, ergänzte der Meeg. »Das heißt, unser Material zerfällt innerhalb eines absehbaren Zeitrahmens. Obwohl >Zerfallen< nicht der korrekte Begriff ist. Es >schmilzt< sozusagen unter dem Einfluß der Sonnenwinde und Strahlengewitter.« »Zeitrahmen?« fragte Huxley, als der Meeg schwieg. »Wie groß ist der?« »Abhängig von der Stärke der Abschmelzpanzerung, die wir nicht beliebig dick auftragen können, zwischen einer und vier Stunden eurer Zeitrechnung.« Huxley sah überlegend auf den Nogk, sah ihn zum erstenmal richtig und erkannte, daß das rechte Fühlerpaar eine Deformierung aufwies, was ihn unverwechselbar machte. Dann sagte er: »Ich glaube, ich errate, worauf du gleich zu sprechen kommen wirst, Leroo.« »Wir könnten eines der Beiboote mit einer Abschmelzpanzerung präparieren«, bestätigte Leroo Huxley s Vermutung, »die CHARR hat entsprechende Labors, in der wir sie herstellen können, und es mit einer Besatzung an den berechneten Koordinaten in die Sonnenkorona tauchen lassen.« »Wer würde sich schon freiwillig ins Innere einer Sonne begeben«, warfPerry ein und schüttelte sich ostentativ.
»Ich«, kamen Sketts schnelle Bildimpulse. Der blauhäutige Nogk trat einen Schritt vor.
»Ich ebenso«, bot sich der Meeg an.
»Fehlt nur noch ein Terraner«, versetzte Bannard mit schwachem Grinsen. »Die Parität sollte schon
gewährleistet sein.«
»Dafür wird sich auch noch der Richtige finden lassen«, sagte Huxley und hatte dabei eine ganz bestimmte
Person aus seinem Stab im Auge. »Wie lange braucht ihr, um die Panzerung anzubringen?«
»Keine dreizehn Stunden«, versicherte Tantal an Leroos Stelle, der sich scheinbar ergeben dem Diktat des
Kobaltblauen unterwarf.
»Dann würde ich vorschlagen, ihr beginnt umgehend damit...«
Der Colonel sah ihm mit unbewegter Miene entgegen, als er hereinkam.
Lern Foraker blieb vor seinem Kommandanten stehen, vorschriftsmäßig salutierend.
»Oberleutnant Lern Foraker zu Ihren Diensten, Sir«, sagte er laut und erstarrte in Habachtstellung.
»Lassen Sie den Quatsch, wir sind weder auf dem Exerzierplatz noch befehlige ich ein Kampf schiff der
Terranischen Flotte, Lern. Setzen Sie sich einen Augenblick.«
»Danke, Sir!«
Lern Foraker sah aus, als könne er einen Lastenschweber nur mit seinen Händen zerpflücken. Er konnte es
wirklich und tat es auch manchmal. Er konnte, wenn es die Lage erforderte, auf einer 2-Gravo-Welt mit
voller Ausrüstung 24 Stunden marschieren, dabei als Einmannarmee eine Horde potentieller Gegner
eliminieren und dann anschließend noch den Nav-Computer des Landungsbootes reparieren. Er redete nicht
übermäßig viel und war in lebensgefährlichen Einsätzen immer zur richtigen Zeit am richtigen Platz, was
viele seiner Kameraden sehr schätzen gelernt hatten. Rundheraus: Er war das Beste, was die CHARR als
taktischen Offizier zu bieten hatte.
Ihn hatte Frederic Huxley als drittes Besatzungsmitglied des Erkunders ausersehen.
Und durchgesetzt, daß Foraker als Missionsleiter das Sagen hatte, gegen Tantals kaum verhüllten
Widerstand.
Huxley sagte: »Ich habe Sie für eine Mission ausersehen.«
Lern Foraker äußerte sich nicht dazu.
»Sie sind nicht überrascht, Lern?«
»Nein, Sir.« Forakers Stimme klang emotionslos.
»Und weshalb nicht?« Huxley rieb sich das Kinn.
»Die Gerüchte, Sir. Ich habe damit gerechnet.«
Huxley zeigte sich erstaunt.
»So, so, die Gerüchte. Haben die vielleicht auch einen Namen?«
Der taktische Offizier hüstelte leicht; die erste Regung, die er
zeigte.
»Sybill.«
Huxley beugte sich etwas vor.
»Wer?« Er schien seinen Ohren nicht zu trauen.
Eine leichte Röte wischte über Forakers Gesicht, dann gefroren seine Züge wieder.
»Captain Sybilla Bontempi.«
»Hab' ich doch richtig gehört.« Ein fadendünnes Grinsen spielte um den Mund des grauhaarigen Colonels.
Dann straffte er die hagere, muskulöse Gestalt. »Private Beziehungen toleriere ich nur, solange sie nicht den
Dienst beeinträchtigen. Lern. Haben wir uns verstanden?«
»Völlig, Sir. Außerdem...«
»Ja?« Huxley hob die Brauen, als Foraker verstummte, um dann zu bekennen:
»Da ist keine private Beziehung, Sir. Wir sind nur Freunde.« »Na, Ihr Wort in Cupidos Gehörgänge«, brummelte der Colonel undeutlich, um dann mit erhobener Stimme zu sagen: »Also hören Sie zu, Lern. Ich erkläre Ihnen Ihre Aufgabe!« Huxley sprach genau vier Minuten eindringlich und ohne Floskeln. In knappen Worten schilderte er die Gefahren, die der kleinen Besatzung des speziell präparierten Beibootes im Inneren der Sonnenkorona widerfahren konnten und sagte dann abschließend: »Sie haben ein Zeitlimit von vier Stunden. Das dürfen Sie auf keinen Fall überschreiten, sonst sind Sie und die beiden Nogk verloren. Ganz gleich, was Ihnen dieser Skett oder etwa Leroo vorschlagen, halten Sie sich immer vor Augen, daß die Panzerung des Erkunders unwiederbringlich dahinschmilzt. Ich möchte nicht, daß Ihnen oder den beiden Nogk etwas geschieht. Verstanden?« »Wer möchte das schon«, erwiderte Foraker. »Außerdem... setzt man über einen Strom, ist dies schon Jahrhunderte vorher vom Schicksal bestimmt.« »Sie erlauben, daß ich das anzweifle«, kam Huxley s etwas spöttische Erwiderung. »Konfuzius hat nicht immer recht.« »Tseng-kuang«, korrigierte Foraker automatisch und biß sich gleich darauf auf die Lippen, als ihm plötzlich mit Schrecken ein-fiel, was er getan hatte.
Die Quittung folgte auf dem Fuß. Huxleys Brauen zuckten. »Wie...?« Es klang irgendwie drohend. »Sir, die Weisheit stammt von Tseng-kuang«, ging Foraker tapfer und mit trockenem Mund den einmal eingeschlagenen Weg zu Ende. Er gehörte wie viele der jetzigen CHARR-Besatzungsmit-glieder zur Stammbesatzung der 2051 in Dienst gestellten FO-1. Hatte von Beginn an unter Huxleys Kommando gedient, wo er sich durch besondere Einsatzbereitschaft hervortat, weshalb ihm der grauhaarige Colonel auch ohne Bedenken die vielfältigen Aufgaben eines taktischen Offiziers auf der CHARR übertragen hatte, als ihm vom Rat der Nogk im Juni 2057 dieses Wunderwerk des Raumschiffsbaus als sein ganz persönliches Eigentum übergeben worden war. Das Vertrauensverhältnis zwischen Kommandant und taktischem Offizier hatte den gleichen Stellenwert wie das zwischen den anderen Führungsoffizieren und dem Colonel. Jetzt setzte Foraker ein etwas schiefes Lächeln auf und fügte hinzu: »Glaube ich wenigstens, Sir.« Huxley schürzte die Lippen, dann zog ein anerkennendes Grinsen über seine hageren Züge. Geschickt aus der Affäre gezogen, hieß das. »Wie gesagt, Lern, seien Sie vorsichtig. Okay?« »Natürlich. Verstanden, Sir.« »Und jetzt viel Glück für die Mission.« Als sich das Schott von Huxleys Kabine hinter Foraker geschlossen hatte, sah der Colonel auf das Chrono an seinem Handgelenk: 13.27 Uhr. Wenn alles glatt lief, würde die Mission spätestens gegen 17.00 Uhr beendet sein. Ein naher Angehöriger des Stammesoberhauptes zu sein war nicht zwangsläufig ein Privileg. Nekkrio, der Bruder des Lekkra-nerführers Pakkuma, wurde behandelt wie alle anderen auch. Obwohl beide Echsen einst aus demselben Ei gekrochen waren, wiesen sie kaum äußerliche Ähnlichkeiten auf. Pakkuma war nicht nur größer als sein Bruder und die meisten seines Volkes, er hatte sich von Anfang an als der Durchsetzungsfähigere entpuppt. Deshalb war er heute der Häuptling - und Nekkrio nur ein Speerschnitzer. Doch Nekkrio gab die Hoffnung, eines Tages den Stamm anzuführen, nicht auf. Seit Pakkumas Selbstemennung zum Häuptling lauerte sein Bruder darauf, ihn vom Thron zu stoßen. Es mußte sich ihm nur eine günstige Gelegenheit bieten. Körperliche Gewaltanwendung innerhalb des Stammes war streng verboten. Jeder Verstoß gegen diese Regel wurde mit dem Tode bestraft. In dieser Hinsicht waren die Lekkraner nicht zimperlich. Der Delinquent wurde an einen der heiligen blauen Pfähle gebunden, und im Anschluß an die vorgeschriebene Beschwö rungszeremonie rammte man ihm nacheinander mehrere Speere in den Leib. Solche Bestrafungen stellten zwar ebenfalls eine Gewaltausübung dar, doch in diesem Fall handelten die Echsen mit Zustimmung ihrer Götter - zumindest waren sie davon fest überzeugt. Somit kam es für Nekkrio nicht in Frage, seinen Bruder gewaltsam zu entmachten. Das Volk hätte ihm das nie verziehen und ihn umgehend hingerichtet. Den Anführer mittels Abstimmung zu wählen, so etwas kannten die Lekkraner nicht. Wer den Stamm befehligen wollte, rief alle zusammen und verkündete seinen Entschluß. Bekundeten die anderen durch laut vernehmliches Zischen ihre Zustimmung, war der vorherige Häuptling kein Thema mehr. Er mußte abtreten und künftig die Arbeit seines Nachfolgers übernehmen. Während Pakkumas »Amtsperiode« hatte es nur zweimal jemand gewagt, ihn zum Rücktritt aufzufordern. Doch die übrigen Echsen hatten beiden Herausforderern die Gefolgschaft verweigert. Nekkrio schrieb die Beliebtheit seines Bruders nicht dessen Stärke und Unnachgiebigkeit zu - sondern dem Whuu. Solange sich Pakkuma im Besitz des Whuu befand, würde es keinen Machtwechsel geben. Nekkrio mußte es daher entweder zerstören (wobei der Verdacht sofort auf ihn gefallen wäre), oder es mußte ihm gelingen, ein zweites Whuu aufzustöbern, noch prächtiger als das erste. Pakkuma hatte das Whuu in jungen Jahren zufällig unter einer Baumwurzel entdeckt, nicht weit entfernt vom Dorf. Voller Stolz hatte er es überall herumgezeigt und behauptet, die Stammesgötter höchstpersönlich hätten es an diesen Platz gelegt - als Geschenk für ihn, den künftigen Häuptling des Stammes. Der damalige An führer hatte daraufhin seine Hütte räumen und mit Pakkumas Unterkunft Vorlieb nehmen müssen. Seitdem war Nekkrios Bruder der uneingeschränkte Herrscher der Lekkraner. Dem Whuu wurden magische Kräfte zugeschrieben, was allerdings nie bewiesen worden war. Pakkuma behauptete, dem Stamm könne nichts Böses geschehen, solange sich das Göttergeschenk in seiner Hütte befand - und niemand hatte diese Behauptung je widerlegt. Wie auch? Den Lekkranem war es unter seiner Herrschaft durchgehend gutgegangen. Erst seit der Himmel in Flammen stand, geriet Pakkuma in Bedrängnis. Zwar hatte er seinen Untertanen glaubhaft versichert, daß die Stammesgötter die Feuerdämonen schon bald wieder vertreiben würden, doch je länger der Himmel brannte, um so mehr Echsen verloren den Glauben an die Magie des Whuu. Nekkrio witterte hierin seine Chance. Wem es jetzt gelang, die Flammen zum Erlöschen zu bringen, der hatte gute Aussichten, Stammesoberhaupt zu werden. Aber auch er war gegenüber den Dämonen machtlos. Er fürchtete sich genauso vor ihnen wie der Rest des Stammes und wagte es nicht einmal, das Dorf zu verlassen, so wie es sein Bruder allen angeraten hatte. Ein paar vereinzelte Stammesangehörige hatten den guten Rat in den Wind geschlagen. Nekkrio hatte Mokkzera fortgehen sehen. Tikkum war ihr kurz darauf gefolgt. Auch
der Heiler war nicht im Dorf geblieben. Nun kam Ikkol zurück. Zusammen mit Tikkum, den er beim Gehen stützen mußte, da er sich kaum auf den Beinen halten konnte. Offensichtlich war Tikkum schwer verletzt. Nekkrio eilte zu ihnen. Er half mit, den Verletzten in Ikkols Hütte zu bringen. Der Heiler nahm einen Heiltrunk aus seinem Regal und flößte ihn Tikkum ein. Daraufhin fiel der Patient in einen tiefen Schlummer. Ikkol versorgte seine Wunden mit Kräuterauflagen. Tikkum sei in die Fänge eines Oxx geraten, der ihn beinahe getötet hätte, berichtete der Heiler. Erst als er, Ikkol, hinzugekommen sei, habe das Oxx von seinem Opfer abgelassen und das Weite gesucht. Das Oxx war das größte und gefährlichste Tier, dem die Lekkraner je begegnet waren. Oxx lebten nicht in Rudeln, sie waren Einzelgänger. Wann immer sich eins ins lekkranische Revier verirrte, gingen ihm die Echsen möglichst aus dem Weg. Zu früheren Zeiten hatten sich die Oxx nie für die Lekkraner interessiert. Zu ihrer bevorzugten Jagdbeute hatten die Slaat gezählt. Dann hatte es überraschend einen schrecklichen Zwischenfall gegeben. Ein Pflanzensammler war hinterrücks von einem Oxx angegriffen und übel zugerichtet worden. Alles war so schnell gegangen, daß das Opfer kaum etwas mitbekommen hatte. Nur einer hatte seinerzeit alles deutlich gesehen: Ikkol hatte den Kampf nach eigener Darstellung aus der Feme beobachtet und war gerade noch rechtzeitig hinzugekommen. Er hatte das lärmempfindliche Oxx mit lauten Rufen verjagt und sich fürsorglich des Schwerverletzten angenommen. Und nun hatte sich das ganze Dilemma ein zweitesmal abgespielt, an einem anderen Platz, mit einem anderen Opfer. Nekkrio verließ die Hütte des Heilers, um die Neuigkeit im Dorf zu verbreiten. Die Rettung der Menschheit lag in meinen metallenen Händen. Nun ja, vielleicht nicht die Rettung der gesamten Menschheit, aber immerhin die ihres obersten Anführers. Irgend jemand mußte ihm schließlich aus der Patsche helfen, und außer mir war keiner mehr übrig. Gisol stand noch immer im Bann des geheimnisvollen, gepulsten Strahls. Seine zuckenden Bewegungen wurden langsamer. Offenbar gelang es ihm, die Schmerzen, die man ihm zufügte, unter Kontrolle zu bekommen. Leider sah ich keine Möglichkeit, ihn zu befreien. Zwar »verschmähte« mich der Strahl, doch sobald ich den Arm ausstreckte, um den Worgun dort herauszuholen, wurde von irgendwoher ein Kraftfeld aktiviert, das jede Berührung verhinderte. Ich beschloß, mich auf direktem Wege mit dem Zentralrechner in Verbindung zu setzen. Bestimmt kein leichtes Unterfangen. Falls nämlich Doorns Theorie zutraf, war das Ding sogar noch stärker als der Checkmaster. Der außergewöhnliche Zentralcomputer der POINT OF flößte mir, wenn ich ehrlich war, schon genug Respekt ein. War dieser Rechner hier tatsächlich noch leistungsfähiger? Wenn ja, dann konnte ich mich gleich auf einiges gefaßt machen. Normalerweise war Respekt ein Fremdwort für mich. Mein Daseinszustand als lebende, schmerzunempfindliche und nahezu unverwüstliche Maschine war mir zu jeder Sekunde des Tages bewußt. Die Menschen mit ihren anfälligen Körpern und ihren begrenzten geistigen Fähigkeiten waren mir in vielen Punkten unterlegen. Kein Wunder also, daß ich mich ihnen gegenüber manchmal ein wenig zu herablassend benahm. Meine offenherzige und wirklich beste Freundin Jamie Savan-nah, die nie ein Blatt vor den Mund nahm, bezeichnete mich deshalb als arrogant und selbstgefällig. Ich hatte ihr vor meinem Start ins All Besserung gelobt und mir fest vorgenommen, mich in die Gruppe einzufügen. Das klappte inzwischen einigermaßen, konnte aber noch besser werden. Alleingänge lagen mir halt mehr als Teamwork. Hatte doch schon Friedrich von Schiller in seinem Schauspiel >Wilhelm Tell< geschrieben: »Der Starke ist am mächtigsten allein.« Allerdings gab es auch in meinem (noch verhältnismäßig kurzen) Leben Momente, in denen ich mir schwach und unzulänglich vorkam. Beispielsweise, wenn ich in der Zentrale der POINT OF stand und hinaus in die unergründlichen Weiten des Universums blickte. Dann begriff ich, was für ein unwichtiges Staubkörnchen ich in Wahrheit war. Beim Betreten dieser unterirdischen Anlage hatte mich ein ähnliches Minderwertigkeitsgefühl befallen. Was mußten das für mächtige Wesen sein, die in der Lage waren, etwas derart Gigantisches zu erschaffen? Da konnte selbst ich nicht mithalten. Dieselben Wesen hatten einst den Zentralrechner programmiert und ihn mit einer Strahlenwaffe ausgestattet, die es ihm ermöglichte, organisches Leben an einen anderen Ort zu schicken. Zumindest hoffte ich, daß sich Dhark, Doorn und Sass momentan anderswo aufhielten - und nicht unwiederbringlich in ihre Atome aufgelöst worden waren. Mit Gisol schien der seltsame Strahl seine Probleme zu haben. Allem Anschein nach widersetzte sich seine nichtmenschliche Körperstruktur der Auflösung. Oder man unterzog ihn gerade einer intensiven, schmerzhaften Überprüfung. Was genau mit ihm passierte und wo die Verschwundenen abgeblieben waren - der fremde Rechner sollte mir darüber Auskunft geben. Ich war fest entschlossen, ihn zu einer Antwort zu zwingen. Es mußte mir
gelingen! Schließlich hatte ich schon die härtesten Brocken geknackt.
Im übrigen brauchte ich endlich ein Erfolgserlebnis, denn ich hatte mich bei den fliegenden Rochen, den
kubusförmigen Appa
raten und den Wartungsrobotern nicht gerade mit Ruhm beklekkert.
Zunächst sandte ich ein Suchsignal aus, um mich mit dem Zentralrechner auf eine gemeinsame Frequenz und
eine einheitliche Signalsprache zu verständigen.
Offensichtlich war er, soweit es mich betraf, nicht sehr kommunikativ. Obwohl ich spürte, daß er meine
Anwesenheit wahrnahm, ignorierte er mein Ersuchen. Mir kam es vor, als würde er gerade mit jemand
anderem kommunizieren und mich dabei als unerwünschten Störenfried betrachten.
Daraufhin verstärkte ich meine Bemühungen. Unablässig probierte ich es weiter. Ich feuerte ein regelrechtes
Signalbombardement auf ihn ab. Gleichzeitig suchte ich nach einer Möglichkeit, ihn zu manipulieren und
den Strahl abzuschalten.
Meine Aktivitäten mißfielen dem Rechner.
Hör auf damit! herrschte er mich unwirsch an. Merkst du nicht, daß ich beschäftigt bin?
Abrupt brach die Verbindung ab.
Obwohl wir für unseren Gedankenaustausch die »tote Sprache« der Funksignale verwendeten, bildete ich mir
ein, Emotionen zu verspüren. Der Rechner ärgerte sich offensichtlich über die Belästigung. Hätte ich mit
einem selbständig denkenden Lebewesen kommuniziert, hätte ich die schlechte Laune seinem Arbeitsstreß
zugeschoben. Aber Streß bei einer seelenlosen Maschine? Seit wann litten Computerchips an Überarbeitung?
Ich machte mich bereit für den nächsten Kontaktversuch - hartnäckig wie ein Unterhaltungssoftwarevertreter,
der sich nicht einfach so an der Tür abwimmeln ließ.
Völlig unerwartet erlosch der Strahl.
Gisol brach lautlos zusammen. Ob er schwer verletzt oder nur bewußtlos war, konnte ich nicht ermitteln. In
meinen Speichern gab es keine medizinischen Kenntnisse über das Volk der Worgun. Noch nicht - ich lernte
aber laufend dazu.
Da ich für Gisol vorerst nichts tun konnte, versuchte ich aufs
neue, mit dem Zentralrechner in Verbindung zu treten. Immer und immer wieder... Was willst du? fragte er mich zornig. Zornig? Unmöglich. Maschinen gerieten niemals in Zorn. Mit Ausnahme von mir natürlich, aber ich war ja eine ganz besondere Maschine. Ich war ich. Erinnerungen wurden in mir wach. Auf dem Mars hatte ich mich mit einem hochintelligenten, aber sehr eigensüchtigen Computer herumstreiten müssen, dessen Roboterarmee mich hatte auseinan-demehmen wollen. Wüßte ich nicht genau, daß er im Verlauf unserer Auseinandersetzung vollständig zerstört worden war... Was willst du? fuhr mich der Zentralrechner erneut an. Informationen! erwiderte ich. Ich will wissen, wo meine drei Begleiter sind, die du entführt hast! Die Antwort lautete: Bei meinen Freunden, wo sie nicht stören! Was für Freunde? hakte ich nach - doch von der anderen Seite kam keine Reaktion mehr. Dafür kam etwas anderes, nämlich Gisol zu sich. Er stand auf. Zumindest sah es so aus; bei seiner unförmigen Gestalt war das nur schwer erkennbar. Benommen schaute er sich nach allen Seiten um. Scheinbar hatte er Mühe, die geistige Orientierung wiederzufinden. »Ich fühle mich, als hätte man mein Innerstes nach außen gekehrt«, sagte er nach einer Weile mit schwacher Stimme. Ich erklärte ihm, was geschehen war. »So springt niemand mit mir um«, entgegnete er. »Auf den nächsten Angriff bin ich besser vorbereitet.« Seine Stimme klang jetzt fester, und es schwang ein drohender Unterton mit. Ich war heilfroh, daß er nicht mein Feind war. Gisol erstarrte kurz, konzentrierte sich und nahm dann eine völlig neue, sehr fremdartige Form an. Eine passende Bezeichnung dazu fiel mir auf die Schnelle nicht ein. Am treffendsten war wohl: Undefinierbarer vierbeiniger Humanoider mit mehreren tentakelähnlichen Auswüchsen.
»Meine Arbeitsgestalt«, erklärte er mir. Wieder einmal wurde mir bewußtgemacht, daß ich alles andere als perfekt war. Gisols Körper mochte verletzbarer sein als meiner, dafür aber konnte er ihn jederzeit umgestalten. Auf Ästhetik legte er dabei offenbar keinen gesteigerten Wert. Praktische Gesichtspunkte waren ihm wichtiger. Der Mysterious wurde mir immer sympathischer, je länger ich ihn kannte. Vielleicht konnten wir ja Freunde werden. Viele hatte ich bislang noch nicht. Die Fernfahrerin Jamie Savannah, ihr handwerklich begabter Neffe Frank Buscetta, der Sternschnuppen-Kapitän Roy Vegas... nicht zu vergessen die freundlichen Siedler, die ich auf dem Mars kennengelernt hatte. Alle übrigen waren entweder Vorgesetzte oder Kameraden. Hinzu kam eine größere Schar von Bewunderern, von denen mich die meisten allerdings nur aus den Medien kannten. Na ja, eigentlich war das gar keine schlechte »Ausbeute« für jemanden, der gerade mal knapp sieben Monate alt war. Gisol begann, mit seinen seltsamen Extremitäten das riesige Schaltpult abzutasten und einige Steuerschalter zu betätigen. Manchmal zog er seine Tentakel ein und ließ sie an anderer Stelle neu wachsen. Und seine Sinnesorgane tauchten jedesmal dort am Körper auf, wo sie ihm gerade am nützlichsten waren. Faszinierend! Der Zentralrechner ließ ihn diesmal gewähren. Vielleicht ahnte er, daß es besser für ihn war, den Worgun kein zweitesmal anzugreifen.
Nicht zum erstenmal hatte Häuptling Pakkuma das Gefühl, die Verantwortung für sein Volk würde ihn erdrücken. Solange es allen gutging, behandelten sie ihn mit der ihm zustehenden Ehrerbietung. Aber sobald Probleme auftauchten, gaben sie ihm durch unwilliges Benehmen zu verstehen, wie wacklig sein Steinthron im Grunde genommen war. Pakkuma wußte, daß sein Bruder bereits die Hand nach der Macht ausstreckte. Der Flammenhimmel jagte den Lekkranern entsetzliche Furcht ein, und früher oder später würde Nekkrio diese Angst für sich nutzen. Das konnte Pakkuma nur verhindern, wenn die Götter das Feuer zum Erlöschen brachten. Warum griffen sie nicht endlich ein? Waren die Dämonen, die den Himmel entzündet hatten, womöglich die Stärkeren? Obwohl kein lebender Lekkraner je einen Gott oder Dämon zu Gesicht bekommen hatte, waren sie tief in ihrem Inneren überzeugt, daß Gut und Böse in persona existierten - als unsichtbare Schemen, die sich ständig gegenseitig bekämpften. Die Götter sorgten für ausreichend Pflanzennahrung und Aas, sie hielten den Stammesfrieden aufrecht, und sie hatten dem Volk das Whuu geschenkt. Die Dämonen hingegen verbreiteten Zwist, Neid, Kummer und Schmerz. Daß Tikkum von einem Oxx angefallen worden war, schrieb Pakkuma ebenfalls dämonischen Einflüssen zu. Nekkrio hatte ihm davon erzählt. Daraufhin hatte sich Pakkuma in die Hütte des Heilers begeben, um nach Tikkum zu schauen. Als der Häuptling wieder herauskam, verspürte er ein Gefühl der Übelkeit. Diesmal hatte das Oxx sein Opfer noch schlimmer zugerichtet als beim letzten Überfall. Woher wußte es nur so genau, wo die Schwachstellen der Lekkraner zu suchen waren? Normalerweise boten die Schuppenpanzer ihren Trägern einen fast perfekten Schutz. Jetzt zeigte sich wieder einmal, wie wichtig es war, daß der Stamm über einen Heiler verfügte. Pakkuma nahm sich (nicht zum erstenmal) vor, Ikkol in Zukunft nicht mehr ganz so herablassend zu behandeln. Tikkum tat ihm leid. Andererseits: Hatte er nicht allen Dorfbewohnern den Rat gegeben, in ihren Hütten zu bleiben, bis das böse Omen vom Himmel verschwunden war? Warum hatte Tikkum nicht auf ihn gehört? Nun mußte er für seinen Leichtsinn büßen. Pakkuma rief sein Volk zusammen. Er stellte sich mitten auf den runden Dorfplatz und stieß ein lautes Gebrüll aus. Seine mächtige Stimme drang bis in alle Hütten. Schon vor Ewigkeiten waren die Häuser im Kreis aufgestellt worden, und so war es bis heute geblieben. Warum ihre Vorfahren diese Architekturform gewählt hatten, konnten die gegenwärtigen Echsen nur vermuten. Sehr wahrscheinlich hatten sich die Uriek-kraner dabei an den heiligen blauen Pfählen orientiert und ihre Hütten um den Pfahlkreis herum gebaut. Nach und nach fanden sich sämtliche Lekkraner auf dem Dorfplatz ein. Lediglich Mokkzera fehlte, sie war noch nicht heimgekehrt. Einige Echsen unkten, ihr könnte ebenfalls etwas zugestoßen sein. Pakkuma warnte nochmals davor, das Dorf zu verlassen. Daraufhin machten zahlreiche Echsen ihren Ängsten und ihrem Unmut Luft. Es wurde offen bezweifelt, daß der Häuptling mit den Flammendämonen fertigwerden würde. Man befürchtete gar, das Whuu habe seine Wirkung verloren, weil die Götter den Stamm im Stich gelassen hatten. Pakkuma ging zornig dagegen an, sprach von Frevel. Doch die Echsen, fortwährend aufgestachelt von Nekkrio, wollten sich nicht beruhigen. Zu einer Eskalation des Streits kam es nicht. Mokkzera, die atemlos ins Dorf gerannt kam, zog die Aufmerksamkeit auf sich. Aufgeregt zischend berichtete sie, daß fremdartige Aufrechtgehende die Anhöhe heraufkämen. Sie hätten keinen Panzer, eine unnatürliche Kopfform, wären erschreckend bleich und auch sonst von abgrundtiefer Häßlichkeit. Pakkuma befahl seinem Volk, sich in die Hütten zu begeben und zu bewaffnen. Er ordnete an, erst anzugreifen,
wenn die Fremden die innere Abgrenzung überschreiten und versuchen würden, ins Dorf einzudringen.
Insgeheim hoffte er, sie würden auf der Anhöhe umkehren und die Lekkraner in Frieden lassen.
hark, Doorn und Sass standen im Freien - und das gleich in
eierlei Hinsicht.
erstens befanden sie sich an der Oberfläche des Planeten.
Und zweitens...
»Bitte jetzt keine faulen Witze über die militärischen Bekleidungsvorschriften«, knurrte Arc Doorn. »In
bestimmten Situationen ertrage ich keinen Humor.«
»Was für Situationen sind das?« fragte Bram Sass.
»Alle«, erwiderte der Sibirier.
Sass und Doorn standen sich gegenüber wie Gott sie geschaffen hatte und wie er sie, laut einem Bluessänger des
vorigen Jahrhunderts, einst vor dem Himmelstor wiedersehen würde: nackt.
Auch Ren Dhark hatte keinen Fetzen mehr am gestählten Leib.
Während der sportlich veranlagte Commander und der gut durchtrainierte Cyborg kein überflüssiges
»Pölsterchen« aufwiesen, war Doorns Anblick ziemlich gewöhnungsbedürftig. Für regelmäßiges Fitneßtraining
nahm er sich nie die Zeit, das fand er total überflüssig.
Die drei befanden sich auf einer kleinen Anhöhe, inmitten einer blühenden, einstmals künstlich angelegten
Landschaft. Zu Füßen der Erhebung erstreckte sich ein weit ausladender Park.
Und mitten im Park reckte sich eine imposante, auf einem niedrigen Sockel stehende goldene Statue gen
Flammenhimmel.
Die Statue stellte eine riesige aufrechtgehende Echse dar, deren Rückrat in einen mächtigen Schwanz überging,
der bis hinab zum Sockel reichte. Offensichtlich diente er der Echse zum Abstützen des schweren Körpers,
beziehungsweise zur Auslotung des körperlichen Gleichgewichts beim Gehen. Sass bezeichnete ihn als
»Stützschwanz oder drittes Bein«.
Vor dem Sockel wuchsen Laubbäume, eine ansehnliche Anzahl, aber zu wenige, um von einem Wald zu
sprechen. Davor befand sich ein primitives, kreisförmig angelegtes Hüttendorf. Die ver
mutlich mit einfachen Werkzeugen errichteten Häuser bestanden überwiegend aus Holz, Gras und Lehm - was
aus der Ferne zunächst nur unzureichend erkennbar war.
»Ein S-Kreuzer«, murmelte Arc Doorn.
»Wo?« fragte Dhark verblüfft.
»Nirgends, ich habe nur laut gedacht«, erwiderte Doorn. »Mir fiel auf, daß der Kreis aus Totempfählen, die in
der Dorfmitte aufgestellt wurden, in etwa den Durchmesser eines S-Kreuzers hat. Die Pfähle sind derart perfekt
angeordnet, daß man meinen könnte, der Architekt hätte einen riesigen Zirkel angesetzt, um die exakten
Ausmaße eines Ringraumers nachzuzeichnen.«
»So genau kann man das auf diese Entfernung gar nicht abschätzen«, meinte Ren Dhark.
»Ich schon«, widersprach Bram Sass. »Wenn ich aufs Zweite System umschalte, kann ich die Maße des Kreises
von hier aus akkurat berechnen.«
»Einfacher war's, wir steigen hinunter und begutachten das Dorf aus der Nähe«, schlug der Commander vor und
ging los, ohne eine Erwiderung abzuwarten. Auch ohne Uniform war klar, wer hier die Befehle gab.
Dhark genoß die wenigen Augenblicke der Stille und des Friedens. Der brennende Himmel tauchte die
komplette Umgebung in ein unheimliches, zugleich aber auch anheimelndes Licht, das irgendwie beruhigend auf
menschliche Gemüter wirkte. Alle drei spürten jedoch, daß dieses Gefühl trügerisch war. Es war lediglich die
vielzitierte Ruhe vor dem Sturm, die sie umgab.
Sass deutete auf den Erdboden. Zu seinen Füßen zog sich eine ungefähr ein Meter breite und fünfzig Zentimeter
tiefe Furche entlang, gefüllt mit einer bräunlichen, übelriechenden Flüssigkeit. Wo die Furche begann und wo sie
endete war nicht zu erkennen, da sie teilweise von hohem Gras und dornigen Pflanzen überwuchert war.
»Könnte der Abwasserkanal des Dorfes sein«, vermutete der Cyborg.
»Oder die Grenzlinie«, entgegnete Dhark. »Theoretisch könnte sich der Graben rund ums Dorf erstrecken.
Möglicherweise enthält er irgendeine giftige Substanz, mit der wir besser nicht in Berührung kommen sollten.«
Nacheinander übersprangen sie den Graben.
• Bis zu diesem Moment hatte es ausgesehen, als stünde das Dorf leer. Plötzlich wimmelte es dort nur so von Gestalten. Wie auf ein geheimes Signal stürmten sie aus ihren Hütten, bewaffnet mit Speeren und keulenähnlichen Nahkampfwaffen. Diesmal fragte Sass erst gar nicht, ob er phanten sollte. Er aktivierte das Zweite System und stellte sich schützend vor seine Begleiter. Mit geschärftem Blick registrierte er jede Einzelheit der Angreifer, die noch weit entfernt waren. »Es sind Echsenwesen«, sagte er zu den anderen. »Sie sehen aus wie die Statue, nur wesentlich kleiner, etwa l ,80 Meter groß. Ihre Schuppen schimmern grünlich und scheinen aus einem festen Bio-material zu bestehen. Wahrscheinlich dienen sie ihnen als Schutzpanzer. Bekleidet sind die Echsen nur mit einem Lendenschurz. Offenbar ein recht primitiver Stamm.« »Der aber immer noch mehr an hat als wir«, bemerkte Dhark. »Ob sie uns wohl drei von den Kleidungsstücken ausleihen?« Er erwartete keine ernsthafte Antwort darauf. Die Feindseligkeit der aufrechtgehenden Echsen sprach für sich.
Noch war genügend Zeit zum Weglaufen. Dennoch blieben die Freunde stehen. In jedem von ihnen steckte ein
gewisses Maß an Forscherdrang - und forschen konnte nur der, der auch dann am Ort des Geschehens verweilte,
wenn es gefährlich wurde.
Kaum war das erste Echsenuntier nahe genug heran, warf es seinen Speer auf das Trio. Bram Sass fing den
Holzspeer mit der linken Hand so lässig, als | hätte er jahrelang für diesen Moment geübt. Anschließend packte
er auch mit rechts zu und zerbrach die primitive Waffe in der Mitte. Beide Teile warf er achtlos beiseite.
Drei weitere Speere kamen angeflogen.
Der Cyborg bewegte seine Arme derart schnell, daß seine beiden Begleiter Mühe hatten, den Vorgang
nachzuvollziehen. So lautlos wie sie gekommen waren, flogen die Speere wieder zu ihren Werfern zurück und
landeten direkt vor ihnen mit der Spitze voran im lockeren Erdreich.
Was dann folgte war so schrecklich, daß sich Dhark und Doorn die Ohren zuhalten mußten. Sass stieß einen
drohenden Laut aus, eine Mischung aus Kamelgebrüll und den Kampfschreien chinesischer Shaolin-Mönche.
»Drehen Sie jetzt völlig durch?« schimpfte Doorn, nachdem der Schrei verebbt war.
Sass antwortete ihm nicht. Mit unbeweglicher Miene registrierte er, daß sein Verhalten die gewünschte Wirkung
erzielte. Die Wilden blieben erschrocken stehen und senkten ihre Waffen.
Dharks geschulter Kampfinstinkt meldete sich. Er spürte, daß irgend etwas nicht stimmte.
»Unten im Dorf waren es viel mehr Echsen«, sagte er. »Es fehlt mindestens die Hälfte.«
Ein lautes, mehrstimmiges Zischen ließ ihn und seine Begleiter herumfahren. Beim Sturm der Anhöhe hatten
sich die Echsen getrennt. Die zweite Gruppe hatte sich im Schutz der hohen Gräser von hinten an die Menschen
herangeschlichen.
Mit unmißverständlichen Drohgebärden hielten ihnen die Echsen ihre Speere entgegen. Auch die erste Gruppe
hob die Waffen und kam näher.
»Kämpfen wir uns den Weg frei?« fragte Sass, der in gephantetem Zustand nahezu unverwundbar war.
Dhark war dagegen. »Es sind zu viele. Das gäbe ein blutiges Gemetzel mit Ungewissem Ausgang. Im übrigen
tragen die Echsen Schuppenpanzer, während wir nackt und somit verhältnismäßig schutzlos sind. Wir ergeben
uns erst einmal und sehen dann wei-
Er hob die Arme. Die anderen beiden folgten seinem Beispiel.
Offensichtlich akzeptierten die Echsen die Unterwerfung ihrer refangenen nicht. Sie machten Anstalten,
anzugreifen. pwei von ihnen warteten den Angriffsbefehl erst gar nicht ab ^und gingen ohne viel Federlesens
wütend auf Arc Doorn los.
Beide mußten feststellen, daß auch der etwas kräftiger gebaute Fremde kein leichter Gegner war. Are ließ
mehrere harte Faustschläge und Ellbogenstöße auf sie niederprasseln. Dabei konzentrierte er sich auf ihren
Gesichtsbereich, der nicht durch Panzerschuppen geschützt war.
Dhark nahm die Arme herunter, um Schlimmeres zu verhüten.
»Nehmt die Hände auf den Rücken!« befahl er seinen Begleitern. »Scheinbar empfinden sie erhobene Arme als
Bedrohung. Wir müssen ihnen unmißverständlich klarmachen, daß wir uns ergeben wollen.«
Seine Taktik ging auf. Die aufgebrachten Echsen beruhigten sich wieder ein wenig.
Unter ständigem Zischen - vermutlich Echsengejohle - wurden die Gefangenen mit vorgehaltenen Speeren ins
Hüttendorf gebracht.
Beim Näherkommen heftete sich Dharks Blick auf die hohen blauen Pfähle, die in geordneten Abständen vor
den kargen Behausungen aus dem Boden wuchsen und einen eigenen Kreis bildeten. Er schätzte ihre Anzahl auf
ungefähr vierzig Stück. Die Hütten waren um den Pfahlkreis herum errichtet worden.
Doorn waren die Pfähle schon auf der Anhöhe aufgefallen. Man hatte ihnen allerdings keine besondere
Bedeutung zugemessen und sie für eine Art Totem gehalten, für von Zweigen befreite Baumstämme mit einem
Schnitzwerk in Form einer Scheibe auf der Spitze.
Jetzt erkannte Ren seinen Irrtum. Die Pfähle waren gar keine Bäume. Sie bestanden nicht aus Holz, sondern aus
einem unverkennbar blauviolettschimmemden Material, das dem Commander
wohlbekannt war.
UnitalL
Dhark schaute abwechselnd zu Sass und Doorn, die ihm kurz zunickten. Auch sie hatten inzwischen bemerkt,
was dort in regelmäßigen Abständen aus dem Boden ragte: Die auf dem Kopf stehenden Landestützen eines
Ringraumers - mitsamt den Landetellern.
»Jrrgnail oburtuzz ergenrathh!«
Die Sprache, in welcher der Anführer der Echsen, der die anderen um eine Haupteslänge überragte, seinem Volk
eine Rede hielt, hörte sich für menschliche Ohren an wie die letzten Worte eines Todkranken. Zischen, Röcheln,
Krächzen - alle möglichen Spielarten der Artikulation kamen hier zum Zuge. Ab und zu glaubten die drei
Gefangenen, zusammenhängende Worte herauszuhören, die allerdings keinerlei Sinn zu ergeben schienen.
Mit der Gestik des Redners konnten sie schon mehr anfangen. Immer wieder deutete er zum Himmel und blickte
anschließend mit bedrohlicher Miene auf die Fremden, die nackt vor seinem Thron standen.
Thron war eigentlich übertrieben. Der mit seltsamen, eingekratzten Schriftzeichen versehene Felsblock, auf dem
der Echsenhäuptling Platz genommen hatte, verfügte zwar über eine halbwegs ebene Sitzfläche, aber über keine
Lehne. Möglicherweise diente er noch anderen Zwecken, beispielsweise als Opferstein.
Die Echsen saßen im Kreis um den Thron herum und hörten gespannt zu. Wann immer sich der Anführer an sein
Volk wandte, gebrauchte er denselben Ausdruck, der sich den Menschen allmählich einprägte. Doorn versuchte
schließlich, aus den sich wiederholenden Lauten ein Wort zu formulieren.
»Legacher«, sagte er leise. »Wahrscheinlich ist das der Name des Stammes.«
»Könnte sein«, entgegnete Sass. »Allerdings ist im Mittelteil des Namens ein K enthalten, das wird überdeutlich
betont. Danach folgt ein rollender Ton, vielleicht ein R.«
»Könnten wir uns auf >Lekkraner< einigen?« flüsterte Dhark. »Ich glaube, das klingt am ähnlichsten.«
Der Echsenanführer riß seinen Rachen auf und zischte den Gefangenen etwas Undeutliches zu. Obwohl sie seine
Sprache nicht beherrschten, wußten sie auch so, was er meinte: schweigt!
Eine verbale Verständigung unter den dreien war eh nicht nötig. Jeder von ihnen konnte sich inzwischen seinen
Reim auf die Geschehnisse machen. Die Lekkraner empfanden das Phänomen des brennenden Himmels offenbar
als ein böses Zeichen und suchten nun nach Schuldigen. Die Fremden kamen ihnen dabei gerade recht.
Der Echsenhäuptling machte eine Handbewegung. Mehrere Echsen ergriffen die Gefangenen, zerrten sie zu drei
Pfählen aus Unitall und banden sie mit Schlingpflanzen, die in die Handgelenke schnitten, daran fest.
»Können Sie die Fesseln sprengen, Bram?« rief der Commander dem Cyborg zu.
»Jederzeit«, antwortete Sass. »Soll ich kurzen Prozeß mit den Wilden machen?«
»Wir warten bis zum letztmöglichen Moment«, ordnete Dhark an. »Erst wenn wir keine andere Wahl mehr
haben, befreien Sie sich und uns, und wir gehen zum Angriff über.«
Die Echsen entzündeten in der Dorfmitte mehrere Feuerstellen. Anschließend teilten sie sich in Gruppen auf und
tanzten zu einem wirbelnden Trommelstakkato um die Flammen herum.
Allmählich wurde die Musik ruhiger, der Tanz langsamer. Der Lärm ebbte immer mehr ab. Den Gefangenen war
es dadurch möglich, sich durch Zurufe untereinander zu verständigen.
Arc Doorn setzte zu einer ärgerlichen Bemerkung an, aber Ren Dhark kam ihm zuvor.
»Wie lange wollen wir dieses kindische Affentheater eigentlich
noch mitmachen? Sind wir hierhergekommen, um uns die folkloristischen Darbietungen unterentwickelter
Völker anzuschauen? Wann besorgen wir uns endlich was zum Anziehen? - War es in etwa das, was Sie mich
fragen wollten, Are? Na schön, ich werde Ihnen die Antworten nicht schuldig bleiben.
Erstens: Ich weiß nicht, wie lange das ganze hier noch dauert. Bevor wir drastische Maßnahmen ergreifen,
warten wir weiterhin ab. Vielleicht bietet sich ja eine Gelegenheit zur Flucht ohne Blutvergießen.
Zweitens: Ich persönlich finde es recht interessant, das Verhalten des Echsenstammes zu studieren. Wie lange
leben diese Wesen wohl schon auf diesem Planeten? Haben sie sich freiwillig hier niedergelassen, sich gar hier
entwickelt, oder wurden sie zwangsweise angesiedelt? Und wie kamen sie in den Besitz der Unitall-stützen, an
die man uns gefesselt hat? Die Landestützen gehören ohne jeden Zweifel zu einem S-Kreuzer. Was ist mit der
Besatzung jenes Kreuzers passiert? Wurde sie von den Lekkranern umgebracht? Eine Menge Fragen, die sich
vielleicht von selbst beantworten, wenn wir das Geschehen um uns herum in aller Ruhe beobachten und
analysieren.
Drittens: Es herrschen keine eisigen Temperaturen. Sie werden es daher noch ein Weilchen ohne Kleidung
aushallen, Are.«
»Ich habe doch überhaupt nichts gesagt!« erwiderte der Sibirier.
»Sie wollten aber«, konterte der Commander. »Ich kenne Sie gut genug, um Ihre Gedanken zu erraten. Entweder
mimen Sie den großen Schweiger, oder Sie meckern an allem herum. Keiner von uns hat sich diese Situation
ausgesucht, also bleibt uns nichts anderes übrig, als das Beste daraus zu machen. Im übrigen haben wir schon
viel tiefer in Problemen gesteckt.«
Die Echsen verhinderten jede weitere Unterhaltung, indem sie die Musik wieder anschwellen ließen und dabei
einen merkwürdigen Gesang anstimmten. Ihre selbstgefertigten Trommeln waren von Tierhäuten überzogen. Der
Klang hatte etwas Deprimierendes an sich, das den Gefangenen aufs Gemüt schlug. Eine Melodie war
nicht erkennbar, nur ein beklemmender Rhythmus, der sich ständig wiederholte.
Abrupt brach der unheimliche Singsang ab, und die Trommeln schwiegen. Die Tänzer blieben wie erstarrt auf
dem Fleck stehen, so als hätte jemand die spukhafte Szenerie mittendrin eingefroren.
Nach einer Weile setzte das rhythmische Getrommel erneut ein, erst leise, dann immer lauter. Der Tanz um die
Feuerstellen wurde fortgesetzt, wobei sich die Lekkraner wie im Zeitlupentempo bewegten.
Arc Doorn hatte das Gefühl, allmählich den Verstand zu verlieren. Im Vordergrund nervten ihn die Trommeln,
und irgendwo in der Feme schien ein ganzes Orchester aufzuspielen.
Mehrere bewaffnete Echsen näherten sich den Gefesselten in drohender Haltung. Es war Zeit für die Opfergabe
an die Flammendämonen. ..
»Die verdammte Trommelei macht mich noch ganz wahnsinnig!« schrie Doorn gegen den Lärm an. »Jetzt bilde
ich mir schon ein. Wagnerklänge zu hören!«
»Das ist keine Einbildung!« rief Ren Dhark zurück. »Es ist der >Ritt der Walküre< aus dem Zyklus >Der Ring
des Nibelungen
»Noch nichts zu erkennen?« kam die Anfrage aus der CHARR.
»Nein!« antwortete Lern Foraker an der Steuerkonsole des Beibootes. »Wir sind noch nicht nahe genug
herangekommen. Sobald wir etwas erkennen, werden Sie es unverzüglich erfahren - ich halte die Phase offen.«
»Verstanden! Machen Sie es so. Lern!«
Die Anspannung der Nerven, diese Folge quälender Ungewißheiten, die Gedanken an Tod und Untergang
innerhalb des atomaren Glutofens einer Sonne brachen jetzt durch. Während Lern Foraker nun doch ein wenig
nervös wurde, bewies Skett, daß er entweder ungerührt war oder sich mustergültig beherrschen konnte.
Schweigend sah der Kobaltblaue die Anomalie innerhalb der Korona näherkommen, zumindest die Stelle, an der
sie von den starken Ortungsgeräten der CHARR lokalisiert worden war.
»Entfernung?« wollte Leroo von seinem Platz aus wissen.
Der Translator um Forakers Hals übersetzte für den Terraner die Antwort Sketts an Leroo.
»Fünftausend Kilometer.«
Sie waren jetzt seit exakt zehn Minuten innerhalb der Exosphäre von Geret, wie der taktische Offizier der
CHARR durch einen Blick auf das Multifunktionsgerät auf seiner Steuerkonsole feststellte. Die
Aufenthaltsdauer innerhalb der Sonnenkorona war auf vier Stunden begrenzt, dann mußten sie wieder zurück im
Raum sein, wollten sie die Mission überleben. Lern Foraker bewegte unbehaglich die breiten Schultern. Obwohl
er sicher war - nun, zumindest redete er es sich ein - daß für das kleine Boot mit der von Chief Erkinsson und
den Meegs angebrachten Abschmelzpanzerung innerhalb der Sonnenkorona für die Dauer von viermal sechzig
Minuten keinerlei Gefahr bestand, war das Wissen, daß außerhalb der Wandungen und der hyperenergetischen
Schirmfelder ein nuklearer Glutofen sozusagen auf Tuchfühlung kochte und brodelte, nicht dazu angetan, seinen
Seelenfrieden zu fördern. Foraker hatte schon einige »Tauchgänge« in die Korona von Sonnen mitgemacht,
wenn es galt, einem übermächtigen Gegner zu entwischen, doch niemals zuvor war er so weit in eine Sonne
eingedrungen, ein Umstand, der seinem Wohlbefinden nicht gerade förderlich war. Er hoffte nur, die Zeit würde
schnell genug vorübergehen, bis sie diesen nuklearen Hochofen mit seiner brüllenden Hitze wieder verlassen
konnten. Sein Blick ließ den Hauptschirm nicht aus den Augen. Das speziell gepanzerte Beiboot der CHARR
bewegte sich augenblicklich wie in einem vom Sturm gepeitschten Ozean aus magnetischem Plasma
unterschiedlicher Dichte und Strömungen. Die Atmosphäre, die Korona des Sterns war ein sich ständig verän
derndes Konglomerat aus Farben und Formen. Ein brodelnder, sich beständig selbst verschlingender,
miasmatischer Höllenkessel, in dem die Nußschale von Erkundungsboot mit ihrer verletzlichen Besatzung
immer tiefer glitt, eintauchte in den kochenden Mahlstrom hochenergetischer Neutronen, als wäre dies lediglich
der Ozean eines Planeten, dessen Grund es zu erreichen galt. Links und rechts des winzigen Staubkorns, den die
Nußschale von Boot in diesem Medium darstellte, erhoben sich riesige Filamente aus eruptierenden
Sonnenfackeln. Schaurig schöne Bogenformationen, die sich aufwölbten, um wenig später wieder
zusammenzufallen, nur um erneut aufzublühen. Gigantische Wolkenströme hochenergetischer Teilchen
wirbelten entlang von Magnetfeldlinien, verschmolzen ineinander und bildeten sich entladende Kurzschlüsse
nicht vorstellbarer Mächtigkeit, die die Partikel ströme energiegeladener Teilchen über den Rand der
Photosphäre in den umgebenden Weltraum schleuderten, wo sie als Sonnenwinde durch das System wanderten.
Ohne Relation zu einem Fixpunkt innerhalb der Sonne schien sich das winzige Boot kaum vorwärtszubewegen,
und dennoch wurde es mit hoher Geschwindigkeit durch die Korona getrieben, auf ein Ziel, auf eine Anomalie
zu, die nur aufgrund abweichender
Spektrallinien lokalisierbar war.
Vor dem Beiboot öffnete sich das »schwarze Loch« eines Sonnenflecks gigantischen Ausmaßes, über dem die
Instrumente die Anomalie registrierten.
Das dunklere Kerngebiet des Sonnenflecks, die Umbra, war fast so ruhig wie das Auge eines Hurrikans. Aber
die umgebenden Randregionen befanden sich in ständiger Bewegung; wie bei einem »umgekehrten« Wasserfall
quollen hochenergetische, magnetisch aufgeladene Plasmaströme über den Rand und erzeugten Turbulenzen, in
denen sich das zerbrechliche Gefährt unruhig bewegte.
Doch der Suprasensor hielt das Beiboot auf Kurs, und der Antrieb, Gravitationsfelder nogkscher Meegkunst,
zwang es über den Rand und weiter hinab in die Tiefe.
»Wie ist der Zustand der Abschmelzpanzerung?« erkundigte sich Lern Foraker bei Skett, ohne den Kopf zu
wenden.
»Liegt bei 92 Prozent«, erwiderte der kobaltblaue Nogk.
Foraker runzelte unmerklich die Stirn. Kurz überschlug er in Gedanken die Zeit, die sie sich bereits in der
Korona aufhielten -und entspannte sich. Vier volle Stunden würde die Sicherung auf alle Fälle ihren Dienst
verrichten. Er nahm sich vor, keine Sekunde länger innerhalb der Sonne zu bleiben, egal, was sie auch an den
errechneten Koordinaten vorfinden würden.
Sekunden später sagte der Meeg: »Noch siebzig Kilometer. Ich schalte Vergrößerungen ein.«
Nacheinander kam ein Strom gebündelter Meßwerte durch. Die ermittelten Werte stimmten bis auf geringfügige
Abweichungen mit den Angaben aus dem Astrolabor der CHARR überein. Das Beiboot drang weiter und weiter in den Koronabereich über dem Sonnenfleck ein, verringerte dabei seine Geschwindigkeit kontinuierlich. Noch war nichts von der Anomalie innerhalb der Korona von Geret zu sehen. Sie war überhaupt eine sehr spröde Genossin. Mal manifestierten sich ihre unverkennbaren Spektrallinien auf den Instrumenten des Bootes, mal verschwand sie gänzlich von den Meßinstrumenten. Eine visuelle Erkennung schien völlig unmöglich. Unbehaglich bewegte sich Foraker in seinem Kontursitz. Seine Hände lagen auf der Manuellsteuerung des Bootes, aber er unterließ es, dem Suprasensor ins Handwerk zu pfuschen, der das kleine Gefährt sicher im
Griff hatte, das sich so unbekümmert inmitten eines der Wunder der Schöpfung bewegte, als wäre es das
Normalste der Welt.
»Ich frage mich...« begann er. Und verstummte sofort wieder, als die Orterwamung eine Folge von
Alarmtönen produzierte.
Forakers Augen flogen über die geschäftig pulsierenden Anzeigen der Konsole.
»Achtung!« ließ sich jetzt Leroo vernehmen; die beiden Fühlerpaare auf dem Libellenkopf des Meeg waren starr
nach vorn gerichtet. Äußeres Zeichen seiner Konzentration. »Fremdes Objekt materialisiert vor uns an
Steuerbord...«
»Entfernung?«
»Dreißig Kilometer!«
»Gib mir eine visuelle Darstellung!« forderte Skett ungeduldig in das Verebben des Warnsignals. »Maximale
Vergrößerung.«
Es war nicht wirklich »dunkel« über dem Sonnenfleck, der aus dem Raum betrachtet nur aufgrund der
niedrigeren Temperaturen der Plasmafelder schwarz wirkte. Tatsächlich bewegte sich das Beiboot durch eine
See aus monochromem, rötlichem Dunst, in dem Ströme aus leuchtender, ionisierter Materie wie aus dem Nichts
entstanden, sich aufwölbten, Kreisbögen schlugen und wieder verschwanden, als hätten sie nie existiert.
Nichts im Innern einer Sonne oder ihrer Korona war statisch.
Alles unterlag ständiger Bewegung.
Vor diesem Hintergrund zeichnete sich auf dem Sichtschirm ein unglaubliches Bild ab, als der Meeg Sketts
Forderung nachkam.
»Mein Gott!« Lern Foraker gab einen tiefen Kehllaut von sich, der seine ganze Überraschung ausdrückte. »Was
haben wir denn
Das riesige, kugelförmige Gebilde bot einen beeindruckenden Anblick, und es sah aus, als sei es von weit, weit
hergekommen. Von einem Punkt der Galaxis, der sich menschlicher Vorstellungskraft entzog. Die
Datensequenz, die der Suprasensor des Beibootes der CHARR in die untere rechte Ecke des Sichtschirms
einblendete, gab dem Artefakt einen Durchmesser von zehntausend Metern. Es war eine perfekte Kugel, die da
in der Korona schwebte. Gehalten von Kräften, die der kleinen Besatzung des Beibootes noch unbekannt waren.
Aber sie mußten enorm sein, geschaffen von übergeordneten Wesen. Keine simplen Erfindungen von
Humanoiden wie den Menschen - oder den Hybriden der Nogk. Umweht von Stürmen aus ionisiertem Gas, die
unaufhörlich an ihr zerrten, trotzte sie den alles zermalmenden Gravitationsfeldern aus dem Kem der Sonne und
verharrte unverrückbar an ihrem Platz. Ihre Hülle war glatt, schimmerte wie stumpfes Silber und schien aus
einem Metall zu bestehen, das den Flammen der Korona mühelos Paroli bot.
Lern Foraker stieß zischend die Luft aus.
»Was sagen die Sensoren?«, erkundigte er sich bei Leroo. »Ist ein Schutzschirm anmeßbar? Ich kann nicht
glauben, was ich sehe!«
»Unsere Sensoren registrieren nichts dergleichen«, antwortete Skett an Stelle des Meeg. »So gesehen ist die
Kugel ein energetisches Neutrum.«
»Haben Sie das gehört, Sir?« wandte sich der taktische Offizier über die offene Phase des To-Richtfunks an die
ferne CHARR.
»Gehen Sie näher ran. Lern«, kam die ruhige Anweisung des Colonels über Hyperfunk. »Fliegen Sie um das
Ding herum. Verschaffen Sie sich einen Eindruck. Und nehmen Sie alles auf. Ich will wissen, womit wir es zu
tun haben.«
»Verstanden, Sir.«
Foraker aktivierte die Manuellsteuerung.
Das Boot bewegte sich in einem weiten Halbkreis um das
künstliche Gebilde, wobei es zunächst die sonnenzugewandte Seite der Kugel tangierte.
Angestrengt starrten drei Augenpaare auf den Frontschirm in der Kabine.
»Nichts zu sehen auf dieser Seite«, verkündete Foraker gleich darauf.
Und Skett bestätigte: »Keinerlei auf der Außenhülle angebrachten Kuppeln oder Aufsätze. Weder
Waffensysteme noch Verteidigungsvorrichtungen - beziehungsweise was man dafür halten könnte. Die Hülle
ist glatt wie ein Ei aus der Wüste von KiDoorn.«
»Wohl eher wie eine Billardkugel aus einem texanischen Sa-loon«, warf Lern Foraker ein und gestattete sich ein
winziges Grinsen.
Er veränderte den Kurs, bremste ab und ließ das Beiboot auf einer sich kontinuierlich verkürzenden
Tangentialbahn um die Kugel herumschwingen. Mit deutlich verringerter Fahrt steuerte er die winzige Nußschale in den »Schlagschatten« der sonnenabgewand-ten Seite der Kugel mit ihren 10 Kilometern Durchmesser. »Die Instrumente registrieren einen Rückgang des Abschmelzvorganges unserer Schutzpanzerung, Sir«, ließ sich Leroo vernehmen; wie selbstverständlich kam ihm das terranische »Sir« über die Fühler, wenngleich Foraker mehr den begründeten Verdacht hatte, daß diese Titulierung wohl mehr das Werk seines gut konfigurierten Translators war, der die semitelepathischen Bildimpulse der Libellenköpfe ins Angloter übersetzte. Der Himmel mochte wissen, welche Anrede Leroo tatsächlich verwendet hatte. »Gut so«, antwortete Lern. »Auf diese Weise wächst die uns zur Verfügung stehende Zeitspanne. Und Leroo... laß bitte den >Sir< weg. Du willst mich doch nicht verärgern, oder?« »Das will ich auf gar keinen Fall«, setzte der Translator mit seiner angenehmen Baritonstimme die Bildimpulse des Meeg in Sprache um. Langsam driftete das Beiboot tiefer in den »Schatten« der unbekannten Station, denn für ein Raumschiff hielt Foraker das metal lene Monstrum nicht. »Leroo«, fragte Foraker, einer plötzlichen Eingebung folgend, »ist das Volk der Nogk schon mal auf ein derartiges Artefakt gestoßen? Schließlich habt ihr doch so etwas wie ein kollektives Gedächtnis beziehungsweise Bewußtsein, oder?« »Nein«, erreichten die semitelephatischen Bildimpulse des Meeg den Fragesteller via Translator. Der insektoiden Physiognomie des Nogk war nicht zu entnehmen, ob Leroo die Wahrheit sprach. Aber Foraker glaubte dennoch ein Zögern gemerkt zu haben. Was soll's, dachte er mit einem innerlichen Schulterzucken und begann mit dem Annäherungsmanöver. Es brauchte Geschick, um das kleine Boot in den turbulenten Plasmaströmen an die gewaltige Kugel heranzuführen. »Was ist denn das?« entfuhr es dem taktischen Offizier plötzlich. Er und die beiden Nogk in der Steuerkanzel des Aufklärers starrten verblüfft auf den Sichtschirm. Sie hatten eben den sonnen-femsten Punkt der Kugel erreicht, wie Foraker durch einen kurzen Blick auf die ständig mitlaufenden Datenzeilen im Sichtschirm registrierte, als sich auf der Hülle eine im Verhältnis zu den gigantischen Proportionen der Kugel winzig kleine Pyramide zeigte. Die Sensorenauswertung ergab eine Höhe von nicht mehr als drei Meter, gemessen von der gleichschenkeligen Basis bis zur Spitze. »Eine uns unbekannte Art von Antrieb?« mutmaßte der Offizier, obwohl ihm die Zweifel ob dieser Einschätzung vom Gesicht abzulesen waren. »Negativ, Terraner Foraker«, ließ sich denn auch Skett hören. Poraker brummte und sagte mit einem Blick auf den blauhäutigen Nogk: »Na ja, einen Versuch war's wert.« »Es tut mir leid für dich«, bedauerte der Meeg und präzisierte: »Emittierende Energiemengen lassen sich weder dort noch sonstwo auf diesem Artefakt registrieren. Aber es gibt dennoch eine erstaunliche Übereinstimmung.« Foraker machte eine heftige Bewegung und starrte ihn an. »Übereinstimmung worin?« »Die Pyramide ist aus dem selben unbekannten Material wie die Hülle des Artefakts...« »Warum überrascht mich das nicht?« warf der taktische Offizier ein, während Leroo fortfuhr: »... und das Fragment im Charr-System.« »Dann sind wir am richtigen Ort«, nickte Foraker zufrieden; während der ganzen Unterhaltung hatte er das Annäherungsmanöver fortgesetzt. »Sehen wir uns diese Pyramide doch etwas genauer an.« Das Boot schob sich näher und näher an die Kugel heran, bis es fast so aussah, als ob man nur den Arm auszustrecken brauchte, um die Hülle zu berühren. Foraker korrigierte den Annäherungsvektor, drehte das Beiboot so, daß es mit der Unterseite auf die Kugelhülle »heruntersank«. Er hatte vor, unmittelbar neben der Pyramide aufzusetzen und das Erkundungsboot dort zu verankern. Die Vektorgrafik für den Aufsetzpunkt lief langsam rückwärts, zeigte gerade eine Zehn, dann die Neun, Acht, Sieben, Sechs, und als sie auf die Fünf sprang, traf ein Stoß das Boot, der so stark war, daß es mehrere hundert Meter zurückgetrieben wurde, ehe es sich wieder stabilisierte. Foraker fluchte grob. »Kann mir jemand mal sagen, was das jetzt war?« verlangte er nach dem ersten Schreck zu wissen. »Vermutlich negative Gravitation«, stellte Skett fest. Der Kobaltblaue konsultierte die Anzeigen auf seiner Konsole. Dem war so, wie sich gleich darauf herausstellte. Das kugelförmige Artefakt einer unbekannten Rasse war von einem Schirmfeld negativer Gravitation umgeben, das lediglich bis zu fünf Meter über seiner Oberfläche wirkte. Das bedeutete schlicht und einfach: Wer immer sich auf der Außenhülle aufhalten würde, würde nach oben ins All »fallen«. Und jetzt hatte Foraker auch die Erklärung für ein Phänomen, das ihn die ganze Zeit über unterschwellig beschäftigt hatte, ohne daß er zunächst eine Erklärung dafür fand: Die Ströme glühender Materie im Innern des Sonnenflecks, die fluktuierenden Felder magnetisierten Plasmas, sie umspülten die Kugel, drangen auf sie ein - und verschwanden so unversehens, wie sie erschienen waren, sobald sie in die unmittelbare Nähe der Außenhülle kamen. Foraker hatte den Vorgang mit dem Doppier-Effekt in Verbindung gebracht, der
die Emissionslinien des leuchtenden Gases unglaublicher Komplexität in Kongruenz mit den Spektrallinien des Lichts brachte, was sie aus dem sichtbaren in den unsichtbaren Bereich verschob. Nun mußte er sich sagen, daß der ganze Vorgang viel weniger komplex war als ursprünglich angenommen und ebenso schlicht wie einfach der negativen Gravitation zugeschrieben werden mußte, die die Gase und Plasmaströme wirkungsvoll von der Hülle fernhielt. »Ich habe die Abstoßparameter in den Suprasensor eingegeben«, verkündete der Meeg, »die Kompensatoren sind neu justiert. Wir können also einen zweiten Versuch unternehmen. Diesmal mit garantiertem Erfolg.« »Gute Arbeit, Leroo«, lobte Foraker und betätigte die Steuerung. Die Mimik der insektoiden Reptilienwesen war nicht zum Lä-I cheln geschaffen, aber aufgrund der semitelepathischen Veranlagung des Nogk war Foraker durchaus in der Lage, die Freude zu empfangen, die dieses Lob in dem Meeg auslöste. Der taktische Offizier gab einen zufriedenen Kehllaut von sich, den der Translator für unübersetzbar hielt, weshalb er gar nicht erst den Versuch machte. »Okay. Versuch Nummer zwei!« Erneut begann die Annäherung. Von Skett empfing Lern Foraker während des sorgfältig durchgeführten Manövers über seinen Translator ungewollt Gedanken der Besorgnis, Leroo hingegen setzte volles Vertrauen in seine Fähigkeiten. Diesmal gelang die Annäherung problemlos, es erfolgte keine Abstoßreaktion mehr; der Suprasensor polte die bootseigenen Gravofelder automatisch um und glich die Triebwerksleistung entsprechend an. Schließlich schwebte das Boot auf der Höhe der Pyramide über der Hülle. Während es unter den Schaltungen des taktischen Offiziers langsam herumschwang und einen vollkommenen Kreis schlug, suchten die Facettenaugen der Nogk und die Blicke des Terraners nach Einzelheiten, nach Hinweisen über Sinn und Zweck dieser Pyramide. Jede noch so winzige Kleinigkeit konnte dabei von immenser Bedeutung sein. »Was zum...?« murmelte Foraker. Symbole waren auf den glatt wirkenden Seitenflächen sichtbar. Seltsame Schriftzeichen bedeckten die Pyramide. »Kannst du sie entziffern?« wandte sich Foraker an Skett. »Nein«, erwiderte der Kobaltblaue, aber erst nach Sekunden des Schweigens; die Spitzen seiner Fühlerpaare zitterten, und der Schwall erregter Bildimpulse überforderte den Translator, der einfach alles herausfilterte, was er nicht zu übersetzen vermochte und sich nur auf den reinen Kembereich der Kommunikation zwischen den beiden so unterschiedlichen Rassen beschränkte. »Irgend etwas sagt mir«, kamen dann die wieder klar zu verstehenden Impulse Sketts, »daß ich diese Schriftzeichen kennen sollte, kennen müßte. Ja, doch. Sie kommen mir bekannt vor...« Er zögerte erneut, wiegte den Kopf mit den karbonschwarzen Facettenaugen und den libellenartigen Fühlerpaaren in einer derart menschlichen Geste der Unschlüssigkeit, daß Foraker fast versucht war zu lachen. »Ich kann sie allerdings nicht deuten. Bei meinem Eivater... ich sollte es können. Diese Zeichen dort«, er deutete auf eine bestimmte Stelle, wo reliefartig erhöhte Linien drei ineinander verschlungene eiförmige Ellipsen bildeten, »habe ich schon mal gesehen. Vor kurzem erst... wenn du etwas näher gehen könntest, Terraner Foraker...« Die Pyramide driftete unter dem Erkundungsboot hinweg; trotz der enormen Masse des fremden Objektes war es nicht mehr als ein flüchtiger Gedanke, gemessen an der unvorstellbaren Präsenz der Sonne unter und um es herum. Die turbulenten, chaotischen Magnetfelder der ionisierten Neutronen- und Plasmaströme inner halb der Korona zerrten allgegenwärtig an der Kugelstation, so daß sie, unmerklich zwar aber dennoch erkennbar, ständig ihre Lage wechselte, ehe sie unbekannte Maschinen in ihrem Innern wieder auf Position brachten. Auch jetzt stand eine derartige Lageänderung an. Und so geschah, was eigentlich nicht hätte geschehen dürfen. Foraker erkannte erst in allerletzter Sekunde die sich abzeichnende Gefahr und versuchte zu vermeiden, was nicht mehr vermieden werden konnte. Er korrigierte zwar noch das Steuer, aber dennoch konnte er nicht verhindern, daß der Rumpf des Bootes der Pyramidenspitze zu nahe kam. Als beide sich trafen, gab es einen Ruck, der eigentlich so schwach war, daß man ihn kaum im Innern fühlen konnte. Dennoch setzte er eine ganze Kettenreaktion in Bewegung, im tatsächlichen wie auch im übertragenen Sinn. Letzteres sollte allerdings erst im nachhinein relevant werden, als es fast schon zu spät war. »Oh, Mann!« stieß Lern Foraker hervor. »Schaut euch das an!« Der Hauptschirm in der Kabine zeigte jede Einzelheit des Geschehens draußen vor dem Erkundungsboot: Ein zirka 100 Quadratmeter großes Segment der Kugeloberfläche sank erst nach unten und schob sich dann seitlich weg ins Innere, ähnlich dem überdimensionierten Hangarschott eines Kugelraumers. Das Boot schwebte genau über der Öffnung. Darunter tat sich ein Schleusenraum von enormer Tiefe auf. Eine rötlich illuminierte Höhle, vergleichbar dem Eingang zum Hades, in der kaum Einzelheiten auszumachen waren. Die wehenden Felder von ionisiertem Gas, die Ströme leuchtender, strahlender Sonnenmaterie, die die Kugelstation umspülten und in sie einzudringen suchten, kamen nicht gegen die negative Schwerkraft an, die von dem Artefakt ausging. »Dann wollen wir mal der Einladung folgen«, sagte Foraker und deutete mit einem Kopfnicken auf die Schleuse; die Anspannung ließ seine Stimme rauh und schroff klingen. Er wandte sich an
seine beiden nogkschen Begleiter.
»Fertig?«
Sie würden ins Innere der Kugelstation eindringen, anlegen und sie näher erkunden, so weit es ihre
eingeschränkte Zeit eben zuließ.
Die Bildimpulse der beiden Nogk signalisierten nichts als Zustimmung.
Und Foraker sagte: »Also los.«
Er bewegte die Steuerung, begann mit dem Abstieg.
Das Boot senkte sich in die riesige Schleuse hinab; ein Insekt im Vergleich zu deren Tiefe; ein Meßgerät auf der
Instrumentenkonsole lotete eine Strecke von zirka 100 Metern aus. Irgendwo auf seinem Weg kontaktierte es ein
Energiefeld: Über ihm schloß sich das Hüllensegment wieder und sperrte die kochende Korona der Sonne Geret
aus.
Und im selben Augenblick brach die To-Funkverbindung mit der CHARR ab.
Während die dreiköpfige Besatzung des Erkundungsbootes noch mit der geistigen Verarbeitung des Umstandes
beschäftigt war, weshalb die Funkverbindung mit der CHARR unterbunden war, öffnete sich ein Panzerschott in
der innenliegenden »Decke« des Schleusenraumes. Dahinter tat sich ein geräumiger Schacht auf, der weiter nach
oben ins Innere der Kugel führte. Foraker steuerte ihn zielsicher an.
Das Boot hatte gerade den Zugangsschacht verlassen und stieg über den inneren Schleusenrand; das gewaltige,
segmentierte Schott schloß sich unter ihm. Insgesamt hatten sie seit dem Durchfliegen der äußeren
Schleusenöffnung eine Strecke von rund zweihundert Metern zurückgelegt.
Foraker hörte über die Außensensoren das donnernde, rollende Geräusch, als die Segmente sich wie das Gebiß
eines Riesen inein
nder verzahnten. l'Geräusche?
In der Tat! Das Innere der Kugelstation besaß eine Atmosphäre, bestätigte der Meeg an den Instrumenten, als
Foraker eine diesbezügliche Bemerkung machte. Übrigens eine für Menschen und Nogk gleichermaßen
atembare Luftzusammensetzung, wie er hinzufügte, nachdem die Sensoren ihre Daten präsentiert hatten.
Doch das war nicht die einzige Überraschung.
»Großer Gott...«, entfuhr es Foraker beim Blick auf das, was die Sichtsphäre des Erkunders enthüllte. Mit einem
tiefen Kehllaut hieb er auf eine Taste seiner Steuerkonsole.
Das Erkundungsboot kam zum Stillstand.
Etwa zehn Meter über dem »Boden« der gewölbten Innenseite schwebend.
Über ihm öffnete sich das Innere der Kugelstation wie der Himmel über einer Planetenoberfläche.
»Draußen« vor dem Boot herrschte eine rötliche Helligkeit, deren Quelle zunächst nicht feststellbar war.
Mehrere Minuten lang herrschte Schweigen in der Kabine. Dann wandte sich Foraker an die beiden Nogk.
»Könnt ihr mir eine räumliche Darstellung davon geben, worin wir uns befinden?«
Leroos Reptilienfinger glitten über die Bedienfelder der Rechnerkonsole, während ihm Skett assistierte. Der
Computer öffnete ein Reihe von Fenstern innerhalb des Schirmes, sie drehten sich, zoomten näher und
verschwanden wieder, je nach Input der Scannerdaten, bis sich schließlich eine endgültige 3-D-Darstellung
manifestierte. Aus der räumlichen Tiefe des Sichtschirmes wuchs fast ohne Zeitverzug in einer grob
strukturierten Netzgraphik eine knapp einen Meter durchmessende Kugel, die sich in ihrer virtuellen Realität
langsam um eine leicht geneigte, imaginäre Achse drehte.
Forakers Blick hing wie gebannt an den hineingeschalteten Scannerdaten.
Demnach war die Hülle der 10 Kilometer durchmessenden Raumstation 200 Meter dick. Im Innern war sie
komplett hohl, mit einer lichten Weite von zirka 9,6 Kilometer Durchmesser. Im genauen Zentrum der Kugel
schwebte eine ideale dreiseitige Pyramide von knapp 3 Kilometer Kantenlänge, die ein tiefrotes Licht verbreitete
und damit das Innere der Kugelstation erhellte, bei der es sich eindeutig um eine Hohlwelt handelte. Die
Zentrumspyramide glühte weder noch emittierte sie irgendwelche Strahlen oder Energiefelder; sie erzeugte
einfach nur Licht, nichts sonst. Aufgrund der negativen Gravitation bewegte man sich in der Hohlwelt-Station
auf der Innenhülle. Die Schwerkraft betrug 1,02 Gravo. Die Atmosphäre war extrem trocken wie auf einer
heißen Wüstenwelt, gut verträglich für Sauerstoffatmer. Und - diese Innenhülle war komplett bedeckt mit
eckigen Flächen und schrägen Rampen, mit schimmernden Kugeln und Gittern aus Masten und Verstrebungen,
mit Objekten, deren Zweck im Dunkel menschlichen Verständnisses lag. Wie in einem gewaltigen Amphitheater
wölbte sich die Bebauung nach oben und außen, gewann im Äquatorbereich die größte Weite, um sich dann
wieder zu verjüngen. Alles wirkte wie der bizarre Technologiepark eines Bergbau-Asteroiden. Das rote Licht aus
dem Zentrum machte das Labyrinth von Produktionsstätten und Rohren mit ihren sinnverwirrenden
Überlappungen, den Überschneidungen und Biegungen zu einer surrealen Alptraumlandschaft, wie sie Foraker
noch nie gesehen hatte. Dazwischen gab es ausgedehnte Gebäudekomplexe, deren Zweck vollkommen klar zu
sein schien: Wohngebäude.
Nur, wer lebte in ihnen? Welche Rasse hatte diese Station errichtet? Wer hielt die Existenz in der Korona einer
Sonne für erstrebenswert? Wer waren die Baumeister dieser Technologie?
Fragen über Fragen, deren Beantwortung noch nicht abzusehen war. Nur eines kristallisierte sich schon jetzt
heraus: Keine Installation war höher als 200 Meter. So als markiere diese Höhe eine Grenze, die zu überschreiten
gefährlich sein konnte.
Foraker deutete auf den Hauptschirm.
»Ein Flug der Überraschungen!« murmelte er. Dann, lauter:
»Warum nur hatte ich das Gefühl, daß mich dieser oder ein ähnlicher Anblick erwarten würde?
»Du hast es erwartet?« Leroos Fühler spielten fragend, während unter seinen Schaltungen der virtuelle Aufriß
der Kugelstation vom Suprasensor wieder eingezogen wurde, um in der Tiefe eines Speichermediums darauf zu
warten, später von einer Schar neugie
^
i'riger Wissenschaftler erneut hervorgeholt, begutachtet und kom
„mentiert zu werden.
Foraker räusperte sich. »Nur so eine Vorahnung.« »Vorahnung?« erreichten ihn die verwunderten, fragenden
Impulse des Meeg. »Ihr Terraner überrascht mich doch immer wie-
Ider. Nach unseren Erkenntnissen sind Vorahnungen niemals Ergebnis rationaler Denkvorgänge und deshalb in
ihrer Aussagekraft mehr als fraglich. Und ihr erhebt doch den Anspruch, eine rational agierende Spezies zu
sein, nicht wahr?«
l »Richtig, Freund Leroo«, entgegnete Foraker ohne eine Miene
|zu verziehen. »Dennoch, ein gutes Stück atavistisches Unterbewußtsein und vor allem Instinkt spielen bei uns
Menschen eine große Rolle, manchmal sogar eine sehr große. Was sich daran ermessen läßt, daß die
Trefferquote zwischen erwarteten und tatsächlich eintretenden Ereignissen mitunter überdurchschnittlich hoch
ist.«
»So muß es wohl sein!« stimmte der Meeg ihm zu, während der Kobaltblaue stumm blieb.
Foraker streifte ihn mit einem kurzen Blick. Etwas beschäftigte den blauhäutigen Nogk. Dies war schon zu
spüren, als sie die Station in der Korona Gerets zu Gesicht bekamen, und noch mehr, als sie durch puren Zufall
ins Innere gelangten. Was verheimlichte der Kobaltblaue? Er konnte sich nicht helfen, aber er hatte den Ver
dacht, daß Skett mehr über Sinn und Zweck dieser Station zu wis
\ sen schien, als er den Anschein zu erwecken versuchte. Und seine Behauptung, die Schriftzeichen auf der
Außenpyramide nicht entziffern zu können, hatte den Ruch der Unwahrheit...
»Landen wir erst einmal, dann sehen wir weiter«, bestimmte Fo-raker. Seine Finger glitten über Tastenfelder.
Das Erkundungsboot setzte sich erneut in Bewegung, glitt zur Seite und weg vom Schleusenbereich. Nach
wenigen Metern setzte es unter den Schaltungen seines Piloten auf. Aufsetzpunkt war eine relativ freie Zone
zwischen zwei Industriekomplexen. Foraker nahm jedenfalls an, daß es sich um solche handelte. Ein dumpfes
Summen laufender Generatoren und Maschinen, von den Außenmikrophonen ins Innere übertragen, gab seiner
Vermutung Nahrung.
»Das war's«, sagte er und verriegelte die spinnenbeinigen Stützen. »Wir sind angekommen. Wo auch immer.«
Foraker blickte von Leroo zu dem kobaltblauen Nogk.
»Gut. Was machen wir?«
»Wir gehen nach draußen und schauen uns um«, entschied Skett kategorisch.
»Was ist deine Meinung, Leroo?« '
Die Fühler des Meeg knickten in der Hälfte nach vome ein.
»Ich bin derselben Meinung«, drangen seine in Laute verwandelten Bildimpulse aus dem Translator. »Aber du
triffst die Entscheidung. Was immer du anordnest, wir werden es akzeptieren. Wir stehen unter deinem Befehl.«
Dies war eindeutig an die Adresse Sketts gerichtet, der eine seltsame Geste machte, deren Sinn Foraker
verborgen blieb.
Mittlerweile waren schon sechzig Minuten der vierstündigen Missionsdauer vorüber. Aber Foraker war sich
sicher, daß es keinen Grund mehr zur Eile gab. Innerhalb der Station stoppte der Vorgang des Abschmelzens der
Panzerung.
Die Diskussion über Ausstieg oder nicht war keine zehn Minuten alt und an einem Punkt angelangt, wo es sich
zu entscheiden galt. Nach kurzem Überlegen nickte Lern.
»Gut. Allerdings«, gab er dennoch zu bedenken, »wenn wir aus
steigen, müssen wir in die strahlensicheren Schutzanzüge. Unsere Panzerung hat während des Fluges durch die
Korona so viel an harter Strahlung abbekommen, daß unser Boot im Dunkeln vermutlich leuchtet wie ein
Weihnachtsbaum zur Christmette.« Er sah zu Leroo. »Und bevor du mich jetzt fragst, was eine Christmette ist -
es ist ein alter religiöser Brauch auf der Erde, an einem bestimmten Tag eines bestimmten Monats innerhalb der
Zeitspanne, die wir Jahr nennen, eine besondere Feier zu begehen.«
»Ich frage doch gar nicht«, bedeutete ihm der Meeg. »Außerdem bekommen wir Besuch.« Er deutete auf einen
der Seitenschirme, die die »Fenster« ihres Beibootes darstellten.
Foraker seufzte. »Lenke nicht ab. - WAS?!«
Er richtete seinen Blick alarmiert auf das, was Leroo ihm zeigte.
Eine insektenartige Maschine, die auf vielgliedrigen Laufwerkzeugen mit der Schnelligkeit einer Termite auf sie
zustakste.
Eine? Viele! Maschinenwesen in allen Variationen. Metall schimmerte im roten Licht der Zentrumspyramide.
Roboter!
Sie schienen förmlich aus dem Boden zu schießen. Binnen eines Lidschlags verdoppelte sich ihre Zahl. Der Platz
wimmelte nur so von ihnen. Und sie kannten scheinbar nur ein Ziel: den Erkunder.
»Himmel!« fluchte Foraker. »Wir werden angegriffen! Sollen wir etwa hier einen Krieg anzetteln?«
Die Frage war rhetorischer Natur. Es war Skett, der trotzdem antwortete.
»Es sind nur Arbeitseinheiten«, gab er zu verstehen. »Keine Kampfroboter. Also kein Grund zur Panik.«
»Woher willst du das wissen?« fragte Lern Foraker. Er gab sich Mühe, war sich aber nicht sicher, ob Skett nicht
doch sein Mißtrauen spürte.
»Sieh selbst«, wies ihn der Kobaltblaue auf die Szene hin, die sich vor dem Boot abspielte.
Erst jetzt sah Foraker, daß die Mechanischen lange, biegsame Tentakel zwischen sich mitzogen.
Nein, keine Tentakel, korrigierte er in Gedanken, es sind Schlau
ere!
Er hatte diese Erkenntnis noch nicht zu Ende geführt, als auch schon aus den Mündungen eine schaumartige Masse sprühte und binnen kürzester Zeit das Beiboot komplett einhüllte. »Sie entseuchen uns«, erklärte der Meeg und seine Fühler vibrierten aufgeregt. »Auf diese Weise wird die harte r-Strahlung gebunden, so daß wir unbeschadet aussteigen können. Außerdem sinkt die bisher noch immer hohe Temperatur der Hülle dramatisch.« »Ganz offensichtlich«, teilte Foraker den Enthusiasmus des Meeg und sah dabei Skett an. Aber der Kobaltblaue erwiderte den Blick des Terraners mit reglosen Facettenaugen, in denen sich lediglich das Kabinenlicht spiegelte. Foraker wandte sich ab und versuchte, seine Gedanken frei von Zweifeln zu halten. Aber zum Henker! Im Verhalten des Kobaltblauen lag nur kühle Distanz, ja Ablehnung fast, so als sähe er in dem Terraner einen Gegner. Aber in welchem Kampf? Foraker versuchte, seine Skepsis, die er Skett gegenüber hegte, als ein Hirngespinst abzutun. Aber während er von Leroo nur Wellen der Sympathie empfing, wenn er seinen Geist öffnete, schien Skett größtenteils aus Ablehnung, Zweifeln und sogar einer Spur von Angst zu bestehen. Angst? Wovor? Foraker beschloß, ihm gegenüber doppelt wachsam zu sein. Angst verleitete zu nicht vorhersehbaren Handlungen im Verhalten von Individuen. Diese Erfahrung hatte er schon oft machen müssen. Die »Entseuchung s «-Teams hatten ihre Arbeit beendet, zogen sich zurück. Auf den Schirmen verfolgte die kleine Besatzung des Aufklärers den Abzug der Mechanischen; gleich darauf war der Platz um den Erkunder wieder so leer wie zuvor. »Habt ihr gesehen, was ich gesehen habe?« machte Foraker die beiden Nogk aufmerksam. Der taktische Offizier der CHARR versuchte, ein Lachen zu vermeiden, aber alle Roboter hatten auf die gleiche Art und Weise gehinkt, als hätten sie einen identischen Gehfehler. Unwillkürlich wandte er den Blick in den hinteren Teil der Kabine, wo sich Skett vor seiner Konsole aufhielt, als interessiere ihn nicht mehr, was draußen vorging. »Was wird uns als nächstes erwarten?« richtete er das Wort an den Nogk. Skett versuchte sich in menschlicher Gestik und schüttelte ein wenig ungelenk den Kopf. Seine Fühler schwangen dabei bogenförmig hin und her. »Ich bin nicht allwissend«, war seine einfache Antwort. Nein, das bist du nicht, dachte Foraker in einer Tiefe seiner Gedanken, in die hoffentlich nie ein Nogk blicken konnte. Und irgendwie war dieses Bekenntnis eine tröstliche Vorstellung. »Okay«, sagte er. »Wir steigen aus. Die normalen Anzüge, die wir tragen, werden ausreichend sein für das, was wir in dieser Station vorfinden.« Sie verließen den Aufklärer. Lern warf einen Blick auf das Multifunktionsgerät an der Ärmelmanschette seines Anzugs. »Die Strahlung des Außenpanzers ist tatsächlich auf das normale Maß zurückgegangen«, stellte er fest. Dann hob er den Blick. Es war ein mulmiges Gefühl, wie er fand, als er den Kopf in den Nacken legte und durch den gewaltigen Innenraum mit seiner mehr als neun Kilometer lichten Weite den Scheitelpunkt suchte. Aber das weiche, diffuse Licht der Zentrumspyramide erzeugte einen Dunst, in dem nichts von den über ihren Köpfen dräuenden Gebäudekomplexen zu erkennen war. Er hatte Mühe, seine Gedanken unter Kontrolle zu bekommen. Alles war zu schnell und fast ohne Übergang passiert. Von einem Moment zum anderen sahen sie sich mit einer überraschenden Entwicklung der Dinge konfrontiert. »Was hältst du von dieser Aussicht?« richtete er das Wort an Leroo. »Überaus eindrucksvoll«, bemerkte der Meeg, als habe er Forakers Gedanken gelesen, und sah aus seiner Höhe von 2,50 Metern auf Lern herab. »In der Tat«, pflichtete ihm der Terraner bei. »Es fängt an, ausgesprochen riesige Größenordnungen zu bekommen. Haben wir uns hier nicht etwas zuviel abgebissen? Mehr, als wir verdauen können?« »Schon möglich!« entgegnete der Meeg. »Aber wir wollten Aufklärung. Hier«, er machte eine ausholende Bewegung mit seiner Hand, »werden wir sie nicht bekommen.« »Und die nächste Überraschung kommt schon auf uns zu!« erklärte Foraker und deutete in eine bestimmte
Richtung. Dort mündete eine breite, gewundene Straße, die von mehreren Reihen siloähnlicher Gebäude
gesäumt war. Hinter dem nächstgelegenen kam eben eine Art Schwebeplattform hervor, glitt mit hoher Ge
schwindigkeit heran und setzte recht unsanft vor ihnen auf. Staub wirbelte hoch.
»Hoppla!« griente Foraker und schüttelte tadelnd den Kopf. »Der Operateur sollte noch einmal seine Lektionen
durchgehen.«
»Welcher Operateur?« wunderte sich Skett; er schien recht wenig vertraut mit den Spielarten menschlichen
Humors zu sein.
Die Schwebeplattform war bis auf drei Reihen zu je fünf unbequem wirkenden Sitzschalen leer; kein Fahrer, rein
gar nichts. Nicht einmal so etwas wie eine Antriebskonsole.
»Minimalismus, ich grüße dich.« Diese Bemerkung konnte sich der taktische Offizier nicht verkneifen.
Jetzt machte die Schwebeplattform einen kleinen Hüpfer, um dann wieder ruhig zu liegen.
Die Nogk und der Terraner sahen sich an.
»Dies scheint eine Aufforderung gewesen zu sein«, bemerkte Leroo.
Hoffentlich nicht zu einem Danse macabre, dachte Lern. Laut sagte er: »Wollen wir das Risiko eingehen und die
Einladung annehmen?«
Es war Skett, der prompt erwiderte: »Bislang ist uns noch kei
nerlei Aggression begegnet. Wamm sollte man jetzt damit anfangen?«
Da gäbe es vielerlei Gründe, bedeutete ihm Lern Foraker, signalisierte aber dennoch sein Einverständnis.
Sie enterten die Plattform und suchten sich einen Platz. Keine Sekunde zu früh. Mit einem Ruck hob sich das
Gefährt vom Boden, drehte auf der Stelle und schwebte dicht über den Belag der Straße davon.
Während der Fahrt sammelte Lern so viele Eindrücke, wie er nur aufnehmen konnte. Die Installation - von Stadt
zu sprechen, weigerte sich der Terraner - war weder hell noch freundlich.
Alles wirkte wuchtig, übertrieben massiv.
Ein einziger, kolossaler Komplex.
Eine Alptraumfabrik.
Nichts Grünes unterbrach die monströse Ansammlung ungeschlachter Gebilde und Formen aus Metall. Hinter
halbtransparenten Wänden arbeiteten komplexe Maschinerien. In unregelmäßigen Abständen erstreckten sich
gewölbte Öffnungen fast bis zur Obergrenze der Bebauung hoch oben. Überall pulsierte gedämpfte Energie.
Arbeitsroboter bewegten sich in unterschiedlich hohen Ebenen wie auf Schienen entlang ihrer Energieleitungen,
kamen brummend näher und entschwanden wieder. Sie waren wie Vogelschwärme entlang exakt festgelegter
Linien.
Die Krümmung der Straße stieg stetig an, aber dennoch hatten die Insassen der Schwebeplattform zu keiner Zeit
den Eindruck, eine Steigung hochzufahren. Die negative Gravitation im Innern der Hohlwelt, der »Druck« auf
die Innenhülle, sorgte dafür, daß man sich stets auf »ebenem« Grund bewegte.
Der Fahrtwind trug ihnen den scharfen Geruch komprimierter Kühlflüssigkeiten zu.
Lern schloß die Augen und lauschte dem dumpfen, stets gegenwärtigen Summen schwerer Maschinen und
Generatoren, das durch gelegentliche Echos metallener Arbeitsgeräusche explosionsartige Höhepunkte erfuhr.
Irgend etwas störte ihn. Er ver
suchte, das Gefühl näher zu ergründen. Und tat sich schwer damit, sehr schwer. Doch dann wußte er plötzlich,
was hier fehlte: Das Geräusch von Stimmen, von Leben. Ob die beiden Nogk in gleicher Weise so empfanden
wie er, wußte er nicht. Ihn jedenfalls störte dieser Umstand erheblich, und dieses Gefühl verstärkte sich mit jeder
Sekunde. Die Ausdehnung dieser metallenen Festung ließ erahnen, welche Anstrengungen es einst erfordert
hatte, einen solch gewaltigen Komplex zu errichten und ihn in der Korona einer Sonne zu plazieren. Aber das
mußte zumindest unter der Leitung oder Aufsicht von lebenden Individuen geschehen sein.
Wo waren diese? Noch wichtiger: Welchem Zweck diente die Station eigentlich? Der Forschung? Der
Verteidigung? Der Vernichtung?
Und zum x-tenmal setzte die Schwebeplattform unsanft auf.
»Ich sagte doch, der Operateur sollte seine Lektionen genauer studieren«, brummte Lern. »Ob wir jemals unser
Ziel erreichen werden? Was ist nur los mit diesem Ding?«
»Sie setzt alle 148 Meter für exakt 2,3 Sekunden aus«, bemerkte derMeeg.
»Woher willst du das wissen?« fragte Foraker, während die Plattform wieder anschwebte.
»Ich habe Messungen durchgeführt, als ich die Gesetzmäßigkeit der Stopps erkannte«, teilte ihm der Meeg mit.
»Vermutlich ein Systemfehler...«
Wenn das stimmte, was Leroo geäußert hatte, ließen sich vielleicht auch die synchron hinkenden Roboter
erklären.
»Verrückt«, murmelte Lern. »Offensichtlich ist dies wirklich ein Ort der Überraschungen.«
Und genau das war er, in mancherlei Hinsicht.
Die Schwebeplattform nahm schon wieder unsanft Kontakt mit dem Boden auf. Das Aufsetzen schüttelte die
Passagiere durch.
Foraker fluchte verhalten.
»Wenn das so weitergeht«, murrte er finster, »werden wir wohl erst zum Sankt Nimmerleinstag ankommen.«
Die beiden Nogk ignorierten Lems Ausbruch, einmal weil sich die Plattform wieder in Bewegung setzte, und
zweitens der Translator mit dem Begriff »Sankt Nimmerleinstag« nichts anzufangen wußte. Sie schwebten
weiter, offen, für jeden sichtbar. Lern befand sich in einem Zustand höchster Wachsamkeit. Seine Sinne konzen
trierten sich auf die nächste Umgebung, die Muskeln waren angespannt, um augenblicklich zu reagieren, sollte
sich Gefahr zeigen. Aber nichts deutete in unmittelbarer Nähe und auch weiter entfernt darauf hin, daß ein
Kampf ums Überleben bevorstand. Vermutlich würden sie eher mit gebrochenen Gliedmaßen rechnen müssen
als mit einem Angriff.
Nach einer für Lems Verständnis schier endlosen Fahrt - Leroos Berechnungen zufolge hatten sie eine Strecke
von zirka drei Kilometer zurücklegt und dabei exakt 20 Stopps eingelegt! - hielt die Schwebeplattform
offensichtlich ein letztes Mal. Vier Minuten mochten vergangen sein, während der Foraker und die beiden Nogk
nichts anderes getan hatten, als zu warten. Aber die Plattform machte keine Anstalten, sich noch einmal in
Bewegung zu setzen. [
»Wir scheinen das Ende unserer Fahrt erreicht zu haben«, meinte Foraker und stieg ab, gefolgt von den Nogk.
»Mein Gott, was bin ich froh, dieser Tortur entflohen zu sein!« Er reckte und dehnte sich und sah sich um.
Die Plattform hatte sie vor ein Gebäude gebracht, das sich wuchtig auf einem ansonsten freien Platz in den
künstlichen Himmel reckte. Der Eindruck, den der Komplex schon von weitem gemacht hatte, bestätigte sich:
Das Gebäude schien eine zentrale Bedeutung zu haben. Es sah merkwürdig verdreht aus, besaß unzählige
bearbeitete Ecken und schräge, glatte Flächen sowie ein kreisförmiges Portal. Es war ein derart großer Komplex,
daß er die benachbarten Gebäude und Anlagen am Rand des Platzes fast zwergenhaft erscheinen ließ. Zwei
exponiert hervorgehobene Flächen links und rechts des Portals wiesen dieselben Schriftzeichen auf, wie die
kleine Pyramide draußen auf der Kugelhülle.
Sie traten näher. Foraker war noch immer im Alarmzustand;
seine Wachsamkeit blieb unverändert hoch.
Skett studierte die Einzelheiten der übermannshohen Symbole.
»Erkennst du etwas?« fragte der Terraner drängend. »Kommen sie dir bekannt vor?«
Nach einem für Forakers Begriffe zu langen Schweigen, erwiderte der Kobaltblaue: »Nein.« Er zögerte, dann
setzte er hinzu:
»Zumindest kann ich nichts davon einordnen.«
Foraker grunzte enttäuscht. Er machte zwei Schritte auf das Portal zu - und im gleichen Augenblick glitt die
torgroße Öffnung einladend auseinander.
Bei der ersten Bewegung hatte Foraker bereits den Strahler gezogen, aber was immer er erwartet hatte, traf nicht
ein. Mattes, rötliches Licht erfüllte den Raum hinter dem Tor, dessen Maße Foraker auf mindestens fünfzehn
Meter schätzte. Nichts rührte sich im Innern, nirgends deutete etwas daraufhin, daß Gefahr drohte.
»Und jetzt?« fragte Foraker, um das Schweigen aufzuheben. »Dies ist zweifelsohne eine Aufforderung,
einzutreten. Findet ihr nicht auch?«
Leroo sagte: »Die Ruhe erscheint mir trügerisch. Vielleicht will man uns nur in Sicherheit wiegen, uns verleiten,
weniger Vorsicht walten zu lassen.«
»Es gibt nur eine Möglichkeit, das herauszufinden«, sagte Skett, und seine Fühler spielten nervös.
»Richtig«, erwiderte Foraker. Er unterdrückte das Gefühl, offenen Auges ins Verderben zu rennen. »Gehen wir
also...« Er setzte sich in Bewegung. Seite an Seite mit Skett marschierte er durch das Portal. Der Meeg folgte
nach einem Moment des Zögerns.
Was dann geschah, hätten weder der Terraner noch der Kobaltblaue verhindern können, selbst wenn sie es
gewollt hätten. Es geschah völlig unerwartet.
Kaum waren sie eingetreten, schloß sich das Portal hinter ihnen mit der Schnelligkeit eines Wimpemschlags und
schnitt den Meeg in zwei Hälften.
10. Ein zwei Meter großer Echsenmann kam die Anhöhe herunter, die zum kreisförmigen Dorf der Lekkraner führte.
Er war nicht allein. In seiner Begleitung befand sich ein Maschinenwesen, aus dessen eingebauten Lautsprechern
machtvolle Töne drangen. Der »Walkürenritt« von Richard Wagner übertönte die Trommeln der Dorfbewohner
und brachte sie letztlich zum Verstummen.
Die Lekkraner gerieten in Unruhe. Noch nie hatte es jemand gewagt, ihre heiligen Zeremonien zu unterbrechen.
Wer war die große Echse, die in dieser Gegend noch keiner gesehen hatte? Wollte sie dem Häuptling die
Führung streitig machen?
Plötzlich begann der Echsenmann, sich zu verändern.
Seine Augen verschwanden im Inneren seines Kopfes. Der zahnbewehrte Rachen schloß sich, wurde schmaler
und kleiner. Schließlich schrumpfte der gesamte Kopf in sich zusammen.
Sein Körper nahm jetzt die Gestalt eines massigen, schuppenlosen Wesens an, dessen Sinnes- und
Atmungsorgane sich auf der breiten Brust herausbildeten. Aus der Echse wurde einer jener Humanoiden, die in
einer anderen Region des Planeten als gigantische Goldene verewigt worden waren.
Während der Verwandlung ertönten unablässig wagnersche Orchester- und Chorklänge, welche auf die
Lekkraner mindestens so befremdlich wirkten wie der Echsengesang auf die Menschen.
Und dann kam es erneut zu einer Veränderung. Das außergewöhnliche Wesen nahm jetzt die Gestalt eines
terranischen Mannes an.
Eine der Dorfechsen verlor die Nerven und warf ihren Speer auf die lärmende Maschine. Doch die primitive
Holzwaffe prallte wirkungslos ab.
Daraufhin wurde ein zweiter Speer geworfen, diesmal auf den unbekleideten, wandlungsfähigen Fremden in
Menschengestalt.
Volltreffer! Die Spitze bohrte sich tief in die Brust des nackten Mannes...
»Geschafft!«
Gisol, in seiner mit Tentakeln bewehrten Arbeitsgestalt, beendete die gründliche Inspektion des Zentralrechners.
Er hatte gefunden, wonach er lange gesucht hatte: Die Steuerung des Materiesenders, durch den das
Verschwinden von Doorn, Sass und Dhark verursacht worden war.
»Ich kann ihnen jetzt folgen«, teilte mir der Worgun mit. »Zu diesem Zweck muß ich einen speziellen
neunzigstelligen Code eingeben und anschließend eine Reihe komplizierter Schaltungen ausführen. Du kannst
mir dabei helfen, Artus.«
»Gern, aber ich kenne den Code nicht.«
»Ich schon. Ich habe die Zahlen- und Buchstabenkombination aus dem Rechner herausgekitzelt.«
Herausgekitzelt. Offenbar versuchte Gisol, sich der flapsigen Ausdrucksweise der Menschen anzupassen. Darin ähnelte er mir, auch ich hörte oftmals bei Gesprächen genauer hin und übernahm dann die eine oder andere lockere Redewendung für meinen eigenen Sprachgebrauch. Manche Ausdrücke entfernte ich allerdings bald wieder aus meinen Speichern, sobald ich merkte, daß sie bei meinen Gesprächspartnern auf wenig Gegenliebe stießen - vor allem dann, wenn ich sie an unpassender Stelle gebrauchte. N.J. Olivier, Leutnant und Nachschuboffizier auf der POINT OF, redete drei Tage nicht mit mir, weil ich ihn »Pappnase« genannt hatte. Dabei hatte ich mit diesem kleinen Scherz nur meine freundschaftliche Zuneigung ausdrücken wollen. Frank Buscetta war seiner Tante Jamie Savannah nie böse, wenn sie ihn so nannte, er lachte sogar darüber. Trotz gelegentlicher Entgleisungen war ich überzeugt, mit Wor ten umgehen zu können. Und wo Worte nicht ausreichten, ließ ich halt Taten sprechen. Gisol hatte mit viel Mühe und Anstrengung herausgefunden, auf welchem Weg er den Verschwundenen folgen konnte. Ich entdeckte kurz danach eine Möglichkeit, auch unbelebte Materie, die nicht von organischem Material umhüllt war, mit Hilfe des gepulsten Strahls zu transportieren. Dafür war lediglich eine unbedeutende Schaltung nötig. »Respekt, du arbeitest schnell«, lobte mich der Mysterious. »Kein Problem, schließlich hast du bereits gründliche Vorarbeit geleistet«, gab ich das Kompliment zurück. Wenig später zwangen wir den Zentralrechner, uns dorthin zu senden, wo er unsere Begleiter hingeschickt hatte. Keine der ausgeführten Eingaben und Schaltungen wurde von der Maschine beanstandet. Offensichtlich akzeptierte sie unsere Autorität. Möglicherweise war der Rechner aber auch zu sehr mit sich selbst beschäftigt, denn noch immer schien er mit jemandem zu kommunizieren, was ihm enorme Energien abverlangte. Bevor uns der Strahl erfaßte, nahm Gisol eine neue Gestalt an, ähnlich einem gebückt gehenden Gorilla, ohne Fell, mit menschlichen Gesichtszügen. Ich hob seine Kleidung sowie die zurückgelassenen Kleidungsstücke und Waffen der anderen auf. Außerdem schaltete ich meine eingebauten Meßgeräte ein, um zu ermitteln, wohin uns die Reise ins Unbekannte führte. Wir fanden uns an der frischen Luft wieder, Gisol und ich, mitten in hohem Gras. Über uns stand nach wie vor der Himmel in Flammen. Meine durchgeführten Messungen ergaben, daß dieser Platz, bezogen auf den derzeitigen Standort der POINT OF, fast auf der entgegengesetzten Seite des Planeten lag. In dem unterirdischen Komplex war es mir nicht möglich gewesen, Kontakt mit den fünf Flashpiloten aufzunehmen. Jetzt gelang es mir, die Verbindung herzustellen und ihnen die Daten unseres Aufenthaltsortes durchzugeben. Anschließend erkundeten Gisol und ich die nähere Umgebung. Mein außergalaktischer Freund benutzte beim Gehen Arme und Beine gleichzeitig. Wir erreichten eine Anhöhe mit einem herrlichen Ausblick. Zu Füßen einer mächtigen Echsenstatue lag ein
kreisförmiges Dorf. Offenbar fand dort gerade ein Fest statt.
Erst beim Näherkommen wurde uns klar, wer auf diesem Fest die drei Hauptpersonen waren. Man hatte sie an
dicke Metallpfähle gefesselt und sicherlich nichts Gutes mit ihnen im Sinn.
Gisol ergriff umgehend die Initiative und veränderte wieder einmal seine Gestalt. Er verwandelte sich in einen
zwei Meter großen Echsenmann, der mit der Statue identisch war - abgesehen von der goldenen Hautfarbe.
Offensichtlich wollte er den Dorfbewohnern einen gehörigen Schrecken einjagen.
Auch ich trug mein Scherflein dazu bei. Aus meinem gut sortierten Musikspeicher wählte ich ein kraftvolles
Orchesterwerk, das ich anfangs leise, dann immer lauter abspielte - bis die Trommeln der Echsen verstummten.
Gisol wurde zu einem Wesen, das seine Sinnesorgane auf der Brust trug. Im Anschluß daran entschied er sich
für Jim Smith, so daß die Echsenkrieger aus dem Staunen gar nicht mehr herauskamen.
Einer erwies sich als besonders wagemutig und warf seinen Speer nach mir. Die lächerliche Holzwaffe prallte an
meiner Metallbrust ab.
Ich blieb kurz stehen und drehte mich zu Gisol um, der mittlerweile ein paar Schritte hinter mir ging. Hatte er
mitbekommen, was gerade passiert war? Sein verformbarer Körper war unbestreitbar einzigartig, aber auch mein
Metallkörper hatte seine Vorteile, das konnte er schlecht bestreiten.
Zu meiner Überraschung flog ein zweiter Speer an mir vorbei und bohrte sich tief in Gisols Brust.
Ich war entsetzt. Wieso hatte ich den Speer nicht kommen sehen? Warum hatte ich nicht rechtzeitig reagiert und
ihn abgefangen?
Gisol alias Jim Smith stand wie eine Eiche. Er packte den Speer mit einer Hand und zog ihn aus seinem Körper.
Vor den Augen der erstaunten Echsen verschloß sich die Wunde, als hätte es sie nie gegeben. Blut floß dabei
keines.
Besser hätte man mir meine Unvollkommenheit nicht vor Augen führen können. Gisol war mir auch in dieser
Hinsicht weit überlegen. Gab es überhaupt etwas, das ihn zerstören konnte?
Ich reichte ihm seine leicht lädierte Kleidung. Er legte sie mit unbeweglicher Miene an.
Ich beendete den lautstarken »Walkürenritt« und begab ich mich mit den übrigen Sachen zu den Gefangenen.
Nacheinander befreite ich sie von den Fesseln und händigte ihnen Kleidung und Waffen aus.
Es war ganz still im Dorf, nur das Knistern der Feuerstellen war zu hören. Kein einziger Echsenkrieger hatte den
Mumm, mich an der Befreiung meiner Freunde zu hindern. Ganz im Gegenteil, sobald ich einer Echse zu nahe
kam, wich sie mir voller Angst aus.
Ein besonders großes Prachtexemplar, vermutlich der Anführer, hockte wie festgewurzelt auf einem mit
Schriftzeichen versehenen Stein und wagte es nicht, sich zu rühren. Der Felsbrocken diente ihm offenbar als
Thron.
Ich hatte den Eindruck, daß die Nerven der Dorfbewohner bis zum Zerreißen gespannt waren. Scheinbar fehlte
nur noch der berühmte Funke, der die Explosion auslöste.
Die Zündung erfolgte in dem Augenblick, als fliegende Untiere vom Flammenhimmel aufs Dorf herabstürzten
und Jagd auf die Echsen machten...
Fliegende Untiere? Zumindest auf die Echsen mußten die Flash so wirken. Sie gerieten in Panik und rannten
nach allen Seiten aus dem Dorf, um sich im unebenen Gelände ein Versteck zu suchen. Ich war sicher, daß sie
nicht so bald wieder zurückkommen wür
den. Die Piloten der fünf zigarrenförmigen Beiboote der POINT OF hetzten die Flüchtenden noch eine Weile durch die Gegend, damit sie sich auch ordentlich zerstreuten. Anschließend landeten sie in der Dorfmitte und stiegen aus. Commander Dhark hielt sich nicht lange mit Dankesreden für seine Rettung auf. Er ließ sich von mir ausführlich Bericht erstatten, bestieg anschließend einen Flash und setzte sich mit seinem Flaggschiff in Verbindung. Kartek meldete sich aus seinem Flash im Hangar. Von ihm erfuhr Ren Dhark, daß die Lage dort unverändert war. Die POINT OF wurde noch immer von dem Goldenen festgehalten, sämtliche Systeme waren blockiert, und der Checkmaster stand weiterhin in intensiver Kommunikation mit einem unbekannten Etwas. Aufgrund unserer bisherigen Nachforschungen und Erlebnisse schien jetzt endgültig festzustehen, mit wem sich der Checkmaster fortwährend auseinandersetzte - darin waren Doorn, Sass, Gisol, der Commander und ich uns einig. Der außergewöhnliche Bordcomputer in der Zentrale der POINT OF »sprach« aller Wahrscheinlichkeit nach mit dem Zentralgehirn tief unter der Oberfläche dieses Planeten. Ehrlich gesagt, ich konnte mir nicht vorstellen, was die beiden Maschinen miteinander zu bereden hatten.
Wenn Ren Dhark einmal begonnen hatte, Nachforschungen anzustellen, konnte er damit nicht so schnell wieder aufhören. Manchmal verhielt er sich dabei wie ein Besessener, vor allem dann, wenn es darum ging, das Geheimnis der Mysterious zu ergründen. Was er bisher über sie erfahren hatte, war noch längst nicht alles, das sagte ihm sein Forscherinstinkt. Gisol hatte lediglich einen Zipfel des Schleiers gelüftet, der sein Volk umgab. Er hatte den Terranem nach bestem Wissen und Gewissen nur das berichten können, was er wußte. Aber da gab es noch mehr! Davon war der Commander der Planeten tief in seinem Herzen überzeugt. Der Mythos der Mysterious war angekratzt - doch er war nicht zerstört. Weil nicht sein konnte, was nicht sein durfte. Hätte Dhark geahnt, welche überraschenden, faszinierenden Erlebnisse in naher Zukunft auf ihn warteten, seine Aufregung wäre noch viel größer gewesen. Zwar stand felsenfest, daß die Worgun und die Mysterious identisch waren - daran gab es diesmal keine Zweifel, wie einst bei den Saltem - dennoch war seine Suche noch lange nicht beendet. Das Abenteuer Mysterious hatte gerade erst begonnen... Auslöser für die Suche nach »den Hohen« war einst die EntdekkUng der POINT OF gewesen. Von Anfang an hatte sich Dhark gefragt, ob auch von anderen unwissenden Völkern Hinterlassenschaften der Mysterious
gefunden worden waren, ob es auch anderswo Besessene gab, die es sich zum Ziel gesetzt hatten, mit den
Geheimnisvollen Kontakt aufzunehmen. Und falls ja - waren sie mit ihren Nachforschungen schon viel weiter
als er? Oder hatten die meisten Suchenden bereits auf halber Strecke aufgegeben?
Dhark und Gisol stiegen zu ihren Piloten in die Flash und drangen bei aktiviertem Intervallfeld in den Erdboden
ein. Die anderen drei Flash blieben oben im verwaisten Dorf zurück.
Artus war nicht nur der einzige Roboter auf der Welt, der lebte -er war auch der einzige Roboter, der
Langeweile empfinden konnte. Hätte er sich frei entscheiden dürfen, wäre er ebenfalls mit dem ihm zur
Verfügung gestellten Flash ins Erdreich eingetaucht. Als Besatzungsmitglied mußte er den Befehlen des
Commanders jedoch genauso folgen wie Sass und Doorn. Daher suchte er nun nach einer anderen sinnvollen
Beschäftigung.
Er begann, die Hütten der Echsen näher unter die Lupe zu nehmen, um ihre Lebensumstände zu ergründen.
Sass, der inzwischen aus dem Phantzustand zurückgekehrt war,
hielt das für eine gute Idee und suchte rundherum das Gelände ab.
Doorn zog es vor, die willkommene Pause zu einer geistigen und körperlichen Entspannungsübung zu nutzen:
Er hielt ein kleines Schläfchen.
Die Piloten überprüften ihre Flash, um auf einen eventuellen Notstart vorbereitet zu sein. Man wußte schließlich
nie, was als nächstes passierte, der Commander war immer für eine Überraschung gut.
Währenddessen machten Dhark und Gisol unter der Erde eine Entdeckung, die sie nicht sonderlich überraschte.
Wie sie es bereits vermutet hatten, lag im Boden unter dem Dorf ein abgestürzter Ringraumer, ein S-Kreuzer.
Das schwer beschädigte Raumschiff lag auf dem Kopf. Es hatte sich beim Absturz vermutlich in der Luft
gedreht und war mit der Oberseite nach unten in die Erde eingedrungen. Offenbar hatte die Besatzung noch
versucht, eine normale Landung hinzukriegen und zu diesem Zweck die Landestützen ausgefahren - jene
Stützen, die jetzt oben aus dem Erdreich ragten und die Pfahlanlage des Hüttendorfs bildeten. Beim Aufstellen
der Behausungen hatten sich die Echsen dann an den »Pfählen« orientiert und das Dorf ringsherum als Kreis
angelegt.
»Die Wilden müssen geglaubt haben, der Himmel stürzt ein, als der Raumer herabfiel«, sagte Dhark zu Gisol
über Bordfunk. »Später haben sie den Vorfall wahrscheinlich als ein Zeichen ihrer Götter interpretiert und an
dieser Stelle ihr Dorf errichtet.«
»Schade, daß niemand von der Ringraumerbesatzung überlebt hat«, erwiderte der Worgun. »Die Raumfahrer
hätten die Weiterentwicklung dieser niederen Gattung erheblich vorantreiben können.«
»So wie es die Worgun bei uns Menschen und all den anderen Völkern getan haben?« entgegnete Dhark, und in
seiner Stimme schwang ein leiser Vorwurf mit.
»Darin sehe ich auch weiterhin nichts Verwerfliches«, antwortete Gisol. »Manche Lebensformen benötigen nun
einmal massive
Förderung von außen, andernfalls treten sie über Jahrtausende hinweg auf der Stelle. Die Hüttendorfbewohner
sind der lebende Beweis dafür. Es sind denkende, aber unterentwickelte Wesen mit geringen Bedürfnissen und
eingeschränktem Verstand. Was für ein sinnloses Dasein! Die Echsen, deren Entwicklung wir in Andro-meda
beschleunigt haben, dürften inzwischen ein weitaus höheres Intelligenzniveau erreicht haben als dieses
armselige, von der Welt vergessene Völkchen.«
»Gegen ein gewisses Maß an Förderung gibt es nichts einzuwenden. Ein kleiner Denkanstoß hat noch keinem
geschadet. Doch ich finde, die Worgun haben es mit ihren Experimenten zu weit getrieben - in diesem Punkt
pflichte ich meinem Freund Riker bei. Eure Bioprogramme waren keine Handreichung, sondern gezielte
Manipulation.«
Dem hatte Gisol nichts entgegenzusetzen.
Beide Flash durchdrangen in ihrem Intervallum die äußere Hülle des abgestürzten Ringraumers.
Im Schiffsinneren war es stockdunkel. S amtliche Funktionen waren außer Betrieb. 4
Der Mensch und der Worgun machten sich gemeinsam auf die Suche nach der Zentrale. Beide wußten, wo sie zu
finden war, denn im Aufbau waren die S-Kreuzer im großen und ganzen gleich.
Dharks Scheinwerfer erfaßte ein Skelett. Anhand der Körper-und Kopfform war klar erkennbar, daß es sich bei
dem Toten um keinen Terraner handelte, und schon gar nicht um einen Worgun.
In den weitverzweigten Gängen und Tunneln stießen Gisol und Dhark auf weitere Skelette. Viele steckten noch
in Raumanzügen. Auf jedem Deck gab es zahllose solcher schaurigen Überreste. Scheinbar hatte niemand von
der Besatzung den Absturz überlebt.
Nicht nur an der Außenhülle wies der Raumer starke Beschädigungen auf, auch im Inneren lag einiges in
Trümmern. Die meisten Wände waren schwarz von Ruß. Offensichtlich war es zu mehreren Explosionen und
Großbränden gekommen.
Im Hangar gab es kein einziges funktionstüchtiges Beiboot mehr, und der Maschinenraum sah aus, als hätte
darin ein Tornado gewütet. Die schwersten Schäden waren zweifelsfrei durch Strah-lenbeschuß von außen
verursacht worden.
Gisol überprüfte die Vorratsräume für Tofirit. Sie waren so gut wie leer. Er setzte Dhark davon in Kenntnis.
»Weit wären die Raumfahrer damit nicht mehr gekommen«, merkte Gisol an.
Er hatte einen bestimmten Verdacht, was die Herkunft der Besatzung anging. Auch Dhark war nicht entgangen,
daß das Aussehen der Skelette auf Echsenwesen hindeutete.
Gefahr drohte den Flashinsassen in diesem Schiff keine mehr, soviel war sicher. In einem Leichenschauhaus hätte es nicht friedlicher zugehen können. Die Toten konnten einem nichts tun, und die Abwehrvorrichtungen des Kreuzers hatten ihre Funktion längst eingestellt. Somit gingen Dhark und Gisol kein sonderlich großes Risiko ein, als sie in der Zentrale ausstiegen. Beide kamen sich vor wie Stubenfliegen, die mit den Füßen an der Zimmerdecke klebten. Fliegen in Raumanzügen, mit leistungsstarken Handlampen. Unter ihren Füßen befand sich die eingebaute Deckenbeleuchtung, und über ihren Köpfen »hingen« die Kommandosessel und der Bordcomputer. Letzterer war stark beschädigt. Die Schaltpultverkleidung wies Risse auf, und in der Mitte fehlte ein zwei mal zwei Meter großes Bruchstück, so daß man ungehindert das Innenleben des Rechners betrachten konnte. Gisol und Dhark betätigten ihre Fluggürtel und schwebten langsam nach oben. Die Piloten blieben in den Flash, hielten sie startbereit. Gemeinschaftlich versuchten der Mysterious und der Terraner, über den schwer in Mitleidenschaft gezogenen Suprasensor wenigstens einige Apparaturen auf dem Schiff wieder in Gang zu setzen. Vergebens. Nicht nur die Insassen gaben kein Lebenszeichen mehr von sich, auch sämtliche Maschinen waren tot. Dhark hatte nichts anderes erwartet, angesichts des zerstörten Maschinenraums, allerdings gab er nie die Hoffnung auf. »Kein Wunder, daß hier keiner mehr lebend rausgekommen ist«, bemerkte er betroffen. »Wer sich nicht beim Absturz sämtliche Knochen brach oder bei einer der zahlreichen Explosionen zerfetzt wurde, der verbrannte entweder, oder er erstickte, nachdem das Feuer das letzte Quentchen Sauerstoff absorbiert hatte. Die Flammen erloschen daraufhin von selbst. Den restlichen Überlebenden gewährten ihre Raumanzüge nur einen geringfügigen Aufschub. Wahrscheinlich zogen einige von ihnen den Freitod vor.« »Ein paar könnten aber auch den Weg ins Freie gefunden haben«, meinte Gisol. Dhark bezweifelte das. »Wie denn? Sollen sie sich mit Zähnen und Klauen einen Tunnel gegraben haben?« »Möglicherweise. Allerdings gehe ich eher davon aus, daß das Schiff damals in einem Aufschlagkrater lag, der noch offen war. Vermutlich haben ihn Wind und Wetter erst im Laufe der Zeit zugeschüttet. Das ist natürlich nur eine Theorie.« In einem Sessel kauerte ein angeschnalltes, in sich zusammengesunkenes Skelett. Gisol schwebte herab, holte ein Gerät aus dem Flash und kam wieder zurück. Anschließend untersuchte er das Skelett gründlicher. »Der Zustand der Knochen läßt darauf schließen, daß der Absturz ungefähr neunhundert Jahre zurückliegt«, sagte er nach einer Weile. »Das würde auch mit dem Zustand des Raumschiffs insgesamt übereinstimmen. Der Kreuzer ist nicht erst gestern vom Himmel geholt worden, sondern vor sehr langer Zeit. Exakteres kann ich nur über den Bordrechner in Erfahrung bringen. Vielleicht gelingt es mir, ihm noch ein paar Daten zu entlocken. Dafür brauchte ich jedoch die Unterstützung von Ihrem Supergenius Arc Doorn und dem Metallmann. Artus und ich, wir sind ein recht gutes Team.« »Du bekommest jede Unterstützung, die du benötigst, Gisol. Ich möchte nämlich zu gern wissen, was Raumfahrer aus Andromeda ausgerechnet in diesem Teil des Alls verloren hatten. Zumindest glaube ich, daß sie von dorther kamen. Oder bist du anderer Meinung?« »Nein, auch ich bin überzeugt, daß es sich um jene Echsen han-'delt, von denen wir vorhin gesprochen haben. Mein Volk beschleunigte seinerzeit ihre Entwicklung in Andromeda. Wie sie in den Besitz eines WorgunRaumschiffs kamen und wohin sie von hier aus Weiterreisen wollten, das steht in den Sternen - bezie hungsweise im Bordrechner. Wir können darüber nicht einmal spekulieren, weil wir nicht über den geringsten Anhaltspunkt verfügen. Ich ahne allerdings, warum sie hier gelandet sind, und wer sie abgeschossen hat.« Ren Dhark nickte. »Ihre Vorratsräume für Tofirit mußten dringend aufgefüllt werden. Der Treibstoff hätte wahrscheinlich gerade so für den Rückflug in ihre Heimat gereicht, sprich: spätestens bei der Ankunft in Andromeda wären alle Meiler ertobit geworden. Also mußten die Echsen hier auftanken. Die Goldenen betrachteten sie jedoch als unerwünschte Eindringlinge und feuerten auf den S-Kreuzer. Mehrere Volltreffer brachten ihn zum Absturz und kosteten alle Insassen das Leben.« »Falls nicht doch ein paar von ihnen dem Tod entronnen sind«, gab Gisol aufs neue zu bedenken. Zu seiner Überraschung schloß Dhark diese Möglichkeit nicht mehr aus. »Eventuell liegst du damit gar nicht mal so falsch, Gisol.« »Nicht wahr? Mal angenommen, die wilden Echsen lebten schon damals auf Golden. Kannst du dir das Erstaunen beider Völker vorstellen, als sie sich plötzlich und unerwartet gegenüberstanden? Auf der einen Seite hochintelligente Echsenwesen, die von weither durchs All geflogen kamen. Und auf der anderen Seite völlig un gebildete, wildlebende Echsen, deren ganzes Leben nur aus Fressen und Schlafen bestand. Hältst du es für möglich, daß die Wilden ihre klügeren Artgenossen auf der Stelle umgebracht haben? Schließlich waren die Raumfahrer schwerverletzt und konnten sich kaum wehren.« Dhark schüttelte den Kopf. »Je mehr ich darüber nachdenke, um so stärker hege ich einen ganz anderen Verdacht. Doch darüber reden wir, wenn wir hier heraus sind. Komm, Gisol, es ist höchste Zeit, wieder frische Luft zu atmen.« Wenn ich Nachforschungen betrieb, dann tat ich das mindestens ebenso intensiv wie der Commander der Planeten. Allerdings fehlte mir etwas, das ihm oftmals (wahrscheinlich zu unrecht) vorgeworfen wurde: Besessenheit. Dieser Begriff definierte sich laut meiner gespeicherten Lexika folgendermaßen: »Totale Begeisterung,
leidenschaftlicher Drang, schwärmerisch erfüllt von einer Idee - in Ausnahmefällen aber auch Wahn,
Geistesstörung, als ob ein böser Geist jemandem inne-wohnte.«
Für mich persönlich bevorzugte ich die Definition von Akribie:
»Übertriebene Genauigkeit, höchste Sorgfalt, gründlich.«
Wahrscheinlich lag das Ideal irgendwo in der Mitte. Aber, mal ehrlich, welches fühlende und denkende Wesen
mochte schon gern als mittelmäßig eingestuft werden? »Mittelmäßig« rangierte in meinem Sprachempfinden
knapp hinter »Nett«. Wer diese Begriffe verwendete, meinte eigentlich etwas ganz anders: »Nichts Besonderes«.
Die interessanten Funde, die ich in den Hütten der Echsen gemacht hatte, fielen mit Sicherheit nicht unter diese
Kategorie. Ich sammelte alle ungewöhnlichen Gegenstände ein und zeigte sie auf dem Dorfplatz Bram S äs s und
den Piloten.
Arc Doorn, der sitzend an einer Hüttenwand lehnte und ein Nikkerchen hielt, wachte augenblicklich auf und kam
hinzu. Offensichtlich gehörte er zu jenen Menschen, denen man nachsagte, sie würden mit offenen Augen
schlafen.
»Ein Nahkampfstrahler, dessen Energien versiegt sind«, zählte
er mürrisch auf, nachdem er alles kurz begutachtet hatte. »Ein kaputtes Meßgerät für radioaktive Strahlung. Ein
seltsam geformter, dreckiger Raumfahrerhelm. Ein nicht mehr funktionstüchtiges Vi-bro-Kampfmesser.
Deswegen habt ihr mich geweckt?«
»Das Besondere daran sind nicht die Utensilien selbst, sondern ihre Fundorte«, erklärte ich ihm. »Ich habe sie
samt und sonders aus den Hütten geholt. Den Strahler verwenden die Echsen zum Zerstampfen von Krautern in
einem Mörser. Das Meßgerät dient ihnen zum Beschweren von zum Trocknen ausgelegten Pflanzen. Im Helm
bewahrten sie Essensreste auf, und das Messer benutzen sie scheinbar als gewöhnliches Werkzeug.«
»Vermutlich ist ihnen vor ewiger Zeit ein unvorsichtiger Raumfahrer in die Fänge geraten«, überlegte Sass.
»Vielleicht waren es sogar mehrere. Die gefundenen Gegenstände sind das einzige, was heute von den armen
Opfern noch übrig ist, der Rest wurde sicherlich längst in alle Winde zerstreut.«
»Wartet einen Moment, das war noch nicht alles«, sagte ich und verschwand in der größten Hütte des Dorfes,
wahrscheinlich das Domizil des Anführers.
Als ich wieder herauskam, hielt ich eine Schaltpultverkleidung in den Händen, beziehungsweise ein Bruchstück
davon. Es war etwa zwei mal zwei Meter groß. Einige fest installierte Schalter und Kabelreste hingen noch
daran.
»Und wofür wurde dieses Teil zweckentfremdet?« erkundigte sich Sass. »Als Tablett?«
»Es hing an der Wand, so wie ein Gemälde«, antwortete ich ihm. »Umrahmt war es von zahlreichen bunten
Blüten. Scheinbar ist der Anführer dieses Volkes ein Kunstliebhaber.«
»Oder aber die Pultverkleidung stellt für ihn eine Art Fetisch dar«, schätzte der Cyborg.
Doorn grinste. »Womöglich kniet er jeden Abend davor und betet das Ding an.« Die beiden Flash tauchten lautlos aus dem Erdreich auf. Nachdem der Commander, Gisol und die Piloten ausgestiegen waren, tauschten wir gegenseitig unsere Informationen und Mutmaßungen aus. Angesichts meiner diversen Funde - das Bruchstück stammte höchstwahrscheinlich vom Zentralpult de^s begrabenen Ringrau-mers - sah sich Gisol in seiner Theorie bestätigt. Seiner Meinung nach waren die wenigen Andromeda-Echsen, die den Abschuß ihres Schiffs überlebt hatten, von den wildlebenden Bewohnern dieses Planeten umgebracht worden. »Der Helm wurde zweifelsfrei für einen Echsenkopf angefertigt«, stellte er abschließend fest und fügte verständnislos hinzu: »Diese Primitivlinge wissen überhaupt nicht, was sie angerichtet haben. Hätten sie ihren Artgenossen aus Andromeda geholfen, hätten sich die genesenen Raumfahrer später bestimmt revanchiert und sie in ihrer Entwicklung unterstützt. Durch ihr unbedachtes Verhalten haben die Wilden die Chance ihres Lebens verpaßt.« Er wandte sich Ren Dhark zu. »Du machtest vorhin Andeutungen, daß dir eine gänzlich andere Theorie vorschwebt, Ren. Bist du jetzt bereit, darüber zu sprechen?« Dhark nickte. »Mal angenommen, vor 900 Jahren rettete sich tatsächlich eine Handvoll Echsen, männliche und weibliche, aus dem abgestürzten Ringraumer«, begann er. »Und mal weiterhin angenommen, sie erholten sich von ihren Verletzungen und richteten sich auf diesem Planeten häuslich ein... wäre es da nicht denkbar, daß die Echsen von damals die Vorfahren der Wilden von heute waren?« »Unmöglich!« meinte Gisol. »Dann müßte sich das intelligente Echsenvolk im Verlauf mehrerer Generationen total zurückentwickelt haben.« »Halten Sie das für gänzlich ausgeschlossen?« warf der Cyborg ein. »Auf Terra ist es schon vorgekommen, daß Menschen, die jahrelang von der Zivilisation abgeschnitten waren, verwilderten. Zugegeben, das sind Einzelfälle...« »Das meinte ich nicht«, unterbrach Dhark ihn. »Ich rede von ei ner unkontrollierten Vermischung nicht miteinander harmonierender Gene. So etwas kann zu schweren Hirnschädigungen führen, selbst bei körperlich abgehärteten Lebewesen. Deshalb sind uns Menschen intime Kontakte zu nahen Angehörigen untersagt.«
Gisol begriff nicht sofort, daher brachte es Doorn ohne Wenn und Aber auf den Punkt: »Degeneration durch
Inzucht.«
»Das kannst du nicht beweisen, Commander«, erwiderte der Worgun. »Jedenfalls nicht ohne eine genauere
medizinische Untersuchung der Dorfbewohner. Die Gene der Echsen sind mit Sicherheit völlig anders
strukturiert als die Gene der Menschen, weshalb...«
Wieder ließ Dhark seinen Gesprächspartner nicht ausreden.
»Schon gut, es war ja nur eine These«, sagte er. »Für einen wissenschaftlichen Streit brauchten wir mehr
Informationen über die körperliche und geistige Beschaffenheit des Echsenvolkes, da gebe ich dir recht, Gisol.
Doch ich denke, es gibt Wichtigeres, um das wir uns jetzt kümmern sollten.«
Er wies Doorn und mich an, Gisol unter die Erde zu begleiten und in gemeinschaftlicher Arbeit dem größtenteils
zerstörten Rechner des S-Kreuzers so viele Daten wie möglich zu entnehmen. Wir kamen seiner Anordnung
umgehend nach.
Drei Flash verschwanden in der Tiefe.
In einem davon saß ich, und mir war nicht wohl in meiner Metallhaut. Seit meinen Erlebnissen auf dem Mars
hatte ich irgendwie eine Abneigung gegen »Arbeit unter Tage«. Ohne daß ich es verhindern konnte, drängte sich
mir die Erinnerung an das unheimliche Tier auf, das mir damals in den dunklen Tunnelgängen begegnet war...
Brennender Himmel, bleiche Fremdlinge, ein Gestaltenwandler, ein lärmendes Monster, fliegende Ungeheuer...
die kleine, abgeschiedene Welt der Lekkraner war aus den Fugen geraten.
Ikkol gab sich die Schuld an der Misere. Schon einmal hatte er gegen die heiligste Regel seines Volkes
verstoßen, nach der Gewalttaten innerhalb des Stammes strikt verboten waren und unter Strafe gestellt wurden.
Seinerzeit hatte er einen Pflanzensammler hinterrücks niedergeschlagen und ihm mit einer abgerissenen Oxx-
Kralle, die er Tage zuvor an der Reviergrenze gefunden hatte, diverse Verletzungen zugefügt. Anschließend
hatte er sich als dessen Retter aufgespielt und seine Wunden versorgt.
Er hatte die Anerkennung, die ihm dafür zuteil geworden war, genossen. Aber er hatte auch Ängste
ausgestanden. Wäre ihm jemand auf die Schliche gekommen, wäre er heute nicht mehr am Leben.
Damals hatte er den Göttern versprochen, etwas derart Furchtbares nie wieder zu tun.
Dieses Versprechen hatte er jetzt gebrochen.
Die Götter zürnten ihm deswegen, und sie brachten Unheil über den ganzen Stamm. Die Flammen am Himmel
hatten ihn vor einem weiteren Verbrechen warnen wollen, aber er hatte das Zeichen nicht verstanden.
Ikkol, der sich mit Tikkum in einer Erdhöhle versteckte, dachte darüber nach, ob er dem Häuptling beide
Untaten eingestehen sollte. Vielleicht würde er damit die Stammesgötter besänftigen. Allerdings wäre dies auch
sein sicherer Tod.
Tikkum ergriff die Hand des Heilers und bedankte sich dafür, daß er ihn auf der Flucht mitgenommen hatte.
Beim Angriff der fliegenden Ungeheuer waren alle in Panik geraten, und jeder hatte nur daran gedacht, seine
eigene Schuppenhaut zu retten. Tikkum schwor hoch und heilig, Ikkol künftig respektvoller zu behandeln.
Der alte Heiler wußte, was er von solchen Schwüren zu halten hatte. Sie wurden aus der Not heraus geboren und
gerieten bald wieder in Vergessenheit.
Dennoch trug der Schwur dazu bei, Ikkols Gewissensbisse zu verstärken. Er nahm sich vor, Pakkuma beide
Verfehlungen zu beichten, ohne Rücksicht auf sein eigenes Leben. Ikkol hatte die
wichtigste Stammesregel gebrochen und damit den Zorn der Götter entfacht. Dafür verdiente er die Todesstrafe,
und er war bereit, sie anzunehmen.
Der Häuptling verschwendete derzeit keinen Gedanken an den Heiler. Mit ein paar engen Getreuen hatte er sich
in eine feuchte Felsenhöhle zurückgezogen, die er erst wieder verlassen würde, wenn ihm seine Späher
berichteten, daß sich keines der fremdartigen Wesen mehr im Dorf aufhielt.
Pakkuma verstand die Welt nicht mehr. Was hatte er getan, daß die Götter dem Stamm ihren Schutz versagten?
War er ein schlechter Regent? Hätte er in der Vergangenheit mehr auf die Bedürfnisse seiner Untertanen
eingehen müssen?
Das Dorf war von zwei kreisförmigen Grenzmarkierungen umgeben. Der kleinere Kreis bildete die Dorf grenze,
der weitaus größere Kreis die Reviergrenze. Letztere durfte von den Pflanzensammlern und Aassuchern nicht
überschritten werden, um zu verhindern, daß sie versehentlich in das Sammel- und Jagdrevier eines anderen
Dorfes eindrangen. Zwar waren die Lekkraner noch nie auf Anzeichen weiterer Völker in ihrer Nähe gestoßen,
aber man wußte ja nie...
Auf der letzten Dorf Versammlung war anregend über eine Erweiterung der Reviergrenze gesprochen worden.
Pakkuma hatte dies stets abgelehnt, um Konflikte mit möglicherweise feindseligen Nachbarn zu vermeiden.
Inzwischen bereute er seine Furchtsamkeit. Sein Stamm hatte ein Recht darauf, zu erfahren, was es außerhalb der
lekkranischen Grenzen zu entdecken gab.
Hier und heute nahm er sich fest vor, künftig mehr Mut zu zeigen und eventuellen Risiken nicht mehr länger aus
dem Weg zu gehen. Er würde die Reviergrenze vollständig aufheben und höchstpersönlich eine Expedition
anführen, die ins Unbekannte hinter dem Grenzbereich vordrang.
Pakkuma ging gedanklich sogar noch einen Schritt weiter. Vermutlich waren die fliegenden Untiere gerade
dabei, das Dorf vollständig zu zerstören. Keine Hütte würde mehr heil bleiben, und die
heiligen Pfähle hatten die Bestien bestimmt längst aus dem Erdreich gerissen. Warum also nicht ganz aus dieser
Gegend wegziehen? Die Lekkraner konnten ihr Dorf ebensogut anderswo neu aufbauen, weit fort von diesem
unsicheren Ort.
Vielleicht fanden sie ja sogar einen Platz, an dem die Flammendämonen nicht mehr wüteten. Der Himmel war so
riesig, daß er unmöglich überall brennen konnte.
Und was Nekkrio anbetraf, so würde ihm Pakkuma nicht länger im Wege stehen. Wenn sein Bruder unbedingt
die Verantwortung für den Stamm tragen wollte... sollte er doch, er würde schon sehen, was er sich damit
aufhalste.
Nekkrio hatte jedoch gar nicht mehr die Absicht, sich zum Stammesoberhaupt aufzuschwingen. Er, der sich in
einen dichten Baumwipfel geflüchtet hatte, befürchtete nämlich, daß seinetwegen das Unglück übers Dorf
gekommen war. Seine ständigen Machtgelüste hatten die Dämonen angelockt, und nun wollten sie ihn mit sich
nehmen. Aber er wollte nicht im Reich des Bösen leben, er wollte bei seinem Stamm bleiben.
Nekkrio war bereit, alles zu tun was notwendig war, um das Böse wieder aus dem Dorf zu vertreiben. Voller
Demut betete er zu den Göttern, bat sie um Vergebung und versprach ihnen, von nun an seinen Bruder neidlos
als Stammesführer zu akzeptieren.
Ungeduldig wartete Ren Dhark auf die Rückkehr von Artus, Gi-sol und Doorn. Er war höllisch gespannt, welche
neuen Informationen sie ans Tageslicht fördern würden.
Wie waren die Echsen an den Ringraumer gekommen? Wo wollten sie von hier aus hin?
Dhark hatte bereits eine vage Ahnung. Konnte es sein, daß...?
Er führte diesen Gedanken nicht weiter fort. Mit Theorien hatte er sich an diesem Tag schon zur Genüge befaßt.
Was ihm fehlte, waren konkrete Informationen.
Die Wilden hatten sich die ganze Zeit über nicht mehr blicken lassen. Ab und zu sah man in der Feme einen
Schatten. Wahrscheinlich warteten sie ab, bis die Fremden ihr Dorf endlich verlassen würden. Oder sie lauerten
auf eine günstige Gelegenheit für einen Angriff aus dem Hinterhalt.
Abwechselnd gönnten sich die Männer eine Stunde Schlaf, wobei das Dorf niemals unbewacht blieb. Von den
beiden verbliebenen Flash aus wurde jede vorsichtige Annäherung der wildlebenden Echsen registriert. Noch
trauten sie sich nicht näher heran und blieben auf Distanz.
Endlich kamen die drei Flash wieder nach oben. Doorn, Gisol und Artus stiegen auf dem Dorfplatz aus und
begaben sich zu ihrem Kommandanten.
Der Roboter trug etwas unter dem Arm, einen sechseckigen Fundgegenstand, der eine fremdartige Zahlen-
Buchstaben-Skala aufwies. Auf der Skala befanden sich drei bewegliche, momentan aber stillstehende Zeiger.
»Das Ding hing über dem Eingang zur Kommandozentrale«, unterrichtete Artus den Commander. »Dem ersten
Anschein nach könnte es sich um einen Zeitmesser handeln, jedoch ist er außer Betrieb, wahrscheinlich als Folge
des Absturzes. Ich dachte mir, daß sich unsere Techniker und Tüftler vielleicht dafür interessieren.«
Dhark nahm das »Andenken« nur kurz in Augenschein.
»Sieht so ähnlich aus wie die alte Küchenwanduhr meines Großvaters«, bemerkte er nur und gab sie dem
Roboter zurück. »Ich hoffe, ihr habt mir noch Wichtigeres zu erzählen. Nun redet schon. Was hat der
Suprasensor der Echsenraumfahrer ausgespuckt?«
Dhark konnte den Bericht kaum erwarten.
Vom Ergebnis war er dann ziemlich enttäuscht. Viel hatte der beschädigte Bordrechner nämlich nicht mehr
hergegeben.
Das anvisierte Reiseziel der Echsen stand allerdings fest. Es gab keinen Zweifel daran, daß sie nach Om wollten.
Dhark hatte es bereits vermutet.
»Vor vielen hundert Jahren stieß das andromedanische Echsenvolk durch Zufall auf ein Ringschiff - so wie die
Terraner viel später auf Hope«, erläuterte er seine These. »Wahrscheinlich löste der überraschende Fund eine
Welle von Nachforschungen und wissenschaftlichen Recherchen aus, über Jahre oder gar Jahrzehnte hinweg,
und letztlich fand man eine Spur der Schiffsbauer. Die Echsen entdeckten Hinweise auf den derzeitigen
Aufenthaltsort der Geheimnisvollen und brachen nach dorthin auf. Doch die Strecke von Andromeda nach Orn
ist unendlich lang, weshalb eine Zwischenlandung nötig war, um aufzutanken. Eine fatale Entscheidung, denn
hier endete der Weg der Fährtensucher. In ihrer Heimat wartete man vergebens auf ihre Rückkehr.«
»So könnte es gewesen sein«, pflichtete Gisol ihm bei. »Oder auch nicht. Wir haben ein bißchen Licht ins
Dunkel gebracht, nicht mehr und nicht weniger.«
»Besser als gar nichts«, meinte Dhark. »Hier gibt es für uns jedenfalls nichts mehr zu tun. Deshalb schlage icli
vor, wir kehren mit den Flash zur POINT OF zurück.«
Es war kein Vorschlag, sondern ein Befehl, dem niemand widersprach.
Artus nahm sich allerdings noch die Zeit, sämtliche Gegenstände, die er aus den Häusern geholt hatte, wieder
zurückzubringen. Mit einer Ausnahme: Das herausgebrochene Stück Schaltpultverkleidung hängte er nicht in die
Hütte des Häuptlings, sondern in die wesentlich kleinere Unterkunft nebenan, weil er der Meinung war, daß es
dort von der Ästhetik her besser hinpaßte. In jener bescheidenen Hütte lebte zweifelsfrei ein kreativer Geist.
Erst als die Flash bereits unterwegs waren, fiel Artus auf, daß er den fremdartigen Zeitmesser auf dem Dorfplatz vergessen hatte. Er hatte ihn für einen Moment auf dem Steinthron des Anführers abgelegt und dann versehentlich dort liegenlassen. Den Comman-der wegen des wertlosen Souvenirs um eine Umkehr zu bitten, wagte der Roboter nicht, dafür war der Verlust zu geringwertig. 11. Die CHARR verharrte unverändert an ihrer Position im Orbit über Geret III.
Im Leitstand des Fünfhundertmeterriesen mit seiner golden schimmernden Druckhülle wandte sich Colonel
Frederic Huxley seinem Funk- und Ortungsoffizier zu.
»Hören Sie, Perry, wie lange muß ich noch darauf warten, bis die Hyperfunkphase wieder steht, in drei Teufels
Namen! Gibt es Schwierigkeiten mit der Sendeleistung?«
Man merkte dem ansonsten so besonnenen Colonel eine gewisse Nervosität an.
Perry drehte seinen Sitz und sah seinem Kommandanten geradewegs in die grauen Augen.
»Es gibt keine Probleme mit der Sendeleistung«, sagte er mit bewußt zuversichtlicher Miene. »Die Phase dringt
bloß nicht mehr bis zum Beiboot durch. Das ist alles. Vermutlich haben sie eine Schichtung innerhalb der Sonne
erreicht, deren Magnetfeldlinien einfach keine anderen Impulse passieren lassen, auch keine 5-D. Die Mission
läuft. Nichts wird sie aufhalten. Sie werden sehen, zum errechneten Zeitpunkt tauchen sie wieder aus der Sonne
auf.« Hoffe ich zumindest, dachte er und hütete sich, etwas von der eigenen Skepsis über den Wahrheitsgehalt
seiner Behauptung nach außen dringen zu lassen.
Huxley sah auf sein Chrono.
»Zum errechneten Zeitpunkt, sagen Sie? Wenn das mal stimmt.«
Er fuhr sich mit den Händen durch das schon seit einigen Jahren ergraute Haar, dessen Farbe jedoch keinen
Bezug zu seiner physischen Verfassung hatte. Noch immer unterzog sich der Colonel einem periodischen
Konditionstraining, von dem seine Männer an Bord der CHARR so manches Lied singen konnten.
»Sie werden sehen, Colonel«, wiederholte Perry. »In ein paar Augenblicken wird die Verbindung wieder
stehen.«
»Das haben Sie mir inzwischen schon dreimal versichert. Sie wiederholen sich, Mister Perry.«
Das traf zu, wie Perry erschreckt registrierte.
Und seit zwanzig Minuten herrschte in der Hauptzentrale eine verhaltene Unruhe.
Aber nicht nur im Leitstand.
Überall in den einzelnen Sektionen der CHARR, wo immer ein Audiogitter in die Übertragung aus dem Beiboot
mit eingeklinkt gewesen war, warteten Ohren darauf, daß die Phase wieder zustandekam.
Eine Mischung aus Nervosität und unbestimmter Furcht nistete in den Köpfen der menschlichen Besatzung,
dämpfte ein wenig die vorher spürbar zuversichtliche Stimmung über das Gelingen der Tauchfahrt.
Ansonsten ging an Bord der CHARR alles seinen gewohnten Gang.
Der Hauptleitstand im Bug war komplett belegt; die Astrometrie arbeitete mit der üblichen Besetzung. In den
Waffenstationen ließen die Wachen die Anzeigen auf ihren Terminals nicht aus den Augen. Immerhin befand
man sich weit vom heimatlichen System entfernt in der relativ unbekannten Region eines ehemaligen Nogk-
Siedlungsgebietes, in dem den Libellenköpfen zufolge der Gesichtslose Feind jederzeit aus dem Dunkel der
Vergangenheit auftauchen und zuschlagen konnte.
Huxley hielt nichts mehr in seinem Gliedersessel.
»Mister Prewitt! Sie übernehmen.«
»Aye, Sir.«
»Ich werde in die Messe gehen und einen Kaffee trinken.«
»Gute Idee, Sir. Trinken Sie einen für mich mit.«
Der Colonel lachte und legte seinem 1.0. kurz die Hand auf die Schulter. Er sah dabei hinüber zu den zehn
kobaltblauen Nogk, die hinter ihren Konsolen auf der linken Außenseite des Leitstandes saßen und an ihren
Terminals arbeiteten.
Nein, keine zehn, mußte er sich berichtigen, es waren nur neun
der Blauhäutigen; Skett befand sich ja an Bord des Beibootes, zu dem seit zwanzig... er sah erneut auf sein
Chrono, seit einundzwanzig Minuten jeglicher Kontakt abgebrochen war. Er kniff kurz die Lippen zusammen.
Plötzlich fühlte er die Präsenz Tantals.
Er hob den Blick und sah sich von dem Kobaltblauen fixiert, der jetzt die Hand hob und ihn zu sich winkte. Eine
Geste, die er im Laufe der Zeit von den Terranern angenommen hatte, wie so viele andere Kleinigkeiten in der
umgangssprachlichen Kommunikation zwischen Nogk und Menschen.
»Möchtest du nicht zusehen?« drang seine Frage zu Huxley.
Der Colonel hob seine Hand, um seine Zustimmung zu signalisieren.
Gleich darauf stand er halb seitlich hinter Tantal.
»Zusehen wobei?« fragte er zurück.
Tantals Finger glitten über die Bedienfelder seiner Rechnerkonsole. Das Bild auf seinem Schirm expandierte.
»Dabei, Mensch Huxley!«
Mit leicht gefurchter Stirn blickte Huxley auf einen metallenen Gegenstand; er sah aus wie ein etwas unförmiges
Ei.
»Eine femgesteuerte Nogk-Sonde?«
»Richtig. Ein gepanzerter Sonnentaucher. Er sollte problemlos die Kugelstation erreichen können. Vielleicht
finden wir so heraus, weshalb das Beiboot nicht mehr sendet und können es eventuell aus einer prekären Lage
befreien. Die Sonde hat einige mechanische Vorrichtungen im Bug, die es uns an der Fernsteuerung erlauben,
kleine Reparaturen auch an schwierig zu erreichenden Stellen durchzuführen.«
»Gute Idee«, nickte Huxley und nahm bereitwillig in dem Sessel Platz, den einer der Kobaltblauen für ihn
räumte. Die Messe und den Kaffee stellte er vorerst zurück. »Ich hoffe nur, daß wir sie nicht brauchen, deine
mechanischen Werkzeuge.«
Der Sonnentaucher jagte los, ging in den Hyperraum und erschien einen Lidschlag später über der Sonnenkorona
des Zentral
gestims wieder im Normalraum. Seine Systeme orientierten sich kurz, und dann begann er mit dem Abstieg in
die äußeren Schichten der Sonnenatmosphäre.
Die nächsten dreißig Minuten verbrachte Huxley damit, den Weg des Sonnentauchers zu verfolgen. Als das
fremde, gewaltige Relikt einer unbekannten Rasse inmitten der Sonnenwinde, der Magnetfeldlinien und dem
Strahlenhagel gewaltiger Neutronenströme auftauchte wie ein Bote aus dem tiefsten Schlund der Hölle, zuckte er
doch erkennbar zusammen, so übergangslos geschah dieser Vorgang. Wie gebannt hingen seine Blicke an der
gewaltigen Kugelstation, die von der Sonde in den Fokus ihrer Bildaufzeichnungsgeräte genommen wurde. Aber
nach kurzer Zeit wich die erwartungsvolle Spannung einer enttäuschenden Resignation. Vom Beiboot war keine
Spur zu sehen. (Wie sich später herausstellte, hatte Tantal die Sonde nicht nahe genug an das künstliche Gebilde
herangeführt, um die kleine Pyramide aufzuspüren.) Huxley wartete noch ein paar Minuten, dann drehte er den
Sitz zur Seite und erhob sich.
»Sollte sich etwas ergeben, rufe mich. Ich bin in der Messe, brauche eine Tasse Kaffee und ein kleine Pause, um
den Kopf klarzubekommen.«
»Ich werde dich umgehend informieren, wenn eine Änderung eintritt«, versprach Tantal.
Kaum hatte sich Colonel Huxley entfernt, wandte sich Tantal an die anderen Kobaltblauen.
»Beginnen wir«, sagte er in der alten Sprache, die nicht mehr viele Nogk verstanden.
Der links von ihm sitzende blauhäutige Nogk betätigte eine Reihe von Tasten auf seiner Instrumentenkonsole.
Ein Sichtschirm erhellte sich, zeigte einen Ausschnitt der Oberfläche des dritten Planeten. Die Bildmitte wurde
dominiert von ei
ner alten Nogk-Festung mit rissigen Mauern, halb im Sand der Jahrhunderte vergraben. Sie hatte einmal einen
stolzen Namen getragen, erinnerte sich Tantal, Kiith-khar-meeg, der sie weit über die Grenzen des Nogk-Reiches
hin berühmt machte. Sie würde die Initialzündung bei diesem Experiment sein, denn die Fusionsmeiler der im
Boden des Wüstenplaneten versenkten Verteidigungsanlagen hatten kaum etwas von ihrer Kapazität eingebüßt.
Trotz der langen Zeit. Tantal war sicher, ein sattes Echo zu bekommen.
Er widmete sich seinem eigenen Sichtschirm. Dort war noch immer der Sonnentaucher zu sehen, auch wenn er
sich jetzt in einer größeren Entfernung vom Zielobjekt befand - die eingespiegelten Daten sprachen von siebzig
Kilometern. Tantal hatte ihn für das Experiment etwas zurückgezogen. Auf einem dritten Schirm drehte sich,
kaum erkennbar und nur durch die Instrumente verifizierbar, die kugelförmige Station um eine imaginäre Achse,
gesehen durch den Fokus des Sonnentauchers.
»Bereit?« Tantal sah seinen Eibruder an.
»Bereit«, kam dessen Bildimpuls.
»Dann aktiviere die Fusionsmeiler.«
Unter den Schaltungen des Kobaltblauen lief ein Energieerzeuger in der halb zerfallenen Nogk-Festung an.
Reglos saß Tantal vor der Konsole und hatte den Schirm, der die gigantische Station zeigte, im Blick seiner
starren Pacettenaugen. Bt Seine Fühler pendelten sachte. Mit einemmal richteten sie sich l steil auf, Zeichen
seiner tiefgreifenden Erregung.
»Seht ihr, was ich sehe?« überschwemmten seine Bildimpulse die anderen seiner Art.
Sie sahen es.
Alle.
Es war aber auch nicht zu übersehen!
Von der Kugelstation löste sich ein etwa drei Kilometer dicker blauer Strahl reiner, purer Energie. Er trat
übergangslos aus der der Sonne zugewandten Seite der Hüllenstruktur und griff in das Sonnenzentrum hinab,
wie eine blauschimmemde Lanze, die sich
in das rote Herz eines Giganten bohrte.
Tantal verfolgte die Balkenanzeigen auf seinem Instrumenten-pult. Sie begannen langsam zu wachsen. Kaum
merklich zuerst, dann aber deutlicher, kräftiger. Zum Schluß stand eine ganze Phalanx von Graphen auf dem
Schirm, die vom erwachenden Explosionsdruck im Inneren der Sonne kündeten.
Das Zentralgestirn des Geret-Systems begann damit, ins Nova-Vorstadium einzutreten.
»Das reicht!« gab Tantal seinem Eibruder zu verstehen. »Deaktiviere die Meiler von Kiith-khar-meeg.«
Als der Fernscan das Abschalten der Meileranlagen bestätigte, erlosch auch der blaue Energiestrahl aus der
unheimlichen Station.
Die Sonne selbst beruhigte sich nur langsam; die Veränderungen, in die sie der Strahl versetzt hatte, wirkten
noch eine Weile nach.
In der Astrometrie der CHARR wurde Astrophysiker Bernard aus seiner augenblicklichen Kontemplation
geschreckt, in die ihn der Anblick eines wunderschönen Sternennebels am äußersten Rand der Drakhon-Galaxis
versetzt hatte, als ein leises Läuten ertönte. Alarmiert glitten seine Blicke über die Reihen von Terminals mit
ihren korrespondierenden Bildschirmen - sie waren alle in Betrieb - und blieben an einem hängen, der,
verbunden mit dem großen Astro-Hauptrechner, ein bestimmtes Teilgebiet überwachen sollte: Stemenanomalien
in der näheren Umgebung.
Bernard strich sich die Haare aus der Stirn, rieb sich mit dem Zeigefinger der Linken den Nasenrücken und
registrierte auf dem Terminal den Ausbruch einer Supernova.
Wie von der Tarantel gestochen sprang er aus seinem Drehsitz und beugte sich über den Schirm.
»Himmel!« rief er halblaut, »Schon wieder Geret. Ich dachte, wir lassen vorläufig die Finger von dem stellaren
Fusionsreaktor.
Läuft da nicht eine Mission? - Natürlich... 0 verdammt!«
Seine Hand tastete einen Kontakt.
»Prewitt hier«, kam die Stimme des Ersten Offiziers der CHARR über die Vipho-Phase.
»Bernard, Astrometrie«, erwiderte der Astrophysiker mechanisch.
»Ist der Colonel in der Nähe?«
»Hat sich in die Messe zurückgezogen.«
»So. Hmm... hören Sie, I. 0., ist Foraker mit seinen nogkschen Begleitern denn schon wieder aus der Sonne
Geret aufgetaucht?«
»Nein!« Prewitts Augen bekamen einen alarmierten Ausdruck. »Warum fragen Sie.«
»Ich habe hier ein paar merkwürdige Anzeigen. Geret zeigte kurzfristig alle Anzeichen zu einem Supernova-
Ausbruch. Allerdings sind die schon wieder am Abklingen.«
»Das gibt's doch nicht!«
»Meine Instrumente lügen nicht«, gab sich Bemard gekränkt.
Prewitt verschwand kurz aus dem Erfassungsbereich der Vipho-Optik. Als er wieder erschien, war sein Gesicht
rot angelaufen vor Zorn.
»Ich habe den Schuldigen schon!« schnappte er. »Dieser Tantal hat es sich nicht nehmen lassen, Experimente
ohne Absprache mit uns durchzuführen. Na warte...!«
»Besser, Sie informieren den Kommandanten«, riet Bemard und klinkte sich wieder aus.
Aus der einen Tasse Kaffee waren inzwischen drei geworden. Mit ausgestreckten Beinen und nachdenklicher
Miene lag Hux-ley halb im Sessel. Seine nervigen Finger umklammerten den Becher, als hinge sein Leben
davon ab. Die Messe war kaum besucht, deshalb konnte er seinen Gedanken nachhängen, ohne groß gestört zu
werden...
Die Stimme war deutlich und klar. Sie drang aus seinem permanent aktivierten Armbandvipho.
»Colonel!«
Huxley runzelte die Stirn. Er hob das Handgelenk fast in Augenhöhe.
Auf der winzigen Bildscheibe sah ihm Lee Prewitt entgegen.
»Ja?«
»Sie sollten umgehend heraufkommen, Skipper.« In Prewitts Stimme schwang ein Unterton mit, der Huxley
nichts Gutes ahnen ließ.
»Bin schon unterwegs.«
Als der hagere, grauhaarige Offizier den Leitstand betrat, sah er, daß am Platz der Kobaltblauen eine hitzige
Diskussion geführt wurde. Huxley trat näher.
»Was gibt es?« fragte er mit gefährlich ruhiger Stimme; offenbar war Tantal mit dem I. 0. und dem Dritten,
Perry, aneinandergeraten.
Statt einer Antwort aktivierte Lee Prewitt einen Wiedergabemonitor und drehte die Bildscheibe in Huxley s
Richtung.
Mit gefurchter Stirn und auf seiner Unterlippe kauend, betrachtete Huxley den Ablauf der Aufzeichnung.
Als sie endete, hatten sich seine Züge verhärtet.
Er blickte mit zusammengepreßten Lippen Tantal an, der ihm gegenüberstand, ohne eine Regung zu zeigen. Er
sandte auch keinerlei Impulse; Huxleys Implantat registrierte nicht den Hauch einer Regung bei dem
Kobaltblauen.
Schließlich, als das Schweigen andauerte, sagte Huxley, und er wählte seine Worte sorgfältig: »Wir sind nicht
immer einer Meinung, Tantal. In der Vergangenheit ist es wiederholt zu Differenzen zwischen uns gekommen, wie du sehr gut weißt. Wir beide, du als Vertreter einer neuen Generation von Nogk, und ich als Mensch - ich spreche jetzt nicht in meiner Eigenschaft als Mitglied des nogkschen Rates der Fünfhundert - sind wohl zu ver schieden, obwohl das kein Grund für Meinungsverschiedenheiten sein sollte. Dennoch, es geschah und geschieht immer wieder. Und ^ es ist damit zu rechnen, daß es auch in Zukunft erneut zu Differenzen kommt. Ich habe über viele deiner Eigenarten hinweggesehen - und du vermutlich über die meinen«, Huxleys Mundwinkel zuckten unter dem Anflug eines gequälten Lächelns, »aber was du dir heute geleistet hast, übersteigt das Maß des Erträglichen. Ich kann so etwas nicht tolerieren, und ich will es auch nicht.« »Du verurteilst mich? Meine Suche nach Erkenntnis?« Tantal hatte nun doch sein Schweigen gebrochen. »Nein«, widersprach Huxley scharf. »Ich verurteile weder dich als Individuum noch dein verständliches Streben nach Erkenntnis. Aber was ich mit aller Schärfe verurteile ist, daß du ohne Nachdenken das Leben zweier deiner Gefährten, deiner Eibrüder, und das eines meiner Männer wegen eines Experimentes bedenkenlos aufs Spiel setzt. Eines Experimentes wegen, das man auch zu einem anderen Zeitpunkt hätte durchführen können. Zu einem Zeitpunkt etwa, wo sich niemand in der Nähe aufhält, dem es Schaden zufügen kann.« Tantal richtete seine Facettenaugen auf Huxley. Er schwieg lange. Dann kamen seine Impulse, und sie waren ein Schock für den Colonel. »Ich habe niemanden gefährdet«, sagten die semitelephatischen Bildimpulse. Huxley straffte seine hagere Gestalt noch mehr, wodurch er fast die Größe des blauen Nogk erreichte. »Was macht dich so sicher? Dein Experiment hätte durchaus auch schiefgehen und in einem Desaster enden können.« »Ich habe niemanden gefährdet«, wiederholte der blauhäutige Nogk mit Nachdruck. »Weder meine Brüder noch den Mensch Fo-raker. Sie sind bereits tot.« General Martell war bemüht, seinen Untergebenen immer ein leuchtendes Vorbild zu sein. Deshalb ließ er sich äußerlich nicht anmerken, mit welcher Ungeduld er auf ein Lebenszeichen von Ren Dhark wartete. Was spielte sich im Inneren der Energiekugel, die den gesamten Planeten umgab, ab? Martell wurde das Gefühl nicht los, daß der Commander und seine Begleiter in Lebensgefahr schwebten. War es nicht höchste Zeit, einzugreifen? Aber wie? Sicher, Gisol hatte behauptet, alles sei in Ordnung. Doch konnte man jemandem Glauben schenken, der einem Volk angehörte, das zwei kollidierende Galaxien einfach ihrem Schicksal überlassen hatte? Und warum meldete sich Gisol nicht mehr? Hatte er den anderen etwas angetan? Oder war er inzwischen selbst nicht mehr am Leben? Nicht nur Martell mußte das Bedürfnis, seine Sorge um das Wohlergehen des Commanders und seiner Mannschaft laut auszusprechen, unterdrücken. Auch die übrigen Raumschiffskommandanten hüllten sich weitgehend in Schweigen, denn jedes falsche Wort konnte zu unnötigen Spekulationen an Bord führen. Die Verbreitung von Gerüchten in den Mannschaftsquartieren ließ sich zwar nicht gänzlich verhindern, doch zumindest auf der Brücke sollte Ruhe herrschen. Leider hielt sich nicht jeder Offizier daran. Leutnant James Hurd hatte auf der MITO eine Doppelschicht am Ortungspult hinter sich - und genauso sah er auch aus. Er wirkte fahrig und nervös und redete viel zuviel. »Die POINT OF war für mich immer das Größte«, verriet er seinen Kameraden, obwohl sie ihn gar nicht danach gefragt hatten. »Kein anderes Schiff kann es mit ihr aufnehmen. Wenn keine Kommunikation mehr mit dem Flaggschiff der TF möglich ist, kann das nur eines bedeuten: Es steckt in der Klemme. Daß der Umweg über einen Flash noch möglich ist, besagt gar nichts. Hoffentlich ist dem Commander nichts zugestoßen. Ren Dhark war für mich immer so etwas wie ein Idol. Hoppla! Habe ich eben >war< gesagt? Ist mir nur so rausgerutscht. Natürlich hoffe ich, daß er noch am Leben ist. Das Schlimmste an dieser Situation ist die Tatenlosigkeit, zu der man hier oben im All verdammt ist. Wenn wir wenigstens irgendwas unternehmen könnten! Die Warterei zerrt ganz schön an meinen Nerven.« Oberst Ma-ügode, der Kommandant der MITO, schnaubte unwillig. »Wissen Sie, wer an meinen Nerven zerrt, Leutnant?« fuhr er den jungen Offizier an. James brauchte nicht mehr darauf zu antworten, weil in diesem Moment seine Ablösung auf die Brücke kam. »Nehmen Sie eine warme Dusche und entspannen Sie sich hinterher bei einem Glas Wein und einem guten Buch«, gab Ma-Ugode dem Leutnant, nachdem dieser sich vorschriftsmäßig abgemeldet hatte, noch einen väterlichen Rat mit auf den Weg. »Zu Befehl«, erwiderte Hurd zackig und verließ die Kommandozentrale. Er hatte ohnehin vorgehabt zu duschen. Und Lesen gehörte zu seinen Lieblingsbeschäftigungen. Weintrinken auch, allerdings war das synthetische Zeug, das die Lebensmittelautomaten an Bord produzierten, ungenießbar. Bald darauf lag er im Morgenmantel in seiner Koje und vertiefte sich in einen Science-Fiction-Roman. Diese Literaturgattung empfand er als herrlich entspannend, obwohl sie seiner Meinung nach nicht immer sehr realistisch daherkam. Manche Autoren schössen regelrecht über das Ziel hinaus und ließen ihrer Phantasie ungehemmt freien Lauf.
Selbständig denkende Raumschiffe, die im Weltall Kriege gegeneinander führten, ohne daß eine Mannschaft an
Bord war. Raumanzüge mit winzigen, aber aufnahmefähigen Sauerstofftanks, welche es den Menschen
ermöglichten, ein Jahr lang im All zu überleben. Hitzebeständige Schiffsschutzschilde, die selbst im Kem einer
Sonne nicht versagten. Gigantische Allwanderer, die in
der Lage waren, mit ihren mächtigen Händen Planeten zu zerquetschen.
James Hurd war wirklich ein Freund von Science Fiction, doch mußte man derart übertreiben?
Plötzlich und unerwartet wurde Alarm ausgelöst. Für James bedeutete dies das Ende seiner viel zu kurzen
Entspannungsphase. Jeder Offizier, gleich welcher Schicht er angehörte, hatte sich umgehend auf seinem Posten
einzufinden.
In der Zentrale herrschte helle Aufregung, als Hurd die Brücke betrat. Die Verbindung zur POINT OF war
wiederhergestellt.
»Leider gibt es keine guten Nachrichten«, wurde der Leutnant von Ma-ügode informiert. »Dhark und einige
Freiwillige befanden sich auf dem Rückweg von einem Erkundungsflug, als ihre Flash beschossen wurden. Sie
hatten das Flaggschiff beinahe erreicht und gar nicht mehr damit gerechnet, daß noch etwas Unvorhergesehenes
passieren würde.«
»Ist... ist dem Commander etwas zugestoßen?« fragte Hurd entsetzt.
Der Oberst schüttelte den Kopf. »Ihm nicht, aber...«
Er überreichte dem jungen Offizier die Folie mit der von der POINT OF empfangenen Nachricht. Mit bleicher
Miene las James, daß die Strahlengeschütze der unbekannten Angreifer einen Flash vollständig vernichtet hatten.
Der Pilot und sein Passagier, ein Roboter, waren beide ums Leben gekommen.
»Ums Leben gekommen?« wiederholte der Leutnant leise. »Ein Roboter?«
Der Oberst nickte und wandte sich ab.
James konnte es kaum fassen. Das noch relativ junge Bewußtsein von Artus, der weltweit für aufsehenerregende
Schlagzeilen gesorgt hatte und erst vor kurzem zur Besatzung der POINT OF gestoßen war, war für immer und
ewig ausgelöscht worden. Nicht im Kampf mit Highway-Gangstern oder Marsrobotern, sondern durch einen
unrühmlichen Strahlenangriff aus dem Hinterhalt. Ein solches Ende hatte er nicht verdient.
James Hurd hatte die Abenteuer der außergewöhnlichen Maschine von Beginn an mitverfolgt, insoweit man ihm
die Informationen zugänglich gemacht hatte. Anfangs hatte er das ganze für einen raffinierten Werbegag von
Wallis Industries gehalten. Inzwischen wußte er, daß die Berichte über den lebenden Roboter der Wahrheit
entsprachen, andernfalls hätte man ihn nie in die Terra-nische Flotte aufgenommen.
Artus - eine Legende bereits zu Lebzeiten. Die halbe Menschheit würde Tränen um ihn vergießen.
»Tränen um eine zerstörte Maschine«, murmelte Hurd.
»Warum denn nicht?« bemerkte sein älterer Stubenkamerad Paul. »Als ich meinen ersten Schweber zum
Schreddern geben mußte, hat es mir fast das Herz gebrochen.«
»Wie bitte?« stammelte James und rieb sich die Augen.
»Entschuldige, daß ich dich geweckt habe«, sagte Paul. »Du hast so merkwürdig gestöhnt und plötzlich
angefangen, im Schlaf zu reden.« Er deutete schmunzelnd auf das aufgeschlagene Buch, das auf James' Bauch
lag. »Wovon hast du geträumt, Kleiner? Von kleinen grünen Stemenmännchen?«
»Nein, es war viel realistischer«, antwortete Hurd, der noch immer unter dem Eindruck seines Traums stand.
»Die POINT OF hatte sich gemeldet und...«
»Versteh schon«, unterbrach Paul ihn. »Du bist während des Lesens eingeschlafen, und später hat sich die
Lautsprecherdurchsage in deine verworrene Traumwelt gemogelt.«
»Welche Lautsprecherdurchsage?«
»Die POINT OF hat tatsächlich den Funkverkehr wieder aufgenommen. An Bord unseres Flaggschiffs
funktionieren jetzt alle Systeme. Diese gute Nachricht kam eben von General Martell. Oberst Ma-Ugode war
darüber so erleichtert, daß er die Meldung über die Lautsprecheranlage bis in die letzten Winkel der MITO
verbreitet hat.«
»Und?« hakte James aufgeregt nach. »Wie geht es dem Commander? Ist ihm oder den anderen etwas
zugestoßen?«
Paul konnte ihn beruhigen. »Alle erfreuen sich bester Gesundheit. Einzelheiten erfahren wir später noch. Ach ja,
die Energiesperre, die sich rund um den Planeten gelegt hatte, existiert nicht mehr. Irgendwer hat das flammende
Licht einfach ausgeknipst.«
Mokkzera hatte allen Mut zusammengenommen und sich ans Dorf angeschlichen. Von einem sicheren Versteck
aus beobachtete sie die Fremden und die fliegenden Untiere, die sich auf dem Dorfplatz niedergelassen hatten.
Was dann geschah, jagte ihr einen gehörigen Schreck ein. Die beinlosen Ungeheuer fraßen die
Aufrechtgehenden!
Die lebende Beute wehrte sich nicht. Im Gegenteil, die Fremden kletterten in die weit geöffneten Rachen der
Untiere. Die Bleichen, der Wandler, das staksende Monstertier... nach und nach verschwanden sie in den
Bäuchen der Flugbestien. Nachdem diese sich sattgefressen hatten, erhoben sie sich in die Luft und verloren sich
in der Feme.
Mokkzera wußte, wo sich ihr Häuptling mit einigen Getreuen versteckt hielt. Sie begab sich zu ihm und
erstattete ihm Bericht. Er schickte umgehend Boten aus, um sein Volk zusammenzurufen.
Als die Echsen ihr verlassenes, von den Ungeheuern glücklicherweise nicht zerstörtes Dorf wieder in Besitz
nahmen, geschah ein göttliches Wunder - so empfanden es jedenfalls die Lekkraner. Die dämonischen Flammen
erloschen und gaben den Blick auf den Himmel frei.
Auf Golden herrschte wieder die gewohnt dunstige Atmosphäre. Das anheimelnde Rotlicht war verloschen; nun
sah es überall trüb und diesig aus, als würde es jeden Moment zu nieseln anfangen.
Den Echsen gefiel's, sie fühlten sich jetzt wesentlich wohler unter ihren Schuppenpanzem.
Pakkuma war heilfroh, daß die Untiere das Dorf verschont hatten. Hier war sein Zuhause, hier war die Heimat
des lekkranischen
Volkes. Anderswo konnte es unmöglich schöner sein.
Eine Umsiedelung stand für Pakkuma nicht mehr zur Debatte. Wen interessierte schon die Welt hinter der
Reviergrenze? Veränderungen - nein danke! Alles sollte bleiben wie es immer war.
Alle begaben sich in ihre Hütten. Voller Erleichterung registrierten die Bewohner, daß ihnen nichts fehlte. Die
Fremden hatten sie nicht beraubt, man hatte ihnen ihren spärlichen Besitz gelassen.
Auch Ikkol, der den verletzten Tikkum vorerst in der Erdhöhle zurückgelassen hatte, stellte fest, daß sich in
seiner Unterkunft noch alles an seinem Platz befand. Die fremden Wesen hatten ihm nichts gestohlen - sie hatten
ihm sogar noch etwas zukommen lassen:
Das Whuu.
Es hing neben dem Regal mit den Heiltränken an der lehmigen Hüttenwand.
Ikkol konnte sein Glück kaum fassen. Am liebsten wäre er hinausgerannt, und hätte allen davon erzählt. Doch er
war kein Dummkopf. Der Häuptling hätte ihm das Whuu sofort wieder weggenommen.
Draußen ließ die dröhnende Stimme des Echsenführers das Dorf erzittern. Offensichtlich hatte er den Diebstahl
seines Machtsymbols bemerkt. Pakkuma stieß wütende Beschimpfungen aus und verfluchte die Fremden.
Hastig versteckte Ikkol das Whuu zwischen einem Stapel von Tierfellresten. Später würde er es an einem
verborgenen Platz vergraben, doch jetzt mußte er erst einmal dem Häuptling sein Beileid für den schweren
Verlust aussprechen.
Unter den gestapelten Fellen lag die abgerissene Oxx-Kralle. Ikkol hatte sie eigentlich Pakkuma zeigen und ihm
seine verbrecherischen Taten eingestehen wollen. Aber war das wirklich notwendig?
Wem nutzte dieses Geständnis eigentlich? Niemandem. Ganz im Gegenteil. Der Stamm würde seinen einzigen
Heiler hinrichten und sich dadurch selbst Schaden zufügen. Soweit durfte Ikkol es nicht kommen lassen.
Er legte die Kralle zurück unter den Stapel. Vielleicht konnte er sie ja irgendwann noch mal gebrauchen...
Als er aus seiner Hütte kam, begannen die Ereignisse zu eskalieren. Pakkumas Bruder Nekkrio hatte auf dem
Steinthron einen merkwürdigen sechseckigen Gegenstand entdeckt und umgehend zu seinem Besitz erklärt. Er
bezeichnete das seltsame Teil als das neue Whuu und behauptete, dessen magische Kraft habe die Flammen vom
Himmel vertrieben. Im gleichen Atemzug ernannte er sich selbst zum neuen Anführer des Volkes.
Die Echsen jubelten ihm zu. Pakkuma war zu perplex, sich dagegen zu wehren, daher stimmte er in das
zustimmende Zischen mit ein.
Bald brannten erneut die Feuer auf dem Dorfplatz. Diesmal wurde kein schauriges Opferritual zelebriert,
sondern ein Freudenfest gefeiert: die Ernennung des neuen Häuptlings.
Höhepunkt des Festes war ein gemeinsames Gebet. Die Lekkra-ner bedankten sich bei ihren Göttern dafür, daß
sie noch am Leben waren und flehten sie an, das Dorf künftig vor Ungeheuern, Dieben und sonstigen
Störenfrieden zu schützen.
Viel verlangte das Echsen volk nicht vom Leben, es wollte nur in Ruhe gelassen werden.
Die fünf Flash hatten das Flaggschiff der Terranischen Flotte fast erreicht, als der flammende Energieschirm
vom Himmel verschwand. Dieser Vorgang vollzog sich ohne jede vorherige Ankündigung. Von einem
Augenblick auf den anderen war das Feuer nicht mehr da.
»Es tut sich was«, sagte Dhark erleichtert zu seinem Piloten. Das stellte man voller Erleichterung auch auf der
POINT OF fest. Der Checkmaster nahm seine Arbeit wieder auf. Das Schiff war komplett funktionstüchtig. Der
Funkkontakt mit der Flotte im All
konnte ohne den Umweg über den Flash, der in sein Depot zurückgebracht wurde, wiederhergestellt werden.
Martell atmete auf. Er hatte schon befürchtet, Dhark, Gisol und die anderen müßten auf ewig im Inneren der
Flammenkugel verbleiben - das gab er über Funk offen zu, wobei es ihm in diesem Moment gleichgültig war,
wer gerade alles mithörte.
»Wir hätten es uns hier unten schon irgendwie gemütlich gemacht«, erwiderte Dhark, noch im Anflug auf den
Ringraumer. »Und Sie hätten das Kommando über die Expedition übernommen und wären nach Om
weitergeflogen, General.«
»Ohne den Myster..., sorry, Worgun?« entgegnete John Martell. »Wie hätten wir uns dort zurechtfinden sollen?«
In dieser Sekunde leitete Dharks Pilot ein Ausweichmanöver ein. Auch die übrigen Flash änderten blitzartig
ihren Kurs. Man wollte einen Zusammenprall vermeiden - mit dem Goldenen, der die POINT OF festhielt.
Die gigantische Statue ließ das Raumschiff los und erhob sich aus ihrer knienden Stellung zu voller Größe. Ein
bemerkenswerter Anblick.
Einer der Piloten zischte nur wenige Zentimeter am Kopf des Goldenen vorbei. Der Gigant beachtete ihn nicht,
er ignorierte das Beiboot wie ein unwichtiges Insekt.
Langsamen, erhabenen Schrittes kehrte der Goldene zu seinem Sockel zurück. Er bestieg ihn, nahm seine
gewohnte Position ein und erstarrte zur Goldsäule.
Die POINT OF stieg ein Stück hinauf und verharrte dann in der Luft. Nach und nach flogen die fünf Flash in den
Hangar ein.
Ren Dhark hielt sich nicht lange mit Vorreden auf. In der Zentrale begab er sich sofort zum Checkmaster, um ihn
zu sämtlichen Vorgängenzubefragen.
Artus und Gisol waren bei ihm. Beide hatten es in Gemeinschaftsarbeit geschafft, den Zentralrechner in der
unterirdischen Anlage zu manipulieren. Vielleicht waren ihnen die dadurch gewonnenen Kenntnisse bei der
Kommunikation mit dem Checkma
ster hilfreich.
Zunächst sah es so aus, als würde der schwer durchschaubare Bordrechner die Fragen des Commanders
anstandslos beantworten.
»Wie kam es zu deinem Totalausfall?«
Ich bin nicht ausgefallen. Ich benötigte lediglich all meine Energien, um mit dem Zentralgehirn dieser Welt zu verhandeln.
»Was war Gegenstand eurer Verhandlung?« Die Zerstörung dieses Schiffes. Es ist mir gelungen, sie zu verhindern.
»Wie hast du das geschafft?« Ich führte eine lange Diskussion mit dem planetaren Rechner, in der es in erster Linie darum ging, wer von uns beiden ranghöher sei. Selbstverständlich bin ich der Ranghöhere und auch der Stärkere, das hat sich letztlich erwiesen. Aber es brauchte seine Zeit, ihn davon zu überzeugen. Er setzte sich vehement zur Wehr und sträubte sich gegen jedwede logische Argumentation. Ich mußte meine ganze Kraft aufbieten, um ihn zu bezwingen. Erst nach einer harten Auseinandersetzung konnte ich ihn zur Einsicht bringen.
»Mit welchem Argument?« Ich machte ihm klar, daß ich im Auftrag von Margun und Sola unterwegs bin.
MARGUN UND SOLA!
Der Commander der Planeten fühlte sich wie elektrisiert, als er diese Namen hörte.
Um das Jahr 1010 herum hatten diese genialen Mysterious-Wis-senschaftler auf Kaso alias Hope eine
unterirdische Werft für die Sonderanfertigung eines Ringraumers errichtet - eines einzigartigen Raumschiffs, das
beim fluchtartigen Abzug der Geheimnisvollen unvollendet geblieben war.
Als Dhark und seine Freunde das halbfertige Schiff in der Höhle entdeckten, tauften sie es POINT OF
INTERROGATION. Fragezeichen. Nach seiner endgültigen Fertigstellung verließ der Raumer
unter Dharks Kommando zum erstenmal im Schutz des Doppelin-tervallums sein Versteck.
Das Schicksal der ursprünglichen Erbauer blieb im Dunkeln. Niemand wußte, wohin es Margun und Sola
verschlagen hatte und ob sie überhaupt noch existierten.
Die POINT OF war mehr als ein gewöhnlicher Ringraumer - sie war ein Unikat, mit dem sich der S-Kreuzer,
den die Andromeda-Echsen einst entdeckt hatten, in keiner Weise messen konnte.
Der größte Geniestreich von Margun und Sola war zweifelsohne der Einbau des Checkmasters. Das einzigartige
Bordgehirn erwies sich immer dann am nützlichsten, wenn es brandgefährlich wurde.
Nicht zum erstenmal fragte sich Ren Dhark, ob der PO-Rechner eine biologische Komponente hatte.
»Der Umstand, daß er mit einem anderen Rechner stundenlang um Kompetenzen gerungen hat, bestärkt mich
erneut in meiner Vermutung«, sagte er und schaute zu Artus. »In gewisser Weise seid ihr euch ziemlich ähnlich,
der Checkmaster und du. Möglicherweise verfügt auch er über eine Art Bewußtsein.«
Der Roboter äußerte sich nicht dazu.
Der Commander fühlte, wie seine Handflächen feucht wurden, als er dem Checkmaster die nächsten Fragen
stellte.
»Sind Margun und Sola noch am Leben? Wo halten sie sich auf? Oder sind sie schon lange tot? Wo haben sie
zuletzt gelebt? Welche bahnbrechenden Erfindungen haben sie der Nachwelt noch hinterlassen?«
Dhark setzte voraus, daß sich der Rechner in Schweigen hüllen würde - wie üblich, wenn er zu seinen
Erschaffern Stellung beziehen sollte. Zur Verblüffung aller Anwesenden gab er jedoch eine Antwort.
Ich teilte die Aufregung des Commanders, als sich der Checkmaster zu den legendären Worgun-
Wissenschaftlem Margun und
Sola äußerte. Mir war klar, daß ich einem historischen Augenblick beiwohnte. Wie mir berichtet worden war,
hatte das undurchschaubare Bordgehim der POINT OF noch nie eine plausible Antwort auf direkte Fragen zu
seinen Erschaffem gegeben.
Ich besaß inzwischen die gleichen (geringfügigen) Informationen über Margun und Sola wie Dhark, Riker und
der Rest der Führungsmannschaft. Zum Teil hatte ich sie anderen Rechnern entnommen, außerdem hatte ich mich mit Gisol darüber unterhalten. Ich war halt ein neugieriger Roboter und wußte immer gern, woran ich war. Gespannt lauschten wir nun den Ausführungen des PO-Rech-ners. Gebraucht euren Verstand. Und benutzt die euch zur Verfügung stehenden Sinne. Hört gut zu. Seht genau hin. Sonst werdet ihr die Wahrheit niemals erkennen.
Wie schon gesagt, bisher hatte sich der Checkmaster noch nie zu einer brauchbaren Auskunft durchringen können. Und es hatte den Anschein, als würde sich in absehbarer Zeit nichts an seinem Verhalten ändern. »Was soll ich damit anfangen?« fragte Ren Dhark den Rechner verärgert. »Ich habe klare Fragen gestellt und verlange klare Antworten.« Er wiederholte seine Fragen mit Nachdruck. Aber der Checkmaster schwieg. »Sehr wahrscheinlich beziehen sich die Angaben auf die Fähigkeit meines Volkes, die Gestalt zu verändern«, schätzte Gisol. »Man braucht all seine Sinne und seinen Verstand, um einen verwandelten Worgun als solchen zu erkennen. Falls es Margun und Sola auf wissenschaftlichem Wege gelungen ist, ihre Lebensspanne um ein paar hundert Jahre zu verlängern, was ich allerdings stark bezweifle, könnte theoretisch jeder hier an Bord einer der beiden sein.« »So würde ich das ebenfalls interpretieren«, warf ich ein. »Wenn ihr Menschen etwas nicht entdeckt, obwohl es sich direkt vor eurer Nase befindet, gebraucht ihr den Ausspruch: >Man sieht den Wald vor lauter Bäumen nicht.< Möglicherweise möchte uns der Checkmaster auf etwas hinweisen, das wir längst hätten erkennen müssen, hätten wir nur besser hingeschaut und hingehört.« Plötzlich durchzuckte es mich wie ein Blitz! Mir ging kein Licht auf, sondern eine ganze Lichterkette. Dharks Vermutung, der Checkmaster könne eine biologische Komponente besitzen, verleitete mich zu kühnen Gedanken Sprüngen. Einer Maschine Leben einhauchen - bis zu meiner »Geburt« war das den Terranern als nicht machbar erschienen. Ein Schaltfehler im Nanobereich hatte dies bei mir möglich gemacht, allen wissenschaftlichen Erkenntnissen zum Trotz. Die Worgun waren den Menschen immer weit voraus, was insbesondere auf Margun und Sola zutraf. Das, was mir aufgrund eines Versehens zugestoßen war, hatten die beiden vielleicht schon vor mehr als tausend Jahren vollbracht - nicht versehentlich, sondern beabsichtigt. Es war ihnen gelungen, ihr eigenes Bewußtsein mit der leblosen Intelligenz einer leistungsfähigen Supennaschine zu verschmelzen. Noch deutlicher: Der Geist von Margun und Sola war zum Bestandteil des Checkmasters geworden. Ihre Körper waren längst verwest, aber ihre Seelen lebten in der Maschine weiter. Auf diese Weise blieb der Nachwelt ihr gemaler Verstand bis in alle Ewigkeit erhalten. Shodonn und sein Chipträger Rhaklan aus Drakhon kamen mir in den Sinn. Die Galoaner hatten einen Weg gefunden, den Genius ihrer klügsten Wissenschaftler für ihre Nachfahren zu konservieren. Warum sollte das den beiden Worgun nicht ebenfalls gelungen sein, wenn auch auf andere Weise? Zwar vermochte ich nicht zu sagen, wie sie das geschafft hatten, dennoch war ich fest davon überzeugt, daß es so war. Margun und Sola waren mehr als nur die Schöpfer des Checkmasters. Sie waren der Checkmaster selbst. Als anno 1012 die Mysterious aus der Milchstraße flohen, blie ben ihre beiden fähigsten Wissenschaftler freiwillig auf Kaso zurück. Sie wurden zum Bestandteil ihrer kolossalen Erfindung und waren fest entschlossen, mit dem Ringraumer unterzugehen. Dazu kam es jedoch nie. Der Milchstraße blieb ein furchtbares Schicksal erspart - und Margun und Sola wurden im Inneren des Checkmasters unsterblich. Sollte ich mit Dhark darüber reden, ihm meine Theorie unterbreiten? Wie würde er darauf reagieren? Würde er mich auslachen? Schließlich war es nicht das erstemal, daß mir kleine Denkfehler unterliefen. Wieso gaben sich Margun und Sola eigentlich nicht zu erkennen? Weshalb spielten sie mit den Menschen, allen voran mit Ren Dhark, Katz und Maus? Ihr seltsames Verhalten widersprach aller Logik. Es sei denn, sie planten irgend etwas Hinterhältiges. War es möglich, daß die beiden mit der POINT OF und ihrer Mannschaft nichts Gutes im Sinn hatten? Konnte es sein, daß sie die Terraner in Orn in eine Falle locken wollten? Und welche Rolle spielte Gisol dabei? Hatten sie es auch auf ihn abgesehen? Oder wußte er mehr als er zugab? Ich beschloß, vorerst meinen Lautsprecher zu halten und meine gewagten Überlegungen nicht offen zu äußern. Zum einen hatte ich Angst, mich damit nur zu blamieren. Zum anderen war es nie von Vorteil, wenn man sein Wissen zu früh bekanntgab. Sollten sich Margun und Sola fürs erste ruhig in Sicherheit wiegen. Wenn ich den geeigneten Zeitpunkt für gekommen hielt, würde ich ihnen einen Strich durch die Rechnung machen. Natürlich nur, falls mein Verdacht zutraf. Vielleicht planten sie ja gar nichts Übles und wollten nur das Beste für alle Beteiligten. Auch Gisol war von Aufregung befallen, seit der Checkmaster die Namen Margun und Sola genannt hatte. In seiner Menschengestalt konnte er das nur schwer verbergen. Mein Argwohn ihm gegenüber war mit Sicherheit unangebracht. Er war eine ehrliche Haut. Ich bezweifelte, daß er mit Margun und Sola, die mit dem Checkmaster eine perfekte Symbiose eingegangen waren, unter einer Decke steckte. Wann genau sich die beiden damals von ihrem Volk abgesetzt hatten, ließ sich nach der langen Zeit nicht mehr
exakt nachvollziehen. Ich vermutete, daß sie kurz vor dem Eintauchen ins Ex-spect unauffällig die Rückkehr
angetreten hatten. Schließlich stammte die Idee, zehn Ringraumer zu einem Tunnel zusammenzukoppeln, um
mit ihren Intervallfeldern eine Art Düseneffekt zu erzeugen und damit das Exspect zu überwinden, von ihnen.
Also mußten sie sich zu diesem Zeitpunkt noch bei den Flüchtenden befunden haben...
Dharks Stimme riß mich aus meinen Gedanken.
»Kannst du den Checkmaster zu einer Antwort zwingen, Gisol? Schließlich wurde er einst von Worgun
programmiert - und du bist ein Worgun.«
»Dennoch habe ich keine Macht über ihn«, erwiderte der Gefragte. »Wahrscheinlich kennst du dich mit dem
Checkmaster besser aus als ich, Commander. Allerdings hätte ich eine Idee, wie man ihn vielleicht austricksen
könnte.«
»Nur heraus damit«, ermunterte ihn Ren Dhark. »Ich ergreife jeden Strohhalm, den man mir hinhält.«
»Möglicherweise könnte uns der unterirdische planetare Zentralrechner weiterhelfen. Ich bin überzeugt, er weiß
Näheres über Margun und Sola.«
»Aber er wird es uns nicht sagen«, warf ich ein. »Nicht einmal mir ist es gelungen, ihn zur Kommunikation zu
bewegen.«
»Weil er dich als inkompetent eingestuft hat«, erklärte mir Gisol. »Hingegen akzeptiert er den Checkmaster
mittlerweile als den Ranghöheren. Ihm wird er jede nur erdenkliche Auskunft erteilen.«
»Und wie bewegen wir den Checkmaster dazu, beim Zentralrechner die entsprechenden Informationen
abzurufen?« fragte
Dhark skeptisch.
»Du befiehlst es ihm«, sagte Gisol. »Als Kommandant dieses Schiffes bist du zu jeder Eingabe berechtigt. Ich
gehe davon aus, daß der Bordrechner darauf programmiert wurde, Befehle von legitimierten Personen
widerspruchslos zu befolgen.«
»Da habe ich so meine Zweifel«, entgegnete Dhark. »Der Checkmaster hatte schon immer seinen eigenen Kopf.
Jede Wette, ich bekomme auch diesmal nur eine verschleierte Antwort von ihm.«
»Darin liegt ja der Trick, Ren. Der Checkmaster soll dir nicht direkt antworten, sondern lediglich die Antwort
des planetaren Zentralrechners an dich weiterleiten.«
Gisols Einfall war verblüffend simpel - und gerade deshalb nahezu genial. Würden sich Margun und Sola auf
dieses Spiel einlassen?
Diesmal stellte Dhark nur eine einzige Frage - an den Zentralrechner von Golden.
»Was weißt du über die Worgun-Wissenschaftler Margun und Sola?« Der Checkmaster leitete die Frage weiter.
Die Antwort ließ nicht lange auf sich warten.
»Margun und Sola haben einst diesen Tankplaneten erschaffen. Nach eurer Zeitrechnung, Terraner, liegt ihr
letzter Aufenthalt hier rund 1000 Jahre zurück. Damals hinterließen sie mir einen Koordinatensatz.«
Nähere Angaben folgten. Es handelte sich um einen von Golden aus gerechneten Vektor. Gisol stellte fest, daß
dieser einen Raumpunkt in Orn bezeichnete.
Mehr wußte der Zentralrechner offenbar nicht. Oder Margun und Sola alias der Checkmaster hatten weitere
Auskünfte verhindert. Vielleicht wollten sie die beiden Ringraumer-Verbände aus einem bestimmten Grund an
diesen speziellen Ort locken.
Je länger ich darüber nachdachte, um so mehr kam ich zu der Überzeugung, daß ich mich schlichtweg auf dem
Holzweg befand.
Margun und Sola waren - laut Zentralgehirn dieses Planeten -
zuletzt vor circa eintausend Jahren hiergewesen. Aber nach meiner Theorie fand ihre Verschmelzung mit dem
Checkmaster bereits im Jahre 1012, also etliche Jahre früher statt. Von da an konnten sie die Höhle auf Hope
nicht mehr verlassen - bis Dhark und seine Getreuen 2051 auf den einzigartigen Ringraumer stießen.
Meine Überlegungen paßten somit hinten und vorn nicht zusammen, und an den Seiten schon gar nicht.
Auf einmal kam ich mir so richtig schön blöd vor. In was hatte ich mich da bloß verrannt? Nur gut, daß ich mit
niemandem über meinen absurden Verdacht gesprochen hatte.
Ich hatte geglaubt, das Geheimnis des Checkmasters gelöst zu haben. Doch diese Maschine war nach wie vor
ein großes Rätsel für mich - eines mit tausend Fragezeichen.
Was auch immer aus Margun und Sola geworden war - sie steckten mit Sicherheit nicht im Bordrechner der
POINT OF.
Wahrscheinlich hatten sie längst das Zeitliche gesegnet. Laut Gisol lag die Lebensspanne eines Worgun bei
durchschnittlich 900 Jahren. Selbst bei einer asketischen Lebensführung plus der Einnahme selbstgebrauter
Gesundheitswässerchen hätten die beiden nicht mehr als vielleicht einhundert, zweihundert zusätzliche Jahre
herausholen können. Ganz egal, welcher Rasse man angehörte, wie hoch die jeweilige Lebenserwartung war
und wie perfekt die Mediziner arbeiteten - am Schluß blieb der Tod immer der Sieger.
Es sei denn, man war eine Maschine wie ich. Meine Ersatzteile konnten bei Bedarf stetig ausgewechselt werden.
Im Weltall kam es zu einem phantastischen Schauspiel, das auf keiner terranischen oder außerirdischen
Theaterbühne hätte inszeniert werden können. In erster Linie natürlich aus Platzgründen. Außerdem wäre selbst
der begabteste Bühnenarchitekt der Welt an der Nachbildung der traumhaften, ein wenig seltsam anmutenden Hintergrundkulisse gescheitert. So etwas konnte man nicht kopieren, es wirkte nur im Original: Eine dunkelrote Riesensonne im Weltraum, fast stillstehend in tiefschwarzer Leere, ein schummrig leuchtender Fleck in der Mitte von nichts. Die Sonne strahlte relativ wenig Licht aus, hob sich aber von der Schwärze des Alls deutlich ab. Ein einsamer Planet wurde nicht müde, sie stetig zu umkreisen. Im Vordergrund schwebten zwei mächtige Röhrengebilde, zusammengesetzt aus blau violetten, hintereinandergereihten kreisförmigen Objekten. Das erste »Kunstwerk« bildete eine Einheit von zehn Ringen, das zweite bestand nur aus neun. Plötzlich koppelte sich eins der ringförmigen Raumschiffe ab und entfernte sich in Richtung Hintergrund. Es tauchte in die Atmosphäre des Planeten ein, verschwand aus dem Blickfeld des Betrachters. Zurück blieben zwei blauschimmernde Röhren, von denen eine jetzt nur noch aus acht Elementen bestand. Wenig später erschien über dem Planeten ein blauer Punkt, der immer größer wurde und sich schließlich als der zurückkehrende Ringraumer entpuppte. Er koppelte sich wieder an seinen Neunerverband an, diesmal allerdings an der unteren Seite. Gleichzeitig löste sich oben ein zweiter Raumer aus der Reihe und schwebte auf den Planeten zu... Dieser Vorgang, der wie ein eleganter Elfentanz anmutete, setzte sich fort, bis alle neunzehn Raumschiffe den Planeten besucht und sich danach wieder ordnungsgemäß in ihren jeweiligen Verband eingereiht hatten. Auf dem Planeten tankten Szardak, Neep, Ma-Ugode, Roder und die übrigen Kommandanten ihre Tofiritvorräte auf. Zwar waren die Tankräume der Ringraumerflotte noch recht voll, doch Dhark erwies sich als sparsam, schließlich kostete das Tofirit hier nichts. Nacheinander klinkten sich RHEYDT, CHARLESTON, BUD VA, CALAIS, INVERNESS.TIENTSIN, MITO, WALLAROO und DE-NIA unter Gisols Anleitung bei den Goldenen ein. Obwohl der Checkmaster jetzt Herr der Lage war und von den Goldenen keine Gefahr mehr drohte, ließ der Commander Vorsicht walten. Immer nur ein Schiff durfte aus dem All herunterkommen und seinen Tankvorrat ergänzen. Zwar wäre es viel schneller gegangen, wären alle Schiffe auf einmal aufgefüllt worden - Tankstatuen gab es auf Golden schließlich zur Genüge - aber Dhark wollte kein vermeidbares Risiko eingehen. Gisol hielt es mit seinen Schiffen genauso. Mit Hilfe seines Richtfunksenders für die Gedankensteuerung holte er nach und nach die EPOY sowie seine anderen Raumschiffe herunter und schickte sie unmittelbar nach dem Tankvorgang zurück zum Verband. Zum Schluß war die POINT OF an der Reihe. Ren Dhark suchte sich eine Statue aus und ließ das Schiff langsam herabsinken. Der Ringraumer stoppte in der Luft und verharrte über den erhobenen Armen des Goldenen. Von unten sah es aus, als würde die Statue das Schiff festhalten und hochheben. Im Inneren des Sockels wurden die notwendigen Arbeitsvorgänge in Gang gesetzt. Neben dem TofiritVorratslager befand sich ein Raum mit einem kompakten Maschinenblock, der Tofiritkrümel per Traktorstrahl ansaugte und zu Tofiritstaub zermahlte. Der Staub wurde in einem Auffangbecken zwischengelagert und mittels einer Spezialvorrichtung über nach oben führende Leitungen ins jeweilige Raumschiff befördert. Nur eine halbe Minute dauerte der Tankvorgang insgesamt. Anschließend verließ die POINT OF als letztes Raumschiff den Planeten, dem man den Namen Golden gegeben hatte. Ren Dhark fragte sich, ob er jemals nach hierher zurückkehren würde. Vielleicht auf dem Rückweg, zum Auftanken, überlegte er - und fügte in Gedanken hinzu: Falls es aus Orn überhaupt eine Rückkehr gibt... Die Milchstraßensysteme in der näheren Umgebung der Galaxis der Erde bildeten eine Gruppe von dreißig Sterneninseln, die eingemeinsames Raumgebiet von vier Millionen Lichtjahren Durchmesser einnahmen und allgemein als Lokale Gruppe bezeichnet wurden. Wie die Lokale Gruppe befand sich auch der Sculptorhau-fen am Rande des Virgo-Superhaufens. Sculptor war der der Lokalen Gruppe nächstgelegene Galaxienhaufen - zehn Millionen Lichtjahre von der Erde entfernt. Ren Dhark und seine Begleiter waren sich durchaus bewußt, daß sie sich auf keinem Ausflug befanden, als sie ihre abenteuerliche Reise zur Galaxis Om, die im Sculptorhaufen lag, fortsetzten. Erstaunlicherweise verlief der Flug weitgehend ohne Schwierigkeiten. Zwar traten immer mal wieder überraschende Probleme auf, doch nicht mehr als bei normalen Flügen sonst auch. Die Mannschaften waren darauf gedrillt, mit »WeltallAlltagsproblemchen« fertigzuwerden, die einem genausogut in der Heimatgalaxis hätten begegnen können. Juanita und Gisol waren mittlerweile auf die EPOY zurückgekehrt. Das Mädchen hielt sich fast den ganzen Tag in der Zentrale auf und schaute hinaus in den Leerraum, obwohl es da so gut wie gar nichts zu sehen gab. Jedes kleinste Lichtlein in der Feme zauberte Freude auf ihr Kindergesicht. Und zog mal ein vereinzelter Himmelskörper vorüber, machte sie ihren Freund Jim aufgeregt darauf aufmerksam. Es war Mitte April des Jahres 2059, als die beiden zu Röhren zusammengeschlossenen Raumschiffsverbände am Ziel eintrafen. Orn war ein Spiralnebel mit einem Durchmesser von 270 000 Lichtjahren. Die durchschnittliche Dicke betrug 9000 Lichtjahre -im Zentrum waren es sogar maximal 32 000 Lichtjahre. In den Zentralen der Raumschiffe waren die Nerven bis zum Zerreißen gespannt, als man in die Galaxis eintauchte. Aber auch auf den Mannschaftsdecks konnte sich kaum jemand der allgemeinen Aufregung verschließen. Je gelassener man sich gab, um so nervöser war man in Wahrheit.
Niemand wußte, welche Gefahren in dem fremden Spiralnebel lauerten. Manch einer wäre jetzt wohl am liebsten wieder umge kehrt, doch dafür war es längst zu spät. Die meisten Raumfahrer auf den zwanzig Schiffen konnten es allerdings kaum erwarten, mit den fremden Intelligenzen, die es hier mit Sicherheit gab, zusammenzutreffen. Für solche Begegnungen war man schließlich zur Flotte gegangen. Die von Golden mitgebrachten Koordinaten zielten auf eine sehr aktive Gaswolke hin, die einen Durchmesser von 370 Lichtjahren aufwies. Sie schwebte in einem unbedeutenden Seitenarm der Galaxis Om. Auf der POINT OF wurden starke energetische Aktivitäten im Inneren der Wolke angemessen. Ren Dhark setzte sich mit der EPOY in Verbindung. Juanita war in der Zentrale, als der Funkruf einging. Sie verfolgte das Gespräch zwischen Jim und dem Commander der Planeten mit. Das ganze technische Drumherum verstand sie nicht, aber sie begriff, daß der Worgun genauso ratlos war wie der Terraner. »Ich kann dir beim besten Willen nicht sagen, was wir in der Wolke vorfinden werden, Ren«, sagte Gisol. »In diesem Gebiet kenne ich mich so gut wie nicht aus. Mein Versteck mit den fünfzehn übrigen Ringschiffen liegt fast am anderen Ende von Orn.« »Dann werden wir in die Gaswolke einfliegen und nachsehen«, entschied Ren Dhark. »Aber nicht mit allen zwanzig Schiffen. Nur die POINT OF und die EPOY dringen ins Unbekannte vor.« Beide Schiffe koppelten sich von ihren Verbänden ab. Juanita sträubte sich vehement gegen Jims Vorschlag, im sicheren Teil des Alls zu verbleiben. Sie wollte unbedingt mitfliegen. »Du bist eigensinnig wie ein Kind«, hielt Gisol ihr vor. »Na und?« konterte sie schnippisch. »Ich bin schließlich eins.« In langsamem Überlichtflug drangen beide Ringraumer in die Wolke ein. Sowohl auf der POINT OF als auch auf der EPOY war man auf alles gefaßt. Abrupt brach die Kommunikation mit der Flotte draußen ab. Gisol und Dhark enthielten sich jeder Bemerkung. Im Grunde genommen hatten sie nichts anderes erwartet. Doch es kam noch schlimmer. Plötzlich fielen an Bord der EPOY praktisch alle Systeme aus. Gisol versuchte hektisch, die Probleme in den Griff zu kriegen. Er spürte eine drohende, unmittelbare Gefahr. Irgend etwas, das er nicht näher definieren konnte, befand sich sozusagen sprungbereit in der Nähe. Jede Sekunde konnte es ihn angreifen, ohne daß er zu sagen vermochte, aus welcher Richtung. Schmerz breitete sich in seinen Einge weiden aus, wurde immer heftiger. Der Worgun brach zusammen. Er krümmte sich vor Qual, behielt diesmal aber seine menschliche Gestalt. Die Schreie, die ihm entfuhren, waren ebenfalls menschlicher Natur. Gisol versuchte, sie zu unterdrücken, um Juanita nicht zu sehr zu erschrecken. Doch der Schmerz war stärker... Juanita, die eben noch dem neuen Abenteuer entgegengefiebert hatte, hatte jetzt furchtbare Angst. Vergebens versuchte sie, mit ihrem Freund zu reden. »Hilf mir, Jim!« flehte sie ihn an. »Was soll ich tun? Ich kann dieses große Schiff doch unmöglich allein fliegen.« Aber Jim Smith war nicht mehr ansprechbar.
72. Sie waren nicht tot.
Natürlich nicht.
Aber in einer offensichtlich aussichtslosen Situation.
»Heilige Galaxis!« Lern Foraker starrte betroffen auf den Torso des Meegs, der von dem zuschnappenden Tor in
zwei Hälften zerschnitten worden war.
Noch während er überlegte, was er unternehmen konnte, öffnete sich das Portal wieder und gab den Leichnam
Leroos frei.
Foraker setzte sich in Richtung des toten Nogk in Bewegung, doch ein scharfer Impuls Sketts bannte ihn an
seinen Platz.
»Sie kommen!«
Plötzlich hatte der Kobaltblaue seine Waffe in der Hand.
Laute ertönten wie von Metall auf Metall. Hallende, unregelmäßige Schritte. Erst fern, dann näherkommend.
Längst hatte auch Lern Foraker den Strahler in der Faust. Er verlagerte sein Gewicht von einem Fuß auf den
anderen, um das Gewicht der Waffe auszubalancieren.
Wenige Augenblicke noch, und die, die diese Schritte erzeugten, mußten im diffusen Licht der hohen Halle
sichtbar werden.
Aus dem rötlichen Schein unsichtbarer Lichtquellen tauchten schlanke, silbrige Gestalten auf.
»Kampfroboter«, erklärte Skett über den Translator.
»Das sehe ich auch«, gab Lern halblaut zurück. »Aber was für welche! Teufel, haben wir es denn hier mit einer
Station für ausgemusterte Blechheinis zu tun?« Seine Bemerkung schien berechtigt. Keiner der sich nähernden
Roboterwesen befleißigte sich einer vernünftigen Fortbewegungsart, alle hinkten ausnahmslos. Wie die
Arbeitsroboter, die draußen das Beiboot entseucht hatten. Wäre die Situation nicht so prekär gewesen, hätte sich
Foraker ein Lachen nicht verkneifen können. So aber, mit dem Bild des in zwei Hälften geschnittenen Leroo vor
Augen, knurrte er: »Verdammt, worauf warten wir?« Er hob den Strahler.
Gemeinsam lösten sie ihre Waffen aus und bestrichen den Bereich vor ihnen mit tödlichem Kreuzfeuer. Die erste
Welle stürzte in sich zusammen, bestand nur noch aus rauchenden und blakenden Trümmern. Es stank penetrant
nach glühendem Metall und verschmortem Kunststoff. Die, welche als zweite Welle nach vorne drängten,
machten plötzlich kehrt und verschwanden, als hätte es sie nie gegeben.
Und noch während sich Skett und Foraker wunderten, ertönte unvermittelt ein schreckliches Geräusch.
Der Terraner hielt sich die Ohren zu, während der Kobaltblaue wie lauschend den mächtigen Libellenkopf
neigte, als könne er etwas mit dem Geräusch anfangen.
Er konnte es tatsächlich, wie er dem verdutzten Foraker übermittelte. Es war eine altertümliche Sprachform des
Volkes der Echsenabkömmlinge. Eine, die schon vor 2000 Jahren nicht mehr gesprochen worden war. Aber da
scheinbar alle Kobaltblauen über ein ähnliches Rassegedächtnis verfügten wie Tantal, verstand auch Skett sie.
»Was sagt sie? Kannst du es für mich übersetzen?«
Skett konnte.
Foraker keuchte erstickt, als sich die mächtige Stimme in seinen Geist drängte...
Warum verstört ihr noch mehr? dröhnte es in seinen Schläfen.
Als er wieder klar denken konnte, wandte er sich an Skett.
»Zerstören? Was zerstören?«
Der Nogk machte eine unbestimmte Handbewegung und seine Fühler spielten erregt.
»Du wirst erst später begreifen«, orakelte er aus dem Translator. »Jetzt komm!«
Er setzte sich mit raumgreifenden Schritten in Bewegung.
Offenbar hatte ihm die Stimme einen Weg gewiesen, denn er und Foraker gelangten in einen domartigen Saal, in
dem ein holo
graphisches Abbild der Zentrumspyramide schwebte. Allerdings auf die Größe von etwa drei Metern reduziert.
»Womit haben wir es hier zu tun?« erkundigte er sich bei dem Kobaltblauen, dessen ganzes Gebaren von einem
tiefgreifenden Verständnis zeugte.
»Mit einer Schnittstelle. Über sie kann die Künstliche Intelligenz, die diese gewaltige Station steuert, in Kontakt
mit der Außenwelt treten.«
Foraker seufzte. »Schnittstelle... Künstliche Intelligenz... Kontakt zur Außenwelt! Willst du damit sagen, daß
diese Station voll robotisch ist?«
»Ursprünglich nein. Später ja.«
»Das begreife, wer will«, bekannte Foraker.
»Mußt du auch nicht. Höre einfach zu. Dann wirst du mehr wissen.«
»Wenn du es sagst...«
Der Kobaltblaue trat in einen Dialog mit der Kl und ließ den Terraner daran teilhaben, indem er die alte Sprache
übersetzte und als Bildimpulse an Forakers Translator sandte.
Es stellte sich heraus, daß die Kl, die sich selbst als Vollstrecker bezeichnete, seit mehr als zweitausend Jahren
unter einem Schaltfehler litt, der sie daran hinderte, ihre Aufgaben gemäß ihrer Programmierung korrekt
auszuführen. Da sie auch die gesamte Technik in der Station steuerte, traten überall periodische Fehler auf, wie
das Hinken der Roboter oder das unkontrollierte Öffnen und Schließen von Türen. Fehler, die sich immer mehr
potenzierten und irgendwann einmal zum völligen Zusammenbruch führen würden, aber gemessen an der Zeit,
die diese Station schon existierte, würde es wohl noch eine ganze Weile bis zu diesem dauern. Als Skett auf den
Tod des Meeg zu sprechen kam, mußte er erkennen, daß dieses Mißgeschick die Kl völlig unberührt ließ. Nach
ihrem Bekunden war der Nogk, waren alle Nogk seiner Art »Abartige«.
»Und uns beiden vertraut sie«, wunderte sich Foraker nicht wenig.
Skett schickte einen bejahenden Impuls; daß er ihn der Kl gegenüber als seinen Sklaven ausgegeben hatte,
unterschlug er großzügig.
»Ich könnte dir helfen«, wandte sich der Kobaltblaue an die Kl.
Wie helfen?
»Dich reparieren.« Dazu wärst du fähig? »Dazu bin ich fähig. Vertraue mir.«
Ein langes, mechanisches Seufzen wehte durch den Saal.
So soll es geschehen.
»Dazu mußt du mir jedoch Zutritt zu deiner Programmzentrale gewähren. Ich muß mir einen Überblick
verschaffen.«
Als Antwort entstand vor Skett und Foraker auf dem Saalboden eine blaue Linie.
Folgt ihr, wurden sie aufgefordert.
Die Programmzentrale der Kl glich der Brücke eines Raumschiffs mit ihren hintereinander gestaffelten Reihen
von Konsolen, Terminals und Speicherblöcken, dem Kaleidoskop von zuckenden, blinkenden Lichtern, den
Skalen, Monitoren, Matrixein- und -ausgaben.
Skett sah sich um, dann sagte er in den Raum hinein: »Wo ist das Ausgabeterminal deines
Hauptdatenspeichers?«
Lern Foraker verfolgte mit staunenden Augen, wie selbstsicher Skett der Kl gegenüber auftrat, ganz so, als wäre
er einer ihrer Schöpfer. Noch mehr staunte er, als er mitbekam, wie Skett, nachdem ihm die Kl ihren Hauptdatenspeicher geöffnet hatte, eine Verbindung zwischen dem Ausgabeterminal und dem Bordrechner des Beibootes initiierte, indem er sein Armbandfunkgerät als Schnittstelle und abgeschirmtes Übertragungsmodul einsetzte und den Speicherinhalt der Kl übertrug. Der Heuchler stiehlt die Daten der Station! durchzuckte es Lern. So ein Idiot. Das würde bestimmt üble Folgen haben. Plötzlich rumorte es. War das bereits die Antwort? Lautes Getöse brandete in Wellen von draußen herein, als würden mächtige Maschinen anlaufen. »Was geht da vor?« Einen Moment war Lern über die Schärfe von Sketts Ton überrascht. So behandelte man bestenfalls Untergebene. Dennoch, die Künstliche Intelligenz schien sich nicht daran zu stören. Denn anstelle eines Blitzschlages, der Skett niederstreckte, flammte ein Bildschirm über der Konsolenphalanx auf. Er zeigte den Innenraum der Kugelstation, zeigte, daß die riesige, freischwebende Pyramide im Zentrum nun hellblau statt rot leuchtete und zu pulsieren begann, als pumpe sie Unmengen von Energien... ja, wohin? »Allmächtiger! Diese Station ist in ihrer Konzeption nichts anderes als ein riesiger Nova-Generator!« Skett schwieg auf diesen Ausbruch des Terraners. Außerdem war der Spuk auch schon wieder vorüber. »Was hatte das zu bedeuten?« wandte sich der Nogk-Mutant an die »Seele« der Station. Und wieder schien es, als ob ein Dialog zwischen Untergebenem und Vorgesetztem stattfände, wobei es ersichtlich war, daß Skett die Rolle des Vorgesetzten innehatte. Ob das Rückschlüsse auf die ehemaligen Erbauer dieser Station zuließ? Lern deponierte diesen Gedanken in einer Schublade ganz tief unten in seinem Geist. Bei passender Gelegenheit würde er ihn hervorholen und dieser Spur gezielter nachgehen. In dem sich entspinnenden Dialog kristallisierte sich heraus, daß die Kl gemäß ihrer Programmierung auf bestimmte energetische, von außen kommende Reize dergestalt reagierte, daß sie versuchte, die Sonne zur Supernova anzuheizen, aber wegen des Systemfehlers den letzten Schritt noch zu keiner Zeit hatte vollenden können. »Sisyphus...«, murmelte Foraker. »Sisyphus wer?« Sketts fragende Impulse pochten an Lems Bewußtsein - und drangen gleichzeitig als gesprochene Worte aus seinem Translator. »Eine Sagengestalt aus der Frühgeschichte Terras«, wiegelte Lern ab; dem in terranischer Historie kaum bewanderten Kobaltblauen jetzt zu erklären, was hinter der Sage stand, dafür schien es weder der richtige Ort noch die richtige Zeit zu sein... ... und so träume ich weiter davon, mich im Nebel wirbelnder Elektronen einer Nova aufzulösen, denn nur so gelange ich auf die nächste Bewußtseinsebene...
Lern starrte dem Kobaltblauen ins Gesicht. »Eine Anhäufung von Schaltkreisen und Speicherblöcken träumt?«
»Sie ist verrückt«, wiegelte Skett ab, und erst später ging Lern auf, daß der Kobaltblaue Angloter gesprochen
hatte.
Richtig gesprochen!
Keine semitelephatischen Impulse, übersetzt vom Translator. Lern war so verblüfft, daß ihm die Tragweite
dieser Erkenntnis vorerst nicht bewußt wurde. Skett hatte dadurch nicht nur ein Geheimnis gelüftet, sondern
auch einen folgenschweren Fehler begangen, der sich noch rächen sollte. Denn längst hatte die Kl die Sprache
dieses »Nogk-Sklaven« analysiert und verstand mehr und mehr davon.
»Sie ist verrückt«, versicherte Skett jetzt noch einmal. »Vollkommen plemplem, wie euer Chefingenieur sich
auszudrücken pflegt. Plemplem - ein schönes Wort, fürwahr!«
»Komm wieder runter«, riet ihm der Terraner. »Du hast ein Versprechen gegeben. Nun löse es auch ein...«
»Ich habe den Fehler bereits gefunden«, ließ sich der Nogk in Lems Bewußtsein vernehmen, zu dem die Kl
keinen Zugang hatte.
»Wie... ich verstehe nicht...?« Lern murmelte unwillkürlich, als befürchte er, belauscht zu werden.
Wie Skett ihn wissen ließ, setzte sich die Kl aus mehreren autonom operierenden Unterprogrammen zusammen,
die je nach Anforderung die Kontrolle über bestimmte Teile der Station ausübten
- ähnlich wie bei Individuen mit multiplen Persönlichkeitsstrukturen. Die Gesamtkontrolle oblag dem umfangreichsten Unterprogramm namens »Vollstrecker«. Irgendwann weit in der Vergangenheit, den genauen Zeitpunkt konnte Skett nicht herausfinden, als die Erbauer die Station verließen, machte ein Programmierer -ob absichtlich oder unbeabsichtigt, mußte dahingestellt bleiben -einen Fehler, indem er eine Befehlsstruktur zweimal vergab. Eine unüberwindliche Barriere für die Kl. Das Programm lief immer bis zu jener Stelle, dann brach es einfach ab. Wie unflexible Rechner es nun einmal zu tun pflegen, wenn ihnen niemand von »außen« über die Hürde hinweghilft. Als Folge dieser ständigen Abbrüche gerieten die Subprogramme der Umweltkontrolle, der Verkehrssteuerung, zu denen auch die Einsatzparameter aller Roboter gezählt werden mußten, die Gebäudesteuerungen mehr und mehr durcheinander. »Ich könnte jetzt das Doppel der Befehlskette einfach löschen -und der Spuk hätte ein Ende.« Oder er begänne erst, durchzuckte es Lern. Mit gesenkter Stimme sagte er jedoch: »Und warum tust du es nicht?«
»Ich gebe doch nicht einen solchen Trumpf aus der Hand...«
Wolltest du mich nicht reparieren? brachte sich die Kl wieder zu Gehör.
»Ich versprach es«, bestätigte Skett. »Aber ich benötige dazu Ersatzteile.«
Beschreibe, was du brauchst, und ich lasse es herstellen.
»Dafür sind deine Werkstätten nicht geeignet«, versetzte der Kobaltblaue und flocht seine Fühler ineinander wie
ein Kind, das beim Lügen die Finger hinter dem Rücken verknotete. »Ich muß zurück aufs Mutterschiff. Nur
dort finde ich, was nötig ist, um dir den Schritt auf die nächste Bewußtseinsebene zu ermöglichen.«
Fein eingefädelt!
Lern konnte seine Bewunderung nicht verhehlen.
Sekunden vergingen.
Dehnten sich scheinbar ins Unendliche.
Dann: Es sei dir gewährt.
So einfach! wunderte sich Lern. Er hatte mit mehr Widerstand seitens der Kl gerechnet.
Sind Maschinen tatsächlich so dumm?!
Skett wandte den mächtigen Libellenschädel Foraker zu. Seine Fühler pendelten sacht hin und her. In den starren
Facetten seiner karbonschwarzen Augen war keine Regung abzulesen, bis auf ein Glitzern in der Tiefe wie von
winzigen elektrischen Entladungen.
Auch ohne übermäßig mit der Physiognomie der Hybridwesen aus Reptil und Insekt vertraut zu sein, deutete
Lern Foraker dieses Glitzern richtig.
Es bedeutete Triumph. Grenzenlosen Triumph.
Den Sieg des Geistes über die Maschine.
War es das wirklich?
Die Fahrt zurück zum Beiboot dauerte schier endlos; die Schwebeplattform setzte jetzt bereits alle 73 Meter auf.
Der vom Schaltfehler produzierte Irrsinn der Kl hatte sich um eine Potenz vergrößert.
Doch auch die längste Fahrt nimmt irgendwann mal ein Ende, und schließlich warf sich Foraker aufatmend in
den Kontursessel vor der Steuerkonsole.
»Alles anschnallen und das Rauchen einstellen«, sagte er aufgeräumt, froh, in absehbarer Zeit diese Station mit
ihrer verrückten Kl hinter sich lassen zu können.
Die innere Schleuse der Kugelstation war von der Künstlichen Intelligenz bereits geöffnet worden.
Foraker dirigierte das Beiboot hinein; langsam sank es tiefer. Wenig später schob sich das Innenschott zu, und
»unter« ihnen öffnete sich das äußere Schleusentor.
Kaum draußen in der Korona, tastete Foraker die Phase des Hyperfunks ein und sagte seinen Spruch auf.
Aus den Akustikgittern brachen zuerst Statik und das schnatternde Prasseln der Sonnenkorona. Dann griff der
Suprasensor ein und filterte alle Störungen aus.
Zwei Sekunden verstrichen.
Dann meldete sich die Stimme Iggy Lorys aus der Funk-Z der CHARR, einen Ausdruck gelinder Überraschung
in der Stimme, die rasch einer unbändigen Freude wich.
»He, Leute, da seit ihr ja endlich. Sekunde...«
Er räumte offensichtlich seinen Platz. Man hörte Geräusche. Dann die harte Stimme des Colonels: »Wir
empfangen Sie. Brauchen Sie Hilfe?«
»Wenn Sie uns auf halbem Weg entgegenkommen würden, Sir, würde das dankend angenommen werden.«
»Schon in die Wege geleitet. Lern. Gibt es Schwierigkeiten? Ist etwas geschehen?«
Lern Foraker sah auf dem Frontschirm die turbulente Sonnenatmosphäre vorbeigleiten. Er sagte:
»Sie werden nicht glauben, was wir entdeckt haben, Sir. Unseren ausführlichen Bericht jedoch später. Jetzt nur
soviel: Wir haben einen Toten an Bord.«
»Um wen handelt es sich?« Huxleys Stimme schien aus Eis zu bestehen.
»Um den Meeg Leroo.«
»Bedauerlich, Lern, sehr bedauerlich. - Ja?« Es war offensichtlich, daß diese Frage jemandem galt, der neben
ihm stand. Dann wandte sich Frederic Huxley wieder an Foraker. »Lern, Srool möchte Skett sprechen. Wir reden
später wieder, wenn Sie an Bord sind.«
»In Ordnung, Sir. - Auf deiner Konsole«, bedeutete Foraker dem Kobaltblauen und schloß seine Phase.
»Wie konnte es geschehen?« Die in Laute verwandelten Impulse des Meegs trugen eindeutig ärgerlichen
Charakter.
»Was?« Skett schien mit einemmal den Begriffsstutzigen spielen zu wollen.
»Bei den Geistern von Vraa! Tu nicht so einfältig, Skett. Ich will wissen, wie es zu dem Unfall gekommen ist?«
Lern runzelte leicht die Stirn. Irgendwie hatte die Unterhaltung
der beiden Nogk etwas Unwirkliches... er sah hinüber zu Skett, sah, wie dessen Fühler in ungewohnter Heftigkeit
vibrierten, und schüttelte in einem Anflug von Ärger den Kopf. Das Frage- und Antwortspiel war genau das: Ein
Spiel nämlich. Die beiden unterhielten sich wesentlich angeregter auf einer anderen Ebene, ohne Beteiligung der
Terraner.
Oh ihr schemheiligen, mißtrauischen Tröpfe, dachte Foraker und grinste sarkastisch. Bleibt ruhig unter euch.
Niemand wird euch stören!
Das war ein Trugschluß, wie er unmittelbar darauf erkennen mußte, als sich eine mächtige Stimme über die
Hyperfunk-Phase hereindrängte in das kleine Boot und den Meeg aus der Leitung warf. Du nimmst Befehle von einem Abartigen an?
Skett hatte sich schnell gefaßt.
»Das siehst du falsch. Ich lasse die Alten unseres Volkes nur in dem Glauben, sie seien die Herren.«
Du hast mich hinter-gangen. Die Kl war nicht davon abzubringen. Du bist kein Herrscher, wie du behauptet
hast.
Interessanter Aspekt, dachte Foraker, wann hat er das gesagt? Er war gespannt, wie sich der Disput entwickelte.
»Du solltest das nicht so eng sehen«, riet Skett.
Du hast mich auch nicht reparieren wollen. »Wenn du es sagst. Tatsächlich gefällst du uns so, wie du im Augenblick bist.« Es wird euch nicht gelingen, mich flir eure Zwecke einzuspannen.
»Vielleicht haben wir das schon!« Ich werde den Novagenerator zünden. »Ich habe es befürchtet«, gestand Skett emotionslos. »Aber ich habe deine Programmierung gesehen - es wird dir niemals gelingen, so etwas zu tun.« Ich werde das Chaosprogramm starten. Jetzt! Die Präsenz der Kl erlosch. Die körperlose Stimme verstummte.
Die Hyperraumphase war wieder frei.
»Chaosprogramm? Ist es das, was ich glaube?«
»Ein Art von Selbstzerstörungsmechanismus, ähnlich dem in der Herberge des Wissens«, bestätigte Skett
Forakers Befürchtungen. »Es umgeht alle eingesetzten Sperren und Sicherungen. Offenbar versucht die Kl, auf
diese Weise doch noch den Novagenerator zu starten.«
»Werden wir mit heiler Haut davonkommen?«
»Natürlich«, versetzte Skett. Aber Foraker mißtraute dieser Aussage; mehrmals bereits hatte er den Kobaltblauen
beim unverfrorenem Lügen ertappt, wenngleich ein Nogk lieber vom »Umgestalten unpassender Wahrheiten«
sprach.
Lern blickte nervös auf den Schirm, der Geret zeigte.
»Was wird sie unternehmen, diese Kl?«
»Sie wird die gravimetrischen Fesseln deaktivieren, die den Satelliten an seinem fixen Orbit verharren lassen. Er
wird von den Schwerkraftfeldern des Sonnenkerns augenblicklich in die Tiefe gezogen werden und...«
»... und verglühen?«
»Vermutlich wird er vom Druck schon vorher zerquetscht werden, oder beides tritt ein.«
»Dann sollten wir machen, daß wir nicht in der Nähe sind, wenn das geschieht.« Lern holte das letzte aus den
Triebwerken des Erkunders heraus.
Geschützt von der nogkschen Abschmelzpanzerung gestaltete sich die Fahrt durch die Sonnenatmosphäre ohne
weitere Unterbrechungen. Schließlich hatten sie die Korona Gerets hinter sich und glitten in den freien Raum.
Keine Sekunde zu spät, wie es schien.
Sie waren bereits eine Astronomische Einheit von dem atomaren Hochofen entfernt, als hinter ihnen in der Tiefe
der Sonne die aller Fesseln ledige Nova-Station von den unvorstellbar mächtigen Schwerkraftfeldem zu Atomen
zerrissen und zerstrahlt wurde.
So gewaltig die eigenen Kräfte der Station auch gewesen sein
mochten, ihr Durchmesser hatte nicht mehr als zehn Kilometer betragen. Ein winziges Sandkorn gegen den
kosmischen Giganten Geret.
Trotzdem reichte es aus, die Sonne zum Rülpsen zu bringen.
Eine Protuberanz von immenser Größe wölbte sich in majestätischer Grazie über die Korona und wuchs
Millionen von Kilometern in den freien Raum hinaus.
Dank der sich automatisch abblendenden Sichtschirme blieben die Insassen des Beibootes weitgehend von
Problemen verschont, als der Rumpf des Erkunders vom gleißenden Licht der eruptie-renden Sonnenfackel
umspült wurde.
Nur kurze Zeit später wurde das Beiboot von den superstarken Traktorstrahlen der CHARR in seinen Hangar
gezogen.
Und das Zentralgestirn des Geret-Systems zeigte keine Merkmale eines beginnenden Ausbruchs zur Supernova.
Frederic Huxley verfolgte auf einem Nebenschirm seiner Konsole, wie das Beiboot im Hangar andockte.
Sofort begann ein Technikerteam in Schutzanzügen damit, die Außenhülle von der harten r-Strahlung zu
reinigen.
Der Vorgang dauerte nur kurze Zeit.
Huxley konnte sehen, wie zwei Gestalten in dem nach oben führenden Lift verschwanden, während die Leute
aus der Medo-Sta-tion den Leichnam des Meeg bargen.
Die CHARR hatte inzwischen außerhalb der Ekliptik des Geret-Systems Position bezogen und behielt diese bei,
bis feststand, wohin man sich als nächstes wenden würde.
Am Eingang der Hauptzentrale entstand Bewegung. Lern Fora-ker erschien, neben sich Skett.
Beide marschierten auf den Leitstand zu und verharrten vor dem Colonel, der seinen Gliedersessel herumgedreht
hatte und ihnen entgegenblickte.
»Freut mich, wenigstens Sie beide in guter Verfassung zu sehen.«
»Danke, Sir«, sagte Lern Foraker und salutierte vor seinem Kommandanten.
Skett verschränkte die Hände vor der Brust; das nogksche Äquivalent einer Ehrenbezeugung. Eines unter
mehreren.
Als Lern etwas sagen wollte, winkte der Colonel ab.
»Später, Mister Foraker! Sie bekommen noch genügend Gelegenheit, Ihre Erlebnisse zu schildern. Wir werden
uns zuerst um die Daten kümmern, die unser nogkscher Freund aus dem Programmspeicher dieser Kugelstation
hat. Ich glaube, die sind von größerem Interesse. Einverstanden?«
Foraker nickte zustimmend. »Selbstverständlich, Sir.«
Skett zog das Speichermedium aus der Tasche, das er dem Bordrechner des Beibootes entnommen hatte und
fütterte damit das Eingabeterminal des Hauptrechners.
»Es ist eine immense Datenmenge, die ich aus der Nova-Station mitgebracht habe. Sie werden unsere Meeg und
Ihre Wissenschaftler für eine Weile beschäftigen, denke ich. Sicher werden wir bei der Analyse auf Dinge
stoßen, die uns weitreichende Erkenntnisse über die Situation in der Galaxis von vor über 2000 Jahren liefern,
davon bin ich überzeugt...«
Während er noch redete, brach bereits das Chaos über die CHARR herein.
Es geschah so überraschend, daß zunächst niemand begriff, was sich tat. Und als sie es begriffen, war es zu spät.
Ein harter Ruck erschütterte das Ellipsenschiff, und für einen Moment schien es, als ginge es in den freien Fall
über.
Sybilla Bontempi konnte einen spitzen Schrei nicht UnterdrÜkken, als sich ihr der Magen umdrehte und sie
langsam, aber unwiderstehlich den Halt unter den Füßen verlor. Mit aufgerissenen Augen sah sie, wie sich ihre
Fußsohlen mehrere Zentimeter über dem Boden befanden.
Lern Foraker, gewohnt an Kampfeinsätze auf Planeten mit ge
ringer Schwerkraft oder in der Schwerelosigkeit des Alls, glitt zu ihr hinüber und zog sie an sich, um sie vor
weiterem Ungemach zu bewahren...
In der nächsten Sekunde setzten die Gravitationsgeneratoren wieder ein und erzeugten Schwerkraftfelder, die
über die nonnale Konstante von einem Gravo hinausgingen. Sybilla und Lern stürzten zu Boden, wurden dort
regelrecht festgenagelt, als sich die künstliche Schwerkraft um den Faktor zwei erhöhte. Nur wer sich in den
Konturensitzen aufhielt, kam relativ glimpflich davon.
Dann brach die CHARR seitwärts aus.
Trotz der nogkschen Supertechnik kamen Scherkräfte durch und fegten alles, was noch stand, von den Beinen.
»Was ist los bei euch da oben!« polterte Chief Erkinsson aus dem Maschinenraum. Die offene Phase der
zentralen Bordverständigung trug seine Stimme durch das ganze Schiff. »Wer spielt denn da an meinem
Terminal im Leitstand herum? Ich kriege hier lauter verrückte Werte über die Systeme herein. Wenn das so
weitergeht, fliegen uns noch die Konverter um die Ohren...«
Im ganzen Schiff herrschte heilloses Durcheinander, und Frederic Huxley, der sich an die Armlehnen seines
Gliedersessels klammerte, als hinge sein Leben davon ab - was nicht einmal so abwegig war, wenn man es recht
bedachte - war sich sicher, daß die Medostation in den nächsten Stunden aus allen Nähten platzen würde. Die
Schrammen und Blessuren, die seine Besatzung davontrug, würden Legion sein. Und noch immer ging keinem
ein Licht auf, wer dieses Chaos verursachte.
»Verdammter Mist! Ich kann diesen Eimer nicht halten!« Das war Henroy auf dem Platz des zweiten Piloten im
Leitstand der CHARR. Lee Prewitt war von der ersten Attacke des unsichtbaren Feindes aus dem Sitz
geschleudert worden und gegen eine Konsole geprallt. Er richtete sich gerade mit schmerzverzerrter Miene auf
und hielt sich die rechte Schulter. Und Henroy fuhr fort:
»Welches dreimal gebrannte Rindvieh spielt da mit dem Haupt-
rechner?«
Es war, als würde die Zeit stehen bleiben.
Die Geräusche verstummten.
Die Stille war fast mit Händen zu greifen.
Zeit dehnte sich ins Unendliche.
Und dann eine Stimme wie von einem Riesen:
ICH.
Ohne es zu wissen, hatte Henroy mit seiner Bemerkung über das Rindvieh, das am Hauptrechner herumspielte,
einen Haupttreffer gelandet.
»Wie... was...? Wer ist ich?« Henroy suchte verstört nach dem Sprecher.
ICH.
Wieder nur dieses eine Wort, von einer Stimme gesprochen, die von allen Seiten gleichzeitig zu kommen schien.
Lern Foraker richtete sich vom Boden auf. Er kannte die Stimme.
»Eine Überraschung jagt die andere«, knurrte er grimmig und drehte sich nach dem blauhäutigen Nogk-
Mutanten Skett um, der wie erstarrt noch immer am Eingabeterminal des Hauptrechners stand; er mußte sich
während der allgemeinen Konfusion mit übermenschlicher Kraft an die Konsole geklammert haben.
»Wie wahr«, sagte er jetzt, und seine Facettenaugen wurden um Nuancen schwärzer.
Die Anthropologin sagte verstort: »Bei den Ruinen von Kuun-den, seht doch...«
»Was ist...«, begann Huxley, nur um wieder zu verstummen, als er die Allsichtsphäre ins Blickfeld bekam.
Auf dem großen Oval an derSpitze des Leitstandes war die Darstellung des die CHARR umgebenden Alls mit
seinen Milliarden Sternen verschwunden. Statt dessen drehte sich im Schirm eine drei Meter große Pyramide, in
hellem Rot glühend.
»Was ist das?« Frederic Huxley sah von Skett zu Lern Foraker.
»Das ist...«, begann Foraker, aber Skett hieß ihn mit einer
Handbewegung schweigen und sagte statt seiner: »Das ist die Kl der Nova-Station.«
FALSCH! dröhnte die künstliche Stimme, von Vokodem verstärkt. ICH BIN ICH, DER VOLLSTRECKER!
»Mein Gott!« stieß Sybilla Bontempi hervor. »Eine größenwahnsinnig gewordene Künstliche Intelligenz. Ich
sehe Probleme auf uns zukommen.
»Wie bist du an Bord gekommen?« fragte Skett. »Ich habe dich doch mitsamt der Station in der Sonne verglühen
sehen.
MICH? NEIN!
»Natürlich nicht!« Der Kobaltblaue wirkte wie elektrisiert, als ihn die Erkenntnis traf wie eine Wehe.
ICH SEHE, DU VERSTEHST. ICH HABE DICH GLEICH DURCHSCHAUT, ALS DU BEGONNEN HAST,
MEINEN HAUPTDATENSPEICHER ZU KOPIEREN UND AUF DEINEN RECHNER ZU ÜBERTRAGEN.
ARMER WURM. GLAUBST DU WIRKLICH, DU HÄTTEST ES VOR MIR VERBERGEN KÖNNEN? DU
WOLLTEST MIR NICHT HELFEN. DU WOLLTEST NUR DIE DATEN DES NOVA-GENERATORS.
OHNE DASS DU ES BEMERKT HAST, HABE ICH DAFÜR GESORGT, DASS EINE KOPIE MEINES
BEWUSSTSEINS MIT ÜBERTRAGEN WÜRDE. JETZT IST DIESE STATION IN MEINERGEWALT...
Und wie um den Beweis für diese Feststellung anzutreten, erloschen alle Lichter an Bord der CHARR.