WAS IST PHILOSOPHIE? ___________________________________ ¿Que es filósofia? 1958
JOSÉ ORTEGA Y GASSET GESAMMELTE WERKE ...
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WAS IST PHILOSOPHIE? ___________________________________ ¿Que es filósofia? 1958
JOSÉ ORTEGA Y GASSET GESAMMELTE WERKE BAND V
ÜBERSETZT VON KARL AUGUST HORST aus den spanischen Originalausgaben ¿QUE ES FILOSOFIA? ESCRITOS POLITICOS Copyright 1958 und 1969 by Revista de Occidente, Madrid
MCMLXXVIII _________________________________ DEUTSCHE VERLAGS-ANSTALT STUTTGART
INHALTSVERZEICHNIS Vorbemerkung der Herausgeber.......................................................313 Kapitel I: Die Philosophie, heute • Das seltsame Abenteuer, das den Wahrheiten widerfährt • Der Aufgang der Wahrheit • Artikulation der Geschichte und der Philosophie....... ................................................315 Kapitel II: Reduktion und Expansion der Philosophie • Das Drama der Generationen • Imperialismus der Physik • Pragmatismus.............. 327 Kapitel III: Die Aufgabe unserer Zeit • Die „Wissenschaft“ ist reiner Symbolismus • Warum gibt es Philosophie? • Die Exaktheit der Wissenschaft und die philosophische Erkenntnis .................................. 342 Kapitel IV: Erkenntnis von Universum oder Multiversum • Der Primat des Problems vor seinen Lösungen • Technische Probleme und praktische Probleme • Panlogismus und vitale Vernunft.......................... 361 Kapitel V: Die Notwendigkeit der Philosophie • Gegenwart und Mitgegenwart • Das fundamentale Sein • Autonomie und Pantonomie • Verteidigung des Theologen gegenüber dem Mystiker................... 379 'Kapitel VI: Glauben und Theorie • Jovialität • Die intuitive Evidenz • Die Daten des philosophischen Problems.........................................398 Kapitel VII: Die Daten des Universums • Der cartesische Zweifel • Der theoretische Primat des Bewußtseins • Das Ich als Falke......... 417
I
Kapitel VIII: Die Entdeckung der Subjektivität • „Ekstasis“ und Spiritualismus • Die Antike • Die zwei Wurzeln der modernen Subjektivität • Der transzendente Gott des Christentums ................................ 435 Kapitel IX: Die Aufgabe unserer Zeit • Eine radikale Reform der Philosophie • Das grundlegende Datum des Universums • Ich bin für die Welt und die Welt ist für mich • Das Leben jedes einzelnen........... 451 Kapitel X:Eine neue Wirklichkeit und eine neue Wirklichkeitsidee • Das bedürftige Sein • Leben ist Sich-in-der-Welt-Finden • Leben ist ständig entscheiden, was wir sein werden.........................................475 Kapitel XI: Die radikale Wirklichkeit ist unser Leben • Die Kategorien des Lebens • Das theoretische Leben • Fatalität und Freiheit.......... 492
II
WAS IST PHILOSOPHIE? _______________________ ¿Que es filósofia? 1958
VORBEMERKUNG DER HERAUSGEBER
,,Im Februar 1930 begann ich an der Universität Madrid eine Vorlesungsreihe über die Frage: Was ist Philosophie? Da es aber aus politischen Gründen zur Schließung der Universität und somit zu meiner Entlassung kam, war ich genötigt, mein Kolleg in dem profanen Raum eines Theaters fortzusetzen. In der Annahme, daß sich vielleicht einige argentinische Leser für die behandelten Themen interessieren, will ich die ersten Vorlesungen jener Reihe versuchsweise in La Nación abdrucken lassen. Ich greife verschiedene Gegenstände, über die ich bereits in meinen Vorträgen bei den ,Amigos del Arte‘ und an der Philosophischen Fakultät in Buenos Aires gesprochen habe, in diesen Vorlesungen wieder auf.“ Mit dieser Vorbemerkung erschienen in der genannten Zeitung – im August, September und November 1930 – unter dem Gesamttitel „Weshalb wird wieder Philosophie getrieben?“ – sowie späterhin in Band IV der Ausgabe der „Obras completas“, Madrid 1947 – einige Ausschnitte aus den Vorlesungen zwei und drei der Vorlesungsreihe, die hier vollständig abgedruckt sind. Ebenso erschien in Band V der „Obras completas“ ein anderes Bruchstück unter dem Titel: „Verteidigung des Theologen gegenüber dem Mystiker“, das aus Vorlesung fünf stammt. Die Vorlesungen zwei bis sechs fanden in der Sala Rex, die übrigen von der siebenten an wurden wegen des zunehmenden Publikumsandrangs in das Theater Infanta Beatriz verlegt. Die Vorträge in Buenos Aires, die der Verfasser erwähnt, waren zwei kleine Kollegkurse, von fünf und vier Vorlesungen, die bei den erwähnten Institutionen unter dem Thema: „Was ist unser Leben?“ ,,Was ist die Wissenschaft, was ist die Philosophie?“ gehalten wurden, anläßlich eines zweiten Aufenthaltes in Argentinien im Jahr 1928. 313
WAS IST PHILOSOPHIE?
Die Ausgabe der Madrider Vorlesungsreihe „Was ist Philosophie?“ erfolgt in Übereinstimmung mit den Originalmanuskripten des Autors, die zu diesem Zweck von ihm eigenhändig abgefaßt sind. Ein paar kurze Absätze, die in Stichworten gehalten sind, konnten an Hand der sehr ausführlichen Auszüge, die am Tag nach der öffentlichen Vorlesung in der Zeitung „El Sol“ erschienen, nachträglich ergänzt werden. Diese Absätze stehen in Klammern, so wie alles, was später eingefügt wurde. In dieser Vorlesungsreihe wurde in Spanien zum erstenmal außerhalb der Universität über ein rein philosophisches Thema gesprochen, und das vor einer Zuhörerschaft, die denkbar verschiedenartig war, die sich nicht nur aus Fachleuten und Philosophiestudenten zusammensetzte, sondern auch – und zwar in der Mehrzahl – aus ungebildeten Leuten, bei denen man Interesse für solche Fragen nicht vermutet hätte. Es war ein ungewöhnliches, ein unerwartetes Ereignis. Nach Abschluß der Vorlesungen konnte von ihnen gesagt werden: „Überraschend war die gesellschaftliche Reaktion. Niemand war auf eine zahlreiche und anhaltende Teilnahme an einem Philosophiekursus gefaßt . . . Bei der Zeitung, die ausführlich über die Vorlesungen berichtet hat, laufen Gesuche um Zusendungen von Exemplaren von einfachen Leuten aus entlegenen Ortschaften ein.“ Es war „die nahezu magische Offenbarung einer spanischen Wirklichkeit, die so ganz anders war als jene, die unserem Pessimismus und unserem trägen Dahindämmern Nahrung gab“. Es macht den Eindruck, als habe Ortega ein Experiment anstellen wollen, das in seinen Voraussetzungen geradezu darauf angelegt war, es zum Scheitern zu bringen: die Einschreibung kostete dreißig Peseten und war für Studenten auf fünfzehn ermäßigt (man darf nicht vergessen, daß Ortega seinen Posten an der Universität aufgegeben hatte) – dazu ein abstraktes Thema, sehr lange, außerordentlich konzentrierte und schwierige Vorträge. Trotzdem mußte die vorgesehene Teilnehmerzahl erweitert werden, mußte – wie bereits erwähnt – ein größeres Versammlungslokal ausfindig gemacht werden, weil bis zur Schlußvorlesung die Besucherzahl immer noch anstieg. Abgesehen von der Tatsache, daß es sich hier um ein Ereignis in der geistigen Geschichte Spaniens handelt, verkörpert diese Vorlesungsreihe einen philosophischen Beitrag erster Ordnung, der über den Standort Ortegas in der vordersten Linie der Philosophie unserer Zeit Aufschluß gibt.
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I Die Philosophie, heute • Das seltsame Abenteuer, das den Wahrheiten widerfährt • Der Aufgang der Wahrheit • Artikulation der Geschichte und der Philosophie In Sachen der Kunst, der Liebe und der Ideen halte ich Ankündigungen und Programme für wenig fruchtbar. Was die Ideen angeht, so ist der Grund dieser Art von Ungläubigkeit folgender: das Nachdenken über irgendein Thema, sofern es nachhaltig und authentisch ist, entrückt den Nachdenkenden unausbleiblich der hingenommenen und geläufigen Meinung, der wir aus Gründen, die schwerer wiegen, als Sie im Augenblick annehmen mögen, die Bezeichnung „öffentliche Meinung“ oder „Alltäglichkeit“ geben können. Jede geistige Anstrengung, die wir ausgesprochen so nennen dürfen, entrückt uns als Einzelgänger der allen gemeinsamen Küste und führt uns auf verborgenen Wegen, die eben unser Bemühen aufspürt, zu entlegenen Orten, bringt uns auf ungewohnte Gedanken. Und zwar sind ebendiese das Ergebnis unseres Nachdenkens. Nun denn: die Ankündigung oder das Programm beschränken sich darauf, diese Ergebnisse vorwegzunehmen, nachdem man sie vorsorglich um den Weg, an dessen Ende sie entdeckt wurden, beschnitten hat. Doch ist, wie wir gleich sehen werden, ein Gedanke, abgetrennt von dem geistigen Weg, der zu ihm hinführt, eine Abstraktion im schlechtesten Sinne des Wortes und bleibt eben darum unverstanden. Was hat man davon, wenn man eine Untersuchung auf die Weise beginnt, daß man die Zuhörer mit dieser unzugänglichen Steilküste, wie sie ein Programm darstellen würde, konfrontiert, das heißt, indem man mit dem Ende anfängt? Ich verzichte somit darauf, in den Schlagzeilen eines Programms zu formulieren, was dieser Zyklus von Vorlesungen sein soll; vielmehr bin ich gewillt, mit dem Anfang anzufangen, mit dem, was heute für Sie der ursprüngliche Ansatz sein mag, so wie es ehedem für mich der Ansatz gewesen ist. Dieser tatsächliche Ansatz, auf den wir zuerst stoßen, ist äußerer und öffentlicher Art: er betrifft die bestimmte Situation, in der sich heute die Philosophie innerhalb des Gesamtbereichs geistiger Tätigkeiten befindet, verglichen mit der Situation vor dreißig Jahren, und betrifft 315
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im gleichen Sinne die unterschiedliche Haltung, die heute angesichts seines eigentlichen Auftrags und seiner Arbeit der Philosoph einnimmt. Was den ersten Punkt angeht, so läßt sich darüber wie über jeden äußeren und öffentlichen Tatbestand ein Nachweis führen, und zwar unter Zuhilfenahme gleichfalls äußerer Mittel, indem wir zum Beispiel einen statistischen Vergleich zwischen der Anzahl philosophischer Bücher, die heute das Publikum zu sich nimmt, und der Anzahl, die es vor dreißig Jahren konsumierte, anstellen. Bekanntlich werden heute in nahezu allen Ländern mehr Bücher philosophischen als schöngeistigen Inhalts verkauft; auch ist allenthalben eine zunehmende ideologische Wißbegier zu verzeichnen. Diese Wißbegier, dieser Drang, der in den verschiedensten Abstufungen geistiger Bewußtheit empfunden wird, setzt sich aus zwei Bestandteilen zusammen: das Publikum bekommt wieder ein Gefühl für die Notwendigkeit von Ideen und hat gleichzeitig bei ihnen ein Lustempfinden. Das Zusammentreffen dieser beiden Merkmale ist alles andere als zufällig: wir werden noch sehen, daß beim Lebewesen jede Grundnotwendigkeit, die dem eigentlichen Sein entspringt und nicht zufällig von außen hinzutritt, von einem Lustgefühl begleitet ist. Die Lust ist das Gesicht, die „facies“ des Glückszustandes. Und jedes Wesen ist glücklich, wenn es seine Bestimmung erfüllt, das heißt, wenn es dem Hang seiner Neigung, seiner Grundnotwendigkeit folgt, wenn es sich verwirklicht, wenn es zu dem wird, was es in Wahrheit ist. Aus diesem Grund sagte Schlegel, in Umkehrung des Verhältnisses zwischen Lust und Bestimmung: „Genie hat einer in dem, woran er Lust hat.“ Genie, das heißt die höchste Betätigungsgabe, die einem Menschen beschieden ist, hat immer zugleich das Antlitz höchsten Wohlgefallens. Demnächst werden wir mit überwältigender Evidenz gewissermaßen genötigt sein, eine Entdeckung zu machen, die, wenn ich sie jetzt ausspreche, nach einer Phrase klingt: nämlich daß das Schicksal jedes einzelnen gleicherweise seine höchste Wonne ist. Unsere Zeit hat demnach relativ zu der Zeit, die ihr vorausgeht, eine philosophische Bestimmung, und deshalb findet sie Lust am Philosophieren – was schon die einfache Tatsache verrät, daß sie die Ohren spitzt, wenn die öffentliche Atmosphäre philosophische Worte durchschwirren, daß sie dem Philosophen wie einem heimgekehrten Reisenden zuläuft, von dem sie annimmt, er bringe ihr frische Nachrichten aus der anderen Welt.
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DIE METHODE DER EINKREISUNG
Eine derartige Situation kontrastiert aufs schärfste mit der vor dreißig Jahren herrschenden. Dreißig Jahre! Sonderbares Zusammentreffen! Es ist dies der Zeitraum, den man gewöhnlich einer Generation zumißt. Und überraschend gleichläufig mit diesem öffentlichen Gesinnungswandel stellen wir fest, daß sich heute der Philosoph angesichts der Philosophie in einer geistigen Verfassung befindet, die sich zu der seiner Kollegen der vorausgehenden Generation entgegengesetzt verhält. Hiervon soll heute gesprochen werden, von der so ganz anderen geistigen Stimmung, in der wir heute an die Philosophie herangehen, als sie bei den Denkern von gestern vorherrschend war. Indem wir von hier ausgehen, werden wir uns dem eigentlichen Thema dieser Vorlesungsreihe immer mehr annähern, das heute schon zu benennen keinen Sinn hätte, da es unverstanden bleiben würde. In konzentrischen Kreisen, mit immer kürzerem und zielstrebigerem Radius, wollen wir in seine Nähe kommen, indem wir uns spiralenförmig von einem reinen Außenzustand, der abstrakt, gleichgültig und kalt anmutet, ausgehend einem Zentrum von erschreckender Innerlichkeit zubewegen, einem Zentrum, das pathetisch an sich ist, wenngleich die Art, wie wir von ihm handeln wollen, nicht pathetisch sein soll. Die großen philosophischen Probleme erfordern eine ähnliche Taktik, wie sie die Juden befolgten, um Jericho und seinen Innenkern einzunehmen; nicht in direktem Angriff, sondern durch allmähliche Einkreisung, mit jedesmal enger angezogener Krümmung und dem fortgesetzten Schall dramatischer Posaunenstöße in den Lüften. Bei der Ideenbelagerung kommt es, was die dramatische Melodie angeht, darauf an, die Probleme, die das Ideendrama ausmachen, im Bewußtsein ständig wachzuhalten. Ich hoffe, daß es an dieser Spannung nicht fehlen möge, zumal der Weg, den wir einschlagen, so beschaffen ist, daß er, je weiter wir fortschreiten, an zugkräftigen Reizen gewinnt. Von dem Äußerlichen und Abstrusen, das wir heute berühren müssen, werden wir zu unmittelbareren Themen niedersteigen, Themen, wie sie unmittelbarer nicht sein könnten, da sie unser eigentliches Leben, das Leben jedes einzelnen, zum Inhalt haben. Wir werden noch weiter gehen, werden so kühn sein, auch noch unter das hinabzugehen, was jeder gemeinhin für sein Leben hält und was nur dessen äußere Kruste ist; wir werden diese Kruste durchstoßen und in die unterirdischen Zonen unseres eigentlichen Seins eindringen, die uns darum verborgen
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bleiben, weil sie so ganz unser Eigen, weil sie im reinsten Sinne wir selber sind. Jedoch, was ich hier sage, indem ich mich dieser unbestimmten Anfangsgebärde Ihnen zuwende, ist, noch einmal sei es betont, keine Ankündigung; es ist ganz im Gegenteil ein Vorbehalt und eine Vorkehrung, die zu treffen ich mich genötigt sehe angesichts der unverhofften Fülle an Zuhörern, die unsere freigebige und unruhige Stadt, die viel unruhiger und in einem viel grundlegenderen Sinne als man vermutet unruhig ist, hierher zu entsenden beliebt hat. Unter dem Titel „Was ist Philosophie?“ habe ich einen akademischen Kursus angekündigt, was soviel heißt wie einen streng wissenschaftlichen Kursus. Ich bin mir nicht sicher, ob nicht ein unumgängliches Versehen, das hinter den Titelworten hervorschielt, viele von Ihnen zu dem Glauben verführt hat, es handle sich um eine elementare Einführung in die Philosophie, die ich zu geben beabsichtigte, das heißt, als sollte hier der Gesamtkomplex der traditionellen philosophischen Fragen für Anfänger und im Vorbeigehen abgehandelt werden. Ich muß diese irrige Auffassung von vornherein zerstreuen, da sie Ihre Aufmerksamkeit auf eine falsche Spur lenken und somit enttäuschen würde. Was ich geben möchte, ist das genaue Gegenteil einer Einführung in die Philosophie; es geht vielmehr darum, die philosophische Tätigkeit als solche, das Philosophieren selber zu erfassen und es auf radikale Art einer Analyse zu unterziehen. Soviel ich weiß, ist das noch nie geschehen, obwohl man das nicht glauben möchte; zumindest ist es noch nie mit der Entschlossenheit geschehen, die wir heute gemeinsam an dieses Bemühen setzen wollen. Wie Sie sehen, geht es keineswegs um ein Thema, das, wie man zu sagen pflegt, in den Kreis der allgemeinen Interessen fällt; es handelt sich vielmehr um einen aufs erste ungemein technisch und zunftmäßig wirkenden Gegenstand, der ausschließlich den Philosophen anzugehen scheint. Wenn sich bei näherer Beschäftigung mit ihm ergeben wird, daß wir mit zusagenderen und menschlicheren Themen zu tun bekommen, wenn wir im Laufe des strengen Gangs unserer Untersuchung, was die Philosophie denn eigentlich ist, das heißt, worin die besondere und eigentümliche Beschäftigung des Philosophen besteht, plötzlich durch eine Versenkung in den Bereich des Allermenschlichsten fallen, mitten hinein in den warmen und pulsenden Schoß des Lebens, und wenn uns hier auf köstliche Art Probleme des alltäglichen Lebens und gar des Schlafgemachs überfallen,
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WAHRHEIT IST WANDELBAR
so wird das ganz seine Richtigkeit haben, weil es die technische Entwicklung meines technischen Problems durchaus so verlangt, ohne daß ich dergleichen vornähme. Das einzige, was ich ankündige, ist genau das Gegenteil: eine monographische Studie über ein hypertechnisches Problem. Es steht mir also frei und bleibt mir völlig überlassen, auf keine der dornenvollen Strecken geistiger Bemühung zu verzichten, die ein derartiges Vorhaben mit sich bringt. Dabei versteht es sich, daß ich mich der größten Mühe befleißigen werde, damit Ihnen auch ohne vorherige Einübung klar wird, was ich sage. Ich war immer der Auffassung, daß Klarheit die Höflichkeit des Philosophen ist, und außerdem setzt diese unsere Disziplin heute ihre Ehre darein, sich allen Geistern gegenüber offen und durchlässig zu halten, im Unterschied zu den Einzelwissenschaften, die von Tag zu Tag mit größerer Strenge zwischen den Schatz ihrer Entdeckungen und die Wißbegier des Laien den schreckeinflößenden Drachen ihrer hermetischen Terminologie treten lassen. Ich bin der Ansicht, daß der Philosoph, was ihn selber betrifft, die methodische Strenge bis aufs äußerste treiben muß, solange er seine Wahrheiten erforscht und zur Rede stellt, daß er hingegen, wenn er sie von sich gibt und in Worte faßt, der üblen Gewohnheit den Rücken kehren muß, in der sich manche Wissenschaftler gefallen, indem sie wie ein Kraftmensch auf dem Jahrmarkt vor dem staunenden Publikum den Bizeps ihres Technizismus zur Schau stellen. Ich behaupte also, daß für uns heute die Philosophie etwas völlig Verschiedenes ist, verglichen mit dem, was sie für die vorangehende Generation war. Mit dieser Erklärung räumt man jedoch ein, daß die Wahrheit wandelbar ist, daß die Wahrheit von gestern heute Irrtum ist und daß ebenso aller Wahrscheinlichkeit nach die heutige Wahrheit morgen untauglich sein wird. Heißt das nicht im voraus das Ansehen unserer eigenen Wahrheit schmälern? Das gewiß grobschlächtigste und volkstümlichste Argument des Skeptizismus ist jener Tropos des Agrippa, benannt τὸν α̉πὸ τη̃ς διαφωνίας τω̃ν δοξω̃ν – von der Unstimmigkeit der Meinungen. Die Mannigfaltigkeit und Wandelbarkeit der Meinungen im Hinblick auf die Wahrheit, die Anhängerschaft, die verschiedene und sogar dem Anschein nach widersprechende Lehren gefunden haben, gibt Anlaß zu Ungläubigkeit. Deshalb müssen wir gleich hier diesem landläufigen Skeptizismus entgegentreten. Mehr als einmal wird Sie das seltsame Abenteuer, das den Wahrheiten
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widerfährt, betroffen haben. Nehmen wir als Beispiel das Gesetz von der alles bestimmenden Schwerkraft. Soweit dieses Gesetz Wahrheit ist, besteht kein Zweifel daran, daß es von jeher Wahrheit gewesen ist, das heißt, seit dem Augenblick, da es wägbare Materie, Körper gibt, die sich seiner Formel entsprechend verhalten. Gleichwohl hieß es sich gedulden, bis eines schönen Tages im achtzehnten Jahrhundert ein Mann auf einer der britischen Inseln dieses Gesetz entdeckte. Und umgekehrt ist es keineswegs ausgeschlossen, daß eines künftigen schönen Tages dieses Gesetz bei den Menschen in Vergessenheit gerät, nicht daß sie es widerlegten oder korrigierten, da wir ihm ja vollgültigen Wahrheitscharakter zugesprochen haben, sondern indem sie es schlechtweg vergessen und hinsichtlich seiner in denselben Zustand der Ahnungslosigkeit zurückfallen, in dem sie sich bis auf Newton befunden haben. Dies versetzt die Wahrheiten in einen doppelsinnigen Zustand, der ungemein merkwürdig ist. An sich genommen haben sie von Ewigkeit her ein vorgängiges Dasein, das keiner Veränderung und Abwandlung unterliegt. Und doch begabt sie die Tatsache, daß sie von einem realen Subjekt, das der Zeit unterworfen ist, erworben werden, mit einem geschichtlichen Antlitz; sie tauchen in einem bestimmten Zeitpunkt auf und verflüchtigen sich zuweilen in einem anderen. Natürlich greift diese Zärtlichkeit sie nicht in ihrem Eigenwesen an, sondern allein ihre Anwesenheit im menschlichen Bewußtsein. Das wirkliche Geschehen in der Zeit ist der psychologische Akt, durch den wir sie denken, und zwar ist dies ein realer Vorfall, eine tatsächliche Veränderung in der Abfolge der Augenblicke. Unser Wissen oder Nichtwissen von ihnen ist das, was strenggenommen eine Geschichte hat. Gerade dies aber ist als Tatsache geheimnisvoll und beunruhigend, da es geschehen kann, daß wir mit einem unserer Gedanken, der nur transitorische, flüchtige Wirklichkeit innerhalb einer im höchsten Grade flüchtigen Welt besitzt, etwas andauernd Beständiges und Überzeitliches zu fassen bekommen. Das Denken ist mithin ein Punkt, an dem zwei Sphären von widerstreitender Konsistenz einander berühren. Unsere Gedanken werden geboren und sterben, gehen dahin, kehren wieder, sinken unter. Dagegen bleibt das, was sie enthalten, das Gedachte, unveränderlich. Zweimal zwei ergeben weiterhin vier, auch nachdem der geistige Akt, der es uns verstehen läßt, aufgehört hat zu sein. Aber auch noch mit dieser Behauptung – indem wir sagen, daß die Wahrheiten Wahrheiten für immer sind – drücken wir
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WAHRHEITEN OHNE VERHÄLTNIS ZUR ZEIT
uns nicht ganz richtig aus. Das Immer-Sein, das Immer-währende bezeichnet die Andauer von etwas innerhalb eines Zeitablaufs, bezeichnet unbeschränkte Dauer, die jedoch nicht weniger Dauer ist als die vergängliche, insofern Dauer soviel heißt wie Eingetauchtsein in den Zeitstrom, dessen Einwirkung mehr oder weniger ausgesetzt. Nun sind aber die Wahrheiten weder von langer noch von kurzer Dauer, haben kein zeitliches Attribut an sich, baden nicht an der Küste der Zeit. Leibniz nannte sie „vérités éternelles“, was meiner Auffassung nach ebenfalls unzutreffend ist. In einer künftigen Vorlesung werden wir sehen, aus welchen radikalen Ursachen. Wenn das Immerwährende so lange währt wie die Zeit in ihrer Gesamtheit, so ist das Ewige vorzeitig und nachzeitig, schließt jedoch de facto die gesamte Zeit in sich ein, ist eine hyperbolische Dauer, eine Überdauer. Und zwar derart, daß es die Dauer in sich befaßt und zugleich aufhebt; ein ewiges Wesen lebt während einer unbegrenzten Zeit, das heißt, es dauert in einem einzigen Augenblick, das heißt, es dauert nicht, ist mithin „auf simultane und vollkommene Art im integralen Besitz eines Lebens ohne Ende“. So lautet in der Tat die biegsame Definition, die Boetius von der Ewigkeit gibt: „interminabilis vitae tota simul et perfecta possessio“. Die Wahrheiten stehen jedoch zur Zeit nicht in einem positiven, sondern in einem negativen Verhältnis; es besteht lediglich darin, daß sie mit der Zeit auf keine Weise etwas zu tun haben, daß sie jeder zeitlichen Qualifikation von Grund aus fernstehen und sich in strengem Sinne achronisch verhalten. Sagt man also, die Wahrheiten seien Wahrheiten für immer, so ist das nicht weniger ungehörig – um ein anderes berühmtes Beispiel von Leibniz, das er bei anderer Gelegenheit anführt, zu verwenden –, als wenn wir sagen wollten: „grüne Gerechtigkeit“. Der ideale Körper der Gerechtigkeit bietet nirgends einen Anhaltspunkt oder eine Öffnung dar, an denen sich das Attribut „Grünheit“ aufhängen ließe. Wie oft wir auch versuchen, es in seinem Körper unterzubringen, so oft werden wir es von der Gerechtigkeit abprallen sehen wie von einer glattpolierten Oberfläche. Unser Wille, beide Begriffe zu vereinigen, erleidet Schiffbruch, und wenn wir sie gemeinsam aussprechen, bleiben sie hartnäckig voneinander getrennt, ohne die Möglichkeit, aneinander zu haften oder sich zu vermählen. Nichts kann folglich heterogener sein als der nichtzeitliche Modus, der für die Wahrheiten konstitutiv ist, und der zeitliche Modus des Menschenwesens, das sie entdeckt und denkt, erkennt oder nicht von
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WAS IST PHILOSOPHIE?
ihnen weiß, sie wiederholt oder vergißt. Wenn wir uns gleichwohl dieser Redewendung bedienen – „die Wahrheiten sind Wahrheiten für immer“ –, so darum, weil es nichts schadet, weil es praktisch zu keinen irrigen Schlußfolgerungen führt. Es handelt sich dabei um einen harmlosen und bequemen Irrtum. Er erlaubt uns, die Wahrheiten in jenem sonderbaren Zeitmodus anzuschauen, den sie in der zeitlichen Perspektive ihr eigen nennen und in dem wir die Dinge unserer Welt nicht anzuschauen gewohnt sind. Letzten Endes bedeutet, wenn wir von etwas sagen, daß es immer ist, was es ist, soviel wie behaupten, daß es von den Veränderungen der Zeit unabhängig, daß es unversehrbar ist. Somit ist es innerhalb des Zeitlichen der Charakter, der der reinen Nichtzeitlichkeit am meisten ähnlich sieht – er ist eine Quasiform der Nichtzeitlichkeit, die „species quaedam aeternitatis“. Deshalb erfindet Platon, der sich genötigt sieht, die Wahrheiten – die er Ideen nannte – jenseits der zeitlichen Welt unterzubringen, einen anderen außerweltlichen Quasiort, den ύπερουρανιος τόπος – die überhimmlische Region; obwohl damit schwerwiegende Konsequenzen verbunden sind, geben wir zu, daß dieser angesetzte Ort als Bild fruchtbar ist. Erlaubt er uns doch die Vorstellung, daß unser zeitlicher Erdkreis von der Hülle eines anderen Mediums von ontologisch unterschiedlicher Atmosphäre umfangen ist, und daß hier in unberührter Gleichgültigkeit die achronischen Wahrheiten ihren Sitz haben. Nun geschieht es aber, daß in einem bestimmten Augenblick eine dieser Wahrheiten, das Gesetz von der Schwerkraft, aus dieser jenseitigen Welt in unsere einsickert, als machte sie sich eine Pore, die sich erweitert und sie durchläßt, zunutze. Der ideale Meteorit schlägt in die menschliche und geschichtliche Binnenwelt ein – und dieses Bild eines Eintritts, eines Niederfahrens, liegt allen deistischen Religionen als Lebensnerv zugrunde. Jedoch dieser Sturz und dieses Einsickern der überweltlichen Wahrheit in unsere Welt stellt uns vor ein sehr genaues und zwingendes Problem, dem wir in aller Bescheidenheit nachgehen müssen. Die aufgehende Pore, die sich die Wahrheit zunutze macht, um durchzuschlüpfen, ist nichts anderes als der Verstand eines Menschen. Nun erhebt sich die Frage, warum eine bestimmte Wahrheit in diesem bestimmten Zeitpunkt von diesem bestimmten Menschen gewärtigt und aufgefaßt wird, wenn sie wie ihre Schwestern von jeher ohne Rücksicht auf die Zeit da ist. Warum wurde sie nicht früher und nicht später
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AFFINITÄT ZWISCHEN DENKER UND GEDACHTEM
gedacht? Warum war nicht ein anderer ihr Entdecker? Offenbar besteht eine wesensmäßige Affinität zwischen der Figur dieser bestimmten Wahrheit und der Form der Pore, des menschlichen Subjekts, die ihr Einlaß gewähren. Nichts geschieht ohne Grund. Wenn es sich so verhält, daß bis auf Newton das Gesetz der Schwerkraft unentdeckt geblieben ist, dann muß zwischen dem menschlichen Individuum Newton und jenem Gesetz offenbar irgendeine Affinität bestanden haben. Welcher Art ist diese Affinität? Ist es eine bloße Ähnlichkeit? Man darf sich das Problem nicht leicht machen, sondern muß im Gegenteil seine rätselhafte Gewalt nachdrücklich unterstreichen. Wieso kann ein Mensch in irgend etwas einer Wahrheit, beispielsweise einer geometrischen Wahrheit, ähnlich sehen? Und dasselbe ließe sich von jeder anderen Wahrheit sagen. Inwiefern sieht das Theorem von Pythagoras dem Menschen Pythagoras ähnlich? Der Schüler wird im Spaß sagen, daß es zu ihm paßt wie seine Hosen – da er die unbewußte Neigung verspürt, das Theorem und die Person seines Urhebers aufeinander zu beziehen. Das Dumme ist nur, daß Pythagoras keine Hosen trug und daß sie zu jener Zeit nur bei den Skythen gebräuchlich waren, die ihrerseits wiederum keine Theoreme entdeckten. Hier stoßen wir zum erstenmal auf eine radikale Unterscheidung, durch die unsere Philosophie sich von der seit Jahrhunderten herrschenden abhebt. Und zwar besteht diese Unterscheidung darin, daß man sich auf etwas sehr Elementares besinnt, nämlich auf die Tatsache, daß es zwischen dem Subjekt, das etwas sieht, vorstellt oder denkt, und dem Gesehenen und von ihm Vorgestellten keine unmittelbare Ähnlichkeit gibt; im Gegenteil: zwischen beiden besteht ein genushafter Unterschied. Wenn ich an den Himalaya denke, hat mein denkendes Ich, hat der Akt meines Denkens keinerlei Ähnlichkeit mit dem Himalaya; dieser ist ein Gebirge, das einen gewaltigen Raum einnimmt; mein Denken hingegen hat weder etwas von einem Gebirge noch beansprucht es den geringsten Raum. Dasselbe aber ist der Fall, wenn ich, statt an den Himalaya zu denken, an die Zahl Achtzehn denke. In meinem Ich, in meinem Bewußtsein, in meinem Geist, in meiner Subjektivität oder welche Bezeichnung Sie wählen mögen, werde ich auf nichts stoßen, das eine Achtzehn ist. Um allem die Krone aufzusetzen, können wir sagen, daß der Akt meines Denkens von achtzehn Einheiten als Akt nur ein einziger und einzigartiger ist. Wagen Sie jetzt noch die Behauptung, die beiden sähen einander
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gleich. Es handelt sich folglich um herterogene Seinsbeschaffenheiten. Und doch kann es für die Geschichte, wenn diese eines Tages ernstlich in den Rang einer Wissenschaft aufsteigt, kein anderes Hauptthema geben als zu zeigen, wieso eine bestimmte Philosophie oder ein bestimmtes politisches System nur von dem bestimmten Menschentypus, der in dieser bestimmten Zeit da war, entdeckt, entwickelt und – alles in allem – gelebt werden konnte. Warum ist es unter den vielen möglichen Philosophien ausgerechnet der „Kritizismus“ gewesen, der sich in der Seele Kants eingenistet und seine Wirksamkeit entfaltet hat? Geht hieraus nicht deutlich hervor, daß wir, zur Erklärung und zum Verständnis dieses Zusammentreffens, eine Tabelle mit zwei korrespondierenden Spalten aufstellen müßten, auf der jedem Typus einer objektiven Idee der wahlverwandte subjektive Zustand, der Menschentypus, der sie zu denken fähig ist, gegenübergestellt werden müßte? Hüten wir uns aber vor dem Rückfall in die triviale Anschauung, die während der letzten achtzig Jahre den Fortschritt des Denkens blokkiert hat – indem wir das soeben Gesagte dahin interpretieren, als beinhalte es einen radikalen Relativismus, demzufolge jede Wahrheit nur im Hinblick auf ein bestimmtes Subjekt als Wahrheit zu gelten hat. Daß eine Wahrheit, sofern es eine Wahrheit ist, für alle Zeiten Gültigkeit hat, daß aber von diesen nur einer oder einige, oder nur innerhalb einer bestimmten Epoche zu ihrer Erkenntnis hingelangen und sich zu ihr bekennen, liegt auf zwei völlig verschiedenen Ebenen, und gerade wegen dieser Verschiedenheit muß ihr beiderseitiges Verhältnis scharf erfaßt und zum Ausgleich gebracht werden, um über die skandalöse Lage des Denkens hinauszukommen, bei der es den Anschein gewann, als sei der absolute Wert der Wahrheit mit dem Wechsel, von dem die menschliche Geschichte so reichlich zeugt, unvereinbar. Unter den Wandlungen des Denkens dürfen wir uns nicht einen Wechsel in der Wahrheit von gestern vorstellen, wodurch sie sich in den Irrtum von heute verkehrt, sondern müssen darin den Richtungswechsel beim Menschen erblicken, der dazu führt, daß er andere, von den gestrigen verschiedene Wahrheiten vor sich sieht. Nicht die Wahrheiten also sind es, die sich ändern, sondern es ist der Mensch, der sich ändert, und weil er sich ändert, geht er die Reihe der Wahrheiten aufs neue durch, erwählt in dieser jenseitigen Sphäre, auf die wir hingedeutet haben, die Wahrheiten, die ihm wahlverwandt sind, und verschließt die Augen vor allen übrigen. Halten Sie fest, daß hierin das 324
DIE DEFINITION DES MENSCHEN
fundamentale a priori der Geschichte beruht. Ist diese nicht die Geschichte des Menschen? Aber was für ein Wesen ist dieser sogenannte Mensch, dessen Veränderungen und Abwandlungen in der Zeit die Geschichte zu erforschen trachtet? Es ist nicht leicht, den Menschen zu definieren; der Spielraum seiner Differenzierungen ist ungeheuer groß; je weiter gespannt und je weniger beengt der Begriff vom Menschen ist, mit dem der Geschichtsschreiber sich an die Arbeit begibt, um so tiefer und triftiger wird sein Werk sein. Ein Mensch ist Kant, aber ein Mensch ist auch der Zwergeingeborene von Neu-Guinea oder der australische Neandertaltypus. Und trotzdem muß es ein wenn auch noch so geringes Element der Gemeinsamkeit zwischen den äußersten Grenzpunkten der menschlichen Variationsbreite geben, muß der Spielraum, den wir dem Menschen zuweisen, irgendwo ein Ende haben, wenn es so etwas wie eine Menschheit geben soll. Die Völker der Antike und des Mittelalters hielten sich an ihre minimale Definition des Menschen, die strenggenommen und zu unserer Schande auch heute noch nicht überwunden ist: demnach ist er das „animal rationale“. Unser Einverständnis vorausgesetzt, bedrängt uns der leidige Umstand, daß es für uns einigermaßen problematisch geworden ist, genau zu wissen, was es mit dem „animal“ und was es mit dem „rationale“ eigentlich auf sich hat. Deshalb ziehen wir für die Absichten der Geschichte die Erklärung vor, daß ein Mensch jedes Lebewesen ist, das sinnvoll denkt und das wir auf Grund dieser Tatsache verstehen können. Die Minimalvoraussetzung der Geschichte besagt, daß das Subjekt, von dem sie spricht, verstanden werden kann. Nun kann aber nur verstanden werden, was irgendeine Dimension der Wahrheit besitzt. Ein absoluter Irrtum würde uns nicht als solcher erscheinen, weil wir ihn nicht einmal verständen. Die tiefe Voraussetzung der Geschichte ist folglich das genaue Gegenteil eines radikalen Relativismus. Wenn sie sich daran begibt, den primitiven Menschen zu erforschen, setzt sie voraus, daß seine Kultur Sinn und Wahrheit hatte; und wenn dem so war, sie auch weiterhin hat. Wie ist das möglich, wenn uns auf den ersten Blick so absurd erscheint, was diese Geschöpfe tun und denken? Die Geschichte ist eben gerade jener zweite Blick, mit dem es gelingt, den Sinn des anscheinend Sinnlosen zu erfassen. Demzufolge ist die Geschichte nicht im eigentlichen Sinne Geschichte, wird sie ihrer konstitutiven Aufgabe nicht gerecht, sofern sie nicht dahin kommt, den Menschen einer Epoche, und zwar jeder beliebigen
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WAS IST PHILOSOPHIE?
Epoche, zu verstehen, die primitivste nicht ausgeschlossen. Doch kann eine Epoche nicht verstanden werden, solange nicht der Mensch dieser seiner eigenen Zeit ein sinngemäßes Leben führt, das heißt, wenn nicht, was er denkt und tut, eine rationale Struktur hat. Somit ist die Geschichte dazu angehalten, alle Zeiten zu rechtfertigen, und ist genau das Gegenteil von dem, was sie aufs erste zu sein drohte. Indem sie uns die Wandelbarkeit der menschlichen Meinungen vor Augen stellt, scheint sie uns zum Relativismus zu verurteilen; da sie aber jedem relativen Standpunkt des Menschen seinen vollgültigen Sinn erteilt und uns die ewige Wahrheit, die jede Zeit gelebt hat, enthüllt, überwindet sie auf radikale Art die Unvereinbarkeit, die der Relativismus im Verhältnis des Menschen zu einer über das Relative hinausgehenden und gleichsam ewigen Bestimmung des Menschen erblickt. Ich bin aus sehr handgreiflichen Gründen der Hoffnung, daß in unserer Zeit die Neugier auf das Ewige und Unveränderliche, wie es die Philosophie ist, und die Neugier auf das Flüchtige und Wechselnde, wie es in der Geschichte vorliegt, zum erstenmal deutliche Gestalt annehmen und sich gegenseitig die Hand reichen werden. Für Descartes ist der Mensch ein ausschließlich rationales Wesen, das zu keiner Veränderung imstande ist; daher kommt es, daß ihm die Geschichte als die Geschichte des Nichtmenschlichen am Menschen erscheint und daß er sie im letzten Grunde an den sündigen Willen verweist, der uns ständig von unserer rationalen Wesensverfassung abweichen und in das außermenschliche Abenteuer stürzen läßt. Für ihn wie für das achtzehnte Jahrhundert hat die Geschichte keinen positiven Gehalt; in ihr stellt sich lediglich dar, was sich der Mensch an Irrtümern und Täuschungen immer wieder zuschulden kommen läßt. Dagegen sagen sich der Historizismus und der Positivismus des neunzehnten Jahrhunderts von jedem ewigen Wert los, um nur den relativen Wert jeder Epoche zurückzubehalten. Es wäre nutzlos, wollten wir unserem heutigen Empfinden Gewalt antun, das sich weigert, von einer der beiden Dimensionen – der zeitlichen und der ewigen – abzusehen. Beide miteinander zu vereinigen muß vielmehr die große Aufgabe der gegenwärtigen Generation sein; zu ihrer Bewältigung habe ich eine Methode begründet, auf die hin mir die Deutschen in ihrem Hang zu Etikettierungen die Bezeichnung „Perspektivismus“ angeheftet haben.1 1
Gerade deshalb, weil dieser Perspektivismus ausgesprochen oder unausgesprochen in meinen Büchern angedeutet ist, möchte ich bei dieser Gelegenheit nicht von ihm sprechen, sondern gleich darangehen aufzuzeigen, wie es um die neue geistige Haltung steht, die wir heute der 326
REDUKTION UND EXPANSION DER PHILOSOPHIE
Im Zeitraum zwischen 1840 und 1900 hat, wie sich mit Fug behaupten läßt, die Menschheit eine geistige Wegstrecke zurückgelegt, die von allen Epochen der Philosophie am wenigsten günstig war. Es war das ein antiphilosophisches Zeitalter. Wenn die Philosophie etwas wäre, dessen man grundsätzlich entraten kann, so wäre sie im Laufe dieser Jahre ohne Zweifel völlig untergegangen. Da es indessen nicht möglich ist, aus dem menschlichen Geist seine philosophierende Dimension wegzuradieren, ging man darauf aus, sie auf ein Minimum zu beschränken. Und im Grunde besteht der ganze Kampf – der sicher noch ziemlich hart sein wird –, in den wir zur Zeit verwickelt sind, ebendann, aufs neue zu einer vollgültigen, in sich geschlossenen Philosophie, das heißt zu einem Maximum an Philosophie aufzusteigen. Wie kam es zu dieser Reduktion, zu dieser Einengung des philosophischen Corpus? Die Reihe zureichender Ursachen, die eine derartige Tatsache erklären, soll uns in der nächsten Vorlesung beschäftigen.
II Reduktion und Expansion der Philosophie • Das Drama der Generationen • Imperialismus der Physik • Pragmatismus Aus Gründen, die mitzuteilen weder ein dringlicher Anlaß besteht noch ein sonderliches Interesse, habe ich den öffentlichen Kursus, der von mir in der Universität eröffnet wurde, aussetzen müssen. Da mich bei diesem Vorhaben jedoch keine dekorativen und protzigen Gründe geleitet haben, sondern der aufrichtige Wunsch und so etwas wie ein Drang, neue Gedanken, die meines Erachtens nicht des Interesses entbehren, bekanntzumachen, war ich der Ansicht, daß dieser Kursus nicht bei seiner Geburt abgewürgt werden sollte, zu Fall gebracht durch beiläufige Störungen, an denen im ganzen gesehen nicht viel ist. Dies hat mich veranlaßt, Ihnen heute an dieser Stelle gegenüberzutreten.
Philosophie gegenüber einnehmen. 327
WAS IST PHILOSOPHIE?
Da viele der hier Anwesenden meine erste Vorlesung gehört haben, besteht kein Grund zu wiederholen, was ich bei jener Gelegenheit gesagt habe. Es liegt mir nur daran, zwei wesentliche Punkte noch einmal aufzugreifen. Der erste Punkt ist, daß ich bei dem Titel dieser Vorlesungsreihe „Was ist Philosophie?“ nicht an eine elementare Einführung in die Philosophie denke, sondern daß mir genau das Gegenteil vorschwebt. Wir wollen den Tatbestand der Philosophie, das Philosophieren selber zu fassen bekommen und wollen es einer nachdrücklichen Analyse unterziehen. Wie kommt es, daß in der Welt der Menschen diese außergewöhnliche Fauna der Philosophen existiert? Wieso gibt es unter den Denkleistungen der Menschen solche, die wir „Philosophien“ nennen? Es geht hier also, wie man sieht, nicht um ein populäres, sondern um ein sehr kniffliges technisches Thema. Man vergesse darum nicht, daß wir es mit einem akademischen, einem Hochschulkursus zu tun haben, wenn auch „in partibus infidelium“. Indem ich Ihnen in aller Aufrichtigkeit den Kurs unserer Entdeckungsfahrt bekanntgebe, steht es mir frei und bleibt ganz und gar mir überlassen, auf keine der begrifflichen Unbilden zu verzichten, die ein solches Vorhaben mit sich bringt. Natürlich muß ich darum bemüht sein, von allen verstanden zu werden, weil – wie ich sagte – Klarheit die Höflichkeit des Philosophen ist. Aber über dieses technische, ja hypertechnische Problem hinaus werden wir genötigt sein, uns dem im geringsten Maße technischen Problem zu stellen: nämlich zu definieren und zu analysieren, was „unser Leben“ ist, und zwar „unser Leben“ im unmittelbarsten und ursprünglichsten Sinn dieser Worte einschließlich der Frage, was unser tägliches Leben ist. Ja mehr noch: was uns mit größtmöglicher Schärfe zu definieren obliegt, ist allem anderen voran ebendas, was wir verschwommen das tägliche Leben, das Alltägliche des Lebens nennen. Der zweite Punkt, den ich meiner ersten Vorlesung entnehme, betrifft den Hinweis, daß in der Philosophie der geradeste Weg nicht immer der kürzeste ist. Die großen philosophischen Themen lassen sich nur erobern, wenn man mit ihnen verfährt wie die Juden mit Jericho – indem man im Bogen auf sie zugeht, in konzentrischen Kreisen, die jedesmal enger und einläßlicher werden. Deshalb werden alle Themen, die wir berühren, auch wenn sie auf den ersten Blick einen mehr literarischen Anschein haben, das eine oder andere Mal in späteren Kreisen
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ZIEL: EIN MAXIMUN AN PHILOSOPHIE
mit engerem Bezug und anspruchsvollerem Radius wieder auftauchen. Nicht selten werden Sie finden, daß ein Gedanke, der am einen Tag in der Maske einer bloßen Phrase oder eines metaphorischen Zierats auftrat, an einem anderen Tag mit der höchst gewichtigen Gebärde eines rigoriosen Problems vor Sie hintritt. Im Laufe von dreißig Jahren hat sich die Haltung des Philosophen seiner eigenen Arbeit gegenüber geändert. Ich denke hier nicht so sehr daran, daß der Lehrinhalt der Philosophie heute ein anderer ist als vor einem Vierteljahrhundert, als vielmehr daran, daß der Philosoph, bevor er sich diesen Inhalt erarbeitet, beim Antritt seiner Arbeit sich ganz anders gestimmt und prädisponiert fühlt, als es bei dem Denker der letztvergangenen Generationen der Fall war. Die letzten sechzig Jahre des neunzehnten Jahrhunderts haben, wie ich am Schluß meiner ersten Vorlesung sagte, zu den ungünstigsten Zeitläufen gezählt, die je zuvor die Philosophie durchlaufen hat. Es war eine ausgesprochen antiphilosophische Epoche. Wäre die Philosophie etwas, dessen man grundsätzlich entraten kann, so wäre sie zweifellos im Laufe dieser Jahre völlig untergegangen. Da es jedoch nicht möglich ist, aus dem menschlichen Geist, der sich der Bildung geöffnet hält, seine philosophierende Dimension wegzuradieren, geschah immerhin soviel, daß man sie auf ein Minimum reduzierte. Nun ist aber die Haltung, mit der heute der Philosoph an seine Arbeit herangeht, gekennzeichnet durch das Streben, aufs neue zu einer Philosophie mit umfassendem Horizont, einer vollgültigen und vollständigen Philosophie zu gelangen, kurzum, zu einem Maximum an Philosophie. Selbstverständlich werden wir angesichts eines solchen Umschwungs die Frage stellen: wie kam es zu jener Rückentwicklung und Einschrumpfung des philosophischen Geistes, und welchem späteren Ereignis ist es zu danken, daß er sich heute wieder ausdehnt, sein Selbstvertrauen zurückgewinnt und aufs neue zur Offensive übergeht? Die eine wie die andere Tatsache ließen sich nur hinreichend aufklären, indem man die Struktur des europäischen Menschen im einen sowohl wie im anderen Zeitraum definierte. Dringt man bei der Deutung sichtbarer Wandlungen, die an der Oberfläche der Geschichte zutage treten, nicht bis zu jenen verborgenen, geheimnisvollen Wandlungen vor, die sich im Inneren der menschlichen Seele vollziehen, so bleibt die Deutung eben oberflächlich. Sie kann jedoch wie die Deutung, die wir von dem eben berührten Wandel geben werden, für die begrenzten
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WAS IST PHILOSOPHIE?
Absichten unseres Themas ausreichen; nur muß man sich dessen bewußt sein, daß sie unzulänglich ist, daß sie den geschichtlichen Tatsachen ihre dritte Dimension nimmt und den Geschichtsprozeß auf eine zweidimensionale Ebene verlegt. Wollte man aber allen Ernstes untersuchen, wieso es in der philosophischen oder politischen oder künstlerischen Denkweise zu solchen Änderungen kommt, so wäre das gleichbedeutend mit einer überweiten Fragestellung: es hieße soviel wie sich die Frage stellen, warum die Zeiten sich ändern, warum wir heute nicht mehr fühlen und denken wie vor hundert Jahren, warum die Menschheit nicht von einem gleichbleibenden unveränderlichen Bestande zehrt, sondern im Gegenteil immerzu in Bewegung ist, sich ständig untreu wird, im Heute vor ihrem Gestern flieht und stündlich so wie ihre Hutform auch ihr Gefühlsregime wechselt. Kurzum, warum es Geschichte gibt. Es erübrigt sich, eigens zu sagen, daß wir einer derart überdimensionalen Frage respektvoll aus dem Wege gehen werden. Eins jedoch muß gesagt werden: daß die Geschichtsschreiber bis heute die radikalste Ursache geschichtlicher Wandlungen unberührt gelassen haben. Wenn ein einzelner oder mehrere Menschen eine neue Idee oder ein neues Gefühl erfinden, so ändert das am Antlitz der Geschichte oder an der Tönung der Zeiten ebensowenig etwas, wie es an der Farbe des Atlantischen Ozeans etwas ändert, wenn ein Maler von Seestücken seinen von Scharlachrot strotzenden Pinsel in den Wellen auswäscht. Wenn aber sogleich eine ungeheure Anzahl von Menschen sich jene Idee aneignet und in jenes Gefühl einschwingt, so bekommt das Feld der Geschichte, färbt das Antlitz der Zeit eine neue Tönung. Nun lassen sich aber diese ungeheuren Massen von Menschen zur Aufnahme eines neuen Gedankens oder zum Mitschwingen mit einem neuen Gefühl nicht durch bloßes Vorpredigen bewegen. Vielmehr muß diese Idee, muß dieses Gefühl in ihnen vorgebildet sein, in ihnen wurzeln und auf dem Sprung liegen. Ohne diese spontane grundsätzliche Bereitschaft der Massen bliebe jeder Prediger ein Prediger in der Wüste. Daher setzen geschichtliche Wandlungen die Entstehung eines Menschentypus voraus, der von dem bisherigen mehr oder minder verschieden ist, das heißt, sie setzen einen Generationswechsel voraus. Seit Jahren predige ich den Historikern, daß kein Begriff für die Geschichte so wichtig ist wie der Generationsbegriff. Und in der Tat muß eine neue Generation von Historikern auf die Welt gekommen sein,
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DIE GENERATIONEN
denn, wie ich sehe, hat dieser Gedanke vor allem in Deutschland Anklang gefunden.1 Sofern in der Welt eine wesentliche Änderung eintreten soll, ist eine Änderung des Menschentypus – und zwar des männlichen wie des weiblichen – unerläßlich. Es müssen scharenweise Geschöpfe auftreten, die ein von dem früheren unterschiedenes und in sich gleichartiges Lebensgefühl mitbringen. Das verstehen wir unter Generation: denn Generation ist menschliche Variation in dem strengen Sinn, den die Naturwissenschaft dem „Variations“-Begriff gibt. Ihre Vertreter bringen gewisse typische Merkmale, Anlagen, Vorlieben mit auf die Welt, und dies verleiht ihnen bestimmte gemeinsame Züge und unterscheidet sie von der vorhergehenden Generation. Dieser Gedanke aber bringt uns auf nachdrückliche und dramatische Art die Tatsache zu Bewußtsein, die ebenso elementar wie unerforscht ist: daß nämlich in jeder Gegenwart drei Generationen koexistieren: die Jungen, die Reifen und die Alten. Das aber heißt, daß jede geschichtliche Gegenwart, jedes „Heute“ strenggenommen drei unterschiedliche Zeiten, drei verschiedene „Heute“ in sich schließt: mit anderen Worten, daß die Gegenwart drei große Vitaldimensionen umfaßt, die in ihr wohl oder übel zusammenleben, miteinander zu tun haben und auf Grund ihrer Verschiedenheit einander im Wesen notgedrungen feind sind. Heute – das bedeutet für die einen, daß sie in den Zwanzig sind, für die anderen, daß sie in den Vierzig und für wieder andere, daß sie in den Sechzig sind; und der Umstand, daß drei so grundverschiedene Lebensweisen sich in dasselbe „Heute“ finden müssen, bietet eine hinreichende Erklärung für die dynamische Dramatik, für Konflikt und Zusammenstoß, die den Untergrund der Geschichtsmaterie und jeglichen Zusammenlebens in der Gegenwart bilden. Im Licht dieser Wahrnehmung tritt auch die Mehrdeutigkeit hervor, die sich hinter der nur scheinbaren Eindeutigkeit eines historischen Datums verbirgt. Das Jahr 1929 stellt sich als einheitlicher Zeit-
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Lorenz, Harnack, Dilthey haben zu ihrer Zeit einige Hinweise zur Theorie der Generationen gegeben; in der von mir an verschiedenen Stellen meiner Bücher vorgeschlagenen radikaleren Weise wird der Gegenstand beispielsweise in dem Buch von Finder „Problem der Generationen“, 2. Auflage, 1928, in Angriff genommen. (Über das Thema: „Die Generation als geschichtlicher Begriff“ siehe beim Verfasser insbesondere: „Die Aufgabe unserer Zeit“ und „Im Geiste Galileis“, Bd. II dieser Ausgabe, Seite 79 und Band III, Seite 386.) 331
WAS IST PHILOSOPHIE?
punkt dar; aber in diesem Jahr 1929 leben Knaben, reife Männer und Alte; aber diese Jahreszahl spaltet sich auf in drei verschiedene Bedeutungen und befaßt doch zugleich alle drei in sich: es ist die Einheit einer geschichtlichen Zeit in drei unterschiedlichen Lebensaltern. Wir alle sind Zeitgenossen, leben in der gleichen Zeit und Atmosphäre, tragen jedoch in verschiedenen Zeiten zu ihrer Gestaltung bei. Übereinstimmung herrscht in dieser Hinsicht nur zwischen den Altersgenossen. Die Zeitgenossen brauchen nicht Altersgenossen zu sein; die Geschichtswissenschaft hat also zu unterscheiden zwischen Gleichaltrigkeit und Gleichzeitigkeit.1 Untergebracht in dem gleichen äußeren chronologischen Zeitraum, leben drei unterschiedliche Lebenszeiten zusammen. Dies ist die Erscheinung, die ich als den „der Geschichte wesenseigenen Anachronismus“ zu bezeichnen pflege. Dank dieser inneren Unausgeglichenheit ist sie ständig in Bewegung, fließt, wechselt, kreist. Wenn wir als Zeitgenossen allesamt Altersgenossen wären, würde die Geschichte gelähmt zum Stillstand kommen, würde sie in einer endgültigen Geste versteinern, ohne daß es für sie noch eine grundlegende Erneuerung geben könnte. Irgendwann einmal habe ich die Generation mit einer Karawane verglichen, ,,in der sich der Mensch als Gefangener fortbewegt, jedoch indem er zugleich mit seinem freien Willen und seinem Herzen dabei ist. Einmal in diesen Zug eingereiht, hält er sich fortan getreulich an die Dichter seiner Altersstufe, an die politischen Ideen seiner Zeit, an den Frauentyp, der in seinen Jugendtagen Triumphe feierte, ja sogar an die bestimmte Art zu gehen, an die er sich als Fünfundzwanzigjähriger gewöhnt hat. Zuweilen zieht eine andere Karawane mit ihrem fremdartigen Umriß am Blick vorüber: es ist die andere Generation. An einem festlichen Tag mag es geschehen, daß die Orgie beide durcheinander mengt; jedoch in den Stunden, die unserem normalen Dasein vorbehalten sind, scheidet sich das chaotische Knäuel in zwei im echten Sinn organische Gruppen. Jedes Individuum erkennt auf geheimnisvolle Weise, wer sonst noch zu seiner Gemeinschaft gehört, so wie sich die Bewohnerinnen
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Im bereits erwähnten Werk weist Finder darauf hin, daß er bei meiner Generationenidee diese Unterscheidung vermisse; daß sie den Kernpunkt meiner Idee bildet, konnte er nicht wissen, weil ihm nur der ins Deutsche übersetzte Teil meiner Werke zugänglich war. Im Essay „Der sportliche Ursprung des Staates“ lautet sogar eine Überschrift: „Der Instinkt der Altersgenossenschaft.“ 332
AN EINE BESTIMMTE GENERATION GEBUNDEN
desselben Ameisenhaufens am Geruch erkennen. Die Entdeckung, daß wir auf schicksalhafte Art an eine bestimmte Altersgruppe und einen bestimmten Lebensstil gebunden sind, ist eine von den schwermütig stimmenden Erfahrungen, die jeder feinfühlige Mensch früher oder später machen wird. Die Generationszugehörigkeit ist eine existentielle Mode reinster Art, die dem Individuum einen unauslöschlichen Stempel aufdrückt. Bei einigen wilden Stämmen erkennt man die Angehörigen der verschiedenen Altersklassen an ihrer Tätowierung. Die Mode, die in der Hautmalerei gebräuchlich war, als sie mannbar wurden, ist ihrem Wesen eingeprägt geblieben.“1 ,,Aber wie in allen Fügungen des Schicksals gibt es auch in dieser ein paar undichte Stellen, durch die eine Anzahl genial veranlagter Individuen ins Freie zu gelangen vermag. Tatsächlich finden sich ja auch Menschen, die bis ins Greisenalter hinein eine unerschöpfte Bildsamkeit, eine unverwüstliche Jugendlichkeit behalten, die es ihnen ermöglicht, sich zwei–, bisweilen sogar dreimal in ihrem Leben zu erneuern. Menschen dieser Art haben gewöhnlich den Charakter von Vorläufern, und die junge Generation sieht in ihnen so etwas wie ältere Brüder, die vorzeitig auf die Welt gekommen sind. Doch gehören diese Fälle zu den Ausnahmen, die im biologischen Bereich mehr als in jedem anderen die Regel bestätigen.“ Das Problem, das jedem einzelnen in seinem Leben das Verhängnis aufgibt, das sich in dem Gefühl äußert, Angehöriger einer bestimmten Generation zu sein, läßt sich als Beispiel für jene Haltung anführen, die ich die Kunst des Lebens genannt habe. Zwar handelt es sich um ein Verhängnis; die Tatsache aber, daß einige Individuen ihm entrinnen, das heißt sich einer ausgedehnteren Jugend erfreuen, deutet darauf hin, daß wir es mit einem porösen elastischen Verhängnis zu tun haben oder – wie der herrliche Bergson sagen würde – mit einer „fatalité modifiable“. Wenn du in deiner Seele angesichts einer für unsere Zeit einigermaßen charakteristischen Erscheinung das Gefühl hast, daß sie dir wesensfremd oder unenträtselbar bleibt, so ist in dir etwas, das sich nach dem Alter sehnt. In jedem Organismus – individueller oder sozialer Art – findet sich eine Tendenz, ja sogar etwas wie eine Lust, die Bande zur Gegenwart, die stets Erneuerung ist, zu lösen und aus Trägheit in das Vergangene und Gewohnte zurückzufallen – findet
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(Para la historia del amor. I. Cambio en las generaciones. Obras completas, volumen III.) 333
WAS IST PHILOSOPHIE?
sich kurz gesagt die Tendenz, nach und nach archaisch zu werden. Genauso neigt der Mensch, der sein Leben lang Gymnastik getrieben hat, mit fünfzig Jahren dazu, seine Übungen einzustellen und der Ruhe zu pflegen. Wenn er es tut, ist er verloren. Seine Muskeln werden ihre Spannkraft verlieren, und alsbald wird ihr Verfall unausbleiblich sein. Dagegen wenn er der Verlockung auszuruhen, diesem ersten Verlangen sich gehen zu lassen, widersteht, wird er zu seiner Verwunderung gewahr werden, daß seine Muskeln noch ein unvermutetes Kapital an Jugendkraft in sich bergen. Ich will damit sagen, daß wir uns dem Verhängnis, das uns in einer Generation gefangensetzt, nicht willenlos überlassen sollen; vielmehr sollen wir darauf reagieren und uns in der jugendlichen Gestalt des nachwachsenden Lebens erneuern. Man übersehe nicht, daß das Kennzeichen alles Vitalen die ansteckende Kraft ist. Die Krankheit steckt an, aber auch die Gesundheit; das Alter steckt an, aber auch die Jugend. Bekanntlich ist in der Biologie unserer Zeit kein Kapitel so vielversprechend wie das experimentelle Studium von Verjüngungsvorgängen. Es kommt darauf an, in gewissen Grenzen, gestützt auf eine festbestimmte physische und moralische Hygiene, die Jugend zu verlängern, ohne dabei seine Seele dem Teufel zu verkaufen. Wenn jemand rasch altert, so will er es nicht anders, oder besser gesagt, will er nicht leben, weil er unfähig ist, sich aus aller Kraft um Leben zu bemühen. Als sein eigener Parasit, der in seinem Schicksal nicht wirklich Fuß faßt, schwemmt ihn der Strom der Zeit in die Vergangenheit. Wenn aber diese Verlängerung der Jugend nicht ferner statthaft ist, heißt es sich freiweg für die weitherzige Offenheit entscheiden und, wenn schon das heraufkommende Leben nicht mehr von uns gelebt werden kann, seine Freude daran haben, daß andere es leben, heißt es Ja sagen dazu, daß die Zukunft von uns verschieden ist, heißt es entschlossen sein zu dem Abenteuer, ihm seine hereinbrechende Neuheit und seine Jugend zu lassen. Es ist dies das Problem des reifen Menschen: die Vergangenheit bereitet in ihm schon jenen Gärungsstoff zu, der sich in Ressentiment und Bitterkeit angesichts der Zukunft äußert. Noch fühlt sich der Mensch seiner Jugend ganz nahe, doch steht sie dicht neben ihm, ist nicht mehr in ihm, sondern am Rande, so wie Siegeszeichen, Lanze und Harnisch an der Wand – als eine schon kraftlos und steif gewordene Kampfgebärde. Was liegt daran? Mag es eine andere Jugend geben, wenn unsere schon nicht wiederkehren kann. In
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EIN RADIKALER WECHSEL KOMMT
der Sahara ist ein Spruch geläufig, der in seiner Nüchternheit eine ganze Wüstenszene wiedergibt; Menschen, Herden und ganze Scharen von Lasttieren müssen hier an einer spärlichen Wasserlache zur Tränke gehen. Sein schlichter Wortlaut ist: „Trinke aus dem Brunnen und überlasse deinen Platz einem anderen.“ Es ist ein Generations-, ein Karawanenleitspruch. Dieser Ratschlag im Namen einer hochentwickelten Lebenshygiene hat uns auf bedenkliche Weise von dem eingeschlagenen Weg abgeführt. Ich wollte nichts weiter sagen, als daß die Dreigliederung der Generationen in jeder Gegenwart den Wechsel der Zeiten bewirkt. Die Generation der Söhne unterscheidet sich immer ein wenig von der der Väter; sie ist so etwas wie eine neue Ebene des Daseinsgefühls. Nur ist gemeinhin die Differenz zwischen den Vätern und den Söhnen ziemlich gering, während der gemeinschaftliche Kern dessen, worin beide übereinstimmen, überwiegt; in diesem Falle betrachten sich die Söhne selber als Erben und Vollender des väterlichen Lebenstyps. Zuweilen jedoch ist der Unterschied gewaltig: die neue Generation findet kaum eine Gemeinsamkeit mit der alten. In solchem Falle spricht man von einer geschichtlichen Krise. Dies trifft für unsere Zeit zu, und zwar im höchsten Grade. Wohl hat der Wandel sich unterirdisch angebahnt, ist aber dann so jäh und unvermittelt zutage getreten, daß er binnen weniger Jahre das Antlitz des gesamten Lebens umgewandelt hat. Schon seit vielen, vielen Jahren habe ich diese unmittelbar bevorstehende totale Umwandlung vorausgesagt. Es war vergebens. Nur Tadel zog ich mir zu: schuld an meiner Voraussage, behauptete man, sei meine Lüsternheit auf alles Neue. Erst mußten die Tatsachen kommen mit ihren Maulkörben, um die Lästermäuler zum Schweigen zu bringen. Jetzt ist es da, liegt es vor unseren Augen – ein neues Leben. Oder vielmehr – nein, noch ist es nicht da. Der Wechsel wird noch viel radikaler sein, als wir jetzt schon sehen können, wird in Schichten des menschlichen Lebens vordringen, die so tief verborgen sind, daß ich, durch meine frühere Erfahrung belehrt, keine Lust habe zu sagen, was ich kommen sehe. Es wäre umsonst, ich würde nur in Schrecken versetzen, ohne zu überzeugen, und zwar käme der Schrekken daher, weil man mich nicht verstehen oder – besser – weil man mich falsch verstehen würde. Tatsache ist, daß eine eben erst entstandene Woge neuer Zeit auf uns zukommt; wer sich retten will, muß über sie hinwegspringen.Wer
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WAS IST PHILOSOPHIE?
sich ihr widersetzt, wer das neue Gesicht, das unser Leben annimmt, nicht verstehen will, den wird unausbleiblich die Rückflut des Vergangenen unter sich begraben – und zwar auf allen Gebieten und in jeder Hinsicht – in seinem Schaffen, wenn es geistiger oder künstlerischer Natur ist, in seinen Liebesverhältnissen, wenn er ein Gefühlsmensch, und in seiner Politik, wenn er ein Streber ist. Es war geboten, mit dem Problem der Generationen diese erste Fühlung aufzunehmen. Doch ist, was ich gesagt habe, tatsächlich nur ein erster Kontakt, ein äußerer Aspekt dieser gewaltigen und grundlegenden Frage. Viel nachhaltiger und entscheidender werden wir mit ihm zu tun bekommen, wenn wir uns erst mit dem zu befassen haben, was wir so galant und unverfroren, weil wir nicht wissen, wovon wir eigentlich reden, „unser Leben“ nennen. Jedoch im Augenblick geht es darum, die nächstliegenden Gründe anzugeben, die für die Schrumpfung und Einengung des philosophischen Geistes in den letzten sechzig Jahren des neunzehnten Jahrhunderts maßgebend gewesen sind, sowie andererseits die Gründe, die seine heutige Ausbreitung und Erstarkung begünstigt haben. Halten Sie fest, daß jede Wissenschaft, jede Erkenntnis ihren Gegenstand hat – eben das, was die Wissenschaft weiß oder zu wissen strebt – daß sie aber außerdem einen bestimmten Modus hat zu wissen, was sie weiß. So etwa hat die Mathematik einen anderen Gegenstand (Zahl und Ausdehnung) als die Biologie, die sich mit organischen Erscheinungen befaßt. Darüber hinaus aber unterscheiden sich Mathematik und Biologie durch ihre Erkenntnisweise, durch ihren Wissensmodus. Für den Mathematiker bedeutet Wissen und Erkennen, daß sich mittels zwingender logischer Schlüsse, die sich im letzten auf unbezweifelbare Evidenzen gründen, ein Lehrsatz ableiten läßt. Hingegen begnügt sich die Biologie mit der nur annäherungsweisen Verallgemeinerung ungenauer Tatbestände, wie sie uns durch die Sinne vermittelt werden. Hinsichtlich ihres Erkenntnismodus nehmen folglich beide Wissenschaften einen sehr verschiedenen Rang ein: die Mathematik ist musterhaft, die Biologie hingegen überaus grob. Die Mathematik hinwiederum hat den Nachteil, daß die Gegenstände, für die ihre Theorien gelten, nicht wirklich, sondern, wie Descartes und Leibniz sagten, „imaginär“ sind. Nun aber tritt im sechzehnten Jahrhundert eine wissenschaftliche Disziplin in Erscheinung – die „nuova scienza“ des Galilei –, die auf der einen Seite die deduktive Strenge der Mathe-
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DER SIEG DER PHYSIK
matik besitzt, uns aber auf der anderen Seite von realen Gegenständen spricht, von den Gestirnen und – überhaupt – von den Körpern. Dies geschah in den Annalen der Geschichte zum erstenmal; zum erstenmal gab es eine durch präzise logische Schlüsse gewonnene Erkenntnis, die zugleich in der sinnlichen Wahrnehmung von Tatsachen Bestätigung fand, das heißt ein doppeltes Wahrheitskriterium zuließ – das reine Denken, wodurch wir zu bestimmten Schlußfolgerungen zu kommen glauben, und die schlichte Wahrnehmung, die diese rein theoretischen Schlüsse bestätigt. In der unzertrennlichen Einheit dieser beiden Kriterien besteht die sogenannte experimentelle Erkenntnisweise, das auszeichnende Merkmal der Physik. Kein Wunder, daß eine derart glücklich veranlagte Wissenschaft sich von Anfang an über die anderen erhob und die begeisterte Zustimmung der Besten auf sich zog. Schon vom rein theoretischen Standpunkt aus betrachtet, schon als Theorie oder Erkenntnis, ist die Physik zweifellos ein geistiges Wunder. Und doch blieb von Beginn an niemandem verborgen, daß die deduktiven Schlüsse der rationalen Physik und die sinnlich wahrgenommenen Beobachtungsresultate des Experiments nicht auf exakte, sondern nur auf ungefähre Art zusammenfielen. Allerdings war die Abweichung so gering, daß sie den praktischen Fortschritt der Wissenschaft nicht beeinträchtigte. Dennoch hätten diese beiden Merkmale der physikalischen Erkenntnis – ihre Genauigkeit und ihre Bestätigung durch sinnlich wahrnehmbare Tatsachen (vergessen wir nicht das erregende Faktum, daß die Gestirne sich allem Anschein nach den Gesetzen unterwerfen, die ihnen von den Astronomen aufoktroyiert werden, und daß sie, wie gerufen, zu der und der Stunde an dem und dem Punkt des Himmels erscheinen) – dennoch hätten diese beiden Merkmale sicher nicht hingereicht, um die Physik sogleich zu dem glänzenden Sieg zu führen, der ihr ja in der Tat beschieden war. Die Physik verfügt noch über eine weitere Qualität, und diese war es, die ihre Erkenntnisweise so weit über alle anderen erhob. Es stellte sich nämlich heraus, daß die physikalischen Wahrheiten nicht nur theoretische Qualitäten besaßen, sondern so beschaffen waren, daß sie für die Lebensbedürfnisse des Menschen nutzbar gemacht werden konnten. Indem man sich auf sie verließ, konnte man in die Natur eingreifen und diese sich zum eigenen Vorteil zurechtmachen. Dieses dritte Merkmal der Physik – ihr praktischer Nutzen für die Beherrschung der Materie – ist jedoch keine auf
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WAS IST PHILOSOPHIE?
dem Boden der physikalischen Theorie gewachsene Leistung oder Errungenschaft. In Griechenland hätte diese ergiebige Nutzkraft keinen entscheidenden Einfluß auf die Geister geübt; jedoch bei uns in Europa fiel sie in eine Zeit, in der der Bürger herrschte, ein Menschentyp, der sich nicht zur Kontemplation, sondern zu praktischer Tätigkeit berufen fühlte. Der Bürger will sich in der Welt bequem einrichten und, um dies zu erreichen, in sie eingreifen, um sie nach seinem Vorteil umzuformen. Deshalb auch erblickt das bürgerliche Zeitalter vor allem darin seine Ehre, daß es der Industrialisierung wie überhaupt den nützlichen Techniken, als da sind Medizin, Wirtschaft, Verwaltung, zum Sieg verholfen hat. Die Physik erwarb sich ein Ansehen ohnegleichen, weil aus ihr die Maschine und die Medizin hervorgegangen sind. Die Masse der Durchschnittsmenschen interessierte sich für sie nicht aus geistigem Erkenntnisdrang, sondern aus rein materiellen Gründen. In dieser Atmosphäre also entwickelte sich, was wir den „Imperialismus der Physik“ nennen könnten. Für uns, die wir in einem Zeitalter, das sich diese Denkweise zu eigen macht, geboren und erzogen worden sind, ist es vollkommen einleuchtend, ist es die natürlichste und gescheiteste Sache von der Welt, daß unter den Erkenntnisarten jener der erste Platz gebührt, die (mag sie in der Theorie sein, wie sie wolle) uns die praktische Beherrschung der Materie ermöglicht. Aber obschon wir in dieser Zeit geboren und erzogen sind, beginnt doch mit uns ein neuer historischer Zyklus; denn wir geben uns ja nicht mehr mit jener ersten vorläufigen Lösung zufrieden, derzufolge die praktische Nützlichkeit als Wahrheitsnorm zu betrachten wäre. Wir fangen im Gegenteil an, uns Rechenschaft zu geben, daß diese Aufgabe – die Beherrschung der Materie –, daß diese Begeisterung für den „Komfort“, wenn man aus ihr ein Prinzip macht, genauso diskutabel ist wie jedes andere. Und, hellhörig geworden durch diesen Verdacht, sehen wir nachgerade ein, daß der Komfort lediglich eine subjektive Vorliebe ist – grob gesagt: eine Laune –, die seit zweihundert Jahren die abendländische Menschheit nun einmal hat, die jedoch als solche auf keinerlei Überlegenheit des Charakters hindeutet. Es gibt Leute, die den Komfort allem anderen vorziehen; es gibt Leute, die sich nichts Besonderes aus ihm machen. Derselbe Platon, der über Gedanken meditierte, die die moderne Physik und mit ihr die erhöhte Lebensbequemlichkeit erst ermöglicht haben, führte wie alle Griechen ein sehr hartes Leben, ein Leben, das in
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DAS STREBEN NACH KOMFORT
puncto Werkzeuge, Beförderungsmittel, Heizung und Wohnungseinrichtung wahrhaft barbarisch zu nennen war. Zur gleichen Zeit stellten die Chinesen, die noch nie einen wissenschaftlichen Gedanken gedacht, noch nie eine Theorie entwickelt hatten, köstliche Stoffe her, verfertigten Gebrauchsgegenstände und künstliche Geräte von erlesenem Komfort. Während m Athen die platonische Akademie die reine Mathematik ersinnt, erfindet man in Peking das Taschentuch. Halten wir also fest: das Streben nach Komfort, diese „ultima ratio“ für die Sonderstellung der Physik, ist noch kein Zeichen von Überlegenheit. In manchen Zeiten hatte man dafür ein Gefühl, in anderen nicht. Wer die unsere mit ein wenig tiefer dringendem Blick betrachtet, meint vorauszusehen, daß sie sich für das Gebot der Bequemlichkeit nur durchschnittlich begeistern wird. Sie wird von dem Komfort Gebrauch machen, wird für ihn sorgen, wird ihn, soweit vorhanden, zu erhalten und zu mehren suchen, all dies jedoch – und das ist das Entscheidende – ohne Begeisterung und nicht um seiner selbst willen, sondern nur, um durch ihn für andere unbequeme Aufgaben freizuwerden. Da nun das Streben nach Komfort als solches noch keineswegs auf einen Fortschritt hindeutet, sondern in der Geschichte ziemlich willkürlich über Zeiten von recht unterschiedlicher Kulturhöhe verteilt ist, könnte es den Wißbegierigen reizen, einmal der Frage nachzugehen, was diese verschiedenen Zeiten Gemeinsames haben; oder, anders gesagt: welche menschliche Veranlagung es zu dieser Pflege der Lebensbequemlichkeit kommen läßt. Ich weiß nicht, was sich bei einer derartigen Untersuchung ergeben würde. Nur auf die folgende Parallele möchte ich im Vorbeigehen hinweisen: die weltgeschichtlichen Höhepunkte des Strebens nach Komfort liegen im Europa der beiden vergangenen Jahrhunderte und in der chinesischen Kultur. Was kann es zwischen diesen beiden so verschiedenen, so ungleichartigen menschlichen Sphären Gemeinsames geben? Soweit ich weiß, nur dies eine: im Europa der betreffenden Epoche herrschte der „bon bourgeois“, der Menschentyp, in dem sich der Wille zur Prosa verkörpert, und auf der anderen Seite ist der Chinese bekanntlich der geborene Spießbürger. Das sei aber nur so hingeworfen, ohne Nachdruck und Verbindlichkeit.1
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Über das Spießbürgertum der Chinesen vgl. die Ausführungen von Hermann Keyserling in seinem „Reisetagebuch eines Philosophen“. 339
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Jedenfalls hat der Philosoph des Bürgertums, Auguste Comte, seine Auffassung von der Erkenntnis in die bekannte Formel gekleidet: ,,Science, d’où prévoyance; prévoyance, d’où action.“ Das heißt: Sinn des Wissens ist die Vorausschau, Sinn der Vorausschau die Ermöglichung der Tat. Daraus folgt, daß die Tat – selbstredend die erfolgreiche – das ist, woran sich die Wahrheit der Erkenntnis erweist. So hat denn auch zu Ende des vergangenen Jahrhunderts der bedeutende Physiker Boltzmann einmal gesagt: ,,Nicht die Logik, nicht die Philosophie, nicht die Metaphysik entscheidet in letzter Instanz, ob etwas wahr oder falsch ist, sondern die Tat. Darum halte ich die Errungenschaften der Technik nicht für nebensächliche Abfälle der Naturwissenschaft, ich halte sie für logische Beweise. Hätten wir diese praktischen Errungenschaften nicht erzielt, so wüßten wir nicht, wie man schließen muß. Nur solche Schlüsse, welche praktischen Erfolg haben, sind richtig.“2 In seiner „Rede über den positiven Geist“ hatte bereits Comte darauf hingewiesen, daß die Technik die Wissenschaft beherrschen soll, nicht die Wissenschaft die Technik. Dieser Denkweise zufolge ist also nicht die Nützlichkeit ein unvorhergesehener Niederschlag, ein zusätzliches Geschenk der Wahrheit, sondern umgekehrt: die Wahrheit ist der intellektuelle Niederschlag der praktischen Nützlichkeit. Wenig später, in den Kinderjahren unseres Saeculums, machte man aus diesen Gedankengängen eine Philosophie: den Pragmatismus. Mit dem sympathischen Zynismus, wie er dem „Yankee“, wie er jedem jungen Volke eigen ist (ein junges Volk ist, so ungern es dies auch hören mag, immer ein „enfant terrible“), hat der nordamerikanische Pragmatismus folgende These zu verkünden gewagt: ,,Außer dem Erfolg beim Umgang mit den Dingen gibt es keine Wahrheit.“ Und mit dieser ebenso naiven wie gewagten These, mit dieser gewagtnaiven These ist der Nordzipfel des amerikanischen Kontinents in die tausendjährige Geschichte der Philosophie eingetreten. Wenn der Pragmatismus als Philosophie und allgemeine These nur geringe Wertschätzung verdient, so soll das nicht heißen, daß den aufs Praktische gerichteten menschlichen Bestrebungen mit voreingenommener, willkürlicher und schwärmerischer Mißachtung zu begegnen und nur die reine Betrachtung anzuerkennen sei. Wir wollen
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Zitiert nach Max Scheler: „Die Wissensformen und die Gesellschaft“, Leipzig 1926, S. 328. 340
DER TERROR DER LABORATORIEN
hier aller Schwärmerei den Garaus machen, auch der wissenschaftlichen und kulturellen Schwärmerei, die angesichts der reinen Erkenntnis in Ekstase gerät, ohne sie als Problem dramatisch zur Rede zu stellen. Dies unterscheidet uns grundsätzlich von den Denkern des Altertums – von Platon, aber auch von Aristoteles – und muß für uns eines der ernstesten Meditationsthemen bilden. Wenn wir einmal zum entscheidenden Problem, zur Definition „unseres Lebens“ durchgedrungen sind, so werden wir jene ewige Zweiheit, die das Leben in „vita contemplativa“ und „vita activa“, in Betrachtung und Tat, in Martha und Maria verdoppelt, einer gültigen Strukturanalyse unterziehen. Heute soll nur gezeigt werden, daß die Physik ihren imperialen Triumph nicht so sehr ihrer Erkenntnisqualität als ihrer sozialen Funktion verdankt. Die Gesellschaft nimmt Anteil an der Physik, weil sie nützlich ist, und auf Grund dieser Anteilnahme ist im Verlauf eines Jahrhunderts das Selbstvertrauen des Physikers übermäßig gestiegen. Ihm ist, aufs Ganze gesehen, das widerfahren, was im besonderen dem Arzt widerfährt. Niemand wird die Medizin als eine Musterwissenschaft ansehen wollen; und doch gibt dem Arzt die Verehrung, die er wie einst der Magier in den Häusern der Kranken genießt, Vertrauen zu seinem Beruf und seiner Person und verleiht ihm eine gewisse Keckheit, die sehr nett, aber nicht ganz begründet ist, zumal der Arzt zwar die Ergebnisse verschiedener Wissenschaften auswertet und verarbeitet, als Mann der Wissenschaft und als theoretischer Geist aber weder viel noch wenig zu sagen hat. Glück und Gunst der gesellschaftlichen Umwelt machen uns im allgemeinen überheblich, führen zu Rechthaberei und Streitsucht. So geschah es mit dem Physiker, und darum hat das geistige Leben Europas fast hundert Jahre lang etwas über sich ergehen lassen müssen, das man den Terror der Laboratorien nennen könnte. Unter dem Druck dieser Vorherrschaft schämte der Philosoph sich seiner selbst, das heißt schämte er sich, daß er kein Physiker war. Da sich die echten philosophischen Probleme nicht nach dem Erkenntnismodus der Physik lösen lassen, verzichtete er darauf, sie in Angriff zu nehmen, verzichtete er auf seine Philosophie, indem er sie auf ein Minimum einschränkte und sie demütig in den Dienst der Physik stellte. Er entschied, der einzige philosophische Gegenstand sei die Besinnung auf die Tatsache eben der Physik; Philosophie sei einzig und al-
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WAS IST PHILOSOPHIE?
lein Erkenntnistheorie. Kant ist der erste, der in radikaler Form diesen Standpunkt bezieht; nicht die großen kosmischen Probleme interessierten ihn unmittelbar, vielmehr bringt er mit der Gebärde eines Verkehrspolizisten den philosophischen Verkehr – sechsundzwanzig Jahrhunderte Metaphysik – zum Halten, indem er sagt: „daß es unumgänglich notwendig sei, ihre Arbeit vorderhand auszusetzen, alles bisher Geschehene als ungeschehen anzusehen und vor allen Dingen zuerst die Frage aufzuwerfen: Wie sind die synthetischen Urteile a priori möglich?“ Nun sind aber für Kant die synthetischen Urteile a priori die Physik, der Tatbestand der physikalisch-mathematischen Wissenschaft. Diese Feststellungen jedoch waren noch keine Erkenntnistheorie. Sie gingen von der bereits vollzogenen physikalischen Erkenntnis aus und antworteten nicht auf die Frage: „Was ist Erkenntnis?“ III Die Aufgabe unserer Zeit • Die ,,Wissenschaft“ ist reiner Symbolismus • Warum gibt es Philosophie? • Die Exaktheit der Wissenschaft und die philosophische Erkenntnis Das vorige Mal sind wir kaum bis an die Schwelle des Themas gelangt, das ich in meiner Vorlesung zu entwickeln vorhatte. Und zwar wollte ich die unmittelbaren Ursachen – wohl wissend, daß sie eine unzureichende Erklärung bieten – der Schrumpfung und Einengung des philosophischen Geistes im vorigen Jahrhundert angeben und dann begründen, warum er sich umgekehrt heute wieder ausdehnt. Die Zeit hat nur für die Behandlung des ersten Punktes gereicht. Die Philosophie lag am Boden, gedemütigt unter dem Imperialismus der Physik, in Schrecken gejagt von dem geistigen Terror der Laboratorien. Die Naturwissenschaften beherrschten das Feld, und das Feld – das ,Ambiente“ – ist ein Wirkungsfaktor unserer Persönlichkeit, so wie der atmosphärische Druck einer der Faktoren unserer leiblichen Gestalt ist. Würde er uns nicht zusammenpressen und einschränken, so müßten wir – wie Horaz es wollte – mit unserem Scheitel an die Sterne rühren, das heißt, wir wären gestaltlos, unbestimmt und unpersönlich. 342
PHILOSOPHIE IST MEHR ALS EINE WISSENSCHAFT
Jeder von uns ist zur Hälfte derjenige, der er ist, und trägt zur anderen Hälfte den Charakter seines Lebensumkreises. Fällt dieser mit unserer Eigenart auf förderliche Weise zusammen, so verwirklicht sich unsere Persönlichkeit voll und ganz, fühlt sich bekräftigt durch ihre Umwelt und angespornt zur Ausbreitung ihrer inneren Triebkraft. Wenn uns der Lebensumkreis feindlich gesinnt ist, zwingt er uns, da er sich ja in uns selber befindet, zu ständiger Auseinandersetzung und ständigem Ringen, indem er auf uns lastet und der Entfaltung und dem vollen Leistungsertrag unserer Persönlichkeit hindernd in den Weg tritt. Dies widerfuhr den Philosophen in der bedrückenden Atmosphäre, die ihnen durch die „Bolschewisten“ des Experiments auferlegt wurde. Es erübrigt sich zu sagen, daß ich nicht im mindesten daran denke, wenn ich mich auch zuweilen drastisch ausdrücke, hier eine moralische oder geistige Zensur gegen jene Männer der Wissenschaft und ebensowenig gegen die Philosophen dieses Zeitraums vorbringen zu wollen. Sie waren genauso, wie sie sein mußten; es erwies sich als ungemein fruchtbar, daß sie so waren. Eine ganze Anzahl von Qualitäten dankt die neue Philosophie dieser Epoche erzwungener Unscheinbarkeit, wie ja auch die jüdische Seele seit der Babylonischen Gefangenschaft an Feingefühl und Interesse gewonnen hat. Wir werden noch im einzelnen sehen, wie heute die Philosophen, nachdem sie es errötend dulden mußten, daß ihnen die Männer der Wissenschaft ihre Verachtung ins Gesicht schleuderten, mit den Worten: die Philosophie ist keine Wissenschaft, diesen Schimpf, zumindest was mich angeht, nicht ungern hinnehmen, ihn auffangen und mit den Worten zurückschlagen: die Philosophie ist keine Wissenschaft, sondern viel mehr. Jedoch hier müssen wir uns fragen, wie denn die Philosophen zu dieser neuen Begeisterung für ihre Philosophie gekommen sind, woher dieses Zutrauen in den Sinn ihrer Arbeit und dieses entschlossene Auftreten stammen, das uns dazu befähigt, Philosophen ohne Ängstlichkeit und Zaghaftigkeit zu sein, Philosophen, möchte ich sagen, die es auf ungescheute, kühne und herzhafte Art sind. Zwei bedeutsame Tatsachen haben, meines Erachtens, diese Mutation begünstigt. Wir sahen, daß man die Philosophie nahezu ausschließlich auf die Erkenntnistheorie eingeschränkt hatte. So betitelte sich die Mehrzahl der philosophischen Bücher, die zwischen 1860 und 1920 veröffentlicht wurden. Und ich habe bereits die ungemein überraschende Tatsache
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WAS IST PHILOSOPHIE?
angedeutet, daß sich in diesen so betitelten Büchern nirgends die Frage ernstlich gestellt fand: „Was ist Erkenntnis?“ Das ist recht ungeheuerlich und eigentlich mehr, als recht ist: aber hier ertappen wir einen jener Fälle ausgesprochener Verblendung, den im Menschen der Druck einer Zeitgesinnung hervorruft, indem er ihm als evident und undiskutierbar gewisse Voraussetzungen aufnötigt, die gerade am lebhaftesten diskutiert werden müßten. Diese Verblendungen wechseln von Epoche zu Epoche, fehlen jedoch nie, und auch wir sind auf unsere eigene Art verblendet. Wie es dazu kommt, wird uns ein andermal zu beschäftigen haben, und zwar wenn wir einsehen, daß Leben soviel heißt wie auf Grund gewisser Voraussetzungen oder von ihnen ausgehend leben; sie sind der Grund und Boden, auf den wir uns stützen, um zu leben, oder den wir zum Ausgangspunkt nehmen. Und zwar gilt dies auf allen Gebieten: in der Wissenschaft sowohl wie in Moral und Politik und ebenso in der Kunst. Kein Gedanke wird gedacht, kein Gemälde wird gemalt, ohne daß wir von bestimmten für diese unerläßlichen Voraussetzungen oder Verabredungen ausgehen, Voraussetzungen, die dem Denker der Idee und dem Schöpfer des Gemäldes so unerschütterlich feststehen, daß er sich nicht einmal bei ihnen aufhält und ihnen darum auch nicht in seiner Idee oder in seinem Gemälde Eingang verschafft, weshalb wir ihnen in seinem Werk auch nicht ausdrücklich begegnen, da sie ja vorausgesetzt und gewissermaßen im Rücken geblieben sind. Deshalb fehlt uns manchmal für einen Gedanken oder ein Gemälde das Verständnis; und zwar fehlt uns dann das Zauberwort, der Schlüssel der geheimen Verabredung. Und da – ich wiederhole – jede Zeit – genauer gesagt: jede Generation – von ihren mehr oder minder deutlichen Voraussetzungen ausgeht, so ist damit gesagt, daß das System der Wahrheiten und das System der ästhetischen, moralischen, politischen und religiösen Werte unumgänglich eine geschichtliche Dimension hat, daß alle diese Werte relativ sind zu einer bestimmten Lebenszeitgeschichte des Menschen und nur für bestimmte Menschen gültig sind. Wieso man trotzdem behaupten kann und muß, die Wahrheit sei übergeschichtlich: das eben ist die große Frage. Viele von Ihnen wissen bereits, daß ich die Lösung dieser Frage, soweit sie gelöst werden kann, als „die Aufgabe unserer Zeit“ betrachte. Die undiskutierbare und undiskutierte Voraussetzung, die vor achtzig Jahren der Denker in Fleisch und Blut mitbrachte, lautete dahin, daß
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GRUNDLAGENKRISE DER PHYSIK
es außer der physikalischen Erkenntnis „sensu stricto“ keine Welterkenntnis gebe, daß es hinsichtlich der Wirklichkeit keine andere Wahrheit gebe als die „Wahrheit der Physik“. Wir haben letzthin noch ganz unbestimmt gesehen, daß es wohl noch andere Wahrheitstypen gibt, daß aber die „Wahrheit der Physik“, auch von außen her gesehen, zwei wunderbare Eigenschaften hat: ihre Exaktheit und das doppelte Wahrheitskriterium, dem sie untersteht: nämlich die rationale Ableitung und die Bestätigung durch die Sinne. Aber diese Eigenschaften, mögen sie auch großartig sein, sind kein hinreichender Grund zu behaupten, daß es keine vollkommenere Erkenntnis der Welt, keinen höheren „Wahrheitstypus“ gebe als die Physik und die wissenschaftliche Wahrheit der Physik. Um dies zu erhärten, müßte man in ganzer Breite die Frage aufrollen: Wie müßte das, was wir vorbildliche Erkenntnis, Prototyp der Wahrheit nennen, beschaffen sein, wenn wir die Bedeutung, die das Wort „Erkennen“ in sich birgt, zu seinem vollen Sinn aufsteigen lassen? Erst in dem Augenblick, da wir einsehen, was Erkenntnis im vollgültigen Sinne des Wortes ist, sind wir imstande zu beurteilen, ob die Erkenntnisweisen, die der Mensch besitzt, diesen Sinn erfüllen, oder ob sie ihm lediglich nahekommen. Solange dies nicht geschehen ist, kann von Erkenntnistheorie nicht im Ernst gesprochen werden, und so stellt sich auch der Anspruch, den die Philosophie in jüngster Zeit erhob, wie wenn sie in Erkenntnistheorie aufginge, als leerer Anspruch heraus. Unterdessen jedoch wuchs die Physik immer weiter und erreichte in den letzten fünfzig Jahren einen solchen Umfang und eine so hohe Vollkommenheit, einen derartigen Grad an Genauigkeit und ein so riesig weit gespanntes Beobachtungsfeld, daß sie sich genötigt sah, ihre Prinzipien zu revidieren. Dies mag sich gesagt sein lassen, wer der landläufigen Auffassung ist, daß die Umwandlung eines Lehrsystems auf die geringe Standfestigkeit einer Wissenschaft deute. Genau das Gegenteil trifft zu. Weil die Prinzipien Galileis und Newtons gültig waren, konnte es zu der überwältigenden Entwicklung der Physik kommen, und zwar erreichte diese Entwicklung eine Grenze, die es unumgänglich machte, diese Prinzipien durch Reinigung zu erweitern. Das hat zu der bekannten Prinzipienkrise – der „Grundlagenkrise“ – geführt, die heute die Physik durchmacht und die als eine förderliche Wachstumskrankheit zu betrachten ist. Ich weiß nicht, warum wir dem Wort „Krise“ einen traurigen Sinn unterlegen. Krise ist 345
WAS IST PHILOSOPHIE?
nichts anderes als eine intensive und tiefgreifende Wandlung: sie kann Wandlung zum Schlimmeren, aber ebensogut Wandlung zum Besseren sein, wie es bei der heutigen Krise der Physik der Fall ist. Kein Symptom zeigt die Reife, zu der eine Wissenschaft gelangt ist, so deutlich an wie die Grundlagenkrise. Ihre Voraussetzung ist, daß die Wissenschaft ihrer selbst so sicher ist, daß sie sich den Luxus leisten kann, ihre Prinzipien rücksichtslos zu revidieren, das heißt: ihnen größere Kraft und Festigkeit abzuverlangen. Die geistige Kraft des Menschen – oder einer Wissenschaft – bemißt sich danach, welches Quantum an Skeptizismus, an Zweifel sie zu verdauen, zu assimilieren imstande sind. Die lebenskräftige Theorie nährt sich vom Zweifel und besteht nicht in der naiven Zuversicht, die kein Schwanken kennt: sie ist nicht harmloses Zutrauen, sondern ist vielmehr die Sicherheit inmitten des Unwetters, das Vertrauen im Verzagen. Ganz gewiß ist es das erste, das Vertrauen, das zuletzt über die Unsicherheit triumphiert, woran die geistige Kraft sich ermessen läßt; dagegen ist der nicht unterworfene Zweifel, das unverdaute Mißtrauen . . . Neurasthenie. Die physikalischen Prinzipien sind der feste Grund und Boden dieser Wissenschaft, auf dem der Forscher wandelt. Jedoch wenn es darauf ankommt, sie zu reformieren, kann ihre Neuordnung nicht aus dem Bereich der Physik selber erfolgen, sondern es heißt, aus ihr herausgehen. Will man den Grund reformieren, so muß man sich, wie ohne weiteres ersichtlich, auf den Untergrund stützen. Das erklärt, warum die Physiker sich genötigt sahen, über ihre Wissenschaft zu philosophieren; und am auffälligsten ist gegenwärtig die Tatsache, daß sich die Physiker philosophisch bemüht zeigen. So hat sich ausgehend von Poincaré, Mach und Duhem bis hin zu Einstein und Weyl samt deren Schülern und Nachfolgern eine physikalische Erkenntnistheorie herausgebildet, die von den Physikern selber stammt. Natürlich haben sie alle in reichem Maße Einflüsse aus der Vergangenheit der Philosophie in sich aufgenommen; aber das Merkwürdige an der Sache ist, daß zur gleichen Zeit, als die eigentliche Philosophie in übertriebener Weise der Physik als Erkenntnistyp huldigte, die Theorie der Physiker in der Entdeckung gipfelte, daß die Physik eine untergeordnete Form der Erkenntnis, das heißt, daß sie symbolische Erkenntnis sei. Der „Kursaaldirektor“, der die Garderobemarken zählt, stellt auf diese Weise die Anzahl der Mäntel und Überzieher fest, die an den Haken aufgehängt wurden, und weiß danach ungefähr, wie viele Gä-
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EINRICHTUNG IN DEN GEGEBENEN GRENZEN
ste die Veranstaltung besucht haben. Trotzdem hat er weder die Kleidungsstücke noch das Publikum gesehen. Vergleicht man den Inhalt, der die Physik ausmacht, mit der Körperwelt, so stellt man zwischen beiden so gut wie keine Ähnlichkeit fest. Es handelt sich gleichsam um zwei verschiedene Idiome, die nur durch die Übersetzung zusammenhängen. Die Physik ist nichts anderes als ein korrespondierendes Zeichensystem. Woher wissen wir, daß die Physik so beschaffen ist? Da eine Vielzahl von Entsprechungen gleichfalls möglich ist, da es möglich ist, auf die verschiedenste Art Ordnung in die Dinge zu bringen. Bei einem feierlichen Anlaß hat Einstein die Situation der Physik im Hinblick auf ihre Erkenntnisfähigkeit mit folgenden Worten zusammengefaßt (1918: Rede an Max Planck zu dessen sechzigstem Geburtstag): „Die Entwicklung unserer Wissenschaft hat gezeigt, daß von allen denkbaren Konstruktionen eine einzige jeweils sich als unbedingt überlegen über alle anderen erwies. Keiner, der sich in den Gegenstand wirklich vertieft hat, wird leugnen, daß die Welt der Wahrnehmungen das theoretische System praktisch eindeutig bestimmt, trotzdem kein logischer Weg von den Wahrnehmungen zu den Grundsätzen der Theorie führt.“ Das heißt, daß viele Theorien gleich zutreffend sind, und daß, strenggenommen, die Überlegenheit einer bestimmten sich aus rein praktischen Gründen erklärt. Die Tatsachen raten zu ihr, machen sie jedoch nicht logisch zwingend. Hieraus ergibt sich also, daß diese Wissenschaften, vor allem die Physik, fortschreiten, indem sie aus ihrer ursprünglichen Beschränkung das schöpferische Prinzip ihrer Begriffsbildung machen. Deshalb vollführen sie jedoch nicht ihrer eigenen Aufbesserung zuliebe einen utopischen Sprung über den eigenen Schatten, trachten sie nicht, die über sie verhängte und mit ihnen gegebene Grenzscheide zu überwinden, sondern nehmen sie frohgemut in Kauf und gelangen, indem sie an ihr Halt finden, indem sie sich ohne Heimweh in ihrem Bereich einrichten, zu ihrer vollen Gültigkeit. Im letzten Jahrhundert dagegen war genau die entgegengesetzte Haltung vorherrschend; in jener Zeit trachtete jeder danach, unbegrenzt zu sein, und zwar zu sein, was die übrigen waren und was man selber nicht war. Es ist das Jahrhundert, in dem eine Musik – die von Wagner – nicht damit zufrieden ist, Musik zu sein, sondern Philosophie- und Religionsersatz sein will, es ist das
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WAS IST PHILOSOPHIE?
Jahrhundert, in dem die Physik Metaphysik sein will, die Philosophie dagegen Physik, und die Dichtung Malerei und Melodie; nicht einmal die Politik gibt sich mit sich selber zufrieden, sondern trachtet danach, religiöses Glaubensbekenntnis zu sein und – was besonders haarsträubend ist – die Menschen glücklich zu machen. Tritt nicht in der neuen Haltung der Wissenschaften, die sich lieber jede in ihren zukömmlichen Bereich und in ihre Sphäre einschließen, etwas wie ein neues Lebensgefühl des Menschen hervor, das auf dem Wege einer umgekehrten Methode die Lösung des Lebensproblems in Aussicht stellt, nämlich indem man jedem Wesen und jeder Verrichtung ihre eigene Bestimmung zuerkennt und, anstatt ins Illusionäre auszuschweifen, sich an ihnen festhält und in echter und gediegener Weise ihr authentisches und unvertauschbares Profil bis an den Rand ausfüllt? Dies mag hier in Form einer Andeutung gesagt werden; demnächst werden wir dem gleichen Thema Auge in Auge gegenüberstehen. Und doch hat diese jüngst erfolgte „capitis diminutio“ der physikalischen Theorie auf den geistigen Zustand der Philosophen insofern eingewirkt, als sie diese für ihre Berufung freiwerden ließ. Nachdem die schwärmerische Vergötterung des Experiments überwunden und die physikalische Erkenntnis wieder in ihre bescheidene Sphäre eingeschlossen ist, bleibt der Geist frei für andere Arten des Erkennens, bleibt das Gefühl wach für die wahrhaft philosophischen Probleme. Das raubt der Physik nichts von ihrem Ruhm, es unterstreicht im Gegenteil ihre außerordentliche Standfestigkeit und gegenwärtige Fruchtbarkeit. Im Bewußtsein ihrer Macht, die sie als Wissenschaft innehat, verschmäht es heute die Physik, sich auf mystische Vorzüge, die nur erschlichen wären, zu berufen. Sie weiß, daß sie nicht mehr ist als symbolische Erkenntnis, und hat daran genug; indem sie dies und nicht mehr ist, zählt sie heute zu den gewaltigsten und dramatischsten Vorgängen, die sich in der Welt ereignen. Träfe es zu, daß Europa gebildet wäre – was man keineswegs behaupten kann –, so müßten die Menschenmassen auf den Plätzen vor den Nachrichtenbüros zusammenströmen, um den Stand der physikalischen Forschungen von Tag zu Tag zu verfolgen. Denn die Situation ist derart ergiebig, fabelhafte Entdeckungen sind in solche Nähe gerückt, daß es nicht im geringsten übertrieben ist zu behaupten, daß mit dem plötzlichen Eintritt in eine neue kosmische Landschaft, mit einer Anschauung der Körperwelt,
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GALILEI UND EINSTEIN
die von der bislang gehegten grundverschieden ist, ständig gerechnet werden kann. Und zwar steht diese Lage so unmittelbar bevor, daß ich mich nicht getraue zu sagen – so wenig wie die namhaften Physiker unter meinen Zuhörern –, ob nicht in dieser Minute die neue gewaltige Idee bereits in einem englischen oder deutschen Kopf aufgeflammt ist. Wir sind uns jetzt klar darüber, daß es ein Aberglaube war, der uns in den Banden der sogenannten wissenschaftlichen Wahrheit gefangenhielt; es handelt sich dabei – wohlverstanden – um eine Art von Wahrheit, wie sie der Physik und verwandten Disziplinen angehört. Aber noch eine andere sehr bedeutsame Tatsache hat zur Befreiung beigetragen. Denken wir daran, daß sich die Ausführungen, die wir soeben gemacht haben, folgendermaßen formulieren lassen: jede Wissenschaft akzeptiert ihre Begrenzung und gewinnt aus ihr ihre positive Methode. Die Tatsache, die ich jetzt in aller Eile skizzieren will, ist ein weiterer Schritt in der gleichen Richtung: jede Wissenschaft macht sich unabhängig von allen übrigen, das heißt, unterwirft sich nicht ihrer Jurisdiktion. Auch hier liefert uns die neue Physik das deutlichste und bekannteste Beispiel. Für Galilei bestand die Aufgabe der Physik in der Entdekkung der speziellen Gesetze, die für die Körper maßgebend sind, „über die allgemeinen geometrischen Gesetze hinaus“. Daß diese letztgenannten in den Körperphänomenen herrschten, zog er keinen Augenblick in Zweifel. Jedoch gab er sich nicht damit ab, Experimente anzustellen, die demonstrieren sollten, daß sich die Natur den Lehrsätzen des Euklid füge. Er nahm im voraus an, als sei das etwas, das sich von selber versteht und gar nicht anders sein kann, daß die Geometrie über die Physik höhere Rechtsgewalt habe – oder anders gesagt – er glaubte, daß die geometrischen Gesetze physikalische Gesetze „ex abundantia“ oder in höchstem Grade seien. Meiner Auffassung nach besteht die geniale Kraftleistung Einsteins vornehmlich in der Entschiedenheit, mit der er sich von diesem überlieferten Vorurteil freimacht; sobald er beobachtet, daß sich die Phänomene nicht dem Euklidischen Gesetz entsprechend verhalten, sobald er in den Widerstreit zwischen der geometrischen und der ausschließlich physikalischen Rechtsprechung gerät, erklärt er ohne Zaudern diese für souverän. Vergleicht man seine Lösung des Problems mit der von Lorentz, so erkennt man zwei entgegengesetzte Typen von Geistern. Um das
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Experiment von Michelson zu erklären, beschließt Lorentz, indem er der Tradition folgt, daß die Physik sich nach der Geometrie richte; die Körper müßten sich zusammenziehen, damit der geometrische Raum intakt und in Kraft bleibe. Einstein trifft umgekehrt die Entscheidung, daß die Geometrie und der Raum sich nach der Physik und den Körperphänomenen richten. Parallele Haltungen finden wir häufig auch in den anderen Wissenschaften, und da es sich um einen so durchgehenden und ausgesprochenen Zug im modernen Denken handelt, nimmt es mich wunder, daß er meines Wissens nirgends hervorgehoben worden ist. Die Reflextheorie von Pawlow und die Theorie der Lichtempfänglichkeit von Hering stellen den heute bereits klassisch gewordenen Versuch dar, eine von der Physik und der Psychologie unabhängige Physiologie aufzubauen. In beiden Fällen wird das biologische Phänomen als solches aufgefaßt, in seiner Unterschiedenheit von der allgemeinen Beschaffenheit des physikalischen oder psychologischen Tatbestands, und mit Forschungsmethoden behandelt, die ausschließlich der Physiologie angehören. Am schärfsten jedoch und in fast anstößiger Weise tritt dieses neue wissenschaftliche Temperament in der Mathematik hervor. Deren Unterwerfung unter die Logik war in den letzten Generationen so weit gediehen, daß beide sich nahezu deckten. Aber siehe da: auf einmal entdeckt der Holländer Brouwer, daß das logische Axiom vom „ausgeschlossenen Dritten“ für die mathematischen Entitäten keine Gültigkeit hat und daß es ebendarum eine Mathematik „ohne Logik“ zu schaffen gilt, das heißt eine Mathematik, die sich allein auf sich selber verläßt und gegen Axiome andersartiger Herkunft sträubt. Es braucht uns nicht mehr zu wundern – wenn wir dieser Tendenz des neuen Denkens erst einmal auf die Spur gekommen sind –, daß in jüngster Zeit eine Theologie in Erscheinung getreten ist, die sich gegen die Rechtsprechung der Philosophie auflehnt. Denn bislang bestand die Theologie in dem Bemühen, die geoffenbarte Wahrheit der philosophischen Vernunft anzugleichen, in dem Bestreben, dieser die Unvernunft des Mysteriums genehm zu machen. Die neue „dialektische Theologie“ vollzieht einen radikalen Bruch mit einem derart veralteten Brauch und erklärt das Wissen Gottes unabhängig und „vollkommen“ souverän. Sie kehrt damit die Haltung des Theologen um. Dessen besondere Aufgabe bestand darin, vom Menschen und seinen
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DIE SELBSTÄNDIGKEIT DER WISSENSCHAFTEN
wissenschaftlichen Normen her die Offenbarungswahrheit zu erfassen. Das bedeutete soviel wie vom Menschen aus über Gott sprechen. Hieraus ergab sich eine anthropozentrische Theologie. Dagegen Barth und seine Mitbrüder ziehen die Sache genau umgekehrt auf und entwickeln eine anthropozentrische Theologie. Der Mensch kann bestimmungsgemäß über Gott nichts wissen, solange er von sich selber und seiner Befangenheit im Menschlichen ausgeht. Er ist bloßer Empfänger des Wissens, das Gott von sich selber hat und das er in winzigen Bröckchen den Menschen durch die Offenbarung zukommen läßt. Der Theologe braucht nichts anderes zu tun als sein Gehör zu reinigen, in das Gott seine eigene Wahrheit haucht; und zwar ist die göttliche Wahrheit inkommensurabel mit jeder menschlichen Wahrheit und insofern unabhängig. Auf diese Weise sagt sich die Theologie von der philosophischen Jurisdiktion los. Der Wandel ist um so bemerkenswerter, als er sich mitten im Protestantismus abspielt, bei dem die Vermenschlichung der Theologie, ihre Abdankung vor der Philosophie, viel weiter fortgeschritten war als im katholischen Lager. So macht sich heute in den Wissenschaften eine Neigung geltend, die zu der Tendenz dreißig oder vierzig Jahre früher in diametralem Gegensatz steht. Damals ging die eine oder andere Wissenschaft darauf aus, über die anderen zu herrschen, die Methode ihres häuslichen Bereichs auf sie auszudehnen; und die anderen ließen sich diese Invasion in aller Demut gefallen. Heute findet sich nicht nur jede Wissenschaft mit ihrer eingeborenen Mangelhaftigkeit ab – sie weist auch jeden Versuch zurück, sich von einer anderen bevormunden zu lassen. (Man beachte parallele Erscheinungen in der heutigen Kunst und auch in der Politik!) Dies sind die wichtigsten Anzeichen des geistigen Stils, der sich in diesen letzten Jahren geltend macht. Ich glaube, daß sie zu einer großen Zeit der Menschenerkenntnis führen können. Jedoch mit einem Vorbehalt. Es kann auf die Dauer nicht sein, daß die Wissenschaften in dieser Haltung unumgänglicher Selbständigkeit verharren. Sie müssen vielmehr, ohne die heute errungene Unabhängigkeit einzubüßen, in ein Verhältnis gegenseitiger Gliederung treten – was nicht soviel heißt wie sich unterordnen. Gerade dies aber können sie nur erreichen, wenn sie aufs neue in der Philosophie festen Fuß fassen. Ein deutliches Anzeichen dafür, daß sie sich auf dem Wege zu dieser neuen Systemgliederung befinden, ist die Tatsache, daß sich der Einzelwissen-
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WAS IST PHILOSOPHIE?
schaftler immer häufiger gezwungen sieht – und zwar unter dem Zwang seiner eigenen Probleme –, in philosophischen Gewässern Anker zu werfen. Jedoch mein Gegenstand läßt es nicht zu, daß ich mich weiter in Betrachtungen über die Zukunft der Wissenschaft verliere; was ich über ihren gegenwärtigen Stand verlauten ließ, sollte nur ein Nachweis dafür sein, welche atmosphärischen Bedingungen im geistigen Raum für die Rückkehr zu einer umfassenderen Philosophie maßgebend gewesen sind und deren Einengung in den letzten hundert Jahren korrigiert haben. Der Philosoph schöpft aus der Zusammensetzung des öffendichen Klimas neuen Mut, seinerseits nach Unabhängigkeit zu streben und sich an die Grenze seiner Bestimmung zu halten. Es gibt jedoch ein weiteres noch wirkungskräftigeres Motiv, das eine Wiedergeburt der Philosophie als möglich erscheinen läßt. Die Tendenz jeder einzelnen Wissenschaft, sich mit ihrer Begrenzung abzufinden und ihre Unabhängigkeit zu erklären, schafft lediglich negative Voraussetzungen, die zwar geeignet sind, die Hindernisse, die ein Jahrhundert lang die philosophische Berufung gelähmt haben, aus dem Weg zu räumen, ihr aber weder Nahrung spenden noch auf sie einen kräftigen Anreiz ausüben. Warum wendet sich also der Mensch aufs neue der Philosophie zu? Warum fühlt er sich wieder auf selbstverständliche Art für sie berufen? Offenbar kehrt man doch zu etwas auf Grund derselben Wesensnotwendigkeit zurück, die einen beim erstenmal dazu hingetrieben hat. Wenn nicht, so entbehrt die Rückkehr der Aufrichtigkeit; sie ist dann nur eine falsche Rückwendung, eine Rückwendung, die nur so tut. Dies zwingt uns, auf die Frage zu antworten, wie es denn dem Menschen überhaupt in den Sinn kommt, Philosophie zu treiben. Wie kommt der Mensch – gestern, heute oder künftig – dazu, sich philosophisch zu betätigen? Wir müssen uns dieses Etwas, das wir gewöhnlich Philosophie nennen, deutlich ins Bewußtsein rufen, uns sodann auf das „Warum“ philosophischer Betätigung antworten zu können. In dieser neuen Sicht tritt unsere Wissenschaft uns mit jenen Merkmalen entgegen, die sie in allen Epochen ihrer Ungebundenheit gehabt hat, wenngleich der Fortschritt des Denkens diese Merkmale in neuer und strenger gefaßter Form ausprägt. Was ist in unseren Augen die wiederauflebende Philosophie?
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DIE ENTDECKUNGSFAHRT NACH DEM UNBEKANNTEN
Auf diese Frage möchte ich mit einer Reihe von charakterisierenden Zügen antworten, indem ich Formeln gebrauche, die nach und nach im Laufe künftiger Vorlesungen ihre volle Bedeutung enthüllen werden. An erster Stelle müßte gesagt werden, daß sich die Philosophie als Erkenntnis des Universums definieren läßt. Indessen bei dieser Definition – wenn sie auch nicht fehlgeht – laufen wir Gefahr, daß uns gerade all das entwischt, was in der Philosophie an Spezifischem steckt, jene eigenartige Dramatik und jene besondere Stimmung geistigen Heldentums, in der Philosophie – und zwar allein die Philosophie – lebt. Es sieht in der Tat so aus, als sei diese Definition so etwas wie ein Gegenstück zu der Definition, die wir von der Physik geben könnten, indem wir sagten, sie sei Erkenntnis der Materie. Es verhält sich jedoch so, daß sich der Philosoph nicht vor seinen Gegenstand – das Universum – hinstellt wie der Physiker vor seinen Gegenstand: die Materie. Der Physiker fängt damit an, daß er seinen Gegenstand im Umriß definiert; erst dann beginnt seine eigentliche Arbeit, ist er bestrebt, seine innere Struktur zu erkennen. Ebenso definiert der Mathematiker die Zahl und die Ausdehnung, das heißt: alle Einzelwissenschaften fangen damit an, ein Stück aus dem Weltganzen herauszulösen, um ihr Problem einzugrenzen, das eben durch seine Einengung teilweise aufhört, ein Problem zu sein. Anders gesagt: der Physiker und der Mathematiker kennen von vornherein die Ausdehnung und die Hauptattribute ihres Gegenstandes; deshalb fangen sie nicht mit einem Problem an, sondern mit etwas, das sie als gewußt voraussetzen oder annehmen. Jedoch von dem Universum, zu dessen Erforschung sich der Philosoph mit der Kühnheit eines Argonauten aufmacht, weiß man nicht, was es ist. Universum ist das ungenaue monolithische Wort, das mit einer umfassenden und unbestimmten Gebärde nicht so sehr benennt als verdeckt, was streng als Begriff gefaßt lauten müßte: alles, was es gibt. Dies ist nämlich zunächst das Universum. Dies – beachten Sie wohl – nicht mehr als dies: denken wir nämlich den Begriff: „Alles, was es gibt“, so kennen wir nicht das „Was“ dieses „Es gibt“; das einzige, was wir kennen, ist ein negativer Begriff, nämlich die Verneinung der Tatsache, daß es nur Teil, Ausschnitt, Fragment geben soll. Im Unterschied zu dem Vertreter jeder sonstigen Wissenschaft begibt sich demnach der Philosoph auf Entdeckungsfahrt nach dem Unbekannten schlechthin. Das mehr
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oder weniger Bekannte ist Partikel, Teilausschnitt, Splitter des Universums. Der Philosoph nimmt zu seinem Gegenstand eine Stellung ein, die von der jedes anderen Erkennenden unterschieden ist. Der Philosoph weiß nicht, welches sein Gegenstand ist; er weiß von ihm nur: erstens, daß er keiner der übrigen Gegenstände ist, daß er auf authentische Art alles ist; zweitens, daß er ein integraler Gegenstand ist, als der Gegenstand, der nichts außerhalb läßt, und daß er ebendarum der einzige ist, der sich selber genügt. Nun hat aber keiner der bekannten oder gemutmaßten Gegenstände diese Eigenschaft. Deshalb ist das Universum das, was wir von Grund aus nicht kennen, was wir in seinem positiven Gehalt auf absolute Art nicht wissen. In einem anderen Kreis von Betrachtungen konnten wir sagen: allen anderen Wissenschaften ist ihr Gegenstand gegeben, dagegen besteht der Gegenstand der Philosophie eben darin, daß er nicht gegeben sein kann; weil er alles ist und weil er nicht gegeben ist, wird er in einem sehr grundlegenden Sinne das Gesuchte sein müssen, und zwar das immerfort Gesuchte. Es ist nicht zu verwundern, daß gerade die Wissenschaft, nach deren Gegenstand man sich auf die Suche begeben muß, das heißt, die schon hinsichtlich ihres Gegenstandes und Themas problematisch ist, ein weniger gelassenes Dasein führt als die anderen und auf den ersten Blick nicht jenen Vorzug genießt, den Kant „den sicheren Gang“ nennt. Dieser sichere, gelassene und bürgerliche Gang wird niemals der Philosophie zu eigen sein, die im reinsten Sinne theoretischer Heroismus ist. Sie wird ebenso wie ihr Gegenstand in der universalen und absoluten Wissenschaft bestehen, nach der man sich auf die Suche begibt. So nennt sie der erste Lehrmeister unserer Disziplin, Aristoteles: Philosophie, die Wissenschaft, nach der gesucht wird, ζητουμένη ὲπιστήμη. Jedoch bedeutet in der vorerwähnten Definition – Philosophie ist Erkenntnis des Universums – Erkenntnis nicht das gleiche wie in den Einzelwissenschaften. Erkenntnis im strikten und ursprünglichen Sinne des Wortes bezeichnet die positive, die konkrete Lösung eines Problems, das heißt die vollkommene Durchdringung des Gegenstandes mittels des Verstandes eines Subjekts. Wäre jedoch die Erkenntnis nichts anderes als dies, so könnte sich die Philosophie nicht zu ihrem Anspruch bekennen. Stellen Sie sich vor, es gelänge unserer Erkenntnis der Nachweis, daß die letzte Wirklichkeit, die dem Universum zugrunde liegt, in einem absolut launenhaften Wesen, einem aufs Geratewohl und irrational verfahrenden Willen
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DER GEIST UND DAS UNIVERSUM
bestünde – was in der Tat Schopenhauer herausgefunden zu haben glaubte. In diesem Falle könnte eine totale Durchdringung des Objekts durch das Subjekt nicht stattfinden – diese Wirklichkeit bliebe dem Verständnis undurchsichtig – und trotzdem wäre dies ohne jeden Zweifel eine vollkommene Philosophie, nicht weniger vollkommen als die anderen, für die das Sein in seiner Gesamtheit dem Denken durchschaubar und der Vernunft gehorsam war, worin die Grundidee jeder Art von Rationalismus besteht. Wir müssen demnach die Bedeutung des Terminus „Erkenntnis“ retten und in Betracht ziehen, daß, sofern er in seiner ursprünglichen Bedeutung diesen vollen Eintritt des Denkens in das Universum bezeichnet, die Erkenntnis hinsichtlich ihrer Werthaftigkeit abgestuft sein muß, je nach dem höheren oder geringeren Grade ihrer Annäherung an dieses Ideal. Die Philosophie muß zunächst diesen Maximalbegriff definieren und sich zugleich seine niedrigeren Grade offenhalten, denn sie werden nachträglich alle auf die eine oder andere Art Modi des Erkennens sein. Aus diesem Grunde schlage ich vor, die Definition, wonach die Philosophie Erkenntnis des Universums ist, dahingehend zu verstehen, daß sie ein geschlossenes System geistiger Haltungen darstellt, mit deren Hilfe das Streben nach absoluter Erkenntnis methodisch ins Werk gesetzt wird. Der entscheidende Punkt, an dem ein Zusammenhang von Gedanken zu Philosophie wird, ist folglich die Haltung, die der Geist dem Universum gegenüber einnimmt, das heißt, indem er sich gleichfalls universal und allbegreifend zu ihm verhält – kurzum, wenn er ein absolutes System bildet. Mithin ist die Philosophie auf Grund ihrer Wesensbeschaffenheit verpflichtet, theoretisch Stellung zu beziehen, sich jedem Problem zu stellen, was nicht bedeutet, es zu lösen, wohl aber seine Unlösbarkeit positiv nachzuweisen. Darin besteht das auszeichnende Merkmal der Philosophie im Unterschied zu den Einzelwissenschaften. Wenn diese auf ein für sie unlösbares Problem stoßen, lassen sie es einfach beiseite. Die Philosophie hingegen läßt von vornherein die Möglichkeit zu, daß die Welt überhaupt ein an sich unlösbares Problem ist. Und der Nachweis, daß dem so ist, wäre im vollgültigen Sinne eine Philosophie, die ihrer Bestimmung als solcher im strengsten Sinne gerecht würde. Für den Pragmatismus und die gesamte sogenannte „Wissenschaft“ ist ein unlösbares Problem ein Nicht-Problem, und zwar versteht man
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WAS IST PHILOSOPHIE?
hier unter „unlösbar“ die Unlösbarkeit mittels im voraus anerkannter Methoden. Problem nennt man demnach „das, was sich auflösen läßt“, und da die Lösung in bestimmten Manipulationen besteht, „das, was sich tun läßt“. Der Pragmatismus ist denn auch in Wirklichkeit Praktizismus, der sich an die Stelle jeder Theorie setzt. (Man denke an die Definition des Pragmatismus bei Peirce.) Jedoch zur gleichen Zeit bewahrt die recht verstandene Theorie, in der die Erkenntnisweise der Einzelwissenschaften Ausdruck findet, einen Überrest von praktischer Einstellung, denn die Theorie ist nicht reiner Erkenntnisdrang und insofern Hinnahme eines unbegrenzten Problems. Woher stammt – wird man fragen – dieser Appetit auf das Universum, auf die Welt als Ganzes, der Wurzelgrund der Philosophie ist? Ganz einfach: dieser Appetit, der wie eine Besonderheit der Philosophie anmutet, ist die ursprüngliche und spontane Haltung unseres Geistes im Leben. Denn leben heißt soviel wie mehr oder minder deutlich hinleben auf eine umfangende Welt, von der wir fühlen oder ahnen, daß sie eine Ganzheit ist. Der Mann der Wissenschaft, der Mathematiker, der wissenschaftliche Geist – sie legen einen Schnitt in diese unsere geschlossene Lebenswelt und entnehmen ihr ein Stück, das sie zum Gegenstand ihrer Frage machen. Wenn die Erkenntnis des Universums alias Philosophie nicht Wahrheiten desselben Typus zeitigt wie die „wissenschaftliche Wahrheit“: um so schlimmer für diese. „Die wissenschaftliche Wahrheit ist gekennzeichnet durch ihre Exaktheit und die Strenge ihrer Vorkehrungen. Doch hat die Experimentalwissenschaft diese wunderbaren Eigenschaften um den Preis erworben, daß sie sich auf einer Ebene sekundärer Probleme bewegt, hingegen die letzten, die entscheidenden Fragen unberührt läßt. Aus diesem Verzicht macht sie ihre Hauptstärke, und es erübrigt sich, noch einmal zu betonen, daß sie schon allein deswegen Beifall verdient. Doch stellt die Experimentalwissenschaft nur einen schmalen Ausschnitt der geistigen und organischen Veranlagung des Menschen dar. Wo sie haltmacht, da macht nicht der Mensch halt. Wenn der Physiker bei der Wiedergabe von Tatbeständen seiner Hand an dem Punkt Einhalt gebietet, wo seine Methode zu Ende ist, so verlängert doch der Mensch, der in jedem Physiker steckt, ob er will oder nicht, die angefangene Linie und führt sie ans Ziel, so wie beim Anblick einer durchbrochenen Bogenwölbung unser Blick unwillkürlich das fehlende Stück in der Luft ergänzt.
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WUNSCH NACH TEILHABE AN EINER VOLLSTÄNDIGEN WELTERKENNTNIS
Aufgabe der Physik ist es, jede auftretende Tatsache auf ihren Anfang hin zu untersuchen, das heißt, den voraufgehenden Tatbestand festzustellen, der jene verursacht hat. Aber dieser Anfang führt seinerseits zurück auf einen vorangehenden Anfang, und so immer fort bis hinauf zu seinem ersten Ursprung. Der Physiker verzichtet darauf, nach diesem Urprinzip des Weltganzen zu suchen, und er tut wohl daran. Aber – noch einmal sei es gesagt –: der Mensch, der in jedem Physiker steckt, verzichtet nicht darauf, und freiwillig oder gegen seinen Willen flieht seine Seele dieser ersten und rätselhaften Ursache entgegen. Das ist an sich ganz natürlich. Leben heißt allemal mit der Welt umgehen, sich ihr zuwenden, in ihr wirken, sich mit ihr abgeben. Darum ist es dem Menschen, einer psychologischen Zwangsläufigkeit gehorchend, ausgesprochen unmöglich, auf die Teilhabe an einer vollständigen Welterkenntnis, einer ganzheitlichen Idee vom Universum zu verzichten. Mag sie fein oder grob ausfallen, mögen wir ihr zustimmen oder nicht: diese überwissenschaftliche Physiognomie der Welt verkörpert sich in jedem Geist und beherrscht unser Dasein wirksamer als die wissenschaftliche Wahrheit. Gewaltsam wollte das vergangene Jahrhundert den menschlichen Geist an dem Punkt bremsen, wo die Exaktheit ihr Konto liquidieren muß. Diese Gewalttätigkeit, diese Nichtbeachtung der letzten Probleme nannte sich ,Agnostizismus’. Gerade dies aber ist weder gerechtfertigt noch verständlich. Wenn die Erfahrungswissenschaft außerstande ist, auf ihre Art diese Grundfragen zu lösen, so ist das kein Grund, sie wie der Fuchs die zu hoch hängenden Trauben mit einem höhnischen Kratzfuß abzutun, sie Mythen zu nennen und uns aufzufordern, man solle sie auf sich beruhen lassen. Wie können wir denn den äußersten, den dramatischsten Lebensfragen unser Ohr verschließen? Wo kommt die Welt her, wo geht sie hin? Welche Macht regiert im letzten Grund den Kosmos? Was ist der Grundsinn des Lebens? Wir können nicht Atem holen, wenn wir auf eine Zone mittelbarer, sekundärer Probleme beschränkt bleiben. Wir brauchen eine Gesamtperspektive, mit Vorder- und Hintergrund, nicht eine verstümmelte Landschaft, nicht einen Horizont, den man um das verlockende Flimmern äußerster Fernen gebracht hat. Ohne Kardinalpunkte fehlte unseren Schritten die Orientierungsmöglichkeit. Und es ist keine Entschuldigung für diese Unempfindlichkeit gegenüber den letzten Fragen, wenn man erklärt, man habe keinen Weg gefunden, sie zu lösen. Um so mehr besteht Grund, in der Wurzel un-
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seres Seins ihr Drängen und ihren Stachel zu spüren. Welchen Hungrigen hat je der Gedanke satt gemacht, daß es nichts zu essen geben wird? Auch wenn sie unlösbar sind, werden diese Fragen wie eh und je herzbewegend am nächtlichen Himmelsbogen aufsteigen und uns als Sterne zublinken; die Sterne sind, wie Heine sagte, das flimmernde Gold unruhvoller Nachtgedanken. Der Norden und der Süden weisen uns die Richtung, ohne daß es erreichbare Städte zu sein brauchten, für die man ein Eisenbahnbillett lösen kann. Ich möchte damit sagen, daß es uns nicht freisteht, auf die Stellungnahme angesichts der letzten Fragen zu verzichten: auf die eine oder andere Art nehmen sie in uns Gestalt an, ob wir wollen oder nicht. Die wissenschaftliche Wahrheit ist zwar eine exakte, aber unvollständige und vorletzte Wahrheit, die sich zwangsläufig einer anderen Wahrheitsgattung einfügt; dieser letzten und vollständigen Wahrheit die Bezeichnung Mythos zu geben, wäre keineswegs ungehörig. Die wissenschaftliche Wahrheit ist demnach eingelassen in Mythologie, und die Wissenschaft selber ist, als Ganzes gesehen, ein Mythos, der bewundernswerte europäische Mythos.“1
Anhang: Der Ursprung der Erkenntnis2 Jedoch wenn wir fragen, woher denn dieser Appetit auf das Universum und das Weltganze, die Wurzelgrund der Philosophie sind, stammt, läßt uns Aristoteles im Stich. Für ihn ist die Frage ganz einfach, und in seiner „Metaphysik“ sagt er am Anfang: „Die Menschen empfinden von Natur aus den Drang nach Erkenntnis.“ Erkennen heißt nicht, sich mit den Dingen zufriedengeben, so wie sie uns entgegentreten, sondern heißt hinter ihnen nach ihrem Sein suchen. Sonderbarer Zustand: dieses „Sein“ der Dinge! Es erklärt sich in ihnen nicht offen, sondern pulsiert im Gegenteil stets verborgen hinter ihnen, jenseits ihrer Anwesenheit. Aristoteles erscheint es natürlich, daß
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Diese letzten Absätze entstammen dem Essay: „Der sportliche Ursprung des Staates“ (Bd. I dieser Ausgabe, Seite 428). 2 In der bruchstückhaften Veröffentlichung einiger Vorlesungen dieses Kursus, auf die wir im Vorwort hingewiesen haben, und im Anschluß an die aristotelische Definition der Philosophie folgte der Text, den wir nachstehend wiedergeben. 358
DER URSPRUNG DER ERKENNTNIS
wir uns nach diesem „Jenseits“ fragen, während es doch das Natürliche wäre, da unser Leben in erster Linie darin besteht, daß wir uns von Dingen umgeben finden, wenn wir uns mit diesen begnügten. Von ihrem „Sein“ haben wir zunächst nicht die mindeste Kenntnis. Uns sind lediglich die Dinge gegeben, nicht jedoch ihr Sein. Auch weist in ihnen nichts ausdrücklich darauf hin, daß sie ein Sein im Rücken haben. Offenbar ist das „Jenseits“ der Dinge auf keinerlei Weise in ihnen selber. Man sagt, der Mensch sei von Natur aus wißbegierig. Und das meint auch Aristoteles, wenn er auf die Frage: „Warum bemüht sich der Mensch um Erkenntnis?“ wie ein Arzt bei Moliere antwortet: „Weil es in seiner Natur liegt.“ „Ein Zeichen dafür“, fährt er fort, „daß dieser Drang in seiner Natur liegt, ist sein Eifer, wenn es etwas wahrzunehmen“ – vor allem zu sehen – „gibt“. Hier erinnert sich Aristoteles an Platon, der die Männer der Wissenschaft und die Philosophen in die Gattung der „philotheamones“ – der „Freunde des Sehens“ – eingereiht hatte, das heißt den Schaulustigen, die gern ins Theater gehen, beigezählt hatte. Doch ist Sehen das Gegenteil von Erkennen; Sehen heißt mit den Augen durchnehmen, was da ist, während Erkennen die Suche nach dem ist, was nicht da ist: das Sein der Dinge. Erkennen ist ausgesprochen ein Sichnichtbegnügen mit dem, was zu sehen ist; es ist vielmehr ein Verneinen des Sichtbaren auf Grund seiner Unzulänglichkeit und ein Postulieren des Unsichtbaren, des „Jenseits“, auf das es wesentlich ankommt. Aristoteles zeigt uns mit dieser Angabe, sowie mit vielen anderen, die sich in seinen Büchern in Fülle finden, welcher Art sein Gedanke vom Ursprung der Erkenntnis war. Ihm zufolge bestand die Erkenntnis lediglich im Gebrauch oder in der Ausübung einer Fähigkeit, die der Mensch nun einmal hat, so wie wenn Sehen nichts anderes wäre als Gebrauch vom Gesichtssinn machen. Wir haben Sinne, wir haben ein Gedächtnis, das die von jenen vermittelten Daten aufbewahrt, haben Erfahrung, die das gedächtnismäßig Aufbewahrte aussondert und verdichtet. Bei alldem handelt es sich um angeborene Mechanismen des menschlichen Organismus, den der Mensch, ob er will oder nicht, betätigt. Aber nichts von alldem ist Erkenntnis. Auch nicht wenn wir die anderen, im engeren Sinne „geistigen“ Fähigkeiten hinzunehmen, als da sind: Abstrahieren, Vergleichen, Schließen usw. Die Intelligenz oder der Gesamtverband aller dieser Vermögen ist gleichfalls ein Mechanismus, den der Mensch als eine ihm verliehene Gabe vorfindet
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und der offensichtlich in höherem oder niedrigerem Grade dazu dient zu erkennen. Jedoch das Erkennen selber ist weder eine Fähigkeit noch eine Gabe noch ein Mechanismus; es ist im Gegenteil eine Aufgabe, die der Mensch sich stellt. Und zwar eine Aufgabe, die vielleicht unmöglich ist. Bis zu diesem Grade ist die Erkenntnis nicht instinktmäßig. Beim Erkennen machen wir Gebrauch von unseren Fähigkeiten; jedoch nicht aus bloßem Drang, sie zu betätigen, sondern um einer Notwendigkeit, einem Bedürfnis zu genügen; doch hat diese Notwendigkeit mit unseren Fähigkeiten nicht das mindeste zu tun, denn vielleicht sind diese unsere geistigen Vermögen ungeeignet oder – zumindest – unzureichend. Es sei also festgestellt, daß Erkennen nicht schlechthin die Betätigung der geistigen Fähigkeiten ist, da nicht einmal gesagt ist, ob der Mensch zu erkennen vermag; allein die Tatsache bleibt bestehen, daß er sich angestrengt um Erkenntnis bemüht, daß er sich nach dem Jenseits des Seins fragt und sich danach verzehrt, zu ihm hinzugelangen. Von jeher ist die eigentliche Frage nach dem Ursprung der Erkenntnis ihrer Kraft beraubt worden, indem man die Erforschung ihrer Mechanismen für sie eintreten ließ. Es genügt nicht, einen Apparat zu besitzen, um sich auch seiner zu bedienen. Unsere Häuser sind vollgestopft mit Apparaten außer Gebrauch, die wir nicht benutzen, weil wir an dem, was sie uns liefern, kein Interesse mehr haben. Juan ist ein für die Mathematik ungemein begabter Mensch, aber da er nur für Literatur Interesse hat, gibt er sich nicht mit Mathematik ab. Darüber hinaus ist es aber, wie ich angedeutet habe, keineswegs sicher, ob die geistigen Gaben des Menschen ihm zu erkennen gestatten. Wenn wir – wie Aristoteles – unter „Natur“ den Gesamtverband seiner körperlichen und geistigen Apparate verstehen sowie deren jeweilige Wirkungsweise, dann werden wir zugeben müssen, daß die Erkenntnis ihm nicht „natürlich“ ist. Im Gegenteil: wenn er von all diesen Mechanismen Gebrauch macht, widerfährt es ihm, daß er nicht im vollen Sinne das Ziel erreicht, das er sich unter dem Wort „Erkennen“ vorstellt. Sein Vorsatz, sein Erkenntnisdrang gehen über seine Gabe, seine Mittel, ihm Genüge zu tun, hinaus. Er greift nach sämtlichen Werkzeugen, die er besitzt, ohne daß jemals irgendeines von ihnen oder alle zusammen ihm volle Befriedigung zu schaffen vermögen. Wahr ist somit, daß der Mensch einen sonderbaren Drang nach Erkenntnis verspürt, daß aber
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DER MENSCH – DIE LEBENDE UNZULÄNGLICHKEIT
seine Mittel, die Aristoteles seine „Natur“ nennt, ihn im Stich lassen. Dies zwingt uns unverzüglich und unausweichlich zu dem Zugeständnis, daß die eigentliche Natur des Menschen weiträumiger ist, daß sie zwar im Besitz von Gaben, aber auch von Gebrechen besteht. Der Mensch setzt sich aus dem zusammen, was er hat, aber auch „aus dem, was ihm fehlt“. Wenn er seine geistigen Fähigkeiten an eine weitreichende und verzweifelte Anstrengung wendet, so tut er dies nicht nur deshalb, weil er diese Fähigkeiten hat, sondern im Gegenteil: weil er einer Sache, die ihm fehlt, bedürftig ist und – um sie zu erlangen – ganz natürlich die Mittel, die er hat, einsetzt. Alle Erkenntnistheorien haben sich darin grundlegend getäuscht, daß sie die ursprüngliche Inkongruenz übersahen, wie sie zwischen der Erkenntnisnotwendigkeit des Menschen und den Fähigkeiten, die ihn auf Erkenntnis zählen lassen, besteht. Einzig Platon hat gesehen, daß die Wurzel des Erkennens, ihre eigentliche Substanz, könnten wir sagen, gerade in der Unzulänglichkeit der menschlichen Gaben besteht, in der furchtbaren Tatsache, daß der Mensch – nicht weiß. Weder Gott noch das Tier kennen diesen Zustand. Gott weiß alles und hat deshalb kein Erkennen. Das Tier weiß nichts und hat deshalb ebensowenig ein Erkennen. Der Mensch indessen ist die lebende Unzulänglichkeit, der Mensch hat Wissen nötig und nimmt zu seiner Verzweiflung wahr, daß er nichtwissend ist. Das ist es, was analysiert werden muß. Warum schmerzt den Menschen sein Nichtwissen so wie ein Glied, das er nie besessen hat?
IV Erkenntnis von Universum oder Multiversum • Der Primat des Problems vor seinen Lösungen • Technische Probleme und praktische Probleme • Panlogismus und vitale Vernunft Es ergeht diesem philosophischen Kursus wie dem Flußlauf des Guadiana – an einer bestimmten Stelle ist er entsprungen, versickerte dann in den Sanddünen einer Wüste und brach am Ende hier wieder ans Tageslicht. Aus meiner ersten Vorlesung in der Universität habe ich – wie es bei Feuersbrünsten und anderen plötzlichen Katastrophen zu 361
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geschehen pflegt – allein zwei Punkte hierher gerettet. Der eine betrifft das Thema, unter das ich diesen Kursus gestellt habe; der andere – den ich von Zeit zu Zeit immer wieder ins Gedächtnis rufen möchte – meinen Vorsatz, nicht geradlinig fortzuschreiten, sondern meinen Gedankengang in aufeinanderfolgenden Kreisen mit abnehmendem Radius – das heißt in einer Spirallinie zu entwickeln. Das gibt uns die Möglichkeit und nötigt uns dazu, jede Frage zuerst in ihrer geläufigsten und lockersten Form aufzuwerfen und sie damit zugleich auf die verständlichste Art darzubieten, jedoch mit der Gewißheit, daß wir ihr immer von neuem in einem der inneren Kreise wiederbegegnen werden, wo sie dann energischer und verbindlicher behandelt wird. Auf diese Weise – sagte ich – tritt eine ganze Reihe von Gegenständen, die bei ihrem ersten Erscheinen nur nach einer Phrase oder nach einem Gemeinplatz aussahen, abermals vor uns hin, und zwar, als hätte das Glück sie in einen höheren Stand versetzt, mit einem schwerwiegenderen und originelleren Anstrich. Nun denn: mit dem, was wir in der letzten Vorlesung gesagt haben, sind wir ans Ende unserer ersten Umkreisung gekommen – jetzt müssen wir – wie Platon sagen würde – τὸν ήμέτρον δεύτερον πλου̃ν – unsere zweite Weltumseglung in Angriff nehmen. Wir sahen, daß die wissenschaftliche, die physikalische Wahrheit die hervorragende Eigenschaft der Exaktheit besitzt – daß sie aber eine unvollständige und vorletzte Wahrheit ist. Sie genügt nicht sich selber. Ihr Gegenstand ist ein Teilgegenstand, ist nur ein Ausschnitt der Welt; außerdem geht sie von einer Anzahl Voraussetzungen aus, die sie ohne weiteres als gegeben hinnimmt; insofern ruht sie nicht in sich selber, hat nicht in sich selber Grundlage und Wurzel, ist also keine radikale Wahrheit. Deshalb enthält sie das Postulat, erhebt sie Anspruch auf Integrierung in andere weder physikalische noch wissenschaftliche Wahrheiten, die ihrerseits vollständig und wahrhaft letzte Wahrheiten sind. Wo die Physik aufhört, da hört nicht das Problem auf; der Mensch, der sich hinter dem Physiker verbirgt, benötigt eine ganze Wahrheit. Darum bildet er sich auf Grund seiner Lebensverfassung, ob er will oder nicht, eine ganzheitliche Weltanschauung. Wir sehen, wie hier zwei Wahrheitstypen in ausgeprägten Gegensatz treten: die wissenschaftliche und die philosophische Wahrheit. Jene ist exakt, aber unzureichend; diese ist zureichend, aber nicht exakt. Und es ergibt sich, daß diese in ihrer mangelnden Exaktheit als Wahrheit radikaler ist als die
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EXAKTHEIT UND WAHRHEIT
andere – daß sie insofern unzweifelhaft eine ranghöhere Wahrheit darstellt – nicht nur weil ihr Thema weiträumiger ist, sondern auch hinsichtlich ihres Erkenntnismodus, kurzum, daß die nichtexakte philosophische Wahrheit eine echtere Wahrheit ist. Aber das sollte nicht wundernehmen. Die unüberlegte und landläufige Neigung, die Exaktheit als ein Attribut anzusehen, das den Gehalt der Wahrheit beeinflußt, ist nicht nur auf keine Weise gerechtfertigt, sondern hat überdies keinerlei Sinn. Exaktheit kann es nur geben, solange von quantitativen Dingen die Rede ist, oder, wie Descartes sagte, von „quod recipit magis et minus“; das heißt, von dem Zählbaren und Meßbaren. Sie ist demnach, strenggenommen, nicht ein Attribut der Wahrheit schlechthin, sondern gewisser ganz bestimmter Dinge, die es in der Welt gibt; im letzten Grunde kommt sie einzig der Quantität, sodann – mit annähernder Gültigkeit, der Materie zu. Eine Wahrheit kann sehr exakt und trotzdem nur in sehr geringem Grade wahr sein. So haben zum Beispiel fast alle Gesetze der Physik einen exakt formulierten Ausdruck; da sie jedoch auf Grund einer rein statistischen Berechnung zustande gekommen sind, das heißt durch Errechnung von Wahrscheinlichkeiten, haben sie auch nur einen Wahrscheinlichkeitswert. So kommt es zu dem merkwürdigen Fall – und man sollte das Thema gesondert behandeln, weil es brennend und ungemein schwerwiegend ist–, daß sich die Physik mit zunehmender Exaktheit den Physikern unter der Hand in ein System bloßer Wahrscheinlichkeiten verwandelt; das heißt, in Wahrheiten zweiter Klasse in Als-obWahrheiten. Die Folge davon ist eine der Ursachen, weshalb sich heute die Physiker, diese gigantischen Schöpfer eines ganz neuen kosmischen Panoramas, mit Philosophie beschäftigen und ihre partikulare Wahrheit auf den Boden einer vollständigeren Lebenswahrheit stellen. Wir haben in der letzten Vorlesung mit der Grundtatsache, der Tatsache, auf der alles andere beruht – nämlich mit „unserem Leben“ und seinem Umkreis: der Welt- erste Fühlung aufgenommen. Diese Fühlung war noch überaus ungenau und ermangelte der Evidenz. Sie schien kaum mehr zu sein als eine verschwommene poetische oder pathetische Reaktion. Immerhin läßt sie in ausreichendem Maße darauf schließen, welchen Weg wir einzuschlagen haben. Vor fünfzig Jahren trachtete die Philosophie danach, so weit als möglich eine Ergänzung der Einzelwissenschaften zu bilden. Wenn diese
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an einen Punkt gelangten, wo Resultate nicht mehr zu erzielen waren, betraute man die arme Philosophie, die eine Art „Mädchen für alles“ war, mit der Fertigstellung der Aufgabe, deren sie sich unter Verwendung einiger ehrerbietiger Redensarten entledigte. Der Mensch richtete sich in der Physik ein; wenn diese am Ende war, folgte, einer Art Trägheitsgesetz gehorchend, stracks der Philosoph, indem er, um zu erklären, was übrigblieb, etwas wie eine Physik „extra muros“ bemüßigte. Diese Physik jenseits der Physik war die Metaphysik, das heißt, eine Physik, die nicht bei sich war. (So noch heute die englische Philosophie: Russell und Whitehead.) Was wir vorhin gesagt haben, läßt jedoch erkennen, daß unser Weg entgegengesetzt verläuft. Wir lassen den Physiker – und ebenso den Mathematiker oder den Geschichtsschreiber oder den Künstler oder Politiker – sobald er der Grenzen seines Berufs innewird, in seinen eigenen Wesensgrund zurücktreten. Dann wird er gewahr, daß er eigentlich an sich gar kein Physiker ist, sondern daß die Physik eine unter den zahllosen Beschäftigungen ist, denen der Mensch im Leben nachgeht. Der Physiker stellt sich in seinem tiefsten Grund, in der untersten Schicht als ein leibhafter Mensch heraus, der teilhat am menschlichen Leben. Und es ist die unumgängliche Bewandtnis dieses menschlichen Lebens, daß es sich beständig auf eine ganzheitliche Welt, auf das Universum bezieht. Der Mensch kommt vor dem Physiker, und als Mensch macht er sich Gedanken über das Weltganze, das heißt, er philosophiert – ob nun besser oder schlechter – verbindlich oder spontan, gebildet oder ungebildet. Unser Weg wird nicht so verlaufen, daß wir über die Physik hinausgehen, sondern umgekehrt: daß wir hinter die Physik zurückgehen auf das ursprüngliche Leben und in ihm die Wurzel der Philosophie finden. Es handelt sich dabei also um keine Metaphysik, sondern um eine Ante-Physik. Sie entspringt dem Leben selber, und zwar kann das Leben, wie wir in streng verbindlicher Weise sehen werden, nicht darauf verzichten zu philosophieren, sei es auch in elementarer Form. Aus diesem Grunde können wir auf unsere Frage: „Was ist Philosophie?“ eine erste Antwort erteilen; und zwar würde diese lauten: „Die Philosophie ist etwas, dem man nicht ausweichen kann.“ Auf die Frage: „Was ist Philosophie?“ wollte ich, wie ich in meiner letzten Vorlesung versprach, mit einer Reihe von Attributen, Merk-
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malen und Kennzeichen antworten, die das Profil des philosophischen Denkens bestimmen sollten. Doch es kam die Zeit, der große Schnitter, und schnitt meine Vorlesung in voller Blüte ab, als gerade der Begriff, nach dem wir suchten, sich entfalten und reif werden wollte. Ich mußte meinen Gedankengang an einem beliebigen Punkt gewaltsam abbrechen, und zwar da, wo die Uhrzeit mir Einhalt gebot. Doch wenn Sie zurückdenken, wird Ihnen einfallen, daß wir die Schwelle des Themas zur Not betreten haben, und heute heißt es nun, in sein Inneres eintreten. Wir haben von der Definition gesprochen, derzufolge die Philosophie Erkenntnis des Universums ist, doch habe ich Sie von vornherein gewarnt, damit uns nicht bei dieser Definition, die anscheinend so rund und geschlossen ist, gerade das entgeht, was an dem geistigen Modus, den wir Philosophie nennen, so wesentlich und besonders ist. Diese Gefahr entspringt, genau besehen, nicht der Definition als solcher – denn diese ist korrekt, als vielmehr der Art, wie wir, namentlich die Menschen einer heißblütigen Rasse, zu lesen und zuzuhören pflegen. Nach einem Vierteljahrhundert Ideenproduktion – ich will mich nicht älter machen, als ich bin, aber tatsächlich habe ich mit achtzehn Jahren zu publizieren angefangen – hege ich keinerlei Illusionen mehr hinsichtlich der Erwartung, daß Spanier oder Argentinier – von Ausnahmen abgesehen, unter Lesen und Zuhören etwas anderes verstehen könnten als von der spontanen oder rein eindrucksmäßigen Bedeutung eines Wortes zu der eines anderen überzuspringen und von dem oberflächlichen Sinn eines Satzes zu dem des nächsten. Nun denn: auf diese Art läßt sich kein philosophischer Ausdruck verstehen. Philosophie kann man nicht lesen – man muß sie „entziffern“ – das heißt, man muß jeden Satz durchdenken, und dies setzt voraus, daß man ihn in seine Wortbestandteile zerlegt, jeden einzelnen Bestandteil aufnimmt und, anstatt sich mit dem Anschauen seiner hübschen Oberfläche zu begnügen, kopfüber in ihn hineinspringt, sich in ihn versenkt, in das Eingeweide seiner Bedeutung eindringt, sich seine Anatomie und seine Grenzen recht genau ansieht, um als Inhaber seines Geheimnisses wiederum an die freie Luft emporzusteigen. Wenn man so mit allen Worten eines Satzes verfährt, besteht ihr Zusammenhang nicht mehr in einem Nebeneinander; vielmehr hängen sie dann untergründig durch ihre idealen Wurzelfasern zusammen, und erst jetzt bilden sie die Wahrheit eines philosophischen Satzes. An die Stelle des oberflächlichen oder horizontalen Lesens, des
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bloßen geistigen Schlittschuhlaufens, muß man das senkrechte Lesen, das Eintauchen in den kleinen Abgrund, den jedes Wort auftut, treten lassen, indem man als Taucher ohne Taucherhelm seinen Fang heraufholt. So habe ich mich auch bemüht, Sie nacheinander mit jedem einzelnen Begriff, aus dem sich die zitierte Definition zusammensetzt, vertraut zu machen. Und nun, da wir gezwungen sind, das Gesagte wiederaufzunehmen, um an unseren Gedankengang anzuknüpfen, bietet sich uns Gelegenheit, die bereits getroffene Aussage zu bekräftigen und beträchtlich zu erweitern. Es liegt mir daran, so zu verfahren, weil es eine meines Wissens völlig neue Analyse ist, an die wir herangehen, eine Analyse, die – wie ich hoffe – strenger und verbindlicher ist als die sonst üblichen. Ans Werk also! Universum ist die Bezeichnung des Themas, des Gegenstandes, um dessen Erforschung willen die Philosophie entstanden ist. Nun ist aber dieser Gegenstand – Universum – so ausgefallen, so von Grund aus verschieden von allen sonstigen Gegenständen, daß sich der Philosoph von vornherein gezwungen sieht, ihm in einer völlig anderen Haltung gegenüberzutreten, als sie die Einzelwissenschaften zu ihren jeweiligen Gegenständen einnehmen. Unter Universum verstehe ich strenggenommen „alles, was es gibt“. Das heißt: den Philosophen interessiert nicht das An-und-für-Sich jedes einzelnen der vorhandenen Dinge, nicht ihr Sonderdasein und sozusagen ihr Privatleben, sondern ihn interessiert im Gegenteil die Gesamtheit dessen, was es gibt, und infolgedessen das Sein jedes einzelnen Dings im Verhältnis zu und zusammen mit allen anderen, seine Stellung, die Rolle und der Rang im Gesamtzusammenhang der Dinge – sozusagen das öffentliche Leben jedes einzelnen Dings, nämlich was es unter der alles beherrschenden Publizität universalen Daseins jeweils vorstellt und gilt. Unter den Dingen wollen wir nicht nur die physikalischen und leibseelischen Realien verstehen, sondern auch das Irreale, das Ideale und Phantastische, auch das Überwirkliche, sofern es dergleichen gibt. Deshalb wähle ich das Verb „geben“; ich sage nicht etwa: „Alles, was ist“, sondern „alles, was es gibt“. Dieses „Es gibt“ bezeichnet den weitesten Kreis, der hinsichtlich der Gegenstände gezogen werden kann, und zwar ist er so weit, daß er auch Dinge einschließt, will sagen, daß es sogar Dinge gibt, von denen wir zu sagen genötigt sind, es
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gebe sie zwar, aber sie hätten kein Dasein. So zum Beispiel das runde Quadrat, das Messer ohne Klinge oder alle jene wundersamen Wesenheiten, von denen uns der Dichter Mallarmé spricht – wie zum Beispiel die erhabene Stunde, die, wie er sagt, „vom Zifferblatt abwesend“ ist, oder die beste Frau, die die „Niemandsfrau“ ist. Von dem runden Quadrat können wir lediglich sagen, daß es nicht existiert, und zwar nicht zufällig, sondern daß seine Existenz unmöglich ist. Um jedoch über das arme runde Quadrat dieses grausame Urteil fällen zu können, muß es ja offenbar auf irgendeine Weise zuvor für uns dagewesen sein; das heißt: auf irgendeine Art muß es das runde Quadrat geben. Ich sagte: zunächst grenzten der Mathematiker und der Physiker ihren Gegenstand ein, um ihn zu definieren, und zwar enthält diese Definition des Zahlenmäßigen oder der Menge oder wovon sonst die Mathematik ausgehen mag, sowie ebenso die Definition des physikalischen Phänomens, des Stofflichen, die wesentlichsten Attribute des Gegenstandes. Die Einzelwissenschaften beginnen also damit, ihr Problem auszusondern und einzukreisen, und zu diesem Zweck steht für sie am Anfang das Wissen oder das vermeintliche Wissen davon, worauf es am meisten ankommt. Ihre Aufgabe beschränkt sich darauf, die innere Struktur ihres Gegenstandes zu erforschen, sein feines inneres Gewebe, seine Histologie, könnte man sagen. Wenn dagegen der Philosoph nach allem, was es gibt, auf die Suche geht, nimmt er ein radikales, ein grenzenloses, ein absolutes Problem in Kauf. Von dem, was er sucht – nämlich dem Universum –, weiß er nichts. Stellen wir eindeutig fest, was alles er nicht weiß; Feststellen bedeutet soviel wie das Problem der Philosophie in aller Strenge definieren, indem wir herausarbeiten, was an ihr im höchsten Grade seltsam und ohnegleichen ist. 1. Wenn wir uns fragen, was denn dieses „alles, was es gibt“ ist, haben wir nicht die leiseste Ahnung, was dieses „es gibt“ sein mag. Das einzige, was wir vor aller Philosophie wissen, ist: daß es das eine gibt und das andere und das nächste, also genau das, was wir nicht suchen. Wir suchen „alles“, und was wir halten, ist immer nur etwas, das nicht alles ist. Von diesem „alles“ wissen wir gar nichts, und vielleicht sind unter allen diesen Teilen, die wir schon haben, gerade nicht die für uns wichtigsten, vielleicht fehlt das Wichtigste, was es gibt. 2. Aber wir wissen ebenfalls nicht, ob dieses „es gibt“ tatsächlich ein Ganzes, das heißt ein Universum ist, oder ob nicht am Ende „was es 367
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gibt“ vielmehr verschiedene Ganze bildet, ob es nicht ein Multiversum ist. 3. Aber noch mehr wissen wir nicht. Mag das, was es gibt, Universum oder Multiversum sein, so wissen wir bei Antritt unserer geistigen Unternehmung absolut nicht, ob es erkennbar sein wird, das heißt, ob unser Problem lösbar sein wird oder nicht. Ich bitte Sie, nicht unaufmerksam an dem vorüberzugehen, was ich soeben gesagt habe. Es ist dies die seltsamste Dimension des philosophischen Denkens, die ihm einen exklusiven Charakter verleiht und den geistigen Modus der Philosophie am besten von allen anderen unterscheiden läßt. Die Einzelwissenschaft hegt keinen Zweifel hinsichtlich der Erkennbarkeit ihres Gegenstandes – ihr Zweifel bezieht sich lediglich darauf, ob er voll und ganz erkennbar ist, und so trifft sie auch innerhalb ihres Allgemeinproblems auf einige spezielle Probleme, die sie nicht lösen kann. Auch gelingt es ihr, wie zum Beispiel der Mathematik, zu beweisen, daß sie unlösbar sind. Doch ist die Haltung des Wissenschaftlers bedingt durch den Glauben an die Möglichkeit, daß sein Gegenstand erkennbar ist. Und zwar handelt es sich dabei nicht um eine vage menschliche Zuversicht, sondern um etwas, das der Wissenschaft selber wesenseigen ist, und zwar derart, daß die Definition ihres Problems mit der Festsetzung der allgemeinen Lösungsmethode gleichbedeutend ist. In anderen Worten: für den Physiker ist das Problem etwas, das sich im Prinzip lösen läßt; die Lösung steht dem Problem gewissermaßen voran; es versteht sich, daß er Lösung und Erkenntnis die Behandlung nennen wird, die das Problem verträgt. So kennt zum Beispiel der Physiker von den Farben und Klängen und den sinnlichen Veränderungen im allgemeinen nur die quantitativen Verhältnisse; und auch diese – ihre Befindlichkeit in Raum und Zeit – nur relativ, und auch diese Relativitäten nur annäherungsweise, soweit es die Apparate und unsere Sinne gestatten; und dieses so wenig zufriedenstellende theoretische Resultat nennt er dann Lösung und Erkenntnis. Hinwiederum wird er als physikalisches Problem nur das ansprechen, was einer Messung unterzogen werden kann und diese methodische Behandlung verträgt. Allein der Philosoph führt in seine erkennende Haltung als wesenhaftes Moment die Möglichkeit ein, daß sein Gegenstand sich wider das Erkennen sträubt. Das heißt aber, daß die Philosophie die einzige Wissenschaft ist, die das Problem so wie es ist aufgreift, ohne es vorher gewaltsam zu domestizieren. Sie jagt das
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DAS PROBLEMBEWUSSTSEIN
Tier auf freier Wildbahn – nicht wie der Zirkusdompteur, der es vorher chloroformiert. So ist also nicht nur das Problem der Philosophie unbegrenzt in seinem Umfang, da es alles umfaßt und keine Schranke hat, sondern unbegrenzt ist auch die Inständigkeit ihrer Problematik. Wenn wir aber sagen, daß die Einzelwissenschaften ein relatives oder Teilproblem behandeln, soll das nicht nur bedeuten, daß sie sich ausschließlich mit einem Stück des Universums und sonst mit nichts befassen, sondern daß auch noch dieses Problem sich auf Daten stützt, die sich als im voraus gewußt und gelöst ausgeben und das infolgedessen nur halb ein Problem ist. Es ist meines Erachtens jetzt an der Zeit, eine grundlegende Feststellung zu treffen, eine Feststellung, die ich zu meiner Verwunderung nirgendwo ausgesprochen gefunden habe. Wenn von unserer erkennenden oder theoretischen Haltung die Rede ist, so definiert man sie ganz richtig als eine geistige Operation, die vom Bewußtsein des Problems bis zu seinem Lösungsmoment hinführt. Das Schlimme daran ist nur, daß man dazu neigt, nur dem letzten Teil der Operation Bedeutung beizumessen: nämlich der Behandlung und Lösung des Problems. Deshalb stellt man sich in Gedanken unter der Wissenschaft üblicherweise ein Repertorium von Lösungen vor. Meiner Auffassung nach ist das ein Irrtum. Zum ersten deshalb, weil es, streng betrachtet und – der Stimmung unserer Zeit entsprechend – unter Vermeidung von jederlei Utopismus, sehr strittig ist, ob je ein Problem völlig gelöst worden ist; deshalb dürfen wir, wenn wir die Wissenschaft definieren, den Akzent nicht auf die Lösung verlegen. Zum zweiten: die Wissenschaft ist ständig im Fluß und in Richtung auf die Lösung hin offen: mithin ist sie in Wahrheit nicht das Eintreffen an der ersehnten Küste, sondern die stürmische Seefahrt ihr entgegen. Zum dritten jedoch – und dies ist das Entscheidende – wird übersehen, daß, sofern die theoretische Tätigkeit eine Operation und ein Marschweg vom Problembewußtsein zu der Lösung des Problems ist, an erster Stelle eben das Bewußtsein vom Problem steht. Warum läßt man gerade dieses als unbedeutenden Umstand hinter sich? Warum erscheint es selbstverständlich, und nicht vielmehr dringend der Aufklärung bedürftig, daß der Mensch Probleme hat? Und dabei liegt doch klar vor Augen, daß im Problem das Herz und der Kern der Wissenschaft stecken. Alles andere fungiert in Abhängigkeit von ihm – ist an ihm gemessen sekundär –. Wollten wir uns für einen Augenblick dem
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WAS IST PHILOSOPHIE?
geistigen Vergnügen, das uns stets das Paradox beschert, überlassen, so könnten wir sagen: das einzig Unproblematische an der Wissenschaft ist eben ihr Problem; alles übrige, die Lösung vor allem, ist immer fragwürdig und strittig, schwankend und veränderlich. Jede Wissenschaft ist in erster Linie ein System von invariablen Problemen oder Problemen von sehr geringer Variationsbreite; und zwar ist es dieser Hort von Problemen, der seinen Weg von Generation zu Generation nimmt, der von einem Geist an den anderen weitergegeben wird, der das Erbe und das Palladium der Tradition in der tausendjährigen Geschichte einer Wissenschaft bildet. Dies alles soll mir jedoch nur als Trittstufe dienen, um mich auf die Ebene einer noch grundsätzlicheren Betrachtung zu erheben. Der Irrtum, in den man angesichts der theoretischen Tätigkeit verfiel, indem man sie an ihrem Lösungsende und nicht an ihrem Ausgangspunkt, dem Problem, erfaßte, wurzelt in der Verkennung der großartigen Tatsache, daß es im Menschen wunderbarerweise Probleme gibt. Und zwar unterscheidet man nicht zwischen zwei grundverschiedenen Bedeutungen dieses Wortes. Es fällt uns auf, daß das Leben dem Menschen von jeher Probleme aufgibt – und zwar sind diese Probleme, die nicht der Mensch sich selber stellt, sondern die über ihn herfallen, die ihm auf Grund der Tatsache, daß er lebt, aufgegeben sind, die praktischen Probleme. Versuchen wir die geistige Haltung zu definieren, bei der es zum Auftreten eines praktischen Problems kommt. Wir sind umfangen, umkreist von der kosmischen Wirklichkeit, in die wir mit unserem Leben eingetaucht sind. Diese umfangende Wirklichkeit ist materieller und gesellschaftlicher Art. Wir empfinden unversehens eine innere Nötigung oder ein Verlangen, denen nur Befriedigung verschafft werden könnte, wenn die umgebende Wirklichkeit von anderer Art wäre als sie tatsächlich ist: zum Beispiel hindert uns ein Stein am Weitergehen auf dem Weg. Das praktische Problem besteht darin, daß eine von der tatsächlichen verschiedene Wirklichkeit an deren Stelle treten soll, daß es einen Weg ohne Steine geben soll – das heißt, daß etwas, das nicht ist, eintreten soll. Das praktische Problem ist jene geistige Haltung, bei der wir eine Abänderung der Wirklichkeit planen, bei der wir auf das Sein von etwas ausgehen, das zwar noch nicht ist, aber, sofern es da wäre, uns gelegen käme. Nichts unterscheidet sich von dieser Haltung so grundlegend wie die
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DIE UMKEHRUNG DER GENESIS
Haltung, zu der es durch ein theoretisches Problem kommt. Ausdrucksform dieses Problems in der Sprache ist die Frage: „Was ist dieser oder jener Gegenstand?“ Achten Sie darauf, wie merkwürdig der geistige Sachverhalt ist, der uns so fragen läßt: „Was ist?“ bedeutet soviel wie daß etwas da ist, daß es – auf die eine oder andere Weise – ist; wäre dem nicht so, dann fiele es uns nicht ein, uns nach etwas an ihm zu fragen. Es zeigt sich jedoch, daß wir uns mit seinem Hiersein und seinem Sein nicht begnügen – sondern es beunruhigt uns vielmehr gerade, daß es ist und daß es so ist, wie es ist; und zwar reizt uns an ihm das Sein. Warum? Offenbar doch, weil es in seinem Sein und Sound-nicht-anders-Sein, in dem es vor uns erscheint, nicht sich selber genügt; wir gewahren vielmehr im Gegenteil, daß ihm der Grund zu sein mangelt, daß es in seinem Sein, sofern es nicht mehr ist, als es zu sein scheint, sofern es nicht hinter seinem Anschein ein Mehr gibt, das es ergänzt und stützt, für uns unbegreiflich ist oder – anders gesagt – daß sein Sein ein Nichtsein ist, ein Pseudosein, etwas, das nicht sein soll. Hieraus ergibt sich, daß es kein theoretisches Problem gibt, das nicht von etwas, das ist, ausgeht, von etwas, das unbestreitbar hier ist und das mein Verstand gleichwohl und eben deshalb als ein Nichtseiendes, ein Nichtseinsollendes denkt. Die Theorie – wie ausgefallen diese Tatsache ist, muß immer wieder hervorgehoben werden – fängt also damit an, daß sie die Wirklichkeit negiert und in Gedanken die Welt destruiert, indem sie sie in Nichts verflüchtigt; sie ist ein ideales Zurückziehen der Welt ins Nichts, in den Zustand vor der Schöpfung, da sie ja in der Verwunderung darüber besteht, daß die Schöpfung ist, und den Weg ihrer Genesis in umgekehrter Richtung zurücklegt. Wenn also das praktische Problem darin besteht, zu bewirken, daß etwas sein soll, was nicht ist, so besteht das theoretische Problem darin zu bewirken, daß nicht sein soll, was ist, weil es in seinem Sosein den Verstand mit seiner Unzulänglichkeit irritiert. In meinen Augen ist diese Kühnheit, mit der der Mensch das Sein provisorisch negiert und, indem er es negiert, in Problem verwandelt, es als Problem erschafft, das Kennzeichen und der wesentliche Inhalt der theoretischen Haltung – von der ich eben darum nicht glaube, daß sie sich auf irgendeine praktische Zweckhaftigkeit, welcher Art auch immer, zurückführen läßt. Das bedeutet, daß im Innern des biologischen und auf Nützlichkeit bedachten Menschen ein anderer Mensch verschwenderischer und sportlicher Art verborgen ist, der, anstatt sich
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WAS IST PHILOSOPHIE?
das Leben durch Nutzung der Realien zu erleichtern, sich das Leben im Gegenteil schwermacht, indem er an die Stelle des beruhigten Seins der Welt das unruhige Sein der Probleme setzt. Diese theoretische Wurzel oder Dimension des Menschenwesens ist eine letzte Tatsache, auf die wir im Kosmos stoßen, und es ist vergeblich, sie als eine Folge aus dem Nützlichkeitsprinzip erklären zu wollen, das in Anspruch genommen wird, um nahezu alle anderen Erscheinungen unseres lebenden Organismus zu erklären. Man sage also nicht, daß die Notwendigkeit uns zu dem praktischen Problem zwingt, uns theoretische Probleme stellen zu müssen. Warum widerfährt nicht dasselbe dem Tier, das doch ohne Zweifel praktische Probleme hat und fühlt? Beide Arten von Problematik sind grundverschiedenen Ursprungs und dulden nicht, daß man sie wechselseitig aufeinander zurückführt. Weil umgekehrt ein Sein ohne Verlangen, ohne notwendige Bedürfnisse, ohne Gelüste – ein Sein, das nur aus Intellekt bestünde und nur theoretische Probleme hätte – nie dazukäme, ein praktisches Problem auch nur wahrzunehmen. Nachdem wir diese grundsätzliche Feststellung getroffen haben, wenden wir sie sogleich an, indem wir sie auf unsere Frage „Was ist Philosophie?“ beziehen; und zwar sagen wir: wenn beim „homo theoreticus“, bei der Erkenntnistätigkeit der wesentliche Punkt in der Gabe besteht, die Dinge in Probleme zu verwandeln, die ontologische Tragödie, die sich in ihnen verbirgt, zu entdecken, so muß unzweifelhaft die theoretische Haltung um so reiner sein, je mehr ihr Problem ihr zum Problem wird, und umgekehrt: daß im selben Maße wie ein Problem nur ein Teilproblem ist, die Wissenschaft, die es aufwirft, einen Rest von praktischer Tätigkeit behält, von blindem erkenntnisfremdem Utilitarismus, von Tatendrang, aber nicht von reiner Schau – denn reine Schau ist allein die Theorie: schon die Etymologie zeigt das unumwunden. Insofern das philosophische das einzig absolute Phänomen ist, stellt die philosophische die einzig reine, die von Grund aus theoretische Haltung dar. Sie ist der zu maximaler Höhe gesteigerte Erkenntnisvorsatz, sie ist geistiger Heroismus. Der Philosoph läßt nichts unter seinen Füßen, das ihm als bequeme Stütze, als fester, unerschütterbarer Grund dienen könnte. Er verzichtet auf jede vorgängige Sicherheit, begibt sich in absolute Gefahr, praktiziert das Opfer seines gesamten naiven Glaubens, begeht als lebender Mensch Selbstmord, um in reine
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GRUNDVORAUSSETZUNGEN VON ERKENNBARKEIT
Erkenntnisschau verwandelt wieder aufzustehen. Er kann wie der heilige Franz von Assisi sagen: „Ich bedarf nur Weniges, und dieses Wenigen bedarf ich nur sehr wenig.“ Oder wie Fichte: „Philosophieren heißt eigentlich nicht leben, leben heißt eigentlich nicht philosophieren.“ Wir werden sehen, wie dennoch die Philosophie, jedenfalls meine Philosophie, von Grund aus und erstmalig auch das Leben einbezieht. Unser Problem war insofern auf absolute Art Problem, als von Anfang an seine Unlösbarkeit mit in Rechnung gestellt wurde: vielleicht, sagten wir, ist das Universum oder das „es gibt“ unerkennbar. Und zwar kann es aus zwei unterschiedlichen Gründen unerkennbar sein: der eine besteht darin, daß möglicherweise unsere Erkenntnisfähigkeit beschränkt ist; diese Ansicht vertreten der Positivismus, der Relativismus und – allgemein gesprochen – der Kritizismus. Es kann aber auch das Universum aus einem Grund unerkennbar sein, von dem die abgenutzten Erkenntnistheorien nichts wissen, nämlich daß selbst im Falle, wenn unsere Intelligenz unbegrenzt wäre, das Sein, die Welt, das Universum aus sich selber, auf Grund ihrer selbsteigenen Beschaffenheit für das Denken undurchsichtig blieben, da sie an sich selber irrational wären. Bis in die jüngstvergangenen Jahre hat man das Problem der Erkenntnis nicht in höherer und klassischer Form wieder aufgenommen. Und zwar hat gerade Kant, der so überaus scharfsichtig und genial und auf dem Gebiet seiner Leistung von bleibender Gültigkeit ist, vielleicht am meisten dazu beigetragen, daß man es nicht in seinem ganzen Umfang gesehen hat. Heute erscheint es uns allgemach sonderbar und unannehmbar, daß man, selbst wenn man nur in dieser teilweisen Form von ihm handelt, die Hauptfrage umgehen will. Wenn ich mich frage, wie und was das Subjekt Mensch zu erkennen fähig ist, muß ich zuvor feststellen, was ich denn im allgemeinen unter Erkenntnis verstehe, wer das erkennende Subjekt auch immer sein mag. Nur auf diese Art werde ich im besonderen Falle des Menschen zu der Einsicht kommen, ob die generellen Bedingungen erfüllt sind, ohne die keinerlei Erkenntnis möglich ist. – Heute – vor allem seit dem jüngst erschienenen Buch des großen deutschen Denkers Nicolai Hartmann – beginnt man einzusehen, daß zunächst die Grundvoraussetzungen von Erkennbarkeit bestimmt werden müssen. Die Erkenntnis – definiert in ihrem elementarsten Charakter, war jene berühmte und oberflächliche „adaequatio rei et intellectus“, das heißt eine Assimilation von Den-
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WAS IST PHILOSOPHIE?
ken und Sein. Wir sahen jedoch bereits, daß nur ein Minimum an „adaequatio“ stattfand und daß sich aus dieser nur eine rein symbolische Erkenntnis ergibt, bei der, was ich von einer Wirklichkeit denke, fast in nichts dieser Wirklichkeit ähnlich sieht, so wie der Wortschatz einer Sprache von dem einer anderen Sprache verschieden ist, so daß man sich mit einer Entsprechung oder einem Parallelismus begnügen muß. Auch in diesem Minimalfall könnten verschiedene Sprachen nicht miteinander korrespondieren, wenn sie nicht letzten Endes eine gemeinsame Struktur, ein grammatisches Skelett hätten, das zumindest teilweise beiden gemeinsam ist. Dasselbe ist bei jeder Art von Erkenntnis der Fall. Wenn es sich auch nur im geringsten Grade um Erkenntnis handelt, muß es ein Minimum an tatsächlicher Assimilation zwischen dem erkannten Sein und dem Denken oder subjektiven Zustand des Erkennenden geben. Die Welt kann nur in meinen Geist eingehen, wenn die Struktur meines Geistes zu einem Teil mit der Weltstruktur zusammenfällt, wenn mein Denken sich auf irgendeine Art übereinstimmend mit dem Sein verhält. So daß die alte scholastische Erfahrung einen neuen und um vieles gewichtigeren Sinn erhält. Es handelt sich hier nicht nur um die Bedeutung, die sie bisher gehabt hat und die als Beobachtung fast leichtfertig klingt – nämlich, daß sich der erkennende Verstand der Sache angleicht, das heißt, sie kopiert –, sondern es handelt sich vielmehr um die tiefe Voraussetzung, ohne die selbst dies nicht geschehen könnte. In Wahrheit kann nämlich mein Denken die Wirklichkeit nicht kopieren, sie nicht in sich aufnehmen, wenn nicht diese ihrerseits sich meinem Denken angleicht. Damit ist gesagt – und ich glaube, auch diese Formulierung ist neu, daß die „adaequatio“ zwischen beiden Termini wechselseitig sein muß; mein Denken muß mit der Sache übereinstimmen; dies aber ist unmöglich, wenn nicht auch die Sache an sich mit der Struktur meines Denkens übereinstimmt. So ist es zu erklären, daß jede Erkenntnistheorie, da man sich über diesen Sachverhalt nicht klargeworden ist, gegen ihren eigenen Willen eine Ontologie gewesen ist – das heißt, auf der einen Seite eine Lehre vom Sein, auf der anderen eine Lehre vom Denken (das im Grunde als ein Fürsich oder Einzelding aufgefaßt wird) und hernach einem Vergleich zwischen beiden. Aus diesem Vergleich ergab sich, daß man in einigen Fällen im Denken ein Ergebnis des Seins entdeckte – und zwar war dies der Realismus – während man in anderen Fällen umge-
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DER ERKENNTNISOPTIMISMUS DES RATIONALISMUS
kehrt nachwies, die Struktur des Seins entstamme dem Denken – und dies war der Idealismus. Jedoch im einen wie im andern Falle lag ohne deutliches Bewußtsein der Gedanke zugrunde, daß es notwendig sei, zur Rechtfertigung der Erkenntnis die strukturelle Identität beider Termini unter Beweis zu stellen. So faßt Kant seine gesamte „Kritik der reinen Vernunft“ in den folgenden mit Fachausdrücken gespickten Worten zusammen, die indessen erst jetzt die unscheinbarste und in ihrer Unscheinbarkeit nackte, aber zugleich vollkommen deutliche Einsicht verhüllen: Die Voraussetzungen der Möglichkeit von Erfahrung = Denken sind dieselben wie die Voraussetzungen der Möglichkeit von Gegenständen = Sein oder Realität. Nur auf diese Weise – wiederhole ich noch einmal – läßt sich allen Ernstes und in seiner ganzen idealen und furchterregenden Dramatik das Problem der Erkenntnis anpacken. Es kann vorkommen, daß sich der Kontext des Seins mit dem des Denkens völlig deckt, das heißt, daß das Sein dasselbe ist und auf die gleiche Weise wirkt, wie das Denken ist und wirkt. Darin besteht die große These des Rationalismus, der ein Maximum an Erkenntnisoptimismus darstellt. Verhielte es sich tatsächlich so, dann brauchte das Denken, um zu erkennen, nur sich selber zu denken – in der ruhigen Gewißheit, daß außerhalb seiner die Wirklichkeit, insofern sie ja denselben Gesetzen wie das Denken oder der „logos“ gehorcht, auf folgsame Art mit den Resultaten dieser Innenanalyse des Denkens zusammenfallen müsse. Deshalb sorgt Aristoteles dafür, daß Gott, das Prinzip des Universums, einzig in einem Denken des Denkens besteht – noesis noeseos – daß er allein indem er sich selbst denkt, sein Universum erkennt. Demnach besteht das Reale in logischer Materie – ist das Reale rational, wie späterhin, am anderen Extrem der Geschichte der Philosophie der andere Rationalist, der Panlogist Hegel behaupten wird. Wenn wir diesen rationalistischen Denkmodus in einem vernachlässigten Winkel antreffen wollen, halten wir uns am besten an Leibniz, indem wir eine unbeachtete Stelle gegen Ende seiner „Nouveaux Essais sur l’entendement humain“, die ich nirgends zitiert gefunden habe, anführen. Und zwar sagt dieser große Optimist: „Je ne conçois les choses inconnues que de la manière de celles qui nous sont distinctement connues.“ Dieser Mann ist fest überzeugt, daß das Unbekannte, das heißt, das Wirkliche jenseits unseres Denkens, einen Seinsmodus, eine Struktur oder wie ich mich sonst ausdrücken soll, kurzum eine Beschaffenheit hat, die gleicher 375
WAS IST PHILOSOPHIE?
Art ist wie das bereits erkannte Wirkliche, das heißt, wie jener Teil der Wirklichkeit, dessen Beschaffenheit sich bereits als übereinstimmend mit der unseres Denkens erwiesen hat. Für mich ist das ein klassisches Beispiel, eine klassische Stelle zum Beleg dafür, was ich unter intellektuellem Utopismus verstehe: nämlich den irren Glauben, daß das Denken in seinem Drang, in das Wirkliche an irgendeiner Stelle – utopos – seines unendlichen Körpers einzudringen, es überall durchsichtig und mit ihm übereinstimmend antreffen soll. Wenn dies sich so verhält, brauche ich erst gar nicht auf ein Zusammentreffen mit dem Unbekannten zu warten, da ich ja sogleich und von vornherein weiß, wie es sich verhalten wird. – Diesem Vorkämpfer des Optimismus könnten wir den extremen Skeptizismus gegenüberstellen – demzufolge das Sein an keinem Punkt mit dem Denken zusammenfällt und in dessen Augen folglich Erkenntnis unmöglich ist. Und auf halbem Wege zwischen beiden könnten wir den Standpunkt ansetzen, der am verständigsten anmutet: jenen Standpunkt, der sich auf die Beobachtung verläßt, daß das Sein nur zum Teil mit dem Denken zusammenfällt, daß nur gewisse Gegenstände sich wie das Denken verhalten, nämlich logisch. Eine Erkenntnistheorie, die von diesem dritten Gesichtspunkt ausgeht, wird darum bemüht sein, die Grenzlinie von Übereinstimmungen und Abweichungen im Verhältnis zwischen dem Universum und dem Denken streng und wahrhaftig zu ziehen, eine Landkarte der objektiven Welt zu entwerfen, auf der sich bewohnbare Zonen, die dem Denken Einlaß gewähren, neben unzugänglichen, irrationalen Zonen der Welt finden werden. Zum Beispiel bilden die Zahlen eine Provinz von Gegenständen, die mit dem Logos im Höchstmaß übereinstimmen, und zwar derart, daß man die Rationalisierung der gesamten Mathematik und ihren Aufbau als reine Logik für möglich gehalten hat. Jedoch in den letzten Monaten waren wir Zeuge einer jener großen ruhmreichen Schlachten, wie sie in der Geschichte nur selten stattfinden, einer Schlacht, die im Verein mit der heutigen Physik hinreichend wäre, unsere Epoche im großen Ablauf der Zeiten mit einem Ehrenzeichen zu krönen. Ich denke an den Versuch von Brouwer und Weyl, mit dem bewiesen werden soll, daß zwischen der Beschaffenheit der Zahl und der Beschaffenheit der Begriffe eine teilweise Diskrepanz besteht, daß eben deswegen eine logische oder formalistische Mathematik unmöglich ist, daß vielmehr eine Mathematik gefordert ist, die sich aufs getreueste der Besonderheit ihres
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KEIN RÜCKFALL IN DIE ALTE METAPHYSIK
Gegenstandes – der hier die Bezeichnung „intuitionistisch“ führt – anschließt, eine Mathematik also, die nicht logisch, sondern ausgesprochen mathematisch sein soll. Wenn wir von der Mathematik zu komplizierteren Gegenständen aufsteigen – der physikalischen Materie, dem organischen Leben, dem psychischen Leben, dem geschichtlichen Leben –, nimmt der Anteil des Irrationalen oder für das reine Denken Undurchschaubaren stetig zu, und es ist sehr zu vermuten, daß im Falle, da der Gegenstand kein geringerer ist als das Universum, der für die Mittel des traditionellen reinen „logos“ verschlossene und unbegreifliche Teil des Gegenstandes sein Maximum erreichen dürfte. Immerhin geht die Vernunft in der Physik unangefochten ihres Wegs; dagegen muß sich – wie Bergson so wunderschön sagt, wenn auch aus Gründen, die nicht so schön sind – „außerhalb der Physik die Vernunft vom gesunden Menschenverstand inspizieren lassen“. Was Bergson „gesunden Verstand“ nennt, ist dasselbe, was ich streng verbindlich als „Lebensvernunft“ bezeichnet habe; und zwar ist diese Lebensvernunft weiträumiger als die andere. Denn für sie ist eine ganze Anzahl von Gegenständen rational, die im Licht der alten Vernunft oder Begriffsvernunft oder reinen Vernunft ausgesprochen irrational sind. Aber es wäre kein geringeres Mißverständnis, vielleicht sogar das schwerwiegendste, wollte man die Definition der Philosophie als der Lehre vom Universum und die Tendenz, das philosophische „corpus“ auf seinen größten Umfang zu bringen, als einen naiven Rückfall in die alte Metaphysik interpretieren. Diese von außen herangetragenen politischen, pädagogischen, hygienischen Einwände gegen ein Denken, das vermöge innerer Gründe fortschreitet, sind in jedem Falle kindisch und leichtfertig – ja, ich gehe so weit zu sagen, daß sie stets einen Mangel an theoretischer Wahrhaftigkeit verraten. Im allgemeinen liefert ein jeder, der ein theoretisches Werk aus Gründen angreift, die mit diesem selber nichts zu tun haben, indem er sich auf „argumenta hominis ad hominem“ stützt, den Beweis, daß er als Theoretiker untauglich ist. Es hat keinen Wert, über die Dinge hinwegzureden, ohne in sie einzutreten; es hat keinen Wert, wenn man nur „vorbeiredet“ und dabei geflissentlich gerade die Fragen umgeht, über die man sich ein Urteil anmaßt. Ich lege der neuen Generation im spanischen Geistesleben ans Herz, gerade in diesem Punkt überaus anspruchsvoll zu sein, weil dies die Grundbedingung ist, wenn ein Land dazu kommen soll, ernstlich und in Wahrheit ein geistiges Leben sein
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WAS IST PHILOSOPHIE?
eigen zu nennen. „Alles übrige ist“ – wie die Figur in einem spanischen Roman sagt – „nichts weiter als Karosserie.“ Es ist – wie wir gesehen haben – nicht leicht, eine Philosophie zu definieren, die es sich zur strengen, grundlegenden Voraussetzung macht, von vornherein die Unerkennbarkeit ihres Gegenstandes als Möglichkeit zuzulassen; um einen naiven Rückfall in die alte Metaphysik kann es sich bei ihr schwerlich handeln. Noch nie ist meines Wissens eine Philosophie mit einem im kritizistischen Sinne dermaßen anspruchsvollen und vorsichtigen Ansatz versehen worden. Jedoch getreu – und zwar ist dies das Kennzeichen der gegenwärtigen Situation – getreu der heroischen Erkenntnis und Denkweise, die – ob man will oder nicht – das eigentliche Wesen der Philosophie ist, können wir uns nicht mit Vorsicht begnügen, sondern müssen nach Vollständigkeit streben. Vorsicht also – jedoch ohne Argwohn, vielmehr mit freier Selbstverständlichkeit. Man braucht dem Universum nicht mißtrauisch wie ein Bauer gegenüberzutreten. Der Positivismus war eine Bauernphilosophie. Hegel sagt: „Die Furcht, sich zu irren, ist schon Irrtum, und wenn man ihr auf den Grund geht, entdeckt man in ihr die Furcht vor der Wahrheit.“ Der Philosoph, der sich der größten geistigen Gefahr aussetzt, der sein Denken in ursprünglicher Reinheit entwickelt, hat die Pflicht, sich in voller Freiheit zu bewegen – sich von allem freizumachen, auch von jenem bäuerischen Mißtrauen gegenüber der Metaphysik. Wir verzichten also in keinerlei Hinsicht auf kritische Strenge, ja, wir bringen sie auf den höchsten Grad ihres Anspruchs, aber wir tun es redlich, ohne uns damit großzutun, ohne in die pathetische Gebärdensprache des Kritizismus zu verfallen. Wir verabscheuen – wie unsere heutige Zeit insgesamt – das eitle, übersteigerte Gebaren, die Verstiegenheit der Geste. Man muß in allem – es mag sein, was es will – ohne Gefackel, in nüchterner Selbstverständlichkeit – auf der Hut vor jederlei Übertreibung die Bugspitze seiner selbst sein. Wenn wir nun, um uns nicht zu verlaufen, nach dem Ariadnefaden tasten, der in jeder Begriffsentwicklung unerläßlich ist, können wir das Gesagte so zusammenfassen, daß wir die erste Formulierung noch einmal wiederholen, die Ihnen sinnvoller in den Ohren klingen wird. Philosophie ist Erkenntnis des Universums oder des „Alles, was es gibt“; wir kennen jedoch zunächst weder das „Was“ dieses „es gibt“, noch wissen wir, ob das „es gibt“ ein Universum oder ein Multiversum ist, noch ob es – Universum oder Multiversum – erkennbar ist.
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DIE NOTWENDIGKEIT DER PHILOSOPHIE
Demnach erscheint das Unternehmen unsinnig. Wozu es in Angriff nehmen? Wäre es nicht gescheiter, darauf zu verzichten – sich schlechtweg dem Leben zu überlassen und vom Philosophieren abzusehen? Für den heldenmütigen alten Römer war es indessen Seefahrt, die not tat; Leben hingegen tat nicht not. Immer werden die Menschen sich in diese beiden Klassen teilen, und zur besseren gehören jene, für die gerade das Überflüssige notwendig ist. In dem kleinen Hofraum im Morgenland erhebt sich sanft und schwingend wie ein Springbrunnenstrahl die mahnende Stimme Christi: „Martha, Martha, eines ist not. . .“ Und er spielt damit im Angesicht der geschäftigen und auf Nützlichkeit bedachten Martha auf die liebevolle und überströmende Maria an.
V Die Notwendigkeit der Philosophie • Gegenwart und Mitgegenwart • Das fundamentale Sein • Autonomie und Pantonomie • Verteidigung des Theologen gegenüber dem Mystiker Wir haben das Problem der Philosophie formuliert und dabei festgestellt, daß es das radikalste Problem ist, das sich denken läßt, daß es das Urproblem ist. Andererseits sahen wir, daß, je problematischer ein Problem ist, um so reiner die erkennende, die theoretische Haltung ist, aus der es wahrgenommen und ergründet wird. Insofern ist die Philosophie das geistige Streben par excellence, mit dem verglichen allen anderen Wissenschaften, einschließlich der reinen Mathematik, ein Überrest von Praktizismus anhaftet. Aber teilt gerade diese Reinheit und dieser höchstgesteigerte geistige Heroismus, der zur Philosophie hinführt, dieser nicht einen überspannten, unbändigen Charakter mit? Hat es einen vernünftigen Sinn, sich ein so außergewöhnliches Problem wie das philosophische zu stellen? Wenn man in diesem Zusammenhang die Wahrscheinlichkeitsfrage anschneiden wollte, müßte man die Erklärung abgeben, daß der glückliche Ausgang des Unternehmens, das sich Philosophie nennt, zu den unwahrscheinlichsten Dingen der Welt gehört. Es scheint sich also bei der Philosophie – sagte ich – um ein unsinniges 379
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Unternehmen zu handeln. Wozu es in Angriff nehmen? Warum begnügt man sich nicht damit, schlechtweg zu leben und vom Philosophieren abzusehen? Wenn es unwahrscheinlich ist, daß die Philosophie mit ihrem Bemühen je ans Ziel gelangt, dann taugt sie zu nichts, hat kein Mensch sie nötig. Schön und gut; aber zunächst einmal ist unbestreitbar, daß es Menschen gibt, für die das Überflüssige das Notwendige ist. Ich erinnerte auch an die göttliche Gegenüberstellung der überaus tüchtigen Martha und der überflüssigen Maria. In Wahrheit – und darauf deuten im letzten Grund die Worte Christi hin – existiert eine so entschiedene Dualität überhaupt nicht; sogar das Leben, einschließlich des organischen und biologischen Lebens, bleibt letzthin unverständlich, wenn man es auf Nützlichkeit gerichtet ansieht; erklärbar ist es nur als ein ungeheures sportliches Phänomen. Ist also Philosophieren als Tatsache, und zwar im letzten Grunde als Lebenstatsache, notwendig? Ist sie nicht notwendig? Wenn man unter „notwendig“ das Nützlichsein für etwas anderes versteht, ist die Philosophie nicht – zumindest nicht in erster Linie – notwendig. Die Notwendigkeit des Nützlichen ist jedoch immer nur relativ, nämlich relativ zu ihrem Zweck. Echte Notwendigkeit fühlt das Geschöpf in dem, was es ist: der Vogel, indem er fliegt, der Fisch, indem er schwimmt, und der Geist, indem er philosophiert. Diese Notwendigkeit, die darin besteht, daß wir die Funktion oder den Akt dessen, was wir sind, betätigen, ist zugleich die höchste und wesentlichste. Deshalb sagt Aristoteles, ohne zu schwanken, im Hinblick auf die Wissenschaften: „anankaioterai pasai, ameinon d’oudemia1.“ Und Platon, darum bemüht, die kühnste Definition der Philosophie zu finden, sagt auf der Gipfelhöhe seines angespanntesten Denkens, mitten im Dialog „Sophistes“, mit einer glücklichen Wendung: ,,he episteme ton eleutheron“, was man am zutreffendsten mit „die Wissenschaft der Sportsleute“ übersetzen könnte. Was wäre mit Platon geschehen, wenn er sich bei uns so geäußert hätte? Und wenn er außerdem noch seinen Kursus in einer öffentlichen Sportanstalt abgehalten hätte, wo die eleganten jungen Männer von Arenas, angelockt von dem runden Schädel des Sokrates, seine Rede umschwärmt hätten wie Maikäfer eine Straßenlaterne und sich ihre langen Diskuswerferhälse nach ihm ausgereckt hätten?
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Metaphysik, 983 a 10. Alle sind notwendig, aber keine ist überlegen. 380
DIE SEHNSUCHT NACH DEM ERGÄNZUNGSSTÜCK
Aber lassen wir unseren Freund Platon und fahren wir fort, unsere Freundin, die Wahrheit, zu ergründen! Die Philosophie entspringt keiner nützlichen Ursache, aber ebensowenig launischer Unvernunft. Sie ist dem Geist auf Grund seiner Anlage notwendig. Warum? Als seinen Grundzug erkannten wir die Suche nach allem, insofern es schlechthin alles ist: das Einfangen des Universums, die Jagd auf das Einhorn. Wozu aber dieses Bemühen? Warum sich nicht mit dem begnügen, was wir, ohne zu philosophieren, in der Welt vorfinden, mit dem, was bereits da ist und sichtbar vor uns steht? Aus folgendem sehr einfachen Grund: Alles, was ist und hier ist, was uns gegeben, was gegenwärtig und vor Augen ist, stellt seinem Wesen nach nur einen Stumpf, einen Splitter, ein Bruchstück, ein Rumpfstück dar. Wenn wir es ansehen, können wir nicht umhin, das fehlende Stück hinzuzusehen und zu vermissen. In jedem gegebenen Sein, in jedem Datum der Welt stoßen wir auf diese ihm wesensgemäße Bruchlinie, auf seinen Charakter eines bloßen Teils, der immer nur Teil ist – sehen wir die Wunde seiner ontologischen Verstümmelung, schreit uns sein Schmerz eines Amputierten entgegen, seine Sehnsucht nach dem Ergänzungsstück, das ihm zur Vollständigkeit fehlt, seine göttliche Unbefriedigung. Vor zwölf Jahren definierte ich in einem Vortrag in Buenos Aires die Unbefriedigung „als ein Lieben ohne Geliebten und als einen Schmerz, den wir in Gliedern fühlen, die wir nicht besitzen“. Es ist das Vermissen dessen, was wir nicht sind, es ist die Einsicht, daß wir unvollkommen und mangelhaft sind. Streng gefaßt möchte ich folgendes sagen: Wenn wir irgendeinen Gegenstand unter denen, die wir in der Welt antreffen, herausgreifen und bewußt darauf achten, was wir in ihm besitzen, indem wir ihn vor uns haben, werden wir alsbald darauf kommen, daß er nur ein Bruchstück ist und uns ebendeswegen zwingt, an eine andere Wirklichkeit, die ihn ergänzt, zu denken. So sind die Farben, die wir sehen, in ihrer Wechselhaftigkeit und Pracht, mit der sie sich unseren Augen aufdrängen, nicht, was sie dem Gesichtssinn zu sein scheinen, das heißt: sie sind nicht nur Farben. Jede Farbe muß sich mehr oder minder ausdehnen; ihr Dasein fordert, daß sie sich in irgendeiner Richtung ausbreitet; es gibt mithin keine Farbe ohne Ausdehnung. Sie ist nur der Teil eines Ganzen, das wir farbige Ausdehnung oder ausgebreitete Farbe nennen wollen. Diese farbige Ausdehnung kann ihrerseits nicht nur farbige Ausdehung sein. Wenn es Aus-
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WAS IST PHILOSOPHIE?
dehnung geben soll, muß ein Etwas da sein, das sich ausdehnt, das Ausdehnung und Farbe stützt, ein Zugrundeliegendes oder ein Träger. Die Ausdehnung erfordert, wie Leibniz gegenüber Descartes sagte, ein „extensione prius“. Nennen wir also – wie es traditionsgemäß geschieht – diesen Träger der ausgedehnten Farbe Materie. Mit ihr scheinen wir zu guter Letzt bei etwas Zureichendem angelangt zu sein. Die Materie benötigt nicht mehr die Unsterstützung von irgend etwas; sie ist da, sie ist selbstgenügsam – anders als die Farbe, die für etwas anderes ist und da ist, dank der Materie, die sie trägt. Jedoch alsbald kommt uns der argwöhnische Gedanke: wenn die Materie auch, sobald sie erst einmal vorhanden und da ist, sich selber genügt, so hat sie sich ihr Sein doch nicht selbst geben können, ist sie nicht aus eigenem Vermögen zum Sein gekommen. Die Materie läßt sich nicht denken ohne die Voraussetzung, daß sie von einer anderen Macht ins Dasein gerufen worden ist, so wie wir auch nicht den Pfeil in der Luft ansehen können, ohne nach der Hand zu suchen, die ihn abgeschnellt hat. Auch die Materie ist also nur das Teilstück eines weiter gefaßten Vorgangs, der sie hervorbringt, einer ausgedehnteren Wirklichkeit, die sie ergänzt. All das ist längst bekannt und soll hier nur zur Erläuterung des Gedankengangs, den wir verfolgen, dienen. Noch klarer und einleuchtender erscheint mir folgendes Beispiel: dieser Saal hier ist in der Wahrnehmung, die wir von ihm haben, in seiner Gesamtheit gegenwärtig. Er erscheint – jedenfalls in unseren Augen – als etwas Vollständiges, das sich selber genügt. Er setzt sich aus dem, was wir in ihm sehen, zusammen und aus sonst nichts. Zumindest scheint er, wenn wir analysieren, was wir bei seinem Anblick in unserer Wahrnehmung vorfinden, nicht mehr zu enthalten als seine Farben, seine Lichter, seine Formen, seinen Raum und außerdem nichts nötig zu haben. Würden wir uns jedoch, wenn wir ihn im nächsten Augenblick verlassen, der Tatsache gegenüber befinden, daß an seiner Schwelle die Welt aufhörte, daß es jenseits des Saals überhaupt nichts gäbe, nicht einmal leeren Raum, so würde unser Geist einen Überraschungsschock erleiden. Was ist daran aber so unmittelbar überraschend, daß wir nicht einmal darüber nachzudenken brauchen, wenn doch eben noch in unserem Geist nicht mehr war, als wir in diesem Saal erblickten, daß um ihn herum nicht das Haus, die Straße, die Stadt, die Erde, die Atmospäre usw. usw. sind? Augenscheinlich gab es in unserer Wahrnehmung nebst der unmittelbaren Gegenwärtigkeit
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VORDERGRUND UND HINTERGRUND
seines Innenraums, des Sehraums, einen wenn auch latent vorhandenen undeutlichen Hintergrund, den wir vermissen würden, wenn er nicht da wäre. Damit ist gesagt, daß dieser Saal nicht einmal für die einfache Wahrnehmung etwas Vollständiges war, sondern nur ein Vordergrund, der sich von einem undeutlichen Hintergrund, mit dem wir stillschweigend rechnen, abhob, der für uns bereits vorhanden war, wenn auch sozusagen verhüllt und nebenbei, als umschließender Raum dessen, was wir tatsächlich sehen. Dieser undeutliche und umfangende Hintergrund ist im Augenblick nicht gegenwärtig, aber er ist im Augenblick mitgegenwärtig. Und tatsächlich stellt sich immer, wenn wir etwas sehen, dieses Etwas von einem latenten, dunklen, riesigen Hintergrund mit Undefinierten Umrissen dar; es ist – schlicht gesagt – die Welt, von der es einen Teil bildet, von der es nur ein Splitter ist. Was wir in jedem Fall sehen, ist immer nur das sichtbare Vorgebirge, das uns die verborgene übrige Welt entgegenstreckt. Und somit können wir diese Beobachtung zu einem Gesetz von allgemeiner Gültigkeit erheben und sagen: wenn etwas gegenwärig ist, so ist stets die Welt mitgegenwärtig. Und dasselbe ist der Fall, wenn wir uns an unsere innere Wirklichkeit, an das Psychische wenden. Was wir in jedem Augenblick von unserem inwendigen Sein zu Gesicht bekommen, ist nur ein kleiner Ausschnitt: diese Gedanken, die wir eben jetzt denken, dieser Schmerz, den wir erleiden, dieses Bildchen, das sich in unserem inneren Bühnenraum malt, diese Gemütsbewegung, die wir eben jetzt empfinden; aber dieses armselige Häufchen von Dingen, die wir im Augenblick sehen, ist immer nur was sich jeweils unserem nach innen gewandten Blick entgegenstreckt, ist gleichsam nur Schulter unseres vollständigen und tatsächlichen Ich, das im Hintergrund bleibt wie ein großes Massiv oder eine Gebirgskette, von denen wir in jedem Augenblick nur einen Landschaftsausschnitt wahrnehmen. So ist demnach die Welt – in der Bedeutung, die wir nunmehr dem Wort geben – lediglich der Gesamtverband der Dinge, die wir nacheinander sehen können. Diejenigen, die wir im Augenblick nicht sehen, bilden den Hintergrund im Verhältnis zu jenen, die wir sehen. Dann aber werden auch sie zu jenen, die wir vor Augen haben und die unmittelbar, offenkundig, gegeben sind. Und wenn jedes Ding nur Bruchstück ist, so ist die Welt nichts anderes als deren Versammlung oder Anhäufung, womit gesagt ist, daß auch die gesamte Welt, der
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WAS IST PHILOSOPHIE?
Gesamtzusammenhang dessen, was uns gegeben ist, und was wir auf Grund der Tatsache, daß es uns gegeben ist, ,,unsere Welt“ nennen können, ebenfalls ein riesiges, ein kolossales Bruchstück, aber gleichwohl ein Bruchstück ist und nichts außerdem. (Worin besteht das Problematische des Problems? Halten wir uns an ein geläufiges Beispiel! Der Stock fühlt sich im Wasser gerade an, erscheint jedoch dem Auge gebrochen. Der Verstand möchte sich einer dieser Erscheinungsformen anschließen, aber die andere macht gleiche Rechte geltend. Der Verstand fühlt sich beunruhigt, weil er in keiner ausruhen kann, und sucht nach einer Lösung; er sucht sein Heil darin, daß er aus beiden bloße Erscheinungsbilder macht. Problem ist das Bewußtsein von einem Sein und einem Nichtsein, von einem Widerspruch. Wie Hamlet sagte: „Sein oder Nichtsein: das ist hier die Frage.“) Auf gleiche Weise läßt sich von der Welt, die wir vorfinden, sagen, daß sie ist; jedoch zugleich genügt sie nicht sich selber, erhält sie sich nicht in ihrem eigenen Sein, schreit sie nach dem, was ihr fehlt, verkündet sie ihr Nichtsein und zwingt uns zu philosophieren. Denn Philosophieren ist, daß man sich auf die Suche nach dem begibt, was die Welt ganz macht, daß man sie zum Universum hin ergänzt und für den Teil ein Ganzes errichtet, in dem er sich niederlassen und ausruhen kann. Die Welt ist ein unzureichender und bruchstückhafter Gegenstand, ein Gegenstand, der sich auf etwas gründet, was nicht er selber, nicht das Gegebene ist. Dieses Etwas, dieses Gegebene ist also um eines „sensu stricto“ begründenden Auftrags willen da, es ist das fundamentale Sein. Wie Kant sich ausdrückte: „Wenn das Bedingte uns gegeben ist, so ist das Unbedingte uns als Problem aufgegeben.“ Damit stehen wir vor dem entscheidenden philosophischen Problem sowie der geistigen Notwendigkeit, die uns zu ihm hintreibt. Beachten Sie im Vorbeigehen die sonderbare Lage, in die wir diesem postulierten und nicht gegebenen Wein, diesem fundamentalen Sein gegenüber geraten. Es geht nicht an, nach ihm zu suchen wie nach einem Gegenstand dieser unserer Welt, einem Gegenstand, der uns bisher nicht vorgekommen ist, uns aber vielleicht morgen vorkommen wird. Das fundamentale Sein ist seiner eigentlichen Beschaffenheit nach ein Nichtgegebenes; es ist für die Erkenntnis nie gegenwärtig, ist vielmehr gerade das, was jeder Gegenwart mangelt. Wieso wissen wir dann überhaupt von ihm? Mit diesem seltsamen Sein ergeht es uns seltsam. Wenn in einem Mosaik ein Stein fehlt, merken wir es an der Lücke, die er hinterläßt. Was 384
DAS FUNDAMENTALE SEIN IST DAS ABWESENDE
wir von ihm sehen, ist seine Abwesenheit; der Modus seines Gegenwärtigseins ist das Fehlen, das heißt, das Abwesendsein. Auf analoge Art ist das fundamentale Sein das immerdar und von Grund aus Abwesende. Es ist das, was in der Welt immer fehlt – und zwar sehen wir von ihm nur die Wunde, die seine Abwesenheit hinterlassen hat, so wie wir bei dem Einarmigen den fehlenden Arm sehen. Und zwar können wir es nur definieren, indem wir den Umriß der Wunde nachfahren, die Linie des Bruchs beschreiben. Als fundamentales Sein verbietet ihm sein Charakter, daß es dem gegebenen Sein gleicht, das ja nur ein sekundäres und fundamentiertes Sein ist. Vielmehr ist jenes seinem Wesen nach das schlechthin andere, das grundsätzlich Verschiedene, das absolut Exotische. Ich halte es für geboten, die Andersartigkeit sehr stark zu betonen, darauf hinzudeuten, wie abgerückt dieses fundamentale Sein von jedem innerweltlichen Sein ist und wie unvergleichbar mit ihm, um nicht, was seine Nähe und Ähnlichkeit im Verhältnis zu den uns gegebenen und bekannten Dingen angeht, Illusionen zu verfallen. In dieser, wenn auch nur in dieser einen Hinsicht gehört meine Sympathie jenen, die es ablehnen, das transzendente Sein in etwas Eingebürgertes, Häusliches, ja fast Gutnachbarliches zu verwandeln. Da sich in den Religionen unter dem Namen Gottes dieselbe Frage stellt, die der Philosophie in der Frage nach der Grundlage der Welt zum Problem wird, begegnen wir auch in ihnen zwei unterschiedlichen Haltungen – und zwar holen die einen Gott übermäßig nahe heran und lassen ihn – wie die heilige Teresa – im täglichen Leben ein- und ausgehen, während die anderen, meines Erachtens mit größerem Respekt und mehr philosophischem Takt, ihn von sich fernhalten und ins Jenseits rücken. In diesem Zusammenhang kann ich nie ohne Bewegung der Gestalt des Marcion, des ersten großen Häresiarchen der Christenheit, gedenken, den sogar die Kirche, wenngleich sie nicht umhin konnte, ihn den „Erstgeborenen Satans“ zu nennen, mit sicherem Gefühl von jeher ungewöhnlich achtungsvoll behandelt hat, weil er in der Tat, vom Dogma abgesehen, in allen Stücken ein vorbildlicher Mann war. Marcion geht wie der gesamte Gnostizismus von einer Bewußtseinshaltung aus, die auf den Charakter der Beschränktheit, der Mangelhaftigkeit und Unzulänglichkeit, dem alles Weltliche verfallen ist, überempfindlich reagiert. Darum läßt er nicht zu, daß der wahrhafte und höch-
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WAS IST PHILOSOPHIE?
ste Gott mit der Welt irgend etwas zu tun haben soll: Er ist im Verhältnis zur Welt der absolut Verschiedene und andere – er ist „allotrios“. Verhielte es sich anders, so müßte er sich moralisch und ontologisch an deren Unvollkommenheit und Beschränktheit beflecken. Daher kann auch nach seiner Auffassung der höchste und authentische Gott kein Weltschöpfer sein; er wäre dann nämlich Schöpfer des Unzulänglichen, das heißt, er selber wäre unzulänglich, während wir doch in ihm im Unterschied zur Welt die volle Zulänglichkeit suchen. Etwas schaffen bedeutet allererst, sich mit dem Geschaffenen vermengen: ich gebe Marcions Gedankengang wieder. Der Schöpfergott ist eine zweitrangige Macht, er ist der Gott des Alten Testaments, ein Gott, der sehr viel Innerweltliches an sich hat, als Gott der Gerechtigkeit und Gott der Heerscharen; das setzt voraus, daß er mit dem Verbrechen und dem Kampf unauflöslich verknüpft ist. Der wahre Gott hingegen ist nicht gerecht; er ist schlechthin gut; er ist nicht Gerechtigkeit, sondern Caritas, Liebe. Er ist von Ewigkeit her der Welt fremd und weltabwesend, durch eine absolute Distanz von ihr geschieden, ohne Berührung mit ihr: allein deswegen können wir ihn in ausnehmendem Sinne den fremden Gott – den ξενός υεός nennen; aber gerade weil er absolut anders ist als die Welt, kompensiert und ergänzt er sie; allein darum, weil er mit der Welt nichts zu tun hat, rettet er sie. Und dies ist für den Gnostiker das im höchsten Verstande göttliche Werk: nicht die böse Welt wie ein heidnischer Demiurg zu erschaffen, sondern im Gegenteil: sie zu entschaffen, ihre eingeborene Bosheit zu annullieren, das heißt – sie zu retten. Wenn es zunächst auch notwendig ist, diese Distanz zu unterstreichen, so ist es damit doch nicht getan. Der Gnostizismus bleibt an diesem Punkt stehen: er ist die Übertreibung dieses Moments, des Deus exsuperantissimus. Was fehlt, ist die Rückreise. Es soll nicht danach aussehen, als hätte ich ein Bekenntnis zum Marcionismus abgelegt. Das kann auch gar nicht sein, insofern dieser von Gott – dem Problem der Theologie – spricht, während sein Standpunkt für uns nur eine Erläuterung am Rande war. Wir sprechen einzig und allein vom fundamentalen Sein, einem ausschließlich philosophischen Thema. Philosophie ist Erkenntnis des Universums oder des „Alles, was es gibt“. Wir sahen bereits, daß dies für den Philosophen die Verpflichtung in sich birgt, sich ein absolutes Problem zu stellen, das heißt, nicht in aller Ruhe von vorgegebenen Überzeugungen auszugehen,
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PHILOSOPHIE – EINE AUTONOME WISSENSCHAFT?
kein Wissen als schon bekannt anzusetzen. Das Gewußte hat bereits aufgehört, Problem zu sein. Und zwar ist das Gewußte außerhalb abseits oder vor der Philosophie gewußt nur von einem partiellen, das heißt nicht einem universalen Gesichtspunkt aus; es ist ein Wissen niederen Grades, aus dem sich auf jener Höhe, auf der sich a nativitate die philosophische Erkenntnis bewegt, kein Nutzen ziehen läßt. Von dieser philosophischen Höhe aus gesehen hat alles andere Wissen etwas Naives und relativ Falsches, was soviel heißt, daß es abermals zum Problem wird. Deshalb nannte Nicolaus Cusanus die Wissenschaften „docta ignorantia“. Diese Situation des Philosophen, die mit seinem aufs höchste gesteigerten geistigen Heroismus zusammenhängt und die so unbequem wäre, wenn ihn nicht seine unentrinnbare Berufung zu ihr hinführte, unterstellt sein Denken dem – wie ich ihn nenne – Imperativ autonomer Gesetzlichkeit. Dieser methodische Grundsatz meint den Verzicht, der auf alles geleistet wird, was vor der eigentlichen Philosophie betrieben wird, sowie die Verabredung, daß nicht von vorausgesetzten Wahrheiten ausgegangen werden darf. Somit ist die Philosophie eine voraussetzungslose Wissenschaft. Ich verstehe darunter ein System von Wahrheiten, das aufgebaut wurde, ohne daß man bei seiner Grundlegung irgendeine Wahrheit zugelassen hat, die sich außerhalb dieses Systems als bewiesen ausgibt. Es gibt also keine philosophische Voraussetzung, die nicht die Philosophie mit ihren eigenen Mitteln herstellen muß. Somit ist die Philosophie geistige Gesetzgeberin ihrer selbst, das heißt, sie ist autonom. Dies nenne ich Autonomieprinzip – und mit ihm stehen wir ohne irgendeine Preisgabe mit der gesamten kritizistischen Vergangenheit der Philosophie in Verbindung; mit ihm nehmen wir die gewaltige Stoßkraft des modernen Denkens auf und bewähren uns als die fernen Urenkel Descartes’. Aber trauen wir nicht der liebevollen Pietät der Enkel! Demnächst werden wir mit unseren Voreltern abrechnen. Der Philosoph beginnt damit, daß er seinen Geist von übernommenen Glaubenssätzen entleert, um ihn in eine von Wahrheiten verlassene Insel zu verwandeln, und sich dann, als Einsiedler dieser Insel, zu einer methodischen Robinsonade verurteilt. So stand es um den Sinn des Zweifels, dem Descartes für immer seinen Platz an der Schwelle philosophischer Erkenntnis anweist. Der Sinn war nicht, schlechtweg an allem zu zweifeln, was in der Tat Zweifel in uns erweckt – das tut jeder vernünftige Mensch auf Schritt und Tritt –,
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WAS IST PHILOSOPHIE?
sondern der Sinn besteht darin, auch an dem zu zweifeln, was tatsächlich nicht dem Zweifel unterliegt, aber prinzipiell in Zweifel gezogen werden kann. Dieser instrumentale und technische Zweifel, der das Skalpell des Philosophen ist, hat einen viel weiteren Aktionsradius als das gewöhnliche Mißtrauen des Menschen, insofern er das Zweifelhafte hinter sich läßt und sich bis zum Bezweifelbaren erweitert. Deshalb gibt Descartes seiner berühmten Meditation nicht den Titel : „De ce qu’on révoquer en doute“, sondern „De ce qu’on peut révoquer en doute“. Hier erfassen wir einen bezeichnenden Aspekt der gesamten Philosophie an der Wurzel: nämlich ihr paradoxes Gepräge. Jede Philosophie ist paradox, rückt ab von der geläufigen Meinung, mit der wir sonst im Leben umgehen, weil sie als im theoretischen Sinne bezweifelbar Grundüberzeugungen betrachtet, die uns vom Leben her gesehen außer Frage erscheinen. Hat sich aber erst einmal die Philosophie im Namen des autonomen Prinzips auf jene ganz spärlichen primären Wahrheiten zurückgezogen, die auch theoretisch keinen Zweifel lassen und sich insofern selber beweisen und bestätigen, so muß sie ihr Gesicht aufs neue der Welt zukehren und sie als Ganzes erobern und in Besitz nehmen. Dieser winzige Punkt oder diese winzigen Punkte, die Wahrheit im strengen Sinne sind, müssen elastisch ausgedehnt werden, bis sie das „was es gibt“ umfangen. Im Wechsel mit diesem Prinzip vorsichtiger Zurücknahme, wie es das Autonomieprinzip darstellt, tritt ein Prinzip von entgegengesetzter Spannungstendenz in Kraft: der Universalismus, der geistige Drang zum Ganzen hin, die Pantonomie, wie ich sie nenne. Es ist nicht genug mit dem Autonomieprinzip, das negativ, statisch und vorkehrend ist, das uns zur Vorsicht mahnt, aber nicht zum Gehen anhält, das unserem Vorgehen weder die Richtung weist noch unsere Schritte lenkt. Daß man sich nicht irrt, ist noch nicht genug: aufs Treffen kommt es an. Unablässig müssen wir unser Problem angehen, und da unser Problem die Bestimmung des Ganzen ist, muß jeder philosophische Begriff im Hinblick auf das Ganze geschmiedet werden im Unterschied zu den Begriffen der Einzeldisziplinen, die sich an die Teilhaftigkeit des abgesonderten Teils oder an das falsche Ganze anschließen. So belehrt uns die Physik lediglich darüber, was die Materie ist, wie wenn es im Weltganzen nur sie gäbe, wie wenn sie das
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AUTONOMIE UND PANTONOMIE
Universum wäre. Deshalb hat die Physik immer dazu geneigt, sich als authentische Philosophie aufzuwerfen; und zwar ist diese untergrabende Pseudophilosophie der Materialismus. Dagegen wird der Philosoph in der Materie ihren Bedeutungswert als Teilstück des Universums suchen; er wird von jedem Ding die letzte Wahrheit sagen, nämlich was dieses Ding im Verhältnis zu allen ist. Dieses Prinzip begrifflicher Auffassung nenne ich Pantonomie oder Totalitätsgesetz. Das Autonomieprinzip ist seit der Renaissance bis auf den heutigen Tag immer wieder verkündet worden, manchmal mit derart verhängnisvoller Ausschließlichkeit, daß es das philosophische Denken bis zum Stillstand gelähmt hat. Dagegen ist dem Pantonomieprinzip oder Universalismus nur in einem Seelenaugenblick der Antike und später in dem kurzen Zeitraum zwischen Kant und Hegel von der romantischen Philosophie gebührende Beachtung geschenkt worden. Ich möchte so weit gehen zu behaupten, daß dies, und zwar allein dies, uns mit den nachkantischen Systemen verbindet, deren Ideenstil uns im übrigen heute außerordentlich unzeitgemäß erscheinen muß. Jedoch ist dieser einzige Punkt, in dem wir mit ihnen übereinstimmen, schon bedeutsam genug. Und zwar stimmen wir mit ihnen darin überein, daß wir uns nicht damit begnügen, Irrtümer zu vermeiden, und als das wirksamste Mittel nicht die Einengung des Gesichtskreises betrachten, sondern im Gegenteil seine größte Ausdehnung, indem wir den Vorsatz, alles zu denken und nichts außerhalb zu lassen, in einen geistigen Imperativ, in ein methodisches Prinzip verwandeln. Seit Hegel ist in Vergessenheit geraten, daß Philosophie dieses integrale Denken ist und daß es nichts außerdem ist – mit allen Vorzügen und selbstverständlich allen Gebrechen, die ein solches Vorhaben mit sich bringt. Wir wünschen eine Philosophie, die ausschließlich Philosophie und nichts darüber hinaus sein soll, die ihre Bestimmung bejaht mit all ihrem Glanz und Elend, die keine scheelen Blicke wirft und sich nicht die Erkenntnistugenden anderer Wissenschaften wünscht, wie zum Beispiel die Exaktheit der mathematischen Wahrheit oder die sinnfällige Bestätigung und den Praktizismus der physikalischen Wahrheit. Nicht durch Zufall ist der Philosoph im vergangenen Jahrhundert seiner Berufung so untreu geworden. Es war das Kennzeichen dieser abendländischen Epoche, daß man seine Bestimmung nicht annahm, daß man zu sein wünschte, was man nicht war. Deshalb war es ein von Grund aus revolutionäres Zeitalter. In seinem letzten Sinn be-
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WAS IST PHILOSOPHIE?
deutet „revolutionärer Geist“ nicht nur „Streben nach Besserung“ – ein Streben, das den Menschen in jedem Falle auszeichnet und adelt –, sondern es bedeutet soviel wie glauben, daß dem Seinkönnen, auch in dem, was man von Grund aus nicht ist, keine Grenzen gesetzt sind, daß man eine Welt- und Gesellschaftsordnung optimalen Charakters nur zu denken braucht, um sie auch für realisierbar zu halten, wobei nicht in Betracht gezogen wird, daß Welt und Gesellschaft eine unvertauschbare Wesensstruktur zu eigen ist, die der Verwirklichung unserer Wünsche Grenzen setzt und jedes Reformstreben, das nicht mit ihr rechnet, mit dem Charakter der Leichtfertigkeit stempelt. An die Stelle revolutionärer Gesinnung, die auf utopische Art zu bewirken sucht, daß die Dinge sein sollen, was sie nie werden sein können und auch nicht sein sollen, muß man den hohen ethischen Grundsatz treten lassen, den Pindar verkündet hat und der ganz einfach lautet: „Werde, der du bist.“ Die Philosophie kann nicht anders: sie muß sich mit ihrer Armut begnügen und die fremden Federn, die ihr nicht gewachsen sind, ausschlagen. Mögen sich die anderen Erkenntnisweisen und -gattungen mit ihnen schmücken. Trotz des größenwahnsinnigen Anscheins, den aufs erste die Philosophie erweckt, indem sie darauf ausgeht, das Universum zu bewältigen und sich einzuverleiben, handelt es sich strenggenommen um eine Disziplin, die nicht bescheidener und nicht unbescheidener ist als die anderen. Und zwar deshalb, weil ja das Universum oder das „alles, was es gibt“, nicht jedes einzelne der Dinge, die es gibt, ist, sondern immer nur das Universale an jedem Ding, das heißt, nur eine Facette von jedem Ding. In dieser Hinsicht, aber nur in dieser Hinsicht allein, ist der Gegenstand der Philosophie ebenfalls partiell, da es ja um den Teil geht, mit dem jedes Ding sich ins Ganze einfügt, wir könnten sagen – um seine Nabelpartie. Und es wäre nicht unzutreffend, würde man behaupten, daß im Grunde auch der Philosoph ein Spezialist ist, nämlich ein Spezialist in Universalien. Aber genauso wie Einstein – wir sahen es bereits – aus der empirischen und insofern relativen Messung, daß heißt aus dem, was man auf den ersten Blick als eine Beschränkung und sogar als eine Fehlerquelle ansieht, ausgerechnet das Prinzip aller physikalischen Begriffe macht, so macht aus die Philosophie – und hierauf möchte ich größten Nachdruck legen – aus dem Trachten nach geistiger Weltumfassung das logische und methodische Prinzip ihrer Ideen. Sie macht also aus
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PHILOSOPHIE IST SAGBAR
dem, was nach einem Laster und einem unsinnigen Trachten aussehen kann, ihre strenggefaßte Bestimmung und ihre fruchtbare Stärke. Auf diejenigen, die in philosophischen Dingen bewandert sind, mag es befremdlich wirken, daß ich dieses imperativische Allesumfassen ein logisches Prinzip nenne. Die Logik weiß von alters her um keine anderen Prinzipien als das der Identität und des Widerspruchs, des zureichenden Grundes und des ausgeschlossenen Dritten. Es geht hier also um eine Ketzerei, die ich heute nur anstreife und gewissermaßen ankündige. Wenn es soweit ist, werden wir in die schwerwiegende Bedeutung und die zwingenden Gründe, die in dieser Ketzerei enthalten sind, Einblick gewinnen. Zuvor aber müssen wir ein weiteres Attribut unter anderen weniger dringlichen dem Begriff der Philosophie hinzufügen. Ein Attribut, das dermaßen unentbehrlich ist, daß es sich anscheinend nicht lohnt, es eigens beim Namen zu nennen. Trotzdem ist es sehr wichtig. Wir nennen Philosophie eine theoretische Erkenntnis, eine Theorie. Die Theorie ist ein Zusammenhang von Begriffen – und zwar im strengen Sinne des Wortes Begriff. Und dieser strenge Sinn besagt, daß der Begriff ein geistiger Inhalt ist, der sich aussprechen läßt. Was sich nicht sagen läßt – das Unsagbare oder Unaussprechliche –, ist auch kein Begriff, und eine Erkenntnis, die in der unaussprechlichen Schau ihres Gegenstandes besteht, mag dieser sein, was Sie irgend wollen – die höchste Form der Erkenntnis sogar –, so ist sie doch nicht das, was wir unter dem Namen Philosophie verstehen. Wenn wir uns ein System vorstellen, wie es Plotin oder Bergson aufgestellt haben, ein System, das uns vermittels Begriffen demonstriert, daß die wahre Erkenntnis eine Ekstasis des Bewußtseins ist, wobei sich im Bewußtsein die Grenzen des Geistigen oder Begrifflichen verlagern und ein unmittelbarer Kontakt mit der Wirklichkeit erfolgt, das heißt ohne Vermittlung und Dazwischentreten des Begriffs, so können wir sagen, daß es Philosophien sind, insofern sie die Notwendigkeit der Ekstasis mit nichtekstatischen Mitteln beweisen, daß sie aber aufhören, Philosophien zu sein, wenn sie sich über den Begriff hinaus mit einem Kopfsprung in mystische Trance stürzen. Erinnern Sie sich daran, welchen Eindruck Sie – ehrlich gesprochen – beim Umgang mit den Werken der Mystiker gewonnen haben. Der Autor lädt uns zu einer wundersamen Reise ein, zur wundersamsten aller Reisen. Er sagt, er habe sich im eigentlichen Mittelpunkt des
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Universums, im innersten Mark des Absoluten befunden. Er schlägt uns vor, wir sollten die Reise mit ihm noch einmal zurücklegen. Ganz entzückt schicken wir uns an, aufzubrechen und gehorsam unserem Führer zu folgen. Doch sind wir von vornherein ein wenig überrascht, daß einer, der sich in einen so ungeheuerlichen und elementaren Ort, in einen so entscheidenden Abgrund, wie ihn Gott oder das Absolute oder das Eine darstellen, versenkt hat, nicht ein bißchen mehr aus der Fassung geraten ist, sich dem Menschlichen nicht mehr entfremdet hat und in einem neuen Tonfall spricht – der im Vergleich mit unserem eigenen deutlicher unterschieden und ein anderer sein müßte. Als Théophile Gautier von seiner Spanienreise nach Paris zurückkehrte, sahen es ihm alle Leute am Gesicht an, weil es von der Sonne jenseits der Pyrenäen einbebrannt war. Der bretonischen Legende zufolge verlernten die Menschen, die in das Purgatorium des heiligen Patrick hinabgestiegen waren, auf Lebenszeit das Lachen. Die Erstarrung der Wangenmuskeln, dieser gefälligen Zubereiter des Lächelns, lieferte die Bürgschaft für ihren unterirdischen Ausflug. Der Mystiker dagegen kehr unversehrt zurück, unbeeinträchtigt von der erhabenen Materie, die ihn eine Zeitlang umspült hat. Wenn jemand zu uns sagt, er komme vom Meeresgrund zurück, werfen wir unwillkürlich einen Blick auf seine Kleidung, in der Erwartung, es seien irgend welche Überreste von Algen und Korallen, von Flora und Fauna des Abgrunds an ihr hängengeblieben. Indessen – die Illusion, in die uns der Reisevorschlag des Mystikers einwiegt, ist derart groß, daß wir unser momentanes Befremden zum Schweigen bringen und entschlossen neben unserem Führer herwandern. Seine Worte – seine „logoi“ – haben für uns etwas Verführerisches. Die Mystiker sind von jeher die erstaunlichsten Worttechniker, die exaktesten Schriftsteller gewesen. Es ist mehrwürdig und – wie wir sehen werden – paradox, daß in sämtlichen Sprachen der Welt die Klassiker des sprachlichen Ausdrucks, der Verbalaussage die Mystiker gewesen sind. Abgesehen von ihrer gewaltigen Prägekraft waren die Mystiker auch stets im Besitz eines großen dramatischen Talents. Dramatik ist die übernormale Spannung unserer Seele, hervorgerufen durch etwas, das sich uns in der Zukunft ankündigt, der wir mit jedem gegenwärtigen Schritt näherkommen, so daß Neugier, Furcht oder Begierde, die dieses Künftige erweckt, sich aus eigener Kraft vervielfältigen und in jedem neuen Augenblick akkumulieren. Wenn der Ab-
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DER WEG DER MYSTIK
stand, der zwischen uns und dieser so anziehenden oder so furchtbaren Zukunft liegt, in Wegstrecken aufgeteilt wird, so erneuert und vermehrt sich beim Erreichen jeder Etappe unsere Spannung. Wer sich an eine Durchquerung der Wüste Sahara begibt, ist neugierig auf ihre Ränder, an denen die Zivilisation aufhört, aber noch neugieriger ist er auf alles, was jenseits dieser Ränder ist, auf das Gebiet, das schon Wüste ist; am neugierigsten jedoch ist er auf die eigentliche Mitte der Wüste, wie wenn in diesem Mittelpunkt das Wüstenhafte seinen Höchstgrad erreichte. Auf diese Weise nützt die Neugier sich nicht etwa ab, sondern kräftigt und bereichert sich durch Betätigung auf gleiche Art wie ein Muskel. Das Darüberhinaus der ersten Etappe erregt Interesse; noch größeres Interesse jedoch erweckt das Darüberhinaus dieses Darüberhinaus, und so immer fort. Jeder gute Dramatiker versteht sich auf diesen mechanischen Spannungseffekt, der mit der Aufteilung eines Wegs in Streckenabschnitte einer angekündigten Zukunft entgegen erzielt wird. Und deshalb teilen die Mystiker ihren Wanderweg, der zur Ekstase hinführt, stets in potentielle Etappen auf. Im einen Fall ist es eine Festung, die in Behausungen aufgeteilt ist, die ineinander verschachtelt sind, so wie jene japanischen Kästchen, in denen immer noch ein kleineres steckt – so bei der heiligen Teresa; in anderen Fällen geht es einen Berg hinauf mit Raststationen während des Anstiegs – wie bei San Juan de la Cruz, oder ist eine Stufenleiter, bei der jede Sprosse uns eine neue Version und einen neue Landschaft verheißt – wie in der „Escala espiritual“ des heiligen Johannes Climacus. Gestehen wir uns ein, daß wir bei jeder dieser Stationen etwas wie Enttäuschung verspüren; denn es ist nichts Größeres, was wir von ihr aus erblicken; die Hoffnung jedoch, daß sich bei der nächsten das Außergewöhnliche und Großartige offenbaren wird, hält uns munter und bei Stimmung. Die Sache ist aber die: sind wir zur letzten Behausung gekommen, sind wir auf der Spitze des Carmel, auf der äußersten Sprosse angelangt, so hören wir den mystischen Führer, der sich nicht einen Augenblick im Reden unterbrochen hat, zu uns sagen: „Jetzt bleiben Sie hier einen Augenblick allein; ich werde mich in die Ekstase versenken. Wenn ich zurückkomme, werde ich Ihnen davon erzählen.“ Gehorsam warten wir ab, indem wir uns mit der Erwartung schmeicheln, den Mystiker über kurz mit eigenen Augen zurückkehren zu sehen, unmittelbar aus dem Abgrund, noch triefend von Mysterien, mit dem bitterherben Geruch fernster Breiten um sich, so wie
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WAS IST PHILOSOPHIE?
er in den Kleidern des Seefahrers noch für einige Zeit hängenbleibt. Aber was geschieht? Er kommt zurück, tritt auf uns zu und sagt: „Stellen Sie sich vor: ich kann Ihnen nichts oder so gut wie nichts erzählen, weil das, was ich geschaut habe, unerzählbar an sich, unsagbar, unaussprechlich ist.“ Und der Mystiker, der eben noch so beredt, so meisterhaft redekundig war, hüllt sich im entscheidenden Augenblick in Schweigen oder – was noch schlimmer ist und noch häufiger vorkommt – wartet uns hinsichtlich der anderen Welt mit derart billigen Nachrichten, derart uninteressantem Zeug auf, daß das Ansehen des Jenseits eher darunter leidet. In dem deutschen Sprichwort heißt es: „Wenn einer eine Reise tut, so kann er was erzählen.“ Der Mystiker bringt von seiner Jenseitsreise nichts oder fast nichts zum Erzählen mit heim. Wir haben unsere Zeit vergeudet. Der Klassiker der Sprache verwandelt sich in einen Spezialisten des Schweigens. Ich möchte damit andeuten, daß angesichts der Mystik im strengen Sinne dieses Worts die verständigste Haltung nicht darin bestehen darf, daß man in die Pedanterie verfällt, die Mystiker als psychiatrische Krankheitsfälle zu studieren – als ob damit irgendein wesentlicher Punkt in ihrem Werk erklärt wäre – oder indem man von vornherein irgendwelche Einwände gegen sie geltend macht – sondern umgekehrt: indem man auf das, was sie uns vorsetzen, eingeht und sie beim Wort nimmt. Sie behaupten, daß sie eine höhere Erkenntnis der Wirklichkeit erlangt haben. Wenn die Ausbeute an Wissenswertem, die ihnen die Trance liefert, in der Tat mehr wert wäre als die theoretische Erkenntnis, würden wir uns keinen Augenblick bedenken, diese preiszugeben und Mystiker zu werden. Aber was sie uns zu sagen haben, ist von unübertrefflicher Durchschnittlichkeit und Eintönigkeit. Hierauf werden uns die Mystiker entgegnen, daß die ekstatische Erkenntnis eben auf Grund ihrer Überlegenheit jede Sprache transzendiere, daß sie ein stummes Wissen sei. Nur der einzelne für sich kann in ihren Besitz gelangen, und das mystische Buch unterscheidet sich vom wissenschaftlichen Buch insofern, als es nicht wie dieses eine Lehre von der transzendenten Wirklichkeit, sondern die Aufzeichnung eines Weges ist, um zu dieser Wirklichkeit zu gelangen, die Erörterung einer Methode, der Reiseweg des Geistes dem Absoluten entgegen. Das mystische Wissen ist unübertragbar und seinem Wesen nach verschwiegen. In Wahrheit können nicht einmal diese Stummheit und diese Unüber-
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GEGENLÄUFIGE BEWEGUNG ZUR MYSTIK
tragbarkeit eines bestimmten Wissens als Einwände gegen die Mystik gelten. Die Farbe, die wir mit den Augen sehen, und der Ton, den wir mit dem Ohr hören, sind strenggenommen unsagbar. Die besondere Tönung einer wirklichen Farbe versagt sich der Aussprechbarkeit in Worten; man muß sie sehen, und nur wenn man sie sieht, weiß man eigentlich, worum es sich handelt. Einem Stockblinden kann man die Farbenskala der Welt, die für uns doch so einleuchtend ist, nicht übermitteln. Es wäre also falsch, wollte man das vom Mystiker Gesehene oder Geschaute verschmähen, weil nur er es zu schauen vermag. Es gilt, aus dem Wissen das demokratische Wissensmoment zu tilgen, demzufolge allein das existieren soll, was alle Welt sieht. Nein, es gibt Menschen, die mehr sehen als die anderen, und diese anderen können korrekterweise nichts anderes tun als diese Überlegenheit, wenn sie offen hervortritt, anzuerkennen. In anderen Worten: wer nicht sieht, muß sich auf den verlassen, der sieht. Dagegen wird man jedoch den Einwand erheben: „Wie können wir mit Sicherheit feststellen, ob jemand tatsächlich sieht, was wir nicht sehen? Die Welt ist voll von Scharlatanen, Windbeuteln, Schwindlern, Verrückten?“ Das Kriterium ist, wie mir scheint, in diesem Fall nicht schwer zu finden. Und zwar werde ich glauben, daß einer mehr sieht als ich, wenn diese für mich unsichtbare überlegene Sicht ihm sichtliche Vorzüge verschafft. Ich urteile nach den Wirkungen. Es sei also festgestellt, daß es weder die Unaussprechlichkeit noch die Unübertragbarkeit des mystischen Wissens ist, weswegen die Mystik nicht besonders erheblich ist – denn es gibt, wie wir noch sehen werden, Wissensformen, die auf Grund ihrer Eigenbeschaffenheit nicht mitteilbar sind und unausweichlich in der Gefangenschaft des Schweigens leben. Mein Einwand gegen die Mystik lautet dahin, daß die mystische Schau keinerlei geistigen Gewinn abwirft. Zum Glück sind einige Mystiker nicht so sehr Mystiker als geniale Denker gewesen – wie Plotin, Meister Ekkehard und Herr Bergson. Bei ihnen steht die Fruchtbarkeit des logischen oder eigentlichen Denkens in sonderbarem Gegensatz zu der Armseligkeit ihrer ekstatischen Verlautbarungen. Die Mystik geht darauf aus, die Tiefe auszubeuten, und spekuliert für alles, was tief ist, und fühlt sich davon angezogen. Nun geht aber die Tendenz der Philosophie in die entgegengesetzte Richtung. Es liegt ihr nicht wie der Mystik daran, sich in die Tiefe zu versenken, sondern umgekehrt: aus der Tiefe an die Oberfläche emporzusteigen. Der
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WAS IST PHILOSOPHIE?
geläufigen Auffassung zuwider ist die Philosophie ein mächtiger Drang nach Oberflächlichkeit – und zwar will ich damit sagen, daß sie darauf drängt, an die Oberfläche zu ziehen und offenkundig, klar, ja – wenn es geht – in die Augen springend zu machen, was untergründig, geheimnisvoll und verborgen war. Sie verabscheut das Mysterium und die melodramatischen Gebärden des Eingeweihten, des Mystagogen. Sie kann von sich selber wie Goethe sagen, sie bekenne sich zu dem Geschlecht jener, „die aus dem Dunkeln ins Helle streben“. Die Philosophie ist ein gewaltiges Streben nach durchscheinender Klarheit und ein entschlossener Mittagswille. Ihr innerster Vorsatz ist, das Verborgene oder Verhüllte an die Oberfläche zu ziehen, es zu erklären, zu entdecken – in Griechenland nannte sich die Philosophie zuerst αληθεια, was soviel heißt wie Entbergung, Offenbarung oder Entschleierung: kurzum, Darstellung. Und darstellen ist nichts anderes als sprechen, logos. Wenn die Mystik Schweigen ist, so ist die Philosophie Reden. Entdecken des Seins der Dinge in der großen Nacktheit und Durchsichtigkeit des Worts: das Sein sagen: Ontologie. Im Gegensatz zur Mystik will die Philosophie das offene Geheimnis sein. Ich erinnere daran, daß ich vor Jahren die folgenden Ausführungen veröffentlicht habe: „Ich verstehe also vollauf und teile, nebenbei bemerkt, die mangelnde Sympathie, die die Kirche von jeher den Mystikern gegenüber an den Tag gelegt hat, wie wenn sie befürchtet, daß die ekstatischen Abenteuer die Religion in Mißkredit bringen könnten. Der Ekstatiker ist mehr oder weniger ein Rasender. Deshalb vergleicht er sich selber mit einem Trunkenen. Maß und geistige Klarheit fehlen ihm. Er gibt seinem Verhältnis zu Gott einen orgiastischen Charakter, der dem echten Priester in seiner ernsten Gelassenheit widerstrebt. Es trifft sich seltsam, daß auch der konfuzianische Mandarin auf den taoistischen Mystiker mit ähnlicher Verachtung herabsieht wie der katholische Priester auf die erleuchtete Nonne. Die Schwarmgeister jeder Art werden stets der Anarchie und der Berauschtheit der Mystiker die Palme reichen, nicht aber der klaren und gezügelten Intelligenz der Priester, das heißt der Kirche. Es tut mir leid, daß ich ihnen in dieser Bevorzugung ebensowenig Folge leisten kann. Und zwar verbietet es mir eine Frage der Wahrheitsgemäßheit. Mir scheint nämlich, daß jede beliebige Theologie mehr an Göttlichem übermittelt, mehr Hinweise und Ein-
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MYSTIK IST NICHT PHILOSOPHIE
sichten in das Wesen der Gottheit liefert als alle Ekstasen sämtlicher Mystiker zusammengenommen. Deshalb müssen wir, anstatt uns dem Ekstatiker mit Skepsis zu nähern, ihn vielmehr – wie ich schon sagte – beim Wort nehmen, entgegennehmen, was er uns von seinen Versenkungen ins Transzendente mitbringt, und danach zusehen, ob, was er uns anbietet, der Mühe wert ist. Und in Wahrheit hat er uns, nachdem wir ihn auf seiner erhabenen Reise begleitet haben, nicht viel Taugliches mitzuteilen. Ich glaube, daß sich die europäische Seele in der Nähe einer neuen Gotteserfahrung befindet, daß ihr neue Einblicke in diese Realität bevorstehen, die von allen die bedeutsamste ist. Aber ich bezweifle sehr, ob die Bereicherung unserer Ideen über das Göttliche auf den unterirdischen Wegen der Mystik zu uns kommt oder nicht vielmehr auf den leuchtend hellen Wegen des diskursiven Denkens. Theologie ist keine Ekstase.“ Zu meiner Freude sehe ich in Deutschland eine neue theologische Bewegung zum Leben erwachen – im Werk von Karl Barth –, die mit Nachdruck das θεολογειν, das Sprechen von Gott, betont, nicht das Schweigen über Gott. Trotz dieser abschätzigen Äußerungen halte ich mich nicht für verpflichtet, das Schaffen der Mystiker gering zu achten. In anderem Zusammenhang und in anderen Hinsichten sind sie von allergrößtem Interesse. Mehr als je haben wir gerade heute viel von ihnen zu lernen. Auch was sie über die Ekstase gedacht haben, rechnet hierzu – wenn auch nicht die Ekstase selber – und hat seine Bedeutung. Ich behaupte lediglich, daß mystische Philosophie nicht das ist, was wir unter dem Namen Philosophie verstehen. Deren einzige ursprüngliche Begrenzung besteht darin, daß sie ein theoretisches Erkennen, ein System von Begriffen, das heißt von Aussagen sein will. Indem ich wieder einmal wie so oft nach einem vergleichbaren Fall in der heutigen Wissenschaft suche, drücke ich mich am besten so aus: daß, wenn die Physik alles ist, was sich messen läßt, die Philosophie die Gesamtheit dessen ist, was sich über das Universum sagen läßt.
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VI Glauben und Theorie • Jovialität • Die intuitive Evidenz • Die Daten des philosophischen Problems Die Philosophie ist also nichts anderes als die Tätigkeit der theoretischen Erkenntnis, als eine Theorie des Universums. Und mag auch das Wort Universum, wenn wir es als breites Aussichtsfenster aufgehen lassen, das strenge Wort „Theorie“ ein wenig aufheitern, so dürfen wir doch nicht vergessen, daß es nicht das Universum ist, an das wir, indem wir uns vorübergehend göttergleiche Wesen wähnen, herangehen, sondern lediglich seine Theorie. Die Philosophie ist demnach nicht das Universum, auch ist sie nicht jener unmittelbare Umgang mit dem Universum, den wir „leben“ nennen. Wir wollen uns nicht daran begeben, die Dinge zu leben, sondern bloß sie theoretisch aufzufassen, sie anzuschauen. Und eine Sache anschauen heißt soviel wie sich außerhalb ihrer aufhalten, heißt entschlossen sein, zwischen ihr und uns keinen keuschen Abstand zu wahren. Auf eine Theorie haben wir es abgesehen oder – was dasselbe ist – auf ein System von Begriffen über das Universum. Nicht weniger, aber auch nicht mehr. Es geht uns darum, jene Begriffe zu finden, die, in eine bestimmte Ordnung gebracht, uns erlauben zu sagen, was unserem Dafürhalten nach das Universum oder das „es gibt“ ist. Es handelt sich also um nichts Welterschütterndes. Wenn auch die philosophischen Probleme wegen ihrer Radikalität aufwühlend sind, so ist es darum doch nicht die Philosophie als solche. Eher hat sie Ähnlichkeit mit einem Steckenpferd, mit einer Lieblingsbeschäftigung. Es geht lediglich darum, daß unsere Begriffe wie die Teilglieder eines Puzzlespiels zueinander passen. Ich kennzeichne die Philosophie lieber in dieser Weise, als daß ich sie mit feierlichen Eigenschaften ausstatte. Wie alle großen menschlichen Leistungen hat auch sie eine sportliche Dimension, und vom Sport her hat sie sich die frohe Laune und die strenge Achtsamkeit bewahrt. Auf etwas anderes will ich noch zu sprechen kommen; mag es Sie auch zunächst befremden: bedenken Sie, daß ich aus langer Erfahrung spreche; und zwar gilt dies nicht nur für die Philosophie, sondern für alle Wissenschaften, für alles, was strenggenommen theoretisch ist. Und zwar ist es dies: wenn jemand, der noch nie Wissenschaft getrieben hat, an die wissenschaftliche Arbeit herantritt, ist die beste Art,
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GLAUBEN UND THEORIE
ihm den Eintritt zu erleichtern, das heißt, ihm klarzumachen, worum es bei der wissenschaftlichen Tätigkeit geht, wenn man zu ihm sagt: ,,– Seien Sie nicht darauf gefaßt, daß was Sie hören werden und was man Ihnen zu denken zumutet, Sie ,überzeugen‘ wird; nehmen Sie es nicht ernst, sondern fassen Sie das Ganze auf wie ein Spiel, zu dem man Sie unter Beobachtung der Regeln auffordert.“ Die geistige Verfassung, die diese so wenig feierliche Einstellung bewirkt, ist weit besser geeignet, um mit einem wissenschaftlichen Studium zu beginnen. Und zwar aus einem sehr einfachen Grund: der vorwissenschaftliche Mensch versteht unter „Überzeugtsein“ einen so festen, so gediegenen, so von sich selber überzeugten geistigen Zustand, wie er nur im Angesicht von Dingen, die uns im höchsten Grade gewohnt und eingefleischt sind, empfunden werden kann. Ich will damit sagen, daß die Art und Weise, auf die wir überzeugt sind, daß die Sonne am Horizont niedergeht und daß die Körper, die wir sehen, tatsächlich außerhalb von uns selbst vorhanden sind, so blind, so eingewurzelt ist in unserer gewohnheitsmäßigen Lebenshaltung, so sehr einen Teil von uns selber bildet, daß die entgegengesetzte Überzeugung der Astronomie oder der idealistischen Philosophie sich an roher physiologischer Kraft nie mit ihr messen kann. Die wissenschaftliche Überzeugung, gerade weil sie sich auf Wahrheiten, auf Vernunftgründe stützt, geht unserer Seele nicht unter die Haut und braucht das auch gar nicht; sie hat geisterhaften Charakter. In der Tat ist sie eine Überzeugung, die in rein geistiger Zustimmung auf Nötigung bestimmter Vernunftgründe hin besteht; sie ist nicht so beschaffen wie der Glauben und andere vitale Glaubensüberzeugungen, die der innersten Mitte unserer Person entspringen. Die wissenschaftliche Überzeugung, sofern es sich tatsächlich um eine solche handelt, kommt von außen – θύραθεν, wie Aristoteles sagte – oder – mit anderen Worten: sie kommt von den Dingen her und verfängt sich an der Peripherie unseres Ich. Der Verstand ist nicht der eigentliche Grund des Seins. Ganz im Gegenteil. Er ist gleichsam eine empfindliche, mit Fühlern versehene Haut, die unser übriges inneres Volumen umhüllt; und dieses ist sensu stricto unverständig, irrational. Sehr richtig sagt Barres: L’intelligence, quelle petite chose à la surface de nous.“ So müssen wir sie sehen, ausgespannt wie eine Modellzeichnung über unser innerstes Sein, den Dingen zugewandt, dem Sein – weil ihre Aufgabe in nichts weiter besteht als die Dinge, das Sein zu denken – nicht jedoch das Sein zu sein, sondern es zu reflektieren, zu 399
WAS IST PHILOSOPHIE?
spiegeln. So wenig sind wir Verstand, daß der Verstand bei allen der gleiche ist, mögen die einen auch eine Portion mehr, die anderen eine Portion weniger davon haben. Der Verstand aber, den sie haben, ist bei allen gleich: zweimal zwei sind für alle vier. Deshalb glaubten Aristoteles und der Averroismus, daß es im Universum einen einzigen „Nous“ oder Intellekt gebe, daß wir alle als verständige Wesen einziger Verstand seien. Was uns zu einzelnen macht, steht dahinter. Aber eine so schwierige Frage wollen wir im Augenblick nicht anschneiden. Der Hinweis mag genügen, daß sich der Verstand umsonst anstrengt, wenn er sich auf ein Überzeugungs-Match mit den irrationalen gewohnheitsmäßigen Glaubensgewißheiten einläßt. In einem Werk von Baroja sagt eine Figur zur anderen: „Dieser Mann glaubt an die Anarchie wie an die Virgen del Pilar“, woraufhin ein Dritter bemerkt: „Woran man auch glaubt, man glaubt immer gleich.“ Ebenso werden stets Hunger und Durst nach Essen und Trinken psychologisch stärker sein und mehr seelische Stoßkraft enthalten als der Hunger und Durst nach Gerechtigkeit. Auf je höherer Stufe die Tätigkeit eines Organismus steht, um so weniger kraftvoll ist sie, um so mehr unterliegt sie Schwankungen und läßt sie an Wirksamkeit nach. Die vegetativen Funktionen versagen weniger leicht als die sensitiven und diese weniger als die willensmäßigen und reflexiven. Nach Aussage der Biologen sind die jüngsterworbenen Funktionen, die kompliziertesten und am höchsten entwickelten, auch diejenigen, die zuerst und am leichtesten von einer Spezies eingebüßt werden. In anderen Worten: am wertvollsten ist das, was stets am gefährdetsten ist. Wenn wir mit jemandem einen Zusammenstoß haben, wenn uns Niedergeschlagenheit oder Leidenschaft übermannen, sind wir immer bereit, unserem Verstand den Laufpaß zu geben. Man könnte sagen, daß bei uns der Verstand nur durch ein Nadelöhr geht. Oder sagen wir anders: auch der Klügste ist es nur – . . . zuweilen. Und dasselbe ließe sich vom Sittlichkeitsgefühl und vom Schönheitssinn behaupten. Immer ist im Menschen auf Grund seiner Anlage das Höhere weniger wirkungsstark als das Niedere, weniger fest, weniger nachdrücklich. Mit diesem Gedanken müßte man die Weltgeschichte dem Verständnis erschließen. Wenn das Höhere sich in der Geschichte verwirklichen soll, muß es darauf warten, bis ihm das Niedere Muße und Gelegenheit gönnt, das heißt: das Niedere ist mit der Verwirklichung des Höheren beauftragt – das Niedere leiht ihm seine blinde und unvergleichliche
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PHILOSOPHIE ALS SPIEL
Kraft. Deshalb darf die Vernunft nicht hochfahrend sein, sondern muß auf die irrationalen Gewalten achthaben und sich ihrer annehmen. Die Idee kann nicht mit dem Instinkt in einen offenen Kampf eintreten; sie muß ihn nach und nach, indem sie sich in ihn einschleicht, bändigen, überwinden und bezaubern, nicht wie Herkules mit den Fäusten – die sie nun einmal nicht hat –, sondern mit einer unwirklichen Musik wie Orpheus, der auf diese Weise die wilden Tiere in seinen Bann schlug. Die Idee ist weiblich – und so bedient sie sich auch der unsterblichen Taktik der Weiblichkeit, die nicht darauf ausgeht, sich geradenwegs durchzusetzen – wie der Mann – sondern passiv, atmosphärisch. Die Frau handelt mit einem sanften Anschein von Nichthandeln, duldend und nachgiebig; wie Hebbel sagte: „durch Leiden tun“. So auch die Idee. Die Griechen unterlagen dem grundsätzlichen Irrtum zu meinen, daß die Idee, allein weil sie sonnenklar und sie selber sei, sich auch durchsetzen, sich verwirklichen müsse, daß der Logos, daß das Wort rein aus sich selber und ohne weiteres Fleisch werden müsse. Außerhalb der Religion ist dies ein magischer Glaube, und die geschichtliche Wirklichkeit ist – leider oder zum Glück – keine Magie. Aus dieser Perspektive von Gründen, die vorerst noch im Unbestimmten gelassen und nur gestreift worden sind, ist es mir lieber, wenn sich der Wißbegierige der Philosophie naht, ohne sie allzu ernst zu nehmen, vielmehr eine geistige Haltung einnimmt, wie sie die Ausübung eines Sports oder das Betreiben eines Spiels kennzeichnet. Gemessen an dem Leben in seinem tiefsten und eigentlichen Sinne ist die Theorie nur Spiel; sie ist nichts Furchtbares, Schwerwiegendes, Zwingendes. „Was ich sagen möchte, ist folgendes: daß der Mensch gleichsam ein Spielzeug in der Hand Gottes ist und daß der Umstand, daß er Spiel zu sein vermag, geradezu und in Wahrheit an ihm das Beste ist. Deshalb sollen alle, ob Mann oder Frau, nach diesem Ziel hinstreben und aus den schönsten Spielen den eigentlichen Inhalt des Lebens machen – der heute herrschenden Auffassung zuwider. Spiel, Scherz, Kultur sind – das betonen wir – für uns Menschen die ernsteste Sache.“ Da haben Sie, meine Herren, wieder so eine frivole Äußerung, die ich aufs Geratewohl von mir gebe. Aber noch schlimmer: was ich soeben ausgesprochen habe, das habe gar nicht ich selber gedacht, gesagt und geschrieben; vielmehr stammen die Sätze, von der Stelle an, wo es hieß: „Was ich sagen möchte, ist folgendes: daß der Mensch ein
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WAS IST PHILOSOPHIE?
Spielzeug in der Hand Gottes ist“ von keinem Geringeren als Platon. Und zwar sind sie nicht bloß so dahingesagt und flüchtig eingestreut, sondern stehen nur wenige Abschnitte nach der Bemerkung, daß das Thema, von dem nun gehandelt werden soll, zu jenen zählt, die größten Scharfsinn erfordern, wenn sich ein Mann über sie äußert, der wie der Verfasser ins Greisenalter gekommen ist. Es ist eine der gezählten Stellen, an denen Platon, der sonst fast immer hinter seinem Text verborgen bleibt, die lichten Zeilen seiner Schrift wie einen Vorhang aus schillernden Perlenfäden ein wenig beiseite rafft und uns die edle Gestalt seines privaten Daseins gewahren läßt. Diese Worte stehen im siebenten Buch der „Gesetze“ – dem letzten und nicht abgeschlossenen Werk Platons, bei dessen Niederschrift ihn der Tod überraschte und das seine unsterbliche Hand für immer mit fortgenommen hat1. Aber noch mehr: Platon tut diesen Ausspruch, indem er zuvor mit seltenem Nachdruck ankündigt, daß er sich anschicke zu bestimmen, welches der geistige Zustand, die Stimmung oder – wie wir heute sagen würden – die Gefühlslage sei, auf die sich jedes Leben, sofern es gebildet sei, gründe. Obwohl die Griechen von unserer sogenannten „Psychologie“ so gut wie nichts wußten – aus Gründen, die wir noch kennenlernen werden –, erfaßt Platon hier mit genialem Blick eine der jüngsten Einsichten der Psychologie, derzufolge unser gesamtes inneres Leben keimhaft einer emotionalen Grundstimmung entspringt, die bei jedem Subjekt verschieden ist und die Grundlage des Charakters bildet. Jede einzelne unserer tatsächlichen Reaktionen wird von diesem Gefühlsuntergrund bestimmt –, der bei den einen schwermütig, bei anderen überschwenglich, bei wieder anderen depressiv oder beruhigt ist. Nun denn: um gebildet zu werden, muß sich der Mensch eine angemessene emotionale Stimmung zulegen – und zwar wird diese für sein Leben etwa die Bedeutung haben, die – so heißt es bei Platon mit einem Vergleich aus der Hafensprache – die Kiellegung eines Schiffes durch den Schiffsbaumeister hat. Platon erblickt sich selber bei der Abfassung dieses Buches – wie er sagt – in der Gestalt dieses Schiffszimmermanns, dieses Schiffbauers – „ναυπηγος“. Der Kiel der Bildung, die geistige Verfassung, die sie in dieser ernsten Scherzhaftigkeit trägt und im Gleichgewicht hält, ist dieses geregelte Spiel, das dem energischen Spiel, dem Sport – gleicht, unter dem ich be-
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Gesetze, liber VII, 803 c. 402
EIN STRENG GEREGELTES SPIEL
kanntlich eine Anstrengung verstehe, die uns im Gegensatz zur Arbeit nicht aufgenötigt wird, keinen Nutzen einbringt, sondern spontane, überschüssige Anstrengung ist, die an sich selber Freude empfindet. Wie Goethe sagte: Das Lied, das aus der Kehle dringt, Ist Lohn, der reichlich lohnet. Die Kultur sprießt und gedeiht, blüht und fruchtet in einem gutgelaunten geistigen Klima – in der Wohlgesonnenheit oder Jovialität. Die Ernsthaftigkeit stellt sich erst später ein, wenn wir zur Bildung in ihrer jeweiligen Gestalt – in unserem Fall der Philosophie – gekommen sind. Jedoch zunächst herrscht frohgemute Wohlgesonnenheit. Immerhin ist das eine geistige Verfassung, die nichts Verächtliches hat; denken Sie daran, daß joviale Gesinnung der Gemütszustand ist, in dem Jove – Jupiter sich zu befinden pflegt. Wenn wir uns zu jovialer Gesinnung erziehen, so eifern wir damit dem olympischen Jupiter nach. So gefällt sich Platon auch in seinen letzten Werken hin und wieder in einem Wortspiel mit den beiden Vokabeln, die im Griechischen nahezu gleich lauten: παιδεία – Bildung, und παιδία – Kinderei, Spiel, Scherz, Jovialität. Es ist die Ironie seines Meisters Sokrates, die in Platons Spätzeit wieder aufblüht. Und zwar hat diese Ironie, diese außerordentlich scharfsinnige Wortverknüpfung die ironischsten Wirkungen gezeitigt: so geschieht es in den alten Codices, in denen diese späten Schriften Platons überliefert sind, immer wieder, daß der Abschreiber offenbar nicht wußte, an welcher Stelle er παιδεία – Bildung, und an welcher er παιδία – Scherz setzen sollte. Wir werden also zu nichts anderem aufgefordert als zu einem streng geregelten Spiel, da bekanntlich der Mensch im Spiel am strengsten verfährt. Diese freimütige geistige Strenge ist die Theorie; und, wie ich schon sagte, ist die Philosophie, diese ganz unbedeutende Sache, nichts weiter als Theorie. Aber wir wissen schon aus dem „Faust“: Grau, teurer Freund, ist alle Theorie, Und grün des Lebens goldner Baum. 403
WAS IST PHILOSOPHIE?
Das Grau ist die Enthaltsamkeit der Farbe. Diesen Bedeutungswert hat es in der gewöhnlichen Sprache, und auf diese Bedeutung spielt Goethe an. Grau sein ist das äußerste, was die Farbe vermag, wenn sie darauf verzichten will, Farbe zu sein. Dagegen ist das Leben ein grüner Baum – worin ein Überschwang zum Ausdruck kommt; ja, überdies stellt sich heraus, daß dieser grüne Baum des Lebens golden ist, was von noch größerem Überschwang zeugt. Dieses ausgesuchte Bestreben, sich auf das Grau zurückzuziehen angesichts des herrlichen und widerspruchsvollen Farbenüberschwangs des Lebens führt uns dazu, daß wir theoretisieren. In der Theorie vertauschen wir die Wirklichkeit mit ihrem Gespenst; und zwar sind dies die Begriffe. Anstatt sie zu leben, denken wir sie. Indessen – wer weiß, ob sich nicht trotzdem hinter dieser anscheinenden Askese und Lebensabkehr, wie sie das reine Denken darstellt, ein Maximum an vitaler Lebenshaltung, deren höchster Überschwang verbirgt. Wer weiß, ob nicht das Leben denken soviel bedeutet wie dem naiven das Leben leben einen großartigen Drang nach Überleben hinzugesellen! Getreu der dramatischen Taktik der Mystiker darf ich sagen, daß wir hiermit unsere zweite Umkreisung abgeschlossen haben und im Begriff sind, in den dritten Kreis einzutreten. Doch ist dieser neue Kreis seiner Beschaffenheit nach sehr verschieden von den beiden vorhergehenden. Wir haben die Absicht, die wir unter dem Namen Philosophie verfolgen, so definiert, wie man ein Projekt oder ein Vorhaben definiert. Wir haben gesagt, die Philosophie sei Erkenntnis des Universums, und infolge der unbeschränkten Weite und der radikalen Problematik des Themas müsse das philosophische Denken zwei Gesetze oder Verpflichtungen einhalten: nämlich es müsse autonom sein und keine Wahrheit, die es nicht selber verfertige, zulassen, und es müsse das Gesetz der Pantonomie erfüllen, das heißt, es dürfe sich mit keinem Standpunkt, der nicht universale Werte zum Ausdruck bringe, endgültig zufriedengeben, oder – kurz gesagt – mit keinem Standpunkt, der nicht nach dem Universum strebe. Dies ist das einzige, was wir in den vier letzten Vorlesungen getan haben. Alles, was ich sonst gesagt habe, war nur gesagt, um diesen winzig kleinen Lehrkern zu erläutern und in seiner Bedeutung zu erhellen. Aus diesem Grund, sofern uns die übrigen Dinge, von denen ich gesprochen habe, zu jener Zeit nicht an sich selber interessiert haben, sind wir nur undeutlich, fast nur in Form einer Anspielung auf sie
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PRÜFSTEIN DER THEORIE: DIE EVIDENZ
zu sprechen gekommen. Wir haben sie nur von fern, indirekt und vom Hörensagen gedacht. Ich will damit sagen, daß wir die Themen, von denen wir sprachen, nicht leibhaft und gegenwärtig vor unser geistiges Auge gerückt haben. Wir haben von dem einen und von dem anderen gesprochen, aber wir haben diese Dinge nicht vor uns hingestellt, um sie Auge in Auge in ihrem eigenen Leib und Sein anschauen zu können. Es ist aber nun so: wenn man über etwas spricht, das man nicht von Angesicht zu Angesicht erblickt hat, spricht man mehr oder weniger blindlings und ohne jede Evidenz. Und eine Theorie ist nur dann im echten Sinne wahr, wenn sie sich aus Evidenzen zusammensetzt und von Evidenzen ausgeht. Die Theorie wird gebildet aus Kombinationen, aus Begriffen, aus dem, was wir Urteile oder Behauptungen nennen – wenn Sie wollen, aus Sätzen. In den Sätzen sagen wir, daß es sich mit bestimmten Dingen so und so verhält und daß es sich nicht so und so verhält. Nun ist aber ein Satz wahr, wenn wir seine Aussage mit den Dingen, über die er aussagt, konfrontieren können. Die Wahrheit ist demnach zunächst die Übereinstimmung zwischen der Aussage über eine Sache und der Sache, von welcher die Aussage gemacht wird. Die Sache selbst, von der in der Aussage gesprochen wird, ist uns in der Anschauung gegenwärtig: sei es in der sinnlichen Wahrnehmung, wenn es sich um eine sinnlich erfahrbare Sache handelt, wie die Farben, die Töne, sei es in einer unsinnlichen Wahrnehmung, wenn die Sache als solche nicht sinnlich wahrnehmbar ist, wie zum Beispiel unsere Gemütszustände: die Fröhlichkeit, die Trauer, aber auch das geometrische Dreieck oder die Gerechtigkeit oder die Güte, die Beziehungen usw. usw. Ein Satz ist also in dem Maße wahr, wie die Dinge, von denen er spricht, wahrgenommen werden können. Und wenn wir die Wahrheit eines Satzes übernehmen, indem wir uns darauf stützen, daß wir eben das sehen, was wir als seinen Bedeutungsinhalt verstehen, so ist dieser Satz eine evidente Wahrheit. Die Evidenz ist kein bloßes Gefühl, das uns dazu treibt, uns einem Satz anzuschließen, anderen hingegen nicht; sondern umgekehrt: wenn es nur ein Gefühl – einerlei welcher Art – ist, das uns zwingt, eine Behauptung als Wahrheit zu akzeptieren, so ist diese Behauptung falsch. Die Evidenz hat mit dem Gefühlsmäßigen nicht das geringste zu tun – sie ist, könnte man fast sagen, das genaue Gegenteil des Gefühls, das seinem eigentlichen Wesen nach blind ist, und zwar blind nicht durch Krankheit oder einen Unfall, sondern von Geburt an. Fröhlichkeit oder Traurig-
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WAS IST PHILOSOPHIE?
keit, Begeisterung oder Beängstigung, Liebe oder Haß sind blind, weil sie keine Augen haben, wie ja auch weder Stein noch Pflanze Augen haben. Wenn man sagt, die Liebe sei blind, so bringt man in einem einzigen Satz einen ganzen Haufen von Dummheiten vor; aber eine darunter schreibt sich von dem Umstand her, daß man sich bei diesem Ausspruch die Liebe mit verbundenen Augen vorstellt, wie wenn jemand zwar zu sehen vermöchte, aber sich des Augenlichts beraubt hätte. Nun verhält es sich aber so, daß nicht Blindheit die Eigenart der Liebe ist, sondern daß sie keine Augen hat und nie welche gehabt hat. Die Evidenz ist im Gegenteil der Charakter, den unsere Urteile und Sätze erlangen, wenn wir das, was wir in ihnen behaupten, darum behaupten, weil wir es gesehen haben. Wir brauchen uns jedoch nicht an das Wort „Sehen“ oder „Anschauung“ zu klammern, wobei wir von ihm eine Klarheit und Verbindlichkeit erwarten würden, die es nicht besitzt. Nur diesen Rest behalten wir von ihm übrig: wir sagen, daß wir eine Farbe sehen, wenn der Gegenstand mit dem Namen Farbe vor uns in unmittelbarer Gegenwart, sozusagen „in persona“ da ist. Wenn wir dagegen keine Farbe sehen, sondern sie lediglich denken, zum Beispiel wenn wir in diesem Augenblick die Rosafarbe denken, die der Sand in der Sahara hat, so ist diese Farbe nicht unmittelbar gegenwärtig. Vor unseren Augen ist sie mit nichts zugegen. Das einzige, was da ist, ist unser Sie-Denken, unser geistiges Gerichtet- oder Bezogensein auf sie. Das heißt: wenn wir von Anschauung sprechen, kommt es uns einzig und allein auf die Tatsache an, daß wir in ihr das augenfälligste Beispiel eines wohlvertrauten subjektiven Zustands besitzen, in dem sich uns die Gegenstände unvermittelt darstellen. Ein anderes Beispiel für den gleichen Sachverhalt liefert uns das Hören: der Ton ist uns im Hörvorgang unmittelbar gegeben. Im allgemeinen sind alle Sinnesfunktionen unmittelbare Vorstellungsarten. Der Positivismus war im Recht, als er die Erkenntnis streng auf das uns Gegenwärtige einschränken wollte; sein Irrtum lag darin, daß er ganz willkürlich keine andere unmittelbare Gegenwärtigkeit als diejenige der sinnlich wahrnehmbaren Dinge: Farben, Klänge, Gerüche, tastbare Eigenschaften anerkennen wollte. Der Positivismus hatte insofern recht, als er das „Positive“, das heißt die Anwesenheit des Gegenstandes selber forderte; er hatte jedoch unrecht, weil er sich auf den Sensualismus beschränkte. Aber selbst als Sensualismus war er noch zu engherzig; seitdem hat man im Menschen eine ganze Reihe „neuer“ Sinnesver406
GEGENWÄRTIGKEIT UND SINNLICHE WAHRNEHMUNG
mögen entdeckt. Der alte Positivismus begnügte sich mit den traditionellen fünf Sinnen. Heute stellt sich heraus, daß unser Sinnesvorrat zugenommen hat und daß der Mensch zum mindesten elf Sinne sein Eigen nennt. Jedoch abgesehen davon müssen wir den Positivismus eines „circulus vitiosus“ bezichtigen. Weil er sagt: „Wahrheitsgemäß läßt sich von nichts, das uns nicht gegenwärtig gegeben ist, behaupten, daß es existiert, und zwar verstehe ich unter gegenwärtig sinnlich wahrnehmbar.“ Achten Sie darauf, daß es sich in diesem Satz um zwei grundverschiedene Gedanken handelt, wenn ich sage, daß etwas sinnlich wahrnehmbar, und wenn ich sage, daß es gegenwärtig ist. Die Farbe und der Ton sind nicht deshalb sinnlich wahrnehmbar, weil sie uns zuweilen gegenwärtig sind, sondern auf Grund ihrer sinnlichen Farb- und Klangbeschaffenheit. Dagegen wären die Gerechtigkeit und das rein geometrische Dreieck, auch wenn sie sich uns in persona vorstellten, nie in der Lage, sinnlich erfahrbar, sinnlich wahrnehmbar zu sein, eben weil sie nicht Farben, nicht Gerüche und nicht Geräusche sind. Der Positivismus hätte zu beweisen, daß unmittelbar gegenwärtig nur die sinnlich wahrnehmbaren Gegenstände sind; in diesem Falle hätte er recht. Jedoch um den Beweis anzutreten, stellt er willkürlich als Grundsatz auf, was eben erst zu beweisen wäre. Er macht sich folglich einer petitio principii schuldig und sperrt sich in einen circulus vitiosus oder circulus in demonstrando ein. Gegenwärtigkeit und sinnliche Wahrnehmung sind, wie ich noch einmal betone, zwei Ideen, die nichts miteinander zu tun haben. Die erste unterrichtet uns über einen Modus der Anwesenheit von Gegenständen im Verhältnis zu uns, nämlich ihr Unmittelbarsein, ihr Gegenwärtigsein im Unterschied zu anderen Weisen des Verhaltens, die die Gegenstände im Verhältnis zu unserem Geist befolgen: beispielsweise die Vorstellung im Unterschied zur Darstellung, wie es bei dem Bild von etwas der Fall ist, bei dem wir nicht den Gegenstand selber gegenwärtig haben, sondern nur seine Abschrift oder seinen Abdruck – sein Bild. Sinnliche Beschaffenheit dagegen ist eine Gattung von Gegenständen im Unterschied zu anderen und bezieht sich nicht im geringsten auf die Verhaltensweise, die diese Gegenstände im Verhältnis zu uns haben. Und ebenso wie es offenbar irrig wäre von uns zu verlangen, wir sollten die Töne „sensu stricto“ sehen oder wir sollten die Farben hören – ist es ein wenn auch tiefer greifender Irrtum gleicher Art, leugnen zu wollen, daß uns etwas, das seiner eigenen Natur nach 407
WAS IST PHILOSOPHIE?
unsinnlich ist, unmittelbar gegenwärtig sein kann. Schon Descartes wies darauf hin, daß noch nie jemand das tausendseitige Vieleck- und zwar ohne Hinzufügung noch unter Abzug einer einzigen Seite – zu sehen vermocht hat, und daß gleichwohl kein Zweifel besteht, daß es uns genauso wie das einfache Quadrat gegenwärtig sein kann. Der Beweis dafür ist, daß wir den Sinn des Wortes „tausendseitiges Vieleck“ genau verstehen und dieses Vieleck nie mit einem Vieleck von mehr oder weniger Seiten verwechseln. Es gilt also, den positivistischen Imperativ unmittelbarer Gegenwärtigkeit beizubehalten, jedoch indem man ihn aus seiner positivistischen Engigkeit erlöst. Stellen wir an jeden Gegenstand die Forderung, daß er uns gegenwärtig sein muß, wenn wir wahrheitsgemäß von ihm reden sollen; aber räumen wir ein, daß diese Gegenwärtigkeit der Besonderheit des Gegenstandes entsprechen muß. Es handelt sich somit um eine radikale Erweiterung des Positivismus; man könnte die heutige Philosophie – wie ich vor einigen Jahren in einem Essay sagte – dahingehend charakterisieren, daß sie „gemessen an einem partiellen und beschränkten Positivismus absoluter Positivismus ist“. Und zwar korrigiert und überwindet dieser absolute Positivismus – wie wir noch sehen werden – zum ersten Male das Gebrechen, an dem die Philosophie aller Zeiten gekrankt hat: den Sensualismus. In einigen Fällen hat die Philosophie – wie nahezu die gesamte englische – bewußtermaßen und in aller Form dem Sensualismus gehuldigt. In anderen Fällen wollte sie zwar nicht sensualistisch sein, schleppte aber unumgänglich den Sensualismus hinter sich nach wie eine Sklavenkette; so verhielt es sich bei Platon und erst recht bei Aristoteles. Wäre dem nicht so, dann hätte das Mittelalter nicht vor dem ungeheuren Problem gestanden, das ihm als das Problem der Universalien aufgegeben war. Aber gehen wir auf das Thema nicht näher ein. Zuvörderst muß nachdrücklich festgehalten werden, daß es außer den auf Evidenzen gegründeten Wahrheiten keine theoretische Wahrheit im strengen Sinne gibt, und dies besagt, daß wir, um von den Dingen zu reden, sie zu sehen verlangen müssen; und zwar verstehen wir unter diesem Sehen, daß sie uns unmittelbar gegenwärtig sein müssen, je nach dem Modus ihrer Beschaffenheit. Deshalb wollen wir nicht von Anschauung sprechen, weil der Begriff zu eng ist, sondern von Intuition. Intuition ist von Mystik und Magie so weit entfernt wie nur irgend etwas; sie bezeichnet auf verbindliche Art jenen geistigen Zu-
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DIE INTUITION
stand, in dem uns ein Gegenstand gegenwärtig ist; demnach muß es Intuition sowohl von sinnlich wahrnehmbaren Dingen wie von außersinnlichen geben. Es gibt eine Intuition der Farbe Orange, es gibt die Intuition von einer Orange, es gibt die Intuition von der Kreisfigur. In allen diesen Fällen und so oft ich das Wort künftig verwende, bedeutet „Intuition“ soviel wie „unmittelbare Gegenwart“. Vergleichen wir jetzt hinsichtlich der Art ihres Gegenwärtigseins diese drei Objekte: Orange als Farbe, Orange als Körper und kreisförmige Figur. Im Angesicht des Farbenspektrums, wie es ein prismatischer Körper auseinanderlegt, können wir uns mit den Augen darüber vergewissern, was wir mit der Orangefarbe meinen. Wir finden dann in unserem Gesichtsfeld die betreffende Farbe augenfällig vor, und unser bloßes Denken an die Farbe Orange sieht sich erfüllt, verwirklicht, intuitiv zufriedengestellt in der Anschauung, die uns zuteil wird. Wenn wir beim Denken dieser Farbe ausschließlich sie gedacht haben, und wenn wir das, woran wir gedacht haben, vor unseren Augen „seiend“ antreffen, ohne daß in unserem Begriff „Orangefarbe“ irgend etwas enthalten ist, was nicht auch im Gesehenen vorhanden ist, können wir sagen, daß Begriff und Sehgegenstand sich völlig decken oder, was dasselbe bedeutet, daß wir von der Farbe Orange eine völlig zutreffende Intuition haben. Mit dem Gegenstand – der Orange – verhält es sich nicht so. Was ist es, woran wir denken, oder worauf wir uns geistig beziehen, wenn wir an sie denken? An eine Sache, die viele Attribute hat; außer ihrer Farbe hat sie nämlich eine feste kugelförmige Gestalt, die von einem mehr oder minder widerstandsfähigen Stoff gebildet wird. Die Orange, an die wir denken, hat ein Äußeres und ein Inneres, und da sie ein kugelförmiger Körper ist, muß sie zwei Hälften oder Halbkugeln haben. Sind wir imstande, dies alles tatsächlich zu sehen? Alsbald werden wir darauf kommen, daß wir von der Orange in jedem Falle nur eine Hälfte zu sehen vermögen, die Hälfte nämlich, die uns zugekehrt ist. Einem unerbittlichen optischen Gesetz zufolge verbirgt uns die Orangenhälfte, die wir vor Augen haben, stets die andere Hälfte, die sich hinter ihr befindet. Wir können um die Orange herumgehen: dann sehen wir diese andere Hälfte, jedoch auf Grund eines Sehvorgangs, der sich vom ersten unterscheidet. Im selben Augenblick sehen wir dann nicht mehr die frühere Hälfte. Beide zusammen werden wir nie
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WAS IST PHILOSOPHIE?
vor Augen haben. Und außerdem sehen wir lediglich das Äußere der Frucht: das Innere bleibt unter der Oberfläche verborgen. Wir können die Orange in Scheiben schneiden und dabei mittels neuer optischer Vorgänge ihr Inneres sehen. Doch werden diese Scheiben nie so dünn sein, daß uns erlaubt wäre strikt zu behaupten, wir hätten die Orange als Ganzes gesehen, das heißt so wie wir sie denken. Woraus sich mit völliger Evidenz ergibt, daß wir in einem Irrtum begriffen sind, wenn wir sagen, daß wir eine Orange sehen. Niemals finden wir alles, was wir mit Bezug auf sie denken, in einem Gesichtseindruck und ebensowenig in noch so vielen Teileindrücken offen zutage liegend vor. Immer denken wir von ihr mehr, als wir gegenwärtig haben; immer setzt unser Begriff von ihr etwas voraus was uns der Gesichtssinn nicht vermittelt. Womit gesagt ist, daß wir von der Orange wie von allen körperhaften Dingen immer nur eine unvollständige oder nicht völlig zutreffende Intuition haben. Jeden Augenblick können wir alldem, was wir an einem Ding bereits gesehen haben, einen neuen Seheindruck hinzufügen – wir können von der Orange ein noch dünneres Scheibchen abschneiden und uns vor Augen bringen, was vordem verborgen war – aber das bedeutet nur, daß die Intuition von Körpern, von materiellen Dingen, stets auf unbeschränkte Weise vervollkommnet werden kann, aber nie total sein wird. Diese nicht völlig zutreffende, aber ständig perfektionierbare Intuition, die sich der völligen Angemessenheit ständig annähert, nennen wir „Erfahrung“. Und deshalb gibt es nur von stofflichen Dingen Erfahrungserkenntnis, das heißt bloß annähernde und immer weiterer Annäherung fähige Erkenntnis. Die Farbe war nicht körperlich, war kein stoffliches Ding. Sie war einzig und allein Farbe – abgesehen von dem Ding, das sie trägt, von der Materie, die ihr physikalisches Dasein verschafft. Weil sie lediglich ein abstrakter Gegenstand war, konnten wir sie im ganzen sehen. Beschäftigen wir uns nun mit dem dritten der angeführten Gegenstände: mit dem Kreis, so wie ihn die Geometrie auffaßt. Zunächst einmal finden wir, daß keiner von den Kreisen, die materiell vorhanden sind oder konstruiert werden könnten, daß die Kreise, wie sie in den Technischen Hochschulen auf die Wandtafel gezeichnet werden oder wie sie in Geometriebüchern abgebildet sind, jemals strikt und exakt den Begriff, den wir vom Kreis haben, realisieren. Infolgedessen ist der Gegenstand Kreis in sinnlich wahrnehmbarer Form nicht sichtbar, mit
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KREIS UND BEGRIFF DES KREISES
unseren leiblichen Augen nicht aufzufassen. Trotzdem ist er uns unzweifelhaft gegenwärtig. Aber wenn wir ihn als Idee nicht von den Kreisen, die wir sehen, empfangen haben: woher haben wir Kenntnis von ihm erlangt? Die Begriffe werden nicht erfunden, werden nicht aus dem Nichts geholt. Der Begriff oder die Idee ist immer Idee von etwas, und dieses Etwas muß uns auf irgendeine Weise vorher gegenwärtig gewesen sein, damit wir es hernach denken können. Auch wenn uns die Macht verliehen wäre, ex nihilo zu schaffen, müßten wir zuerst den Gegenstand erschaffen, ihn sodann gegenwärtig haben und hernach denken. Und doch haben wir in Wahrheit vom Kreis eine unmittelbare Intuition; jeden Augenblick können wir ihn in unserem Geist antreffen, ohne dafür irgendein Bild zu brauchen, das ihm lediglich nahekäme; jeden Augenblick können wir unseren Kreisbegriff mit dem wirklichen Kreis vergleichen. Es würde ein bißchen zu weit führen, wollte ich in diesem Augenblick analysieren, worin diese außersinnliche oder reine Intuition der mathematischen Objekte besteht. Jedoch – um die Sache aufzuklären, mag folgendes genügen. Der Kreis ist zunächst einmal eine Linie – und zwar verstehen wir unter Linie eine unendliche Reihe von Punkten. Wie begrenzt und kurz die Linie auch sein mag: was wir bei dem Begriff Linie denken, ist ein unbegrenztes Nebeneinander von Punkten. Die Frage ist jetzt: was ist mit diesen unendlichen Punkten gemeint? Wenn wir diesen Begriff denken: an wieviele Punkte denken wir? Man wird darauf antworten: nun, eben an unendliche Punkte. Verzeihung, aber unsere Frage lautet: ob wir in Gedanken an dieses Unendliche aus Punkten tatsächlich an jeden einzelnen Punkt oder an die Gesamtzahl aller Punkte denken, die dieses Unendlich ausmachen? Offenbar doch nicht. Wir denken nur an eine endliche Zahl von Punkten und setzen in Gedanken hinzu, daß wir immer noch einen Punkt mehr, einen weiteren und abermals einen weiteren Punkt denken können, ohne je aufzuhören. Hieraus ergibt sich, daß wir beim Denken einer unendlichen Zahl uns in Gedanken darüber klar sind, daß wir sie nie zu Ende denken können, daß in dem Begriff Unendlich das Zugeständnis enthalten ist, daß er nicht alles, was mit ihm gemeint ist, in sich faßt oder – was dasselbe ist – daß der Gegenstand, an den wir denken – das Unendliche – den Begriff, den wir von ihm haben, hinter sich läßt. Dies zeigt jedoch, daß wir, so oft wir das Unendliche denken, unseren Begriff mit dem unendlichen Gegenstand als solchem, das heißt mit seiner Gegenwärtigkeit, ver-
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WAS IST PHILOSOPHIE?
gleichen und daß wir, indem wir diesen Vergleich anstellen, darauf kommen, daß unser Begriff hinter ihm zurückbleibt. Handelt es sich um die Intuition eines mathematischen Kontinuums, wie die Linie eines darstellt, so werden wir gewahr, daß die Intuition, die Gegenwärtigkeit nicht mit dem Begriff zusammenfällt; doch liefert hier umgekehrt wie im Falle der Orange die Intuition mehr und nicht weniger als im Gedanken enthalten war. Und in der Tat ist die Intuition des Kontinuierlichen – dessen, was wir „unendlich“ nennen und als das Unendliche denken – nicht zurückführbar auf den Begriff, auf den „logos“ oder die „ratio“. Das heißt, daß das Kontinuierliche irrational, überbegrifflich oder metalogisch ist. In jüngstvergangener Zeit hat sich der Rationalismus bis zu der Illusion verstiegen – Rationalismus ist auf sein Wesen hin gesehen ein überhebliches Sich-Nähren von Illusionen –, es sei die Aufgabe, das mathematisch Unendliche auf Begriff und „logos“ zu reduzieren, woraufhin durch Cantor die mathematische Wissenschaft – gewissermaßen rein logisch erweitert wird und mit der fabelhaften Ausdehnung ihres Gebiets für den geballten Imperialismus des 19. Jahrhunderts ein markantes Beispiel liefert. Die Erweiterung kam nur so zustande, daß man vor dem eigentlichen Problem die Augen schloß und dabei natürlich kopfüber in gewisse grundsätzliche und unlösbare Widersprüche stürzte – so die berühmte,, Antinomie der Reihe“ – ehe die Mathematiker wieder zur Besinnung kamen und von der Annahme einer mathematischen Logik zur Intuition zurückkehrten. Diese Bewegung in ihrer unberechenbaren Bedeutung vollzieht sich in diesen letzten Jahren, in diesen Monaten. Die neue Mathematik bekennt sich zu dem Anteil des Irrationalen an ihrem Gegenstand – das heißt, sie bekennt sich zu ihrer eigenen und unübertragbaren Bestimmung und überläßt der Logik deren Eigenbestimmung. Wir halten also daran fest, daß die mathematischen Gegenstände, einschließlich der sonderbarsten und geheimnisvollsten unter ihnen, beispielsweise des Kontinuums – uns in unmittelbarer Form gegenwärtig sind; wir begegnen ihnen in Gestalt einer zutreffenden Intuition, die genau so ist, wie wir sie denken oder noch reichhaltiger ist, als wir sie denken. Jedoch – wo ein Mehr ist, da ist auch ein Weniger. Um auf evidente Art die Wahrheit unserer Behauptungen einzusehen, genügt es zunächst, daß alles, was an ihnen gedacht ist, sich in der Intuition findet. Daß die Intuition überdies andere Elemente, nach denen wir
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ERKENNTNIS A PRIORI
nicht verlangt haben oder die denkunmöglich sind, in sich birgt, ändert nichts an dem primären Wahrheitscharakter. Strenggenommen enthält die Intuition immer mehr, als wir denken. So verhält es sich im einfachsten der drei analysierten Fälle mit der Orangefarbe; die gesehene Farbe wird stets eine Abtönung haben, die wir weder denken noch aussprechen können. Und zwar weist zwischen Rot und Gelb die Farbskala von Orange eine buchstäblich unendliche Vielzahl von Nuancen auf. Auch das Spektrum ist ein Kontinuum, wenngleich qualitativer, nicht mathematischer Art. Nun wohl: von allem, was uns als zutreffende Intuition gegenwärtig ist, können wir in strengem und nicht nur annäherndem Wahrheitssinn sprechen – das heißt, wir haben davon strikte Erkenntnis, die ein für allemal gültig ist. Und zwar nennt man dies in der Philosophie mit einem zwar ehrwürdigen, aber lächerlichen, wenn nicht gar plumpen Begriff „Erkenntnis a priori“. Im Sinne dieser Bedeutung ist die Mathematik Erkenntnis a priori; sie ist nicht erfahrungsmäßig oder empirisch wie die Erkenntnis der Orange. Da diese sich nie im ganzen dem Gesichtssinn darstellt, sondern an ihr immer noch etwas zu sehen übrig bleibt, muß sich unsere Erkenntnis an das bis dato Gesehene halten, in dem Bewußtsein, daß es nicht endgültig ist. Es handelt sich mithin um eine Erkenntnis, die von jeder neuen Beobachtung umschrieben und der Relativität jeder gemachten Beobachtung zugeschrieben wird, und die als Erkenntnis erst nach dieser, das heißt a posteriori erfolgt. Das Dreieck hingegen stellt sich uns in jeder Intuition, die wir uns von ihm bilden, als geschlossenes Ganzes dar. Es ist vollständig da, ohne etwas von seiner Beschaffenheit zu verbergen, in musterhafter Nacktheit, offen zutage liegend bis ins Innerste. Unser Denken kann Jahrhunderte benötigen, ehe es Schritt für Schritt alle die Theoreme, die sich aus einer einzigen Intuition des Dreiecks gewinnen lassen, durchgedacht hat; zu diesem Zweck müssen wir diese Intuition ein ums andere Mal und ungezählte Male erneuern, doch fügt die letzte Intuition der ersten nichts hinzu. Der Radikalismus der Philosophie läßt es nicht zu, daß sie für ihre Sätze einen Wahrheitsmodus adoptiert, dessen totale Evidenz sich nicht auf zutreffende Intuitionen gründet. Deshalb mußte unumgänglich diese Vorlesung fast ganz dem Thema der intuitiven Evidenz gewidmet werden, weil diese die Grundlage der in unserer Zeit markantesten Philosophie ist. Ich glaube nicht, daß sich eine so heikle Frage
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WAS IST PHILOSOPHIE?
mit geringerem abhandeln läßt. Aber jetzt haben wir die schlimmste Strecke hinter uns, und ich hoffe – behaupten kann ich es nicht, nur hoffen –, daß die Vorlesungen, die uns noch bleiben, gleichsam ein sanfter und gemächlicher Abstieg zu Themen sein werden, die warmblütiger sind und uns näher am Herzen liegen. Außerdem war es unerläßlich, diese Angaben über die Evidenz in unsere Vorlesung einzuschalten, da ja – wie ich schon sagte – der neue Kreis, in den wir uns hineinschwingen wollen, sich von den vorangehenden insofern unterscheidet, als wir von den Dingen sprechen wollen, was uns nötigt, sie anzuschauen, indem wir sie durchdenken. Denn haben wir bisher nichts weiter getan als gleichsam eine vorbereitende Übung für den Eintritt in die Philosophie abgehalten – vergleichbar den unzusammenhängenden Tönen, die vor Beginn des eigentlichen Musikstückes die Instrumente beim Stimmen von sich geben –, so werden wir von jetzt an Philosophie treiben. Indem wir auf unserem spiralförmig gewundenen Weg abermals an dem Punkt vorbeikommen, von dem wir ausgegangen sind, ertönt wieder wie ein „Leitmotiv“ die Definition der Philosophie. Wiederholen wir sie noch einmal: Philosophie ist die Erkenntnis des Universums, des „alles, was es gibt“. Inzwischen läßt der Klang dieser Worte – so hoffe ich – ihr volles Geladensein mit geistiger Elektrizität und ihre ganze Dramatik vernehmen. (Wir sind uns inzwischen klargeworden über die Grundsätzlichkeit unseres Problems und über die Ansprüche, die es an den philosophischen Wahrheitstypus stellt. Und zwar lautete die erste Forderung, nichts als wahr hinzunehmen, was wir nicht selber auf die Probe gestellt und bewiesen haben, nichts, dessen Wahrheitsfundamente wir nicht selber errichtet haben. Deshalb werden unsere gewohntesten und einleuchtendsten Glaubensüberzeugungen außer Kraft gesetzt, jene Überzeugungen, die den festen Grund oder Heimatboden, auf dem wir leben, bilden. So betrachtet ist die Philosophie antinatürlich und – wie ich schon sagte – paradox von Grund aus. Die „doxa“ ist die spontane und gewohnheitsmäßige Meinung; ja mehr noch: sie ist die natürliche Meinung. Die Philosophie muß sich von ihr losmachen, muß hinter sie zurück- oder unter sie hinabgehen, auf der Suche nach einer anderen Meinung, einer anderen „doxa“, die zuverlässiger ist als die spontane. Sie ist folglich „paradox“.) Wenn unser Problem darin besteht zu erkennen, was es gibt oder das
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PHILOSOPHIE IST PARA-DOX
Universum zu erkennen, so müssen wir zu allererst bestimmen, von welchen Dingen, die es vielleicht gibt, wir gewiß sein können, daß es sie gibt. Möglicherweise gibt es im Universum viele Dinge, von deren Existenz wir nichts wissen und nie etwas wissen werden, oder es gibt umgekehrt viele, von denen wir glauben, daß es sie im Universum gebe, jedoch irrigerweise, das heißt, daß es sie im Universum nicht gibt, sondern nur in unserem Meinen, daß sie Illusionen sind. Die durstgequälte Karawane glaubt im fernsten Hintergrund der Wüste eine flimmernde Linie zu sehen, die von der Kühle des Wassers erschauert. Aber dieses wohltätige Wasser gibt es nicht in der Wüste, sondern nur in der Einbildung der Karawane. Es gilt also, zwischen drei Gattungen von Dingen zu unterscheiden: solchen, die es im Universum vielleicht gibt, mögen wir es wissen oder nicht; solchen, von denen wir irrigerweise glauben, es gebe sie, die es aber in Wahrheit nicht gibt, und schließlich solchen, von denen wir gewiß sein können, daß es sie gibt. Und zwar werden diese letzten diejenigen sein, die es sowohl im Universum als auch in unserer Erkenntnis gibt. Sie werden folglich unter allem, was es gibt, das unbezweifelbar Vorhandene sein, dasjenige, was uns vom Universum fraglos gegeben ist – kurzum: die Daten des Universums. Jedes Problem setzt Daten voraus. Die Daten sind das Nichtproblematische. In dem Schulbeispiel, auf das wir neulich zu sprechen gekommen sind – dem in Wasser eingetauchten Stock–, wird das Datum einmal vom Tastsinn geliefert, der uns den Stock gerade zeigt, das andere Mal vom Gesichtssinn, der uns den Stock gebrochen zeigt. Das Problem stellt sich eben darum, weil diese beiden Tatsachen kein Problem, sondern wirkliche und unbezweifelbare Gegebenheiten sind. Da sie es sind, tritt uns ihr widerspruchsvoller Charakter entgegen, und in ihm besteht, wie wir sahen, jedes Problem. Die Daten liefern uns eine mangelhafte, unzureichende Realität. Sie stellen uns etwas vor, wovon ich erwarte, daß es in anderer Hinsicht nicht so sein kann, wie es auf widerspruchsvolle Weise ist, nämlich eine Realität, in welcher der Stock gleichzeitig gerade und gebrochen ist. Je mehr es auf der Hand liegt, um so unannehmbarer ist es, um so mehr ist es Problem, um so mehr ist es nicht. Wenn das Denken in Aktion treten soll, muß es vor einem Problem stehen; und wenn ein Problem da sein soll, muß es Daten geben. Sofern uns nicht etwas gegeben ist, kommen wir nicht auf den Gedan-
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WAS IST PHILOSOPHIE?
ken, es zu denken oder darüber nachzudenken; auch wenn uns alles gegeben wäre, hätten wir genauso wenig Ursache, daran zu denken. Das Problem setzt eine mittlere Lage voraus: daß etwas gegeben ist, aber daß das Gegebene unvollständig ist, daß es sich selber nicht genügt. Wüßten wir nicht von etwas, so wüßten wir auch nicht, daß es unzureichend, daß es mangelhaft ist, daß uns zu dem Etwas, das wir bereits haben, andere postulierte Etwasse fehlen. Dies und nichts anderes ist das Problembewußtsein. Es heißt soviel wie wissen, daß wir nicht genug wissen, es heißt wissen, daß wir nicht wissen. Und dies war strenggenommen der tiefe Sinn des sokratischen „Ich weiß, daß ich nicht weiß“, jener Erkenntnis, die Sokrates sich als einzige zur Ehre anrechnete. Und mit Recht! Da mit dieser Einsicht die Wissenschaft anfängt und das Bewußtsein der Probleme. Deshalb stellt sich Platon die Frage: Welches Lebewesen ist zu erkennender Tätigkeit imstande? Das Tier ist es nicht, weil es von allem nicht weiß, einschließlich seiner eigenen Unwissenheit, und weil es durch nichts zu bewegen ist, aus ihr herauszutreten. Jedoch ebensowenig ist es Gott, der von vornherein alles weiß und sich nicht anzustrengen braucht. Einzig und allein ein Geschöpf, das eine Zwischenstellung einnimmt, das zwischen dem Tier und Gott seinen Ort hat, das mit Unwissenheit begabt ist, aber zugleich um seine Unwissenheit weiß, sich getrieben fühlt, aus ihr herauszukommen und mit dynamischer Schnellkraft angespannt, sehnsüchtig aus der Unwissenheit dem Wissen entgegenstrebt. Dieses mittlere Geschöpf ist der Mensch. Es ist demnach die besondere Auszeichnung des Menschen zu wissen, daß er nicht weiß – hierdurch wird er zu dem göttlichen problemgeladenen Tier. Da unser Problem das Universum oder „was es gibt“ ist, müssen wir zunächst feststellen, welche Daten des Universums, auf die wir stoßen oder – anders gesagt – was von allem, was es gibt, uns mit Sicherheit gegeben ist und wonach wir nicht zu suchen brauchen. Was wir suchen müssen, wird eben das Fehlende sein, weil es uns nicht gegeben ist. Jedoch: welches sind die Daten in der Philosophie? Die anderen Wissenschaften, deren Wahrheitstypus weniger radikal ist, sind auch in der Festsetzung ihrer Daten weniger radikal. Dagegen muß die Philosophie bei diesem ersten Schritt ihren geistigen Heroismus bis zum äußersten anspannen und zu einem Höchstmaß an verbindlicher
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DIE DATEN DES UNIVERSUMS
Strenge gelangen. Und dies ist der Grund, weshalb an der Schwelle der Philosophie, obwohl die Daten das Nichtproblematische am Problem sind, in ungeheurer und unduldsamer Größe sich das Problem der Daten für das Universum erhebt. Das Problem, welche Daten es zuverlässig und unbezweifelbar gibt. VII Die Daten des Universums • Der cartesische Zweifel • Der theoretische Primat des Bewußtseins • Das Ich als Falke Es kommt uns sehr darauf an, die folgenden Dinge ihrer Art nach zu unterscheiden: diejenigen, die es vielleicht im Universum gibt, ob wir sie kennen oder nicht; diejenigen, von denen wir irrigerweise glauben, es gebe sie, die es aber in Wahrheit nicht gibt; und schließlich jene, von denen wir sicher sein können, daß es sie gibt. Bei diesen letzten handelt es sich um jene Dinge, die sowohl im Universum als auch in unserer Erkenntnis sind. Jedoch was diese letzte Art angeht, müssen wir eine weitere Unterteilung vornehmen, von der ich in unserer vergangenen Stunde noch nicht gesprochen habe. Die Gewißheit, die wir hinsichtlich der Existenz eines Gegenstandes im Universum haben können, ist von zweierlei Art: im einen Falle behaupten wir, daß ein Gegenstand existiert, indem wir uns auf eine Überlegung, auf einen Beweis, auf eine feste und berechtigte Schlußfolgerung stützen; so etwa wenn wir von dem Rauch, den wir sehen, auf Feuer schließen, auch wenn wir das Feuer nicht sehen; wenn wir im Stamm eines Baums linienförmige Figuren bestimmter Art eingeritzt finden, schließen wir, daß ein Mensch an der Stelle gewesen ist, oder zumindest jenes geheimnisvolle Kerbtier, das bei seiner Wanderung über den Baum Kerbfiguren hinterläßt, die wie Druckbuchstaben aussehen und deshalb „bastrichus typographus“ genannt wird. Diese Gewißheit, auf die wir schließen, die wir beweisen oder zu der wir durch Überlegung gelangen, geht in ihrer Behauptung von der Existenz eines Gegenstandes von der Gewißheit aus, die hinsichtlich der Existenz eines vorangehenden Gegenstandes besteht. So setzt die Behauptung, daß Feuer da ist, voraus, daß wir Rauch gesehen haben. Deshalb muß, wenn durch Schlußfolgerung 417
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oder Beweis die Existenz bestimmter Gegenstände behauptet wird, von einer noch grundlegenderen und ursprünglicheren Gewißheit hinsichtlich der Existenz anderer Gegenstände ausgegangen werden. Es gibt folglich Dinge, deren Existenz wir weder beweisen können noch zu beweisen brauchen, weil sie sich selber beweisen. Beweisen läßt sich nur das, woran sich vernünftigerweise zweifeln läßt; was jedoch keinen Zweifel leidet, kann nicht und braucht nicht bewiesen zu werden. Diese Dinge, deren Existenz unbezweifelbar ist, die jeden möglichen Zweifel verscheuchen, die ihn zunichte machen und ihm den Sinn rauben, diese gegen alle Kritik gefeiten bombensicheren Dinge sind die Daten des Universums. Ich wiederhole jedoch: die Daten sind nicht das einzige, was es im Universum gibt, ja nicht einmal das einzige, das es mit Sicherheit gibt, sondern sie sind das einzige, was es unzweifelhaft gibt, das sich in seinem Vorhandensein auf eine ganz spezielle Gewißheit gründet, eine Gewißheit von unbezweifelbarem Gepräge, eine Erzgewißheit, könnten wir sagen. Diese Daten des Universums wollen wir jetzt aufspüren. Ich erinnere mich, daß ich vor Jahren bei einem zeitgenössischen Dichter und Landsmann, Juan Ramon Jimenez, die folgenden Verse las: Der Garten hat einen Brunnen und der Brunnen hat eine Chimäre und die Chimäre einen Liebhaber, der vor Trauer vergeht. Woraus zu schließen ist, daß es in der Welt, in der es Gärten gibt, auch Chimären gibt, und zwar Chimären, die sogar imstande sind, einen vorbeikommenden Dichter bis aufs Blut zu peinigen. Wenn es sie nicht gibt: wie kommt es dann, daß wir von ihnen reden und sie von den übrigen Geschöpfen unterscheiden, ihre Beschaffenheit definieren und sie sogar abbilden und in die Springbrunnenbecken unserer Gärten meißeln? Und da die Chimäre nur die Vertreterin einer größeren artverwandten Gattung ist, können wir sagen, daß es auch Zentauren und Tritone gibt, Greife, Ägipane, Einhörner, Pegasusse und feuerschnaubende Minotauren. Jedoch prompt – vielleicht allzu prompt – lösen wir die chimärische Frage, indem wir sagen, es handle sich bei dieser Horde um eine Ausgeburt der Phantasie, es gebe sie nicht im Universum oder realerweise, sondern lediglich in unserer Phantasie 418
EIN UNIVERSUM AUS RIESEN UND CHIMÄREN
oder eingebildetermaßen. Auf diese Weise entfernen wir die Chimäre aus dem Garten, wo sie angeblich zusammen mit den Schwänen ihr Dasein fristete und mit den Dichtern flirtete; statt dessen versetzen wir sie in ein geistig-seelisches Interieur, in eine Psyche. In ihr, dünkt uns, haben wir den richtigen und zukömmlichen Platz gefunden, an dem wir die heikle Bürde der Chimäre und des sonstigen Märchenpacks abladen können. Wir fassen diesen Entschluß so prompt, weil die Existenz der Chimäre tatsächlich so offenkundig zu Zweifeln Anlaß gibt, weil ihre Wirklichkeit so wenig wahrscheinlich ist, daß es sich kaum lohnt, über ihren Fall in weitläufigere Erörterungen einzutreten – obwohl im tiefsten Winkel unseres Geistes ein dunkles Unbehagen zurückbleibt, ein Unbehagen, das ich, da wir es schon einmal zur Sprache gebracht haben, sogleich aus Ihrem Geist tilgen will, weil es uns heute nicht in die Quere kommen soll und auch auf das Thema, das wir heute erörtern wollen, keinen wesentlichen Einfluß hat. Das Unbehagen hat große Ähnlichkeit mit den Gründen, die ich vor langen Jahren zur Verteidigung des Don Quijote vorgebracht habe. Gut, lachen wir ruhig, weil Don Quijote die Windmühlen als Riesen ansieht. Gut, Don Quijote hätte keine Riesen sehen sollen, wo er eine Mühle sah! Aber – wieso weiß der Mensch überhaupt von Riesen? Wo gibt es oder hat es je Riesen gegeben? Wenn es sie aber nicht gibt noch je gegeben hat, so stellt sich heraus, daß nicht Don Quijote, sondern der Mensch, die Gattung Mensch in irgendeinem Augenblick ihrer Geschichte einen Riesen entdeckt hat, wo es keinen gab – das heißt, daß sie irgendwann einmal im wahrsten Sinne des Wortes ein Don Quijote, ein wahnbesessener Don Quijote gewesen ist. Und in der Tat hat sich Jahrtausende hindurch das Universum für den Menschen aus Riesen und Chimären zusammengesetzt: sie waren das Realste, was es auf Erden gab, nach ihnen richtete sich das menschliche Leben. Wie war das, wie ist das möglich? Um dieses Unbehagen geht es; es bleibt der Wißbegier überlassen, aber – wie ich noch einmal betone – hat das auf unsere Frage wenig Einfluß. Man könnte noch von einem weiteren Unbehagen sprechen, das schwerer wiegt: aber auch dieses können wir mit Stillschweigen übergehen; denn heute erörtern wir nicht, ob es Chimären gibt oder geben kann; was uns vielmehr interessiert, ist die Frage, ob es sie unzweifelhaft gibt, und da es keinerlei Schwierigkeit macht, an ihrer Existenz zu zweifeln, kommen sie als grundsätzliche Daten für das Universum nicht in Frage.
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WAS IST PHILOSOPHIE?
Weit schwerer wiegt die Tatsache, daß uns der Physiker versichert, es gebe im Universum Kräfte, Atome, Elektronen. Gibt es sie tatsächlich und außer allem Zweifel? Im Augenblick hören wir die Physiker selber darüber streiten, ob es sie auch wirklich gibt; das deutet darauf hin, daß an ihnen zu zweifeln zumindest möglich ist. Aber auch wenn die Physiker zu einer Übereinstimmung kämen und uns in geschlossener Phalanx den Glauben an die reale Existenz von Kräften, die wir nicht sehen, von unsichtbaren Atomen und Elektronen beibringen wollten, müßten wir dem die folgende Überlegung entgegenhalten: die Atome sind Gegenstände, deren Vorhandensein auch im Falle ihres tatsächlichen Vorhandenseins uns erst am Ende einer ganzen Theorie gewärtig wird. Damit die Existenz der Atome Wahrheit wird, muß erst die gesamte physikalische Theorie Wahrheit sein. Aber die physikalische Theorie, selbst wenn sie wahr wäre, ist eine problematische Wahrheit, die aus einer langen Reihe von Gründen besteht und auf ihnen ruht und die infolgedessen die Notwendigkeit der Beweisbarkeit in sich schließt. Deshalb ist sie keine primäre autochthone Wahrheit, sondern bestenfalls eine abgeleitete erschlossene Wahrheit. Das zwingt uns zu einer ähnlichen Behauptung wie im Falle der Chimäre, nämlich, daß es sie einzig und allein in der Einbildung gibt, womit gesagt ist, daß zu bezweifeln ist, ob es Atome wirklich gibt; zunächst jedenfalls gibt es sie nur in der Theorie, im Denken der Physiker. Die Atome sind zunächst die Chimäre der Physik; und so wie sich die Dichter die Chimäre mit Vogelkrallen vorstellen, schrieb Lord Kelvin den Atomen Haken und Greifzähne zu. Die Atome sind ebensowenig unzweifelhafte Existenzen: sie sind folglich nicht Daten des Universums. Sehen wir uns deshalb auf dem Gebiet um, das uns am nächsten liegt und am wenigsten problematisch ist. Mögen auch die Ergebnisse sämtlicher Naturwissenschaften fraglich sein, so sind doch jedenfalls die Dinge, die uns umgeben, die wir sehen und tasten und von denen die Wissenschaften als von tatsächlichen Gegebenheiten ausgehen, unzweifelhaft im Besitz von Dasein. Wenn auch die Chimäre des Dichters kein Dasein hat, so existiert doch jedenfalls ohne Zweifel der Garten, der wirkliche, sichtbare, tastbare, riechbare Garten, den man kaufen und verkaufen, bepflanzen und durchschlendern kann. Und doch – wenn ich in diesem Garten bin und mich an dem jungen Frühlingsgrün erfreue, so brauche ich nur die Augen zu schließen, und der
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DAS LEBEN – EINE HALLUZINATION?
Garten versinkt, gerade so als hätte ich einen Schalter herumgedreht – im selben Augenblick und mit einem Schlag ist das Universum ausgelöscht, aufgehoben. Unsere Augenlider haben es im Herunterfallen wie eine Guillotine radikal aus der Welt ausgemerzt. Nichts bleibt von ihm in der Wirklichkeit, nicht ein Sandkörnchen, nicht eine Blütenflocke, nicht der gezähnte Rand eines Blatts. Aber wenn ich die Augen wieder aufschlage, kehrt ebenso rasch der Garten wieder ins Sein zurück; mit einem Satz springt er wie ein transzendenter Tänzer vom Nichtsein ins Sein; und pflanzt sich, ohne daß von seinem vorübergehenden Tod eine Spur an ihm haftete, abermals freundlich vor mich hin. Und genauso ist es mit seinen Düften, seinen tastbaren Eigenschaften, wenn ich die entsprechenden Sinnesorgane bei mir verstopfe. Aber noch mehr: während ich im Garten weile, schlafe ich ein und träume im Schlaf, ich sei im Garten, und im Traum erscheint mir der geträumte nicht minder wirklich als der im Wachen geschaute. „Garten“ hieß im Hebräisch-Ägyptischen soviel wie „Paradies“. Wenn ich nun bestimmte Alkaloide trinke, gelingt es mir, auch im Wachen einen Garten wie diesen zu sehen. Es sind das die im Rauschzustand erblickten Gärten, die „paradis artificiels“. Der Garten der Halluzination unterscheidet sich als solcher in nichts von dem echten Garten – das heißt: beide sind auf gleiche Weise echt. Vielleicht ist alles, was mich umgibt, die gesamte äußere Welt, in der ich lebe, eine einzige ungeheure Halluzination. Jedenfalls ist ihr wahrnehmbarer Inhalt in der normalen Wahrnehmung derselbe wie in der Halluzination. Nun ist aber das Merkmal der Halluzination, daß sie etwas vorspiegelt, was es in Wahrheit nicht gibt. Wer bürgt mir dafür, daß es sich mit der normalen Wahrnehmung nicht ebenso verhält? Von der Halluzination unterscheidet sie sich nur insofern, als sie beständiger ist und in ihrem Inhalt mir und anderen Menschen so ziemlich gemeinsam. Aber das reicht nicht aus, der normalen Wahrnehmung ihren möglicherweise halluzinatorischen Charakter zu nehmen; wir sind allein berechtigt zu sagen, daß die Wirklichkeitswahrnehmung in der Tat nicht irgendeine Halluzination, sondern eine beständige und landläufige Halluzination ist, also etwas noch weit Schlimmeres als die andere. Woraus sich ergibt, daß uns die sogenannten Sinnesdaten nichts Taugliches liefern, das heißt nichts, das an sich selber sein Dasein verbürgt. Das Leben wäre demnach ein monotoner und korrekter Traum, eine hartnäckige und alltägliche Halluzination.
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WAS IST PHILOSOPHIE?
Der Zweifel, der methodische Zweifel, hat mit seinem ätzenden Tropfenfall die Gediegenheit, die Sicherheit der äußeren Welt zerfressen und hat sie verflüchtigt; oder – mit einem anderen Bild – der Zweifel hat sich wie eine Sturmflut erhoben und hat die heile Welt, die uns umgab, ins Nichtsein geschlungen, samt allen ihren Dingen und ihren Personen, unseren eigenen Körper mit eingeschlossen; vergebens betasten und knuffen wir ihn, um herauszubringen, ob er auch unzweifelhaft existiert, um ihn zu retten – doch auch ihn verschluckt der Zweifel erbarmungslos, und da zieht er hin, stromabwärts treibend, schiffbrüchig, ausgelöscht. Von einem, der stirbt, sagen die Chinesen: „Er ist den Fluß hinuntergegangen.“ Ich brauche nicht zu betonen, wie schwerwiegend das Ergebnis ist, das sich uns aufgenötigt hat. Was wir gesagt haben, bedeutet nichts Geringeres als folgende Tatsache: Die Dinge, die Natur, die übrigen menschlichen Wesen, die gesamte äußere Welt haben kein evidentes Dasein, sind also keine grundlegenden Daten, sind im Universum nicht unzweifelhaft vorhanden. Diese Welt, die uns umgibt, die uns trägt und erhält, die uns vom Leben aus gesehen als das Festeste, Sicherste, Solideste erscheint, dieser feste Boden, auf den wir stampfen, um auf das Unerschütterlichste hinzudeuten, was es gibt: er stellt sich hinsichtlich seines Daseins als verdächtig, zumindest als verdächtigenswert heraus. Und weil dem so ist, kann die Philosophie nicht von der Tatsache des Vorhandenseins der äußeren Welt ausgehen – während doch unser Lebensglaube von ihr ausgeht. Im Leben verlassen wir uns ohne den Schatten eines Zweifels auf die volle Realität unseres kosmischen Szenariums; die Philosophie hingegen, die nicht als Wahrheit akzeptieren kann, was eine andere Wissenschaft als wahr beweist, kann noch weniger akzeptieren, woran das Leben glaubt. Hier haben Sie ein überragendes und sehr handgreifliches Beispiel dafür, in welchem Sinn Philosophieren soviel ist wie Nicht-leben; hier haben Sie einen überwältigenden Beweis dafür, inwieweit die Philosophie ihrer Anlage nach paradox ist. Philosophieren heißt nicht leben, sondern sich bewußt von den Glaubensüberzeugungen des Lebens losmachen. Nun kann und darf aber dieses Sich-Losmachen immer nur der Möglichkeit nach verstandesgemäß stattfinden und darf nur zu dem ausschließlichen Zweck der Bildung einer Theorie vollzogen werden, insofern es selber theoretisch ist. Es ist dies, kurz gesagt, der Grund, weshalb es mir so grotesk erscheint, daß man die Leute mit
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DAS UNZWEIFELHAFTE: DER ZWEIFEL
ernster Miene auffordert, sie sollten in die Philosophie eintreten. Wer kann denn Anspruch darauf erheben, daß jemand ,,sich überzeugt“, daß jemand die Behauptung „ernstnimmt“, die Außenwelt sei am Ende gar nicht vorhanden? Die philosophische Überzeugung ist nicht die Lebensüberzeugung – jene ist nur eine Quasi-Überzeugung, eine intellektuelle Überzeugung. Und Ernsthaftigkeit bedeutet für den Philosophen nicht soviel wie „Tiefsinn“, sondern Ernsthaftigkeit ist ganz einfach die Tugend, die darin besteht, daß wir unsere Begriffe in die Reihe, in Ordnung bringen. Aber auf jeden Fall sei folgendes festgestellt: die Philosophie beginnt mit der Behauptung, daß die äußere Welt kein grundlegendes Datum ist, daß ihre Existenz zweifelhaft ist und daß jeder Satz, in dem behauptet wird, daß die Realität der äußeren Welt bewiesen werden muß, kein evidenter Satz ist; bestenfalls bedarf er anderer primärer Wahrheiten, auf die er sich stützen kann. Festgestellt sei aber auch, was – wie gesagt – die Philosophie nicht tut: sie leugnet nicht die Realität der äußeren Welt, da auch dies mit etwas Fraglichem anzufangen bedeuten würde. Wenn wir auf den Kern zurückgehen, sagt die Philosophie lediglich: weder die Existenz noch die Nichtexistenz der umgebenden Welt ist evident; deshalb kann weder von der einen noch von der anderen ausgegangen werden, weil wir damit von einer Voraussetzung ausgingen; die Philosophie ist aber gehalten, nicht von etwas, das vorausgesetzt wird, auszugehen, sondern allein von dem, was sich selber setzt, das heißt von dem, was sich unmittelbar aufdrängt. Aber kehren wir zu jener dramatischen Situation zurück, als uns die Flut des Zweifels in ihrem energischen Rückstrom die Welt und unsere Freunde samt unserem Körper entriß. Was bleibt dann noch im Universum? Was existiert dann noch unzweifelhaft im Universum? Wenn man an der Welt zweifelt und gar an dem gesamten Weltall: was ist es, das noch bleibt? Es bleibt: der Zweifel, die Tatsache, daß ich zweifle; mag ich zweifeln, daß die Welt existiert, so kann ich doch nicht daran zweifeln, daß ich zweifle: – hier ist die Grenze alles möglichen Zweifelns. Wie weit wir auch den Kreis des Zweifels spannen: stets wird der Zweifel auf sich selber stoßen und sich vernichten. Man verlangt nach etwas Unzweifelhaftem? Hier ist es: der Zweifel. Allein der Zweifel ist möglich um den Preis, daß er für sich selber unangreifbar ist: wenn er sich selber beißen will, bricht er sich den Zahn ab.
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WAS IST PHILOSOPHIE?
Mit diesem Gedanken, der jedoch im Grunde nur die „mise en scène“ einer weitaus größeren Idee ist, leitet Descartes die moderne Philosophie ein. Jedem ist das bekannt: es ist das ein Elementarwissen. Wenn ich den Gedankengang hier noch einmal entwickle, wie andere Gedanken auch, die uns ebenfalls erzbekannt vorkamen und die in der ersten Vorlesung dieser Reihe zur Sprache gekommen sind, so habe ich dafür mehrere Gründe, die aufzuzählen vielleicht sogleich oder demnächst in einer Vorlesung sich Gelegenheit bieten wird. Wir sind auf jene Höhe gelangt, die uns instand setzt, die Geheimnisse dieser Vorlesungen aufzudecken und in ihre unterirdischen Gänge einen Blick zu werfen. Darum sage ich heute etwas, was ich in dem ganzen Vierteljahrhundert, seit ich an der Öffentlichkeit tätig bin, verschwiegen habe: nämlich daß ich mir kein Leben eines Publizisten und, allgemein gesprochen, kein Menschenleben vorstellen kann, das nicht wie das Operntheater in Paris angelegt ist, das verborgen unter der Erde dieselbe Anzahl von Stockwerken birgt, wie über die Erdoberfläche sichtbare hinausragen. Und daß ich dies im Vorbeigehen, ganz ,,en miniature“ vor der kolossalen Figur Descartes’, des Vaters der Moderne, ausspreche, ist ebenfalls kein Zufall, wie wir noch sehen werden. Aber halten wir uns zunächst an das Dringendste! Wer der Meinung ist, Descartes habe nichts Geringeres getan, als die Moderne eröffnet, nur weil ihm diese Binsenwahrheit, daß wir nicht daran zweifeln können, daß wir zweifeln, eingefallen ist, eine Wahrheit, auf die schon der heilige Augustin verfallen ist, der hat nicht die leiseste Ahnung von der ungeheuren Neuerung, die das cartesische Denken bedeutet, und ist folglich auch von Grund aus in Unkenntnis darüber, was am Geist der Moderne modern ist. Es kommt jedoch viel darauf an, daß wir mit durchsichtiger Klarheit sehen, welches Vorrecht die Tatsache des Zweifels beinhaltet, nämlich daß wir an ihm nicht zweifeln können, das heißt, daß wir an einer so gewaltigen und bedeutsamen Sache wie der äußeren Welt zweifeln können, daß hingegen an dieser geringfügigen Kleinigkeit, dem Zweifel selber, der Pfeil des Zweifels stumpf wird. Wenn ich zweifle, so kann ich nicht am Vorhandensein meines Zweifels zweifeln: es ist dies ein grundlegendes Datum, eine fraglose Realität des Universums. Aber warum? Daß dieses Theater, in dem ich spreche, wirklich existiert, kann ich bezweifeln – vielleicht bin ich gerade in einer Halluzi-
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NEGIEREN IST DENKEN
nation befangen. Vielleicht habe ich in meiner traumseligen Jugend einmal davon geträumt, daß ich in einem Theater vor einem Madrider Publikum eine Vorlesung über Philosophie hielte; und im jetzigen Augenblick weiß ich nicht genau, ob jener Traum in diesem Augenblick in Erfüllung geht oder ob dieser Augenblick jener Traum ist und ich jetzt jener Träumer bin. Und zwar deshalb, weil die reale und die geträumte Welt sich nicht ihrem Inhalt nach grundsätzlich unterscheiden, weil sie aneinander grenzende Gefache sind, zwischen denen als Trennungswand – so wie man im Mittelalter den Garten des Vergil von der übrigen Welt geschieden sah – nur eine Mauer aus Luft ist. Ohne irgend etwas zu ändern, können wir vom Realen zum Geträumten übergehen, und was diesen konkreten Fall betrifft, so ist kein Zweifel daran, daß die Absicht, die Madrider dazu zu bringen, sich ein bißchen mit Philosophie zu beschäftigen, der Traum meines Lebens gewesen ist. Ich kann also an der Wirklichkeit dieses Theaters zweifeln, nicht aber an der Tatsache, daß ich an ihr zweifle; noch einmal frage ich: warum? Die Antwort lautet: zweifeln bedeutet, daß es mir so erscheint, als sei etwas zweifelhaft oder problematisch. Daß mir etwas erscheint und daß ich so denke, ist ein und dasselbe. Der Zweifel ist nichts anderes als ein Gedanke. Es ist nun so, daß ich, um an der Existenz eines Gedankens zu zweifeln, diesen Gedanken notgedrungen denken, daß ich ihm im Universum Dasein verleihen muß; mit demselben Akt, mit dem ich versuche, mein Denken zu unterdrücken, realisiere ich es. In anderen Worten: das Denken ist die einzige Sache in der Welt, die nicht negiert werden kann, weil Negieren Denken ist. Die Dinge, an die ich denke, sind im Universum möglicherweise nicht vorhanden, aber daß ich sie denke, ist unzweifelhaft. Ich wiederhole: zweifelhaft sein heißt, daß es mir so erscheint; mithin kann das gesamte Universum mir zweifelhaft erscheinen – ausgenommen die Tatsache, daß es mir erscheint. Die Existenz dieses Theaters ist zweifelhaft, weil ich unter Existenz dieses Theaters verstehe, daß es etwas unabhängig von mir zu sein vorgibt, daß es, wenn ich die Augen zumache und es für mich zu sein, dazusein aufhören lasse, auf eigene Rechnung, abgesehen und außerhalb von mir fortfahren soll zu sein, das heißt, daß es an sich sein soll. Das Denken jedoch genießt das geheimnisvolle Vorrecht, daß es sich in seinem Sein, in dem, was es zu sein vorgibt, auf ein Mir-Erscheinen, auf ein Für-mich-Sein beschränkt. Und da ich zu-
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WAS IST PHILOSOPHIE?
nächst aus nichts anderem bestehe als aus meinem Denken, können wir sagen, daß einzig und allein beim Denken das Sein – das, was es wirklich ist – in nichts anderem besteht als in dem, was es für sich selber ist. Es ist, als was es erscheint, und nichts darüber hinaus. Es erscheint als das, was es ist. In seiner Erscheinung erschöpft sich seine Essenz. Was das Theater betrifft, so verhält es sich genau entgegengesetzt: was das Theater ist oder zu sein vorgibt, erschöpft sich nicht in seinem Mir-Erscheinen, wenn ich es sehe. Im Gegenteil: es soll auch existieren, wenn ich es nicht sehe, wenn es mir nicht erscheint, mir nicht gegenwärtig ist. Mein Sehen dagegen ist etwas, dessen Daseinsanspruch sich darin erschöpft, daß es mir als Sehen erscheint; mein Sehen ist präsent, offenkundig, unmittelbar. Wenn ich im Augenblick in einer Halluzination befangen bin, so ist dieses Theater nicht wirklich vorhanden, doch kann mir niemand nehmen, daß ich dieses Theater sehe. Hieraus ergibt sich, daß von allem, was es in der Welt gibt, nur das Denken sich selber gegeben ist. Und zweifellos ist es sich deshalb gegeben, weil es in nichts weiter besteht als im Gegebensein, weil es reine Präsenz, reine Erscheinung, reines Mir-Erscheinen ist. Dies ist die großartige, die entscheidende Entdeckung Descartes’, die wie eine riesige Chinesische Mauer die Geschichte der Philosophie in zwei große Hälften teilt; die Antike und das Mittelalter bleiben jenseits der Scheidelinie; diesseits bleibt als in sich geschlossenes Ganzes die Moderne. Doch bin ich mit dem, was ich gesagt habe, keineswegs zufrieden. Wie Sie sehen, geht es hier um eine kapitale Feststellung: theoretisch um den Primat des Verstandes, des Geistes, des Bewußtseins, des Ich, der Subjektivität im Sinne einer universalen Tatsache; es ist die Tatsache, die im Universum an erster Stelle steht. Nun wohl: daß man sich hiervon Rechenschaft gegeben hat, ist die größte Idee, die die Neuzeit dem geistigen Hort Griechenlands hinzugefügt hat. Es lohnt sich also, daß wir nachdrücklich bei ihr verweilen und nach größtmöglicher Klarheit streben. Man muß in der Klarheit bis zum hellen Wahn, bis zum Heiligkeitsrausch gehen. Verzeihen Sie mir darum, wenn ich immer von neuem auf dieses Thema zurückkomme, wenn ich nach verschiedenen Formulierungen suche, damit der eine auf diesem, der andere auf jenem Weg zu vollem Verständnis dessen gelangt, was im eigentlichen Grunde der Verstand, das Bewußtsein, das Denken, die Subjektivität, der Geist, das Ich, sind. Wir suchten nach den ursprünglich gegebenen Daten des Universums. 426
DAS DENKEN IST DAS RADIKAL GEGEBENE
Aber wem sind diese Daten gegeben? Natürlich dem Erkennen. Es sind die Daten zur Erkenntnis des Universums. Sie sind, worauf die Erkenntnis sich verlassen muß, um davon auszugehen und sich nach dem etwa Fehlenden auf die Suche zu begeben. Und wann können wir sagen, daß der Erkenntnis etwas gegeben ist? Offenbar, wenn dieses Etwas voll und ganz in unser Erkennen eingeht, wenn es unserem Verstehen offenkundig, ohne Geheimnis und ohne Zweifel präsent ist, wenn unser Erkennen es auf fraglose Art innehat. Wenn ich aber von etwas erkennend Besitz ergreifen soll, muß dieses Etwas mir in seiner Ganzheit offenbar und präsent werden, genauso wie es ist und zu sein behauptet, ohne daß von seiner Beschaffenheit irgend etwas verborgen bleibt. Also ist es ganz klar, daß all das, was auf Grund seiner Existenz zu sein und dazusein behauptet, auch wenn ich es nicht sehe, nicht gegeben ist. Aber so verhält es sich mit allem, was nicht mein eigenes Denken, mein eigener Verstand ist. Wenn etwas mir präsent ist, so habe ich es gewissermaßen in mir, indem ich es denke. Alles, was von meinem Denken unterschieden ist, erhebt ipso facto den Anspruch auf Dasein, abgesehen von meinem Denken – das heißt, abgesehen von seinem Mir-gegenwärtig-Sein, da ich es ja nicht gewärtige. Das Denken hingegen, da es nichts anderes ist als die Dinge, die ich jeweils gegenwärtig habe, das Gesehene als das jeweils Gesehene, das Gehörte als das jeweils Gehörte, das Vorgestellte als das jeweils Vorgestellte, das Gedachte als das jeweils Gedachte, hat sich selber als integralen Besitz inne. Wenn ich denke, daß zweimal zwei fünf sind, denke ich etwas Falsches; falsch ist jedoch nicht, daß ich es denke. Das Denken, die „cogitatio“, ist das radikal Gegebene, weil das Denken immer sich selber innehat, das einzige ist, was sich selber gegenwärtig ist und in dieser Selbstgewärtigung besteht. Wir sehen jetzt, in welcher Hinsicht die Binsenwahrheit vom Zweifel nur eine Binsenwahrheit ist, eine zugespitzte und zurechtgestutzte Formel für eine viel umfassendere Idee. Nicht auf Grund der speziellen Zweifelsnatur des Zweifels stellt es sich als unmöglich heraus, ihn zu bezweifeln, sondern weil er einer unter sehr vielen Gedanken oder „cogitationes“ ist. Dasselbe, was wir vom Zweifel sagen, können wir von unserem Sehen und Hören sagen, aber auch von unserem Vorstellen, Imaginieren, Empfinden, Lieben, Hassen, Wollen, Nichtwollen und von unserem Zahnweh. Allen diesen Dingen ist gemeinsam, daß sie für sich selber sind, was sie sind. Wenn es mir erscheint, daß mir die Zähne weh-
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WAS IST PHILOSOPHIE?
tun, so steht außer Frage, daß die Tatsache, genannt „Zahnweh“, im Universum existiert, weil sein Für-sich-Dasein für sein absolutes Vorhandensein ausreichend ist, insoweit es sich selber als vorhanden erscheint. Ob es im Universum Zähne gibt oder nicht, ist schon fraglich; deshalb ließ der Dichter Heine eine Dame wissen, daß wir uns zuweilen beklagen, aber dabei die Herkunft unserer Leiden verwechseln, obwohl diese an und für sich todsicher sind: „Madame, ich aber hatte Zahnweh im Herzen.“ Langjährige Kathedererfahrung hat mich gelehrt, daß es – und zwar nicht zufällig – außerordentlich schwer ist, unseren Mittelmeervölkern auf die Seele zu binden, von wie einzigartigem Charakter unter allen sonstigen Dingen der Welt das Denken und die Subjektivität sind. Dagegen wird den Nordländern die Sache verhältnismäßig leicht und faßlich. Und da der Gedanke der Subjektivität, wie ich bereits sagte, als Prinzip der gesamten Moderne zugrunde liegt, muß an dieser Stelle eingeflochten werden, daß wegen des Unverständnisses, das man ihm entgegengebracht hat, die Mittelmeervölker nie im vollen Sinne modern geworden sind. Jedes Zeitalter ist gleichsam ein Klima, in dem gewisse anregende und organisierende Lebensprinzipien vorherrschen; wenn einem Volk dieses Klima nicht entspricht, nimmt es am Leben nicht mehr teil, wie sich ja auch eine Pflanze in unbekömmlichem Klima auf eine „vita minima“ einschränkt oder – um einen sportlichen Ausdruck zu gebrauchen – nicht mehr „in Form“ ist. So ist es dem spanischen Volk in der sogenannten Moderne ergangen. Das Moderne war ein Lebenstyp, der ihm kein Interesse einflößte, der ihm nicht bekam. Dagegen läßt sich nicht ankämpfen; man kann nur hoffen. Aber stellen Sie sich einmal vor, dieser Gedanke der Subjektivität, in dem die Moderne wurzelt, würde einmal überwunden – ein anderer tieferer und fester begründeter Gedanke würde ihn ganz oder teilweise entkräften. Das wäre dann der Anfang eines neuen Klimas – einer neuen Epoche. Und insofern diese neue Epoche einen Widerspruch zu der vorangehenden, der Moderne, bedeuten würde, hätten die Völker, denen es in der modernen Zeit schlecht ergangen ist, große Chancen, in der neuen Zeit wieder aufzusteigen. Vielleicht würde Spanien abermals vollgültig zum Leben und zur Geschichte erwachen. Wie, wenn es eines der Ergebnisse dieser Vorlesungsreihe wäre, die Überzeugung zu gewinnen, daß eine derartige Phantasie bereits tatsächlich im Werden ist – nämlich, daß der Gedanke der Subjektivität schon heute
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JEDER BEWEIS IST EIN WIDERSTANDBEWEIS
durch einen anderen überwunden ist, daß die Moderne – auf radikale Art – abgeschlossen ist? Jedoch – der Gedanke der Subjektivität, des geistigen Primats oder Bewußtseinsprimats als der Tatsache, die im Universum an erster Stelle steht, ist so ungeheuer, fest und gediegen, daß wir uns nicht einbilden dürfen, er sei leicht zu überwinden; wir müssen uns im Gegenteil in ihn hineinbohren, ihn voll und ganz begreifen und beherrschen. Ohne das könnten wir nie darauf ausgehen, ihn zu überwinden. In der Geschichte setzt jede Überwindung eine Assimilation voraus; was überwunden werden soll, muß zuerst hinuntergeschluckt werden; eben das, wovon wir loskommen wollen, müssen wir in uns tragen. Im geistigen Leben wird nur das Bewahrte überwunden – so wie die dritte Stufe die zwei ersten überwindet, weil sie sie unter sich aufbewahrt. Sofern diese verschwänden, würde die dritte Stufe herunterfallen und wäre dann nur noch die erste. Es gibt keine andere Art, mehr zu sein als modern, als wenn man es zutiefst gewesen ist: deshalb ist es den kirchlichen Seminaren in Spanien nicht gelungen, die modernen Ideen zu überwinden – weil sie nicht bereit waren, sie wirklich in sich aufzunehmen, weil sie sie vielmehr starrköpfig draußen gelassen haben, und zwar für immer, ohne sie zu verdauen oder zu assimilieren. Umgekehrt wie beim lebendigen Leib tragen im Leben des Geistes die neuen Ideen, die Tochterideen, ihre Mütter im Schoß. Aber wenden wir uns wieder dem grundlegenden Datum, dem Denken, zu! Der methodische Zweifel, der Entschluß an allem zu zweifeln, was einen verstehbaren Sinn hat, war bei Descartes nicht nur ein gelegentlicher Einfall, wie es seine ursprüngliche Formulierung im Hinblick auf die Unbezweifelbarkeit des Zweifels ist. Der Entschluß zum universalen Zweifel ist nur die Kehrseite oder das Werkzeug eines anderen positiveren Entschlusses: nämlich als Inhalt der Wissenschaft nur das, was wir beweisen können, zuzulassen. Nun ist aber Wissenschaft, Theorie nichts anderes als die Übertragung der Wirklichkeit in ein System bewiesener Behauptungen. Der methodische Zweifel ist mithin nicht ein Abenteuer der Philosophie: er ist die eigentliche Philosophie, die in ihm ihrer eigenen und angeborenen Verfassung innewird. Jeder Beweis ist ein Widerstandsbeweis – und die Theorie ist Beweis des Widerstandes, den eine Behauptung dem Zweifel entgegensetzt. Ohne Bezweifeln gibt es kein Beweisen, kein Wissen.
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WAS IST PHILOSOPHIE?
Dieser methodische Zweifel nun führte in der Geschichte und führt auch heute noch zu der ungeheuren Entdeckung, daß es für das Erkennen kein grundsätzlicheres Datum gibt als das Denken selber. Von keiner anderen Sache läßt sich behaupten, daß ich sie nur zu denken brauche, damit sie auch da sei. Weder die Chimäre noch der Zentaur existieren, weil es mir beliebt, sie vorzustellen – wie auch dieses Theater nicht existiert, weil ich es sehe. Dagegen genügt es, daß ich denke, daß ich dies oder jenes denke, damit dieses Denken auch existiert. Also besitzt das Denken als Vorrecht die Fähigkeit, sich das Sein zu geben, für sich selber gegeben zu sein oder – in anderen Worten –: bei allen anderen Dingen ist ihr Existieren und die Tatsache, daß ich sie denke, unterschieden – weshalb sie auch stets Problem und nicht Datum sind. Jedoch meinem Denken genügt es zum Existieren, daß ich denke, daß ich es denke. Hier sind Denken und Existieren ein und dasselbe. Die Wirklichkeit des Denkens besteht in nichts weiter, als daß ich mir Rechenschaft von ihm gebe. Das Sein besteht hier im SichRechenschaft-Geben, in einem Von-sich-Wissen. Verständlicherweise ist radikales Datum für das Wissen oder Erkennen etwas, das ausgesprochen im Von-sich-Wissen besteht. Ihrer Art nach ist die Sicherheit, mit der wir behaupten können, daß im Universum das Denken oder die „cogitatio“ existiert, in ihrer Beschaffenheit unvergleichbar mit jeder anderen Behauptung hinsichtlich von Existenzen, was dazu zwingt, wenn man die Entdeckung erst einmal gemacht hat, auf das Denken unsere gesamte Welterkenntnis zu gründen. Für die Theorie ist die primäre Wahrheit über das Reale folgende: das Denken existiert, cogitatio est. Wir können nicht von der Realität der äußeren Welt ausgehen: was auch immer uns umgibt, alle Körper, unser eigener mit eingeschlossen, ist in seiner Behauptung, an und für sich, das heißt unabhängig von unserem Denken zu existieren, fragwürdig. Unzweifelhaft ist dagegen, daß das Wirkliche in meinem Denken, in Gestalt meiner Ideen, meiner cogitationes existiert. Hiermit stellt sich der Geist als Mittelpunkt und Stütze der gesamten Realität heraus. Mein Geist begabt mit unzerstörbarer Wirklichkeit das von ihm Gedachte, wenn ich ihn als das auffasse, was er an erster Stelle ist – wenn ich ihn als meine Idee auffasse. Dieses Prinzip führt dazu, daß man auf eine Erklärung dessen, was es gibt, ausgeht, indem man alles, was in seinem Erscheinen nicht Gedanke, nicht Idee ist, so interpretiert, als ob es nur im Gedachtsein, nur im Ideesein be-
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„ALLES DUMME ZEUG, WAS MAN SICH EINBILDET“
greifbar wäre. Dieses System ist der Idealismus, und die moderne Philosophie ist seit Descartes in ihrem tiefsten Grund idealistisch. Wenn wir den Zweifel an der unabhängigen Existenz der Außenwelt vorhin ein ungeheures Paradox genannt haben, so muß die Umwandlung dieser Außenwelt in ein bloßes Ich-Denken als das Paradoxeste vom Paradoxen gelten und muß aus der modernen Philosophie einen bewußten Widerspruch zu unserer Lebensüberzeugung machen. Und tatsächlich begibt sich die Philosophie seit Descartes schon beim ersten Schritt auf einen Weg, der unseren geistigen Gewohnheiten zuwiderläuft; sie schwimmt gegen den Strom des Lebens und entfernt sich von ihm mit gleichmäßiger Beschleunigung, bis sie bei Leibniz, bei Kant, bei Fichte oder Hegel zur Philosophie einer auf den Kopf gestellten Weltschau wird, einer großartigen anti-natürlichen Doktrin, die ohne vorherige Einweihung nicht zu verstehen ist, einer Lehre von Eingeweihten, einer Geheimwissenschaft, einer Esoterik. In der Schrift, auf die ich vorhin angespielt habe, sagt Heine zu seiner Freundin: „Madame, haben Sie überhaupt eine Idee von einer Idee? Der Kutscher Pattensen brummt bei jeder Gelegenheit: ,Das ist eine Idee! Das ist eine Idee!‘ Gestern aber wurde er ordentlich verdrießlich, als ich ihn frug, was er sich unter einer Idee vorstelle. Und verdrießlich brummte er: ,Nu, nu, eine Idee ist eine Idee! Eine Idee ist alles dumme Zeug, was man sich einbildet.‘ „Heines Kutscher lenkt seit drei Jahrhunderten – die ganze Moderne entlang – die prächtige barocke Karosse der idealistischen Philosophie. Noch immer reist die herrschende Kultur in diesem Fahrzeug, und bisher gab es keine Gelegenheit, sie mit geistigem Anstand zu verlassen. Die es versucht haben, sind nicht wirklich ausgestiegen, sie haben sich lediglich aus dem Fenster gestürzt und sich den Kopf aufgeschlagen, den Kopf des Heineschen Kutschers, in dem das dumme Zeug steckte. Die Überlegenheit des Idealismus entspringt dem Umstand, daß er etwas entdeckt hatte, dessen Seinsweise von der aller sonstigen Dinge grundverschieden ist. Kein anderes Ding im Universum, vorausgesetzt daß es existiert, besteht grundsätzlich in seinem Für-sich-Sein, im Innewerden seiner selbst. Weder die Farben noch die Körper, noch die Atome, nichts Stoffliches folglich; das Sein der Farbe ist das Weißsein, das Grünen, das Blauen, nicht aber das für sich weiß oder grün oder blau sein. Der Körper ist Schwere, Gewicht – wiegt aber nicht sich selber. Ebensowenig besteht die platonische Idee darin, daß sie
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ihrer selbst innewird. Die Idee des Guten oder des Gleichen weiß nicht, daß sie Güte oder Gleichheit ist. Ebensowenig besteht die aristotelische Form in diesem Von-sich-Wissen, und ebensowenig der aristotelische Gott, trotz der aristotelischen Definition, wie ich noch zu zeigen hoffe – und ebensowenig der Logos von Philo und Plotin und dem Evangelisten Johannes – und ebensowenig die Seele des heiligen Thomas von Aquino. Es handelt sich in der Tat um ein Wissen, das der Moderne im besonderen angehört. Wenn man, was ich behaupte, cum grano salis versteht, möchte ich geradezu sagen, daß die Seinsweise aller dieser Dinge keineswegs in ihrem Für-sich-Sein besteht oder in ihrem Von-sich-Wissen, sondern eher im Gegenteil: im Sein für etwas anderes. Das Rote ist rot für jemanden, der es sieht, und das platonisch Gute, das vollkommene Gute ist so beschaffen für jemanden, der es zu denken vermag. Deshalb gab sich die antike Welt bei den Neuplatonikern von Alexandria geradezu auf die Suche nach jemandem, für den die idealen Objekte Platons ein Sein hätten oder haben sollten, und gab sie tastend und unbestimmt als Inhalte des göttlichen Geistes aus. Die antike Welt in ihrer Gesamtheit kennt nur eine Seinsweise, die im Nach-außen-Treten besteht, das heißt im Sichöffnen und Sichbezeugen, im Gerichtetsein nach außen. Deshalb nannten sie auch das gefundene Sein, was dasselbe bedeutet wie die Wahrheit „Ent-deckung“ – ὰλήθεια, Offenbarsein, Enthüllung. Das cartesische Denken jedoch besteht genau entgegengesetzt im Fürsich-Sein, im Innewerden seiner selbst, in der Selbstreflexion, in der Selbstversenkung. Im Gegensatz zu dem nach außen gerichteten Sein, das sich darstellt und im Äußeren erscheint, wie es die Antike kannte, etabliert sich eine Seinsweise, die im wesentlichen von einem In-sichselbst-Sein gebildet wird, die in reiner Innerlichkeit und Reflexivität besteht. Für eine so fremdartige Wirklichkeit galt es einen neuen Namen zu finden: das Wort „Seele“ war nicht zu gebrauchen, weil die antike Seele nicht weniger Außensein war als der Körper; auch noch bei Thomas von Aquino war sie das Prinzip der körperlichen Lebenskraft. Deshalb ist für Thomas von Aquino das große Problem die Definition der Engel – weil diese Seelen ohne Körper sind, während die aristotelische Definition der Seele die körperliche Vitalität mit einschließt. Dagegen hat die „cogitatio“ mit dem Körper nichts zu tun. Mein Körper ist zunächst lediglich ein Gedanke, den mein Geist denkt. Die
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CONSCIENTIA
Seele ist nicht in oder mit dem Körper, sondern der Körper ist als Gedanke im Innern meines Geistes, im Innern meiner Seele. Wenn sich darüber hinaus ergibt, daß der Körper eine Realität außer mir ist, eine ausgedehnte, ausgesprochen materielle und nicht ideale Realität – was soviel bedeutet wie daß Seele und Körper, Geist und Materie nichts miteinander zu tun haben – so können sie sich auch weder berühren noch in irgendein direktes Verhältnis treten. Zum erstenmal trennen sich bei Descartes auf Grund ihrer Wesensbeschaffenheit materiale und ideale Welt – das Sein als Äußerlichkeit und das Sein als Innerlichkeit werden von jetzt an als unvereinbar definiert. Ein größerer Gegensatz zur antiken Philosophie ist nicht denkbar. Für Platon sowohl wie für Aristoteles bestimmte sich die Materie und das, was sie Geist nannten (für uns, die Enkel Descartes’, nur ein Pseudo-Geist), auf dieselbe Art wie Rechts und Links, wie Vorder- und Rückseite. Die Materie war die Geistempfängerin, und der Geist war der Gestalter der Materie; kurzum, sie definierten sich wechselseitig, nicht aber, wie es in der modernen Philosophie geschieht, durch absoluten Gegensatz und Ausschluß des anderen. Der Name, den sich das Denken seit Descartes als Bezeichnung des Für-sich-selbst-Seins beilegt, lautet: conscientia, Bewußtsein. Nicht Seele, anima, ψυχή – was Luft, Hauch bedeutet – weil diese den Körper belebt, ihm ein Leben einbläst, ihn bewegt – so wie die Seebrise das geblähte Segel vorantreibt, sondern Bewußtsein, das heißt Selbstrechenschaft. In diesem Terminus tritt unverkennbar das konstitutive Element des Denkens hervor – das Wissen um sich, das Innehaben seiner selbst, das Sichwiderspiegeln, In-sich-Gehen, das Innerlichsein. Das Bewußtsein ist Reflexivität, ist Innerlichkeit und nichts außerdem. Wenn wir „ich“ sagen, drücken wir dasselbe aus. Mit dem Wort „Ich“ rede ich zu mir selber, setze ich mein Sein ausschließlich in bezug zu ihm, das heißt, beziehe ich mich allein auf mich. Ich bin in dem Maße Ich, in dem ich mich auf mich zurückwende, in dem ich mich auf das eigene Sein zurückziehe – nicht indem ich hinausgehe, sondern umgekehrt, indem ich eine ständige Bewegung der Einkehr vollziehe. Deshalb deuten wir, wenn wir „Ich“ sagen, unwillkürlich mit dem Zeigefinger auf die eigene Brust und bezeichnen mit dieser sichtbaren Pantomime symbolisch unsere unsichtbare einkehrhaltende reflexive Wesenheit. Freilich erblickten die Stoiker, die sich stets in materialisti-
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schen Vorstellungen bewegten, in der Gebärde den Beweis dafür, daß die Hauptseele des Menschen, das Ich, in seiner äußeren Erscheinung wohne. Das Ich ist der Falke, der immer auf die Faust zurückkehrt, wobei die Faust ein Falke sein müßte – es besteht in nichts anderem als in dieser gekrümmten Flugbahn, die sich auf sein Innensein zurückwendet. Der Vogel, der die Himmelswölbung und den Luftraum hinter sich läßt, annulliert mit seinem Flug den Raum, indem er sich auf sich selber zurückzieht, in sich selber eingeht – eine Schwinge, die zeitweilig auch die Luft ist, die sie trägt – ein Fliegen, könnten wir sagen, das Nichtfliegen, Aufhebung des natürlichen Flugs ist. Aber ist die Entdeckung einer so seltsamen Wirklichkeit, wie sie das Bewußtsein darstellt, nicht gleichbedeutend mit der Abkehr vom Leben? Führt sie nicht notwendig zu einer Haltung, die zu der Haltung, wie sie uns im Leben natürlich ist, strikt im Gegensatz steht? Ist es nicht das Natürliche, daß wir in die Welt, die um uns ist, hineinleben, an ihre Wirklichkeit glauben, uns auf den großartigen Umkreis des Horizonts wie auf einen unerschütterbaren Ring stützen, der uns über den Fluten des Daseins erhält? Wie kommt der Mensch zu dieser Entdekkung, wie bringt er diese widernatürliche Verrenkung fertig, daß er sich zu sich selber umdreht und beim Sichumdrehen auf sein Inneres stößt, so daß er gewahr wird, daß es nichts ist außer diesem: Reflexivität, Innerlichkeit? Jedoch es kommt etwas hinzu, was noch schwerer wiegt: wenn das Bewußtsein Innerlichkeit ist, wenn es Sich-Anschauen, SichselberInnehaben ist, dann muß es ausschließlich Umgang mit sich selber sein. Descartes durchschneidet konsequent – wenn auch nicht mit letzter Eindeutigkeit – die Haltetaue, die uns mit der Welt verbinden und verquicken – mit den Körpern, mit den übrigen Menschen – und macht aus jedem Geist einen Schlupfwinkel. Er versäumt jedoch zu betonen, was das bedeutet: Schlupfwinkel bedeutet nicht nur, daß nichts Äußeres mehr in die Seele eindringen kann, daß die Welt uns nicht ihre Wirklichkeit zuschickt und uns mit ihr bereichert, sondern es bedeutet zugleich auch das Umgekehrte: daß der Geist nur mit sich selber Umgang hat, daß er nicht aus sich selber herausgehen kann – daß das Bewußtsein nicht nur Schlupfwinkel, sondern Haftzelle ist. Und deshalb werden wir, indem wir auf das wahre Sein unseres Ich stoßen, der Tatsache inne, daß wir im Universum alleingeblieben sind, daß jedes Ich im Grunde seines Wesens radikale Einsamkeit ist.
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DIE ENTDECKUNG DER SUBJEKTIVITÄT
Damit haben wir unbekannten Boden betreten. Zu Anfang dieses Kursus sagte ich, es sei mir darum zu tun, gewisse Gedanken, die in mir gereift seien und von denen viele neu sind, mitzuteilen. Ich wiederhole mein Versprechen, daß ich gesonnen bin, einer radikalen Erneuerung der Philosophie Ausdruck zu geben. In der nächsten Vorlesung werden wir auf dieser „terra incognita“ die ersten Schritte tun.
VIII Die Entdeckung der Subjektivität • „Ekstasis“ und Spiritualismus • Die Antike • Die zwei Wurzeln der modernen Subjektivität • Der transzendente Gott des Christentums Zu der entscheidenden Entdeckung des Bewußtseins, der Subjektivität des „Ich“ kommt es erst bei Descartes. Wie wir sahen, bestand die Entdeckung im wesentlichen darin, daß man herausfand, es gebe unter den Dingen, die im Universum existieren oder zu existieren behaupten, etwas, das sich in seinem Seinsmodus von den übrigen radikal unterscheidet, nämlich das Denken. Was wollen wir damit sagen, wenn wir behaupten, daß dieses Theater existiert? Was verstehen wir letzten Endes, in diesem oder jenem Erklärungssinn, unter der Existenz der Dinge? Dieses Theater existiert – das heißt: es ist hier. Aber was bedeutet dieses „Hiersein“? Was bedeutet „Hier“? „Hier“ bedeutet „hier in der Welt“, „hier im Universum“ – im allgemeinen Umkreis der Realitäten. Dieses Theater existiert, heißt soviel wie: es ist ein Teil von Madrid, hat seinen Grund in jener großen Sache, die wir die kastilische Erde nennen, und diese wiederum gründet sich auf etwas Größeres mit Namen „Planet“, der seinerseits seinen Grund im Sternensystem hat usw. usw. Die Existenz der Dinge, soweit sie „hier sind“, ist ein jeweiliges Sichgründen, das heißt ein Ineinander –, ein Aufeinanderstehen. So betrachtet ist ihr Existieren ein Außer-sich-Sein, ein gegenseitiges Einander-Setzen und Aufeinander-Ruhen. Verstehen wir recht besehen nicht dies unter dem „Hiersein“? Dagegen, wenn ich sage, daß einer meiner Gedanken existiert, so verstehe ich unter seiner Existenz kein „Hiersein“ – sondern umgekehrt: mein Gedanke existiert, wenn und weil ich mir Rechenschaft von ihm 435
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gebe. Das heißt, wenn ich ihn denke; sein Existieren besteht darin, daß er für mich Gedanke ist – besteht in seinem Für-sich-Sein. Wenn aber mein Gedanke lediglich sofern und weil ich ihn denke, tatsächlich existiert, das heißt sofern ich ihn vollziehe oder mache, so ergibt sich daraus, daß seine Existenz nicht wie die Existenz der Dinge ein Ruhen, ein passives Enthaltensein in einer anderen, ein reines Zugehörigsein zu einem Umkreis von ineinander ruhenden Dingen, zu einem Umkreis von Ruhendem ist – sondern daß das Denken nur insofern existiert, als es tätig ist – daß es folglich kein Beharren, sondern ein ständiges Sichselberschaffen, ein unablässiges Handeln ist. Das bedeutet, daß die Entdeckung der speziellsten Eigenart des Denkens weiterhin zur Entdeckung eines Seinsmodus führt, der vom Seinsmodus der Dinge radikal unterschieden ist. Wenn wir unter „Ding“ etwas im Grunde mehr oder minder Statisches verstehen, so ist das Denken von Grund aus reine Handlung, reine Tätigkeit, autogene Bewegung; das Denken ist das eigentliche echte, das einzige „Automobile“. Es besteht, sagten wir, in Reflexivität, in Widerspiegelung seiner selbst, in Rechenschaft über sich selbst. Dies setzt jedoch voraus, daß es im Denken eine Dualität oder Duplizität geben muß: das reflektierte Denken und das reflektierende Denken. Wir kommen nicht darum herum, an diesem Punkt, wenn auch im Sturmschritt, jene kleinsten Elemente, aus denen sich jedes Denken zusammensetzt, zu analysieren, um über gewisse in der modernen Philosophie sehr gebräuchliche Begriffe Klarheit zu gewinnen, als da sind: Subjekt, Ich, Bewußtseinsinhalt usw. Wir müssen sie recht sauber, keimfrei und in Ordnung halten, weil das Denken sich natürlich auch über andere Dinge, die nicht es selber sind, Rechenschaft gibt. So sehen wir im Augenblick dieses Theater, und während wir nichts anderes tun als in diesem unserem Sehen leben, erscheint es uns so, als existiere das Theater außerhalb und abgerückt von uns selber. Wir haben jedoch bereits festgestellt, daß es sich dabei um eine problematische Überzeugung handelt, wie sie jedem Akt unbewußten Denkens, das heißt jedem Denkakt, der nicht seiner innewird, anhaftet. Das Theater, das wir in einer Halluzination sehen, erscheint dem Halluzinierten nicht minder als wirklich daseiend als das Theater, das wir im Augenblick vor uns haben. Dies bringt uns zu der Einsicht, daß beim Sehen das Subjekt nicht aus sich selber heraus und in magischen Kontakt mit der eigentlichen Realität tritt. Das halluzinierte Theater sowohl wie das echte
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DIE HAFT IN MIR SELBST
Theater existieren zunächst lediglich in mir, als Zustände meines Geistes, sind „cogitationes“ oder Gedanken. Sie sind, wie man seit Ende des neunzehnten Jahrhunderts und auch heute noch sagt, Bewußtseinsinhalte des Ich, des denkenden Subjekts. Jede andere Realität der Dinge, die sie jenseits ihrer Realität als unsere Gedanken haben, ist problematisch, ist bestenfalls von dieser primären Realität, die sie als Bewußtseinsinhalte haben, abgeleitet. Die äußere Welt ist in uns, in unserem Vorstellen. Die Welt ist meine Vorstellung – wie der grobe Schopenhauer grobschlächtig sagt. Strenggenommen und eigentlich existiert nur der Vorstellende, der Denkende, der Bewußte: ich selber – me ipsum. Gewiß erscheinen mir die verschiedenartigsten Umwelten; all das, was ich arglos um mich zu haben glaube und worauf ich zu stehen und mich zu stützen glaube, wird jetzt als Fauna und Flora des Inneren wiedergeboren. Es sind Zustände meiner Subjektivität. Sehen heißt nicht aus sich herausgehen, sondern in sich das Bild dieses Theaters als ein Teilstück des Bildes Universum finden. Das Bewußtsein ist stets bei sich, ist Bewohner und Haus zugleich, ist Vertrautheit – höchst-gradige und radikale Vertrautheit meiner selbst mit mir selber. Diese Vertrautheit, aus der ich bestehe und die ich bin, macht aus mir ein verschlossenes Wesen ohne Poren, ohne Fenster. Gäbe es in mir Fenster und Poren, so fände die Außenluft Zutritt, würde mich die angenommene äußere Realität überfluten – und in diesem Falle gäbe es in mir tatsächlich Dinge, die nicht ich selber sind – es gäbe Leute in mir – und ich wäre nicht mehr reine, ausschließliche Innerlichkeit. Jedoch diese Entdeckung meines Seins als reiner Innerlichkeit, die mir die Wonne verschafft, mit mir selbst in Berührung zu treten und mich nicht als ein äußeres Ding unter den anderen Dingen zu sehen, hat auf der anderen Seite den Nachteil, daß sie mich im Innern meiner selbst einschließt, ein Gefängnis und zugleich einen Gefangenen aus mir macht. Ich bin zu ständiger Haft in mir selber verurteilt. Ich bin Universum, aber gleichwohl bin ich immer nur einer – . . . allein. Das Element, aus dem ich geschaffen, der Faden, aus dem ich gesponnen bin, ist Einsamkeit. Zu diesem Schluß kamen wir in der letzten Vorlesung. Die idealistische These, die während der gesamten Moderne herrschend ist, steht zwar auf absolut festen Füßen, ist aber zugleich schierer Wahn, wenn man sie vom Gesichtspunkt des braven Bürgers und des gewöhnlichen
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Lebens aus betrachtet. Ein größeres Paradox ist nicht denkbar, denn sie stülpt die Art zu denken, die das nichtphilosophische Leben hinsichtlich des Universums befolgt, geradezu um. Und gerade deswegen liefert sie uns ein vortreffliches Beispiel jenes geistigen Heroismus, den ich letzthin ein Kennzeichen des Philosophierens genannt habe. Hier werden ohne Selbstmitleid die letzten Konsequenzen, die unser Nachdenken fordert, gezogen; hier wird der Punkt erreicht, bis zu dem uns die reine Theorie hinführt. Selbst auf die Gefahr hin, daß sie uns zu etwas gelangen läßt, was der brave Bürger absurd nennt, – was dieser brave Bürger, der immer in einem Stockwerk unserer eigenen Person haust – absurd nennt und wogegen er sich sträubt. Eines jedoch ist an dieser idealistischen These ungemein seltsam, und zwar ist das ihr Ausgangspunkt. Die Entdeckung der Subjektivität als solche, die Entdeckung des Denkens und seiner Innerlichkeit. Der antike Mensch nämlich befindet sich in völliger Unkenntnis über diesen subjektiven, reflexiven, innerlichen und einsamen Seinsmodus. Ich wüßte nicht zu sagen, was merkwürdiger ist – ob die Tatsache, daß der antike Mensch über sein eigenes Sein in Unkenntnis befangen war, oder die Tatsache, daß der moderne Mensch das Ich entdeckt, so wie man den unvermutetsten Kontinent entdeckt. Das Thema ist bedeutsam und außerdem neu, aber schwierig zu behandeln. Ich weiß nicht, ob es mir gelingen wird, es hier vor Ihnen aufzuklären. Das einzige, was ich weiß, ist, daß ich es in aller Redlichkeit versuchen will. Wenn wir uns, ausgehend von unserem heutigen Denkmodus, für den das Bewußtsein, das subjektive Sein und Für-sich-Sein ja bereits entdeckt sind, unsere Innerlichkeit in Form eines Kreises vorstellen, so wird diesen Kreis all das ausfüllen, was in uns vorgeht und da ist. In diesem Kreis wird dem Mittelpunkt sinnbildlich jenes Element unseres Bewußtseins entsprechen, das wir Ich nennen; seine Rolle besteht darin, daß es das Subjekt unserer sämtlichen Akte wie Sehen und Hören, Vorstellen und Denken, Lieben und Hassen ist. Alle geistigen Akte sind so beschaffen, daß sie von einem Mittelpunkt auszuströmen oder auszustrahlen scheinen, einem Mittelpunkt, der in ihnen allen präsent und aktiv ist; in jedem Sehen sieht jemand, in jedem Lieben liebt jemand; in jedem Denken denkt jemand: diesen Jemand nennen wir Ich. Und zwar ist dieses Ich, das sieht oder denkt, keine Wirklichkeit jenseits des Sehens und Denkens, sondern es ist ausschließlich der subjektive Bestandteil, der einen Teil jeden Aktes bildet.
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DAS ICH ALS ZENTRUM UNSERES BEWUSSTSEINS
Wenn sich das Ich als Zentrum unseres Bewußtseins, unserer Selbstrechenschaft auf diese Weise versinnbildlichen läßt, so wird die Peripherie des Kreises von alldem besetzt sein, was in uns minder ichhaft ist, nämlich von all den Bildern, die uns Farben, Formen, Klänge, Körper liefern, das heißt von dieser ganzen äußeren Welt, die sich so darstellt, als hielte sie uns umfangen – und die wir Natur, Kosmos nennen. Es ist nun so, daß im Leben jedes Menschen diese kosmische Peripherie, die sich aus den materiellen Dingen zusammensetzt, ständig die Aufmerksamkeit beansprucht. Die Aufmerksamkeit ist eine fundamentale Haltung des Ich, die sein gesamtes übriges Verhalten regelt und leitet. So genügt es nicht, daß etwas vor uns ist, damit wir uns veranlaßt fühlen, den Akt des Sehens und des Hörens auszuführen. Menschen, die nahe bei einem Wasserfall wohnen, hören ihn schließlich nicht mehr; und genauso sehen wir im jetzigen Augenblick von dem, was an diesem Theater sichtbar ist, nur einen Teil: welchen? Den Teil, auf den wir unsern Blick richten, das heißt, den wir beachten. Jedes Sehen ist ein Ausschauhalten oder Suchen mit den Augen, jedes Hören ein Lauschen oder Die-Ohren-Spitzen. Ich sage also, daß die Natur, daß die äußere Welt die Aufmerksamkeit des Menschen mit furchtbarer Dringlichkeit herausfordert, indem sie ihm ständig Probleme der Selbsterhaltung und der Verteidigung aufgibt. Namentlich in den primitiven Geschichtsepochen der Menschheit ist das menschliche Dasein ein pausenloser Kampf mit der Natur, mit den Dingen, kann der einzelne sich mit keiner anderen Arbeit abgeben als für sein materielles Leben zu sorgen. Das bedeutet, daß der Mensch nur auf die Peripherie seines Seins achtgibt, auf das Sehbare und Tastbare. Er lebt, ohne sich über mehr Rechenschaft zu geben als seinen kosmischen Umkreis. Das Ich ist da, wo es achtgibt; alles übrige ist für das Ich nicht vorhanden. Unserer sinnbildlichen Vorstellung gemäß könnten wir sagen, daß vom Kreis nur die Linie, die ihn nach außen abschließt, vorhanden ist – das heißt, daß die Subjektivität nichts anderes als Umfang ist. Zuweilen zieht ein körperlicher Schmerz, eine innere Angst die Aufmerksamkeit von der Peripherie des Kreises ab dem Inneren zu; die Natur wendet sich auf sich selber zurück, doch immer nur für einen flüchtigen Augenblick, ohne Stetigkeit und Häufigkeit. Die Aufmerksamkeit, nicht dazu erzogen, sich auf das Innere zu richten, tendiert stets nach ihrer ursprünglichen und gewohnten Richtung und kehrt sich aufs neue der Auseinandersetzung mit den Dingen ihrer 439
WAS IST PHILOSOPHIE?
Umgebung zu. Das ist es, was wir die „natürliche“ Haltung des Bewußtseins nennen können, für das einzig und allein die kosmische aus Körpern zusammengesetzte Welt existiert. Der Mensch lebt auf dem Sprung an den Grenzen seiner selbst, an der Oberfläche und nach außen gewendet, gefangengenommen von der Natur, achtsam auf das Äußere. Soweit wir uns, wenn auch immer auf problematische Art und Weise, die Seele des Tiers vorzustellen vermögen, wäre denkbar, daß sein innerer Zustand dem des natürlichen Menschen ungefähr gleicht. Denken Sie daran, daß das Tier immer auf dem Sprung ist. Die Ohren des Pferdes auf der Koppel zeigen wie zwei lebendige Antennen, wie zwei Periskope mit ihrem unruhigen Spielen an, daß das Tier stets um seine Umwelt bekümmert ist. Sehen Sie sich die Affen im Käfig im Retiro-Park an. Es ist erstaunlich, wie diese kleinen Kerlchen über alles im Bilde sind: nichts entgeht ihnen von dem, was sich in ihrer Umgebung abspielt. Das Wort, ,Ekstasis“ heißt, seiner etymologischen Bedeutung nach: Außer-sich-Sein. So verstanden, lebt das Tier in fortwährender Ekstase, im Außersichsein festgehalten durch die Drohung äußerer Gefahren. Einkehr bei sich selber halten hieße soviel wie sich ablenken lassen von dem äußeren Geschehen, und eine derartige Ablenkung würde den Tod des Tiers nach sich ziehen. Die Natur in ihrer eigentlichen Urform ist grausam. Sie duldet nicht, daß man seine Aufmerksamkeit von ihr abwendet. Man muß hundert Augen offenhalten, muß unaufhörlich auf dem „Qui vive“ sein, rasch jeden Wink von Veränderungen in der Umgebung auffangen, um mit geeigneten Bewegungen auf sie zu antworten. Achtsamkeit auf die Natur ist aktives Leben. Das Tier in seiner reinsten Form ist der ausgesprochene Tatmensch. Auf diese Weise lebt der primitive Mensch sich selber voraus, mit seiner Aufmerksamkeit geklammert an den kosmischen Schauplatz, indem er sein eigenes Sein hinter sich zurückläßt. Das Ich lebt unmittelbar von den Dingen her und geht auf sie zu und ist mit ihnen beschäftigt; es durchquert dabei sein inneres Volumen nur so wie der Sonnenstrahl den Kristall, ohne sich bei ihm aufzuhalten, ohne bei ihm stehenzubleiben. Dies ist die Erklärung dafür, warum es biologisch gesehen ganz natürlich und primär ist, daß der Mensch sich selber nicht kennt. Überraschend, verwirrend und der Aufklärung bedürftig ist vielmehr der umgekehrte Tatbestand. Wie kommt es, daß die Aufmerksamkeit,
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DAS INTROVERSIONS-PHÄNOMEN
die ursprünglich zentrifugal und auf die Peripherie gerichtet ist, urplötzlich diese unwahrscheinliche Kehrtwendung macht, daß sie sich auf sich selber und das Ich zurückwendet und, indem sie der Umwelt den Rücken dreht, in ihr eigenes Innere zu schauen anfängt? Sie werden nicht lange brauchen, um daraufzukommen, daß dieses Introversions-Phänomen zweierlei zur Voraussetzung haben muß: etwas, das dem Subjekt Anlaß gibt, seine Aufmerksamkeit vom Außen abzuwenden; aber auch etwas, das im Inneren seine Aufmerksamkeit erregt. Beachten Sie, daß keines von beiden allein ausreichend wäre. Wird allein die Aufmerksamkeit von ihrem Außendienst entbunden, so kann sie sich auch mit anderen Dingen beschäftigen. Der bloße Wegfall der äußeren Welt bedingt jedoch noch nicht die Entdeckung und Bevorzugung des Inneren. Wenn eine Frau sich in einen Mann verlieben soll, genügt es nicht, daß sie einem anderen ihre Liebe entzieht: vielmehr ist vonnöten, daß es jenem Mann gelingt, ihre Aufmerksamkeit zu fesseln. Jedoch bevor wir in Kürze eine Erklärung für eine derart entscheidende Peripetie im menschlichen Dasein zu geben versuchen, machen wir uns am besten die Schilderung zunutze, die wir von der angeborenen und primären Haltung des Geistes gegeben haben, um die herrschende Denkweise in der griechischen und – allgemein gesprochen – der antiken Philosophie zu verstehen. In der Geschichtswissenschaft und vor allem in der Philosophiegeschichte war in den letzten Jahren als größter Fortschritt zu verbuchen, daß wir uns den Luxus gestattet haben, aufrichtig zu sein, daß wir so aufrichtig waren, uns einzugestehen, daß wir die antiken Denker nicht verstehen. Diese innere Aufrichtigkeit hat denn auch, wie es bei solcher Aufrichtigkeit stets der Fall ist, ipso facto ihren Lohn gefunden; indem wir zugaben, daß wir sie nicht verstehen, haben wir zum erstenmal und in Wahrheit angefangen, sie zu verstehen, das heißt, darauf aufmerksam zu werden, daß sie in anderer Form dachten als wir, und folglich nach der aufschließenden Formel dieses Denkmodus zu suchen. Entscheidend ist mithin nicht, daß ihre Lehren von unseren mehr oder minder abweichen, sondern daß ihre geistige Haltung eine von Grund aus andere ist. Der antike Mensch behält die Verhaltensstruktur des primitiven Menschen im wesentlichen bei. Wie dieser lebt er ausgehend von den Dingen und ist allein für den körperlichen Kosmos, die Körperwelt, da. Er mag zufällig einen flüchtigen Widerschein des Inneren auffangen,
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WAS IST PHILOSOPHIE?
doch handelt es sich eben nur um ein unbeständiges Aufleuchten, das in der Tat zufällig ist. Der griechische Geist ist also in seiner Haltung primitiv – im strikten Sinne des Wortes – mit dem einzigen Unterschied jedoch, daß sich der Grieche nicht damit begnügt, aus Lebensinstinkt auf die äußere Welt zu achten, sondern daß er über sie philosophiert, Begriffe bildet, die in rein theoretischer Form diese vorgefundene Wirklichkeit abbilden. Die griechischen Ideen sind in Anpassung an eine Realität geprägt, die sich aus körperlichen und äußeren Dingen zusammensetzt. Sogar das Wort „Idee“ und die ihm nahestehenden Wörter bedeuten soviel wie „sichtbare Gestalt“, „Ansicht“. Da es außer den Körpern in der Natur die Bewegung und die Veränderung von Körpern gibt, muß der Grieche andere unsichtbare und unstoffliche Dinge erdenken, von denen körperliche Bewegung und Veränderung herstammen. Diese nichtstofflichen Dinge werden nachträglich als Dinge von stofflich bis zur Geisterhaftigkeit verdünnter Beschaffenheit hinzugedacht. So besteht das Tier aus einer organisierten Materie, die von etwas bewegt wird, was verborgen in der Materie drinnen steckt: der Seele. Aber diese Seele ist nichts Innerliches: sie ist drinnen nur insofern, als sie im Körper verborgen ist, eingetaucht in ihn und darum unsichtbar. Sie ist ein Hauch, ein leichter Wind – ψυχή – „spiritus“ – oder aber eine Flüssigkeit wie bei Thales oder ein Feuer wie bei Heraklit. Obwohl der moderne Mensch das Wort „spiritus“ beibehalten hat und mit ihm die Entdeckung seiner Innerlichkeit bezeichnet, muß man sich darüber klar sein, daß der Grieche und der Lateiner unter „Spiritus“ eine Wirklichkeit nicht weniger äußerlicher Art verstanden, als sie die Körper haben, eine Wirklichkeit, die den Körpern anhaftete, eine Macht, die im kosmischen Raum angesiedelt war. Gewiß ist bei Aristoteles die menschliche Seele im Besitz von Kräften, die die Tierseele nicht hat, genauso wie diese Fähigkeiten besitzt, die der Pflanzenseele abgehen; jedoch auf die Seele hin gesehen ist es die menschliche nicht in ausgesprochenerem Sinne als die Pflanzenseele. So ist die menschliche Seele zugleich und „pro indiviso“ Vernunftfähigkeit und vegetative Fähigkeit. Es braucht also nicht wunderzunehmen, daß Aristoteles die Wissenschaft von der Seele, die Psychologie, der Biologie zuordnet. Aristoteles spricht in seiner Psychologie von der Pflanze so gut wie vom Menschen, weil für ihn die Seele nicht Prinzip der Innerlichkeit, sondern kosmisches Prinzip der leiblichen Lebenskraft ist, auf mehr oder minder ausgesprochene Art
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DIE GRIECHISCHE SEELE
auch Prinzip der Bewegung und Veränderung, denn nach griechischer Auffassung gibt es sogar eine Gesteinsseele – sowie eine Seele jedes einzelnen Gestirns. Am nächsten kommt dem griechischen Seelenbegriff die verborgene, aber nach außen hin sichtbare Kraft, die wir naiverweise beim Magneten voraussetzen, um uns die Bewegung, die sein sichtbarer Körper hervorruft, begreiflich zu machen. Daß man heute noch immer im Hinblick auf Aristoteles von „Spiritualismus“ im modernen Sinne des Wortes spricht, könnte man geschichtliche Ahnungslosigkeit nennen, wenn es nicht vielmehr Unaufrichtigkeit wäre. Denn vergewaltigt man die Texte durch Einführung unseres modernen Begriffs „Bewußtsein“ in den Geist des aristotelischen Denkens, so rächt sich diese Unaufrichtigkeit rückwirkend und kommt darin zum Ausdruck, daß man sich nicht eingesteht, wie unverständlich es doch ist, daß bei Aristoteles die Sterne eine Seele haben, das heißt Bewußtsein, wie aber das Bewußtsein, wenn es lediglich im Innewerden seiner selbst besteht, die schwere Masse eines Himmelskörpers bewegen soll. Der Grieche hat nicht ausgehend von der inneren Anschauung seiner selbst die Seele entdeckt, sondern er findet sie draußen vor als eine nahezu körperliche Wesenheit. Deshalb interpretiert er die sinnliche Wahrnehmung und insgleichen das gesamte geistige Leben als einen Zusammenstoß von Körpern: die Körperdinge treffen auf das Seelending und hinterlassen in ihm den Abdruck ihrer Figuren. Vor diesen Zusammenstößen enthielt die Seele nichts Eigenes; sie war ein noch unberührtes Wachstäfelchen. So weit ist die griechische Seele von jeder Innerlichkeit, von jedem Für-sich-Sein entfernt, daß sie auch leer existieren kann und keinen Schlupfwinkel hat – sondern wie eine fotografische Platte nach außen gekehrt ist und wie diese nichts enthalten kann, was nicht von außen her kommt, nämlich was die Natur auf ihr ablädt und ablagert. Wie ungeheuer weit ist diese Seele von der barocken Monade der Leibnizschen Philosophie entfernt, in die nichts eintreten und aus der nichts herausgehen kann, die vielmehr allein von sich selber lebt, als ein ursprünglicher Quell, der von seiner eigenen inneren Fülle überfließt. Über diese antike Denkweise in ihrem Gesamtzusammenhang möchte ich einmal künftig ausführlich sprechen. Heute jedoch haben wir es eilig, auf unser Thema zurückzukommen. Wie kommt es dazu, daß die von Natur aus zentrifugale Aufmerksamkeit ihre Richtung umkehrt und nach einer Schwenkung um 180 Grad
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nicht mehr nach außen geht, sondern sich auf das Subjekt selber richtet? Was ist passiert, daß sich die Augen der Menschen plötzlich herumgedreht haben, wie die Augen jener ausgeleierten Puppen, die in ihren Kopf aus Papiermache hineinsehen? Lautlos zwar, unblutig, ohne ankündigenden Trommelschlag und ohne Fanfarenstoß, von keinem Dichter gefeiert und in Verse gebracht, ist dies gleichwohl ohne Zweifel eine der größten Umwälzungen, die unser Planet je erlebt hat. Der antike Mensch lebte noch als Brudergeschöpf an der Seite des Tiers und war wie das Tier außerhalb seiner selbst. Der moderne Mensch hat sich in sein Inneres versetzt, ist zu sich gekommen, ist aus seiner kosmischen Unbewußtheit erwacht, hat die Schläfrigkeit, die ihm noch von dem Gewächs, der Alge, dem Säugetier anhing, abgeschüttelt und sich selber in Besitz genommen; er hat sich entdeckt. Eines Tages macht er einen seiner gewohnten Schritte und bemerkt, daß er auf etwas Seltsames, Unbekanntes stößt: noch sieht er nicht genau, was das ist, aber er nimmt es fest in den Griff, und da er es preßt, wird er gewahr, daß es ihm wehtut, daß er der Pressende und der Gepreßte zugleich ist, daß er auf sich selber gestoßen ist. „Es tut mir weh – also bin ich.“ Cogito – sum! Verteufeltes Abenteuer? Verteufelt? Sollte es nicht vielmehr göttlicher Herkunft sein? Spricht die Wahrscheinlichkeit nicht eher dafür, daß bei einem so außerordentlichen Vorfall Gott sich eigens bemüßigt gefühlt hat, einzugreifen? Aber welcher Gott – der christliche Gott? Jawohl, der Gott der Christen, einzig und allein der Gott der Christen. Aber wie soll denn bei dieser ausgesprochen modernen Entdeckung, der wie einem Samenkorn das gesamte antichristliche Zeitalter entsprossen ist, ausgerechnet der christliche Gott die Hand im Spiel gehabt haben? Diese Möglichkeit beunruhigt die Christen und ärgert die Antichristen, die Modernen. Der Christ ist antimodern: er hat sich bequemerweise ein für allemal der Moderne gegenüber- und entgegengestellt. Er nimmt sie nicht hin. Sie ist eine Tochter des Satans. Und jetzt erklärt man ihm, die Moderne sei eine reife Frucht des Gottesgedankens. Der Moderne hinwiederum ist antichristlich; er ist der Überzeugung, daß die Moderne im Unterschied und im Gegensatz zur religiösen Idee zur Welt gekommen sei. Jetzt mutet man ihm zu, er solle sich gerade als Moderner zur Gotteskindschaft bekennen. Das ärgert ihn. Das heißt ja, die festen Standpunkte der Geschichte umkehren, heißt, auf einen Überzeugungswechsel antragen.
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DIE CHRISTLICHE WURZEL DER SUBJEKTIVITÄT
Der Antichrist und der Antimoderne wollen sich nicht der Mühe eines Wandels unterziehen; sie wollen lieber in Trägheit verharren. Sein ist, wie wir sahen, reine Bewegtheit, unaufhörliches In-Bewegung-Sein. Die antichristliche und die antimoderne Haltung wollen sich nicht bewegen, wollen nicht sein: deshalb begnügen sie sich mit dem Dagegensein. Die Entdeckung der Subjektivität hat zwei tiefreichende geschichtliche Wurzeln: die eine von ihnen ist negativ, die andere positiv. Die negative ist der Skeptizismus, die positive ist das Christentum. Weder hätte jene ohne diese noch diese ohne jene ein solches Ergebnis zeitigen können. Der Zweifel oder die Skepsis – σκέψις – ist, wie wir festzustellen Gelegenheit hatten, die Grundvoraussetzung wissenschaftlicher Erkenntnis; sie macht die Öffnung, die der Beweis ausfüllt. Die Griechen als unschlagbare Meister im Theoretisieren übten sich auf vorbildliche Art und mit äußerster Konsequenz in dieser Zweifelkunst. Vor allem die ausgesprochen so genannten Skeptiker und ihre Schulen ließen den späteren Zeiten auf diesem Gebiet nichts mehr zu tun übrig. Weiter als die Philosophen der Akademie den Zweifel trieben, läßt er sich überhaupt nicht treiben; weder Descartes noch Hume noch Kant waren ihnen an Skepsis überlegen. In aktiver sowohl als auch in passiver Hinsicht stellten sie den illusorischen Charakter der Erkenntnis unter Beweis. Wir sind außerstande zu wissen, was die Dinge sind. Höchstenfalls können wir sagen, was sie uns zu sein scheinen. Aber natürlich sind die griechischen Skeptiker eben . . . Griechen, und da Erkenntnis die Erkenntnis des Seins ist und es für den Griechen kein Sein außer dem der Außenwelt gibt, bezieht sich der gesamte griechische Skeptizismus auf unsere Erkenntnis der kosmischen Realität. Sie kommen dabei zu Formulierungen, die wörtlich bei den Modernen stehen könnten und bewundernswert zum Ausdruck bringen, was ein Moderner nicht besser sagen könnte. So heißt es bei den Cyrenaikern, daß wir das Wirkliche nicht erkennen können, weil die Seele nicht herausgehen kann, sondern in ihre Zustände eingeschlossen ist ει̉ς τὰ πάθη κατέκλεισαν –1 und wie in einer belagerten Stadt lebt . Heißt das nicht soviel wie die Innerlichkeit entdeckt haben? Gibt es für das subjektive Sein einen zutreffenderen, plastische-
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Plutarch, Adversus Colotes, 24, 2. 445
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ren Ausdruck? Irrtum. Der Grieche, der das gedacht hat, hat nicht das Positive darin gesehen. Er meint mit diesen Worten, daß wir nicht aus dem Wirklichen entweichen können – aber es kommt ihm nicht in den Sinn, daß in diesem Nicht-entweichen-Können, in diesem Eingeschlossen- und Für-sich-Sein eine neue Wirklichkeit steckt, die fester und grundlegender ist als die äußere. Es gibt in der Geschichte nicht viele Beispiele, an denen man so deutlich erkennt, daß geistiger Scharfsinn zur Entdeckung von etwas Neuem nicht ausreicht. Es muß Begeisterung, vorausgehende Liebe zu diesem Neuen hinzukommen. Das Verstehen ist eine Laterne, der von einer Hand die Richtung gewiesen werden muß, und die Hand muß ihrerseits von einem Drang in Bewegung gesetzt werden, der im voraus auf diese oder jene Gattung möglicher Dinge zielt. Kurzum, man findet nur das, was man sucht, und das Verständnis findet man nur dank der Liebe, die sucht. Deshalb sind alle Wissenschaften zuerst Leidenschaften von Liebhabern gewesen. Die Pedanterie unserer Zeit hat das Wort „Liebhaber“ herabgewürdigt; und doch ist leidenschaftlich an etwas hängen die stärkste Bindung, die man zu etwas haben kann, und zum wenigsten ist sie die Ursprungszelle, aus der alles hervorgeht. Und dasselbe könnten wir von dem „dilettante“ – dem Amateur – sagen. Die Liebe sucht, um das Verstehen zu finden. Ein Hauptthema für ein langes und fruchtbares Gespräch, in dem der Nachweis zu führen wäre, daß gerade im ,,Aufder-Suche-Sein“ das eigentliche Wesen der Liebe besteht. Haben Sie über die erstaunliche Struktur des Suchens schon einmal nachgedacht? Der Suchende hat noch nicht, weiß noch nicht, was er sucht; anderseits jedoch heißt Suchen soviel wie im voraus haben und das Gesuchte voraussetzen. Suchen heißt eine noch nicht vorhandene Realität vorwegnehmen, für ihr Erscheinen Vorsorge zu treffen. Man versteht die Liebe nicht, wenn man, wie es üblicherweise geschieht, sein Augenmerk allein darauf richtet, was das Liebesgefühl weckt und auslöst. Wenn es die Schönheit ist, um derentwillen wir in Liebe zu einer Frau entbrennen, so ist es nicht wohlgefälliges Behagen an dieser Schönheit, was die Liebe, das Liebesgefühl ausmacht. Ist die Liebe erst erwacht und entsprungen, so entsendet sie beständig etwas wie eine wohltuende Atmosphäre, gleichsam ein getreues, wohlwollendes Licht, worein wir das geliebte Wesen einhüllen –, und zwar so, daß alle die anderen Eigenschaften und Vollkommenheiten, die es sonst noch in sich birgt, sich enthüllen und offenbar werden können und wir
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DER AUSSERWELTLICHE GOTT DES CHRISTENTUMS
ihrer innewerden. Dagegen rückt der Haß das Wesen, das wir hassen, in ein negatives Licht, und wir sehen an ihm nur noch die Fehler. Also bereitet die Liebe die möglichen Vollkommenheiten des Geliebten vor und trägt für sie Vorsorge. Deshalb macht sie uns reicher, da sie uns sehen läßt, was wir ohne sie nicht sähen. Vor allem die Liebe des Mannes zur Frau ist gleichsam ein Versuch, in ein anderes Reich aufzubrechen, über uns selber hinauszugehen; sie erfüllt uns mit Wandertrieben. Aber lassen wir für den Augenblick diese leidenschaftlichen Abschweifungen gehen und fassen wir aufs neue bei unserem Thema Anker. Wir sahen, daß der Skeptizismus den Menschen lehrt, nicht an die Wirklichkeit der äußeren Welt zu glauben und ihr folglich kein Gewicht beizulegen. Jedoch mit diesem ersten Akt bleibt er vor der Schwelle des inneren Menschen blinden Auges stehen. Wie Herbart sagt: „Jeder gute Anfänger ist ein Skeptiker, aber jeder Skeptiker ist nur ein Anfänger.“ Noch fehlt das positive Motiv, das Interesse an der Subjektivität, das bewirkt, daß sie die Aufmerksamkeit auf sich zieht und an die erste Stelle tritt. Und dies ist es, was wir dem Christentum verdanken. Die griechischen Götter sind nichts anderes als höchste Weltkräfte, Gipfel der äußeren Realität, erhabene Naturgewalten. Bei einer Pyramide beherrscht die Spitze die gesamte Pyramide, gehört ihr aber zugleich an. So befinden sich die Götter der griechischen Religion zwar über der Welt, bilden jedoch zugleich einen Teil von ihr und sind ihre geläuterte Essenz. Der Flußgott und der Waldgott, der Gott des Getreides und der Gott des Blitzes sind der göttliche Schaum dieser innerweltlichen Realitäten. Sogar der hebräische Gott erscheint in Blitz und Donner. Dagegen hat der Gott des Christentums weder mit dem Blitz noch mit dem Fluß, weder mit dem Weizen noch mit dem Donner etwas zu schaffen. Er ist ein Gott transzendenter und außerweltlicher Wahrheit, dessen Seinsart mit keiner Seinsart der kosmischen Wirklichkeit vergleichbar ist. Nichts an ihm, nicht einmal die Spitze seines Fußes, haftet in der diesseitigen Welt, ja er berührt die Welt nicht einmal als Tangente. Aus diesem Grunde ist für den Christen das tiefste Mysterium die Inkarnation. Daß sich ein Gott, der mit der Welt strenggenommen inkommensurabel ist, in einem bestimmten Augenblick in sie einprägt – „und unter uns wohnet“ – ist das größte Paradox. Derselbe Fall aber, der für das Christentum logisch gedacht ein
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Mysterium ist, war für die griechische Mythologie die alltäglichste Sache von der Welt. Die olympischen Götter nahmen jeden Augenblick irdische, manchmal sogar untermenschliche Gestalt an: sie waren der Schwan, der über Leda seine Schwingen breitete, oder der Stier, der mit Europa auf dem Rücken davonstürmte. Der christliche Gott jedoch ist transzendent, er ist „deus exsuperantissimus“. Das Christentum mutet dem Menschen zu, mit einem derartigen Sein Umgang zu pflegen. Wie ist ein solcher Umgang möglich? Er ist unmöglich nicht nur mittels der Welt und der weltlichen Dinge und durch sie hindurch; vielmehr ist alles, was der Welt angehört, umgekehrt Hindernis und Sperre für den Umgang mit Gott. Das Zusammensein mit Gott verlangt, daß man zuvor alles, was kosmisch und irdisch ist, der Möglichkeit nach vernichtet, daß man es als nichtvorhanden ansieht, da es ja in der Tat vor Gott nichts ist. Und hier sehen wir, daß der Christ in seinem innigen Streben nach der Gottheit und um seiner Erlösung willen dasselbe tut wie der Skeptiker mit seinem methodischen Zweifel. Er verneint die Realität der Welt, der übrigen Geschöpfe, des Staates, der Gesellschaft, seines eigenen Körpers. Und erst wenn er all dies getilgt hat, erst dann fängt er an, sich wahrhaft am Leben und seiend zu fühlen. Warum? Eben weil die Seele als einziges geblieben ist, allein mit Gott. Das Christentum ist die Entdeckerin der Einsamkeit als der eigentlichen Substanz der Seele. Ich sage ausdrücklich: als Substanz der Seele. Keiner unter meinen Hörern versteht jetzt schon, was das heißen soll. Die Einsamkeit als Substanz? Was soll das sein? Man gedulde sich ein wenig! Es mag wohl sein, daß mir auf dieser Höhe meiner Vorlesung alle Einsichten verschlossen bleiben, aber dessen bin ich sicher, daß es mir nicht an ingrimmigem Streben nach Klarheit fehlen wird. Man zweifle also nicht daran, daß sich auch über diese Wendung zu gegebener Zeit genügend Helligkeit verbreiten wird. Die Seele ist das, was in Wahrheit ist, wenn sie ohne Welt, befreit von der Welt zurückgeblieben und insofern – wenn sie allein ist. Und zwar gibt es keine andere Form, mit Gott zu verkehren als durch die Einsamkeit, weil einzig und allein im Zeichen der Einsamkeit die Seele mit ihrem eigentlichen Sein zusammentrifft. Gott – und ihm im Angesicht die einsame Seele; außerdem gibt es vom christlichen Gesichtspunkt aus keine wahrhafte Wirklichkeit; das heißt, unterm Gesichtspunkt der christlichen Religion, nicht jedoch der sogenannten „christ-
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GOTT UND DIE SEELE
lichen Philosophie“ (die, wie wir sehen werden, eine trübselige und unfruchtbare Kette ist, die das Christentum hinter sich herschleift). Es gibt nichts außer dieser doppelten Wirklichkeit: Gott und die Seele, und da für den Christen Erkenntnis stets Erkenntnis des Wirklichen ist, muß die vorbildliche Erkenntnis Gottes- und Seelenerkenntnis sein. So heißt es auch bei dem heiligen Augustin: „Deum et animam scire cupio. Nihilne plus? Nihil omnino.“ Es ist kein Zufall, daß Augustin der erste Denker ist, dem aufging, was es mit dem Bewußtsein und dem Sein als Innerlichkeit auf sich hat, und ebensowenig, daß er als erster darauf gekommen ist, daß sich am Zweifeln nicht zweifeln läßt. Es ist merkwürdig, daß der Begründer der christlichen Ideenlehre und der Begründer der modernen Philosophie in ihrem ursprünglichen Ansatz genau übereinstimmen. Auch für Augustin ist das Ich nur insoweit, als es sich weiß – das Sein des Ich ist sein Um-sich-Wissen – und diese Realität des Denkens figuriert in der Klasse der theoretischen Wahrheiten an erster Stelle. Auf diese Realität muß man sich gründen, nicht aber auf die problematische Realität des Kosmos und der Außenwelt. „Noli foras ire, in te ipsum redi: in interiore homine habitat veritas.“ Auch hier erscheint der Mensch als absolutes Innenwesen, als Innerlichkeit. Und begegnet wie Descartes im tiefsten Grund dieser Innerlichkeit Gott. Es ist seltsam, daß alle religiösen Menschen übereinstimmend von dem sprechen, was auch die heilige Teresa „den Seelengrund“ nennt, und daß sie ausgerechnet in diesem Seelengrund, ohne aus der Seele herauszugehen, Gott begegnen. Der christliche Gott ist offensichtlich im Verhältnis zur Welt transzendent, aber immanent im Verhältnis zum „Seelengrund“. Verbirgt sich unter dieser bröckligen Metapher irgend etwas an Wirklichkeit? Aber stellen wir im Augenblick keine Fragen, auf die wir jetzt noch nicht antworten können. Und doch wäre es ungerecht und falsch, wollte man behaupten, daß Descartes in Augustin bereits enthalten sei. Je größer die Zahl der übereinstimmenden Züge, die wir feststellen können, um so nachdrücklicher erweist sich der ungeheure Abstand. Augustin war ein Genie religiöser Empfindsamkeit; durch religiöse Intuition gelangte Augustin zur Entdeckung des reflexiven Seins – als Philosoph war er bemüht, seine Intuition zu definieren und ihr den Ort, den sie, wissenschaftlich betrachtet, haben sollte, anzuweisen; da er jedoch kein großer Philosoph ist, worin gerade die Stärke Descartes’ lag, fehlt ihm der
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blitzhaft durchschauende Blick des Genies, der bei dem Späteren zu einer völligen Umwälzung der antiken Ideenlehre und zur Begründung des modernen Idealismus führen sollte. Jedoch besteht vor allem ein großer Unterschied. Der heilige Augustin, der bereits der Moderne angehört, – und zwar ist er mit Julius Caesar der einzige Moderne der alten mittelmeerischen Welt – Augustin steht noch auf dem Boden der Antike. Und engverbunden mit seinen neuen Ideen währt ungetrennt und ungeschieden die gesamte antike Geisteshaltung bei ihm fort. Deshalb ist seine Philosophie chaotisch, deshalb ist er ein Kirchenvater, aber kein Klassiker der Philosophie. Auch ist andererseits noch nicht nachgewiesen worden, ob Descartes, der anscheinend kein sehr belesener Mann war, die Schriften von Augustin gekannt oder Anregungen von ihm empfangen hat. Aber das bleibt sich gleich. Die Anregung lag in der Luft. Die Bewußtseinsidee, die bei Augustin auftaucht, reift im gesamten Verlauf des Mittelalters weiter heran, und zwar in jener Scholastik, die man so weidlich geschmäht hat, weil sich niemand die Mühe genommen hat, sie zu studieren, was sogar die Nachkömmlinge der Scholastiker auf die rechte Weise zu tun versäumt haben. Und doch läßt sich die Kette der Überlieferung von Augustin bis zu Descartes lückenlos rekonstruieren, indem man ihren Weg über Bernhard von Clairvaux, die Victoriner, Sankt Bonaventura und die Franziskaner, Duns Scotus, Ockham und Nicolas von Autrecourt verfolgt. Auf diesem Wanderweg der Bewußtseinsidee ist man nur ein einziges Mal ins Stolpern geraten: und zwar ist es Thomas von Aquino, der diesen Gedanken christlichen Ursprungs fallenläßt, um sich der kosmischen Seele des Aristoteles wieder zuzuwenden, indem er die originale Inspiration des Christentums in die ungemäße Form des antiken Denkens preßt. Die Modernität geht aus der Christianität hervor; mögen die Zeitalter unterlassen, sich zu bekämpfen, mögen sie alle nett und verträglich sein! Hier hätte ich eigentlich mit meiner heutigen Vorlesung anfangen sollen, aber heben wir uns für das nächstemal die Erforschung jener „terra incognita“ auf, bis an deren Schwelle wir in den letzten Vorlesungen gekommen waren
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IX Die Aufgabe unserer Zeit • Eine radikale Reform der Philosophie • Das grundlegende Datum des Universums • Ich bin für die Welt und die Welt ist für mich • Das Leben jedes einzelnen Heute stehen wir vor einer ernsten Aufgabe, ernst jedoch nur innerhalb jener jovialen und sportlichen Atmosphäre, in der jede Philosophie sich bewegen muß, wenn sie Philosophie im echten Sinne, nicht aber Pedanterie sein soll. Wir müssen heute mehr denn je zuvor unsere Begriffe schärfen, müssen sie blankpoliert, klar und keimfrei zur Hand haben, weil sie uns als Instrumente bei der Durchführung einer chirurgischen Operation dienen sollen. In diesen letzten Tagen haben wir so getreu wie möglich und in ganzer Reinheit die große idealistische These, die bewegende geistige Macht der Moderne, durchgeprobt, unter deren Einfluß wir alle unmittelbar oder widerstrebend aufgewachsen sind und die auch heute noch das herrschende Regime der menschlichen Kultur ist. Indem der Idealismus die Wirklichkeit der äußeren Welt in der Schwebe läßt und die erstrangige Wirklichkeit des Bewußtseins entdeckt, hebt er die Philosophie auf eine neue Stufe, von der man nicht wieder herabsteigen kann, will man nicht der Rückschrittlichkeit – im schlechtesten Sinne des Wortes – huldigen. Der alte Realismus, der von der unbezweifelten Existenz der kosmischen Dinge ausgeht, ist philosophisch der naive Zustand, ist die paradiesische Unschuld. Jede Unschuld ist paradiesisch. Weil der Unschuldige, der weder Zweifel noch Verdacht, noch Argwohn hegt, sich jederzeit wie der primitive Mensch und der antike Mensch von der Natur umfangen sieht, die ihn als eine kosmische Landschaft, als ein Garten umgibt – und dies eben ist das Paradies. Der Zweifel vertreibt den Menschen aus dem Paradies, aus der äußeren Wirklichkeit. Und wohin geht dieser absolute Adam genannt das Denken, wenn er sich aus dem Kosmos vertrieben findet? Er weiß nicht, wo er bleiben soll, muß sich an sich selber festklammern, muß in sich gehen. Vom Paradies, das in der Achtsamkeit auf das Äußere besteht, wechselt er zur Selbstversenkung, zur Schwermut des Jünglings über. Die Moderne ist melancholisch und – alles in allem – mehr oder weniger romantisch. Der heilige Augustin, dieser erste Romanti-
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ker, der in allem ungeheuer und riesenhaft war, ist die Verkörperung der philosophischen Naivität1. Was auch immer unsere Pläne und Absichten im Hinblick auf Erneuerung und Fortschritt der Philosophie sein mögen: soviel steht fest, daß wir nicht vom Idealismus einen Schritt zurück zum naiven Realismus der Griechen und auch nicht der Scholastiker tun können. Hier kommt uns der Wahlspruch der Soldaten Cromwells sehr zupaß: Vestigia nulla retrorsum. Wir gehen über den Idealismus hinaus, das heißt, wir lassen ihn wie eine Etappe des bereits zurückgelegten Wegs in unserem Rücken, so wie eine Stadt, in der wir gelebt haben und die wir auf immer in unserem Herzen mitnehmen. Wir nehmen den Idealismus mit, das heißt, wir bewahren ihn in uns. Er war eine Sprosse des geistigen Aufstiegs. Heute setzen wir den Fuß auf eine Sprosse, die über dem Idealismus liegt, nicht unter ihm. Jedoch zu diesem Zweck
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Augustin war der erste Romantiker, ungeheuer und riesenhaft in allem, auch in seinem Romantizismus, in seiner Fähigkeit, sich zu ängstigen, sich selber zu quälen und mit seinem krummen Schnabel eines kaiserlich-römischen und katholischen Adlers sich die Brust aufzureißen. Auf den paradiesischen Adam folgt der stöhnende und in sich selbst versunkene Adam. Und es ist merkwürdig, daß Adam und Eva – nachdem sie aus dem Paradies verjagt worden sind, als erstes – wie es in der Genesis heißt – ihre eigene Person entdecken. Sie werden auf sich selber aufmerksam, entdecken die Existenz ihres Seins und empfinden mit Scham, daß sie nackt sind. Und weil sie sich in solcher Gestalt entdecken, bedecken sie sich mit Tierfellen. Beachten Sie wohl: das Sich-Bedecken ist hier die unmittelbare Folge des Sich-Entdeckens. Offenbar kommt der Mensch, wenn er auf sein Bewußtsein, seine Subjektivität stößt, zu der Einsicht, daß diese nicht jeder Witterung ausgesetzt, nicht in unmittelbarer Berührung mit der Außenwelt existieren kann wie der Fels, die Pflanze, das Tier – sondern daß das menschliche Ich, insofern es Ich ist, sich von dem natürlichen Umkreis abscheidet, sich ihm gegenüber einschließt. Das Ich ist verhülltes, inneres Sein, und die Kleidung ist das Grenzsymbol zwischen dem, was ich bin, und allem übrigen. Aber ich sagte, daß hier das Sich-Bedecken die unmittelbare Folge des Sich-Entdeckens ist. Ich habe mich schlecht ausgedrückt. Zwischen dem einen und dem anderen schiebt sich ein Drittes ein. Adam, als er sich entdeckt, schämt sich vor sich selber, und weil er sich schämt, bedeckt er sich. Unmittelbar und gleichlautend mit dem Sich-Entdecken ist das Sich-Schämen. Was bedeutet das? Ist Scham allen Ernstes die Form, in der das Ich sich entdeckt, ist sie das authentische Selbstbewußtsein? (Die voranstehende Anmerkung wurde in der Vorlesung weggelassen.) 452
DAS IDEALISTISCHE ICH IST EIN TUMOR
müssen wir eine chirurgische Operation vornehmen. Die idealistische These besagt, daß das Ich, das Subjekt, die Welt in sich einschlingt. Das Ich ist vom Einschlucken des Universums angeschwollen. Das idealistische Ich ist ein Tumor: wir müssen an diesem Tumor eine Punktierung vornehmen. Wir werden dafür sorgen, daß alles so glatt und aseptisch wie möglich vonstatten geht. Aber dieser Eingriff ist notwendig. Um das Ich stand es sehr schlecht, es wurde sehr krank – und nur, weil es ihm viel zu gut ging. Für den Griechen war das Ich eine Kleinigkeit im Gesamtkosmos. Deshalb verwendet Platon so gut wie nie das Wort ,,ego“. Höchstenfalls sagt er ήμει̃ς, wir, das heißt die soziale Gemeinschaft, die öffentliche Gemeinde der Athener oder auch die kleinere Schar von Getreuen, die sich in seiner Akademie versammelte. Für Aristoteles ist die Ich-Seele gleichsam eine Hand – ώς χείρ –, die den Kosmos abtastet, sich ihm anschmiegt, um sich über ihn zu unterrichten, die flehende Hand eines Blinden, die an den Dingen entlanggleitet. Jedoch schon bei Descartes steigt das Ich in den Rang der primären theoretischen Wahrheit auf, und als es bei Leibniz zur Monade wird, sich in sich selber einschließt und von dem großen Kosmos absondert, wird es zu einer kleinen inneren Welt, einem Mikrokosmos, und ist, wie Leibniz selber sagt, ein „petit Dieu“, ein „mikrotheos“. Und als bei Fichte der Idealismus seinen Gipfel erreicht, tritt auch das Ich in den Zenit seines Schicksals – jetzt ist das Ich schlechthin das Universum, alles. Das Ich kann auf eine strahlende Laufbahn zurückblicken. Es hat keinen Grund sich zu beklagen. Mehr kann es nicht werden. Und trotzdem beklagt es sich – und zwar beklagt es sich mit Recht. Denn als es die Welt in sich einschlang, blieb das moderne Ich ganz allein, seiner Grundbeschaffenheit nach allein. Auf gleiche Weise ist der Kaiser von China, da er so hoch über allen thront, dazu verurteilt, keine Freunde zu haben, denn das hieße ja, seinesgleichen haben – deshalb lautet einer seiner Titel: „Der einsame Mann.“ Das Ich des Idealismus ist der europäische Kaiser von China. Das Ich möchte, soweit es irgend angeht, seine Einsamkeit überwinden, auch um den Preis, nicht mehr selber das Ganze zu sein; das heißt, daß es nun danach verlangt, ein bißchen weniger zu sein, um ein bißchen mehr zu leben – es möchte Dinge um sich haben, die von ihm unterschieden sein sollen, andere von ihm verschiedene Ichs, um sich mit ihnen zu unterhalten. Das heißt, es möchte ein Du und ein Er haben, vor allem aber dieses Du, das von mir am meisten verschieden
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WAS IST PHILOSOPHIE?
ist, das als Du zu einer „Sie“ gehört oder für das Ich von Ihr ein Du, das sich als Er entpuppt. Kurzum, das Ich soll aus sich herausgehen, soll um sich herum eine Welt finden. Der Idealismus war nahe daran, die Quellen der Lebensenergien zu vermauern, die Spannkraft des Lebens völlig lahmzulegen. Weil es ihm nahezu gelungen ist, den Menschen davon zu überzeugen, und zwar ernstlich, in seinem Lebensgefühl, daß alles, was ihn umgebe, nur ein selbstgeschaffenes Bild und er selber sei. Da andererseits der angeborene, spontane und unverbesserliche Verstand uns weiterhin alldies als eine tatsächliche von mir unterschiedene Wirklichkeit vorstellt, war der Idealismus ein zähes und hartnäckiges Schwimmen gegen den Strom des Lebens und war außerdem ein nachdrückliches pädagogisches Bestreben, uns vor Augen zu führen, daß spontan leben soviel heißt wie an einem Irrtum, einer optischen Täuschung leiden. Nicht einmal dem Geizhals würde es Freude machen, weiterhin geizig zu sein, wenn er glauben müßte, daß das Goldstück in Wahrheit nur das Abbild eines Goldstücks sei, das heißt: Falschgeld. Auch würde der Liebhaber aufhören, in eine Frau verliebt zu sein, wenn er sich tatsächlich davon überzeugen müßte, daß es gar nicht diese Frau sei, sondern nur ein Blendwerk seiner eigenen Vorstellung – un fantôme d’amour. Liebe wäre dann nichts anderes mehr als Eigenliebe – Autoerotik. Gerade dann, wenn uns die Augen darüber aufgehen, daß die geliebte Frau nicht diejenige ist, die wir in ihr zu sehen wähnten, sondern nur ein schmeichelhaftes Bild, das wir uns von ihr gemacht haben, kommt es bei uns zur Katastrophe der Enttäuschung. Daß ich hier keine übertriebenen Behauptungen aufstelle, daß bis in diese Lebensdetails hinein – und das Leben setzt sich immer aus Details zusammen – die Zersetzung des Idealismus auf das Leben entkräftend gewirkt hat, dafür würde ich, wenn wir die Zeit dazu hätten, vor Ihnen den Beweis zu führen mich getrauen. Jedoch – im Augenblick stehen wir unmittelbar vor der heiklen Aufgabe, dem Idealismus den Bauch aufzuschneiden und das Ich aus seinem exklusiven Gefängnis zu befreien, ihm eine Umwelt anzuschaffen, es so weit wie möglich von seiner Selbstversunkenheit zu heilen, ihm zum Ausbruch zu verhelfen. „E quindi uscimmo a riveder le stelle.“ Wie kann das Ich wieder aus sich herausgehen? Heißt das nicht in die Naivität der Antike zurückfallen? Hierauf antworte ich: zunächst einmal würde das keinesfalls ein Wiederherausgehen sein – denn das naive Ich der Antike ist nie aus sich herausgegangen, aus dem einfa-
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DAS ICH UND DIE WELT
chen Grund, weil es nie in sich eingetreten war. Um herauszugehen, muß man vorher eingetreten sein. Das ist kein bloßes Spiel mit Worten, es ist auch keine Binsenwahrheit. Das Ich, haben wir gesehen, ist Innerlichkeit: jetzt soll es aus sich herausgehen und doch seine Innerlichkeit behalten. Ist das kein Widerspruch? Nun – wir sind mit dieser Vorlesungsreihe in die Zeit der Lese und der Ernten gekommen; so fällt uns jetzt geschickt in die Hand, was wir vor Tagen angebaut haben. Darum schreckt uns auch dieser Widerspruch nicht, denn wir wissen inzwischen, daß jedes Problem ein zwiefach gehörnter Widerspruch ist, der uns in den Weg tritt, ein anscheinender Widerspruch. Anstatt ihm das doppelt gezückte Hörn abzuschleifen, indem wir so tun, als sei hier kein Widerspruch, wollen wir es in seiner ganzen Streitlust formulieren, da es sich hier um einen Rassestier unter den Problemen handelt. Das Ich ist Innerlichkeit, es ist das, was innerhalb seiner selbst ist, es ist für sich. Trotzdem soll das Ich, ohne seine Innerlichkeit einzubüßen, eine Welt finden, die von ihm radikal unterschieden ist, und es soll aus sich heraus zu dieser Welt hinfinden. Das würde bedeuten, daß das Ich zugleich intim und exotisch, Gehege und freies Feld, Gefängnis und Freiheit ist. Das Problem ist dazu angetan, jeden zu erschrecken, und wenn ich angekündigt habe, daß ich eine chirurgische Operation vorzunehmen beabsichtigte, so hat es eher den Anschein, als setzte ich mich den Gefahren eines Torero aus. Zuvor sei bemerkt: wenn gesagt wurde, wir müßten den Idealismus überwinden, das Ich bejammere sein eingesperrtes Leben, der Idealismus, seinerzeit ein großartiger Ansporn der Menschheit, könne letzten Endes lebensschädigend wirken, so dürfen solche Vorwürfe nicht als Einwände gegen die idealistische These aufgefaßt werden. Wenn diese bis ins letzte wahr und zutreffend wäre, wenn sie nicht in ihrem eigenen Bereich theoretische Schwierigkeiten mit sich brächte, bliebe trotz dieser Vorwürfe der Idealismus auch fernerhin unverletzt und unverwundbar. Die Wünsche, die Sehnsüchte, ja die Lebensnotwendigkeiten selber mit ihrer Forderung einer anderen Wahrheit würden an der Intelligenz zerschellen und nicht einmal bis an sie herankommen. Eine Wahrheit ist nicht deshalb wahr, weil man nach ihr verlangt; eine Wahrheit jedoch wird nicht entdeckt, sofern man nicht nach ihr verlangt und sich nach ihr auf die Suche begibt. So bleibt der Wahrheit ihr desinteressierter und von unseren Gelüsten unabhängiger Eigencharakter unbeeinträchtigt erhalten; doch steht nicht weni-
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WAS IST PHILOSOPHIE?
ger fest, daß ein bestimmter Mensch und eine bestimmte Zeit eine bestimmte Wahrheit zu Gesicht bekommen, weil ihnen der Sinn nach ihr steht und sie zu ihr hinbewegt. Ohne das gäbe es keine Geschichte. Die zusammenhanglosesten Wahrheiten würden dann im Geist des Menschen einfallen, so unvermutet wie ein Schwarm Rebhühner, und er selber wüßte mit ihnen nichts anzufangen. Wozu wäre Galilei die Wahrheit von Einstein nütze gewesen? Die Wahrheit senkt sich nur auf den herab, der nach ihr strebt, der sich nach ihr gesehnt hat und bereits in seinem Geist die Muldung vorgebildet trägt, wo sie sich niederlassen kann. Fünfundzwanzig Jahre vor der Relativitätstheorie postulierte man eine vierdimensionale Physik ohne die Absolutheit von Raum und Zeit. Bei Poincaré findet sich bereits die Muldung, in der Einstein sich einrichten konnte – worauf Einstein selber nicht müde wird hinzuweisen. Mit skeptischem Unterton und um das Ansehen der Wahrheit zu schmälern, behauptet man, der Wunsch sei der Vater der Wahrheit. Diese Behauptung ist wie der Skeptizismus überhaupt unsinnig oder widersinnig. Wenn man nach einer bestimmten Wahrheit verlangt, so verlangt man nach ihr; insoweit sie tatsächlich wahr ist. Das Verlangen nach einer Wahrheit geht über sich selber hinaus, läßt sich selber zurück und geht auf die Suche nach der Wahrheit. Der Mensch ist sich völlig klar darüber, in welchem Augenblick er nach einer Wahrheit verlangt und in welchem Augenblick er sich nur etwas vormachen will, das heißt, nach einer Fälschung verlangt. Sagen wir also, daß für unsere Zeit die Notwendigkeit oder das Verlangen besteht, den Idealismus zu überwinden, so formulieren wir nur in schlichten Worten und mit bußfertiger Miene, was vornehmer und gewichtiger ausgedrückt etwa so lauten würde: die Überwindung des Idealismus sei die große Aufgabe unseres Zeitalters, seine hohe geschichtliche Mission, „die Aufgabe unserer Zeit“. Und wer da mißgelaunt oder mit abschätziger Gebärde sagt: „Wozu denn soll unsere Zeit erneuern, verändern, überwinden? Wozu dieses Drängen, diese Neuigkeitskrämerei, dieses modische Modifizieren?“ – wie man dergleichen so häufig gegen mich vorgebracht hat –, so gebe ich darauf zur Antwort: daß wir in dieser oder in der nächsten Vorlesung die überraschende, aber zugleich evidente Tatsache entdecken werden, daß im strengen Sinne jede Zeit ihre Aufgabe, ihre Mission hat, daß jeder die Erneuerung aufgegeben ist – ja, mehr noch, weit mehr: daß buchstäblich gesprochen „Zeit“ im letzten Grunde nicht die Zeit ist,
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DER KAMPF MIT DEM MINOTAURUS
„die nach der Uhr gemessen wird“, sondern daß Zeit – ich sage noch einmal „buchstäblich“ – Aufgabe, Mission, Erneuerung ist. Auf die Überwindung des Idealismus abzuzielen, ist kein frivoles Beginnen, sondern genau das Gegenteil: es ist die Bereitschaft für das Problem unserer Zeit, die Bereitschaft für unser Schicksal. Begeben wir uns also ans Werk, nehmen wir den Kampf mit unserem Problem auf, stellen wir uns dem philosophischen Stier, den unsere Zeit in die Arena entläßt, als brüllenden Minotaurus! Hiermit beginnt die letzte Krümmung unserer Spirale, und wie immer wenn wir in einen neuen Kreis eintreten, ertönt von neuem die ursprüngliche Definition der Philosophie – die nach unseren Worten Erkenntnis des Universums oder des „was es gibt“ ist. Und zwar müssen wir zunächst darangehen herauszufinden, welche Realität unter den mancherlei Realitäten, die es gibt, unzweifelhaft vorhanden ist, das heißt, was vom Universum uns gegeben ist. Für die naive geistige Haltung, für den primitiven Menschen und den Menschen des Altertums, für uns selber, solange wir nicht philosophieren, ist dem Anschein nach der Kosmos gegeben und wirklich, das heißt, die Dinge, die Natur, die Körperwelt, dies ist es, was zuerst für wirklich gehalten wird, was das Sein verbürgt. Der antike Philosoph sucht nach dem Sein der Dinge und erfindet Begriffe, die seine Art zu sein interpretieren. Der Idealismus jedoch wird sich bewußt, daß die Dinge, die Außenwelt, der Kosmos im Besitz einer problematischen Wirklichkeit, daß sie in ihrem Sein problematisch sind, und daß allein existent unser Denken der Dinge, der Außenwelt, des Kosmos ist. Und so kommt man zur Entdeckung einer neuen Art von Wirklichkeit, einer erstrangigen und zuverlässigen Art zu sein, nämlich des Seins, insofern es gedacht wird. Nun ist aber die Seinsart des Dings – wie alles Dinghaften – statischen Charakters und besteht in einem ruhenden Sein – in einem Beharren auf dem, was es ist, und nichts darüber hinaus – ja selbst das Sein der Bewegung als einer kosmischen Realität ist ein unveränderliches Etwas, ist unwandelbar „Bewegung“ – (ich verweise die echten Jünger der Philosophie auf den „Parmenides“, auf den „Sophistes“ von Platon und auf Buch XII der aristotelischen „Metaphysik“, das heißt jedoch auf diese herrlichen Texte in ihrem originalen Wortlaut, nicht auf die verwaschenen Auszüge der Seminareditionen, die von der großartigen Philosophie der Antike nur ein zerstückeltes und seichtes Zerrbild liefern) – dagegen ist das Sein des Denkens kein bloßes Sein, son-
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WAS IST PHILOSOPHIE?
dern ein Für-sich-Sein, ein Sich-Rechenschaft-Geben, ein sich erscheinendes Sein. Fällt Ihnen nicht der radikale Unterschied auf, wie er zwischen der Seinsart des Denkens und der Seinsart des Dings besteht? Fällt Ihnen nicht auf, daß wir von Grund aus neue Begriffe brauchen, neue Ideen, von den früheren unterschiedene Kategorien, um zu verstehen, um theoretisch, wissenschaftlich zu begreifen, wie es um diese Wirklichkeit oder dieses Etwas, das wir Denken nennen, bestellt ist? Im Augenblick besitzen wir es nur in der Intuition, das heißt, wir nehmen es in seinem eigentlichen Wesen wahr, finden aber noch nicht die rechten Worte, um es zu beschreiben und auszudrücken. Worte, die ihm so genau angepaßt sein müßten wie der Handschuh der Hand, damit an dieser Art zu sein sein Besonderes hervortrete. Aber es fehlt uns nicht nur an geeigneten Begriffen, sondern das Sprachschema als solches ist beim natürlichen Verstand auf das kosmische Sein ausgerichtet, und die antike Philosophie hat nichts anderes getan als diese spracheigenen Begriffe zurechtzuschleifen, und diese alten Ideen und Vokabeln drängen sich gewohnheitsmäßig auf und machen sich zum Dolmetsch dieses neuen Etwas und seiner Art zu sein, die der moderne Mensch entdeckt hat. Es geht also um nichts Geringeres als den überlieferten Sinn des Begriffs „Sein“ zu entkräften, und da in ihm die Philosophie recht eigentlich wurzelt, bedeutet eine Reform der Seinsidee eine radikale Reform der Philosophie. Mit dieser Aufgabe sind wir, ich und ein paar andere Gelehrte in Europa, seit geraumer Zeit beschäftigt. Die Frucht dieser Arbeit möchte ich in ihrem ersten Reifestadium in dieser Vorlesungsreihe mitteilen. Ich glaube, es ist keine leichtfertige Neuerung, die hiermit den Hörern der „Sala Rex“ und des Theaters „Infanta Beatriz“ geboten wird. Es ergeht also an Sie die Aufforderung, Ihrem Respekt vor dem ehrwürdigsten, dauerhaftesten und am tiefsten eingewurzelten Begriff, den es in der geistigen Überlieferung gibt, zu entsagen: dem Begriff des Seins. Ich sage Schachmatt zu dem Sein Platons, zu dem Sein des Aristoteles, zu dem Sein von Leibniz und Kant und – natürlich auch zu dem Sein von Descartes. Man wird folglich nicht verstehen, was ich jetzt sagen werde, wenn man sich eigensinnig und blind weiterhin an eine Bedeutung des Wortes „Sein“ klammert, an der gerade eine Reform vorzunehmen beabsichtigt ist. Das Denken existiert und ist in dem Maße und soweit es für sich ist –
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DAS NICHT RUHENDE SEIN
es besteht darin, daß es sich von sich selber Rechenschaft gibt, daß es sich selber erscheint und sich in sich selber spiegelt. Es ist mithin nicht ruhendes Sein, sondern Reflexion. Man wird jedoch einwenden: da Sie behauptet haben, die Bewegung hätte ein ruhendes Sein – insofern Bewegung schließlich und endlich nichts weiter ist als eben Bewegung, ohne Veränderung und für alle Zeit –, so muß auch das Denken, wenn es in Reflexionen besteht, Reflexion sein, das heißt eine feste, unveränderliche und ruhende Beschaffenheit haben. In einer Hinsicht: aber die Reflexion ihrerseits ist ja nur von mir gedacht, hat also nur eine gedachte Wirklichkeit, ein gedachtes Sein, das mir als Reflexion „erscheint“. Und so finden wir hintereinander und um und um lediglich ein Sein, das in reiner Beziehung auf sich selber besteht, in reinem Sich-Hervorbringen und Auf-sich-Zugehen – wir finden einzig und allein Unruhe. Man fasse diesen Ausdruck nicht metaphorisch auf, sondern streng verbindlich. Das Sein des Denkens ist Unruhe, es ist kein statisches Sein, sondern nur aktives Sich-Erscheinen; es gibt sich das Sein selber. Dasein und Sein eines Gedankens setzen nichts weiter voraus, als daß ich ihn denke; indem ich ihn denke, schaffe ich ihn, gebe ich ihm Sein, jedoch nur solange und insoweit ich ihn denke, vollziehe, betätige. Wenn der Gedanke ein ruhendes Sein hätte, würde er aufhören zu sein, weil ich aufhören würde, ihn denkend zu betätigen. Seien Sie nicht erschrocken, wenn Ihnen vorläufig noch das Verständnis für diesen sonderbaren Seinsmodus ein wenig zwischen den Fingern des Verstandes zerrinnt. Kein Mensch kann in einem einzigen Augenblick jahrtausendealte Gewohnheiten des Verstandes überwinden. Gewiß hat es, während Sie mir zuhören, bei Ihnen Augenblicke gegeben, in denen Sie für einen flüchtigen Moment klar zu sehen meinten, jedoch gleich darauf ist Ihnen die Intuition wie ein Aal entschlüpft, und Sie sind wieder in die geistige Forderung nach einem ruhenden Sein zurückgefallen, nach einem Sein, das nicht seinem Wesen nach Unruhe ist. Machen Sie sich nichts daraus! Denn es wird nicht lange dauern, und wir werden in zugänglicherer und plastischerer Form auf dasselbe Problem stoßen. Kehren wir für den Augenblick zu dem zurück, was uns – wie ich hoffe – keine Mühe bereitet und seine Evidenz mit sich führt. Insofern das Denken ausschließlich darin besteht, daß es sich selber Rechenschaft gibt, kann es an seiner Existenz nicht zweifeln; wenn ich A den-
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WAS IST PHILOSOPHIE?
ke, ist offenkundig, daß das Denken von A existiert. Deshalb lautet die erste Wahrheit über das „was es gibt“ folgendermaßen: das Denken existiert, cogitatio est. So beschlossen wir unseren letzten Zirkel. Alle anderen Realitäten sind möglicherweise illusorisch, aber diese – die Illussion selber – das Mir-Erscheinen von dem oder jenem, das ich denke – existiert ohne die Möglichkeit eines Zweifels. Hiermit fängt Descartes an – doch nein! Descartes sagt nicht wie wir: Das Denken existiert – cogitatio est –, sondern er sagt, wer wüßte das nicht: „Ich denke, also bin ich, existiere ich“ – Cogito, ergo sum. In welchem Punkt weicht diese Behauptung von unserer ab? Die cartesische Formel besteht aus zwei Gliedern: das eine sagt: „Ich denke“, das andere „also bin ich“. Zu sagen – „ich denke“ und zu sagen „cogitatio est“ – das Denken existiert – ist ein und dasselbe. Der Unterschied zwischen dem Satz von Descartes und unserem Satz liegt also darin, daß er sich nicht mit dem begnügt, was uns ausreichend schien. Indem wir wie in einer mathematischen Gleichung für das entsprechende Glied ein gleichwertiges einsetzen, sagen wir statt „ich denke“ – „das Denken existiert“, wodurch uns der Sinn des cartesischen Wahlspruchs deutlicher wird: „das Denken existiert – es ist: also existiere ich, bin ich“. Unsere chirugische Operation ist im vollen Gange: schon sitzt das Skalpell fest im „cogito“, dem eigentlichen Lebensnerv des Idealismus. Seien wir behutsam! Wenn wir sagen, daß das Denken existiert, daß es ist, so ist damit für uns gleichzeitig gesagt, daß es existiert und mein Ich ist. Denn es gibt kein Denken, das nicht als eines seiner Elemente das Subjekt, das es denkt, enthält, so wie es andererseits einen Gegenstand, der gedacht wird, einschließt. Wenn also das Denken existiert, und zwar in dem Sinne, in dem es existiert, so muß sein Subjekt oder Ich und außer diesem sein Gegenstand existieren. Diese Bedeutung von Existieren ist das Eigentliche und Neue am Denken – es ist erscheindendes Existieren, ist Für-mich-Sein. Mein Gedanke ist das, was für mein Denken ist: ich existiere nur insofern und insoweit und allein darum, weil ich denke, daß ich bin und auf die Art und Weise, wie ich denke, daß ich bin. Das ist die Neuerung, die der Idealismus in die Welt bringen wollte, und dies ist der eigentliche Spiritualismus: alles übrige ist nichts anderes als Magie. Und doch hat Descartes, wiewohl er das Denken als Tatsache entdeckte und für dieses Etwas mit Namen „Denken“ hinreichende In-
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DAS ZURÜCKSCHRECKEN DES DESCARTES
tuition besaß, sich nicht von den kosmischen Kategorien freigemacht; was er vor Augen sieht, bringt ihn um seine Seelenruhe, nämlich: dieses Sein, das in bloßem Erscheinen, in purer Möglichkeit, in Reflexions-Dynamik besteht. Wie ein antiker Denker, wie ein thomistischer Scholastiker braucht er etwas Festeres, um sich anzuklammern, braucht er das kosmische Sein. Und so forscht er hinter diesem Sein des Denkens, das in reinem Sich-selber-Erscheinen besteht, das sich nur auf sich selber bezieht und sich Rechenschaft gibt – nach einem dinghaften Sein, nach einer statischen Entität. Das Denken hört auf, für ihn Realität zu sein, kaum daß er es als primäre Realität entdeckt hat; es verwandelt sich in eine bloße Manifestation oder Qualität einer anderen latenten und statischen Realität. Wenn wir das Gesagte auf den Satz von Descartes beziehen, kommen wir zu folgender Erklärung: das Denken existiert unzweifelhaft. Da es jedoch in bloßem Sich-selber-Erscheinen, in bloßem Anschein besteht, ist es keine Wirklichkeit, ist es kein Sein im überlieferten Sinne des Wortes. Da ich, Descartes, der ich an allem gezweifelt habe, mich nicht bereitgefunden habe, die Wahrheit der antiken Kategorien in Zweifel zu ziehen, insbesondere nicht den klassischen Seinsbegriff – den naiven Begriff des Seins –, sehe ich mich zu folgendem Schluß genötigt: wenn das Denken als Erscheinung unzweifelhaft existiert, ist man gezwungen zu schließen, daß sich hinter dieser Erscheinung eine Realität verbirgt, etwas, das in diesem Erscheinen erscheint, das sie stützt und ihre eigentliche Wahrheit ist. Diese latente Wirklichkeit nennen wir Ich; dieses mein wirkliches Ich kann ich nicht sehen, es ist für mich nicht evident. Deshalb muß ich auf dem Weg einer Schlußfolgerung zu ihm gelangen, freilich auf dem Wege eines Kurzschlusses; deshalb muß ich, um die Existenz des Ich zu behaupten, über die Brücke eines „ergo“ gehen. Ich denke – also bin ich. „Je pense, donc je suis.“ Wer aber ist dieses existierende Ich? „Je ne suis qu’une chose pui pense.“ Aha, ein Ding! Das Ich ist nicht Gedanke, es ist vielmehr ein Ding, das als Attribut das Denken bei sich hat. Das Denken tritt an ihm hervor, erscheint in ihm. Damit sind wir in das bewegungslose Sein der griechischen Ontologie zurückgefallen. In dem gleichen Satz und im Zuge der gleichen Gebärde, mit der uns Descartes eine neue Welt enthüllt, zieht er sie wieder zurück und macht sie zunichte. Zwar hat er die Intuition vom Sein, vom Für-sich-Sein, aber er faßt es nach griechischer Anschauung als ein substantielles Sein auf. Diese Dualität und dieser
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WAS IST PHILOSOPHIE?
innere Widerspruch, diese schmerzhafte Unvereinbarkeit in sich selber ist das Wesen des Idealismus und der Moderne: das Wesen Europas. Europa hat bis auf den heutigen Tag in der Verhexung und Verzauberung Griechenlands gelebt – das in der Tat bezaubernd ist. Wir jedoch wollen als Griechenlandverzauberte uns nur an das Vorbild des Odysseus halten und auch dem Odysseus nur in jeder Anmut nacheifern, mit der er den Zauberkünsten der Kirke und der Kalypso zu entwischen verstand, diesen Zauberinnen des Mittelmeeres, die auf dem Pfühl ihrer umschäumten Inseln so recht wie Sirenen hingestreckt lagen und ein wenig auch Madame Récamier, der auf ihrem Ruhebett hingegossenen, glichen. Und zwar lag die Anmut des Odysseus darin – Homer erzählt uns nichts davon, aber die alten Seebären am Mittelmeer wußten Bescheid –, daß er ein unfehlbares Mittel wußte, dem Lied der Sirenen zu entrinnen, nämlich indem man es andersherum singt. – Nebenbei bemerkt: Odysseus war der erste Don Juan; indem er vor seiner alltäglichen Penelope Reißaus nimmt, wird ihm Gelegenheit, mit der gesamten bezaubernden Weiblichkeit an unserem Meer Bekanntschaft zu schließen; er macht ihre Bekanntschaft, macht sie in sich verliebt und macht sich aus dem Staub. Mit der Lehrherrschaft der Griechen ist es vorbei. Die Griechen sind keine Klassiker – sie sind ganz einfach archaisch, dabei natürlich – bewundernswert. Gerade darum interessieren sie uns desto mehr. Sie hören auf, unsere Lehrer zu sein, und fangen an, unsere Freunde zu werden. Jetzt können wir uns mit ihnen unterhalten und können ihnen im Grundsätzlichen widersprechen. Die höchste und ohne Zweifel schwierigste Frage, die es in der Philosophie überhaupt gibt und die außerdem absolut neu ist– und im großen und ganzen befaßt sich dieser erste öffentliche Kursus, der je vor Madridern gehalten worden ist, nur mit den schwierigsten und abstrusesten Problemen, die in der Philosophie vorkommen, weshalb ich gelobe, andere Kurse über zugängliche Themen zu halten –, die Frage, sage ich, hat in folgendem ihren Grund. Stellen wir uns vor, wir dächten, ehe wir unsere Subjektivität entdeckt hätten, so daß es infolgedessen für uns außer der Realität der Dinge unserer Umwelt keine andere gäbe. Sehen wir zu, welchen Begriff wir uns vom Sein dieser Dinge machen würden. Zum Beispiel, das Pferd, das wir im Hippodrom sehen: was ist das für ein Sein, das Ding Pferd? Gegenwärtig haben wir seine Form, seine Farbe, die Widerständigkeit seines Körpers. Ist dies
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DIE SUBSTANZ
das Sein des Pferdes, seine Wirklichkeit? Ja und nein: das Pferd ist nicht seine Form, weil es auch seine Farbe und so weiter ist. Farbe und Form und Tastwiderstand sind unter sich verschiedene Dinge. Das Pferd ist eine Einheit. Es ist die Einheit, die sie bilden oder, besser gesagt, eine einheitliche Sache, in der diese anderen Wahrnehmungsdinge sich zusammenfinden. Aber dieses Ding, in dem sich Farbe, Form und so weiter vereinen, ist selber nicht sichtbar. Ich setze es voraus, ich erfinde es, es ist meine Auslegung des wahrnehmbaren Tatbestandes, der in der Andauer besteht, innerhalb deren eine bestimmte Farbe und eine bestimmte Form miteinander erscheinen. Das echte Sein des Pferdes hält sich unter seinen anscheinenden, sichtbaren und tastbaren Elementen verborgen: es ist etwas, das hinter diesen gegenwärtigen Dingen wie Farbe, Form und so weiter verborgen ist. Es ist folglich eine Sache, die als einheitliche Grundlage zu diesen anderen Dingen, die ich „Eigenschaften des Pferdes“ nenne – nicht eigentlich „Pferd“ – hinzugedacht wird. Also ist das Sein dieses Tiers nicht sein sichtbares Sein, sondern umgekehrt: es ist etwas in ihm, das zu seinen erscheinenden Eigenschaften die Grundlage bildet, als Sein das Substrat seiner Eigenschaften ist, als Sein ihnen zugrunde liegt, sein zugrunde liegendes Sein oder die Substanz ist. Mithin ist die Substanz eine Sache, die meiner Voraussetzung nach hinter alldem steht, was ich an einer Sache sehe, den unsichtbaren Hintergrund ihrer Erscheinung bildet. Aber außerdem bewegt sich das Pferd, sein Fell wechselt mit den Jahren die Farbe und ebenso die Gestalt durch sein vieles Rackern. Die Bilder seiner Erscheinung sind darum unendlich. Wenn das Pferd in seinen Erscheinungsbildern bestünde, gäbe es nicht ein Pferd, sondern unendlich viele, die allesamt voneinander verschieden wären. Das würde bedeuten, daß das Pferd bald diese eine wäre, bald dieses andere, wieder ein anderes und so fort – das heißt, daß es weder das eine noch das andere wäre, sondern etwas völlig Unbestimmtes. Setzen wir jedoch voraus, daß es hinter diesen Erscheinungsbildern etwas Unsichtbares gibt, das fortwährend ist und diese Erscheinungsbilder nacheinander hervorbringt, daß es sich um Veränderungen nur eines einzigen und unveränderlichen Seins handelt, nämlich der Substanz Pferd. Während das Pferd, soweit es erscheint, sich verändert und sich bewegt, hat es in Wirklichkeit ein ruhendes Sein, ein unwandelbares Sein. Die Substanz ist nicht nur die Grundlage seiner Eigenschaften –
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sie ist außerdem das andauernde Subjekt seiner Veränderungen oder Zufälligkeiten. Am kennzeichnendsten für den hellenischen Seinsbegriff ist das zugrunde liegende oder substantielle Sein, das ein unbewegliches und unveränderliches Sein ist. Einem in die letzte Substanz eingeschlossenen Sein, das Prinzip jeden Wechsels und jeder Bewegung ist, werden wir beim aristotelischen Gottesbegriff begegnen; dieser Gott ist ein Sein, das bewegt, ohne sich zu bewegen – ein unbeweglicher Motor – κινου̃ν α̉κίνητον. Diese Idee eines zugrunde liegenden oder statischen Seins ist absolut richtig und unzerstörbar, solange es in der Welt außer den Realitäten, die uns von außen her zukommen, die wahrnehmen, keine sonstigen gibt. Und zwar weil wir von diesen äußeren Dingen nur ihre Erscheinungsbilder präsent haben. Jedoch das Pferd existiert nicht, ist nicht, weil es erscheint und aufgrund seiner Erscheinung: denn gerade von seiner Erscheinung sagen wir ja, daß sie lediglich Erscheinung, nicht aber Realität ist. Machen Sie den Versuch, als Wirklichkeit, das heißt als etwas, das sich selber genügt und sich selber in seinem Sein erhält, eine reine Farbe anzusehen. Sogleich wird Ihnen auffallen, daß das genauso unmöglich ist, wie wenn es eine Vorderohne eine Rückseite, ein Oben ohne ein Unten geben sollte. Die Farbe erweist sich als Bruchstück einer Realität, die sie ergänzt, einer Materie, die sie bekleidet und trägt. Sie fordert demnach die Realität, die ihr zu existieren erlaubt, und solange wir die nicht finden oder annehmen, haben wir nicht den Eindruck, daß wir zum wahren und endgültigen Sein durchgedrungen sind. Hierauf spielte ich in meinen ersten Vorlesungen an, und zwar tat ich es deswegen, weil es die geläufigste und allbekannte Art ist anzufangen, wenn man sich verständlich machen will. Das heißt: ich sagte es damals, um es hernach zu widerlegen, wie das in diesem Kursus mit so manchen anscheinend erzbekannten Dingen geschehen ist. Das ist auch der Grund, weshalb Descartes, als ihm bewußt wird, daß das Denken im Erscheinen seiner selbst besteht, nicht glauben kann, daß es sich selber genügt und blindlings, mechanisch die alte Substanzkategorie darauf anwendet und nach einer Sache, die dem Denken zugrunde liegen soll, Ausschau hält, einer Substanz, die es aussendet, aus sich entläßt und die sich in ihm manifestiert. Es scheint ihm deshalb so, als hätte er das Sein des Denkens nicht im Denken selber gefunden, sondern in einer Sache – die denkt, res-cogitans. In
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DAS VERSTÄNDNIS DER CARTESISCHEN FORMEL
seinen Augen ist die Substanz ,,quod nihil aliud indigeat ad existendum“. Demnach verhält es sich so, daß einerseits das Denken das einzige ist, was unzweifelhaft existiert, weil ihm sein erscheindendes Sein zum Existieren genügt, und daß es andererseits, um zu existieren, eine latente, nicht in Erscheinung tretende Grundlage nötig hat – eine Sache, die denkt. Fällt Ihnen nicht auf, daß wir uns hier in der Vorstellung von der Magnetnadel bewegen, in der uralten magischen Gewohnheit nämlich, die uns hinter dem, was wir sehen, als Erklärung des Augenfälligen ein Vorhandensein, das wir nicht sehen und das an sich selber ein Mysterium ist, annehmen läßt? In der Tat hat nie jemand von der Substanz eine Intuition gehabt. Descartes wechselt den Gehalt der ersten Hälfte seines Satzes, die evident ist – das Denken existiert – in die Behauptung der zweiten Satzhälfte um, die im höchsten Grade problematisch und außerdem überflüssig ist und die den Seinsmodus des Denkens seines eigentlichen Wesens beraubt, indem sie ihn als substantielles oder dinghaftes Sein verfestigt und lahmlegt. Nein – das Ich und das Denken sind nicht ein und dieselbe Sache, und das Denken hat nichts nötig, um zu existieren. Wenn dem so wäre, könnte Descartes den ersten Teil seiner Behauptung nicht gelten lassen, könnte er nicht sagen: Cogito – das Denken existiert – und auf diese Wahrheit die Schlußfolgerung gründen – also existiere ich. Man muß sich darüber klarwerden, daß diese cartesische Formel – so genial und ungeheuer fruchtbar sie auf Grund der keimhaften Wahrheit, die in ihr steckt und die sich gegen ihren eigenen Willen durchgesetzt hat, gewesen ist – gleichwohl im einzelnen wie im ganzen ein wahres Nest von Widersprüchen ist. Deshalb hat in den dreihundert Jahren, die dieser Satz nun schon alt ist, ihn kaum einer richtig verstanden. Und seien Sie überzeugt, daß die wenigen, die ihn richtig verstanden haben, nur deshalb so weit gekommen sind, weil sie den Mut hatten, sich aufrichtig Rechenschaft zu geben und sich einzugestehen, daß sie ihn zuerst nicht verstanden hatten. Ich habe drei Jahre lang in einer kleinen Stadt der deutschen Mancha gelebt, wo sich die Leute als Spezialisten im Cartesianismus ausgaben. Fügsam habe ich mich ihrer Disziplin untergeordnet. Tag für Tag und Monat für Monat. Und was soll ich Ihnen sagen: In Marburg hat nie ein Mensch die cartesische Formel verstanden, obwohl sie doch die Basis des Idealismus ist, jener Philosophie, die man in Marburg angeblich pflegte und kultivierte. Und zwar kam die Sterilität aus jener Krankheit, die im geistigen Leben nahezu
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WAS IST PHILOSOPHIE?
chronisch ist: man ist bestrebt, einem Satz mehr oder minder gewaltsam einen Sinn abzuringen, und das heißt man dann ihn verstehen. Man muß sich aber, um ihn zu verstehen, sofort fragen, ob dieser Sinn der einzige ist, den der Satz enthält, das heißt, der einzige, der ihm als einem Ganzen entspricht. Das Cogito-sum kann sehr viel, unendlich viel bedeuten, jedoch in Wahrheit ist mit dem Satz nur eine Sache gesagt, und diese zu verstehen – darauf kommt es an. Descartes substantialiert das Subjekt des Denkens und wirft es, indem er so tut, aus dem Denken heraus; er verwandelt es in eine äußere kosmische Sache, da es nun nicht mehr im Gedachtsein besteht, nicht mehr allein und insoweit es gedacht wird und darum auch nicht mehr allein im Für-sich-Sein des Inneren, wo es sich selber zum Sein bringt und Sein verleiht. Die denkende „Sache“ denkt nicht sich selber – sowenig die Substanz „Stein“ oder „Pferd“ im Sich-selber-Erscheinen als „Pferd“ oder, ,Stein“ besteht. Nun bin ich aber nur das, als was ich mir zu sein erscheine – nichts außerdem, ganz radikal und ungeschminkt. Alles übrige ist Magie. Die Unfähigkeit des Idealismus, einen neuen Modus des Seins zu erfinden, der ihm erlaubt hätte, seiner Grundthese vollkommene Treue zu wahren, tritt mit nicht geringerer Deutlichkeit zutage, wenn wir vom Subjekt des Denkens zu seinem Objekt übergehen. Der Idealismus mutet mir zu, ich soll meinen Glauben an die Wirklichkeit außerhalb meines Verstandes, wie sie beispielsweise dieses Theater zu haben scheint, suspendieren. In Wahrheit, so sagt er zu mir, ist dieses Theater lediglich ein Gedanke, eine Vision oder ein Bild dieses Theaters. Auf diese Weise ergibt sich, daß es sich bei dem Theater um dasselbe handelt wie bei jener Chimäre, von der wir in einer früheren Vorlesung sprachen und die wir als eine imaginäres Wesen bezeichneten, womit wir sie aus dem wirklichen Garten herausnahmen und in den Brunnen, das heißt, in den Geist versetzten. Die Dinge sind zunächst nicht mehr als „Bewußtseinsinhalte“. Dies ist der Terminus, der im neunzehnten Jahrhundert in der Philosophie am gebräuchlichsten war, der zwar bei Descartes nicht vorkommt, obwohl er bei ihm vorkommen könnte, der aber in Kants Schriften überreichlich vertreten ist. Mit Hilfe dieses Begriffs ergreifen wir die äußere Realität und versetzen sie in den Geist. Aber gehen wir behutsam vor! Sehen wir zu, was an dieser Grundthese des Idealismus zuverlässig und was unannehmbar ist. Zuverlässig
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DER BEWUSSTSEINSINHALT
ist, daß die vorausgesetzte Realität der äußeren Welt nur vorausgesetzt ist, das heißt, daß eine Realität an sich unabhängig von mir in höchstem Grade problematisch ist. Ebendeshalb kann sich die Philosophie nicht mit ihr abfinden. Was bedeutet das? Ganz einfach: es gibt in Wahrheit keine äußere Welt, außerhalb meiner selbst, von der ich mir Rechenschaft geben könnte; die äußere Welt hat keine Existenz in der äußeren Welt, sondern ausschließlich in mir, der ich mir von ihr Rechenschaft gebe. Wohin werden wir sie also versetzen? In meine Rechenschaft von ihr, in meinen Geist, in mein Denken, in mich selber. Der Idealismus sieht die Frage in Form eines Dilemmas. Entweder hat dieses Theater absolute Wirklichkeit außerhalb von mir, oder es hat sie in mir; an irgendeinem Ort muß es sich ja befinden, um zu sein, und es besteht kein Zweifel daran, daß etwas ist. Ich kann nicht behaupten, daß dieses Etwas außerhalb von mir ist, weil ich nicht aus mir herausgehen kann, um mich nach außen zu begeben, wo diese angebliche absolute Realität sich angeblich befinden soll. Folglich bleibt mir nichts übrig: ich muß seine Existenz in mir als Bewußtseinsinhalt anerkennen. Doch hätte der Idealismus umsichtiger vorgehen müssen. Ehe er zu der Entscheidung kam, daß es nur diese zwei Möglichkeiten gebe – entweder außer mir oder in mir –, hätte er in aller Ruhe folgende Überlegung anstellen müssen: Hat der Ausdruck „Bewußtseinsinhalt“ oder „geistiger Inhalt“ einen verständlichen Sinn, wenn man ihn im Hinblick auf dieses Theater gebraucht? Oder steckt darin nicht ein ausgesprochener Widersinn, das heißt, werden hier nicht Worte kombiniert, die einander genauso widerstreben, wie wenn ich von einem „runden Quadrat“ spreche? Sehen wir genau zu: in welcher Bedeutung verwende ich das Wort: dieses Theater? Unter „diesem Theater“ verstehe ich einen Innenraum von, sagen wir, zwanzig Metern Höhe und soundso viel Metern Breite, mit blauer Wandbespannung, Soffitten und so weiter und so weiter. Wenn ieh nun sage, dies sei der Inhalt meines Bewußtseins, der Inhalt meiner selbst, so sage ich damit, daß tatsächlich ein Teil von mir von etwas Ausgedehntem von zwanzig Metern Höhe, blauer Farbe und so weiter gebildet wird. Wenn dies aber einen Teil von mir bildet, so kann ich sagen, daß mein Ich, mein Denken, zumindest teilweise soundso viel Meter Höhe auf soundso viel Meter Breite hat; daß ich folglich ausgedehnt bin, daß mein Denken Raum einnimmt und daß es
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WAS IST PHILOSOPHIE?
stückweise blau ist. Man bemerkt sofort, wie absurd das ist, aber der Idealist verteidigt sich rasch mit den Worten: den Ausdruck: „Theater – Inhalt meines Bewußtseins“ ziehe ich zurück; statt dessen sage ich: „Inhalt meines Denkens oder meines Bewußtseins ist natürlich nur mein Denken des Theaters, das Bild oder die Vorstellung dieses Theaters“ . Hiergegen ist allerdings nichts mehr einzuwenden: ich bin Denken, ich bin Vorstellen; daran, daß mein Denken, mein Vorstellen einen Teil von mir bilden oder meine Inhalte sind, ist nichts Merkwürdiges. Dann aber ist auch vom Theater nicht mehr die Rede. Das Theater haben wir draußen gelassen. Das mit dem „Draußen“ oder „Drinnen“ war also falsch. Das Theater, die äußere Wirklichkeit, bleibt immer außerhalb, befindet sich nicht in mir. Die Welt ist nicht meine Vorstellung, was kinderleicht zu begreifen ist, weil in diesem Satz von Schopenhauer – wie fast im gesamten Idealismus – die Worte in täuschendem Doppelsinn gebraucht werden. Ich stelle mir die Welt vor. Meinerseits handelt es sich um einen Akt des Vorstellens, und insofern hat das Wort Vorstellung einen eindeutig klaren Sinn. Aber die Welt, die ich mir vorstelle, ist nicht mein Sich-Vorstellen, sondern das, was vorgestellt wird. Schopenhauer verwechselt auf die elementarste Art und Weise in dem einen Wort „Vorstellung“ die zwei Partnerbegriffe, deren Verhältnis gerade erörtert werden sollte: das Denken und das Gedachte. Aus diesem schlüssigen Grund habe ich letzthin diesen berühmten Satz, der in den Titel seines unterhaltsamen Werks eingegangen ist, als grob bezeichnet. Er ist mehr als grob – ein gewitzter Junge würde ihn eine Eselei nennen. Wo also befindet sich im letzten Grund das Theater? Die Antwort ist sonnenklar: es ist nicht in meinem Denken, von dem es einen Teil bildet, es ist aber auch nicht außerhalb meines Denkens, wenn man unter außerhalb versteht, daß es mit ihm nichts zu tun habe, sondern es ist verbunden, unlöslich verbunden mit meinem Denken; es ist nicht außerhalb und es ist auch nicht innerhalb meines Denkens, sondern es ist mit meinem Denken; so wie die Vorderseite zusammen ist mit der Rückseite und die rechte Seite mit der linken Seite, ohne daß rechts links wäre und vorne hinten. Erinnern Sie sich, welcher Art die Überlegungen waren, die wir auf dem Wege des Idealismus angestellt haben, um zu seiner Grundthese zu kommen: ich sehe den Garten, ich schließe die Augen und höre auf, ihn zu sehen. Soweit ist der Sachverhalt unbestreitbar. Was ist hier
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„ICH BIN MIT DER WELT“
vorgegangen? Da ja im gleichen Augenblick mein Sehen und der Garten, mein Bewußtsein und sein Gegenstand, mein Denken und das Gedachte zu Ende gegangen sind. Jedoch – ich öffne wieder die Augen, und der Garten erscheint aufs neue – das heißt, sobald mein Denken zu existieren anfängt, fängt auch sein Objekt, das Gesehene, an zu existieren. Dies ist die unbestreitbare Tatsache. Und da die Philosophie danach strebt, sich nur aus unbestreitbaren Tatsachen zusammenzusetzen, läßt sich nichts weiter tun als die Dinge so zu nehmen wie sie sind und zu sagen: die äußere Welt existiert nicht, ohne daß ich sie denke, aber die äußere Welt ist darum nicht mein Denken: ich bin weder Theater noch Welt – ich befinde mich diesem Theater gegenüber, ich bin mit der Welt, wir – ich und die Welt – sind. Und verallgemeinernd können wir sagen: die Welt ist keine an sich bestehende Realität, unabhängig von mir – sondern sie ist, was für mich oder was vor mir ist und zunächst weiter nichts. Bis hierher gehen wir mit dem Idealismus einig. Aber wir fügen hinzu: da die Welt allein das ist, was sie mir zu sein scheint, hat sie nur ein erscheinendes Sein, und es besteht keinerlei Grund, der uns nötigte, hinter diesem Erscheinen nach einer Substanz zu suchen – auch nicht sie in einem zugrunde liegenden Kosmos zu suchen wie die antiken Denker, noch aus mir selber eine Substanz zu machen, die als ihre Inhalte oder Vorstellungen die Dinge an sich trägt, die ich sehe, taste, rieche und vorstelle. Dies ist das große antike Vorurteil, das die heutige Ideenlehre ausmerzen muß. Dieses Theater und wir stehen einander ohne Mittler gegenüber: es ist, weil ich es sehe, und es ist unzweifelhaft zum mindesten das, was ich an ihm sehe, auf diese Weise, wie ich es sehe: es erschöpft sein Sein in seinem Mir-Erscheinen. Aber es ist nicht in mir, es vermischt sich nicht mit mir: unsere Beziehungen sind rein und unzweideutig. Ich bin derjenige, der es im Augenblick sieht, und es ist seinerseits, was ich im Augenblick sehe, wäre es nicht oder andere Dinge seiner Art, so wäre auch mein Sehen nicht, das heißt, existierte ich nicht. Ohne Objekte gibt es kein Subjekt. Der Irrtum des Idealismus bestand darin, daß er sich in Subjektivismus verwandelte, indem er die Abhängigkeit unterstrich, in der sich die Dinge von meinem Denken befinden, von meiner Subjektivität befinden, dabei aber nicht beachtete, daß meine Subjektivität ebenso davon abhängt, daß Objekte da sind. Der Irrtum bestand darin, daß er das Ich die Welt einschlucken ließ, anstatt beide untrennbar, unmittelbar und miteinander zu lassen, aber gerade da-
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durch unterschieden voneinander. Ein ebenso törichtes Quid pro quo wäre es, wenn ich sagen wollte, ich sei blau, weil ich blaue Gegenstände sehe, wenn ich sagen wollte, der blaue Gegenstand sei ein Zustand von mir, ein Teil meines Ich, da er von mir gesehen wird. Ich bin immer bei mir, ich bin nur, was ich denke, das bin ich; ich kann nicht aus mir herausgehen – aber um eine von mir unterschiedene Welt anzutreffen, habe ich nicht nötig, aus mir herauszugehen, denn sie ist stets an meiner Seite, und mein Sein ist ein Mit-der-Welt-Sein. Ich bin Innerlichkeit, da kein transzendentes Sein in mich eintritt, aber zugleich bin ich der Ort, an dem unverhüllt die Welt erscheint, das, was ich nicht bin, das im Verhältnis zu mir Exotische. Die äußere Welt, der Kosmos, steht in unmittelbarem Verhältnis zu mir, und so betrachtet ist er mir innig vertraut, aber er ist nicht Ich, und so betrachtet ist er mir fremd, andersartig. Es besteht also für uns die Notwendigkeit, den Ausgangspunkt der Philosophie zu korrigieren. Das grundlegende Datum des Universums lautet nicht einfach: das Denken existiert oder ich, als Denkender, existiere; sobald ich sage: das Denken existiert, so existieren ipso facto: ich, der ich denke, und die Welt, in der ich denke – und zwar das eine zusammen mit dem anderen, ohne die Möglichkeit einer Trennung. Aber weder bin ich ein substantielles Sein, noch ist die Welt eines – vielmehr stehen wir beide in aktiver Korrelation: ich bin derjenige, der die Welt sieht, und die Welt ist das von mir Gesehene. Ich bin für die Welt, und die Welt ist für mich. Gäbe es keine Dinge zum Sehen, Denken und Vorstellen, so würde ich auch nicht sehen, denken und vorstellen – das heißt: ich wäre nicht. In einem unbeachteten Winkel des Werks von Leibniz, an einer Stelle, wo er seinen Vorgänger Descartes einer raschen Kritik unterzieht, läßt er die Bemerkung fallen, daß es seiner Auffassung nach nicht nur eine einzige primäre Wahrheit hinsichtlich des Universums gibt, sondern zwei gleichermaßen und untrennbar ursprüngliche: die eine lautet: „sum cogitans“ – das Denken existiert – und die andere besagt: „plura a me cogitantur“ – viele Dinge werden von mir gedacht. Es ist erstaunlich, daß bis heute niemand aus diesem großen Einfall Nutzen gezogen hat, nicht einmal Leibniz selber. Meine Herren: Um das Ganze noch einmal zusammenzufassen: wenn ich mich mit der größten methodischen Strenge und dem angespanntesten Zweifel auf die Suche begebe und frage, welches das grundlegen-
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OFFENE KOEXISTENZ MIT DER WELT
de Datum des Universums ist, von dem feststeht, daß es im Universum unzweifelhaft vorhanden ist, so stoße ich darauf, daß es eine primäre und fundamentale Tatsache gibt, die sich selber setzt und verbürgt: diese Tatsache ist das miteinander verbundene Dasein eines Ich oder einer Subjektivität und seiner Welt. Es gibt das eine nicht ohne das andere. Ich gebe mir Rechenschaft von mir, wie ich mir ebenfalls Rechenschaft gebe von Gegenständen und einer Umwelt. Ich denke nicht, sofern ich nicht Dinge denke: deshalb finde ich, sobald ich mich selber finde, stets mir gegenüber eine Welt. Soweit ich Subjektivität und Denken bin, finde ich mich als Teil eines zwiefachen Sachverhalts vor, und zwar ist der andere Teil dieses Sachverhalts die Welt. Deshalb ist das grundlegende und unzweideutige Datum nicht meine Existenz, auch nicht das „ich existiere“ – sondern es ist meine Koexistenz mit der Welt. Die Tragödie des Idealismus hatte ihre Wurzel in der Tatsache, daß nach der alchimistischen Umwandlung der Welt in das „Subjekt“, in den Inhalt eines Subjekts, dieses in sich eingesperrt blieb, so daß hernach auf keine Weise eindeutig zu erklären war, wieso dieses Theater, wenn es doch nur meine Bildvorstellung und ein Stück von mir ist, gleichwohl so völlig verschieden von mir erscheint. Jetzt dagegen haben wir eine von Grund aus andere Situation erarbeitet: wir sind darauf gekommen, daß das Unbezweifelbare eine Beziehung zwischen zwei untrennbaren Partnerbegriffen ist: jemand, der denkt, der sich Rechenschaft gibt, und das andere, wovon ich mir Rechenschaft gebe: das Bewußtsein ist nach wie vor Innerlichkeit, aber jetzt stehe ich nicht nur zu meiner Subjektivität innerlich und unmittelbar, sondern auch zu meiner Objektivität, zur Welt, die mir vor Augen liegt. Das Bewußtsein ist nicht Verschlossenheit, sondern es ist im Gegenteil jene höchst seltsame primäre Wirklichkeit, die zu allem anderen die Voraussetzung bildet und die darin besteht, daß jemand, daß ich gerade dann Ich bin, wenn ich mir von Dingen, von einer Welt Rechenschaft gebe. Dies ist die alles überragende Besonderheit des Geistes, die es hinzunehmen, anzuerkennen und schlechthin zu beschreiben gilt, so wie sie ist, in ihrer ganzen Herrlichkeit und Seltsamkeit. Keineswegs ist das Ich das Verschlossene, sondern das Offene par excellence. Dieses Theater hier sehen heißt ja gerade, daß ich mich den, was ich nicht bin, offenhalte. Auch ist diese neue Situation nicht mehr paradox, sie trifft mit der an-
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geborenen Haltung des Geistes zusammen, bewahrt sie und bekennt sich zu ihrem vernünftigen Sinn. Und doch rettet sie uns vor der realistischen These, die der antiken Philosophie als Grundlage dient und deren wesentlichen Kern bildet: daß die äußere Welt nicht Illusion, nicht Halluzination, nicht subjektive Welt ist. Dem tritt unsere neue Auffassung entgegen, indem sie auf der idealistischen These besteht und sie läutert; deren entscheidende Behauptung stützt sich auf die Beobachtung, daß unzweifelhaft nur das existiert, was mir zu existieren scheint. Sehen Sie jetzt, wie die Tochter-Ideen, die neuen Ideen, ihre Mütter im eigenen Schoß tragen, jene alten Wahrheiten, jene alten fruchtbaren Wahrheiten? Sagen wir es noch einmal: jede Überwindung ist Bewahrung. Es ist nicht wahr, daß auf radikale Art nur das Bewußtsein, das Denken, das Ich existieren. Wahr ist vielmehr, daß ich mit meiner Welt und in meiner Welt existiere und daß ich darin bestehe, daß ich mich mit dieser meiner Welt befasse, indem ich sie sehe, vorstelle, denke, liebe, hasse, in ihr und ihretwegen traurig oder fröhlich bin, mich in ihr bewege, sie umgestalte oder sie erdulde. Nichts von alldem könnte mein Ich sein, wenn nicht mit mir zusammen die Welt existierte, wenn ich sie nicht vor mir, um mich hätte, indem sie mir auf den Leib rückt, sich mir offenbart, mich begeistert oder mich ängstigt. Aber was haben wir denn da? Worauf sind wir unwillürlich gestoßen? Ebendies, dieser radikale Sachverhalt, daß jemand eine Welt sieht und liebt und haßt und begehrt, sich in ihr bewegt und durch sie leidet und in ihr sich bemüht – ist nichts anderes, als was sich seit Menschengedenken im schlichtesten und umfassendsten Sprachgebrauch „mein Leben“ nennt. Wie denn? Sollte es einfach wahr sein, daß die erstrangige Wirklichkeit, die Tatsache aller Tatsachen, das Datum für das Universum, das mir Gegebene – „mein Leben“ ist? Nicht allein mein Ich, nicht mein hermetisches Bewußtsein, da all das schon Auslegungen sind, die idealistische Auslegung. Gegeben ist mir mein Leben, und mein Leben ist in erster Linie ein Sichfinden meines Ich in der Welt; und zwar nicht nur so ganz unbestimmt, sondern in dieser Welt, in der augenblicklichen Welt, und zwar auch dies nicht nur ganz unbestimmt: in diesem Theater –, sondern im jetzigen Augenblick, begriffen in dem Tun, das wir gerade tun, in diesem theatralischen Ausschnitt meiner Lebenswelt – treibe ich Philosophie. Mit den Abstraktionen ist es vorbei. Auf der Suche nach der unbezweifelbaren Tatsa-
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PHILOSOPHIEREN IST EINE LEBENSTATSACHE
che begegne ich nicht dem Allgemeinbegriff „Denken“, sondern folgender Bestimmtheit: ich, der ich an die radikale Tatsache denke, ich, der ich im Augenblick philosophiere. Hier zeigt sich, wie die Philosophie als erstes auf die Tatsache stößt, daß jemand philosophiert, der das Universum denken will und zu diesem Zweck nach etwas Unzweifelhaftem sucht. Er findet jedoch nicht – beachten Sie das wohl! – eine philosophische Theorie, sondern den philosophierenden Philosophen, das heißt, den Philosophen, der im Augenblick die Tätigkeit des Philosophierens lebt, der aber später als derselbe Philosoph sich bei einem schwermütigen Straßenbummel antreffen kann, der sich tanzend in einem „Dancing“ oder an einer Kolik leidend und für eine vorüberschwebende Schöne schwärmend finden kann. Das heißt: er stößt auf das Philosophieren, das Theoretisieren in Form einer Lebenshandlung und Lebenstatsache, eines Lebensdetails in seinem Leben, in seinem unermeßlichen, fröhlichen und traurigen, hoffnungsbeflügelten und furchteinflößenden Leben. Das erste also, was die Philosophie tun muß, ist dies: Sie muß dieses Datum definieren, muß definieren, was das ist: „mein Leben“, „unser Leben“, das Leben jedes einzelnen. Leben ist der radikale Seinsmodus: jedes andere Ding und jede Seinsart treffe ich in meinem Leben, innerhalb meines Lebens an, als eine Einzelheit meines Lebens und auf es bezogen. In ihm ist alles übrige und – was es auch sein mag – es ist für mein Leben und ist als Erlebtes was auch immer: die abstruseste mathematische Gleichung, der feierlichste und abstrakteste philosophische Begriff, das Universum selbst, Gott selbst – all das sind Dinge, die ich in meinem Leben antreffe, sind Dinge, die ich erlebe. Und ihr radikales und primäres Sein ist darum dieses ihr Erlebtsein durch mich, und ich kann nicht definieren, was sie auf Konto ihres Erlebtseins sind, wenn ich nicht feststelle, was „Leben“ ist. Die Biologen verwenden das Wort „Leben“, um die Phänomene der organischen Lebewesen zu bezeichnen. Das Organische ist jedoch lediglich eine bestimmte Gattung von Dingen, die uns im Leben begegnen; daneben gibt es eine andere Gattung sogenannter anorganischer Dinge. Was uns der Biologe über die Organismen zu sagen hat, ist wichtig, aber genauso einleuchtend ist es, daß, wenn wir sagen, daß wir leben und von „unserem Leben“ und vom Leben jedes einzelnen sprechen, diesem Wort eine unmittelbare Bedeutung, eine weiter gefaßte, entscheidendere Bedeutung geben. Der Wilde und der Ignorant wissen nichts
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von der Biologie, und trotzdem haben sie das Recht, von „ihrem Leben“ zu sprechen, wobei wir unter diesem Begriff eine unermeßliche Tatsache verstehen, die vor jeder Biologie da ist, vor jeder Wissenschaft, vor jeder Kultur, die großartige, radikale und erschreckende Tatsache, die alle übrigen Tatsachen zu ihrer Voraussetzung haben und implizieren. Der Biologe stößt auf das „organische Leben“ innerhalb seines eigenen Lebens, in dem es ein Detail darstellt: es ist eine unter seinen vitalen Beschäftigungen, mehr aber nicht. Die Biologie ist wie jede Wissenschaft eine Tätigkeit oder Form des „AmLeben-Seins“. Die Philosophie ist erst einmal Philosophieren: und Philosophieren ist unbestreitbar Leben – so wie das Laufen, das Sichverlieben, das Golf spielen, das politische Ellbogendrücken und das Verkehren einer Dame in der Gesellschaft – es sind Arten und Formen des Lebens. Deshalb besteht das radikale Problem der Philosophie darin, diese Seinsweise zu definieren, diese primäre Realität, die wir „unser Leben“ nennen. Nun ist aber das Leben gerade das, was niemand für mich tun kann – das Leben ist unübertragbar – es ist kein abstrakter Begriff, es ist mein individuellstes Sein. Zum erstenmal geht die Philosophie von etwas aus, was keine Abstraktion ist. Das ist die neue Landschaft, die ich angekündigt habe: – die älteste von allen, diejenige, die wir stets in unserem Rücken gelassen haben. Die Philosophie tritt, um anzufangen, hinter sich zurück, erblickt sich als Form des Lebens, die sie ist, in dem, was sie konkret und in Wahrheit ist: kurzum, sie zieht sich ins Leben zurück, taucht in ihm unter – ist in erster Linie Meditation unseres Lebens. Eine derart alte Landschaft ist zugleich die neuste. Und zwar ist sie die ungeheure Entdekkung unserer Zeit. So neu ist sie, daß für sie keiner von den Begriffen der überlieferten Philosophie taugt; diese Seinsweise, wie das Leben sie darstellt, erfordert neue Kategorien – nicht die Kategorien des alten kosmischen Seins – vielmehr geht es gerade darum, aus ihnen herauszukommen und die Kategorien des Lebens, die Essenz „unseres Lebens“ zu finden. Sie sehen wohl, wie jetzt auf einmal alles, was Ihnen im Laufe unserer heutigen Vorlesung schwerverständlich, ungreifbar, gespenstisch und wortspielerisch vorgekommen ist – klar, schlicht und so, als hätten Sie es selber ungezählte Male gedacht, wiedererscheint. So klar, so schlicht, so einleuchtend, daß es Ihnen manchmal allzu selbstver-
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EINE NEUE WIRKLICHKEITSIDEE
ständlich vorkommen wird, manchmal an einem Übermaß von Evidenz leiden wird, und wenn Sie davon hören – ich erbitte mir im voraus Ihre Verzeihung – wenn Sie davon hören, werden Sie bestürzt sein, weil wir unumgänglich an das Geheimnis des Lebens jedes einzelnen rühren werden. Wir werden ein Geheimnis enthüllen. Das Leben ist Geheimnis. X Eine neue Wirklichkeit und eine neue Wirklichkeitsidee • Das bedürftige Sein • Leben ist Sich-in-der-Welt-Finden • Leben ist ständig entscheiden, was wir sein werden In der letzten Vorlesung haben wir als radikales Datum des Universums, das heißt als erstrangige Wirklichkeit etwas völlig Neues angetroffen, das sowohl unterschieden ist vom kosmischen Sein, von dem die antike Philosophie ausging, als auch vom subjektiven Sein, von dem die Modernen ausgegangen sind. Aber die bloße Kunde, daß wir eine Wirklichkeit, ein neues bislang unbekanntes Sein gefunden haben, läßt den Zuhörer keineswegs die volle Bedeutung dieser Worte ermessen. Er glaubt höchstenfalls, daß es sich um eine neue, von den schon bekannten unterschiedene Sache handle, aber letzten Endes doch eine Sache wie die übrigen auch – daß es sich um ein Sein und eine Wirklichkeit handle, die von den bereits geläufigen Seinsformen und Wirklichkeiten zwar verschieden sei, aber doch aufs Ganze gesehen der Bedeutung entspreche, wie sie die Worte „Wirklichkeit“ und, ,Sein“ von jeher gehabt haben – kurzum, daß die Entdeckung, ob nun größeren oder geringeren Kalibers, von derselben Art sei, wie wenn in der Zoologie ein neues Tier entdeckt wird, das zwar als solches neu, aber trotzdem nicht mehr und nicht weniger Tier ist als die schon bekannten, das heißt, daß der Begriff „Tier“ auch für diese Neuentdekkung gültig ist. Zu meinem Leidwesen muß ich Ihnen sagen, daß es sich um etwas bei weitem Wichtigeres und Entscheidenderes als alle dergleichen Dinge handelt. Wir haben eine von Grund aus neue Wirklichkeit gefunden – und insofern radikal verschieden von allem philosophisch Bekannten – folglich etwas, worauf die herkömmlichen
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Wirklichkeits- und Seinsbegriffe nicht zutreffen. Wenn wir sie dennoch gebrauchen, so geschieht es deshalb, weil wir vor seiner Entdekkung und bei seiner Entdeckung keine anderen zur Verfügung hatten. Wenn wir uns einen neuen Begriff bilden sollen, müssen wir zuvor etwas völlig Neues haben und wahrnehmen. Woraus sich ergibt, daß der Fund, den wir machen, über die Tatsache, daß er eine neue Wirklichkeit ist, hinaus die Einweihung in eine neue Idee des Seins, in eine neue Ontologie darstellt – daß er Einweihung in eine neue Philosophie ist und – insoweit diese auf das Leben einwirkt – in ein ganz neues Leben – eine „vita nova“. Es ist ausgeschlossen, daß sich im Augenblick und auf der Stelle jemand – und sei er geistig mit allen Wassern gewaschen – deutlich Rechenschaft von den Auswirkungen und Ausblicken sollte geben können, die dieser Fund enthält und entwicklungsfähig in sich birgt. Auch eilt es mir damit nicht. Es ist nicht nötig, heute schon die Bedeutung dessen, was ich in der letzten Vorlesung gesagt habe, abschätzen zu wollen – ich dränge nicht darauf, daß man mir recht gibt. Das Rechthaben ist kein Zug, der auf die Uhrzeit genau abgeht. Eilig haben es nur die Kranken und die Streber. Mein einziger Wunsch ist, daß – sollten sich unter den jungen Leuten, die mir zuhören, einige befinden, die in ihrer Gesinnung zutiefst männlich, das heißt für geistige Abenteuer empfänglich sind – daß sie sich die Worte, die ich am vergangenen Freitag aussprach, in ihr junges Gedächtnis eingraben möchten und in künftiger Zeit, wenn es der Tag so gibt, großmütig an sie zurückdenken möchten. Für die antike Philosophie bedeutet Wirklichkeit, Sein soviel wie „Sache“; für die Modernen bedeutet Sein soviel wie „Innerlichkeit“, „Subjektivität“; für uns bedeutet Sein soviel wie „leben“, das heißt, Innerlichkeit in sich und mit den Dingen. Wir behaupten, daß wir geistig auf ein höheres Niveau gelangt sind, denn sehen wir auf den Ausgangspunkt zu unsern Füßen – das „leben“ – nieder, so werden wir gewahr, daß in ihm Antike und Moderne aufbewahrt, gemeinsam integriert und überwunden sind. Wir befinden uns auf einem höheren Niveau – wir befinden uns auf unserem Niveau – wir befinden uns auf der Höhe der Zeiten. Der Begriff „Höhere Zeiten“ ist keine Phrase – er ist eine Wirklichkeit, wie wir alsbald sehen werden. Frischen wir in unserem Gedächtnis noch einmal ganz kurz die Wegstrecke auf, die wir in Gedanken zurückgelegt haben, ehe wir mit dem
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ZUSAMMENFASSUNG DES BISHERIGEN GEDANKENGANGS
Leben als Grundtatsache und erstrangiger unbezweifelbarer Realität im Universum zusammengetroffen sind. Die Existenz der Dinge in Form einer von mir unabhängigen Existenz ist problematisch; infolgedessen lassen wir die realistische These der Antike fallen. Unbezweifelbar hingegen ist, daß ich die Dinge denke, daß mein Denken existiert und daß folglich die Existenz der Dinge von mir abhängig, daß sie mein Sie-Denken ist; dies ist der zuverlässigste Bestandteil der idealistischen These. Deshalb akzeptieren wir sie, jedoch um sie zu akzeptieren, müssen wir sie richtig verstehen, und so fragen wir uns: in welchem Sinne und auf welche Art hängen die Dinge von mir ab, wenn ich sie denke – was sind die Dinge ihrerseits, wenn ich sage, daß sie nur Gedanken von mir sind? Der Idealismus antwortet darauf; die Dinge hängen von mir ab, sind Gedanken insofern, als sie Inhalte meines Bewußtseins sind, Inhalte meines Denkens, Zustände meines Ich. Dies ist der zweite Teil der idealistischen These, und diesen Teil akzeptieren wir nicht. Und zwar akzeptieren wir ihn deshalb nicht, weil er widersinnig ist, wohlgemerkt, nicht deshalb, weil er nicht wahr ist, sondern aus einem elementaren Grund. Wenn ein Satz nicht die Wahrheit sein soll, muß er jedenfalls einen Sinn haben; und zwar sagen wir von seinem verstandesgemäßen Sinn, daß er nicht wahr ist –: weil wir verstehen, was mit zweimal zwei ist fünf gemeint ist, sagen wir, es sei nicht wahr. Indessen hat dieser zweite Teil der idealistischen These keinen Sinn; er ist vielmehr widersinnig wie das „Runde Quadrat“. Solange dieses Theater dieses Theater ist, kann es nicht Inhalt meines Ich sein. Mein Ich ist weder ausgedehnt noch ist es blau. Dieses Theater aber ist ausgedehnt und blau. Was ich enthalte und bin, ist allein mein Denken oder Sehen des Theaters, mein Denken oder Sehen des Sterns, aber weder jenes noch dieser. Die Art der Abhängigkeit zwischen dem Denken und seinen Gegenständen kann nicht, wie der Idealismus behauptet, darin bestehen, daß ich sie in mir habe, als Bestandteil von mir, sondern umgekehrt, daß ich sie als unterschiedene Gegenstände außerhalb von mir vorfinde. Also ist es falsch, daß das Bewußtsein etwas Verschlossenes ist, etwas, das sich nur von sich selber Rechenschaft gibt, von dem, was es in seinem Inneren hat. Ich gebe mir vielmehr umgekehrt Rechenschaft, daß ich denke, wenn ich mir zum Beispiel Rechenschaft gebe, daß ich einen Stern sehe oder denke, und zwar gebe ich mir Rechenschaft davon, daß zwei unterschiedliche Dinge da sind, obwohl beide miteinander verbunden:
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ich, der ich den Stern sehe, und der Stern, der von mir gesehen wird. Er hat mich nötig, jedoch genauso habe ich ihn nötig. Wenn der Idealismus nicht weiter ginge als zu sagen: das Denken das Subjekt, das Ich existiert – würde er etwas behaupten, was – wenn auch unvollständig – so doch der Wahrheit entspricht; nun aber fügt er hinzu: allein das Denken, das Subjekt, das Ich existieren. Das ist falsch. Wenn ich, der ich denke, existiere, so existiert auch die Welt, die ich denke. Deshalb ist die radikale Wahrheit die Koexistenz zwischen mir und der Welt. Existieren heißt in erster Linie koexistieren – heißt, daß ich etwas sehe, was nicht Ich ist, daß ich ein anderes Sein liebe, daß ich unter den Dingen leide. Die Art von Abhängigkeit, in der sich die Dinge von mir befinden, ist also nicht jene einseitige Abhängigkeit, die der Idealismus vorzufinden meinte, besteht nicht nur darin, daß sie mein Denken und Fühlen sind; auch die umgekehrte Abhängigkeit herrscht, da ich ebenso von ihnen, von der Welt, abhänge. Es handelt sich folglich um eine wechselseitige Abhängigkeit, um ein korrelatives Verhältnis, kurz gesagt, um Koexistenz. Wie kam es dazu, daß der Idealismus, der doch eine so energische und klare Intuition von der Tatsache „Denken“ hatte, diese so schlecht begriff und verfälschte? Aus dem einfachen Grund, weil er undiskutiert die traditionelle Bedeutung des Begriffs Sein und Existieren übernahm. Dieser tief eingewurzelten Bedeutung zufolge ist mit Sein, Existieren das Unabhängige gemeint – deshalb gilt der philosophischen Vergangenheit als einziges Sein, das im echten Sinne ist, nur das absolute Sein, welches den Superlativ ontologischer Unabhängigkeit darstellt. Descartes formuliert eindeutiger als irgend jemand vor ihm – man könnte sagen – auf zynische Art diese Idee des Seins, wenn er – wie ich bereits sagte – die Substanz dahingehend definiert, daß sie ist „quod nihil aliud indigeat ad existendum“. Das Sein, das um zu sein, nichts anderes braucht – nihil indigeat. Das substantielle Sein ist das zureichende, das unabhängige Sein. Als er auf die unüberbietbar evidente Tatsache stößt, daß die grundlegende und unbezweifelbare Wirklichkeit das „Ich denke“ und die Sache, an die ich denke, ist, das heißt eine Dualität und eine Korrelation – wagt er nicht, sie unparteiisch in seinen Begriff aufzunehmen, sondern behauptet vielmehr: da ich diese beiden Dinge innig verbunden vorfinde – das Subjekt und das Objekt, das heißt als unabhängige Größen –, muß ich die Entschei-
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DER HEROISCHE WILLE ZUR OBERFLÄCHLICHKEIT
dung treffen, welche von beiden unabhängig ist, welche die andere nicht nötig hat, welche die zureichende ist. Wir jedoch erblicken keinerlei unbezweifelbare Grundlage in dieser Annahme, daß dem Sein einzig und allein die Bezeichnung „zureichendes Sein“ zukommt. Vielmehr stellt sich im Gegenteil heraus, daß das einzige unbezweifelbare Sein, auf das wir stoßen, die wechselseitige Abhängigkeit zwischen dem Ich und den Dingen ist; die Dinge sind, was sie für mich sind, und ich bin derjenige, der die Dinge erleidet. Deshalb ist das unbezweifelbare Sein auf einmal nicht mehr das zureichende, sondern „das bedürftige Sein“. Sein heißt soviel wie einander nötig haben. Die Modifikation ist von ungeheurer Tragweite, aber sie geht so wenig tief, bleibt so an der Oberfläche, ist derart evident, derart einleuchtend, derart schlicht, daß man sich ihrer fast schämt. Bemerken Sie jetzt, daß die Philosophie der heroische Wille zur Oberflächlichkeit ist? Ein Spiel mit umgedrehten Karten, damit unser Gegner sie einsehen kann. Das radikale Datum ist – sagten wir – eine Koexistenz zwischen mir und den Dingen. Jedoch kaum haben wir den Satz ausgesprochen, so werden wir gewahr, daß die Bezeichnung „Koexistenz“ für die Art, wie ich mit der Welt existiere, für diese primäre Wirklichkeit, die zugleich einheitlich und zwiefältig ist, für diese großartige Tatsache einer wesenhaften Zweiheit, den Sachverhalt nicht richtig trifft. Denn Koexistenz bedeutet nicht mehr als das Miteinander des einen und des anderen, bedeutet nicht mehr als das Einessein und das Anderssein. Der statische, ruhende Charakter der Begriffe Existieren und Sein, dieser zwei alten Begriffe, verfälscht den Sachverhalt, dem wir Ausdruck geben wollen. Denn die Welt ist nicht ganz für sich auf ihrer Seite, und ich bin nicht ganz für mich auf der anderen Seite neben ihr – sondern die Welt ist das für mich Seiende, ein Sein, das auf dynamische Art mir gegenüber und auf mich gerichtet ist, und ich bin derjenige, der auf sein Sein einwirkt, der es anschaut, der es träumt und es erleidet, der es liebt oder es verabscheut. Das statische Sein wird für erledigt erklärt – und zwar werden wir noch sehen, wie untergeordnet seine Rolle ist – an seine Stelle hat ein tätiges Sein zu treten. Das Sein der Welt vor mir ist – könnten wir sagen – ein Auf-mich-Wirken, und gleichermaßen wirke ich auf das Sein der Welt ein. Dies aber – eine Wirklichkeit, deren Wesen es ist, daß ein Ich eine Welt sieht, sie denkt, sie betastet, sie liebt oder verabscheut, von ihr begeistert ist oder beängstigt, sie ver-
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WAS IST PHILOSOPHIE?
wandelt und anpackt und erduldet, ist, was sich von jeher „leben“ nennt, „mein Leben“, „unser Leben“, das Leben jedes einzelnen. Drehen wir also den ehrwürdigen und geheiligten Vokabeln „Existieren“, „Koexistieren“ und „Sein“ entschlossen den Hals um und sagen wir statt ihrer: die primäre Tatsache, die es im Universum gibt, ist „mein Leben“, und alles übrige gibt es in meinem Leben oder gibt es nicht und ist von ihm umschlossen. Jetzt steht nichts mehr der Behauptung entgegen, daß die Dinge, daß das Universum, daß Gott selber Inhalte meines Lebens sind – da „mein Leben“ nicht nur ich allein bin, da nicht nur das Subjekt lebt, sondern auch die Welt. Wir haben den Subjektivismus dreier Jahrhunderte überwunden – das Ich hat sich aus dem Gefängnis seines Innenseins befreit; es ist jetzt nicht mehr das einzige, was es gibt, es leidet nicht mehr an der Einsamkeit seiner Einzigartigkeit, mit der wir in der letzten Vorlesung in Berührung gekommen sind. Wir sind der Verschließung des Inneren, in der wir als Moderne gelebt haben, entronnen; jener finsteren Verschlossenheit ohne Lichtschein, ohne Tageslicht, ohne Räume, um in ihnen die Schwingen des Strebens und der Begierde zu regen. Wir stehen außerhalb des eingegrenzten, egozentrischen Schlupfwinkels, dieser hermetisch abgeriegelten Krankenstube, die aus Spiegeln bestand, aus denen uns bis zum Verzweifeln wiederholt immer nur das eigene Gesicht entgegenblickte – wir stehen draußen, an der freien Luft, aus vollen Lungen den Sauerstoff des Weltraums atmend, die Schwingen zum Flug gespannt, das Herz zielend auf das Liebenswerte gerichtet. Wieder ist die Welt der Lebenshorizont, der wie die Kimm seinen herrlichen Bogenschaft um uns krümmt, so daß in unserem Herzen Pfeilgelüste erwachen, in diesem Herzen, das, schon an sich tiefrot und blutig, stets die Wunde von Schmerz und Wonne trägt. Retten wir uns in die Welt – „retten wir uns in die Dinge“ – dieses letzte Wort schrieb ich als mein Lebensprogramm nieder, als ich zweiundzwanzig Jahre alt war und im Mekka des Idealismus studierte und mit einem Schauer die Ernte einer künftigen Reifezeit vorausahnte. E quindi uscimmo a riveder le stelle. Jedoch zuvor müssen wir feststellen, was denn in seiner Besonderheit dieses echte und primäre Sein, das „Leben“, ist. Die Begriffe und Kategorien der traditionellen Philosophie helfen uns nicht weiter – und zwar die Begriffe und Kategorien keiner Philosophie. Was wir heute vor uns sehen, ist neu: also müssen wir mit neugeschaffenen Begriffen
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DIE WIEDERENTDECKUNG DES WORTES „LEBEN“
einfangen, was wir sehen. Meine Herren, uns wird das Glück zuteil, Begriffe debütieren zu lassen. Deshalb haben wir auch aus unserer gegenwärtigen Lage heraus Verständnis für die Lust, wie sie die Griechen sicher empfunden haben. Sie waren die ersten Menschen, die das wissenschaftliche Denken, die Theorie entdeckten – diese sehr spezielle und erfinderische Liebkosung, die der Geist den Dingen widerfahren läßt, indem er sie in die Form einer exakten Idee bringt. Keine wissenschaftliche Vergangenheit stand ihnen im Rücken, sie hatten weder feststehende Begriffe noch durch Gewohnheiten geheiligte technische Bezeichnungen empfangen. Vor sich hatten sie das Sein, das sie entdeckt hatten, und zur Hand allein die gewöhnliche Umgangssprache – die „Gemeinsprache, in der jeder mit seinem Nachbarn redet“ – und siehe da, plötzlich erwies sich eines dieser unscheinbaren Worte als vorzüglich geeignet, jene hochbedeutsame Wirklichkeit, die sie vor Augen hatten, einzufangen. Das unscheinbare Wort nahm wie durch Levitation einen Aufschwung von der Ebene vulgärer Redeweise und bloßen Schwatzens und erhob sich in den Adelsstand eines Terminus technicus, brüstete sich stolz wie ein Zelter unter der Bürde einer herrscherlichen Idee, die auf seinem Rücken thronte. Wenn eine neue Welt entdeckt wird, haben die Worthungerleider gute Zeiten. Wir hingegen, die Erben einer tief zurückreichenden Vergangenheit, scheinen dazu verurteilt zu sein, in der Wissenschaft nur mit hieratischen, feierlichen und starren Begriffen umgehen zu müssen, zu denen wir vor lauter Respekt kein Zutrauen mehr haben. Welch ein Vergnügen muß es für jene Männer in Griechenland gewesen sein, den Augenblick zu erleben, da auf eine triviale Vokabel wie eine erhabene Flamme das Pfingsten der wissenschaftlichen Idee herniederstieg. Denken Sie nur daran, wie hart, wie starr, leblos und kaltmetallen dem Schuljungen, der es zum erstenmal hört, das Wort Hypotenuse in den Ohren klingt! Nun – eines schönen Tages, bei einem Aufenthalt am Ägäischen Meer, machten ein paar intelligente Musiker, was im übrigen nicht die Stärke der Musiker ist, ein paar geniale Musiker also, die sich Pythagoreer nannten, die Entdeckung, daß bei einer Harfe die Größe der längsten Saite mit der Größe der kürzesten Saite in einer Proportion stand, die dem Verhältnis zwischen dem Ton dieser zu jener entsprach. Die Harfe ist ein Dreieck, das von der längsten, der am meisten angespannten Saite geschlossen wird – Hypotenusa, das ist alles. Wer vermag heute noch in diesem schrecklichen Wort mit seiner 481
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herrischen Miene jenen so schlichten und lieblichen Namen „die längste“ wiederzuerkennen, die uns den Titel der „valse“ von Debussy – ,,la plus que lente“ – ins Gedächtnis ruft – „die mehr als langsame“. Nun wohl – wir befinden uns in einer ähnlichen Situation. Wir suchen nach den Begriffen und Kategorien, die über das „Leben“ aussagen und es in seiner auschließlichen Besonderheit zum Ausdruck bringen sollen. Es bleibt uns nichts übrig, als unsere Hand in den geläufigen Wortschatz zu versenken und der Überraschung gewärtig zu sein, daß plötzlich ein Wort ohne Auszeichnung und wissenschaftliche Vergangenheit, ein ganz armseliges Wort unserer Umgangssprache urplötzlich von innen heraus vom Licht einer wissenschaftlichen Idee erglüht und sich in einen Terminus technicus verwandelt. Dies ist nur ein Anzeichen mehr, daß wir vom Glück begünstigt sind und als Erstankömmlinge und neue Menschen eine unberührte Küste anlaufen. Das Wort „leben“ führt uns erst in die Nähe des unberedten, phrasenlosen Abgrunds, ohne pathetische Warnzeichen, der sich maskiert hinter ihm birgt. Es braucht einigen Mut, ihn zu betreten, obwohl wir wissen, daß uns ein Tauchersprung in schreckenerregende Tiefen bevorsteht. Es gibt jedoch wohltätige Abgründe, die, gerade weil sie unauslotbar sind, uns wiederhergestellt, gekräftigt, erleuchtet an die Oberfläche des Daseins zurückkehren lassen. Es gibt fundamentale Tatsachen, denen man von Zeit zu Zeit gegenübertreten, mit denen man Kontakt aufnehmen muß, gerade weil sie abgründig sind, gerade weil wir uns in ihnen verlieren. Jesus sprach das göttliche Wort: „Wer verloren geht, der soll gefunden werden.“ Wenn Sie mir jetzt also mit angespannter Aufmerksamkeit Gefolgschaft leisten, werden wir uns für eine Weile verlieren. Wir werden unter die Oberfläche gehen, Taucher unseres eigenen Daseins, um dann wieder emporzusteigen wie der Fischer von Coromandel, der vom Grunde des Meeres wiederkehrt, die Perle zwischen den Zähnen, und zwar heißt dies dasselbe wie – lächelnd. Was ist unser Leben, mein Leben? Es währe naiv und fehl am Platz, wollte man auf diese Frage mit Definitionen aus der Biologie antworten, von Zellen sprechen, von somatischen Funktionen, von Verdauung, Nervensystem und so weiter. All das sind hypothetische Realitäten, die zwar auf sicherer Grundlage konstruiert worden sind, aber konstruiert von der biologischen Wissenschaft, die eine Betätigung meines Lebens ist, wenn ich sie betreibe und mich ihren Forschungen
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LEBEN IST ERLEBEN
widme. Mein Leben ist nicht, was in meinen Zellen vor sich geht, so wenig wie das, was in meinen Gestirnen vor sich geht, diesen winzigen Goldpünktchen, die ich in meiner nächtlichen Welt erblicke. Sogar mein Körper ist nichts weiter als ein Detail der Welt, das ich in mir antreffe – ein Detail, das mir aus vielerlei Gründen von ausschließlicher Wichtigkeit ist, was ihm jedoch nicht den Charakter eines bloßen Bestandteils unter zahllosen anderen, die ich in der Welt vor mit antreffe, nimmt. Was mir also über meinen leiblichen Organismus mitgeteilt wird, bezieht sich auf sekundäre Einzelheiten, da sie die Tatsache, daß ich lebe und als Lebender die Körper- und die Seelendinge antreffe, sehe, analysiere, erforsche, zur Voraussetzung haben. Infolgedessen tangieren Antworten dieser Art nicht im geringsten die ursprüngliche Realität, die wir zu definieren beabsichtigen. Was also ist das Leben? Suchen Sie nicht in der Ferne, rufen Sie sich nicht angelernte Weisheiten ins Gedächtnis. Die fundamentalen Wahrheiten müssen immer zur Hand sein, weil sie nur auf solche Art fundamental sind. Jene, die man weitläufig suchen muß, sind – und das ist der Grund dafür – nur an einer Stelle; es sind partikulare, lokalisierte, provinzielle Wahrheiten, Winkelwahrheiten, aber keine Grundwahrheiten. Leben ist, was wir sind und was wir tun: es ist mithin von allen Dingen dasjenige, das jedem einzelnen am nächsten ist. Legen wir die Hand darauf: es wird sich fangen lassen wie ein zahmer Vogel. Wenn jemand Sie vorhin, als Sie auf dem Weg hierher waren, gefragt hat, wo Sie hingingen, werden Sie gesagt haben: wir gehen in eine philosophische Vorlesung. Und tatsächlich sind Sie jetzt hier und hören mir zu. Die Sache hat nicht das mindeste zu bedeuten. Und doch ist es das, was im Augenblick Ihr Leben ausmacht. Es tut mir für Sie leid, aber die Wahrheit zwingt mich dazu auszusprechen, daß Ihr Leben, Ihr Jetzt in einer Sache von winzigkleiner Bedeutung besteht. Jedoch – wenn wir aufrichtig sind, müssen wir uns eingestehen, daß der größere Teil unseres Dasein aus ähnlichen Geringfügigkeiten gemacht ist: wir gehen, wir kommen, wir tun dies oder jenes, denken, lieben oder lieben nicht und so weiter. Von Zeit zu Zeit scheint in unser Leben plötzlich Spannung zu kommen, es bäumt sich gleichsam auf, konzentriert und verdichtet sich: ein großer Schmerz ist es, ein großer Herzensdrang, der uns beansprucht; es geht, wie wir sagen, etwas Wichtiges mit uns vor. Jedoch – beachten Sie wohl, daß für unser Le-
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WAS IST PHILOSOPHIE?
ben diese Mannigfaltigkeit von Betonungen, dieses Wichtig- oder Unwichtigsein gleichgültig ist, da ja die krönende Stunde, die übervolle Stunde nicht in höherem Maße Leben ist als die Plebs unserer gewöhnlichen Minuten. Hieraus ergibt sich, daß wir bei einem ersten Überblick, den wir vom Leben bei dieser Erforschung seiner reinen Essenz gewinnen, mit der Gesamtheit von Akten und Vorfällen, die es sozusagen ausmöblieren, bekannt werden. Unsere Methode wird sein, die Attribute unseres Lebens nacheinander durchzugehen; und zwar in der Reihenfolge, daß wir von den äußerlichsten bis zu den innerlichsten fortschreiten, daß wir uns, von der Peripherie des Lebens ausgehend, um sein pulsierendes Zentrum zusammenschließen. Auf diese Weise werden wir nacheinander eine nach innen zu fortschreitende Reihe von Definitionen des Lebens finden; und zwar wird jede von ihnen die vorangehende in sich aufnehmen und vertiefen. So ist denn das erste, was wir finden, dieses: Leben ist, was wir tun und was uns geschieht – vom Denken oder Träumen oder innerlichen Bewegtsein bis zum Spekulieren an der Börse und dem Gewinnen von Schlachten. Indessen – wohlverstanden – nichts von dem, was wir tun, wäre unser Leben, wenn wir uns nicht Rechenschaft davon gäben. Dies ist das erste entscheidende Attribut, auf das wir stoßen: Leben ist diese seltsame einzigartige Wirklichkeit, die das Vorrecht genießt, für sich selber da zu sein. Alles Leben ist Erleben, ein Lebensgefühl, ein Daseinswissen – wobei jedoch Wissen nicht mehr geistige Erkenntnis oder irgendeine Spezialkenntnis bedeutet, sondern lediglich diese überraschende Präsenz, die für jeden einzelnen sein Leben hat; ohne dieses Innesein, ohne dieses Sich-Bewußtsein täte uns der Zahnschmerz nicht weh. Der Stein hat kein Selbstempfinden; auch weiß er nicht, daß er Stein ist; er ist für sich, wie für alles sonst, absolut blind. Dagegen ist Leben von vornherein eine Offenbarung, ein Sich-nicht-Begnügen mit dem bloßen Sein, sondern ein Begreifen oder Sehen, daß man ist, ein Innewerden. Es ist die unaufhörliche Entdeckung unser selbst und der Welt um uns. Wir kommen damit zu der Erklärung und juristischen Beglaubigung dieses seltsamen Possessivpronomens, das wir verwenden, indem wir „unser Leben“ sagen: es ist „unser“, weil wir uns über die Tatsache hinaus, daß es das Leben ist, darüber klar sind, daß es ist
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DAS WAHRNEHMEN SEINER SELBST
und so und nicht anders ist. Indem wir uns wahrnehmen und fühlen, nehmen wir von uns Besitz: und dieses ständige Sichfinden im Besitz seiner selbst, dieses anhaltende und grundsätzliche Dabeisein bei allem, was wir tun oder sind, unterscheidet das Leben von allem übrigen. Die hochmütigen Wissenschaften, die gelehrte Erkenntnis tun nicht anderes, als daß sie diese erstgeborene Offenbarung, die das Leben ausmacht, nutzen, vereinzeln und reglementieren. Auf der Suche nach einem Bild, das diese Idee ein wenig fester im Gedächtnis haften lassen soll, halte ich mich an die Geschichte in der ägyptischen Mythologie, die vom Tod des Osiris handelt, den Isis in ihrer Liebe und in dem Wunsch, ihn von den Toten zu erwecken, das Auge des Geiers Horus hinunterschlucken läßt. Von da an erscheint das Auge in sämtlichen hieratischen Abbildungen der ägyptischen Kultur, und zwar stellt es das erste Attribut des Lebens dar: das Sichwahrnehmen. Und dieses Auge, das überall am Mittelmeer Eingang gefunden hat und tief in den Orient hineingedrungen ist, wurde im Laufe der Zeit zu jenem Sinnbild, das alle übrigen Religionen als das erste Attribut der Vorsehung übernommen haben: das Wahrnehmen seiner selbst, das Hauptattribut und oberstes Kennzeichen des Lebens selber ist. Dieses Sichwahrnehmen oder Sichempfinden, diese Präsenz meines Lebens vor meinen Augen, die mich seiner innewerden läßt, mich zu seinem Inhaber macht, ist etwas, was der Geisteskranke nicht hat. Der Geistesgestörte ist nicht im Besitz seines Lebens, strenggenommen hat er nicht einmal Leben. Deshalb ist nichts so niederdrückend wie der Anblick eines Geisteskranken. Und zwar darum, weil sich in ihm die Physiognomie des Lebens zwar vollkommen abbildet, jedoch nur nach Art einer Maske, hinter der kein authentisches Leben ist. Tatsächlich haben wir von einem Wahnsinnigen das Gefühl, als hätten wir eine Maske vor uns; es ist das letzte, die endgültige Maske. Der Geisteskranke, da er nicht von sich weiß, gehört sich nicht zu eigen, hat sich enteignet, und zwar sind Enteignung, Überwechseln in den Besitz eines anderen die alten Bezeichnungen für den Wahnsinn: Entfremdung, französisch „aliéne“, „ver-rückt“ sagen wir, denn der Verrückte ist außer sich, von Sinnen, er ist „übergeschnappt“, das heißt von sich selber weggegangen; er ist ein Besessener, und zwar besessen von einem anderen. Das Leben ist Um-sich-Wissen: soweit ist die Sache einleuchtend.
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WAS IST PHILOSOPHIE?
Es ist richtig, wenn man sagt: zuerst kommt das Leben, dann das Philosophieren – auf sehr verbindliche Art ist das, wie Sie sehen, das Prinzip meiner ganzen Philosophie; es ist also richtig, daß man sich so ausdrückt – doch muß beachtet werden, daß das Leben selber im Mark und in der Wurzel darin besteht, daß es sich weiß und begreift, daß es sich wahrnimmt und wahrnimmt, was in seinem Umkreis ist, daß es in einem Sein besteht, das sich selber durchsichtig ist. Deshalb konnten wir, als wir zu Anfang die Frage stellten: „Was ist das Leben?“ ohne Anstrengung mit der Antwort herausfahren: Leben ist, was wir tun – natürlich – weil Leben Wissen ist, daß wir es tun, weil es – alles in allem – unser eigenes Sichfinden in der Welt und Bekümmertsein um die Dinge und Geschöpfe der Welt ist. (Diese ganz gewöhnlichen Worte: Sichfinden, Welt, Bekümmertsein gelten von jetzt an in dieser neuen Philosophie als technische Begriffe. Man könnte über jedes von ihnen weitläufig sprechen, doch will ich mich darauf beschränken anzumerken, daß diese Definition: „Leben ist sich in der Welt finden“ so wie alle Grundgedanken dieser Vorlesungen in meinen veröffentlichten Werken bereits enthalten ist. Es liegt mir daran, namentlich was die Daseins-Idee betrifft, darauf hinzuweisen, daß ich auf sie, chronologisch gesehen, meinen Prioritätsanspruch geltend mache. Ebendarum ist es mir eine Freude festzustellen, daß in die Analyse des Lebens am tiefsten der deutsche Philosoph Martin Heidegger eingedrungen ist.) Hier müssen wir ein bißchen schärfer aufpassen, weil wir in klippenreichere Gewässer einlaufen. Leben ist sich in der Welt finden. Heidegger hat uns in einem vor kurzem erschienenen genialen Buch die ganze ungeheure Bedeutung dieser Worte zu Bewußtsein gebracht. Es geht nicht in der Hauptsache darum, daß wir unseren Körper unter anderen körperlichen Dingen vorfinden und das alles innerhalb eines großen Körpers oder Raums, den wir Welt nennen. Wenn es nur Körper gäbe, so existierte kein Leben: die Körper rollen übereinander hinweg, sie sind füreinander immer nur außerhalb wie die Billardkugeln oder die Atome, ohne voneinander zu wissen oder einander etwas zu bedeuten. Die Welt, in der wir uns am Leben finden, setzt sich aus angenehmen und unangenehmen, aus grausamen und wohltätigen Dingen, aus Begünstigungen und Gefahren zusammen; worauf es ankommt ist nicht, ob die Dinge Körper oder Nichtkörper sind, sondern daß sie uns etwas angehen,
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DER BOGEN UNSERER WELT
uns interessieren, uns wohltun oder uns bedrohen und quälen. Ursprünglich ist das, was wir Körper nennen, nur etwas, das uns Widerstand entgegensetzt, uns hindert oder aufrechterhält und trägt, das heißt, zunächst nur etwas Feindliches oder Freundliches. Welt ist sensu stricto – was uns angeht. Und Leben heißt, daß jeder einzelne sich in einem Umkreis von Themen, von Gegenständen, die ihn angehen, findet. Auf diese Weise findet das Leben, ohne zu wissen wie, sich selber und entdeckt zugleich eine Welt. Leben gibt es nur in einem Kreis, der von anderen Dingen voll ist, mögen das Dinge oder Geschöpfe sein; es besteht im Anblick von Dingen und Szenen, in der Liebe zu ihnen oder im Haß auf sie, in der Sehnsucht nach ihnen oder in der Furcht vor ihnen. Jedes Leben ist ein Sichbekümmern um das andere, das nicht man selber ist; jedes Leben ist Zusammenleben mit einer Zuständlichkeit. Unser Leben ist demnach nicht allein unsere Person; vielmehr bildet einen Teil von ihr unsere Welt; denn unser Leben besteht darin, daß sich die Person mit den Dingen abgibt oder mit ihnen zu tun hat, und offensichtlich hängt unser Leben in seinem Sosein ebensowohl von dem ab, was es ist, wie von dem, was unsere Welt ist. (Deshalb können wir „unser Leben“ in Gestalt eines Bogens darstellen, der die Welt und das Ich zusammenschließt; doch ist nicht zuerst das Ich und dann die Welt, sondern beide sind zugleich.) Weder der eine noch der andere Partner stehen uns näher: wir geben uns nicht zuerst von uns Rechenschaft und dann erst von der Umwelt, sondern Leben heißt von vornherein und von Grund aus sich der Welt gegenüber befinden, mit der Welt, in der Welt sein, eingetaucht in ihr Treiben, in ihre Probleme, in ihr Zufallswirken. Aber genauso umgekehrt: insofern die Welt sich allein aus dem bildet, was jeden einzelnen von uns angeht, ist sie von uns unablösbar. Wir werden mit ihr zusammen geboren und sind als Person und Welt lebensmäßig gepaart wie jene Paare des antiken Hellas und Rom, die zusammen auf die Welt kamen und miteinander lebten: die Dioskuren beispielsweise, Götterpaare, die sich „dei consentes“ nannten, das heißt die „einmütigen Götter“. Wir leben hier und heute – das heißt, wir finden uns an einem Ort der Welt und haben das Gefühl, daß wir zu diesem Ort absolut frei gekommen sind. Das Leben gönnt uns tatsächlich einen Spielraum von Möglichkeiten innerhalb der Welt, und doch sind wir nicht frei, in dieser Welt, die die heutige Welt ist, zu sein oder nicht zu sein. Man ist
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WAS IST PHILOSOPHIE?
imstande, dem Leben zu entsagen, aber solange man am Leben ist, steht es einem nicht frei, sich die Welt, in der man lebt, auszusuchen. Dadurch kommt in unser Leben ein erschreckend dramatischer Zug. Leben heißt nicht, nach Belieben eine im voraus nach Geschmack ausgewählte Stätte betreten – so wie man sich nach dem Abendessen ein Theater aussucht –, sondern es heißt sich unvermittelt und ohne zu wissen wie, gestürzt, versenkt, geworfen fühlen in eine unabänderliche Welt, die jetzige Welt. Unser Leben hebt mit der ständigen Verwunderung darüber an, daß wir da sind, und zwar ohne unsere vorherige Einwilligung. Wir sind Schiffbrüchige in einer unvorhergesehenen Sphäre. Wir haben uns das Leben nicht verliehen, sondern wir finden es erst im selben Augenblick, da wir uns selber finden, vor. Auf ähnliche Art würde sich einer jäh ins Helle gerissen fühlen, den man im Schlaf in die Kulissen eines Theaters geschleppt hätte und den man von hier aus mit einem Stoß, der ihn aufweckt, an die Rampe, vor das Publikum befördern würde. Wenn sich der Betreffende plötzlich dort findet: was ist es eigentlich, was er findet? Denn er findet sich ja in der Klemme einer heiklen Situation, ohne daß er wüßte, wieso und warum, in einer Peripetie: und zwar verlangt die heikle Situation von ihm, daß er auf anständige Weise mit dieser Schaustellung vor einem Publikum, das er weder gesucht noch vorausgesehen hat, fertig wird. In seinen Grundzügen ist das Leben stets unvorhergesehen. Man hat uns nichts gesagt, bevor wir ins Leben getreten sind, bevor wir seinen Schauplatz betreten haben, der immer nur einer von konkreter Bestimmtheit ist – man hat uns nicht darauf vorbereitet. Dieser plötzliche und unvorhergesehene Charakter ist ein grundsätzlicher Wesenszug des Lebens. Es wäre etwas ganz anderes, wenn wir uns auf das Leben vorbereiten könnten, ehe wir es betreten. Schon Dante sagte, daß „der vorausgesehene Pfeil langsamer fliegt“. Doch hat das Leben sowohl im ganzen wie im einzelnen etwas von einem Pistolenschuß, der blindlings auf uns abgefeuert wird. Ich glaube, daß dieses Bild anschaulich genug das eigentliche Wesen des Lebens wiedergibt. Das Leben wird uns gegeben – besser gesagt, es wird uns zugeworfen, oder wir werden ins Leben hineingeworfen; jedoch, was uns da gegeben wird, nämlich das Leben, ist ein Problem, das wir selber lösen müssen. Und zwar gilt das nicht nur für jene Fälle, in denen es uns besonders schwer wird und die wir eigens Konflikte und Notlagen nennen, sondern es gilt stets und überhaupt. Als Sie
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LEBEN: DIE WAHL ZWISCHEN DEN MÖGLICHKEITEN
hierher kamen, mußten Sie sich dazu entschließen; Sie mußten sich dafür entscheiden, diesen Zeitabschnitt in dieser Form zuzubringen. Anders gesagt: solange wir leben, halten wir uns selber in der Schwebe und tragen unser Leben als Bürde um die Ecken der Welt. Und zwar liegt darin kein Vorurteil, ob unser Dasein traurig oder überströmend ist; ob nun das eine oder das andere, so besteht es doch immer in dem unablässigen Zwang, das Problem seiner selbst lösen zu müssen. Wenn die Kugel, die aus dem Gewehr abgeschossen wird, mit Geist begabt wäre, dann würde sie merken, daß ihre Flugbahn von dem Pulver und der Zielvorrichtung im voraus exakt festgelegt ist; und wenn wir diese Flugbahn ihr Leben nennen würden, so wäre die Kugel nichts weiter als die Zuschauerin ihres Lebens, ohne daß ihr freistünde, ihrerseits einzugreifen; die Kugel hat nicht sich selber abgeschossen und hat sich ihr Ziel nicht ausgesucht. Jedoch gerade darum kann man diese Daseinsweise nicht ihr „Leben“ nennen. Dieses nämlich fühlt sich nie im voraus festgelegt. Wie sicher wir auch im Hinblick darauf, was uns morgen passieren wird, sein mögen, so erblicken wir darin doch immer eine Möglichkeit. Dies ist ein weiteres grundsätzliches und dramatisches Attribut unseres Lebens, das mit dem vorigen zu Paar geht. Und zwar weil es in jedem Augenblick ein großes oder kleines Problem zu lösen gilt, ohne daß wir die Lösung auf ein anderes Sein übertragen könnten, was soviel heißt wie, daß es nie ein gelöstes Problem ist, sondern wir uns in jedem Augenblick gezwungen sehen, zwischen verschiedenen Möglichkeiten zu wählen. (Wenn uns nicht freisteht, die Welt zu wählen, in der unser Leben ablaufen soll – und zwar ist dies seine fatale Dimension – so finden wir doch einen gewissen Spielraum, einen Lebenshorizont von Möglichkeiten vor – und zwar ist dies die Dimension der Freiheit; Leben ist also die Freiheit in der Fatalität und die Fatalität in der Freiheit.) Ist das nicht überraschend? Wir sind in unser Leben geworfen worden, jedoch gleichzeitig müssen wir das, wohinein wir geworfen sind, auf eigene Rechnung tun und gewissermaßen besorgen. Oder anders gesagt: unser Leben ist unser Sein. Wir sind, was unser Leben ist, aber nichts darüber hinaus; und doch ist dieses Sein nicht vorausbestimmt, im voraus entschieden, sondern wir selber müssen es entscheiden, wir müssen entscheiden, was wir sein werden; zum Beispiel, was wir tun werden, wenn wir aus dem Theater hier herauskommen. Das meine ich, wenn ich sage – “sich selber in der Schwebe halten, das eigene Dasein aufrechterhal-
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WAS IST PHILOSOPHIE?
ten“. Hierin gibt es weder Rast noch Pause, weil der Schlaf, der eine Form biologischen Lebens ist, für das Leben in dem radikalen Sinn, wie wir das Wort gebrauchen, nicht existiert. Im Schlaf leben wir nicht, sondern erst beim Aufwachen, wenn wir das Leben wiederanknüpfen, finden wir es, bereichert um die flüchtige Erinnerung an das Geträumte. Die elementaren und eingewurzelten Metaphern sind so wahr wie die Newtonschen Gesetze. In diesen ehrwürdigen Metaphern, die schon zu Ausdrücken der Gemeinsprache geworden sind und über die wir jeden Augenblick hinweggehen wie über eine Insel, die früher einmal aus Korallen entstanden ist, in diesen Metaphern, sage ich, haben sich vollkommene Intuitionen der grundlegendsten Erscheinungen eingekapselt. So sprechen wir häufig davon, daß wir unter einen „Alpdruck“ leiden, daß wir uns in einer „schweren“ Lage befinden. Alpdruck, Schwere sind bildlich vom physikalischen Gewicht hergenommen, von dem Lasten eines Körpers, der auf uns liegt und uns drückt – und werden in den inneren Bereich überführt. Und in der Tat lastet das Leben immer, weil es in einem Getragen- und Ertragenwerden und einem Sich-selber-Führen besteht. Nur wenn es im Geleise der Gewohnheit und des Gewöhnlichen läuft, vergessen wir dieses beständige Gewicht, das wir mitschleppen und zugleich sind – wenn jedoch eine nicht so gewohnte Lage uns einfordert, fühlen wir aufs neue die lastende Bürde. Während das Gestirn zu einem anderen Körper hin gravitiert und nicht sich selber schwer wird, ist der Lebende zu gleicher Zeit Gewicht, das lastet, und Hand, die es hält. So kommt das Wort „alegria“ – Unbeschwertheit – vielleicht von „aligerar“ – erleichtern, was soviel bedeutet wie Minderung der Last. Der niedergedrückte Mensch geht in die Schenke, um in gehobene Stimmung zu kommen – er kappt das Seil, und sein armer Lebensballon löst sich frohgemut vom Boden und steigt. Mit alldem sind wir bei diesem vertikalen Ausflug, bei diesem Abstieg in das tiefe Sein unseres Lebens ein gutes Stück vorangekommen. In der Tiefe, in der wir uns jetzt befinden, erscheint das Leben so, als bestünde es in der Nötigung zu entscheiden, was wir sein werden. Jetzt werden wir uns nicht mehr damit begnügen, wie zu Anfang zu sagen: Leben ist, was wir tun, ist die Gesamtheit unseres Bekümmertseins um die Dinge der Welt, weil wir inzwischen festgestellt haben, daß all dieses Tun und diese Beschäftigungen uns nicht automatisch zufallen, uns nicht mechanisch auferlegt werden wie ein Repertoire von Gram-
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LEBEN: EINE STÄNDIGE ENTSCHEIDUNG
mophonplatten, sondern daß wir die Entscheidung darüber haben, daß eben dieses Entschiedenwerden das Lebendige an ihnen ist: die Ausführung ist zum großen Teil mechanisch. Die große fundamentale Tatsache, mit der ich Sie bekanntmachen wollte, ist schon da; wir haben sie bereits ausgesprochen: Leben ist die ständige Entscheidung darüber, was wir sein werden. Fällt Ihnen nicht das fabelhafte Paradox auf, das dieser Satz in sich birgt? Ein Sein, das nicht so sehr in dem, was es ist, als in dem, was es sein wird, besteht, also in dem, was es noch nicht ist. Nun, dieses grundlegende und abgründige Paradox ist unser Leben. Ich bin nicht schuld daran. So verhält es sich strikt und wahrheitsgemäß. Aber vielleicht denken jetzt einige unter Ihnen: „Seit wann soll denn das Leben darin bestehen, zu entscheiden, was wir sein werden? Seit einer ganzen Weile sitzen wir hier und hören ihm zu, ohne das geringste zu entscheiden, und – wer will das bezweifeln? – leben trotzdem.“ Hierauf würde ich zur Antwort geben: „Meine Herrschaften! Während dieser ganzen Zeit haben Sie nichts anderes getan als immer wieder entschieden, was Sie sein werden. Es handelt sich um eine jener Stunden, die im geringsten Maße zu den Höhepunkten Ihres Daseins zählen; vielmehr sind Sie zu relativer Passivität verurteilt, da Sie ja Zuhörer sind. Und doch stimmt das mit meiner Definition genau überein. Hier ist der Beweis. Während Sie mir zuhörten, haben einige von Ihnen mehrmals geschwankt, ob sie nicht aufhören sollten, mir ihre Aufmerksamkeit zu schenken, und lieber ihren eigenen Gedanken nachhängen, oder ob sie so großzügig sein sollten, mit wachem Ohr aufzunehmen, was ich sage. Sie haben sich für das eine oder für das andere entschieden – für das Aufmerksamsein oder das Abgelenktsein, für das Nachdenken über dieses Thema oder über ein anderes – und gerade dies, daß Sie in diesem Augenblick über das Leben nachdenken oder über etwas anderes, ist augenblicklich Ihr Leben. Und die anderen genauso. Diejenigen, die nicht geschwankt haben, die entschieden haben, sie wollten mir bis zum Schluß zuhören. Von Augenblick zu Augenblick werden Sie diesen Entschluß immer wieder haben bestärken müssen, um ihn am Leben zu erhalten, um weiter aufmerksam zu sein. Unsere Entscheidungen, auch die festesten, müssen ständig neue Bestärkung erfahren, müssen immerzu wie eine Flinte, deren Pulver unbrauchbar wird, neu geladen werden, müssen – kurz gesagt – wieder-entschieden werden. Als Sie durch diese Türe hereingingen,
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haben Sie entschieden, was Sie sein würden: nämlich Hörer; und danach haben Sie Ihren Vorsatz oftmals wiederholt – denn andernfalls wären Sie mir nach und nach aus meinen grausamen Rednerhänden geschlüpft. Und jetzt brauchen wir zu alldem nur noch die unmittelbare Schlußfolgerung zu ziehen: wenn unser Leben darin besteht zu entscheiden, was wir sein werden, so ist damit gesagt, daß in der eigentlichen Wurzel unseres Lebens eine Zeitbestimmung steckt – entscheiden, was wir sein werden – das heißt – das Künftige. Und im gleichen Augenblick fällt uns unaufhaltsam eine ganze ergiebige Ernte von Beobachtungen zu. Die erste: daß unser Leben vor allem das Zusammenstoßen mit dem Künftigen ist. Darin liegt ein weiteres Paradox. Nicht die Gegenwart oder die Vergangenheit ist es, die wir an erster Stelle leben, nein; das Leben ist eine Tätigkeit, die sich vorausentwirft, und die Gegenwart oder die Vergangenheit werden erst hinterher, in Relation zu dieser Zukunft, entdeckt. Das Leben ist Futurition, ist InsKünftige-Tun, ist das, was noch nicht ist.
XI Die radikale Wirklichkeit ist unser Leben • Die Kategorien des Lebens • Das theoretische Leben • Fatalität und Freiheit Wie oft habe ich schon gesagt, wir sähen uns gezwungen, die Grenzen der Antike und der Moderne zu transzendieren, jedoch indem ich vorsorglich hinzufügte, wir könnten sie nur überwinden, indem wir sie bewahrten. Der Geist ist seinem Wesen nach das Grausamste und zugleich das Zärtlichste und Großmütigste. Wenn der Geist leben will, muß er seine eigene Vergangenheit erschlagen. Er muß sie verneinen, doch vermag er das nur, wenn er gleichzeitig auferweckt, was er tötet und es in seinem Inneren lebendig erhält. Wenn er ein für allemal tötete, könnte er das Getötete nicht weiterhin verneinen, und indem er es verneint, überwinden. Wenn wir uns nicht denkend noch einmal in das Denken Descartes’ versetzen, wenn nicht Descartes das Denken von Aristoteles noch einmal durchdenken würde, bliebe unser Denken auf niederer Stufe – wir müßten immer von vorne anfangen, und es gäbe keine Erben. Überwinden ist Erben und Hinzufügen. Wenn ich 492
DAS PROBLEM DER GRUNDLEGENDEN DATEN
sage, wir brauchten Begriffe, so meine ich das, was wir von uns aus hinzufügen müssen – die Alten dauern fort, aber auf untergeordnete Art. Wenn wir eine neue fundamentale Seinsweise entdecken, so ist ganz klar, daß wir einen Seinsbegriff brauchen, der bis dato unbekannt ist, zugleich aber hat dieser allerneueste Begriff den Auftrag, das antike Denken zu erklären und den Wahrheitsanteil, der ihm zukommt, aufzuzeigen. So haben wir letzthin angedeutet – für mehr als höchstenfalls eine Andeutung war keine Zeit –, wie die antike Idee vom kosmischen Sein, vom substantiellen Sein nur für eine Wirklichkeit gültig ist, in der man die radikale Tatsache des Bewußtseins noch nicht entdeckt hatte; und späterhin haben wir gezeigt, daß das subjektive Sein ein gültiger Begriff wäre, sofern es nicht dem Subjekt voraus eine Wirklichkeit – nämlich das Leben – gäbe. Nun denn: Antike und Moderne treffen sich in der Absicht, unter dem Namen „Philosophie“ die Erkenntnis des Universums oder des „was es gibt“ in Angriff zu nehmen. Jedoch schon beim ersten Schritt, auf der Suche nach der primären Wahrheit, beginnen sie auseinanderzuklaffen. Und zwar deshalb, weil der antike Mensch von vornherein auf eine primäre Realität ausgeht, indem er unter primär die maßgeblichste im Aufbau des Universums versteht. Ist er Theist, so wird er erklären, daß die maßgeblichste Realität, die alle anderen erklärt, Gott ist; als Materialist wird er die Materie dafür halten; als Pantheist wird er sagen, es sei eine indifferente Wesenheit, die sowohl Materie als auch Gott sei: natura sive Deus. Dagegen wird der Moderne diese ganze Jagd und Streiterei zum Einhalten bringen, indem er sagt: es ist zwar möglich, daß in der Tat diese oder die andere Realität im Universum die maßgeblichste ist, aber selbst wenn wir den Beweis dafür erbracht hätten, wären wir keinen Schritt weitergekommen – weil nämlich Sie, meine Herren, versäumt haben, sich zu fragen, ob diese Realität, die alle übrigen erklärt, mit voller Evidenz vorhanden ist, ja mehr noch: ob diese aus Ihrer Erklärung resultierenden Realitäten, die im Vergleich mit ihr weniger maßgeblich sind, unzweifelhaft existieren. Das primäre Problem der Philosophie ist nicht die Feststellung, welche Realität die maßgeblichste ist, sondern welche Realität im Universum die unbezweifelbarste, die zuverlässigste ist – gesetzt auch den Fall, sie wäre die unmaßgeblichste, die bescheidenste und unbedeutendste. Kurzum: das primäre Problem der Philosophie besteht darin zu bestimmen, was uns vom Universum gegeben ist – und zwar ist dies
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das Problem der grundlegenden Daten. Die Antike stellt sich dieses Problem nie in verbindlicher Form: deshalb steht sie, wie zutreffend sie auch in sonstigen Fragen sein mag, auf tieferer Stufe als die Moderne. Wir richten uns von vornherein auf der höheren Stufe ein. Das einzige, was wir tun, ist, daß wir mit den Modernen darüber disputieren, welches die grundlegende und unbezweifelbare Realität ist. Wir kommen darauf, daß nicht das Bewußtsein, das Subjekt – sondern das Leben, daß außer dem Subjekt die Welt mit umfaßt, diese Realität ist. Auf diese Weise entkommen wir dem Idealismus und erobern eine neue Ebene der Betrachtung. Beachten Sie jedoch, daß wir dies alles tun, ohne den Umkreis des primären Problems der Philosophie zu verlassen, daß wir uns ausschließlich auf der Ebene dessen bewegen, was uns vom Vorhandenen gegeben ist. Wenn wir glauben, daß dieses Datum „unser Leben“ ist, daß jedem einzelnen vom Universum einzig und allein sein Leben gegeben ist, so erlauben wir uns nicht die leiseste Meinung darüber, ob es außer diesem uns gegebenen am Ende noch andere, zwar nicht gegebene, aber viel wichtigere Realitäten gibt. Das Problem des Gegebenen oder Unbezweifelbaren ist noch nicht die Philosophie, sondern nur ihre Türschwelle, ihr Einleitungskapitel. Es liegt mir daran, ins Gedächtnis zurückzurufen, was ich in den ersten Vorlesungen gesagt habe. Aber ich weiß nicht, ob alle sich über die Konsequenzen klar sind, die das nach sich zieht: eine Konsequenz, die so elementar ist, daß ich sie eigentlich gar nicht auszusprechen brauche, die aber, fürchte ich, doch festzuhalten am Platze ist, besteht in folgendem: wenn wir anerkannt haben, daß die einzige unbezweifelbare Realität – welcher Art diese auch immer sein mag – auf definierbare Art feststeht, so kann von allem, was wir sonst sagen, nie etwas zu den Attributen, die mit voller Evidenz jene grundlegende Wirklichkeit konstituieren, in Widerspruch treten. Weil alle anderen Dinge, von denen wir sprechen und die von dieser erstrangigen unterschieden sind, als zweifelhaft und sekundär gelten müssen und nie von sich aus mehr Zuverlässigkeit besitzen, als sie von der Unbezweifelbaren Realität, auf die sie sich stützen, empfangen. Zum Beispiel so: nehmen Sie an, irgend jemand ginge von dem modernen Prinzip aus und stellte fest: das einzig Unbezweifelbare ist die Existenz des Denkens – so begibt er sich damit auf jenes Niveau, das wir Moderne nennen. Dann aber setzt er hinzu: natürlich
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DIE RADIKALE WIRKLICHKEIT
gibt es außerdem noch Materie, die Materie der Physik, zusammengesetzt aus Atomen, die sich nach bestimmten Gesetzen verhalten. Dieses „außerdem gibt es“ ist völlig absurd, wenn damit gemeint sein soll, daß die Physik denselben Geltungsgrad wie das Prinzip des Subjektivismus zu beanspruchen ein Recht hätte. Dieses nämlich sagt: das unbezweifelbar Wirkliche ist immateriell und wird nicht von Gesetzen der Physik beherrscht: einer Wissenschaft, die sich mit Quasi-Realitäten zweiten Ranges befaßt wie jede andere Einzelwissenschaft. Womit die Wahrheit der physikalischen Gesetze nicht geleugnet wird, sondern in ihrer Gültigkeit verwiesen auf die sekundäre Rangordnung von Erscheinungen, auf die sie sich bezieht, eine Erscheinungsordnung, die auf Radikalität keinen Anspruch erhebt. Der idealistische – das heißt moderne – Physiker muß gleich dem idealistischen Philosophen eine Erklärung dafür finden, inwiefern man, da es außer der immateriellen Welt, der gedanklichen Wirklichkeit, keine unbezweifelbare Realität gibt, vernünftigerweise und wahrheitsgemäß von materiellen Dingen, physikalischen Gesetzen und so weiter sprechen kann – was jedoch nicht möglich ist, ohne daß man unumgänglich vom höchsten Niveau herniedersteigt –: jedenfalls darf nicht zugelassen werden, daß die Physik rückwirkend ihren Einfluß auf die Definition der Unbezweifelbaren Realität geltend macht. Was wir von ihr sagen, ist unantastbar, unzerstörbar von allem, was wir von ihr ausgehend später hinzufügen. Dies ist die elementare Tatsache, die zu betonen, wie ich glauben möchte, nicht ganz unwichtig ist. Die neue Tatsache oder grundlegende Realität ist „unser Leben“, das Leben jedes einzelnen. Wer immer beabsichtigt, von einer anderen in höherem Grade unzweifelhaften, von einer ursprünglicheren Realität zu sprechen, wird einsehen, daß das unmöglich ist. Nicht einmal das Denken steht dem Leben voran – weil sich das Denken selber als ein Teilstück meines Lebens antrifft, als ein besonderer Akt in ihm. Ja, indem ich nach einer Unbezweifelbaren Realität suche, tue ich etwas, das ich auf Grund meines Lebens und insoweit ich lebe tue – das heißt, etwas, das ich nicht abgelöst und für sich tue, sondern wenn ich suche, so geschieht das, weil ich im jetzigen Augenblick lebend damit beschäftigt bin, Philosophie zu treiben und so den primären Akt des Philosophierens vollziehe; auch das Philosophieren seinerseits ist eine besondere Form des Lebens, die das Leben selber zur Voraussetzung hat – da ja, wenn ich Philosophie treibe, dem etwas anderes voraus-
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WAS IST PHILOSOPHIE?
geht, nämlich der Wunsch zu wissen, was das Universum ist – und diese Wißbegier ist ihrerseits nur deshalb da, weil ich sie als einen Drang meines Lebens empfinde, meines Lebens, das um sich selber bekümmert ist und sich manchmal in sich selber verloren antrifft. Kurzum, welche Realität wir auch als die primäre ansetzen möchten: stets finden wir, daß sie unser Leben voraussetzt und daß schon ihr Setzen einen Lebensakt darstellt, daß sie „Leben“ ist. Mag der Umstand, daß die einzige unbezweifelbare Realität ausgerechnet das Leben ist und nicht das bloße idealistische „cogito“ – das zu seiner Zeit so sehr überraschte –, noch so überraschend sein, daß es nicht die „forma“ von Aristoteles oder die Idee Platons ist, die in ihrer Zeit so unerträglich paradox angemutet haben, sondern das Leben – was sollen wir dabei tun? So ist es nun einmal. Aber wenn es so ist, dann hilft es nichts – dann müssen die Attribute dieser neuen radikalen Realität festgestellt werden – und außerdem hilft es nichts: man muß sie annehmen, mögen sie auch allen unseren vorhergehenden Theorien, allen übrigen Wissenschaften ins Gesicht schlagen, Wissenschaften, die wir trotzdem weiterhin unter ihrem Gesichtspunkt als wahrheitsgemäß anerkennen. Späterhin freilich – in einem System der Philosophie – müßten wir zeigen, daß es ausgehend von der Realität „unseres Lebens“ noch außerdem, jedoch ohne im geringsten unserem Begriff vom Leben zu widersprechen, organische Körper und physikalische Gesetze und Moral und sogar Theologie gibt. Denn es ist gleichfalls nicht gesagt, ob nicht außer diesem unzweifelhaften „unseren Leben“ – das uns gegeben ist – vielleicht auch das „andere Leben“ existiert. Fest steht, daß dieses „andere Leben“, wissenschaftlich gesehen, problematisch ist – genauso wie die organische Wirklichkeit und die physikalische Wirklichkeit, daß hingegen dieses „unser Leben“, das Leben jedes einzelnen, nicht problematisch, sondern unzweifelhaft ist. In der letzten Vorlesung haben wir mit der Definition des Lebens in gebotener Kürze begonnen. Möglicherweise haben Sie sich nicht recht ausgekannt, weil meine Darlegungen Binsenwahrheiten zu sein schienen. Das besagt jedoch nichts anderes, als daß evident war, was ich gesagt habe, und an die Evidenzen halten wir uns. Das Leben ist kein Mysterium, sondern genau das Gegenteil: es ist das am Tage Liegende, es ist das Offenbarste, was es gibt – und gerade weil es das ist, weil es so durchsichtig ist, bereitet es Mühe, seiner habhaft zu werden.
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LEBEN IST DAS AM TAGE LIEGENDE
Unser Blick schweift darüber hinaus, weit hinaus in die Ferne problematischer Weisheiten, und es kostet uns Anstrengung, ihn bei diesen unmittelbaren Evidenzen festzuhalten. So ist evident, daß Leben soviel heißt wie daß ich mich in der Welt finde. Wenn ich mich zunächst allein mit mir fände, würde ich zwar vorhanden sein, aber dieses Vorhandensein wäre nicht dasselbe wie Leben – es wäre das subjektive Existieren des Idealismus. Jedoch – hier sitzt der Haken – es ist falsch zu behaupten, ich könnte mich je ganz allein antreffen, weil ich im Augenblick, da ich mein Ich, das Ich-selber, entdecke, auch schon gewahr werde, daß dieses Ich jemand ist, der sich mit dem, was er nicht ist, befaßt, mit anderen Jemanden – die sich überdies und mir gegenüber als ein geschlossenes und gegliedertes Ganzes darstellen und die Form einer Umwelt, einer umfangenden Einheit, einer Welt, in der ich bin, haben; und zwar bin ich nicht ruhend und bewegungslos, sondern angereizt oder erhoben von dieser Welt. Somit ist Welt, was ich mir gegenüber und um mich finde, sobald ich mich selber finde; es ist das, was für mich da ist und offen auf mich einwirkt. Welt ist nicht die Natur, der Kosmos der Antike, der eine selbstgenügsame, für sich seiende Realität war, von der das Subjekt das eine oder andere Teilstück kannte, die sich jedoch ihr Geheimnis vorbehält: die vitale Welt hat für mich keinerlei Geheimnis, weil sie ausschließlich aus dem besteht, was ich wahrnehme und was so und nicht anders ist, wie ich es wahrnehme. In mein Leben tritt nur ein, was sich in ihm präsent macht. Kurz gesagt – die Welt ist das Gelebte schlechthin. Nehmen wir an, meine Welt setzte sich aus lauter Mysterien, aus maskierten, rätselhaften Dingen zusammen – wie die Welt in gewissen amerikanischen Filmen. Nun – so würde die Tatsache, daß es Mysterien, daß es Rätsel wären, mir präsent, evident, durchsichtig sein, und würde in dieser bestimmten Form des Mysteriums, des Rätsels auf mich wirken; so daß ich sagen müßte: die Welt, in der ich lebe, ist ein unbezweifelbares und evidentes Mysterium, sie liegt mir in ihrem Sein klar vor Augen, und zwar ist ihr Sein das Mysteriöse, was genau auf dasselbe hinausliefe, wie wenn ich sagen würde: die Welt ist blau oder gelb. Das erste Attribut dieser radikalen Wirklichkeit, die wir „unser Leben“ nennen, ist das „Für-sich-Dasein“, das „Seiner-selbst-Innewerden“, das „Sich-selber-Durchsichtigsein“. Allein deshalb ist sie und was einen Teil von ihr bildet, unzweifelhaft – und nur weil es die
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WAS IST PHILOSOPHIE?
einzige unbezweifelbare Wirklichkeit ist, ist sie die Grundwirklichkeit. Das „Sichfinden“, seiner „Innewerden“ oder „Durchsichtigsein“ ist die erste Kategorie, die das Leben ausmacht. Einige unter Ihnen wissen nicht, was eine Kategorie ist. Schämen Sie sich dessen nicht! Kategorie ist in der philosophischen Wissenschaft etwas ganz Elementares. Sie brauchen sich nicht zu schämen, daß Sie etwas Elementares nicht wissen. Wir sind alle unwissend in elementaren Dingen, denn es ist schon viel, wenn wir unseren Nachbarn kennen. Man braucht sich nie zu schämen, wenn man etwas nicht weiß – das ist vielmehr der natürliche Zustand. Schämen muß man sich, wenn man etwas nicht wissen will, wenn man sich sträubt, einer Sache auf den Grund zu gehen, wenn sich Gelegenheit dazu bietet. Aber dieses Sträuben läßt sich nie der Unwissende zuschulden kommen, sondern umgekehrt derjenige, der Bescheid zu wissen meint. Das ist der eigentliche Grund sich zu schämen: wenn man zu wissen meint. Wer etwas zu wissen meint, es aber in Wirklichkeit nicht weiß, der verstopft mit seinem vorgeblichen Wissen die Poren in seinem Geist, die der authentischen Wahrheit Einlaß gewähren könnten. Die rohe, anmaßende oder eigensinnige Vorstellung, die er hat, benimmt sich etwa so wie in den Termitenbauten – Insekten, die mit den Ameisen eine gewisse Ähnlichkeit haben – der Wächter, der einen großmächtigen, schwarzlackierten, sehr harten Kopf hat und dazu da ist, ihn in das Eingangsloch zu stecken, wobei er auf solche Weise mit seinem eigenen Dickkopf die Öffnung verstopft, damit niemand hereinkann. So versperrt der Mensch, der zu wissen meint, mit seiner eigenen falschen Idee, mit seinem eigenen Kopf das geistige Einschlupfloch, durch welches das wirkliche Wissen eindringen sollte. Wer sich auf geistigem Gebiet viel in der Öffentlichkeit betätigt hat, in Spanien und außerhalb Spaniens, der zieht unwillkürlich Vergleiche, und der Vergleich zwingt ihn zu der Überzeugung, daß beim Spanier dieser geistige Hermetismus ein chronisches und endemisches Laster ist. Und zwar nicht zufällig: wenn der spanische Mensch so wenig porös ist, so ist schuld daran, daß er auch in Seelenschichten, die sehr viel tiefer liegen als der Intellekt, hermetisch ist. Jedoch – vielleicht noch schwerwiegender als diese mangelnde Durchlässigkeit des spanischen Mannes ist die ungenügende Durchlässigkeit der spanischen Frauenseele. Was ich da sage, ist schrecklich – aber ich sage es nicht aufs Geratewohl und unbedacht. Ich kündige hiermit vielmehr einen Feldzug gegen die Lebenshaltung 498
DIE REFORM DER WEIBLICHEN SEELE
der spanischen Frau an, den ich führen werde, sobald die Atmosphäre wieder ein offenes Wort verträgt. Es wird dies keineswegs ein schmeichelhafter, sondern ein für mich sehr schmerzlicher Feldzug sein. Ich habe von jeher einen Widerwillen gegen jene aufdringlichen Leute, die wir ständig sagen hören, sie hielten sich für dieses oder jenes Anliegen verpflichtet. Ich habe mich in meinem Leben nur ganz selten verpflichtet gefühlt. Was mich in meinem Leben vorangetrieben hat, und was mich auch heute noch treibt, waren nicht Pflichten, sondern Illusionen. Ja, ich gehe noch weiter: die Ethik, die ich Ihnen vielleicht im kommenden Jahr in einem Kursus vortragen werde, unterscheidet sich von allen bisherigen darin, daß sie als das Primäre in der Moral nicht die Pflicht ansieht, sondern die Illusion. Die Pflicht ist eine wichtige Sache, aber zweiten Ranges – sie ist der „Ersatz“ der Illusion. Es verhält sich so, daß wir zum wenigsten aus Pflicht tun müssen, was uns aus Illusion zu tun versagt ist. Nun ist aber dieser Feldzug mit dem Thema: „Die spanische Frau“ eine viel zu dornige Angelegenheit, als daß er eine Illusion sein könnte; im Gegenteil: er wird ein Opfergang sein, und ausnahmsweise fühle ich mich verpflichtet, ihn zu führen, nachdem ich ihn viele lange Jahre hindurch in Gedanken mit mir herumgetragen habe. Ich glaube, daß in unserem reformbedürftigen spanischen Leben nichts so sehr einer radikalen Reform bedarf wie die weibliche Seele. Und für jemanden, der wie ich fest davon überzeugt ist, daß in der Geschichte die Frau einen bei weitem größeren Einfluß hat, als man annimmt oder auch nur ahnt, und zwar auf anhaltende, unwiderstehliche und kaum greifbare Art und Weise – für den liegt auf der Hand, daß eine ganze Reihe kapitaler Gebrechen, die sich im spanischen Leben fortdauernd halten und deren Ursprung man in den abstrusesten Ursachen erblickt, ganz einfach von der unzulänglichen spanischen Weiblichkeit herstammen. Die so undankbare und so gefährliche Aufgabe, dies auszusprechen, fühle ich mich verpflichtet zu übernehmen, obwohl ich die recht verdrießlichen Folgen, die das nach sich ziehen wird, voraussehe. Wie Sie bemerken, weiche ich auch in diesem Punkt von den offiziellen Lautsprechern ab. Ich bin sehr wenig galant, aber mit der Galanterie muß es ein Ende haben; sie muß ebenso wie die Moderne und der Idealismus, in deren Klima sie gedieh, überwunden werden; wir müssen unsere Begeisterung für die Frau in Formen kleiden, die hinsichtlich ihrer Energie, Verfeinerung und Intensität fortgeschrittener sind. Nichts wirkt auf uns heute so unzeitge-
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WAS IST PHILOSOPHIE?
mäß wie der ergebene Bückling, mit dem sich der wackere Kavalier von 1890 der Frau nahte, indem er sich krümmte wie eine Weidenrute. Unsere jungen Mädchen gewöhnen es sich heute schon ab, daß man sie galant umwirbt; und jene Gebärde, die vor dreißig Jahren von Kraft und Saft der Männlichkeit nur so sprühte, würde ihnen heute verweichlicht vorkommen. Aber kehren wir zu unserem Thema zurück – den Kategorien. Es ging darum, daß einige unter Ihnen keine klare Vorstellung haben und auch gar nicht zu haben brauchen, was die Kategorien eigentlich sind. Das macht nichts, denn was man unter einer Kategorie versteht, ist die einfachste Sache von der Welt. Ein Pferd und ein Stern unterscheiden sich in vielen ihrer Grundbestandteile, in der Mehrzahl ihrer Eigenschaften. Aber wie sehr sie sich auch unterscheiden, müssen sie doch etwas Gemeinsames haben, wenn wir von dem einen sowohl wie von dem anderen sagen, es seien zwei Körperdinge. Tatsächlich sind das Pferd und der Stern beide etwas Reales, und außerdem nehmen das Pferd sowohl wie der Stern einen gewissen Raum ein, haben ihr Dasein in der Zeit und erleiden oder erdulden Veränderungen, indem sie sich bewegen, bringen auch selber Veränderung hervor, indem sie mit anderen Dingen zusammenstoßen; außerdem haben sie beide ihre jeweilige Farbe, ihre Form, ihre jeweilige Körperdichte, das heißt: Eigenschaften. Auf diese Weise ergibt sich uns, daß sie über ihre zahllosen Unterschiede hinaus zu einem minimalen Teil in gewissen Elementen und Attributen übereinstimmen – sie sind real, nehmen Raum und Zeit ein, haben Eigenschaften, leiden und handeln. So wie sie muß alles, was den Anspruch erhebt, ein körperliches Ding zu sein, unumgänglich dieses Minimum von Bedingungen oder Eigenschaften, dieses Grundgerüst des Körperlichseins besitzen. Das aber sind die Kategorien von Aristoteles: die Eigenschaften, die jedes reale Sein, lediglich um es zu sein, mitbringt und notgedrungen enthält – vor seinen sonstigen unterscheidenden Elementen und von ihnen abgesehen. Da unsere Realität „Leben“ von der kosmischen Realität der Antike sehr verschieden ist, muß sie aus einem Gefüge von Kategorien und Komponenten gebildet sein, die allesamt zwingend, gleich ursprünglich und voneinander untrennbar sind. Diese Kategorien „unseres Lebens“ suchen wir. Unser Leben ist „das jedes einzelnen“, das heißt: , ,mein Leben“ ist unterschieden von „deinem Leben“, aber beide sind „mein Leben“, und in beiden findet sich eine Anzahl gemeinsamer In-
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SEINER-SELBST-INNEWERDEN
gredienzien, und zwar sind dies die Kategorien „meines Lebens“ Trotzdem besteht gerade hier ein radikaler Unterschied zwischen der Realität „mein Leben“ und der Realität „Sein“ der herkömmlichen Philosophie. „Sein“ ist etwas Allgemeines, das nicht an sich auf den Charakter des Individuellen Anspruch erhebt. Die aristotelischen Kategorien sind Kategorien des Seins im allgemeinen – ο̉́ν η ̃ο̉́ν – dagegen „mein Leben“, ob man diese Bezeichnung nun auf meinen Fall oder auf den Fall jedes einzelnen von Ihnen anwendet, ist ein Begriff, der von vornherein das Individuelle mit einschließt; hieraus ergibt sich, daß wir auf eine äußerst seltene Idee gestoßen sind, die zugleich „allgemein“ und „individuell“ ist. Die Logik wußte bislang nicht um die Möglichkeit eines dem Anschein nach derart widerspruchsvollen Begriffs. Nicht einmal Hegel, der suchend auf etwas Ähnliches ausging, bekam es zu fassen; sein Konkret-Universales stellt sich am Ende als universal heraus und ist nicht wirklich und von Grund aus konkret; ebensowenig ist es individuell. Jedoch auf dieses Thema näher einzugehen, kann hier nicht meine Absicht sein. Kreuzen wir und lassen wir die Sache unberührt backbords. „Sichfinden“, „Seiner-selbst-Innewerden“, „Durchsichtigsein“: so lautet die erste Kategorie unseres Lebens, und auch hier wieder darf nicht vergessen werden, daß das „ich selber“ nicht nur Subjekt ist, sondern auch die Welt. Ich gebe mir Rechenschaft von mir in der Welt, von mir und der Welt – dies bedeutet zunächst „leben“. Aber dieses „Sichfinden“ heißt von vornherein sich mit etwas in der Welt befaßt finden. Ich bestehe in meinem Befaßtsein mit dem, was es in der Welt gibt, und die Welt besteht in alldem, womit ich mich befasse, und in nichts sonst. Befaßtsein oder Bekümmertsein heißt: dieses oder jenes tun – es heißt zum Beispiel: denken. Denken ist Leben, weil es bedeutet, daß ich mich im Zuge dieser besonderen Obliegenheit mit Gegenständen befasse und mit ihnen umgehe, was soviel heißt wie daß ich sie denke. Denken ist beispielsweise Wahrheiten schaffen, Philosophie schaffen. Befaßtsein heißt Philosophie machen oder Revolutionen machen oder eine Zigarette machen oder Tanzschritte machen oder „lange machen“. Insoweit bin ich in meinem Leben ich selber. Die Dinge aber – was sind sie? Was sind sie in dieser radikalen Perspektive und dem primären Seinsmodus, den ihnen ihr Gelebtwerden durch mich verleiht? Ich bin es, der etwas tut – der denkt, läuft, revolutioniert oder wartet – aber was ist das Getane? Seltsam! Auch
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WAS IST PHILOSOPHIE?
das Getane ist mein Leben. Wenn das, was ich tue, Warten ist, so ist das Getane Gewartethaben; wenn das, was ich mache, eine Zigarette ist, so ist das Gemachte nicht eigentlich eine Zigarette, sondern mein Tun, indem ich sie drehe. Die Zigarette an sich und abgesehen von meinem Tun hat kein primäres Sein: dies war der Irrtum der Antike. Die Zigarette ist, was ich bei ihrer Herstellung betreibe, und ihr Sein ist zu Ende, sobald ich mit Drehen fertig bin; sodann verwandelt sie sich in ein anderes Thema – ich muß sie anzünden und hernach muß ich sie rauchen. Ihr eigentliches Sein beschränkt sich auf das, was sie als Thema meiner Beschäftigung vorstellt. Sie ist nicht für sich – subsistent, χωριοτόν – abgesehen von meinem Sie-Leben, von meinem tätigen Umgang mit ihr. – Ihr Sein ist fungierend, ist ihre Funktion in meinem Leben, ist ein ,,Für-etwas-Sein“ – für dies oder jenes, was ich mit ihr mache. Trotzdem spreche ich wie die herkömmliche Philosophie vom Sein der Dinge, als von etwas, das diese Dinge für sich und abgesehen von meiner Handhabung und ihrem Dienlichsein für mein Leben besitzen – das heißt, ich gebrauche den Begriff „Sein“ in seiner altüberlieferten Bedeutung, und zwar tritt diese Bedeutung ein, sobald ich angesichts eines Dings von seinem primären Sein abstrahiere, das heißt seinem dienstbaren, gewöhnlichen und gelebten Sein, und feststelle, daß das Ding nicht etwa verschwunden ist, weil ich mich nicht mit ihm befasse, sondern dableibt, außerhalb meines Lebens, vielleicht in Erwartung, daß es mir ein weiteres Mal zu etwas dienen wird. Vollkommen richtig: dann aber kommt es zu diesem Sein für sich und nicht für mein Leben nur auf Grund der Tatsache, daß ich es von meinem Leben abstrahiere; aber auch Abstrahieren ist ein Tun und Sichbefassen, und zwar befasse ich mich mit der Fiktion, daß ich nicht lebe oder zumindest, daß ich nicht diese oder jene Sache lebe, sie vielmehr unabhängig von mir setze. Deshalb ist dieses Für-sich-Sein der Dinge, ihr kosmisches und subsistentes Sein ebenfalls ein Für-michSein; es ist, was die Dinge sind, wenn ich aufhöre, sie zu leben, wenn ich fingiere, daß ich sie nicht lebe. Diese fingierende Haltung – womit keine unaufrichtige oder falsche, sondern nur eine Möglichkeitshaltung gemeint ist –, in der ich von der Annahme ausgehe, daß ich nicht existiere und infolgedessen die Dinge nicht so sehe, wie sie für mich sind, und mich frage, wie sie wohl ohne das sein möchten – diese Haltung einer virtuellen Lebensentsagung oder eines Nichtlebens ist – die theoretische Haltung. Sehen Sie jetzt, wie Fichte auch weiterhin recht
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KONTEMPLATION – EIN AKT DER LIEBE
behält, indem Theoretisieren, Philosophieren nicht eigentlich Leben ist – gerade weil es eine Form des Lebens ist: das theoretische Leben, das kontemplative Leben? Die Theorie und ihre extremste Ausprägung – die Philosophie – ist der Versuch, den das Leben macht, sich selber zu transzendieren, sich vom Befaßtsein loszumachen, vom Leben abzusehen, sein Interesse von den Dingen abzuziehen. Jedoch diese Abkehr des Interesses ist nicht passiv; sie ist eine Form des Interesses an den Dingen, indem man die Fäden des lebendigen Umgangs, die mich an sie banden, abschneidet – indem man sie vor dem Eintauchen in mein Leben rettet und das Ding allein, sich selber überlassen, ganz und gar auf sich zurückverweist – indem man in ihm das eigene Selbst des Dings sucht. Sein Interesse abwenden heißt also: sich für das Eigenwesen jedes Dings interessieren, heißt es mit Unabhängigkeit begaben, mit Subsistenz, fast könnte man sagen, mit Persönlichkeit. Es heißt eine Stellung beziehen, in der ich das Ding von sich selber aus anschaue, nicht von mir aus. Kontemplation ist der Versuch, sich in etwas anderes zu versetzen. Dies aber – danach suchen, in welchem Punkt etwas absolut ist, und jedes sonstige Teilinteresse ausschalten, etwas nicht benutzen und nicht wollen, daß es einem zu etwas dient, während ich ihm lediglich als unparteiische Pupille dienen will, damit es sich sehen, sich finden und es selber für sich sein kann – ist das nicht Liebe? Ist also die Kontemplation in ihrer Wurzel ein Akt der Liebe – da wir ja in der Liebe – im Unterschied zum Begehren – vom anderen her zu leben lernen und um seinetwillen dem Leben entsagen? Der alte göttliche Platon, zu dessen Lehre wir nein sagen, atmet fort in unserer Verneinung, erfüllt, inspiriert und durchduftet sie. Hier treffen wir in einer freilich neuen und deutlich unterschiedenen Form auf seine Idee vom erotischen Ursprung der Erkenntnis. Ich habe diesen Punkt in überstürzter Eile berührt, ohne die Ausdrükke, die ich gebraucht habe, im einzelnen zu reinigen und zu analysieren, weil ich Sie in einem knappen und rohen Schema sehen lassen wollte, in welchem Punkt die traditionelle Bedeutung des Seinsbegriffs in dieser neuen Philosophie hinfällig wird, nebenbei auch, um Ihnen anzudeuten, in welcher Richtung unsere Bahn verlaufen wäre, wenn es uns nicht an Zeit gefehlt hätte. Auf die Frage: Was ist Philosophie? hätten wir radikaler geantwortet, als es bisher je geschehen ist. Denn in den vorangehenden Vorlesungen haben wir definiert, was die philosophische Lehrmeinung ist, und sind in ihr so weit vorangegan-
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WAS IST PHILOSOPHIE?
gen, bis wir auf das Leben gestoßen sind – aber erst jetzt sind wir in der Lage, auf unsere Frage wahrhaft zu antworten. Die philosophische Doktrin nämlich – das, was in Büchern steht oder in Büchern stehen könnte – ist nur die Abstraktion der authentischen Realität Philosophie – sie ist nur deren Aufguß oder halbtoter Körper. Wie die konkrete und nicht abstrakte Wirklichkeit der Zigarette ist sie, was der Raucher tun muß, wenn er sie dreht: das Sein der Philosophie ist, was der Philosoph tut. Das Philosophieren ist eine Form des Lebens. Und ebendies hätte ich gern vor Ihnen im einzelnen ergründet. Was ist Philosophieren als Tätigkeit des Lebens? Wir sahen bereits auf unbestimmte Weise, daß es ein Absehen vom Leben, eine Lebensentsagung zugunsten des „Was es gibt“ oder des Universums ist; daß es darin besteht, aus sich die Stätte oder den Hohlraum zu machen, in dem das Universum sich erkennen und wiedererkennen soll. Aber es ist nutzlos, ohne weitläufige Analysen diesen Worten ihren vollen streng verbindlichen und gehaltreichen Sinn geben zu wollen. Es sei genug daran zu erinnern, daß die Griechen, da sie noch keine ausgesprochenen philosophischen Bücher besaßen, angesichts der Frage: „Was ist Philosophie?“ – so wie Platon – an einen Mann dachten, an den Philosophen, an ein Leben. Für sie war Philosophieren allem voran der βιός θεωρητικός. Im Grunde waren die ersten philosophischen Bücher, die es überhaupt gegeben hat – nicht nur dem Inhalt nach, sondern auch hinsichtlich der Form –, die Bücher vorn Leben der Sieben Weisen, also Biographien. Jede Definition der Philosophie, die nicht vom Philosophieren ausgeht und das Philosophieren als einen lebenseigenen Typus auffaßt, ist unzureichend und geht nicht bis an die Wurzel. Doch möchte ich jetzt, ehe ich schließe, die Definition „unseres Lebens“ ein Stück weiter vorantreiben. Wir sahen, daß es ein Sichbefaßtfinden mit diesem oder jenem ist, ein Tun. Jedoch alles Tun ist ein Sichbefassen mit etwas für etwas. Wenn wir im Augenblick mit etwas befaßt sind, so wurzelt dieses Tun in einem Vorsatz und geht aus ihm hervor – kraft eines Für, das man im vulgären Sprachgebrauch als Finalität bezeichnet. Dieses Für, im Hinblick worauf ich im Augenblick etwas Bestimmtes tue und in diesem Tun lebe und bin, habe ich beschlossen zu tun, weil unter den Möglichkeiten, die mir offenstanden, meiner Überzeugung nach diese Beschäftigung für mein Leben die beste zu sein versprach. Jedes einzelne dieser Worte ist eine Kategorie, und so aufgefaßt wäre ihre Analyse unerschöpflich. Es ergibt sich dar-
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aus, daß mein gegenwärtiges Leben, insoweit ich es als Tun lebe, sowie in dem, was ich tue, auf meinen Entschluß zurückgeht. Das heißt, daß mein Leben nicht so sehr bloßes Tun ist als beschlossenes Tun, daß es Lebensbeschluß ist. Unser Leben entscheidet sich selber, nimmt sich voraus. Es ist uns nicht fertig gegeben – wie die Flugbahn der Kugel, auf die ich neulich angespielt habe. Aber es besteht im Sichentscheiden, weil Leben ein Sichfinden in der Welt ist, die nicht hermetisch ist, sondern immer Möglichkeiten anbietet. Die vitale Welt setzt sich für mich in jedem Augenblick aus einem Tun-Können des einen oder anderen zusammen, nicht jedoch aus einem gezwungenermaßen Tun-Müssen dieses einen und nur dieses einen. Andererseits jedoch sind diese Möglichkeiten nicht unbegrenzt – in diesem Falle wären es keine konkreten Möglichkeiten, sondern die reine Unbestimmtheit, und in einer absolut unbestimmten Welt, in der alles gleich möglich ist, kann man sich für nichts entscheiden. Um sich entscheiden zu können, muß es Beschränkung und Freiheit zugleich geben, also eine relative Determiniertheit. Dies fasse ich in den Begriff der „Umständlichkeit“. Das Leben findet sich immer in gewissen Umständen, das heißt, es ist von Personen und Dingen umstanden. Das Leben spielt sich nicht in einer verschwommenen Welt ab, sondern die Lebenswelt ist ihrer Grundverfassung nach Umständlichkeit, sie ist diese Welt, das Hier und Jetzt. Und zwar ist Umständlichkeit etwas Bestimmtes, Geschlossenes, aber zugleich offen und mit Freiheit im Inneren, mit einem Hohlraum oder einer konkaven Höhlung, in der man sich bewegen und sich entscheiden kann. Die Umständlichkeit ist eine Rinne, die sich das Leben in einer unerbittlichen Mulde gräbt. Leben ist hier und jetzt leben – das Hier und Jetzt sind starr, unvertauschbar, aber weit. Jedes Leben entscheidet sich ständig zwischen verschiedenen Möglichkeiten. Astra inclinant, non trahunt – die Sterne inklinieren, aber zwingen nicht. Leben ist gleichzeitig Fatalität und Freiheit; es ist Freiheit innerhalb einer gegebenen Fatalität. Diese Fatalität bietet uns ein determiniertes Repertoire von Möglichkeiten dar, das kein Ausweichen zuläßt; das heißt, es bietet uns verschiedene Schicksale an. Wir nehmen die Fatalität in Kauf und entscheiden uns innerhalb ihrer für ein Schicksal. Leben ist Schicksal. Ich hoffe, daß niemand unter meinen Hörern sich bemüßigt fühlt, mich darauf aufmerksam zu machen, daß die Deterministen die Freiheit leugnen. Wenn einer mir – was ich indessen nicht glaube – dies entgegenhalten würde, müßte ich ihm 505
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antworten, daß es mir um den Determinismus und um ihn selber leid tue. Der Determinismus ist bestenfalls – oder genauer gesagt – war eine Theorie über die Wirklichkeit des Universums. Auch wenn er zuträfe, wäre er doch nicht mehr als eine Theorie, eine Auslegung, eine bewußt problematische These, die bewiesen werden müßte. Eben darum könnte ich, selbst wenn ich Determinist wäre, nicht zulassen, daß diese Theorie rückwirkend auf die primäre und unbezweifelbare Realität, die wir im Augenblick beschreiben, Einfluß nähme. Wie deterministisch der Determinist auch immer sein mag: sein Leben als solches ist doch verhältnismäßig undeterminiert, auch hat er sich in einem bestimmten Augenblick zwischen dem Determinismus und dem Indeterminismus entschieden. Würde man also die Frage in diesem Zusammenhang aufs Tapet bringen, so würde das soviel bedeuten wie, daß man weder genau wüßte, was der Determinismus ist, noch was die Analyse der erstrangigen Realität vor jeder Theorie eigentlich meint. Auch soll man mir nicht entgegenhalten, daß ich, wenn ich sage: das Leben ist gleichzeitig Fatalität und Freiheit, es ist beschränkte Möglichkeit, aber insofern offene Möglichkeit – man soll mir nicht entgegenhalten, daß ich für diese Behauptung die Begründung schuldig bleibe. Nicht nur kann ich sie nicht begründen, sondern ich darf sie gar nicht begründen – ja, ich muß wohlweislich vor jeder Begründung fliehen und mich darauf beschränken, in schlichten Begriffen auszudrücken und einfach zu beschreiben, was ich als ursprüngliche Realität vor mir habe und was die Voraussetzung jeder Theorie, allen Begriindens und allen Beweisens ist. (Beschreibung dieses Theaters.) Um betrüblichen Einwänden solcher Art, die ich Ihnen jedoch nicht unterschieben will – zuvorzukommen, habe ich in meiner ersten Vorlesung eine ganz elementare Feststellung hinsichtlich des Determinismus getroffen. Und heute will ich Ihnen – ganz nebenbei – verraten, daß die deterministische Theorie in ihrer reinen unverblümten Form heute weder in der Philosophie existiert noch in der Physik. Um mich im Vorbeigehen auf etwas zu stützen, möchte ich Sie anhören lassen, was einer der größten Physiker der Gegenwart, der Nachfolger Einsteins, der dessen Theorie erweitert hat, was Hermann Weyl in einem Buch über Logik der Physik sagt: „Aus allem Vorhergehenden wird deutlich sein, wie wenig die heutige halb gesetzliche, halb statistische Physik imstande ist, sich noch zum Verteidiger des Determinismus aufzuwerfen1.“ Einer der Mechanismen geistiger Undurchlässigkeit, 1
Aus: „Philosophie der Mathematik und Naturwissenschaft“ von Prof. Dr. Hermann Weyl in 506
DIE DREI DIMENSIONEN DER ZEIT
auf die ich bereits hindeutete, besteht darin, daß man, wenn einem auf etwas, das man hört, ein sehr elementarer Einwand in den Sinn kommt, nicht daran denkt, daß er auch dem Vortragenden oder dem Verfasser gekommen sein mag, und daß höchstwahrscheinlich wir es sind, die ihn nicht verstanden haben. Wenn wir dies nicht beachten, werden wir unfehlbar unter dem Niveau der Persönlichkeit, der wir zuhören oder deren Buch wir lesen, bleiben. Leben ist also die paradoxe Realität, die im Entscheiden darüber, was wir sein werden, besteht – das heißt, im Sein dessen, was wir noch nicht sind, im Beginnen, um künftig zu sein. Im Gegensatz zum kosmischen Sein fängt das lebende Sein mit dem Hernach, dem Späterhin an. Das wäre unmöglich, wenn die Zeit in ihrem eigentlichen Ursprung kosmische Zeit wäre. Die kosmische Zeit ist lediglich die Gegenwart, weil die Zukunft immer noch nicht und die Vergangenheit nicht mehr ist. Wieso können dann nach wie vor Vergangenheit und Zukunft Teil der Zeit sein? Deshalb ist der Begriff der Zeit derart heikel, daß er die Philosophen in die Klemme gebracht hat. „Unser Leben“ ist im gegenwärtigen Augenblick angesiedelt und verankert. Jedoch: was ist mein Leben in diesem Augenblick? Es besteht nicht im Sagen dessen, was ich augenblicklich sage; was ich im Augenblick lebe, ist nicht, daß ich die Lippen bewege; das geschieht vielmehr rein mechanisch, ist außerhalb meines Lebens, gehört dem kosmischen Sein an. Es besteht im Gegenteil darin, daß ich darüber nachdenke, was ich sagen will; in diesem Augenblick bin ich damit befaßt, mich vorwegzunehmen, entwerfe ich mich in ein Künftiges. Jedoch – um es zu sagen, muß ich mich gewisser Mittel bedienen – muß Worte gebrauchen – und zwar werden diese mir von meiner Vergangenheit geliefert. Meine Zukunft läßt mich also zu ihrer Verwirklichung meine Vergangenheit entdecken. Die Vergangenheit ist jetzt real, weil ich sie wiederlebe, und wenn ich in meiner Vergangenheit die Mittel zur Verwirklichung meiner Zukunft antreffe, so entdecke ich meine Gegenwart. Und zwar geschieht all dies in einem einzigen Augenblick; in jedem Augenblick erstreckt sich mein Leben in die drei Dimensionen der realen inneren Zeit. Die Zukunft wirft mich zurück in die Vergan-
Handbuch der Philosophie, Abteilung II 1927, S. 158. 507
WAS IST PHILOSOPHIE?
genheit, diese in die Gegenwart; von hier aus gehe ich abermals in die Zukunft, die mich der Vergangenheit zuschleudert, diese wieder einer anderen Gegenwart, in einem ewigen Kreislauf. Wir sind verankert in der kosmischen Gegenwart, die gleichsam der Boden ist, den unsere Füße treten, während Körper und Kopf sich der Zukunft entgegenstrecken. Recht hatte der Kardinal Cusanus, als er dazumal in der Morgenfrühe der Renaissance sagte: „Ita nunc sive praesens complicat tempus.“ Das Gegenwärtige oder die Gegenwart schließt jede Zeit in sich: Jetzt, Vorher und Nachher. Wir leben in der Gegenwart, im gegenwärtigen Zeitpunkt, aber in primärer Form existiert er nicht für uns, sondern von ihm aus leben wir wie von einem festen Stand aus das unmittelbar Künftige. Beachten Sie, daß von allen Punkten der Erde der einzige, den wir nicht unmittelbar wahrnehmen können, jener ist, den wir jeweils gerade unter den Füßen haben. Bevor wir erblicken, was uns umgibt, sind wir bereits ein urständiges Bündel von Gelüsten, Trieben und Illusionen. Wir kommen zur Welt, von vornherein begabt mit einem System von Vorlieben und Abneigungen, die mit denen unseres Nächsten mehr oder weniger sich dekken, und die jeder in sich trägt, gerüstet und schußfertig, um in jeder Sache unser Pro oder Contra wie eine Batterie von Sympathien und Antipathien loszufeuern. Das Herz, diese rastlose Zuneigungs- und Abneigungsmaschine, ist der Grundpfeiler unserer Persönlichkeit. Man behaupte deshalb nicht, das erste sei die Impression. Nichts ist so wichtig, um die Auffassung von Menschen zu erneuern, wie die Berichtigung der herkömmlichen Perspektive, derzufolge wir deshalb nach etwas verlangen, weil wir es zuvor gesehen haben. Das erscheint zwar evident, ist jedoch gleichwohl zum großen Teil ein Irrtum. Wer nach materiellem Reichtum verlangt, hat mit seinem Verlangen nicht erst warten müssen, bis er Gold sah; vielmehr sucht er es von vornherein, wo immer es zu finden ist, und achtet auf die Profitseite, die jede Situation an sich hat. Dagegen wird das künstlerische Temperament, der vorwiegend ästhetisch interessierte Mensch, durch dieselben Situationen hindurchgehen, ohne für ihre ökonomische Seite Augen zu haben; vielmehr wird er seine Aufmerksamkeit darauf richten oder – besser gesagt – er wird vorwegnehmend suchen, was an Schönheit und Anmut in ihnen enthalten sein mag. Man muß also die überlieferte Anschauung umdrehen. Wir verlangen nicht nach einer Sache, weil
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SEHEN IST ANSEHEN, HÖREN ANHÖREN
wir sie zuvor gesehen haben, sondern umgekehrt: weil wir schon vorher im tiefsten diese Art von Dingen vorgezogen haben, gehen wir mit unseren Sinnen in der Welt nach ihnen auf die Suche. Von den Geräuschen, die uns in jedem Augenblick zufliegen, und die wir praktisch hören können, hören wir tatsächlich nur diejenigen, auf die wir achten; das heißt jene, die wir mit der Unterstreichung unserer Aufmerksamkeit beehren; und da man nicht auf etwas achten kann, ohne auf andere Dinge nicht zu achten, überhören wir beim Lauschen auf einen Ton energisch alle sonstigen Töne. Jedes Sehen ist ein Ansehen, jedes Hören ist im Grunde ein Anhören, alles Leben ist ein unaufhörliches ursprüngliches Vorziehen und Verwerfen. Nirgends zeigt sich das wohl deutlicher als auf dem spannungsvollen Gebiet unserer Liebesbeziehungen. Im Schlummergrund der weiblichen Seele ist die Frau, wenn es eine Frau im echten und vollen Sinne ist, stets die schlafende Schöne im Lebenswald, die geweckt sein will. Im Grund ihrer Seele birgt sie, ohne darum zu wissen, vorgebildet die Gestalt eines Mannes; es ist dies nicht das individuelle Bild eines Mannes, sondern ein gattungsmäßiger Typus männlicher Vollkommenheit. Und in stetem Schlafzustand, schlafwandlerisch bewegt sie sich unter den Männern, denen sie begegnet, indem sie deren physische und geistig-seelische Gestalt neben jenes präexistente und bevorzugte Muster hält. Hieraus erklären sich zwei Tatsachen, die in jeder echten Liebe auftreten. Die eine ist die Plötzlichkeit des Sichverliebens; die Frau – aber dasselbe ließe sich auch vom Manne sagen – fühlt sich in einem einzigen Augenblick übergangslos und unvermittelt vom Blitz der Liebe getroffen. Das wäre unerklärlich, wenn nicht der zufälligen Begegnung mit diesem Manne voraus eine geheime und stillschweigende Hingabe ihres Wesens an jenes Musterbild, das sie von jeher im Innern getragen hat, erfolgt wäre. Die andere Tatsache ist darin zu sehen, daß die Frau, wenn ihre Liebe tief ist, nicht nur das Gefühl hat, daß ihre Inbrunst in Richtung auf die Zukunft immerwährend sein wird, sondern daß es ihr auch so vorkommt, als hätte dieser Mann sie von jeher geliebt, aus der geheimnisvollen Tiefe der Vergangenheit herauf, in irgendwelchen Zeiträumen früherer Erdenleben. Diese ewige und gleichsam eingeborene Anhänglichkeit bezieht sich natürlich nicht auf den bestimmten Einzelmenschen, mit dem sie im Augenblick zu tun hat, sondern richtet sich auf jenes innerliche Mu-
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ster, das wie eine Verheißung am Grunde ihrer verschwiegenen Seele lebte und das jetzt, in diesem realen Geschöpf, Verwirklichung und Erfüllung gefunden hat. In diesem äußersten Maße und bis zu diesem Punkt ist das menschliche Leben beständige Vorwegnahme und Vorausgestaltung der Zukunft. Immer haben wir für jene Dinge, in denen sich die Eigenschaften unserer Vorzugsneigung realisieren, sehr scharfe Augen; dagegen sind wir in unserer Wahrnehmung blind für alle übrigen, auch wenn es sich um höhere oder gleich große Vollkommenheiten handelt, sofern sie in Dingen ihren Grund haben, die unserer Fühlweise der Art nach fremd sind. An erster Stelle steht die Zukunft; unaufhörlich pressen wir sie mit unserer Lebensgier, auf das sie uns in der Hand ihre gedeihliche Labe quellen lasse, und nur im Hinblick darauf, was wir von ihr verlangen und im Hinblick darauf, was wir von ihr erhoffen, kehren wir unsere Augen der Gegenwart zu wie auch der Vergangenheit, um in ihnen die Mittel zur Stillung unseres Lebensdrangs zu finden. Die Zukunft ist immer der Hauptmann, der Dux, der Herzog; Praesens und Praeteritum sind immer Soldaten und Adjutanten. Wir leben in unsere Zukunft hinein, gestützt auf die Gegenwart, zur Seite die Vergangenheit, die immergetreue, die ein bißchen traurig, ein bißchen entkräftet Schritt für Schritt neben uns hergeht, wie der Mond, der uns auf nächtlicher Wanderung begleitet und sein blasses Freundesantlitz an unsere Schulter lehnt. Entscheidend ist also in der richtigen psychologischen Reihenfolge nicht die Summe dessen, was wir gewesen sind, sondern was wir zu sein trachten: das Streben, der Drang, die Illusion, die Sehnsucht. Unser Leben ist, wie immer wir dazu stehen mögen, seiner Grundbeschaffenheit nach Futurismus. Der Mensch wird von seinen Illusionen an der Nase geführt: ein Bild, das in seiner anschaulichen Drastik gerechtfertigt ist, weil tatsächlich die Nasenspitze gewöhnlich die Vorhut bildet, der vorgeschobenste Punkt unserer räumlichen Ausdehnung ist, kurzum: unser naseweises Vorwegnehmen und Vorprellen. Die Entscheidungsfähigkeit zwischen diesem und jenem gehört jenem Teil unseres Lebens an, der freiheitlichen Charakter hat. Beständig stehen wir in der Entscheidung unseres künftigen Seins, um es verwirklichen zu können, müssen wir auf die Vergangenheit rechnen und die Gegenwart benutzen, indem wir auf den Augenblick einwirken, und dies alles findet in der Gegenwärtigkeit statt, weil nämlich dieses
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„IN KETTEN TANZEN“
Künftige nicht irgendein Künftiges, sondern das mögliche „Gegenwärtige“ ist, und weil dieses Vergangene das bis heute Vergangene ist, nicht aber das eines Menschen, der vor hundert Jahren gelebt hat. Sehen Sie jetzt? Das „Heute“ ist unsere Zeit, unsere Welt, unser Leben. Und dieses unser Leben strömt beruhigt oder aufgewühlt, als ebener Fluß oder als Wassersturz durch die Landschaft der Gegenwärtigkeit, dieser einzigen Gegenwärtigkeit dieser Welt und dieser Zeit, die wir mit einem abstrakten Etikett das Jahr 1929 nach Christi Geburt nennen. Uns, die wir eingefügt sind in sie, weist sie ein Repertoire von Möglichkeiten und Unmöglichkeiten, von Bedingungen und Gefahren, Gelegenheiten und Mitteln. Sie beschränkt mit ihrem eindeutigen Gepräge die Entscheidungsfreiheit, die unser Leben bewegt, und ist im Angesicht unserer Freiheit der Druck der Welt, ist unser Schicksal. Es war also keine Phrase, als ich sagte, unsere Zeit sei unser Schicksal. Die Gegenwart, in der sich die Vergangenheit zusammenzieht und verdichtet, – die individuelle und die geschichtliche Vergangenheit – ist also der Anteil an Fatalität, der in unser Leben hereinspielt, und so betrachtet hat dieses immer eine fatale Dimension, und deshalb ist man ihm in die Falle gegangen. Nur daß uns diese Falle nicht erwürgt, sondern dem Leben einen Spielraum freier Entscheidung läßt und immer erlaubt, daß wir der uns auferlegten Situation, dem Schicksal, eine elegante Lösung geben und uns ein erfreuliches Leben schmieden. Darum, weil Leben auf der einen Seite in Fatalität, auf der anderen Seite jedoch aus soviel Freiheit besteht, wie nötig ist, daß wir uns ihm gegenüber entscheiden können: darum bietet es uns in seiner eigentlichen Wurzel Stoff für eine Kunst, und ich wüßte dafür kein treffenderes Sinnbild als die Lage des Dichters, der auf die Fatalität von Reim und Rhythmus die elastische Freiheit seiner lyrischen Aussage gründet. Mit jeder Kunst ist die Übernahme einer Fessel, eines Schicksals gesetzt, und es heißt bei Nietzsche: der Künstler sei der Mensch, „der in Ketten tanzt“. Die Fatalität, der wir in der Gegenwart begegnen, ist kein Unglück, sondern eine Wonne; es ist die Wonne, die der Meißel fühlt, wenn er auf den Widerstand des Marmors trifft. Stellen Sie sich für einen Augenblick vor, daß jeder von uns sich nur ein wenig mehr jeder einzelnen Stunde am Tag annähme, daß er ein wenig mehr Gebewilligkeit und Intensität von ihr verlangte: wenn Sie dann alle diese minimalen Errungenschaften und Verdichtungen der einzelnen Leben miteinander multiplizieren, können Sie sich ausrech-
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nen, zu welcher ungeheuren Bereicherung und welcher ungeahnten Veredelung das menschliche Zusammenleben aufsteigen könnte. Das hieße wahrhaft in bester Form leben; anstatt daß die Stunden wie schwanke und gestrandete Schiffe vorbeistrichen, würde jede mit ihrer neuen Zukunftsgewärtigung an uns vorbeiziehen. Man wende auch nicht ein, daß uns die Fatalität nicht zur Aufbesserung unseres Lebens kommen lasse, weil das Schöne am Leben gerade darin liegt, daß es nicht von günstigem oder widrigem Geschick abhängt – da es immer Schicksal ist – sondern darin, daß wir ihm mit hochgemutetem Sinn entgegentreten und aus seinem fatalen Stoff eine edle Figur bilden. Jedoch, wir müssen in einer deutlichen Formel zusammenfassen, was die Analyse der radikalen Grundbeschaffenheit unseres Lebens uns gelehrt hat. Diese Wahrnehmungen von Grundtatsachen entziehen sich leicht dem Verständnis gleich scheuen Vögeln – und es ist angebracht, sie in einen Käfig zu sperren, in einen ausdrucksvollen Namen, der uns hinter seinem Drahtgitter jederzeit die eingefangene Idee hüpfen sehen läßt. Wir haben festgestellt, daß Leben in der Entscheidung darüber, was wir sein werden, besteht. Sehr feinsinnig sagt Heidegger, insofern sei unser Leben „Sorge“. Bei den Lateinern hieß Sorge „Cura“, wovon Prokura, kurieren, Kuriosität usw. herstammen. Im Altspanischen hatte das Wort „cuidar“ genau diese Bedeutung, die uns in Zusammenhängen wie „Seelsorger“ Kurator, Prokurator geläufig ist. Jedoch – ich möchte einen zwar ähnlichen, wenn auch nicht gleichen Gedanken in ein Wort fassen, das mir noch richtiger erscheint, und zwar sage ich: Leben ist Bekümmertsein, und zwar ist es das nicht nur in schwierigen Lagen, sondern immer und überhaupt, und im Grunde ist es nichts sonst: Sichbekümmern. Jeden Augenblick müssen wir entscheiden, was wir im nächsten tun sollen, was unser Leben ausfüllen soll. Dieses Sich-im-voraus-Kümmern, was in unserem Leben einen Platz einnehmen soll, womit es besetzt oder wovon es okkupiert sein soll, ist Prä-okkupiert-Sein. Aber vielleicht opponiert mir jetzt ein Widerspenstiger, ein gewitzter Kopf insgeheim mit den Worten: „Mein lieber Herr, das ist ein Wortspiel. Ich gebe zu, daß das Leben darin besteht, daß wir jeden Augenblick entscheiden, was wir tun werden, aber das Wort ,Präokkupiert‘ – oder ,Bekümmertsein‘ hat in der gewöhnlichen Sprache eine Bedeutung, die einen beängstigten Gemütszustand, einen schwierigen
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IST LEBEN WIRKLICH SICHBEKÜMMERN?
Moment anzeigt; um etwas bekümmert sein heißt sich ernstlich Gedanken darum machen. Nun haben wir aber beschlossen, hierherzukommen und dieses Stück Zeit auf diese Weise zu verbringen, und Sie brauchen sich nicht einzubilden, daß wir uns groß Gedanken darum gemacht haben. So fließt der größere Teil des Lebens, und zwar auch Ihres Lebens, unbekümmert dahin. Wozu also ein so gewichtiges Wort, ein so pathetisches Wort, wenn es mit dem, was es benennt, nicht zusammenstimmt? Wir stehen gottlob nicht mehr unter der Herrschaft der Romantik, die sich von Übertreibungen und Fehlbezeichnungen nährte. Wir verlangen, daß sauber, eindeutig und klar gesprochen wird, in präzisen Ausdrücken, die desinfiziert sein müssen, so wie die Instrumente des Chirurgen.“ Andersherum gefragt, weiß ich nicht, wie ich zu der Annahme komme, jemand unter Ihnen könnte mir diesen Einwand machen. Es ist dies aber ein Einwand, der nicht ausbleiben kann, und als ein geborener Intellektueller – etwas anderes will ich nicht sein, und ich bin es bis zur Raserei – kann mir nichts Lieberes begegnen als Einwände, die kommen müssen; denn als Intellektueller bin ich zu nichts anderem auf diese Erde gekommen als um Einwände zu machen und Einwände entgegenzunehmen. So nehme ich sie denn auch mit Freuden hin, und zwar nehme ich sie nicht nur hin, sondern beachte sie, und zwar beachte ich sie nicht nur, sondern rufe sie hervor. Stets tragen sie mir köstlichen Gewinn ein. Wenn es uns glückt, sie aus dem Felde zu schlagen, verschaffen sie uns die Lust des Triumphs und berechtigen uns zu der Geste des Bogenschützen, der seinen Pfeil im Schwarzen gelandet hat; wenn uns hingegen der Einwand besiegt und sogar überzeugt: was kann uns Besseres widerfahren? Es ist das Lustgefühl des Genesenden, das Erwachen aus einem Alptraum, wir sind zu einer neuen Wahrheit geboren worden und die Pupille erstrahlt im Widerschein des neugeborenen Lichts. Deshalb nehme ich den Einwand an: Sauberkeit, Klarheit, Eindeutigkeit sind Gottheiten, denen auch ich mich in Furcht und Zittern beuge. Aber natürlich – da man mich angegriffen hat, wenn auch nur eingebildetermaßen, muß ich mich mit wirksamen Waffen verteidigen, und wenn ich auch ganz sicher bin, daß es saubere Waffen sind, bin ich nicht so sicher, ob sie nicht etwas zu rauh zupacken werden. Verbleiben wir bei der Annahme, daß einige von Ihnen hierhergekommen sind, ohne sich sonderlich darum zu kümmern, was sie taten,
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ohne sich Gedanken darum zu machen. Nichts kommt häufiger vor, und wenn uns nicht gewisse Psychologenbedenken daran hinderten, dem Anschein zu trauen, müßten wir glauben, daß die natürliche Form des Lebens die Unbekümmertheit sei. Wenn dem aber so ist, wenn Sie ohne einen eigentlichen und besonderen Grund hierhergekommen sind, wozu sind Sie dann hergekommen? Es gibt nur eine Antwort: weil andere hergekommen sind. Darin besteht das ganze Geheimnis der Unbekümmertheit. Wenn wir meinen, wir bekümmerten uns nicht um unser Leben, lassen wir uns von Augenblick zu Augenblick in ihm treiben, wie eine Boje ohne Haltetaue, die von den gesellschaftlichen Strömungen bald hierhin, bald dorthin gestoßen wird. Und genau das ist es, was der durchschnittliche Mann und die mittelmäßige Frau tun, daß heißt, die überwältigende Mehrheit menschlicher Lebewesen. Für sie heißt Leben soviel wie sich an die Einstimmigkeit der Vielzahl hingeben, den Gewohnheiten, den Vorurteilen, dem Üblichen, den Gemeinplätzen den Raum ihres Inneren überlassen, sie statt ihrer leben lassen und ihnen die Aufgabe, das Leben für sie zu besorgen, zuschieben. Es sind die schwachen Gemüter, die, sobald sie die zugleich schmerzliche und beglückende Last ihres eigenen Lebens zu spüren bekommen, sich übermannt fühlen und deshalb um nichts anderes bekümmert sind als die Last, die sie sich selber bedeuten, von ihren Schultern zu nehmen und auf die Kollektivität abzuwälzen; das heißt, sie sind um ihre Unbekümmertheit bekümmert. Unter der anscheinenden Indifferenz der Unbekümmertheit lauert stets die heimliche Angst davor, auf sich selber gestellt, aus dem Grund der eigenen Person heraus die Taten, die Handlungen, die Gefühlsentschlüsse leisten zu müssen; und daher das unterwürfige Bestreben, wie die anderen zu sein, auf die Verantwortung vor dem eigenen Schicksal zu verzichten, indem man es in der Menge aufgehen läßt; es ist das ewige Wunschziel der Schwachen: tun, was alle Welt tut, ist seine Art sich zu bekümmern. Und wenn wir nach einem Bild suchen, das dem Bild des Horus-Auges nahe verwandt ist, rufen wir uns am besten den Ritus ins Gedächtnis, den die Ägypter bei ihren Bestattungszeremonien befolgten, da sie glaubten, daß die Person jenseits des Grabes einem Gerichtstribunal unterworfen werde. Vor diesem Gericht wurde über das Leben des Verstorbenen geurteilt, und der erste und höchste Akt der Gerichtsbarkeit bestand darin, daß man sein Herz auf die Waage legte. Um
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STOFF FÜR EIN VOLLKOMMENES LEBEN
diesem Wiegeverfahren zu entgehen, um diese Lebens- und Jenseitsmächte zu betrügen, war der Ägypter darauf bedacht, daß die Totengräber sein Herz aus Fleisch und Blut durch einen Skarabäus aus Bronze oder ein Herz aus schwarzem Stein ersetzten; sie wollten ihr Leben ersetzen. Und genau dies beabsichtigt der Unbekümmerte zu tun: sich selber zu ersetzen. Darum ist er bekümmert, doch läßt sich auf keine Art und Weise der Grundbedingung des Daseins entkommen; und da das Leben die Wirklichkeit ist, fährt man am besten und tut am klügsten daran, wenn man sie ironisch unterstreicht, indem man der eleganten Geste huldigt, mit der in Shakespeares verzaubertem Wald die Fee Titania den Kopf des Esels streichelt. Die japanischen Priester verwünschen das Irdische; sie folgen damit dem Hang aller Priester; und um die beunruhigende Flüchtigkeit unserer Welt zu schmähen, geben sie ihr den Namen „Welt aus Tau“. Bei einem Dichter, Isa, tritt ein ehrenwerter Kai-Kai auf, an den ich mich halte, und zwar spricht er die Worte: „Eine Welt aus Tau ist nicht mehr als eine Welt aus Tau. Und trotzdem . . .!“ Nehmen wir sie in uns auf, diese Welt aus Tau, als Stoff für ein vollkommeneres Leben!
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