Sie brauchen deine Liebe Patricia Knoll
Julia Muttertag 09
1 1998
gescannt von suzi_kay korrigiert von Geisha0816
...
9 downloads
647 Views
581KB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
Sie brauchen deine Liebe Patricia Knoll
Julia Muttertag 09
1 1998
gescannt von suzi_kay korrigiert von Geisha0816
Die Werbefachfrau Carrie McCoy hat ihre Hochzeit bis ins kleinste Detail geplant - die Generalprobe verlief prächtig. Doch als das glanzvollste Ereignis des kleinen Ortes Webster stattfinden soll, passiert eine schreckliche Panne: Der Bräutigam taucht nicht auf - nur ein kurzer Brief von ihm, in dem er ihr mitteilt, daß er sie leider nicht heiraten kann. Zutiefst schockiert, versucht Carrie ihn in ihrem gemeinsamen Haus zu erreichen, doch niemand geht ans Telefon. Erst jetzt begreift sie, was tatsächlich passierte: Robert hat sie sitzenlassen. Carrie hat nur noch einen Gedanken: sofort aus Webster zu flüchten. Panisch macht sie sich zu Fuß auf den Weg und läuft William Calhoun, dem Bruder ihres Schwagers, direkt in die Arme. Als er hört, was ihr geschah, macht er Carrie ein überraschendes Angebot: Sie könne erst einmal zu ihm ziehen, um seine kleinen Zwillinge, deren Mutter bei der Geburt starb, zu versorgen. Carrie ahnt nicht, daß William endlich seine Chance nutzen will - er liebt sie schon lange...
I "Carrie, kann ich kurz mit dir sprechen?" Beim Klang der vertrauten, aber seltsam gepreßt klingenden Stimme blickte Carrie McCoy auf. Sie war gerade damit beschäftigt gewesen, die Liste der Hochzeitsgäste auf dem Pult am Eingang der Kirche auszulegen. Ein zarter Blumenduft durchzog das alte Gemäuer. Als sie sah, wer an der Tür stand, begannen ihre hellbraunen Augen zu leuchten. Sie raffte den langen Rock ihres Kleides hoch und lief auf ihre Freundin zu. "Guten Morgen, Marcia. Weshalb klingst du denn so nervös?" fragte sie lachend. "Wenn das heute jemandem zusteht, dann mir. Ist es nicht ein herrlicher Tag für eine Hochzeit? Ich weiß, daß ich altmodisch bin, aber ich wollte unbedingt im Mai heiraten. Zum Glück spielt das Wetter mit. Wir haben uns so große Mühe gegeben, alles perfekt vorzubereiten. Wo hast du dein Kleid gelassen? Hoffentlich hast du an bequeme Schuhe gedacht. Die mögen zwar nicht ganz so elegant sein, aber du wirst heute länger stehen, als dir lieb ist vor allem wenn Mrs. Mintnors Solo so lange dauert wie gestern Abend bei der Probe ..." Erst jetzt bemerkte Carrie, daß das Gesicht ihrer Freund in aschfahl war. "Was ist denn los?" "Könntest du einen Moment herauskommen?" Marcia Gallatin warf einen Blick auf die üppigen Gestecke aus Gladiolen und Rosen und verschwand in Richtung Sakristei. Carrie eilte ihr nach.
"Du siehst aber gar nicht gut aus", stellte Carrie fest, als Marcia die Tür hinter ihnen geschlossen hatte. Sie legte ihrer Freundin die Hand auf die klamme Stirn. "Willst du mir sagen, daß du nicht Brautjungfer sein kannst? Mach dir deshalb keine Sorgen. Wir werden auch so zurecht..." "Nein", unterbrach Marcia sie. Erst jetzt sah Carrie, daß sie einen weißen Umschlag in der Hand hielt. "Ist jemand bei dir?" fragte sie. "Deine Schwester vielleicht?" "Ginny und Bret werden gleich mit den Kindern hier sein. Die kleine Nancy hat gestern nacht kaum geschlafen vor Aufregung, weil sie Blumen streuen darf." Carrie machte eine Geste in Richtung Vorraum. "Dad ist bei Pfarrer Mintnor, um sich zu vergewissern, daß die Lautsprecheranlage auch wirklich funktioniert. Du weißt doch, daß er immer alles selbst überprüfen muß. Nur gut, daß wir früh dran sind. Aber du weißt ja, daß ich immer überpünktlich bin - sogar zu meiner eigenen Hochzeit." Carrie wußte, daß sie Unsinn redete, aber sie konnte einfach nicht anders. Was war nur mit ihrer besten Freundin los? "Ich ... Das weiß ich", sagte Marcia. "Ich habe damit gerechnet." Sie reichte Carrie den Umschlag. In ihren Augen schimmerten Tränen. "Lies das." Carries Kehle war plötzlich wie zugeschnürt. "Hat es mit Robert zu tun?" fragte sie ängstlich. "Ist ihm etwas passiert?" Marcia schluchzte auf. "O Carrie, warum muß ausgerechnet ich dir das geben? Es tut mir so leid!" Ehe Carrie eine Frage stellen konnte, war Marcia fort. Durch die offenstehende Tür sah Carrie sie zu ihrem Wagen laufen, einsteigen und davonfahren. Verblüfft schaute sie ihr nach. Noch nie hatte sie Marcia so durcheinander erlebt, nicht einmal während ihrer Schulzeit, als Gefühlsausbrüche gang und gäbe gewesen waren. Irgend etwas stimmte hier nicht. Um ihre frischlackierten Nägel nicht zu beschädigen, öffnete sie vorsichtig den Umschlag und zog einen Bogen weißes Büttenpapier heraus. Hastig strich sie ihn glatt,
damit sie die Nachricht lesen konnte. Die Worte waren eindeutig, ergaben aber trotzdem keinen Sinn. "Ich kann dich nicht heiraten", hatte Robert Gallatin in seiner gestochenen Handschrift geschrieben. "Es tut mir leid." Carrie las die beiden Sätze wieder und wieder. Wie betäubt stand sie da. Robert konnte sie nicht heiraten? Aber warum nicht? Weshalb erklärte er ihr nicht wenigstens, was passie rt war? Sie war sitzengelassen worden! Der Mann, den sie liebte, hatte sie einfach abgelegt wie die Zeitung von gestern. Carrie ließ die Hände sinken und blickte starr ins Nichts. Die Hortensienbüsche am Geländer der schmiedeeisernen Treppe wiegten sich in der Frühlingsbrise. Die schweren Blüten nickten wie im Rhythmus einer Musik, die sonst niemand hörte. Die Wipfel der Tannen in der Auffahrt schienen sich zu verneigen. Eine plötzlich Bö hob Carries Rock hoch und wehte ihr den durchsichtigen Schleier vors Gesicht. Automatisch streckte Carrie die Hand aus, um den Schleier festzuhalten. Mit der anderen drückte sie ihren Rock herunter. Papier raschelte. Erst jetzt merkte sie, daß sie den Umschlag immer noch in der Hand hielt. Ihre Gedanken überschlugen sich. Sie hatte Robert erst gestern bei der Generalprobe gesehen. Anschließend hatten sie Seite an Seite beim Abendessen gesessen und Glückwünsche von ihren Familien und Freunden entgegengenommen. Da hatte er nichts davon erwähnt, daß er sie nicht heiraten konnte. Wenn sie recht überlegte, hatte er eigentlich kaum etwas gesagt. Mit so einer Mitteilung konnte er auch schlecht herausrücken, wenn alle rundherum auf ihr Glück anstießen. Carrie lachte auf. Sie hatte das Gefühl, neben sich zu stehen und die Frau im weiß en Brautkleid zu betrachten. Nüchtern stellte sie fest, daß diese Frau einem hysterischen Ausbruch ziemlich nahe war.
Mit zittrigen Fingern faltete sie den Bogen Papier zusammen und steckte ihn wieder in den Umschlag. Hier mußte ein Mißverständnis vorliege n. Robert, der sanfte, rücksichtsvolle Robert, würde ihr so etwas nicht antun. Selbst wenn er es sich anders überlegt hätte, wäre er zumindest so anständig gewesen, es ihr selbst zu sagen. Ich muß mit ihm reden, dachte Carrie. Sie wirbelte herum, daß ihr Rock flog, und lief zum Büro von Pfarrer Mintnor. Zu ihrer Erleichterung stellte sie fest, daß sie allein war. Sie nahm den Hörer ab und wählte die Nummer von Roberts Haus - fast schon ihrem eigenen Haus. Sie sah das Telefon auf dem kleinen antiken Tisch im Flur vor sich. Robert und sie hatten das kleine Haus zusammen eingerichtet und geplant, nach den Flitterwochen dort einzuziehen. Als nicht einmal der Anrufbeantworter ansprang, wußte sie, daß der Brief ernst gemeint gewesen war. Robert schaltete das Gerät immer ab, wenn er einem unangenehmen Anruf ausweichen wollte. Im Grunde ihres Herzens hatte Carrie geahnt, daß der Brief echt war. Nun hatte sie den Beweis. Warum? Das Wort hallte in ihrem Kopf, als sie sich langsam aufrichtete. Ohne sich dessen bewußt zu sein, ging sie langsam zum Eingang der Kirche zurück. Abgesehen davon, daß sie kaum atmen konnte, fühlte sie nichts. Sie zwang sich, einen Finger nach dem anderen zu lockern, bis der schreckliche Brief schließlich auf die Stufen fiel. Der Wind hob ihn hoch und wirbelte ihn in die Büsche. Carrie drehte sich um. Ihr Vater Hugh und einige Gäste waren bereits in der Kirche. Ihre Schwester Ginny und die anderen Brautjungfern in ihren tiefrosa Kleidern und Strohhüten würden bald eintreffen. Nicht lange, und der Parkplatz vor der Kirche würde voll sein mit den Autos der Bewohner von Webster, South Carolina, der Stadt, in der sie geboren und aufgewachsen war. Alle wollten dabeisein, wenn Carrie McCoy
Robert Gallatin heiratete. Sie war die jüngste Tochter des Heraus gebers der Lokalzeitung, der darüber hinaus noch einen Roman veröffentlicht hatte. Sie war die Schwester und Schwägerin der Redakteure. Robert war der Sohn einer wohlhabenden Familie, die zwei Möbelgeschäfte besaß. In einer Kleinstadt wie Webster galt diese Hochzeit als Ereignis des Jahres. Alle waren sich darüber einig, daß sie mit Robert einen besonders guten Fang gemacht hatte. In diesem Moment wußten nur Marcia und sie, daß er nicht gefangen werden wollte. Jeden Augenblick würde jemand kommen, um nach ihr zu suchen. Dann mußte sie es sagen. Sie würde den Gästen reinen Wein einschenken müssen, und innerhalb von Minuten würde ganz Webster Bescheid wissen, daß die arme kleine Carrie McCoy buchstäblich auf den Stufen des Altars sitzengelassen worden war. Bei dem Gedanken an die Demütigung wurde ihr übel. Sie preßte die Hände auf den Magen und zerdrückte dabei die Satinbänder, die ihre Taille schmückten. Sie konnte diesen Leuten nicht gegenübertreten. Dazu war sie einfach nicht fähig. Ihr Vater hatte stets gesagt, ihr Stolz stünde ihr im Weg, doch daran konnte sie nichts ändern. Vor allem würde sie es nicht ertragen, bemitleidet zu werden. Wie von selbst setzten sich Carries Füße in Bewegung. Immer noch unter Schock, ging sie anfangs ganz langsam, dann schneller und immer schneller, bis sie über den Parkplatz rannte. Wie ein gehetztes Tier floh sie in den Wald hinter der mit weißen Schindeln verkleideten Kirche. Zweige zerrten an ihrem Schleier, als wollten sie ihn ihr vom Kopf reißen. Schließlich löste sie die Nadeln, die ihn festhielten, und ließ ihn einfach an einem Ast hängen. Als sie sich einmal umwandte, sah sie ihn im Wind flattern wie ein geisterhaftes Andenken an ihre Hoffnungen und Träume. Carrie schluchzte auf, wandte sich ab und lief weiter. Das kastanienbraune Haar,
das mit dem Schleier zusammen festgesteckt gewesen war, fiel ihr ins Gesicht. Es dauerte nicht lange, bis sie das Wäldchen durchquert und die Nebenstraße erreicht hatte, die nach Hause führte. Sie wandte sich nach Süden, raffte ihren Rock zusammen und lief weiter. Kieselsteine drückten sich schmerzhaft durch die dünnen Sohlen der weißen Ballerinas, für die sie sich entschieden hatte, um nicht größer zu sein als Robert. Robert! Wie ein Film lief ihre gemeinsame Zeit vor Carries innerem Auge ab. Sie kannten einander schon seit Jahren, weil sie seit der Schulzeit eng mit seiner Schwester Marcia befreundet war. Ihre Romanze hatte sich allerdings erst entwickelt, als Carrie nach dem Collegeabschluß eine Stelle bei einer Werbeagentur in Greenville angetreten hatte und wieder nach Hause gezogen war. Sie liebte ihn schon länger als er sie, war aber sicher gewesen, daß sie füreinander bestimmt waren. Seine ruhige, nachdenkliche Art hatte sie angezogen. Wieviel Spaß sie daran gehabt hatten, das kleine Haus einzurichten, das er geerbt hatte! Sie hatten dort gemeinsam leben und anbauen wollen, wenn die Kinder kamen. Eigenartig - erst jetzt fiel ihr auf, daß er schon lange nicht mehr über Kinder gesprochen hatte. Weder über Kinder noch sonst etwas von Belang. Sie hatte geglaubt, er wäre nur ein wenig nervös wegen der Hochzeit. Statt dessen hatte er seinen Rückzug offenbar schon eine ganze Weile geplant! Carrie war so in Gedanken versunken, daß sie den Wagen überhaupt nicht kommen hörte. Plötzlich war er dir ekt vor ihr. Der Fahrer trat so heftig auf die Bremse, daß das Auto sich um einhundertachtzig Grad drehte und wieder in die Richtung wies, aus der es gekommen war. Sie blickte auf und sah Will Calhoun am Steuer seines Mustang-Cabrios sitzen. Er schob die Sonnenbrille hoch. "Carrie, was ist denn los? Was machst du hier?"
Sie murmelte einige Worte, die eine Dame eigentlich gar nicht kennen durfte. Es war Monate her, seit sie Will Calhoun gesehen hatte, und sie wäre ihm auch jetzt lieber nicht begegnet. Sein Bruder war mit ihrer Schwester verheiratet. Deshalb waren sie und Will noch lange nicht verwandt, aber er schien daraus das Recht abzuleiten, sich in ihr Leben einzumischen und sogar ihre Berufswahl zu kritisieren. Meistens fand sie ihn unerträglich dominant. Will trug eine dunkelblaue Anzughose, ein hellblaues Hemd und eine dezent gestreifte Krawatte. Das Jackett lag auf dem Sitz neben ihm. Er sah aus wie ein Mann, der auf dem Weg zu einer Hochzeit war. Seine Miene war verblüfft. "Antworte mir", forderte er. "Wo, zum Teufel, willst du hin, Carrie? Was machst du allein hier draußen? Die Kirche liegt in der anderen Richtung." Er machte Anstalten auszusteigen. Carrie wich hastig einen Schritt zurück und hob das Kinn. "Ich weiß sehr gut, wo die Kirche ist. Da komme ich gerade her." "Willst du noch einen Spaziergang machen, ehe du Robert heiratest?" "Ich mache einen Spaziergang, anstatt Robert zu heiraten", stellte sie richtig. "Er kommt nicht", fügte sie ehrlich hinzu. Will sah aus wie vom Donner gerührt. "Er hat dich sitzenlassen?" rief er fassungslos. Carrie hob die Hände. "Wenn du noch ein bißchen lauter schreist, weiß es bald die ganze Umgebung." "Das brauche ich gar nicht. Es wird nicht lange dauern, bis die Neuigkeit die Runde macht." "Ich schätze, ungefähr zehn Minuten", stimmte sie bitter zu. Widerstrebend berichtete sie von dem Brief, den sie erhalten hatte. "Heißt das, dieser Feigling hatte nicht einmal den Mut, zu kommen und dir selbst Bescheid zu sagen?"
"So darfst du ihn nicht nennen", widersprach Carrie automatisch, fragte sich aber gleich darauf, warum sie ihn noch in Schutz nahm. Ganz gleich, wie man es drehte und wendete, Robert war ein erbärmlicher Feigling. Will war ausgestiegen und kam auf sie zu. "Du hast wirklich keine Veranlassung, noch ein gutes Wort für ihn einzulegen." "Könnten wir bitte das Thema wechseln", sagte sie müde. "Ich bin jetzt wirklich nicht in Stimmung, darüber zureden." "Du mußt der Tatsache ins Auge sehen, was er für ein Mensch ist." Als sie ihn böse anfunkelte, hob er die Hände. "Schon gut, ich werde nicht sagen, was ich denke." "Das wäre das erste Mal", murmelte sie. Will kniff die Augen zusammen. "Webster ist eine nette kleine Stadt, aber wenn es möglich wäre, Klatsch einzuschmelzen und in Gold zu verwandeln, gäbe es hier nur Millionäre." Carrie verschränkte die Arme vor der schlanken Taille und blickte zu ihm auf. "Als wenn ich das nicht wüßte." "Anstatt den Klatschmäulern gegenüberzutreten, hast du dich also dazu entschlossen wegzulaufen?" "Richtig." Sie hatte vorgehabt, ihn anzufunkeln, um ihn einzuschüchtern, aber es mißglückte kläglich. "Das heißt, du willst deinen Stolz retten?" "Es geht dich zwar nichts an, aber diesmal hast du ausnahmsweise recht." Sie schüttelte den Kopf, so daß ihr noch ein paar Locken ins Gesicht fielen. Will betrachtete ihr blasses Gesicht, die zitternden Lippen und die Augen, in denen es verdächtig schimmerte. Er nickte. "Gute Idee. Ich werde dir helfen." "Wie bitte?" Er nahm sie am Arm. Normalerweise hätte sie ihn sofort abgeschüttelt, aber heute war nichts normal. "Komm, steig ein. Ich bringe dich nach Hause."
"Also gut." Als Carrie einen Schritt machte, stolperte sie über ihre Schleppe. Ungeduldig raffte sie den teuren Satin zusammen und wartete, bis er einen blauen Aktenordner vom Beifahrersitz geräumt hatte. Dann half er ihr, die vielen Meter Stoff in dem engen Fußraum zu verstauen. Als sie schließlich richtig saß, setzte er sich wieder ans Steuer und ließ den Motor an. Carrie ließ sich in den weichen Ledersitz sinken, während er mit weit mehr als der erlaubten Höchstgeschwindigkeit die Straße entlangschoß. Sie war ihm dankbar, daß er sie von hier wegbrachte. Wenn sie erst einmal zu Hause war, würde sie sich in ihrem Zimmer verkriechen und überlegen, wie es jetzt weitergehen sollte. Im Grunde war sie genauso feige wie Robert, aber das war ihr jetzt gleichgültig. Als sie an der Straße vorbeifuhren, die zu dem geräumigen weißen Haus mit den zahlreichen Veranden führte, in dem sie aufgewachsen war und wo jetzt ihre Schwester und ihr Schwager lebten, drehte Carrie sich zu Will um. "Ich dachte, du bringst mich heim?" "Das tue ich auch." Er warf einen Blick in den Rückspiegel. "Zu mir nach Hause." "Aber du wohnst in Charleston!" "Genau." Lässig hob er die Hand und winkte Fred Hunkle zu, der mit seinem Streifenwagen gerade aus einer Nebenstraße kam. Dem Sheriff fielen beinahe die Augen aus dem Kopf, als er sah, daß Will Calhoun mit Carrie McGoy im Brautkleid die Stadt verließ. Carrie, die eigentlich jetzt gerade vor dem Traualtar stehen sollte. "Aber ... das geht doch nicht", protestierte sie. "Ich muß eine Unmenge an Dingen erledigen." "Was denn zum Beispiel?" erkundigte Will sich spöttisch. "Willst du Hochzeitsgeschenke zurückschicken?" "Das auch. Aber ..."
"Hör mal, Carrie", unterbrach er sie ungeduldig. "Sollen die Leute denken, daß Robert dich vor dem Traualtar sitzengelassen hat, oder wäre es dir lieber, wenn du als diejenige giltst, die gegangen ist?" "Wie meinst du das?" "Im Moment sind du und ich die einzigen, die Bescheid wissen, stimmt's?" "Außer Robert und seiner Schwester Marcia." "Er wird es bestimmt niemandem erzählen. Wer sich so feige benimmt wie er, wird sich nicht noch damit brüsten. Marcia wird nichts sagen, weil sie deine Freundin ist und wahrscheinlich genauso wütend auf ihn wie du." Carrie fand nichts dagegen einzuwenden. "Worauf willst du hinaus?" "Sollen die Leute denken, daß du Robert nicht gut genug warst oder daß Robert deinen Ansprüchen nicht genügt hat?" "Letzteres natürlich!" Will nickte. "Das habe ich mir gedacht. Wenn du also mit mir nach Charleston fliehst, sieht es doch so aus, als hättest du etwas. Besseres gefunden, oder nicht?" Carrie spürte, daß seine Logik nicht ganz stimmte, aber die Vorstellung, vor den Leuten nicht als die sitzengelassene Braut dazustehen, war zu verlockend. "Das stimmt", gab sie zu. "Du kannst ja sagen, ihr habt die Hochzeit im gegenseitigen Einvernehmen abgesagt. Wenn Robert schlau ist, wird er nicht widersprechen. Und falls er es doch tut, steht er als der Dumme da." Carrie dachte einige Sekunden nach. "Das könnte funktionieren", sagte sie langsam. "Das wird funktionieren", erklärte er zuversichtlich. "Mit mir nach Charleston zu kommen ist das Beste, was du tun kannst. Ich habe sogar Arbeit für dich." Sie bezweifelte, daß es gutgehen würde. Will und sie waren noch nie miteinander ausgekommen. Er war viel zu dominant,
und allein bei dem Gedanken, von ihm Anweisungen entgegennehmen zu müssen, wurde ihr flau. Aber er bot ihr einen Ausweg aus einer prekären Lage. Sie wünschte sich nichts mehr, als der schrecklichen Situation zu Hause zu entfliehen, selbst wenn sie damit die ganze Arbeit ihrem Vater und ihrer Schwester überließ. Aber ihre Familie würde ihr verzeihen. Schließlich war sie das Nesthäkchen und wurde von allen geliebt. Außerdem wußte sie genau, daß ihr Vater Robert nie wirklich gemocht hatte, obwohl er versucht hatte, seine Gefühle zu verbergen. Von Will dagegen hatte er eine hohe Meinung. Jeder, der Will kannte, hatte eine hohe Meinung von ihm. Er war groß, fast schlaksig, hatte aber breite Schultern und muskulöse Arme. Für einen Mann seiner Größe bewegte er sich erstaunlich geschmeidig. Er hatte ein heiteres Naturell, so als wäre das Leben ein Witz und nur er kenne die Pointe. Wer ihm zum erstenmal begegnete, wäre nie auf den Gedanken gekommen, daß er zwei florierende Galerien besaß und wie ein Besessener arbeitete. Sein Gesicht war der Traum eines Künstlers - welliges aschblondes Haar, das er zurückgebürstet trug, und tiefliegende graue Augen unter dichten Brauen, die das Merkmal seiner Familie zu sein schienen. Das lange, schmale Gesicht endete in einem markanten Kinn. Ein Bildhauer, der nach Perfektion strebte; hätte vielleicht versucht, die Kinnpartie etwas abzurunden, um einen gefälligeren Gesamteindruck zu erzielen. Doch Carrie wußte, daß dieses Kinn seine Persönlichkeit mit dem eisernen Willen genau widerspiegelte. Während sie noch in Columbia studiert hatte, war Will hin und wieder aufgetaucht. Angeblich hatte er geschäftlich im Norden zu tun, aber in Wirklichkeit wollte er nur nach ihr sehe n. Sie hatte nie ganz begriffen, warum er sich zu ihrem inoffiziellen Beschützer aufgeschwungen hatte. Jedes Mal, wenn er kam, führte er sie zum Essen oder ins Kino aus. Bei diesen Gelegenheiten erkundigte er sich
angelegentlich nach ihrem Studium, den Mitbewohnerinnen im Studentenheim, ihren Freunden und den Männern, mit denen sie ausging - vor allem nach letzteren. Als sie sich über seine Neugier beschwerte, antwortete er, er handle rein aus familiärem Pflichtgefühl. Ihren Einwand, sie gehörten eigentlich gar nicht zur gleichen Familie, überging er einfach und tauchte beim nächsten mal unter einem anderen Vorwand auf. So war es weitergegangen bis letztes Jahr, als sie die Stelle in Greenville angenommen und ihre Romanze mit Robert begonnen hatte. Will hatte nicht viel über Robert gesagt, sondern nur ziemlich halbherzig gratuliert, als sie sich verlobt hatten. Carrie streifte Will mit einem Blick. Hatte er etwa vermutet, daß Robert die Hochzeit platzen lassen würde? . Sie spürte, welche Kraft von ihm ausging. Obwohl er den Blick auf die Straße gerichtet hielt, hatte Carrie das Gefühl, daß ihm keine ihrer Regungen entging. . "Komm mit mir", wiederholte er. Als sie nicht sofort ja sagte, nahm er den Fuß vom Gas und ließ das Cabrio am Straßenrand ausrollen. Offenbar wollte er keinerlei Ablenkungen, während er versuchte, sie zu überreden. Carrie begegnete seinem Blick, und plötzlich war ihr Mund ganz trocken. Mit ihm zu gehen war verrückt, verantwortungslos. Sie konnte es einfach nicht tun. Das würde sie ihm auch sagen, jetzt gleich. Doch als sie zu sprechen anhob, sah er sie herausfordernd an. Wo ist denn dein berühmter Stolz geblieben? schien er sie zu fragen. Beim erstenmal kam nur ein Krächzen heraus, und sie mußte sich ein paar Mal räuspern. "Alle werden denken, daß wir eine Affäre haben", protestierte sie. "Und daß das schon eine ganze Weile andauert." Will zuckte mit den Schultern. "Na und? Sollen die Leute statt dessen glauben, daß du als Ehefrau für einen der reichen Gallatins nicht gut genug warst?"
"Natür lich nicht!" "Dann zeig's ihnen. Nimm mein Angebot an." "Ich ... Will, ich bin so durcheinander, daß ich eigentlich gar nicht fähig bin, eine so schwerwiegende Entscheidung zu treffen." , "Ich mache dir das Angebot, deinen Stolz zu retten. Du kannst es annehmen oder ablehnen", erklärte er kurz. Dann wurde seine Miene ernst. "Morgen Abend wird alles schon ganz anders aussehen." Er machte eine Pause. "Außerdem brauche ich deine Hilfe wirklich." Carrie war hin- und hergerissen zwischen Gewissensbissen und Stolz. Schließlich siegte der Stolz. "Also gut, ich mache es. Aber halte bitte an der ersten Telefonzelle an. Ich muß im Pfarramt anrufen und wenigstens Dad und Ginny Bescheid geben, wo ich bin." "Bravo!" lobte er. "Jetzt kann ich dir ja sagen, daß ich mir Sorgen um dich gemacht habe, seit du dich mit diesem Waschlappen Robert verlobt hast. Aber wie es aussieht, scheint doch nicht alle Hoffnung verloren zu sein." "Ich kann dir gar nicht sagen, wie mir deine Worte das Herz wärmen", entgegnete sie spitz. Will lachte und ließ den Motor wieder an. Kurz vor der Stadtgrenze bremste Will und bog rechts ab. "Ich muß noch rasch bei Sam vorbei und etwas abholen." Sam war sein älterer Bruder. "Er ist wahrscheinlich mit Laura und dem kleinen Travis auf dem Weg zur Kirche, aber ich weiß, wo er einen Hausschlüssel versteckt hat. Du kannst deinen Vater von dort aus anrufen." "Ist gut." Traurig betrachtete sie ihr wunderschönes Kleid. "Glaubst du, Laura wird es mir übel nehmen, wenn ich mir von ihr etwas zum Anziehen leihe? Ich kann nicht im Brautkleid nach Charleston reisen, und wenn ich zu Bret und Ginny fahre, laufe ich bestimmt jemandem über den Weg."
Will nickte ihr beifällig zu. "Wir schreiben Laura einen Zettel und versprechen, daß wir die Sachen so bald wie möglich zurückschicken. Sie wird bestimmt nichts dagegen haben." Nur wenige Minuten später hielt er vor einem großen Haus im viktorianischen Stil, wo sein Bruder und seine Schwägerin mit ihrem vierjährigen Sohn Travis und den Jagdhunden, die sie züchteten, abrichteten und verkauften, lebte. Ehe Carrie ausstieg, sah sie sich verstohlen um. Niemand schien sie zu beobachten. Wie angekündigt, fand Will den Hausschlüssel unter einem Topf mit Geranien. Er führte Carrie ins Haus. "Laß dir ruhig Zeit. Ich warte nachher am Auto auf dich." Carrie, die schon oft auf Travis aufgepaßt hatte, wußte, wo das Schlafzimmer von Sam und Laura war. Ihr war unbehaglich zumute bei dem Gedanken, in den Sachen ihrer Freundin herumzuschnüffeln. Zu ihrer Erleichterung entdeckte sie auf dem Treppenabsatz eine Kiste mit ausrangierten Kleidern, die auf dem Kirchenbasar verkauft werden sollten. Sie würde Laura einfach das Geld dafür überweisen, damit sie es an das Pfarramt weiterleitete. Nach einigem Suchen fand sie eine Hose und ein weißes T-Shirt. Da Laura ein ganzes Stück größer war als sie, mußte Carrie die Hose hochkrempeln, und das T-Shirt reichte ihr bis zu den Oberschenkeln, aber ein modisches Aussehen war im Moment wirklich nicht wichtig. Sie hatte heute morgen fast eine Stunde damit zugebracht, sich zu schminken und zu frisieren, und was hatte ihr das gebracht? Nachdem sie Laura eine kurze Nachricht geschrieben hatte, legte sie das Brautkleid über einen Stuhl im Schlafzimmer ihrer Freunde. Als sie es so daliegen sah, mußte sie plötzlich gegen die Tränen ankämpfen. Der Kopf schwirrte ihr vor unbeantworteten Fragen. Ein letztes Mal berührte sie das Kleid, das sie mit solcher Sorgfalt ausgesucht hatte. Dann zog sie ihren Verlobungsring - einen wunderschönen Diamanten - vom Finger
und legte ihn darauf. Als sie hinter sich die Tür schloß, wußte sie, daß ein Abschnitt ihres Lebens beendet war. Es dauerte eine ganze Weile, bis man im Pfarramt ihren Vater ans Telefon geholt hatte. Als Hugh McCoy hörte, was passiert war, hätte er sich am liebsten mit einem Schrotgewehr auf die Jagd nach seinem treulosen Beinahe-Schwiegersohn gemacht. "Dad", beschwor ihn Carrie. "Damit würdest du dich nur ins Unglück stürzen. Bitte sag allen, Robert und ich seien zu der Einsicht gekommen, daß wir doch nicht zusammenpassen. Ich gehe für eine Weile weg. Sobald ich wieder klar sehe, gebe ich dir Bescheid, wo du mich erreichen kannst." "Aber warum willst du fort? Du hast doch nichts falsch gemacht. Komm zurück, und stell dich den Leuten. Wenn du ihnen ins Gesicht siehst, wird niemand es wagen, sich über dich lustig zu machen." Sie hatte sich die Telefonschnur so eng um den Finger gewickelt, daß es weh tat. Obwohl sie wußte, daß ihr Vater recht hatte, reichte ihre Kraft dazu nicht aus. "Dad, ich kann das nicht. Eine solche Demütigung steckt man nicht so einfach weg. Bitte versteh mich. Heute ist nicht gerade der beste Tag meines Lebens." "Ist schon gut, mein Schatz", sagte er beschwichtigend. "Laß uns wissen, wo du bist, damit wir dir einige Sachen nachschicken können." "Ich ... ich werde zuerst einmal bei Will in Charleston unterschlüpfen." "Will? Du meinst, Will Calhoun? Was haben diese Calhouns nur an sich, daß sie meine Töchter eine nach der anderen wegschnappen?" "Dad, es ist nicht so, wie du denkst. Will hilft mir lediglich aus einer ziemlich peinlichen Situation. Er hat mir einen Job angeboten, und ich habe zugesagt." Es dauerte noch weitere fünf Minuten, ehe sie ihren Vater davon überzeugt hatte, daß sie richtig gehandelt hatte.
"Denk immer daran, daß wir dich lieben und auf deiner Seite stehen", beschwor er sie beim Abschied. Will wartete bereits im Wagen, als Carrie herauskam. Sie schloß die Haustür ab, legte den Schlüssel zurück in sein Versteck und stieg ein. Mit einiger Verblüffung stellte sie fest, daß er trotz des warmen Wetters das Verdeck geschlossen hatte. Daß er nicht allein im Wagen war, merkte sie erst, als er sich zu ihr umdrehte und etwas Weiches, Warmes in ihren Schoß legte - einen winzigen schwarzen Hund von höchstens zwei Monaten. "Ist der süß!" rief Carrie und begann ihn zu streicheln. "Wolltest du den bei deinem Bruder holen?" Will ließ den Motor an. "Ja. Er ist ein Geschenk für meine ... für jemanden. Ich hatte eigentlich vor, erst nach deiner Hochzeit auf dem Heimweg bei Sam vorbeizufahren, aber ..." "Da die Hochzeit nicht stattfindet, hast du es jetzt schon getan", beendete sie den Satz für ihn. "Richtig." "Warum hättest du auch warten sollen?" meinte sie und stellte entsetzt fest, daß ihre Stimme zitterte. "Fahren wir."
II Will nickte, fuhr aus der Einfahrt seines Bruders und nahm die Verbindungsstraße zum Highway. "Warum versucht ihr beide nicht, euch ein bißchen auszuruhen? Wir werden gegen Abend in Charleston sein." Carrie nickte und lehnte sich bequem in den Sitz zurück. Den kleinen Hund auf ihrem Schoß zu spüren tat ihr gut. Hin und wieder hielten sie an, um den Hund auszuführen, zu tanken oder etwas zu essen. Während der Fahrt wechselten sie kaum ein Wort miteinander. Will schien ebenfalls tief in Gedanken versunken zu sein. Hin und wieder fuhr er zu schnell, nahm jedoch sofort die Geschwindigkeit zurück, als er ihre ängstlichen Blicke sah. "Entschuldige, Carrie", sagte er zerknirscht. "Ich bin einfach nicht daran gewöhnt, Rücksicht auf Beifahrer zu nehmen. Aber das wird sich jetzt ändern", fügte er wie zu sich selbst hinzu. Carrie hätte ihn beinahe gefragt, was der Anlaß dafür war, aber er schien mit seinen Gedanken so weit weg zu sein, daß sie es sein ließ. Statt dessen begnügte sie sich damit, ihn zu beobachten. Die Geschichten, die in der Familie über Wills Eskapaden kursierten, hatten sie von jeher fasziniert. Obwohl er hart arbeitete, schien er stets genug Zeit für schöne Frauen zu haben. Ginny und Bret waren mehrfach zu Eröffnungsfeiern in seiner
Galerie eingeladen gewesen und hatten beeindruckt von den vielen bekannten Leuten berichtet, die daran teilnahmen. "Du kannst dir nicht vorstellen, was für Preise manche Sammler für ein einziges Bild bezahlen", hatte Ginny ihrer Schwester erzählt. Wills Philosophie war es, daß man erfolgreich erscheinen mußte, um Erfolg zu haben. Deswegen unterstützte er einen Künstler in jeder erdenklichen Weise, wenn er an ihn glaubte. Will war dynamisch und hatte stets ein klares Ziel vor Augen. Das war einer der Gründe gewesen, warum es ständig Reibereien zwischen ihm und Carrie gegeben hatte. Als Mann, der niemals mit seiner Meinung hinter dem Berg hielt, hatte er behauptet, sie vergeude ihre Talente in der Werbung. Seiner Meinung nach sollte sie ihre Begabung zum Schreiben weiterentwickeln und sich an Bücher wagen. Als sie protestiert hatte, daß sie dafür nicht gut genug sei, hatte er herausfordernd gefragt, ob sie Angst vor dem Wettbewerb mit den anderen Autoren in ihrer Familie habe. Das hatte sie natürlich entrüstet von sich gewiesen. Obwohl sie häufig unterschiedlicher Meinung gewesen waren, hatte sich Carrie heimlich auf seine Besuche im College gefreut. Als sie im dritten Semester war, eröffnete Will die Galerie in Charleston. Wenig später machte er eine zweite in Columbia auf. Freunde und Angehörige hatten ihn davor gewarnt, sich zuviel zuzumuten und seine gesamten Ersparnisse ins Geschäft zu stecken, aber er hatte alle mahnenden Stimmen ignoriert und war seinen Weg gegangen. Bald florierten beide Galerien, und wann immer er nach Columbia kam, hielt er sich einen Abend für Carrie frei. Carrie hatte sich insgeheim geschmeichelt gefühlt, mit einem erfolgreichen Mann auszugehen, der noch dazu phantastisch aussah. Jeder Besuch von ihm hatte aufgeregtes Getuschel unter ihren Kommilitoninnen hervorgerufen, und sie hatte sich niemals die Mühe gemacht, ihnen zu erklären, daß ihre
Beziehung rein platonisch und darüber hinaus ziemlich konfliktbeladen war. Sich selbst hatte sie das stets vor Augen geführt und es damit geschafft, sich nicht in ihn zu verlieben. Ein willensstarker, dominanter Mann wie er wäre für sie nicht der richtige Gefährte gewesen. Carrie dehnte sich und suchte eine bequemere Sitzhaltung. Dadurch wachte der kleine Hund auf, der ihr freundlich die Hand leckte, ehe er wieder einschlief. Das Problem mit Will lag darin, daß er kein ruhiger Mann war. Man brauchte beispielsweise nur zu beobachten, wie er fuhr - schnell und manchmal ziemlich riskant. Trotzdem hatte sie nie das Gefühl, ihm wäre die Kontrolle über den Wagen entglitten. Seltsam. Wenn sie vor dem heutigen Tag jemand gefragt hätte, welcher der beiden Männer der verläßlichere sei, hätte sie auf Robert gesetzt, weil er ruhig war, Ein Denker. Schwerfällig, hätte Will gesagt. Doch sie hatte sich geirrt. Robert war alles andere als verläßlich. Es war Will, der ihr in seinem weißen Mustang zu Hilfe gekommen war. Ein moderner Ritter. Bei dem Gedanken an Robert krampfte sich ihr Magen zusammen. Rasch schloß sie die Augen, damit Will die verräterischen Tränen nicht bemerkte. Um diese Zeit wären normalerweise die Feierlichkeiten vorüber gewesen, und sie wäre mit ihrem frischgebackenen Ehemann in ein schickes Hotel nach Hilton Head gefahren, wo sie ein Zimmer für die Flitterwochen reserviert hatten. Statt dessen saß sie neben einem anderen Mann und fuhr in die entgegengesetzte Richtung. Carrie öffnete die Augen und studierte Wills Profil, die markante Nase, die dichten, gebogenen Wimpern. Die Bürger von Webster würden sofort glauben, daß sie Robert um seinetwillen verlassen hatte. Er war genau die Art attraktiver,
erfolgreicher Mann, dem Frauen bis ans Ende der Welt folgen würden. Doch trotz allem, was Robert ihr heute angetan hatte, konnte sie ihre Gefühle für ihn nicht einfach ausmerzen. Sie fragte sich, ob diese Liebe, die sich über einen beträchtlichen Zeitraum entwickelt hatte, noch länger brauchen würde, um zu verlöschen. Ein schrecklicher Gedanke! Sie rutschte tief in ihren Sitz, drückte den kleinen Hund an sich und versuchte, an gar nichts zu denken. Zu ihrer Überraschung schien es funktioniert zu haben, denn als sie das nächste Mal die Augen öffnete, war es dämmrig. Vor ihr glitzerten die Lichter von Charleston, damals wie heute der schönsten Stadt des amerikanischen Südens. Als Will vor einem weitläufigen weißgestrichenen Haus hielt, streckte sich Carrie und rieb sich erstaunt die Augen. "Ist das deines? Ich dachte, du wohnst in einem schicken Apartment in der Innenstadt." "Das habe ich auch." Will machte eine Pause, als suchte er nach den richtigen Worten. Seine Hände auf dem Lenkrad öffneten und schlössen sich ein paar Mal. Schließlich betätigte er die Fernbedienung für das Garagentor. "Ich mußte ein Haus kaufen", sagte er nur. "Wahrscheinlich eine gute Geldanlage", meinte sie und sah sich beifällig um. "Es gab auch noch andere Gründe", bemerkte er. "Das wirst du sehen, wenn wir hineinkommen." Carrie sah ihn fragend an, doch er sprach nicht weiter. Sie nahm den Hund auf den Arm und stieg aus. Wie sie feststellte, türmten sich Umzugskisten in der Garage. "Das sieht ja aus, als wärst du noch gar nicht ric htig eingezogen", meinte sie. "Will, wenn du keinen Platz für mich hast, kann ich auch in ein Hotel gehen."
"Womit willst du denn bezahlen?" fragte er schmunzelnd. Er nahm sein Jackett und den Aktenordner vom Rücksitz. "Wenn du eine Handtasche bei dir trägst, hast du sie gut versteckt." Carrie blickte an sich hinunter und mußte lachen. "Kannst du dir vorstellen, daß ich das bis jetzt überhaupt nicht gemerkt habe?" "Du stehst immer noch unter Schock." Er blieb an der Tür stehen. "Unter Schock tut man manchmal Dinge, die man sich niemals zugetraut hätte. Komm herein." Will trat zur Seite, und plötzlich stand Carrie in einer geräumigen Küche. Vor einem Erkerfenster, das den Blick auf den Garten freigab, standen ein Eßtisch aus Birkenholz und vier Stühle. "Leider bin ich noch nicht komplett eingerichtet", meinte er, "aber ein Bett kann ich dir anbieten." Carrie folgte ihm durchs Haus. Die weißen Satinschuhe verursachten keinerlei Geräusche auf dem Fliesenboden und später auf dem dicken cremefarbenen Teppich, mit dem der Rest des Hauses ausgelegt war. Ein plötzliches Geräusch aus dem hinteren Teil ließ Carrie innehalten. "Das hört sich an wie eine Katze. Ist es da eine gute Idee, einen Hund ins Haus zu bringen?" Will schüttelte den Kopf. "Es ist keine Katze. Komm mit." Sie folgte ihm durch ein leeres Eßzimmer in einen Wohnraum, in dem nur zwei Ledersofas und einige niedrige Tische standen. Von dort gelangten sie in einen Gang, von dem mehrere Türen abgingen. Am Ende lag das größte Schlafzimmer des Hauses. Will trat ein, aber Carrie blieb wie angewurzelt stehen, als sie außer dem üblichen Mobiliar wie Bett, Nachttisch und Kommode zwei Kinderbettchen an der Wand entdeckte. In einem Schaukelstuhl saß eine grauhaarige Frau, die auf jedem Arm ein in eine Decke gewickeltes Bündel hielt. Eines davon gab Laute von sich, die tatsächlich an eine Katze erinnerten. Carrie, die aus dem College nach Hause gekommen war, um
ihrer Schwester nach der Geburt des ersten Kindes zur Hand zu gehen, kannte diese Laute. "Ein Baby?" Fragend sah sie Will an. "Zwei Babys", stellte er richtig. Er legte den Aktenordner auf die Kommode und ging auf die Frau zu, die bei seinem Anblick erleichtert aufschaute. "Mr. Calhoun! Sie sind früher zurück, als ich dachte." Mit dem Kinn deutete sie auf die beiden Bündel. "Ich würde sagen, das Schlimmste ist für heute vorbei. Nicht mehr lange, und wir können sie ins Bett legen." "Darum werde ich mich kümmern, Mrs. Wiggins." Geschickt nahm Will die Kinder hoch und machte die beiden Frauen miteinander bekannt. "Edith Wiggins, meine Haushälterin Carrie McCoy. Carrie wird bei uns wohnen." Er drehte sich zu Carrie um, so daß sie die Babys zum erstenmal richtig sehen konnte. "Carrie, ich möchte dir Ariana und Jacob vorstellen. Meine Kinder." "Deine Kinder? Carries Stimme überschlug sich beinahe. "Ganz richtig. Sie sind drei Wochen alt." Er betrachtete die beiden winzigen Gesichter mit väterlichem Stolz. Carrie öffnete den Mund ein paar Mal, brachte aber keinen Ton heraus. Wenn er ihr plötzlich mitgeteilt hätte, daß er der Welt entsagen und sich in ein Kloster in den Himalaja zurückziehen wollte, hätte sie nicht verblüffter sein können. "Kinder", wiederholte sie schließlich mechanisch. Um ein Haar hätte sie den Hund fallen lassen. "Drei Wochen alte Babys. Das ist ... wirklich eine Überraschung." Sie schüttelte den Kopf und schnappte nach Luft. "Zwillinge. Ein Junge und ein Mädchen. Donnerwetter!" "Schsch", warnte Will. "Sonst wachen sie wieder auf." Er war so von den beiden Kleinen gefesselt, daß er für Carrie kaum einen Blick übrig hatte. Carrie sah ungläubig zu, wie Will, der Playboy der Familie Calhoun, die Kinder zu einem der Gitterbettchen trug. Er ging etwas in die Knie und legte ein Baby hinein, dann drehte er sich
um und bettete das andere daneben. Von ihrem Standort aus konnte Carrie nur zwei gelbe Decken erkennen. "Ich habe zwei Betten gekauft, lasse sie aber zusammen in einem schlafen", erklärte er über die Schulter gewandt. "Ein Kinderarzt, den ich neulich zufällig im Fernsehen gesehen habe, meint, daß Zwillinge sich zumindest in der ersten Zeit zusammen wohler fühlen." Er hatte den Arm auf das Geländer des Bettchens gelegt. Sein Hemd stand am Hals offen, und er hatte die Ärmel achtlos aufgerollt. Die Babys krähten leise. Liebevoll tätschelte er ihnen den Rücken, um sie wieder zu beruhigen. Carrie hatte gesehen, wie Wills Bruder Bret das gleiche mit einem seiner Kinder gemacht hatte. Eine eigenartige Wärme breitete sich in ihr aus, als sie ihm jetzt zusah. Teil dieser intimen familiären Szene zu sein tat ihr gut. Der zweite Schock des heutigen Tages hatte die Wirkung des ersten erheblich gemildert. Will schaute auf. Offenbar wartete er auf irgend etwas. Erst nach einigen Sekunden wurde Carrie bewußt, daß er eine Antwort - eine Bestätigung - von ihr haben wollte. "Na ja, das erscheint mir sehr vernünftig", sagte sie rasch. "Schließlich waren sie ja auch im Mutterleib zusammen." Wer ist die Mutter? hätte sie gern gefragt. Und wo ist sie? Doch sie schwieg, denn sie sah, daß Wills Aufmerksamkeit völlig von den Kindern in Anspruch genommen war. Statt dessen wandte sie sich Mrs. Wiggins zu, die das schlafende Hundebaby auf ihrem Arm betrachtete. "Man muß es Ihnen lassen, Mr. Calhoun", sagte sie kopfschüttelnd. "Sie haben Mut. Zwei Säuglinge und ein kleiner Hund. Das ist eine Menge Arbeit." Er schaute auf. "Der gleiche Kinderarzt hat gesagt, daß Kinder von klein auf lernen sollten, die Verantwortung für ein Tier zu übernehmen."
"Mit drei Wochen?" fragte Carrie zweifelnd. Die Haushälterin seufzte. "Mr. Calhoun, ich habe mich bereit erklärt, Ihr Haus zu führen und hin und wieder Ihre Kinder zu versorgen. Von einem Hund war nicht die Rede." Er wischte den Protest weg. "Keine Sorge, Mrs. Wiggins. Wir werden uns alle wunderbar vertragen." Ohne ihre skeptische Miene zu beachten, meinte er: "Wären Sie so nett, Carrie den Garten zu zeigen? Dann kann der kleine Bursche hier sein neues Zuhause in Besitz nehmen." Die Haushälterin nickte. "Selbstverständlich. Und dann werde ich mich auf den Weg in mein Zuhause machen. Ich habe Ihnen fertig gemischte Milch in den Kühlschrank gestellt. Denken Sie daran, daß Sie sorgfältig umrühren müssen, wenn Sie die Flaschen in der Mikrowelle warm machen, damit es keine Hitzeblasen gibt." "Mache ich", versprach Will. Die Haushälterin wandte sich ab. "Kommen Sie, Miss McCoy. Ich werde Ihnen zeigen, wo Sie den kleinen Burschen unterbringen können." Carrie, die immer noch ganz benommen war, folgte ihr in die Küche. Mrs. Wiggins öffnete eine Tür, die durch einen nach vom offenen Vorraum in den Garten führte. Dabei murmelte sie etwas vor sich hin. Offenbar war sie überzeugt, ihr Arbeitgeber hätte vollends den Verstand verloren. Erleichtert sah Carrie, daß in einer Ecke des Raumes ein nagelneuer Hundekorb stand. Daneben standen je ein gefüllter Napf mit Fressen und Wasser und eine geschlossene Dose Welpenfutter. Ansonsten waren der Raum und die darunter liegende Terrasse völlig leer - ein weiterer Beweis, daß Will erst vor kurzem eingezogen war. Hatte er das große Haus eigens wegen seiner Kinder gekauft und war mit dem Umzug nicht rechtzeitig fertig geworden?
Seine Kinder. Carrie konnte es immer noch nicht glauben. Seine Brüder wußten bestimmt nichts davon, sonst hätte sich die Neuigkeit sehr schnell in Webster herumgesprochen. Herumgesprochen? Sam und Bret wären stehenden Fußes nach Charleston geeilt, um persönlich zu sehen, in was für eine Situation sich ihr Bruder manövriert hatte. Und Ginny und Laura wären bestimmt mitgefahren, um Fragen zu stellen und gute Ratschläge zu geben. Wenn Ginny davon gewußt hätte, hätte Carrie es auch erfahren. Schon als Kind hatte Ginny nie ein Geheimnis für sich behalten können. Carrie setzte den kleinen Hund ab, der sich schnurstracks über sein Futter hermachte. Obwohl sie bezweifelte, daß er es lange allein aushalten würde, ging sie ins Haus zurück. Dabei stellte sie fest, daß Will eine kleine Klappe in die Küchentür eingebaut hatte, damit der Hund allein hinein- und hinauskonnte. Will hatte ihr versichert, der Hund sei stubenrein, aber Carrie hatte gewisse Zweifel. Schließlich war er wirklich noch sehr klein. Die Haushälterin hielt bereits ihre Handtasche unter dem Arm. Im Schlafzimmer war das Licht gedämpft gewesen, so daß Carrie sie jetzt zum erstenmal richtig sehen konnte. Mrs. Wiggins war klein und drahtig. Ihr kurzes graues Haar lockte sich um den schmalen Kopf. Als sie Carries benommene Miene sah, schmunzelte sie. "Willkommen im Haus der Überraschungen", sagte sie. "Wir wissen hier nie, was als nächstes passiert." "Das glaube ich Ihnen aufs Wort", murmelte Carrie. "Wo ... wo ist denn die Mutter der Kinder? Schläft sie in einem anderen Zimmer den Schlaf der Erschöpfung?" Mrs. Wiggins zog den Autoschlüssel aus der Tasche und runzelte leicht die Stirn. "Das soll Mr. Calhoun Ihnen lieber selbst erzählen. Gute Nacht, Miss McCoy." Im nächsten Moment stand Carrie allein in der Küche. Warum hatte die Haushälterin wohl nicht reden wollen?
Zum erstenmal blickte Carrie sich richtig um. Der Raum war zwar noch ziemlich kahl, würde aber bald sehr behaglich sein mit den Einbäuschränken aus Eschenholz und der Tapete mit Sonnenblumenmuster. Das Haus war ganz offensichtlich nicht neu, aber erst vor kurzem völlig renoviert worden. Carrie sah, daß der neue Besitzer keine Ausgaben gescheut hatte. Bis die Räume richtig wohnlich sein würden, würde allerdings noch ziemlich viel Zeit vergehen, denn Carrie konnte sehen, daß Wills Tage mit seiner Arbeit und den Kindern mehr als ausgefüllt waren. Die Kinder. Carrie ließ sich auf einen Stuhl sinken und betrachtete das an der Wand installierte Telefon. Am liebsten hätte sie ihre Schwester angerufen und ihr alles erzählt. Doch ehe sie dazu kam, hörte sie Wills Schritte. Er trat in die hellerleuchtete Küche und blinzelte ebenso benommen wie sie vorhin. Wieso fiel ihr jetzt erst auf, wie blaß und mitgenommen er aussah? Sie fragte sich, weshalb er mit zwei Säuglingen im Haus überhaupt die Fahrt nach Webster auf sich genommen hatte. "Ich bin erst seit drei Wochen Vater", sagte er, "aber ungefähr zwanzig Minuten Ruhe sollten uns bleiben, ehe einer von beiden wieder aufwacht. Hast du Hunger?" Er öffnete die Kühlschranktür und nahm eine Flasche Orangensaft heraus. "Auch einen Schluck?" Als sie den Kopf schüttelte, setzte er die Flasche an den Mund und nahm einige kräftige Schlucke. Dann seufzte er und bewegte die verspannten Schultern. Dabei sah er sie an, als wartete er auf ein Kreuzverhör. "Hunger habe ich keinen, vielen Dank", antwortete Carrie. "Aber ich hätte einige Fragen. Zum Beispiel, woher kommen diese Babys?" Als er wie ein Schuljunge grinste, schüttelte sie den Kopf, "So habe ich das nicht gemeint. Ich bin mir sehr wohl bewußt, wo Kinder herkommen. Aber ich würde gern wissen, wo ..."
"Meine Frau ist?" beendete er den Satz für sie. "Du ... du bist auch verheiratet?" Erheiterung malte sich in seinem Gesicht ab. "Allerdings. Man könnte sagen, daß ich heute voller Überraschungen stecke." "Das ist noch eine Untertreibung." Will war ernst geworden. "Lani, meine Frau, ist bei der Geburt von Ariana und Jacob gestorben." "O Will!" rief Carrie bestürzt und sprang auf. Sie legte ihm die Hand auf den Arm. "Das tut mir sehr leid. Es muß ja entsetzlich für dich gewesen sein." "Das war es auch, aber anders, als du denkst." Will blickte auf die Stelle, wo ihre Finger immer noch auf seinem Arm ruhten - kurz unter der aufgerollten Manschette. Er nahm ihre Hand und hielt sie fest. Warum war ihr bisher nie aufgefallen, was für schöne Hände er hatte? Dabei war es heute keineswegs das erstemal, daß er ihre Hand hielt. In der Vergangenheit war diese Geste allerdings meistens der Auftakt zu einer in der Regel heftigen Auseinandersetzung gewesen. Als Carrie ihm in die Augen blickte, verspürte sie ein eigenartiges Ziehen tief in ihrem Inneren. Sie hatten beide einen Menschen verloren - er durch Tod, sie durch Trennung -, und beide litten sie unter diesem Verlust. "Ich bin zu müde, um dir heute Abend noch alles zu erklären", sagte er. "Solange die beiden kleinen Ungeheuer schlafen, muß ich die günstige Gelegenheit nutzen und mich auch hinlegen." Er gähnte und rieb sich den Nacken. "Als Sam und Bret erzählten, sie hätten manchmal die ganze Nacht kein Auge zugetan, als ihre Kinder klein waren, hielt ich das für einen Scherz. Es war aber keiner. Komm, ich zeige dir dein Zimmer." Im Gang, der zu den Schlafräumen führte, öffnete er eine Tür zu einem Ra um, der mit einem Doppelbett, einer Kommode und
sonst nichts möbliert war. "Vielleicht wärst du so nett und lauschst hin und wieder einmal nach dem Hund", bat er. "Selbstverständlich", versicherte sie. "Du siehst aus, als würdest du gleich im Stehen einschlafen." "So fühle ich mich auch. Ich hatte mir den heutigen Tag etwas anders vorgestellt." Er zog eine Grimasse und lächelte entschuldigend. "Du wahrscheinlich auch - den Tag und die Nacht." "Wie bitte?" "Deine Hochzeitsnacht." "Ach du lieber Himmel!" Will trat einen Schritt zurück und betrachtete sie prüfend. "Sag bloß nicht, du hast es vergessen." Carrie atmete tief durch. "Es ist nicht zu fassen, aber für einen Moment hatte ich es tatsächlich vergessen." Doch nun spürte sie den Schmerz und die Demütigung von neuem. Sie hob den Kopf. "Ich werde unseren vierbeinigen Hausgenossen mit seinem Korb hierher holen. Hoffentlich winselt er nicht die ganze Nacht." "Falls doch, wird seine nur eine weitere Stimme im Chor sein", meinte Will müde und wandte sich zum Gehen. An der Tür drehte er sich jedoch noch einmal um und deutete auf die Kommode. "Dort drin sind einige Sachen, die ich für Lani gekauft habe, die sie jedoch niemals benutzt hat. Sie hat sie nicht einmal gesehen. Vielleicht findest du etwas, was dir paßt." Und dann war er fort. Carrie ging durch die Küche nach draußen und holte den Hund. Sein pummeliger kleiner Körper drehte sich im Kreis, während er versuchte, einen bequemen Schlafplatz in seinem Korb zu finden. Während er diesen bisher unbekannten Raum erkundete und herumschnüffelte, betrachtete sie ihn skeptisch. Ein Gefühl sagte ihr, daß er wahrscheinlich über kurz oder lang bei ihr im Bett landen würde. Schließlich streckte er sich lang aus, legte den Kopf auf die Pfoten und sah sie traurig an.
Carrie antwortete mit einem mitfühlenden Lächeln und wandte sich zur Kommode. Der Gedanke, die Sachen von Wills verstorbener Frau durchzusehen, gefiel ihr gar nicht, aber wenn sie die Nacht nicht nackt oder in Lauras abgelegten Sachen verbringen wollte, blieb ihr nichts anderes übrig. Die oberste Schublade war voll mit Bäumwollunterwäsche, an der noch die Preisschilder hingen. Daneben lagen mehrere Paar Socken in ihrer Verpackung. Behutsam schloß sie das Fach und zog das nächste auf. Hier fand sie mehrere farbige und weiße T-Shirts und einige weite Baumwollhosen. Ganz unten entdeckte sie Nachthemden nichts Extravagantes, aber alles von guter Qualität - und einen leichten Morgenmantel. Carrie betrachtete die Sachen nachdenklich. Es waren keinerlei persönliche Dinge darunter, nichts, was schon einmal getragen worden war oder nach einem bestimmten Parfüm duftete. Selbst Kamm und Bürste auf dem Frisiertisch sahen nagelneu aus. Eigenartigerweise beunruhigten sie diese unbenutzten Toilettenartikel am meisten. Nach Wills Worten hatte Lani die Dinge nicht einmal gesehen. Hieß das, er hatte sie gekauft und für eine Frau in die Kommode eingeräumt, die niemals aus dem Krankenhaus zurückgekehrt war? Der Gedanke stimmte Carrie traurig, doch das Spekulieren über das Schicksal einer anderen Frau lenkte sie wenigstens von ihrem eigenen ab. Im Einbauschrank standen drei große Kartons. Keiner davon trug ein Etikett, aber sie nahm an, daß die Sachen Wills Frau gehört hatten. Sie legte die Hand auf den obersten und dachte an die unbekannte Frau. Will hatte gesagt, ihr Tod sei schrecklich für ihn gewesen, aber auf andere Weise, als sie annahm. Sie fragte sich, was er damit gemeint hatte. Ohne einen Karton zu öffnen, machte sie die Schranktür wieder zu und nahm sich ein frisches Nachthemd aus der Kommode.
Als sie nach einer erfrischenden Dusche wieder in ihr Schlafzimmer zurückkam, stellte sie fest, daß der Hund eingeschlafen war. Erleichtert legte sie sich hin. Hoffentlich würde ihr das auch bald gelingen. Doch obwohl sie todmüde war, lag sie eine Stunde später immer noch wach und starrte an die Decke. Wie ein Film spulten sich die Ereignisse des Tages noch einmal vor ihr ab, angefangen vom Aufwachen in ihrem Zimmer über Roberts Brief bis zu Wills Überraschungen. Carrie drehte sich zur Seite und zog sich das Kissen über den Kopf. Kein Zweifel - diese Hochzeitsnacht würde sie ihr Leben lang nicht vergessen. Zuerst dachte Carrie, das leise Wimmern käme von dem Welpen. Schlaftrunken rappelte sie sich hoch, um ihn zu trösten, aber er lag friedlich in seinem Korb und schlief. Immer noch nicht ganz wach, richtete sie sich auf und lauschte. Das Geräusch wurde lauter. Natürlich, eines der Babys! Wenig später korrigierte sie sich selbst. Nicht eines, sondern alle beide. Sie schaltete die Nachttischlampe ein und schaute auf die Uhr. Kurz nach eins. Offenbar war es Zeit zum Füttern. Will würde ihre Hilfe brauchen. Sie zog ein T-Shirt und eine der Hosen an, die sie in der Kommode gesehen hatte, strich sich das Haar aus dem Gesicht und ging barfuß in Wills Zimmer. Diesmal war der Raum hell erleuchtet, so daß sie Will deutlich sehen konnte. Er stand über eines der Babys gebeugt und legte ihm eine frische Windel an. Beide Kinder schrien aus vollem Hals. Will schien Carries Anwesenheit gespürt zu haben, denn er richtete sich plötzlich auf und drehte sich zu ihr um. Sein Haar war zerzaust, und er bekam die Augen nicht richtig auf. Trotzdem lächelte er. "Sie haben drei Stunden geschlafen. Das ist ein neuer Rekord."
Er sah so hoffnungsvoll aus, daß Carrie es nicht über sich brachte, ihm die Freude zu verderben. Insgeheim dachte sie jedoch, daß die Kinder - ausgeruht wie sie waren - ihren Vater vielleicht den Rest der Nacht auf Trab halten würden. Will trug eine Trainingshose und ein knappes T-Shirt, unter dem sich seine Muskeln deutlich abzeichneten. Carrie fand es eigenartig, einen so männlichen Mann in dieser häuslichen Umgebung zu sehen. Wieder mußte sie daran denken, wie attraktiv er war. Gleichzeitig war sie über sich selbst bestürzt. Wie konnte sie sich zu einem anderen Mann hingezogen fühlen, wenn sie immer noch in Robert verliebt war? Rasch verdrängte sie den Gedanken und ging auf Will zu. "Warte, ich helfe dir." Er sah sie so skeptisch an, daß sie lachen mußte. "Du scheinst nicht zu wissen, wie oft ich deine Nichten und Neffen schon gewickelt habe. Dann wird mir das bei deinen Kindern auch gelingen." "Ich vergesse immer wieder, wie oft du auf Travis aufgepaßt hast. Hast du nicht sogar eine Weile bei Bret und Ginny gewohnt, als ihre Kinder ganz klein waren?" "Sagen wir, ich habe mit Babys vermutlich mehr Erfahrung als du." Zum erstenmal konnte sie die Kinder deutlich sehen, aber da beide die Augen zugekniffen hatten und vor Wut rot angelaufen waren, war nicht zu erkennen, ob sie Ähnlichkeit mit ihrem Vater hatten. Eins war jedoch sicher: Sie hatten Hunger. Carrie nahm Will die Windel aus der Hand. "Wie wäre es, wenn ich dich hier ablöse und du inzwischen die Flaschen warm .machst?" "Da wäre ich dir dankbar. Jacob ist bereits fertig" Geschickt wickelte sie Ariana. Dann nahm sie beide Babys auf den Arm und achtete darauf, daß die winzigen Köpfchen und die Rücken richtig gestützt waren. An Ginnys relativ große Kinder gewöhnt, staunte sie, wie klein Jacob und Ariana waren. Zusammen wogen sie bestimmt nicht viel mehr als zehn Pfund.
Als Carrie sie hochgenommen hatte, waren beide einen Moment verstummt, doch als die Flaschen auf sich warten ließen, hob das Geschrei von neuem an. Carrie trug sie durchs Zimmer und wiegte sie dabei sanft hin und her. "Hunger zu haben tut richtig weh, stimmt's? Vor allem kommt es so oft vor, weil in eure winzigen Bäuche noch nicht viel hineinpaßt. Einen kleinen Moment Geduld müßt ihr noch haben, dann kommt euer Daddy. Keine Angst, er wird euch nicht verhungern lassen, sondern immer gut für euch sorgen." Ohne sich dessen bewußt zu sein, was sie sagte, drehte sie ihre Runden durchs Zimmer. Als sie sich irgendwann einmal wieder in Richtung Tür wandte, sah sie Will dort stehen, in jeder Hand eine Flasche. Seine Miene war seltsam angespannt, als er sie beobachtete. Die grauen Augen waren zusammengekniffen. Es schien, als wäre ihm plötzlich ein Gedanke gekommen. Wenn Carrie nicht beide Hände voll gehabt hätte, hätte sie sich verlegen das Haar aus dem Gesicht gestrichen. Warum hatte sie sich nicht wenigstens die Zeit genommen, ihre zerzausten Locken mit der Bürste zu zähmen, ehe sie losgerannt war? Doch nach Wills Gesichtsausdruck zu schließen, schien er sie gar nicht richtig zu sehen. Was hatte dieser nach innen gerichtete Blick wohl zu bedeuten? "Will, stimmt etwas nicht?" Ihre Frage schien ihn wachzurütteln. Er trat auf sie zu, nahm ihr eines der Kinder ab und reichte ihr eine Flasche. "Hier. Wenn du Ariana übernimmst, füttere ich Jacob." "Natürlich." Sie sah ihm forschend ins Gesicht. Was ging nur in ihm vor? "Du kannst den Schaukelstuhl haben", bot er an. Er setzte sich mit Jacob auf die Bettkante. "Normalerweise habe ich bei der nächtlichen Fütterung keine Unterstützung." "Wie bist du denn zurechtgekommen? Hast du einen weinen lassen, während der andere dran war?"
"So ungefähr", sagte er müde. Er schob Jacob den Sauger in den Mund, und sofort begann der Kleine gierig zu trinken. "Eigentlich hatte ich eine Kinderfrau eingestellt, aber die hat im letzten Moment abgesagt, weil ihre Mutter schwer krank wurde und sie zu Hause gebraucht wurde. Bisher habe ich noch keinen Ersatz gefunden." Ariana drehte den Kopf so heftig hin und her, daß es eine Weile dauerte, bis sie den Sauger gefunden hatte. Dann herrschte plötzlich eine wunderbare Ruhe. Carrie begann, sanft hin und her zu schaukeln. Als sie aufschaute, sah sie, daß Will sich gegen die Kopfstütze gelehnt und die Augen geschlossen hatte. Bewundernd betrachtete sie den kräftigen Hals, die breiten Schultern und die muskulöse Brust. Der Anblick dieses Mannes mit einem winzigen Baby im Arm hätte ihr, eigenartig vorkommen müssen. Statt dessen wirkte es ganz natürlich. Insgeheim verglich sie ihn mit Robert, der schmal gebaut und stets zurückhaltend war. Seltsam, bis jetzt war sie überzeugt gewesen, daß ihr der zweite Typ Mann mehr zusagte. Sie hatte geglaubt, Robert würde einen guten Vater abgeben. Jetzt fragte sie sich, ob er Will in dieser Hinsicht das Wasser reichen konnte ... Lieber Himmel, jetzt fing sie schon wieder damit an! Warum kamen ihr nur im ungeeignetsten Moment solche Gedanken? Sie wußte selbst nicht, warum sie die beiden Männer ständig miteinander verglich. Bisher hatte sie kaum einen Gedanken an Will Calhoun verschwendet, wenn man einmal davon absah, daß sie sich jedes Mal geärgert hatte, wenn er ihr unaufgefordert Ratschläge gegeben hatte. Vielleicht lag es daran, daß Will sie aus einer peinlichen Situation gerettet und in sein Heim gebracht hatte, wo sie ihn zum erstenmal von einer ganz anderen Seite sah. Carrie schüttelte den Kopf und setzte sich gerade hin. Dabei verlor Ariana einen Moment den Sauger und begann sofort
wütend zu protestieren. "Ist ja schon gut, du kleiner Gierschlund", sagte Carrie und schob ihn ihr wieder rein. Als sie aufschaute, merkte sie, daß Will sie beobachtete. "Will, warum hast du deine Familie nicht um Hilfe gebeten?" fragte sie ohne Einleitung. "Laura oder Ginny wären bestimmt gekommen und hätten dir beigestanden." Er zog die Augenbrauen hoch. "Wenn du dich erinnerst, hatten beide mit Hochzeitsvorbereitungen alle Hände voll zutun." "Ach so, ja", sagte sie verlegen. Ariana hatte ihre Flasche geleert. Carrie hob sie hoch und drückte sie an ihre Schulter, damit sie auf stoßen konnte: "Trotzdem hättest du ihnen zumindest Bescheid geben können, was bei dir los ist." "Dann hätten sie darauf bestanden herzukommen, das weißt du so gut wie ich. Ich hatte vor, Sam und Bret gleich nach der Hochzeit reinen Wein einzuschenken. Deswegen war ich gestern auch nach Webster unterwegs. Ich wollte es ihnen sagen, sobald du und dein Bräutigam in einen romantischen Sonnenuntergang gefahren wäret. So etwas kann man nicht am Telefon besprechen, und da Mrs. Wiggins bereit war, den ganzen Tag auf die Kinder aufzupassen, wollte ich die Gelegenheit ergreifen." Carrie verzog den Mund ein wenig. "Dann bist du eigentlich gar nicht zu meiner Hochzeit gekommen?" "Ich wäre natürlich dabeigewesen", sagte er rauh. "Aber ich bin froh, daß es mir erspart geblieben ist."
III "Was meinst du ..." "Carrie, leg dir lieber eine Windel über die Schulter. Ariana neigt dazu, einen Teil ihrer Milch wieder von sich zu geben, wenn sie aufstößt." Will blickte auf Jacob hinunter. "Dieser kleine Bursche dagegen gibt nie etwas wieder her, was er einmal hat." Carrie befolgte Wills Rat gerade noch rechtzeitig. Als Ariana in ihrem Arm eingeschlafen warm, legte sie sie ins Bett, drehte sie auf die Seite und stützte sie von vorn und hinten mit zusammengerollten Decken. Dann strich sie ihr sanft übers Köpfchen. "So macht man das also", murmelte Will. "Der Kinderarzt im Fernsehen hat gesagt, man soll die Kinder zum Schlafen auf den Rücken oder auf die Seite legen, aber ich wußte nicht, wie ich sie in der Seitlage halten sollte." "Ich habe das von Ginny gelernt." Carrie nahm ihm Jacob ab und legte ihn genauso hin. Im Gegensatz zu seiner Schwester war er jedoch nicht damit einverstanden, sondern protestierte lautstark. Carrie strich ihm so lange mit der Fingerspitze über die Stirn, bis ihm schließlich die Augen zufielen. Als die Zwillinge beide eingeschlafen waren, seufzte Will vernehmlich. "Du weißt wirklich, wie man mit Kindern umgehen muß. Ich trage sie nach jedem Füttern meistens eine
Stunde hin und her, bis sie endlich zur Ruhe kommen. Frauen haben für so etwas einfach mehr Gespür", fügte er leise hinzu. Carrie lächelte, als sie ins Bettchen langte und die Babys sorgfältig zudeckte. "Nein, Will. Ich habe lediglich ein bißchen mehr Erfahrung als du, das ist alles." "Eigentlich müßte ich mich noch an die Zeit erinnern, als meine Schwestern klein waren, aber ich tue es nicht." Will unterdrückte ein Gähnen. "Hoffentlich kehrt die Erinnerung irgendwann zurück. Wieviel von ihrer Flasche hat Ariana denn ausgetrunken?" fragte er und rieb sich die Augen. Carrie versuchte, den Eichstrich zu erkennen. "Höchstens die Hälfte." . "Dann wird sie bald wieder wach sein." Will nahm beide Flaschen und trug sie in die Küche zurück. "Du brauchst unbedingt Schlaf", sagte Carrie stirnrunzelnd. "Ich könnte mich hier in den Schaukelstuhl setzen und mich um Ariana kümmern, wenn sie wieder Hunger hat. Oder wir tauschen einfach die Zimmer." "Es gibt noch eine Möglichkeit." Will machte eine Pause. "Wir könnten beide hier schlafen." "Wie bitte?" fragte sie verblüfft. "Mach nicht so ein schockiertes Gesicht." Er betrachtete sie mit sanftem Spott. "Wir werden ohnehin beide bald wieder auf sein. Es wäre wirklich am sinnvollsten, wenn wir sozusagen nahe am Geschehen bleiben." Etwas an der Art, wie er es sagte, beunruhigte Carrie. Ihr Mund wurde ganz trocken. "Ich kann die Kinder auch von meinem Zimmer aus hören." "Von hier aus hörst du sie aber noch besser." Sein Blick war gelassen, und obwohl er keinen Muskel rührte, hatte sie das Gefühl, daß er die Hand nach ihr ausstreckte. Carrie rieb nervös die Hände an ihrer Hose. "Schon, aber was ist, wenn der Hund ..."
"Der wird uns schon finden, wenn ihm nach Gesellschaft zumute ist." "Wahrscheinlich ..." Sehnsüchtig betrachtete sie die Tür. "Heißt das, ich kann für den Rest der Nacht nicht mehr mit deiner Hilfe rechnen?" fragte er mit Märtyrermiene. Sofort packte sie das schlechte Gewissen. "Nein, natürlich nicht: Es ist ganz offensichtlich, daß du Unterstützung brauchst, und ..." "Dann leg dich zu mir, Carrie." Er deutete auf das zwei mal zwei Meter große Bett. Die Art, wie er es sagte, ließ ihr einen Schauer über den Rücken laufen, aber im Grunde war sein Vorschlag wirklich vernünftig. Außerdem sah er so erschöpft aus, daß er das wildeste Liebesabenteuer sicher gern gegen ein paar Stunden ungestörten Schlaf eingetauscht hätte. Oder etwa doch nicht? Seine Mundwinkel zuckten so komisch ... Ohne ihn aus den Augen zu lassen, ging Carrie um das Bett herum, schlüpfte unter die Decke und drückte sich eng an den Rand. Will schaltete das Licht aus. Im nächsten Moment senkte sich die Matratze auf der anderen Seite. Carrie hielt den Atem an. Sie verspürte zugleich Nervosität und Erregung, wobei sie sich gerade für letzteres keinen Grund vorstellen konnte. Resolut verdrängte sie den Gedanken. Sie war körperlich und seelisch erschöpft. Nun war nicht der richtige Zeitpunkt, um ihre widersprüchlichen Gefühle zu erkunden. Was sie jetzt vor allem brauchte, war Schlaf, und wenn sie den in Will Calhouns Bett bekam, sollte es ihr auch recht sein. "Nochmals gute Nacht, Carrie", hörte sie Wills tiefe Stimme. "Gute Nacht, Will." Es überraschte sie, wie geborgen sie sich in seiner Nähe fühlte. Allmählich fiel die Anspannung von ihr ab, und sie ließ ihre Gedanken schweifen. Tatsächlich fragte sie sich, ob sie noch wachte oder bereits träumte, als sie Will leise
lachen hörte. "Wer hätte gedacht, daß es mir gelingt, Carrie McCoy in ihrer Hochzeitsnacht in mein Bett zu locken?" Carrie wachte auf, weil ihr der Duft von frischem Kaffee in die Nase stieg. Sie war noch so benommen, daß sie sich gar keine Gedanken machte, wo sie sich eigentlich befand. Sie fühlte sich warm und behaglich, obwohl ihr Kopf auf einem Stein zu ruhen schien. Um diesen angenehmen Zustand möglichst lange zu erhalten, blieb sie ganz still liegen. Ariana war im Laufe der Nacht noch zweimal aufgewacht und Jacob einmal. Carrie und Will hatten sich die Fütterungen und die daran anschließenden Phasen, in denen die Kinder herumgetragen werden wollten, kameradschaftlich geteilt. Mehr als einmal hatte Will gesagt, wie dankbar er für ihre Hilfe war. Da er jedes Mal mit aufstand, wenn sie sich um eines der Kinder kümmerte, verstand sie es nicht, aber sie widersprach nicht. Während sie ein Kind im Schaukelstuhl fütterte, saß er im Bett und betrachtete sie dabei. Wie er sagte, studierte er ihre Technik, um sie sich über kurz oder lang selbst zu eigen zu machen. Allerdings merkte sie nicht, daß er die gelernten Kniffe auch anwendete. Wenn er mit Füttern dran war, schien seine Aufmerksamkeit zwischen ihr und dem jeweiligen Baby geteilt zu sein. Er beobachtete ihr Gesicht, als versuchte er, ihre Gedanken zu erraten. Vielleicht befürchtete er, sie denke an Robert und die Demütigung der geplatzten Hochzeit. Im Grunde wäre es ganz natürlich gewesen, wenn ihr dieses Ereignis noch nachgegangen wäre, aber im Laufe der langen Nachtstunden hatte ihre Aufmerksamkeit nicht Robert, sondern Will und seinen Kindern gegolten. Sie mußte an seine Worte denken, daß er Carrie McCoy in ihrer Hochzeitsnacht in sein Bett gelockt hatte, und wurde rot. Darüber, was er damit gemeint hatte, wollte sie lieber nicht spekulieren. Allerdings mußte sie zugeben, daß es eine gute Idee
gewesen war, im gleichen Bett zu schlafen, und das nicht nur wegen der Kinder. Seine Nähe hatte ihr Trost gespendet, den sie dringend brauchte. Plötzlich fiel ihr Robert wieder ein, und sie unterdrückte ein Stöhnen. Wie ein Chirurg, der eine Wunde begutachtete, untersuchte sie ihre Gefühle und stellte fest, daß es am zweiten Tag genauso weh tat wie am ersten. Die Tränen, die sie hätte vergießen sollen, waren tief in ihrem Inneren verschlossen. Sie war noch nicht soweit, sich ihrem Schmerz zu stellen. Der harte Gegenstand unter ihrem Kopf bewegte sich, und erschrocken merkte Carrie, daß sie auf Wills Schulter lag. Sie lag eng an ihn gekuschelt, und er hatte den Arm um sie gelegt. Carrie öffnete die Augen und sah ihn erschrocken an. Sie mußte wirklich völlig benommen sein, um erst jetzt wahrzunehmen, daß er sie in den Armen hielt. Niemals hätte sie sich eine so intime Situation mit Will Calhoun vorstellen können, aber sie nahm es als weiteren Beweis dafür, daß sich ihr Leben von oben nach unten gekehrt hatte. Wenn man es genau nahm, hatten sie lediglich im gleichen Bett geschlafen, aber es schien ihr, als hätte Will im Laufe der Nacht die Hand nach ihr ausgestreckt und sie wäre bereitwillig zu ihm gekommen. Eigentlich hätte jetzt Robert an ihrer Seite liegen müssen. Sie hätte neben ihrem frischgebackenen Ehemann in der Suite für Flitterwöchner in einem Hotel auf der Insel Hilton Head aufwachen sollen. Normalerweise hätte jetzt ein Tag mit Robert am Strand vor ihr gelegen, lange Spaziergänge im Mondschein, Tennis, Golf und was auch immer verliebte Paare sonst taten, wenn sie sich nicht den Freuden der Liebe hingaben. Statt dessen lag sie mit Will Calhoun im Bett. Und um die Verwirrung noch größer zu machen - Carrie hatte das Gefühl, daß sie hier hergehörte.
Ich sollte ein Stück zur Seite rücken, dachte sie. Sie hatte es ganz fest vor, doch sie tat es nicht. Statt dessen drehte sie den Kopf so, daß sie Wills Gesicht betrachten konnte. Er schlief tief und fest. Sein Atem ging ganz gleichmäßig. Im Morgenlicht sah sie seine dunklen Wimpern, die einen Schatten auf seine Wangen warfen, und die Bartstoppeln auf seinem Kinn. Die unruhige Nacht hatte noch tiefere Furchen in sein Gesicht gegraben. Am liebsten hätte sie sie glattgestrichen, als könnte sie ihm so einen Teil der Last abnehmen, aber sie wagte nicht, ihn zu berühren. Seine Hand lag besitzergreifend um ihre Taille. Wenn sie ihn jetzt anfaßte, ihm durch eine liebevolle Geste zeigte, daß er ihr nicht gleichgültig war, würde sie damit eingestehen, daß sie zusammengehörten. Dazu war sie noch nicht bereit. Hatte sie sich im Laufe der Nacht an ihn gekuschelt, ja, schlimmer noch, so getan, als wäre er Robert? Carrie verdrängte den Gedanken, noch ehe er Gestalt angenommen hatte. Nein. Es war völlig unmöglich, die beiden Männer zu verwechseln. Obwohl Robert sie auf schmähliche Weise sitzengelassen hatte, glaubte sie ihn immer noch zu lieben. Will liebte sie nicht. Daß sie ihn attraktiv, sehr männlich und sexy fand, bedeutete gar nichts. Schließlich wußte sie schon lange, daß Will sehr anziehend war. Bisher war sie nur dagegen immun gewesen. Carrie löste sich vorsichtig aus seiner Umarmung und glitt aus dem Bett. Auf Zehenspitzen ging sie zum Bettchen der Zwillinge, die fest schliefen. Lächelnd betrachtete sie die beiden friedlichen Gesichter. Es waren wirklich hübsche Kinder. Nicht zum erstenmal fragte sich Carrie, wie ihre Mutter wohl ausgesehen hatte. Sie mußte dunkles Haar und dunkle Augen gehabt haben, denn in dieser Hinsicht ähnelten Jacob und Ariana ihr. Beim nächsten Familientreffen der Calhouns würden sie die Sensation sein. Diese beiden würden einen Kontrast zu den
anderen Calhoun-Kindern bilden, die alle blond waren. Brians Haar war sogar so hell, daß es wie Platin schimmerte. Während Carrie die Zwillinge betrachtete, wurde sie von einem eigenartigen Gefühl erfaßt. Wenn sie es nicht besser gewußt hätte, hätte sie es als besitzergreifende Liebe bezeichnet. Unter Wills Fürsorge würden sie zu gesunden, selbstbewußten Menschen heranwachsen. Ihre verstorbene Mutter wäre stolz auf sie gewesen. Carrie unterdrückte ein Lächeln. Früher oder später würden die beiden allerdings lernen müssen, nachts zu schlafen, damit ihr Vater auch die Energie hatte, für sie zu sorgen. Einzeln oder auch gemeinsam hatten sie die Erwachsenen stundenlang auf Trab gehalten. Nur jetzt, da es Zeit zum Aufstehen war, schliefen sie den Schlaf der Erschöpfung. Es würde wohl noch eine Weile dauern, bis die Kinder sich einem normalen Rhythmus anpaßten. Leise ging sie hinaus. Als Carrie in ihr Zimmer kam, sah sie, daß der Hund verschwunden war. Sie hoffte nur, daß er den Weg nach draußen gefunden und keine unangenehmen Überraschungen im Haus hinterlassen hatte. Nach einer erfrischenden Dusche zog sie eine gelbe Hose und ein passendes T-Shirt aus dem Vorrat an, den Will für seine Frau gekauft hatte. Dann folgte sie dem köstlichen Kaffeeduft in die Küche. Sie schenkte sich eine Tasse des schwärzen Gebräus ein, kostete einen Schluck und holte sich dann sofort Milch aus dem Kühlschrank. Mrs. Wiggins wußte ganz offensichtlich, daß Will starken Kaffee bevorzugte. Mit der Tasse in der Hand stand Carrie eine Weile am Fenster und blickte hinaus in den Garten, wo der kleine Hund sein neues Reich erkundete. Er war wirklich süß. Trotzdem konnte sie sich nicht erklären, weshalb Will, der mit den Kindern mehr als ausgelastet war, ausgerechnet jetzt einen Hund angeschafft hatte. Das Haus der Überraschungen, hatte Mrs. Wiggins das Heim von Will Calhoun genannt. Bisher war es seinem Ruf voll
und ganz gerecht geworden. Carrie hoffte nur, daß sie im Laufe des Tages eine Erklärung für diese Überraschungen bekommen würde. Mrs. Wiggins kam mit einem Korb voll frischer Babywäsche aus dem neben der Küche liegenden Wirtschaftsraum. Sie streifte Carries schläfriges Gesicht mit einem aufmerksamen Blick und lächelte. "Aha, eine Überlebende der Nacht. Guten Morgen. " "Guten Morgen", erwiderte Carrie. "Sehe ich wirklich so schlimm aus?" "Ganz und gar nicht. Vor allem wenn man bedenkt, daß Sie wahrscheinlich stundenlang mit mindestens einem Kind auf dem Arm herumgelaufen sind, wirken Sie sogar erstaunlich frisch." "Ich war unvorsichtig genug, mich freiwillig zu melden", antwortete Carrie und trank noch einen Schluck Kaffee. "So schlimm war es gar nicht", hörte sie Wills Stimme hinter sich. "Nach normalen Maßstäben war es sogar eine ruhige Nacht." Carrie drehte sich um. Er hatte sich geduscht und rasiert und trug ein frisches Hemd und ausgebleichte Jeans. Unwillkürlich sah sie ihn vor sich, wie er stoppelbärtig und in tiefem Schlaf neben ihr gelegen hatte. Bei der Vorstellung verspürte sie ein Prickeln. Stirnrunzelnd blickte sie auf ihre Tasse. Offenbar hatte sie den Kaffee zu schnell getrunken. "Ich hatte gehofft, du würdest noch etwas länger schlafen", sagte sie. "Das hätte ich gern, aber ich muß nachher in die Galerie. Vorher möchte ich mit dir reden." Carrie nickte. Vielleicht würde sie jetzt endlich eine Antwort auf ihre Fragen bekommen. Ebenso wichtig war es für sie, endlich mehr über den Job zu erfahren, von dem er gestern gesprochen hatte. Es würde ihr gut tun, sich auf etwas Konstruktives zu konzentrieren anstatt auf das Fiasko des vorigen Tages.
"Eine gute Idee", meinte sie. "Aber zuerst sollte ich nach Jacob und Ariana sehen. Vielleicht brauc hen sie uns." "Das übernehme ich", sagte Mrs. Wiggins und griff nach dem Korb mit der Wäsche. "Ich muß die Sachen sowieso einsortieren. Sie beide können in Ruhe frühstücken. Falls die Kinder aufwachen, werde ich sie schon beschäftigen." Auf der Schwelle blieb sie noch einmal stehen. "Übrigens, eine, Ginny Calhoun hat zweimal angerufen. Sie wollte aber auf keinen Fall, daß ich Sie wecke. Ich nehme an, die Dame ist eine Verwandte von Ihnen." Carrie schmunzelte. Sie konnte sich vorstellen, daß Ginny viele Fragen an sie hatte. "Sie ist meine Schwester und Wills Schwägerin." "Ich verstehe. Mrs. Calhoun hat gesagt, daß sie jetzt aus dem Haus geht und sich später noch einmal melden wird." "Daran zweifle ich nicht", murmelte Will und bedeutete Carrie vorauszugehen. "Jetzt werden wir erst einmal frühstücken, und anschließend werde ich dir alles sagen, was du wissen mußt, ehe du mit Ginny redest. Dann kann sie die Neuigkeit verbreiten, und wir können uns auf den Ansturm der gesamten Familie am Wochenende gefaßt machen", sagte er ergeben. Während Carrie Toast machte, mischte Will zwei Schalen Müsli mit Milch. Da er sehr schnell aß, war er vor ihr fertig. Er schenkte sich noch einen Kaffee ein und begann, die Fragen zu beantworten, die sie noch gar nicht gestellt hatte. "Ariana und Jacob sind vor dem Gesetz meine Kinder, aber ich bin nicht ihr leiblicher Vater." Carrie ließ das Stück Toast sinken, das sie gerade mit Erdbeerkonfitüre bestrich. "Kannst du mir das vielleicht etwas näher erklären?" "Ihre Mutter ... Meine Frau ..." Er zögerte, als wäre das Wort nicht ganz zutreffend. "Lani Gray war eine Künstlerin, deren Arbeiten ich in meiner Galerie ausstellte. Sie war zwanzig Jahre
alt und unglaublich kreativ. Ihre Bilder - Ölgemälde in kräftigen Farben, aber mit. überwiegend düsteren Motiven - fanden stets rasch einen Käufer, doch da sie immer wieder längere Schaffenspausen einlegte, war ihr Einkommen ziemlich unregelmäßig." "War sie ... labil?" fragte Carrie behutsam, obwohl sie ihm solche Fragen über seine Frau eigentlich gar nicht hätte stellen dürfen. Will schien es ihr nicht übelzunehmen. Er dachte einen Moment nach. "Nicht nur labil, sondern auch krank. Sie war Diabetikerin und hätte ihren Blutzucker normalerweise ständig beobachten sollen. Mehr als einmal war sie deswegen im Krankenhaus. Als sie schwanger wurde, ging sie monatelang nicht zum Arzt, weil sie befürchtete, man würde sie zu einer Abtreibung drängen. Sie war jung und in Panik. Als ihr Zustand schließlich offenkundig wurde, war sie bereits im sechsten Monat." Carrie schüttelte den Kopf. "Da hat sie aber viel riskiert." "Lani lebte immer mit vollem Risiko. Sie hoffte, durch ein Baby ihren Freund halten zu können - einen ausgeflippten Motorradfahrer, den jeder nur unter seinem Spitznamen Sledge kannte. Sobald er von ihrer Schwangerschaft erfuhr, machte er sich davon. Der Feigling stieg auf seine Harley und wurde nie wieder gesehen. Wahrscheinlich ist er jetzt in Kalifornien und betört ein anderes naives junges Mädchen." Carries Herz zog sich schmerzhaft zusammen. Auch sie war eine naive junge Frau gewesen, die die Quittung für ihre Vertrauensseligkeit bekommen hatte. "Der Kerl hat sich einfach vor der Verantwortung gedrückt", fuhr Will aufgebracht fort. "Er hat ihr nicht einmal eine Nachricht hinterlassen." Er schna ubte verächtlich. "Bei ihm würde es mich allerdings nicht wundern, wenn er gar nicht schreiben kann. Feigling!"
Carrie hörte das Echo seiner Bemerkung über Robert vom Tag zuvor und wurde blaß. Klirrend stellte sie die Kaffeetasse ab. Will blickte erschrocken auf. Als er ihr Gesicht sah, lehnte er sich vor und ergriff ihre Hand. "Verflixt, Carrie, das tut mir leid! Ich benehme mich wirklich wie ein Elefant im Porzellanladen." Sie versuchte durchzuatmen, aber ihre Kehle war wie zugeschnürt. Es schien, als hätte ihr Körper dort einen Damm gegen die Tränenflut aufgebaut, die sich irgendwann ihren Weg bahnen mußte. "Schon gut", sagte sie gepreßt. "Sprich weiter, Will." "Wo war ich? Ach ja, dieser Sledge machte sich jedenfalls ohne Abschied davon." "Vielleicht hatte er einen Grund", wandte Carrie ein, doch als sie Wills Blick sah, verstummte sie. "Es gibt keine Entschuldigung dafür, eine kranke, schwangere Frau zu verlassen, die keine Angehörigen, keine Krankenversicherung und ein ziemlich unregelmäßiges Einkommen hat." "Nein." Carrie kippte ihre Tasse, bis der Inhalt beinahe über den Rand schwappte, und stellte sie hastig wieder gerade. "Natürlich nicht." Sie wußte, was er dachte. Genauso gut hätte er die Worte auch laut aussprechen können. Lanis Freund war aus dem gleichen Holz geschnitzt wie Robert. Sie hätte dem entgegensetzen können, daß zumindest die betroffenen Frauen wenig gemeinsam hatten. Im Gegensatz zu Lani war sie gesund, hatte eine liebevolle Familie und konnte für sich selbst sorgen. Carrie betrachtete Will. Er würde sich niemals vor der Verantwortung drücken. Im Gegenteil, er hatte bereitwillig die Bürde eines anderen Mannes auf sich genommen. Kein Wunder, daß er so hart über Robert urteilte und nicht verstehen konnte, warum sie bereit war, nach Gründen für dessen Entscheidung zu suchen.
"Du hast Lani also geheiratet, damit sie versorgt ist?" fragte sie, obwohl sie in Wirklichkeit wissen wollte, ob er das junge Mädchen geliebt hatte. Wenn er sie zur Frau genommen hatte, mußte er sie zumindest gern gehabt haben. "Ja. Sie brauchte dringend einen Menschen, und außer mir hatte sie keine Freunde. Nicht nur, daß sie krank und schwanger war, eines Tages brannte es auch noch in ihrer Wohnung. Zum Glück war sie nicht zu Hause, aber sie verlor alles, was sie besaß. Der Schreck setzte ihr so zu, daß sie ins Krankenhaus gebracht werden mußte. Während sie dort war, habe ich dieses Haus gekauft und notdürftig eingerichtet. Wenige Tage später wurden wir vom Krankenhauspfarrer getraut. Ariana und Jacob kamen einen Monat zu früh auf die Welt. Sie wogen beide nur knapp vier Pfund." Während er sprach, klang seine Stimme ruhig und gelassen. Er mußte eine schreckliche Zeit hinter sich haben. Trotzdem hatte er vermutlich niemals daran gezweifelt, daß er das Richtige tat. Das war typisch für die Männer der Familie Calhoun. Sie waren ihrer selbst unglaublich sicher und deshalb auch davon überzeugt, zu wissen, was für andere das Beste war. Bisher hatte sie diesen Charakterzug eher als belastend empfunden. Carrie wurde ganz still. Erst jetzt wurde ihr bewußt, daß sich ihre Einschätzung von Will Calhoun in den letzten vierundzwanzig Stunden gründlich geändert hatte. Jetzt waren ihre Gefühle für ihn hauptsächlich widersprüchlich. Sie kannte diesen Mann seit fast fünf Jahren, hätte von seinem wahren Wesen bisher aber so gut wie nichts gewußt. Neben widersprüchlichen Gefühlen, die sie nicht einordnen konnte, empfand sie vor allem Achtung vor ihm. "Dann ist Lani also an Diabetes gestorben?" fragte sie leise. "Kurz nach der Geburt der Kinder fiel sie ins Koma. Wir hofften, sie würde sich noch einmal erholen, aber sie hatte ihrem Körper einfach zuviel zugemutet."
Die Tränen, die seit dem vorigen Tag in Carries Augen brannten, begannen zu fließen. Sie ergriff Wills Hand. "O Will, das tut mir unendlich leid. Konnte ... Hat Lani ihre Kinder wenigstens sehen können, ehe ..." "Nein. Sie hat das Bewußtsein gar nicht wiedererlangt. Das war das Schlimmste." Seine Stimme war rauh. "Sie hatte so hart darum gekämpft, diese Kinder überhaupt bekommen zu dürfen. Dazu mußt du wissen, daß sie ihre Eltern bei einem Bootsunglück verlor, als sie zehn war, und in verschiedenen Pflegefamilien aufwuchs. Es gab niemanden, der sie liebte, niemanden, den sie lieben konnte. Deswegen wollte sie die Kinder unbedingt austragen." Seine Miene war versonnen. "Als sie erfuhr, daß sie Zwillinge erwartete, war sie vor Freude außer sich." Carrie zog eine Papierserviette aus dem dafür vorgesehenen Keramikhalter auf dem Tisch und schneuzte sich ungeniert. "Das arme Mädchen. Das arme, arme Mädchen!" rief sie mit tränenerstickter Stimme und wischte sich die Augen. "Das ist das Traurigste, was ich je gehört habe, und es liegt erst drei Wochen zurück." Sie blickte zu ihm auf. "Wie hast du das nur durchgestanden?" "Ariana und Jacob brauchten mich. Ich mußte mich voll und ganz auf sie konzentrieren." "Das verstehe ich." Will blickte in seine Tasse. Verstohlen studierte Carrie ihn. In seinen grauen Augen lag ein nachdenklicher Ausdruck. Es gab noch viele Fragen, die sie ihm gern gestellt hätte, aber sie zögerte. Weiteren Enthüllungen wäre sie vermutlich nicht gewachsen gewesen. Die Tatsache, daß er Kinder hatte, war überraschend genug gewesen. Wie eng seine Bindung an sie war, wurde ihr erst jetzt bewußt. Dabei hätte sie eigentlich damit rechnen müssen. Will stammte aus einer Familie, deren Männer noch nie vor der Verantwortung zurückgescheut waren. Ihr Vater war gestorben,
als Sam fünfzehn, Bret zehn und Will erst sechs gewesen war. Seit damals hatten sie unerschütterlich zusammengehalten und sich um ihre Mutter und die beiden jüngeren Schwestern Beth und Lisa gekümmert. Carrie fragte sich, weshalb ihr diese Charakterzüge an ihm bisher nicht aufgefallen waren. Im Laufe der Jahre hatten sie sehr viel Zeit miteinander verbracht. War sie mögliche rweise so mit sich selbst beschäftigt gewesen, daß sie sich gar nicht die Mühe gemacht hatte, ihn richtig kennen zulernen? "Als Lani nach dem Brand ins Krankenhaus gebracht wurde, haben mich die Ärzte darauf vorbereitet, daß sie die Geburt wahrscheinlich nicht überleben würde. Ein Sozialarbeiter wies mich darauf hin, daß die Kinder wahrscheinlich zu Pflegefamilien kommen würden, weil Lani keine Angehörigen hatte. Wie er sagte, gibt es zwar viele adoptionswillige Paare, aber vor Kindern, bei denen ein Elternteil schwer krank ist, würden die meisten Leute zurückscheuen." Carrie kämpfte schon wieder mit den Tränen. Verglichen mit der Situation, die Will ihr da beschrieb, waren ihre Erfahrungen mit Robert harmlos. "Hast du ... Ich meine, mußtest du Lani die Wahrheit sagen?" fragte sie, obwohl sie die Antwort eigentlich schon wußte. Natürlich hatte Will eine so persönliche Sache keinem Fremden überlassen. "Ja. Bei dieser Gelegenheit habe ich ihr auch vorgeschlagen zu heiraten, damit die Kinder Vater und Mutter haben." "Obwohl du damit rechnen mußtest, daß die Mutter nicht überleben würde." "Ja", sagte er einfach. "Ich hatte eigentlich gar keine Hoffnung für sie. Aber wir haben uns trauen lassen, und wenige Tage darauf war ich Vater." "Und gleichzeitig Witwer."
"Richtig. Daß ich auf diese Weise zu Nachwuchs kommen würde, hätte ich mir nie träumen lassen. Schon komisch, wie das Leben manchmal so spielt." "Wem erzählst du das?" seufzte Carrie. Will lächelte ironisch. "Ich würde sagen, nach deiner gestrigen Erfahrung kannst du dich als Expertin auf diesem Gebiet bezeichnen." Er stand plötzlich auf, trug seine Tasse zur Spüle und ließ Wasser darüber laufen. "Ich muß jetzt unbedingt ins Geschäft. Wie du dir vorstellen kannst, bin ich in den letzten Wochen kaum dort gewesen, und die Arbeit türmt sich. Könntest du Mrs. Wiggins heute zur Hand gehen? Ich werde am Abend so früh wie möglich nach Hause kommen." "Selbstverständlich springe ich gern ein." Als er sich zum Gehen wandte, lief sie ihm nach. "Will, du hast doch gesagt, du hättest eine Stelle für mich." "Darüber reden wir heute Abend. Nach allem, was du mitgemacht hast, mußt du erst einmal zur Ruhe kommen." Ärger flackerte in ihr auf. Schon wieder versuchte er, Entscheidungen für sie zu treffen. Dennoch versuchte sie, sachlich zu bleiben. "Ich brauche keine guten Ratschläge, sondern etwas zu tun." Er neigte den Kopf zur Seite und sah sie auf eine Weise an, die sie immer schon in Rage gebracht hatte. "Du hast mehr als genug damit zu tun, dich von dem emotionalen Schlag zu erholen, den dir dieser Feigling Robert versetzt hat, als er dich buchstäblich auf den Stufen des Altars stehenließ." Carrie stemmte die Hände in die Hüften. "Sehr charmant ausgedrückt." "Du weißt doch, daß ich die Dinge grundsätzlich beim Namen nenne." "O ja, das weiß ich", murmelte sie und sah ihn unmutig an. Wenn sie die Beherrschung verlor, würde ihr das gar nichts nützen. Will hatte wie immer recht.
Die Situation kam ihr sehr vertraut vor. Solche Diskussionen hatten sie häufig geführt, wenn er sie im College besucht hatte. Doch sie durfte ihn nicht in dem Glauben lassen, daß er über ihr Leben bestimmen konnte, auch wenn er sie gestern aus einer peinlichen Situation gerettet und sie seit ihrer Ankunft in Charleston ihre Meinung über ihn gründlich geändert hatte. Als er die Küche verließ, folgte sie ihm. "Will", beharrte sie. "Zumindest muß ich anfangen, Pläne zu machen. Ich bin nicht der Typ Frau, der den ganzen Tag herumsitzt und Däumchen dreht." Er wandte sich zu ihr um. Auf seinem Gesicht lag ein schiefe s Lächeln. "Du glaubt, du wirst Däumchen drehen? Mit neugeborenen Zwillingen im Haus? Ich wette zehn Dollar, daß du heute Abend erschöpfter sein wirst als ich nach einem anstrengenden Tag im Geschäft." Carrie vermutete, daß er recht hatte, und suchte nach neuen Argumenten, als aus dem Schlafzimmer ein durchdringender Schrei erklang. Sofort lief sie hin, um nachzusehen. Mrs. Wiggins war mit Ariana beschäftigt, und Jacob gefiel das gar nicht. Er brüllte aus vollem Hals und strampelte dabei heftig. Carrie hob ihn aus dem Bett und wiegte ihn beruhigend hin und her. Will hatte die Szene beobachtet. "Siehst du, was ich meine?" sagte er trocken. Carrie schnitt ihm ein Gesicht und drückte Jacob an ihre Schulter. Über den Kopf des Kleinen hinweg sah sie zu, wie Will eine Krawatte aus dem Schrank nahm und sie sorgfältig umband. Als sie sich im Zimmer umsah, merkte sie, daß Mrs. Wiggins das Bett gemacht und aufgeräumt hatte. Sie streifte die Haushälterin mit einem Blick. Ob Mrs. Wiggins aufgefallen war, daß letzte Nacht zwei Personen, in diesem Bett geschlafen hatten? Will zog ein Jackett über, öffnete die Kommode und nahm den blauen Ordner heraus, den er am Abend zuvor hineingelegt
hatte. Er verstaute ihn in seinem Aktenkoffer und ließ das Kombinationsschloß einrasten. Dann ging er auf Mrs. Wiggins zu, nahm ihr Ariana einen Moment ab, gab der Kleinen einen Kuß und reichte sie wieder zurück. Mrs. Wiggins murmelte etwas, daß sie das Badewasser für die Babys einlassen mußte, und verließ das Zimmer. Jetzt kam er auf Carrie zu. Sie hatte eine Hand unter Jacobs winzigen Po gelegt. Die andere stützte das Köpfchen. Will legte Jacob die Hand auf den Rücken. Er hätte mit einem Griff auch seine Brust umspannen können, aber seine Berührung war federleicht. Jetzt lehnte er sich vor und gab Jacob einen Kuß auf die Wange. Dabei streiften seine Lippen auch Carries Finger. Ihre Haut begann zu prickeln. Der Duft seines Rasierwassers stieg ihr in die Nase, und unwillkürlich atmete sie tief ein. Will hörte es und sah sie über den Kopf des Babys hinweg an. Dann ergriff er ihre Hand und drückte sie leicht. Dachte er, sie sei genauso zerbrechlich wie sein Sohn? "Wir reden heute Abend, Carrie", versprach er. Sie erkannte, daß weitere Diskussionen im Moment nutzlos sein würden. Obwohl seine Berührung kaum spürbar war, hatte sie das Gefühl, daß er ihr damit seinen Stempel aufdrückte. Ihr Körper gab dem Verlangen nach, das ihn erfüllte, und sie begann zu zittern. Will spürte es, denn er sah sie auf einmal aufmerksam an. "Heute Abend, Carrie", wiederho lte er und wartete, bis sie nickte. Im nächsten Moment war er fort. Carrie wiegte seinen Sohn hin und her und fragte sich, wozu sie sich eben verpflichtet hatte.
IV "Ich konnte es einfach nicht fassen, als Dad uns erzählte, was Robert getan hat." Vor Aufregung sprach Ginny Calhoun so laut, daß Carrie den Telefonhörer ein Stück vom Ohr weghalten mußte. "Sagen wir, für mich war es auch eine Überraschung", antwortete sie. Ginny verstand die Ironie nicht. Wenn sie sich über etwas aufregte, gab sie so lange keine Ruhe, bis sie ihrem Ärger Luft gemacht hatte. Im Moment galt ihr ganzer Zorn Robert Gallatin. "Du hättest die Gesichter seiner Eltern sehen sollen. Sie sahen aus, als hätte ihnen jemand einen Dolchstoß versetzt." "O nein!" rief Carrie erschrocken. An Roberts Eltern hatte sie bisher überhaupt nicht gedacht. Sie hatte sie gern und wußte, daß die Sympathie uneingeschränkt erwidert wurde. "Soll das heißen, sie saßen mit allen anderen in der Kirche?" "Genau. Dad wartete, bis alle saßen, ehe er die Mitteilung machte, damit er es nur einmal zu sagen brauchte. Ich hatte die Gallatins zufällig im Blickfeld, und sie sahen aus wie vom Schlag getroffen. Wie es scheint, hat er nur seine Schwester Marcia in seine Pläne eingeweiht. Natürlich sind die Gallatins davon überzeugt, daß du an allem schuld bist, weil du angeblich schon seit längerem eine Affäre mit Will Calhoun hast."
Carrie rieb sich die Stirn. "Gestern kam es mir noch ganz plausibel vor, Dad die Situation so darstellen zu lassen, aber ich wollte Roberts Eltern ganz bestimmt nicht weh tun." "Das weiß ich doch. Ich frage mich nur, ob Robert nicht genau das bezweckte." "Wie meinst du das?" Ginny suchte nach den richtigen Worten. "Ich finde, er hätte etwas mehr Rücksicht auf ihre Gefühle nehmen können. Schließlich ist er ihr einziger Sohn, und sie haben ihn von klein auf auf Händen getragen." Das stimmte. Carrie war schon lange aufgefallen, wie sehr die Gallatins ihren Sohn verwöhnten, aber bisher hatte sie das nicht als Problem angesehen. Wenn sie ehrlich war, hatte sie überhaupt nicht darüber nachgedacht, welche Beziehung sie und Robert zu seinen Eltern haben würden. Sie war so mit den Hochzeitsvorbereitungen beschäftigt gewesen, daß für solche Dinge keine Zeit geblieben war. "Jedenfalls", fuhr Ginny fort, "sind Laura und ich sofort zu deinem ... ich meine, Roberts Haus gefahren und haben sämtliche Hochzeitsgeschenke eingesammelt. Zum Glück hattest du den Hausschlüssel in deiner Handtasche. Wie hast du es übrigens fertiggebracht, deine Handtasche zurückzulassen? Na ja, du hattest wahrscheinlich andere Sorgen. Wir haben eine Liste gefunden, wer euch was geschenkt hat, und alles zurückgegeben." "Danke, Ginny. Das werde ich dir nicht vergessen. Ich selbst wäre bestimmt nicht dazu fähig gewesen." "Das verstehe ich. Übrigens blüht der Klatsch in der Stadt. Nancy war untröstlich, weil sie nun doch nicht Blumen streuen durfte." "Richte ihr von mir aus, daß ich es wiedergutmachen werde. Sobald ich eine Wohnung habe, darf sie mich für ein paar Tage besuchen." Vorausgesetzt, fügte Carrie im stillen hinzu, ich
bekomme Urlaub von meiner neuen Tätigkeit - was auch immer das sein mag. "Ich werde es ihr sagen. Was Robert angeht, würden Dad, Bret und Sam ihn am liebsten teeren und federn, aber er ist wie vom Erdboden verschluckt." Carrie setzte sich kerzengerade auf. "Wie meinst du das?" "Er ist weg. Verschwunden. Laura und ich rechneten zwar nicht damit, ihn gestern Abend in seinem Haus anzutreffen, aber nicht einmal seine Familie weiß, wo er sich aufhält. Er drückte Marcia gestern morgen den bewußten Brief in die Hand und verließ die Stadt. Sein Vater sagt, er wird die Leitung der Möbelgeschäfte wieder übernehmen. Dabei ist er doch schon seit einem Jahr im Ruhestand. Das Gerücht besagt, daß Robert Mr. Gallatin angerufen und ihm mitgeteilt hat, er würde eine Weile weg sein. Er hat aber nicht gesagt, wo er sich aufhält. So ein Feigling!" "Will nennt ihn auch so." "Da wir gerade von Will reden - wie hat er es denn fertiggebracht, dich nicht nur in sein Auto, sondern bis nach Charleston zu locken?" "Er hat mir eine Stelle in Aussicht gestellt." "Das ist nett von ihm, aber meinst du nicht, du wärst hier zu Hause besser aufgehoben? Dann könnte ich mich ein bißchen um dich kümmern." Carrie seufzte. Genau das hatte sie erwartet. "Du bemutterst mich, seit ich fünf bin, Ginny. Irgendwann muß ich lernen, auf eigenen Füßen zu stehen. Außerdem werde ich hier gebraucht." Vor ihr lagen die Zwillinge in ihren Wippen und schliefen friedlich. Carrie selbst thronte auf einem Hocker in der Küche, die Füße auf die Querstreben gestützt. Nach dem Füttern am Morgen hatten sie und Mrs. Wiggins die Kinder gebadet. Während Mrs. Wiggins sich um die Hausarbeit gekümmert hatte, hatte sie, Carrie, mit den Kindern gespielt, sie in Schlaf gewiegt und dann noch einmal gefüttert.
Zwischendrin hatte sie sogar eine Stunde auf Wills Bett geschlafen. Sie fühlte sich ausgeruht und gerüstet für die Nacht. Jetzt war es später Nachmittag, und sie hatte die Kinder in ihren Wippen vor die Terrassentür gestellt, damit sie hinausschauen konnten. Allerdings schienen sie sich nicht für die große Welt draußen zu interessieren, denn innerhalb weniger Minuten waren sie eingeschlafen. Der Hund war hereingekommen und hatte neugierig an den beiden kleinen Wesen geschnuppert. Offenbar gefiel ihm der Geruch, denn er hatte sich vor ihnen ausgestreckt und war ebenfalls bald eingeschlafen. Die drei gaben ein so rührendes Bild ab, daß Carrie wünschte, sie hätte eine Kamera und könnte die Szene für Will festhalten. Da im Moment alles ruhig war, hatte Mrs. Wiggins die Zwillinge in Carries Obhut gelassen und war zum Einkaufen gefahren. "Wofür wirst du gebraucht?" wollte Ginny wissen. "Was für eine Arbeit hat Will denn für dich? Du hast doch keine Ahnung vom Kunstgeschäft." "Das kann ich lernen." Carrie konnte es nicht leiden, wenn Ginny die besserwisserische große Schwester herauskehrte. "Aber bis auf weiteres kümmere ich mich um Wills Kinder." Zu gern hätte sie das Gesicht ihrer Schwester gesehen, als sie diese Bombe platzen ließ. "Was hast du gesagt? Die Verbindung scheint ziemlich schlecht zu sein. Ich habe doch tatsächlich ,Wills Kinder' verstanden." Carrie schmunzelte. "Die Verbindung ist ausgezeichnet. Ich habe tatsächlich von Kindern gesprochen. Will hat Zwillinge einen Jungen und ein Mädchen. Sie sind drei Wochen alt. Er dachte, du und Bret würdet dieses Wochenende vielleicht gern herkommen, um sie kennenzulernen. Sam und Laura sind natürlich auch herzlich eingeladen." Es dauerte eine ganze Weile, Ginny zu überzeugen, daß sie sich keineswegs einen Scherz erlaubte. Während Ginny noch
sprachlos war - was nicht oft vorkam -, gab ihr Carrie eine Liste der Dinge, die sie mitbringen sollte. Carrie hatte ihre Sachen nach der Auflösung ihrer Wohnung in Greenville in Kisten verpackt in Ginnys Garage untergestellt. Eigentlich hatte sie sie noch vor der Hochzeit in Roberts Haus bringen wollen. Nun war sie froh, daß sie es nicht getan hatte. Schließlich beendeten sie das Gespräch. Carrie lachte, als sie ihre Schwester laut nach Bret rufen hörte, noch ehe sie den Hörer aufgelegt hatte. Sie konnte sich vorstellen, wie die unglaubliche Neuigkeit jetzt in Webster die Runde machte. Sie hängte ebenfalls ein und drehte sich so, daß sie Jacob und Ariana sehen konnte. Die beiden sahen so süß aus, daß sie sich neben sie auf den Boden setzte, um ihnen näher zu sein. Vorsichtig berührte sie ihre Händchen, um sich zu vergewissern, daß ihnen auch warm genug war. Dabei waren ihre Sorgen unbegründet, denn draußen schien die warme Maisonne vom Himmel. Was für hübsche Babys die beiden waren! Beim Baden am Morgen hatte Carrie sie genau betrachtet und sich gefreut, daß ihnen trotz der verfrühten Geburt und der schweren Krankheit ihrer Mutter nichts zu fehlen schien. In ihren Augen waren sie perfekt. Zum Schluß hatte sie den Hund gestreichelt, der nur kurz ein Auge geöffnet und dann sofort weitergeschlafen hatte. "Wir müssen einen Namen für dich finden, mein Kleiner", sagte sie leise. "Irgend etwas, das zu deinem Naturell paßt. Vielleicht ,Sleepy' oder,Faulpelz'". Während sie ihn hinter den Ohren kraulte, dachte sie über das nach, was sie von Ginny erfahren hatte. Nun, da der erste Schock abgeklungen war, tat es ihr leid, daß sie einfach davongelaufen war und es anderen überlassen hatte, die Suppe auszulöffeln. Ginny schien es ihr allerdings nicht übelgenommen zu haben. Solange Ginny beschäftigt war, hatte sie wenigstens ein Ventil für ihre Wut auf Robert. Jetzt erkannte
Carrie, daß sie in Webster hätte bleiben und das gleiche tun sollen. Wenn sie selbst den Blumenschmuck aus der Kirche entfernt und die Geschenke zurückgegeben hätte, hätte sie das Gefühl gehabt, daß ihre Beziehung mit Robert wirklich zu Ende war, auch wenn sie sich immer noch nicht erklären konnte, weshalb er sie sitzengelassen hatte. Wenn sie an ihn dachte, zo g sich ihr Herz immer noch schmerzhaft zusammen. Wie lange würde es wohl dauern, bis ihre Liebe zu ihm erkaltet war? Carrie wünschte, Robert hätte ihr gesagt, warum er so abrupt Schluß machte Dann hätte sie dieses Kapitel auch für sich abschließen können. Abgesehen davon, daß er in den letzten Wochen kaum mit ihr gesprochen hatte, konnte sie sich an keinerlei Probleme erinnern. Er war zwar einige Jahre älter als sie, aber sie hatten sehr viel gemeinsam. Am besten hatte ihr stets seine ruhige, rücksichtsvolle Art gefallen. Darin war er das genaue Gegenteil von Will, der sie auf Schritt und Tritt herausforderte. Carrie versuchte, sich daran zu erinnern, wann ihr die Veränderung an Robert zum erstenmal aufgefallen war. Es mußte Ende März gewesen sein, als er vo n einer Geschäftsreise nach Atlanta zurückgekommen war. Allerdings konnte sie sich nicht erklären, was diese Reise damit zu tun gehabt haben könnte. Wieder fiel ihr Blick auf die Kinder. Wie schön, das ganze Leben mit seinen vielfältigen Möglichkeiten noch vor sich zu haben! Sie hoffte, daß diese beiden niemals erfahren würden, was Leid war. Will würde ein wunderbarer Vater sein und alles ihm Mögliche tun, um sie zu beschützen, aber selbst ihm würde das vielleicht nicht immer gelingen. Wie schön es wäre, wenn sie ihre unerwiderte Liebe diesen Kindern schenken könnte! Bei der Vorstellung, daß sie selbst vielleicht niemals eigene Kinder haben würde, weil es Jahre dauern konnte, bis sie wieder
Vertrauen zu einem Mann faßte, begannen Carries Tränen endlich zu fließen. Kummer über Roberts unerklärlichen Verrat, Zorn über ihre eigene Feigheit und die Erinnerung an die entsetzliche Demütigung überfluteten sie. Hastig griff sie nach der Mullwindel, die sie über Arianas Wippe gebreitet hatte. Diese Tränen waren anders als die, die sie um Lani vergossen hatte. Diesmal weinte Carrie aus reinem Selbstmitleid, aber sie fühlte, wie ihr dabei leichter wurde. Minutenlang saß sie auf dem Boden neben den Kindern und dem Hund und schluchzte sich die Seele aus dem Leib. "Denkst du an deinen treulosen Bräutigam?" Carrie fuhr hoch und sah Will an der Tür stehen, den Aktenkoffer in der Hand. Er hatte die Krawatte gelockert und das Jackett lässig über die Schulter geworfen. Seine Miene war finster. Sie schlug die Hand vor den Mund. "Will, du hast mich zu Tode erschreckt." Hastig wischte sie sich die Tränen weg. "Ich ... ich habe dich gar nicht hereinkommen hören." "Du warst wohl zu beschäftigt, vor Selbstmitleid zu zerfließen?" "Das ist nicht wahr!" leugnete sie, obwohl er den Nagel auf den Kopf getroffen hatte. Vor sich selbst hatte sie zugegeben, warum sie weinte, aber Will würde sie es niemals eingestehen. Würdevoll stand sie auf und klopfte sich den nicht vorhandenen Staub von der Hose. Will wartete geduldig. Als sie schließlich fertig war, meinte er: "Dr. Paul sagt, Kinder brauchen eine glückliche Atmosphäre, wenn sie glücklich aufwachsen sollen. Vielleicht wäre es besser, du gehst in dein Zimmer, wenn du weinen willst." Carrie hob trotzig das Kinn. "Wer ist Dr. Paul?" Er betrachtete ihre geschwollenen Augen und die eigensinnige Miene. "Ein Kinderarzt, der im Fernsehen Fragen beantwortet. Ich hatte in letzter Zeit viel Gelegenheit, ihm zuzusehen, während ich mit einem oder beiden Kindern auf dem
Arm durchs Zimmer schritt." Er stellte seinen Aktenkoffer auf die Theke, hängte das Jackett an einen Stuhl und ging neben den Kindern in die Hocke. Liebevoll strich er ihnen über die Wange und sah dann Carrie fragend an. "Glaubst du, es tut ihnen gut, an der offenen Tür zu stehen?" "Hier zieht es nicht", antwortete sie, erleichtert, daß er nicht weiter über ihren Tränenausbruch redete. "Und sie bekommen keine direkte Sonne." Er nickte, stand auf und stupste den Hund an, der gähnte und sich auf die andere Seite drehte. "Und wie benimmt sich dieser kleine Bursche?" "Er hat den ganzen Tag über entweder geschlafen oder im Garten herumgeschnüffelt. Besonders energiegeladen scheint er nicht zu sein." Will schmunzelte. "Er wird einen guten Spielkameraden für die Kinder abgeben." "Aber nicht unbedingt einen Wachhund. Wir sollten ihn ,Sleepy' taufen." "Das paßt." Er blickte sich um. "Wo ist denn Mrs. Wiggins?" "Beim Einkaufen. Wie war dein Tag?" Sie war froh, daß er zu erzählen begann, ohne noch einmal auf ihre rote Nase und die immer noch verdächtig schimmernden Augen zurückzukommen. Während sie Gläser mit Eistee füllte, fiel ihr plötzlich auf, daß sie genau dasselbe tat wie ihre Schwester, wenn Bret abends aus der Redaktion nach Hause kam. So hatte sie sich auch ihre Abende mit Robert vorgestellt. Aber solche Gedanken waren nutzlos. Will hatte recht. Es war Zeit, daß sie aufhörte, sich selbst zu bemitleiden. Jetzt galt es, ein neues Leben aufzubauen. Carrie erzählte Will, daß sie mit Ginny telefoniert hatte. "Sie wird dieses Wochenende einige meiner Sache n und mein Auto mitbringen. Ich habe ihr schonend beigebracht, daß sie jetzt Tante von Zwillingen ist." Sie blickte auf die Uhr. "Das war vor
einer halben Stunde. Inzwischen dürfte sich die Neuigkeit in Webster herumgesprochen haben." "Dann habe ich wohl demnächst Anrufe von meinen Brüdern zu erwarten. Es ist besser, ich rufe meine Mutter und meine Schwestern in Virginia an, ehe jemand anders es tut." Wills Mitteilung rief etwa die gleiche Reaktion hervor wie bei Ginny. Mrs. Calhoun versprach, so bald wie möglich zu kommen, um ihre jüngsten Enkelkinder in Augenschein zu nehmen. Nachdem Will mit seiner Mutter gesprochen hatte, trug er die Wippen mit den Kindern ins Wohnzimmer. Carrie folgte mit dem Tee. Er stellte die schlafenden Zwillinge vor dem Sofa auf den Boden und ließ sich aufatmend in die weichen Polster sinken. Carrie reichte ihm ein Glas und kam sofort zum Thema. "Will, du hast gesagt, wir würden heute über meinen Job reden." Er zog die Augenbrauen hoch. "Du bist ganz schön hartnäckig, wie?" "Das muß ich auch sein. Schließlich geht es um mein zukünftiges Leben. Ich muß Pläne machen." "Weshalb die Eile?" Er streifte die Schuhe ab und legte die Füße bequem auf den Couchtisch. Carrie setzte sich neben ihn und zog ein Knie hoch. "Ich habe meine Stelle in Greenville gekündigt, weil Robert mir angeboten hat, für seine Möbelgeschäfte Werbung und PR zumachen." Will zog neugierig die Augenbrauen hoch. "Wieviel wollte er dir denn bezahlen?" "Darüber haben wir nicht gesprochen." "Wahrscheinlich hoffte er, du würdest ihm deine professionellen Fähigkeiten umsonst zur Verfügung stellen." Carrie ließ sich nicht provozieren. "Ob du es glaubst oder nicht, Will, ich bin wirklich ein Profi. Ich hätte mich niemals auf so etwas eingelassen. Schließlich verstehe ich etwas vo n meinem Fach und weiß, was das wert ist."
"Tatsächlich?" Will betrachtete sie interessiert. "Wieviel ist es denn wert?" "Was meinst du?" fragte sie verwirrt. Will gestikulierte mit seinem Glas. "Dein Fachwissen. Was gehört dazu, und wieviel kostet es?" Ob sie wohl jemals wissen würde, woran sie mit diesem Mann war? Eben hatte er noch gestichelt, und nun stellte er sachkundige Fragen. "Nun ja." Sie räusperte sich. "Ich hätte sämtliche Anzeigen für die Geschäfte getextet und in den örtlichen Medien geschaltet, mir Sonderaktionen einfallen lassen, Aktivitäten mit Mitarbeitern und Kunden außerhalb des Geschäfts organisiert... Was eben so zur PR gehört." Will neigte den Kopf zur Seite und betrachtete sie mit zusammengekniffenen Augen. "Du scheinst tatsächlich zu wissen, wovon du redest - für eine Frau, die eigentlich Bücher und Artikel schreiben sollte." Wieder das alte Argument. Carrie verdrehte die Augen und machte eine wegwerfende Geste. "Will, bitte nicht schon wieder!" Er ließ sich nicht beirren. "Weißt du eigentlich, warum ich finde, daß Schreiben für dich das Richtige ist?" "Nein", antwortete sie zuckersüß. "Aber du wirst es mir sicher gleich sagen." Er ignorierte den spitzen Ton. "Weil es dir im Blut liegt. Ginny ist eine phantastische Reporterin. Das war dein Vater auch, nur ist der außerdem noch ein hochbegabter Schriftsteller mit einem außergewöhnlichen Stil." "Das ist mir auch bekannt, Will. Es muß aber nicht heißen, daß ich deswegen auch schreiben muß." "Ach nein?" Will trank einen Schluck Tee und stellte das Glas abrupt ab. "Ich glaube, ich brauche jetzt etwas Stärkeres." Er verschwand in der Küche und kam gleich darauf mit einer Flasche Bier zurück. Nachdem er genüßlich einen Schluck
getrunken hatte, deutete er mit dem Finger auf sie. "Du hast nur Angst, ein Risiko einzugehen." "Wäre ich dann gestern zu dir ins Auto gestiegen?" Er machte ein finsteres Gesicht. "Du weißt sehr gut, was ich meine." "Ja, Will." Carrie seufzte. "Das hast du mir schon oft gesagt." "Wann denn?" wollte er wissen. "Zum Beispiel jedes Mal, wenn du geschäftlich in Columbia zu tun hattest und mich besucht hast." "Wirklich? Dann nenn mir ein Beispiel." Carrie hob die Hand und zählte die geforderten Beispiele an den Fingern ab. "Als Dad sein erstes Buch herausbrachte, kamst du mit der Idee für einen Krimi, den ich schreiben sollte." "Ach ja." Sein Blick war abwesend. "Ging es da nicht um einen Mörder mit einer Axt?" Carrie schauderte. "Genau. Und das ist noch nicht alles. Jedes Mal, wenn du mich zum Essen ausführtest und ich mir etwas Einfaches ausgesucht hatte, wolltest du mich zu irgendeinem exotischen Gericht überreden. Gingen wir ins Kino, bestandest du auf verwickelten Psychodramen oder Actionfilmen anstatt..." "Einer Liebesgeschichte?" unterbrach er sie. "Jawohl. Frauen sehen aber lieber Liebesgeschichten." Carrie kam sich allmählich albern vor. Schließlich waren ihre gemeinsamen Abende in Columbia keine richtigen Verabredungen gewesen, für deren Gelingen sich der Mann verantwortlich fühlen sollte. Will runzelte die Stirn. "Die me isten Liebesgeschichten sind unerträglich kitschig. Wenn du es versuchen würdest, könntest du bestimmt eine bessere schreiben." Carrie verdrehte die Augen. "Wenn du dich einmal in ein Thema verbeißt, bist du wie ein Terrier." "Ja, das hast du mir schon einmal gesagt. Das muß um die Zeit gewesen sein, als du begannst, dich ernsthaft für Robert zu interessieren, diesen ..."
Carrie hob die Hand. "Sag es nicht." "Bist du immer noch nicht über ihn hinweg?" spottete Will. "Hat Robert dich denn in die Art Filme ausgeführt, die Frauen gern sehen?" Sie warf das Haar zurück und sah ihn herausfordernd an. "Ja." Will trank noch einen Schluck Bier und begann, unruhig im Zimmer auf und ab zu laufen. "Was hat er denn sonst noch so gemacht?" "Alles, was Frauen mögen." "Nur in der Kirche ist er nicht erschienen." Carrie setzte ihr Glas so heftig ab, daß beide Kinder zusammenzuckten, aber glücklicherweise nicht aufwachten. Ihre Augen sprühten vor Zorn, doch ehe sie Will die Meinung sagen konnte, hob er beide Hände. "Entschuldige. Das hätte ich nicht sagen dürfen." "Nein, hättest du nicht." "Vor allem da er jetzt aus deinem Leben verschwunden ist." Carries Magen krampfte sich zusammen. "Richtig", bestätigte sie gepreßt. Will betrachtete sie eine Minute nachdenklich. "Kehren wir zurück zu meiner ursprünglichen Frage. Was hat Robert gemacht, daß sich Frauen zu ihm hingezogen fühlten?" "Beispielsweise hat er nicht ständig mit mir diskutiert." "Das paßt. Er hat vermutlich meistens nachgegeben, wenn ihr unterschiedlicher Meinung wart." "Ja, das hat er." "Pah!" Sein abfälliger Ton brachte sie erneut in Rage. "Daran ist nichts auszusetzen, Will." "Natürlich nicht. Wenn ein Mann gern zum Schoßhündchen degradiert werden möchte." "Er war kein ... Ach, lassen wir das. Das Schönste an Robert war, daß er wußte, wie man eine Frau umwirbt. Wenn ich mit
ihm zusammen war, kam ich mir immer wie etwas ganz Besonderes vor." Will ließ sich in den Stuhl ihr gegenüber fallen, stellte die Bierflasche auf den Tisch und lehnte sich vor. Ihm war deutlich anzusehen, daß er das Lachen nur mühsam zurückhielt. "Hast du wirklich ,umwerben' gesagt?" Carrie wünschte, sie könnte den letzten Satz zurücknehmen. Mit seinem Hang zu Spitzfindigkeiten würde er jetzt so lange auf dem Thema herumreiten, bis ihr der Geduldsfaden riß. "Ja", entgegnete sie knapp. "Ich bin beeindruckt", spottete er. "Carrie, ich habe schon viele Frauen gekannt, einige davon näher. Du kannst mir also zugestehen, daß ich etwas von Romantik verstehe." "Woher sollte ich das wissen? Diese Seite an dir kenne ich überhaupt nicht. Wenn wir zusammen waren, hast du sie jedenfalls gut verborgen gehalten und mir statt dessen überflüssige gute Ratschläge gegeben." "Tatsächlich?" "Allerdings." Einen Moment lang schien es, als wollte er genau das tun, wessen sie ihn beschuldigte, und argumentieren. Doch dann überlegte er es sich anders. "Also gut. Was hat Robert getan, um dich zu umwerben?" "Zum Beispiel hat er mir Blumen geschenkt." "Das habe ich auch", protestierte er. "Die du vorher aus dem Beet vor unserem Gebäude gestohlen hast." "Das habe ich nur einmal gemacht, weil ich es eilig hatte", verteidigte er sich. "Erzähl mir mehr von Robert, dem Ritter der Romantik." Er sagte es im gleichen Ton wie "Robert, der Feigling". "Er hat mir oft gesagt, was ihm an mir ge fällt." "Mir gefällst du auch."
"Du kritisierst ständig an mir herum." Carrie warf einen Blick auf die Zwillinge, die erstaunlicherweise nicht von ihren lauten Worten aufgewacht waren. Sleepy, der seinem Namen alle Ehre machte, hatte sich nach einem kurzen Rundgang durchs Zimmer wieder schlafen gelegt. Als Carrie sich umdrehte, sah sie, daß Will direkt hinter ihr stand. Sein Blick war ernst und eindringlich geworden. "Es gibt vieles, was ich an dir mag, Carrie", sagte er leise. Er deutete auf die Zwillinge. "Dein mitfühlendes Wesen zum Beispiel und deine Intelligenz. Allerdings bin ich schon lange der Meinung, daß du diese Intelligenz nicht so nutzt, wie du könntest." Sie spürte einen Kloß im Hals. "Tue ich das nicht?" "Nein. Du würdest dich gern mit Ginny messen, scheust aber davor zurück, weil du überzeugt bist, daß du sowieso keine Chance hast." "Es ist zweifelsfrei bewiesen, daß sie viel schlauer ist als ich schlauer als die meisten Menschen." "Das mag sein. Aber selbst wenn ihr Intelligenzquotient rekordverdächtig ist, solltest du nicht freiwillig auf eine Karriere als Schriftstellerin verzichten, weil du glaubst, daß du nicht so gut bist wie sie." Was er sagte, stimmte. Bisher hatte noch nie jemand so zu ihr gesprochen. Typisch, daß es Will war, der dieses heiße Eisen anpackte. Ginny hob den Kopf und räusperte sich. "Mag sein, aber das ist jetzt nicht das Thema, nicht wahr?" Forschend betrachtete er ihr verschlossenes Gesicht. "Nein", bestätigte er schließlich. "In Wirklichkeit erhalte ich gerade eine Nachhilfestunde darin, wie man eine Frau ,umwirbt'." Ein Lächeln begann seinen Mund zu umspielen, als er die Hand ausstreckte und ihr kinnlanges Haar berührte. "Hat dir schon einmal jemand gesagt, daß dein Haar aussieht wie Herbstlaub?" Carrie traute ihren Ohren nicht. "Wie bitte?"
"Deine Augen auch, obwohl die eher die Farbe von Karamel haben." "Karamel?" wiederholte sie benommen. "Außerdem finde ich deinen Gang faszinierend - den federnden Schritt und die Art, wie du die Hüften schwingst." "Du stellst mich wie eine ... eine Bettfeder hin", wehrte sie verlegen ab. Will zog die Augenbrauen hoch. "Jetzt könnte ich dir mangelnden Sinn für Romantik vorwerfen. Wo war ich? Ach ja. Was hat Robert denn sonst noch Romantisches getan?" Carrie war so durcheinander, daß sie beinahe gefragt hätte: Welcher Robert? Sie trat einen Schritt zurück. "Er ist mit mir tanzen gegangen." "Tanzen kann ich auch", erklärte Will sofort. "Natürlich", spottete sie. "Den Texas Twostep oder den Shag." "Was ist dagegen einzuwenden? Schließlich ist der Shag der Nationaltanz von South Carolina." "Ich habe ja nichts dagegen, aber als romantisch würde ich ihn nicht bezeichnen." "Das hängt immer noch ganz davon ab, mit wem du ihn tanzt." Carrie verdrehte die Augen. "Aber wenn ich es richtig verstehe, hättest du es gern romantisch?" Will streckte die Hand aus und zog sie zu sich. "Das sollst du haben." Im nächsten Moment hatte er die Arme um sie gelegt. "Du brauchst dir nur vorzustellen, daß die Righteous Brothers ,You 've Lost That Loving Feeling' singen. Oder Michael Bolton mit ,When a Man Loves a Woman'." Vor lauter Verblüffung verpatzte Carrie zunächst die ersten Schritte, doch bald paßte sie sich Wills Rhythmus an. Langsam tanzten sie durchs Zimmer. Sie hatten noch nie miteinander getanzt, nicht einmal auf der Hochzeitsfeier von Bret und Ginny.
Zu ihrem Erstaunen entdeckte Carrie, daß Will auch ohne Musik ein ausgezeichneter Tänzer war. Er beendete den Tanz damit, daß er sie einmal um die eigene Achse drehte, ihr die Hand auf den Rücken legte und sie so weit zurückbog, daß ihr Kopf nur wenige Zentimeter über dem Boden schwebte. "Will!" flehte sie und klammerte sich an seinen Schultern fest. "Nur die Ruhe. Hast du vergessen, daß das ein romantisches Zwischenspiel sein soll?" "Solange sich das ganze Blut in meinem Kopf sammelt, kann ich an gar nichts denken!" "Das übernehme ich für dich", entgegnete er großzügig. Er zog sie wieder hoch, bis ihr Mund dicht an seinem war. Sie konnte seinen warmen Atem spüren. "Hat Robert dich am Ende eines Tanzes geküß t?" Carrie konnte den Blick nicht von ihm wenden. Seine Augen hatten einen rauchigen Ton angenommen, aber sie las die übliche Willensstärke darin. "Manch... manchmal", stotterte sie. "Carrie, du verstehst doch, daß ich dich nicht in dem Glauben lassen kann, daß ein Weichling wie Robert mehr Sinn für Romantik hat als ich?" "Selbstverständlich nicht." Sie bekam kaum Luft. "Du hast von Natur aus den Drang, allen zu zeigen, daß du besser bist." "Schön, daß du das begreifst", sagte er befriedigt und küßte sie.
V Hätte Carrie noch Luft gehabt, hätte Will ihr die jetzt genommen. Sein Mund war warm und fest, fordernd und lockend zugleich, als wollte er ihr etwas zeigen und gleichzeitig von ihr lernen. Er löste sich einen Moment von ihr und sah ihr in die Augen. "Wenn du mitmachst, ist es noch besser", sagte er und küßte sie von neuem. Diesem Argument hatte sie nichts entgegenzusetzen. Genaugenommen blieb ihr eigentlich gar nichts anderes übrig, als seinen Wunsch zu erfüllen - vor allem, weil sie diesen Wunsch insgeheim teilte. Will legte die Arme um sie. Seine warmen Hände riefen ein köstliches Prickeln auf ihrer bloßen Haut hervor, und bald vergaß sie, daß sie sich eben noch gestritten hatten, vergaß Robert... vergaß eigentlich alles außer Will. Wenn man einmal von einem züchtigen Kuß auf die Wange absah, hatte Will sie noch nie geküßt. Erst jetzt wurde ihr bewußt, was sie da verpaßt hatte. Andererseits war es vielleicht ganz gut, daß er es nicht getan hatte. Verglichen mit ihm, wirkte jeder andere Mann langweilig. Als hätte er ihre Gedanken gelesen, fragte er: "Nun, was meinst du? Küsse ich besser als Robert?"
Carrie war viel zu benommen, um nach einer Ausrede zu suchen. "Ich würde sagen, du küßt besser als jeder andere Mann in den Vereinigten Staaten." Er nahm das Kompliment mit Befriedigung zur Kenntnis. "Nicht in der ganzen Welt?" "Das kann ich nicht beurteilen. Ich war noch nie im Ausland", entgegnete sie. Will lachte. Offenbar spürte er, daß ihr schwindlig war, denn er hielt sie weiter im Arm. "Du brauchst dein Licht auch nicht unter den Scheffel zu stellen, Carrie. Und meine Erfahrungen beschränken sich nicht nur auf die Vereinigten Staaten." Seine Worte taten Carries geschundenem Selbstwertgefühl wohl. Erst jetzt merkte sie, wie sehr sie das gebraucht hatte, denn der Alptraum des gestrigen Tages verblaßte allmählich. Will neigte den Kopf zur Seite. "Mit etwas Praxis könnte ich bestimmt genauso romantisch sein wie Robert." "Noch romantischer", krächzte Carrie und ließ sich aufs Sofa sinken. Sie griff nach ihrem Teeglas, in dem das Eis schon geschmolzen war, und trank einen großen Schluck. Wer hätte gedacht, daß Will Calhoun für solche Überraschungen gut war? Carrie berührte ihre Stirn, die sich feucht anfühlte. Seit wann war es eigentlich so heiß hier drin? Sie zog am Ausschnitt ihres T-Shirts, um sich ein wenig Luft zuzufächeln. "Worüber haben wir eigentlich gesprochen, ehe du vom Thema ablenktest?" fragte sie, als ihr Atem nicht mehr ganz so heftig ging. Will schmunzelte. "Über deinen Job." "Ach ja, natürlich. Will, ich könnte doch die Werbung und PR für deine Galerie übernehmen. Beide Galerien. Wir können es bestimmt so einrichten, daß ich einmal pro Woche nach Columbia fahre, und ..." "Du bist engagiert." "Es wäre nämlich ... Wie bitte?"
"Ich sagte, du bist engagiert. Du könntest zu Anfang stundenweise in der Galerie arbeiten und mir vielleicht den Rest der Zeit mit Jacob und Ariana helfen - zumindest bis ich eine zuverlässige Kinderfrau gefunden habe. Was dein Gehalt angeht..." Er überlegte kurz und na nnte dann eine Summe, bei der es Carrie die Sprache verschlug. "Wie klingt das?" "G... ganz gut", krächzte sie, ließ sich in die Kissen sinken und fächelte sich mit einer Zeitung Luft zu. "Du bist offenbar kein Mann, der Zeit verschwendet." "Warum sollte ich?" Er trank sein Bier aus und stellte die Flasche auf den Tisch. "Nachdem ich dich einmal da hatte, wo ich dich haben wollte ..." Seine Mundwinkel zuckten. "Ekel." "Sei nett zu deinem Chef", mahnte er. "Ach, da wäre noch etwas." "Was denn?" fragte sie argwöhnisch. "Könntest du vielleicht eine Weile warten, ehe du dir eine eigene Wohnung suchst? Ich brauche dich hier." Seine Augen wirkten plötzlich viel dunkler. "Zumindest in der Nacht." Carrie hatte das Gefühl, einen Stromschlag bekommen zu haben. Ein Zittern durchlief sie, und sie rückte unauffällig ein Stück von ihm weg. Sie hatte sich noch nicht von dem verrückten improvisierten Tanz erholt, und nun brachte er sie mit solchen Anspielungen von neuem aus dem Gleichgewicht. Doch dann fiel ihr Blick auf die schlafenden Babys. "Na gut, ich bleibe noch - aber nur, bis du ein Kindermädchen eingestellt hast." Ein Lächeln umspielte seine Lippen. "Was ist denn los? Magst du meine Kinder nicht?" "Sei nicht albern. Ich habe noch nie so süße Kinder gesehen." Wenn er gewußt hätte, wie gefährlich nahe sie daran war, ihr Herz an die beiden Winzlinge zu verlieren, hätte er das skrupellos ausgenutzt. Dann wäre sie vermutlich immer noch
hier, wenn die beiden Abitur machten. "Es macht mir große Freude, mich um sie zu kümmern." "Ach wirklich?" fragte er, als Jacob aufwachte und zu schreien begann. Damit weckte er seine Schwester, die lautstark protestierte. "Dann haben Sie jetzt Gelegenheit, Ihre noblen Worte in die Tat umzusetzen, Miss McCoy. Der Vorhang für die Abendvorstellung hat sich gehoben. Noch kannst du dir deinen Partner für die nächsten Stunden aussuchen. Um die unvergeßliche Bette Davis zu zitieren: ,Schnallen Sie sich an es wird eine unruhige Nacht.'" Carrie lachte und holte Ariana aus der Wippe. Will nahm Jacob hoch. Sie wickelten die Zwillinge, fütterten sie und trugen sie dann ziemlich lange herum. Irgendwann einmal sagte Will: "Dr. Paul rät Eltern, die Kinder einfach ins Bett zu legen und sie schreien zu lassen." Carrie sah ihn entrüstet an. "Mit drei Wochen? Dieser Mann ist ein gefühlloses Ungeheuer!" Will zuckte resigniert mit den Schultern und nahm seine Wanderung wieder auf. Mrs. Wiggins kam vom Einkaufen zurück und bereitete das Abendessen zu. Dann fuhr sie nach Hause zu ihrem Mann. Will und Carrie aßen abwechselnd und reichten die Kinder hin und her, die einfach nicht zur Ruhe kommen wollten, ganz gleich, wer sie hielt oder herumtrug. Beide Brüder von Will riefen an. Carrie hörte ihn sagen, sie sollten einfach am Wochenende herkommen, er könne im Moment nicht reden. Sam und Bret lachten wissend und hängten ein. Will und Carrie nahmen ihre Wanderung wieder auf. Ariana wimmerte leise vor sich hin, während Jacob brüllte, daß die Wände wackelten. Wenn er sich wirklich einmal kurz beruhigte, schrie Ariana aus vo llem Halse und steckte ihn damit an. "Man könnte meinen, die beiden haben sich verabredet, wie man mit minimalem Kraftaufwand möglichst viel Lärm
erzeugt", meinte Will und drehte Jacob so, daß dieser ins Zimmer blicken konnte. "Vielleicht gefällt dir diese Position besser, mein Kleiner." Carrie sah skeptisch zu. "Ich weiß nicht, ob es gut ist, ihn auf den Bauch zu drehen. Er hat gerade eine ganze Flasche Milch getrunken." "Wir werden es ja sehen." Als Jacob sich tatsächlich beruhigte, warf er ihr einen triumphierenden Blick zu. Keine Minute später spuckte der Kleine den Großteil seiner Milch auf den Teppich. Lachend lief Carrie in die Küche und holte einen Lappen. "Bis jetzt hast du den Eindruck erweckt, als hättest du einen eisernen Magen", beschwerte sich Will bei seinem kleinen Sohn. "Ich frage mich, was Dr. Paul dazu sagen würde." "Er würde vermutlich davor warnen, einem Baby, das unter Koliken leidet, auf den Bauch zu drücken - vor allem nach dem Füttern." Will warf ihr einen strafenden Blick zu und blickte auf die Uhr. "Die Sendung beginnt gleich." "Du meinst, die von Dr. Paul? Dann mach den Fernseher an." Sie legte Ariana an die andere Schulter. Der Rücken tat ihr weh, und sie hätte sich schrecklich gern hingesetzt, aber jedes Mal, wenn sie stehenblieb, begann Ariana zu weinen. "Vielleicht verrät uns dieser Kinderexperte irgendwelche Geheimtips." Will schaltete das Gerät ein. Carrie schnaubte verächtlich, als ein verhutzelter kleiner Mann auf dem Bildschirm erschien und über das Für und Wider sprach, Zweijährige selbst bestimmen zu lassen, was sie essen wollten. Sie griff nach der Fernbedienung und drückte auf den Ausknopf. "Sonst noch Vorschläge?" Will deutete auf ein Regal in der Ecke des Wohnzimmers. "Er hat auch ein Buch geschrieben. Ich habe es gerade gekauft."
Carrie nahm Ariana auf den linken Arm und ging nachsehen. Als sie die Titel sah, weiteten sich ihre Augen vor Staunen. "Will, du hast hier acht verschiedene Bücher über Babypflege." "Na ja, ich dachte, wenn einer der Autoren ein bestimmtes Thema nicht gründlich genug behandelt, tut es bestimmt ein anderer." Er sagte es so ernsthaft, daß sie es nicht übers Herz brachte, ihn wegen seiner Abhängigkeit von selbsternannten Experten aufzuziehen. "Dann schauen wir mal, was er zu sagen hat." Während sie Ariana auf einem Arm sanft hin und her wiegte, zog Carrie ein Buch nach dem anderen heraus und klappte es nach kurzer Zeit wieder zu. "Das habe ich mir gedacht", erklärte sie schließlich. "Sämtliche Autoren schreiben, daß die meisten Babys Koliken haben, daß die Eltern nichts dagegen tun können, aber daß noch bisher alle überlebt haben." "Das denken die!" murmelte Will, als Jacob zum hundertstenmal seinen Schnuller ausspuckte und zu schreien begann. "Ich wette, die meisten von ihnen haben noch nie ein Baby gehabt", pflichtete Carrie ihm bei. "Wie kommt es dann, daß sie als Experten gelten?" "Wahrscheinlich haben sie jemanden dafür bezahlt, daß er sie also solche hinstellt", antwortete sie trocken. "Hast du irgendeinen dieser Namen schon einmal gehört?" "Nein, aber bis vor drei Wochen habe ich mich mit dem Thema Babys so gut wie nicht befaßt." "Glaub mir, irgend jemand hat viel Geld dafür bekommen, daß er diese Leute auf dem Klappentext in höchsten Tönen lobt." "Ich wußte gar nicht, daß du so zynisch sein kannst." Carrie hob das Kinn. "Hast du vergessen, daß ich in der Werbung arbeite? Manche Leute glauben einfach alles, was sie gedruckt sehen."
"Meinst du damit vielleicht mich?" fragte er herausfordernd. Ein Silberschimmer war in seine Augen getreten. Sie ließ sich nicht einschüchtern. "Zum Beispiel." "Was schlägst du also jetzt vor, nachdem du sämtliche Experten der Scharlatanerie überführt hast?" wollte er wissen. "Hast du schon einmal mit dem Kinderarzt gesprochen, der Jacob und Ariana betreut?" "Natürlich. Er sagt dasselbe wie alle anderen." "Dann schlage ich vor, wir wenden uns an eine echte Expertin. Ginny. Brian hatte so schlimme Koliken, daß er und Ginny die ersten drei Monate seines Lebens nicht zur Ruhe gekommen sind." Sie übergab Ariana ihrem Vater, der mit beiden Babys die Wanderung durch das spärlich möblierte Wohnzimmer wiederaufnahm. Dann ging sie in die Küche und rief ihre Schwester an. Als sie fünf Minuten später zurückkam, nahm sie ihm beide Kinder ab. "Du fährst jetzt in das nächstgelegene Möbelgeschäft und kaufst einen zweiten Schaukelstuhl. Und dann holst du zwei Wärmflaschen aus der Drogerie." Er schob sich das Haar aus der Stirn. "So, tue ich das?" "Natürlich nur, wenn du willst." "Um hier etwas Frieden zu haben, würde ich sämtliche Schaukelstühle in Charleston aufkaufen." "Dann mach dich auf den Weg. Ich halte inzwischen die Stellung. Wenn du wiederkommst, kannst du mir den Trick verraten, wie du einen Schaukelstuhl in einem Mustang transportierst." "Nichts einfacher als das", murmelte er und nahm seine Autoschlüssel vom Haken. "Ich klappe das Verdeck hoch und stelle den Stuhl mit den Kufen nach oben auf den Rücksitz. Dann schicke ich ein Stoßgebet zum Himmel, daß nicht ausgerechnet in der nächsten Stunde ein Platzregen kommt." Solange er fort war, wanderte Carrie unablässig im Haus herum, aber es half nichts. Beide Kinder schrien wie am Spieß.
Als Will nach gut einer Stunde zurückkam, wäre sie ihm vor Erleichterung am liebsten um den Hals gefallen. "Jetzt ist mir klar, warum die Natur Eltern in doppelter Ausführung vorgesehen hat", sagte sie und übergab ihm dankbar die Kinder, damit sie den neuen Schaukelstuhl im Schlafzimmer aufbauen und die Wärmflaschen vorbereiten konnte. "Wenn einer von beiden am Ende seiner Kräfte ist, kann der andere für eine Weile übernehmen." Will antwortete nicht. Als Carrie sich mit zwei leuchtendroten Wärmflaschen in der Hand zu ihm umdrehte, begegnete sie seinem eindringlichen Blick. "Was ist denn los?" fragte sie. "Jedes Kind verdient eine Familie mit beiden Eltern, Carrie, aber nicht alle Kinder bekommen sie." Ihr Lächeln erstarb. "Will, ich habe doch nur einen Scherz gemacht. Hast du vergessen, daß ich ohne Mutter aufgewachsen bin? Und du warst noch sehr klein, als dein Vater starb. Ich kenne mich sehr gut mit Familien aus, in denen es nur einen Elternteil gibt." Sie reichte ihm eine der Flaschen und nahm ihm Jacob ab. Er nickte. "Ja, das glaube ich." An seinem Ton war etwas Eigenartiges. Carrie blickte über die Schulter, als sie ihm ins Schlafzimmer vorausging. Noch immer ruhte sein nachdenklicher Blick auf ihr. Was er wohl dachte? Sie setzte sich in einen der beiden Schaukelstühle, legte sich erst die in eine Decke gewickelte Wärmflasche auf den Schoß und bettete Jacob dann bäuchlings darauf. Kurz darauf hörte dieser auf zu schreien. Will tat es ihr nach, und wenig später war auch Ariana ruhig. Carrie seufzte erleichtert, lehnte den Kopf zurück und begann, sanft zu schaukeln. Nach einer Weile lachte sie leise. "Was erheitert dich denn so?" wollte Will wissen.
Ihre Augen funkelten. "Wenn alle Eltern neugeborener Kinder ihre Abende auf diese Weise verbringen, ist es kein Wunder, daß die Geburtenrate zurückgeht." Eigentlich hatte sie im Scherz gesprochen, doch Will sah sie auf eine Weise an, daß ihr heiß wurde. "Babys herumtragen dämpft die Leidenschaft eines Mannes ein wenig", gab er zu. "Wahrscheinlich sind Kindermädchen deshalb so gefragt - vor allem abends." Carrie schluckte. Innerhalb einer Minute hatte sich die Atmosphäre völlig verändert. Unfaßbar, welchen heftigen Schwankungen ihre Gefühle in den letzten drei Stunden unterworfen gewesen waren! Drei Stunden? Dreißig! Um ihr Gleichgewicht wiederzufinden, mußte sie eine Weile allein sein. Es würde ihr zwar schwerfallen, Jacob und Ariana zu verlassen, aber vielleicht wäre es besser, wenn sie sich doch so schnell wie möglich eine eigene Wohnung nahm. Fünf Tage später verabschiedete Carrie die letzten Besucher und atmete erleichtert auf. Wills Brüder waren mit ihren Frauen gekommen, hatten jedoch ihre eigenen Kinder zu Hause gelassen. Die beiden Frauen hatten gute Ratschläge gegeben und ständig wiederholt, wie reizend Jacob und Ariana doch seien. Die beiden waren von soviel Zuwendung ganz erschöpft und schliefen fest. Ginny und Laura hatten beide erklärt, sie wollten unbedingt noch ein Baby. Auch ihre Ehemänner waren von den Zwillingen beeindruckt und erklärten, sie würden diesen Wunsch gern erfüllen. Carrie wandte sich zu Will um und lächelte erschöpft. "Ich habe in meinem ganzen Leben noch nie so viele Fragen in so kurzer Zeit beantwortet." "Was glaubst du, was meine Brüder gemacht haben, als ich in meinem Arbeitszimmer mit ihnen allein war?" Will ließ sich aufs Sofa fallen und legte die langen Beine auf den Couchtisch. "Sam hat mir gute Ratschläge gegeben, in welchen Aktien ich
langfristig Geld für die Kinder anlegen soll, und Bret machte sich Notizen für einen Zeitungsartikel. Er hat so viele Fotos gemacht, daß den Kindern wahrscheinlich immer noch Punkte vor den Augen tanzen." Carrie wußte, daß sein Gebrummel nicht ernst gemeint war. Insgeheim war er froh und stolz, daß seine Brüder und ihre Frauen seine Familie vorbehaltlos akzeptiert hatten. "Warte erst einmal, bis deine Mutter ihre neuen Enkelkinder kennengelernt hat. Sie wird wahrscheinlich Dutzende von Fotos mit sich herumtragen - vielleicht sogar ein Videoband ... Was ist denn?" fragte sie, als sie Wills betretene Miene sah. Er lächelte schief. "Ich habe selbst schon überlegt, ob ich nicht am Montag auf dem Heimweg von der Galerie eine Videokamera kaufen soll." Lachend setzte Carrie sich neben ihn. "Das ist eine prima Idee. Die beiden verändern sich so schnell, daß es schön wäre, eine bleibende Erinnerung zu haben. Sieh doch nur, wie sie in der Woche, seit ich hier bin, gewachsen sind. Du solltest das wirklich aufnehmen. Eines Tages werden die Kinder es sehen wollen." Will nickte. "Das war auch mein Gedanke." "Ich könnte mir die Videos von dir auslernen. Wenn ich erst eine eigene Wohnung habe und die Zwillinge nicht mehr jeden Tag sehe, möchte ich wenigstens im Film erleben, was sie machen." Carrie sagte es leichthin, aber ihr saß ein Kloß im Hals. Es würde ihr sehr schwer fallen, sich von den Kindern zu trennen, wenn Will ein Kindermädchen gefunden hatte. Trotz der unruhigen Nächte, der allabendlichen Koliken und der Sorgen, die sie und Will sich machten, wenn sie sich nicht erklären konnten, was einem oder beiden der Kinder fehlte, hatte sie die zwei ins Herz geschlossen. Erst heute morgen hatte Jacob sie fest am Zeigefinger gepackt und ihr zum erstenmal richtig in die Augen gesehen. Ariana reagierte sofort, wenn sie ihre Stimme hörte. Selbst wenn
sie Hunger hatte, hörte sie meistens auf zu weinen, wenn sie, Carrie, beruhigend auf sie einsprach. Einmal hatte sie sie sogar angelächelt, aber dieses Geheimnis würde sie erst einmal für sich behalten. Schließlich hoffte Will bestimmt, daß dieses erste Lächeln ihm als Vater gelten würde. Nur sich selbst gestand Carrie ein, daß ihre Bindung an die Zwillinge inzwischen so stark war wie die einer leiblichen Mutter. Daß sie sich inzwischen so gut mit Will verstand, würde ihr den Abschied noch schwerer machen. Einträchtig sorgten sie für die Zwillinge und teilten sich sowohl die schönen als auch die weniger beliebten Aufgaben wie zum Beispiel das Reinigen des Windeleimers. Allerdings hatte sie es vermieden, noch einmal mit ihm im gleichen Bett zu schlafen. Statt dessen hatte sie darauf bestanden, daß er in ihrem Zimmer ein Babyphon installierte. Dann würde sie es sofort hören, wenn sie nachts gebraucht wurde. Wills Augen hatten ge funkelt, als sie ihn darum gebeten hatte, aber er hatte entgegen seiner sonstigen Gewohnheit nicht nach ihren Motiven gefragt. Carrie war so mit ihren Gedanken beschäftigt, daß sie Wills Schweigen zuerst gar nicht bemerkte. Als sie sich zu ihm umdrehte, sah sie, daß er sie stirnrunzelnd betrachtete. "Wahrscheinlich wirst du dich eines nicht allzu fernen Tages wieder verlieben, heiraten, eigene Kinder bekommen und diese beiden vergessen." "Das ist nicht zu erwarten", erwiderte sie trocken und schüttelte ihre kastanienbraunen Locken. "Ich kann mir nicht vorstellen, daß ich mich noch einmal verliebe." Allein die Vorstellung erfüllte sie mit Schrecken. "Warum nicht?" "Da fragst du noch? Weil ich nicht noch einmal so verletzt werden möchte. Nein, Will, diesen Fehler werde ich kein zweites Mal machen." "Nicht einmal, wenn der Mann den gleichen Sinn für Romantik hat wie Robert?"
"Nein. Er wußte zwar, wie man eine Frau umwirbt, aber wie du bereits sehr richtig festgestellt hast, ist er zu seiner eigenen Hochzeit nicht erschienen. Wie ist es bei dir? Wirst du wieder heiraten?" "Da bin ich noch nicht sicher. Meine Ehe gründete sich zwar nicht auf Liebe, aber ein Fehler war sie trotzdem nicht." Er lächelte ein wenig schief. "Schließlich habe ich dafür etwas bekommen." Carries Züge wurden weich, als sie an die Kinder dachte. "Für dich hat es sich also gelohnt zu heiraten. Ich glaube nicht, daß es sich für mich lohnen würde." "Ich verstehe." Eine Weile blickte er nachdenklich vor sich hin. "Glaubst du, daß niemand Roberts Platz in deinem Leben einnehmen kann?" Ihr Lächeln erstarb. Merkte er denn nicht, daß die Kränkung noch viel zu frisch war, als daß sie sachlich darüber reden konnte? Genaugenommen konnte sie überhaupt nicht darüber sprechen, ohne die Fassung zu verlieren - vor allem weil sie ständig das Gefühl hatte, sich vor Will rechtfertigen zu müssen. Abrupt stand sie auf. "Nein. Niemand wird die Gelegenheit bekommen, an Roberts Stelle zu treten." Als sie aus dem Zimmer ging, konnte sie Wills Blick im Rücken spüren. Am Tisch im Vorraum hielt sie einen Moment inne und berührte die Blüten der gelben Rosen, die Will ihr zwei Tage zuvor mitgebracht hatte. Carrie war erstaunt gewesen. Sie war zwar nicht sicher, aus welchen Motiven heraus Will handelte, aber zumindest hatte ihre Diskussion über Romantik beziehungsweise den Mangel daran ein erfreuliches Ergebnis gebracht. Wenn sie von dem Kuß absah, hatte Will bisher keinerlei romantisches Interesse an ihr gezeigt. Sie hatte ihm deutlich zu verstehen gegeben, daß sie sich nicht noch einmal verlieben wollte. Trotzdem war es schön, als Frau wahrgenommen zu werden.
Eigenartig, dachte sie. Diese eine Geste von Will bedeutete ihr mehr als Roberts blumige Versprechen und Schmeicheleien. Vielleicht lag es daran, daß Will beruflich viel stärker gefordert war als Robert und einen wesentlich komplexeren Charakter hatte. Außerdem hatte Roberts Verrat alles Vorangegangene ausgelöscht. Carrie wollte nicht länger an Robert denken. Ginny hatte ihr erzählt, daß niemand ihn seit der geplatzten Hochzeit in Webster gesehen hatte. Noch immer blühte der Klatsch in der Stadt. Carrie konnte sich vorstellen, daß sie darin eine führende Rolle einnahm, aber sie war so weit weg, daß ihr das Gerede der Leute nichts anhaben konnte. Das hatte sie Will zu verdanken. Im Laufe der letzten Woche hatte sie häufig über Robert nachgedacht, und ihr war bewußt geworden, daß sie einige Warnzeichen übersehen - oder bewußt ignoriert - hatte. Sein Widerstreben, mit ihr zu reden, hätte sie warnen müssen. In den Wochen vor der geplanten Hochzeit war er häufig geschäftlich verreist - meistens nach Atlanta. Er hatte sie aber nie von unterwegs angerufen. Sie hatte sich zwar darüber gewundert, war aber so mit den Hochzeitsvorbereitungen beschäftigt gewesen, daß sie der Sache nicht nachgegangen war. Jetzt wünschte sie, sie wäre aufmerksamer gewesen. Dann hätte sie vielleicht Antworten auf die Fragen gefunden, die sie quälten. Möglicherweise hatten Roberts Eltern ihn zu dieser Heirat gedrängt. Schließlich war er schon fast dreißig und hatte das Familienunternehmen übernommen. Vielleicht hatten die Gallatins gehofft, die Ehe würde seinem Leben Stabilität verleihen. Armer Robert. Beinahe tat er ihr leid. Aber nur beinahe. In ihrem Zimmer standen die Koffer und Kartons, die Ginny und Bret aus Webster mitgebracht hatten. Da sie nicht mehr lange hier sein würde, würde sie nur die Sachen auspacken, die sie brauchte, wenn sie nächste Woche ihre neue Stelle antrat.
Carrie hob den größten Koffer aufs Bett und öffnete ihn. Ginny hatte mit der ihr eigenen Sorgfalt gepackt. Die Ärmel eines eleganten cremefarbenen Seidenkleides hatte sie sogar mit Papier ausgestopft. Es war typisch für Ginny, sich solche Mühe zu geben. Carrie zog das Papier heraus, hob das Kleid hoch und schüttelte es leicht. Sie hielt sich das Oberteil an und betrachtete die winzigen Falten, die vom Halsausschnitt bis zur Taille verliefen, die Perlmuttknöpfe und den schwingenden Rock, der bei jedem Schritt leise raschelte. Carrie liebte dieses Kleid, hatte es jedoch noch nie getragen. Eigentlich hatte sie es in den Flitterwochen einweihen wollen. Seufzend legte sie es weg. Während sie ihre Sachen in den Wandschrank räumte, fielen ihr erneut die Kartons mit den Habseligkeiten von Lani Gray auf. Als sie sie ein Stück zur Seite rückte, damit sie ihre Kleider gerade aufhängen konnte, bemerkte sie, daß der Deckel des obersten nicht mit Klebeband befestigt war. Was war die Frau, die Will geheiratet hatte, wohl für ein Mensch gewesen? Was hatte sie zu ihrer Hochzeit getragen? Wahrscheinlich ein Krankenhausnachthemd. Woran hatte sie gedacht, als man ihr gesagt hatte, daß sie die Geburt möglicherweise nicht überleben würde? Vorsichtig hob Carrie den Deckel hoch. Daß Lani sehr jung und ziemlich labil gewesen war, wußte sie von Will. Doch zu einer Persönlichkeit gehörte mehr. Welche Dinge waren einer Frau wichtig gewesen, die keine Angehörigen, kein richtiges Zuhause gehabt hatte? Was hatte sie ihren Kindern hinterlassen? Viel konnte von ihren Sachen nach dem Feuer in ihrer Wohnung nicht übriggeblieben sein. Carries Finger berührten etwas Weiches, doch was es war, konnte sie im Halbdunkel des Wandschrankes nicht erkennen. Schließlich zog sie den Karton ein Stück heraus. Ganz oben lag eine Mohairstola in einem tiefen, warmen Rot mit Fransen. Ehrfürchtig betrachtete sie das
edle Stück. Ob Lani das komplizierte Muster selbst gestrickt hatte? Carrie breitete den Schal aus. Wenn Will ihn für Ariana aufheben wollte, würde er sorgfältiger verpackt werden müssen, damit er nicht durch Motten beschädigt wurde. "Was, zum Teufel, machst du da?" Erschrocken fuhr Carrie herum. Will stand auf der Türschwelle und hatte die Hände in den Rahmen gestemmt. Sein Mund war zu einem schmalen Strich zusammengepreßt. Bei seiner Miene mußte Carrie unwillkürlich an ein Gewitter denken, das sich über dem Atlantik zusammenbraute. "Warum schleichst du dich denn so an?" fragte sie atemlos. "Du hast mich zu Tode erschreckt." "Ich habe dir eine Frage gestellt." Er kam langsam auf sie zu. Kein Zweifel, er war wütend. Überrascht sah sie ihn an und machte eine Handbewegung. "Die Kartons standen da drin, und ich ..." "Du wolltest ein bißchen herumschnüffeln", beendete er den Satz und nahm ihr den Schal aus der Hand. "Das ist nicht wahr", verteidigte sie sich automatisch, doch sein Blick brachte sie zum Schweigen. Obwohl sie sich nicht erklären konnte, warum er so aufgebracht war, wußte sie, daß sie sich entschuldigen mußte. Sie legte ihm die Hand auf den Arm und spürte, wie sich seine Muskeln anspannten. "Will, es tut mir leid. Ich hätte den Karton nicht aufmachen sollen. Du hast recht, ich habe herumgeschnüffelt. Ich wollte wissen, was für ein Mensch Lani war, welche Dinge ihr wichtig waren, was für eine Mutter sie Jacob und Ariana gewesen wäre. Und was sie ihnen hinterlassen hat." "Sie ist tot." Er ergriff ihre Hand und hielt sie fest. Der Zorn war aus seiner Miene gewichen, doch er wirkte bedrückt. "Ist es da noch wichtig, was für ein Mensch sie war?"
"Natürlich! Eines Tages werden die Kinder nach ihr fragen. Was wirst du ihnen dann sagen?" Noch immer hielt Will ihre Hand fest. Offenbar war ihm das gerade erst bewußt geworden, denn der Ausdruck in seinen Augen veränderte sich plötzlich. Carrie hatte sich bisher für normal groß gehalten, aber als sie jetzt so nahe vor Will stand und ihm in die Augen blickte, kam sie sich plötzlich sehr klein vor. Nein, verbesserte sie. Nicht klein. Überwältigt. Sie hätte nicht sagen können, warum sie so empfand. Das war Will, den sie seit Jahren kannte. Sie hatte neben ihm gestanden, als ihre Schwester seinen Bruder geheiratet hatte, endlos mit ihm über ihre Berufswahl gestritten ... aber sie hatte auch in seinem Wohnzimmer mit ihm getanzt. Und ihn geküßt. Carrie redete sich ein, daß ihr Zittern auf seinen ungewohnten Zorn zurückzuführen war. Daß er ein sehr anziehender Mann war und ihr aus einer peinlichen Situation geholfen hatte, war bestimmt nicht der Grund. Sie konnte sich nur die seltsamen Gefühle nicht erklären, die sie befielen, wenn sie ihn beobachtete, wie er nachts eines seiner Kinder wickelte und fütterte. Mit halbgeschlossenen Augen und Bartstoppeln im Gesicht wirkte er erotischer als so mancher Leinwandstar. Manchmal fand sie ihn immer noch unerträglich - zum Beispiel wenn er immer wieder die Rede auf Robert brachte. Wie hatte ihr bisher entgehen können, welche Kraft hinter seinem täuschend lässigen Auftreten steckte? Schließlich hatte sie mehr als einmal erlebt, wie dominant er sein konnte. Der Zorn, der aus seinen Augen gesprüht hatte, war einem eigenartigen Schimmer gewichen, der sie an glimmende Holzscheite in einem Kamin erinnerte. Unsicher sah Carrie ihn an. Irgend etwas hatte sich in den letzten Minuten verändert. Dies war nicht mehr die Kameradschaft der letzten Woche. Dies war auch nicht eine der Auseinandersetzungen, die immer wieder einmal zwischen
ihnen aufflackerten. Hier ging es um das Verhältnis zwischen Mann und Frau. Verwirrt und unsicher versuchte Carrie, ihre Hand wegzuziehen, aber Will hielt sie fest und zog sie näher zu sich. Die Atmosphäre knisterte förmlich vor Spannung, und Carrie konnte sich schon längst nicht mehr erinnern, was sie Will eigentlich gefragt hatte. Offenbar hatte er einen klareren Kopf behalten als sie, denn plötzlich sagte er: "Ich werde meinen Kindern dasselbe erzählen wie dir, Carrie - über Lanis Talent als Künstlerin und ihren großen Wunsch, sie zur Welt zu bringen." "Ich ... ich verstehe." Carrie warf einen Blick auf die Kartons. "Glaubst du nicht, sie werden etwas Greifbares brauchen? Etwas von ihrer Mutter, das sie anfassen können?" "Vielleicht. Wenn die Zeit dafür reif ist." Mit der anderen Hand umfaßte Will ihre Schulter. Sie konnte seine Wärme durch ihr T-Shirt spüren. Die Art, wie er sie berührte, verriet ihr, daß er eine wesentlich komplexere Persönlichkeit war, als sie angenommen hatte - und im Moment wissen wollte. "Carrie, weißt du denn nicht, daß alles im Leben auf den richtigen Zeitpunkt ankommt?" Sie fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. "Wie meinst du das?" Warum brachte er sie so aus dem Gleichgewicht? Sie hatten doch einen Weg gefunden, miteinander auszukommen. Diese eigenartigen Gefühle, die er in ihr wachrief, wollte sie nicht. In einem Anflug von Panik machte sie sich los und trat einen Schritt zurück. Ein Lächeln umspielte Wills Mund. "Es gilt nur, diesen Zeitpunkt abzuwarten." Er verschränkte die Arme und lehnte sich gegen die Schranktür. "Kannst du am Montag mit der Arbeit in der Galerie anfangen?" "Arbeit?" wiederholte sie benommen. Er schmunzelte. "Du weißt schon, eine Mischung aus geistiger und körperlicher Tätigkeit, für die man am Ende des Monats bezahlt wird."
Sie verdrehte die Augen. Wenn Will in dieser Stimmung war, hatte sie keine Angst vor ihm. Nur wenn er sich in einen Verführer verwandelte, war sie ihm nicht gewachsen. "Ich weiß, was Arbeit ist." "Fein." Er wandte sich ab und ging zur Tür. "Dann würde ich vorschlagen, du kommst am Montag und schaust dir die Galerie erst einmal an." "Ist gut." Als er das Zimmer verlassen wollte, hob sie die Hand. "Will?" Er hielt inne. "Ja?" Carrie atmete tief durch. Vielleicht machte sie sich lächerlich, aber sie mußte es einfach sagen. "Ich werde meine Bewerbungsunterlagen mitbringen." Sie deutete auf eine große Mappe, die auf der Kommode lag. "Deine Bewerbungsunterlagen?" "Ja." Sie hob das Kinn. "Ich möchte, daß du mich genauso behandelst wie jeden anderen Bewerber für die Stelle als PRManager in deiner Galerie." Will machte ein verwirrtes Gesicht. "Aber warum denn? Ich habe dir doch schon gesagt, daß du den Job hast." "Ich möchte mir aber sicher sein, daß ich ihn aufgrund meiner Fähigkeiten bekomme und nicht ..." Sie verstummte. "Weil du mir leid tust?" "Genau." Sie war erleichtert, daß er sie verstand. "Das ist es." "Carrie, ich werde mir deine Unterlagen ansehen und deine Empfehlungsschreiben lesen. Dann kannst du mir zeigen, was du für meine Galerie tun kannst und wie. Glaub mir, du tust mir nicht leid. Ich bin zwar nicht unbedingt damit einverstanden, daß du diesen Beruf gewählt hast, aber ich respektiere deine Fähigkeiten." Carrie wurde allmählich zornig. "Wenn du glaubst, ich habe den falschen Beruf, warum willst du mich dann einstellen?" Will lachte leise. "Vielleicht denkst du mal darüber nach, Carrie."
Carrie murmelte etwas und biß sich frustriert auf die Lippe. Sie konnte es kaum erwarten, sich wieder in die Arbeit zu stürzen - und sei es nur, um so viel Geld zu verdienen, daß sie sich eine eigene Wohnung leisten konnte. Dann würde sie diesen beunruhigenden Mann wenigstens nicht mehr morgens, abends und nachts um sich haben.
VI Die Calhoun-Galerie war ganz anders, als Carrie sie sich vorgestellt hatte. Angesichts Wills lockerer Einstellung gegenüber den meisten Dingen des Lebens hatte sie angenommen, daß auch die Atmosphäre in der Galerie lässig sein würde - zum Beispiel wie in einer Strandgalerie in Kalifornien. Doch sie hatte sich getäuscht. Hier ging es weder förmlich noch leger zu. Das Gebäude, in dem Will ausstellte, schien früher einmal ein Wohnhaus gewesen zu sein. Zumindest erinnerte die Aufteilung der Räume daran. Neben der großen Flügeltür am Eingang gab es zwei hohe Fenster. Darüber befand sich ein Kippfenster, so daß selbst an heißen Tagen die kühle Atlantikbrise ins Haus wehen konnte. Für den Fall, daß die Brise sich zu einem gefährlichen Sturm steigerte, ließen sich die Fenster durch robuste Läden schützen. Carrie blieb einen Moment stehen und betrachtete das strahlendweiß gestrichene Gebäude. Ein dezenter Schriftzug über der Tür verkündete, daß es sich hier um die CalhounGalerie handelte, die sich auf amerikanische Werke und vor allem primitive Kunst spezialisiert hatte. Was das genau war, wußte Carrie zwar nicht, aber zumindest klang es beeindruckend. Wenn sie sich erst besser auskannte, würde sie dieses Merkmal in ihrer Werbe- und PR-Kampagne herausstellen.
Ehe sie eintrat, ließ sie einen Moment die Umgebung auf sich wirken. Glücklicherweise roch es in der Catfish Row nicht nach dem Fisch, nach dem die Straße benannt worden war und den fliegende Händler früher direkt von, ihren zweirädrigen Karren aus verkauft hatten. Bis Anfang der siebziger Jahre war dieser Stadtteil ziemlich ärmlich gewesen. Jetzt gab es hier Spezialitätengeschäfte und Wohnhäuser, deren Wert Carrie nicht einmal erraten konnte. Beeindruckt blickte sie sich um. Vor Jahren war sie einmal kurz hier gewesen, hätte die Gegend aber nicht wiedererkannt. Wenn Will in dieser Umgebung eine Galerie besaß, mußte er sehr erfolgreich sein. Daran hatte sie zwar nicht gezweifelt, doch erst jetzt wurde ihr bewußt, was für ein angesehener Geschäftsmann er sein mußte. Sie stieg die breiten, flachen Stufen empor, öffnete die Eingangstür und betrat einen großen Raum. Fasziniert betrachtete sie die an den cremefarben gestrichenen Wänden ausgestellten Bilder und die Drucke, die in großen Metallkörben sortiert waren. Die Galerie wirkte einladend. Von manchen Kunstsammlungen, die Carrie auf Reisen in andere amerikanische Großstädte besucht hatte, hatte sie sich eingeschüchtert gefühlt. Hier gingen die Räume ineinander über und verlockten den Besucher, in Ruhe hindurchzubummeln. Ob hier auch einige von Lani Grays Bildern hingen? Ehe Carrie sich in Ruhe umschauen konnte, kam eine lächelnde junge Frau auf sie zu. "Guten Morgen. Ich bin Brenda Crest. Kann ich Ihnen behilflich sein?" "Gern. Mein Name ist Carrie McCöy. Ich möchte zu Will Calhoun." Als Carrie den Namen aussprach, begann ihr Herz schneller zu schlagen. "Ach ja, er sagte, daß Sie kommen würden." Brenda Crest deutete auf eine Treppe, die in den ersten Stock führte. "Sein Büro ist das erste auf der rechten Seite."
"Vielen Dank." Eigentlich ist die Situation ziemlich albern, dachte Carrie, als sie die Treppe emporstieg. Sie hatte in Wills Haus geschlafen, war nachts an seiner Seite mit einem Baby auf dem Arm hin und her gewandert und hatte vor weniger als zwei Stunden mit ihm gefrühstückt. War es da nicht lächerlich, daß sie ihr schickes hellblaues Kostüm und die schwarzen Pumps angezogen und ihre Mappe mit Musterarbeiten zusammengepackt hatte, um sich im besten Licht zu präsentieren, wenn er ihr die Stelle bereits fest zugesagt hatte? Doch nachdem sie eine Woche bei ihm gewohnt und sich um seine Kinder gekümmert hatte, war sie entschlossen, ihm zu zeigen, daß sie mehr konnte als Windeln wechseln und Milchpulver mischen. Außerdem hatte sie deutlich gemerkt, daß Will daran zweifelte, ob sie überhaupt etwas für seine Galerie tun konnte. Jetzt wollte sie ihm das Gegenteil beweisen. Während ihr diese Gedanken durch den Kopf gingen, runzelte Carrie die Stirn. Auf der Fahrt hierher hatte sie keineswegs an PR-Aktionen gedacht, sondern an die Zwillinge. Obwohl sie wußte, daß Jacob und Ariana für die nächsten Stunden bei Mrs. Wiggiris in besten Händen waren, machte sie sich Sorgen. Sie benahm sich schon wie eine Glucke! Wie sollte das nur werden, wenn sie ihre eigene Wohnung bezog? Die obere Hälfte von Wills Tür bestand aus Mattglas. In der rechten unteren Ecke stand sein Name in Goldbuchstaben. Sie hob die Hand, um anzuklopfen, doch dann hörte sie ihn sprechen. Offenbar telefonierte er. "Wenn Cyrus nicht ans Telefon kommen will, werde ich ihm persönlich meine Aufwartung machen. Ich habe ein Angebot, das er sich bestimmt nicht entgehen lassen will. Ja, ich verstehe. In einer Stunde werde ich da sein." Carrie drehte den Türknopf und steckte den Kopf um die Ecke. Sie war neugierig darauf, Will in seinem Arbeitsumfeld zu sehen. Sein Büro war geräumig und sehr ordentlich. Jetzt, da sie
seine Gewohnheiten kannte, hatte sie das nicht anders erwartet. Er saß an einem auf Hochglanz polierten Mahagonischreibtisch, auf dem sich verschiedene Papiere stapelten. Einer dieser Stapel war von einem eigenartigen Briefbeschwerer gekrönt, der wie ein Stück rostiges Metall aussah. Der Inhalt der einzelnen Fächer schien nach Farben geordnet zu sein. Carrie war gespannt, was die Farben bedeuteten. Will hatte sie entdeckt. "Komm herein, Carrie." Er stand auf und deutete einladend auf einen Stuhl neben einem antiken Tisch an der Wand. Carrie setzte sich auf den Stuhl, der trotz der Holzlehne überraschend bequem war, legte ihre Mappe auf den Tisch und öffnete sie. Dann nahm sie verschiedene Papiere heraus - von ihr verfaßte Presseveröffentlichungen, Werbetexte und Skizzen von Kampagnen, an denen sie mitgearbeitet hatte. Als alles bereitlag, begann sie jedes Stück zu erläutern. "Viele dieser Ideen können so verändert werden, daß sie sich auch für deine Galerie eignen." "Ich möchte mir die Vorschläge noch einmal in Ruhe ansehen", meinte er. "Wenn ich etwas nicht verstehe, frage ich dich." Carrie war nicht überrascht. Will war nicht der Typ Mann, der überstürzt Entscheidungen traf oder sie gar anderen überließ. Sie lehnte sich zurück und wartete. Je länger sein Schweigen jedoch dauerte, desto unruhiger wurde sie. Schließlich stand sie auf und begann, in seinem Büro herumzugehen. Die Wände waren in einem dezenten Blau gestrichen, das allerdings nur hier und da zwischen den vielen Bildern durchschimmerte. Eines dieser Bilder erregte ihre Aufmerksamkeit. Es war höchstens dreißig Zentimeter im Quadrat und zeigte die berühmte Rainbow Row in Charleston. Die lebhaften Farben der Häuser waren durch am Himmel zusammengeballte Wolken gedämpft. Gruppen von Menschen mit Taschen in der Hand eilten aus den Türen.
Bewohner, die vor einem Hurrikan fliehen, dachte Carrie. Dann jedoch las sie das kleine Metallschild am Rahmen. "Ein Familienpicknick" stand darauf. Erneut studierte Carrie das Bild. Tatsächlich. Die Leute trugen keine Koffer, sondern Picknickkörbe. Welche Familie würde wohl bei einem heranziehenden Hurrikan zu einem Picknick aufbrechen? Neugierig suchte sie nach dem Namen des Künstlers. In der rechten unteren Ecke entdeckte sie die winzigen Blockbuchstaben: Lani Gray. Interessant. Eine Familie, die kurz vor dem Ausbruch eines Hurrikans das schützende Haus verließ, konnte nur eine Familie sein, die bald in alle Winde zerstreut sein würde. Carrie Erinnerte sich, daß Will ihr erzählt hatte, Lanis Eltern seien bei einem Bootsunglück ums Leben gekommen. Als sie sich umdrehte, merkte sie, daß Will sie beobachtete. Als er ihre bedrückte Miene sah, sagte er: "Verstehst du jetzt, was ich damals meinte, als ich von Lanis Bildern sprach?" "Sie tut mir leid." "Lani war ein sehr unglücklicher Mensch." Will legte Carries Arbeiten in die Mappe zurück und schloß sie. "Als sie dann von ihrem Nichtsnutz von einem Freund verlassen wurde, sobald dieser von ihrer Schwangerschaft erfuhr, und ihre wenigen Habseligkeiten bei dem Wohnungsbrand verlor, schienen alle ihre Alpträume wahr geworden zu sein." "Es ist sehr traurig. Sie war so jung und hatte eigentlich nie eine Chance." Carrie schluckte. "Will?" "Was ist denn?" . "Besteht die Gefahr, daß Jacob und Ariana Lanis Veranlagung zu Diabetes geerbt haben? Und ihre ..." "Psychische Labilität?" beendete er den Satz für sie. Sie nickte. "Ich will dir nichts vormachen. Die Gefahr besteht durchaus, aber der Kinderarzt hat mir versichert, daß die Umgebung, in
der Kinder aufwachsen, eine ebenso große Rolle spielt wie erbliche Faktoren." "Ein gesundes Umfeld kannst du ihnen jedenfalls bieten." "Beziehungsweise werde ich das können, wenn ich endlich mal wieder eine Nacht durchschlafe." Er stand auf und kreiste mit den Schultern, als wollte er die bedrückenden Gedanken abschütteln. Dann deutete er auf Carries Mappe. "Jetzt, da ich gesehen habe, was du kannst, habe ich eine Aufgabe für dich." Sie lächelte. "Das sagtest du bereits." "Ich meine, jetzt gleich. " Er blickte auf die Uhr. "Beziehungsweise in ungefähr vierzig Minuten." Um ein Haar hätte Carrie protestiert, aber dann schwieg sie. Ariana und Jacob würde in Mrs. Wiggins' Obhut schon nichts passieren. Außerdem war sie schließlich hier, um zu arbeiten. "Was soll ich denn tun?" "Du kannst mich zu einem Metallbildhauer namens Cyrus Little begleiten. Ich will Cyrus überreden, seine Werke bei uns auszustellen." Carrie schmunzelte. "Du meinst, ich soll einem Meister bei der Arbeit zusehen." "Um Himmels willen, nein!" Will hielt ihr die Tür auf. "Du sollst ihm zeigen, was wir alles für ihn tun können, um ihn zu einem reichen Mann zu machen." Auf dem Weg nach draußen blieb er kurz bei Brenda stehen. "Brenda, ich fahre jetzt zu Cyrus Little. Die Nummer haben Sie ja, falls jemand mich dringend erreichen will." Als er Carrie in seinen Wagen half, murmelte er: "Über kurz oder lang werde ich mir ein Autotelefon zulegen müssen." "War das kein Thema für dich, ehe du Vater wurdest?" fragte sie. Will machte ein betretenes Gesicht. "Nein. Ich dachte stets, Autotelefone sind nur etwas für den Notfall, und in meiner Branche sind Notfälle ziemlich selten. Außerdem wird mir
manchmal himmelangst, wenn ich andere Fahrer beim Telefonieren beobachte. Sie achten überhaupt nicht mehr auf den Verkehr." Er fuhr aus der Parklücke. "Jetzt liegen die Dinge allerdings anders. Du verstehst sicher, was ich meine." Carrie mußte lachen. "Ich verstehe dich sogar sehr gut. Ehe ich das Haus verlassen habe, habe ich dreimal nach den Zwillingen gesehen. Als ich endlich in der Garage war, bin ich noch einmal zurückgegangen, um mich zu vergewissern, daß Mrs. Wiggins auch wirklich alles hat, was sie braucht." Will streifte sie mit einem Blick. "Aber Carrie! Du klingst ja wie eine Mutter." "Ich weiß", antwortete sie seufzend, und er lachte. Zwei Stunden später ließ sich Carrie auf den Beifahrersitz von Wills Auto fallen. "Eine Frau!" rief sie kopfschüttelnd. "Eine Frau namens Cyrus. Die Arme! Aber du hattest von einem Mann gesprochen!" "Bis vorhin war ich auch davon überzeugt, es mit einem Mann zu tun zu haben. Dabei haßt sie Männer!" "Kannst du ihr das vorwerfen?" fragte Carrie erheitert. "Ihr Vater hat sie nach sich selbst genannt und ihr Leben lang versucht, sie nach seinem Ebenbild zu formen. Was für ein Glück, daß sie mit ihrer Kunst ein Ventil für ihre Frustrationen gefunden hat!" Die Skulpturen der Künstlerin waren etwas ganz Besonderes, und Will hatte seinen ganzen Charme eingesetzt, um sie für seine Galerie zu gewinnen. Miss Little hatte ihn jedoch mit Nichtachtung gestraft und sich ausschließlich mit Carrie unterhalten. Wills Mundwinkel zuckten. "Ich muß dir ein Kompliment machen. Du hast wie ein Profi verhandelt. Wie es scheint, verstehst du wirklich etwas von deinem Job." "Ich versuche ja die ganze Zeit, dich davon zu überzeugen." Will ließ den Motor an und fädelte sich geschickt in den Verkehr ein. "Ich würde sagen, damit ist Ihr
Vorstellungsgespräch beendet, Miss McCoy. Sie sind hiermit eingestellt. Nachdem wir das wichtigste geschäftliche Projekt dieses Tages erfolgreich hinter uns gebracht haben, brauche ich deine Hilfe bei etwas anderem." "Und das wäre?" "Kannst du mir helfen, ein Kindermädchen für Ariana und Jacob auszusuchen?" Aus einem Grund, den sie sich nicht erklären konnte, wurde Carrie schwer ums Herz. Dabei hätte sie eigentlich froh sein müssen, bald aus der Verantwortung für die Zwillinge entlassen zu werden. "Selbstverständlich, Will." Ihr Lächeln wirkte ziemlich gekünstelt. "Das mache ich gern ... Vielleicht sollte ich allmählich auch mit der Suche nach einer Wohnung beginnen." "So eilig ist das wirklich nicht", wehrte er ab. "Es ist höchste Zeit, daß ich auf eigenen Füßen stehe", beharrte sie. "Ich kann deine Gastfreundschaft doch nicht auf ewig beanspruchen." "Wir werden ja sehen", war seine rätselhafte Antwort. "Was hattest du denn an dieser hier auszusetzen?" Gereizt schloß Carrie die Tür hinter der jungen Frau im schlichten braunen Kleid. Während des ganzen Vorstellungsgesprächs hatte Will ein finsteres Gesicht gemacht und es Carrie überlassen, die Fragen zu stellen. Dabei hatte die Frau wirklich gute Zeugnisse. Wills einziger Beitrag zu der Unterhältung waren einsilbige Bemerkungen und düstere Blicke gewesen. Er schien davon überzeugt, die Bewerberin wolle seine Kinder entführen. Stirnrunzelnd bückte sich Will und hob Jacob und Ariana aus dem Ställchen, das seit einiger Zeit im Wohnzimmer stand. Schützend drückte er sie an seine Brust. "Ich glaube nicht, daß sie Kinder wirklich gern hat." Carrie verdrehte die Augen. "Will, sie hat einen Abschluß an der renommiertesten Kinderpflegeschule des Landes gemacht.
Wer Kinder nicht mag, wählt nicht ausgerechnet diesen Beruf. Außerdem ist sie die älteste von vier Geschwistern." "Eben!" Will nickte triumphierend. "Das bestätigt meine Überzeugung. Wer so viel mit kleinen Kindern zu tun hatte, muß etwas gegen sie haben." Carrie breitete resigniert die Hände aus. "Will, das ergibt doch überhaupt keinen Sinn. Du bist einer von fünf Geschwistern, aber du hast ein sehr gutes Verhältnis zu deinen Brüdern und Schwestern." "Das ist etwas anderes", erklärte er und wiegte die Zwillinge sanft hin und her. Carrie ging auf ihn zu und nahm ihm Ariana ab. Sie hatte der Kleinen das weiche braune Haar über der Stirn mit einer rosa Schleife zusammengebunden. Jetzt schob sie sie liebevoll zurecht. Ariana sah sie dabei unverwandt an. Carrie drückte sie einen Moment an sich und gab ihr einen Kuß. Wie gut sie roch! "Inwiefern ist es anders?" wollte sie wissen. "Es ist eben so. Vielleicht weil ich ein Mann bin." Carrie hob den Kopf und sah ihn verblüfft an. "Will, in all den Jahren, seit ich dich kenne, hast du noch nie eine so chauvinistische Bemerkung gemacht." Er hatte soviel Anstand, verlegen auszusehen, aber er gab sich nicht geschlagen. "Und was ist mit dir? Diese Karen Pearson, die als zweite dran war, wäre perfekt gewesen, aber die wolltest du nicht." Perfekt? dachte Carrie. Und ob sie perfekt war - mit langen Beinen, Augen so blau wie ein skandinavischer Fjord und taillenlangen blonden Haaren. Zugegeben, sie hatte das Haar zu einem Zopf geflochten und trug Sachen, an der selbst eine strenge Großmutter nichts auszusetzen gefunden hätte, aber Carrie war nicht entgangen, wie diese Frau Will angesehen hatte - als wäre er der Preisbulle auf einer Landwirtschaftsausstellung, dem sie gleich eine Medaille verleihen würde.
Carrie wich seinem Blick aus. "Sie war etwas zu interessiert an der Stelle. Ich frage mich, warum sie die letzte aufgegeben hat." "Das Kind, das sie betreute, kam in einen Ganztagskindergarten. Deshalb wurde sie nicht mehr gebraucht. Hast du denn nicht richtig zugehört?" "Natürlich habe ich zugehört", erwiderte Carrie unwirsch. Sie hatte sich sogar ganz besonders konzentriert und einen unerklärlichen Anflug von Eifersucht verspürt, als Will Miss Pearsons lange Beine interessiert gemustert hatte. Sie warf den Kopf zurück. "Außerdem war sie die einzige, an der ich etwas auszusetzen hatte. Alle anderen wolltest du nicht." "Jetzt übertreibst du aber." Carrie wußte, daß es nicht so war, aber sie verfolgte die Diskussion nicht weiter. Ariana hatte ihren Daumen gepackt und zog daran. Carrie küßte die winzigen Finger und flüsterte ihr zu, was für ein süßes und braves Baby sie doch sei. In den vergangenen beiden Wochen hatte sich eine gewisse Routine entwickelt. Carrie fuhr mo rgens mit Will zur Arbeit und kam mittags nach Hause. Bisher hatte Mrs. Wiggins es ohne Probleme geschafft, vormittags Kinder und Haushalt gleichzeitig zu versorgen. Es waren also keine organisatorischen Schwierigkeiten zu erwarten, wenn Will ein Kindermädchen engagierte und sie, Carrie, auszog. Vorausgesetzt, es würde jemals eine Gnade vor seinen Augen finden. In den letzten zehn Tagen hatten sie zehn Bewerberinnen empfangen, aber keine hatte seinen hohen Maßstäben entsprochen. Trotz seines ausdrücklichen Wunsches, möglichst rasch ein Kindermädchen zu finden, schien Will auf eine Kreuzung zwischen Mary Poppins, Mutter Teresa und Marilyn Monroe zu warten.
Insgeheim war Carrie gar nicht unglücklich darüber, daß die Suche nach einer zuverlässigen Betreuerin für Jacob und Ariana so lange dauerte. Die Zwillinge waren jetzt tagsüber länger wach, so daß Carrie mit ihnen spielen konnte. Entsprechend ruhiger waren die Nächte. Inzwischen wachten Jacob und Ariana nur noch einmal auf und schliefen nach einer Portion Milch meistens gleich wieder ein. Carrie und Will beherrschten das Wickeln, Flaschenwärmen und Füttern inzwischen praktisch im Schlaf. Seite an Seite saßen sie in den Schaukelstühlen und wiegten die Zwillinge hin und her. Carrie konnte sich schon gar nicht mehr vorstellen, woanders als bei Will und den Kindern zu sein. Vor kurzem hatten sie entdeckt, daß die Kinder nachts fester schliefen, wenn sie abends ein Stück spazierengefahren wurden. Will hatte einen Zwillingskinderwagen der Luxusklasse mit allen technischen Schikanen erstanden. Wenn sie jetzt die Kinder an schönen Abenden ausführen, winkten ihnen die Nachbarn zu und erkundigten sich nach Jacob und Ariana. Die Leute dachten, sie und Will wären verheiratet und die Zwillinge ihre gemeinsamen Kinder. Da es viel zu mühsam gewesen wäre, die wahren Hintergründe zu erklären, ließ Carrie sie in diesem Irrtum. Oft malte sie sich aus, wie es wäre, wenn sie für immer bei Jacob und Ariana bleiben könnte, obwohl sie wußte, Wie gefährlich solche Gedanken waren. Um so schwerer würde es ihr fallen fortzugehen. Daß Will sich ihre Diskussion über die Art, wie man eine Frau umwarb, zu Herzen genommen hatte, machte die Sache für Carrie nicht leichter. Mindestens zweimal in der Woche brachte er ihr Blumen, und da er stets die beste Qualität wählte, die lange hielt, hatte Carrie zusätzliche Vasen kaufen müssen. Einmal hatte er ihr ein kleines antikes Schränkchen mitgebracht, in dem früher exotische Tees aus China gelagert worden waren. Es war aus geschnitztem Kirschholz und hatte ein im Vorderteil eingelassenes Muster aus Jade. Carrie wagte gar nicht daran zu
denken, was dieses Geschenk gekostet hatte. Für sie zählte vor allem die Sorgfalt, mit der Will es ausgesucht hatte. Seine Stimme riß sie aus ihren Gedanken. "Vielleicht war es ein Fehler, überhaupt nach einem Kindermädchen zu suchen", hörte sie ihn sagen. "Möglicherweise ist das nicht die beste Lösung für Jacob und Ariaria." Carrie blickte auf. Er hatte einen versonnenen Ausdruck in den Augen. "Was wäre deiner Meinung nach denn am besten für sie?" "Eine Mutter." "Das stimmt natürlich." Verwirrt sah sie ihn an. Wohin führte diese Unterhaltung? Will nickte, als hätte er plötzlich das fehlende Teil gefunden, das das Puzzle zu einem Ganzen zusammenfügte. Er trat auf sie zu. Fragend neigte Carrie den Kopf zur Seite. "Ich finde", sagte er ruhig, "diese Mutter solltest du sein." Carrie schreckte zusammen. Hatte er ihre Gedanken gelesen? "Ich?" fragte sie gepreßt. "Ja." Er nahm ihr Ariana ab und legte beide Kinder in ihr Ställchen. Dann setzte er das Mobile aus Zirkustieren in Bewegung, das Carrie darüber aufgehängt hatte. "Aber Will, wie könnte ich ihre Mutter sein?" "Ganz einfach. Du heiratest mich."
VII Carrie traute ihren Ohren nicht. "Ich soll dich heiraten?" Sie preßte die Hand aufs Herz, das plötzlich wie verrückt pochte. Will zog die Augenbrauen hoch. "Das klingt, als wäre dieses Schicksal schlimmer als der Tod." Carrie streckte ihm die Hände entgegen, ließ sie jedoch gleich darauf wieder sinken. Ihre Augen wirkten plötzlich riesig in ihrem schmalen Gesicht. "Nein, natürlich nicht", sagte sie hastig. "Ich bin nur so überrascht. Woher hätte ich denn ahnen sollen, daß du ..." Sie wußte nicht weiter. "Ans Heiraten denkst?" beendete er den Satz für sie. "Hast du jetzt schon Angst, das Wort auch nur auszusprechen? Oder hat deine Erfahrung mit Robert, dem Schwächling, dir die Lust an der Ehe ein für allemal vergehen lassen?" "Jawohl, das hat sie." Carries Stimme klang gepreßt, weil sie kaum Luft bekam. "Ich habe dir doch gesagt, was ich empfinde ..." "Ja, ja, daß niemand Roberts Platz je einnehmen kann und so weiter", bestätigte er finster. "Und daß du niemals einen anderen lieben wirst." Carrie war sich nicht sicher, ob sie tatsächlich das hatte sagen wollen. "Was ich wirklich gemeint habe, ist, daß ich das Risiko nicht noch einmal eingehen würde. Ich habe Jacob und Ariana sehr lieb und wäre wirklich gern ihre Mutter, aber ..."
"Nicht wenn ich Teil des Arrangements bin?" Sie hob hilflos die Hände. "O Will. Hör auf, mir immer wieder Worte in den Mund zu legen. Ich habe gesagt, daß ich mich bestimmt nicht wieder verlieben werde." Er zog die Brauen zusammen und neigte den Kopf zur Seite, als könnte er dann besser hören. "Wer hat denn etwas von Liebe gesagt?" Vor Verlegenheit lief sie rot an. "Aber ich dachte ..." Will schnitt ihr mit einer Bewegung das Wort ab. "Carrie, wir sind doch beide erwachsen. Wir wissen, was wir vom Leben wollen. Ich nehme an, daß du nach dem Reinfall mit Robert von romantischer Liebe erst einmal genug hast." Carrie nickte langsam und steckte sich eine widerspenstige Haarsträhne hinters Ohr. Dann warf sie Will einen ironischen Blick zu. " Am Altar stehengelassen zu werden dürfte wohl jede Frau von romantischen Vorstellungen kurieren." "Warum sollten wir also keine Ehe schließen, die sich auf etwas Wichtigeres gründet?" Argwöhnisch hob sie den Kopf. "Was denn zum Beispiel?" "Gleiche Interessen", antwortete er prompt. "Du arbeitest doch gern in der Galerie, oder?" "Ja." Worauf wollte er hinaus? "Sogar sehr gern." "Du interessierst dich für die Künstler, die Kunden - alles, was mit dem Job zusammenhängt. Vor allem aber hast du ein ganz besonderes Talent, mit schwierigen Menschen wie Cyrus Little umzugehen." Will war richtig in Fahrt gekommen. Er begann, im Zimmer auf und ab zu laufen. Dabei gestikulierte er lebhaft, um seinen Argumenten Nachdruck zu verleihen. Er erinnerte Carrie an einen Anwalt, der vor Gericht sein Plädoyer hielt. "Du hast mir versichert, du seist ein Profi, der etwas von seinem Job versteht. Das hast du inzwischen mehr als einmal bewiesen." Carrie betrachtete ihn. Das mußte einer der seltsamsten Heiratsanträge in der Geschichte der Menschheit sein. Als
wollte sie sich vergewissern, daß sie nicht etwa träumte, drehte sie sich zu den Zwillingen um. Ohne zu ahnen, daß gerade über ihre Zukunft entschieden wurde, waren sie eingeschlafen. Carrie atmete tief durch und wandte sich wieder Will zu. "Es freut mich, daß du meine Arbeit in der Galerie zu schätzen weißt, aber Menschen heiraten nicht nur, weil sie bei der Arbeit harmonieren." "Nein, natürlich nicht. Das ist nur ein Grund. Wir haben auch andere Dinge gemeinsam wie Freunde und den familiären Hintergrund. Aber die beiden wichtigsten Gründe liegen da drüben und schlafen", endete er und deutete auf die Zwillinge. Carries Miene wurde weich. "Der Gedanke, Ariana und Jacob verlassen zu müssen, ist wirklich schrecklich für mich. Ich werde sie zwar gelegentlich bei Besuchen oder Familienfeiern sehen, aber das ist nicht dasselbe." "Du brauchst sie ja nicht zu verlassen." Will unterbrach seine Wanderung und trat vor sie. Seine Miene war feierlich, als er nach ihrer Hand griff. Erst jetzt merkte sie, daß ihre Finger eiskalt waren. "Carrie, du hast zwar gesagt, daß du dich nicht noch einmal auf eine Heirat einlassen willst, aber ich weiß, daß du dir Kinder wünschst. Ich sehe doch, wie du an meinen beiden hängst." "Das kann ich nicht leugnen." "Du hast am eigenen Leibe erlebt, wie es ist, ohne Mutter aufzuwachsen. Ich habe den größten Teil meiner Kindheit keinen Vater gehabt. Für meine Kinder wünsche ich mir eine komplette Familie mit beiden Elternteilen. Sie haben schon ihre leibliche Mutter verloren. Es wäre nicht leicht für sie, jetzt auch dich zu verlieren, weil du ihnen vertraut geworden bist." Seine Worte trafen ihre verwundbarste Stelle, und das wußte er wahrscheinlich auch. So ein gemeiner Kerl! "O Will!" In Carries Augen standen Tränen. "Ich ... ich weiß einfach nicht, ob es richtig wäre."
Er breitete die Hände aus. "Was kann ich tun, um dich zu überzeuge n?" Sie biß sich auf die Lippe. "Beispielsweise könntest du mir sagen, daß du mir nicht etwa einen Heiratsantrag machst, weil ich dir leid tue." "Du mir leid tun? Aber warum?" "Weil Robert mich sitzengelassen hat und weil die Leute in Webster über mich kla tschen." Sie verstummte einen Moment. "Schließlich hast du auch Lani aus Mitleid geheiratet." "Und weil sie meine Hilfe brauchte." Nachdenklich rieb sich Will das Kinn. "Ich kann verstehen, daß du bei deiner lebhaften Phantasie zu diesem Schluß kommst, aber du irrst dich. Lani war ein labiles junges Mädchen in einer verzweifelten, hoffnungslosen Situation. Du bist ganz anders. Ich kam zufällig in dem Moment des Weges, als du in einer Notlage stecktest, aber wenn ich nicht gewesen wäre, hättest du dich aus eigener Kraft daraus befreit." "Vielleicht." "Dessen bin ich sogar ganz sicher. Du bist immer schon eine starke und unabhängige Persönlichkeit gewesen. Das hat mir ja so an dir gefallen." "Ich wußte gar nicht, daß dir überhaupt etwas an mir gefällt." Seine Mundwinkel zuckten. "Du wärst überrascht, was mir alles an dir gefällt - beziehungsweise gefiel, bis du dich mit diesem ..." "Bis ich mich mit diesem Weichling Robert verlobte." Diesmal war sie es, die den Satz für ihn beendete. "Als das passierte, bist du in meiner Achtung tief gesunken", gab er zu. "Ich hatte dich für intelligenter gehalten. Aber wenn du mich heiratest, kannst du die Scharte wieder auswetzen." Carrie mußte lachen. "Du bist wirklich ein ganz besonderes Exemplar von Mann." "Das finden die meisten Leute. Nur bei dir hat es eine Weile gedauert, bis du es erkannt hast."
Sein Selbstbewußtsein war wirklich erstaunlich. "Ich wünschte, ich könnte so sicher sein wie du, daß diese Ehe kein Fehler ist. Ich brauche Zeit, um darüber nachzudenken." Will sah ihr forschend ins Gesicht. Dann trat er einen Schritt zurück, als wollte er ihr Raum geben. "Das verstehe ich. Ich habe nichts dagegen. Schließlich wollen wir nichts überstürzen. Wenn du ja sagst, sollst du genauso überzeugt von der Richtigkeit unserer Entscheidung sein wie ich." Das wird wohl unmöglich sein, dachte Carrie. Soweit sie es beurteilen konnte, litt Will niemals unter Selbstzweifeln. Sie war dankbar, daß er nicht die ganze Kraft seiner Persönlichkeit einsetzte, um sie zu beeinflussen. Er ließ ihr Zeit, anstatt sie so lange mit Argumenten zu bestürmen, bis sie nachgab. "Ich glaube, ich gehe ein Stück spazieren." "Gute Idee. Ich werde Mrs. Wiggins fragen, ob sie heute abend einige Stunden länger bleiben kann. Dann hätten wir beide nachher etwas Zeit für uns, um in Ruhe über alles zureden." Carrie nickte und ging in ihr Zimmer. Für das Vorstellungsgespräch mit der letzten Bewerberin hatte sie ein Kleid angezogen, um so seriös wie möglich zu wirken. Jetzt streifte sie es ab und schlüpfte statt dessen in Jeans, ein T-Shirt und Turnschuhe. In die Tasche steckte sie die winzige Dose, die auf Knopfdruck gemahlenen Pfeffer sprühte. Will hatte darauf bestanden, daß sie stets etwas zu ihrem Schutz bei sich trug. Schließlich lebte sie jetzt in der Großstadt. Will wartete an der Tür auf sie. Sein Gesicht war nachdenklich, und das aschblonde Haar sah aus, als wäre er mehrmals mit beiden Händen hindurchgefahren. "Carrie..." "Ja?" Er stand jetzt dicht vor ihr. Plötzlich streckte er die Arme nach ihr aus. Vor Überraschung geriet Carrie ins Stolpern, so daß er sie festhalten mußte.
"Da wäre noch etwas." Seine Stimme war heiser. Er zog sie an sich. Mit einer Hand bog er ihren Kopf etwas zurück. "Was denn?" fragte sie atemlos. "Das." Im nächsten Moment lag sein Mund auf ihrem. Carrie wollte protestieren. Abgesehen von jenem denkwürdigen Kuß im Wohnzimmer war es Jahre her, seit sie einen anderen als Robert geküßt hatte. Sie fragte sich, warum sie nicht wenigstens die Spur eines schlechten Gewissens gegenüber ihrem früheren Verlobten hatte. Statt dessen flackerte heftiges Verlangen nach Will in ihr auf. Es begann als winzige Flamme bei seiner ersten Berührung und wurde mit jeder Sekunde stärker, die der Kuß dauerte. Alle ihre Sinne konzentrierten sich auf Will. Sie spür te den Druck seiner, festen Lippen auf ihren, atmete den berauschenden Duft seiner Haut ein und genoß das leichte Kratzen seiner Bartstoppeln an ihrer Wange. Er schmeckte warm und köstlich. Carrie hatte nicht gewußt, daß Feuer einen Geschmack hatte. Sie schlug ihre Bedenken in den Wind und küßte ihn leidenschaftlich wieder. Ohne sich dessen bewußt zu sein, krallte sie die Finger in den graugestreiften Stoff seines Hemdes. Dann streckte sie die Hände aus, um die straffen Muskeln unter seiner Haut spüren zu können. Ein Schauer durchlief ihn, aber er wich zurück. Carrie stellte sich auf die Zehenspitzen und versuchte, seinen Mund zu erreichen, doch er hielt sie ein kleines Stück von sich weg. Zu ihrem Erstaunen zitterten seine Hände ein wenig. "Während du dir überlegst, ob du mich heiratest, denkst du vielleicht auch über diesen Teil unserer Ehe nach. Wenn wir Mann und Frau werden, dann richtig. Wir werden genauso eng zusammenleben wie Leute, die aus romantischen Gründen heiraten. Du verstehst, was ich meine?" Carrie nickte. "Ist dir eigentlich bewußt, daß du eine ziemlich überzeugende Technik hast?" sagte sie atemlos.
Seine Mundwinkel zuckten. "Vielleicht hätte ich sie bei dir öfter anwenden sollen. Dann kannst du wenigstens nicht widersprechen." Es stimmte - sie hatte nicht einmal genug Luft für eine schnippische Antwort. Auf wackeligen Beinen ging sie zur Haustür und sog die warme Nachmittagsluft ein. Nicht zu fassen, wie dieser Mann küssen konnte! Wenn sie recht überlegte, dürfte sie eigentlich nicht überrascht sein. Schließlich war er ein Meister in allem, was er sich vornahm. Carrie brauchte einen Moment, um sich zu orientieren. Dann schlug sie den Weg nach rechts ein, den sie und Will normalerweise nahmen, wenn sie die Kinder spazierenfuhren. Mit gesenktem Kopf ging sie am Haus der Williamsons vorbei, die bereits angeboten hatten, auf die Zwillinge aufzupassen, wenn sie und Will Unterstützung brauchten. Wie würde es wohl sein, wenn sie selbst diejenige wäre, die bei den Nachbarn anrief und sie bat, als Babysitter einzuspringen, damit sie und Will einmal ausgehen konnten? Wie wäre es, gleichberechtigt an allen Entscheidungen bezüglich der beiden kleinen Menschen beteiligt zu sein, die sie über alles liebte? Wie würde ihr Leben als Wills Ehefrau wohl aussehen? Schließlich würde sie keinen Fremden heiraten. Carrie hatte das Ende des Blocks erreicht und bog um die Ecke. Sie und Will kannten sich schon seit Jahren. Bei der Hochzeit von Ginny und Bret waren sie gemeinsam Trauzeugen gewesen - Will im Smoking, sie in einem mitternachtsblauen Samtkleid. Schon damals hatte sie ihn anziehend gefunden, hatte aber nicht lange gebraucht, um darauf zu kommen, daß er darüber hinaus auch dominant und ziemlich von sich eingenommen war. Dennoch war sie trotz aller Irritationen von ihm fasziniert gewesen. Carrie hatte den kleinen Park erreicht, wo tagsüber die Kinder aus der näheren Umgebung spielten. Jetzt waren die meisten allerdings schon längst zu Hause bei ihren Familien. Sie sog den Duft von Geißblatt ein, setzte sich auf das Karussell und
stieß sich mit den Füßen ab. Im Boden darunter hatte sich im Laufe der Jahre eine kreisrunde Furche gebildet, wo Hunderte von Kindern das gleiche getan hatten. Während Carrie sich langsam drehte, grübelte sie weiter über ihr Problem nach. Will hatte überhaupt nichts mit Robert gemeinsam, der ruhig und gesetzt war. Früher einmal hatte sie diese ruhige Art für Charakterstärke gehalten. Jetzt wußte sie, daß eher Heimlichtuerei dahintersteckte. Eins mußte man Will lassen - bei ihm würde sie immer wissen, woran sie war. Wenn sie wirklich heiraten würden, würde er zum vereinbarten Zeitpunkt da sein und sich auch durch höhere Gewalt nicht davon abhalten lassen. Carrie hielt das Karussell an und stand auf. Nachdenklich betrachtete sie die Schaukel wie ein Symbol für das Auf und Ab ihres Lebens. Jahrelang war sie in einem Mißverständnis gefangen gewesen. Sie hatte Wills Entschlossenheit und Tatkraft mit Sturheit und Roberts stilles Wesen mit Stärke verwechselt. In Wirklichkeit war es genau umgekehrt. Will war der stärkere von beiden. Roberts häufiges Schweigen hatte nur dazu gedient, seine Selbstsucht zu verbergen. Sie fragte sich, ob er jemals vorgehabt hatte, sie zu heiraten, oder ob er nur mitgespielt hatte, um seine wahren Absichten zu verschleiern und seine Familie in Sicherheit zu wiegen. Wahrscheinlich würde sie es nie erfahren. Je mehr Zeit verging, desto gleichgültiger wurde ihr alles, was mit Robert zusammenhing. Als ihr das bewußt wurde, hatte sie das Gefühl, ihr sei ein Stein vom Herzen gefallen. Sie liebte Robert nicht mehr. Ja, sie fragte sich sogar, ob sie vielleicht eher in die Liebe verliebt gewesen war als in ihn. Sie hatte ihn für verläßlich, rücksichtsvoll und ehrlich gehalten und war überzeugt gewesen, er habe alle die Charakterzüge, die sie sich von ihrem Mann wünschte. Es hatte einen Monat gedauert, bis sie endlich
klargesehen hatte. Wahrscheinlich hatte Robert diese Eigenschaften niemals besessen. Will dagegen besaß sie alle. Sie gehörten einfach zu seinem Wesen. Carrie sprang auf und eilte im Laufschritt nach Hause. Fast schockiert stellte sie fest, daß sie das weitläufige weiße Haus mit den luftigen Räumen schon eine ganze Weile als Zuhause betrachtete. Gemeinsam würden sie und Will es behaglich einrichten und ein gemütliches Heim für ihre Rinder daraus machen. Will wartete bereits, als Carrie zur Tür hereingestürmt kam. Bei seinem Anblick stockte ihr der Atem. Er hatte eine anthrazitfarbene Hose und ein weißes Hemd angezogen, das am Kragen offenstand und seinen langen gebräunten Hals freigab. Über dem Arm hielt er ein Jackett. Forschend blickte er in ihr erhitztes Gesicht. Offenbar schien ihn zu beruhigen, was er dort sah, denn die Anspannung fiel von ihm ab. "Mrs. Wiggins wird heute Abend hier bleiben. Ich habe einen Tisch in einem Restaurant reserviert, das dir gefallen wird. Sicher willst du dich vorher noch umziehen." "Ich ... Ja, natürlich." Carrie war nicht sicher, was sie ihm bei ihrer Heimkehr eigentlich hatte sagen wollen. Jedenfalls waren bei seinem Anblick sämtliche Gedanken zerstoben wie im Wind. Carrie duschte rasch und zog dann ein mit Mohn- und Sonnenblumen bedrucktes Sommerkleid an. Ihr Haar steckte sie zu einem lockeren Knoten auf. Zum Schluß noch etwas Make up und rote Riemchensandaletten, und sie war fertig. An der Tür kehrte sie noch einmal um und sprühte sich etwas von ihrem Lieblingsparfum hinters Ohr. Vielleicht war es keine besonders gute Idee, zum Essen auszugehen. Sie würde vor Nervosität wahrscheinlich keinen Bissen herunterbringen. Sei jetzt nicht feige! ermahnte sie sich und ging hinaus. Will betrachtete sie anerkennend. "Sehr hübsch! Ich werde das
Verdeck am Wagen schließen, damit deine Frisur nicht ruiniert wird." Carrie lächelte schüchtern und fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. "Sollten wir vielleicht noch einmal nach den Kindern sehen, ehe wir fahren?" Er schmunzelte. "Du entwickelst schon richtige Mutterinstinkte." Sie überhörte den Spott und lief rasch zu seinem Schlafzimmer. Mrs. Wiggins saß in einem der Schaukelstühle und blätterte in einer Zeitschrift. Beide Babys schliefen. Bei Carries Anblick schaute die Haushälterin auf. "Sie sehen aber hübsch aus, Miss McCoy. Ich wünsche Ihnen viel Spaß heute Abend." "Danke, Mrs. Wiggins." Wenn die Haushälterin gewußt hätte, worum es an diesem Abend ging! Spaß stand da bestimmt nicht auf der Tagesordnung. Will half ihr in den Wagen. Carrie war so durcheinander, daß sie eine ganze Weile brauchte, bis sie den Sicherheitsgurt angelegt hatte. Obwohl sie nicht hinsah, war sie sich Wills Nähe bewußt. In den letzten beiden Wochen hatten sie immer genug zu besprechen gehabt, wenn sie einmal allein gewesen waren die Zwillinge, die Galerie, die Künstlerin namens Cyrus und ihre für August geplante Ausstellung. Jetzt herrschte zum erstenmal verlegenes Schweigen. Am Restaurant angekommen, geleitete er sie galant zu einem Tisch in einer abgeschiedenen Nische, auf dem eine Vase mit langstieligen roten Rosen stand. "Wie schön!" rief Carfie und schnupperte daran, während Will beim Kellner eine Flasche Champagner bestellte. Fragend drehte sie sich zu ihm um. "Hast du' das arrangiert?" "Natürlich." Seine Augen funkelten erheitert. "Wenn die Geschäftsleitung auf jeden Tisch ein Dutzend rote Rosen stellen würde, wäre sie bald bankrott."
Carrie räusperte sich. "Wie ich gehört habe, gibt es Champagner zu trinken." "Schließlich ist es ein ganz besonderer Abend, wenn ich mich verlobe." Sie schluckte. "Ich habe noch nicht gesagt, daß ich dich heirate, Will." "Nenn mich einen Optimisten. Ich glaube einfach an einen glücklichen Ausgang." "Ein Optimist bist du wirklich. Außerdem nehme ich alles zurück, was ich über deinen Mangel an Romantik gesagt habe. Du brauchst nicht mehr zu lernen, wie man einer Frau den Kopf verdreht." "Ich bin aber kein Romantiker." "Rosen, Champagner - als nächstes wirst du noch einen Ring hervorzaubern." Will griff schmunzelnd in die Tasche. "Ach du lieber Himmel", entfuhr es Carrie. Er förderte ein kleines Samtkästchen zutage. "Ich habe nur für alle Eventualitäten vorgesorgt." "Sag mal", fragte sie mißtrauisch, "planst du das vielleicht schon länger?" "Eine Weile", antwortete er ausweichend. "Wußtest du, daß ich früher Mitglied bei den Pfadfindern war?" "Nein." "An ihr Motto halte ich mich heute noch: ,Allzeit bereit'." "Die Pfadfinder wären sicher sehr stolz auf dich." Vorsichtig hob Will den Deckel des Kästchens. Auf einem Samtbett lag ein wunderschöner birnenförmiger Rubin in einer schlichten Goldfassung. "O Will!" rief Carrie ehrfürchtig. "Ich glaube, ich träume." "Heißt das, ich darf ihn dir anstecken?" Hin und her gerissen zwischen Sehnsucht, Angst und Vorfreude, blickte Carrie ihm in die Augen. Im Dämmerlicht des Restaurants konnte sie seine Miene nicht deuten, doch die
Gelassenheit, die seine ganze Haltung ausstrahlte, half auch ihr, ruhiger zu werden. Sie nickte. "Ja, Will. Steck ihn mir an. Ich möchte dich gern heiraten." Mit einem zufriedenen Nicken zog er den Ring heraus und hielt ihn einen Moment zwischen den Fingern. "Ich wollte dir keinen Diamanten schenken, weil Robert das bereits getan hat. Und ich möchte von Anfang an klarstellen, daß für Robert in unserer Ehe kein Platz sein wird." Carrie hob den Blick von dem dunkelrot funkelnden Rubin zu Wills ernstem Gesicht. "Wie meinst du das?" "Ich weiß, daß du mich nicht liebst. Aber über deine Gefühle für ihn bin ich mir nicht ganz im klaren." Carrie setzte an, um ihm von ihrer Erkenntnis im Park zu erzählen, doch er hob die Hand, "Ich will nicht hören, daß du ihn immer noch liebst, Carrie", sagte er rauh. Er sprach so leise, daß sie sich vorbeugen mußte, um ihn überhaupt hören zu können. "Das wollte ich auch nicht sagen, Will." Wie konnte sie das? Schließlich wußte sie jetzt, daß es nicht stimmte. Eines Tages würde sie Will aufklären, wenn sie eine Weile verheiratet waren und sie sich ihrer Gefühle für ihn sicherer war. Als er jetzt ihre Hand nahm und ihr den Ring an den Finger steckte, mußte sie zugeben, daß es sich fast anfühlte wie Liebe. "Weißt du auch, was du da tust?" Ginny McCoy Calhoun stürmte ins Haus, so daß Carrie zur Seite springen mußte, um nicht umgerannt zu werden. Ginny legte ihre Tasche und die Autoschlüssel auf dem Tisch neben der Tür ab und wandte sich mit in die Hüften gestemmten Händen zu ihrer Schwester. "Antworte mir. Weißt du, worauf du dich einläßt, wenn du Will heiratest?" Nein, dachte Carrie, aber ihr Stolz ließ es nicht zu, Ginny das einzugestehen. "Natürlich", behauptete sie und hob den Kopf.
"Mir kannst du das nicht weismachen", erklärte Ginny. Als ihr Blick auf Carries Verlobungsring fiel, weiteten sich ihre Augen vor Staunen. "Donnerwetter!" Sie faßte nach Carries Hand, um das gute Stück näher zu betrachten. "Der ist einfach unglaublich." Carrie hielt ihn ans Licht. "Ich finde ihn auch wunderschön." Seit Will ihr den Ring geschenkt hatte, ertappte sie sich immer wieder dabei, daß sie ihn hin und her drehte, um ihn im Licht funkeln zu sehen. Hätte jemand sie dabei beobachtet, hätte er sie wahrscheinlich für kindisch gehalten, aber für Carrie bedeutete Wills Ring etwas ganz anderes als der Diamant, den sie von Robert gekommen hatte. Allein die Einzigartigkeit des Schmuckstücks war ein Symbol für die Art Ehe, die sie und Will führen würden. "Er ist traumhaft und ungewöhnlich, genau das, was ich von Will erwartet habe", erklärte Ginny und marschierte ins Wohnzimmer. "Wo ist Will überhaupt?" "Bei der Arbeit." Carrie blickte auf die Uhr. "In etwa einer halben Stunde wird er hiersein." Ginny nahm die Mitteilung befriedigt auf. "Sehr gut! Dann können wir beide uns vorher in Ruhe unterhalten." Sie beugte sich über das Ställchen, wo Jacob und Ariana lagen und mit großen Augen auf das Mobile starrten. Sleepy döste wie immer ganz in der Nähe. "Wie schön - sie sind wach." Ginny hob erst eines und dann das andere Baby heraus. "Unglaublich, wie sie in den letzten beiden Wochen gewachsen sind!" "Komm ruhig herein, und mach es dir gemütlich", murmelte Carrie, aber Ginny bemerkte ihren ironischen Unterton nicht. "Danke, gern." Eigentlich hätte ich wissen müssen, daß es so kommt, dachte Carrie. Jetzt war Montag vormittag. Am Sonntag abend hatte sie erst ihren Vater und dann Ginny angerufen, um ihnen von der Verlobung mit Will zu erzählen. Sie hätte sich denken müssen,
daß Ginny in Rekordzeit hier eintreffen würde, um die Angelegenheit persönlich mit ihr zu besprechen. Carrie war nur überrascht, daß ihr Vater nicht mitgekommen war. Carrie holte Jacob heraus, setzte sich mit ihm auf den Boden und lehnte sich an die Couch. Dabei wiegte sie ihn sanft hin und her. Ginny betrachtete sie beifällig. "Du machst das wirklich gut mit den Kindern, Schwesterchen." Das Lob freute Carrie. "Vielen Dank, Ginny. Ich muß zugeben, daß es mit der Zeit leichter wird." "Warte nur, bis sie krabbeln können. Dann wird es hier lebhaft", prophezeite Ginny. "Vor allem wenn sie beide gleichzeitig unterwegs sind." Sie strich sich das blonde Haar aus der Stirn. "Carrie", sagte sie ernst. "Ich würde dir niemals vorschreiben, was du mit deinem Leben anfangen sollst." "O doch, das würdest du", widersprach Carrie und betrachtete ihre Schwester liebevoll. "Du sorgst dich genauso um mich wie damals, als ich noch klein war. Das gleiche gilt für Dad. Wo ist er übrigens? Ich hatte fest damit gerechnet, daß er mitkommt." Ginny machte ein schuldbewußtes Gesicht. "Ich habe ihn überredet, zu Hause zu bleiben und mich zuerst mit dir reden zu lassen." "Du meinst, du willst mir diese Hochzeit ausreden." "Nicht unbedingt. Nicht wenn du Will wirklich heiraten willst." "Das will ich", erklärte Carrie bestimmt, aber Ginny runzelte immer noch die Stirn. "Aber du bist nicht sicher, daß ich die richtige Entscheidung treffe, stimmt's?" "Nein", gab Ginny zu. "Das bin ich nicht." Carries Zweifel meldeten sich wieder. Es war leicht, sich selbst einzureden, daß sie das Richtige tat. Es fiel ihr auch nicht schwer, es laut zu Ginny zu sagen. Es gab jedoch Momente, in denen sie regelrecht von Panik erfaßt wurde.
Die Zweifel kamen nur, wenn sie an ihr Verlobungsessen mit Will dachte. Er hatte gesagt, er wisse, daß sie ihn nicht liebe. Sie selbst war sicher, daß ihre Liebe für Robert erloschen war, aber über ihre Gefühle für Will war sie sich nicht im klaren. Sie empfand große Achtung vor ihm und fühlte sich zu ihm hingezogen. Konnte man das Liebe nennen? "Carrie, das Fiasko mit Robert liegt erst einen Monat zurück." Überrascht blickte Carrie auf. "Glaubst du, Will wird mich auch am Altar stehenlassen?" "Um Himmels willen, nein'!" rief Ginny. "Dafür hat er viel zuviel Verantwortungsgefühl. Außerdem würden seine Brüder ihn eher gefesselt zur Kirche bringen, als zuzulassen, daß er die Familienehre auf diese Weise beschmutzt." Carrie malte sich die Szene aus und lächelte. Aber sie wußte, daß es nie so weit kommen würde. "Bist du sicher, daß du Will nicht nur aus verletztem Stolz heiratest? Um dir und allen anderen zu zeigen, daß du gar kein so schlechter Fang bist?"
VIII Carrie machte ein verblüfftes Gesicht. "Ehrlich, Ginny, der Gedanke ist mir überhaupt noch nicht gekommen. Vergiß nicht, daß fast alle Leute in Webster glauben, ich hätte Robert verlassen und wäre mit Will davongelaufen. Ihn zu heiraten wäre also ein logischer Schritt." Sie hob die Hände und ließ sie wieder sinken. "Außerdem habe ich beschlossen, mich nicht mehr darum zu kümmern, was andere von mir denken." "Also gut. Wie denkst du darüber, Will zu heiraten?" "Ich glaube, wir werden eine gute Ehe führen. Wir . . wir kennen einander gut. Wir haben viel gemeinsam und wollen beide das Beste für die Zwillinge." Als Ginny nur mit einem Stirnrunzeln reagierte, fuhr Carrie fort: "Du weißt ja, daß es in den letzten Jahren einige Fälle gegeben hat, wo ein leiblicher Elternteil zurückkehrte und das Sorgerecht für Kinder erwirkte, die der andere zur Adoption freigegeben hatte. In unserem Fall liegen die Dinge zwar etwas anders, aber wenn Will und ich verheiratet sind, wäre das Risiko noch geringer, daß Lanis früherer Freund uns Jacob und Ariana wegnimmt - wobei allerdings nicht zu erwarten ist, daß der Mann noch einmal auftaucht." Ginny legte Ariana bäuchlings auf ihren Schoß und massierte ihr den Rücken. Das Baby starrte ins Nichts, als wäre es tief in Gedanken versunken. "Du hast viele vernünftige Argumente angeführt, Carrie. Aber wie steht es um die Liebe?"
"Ginny, nicht jedes Paar ist wie du und Bret. Ihr beide habt euch getroffen, ineinander verliebt und wart zwei Wochen später verheiratet..." "Nach einem halben Jahr wieder geschieden und weitere zehn Monate später zum zweitenmal miteinander verheiratet", beendete Ginny den Satz. "Carrie, mir brauchst du nicht zu erklären, daß jedes Paar anders ist. Das ist mir durchaus bewußt. Ich weiß auch, daß es selbst dann Probleme geben kann, wenn zwei Menschen einander so lieben wie Bret und ich. Manchmal erscheinen diese Probleme sogar unüberwindbar. Wenn sich das Paar aber gar nicht liebt, wird es bestimmt noch schwerer, die Ehe aufrechtzuerhalten." "Ich habe dir doch gesagt..." "Das habe ich nicht vergessen", unterbrach Ginny sie. "Ihr werdet die Kinder haben. Doch du kannst mir glauben, Carrie, daß dir die Zwillinge manchmal wie ein sehr schwaches Bindeglied vorkommen werden." Carrie lehnte sich vor und legte ihrer Schwester die Hand auf den Arm; "Über all das habe ich nachgedacht - eingehend nachgedacht. Ich bin überzeugt, daß wir es schaffen werden. Du weißt ja, wie stur Will sein kann und wie stolz ich bin. Wir werden eine gute Ehe führen - und sei es nur, um dich der Genugtuung zu berauben, eines Tages zu verkünden: ,Ich hab's ja gesagt.'" Ginny lächelte, aber ihr Blick blieb ernst, als sie ihre Schwester betrachtete. "Bitte denke nicht, daß ich versuchen will, dir diese Heirat auszureden." "Du hast nur Angst, daß ich verletzt werden könnte, stimmt's? Glaubst du denn, Will wäre dazu fähig?" "Nein", gab Ginny zu. Dann zuckte sie mit den Schultern. "Also gut - ich habe meine schwesterliche Pflicht getan. Jetzt liegt es an euch beiden. Was für eine Hochzeit hattet ihr denn geplant?"
Carrie atmete erleichtert auf, daß Ginny das Thema nicht weiterverfolgte. Nachdenklich antwortete sie: "Ehrlich gesagt, haben wir noch gar nicht im einzelnen darüber gesprochen. Es wird aber auf jeden Fall eine Hochzeit im kleinen Rahmen sein, zu der nur die Familie und die engsten Freunde eingeladen werden. Dad noch einmal die Kosten für eine große Feier aufzubürden wäre nicht fair." "Und was ist mit den Flitterwochen?" "Wir haben keine geplant." Zumindest hatten sie bisher nicht darüber geredet. "O doch", widersprach Will von der Tür her. Beide Frauen fuhren herum. Lässig kam Will hereingeschlendert. Wie lange hat er wohl schon dagestanden? fragte sich Carrie. Für einen Mann seiner Größe bewegte er sich geschmeidig wie eine Katze. Im Gehen band er seine Krawatte ab und legte sie über die Sofalehne. Dann öffnete er aufatmend den obersten Hemdenknopf. "Ich habe heute gebucht, Carrie. Wir werden für einige Tage nach Myrtle Beach fahren. Meine Mutter wird solange herkommen und für die Zwillinge sorgen." "Oh ... Das ist ... Das ist schön, Will." Carrie wünschte, er hätte ihr eher davon erzählt. Ginny sollte nicht denken, daß Will in ihrer Partnerschaft die Entscheidungen allein traf. Carrie sah ihre Schwester verstohlen an, doch deren Blick war auf Will gerichtet. Er beugte sich vor und nahm Ginny Ariana ab. Dann gab er dem Baby liebevoll einen Kuß aufs Haar. "Hallo, Ginny. Bist du hier, um deine Schwester davor zu warnen, den gleichen Fehler zu machen wie du - einen Calhoun zu heiraten?" "Sagen wir mal, ich will ihr zur Vorsicht raten", entgegnete Ginny trocken. Er blickte zwischen den Schwestern hin und her. "Und?" wollte er wissen. "Hattest du Erfolg?"
Carrie hob die linke Hand und bewegte den Ringfinger hin und her. "Ich bin keine Frau, die einen Mann verläßt. Ich werde verlassen." "Jetzt nicht mehr." Will setzte sich neben sie auf den Boden. In einem Arm hielt er seine Tochter, den anderen legte er um Carrie. Sie blickte zu ihm auf. "Das habe ich Ginny auch verständlich zu machen versucht, und ..." Weiter kam sie nicht, denn Will hatte sie zu sich herumgedreht und küßte sie. Sobald seine Lippen ihre berührten, verflogen alle ihre Zweifel, als hätte sie es nie gegeben. Seine Wärme und Zärtlichkeit gaben ihr ein wunderbares Gefühl der Geborgenheit. Einladend bog sie den Kopf zurück. Will ließ sich viel Zeit, und als er sich endlich von ihr löste, konnte sie sich beim besten Willen nicht mehr daran erinnern, welche Bedenken sie eigentlich gehabt hatte. "Liegt das an mir, oder ist es wirklich heiß hier drin?" fragte Ginny. Benommen blickte Carrie auf und sah, daß ihre Schwester sich Luft zufächelte. "Das liegt nur an dir, Ginny", sagte Will, aber sein Blick ruhte auf Carrie. Als sie zu ihm aufblickte, zwinkerte er ihr zu und grinste dabei wie ein Schuljunge. Carrie lächelte zurück. Wenn man die Umstände betrachtete, waren ihre Zweifel ganz normal. Sie bedeuteten nicht, daß es ein Fehler wäre, Will zu heiraten. Er schien ihre Gedanken zu erraten. Seine Miene war zugleich offen und herausfordernd, weil sie nicht erraten konnte, was in ihm vorging. Plötzlich mußte sie daran denken, daß sie in den kommenden fünfzig Jahren ziemlich häufig mit solchen Überlegungen beschäftigt sein würde. Es war eine sehr tröstliche Vorstellung. "Also, was für eine Hochzeit soll es werden, Schwesterchen?" wiederholte Ginny ihre Frage von vorhin.
"Wie bitte?" fragte Carrie abwesend. Als sie Wills erheiterte Miene sah, gab sie sich einen Ruck und setzte sich gerade hin. "Ach so, die Hochzeit. Wir wollen nur eine einfache Feier, nicht wahr, Will?" "Sehr einfach"; bestätigte er und faßte sie fester. "Und so bald wie möglich." "Einfach und bald." Ginny klopfte sich mit den Finger aufs Kinn. "Das läßt sich einrichten. Wirst du das gleiche Brautkleid noch einmal anziehen?" Obwohl Will sich nicht rührte, spürte Carrie, wie sein Körper sich anspannte, "Nein", sagte Carrie kühl. "Wenn ich Will heirate, will ich nicht ein Kleid tragen, das ich für eine Hochzeit mit Robert gekauft habe. Außerdem hängt mein Schleier irgendwo im Wäldchen hinter der Kirche." Ginny lachte laut auf. "Ich habe mich schon gefragt, was daraus geworden ist." "Statt dessen werde ich mein cremefarbenes Seidenkleid anziehen." "Perfekt." Ginny stand auf. "Ich werde mal Laura anrufen und sie fragen, ob sie irgendwelche guten Ideen hat. Ihr wißt ja, daß sie große Empfänge organisiert hat, als sie noch fürs Außenministerium arbeitete. Wenn wir es gemeinsam anpacken, wird bestimmt eine tolle Feier daraus." Als Ginny den Raum verlassen hatte, drehte sich Will zu Carrie um. "Jetzt weiß ich, wie sich die Yankees fühlten, als sie Fort Sumter an die Konföderierten übergaben." Carrie kicherte. "Ich auch. Ob es uns gefällt oder nicht, wir haben die Organisation unserer Hochzeit in die Hände meiner Schwester gelegt." "Von mir aus." Will hob Ariana an seine Schulter. "Wenigstens bleibt es in der Familie." Die Hochzeit wurde auf ein Uhr mittags am kommenden Samstag festgesetzt. Ein Pfarrer, den Pastor Mintnor aus
Webster Will empfohlen hatte, würde die Trauung im Wohnzimmer von Wills Haus vornehmen. Da ohnehin kaum Möbel darin standen, würde es ein leichtes sein, sie in ein anderes Zimmer zu schieben und statt dessen gemietete Stühle aufzustellen. Während Carrie und Will am Donnerstag in der Galerie waren, trafen Ginny und Laura mit Körben voll Blumen ein, um das Zimmer zu schmücken. Um das Kaminsims wanden sie eine Girlande aus Efeu, in die sie bunte Blüten steckten. Als Carrie nach Hause kam, hatte sich der Raum in eine richtige Laube verwandelt. Als sie fertig waren, setzten sich Ginny und Laura in der Küche mit Mrs. Wiggins zusammen, um die Möglichkeiten auszuloten, die Tische und Stühle für den Empfang draußen im Garten aufzustellen, und über die Hochzeitstorte zu sprechen. Sie waren entschlossen, die kleine Feier so perfekt wie möglich zu gestalten. Carrie stand allein neben dem großen antiken Tisch, den Ginny und Laura kurzerhand aus Wills Galerie ausgeliehen hatten. Auch er war mit Blumen geschmückt. In der Mitte lag das Gästebuch. Carrie schlug es auf und berührte die goldenen Prägebuchstaben mit dem Hochzeitsdatum auf der ersten Seite. Das war nur einer der Vorteile, eine tüchtige Schwester mit Kontakten in der Druckindustrie zu haben. Lächelnd klappte Carrie das Buch wieder zu. Es war wirklich eine Ironie, daß sie erst vor knapp einem Monat vor einem anderen Gästebuch für eine andere Hochzeit gestanden hatte. Nur Minuten danach hatte ihr Leben eine unabänderliche Wendung genommen. Es war eine Wendung zum Besseren. Sie freute sich darauf, Will zu heiraten und mit Jacob und Ariana von Anfang an eine komplette Familie zu haben. Daß ihre Hochzeit mit Will nicht auf die übliche Art und Weise zustande gekommen war,
brauchte nicht zu bedeuten, daß ihre Ehe nicht gut werden würde. Sie hörte Schritte hinter sich und drehte sich um. Will stand auf der Türschwelle. In der Hand hielt er eine große weiße Schachtel. Verblüfft sah er sich um. "Haben meine Schwägerinnen ein Begräbnisinstitut ausgeraubt?" Carrie ging lachend auf ihn zu. "Bitte sprich leise! Schließlich denken sie, daß sie uns einen großen Gefallen tun." "Hoffentlich ist niemand mit einer Blütenstauballergie unter den Gästen. Wir hätten einfach ausreißen und uns irgendwo heimlich trauen lassen sollen." "Das hätte uns die Familie nie verziehen. Außerdem haben Ginny und Laura einen Riesenspaß dabei." Will legte die Schachtel auf den Tisch neben das Gästebuch. Als er es entdeckte, hob er es hoch und schlug es auf. Einige Sekunden lang betrachtete er ihre beiden Namen und das Datum. Dann atmete er tief durch und klappte es wieder zu. Carrie hatte ihm verwirrt zugesehen. "Will, ist irgend etwas nicht in Ordnung?" "Nein, nein", sagte er rasch und klopfte ein paar Mal verstohlen auf den Tisch. Dann griff er wieder nach der Schachtel. "Wo sind denn die beiden Damen vom Organisationskomitee?" "Mit Mrs. Wiggins im Garten. Sie diskutieren über die Aufstellung der Tische für den Empfang." "Und die Zwillinge?" "Die schlafen." "Sehr gut. Komm mit in mein Arbeitszimmer. Ich will dir etwas zeigen." Er führte sie in den Raum, den sie im stillen als Bibliothek bezeichnete, weil sämtliche Wände von Bücherregalen bedeckt waren. Dazu gab es einen kleinen Schreibtisch und zwei bequeme Ohrensessel mit karierten Bezügen. Carrie hielt sich gern hier auf, weil sie Wills Gegenwart spüren konnte, selbst wenn er nicht da war.
Er machte die Tür hinter sich zu, stellte die Schachtel auf den Tisch und betrachtete Carrie forschend. "Carrie, gibt es einen besonderen Grund, warum du selbst nicht an deinen Hochzeitsvorbereitungen beteiligt bist? Warum du alles Ginny und Laura überläßt?" Carrie sah ihn bestürzt an und lehnte sich an seinen Schreibtisch. Sie nahm einen gläsernen Briefbeschwerer, in dem viele bunte Blumen schwammen, und legte ihn von einer Hand in die andere. "Ich weiß nicht, ob ich das richtig erklären kann", begann sie zögernd. "Versuch es einfach. Du kannst dich schließlich gut ausdrücken." Will setzte sich in einen Sessel und streckte die langen Beine aus. Einladend deutete er auf den anderen, aber Carrie schüttelte den Kopf. "Danke, ich bleibe lieber stehen." Sie schluckte. "Als ich Robert heiraten wollte, habe ich mich selbst um sämtliche Einzelheiten gekümmert. Von der Speisenfolge bis zum Geschirr habe ich alles geplant. Nicht nur die Trauung, sondern auch der anschließende Empfang sollte absolut perfekt sein. Weißt du, daß ich eines Tages meine Brautjungfern zu einer Anprobe bestellt habe? Als sie die Kleider und Schuhe anhatten, bin ich mit einem Lineal auf den Knien um sie herumgerutscht, um mich zu vergewissern, daß die Säume auch alle den gleichen Abstand vom Boden hatten. Mir war es ungeheuer wichtig, daß sie auf den Fotos Wie Models auf einer Modenschau aussehen." Will zog die Augenbrauen hoch. "Das klingt ja fast nach Besessenheit." "War es auch." Carrie legte den Briefbeschwerer weg und massierte sich die Schläfen. "Ich habe den Hochzeitsvorbereitungen mehr Aufmerksamkeit gewidmet als dem Mann, den ich heiraten wollte." "Glaubst du, daß Robert dich deswegen verlassen hat?"
"Ich weiß es nicht." Carrie zuckte hilflos mit den Schultern. "Aber ich kann die Möglichkeit zumindest nicht ausschließen. Auf keinen Fall will ich den gleichen Fehler noch einmal machen. Diesmal werde ich nicht vergessen, daß die Ehe wichtiger ist als die Hochzeit." Will hatte die Arme aufgestützt und die Finger zusammengelegt. Über die Spitzen hinweg sah er sie an. "Komm mal her." Vorsichtig ging Carrie auf ihn zu. Als sie in Reichweite war, umfaßte er plötzlich ihre Taille und zog sie auf seinen Schoß. Sie verlor das Gleichgewicht und fiel gegen ihn. "Will, was machst du denn da?" rief sie verblüfft. Er wackelte mit den Augenbrauen. "Ich übe für die Flitterwochen." Carrie stemmte beide Hände gegen seine Brust. "Ich frage mich, wie viele Frauen auf dieser Welt schon auf den Trick hereingefallen sind." "Wie viele andere Männer damit Erfolg hatten, kann ich nicht sagen. Ich habe ihn jedenfalls eben zum erstenmal probiert und bin neugierig, ob er funktioniert." Ehe sie merkte, worauf er hinauswollte, hatte er ihre Hände zur Seite gedrückt, so daß sie ihrer Stütze beraubt war und gegen seine Brust sank. Dann zog er sie leise lachend an sich und küßte sie. Seine Zärtlichkeit überschwemmte Carrie wie eine Welle. Sie schlang ihm die Arme um den Nacken und erwiderte den Kuß leidenschaftlich. Nach einer geraumen Weile löste er sich von ihr. "Na, wie war das?" Carrie fuhr sich mit der Zunge über die geschwollenen Lippen. "Könnte besser sein", erklärte sie betont lässig. "Aber wie du weißt, macht Übung den Meister." Will lachte und küßte sie noch einmal. Dann zog er die weiße Schachtel zu sich heran und legte sie ihr auf den Schoß. "Ein Hochzeitsgeschenk für dich."
"Aber Will", protestierte sie. "Du hast mir schon so viel geschenkt!" "Das ist etwas Besonderes. Mach es auf." Gehorsam hob sie den Deckel und schlug einige Lagen schimmerndes Seidenpapier zurück, bis ein Neglige aus mitternachtsblauer Seide zum Vorschein kam. Carrie stockte der Atem. Vorsichtig nahm sie es heraus. "O Will", flüsterte sie. "Es ist wunderschön." Das Nachthemd war vorn und hinten tief ausgeschnitten und hatte dünne Spaghettiträger. Der Morgenmantel hatte lange, weite Ärmel und war am Aufschlag mit weißem Satin besetzt. "Das soll dich daran erinnern, daß unsere Ehe nicht nur auf dem Papier bestehen wird." "Das habe ich niemals angenommen." Carrie faltete die beiden edlen Stücke wieder zusammen und stellte die Schachtel auf den Boden. "Ich werde nicht nur dein Kamerad sein." Wills Ton war ungewohnt heftig. "Unsere Beziehung wird alles andere als platonisch sein. Damit habe ich schon fünf kostbare Jahre vergeudet." "Will, was meinst du damit?" fragte sie. Statt zu antworten, küßte er sie von neuem, und als er sie schließlich freigab, hatte sie ihre Frage vergessen. Er erhob sich mit ihr und hielt sie fest, um sicherzugehen, daß ihre Beine sie auch trugen. Ehe sie sich daran erinnern konnte, was sie von ihm wollte, klingelte das Telefon. Sie räusperte sich. "Ich gehe besser ran. Mrs. Wiggins ist mit Laura und Ginny im Garten und hört es vielleicht nicht." Mit ziemlich unsicheren Schritten ging sie zum Schreibtisch. Will sah es mit Genugtuung. Er lehnte sich an den Türrahmen und betrachtete sie mit einem Blick, bei dem Carrie heiß wurde. Sie nahm den Hörer ab. "Hallo?" Zuerst herrschte Schweigen am anderen Ende. Dann hörte sie eine zögernde Stimme. "Carrie, bist du das? Hier ist Robert."
Carrie wich das Blut aus dem Gesicht. "Robert." Automatisch schaute sie zu Will, der merklich zusammengezuckt war. "Warum rufst du mich an?" "Ich weiß, daß du zur Zeit bei Will Calhoun wohnst. Wie Marcia mir erzählt hat, arbeitest du für ihn. Ich würde mich gern mit dir treffen." "Treffen?" Allmählich gewann sie ihr Gleichgewicht wieder. "Du meinst, jetzt?" "Ja. Ich bin heute nach Charleston gefahren, weil ich hoffte, wir könnten uns vielleicht sehen." "Das ist doch wohl ein Scherz." "Ich weiß, daß ich nicht das Recht habe, dich darum zu bitten. Aber ich würde mich gern persönlich entschuldigen und dir alles erklären." Mit zwei Schritten war Will bei ihr und hielt die Hand über die Sprechmuschel. "Sag ihm, daß du nicht mit ihm reden wirst." Diesen barschen Ton hatte sie bei ihm noch nie gehört. Verwirrt von Wills unerklärlicher Reaktion und Roberts ungeduldigen Fragen, zog sie Will den Hörer weg, bat Robert, einen Moment zu warten, und hielt dann selbst die Muschel zu. "Warum soll ich nicht mit ihm reden, Will? Weil du es sagst?" "Jawohl", grollte er. "In zwei Tagen wirst du mich heiraten. Du hast absolut keinen Grund, mit meinem Vorgänger zu reden." "Keinen Grund?" Empört gestikulierte sie mit dem Hörer. "Ich will wissen, warum er mich verlassen hat." "Das ist jetzt nicht mehr wichtig. Du wirst mich heiraten. Robert spielt keine Rolle mehr in deinem Leben. Er ist nicht wichtig." Carrie betrachtete ihn erstaunt. Seine Augen blitzten, und sein Mund war zusammengepreßt. Noch nie hatte sie ihn so erlebt. Trotz ihres Schocks über Roberts unerwarteten Anruf erkannte sie, daß jetzt alles davon
abhing, wie sie sich verhielt. Die Sache schien Will ungeheuer wichtig zu sein. Sie war dazu erzogen worden, unabhängig zu sein, ihre eigenen Entscheidungen zu treffen und ihr Leben ohne die Hilfe anderer zu meistern. Doch als sie jetzt Wills Augen sah, wurde ihr klar, daß sie dieses eine Mal nachgeben oder zumindest einen Kompromiß schließen mußte. Bestand eine Ehe nicht aus Kompromissen? So gern sie erfahren hätte, aus welchen Gründen Robert sie buchstäblich am Altar sitzengelassen hatte, ihre Sorge um Will war größer. Den Blick auf Will gerichtet, gab sie die Muschel frei. "Robert, du und ich haben einander nichts mehr zu sagen." Seine Proteste schnitt sie einfach dadurch ab, daß sie auflegte. Ihre Hände zitterten so heftig, daß sie sie gegen den Bauch preßte. Will umfaßte ihr Kinn und küßte sie leicht auf die bebenden Lippen. "Übermorgen werden wir beide heiraten. Robert Gallatin hatte seine Chance, und er hat sie verpatzt. In deinem unserem - Leben ist kein Platz für ihn." Er trat einen Schritt zurück, drehte sich um und verließ das Zimmer. Leise schloß er die Tür hinter sich. Carrie lehnte sich gegen den Schreibtisch, weil sie befürchtete, ihre Beine würden sie nicht tragen. Noch nie hatte sie in den Augen eines Mannes solche Besitzgier gesehen wie gerade bei Will. Daß er so empfand, überraschte sie, machte ihr jedoch gleichzeitig auch Hoffnung. Daß er sie begehrte, wußte sie. Er hatte nie ein Geheimnis daraus gemacht. Das hier war jedoch mehr. Ein viel stärkeres Gefühl, das ihr Herz heftig pochen ließ. Sie hatte Angst, diesem Gefühl einen Namen zu geben, weil sie dann der Tatsache ins Auge sehen müßte, daß ihre Gründe, Will zu heiraten, ebensowenig klar und einfach waren wie seine.
Die beiden nächsten Tage vergingen wie im Flug für Carrie. Will hatte für sämtliche Familienmitglieder Zimmer in einem nahegelegenen Hotel reserviert, damit sie nicht zusätzlich die Verantwortung für Hausgäste hatten. Carrie hatte ebenfalls angeboten, bis zur Hochzeit ins Hotel zu ziehen, aber Will wollte nichts davon hören. Wie er sagte, würde es schließlich auch bald ihr Haus sein. Außerdem waren die Zwillinge daran gewöhnt, sie nachts beide um sich zu haben. Sam und Bret kamen mit ihren Kindern, und es wurde richtig turbulent. Carrie freute sich zwar, so viele Menschen um sich zu haben, doch sie entdeckte bald, daß drei lebhafte Kinder nicht der richtige Umgang für zwei gerade fünf Wochen alte Babys waren. Vor allem nicht, wenn diese Kinder die Zwillinge als lebende Puppen betrachteten. Am Tag vor der Hochzeit erwischte sie den dreijährigen Brian dabei, wie er Jacob ans Fenster hob, damit dieser die Autos auf der Straße betrachten konnte. Carrie bekam Jacob gerade noch rechtzeitig zu fassen, ehe er aus Brians Arm rutschte. Sie brachte die Zwillinge in Wills Zimmer zur Sicherheit und legte sich einen Moment mit ihnen aufs Bett, um sich von den anstrengenden Gästen zu erholen. Trotz all der Aufregung brauchte Carrie die Zwillinge nur anzusehen, um zu wissen, daß sie die richtige Entscheidung getroffen hatte. Seit ihrer Ankunft waren beide gewachsen und wirkten nicht mehr so zerbrechlich. Sie hatten vollere Gesichter bekommen, eine gute Farbe und schrien nicht mehr soviel - es sei denn, einer wurde von einer Kolik geplagt. Doch selbst diese Anfälle schienen nachzulassen. Carrie drehte sich auf die Seite, legte schützend den Arm um die Kinder und kuschelte sich an sie. An ihrer ermutigenden Entwicklung war sie maßgeblich beteiligt gewesen. Als ihre Mutter würde sie weiterhin für sie sorgen, bis sie auf eigenen Füßen stehen konnten.
Eine ganze Weile lag sie mit Jacob und Ariana auf dem Bett und spielte mit den beiden. Besonders wenn sie ein wie ein Nilpferd geformtes Gummitier hochhielt, das beim Zusammendrücken quietschte, schauten sie ganz fasziniert. Doch nach einer Weile fielen den Kindern die Augen zu. Als die Tür aufging und Will eintrat, blickte Carrie lächelnd auf. "Hallo." Abgesehen von der nächtlichen Fütterung waren sie seit Roberts Anruf nicht mehr miteinander allein gewesen. Carrie forschte in Wills Miene nach Nachwehen seines gestrigen Ausbruchs, sah aber nur die übliche Gelassenheit. Die Hände in die Hüften gestemmt, schaute er einige Sekunden auf sie herunter. Er sah die nackten Beine unter dem Saum ihrer Shorts aus Jeansstoff und das weite T-Shirt, das nach oben gerutscht war. Unter seinem Blick wurde ihr warm. Carrie freute sich, daß sie ihm gefiel. Schließlich konnte sie sich auch schier nicht satt sehen an ihm. Sie mochte es, wenn er ein wenig zerzaust aussah, so wie jetzt. Seine Haare standen ab, weil er mit seinen Nichten und Neffen im Garten herumgetobt hatte. Seine Krawatte saß locker und baumelte auf seiner Brust. Carrie fragte sich, warum er überhaupt eine umband, wenn er sie offensichtlich kaum ertragen konnte. Er schmunzelte und deutete mit dem Daumen in Richtung Wohnzimmer. "Meine Brüder, meine beiden Schwägerinnen und meine anbetungswürdigen Nichten und Neffen sind dabei, mein Haus zu verwüsten, und du liegst einfach hier und machst ein Nickerchen. Schämen solltest du dich!" Carrie richtete sich auf und stützte den Kopf auf eine Hand. "Oh, das tue ich durchaus", versicherte sie ihm ernsthaft. "Sobald ich mit dem Faulenzen hier fertig bin, werde ich mich zu ihnen gesellen und sie nach besten Kräften unterstützen." "Du scheinst nicht besonders viel Respekt vor meinem Eigentum zu haben."
"Nein." Will zog ein kleines Buch und einen Stift aus der Brusttasche und trug etwas ein. "Was schreibst du denn da?" fragte Carrie neugierig. "Ich mache mir eine Notiz, daß ich das Haus auf dich überschreibe, sobald wir aus Myrtle Beach zurückkommen." "Will, das geht doch nicht!" Er warf das Buch auf die Kommode, wo es neben einer Doppelpackung mit Feuchtigkeitstüchern für die Babys zu liegen kam. "Es ist mein Haus, und ich kann damit machen, was ich will." "Aber was ist, wenn unsere Ehe nicht gutgeht?" fragte sie beklommen. "Dann habe ich das Haus, und du ..." "Unsere Ehe wird nicht scheitern", antwortete er bestimmt. "Ich dachte, du hättest das begriffen." Er kam zum Bett und tippte ihr auf die Hüfte. "Rück ein Stück." Sie tat wie geheißen, und er setzte sich neben sie. "Ich habe nicht so viele Jahre auf diese Ehe hingearbeitet, um dann bei den ersten Schwierigkeiten die Flinte ins Korn zu werfen. Wenn es einmal Probleme geben sollte, werden wir sie gemeinsam lösen." Carrie sah ihn verdutzt an. "Was meinst du damit?" "Ich wollte sagen, daß ich mich schon lange mit dem Gedanken trage zu heiraten", sagte er freundlich. "Das heißt jedoch nicht, daß ich es unüberlegt tue. Als ich Lani heiratete, war ich mir darüber im klaren, daß die Ehe nicht lange bestehen würde, weil ich wußte, daß sie im Sterben lag." Vorsichtig, um die Babys nicht zu stören, stützte er sich auf dem Kissen neben Carries Kopf auf. "Präge es dir gut ein, Carrie Diane McCoy. Diese Ehe wird von Dauer sein. " Carrie fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. "Ich verstehe." "Hast du eigentlich erwartet, daß wir vor der Hochzeit einen Ehevertrag schließen? Glaub mir, der wäre überflüssig. Wir
werden ihn nie brauchen. Solange ich am Leben bin, werde ich dein einziger Ehemann sein." "Du bist dir deiner sehr sicher." Carries Stimme zitterte leicht. "Ich möchte, daß du dir genauso sicher bist." Carrie blickte in seine Augen und las das Versprechen darin. Zaghaft zuerst und dann immer kühner, streckte sie die Hand aus und packte den Zipfel seiner Krawatte. Dann zog sie daran, bis sein Kopf auf gleicher Höhe war. "Wenn ich deiner nicht sicher wäre, Will, wäre ich bestimmt nicht hier." Sie richtete sich auf und küßte ihn.
IX Will schien einen Moment verblüfft - schließlich hatte Carrie bisher noch nie die Initiative ergriffen, wenn es um Zärtlichkeiten ging, aber dann legte er den Arm um sie und erwiderte den Kuß. Jedes Mal, wenn sie sich küßten, verlor Carrie etwas von ihrer Scheu. Je öfter er sie an sich gedrückt hielt, desto besser lernte sie ihn kennen. Nach seiner Reaktion auf Roberts Anruf wollte sie ihm zeigen, was sie empfand. "Nur damit wir uns verstehen", sagte sie schließlich atemlos. Der Blick seiner grauen Augen war ruhig und stetig. "Ich verstehe sehr gut." Carrie räusperte sich. "Dann kann ich also davon ausgehen, daß du mich nicht am Altar stehenläßt?" Will richtete sich auf. "Allerdings. Da der Altar hier in meinem Wohnzimmer aufgebaut wird, bleibt mir gar nichts anderes übrig, als zu erscheinen." Er faßte sie bei den Händen, zog sie hoch und küßte sie noch einmal. "Ich werde bestimmt kein solcher Narr sein wie Robert Gallatin." In diesem Moment erkannte Carrie, daß sie ihn liebte. Er war alles, was sie sich bei einem Mann wünschte. Da sie jedoch nicht wußte, welcher Art seine Gefühle für sie waren, traute sie sich nicht, es ihm zu sagen. Wenn er ihr nun nicht glaubte? Schließlich war sie noch vor einem Monat überzeugt gewesen, Robert zu lieben. Ziemlich durcheinander, lehnte sie den Kopf an seine Brust.
Sofort legte er die Arme um sie und drückte sie an sich. "Carrie, du brauchst keine Angst zu haben", sagte er beruhigend, weil er ihre plötzliche Schwäche mißdeutete. "Alles wird gut gehen." Sie bog den Kopf zurück und blickte ihm ins Gesicht. Allerdings sah sie ihn nur verschwommen, weil ihre Augen in Tränen schwammen. "Das weiß ich, Will." Will runzelte leicht die Stirn. Einen Moment schien es, als wollte er noch etwas sagen, doch sie trat rasch zurück und wischte sich die Augen. Er ließ die Hände sinken und öffnete und schloß sie ein paar Mal, als wollte er sie zu Fäusten ballen. Schließlich ging er um Carrie herum und hob beide Babys hoch. Dann reichte er ihr Jacob. "Meine Mutter hat eben aus dem Hotel angerufen. Sie ist mit meinen Schwestern auf dem Weg hierher, um diese beiden kennen zulernen. Kannst du noch drei weitere Calhouns verkraften?" "Warum denn nicht?" fragte sie und legte Jacob auf die Wickelkommode. Nach dem Duft zu schließen, der aus seiner Windel aufstieg, mußte er dringend gewickelt werden. "Ach du meine Güte!" rief Will plötzlich. "Was ist denn?" "Mir ist gerade klargeworden, daß mit dir und Ariana die Frauen bei den Calhouns in der Überzahl sein werden." Carrie schmunzelte. "Es gibt doch noch Gerechtigkeit in dieser Welt." Er bedachte sie mit einem strafenden Blick und verließ mit Ariana das Zimmer. "Carrie, bist du soweit?" Carrie drückte die Hände auf ihren Magen, der sich ziemlich flau anfühlte. "Ich glaube schon", sagte sie schwach. Als sie Ginnys besorgten Blick sah, schloß sie einen Moment die Augen. Hoffentlich glaubte ihre Schwester jetzt nicht, daß ihr im letzten Moment Zweifel gekommen waren.
"Also gut, dann gebe ich Bret ein Zeichen, daß er die Musik anstellen soll." Ginny eilte hinaus. Kurz darauf hörte Carrie die ersten Klänge von Handels "Wassermusik". Nervös warf sie einen letzten Blick in den Spiegel. Das Kleid war wunderschön, aber sie hatte Angst, daß es sie zu blaß machen könnte. Rasch griff sie nach einem großen Schminkpinsel und stäubte sich etwas Rouge auf die Wangen. So sah sie schon besser aus. Nur schade, daß sich das Flattern in ihrem Magen nicht mit einem kosmetischen Trick abstellen ließ. Seit ihr bewußt geworden war, daß sie Will liebte, machte sie sich Sorgen. Solange sie noch glaubte, daß sie ihn ausschließlich der Kinder wegen heiratete, war ihr leichter ums Herz gewesen. Jetzt machte sie sich nichts mehr vor. Sie wurde Wills Frau, weil sie es unbedingt wollte. Das Problem war nur, daß sie nicht wußte, was er für sie empfand. Es klopfte ah der Tür. Ihr Vater. Ohne auf eine Antwort zu warten, betrat Hugh McCoy das Zimmer. Er war ein schlanker, drahtiger Mann mit grauem Haar und dem unerschütterlichen Selbstbewußtsein eines Zeitungsmannes. "Es ist Zeit, mein Schatz. Es sei denn, du möchtest die Sache doch lieber absagen." Lachend ging sie auf ihn zu und faßte ihn am Arm. "Ganz bestimmt nicht. Ich dachte, du magst Will." "Sehr sogar, aber ich möchte nicht, daß du verletzt wirst." "Will würde mir nie weh tun", versicherte sie und umarmte ihn. "Es wird alles gut werden." Auf Wills Treue würde sie sich verlassen können. "Ich bin nur froh, daß ich nicht noch mehr Töchter habe, die die Calhouns mir wegheiraten können", brummte er. Lachend zupfte sie ihm die Krawatte zurecht und gab ihm einen Kuß. "Die wären nicht in Gefahr, weil ich mir den letzten Calhoun geschnappt habe. Dad, du magst Bret und Will doch. Das hast du immer gesagt."
"Das schon, aber ein bißchen mehr Abwechslung hätte ich mir bei meinen Schwiegersöhnen schon gewünscht." Plötzlich hellte sich seine Miene auf. "Dafür bringt dieser hier mir gleich zwei süße Enkelkinder mit." "Na also." Carrie hakte ihn unter. "Was könnte sich ein Vater sonst noch wünschen?" "Daß du glücklich wirst." "Das werde ich ganz bestimmt, Dad", versicherte sie ihm und nahm ihren Brautstrauß aus rosa Rosen und Lavendel. "Gehen wir." Er sah sie ein letztes Mal forschend an. Offenbar beruhigte ihn, was er sah, denn er geleitete sie hinaus und den Flur entlang. Als Ginny ihrer ansic htig wurde, gab sie Bret ein Zeichen, und der Hochzeitsmarsch erklang. Auf der Schwelle zum Wohnzimmer blieben sie stehen. Carrie blickte sich suchend um und atmete auf, als sie Will mit dem Pfarrer vor dem blumengeschmückten Kamin stehen sah. Er trug eine n grauen Maßanzug, der seinen athletischen Körper unauffällig betonte. Als er sie sah, leuchteten seine Augen auf. Er hob die Hand, als wollte er sie an sich ziehen. Bei seinem Anblick legte sich Carries Nervosität und machte einer ruhigen Gewißheit Platz. Hier war der Mann, der für den Rest ihres Lebens für sie sorgen würde. Lächelnd schritt sie am Arm ihres Vaters voran, um Will Calhouns Frau zu werden. "Weint dein Vater häufiger?" fragte Will drei Stunden später, als sie in die Flitterwochen aufbrachen. Carrie lachte und winkte den Hochzeitsgästen zu, die ihnen Reis und Konfetti nachwarfen. Wills Mutter hob Jacob und eine seiner Schwestern Ariana hoch, damit sie ihre Eltern davonfahren sehen konnten. Carrie war froh, daß die Babys in der Obhut ihrer Großmutter und Tanten bleiben würden, doch insgeheim vermißte sie sie jetzt schon.
Als sie um die Ecke bogen und das Haus nicht mehr zu sehen war, lehnte sie sich zurück und beantwortete Wills Frage. "Nein, ich habe Dad bisher nie weinen sehen. Weiß er etwa etwas über dich, das mir unbekannt ist?" Will zog eine Augenbraue hoch. "Als ausgefuchster Reporter weiß er wahrscheinlich mehr über andere Leute als sonst jemand, aber ich kann dir versichern, daß es in meinem Keller keine Leichen gibt. Wahrscheinlich war er einfach nur gerührt, daß jetzt auch seine Jüngste unter der Haube ist." "Mir hat er gesagt, daß er sich freut." "Allerdings ist er erleichtert, daß es nicht noch mehr ruchlose Calhouns gibt, die ihm seine Töchter wegheiraten." "Ja, davon sprach er, aber von ,ruchlos' war nicht die Rede." "Dein Vater ist Schriftsteller. Die lieben blumige Worte." Er streifte sie mit einem Blick und bog auf den Zubringer zum Highway Nummer siebzehn ab, der nach Grand Strand und Myrtle Beach führte. "Und wie fühlt sich Miss McCoy bei der Vorstellung, mit einem Calhoun verheiratet zu sein?" "Glücklich", gestand Carrie. Sie betrachtete den Ehering mit den Diamantsplittern, der unter dem Verlobungsring an ihrem Finger saß. Jetzt fühlte sie sich richtig verheiratet. Im allgemeinen Trubel hatten sie keine Zeit gehabt, ihre Gelöbnisse aufzuschreiben, wie sie und Robert es getan hatten. Deshalb hatte der Pfarrer die traditionelle Trauformel gebraucht. Carrie fand die vertrauten Worte sehr passend, in gewisser Weise aber auch ironisch, weil ihre Heirat auf so ungewöhnlichem Wege zustande gekommen war. Will schien mit ihrer Antwort zufrieden zu sein, denn er nickte anerkennend. Während sie die Küste entlang fuhren, sprach er davon, ihr einen neuen Wagen mit eingebauten Kindersitzen zu kaufen. Carrie stimmte ihm zu, daß ihr Alter nicht besonders gut dazu geeignet war, Jacob und Ariana sicher unterzubringen, doch als
er begann, das Modell, das er im Sinn hatte, mit allen technischen Einzelheiten zu beschreiben, seufzte sie. "Was ist denn?" "Du bist so schrecklich praktisch, Will. Es kommt mir vor, als wären die Flitterwochen schon vorbei, ehe sie überhaupt begonnen haben." Er sah sie von der Seite an. "Folgt jetzt wieder eine Predigt, daß ich nicht romantisch genug bin?" "Ich dachte eigentlich, du hättest in dieser Hinsicht große Fortschritte gemacht." "Bis jetzt?" "Bis jetzt." "Dann werde ich mir etwas einfallen lassen müssen, um Sie eines Besseren zu belehren, Ms. Calhoun." "Da bin ich aber gespannt." Sie lehnte sich bequem zurück und betrachtete die Landschaft. Unwillkürlich mußte sie an seine Worte an dem Abend denken, als er ihr einen Heiratsantrag gemacht hatte. Er hatte sie davor gewarnt, Romantik mit Liebe zu verwechseln. Einen Moment lang war sie traurig, doch sie tröstete sich rasch, als sie insgeheim aufzählte, was sie durch die Heirat mit ihm alles gewonnen hatte. Als sie vor dem Hotel hielten, blieb Carrie die Luft weg. Es war ein umgebautes Herrenhaus aus der Zeit vor dem Bürgerkrieg. Am Eingang warteten bereits Pagen in roten Livreen, um den Wagen wegzufahren und ihr Gepäck hineinzubringen. Umgeben von Golfplätzen und blühenden Gärten, wirkte das Haus wie ein Juwel in einer Samtfassung. "Gefällt es dir?" fragte Will, als sie einen Moment allein waren. "Es ist wunderschön, Will. Wie im Märchen." "Besser als der Ort, wo Robert die Flitterwochen mit dir verbringen wollte?"
Carrie unterdrückte ein Lächeln. Noch nie war ihr ein Mann mit mehr Selbstbewußtsein als Will begegnet, aber Robert schien seine schwache Stelle zu sein. "Ich weiß nicht, Will. Wenn du dich erinnerst, bin ich damals nicht bis Hilton Head gekommen." "Du weißt gar nicht, wie froh ich darüber bin." Er nahm sie am Arm und führte sie in die Halle, wo sich blühende Topfpflanzen und Farne in der von der Klimaanlage hervorgerufenen Brise wiegten. Dann trugen sie sich zum erstenmal als Mann und Frau ins Anmelderegister ein. Obwohl es Hochsaison war, war es Will gelungen, eine Suite zu bekommen. Als der Page die Tür öffnete, hob Will Carrie hoch. "Was machst du denn da?" rief sie erschrocken und klammerte sich an seiner Schulter fest. "Ich trage dich über die Schwelle", antwortete er gleichmütig. "Als kluge Frau hättest du eigentlich selbst darauf kommen können." Mitten im Zimmer setzte er sie ab, befahl ihr, sich nicht von der Stelle zu rühren, und gab dem grienenden Pagen ein fürstliches Trinkgeld. Als der Junge fort war, sagte er: "Jetzt heraus mit der Wahrheit. Wie würdest du diese romantische Geste auf einer Skala von eins bis zehn bewerten?" Lachend warf Carrie ihre Handtasche auf einen Stuhl. "Ungefähr mit sieben." Will blickte bestürzt drein. "Nur eine Sieben? Da muß ich mich noch anstrengen." Er breitete die Hände aus. "Und wie gefällt dir das Zimmer?" Carrie schaute sich um. Von der Suite hatte man einen atemberaubenden Blick auf die Meeresbrandung. Die Möbel aus Korb und Rattan waren mit gemusterten Kissen in leuchtenden Farben bedeckt. So ähnlich hatte sich Carrie die Atmosphäre einer Südseeinsel vorgestellt. In einem Eiskübel stand eine Flasche Champagner. Daneben entdeckte sie ein Tablett mit
zwei Gläsern und eine Vase mit mindestens zwei Dutzend roten Rosen. Von ihrem Standort aus konnte Carrie sehen, daß das Schlafzimmer in den gleichen Farben gehalten war. In der Mitte stand ein großes Bett von der Sorte, wie Will es auch zu Hause hatte. In Zukunft würden sie beide dort schlafen, aber nicht auf die platonische Weise wie in ihrer ersten Nacht. In einer Vase auf dem Nachttisch steckte ein traumhafter Strauß aus Rosen mit Vergißmeinnicht und Lavendel. Dicke weiße Kerzen in Silberleuchtern würden für Licht sorgen, wenn es dunkel wurde. Beim Anblick des Bettes, der Blumen und der Kerzen wurde Carries Mund ganz trocken. Rasch wandte sie sich ab. Es war Will nicht entgangen, wohin sie schaute, aber er sprach sie nicht darauf an. "Ich würde sagen, diese Suite ist ganz eindeutig ... eine Acht." , "Was wäre denn eine Zehn?" wollte er wissen. "Ein Luxushotel an der französischen Riviera", erwiderte sie prompt. "Man muß sich ja noch steigern können." Carrie lachte, wurde jedoch ernst, als Will auf sie zukam und den Arm um sie legte. "Wir wollen doch mal sehen, wie du unseren ersten Kuß als Mann und Frau bewertest." Sie bog den Kopf zurück und blickte ihm in die Augen. "Wir haben uns bereits als Ehepaar geküßt." "Der erste Kuß war für die Öffentlichkeit bestimmt. Dieser hier ist nur für uns." Carrie hatte ihn schon so oft geküßt, und jedes Mal war es anders gewesen. Niemals hatte sie jedoch so dabei empfunden wie jetzt. Vielleicht lag es daran, wie er sie in den Armen hielt zugleic h fest und behutsam. Vielleicht an der Art, wie er ihre Lippen mit der Zunge auseinanderdrängte, ihren Rücken
streichelte und sie dabei an sich drückte. Vielleicht das tiefe Brummen in seiner Brust. Und plötzlich wußte wie, was anders war. Mit diesem Kuß zeigte er ihr, daß sie jetzt unwiderruflich zu ihm gehörte. Sein Duft stieg Carrie zu Kopf wie Champagner. Je länger sein Mund ihren berührte, kostete und erforschte, desto ungestümer hämmerte ihr Herz. Bestimmt konnte er es durch den Stoff ihres Kleides und seines Hemdes fühlen. Als er sich schließlich von ihr löste, bemerkte sie, daß er ebenso keuchend atmete wie sie. "Nun?" fragte er. "Das war ganz eindeutig eine Zehn", japste sie und preßte die Hand aufs Herz. "Gut. Ich will versuchen, diesen Standard vo n nun an zu halten." "Ich bezweifle nicht, daß es dir gelingen wird." Will lachte leise und küßte sie leicht. "Hast du Hunger?" Verlangen flackerte in ihr auf. "Das hängt ganz davon ab, was du damit meinst." "Abendessen. Ich habe für acht Uhr einen Tisch reserviert." Carrie hob den Arm und blickte auf die Uhr. "Jetzt ist es kurz vor sechs." "Das heißt, uns bleiben noch zwei Stunden. Was hältst du von einem Spaziergang am Strand?" Sie streckte die Hand aus und lockerte seine Krawatte. "Das wäre eine Möglichkeit." Er hatte die Augen zusammengekniffen, aber sie spürte, daß ihm von neuem heiß wurde. "Wir könnten uns auch etwas zu trinken bestellen und uns auf den Balkon setzen." "Und ein bißchen reden. Was für eine nette Idee!" Sie warf seine Krawatte auf einen Stuhl und begann, sein Hemd aufzuknöpfen. "Andererseits haben wir eine ganze Flasche Champagner." Will streckte die Arme nach ihr aus und zog sie an sich. "Wir überlegen nachher, was wir machen."
Wieder hob er sie hoch und trug sie ins Schlafzimmer. Auf Carries privater Skala romantischer Gesten war das wieder eine Zehn. Als er sie neben dem Bett abstellte und sich anschickte, die drei Dutzend winziger Knöpfe zu öffnen, die vom Kragen bis zum Saum ihres Kleides reichten, vergaß sie das alberne System und konzentrierte sich ganz auf den Augenblick. Will hatte den Kopf gesenkt und küßte jeden Zentimeter Haut, den er freilegte. "Carrie", murmelte er. "Ich will im Moment nicht noch mehr Kinder." Sie hatte das Gefühl, unter seiner Berührung zu schmelzen. Im ersten Moment hatte sie seine Worte gar nicht wahrgenommen. "Wie bitte?" "Hast du Vorkehrungen getroffen? Irgendeine Art der Verhütung?" Carrie zitterte. Warum mußte er ausgerechnet jetzt so verflixt praktisch denken? "Robert bestand darauf, daß ich die Pille nehme." Sie spürte, wie Wills Körper sich anspannte, doch nachdem sie einmal angefangen hatte, mußte sie weiterreden. "Nach dem Debakel habe ich sie abgesetzt, aber seit du mich gebeten hast, dich zu heiraten, nehme ich sie wieder." "Gut. Das wird vieles leichter machen." Er küßte sie so heftig, daß es schmerzte. Gleichzeitig preßte er sie an sich. Als sie spürte, wie erregt er war, versuchte Carrie sich loszumachen, aber er hielt sie fest. Eben war er noch so zärtlich, so behutsam gewesen. Jetzt schien es, als wollte er sie unter allen Umständen in Besitz nehmen. Was hatte sie getan oder gesagt, um ihn in diese Stimmung zu versetzen? Dann fiel es ihr wie Schuppen von den Augen. Sie hatte Robert erwähnt. Nach Wills Überzeugung war Robert ein Narr, aber selbst die Nennung seines Namens reichte, um Will aus dem Gleichgewicht zu bringen. Eigentlich sollte sie das nicht überraschen, wenn sie an seine Reaktion auf Roberts Anruf dachte.
Mit aller Kraft stemmte sie sich gegen seine Schultern. "Will!" keuchte sie. "Verstehst du denn nicht, daß ich die Pille als Vorbereitung auf die Ehe genommen habe?" "Doch, das habe ich sehr wohl begriffen." Es rührte sie, wie hart er kämpfte, seine Eifersucht im Zaum zu halten. "Will, ich habe niemals mit Robert geschlafen." Aus zusammengekniffenen Augen betrachtete er sie. Seine Stirn war gerunzelt. "Was?" "Ich wollte bis nach der Hochzeit warten, und er hat mich nicht gedrängt." Sie lachte bitter. "Kein Wunder! Wie sich gezeigt hat, hat er mich weder geliebt noch begehrt." Wills Miene hellte sich auf, und langsam breitete sich ein Lächeln auf seinem Gesicht aus. "Dafür sei dem Himmel Dank." Abrupt trat er einen Schritt zurück. "Geh nicht weg. Ich komme gleich wieder." Er ging zum Telefon und rief an der Rezeption an, um die Reservierung zum Abendessen zu stornieren. Dann nahm er eine Schachtel Streichhölzer und entzündete die Kerzen neben dem Bett. Ein leichter Vanilleduft durchzog das Zimmer. Als nächstes hängte er das Schild "Bitte nicht stören" vor die Tür, öffnete die Flasche Champagner und füllte zwei Gläser. "Wie mache ich mich auf der Skala der Romantik?" fragte er und reichte ihr eines Carrie schluckte. Sie konnte sich selbst nicht erklären, warum ihre Augen plötzlich in Tränen schwammen. "Du bist dabei, eine Zehn nach der anderen zu sammeln." "Gut", sagte er befriedigt. "Wie wäre es jetzt mit einem romantischen Trinkspruch?" "Ich höre." Er blickte ihr in die Augen. "Auf Carrie Calhoun - und ihre einzige Hochzeitsnacht." Sie stieß mit ihm an. Ein ziemlich eigenartiger Trinkspruc h, der mit Romantik nicht viel zu tun hatte. Sie hätte sich etwas
gewünscht, das mit den Worten "Ich liebe dich" endete, aber diese Hoffnung mußte sie wohl endgültig begraben. Da sie kaum etwas gegessen hatte, stieg ihr der Champagner rasch zu Kopf. "Das ist ja direkt dekadent." "O nein." Will nahm ihr das Glas ab und stellte es zusammen mit seinem eigenen zur Seite. "Gib mir fünf Minuten, und ich zeige dir, was wirkliche Dekadenz ist." Im nächsten Moment lag sein Mund auf ihrem, heiß und gierig. Gleichzeitig löste er weiter einen ihrer Knöpfe nach dem anderen, bis er ihr das Kleid von den Schultern streifen konnte. Achtlos ließ er es auf den Boden fallen. Ihre Unterwäsche folgte, dann seine Sachen. Mit einem ungeduldigen Laut schob er alles zur Seite und zog die Tagesdecke des Bettes mit einem Ruck zurück. Im nächsten Moment lagen sie engumschlungen nebeneinander. Verlangen und Begehren durchzuckten Carrie. Will erfüllte ihre Wünsche, ehe sie ihr richtig bewußt wurden. Er küßte ihren Hals, das Schlüsselbein, die Brüste. Sie ließ die Hände über seinen Rücken gleiten. Endlich konnte sie die Muskeln berühren, die sie schon so lange bewunderte. Sie fühlten sich noch besser an als in ihrer Phantasie. Als er sich auf sie legte, öffnete sie sich ihm bereitwillig, den er hatte ihr Herz schon lange erobert. Während er sie von einem Gipfel der Ekstase zum nächsten führte, wiederholte sie stumm, was sie nicht auszusprechen wagte: Ich liebe dich. Farben und Lichter begannen sich um sie zu drehen, bis die Wonne in goldenen Funken über ihr zusammenschlug. Es dauerte eine ganze Weile, bis sie nachher wieder sprechen konnten. Dazu hatten sie beide nicht genug Luft. Es war Will, der als erster den Kopf hob. "Geht es dir gut?" "Wunderbar!" rief sie. "Ich habe mich noch nie besser gefühlt.".
Er lachte leise und zog sie an sich. Carrie streckte die Hand aus und ließ sie durch die dichten goldenen Haare auf seiner Brust gleiten. "Manchmal habe ich geglaubt, dieser Tag würde nie kommen", sagte er versonnen. Carrie richtete sich ein Stück auf. "Du meinst, deine Hochzeit?" Will betrachtete sie durch die halbgesenkten Wimpern. "Ja, meine Hochzeit." Er küßte ihre Halsgrube und murmelte etwas, das klang wie "mit dir". Sicher war sich Carrie jedoch nicht, denn er tat Dinge, die sie jedes klaren Gedankens beraubten und sie dorthin zurückführten, wo sie eben hergekommen waren. Um Mitternacht knurrte den Flitterwöchnern der Magen. Anstatt sich beim Zimmerservice etwas zu bestellen, zogen sie Jeans und T-Shirts an und liefen zum Parkplatz. Der Wächter betrachtete sie schmunzelnd und flüsterte Will etwas zu, als sie den Wagen abholten. Als sie losgefahren waren, wandte sich Carrie zu ihrem frischgebackenen Ehemann, der ein sehr selbstzufriedenes Gesicht machte. "Was hat er denn zu dir gesagt?" fragte sie neugierig. Will gab sich unschuldig. "Wer?" "Stell dich nicht dumm. Der Parkwächter natürlich." Will hielt an einer roten Ampel. Im Schein einer Straßenlaterne konnte Carrie seine verlegene Miene sehen. "Ach, gar nichts." "Will..." "Noch nicht einmal zwölf Stunden verheiratet, und schon fängt meine Frau zu quengeln an", beschwerte er sich. "Will!" "Also gut. Er sagte: .Glückwunsch, alter Junge'." "Glückwunsch wofür?" "Zur Hochzeit, nehme ich an." Carrie sah ihn mißtrauisch an. "Woher hätte er wissen sollen, daß wir gerade erst geheiratet haben?"
Die Ampel wurde grün. Rasch griff Will nach rechts und klappte die Sonnenblende auf Carries Seite herunter, auf deren Rückseite sich ein beleuchteter Spiegel befand. "Schau dich doch nur an." Gehorsam blickte Carrie hinein. Im nächsten Moment schnappte sie erschrocken nach Luft. Ihr Haar war zerzaust und die Lippen geschwollen. Von ihrem Lippenstift war nicht mehr viel übrig. "Das hast du mit Absicht gemacht!" klagte sie. "Was denn?" "Ehe wir aus dem Zimmer ge gangen sind, hast du mich noch einmal gepackt und geküßt, damit ich wie eine ..." Verlegen verstummte sie. "Eine glückliche Braut aussehe?" fragte er schmunzelnd. "Ich bekenne mich schuldig im Sinne der Anklage." Carrie mußte lachen. Schließlich war sie ge nau das - eine glückliche Braut. Will hielt vor einem Supermarkt, der rund um die Uhr geöffnet hatte, und drehte sich zu ihr um. "Schließlich sollen alle anderen Männer sehen, daß du von jetzt an für sie tabu bist." Er half ihr aus dem Wagen, und sie gingen hinein. Während sie sich belegte Sandwichs und Getränke aussuchten und sie vor einem schläfrigen Kassierer aufs Band stellten, dachte Carrie über Wills Worte nach. Er will vor der ganzen Welt kundtun, daß wir zusammengehören, dachte sie glücklich. Das ist zwar keine richtige Liebeserklärung, aber ein klarer Hinweis, daß er sich zu mir bekennt. Als er seine Brieftasche wieder eingesteckt hatte, hakte sie sich bei ihm ein und lächelte. Damit würde sie sich vorläufig zufriedengeben. Carrie und Will blieben eine Woche in Myrtle Beach. Sie schwammen im Meer oder in einem der Hotelschwimmbecken, spielten Tennis, gingen am Strand spazieren, aßen Meeresfrüchte in schicken Restaurants und gingen einkaufen. Carrie kaufte so viele Spiel- und Anziehsachen für Jacob und
Ariana, daß Will erklärte, ihm würde wahrscheinlich demnächst die Kreditkarte gesperrt werden. Einmal fuhren sie die Küste entlang nach Georgetown, früher ein wichtiger Verladehafen für die Reisplantagen der Gegend. Sie besuchten die Brockgreen-Gärten, wo Skulpturen verschiedener Künstler ausgestellt waren, und das Kuriositätenmuseum in Ripley. Die meiste Zeit jedoch verbrachten sie in ihrer Suite und liebten sich. Will war ein zärtlicher und rücksichtsvoller Liebhaber, und Carrie war froh, daß sie sich für ihn aufgehoben hatte. Ihre Liebe zu ihm wurde von Tag zu größer. Sie war stolz, wenn er sagte, wie sehr er es genoß, wenn sie ihn berührte, und wie gern er sie betrachtete - vor allem im Bikini. Er erlaubte es nicht, daß sie diesen Bikini außerhalb der Suite trug, und selbst dann hatte sie ihn selten länger als fünf Minuten an, ehe er auf dem Teppich landete. Carrie genoß die Zeit mit ihm allein. Obwohl sie nicht aus den üblichen Gründen geheiratet hatten und Will sie davor gewarnt hatte, Romantik mit Liebe zu verwechseln, war Carrie sicher, daß er eines Tages lernen würde, sie auch zu lieben. Sie konnte es abwarten. Schließlich hatten sie viel Zeit - den Rest ihres Lebens.
X Das Zusammenleben zwischen Carrie und Will entwickelte sich ausgesprochen harmonisch. Die ersten beiden Wochen nach ihrer Rückkehr aus den Flitterwochen verbrachten sie ständig zusammen, entweder in der Galerie oder zu Hause mit den Zwillingen. Will setzte sich mit seinem Anwalt in Verbindung, der alles Nötige in die Wege leitete, damit Carrie Jacob und Ariana adoptieren konnte. Carrie arbeitete nach wie vor halbtags in der Galerie, während sich Mrs. Wiggins um die Kinder kümmerte. Wenn sie am frühen Nachmittag nach Hause kam, waren meistens beide Babys wach, und sie freute sich auf eine gemütliche Spielstunde. Mit fast drei Monaten litten sie jetzt seltener unter Koliken. Sie suchten den Blick ihrer Eltern, lächelten und gaben glucksende Geräusche von sich. Will hielt sie für kleine Genies und war überzeugt, sie würden demnächst zu sprechen anfangen. Carrie war rundherum glücklich. Sie freute sich an den Kindern und genoß die ungeteilte Aufmerksamkeit ihres äußerst sinnlich veranlagten Mannes. Mit jedem Tag liebte sie ihn mehr und konnte sich nicht erklären, warum sie so lange gegen ihre Gefühle für ihn gekämpft hatte. Manchmal wünschte sie sich, sie könnte ihm sagen, was sie empfand, und gleichzeitig erfahren, welcher Art seine Gefühle für sie waren, aber sie zögerte. Vielleicht würde Will behaupten, sie könne sich nach so
kurzer Zeit über ihre Empfindungen überhaupt noch nicht klar sein. Eines Tages lud Carrie eine bei der Galerie unter Vertrag stehende Künstlerin zum Essen ein, um mit ihr über die Werbekampagne für eine geplante Ausstellung zu sprechen. Will hatte versprochen, nachzukommen, falls eine andere Besprechung rechtzeitig beendet war. Allerdings war er bis jetzt nicht erschienen. Die Malerin blickte auf die Uhr. "Es tut mir leid, Carrie, aber ich kann nicht mehr länger warten. Bitte richten Sie Will herzliche Grüße aus ich fühle mich bei Ihnen sehr gut aufgehoben." "Will ist wohl aufgehalten worden. Ich warte noch fünf Minuten und gehe dann auch." Carrie hatte gerade ihre Mappe zusammengepackt, als sie Schritte hinter sich hörte. Wahrscheinlich war es der Kellner mit der Rechnung. Um so größer war ihr Schock, als sie sich umdrehte und Robert Gallatin sah. "Robert!" rief sie erschrocken. "Was machst du denn hier?" "Du wolltest weder am Telefon mit mir reden noch mich treffen. Also bin ich nach Charleston gekommen und dir von Calhouns Galerie aus gefolgt." "Robert, es gefällt mir gar nicht, daß du mir nachschleichst. Wir haben uns nichts mehr zu sagen." "Bitte, Carrie. Schon seit Wochen warte ich auf eine Gelegenheit, mit dir zu reden. Unsere ... Beziehung sollte zu einem würdigen Ende gebracht werden. Das, was ich dir angetan habe, hast du nicht verdient." Selbst Will konnte dagegen nichts einzuwenden haben. "Also gut, Robert", sagte Carrie. "Setz dich." Mit gemischten Gefühlen sah sie zu, wie er auf einen Stuhl in der abgeschiedenen Nische glitt. Sie fühlte sich unbehaglich, war jedoch neugierig; was er zu seiner Verteidigung anführen würde. Inzwischen hatte sie zwar erkannt, daß sie ihn gar nicht
wirklich geliebt hatte, aber sie würde sich wohler fühlen, wenn die Sache ein für allemal abgeschlossen war. Als er ihr gegenübersaß, betrachtete sie ihn objektiv wie einen Fremden. Zu ihrer Überraschung empfand sie weder Schmerz noch Freude. Statt dessen verspürte sie nach dem ersten Unbehagen lediglich eine gewisse Neugier, weshalb er sie unbedingt hatte treffen wollen. Jetzt, da sie ihn nicht mehr durch die rosarote Brille der Verliebtheit sah, war er eigentlich ein ziemlich durchschnittlicher Mann. Im Gegensatz zu Will war er nur mittelgroß. Seine Augen waren auf der gleic hen Höhe mit ihren. Er hatte einen gedrungenen Körperbau und kleine Hände und Füße. "Danke, daß du mich anhörst, Carrie", sagte er verlegen. "Kann ich dir noch etwas zu essen bestellen? Oder einen Drink? Einen Martini oder ein Glas Wein?" Für Carrie war es für Alkohol noch viel zu früh am Tag. Außerdem wollte sie unbedingt einen klaren Kopf behalten. "Nein, danke. Ich möchte nichts." Robert winkte dem Kellner und bestellte sich einen doppelten Martini. "Carrie, du siehst gut aus. Wirklich gut." "Man könnte nicht sagen, daß ich vor Schmerz vergehe", antwortete sie ironisch. "Das freut mich. Ich wollte dir keinen Kummer machen", versicherte er. "Allerdings war ich ziemlich überrascht, zu hören, daß du die Kirche mit Will Calhoun verlassen hast." Carrie zog die Augenbrauen hoch. "Ich hatte schließlich keinen Grund, noch länger dort zu warten." "Nein, natürlich nicht." Der Kellner kam mit Roberts Martini. Solange sie mit ihm zusammengewesen war, hatte Carrie ihn höchstens einmal ein Glas Wein trinken sehen. Jetzt leerte er sein Glas in einem Zug und bestellte sich noch einen. Allmählich verlor sie die Geduld.
"Robert, warum sagst du mir nicht einfach, warum du mich verlassen hast und was du jetzt von mir willst? Dann können wir beide nach Hause gehen." Angesichts ihres schroffen Tons verzog er schmerzlich das Gesicht. "Also gut." Er atmete ein paar Mal tief ein, bis sie ihn am liebsten geschüttelt hätte. "Du hast wahrscheinlich bemerkt, daß ich in den letzten Wochen vor ... also, daß ich mich verändert hatte." "Du meinst, vor der Hochzeit" sagte sie kühl. Warum fiel es ihm nur so schwer, auszusprechen, was er dachte? "Vor der Hochzeit", wiederholte er. "Wußtest du eigentlich, daß meine Eltern ziemlichen Druck auf mich ausgeübt haben, eine eigene Familie zu gründen?" "Gewußt habe ich es nicht, aber gespürt", gab sie zu. "Sie wollten das Geschäft nur auf mich überschreiben, wenn ich heirate." "Deswegen hast du mir einen Antrag gemacht?" Er nahm erneut einen kräftigen Schluck. "Teilweise. Hauptsächlich." Carrie stützte den Kopf in die Hände. "Und ich dachte, du liebst mich." "Das dachte ich auch, Carrie. Ich wollte dir wirklich nicht weh tun, aber einige Wochen vor der geplanten Hochzeit hatte ich geschäftlich in Atlanta zu tun." "Darin erinnere ich mich noch." "Dort habe ich ein Mädchen kennengelernt." Carrie blickte auf. "Was für ein Mädchen?" "Sie ist Tänzerin." "Tänzerin?" "Du weißt schon. An einem Abend ging ich mit einigen Geschäftsfreunden in einen Club. Dort sah ich sie auf der Bühne." Ein sehnsüchtiger Ausdruck war in seine Augen getreten. "Sie trug ... Eigentlich ist es nicht wichtig, was sie anhatte. Jedenfalls war ich von Anfang an verzaubert."
Sie traute ihren Ohren nicht. "Verzaubert? Soll das heißen, du hast mich wegen einer Nachtclubtänzerin buchstäblich am Altar stehengelassen, weil du ,verzaubert' warst?" Robert erkannte, daß er einen Fehler gemacht hatte, und versuchte, den Schaden zu begrenzen. "Auf meine Weise habe ich dich schon geliebt." Viel mehr von seiner Selbstgerechtigkeit würde sie nicht ertrage n können. "Und was war das für eine Weise, Robert? Du hast mir gerade erzählt, daß deine Eltern dich zur Heirat drängten. Dann hast du ein anderes Mädchen kennengelernt und mich verlassen. Habe ich die Fakten richtig verstanden?" : Robert leerte sein Glas und bestellte ein neues. "Ja, so ungefähr. Aber das ist noch nicht alles. In dieser Nacht ... Na ja, ich bin bei ihr geblieben, und sie wurde schwanger." Carrie war fassungslos. "Wußtest du das schon vor unserer Hochzeit?" Er wich ihrem Blick aus. "Ja." "Warum hast du es mir dann nicht eher gesagt? Warum hast du zugelassen, daß ich weiterplante, als wäre nichts geschehen?" "Es war mir eben peinlich." "Das hoffe ich!" "Alles ging so schnell. Es war wie in einem Auto, dessen Bremsen versagen. Ich wußte nicht, wie ich es anhalten sollte ..., Ich meine, die Hochzeit." "Also hast du die arme Marcia mit diesem widerlichen Brief geschickt." Carrie schüttelte den Kopf. "Ich glaube es einfach nicht." Robert antwortete nicht, weil er mit seinem dritten Martini beschäftigt war. "Weißt du was, Robert? Früher habe ich große Achtung für dich empfunden. Ich dachte, du seist ein Gentleman. Alle deine romantischen Gesten, die Blumen, die Spaziergänge im Mondschein hielt ich für wichtig, aber Will hat recht. Du bist ein Feigling."
Robert senkte beschämt den Kopf. "Ich weiß, daß du enttäuscht von mir bist. Das habe ich nicht anders verdient." Beinahe tat er ihr leid. "O Robert. Ich dachte, du wärst der Typ Mann, der sich seiner Verantwortung stellt." "Das tue ich auch. Morgen fliege ich nach Atlanta, um sie zu heiraten." Carrie griff nach ihrer Handtasche und stand auf. "Dann wünsche ich euch beiden viel Glück. Wie heißt deine Braut denn?" Robert lächelte verträumt. "Boom Boom LaFlame." Das war zuviel. Carrie lachte schallend los. "Boom Boom LaFlame? Du heiratest eine Frau namens Boom Boom LaFlame?" Seine Miene wurde mürrisch. "Du brauchst gar nicht so herablassend zu tun. Sie ist ein nettes Mädchen." Carrie lachte wieder. Sie versuchte sich auszumalen, Wie Boom Boom LaFlame in einem kurzen Paillettenkleid Tee mit Roberts eleganter Mutter trank. "O ja", keuchte sie, "darauf wette ich. Sie wird sich sicher gut mit den anderen Damen in Webster verstehen. Vielleicht kann sie Tanzstunden im Frauenverein geben." Robert richtete sich auf. "Carrie, das ist nicht nett von dir." Das wußte sie auch, aber sie konnte nicht anders. Sie ließ sich gegen die Lehne sinken und lachte, bis ihr die Tränen über die Wangen liefen. Die anderen Gäste drehten sich neugierig nach ihr um. Robert blickte sich verstohlen um und packte sie dann an der Schulter. "Hör sofort auf." Der Alkohol machte ihn aggressiv, und er verstärkte seinen Griff. "Au, Robert! Hör auf." "Nehmen Sie Ihre Hand von meiner Frau, ehe ich sie Ihnen breche." "Oh!" Carrie drehte sich um und sah Will auf sich zukommen. "Will, ich hatte gar nicht mehr ..."
"Mit mir gerechnet? Das sehe ich, Carrie." Seine Stimme war gefährlich leise. Robert zog sich hoch. Er schwankte ziemlich. "Hören Sie mal, Calhoun, was nehmen Sie sich eigentlich heraus?" Will blieb stehen, faßte Carrie am Arm und zog sie auf die Füße. "Wenn sich hier jemand etwas herausnimmt, dann Sie, und zwar bei meiner Frau." Als Will das Wort zum zweitenmal aussprach, kapierte Robert endlich. "Ihre Frau?" "Ganz richtig." Will hob Carries Hand hoch, an der die beiden Ringe funkelten. "Wir sind seit drei Wochen verheiratet." Robert kniff die Augen zusammen. "Ging das mit euch schon los, als wir noch zusammen waren?" Carrie schnappte entrüstet nach Luft, aber Will ließ sie nicht zu Wort komme n. "Glauben Sie nicht, daß Sie jedes Recht verwirkt haben, diese Frage zu stellen?" "Jetzt hören Sie mal zu ..." Obwohl Robert ziemlich schwankte, versuchte er, Will mit einem stählernen Blick einzuschüchtern. Selbst nüchtern wäre ihm das nicht gelungen. In seinem jetzigen Zustand hatte er von vornherein keine Chance. Er lachte bitter und sah Carrie an. "Jedenfalls habe ich dir jetzt alles erklärt. Ich gehe jetzt. Dir wünsche ich viel Glück." "Das wünsche ich dir und ... euch auch." Carrie wußte, daß sie wieder in Gelächter ausbrechen würde, wenn sie den Namen aussprach. "Alles Gute für die Zukunft." Robert legte einige Dollarscheine auf den Tisch, wandte sich ab und ging vorsichtig hinaus. Vor dem Restaurant hielt er ein Taxi an und verschwand. "Wenigstens hat er sich nicht selbst ans Steuer gesetzt", stellte Carrie fest. "Das dürfte seine einzige kluge Handlung heute sein", brummte Will, steckte sich Carries Mappe unter den Arm und
ging zur Kasse. Schweigend bezahlte er ihre Rechnung und schob sie dann hinaus. Sie sah ihn von der Seite an. "Stimmt etwas nicht, Will?" "O nein", versicherte er spöttisch. "Ich finde es einfach toll, meine Frau in einer stürmischen Umarmung mit einem anderen Mann zu finden - vor allem wenn es sich um ihren früheren Verlobten handelt." "Das war keine Umarmung!" widersprach sie, doch er hörte gar nicht zu. "Warum hast du dich mit ihm getroffen, Carrie?" "Das habe ich gar nicht." Er funkelte sie zornig an. "Lüg mich nicht an!" "Es stimmt aber. Er tauchte plötzlich im Restaurant auf, aber wir waren nicht verabredet, wenn es das ist, was du wissen willst." "Genau das will ich wissen." Vor dem Restaurant blieb er stehen, lehnte ihre Mappe an den Stamm eines Magnolienbaumes und sah sie herausfordernd an. "Vielleicht bist du so nett und erklärst mir alles." Allmählich geriet Carrie auch in Wut, aber sie nahm sich zusammen. "Robert ist heute eigens nach Charleston gekommen, um mit mir zu sprechen. Er ist mir von der Galerie aus gefolgt, als ich zu dem verabredeten Mittagessen mit Rebecca Sloane ging. Wenn du dich erinnerst, hättest du eigentlich auch daran teilnehmen sollen. Als Rebecca gegangen war, kam er an meinen Tisch und fragte, ob er sich einen Moment zu mir setzen dürfte." "Du hast natürlich sofort ja gesagt." Carrie warf den "Kopf zurück. "Du weißt ja, daß ich mich schon lange frage, warum er mich verlassen hat." "Weil er ein Feigling ist." Das war nur einer der Gründe. Die anderen würde sie Will erklären, wenn sie nicht mehr so wütend auf ihn war. Trotzig
verschränkte sie die Arme vor der Brust. "Will, ich bin froh, daß ich mit ihm gesprochen habe. Das war mir sehr wichtig." Er preßte die Lippen zusammen und drückte sie gegen den Magnolienstamm. "Ich habe dir mehr als einmal gesagt, daß es in unserer Ehe keinen Platz für Robert Gallatin geben wird." "Mir kommt es allmählich so vor, als würde der Platz nicht für uns beide und deine Verbohrtheit ausreichen", erwiderte sie aufgebracht. "Willst du etwa einen Rückzieher machen, Carrie? Dafür ist es zu spät." "O nein. Aber ich glaube, du mußt lernen, mir zuzuhören, wenn ich dir etwas sagen will. Sonst sehe ich schwarz für unsere Ehe." Will lehnte sich vor. "Und was soll ich mir anhören? Deine Ausreden zugunsten deines früheren Verlobten?" "Ich versuche gar nicht, Ausreden für ihn zu finden." "Hat er dir überhaupt die Wahrheit gesagt? Hat er zum Beispiel eine Tänzerin namens Boom Boom LaFlame erwähnt?" "Ja, das hat er ... Du hast das gewußt?" fragte sie entsetzt. Will wünschte, er könnte seine Worte zurücknehmen. "Ja, ich wußte es", antwortete er langsam. "Ich habe ihn von einem Privatdetektiv überprüfen lassen und erfahren, daß er ein Verhältnis mit einer Tänzerin hat, die von ihm schwanger ist. Ich hatte den Bericht des Detektivs bei mir, als ich an jenem Tag zu deiner Hochzeit fuhr. Ich bin eigens früh aufgebrochen, damit ich ihn dir noch rechtzeitig zeigen konnte. Statt dessen las ich dich auf der Straße auf." "Und ich bin einfach mit dir mitgefahren." Vage erinnerte sich Carrie an einen blauen Ordner, den Will auf den Rücksitz gelegt hatte. Einmal hatte sie ihn noch in seinem Haus gesehen, dann war er verschwunden. "Gott sei Dank." Carrie schüttelte den Kopf. "Du hast es gewußt", sagte sie bedrückt, "und mir nichts gesagt."
"Ich habe den Detektiv erst einige Tage vor der Hochzeit engagiert, als ich von Ginny hörte, daß Robert häufig verschwindet." "Ginny wußte auch Bescheid?" "Nein! Nun unterbrich mich doch nicht dauernd." Trotzig funkelte sie ihn an. Er atmete hörbar aus. "Carrie, ich wollte dich nicht einfach anrufen und dir mitteilen, was ich erfahren hatte. So etwas sagt man nicht am Telefon. Wenn es möglich gewesen wäre, wäre ich eher gekommen, aber ich hatte alle Hände voll mit Jacob und Ariana zu tun." "Wieso hast du dir eigentlich das Recht angemaßt, Robert nachspionieren zu lassen? Wer hat dich ermächtigt..." "Weil ich dich liebe, seit du achtzehn warst!" schrie er. Wütend wandte er sich ab und lief ein paar Schritte hin und her. Er wirkte wie unter Schock. "Habe ich das wirklich gesagt?" Carrie nickte langsam. Allmählich ging ihr ein Licht auf. "Ja. Du hast gesagt, daß du mich liebst, seit ich achtzehn war. Warum hast du mich das nicht früher wissen lassen?" Er ballte die Hände zu Fäusten. "Weil du zu jung warst. Ich wollte dich unbedingt haben, deine Liebe gewinnen und dich heiraten, aber ich habe dich wohl verschreckt und damit in Roberts Arme getrieben." Carries Herz hämmerte zum Zerspringen. ;,Will", sagte sie schwach. "Du hättest es mir sagen müssen. Ich hatte ja keine Ahnung. Die ganze Zeit dachte ich, für dich wäre ich nichts weiter als eine kleine Schwester, die man vor sich selbst schützen muß." "Ich weiß, ich weiß." Will zuckte mit den Schultern. "Ich habe es gründlich verpatzt. Vor lauter Angst, daß du meine Liebe nicht erwiderst, habe ich dich schikaniert und drangsaliert. Kein Wunder, daß du dich zu Robert hingezogen fühltest." Carrie hob die Hand. Sie konnte nicht sprechen.
Will sah sie argwöhnisch an, aber er ergriff die ausgestreckte Hand. "Es passierte bei der Hochzeit von Ginny und Bret. Ich hatte dich natürlich schon vorher gesehen, aber damals warst du noch ein Kind. Du kamst vor der Braut in einem mitternachtsblauen Samtkleid den Mittelgang hinunter, und um mich war's geschehen. Diesen Farbton finde ich an schönen Frauen atemberaubend." Carrie mußte an das Negligé denken, das er ihr geschenkt hatte, und lächelte. "Ich muß blind und taub gewesen sein, daß ich das nicht gemerkt habe." "Ich habe es dir nicht gezeigt. Deshalb habe ich so getan, als wollte ich nur dein Freund sein. Aber ich mußte dich einfach sehen, dir nahe sein. Deshalb habe ich die Galerie in Columbia lange vor dem geplanten Termin eröffnet. Ich dachte, wenn du dich erst einmal an mich gewöhnt hast, könnte ich mich dir allmählich offenbaren, aber ich habe alles falsch gemacht. Du hast die Stelle in Greenville angenommen und dich mit Robert angefreundet. Ich sah meine ganze Zukunft davonschwimmen, und das hatte ich mir ganz allein zuzuschreiben. Eigentlich hatte ich mir geschworen, überhaupt nicht mehr zu heiraten, aber dann kam Lani. Sie brauchte mich, die Zwillinge brauchten mich auch. Wenn ich schon dich nicht haben konnte, würde ich wenigstens eine Familie haben." "Du hast mich völlig überwältigt", gestand Carrie. "Ich mußte hart dagegen ankämpfen, mich nicht in dich zu verlieben." Will zog sie in die Arme. "Und jetzt?" "Jetzt liebe ich dich über alles." Tränen stiegen ihr in die Augen. "Ich dachte, ich würde deiner Kraft, deiner Entschlossenheit niemals gewachsen sein. Damals hatte ich noch nicht verstanden, daß du sie nur einsetzen würdest, um mich zu beschützen." Sie lächelte versonnen. "Richtig klar wurde es mir erst, als du mir den Heiratsantrag machtest. Ich liebe dich, Will. Danke, daß du nicht einfach aufgegeben, sondern mich beharrlich verfolgt hast."
Will küßte sie. "Glauben Sie mir, Mrs. Calhoun, das Vergnügen ist ganz meinerseits." Sie schlang die Arme um ihn und hielt ihn ganz fest, während sie ihn küßte. Jetzt erschienen ihr die zahlreichen rätselhaften Hinweise und Anspielungen der vergangenen Wochen in einem ganz neuen Licht. Er hatte ihr zu verstehen geben wollen, wie lange er schon auf sie gewartet und sich nach ihr gesehnt hatte. Wie dumm von ihr, daß sie nicht schon früher darauf gekommen war! Nach geraumer Weile bog sie den Kopf zurück. "Warum fahren wir nicht heim zu unseren Kindern?" "Das ist wahrscheinlich vernünftiger, als hier öffentliches Ärgernis zu erregen", meinte Will. "Dann schicken wir Mrs. Wiggins nach Hause, legen die Kinder zu einem Nachmittagsschlaf hin und nehmen uns ein bißchen Zeit für uns." Carrie warf ihm einen koketten Blick zu. "Spielt dabei vielleicht auch ein mitternachtsblaues Neglige eine Rolle?" Seine Augen blitzten. "Schon möglich." Carrie seufzte und küßte ihn erneut. "Ich liebe Männer, die wissen, was sie wollen. Fahren wir heim." "Ich höre ein Baby", murmelte Will verschlafen. "Das muß eins von unseren sein", antwortete Carrie und kuschelte sich an ihn. Er küßte sie aufs Haar. "Wir haben nur eins, hast du das vergessen? Die anderen beiden sind vier Jahre alt. Das erzählen sie jedem, ob der es hören will oder nicht." "Wir sollten dankbar sein, daß sie sich so gut entwickelt haben. Wer hätte gedacht, daß aus zwei Winzlingen, die einen ziemlich schlechten Start ins Leben hatte, zwei solche Wildfänge werden?" Carrie hielt Wills Hand fest, die langsam ihren Schenkel hinaufglitt. "Vom Temperament her werden sie dir wirklich jeden Tag ähnlicher."
Will lachte und drehte sie auf den Rücken, damit er sie besser küssen konnte. Dabei sah er sich vor, daß er ihre immer noch sehr empfindlichen Brüste nicht drückte. Plötzlich war ein entrüstetes Stimmchen von der Tür her zu hören. "Mommy, Daddy, Jacob sagt, ich darf Anna Lee nicht hochheben, weil ich noch zu klein bin." Eine kleine Gestalt im bunten Pyjama kam hereingelaufen und sprang aufs Bett. Stöhnend richtete Will sich auf und zog dabei Carrie mit sich hoch. "Das ist doch nicht wahr, Daddy, oder?" fragte Ariana. Sie hatte die Unterlippe vorgeschoben. Das schwarze Haar stand ihr in zerzausten Locken vom Kopf ab. Carrie betrachtete sie liebevoll. "Ich bin gar nicht zu klein, sondern genauso groß wie Jacob." "Das stimmt", bestätigte Carrie und gab ihrer größeren Tochter einen Kuß. "Du bist keineswegs zu klein, sondern eine große Hilfe für mich mit dem Baby." "Ich weiß das", antwortete Ariana altklug. "Aber du mußt es auch Jacob sagen, sonst glaubt er es nicht." "Das mache ich", versprach Carrie. Will wollte aufstehen, ließ sich jedoch wieder zurücksinken, als Jacob hereinkam. Stolz trug er seine vier Monate alte Schwester, die einen blonden Flaum auf dem Kopf hatte und die Welt aus tiefblauen Augen betrachtete. Jacob legte das Baby aufs Bett und reichte seinem Vater eine Windel. "Sie ist ganz naß. Und Hunger hat sie auch. Dafür seid ihr zuständig." "Vielen Dank, mein Sohn", sagte Will schmunzelnd. "Jetzt übernehmen wir." "Mrs. Wiggins ist da", verkündete Jacob. "Sie macht frische Pfannkuchen." "Prima!" Ariana sprang aus dem Bett ihrer Eltern, und beide Kinder rannten in Richtung Küche.
Will trug das strampelnde Baby zur Wickelkommode, während Carrie sich darauf vorbereitete, ihre Tochter zu stillen. Sie hatte wirklich allen Grund, dankbar zu sein. Jacob und Ariana waren wunderbare Kinder, die sie ebenso zärtlich liebte wie Anna Lee. Der leibliche Vater der Kinder hatte sich nie mehr gemeldet, und die Adoption war ohne Schwierigkeiten vonstatten gegangen. Lanis Besitztümer warteten sorgfältig verpackt auf den Tag, an dem sie und Will den Kindern von ihrer anderen Mutter erzählen würden. Will hatte recht gehabt, als er gesagt hatte, daß Kinder Vater und Mutter brauchten. Um den Zwillingen gerecht zu werden, mußten sie alle beide ihre volle Energie aufwenden. Es gab noch etwas anderes, mit dem Will recht gehabt hatte. Carrie hatte es ihm noch nicht erzählt, aber einige Monate vor Anna Lees Geburt hatte sie angefangen, ein Kinderbuch zu schreiben. Sie hatte mit einer der Malerinnen, aus der Galerie über Illustrationen gesprochen und ein Expose an einen Verlag geschickt. "Wann können wir mit dem fertigen Buch rechnen?" hatte die Antwort gelautet. Sie würde Will erst davon erzählen, wenn das Manuskript endgültig angenommen war. Seinen Kommentar "Ich hab's dir ja gesagt" würde sie noch früh genug zu hören bekommen. Als Will zurückkam, reichte er ihr Anna Lee und stopfte ihr dann fürsorglich Kissen in den Rücken, damit sie bequem saß. Dann stieg er ebenfalls ins Bett und legte den Arm um Frau und Tochter. Carrie gab Anna Lee einen Kuß aufs Köpfchen und lächelte ihren Mann an. "Wenn ein Morgen so chaotisch verläuft wie der heutige, bedauerst du dann manchmal, daß du mich an der Straße aufgelesen hast?" "Niemals. Tut es dir etwa leid, daß du bei mir eingestiegen bist?"
"Keinen Augenblick. Inzwischen ist mir klargeworden, daß eine Ehe mit Robert nicht gehalten hätte." "Was das Heiraten angeht, hat er wirklich kein Glück. Boom Boom hat es auch nicht gerade lange bei ihm ausgehalten." "Nein." "Ich hätte gern sein Gesicht gesehen, als sie ihm mitteilte, sie sei gar nicht schwanger, und einen Monat nach der Hochzeit die Scheidung einreichte." Will schüttelte den Kopf. "Sie hat ihn ausgenommen wie eine Weihnachtsgans." "Marcia hat mir erzählt, daß er kaum noch ausgeht. Seit Boom Boom muß er sich wirklich im Geschäft anstrengen. Bei der Scheidung mußte er ihr eine so hohe Abfindung zahlen, daß die Firma beinahe bankrott ging. Er tut mit leid." Will küßte sie. "Das braucht er nicht. Schließlich hat er sich alles selbst eingebrockt. Konzentrier dich lieber auf deine eigene Familie. Auf mich." "Das tue ich." Sie lächelte und erwiderte seinen Kuß. "Wenn ich diese junge Dame gefüttert habe, werde ich sie zu Mrs. Wiggins bringen und dir dann meine ungeteilte Aufmerksamkeit widmen." In Wills Augen begann ein Feuer zu glimmen. "Mrs. Calhoun, ich stehe zu Ihrer Verfügung." Sie legte ihm die Hand zärtlich um den Hinterkopf und zog ihn zu sich herunter, bis ihre Lippen sich berührten. "Für immer."
-ENDE