IMPRESSUM Romane des Projekt 99 erscheinen mit freundlicher Genehmigung der Erben Kurt Brands und des HJB Verlag + Shop bei HEUL-Press für den REN DHARK Club. Anzeigenleitung, Bestellungen & Vertrieb: Heinz Mohlberg, Hermeskeiler Str. 9, 50935 Köln Fon/Fax 0221 / 43 80 54 email:
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REN DHARK DIE GROSSE SF-STORY VON KURT BRAND Band 107
Im Zentrum der goldenen Stadt Dirk van den Boom
Es ist den Terranern gelungen, einen Grako in ihre Gewalt zu bringen, einen jener goldenen Menschen, die vor langer Zeit Terror und Vernichtung über die Milchstraße gebracht haben sollen. Eine Untersuchung in der Cyborg-Station im Brana-Tal ergibt, daß der Grako von einem Mental-Parasiten, einem Mensiten, kontrolliert wird. Die Arbeiten an dem Organismus nehmen plötzlich eine unerwartete Wende. Der Mensit detoniert in viele Millionen Partikel von viraler Größe und infiziert Cyra Simmons, die rechte Hand Ezbals. Sie verschwindet spurlos. Henner Trawisheim stellt daraufhin die Erde unter Quarantäne und riegelt die Heimatwelt der Menschen durch einen planetenweiten Schutzschirm vom restlichen Sonnensystem ab. So bleibt Ren Dhark, dem es durch eine Rettungsexpedition zwar gelungen ist, eine Art diplomatischen Kontakt mit den Amphis zu etablieren, dabei aber durch den Angriff eines unbekannten Raumschiffs die POINT OF verloren geben mußte, die Heimkehr nach Terra verwehrt. Olan, der weise Anführer der Salter, entrinnt nur knapp einer Katastrophe. Der Wohnturm, in dem er seine Mitarbeiter aufsuchen wollte, explodiert. Seine Artgenossen, die sich dort
aufhielten, sind alle dem Unglück zum Opfer gefallen. Aber war es wirklich ein Unglück? Bernd Eylers bezweifelt dies und betraut seinen besten Agenten mit den Ermittlungen. Jos Aachten van Haag findet tatsächlich die bittere Wahrheit heraus und bezahlt diese Erkenntnis beinahe mit seinem Leben. Cromar indes wird von einer unbekannten Ringraumerflotte angegriffen. Mit seinem neuen Flaggschiff – der GALAXIS II – eilt Ren Dhark zusammen mit einer riesigen Flotte der Zentralwelt des Telin-Imperiums zu Hilfe und kann die unbekannten Angreifer vertreiben. Doch die Tels erweisen sich als undankbar. Sie locken das Schiff des Commanders in eine Falle und bringen das Vario an Bord – jene grauenvolle Waffe, die ihren Opfern gnadenlos den Hitzetod bringt. Für Schiff und Besatzung gibt es keine Hoffnung. Völlig unberührt von all diesen Ereignissen operiert der TAW-Kreuzer LEMUR im Rahmen des Noah-Projekts tief im All. Unter dem Kommando Janos Szardaks, der so seinen Urlaub verbringt, kehrt man nach dem Zwischenfall auf der Quelle des Lebens wieder zu den Routineaufgaben zurück. Doch der Besatzung ist keine Ruhe vergönnt, denn sie landet mitten IM ZENTRUM DER GOLDENEN STADT...
Personenverzeichnis: Janos Szardak .................. der Kommandant der LEMUR betritt die goldene Stadt Jasmin Takei und Ken Willingsworth .......... Szardaks Begleiter Anna Bulgakowa .............. die Kommandantin eines terranischen Schiffes sieht ihrem Untergang entgegen Marschall Bulton ............. der Chef der TF beginnt an der Lage zu verzweifeln Ron Clarke, Jan Waasemaar, Ralitsa Wasselewa, Clifford Wilcox-Smith .... sie machen unangenehme Erfahrungen mit den Cyborgs
Professor Doktor Adebayo Ademolekun war an diesem Tag der einzige Mensch auf der Ausgrabungsstätte in einem der Vororte Ibadans. Es war ruhig, denn der Fastenmonat Ramadan war angebrochen, und die zum größten Teil islamische Bevölkerung der Stadt hielt sich in den Arbeitsstätten auf, um das Mindestmaß an Arbeit zu verrichten, das ihnen während des Fastens körperlich möglich war. Nur die wenigsten bewegten sich unter der schwülen Hitze der Regenzeit auf den Straßen der zweitgrößten Stadt Afrikas, um notwendige Besorgungen zu machen. Jeder, der es sich leisten konnte, verbrachte den Tag zu Hause, sei es in andächtiger Kontemplation, sei es in der Gewißheit, die Pflichten Allah gegenüber in dreißig Tagen erfüllt zu haben, um dann wieder ein normales Leben führen zu können. Ademolekun, selbst kein Moslem, inspizierte das eingezäunte Areal, auf dem die Ausgrabungsgegenstände wild verstreut umherlagen. Seine Studenten und Mitarbeiter hatten den heutigen ausgrabungsfreien Tag dazu genutzt, die bisherigen Fundstücke im Institut der Universität zu sortieren. Der Professor jedoch, mit seinen 77 Jahren ein alter, aber ausgesprochen rüstiger Mann von hagerer Gestalt, hatte es in den kühlen Räumen nicht ausgehalten, ihn trieb es wieder zurück zum Ort der Ausgrabungen, wie jedesmal, wenn er ein Projekt leitete. Nachdenklich musterte der Archäologe das Wrack des Giant-Beiboots, das sich damals, bei der Invasion dieser Außerirdischen, während der Kämpfe in den Boden Ibadans gerammt hatte, einer der kargen Erfolge der damaligen terranischen Abwehr. Das Beiboot war von geringem Interesse für den Forscher, denn die Technik der Giants war allgemein bekannt und das Raumfahrzeug hatte kaum mehr als Schrottwert. Doch bedauerlicherweise war es direkt auf dem
Archäologischen Museum abgestürzt, das sich damals an diesem Ort befunden hatte, und die Aufgabe von Ademolekuns Team war es, alle Artefakte zu retten, die vielleicht noch zu retten waren. Daß man erst jetzt mit den Arbeiten für dieses wichtige Projekt begonnen hatte, hing mit den zahlreichen anderen Zerstörungen zusammen, die die Giant-Herrschaft verursacht hatte. Trotz des Zusammenwachsens der ganzen Welt und einer einheitlichen Wirtschaftspolitik waren die afrikanischen Bundesterritorien – und die Region des vormaligen Nigeria hier eingeschlossen – im Vergleich zum Rest der Welt immer noch etwas weniger entwickelt, und trotz der Hilfeleistungen staatlicher Institutionen hatten Aufbau und Wiederherstellung der alten Strukturen hier länger als in den anderen Regionen gedauert. Die Sonne stand heiß am Himmel und die hohe Luftfeuchtigkeit machte das Atmen beschwerlich. Adebayo Ademolekun stieg die provisorische hölzerne Treppe in den ausgehobenen Bereich um das Giant-Schiff hinab. Bisher hatte man es vermieden, das Fahrzeug mittels Antigraveinheiten einfach aus dem Loch zu heben, denn der Professor befürchtete, daß dadurch unersetzliche Kunstgegenstände zerstört werden würden, die in dem nur halb eingestürzten Keller des Museums lagerten, auf dem das Wrack ruhte. Aus diesem Grunde waren langwierige und vorsichtige Grabungen notwendig, verbunden mit komplizierten Abstützungen und der Hoffnung, daß nicht alles umsonst war und das Raumboot nicht verrutschte und die restlichen Schätze aus der Vorzeit unter sich begraben würde. Professor Ademolekun näherte sich der Stelle, die das Team unter seiner Leitung in den letzten Tagen ausgehoben hatte. Direkt an der Wandung des Raumbootes war ein Teil der Decke des Kellers erhalten geblieben. Da dieser Teil erst
kürzlich freigelegt worden war, hatten die Mitarbeiter die Wände provisorisch mit Plastpfeilern abgestützt, um schnell die aufgefundenen Pretiosen aus den Trümmern entfernen und sichern zu können. Gedankenverloren betrachtete der Professor die Stätte. Etwas weiter in die gleiche Richtung, die Wandung des Schiffes entlang, hoffte er eines der schönsten Stücke der damaligen Sammlung zu entdecken, Beigaben aus einem Grab eines Yoruba-Königs, die hier im Keller eingelagert worden waren, ehe der Angriff der Giants begonnen hatte. Ein feines Knacken ertönte. Für einen Moment hielt der alte Mann inne und lauschte. Doch es war nichts weiter zu hören. Er schüttelte den Kopf und bückte sich, um eine Tonscherbe vom Boden aufzulesen. Die Studenten wurden auch immer nachlässiger... Das Knacken wiederholte sich. Prof. Ademolekun erhob sich und warf einen prüfenden Blick in die Runde. Nichts hatte sich bewegt, niemand war zu sehen. Der Mann strich prüfend mit einer Hand über einen der Plastpfeiler, die die morschen Wände abstützten. Es war durchaus schon zu Materialermüdungen gekommen, aber eigentlich... Er sprang zurück. Scharrend begann sich einer der Plastpfeiler in seiner Halterung zu bewegen. Noch ehe dem Mann gewahr wurde, daß die Wand in seine Richtung zu stürzen drohte und ehe er darauf reagieren konnte, fiel der Pfeiler krachend zur Seite. Die Wand neigte sich zur Seite und begrub den Unterleib des alten Mannes unter sich. Ein stechender Schmerz durchzuckte die Beine des Wissenschaftlers, als die alte Kellerwand auf seine Knochen stürzte. Nachdem sich der Staub gelegt hatte, erkannte der Mann, vom Schmerz benebelt, daß sein Unterleib von den Steinmassen begraben war und er sich keinen Zentimeter bewegen konnte. Er biß die Zähne zusammen und versuchte
schwach, nach Hilfe zu rufen, doch als er tief Luft holte, tanzten bunte Schleier vor seinen Augen und Bewußtlosigkeit umfing ihn. Adebayo Ademolekun sank zusammen und regte sich nicht mehr. Die Hitze der Mittagssonne brannte auf die regungslos daliegende Gestalt und es schien, als würde sie ein grausames Werk vollbringen, ehe dem Bewußtlosen geholfen werden konnte. Der aufgewirbelte Staub legte sich langsam und wenn man sich die Grabungsstelle nicht näher ansah, konnte man meinen, alles sei in Ordnung und kein Mensch befinde sich zu dieser Zeit auf dem umzäunten Platz. Adebayo Ademolekun hatte Glück im Unglück, auch, wenn er den Schatten, der sich besorgt über ihn beugte, in seiner Ohnmacht nicht wahrnehmen konnte. »Alter Mann – he, alter Mann! Aufwachen!« Clifford Wilcox-Smith, trotz seines britischen Namens ein Bewohner der Bundesregion Nigeria, berührte den bewußtlosen Mann sanft an der Schulter. Er hatte von ferne die Staubwolke und den Krach an dem umzäunten Gebiet bemerkt und war sofort hierher geeilt, erst aus Neugierde, jetzt aus Hilfsbereitschaft, als er den alten Mann sah, der unter einem Teil der eingestürzten Mauer eingeklemmt war. Während andere Passanten sofort den Notdienst alarmierten, beschloß er, sich um den Verletzten zu kümmern. Doch der alte Mann, der in der sengenden Hitze des Tages, völlig von Staub bedeckt am Boden lag, rührte sich nicht. Noch einmal stupste Clifford die Schulter des Verletzten. Er sah mit Freude, daß der Greis die Augen aufschlug und in die Sonne blinzelte. »Wie fühlen Sie sich?« fragte Clifford besorgt. »Isé lòsùpà ríse lálède òrun, lálède òrun...« Der junge Mann stutzte. Clifford kannte diese Sprache, es war Yoruba, eine der drei großen Sprachen, die in dieser
Region gesprochen wurde. Entweder redete der alte Mann im Delirium oder... im Stillen übersetzte er für sich: »Fleißig ist der Mond in der Masse des Himmels, fleißig ist der Mond... » »Er phantasiert!« stellte Clifford sofort fest. Er schob seine rechte Hand unter den Kopf des Alten und beschattete dessen Gesicht mit seinem Oberkörper. »Es kommt gleich Hilfe, alter Mann!« redete Clifford beschwörend auf ihn ein. Der Blick des Verletzten fand seine Augen und der alte Mann lächelte, ehe er wieder sprach. »Pèrèe o pèré yojú l’órun, Àsèsèyo osù ó dà bí egbin, Ká kósu kóbì ká lo mú saya, Ká tò dé bè ó ti b’ójó lo...« Clifford schüttelte den Kopf und bemühte sich, die leisen Worte zu verstehen. »Frisch, frisch erscheint der Mond am Firmament, der neue Mond ist schön wie eine Fee, Bringt Yams, bringt Kokosnüsse, laß uns gehen und sie heiraten, bevor wir aufstehen ist sie mit der Zeit gegangen...« Eine Sekunde war Clifford gerührt, daß der alte Mann in seinem Hitzedelirium offensichtlich alte Gedichte aus seiner Jugend rezitierte – oder was auch immer. Das Gesicht des Verletzten hatte bei der Rezitation der Verse einen seltsamen Ausdruck von Glückseligkeit angenommen und Clifford überlegte kurz, welche Erinnerungen der Alte wohl mit diesen Zeilen verband. Jedenfalls atmete er auf, als er die beiden Rettungsgleiter aus dem nahen Stadtzentrum heransausen hörte, rasch neben sich landen sah und Sanitäter mit einer Schwebetrage heraussprangen. Begleitet wurden sie von einem besonders hochgewachsenen Mann, der sich sofort zu dem Verletzten gesellte. »Er ist eingeklemmt!« erklärte Clifford überflüssigerweise. Der Mann nickte.
Ein Sanitäter zog Clifford vom Alten weg und flüsterte: »Der ist ein Cyborg, war gerade in der Nähe. Wir haben ihn mitgenommen!« Clifford sah den Fremden erstaunt an. Er hatte noch nie einen Cyborg getroffen und empfand für diese verwandelten Menschen die gleiche Faszination wie alle normalen Bürger, Faszination, verbunden mit einer kleinen Portion Angst vor den Kräften dieser Leute, die jede gewöhnliche Dimension sprengten. Clifford trat respektvoll zurück und sah dem Cyborg zu. Dieser musterte die Wand kurz, dann stellte er sich in Positur, bückte sich, griff mit beiden Armen an das Mauerwerk und mit einer leichten, lockeren Bewegung wälzte er die Wand von dem Liegenden herunter, ohne daß dessen verwundete Beine in Mitleidenschaft gezogen wurden. Die Mauerreste ließ er neben dem Alten zu Boden gleiten, nickte selbstzufrieden den Sanitätern zu, die sogleich herbeieilten und den Verletzten auf die Trage hoben. Der Cyborg gesellte sich zu dem jungen Mann und lächelte ihn an. »Sie haben den alten Mann gefunden? Gut, daß ich in der Nähe war, was?« »Ja«, erwiderte Clifford und hielt dem Cyborg die Hand hin. »Er wird Ihnen sehr dankbar sein – und ich bin es natürlich auch!« Der Cyborg ergriff die dargebotene Hand, grinste freundlich und drückte zu. Clifford tanzten Schleier vor den Augen und er schrie laut auf. Der Cyborg ließ los, lachte laut, schlug dem fassungslos mit zerquetschter Hand dastehenden Mann auf die Schulter und wandte sich ab, um mit federnden Schritten zu den Gleitern zu gehen. Clifford Wilcox-Smith, mit gebrochenen Fingern und gebrochenem Schlüsselbein, sank vor den Augen der völlig
perplex dastehenden Sanitäter schmerzerfüllt zu Boden. *** Anna Bulgakowa flegelte sich in ihrem Sitz und betrachtete ausgiebig ihre Fingernägel. Sie waren akkurat gefeilt und ausnehmend sauber, aber die Kommandantin der SUZANNE VEGA schien ihren eigenen Augen nicht zu trauen: Intensiv begutachtete sie jeden Fingernagel und schien dabei für ihre Außenwelt kein weiteres Interesse aufzubringen. Dieser Eindruck jedoch täuschte, und das wußte die übrige Besatzung der Zentrale genau. Aus diesem Grunde wagte auch niemand, mangelnde Aufmerksamkeit für die eigenen Instrumente aufzuweisen. Auf dem zentralen Bildschirm des SKreuzers wurde die Position der SUZANNE VEGA angezeigt: An der linken Flanke der terranischen Flotte, die die unbekannten Ringraumerverbände verfolgte, die sich von der Heimatwelt der Tels abgesetzt hatte. Scheinbar unbeteiligt von der Verfolgungsjagd lag die Kommandantin in ihrem Sessel mehr als sie saß und hörte den eingehenden Meldungen ihrer Besatzungsmitglieder zu. Anna Bulgakowa war schon lange Raumschiffkommandantin und hatte zu den ersten gehört, die ein Kommando auf einem S-Kreuzer angenommen hatten. Die untersetzte, burschikos wirkende Mittvierzigern mit dem Borstenhaarschnitt trug markante Gesichtszüge, ihre dunkelbraunen Augen, die derzeit so interessiert die Form der Fingernägel begutachteten, konnten Befehle nahezu ohne Worte vermitteln, und all diejenigen, die lange unter dem Kommando dieser Frau geflogen waren, wußten die verschiedenen Nuancen zu deuten. Nur hin und wieder warf sie dem Bildschirm und der in die rechte obere Ecke projizierten Ortungsanzeige einen Blick zu. Doch sie registrierte sehr
genau, was mit der Ringraumerflotte geschah, die unter anderem von ihrem Schiff durchs All gehetzt wurde. Die fremden Ringraumer beschleunigten stetig, und die terranischen Verbände blieben ihnen hartnäckig auf den Fersen. Die generellen Flugmanöver wurden von der Einsatzleitung gesteuert, so daß der Zentralebesatzung der SUZANNE VEGA nicht viel anderes übrig blieb, als dem Schauspiel auf den Instrumenten zu folgen. »Energieanstieg bei den Ringraumern!« meldete Salvatore Malani, der Ortungsoffizier. Die Bulgakowa nickte nur und warf einen kurzen Blick auf den Bildschirm. »Sie werden uns gleich entwischen«, murmelte sie fast unhörbar. »Transition!« rief Malani, als hätte er auf ihr Stichwort nur gewartet, und schon waren die Ringraumer vom Schirm verschwunden. »Berechne Wiedereintritt!« Die Kommandantin nickte unmerklich und ein feines Lächeln umspielte ihre Lippen. Das eingespielte Team der Zentrale funktionierte auch ohne beständige Anweisungen der führenden Offizierin, und das lag sicherlich nicht an übertriebener Lässigkeit. Dann fiel die äußere Ruhe und Gelassenheit plötzlich von ihr ab. Mit einem Ruck erhob sie sich aus ihrem Sessel und musterte die Instrumente. »Das...« Ihr Satz wurde von einer Meldung der Leitenden Ingenieurin unterbrochen. Auf dem Schirm der Bordsprechanlage tauchte das grobschlächtige Gesicht von Clementine Savoy auf, die stoisch in die Kamera starrte und ohne jegliche Gefühlsregung sprach. »Kommandantin, die Konverter sind hochgegangen wie sonstwas. Irgendwas auf dem Kahn benötigt plötzlich irre viel
Energie. Hat da jemand seine Kaffeemaschine nicht ausgeschaltet?« »Kaum«, erwiderte Anna spöttisch und warf einen erneuten Blick auf ihre Instrumente. Plötzlich erfüllten hektische Meldungen die Zentrale. Anweisungen der Flottenführung strömten durch den Äther. »Gigantische Anziehungskräfte wirken auf das Schiff ein!« erklärte ihr erster Offizier und wies auf den Bildschirm. Dort war eine Markierung erschienen. »Die Kräfte kommen von dort. Die Anzeigen deuten auf eine Dunkelsonne hin!« »Dunkelsonne? Die Karten!« Eine Dunkelsonne war an sich kein Problem für die irdische Raumfahrt. Selbst in Gegenden, die noch nicht kartographisch erfaßt waren, kündigten sich diese Moloche des Weltalls durch eine starke Gravitation und andere astrophysikalische Indikatoren an. Dunkelsonnen selbst waren die stärkste Form eines Schwarzen Loches und sollte die Flotte tatsächlich in die unmittelbare Nähe eines solchen Phänomens gelangt sein, so würde sie, wenn nicht sofort Gegenmaßnahmen getroffen würden, hinter den Ereignishorizont gezogen werden und der vollständigen Vernichtung anheimfallen. Der Offizier führte die Kommandantin zum Kartentank. Derweil erfüllte ein hohes Summen die Luft der Zentrale. Die Konverter beschickten die Triebwerke mit aller Energie, um sich der Anziehungskraft des Objekts entgegenzustemmen. Die Kommandantin befahl, alle unnötigen Energieverbraucher abzuschalten, obgleich sie wußte, daß der Effekt nur minimal sein dürfte. »Hier – keine Eintragung. Das Gebiet um Cromar ist eigentlich bestens kartographisch erfaßt. Von einer Dunkelsonne ist da nicht die Rede.« »Erst recht nicht von einer, deren Anziehungskräfte so plötzlich wirksam werden – und zufälligerweise genau dann,
wenn eine fremde Ringraumerflotte sich davonmacht und wir sie nicht mehr verfolgen können. Malani!« »Kommandantin, die Geräte werden durch die Einwirkungen der Dunkelsonne gestört. Berechnung des Wiedereintritts der Ringraumer war nicht möglich. Ich habe nicht einmal Näherungswerte – es tut mir leid!« Anna Bulgakowa nickte und wandte sich wieder dem Bildschirm zu. »Taktisch!« Das Bild auf dem Schirm änderte sich. Zwischen der Dunkelsonne und der Flotte der Terraner erschienen taktische Entfernungs- und Geschwindigkeitsdaten. »Es nützt nichts«, murmelte die Kommandantin. »Die Anziehungskraft des Objekts ist viel zu groß. Wir werden alle langsam darauf zugezogen – ohne weitere Energiereserven. Anweisungen der Flottenführung?« Die Funkstation meldete sich sofort. »Die letzte Meldung kam vor einigen Minuten rein. Ich befürchte, die Strahlungsquelle der Dunkelsonne stört jeden Funkverkehr. Der Computerleitstrahl ist abgebrochen.« Anna blickte wieder auf den Schirm. Sie erkannte, wie die bisher geschlossene Formation der terranischen S-Kreuzer leicht auseinanderdriftete. Obgleich die Bordcomputer die notwendigen Abstände hielten, fehlte die Koordinierung durch die Flottenführung. Bulgakowa zerdrückte einen Fluch zwischen den Lippen, dann setzte sie sich wieder in ihren Sessel. Auf dem Schirm der Bordsprechanlage blickte immer noch Ingenieurin Savoy ungerührt in die Zentrale. »Anna«, erklärte sie stoisch, »lange halten das meine Maschinen nicht mehr durch. Ich bin auf Überlast! Trotzdem werden wir weiter angezogen. Wir sollten transistieren, um von hier zu entkommen!« »Ich befürchte, das klappt nicht!« entgegnete die Kommandantin.
Ihr Erster Offizier nickte und wies auf einige Berechnungen. »Wenn wir jetzt umschalten, werden wir schlagartig von der Dunkelsonne angezogen. Ehe wir die notwendige Sprunggeschwindigkeit erreicht haben, sitzen wir dem Ei auf der Pelle. Das könnte unangenehm werden.« »Wir würden schön braun werden«, witzelte Malani. »Das ist eine Dunkelsonne, du Idiot!« grinste der Erste Offizier, ein Mann koreanischer Abstammung. Anna hob die Hand und das Geplänkel wurde beendet. Sie musterte die Daten auf dem Bildschirm und schüttelte den Kopf. »Wir sind auf uns allein gestellt – und ich habe nicht die geringste Ahnung, wie wir aus diesem Schlamassel kommen sollen.« Dann lehnte sie sich zurück und warf wieder einen intensiven Blick auf ihre Fingernägel. Anna Bulgakowa hatte sich noch nie über Dinge aufgeregt, die sie nicht ändern konnte. *** »Das mag ja alles sein«, erklärte Szardak mißmutig und musterte Tina Craven mit unverhohlener Mißbilligung. »Aber zum einen hätten Sie das auch auf andere Art und Weise sagen können, zum anderen bleibt uns aufgrund der Strahlenstürme keine Zeit für groß angelegte Pausen und viel Erholung.« »Kommandant!« erklärte die Bordärztin bestimmt. »Ich stimme Ihnen ja durchaus zu. Aber nach den letzten Erlebnissen benötigt die Mannschaft einfach eine Ruhepause, und aus diesem Grunde ist ein Landurlaub sehr wichtig. Die Sache mit der ›Quelle des Lebens‹ hat großen psychischen Streß bei den Mannschaftsmitgliedern verursacht. Es ist notwendig und folgerichtig, die Einsatzfähigkeit der Leute
wiederherzustellen.« »Ach!« winkte Janos Szardak ab und machte eine umfassende Handbewegung, die die ganze Besatzung der LEMUR einzubeziehen schien. »Ich bin hier doch nicht mit einem Haufen Kleinkinder unterwegs. Ja, ich gebe zu, das alles war für sie nicht einfach, aber die LEMUR ist mit Erwachsenen bemannt, die nicht gleich nach jedem Problem heim zu Mami laufen müssen. Eine Rückkehr zur Erde lehne ich prinzipiell ab.« Szardak lehnte sich über den Kartentank und stützte sich auf seinen Armen ab. Er musterte die kratzbürstige Bordärztin halb belustigt, halb verärgert und holte tief Luft. »Die Strahlenstürme nehmen an Intensität zu und zahlreiche intelligente Völker dieser Galaxis schweben in großer Gefahr. Wir müssen Welten finden, die für uns bewohnbar sind, um sie mit Schutzfeldprojektoren auszustatten. Das ist die vordringliche Aufgabe.« Szardak erhob sich wieder und wies auf die elektronische Darstellung im Kartentank. »Wir werden in Kürze ein vielversprechendes Ziel erreicht haben. Die Fernortung hat uns interessante Ergebnisse vermittelt. Bestätigen sich unsere Vermutungen, dann bietet unser Zielplanet nahezu paradiesische Verhältnisse. Finden sich keine Krankheitserreger oder andere problematische Phänomene, werde ich einen längeren Landurlaub zur Erholung der Mannschaft in Erwägung ziehen. Mehr kann und will ich Ihnen beim besten Willen nicht versprechen.« Tina Craven musterte den Kommandanten kurz, dann nickte sie knapp, drehte sich um 180° auf ihren Fersen und marschierte aus der Zentrale. Szardak sah ihr nach, schüttelte den Kopf und betrachtete die befriedigten Gesichter der Zentralbesatzung: Obgleich er anfangs jeden Urlaub abgelehnt hatte, war es der
kämpferischen Bordärztin nun doch gelungen, ihn zumindest etwas umzustimmen, was von der Besatzung offensichtlich mit Zufriedenheit und einem gewissen Amüsement quittiert wurde. Szardak quälte sich ein halbherziges Lächeln ab und trat hinter die Kontrollen von Bruce Dexter, dem Ortungsspezialisten der LEMUR. Dexter fuhr sich über das schwarze Kraushaar und warf nur einen kurzen Blick auf seinen Vorgesetzten, als er dessen Anwesenheit verspürte. »Wie sieht es aus?« »Wir haben die Zielwelt in wenigen Minuten erreicht. Soweit absehbar, scheint es sich tatsächlich um ein kleines Paradies zu handeln. Wir kommen jetzt in den Nahortungsbereich und es müßte gleich die ersten Ergebnisse geben.« »Atmosphäre?« »Fast identisch mit der irdischen. Reichhaltige Fauna und Flora, sagen die Biosensoren. Keine Energieortung, die Bilder zeigen auch keine Ansiedlungen oder derlei, also wahrscheinlich unbewohnt. Keine größeren Landmassen, dafür viele kleine und große Inseln. Recht hohe Durchschnittstemperatur, große Ozeane, relativ kleine Polkappen. Allerdings oft recht stürmisch. Keine Trabanten. Keine weiteren erwähnenswerten Planeten im System.« Szardak nickte. Dexter hantierte an den Ortungen und auf einem Bildschirm erschien ein erstes Realbild des Planeten. »Das ist blau!« kommentierte der Ortungsspezialist nahezu fassungslos, als er die fremde Weltkugel betrachtete. In der Tat schimmerten die großen Wasserflächen dieses Planeten in einem tiefen, satten Blau, das auch Szardak in dieser Reinheit noch nicht beobachtet hatte. Für einen Augenblick ließ auch er sich von dem schönen Anblick einfangen. Dann jedoch löste er sich von der Darstellung und tippte dem versunken dasitzenden Dexter auf die Schulter.
»Wenn es etwas Neues gibt, sagen Sie mir Bescheid!« »Sicher.« Szardak wandte sich an Jasmin Takei, die neu ernannte Navigatorin, die wie teilnahmslos an den Zentralkontrollen saß und das Schiff steuerte. »Wir suchen einen Landeplatz, der sicher ist und...«, der Kommandant zögerte unwillig, »... und für einen längeren Strandurlaub geeignet erscheint.« Ein flüchtiges Lächeln überzog das Gesicht der blonden Navigatorin und sie nickte bestätigend. Dexter übermittelte genauere Ortungsdaten an die Flugkontrolle und das Bild des Planeten rückte ins Zentrum des Hauptbildschirms. Die LEMUR schwenkte in den Orbit um die Welt ein und Takei begann die Suche nach einem geeigneten Landeplatz. Szardak, der sich neben sie gesellt hatte, musterte den Schirm und bemerkte kaum, daß sich der Energiefeldexperte Ying Tiung neben ihn stellte. »Nun, das wird wohl Ihr neues Betätigungsfeld sein, mein Bester«, erklärte Szardak jovial und wies auf den näherrückenden Planeten. »Bereiten Sie alles für den Aufbau der Schirmfeldprojektoren vor!« Tiung nickte. »Kommandant, der Planet ist ja ausnehmend blau«, stellte er fest und leckte sich die Lippen. »Ich weiß nicht, wie Sie das sehen, aber ich würde mich nicht wundern, wenn diese Ozeane gänzlich aus erstklassigem Blue Curacao bestehen würden.« »Oh Gott«, murmelte Dexter von hinten, »dann muß er unbedingt an Bord bleiben!« Und ehe Janos Szardak etwas daran ändern konnte, hatte die Besatzung der Zentrale den Begriff aufgenommen und die neue Welt ›Blue Curacao‹ getauft. Der Kommandant schüttelte mit gequältem Gesichtsausdruck den Kopf, während die LEMUR zum Abstieg auf die Oberfläche ansetzte.
»Ich habe ein wunderschönes Plätzchen gefunden«, erklärte die Navigatorin. »Eine größere Insel mit Sandstränden, dem hiesigen Äquivalent zu Palmen, in einer ruhigen Klimazone und mit schön sonnigen Temperaturen. Ideal für einen Aufenthalt.« Sie warf dem Kommandanten einen auffordernden Blick zu und lächelte. Szardak nickte ergeben. *** »Ich bekomme gleich einen Tobsuchtsanfall!« Dieser Ausdruck war für den Oberkommandierenden der Terranischen Flotte, Marschall Bulton, gemeinhin ein Zeichen für größte Verzweiflung. Der cholerische Mann, der in den vergangenen Jahren als Chef der wichtigsten irdischen Institution Nervenkraft und Durchsetzungsvermögen hatte beweisen müssen, galt von vornherein schon als wenig umgänglich und nicht gerade ruhig und besonnen. Wenn er aber selbst feststellte, mit seiner Kraft am Ende zu sein, dann war das ein Alarmzeichen, das niemand mißdeuten sollte – der Marschall erst recht nicht. Mit einem Seufzen setzte sich Bulton in seinen Sessel, reckte sich und starrte seine Ordonnanz mit geröteten Augen an. »Kein Trawisheim weit und breit. Dhark nicht auffindbar, obwohl wir dauernd Sprüche ins All schicken. Die S-Kreuzer melden sich auch nicht mehr, vielleicht sind sie längst von den Angreifern auf das Telin-Imperium vernichtet worden und liegen in Trümmern auf Cromar. In was für einem Affenstall muß ich hier eigentlich arbeiten?!« Die Ordonnanz nickte. »Es bleiben viele Möglichkeiten«, äußerte sich der Offizier
vorsichtig. »Die Strahlenstürme machen Funkkontakte sehr problematisch. Dhark ist schon des öfteren nicht erreichbar gewesen und hat sich dennoch aus jeder Gefahr befreien können. Auch das Schweigen der Flotte bei Cromar ließe sich so erklären.« »Was hilft uns das jetzt?« murrte Bulton und stierte auf die Tischplatte. »Wir müssen handeln, und das ist mein Problem. Ich finde nämlich zur Zeit niemanden, der das übernehmen würde.« Der Marschall schlug mit der geballten Faust auf den Tisch. »Sind die Damen und Herren versammelt?« »Ja, Sir!« »Dann wollen wir mal.« Bulton erhob sich, zog seine Uniformjacke glatt und verließ das Büro. Zusammen mit der Ordonnanz durcheilte er die Gänge des Hauptquartiers, bis er den großen Konferenzsaal erreicht hatte. Dort wartete bereits der Kommandostab auf ihn, bis auf einige Offiziere, die bei der S-Flotte nach Cromar waren und von deren Verbleib man nichts wußte. Die etwa 50 Männer und Frauen verstummten in ihren Gesprächen, als Bulton den Saal betrat und einen kurzen Blick über die Versammelten warf. Dann schritt er zum Kopfende des gigantischen, ovalen Tisches und setzte sich abrupt. »Meine Damen und Herren«, begann er unvermittelt, ehe sich alle anderen auch gesetzt hatten, »Terra befindet sich in einer verzweifelten Lage. Das dürfte Ihnen ja mittlerweile auch bekannt sein. Meine letzten. Bemühungen, mit Trawisheim Kontakt aufzunehmen, sind absolut fehlgeschlagen. Es scheint, als hätte ihn der Erdboden verschluckt. Von der S-Flotte genauso keine Spur wie von Dhark.« Bulton hielt für einen Augenblick inne und sah in die Runde. »Vorschläge?«
»Sir, welche Maßnahmen hat die Regierung ergriffen?« Bulton wandte sich an die Fragestellerin. Die Admiralin Tiza van Maarten war Chefin der terranischen Raumhäfen und erst vor kurzer Zeit Mitglied des Kommandostabes geworden. Der Marschall verzog verächtlich die Mundwinkel. »Welche Regierung?« stieß er hervor. »Diese Schlappschwänze fühlen sich nicht zuständig. Die Suche nach Trawisheim, so erklärte man mir, habe man der GSO überlassen. Für die S-Kreuzer könne man nichts tun, weitere Schiffe zu entsenden, würde die Verteidigungsfähigkeit der Erde in Gefahr bringen. Das gleiche gilt für Dhark: Der sei für sich selbst verantwortlich, man könne ihm ja nicht immer hinterherjagen. Er würde sich schon melden, sobald er wieder könne. Ich sage es Ihnen klipp und klar: Mit dieser Regierung können wir nichts anfangen!« Leises Gemurmel erfüllte die Runde nach Bultons Eröffnungen. Die Stimmung innerhalb des Stabes war so schlecht wie in der gesamten Flotte, da die Männer und Frauen klare Direktiven vermißten und das abwartende Taktieren der Regierung für übervorsichtig hielten. Bulton musterte die Offiziere und lächelte in sich hinein. Die Stimmungslage für sein Vorhaben auszunutzen, das würde im Endeffekt nicht schwierig sein. Er würde den entscheidenden Vorschlag nicht einmal selbst machen müssen... da erhob sich bereits ein weiterer Offizier, der Bulton wohlbekannt war. Jossip Waranow war gemeinhin auch als ›der Falke‹ bekannt und gehörte sicherlich nicht zu den beliebtesten Vertretern der Flotte. Bulton hingegen konnte ihm durchaus etwas abgewinnen – gerade jetzt. Er nickte Waranow zu. »Marschall, welche Möglichkeiten haben wir denn nun, um der Lage Herr zu werden?« Bulton hob in gespielter Unschuld die Schultern und
schüttelte den Kopf. »Keine Ahnung, Waranow, keine Ahnung. Uns sind ja die Hände gebunden...« »Wirklich?« unterbrach der dürre, hochgewachsene Offizier und beugte sich über den Tisch. »Das bezweifle ich. Terra befindet sich in einer ausgesprochenen Notsituation. Jetzt heißt es, den Behörden Führung und Anleitung zu geben, um eine Katastrophe zu verhindern. Wir müssen handeln!« Sekundenlang herrschte Stille im Konferenzsaal. Ehe jemand anders reagieren konnte, hob Bulton beschwichtigend die Arme und erklärte scheinheilig: »Bester Waranow, wie soll das gehen? Terra steht nicht unter Kriegsrecht. Das kann auch nur die Regierung ausrufen – wir haben da keinerlei Möglichkeiten!« »Regierung!« rief Waranow aus und fuchtelte in der Luft herum. »Welche Regierung? Sie haben eben selbst erklärt, daß die Regierung nichts tut, absolut unfähig ist und offensichtlich von der Fülle der Probleme überfordert! Es ist ein Notstand, Marschall! Es ist unsere Pflicht, jetzt zu handeln, da die Regierung...« »Waranow!« unterbrach nun van Maarten leise. Der Mann verstummte. »Sie reden hier von einer ungesetzlichen Handlung. Man könnte es auch als einen Putsch bezeichnen.« Diesem Satz folgte Stille. Das Wort ›Putsch‹ hing plötzlich wie ein Damoklesschwert über ihnen in der Luft und schien einen Teil des Stabes zu erschrecken. Auch Bulton vermochte sich des Eindruckes nicht zu entziehen, daß die Admiralin mit dieser knappen Aussage seine eigenen Absichten sehr treffend umschrieben hatte. Allerdings war er sich seiner Sache auch weiterhin sicher: Solange nicht gehandelt wurde, verschlimmerte sich die Situation immer weiter. Bulton mißtraute allerdings Leuten wie Waranow, dessen eigenes
Mißtrauen allen Zivilisten gegenüber ihn nicht nur zu unbedachten Äußerungen, sondern vielleicht auch zu unbedachten Handlungen hinreißen lassen würde. »Admiralin, Sie haben absolut recht«, erklärte der Marschall nach einer Pause und legte die Fingerspitzen aneinander. »Erkennen Sie eine Alternative?« »Nein, Marschall. Wir sollten uns aber nichts vormachen und die Ungesetzlichkeit unseres Handelns anerkennen. Wir sollten desgleichen nicht versuchen, uns über die möglichen Konsequenzen zu täuschen: Sollte Trawisheim wieder auftauchen oder sollte die Regierung gegen die Verhängung des Kriegsrechtes von unserer Seite ernsthafte Schritte unternehmen, wird unser Vorhaben zusammenbrechen und wir alle landen – völlig berechtigt – im Gefängnis. Das müssen wir bedenken!« Bulton nickte. »Trawisheim ist die ganze Zeit über nicht aufgetaucht, das ist ja ein Grund für eine solche Aktion. Die Regierung besteht aus Schwachköpfen, die immer alles Trawisheim überlassen haben, ohne eigene Ideen zu entwickeln. Es hat seine Nachteile, wenn ein genialer Cyborg die Regierungsgeschäfte leitet und damit alle anderen an die Wand spielt, ob nun bewußt oder unbewußt. In jedem Falle ist diese Maßnahme, und da stimme ich Waranow zu, unumgänglich.« Van Maarten lehnte sich nachdenklich zurück. »Wir müssen alle zivilen Stellen soweit wie möglich mit einbeziehen. Es darf nicht so aussehen, als wollten wir die Regierungsgewalt für immer haben, oder als wollten wir die Verfassung generell außer Kraft setzen. Auf keinen Fall dürfen wir den Fehler machen, unsinnige Dinge zu tun, wie z.B. elementare Freiheiten einzuschränken.« »Aber doch!« rief Waranow nun aus und schlug mit der Faust auf den Tisch. »Die Medien werden uns das Leben
schwer machen! Die Parteien werden aufheulen! Demonstrationen! Aufstände! Das muß verhindert werden! Eine Ausgangssperre...« »Nun ist es aber genug!« polterte Bulton. »Admiralin van Maarten hat recht. Entweder wir haben zumindest einen Teil der Öffentlichkeit hinter uns, oder wir können die Sache gleich vergessen. Es muß gehandelt werden, aber in einem vernünftigen Rahmen.« Waranow, mit hochrotem Kopf, setzte sich und schwieg. Bulton wandte sich an die Runde. »Meine Damen und Herren, ich werde diese Entscheidung nicht allein treffen – Sie alle müssen mir dabei zur Seite stehen und Ihre Unterstützung bekunden. Ich werde erst dann aktiv werden, wenn Sie mir ein einstimmiges Votum geben. Ich will mich damit nicht vor der Verantwortung drücken – die wird mir letzten Endes ohnehin zustehen. Doch es hat auch wenig Sinn, wenn jemand von Ihnen prinzipiell dagegen und damit die ganze Aktion von vornherein zum Scheitern verurteilt ist. Nun – gibt es solche Gegenstimmen? Nur frei heraus damit!« Einige Arme erhoben sich und ein Offizier antwortete: »Vielleicht nicht direkt Gegenstimmen, Marschall – aber einige Anmerkungen sollten vorher doch noch möglich sein.« Bulton nickte dem Sprecher zu. »Dann äußern Sie sich. Dafür muß genügend Zeit sein.« Bulton setzte sich und hörte zu. Obgleich von der Notwendigkeit seines Tuns innerlich überzeugt, störten ihn die beunruhigten Blicke der Admiralin. Und irgendwo in seinem Innersten, wohl verborgen unter dem Elan und der Überzeugung, jetzt das Richtige zu tun, beschlich ihn vorsichtig, sachte, fast unbemerkbar das Gefühl, einen großen, entscheidenden Fehler zu begehen. Aber für diese Einsicht schien es zu spät. Das Gefühl drang nicht mehr an die Oberfläche von Bultons Bewußtsein vor.
Die Würfel waren gefallen. *** Ron Clarke war nicht irgend jemand. Sein feiner Anzug, offensichtlich maßgeschneidert, der teure, aber dezente Ring an seinem rechten Mittelfinger, die sauber manikürten Hände, das exakt geschnittene Haar – Clarke war ein wandelndes Beispiel für eine gepflegte Erscheinung, und seine Aufmachung vermittelte alles andere als einen ärmlichen Eindruck. Er war hochgewachsen und muskulös, mit weißblonden Haaren und einem markanten Gesicht – kurz gesagt: Er war das perfekte Ebenbild von Ren Dhark. Und damit verdiente er sein Geld. In diesem Augenblick saß er im Büro seines Agenten. Die Geschäfte liefen ausgezeichnet: Die Quarantäne über Terra verunsicherte die Menschen sehr und obgleich das Original irgendwo im Weltall unterwegs war, begnügte sich das Publikum bisweilen auch mit dem Doppelgänger, wenn der Auftritt stimmte. Und daß er stimmte, dafür war Lorenz Ralfson zuständig, sein Agent. Der windige Geschäftemacher, der sich mit kleinen Tricks über Wasser gehalten hatte, ehe er Clarke in einer miesen Absteige entdeckt hatte, besaß das untrügliche Gespür für den effektvollen Einsatz seines Schützlings. Sei es nun ein Auftritt vor dem Supermarkt, wie am Anfang der gemeinsamen Karriere, sei es ein werbewirksames Erscheinen auf einem Parteitag, um die Stimmen der Wähler zu fangen: Ralfson beherrschte die Klaviatur der menschlichen Psyche perfekt und Clarke war sein williger Schüler, der sein einziges Kapital – seine verblüffende Ähnlichkeit mit Ren Dhark – so gut wie möglich schonte und pflegte. »Ron, wir haben gute Geschäfte gemacht!« riß Lorenz den
Doppelgänger aus seinen Gedanken. »Allein in diesem Monat haben wir so viel eingenommen wie im letzten halben Jahr. Die Krise macht die Menschen anfällig für Führungspersönlichkeiten, und da Dhark nicht aufzufinden ist, machen wir einen guten Schnitt. Bist du in Form?« Clarke hüstelte. Sein größtes Problem war seine helle Fistelstimme. Trotz intensiven Sprachunterrichts hatte er nie das tiefer tönende Organ Dharks vollends nachahmen können. »Alles klar, Chef, erwiderte Clarke und räusperte sich, als Ralfson schmerzhaft sein Gesicht verzog. »Was ist denn als nächstes dran?« Sein Agent blätterte in einigen Folien. »Ein Auftritt in der Samstagabendshow auf Kanal 7. Eine schöne Sache, hohe Einschaltquoten und nicht zuletzt ein gewogener Moderator, dafür habe ich schon gesorgt.« Ralfson machte eine vielsagende Handbewegung und ließ imaginäre Geldscheine auf den Tisch fallen. Clarke lächelte dümmlich und nickte. »Du hast bis dahin aber keine weiteren Termine und kannst für heute Feierabend machen. Denk dran, daß du morgen den Termin beim Masseur hast. Am Nachmittag kommen die Kosmetikerinnen für Maniküre und die Gesichtsmaske. Der Friseur ist für den Abend vorgesehen, und dann das Make-up – und dann die Show. Du bekommst die Fragen und Antworten auf einem Zettel und prägst sie dir genau ein, dann kann gar nichts schiefgehen. Der Moderator wird eventuelle Patzer ausbügeln, das ist so abgemacht. Also – keine Panik!« »Alles klar, Chef«, wiederholte Clarke und nickte eifrig. Dann erhob er sich, winkte seinem Brötchengeber noch einmal zu und verließ den Raum. Ralfson sah dem Doppelgänger einige Minuten sinnierend nach, schüttelte dann den Kopf und grinste schmierig. »Die Leute sind aber auch zu blöd«, murmelte er vor sich hin, ehe er sich wieder seinen Unterlagen
widmete. Clarke hatte derweil das flache Bürogebäude, in dem Ralfson seine Geschäftsräume unterhielt, verlassen. Es war schon recht spät am Abend, Dämmerlicht machte sich über der Stadt breit. Hamburg, einst eine der großen Metropolen der Erde, hatte sich in eine mittlere Ansiedlung verwandelt, nachdem der Seefrachtverkehr fast völlig bedeutungslos geworden war. Eine betuliche Atmosphäre erfüllte die Stadt und Clarke sog tief die frische Abendluft in sich hinein. Er beschloß, auf ein Taxi zu verzichten und den Heimweg zu Fuß anzutreten. Leise vor sich hin pfeifend schlenderte der Mann die Straße hinab. Mit innerer Ruhe und Gelassenheit bog er in eine geschäftige Hauptverkehrsstraße ein, auf der einige Bodenfahrzeuge entlangglitten und Schaulustige die Auslagen betrachteten. Da hörte er den Schrei. Clarke fuhr herum. Eine junge Frau lag, nur wenige Meter von ihm entfernt, auf dem Boden. Zwei brutal aussehende Typen hatten sich über sie gebeugt und schienen sie ausrauben zu wollen. Clarke war wie angewurzelt. Sein Puls raste, doch die Furcht, die ihn gepackt hielt, hinderte ihn am Eingreifen: Regungslos beobachtete er die sich verzweifelt wehrende Frau, die gerade einem der Übeltäter einen herzhaften Tritt in die Weichteile verpaßt hatte. Dieser stieß abrupt die Luft aus und sackte auf die Knie, während der andere fluchte und der Frau brutal in die Seite trat. Und dann ging alles sehr schnell. Wie ein Wirbelwind tauchte plötzlich eine weitere Person auf. Ron Clarke erkannte, daß es sich um eine zweite Frau handelte, die aus dem Nichts gekommen zu sein schien. Sie nahm die beiden Männer mit je einer Hand am Jackenkragen und hob sie spielerisch leicht hoch. Diese schrien entsetzt, doch die Frau ignorierte ihr Flehen, vielmehr wirbelte sie die
Männer in der Luft herum, sich selbst immer schneller um die eigene Achse drehend. Panikerfüllt riefen die Männer, deren Umrisse Clarke nur noch schemenhaft ausmachen konnte, um Hilfe. Dann, in voller Fahrt, ließ die Frau los: Die Körper der Attentäter flogen meterweit über die Straße. Clarke hielt die Luft an, als einer der Männer direkt vor einem Bodenfahrzeug aufprallte. Er vermeinte förmlich, das Krachen der Knochen zu hören, als die Gummireifen des Elektrofahrzeuges mit ungeminderter Geschwindigkeit über den Verletzten fuhren und den Mann grausam entstellten. Ein zweites Krachen ließ Clarke herumfahren: Der andere Mann war gegen den Prallschirm einer Holo-Auslage geflogen und abgeschmettert worden. Er landete direkt auf einem alten Ehepaar, das vor der Darstellung gestanden hatte, riß beide zu Boden und blieb mit ihnen regungslos liegen. Clarke war immer noch wie angewurzelt. Da schritt die plötzlich aufgetauchte Frau auf ihn zu. Clarke schluckte, als er erkannte, wen er vor sich hatte: Letzte Woche erst hatte er mit der Cyborg Sue-Anne Foster in einem Fernsehinterview geredet. Jetzt stand die technisch hochgerüstete Frau vor ihm, mit gefletschten Zähnen und einem seltsam irren Ausdruck in den Augen. »Sieh an«, knurrte sie und baute sich vor dem Double auf, der sich vor Angst beinahe in die Hosen machte. »Da haben wir Ren Dhark persönlich, den intergalaktischen Obermacho, der von Frauen so viel hält wie die Giants von irdischem Humor. Der Held des Universums, immer unterwegs in der Galaxis. Dem alle Frauen gebannt an den Lippen hängen, der an jeder Hand zehn haben kann. Der Supertyp. Das größte Ekel, das ich mir vorstellen kann. Irgendwann wird dir eine die Eier abschneiden – aber heute: Das, mein Bester, ist für dich!« Mit diesen Worten schnellte Fosters Faust vor, und ehe Clarke reagieren konnte, spürte er einen brennenden Schmerz
im Gesicht, der ihm die Tränen in die Augen trieb. Heulend sackte er zusammen und krümmte sich, während der weibliche Cyborg laut lachend den Ort ihres Wirkens verließ. Sie hatte ihm die Nase gebrochen. Clarke wimmerte leise und fühlte, wie das Blut ihm das Gesicht herunterrann. Von ferne vernahm der die heulenden Sirenen der Polizeikräfte, die sich dem Ort des Geschehens näherten. Aus der Talkshow würde wohl erst einmal nichts werden. *** Ying Tiung winkte. Der Techniker am Gravfeldgenerator nickte ihm zu und ließ den Schirmfeldprojektor sanft niedergleiten. Die markierte Stelle, ideal gelegen auf einer leichten Anhöhe in einem weiten, prärieartigen Gebiet, war gut geeignet für die Installation eines der Schirmfeldprojektoren, der Blue Curacao künftig für die sichere Besiedlung durch die Menschen nutzbar machen sollte. Während der Projektor langsam herabschwebte und von einigen Technikern an der Stelle erwartet wurde, beobachtete Tiung die Umgebung. Die Sonne ging langsam unter und tauchte den Horizont in ein wunderschönes Lichtspiel. Die weite Fläche vor dem Betrachter, nur vereinzelt unterbrochen durch kleinere Baumgruppen und Büsche, gehörte zu einer der größten Inseln des Planeten, auf der insgesamt drei der zahlreichen Projektoren installiert werden würden. Die LEMUR befand sich etwa vierhundert Kilometer von diesem Standort entfernt, und die Freischicht tummelte sich sicherlich gerade in den Fluten des warmen Ozeans und erfreute sich an den tropischen Temperaturen. Tiung warf einen Blick auf die Uhr. Seine Arbeitsschicht war noch nicht beendet, erst mußten noch zwei weitere Projektoren installiert
werden. Wieder widmete er sich dem grandiosen Anblick der Ebene vor ihm. »Der Projektor steht jetzt!« Der Energiefeldexperte wurde aus seinen Betrachtungen gerissen und nickte zustimmend. Während das Gravfeld abgeschaltet wurde und der Lastgleiter zusammen mit Bedienungsmannschaft und Pilot abhob, um zur LEMUR zurückzukehren, begannen die beiden Techniker mit Tiung zusammen den Check des Projektors. Die Testreihe wurde vom Computer automatisch gefahren, so daß nicht viel zu tun blieb, als die Instrumente genau zu beobachten und Abweichungen festzustellen. »Wir werden einen kurzen Probelauf durchführen«, kündigte der Chinese an und betätigte einige Schalter. Alle Kontrollen leuchteten grün auf, das Gerät war offensichtlich einsatzbereit und in Ordnung. Einer der Techniker gähnte demonstrativ. »Solche Arbeiten«, meinte er und warf einen abschätzigen Blick auf die Instrumente, »könnte doch auch ein Roboter machen. Wir sollten am Strand liegen und es uns gut gehen lassen!« Während Tiung noch lächelte, aktivierte er den Energiefluß für den Leerlauf. Das kaum hörbare Summen des laufenden Projektors war ihm vertraut. Weniger vertraut war ihm allerdings die Anzeige, die ihm ins Auge fiel. »Seht her! Da muß doch ein Fehler vorliegen. Hier geht irgendwo Energie verloren!« »Das kann nicht sein, Chef, wir haben doch alles... tatsächlich!« Tiung betätigte einige Schalter, doch das Ergebnis blieb das gleiche. Eine kleiner Teil der im Leerlauf produzierten Schirmenergie wurde aus irgendeinem Grund abgezogen. »Wir checken die Anlage noch einmal durch!« »Selbstcheck aktiviert – Computeranalyse läuft!«
Tiung sah, wie die beiden Kollegen sich über die Armaturen beugten. Er selbst hielt die Energieanzeige im Auge. Schnell wurde klar, daß der Projektor, wie bereits festgestellt, in bestem Zustand war. »Wir erhöhen die Energieabgabe«, meinte nun Tiung und führte seine Idee aus. Das Summen wurde etwas lauter. Der Experte beobachtete mit Verblüffung, daß weiterhin Energie aus dem Projektor verschwand – und er meinte zu erkennen, daß der Anteil der verschwundenen Energie beständig stieg. »Das geht wohl nicht mit rechten Dingen zu«, mutmaßte einer der Techniker wenig originell. Der Chinese griff zu seinem Vipho. Binnen kurzem stand die Verbindung zu Tamara Sewostjanow, die auf einem Archipel, etwa zweihundert Kilometer von ihm entfernt, ebenfalls gerade die Installation eines Projektors überwachte. Das Bild der Russin erschien auf dem kleinen Schirm. Sie schenkte Tiung ein Lächeln. »Was gibt es?« »Hast du schon einen ersten Probelauf gemacht?« »Wir wollten gerade damit beginnen. Gibt es Probleme?« »Beginne einfach mal mit dem Probelauf!« Die Russin zuckte mit den Schultern und wandte sich an ihre Mitarbeiter. Nur undeutlich konnte der Chinese erkennen, daß am Projektor im Hintergrund hantiert wurde. Dann wandte sich Tamara wieder an ihren Kollegen. »Es ist hier alles in Ordnung. Warum fragst du, es gibt doch...« Eine Hand berührte die Frau an der Schulter und einer der Techniker redete auf Sewostjanow ein. Diese nickte mehrmals und sprach dann aufgeregt in das Vipho: »Wir haben einen Energieabfluß! Der Projektor muß fehlerhaft sein, ich werde sofort...« »Warte, Tamara, warte!« unterbrach Tiung sie. »Wir haben das gleiche Phänomen festgestellt. Das Problem liegt sicher
nicht an den Projektoren. Wir müssen der LEMUR Meldung machen!« »Mach das. Das beste dürfte sein, die Projektoren erst einmal abzuschalten, um weitere Verluste zu vermeiden.« Tiung bestätigte und unterbrach die Verbindung. Er deaktivierte den Projektor und wandte sich an seine beiden Gehilfen. »Das«, murmelte er, »wird Szardak sicher nicht gefallen.« *** Tomoyuki Okoda hatte die kleine Insel, auf der sich die Gruppe der Raumfahrer versammelt hatte, um die freie Zeit für Sonnen- und Wellenbad zu nutzen, insgeheim ›Barugon‹ genannt, nach seinem Lieblingsmonster neben Godzilla, dessen verqueres Abbild auch auf seinem schreiend bunten Hemd prangte, das er über der Badehose trug. In dieser sonnigen Umgebung, am weißen, feinen Strand und mit dem Rauschen des Ozeans im Hintergrund, wirkte Okodas Aufmachung nicht einmal deplaziert. Er saß zusammen mit einigen weiteren Besatzungsmitgliedern der LEMUR gemütlich im Schatten des Gleiters, der sie in dieses kleine Paradies, unweit der großen Insel, auf der das Raumschiff stand, gebracht hatte. Zur Zeit war Tomoyuki Okoda jedoch weniger mit dem Genuß des schönen Wetters und der überaus angenehmen Umgebung beschäftigt, dafür war er viel zu nervös. Denn neben ihm saß Diana Reich, Triebwerkstechnikern des Schiffes, und schon seit Beginn der Mission der Traum seiner schlaflosen Nächte. Okoda wußte, daß er in der Besatzung, obgleich wohlgelitten, das Image eines kindlichen Gemütes hatte und seine Begeisterung für die Hauptakteure alter japanischer
Monsterfilme ihm manchen gutmütigen Spott eingebracht hatte. Okoda gehörte nicht zu den Menschen, die sich viele Gedanken über sich selbst machten, doch seine Gefühle für die Deutsche, deren Intensität ihn verunsicherten, hatten ihn in unbeobachteten Augenblicken zu einem ausgesprochen nachdenklichen Menschen werden lassen. Sein oft albernes Verhalten schließlich konnte er sich nur mit seiner Schüchternheit und seiner Sehnsucht nach menschlicher Nähe erklären, und die Tatsache, daß er in Gegenwart Dianas immer recht gefaßt und ernsthaft war, was sie allerdings nicht zu bemerken schien, sprach nur dafür. Allerdings, so mußte er einräumen, konnte das auch an der Tatsache liegen, daß er selten auch nur ein Wort herausbekam, wenn ihm Diana Reich begegnete, und erst recht, wenn sie direkt neben ihm saß und dabei einen Bikini trug, der wohl aus einer zerschnittenen Krawatte bestand. Okoda bemühte sich krampfhaft, seinen Blick über die Wogen des Ozeans und die sanften Hügel der Insel gleiten zu lassen, um nicht in Versuchung zu geraten, anders geartete Hügel und Wogen allzu intensiv zu betrachten. Thomas Albert und Gerald Harris waren die beiden Besatzungsmitglieder der LEMUR, die sich am ehesten als Freunde Okodas bezeichnen konnten. Albert, ein weiterer Triebwerkstechniker, hatte längst bemerkt, wie es um seinen japanischen Bekannten stand, und beobachtete seine unbeholfenen und von Diana offenbar gar nicht wahrgenommenen Annäherungsversuche mit einer Mischung aus Mitleid und Amüsement. Er war, zusammen mit Harris als Funker wie Okoda ein Mitglied der Zentralebesatzung, der Meinung, daß Diana ausschließlich mit ihren Maschinen verheiratet war, denen sie sogar Namen gegeben hatte und mit denen sie, egal, ob jemand dabei war oder nicht, auch zu sprechen pflegte.
In diesem Augenblick allerdings sprach Diana Reich mit dem letzten Mitglied der kleinen Ausflugsexpedition, der Ärztin Tina Craven, die sich so vehement beim Kommandanten für diesen Urlaub eingesetzt hatte, und die nunmehr bei ihrem eigenen Urlaub die Dankbarkeit der Mannschaft zu spüren bekam – eine Dankbarkeit, die die zierliche Frau mit offensichtlicher Genugtuung genoß, denn von ihrer sonstigen Kratzbürstigkeit war zur Zeit nichts zu bemerken. »Nun, Thomas, ich kann mir das nicht mehr lange mit ansehen«, wandte sich nun Gerald Harris an seinen Freund und ließ Sand durch seine Finger rinnen. »Ich schaue mir unseren Tomo schon seit einer halben Stunde an, wie er absolut gefesselt neben Diana sitzt, keinen Satz herausbekommt und betont gleichgültig in die Walachei starrt, als ob neben ihm nicht die Frau sitzen würde, die ihm den Schlaf raubt.« Thomas Albert nickte lächelnd und zuckte mit den Schultern. »Sicher, aber was willst du tun? Diana die Wahrheit sagen? Tomo gibt es ja nicht einmal selbst uns gegenüber zu, wie würde er es dann wohl verkraften, wenn er erführe, daß wir Diana was gesteckt haben! Nein, wir können da nicht viel tun.« »Vielleicht ein richtiges Wort zu richtigen Zeit an Tina...?« Der Techniker machte ein abschätziges Gesicht. »Bist du sicher, daß sie da die richtige Ansprechpartnerin ist? Gerald, ehrlich, wir sollten uns da heraushalten. Der arme Tomo steht eh schon sowieso kurz vor dem Herzinfarkt – schau mal, jetzt hat ihn Diana aus Versehen auch noch berührt! Sie hat’s gar nicht gemerkt, er hat aber dafür wahrscheinlich gleich einen Nervenzusammenbruch!« Die beiden Männer beobachteten amüsiert, wie der Japaner sich um einige Zentimeter von Diana Reich absetzte, um nicht wieder in die ›Gefahr‹ zu geraten, von ihr berührt zu werden.
Der Techniker befand sich in einer absolut bemitleidenswerten Lage und beide waren sich sicher, daß dieser Aufenthalt alles andere als erholsam für ihn sein dürfte. Harris erhob sich und schlenderte auf Okoda zu. »Hey, Tomo! Laß uns eine Runde schwimmen gehen!« »Eine hervorragende Idee, Gerald!« antwortete Diana Reich und erhob sich. Der verdatterte Okoda rappelte sich gleichfalls auf, legte sein Kitschhemd ab und schluckte verlegen. Albert, der sich zu ihnen gesellt hatte, schlug dem Liebeskranken freundschaftlich auf die Schulter. »Na komm, Tomo. Mit deiner Angebeteten in den Fluten planschen – das ist doch besser als gar nichts.« Okoda wurde schlagartig so rot, wie ein Japaner nur werden konnte und warf verzweifelte Blicke auf Diana, die sich aber glücklicherweise bereits in Richtung Wasser verzogen hatte. »Thomas«, krächzte Okoda halblaut und schüttelte sich. »Noch so ein Wort und ich kenne dich nicht mehr!« Damit wandte er sich ab und lief auf das Wasser zu. Seine beiden Freunde sahen sich einen Augenblick an, schüttelten resigniert den Kopf und folgten dem Japaner, der sich eben in die Brandung stürzte. Das Wasser war warm und vermittelte ein angenehmes Gefühl auf der Haut. Die Wissenschaftler der LEMUR hatten es genau analysiert, und eine seltene, jedoch ungefährliche chemische Substanz in der Flüssigkeit ausgemacht, die auf Terra in sehr teuren und kostbaren Hautölen vorhanden war. Das machte das Wasser zwar ungenießbar, etwa wie das Salz in den terranischen Ozeanen; jedes Bad aber ersetzte eine mehrstündige Hautpflege am ganzen Körper. Alle Beteiligten genossen den Aufenthalt in den bewegten Wassern und planschten ausgelassen in den Fluten. Selbst Okoda schien sich zu entspannen und wurde zunehmend ausgelassener. Wahrscheinlich erinnerte er sich an das häufige
Langstreckenschwimmen, das sein Lieblingsmonster Godzilla in den pazifischen Gewässern der Erde vorgelegt hatte. In jedem Falle verschwand Diana Reich für kurze Zeit aus seinem Gedächtnis und er gab sich entspannt dem Vergnügen der hohen, aber ungefährlichen Wellen hin. Als eine über ihn hereinbrach, verschluckte er Wasser, kämpfte sich nach oben und ließ sich in seichtere Gewässer treiben. Als er festen Boden unter den Füßen verspürte und die Augen vom Wasser gereinigt hatte, durchfuhr ihn ein plötzlicher Schrecken: Direkt vor ihm schälte sich Diana aus dem Wasser, erhob sich und musterte Okoda lächelnd. Tomoyuki schluckte und brachte ein halbwegs normales Gesicht zustande. Jeder Giant hätte erkennen können, daß diese Frau seinen Kreislauf an die Grenze seiner Belastbarkeit brachte. »Ähm...«, brachte er nur noch stammelnd hervor, als sich Diana ihm näherte. Diese legte, immer noch lächelnd, eine Hand auf seine Schulter. »Tomo«, flüsterte sie, »erkläre mir mal eines. Warum bist du eigentlich in letzter Zeit so furchtbar schweigsam.« Sie tippte mit ihrer Fingerspitze auf seine Brust. Ein Schauer lief ihm die Wirbelsäule hinunter. »Nicht einmal dein neues Monster-T-Shirt hast du mir gezeigt.« Tomoyuki Okoda, Funker der LEMUR, mit Auszeichnung das raumakademische Pflichtsemester an der Universität bestanden und Zweiter des Jahrganges im obligatorischen dreiwöchigen Survivaltest für die allgemeine Raumfahrerlizenz, öffnete den Mund und schloß ihn wieder. Das Schicksal erlöste ihn. »Kommt heraus!« rief Tina Craven vom Ufer her und gestikulierte wild. »Kommt heraus! Die LEMUR hat uns zurückgerufen! Der Urlaub ist gestrichen! Szardak hat Bereitschaftsalarm gegeben!«
Die Badenden erstarrten in ihren Bewegungen und beeilten sich, an Land zu kommen. Gerald Harris war der erste, der pudelnaß und heftig atmend den Strand erklomm. Noch während er zum Handtuch griff, fragte er die Ärztin: »Was ist denn passiert? Hat der Chef einen furchtbaren Sonnenbrand bekommen und wir müssen alle darunter leiden?« Tina Craven lächelte schwach. »Kaum, Szardak hat bisher keinen Schritt aus dem Schiff getan. Es gibt offenbar Probleme mit den Schutzfeldgeneratoren. Der Chef hat für alle Ausflügler Rückkehrorder gegeben. Es scheint tatsächlich eine ernste Sache zu sein.« Harris stöhnte. Die anderen gesellten sich zu ihm. »Das hat uns gerade noch gefehlt. Und ich dachte, wir hätten uns diesen Urlaub verdient!« *** Jan Wassemaar saß regungslos in der kleinen Höhle und starrte aus dem Eingang ins Freie. Draußen herrschte klirrende Kälte, die durch das schwach flackernde Feuer im Höhleninneren kaum vertrieben wurde. Wassemaar saß mit gekreuzten Beinen auf dem nackten Felsenboden und hatte die Handaußenflächen auf die Knie gelegt. Daumen und Mittelfinger bildeten einen Ring. Obgleich der Mann seine Augen geöffnet hielt, drangen die Eindrücke der Umgebung nicht bis in sein Innerstes vor. Blicklos starrte er auf die Schneewehen, die sich vor dem Eingang der Höhle auftürmten, nicht die hohen Gebirgsmassive erkennend, die sich weit bis an den Horizont erstreckten. Die Kälte, die sich durch die wattierte Campingkleidung fraß, schien den regungslos dasitzenden Mann nicht zu berühren. Kein Muskel zuckte, kein Zittern, keine Bewegung erschütterte
das wie gegossen wirkende Bild Wassemaars. Jan Wassemaar meditierte. Seit zwei Monaten lebte er in dieser Höhle in den peruanischen Anden und hatte seitdem keine Menschenseele mehr gesehen. Eines Tages hatte er seinen Arbeitsplatz als Manager einer erfolgreichen Transportfirma verlassen und war in die Einöde gezogen. Er hatte niemandem davon erzählt, keine Erklärungen hinterlassen und fühlte sich aus diesem Grunde seltsam frei und ausgeglichen. Das war ein Gefühl, das Jan Wassemaar lange hatte vermissen müssen. Sein Lebensweg war ein klassischer Aufstieg gewesen, der selbst durch die Giant-Invasion nur kurz unterbrochen worden war. Ein hervorragendes Universitätsstudium, schneller Einstieg in die Wirtschaft, kometenhafte Karriere aufgrund ausgezeichneter Leistungen. Außenpolitische und wirtschaftliche Wirren hatten ihn nicht in seiner Beharrlichkeit bremsen können, persönliche Krisen hatte er zumeist ignoriert. Die Karriere war sein einziger Bezugspunkt zur Realität gewesen. Seine Heirat war aus diesen Erwägungen arrangiert worden, die Zeugung der beiden Kinder mehr eine Investition in die Zukunft denn ein Zeugnis für Liebe und Leidenschaft gewesen. Sein Familienleben war klinisch rein, sein Verhalten den Verwandten und Freunden gegenüber hatte immer etwas wohlorganisiert antiseptisches an sich gehabt. Niemand hatte Jan Wassemaar jemals richtig kennengelernt, seine engsten Mitarbeiter nicht, genauso wenig wie seine Frau oder seine Kinder, die unter der inneren Kälte Wassemaars bewußt oder unbewußt zu leiden begonnen hatten. Irgendwann einmal war er dann aufgewacht, hatte neben sich den warmen Körper seiner Frau gespürt, vor sich die genaue und exakte Planung dieses Arbeitstages gesehen, und in einer plötzlichen emotionalen Regung war etwas in der wohlgeplanten Gleichförmigkeit und Rationalität seines
Geistes zerbrochen. Den Morgen hatte er geistesabwesend verbracht, was selbst seiner Frau aufgefallen war, doch dann, anstatt in die Firma zu eilen, hatte er, wie von einer fremden Hand gelenkt, sich Ausrüstung verschafft, einen Flug gebucht und war nach Südamerika verschwunden. Und hier weilte er nun seit zwei Monaten und dachte nach. Wassemaar hatte sich niemals vorstellen können, wie erschöpfend und erfüllend bloßes Nachdenken sein konnte. Er war ein intelligenter Mann und hatte im beruflichen Bereich fast immer richtige und durchdachte Entscheidungen getroffen – sonst hätte er niemals eine solche Karriere machen können. Doch über sich selbst, oder – und fast schien es, als würde über das wächserne Gesicht des Sitzenden ein Lächeln fliegen – sein Leben nachzudenken, hatte er bisher immer vermieden. Philosophischen Überlegungen gänzlich abhold, vermochte er sich nicht zu erinnern, sich jemals um so etwas wie Selbsterkenntnis bemüht zu haben. Und irgendwann, an diesem bewußten Morgen, war er sich in einer plötzlichen Sekunde der Klarheit dieses Mankos gegenwärtig geworden – so, als ob jemand plötzlich einen Schleier zerrissen hätte, der seit ewigen Zeiten über seinem Leben gelegen hatte. Wassemaar entdeckte während dieser zwei Monate emotionale Potentiale in sich, die er vorher nicht für möglich gehalten oder schlicht ignoriert hatte. Plötzlich bedauerte er seine Frau und seine Kinder, denen er zwar materielle Sicherheit, jedoch nie mehr geboten hatte. Er dachte an seine eigene Lieblosigkeit, seine durchdringende, alles beherrschende Rationalität und... »Tag auch!« Jan Wassemaar blinzelte. »Bißchen kalt hier, oder?« Mit einem leichten Seufzen kehrte der Exilant aus seiner
Versenkung zurück und warf einen überraschten Blick auf den Mann, der sich vor ihm auf den Felsboden gehockt hatte. Er war recht klein und nicht sehr beeindruckend gebaut, mit schütterem, blonden Haar und bemerkenswert großen Ohren. Wassemaar räusperte sich. Zum ersten Mal seit zwei Monaten machte er wieder Gebrauch von seinen Stimmbändern. »Wer sind Sie?« Seine Stimme klang rauh. »Mein Name ist Hansen. Ich bin ein Cyborg.« Wassemaar konnte diese Eröffnung nicht aus dem Gleichgewicht bringen. »Was tun Sie hier?« war seine nächste Frage. Hansen zuckte kurz mit den Schultern. »Ich gehöre zum Suchtrupp. Ihre Familie hat eine Vermißtenanzeige aufgegeben – und ich habe Sie gefunden. Hier sind Sie.« Wassemaar nickte. »Ich möchte hier auch noch eine Weile bleiben«, erwiderte er leise. »Ich habe über vieles nachzudenken, ehe ich zurückkehren kann.« Hansen setzte ein spöttisches Lächeln auf. »Worüber? Über den Sinn des Lebens, des Universums und des ganzen Rests?« Wassemaar schüttelte etwas belustigt den Kopf. »Nein, Hansen. Ich bin 42 Jahre alt und habe genug damit aufzuarbeiten, über mich nachzudenken. Nur über mich.« Der Cyborg musterte den Mann abschätzend. »Dabei kann ja nicht viel herauskommen.« »Warum nicht?« »Nun...« Ein etwas abfälliges Grinsen überzog das Gesicht des Cyborgs. »Sie sehen weder sonderlich intelligent aus, noch können Sie mich anderweitig beeindrucken. Ich kenne Ihre
Personalakte und habe mit Ihrer Frau gesprochen. Ich hatte den Eindruck, Sie seien nicht einmal im Bett sonderlich überzeugend!« Wassemaar beschlich ein unangenehmes Gefühl. »Sind Sie wirklich auf der Suche nach mir gewesen im Auftrage meiner Familie? Wie kommen Sie jetzt dazu, mich zu beleidigen?« Hansen schüttelte den Kopf. »Die Wahrheit beleidigt Sie? Die letzten beiden Monate müssen ja reine Verschwendung gewesen sein. Mann, Sie Null, Sie sitzen hier am Arsch der Welt in der Kälte und denken nach – und schlußendlich kommt nichts dabei heraus! Tolle Sache! Sie müssen wirklich noch ein wenig länger nachdenken, ehe das was werden kann!« Wassemaar ließ sich nicht provozieren. »Gut«, antwortete er und streckte seine Beine aus. »Ich werde also noch hier bleiben. Meine Dankbarkeit sei Ihnen gewiß, wenn Sie meinen Aufenthaltsort für sich behalten würden, damit ich meine Überlegungen zu einem Ende führen kann. Ich versichere Ihnen, daß ich anschließend nach Hause zurückkehren werde.« Hansen hielt einige Sekunden inne und nickte dann. »Okay, wie Sie wollen – ich lasse Sie in Ruhe und melde der Zentrale, daß ich Sie nicht gefunden habe. Sie müssen ja wissen, was Sie tun!« Damit erhob er sich, winkte Wassemaar noch ein letztes Mal zu und verließ die Höhle. Der Cyborg stapfte durch den Schnee auf seinen Gleiter zu, ohne sich noch einmal umzublicken. Rasch war er aus dem engen Sichtfeld des Höhleneinganges verschwunden. Er erreichte sein Fahrzeug und öffnete den Kofferraum. Dann entnahm er diesem einen schweren Strahler, aktivierte das Gerät und justierte es. Der Cyborg warf einen abschätzenden Blick auf den
Berghang über dem Höhleneingang, der im Sonnenlicht weiß glänzte. Dann umspielte ein gefühlloses Lächeln seine Lippen, er hob den Strahler, legte an, zielte kurz und drückte ab. Der helle Energiestrahl brach aus der Mündung und traf den Berghang an einer bestimmten Stelle. Erst stieg nur etwas Wasserdampf auf. Dann jedoch, mit der bedächtigen Langsamkeit urwüchsiger, unaufhaltsamer Macht, setzte sich die meterdicke Schneedecke in Bewegung. Immer schneller werdend, fuhr sie den Hang hinab, krachte mit tosendem Lärm auf den Felsvorsprung, der vor dem Höhleneingang lag, und begrub die schmale Öffnung vollständig mit einer meterdicken Schneelawine. Hansen legte den Strahler beiseite. Das Lächeln war nicht aus seinem Gesicht gewichen. »Dann denk mal schön nach«, murmelte er heiser und ein kurzes, kehliges Lachen entsprang seinem Mund. Einige Muskeln in seinem Gesicht zuckten. Aus seinen Augen drang ein gefährlicher Glanz. Mit einem verzerrten Grinsen musterte er noch einmal die niedergegangene Lawine, aus der sich Jan Wassemaar niemals würde befreien können. Hansen hatte ihn lebendig begraben. Niemand würde es je erfahren Dann wandte er sich ab. *** »Sie haben wirklich keine Erklärung?« Szardak sah sich Tamara Sewostjanow, die Schirmfeldtechnikerin, genau an. In ihrem Gesicht konnte er Ratlosigkeit sehen, die sie offenbar mit allen anderen Experten zu teilen schien. Wie zur Bestätigung seiner Gedanken schüttelte die gebürtige Russin ihren Kopf. »Wir haben alle Projektoren mehrfach geprüft. Wir haben
die Standorte gewechselt, es mit Abschirmungen versucht. Wir haben die Feldmodulationen verändert. Wir haben Batterien von Meßgeräten eingesetzt, um einen Einfluß von außen festzustellen – alles Fehlanzeige.« Szardak knurrte unwillig. »Das gibt es doch nicht! Irgend etwas muß doch feststellbar sein!« Tamara zuckte mit den Schultern und lehnte sich zurück. Sie saß mit einigen Kameraden und den Technikern in der Messe der LEMUR, wohin Szardak nach dem Bereitschaftsalarm alle wichtigen Kräfte geladen hatte. Die Arbeiten an den Schirmfeldprojektoren waren vorläufig eingestellt worden. »Es ist so«, erklärte die Russin, »daß ein guter Teil der erzeugten Schirmfeldenergie abgezogen wird. Je höher die Ausgangsleistung, desto größer der Verlust. Es muß etwas geben, das sich der Energieleistung anpaßt.« »Ist der Verlust irgendwann absolut?« fragte ein Wissenschaftler. »Nein, nie vollständig, aber fast. Wenn wir auf hundert Prozent gehen, entsteht kaum noch ein Schirmfeld. Für die galaktischen Strahlenstürme jedenfalls würde es nicht ausreichen. Entweder wir finden die Ursache für diese Vorgänge – oder wir können Blue Curacao für unsere Pläne vergessen.« Szardak ballte eine Faust. »So leicht geben wir nicht auf«, murmelte er verbissen und blickte in die Runde. »Ich will die Lösung haben. An eine natürliche Ursache glaube ich nicht, da muß etwas anderes dahinterstecken. Ich bin nicht bereit, mir Ausreden oder Ausflüchte anzuhören. Ich erwarte höchsten Einsatz und innerhalb von 24 Stunden ein...« »Kommandant!« Auf dem Bordvipho erschien das Gesicht des wachhabenden Ortungsoffiziers. Bruce Dexter machte einen ratlosen
Eindruck. »Sie sollten möglichst sofort in die Zentrale kommen. Ich habe da etwas sehr rätselhaftes in der Ortung.« »Ich komme!« Szardak nickte den Versammelten noch einmal kurz zu, machte auf dem Absatz kehrt und eilte in die Zentrale. Auf dem Weg dorthin verschwendete er einige kurze Gedanken an die Krisensitzung, die er eben hinter sich gebracht hatte. In Situationen wie diesen, so seine Einschätzung, war eine so junge und zum Teil unerfahrene Mannschaft wie die der LEMUR nicht immer einfach zu führen. Jugendliche Ungeduld paarte sich hier oft mit der Bereitschaft, nur allzu früh bei der Lösung eines Problems die Flinte ins Korn zu werfen. Die nötige Verbissenheit, so stellte der erfahrene Raumfahrer für sich fest, kam wohl erst mit der Erfahrung, daß schwierige Probleme eben zumeist komplizierte Ursachen haben. Als er die Zentrale erreichte, stellte er sich sofort hinter Dexter, der stumm auf die Energieortung verwies. Auf dieser zeigte sich ein verwaschener Abdruck, nicht näher zu beschreiben. »Seit wann genau beobachten Sie das?« »Etwa fünf Minuten.« »Nur auf der Energieortung?« Dexter nickte knapp. Die anderen Anzeigen zeigten allesamt Nullwerte. »Können Sie die Position bestimmen?« »Ja, ungefähr. Etwa zweihundert Kilometer südöstlich von hier entfernt. Es ist mir unverständlich, warum mir das beim Anflug entgangen ist.« Szardak legte begütigend eine Hand auf Dexters Schulter. »Wer weiß, ob es zu dem Zeitpunkt etwas zu orten gab«,
meinte er. »Was sagen Sie mir über die Energiestärke?« Dexter kratzte sich ratlos am Kopf. »Ich kann gar nichts sagen – oder nur sehr wenig. Ständig schwankende Werte machen eine Auswertung fast unmöglich. Es scheint, als ob die Emissionen doch auf irgendeine Weise abgeschirmt werden. Ich vermute aber dennoch, daß es etwas sehr, sehr großes ist, was wir da entdeckt haben.« »Entdeckt?« murmelte Szardak leise. »Wohl eher geweckt!« »Wie?« Der Kommandant winkte ab und wandte sich um. »Gefechtsbereitschaft! Wir gehen kein Risiko ein. Alle Außenteams sofort zurück an Bord. Schutzfelder aktivieren, Verschlußzustand herstellen. Dauerschichten für die Waffenkontrolle. Dexter – Sie und ein paar andere kommen mit mir. Wir werden in zwei Flash aufsteigen und uns die Sache mal näher ansehen.« Der Ortungsspezialist erhob sich und eilte aus der Zentrale. Szardak schaute herum und wies auf Jasmin Takei. »Sie kommen auch mit und fliegen mit Dexter. Ich nehme noch Dr. Ken Willingsworth mit.« Der Wissenschaftler war einer der wenigen Generalisten, die Szardak an Bord hatte. Mit Kenntnissen auf vielen Wissensgebieten war er zwar nirgends ein Experte, aber angesichts der Ungewißheit über das, was sie erwarten würde, die erste Wahl. »Wir starten sofort!« ordnete Szardak an und verließ die Zentrale. Nur wenige Minuten dauerten die Startvorbereitungen, dann glitten die beiden Flash mit aktiviertem Intervallfeld durch die Wandungen der LEMUR. Dexter, der die Ortung kontrollierte, gab ungefähre Richtungsangaben. Als die Flash-Ortungen das Ziel erfaßt hatten, beschleunigten sie und gewannen an Höhe. Bald überflogen sie die idyllische Insellandschaft des Planeten und für einen Augenblick ließ sich selbst Szardak von der
Schönheit des Anblickes ablenken. Als jedoch Dexter ihn aus seinen Träumen riß, war er wieder voll da: Die schnellen Flash hatten binnen weniger Minuten die Distanz zum georteten Phänomen zurückgelegt und schwebten auf eine größere Insel zu, die recht bergig war. »Nun?« fragte Szardak. »Die Ortung ist nicht exakter geworden«, meinte Dexter. »Aber es ist auf dieser Insel. Die Berge sind zum Teil von beachtlicher Höhe, ein Einzelfall auf dieser Welt. Wir sollten langsam heranfliegen. Ich gebe die Koordinaten.« »Haben wir dieses Gebiet beim Anflug schon einmal abgetastet?« »Ja. Ich habe die Auswertungen hier – gebirgig, wohl erloschene Vulkane. Ein großer Vulkankrater, ohne jede Besonderheit. Die Geräte hätten jede außergewöhnliche Messung schon beim Anflug sofort gemeldet!« »Ist schon gut«, beschwichtigte Szardak. »Ich mache niemandem einen Vorwurf.« »Die Messung kommt aus dem Vulkankrater!« Die Flash korrigierten Geschwindigkeit und Richtung und schwebten zur bezeichneten Stelle. Voller Verblüffung erblickte Szardak einen natürlichen Talkessel, der alles andere als ein Vulkankrater war. Doch nicht so sehr diese geographische Veränderung war es, die ihn sprachlos auf die Bildwiedergabe starren ließ, sondern der Anblick, der sich ihm innerhalb des Tals bot. Eine Kuppel. Eine goldene Kuppel. In den Flash herrschte fassungsloses Schweigen. Automatisch hatten sie die Geschwindigkeit auf Null reduziert und schwebten über der seltsamen Ansiedlung. Szardak ließ die Bildwiedergabe über die Gebäude streifen. In der Mitte stand eine gigantische goldene Kuppel, die von
einem filigranen Gespinst umgeben war, etwa so, als hätte jemand sehr dünnes Lametta über die Kuppel geworfen. Sieben gewaltige, goldene Antennen ragten neben der Kuppel in den Himmel. Sie waren seltsam verdreht und erinnerten an surrealistische Kunstwerke, wirkten dabei jedoch auf eine subtile Art und Weise elegant. Die Antennen waren in den umliegenden Felsen der Berge verankert und standen nicht gerade, sondern wiesen in einem Winkel auf einen gemeinsamen Punkt hoch über der Anlage. Szardak fiel auf, daß drei der Antennen erhebliche Beschädigungen aufwiesen, die offensichtlich durch äußere Einwirkung zustande gekommen waren. Auch an der Kuppel erkannte der Kommandant der LEMUR Beschädigungen, die jedoch nicht so gravierend waren. Szardak vermutete, daß die drei Antennen in ihrem Zustand nicht mehr betriebsbereit waren. »Sehen Sie das auch?« Jasmin Takeis Stimme riß Szardak aus seinen Überlegungen. »Dieses grüne Leuchten!« Tatsächlich – aus dem Inneren der Kuppel schimmerte es grün. Es war kein aufdringliches Phänomen, aber tief und satt und die Kuppel augenscheinlich von der Mitte her mit einem Grünton ausleuchtend. »Hat irgend jemand so etwas schon einmal gesehen?« fragte Dexter leise, so als würde er mit stärkerer Stimme irgend etwas oder jemand stören. Er bekam keine Antwort. Auch Szardak suchte vergeblich in seiner Erinnerung nach Vergleichbarem. Nur am Rande seines Bewußtseins wollte ihn irgend etwas zu einer sinnvollen Assoziation drängen. Doch Szardak bekam den Gedanken nicht zu fassen. »Was machen wir jetzt?« fragte Willingsworth und durchbrach damit die andächtige Stille, die sich wieder
ausgebreitet hatte. »Wir landen!« entschied Szardak. »Das müssen wir uns näher ansehen.« Die Gedankenkontrolle setzte den Wunsch sofort in die Tat um. Die Flash flogen noch einmal eine Schleife über das Gelände, ehe Szardak einen geeigneten Landeplatz neben dem Bauwerk entdeckt hatte. Dann sanken die Beiboote langsam hinab und setzten schließlich ohne jede Erschütterung auf. Von diesem Standpunkt aus gesehen, wirkte die goldene Kuppel weitaus beeindruckender als schon von der Höhe aus. Die mächtigen Bauwerke erhoben sich in schwindelnde Höhen, und trotz der Zerstörungen, die einen Teil der Anlage heimgesucht hatten, strahlten die gigantischen Zeugnisse hoher architektonischer Kunst eine gewisse Majestät aus. Auch Szardak ließ sich für einige Minuten von diesem Anblick einfangen. Dann riß er sich los. »Dexter – Sie bleiben bei den Flash. Benachrichtigen Sie die LEMUR über unseren Fund! Takei und Willingsworth werden mich begleiten. Wir sehen uns das aus der Nähe an!« Dexters Gesicht war die Enttäuschung anzusehen. »Sie werden schon noch auf Ihre Kosten kommen«, meinte Szardak begütigend und öffnete das Beiboot. Auch Jasmin Takei und Dr. Willingsworth hatten den Flash bereits verlassen. Einige Meter von den Schiffen entfernt versammelten sie sich vor den Bauwerken. »Ich vermute«, äußerte Willingsworth, »daß der interessanteste Teil der Anlage die goldene Kuppel mit dem grünen Licht sein dürfte. Die Antennentürme sind bestimmt nicht unwichtig, doch da die Kuppel im Zentrum liegt, sollten wir uns diese zuerst anschauen.« Szardak nickte. Das erschien ihm einleuchtend. Sofort setzten sich die drei Forscher in Bewegung und eilten auf die Kuppel zu. Je näher sie ihr kamen, desto imposanter war ihr
Eindruck. »Wir müssen einen Eingang finden!« erklärte Jasmin Takei unnötigerweise. »Von hier ist jedenfalls keiner zu sehen.« Damit hatte sie allerdings recht, mußte Szardak nach genauerem Hinsehen feststellen. Die Außenhülle der Kuppel erschien glatt und fugenlos. »Vorsicht ist angebracht«, warnte Szardak. Er erinnerte sich an seine Erlebnisse mit der Quelle des Lebens und vor allem an seine Erfahrungen in dem fremden Raumschiff, das die LEMUR am Boden gehalten hatte – damals war es ihm zwar gelungen, diesen Mechanismus zu zerstören, dafür aber wurde eine Verteidigungsanlage aktiviert, die ihm und seiner Begleiterin übel mitgespielt hatte. Wer wußte, welche Maßnahmen die Erbauer dieser Station getroffen hatten, um sie vor dem Zutritt Unbefugter zu schützen. »Auf welches Alter schätzen Sie die Anlage?« fragte Jasmin Willingsworth. Der Wissenschaftler hatte sich auf dem Weg zur Kuppel mit seinen Meßinstrumenten beschäftigt. Er machte eine vage Handbewegung. »Das ist sehr schwer zu sagen«, antwortete er vorsichtig. »Sie wird mehrere hundert Jahre alt sein... ich meine, schon so lange verlassen. Die Abnutzungserscheinungen sind deutlich erkennbar, zumindest für die Sensoren. Eine genauere Angabe kann ich aber erst nach einer gründlichen Analyse machen. Leider bin ich kein Archäologe... meine Kenntnisse auf diesem Gebiet sind begrenzt.« »Doktor«, hakte Szardak nach, als sie die Kuppelwandung erreicht hatten und an ihr auf der Suche nach einem Eingang vorbeigingen, »wie sieht es mit Energie aus?« »Zweifellos vorhanden, wenn auch nicht sehr stark. Irgendwelche Anlagen müssen noch in Betrieb sein.«
Szardak sah seine Befürchtungen bestätigt. Er holte seinen Blaster hervor und justierte ihn auf maximale Einstellung. Dann befahl er seinen Begleitern, es ihm nachzutun. »Irgendwie kommen mir diese Konstruktionen doch bekannt vor«, murmelte nun der Wissenschaftler und hantierte an den tragbaren Meßinstrumenten. »Ich kann es nicht sagen... mal erscheint mir eine Ähnlichkeit gegeben, ein anderes Mal nicht...« Szardak horchte auf. »Ich habe einen ähnlichen Eindruck! Mit welcher Technologie würden Sie das Bauwerk vergleichen?« Der junge Wissenschaftler zögerte. »Nun...« »Äußern Sie ruhig Ihre Mutmaßung!« forderte Szardak ihn nachdrücklich auf. »Ich glaube Parallelen zu älteren Konstruktionen der... nun, der Giants zu erkennen!« Jasmin Takei holte tief Luft. Szardak jedoch fühlte sich bestätigt. Sein Gefühl hatte ihn nicht getrogen. Sie waren hier einer heißen Sache auf der Spur! »Wir sollten...« »Kommandant!« Szardak sah es auch. Sie näherten sich einem gigantischen Riß in der Kuppelwandung. Aus ihm drang sanftes, grünes Leuchten. »Da haben wir unseren Eingang«, murmelte Szardak befriedigt. Er blickte hindurch. In der Kuppel erkannte er Bauwerke und Straßen. Ohne Zweifel barg die Kuppel eine komplette Ansiedlung... eine große Stadt... und sofort erkannte Szardak an der Bauweise, daß Willingsworths Hypothese absolut korrekt war. Dies mußte ein Werk der Giants sein. Szardak machte eine einladende Handbewegung. Takei und
Willingsworth nickten. Sie folgten ihm vorsichtig durch den Spalt in die Anlage. *** Marschall Bulton setzte sich erschöpft hinter seinen Schreibtisch. Die Konferenz mit seinem Stab war für einen Augenblick unterbrochen worden, nachdem die heißen Diskussionen die Atmosphäre im Saal sehr getrübt hatte. Der Marschall lehnte sich in seinem Sessel zurück und musterte müde die Ordonnanz, die sich ihm geschäftig näherte. »Sir«, begann der Offizier, »hier sind die neusten Meldungen. Das wird Ihnen nicht gefallen.« Bulton winkte lässig mit der Hand. »Fassen Sie zusammen!« Die Ordonnanz nickte. »Wir bekommen zahlreiche Meldungen von verrückt spielenden Cyborgs aus allen Teilen der Welt. Hier, aus Ibadan in Westafrika: Ein Cyborg bricht bei einer Rettungsaktion bewußt einem anderen Helfer das Schlüsselbein. Das ist unerhört! Cyborgs dürfen ihre besonderen Kräfte nur einsetzen, wenn Notsituationen bestehen. Und wenn schon, dann sind sie gemeinhin in der Lage, ihre Fähigkeiten zu kontrollieren!« »Gemeinhin«, knurrte Bulton. »Weiter!« »Aus Hamburg eine Meldung über eine wildgewordene Cyborg, die bei der Rettung einer Überfallenen die Täter zum Teil lebensgefährlich verletzt hat und dabei auch andere Menschen in Mitleidenschaft zog. Sie ist seitdem flüchtig. Eine Meldung aus Paris kam erst kürzlich herein: Ein Cyborg, der eine spezielle Ausbildung an der Pariser Polizeihochschule bekommt, hat bei einer Bewachungsaktion im Louvre zahlreiche Pretiosen gestohlen, sie anschließend offensichtlich verkauft und ist mit dem Geld spurlos verschwunden.«
Bulton schüttelte langsam den Kopf. »Haben Sie noch mehr?« Der Offizier legte einige Datenwürfel und einen Stapel Folien auf den Schreibtisch seines Vorgesetzten. »Viel mehr, Sir! Wir bekommen stündlich Meldungen aus aller Welt. Cyborgs, die eigentlich sinnvolle Arbeiten verrichten, verhalten sich plötzlich irrational und verletzen andere Menschen. Es ist schon zu Todesfällen gekommen. Die Cyborgs sind nicht ansprechbar, und wenn, dann geben sie wirres Zeug von sich, kein vernünftiger Zugang mehr. Sie haben ihre Kräfte entweder nicht unter Kontrolle, oder sie benutzen sie bewußt, um anderen zu schaden.« Bulton nickte und drückte einen Knopf am Tischvipho. Das Symbol der Wissenschaftlichen Abteilung erschien auf dem Schirm. »Dr. Johannson bitte!« Die Ordonnanz zuckte mit den Achseln. »Der wird auch nicht viel helfen können.« »Das befürchte ich allerdings auch«, murmelte Bulton. Auf dem Schirm erschien das hagere Gesicht des Leiters der kybernetischen Forschungsgruppe der Flotte, Dr. Nils Johannson. Offenbar hatte er den Anruf seines obersten Chefs erwartet, denn er blickte mürrisch, übel gelaunt und ausgesprochen genervt in die Kamera seines Viphos. »Nun, kennen Sie die neusten Meldungen?« blaffte Bulton unfreundlicher als geplant – sein cholerisches Naturell schlug wieder einmal voll durch; er hatte sich einfach viel zu wenig unter Kontrolle. Der Wissenschaftler zeigte sich unbeeindruckt. »Marschall, wir sind selbstverständlich zu jedem Zeitpunkt über die Vorkommnisse betreffs der Cyborgs bestens informiert. Ich habe die Nachrichten direkt bekommen und wir befassen uns bereits mit dem Problem.«
»Und?« Man sah Bulton seine nur schwer gezügelte Ungeduld an. »Was und? Wir haben nicht viel herausgefunden! Es wäre das beste, wenn wir einen der verrückt spielenden Cyborgs in die Hände bekommen könnte.« Bulton schnaufte. »Das dürfte schwierig sein. Haben Sie mittlerweile Kontakt zur Brana-Station erhalten? Wenigstens die müßten uns doch was sagen können!« Johannson wiegte bedauernd den Kopf. »Sicher. Aber bisher waren wir erfolglos. Auch die Regierung hat keine Idee. Trawisheim ist immer noch verschwunden... nun ja, er ist ein Cyborg. Wenn es sich um so etwas wie eine ›Cyborg-Seuche‹ handeln sollte, dann wäre das vielleicht eine Erklärung – vielleicht auch für das Schweigen der Brana-Station. Ich kann aber zur Zeit nicht viel machen. Haben Herr Marschall eine sinnvolle Alternative?« Der Angesprochene beherrschte sich mühsam. »Ich will wissen«, begann er gefährlich leise, »was hier los ist. Warum ticken die Cyborgs aus? Was ist die Ursache? Wie hängt alles zusammen? Verstanden?!« Der Wissenschaftler musterte Bulton ungerührt. »Ich bin nicht taub. Als erste Maßnahme würde ich vorschlagen, daß wir alle Ruhe bewahren.« Und mit diesem Kommentar schaltete Johannson ab und ließ einen verblüfften wie verärgerten Bulton in seinem Büro zurück. »Ein starkes Stück«, knurrte der Marschall und blickte auf die leere Mattscheibe des Viphos. »Wenn der Mann einen militärischen Rang hätte, würde er sich das nicht rausnehmen. Nun gut...« Bulton straffte sich und stand auf. »Wie sieht es denn nun mit der Verbindung ins Brana-Tal
aus? Irgendeinen Kontakt zur Cyborg-Station?« »Nein, Sir. Die Funkstation versucht ununterbrochen, Kontakt mit Ezbal oder seinem Team herzustellen. Wir empfangen nicht einmal einen Mucks aus der Gegend. Selbstverständlich versuchen wir es weiter, nur befürchte ich...« Bulton nickte. Das seltsame Verhalten der Cyborgs paßte natürlich ins Bild – und die Experten, die sich wirklich mit diesem Problem auskennen mochten, waren offensichtlich von der Außenwelt abgeschnitten. Und die Regierung... »Es hat wohl wenig Sinn, länger über Möglichkeiten zu grübeln, wenn jetzt die Chance besteht, tätig zu werden. Sind die Damen und Herren wieder im Konferenzraum versammelt?« Die Ordonnanz warf einen Blick auf eine Anzeige am Multifunktionsarmband ihres rechten Handgelenks. Der Offizier nickte. »Dann wollen wir mal...« *** Als sie den ersten Schritt wagten und in das Innere der Kuppel traten, wurden sie von der Intensität des grünen Leuchtens förmlich überwältigt. Willingsworth hielt unwillkürlich inne und musterte seine Geräte. »Ich kann keine Quelle für das Licht ausmachen«, erklärte er, nachdem er die Kontrollen justiert hatte. Auch mit bloßem Auge konnten Szardak und Jasmin Takei keinen Ursprung für das grüne Licht finden. In seiner unaufdringlichen Intensität schien es die Bauwerke der Stadt förmlich zu durchdringen. Fast kam es den beeindruckten Terranern so vor, als würde das Licht indirekt aus allen Wänden, ja aus der Luft den Weg zu ihren Augen finden. Für
einige Augenblicke beobachteten die Menschen die fremde Umgebung. Die Architektur war auch hier den Giants zuzuordnen. Willingsworth wies auf die nächsten Bauwerke, die sich vor ihren Blicken erhoben. Szardak war mit den Bauten der Giants durchaus vertraut, und wenn noch irgendein Zweifel über die Herkunft der Stadt bestanden hatte, so war dieser jetzt endgültig zerstreut. »Wir sollten uns die vorderen Bauten ansehen«, schlug Takei vor und wies auf einige Türme, die sich direkt vor ihnen erhoben. »Irgendwo müssen wir ja anfangen. Vielleicht finden wir einen Hinweis auf den Zweck dieser Stadt.« »Die Straße scheint auf einen zentralen Platz zuzuführen«, erklärte Szardak. »Das bedeutet meiner Ansicht nach, daß die wichtigsten Gebäude und Einrichtungen sich dort befinden werden. Wir sollten daher diese Gebäude hier erst später begutachten, laßt uns lieber ins Zentrum vordringen.« Willingsworth nickte knapp. Auch Jasmin fügte sich in diese Argumentation. Sie machten sich auf den Weg. Die glatten Straßen führten gerade oder in harten Winkeln durch die Stadt. Mit vorsichtigen Schritten durchmaßen die Terraner den Weg vor ihnen, die Blaster aufmerksam erhoben. Szardak hatte immer noch ein ungutes Gefühl, da er unentwegt an die Ereignisse auf der Quelle des Lebens zurückdenken mußte. Er hatte seitdem ein großes Mißtrauen entwickelt und verhielt sich fast übervorsichtig. Dies schien für den alten Draufgänger fast ungewöhnlich, doch Szardak hatte aus seinen Erfahrungen Schlüsse gezogen und sein Verhalten etwas verändert. Sie drangen weiter in die Stadt vor. Ihre Schritte und gelegentlich gewechselte Worte waren die einzigen Laute, die zu vernehmen waren. Die Stille wirkte auf die Dauer
bedrückend, da, je tiefer sie in die Stadt vordrangen, die Geräusche von der Außenwelt immer mehr verebbten. Schließlich wechselte man betont viele Worte, nur, um die Stille zu überbrücken. Plötzlich hielt Szardak inne. »Hören sie das?« fragte er in die Runde. Alle lauschten. In der Tat – ein seltsames Geräusch ertönte in regelmäßigen Abständen. Es klang, als renne jemand gegen eine Wand, werde aber durch eine Polsterung von Schaden abgehalten. Die dumpfen, klatschenden Laute ertönten in seltsamer Regelmäßigkeit. »Was mag da los sein?« »Wir müssen dort um die Ecke... von da scheinen die Geräusche zu kommen!« Szardak hatte die Führung übernommen. Er hob einen Arm und bedeutete seinen Begleitern, sich eng an eine Hauswand zu pressen. Mit der anderen erhob er seinen Blaster und hielt ihn vor sich. Langsam näherte er sich der Hausecke, die anderen im Schlepptau. Das Geräusch wurde immer lauter. Es vermischte sich mit einem heulenden Ton, der nach jedem Aufschlag ertönte. Szardak konnte sich darauf keinen Reim machen. Sie hatten die Ecke erreicht. Szardak schob den Blaster nach vorne, dann wirbelte er herum, kniete sich nieder und hielt die Waffe ausgestreckt vor sich. Jasmin Takei und Ken Willingsworth hielten unwillkürlich die Luft an. Mit schreckgeweiteten Augen blickten sie auf den zielenden Szardak, jederzeit einen Schußwechsel erwartend. Nichts geschah. Szardak erhob sich, steckte die Waffe weg. Ein Lächeln erschien auf seinem Gesicht. »Sehen Sie sich das an, Willingsworth. Das dürfte ein
lohnendes Forschungsobjekt sein!« Der Angesprochene kam um die Ecke, gefolgt von Jasmin Takei. Beide blieben kopfschüttelnd stehen, als sie sahen, welcher Anblick sich ihnen bot. Ein uralter Reinigungsroboter hatte offensichtlich, und das war wenig verwunderlich, eine Macke abbekommen. Niemand würde erfahren, wie oft die Maschine mit ihren wirbelnden Bürsten und Schwämmen nun schon gegen die Häuserwand anrannte, jaulend abprallte und einen erneuten Anlauf wagte. Die Maschine wurde offensichtlich durch eine Bodenleitung mit Energie versorgt, und diese schien unerschöpflich. Willingsworth trat hinter die Maschine, die gerade mal wieder abgeprallt war, seine rechte Hand schnellte hervor und mit einem letzten Aufheulen blieb der Roboter stehen. »Ein alte Giant-Konstruktion«, meinte der junge Wissenschaftler lächelnd. »Hoffentlich haben Sie mit dieser Aktion nicht jemanden auf uns aufmerksam gemacht«, meinte Jasmin zweifelnd. »Wir werden es herausfinden«, erklärte Szardak und wies auf die Straße. »Wir sollten unseren Weg ins Zentrum fortsetzen.« Er setzte sich gleich nach dieser Aufforderung in Bewegung, so daß Willingsworth und Takei nichts anderes übrig blieb, als es ihm gleichzutun. Nach einer knappen Viertelstunde hatten sie unbeschadet das Zentrum der Stadt erreicht. Die Intensität des Leuchtens hatte den ganzen Weg über nicht nachgelassen. Sie hatten sich schon fast an das Licht gewöhnt, so daß sie es schon nicht mehr bewußt wahrnahmen. Vor ihnen öffnete sich ein großer Platz, in dessen Mitte sich ein Turm erhob, der offensichtlich bis an die obere Kuppelhälfte ragte. Das mächtige Bauwerk war von imposanten Ausmaßen. Wieder war es Willingsworth, der an
seinen Geräten hantierte. Szardak warf über seine Schulter einen Blick auf die Instrumente. Die Anzeigen bestätigten seinen Eindruck. Der Turm traf in der Tat auf den Zenit der Kuppel. Sein Durchmesser betrug mindestens fünfhundert Meter. »Wenn wir etwas finden, dann dort!« Diese kategorische Aussage des Wissenschaftlers blieb unwidersprochen. Ohne weiteres Zögern machten sich die Terraner auf den Weg. Schnell hatten sie den völlig schmucklosen Platz überquert. Als sie vor dem Turm standen, erkannten sie, daß er nicht eine glatte Außenwand hatte wie die übrigen Gebäude der Stadt. Zahlreiche Vorsprünge und Ausbuchtungen, manche wie Erker, gestalteten die zerklüftete Oberfläche. Es war kein Problem, Öffnungen und Türen zu finden, so daß es ein leichtes sein würde, das Innere des Gebäudes zu erreichen. Szardak zögerte einen Augenblick. Ihn beschlich ein sehr ungutes Gefühl. Seine inneren Alarmglocken schienen zu läuten. Es war, als würde sich ein sechster Sinn melden. Zwar gab es keine konkreten Anzeichen der Gefahr, aber der Turm, der sich so von der relativen Gleichförmigkeit der restlichen Stadt abhob, machte ihn mißtrauisch. »Wir nehmen das Tor!« erklärte er schließlich bestimmt, als ihn die anderen bereits etwas ungeduldig musterten. Mit diesen Worten wies er auf die breite Öffnung vor ihnen. Er hatte sie aus einem kurzen Impuls heraus ausgesucht. Er hätte jeden geeigneten Eingang wählen können. Szardak versuchte, seine eigene Unsicherheit durch klare Entscheidungen zu überspielen. Er erkannte selbst, daß das nicht der richtige Weg war, doch Takei und Willingsworth bauten auf seine Erfahrungen. Szardak jedoch war genauso verwirrt wie seine Begleiter. Er ließ es sich jedoch nicht anmerken.
Sie durchschritten das Tor. Das grüne Licht begleitete sie auch innerhalb des Gebäudes. Auch im Turm ließ sich keine Lichtquelle ausmachen. Doch die Geräuschkulisse hatte sich verändert. Die durchdringende Stille war einem leisen, kaum wahrnehmbaren, aber unzweifelhaft vorhandenen Flüstern gewichen. »Das müssen die Anlagen sein, deren Energieoutput ich angemessen habe!« meinte Willingsworth und warf einen Blick auf seine Anzeigen. »Die Energiequelle ist auch in diesem Gebäude!« »Können Sie etwas über die Funktionsfähigkeit der Anlage sagen?« fragte Jasmin. Willingsworth machte eine abschätzende Handbewegung. »Ich weiß nicht«, meinte er vorsichtig, »aber wenn es GiantTechnologie ist und meine Altersschätzung stimmt, dann würde es mich nicht wundern, wenn es einige Ausfälle gegeben hat.« »Der Zahn der Zeit nagt auch an jeder noch so überlegenen Technik«, murmelte Szardak. Er hatte da ja seine Erfahrungen gemacht – und er war aufgrund dieses Verfalls am Leben geblieben. »Wir müssen verdammt vorsichtig sein!« bekräftigte er und wies auf den vor ihnen liegenden Gang. »Da kann manche Überraschung auf uns warten!« Willingsworth und Takei nickten einmütig. Aus ihren Augen funkelten Forschergeist und jugendliche Unbekümmertheit. Szardak seufzte. Er vermißte diese unbekümmerte Haltung bei sich selbst, aber er war sich bewußt, daß sie unwiderruflich verloren war. Er gab sich einen Ruck. »Weiter!« Die Gruppe setzte ihren Weg fort. Der Gang verjüngte sich
zusehends und mündete in einer großen Maschinenhalle. »Es ging leicht abwärts!« stellte Takei fest. Den anderen war dies gleichfalls aufgefallen. Die Terraner wanderten durch die Reihen monolithisch wirkender Maschinenblöcke. Plötzlich zuckte Szardak zusammen. Ein Scharren hatte die relative Stille durchbrochen. »Was...?« Noch ehe Willingsworth seine Frage aussprechen konnte, war sie auch schon beantwortet. Aus den seitlichen Wänden brachen Roboter hervor. Sie strömten aus Toren, die sich in den fugenlosen Wänden rasch geöffnet hatten. »Deckung!« schrie Szardak. Die Roboter näherten sich. Sie trugen offensichtlich keine Strahlenwaffen, sondern schwangen Metallklauen und Greifer. Die tonnenförmigen Geräte eilten rasch auf die Eindringlinge zu. Szardaks sechster Sinn hatte sich nicht getäuscht... Die Terraner rannten zu einem der Maschinenblöcke und warfen sich zu Boden. Blitzartig hatten sie die Blaster im Anschlag. Szardak mußte keinen Feuerbefehl mehr geben. Die Energiebahnen schlugen den heraneilenden Maschinen entgegen. Die vordersten Roboter zerbarsten feuersprühend. Die nachfolgenden Automaten schoben ihren zerstörten Kollegen ungerührt zur Seite und drangen weiter vor. Schon fanden weitere Blasterschüsse ihr Ziel und weitere Maschinen rasselten zu Boden. »Die haben keine Chance!« schrie Takei im Kampfeslärm. In der Tat waren die schwerfälligen Roboter den schnellen und gezielten Schüssen der Menschen hilflos ausgeliefert. Bald versiegte der Strom der Maschinen und ein Haufen rauchender Trümmer erhob sich in der Halle. Das Fauchen kleinerer Entladungen und das Knacken sich entspannenden Metalls verebbte nur langsam. Vorsichtig erhoben sich die drei
Terraner aus ihrer Deckung. Die Gefahr schien vorerst abgewendet zu sein. »Puh!« machte Willingsworth und musterte kritisch den Energieanzeiger seines Blasters. »Das kam sehr plötzlich!« Szardak nickte grimmig. »Dieser Turm ist wichtig!« meinte er bestimmt. »Wir haben durch unser Eindringen Abwehrmechanismen in Gang gesetzt, da wir uns offenbar einer wichtigen Anlage näher.« Takei hob ihr Vipho. »Ich bekomme keine Verbindung mehr zu Dexter!« »Das wundert mich nicht«, antwortete Szardak. »Wir sind im Zentrum der fremden Stadt. Vielleicht ist das grüne Leuchten mehr als nur farbiges Licht!« Willingsworth hantierte wieder mit seinen Meßinstrumenten. »Ich kann absolut keine Energiefelder ausmachen, wirklich absolut nichts!« »Wer weiß, welche Spielchen die Giants hier eingebaut haben!« entgegnete Szardak und wies auf das Ende der Halle, an dem sich schwach ein weiterer Durchgang abzeichnete. »Wir müssen weiter, wenn wir Antworten auf unsere Fragen haben wollen.« »Aber erst müssen wir an dem Schrotthaufen vorbei!« sagte Jasmin Takei und wies auf die Trümmer. Willingsworth nickte. »Also, machen wir uns an die Arbeit. Ich will hier nicht meinen Lebensabend verbringen.« *** Der Robotangriff hatte sich nicht wiederholt. Szardak vermochte nicht zu ermessen, ob die Abwehrautomatik mit der Attacke der Automaten ihre Möglichkeiten erschöpft hatte, jedenfalls waren die drei Terraner, nachdem sie sich durch den Schrotthaufen der niedergestreckten Maschinen gearbeitet
hatten, unbehelligt weiter vorgedrungen. Die Öffnung am Ende der großen Halle hatte sich als Fahrstuhl entpuppt und mutig hatten sich die Forscher der Anlage anvertraut. Die Kabine war lautlos in die Tiefe gesunken und war in einer unteren Ebene zum Stillstand gekommen. Die Terraner hatten den Fahrstuhl verlassen und sich umgesehen: Sie standen vor einem breiten Tor, vor dem sich undeutlich ein sanftes Flimmern abzeichnete. Ein Schutzfeld. »Jetzt verlegt man sich auf die Defensive!« erklärte Szardak grimmig und wies auf das Schutzfeld. »Offensichtlich nähern wir uns einer wichtigen Sektion dieser Anlage. Nachdem der Angriff der altersschwachen Roboter erfolglos war, scheint die Schutzautomatik sich nun besserer Tugenden zu besinnen und dieses Schutzfeld aufgebaut zu haben.« »Warum sind wir nicht gleich im Fahrstuhl steckengeblieben?« fragte Jasmin. Szardak hob die Schultern. »Ich vermute, daß die hiesigen Rechner nicht mehr alles im Griff haben. Tausend Jahre sind eine lange Zeit. Andernfalls wären wir wahrscheinlich nicht einmal durch die Kuppelwandung in die Stadt gekommen. Wir müssen zwar mit Überraschungen rechnen – aber nicht mit Perfektion.« Willingsworth hatte sich wieder seinen Instrumenten gewidmet. Er richtete einen Sensor auf das Schutzfeld. »Ich sehe keine Möglichkeit, das Schutzfeld zu eliminieren«, erklärte er schließlich. »Wir müssen versuchen, es zu umgehen.« Szardak nickte. »Wir halten uns nach rechts!« Die Gruppe wandte sich ab. Es gingen Gänge nach rechts und links ab, und sie wanderten den rechten entlang, die
Blaster schußbereit erhoben. Doch kein überraschender Angriff erwartete sie. Es blieb ruhig. Mit der Zeit erreichten sie weitere Tore, die ins Innere zu führen schienen. Kreisförmig lief der Gang um eine zentrale Räumlichkeit herum, und irgendwann kamen sie an ihren Ausgangsort zurück – vor allen Toren und Türen hatten sie starke Schutzfelder vorgefunden. »Wenn wir Gewalt anwenden...«, hob Szardak an, wurde dann aber sofort von Willingsworth unterbrochen. »... wird uns das nichts nützen!« vervollständigte er den Satz des Kommandanten und wies auf seine Meßergebnisse. »Die Schutzfelder sind zu stark für unsere Blaster. Außerdem würden wir wahrscheinlich wieder offensive Gegenmaßnahmen provozieren. Ich rate vom Einsatz der Waffen ab.« »Gut – was tun wir dann?« »Wir müssen den Feldprojektor finden – oder seine Energiequelle. Dann können wir das Übel an der Wurzel packen«, schlug Jasmin Takei vor. Die beiden Männer nickten. »Das Beste wird sein, wenn wir den Fahrstuhl weiter nach unten benutzen. Laut Anzeige gibt es noch eine weiter unten liegende Ebene – ich vermute, dort werden wir fündig werden!« Sofort betraten die Terraner wieder den Fahrstuhl, der sie rasch nach unten beförderte. Sie traten aus der Kabine hinaus in eine Halle, die sehr derjenigen glich, die sie weiter oben durchquert hatten. Unwillkürlich hoben sie die Blaster, doch keine Roboter eilten herbei. Nur das leise, flüsternde Geräusch war etwas lauter geworden. »Zahlreiche Maschinenblöcke – welcher mag für das Schutzfeld verantwortlich sein?« Willingsworth wies in eine Richtung.
»Die Energieanzeige sagt – jener dort!« Sie setzten sich in Bewegung. Bald hatten sie den Maschinenblock erreicht, den der junge Mann ihnen gewiesen hatte. Es war eine große Anlage, von außen fugenlos geschlossen. Es waren keine Kontrollen zu finden. »Vielleicht wird sie durch Energieimpulse von außen gesteuert!« mutmaßte der Wissenschaftler, nachdem sie einige Minuten ratlos vor dem Generator gestanden hatten. »Dann können wir lange auf eine Lösung warten«, erklärte Jasmin Takei. »Es wird wenig Sinn haben, alles mögliche auszuprobieren und auf einen Zufallstreffer zu hoffen.« Szardak brummte zustimmend. »Vielleicht kann man das Gerät auch öffnen. Soweit ich mich erinnere, ist Giant-Technik nicht halb so kompliziert, wie wir auf den ersten Blick annehmen. Ich erinnere mich an einen Generatortyp, der eine kleinere Version dieser Anlage zu sein scheint. Bei der kleinen Ausgabe genügte es, ein Sensorfeld zu berühren. Es war allerdings farbig gekennzeichnet.« Willingsworth wanderte langsam um die Anlage herum, und scannte sie sorgfältig. Schließlich blieb er abrupt stehen. »Hier! Ein Sensorfeld!« Ehe Szardak eingreifen konnte, war Willingsworth Hand vorgeschnellt und hatte die kaum sichtbare Platte berührt. Dann brach die Hölle los. Ohrenbetäubendes Sirenengeheul erfüllte die Maschinenanlage. Eine volltönende Stimme rief in einer fremden Sprache Anweisungen in großer Lautstärke. Die Terraner fühlten sich urplötzlich körperlich erschüttert... ein Vibrieren durchfuhr ihre Gliedmaßen und ihr Blick verschwamm. »Vibrationsalarm«, ächzte Jasmin und kämpfte mühsam um ihr Gleichgewicht. »Aber was für einer!« stöhnte Willingsworth und versuchte,
die unkontrolliert zitternde Hand zur Stirn zu fuhren. Szardak hatte keine Zeit, auf seine Begleiter zu achten. Er beobachtete die Generatoranlage, die sich geöffnet hatte. Vor ihm waren altbekannte Giantkontrollen. Mit einigen schnelle Handgriffen hatte er die Anlage deaktiviert. Der Alarm hörte nicht auf. Es kam ihm sogar vor, als würde er noch stärker werden. »Wir müssen uns beeilen«, schrie Szardak, um den Lärm zu übertönen. »Das Kraftfeld ist jetzt sicher erloschen! Wer weiß, wer noch auf dieses Höllenspektakel reagieren wird!« Jasmin und Willingsworth nickten mühsam. Torkelnd folgten sie Szardak den Weg zurück in den Fahrstuhl. Dort wurde es nicht besser: Der Vibrationsalarm, die tönende Stimme und das nervenzerreißende Sirenengeheul waren auch in der engen Kabine gut zu vernehmen. Willingsworth war bleich geworden und Jasmin Takei hielt sich die Ohren zu, was wenig Sinn machte. Szardak ahnte, daß beide nicht mehr lange durchhalten würden. Dieser Alarm, der für Giants oder andere Spezies nur aufrüttelnd und aufpeitschend wirken mochte, war für Menschen auf die Dauer wahrscheinlich tödlich... eine gute Abwehrwaffe, und das wohl nicht einmal beabsichtigt. Szardak hoffte nur, daß die automatischen Abwehranlagen auf diesen Alarm nicht mit vermehrten Anstrengungen reagieren würden. Einmal mehr baute er auf den Verschleiß von tausend Jahren, der ihnen eine reelle Chance geben mochte. Die Fahrstuhltür öffnete sich, vor ihnen der bekannte Rundgang. Schon bald konnte Szardak erkennen, daß das Energiefeld erloschen war. Die drei Terraner torkelten aus der Kabine. »Szardak...«, stöhnte Willingsworth und lehnte sich an die Wand. »Ich...«
Der junge Mann brachte kein weiteres Wort heraus, beugte sich vornüber und erbrach sich auf den Boden. Jasmin Takei sah ähnlich elend aus, etwa so, wie Szardak sich fühlte. Wir müssen hier raus! dachte er benebelt. Dann öffnete er die Tür vor sich. Eine große Halle. Gigantische Ausmaße. Fast leer. Doch da, in der Mitte... Szardak stieß ein Ächzen aus. Ihm wurde schwindlig. Ein halb zerstörtes Raumschiff lag in der Halle. Es war zur Seite geneigt. Es war schwarz! Eine Hantel! Grakos! Ein Grako-Schiff! Szardak hustete. Neben ihm war Jasmin zu Boden gesunken, die Hände auf den Bauch gepreßt und mit schmerzverzerrtem Gesicht. Er beugte sich nieder, zerrte sie aus dem Raum, verschloß das Schott. Willingsworth lag immer noch dort, wo er zusammengesunken war, und schien das Bewußtsein verloren zu haben. »Jasmin... wir müssen...« Die Frau antwortete ihm nicht mehr. Kraftlos hing sie in seinen Armen, schweißüberströmt. Die Schockwellen der Vibrationen durchfuhren Szardaks Körper und schüttelten ihn. Er verlor kurzzeitig das Gleichgewicht, dann raffte er sich auf, zog Jasmins Körper über seine Schulter, schwankte auf Willingsworth zu, ergriff einen seiner Arme. »Das schaffe ich nicht«, murmelte er erschöpft, als er den Mann fortziehen wollte. Der Arm entglitt ihm. Ein paar Schritte torkelte Szardak noch in Richtung Aufzug, dann sank auch er zu Boden, aufgewühlt durch den Vibrationsalarm, der seine Eingeweide
zu grillen schien, und die Kraft wich aus ihm. Grakos..., dachte er noch und legte seinen Kopf neben den von Jasmin Takei, der ein dünner Speichelfaden aus dem Mund rann. Dann blickte er hoch, blinzelte, blinzelte noch einmal, und plötzlich fuhr ein Lächeln über seine Lippen... Aus der Decke brach die stumpfe Schnauze eines Flash, daneben ein weiterer. »Dexter...«, stammelte Szardak schmerzerfüllt. Er beobachtete verschwommen, wie die Flash rasch zu Boden sanken und Bruce Dexter, in einen M-Anzug gehüllt, aus einem der Beiboote sprang. Er riß Willingsworth hoch, schleppte ihn unter das Intervallfeld, verfuhr genauso mit Jasmin und stützte auch den vollends geschwächten Szardak. Als das schützende Intervallfeld ihn umschloß, waren die Vibrationen wie weggewischt und ein unendliches Gefühl der Erleichterung durchflutete Szardak, verbunden mit einer tiefgreifenden, schmerzhaften Erschöpfung. »Wir müssen...« Dexter klopfte Szardak auf die Schulter. »Ich schaffe sie in die Flash und übernehme den anderen in Fernsteuerung. Dann nichts wie zur LEMUR!« Szardak nickte und raffte sich auf, in einen der Flash zu steigen, während Dexter die beiden Bewußtlosen in die zweite Maschine wuchtete. Wenige Augenblicke später glitten die Beiboote durch die Wände der Station ins Freie. Bald hatten sie die Stadt verlassen und unter ihnen huschte die blaue See von Blue Curacao dahin. »LEMUR, hier ist Dexter. Macht die Krankenstation bereit. Unsere drei Freunde haben einen hundsgemeinen Vibrationsalarm durchgemacht. Wenn ich nicht das Sirenengeheul in der Stadt gehört hätte, dann wäre ich wahrscheinlich zu spät gekommen. Ich vermute mal, daß ein
paar innere Organe nicht mehr an den Stellen sein werden, wo sie hingehören.« »LEMUR hat verstanden«, kam die knappe Antwort. Dexter wandte sich zu Szardak um und sah in dessen erschöpftes Gesicht. Szardak hatte ihm beim Ausflug aus der Stadt kurz von der Entdeckung in der Halle berichtet. Ein Grako-Schiff. »Wenn wir da mal keine schlafenden Hunde geweckt haben«, murmelte Dexter vor sich hin. Er sah auf die Bildbetrachtung. Die blauen Wasser des Planeten huschten unter den Booten dahin. In einigen Minuten würden die Geschwächten in ärztlicher Behandlung sein. »Wenn Sie die Sirenen nicht gehört hätte, wären wir jetzt am Ende!« murmelte Szardak schwach. »Es war doch klug, Sie draußen warten zu lassen.« Dexter nickte. »Ich hörte das Geheul nur sehr schwach, aber dann spielten auch die Energieanzeigen verrückt, und der Vibrationsalarm wurde auch von den Sensoren geortet. Ich wußte erst nicht, was ich tun sollte, aber ich hatte sofort das Gefühl, daß Sie in Schwierigkeiten stecken würden.« Szardak lächelte schwach. »Dexter, wenn es noch Orden gäbe, würde ich Ihnen einen verleihen!« Der junge Mann grinste. »Das nächste Mal will ich aber gleich mit!« Die Flash ließen die goldene Stadt hinter sich. *** Das sanfte Zittern, daß die SUZANNE VEGA durchlief, war ein deutliches Indiz dafür, daß die auf das Schiff einwirkenden Kräfte zugenommen hatten.
Anna Bulgakowa musterte die Kontrollen mit kritischen Blicken. Die Anzeigen hatten sich nicht zu ihren Gunsten verändert. Die Dunkelsonne, obgleich mit dem bloßen Auge nicht zu erkennen, wirkte mit ihren ungeheuren Kräften auf das Schiff ein. Die Vibrationen, die das Schiff erfaßt hatten, zeugten von dem verzweifelten Bemühen der Chefingenieurin, aus den Maschinen jedes Quentchen Energie herauszuholen, um dem sicheren Ende wenn nicht zu entgehen, so doch den Untergang aufzuhalten. Die Kommandantin der SUZANNE VEGA machte sich über ihre Situation keine Illusionen. Den ungeheuren Anziehungskräfte der Dunkelsonne konnte keines der Schiffe lange widerstehen. Das Ende konnte nur herausgezögert werden, mehr nicht. »Ich möchte zumindest wissen, warum wir sterben müssen«, erklärte Anna bestimmt. »Auf keiner Karte dieses Sektors ist die Dunkelsonne eingezeichnet. Ein solches Phänomen kann doch nicht aus dem Nichts entstehen!« Die Kommandantin sprach zu dem Gesicht auf dem Viphoschirm. Es gehörte dem Leiter der kleinen Wissenschaftsabteilung der SUZANNE VEGA, die, wohl wie auch auf allen anderen Schiffen der terranischen Flotte, zu denen der Kontakt abgerissen war, versuchte herauszufinden, wie es zu dieser Katastrophe hatte kommen können. Ein müßiges Unterfangen angesichts des nahenden Endes, mochte so manches Besatzungsmitglied meinen, und auch Bulgakowa war vor solchen Gedanken nicht gefeit. Doch sie wußte auch, daß lethargisches Erwarten des sicheren Todes nicht ihrem Naturell entsprach. Die Untersuchungen lenkten die Mannschaft ab – und wer wußte schon, welche Ergebnisse sich noch abzeichnen würden? Längst hatte sich ihr Gesprächspartner verabschiedet und in
die Arbeit gestürzt. »Lage!« Der Erste Offizier fühlte sich angesprochen. »Strukturelle Integrität mit 50 Prozent belastet, Intervallschirm hält noch, Belastung bei 45 Prozent. Wir beschleunigen weiter auf die Dunkelsonne zu.« »Wann werden wir den Ereignishorizont erreichen?« Der Offizier musterte die Kontrollen. »Wir dürften noch etwa zehn Minuten haben, außer, es geschieht ein Wunder.« Anna nickte leicht. Gedankenverloren musterte sie die Darstellung des Weltraums auf der zentralen Wiedergabe. Schwach konnte sie einige der näher treibenden Ringraumer ausmachen, und dazu die Sterne. Die Sterne... Anna Bulgakowa beugte sich nach vorne und kniff die Augen zusammen. Ihr in vielen Jahren der Raumfahrt geschultes Gedächtnis schien ihr einen Streich spielen zu wollen. Die Kommandantin schlug auf das Vipho. Die Verbindung zur wissenschaftlichen Abteilung wurde sofort hergestellt. »Wir haben noch nicht...«, wollte der Leiter sagen, doch Anna schnitt ihm das Wort ab. »Stellen Sie unsere relative Position fest!« Der Mann sah sie verwirrt an, doch beeilte er sich, ihrem Befehl nachzukommen. Sekunden später war er wieder auf dem Bildschirm zu sehen, seine Haut wies hektische Flecken auf. Er war aufgeregt. »Das ist doch nicht möglich! Wir müssen transistiert haben! Unsere relative Position hat sich radikal verändert... um Lichtjahre!« »Wann?« »Seit wir der Dunkelsonne ausgesetzt sind. Doch selbst
diese Anziehungskräfte können keinen Raumsprung auslösen!« Dem Mann wurde eine Folie hereingereicht. Er warf einen kurzen Blick darauf. »Eine Raumverwerfung! Die gesamte Flotte muß in eine Raumverwerfung geraten sein – die uns direkt in diesen Sektor gebracht haben muß!« »Ein natürliches Phänomen?« »Kaum. Wir verfolgen die Fremden, rücken ihnen auf den Pelz und dann – schwupps! – sitzen wir der Dunkelsonne auf dem Pelz. Da ist dran gedreht worden!« Anna nickte. »Sie haben recht. Zumindest wissen wir jetzt, woran wir sind. Auch«, so schloß sie seufzend, »wenn uns das jetzt nicht mehr viel nützen wird.« Trotz dieses hoffnungslosen Ausblicks fühlte sich die Kommandantin der SUZANNE VEGA jetzt besser. Zwar war sie machtlos angesichts der Größe der Gefahr, aber sie hatte nun eine Vorstellung von ihrer Ursache – egal, ob diese nun auch letztendlich den Tatsachen entsprach. Keine irgendwie geartete Laune der Natur, sondern ein kriegerischer Akt mithilfe einer überlegenen Technologie. Ein Akt, dem Tausende von Menschen in den Schiffen der terranischen Flotte zum Opfer fallen würden. Anna Bulgakowa setzte sich in ihrem Sessel zurück und fragte sich, wann wohl der Zeitpunkt gekommen sei, an dem das bekannte Phänomen eintrete, das eigene Leben vor dem inneren Auge vorbeilaufen zu sehen. Aus den Augenwinkeln erkannte sie, daß auch die übrigen Mitglieder der Zentralbesatzung einen eher nachdenklichen Eindruck machten. Ein Zittern durchlief das Schiff. »Schutzfeldbelastung auf 85 Prozent angestiegen!« erklärte der Erste Offizier mit knappen Worten und warf seiner
Kommandantin einen kurzen Blick zu. Verdammt, dachte Bulgakowa und kniff krampfhaft die Lippen zusammen. Ich weiß doch auch keine Lösung. Abermals erzitterte der Rumpf des Schiffes. Die Sterne auf dem Zentralbildschirm fingen an, ihre Farbe zu verändern. Der Doppler-Effekt trat ein und gab einen Hinweis darauf, wie schnell die SUZANNE VEGA und mit ihr die gesamte terranische Flotte auf die Dunkelsonne zustürzte. Dann flackerte der Schirm. »Was...«, wollte Anna beginnen, als ein Krachen ihre Worte abschnitt. Funken sprühten aus einigen Anzeigen. Der Bildschirm erlosch. Ein weiteres Zittern durchlief das Schiff und wurde von einem seltsamen, klagenden Laut begleitet. »Schirme auf 110 Prozent. Die brechen jeden Augenblick zusammen!« rief der Erste Offizier mit gehetzter Stimme. Er warf sich in seinen Sessel und schien die noch funktionierenden Anzeigen wie hypnotisiert zu beobachten. Niemand in der Zentrale rührte sich, die entstehenden Schwelbrände zu bekämpfen. Nur die Löschautomatik reagierte ungerührt. »Schirme auf kritischem Maximum!« meldete die tonlose Stimme des Offiziers. Anna spürte erneut ein Zittern, und diesmal blieb es. Die Vibrationen begannen, das ganze Schiff zu erfüllen. Ihr Blick schien wie durch einen Nebel verhangen, und der wehklagende Laut, so erkannte sie jetzt, wurde von völlig überbeanspruchtem Material ausgestoßen. Unitall kann weinen, dachte sie seltsam klar. Das ist sehr passend. Funkenregen in der Zentrale. Der Anblick vor Annas Augen verzerrte sich seltsam. Es schien, als würden alle geraden Flächen sich verbiegen. Der Verstand der Kommandantin sagte
ihr, daß dies die ersten Auswirkungen der Raum-ZeitVerzerrungen in der Nähe der Dunkelsonne sein mußten. Anna blickte auf ihre Hände und musterte ihre Nägel, die vor ihren Augen verschwammen und ihre Form zu verändern schienen. Wie durch Watte hörte sie von ferne die Stimme ihres Ersten Offiziers. »Schutzschirme zusammengebrochen! Wir...« Ruhig, macht Euch keine Sorgen! Dann war es vorbei. Unitall knackte nicht, hatten ihr die Ingenieure gesagt, doch die SUZANNE VEGA machte einen ziemlichen Lärm, als plötzlich jede Belastung von ihr genommen wurde. Es herrschte unvermittelt eine gespenstische Stille in der Zentrale, die nur vom Zischen der Löschautomatik unterbrochen wurde. Anna schüttelte den Kopf, als wolle sie einen bösen Traum verscheuchen. »Was ist geschehen?« brachte sie mühsam hervor. »Wo sind wir?« Sanft flackernd erwachte die zentrale Wiedergabe zum Leben. Sterne. Computerdarstellungen der Positionen der anderen Schiffe. Weitere Punkte. Viele Punkte. Sehr klein. Anna griff zu den Kontrollen. Das Bild raste heran. Tropfen. Schimmernde Tropfen. »Die Synties!« hauchte Malani und fuhr sich mit den Händen durch sein Kopfhaar. »Ich brech’ zusammen!« Die wissenschaftliche Abteilung meldete sich. »Kommandantin – wir sind schon wieder transistiert! Ein völlig anderer Raumsektor! Keine Dunkelsonne – keine Bedrohung!«
Und aus allen Enden und Ecken des Schiffes kehrten die Klarmeldungen in der Zentrale ein. Anna Bulgakowa straffte sich und spürte, daß sie dem Tode noch einmal von der Schippe gesprungen waren. Auf den Schirmen erkannte sie, daß die Synties plötzlich beschleunigten und aus der Erfassung verschwanden. Anna seufzte. »Kommandantin, Anweisungen der Flottenführung. Wir nehmen wieder Kurs auf Cromar.« Bulgakowa nickte. Dann lehnte sie sich zurück und ordnete die notwendigen Reparaturen an. Sie war wieder die Ruhe selbst. *** Ralitsa Wassilewa saß regungslos in der Dunkelheit. Der feine Lichtstrahl des Helmscheinwerfers stach wie abgezirkelt in die Schwärze und erhellte wenig mehr als den Kreis des Lichts, den er auf die schroffe Felswand warf. Die Bulgarin lehnte sich vorsichtig zurück und lauschte dem Stöhnen, das aus dem Helmlautsprecher drang. »Ralitsa?« Die Stimme von Frank Krüger übertönte die Geräusche der anderen Minenarbeiter. »Bist du in Ordnung?« Die Angesprochene gab einen zustimmenden Laut von sich. Nichts war in Ordnung. Ihr rechtes Bein war unter einigen Felsbrocken eingeklemmt. Der Schmerz stach in ihr Bewußtsein und breitete sich wellenartig über ihren Körper aus. Wenn sie den Lichtstrahl fixierte, der auf die Felswand schien, wollten schwarze Wolken vor ihren Augen aufwallen. Sie hustete trocken. Sie schmeckte Blut in ihrem Mund. Ralitsa Wassilewa wußte, daß sie am Ende war.
Nach und nach drang wieder mehr Licht in die Höhle. Die anderen Arbeiter, die bei Bewußtsein geblieben waren, hatten ihre Helmscheinwerfer ausgerichtet und fixierten sie auf eine Stelle der Felswand, die mit den Silberadern durchzogen war. Die Wand reflektierte das Licht und der verbliebene Raum erfüllte sich mit schwachem Schein. Neben Ralitsa saßen oder lagen zehn weitere Minenarbeiter am Boden, die wie sie von dem Zusammenbruch des Stollens überrascht worden waren. Direkt neben ihr lag Anna Sarcinelli, die zweite Ingenieurin. Ralitsa mußte nur einen kurzen Blick in ihre gebrochenen Augen werfen, um festzustellen, daß für die Italienerin jede Hilfe zu spät kam. Wieder mußte sie husten und der schmerzhafte Druck der gebrochenen Rippen ließ sie fast bewußtlos werden. Mühsam hob sie eine Hand zum Gürtel, nestelte die Wasserflasche hervor und nahm einen Schluck der schalen Flüssigkeit. Als das Wasser ihre Luftröhre hinunterrann, brannte es wie Feuer und Ralitsa wurde von einem erneuten Hustenanfall geschüttelt. Es sah nicht gut aus. Gar nicht gut. »Ralitsa!« Krüger hatte sich neben sie geschoben. Er schien weitestgehend unverletzt. Der Vorarbeiter hockte sich neben sie und sah sie besorgt an. »Wir haben das Funkgerät verloren. Es ist zusammen mit dem Funker unter den Felstrümmern begraben. Unsere Helmgeräte dringen durch den dicken Fels nicht durch... aber unsere Routinemeldung wäre vor zehn Minuten fällig gewesen. Sie werden sofort eine Suchmannschaft losgeschickt haben. Es kann nicht lange dauern.« Ralitsa nickte schwach. Frank Krüger hatte natürlich recht. Die Vorschriften sahen diese Maßnahme beim Ausbleiben der
Funkbotschaft vor. Binnen zwanzig Minuten würde die Suchmannschaft in den Stollen vorgedrungen sein. Aber dann mußte erst der heruntergebrochene Schutt beseitigt werden – und zwar so vorsichtig, daß kein weiterer Einsturz geschah. Ralitsa fühlte, daß sie das nicht mehr erleben würde. Als Erste Ingenieurin jedoch trug sie die Verantwortung für dieses Team. Sie mußte bis zuletzt durchhalten und Zuversicht verbreiten. Mühsam rang sie sich ein Lächeln ab. »Kümmere du dich um die Verletzten, Frank«, flüsterte sie angestrengt. »Rede mit jedem und sprich ihnen Mut zu.« Der Vorarbeiter nickte und musterte sie immer noch besorgt. »Und du? Dein Bein hier unter dem Fels...« »Es geht schon. Du mußt für Disziplin und Nervenstärke sorgen«, unterbrach Ralitsa ihn. Der Mann hielt einige Sekunden inne, dann nickte er und wandte sich um. Hustend stieß die Frau den Atem aus. Wieder wurde ihr schwarz vor Augen. Ich muß mich zusammenreißen! dachte sie konzentriert und stellte mit Erleichterung fest, daß sich ihr Blick wieder klärte. Mit langsamen Bewegungen löste sie das kleine Medpack vom Gürtel und holte eine Einweginjektion eines leichten Stimulans heraus. Sie schob den zerrissenen Ärmel am anderen Arm zur Seite und verabreichte sich die Dosis. Die Wirkung ließ nicht lange auf sich warten. Die Wolken vor ihren Augen schwanden endgültig. Eine zweite Injektion dämpfte die starken Schmerzen. Doch Ralitsa machte sich keine Illusionen. Sie hatte sich nur um die Symptome ihrer Verletzungen kümmern können, nicht um die eigentlichen Ursachen. Trotz der Tatsache, daß sie sich nun etwas besser fühlte, konnte sie die Schwere ihrer Wunden nicht einmal abschätzen. Etwas in ihr sagte jedoch, daß ihr nicht mehr viel Zeit blieb.
Nicht mehr viel Zeit... Es dauerte in der Tat nicht länger als 20 Minuten, als sich von jenseits der heruntergestürzten Felsbrocken etwas regte. Für einen Moment ertönte ein feines, singendes Geräusch, dann bohrte sich ein dünner Teleskoparm durch die Trümmer. Die Sonde am Ende des Armes, vorgedrungen mit Hilfe eines desintegrierenden Energiestrahles, drehte sich langsam. Das Suchteam hatte sie gefunden und klärte die Lage. Dann knackte es in ihren Empfängern. »Hier ist das Suchteam. Wir haben euch im Sichtfeld. Bleibt ruhig liegen und überlaßt uns die Arbeit. Wir haben euch in ein paar Minuten befreit.« »In ein paar Minuten?« Ralitsa wiederholte diese Worte mit einem ungläubigen Unterton. »Wir haben zwei Cyborgs dabei. Die werden mit den Brocken spielend leicht fertig, während wir uns damit begnügen können, die Stollendecke abzustützen. Es kann nicht mehr lange dauern.« Ein Gefühl von plötzlicher Hoffnung durchflutete Ralitsa und sie atmete trotz der Schmerzen tief durch. Vielleicht war doch noch nicht alles verloren. In der Vergangenheit hatten die Cyborgs bei ähnlichen Situationen schon wertvolle Hilfe geleistet. Trotz der perfekt anmutenden Technik dieses Jahrtausends kam es immer wieder zu Grubenunglücken. Die Mächte tektonischer Bewegungen und die Lasten uralter Gesteinsmassen geboten Ehrfurcht, und dort, wo die Menschen in ihrer Überheblichkeit diese Ehrfurcht vermissen ließen, mußten sie zumeist teuer dafür bezahlen. Oft waren es die Cyborgs gewesen, die aufgrund ihrer besonderen Fähigkeiten in selbstloser Weise Leben gerettet hatten, wo andere schon gescheitert waren. Sie blickte wie die anderen Verschütteten gebannt auf die
heruntergestürzten Felsbrocken. Es konnte jetzt nicht mehr lange dauern. Die Erwartung belebte ihre Lebensgeister. Ihre Geduld wurde bald belohnt. Ein Krachen ertönte, als sich die Massen zu bewegen begannen. Mit methodischen und langsamen Bewegungen wurden Brocken mächtiger Größe weggezogen und nach hinten weitergegeben. Bald hatte sich eine erste Öffnung gebildet, durch die ein frischer Luftzug fuhr, der von den Eingeschlossenen mit freudigem Beifall begrüßt wurde. Schnell hatten die beiden Cyborgs die Öffnung erweitert, während hinter ihnen die restlichen Mitglieder der Suchmannschaft die Trümmer beiseite räumten und Stützen an die freigeräumte Stollendecke stellten, um einen zweiten Einsturz zu verhindern und die Verletzten ohne Probleme herausholen zu können. Durch die Öffnung erkannte Ralitsa die beiden Cyborgs, da diese schon einmal in einigen Stollen ausgeholfen hatten. George Antonescu und Fred Melnik waren zuverlässige Männer, und auch diesmal hatten sie die Eingeschütteten nicht im Stich gelassen. Der blonde Haarschopf des Rumänen tauchte immer wieder hinter der breiter werdenden Öffnung auf. Die Cyborgs arbeiteten regelmäßig und ohne Hektik. Man sah ihnen nicht an, daß ihnen bewußt war, in großer Gefahr zu schweben, konnte die Decke doch erneut einstürzen, jetzt, wo sie die stützenden Felsbrocken beiseiteschafften und die Stützen der restlichen Suchmannschaft erst Stück für Stück angebracht werden mußten. Als die letzten Hindernisse beiseitegeräumt waren, traten die Cyborgs zur Seite, um die Helfer durchzulassen, die mit Tragen und medizinischem Gerät zu den Verletzten vordrangen. Ein Sanitäter hockte sich neben Ralitsa und lächelte ihr aufmunternd zu. »Wir haben Sie hier bald heraus«, meinte er zuversichtlich
und schnitt ihr die Kleidung vom Leib. Mit vorsichtigen Bewegungen sprühte er einen stützenden Verband über die Brust, wo die bläulichen Druckstellen von den gebrochenen Rippen zeugten. Ihr Bein wurde rasch befreit und mit einer Schiene versehen und ein regeneratives Medikament würde ihre inneren Verletzungen stabilisieren. Ralitsa entspannte sich. Sie hatte nicht mit einer Rettung gerechnet – doch jetzt wußte sie sich in guten Händen. Die Last der Verantwortung begann langsam von ihr abzufallen. Dann ertönte ein Rumpeln. Der Boden erzitterte. Der Sanitäter verlor seinen Halt und fiel halb auf die Verletzte. Ein stechender Schmerz durchzuckte ihren Brustkorb. Dann sah sie aus den Augenwinkeln, wie die Cyborgs mit unheimlich schnellen Bewegungen mannshohe Felsbrocken in die eben freigeräumte Öffnung warfen. Ralitsa glaubte, auf den Gesichtern der beiden Männer ein wildes, verrücktes Lachen zu sehen. Das Gesicht Antonescus spiegelte sich im Schein der zahlreichen Scheinwerfer wider, die von den Eingeschütteten auf die irrational agierenden Cyborgs gerichtet wurden. Es war zu einer Fratze verzerrt, die Ralitsa nur einer einzigen Regung zuschreiben konnte: Dem reinen Wahnsinn. Die lauten Proteste und Überraschungsrufe der Verletzten wie der Helfer ignorierend, unflätige Bemerkungen gegen die Wehrlosen ausstoßend, räumten die Cyborgs mit übermenschlicher Kraft und ohne jede Rücksicht auf die Menschen Felsbrocken um Felsbrocken herum, bis sich die Öffnung wieder geschlossen hatte und ihr lautes, irres Lachen nur noch dumpf erklang. Ralitsa Wassilewa sackte zurück und atmete flach, während der Leiter der Suchmannschaft über sein Funkgerät hektisch Hilfe anforderte. Der Sprühverband um ihre Brust war
gerissen. Von Schmerzen gepeinigt, wurde ihr das Abstruse der Situation nur langsam klar. Sie schüttelte wie unter Trance den Kopf und lächelte schwach. Antonescu und Melnik. Zwei alte Bekannte. Sehr zuverlässig. Und sie hatte schon gehofft. Wie dumm. Wie furchtbar dumm. Dann wurde sie ohnmächtig. *** »Dhark ist an allem schuld!« Josuah Masak, Triebwerkstechniker an Bord der GALAXIS II, wischte sich den Schweiß von der Stirn und musterte grimmig seine Gesprächspartner. Es handelte sich um seine beiden Kollegen, Danuta Semenjew und Antonio Sarcinelli, die mit ihm in der kleinen Mannschaftsmesse neben dem Maschinenraum saßen und ein kühles Getränk zu sich nahmen. Masak war ein großgewachsener und breitschultriger Mann. Sein kantiges Gesicht wirkte auf den Betrachter unfertig und er vermittelte oft den Eindruck von Beschränktheit. Doch in seinem Fach gehörte er zu den Besten und daß seine großen, schaufelartigen Hände, die behaart waren wie die eines Affen, diffizile Operationen an hochempfindlichen technischen Geräten durchfuhren konnten, wollte ihm niemand zutrauen, der ihn nicht näher kannte. Danuta und Antonio kannten Josuah Masak gut und wußten um seine Qualitäten. Sie kannten aber auch seinen Hang zur Unbeherrschtheit und sein aufbrausendes, manchmal cholerisches Wesen, das sich insbesondere in Krisensituationen manchmal Bahn brach. In Situationen wie diesen... Knallend stellte Masak sein Glas auf den Tisch, so daß etwas Flüssigkeit auf die Platte schwappte. Sein gerötetes
Gesicht sah zum Fürchten aus. »Dharks ewige Gutgläubigkeit! Sein scheinheiliges Getue! Frieden und Freundschaft in der Galaxis! Die lieben Tels, unsere guten Freunde – wir kommen ihnen zur Hilfe, klären alle Mißverständnisse auf, schütteln uns die Hände und alle sind zu Tränen gerührt! Scheiß drauf! Wir sind tot!« Danuta legte besänftigend eine Hand auf den zitternden Arm des aufgebrachten Technikers. »Josh, beruhige dich bitte! Es hat überhaupt keinen Sinn, daß du dich so aufregst! Dhark hat das einfach nicht vorhersehen können!« »Pah!« Masak schüttelte die Hand der Frau unwillig ab und erhob seine Stimme, so daß ihn jeder in der Messe hören konnte. »Ich sage, Dhark hat furchtbar versagt! Er ist leichtgläubig und vertrauensselig geworden und er hat nichts dazugelernt. Commander der Planeten – daß ich nicht lache! Wir haben das verdammte Vario an Bord und wir werden alle verrecken!« »Josh!« versuchte Danuta noch einmal, den in Rage geratenen Kollegen zu beruhigen. Doch der ließ sich nicht ablenken. Alle Besatzungsmitglieder in der Messe hingen an seinen Lippen. In ihren Augen las er Zustimmung. »Mein Onkel war auf dem Schiff, das vor Jahren das Vario an Bord genommen hatte!« erklärte Masak und machte eine ausholende Handbewegung. Er hatte diese Geschichte schon ein Dutzend Mal zum besten gegeben und seine Freunde kannten sie auswendig. Das hatte ihn jedoch nicht daran gehindert, jetzt, wo die GALAXIS II in ähnlichen Schwierigkeiten steckte, sie immer und immer wieder zu erzählen. Mit jedem Mal schien jedoch seine Wut und Verbitterung zu steigen – und dieses Mal wiederum kam es Danuta und Antonio so vor, als sei der Siedepunkt erreicht.
Masak rang sichtlich um die letzten Reste seiner Beherrschung. »Sie sind von Planet zu Planet geflogen, nirgends durften sie landen, wollten sie nicht diesen Welten das sichere Ende bringen! Schließlich sah der Kommandant keine Möglichkeit mehr und aktivierte die Selbstzerstörung! Alle starben, weil die Tels ihnen ihre friedlichen Absichten nicht geglaubt haben – und hat Dhark, unser grandioser Kommandant, etwas daraus gelernt? Oh nein! Er, der Hochbewunderte, großartiger Freund aller außerirdischen Rassen, genialer Diplomat, landet auf Cromar, deaktiviert das Intervallfeld und holt uns das Vario an Bord! Ein Tölpel! Ein Narr!« Masak senkte die Stimme. »Nur gut, daß er genauso dabei draufgehen wird wie wir alle. Nur gut, daß es ihn auch erwischen wird...« Danuta schüttelte unwillig den Kopf. »Sei nicht unfair, Josh. Als wir auf Cromar landeten, mußte jeder davon ausgehen, daß die Tels uns wohlgesonnen waren! Schließlich waren wir ihnen bei dem Angriff der fremden Ringraumer zur Hilfe geeilt – niemand konnte absehen, was passieren würde, auch Dhark nicht.« Masak spie aus und warf seiner Kollegin einen verächtlichen Blick zu. »Du hast gut reden. Gehörst wohl auch noch zu diesen Dhark-Bewunderern. Jetzt siehst du ja, was Dir diese Bewunderung einbringt! Den sicheren Tod durch das Vario... wir werden alle durch die ständig steigenden Temperaturen umkommen. Es sei denn, die Schiffsführung entschließt sich, das Schiff zu sprengen, damit es niemand anderem eine Gefahr sein kann!« Masak lachte auf. »Eine letzte edle Tat des großen Ren Dhark! Ein Zeichen seiner Größe und Güte! Ein Beispiel für seine Dummheit!« Die Tür zur Messe öffnete sich. Der stellvertretende
Chefingenieur trat ein, begleitet von zwei Sicherheitsbeamten. Er schritt gradlinig auf Masak zu und nahm in fest in den Blick. Die beiden Sicherheitsmänner hatten die Hände lässig über die Schocker gelegt. »Masak«, zischte der Mann. »Ihre Tiraden hört man auf dem ganzen Deck. Wenn Sie nicht sofort Ihr Schandmaul halten, werde ich Sie wegen Insubordination in Arrest nehmen lassen! Ich kann es nicht zulassen, daß die Borddisziplin durch Ihr Gerede untergraben wird!« Masak gab den Blick unumwunden zurück. »Ich scheiße auf Ihre Borddisziplin, Chief! In einigen Stunden sind wir alle Leichen und dann sehen Sie ja, wohin uns die Borddisziplin gebracht hat!« Der Chief verzog sein Gesicht. »Masak, Sie sind immer noch ein Mitglied der TF und unterstehen ihrem Befehl. Ein letztes Mal: Entweder Sie mäßigen sich, oder ich verfrachte Sie in eine Arrestzelle!« Masak Antwort war kurz. Seine rechte Faust schnellte vor und bohrte sich in den Magen seines Vorgesetzten. Der stöhnte auf, sank zusammen und röchelte. Zu einem zweiten Schlag kam Masak nicht mehr. Ein Schockerstrahl fällte den wütenden Techniker und warf ihn zu Boden. Die Sicherheitsleute ergriffen den Gelähmten und zogen ihn aus dem Raum, während Danuta sich um den immer noch stoßweise atmenden Chief kümmerte. Dabei warf sie einen Blick in die Runde. Niemand in der Messe war aufgestanden, um dem Chief beizustehen. Alle hatten wort- und ausdruckslos zugesehen, wie Masak diesem eine verpaßt hatte. Niemand war aufgestanden oder zur Hilfe geeilt. Ruhig beobachteten die Besatzungsmitglieder, wie Masak aus der Messe getragen wurde, in Richtung der Arrestzellen. Danuta fröstelte, obgleich es beständig heißer wurde.
Sie wußte nicht mehr, wovor sie jetzt mehr Angst haben mußte – vor dem sicheren Untergang durch das Vario oder vor dem zunehmend unberechenbaren Verhalten einiger Mannschaftsmitglieder. *** »Das ist bereits der verdammte siebte Fall in den letzten beiden Stunden!« Dan Riker schlug energisch mit der Faust auf den Tisch, auf seiner Kinnspitze zeigte sich der bekannte rote Punkt – wie fast immer bei Erregung. Vor Riker saß Ren Dhark, den Kopf in den Händen geborgen. Er sah nicht auf und nichts machte kenntlich, wie er auf Dans Wutausbruch reagierte. Sein Freund erhob sich und wanderte rast- und ruhelos in der Zentrale der GALAXIS II herum. »Ren, das geht so nicht weiter! Wenn das anhält, haben wir in kurzer Zeit eine handfeste Meuterei an Bord. Noch hat die Sicherheit die Sache unter Kontrolle. Noch steht ein Großteil der Mannschaft hinter dir. Aber seitdem die Geschichte von diesem TF-Raumer die Runde macht, der damals das Vario an Bord genommen hat...« Riker ließ den Satz offen. Dhark hob seinen Kopf und sah Dan müde an. Ein dünner Schweißfilm stand auf seiner Stirn. »Dan, ich kann die Leute verstehen. Es war eine Fehlentscheidung, wenngleich eine durchaus verständliche. Ich werde mich jetzt nicht in Selbstvorwürfen zerfleischen... und was diese Geschichte mit dem Raumer angeht...« Dhark stand auf und strich die Bordkombination glatt. »Du weißt so gut wie ich, daß es gegen das Vario keine Verteidigung gibt.« »Die Zeitverschiebung!« warf Riker ein.
»Ja, die ZV – die steht uns aber nicht zur Verfügung. Die POINT OF ist verloren, dies ist die GALAXIS II. Ein gutes Schiff. Eines der besten, das die Flotte zu bieten hat. Aber eben nicht die POINT OF. Diesmal werden wir uns nicht mit einem Trick der Salter retten können.« Dharks Gedanken schweiften für einen Augenblick in die Vergangenheit, als sie das erste Mal das Vario an Bord hatten... und es ihnen durch den Einsatz der ZV gelungen war, diesem Übel zu entwischen. »Wir hätten damals dieses verrückte Robotgehirn der Tels vernichten sollen, als wir die Gelegenheit dazu hatten«, erklärte Riker verbittert. »Wäre der Kluis nicht mehr, dann hätten uns die Tels das Vario nicht mehr auf den Pelz hetzen können – und wir wären nicht dem sicheren Tode geweiht!« »Nein!« Diesmal hatte Dhark mit der Faust auf den Tisch geschlagen. Er ballte die Hände zu Fäusten, so daß die Knochen weiß unter der Haut hervortraten. »Ich bin nicht bereit, deinen Fatalismus zu teilen, Dan!« erklärte Ren Dhark bestimmt. »Ja, unsere Situation scheint hoffnungslos...« »Beschissen wäre geprahlt«, murrte Riker. »... aber verdammt, wir sind schon des öfteren auch aus schlimmen Klemmen wieder herausgekommen, als wir schon dachten, alles wäre verloren. Ich mag nicht daran glauben, daß wir jetzt nur noch auf den Hitzetod warten können! Es wird und muß eine Möglichkeit geben, das Unheil noch einmal abzuwenden!« Riker hatte seine Wanderung beendet und stellte sich neben seinen Freund. Er legte ihm eine Hand auf die Schulter. Die Kombination war schweißdurchtränkt, wie bei allen Frauen und Männern auf der GALAXIS II. »Ren«, sagte Riker eindringlich, »redest du dir da nicht
etwas ein? Ich weiß, du bist ein hoffnungsloser Optimist, und in der Vergangenheit, da gebe ich dir recht, hat sich dein Optimismus immer als richtig erwiesen. Aber diesmal... nein, Ren, bei aller Freundschaft und Loyalität, diesmal kann ich dir das nicht abnehmen. Du machst dir selbst etwas vor. Es wird darauf hinauslaufen, daß wir dieses Schiff und uns darin sprengen werden, um zu verhindern, daß das Vario jemals andere gefährdet.« Dhark sah Riker hart an. Er schob seine Hand von der Schulter und schüttelte bestimmt den Kopf. »Nein, Dan. Das nehme ich dir nicht ab. Niemandem. Es gibt einen Ausweg. Ich weiß es. Es muß einfach einen geben!« Riker wandte sich ab. Er musterte die Gesichter der anderen Mitglieder der Zentralemannschaft. In ihren erschöpften Zügen las er die gleiche Hoffnungslosigkeit und Resignation, die auch er selber empfand. Dann blickte er wieder auf seinen alten Freund. In gewisser Hinsicht hatte Ren Dhark ja durchaus recht. In der Vergangenheit war immer irgend jemandem irgend etwas eingefallen – Arc Doorn hatte sie mit einer genialen technischen Idee aus dem Schlamassel gerettet, Jos Aachten van Haag hatte ein Husarenstück vollbracht und die Situation geklärt, Janos Szardak und Ralf Larsen mit ihrer langjährigen Erfahrung die richtige Lösung erkannt und schnell gehandelt – und nicht zuletzt hatte Ren Dhark selbst mit seiner Intuition und seiner Auffassungsgabe in vielen aussichtslos erscheinenden Lagen den rettenden Einfall gehabt und das richtige getan. Doch jetzt, trotz der zur Schau gestellten grimmigen Entschlossenheit, die aus den Äußerungen des Commanders klang, fühlte Riker in sich nichts anderes als Hoffnungslosigkeit und Niedergeschlagenheit. Noch einmal hob er den Kopf und blickte sich in der Zentrale der GALAXIS
II um. Dharks Worte hatten hier niemanden mitgerissen. Riker seufzte. Das würde jetzt sowieso keinen Unterschied mehr machen... - Ende -
Die Aussichten der GALAXIS II bleiben düster und deprimierend. Die Umstände auf der Erde sind verfahren und verwickelt. Gibt es einen Ausweg? Welchen Weg wird die Menschheit ohne Ren Dhark nehmen? Fragen, die bedeutungslos erscheinen, als das
STERBEN AUF TERRA beginnt...