War sie deine große Liebe?
Anne Mather
Julia 1463 17- 2/01
Gescannt von suzi_kay
Korrigiert von vampyrL
1. KAP...
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War sie deine große Liebe?
Anne Mather
Julia 1463 17- 2/01
Gescannt von suzi_kay
Korrigiert von vampyrL
1. KAPITEL
Die Straße wurde breiter auf dem Hügelkamm, als wollte sie die Besucher von Port Edward dazu auffordern, ihre Autos zu verlassen und die Aussicht zu genießen, bevor es weiterging, die engen, steilen Sträßchen hinunter, die sich schließlich zwischen den getünchten Cottages des Dorfes hindurchzogen. Caryn stieß die Wagentür auf und stieg aus, weil auch sie das Dorf sehen wollte, so sagte sie sich, und nicht, weil der kurze Aufenthalt ihr eine willkommene Verzögerung verschaffte und das Ende ihrer Reise noch ein wenig hinausschob. Unter ihr schienen die vom Sonnenlicht gesprenkelten Dächer Port Edwards viel zu dicht miteinander verwoben, um den Verkehr durchzulassen, und jenseits, in der Mündung des Levant, wurde das Watt sichtbar, denn es war Ebbe. An ihrer Muring verankerte Fischerboote und Ausflugsdampfer waren wie zahlreiche nach Luft schnappende Tümmler auf Strand gesetzt. Und Kinder, die im seichten Wasser Strandgut gesammelt hatten, standen jetzt auf dem Trockenen. Die Straße zum Dorf führte nach Port Edward und sonst nirgendwohin, und Caryn blickte sich nachdenklich um. Auch in der Adresse hieß es „Port Edward", aber sie erinnerte sich, dass Loren ihr einmal gesagt hatte, das Haus stehe gegenüber einer kleinen Bucht, in der Tristan ROSS den Liegeplatz für sein Boot habe. Hätte sie diesen flüchtigen Erwähnungen von Druid's Fleet doch nur mehr Beachtung geschenkt. Aber damals hatte sie ja auch nicht damit gerechnet, jemals hierher zu kommen. Und erinnerte sie sich nicht auch noch an Bäume? Ein Haus, das inmitten von Bäumen stand ... Die Klippen, von denen aus man den Blick auf die Mündung hatte, waren nicht sehr dicht bewaldet, weiter stromaufwärts jedoch konnte Caryn Kiefern- und Fichtenwälder ausmachen, die sich wehrhaft an den Hang schmiegten. Offensichtlich war sie zu weit an das Dorf herangekommen. Sie musste wenden und zurückfahren bis zu der Stelle, wo die Straße von Carmarthen sich über dem Fluss gabelte. Das war leichter gesagt als getan, doch zu dieser abendlichen Stunde war die Straße so gut wie verlassen, und schließlich ge lang es ihr, den Weg zurückzufahren, den sie gekommen war. Sie fühlte sich müde, und beinahe wünschte sie, sie hätte den Zug genommen. Aber es wäre ungünstig gewesen, einen Taxifahrer zu bitten, sie zum Haus zu bringen und auf sie zu warten, während sie mit Tristan ROSS sprach. Vor allem da immer die Möglichkeit bestand, dass er nicht zu Hause war. Aber Loren hatte gesagt ... Außerdem, wenn sie ehrlich war, musste sie zugeben, dass ihre Müdigkeit mehr mit ihrem seelischen als körperlichen Zustand zu tun hatte. Und solange ihr dieses Gespräch mit Tristan ROSS bevorstand, würde sich daran wohl auch nicht viel ändern. Sie seufzte. Mache ich einen Fehler? fragte sie sich zum x-ten Mal. Soll ich die Sache durchziehen? Kann ich sie durchziehen? Und dann sah sie plötzlich Lorens Gesicht vor sich, so wie sie es zuletzt gesehen hatte, mit hervortretenden Wangenknochen, bis aufs Skelett abgemagert, die Augen tief in den Höhlen und der Blick gehetzt. Im Tod hatten sich ihre Züge entspannt, aber sie würde niemals ihren Schmerz und ihre Verzweiflung vergessen. Niemals. Sie erreichte die Abzweigung, die über eine schmale Hängebrücke und eine stillgelegte Eisenbahnlinie führte, fuhr schnell darüber und blickte dabei kurz auf ihre Armbanduhr. Es war nach sechs. Sie hatte länger gebraucht als erwartet, und wenn Tristan ROSS über ihre späte Ankunft ungehalten wäre, könnte sie auch nichts daran ändern. Vielleicht hätte sie doch ins Dorf fahren und nach dem Weg fragen sollen. Aber sie lenkte ungern die Aufmerksamkeit auf sich, vor allem unter diesen Umständen, und sicher war sie jetzt auf der richtigen Spur. Das Dorf kam wieder in Sicht, diesmal auf der anderen Seite des Flusses, und Caryn fuhr langsamer und hielt Ausschau nach einem Schild, das Hinweis auf einen Wohnsitz
geben könnte. Sie erblickte ein Schild mit der Aufschrift „Water's Reach" und schnitt ein Gesicht. Warum konnte das nicht „Druid's Fleet" heißen? Wie weit musste sie denn noch fahren? Sie erreichte eine Stelle, genau gegenüber jener, nur etwas tiefer gelegen, die sie auf dem anderen Ufer erreicht hatte, trat auf die Bremse und biss sich wütend auf die Lippe. Sie kam nicht weiter, und die Zeit verging. Wo, zum Teufel, war das Haus? Sie konnte es nicht verpasst haben. Und weit und breit war keins zu sehen. Wieder wendete sie, fuhr den Weg zurück, den sie gekommen war, und hielt an. Unter ihr, in der Mündung, setzte die Flut ein, und sanfte Wellen ließen die kleineren Boote sich an ihren Tauen bewegen. Die Sonne ging unter, und eine kühle Brise wehte durch das offene Autofenster herein. Bald wird es dunkel sein, dachte sie verärgert, und ich sitze da und beobachte die Flut, als hätte ich alle Zeit der Welt. Sie legte den ersten Gang ein, fuhr los und hielt wenig später, als wäre es unvermeidlich, vor den Steinpfosten, die das Schild mit der Aufschrift „Water's Reach" trugen. Es half alles nichts, sie musste sich nach dem Weg erkundigen. Sicher würde wer auch immer Water's Reach sein Eigen nannte, wissen, wo sie Druid's Fleet finden konnte. Jenseits der Torpfosten fiel die Zufahrt zwischen Kiefern steil ab. Caryn stieg aus, schloss den Wagen ab und ging, die Handtasche über der Schulter, den abschüssigen Hang hinunter. Sie konnte das Dach eines Hauses durch Baumäste hindurch erspähen, und als sie näher kam, sah sie ein Gebäude im Ranchstil mit versetzten Geschossen, dessen Mauerwerk sich sanft in seinen Hintergrund aus Tannen und Fichten fügte. Sie stand unter dem schützenden Vordach und läutete. Während sie wartete, trat sie vom Eingang zurück und bewunderte die Aussicht auf den Horizont, wo die Strahlen der untergehenden Sonne die Segel einer Yacht in ein orangerotes Flammenmeer tauchten. Nur der Wind, der durch die feinen Fasern ihres blauen Wollkostüms strich, war jetzt etwas kühl. Die Tür war geöffnet worden, ohne dass sie es bemerkt hatte. Sie drehte sich um und blickte in kalte graue Augen unter finster hochgezogenen Brauen. Perfekt gesträhntes blondes Haar war zu einem lockeren Chignon hochgesteckt, und die Spuren auf der marineblauen Kittelschürze verrieten, dass die Frau beim Backen unterbrochen worden war. „Oh, entschuldigen Sie bitte." Caryn überspielte ihre Nervosität mit einem Lächeln. „Aber vielleicht könnten Sie mir helfen." Die Frau, Caryn schätzte sie auf etwa dreißig, sagte nichts, sah sie nur weiter forschend an, und sie fuhr fort: „Ich suche ein Haus mit dem Namen ,Druid's Fleet". Wissen Sie ..." „Wer ist es, Marcia?" Die ungeduldige männliche Stimme von irgendwo im Innern des Hauses war ihr vage vertraut, und die Frau wandte sich unwillkürlich in die Richtung, aus der der Klang gekommen war. Caryn, die schon fürchtete, dass man ihr die Tür vor der Nase zuschlagen würde, rief: „Es tut mir Leid, wenn ich störe, aber ..." Sie verstummte unvermittelt, als plötzlich ein Mann hinter der Frau auftauchte. Sekundenlang konnte sie ihn nur starr ansehen, so geschockt war sie, aber vielleicht wusste er ja aus Erfahrung, welche Wirkung sein Äußeres auf Frauen hatte. Und warum auch nicht? Diese strengen, markanten, sardonischen Züge, die ihm ein leicht verhärmtes Aussehen gaben, vermochten anscheinend jeden Betrachter zu faszinieren, und Loren hatte ihr erzählt, dass er mehr Post bekam als jeder andere Interviewer auf seinem Gebiet. Er war größer, als sie gedacht hatte, sein schlanker Körper hatte kaum Anzeichen des ausschweifenden Lebens, das er führte, und dafür, dass er mindestens schon vierzig war, hatte sein strohblondes Haar nur wenig Grau. Natürlich war er tief gebräunt von seinem letzten Auftrag in Ostafrika. Sein Haar war zweifellos von der Sonne gebleicht, und in dem dunklen Geschäftsanzug sah er keinen Tag älter als fünfunddreißig aus.
Nachdem sie sich wieder gefasst hatte, bemerkte Caryn, dass beide, er und die Frau, sie ansahen, und errötend sagte sie mit leicht zittriger Stimme: „Mr. Ross?" „Ja?" Er klang jetzt ungeduldig, und das nahm sie ihm übel. Schließlich hatte sie nicht erwartet, ihn hier zu finden. Und im Übrigen, was machte er hier überhaupt? „Ich ... ich habe Ihr Haus gesucht, Mr. Ross", sagte sie vorsichtig, denn sie wollte nicht zu viel sagen im Beisein der Frau, und mit einem Mal änderte sich sein Ausdruck. „He!" rief er aus, und seine Ungeduld war so schlagartig verschwunden, wie sie gekommen war. „Dann sind Sie von der Agentur, richtig? Meine Güte! Ich hätte niemals gedacht, dass sie mir so schnell jemand schicken Würden." Er sah auf die Uhr. „Verdammt, ich muss in einer halben Stunde im Studio sein. Können Sie so lange warten, bis ich zurück bin?" Caryn wollte schon sagen, dass sie von keiner Agentur geschickt sei, überlegte es sich jedoch anders. Sollte er es doch glauben, wenn es ihrem Zweck diente. Später, in einem privaten Gespräch, könnte sie ihm ihr Täuschungsmanöver dann in aller Ruhe erklären. „Druid's Fleet?" fragte sie, um eine direkte Antwort zu vermeiden, und er schüttelte den Kopf. „Dies hier ist Druid's Fleet", erklärte er entschuldigend. „Ich nehme an, Sie haben das alte Schild auf dem Torpfosten gesehen. Ich lasse es dort, um unwillkommene Touristen abzuwimmeln. Für einen solchen hatten wir Sie gehalten." „Ach so!" Caryn war überrascht, und die Frau, Marcia, warf ROSS einen merkwürdigen Blick zu. Dann bat Tristan ROSS sie herein, und Caryn betrat das Haus. Sie befand sich in einer weiträumigen, offenen Halle, von der aus Treppen sowohl nach oben als auch nach unten führten. Fellteppiche auf dem gebohnerten Holzfußboden schufen die behagliche Atmosphäre früherer Zeiten. Auf einer antiken Truhe stand eine Vase mit gelben Rosen, und dazu passende Seidenvorhänge bauschten sich im Wind in dem Türbogen, der zum Esszimmer führte. Während Caryn Tristan ROSS die Stufen hinunter zum Hauptteil des Hauses folgte, bemerkte sie, dass Marcia ihr nachkam, und fragte sich, in welcher Beziehung sie zum Hausherrn stehen mochte. Seine Freundin vielleicht oder seine Geliebte, überlegte sie. Anscheinend hatte er gern eine Frau in diesem Haus. Das hatte Loren schon festgestellt. Er führte sie in ein prachtvolles Wohnzimmer mit hohen Fens tern, die den Blick auf die Mündung boten. Eine gepolsterte Fensterbank lud zum Verweilen ein, wie auch zwei samtbezogene, weiche Sofas, die zu beiden Seiten des offenen Kamins standen und farblich mit den aprikosenfarbenen, bodenlangen Samtvorhängen harmonierten. Ein kaffeebrauner Teppich lag in jeder Ecke, und Tische waren zwanglos im Raum verteilt. ROSS blieb mitten im Zimmer stehen, drehte sich um und sah sie an. „Haben Sie schon gegessen?" Caryn schüttelte den Kopf, fügte jedoch rasch hinzu, dass sie nicht besonders hungrig sei. „Unsinn", sagte er. „Marcia wird Ihnen etwas herrichten, das Ihnen zusagt, und ich bin in zwei Stunden zurück. Tut mir Leid, aber ich hatte der Agentur Bescheid gesagt..." „Ist schon in Ordnung, wirklich." Caryn wollte jetzt nicht in eine Diskussion über die Agentur verwickelt werden. „Es ... es macht mir nichts aus zu warten." „Na gut." Er sah zu Marcia hinüber, die an der Tür stand. „Kann ich es Ihnen überlassen, sich um Miss ..-. Miss ..." Er schüttelte den Kopf. „Sie haben mir leider Ihren Namen noch nicht gesagt." Caryn dachte kurz nach. „Mellor", antwortete sie dann. „ Susan Mellor." Ihr war, als hätte er einen Moment die Augen zusammengekniffen, dann durchquerte er rasch den Raum und ging an ihr vorbei zur Tür. „Kümmern Sie sich bitte um Miss
Mellor, Marcia", hörte sie ihn leise sagen, dann hörte sie ihn die Stufen zur Haustür hinaufgehen. Sekunden später wurde sie geschlossen, und Caryn war allein mit ihrer unfreiwilligen Gastgeberin. Mit einem entschuldigenden Lächeln sah sie Marcia an. „Sie müssen sich meinetwegen wirklich keine Mühe machen. Ich ... nun, ich bin tatsächlich nicht hungrig." Marcia betrachtete sie schweigend, es war entnervend. Was stimmt nicht mit dieser Frau? dachte Caryn ungeduldig. Warum sagt sie nichts? „Wohnen Sie schon lange hier?" fragte sie, und als sie merkte, wie scharf das klang, fügte sie hinzu: „Ich meine - es ist hier ein wunderschöner Ort zum Leben, nicht wahr? Ich liebe Wales. Als Kind bin ich sehr oft hierher gekommen. Wir haben immer auf der Halbinsel Gower gezeltet..." Marcia neigte den Kopf, wie als Antwort auf Caryns Worte, drehte sich um und ging davon, quer durch die untere Halle, zwei Stufen hinab und durch eine weitere Tür. Die wohin führte? In die Küche wahrscheinlich. Was war sie doch für ein schweigsames Geschöpf! Als hätte sie nicht irgendetwas sagen können! Wieder allein, entspannte Caryn sich ein wenig. Also, sie war hier, und sie war ihrem Ziel sehr nah. Zumindest war es in Sicht. Nun hatte sie noch zwei Stunden Gnadenfrist, um sich auf die Begegnung vorzubereiten. Sie ging hinüber zu den Fenstern und bewunderte die Aussicht. Dann fiel ihr Blick auf den Garten, der unter ihr in Terrassen abfiel, und auf die Holztreppe, die hinunter zum Bootshaus führte. Loren hatte gesagt, es seien siebenunddreißig Stufen, und sie hatte viel Zeit gehabt, sie zu zählen. Für ein Kind vielleicht nicht ungefährlich, aber das war nicht ihr Problem. Sie legte ihre Handtasche auf die Polster der Fensterbank, kniete sich daneben und spürte den vertrauten Schmerz, als sie daran dachte, was Loren hatte ertragen müssen. Warum sollte er ungeschoren davonkommen? Eine Zeit lang hatte sie so da gekniet und kaum bemerkt, wie es allmählich dunkel geworden war, bis plötzlich ein Licht angeknipst wurde und sie erschrocken herumfuhr. Marcia hatte den Raum betreten auf die ihr eigene lautlose Art und trug ein Tablett in den Händen. „Oh, Sie hätten sich keine Umstände machen sollen!" rief Caryn aus und glitt von der Fensterbank, während Marcia das Tablett nicht weit von ihr auf einen der niedrigen Tische stellte. Aber die Minestrone und der Lachs dufteten köstlich, und sie blickte unverhohlen dankbar hinunter auf das Essen, das die Frau ihr zubereitet hatte. Marcia breitete die Hände aus, und Caryn errötete schuldbewusst, da sie etwas Falsches behauptet hatte. „Sagen Sie - möchten Sie mir nicht Gesellschaft leisten?" Marcia schüttelte den Kopf. Ihr Ausdruck veränderte sich selten, und Caryn war erstaunt. Es sei denn, diese Frau konnte nicht sprechen. Aber sie musste hören können. Sie hatte auf das Läuten hin die Tür geöffnet. Marcia zog sich wieder zurück, und Caryn setzte sich auf das Sofa neben dem Tisch, auf dem das Tablett stand. Sie hatte Hunger, und sie erinnerte sich an das alte Sprichwort, wonach sich mit vollem Magen besser kämpfen ließ. Aber während sie aß, wünschte sie, sie hätte Bob und Laura angerufen, bevor sie hierher gekommen war. Es würde sehr spät werden, bis sie in das Hotel in Carmarthen zurückkehrte, und sie machten sic h hoffentlich keine Sorgen. Doch er war in guten Händen, und das war die Hauptsache. Marcia kam zurück mit dem Kaffee, gerade als Caryn die Reste eines köstlichen Schokoladenpuddings verzehrte. Sie hatte die Kittelschürze abgelegt, trug ein schlichtes, klassisches graues Kleid und sah nun erst recht wie die Dame des Hauses aus. Vielleicht ist sie das ja auch, dachte Caryn skeptisch. Vielleicht sollte ich das herausfinden, bevor Tristan Ross zurückkommt. „Das war absolut köstlich", sagte sie jetzt und tupfte sich die Lippen mit einer
Serviette ab. „Haben Sie die Minestrone selbst gemacht? Ich habe noch nie eine bessere gegessen." Marcia nickte und nahm das Tablett weg, nachdem sie die Kaffeekanne abgestellt hatte. Sie war im Begriff, sich wieder zurückzuziehe n, da stand Caryn, einem Impuls folgend, auf. „Bitte", sagte sie, „lassen Sie sich durch mich nicht vertreiben." Doch um Marcias Lippen zuckte es nur leicht, bevor sie den Kopf neigte und davonging. Caryn ließ sich wieder auf das Sofa sinken. Falls Marcia nicht stumm war, konnte sie verdammt gut so tun, als ob. Sie seufzte und griff nach der Kaffeekanne. Na schön! Wenn sie nicht reden wollte, dann eben nicht. Und vielleicht war es auch gut so. Sie wollte hier in nichts hineingezogen werden - nicht mehr als unbedingt nötig. Nachdem sie ihren Kaffee ausgetrunken hatte, sah sie sich unruhig um. Es gab kein Fernsehgerät, und das war ungewöhnlich. Sie hätte erwartet, dass er in jedem Zimmer eines stehen hätte. Hatte er an diesem Abend einen Fernsehauftritt? Hatte er deswegen zu den Studios nach Carmarthen fahren müssen? Oder nur wegen einer Aufzeichnung, die später gesendet wurde? Sie stand auf und ging in dem großen Raum umher. Es ist ein Herrenzimmer, dachte sie widerwillig. Hier gab es keine erwähnenswerten Zie rgegenstände, keine Porzellanvitrine oder Porzellansammlung in abgeschlossenen Glasschränken. Es gab Bücherregale. Sie konnte sich jedoch nicht vorstellen, dass irgendjemand diese dicken und vermutlich langweiligen Bände tatsächlich las, und wünschte, sie hätte ein Taschenbuch oder irgendein Magazin, um die Zeit bis zu Tristan ROSS' Rückkehr zu überbrücken. Eine Silbertrophäe auf dem Kaminsims stellte sich heraus als Auszeichnung der Fernsehakademie der Wissenschaft und Künste für seine Beiträge in der populären Nachrichtensendung Action World. Daneben stand eine Bronzetrophäe, die Tristan ROSS für seine herausragenden Leistungen als Fernsehkorrespondent im Jahre 1998 verliehen worden war. Draußen war die Dämmerung hereingebrochen, und Caryn ging zum Fenster, um noch einen Blick auf die Mündung zu werfen. Die Lichter aus dem Dorf spiegelten sich im Wasser, und da und dort blinkte ein Licht, wo ein Boot bei einsetzender Flut verankert lag. Wer hier lebt, könnte größenwahnsinnig werden, dachte sie zynisch. Weit abgeschieden von den Sorgen der Welt da draußen. Das Motorengeräusch eines Autos durchbrach die Stille, und Caryn vermutete, dass ihr Gastgeber zurückgekehrt war. Sie sah auf die Uhr. Halb neun. Sie zog die dunklen Brauen hoch. Jedenfalls war er pünktlich. Sie musste schon für Weniges dankbar sein. Eine Tür wurde zugeschlagen, und dann rief völlig überraschend eine Frauenstimme: „Marcia! Marcia, ich bin wieder da! Wem gehört das Auto vor unserem Tor? Beinahe wäre ich auf die verflixte Karre drauf gefahren!" Caryn versteifte sich. Noch ein Besucher? Jedenfalls einer, der es gewohnt war, hierher zu kommen. Wer sonst hatte noch einen Schlüssel für die Tür? Sie presste die Lippen zusammen, als sie wieder an Lorens wächserne Züge dachte. Oh, Tristan ROSS stand ein böses Erwachen bevor! Leichtfüßig kam jemand die Treppe herunter, und einen Moment später erschien ein Mädchen an der offenen Tür - schlank, groß, etwa so groß wie Caryn, die immer glaubte, mit ihren eins vierundsiebzig kleiner zu sein als der Durchschnitt. Die Fremde hatte glattes blondes Haar und eine zarte, blasse Haut. Sie war eine der attraktivsten jungen Frauen, die Caryn seit langem gesehen hatte. Die engen Jeans und das schmale T-Shirt betonten ihre anmutige Figur. Sie blieb unvermittelt stehen, als sie Caryn erblickte, und sah sie stirnrunzelnd an. Konkurrenz? fragte sich Caryn, obwohl sie sich neben so viel nordischer Blondheit und Hellhäutigkeit dunkel vorkam wie eine Zigeunerin. Sie bräunte leicht und hatte ohnedies schon einen dunklen Teint.
„Wer sind Sie?" fragte das Mädchen jetzt, und Caryn war erleichtert, jemandem zu begegnen, der nicht abgeneigt war, mit ihr zu sprechen. „Susan - Mellor. Ich ... ich warte auf Mr. ROSS." Das Mädchen kam herein. „Wozu?" Es war eine Suggestivfrage, und Caryn zögerte. Sie hatte keine Skrupel, einer Frage auszuweichen, doch sie war neugierig, zu erfahren, wer das Mädchen war, und es zu verärgern wäre nicht hilfreich. Folglich gab sie die Antwort, die ROSS selbst nahe gelegt hatte. „Die ... Agentur hat mich geschickt." „Die Agentur!" Das Mädchen sah sie starr an, und bestürzt erkannte Caryn, dass sie mit ihrem Latein am Ende wäre, sollte die nächste Frage jetzt lauten: ,Was für eine Agentur?'. Ja, was für eine Agentur könnte ein Mann wie ROSS beauftragt haben? Das Mädchen aber sagte: „Meinen Sie die Llandath-Agentur?" Caryn nickte. „Richtig", stimmte sie tapfer zu. „Die Llandath-Agentur." „Sie Lügnerin!" Es war schlimmer, als Caryn erwartet hatte. Das Mädchen sah sie unfreundlich an, und zu allem Unglück kam jetzt auch noch Marcia herein. „Tris hatte mich gebeten, die Agentur anzurufen", erklärte das Mädchen und sah sich Hilfe suchend nach Marcia um. „Und ich habe es vergessen! Was, zum Kuckuck, haben Sie also hier zu suchen? Sind Sie Reporterin oder so etwas Ähnliches? Oder nur eine von diesen schrecklichen Groupies?" „Ich bin kein Groupie!" wehrte sich Caryn und hätte beinahe gelacht, so grotesk kam ihr die Situation vor. „Was sind Sie dann? Denn ich bin verdammt sicher, dass Sie keine Sekretärin sind." Caryn straffte die Schultern. „Sie irren sich. Ich bin tatsächlich Sekretärin", stellte sie fest, wesentlicher ruhiger, als sie sich fühlte. „Und - und Mr. ROSS selbst hat die Agentur angerufen." Das ist wenigstens die halbe Wahrheit, tröstete sie sich. Das Mädchen aber war noch nicht fertig. „Tris hätte das nicht getan. Nicht nachdem er mich gebeten hatte anzurufen. Weshalb hätte er es tun sollen? Er wusste, dass ich den ganzen Nachmittag in Carmarthen sein würde." „Das besprechen Sie am besten mit ihm selbst", sagte Caryn gelassen und erschrak, als sie plötzlich eine Männerstimme hörte. „Was soll sie mit mir besprechen? Angel, was geht hier vor? Warum streitest du dich mit Miss Mellor?" Tristan ROSS kam in den Raum. Irgendwann während der Heimfahrt hatte er die Krawatte gelockert und den obersten Hemdknopf geöffnet, wirkte aber ruhig und gelassen. Er strich sich eine Haarsträhne aus der Stirn, betrachtete die beiden Kontrahentinnen und wartete auf eine Erklärung. „Ich war nicht in der Agentur, Tris", begann Angel. „Ich weiß nicht, was diese Frau hier macht, aber sie ist nicht von Llandath." Tristan ROSS wandte sich Caryn zu. „Stimmt das? Sie sind nicht von der LlandathAgentur?" „Ich habe niemals gesagt, dass ich das sei", antwortete Caryn und fügte, als Angel zu protestieren begann, hinzu: „Jedenfalls nicht zu Ihnen. Sie haben es vermutet." „Na gut, dann will ich noch etwas anderes vermuten. Sie haben mich absichtlich nicht aufgeklärt, weil Sie es darauf abgesehen hatten, hier hereinzukommen. Ist das richtig?" „Oh, ich wäre auf jeden Fall hereingekommen, Mr. ROSS", sagte Caryn gleichmütig, „ob Sie nun dachten, ich sei von der Agentur, oder nicht." „Wirklich?"
„Ja, wirklich." „Ich verstehe." Stirnrunzelnd sah er die beiden anderen Frauen an. Dann: „Sie sind sehr von sich überzeugt, Miss - Mellor, nicht wahr? Oder ist das auch nur wieder eine Vermutung?" Zu ihrem Ärger errötete Caryn erneut. „Nein, denn das bin ich tatsächlich. Mein Name ist Stevens, Caryn Stevens. Ich bin Loren Stevens' Schwester." Sie beobachtete ihn genau, als sie den Namen ihrer Schwester nannte, aber er löste keine besondere Reaktion bei ihm aus. Er zuckte nur kurz mit der Wimper und sagte dann: „Entschuldigen Sie, aber ich kann da leider keinen Zusammenhang sehen. Weshalb sollte die Schwester einer Frau, die vor einem halben Jahr ihren Dienst bei mir aufgegeben hat, mich treffen wollen? Oder haben Sie vor, die Stelle Ihrer Schwester zu übernehmen?" Caryn schnappte empört nach Luft. „Wie können Sie es wagen!" Wenigstens jetzt reagierte er und presste die schmalen Lippen bedrohlich zusammen. „Wie ich es wagen kann?" fragte er barsch. „Nun kommen Sie schon, Miss Stevens. Ich denke, es reicht jetzt. Entweder sagen Sie mir, was, verdammt noch mal, Sie wollen, oder Sie verschwinden von hier!" Caryn sah die beiden Frauen an, die sie so aufmerksam beobachteten. „Was ich Ihnen zu sagen habe, möchte ich lieber unter vier Augen mit Ihnen besprechen." „So, möchten Sie? Aber ich möchte das nicht. Was immer es ist, heraus mit der Sprache. Hier! Wo ich einige Zeugen habe." Caryn befeuchtete sich die Lippen. So hatte sie sich das nicht vorgestellt. Sie schreckte davor zurück, vor zwei Fremden ihre Schwester bloßzustellen. Es war schon schlimm genug, dass sie es ihm sagen musste. Und sie brachte es nicht über sich, die Worte vor sonst jemand auszusprechen. „Ich ... ich kann nicht", sagte sie schließlich. „Ich ... ich will nicht." „Miss Stevens, ich weiß nicht, weshalb Sie hergekommen sind, aber Sie sollten wissen, dass ich weder vor meiner Tochter noch vor meiner Haushä lterin Geheimnisse habe." „Ihre Tochter!" Caryn schluckte. „Angel - Angela. Angela ROSS. Hat Ihre Schwester Ihnen nichts von ihr erzählt?" „Nein." „Oder von Marcia?" „Nein." „Sie brauchen nicht zu befürchten, dass sie Geschichten austrägt, oder ist es nicht das, was Ihnen Sorgen macht?" Also konnte die Frau nicht sprechen! Ein Anflug von Mitge fühl überkam Caryn. Dann straffte sie sich und richtete sich zu ihrer vollen Größe auf. Aber selbst mit den hohen Absätzen überragte er sie noch um einiges, was sie als Nachteil empfand. Trotzdem musste sie weitermachen. „Mr. ROSS" , sagte sie langsam, „was ich zu sagen habe, betrifft meine Schwester und nicht mich. Bitte ..." Es war ihr verhasst, um etwas zu bitten. „Nehmen Sie sich ein paar Minuten Zeit für mich." „Miss Stevens", erwiderte er ungeduldig, „ich habe eben eine unerfreuliche halbe Stunde damit verbracht, einen Mann zu interviewen, der sich strikt weigert zuzugeben, dass er ein verdammter Wirtschaftsfunktionär ist, und ich bin müde. Ich bin nicht in der Stimmung für Theaterspielchen und dramatische Szenen, und wenn es etwas mit Loren zu tun hat, dann erwartet mich vermutlich beides ..." Caryn holte aus und verpasste ihm eine schallende Ohrfeige. Er hatte gar nicht versucht, sie davon abzuhalten. Nur seine Tochter empörte sich. Tristan ROSS schob die Daumen in den Hosenbund unter seiner Jacke und stieß einen tiefen Seufzer aus. „Ist das alles?" fragte er. „Willst du ihr das etwa so durchgehen lassen?" rief Angela aufgebracht. In Wirklichkeit war Caryn nicht weniger geschockt als das Mädchen. Sie versuchte,
sich rasch an ihm vorbeizudrängen Richtung Tür, aber er packte sie am Arm und hielt sie zurück. „Nicht so schnell", sagte er, und ihr fiel auf, dass ihre roten Fingerabdrücke auf seiner Wange seiner Attraktivität keinen Abbruch taten. Er hatte eine auffallend dunkle Gesichtsfarbe im Vergleich zu seinem hellen Haar. Dem Haar, das offensichtlich seine Tochter von ihm geerbt hatte. Seine Tochter! Um Himmels willen, warum hatte Loren nicht erwähnt, dass er eine erwachsene Tochter hatte? Hatte er auch eine Ehefrau? War deshalb ...? „Was haben Sie vor?" fragte er, und sie hob den Kopf. „Ich ... ich werde Ihnen schreiben", sagte sie das Erstbeste, was ihr einfiel, und er sah sie frustriert an. „Warum? Was haben wir uns mitzuteilen? Wenn Loren etwas zu sagen hat, warum, verdammt noch mal, kommt sie dann nicht selbst?" Caryns Kinn bebte. „Loren ist tot, Mr. ROSS. Wussten Sie das nicht?" Endlich war es ihr gelungen, sein Selbstbewusstsein zu erschüttern. Er ließ die Hand von ihrem Arm fallen, als hätte er sich verbrannt. Ich bin diesem Mann viel zu nah, dachte sie. Fast konnte sie seinen Schock spüren, seine Empörung. „Tot!" sagte er ungläubig. „Loren - tot? Meine Güte, das tut mir Leid. Ich hatte keine Ahnung." „Warum sollte es dir Leid tun?" mischte Angela sich wieder ein. „Sie ging uns doch allen nur auf die Nerven, solange sie hier war ..." „Angel!" Sein Einwand berührte sie nicht, und Caryn fügte verbittert hinzu: „Warum sagen Sie, es tue Ihnen Leid, Mr. ROSS? Sie haben keinen einzigen ihrer Briefe beantwortet." „Ihre Briefe?" Er schüttelte den Kopf. „In Ordnung, Miss Stevens, Sie haben gewonnen. Wir gehen in mein Arbeitszimmer. Dort können wir uns ungestört unterhalten ..." „Du wirst doch nicht etwa mit ihr reden?" Angelas verächtlicher Protest klang ihr in den Ohren. Tristan ROSS aber sah seine Tochter nur kurz an, bevor er an ihr vorbeiging und den Raum verließ. Caryn zögerte nur einen Moment, dann folgte sie ihm. Nun hatte sie erreicht, was sie wollte, oder? Warum konnte sie sich dann so wenig darüber freuen? Sie gingen quer durch die Halle und in gewissen Abständen einzelne Stufen hinunter auf eine noch tiefer gelegene Ebene. Dort stieß er eine ledergepolsterte Tür auf und trat zurück, um ihr den Vortritt zu lassen. Der Raum war fast genauso groß wie das Wohnzimmer. Unzählige Taschenbücher und die letzten Jahresausgaben des Geographical Magazine zierten die Wände. Auf einem honigbraunen Teppich standen ein Sekretär, dessen Schreibfläche mit Leder bezogen war, zwei Lederdrehstühle und einige Sessel. Auf einem Tisch in einer Ecke befanden sich Telefon, Computer, Kopierer und Faxgerät, daneben metallene Aktenschränke und Rollcontainer. Auch hier wieder boten die Fenster den Blick auf die Mündung, aber es war dunkel, und ROSS zog die Jalousien zu. „Warum setzen Sie sich nicht?" Er deutete auf einen Sessel, doch Caryn blieb lieber stehen. „Wie Sie möchten." Er zog sein Jackett aus und hängte es über die Lehne eines der Lederdrehstühle. „Wenn Sie erlauben ..." „ Selbstverständlich." Er ließ sich lässig in einen der Drehstühle hinter dem Schreibtisch sinken, und trotz seiner zwanglosen Haltung war er noch immer der Tristan ROSS, den sie aus so vielen Sendungen über aktuelle Tagespolitik kannte. Ruhig, höflich, leicht spöttisch, ließ er sich seine höhere Schulbildung durchaus anmerken, gab sich dabei aber auch jenen Touch, mit dem er die einfachsten Leute erreichte. „Also", begann er, „und jetzt sagen Sie mir, weshalb Sie mich sprechen wollten." Caryn atmete tief durch und beschloss, gleich zur Sache zu kommen. „Sie wussten
Bescheid - über Loren, oder?" „Was sollte ich wissen?" Seine Art, sich dumm zu stellen, ärgerte sie, und sie ballte die Hände zu Fäusten. „Sie hat Ihnen geschrieben und mitgeteilt, dass sie ... dass sie ein Baby ..." „Ein Baby!" Jetzt erwachte er aus seiner Gleichgültigkeit. „Was für ein Baby?" Caryn hatte plötzlich das Gefühl, dass sie sich doch setzen musste. Sie wich zurück, bis sie das weiche Samtpolster eines Sessels in den Kniekehlen spürte, und ließ sich vorsichtig auf dem Rand nieder. „Ich habe gefragt: Was für ein Baby?" Er stand auf, stützte die Handflächen auf die Schreibtischplatte und beugte sich leicht zu ihr. „Ich warne Sie - wenn das auch wieder eines von Lorens Spielchen ist..." „Ich habe Ihnen doch schon gesagt: Loren ist tot", erinnerte sie ihn kurz angebunden. „Das haben Sie." „Warum haben Sie keinen ihrer Briefe beantwortet?" „Du meine Güte! Ich kann mich nicht erinnern, jemals einen Brief von ihr gesehen zu haben. Und selbst wenn ..." Er verstummte plötzlich, aber Caryn konnte sich schon denken, was er hatte sagen wollen. „Sie hätten ihn nicht beantwortet?" „Hören Sie", er seufzte, „Mrs. Forrest - so heißt die Frau, die ich vorübergehend bei mir beschäftigt habe, nachdem ... nachdem Loren gega ngen war -, sie hatte sich um diese Dinge zu kümmern." „Um Verehrerpost?" fragte Caryn bitter, und er sah sie mit eisigem Blick an. „Warum nicht?" forderte er sie heraus, und sie fragte sich, wie sie jemals hatte denken können, seine Augen seien dunkel. Sie waren hell, bernsteinfarben, die wachsamen Augen eines Raub tiers auf Beutejagd. „Sie hat Ihnen mitgeteilt, dass sie Ihr Kind erwartete, und Sie haben sich nicht ..." „Sie hat was?" Er kam so stürmisch um den Schreibtisch herum auf sie zu, dass sie einen Moment lang glaubte, er wolle sie schlagen. Aber gerade noch rechtzeitig blieb er stehen und sah auf sie herab. In seinem Gesicht arbeitete es. „Sagen Sie das noch einmal." Caryn befeuchtete sich die trockenen Lippen. „Sie ... sie hat ein Kind von Ihnen erwartet." „Dieses Miststück!" Caryn sprang auf. „Wagen Sie es nicht, so von meiner Schwester zu sprechen!" „Ich spreche von ihr, wie es mir, verdammt noch mal, passt!" schrie er aufgebracht. „Du liebe Zeit, was für eine elende Lügengeschichte! Und Sie sind gekommen, um mir das zu erzählen ..." „Nicht nur deswegen", stieß sie hervor. „Nicht nur deswegen." Er begann, unruhig im Raum hin und her zu laufen. „Natürlich", sagte er kalt. „Sie sind gekommen, um mir zu sagen, dass sie tot ist. Nun, vielleicht ist es gut so." Er blieb stehen und sah ihr ins Gesicht. „Vielleicht ist es gut so. Ich glaube, wenn sie noch lebte, würde ich sie umbringen." Wieder wich Caryn vor ihm zurück. „Und ... und was ist mit Ihrem Sohn?" brachte sie heiser hervor. „Was ist mit ihm? Wollen Sie ihn auch umbringen?"
2. KAPITEL
Caryn sah, wie alle Farbe aus ROSS' Gesicht wich, während er sie betrachtete. Selbst unter seiner Bräune wurde er blass, und sie merkte, was für ein ungeheurer Schock diese Nachricht für ihn sein musste. „Mein - Sohn?" wiederholte er leise. „Sie meinen - es gibt ein Kind?" „Ja. Einen Jungen. Er ist ... drei Monate alt." „Drei Monate!" Wenn er ihr so nah war wie jetzt, hatten seine Augen eine seltsam unwiderstehliche Ausstrahlung. Die Pupillen hatten sich erweitert, so dass die goldbraune Iris fast nicht mehr zu sehen war. Seine Wimpern waren kräftig und gerade, mit Spitzen so goldfarben wie sein von der Sonne gebleichtes Haar. Flüchtig fragte sie sich, ob das Kind aussehen würde wie er, dann fegte sie den Gedanken beiseite, als wäre er es nicht wert, darüber Vermutungen anzustellen. Das Schweigen zwischen ihnen begann sie nervös zu machen, und sie bewegte sich unbehaglich unter seinem Blick. In dem warmen Raum, in dem es nach salzigem Tang aus der Flussmündung roch - eine Folge der geöffneten Fenster an diesem sonnigen Nachmittag -, nahm sie auch noch seinen Duft wahr, der sich mit dem von Seife und After Shave vermischte. Es machte ihr ihre eigene Verletzlichkeit bewusst, und ihr wurde klar, was für eine Versuchung er für ein leicht zu beeindruckendes Mädchen wie Loren gewesen sein musste. „Drei Monate", sagte er schließlich noch einmal. Spöttisch verzog er die Lippen. „Warum haben Sie so lange gewartet?" „Bevor ich hierher gekommen bin, meinen Sie?" „Genau das meine ic h." Er schob die Finger in die kleinen Taschen seiner Weste. „Oder war ich der Letzte auf der Liste?" „Sie ..." Unwillkürlich holte sie aus, um ihn noch einmal zu ohrfeigen, aber er wich spöttisch lächelnd zurück und hob abwehrend die Hand. „O nein", sagte er kopfschüttelnd. „Nicht schon wieder. Diese kleine Szene hatten wir schon vor zehn Minuten. Theatralik war noch nie meine Stärke." „Was ist Ihre Stärke, Mr. ROSS?" fragte sie scharf. „Junge Mädchen zu verführen?" Seine Wangenknochen traten deutlich hervor, als er tief den Atem einzog. Dann antwortete er in kaltem, abfälligem Ton: „Wissen Sie, welche Strafe auf Verleumdung steht? Wenn Sie diese Aussage vor den anderen hier im Haus gern wiederholen möchten, dann werden Sie es bald herausfinden, das verspreche ich Ihnen." Caryns Lippen bebten, aber sie durfte jetzt nicht aufgeben. „Leugnen Sie etwa, meine Schwester verführt zu haben, Mr. ROSS?" Er stieß einen tiefen Seufzer aus. „Würden Sie mir glauben, wenn ich es leugnete?" „Nein." „Dann ist das eine ziemlich sinnlose Frage, finden Sie nicht?" Caryn schniefte. „Ich hätte wissen müssen, als was für ein Mann Sie sich entlarven." „Weshalb sind Sie dann gekommen?" „Weil es Ihr Kind ist und weil Sie die Verantwortung dafür tragen!" „Aha, ich verstehe." Er lacht e kurz auf. „Sie wollen Geld." „Nein!" Caryn war entsetzt. „Sie glauben doch wohl nicht, ich sei hierher gekommen, um ... um Sie zu erpressen?" „Dieses Wort gebrauchen Sie, nicht ich." „Aber Sie haben es indirekt ausgesprochen." Angewidert verzog sie das Gesicht. „Oh, Sie drehen mir jedes Wort im Mund herum. Sie machen so etwas Schmutziges daraus." „Ist es das denn nicht?" fuhr er sie an. „Sie kommen hier he reingeschneit, erzählen mir so eine verrückte Geschichte über ihre verstorbene Schwester und deuten an, dass
es meine Schuld..." „Das war es auch!" „O nein!" Er schüttelte den Kopf. „Wenn Ihre Schwester jetzt tot ist, dann hat das nichts mit mir zu tun." Caryn zwang sich, seinem Blick zu begegnen. „Wie können Sie das behaupten? Sie müssen von dem Risiko gewusst haben." „Von welchem Risiko? Du meine Güte, ich hatte keine Ahnung, dass sie schwanger war." Caryn bemühte sich, ruhig zu bleiben. „Sie mussten gewusst haben, dass die Möglichkeit bestand", fuhr sie beharrlich fort. „Sie haben sie verlassen und ihrer Familie ..." „Ihrer Familie!" Er hob den Blick himmelwärts, als flehte er um Geduld. „Mir war nicht einmal bekannt, dass sie eine Familie hat, bis Sie hier auftauchten und behaupteten, ihre Schwester zu sein." „Ich bin ihre Schwester." „Na gut. Und ich war ihr Arbeitgeber. Ihr Arbeitgeber! Verstehen Sie? Ich diskutiere mit meinen Angestellten keine persönlichen Probleme, es sei denn, sie wirken sich irgendwie auf die Arbeitsleistung aus. Ist das deutlich genug?" Caryn versuchte es noch einmal. „Aber Ihre Beziehung zu Loren ging weit über die zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer hinaus." „Tatsächlich?" „Etwa nicht?" „Hat sie Ihnen das erzählt?" „Das musste sie mir nicht erzählen", erklärte Caryn. „Sie war verrückt nach Ihnen." „Wirklich?" Er blieb ungerührt. „Und ich war vermutlich verrückt nach ihr." „Eine Zeit lang." „Eine Zeit lang!" Er schlug sich die Faust in die Handfläche. „Es darf nicht wahr sein! Ich kann nicht glauben, dass jemand so ... so ..." „Leichtgläubig sein kann?" ergänzte sie hilfreich. „Nein", schrie er, „so dumm!" „Loren war nicht dumm", protestierte sie heftig. „Habe ich von Loren gesprochen?" „Sie halten sich wohl für sehr klug, Mr. ROSS, wie?" „Nein. Durchaus nicht. Ich war dumm. Ich wusste, mit wem ich es zu tun hatte, vom ersten Augenblick an. Ich hätte sie niemals einstellen sollen." Das konnte Caryn nicht so hinnehmen. „Loren war eine gute Sekretärin." „Es gibt Tausende von guten Sekretärinnen." „Sie war loyal. Sie war tüchtig." „Sie hat das Leben unmöglich gemacht!" sagte er vor sich hin. „Also geben Sie zu, dass Ihre Beziehung zu ihr nicht ganz so platonisch war, wie Sie mich glauben lassen möchten?" „Ich gebe gar nichts zu", antwortete er, wandte ihr den Rücken zu und ging wieder zu seinem Schreibtisch. „Gar nichts!" Caryn zog tief den Atem ein und ließ ihn langsam wieder ausströmen. „Dann bestreiten Sie also, dass das Kind von Ihnen ist?" Eine Weile herrschte Stille, dann drehte er sich um und lehnte sich gegen den Schreibtisch, die Hände in die Hüften gestemmt. „Erzählen Sie mir von dem Kind", sagte er. „Erzählen Sie mir, wie sie gestorben ist." Caryn suchte nach Worten. „Ich ... sie ... nachdem Sie sie ent lassen hatten ..." Sie wartete auf seinen Einspruch, und als der ausblieb, fuhr sie fort: „Nachdem Sie sie entlassen hatten, kam sie zurück nach London. In die Wohnung." „In die Wohnung Ihrer Eltern?" fragte er. „Nein. In meine." Caryn zögerte kurz, dann sprach sie weiter. „Unsere Eltern sind tot.
Wir wurden in Maidstone bei einer älteren Tante großgezogen. Aber als ich alt genug war, ging ich von dort weg, um in London eine Handelsschule zu besuchen. Später machte Loren das Gleiche." „Und Sie haben sich die Wohnung geteilt?" „Nun, es war meine Wohnung. Loren war nicht die ganze Zeit da. Sie hatte ... Freunde ..." „Freunde?" „Ja, Freunde." Caryn sah keinen Sinn darin, preiszugeben, dass Loren von jeher die Gesellschaft von Männern der von Frauen vorgezogen hatte. „Jedenfalls bekam sie später diese Stelle hier - im Haus. Ich hatte ihr geraten, sie nicht anzunehmen. " „Warum?" Er war neugierig. „Ihretwegen. Wegen Ihres Rufs", sagte Caryn in entschiedenem Ton. „Was für ein Ruf?" fragte er angespannt. Caryn fühlte sich unbehaglich. „Ist das wichtig?" „Ja, ich denke schon." Sie seufzte. „Sie wissen ebenso gut wie ich, was ich meine." „Sie sollten nicht alles glauben, was Sie in den Zeitungen lesen, Miss Stevens", erwiderte er. „Offensichtlich nicht. Man hat nicht erwähnt, dass Sie verheiratet sind." „Meine Frau starb, als Angela drei Jahre alt war. Spricht mich das frei von dieser einen Schuld?" Caryn errötete. „Dies hat nichts mit mir zu tun." „Das andere schon?" „Ja. Ich war bei Loren, als sie ... als sie starb." „Erzählen Sie weiter. Wann hat sie Ihnen gesagt, dass sie schwanger sei?" Caryn zögerte. „Lange Zeit überhaupt nicht. Sie war so dünn, wissen Sie. Man hat es kaum gemerkt." Er runzelte die Stirn. „Hat sie eine andere Arbeit gefunden?" „Nein." Es widerstrebte Caryn, ihm alles zu erzählen, was in den letzten Monaten passiert war, aber vielleicht war sie ihm das schuldig, wenigstens das. „Sie - wie Sie wissen, ist in dieser Gegend nicht so leicht eine Arbeit zu finden. Und sie war lustlos, ohne Antrieb. Sie sagte, sie habe Ihnen geschrieben und Sie gebeten, sie wieder einzustellen." „Sie wusste, dass ich nach Ostafrika ging." „Ja. Sie hat alle Zeitungsausschnitte gesammelt." „Meine Güte!" Er klang empört. „Aber sie hat Ihnen nach Ihrer Rückkehr geschrieben. Wie ich bereits sagte, Sie haben niemals geantwortet." „Ich hatte Mrs. Forrest angewiesen, diese Briefe nicht zu beachten. Ich kannte Loren. Ich wusste, dass sie nicht so leicht aufgeben würde." „Sie war von Ihnen abhängig." „Sie war ein Blutsauger!" „Sie war so glücklich, dass sie hier anfangen konnte. Sie hat laufend begeisterte Briefe geschrieben und darin berichtet, dass Sie sie gewöhnlich bei bestimmten Aufträgen begleiten durfte." „Das war einmal der Fall." „Trotz allem, Sie haben sie ausgenutzt." „Ich habe was getan?" „Sie hat mir erzählt, wie Sie sie immer ... bedrängt haben ..." „Wie bitte?" Ungläubig sah er sie an. „ ... wie Sie betrunken von Partys nach Hause gekommen sind. Und sie belästigt haben ..." „Hat sie Ihnen das gesagt?"
„Natürlich." „Und Sie haben ihr geglaubt?" „Warum nicht? In diesen Dingen erzählte Loren keine Lügen." „Wirklich nicht?" „Vermutlich haben Sie sie betrunken gemacht", beschuldigte Caryn ihn. „Sind Sie so in ihr Bett gekommen?" „O nein! Denken Sie, ich hätte das nötig gehabt, um mit ihr zu schlafen?" Er schüttelte den Kopf. „Ich glaube Ihnen nicht." Er zuckte die Schultern. „Im Gegensatz zu Ihrer Schwester kann ich Ihr Verständnis und Vertrauen nicht gewinnen." Er lä chelte enttäuscht. „Aber wir kommen vom Thema ab, nicht wahr? Sie haben mir noch immer nicht gesagt, weshalb Sie hier sind." „Ich dachte, das sei klar." „Nun, tut mir Leid. Das ist es nicht." „Ich habe es Ihnen gesagt. Sie sind jetzt für das Kind verant wortlich." „Inwiefern?" „Sie sind der Vater und sollten Ihren Beitrag zur Erziehung leisten." „Finanziell? Oder mit meiner Anwesenheit?" „Was meinen Sie damit?" „Sie verlangen Geld, oder nic ht, Miss Stevens?" Caryn schwieg eine Weile. „Loren - Loren sagte, ich solle zu Ihnen gehen. Ihnen das Kind bringen. Sie sagte, Sie wüssten schon, was zu tun sei." Ungläubig sah er sie an. „Und das haben Sie gelten lassen?" „Warum hätte ich es nicht tun sollen?" „Nach allem, was sie Ihnen über mich erzählt hatte?" „Das hat nichts damit zu tun." „Da bin ich anderer Meinung. -Es hat sogar sehr viel damit zu tun. Was macht ein Mann wie ich mit einem unschuldigen Kind? Ein Mann, der sich herumtreibt und junge Mädchen verführt? Ein Mann, den Sie eben beschuldigt haben, Ihre Schwester hätte durch ihn Bekanntschaft mit dem Alkohol gemacht!" „Er ist Ihr Sohn", beharrte sie unnachgiebig. „Und Ihr Neffe. Oder haben Sie das übersehen?" „Die Sache hat nichts mit mir zu tun", rief Caryn aufgebracht aus. „Es ist nicht mein Kind." Er kniff die Augen zusammen. „Sie reagieren sehr heftig. Mögen Sie keine Kinder?" „Es hat meine Schwester das Leben gekostet. Meinen Sie, ich könnte das vergessen?" „Aha, ich verstehe." Es klang spöttisch. „Wie praktisch! Ein fach die Verantwortung auf jemand anderen zu schieben." „Ich muss arbeiten, um meinen Lebensunterhalt zu verdienen, Mr. ROSS. Ich habe nicht die Zeit, mich um ein Kind zu kümmern. " „Es mag Ihrer Aufmerksamkeit entgangen sein, Miss Stevens, aber auch ich arbeite, um meinen Lebensunterhalt zu verdienen." „Das ist etwas anderes." „Was ist daran anders?" „Sie - Sie haben Geld ..." „Ich verstehe. Also wollen Sie Geld", spottete er. „Nein!" „Warum sollte ich Ihnen glauben? Woher soll ich wissen, ob Sie sich die ganze Geschichte nicht ausgedacht haben? Sie sind Lorens Schwester. Vielleicht hängen Sie da beide mit drin." Ihr blasses Gesicht schien ihn zu ernüchtern, und entschuldigend sagte er: „Okay, tut mir Leid. So habe ich das nic ht gemeint. Sie sind ganz anders als sie, zum Glück!" Caryn war die Kehle plötzlich wie zugeschnürt. „Loren ist tot."
„Ja, ja, das sagen Sie mir schon die ganze Zeit." „Es ist wahr." „Ich glaube es." Er seufzte tief auf. „Also: Wo ist das Kind?" „In London. In der Obhut von Freunden, die ihre Wohnung neben meiner haben. Laura - so heißt das Mädchen - erwartet selbst ein Baby in drei Monaten." „So?" Er klang uninteressiert, und sie wünschte, sie hätte ihm diese Information nicht gegeben. Sie hatte ihm nur versichern wollen, dass das Kind in guten Händen sei. „Wann kann ich den Jungen sehen?" „Soll das heißen, Sie nehmen ihn zu sich?" Plötzlich erschien ihr alles völlig unwirklich. „Sie sind bereit, ihn wegzugeben, richtig? An einen völlig Fremden?" „Sie sind der Vater." „Das können Sie nicht beweisen." „Ein Vaterschaftstest kann es." „Da wäre ich mir an Ihrer Stelle nicht so sicher." „Oh, bitte!" Caryn war mit ihrer Geduld am Ende. „Wollen Sie den Jungen jetzt zu sich nehmen oder nicht?" „Sagen wir, ich möchte mir die Ware zuerst ansehen, ja?" Er schwieg einen Moment. „Hat er einen Namen?" „Ja." Caryn zögerte. „Loren nannte ihn Tristan, aber ich ... ich..." „Sie brachten es nicht über sich, ihn so zu nennen, stimmt das?" fragte er trocken. „Vielleicht." Wieder begann er, hin und her zu gehen, durchmaß den Raum mit seinen geschmeidigen, raubtierhaften Schritten. „Wo wohnen Sie?" „Ich kann zurückfahren und den Jungen holen." „Nein." Er blieb stehen. „Nein, tun Sie das nicht. Ich werde nach London kommen. Sie geben mir besser Ihre Adresse." Caryn tat dies nur ungern. „Es macht mir keine Mühe, ihn hierher zu bringen." „Das bezweifle ich nicht, aber ich regle die Angelegenheit lieber auf meine Art." „So einfach werden Sie mich nicht los", brach es aus ihr hervor. „Das will ich auch gar nicht." Jemand klopfte an die Tür des Arbeitszimmers, und eine Ant wort blieb Caryn erspart. Ohne eine Aufforderung abzuwarten, erschien Angela ROSS auf der Türschwelle. Feindselig funkelte sie Caryn an, bevor sie den Blick zu ihrem Vater gleiten ließ. „Tris, wie lange willst du hier noch deine Zeit vertrödeln? Marcia hat für heute Abend eine Pizza gemacht, und wenn du nicht bald zum Essen erscheinst, wird sie ungenießbar sein." Seine Züge änderten sich, als er seine Tochter betrachtete. Warum hatte er Loren nicht so liebevoll ansehen können, die Frau, die seinen Sohn zur Welt gebracht hatte? „Wir sind fast fertig", sagte er jetzt zu Angela. „Miss Stevens ist im Begriff zu gehen." Caryn straffte die Schultern. „Wenn Sie mir ein Blatt Papier geben, schreibe ich Ihnen meine Adresse auf." Angela beobachtete mit hochgezogenen Brauen, wie Caryn auf einem Block ihre Anschrift notierte. Sie fügte ihre Telefonnummer hinzu, für den Fall, dass man sie brauchte. Tristan warf kaum einen Blick darauf, bevor er den Block auf den Schreibtisch warf, und Caryn wusste, er wartete nur darauf, dass sie ging. „Sie hören von mir", versicherte er höflich, doch seine Augen funkelten vor unterdrücktem Ärger. Draußen schien es ihr, als hätte die Luft nie zuvor so herrlich gerochen, und Caryn ging den Weg hinauf zu der Stelle, wo sie ihren Wagen geparkt hatte. Ich habe es geschafft, dachte sie trotzig und fragte sich, weshalb sie plötzlich so voller Zweifel war. Caryn verbrachte die Nacht im Hotel in Carmarthen und reiste am darauf folgenden
Vormittag nach London ab. Die Rückfahrt erschien ihr viel kürzer, vielleicht weil sie sich ihrem Ziel mit mehr Begeisterung näherte. Ihre Wohnung lag im zweiten Stock eines Hauses in Bloomsbury. Es war nicht die vornehmste Gegend Londons, aber sie war zivilisiert, und die hohen Viktorianischen Häuser verbreiteten eine Atmosphäre, die so ganz anders war als die der eintönigen Wolkenkratzer aus Glas und Beton, die um sie her aus dem Boden geschossen waren. Mrs. Theobald, die im Erdgeschoss wohnte, hatte Blumenkästen vor den Fenstern, und zu dieser Jahreszeit blühten darin prächtig leuchtende Geranien und gaben der Nummer 11, Faulkner Terrace, ein ganz eigenes Flair. Caryn hatte am Morgen vom Hotel aus ihre Freunde angerufen, und als sie nun den zweiten Stock erreichte, wurde die Tür der Westons geöffnet, und Laura erschien mit dem Baby auf dem Arm. „Hallo", sagte sie, ein Lächeln auf dem sommersprossigen Gesicht. „Komm rein, und trink eine Tasse Tee. Bob ist schon ins Studio gefahren." Bob Weston arbeitete als Fotograf für eine kleine Agentur in Notting Hill. Er fotografierte auf Hochzeiten und Taufen, gele gentlich hatte er Doppelseiten in kleinen Magazinen, sein Ehr geiz war jedoch, im lukrativeren Fernsehgeschäft Fuß zu fassen. „Danke." Caryn sah ihren Neffen kaum an, während sie Laura in die Wohnung folgte, die ihrer bis ins Detail glich, nur dass sie viel ordentlicher war. „Er war so lieb", sagte Laura, schloss die Tür und ging in die Ecke, wo ein faltbarer Kinderwagen stand. „Er ist nicht einmal nachts aufgewacht." „Ja, er ist ein lieber Junge." Caryn klang müde und gleichgültig, und Laura sah sie besorgt an. „Nun?" fragte sie. „Was ist passiert? Du warst heute Morgen am Telefon sehr wortkarg." Caryn ließ sich in einen Sessel fallen. „Ich sagte dir ja schon, ich habe ihn getroffen." „Ja." Laura ging in die winzige Küche, um den Wasserkessel aufzusetzen. „Aber du hast nicht gesagt, was geschehen ist." „Er will ihn sehen." „Wer?" Laura kam an die offene Küchentür. „Tristan will den Jungen sehen?" „Ja“. Laura schnitt ein Gesicht. „Und wann bringst du ihm den Kleinen?" „ Gar nicht. Er will hierher kommen." Laura strich sich mit der Hand über ihren gewölbten Bauch und ließ sich auf einen Stuhl sinken. „Du lieber Himmel!" Caryn rang sich ein reuevolles Lächeln ab. „Ja, ich sollte wohl ein bisschen Ordnung in meine Wohnung bringen." „Das habe ich nicht gemeint. Außerdem, so chaotisch ist sie gar nicht." Caryn seufzte. „So aufgeräumt auch wieder nicht. Aber seit Lorens Tod ... und seit ich ihn habe ..." Sie nickte in Richtung Kinderwagen, aus dem jetzt ein leises Glucksen zu hören war. Laura schüttelte verständnislos den Kopf. „Ich weiß nicht, wie du überhaupt daran denken kannst, ihn wegzugeben", brach es aus ihr hervor, ohne dass sie es wollte. „Er ist so lieb, so süß ..." „O Laura!" Caryn bewegte sich unruhig im Sessel. „Wie kann ich ihn denn behalten? Ich verdiene nicht genug, um ihn durchzubringen. Das ist das eine.Und wer würde sich um ihn kümmern, wenn ich arbeite? Du kannst es nicht mehr lange tun, und dann ..." „Aber hast du ihn denn nicht lieb?" „Das hätte wohl nicht viel Sinn, oder?" sagte Caryn bitter, stand auf, ging durch das Zimmer und blieb zögernd neben dem Kinderwagen stehen. Natürlich ist es ein süßes Baby, dachte sie ungeduldig, als sie die flaumige Stirnlocke sah, die pummeligen, kleinen Hände, die sich öffneten und wieder schlössen, die sanft geschwungenen Lippen, von denen es aufs Kinn sabberte. Laura hatte Recht - es war ein liebes Baby. Aber für Babys hatte sie keine Zeit.
Der Wasserkessel pfiff, Laura stand auf, um Tee aufzubrühen, und Caryn ging zu ihrem Sessel zurück. Dabei dachte sie, was für gute Freunde die Westons ihr doch immer gewesen waren. Ohne ihre Hilfe hätte sie das Baby niemals so lange behalten können. Andererseits war sie entschlossen gewesen, sich den Jungen auf keinen Fall von der Fürsorge wegnehmen zu lassen. Nicht nach dem, worum Loren sie gebeten hatte. Laura trug das Teetablett ins Wohnzimmer und stellte es dort auf den Tisch. Caryn kam zu ihr, und sie genossen die belebende Wirkung des Getränks. Während sie einen Keks aß, fragte Laura, wann Tristan ROSS denn vorbeikommen wolle. „Das weiß ich nicht", antwortete Caryn seufzend. „Aber ich habe ihm meine Telefonnummer gegeben. Ich nehme an, er wird zuerst anrufen und einen Termin vereinbaren." „Wie war er?" Laura war neugierig, aber Caryn schenkte sich nur noch eine weitere Tasse Tee ein und zuckte gleichgültig die Schultern. „Du weißt, wie er ist", sagte sie. „Du hast ihn schon oft im Fernsehen gesehen." „Ja." Laura lachte verlegen. „Aber es ist etwas anderes, jemand persönlich zu begegnen, oder?" „Ich bin keine Verehrerin von ihm", erklärte Caryn. „Ich weiß", erwiderte sie unbehaglich. „Das wollte ich dir damit auch nicht unterstellen." „Oh, es tut mir Leid." Caryn war zerknirscht. „Beachte mich am besten gar nicht. Ich bin ein sehr undankbares Geschöpf. Und nach allem, was du für mich getan hast ..." Sie bemühte sich, sachlich zu sein. „Er - nun ja, er ist größer, als du vermutlich denkst, und er ist absolut - nun ja, sexy, würde ich sagen." „Dann kannst du also verstehen, weshalb Loren so vernarrt in ihn war?" fragte Laura. „O ja." Caryn musste ehrlich sein, obwohl es ihr gegen den Strich ging, Entschuldigungen für ihn zu finden. „Ich denke, sie war total fasziniert von ihm. Jede leicht zu beeindruckende Frau wäre das." „Und du bist es nicht?" fragte Laura. „Ich!" Caryn sah beleidigt aus. „Das ist ja wohl nicht dein Ernst!" „Warum nicht? Es wäre die Lösung für dein Problem. Hast du daran schon einmal gedacht?" „Was meinst du damit?" „Also, ich dachte, da er der Vater des Jungen ist - und du seine Tante bist -, vielleicht könntet ihr da ..." „Uns zusammentun, meinst du?" Caryn war entsetzt. „Nun ja, warum nicht? Wir alle wissen schließlich - das heißt, du weißt, dass Loren zu Übertreibungen neigte ..." „Laura, was willst du damit sagen?" Caryn sah sie starr an. „Glaubst du etwa nicht, dass Tristan ROSS sein ..." Sie deutete auf den Kinderwagen. „... sein Vater ist?" „O doch", sagte Laura schnell. „Das glaube ich schon. Nur, na ja, vielleicht... vielleicht war es so, dass sie das Kind wollte." Caryn seufzte tief auf. „Ich verstehe. Gut, mag sein, dass Loren ihn ermutigt hat." Sie blickte auf. „Du meine Güte, welche Frau würde das nicht tun?" „Du würdest es nicht tun, hast du gesagt", erinnerte Laura sie, und Caryn senkte den Blick und sah in ihre Teetasse. „Ja, das habe ich gesagt. Und so habe ich es auch gemeint. Aber das ändert nichts an den Tatsachen. Ich glaube, er hat sie rausgeschmissen, als er vermutete, dass sie schwanger sein könnte. Und als sie ihm schrieb, hat er ihre Briefe nicht beachtet." Laura nickte langsam. „Vermutlich hast du Recht." Dann sah sie ihre Freudin an.
„Aber ich kann mir nicht helfen, ich fürchte, du wirst das alles noch bereuen." „Was?" „Dass du ihn weggibst. Caryn, er ist dein Neffe!" „Er ist Tristan ROSS' Sohn. ROSS kann viel mehr für ihn tun als ich." „Das will ich nicht bestreiten." Laura setzte sich gerade auf und zuckte zusammen, als sie den Schmerz im Rücken spürte. „Ich wünschte, das wäre unser Kind, das hier im Wagen liegt. Und all die Beschwerden der Schwangerschaft blieben mir erspart." Caryn lächelte und entspannte sich ein wenig. „Das meinst du nicht so. Du genießt jeden Augenblick. Ich habe Bob noch nie so aufmerksam erlebt wie in den letzten Monaten." Jetzt lächelte auch Laura. „Ja, er ist wundervoll, nicht wahr? Weißt du, dass er neulich Abend noch um halb zwölf losgegangen ist, um mir Fisch und Chips zu holen?" „Fisch und Chips? Um halb zwölf!" Caryn schnitt ein Gesicht. „O Laura, wie konntest du nur?" Laura lachte. „Ich weiß nicht. Ich hatte plötzlich einen Bärenhunger. Am nächsten Tag durfte ich nur Obst und Kräcker essen, bevor ich mich in die Klinik wagte. Ich muss auf meinen Blutdruck achten, weißt du?" „Und den Kle inen hier zu haben macht es auch nicht gerade einfacher, stimmt's?" bemerkte Caryn trocken. „Hoffen wir, dass sein Daddy bald hier auftaucht." Laura sah sie besorgt an. „Ja, hoffen wir das." Sie seufzte, klang jedoch nicht sehr überzeugt.
3. KAPITEL
Caryn arbeitete in Cricklewood. Jeden Morgen übergab sie ihren Neffen in Lauras fürsorgliche Hände und holte ihn um fünf Uhr abends, wieder ab, wenn sie nach Hause kam. Dieses Arrange ment funktionierte sehr gut, nur dass Caryn Schuldgefühle hatte, weil sie glaubte, Lauras Gutmütigkeit auszunutzen. Trotzdem bezahlte sie für diese Dienste, und Laura beteuerte immer wieder, wie gut sie das Geld jetzt brauchen konnten, da das Baby unterwegs war. Caryn arbeitete für den Dekan des Lansworth College und lernte durch ihre Tätigkeit viele junge Männer kennen. Glücklicherweise hatte keiner von ihnen ihr ernsthaft zugesagt, und ihr dauerhaftester Verehrer war der Dekan selbst. Laurence Mellor war ein Mann Anfang fünfzig, immer noch jugendlich und attraktiv. Er hatte eine breite, muskulöse Gestalt und graues Haar. Seine Frau war mit einem Kollegen durchgebrannt, der als Assistent am Lansworth College beschäftigt gewesen war, doch Mellor hatte den Klatsch, der darauf folgte, gut überstanden, war Leiter der Kunstakademie geworden und schließlich Dekan. Caryn war seit vier Jahren seine Sekretärin. Sie kamen gut miteinander aus, und zu Anlässen, bei denen er eine Gastgeberin brauchte, bat er immer Caryn, diese Rolle zu übernehmen. Natürlich wusste er von der Sache mit Loren, wenngleich er nicht alle Einzelheiten kannte. Er wusste, dass sie eine Zeit lang für Tristan ROSS als Sekretärin gearbeitet hatte, ihre Schwangerschaft hatte er damit jedoch nicht in Verbindung gebracht. Als sie starb, war er voller Mitgefühl gewesen. Und er hatte Caryn bereitwillig zwei Tage Urlaub gegeben, an denen sie angeblich eine kranke Verwandte in Südwales besuchte. Caryn kam am Donnerstag ans College zurück. Zu ihrer Erleichterung war Laurence den ganzen Vormittag nicht im Büro, da er an einer Direktionskonferenz teilnahm. Bei seiner Rückkehr war sie in ihre Arbeit vertieft und völlig überrascht, als er sich auf die Ecke ihres Schreibtischs setzte und unvermittelt fragte: „Haben Sie schon beschlossen, was Sie mit Lorens Baby machen werden? Ich halte nichts davon, wenn Sie den ganzen Tag und die ganze Nacht arbeiten." Um Zeit zu gewinnen, speicherte Caryn den Text ab, den sie in ihren Computer eingegeben hatte, und sagte dann ungerührt: „Ich arbeite nicht die ganze Nacht, Laurence." „Nein." Nachdenklich fingerte er an seiner Krawatte herum. „Aber Sie müssen sich abends um ihn kümmern, oder? Und Windeln wechseln. Und diese Dinge. Das heißt, es bleibt Ihnen wenig Freizeit. So kann das nicht weitergehen, Caryn. So geht das nicht. Schließlich ist es nicht Ihr Baby." Caryn sah in sein breites, ausdrucksvolles Gesicht. Offensicht lich sorgte er sich um sie. „Ich werde den Kleinen nicht mehr lange bei mir haben", sagte sie, und seine Miene hellte sich auf. „Nein?" „Nein." Sie zögerte. „Ich kenne da jemand - jemand, der ihm ein Zuhause geben könnte." „Ein Verwandter?" „So könnte man sagen." „Ich verstehe." Laurence war sichtlich erleichtert. Er glitt vom Schreibtisch herunter und stellte sich vor sie, zog die Uhr aus seiner Uhrtasche und sah geistesabwesend darauf. „Ich möchte etwas mit Ihnen besprechen und hatte gehofft, Sie könnten heute mit mir zu Abend essen." Caryn sah ihn bedauernd an. „Heute Abend geht es leider nicht, Laurence", sagte sie entschuldigend. „Ich war zwei Tage weg, wie Sie wissen, und ich möchte La ura nicht schon wieder darum bitten, auf das Baby aufzupassen. Morgen vielleicht ... " „Es hat noch einen Tag Zeit", erklärte Laurence sich einverstanden. „Dann eben
morgen Abend. Wo wollen wir essen? In London - oder außerhalb?" „Wo immer Sie möchten", antwortete Caryn, freute sich schon auf die Abwechslung von der Alltagsroutine, und Laurence ging und sagte, er wolle es sich überlegen. Sie aßen in London, bei Beluccis in Soho, wo Laurence ein geschätzter Kunde war. Das Restaurant war klein, aber nicht billig, und ein Ecktisch war immer für ihn frei. Die Beleuchtung war gedämpft und intim, und Caryn hatte ihn vorher schon zwei Mal hierher begleitet. Er bestellte Martinis und kam gleich zur Sache. „Man hat mich für die Sommerferien in die Staaten eingeladen", begann er. „An verschiedene Universitäten, zu Vorlesungen, zu Seminaren. Es ist so eine Art akademischer. Forschungsurlaub." Er machte eine Pause, als der Ober die Getränke brachte. „Aber ich möchte das nicht allein machen", fuhr er fort, als sie wieder ungestört waren. „Ich möchte, dass Sie mitkommen." „In die Staaten!" stieß Caryn überrascht hervor. „Laurence!" „Ja, warum nicht? Sie sind meine Sekretärin, oder?" „Ja, aber ..." „Aha, ich verstehe. Sie machen sich Gedanken, was die Leute sagen werden. Das kann ich Ihnen nicht verübeln. Colleges sind berühmt-berüchtigt für Klatsch." „Nicht nur das, Laurence. Ich meine - die Kosten ..." Er stellte sein Glas ab und reichte über den Tisch und nahm ihre Hand. Auch das hatte er vorher schon gemacht. Wenn er etwas wollte, konnte er so manipulativ sein wie jeder andere. Diesmal jedoch war Caryn beunruhigt durch den Glanz in seinen Augen. „Caryn", sagte er leise. „Haben Sie jemals daran gedacht, zu heiraten?" „Heiraten?" Sie schüttelte den Kopf. „Nicht ernsthaft, ne in." „Niemals?" „Nein." Sie versuchte, es ins Lächerliche zu ziehen, da ihr nicht gefiel, welche Wendung das Gespräch genommen hatte. „Mich hat noch keiner gefragt." „Das kann ich nicht glauben." „Nun ja, zumindest keiner, den ich hätte heiraten wollen." „Heiraten Sie mich, Caryn. Heiraten Sie mich!" Sofort entzog sie ihm ihre Hand und presste sie fest in die andere, die auf ihrem Schoß lag. „Laurence!" rief sie aus. „Das kann nicht Ihr Ernst sein." „O doch. O doch." Er seufzte. „Ist es mein Alter? Ist das ein Hindernis?" „Ich liebe Sie nicht, Laurence ..." „Liebe!" stieß er verächtlich hervor. „Was ist Liebe? Ich habe Cecily geliebt, und sehen Sie nur, wohin es mich gebracht hat!" Er schüttelte den Kopf. „Sie denken, ich sei zu alt, nicht wahr?" „Laurence, wenn ich einen Menschen lieben würde, wäre es mir egal, wie alt er ist. Ehrlich." Er gab nicht auf. „Sie könnten mich lieben lernen. Ich würde es Sie lehren." „Warum?" Caryn zog die Brauen hoch. „Lieben Sie mich?" Unruhig rutschte er auf seinem Stuhl hin und her. „Wie ich schon sagte, ich glaube nicht an dieses törichte Gefühl." Und er fuhr fort: „Caryn, wir haben so vieles gemeinsam. Unsere Arbeit, unsere Liebe zur Musik und Literatur ..." „Es würde nicht gut gehen, Laurence. Das reicht nicht aus für eine Ehe." Der Ober kam an ihren Tisch und wartete auf ihre Bestellung, und etwas ungeduldig schlug Laurence vor, sie sollten sich die Speisen auswählen. Aber Caryn hatte kaum noch Appetit, und sie bestand darauf, dass ein Omelett mit Salat alles sei, was sie sich wünsche. Der Ober ging, und Laurence setzte seinen Angriff fort. „Gut", sagte er ruhig, „wenn Sie mich nicht heiraten wollen, dann begleiten Sie mich wenigstens. Ich brauche Sie." „Sie brauchen irgendjemand", verbesserte sie ihn ebenso ruhig. „Und genau deshalb
werde ich Sie nicht heiraten, Laurence. Weil ich nicht einfach irgendjemand bin, ich bin ich! Ich will mein Leben nicht als ein Niemand verbringen." Er sah verletzt aus. „Ich denke, Sie sind unnötigerweise hart. Wenn ich Sie jemals so behandelt habe, dann tut es mir Leid ..." „Ich sage nicht, dass Sie es getan haben - bis jetzt nicht. Aber wenn wir verheiratet wären ... Ach, es hat keinen Zweck, Laurence. Vergessen wir die Geschichte, ja?" „Und die Reise?" „Ich weiß nicht. Ich weiß es einfach nicht." Er biss sich auf die Lippe. „Wir könnten uns als Verlobte aus geben. Für die Dauer der Reise, meine ich." Caryn lachte. „Das hört sich an wie aus einem Liebesroman! Ehrlich, ich habe noch nie geglaubt, dass Leute für so etwas zu haben sind." „Für was?" „Vorgetäuschte Verlobungen." Sie lachte wieder und fühlte sich dabei so unbeschwert wie seit Tagen nicht mehr. „Wirklich, Laurence! Wenn ich mit Ihnen kommen wollte, glauben Sie, mich würde dann ein bisschen Klatsch davon abhalten?" Er setzte eine beleidigte Miene auf. „Bei Ihnen ist das etwas anderes", sagte er. „Sie sind jung - und sehr attraktiv. Und Sie haben keine herausragende Position am College inne. Ich bin Rektor. Ich kann es mir nicht leisten, etwas zu tun, das meinem Amt schadet." Caryn gab nach. „O Laurence! In Ordnung. Schauen Sie nicht so beschämt drein. Ich weiß, was Sie meinen, aber - gut, ich werde darüber nachdenken." „Worüber?" fragte er gespannt. „Mich zu heiraten?" „Nein. Mit Ihnen in die Staaten zu reisen. Als Ihre .Verlobte", wenn es sein muss." Inbrünstig beugte er sich zu ihr. „Denken Sie gründlich darüber nach, ja?" Es war nicht spät, als er sie nach Hause brachte, nicht später als zehn Uhr. Laurence ging nie spät ins Bett. Nachdenklich stieg Caryn die Treppen zu ihrer Wohnung hinauf. Sie war sich nicht sicher, ob sie sich für oder gegen die Reise nach Amerika entscheiden sollte. Gewiss, die Vorstellung, dieses Land zu besuchen, war verlockend. Aber als Laurence' Verlobte? Ob nun echt oder gespielt? Sie schüttelte den Kopf. Sie ließ sich nicht gern auf etwas ein, das sich später vielleicht als unerwartet problematisch herausstellte. Caryn sah einen Lichtstrahl unter der Tür, als sie oben an der Treppe ankam, und runzelte die Stirn. Für gewöhnlich hatte Laura das Kind in ihrer Wohnung. Gelegentlich kam sie zum Babysitten in Caryns Räume, aber normalerweise nur, wenn Bob Freunde zum Kartenspiel eingeladen hatte, und davon hatte sie an diesem Abend nichts gesagt. Trotzdem ... Caryn fand ihren Schlüssel, steckte ihn ins Schloss und betrat das Wohnzimmer. Dann blieb sie überrascht stehen. Laura war da, saß nervös auf der Couch, und ihr gegenüber, lässig in einem Sessel, saß Tristan ROSS. Er stand auf, als sie hereinkam, und in diesem Moment dachte sie, wie deplatziert er in seinem dunkelblauen Anzug hier doch wirkte. Bevor sie weggegangen war, hatte sie Babysachen gewaschen und auf einem Trockner aufgehängt. Über einer Armlehne hingen zusammengelegte Decken, eine halb volle Flasche stand auf dem Tisch. Schuhe und Leggings, die sie an diesem Tag getragen hatte, waren achtlos in einer Ecke verstreut. Laura stand auf, sah sie entschuldigend an und zuckte hilflos die Schultern. „Nun... Mr. ROSS kam, kurz nachdem du gegangen warst, Caryn", erklärte sie verlegen. „Er bestand darauf, zu warten." Caryn presste kurz die Lippen zusammen, dann begegnete sie Ross' Blick. „Tut mir Leid." Sie machte eine Pause. „Sie hätten vorher anrufen sollen." Er schwieg und sah zu Laura hinüber. Sie verstand seine stumme Aufforderung und bewegte sich unbeholfen auf die Tür zu. Doch Caryn hielt sie zurück. „Geh nicht, Laura ..."
„Ich denke, was wir uns zu sagen haben, sollte unter vier Augen geschehen", bemerkte Tristan Ross trocken. Laura nickte und ging zur Tür. „Er ist im Schlafzimmer", flüsterte sie Caryn zu, und die lächelte dankbar. Nachdem sich jedoch die Tür hinter Laura geschlossen hatte, fühlte Caryn sich beschämt wie nie zuvor in ihrem Leben. Sie verachtete sich selbst für die schreckliche Unordnung in ihrer Wohnung. Und auch ihn verachtete sie, weil er hierher gekommen war und sie sich jetzt so klein fühlte. Verglich er diese Be hausung mit seinem herrlichen Haus? Wie könnte er es nicht tun? Dennoch, überlegte sie zynisch, vielleicht wird ihn das davon überzeugen, dass sein Kind es nicht verdiente, hier aufzuwachsen. Jetzt sagte sie kurz angebunden: „Haben Sie ihn gesehen?" „Den Jungen?" Er nickte. „Ja." Caryn ließ ihre Handtasche auf den Boden fallen. „Und?" „Er ist ein hübsches Kind. Sie sollten stolz auf ihn sein." „Was meinen Sie damit?" fragte sie. Tristan ROSS schob die Hände in die Hosentaschen und sah Caryn offen an. Seltsam, seine Umgebung schien ihn nicht zu stören. Zweifellos hatte er in Ostafrika viel Schlimmeres gesehen. Wahrscheinlich war er auf alle Eventualitäten gefasst, hatte es gelernt, keine Gefühle zu zeigen, unter welchen Umständen auch immer. Das war schließlich sein Job. „Ich meine", sagte er, „dass man sich offensichtlich sehr gut um ihn gekümmert hat, trotz Ihrer geistigen Verwirrung." „Trotz welcher geistigen Verwirrung?" „Nun, Lorens Tod muss ein ziemlicher Schlag für Sie gewesen sein. Das kann ich verstehen." Caryn fragte sich, ob er tatsächlich das gemeint hatte. Sie wollte ihn fragen, was nun seine Pläne seien, nachdem er das Baby gesehen habe. Sie wollte ihn fragen, ob er bereit sei zuzugeben, dass es sein Kind sei. Aber irgendwie brachte sie es nicht fertig. Stattdessen ging sie ruhelos im Raum umher und sagte: „Hat Laura Ihnen etwas zu trinken angeboten?" „Tee, ja. Ich habe abgelehnt." Caryn zögerte. „Möchten Sie Sherry ..." „Ich möchte gar nichts." Bedeutungsvoll blickte er auf die schmale Platinuhr an seinem Handgelenk. „In weniger als einer halben Stunde muss ich gehen. Um elf treffe ich jemand." Nach einer Pause fuhr er fort: „Ich habe mir die Sache gründlich überlegt, und unter gewissen Bedingungen bin ich bereit, den Jungen zu unterstützen." „Wirklich?" Sie sah ihn an und konnte kaum glauben, was er da eben gesagt hatte. „Ja." Er blickte hinter sich. „Darf ich mich setzen?" „Oh! Ja, natürlich. Bitte!" „Danke." Er ließ sich in den Sessel sinken und zeigte auf die Couch ihm gegenüber, auf der zuvor Laura gesessen hatte. Caryn schüttelte den Kopf. „Wie gesagt - unter gewissen Bedingungen, Ich denke, Sie sollten sich besser setzen, bevor ich Ihnen die Einzelheiten erkläre." „Sprechen Sie weiter." „Wie Sie wollen." Er blickte auf und sah sie mit seinen seltsam bernsteinfarbenen Augen an. „Ich nehme den Jungen zu mir, vorausgesetzt, Sie sind bereit mitzukommen. Er kennt Sie. Und ich denke, er braucht Sie." „Was!" Dankbar, sich setzen zu können, ließ sie sich nun doch auf die Couch sinken und lehnte sich in die Polster zurück. „Aber ich bin kein Kindermädchen." „Nein, Sie sind Sekretärin. Sie arbeiten für den Dekan des Lansworth College, einen Mann namens Laurence Mellor. Mit ihm waren Sie heute Abend essen, wie Ihre Freundin, Mrs. Weston, mir gegenüber erwähnte." „Woher wissen Sie - haben Sie Nachforschungen über mich angestellt?" Sie war
entsetzt. „Ich habe sehr fähige Mitarbeiter. Ihre Aufgabe ist es, Informationen über bestimmte Personen zu beschaffen. Insbesondere von Personen, die ich zu interviewen habe." „Aber ich bin keiner Ihrer Fernsehkandidaten!" „Nein, dennoch musste ich Sie überprüfen lassen." „Und Loren ..." „Und Loren", stimmte er zu. „Wie kaltblütig Sie doch sind!" „Nur praktisch veranlagt", erwiderte er ruhig. „Können wir jetzt über die Einzelheiten sprechen ..." „Ich arbeite nicht für Sie!" Wütend funkelte sie ihn an. „Und Sie vergessen, dass ich einen Job habe." „Ich vergesse überhaupt nichts. Wenigstens glaube ich das. Die Sommerferien beginnen in etwa zwei Wochen. Bis September hat Dekan Mellor bestimmt eine neue Sekretärin gefunden." „Selbst wenn Sie mich mit Diamanten bezahlten, möchte ich nicht in Ihrem Haus leben!" Er zuckte die Schultern. „Dann ist die Sache erledigt." „Was soll das heißen?" „Genau das, was ich gesagt habe." „Aber Sie haben doch zugegeben, dass der Junge Ihr Sohn ist." „Gar nichts habe ich zugegeben!" erwiderte er kurz angebunden. „Ich sagte, ich sei unter gewissen Bedingungen bereit, ihn großzuziehen. Wenn Sie nicht bereit sind, diese Bedingungen zu erfüllen, will ich mit der ganzen Sache nichts mehr zu tun haben." „Das können Sie nicht machen." „Warum nicht?" „Ich werde mich an die Presse wenden." „Und was wollen Sie sagen? Wie wollen Sie Ihre Behauptungen beweisen?" „Loren war Ihre Sekretärin, als sie schwanger wurde." „Na und? Wenn man jeden Chef für die Schwangerschaft seiner Sekretärin verantwortlich machen wollte ..." „Sie-Sie Mistkerl!" „Wieso das denn? Weil ich die Wahrheit sage? Wer würde Ihnen schon glauben?" „Etwas bleibt immer hängen." „Na gut." Er stand auf. „Dann ruinieren Sie mich. Und was hilft es Ihnen?" Caryns Lippen bebten. „Ich werde es tun." „Ich kann Sie nicht daran hindern." Er ging auf die Tür zu. „Ich wünsche Ihnen eine gute Nacht." „Nein!" rief sie gequält aus. „Mr. ROSS, bitte! Wie können Sie Ihren eigenen Sohn verleugnen?" „Wie können Sie Ihren Neffen verleugnen? Er ist das Fleisch und Blut Ihrer Schwester, oder etwa nicht?" Caryn zögerte. „Was würde man von mir erwarten?" „Nun, ich verlange nicht von Ihnen, sein Kindermädchen zu sein." „Aber Sie sagten doch ..." „Ich sagte, dass er Sie braucht. So ist es ja wohl. Aber ich beabsichtige, ein Kindermädchen einzustellen, das sich um sein körperliches Wohlergehen kümmert." „Und was soll ich dann tun?" An der Tür blieb er stehen. „Ich brauche eine Sekretärin. Aus zuverlässiger Quelle weiß ich, dass Sie sehr tüchtig sind ..." Spöttisch ließ er den Blick durch den Raum gleiten. „... auf diesem Gebiet." Caryn schoss die Röte ins Gesicht. „Ich wollte aufräumen, bevor Sie kamen", rief sie entschuldigend aus, und ein leises Lächeln umspielte seine Mundwinkel.
„Das glaube ich Ihnen. Nun? Spielt das eine Rolle?" Wieder sah er auf seine Uhr. „Ich habe nicht viel Zeit." „Sie können doch nicht erwarten, dass ich eine so wichtige Entscheidung ganz spontan treffe." „Warum nicht?" Ohne dass sie es wollte, schweifte ihr Blick zur Schlafzimmertür. Sie hatte sich gewünscht, ihn für immer und ewig aus ihrem Leben zu verbannen. Alles, was sie für ihn getan hatte, hatte sie kalt und teilnahmslos getan und ihm damit verwehrt, sich in ihr Herz zu stehlen. Sie hatte gewusst, dass früher oder später jemand kommen und ihn ihr wegnehmen würde, dass sie einfach nicht allein für ihn sorgen konnte. Und nun drängte Tristan ROSS sie dazu, den Jungen als ihren Neffen anzuerkennen, verlangte von ihr, Zeugin seiner Entwicklung zu werden, schmiedete Fesseln, die sie später unmöglich sprengen konnte. Gefasst wandte sie sich Tristan ROSS zu, nur ihre Augen verrieten ihren inneren Kampf. „Na schön", sagte sie leise. „Ich werde es tun." „Gut. Wann sind Sie fertig für die Abreise?" Caryn biss sich auf die Lippe. „Wie Sie bereits sagten, beginnen die Sommerferien in ein paar Wochen ..." Erst jetzt fiel ihr Laurence' Amerikareise wieder ein. Wenigstens war dieses Problem gelöst. Aber wie sollte sie sich herausreden? „Dann kommen Sie also, sobald das College für die Sommerpause seine Tore schließt", sagte Tristan ROSS, und sie nickte widerwillig. „Ich muss mich vorher noch abmelden. " „Bei Mellor. Ja." Tristan runzelte die Stirn. „Was werden Sie ihm sagen?" Caryn schüttelte den Kopf. „Das weiß ich noch nicht." „Ich schlage vor, Sie erzählen ihm, Sie hätten sich auf eine Anzeige hin als Sekretärin in Südwales beworben, und man habe Ihnen erlaubt, das Kind mitzubringen. Natürlich wussten Sie zum Zeitpunkt der Bewerbung nicht, dass es sich um mich handelte." „Ich hatte mir freigeben lassen, um angeblich eine kranke Verwandte in Wales zu besuchen", sagte sie, mehr zu sich selbst. „Na, sehen Sie. Wenn Sie wollen, können Sie ihm auch erzählen, dass ich mich noch an Loren erinnerte." „Aber ..." Caryn sah ihn besorgt an. „... wäre das nicht etwas seltsam?" „Mellor bewegt sich in anderen Kreisen als ich. Weshalb also sollte es seltsam sein? Es ist eine Geste der Großzügigkeit, nichts weiter." „Großzügigkeit!" wiederholte Caryn verbittert, und er zog die Brauen hoch. „Das ist es tatsächlich, glauben Sie mir", versicherte er ihr. „Eines Tages werden Sie das noch herausfinden." Schwungvoll öffnete er die Tür, und plötzlich wurde Caryn bewusst, worauf sie sich eingelassen hatte. „Ich weiß gar nicht, was man als Ihre Sekretärin zu tun hat", rief sie aus, und er sah sie belustigt an. „Den Computer bedienen, Dateien führen, Korrespondenz erledigen. Ich nehme an, damit dürften Sie keine Schwierigkeiten haben." Caryn nickte steif. „Natürlich nicht." „Problem gelöst. Ich melde mich wegen des Kindermädchens." „Sie melden sich?" „Ich dachte, Sie würden das Kindermädchen gern selbst aussuchen. Von diesen Dingen verstehe ich nämlich nicht sehr viel." Caryn war überrascht, aber sie hatte jetzt andere Dinge im Kopf. „Mr. ROSS ... Ihre Tochter ..." „Überlassen Sie Angel nur mir", erwiderte er, verabschiedete sich kurz und ging.
4. KAPITEL
Es war früh am Abend, als die Wasser der Mündung in Sicht kamen, und die erfrischende Brise, die von ihnen heraufwehte, ließ Caryn tief durchatmen. Der Nachmittag war lang und heiß gewesen. Das und die hohe Luftfeuchtigkeit hatten dem Baby Beschwerden gemacht. Der Junge hatte ununterbrochen geschrieen, seit sie Gloucester verlassen hatten, und Caryn war froh, Miss Trewen bei sich zu haben. Miss Trewen war ihnen von einer namhaften Agentur vermittelt worden und verfügte über die besten Referenzen. Ihr Alter war wie vieles andere an ihr nicht einzuschätzen, ihre Sanftheit und ihr Mitgefühl jedoch waren mehr als offensichtlich. Caryn kam es vor, als wären drei Wochen vergangen, seit sie diese Fahrt zum letzten Mal gemacht hatte, aber so lange war es noch gar nicht her. So vieles war inzwischen geschehen. So vie les hatte sich verändert. Und wenn sie an ihr letztes Gespräch mit Laurence Mellor dachte, war sie beinahe froh, London verlassen zu haben. Nur eines bedauerte sie: dass sie Laura und Bob nicht mehr in ihrer Nähe hatte. Laura würde den Jungen schrecklich vermissen, aber in etwa zehn Wochen hätte sie ihr eigenes Baby, und bald wäre alles andere vergessen. Da Caryn nicht wusste, wie lange sie in Wales bleiben würde, hatte sie ihre Wohnung aufgegeben. „Ist es noch weit, Miss Stevens?" Miss Trewen saß hinter ihr in dem kleinen Renault, und Caryn warf einen Blick über die Schulter. „Noch eine halbe Meile ungefähr", antwortete sie der älteren Frau. „Ich hoffe, er hat sie nicht zu sehr genervt." „Du lieber Himmel, nein." Miss Trewen klang ganz schockiert. „Aber wir brauchen jetzt bald unser Abendessen." Es dauerte einen Moment, dann dämmerte Caryn, dass Miss Trewen meinte, das Baby brauche sein Essen. Die Straße überquerte die Hängebrücke und fiel Richtung Druid's Fleet steil ab. Caryn atmete tief die belebende Luft ein, die nach salzigem Tang roch. Zweifellos hatte es seine Vorteile, hier zu leben. Ob sie das wettmachten, was Tristan ROSS für sie bereithielt, blieb abzuwarten. Sie hörte die laute Popmusik, noch bevor sie das Tor zur Einfahrt erreichten. Diesmal ließ sie den kleinen Renault die wenigen Schritte bis zum Haus im Leerlauf hinunterrollen. Es war ein schöner Juliabend, und jedes Fenster im Haus schien geöffnet, um den ohrenbetäubenden Lärm der Popklänge nach draußen dringen zu lassen. Miss Trewen tippte ihr auf die Schulter und sah betroffen drein. „Was ist das?" Das fragte Caryn sich auch. „Ich weiß nicht", gestand sie entschuldigend. Gab Tristan ROSS eine Party? Er wusste, dass man sie an diesem Nachmittag erwartete. Und sicher wusste er auch, dass eine solche Atmosphäre für ein Baby nicht geeignet war. Und was Miss Trewen betraf ... Sie sah eindeutig besorgt aus. In diesem Moment wachte der Kleine auf und fügte dem Lärm sein eigenes Geschrei hinzu. Caryn bat Miss Trewen, einen Moment zu warten, stieß die Wagentür auf und stieg aus. Wo immer Tristan ROSS jetzt auch sein mochte, sie würde ihn finden, und dann ... In ihren hellen Jeans und der Baumwollbluse ging sie aufgebracht auf die Eingangstür zu, die weit offen stand wie die Fenster. „Mr. ROSS?" Ihre Worte gingen unter in dem Gedröhne, das von dem rückwärtigen Teil des Hauses zu kommen schien. Caryn biss die Zähne zusammen, schritt die Stufen hinauf in die obere Halle und rief noch einmal. Wieder keine Antwort. Sie seufzte und ging die Treppe zum unteren Stockwerk hinunter. Hier war das Gedröhne noch viel lauter, und sie stellte fest, dass sie Livemusik hörte und keine Aufnahmen, wie sie zunächst vermutet hatte. Wer, zum Kuckuck, war das? Und was ging hier vor?
Der Richtung folgend, aus der der Lärm kam, durchquerte sie die Halle bis zu der Tür, durch die Marcia an jenem ersten Abend gegangen war und von der sie dachte, sie führe nur in die Küche. Aber vielleicht hatte sie sich getäuscht. Sie öffnete die Tür und trat über die Schwelle. Jetzt hörte sie Stimmen, Musik und Gelächter. Sie ballte die Hände zu Fäusten. Also doch eine Party. Was, in aller Welt, hatte das zu bedeuten? Ein Durchgang führte zu einer glasüberdachten Loggia, und von hier kam der Lärm. Während Caryn weiterging, fiel ihr Blick da und dort auf junge Leute, die sich im Takt der Poprhythmen bewegten. Es roch nach Tabak und Alkohol. Eine Party. Aber wer gab sie? Und für wen? Als sie vor der Loggia zögernd stehen blieb, erblickte ein junger Mann sie und kam strahlend lächelnd auf sie zu. „Hallo", begrüßte er sie herzlich. „Wer bist du? Ich hab dich noch auf keiner von Angels Partys gesehen." Angel! Das hätte sie sich denken können. Wo aber war Tristan ROSS? „Ich komme nicht zur Party", erklärte sie, betrat die Loggia, um etwas Abstand zwischen sich und den jungen Mann zu bringen, und sah sich ungeduldig um. Es waren etwa dreißig Leute da, unterhielten sich, tanzten oder beobachteten die Gruppe auf dem Podium am anderen Ende. Kein Einziger beachtete die Aussicht. Wie von dem darüber liegenden Wohnzimmer hatte man auch von hier aus den Blick auf die Mündung. Ein Tisch, auf dem eine beachtliche Auswahl an Flaschen stand, war mit schmutzigen Gläsern übersät. Und die Luft war dick vom Zigarettenqualm. „Du bist nicht auf der Party?" Der junge Mann stand direkt hinter ihr. „Danach siehst du mir gar nicht aus." Caryn seufzte und drehte sich zu ihm um. „Wo ist Mr. ROSS?" „Wer?" „Mr. ROSS. Tristan ROSS - Angela ROSS' Vater." „Ach so, Angels Daddy!" Er nickte langsam, zog ein Päckchen Zigaretten heraus und bot ihr eine an. Caryn lehnte ab, und er steckte sich eine zwischen die Lippen, bevor er weitersprach. „Er ist nicht da." Er zündete sich die Zigarette an und grinste. „Aber du bist da, und ich bin da. Wie war's also, wenn wir es bringen, hm?" Caryn sah ihn scharf an. „Sagen Sie mir nur, wo - Angela ist", erwiderte sie kalt. „Komm schon! Weißt du, wer das da drüben ist?" „Es interessiert mich nicht besonders." „Sag jetzt bloß nicht, du hast noch nie von ihnen gehört." Caryn blinzelte und sah zu den Musikern hinüber. Natürlich hatte sie schon von dieser Band gehört. Sie belegte wochenlang die ersten Ränge der Charts-, und trotz ihrer Verärgerung war sie tief beeindruckt. Wenn man einen Vater wie Tristan ROSS hatte, nun ja ... da war vieles möglich. Das änderte jedoch nichts an der Tatsache, dass er von ihrer Ankunft wusste und abwesend war, nur damit seine Tochter mit ihrer Fete das geduldigste Kindermädchen entnerven konnte. „Sagen Sie mir jetzt, wo Angel ist", wiederholte Caryn, und leicht beleidigt zeigte der junge Mann auf eine Gruppe von Leuten, die nicht weit vom Podium entfernt standen. „Geradeaus", sagte er schleppend mit amerikanischem Ak zent, und Caryn machte sich auf den Weg. Tristans Tochter sah sie an, schien sie jedoch nic ht wieder zu erkennen. „Ja?" fragte sie, und in diesem Moment merkte Caryn, dass Angela genau wusste, wer sie war. „Ich suche Ihren Vater", erklärte Caryn. „Vielleicht können Sie mir sagen, wann er zurück sein wird." Angel zuckte die Schultern, und die Jungen und Mädchen, die um sie herum standen, tauschten amüsiert Blicke aus. „Weshalb wollen Sie zu ihm?" fragte Angel. Caryn war versucht, ihr die Antwort darauf zu geben, hier vor all ihren Freunden. Wie
würde Angela sich wohl fühlen, wenn sie, Caryn, bekannt gab, dass sie den unehelichen Sohn ihres Vaters gebracht hatte, damit der hier aufwuchs? Wie viel wusste das Mädchen? Wie viel hatte er bereitwillig erzählt? „Nun, wann ist er zurück?" fragte sie, und der Blick ihrer grünen Augen schien Angela zu durchbohren. „Woher soll ich das denn wissen?" Caryn beherrschte sich nur mühsam. „Kann ich ihn irgendwie erreichen?" Angela schmollte. „Sie können ihn ja im Studio anrufen, wenn Sie wollen. Aber es wird ihm nicht gefallen." „Danke." Caryn drehte sich um, da legte ihr jemand die Hand auf die Schulter, und sie wirbelte empört herum. Vor ihr stand Dave O'Hara, der Leadgitarrist der Band. „Gibt es Probleme?" Dave hatte eine freundliche Stimme, und als Caryn ihn ansah, begegnete sie auch einem freundlichen Blick. Dave war nicht viel größer als sie, war stämmig und hatte kurzes Haar. „Schon gut, Dave", sagte Angela jetzt. „Die neue Sekretärin meines Vaters ist eingetroffen, das ist alles. Zu einem sehr ungünstigen Zeitpunkt, wie nicht anders zu erwarten." Dave beachtete Angela nicht weiter, sein Blick ruhte noch immer auf Caryn, seine Hand noch immer auf ihrer Schulter. „Stimmt das?" fragte er. „Sie werden für Tristan ROSS arbeiten?" Caryn nickte. „Ich war gerade auf der Suche nach ihm." „Er muss gleich wieder da sein", versicherte Dave. „Er wurde unverhofft von hier weggerufen, stimmt's, Angel?" Jetzt sah er Angel an, und die zuckte gleichgültig die Schultern. In den engen Jeans und dem schmalen Top bot sie einen verführerischen Anblick, Dave jedoch schien durch sie hindurchzusehen. „Ich weiß, wovon ich rede", fuhr er fort und wandte sich wieder Caryn zu. „Tris lässt uns hier manchmal proben, und dann schleppt Angel ihre Clique hier zu einer Party an. Als Tris heute Nachmittag wegmusste, rief Angel mich an. Genug gesagt?" Es erklärte vieles, und Caryn war dankbar. „Tut mir Leid, wenn ich Ihre Party gestört habe", entschuldigte sie sich. „Wirklich?" Angela war immer noch aggressiv. „Ich werde Marcia veranlassen, Ihnen Ihr Zimmer zu zeigen." „Behandelt man so einen Gast?" protestierte Dave plötzlich, und sie schnitt ein Gesicht. „Miss Stevens ist kein Gast!" erwiderte sie und biss sich auf die Lippe, als Dave die Augen zusammenkniff, nachdem er Caryns Namen gehört hatte. „Miss Stevens!" wiederholte er. „Na, wenn das kein Zufall ist." „Nein, ist es nicht", erklärte Angela kurz angebunden. „Sie ist Lorens Schwester." „Ach wirklich?" Wieder sah Dave Caryn an. „Und was wissen Sie?" Caryn zog die Brauen zusammen. „Sie kannten meine Schwester?" „Jeder kannte Ihre Schwester", erwiderte Angela trocken. „Wussten Sie das denn nicht?" Caryn wurde rot, doch bevor sie eine passende Antwort geben konnte, war eine ärgerliche Männerstimme zu vernehmen. Eine Stimme, die Caryn nur zu gut kannte, und die Musik auf dem Podium verstummte schlagartig. „Ich habe gefragt, was, zum Teufel, hier vor sich geht?" Tristan ROSS kam mit großen Schritten quer durch den Raum auf sie zu, und Dave nahm die Hand von Caryns Schulter. „Angel, um Himmels willen, hast du völlig den Verstand verloren?" Angela war eingeschnappt. „Ich weiß gar nicht, was die ganze Aufregung soll..." begann sie, aber ihr Vater unterbrach sie.
„Ich hatte dir gesagt, dass Miss Stevens und das Kind heute Nachmittag eintreffen", stellte er eisig fest. „Und was muss ich sehen? Ein Kindermädchen sitzt mit rotem Kopf und empört in einem Wagen vor dem Eingang und versucht verzweifelt, ein schreiendes Kleinkind zu beruhigen, während hier drinnen ein Höllenspektakel wütet!" Verärgert ließ er den Blick über Caryn gleiten. „Und was haben Sie gemacht? Die Band angefeuert?" „Nein!" Jetzt war auch Caryn entrüstet. „Das stimmt", mischte Dave sich ein. „Sie hat dich hier gesucht, Tris. Und", fügte er humorvoll hinzu, „es gefällt mir gar nicht, wenn du unsere Musik als Höllenspektakel bezeichnest." Tristan ging darauf nicht ein. „Ich habe Miss Trewen und den Kleinen erst mal ins Wohnzimmer gebracht, aber ihr verschwindet von hier in den nächsten fünf Minuten, habt ihr verstanden?" Er sah seine Tochter an. „Und wenn du noch einmal so etwas machst, kannst du dich ihnen anschließen." Er legte Caryn die Hand unter den Ellbogen. „Kommen Sie", sagte Tristan, „beruhigen wir Miss Trewen, die vielleicht schon befürchtet, Sie seien in dem Gedränge verloren gegangen." Die Tür zum Wohnzimmer war geschlossen, und Tristan blieb davor stehen. „Tut mir Leid, diese Geschichte. Aber Angel war nicht gerade begeistert von der Vorstellung, ein Baby im Haus zu haben." „Das kann ich mir vorstellen." Er seufzte. „Ich habe ihr gesagt, dass das Kind Ihr Neffe sei." „Mehr nicht?" stieß Caryn überrascht hervor. Seine Züge verhärteten sich. „Was sonst hätte ich sagen sollen?" „Das fragen Sie noch!" Jetzt wurde er ungeduldig. „Hören Sie, dies ist weder der rechte Zeitpunkt noch der rechte Ort, darüber zu reden. Ich will Ihnen und dem Kind ein Zuhause geben. Und das sollte im Augenblick genügen." „Absolut nicht", schimpfte sie wütend. „Was wird sie von mir denken?" „Wer? Miss Trewen?" Er zuckte die Schultern. „Sie weiß ..." „Nicht Miss Trewen! Angela!" „Hat mich jemand gerufen?" Angela kam in die Halle gestürmt, gefolgt von einem Pulk junger Leute und Musiker, von denen einige ihre Instrumente trugen. Ungeduldig wandte Tristan sich ihr zu. „Wie ich sehe, zieht ihr ab. Es wird auch Zeit." „Bis demnächst", rief Dave Caryn zu, als er an ihr vorüberging, und sie lächelte ihm kurz zu. Tristan deutete auf die Tür zum Wohnzimmer. „Ich schlage vor, wir gehen hinein, bevor wir noch niedergetrampelt werden." Miss Trewen schritt, das Baby auf dem Arm, im Raum hin und her und war sichtlich erleichtert, als sie Caryn erblickte. „Jetzt werden Sie wohl denken, in einem Irrenhaus gelandet zu sein", sagte Tristan ROSS an Miss Trewen gewandt mit jenem Lächeln, das ihm schon so viel Bewunderung eingebracht hatte. „Ich muss mich für diesen Empfang bei Ihnen entschuldigen." Miss Trewen war leicht zu besänftigen. „Unser junger Mann hier ist hungrig", erklärte sie lächelnd. „Und wir haben eine lange Fahrt hinter uns. Könnten Sie mir bitte das Kinderzimmer zeigen, damit ich mich um den Kleinen kümmern kann?" „Natürlich." Tristan nickte sofort, ging zur Tür und rief: „Marcia, kommen Sie bitte?" Gleich darauf erschien Marcia, stolz und attraktiv wie immer, diesmal trug sie ein kirschrotes Kleid. Fragend sah sie zu Caryn und Miss Trewen. Ihre Züge wurden sanft, als ihr Blick auf dem Kind ruhte, dann wandte sie sich höflich an Tristan. „Führen Sie Miss Stevens und Miss Trewen bitte auf ihre Zimmer", sagte er, und sie
nickte. Dann sah er Miss Trewen an. „Marcia ist stumm", erklärte er ruhig. „Aber wenn nötig, kann sie sich per Zeichensprache oder auf einem Blatt Papier verständigen." „Die Koffer und das übrige Gepäck ..." begann Caryn, als Miss Trewen der Haushälterin folgte. „Ich bringe die Sachen herein", sagte Tristan. „Wo sind Ihre Schlüssel?" „Die stecken noch." Marcia führte sie zwei Treppen hinauf in das obere Stockwerk. Caryn fragte sich, wie viele Etagen das Haus wohl haben mochte. Von vier wusste sie - und von einer Holztreppe, die hinauf zum Dachboden führte. Marcia ging einen langen Gang entlang und blieb an dessen Ende vor einer Tür stehen. Sie stieß sie weit auf, und sie betraten ein helles, sonniges Apartment, das auf beiden Seiten Fenster hatte und dessen Wände mit Figuren aus „Winnie the Pooh", „Peter Rabbit" und dem „Paddington Bear" dekoriert waren. Die hohen Fenster mit Blick auf die Klippe und die Mündung hatten vor den unteren Scheiben dicke Eisenstäbe. Die Auswahl an Spielsachen hätte jedes Kleinkind begeistert. Ein winziger Tisch und dazu passende kleine Stühle standen in einer Ecke und ein Schaukelstuhl, den Miss Trewen sofort für sich in Beschlag nahm. In einer anderen Ecke des Zimmers standen eine elektrische Kochplatte, ein elektrischer Wasserkessel, und der Schrank neben der Spüle enthielt alles, was für die Versorgung eines Babys nötig war. Die Ausstattung war komplett, und leicht verzagt blickte Caryn das Kindermädchen an. Marcia ging weiter und öffnete die Tür zum angrenzenden Raum. Ein blau gestrichenes Kinderbett und eine Polstertruhe mit einem Stapel Bettwäsche darauf standen hier, dem Schlafzimmer des Babys, und Caryn wurde immer verlegener. Miss Trewen dagegen wirkte beunruhigt. „Wusste Mr. ROSS denn nicht, dass Sie selbst ein Kinderbett und Sachen für den Kleinen mitbringen?" fragte sie und beschwichtigte das Baby, als es zu wimmern anfing. „Anscheinend nicht." Verlegen sah Caryn Marcia an. „Ich danke Ihnen." Ein leises Lächeln stahl sich auf Marcias Gesicht. Zum ersten Mal, dachte Caryn erfreut und fühlte sich gleich darauf wieder unbehaglich. Wie sollte sie den Eindruck aufrechterhalten, sie sei eine Angestellte, wenn Tristan ROSS sie so behandelte? Es würde nicht lange dauern, und Miss Trewen würde vermuten, das Kind sei ihres - ihres und das von Tristan ROSS! Inzwischen setzte Marcia ihren Rundgang fort. Offensichtlich hatte sie Freude daran, und Caryn folgte ihnen. Hinter dem Kinderzimmer war ein Raum für Miss Trewen vorgesehen, ein Badezimmer lag dazwischen. Caryn fragte sich, wo sie schlafen sollte. Gewiss nicht bei Miss Trewen, wenngleich in ihrem Zimmer zwei Betten standen. Tris tan ROSS tauchte auf der Türschwelle zum Kinderzimmer auf, zwei Koffer in der einen und einen in der anderen Hand. Hinter ihm tauchte ein älterer Mann auf, der Miss Trewens Habselig keiten trug und den Picknickkorb mit der Babynahrung. „Nun?" Erleichtert setzte Tristan die Koffer vor der Tür ab und kam herein. „Ist alles zur Zufriedenheit?" Verärgert sah Caryn ihn an. „Mehr als das", sagte sie kurz angebunden, und in seinen Augen blitzte es spöttisch auf. „Marcia hatte freie Hand bei der Einrichtung des Kinderzimmers", bemerkte er, und sekundenlang ruhte sein Blick auf dem Baby. Dann sah er Caryn an. „Gefällt es Ihnen nicht?" „Natürlich gefällt es uns, Mr. ROSS", warf Miss Trewen ein, „aber es ist äußerst ungewöhnlich, bis ins letzte Detail an alles gedacht zu haben." Tristan zuckte die Schultern. „Die Schuld dafür müssen Sie Marcia geben." „Ich gebe niemandem die Schuld", protestierte sie. „Bestimmt ist Miss - Miss Stevens ganz überwältigt."
„Sind Sie das, Miss Stevens?" spöttelte er, und Caryn musste sich auf die Zunge beißen, um ihm keine unverschämte Antwort zu geben. „Wo soll ich schlafen?" fragte sie stattdessen. Mit hochgezogenen Brauen sah er die Haushälterin an. „Haben Sie Miss Stevens ihr Zimmer noch nicht gezeigt?" fragte er und fügte hinzu, als Marcia den Kopf schüttelte: „Sie erlauben!" Sie gingen ein paar Schritte den Flur entlang, bevor er eine Tür öffnete und Caryn hineinführte. Es war ein großes, komfortables Wohnschlafzimmer. Dass er sofort die Tür hinter ihnen schloss, löste nicht gerade die Spannung, die sich in Caryn aufgebaut hatte. „Sind Sie verrückt?" fragte sie. „Verrückt? Vielleicht bin ich das. Sie scheinen es offensichtlich zu glauben." Caryn kochte vor Wut. „Sie wissen, was Sie getan haben, oder?" „Denken Sie, ich wüsste es nicht?" „Sie haben Miss Trewen argwöhnisch gemacht. Das ist Ihnen klar, oder?" „Argwöhnisch?" „Ja, argwöhnisch! Welcher Arbeitgeber würde schon ein solches Kinderzimmer herrichten - für den Neffen einer Angestellten? Miss Trewen jedenfalls fand es äußerst seltsam ..." „Es schert mich den Teufel, was Miss Trewen findet", unterbrach er sie. „Sind Sie jetzt zufrieden?" „Was wollen Sie damit sagen?" „Ich will damit sagen, dass Miss Trewen eine Angestellte ist, genau wie Sie, und dass Sie meinen Anweisungen zu folgen hat, oder sie kann verschwinden! Verstanden?" „Ja, Sir!" „Sie haben keinen Grund, frech zu werden", erwiderte er scharf, und sie hob den Kopf. „Wenn Sie mir nun freundlicherweise erklären, welche Aufgabe ich hier zu erfüllen habe, werde ich kein Wort mehr sagen." Ungeduldig strich er sich das Haar zurück. „Muss das jetzt sein?" „Miss Trewen glaubt, sie sei meine Angestellte", fuhr Caryn fort. „Vielleicht können Sie sie über den wahren Sachverhalt aufklären." „Fürchten Sie, sie könnte annehmen, das Kind sei Ihres?" fragte er, und sie zuckte lässig die Schultern. „Falls ja, müssen Sie leider damit leben. Ich sehe keinerlei Veranlassung, ein Kindermädchen über persönliche Dinge zu informieren." „Und falls sie annimmt, es sei auch Ihr Kind?" fragte Caryn herausfordernd. Er presste die Lippen zusammen. „Es ist Ihr Sohn!" „Wie ich sehe, vermeiden Sie noch immer beharrlich, seinen Namen auszusprechen. Ich nehme an, er ist im Geburtsregister eingetragen." „Natürlich." „Unter meinem Namen?" Caryn senkte den Kopf. „Nein." „Nein?" Sie sah auf. „Der Priester - derjenige, der Loren am Ende besucht hat - hat das Kind registriert." „Und?" „Er hat eingetragen, dass der Vater unbekannt sei." „Du meine Güte!" Er stieß einen leisen Pfiff aus. „Und der Name?" „Ich habe Ihnen doch schon gesagt, dass Loren ihn Tristan nannte." „Und als Tristan wurde er eingetragen?" „Ja." „Aha!" Er runzelte die Stirn. „Zwei Tristans also. Das geht nicht!" „Ich wüsste nicht, weshalb es nicht gehen sollte. Ich nenne Sie Mr. ROSS und Miss
Trewen vermutlich ebenso." „Und Tristan?" Caryn sah ihn fragend an. „Der Kleine! Das Baby! Wie wird er mich nennen?" Caryn konnte es sich nicht verkneifen. „Daddy?" schlug sie vor. „Er ist nicht mein Sohn. Ich dachte, das hätten Sie inzwischen verstanden." „Warum sollte ich? Warum hätten Sie uns sonst hierher ge holt?" „Aus christlicher Nächstenliebe vielleicht?" Er schüttelte den Kopf. „Oh, aber lassen Sie uns jetzt nicht schon wieder darüber streiten. Wir werden ihn vorläufig wohl Tristan nennen müssen. Zum Glück nennt Angel mich Tris." Plötzlich wurde Caryn bewusst, wie lange sie schon hier in ihrem Schlafzimmer standen und sich unterhielten. Wenn Miss Trewen zuvor schon argwöhnisch gewesen war, was musste sie erst jetzt denken? „Sie sollten jetzt gehen", sagte sie unvermittelt. „Was ist los?" fragte er. „Miss Trewen muss sich fragen, was wir hier tun. Sie hätten die Tür nicht schließen sollen." „Nein? Wäre es Ihnen lieber gewesen, Marcia und das Kindermädchen hätten unser ganzes Gespräch mit angehört?" „Nein, aber ..." Sie seufzte. „Ich sollte Ihnen wohl dankbar sein. Für alles - was Sie getan haben. Aber ..." „Es fällt Ihnen schwer?" Er legte die Hand auf die Türklinke. „Machen Sie sich darüber keine Gedanken. Ich kann auch ohne Ihre Dankbarkeit leben. Abendessen ist um acht. Finden Sie allein hinunter?" „Oh, aber ..." Caryn verstummte. Dann: „Wird Miss Trewen auch unten essen?" „Ich denke, Miss Trewen wird ihre Mahlzeiten im Kinderzimmer einnehmen." Er öffnete die Tür. „Aber keine Sorge. Ich werde nicht mit Ihnen zu Abend essen. Ich habe schon eine Verabredung - eine, die ich auf gar keinen Fall verpassen möchte." Spöttisch lächelnd verließ er sie.
5. KAPITEL
Bei Niedrigwasser konnte man das Dorf über das Watt erreichen. Dann war der sandige Boden des Flusses kreuz und quer mit Fußabdrücken der unterschiedlichsten Seevögel gemustert, die sich hier alle versammelten, um sich von dem Tang und allerhand Meeresgetier zu ernähren, das die Flut angespült hatte. Jetzt, zur Ferienzeit, mussten die Vögel die vielen Kinder erdulden, die die Klippen zum Strand herunterkletterten, und Dutzende kleiner Boote, die wie Korken auf dem Wasser dümpelten, sobald die Flut einlief. Port Edward war kein Ferienort im eigentlichen Sinn, aber sein Reiz und seine Schönheit zogen zahlreiche Besucher an, deren Autos die engen Straßen verstopften und die Einheimischen murren ließen, dass sie ihren alltäglichen Geschäften nicht mehr nachkommen könnten. Druid's Fleet war abgelegen vom geschäftigen Treiben des Dorfes. Caryn hatte schon bald herausgefunden, dass die Stufen, die vom Haus zur Wasserlinie hinuntergingen, nicht zum Fluss führten, sondern zu einem kleinen Bach, der in den Fluss mündete. Hier, inmitten üppig belaubter Bäume, hatte Tristan ROSS sein Bootshaus, und wenngleich sie noch nie an Bord der Yacht gewesen war, hatte sie doch durch die Fenster des Bootshauses einen Blick auf ihre schnittigen Linien erhaschen können. Sie erfuhr, dass Druid's Fleet eigentlich der Name des Bachs war, „Fleet" ein Wort deutschen Ursprungs in der Bedeutung von „Flüsschen" oder „Flussarm" war und dass das Haus, als Tristan es gekauft hatte, tatsächlich Water's Reach hieß. Sie erfuhr das von Pepper, dem Gärtner und Hausfaktotum, jenem älteren Mann, der Tristan bei ihrer Ankunft geholfen hatte, ihr Gepäck hinaufzutragen. Pepper ha tte sein ganzes Leben in Port Edwards verbracht und war mit der Geschichte des Ortes bestens vertraut. In ihren ersten Tagen auf Druid's Fleet sah Caryn in ihm ihren einzigen Freund, umgeben von Marcias Schweigen, Angelas Feindseligkeit und Tristan ROSS' rätselhaftem Verhalten. Das Kind hatte sich in seiner neuen Umgebung gut eingelebt. Warum auch nicht? dachte Caryn. Eine Wohnung in London, die vielen Menschen dort und den ununterbrochenen Verkehrslärm konnte man nicht vergleichen mit der Ruhe und Stille der Levant-Mündung, und unter Miss Trewens liebevoller Obhut entwickelte der Junge sich prächtig. Miss Trewen selbst passte sich einem Chamäleon gleich dem Ortswechsel an. Irgendwie fanden sie und Marcia zu einer Art Verständigung, und ihre beiderseitige Zuneigung für den jungen Tristan war mehr als ein ausreichender Grund, sich auch gegenseitig zu mögen. Angela ihrerseits bemühte sich nicht, sich der neuen Situation anzupassen. Ihr offensichtlicher Ärger darüber, dass ein Kind im Haus ihren Freiraum einschränkte, war verständlich, doch Caryn, die an ihre Schwester dachte, hielt sie nun mal für selbstsüchtig. Angela verreiste eine Woche nach Caryns Ankunft mit Freunden nach Barbados, was die Situation erträglicher machte. Für Tristan ROSS zu arbeiten war, wie Caryn feststellte, etwas ganz anderes, als für Laurence Mellor zu arbeiten. Zunächst einmal war Tristan selten in ihrer Nähe, wenn sie beschäftigt war, und schien ihr seine Anweisungen lieber auf Band zu sprechen. Ihre Befürchtung, nicht ausgelastet zu sein, erwies sich als unbegründet. Es gab erstaunlich viel Korrespondenz zu erledigen. Jeder Brief musste gelesen, für jeden eine Antwort entworfen werden. Caryn machte es sich zur Gewohnheit, an ihn persönlich adressierte Briefe auf die Seite zu legen, alle anderen selbst zu beant worten. Jeder Brief, den sie schrieb, wurde ihm zur Einsicht vorgelegt, und sehr oft ging sie frühmorgens hinunter in sein Arbeitszimmer, wo er schon einige Stunden beschäftigt gewesen war. Nur gelegentlich arbeitete er hier mit ihr gleichzeitig. Meist hatte sie dann Telefonate zu erledigen, Interviewtermine zu vereinbaren oder Anfragen abzulehnen.
Momentan hatte eine Londoner TV-Gesellschaft ihn zu einer Serie über Wirtschaft verpflichtet. Folglich verbrachte er viel Zeit damit, überall im Land Fabriken zu besichtigen und sowohl mit Arbeitern als auch mit Unternehmern zu sprechen. Erstaunlicherweise fand Caryn Spaß an ihrer Arbeit. In ihrer Freizeit, wenn das Baby im Bett war, erkundete sie die Umgebung. Sie versuchte, wenigstens eine Stunde abends im Kinderzimmer zu verbringen, während Miss Trewen in Ruhe zu Abend aß. Anschließend nahm sie dann ihre Mahlzeit auf ihrem Zimmer ein. Sie bot sich als Babysitter an, Miss Trewen jedoch legte keinen Wert darauf, auszugehen. „Ich bin nicht so fürs Vergnügen", sagte sie zu Caryn. „Das war ich noch nie." „Aber Sie brauchen Ihre Freizeit", wandte Caryn ein und nahm sich vor, Tristan bei nächster Gelegenheit darauf anzusprechen. „Welcher Tag wäre Ihnen denn am liebsten?" Miss Trewen schüttelte den Kopf. „Ich habe schon mit Mr. ROSS gesprochen", sagte sie zu Caryns Überraschung. „Ich habe ihm erklärt, wie es war, als ich für die Tranters gearbeitet habe. Da habe ich meine freien Tage lieber aufgehoben, bis ich richtig Urlaub nehmen konnte." „Ich verstehe." Es war typisch für Tristan ROSS, dass er ihr davon nichts gesagt hatte. An diesem Tag arbeitete Caryn bis halb sechs Uhr abends und ging dann hinauf ins Kinderzimmer. Miss Trewen hatte den kleinen Tristan zu einem Spaziergang mitgenommen gehabt und bereitete ihm gerade seinen Tee zu. Caryn ging zu der Decke, auf die Miss Trewen Tristan gelegt hatte, kniete sich neben ihren Neffen und betrachtete ihn. Bei dieser Hitze trug er nur ein dünnes Baumwollhöschen und ein dazu passendes Hemdchen. Seine pummeligen Arme waren von der Sonne leicht gebräunt, und die feinen Härchen darauf schimmerten golden. Sein Teint ist viel heller als Tristans, dachte sie. Aber wenigstens sein Haar ähnelte dem seines Vaters, und aus einem Impuls heraus berührte sie den weichen, seidigen Flaum. Ein kleines Lächeln huschte über Tristans Gesicht, und Caryn verspürte plötzlich den unwiderstehlichen Wunsch, das Kind in die Arme zu nehmen und zu knuddeln. Noch niemals zuvor hatte sie so für den Kiemen empfunden, und diese Erkenntnis beunruhigte sie. Sie stand auf, und sofort begann das Kind zu wimmern. Miss Trewen kam zurück und drohte ihr mit dem Finger. „Jetzt haben Sie ihm den Spaß verdorben", sagte sie. „Können Sie ihn noch so lange unterhalten, bis das Wasser kocht?" Caryn zögerte, dann beugte sie sich hinunter und hob das Kind auf die Arme. Augenblicklich hörte der Junge auf zu wimmern und gab sich damit zufrieden, ihr seine Finger in den Mund zu stecken und sie an den Locken zu ziehen. Miss Trewen, die Caryn zusammenzucken sah, sagte: „Ich hoffe, Sie verzeihen mir meine Frage, Miss Stevens, aber haben Sie Naturlocken? Ich meine - Ihr Haar ist so wunderschön." „Leider ja", antwortete Caryn, ohne zu zögern. „Es war schon immer so. Sie können sich nicht vorstellen, wie sehr ich mir immer glattes Haar gewünscht habe!" „Aber warum?" erwiderte Miss Trewen und fasste sich an die eigenen mausgrauen Locken. „In meiner Jugend waren Locken groß in Mode, und ich weiß noch, dass ich mir immer Dauerwellen habe machen lassen! Aber es half nichts!" Caryn lächelte Tristan an. „Ist überhaupt irgendwann jemand mit sich zufrieden?" fragte sie und strich ihm mit dem Finger über die winzige Nase. Dann erschrak sie heftig, als eine männliche Stimme antwortete: „Ich wäre zufrieden mit dir!" Die beiden Frauen wirbelten herum, Miss Trewen missbilligend, Caryn mit vor Schreck großen Augen, als sie Dave O'Hara auf der Schwelle der halb offenen Tür stehen sahen.
„Störe ich?" fragte er unschuldig, und sie seufzte. „Was machen Sie hier? Angela ist auf Barbados." „Habe ich gesagt, dass ich Angela suche?" widersprach er, und Miss Trewen presste die Lippen zusammen und wandte sich dem Kessel zu, in dem das Wasser kochte. „Tristans Fläschchen ist gleich fertig", sagte sie. „Wen suchen Sie dann?" wandte Caryn sich an Dave. „Ich wollte Tris besuchen, aber Marcia gab mir zu verstehen, dass er nicht hier ist." Dave kam weiter in den Raum herein und erregte die Aufmerksamkeit des Babys. „Das also ist Tristan junior, richtig? Na, so was!" Caryn hätte nicht verlegener sein können. „Mein Neffe", erklärte sie und war erleichtert, als Miss Trewen kam, um ihr den Kiemen abzunehmen. „Gehen wir hinunter?" Dave zuckte die Schultern, runzelte kurz die Stirn, während er das Kind ansah, dann folgte er ihr aus dem Zimmer. Auf dem ersten Treppenabsatz blieb Caryn stehen und sah Dave an. „Ich werde Tris Mr. ROSS ausrichten, dass Sie ihn besuchen wollten." „Tun Sie das", sagte er leise. Dann: „Gehen Sie mit mir weg!" „Weg? Was meinen Sie damit?" „Zum Essen. Heute Abend, wenn Sie wollen." Caryn schüttelte den Kopf. Sosehr sie Dave auch mochte, die Situation im Kinderzimmer eben hatte ihr klargemacht, welche Schwierigkeiten es geben könnte, wenn sie sich auf jemand einließ. „Tut mir Leid..." Er fuhr sich mit der Hand in den Kragen seines Jeanshemds. „Wissen Sie, wenn ich ein anderes Mädchen gefragt hätte ..." „Habe ich jetzt Ihr Ego verletzt?" „Nein." Er war empört. „Also, Caryn - nicht wahr? Ich habe Angel nach deinem Namen gefragt", fügte er rasch hinzu und ging zum vertrauten Du über. „Dann lass uns spazieren gehen. Was ist schon dabei? Ich möchte mit dir reden." Caryn zögerte. „Ich ... ich ..." „Dir fällt keine Entschuldigung ein! Das ist gut so. Nun komm schon! Wo ist das Problem?" „Worüber willst du mit mir reden?" fragte sie argwöhnisch. „Über dich! Über mich! Ist das denn so wichtig? Ich werde auch über das Wetter reden, wenn du nur mit mir gehst." „Na gut", stimmte sie zögernd zu. „Aber ich sage vorher lieber Marcia Bescheid." Wenig später verließen sie das Haus durch die Loggia, von wo eine steile Holztreppe in den terrassenförmig angelegten Garten hinunterführte. Wenn man das Gefalle berücksichtigte, so hatte Pepper hier großartige Arbeit geleistet, den Hang landschaftlich wundervoll gestaltet mit Blumen, Büschen und Sträuchern, niedrigen Mauern und Spalieren, an denen sich Weinlaub und Rosenzweige rankten. „Setzen wir uns ein wenig?" schlug Caryn vor, doch Dave schüttelte den Kopf. „Was ist los? Schafft eine alte Lady wie du es nicht bis hinunter zum Fluss?" scherzte er, und sie schnitt ein Gesicht, bevor sie weiterging. Die Türen zum Bootshaus standen offen, und Caryn schritt über den hölzernen Anlegesteg und spähte hinein. Jetzt konnte sie auch den Namen der Yacht lesen. Sie hieß Betsy. Caryn runzelte die Stirn und fragte sich, warum er ausgerechnet diesen Namen gewählt hatte. „Hast du schon mal von Betsy ROSS gehört?" fragte Dave wie als Antwort auf ihre unausgesprochene Frage, und sie schüttelte den Kopf. „Man sagt, dass sie das erste Sternenbanner genäht habe", fuhr er fort. „Und da Tris' Mutter Amerikanerin ist, fand er diesen Namen wohl geeignet." „Das wusste ich nicht." Caryns Neugier war geweckt, und sie vergaß kurz ihren
Entschluss, sich aus persönlichen Angelegenheiten herauszuhalten. „Nun, man erzählt sich, dass vor der Unabhängigkeitserklärung ..." „Nein", Caryn wurde rot, „das meine ich nicht. Ich meinte ich wusste nicht, dass Mr. ROSS' Mutter Amerikanerin war." „Ist", verbesserte Dave sie. „Als ich zum letzten Mal von ihr hörte, war sie gesund und munter und lebte in New York." „Oh." Caryn lächelte und kam aus dem Bootshaus heraus, um Dave den Treidelpfad entlang Richtung Mündung zu begleiten. „Sein Vater war Engländer", erzählte er weiter und warf ihr einen Blick von der Seite zu. „Wenn es dich interessiert." Caryn fand, dass sie genug über Tristan ROSS geredet hatten, und konzentrierte sich darauf, ihre Augen vor den goldenen Strahlen der langsam untergehenden Sonne zu schützen. Es war Gezeitenwechsel, und als sie die Stelle erreichten, wo der Bach in den Fluss mündete, schlug Dave vor, die Schuhe auszuziehen und im Wasser zu waten. Einen Moment lang sah Caryn skeptisch aus, dann zuckte sie die Schultern, bückte sich und krempelte sich die Hose auf. In jeder Hand eine flache Sandalette, folgte sie Dave die Böschung hinunter zum sandigen Flussbett und krümmte die Zehen, als das eiskalte Wasser dazwischenflutete. „Ist das nicht toll?" fragte er. Auch er hatte sich die Jeans hochgekrempelt bis zu den Knien, und mit seinem jungenhaften Lächeln sah er um Jahre jünger aus. „Ja, das ist es!" stimmte sie ihm lachend zu. „Uuuh, aber kalt!" „Du bist verweichlicht", meinte er und bespritzte sie spielerisch mit Wasser. „Bist du jemals in einem Fluss geschwommen?" Caryn schüttelte den Kopf, und er fuhr fort: „Weißt du, wir sind mal in Zür ich aufgetreten und anschließend zum Schwimmen in den See gegangen. Junge, Junge, war das kalt! Als ich herauskam, war ich der reinste Eisklotz." Caryn schnitt ein Gesicht. „Bestimmt hast du bald jemand gefunden, der dich aufgewärmt hat", bemerkte sie spöttisch, und er widersprach ihr nicht. „Mädchen gibt es immer", gab er zu. „Und sind immer zu haben", zog sie ihn auf, sein Blick jedoch war plötzlich entmutigend. „Sie treiben's und treiben's ohne Ende", sagte er, und sie wandte sich plötzlich ab. In ihrer Eile, die Böschung zu erreichen, hätte sie fast das Gleichgewicht verloren. Er fing sie auf, als sie die Hand nach einem Grasbüschel ausstreckte, um sich daran hochzuziehen, und seine Hand auf ihrem zu Arm zu spüren war bezwingend. „Was ist los mit dir?" fragte er stirnrunzelnd. „Was habe ich gesagt?" „Nichts." Caryn versuchte, sich gleichmütig zu geben. „Mir ist kalt, das ist alles." „Du fühlst dich gar nicht kalt an." „Aber mir ist kalt." Er ließ sie los, sein Blick jedoch hielt ihren weiterhin fest. „Ich mag dich, Caryn", sagte er sanft. „Ich mag dich sehr." Er schwieg einen Moment. „Glaubst du, es kümmert mich, wessen Kind das da oben ist?" Sekundenlang sah Caryn ihn entgeistert an, dann wurde ihr die ganze Tragweite seiner Worte bewusst. Sie presste die Lippen zusammen und schlug ihn voll ins Gesicht, bevor sie die Böschung hinaufeilte und den Treidelpfad entlang. Sie hörte ihn ihren Namen rufen, beachtete es jedoch nicht und zuckte zusammen, jedes Mal wenn sie mit ihren nackten Fußsohlen auf einen Stein trat. Sie blieb nicht stehen, um sich die Sandaletten anzuziehen, und sie keuchte, als sie oben an der Treppe ankam. Erschöpft lehnte sie sich an das Geländer, versuchte, wieder zu Atem zu kommen, und als sie aufblickte, sah sie Tristan ROSS, der sie von der offenen Tür der Loggia aus beobachtete. Seine kalte, geschäftsmäßige Erscheinung stand in totalem Gegensatz zu ihrem chaotischen Äußeren, und mit zittrigen Fingern rollte sie sich die Hosenbeine hinunter und zog sich die Sandaletten an, bevor sie widerwillig die Stufen hinaufging
und das Haus betrat. Am liebsten wäre sie an ihm vorbeigegangen, ohne mit ihm zu sprechen, aber der Anstand verlangte es von ihr, wenigstens ein halbherziges „Guten Tag!" zu sagen. „Nehmen Sie die Stufen immer im Galopp?" fragte er spöttisch, und sie wusste, sie war ihm eine Erklärung schuldig. „Es ... es war schon spät. Ich hatte es eilig", antwortete sie, aber sein Blick hatte sich auf einen Punkt hinter ihr gerichtet, und als sie sich umschaute, sah sie Dave, der gerade die Terrasse erreicht hatte. „Seltsam", bemerkte Tristan trocken, „O'Hara muss es ebenso ergangen sein." Caryn sah ihn ärgerlich an. „Na schön, wir waren zusammen." „Und er hat Sie angemacht?" Sie zögerte. „Wenn Sie so wollen." Er ging auf sie zu und stellte sich vor sie. „Hat er, oder hat er nicht?" Rebellisch blickte Caryn zu ihm auf. „Wenn Sie es unbedingt wissen müssen, er hat angedeutet, dass - dass das Kind mein Kind sei." Er neigte den Kopf und verzog spöttisch den Mund. „Und wenn ich den Abdruck auf seiner Wange sehe, wage ich zu behaupten, dass Sie ihm ins Gesicht geschlagen haben." Er sagte es so leise, dass Dave, der gerade die Stufen zur Loggia heraufkam, es nicht hören konnte. „Wann werden Sie endlich lernen, dass Sie mit Ohrfeigen nichts erreichen? " „Sie kennen vermutlich eine bessere Lösung!" erwiderte sie und ging, als sie Daves Schritte hörte, an Tristan vorbei in den Hauptteil des Hauses.
6. KAPITEL
In der darauf folgenden Woche lernte Caryn Tristans Redakteur, Mike Ramsey, und seinen Kameramann, Phil Thornton, kennen. Weil Tristan Fernseherfahrungen vor und hinter der Kamera hatte, war er sowohl Produzent als auch Regisseur seiner eige nen Filme. Ein Großteil der Vorarbeit für die Sendereihe war abgeschlossen, nur das Präsentationsformat musste noch entwickelt werden. Da die Männer es vorzogen, auf Druid's Fleet zu arbeiten, wurde Caryn sich ihrer Anwesenheit in Tristans Arbeitszimmer sehr bewusst, und obwohl er betonte, sie störe nicht, bestand sie darauf, sich mit dem vorhandenen Laptop in die Loggia zurückzuziehen und dort ihre Aufgaben zu erledigen. Die Gespräche der drei lenkten sie ohnedies ab, und sie wollte nicht noch bewundern müssen, wie gut Tristan die Situation im Griff hatte, und seine Vorstellungen am Ende gutheißen. Sie hatte keine Ahnung, wie lange er sie beschäftigen wollte, war jedoch bereit, falls nötig, auf unbestimmte Zeit zu bleiben, wenn es darum ging, dem Kind sein rechtmäßiges Zuhause zu sichern. Und sie konnte ihre Zusammenarbeit mit Tristan nur dann fortsetzen, wenn sie einen gewissen Abstand zu ihm wahrte. Etwa drei Wochen nach ihrer Ankunft auf Druid's Fleet kam Tristan eines Morgens in die Loggia, als Caryn gerade ihren Kaffee trank. Es war ein nebliger Morgen, Dunstschleier nahmen die Sicht durch die Fenster, und alles fühlte sich kalt und klamm an. Sie war es gewohnt, ihn in Freizeitkleidung zu sehen, aber jetzt trug er einen braunen Straßenanzug, der seine breiten Schultern und schmalen Hüften betonte. Offensichtlich war er im Begriff, Druid's Fleet zu verlassen. „Wie geht's?" fragte er, als er vor ihr stand, und sie sah zu ihm auf. „Ich bin fast fertig mit diesem ..." „Nein. Tut mir Leid ..." So formell zu sein war nicht seine Art, und gespannt wartete sie darauf, was er ihr zu sagen hatte. „Ich wollte wissen, ob Ihne n die Arbeit gefällt oder ob Sie sie - eintönig finden." „Eintönig?" Caryn schüttelte den Kopf. „Nein. Warum?" „Sie haben schon so oft die gleichen Briefe geschrieben, dass Sie sie im Grunde auswendig können müssten." „Das stört mich nicht", antwortete sie etwas steif und fragte sich, was als Nächstes kommen mochte. „Vielleicht nicht." Nachdenklich sah er sie an. „Aber mir ist eingefallen, dass ich mit Ihnen noch gar nicht über Ihre Freizeit und Ihr Gehalt gesprochen habe." „Ich ... ich habe Freizeit. Wenn Sie nicht da sind ..." „... arbeiten Sie weiter", führte er ihren Satz zu Ende. „Manchmal bis spätabends. Marcia entgeht so schnell nichts." „Ich habe mich nicht beklagt." „Habe ich das gesagt? Ich bin nicht hier, um Sie zu kritisieren, Miss Stevens, sondern nur, um mich zu versichern, dass ich Sie nicht zu hart arbeiten lasse." Caryn wusste darauf keine Antwort. Leicht ungeduldig wandte er sich von ihr ab, ging ans Fenster und blickte in den nebligen Morgen hinaus. In den Wochen, seit sie hier war, war sein Haar gewachsen und fiel ihm jetzt hinten über den Kragen. So glatt, wie es war, stand es in direktem Gegensatz zu ihren ungebändigten Locken. Sie ertappte sich bei der Überlegung, wie sie sich wohl gefühlt hätte, wenn sie seine Aufmerksamkeit erregt hätte. Ohne Lorens Erfahrung, das musste sie sich ehrlich eingestehen, hätte sie sich vermutlich von ihm angezogen gefühlt, aber wäre sie seiner Anziehungskraft auch erlegen? Hätte sie es darauf ankommen lassen, schwanger zu werden, in der unbestimmten Hoffnung, dass er sie heiraten könnte? Natürlich hätte Loren abtreiben können. Zweifellos hätte ein Arzt das Leben beendet, das Lorens Leben zu zerstören drohte. Aber seltsamerweise, oder vielleicht war es auch gar nicht so seltsam, hatte Loren das nicht gewollt, und dann war es
zu spät gewesen ... Trotzdem hatte nie mand damit gerechnet, dass bei der Geburt etwas schief gehen könnte, und das unentdeckte Virus, das sich in der Klinik verbreitet hatte, war einer dieser Fälle, bei denen die Chancen eins zu einer Million standen. Tristan drehte sich um und sah sie in seine Richtung blicken. Verlegen lenkte sie ihre Aufmerksamkeit auf den Stapel Briefe, der vor ihr lag, und schob ihn nervös hin und her. Worauf wartete er denn noch? Hatte er sonst noch was zu sagen? „Wir fahren in ein paar Minuten nach London", sagte er end lich, und sie sah ihn wieder an. „Ja?" „Ja." Er kam zurück zum Schreibtisch. „Dort mache ich bis Freitag Filmaufnahmen. Da ich Ihr Gehalt für zwei Monate auf ein Konto bei der Bank in Port Edward überwiesen habe, schla ge ich vor, Sie nehmen sich ein paar Tage frei, während ich weg bin." Er schwieg einen Moment. „Gehen Sie mit Ihrem Neffen spazieren. Machen Sie ein Picknick. Miss Trewen würde das sicher gefallen." „Ich bin nicht hier, um ... um mit dem Baby Picknicks zu veranstalten, Mr. ROSS ", widersprach sie in entschiedenem Ton, und er presste die Lippen zusammen. „Nennen Sie ihn, um Himmels willen, Tristan!" fuhr er sie an. „So heißt er schließlich. Oder ist Ihnen das so unangenehm?" „Na schön. Ich bin nicht hier, um mit Tristan Picknicks zu veranstalten." Er seufzte verzweifelt auf. „Nein. Sie sind meine Angestellte. Ich entscheide, was Sie tun." „Ich bin Ihre Sekretärin, Mr. ROSS, und sonst nichts." „Nein?" Er stützte "die Hände auf die Schreibtischplatte und kam mit dem Gesicht so nah an ihres heran, dass sie sich zwingen musste, den Stuhl nicht zurückzuschieben, um von ihm wegzukommen. „Sie vergessen die Bedingungen." Caryn konnte jede Pore in seinem Gesicht sehen, die tief lie genden Augen, die hohen Wangenknochen, die dünne Ober- und die vollere, sinnlichere Unterlippe. Sein Mund faszinierte sie, und sein warmer Atem streifte ihre Schläfe. Sie bekam Herzklopfen vor Nervosität, und der Blick, mit dem sie ihn ansah, zeigte wenig von dem Ärger und der Entschlossenheit, die sie beizubehalten versuchte. Sekundenlang sah er sie grimmig an, dann richtete er sich fluchend auf. „Verdammt, Caryn, warum sollte es mich kümmern, wenn Sie sich zu Tode arbeiten?" Zum ersten Mal hatte er sie beim Vornamen genannt, und er war ihm etwas seltsam über die Lippen gekommen. Es zeigte, dass er durchaus nicht als „Miss Stevens" von ihr dachte, und diese Erkenntnis beunruhigte sie. Nur um irgendetwas zu tun, schob sie ihren Stuhl zurück und stand auf. „Es tut mir Leid, wenn Sie mich für undankbar halten ..." begann sie, doch er fiel ihr barsch ins Wort. „Oh, dafür halte ich Sie tatsächlich!" erklärte er. „Und ich halte auch den Zeitpunkt für gekommen, nicht länger wie die Katze um den heißen Brei herumzuschleichen und Ihnen klipp und klar zu sagen, dass Ihre Schwester nicht die Heilige war, für die Sie sie anscheinend halten. Bisher habe ich gezögert, aber jetzt... Verdammt noch mal!" „Ich will Ihre voreingenommene Meinung nicht hören", rief sie aus, aber er beachtete ihren Einwand nicht. „Vom ersten Augenblick an machte sie Schwierigkeiten, auf die eine oder andere Art", ereiferte er sich. „Sie war faul und nachlässig, und was ihre Liebe zu mir betraf ..." Er schüttelte den Kopf. „Geliebt hat sie diesen Lebensstil. Dieses Haus und die Leute, die hier ein- und ausgingen. Das ist auch schon alles." „Sie fühlten sich von ihr angezogen." „Sie war achtzehn, Caryn! Jünger als meine eigene Tochter! Vielleicht bin ich' darauf hereingefallen, Mitleid mit ihr zu haben, aber ich war nicht sexuell von ihr angezogen!" „Warum erzählen Sie mir das? Wir haben unsere Ansichten schon ausgetauscht und werden niemals einer Meinung sein."
„Weil ich das Gefühl hatte, dass wir uns inzwischen besser kennen", erwiderte er kalt. „Offensichtlich habe ich mich getäuscht." „Sie haben mir gesagt, dass Loren in ihrem Job nichts getaugt habe. Sie hätten sie feuern sollen." „Das habe ich getan", antwortete er wütend. „Als Sie dachten, sie könnte schwanger sein." „Ach, du lieber Himmel!" Er ging quer durch den Raum auf die Tür zu. „Vergessen Sie's. Vergessen Sie alles, was ich gesagt habe. Wir sehen uns am Freitag." Das Wetter änderte sich am darauf folgenden Tag, und aus einem Impuls heraus beschloss Caryn, Miss Trewen ein Picknick vorzuschlagen. Das Kindermädchen war hellauf begeistert, und Marcia ließ sich dazu bewegen, ihnen einen Picknickkorb für den Strand herzurichten. Caryn bat die Haushälterin, mitzukommen und ihnen Gesellschaft zu leisten, aber sie hatte Bedenken, vermutlich war sie menschenscheu. Sie fuhren mit dem Wagen nach Heron's Cove, einem hübschen Fleckchen nicht weit von Caldy Sands, etwa zehn Meilen entfernt. Auf der Landspitze parkten schon eine ganze Anzahl von Autos, und während jeder einen Griff der Säuglingstasche trug, in der Tristan glucksend lag, gingen Caryn und Miss Tre-wen die Steintreppe zu der kleinen Bucht hinunter. Nachdem Miss Trewen und ihr Schützling auf der Wolldecke saßen, die sie mitgebracht hatten, zog Caryn Jeans und Bluse aus, unter denen sie einen dunkelblauen Bikini trug. „Du meine Güte!" Miss Trewen sah überrascht zu ihr auf. „Sind Sie schlank!" „Nachdem ich ein Kind habe, meinen Sie?" fragte Caryn, und Miss Trewen sah verlegen drein. „Ich ... ja ... ich wollte nicht..." „Ist schon gut, Miss Trewen." Caryn hatte Mitleid mit ihr. „Aber Tristan ist wirklich nicht mein Kind, wissen Sie? Er ist der Sohn meiner Schwester Loren. Sie starb wenige Tage nach der Geburt des Jungen." Miss Trewen schüttelte den Kopf. „Wie tragisch!" sagte sie leise. „Aber Mr. ROSS ist sehr - nett zu Ihnen. Fast behandelt er Sie wie jemand aus der Familie." „Er ist ein guter Freund", stimmte Caryn zu und beendete das Gespräch, indem sie hinunter an den Strand lief und sich in das eisige Wasser von Carmarthen Bay stürzte. Am nächsten Tag war es genauso he iß, und Caryn, die an ihrem Schreibtisch in Tristans Büro saß und durch das Fenster hinaussah, beneidete die Urlauber, die sich auf den Decks ihrer Segelschiffe sonnten oder im kühlen Wasser der Mündung schwammen. Obwohl sie luftig gekleidet war, schwitzte Caryn, und nachdem sie mit Miss Trewen im Kinderzimmer zu Mittag gegessen hatte, schlug sie vor, wieder hinunter an den Strand zu gehen. „Heute ohne mich", erklärte Miss Trewen und fächelte sich Luft zu. „Es ist viel zu heiß für den Strand, und wir haben gestern schon genug Sonne abbekommen." Caryn sah hinüber zu Tristans Tragetasche und seufzte. Miss Trewen hatte wahrscheinlich Recht. Es war zu heiß für den Strand, doch sie sehnte sich danach, ins kalte Wasser zu tauchen, und das Wasser der Mündung war ihr dafür viel zu nah. Caryn sagte Marcia Bescheid, dass sie gegen fünf Uhr zurück sei, zog ihren Bikini unter Rock und Top an, nahm ein Handtuch Und fuhr los. Sie fuhr die Straße entlang, die sie am Tag zuvor überquert hatten, fuhr vorbei an Heron's Cove und bog, das Meer in Sichtweite, auf eine schmale Halbinsel zu. die in das blaugrüne Meer hineinragte. Hier gab es keine asphaltierten Parkplätze, und als sie eine Stelle erreichte, die ihr gefiel, hielt sie an und parkte ihren Wagen auf den grasigen Klippen. Als sie zur Bucht hinunterkletterte, die hinter der Biegung der felsigen Landspitze verborgen lag, dachte sie, dass es ganz gut war, dass Miss Trewen sie nicht begleitet
hatte. Am Fuß des Kliffs erstreckten sich algenbewachsene Felsen weit hinein in das gischtgekrönte Wasser. Entschieden ungeeignet zum Schwimmen, dachte Caryn bedauernd, aber sie konnte in die Wellen hineinwaten und sich auf diese Art Abkühlung verschaffen. Sie zog ihren Rock und das Top aus und ging hinein ins Wasser. Nachdem sie völlig durchnässt war und ihr das feuchte Haar über die Schultern fiel, kehrte sie zum steinigen Strand zurück, setzte sich auf das Handtuch und griff nach der Sonnenlotion. Abgesehen von den gelegentlichen Schreien der Möwen, die hoch oben im Kliff nisteten, waren nur das Schlagen der Wellen gegen die Felsen zu hören und dann und wann das Summen eines Insekts, das die Algen mit ihrem Geruch angelockt hatten. Caryn versuchte sich vorzustellen, wie es sein mochte, auf einer einsamen Insel von der Außenwelt abgeschnitten zu sein, und fand die Vorstellung nicht sehr verlockend. Die Zeit verging, die Stelle, an der sie saß, lag schon im Schatten. Caryn blickte zum fernen Horizont, wo sich das Blau des Meeres in einem Dunst verlor, der mit dem Himmel verschmolz, so dass man keinen Unterschied mehr ausmachen konnte. Dann musste sie an Tristan denken, daran, dass sie am Ende doch seinem Vorschlag gefolgt war und sich während seiner Ab wesenheit freigenommen hatte. Und sie fragte sich, wenn auch widerwillig, was er jetzt gerade tun mochte. Unwillkürlich stellte sie sich die Frage, wer wohl zurzeit die Frau in seinem Leben wäre. Seit sie auf Druid's Fleet war, hatte er ihres Wissens keinen Besuch gehabt, ausgenommen seine beiden Fernsehkollegen und Dave O'Hara. Sie seufzte. Natürlich war er nicht immer zu Hause gewesen, und selbst wenn er da war, ging er abends oft weg. Zweifellos gab es eine Frau im Hintergrund, eine, die er für geeignet hielt, die zweite Mrs. ROSS zu werden. Bis jetzt jedoch hatte sie noch nichts von ihr gehört. Seit sie in Wales war, hatte sie allerdings nur selten Zeitung gelesen, und da sie die meisten Informationen über ihn aus den Klatschspalten hatte, war sie wahrscheinlich überhaupt nicht auf dem Laufenden. Das Meer glitzerte im grellen Sonnenlicht, und widerwillig schloss Caryn die Augen. Ein angenehmes Gefühl von Wärme durchflutete sie, und selbst die Ungewissheit ihrer Stellung auf Druid's Fleet schien weit weg zu sein und nicht mehr so wicht ig... Alles war anders, als sie die Augen öffnete. Es war kalt, und die Sonne zeigte sich nur noch in den wandernden Schatten auf dem Meer. Ungeduldig griff Caryn nach ihrer Uhr. Sie hatte sie abgenommen, bevor sie ins Wasser gegangen war, und in ihre Rocktasche gesteckt, nun blickte sie ungläubig auf das viereckige Zifferblatt. Es war nach sechs! Sie hatte zwei Stunden lang geschlafen. Sie sprang auf, zog Rock und Top über, der Bikini war ihr auf dem Körper getrocknet, nahm Handtuch und Tasche und schlug den Pfad zu den Klippen ein. Hinaufzukommen war schwieriger, als herunterzusteigen, aber als sie dann von oben auf die Bucht hinabblickte, dachte sie, was für ein Glück sie doch gehabt hatte, dass die Flut nicht eingelaufen war und sie in den Felsen eingeschlossen hatte. Es war sehr leichtsinnig von ihr gewesen, einfach so einzuschlafen, und sie hoffte, dass Marcia sich keine Sorgen um sie machte. Die Straßen zurück nach Port Edward waren stark befahren. Unzählige Urlauber hatten das gute Wetter genutzt, um an den Strand zu gehen, und als sie in Druid's Fleet ankam, war es fast halb acht. Ihr Magen meldete sich, da sie lange nichts gegessen hatte, und sie freute sich schon auf das Abendessen. Ein grauer Mercedes war vor dem Tor geparkt. Tristans Auto, wie sie wusste, obgleich es ungewöhnlich für ihn war, ihn hier abzustellen. Ein steiler Abhang führte hinunter zu einer scheunenartigen Garage, und sonst parkte er den großen Wagen immer dort. „Verflixt!" fluchte Caryn leise vor sich hin, als sie ihren kleinen Renault zum Stehen brachte und den Motor ausschaltete. Man hatte Tristan erst für morgen zurückerwartet. Jetzt wusste er, dass sie sich in seiner Abwesenheit vergnügt hatte.
Sie stieß die Tür auf und stieg aus, sammelte ihre Habseligkeiten vom Rücksitz ein und schlug die Wagentür hinter sich zu. Dieses Geräusch musste man gehört haben, denn nahezu sofort wurde die Verandatür geöffnet, und Marcia erschien mit besorgter Miene. Als sie Caryn erblickte, sah sie so erleichtert aus, dass Caryn Schuldgefühle bekam, und entschuldigend eilte sie auf Marcia zu. „Ich weiß, ich weiß", sagte sie, „ich komme zu spät. Es tut mir Leid." Marcia schüttelte den Kopf und bedeutete Caryn hereinzukommen. Als sie es tat, kam Tristan gerade die Treppe vom unteren Stockwerk herauf. Ausnahmsweise einmal sah er alles andere als beherrscht aus, das beige Seidenhemd hatte er vorn aufgeknöpft, die dunkelblaue Hose war voller Schmutz- und Grasflecken. „Caryn!" rief er ungläubig aus, und angriffslustig fügte er hinzu: „Wo, zum Teufel, waren Sie?" Caryn drehte sich zu Marcia um, die gerade die Tür hinter sich schloss. „Tut mir Leid", antwortete Caryn, „ich bin eingeschla fen ..." „Sie sind was?" Tristan stand jetzt vor ihr. „Ich ... bin eingeschlafen. Am Strand ..." „An welchem Strand?" Verwirrt sah sie ihn an. „Ich weiß nicht, wie der Strand heißt." „Das sollten Sie aber wissen, verdammt noch mal!" fluchte er heftig, und sie wich unwillkürlich einen Schritt zurück. „Ich verstehe gar nicht, weshalb Sie sich so aufregen", protestierte sie. „Ich komme zu spät, ich weiß, aber ..." „Zu spät?" fragte er verärgert. „Sie haben Marcia gesagt, Sie würden gegen fünf Uhr zurück sein." „Ja, das habe ich gesagt." Allmählich spürte Caryn auch Ärger in sich aufsteigen. „Na und? Ich wusste schließlich nicht, dass Sie heute zurückkommen. Wenn Sie Arbeit für mich haben ..." „Zum Teufel mit der Arbeit!" Er wandte sich ab und fuhr sich durchs Haar. Anscheinend versuchte er, sich wieder unter Kontrolle zu bekommen, und als er sich zu ihr umdrehte, wirkte er beherrscht. „Na gut", sagte er. „Ich nehme an, Sie sind hungrig." Sein Blick glitt hinüber zu Marcia. „Richten Sie auf einem Tablett etwas für zwei Personen her, ja? Und bringen Sie es bitte ins Wohnzimmer." „Wenn Sie nichts dagegen haben, würde ich gern duschen", sagte Caryn steif. „Und vielleicht könnte ich auf meinem Zimmer essen ..." „Sie werden mit mir im Wohnzimmer essen", erwiderte Tristan barsch, und ohne ihre Antwort abzuwarten, ging er die Treppe zum oberen Flur hinauf und verschwand in den Nordflügel des Hauses. Nachdem er gegangen war, breitete Marcia in einer hilflosen Geste die Hände aus, Caryn nickte und folgte ihm langsam die Stufen hinauf. Miss Trewen kam ins Zimmer, als Caryn vor ihrer Frisierkommode saß und sich gerade Feuchtigkeitscreme im Gesicht auftrug. Die salzige Luft hatte ihre Haut ausgetrocknet, obwohl sie großzügig Lotion verteilt hatte. Sie trug nur ein dünnes Baumwollkleid, als es an der Tür klopfte. „Wer ist da?" rief sie. „Ich bin es nur", antwortete Miss Trewen, öffnete vorsichtig die Tür, und Caryn winkte sie herein. „Ich habe die Aufregung unten gehört. Wo waren Sie denn bloß?" Caryn seufzte. „Am Strand. Nicht bei Heron's Cove", fügte sie rasch hinzu, „sondern an einem abgelegenen Meeresarm." „Ach so! Dann ist es ja klar." „Was ist klar?" „Dass Mr. ROSS Sie nicht finden konnte", antwortete sie. „Er hat mich gesucht!" rief Caryn ungläubig aus und fügte, als Miss Trewen nickte, hinzu: „Aber warum?"
„Ich glaube, Sie hatten Marcia gesagt ..." „... dass ich gegen fünf Uhr zurück sein würde", beendete Caryn ungeduldig den Satz. „Ja, ich weiß. Aber ehrlich, ich bin kein Kind..." „Trotzdem, Mr. ROSS sagte, es gebe hier irgendwo gefährliche Buchten, und er fürchtete, Sie könnten durch die einlaufende Flut eingeschlossen werden." „Ich verstehe." Caryn drehte sich um und betrachtete freudlos ihr Spiegelbild. Es passte nicht zu ihrer Vorstellung von Tristan ROSS, ihn für einen Mann zu halten, der sich um das Wohl seiner Angestellten sorgte. Als sie jedoch an seine grasbefleckte Hose dachte, fragte sie sich unbehaglich, ob er eine Felswand hinabgeklettert war, um sie zu suchen. „Er war sehr besorgt", fuhr Miss Trewen fort und verstärkte Caryns Schuldgefühle damit noch. „Und als wir dann diese Nachrichtenmeldung hörten ..." „Welche Nachrichtenmeldung?" Caryn drehte sich um und sah Miss Trewen starr an. „Über diese beiden Jungen." Miss Trewen runzelte die Stirn. „Ich dachte, darüber hätte Mr. ROSS unten mit Ihnen gesprochen." „Welche beiden Jungen?" rief Caryn, um Geduld bemüht, aus, und Miss Trewen machte eine Geste des Bedauerns. „Zwei Jungen sind heute am späten Nachmittag in Carmarthen Bay ertrunken. Ich glaube, ihr Boot war gekippt, und sie haben versucht, ans Ufer zu schwimmen, aber ..." Sie schüttelte den Kopf. „... sie haben es nicht geschafft." „O nein!" Caryn drehte sich um, stützte die Ellbogen auf die Frisierkommode und das Kinn in die Hände. „Wenn ich das nur gewusst hätte ..." Miss Trewen nickte. „Na ja, ich denke nicht, dass Sie ihnen hätten helfen können", meinte sie geistesabwesend, und Caryn musste sich ein Lächeln verkneifen. Für. Miss Trewen war die Sache so einfach. Sie ließ sich nicht in persönliche Beziehungen verwickeln, sie, Caryn, dagegen ... Entschlossen verteilte sie die Creme auf den Schläfen, und Miss Trewen ging, um sich eine Fernsehsendung anzusehen. Nachdem sie ihr Haar einigermaßen gebändigt hatte, öffnete Caryn den Kleiderschrank und nahm ein vorne durchgeknöpftes, ärmelloses Sommerkleid heraus, dessen helle Farbe ihren dunklen Teint gut zur Geltung brachte. Dann schlüpfte sie barfuss in Ledersandaletten und ging hinunter. Tristan war schon im Wohnzimmer und schenkte sich gerade einen Scotch ein, der auf einem Tablett mit Flaschen und Gläsern in einer Ecke des Raumes stand. Auch er hatte sich umgezogen, und die engen Jeans, die er jetzt trug, betonten seine langen Beine. Ausnahmsweise trug er einmal kein Jackett, und sein schwarzes Seidenhemd betonte sein aschblondes Haar. Auch er hatte geduscht, Wassertröpfchen glitzerten noch auf einzelnen Strähnen. Er sah sich um, als sie den Raum betrat, und sofort wurde sie nervös. Zum ersten Mal trafen sie sich nicht aus geschäftlichen Gründen, und sicher wusste er, welche Wirkung er auf Frauen hatte. Sie beruhte nicht auf irgendetwas Bestimmtem, das er tat oder sagte. Er hatte einfach eine Ausstrahlung, die ihr die eigene Weiblichkeit schlagartig bewusst machte. Sie machte sie befangen ihm gegenüber, und sein beiläufiges Angebot, etwas zu trinken, nahm sie steif an. „Sherry, bitte", sagte sie angespannt, „trockenen, wenn Sie haben." Er goss die goldfarbene Flüssigkeit in ein großes Sherryglas und trug es quer durch den Raum zu ihr hinüber, sein eigenes halb geleertes Glas lässig in der anderen Hand. An diesem Abend trug er keine Krawatte, und unter dem geöffneten Hemdkragen sah sie ein schmales Lederhalsband. Irgendetwas hing daran, aber sie konnte nicht sehen, was es war, und als ihr bewusst wurde, dass sie ihn anstarrte, lenkte sie ihre Aufmerksamkeit rasch auf den Sherry. Mit zusammengekniffenen Augen hatte er sie sekundenlang beobachtet, dann
wandte er sich den Fenstern zu und blickte grüblerisch hinaus auf die Mündung. Als er sich wieder umdrehte, stand Caryn neben dem kalten offenen Kamin. „Wo genau waren Sie heute Nachmittag?" fragte Tristan, bevor er den Rest Scotch in seinem Glas mit einem Schluck hinunterkippte. Unbehaglich zuckte Caryn die Schultern. „Das weiß ich nicht genau. Ich bin auf eine Halbinsel zugefahren, habe dann irgendwo angehalten und bin die Felsen zu irgendeiner Bucht hinuntergeklettert." Sie machte eine Pause und fügte rasch hinzu: „Es tut mir Leid, wenn ich Sie beunruhigt habe. Ich ... ich wusste nichts von den beiden Jungen, die ertrunken sind." Er runzelte die Stirn. „Jetzt wissen Sie es." „Miss Trewen hat es mir erzählt. Sie sagte mir auch, dass Sie mich gesucht hätten." Langsam ging er zum Tisch zurück und schenkte sich noch einen Scotch ein. Mit dem Rücken zu ihr sagte er trocken: „Und vermutlich haben Sie ihr nicht geglaubt." „Nein!" widersprach Caryn heftig. „Ich meine - natürlich habe ich ihr geglaubt." „Wirklich?" Er drehte sich um und sah sie spöttisch an. „Und was haben Sie sich dabei gedacht? Dass ich meine Kapitalanlage zu schützen versuchte? Dass ich keine so gute Sekretärin verlieren wollte?" Caryn antwortete ihm darauf nicht, und irgendwie ruhelos schritt er wieder zum Fenster. Während sie ihn beobachtete, spürte sie seine Ungeduld und fragte sich, ob er es wohl bedauerte, sie eingestellt zu haben. „Ich habe die beiden letzten Texte im Computer abgespeichert und die Briefe beantwortet, die in den letzten Tagen eingegangen sind ..." Er sah sie finster an. „Erzählen Sie mir das morgen", unterbrach er sie plötzlich, und sie hob das Glas an die Lippen mit dem lästigen Gefühl, soeben getadelt worden zu sein. Erleichtert atmete sie auf, als Marcia mit dem Tablett hereinkam. Sie stellte es auf den niedrigen Tisch neben einer der samtbezogenen Couchen, und Caryn stieg der köstliche Duft von gegrilltem Hähnchen in die Nase. Marcia bedeutete, dass sie den Kaffee später bringen würde, und ging. Caryn zögerte kurz, dann fragte sie verlegen: „Soll ich?" Tristan zuckte die Schultern. „Bitte!" Ihr war nicht ganz wohl dabei, als sie sich auf die Couch setzte. Als Vorspeise gab es frischen Lachs, aber Tristan wollte keinen, und so verzichtete auch sie darauf. Sie nahm von dem Hähnchen und dazu lockeren, duftigen Reis, der mit Petersilie garniert war. Als sie Tristan den Teller hinhielt, setzte er sich zu ihrer Bestürzung neben sie. Bevor er jedoch zu essen begann, entkorkte er geschickt die Flasche Wein, die ebenfalls auf dem Tablett stand. „Mögen Sie Riesling?" fragte er, als er etwas von der nahezu farblosen Flüssigkeit in ein hochstieliges Glas füllte, und sie brachte ein leises „Ja" hervor. Sie war sich seiner körperlichen Nähe nur zu bewusst, wie auch der gelegentlichen Blicke, die er in ihre Richtung warf. „Schmeckt es Ihnen?" fragte er sie nach einer Weile. „Sehr gut." Caryn fühlte sich gleich viel besser, nachdem sie etwas gegessen hatte. Das Flattern in der Magengegend war beinah verschwunden. Als Nachtisch gab es einen köstlichen Himbeerpudding, auf den Tristan verzichtete und von dem Caryn daraufhin auch nur ein wenig nahm. Tristan schenkte ihr Wein nach, obwohl sie kaum aus ihrem Glas getrunken hatte. Er lehnte sich in die aprikosenfarbenen Polster zurück, hielt sein Glas ins Licht und sah sie über dessen Rand hinweg an. Caryn aß ihren Pudding auf und tupfte sich die Lippen mit einer Serviette ab. Sie war satt und hatte das Essen mit Tristan genossen. Als Marcia kam, um abzuräumen und den Kaffee zu bringen, machte sie ihr Komplimente. Die Haushälterin lächelte kaum merklich und ging wieder.
„Wie mögen Sie ihn?" fragte Caryn und sah Tristan an, die Kaffeetasse in der Hand. „Wie mag ich was?" fragte er langsam, und irgendetwas in seinem Ausdruck ließ sie den Blick von ihm abwenden. Plötzlich setzte er sich gerade auf und sagte: „Schwarz. Mit Zucker." Caryn füllte seine Tasse und gab einen Löffel Zucker hinein. „Ist das gut so?" „Perfekt. Sagen Sie, wie lange haben Sie für Laurence Mellor gearbeitet?" Seine Frage kam so unerwartet, dass sie ihn überrascht ansah. „Wissen Sie das denn nicht? Ich dachte, Sie hätten über jeden Ihrer Mitarbeiter eine Personalakte angelegt." Er erwiderte ihren festen Blick. „Ich frage Sie." „Vier Jahre", antwortete sie kurz angebunden. „Warum fragen Sie?" Er antwortete nicht darauf und sagte stattdessen: „Er wollte Sie heiraten, nicht wahr?" „Woher wissen Sie das?" Ihr unfreiwilliger Ausruf war ein Eingeständnis, und das wusste er. „Wenn ich Ihnen jetzt sage, dass er es mir erzählt hat?" „Dann glaube ich Ihnen nicht." Belustigt verzog er die Mundwinkel. „Nein. Das würden Sie wohl nicht." Caryn stellte ihre Kaffeetasse ab und sah ihn peinlich berührt an. „Werden Sie es mir sagen?" Er stellte sein Glas ab und saß da mit gespreizten Beinen, die Anne auf die Schenkel gestützt. „Ich habe nur geraten", sagte er gelassen. „Glauben Sie mir das?" „Ich weiß nicht ..." „Ihr früherer Arbeitgeber war nicht gerade gut auf Sie zu sprechen. Dafür muss er einen Grund gehabt haben. Entweder Sie haben schlechte Arbeit geleistet, oder er hatte eine persönliche Beziehung zu Ihnen. Da das Erste nicht der Fall war, muss es Letzteres gewesen sein." Caryn presste die Lippen zusammen. „Sie sind sehr schlau!" Er seufzte. „Nein, das bin ich nicht. Ich denke nur praktisch." „Sie sind berechnend." „Wenn Sie so wollen. In meinem Beruf zahlt es sich aus, berechnend zu sein." Caryn betrachtete die Hände, die sie in den Schoß gelegt hatte. „Haben Sie deswegen Loren entlassen?" fragte sie und hörte, wie er verärgert tief einatmete. „Können Sie denn niemals damit aufhören?" fragte er barsch. „Ich habe Ihnen von Loren erzählt. Um Himmels willen, ich versorge ihr Kind, oder? Was erwarten Sie sonst noch von mir?" Caryn bebte innerlich. „Ein - ein Eingeständnis." „Was soll ich eingestehen? Schuld? Reue?" Verärgert wandte er sich ihr zu. „Wessen sollte ich mich schuldig fühlen? Was sollte ich bereuen?" „Die Antworten darauf kennen nur Sie selbst", erwiderte sie mit zittriger Stimme. „Sie haben eine schöne Meinung von mir", fuhr er fort. „Was muss ich tun, um Ihnen zu beweisen, dass ich nicht das Monster bin, für das Sie mich halten?" Caryn war der Mund wie ausgetrocknet, und das Atmen fiel ihr schwer. „Sie müssen mir gar nichts beweisen", stieß sie hervor, aber natürlich glaubte er ihr nicht. „Wissen Sie, was ich jetzt versucht bin zu tun?" fragte er, und plötzlich schweifte sein Blick über sie, verweilte anzüglich auf dem zugeknöpften Kragen ihres Kleids, glitt tiefer über ihre Brüste, die sich rasch hoben und senkten, und weiter hinunter auf ihre unruhigen Hände. Nie zuvor hatte er sie so angesehen, und ihr wurde erschreckend bewusst, welche Macht er über sie hatte, wenn er es tat. „Ich denke, es ist Zeit, dass ich auf mein Zimmer gehe", erklärte sie und wollte aufstehen, doch er legte ihr die Hand aufs Knie und zwang sie zu bleiben, wo sie war. „Feigling", sagte er leise, und es klang spöttisch. „Was glaubst du, was ich mit dir machen werde? Wovor hast du Angst? Du kannst mich immer noch ins Gesicht schlagen."
„Mr. ROSS..." „Ja, Miss Stevens?" „Nehmen Sie die Hand von meinem Knie." „Nein." Er rückte auf der Couch noch näher zu ihr heran, und Caryn stockte beinahe der Atem. „Warum sollte ich? Du denkst ohnehin nur das Schlechteste von mir. Warum sollte ich es nicht tun?" „Das ist lächerlich! Wenn Sie mich nicht sofort loslassen ..." „Ja? Was willst du dann machen? Um Hilfe rufen? Wer wird dir helfen? Marcia? Das glaube ich nicht. Miss Trewen? Wohl kaum. Tristan? Leider auch nicht." Als sie ihn von sich stieß, packte er mit einer Hand ihre beiden Hände, und sie war hilflos wie eine Maus in der Falle. „Mmm, riecht das gut", flüsterte er rau und atmete den Duft ihres Parfüms ein. „Und was tun wir jetzt?" Caryn biss die Zähne zusammen. „Lassen Sie mich los!" „Und was machst du dann?" Er wartete auf ihre Antwort. „Kratzt du mir die Augen aus?" „Verdient hätten Sie es!" keuchte sie, und so plötzlich, wie er sie gepackt hatte, ließ er sie frei. Jetzt aber waren ihr die Beine schwach geworden, und es erschien ihr unglaublich schwer aufzustehen. Er sah sie immer noch an, und sein Lächeln verschwand, als sie seinem Blick begegnete. Um sich an irgendetwas zu klammern, fing Caryn zu reden an. „Hat ... hat Ihre Tochter einen schönen Urlaub?" fragte sie verlegen, und er machte die Augen zu, nachdem er ihren ängstlichen Ausdruck bemerkt hatte. „O Caryn!" stöhnte er und öffnete die Augen wieder. Er fuhr sich mit der Hand über den Nacken, neigte den Kopf nach hinten und stand auf. „Ja, der Urlaub gefällt ihr. Möchtest du noch etwas trinken?" „Was? Oh, nein." Caryn schüttelte den Kopf, und Tristan ging hinüber, um sich Scotch nachzufüllen. Als er zurückkam, war sie aufgestanden. „Du gehst", bemerkte er ausdruckslos. „Ja. Lauf davon, Mädchen!" Caryn atmete tief durch. „Ihre Anspielungen gefallen mir nicht, Mr. ROSS. Wenn Sie meinen, so eine Frau erobern zu können, dann haben Sie mit mir leider Ihre Zeit verschwendet!" Er kniff die Augen zusammen. „So, meinst du? Soll ich dir deine Illusion rauben?" „Das haben Sie schon lange getan", erwiderte sie. „ Touche!" Er stellte sein Glas ab. „Aber ich glaube nicht, dass du weißt, was das Wort bedeutet." „Ich weiß ..." begann sie heftig, da bemerkte sie, dass er sich zwischen sie und die Tür gestellt hatte. „Was weißt du schon?" zog er sie auf. „Ich glaube nicht, dass du jemals mit einem Mann geschlafen hast." Caryn brannte das Gesicht vor Scham. „Und - ist das Ihr Maßstab?" fragte sie. „Lassen Sie sich eines gesagt sein ..." Sie unterbrach sich kurz, als er auf sie zukam, die Hände um ihre Oberarme schloss, fest und unnachgiebig, zwang sich jedoch weiterzusprechen. „... es gibt wichtigere Dinge im Leben, als mit einem arroganten Kerl ins Bett zu gehen." Er neigte den Kopf, so dass er mit den Lippen fast ihren Na cken streifte und die sonnengebräunte Schulter, die von dem ärmellosen Kleid enthüllt war. Caryn wollte sich gegen ihn wehren, aber es erschien ihr kindisch, deshalb fuhr sie fort, in einem entschiedenen Ton zu reden. Sollte er doch merken, dass er wirklich nur seine Zeit verschwendete. „ ... Sie natürlich können das nicht verstehen. Sie ... Sie verachten Frauen zutiefst und behandeln sie ohne jeden Respekt, ohne Liebe ..."
Mit der Zungenspitze erforschte er die kleine Mulde hinter ihrem Ohr, und ein lustvoller Schauer durchlief Caryn. Sein Atem, der nach Alkohol roch, war ihr nicht unangenehm, und als er sie enger an sich zog, spürte sie seine muskulösen Oberschenkel an ihren. Mit den Lippen zog er eine Spur über ihre Wange, als er jedoch ihren Mundwinkel berührte, wurde ihr klar, dass sie sich, kindisch oder nicht, von ihm zurückziehen musste. Sie wollte noch etwas sagen, dann rang sie nach Atem, als er den Mund plötzlich auf ihren presste und sie forschend und zärtlich zu küssen begann. Seine muskulöse Brust war an ihre Brüste gedrückt, aber es war ein angenehmes Gefühl. Er hielt ihren Kopf umfasst, wobei er mit den Daumen die empfindlichen Stellen hinter ihrem Ohr liebkoste. Ihre zu Fäusten geballten Hände hatte sie entschlossen an die Seiten gepresst. Als sein KUSS jedoch leidenschaftlicher wurde, legte sie Tristan die flachen Hände auf die Brust und ließ sie von da zu seinem Nacken gleiten. Ihr unbewusstes Stöhnen brachte ihn fast um die Beherrschung, und er spreizte die Beine, um sie beide zu stützen, und zog sie noch enger an sich. Das Schrillen des Telefons war laut, unangenehm und ernüchternd. Caryn öffnete die Augen und sah, wie Tristan seine schloss. Mit einem Stöhnen des Protests schob er sie von sich und ging, um den Anruf entgegenzunehmen. Erst jetzt bemerkte Caryn, dass einige Knöpfe ihres Kleids geöffnet waren, und ihr Puls beschleunigte sich, als sie seine Fingerabdrücke auf ihrem Körper sah. Tristan hatte ihr den Rücken zugewandt, bevor er den Hörer abnahm, und sie blickte sehnsüchtig zur Tür. Abgesehen von allem anderen, wollte sie sein Gespräch nicht belauschen. Und sie wollte sich auch nicht eingestehen, wie empört sie über sich selbst war. Nach allem, was sie über ihn wusste, hatte sie sich von ihm anfassen lassen ... Er drehte sich um, als spürte er ihren inneren Rückzug, und ein zynischer Ausdruck lag in seinem Blick. „Ja", sagte er gerade zu wem auch immer am anderen Ende der Leitung. „Ich weiß, ja. Nun, es ging ziemlich hektisch zu. Das weiß ich, aber ..." Caryn wandte den Blick von ihm ab und ging hinüber zu den Fenstern. Sie hörte, wie er sich entschuldigte, dass er im Moment beschäftigt sei und nicht kommen könne. Wer hat ihn gebeten zu kommen? fragte sie sich bitter. Eine andere Frau! Sie hörte, wie der Hörer aufgelegt wurde, und da sie befürchtete, Tristan könnte zu ihr herüberkommen und dort weitermachen, wo er aufgehört hatte, fuhr sie herum. „Entschuldige bitte", sagte er und fasste an das Lederband an seinem Hals. Jetzt sah sie das kupferne Amulett, das daran befestigt war. „Leider habe ich in letzter Zeit einige Leute vernachlässigt." Caryn hatte nicht die Absicht, ein Gespräch mit ihm anzufangen. „Ich bin ziemlich müde", sagte sie kalt. „Ist es in Ordnung, wenn ich jetzt ins Bett gehe?" Er zuckte die Schultern und schob die Hände in die Hosentaschen. „Natürlich", sagte er und neigte den Kopf. Irgendwie ent täuscht ging Caryn auf die Tür zu. Doch bevor sie sie öffnete, sagte er: „Ich fürchte, ich habe mich schrecklich danebenbenommen! " Unsicher blickte sie über die Schulter und sah ihn an. Dann fasste sie sich. „Du hast nur bewiesen, was für ein Mann du bist." Damit wandte sie sich um und ging.
7. KAPITEL
Während der beiden folgenden Wochen sah Caryn nichts von ihrem Arbeitgeber und war froh darüber. Am Morgen nach dem Abend, den sie in seiner Gesellschaft verbracht hatte, war sie mit einer dunklen Ahnung aufgewacht, die sie so lange gefangen hielt, bis sie entdeckte, dass Tristan ebenso unerwartet nach London aufgebrochen wie von dort erschienen war. Was genau ihn nach Wales geführt hatte, fand sie nicht heraus, schließlich vermutete sie, er wollte sich nur selbst davon überzeugen, dass sie auch während seiner Abwesenheit ausreichend beschäftigt war. Offensichtlich hatte er an jenem Abend noch gearbeitet, denn am Morgen darauf fand sie einige Bänder für sie bereitliegen. Wenigstens verschaffte seine Abreise ihr eine Ruhepause, und dafür sollte sie ihm eigentlich dankbar sein. Eines Nachmittags gegen Ende der zweiten Woche tauchte Dave O'Hara auf und kam in das Wohnzimmer hereingeschlendert, in dem Caryn gerade einen Bericht für Tristan überprüfte. Sie war nicht begeistert, Dave zu sehen. Sein neckisches Lächeln jedoch schien um Verzeihung zu bitten, und resigniert legte sie den Bericht beiseite. „Wie geht's dir?" fragte er, blieb mitten im Raum stehen, die Hände lässig in den Taschen seiner Lederjacke. „Gut", antwortete Caryn und schlug die schlanken Beine übereinander. „Was tust du hier?" „Dich abholen", erklärte er. „Ich habe mein Rad draußen. Lass uns eine Fahrt machen." „Auf einem Rad!" rief sie ungläubig aus, und er lachte. „Einem Motorrad! Du weißt schon - tuck-tuck!" Caryn musste lächeln, schüttelte jedoch den Kopf. „Tut mir Leid, ich kann nicht." „Warum nicht? So viel hast du doch nicht zu tun. Tris war schon lange nicht mehr zu Hause." „Woher weißt du das?" „Er hat es mir gesagt.", Sie versteifte sich. „Wann?" „Letzten Sonntag. In seiner Bude." „Du warst letzten Sonntag in Tris... Mr. ROSS' Apartment?" „Sicher." Dave nickte und machte dann ein nachdenkliches Gesicht. „Das war vielleicht eine Party, die er da gegeben hat." „Er hat eine Party gegeben?" Caryn kam sich außerordentlich dumm vor, alles, was Dave sagte, zu wiederholen, aber irgendwie hatte sie Tristans Abwesenheit nicht mit Partys in Verbindung gebracht. Und warum sollte er auch keine Gäste haben? Er wurde zu allen möglichen Veranstaltungen eingeladen und kannte viele Leute. Es ärgerte sie jetzt, dass sie sich vor Dave ihre Betroffenheit hatte anmerken lassen, und sein beiläufiges „Wusstest du das nicht?" ließ keinen Zweifel daran, dass er die Antwort schon kannte. „Das geht mich nichts an", sagte sie und schob die Papiere auf ihrem Schreibtisch zusammen. „Wenn du mich jetzt entschuldigen würdest..." „Ach, komm schon!" Dave stellte sich vor sie, als sie aufstand, um an ihm vorbeizugehen. „Tris ist am Wochenende hier, und dann wirst du mir sagen, dass du noch weniger Zeit hast als jetzt." „Mr. ROSS kommt - hierher? Am Wochenende?" Dave nickte ungeduldig. „Ja. Er bringt Melanie übers Wochenende mit." „Melanie?" „Melanie Forbes! Sicher hast du schon von ihr gehört." „Diese Melanie!" Caryn schluckte. Natürlich hatte sie schon von Melanie Forbes gehört. Wer hätte das nicht? Sie war Sängerin, die sich in letzter Zeit auch einen Namen
als Schauspielerin gemacht hatte. Und weil sie sowohl schön als auch talentiert war, fand man ihr Bild ständig in den Zeitungen. Die Tatsache, dass Sir George Forbes ihr Vater war, habe damit nichts zu tun, hieß es, wenngleich er eine der größeren Fernsehgesellschaften leitete und viel Zeit und Geld in Wohltätigkeitsveranstaltungen investierte. „Ja, diese Melanie!" stimmte Dave zu und fuhr mit dem Stie felabsatz über den weichen Teppich. „Du bist also fest entschlossen, nicht mitzukommen?" Caryn zögerte, und Dave machte sich ihre Unentschlossenheit zu Nutze. „Die Fahrt würde dir Spaß machen, Caryn. Hier drinnen ist es stickig. Draußen wärst du an der frischen Luft - und würdest den Wind im Gesicht spüren. Du kannst immer noch am Wochenende arbeiten", fügte er geschickt hinzu. Caryn sah ihn unsicher an. „Ich habe keinen Helm." „Tris hat einen. Leih dir seinen aus." „Ich weiß nicht, wo er ist." „Ich schätze, in der Garage. Nun, was ist? Kommst du mit?" „Na gut." Caryn gab nach, blickte jedoch ziemlich bedauernd auf ihr Baumwollkleid hinunter. „Ich muss mich umziehen." „Jeans und T-Shirt, mehr brauchst du nicht. Für den Rest sor ge ich." Er lächelte. „Und davon kannst du halten, was d u willst." Marcia sah missbilligend drein, als Caryn ihr von ihrem Vor haben erzählte. Ausnahmsweise einmal nahm Marcia ihr kleines Notizbuch von der Anrichte in der Küche, schlug es auf und schrieb in Großbuchstaben hinein: Sagen Sie ihm, er soll nicht zu schnell fahren. „Das werde ich tun", versprach Caryn, die von Marcias Besorgnis ganz gerührt war. Dave hatte den Helm gefunden, und Caryn probierte ihn auf. Er war ihr ein bisschen zu groß, aber der Riemen unter dem Kinn gab ihm einen festen Sitz. Sie kam sich lächerlich vor, und das sagte sie auch, Dave jedoch hielt nur die Daumen hoch und lächelte anerkennend. Zweifellos, dachte Caryn, kann sich ein Motorrad viel mühe loser durch den dichten Verkehr schlängeln als ein Auto. Auf Straßen, die von Urlaubern blockiert waren, fuhren sie an allen vorbei und erreichten das Dorf St. Gifford am späten Nachmit tag. „Wohin gehen wir?" fragte sie, beugte sich dabei über Daves Schulter, damit er sie verstand, und er lächelte. „Auf eine Party", erklärte er und fügte, als er ihren bestürzten Blick bemerkte, hinzu: „Beruhige dich! Ich bringe dich noch vor Einbruch der Dunkelheit wieder nach Hause." „Aber Marcia ..." „Ich habe Marcia gesagt, wohin wir gehen. Die Jungs von der Band sind da, ihre Mädchen und noch ein paar Freunde. Wir schmeißen eine Grillparty am Strand." Caryn spürte Wut in sich aufsteigen. „Das hättest du mir vorher sagen sollen." „Warum? Wärst du mitgekommen, wenn du es gewusst hättest?" „Nein." „Deshalb hab ich's dir nicht erzählt." „O Dave!" „Nein, so sagt man das nicht", zog er sie auf. „Du musst sagen: ,ooh, Dave!'" Es klang ziemlich verführerisch, so, wie er es sagte, aber Caryn war nicht in der Stimmung für seine Scherze. St. Gifford war kleiner als Port Edward, nur eine Ansammlung von Bungalows und Cottages mit Blick auf eine schmale Landspitze. Der Haupterwerbszweig des Ortes war die Fischerei, und wegen seiner Größe zog er nicht viele Touristen an.
Dave fuhr hinunter zu dem schmalen Kai und dann einen Schotterabhang hinauf zu einem weitläufigen Bungalow. Von hier hatte man den Blick auf einen schmalen Sandstrand, der durch den Deich von dem kleinen Hafen abgeschnitten war. Popmusik dröhnte aus dem hinteren Teil des Hauses, und Caryn wandte sich Dave zu, nachdem sie vom Motorrad abgestiegen war. „Wem gehört dieser Bungalow?" „Greg", antwortete er. Greg gehörte zu seiner Band. „Ist das wichtig, wem er gehört? Wir wohnen alle hier." „Du auch?" „Nun ja, manchmal. Jetzt komm, ich könnte ein Bier gebrauchen." Widerwillig folgte Caryn ihm. Sie betraten den Bungalow über eine breite Veranda und von da durch einen Gang, der quer durch das gesamte Haus führte. Sie kamen auf einer großen Terrasse heraus und wurden sofort begeistert begrüßt. Wenigstens ein Dutzend junger Leute waren da, lagen auf Luftmatratzen oder gepolsterten Matten, und die Musik, die hier noch lauter war, kam aus der elektronischen Anlage im Haus. Auf Teewagen standen Gläser neben eisgekühlten Bierdosen. „Hallo!" Allan Felix tauchte mit einem schlanken blonden Mädchen neben sich auf, das an seiner Schulter hing und Caryn böse Blicke zuwarf. „Du kennst AI, oder?" fragte Dave, legte Caryn den Arm um die Schultern und zog sie nach vom, aber sie schüttelte seinen Arm ab und nickte AI teilnahmslos zu. „Du brauchst was zu trinken, das sehe ich doch", rief Allan aus. Der herunterhängende Schnurrbart gab seinen unreifen Zügen ein wenig Ausdruck. „Was soll es sein? Bier? Ein Helles? Cola?" „Cola wäre fein", antwortete Caryn, die eigentlich gar nichts wollte. „Das ist Lindy", stellte Dave vor, als das blonde Mädchen Allan schmollend ansah. Man machte ihnen Platz auf den Matten, die überall auf dem gefliesten Boden herumlagen. Die Bandmitglieder kannte sie natürlich vom Sehen, und nach und nach stellten sich die anderen vor. Fast alle trugen Jeans und T-Shirts, bis auf zwei Mädchen im Bikini. Caryn schätzte die meisten Mädchen für jünger ein, als sie es war. Dave schätzte sie auf Ende zwanzig. Allan Felix und Greg Simons und der Drummer, Gene David, dagegen sahen jünger aus. Allan kam mit der Cola zurück, und da Dave sich gerade mit jemand anderem unterhielt, hockte Allan sich neben sie. „Kenne ich dich nicht von irgendwoher?" fragte er und runzelte die Stirn. „Die Methoden ändern sich nie, stimmt's?" erwiderte sie. „Warum versuchst du es nicht mal mit: Kommst du oft hierher?" Allan lächelte. „Ich hab schon begriffen. Aber es war so gemeint. Du erinnerst mich an jemand. Ich weiß nicht, warum irgendetwas mit den Augen, glaube ich." Da kam ihr plötzlich ein Gedanke. „Vielleicht hast du meine Schwester gekannt", sagte sie widerwillig. „Loren?" „Loren Stevens! Natürlich." Er wusste sofort, wen sie meinte. „Sie ist deine Schwester? Sag, wie geht's ihr?" Caryn befeuchtete sich die Lippen. „Sie ist tot." „Tot?" Er sah sie entgeistert an. „Mein Gott, das tut mir Leid." Lindy kam zurück, hängte sich ihm wieder an die Schulter, und er blickte sich genervt zu ihr um. Als sie den Wink nicht verstand, gab er ihr einen Knuff mit dem Ellbogen und sagte: „Hau ab!" Sie verschwand mit hochrotem Kopf, und Caryn war das Ganze schrecklich peinlich. Da sie das Gefühl hatte, irgendetwas sagen zu müssen, fragte sie: „Hast du Loren gut gekannt?" Aber er schüttelte den Kopf. „Nicht sehr gut. Sie war hier immer irgendwo im Haus, weißt du. Ich schätze, Dave kannte sie besser als wir." „Ich verstehe." Nachdenklich ließ Caryn den Blick über Dave
gleiten. Natürlich, als Tristans Freund musste er sie öfter gesehen haben als die anderen. „So ..." Allan wollte eindeutig das Thema wechseln. „... dann arbeitest du jetzt also für Tris. Wie kommst du mit Angel klar?" „Ich kenne sie kaum. Seit letztem Monat ist sie weg." „Nicht schlecht!" Er lächelte. „Aber halte dich von Dave fern, wenn sie in der Nähe ist. Sie mag keine Konkurrenz." „Dave?" Caryn war überrascht, und als er seinen Namen hörte, drehte er sich zu ihr um. „Hast du mich gerufen?" neckte er sie. Sie wurde rot, schüttelte den Kopf und widmete sich ihrer Cola. Caryn begann bald, sich zu langweilen. Sie trank nur, wenn sie Durst hatte. Alle anderen sprachen dem Alkohol im Lauf des Nachmittags und frühen Abends gut zu, und bis sie das Grillfeuer am Strand in Gang gebracht hatten, waren alle, bis auf Lindy, leicht betrunken. Caryn war nicht prüde, fand dieses Verhalten aber nicht gut, und bei dem Gedanken, auf dem Soziussitz von Daves Motorrad nach Port Edward zurückzufahren, war ihr nicht ganz wohl. Er sollte überhaupt nicht fahren, und sie wünschte, sie hätte vorgeschlagen, mit dem Auto zu kommen. Aber da hatte sie ihr Ziel noch nicht gekannt und nicht gewusst, dass sie den ganzen Abend bleiben würden. Sie ging in den Bungalow, um den Waschraum zu benutzen, und fragte sich, ob es irgendwo ein Telefon geben mochte. Vielleicht sollte sie in Druid's Fleet anrufen und Marcia bitten, sie abzuholen. Sie konnte fahren, und es gab einen Mini, den sie zum Einkaufen in Camarthen benutzte. Und wenn sie ihr nur sagte, was los war, würde sie sich vielleicht schon besser fühlen. Sie traf Lindy in der Halle, als sie aus dem Waschraum kam, und aus einem Impuls heraus fragte sie, ob es ein Telefon gebe. „Wozu willst du das wissen?" fragte Lindy beleidigt, und Caryn seufzte. „Ich möchte zu Hause anrufen, das heißt, dort, wo ich wohne." „Warum?" „Ich würde gern gehen." „Du willst gehen?" Lindy sah sie argwöhnisch an. „Du und wer noch?" „Nur ich", antwortete Caryn. „Bitte sag mir, gibt es hier ein Telefon?" „Sicher. Da drinnen ist eins." Lindy zeigte mit dem Daumen auf eine Tür. Caryn bedankte sich und eilte darauf zu. Sie betrat ein Wohnzimmer, und dem abgestandenen Tabakgeruch nach zu schließen, wurde es selten gelüftet. Aber auf der Couch stand tatsächlich ein Telefon, und sie schloss die Tür. Sie brauchte eine Minute, um die Vorwahl von Port Edwards zu finden, Tristans Nummer kannte sie auswendig, und begann zu wählen. Es schien eine Ewigkeit zu läuten, bevor jemand den Hörer abnahm, dann meldete sich eine männliche Stimme. Caryn schwieg einen Moment, und er wiederholte die Nummer. Mit angehaltenem Atem sagte sie: „Tristan! Tristan, bist du es?" „Caryn?" Er klang überrascht. Dann, etwas schärfer: „Stimmt etwas nicht?" Warum war Tristan zu Hause? War er allein? Oder war Melanie Forbes bei ihm? „Ich ... warum ... nein", antwortete sie ihm jetzt, bevor sie rasch hinzufügte: „Könnte ich bitte Marcia sprechen?" „Marcia?" Es klang merklich kühler. „Caryn, wo bist du?" „Oh, bitte, ich habe nicht viel Zeit..." Caryn hörte Stimmen draußen in der Halle und fürchtete, jemand könnte hereinkommen und sie fragen, was, zum Teufel, sie da tue. „Caryn! Wo bist du? Ich will es wissen." „Hat Marcia es dir nicht erklärt?" „Marcia hat mir eine Notiz geschrieben. Darin steht nur, dass Dave dich zum Essen
ausführt und anschließend mit dir in Carmathen ins Kino geht." „Ach du meine Güte!" „Wenn du mir jetzt nicht sagst, wo du bist, ich warne dich, dann werde ich dich, wenn du zurück bist..." „Ich bin in einem Ort namens St. Gifford", gestand sie rasch. „St. Gifford!" Jetzt spürte sie seinen Ärger. „In Greg Simons' Haus?" „Ja.“ „Allmächtiger! Was hast du dort zu suchen?" „Ich wusste nicht, wohin wir gingen", begann sie, aber er ließ sie nicht ausreden. „In einer knappen Stunde bin ich dort", sagte er barsch, dann war die Leitung tot. Gerade als sie das Wohnzimmer verließ, sah sie Dave auf sich zukommen, der sie suchte. „Was hast du gemacht?" rief er aus, ließ den Blick hinter sie zur Wohnzimmertür gleiten, und Caryn gestikulierte verlegen. „Ich habe mich nur ein wenig umgesehen", antwortete sie wie nebenbei. „Gut, dann komm jetzt", drängte er sie. „Wir sind schon beim Grillen, und Greg möchte wissen, wie du dein Steak magst." Caryn begleitete ihn über die Terrasse und die Steinstufen zum Strand hinunter. Der Sand dort war grobkörnig, und sie setzte sich an das Ende einer Holzbank, zog die Beine hoch, die Knie an und fragte sich besorgt, was Tristan tun würde. Die anderen hörten laute Musik von einem CD-Player und versuchten ausgelassen, auf dem Sand zu tanzen, doch als Dave sie aufforderte, schüttelte sie den Kopf und gab vor, Greg beim Grillen der Steaks zuzusehen. Lindy schlich sich an sie heran. „Nun?" fragte sie. „Hast du es gefunden?" Caryn sah sie missbilligend an und wünschte, sie würde nicht so laut reden, aber Allan hatte es schon gehört. „Gefunden? Was gefunden?" „Das Klo, Blödmann!" antwortete Lindy kurz angebunden, und Caryn atmete erleichtert auf. Die Holzkohle war zu heiß geworden, und die erste Ladung Steaks wurde unappetitlich schwarz. Man holte einen neuen Schwung aus der Küche, und Caryn warf heimlich einen Blick auf die Uhr. Es war nach acht. Wie lange würde Tristan noch brauchen? Sie stellte fest, dass sie seine Ankunft beinahe verzweifelt erwartete. Dave kam zu ihr zurück, gefolgt von einer Rothaarigen, die Jeans und T-Shirt ausgezogen hatte und nur einen schwarzen Bikini trug. „Los, komm", sagte Dave und hob die Bierdose an die Lippen. „Du hattest noch gar keinen Spaß!" Caryn beachtete ihn nicht. Blitzschnell streckte er die Hand aus, packte einen Büschel ihrer Haare und zerrte daran. „Dreh mir nicht den Rücken zu!" stieß er ärgerlich hervor, und sie zuckte vor Schmerz zusammen, als ihr die Kopfhaut brannte. „Lass sie los!" Die Rothaarige blickte zu ihm auf. „Komm mit, tanz mit mir." Dave ließ Caryns Haar los, aber um seinen Mund lag ein aggressiver Zug. „Was ist mit dir?" fragte er. „Loren war längst nicht so distanziert." Caryn sah ihn verächtlich an, da hörte sie Allan einen leisen Pfiff ausstoßen. „Sieh mal, wer da ist! Der Boss höchstpersönlich." Beide, Dave und Allan, drehten sich um und sahen Tristan die Stufen herunterkommen, in dunkelblauer Cordhose und dazu passendem Hemd. Aber er war nicht allein. Ein gertenschlankes Mädchen war bei ihm. Das honigbraune Haar hatte sie sich mit einem orangefarbenen Samtband aus dem Gesicht zurückgebunden. Auch ihr Kleid war orangefarben, lang und seidig und offensichtlich ungeeignet für eine Grillparty am Strand. Caryn wusste sofort, wer sie war. Melanie Forbes in Person. Dave warf neugierig einen Blick in Caryns Richtung, während er auf die Neuankömmlinge zuging, um sie zu begrüßen. „Sie kommen genau richtig", erklärte er und deutete auf den Grill. „Steaks für alle!" „Nicht für mich, Darling!" Melanie kannte die Gruppe offensichtlich. „Steaks machen
viel zu dick." Tristan hatte Caryn mit dem Blick gesucht und gefunden, doch sie rührte sich nicht. Es gefiel ihr nun mal nicht, dass er seine Freundin mitgebracht hatte. Warum hatte er nicht allein kommen können? War die Situation nicht auch so schon peinlich genug? „Also, was gibt es?" fragte Greg, der sich zu ihnen gesellt hatte, aber Melanie kam Tristan zuvor. „Wo ist Tris' Sekretärin? Deshalb sind wir hier. Anscheinend will sie nach Hause." Caryns Gesicht wurde erst tiefrot, dann weiß, als sich alle nach ihr umdrehten. In ihrem ganzen Leben hatte sie sich noch nie so klein gefühlt, und unglücklich blickte sie auf ihre Zehen. „Es ist meine Schuld." In ihrer qualvollen Verlegenheit hörte sie Tristans Stimme wie durch einen Schleier. „Ich habe Caryn gesagt, dass ich sie abhole", stellte er ruhig fest. „Sie hatte Marcia angerufen, um ihr mitzuteilen, dass sie zu spät komme, und ich bin aus dem Häuschen geraten." Nur Dave schien seine Zweifel zu haben. „Caryn hat Marcia angerufen?" wiederholte er. „Das hat sie mir gar nicht gesagt." „Gibt es einen bestimmten Grund, weshalb sie es hätte tun sollen?" fragte Tristan. „Oh, komm jetzt, Darling!" Melanie zog Tristan am Ärmel. „Um Himmels willen, wo ist sie? Können wir endlich los? Du hast mir versprochen, dass wir später noch zu Donnelly's gehen." Caryn stand von der Bank auf und kam auf sie zu. „Hier bin ich", sagte sie laut und deutlich und sah den verächtlichen Blick, den Melanie in ihre Richtung warf. Caryn ging den beiden die Stufen voraus, nachdem sie den anderen zum Abschied kurz zugewinkt hatte. Zurück auf Druid's Fleet, war Caryn gleich ins Badezimmer gegangen, um sich das erhitzte Gesicht mit Wasser abzukühlen, als jemand an ihre Schlafzimmertür klopfte. „Wer ist da?" fragte sie, schon wurde die Tür geöffnet, und Melanie erschien. „Was wollen Sie?" fragte Caryn. „Ist Tristan hier?" Melanie sah sich um. „Tris - Mr. ROSS? Nein. Ich weiß nicht, wo er ist." „Ach!" Melanie ließ den Blick noch einmal durch das Zimmer gleiten. „Ein hübscher Raum. Eigentlich viel hübscher als meiner. Wie lange sind Sie schon hier?" „Seit fast sechs Wochen." „So lange schon? Finden Sie es nicht ziemlich einsam hier, nur mit Marcia als Gesellschaft?" „Du vergisst das Kind und Miss Trewen, Melanie", sagte Tris tan, der plötzlich hinter ihr aufgetaucht war, und sie wirbelte herum. „Da bist du!" rief sie aus. „Wo hast du gesteckt?" „Mir war heiß", antwortete er mit einem Blick auf Caryn, „und ich habe kurz geduscht und mich umgezogen. Entschuldige bitte." Melanie verschränkte ihre Finger mit seinen. „Dann können wir ja jetzt zu Donnelly's aufbrechen?" fragte sie und streifte mit den Brüsten seinen Arm. „Warum nicht?" Nach einem flüchtigen Blick auf Caryn zog er Melanie hinaus und schloss die Tür. Es war nach neun, als Caryn am nächsten Morgen aufwachte. Es war Freitag, und Tristan wartete möglicherweise schon mit Arbeit auf sie. Sie duschte und zog sich rasch an. Sie eilte die Halle mit den versetzten Geschossen hinunter ins Arbeitszimmer, als Marcia ihr entgegenkam. Beide blieben stehen, und Caryn fragte rasch, ob Tristan schon auf sie warte, aber Marcia schüttelte den Kopf. Lächelnd neigte sie den Kopf zur Seite, legte beide Handflächen aneinander und schmiegte sie an die Wange. Dass ihr Arbeitgeber noch im Bett sei, drückte sie damit deutlicher aus, als Worte es vermocht
hätten. „Ich dachte, er würde schon auf mich warten. Ich habe verschlafen." Marcia nahm Caryn am Arm und zog sie den Flur entlang und durch die Tür, die zur Küche führte. Sie tat so, als würde sie eine Tasse zum Mund führen, und zog fragend die Brauen hoch. Caryn nickte. „Ja", sagte sie, „Kaffee wäre gut. Und dazu ein Toast, wenn es nicht zu viel Mühe macht." Caryn hatte ihr Frühstück gerade beendet, da kam Miss Tre-wen mit dem Baby herein. Mit beinah fünf Monaten konnte der Kleine den Kopf schon ganz gerade halten und beantwortete die Aufmerksamkeit der Erwachsenen mit einem Lächeln. Caryn stand sofort auf, um Miss Trewen den Jungen abzunehmen. „Er war die halbe Nacht wach", sagte sie und hob den Deckel der Kaffeekanne. „Gibt es noch eine Tasse Kaffee für mich?" Caryn schob sich Tristans Finger aus dem Mund und kicherte, als er sich mit den Fingern in ihrem Haar verhedderte. „Warst du ein unartiger Junge?" fragte sie ihn, und er blies ihr ins Gesicht. „Mr. ROSS hatte einen Gast über Nacht, wussten Sie das?" fragte Miss Trewen, nachdem Marcia eine Kanne frisch gebrühten Kaffee gebracht hatte, und Caryn nickte. „Ich habe sie gestern Abend kennen gelernt", antwortete sie, drückte ihr Gesicht an Tristans und hatte dabei den flüchtigen Eindruck, etwas Vertrautes zu sehen. Stirnrunzelnd sah sie dem Baby in die Augen, versuchte, diese Spur einer Ähnlichkeit wieder zu finden, und wandte sich dann zur Tür um, die unerwartet geöffnet worden war. Tristan kam herein. Er trug einen dunkelblauen Frotteemantel über einem weißen Seidenpyjama, und zum ersten Mal sah Caryn ihn ohne seine Tageskleidung. Anscheinend überraschte es ihn, die drei Frauen seines Haushalts gleichzeitig anzutreffen, und sofort begann Miss Trewen, sich für ihre Anwesenheit zu entschuldigen. „Tristan bekommt einen Zahn, Mr. ROSS ", erklärte sie, „und ich habe eine schreckliche Nacht hinter mir." „Das habe ich auch, Miss Trewen", antwortete er, ging zu Caryn und redete auf den Kiemen ein. Dazu musste er ihr sehr nahe kommen. Er erlaubte seinem kleinen Namensvetter, nach einem seiner Finger zu grapschen, und so, wie das Baby reagierte, hatte Tristan nicht das erste Mal zu ihm gesprochen. Dann sah er Caryn an. „Und du hast gesagt, Babys würden dich nicht interessieren", sagte er leise zu ihr. „Dieses Baby schon", antwortete sie heiser. „Das wundert mich. Vielleicht sollte ich mich geschmeichelt fühlen, dass du meinem Sohn so viel Aufmerksamkeit schenkst." Miss Trewen, die von dem Gespräch nichts mitbekommen hatte, kam herüber und nahm Caryn den Jungen ab. „Komm, mein Schätzchen", sagte sie, „es ist Zeit für dein Nickerchen." „Ich gehe jetzt ins Arbeitszimmer, Mr. ROSS ", erklärte Caryn laut und ging zur Tür. „Arbeiten Sie morgen? " „Sie können die nächsten Tage freinehmen", antwortete er. „Melanies Vater wird uns übers Wochenende besuchen, und da wir einiges Geschäftliches zu besprechen haben, müssen Sie nicht dabei sein, Miss Stevens." „Ich verstehe." „Gut. Dann haben Sie dieses Wochenende frei. Warum fahren Sie nicht nach London? Oder besuchen Ihre Freundin in Bloomsbury?" „Laura?" Caryn biss sich schuldbewusst auf die Lippe. Sie hatte sich, bis auf einen Brief nach ihrer Ankunft in Port Edwards, nicht mehr bei Laura gemeldet. Und das Baby musste bald kommen. Ja, sie würde Laura an diesem Wochenende besuchen. Nachdem sie ihren Koffer gepackt hatte, ging Caryn zum Kinderzimmer, um Miss
Trewen zu sagen, dass sie für zwei Tage weg sei. Sie lächelte, als Caryn hereinkam. „Gut, dass Sie kommen, Miss Stevens", begann Miss Trewen, „ich muss Sie nämlich persönlich sprechen." „So?" „Ja." Miss Trewen wühlte in ihrer geräumigen Handtasche herum und förderte einen Brief zu Tage. „Der ist heute Morgen angekommen. Eine alte Studienfreundin von mir hat ihn geschrieben. Sie lebt in Aberystwyth, wissen Sie, und ich hatte ge hofft, Sie würde ein Treffen vorschlagen, nachdem ich mich vor kurzem bei ihr gemeldet hatte." Caryn ahnte schon, was als Nächstes kommen würde. „Und, hat sie?" „Ja, ich soll sie für einen Tag besuchen. Meinen Sie, es ginge am Sonntag?" „Am Sonntag?" Caryn schluckte. „Nun ..." „Sicher hätte Mr. ROSS nichts dagegen. Ich meine, da ich nun schon sechs Wochen hier arbeite ..." „O ja, natürlich." Caryn rang sich ein Lächeln ab. „Dieser freie Tag steht Ihnen zu." Sie biss sich auf die Lippe. „Ja, Sonntag wäre gut." „Fein. Ich dachte mir, ich rufe sie heute Nachmittag an, wenn alles geregelt ist." Caryn nickte. „Ich selbst gehe heute auch weg." „Ach ja?" Miss Trewen sah sie überrascht an. „Na, so was! Zwei Frauen und ein Gedanke." „Ja." Caryn zuckte etwas verlegen die Schultern. „Ich gehe jetzt wohl besser." „Sind Sie heute Abend wieder hier?" „Nein. Erst morgen." „Morgen. Ich verstehe. Mr. ROSS braucht Sie nicht." „Er selbst hat es vorgeschlagen", gestand Caryn zögernd, und Miss Trewen sah sie betroffen an. „Ach du meine Güte! Dann verderbe ich Ihnen jetzt das Wochenende?" „O nein!" Die Vorstellung, einen Tag früher als erwartet zurück zu sein, erleichterte sie. Das bedeutete einen Tag weniger, an dem Tristan glauben könnte, ohne sie auszukommen. Langsam ging sie zur Tür. „Dann sehe ich Sie also morgen Abend wieder." Und Miss Trewen nickte.
8. KAPITEL
Caryn hatte ein schlechtes Gewissen, weil sie sich gar nicht begeistern konnte, als sie Laura traf. Laura freute sich sehr, sie zu sehen, und stellte als Erstes fest, wie gut Caryn doch aussehe. „Was für ein Glück du doch hast, am Meer zu leben!" sagte sie fast neidisch. Während sie Lauras erhitztes Gesicht und geschwollene Knöchel betrachtete, fragte Caryn sich, wie sie jemals hatte denken können, London sei ein geeigneter Ort, eine Familie zu gründen. „Es hat seine Vorteile", sagte sie jetzt und betrat Lauras Wohnung, die trotz ihrer Größe immer so wunderschön aufgeräumt war. „Wo ist Bob?" „Was glaubst du?" Laura schnitt ein Gesicht. „Er arbeitet." Sie seufzte. „Wenn er nur eine Stelle außerhalb der Stadt bekäme, dann könnten wir uns ein Haus auf dem Land kaufen! Aber bei seinem Gehalt ..." Sie ging in die Küche, um den Wasserkessel aufzusetzen, und Caryn ging zum Fenster. Die Schornsteinköpfe Londons waren kein Ersatz für die breite Mündung des Levant, und der Verkehr, der zwei Stockwerke tiefer durch die Straßen toste, tat beinahe in den Ohren weh, wenn man die sanften Geräusche des Flusses gewohnt war. Laura kam zurück in den Raum und ließ sich auf einen Stuhl fallen. „Noch drei Wochen!" erklärte sie und fächelte sich mit einer Zeitung Luft zu. „Ich weiß nicht, ob ich durchhalte." Mitfühlend sah Caryn sie an. „Wie schaffst du die Treppen?" „Gar nicht. Nur wenn ich in die Klinik muss. Bob erledigt alle Einkäufe, und ich sitze da von morgens bis abends und warte darauf, dass er nach Hause kommt." „Aber was ist mit deiner Mutter?" fragte Caryn, als sie an die ziemlich griesgrämige Frau dachte, die gelegentlich zu Besuch gekommen war, aber Laura schüttelte den Kopf. „Sie ist noch nie mit Bob klargekommen, das weißt du ja. Und - nun ja, nachdem du weg warst, gab es eines Abends einen fürchterlichen Streit. Es ging darum, dass ich die ganze Zeit hier allein herumsitze und niemand da ist, an den ich mich wenden kann, falls das Baby früher kommen sollte." „Was ist mit der anderen Wohnung?" „Die ist noch nicht vermietet. Ich habe gehört, dass die Tochter der Hauswirtin sie übernehmen will, wenn sie im Oktober heiratet. Allerdings weiß ich nicht, ob das stimmt oder nicht." „O Laura!" Caryn war besorgt um ihre Freundin. „Deine Mutter hat Recht, weißt du. Du brauchst jemanden, an den du dich wenden kannst." „Wen schlägst du vor? Mr. Sugden? Oder diese schreckliche Miss Peel?" Caryn runzelte die Stirn. „Nun ja, Mr. Sugden arbeitet selbst den ganzen Tag", sagte sie nachdenklich. Sie verstand, dass Laura ihn nur ungern ansprechen wollte. Man erzählte sich, dass er geschieden sei, aber sie und Laura hielten ihn für einen etwas merkwürdigen Kauz, und das in mehr als einer Hinsicht. Mit Miss Peel war das auch so eine Sache. Nur ungefähr zehn Jahre älter als Caryn, hatte sie die Wohnung im ersten Stock auf der Vorderseite des Hauses. Sie verfügte ganz offensichtlich über keine finanziellen Mittel, doch mangelte es ihr nie an männlichen Besuchern. Weder Mr. Sugden noch Miss Peel waren Menschen, die Caryn als zugänglich bezeichnet hätte, und ihre Besorgnis um Laura war groß. „Also", sagte sie jetzt, als sie sah, wie bedrückt ihre Freundin war, „wenn du ein Plätzchen für mich zum Schlafen hast, kann ich bis morgen bleiben, und solange ich hier bin, bestehe ich darauf, die Besorgungen für das Wochenende zu erledigen." „O Caryn!" Zu ihrer Bestürzung sah sie eine Träne über La uras Wange kullern, doch mit einer Entschlossenheit, die sie bei weitem nicht empfand, ging sie in die Küche und machte Tee.
Als sie zurückkam, hatte Laura sich wieder unter Kontrolle, und es gelang Caryn, sie abzulenken, indem sie erzählte, wie prächtig Tristan junior sich entwickelte, und ihre eigenen Erfahrungen auf Druid's Fleet in allen Einzelheiten beschrieb. Sie vermied dabei jeden Hinweis auf Tristan ROSS, und eine leise innere Stimme schalt sie dafür einen Feigling. Die zwei Tage vergingen bemerkenswert rasch. Bei ihren Einkaufen, die sie für Laura erledigte, fiel Caryn auf, dass sie, was die Preise betraf, gar nicht mehr auf dem Laufenden war und wie schnell sie sich doch ihrem neuen Lebensstil angepasst hatte. Das ist gefährlich, dachte sie, während sie die Treppen zur Wohnung hinaufging. Früher oder später wäre ihre Stellung bei Tristan unhaltbar, und sie würde es doppelt schwer finden, ihr früheres Leben wieder aufzunehmen, wenn sie sich alle Fäden entgleiten ließ. Sie versuchte, erst gar nicht daran zu denken, was sie tun würde, sollte er sich entschließen, sie zu entlassen. Oder wie es dem Baby Tristan ergehen mochte ohne die Fürsorge seines Vaters ... Lauras Ehemann Bob war dankbar für ihren Besuch. „Laura hat in letzter Zeit nur selten Gäste", erzählte er ihr, als seine Frau nicht im Zimmer war. „Ich mache mir Sorgen um sie, aber was kann ich tun? Einer muss schließlich die Brötchen verdienen." „Ich wünschte, ich könnte irgendetwas für dich tun", gestand Caryn seufzend. „Ich komme mir schäbig vor, sie ausgerechnet jetzt im Stich zu lassen, wo sie das Baby erwartet." Bob nickte, dann blickte er sich verstohlen um und flüsterte: „Hör zu, aber sag nichts zu ihr, versprich mir das! Nächste Woche habe ich ein Vorstellungsgespräch bei AreaSouth-Televisi-on. Wenn ich den Job bekomme, können wir uns ein Haus auf dem Land leisten, draußen bei den Studios in Wülesden." „O Bob!" Caryn strahlte vor Freude. „Das wäre wunderbar!" „Ich weiß." Er zuckte die Schultern. „Der Haken an der Sache ist nur, dass ich noch keinerlei Erfahrungen im Fernsehbereich habe." Caryns Freude verschwand. „Und die ist Voraussetzung? Die Erfahrung, meine ich?" „Nein. Aber wenn sich ein Bewerber meldet, der diese Erfahrung mitbringt - nun ja, ich schätze, dann bin ich aus dem Rennen." Caryn runzelte die Stirn und dachte nach. Area-South-Tele- vision. War das nicht die Gesellschaft, die von Melanies Vater geführt wurde? Aber wie konnte sie erwarten, dass Melanie ihr helfen würde? Das Mädchen mochte sie nicht, und dieses Gefühl beruhte auf Gegenseitigkeit. Tristan! Natürlich. Ihn könnte sie fragen. Aber wie sollte sie ihn um einen Gefallen bitten, nachdem sie sich ihm gegenüber so ver halten hatte? Bob, der ihr wechselhaftes Mienenspiel beobachtet hatte, beugte sich zu ihr. „Caryn", sagte er, und sie sah ihn fragend an, „ich tu es nicht gern, aber zufällig weiß ich, dass Tristan ROSS Anteile bei Area-South besitzt. Vielleicht siehst du eine Möglichkeit, bei ihm ein gutes Wort für mich einzulegen." Caryn sah ihn fest an. „O Bob ..." „Ich weiß, es ist dreist von mir, dich darum zu bitten. Aber ich bin verzweifelt, Caryn. Und niemand außer dir kann uns helfen." Caryn war in einer unmöglichen Situation. „Aber so gut kenne ich Mr. ROSS nicht", wandte sie ein. „Du lebst in seinem Haus, oder? Du arbeitest für ihn. Ich weiß, du machst deine Sache sehr gut. Und seiner Sekretärin - seiner Beinahe-Schwägerin - einen Gefallen zu tun ..." „Bob, Tristan ROSS bestreitet immer noch, dass das Kind von ihm ist." Bob seufzte. „Schon gut." Unvermittelt stand er auf. „Tut mir Leid, dass ich dich gefragt habe."
„Das muss dir nicht Leid tun." Caryn fühlte sich entsetzlich. „Ich hoffe, du verstehst, dass ich nichts für dich tun kann, so gern ich dir helfen würde." Der Abschied von Laura ging Caryn sehr nahe. Laura weinte, und Caryn verließ die Wohnung mit einem äußerst miserablen Gefühl. Es war spät am Abend, als Caryn nach Druid's Fleet zurückkehrte. Marcia empfing sie mit der Nachricht, dass Mr. ROSS seine Gäste zum Essen ausgeführt habe. „Wusste er, dass Sie zur ückkommen?" kritzelte sie auf ihren Notizblock, und Caryn runzelte die Stirn. „Hat Miss Trewen es nicht erklärt?" fragte sie und fügte, als Marcia sie verständnislos ansah, hinzu: „Sie fährt morgen nach Aberystwyth, um den Tag bei einer Freundin zu verbringen. Sie hat mich gebeten, mich um Tristan zu kümmern." Marcia nickte und begann wieder zu schreiben: „Sir George weiß vermutlich nicht, dass ein Baby im Haus ist, aber Melanie ärgert sich darüber, dass man Lorens Baby so viel Zuwendung zeigt, die sie für nicht gerechtfertigt hält." Caryn seufzte. „Dann sollte ich wohl besser verschwinden. Ich möchte nicht noch mehr Ärger verursachen." Marcia schrieb weiter: „Ist Ihnen schon jemals der Gedanke gekommen, dass es nicht Mr. ROSS' Kind sein könnte?" Caryn sah sie enttäuscht an. „Glauben Sie mir denn nicht?" fragte sie aufgebracht, und Marcia neigte sich über ihr Notizbuch. „Ich denke, Loren brauchte ganz verzweifelt Liebe - die Liebe eines Mannes. Als sie die bei Mr. ROSS nicht fand, suchte sie woanders danach." „Und ich habe Sie für meine Freundin gehalten", antwortete Caryn darauf und wandte sich zur Tür um. „Weshalb sonst sollte ein Mann die finanzielle Verantwortung für ein Kind übernehmen, wenn er nicht der Vater ist?" fragte sie hitzig. Aber Tristans Worte: aus christlicher Nächstenliebe! hallten ihr dabei in den Ohren. Miss Trewen weckte Caryn am Sonntagmorgen um halb acht. „Tut mir Leid, dass ich Sie stören muss", flüsterte sie mit einem neckenden Lächeln, als Caryn sich aufrappelte und das Laken bis zum Kinn hochzog. „Aber mein Taxi kommt um halb neun, und ich dachte, ich sollte Ihnen vorher noch einige Anweisungen geben." Nachdem Caryn einige Stunden später das Baby gefüttert und schlafen gelegt hatte, räumte sie das Kinderzimmer auf und trug ihr Frühstückstablett hinunter in die Küche. Sie war gerade auf dem Weg nach oben, als die Eingangstür geöffnet wurde, Tristan hereinkam und sich die Regentropfen von seiner schwarzen Windjacke klopfte. Caryn war unwillkürlich stehen geblieben, als sie jedoch Tristan erblickte, ging sie rasch weiter. „Caryn!" Dass er sie beim Vornamen genannt hatte, verriet seine Überraschung darüber, sie zu sehen. Er kam die Stufen herauf und sah sie fragend an. „Ich dachte, du wärst in London." „Miss Trewen wollte einen Tag bei einer Freundin verbringen. Ich bot ihr an, mich um Tristan zu kümmern." Er presste die Lippen zusammen. „Das wäre nicht nötig gewesen. Wenn du mir Bescheid gesagt hättest, hätte ich Marcia veranlasst, Miss Trewen einen Tag lang zu vertreten. Oder ich hätte jemand kommen lassen." „Es hat mir nichts ausgemacht - wirklich nicht." „Aber es macht dir keinen Spaß, auf Babys aufzupassen. Das hast du mir gesagt." Caryn atmete tief ein. „Vielleicht habe ich meine Meinung geändert." „Weshalb hättest du es tun sollen?" „Du lieber Himmel, ist das denn so wichtig?" Sie umfasste das Geländer fester, während sie sich um Beherrschung bemühte. „Ich bin jetzt hier, und nur das ist wichtig." „Man hätte mir Bescheid sagen sollen."
„Ich dachte, Miss Trewen hätte mit dir darüber gesprochen." „Offensichtlich nicht." Nachdenklich sah er sie an. „Nun, da du schon einmal hier bist, kannst du uns heute Abend beim Essen Gesellschaft leisten." „Ich glaube nicht, dass ich das kann." „Warum nicht?" Sie zögerte und wünschte verzweifelt, er hätte das Haus einige Minuten später betreten. „Tristan braucht jemand." Sein Blick ruhte auf ihrem Mund. „Tun wir das nicht alle?" „Mr. ROSS ..." „Wir sehen uns beim Dinner", erwiderte er scharf. „Um acht Uhr, Miss Stevens." Im Lauf des Nachmittags suchte Caryn immer wieder nach Gründen, um die Abendgesellschaft nicht besuchen zu müssen, oder sie versuchte, ihre Motive für ihr Verschwinden zu recht fertigen. Wenn sie Tristan und seinen Gästen nicht Gesellschaft leistete, würde sie ihn damit verärgern, das wusste sie. Baby Tristan bekam um vier Uhr seinen Tee, und um halb sechs wurde er gebadet. Allmählich fand er Spaß daran, im Wasser zu planschen, und Caryn war froh, dass sie Miss Trewens wasserdichte Schürze übergestreift hatte, denn der Fußboden war überschwemmt, als sie Tristan aus der Wanne hob. Sie rubbelte ihn trocken, puderte ihn und zog ihn für die Nacht an. Dann gab sie ihm sein Fläschchen und legte ihn schlafen, worauf er heftig zu protestieren begann. „Du musst heute Abend schön artig sein", sagte sie ihm, über sein Bettchen gebeugt. „Deine Tante Caryn geht jetzt und zieht ihr bestes Kleid an, dann muss sie höflich Konversation machen. Sei froh, dass es dir erspart bleibt." Bis er sich endlich beruhigt hatte, war es für Caryn zu spät, noch ein Bad zu nehmen, und sie begnügte sich mit einer Dusche. Zum Glück hatte sie das Kleid für den Abend schon ausgesucht und brauchte es, nachdem sie Slip und BH angezogen hatte, nur noch überzustreifen. Es ist ein schönes Kleid, dachte sie, als sie sich im Spiegel betrachtete, aber die rote Seide ist vielleicht etwas unpassend für eine schlichte Abendgesellschaft. Doch etwas anderes hatte sie jetzt nicht, und wenn sie Tristan ROSS darin nicht gefiel, konnte sie es auch nicht ändern. Um Viertel vor acht ging Caryn die Treppe hinunter und traf Tristan und seine Gäste im Wohnzimmer an, wo sie etwas tranken. Aller Blicke waren auf sie gerichtet, als sie den Raum betrat. Ein kräftiger grauhaariger Mann kam auf sie zu, und obwohl er seiner Tochter nicht sehr ähnelte, vermutete Caryn, dass es Sir George Forbes sein musste. „Caryn, nicht wahr?" sagte er, noch bevor Tristan sie miteinander bekannt machen konnte. „Schön, dass Sie heute Abend bei uns sind. Warum nicht schon gestern? Ein bisschen Glück hätte ich gebrauchen können." Caryn, die sich Tristans Blick bewusst war, erlaubte dem älteren Herrn, ihr die Hand zu schütteln, zog sie jedoch entschlossen zurück, als er sie länger festhalten wollte. „Hatten Sie Pech gestern Abend, Sir George?" parierte sie, immer noch lächelnd, und er erklärte, dass er eine private Glücksspielveranstaltung besucht habe. „Spielen Sie gern, Miss Stevens?" fragte Melanie, aber Tristan griff ein. „Caryn ist Expertin in Sachen Glücksspiel, nicht wahr?" fragte er mit leicht feindseligem Blick, und Caryn war froh, als Sir George wieder sprach und ihr eine Antwort erspart blieb. „Tris hat mir erzählt, dass Ihre Schwester für ihn gearbeitet hat", bemerkte er, und sie nickte. „Sherry?" schlug Tristan vor und zog ihre Aufmerksamkeit auf sich. „Danke, ja." „Tris hat sie gefeuert", wandte Melanie schadenfroh ein. „Miss Stevens Schwester, meine ich." Sie warf Caryn einen boshaften Blick zu. „Sie hatte ihn - wie soll ich sagen?
in Verlegenheit gebracht." „So wie Sie es jetzt tun", erwiderte Caryn kurz angebunden. „Gut gekontert!" Sir George hatte offensichtlich schon einiges getrunken und nahm keinen Anstoß an Caryns rüdem Ton. Anders Melanie. Sie wandte sich an Tristan. „Willst du hier herumstehen und zulassen, dass ... dass dieses Geschöpf mich beleidigt?" „Da es stimmt, was sie gesagt hat, wüsste ich nicht, was ich tun sollte", antwortete er ruhig. „Allerdings", er ließ den Blick über Caryn gleiten, „sagt sie es wohl ebenso ungern, wie du es hörst." Das Dinner wurde im Wohnzimmer serviert und schmeckte köstlich wie immer. Abschließend brachte Marcia das Tablett mit dem Käse, als ein Wagen die Auffahrt herunterfuhr. Obwohl es noch nicht dunkel war, konnte Caryn von ihrem Platz aus nicht sehen, wer es war, und Tristans kurzer Ausruf ließ sie an Dave O'Hara denken. Aber sie täuschte sich. „Es ist Angel!" erklärte er, schob seinen Stuhl zurück und stand auf. „Warum, zum Teufel, hat sie nicht Bescheid gesagt, dass sie heute zurückkommt?" „Angel?" Melanie lächelte. „On, das ist gut!" „Ihre Tochter, ROSS?" fragte Sir George, als Tristan auf die Tür zuging. „Ausgezeichnet!" Die Eingangstür wurde geöffnet, und Tristan half dem Taxifahrer, das Gepäck seiner Tochter hereinzutragen, als Angela erschien, gut erholt und tief gebräunt nach einem Monat in der Sonne. „Melly!" Sie und Melanie begrüßten sich überschwänglich, und Sir George hatte seinen Platz verlassen und ging auf die beiden zu. „Sir George!" rief Angela erfreut aus und umarmte den älteren Mann zur Begrüßung. „Störe ich bei irgendetwas?" fragte sie ihren Vater, der in diesem Moment an der Tür erschien, nachdem er den Taxifahrer bezahlt und weggeschickt hatte. „Ich hatte keine Ahnung, dass deine Sekretärin mit uns zu Abend isst, Tris. Oder ist heute ein besonderer Anlass?" Caryn stand auf. Für einen Abend hatte sie genug Unverschämtheiten eingesteckt. „Ihr Vater hat mich eingeladen, da noch eine Frau in der Runde fehlte", erklärte sie steif. „Da Sie nun hier sind, ist das Problem gelöst, und ich überlasse es Ihnen, meinen Kaffee zu trinken." „Warten Sie einen Moment ..." Angelas Einwand wurde von Tristan unterbrochen, der grimmig befahl: „Setzen Sie sich, Caryn!" Aber sie ignorierte beides. „Lieber nicht, denn ..." begann sie, als das Baby plötzlich zu schreien anfing und die plötzliche Stille durchbrach. „Sie hören ja selbst", fuhr sie fort, „die Pflicht ruft!" Sie hatte ihren Neffen aus dem Kinderbett gehoben und wiegte ihn sanft an ihrer Schulter, als sie einen Schatten bemerkte, der von der Tür her auf sie fiel. Es musste Tristan sein, und ohne sich umzudrehen, sagte sie: „Bitte geh! Ich schaff es schon allem!" „Oh, wenn das so ist..." Miss Trewen klang beleidigt, und schuldbewusst fuhr Caryn herum und sah das Kindermädchen verblüfft an. „Miss Trewen, ich ..." Hilflos zuckte sie die Schultern. „Es tut mir Leid, ich wusste nicht, dass Sie zurück sind. Sie hatte ich nicht gemeint!" „Meine Freundin hat mich zurückgebracht", erklärte Miss Trewen. „Ich dachte, Sie hätten mich die Treppe heraufkommen hören." „Nein." „Nun, wenn das so ist..." Miss Trewen streckte die Arme aus. „Geben Sie ihn mir. Ich glaube, Mr. ROSS sucht Sie." Sie übergab das Baby Miss Trewen und ging zurück ins Kinderzimmer, als Miss Trewen die Schlafzimmertür hinter sich schloss.
Das Licht hier war grell im Vergleich zu dem schattigen Schlafzimmer, und Caryn blinzelte einen Moment, dann merkte sie, dass sie nicht allein war. „Ist mit dem Baby alles in Ordnung?" Tristan kam auf sie zu. Während sie ihn beobachtete, fragte sich Caryn, woran es lag, dass sie sich von seinem überwältigenden Äußeren so angezogen fühlte, da sie doch hierher gekommen war, um ihn zu hassen! „Miss Trewen ist bei ihm", antwortete sie angespannt. „Lass dich nicht aufhalten. Ich warte auf Miss Trewen und spreche mit ihr." Tristan stellte sich vor sie und sah eindringlich auf sie herab. „Ist mit dir alles in Ordnung?" „Warum sollte es nicht so sein? Oh, bitte, mach dir um mich keine Gedanken!" „Warum nicht?" Er zögerte und sagte dann rau: „Es hat dir gestanden, weißt du?" „Was hat mir gestanden?" „Das Baby auf dem Arm." „Du - hast mich gesehen? " „Von der Tür aus. Dann ist die gute Miss Trewen aufgetaucht, und ich bin ihr aus dem Weg gegangen." Caryns Atem beschleunigte sich bei seinen Worten, und ihr Herz schlug alarmierend schnell. Wenn sie ihm so nah war wie jetzt, waren seine Augen nicht mehr kalt und abweisend, sondern warm wie die Sonne mit ihrer ganzen Hitze. „Caryn", sagte er, und lieber, als ihn anzusehen, wandte sie sich um, wobei sie eine der Babyrasseln vom Tisch fegte. Sofort bückte sie sich danach, um sie aufzuheben, genau wie er, doch anstatt nach der Rassel zu greifen, umfasste er Caryns Gesicht, und aufstöhnend küsste er sie mit all der Leidenschaft, derer sie ihn für fähig hielt. Sie straffte sich, und sein KUSS wurde verlangend und fordernder, wobei er mit der Zunge ihre Lippen teilte und das warme Innere ihres Mundes zu erforschen begann. Mit den Händen berührte sie seine Hüften, und ihrem unfreiwilligen Rückzug stand das verzweifelte Verlangen entgegen, ihn eng an sich zu spüren. Sie ließ die Hände über ihn gleiten, und er erschauerte, als er sie fester an sich zog und sie das ganze Ausmaß seiner Begierde spüren ließ. „Tristan!" Melanies Stimme drang durch den Korridor. Mit einer plötzlichen Bewegung war Caryn frei, und Tristan eilte hinaus. Am nächsten Morgen - Caryn war mit Miss Trewen im Kinderzimmer gerade beim Frühstücken - bekamen sie unerwarteten Besuch. Nach einem flüchtigen Klopfen an die Tür kamen Melanie und ihr Vater herein, und Caryn beschlich ein äußerst ungutes Gefühl. Warum waren sie gekommen? Welches mögliche Interesse konnten sie an dem Baby Tristan haben? Miss Trewen ihrerseits fühlte sich geschmeichelt. Sie stand auf und begrüßte die beiden Gäste ganz aufgeregt. „Ich hoffe, Sie entschuldigen, dass wir hier so eindringen, meine Liebe", sagte Sir George höflich, sein Blick jedoch glitt hinüber zu Caryn. „Wir reisen heute Morgen ab, und ich dachte, wir sollten nicht gehen, ohne uns bei dem jüngsten Mitglied des Hauses vorgestellt zu haben." Jetzt blickte Miss Trewen peinlich berührt zu Caryn hinüber. „Nun, natürlich stören Sie uns nicht, Sir George. Wir haben gerade gefrühstückt und spielen ein bisschen mit dem Kleinen, bevor wir ihn schlafen legen." Sir George begleitete Miss Trewen zu der Stelle, wo das Baby auf seiner Decke lag, und nach einem boshaften Blick auf Caryn folgte Melanie den beiden. Da standen sie nun und sahen hinunter auf das strampelnde Baby mit den kurzen, dicken Beinchen, und Caryn wäre am liebsten hinübergeeilt, hätte den Kleinen hochgenommen und ihn vor ihren neugierigen Blicken versteckt.
Aber es war zu spät. Sir George beugte sich hinunter zu Tristan, kitzelte ihn unter dem Kinn, und als das Baby das Gesicht verzog und zu schreien begann, stieß er einen Laut der Überraschung aus. „He da!" rief er, und Caryn wartete ängstlich darauf, dass er die Ähnlichkeit des Jungen mit Tristan feststellen würde, denn sie zweifelte nicht daran, dass Melanie ihren Vater nur deshalb hierher gebracht hatte. „Melly, erinnert er dich nicht an jemand?" Miss Trewen und Caryn tauschten Blicke, und plötzlich konnte Caryn nicht länger still sitzen und stand auf. „Ja!" rief Melanie aus, und Caryn ging einen Schritt auf sie zu. „Du lieber Himmel! Dave O'Hara wie aus dem Gesicht geschnitten!" Caryn wurde blass und sah die anderen fassungslos an. Melanie straffte sich und warf ihr einen spöttischen Blick zu. „Ach du meine Güte!" rief sie schadenfroh aus. „Haben Sie es denn nicht bemerkt, als Sie ihn zum ersten Mal gesehen haben?" Caryn konnte es nicht glauben. Entschlossen durchquerte sie den Raum, stieß Sir George unsanft beiseite und betrachtete ihren Neffen, als hätte sie ihn noch nie zuvor gesehen. Es stimmt! dachte sie betroffen. Und so vieles fügte sich plötzlich zusammen. Das Gefühl, Dave schon zu kennen, als sie ihn das erste Mal gesehen hatte. Die flüchtige Ähnlichkeit, die sie bei dem Baby festgestellt hatte und nicht zuordnen konnte. „Ich sehe, wir haben Sie schockiert, Miss Stevens", sagte Melanie wie nebenbei, ihr Vater dagegen wirkte weniger selbstzufrieden. „Sehen Sie, Caryn", sagte er halb entschuldigend. „Ich dachte, Sie wüssten es. Melanie - nun, man ließ mich in dem Glauben - oh, was für eine Situation!" Er schien Mitleid mit ihr zu empfinden und drängte seine Tochter zur Tür. „Nun, wir gehen dann", sagte er. „Caryn, wir sehen uns zweifellos wieder. Miss Trewen." Er hob zum Abschied die Hand, und die Tür schloss sich hinter ihnen. „Es tut mir Leid, Miss Stevens", brachte Miss Trewen sicht lich unbehaglich hervor, und Caryn beruhigte sie. „Das braucht es nicht. Ich schätze, früher oder später musste es passieren." „Aber was ist passiert?" fragte Miss Trewen besorgt. „Wer ist dieser Dave O'Hara? Der Ehemann Ihrer Schwester?" „O nein! Nein! Dave O'Hara ist Leadgitarrist einer Popband." „Und er ist Tristans Vater?" „Anscheinend." „Das wussten Sie nicht?" Offensichtlich war Miss Trewen jetzt geschockt. „Nein, das wusste ich nicht." „Aber..." „Ich kann es Ihnen jetzt nicht erklären", sagte Caryn leise, „ich kann nicht. Sie müssen mir etwas Zeit geben, damit ich das alles erst einmal verarbeiten kann. Dann können wir darüber reden." Miss Trewen seufzte. „Heißt das, wir verlassen Druid's Fleet, Miss Stevens? Das wusste ich gern." „Was? Oh ..." Caryn schluckte. Auch darüber musste sie sich Gedanken machen. „Ich ... ich weiß nicht. Ich weiß es einfach nicht." Und damit musste Miss Trewen sich zufrieden geben, aber während sie in ihr Zimmer zurückging, fragte Caryn sich, wie Loren sie jemals nur so hatte belügen können ...
9. KAPITEL
Am Montagmorgen gegen halb zehn brachte Caryn den Mut auf, mit Tristan zu sprechen. Als sie jedoch das Arbeitszimmer erreichte, fand sie nur auf Band gesprochene Anweisungen für sich vor. Daneben lag eine Notiz, die besagte, dass Tristan Melanie und deren Vater nach London zurückfahre, sonst nichts. Sie blickte starr auf den Zettel und blinzelte die Tränen zurück. Dann ließ sie sich auf den Stuhl an ihrem Schreibtisch sinken und barg das Gesicht in den Händen. O nein, dachte sie und fühlte sich elend wie lange nicht mehr, ich will Druid's Fleet nicht verlassen. Nicht wegen ihres Jobs, nicht wegen des Babys, sondern weil sie - gegen jede Vernunft - Tristan ROSS liebte. „Wo ist mein Vater?" Angelas Stimme schreckte sie auf. Caryn hob den Kopf und sah Angela vor ihrem Schreibtisch stehen. „Er ... er ist unterwegs nach London, um Miss Forbes und Sir George zurückzubringen." „Verdammt!" Angela presste die Lippen zusammen. „Verdammt! Verdammt! Verdammt! Warum, zum Teufel, musste er das tun?" Caryn konnte ihr darauf keine Antwort geben und schwieg. „Ich hatte Melanie so verstanden, dass sie für ein paar Tage bleiben wollten." Caryn zögerte. „Sie ... sie sind am Donnerstag gekommen und waren also schon vier Tage hier." Kalt blickte Angela sie an. „Und Sie wissen natürlich nichts davon." „Was sollte ich wissen?" Angela sah sie an, als wollte sie etwas sagen, dann drehte sie sich um und ging zum Fenster. „Sagen Sie", begann sie, den Rücken Caryn zugewandt, „was glauben Sie, wie lange Sie hier noch bleiben können? Wie lange brauchen Sie noch, um zu be greifen, dass mein Vater nur irgendwelche lächerlichen Schuld gefühle befriedigt, nur weil er sich Ihre Schwester vom Hals geschafft hat?" Caryn versteifte sich. „Was wollen Sie damit sagen?" Angela wirbelte herum und lehnte sich gegen das Sims. „Tun Sie nicht so, als wüssten Sie nicht, was geschehen ist!" Caryn stand auf. „Wenn Sie mich bitte entschuldigen ..." „Nein, das tue ich nicht. Und mehr noch, ich denke, Sie sollten endlich aufhören, so zu tun, als glaubten Sie an das Märchen von Loren." „Was für ein Märchen?" „Das Märchen, sie sei in meinen Vater verliebt gewesen. Loren hat niemanden geliebt, ausgenommen sich selbst vielleicht." „Sie haben keinen Grund ..." „Ich habe jeden Grund!" erwiderte Angela kurz angebunden. „Meine Güte, denken Sie, ich hätte nicht gesehen, was für ein Spiel sie getrieben hat? Denken Sie, ich wüsste nicht, was vor sich gegangen ist?" „Ich denke, dass Sie eifersüchtig waren!" erklärte Caryn. Allan Felix hatte angedeutet, dass Angela Dave O'Hara als ihr Eigentum betrachte. Wie ärgerlich musste es für sie gewesen sein, zu erfahren, dass Loren ... „Eifersüchtig!" Angelas Gesicht war wutverzerrt. „Eifersüchtig auf diese kleine ..." Was sie dann sagte, ließ Caryn blass werden. „Wie können Sie es wagen, so etwas zu behaupten! Ich hatte keinen Anlass, auf Sie eifersüchtig zu sein. Tris hat Loren keines Blickes gewürdigt. Welche schmutzigen Geschichten Sie auch über ihn gelesen haben mögen, er ist ein anständiger Mann, und niemand kann etwas anderes behaupten." „Ich habe nicht Ihren Vater gemeint", erklärte Caryn, „sondern Dave O'Hara." Angela stieß ein schrilles Lachen aus. „Was?" rief sie ungläubig. „Sie denken, ich sei eifersüchtig auf Sie und Dave! Glauben Sie mir, meine Liebe, wenn er nett zu Ihnen war,
dann nur, weil er mich nicht um sich hatte." „An mich hatte ich dabei nicht gedacht", erklärte Caryn und sagte sich, dass entweder Angela eine sehr gute Schauspielerin war oder dass Allan sich total in ihr getäuscht haben musste. „An wen dann? Oh - Sie meinen Loren!" Sie schnitt ein Gesicht. „Sie glauben doch nicht im Ernst, dass Dave sich für Ihre Schwester interessiert hat." Caryn sah sie starr an. „Ich denke, Miss ROSS, Sie glauben selbst an Märchen." „Wovon reden Sie?" Angela ging vom Fenster weg. „Was wissen Sie überhaupt?" „Ich weiß, dass immer zwei dazugehören, um ... nun, Lorens Baby lebt und ist eine Tatsache, und niemand, nicht einmal Sie, könnte das abstreiten." „Weshalb sollte ich? Nur weil Ihre Schwester ein Kind bekommen hat und dann gestorben ist, ist sie noch lange keine Heilige. Oh, ich weiß, das haben Sie meinem Vater eingeredet, aber mir machen Sie nichts vor. Wer ist überhaupt der Vater des Kindes? Das wüsste ich zu gern." „Sie meinen ..." Caryn wurde blass und schluckte trocken, und Angela kam auf sie zu. „Was ist los?" fragte sie. „Was stimmt nicht? Um Himmels willen, tut mir Le id, wenn ich Sie aufgeregt habe, aber Sie müs sen doch wissen, dass Loren nicht das Unschuldslamm war, für das Sie sie halten." Caryn schüttelte den Kopf, sah hilflos auf den Schreibtisch hinunter, und Angela legte ihr die Hand auf die Schulter. „Miss Stevens - Caryn! Du lieber Himmel, beruhigen Sie sich! Ich habe doch nur gefragt ..." „Ich weiß, was Sie gefragt haben", sagte Caryn, und plötzlich dämmerte es Angela. „Ja, das ist es, nicht wahr?" rief sie aus und sah Caryn starr an. „Der Kindsvater! Sie wissen, wer es ist, richtig?" Wieder wurde sie ungeduldig. „Na los, nun sagen Sie schon - wer ist es? Sie müssen es mir sagen. Ich will es wissen." Caryn ließ sich auf ihren Stuhl sinken. „Ich dachte, Sie wüssten es ..." Angela kniff die Augen zusammen. Sie zog die Hand zurück, und alle Farbe wich aus ihrem Gesicht. „Sie wollen doch nicht sagen - ich glaube Ihnen nicht!" Fassungslos starrte sie Caryn an. „Dave? Dave? Er würde so etwas niemals tun." Caryn machte eine hilflose Geste Richtung Tür, Angela stolzierte hinaus, und ihre raschen Schritte hallten laut durch den Korridor. Keine fünf Minuten später war sie zurück und aschfahl im Gesicht. Sie sah Caryn an, ließ sich stöhnend in den Arbeitssessel ihres Vaters fallen und brach in Tränen aus. Caryn hatte Mitleid mit ihr. Nichts war mehr da von Angelas früherer Arroganz, jetzt war sie nur noch der Teenager, der von seinem Freund betrogen worden war. Als sie merkte, dass sie Angela nicht helfen konnte, stand Caryn auf, verließ den Raum und schloss leise die Tür hinter sich. Caryn stand nachdenklich in ihrem Zimmer am Fenster. Kein Wunder, dass Tristan gesagt hatte, Loren habe von Anfang an nur Ärger gemacht. Kein Wunder, dass er sie entlassen hatte, nachdem er erfahren hatte, was los war. Warum hatte er es getan? Um Loren zu schützen - zu spät, wie sich herausstellte oder Angela, um die er offensichtlich sehr besorgt war? Aus welchen Gründen auch immer er es getan haben mochte, jetzt fügten sich die Teile des Puzzles zusammen, und offen blieb nur, weshalb er Lorens Baby in seinem Haus aufgenommen hatte. Vielleicht stimmte ja, was Angela gesagt hatte. Dass er sich schuldig fühle an dem, was geschehen war. Wie auch immer, Loren hatte ihr Arbeitsverhältnis zu ihm für ihre eigenen Zwecke genutzt. Sie hatte gewusst, dass sie bei Caryn auf wenig Verständnis für ihre Schwangerschaft gestoßen wäre. Vielleicht hatte sie ja sogar Dave davon erzählt, und er hatte alles abgestritten. Vielleicht hatte sie sich an die Hoffnung geklammert, sie könnte ihn zu einer Heirat überreden, und nachdem das fehlgeschlagen war, war es zu spät gewesen, das Kind abzutreiben. Es gab so viele „vielleicht", so viele Möglichkeiten, was
aber mit erschreckender Klarheit offensichtlich wurde, war, dass Tristans anfängliche Feindseligkeit ihr gegenüber durchaus berechtigt war. Was also konnte sie tun? Hier konnte sie nicht bleiben. Sie konnte Tristans Gastfreundschaft nicht länger beanspruchen. Aber sie hatte nicht die Absicht, zu dem tatsächlichen Vater des Kindes zu gehen und irgendetwas von ihm zu verlangen. Was blieb ihr also? Die Möglichkeit einer Stelle im Haushalt weit weg von Druid's Fleet... Am späten Nachmittag war Caryn zurück in London. Es war überraschend einfach gewesen wegzukommen. Sie hatte Marcia erzählt, dass sie, da Mr. ROSS nicht da sei, in die Stadt fahre, um eine kranke Freundin zu besuchen, und anrufen würde, sobald sie wisse, wann sie zurück sei. Miss Trewen, die selbst einen Tag auswärts verbracht hatte, sah nichts Unge wöhnliches in Caryns Aufbruch, und da Angela nicht da war, verließ Caryn Druid's Fleet problemlos. Dass sie eine kranke Freundin besuche, war nicht ganz gelogen, tröstete sie sich, während sie sich den Vororten Londons näherte. Laura ging es nicht gut, und zwischen ihren Vorstellungsgesprächen bei den Vermittlungsagenturen würde sie Zeit finden, sie zu besuchen. Da sie jedoch Bobs und Lauras Gastfreundschaft nicht aus nutzen wollte, suchte sie sich, in London angekommen, als Erstes ein Zimmer in einem kleinen Hotel und checkte für die Nacht ein. Ihr Zimmer war klein, und sie musste sich das Bad teilen, aber wenigstens war es sauber und lag einigermaßen zentral. Es war zu spät, so dass sie die Agenturen nicht mehr abklappern konnte, deshalb besorgte sie sich bei einem Zeitungshänd ler in der Nähe des Hotels eine Ausgabe von The Times und ging zurück auf ihr Zimmer. Sie lächelte, als sie die Spalte mit den Sekretariatsstellen überflog, und fragte sich, was jene möglichen Arbeitgeber wohl sagen würden, wenn sie mit einem Baby auf dem Arm aufkreuzte. Nein, eine Stellung als Sekretärin kam nicht infrage. Zumindest im Augenblick nicht. Aber dann zog eine besondere Anzeige ihre Aufmerksamkeit auf sich. Gesucht, hieß es, wird eine Privatsekretärin. Herausragende Position für qualifizierte Bewerberin. Anfragen an: Dekan Mellor, Lansworth College, Cricklewood. Laurence! dachte Caryn verblüfft. Natürlich, er musste bereits aus den Staaten zurück sein, und nun suchte er per Anzeige eine Sekretärin, bevor das neue Semester begann. Seltsam, wie beruhigend der Gedanke an Laurence plötzlich war. Vielleicht weil er ein Bindeglied zu ihrem früheren Leben darstellte, das sie einmal mit Loren geteilt hatte. Starr blickte sie auf die Anzeige, bis das Licht im Raum schwächer wurde und Müdigkeit sie überfiel. Am nächsten Morgen wurde Caryn von fremden Geräuschen geweckt: Wagons auf den Rangiergleisen eines nahe gelegenen Bahnhofs wurden hin und her verschoben. Über Toast und Kaffee saß Caryn wenig später im Speisesaal des Hotels und las die Stellenanzeigen der Zeitung wie am Abend zuvor. Doch es war nichts darunter, das ihr zusagte, und sie verließ das Hotel um kurz nach neun, in der Absicht, an diesem Tag so viel wie möglich zu erledigen. Sie ließ ihre Reisetasche im Hotel zurück, wo man ihr das Zimmer für eine weitere Nacht reserviert hatte. Gegen fünf Uhr taten ihr die Füße weh, und die Kopfschmerzen waren selbst mit Tabletten nicht wegzubekommen. Sie hatte nicht weniger als zehn Agenturen aufgesucht, und von den beiden Vorstellungsgesprächen für den nächsten Tag versprach keines das Richtige: Kindermädchen bei einem Ölmulti im Iran oder Haushälterin bei einem Witwer in Coventry. Zurück im Hotel, bestellte sie sich ein Sandwich, verbrachte den Abend auf ihrem Zimmer und ruhte sich aus. Sie wusste, dass sie auf Druid's Fleet anrufen sollte, allein schon um sich zu vergewissern, dass mit dem Baby alles in Ordnung war, aber sie war
einfach zu erschöpft. Am nächsten Morgen versuchte sie, die Dinge von der positiven Seite zu betrachten. Das Leben im Iran konnte Spaß machen, und der Witwer in Coventry hatte vielleicht ein Herz für Babys. Entschlossen aß sie zwei Scheiben Toast, denn sie war hungrig, da sie am Vorabend nichts gegessen hatte, und nach mehreren Tassen Kaffee machte sie sich wieder auf den Weg. Das Vorstellungsgespräch für die Stelle im Iran fand in einem Hotel in der Bond Street statt. Doch als sie ankam, waren mindestens schon zwanzig Mädchen vor ihr da, und sie wusste, sie hatte keine Chance. Das andere Gespräch fand in der Agentur selbst statt. Ein mürrischer Geschäftsmann unterhielt sich mit ihr in einem Privatbüro, und als sie erwähnte, dass sie ein fünf Monate altes Baby zu betreuen habe, wurde er sehr ärgerlich. „Sie sagten, Sie hätten nichts gegen ein Kind einzuwenden", stellte sie mit schwindendem Mut klar, aber er öffnete die Tür. „Ich sagte Kind, nicht Baby!" erklärte er brüsk. „Meinen Sie, ich könnte schlaflose Nächte und Windeln in meiner Wohnung gebrauchen? Nein, tut mir Leid, Miss Stevens, da hat man uns beide falsch informiert." Gegen Mittag kam Caryn ins Hotel zurück. Sie hatte die Adressen von einigen weiteren Agenturen, war jedoch nicht in der Verfassung, sich dort zu melden. Stattdessen kaufte sie sich die neue Ausgabe von The Times und sah sie durch, wobei sie eine Kleinigkeit aß. Laurence' Anzeige war auch diesmal darunter. Sie fragte sich, wie viele Bewerber sich wohl bei ihm gemeldet haben mochten. Bestimmt nicht wenige, dachte sie. Sie seufzte. Hätte Loren sie doch niemals gebeten, das Baby zu Tristan ROSS zu bringen. Höchstwahrscheinlich würde sie dann noch für Laurence arbeiten, und das Baby wäre von einem kinderlosen Ehepaar adoptiert worden und hätte dort einen guten Start ins Leben gefunden. Stattdessen hatte sie einen unschuldigen Mann beschuldigt, der Vater zu sein, hatte sich in seinem Haus eingenistet, hatte zugelassen, dass sich das Baby in ihr Herz geschlichen hatte, und hatte sich in den Mann verliebt, der, da sie Lorens Schwester war, glaubte, mit ihr ein leichtes Spiel zu haben ... Am Nachmittag fragte sie sich, was sie tun solle. Nahezu gedankenlos stieg sie wenig später den Bus nach Cricklewood. Als sie jedoch vor dem Collegegebäude ausstieg, wusste sie, dass es von Anfang an ihre Bestimmung gewesen war. Falls sie Laurence antraf, wollte sie mit ihm sprechen, und vielleicht würde er ihr, wie schon so oft in der Vergangenheit, einen Rat geben. Das College war ungewöhnlich leer. Noch waren die Studenten nicht aus ihren Sommerferien zurück, und nur der eine oder andere vom Hauspersonal und hin und wieder ein Tutor gingen durch die gespenstisch leeren Gänge. Laurence hatte sein Büro im ersten Stock, und Caryn eilte die breite Marmortreppe hinauf und den Gang entlang, in dem ihre Schritte laut widerhallten. Das Büro seiner Sekretärin - das vier Jahre lang ihr Büro gewesen war - war leer, und Caryn stand an der Tür und blickte auf ihren Schreibtisch. Hier war ich glücklich, dachte sie, obwohl sie inzwischen erfahren hatte, dass es auch eine andere Art von Glück gab. So stand sie da und versuchte, den Mut zu fassen und an Laurence' Tür zu klopfen, da hörte sie Schritte hinter sich, und als sie sich umblickte, sah sie ihren einstigen Arbeitgeber im Flur auf sich zukommen, wobei sein schwarzer Mantel sich hinter ihm bauschte. „Caryn!" rief Laurence ungläubig aus. „Meine Güte, Sie sind es wirklich! Taylor sagte schon, er habe Sie gesehen, aber ich habe ihm nicht geglaubt." Taylor war einer der Hausmeister. „Hallo, Laurence", sagte sie und rang sich ein Lächeln ab, und als sie ihm die Hand schütteln wollte, schob er ihren ausgestreckten Arm beiseite und zog sie unerwartet in die Arme.
„Caryn", sagte er heiser. „Liebe Caryn! Wie schön, Sie zu sehen!" Caryn zog sich zurück, leicht verlegen, und er ging an ihr vorbei, um die Tür zu seinem Büro zu öffnen. „Kommen Sie rein!" forderte er sie auf. „Ich habe im Moment nicht viel zu tun, dafür umso mehr nachher. Ein halbes Dutzend Bewerber kommen zum Vorstellungsgespräch für Ihre Stelle." „Aha." Caryn befeuchtete sich die Lippen, folgte ihm in sein Büro und schloss die Tür hinter sich. „Sie sehen gut aus, Laurence. Wie war die Reise?" Er zuckte die Schultern. „So lala", sagte er wenig begeistert. „Noch einmal würde ich sie nicht mehr machen. Zumindest nicht allein." Er schwieg einen Moment. „Aber wie geht es Ihnen? Ich muss sagen, Sie sehen ziemlich - müde aus." „Das bin ich auch", gab Caryn zu und ließ sich auf den Stuhl vor seinem Schreibtisch sinken. „Ich bin in den vergangenen zwei Tagen durch London gezogen und nun völlig erschöpft." „Durch London gezogen?" Laurence Mellor runzelte die Stirn. „Wieso das denn?" Caryn hatte sich entschlossen, ihm alles zu erzählen, und sagte nun ruhig: „Ich verlasse Mr. ROSS. Es ... nun, es ist nicht so gelaufen wie geplant. Ich bin auf der Suche nach einer neuen Arbeitsstelle." Laurence schnappte nach Luft. „Dann suchen Sie nicht weiter. Kommen Sie zu mir zurück!" sagte er sofort, genau wie sie vermutet hatte. Caryn neigte den Kopf. „Das kann ich nicht, Laurence." „Warum nicht?" Sie sah auf. „Das verstehen Sie nicht. Ich sorge nun seit fünf Monaten für Tristan - so heißt das Kind -, und ich möchte es auch weiterhin tun." Sie machte eine Pause. „ So einfach ist das." „Aber das verstehe ich nicht. Weshalb hält Sie das davon ab, Ihre frühere Arbeit wieder aufzunehmen?" Caryn seufzte. „O Laurence! MUSS ich noch deutlicher werden? Wenn ich zu Ihnen zurückkomme, brauche ich jemanden, der sich um das Baby kümmert, und ich brauche eine Wohnung. Und ganz offen gesagt, ich kann es mir nicht leisten, jemand zu beschäftigen." Das leuchtete Laurence ein. „Was also wollen Sie tun? Was für eine Arbeit suchen Sie?" „Nun, ich dachte an eine Stelle im Haushalt oder als Kindermädchen." Laurence sah sie entsetzt an. „Aber Sie sind kein Kindermädchen, Caryn, und auch keine Haushälterin. Sie sind Sekretärin -und eine verdammt gute noch dazu!" „Danke." Caryn brachte ein Lächeln zu Stande. „Sie tun meinem Ego sehr gut. Aber leider haben Sekretärinnen gewöhnlich keinen Anhang." „Und haben Sie etwas in Aussicht?" Sie schüttelte den Kopf: „Ich hatte heute Vorstellungsgespräche - eines mit einem iranischen Ölmulti, der mir noch Bescheid geben will, und eines mit einem Witwer aus Coventry, der fast aus dem Häuschen geriet, als er erfuhr, wie alt Tristan ist." „Ach so." Laurence kritzelte geistesabwesend auf seinem Block auf dem Schreibtisch herum. „Und …äh …haben Sie noch einmal über mein anderes Angebot nachgedacht?" Nun runzelte Caryn die Stirn. „Ihr Angebot? Mit Ihnen nach Amerika zu gehen, meinen Sie? Aber Sie waren doch schon ..." „Nein, nein! Das meine ich nicht." Laurence klang ungeduldig. „Ich meine das andere. Mich zu heiraten." Caryn atmete tief ein. „Aber das war nicht Ihr Ernst, Laurence", rief sie aus. „Ich meine, das war doch nur als Notbehelf für die Reise gedacht..." Er sah sie fest an. „Nein, das war es nicht. Vielleicht habe ich den Eindruck bei Ihnen erweckt, vielleicht habe ich es eine Zeit lang sogar selbst geglaubt, aber seit Sie weg sind, Caryn, weiß ich, dass ich es ernst meinte."
10. KAPITEL
„O Laurence!" Caryn sah ihn unglücklich an. „Das hatten wir doch schon alles. Sie wissen, dass ich Sie nicht liebe ..." „Ja. Aber ich liebe Sie. Ich dachte, mir würde nie wieder eine Frau etwas bedeuten, nachdem Cecily mich verlassen hatte, aber so ist es nicht. Sie, Caryn, bedeuten mir viel. Sehr viel." Caryn stand auf. Sie wusste selbst nicht, was sie sich von ihrem Besuch bei Laurence versprochen hatte. Sein Mitgefühl vielleicht, sein Verständnis. Nun, sein Mitgefühl hatte sie, aber alles andere kam nicht infrage. Vielleicht hatte sie gehofft, er würde ihr anbieten, sie mit mehr Gehalt zu beschäftigen oder sie in seinem Haushalt einzustellen als seine Haushälterin. Aber dass er ihr seine Liebe eingestehen würde - damit hatte sie nicht gerechnet." „Tut mir Leid, Laurence. Ich ... ich weiß nicht, was ich sagen soll." Laurence war aufgestanden und sah sie über den breiten Schreibtisch hinweg an. „Sie sollten darüber nachdenken, Caryn. Ist mein Antrag denn etwas so Schreckliches? Würde es denn nicht Ihre ganzen Probleme lösen, ein für alle Mal?" „Welche Probleme?" „Nun, die mit Lorens Baby natürlich. Wenn Sie mich heiraten würden, hätte das Kind wenigstens eine anständige Starthilfe." „Aber das wäre kein Grund für eine Ehe!" „Warum nicht? Die Leute heiraten aus den seltsamsten Gründen, wissen Sie." Hilflos schüttelte Caryn den Kopf. „Ich fühle mich natürlich geschmeichelt." Sie dachte nach. „Laurence, Sie mögen nicht einmal Kinder!" „Ich hatte niemals welche. Wenn ich welche hätte, würden sich meine Gefühle für sie ändern." „Sie meinen - Sie meinen -, wir könnten Kinder haben?" „Warum nicht? Ich bin noch nicht zu alt dazu, wissen Sie." Er klang beleidigt, und sie machte eine entschuldigende Geste. „Ich weiß, ich weiß. Aber es ist nur - o Laurence! Ich bin so überrascht!" „Dann denken Sie darüber nach", sagte er großmütig und sah auf seine Uhr. „Aber jetzt, meine Liebe, muss ich Sie leider bit ten zu gehen. Wie auch immer Sie sich entscheiden, noch muss ich diese Vorstellungsgespräche führen." Caryn stand auf und ging zur Tür. „Natürlich", fügte er hinzu, „falls Sie Ihre Meinung ändern, das heißt, mein Angebot annehmen, können Sie gern Ihre alte Stelle wiederhaben, wenn Sie möchten." „Und … und Tristan?" „Wir könnten ein Kindermädchen einstellen. Sicher gibt es ganz ausgezeichnete hier in der Gegend." Miss Trewen, dachte Caryn benommen. Miss Trewen könnte ihre Stelle behalten. „Übrigens", sagte Laurence, „wo wohnen Sie zurzeit? Ich sollte Ihre Adresse haben." „Im The White Feather. In Kensington", antwortete Caryn, noch immer benommen, und ehe sie sich's versah, hatte er sie in den Flur gedrängt und gesagt, er werde sie am Abend anrufen. Während sie im Bus nach Kensington zurückfuhr, klärten sich ihre Gedanken. Wie konnte sie auch nur in Erwägung ziehen, Laurence zu heiraten, unter welchen Umständen auch immer? Er war viel zu festgefahren in seinen Einstellungen, und seine Bemerkung, eigene Kinder zu haben, zeigte, dass er in jeder Hinsicht eine richtige Ehe im Sinn hatte. Natürlich würde es ihre Probleme lösen, aber rechtfertigte der Zweck die Mittel? Das glaubte sie nicht. Vor allem störte sie, dass sie sein Angebot überhaupt in Erwägung gezo gen hatte. Bevor sie nach Druid's Fleet gegangen war, wäre das niemals möglich gewesen,
wohingegen jetzt, nach zwei glücklosen Vorstellungsgesprächen, sie das Für und Wider tatsächlich gegeneinander abgewogen hatte. Könnte es Laurence sogar gelingen, sie zu überzeugen, wenn sie ihn wieder sah? Könnte ihre Verzweiflung sie dazu treiben, sein Angebot anzunehmen? Jetzt wünschte sie, sie hätte ihm ihre Hoteladresse nicht gegeben. Sie hätte ihm sagen sollen, sie würde ihn anrufen. Dann wäre sie zu nichts verpflichtet. Zu gar nichts. Aus einem Impuls heraus meldete sie sich nach ihrer Rückkehr im Hotel ab und hinterließ die Nachricht, sollte ein gewisser Mr. Mellor anrufen, möge man ihm ausrichten, sie würde sich bei ihm melden. Dann verstaute sie ihr Gepäck im Kofferraum ihres Autos und fuhr los Richtung Bloomsbury. Es war nicht einfach, in der engen Straße zu parken, aber schließlich gelang es ihr, den Renault zwischen einen Mini und einen Lieferwagen zu zwängen. Sie stieg aus und ging die zwei Treppen zu Lauras und Bobs Wohnung hinauf. Laura öffnete auf ihr Klopfen hin die Tür. „Caryn!" rief sie freudig überrascht aus und umarmte sie kurz. „O Caryn, wo hast du nur gesteckt?" „Wo ich ..." begann Caryn, da tauchte Bob hinter Laura auf und strahlte sie an. „Caryn, ich weiß nicht, wie ich dir danken soll", sagte er und schüttelte ihr die Hand. Caryn begriff gar nichts mehr. „Was ist los?" fragte sie. Beide zogen sie hinein in die Wohnung und schlössen die Tür. „Tristan ROSS war hier", erklärte Laura. „Er macht sich große Sorgen um dich. Hast du ihn getroffen?" Caryn wurden die Knie weich, und sie ließ sich auf den nächstbesten Stuhl sinken. „Tristan?" brachte sie atemlos hervor. Und dann: „Mr. ROSS!" „Ja", sagte Bob. „Anscheinend hast du ihn ganz ohne Grund im Stich gelassen." „Ohne Grund!" wiederholte Caryn ungläubig. „Was hat er gesagt?" „Was er gesagt hat?" Laura warf ihrem Mann einen Seitenblick zu. „Also, er hat gesagt, dass er sich sehr große Sorgen um dich macht und dass wir ihm sofort Bescheid sagen müssen, sobald wir dich sehen." Caryn ließ die Schultern sinken. „Ist das alles? Hat er das Baby erwähnt? Geht es ihm gut?" „Mit Tristan junior ist alles in Ordnung", versicherte Laura. „Bob, setz bitte den Wasserkessel auf, sei so lieb. Ich möchte etwas mit Caryn unter vier Augen besprechen." „Okay." Bob lächelte und marschierte in die Küche, schloss leise die Tür hinter sich, und im nächsten Moment saß Laura Caryn gegenüber und umfasste ihre Hand. „Wenn du wüsstest, wie glücklich wir sind", begann sie. „Du ahnst ja nicht, was es für uns bedeutet: Bob hat einen besseren Job bekommen. Es ist wie ein Traum. Und das haben wir nur dir zu verdanken." „Aber Laura ..." „Sag nichts", befahl sie. „Ich weiß, jetzt wirst du gleich sagen, es habe nichts mit dir zu tun, aber das ne hmen wir dir nicht ab, also vergiss es. Doch du sollst wissen ..." Caryn fühlte sich ganz elend. Wie sollte sie dieses Missverständnis nur aufklären? „Also", sagte Laura gerade, „weshalb bist du weggegangen? Mr. ROSS sagte, er könne es nicht verstehen." Sie machte eine Pause. „Und es hat ihn so mitgenommen ..." „Es ist eine lange Geschichte, Laura. Das alles Entscheidende ist: Tristan ROSS ist nicht der Vater von Lorens Baby." Laura sah sie ungläubig ein. „Er ist es nicht?" „Nein." Caryn seufzte. „Du wirst verstehen, dass ich unter diesen Umständen nicht länger bleiben konnte." „Aber was willst du jetzt tun?"
„Das weiß ich nicht." Caryn blickte auf, als Bob hereinkam. „Hm, Tee." Sie lächelte, dankbar für die Unterbrechung. „Ich könnte jetzt eine Tasse vertragen." Laura schien durchaus nicht zufrieden mit Caryns Antwort, aber der Tee lenkte sie eine Weile ab, und dann begann Bob von seinem neuen Job zu erzählen. „Wir waren ein halbes Dutzend", sagte er, „aber von Anfang an hatte ich das Gefühl, dass ich den Job bekommen würde." „Ich freue mich so." Caryn hatte gerade die Teetasse an die Lippen gehoben, als jemand stürmisch an die Tür klopfte. Laura sah Bob an, und der stand stirnrunzelnd auf. „Wer kann das sein?" fragte er, sah seine Frau an, und in diesem Moment wusste Caryn Bescheid. Sie stellte ihre Tasse ab und stand auf, nervös, wie sie es noch nie in ihrem Leben gewesen war. „Es ist Tristan!" sagte sie. „Tristan!" Laura tauschte einen Blick mit ihrem Mann, dann hatte Bob die Tür erreicht und öffnete sie. „Mr. ROSS! " hörte Caryn ihn sagen, und schon war Tristan an ihm vorbeigestürmt. „Wo ist Caryn?" fragte er wütend. „Ich weiß, dass sie hier ist. Ich habe ihren Wagen draußen gesehen." Caryn trat vor. „Hier bin ich, Mr. ROSS ", sagte sie steif, dann schnappte sie nach Luft, als er auf sie zukam und sie heftig in die Arme riss. „Wo warst du?" hörte sie ihn mit rauer Stimme fragen, während er das Gesicht an ihrem Nacken barg. Dann wich er zurück, um sie anzusehen, und das Geräusch der sich schließenden Küchentür signalisierte ihnen, dass Bob und Laura sie allein gelassen hatten. Verständnislos blickte Caryn zu Tristan auf und dachte, wie mitgenommen er doch aussah. Doch bevor sie ihren Gedanken aussprechen konnte, redete er weiter. „Ich bin fast wahnsinnig geworden!" sagte er leise und ließ den Daumen sacht zwischen ihre Lippen gleiten. „Und wenn ich nicht auf die Idee gekommen wäre, Laurence Mellor heute Nachmittag zu besuchen, hätte ich nicht mehr daran gedacht, noch einmal hierher zu kommen." „Du ... du hast Laurence besucht", flüsterte sie schwach, und er nickte. „Aber er wusste nicht, dass ich hierher kam." „Nein, ich weiß. Er hat mir die Adresse von deinem Hotel gegeben. Aber als ich erfuhr, dass du dich dort abgemeldet hattest, kam mir der Geistesblitz, es hier noch einmal zu versuchen, nur für den Fall, dass du Laura besuchen könntest, bevor du die Stadt verlässt." „Ich verstehe." Während er sie immer noch ansah, fragte er ruhig: „Warum, um Himmels willen, bist du weggelaufen?" „Ich bin nicht weggelaufen." „Wie würdest du es dann nennen?" „Nach dem, was geschehen war, musst du verstehen, dass ich nicht bleiben konnte." Eine Weile herrschte Schweigen, dann sagte er: „Warum? Was hatte sich geändert? Ich wusste von Anfang an, dass Tristan O'Haras Kind ist." „Dann hättest du es mir sagen sollen!" „Weshalb? Was hätte es genutzt?" Er schwieg einen Moment. „Hättest du mir geglaubt?" Caryn zog sich von ihm zurück, unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen, solange sie seinen muskulösen Körper an ihrem spürte. „Du magst Recht haben, aber ..." „Nichts aber! Ich wollte dich in meinem Haus haben, ist das nicht genug?" „Aber warum?" Sie sah ihn an. „Was glaubst du wohl?" „Ich glaube, dass es weit genug gegangen ist." „Nein", erwiderte er, und jetzt klang seine Stimme gefähr lich leise. „Nein, Caryn,
es ist nicht weit genug gegangen!" Entschlossen riss er sie wieder an sich und presste den Mund auf ihren. Er war nicht sanft zu ihr. Sie konnte seine Ungeduld spüren und sein heftiges Verlangen, und trotz all ihrer Bemühungen, sich ihm zu entziehen, drängte er mit der Zunge schließlich ihre Lippen auseinander, und dann war sie verloren. Er küsste sie lang und geschickt, und ohne sich darum zu kümmern, wo sie waren, weckte er in ihr das Verlangen nach ihm, so wie er nach ihr verlangte. Der dünne Stoff seines Anzugs verbarg seine heftige Erregung nicht. Sie wusste, sie musste nur die Augen öffnen und in seine schauen, und es wäre um sie geschehen. Dann aber schob er sie von sich, fuhr sich mit der Hand durchs Haar und sagte: „Hast du einen Mantel oder sonst was dabei? Wir gehen." „Tristan ..." Caryn fasste sich an die Schläfe. „Ich ... ich ..." „Wir gehen", wiederholte er beharrlich, und wie auf ein Stichwort hin wurde die Küchentür geöffnet, und Bob und Laura kamen langsam herein. „Caryn ..." Verlegen sah Laura ihre Freundin an und dann Tristan. „Gehst du ... gehst du zurück nach Wales?" „Nein ..." „Ja!" Tristan setzte sich über Caryns abschlägige Antwort hinweg, und kopfschüttelnd folgte Caryn ihm aus der Wohnung. Unten angekommen, wo llte Caryn zu ihrem Wagen gehen, aber Tristan hielt sie zurück. „Ich lasse ihn später abholen", erklärte er angespannt und führte sie zu dem grauen Mercedes. Er öffnete die Beifahrertür, schob Caryn hinein, ging um den Wagen herum, setzte sich neben sie, und obwohl sie wusste, dass sie protestieren sollte, tat sie es nicht. Allerdings nahmen sie nicht die Straße Richtung Westen. Zu ihrem großen Erstaunen fuhr Tristan in das Zentrum der Stadt. Er fuhr durch den Park, bog in die Park Lane ein und in eine Unterführung, die sich als Tiefgarage eines riesigen Apartmentblocks herausstellte. Natürlich, dachte Caryn nervös, besaß Tristan ein Luxusapartment in der Stadt. Brachte er sie dahin? „Steig aus", befahl er, öffnete ihr die Tür, und jetzt endlich protestierte sie. „Ich gehe nicht hinauf in dein Apartment." „Nein?" Seine Stimme klang barsch. „Soll ich dich hinauftragen?" „Tristan ..." „Spar dir die Worte für später auf. Der Lift ist da drüben." Sie ging mit ihm und sagte sich, dass sie hier unten nicht reden konnten, entschuldigte damit aber nur ihr eigenes verräterisches Verhalten. Lautlos glitt der Lift hinauf in den vierzehnten Stock. Sie betraten einen glasüberdachten Flur, und Caryn stellte fest, dass dies das Penthouse war. Eine holzverkleidete Tür trug in kleinen goldenen Lettern die Aufschrift ROSS, dann steckte Tristan den Schlüssel ins Schloss, öffnete die Tür und schob Caryn vor sich hinein in einen breiten, grün tapezierten Flur. Dahinter lag der riesige Wohnbereich des modernen Apartments, das durch warme Farben und antike Möbel behaglich wirkte. Es gab sogar einen offenen Kamin, Bücherregale, einen Sekretär, einen Tisch. Viele weich gepolsterte Sessel und Kissen luden zur Entspannung ein. Caryn ging in die Mitte des Raums, nachdem sie all diese Dinge mit einem Blick registriert hatte, stand da und wartete darauf, dass Tristan etwas sagte. Er selbst schien es nicht eilig zu haben, jetzt, da er sie hier hatte, und schloss die Wohnzimmertür, bevor er langsam auf sie zuging. „Nun", sagte er rau, „sollen wir da weitermachen, wo wir aufgehört haben?" Caryn wich vor ihm zurück. „Es hat keinen Sinn", erklärte sie unsicher. „Ich weiß, du warst sehr gut zu mir und zu dem Baby, aber es ist vorbei." „Du täuschst dich", stellte er fest, machte jedoch keine Anstalten, ihr zu folgen. „Es ist erst der Anfang."
Dann seufzte er und deutete auf einen der bequemen Sessel. „Willst du dich nicht setzen? Leider kann ich dir keinen Tee anbieten, meine Haushälterin kommt hier nur vorbei, wenn ich sie brauche, und dass ich sie heute brauchen würde, wusste sie nicht. Aber Sherry ist da, wenn du welchen möchtest. Oder etwas Stärkeres?" Er zog die Brauen hoch. Caryn schüttelte den Kopf, und als sie immer noch neben dem Kamin stehen blieb, wandte Tristan sich um und ging hinüber zu den Fenstern. „Wie war's, wenn du mir erzähltest, was geschehen ist", sagte er. „Wie hast du herausgefunden, dass das Kind von O'Hara ist?" Caryn atmete tief durch. „Das weißt du!" „Ich weiß es?" Er drehte sich um, um sie anzusehen, die Hände hinter dem Rücken verschränkt. „Ich versichere dir, ich weiß es nicht. Es sei denn ..." Er machte eine Pause. „Die Ähnlichkeit wird langsam deutlich, das gebe ich zu ..." „Nein!" Caryn schüttelte den Kopf. „Deine ... deine ... Melanie hat darauf hingewiesen." „Melanie!" Jetzt hatte sie seine ganze Aufmerksamkeit, und danach zu urteilen, wie seine Nasenflügel bebten, beneidete sie Melanie nicht um ihre nächste Unterhaltung mit ihrem - ja, was? Caryn zögerte. Ihrem Verlobten vielleicht? Er war zu alt, als dass man ihn als ihren Freund hätte bezeichnen können. „Was genau hat Melanie gesagt?" Seine Stimme klang kalt. „Sie ... sie und ihr Vater ... sind in das Kinderzimmer gekommen." „Wann?" „An dem Vormittag, an dem sie abreisten." „Was!" Er sah sie starr an. „Heißt das, sie haben es im Beisein von Miss Trewen erwähnt?" „Sie haben es nicht erwähnt, sondern nur die Ähnlichkeit festgestellt." Tristan presste die Lippen zusammen. „Melanie weiß, wessen Kind es ist. Ich habe es ihr gesagt." Caryn schwieg, und er atmete tief durch. „Deshalb bist du gegangen?" Caryn runzelte die Stirn. „Woher wusstest du, dass ich es wusste, wenn Melanie es dir nicht erzählt hat?" „Von Angela." „Aha! Angela." „Ich nehme an, du hast dich nett mit ihr unterhalten." „So würde ich es nicht unbedingt nenne n. Tut mir Leid. Ich wusste nicht, dass sie nicht wusste - Oh, das klingt schrecklich. Was ich meine, ist..." „Ich weiß, was du meinst. Ich wollte es ihr selbst sagen, nachdem sie zurück war. Nach dieser Sache mit O'Hara." „Welcher Sache mit O'Hara?" „Ich hatte ihm gesagt, er solle dich nicht nach St. Gifford bringen. Ich hatte ihn gewarnt, die Finger von dir zu lassen." „Du hast was?" Die Worte kamen sehr schwach heraus. „Ich hatte ihn gewarnt, die Finger von dir zu lassen. Eines Sonntags hatte ich ein paar Leute auf einen Drink eingeladen, und das nahm ich als Vorwand, ihn zu mir zu holen und es ihm zusagen." „Aha!" Caryn biss sich auf die Lippe. Das musste die so ge nannte Party gewesen sein, die Dave erwähnt hatte. War er damals auf die Idee gekommen, na ch Port Edward zu fahren und sich mit ihr zu treffen? Weil Tristan ihn davor gewarnt hatte, es zu tun? Andererseits, wenn er ihr nichts von Melanie erzählt hätte, wäre sie wahrscheinlich niemals mit ihm weggefahren. „Jedenfalls", sprach Tristan weiter, „fa nd ich, dass ich mir von ihm genug hatte gefallen lassen." Er seufzte. „Angel war verrückt nach ihm, musst du wissen, und
vermutlich habe ich deshalb versucht, immer wieder Entschuldigungen für ihn zu finden. Ich hatte den Verdacht, dass sich etwas zwische n ihm und Loren abspielte, und das war mit ein Grund, weshalb ich sie entlassen habe. Ich hatte keine Ahnung, dass es zu diesem Zeitpunkt bereits zu spät war." Das konnte Caryn nur schwer verdauen. „Und - und du wusstest..." „... von Anfang an." „Aber warum hast du mich bei dir bleiben lassen?" „Das habe ich dir bei Westons gesagt." Caryn schoss die Röte in die Wangen. „Ich bin nicht wie Loren. Was immer du denken magst - ich bin nicht wie sie ..." „Wovon redest du?" Er kam zu ihr. „Was hat Loren mit uns zu tun?" „Ich will nicht - ich will nicht bei dir bleiben ..." Er legte ihr die Hand auf den Mund und brachte sie so zum Schweigen. Seine Augen wirkten jetzt dunkler und hatten einen seltsam wütenden Ausdruck. „Was, zum Teufel, glaubst du, sage ich?" Sie gab einen gedämpften Laut von sich, und ungeduldig zog er die Hand zurück. „Ich schlafe nicht mit Männern", stieß sie verärgert hervor, und er lächelte schwach. „Das hast du schon einmal gesagt." Er packte sie bei den Schultern und zog sie trotz ihres Widerstands fest an sich. „Und ich habe darauf geantwortet, dass du es tun wirst. Findest du nicht, dass ein Ehemann und eine Ehefrau dasselbe Bett teilen sollten?" „Ehe...mann und Ehefrau?" brachte sie stockend hervor. „Was...?" „Was meine ich wohl?" fragte er ungeduldig. „Um Himmels willen, Caryn, ich bitte dich, mich zu heiraten! Nun! Ist das deutlich genug?" Caryn streckte die Hand aus und berührte seine Wange. „Du meinst es ernst!" Er drehte den Kopf, so dass er mit dem Mund ihre Handfläche streifte. „Sagen wir, ich kann mich nicht länger kalt duschen", flüsterte er rau, und sie legte ihm die Arme um den Nacken. Küsse allein konnten ihr gegenseitiges Verlangen nicht mehr stillen. Tristan zog sie zu sich auf einen der niedrigen Sessel und erklärte: „Manches muss noch gesagt werden." Er zögerte. „Über Loren ..." Caryn barg das Gesicht an seiner Schulter. „Angela hat mir einiges über sie erzählt, und ich glaube ihr, aber ich denke, so schlimm, wie man sie darstellt, war sie nicht." Tristan seufzte, die Lippen an ihrer Schläfe. „Nein", stimmte er zu, und sein warmer Atem streifte ihre Haut, „aber sie hat meinen ganzen Haushalt durcheinander gebracht. Sie und O'Hara beide." „Und du?" fragte Caryn leise. Gedankenverloren ließ er die Finger zärtlich über ihren Hals gleiten. „Ja, ich. Ich habe mich selbst gefragt, welche Rolle ich bei dem Ganzen gespielt habe, und bis jetzt habe ich keine zufrieden stellende Antwort darauf gefunden. Ich weiß, sie fand es reizvoll, für mich zu arbeiten, und die Begegnung mit der Popgruppe hat ihre Illusionen noch verstärkt. Aber ich glaube wirklich nicht, dass sie nach ihrer Affäre mit O'Hara in mir mehr als ihren Arbeitgeber gesehen hat. Als sich dann herausstellte, dass er sie nicht heiraten würde, wandte sie ihre Aufmerksamkeit mir zu. Da wusste ich, dass sie gehen musste." „Als sie zurück nach London kam, hat sie immer nur von dir geredet." „Eine Schutzmaßnahme, vermute ich. Vielleicht hatte sie auch die Absicht zurückzukommen und - nun ja, von mir Geld zu verlangen." „Dich zu erpressen, meinst du?" Tristan schüttelte den Kopf. „Nicht ganz so schlimm. Loren war im Grunde kein schlechter Mensch, sie war nur verantwortungslos." Caryn schmiegte sich fester an ihn. „Danke, dass du das gesagt hast." Tristan beugte sich über sie, und dann, als ihre Lippen sich berührten, zog er sich
wieder zurück. „Dann bist du zu mir gekommen, und was ist passiert? Plötzlich stellte ich fest, dass ich dir helfen wollte, um wieder gutzumachen, was man Loren angetan hatte. Erst später erkannte ich, welch unbedeutende Rolle Loren in meinen Gefühlen für dich spielte." „Aber das hast du nie gesagt", wandte Caryn ein, und er ließ die Hand über ihren Schenkel gleiten. „Hättest du mir wirklich zugehört? Hättest du mir nicht niedrige Motive unterstellt? Ich wollte, dass du mich kennen lernst, mich lieben lernst, bevor ich dir meine Gefühle zeigte." Er schüttelte den Kopf. „An dem Tag, als du spät vom Strand zurückgekommen bist - Himmel, ich hätte dich damals umbringen können! Einschlafen in einer Höhle, die von der Flut bedroht war ... Und ich habe jede Bucht, die ich kannte, nach dir abgesucht!" „O Tristan!" „Ja, ,o Tristan. Du hast mich schon in einige ziemlich unangenehme Situationen gebracht." „Wie in der Nacht, als ich von St. Gifford aus angerufen habe." „Wie in der Nacht, als du von St. Gifford aus angerufen hast", stimmte er zu. „Aber beide Male bist du unerwartet früh zurückgekommen." „Ich konnte nicht lange wegbleiben von Druid's Fleet", flüsterte er rau und barg das Gesicht in ihrem Haar. „Oder von dir! Weißt du nicht, dass ich jetzt gerade im Studio sein sollte, um die Sendung für morgen Abend aufzuzeichnen?" „Aber Tristan ..." Sie wollte aufstehen, doch er zog sie zurück. „Bleib, wo du bist. Das ist viel wichtiger als irgendein Fernsehprogramm. Nun, was ist, willst du mich heiraten? Und bald? Ich glaube, ich kann nicht mehr viel länger warten." Caryn zuckte die Schultern. „Aber Melanie ..." „Was ist mit Melanie?" „Ich dachte - nun ja, sie nennt dich Liebling." „Melanie nennt jeden Liebling." Er lächelte. „Hat sie dich eifersüchtig gemacht? Das war beabsichtigt." „Tristan!" Sie setzte sich auf und sah auf ihn herab. „Das war es nicht!" „O doch. Melanie ist wirklich Angelas Freundin. Hast du das nicht gemerkt?" Caryn schüttelte den Kopf. „Warum hat sie dann verraten, wessen Baby es ist?" Er lächelte spöttisch. „Nun, ich behaupte nicht, dass Melanie keine eigenen Vorstellungen hatte", neckte er sie, und Caryn stieß ihm den Ellbogen in die Rippen. „Ich kann das alles kaum glauben", sagte sie. „Und ich bin so froh, dass sich die Dinge für Bob und Laura so zum Guten ge wendet haben." Sie lächelte glücklich. „Er arbeitet jetzt auch für Area-South-Television." „Ich weiß." Sie sah ihn scharf an. „Woher weißt du das? Oh - sie haben es dir erzählt." „Nein." Tristan schüttelte den Kopf, und Caryn, der die Sache schleierhaft vorkam, runzelte die Stirn. „Woher hast du dann ..." Da dämmerte es ihr. „Wusstest du, dass er ein Vorstellungsgespräch hatte?" Tristan nickte. „Ich erinnerte mich an den Namen und die Adresse." „Aber hast du ..." Sie zögerte. „... du hast dich für ihn eingesetzt?" „Ja." „O Tristan, dafür werden sie dir ewig dankbar sein! Aber warum wolltest du mich über Bob und Laura erreichen?" Er zuckte die Schultern. „Ich wollte, dass du zu mir zurückkommst. Ich wollte dir zeigen, dass ich nicht das Monster war, für das du mich gehalten hast." „So habe ich dich nicht gesehen", gestand Caryn. „Von Anfang an fühlte ich mich von dir angezogen und musste dagegen ankämpfen."
„Das hört sich schon besser an", sagte er heiser, dann herrschte wieder Stille im Raum. „Miss Trewen wird sich freuen", meinte Caryn schließlich. „Mellor nicht", bemerkte Tristan, nicht ohne eine gewisse Genugtuung. „Als ich ihn heute Nachmittag sah, sagte ich ihm, dass ich dich liebe und dich heiraten werde. Er sagte, du würdest über seinen Heiratsantrag nachdenken." „Armer Laurence!" Caryn streifte ihre Schuhe ab und legte ihre Beine um Tristans. „Ich hätte nicht mehr zu ihm gehen sollen." „Ich bin froh, dass du es getan hast", erwiderte Tristan. „Was, um Himmels willen, hast du sonst noch gemacht?" „Ich habe versucht, eine neue Stelle zu finden. Eine, bei der ich das Baby hätte behalten können." „O Caryn ..." Tristan begann, ihre Bluse aufzuknöpfen. Dann hob er sie plötzlich stöhnend auf die Arme und setzte sie in den freien Sessel. „Ich kann dich nicht länger in den Armen halten, Caryn ..." Er unterbrach sich. „Wir sollten jetzt besser etwas essen gehen. Es sei denn, du möchtest heute Abend noch nach Wales zurückfahren." „Erwartet Angela dich?" „Angel hofft, dass wir zusammen zurückkommen. Nach dem, was ich ihr erzählt habe, weiß sie, dass ihr Leben nicht mehr lebenswert sein wird, wenn wir beide nicht zusammen kommen." „Arme Angel!" „Sie wird es überleben. Bei mir bin ich mir nicht so sicher." Caryn runzelte die Stirn. „Wirst du Dave von dem Baby erzählen?" „Eines Tages vielleicht", antwortete Tristan nachdenklich. „Ich weiß es nicht. Vielleicht können wir dem Kind ein besseres Heim bieten, als O'Hara es jemals könnte. Und wenigstens wird es noch Geschwister haben ..." „Was wird Marcia von all dem halten?" „Marcia wird sich freuen. Sie mag dich, das weißt du. Und seit sie das Baby im Haus hat, hat sie sich sehr verändert." Caryn nickte. Sie schwiegen eine Weile, dann stand sie auf und fragte: „Willst du ausgehen?" „Nein", gestand er leise. „Ich will dich lieben. Ich will dir zeigen, was es wirklich bedeutet, sich zu lieben. Aber ich habe nicht die Absicht, dieses kleine, sittsam züchtige Wesen noch mehr zu schockieren, als ich es schon getan habe, und deshalb gehen wir aus." Caryn kam zu ihm und legte ihm die Arme um den Nacken. „Was, wenn ich dir jetzt sage, dass ich von meinem Prinzip, nicht mit Männern zu schlafen, eine Ausnahme mache?" „Also, solange diese Ausnahme sich auf mich beschränkt, kann ich damit leben", sagte er rau und zog sie fest in die Arme. - ENDE