Irgendwo in den Wäldern Weiß-Rußlands begegnen sich 1943 zwei Soldaten der Sowjet-Armee. Beide sind Juden, beide hat es...
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Irgendwo in den Wäldern Weiß-Rußlands begegnen sich 1943 zwei Soldaten der Sowjet-Armee. Beide sind Juden, beide hat es aus ihrer Einheit versprengt, und so ziehen sie gemeinsam weiter bis zu den Blockhütten, wo sich ein paar Juden inmitten der verschneiten Sümpfe versteckt halten. Doch das Quartier wird von den Deutschen entdeckt, nur wenigen Männern und Frauen gelingt die Flucht. Sie wandern weiter nach Westen, ein schlecht ausgerüsteter Haufen zwischen allen Fronten, eine jüdische Partisaneneinheit, die aussieht wie eine vagabundierende Banditenbande, von Russen wie Polen beargwöhnt, geduldet, gemieden. ›Wann, wenn nicht jetzt‹, singen die Partisanen den Talmud zitierend, ›sollen wir den Stein schleudern gegen Goliaths Stirn?‹ Primo Levi hat sie unvergeßlich porträtiert, diese Gelehrten und Handwerker, Draufgänger und Zauderer, die der Vernichtung entkommen sind und nun Dynamitpatronen und Handgranaten schleudern gegen Goliaths Stirn. Erlösung und Befreiung, sagt Mendel, Uhrmacher und Anführer der Partisanen, sind nicht Resultat der Unterwerfung, sondern des Widerstands. Levi ist nach seiner Befreiung aus dem KZ immer wieder auf jüdische Partisanen gestoßen und hat Dokumente und Berichte gesammelt von der Odyssee der 15 000 jüdischen Männer und Frauen, die untertauchten oder entkamen und an Sabotage- und Partisanenaktionen teilnahmen. Im Roman sind ihre Geschichten aufbewahrt in einer erfundenen und dennoch wahren Geschichte, die Levi nicht nur zahlreiche Literaturpreise eingetragen hat, sondern auch die Begeisterungsrufe der Leser.
Primo Levi Wann, wenn nicht jetzt? Roman Aus dem Italienischen von Barbara Kleiner
Carl Hanser Verlag
Titel des Originals: Se non ora, quando? © 1982 Giulio Einaudi editore s. p. a., Torino
ISBN 3-446-13842-0 2. Auflage 1986 Alle Rechte vorbehalten © 1986 Carl Hanser Verlag München Wien Schutzumschlag: Klaus Detjen Satz: Maschinensetzerei Janß, Pfungstadt Druck und Bindung: May + Co, Darmstadt Printed in Germany
Erstes Kapitel Juli 1943
»Uhren gab es in meinem Dorf nur wenige. Am Kirchturm war eine, aber die ging schon lange nicht mehr, ich weiß nicht, seit wie vielen Jahren, vielleicht seit der Revolution; ich hab nie gesehen, daß sie ging, und mein Vater sagte, er auch nicht. Nicht mal der Glöckner besaß eine Uhr.« »Und woher wußte er dann, wann es Zeit war, die Stunden zu läuten?« »Er hörte die Zeitansage im Radio und richtete sich nach der Sonne und nach dem Mond. Und außerdem läutete er nicht jede Stunde, sondern nur die wichtigen. Zwei Jahre, bevor der Krieg ausbrach, war das Glockenseil gerissen; hoch oben im Turm war’s gerissen, die Leiter war morsch, der Glöckner war alt und fürchtete sich, so weit raufzuklettern, um ein neues Seil anzubringen. Drum gab er seitdem die Stunden an, indem er mit dem Jagdgewehr in die Luft schoß: einmal, zweimal, dreimal, viermal. So ging’s, bis die Deutschen kamen; die haben ihm dann das Gewehr weggenommen, und das Dorf blieb ohne Stunden.« »Schoß er auch nachts, dein Glöckner?« »Nein, aber nachts hat er auch nie die Glocken geläutet. Nachts schlief man, was brauchte man da die Stunden zu hören? Der einzige, dem daran wirklich 9
lag, war der Rabbi: Er mußte die richtige Uhrzeit kennen, um zu wissen, wann der Sabbat begann und endete. Aber die Glocken brauchte er dazu nicht, er besaß eine Pendeluhr und einen Wecker; wenn sie übereinstimmten, war er freundlich, und wenn sie nicht übereinstimmten, sah man’s gleich, dann wurde er garstig und schlug den Kindern mit seinem Lineal auf die Finger. Als ich größer war, rief er mich, daß ich sie ihm richtete. Ja, ich war nämlich Uhrmacher, gelernter Uhrmacher; drum haben die vom Distrikt mich dann in die Artillerie gesteckt. Ich hatte genau den richtigen Brustkasten, keinen Zentimeter zuviel. Und meine eigene Werkstatt hatte ich; klein war sie, aber es fehlte an nichts. Ich reparierte auch nicht bloß Uhren, ich war ganz gut im Reparieren und reparierte alles mögliche, auch Radios und Traktoren, wenn’s nicht zu arg war mit den Schäden. Ja, ich war der Mechaniker in der Kolchose, und meine Arbeit machte mir Spaß. Die Uhren reparierte ich nebenbei, in der Freizeit, es waren nicht viele. Aber alle im Dorf hatten ein Gewehr, und ich reparierte auch die Gewehre. Und wenn du wissen willst, wie es heißt, dieses Dorf, es heißt Strelka, wie eine Unmenge anderer Dörfer heißen. Und wenn du wissen willst, wo es ist, es ist nicht weit von hier, oder genauer, es war, weil dieses Strelka gibt es nicht mehr: Die Hälfte der Dörfler sind über das Land und die Wälder zerstreut, und die andere Hälfte, die liegen in einer Grube, und liegen nicht eng, weil viele von ihnen waren schon vorher tot. In einer Grube, jawohl, 10
und sie selber haben sie graben müssen, die Juden von Strelka. Aber auch die Christen liegen in jener Grube, und jetzt ist zwischen ihnen nicht mehr viel Unterschied. Und du sollst auch wissen, daß ich, der ich hier zu dir spreche, ich, Mendel, der Uhrmacher, der die Traktoren in der Kolchose reparierte, daß ich eine Frau hatte, und nun liegt auch sie in der Grube; und ich nenne mich glücklich, daß ich keine Kinder hatte. Und du sollst auch wissen, daß ich dieses Dorf, das nicht mehr da ist, oftmals verflucht habe, weil es ein elendes Enten- und Gänse- und Ziegendorf war, wo’s zwar eine Kirche gab und eine Synagoge, aber kein Kino; und jetzt, wenn ich dran denke, kommt es mir vor wie der Garten Eden, und ich gäb eine Hand dafür hin, daß die Zeit zurückliefe und wieder alles so würde wie früher.« Leonid hörte ihm zu und traute sich nicht, ihn zu unterbrechen. Er hatte sich die Stiefel und Fußlappen ausgezogen und sie zum Trocknen in die Sonne gelegt. Rollte nun zwei Zigaretten, eine für sich und eine für Mendel, zog dann die Streichhölzer aus der Tasche, aber sie waren feucht geworden, und er mußte erst drei abreiben, bevor sich das vierte entzündete. Mendel sah ihm gelassen zu. Der Junge war von mittlerer Größe, eher schmalgliedrig als robust; er hatte glattes schwarzes Haar, ein ovales Gesicht, sonnengebräunt und nicht unangenehm trotz der Bartstoppeln, eine kurze und gerade Nase, darüber zwei dunkle, lebhafte, leicht hervortretende Augen, von denen Mendel den Blick nicht lassen konnte. 11
Unstete Augen, bald starr und bald schweifend, voller Verlangen. Augen eines Gläubigers, dachte er; oder eines, der sich kreditwürdig fühlt. Aber wer fühlt sich nicht kreditwürdig? »Warum hast du grad hier haltgemacht?« fragte er ihn. »Nur so, ganz zufällig, weil ich die Scheune sah. Und dann wegen deinem Gesicht.« »Was ist besonderes an meinem Gesicht?« »Nichts, eben drum.« Der Junge versuchte ein scheues Lächeln. »Es ist ein ganz normales Gesicht, das Vertrauen weckt. Du bist kein Moskauer, aber wenn du durch Moskau gingest, würden die Fremden dich nach dem Weg fragen.« »Und würden enttäuscht sein. Wenn ich die Wege so gut zu finden wüßte, wär ich nicht hiergeblieben. Schau her, ich hab dir nicht viel zu bieten, weder für den Magen noch für den Geist. Ich heiße zwar Mendel, und Mendel steht für Menachem, was soviel heißt wie Tröster, aber getröstet hab ich in meinem Leben noch keinen.« Sie rauchten ein paar Minuten lang schweigend. Dann zog Mendel ein Messerchen aus der Tasche, nahm eine Schüssel vom Boden, spuckte darauf und wetzte daran die Klinge; prüfte immer wieder die Schneide an seinem Daumennagel, bis er zufrieden war, und fing schließlich an, sich in aller Ruhe die Nägel zu schneiden, indem er das Messerchen wie eine Säge benutzte. Als alle zehn Nägel geschnitten waren, bot Leonid ihm erneut eine Zigarette an. 12
»Nein danke«, sagte Mendel. »Ich sollte wirklich nicht rauchen. Aber wenn ich irgendwo Tabak kriege, rauche ich. Was soll denn einer auch tun, wenn er leben muß wie ein Wolf?« »Warum solltest du nicht rauchen?« »Wegen der Lungen. Oder der Bronchien, was weiß ich. Als wär’s noch wichtig, ob einer raucht oder nicht, wenn rings um ihn her die Welt zusammenbricht! Los, gib mir schon die Zigarette, seit Herbst bin ich hier, und dies ist vielleicht das dritte Mal, daß ich was zu rauchen kriege. Drüben gibt es ein Dorf, vier Kilometer von hier, es heißt Waluez und liegt mitten im Wald, und die Dörfler sind brave Leute, aber Tabak haben sie keinen, und auch kein Salz. Für hundert Gramm Salz bekommst du von ihnen ein Dutzend Eier oder ein Huhn.« Leonid schwieg einen Augenblick, als ob er unschlüssig wäre, stand dann auf, ging barfüßig, wie er war, in die Scheune, kam mit dem Rucksack heraus und fing an, darin zu kramen. »Hier«, sagte er schließlich knapp und zeigte Mendel zwei Päckchen Viehsalz. »Zwanzig Hühner, wenn deine Notierung stimmt.« Mendel streckte die Hand aus, nahm die Päckchen und wog sie mit beifälliger Miene. »Wo kommen die her?« »Von weit her. Es war Sommer geworden, was brauchte ich da noch die Bauchbinde der Armee? Jetzt weißt du, woher sie kommen. Der Handel stirbt nie, nicht mal, wenn die Pflanzen und Menschen sterben. An manchen Orten haben sie Salz, an an13
deren haben sie Tabak, an wieder anderen haben sie nichts. Auch ich komme von weit her. Sechs Monate sind’s jetzt, daß ich Tag für Tag lebe; und daß ich laufe, ohne zu wissen, wohin ich will. Ich laufe bloß, um zu laufen, ich laufe bloß, weil ich laufe.« »Dann kommst du aus Moskau?« »Ich komme aus Moskau und aus hundert anderen Orten«, sagte Leonid. »Ich komme aus einer Schule, wo ich Buchhaltung lernte, und als ich raus war, hab ich’s gleich wieder vergessen. Ich komme aus der Lubjanka, weil ich mit sechzehn gestohlen habe und eingelocht worden bin für acht Monate. Ja, eine Uhr habe ich gestohlen; du siehst, wir sind fast Kollegen. Ich komme aus Wladimir, aus einem Lehrgang für Fallschirmjäger, denn wer Buchhalter ist, wird zu den Fallschirmjägern gesteckt. Ich komme aus Laptewo bei Smolensk, wo sie mich abspringen ließen mitten unter die Deutschen. Und aus dem Lager komme ich, aus dem Lager von Smolensk, weil ich geflohen bin. Jawohl, im Januar bin ich geflohen, und seither bin ich unterwegs: immer gelaufen und nur gelaufen. Nimm’s mir nicht übel, Kollege, aber jetzt bin ich müde, mir tun die Füße weh, mir ist warm, und ich möchte schlafen. Aber erst möchte ich wissen, wo wir hier sind.« »Ich sagte doch, wir sind in der Nähe von Waluez, das ist ein Dorf, drei Tagemärsche von Brjansk. Ein ruhiger Ort, die Bahn ist dreißig Kilometer entfernt, der Wald ist dicht, und die Straßen sind voller Schlamm, oder staubig oder verschneit, je nach der 14
Jahreszeit – Orte wie diesen mögen die Deutschen nicht, sie kommen nur hin, um das Vieh wegzuholen, und auch das nicht sehr oft. Komm, wir nehmen ein Bad.« Leonid stand auf und machte Anstalten, in die Stiefel zu schlüpfen, aber Mendel unterbrach ihn: »Nein, nicht im Fluß. Man kann nie wissen, und außerdem ist es weit. Hier hinten, hinter der Scheune.« Er zeigte ihm die Installation: eine Bretterbude, ein Wellblechbehälter auf dem Dach, wo sich das Wasser in der Sonne erwärmen konnte, ein kleiner Ofen aus gebranntem Ton für den Winter. Es fehlte nicht einmal die Spritzdüse für die Dusche, bestehend aus einer Konservendose, die Mendel durchlöchert und über ein Blechrohr mit dem Wasserbehälter verbunden hatte. »Alles selbstgemacht, ohne einen Rubel dafür auszugeben und ohne fremde Hilfe.« »Wissen die Leute im Dorf, daß du hier lebst?« »Ja und nein. Ich gehe so wenig wie möglich ins Dorf und komme jedesmal aus einer anderen Richtung. Ich bringe ihre Maschinen in Ordnung, rede so wenig wie möglich mit ihnen, lasse mich in Brot und Eiern bezahlen und gehe wieder. Ich gehe bei Nacht, ich glaube nicht, daß mir je einer gefolgt ist. Los, zieh dich aus. Seife hab ich keine, jedenfalls nicht zur Zeit. Hilf dir mit Asche, da in dem Napf, vermischt mit Flußsand. Ist besser als gar nichts, und es heißt sogar, daß sie die Läuse besser totmacht als die Desinfektionsseife, die du bei der Armee kriegst. Apropos …« 15
»Nein, keine Angst, ich hab keine. Bin schon seit Monaten ganz allein unterwegs.« »Los, mach schon, zieh dich aus und gib mir das Hemd. Kein Grund, beleidigt zu sein. Du hast doch sicher mal in einem Heuschober oder in einer Strohmiete geschlafen, und ich sage dir, das sind zähe Biester, die können geduldig warten. Genau wie wir, wenn man’s recht bedenkt, bei allen gebührenden Unterschieden zwischen Menschen und Läusen.« Mendel untersuchte das Hemd mit Kennerblick, Naht für Naht. »Gut, koscher, keine Einwände«, sagte er schließlich. »Ich hätte dich trotzdem aufgenommen, aber ohne Läuse tu ich es lieber. Geh ruhig als erster unter die Dusche, ich war schon heut morgen.« Er betrachtete aus der Nähe den schmächtigen Körper des Gastes. »Wie kommt es, daß du nicht beschnitten bist?« Leonid wich der Frage aus: »Und du, woran hast du gemerkt, daß ich Jude bin?« »Am jiddischen Akzent, der sich in zehn Wassern nicht abwaschen läßt«, zitierte Mendel. »In jedem Falle sei mir willkommen, denn ich bin es müde, allein zu sein. Bleib, wenn du willst, auch wenn du ein Moskowiter bist und studiert hast und von wer weiß wo geflohen bist und eine Uhr gestohlen hast und mir deine Geschichte nicht erzählen willst. Sei mein Gast. Ein Glück, daß du mich gefunden hast. Ich hätte vier Türen an meinem Hause anbringen sollen, eine für jede Wand, wie es Abraham tat.« 16
»Wozu vier Türen?« »Damit die Wanderer leichter den Eingang finden.« »Und woher kennst du diese Geschichte?« »Die steht im Talmud, irgendwo in der Mischna.« »Na sieh mal an, also hast du auch studiert!« »Als Kind war ich Schüler bei jenem Rabbi, von dem ich dir vorhin erzählte. Aber der liegt jetzt auch in der Grube, und ich hab so gut wie alles vergessen. Nur an die Sprüche und die Legenden kann ich mich noch erinnern.« Leonid schwieg eine Weile, dann sagte er: »Ich hab nicht gesagt, daß ich dir meine Geschichte nicht erzählen will. Ich hab nur gesagt, daß ich müde bin und jetzt schlafen möchte.« Und mit einem Gähnen verzog er sich unter die Dusche. Um vier Uhr früh wurde es schon hell, aber die beiden erwachten erst einige Stunden später. Im Laufe der Nacht hatte sich der Himmel bezogen, es nieselte, und von Westen rauschten lange Böen heran wie Meereswellen, weit im voraus schon angekündigt durch das Rascheln der Blätter und das Knacken der Zweige. Frisch und ausgeschlafen standen die beiden auf. Mendel hatte nicht mehr viel zu verbergen: »Freilich, auch ich bin ein Versprengter und kein Deserteur. Versprengt seit Juli ’42. Einer von hundert- oder zweihunderttausend Versprengten. Ist versprengt zu sein eine Schande? Und meinst du, man kann die Versprengten zählen? Wenn man sie zählen könnte, wären sie keine Versprengten. Zählen tut 17
man die Lebenden und die Toten, die Versprengten sind weder lebendig noch tot, die kann man nicht zählen. Sie sind wie Gespenster … Ich weiß nicht, ob man euch Fallschirmjägern beibringt, wie man’s macht, um sich richtig fallen zu lassen. Uns hatten sie jedenfalls alles beigebracht, alle großen und kleinen Geschütze der Roten Armee, erst an Zeichnungen und an Fotografien, daß du dir wieder vorkamst wie in der Schule, und dann an echten Kanonen, an Riesendingern zum Fürchten. Schön, aber als ich dann mit meiner Kompanie an die Front geschickt wurde, war alles ganz anders, und man begriff überhaupt nichts mehr: keine zwei Kanonen glichen einander. Da waren russische aus dem Ersten Weltkrieg, deutsche und österreichische und sogar einige aus der Türkei, du kannst dir vorstellen, was für ein Durcheinander das mit den Munitionen ergab! Grad ein Jahr ist es her, meine Stellung war in den Hügeln, auf halbem Weg zwischen Kursk und Charkow. Ich war der Oberkanonier, obwohl ich Jude und Uhrmacher war, und die Kanone war nicht aus dem Ersten Weltkrieg, sondern aus dem Zweiten, und es war keine russische, sondern, ob du’s glaubst oder nicht, eine deutsche. Jawohl, es war eine 150/27 der Nazis, die da liegengeblieben war, weiß der Teufel warum, vielleicht wegen einem Schaden, sie lag da seit dem großen Vormarsch der Deutschen im Oktober ’41. Und du mußt wissen, wenn so ein Ding erstmal richtig in Stellung gebracht ist, läßt es sich nicht mehr so leicht bewegen. Man hatte es mir 18
im letzten Augenblick anvertraut, als die Erde schon ringsum zu beben anfing und der Rauch die Sonne verhüllte, und da brauchte es Mut, ich sage gar nicht, um richtig zu schießen, sondern bloß um überhaupt dazubleiben. Und wie sollst du richtig schießen, wenn dir niemand die Zieldaten gibt und du nicht danach fragen kannst, weil das Feldtelefon kaputt ist, und wen solltest du übrigens, bitteschön, danach fragen, wenn du siehst, wie alles drunter und drüber geht und ins Chaos versinkt, und der Himmel ist schon so schwarz, daß du nicht mehr weißt, ob Tag oder Nacht ist, und die Erde ringsum spritzt auf, und du hörst es herandonnern wie eine Riesenlawine, die dich begraben will, aber keiner sagt dir, woher es kommt, so daß du nicht einmal wüßtest, in welche Richtung du weglaufen sollst … Die drei Hilfskanoniere waren davongelaufen, vielleicht sind sie durchgekommen, ich kann’s dir nicht sagen, ich hab nie wieder von ihnen gehört. Ich bin geblieben. Nicht, daß ich in Gefangenschaft gehen wollte, aber bei uns herrscht die Regel, daß ein Artillerist niemals seine Waffe dem Feind überlassen darf. Also bin ich, statt wegzulaufen, auf meinem Posten geblieben, um rauszufinden, wie sich das Geschütz am besten sabotieren ließe. Freilich, eine Maschine kaputtzumachen ist leichter, als sie zu reparieren, aber um ein Geschütz so gründlich kaputtzumachen, daß es nicht wieder repariert werden kann, brauchst du schon einige Intelligenz, denn jedes Geschütz hat seinen schwachen Punkt. Kurz 19
und gut, der Gedanke zu fliehen wollte mir nicht gefallen. Nicht, daß ich ein Held wäre, nie ist mir in den Sinn gekommen, ein Held zu sein, aber du weißt ja, ein Jude inmitten von Russen muß doppelt so tapfer sein wie die Russen, sonst sagen sie gleich, er wäre ein Feigling. Außerdem dachte ich, wenn es mir nicht gelingen würde, die Kanone zu sabotieren, würden die Deutschen sie nochmal umdrehen und auf uns richten … Zum Glück haben sie’s dann selber besorgt. Wie ich so dastand und mir an dem Ding zu schaffen machte, im Kopf den Gedanken an Sabotage und in den Beinen die Lust zu fliehen, kam eine deutsche Granate geflogen, bohrte sich in den weichen Grund genau unter der Lafette und explodierte da. Die Kanone tat einen Satz und fiel auf die Seite, und ich denke, niemand wird sie je wieder aufrichten. Und ich glaube auch, daß sie es war, die mir das Leben gerettet hat, indem sie alle Granatsplitter abfing. Nur einer ist irgendwie entwischt und hat mich hier gestreift, hier, siehst du? An der Stirn und im Haar. Es hat sehr geblutet, aber ich bin nicht ohnmächtig geworden, und später ist die Wunde ganz von alleine geheilt … Nun, du kannst dir vorstellen, da hab ich mich auf den Weg gemacht …« »In welche Richtung?« fragte Leonid dazwischen. »In welche Richtung? In welche Richtung?« erwiderte Mendel gereizt. »Was meinst du wohl, in welche Richtung? Zu unseren Linien hab ich zurückzufinden versucht, und du bist schließlich hier nicht 20
das Kriegsgericht! Ich sagte dir doch, der Himmel war schwarz von Rauch, es gab keine Möglichkeit, sich zu orientieren. Und der Krieg ist vor allem eine große Verwirrung, auf dem Schlachtfeld ebenso wie in den Köpfen der Menschen; oft begreifst du nicht mal, wer der Sieger und wer der Verlierer ist, das entscheiden hinterher die Generäle und die Geschichtsbuchschreiber! Jawohl, genauso war’s damals, alles war ganz verwirrt, auch ich war verwirrt, die Beschießung ging weiter, und die Nacht war gekommen. Ich war halb betäubt und ganz voller Blut und hielt meine Wunde für schlimmer, als sie in Wirklichkeit war … Da hab ich mich auf den Weg gemacht und glaubte auch, daß ich die richtige Richtung genommen hätte, also weg von der Front und zu unseren Linien. Tatsächlich wurde der Geschützdonner leiser, je weiter ich ging. Ich marschierte die ganze Nacht lang. Anfangs sah ich noch andere Soldaten, die auch marschierten, dann bald niemanden mehr. Ab und zu hörte ich eine Granate heranpfeifen, und dann warf ich mich flach auf den Boden, in eine Furche oder hinter einen Stein. An der Front lernst du schnell, du nimmst Vertiefungen wahr, wo ein Zivilist nur eine spiegelglatte Ebene sieht. Allmählich wurde es Tag, und auf einmal vernahm ich ein neues Geräusch, das lauter und lauter wurde, und die Erde fing wieder zu beben an. Ich begriff nicht recht, was es war, es war ein Brausen, ein tiefes unaufhörliches Dröhnen. Ich schaute mich um nach einem Versteck, aber ringsum 21
gab es nur abgemähte Felder und Brachland, nirgendwo eine Hecke oder ein Damm. Und statt einer Deckung sah ich etwas, das ich noch nie gesehen hatte, obwohl ich seit einem Jahr im Krieg war. Neben dem Weg, den ich ging, liefen Eisenbahngleise, die ich vorher nicht bemerkt hatte, und auf den Gleisen kam etwas gefahren, das mir im ersten Moment wie ein Zug von Schleppkähnen auf einem Fluß erschien. Dann fing ich an zu begreifen: ich war in die falsche Richtung gelaufen und hinter den deutschen Linien gelandet, und was da gefahren kam, war ein deutscher Panzerzug! Er fuhr zur Front, und statt wie ein Zug von Wagen erschien er mir wie ein Zug von Bergen; und du wirst es sonderbar finden, du wirst es dumm finden oder vielleicht sogar gotteslästerlich, denn ich weiß ja nicht, wie du über diese Dinge denkst, aber unwillkürlich kam mir der Segen meines Großvaters in den Sinn, den er immer sprach, wenn er’s donnern hörte: Herr, Deine Kraft und Stärke erfüllen das All! Ja, ja, das sind unbegreifliche Dinge, denn gewiß, die Panzerzüge haben die Deutschen gemacht, aber die Deutschen hat Gott gemacht. Und warum hat er sie gemacht? Oder warum hat er Satan erlaubt, sie zu machen? Zur Strafe für unsere Sünden? Und was, wenn ein Mann keine Sünden hat? Oder eine Frau wie meine? Und wann, bitteschön, hätte je meine Frau gesündigt? Oder muß vielleicht eine Frau wie die meine sterben und in der Grube liegen, zusammen mit hundert anderen Frauen und mit den Kindern, weil jemand anders gesündigt hat? 22
Womöglich gar für die Sünden der Deutschen, die sie niedermähten am Rand der Grube? Entschuldige, ich hab mich fortreißen lassen, aber du mußt verstehen, seit fast einem Jahr zergrüble ich mir den Kopf über diese Dinge und komme mit ihnen nicht klar; seit fast einem Jahr rede ich mit keinem menschlichen Wesen, weil ein Versprengter besser nicht redet. Reden kann er nur mit einem anderen Versprengten …« Es hatte aufgehört zu nieseln, und aus dem feuchten Waldboden war ein zarter Duft von Pilzen und Moos aufgestiegen. Man hörte die stille Friedensmusik der Regentropfen, die von Blatt zu Blatt und von den Blättern zu Boden fielen, als wäre kein Krieg, als wäre der Krieg nie gewesen. Doch auf einmal legte sich über die stille Musik der Tropfen ein anderer Ton: eine menschliche Stimme, hell und kindlich, die Stimme eines singenden Kindes. Die beiden versteckten sich rasch hinter einem Gebüsch und sahen es: ein kleines Mädchen, das singend und tänzelnd ein paar Ziegen vor sich hertrieb, schmächtig und barfuß, bekleidet mit einer langen Soldatenjacke, die ihm bis zu den Knien ging, auf dem Kopf ein Tuch und darunter ein freundliches schmales braungebranntes Gesichtchen. Es sang eine traurige Weise im künstlich-näselnden Tonfall der Bauern und kam direkt auf sie zu, mehr hinter den Ziegen dreinstolpernd als sie treibend. Die beiden Soldaten tauschten rasch einen Blick: es gab keinen Ausweg, sie konnten ihr Versteck nicht 23
verlassen, ohne von dem Mädchen gesehen zu werden, und es würde sie trotzdem entdecken, weil es direkt auf sie zukam. Mendel erhob sich, und Leonid tat es ihm nach. Das Mädchen erstarrte, mehr erstaunt als erschrocken; dann rannte es los, überholte die Ziegen und trieb sie zurück in Richtung des Dorfes. Es hatte kein Wort gesagt. Mendel schwieg eine Weile. »Aus, vorbei, nichts zu machen«, sagte er dann. »Da siehst du, was es heißt, wie die Wölfe zu leben. Schade, grad jetzt, wo du gekommen bist. Womit alles noch schlimmer wird, weil jetzt sind wir zwei. Seit Monaten ist nichts geschehen. Ein Kind, und alles vorbei! Vielleicht hat die Kleine sich erschrocken, als sie uns sah, dabei sind wir keine Gefahr für sie; statt dessen ist sie aber eine Gefahr für uns, denn sie ist ein Kind und wird reden. Und würden wir sie bedrohen, damit sie still ist, würde sie noch mehr reden. Ja, sie wird reden und wird erzählen, daß sie uns gesehen hat, und die Deutschen aus der Garnison werden kommen, um nach uns zu suchen – in einer Stunde oder in einem Tag oder auch in zehn Tagen, aber kommen werden sie. Und wenn die Deutschen nicht kommen, oder bevor sie kommen, werden die Bauern kommen, oder auch die Banditen. Schade, Kollege, du bist im falschen Moment gekommen. Los, hilf mir, wir müssen hier packen. Tut mir leid wegen der Installation, muß alles nochmal von vorn gemacht werden. Zum Glück ist Sommer.« Viel gab es nicht zu packen: Alles, was Mendel be24
saß, paßte bequem in seinen Armeerucksack, auch die paar Lebensmittelvorräte, die er sich angelegt hatte. Doch als sie fertig gepackt hatten, merkte Leonid, daß Mendel noch zögerte, sich auf den Weg zu machen: Er verharrte unschlüssig, als schwankte er zwischen zwei Entscheidungen. »Was ist, hast du was vergessen?« Mendel gab keine Antwort. Er hatte sich auf einen Baumstumpf gesetzt und kratzte sich langsam im Nacken. Dann stand er entschlossen auf, zog den kurzen Schützengraben-Spaten aus seinem Rucksack und sagte: »Los, komm mit! Nein, die Rucksäcke lassen wir hier, die sind zu schwer. Wir holen sie später.« Sie gingen ein Stück durch den Wald, zuerst auf einem erkennbaren Weg, dann mitten durchs Unterholz. Mendel schien sich an einem nur ihm bekannten Zeichen zu orientieren und sprach im Gehen, ohne sich umzudrehen und ohne sich zu vergewissern, daß Leonid folgte und zuhörte: »Siehst du? Keine Wahl zu haben, kann auch mal ein Vorteil sein. Ich hab keine Wahl, ich muß dir vertrauen, und außerdem bin ich’s müde, allein zu leben. Ich hab dir meine Geschichte erzählt, und du willst mir nicht die deine erzählen. Was soll’s, du wirst deine Gründe haben. Du bist aus einem Lager geflohen, da kann ich schon verstehen, daß du nicht drüber reden willst. Für die Deutschen bist du, außer ein Russe und ein Jude, auch noch ein Flüchtling. Für die Russen bist du ein Deserteur und 25
dazu noch der Spionage verdächtig. Kann sein, daß du ein Spion bist. Aussehen tust du nicht so, aber wenn alle Spione aussähen wie Spione, könnten sie keine Spione sein. Ich hab keine Wahl, ich muß dir vertrauen, und darum sollst du jetzt wissen: da unten links steht eine große Eiche. Dort hinten, siehst du? Und neben der Eiche steht eine Birke, die der Blitz ausgehöhlt hat. Und zwischen den Wurzeln der Birke stecken ein Maschinengewehr und eine Pistole. Und das ist kein Wunder, ich hab sie dort versteckt. Ein Soldat, der sich entwaffnen läßt, ist ein Feigling, aber ein Soldat, der seine Waffen hinter den Linien der Deutschen bei sich trägt, ist ein Idiot. Schau, wir sind da, grab du, schließlich bist du der Jüngere. Und entschuldige den ›Feigling‹, das war nicht auf dich gemünzt, ich kann mir schon vorstellen, was es heißt, mit dem Fallschirm mitten in die feindlichen Linien zu fallen.« Leonid grub schweigend ein paar Minuten lang, und die Waffen kamen zum Vorschein, eingewickelt in ölgetränktes Segeltuch. »Warten wir hier auf die Nacht?« fragte er. »Lieber nicht, sonst kommt noch jemand und nimmt uns die Rucksäcke weg.« Sie gingen zurück zur Scheune, und Mendel nahm das Maschinengewehr auseinander, so daß es in den Rucksack paßte. Dann schliefen sie den Rest des Tages in einem Versteck, und als es dunkel wurde, brachen sie auf nach Westen.
26
Drei Stunden später machten sie eine Verschnaufpause. »Müde, was, Moskowit?« fragte Mendel. Leonid schüttelte, ohne sehr überzeugend zu wirken, den Kopf. »Es ist nicht Müdigkeit, es ist nur, ich bin deinen Schritt nicht gewöhnt. In der Grundausbildung mußten wir zwar auch marschieren, und es wurde uns auch erklärt, wie man im Wald überlebt und wie man sich orientiert, am Moos auf den Stämmen oder am Nordstern, und wie man sich eine Höhle gräbt. Aber das alles war Theorie, die Ausbilder waren aus Moskau wie wir. Außerdem bin ich es nicht gewöhnt, querfeldein zu gehen.« »Das macht nichts, dann lernst du es hier. Ich bin auch nicht im Wald geboren, aber dann hab ich gelernt. Der einzige Wald in der Geschichte Israels war das Irdische Paradies, und du weißt ja, wie das endete. Danach kam nichts mehr, sechstausend Jahre lang. Aber freilich, wenn Krieg ist, ist alles anders, und man muß sich dreinschicken, selber anders zu werden; kann uns vielleicht gar nichts schaden … Im übrigen ist der Wald im Sommer ein Freund: Er hat Blätter, um dich zu verbergen, und er gibt dir sogar was zu essen.« Sie gingen weiter, immer nach Westen. Das entsprach dem Befehl aus Moskau, den sie beide kannten: die Versprengten, die von der Front überrollt worden waren, sollten im besetzten Gebiet untertauchen und sich nicht von den Deutschen fangen lassen. Sie gingen ein langes Stück, erst im schwachen Schein der Sterne, dann nach Mitternacht auch 27
im Mondlicht. Der Boden war fest und zugleich elastisch, er verschluckte den Klang ihrer Schritte und ließ sie zügig marschieren. Der Wind hatte sich gelegt, kein Blättchen regte sich mehr, und es herrschte vollkommene Stille, nur ab und zu unterbrochen vom schwirrenden Flattern oder vom klagenden Laut eines fernen Nachtvogels. Gegen Morgen wurde es frisch, und der feuchte Atem des schlafenden Waldes durchtränkte die Luft. Sie wateten durch zwei Flüsse und überquerten einen dritten auf einem erstaunlicher- und erfreulicherweise vorhandenen Steg; die ganze Nacht lang waren sie auf keine andere menschliche Spur gestoßen. Kurz nach Tagesanbruch stießen sie dann auf eine. Ein milchiger Nebel war aufgekommen, der niedrig über den Boden kroch; an manchen Stellen reichte er ihnen kaum bis zum Knie, war aber so dicht, daß er den Boden verhüllte und daß es den beiden vorkam, als wateten sie durch einen Sumpf; dann wieder ging er ihnen bis über den Kopf und nahm ihnen jede Sicht. Leonid stolperte über einen abgebrochenen Zweig, hob ihn auf und stellte verwundert fest, daß die Bruchstelle glatt war wie von einem Axthieb. Wenig später entdeckten sie, daß der Boden ganz übersät war von Rindenstückchen, zerfetzten Blättern und zersplittertem Holz. Der Wald über ihren Köpfen sah aus wie brutal gestutzt: Äste und Zweige abrasiert wie durch den Schnitt einer Riesensichel. Je weiter sie vordrangen, desto tiefer sank die Schnittlinie auf den Boden; sie sahen Bäumchen, die auf halber 28
Höhe geköpft waren, Blechteile und metallische Trümmer lagen umher, und dann erblickten sie es, das vom Himmel gestürzte Monstrum. Es war ein deutscher Jagdbomber, eine zweimotorige Heinkel, die auf der Seite lag inmitten geknickter Bäume. Sie hatte die Flügel verloren, aber nicht das Fahrwerk, und die Propeller hatten sich so ineinander verdreht und zerknautscht, daß man hätte meinen können, sie wären aus Wachs gewesen. Auf dem Seitenruder prangte in schwarzer Farbe, stolz und grauenerregend, das Hakenkreuz, und daneben waren, säuberlich untereinander, acht Flugzeugprofile aufgemalt, die Leonid mühelos identifizierte: drei französische Jäger, ein britischer Aufklärer und vier sowjetische Transporter, offensichtlich die Gegner, die der deutsche Jagdbomber abgeschossen hatte, bevor es ihn selber erwischte. Er mußte bereits vor ein paar Monaten abgestürzt sein, denn in den Furchen, die er in die Erde gegraben hatte, wuchsen schon wieder die Gräser und Flechten des Waldbodens. »Das ist unser guter Stern!« rief Mendel erfreut. »Was kannst du dir besseres wünschen zum Biwakieren, wenigstens für ein paar Tage? Erst war er der Herr des Himmels, jetzt sind wir seine Herren!« Es war nicht schwer, die Tür der Pilotenkabine zu öffnen; munter drangen die beiden ein und inspizierten mit fröhlicher Neugier, was sich darin befand. Ein kleiner Stoffhund aus fettigen weichen Lappen mit einem Halsband aus braunem Fell: ein Maskottchen, das offenkundig nicht funktioniert 29
hatte. Ein Strohblumensträußchen. Vier oder fünf Familienfotos, die üblichen Schnappschüsse, wie sie alle Soldaten der Welt bei sich haben: ein Mann und eine Frau in einem Park, ein Mann und eine Frau auf einem dörflichen Jahrmarkt. Dazu ein kleines deutsch-russisches Wörterbuch. »Wieso er das wohl zum Fliegen mitnahm?« fragte sich Mendel verwundert. »Vielleicht sah er voraus, was ihm passieren würde«, meinte Leonid. »Der Fallschirm ist nicht mehr da: Vielleicht ist er rechtzeitig abgesprungen, treibt sich hier irgendwo in der Gegend herum, als Versprengter wie wir, und kann das Wörterbuch brauchen.« Sie untersuchten das Büchlein näher und sahen jedoch, daß es nicht in Deutschland gedruckt worden war, sondern in Leningrad: seltsam. Je näher sie alles betrachteten, desto seltsamer wurde das Flugzeug. Auf zwei der Fotos war ein schlanker hochgewachsener junger Mann in Luftwaffenuniform zu sehen, daneben ein kleines rundliches Mädchen mit braunen Zöpfen. Auf den drei anderen war statt dessen ein stämmiger, muskulöser junger Mann in Zivil, ein Kleiner mit breitem Gesicht und hohen Backenknochen, und das Mädchen an seiner Seite sah auch anders aus, es hatte zwar ebenfalls braunes, aber kurzgeschnittenes Haar und eine platte Nase. Auf einem der Fotos trug der stämmige Kleine ein Hemd mit geometrischen Stickereien, und im Hintergrund sah man einen Platz und ein Gebäude mit Erkern und Spitzbogenfenstern vol30
ler verschlungener Arabesken: kein sehr deutsch wirkendes Milieu. Das Bordfunkgerät war abgeschraubt, und im Bombenraum fanden sich keine Bomben. Dafür drei altbackene Roggenbrote, ein paar volle Flaschen und ein Flugblatt in weißrussicher Sprache, das die Bürger Weißrußlands aufforderte, in die von den Deutschen organisierte Miliz einzutreten, und die Bürgerinnen, sich in den Büros der Organisation Todt zu melden; sie würden gut verdienen mit der Arbeit für das Großdeutsche Reich, den Feind des Bolschewismus und wahren Freund aller Russen. Daneben lag eine ziemlich neue Nummer der Zeitung »Neues Weißrußland«, die von den Deutschen auf weißrussisch in Minsk gedruckt wurde. Sie trug das Datum: Samstag, den 26. Juni 1943, und enthielt den Zeitplan der Messen in der Kathedrale sowie eine Reihe von Dekreten betreffend die Auflösung der Kolchosen und die Neuverteilung des Landes an die Bauern. Auch ein grob gefertigtes Schachbrett war da, ein Werk geduldiger Hände, hergestellt aus einem breiten Stück Birkenrinde; um die schwarzen Felder zu erhalten, war an den entsprechenden Stellen einfach die weiße Rindenhaut abgelöst worden. Schließlich noch ein Paar Stiefel, ebenso grob gefertigt, die Mendel und Leonid lange zwischen den Händen drehten, bis sie begriffen, aus welchem Material sie waren. Nein, es war kein Leder, der Bewohner des Flugzeugwracks hatte sie aus dem Plastikbezug der Sitze geschnitten und mit einem zwischen den Trümmern gefundenen 31
Elektrokabel in großen Stichen zusammengenäht. Gute Arbeit, fand Mendel, aber was sollten sie jetzt tun, nachdem die Unterkunft schon besetzt war? »Verstecken wir uns und warten auf ihn. Mal sehen, was für einer das ist.« Der Bewohner des Flugzeugwracks kam gegen Abend mit behutsamen Schritten; es war der stämmige Kleine auf den Fotos. Er trug Armeehosen, eine Schaffelljacke und auf dem Kopf die quadratische schwarzweiße Mütze der Usbeken. Von den kräftigen Schultern hing ihm ein Doppelsack, aus dem er ein lebendiges Kaninchen zog. Er tötete es mit einem Handkantenschlag in den Nacken, nahm es aus und begann es pfeifend zu häuten. Mendel und Leonid, die zu nahe waren, wagten nicht zu sprechen, aus Furcht, er könnte sie hören. Leonid hatte den Rucksack abgenommen, öffnete ihn ein wenig und deutete auf die Salzpäckchen. Mendel begriff sofort und deutete seinerseits auf das Maschinengewehr. Sie konnten sich zeigen. Der Usbeke ließ sich keinerlei Überraschung anmerken, als er die beiden plötzlich zwischen den Büschen auftauchen sah. Er legte das Kaninchen und das Messer beiseite und empfing sie mit argwöhnischer Förmlichkeit. So jung, wie er auf den Fotos wirkte, war er nicht, er mußte um die vierzig sein. Er hatte eine schöne Baßstimme, weich und gepflegt, aber sein Russisch war zögernd und fehlerhaft, und er sprach es mit irritierender Langsamkeit. Nicht, daß er nach Worten suchte, nein, er hielt nach jedem 32
Satz oder Halbsatz inne und schwieg einfach, ohne ungeduldig oder gespannt zu wirken, als hätte er das Interesse am Fortgang der Rede verloren und hielte es nicht für nötig, sie zu beenden, und dann fing er unvermutet wieder zu sprechen an. Peiami heiße er, sagte er langsam, Peiami Nassimowitsch. Pause. Seltsamer Name, freilich, aber seltsam sei auch sein Land. Pause. Seltsam für die Russen, aber die Russen seien auch seltsam für die Usbeken. Lange, nicht enden wollende Pause. Ein Versprengter? Ja, sicher, auch er sei ein Versprengter, ein Soldat der Roten Armee. Versprengt seit über einem Jahr, fast schon seit zwei Jahren. Nein, nicht die ganze Zeit hier im Flugzeugwrack: in den Scheunen und Katen der Bauern, mal auf Arbeit in einer Kolchose, mal bei einer Gruppe von Deserteuren im Wald, mal bei irgendeinem Mädchen. Bei dem auf den Fotos? Nein, das sei seine Frau: weit von hier, unendlich weit, dreitausend Kilometer, hinter der Front, hinter dem Kaspischen Meer, hinter dem Aralsee. Platz im Flugzeugwrack? Das sähen sie ja selber, viel sei da nicht. Für eine Nacht vielleicht, ja, wenn man ein bißchen zusammenrücke; vielleicht auch für zwei, aus Höflichkeit, um der Gastfreundschaft willen. Aber eng würde es sein zu dritt. Leonid beriet sich rasch mit Mendel auf jiddisch: man könnte doch einfach kurzen Prozeß mit ihm machen. Nein, erwiderte Mendel, ohne den Kopf zu bewegen oder den Gesichtsausdruck zu verändern: umbringen komme für ihn nicht in Frage, und wenn 33
sie ihn wegjagen würden, könnte er sie denunzieren. Im übrigen sei ein zerschelltes Flugzeug kaum eine ideale Bleibe, jedenfalls nicht auf Dauer. »Ich hab schon zuviel getötet. Ich töte keinen Menschen für einen Platz in einem Flugzeug, das nicht mehr fliegen kann.« »Würdest du einen töten, wenn es noch fliegen könnte? Wenn’s dich nach Hause brächte?« »Wohin nach Hause?« fragte Mendel zurück, und Leonid gab keine Antwort. Der Usbeke hatte zwar den Dialog nicht verstanden, aber den Klang des Jiddischen hatte er wiedererkannt. »Juden, he? Für mich ist’s dasselbe, ob Juden, Russen, Türken, Deutsche.« – Pause. – »Einer verzehrt nicht mehr als der andre, solange er lebt, und stinkt nicht mehr als der andre, wenn er tot ist. Auch in meinem Dorf gab es Juden. Tüchtig im Handeln waren sie und etwas weniger tüchtig im Krieg. Genau wie ich selber übrigens bin, also warum soll Krieg sein zwischen uns?« Das Kaninchen hatte er unterdessen gehäutet. Legte das Fell nun beiseite, zerteilte das Tier mit dem Bajonett auf einem Baumstumpf und begann es in einer aus Flugzeugblech gefertigten Pfanne zu schmoren. Er hatte weder Fett noch Salz hineingetan. »Wirst du es ganz aufessen?« fragte Leonid. »Es ist ein mageres Tier.« »Könntest du Salz brauchen?« »Könnte ich.« 34
»Hier wäre Salz.« Leonid zog ein Päckchen aus seinem Rucksack. »Salz gegen Kaninchenfleisch, ein gutes Geschäft für alle.« Sie feilschten lange über das angemessene Quantum Salz für ein halbes Kaninchen. Peiami war ein zäher, unermüdlicher Händler, der nie die Ruhe verlor und immer neue Argumente geltend zu machen wußte; das Feilschen ergötzte ihn wie ein Spiel und erhob ihn wie ein nobler Sport. Er machte geltend, das Kaninchen sei auch ohne Salz nahrhaft, während das Salz ohne Kaninchen nichts nütze; zwar sei das Kaninchen mager, aber eben darum auch kostbarer, denn Kaninchenfett schade den Lenden; zwar sei ihm momentan das Salz ausgegangen, aber der Kurs in der Gegend stehe sehr niedrig, Salz gebe es hier in Hülle und Fülle, es werde von den Russen mit Fallschirmen abgeworfen für die Banden im Wald; die beiden dürften sich also nicht die vorübergehende Knappheit zunutze machen, in der er sich gerade befinde; wenn sie in Richtung Gomel gegangen wären, hätten sie Salz in jeder Bauernkate gefunden, zu katastrophalen Kursen. Am Ende fragte er noch aus reiner Neugier, aus schierem Interesse für die Lebensgewohnheiten anderer: »Ihr eßt Kaninchenfleisch? Die Juden in Samarkand aßen kein Kaninchenfleisch. Für sie war’s wie Schweinefleisch.« »Wir sind besondre Juden«, sagte Leonid. »Wir sind hungrige Juden.« »Auch ich bin ein besondrer Usbeke.« 35
Schließlich war der Handel getätigt, und aus einem Versteck kamen Äpfel, geröstete Rübenscheiben, Käse und Walderdbeeren zum Vorschein. Die drei tafelten mit Genuß, vereint durch die oberflächliche Freundschaft, die aus dem Handel erwächst. Am Ende ging Peiami in die Kabine und holte Wodka. Samogón sei es, erklärte er: Selbstgebrannter Wodka aus den Kellern der Bauern, viel stärker als der staatliche Brand. Und sie sollten auch wissen, warum er ein besondrer Usbeke sei, nämlich erstens, weil er, obwohl als Moslem geboren, am Wodka großen Gefallen habe, und zweitens, weil die Usbeken ein Volk von Kriegern seien, er aber habe keine Lust, Krieg zu machen. »Wenn mich keiner holen kommt, bleibe ich hier, um weiter Kaninchen zu fangen, bis der Krieg aus ist. Wenn die Deutschen kommen, gehe ich mit den Deutschen. Wenn die Russen kommen, gehe ich mit den Russen. Und wenn die Partisanen kommen, gehe ich mit den Partisanen.« Mendel hätte gern etwas mehr gewußt über die Partisanen und über die Banden, denen die Russen Salz abwarfen. Doch seine Bemühungen, dem Usbeken weitere Einzelheiten zu entlocken, blieben fruchtlos: der Mann hatte schon zuviel getrunken, oder er hielt es für unklug, über dieses Thema zu sprechen, oder er wußte vielleicht tatsächlich nicht mehr. Im übrigen war der Samogón wirklich stark, fast ein Narkotikum. Mendel und Leonid, die keine großen Trinker waren und seit geraumer Zeit kei36
nen Alkohol mehr getrunken hatten, legten sich in die Pilotenkabine und schliefen ein, noch bevor es dunkel wurde. Der Usbeke blieb noch ein Weilchen draußen, spülte das Geschirr (das heißt seine selbstgebastelte Pfanne) mit Wasser und Sand, rauchte die Pfeife, trank noch ein bißchen und kroch dann ebenfalls in die Kabine, wo er die beiden Juden ein Stück beiseite schob, ohne daß sie erwachten. Um elf Uhr war der Himmel im Westen noch immer nicht völlig dunkel. Um drei in der Frühe wurde es schon wieder hell, das Licht des beginnenden Tages drang nicht nur durch die beiden runden Fenster in die Kabine, sondern auch durch die Risse und Löcher im Rumpf des zerschellten Jagdbombers. Mendel erwachte mit Schmerzen, er hatte Kopfweh und eine trockene Kehle. »Alles nur wegen dem Samogón«, dachte er, aber es war nicht bloß der Samogón. Es gelang ihm nicht, den Gedanken an die Banden im Wald loszuwerden, auf die der Usbeke angespielt hatte. Nicht, daß es für ihn eine völlig neue Nachricht gewesen wäre, er hatte schon davon gehört, sogar schon öfter; er hatte in den Dörfern an den Hütten der Bauern die zweisprachigen Plakate der Deutschen gesehen, die Belohnung versprachen für jeden, der einen Banditen anzeigte, und Strafe androhten für jeden, der sie begünstigte. Er hatte auch mehr als einmal die grauenvollen Gehenkten gesehen, junge Männer und Frauen, die reglos an Stricken hingen mit unnatürlich verdrehten Köpfen, 37
die Augen gläsern und die Hände auf dem Rücken zusammengebunden; sie trugen Pappschilder vor der Brust, auf denen in russischer Sprache geschrieben stand: »Ich bin zurückgekehrt in mein Dorf« oder ein ähnlich höhnischer Spruch. Das alles wußte Mendel, und er wußte auch, daß ein Soldat der Roten Armee, wie er einer war (und er war stolz darauf, einer zu sein), als Versprengter untertauchen und im Untergrund weiterkämpfen sollte. Aber er war es müde, weiterzukämpfen, er fühlte sich müde und leer, sie hatten ihm seine Frau genommen, sein Dorf, seine Freunde. Er spürte nicht mehr die Kraft des jungen Soldaten in seiner Brust, nur Müdigkeit, Leere und Sehnsucht nach einem weißen und stillen Nichts, friedlich wie eine winterliche Schneedecke. Er hatte den Durst nach Rache verspürt, er hatte ihn nicht befriedigt, und der Durst war schwächer und schwächer geworden und schließlich ganz erloschen. Er war den Krieg und das Leben müde und fühlte in seinen Adern statt des roten Blutes der Krieger das bleiche Blut des friedlichen Stammes, aus dem er kam, Schneider, Händler, Schankwirte, Dorfgeiger, milde Patriarchen mit großer Nachkommenschaft und visionäre Rabbiner. Er war es auch müde, zu wandern und sich zu verstecken, er war es müde, Mendel zu sein. Welcher Mendel? Wer war Mendel Nachmans Sohn? Mendel Nachmanowitsch, wie die Russen sagten und wie es in der Stammrolle seiner Kompanie geschrieben stand, oder Mendel Ben Nachman, wie es seinerzeit 1915 der Rabbi mit den 38
zwei Uhren ins Melderegister von Strelka geschrieben hatte? Gleichwohl spürte Mendel, daß er so wie bisher nicht würde weiterleben können. Etwas in Peiamis Worten und Gesten hatte ihm den Verdacht eingegeben, daß der Usbeke mehr über die Partisanen in den Wäldern wußte, als er zugeben mochte. Etwas wußte er, und Mendel verspürte tief innen in einem verborgenen Winkel der Seele einen Drang, einen Ansporn wie von einer zusammengepreßten Triebfeder: es drängte ihn, etwas zu tun, und zwar sofort, noch an diesem selben Tage, dessen Licht ihn so früh aus dem Schlaf des Samogón gerissen hatte. Er mußte von dem Usbeken erfahren, wo diese »Banden« steckten und wer sie waren, und er mußte eine Entscheidung treffen. Er mußte wählen, und es war eine schwierige Wahl: auf der einen Seite seine jahrtausendealte Müdigkeit, seine Angst und sein Widerwille gegen die Waffen, die er doch selber vergraben und mitgeschleppt hatte; auf der anderen nicht viel, nur jene winzige Triebfeder, die vielleicht das war, was in der Prawda das »Ehr- und Pflichtgefühl« genannt wurde, die aber wohl passender zu umschreiben wäre mit einer Art von stummem Bedürfnis nach Anstand. Über all das sprach er mit Leonid nicht, als dieser erwachte. Er wartete, bis der Usbeke erwachte, und stellte ihm dann ein paar präzise Fragen. Die Antworten kamen nicht sehr präzise. Banden, ja ja, da waren schon einige, oder besser: waren gewesen. Banden von Partisanen oder Banditen, das 39
könne er nicht genau sagen, niemand könne das sagen. Bewaffnet? Freilich bewaffnet, aber gegen wen? Geisterbanden, flüchtig wie ziehende Wolken: heute hier, um einen Zug in die Luft zu sprengen, morgen woanders, vierzig Kilometer entfernt, um die Silos einer Kolchose zu plündern. Und nie dieselben Gesichter: Russen, Ukrainer, Polen, Mongolen von Gott weiß woher; auch Juden, ja, ein paar; und Frauen. Ein buntes Gemisch von Uniformen: Sowjetbürger, verkleidet als Milizionäre im Sold der Deutschen, Sowjetsoldaten in zerlumpten Jacken der Roten Armee, sogar ein paar deutsche Deserteure … Wie viele? Wer weiß: mal fünfzig hier, mal dreihundert da; wechselnde Gruppen, die sich bildeten und wieder auflösten, Bündnisse, Streitereien, gelegentlich auch mal Schießereien … Mendel fragte hartnäckig weiter: Also wußte Peiami etwas? Ja und nein, wich Peiami aus, das seien Dinge, die jeder hier wüßte. Er habe bloß einmal Kontakt mit einer solchen Bande gehabt, vor Monaten, und das seien ganz freundliche Leute gewesen. In Niwnoje, einem Ort inmitten der Sümpfe, an der weißrussischen Grenze. Geschäftlich sei er dort gewesen, um die Funkanlage des Jagdbombers zu verkaufen, und es sei auch, was ihn betreffe, ein gutes Geschäft gewesen, denn das Gerät habe nicht mehr funktioniert, und er glaube nicht, daß diese Leute imstande seien, es wieder herzurichten. Aber sie hätten ihn gut bezahlt: mit zwei Laibern Käse und vier Schachteln Aspirin; es sei nämlich Winter 40
gewesen, und da litte er immer an Rheumatismus. Später dann, im April, habe er eine zweite Reise gemacht, diesmal mit dem Fallschirm des toten Deutschen. Ja, als er hier ankam, sei der Pilot noch dagewesen, tot seit wer weiß wie vielen Tagen, schon ganz zerfressen von den Mäusen und Krähen; es sei eine scheußliche Arbeit gewesen, die Pilotenkabine sauberzumachen und sich ein bißchen einzurichten! Ja, und dann habe er den Fallschirm weggebracht, aber in Niwnoje sei er auf andere Leute gestoßen, andere Gesichter, andere Chefs, und die seien nicht so freundlich gewesen: weggenommen hätten sie ihm den Fallschirm und dafür Rubel gegeben. Ein böser Reinfall, denn was sollte er hier mit Rubeln? Und dabei sei es so ein schöner Fallschirm gewesen, gut für mindestens zwanzig Hemden! Kurz und gut, ein katastrophales Geschäft, ganz abgesehen von der weiten Reise, denn nach Niwnoje seien es immerhin drei bis vier Tagesmärsche. Nein, nochmal sei er da nicht hingegangen, auch weil sie ihm gesagt hätten, daß sie woandershin wollten, Gott weiß wohin, sie hätten es selber noch nicht gewußt oder es ihm nicht sagen wollen. Von ihnen habe er auch das deutsche Wörterbüchlein bekommen; sie hätten davon einen ganzen Stapel gehabt, anscheinend würden die Dinger in Moskau massenweise gedruckt. Ja, das sei alles, mehr wisse er nicht von den Banden; außer natürlich die Sache mit dem Salz. Salz hätten sie gehabt, von den Russen mit Fallschirmen abgeworfen, und nicht nur Salz. Eben darum hätten 41
sie ihm ja auch so wenig für den Fallschirm des Deutschen gegeben, obwohl er doch aus viel feinerer Seide gewesen sei als die russischen. Kurz und gut, ein Risiko sei das Handeln ja immer, aber ein schlimmes Risiko werde es, wenn man die Marktverhältnisse nicht genau kenne; und bitte, was für ein Markt sei ein Wald, in dem man nicht einmal wisse, ob man Nachbarn habe und was für Leute das seien und was sie brauchten? »Nun, ihr jedenfalls seid meine Gäste. Ich denke nicht, daß ihr gleich wieder aufbrechen wollt. Legt eine Pause ein, macht eure Pläne, und morgen zieht ihr ausgeruht weiter. Es sei denn, ihr hättet Gründe zur Eile. Wenn nicht, so teilt meinen Tag mit mir: euch wird es Stärkung bringen, und ich bin für einen Tag nicht allein.« Sie nahmen den Vorschlag an und gingen mit ihm durch den Wald über kaum bezeichnete Wege, um die Fallen zu kontrollieren, doch Kaninchen fanden sich keine darin. Nur ein Wiesel, halb erwürgt von der Schlinge, aber noch lebendig; derart lebendig sogar, daß es nicht leicht war, sich vor seinen wütenden Bissen zu schützen. Der Usbeke zog sich die Hosen aus, stülpte sie um, so daß der Stoff doppelt lag, fuhr mit den Händen hinein wie in zwei Handschuhe und befreite das Tier, das blitzschnell wie eine Schlange durchs Unterholz davonwieselte. »Wenn einer wirklich Hunger hat, ißt er auch so was«, sagte Peiami melancholisch. »In meinem Dorf gab’s keine solchen Probleme, auch der Ärmste hatte 42
jeden Tag mindestens ein Stück Käse, um seinen Hunger zu stillen. Hungersnot haben wir nie gekannt, nicht mal in den schlimmsten Jahren, als sie in der Stadt schon die Mäuse aßen. Hier im Wald ist es anders, hier hat man’s nicht leicht, seinen Hunger zu stillen. Je nach Jahreszeit findet man Pilze, Frösche, Schnecken, vorüberziehende Vögel, aber nicht alle Jahreszeiten sind gut. Freilich, man kann in die Dörfer gehen, aber nicht mit leeren Händen; und man muß immerzu auf der Hut sein, denn mit dem Schießen sind sie rasch bei der Hand.« Etwa hundert Meter vom Flugzeug entfernt zeigte er den beiden das Grab des Deutschen. Er hatte ein schönes Grab gemacht, mehr als einen Meter tief, sagte er, ohne Grabstein, weil’s in der Gegend nirgendwo Steine gab, aber mit einem Hügel aus festgeklopfter Erde, bedeckt mit Ästen und Zweigen, und sogar ein Kreuz stand darauf, beschrieben mit dem Namen des Toten: Baptist Kipp. Er hatte ihn auf der Erkennungsmarke gelesen. »Warum soviel Aufwand für das Grab eines Ungläubigen, noch dazu eines deutschen?« fragte Leonid. »Damit er nicht wiederkehrt«, antwortete der Usbeke. »Und außerdem sind die Tage hier lang, mit irgendwas muß man sie schließlich füllen. Ich spiele gern Schach und bin auch, glaube ich, darin ganz gut. In meinem Dorf schlug mich keiner. Na schön, hier habe ich mir die Figuren aus Holz geschnitzt und das Schachbrett aus einem Stück Birkenrinde, aber mit sich selber spielen ist fad. Ich erfinde mir 43
Schachprobleme, aber es ist wie mit sich selber Liebe machen.« Mendel sagte, auch er spiele gern; es bleibe noch lange hell, er hätte schon Lust auf eine Partie. Der Usbeke war sofort einverstanden, doch als sie beim Flugzeugwrack ankamen, wollte er unbedingt, daß zuerst die beiden, Mendel und Leonid, gegeneinander spielten. Warum? Weil den Gästen der Vortritt gebühre, sagte er mit scheinheiliger Miene, doch es war klar, daß er sich erstmal einen Eindruck von der Spielweise seiner künftigen Gegner verschaffen wollte. Er gehörte zu denen, die spielen, um zu gewinnen. Leonid bekam die weißen Figuren; sie waren tatsächlich weiß und rochen sogar noch ein bißchen nach frischem Holz. Die schwarzen dagegen waren eher in unterschiedlichen Tönungen braun geräuchert und angesengt; die einen wie die anderen standen ein bißchen wacklig, auch weil das Schachbrett nicht glatt war, sondern gewellt und voller Unebenheiten. Leonid eröffnete mit der Dame, aber es war sofort zu sehen, daß er den normalen Verlauf der Eröffnung nicht kannte und bald in Schwierigkeiten geriet; schon hatte er einen Bauern verloren und sah sich zur Defensive gezwungen. Er murmelte etwas über das Spiel, und Mendel antwortete ihm im gleichen halblauten Ton, aber auf jiddisch: »Behalt ihn im Auge, man kann nie wissen. Die Pistole und das MG sind in der Pilotenkabine … Schach dem König!« Es war ein tückisches Schach, das dem schlecht hin44
ter seinen Bauern verschanzten weißen König nicht viele Auswege ließ. Leonid opferte einen Läufer bei einem vergeblichen Abwehrversuch, und Mendel sagte ihm Matt in drei Zügen an. Resignierend wollte Leonid seinen König legen zum Zeichen der Aufgabe und der Huldigung vor dem Sieger, aber da sagte Mendel: »Nein, laß uns zu Ende spielen.« Leonid verstand: Peiami mußte befriedigt werden; es bestand keine Gefahr, daß er sich entfernte, er verfolgte das Spiel mit dem Kennerblick und der unverhohlenen Blutgier eines Stierkampfliebhabers; es war besser, ihm das Schauspiel des Gnadenstoßes nicht vorzuenthalten. Der Gnadenstoß kam, und sofort wollte Peiami gegen Leonid spielen, der die Herausforderung widerwillig annahm. Der Usbeke eröffnete provozierend mit dem Läuferbauern der Dame, und seine Augen, deren Weiß in den Winkeln so rein war, daß es fast schon ins Blau überging, funkelten noch provozierender. Er spielte mit grotesk übertriebenen Gesten, schob bei jedem Zug den Arm und die Schulter vor, als müßte er kiloschwere Figuren bewegen, pflanzte sie auf das Schachbrett, als wollte er sie einrammen, und drehte sie, wie um sie einzuschrauben. Leonid fühlte sich sehr bald unbehaglich, sowohl wegen dieser Mimik als auch wegen der offenkundigen Überlegenheit seines Gegners: kein Zweifel, Peiami wollte nichts anderes, als ihn so rasch wie möglich erledigen, um sich danach mit Mendel zu messen. Er zog mit demonstrativ einschüchternder Schnelligkeit, ohne lange 45
zu überlegen, und zeigte heftige Ungeduld, wenn Leonid zögerte. Nach weniger als zehn Minuten hatte er ihn schon matt gesetzt. »Jetzt wir beide!« sagte er unverzüglich zu Mendel in einem so resoluten Ton, daß dieser sich zugleich amüsiert und beunruhigt fühlte. Diesmal spielte auch Mendel, um zu gewinnen, als ginge es um einen Berg von Gold oder um das sichere Leben oder die ewige Seligkeit. Unklar spürte er, daß er nicht nur für sich selber spielte, sondern als Vorkämpfer einer Sache und stellvertretend für andere. So eröffnete er behutsam und klug mit dem Vorsatz, sich durch das Verhalten des anderen nicht aus der Ruhe bringen zu lassen. Der unterließ denn auch bald seine verwirrenden Gesten, um sich ebenfalls voll auf das Spiel zu konzentrieren. Mendel spielte bedächtig, während Peiami eher zu einem kühnen und blendenden Spiel neigte: Es war nicht leicht zu erkennen, ob sich in seinen Zügen ein Plan verbarg oder der phantasievolle Wagemut eines Glücksritters oder nur der Wunsch zu verblüffen. Nach ungefähr zwanzig Zügen hatte noch keiner der beiden Verluste, die Lage war ausgewogen, das Brett übersät mit Figuren, und Mendel merkte, daß es ihm Spaß zu machen begann. Er ließ bewußt eine Chance verstreichen, um den Usbeken aus der Reserve zu locken, und sah, daß der andere die Ruhe verlor: Er war es jetzt, der zögerte und forschend in Mendels Augen sah, als könnte er ein Geheimnis in ihnen lesen. Kurz darauf machte der Usbeke einen Zug, der sich im gleichen 46
Moment als katastrophal herausstellte, bat darum, ihn zurücknehmen zu dürfen, und Mendel erlaubte es ihm. Doch statt einen anderen Zug zu machen, stand er auf, schüttelte sich wie ein aus dem Wasser gestiegener Hund und ging zum Flugzeug, ohne ein Wort zu sagen. Mendel gab Leonid einen Wink, der verstand sofort, ging ihm nach und betrat hinter ihm die Pilotenkabine; aber der Usbeke dachte gar nicht an die Waffen, er wollte nur den Samogón holen. Sie tranken, die drei, während es langsam dunkel zu werden begann und eine frische Brise durch die Abendluft wehte. Mendel fühlte sich sonderbar: der Zeit und dem Ort enthoben. Dieses intensive und ernsthafte Spiel erinnerte ihn an ganz andere Zeiten und Orte und Menschen: an seinen Vater, der ihm die Regeln beigebracht hatte, der ihn zwei Jahre lang mühelos und zwei weitere mit zunehmender Mühe besiegt hatte und die Niederlagen dann hinnahm, ohne sich weiter zu grämen; an seine Freunde, Juden und Russen, die sich am Schachbrett mit ihm zur Geduld und Schläue erzogen hatten; an die ruhige Wärme seines verlorenen Hauses. Wahrscheinlich hatte der Usbeke zuviel getrunken. Denn als sie weiterspielten, entfesselte er einen wilden, kaum enden wollenden Schlagabtausch, der die Lage kraß vereinfachte und entzauberte; am Ende stand er mit einem Bauern weniger da, und Mendel beherrschte, sicher verschanzt, die große Diagonale. Der Usbeke trank weiter, vervollständigte seine Katastrophe durch einen absurden 47
Gegenangriffsversuch, gab sich geschlagen und erklärte, er müsse sich unbedingt revanchieren. Er sei leider schwach gewesen, ja, ja, er wisse schon, daß man beim Spielen nicht trinken dürfe, er habe dem Laster nachgegeben wie ein törichtes Kind. Für heute sei es zu dunkel, aber er wolle Revanche: gleich morgen früh, beim ersten Anbruch des neuen Tages! Sprach’s, grüßte die beiden, stieg schwankend die schmale Leiter zur Kabine hinauf, verschwand und schnarchte bereits nach fünf Minuten. Die beiden horchten ein Weilchen schweigend. Durch das Rascheln der Blätter im Abendwind drangen andere, nicht so vertraute Geräusche: ein Summen und Zirpen von Käfern und kleinem Getier, ein Knistern und Knarren, ein ferner Chor von quakenden Fröschen. »Dies ist nicht der Weggefährte, den wir brauchen«, sagte Mendel. »Habe ich recht?« »Wir brauchen überhaupt keinen Weggefährten«, meinte Leonid, noch beschämt von der Niederlage. »Das werden wir sehen. Auf jeden Fall ist es Zeit, wieder aufzubrechen, bevor es ganz dunkel wird.« Sie warteten, bis das Schnarchen des Usbeken regelmäßig erklang, holten die Rucksäcke aus der Kabine und machten sich auf den Weg. Vorsichtshalber gingen sie erst in südlicher Richtung, machten dann eine scharfe Kurve und wanderten nach Nordwesten. Doch auf dem trockenen Boden hinterließen sie ohnehin keine Spuren.
Zweites Kapitel Juli – August 1943
Mendel wollte nach Niwnoje gehen, gedrängt von den vagen Angaben des Usbeken. Leonid wollte nirgendwohin, oder genauer gesagt, er wußte nicht recht, wohin er wollte und ob es ihn überhaupt drängte, irgendwohin zu gehen oder etwas Bestimmtes zu tun. Nicht, daß er Mendels Vorschläge ablehnte oder sich auflehnte gegen seine Entscheidungen, aber er setzte eine Art feinen passiven Widerstand gegen jedes aktive Drängen – wie der Staub in den Uhren, dachte sich Mendel. Ja, das mußte es sein, er hatte wohl Staub abbekommen, obwohl er noch jung war. Es ist dumm zu sagen, daß man als junger Mensch stark sei: vieles versteht man mit dreißig besser als mit zwanzig, und dann erträgt man’s auch leichter. Was hätte er selber übrigens antworten sollen, er, Mendel, wenn er gefragt worden wäre, wie alt er eigentlich sei, und wenn er ganz ehrlich sein wollte? Achtundzwanzig, sagten seine Papiere, ein bißchen mehr seine Gelenke, seine Lunge und auch sein Herz, doch auf dem Buckel hatte er einen Berg von Jahren, mehr als Noah und als Methusalem. Ja, mehr als sie, wenn man bedenkt, daß Methusalem mit geschlagenen einhundertsiebenundachtzig Jahren den Lamech zeugte, und daß Noah fünfhundert Jahre alt war, als er Sem, Ham und Japhet in die Welt setzte, 49
und sechshundert, als er die Arche baute, und noch ein paar mehr, als er sich das erste Mal richtig betrank; und nach der Meinung des Rabbis mit den zwei Uhren hatte er bei ebendieser Gelegenheit eigentlich vorgehabt, noch einen vierten Sohn zu zeugen, wäre dann nicht diese dumme Geschichte mit Ham dazwischengekommen … Nein, er, Mendel, der Uhrmacher, der durch die Wälder zog, war noch älter als sie. Es drängte ihn nicht mehr, Kinder zu zeugen, noch Reben zu pflanzen, noch Archen zu bauen, selbst wenn’s der Herr ihm befohlen hätte. Aber der Herr schien sich ja bislang nicht besonders darum zu kümmern, ihn und die Seinen zu retten. Vielleicht weil er nicht so fromm und gerecht war wie Noah. Leonids Schweigen bedrückte ihn. Instinktiv mochte er diesen Jungen, er erschien ihm vertrauenswürdig, doch seine Passivität gefiel ihm nicht. Wenn ein Uhrwerk verstaubt ist, muß es entweder sehr alt sein, oder sein Gehäuse ist nicht mehr ganz dicht; dann muß man es auseinandernehmen und Stück für Stück mit Leichtbenzin reinigen. Leonid war nicht alt, also mußte sein Gehäuse Sprünge bekommen haben. Was für eine Art von Benzin wäre nötig, um Leonids Triebwerk zu reinigen? Er hatte mehrmals versucht, ihn zum Reden zu bringen. Er hatte ihm Bruchstücke seiner Geschichte entlockt, Steinchen für ein Mosaik, das später geduldig zusammengefügt werden mußte wie bei gewissen Kinderspielen. Das Lager der Deutschen? Freilich, 50
angenehm war das bestimmt nicht gewesen, aber er hatte ja schließlich nur kurze Zeit darin zugebracht und seine Gesundheit nicht eingebüßt; im Gegenteil, er hatte sogar noch Glück gehabt, warum wollte er das nicht zugeben? Wenn die Deutschen gemerkt hätten, daß ihnen ein jüdischer Fallschirmjäger in die Hände gefallen war, wär’s nicht so glimpflich für ihn abgegangen. Glück zu haben ist eine gute Sache, eine Garantie für die Zukunft; sein Glück zu verleugnen ist eine Lästerung. Die gestohlene Uhr und die Zeit im Gefängnis? Mein Gott, er hatte gesündigt und dafür gebüßt. Hätten nur alle Sünder das Glück, ihre Fehltritte so verbüßen zu können, um ihre Konten ins reine zu bringen! Da mußte schon noch etwas anderes sein in Leonids Körper, eine innere Wunde, ein dunkler Fleck, vielleicht auch ein schmerzlicher Lichtschein um eine Menschengestalt, um ein Bild? Die großen ovalen Fotografien des vergangenen Jahrhunderts kamen Mendel in den Sinn, jene feierlichstrengen Bilder der Ahnen im Zentrum einer grauen verschwimmenden Aureole. Es mußte mit seiner Familie zu tun haben, davon war Mendel bald überzeugt, nicht aufgrund von Leonids Antworten, die immer kurz und abweisend waren, sondern aufgrund seines Schweigens. Ja, das Mosaik, das er da zusammenzufügen hatte, bestand zu großen Teilen aus schwarzen Steinchen: aus nichtssagenden oder ausweichenden oder gar barschen Antworten. Es brauchte Geduld, allmählich würde das Bild sich schon klären, und Mendel war nun ein geduldiger Mann. 51
Er prüfte sich, Nächte nach ihrem gemeinsamen Aufbruch, enttäuscht von der Verschlossenheit und den unwirschen oder verklemmten Antworten seines Weggefährten: kein Zweifel, er, Mendel, war kein Mann mit vielen Tugenden, aber Geduld hatte er. Na schön, dachte er: wer Geduld hat, der nutze sie. Um die Sümpfe von Niwnoje zu erreichen, genügten nicht die drei Tagesmärsche, auf die der Usbeke angespielt hatte. Mendel und Leonid brauchten sechs Tage, oder genauer gesagt, sechs Nächte, denn tagsüber schliefen sie lieber in einem guten Versteck. Sie überquerten einsame Straßen und Wege, eine Bahnlinie (es mußte die Strecke Gomel–Brjansk sein, kalkulierte Mendel), Lichtungen und ein paar Bäche mit niedrigem klarem Wasser, das ihren Durst löschte und ihre müden Füße erfrischte. Sie vermieden die Dörfer und Bauernhöfe, was sie zu Umwegen zwang, aber hatten sie etwa Eile? So begegneten sie auf ihrem Marsch durch das Dunkel und fern der bewohnten Orte nur wenigen Menschen: Hirten, Bauern auf ihren Feldern und verspäteten Wanderern, die sich nicht um sie kümmerten. Eine Begegnung konnten sie allerdings nicht vermeiden: am vierten Tag in der ersten Morgendämmerung, als sie einer Wagenspur folgten und durch einen Hohlweg mußten, kam ihnen plötzlich vom anderen Ende des Hohlwegs ein Karren entgegen, gezogen von einem klapprigen müden Gaul, auf dem Kutschbock ein Mann in mittlerem Alter. Mendel zog die Pistole. Der Mann trug am Ärmel die 52
blaue Binde der ukrainischen Hilfsmilizen. Mendel sprach ihn an: »Was hast du geladen?« »Mehl, wie du siehst.« »Wo bringst du es hin?« »Zu den Deutschen, ins Magazin von Mglin.« »Steig ab und verschwinde. Jawohl, verschwinde, geh zu Fuß weiter!« Der Ukrainer zuckte die Achseln; Vorfälle solcher Art waren ihm wohl nicht neu. »Und was soll ich sagen?« »Was du willst. Daß die Banditen dich überfallen haben.« Er machte sich aus dem Staub. Auf dem Karren lagen sechs Säcke Mehl und ein Bündel frisches Heu. Mendel steckte die Pistole weg und schaute etwas verwundert drein. »Was willst du jetzt tun?« fragte Leonid. »Das weiß ich noch nicht. Ich weiß noch nicht, was wir tun werden, aber was ich tun wollte, war richtig. Ich wollte Partei ergreifen. Es geht mir wie einem, der eine Brücke hinter sich abbricht und noch nicht weiß, ob es richtig ist oder falsch, aber nachdem er sich entschieden hat, ist die Brücke weg, und ihm bleibt keine Wahl, er kann nicht mehr zurück. Los, komm, wir spannen das Pferd aus und probieren mal, wie viele Säcke es tragen kann.« »Warum behalten wir nicht auch den Karren?« »Weil wir von jetzt an gesucht werden und die Straßen vermeiden müssen.« 53
Das Pferd versprach nicht, sehr nützlich zu sein. Es ließ den Kopf und die Ohren hängen und hatte am Rücken offene Wunden voller Fliegen und Bremsen. Mit einem Stück Seil, das sie auf dem Karren fanden, banden sie ihm mehr schlecht als recht zwei Mehlsäcke auf; mehr hätte keinen Sinn gehabt. Über den Säcken, die lose über die mageren Rippen des Tieres hingen, befestigten sie das Bündel Heu. »Und der Karren? Und die anderen Säcke?« »Die verstecken wir, so gut wir können.« Es war nicht leicht, aber schließlich schafften sie es, bevor es ganz hell wurde: den Karren versteckten sie in einer Bodensenke unter wucherndem Brombeergestrüpp und die Säcke unter dem Karren. Dann zogen sie weiter, jetzt quer durchs Gehölz und mit dem müden störrischen Pferd, dessen sperrige Last sich immer wieder in den niedrigen Zweigen verfing. Sie gingen ein langes Stück schweigend, dann sagte Leonid: »Ich weiß nicht, was ich will, aber ich weiß, daß ich es nicht weiß. Auch du weißt nicht, was du willst, aber du glaubst es zu wissen.« Mendel, der vorne ging und das Pferd am Halfter führte, drehte sich nicht zurück und gab keine Antwort, doch kurz darauf fing Leonid wieder zu sticheln an: »In deinem Dorf gab’s kein Kino, hast du gesagt. Gab’s da auch keine Pferde?« »Es gab welche, aber ich hab mich nie um sie kümmern müssen. Ich hatte einen anderen Beruf.« »Auch ich hatte einen anderen Beruf, aber ein Pferd 54
wie dieses trägt Lasten nicht so, jedenfalls nicht lange. Das sieht doch jeder.« Dagegen war nicht viel einzuwenden, im übrigen war es inzwischen nur allzu klar, daß es so nicht weiterging. Im Dickicht an einem Bachufer machten sie halt, tränkten das Pferd, banden es an einen Baumstamm, gaben ihm das Heu zu fressen und legten sich schlafen. Als sie wieder erwachten, war es später Nachmittag, das Heu war gefressen, das Pferd hatte auch schon das bißchen Grün in seiner Reichweite abgegrast und zerrte am Seil, um etwas weiter zu reichen; es mußte wirklich sehr großen Hunger haben. Schade, daß in den Säcken nur Mehl und kein Hafer war. Sie hielten ihm probeweise ein bißchen Mehl hin, aber das Tier bestäubte sich damit das Maul bis hinauf zu den Augen und fing so heftig zu husten an, daß sie schon meinten, es werde erstikken. Sie mußten ihm erst das Maul und die Nüstern im Bach waschen, ehe sie weiterzogen. In der Luft lag ein neuer Geruch, modrig und kühl: Die Sümpfe konnten nicht mehr weit sein. Einen halben Tagesmarsch vor Niwnoje stießen sie auf eine alte Bäuerin und beschlossen, sie anzusprechen. Ob sie das Pferd haben wolle? Die Alte musterte es mit Kennerblicken: »O je, das arme Vieh! Taugt nicht mehr viel, ist alt und müde, hat Hunger und scheint mir auch krank zu sein. Was anderes wär’s mit dem Mehl, aber ich kann euch kein Angebot machen, ich hab nichts anzubieten.« 55
Die Frau war nicht dumm. Sie blickte die beiden prüfend an, mit gleichen Kennerblicken wie eben das Pferd, und sagte dann, wie als Antwort auf eine stumme Frage: »Habt keine Angst, hier in der Gegend sind viele wie ihr. Vielleicht auch zu viele, aber die Deutschen hier sind nicht zahlreich und nicht sehr gefährlich. Also, was das Pferd und das Mehl betrifft, ich hab’s euch gesagt, ich kann euch leider nichts dafür geben, aber ich könnte mit dem Dorfältesten darüber sprechen, wenn’s euch recht ist.« Mendel hatte Eile, das Tier loszuwerden; es nützte ihnen wenig oder nichts, und es schien sogar durch seine bloße Anwesenheit die schlechte Laune, den Widerspruchsgeist und die Streitlust seines Gefährten zu reizen. Er überlegte rasch: nein, keine Zwischenhändler, die Alte würde bestimmt versuchen, sich einen Anteil an dem Geschäft zu sichern, sei es nun groß oder klein. Aber dann hätten sie selber ins Dorf gehen müssen, um mit dem Ältesten zu verhandeln, und das widerstrebte ihnen. »Also gut«, sagte Mendel schließlich. »Sieh zu, daß du uns ein Treffen mit diesem Ältesten arrangierst: auf halbem Wege an einem abgelegenen Ort, ist das möglich?« Ja, das sei möglich, meinte die Frau. Der Dorfälteste kam pünktlich bei Sonnenuntergang zu dem vereinbarten Ort, einem Hüttchen am Wege, das ihnen die Frau genannt hatte. Er war um die sechzig, kahl und stämmig und wortkarg. Ja, er, oder besser gesagt das Dorf, sei zahlungsfähig: Sie 56
hätten Eier und Speck und Salz und Honig. Aber das Pferd sei nicht viel wert. »Es geht ja nicht nur um das Pferd«, erwiderte Mendel. »Es geht auch um einen Karren und sechs Säcke Mehl: zwei hier und vier weitere in der Nähe, versteckt im Wald mitsamt dem besagten Karren.« »Unklares Geschäft«, sagte der Alte. »Das Pferd und die beiden Säcke sieht man, aber wieviel Wert haben vier Säcke Mehl und ein Karren, wenn sie irgendwo im Wald versteckt liegen, ohne daß man weiß, wo, und ohne daß man recht weiß, ob sie überhaupt existieren? Wieviel Wert hat ein Schatz auf dem Mond?« Leonid trat einen Schritt vor und versetzte hart: »Soviel wie unser Wort und wie unsere Gesichter, und wenn du nicht …« Der Alte sah ihn gelassen an, ohne auch nur mit der Wimper zu zucken. Mendel legte seinem Gefährten eine Hand auf die Schulter und schob sich vermittelnd dazwischen. »Unter vernünftigen Leuten kommt man am Ende immer zu einer Verständigung. Sieh mal, die Ware liegt unweit der Straße, früher oder später wird jemand sie finden und gratis mitnehmen, und dann bringt sie weder euch noch uns einen Nutzen; und wenn es wieder zu regnen beginnt, ist das Mehl bald hin. Und wir müssen sehen, daß wir weiterkommen, wir haben Eile.« Der Alte hatte kleine, verschlagene Augen. Er richtete sie bedächtig erst auf das Pferd, dann auf die Säcke, dann wieder auf Mendel. 57
»Schlimm, schlimm«, sagte er, »wenn man Eile hat und nicht schnell vorankommt. Wenn ihr das Pferd behaltet, kommt ihr so langsam voran, wie es trottet. Wenn ihr es verkauft und die Säcke behaltet, kommt ihr, jeder von euch mit einer Zentnerlast auf dem Buckel, weder sehr schnell voran noch sehr weit, höchstens so weit, bis ihr einen anderen findet, der sie euch abkauft. Ihr habt keine große Wahl.« Mendel sah, wie Leonid ihm einen raschen Blick voller Schadenfreude zuwarf: die Revanche für seine Niederlage im Schach. Die Argumente des Alten waren zweifellos stark, es wäre besser gewesen, nicht von ihrer Eile zu sprechen. Jetzt konnte er nur noch nachgeben. »Also gut, Alter, kommen wir jetzt zur Sache: Was bietest du uns für das, was du siehst? Für zwei Zentner Mehl und das Pferd?« Der Alte kratzte sich langsam den Kopf und schob sich die Mütze über die Augen. »Hm, über das Pferd wollen wir lieber nicht reden, es hat keinen Wert, nicht mal als Fleisch für den Schlachter. Höchstens vielleicht die Haut, wenn sie gut gegerbt ist. Was das Mehl betrifft, wer weiß, wo es her sein mag? Ihr habt es mir nicht gesagt, und selbst wenn ihr’s mir sagen würdet, könnte ich’s glauben oder auch nicht: wer Handel treibt, hat das Recht zu lügen. Kann sein, daß es russisches ist oder deutsches, gekauftes oder gestohlenes. Ich will’s gar nicht wissen. Ich biete euch für das Mehl acht Kilo Speck und ein Päckchen Tabak: nehmt’s oder laßt es 58
bleiben, es ist Ware, die nicht viel wiegt, ihr könnt sie leicht tragen.« »Machen wir zehn daraus«, sagte Mendel. »Zehn Kilo, aber dann ohne Tabak.« »Zehn, und den Tabak für die Haut des Pferdes.« »Neun Kilo und den Tabak«, sagte der Alte. »Einverstanden. Und was bietest du uns für die Ware, die man nicht sieht? Für vier Zentner Mehl und den Karren?« Der Alte schob sich die Mütze noch etwas tiefer über die Augen. »Nichts biete ich euch dafür. Ware, die man nicht sieht, ist wie Ware, die es nicht gibt. Wenn es sie gibt, werden wir sie finden, auch wenn du uns nicht verrätst, wo sie ist. Und selbst wenn du’s uns verrätst und die Wahrheit sagst, kann es sein, daß wir hingehen und nichts mehr finden. Es treiben sich so viele Leute in den Wäldern herum; und nicht nur Leute, auch Füchse, Mäuse, Krähen … Du selber hast doch vorhin gesagt, daß jemand sie finden könnte! Auslachen würde man mich im Dorf, wenn ich dafür was bieten würde!« Mendel hatte eine Idee. »Ich mache dir einen Vorschlag: eine Information gegen eine andere Information. Ware, die man nicht sieht, gegen andere Ware, die man nicht sieht. Wir sagen dir, wo der Karren ist, und du sagst uns dafür, wo … nun ja, unterwegs, wie’s so geht, haben wir gewisse Gerüchte gehört … Gerüchte, daß in Niwnoje oder in den Wäldern um Niwnoje oder in den Sümpfen … daß da gewisse Leute seien …« 59
Der Alte schob sich die Mütze zurück und sah Mendel fest in die Augen, was er bis zu diesem Moment nicht getan hatte. Mendel beharrte: »Wäre das nicht ein gutes Geschäft? Es kostet dich nichts, es ist, als schenkten wir dir das Mehl und den Karren, denn sie sind wirklich vorhanden, wir täuschen dich nicht, bei unserem Ehrenwort als Soldaten!« Zu Mendels und Leonids Überraschung gab sich der Alte auf einmal gelöster und fast gesprächig. Ja, da sei eine Gruppe gewesen, eine Bande. Fünfzig Männer oder vielleicht auch hundert, hier aus der Gegend und anderswoher. Einige, etwa ein halbes Dutzend, auch Jungen aus seinem Dorf: lieber in den Wäldern untertauchen als in Deutschland enden, nicht wahr? Bewaffnet, freilich, auch mutig und stolz, manchmal ein bißchen zu sehr. Aber sie seien davongezogen, vor ein paar Tagen, mit ihren Waffen und ihrem ganzen Gepäck und mit ein paar Tieren. Und das sei auch besser so, besser für alle. Wohin? Das wisse er nicht genau, er habe es nicht gesehen; aber jemand habe sie abziehen sehen, und wie es scheine, seien sie wohl in Richtung Gomel oder Djlobin gezogen. Wenn die beiden den Weg nach Djurbin nähmen, könnten sie sie vielleicht noch einholen, das sei nämlich eine Abkürzung. Nach dieser Erklärung ging der Alte davon, kam nach einer halben Stunde zurück und brachte den Speck, den Tabak und eine Waage, damit die beiden das Gewicht kontrollieren konnten. Nach der letz60
ten Gewichtskontrolle erklärte ihm Mendel genau, wo der Karren versteckt war. Unerwartet kramte der Alte aus seinem Beutelsack ein Dutzend harte Eier und reichte sie ihnen. Das sei ein Draufgeld, sagte er, ein Geschenk, das er ihnen mache, weil sie sympathische Leute seien; außerdem sei es auch eine Entschädigung, denn eigentlich sei es ja seine Gastgeberpflicht gewesen, ihnen ein Nachtlager anzubieten, aber der Ältestenrat des Dorfes habe das nicht gewollt. Er führte sie bis zu dem Weg nach Djurbin und verabschiedete sich, das Pferd mit den beiden Säcken am Zügel. »Wenn er uns nicht als Juden erkannt hätte, würden wir heute nacht in einem Bett schlafen«, knurrte Leonid. »Mag sein, aber selbst wenn er’s uns angeboten hätte, wär’s vielleicht nicht geraten gewesen, es anzunehmen. Wir wissen nichts über dieses Dorf. Wir wissen nicht, was für Leute dort wohnen, was sie denken, ob sie bloß Angst haben oder ob sie vielleicht für die Deutschen arbeiten. Ich weiß nicht, es ist nur ein Eindruck, aber ich hätte der alten Frau mehr vertraut als diesem Dorfältesten: er kam mir nicht vor wie ein Freund, eher nur wie ein halber Freund. Er hatte Eile, uns loszuwerden, deswegen hat er uns die Eier gegeben und uns den Weg gezeigt. Außerdem haben wir jetzt eine Entscheidung getroffen, nicht wahr?« »Was für eine Entscheidung?« fragte Leonid mißtrauisch. 61
»Die Bande einzuholen, oder?« »Diese Entscheidung hast du getroffen. Mich hast du nicht gefragt.« »Ich brauchte dich nicht zu fragen: Ich spreche davon seit Tagen, und du hast immer geschwiegen.« »Jetzt schweige ich nicht mehr: Wenn du zu der Bande gehen willst, geh allein. Ich hab genug vom Krieg. Du hast die Waffen, ich habe den Speck, mir soll’s recht sein. Ich gehe zurück in das Dorf, ein Bett werde ich schon finden, und nicht nur für eine Nacht.« Mendel drehte sich um und blieb voller Verblüffung stehen. Auf einen Wutausbruch war er nicht gefaßt, um so weniger auf den Wutausbruch eines Schwachen, und in Leonid spürte er einen Schwachen. Am wenigsten aber war er gefaßt auf den Redeschwall, den jetzt der bisher so schweigsame Leonid jäh über ihn ergoß. »Mir reicht’s! Ich habe genug! Ich bin dir im Wald begegnet, aber ich habe dich nicht geheiratet! Ich hatte gedacht, dir reicht’s genauso wie mir: ein Irrtum, kann vorkommen. Ich jedenfalls habe genug, ich gehe keinen Schritt weiter. Geh du ruhig in die Sümpfe: Du hast dich gefürchtet, im Dorf zu schlafen, und jetzt willst du mich zu Leuten bringen, von denen du nicht einmal weißt, welche Sprache sie sprechen und ob sie uns bei sich haben wollen und woher sie kommen und wohin sie gehen. Ich bin zwar aus Moskau, aber ich habe gesunde Arme und einen klaren Kopf, ich werde schon nicht verhungern. 62
Eher gehe ich in einer Kolchose arbeiten oder in den Fabriken der Deutschen. Ich will nicht mehr weiter, ich will nicht mehr schießen, nie wieder. Es ist nicht recht, es ist nicht recht, daß einer … Und außerdem weiß du ja selber nicht, was du willst. Ich hab’s dir gesagt: Du glaubst es zu wissen, aber du weißt es nicht. Du spielst den Helden, aber im Grunde willst du dasselbe wie ich: ein Haus, ein Bett, eine Frau, ein Leben, das einen Sinn hat, eine Familie, ein Dorf, das dein Zuhause ist. Du willst zu den Partisanen, du glaubst es zu wollen, aber du weißt nicht, was du willst und was du tust, ich hab’s gemerkt bei der Sache mit dem Pferd. Du bist einer, der sich selber belügt. Du bist einer wie ich. Du bist ein Nebbich, ein meschuggener Nebbich bist du!« Bei den letzten Worten knickte er langsam zusammen und setzte sich auf den Boden, als hätte er seine Seele herausgeschrien und keine Kraft mehr, sich auf den Beinen zu halten. Mendel stand reglos da, mehr überrascht und neugierig als erbost. Ihm wurde auf einmal klar, daß er diesen Ausbruch seit Tagen erwartet hatte. Er ließ den Jungen sich etwas beruhigen und setzte sich dann zu ihm. Berührte ihn leicht an der Schulter, aber der andere zuckte zurück, als hätte ein glühendes Eisen ihn berührt. Ein Nebbich ist ein Taugenichts, ein getretener Wurm, ein hilfloser armer Teufel, unnütz, erbärmlich, ein Niemand, und meschugge bedeutet verrückt, aber Mendel fühlte sich nicht verletzt und hatte daher auch nicht das Bedürfnis, verletzend 63
zurückzuschlagen. Er fragte sich vielmehr, warum Leonid, dessen Muttersprache das Russische war, eben Jiddisch gesprochen hatte, was er nur stokkend konnte. Gewiß, das Jiddische hat, wie jedermann weiß, einen enormen Reichtum an pittoresken, komischen oder derben Schimpfworten, jedes mit seiner besonderen Klangfarbe – das mochte eine Erklärung sein. »Ein Jude haut dir auf die Nase und schreit dann um Hilfe«, dachte Mendel, aber er sagte das Sprichwort nicht laut. Er sagte vielmehr, mit einer so ruhigen Stimme, daß es ihn selbst überraschte: »Schon recht, auch für mich ist es keine leichte Entscheidung, aber ich glaube, es ist die beste. Ein Mann muß seine Entscheidungen gut bedenken.« Und beziehungsreich fügte er an: »Auch seine Worte.« Leonid gab keine Antwort. Unterdessen war es fast dunkel geworden; Mendel hätte es vorgezogen, bei Nacht zu marschieren, aber der Weg war mühsam und schlecht bezeichnet. So schlug er vor, an Ort und Stelle zu biwakieren, der Abend war lau und die Nacht ohnehin nur kurz. Leonid nickte stumm mit dem Kopf, und Mendel war schon fast eingeschlafen, als sein Gefährte, wie in Fortsetzung einer schon lange begonnenen Rede, noch einmal zu sprechen anfing: »Mein Vater war Jude, aber nicht gläubig. Er war bei der Eisenbahn, dann wurde er in die Partei aufgenommen. Er hat 1920 den Krieg gegen die Weißen mitgemacht. Dann hat er mich auf die Welt gesetzt, und dann wurde er ins Gefängnis gesteckt und dann 64
auf die Solowki-Inseln geschickt, und da ist er nicht mehr wiedergekommen. So liegen die Dinge. Er hatte schon in den Kerkern des Zaren gesessen, bevor ich geboren wurde, aber aus denen ist er wiedergekommen. Auf die Solowki-Inseln ist er geschickt worden, weil sie sagten, er habe die Eisenbahn sabotiert: seine Schuld sei es gewesen, wenn die Züge nicht fuhren! Jetzt weißt du’s.« Nach diesen Worten drehte sich Leonid auf die Seite und kehrte Mendel den Rücken zu, als gäbe es nichts mehr zu sagen. Mendel fand es im ersten Moment eine seltsame Art, sich zu entschuldigen, aber im nächsten Moment gestand er sich ein, es war immerhin eine Art, sich zu entschuldigen. Er ließ ein paar Minuten verstreichen, dann fragte er leise: »Und deine Mutter?« »Jetzt laß mich in Ruhe«, grunzte Leonid. »Bitte, laß mich in Ruhe. Für diesmal reicht’s.« Er verstummte und rührte sich nicht mehr, aber Mendel spürte, daß er nicht schlief, sondern nur so tat. Ihn weiter zu drängen, wäre zwecklos gewesen, ja sogar ungut, wie wenn man einen frisch aufgesprossenen Pilz abpflückt: man hat nichts davon und hindert ihn bloß am Wachsen. Sie marschierten zwei Wochen lang, manchmal bei Tag und manchmal bei Nacht, bei Regen und bei glühender Sonne. Leonid tat den Mund nicht mehr auf, weder um zu erzählen noch um zu widersprechen: er fügte sich stumm in Mendels Entscheidungen, dumpf wie ein willenloser Sklave. 65
Sie stießen auf wenige Menschen, einmal auf ein verbranntes Dorf und immer öfter auf Spuren der vor ihnen ziehenden Bande: auf Asche von Lagerfeuern am Wegrand, auf Fußabdrücke im getrockneten Schlamm, auf Reste von Mahlzeiten, Abfälle, ein paar Scherben. Viel taten diese Leute offenbar nicht, um unbemerkt zu bleiben. Bei einer Lagerstätte fanden die beiden sogar einen Baum, dessen Stamm mit Kugeln gespickt war: jemand mußte sich hier im Schießen geübt haben, es sah fast aus wie ein Wettschießen. Selten waren sie daher gezwungen, sich bei den Bauern zu erkundigen: Ja, die Leute seien hier durchgekommen, aus dieser Richtung und in diese weitergezogen. Versprengte seien es gewesen, oder Deserteure, Partisanen oder Banditen, je nach der Ansicht des Befragten; aber alle gaben übereinstimmend an, daß es Leute gewesen seien, die ihres Weges zogen, ohne viel Ärger zu machen oder zuviel von den Bauern zu verlangen. Eines Abends war es soweit: Die beiden erreichten sie, sahen sie schon von weitem und hörten sie fast im gleichen Moment. Auf der Spitze eines Hügels angelangt, erblickten sie vor sich die trägen Schleifen eines mächtigen Flusses, sicher des Dnjepr, und nahe am Ufer, etwa in drei oder vier Kilometer Entfernung, den Schein eines Feuers. Sie stiegen den Hang hinunter und hörten vereinzelte Schüsse, Gewehr- und Pistolenschüsse; dann sahen sie rötliche Blitze, gefolgt vom tieferen Krachen explodierender Handgranaten. Ein Gefecht? Aber gegen 66
wen? Und wieso dann das Lagerfeuer? Oder war es vielleicht ein Streit, eine Schießerei zwischen zwei Fraktionen? In einer Pause zwischen den Schüssen hörten sie dann aber Lachen und fröhliches Rufen und den Klang einer Ziehharmonika: Es war kein Gefecht, es war ein Fest. Behutsam traten sie näher. Es gab keine Wachtposten, niemand hielt sie an. Rings um das Feuer saßen bärtige Männer, etwa dreißig, junge und ältere, alle verschieden gekleidet und bis an die Zähne bewaffnet. Die Ziehharmonika spielte ein flottes Liedchen, einige klatschten dazu den Takt mit den Händen, andere tanzten ausgelassen mit allen Waffen am Leib, stampften und wirbelten auf den Hacken herum und warfen zusammengekauert die Beine. Jemand mußte die beiden gesehen haben, denn plötzlich rief eine belegte, aber dröhnende Stimme absurderweise: »Seid ihr Deutsche?« »Nein, wir sind Russen«, sagten die beiden. »Dann setzt euch. Eßt und trinkt mit uns, tanzt! Der Krieg ist aus!« Und wie zur Bekräftigung folgte ein langer Feuerstoß aus einer Maschinenpistole in den feuergeröteten Nachthimmel. Gleich darauf schrie dieselbe Stimme, plötzlich wütend geworden, in die entgegengesetzte Richtung: »He, Stiopka, Sohn eines Raben, verdammter Idiot, bring Flaschen und Näpfe, siehst du nicht, daß wir Gäste haben?« Es war schon dunkel, aber man sah noch, daß es in diesem Lager, grob gesprochen, drei Zentren gab: das Feuer, um das ein lärmendes Treiben von 67
zechenden Männern war, ein großes Zelt, vor dem zwei angepflockte Pferde dösten, und etwas abseits ein Grüppchen schweigender junger Männer, die sich um etwas zusammendrängten. Der Mann mit der dröhnenden Stimme kam näher, in der Hand eine Wodkaflasche. Er war ein blonder junger Riese mit kurzem Bürstenhaar und einem lockigen Bart, der ihm weit auf die Brust hinabreichte. Er hatte ein schönes ovales Gesicht mit regelmäßigen, gut ausgeprägten Zügen, und er war so betrunken, daß er sich kaum auf den Beinen halten konnte. An seiner Uniform der Roten Armee trug er keine Rangabzeichen. »Na sdorowje!« sagte er und nahm einen Zug aus der Flasche. »Auf euer Wohl, wer immer ihr seid!« Dann reichte er ihnen die Flasche, sie tranken und erwiderten seinen Gruß. »Stiopka, du Faulpelz, kommst du jetzt endlich mit dieser Suppe?« schrie er nach hinten, drehte sich aber gleich wieder zu ihnen und sagte mit breitem Lächeln: »Nehmt’s ihm nicht übel, er hat vielleicht ein bißchen zuviel gebechert, aber er ist ein braver Kerl. Auch mutig ist er, jedenfalls für einen Koch. Nur flink ist er nicht, nein, flink ist er wirklich nicht. Ah, da kommt er ja! Hoffentlich ist die Suppe nicht unterwegs kalt geworden! Setzt euch und eßt, danach wollen wir hören, was es Neues gibt.« Entgegen der Meinung des Riesen wirkte der Koch weder sonderlich träge noch sonderlich dumm. »Nein, Wenjamin Iwanowitsch«, sagte er kopfschüt68
telnd, »es geht wirklich nicht mehr. Alle haben’s probiert, einer nach dem anderen, aber die Stimme wird immer schwächer. Man versteht nichts mehr, man hört nur noch das Rauschen.« »Nichtsnutze sind das, hol sie der Teufel! Grad heute müssen sie es kaputtmachen!« schimpfte Wenjamin. »Stellt euch vor, der Krieg ist aus, jeden Moment muß Stalin kommen und sagen, wir sollten alle nach Hause gehen, und da machen diese Hurensöhne das Radio kaputt … Ja wie denn, was denn, ihr wißt noch gar nichts? Die Amerikaner sind in Italien gelandet, wir haben Kursk zurückerobert, und Mussolini sitzt im Gefängnis! Jawohl, im Gefängnis, wie eine Amsel im Käfig, und reingesteckt hat ihn der italienische König! Los, Kameraden, trinkt nochmal: Auf den Frieden!« Leonid trank, und Mendel tat so, als ob, dann folgten sie Wenjamin zu dem Grüppchen der schweigenden jungen Männer, die sich um das Radio drängten. »Es ist genau das Gerät des Usbeken, das Bordfunkgerät aus dem Flugzeug«, murmelte Mendel zu Leonid, als er im Licht der Laternen das Markenzeichen erkannte. »Klar, daß es mit Batterien wie diesen nicht so lange gehen konnte. Es ist schon ein Wunder, daß es bis jetzt durchgehalten hat.« Er drängte sich zwischen den immer noch schimpfenden Wenjamin und die mit dem Empfang beschäftigten Jungen. Es kam zu einer lebhaften technischen Diskussion, die sich ein paar Minuten lang hinzog, ständig unterbrochen von Wenjamins polternden 69
Flüchen und den Einwürfen anderer Bärtiger, die neugierig nähergetreten waren, um zuzusehen und ihre Meinung zum besten zu geben. »Ich verstehe nicht viel von Radios«, knurrte Mendel zu Leonid, »aber die hier verstehen wirklich gar nichts davon.« Schließlich erhob sich der Vorschlag, man könnte vielleicht mal probieren, die Batterieflüssigkeit durch Wasser mit Salz zu ersetzen. Wenjamin machte ihn sich sofort zu eigen, rief nach Stiopka und gab ihm konfuse Befehle. Jemand brachte Wasser und Salz herbei, die Operation wurde vor gespannten Gesichtern in einer Atmosphäre fast religiöser Erwartung vollzogen, doch als die Batterien wieder eingesetzt waren, ließ das Gerät nur ein paar Sekunden lang krächzend ein dummes Gedudel ertönen und verstummte dann ganz. Wenjamin tobte und fuhr jeden an, der ihm in die Quere kam. Er starrte Leonid ins Gesicht, als sähe er ihn zum ersten Mal, und fauchte: »He, ihr beiden, wo kommt ihr eigentlich her? Russen? Also wie Russen seht ihr grad nicht aus, finde ich … Aber lassen wir das für heute, auch wenn ihr das Radio hingemacht habt, denn heute ist ein Festtag!« »Warten wir’s ab bis morgen, wenn er seinen Rausch ausgeschlafen hat«, murmelte Mendel zu Leonid. »Aber mir scheint, sehr gut aufgehoben sind wir hier nicht.« Am nächsten Morgen erwachten sie von den friedlichen Lagergeräuschen. Die Pferde grasten am Ufer des Flusses, nackte Männer badeten oder planschten 70
im seichten Wasser, andere flickten Kleider oder wuschen die Wäsche. Wieder andere lagen faul in der Sonne, und niemand schien sich um die beiden zu kümmern. Die meisten waren offenbar Russen, aber man hörte auch Rufe und Lieder in Sprachen, die Mendel nicht zu bestimmen vermochte. Am späten Vormittag kam Stiopka mit einer Bitte: »Wärt ihr mal so gut und würdet mir helfen? Da ist ein Kranker drüben im Zelt; er klagt und hat Fieber, ich weiß nicht mehr, was ich tun soll. Wollt ihr mal nach ihm sehen?« »Aber wir sind keine Ärzte«, wandte Leonid ein. »Auch ich bin kein Arzt, nicht mal Krankenpfleger, aber ich bin der Älteste hier, und seit ich meine Waffen verloren habe, als wir den Bahnhof von Klinzy überfielen, muß ich im Lager ein bißchen das Mädchen für alles spielen, nur in den Kampf muß ich nicht mehr. Manchmal spiele ich auch den Führer, weil ich diese Gegend gut kenne, besser als alle hier, sogar besser als Wenja. Ich habe schon 1918 die roten Partisanen geführt, genau in derselben Gegend, und es gibt keinen Weg, keine Furt, keine Straße hier, die ich nicht schon zigmal gegangen wäre. Nun ja, und so muß ich hier auch die Kranken pflegen, und dabei könntet ihr mir helfen. Der Ärmste hat Fieber, und sein Bauch ist hart wie ein Brett.« »Ich begreife nicht«, sagte Mendel, »warum du grad uns so drängst. Wir verstehen davon nicht mehr als andere.« Stiopka machte ein verlegenes Gesicht. »Weil ihr … 71
na ja, es heißt doch von euch, daß ihr seit Jahrhunderten … seit Jahrtausenden seid ihr besonders gut im …« »Wir sind nicht anders als ihr. Unsere Ärzte sind ebenso gut wie eure, nicht besser, nicht schlechter, und ein Jude, der kein Arzt ist und dennoch einen Kranken behandelt, kann ihn genauso falsch behandeln wie ein Christ. Ich kann dir nur sagen: ich bin Artillerist, und Leute mit offenem Bauch habe ich schon viele gesehen im Feuerhagel der Bombardements, und wer einen offenen Bauch hat, darf nichts trinken, aber das ist eine andere Geschichte …« An dieser Stelle griff Leonid ein: »Mir scheint, euer Chef ist einer, der weiß, wo’s lang geht: warum überläßt du die Sache nicht ihm? Es wird doch ein Ort oder Dorf in der Nähe sein, also bringt den Kranken rasch hin, es wird ihm dort sicherlich besser ergehen als hier im Lager, und ein Arzt wird sich schließlich finden.« Stiopka zuckte die Achseln. »Wenjamin Iwanowitsch weiß bei anderen Dingen, wo’s lang geht. Er ist couragiert wie ein Teufel, er kennt viele Schliche, und andere erfindet er, wenn er sie braucht, er weiß sich Respekt zu verschaffen, er weiß auch sich fürchten zu lassen, er ist nie verzagt und ist stark wie ein Bär. Aber er taugt nur zum Kampf. Außerdem trinkt er gern, und wenn er trinkt, ändert sich seine Laune von einem Moment auf den anderen.« Sie folgten Stiopka, um ihn nicht zu enttäuschen, an das Lager des Kranken. Es war ein Tatar, deser72
tiert aus den Hilfsmilizen der Deutschen und immer noch in deren Uniform. Sein Leiden, fand Mendel, war nicht so schlimm: er hatte zwar einen etwas gespannten Bauch, empfand aber keinen Schmerz beim Betasten, und auch sein Fieber konnte nicht allzu hoch sein. Er war in gutem Ernährungszustand, und so riet Mendel dem Koch, sich keine Sorgen zu machen, den Kranken einen Tag nüchtern zu halten und ihm keine Medizin zu geben. »Da besteht keine Gefahr«, sagte Stiopka, »Medizin haben wir sowieso nicht. Wir hatten ein wenig Aspirin, aber das ist aufgebraucht.« Beim Verlassen des Zeltes stießen sie unvermutet auf Wenjamin. Er war nicht wiederzuerkennen, weder als der dröhnende sorglose Gastgeber, trunken von Wodka und Siegestaumel, noch als das polternde große Kind voller Wut über das kaputte Radio. Nein, der da vor ihnen stand, war ein furchteinflößender Krieger, ein junger Recke mit raschen und zielgenauen Bewegungen, einem intelligenten Gesicht und einem durchdringenden, aber undurchdringlichen Blick. »Ein Adler«, dachte Mendel bei sich. »Vor dem muß man auf der Hut sein.« »Kommt mit!« sagte er zu den beiden mit ruhiger Autorität. Sie folgten ihm in einen Winkel des Zeltes, und er fragte sie aus, wer sie seien, woher sie kämen und wohin sie wollten. Er sprach im leisen und sicheren Ton eines Mannes, der weiß, daß man ihm gehorcht. »Ich bin Artillerist, er ist Fallschirmjäger. Wir sind 73
Versprengte, wir haben uns zufällig in den Wäldern von Brjansk getroffen. Man hat uns von euch erzählt, wir sind euch gefolgt und haben euch eingeholt.« »Wer hat euch von uns erzählt?« »Der Usbeke, der euch das Radio verkauft hat.« »Und warum seid ihr uns gefolgt?« Mendel zögerte einen Moment: »Weil wir uns … euch anschließen möchten.« »Habt ihr Waffen?« »Ja, ein leichtes Maschinengewehr, eine deutsche Pistole und etwas Munition.« Ohne den Ton zu ändern, fragte Wenjamin Leonid: »Und du? Warum redest du nicht?« Leonid antwortete verlegen, daß er Mendel reden ließe, weil Mendel der Ältere sei und die Waffen ihm gehörten. »Die Waffen gehören ihm nicht«, sagte Wenjamin. »Die Waffen gehören allen. Die Waffen gehören dem, der sie zu gebrauchen weiß.« Er schwieg eine Weile, als erwartete er eine Reaktion, aber da Mendel und Leonid ebenfalls schwiegen, fragte er schließlich weiter: »Warum wollt ihr euch uns anschließen? Antwortet einzeln, jeder für sich, zuerst du!« So direkt ausgefragt, fühlte sich Leonid wie gelähmt. Er kam sich auf einmal vor wie ein Schüler in einer Prüfung oder, schlimmer noch, wie damals in jenem demütigenden Verhör, dem er nach seiner Verhaftung und Einlieferung in die Lubjanka unterzogen worden war. Er murmelte etwas über die 74
Pflichten eines Soldaten und über seinen Wunsch, sich aus dem Dasein eines Versprengten zu lösen. »Du warst als Gefangener bei den Deutschen«, stellte Wenjamin fest. »Woher weißt du das?« fragte Mendel verblüfft. »Ich stelle hier die Fragen. Man sieht es doch an seinem Blick. Jetzt du, Artillerist: Warum willst du zu uns?« Mendel fühlte sich wie gewogen auf einer Waage, und es ärgerte ihn, so gewogen zu werden. Er antwortete: »Weil ich seit einem Jahr versprengt bin. Weil ich es müde bin, wie ein Wolf zu leben. Weil ich eine Rechnung zu begleichen habe. Weil ich glaube, daß unser Krieg ein gerechter Krieg ist.« Wenjamins Stimme wurde noch leiser: »Gestern, als ihr uns gefunden habt, war ein seltsamer Tag, ein schöner und schlimmer. Schön, weil die Nachricht, die ihr gehört habt, wahr ist, das Radio hat sie zweimal wiederholt: Mussolini ist gefallen. Aber das muß nicht heißen, daß der Krieg bald zu Ende sein wird; gestern abend haben wir’s uns einander in die Ohren geschrien, jeder überzeugte den anderen, und jeder ließ sich gern überzeugen, denn die Hoffnung ist ansteckend wie die Cholera. Gestern waren wir sozusagen auf Urlaub, aber wir kennen die Deutschen: Ich hab drüber nachgedacht heute nacht, ich glaube, der Krieg wird noch lange weitergehen. Und gestern war auch ein schlimmer Tag, denn gestern ging unser Radio kaputt, und das 75
ist schlimmer, als ihr denkt: ohne das Radio sind wir ein verwaister Haufen, taub und stumm. Ohne das Radio wissen wir nicht, wo die Front ist, und in Moskau wissen sie nicht, wo wir sind, und wir können die Flugzeuge nicht herbeirufen, die uns Nachschub abwerfen. Alles kam zu uns durch das Radio: die Medikamente, das Korn, die Waffen. Und mit den Nachrichten aus dem Radio kam auch der Mut. Und da man nicht leben kann ohne Korn, muß man sich’s, wenn es fehlt, von den Bauern holen, und so wird aus einem verwaisten Haufen eine Banditenbande. Dies alles müßt ihr wissen und gut bedenken, ehe ihr euch entscheidet. Und noch etwas müßt ihr wissen: Vor acht Monaten waren wir hundert, jetzt sind wir kaum noch vierzig. In unserem Krieg gleicht kein einziger Tag dem anderen; mal ist man reich, mal ist man arm, mal satt und mal hungrig. Und es ist kein Krieg für Leute mit schwachen Nerven: Wir kommen von weither und ziehen weit, und die Schwachen sind unterwegs gestorben oder davongegangen. Denkt drüber nach, und bevor ich euch eine Antwort gebe, werde auch ich drüber nachdenken.« Ein lautes metallisches Scheppern klang durch das Lager. Die Mittagssuppe war fertig, und um die Männer zusammenzurufen, schlug Stiopka mit einem Stein gegen ein Stück Eisen, das an einem Ast hing. Alle stellten sich hintereinander vor dem Kessel auf, auch Wenja, Mendel und Leonid, und der Koch teilte aus. Als beinahe alle gegessen hatten und 76
viele schon rauchend im Gras lagen, rief jemand vom Flußufer plötzlich herüber: »Da kommen Stämme!« Tatsächlich kamen da, langsam in der Strömung treibend, große Baumstämme ohne Äste den Fluß heruntergeschwommen, einzeln, in loser Folge. Wenjamin trat ans Ufer und spähte. »Wo kommen die her?« fragte er Stiopka. »Gewöhnlich kommen sie aus Smolensk, dreihundert Kilometer flußaufwärts. So hat man’s immer gemacht, es ist billiger, als sie mit der Bahn zu schikken. Sie treiben runter in die Ukraine, wo man sie für die Bergwerke braucht.« »So hat man’s immer gemacht, aber die Bergwerke arbeiten jetzt für die Deutschen«, sagte Wenjamin und rieb sich das Kinn. Im gleichen Moment erschien etwas Größeres in der Biegung des Flusses: es war ein Konvoi von zusammengebundenen Flößen, die nacheinander, zehn vielleicht an der Zahl, hinter der buschbestandenen Landzunge auftauchten. »Die müssen wir einfangen!« sagte Wenjamin. »Eine solche Arbeit hab ich noch nie gemacht, aber ich hab mal gesehen, wie sie gemacht wurde«, sagte Stiopka. »Ein Stück weiter unten, etwa einen Kilometer von hier, ist ein toter Seitenarm. Wenn wir schnell machen, sind wir rechtzeitig da. Aber wir brauchen Stangen.« Wenjamin war sofort Herr der Lage. Er ließ zehn Männer als Wachen im Lager zurück, schickte zehn andere mit Äxten los, um junge Bäumchen zu schlagen und glattzuschälen, und eilte mit den übri77
gen, darunter Mendel und Leonid, am Ufer entlang flußabwärts. Sie erreichten den toten Seitenarm vor den Stämmen, allerdings war der Konvoi schon in Sicht. »Schnell, wer ist der beste Schwimmer? Du, Wolodja!« Aber Wolodja, sei’s aus Ungeschick oder aus bösem Willen, kam nicht rasch genug aus den Stiefeln; er hockte zusammengekrümmt am Boden, das Gesicht ganz verzerrt vor Anstrengung, und Wenja verlor die Geduld: »Nichtsnutz! Taugenichts! Her mit der Stange!« Im Handumdrehen hatte er seine Stiefel und Kleider abgestreift und durchquerte halb watend, halb schwimmend mit seiner Stange den toten Arm, doch als er die schmale grasige Spitze erreichte, die den Fluß in zwei Arme teilte, trieben die Flöße gerade vorbei. Er fluchte und tauchte erneut in die Strömung, andere Männer mit Stangen folgten ihm; er schwamm so schnell er konnte den Flößen entgegen, verpaßte die ersten, konnte gerade noch rechtzeitig auf das letzte klettern und lenkte es mit seiner Stange so, daß es an die Böschung trieb und sich im Ufergestrüpp verfing. Aber man sah sofort, daß es da nicht sehr lange bleiben würde: die anderen Flöße, umspült von der trägen Strömung, zerrten heftig an der Verankerung, und einer allein würde ihnen kaum lange Widerstand leisten können. Atemlos schrie Wenja den Männern zu, sie sollten rasch jeder auf eins der Flöße klettern. Sie taten es, jeder stemmte mit aller Kraft seine Stange in den 78
schlammigen Grund, und so schafften sie es gemeinsam, den Konvoi vom Ufer wegzudrücken, ihn gegen den Strom zurückzustemmen, die Flöße langsam um die Spitze herum zu bugsieren und schließlich erfolgreich ins stehende Wasser des Toten Arms zu treiben. »Da können sie vorerst bleiben«, sagte Wenjamin, als er sich wieder anzog. »Mal sehen, vielleicht ziehen wir sie später ans Ufer und zünden sie an. Hauptsache, sie gelangen nicht in die Bergwerke. Marsch ins Lager zurück!« Auf dem kurzen Rückweg ging Mendel an seiner Seite und gratulierte ihm. »Ich weiß, ich weiß, für die Deutschen ist das kein großer Verlust«, erwiderte Wenjamin. »Aber für Männer wie diese hier ist nichts schlimmer als Untätigkeit. Und nichts besser als ein gutes Beispiel. Trocknet euch ab, ihr beiden, und kommt dann zu mir ins Zelt.« Im Zelt kam Wenjamin gleich zur Sache: »Ich habe drüber nachgedacht, es ist keine leichte Entscheidung. Seht ihr, auf unsere Art sind wir Spezialisten: Wir kennen die Gegend, wir sind erfahren und gut aufeinander eingespielt. Euch bei uns zu haben wäre eine Verantwortlichkeit. Zugegeben, ihr seid vielleicht gute Kämpfer. Wir aber, seht ihr, sind weniger Kämpfer als Männer der Nachhut, wir sind Störer und Saboteure. Jeder von uns hat bestimmte Aufgaben, die man nicht in ein paar Tagen erlernt. Und außerdem …« 79
»Vorhin hast du nicht so gesprochen«, sagte Mendel. Wenjamin senkte die Augen. »Nein, vorhin hab ich nicht so gesprochen. Sieh mal, ich persönlich habe nichts gegen euch. Ich hatte seit meiner Kindheit jüdische Freunde, und andere hatte ich als Kameraden im Ausbildungslager von Woronez, und ich weiß sehr wohl, daß ihr nicht anders seid als die anderen, nicht besser, nicht schlechter, manchmal vielleicht sogar etwas …« »Mir genügt das«, erklärte Leonid. »Wenn du uns nicht haben willst, gehen wir, und es wird besser für alle sein. Wir werden nicht auf die Knie fallen, um …« »Aber ich«, unterbrach ihn Mendel, »will von dir wissen, was seit vorhin geschehen ist.« »Nichts ist geschehen, gar nichts, kein Vorfall. Nur habe ich einige reden hören, und …« »Wir sind Soldaten, du und ich. Wir tragen die gleiche Uniform, und darum will ich jetzt von dir wissen, wer da geredet hat und was.« »Wer geredet hat, werde ich dir nicht sagen, es war nicht nur einer. Ich persönlich würde euch schon aufnehmen, aber ich kann meine Leute nicht hindern, dumm zu reden, und ich weiß nicht, ob ihr hier sicher wärt. Es gibt bei uns Leute mit unterschiedlichen Ansichten und mit rascher Hand.« Mendel beharrte: er wollte Wort für Wort hören, was Wenjamins Leute gesagt hatten, und weil er nicht locker ließ, wiederholte es Wenjamin schließ80
lich mit angeekelter Miene, als spucke er einen ungenießbaren Brocken aus: »Sie sagten, sie könnten die Juden nicht leiden, schon gar nicht, wenn sie bewaffnet seien.« Leonid fuhr dazwischen: »Genug jetzt, wir gehen, und du kannst deinen Leuten sagen, in Warschau haben bewaffnete Juden letzten April den Deutschen länger standgehalten als ’41 die ganze Rote Armee. Und dabei waren sie noch nicht mal gut bewaffnet und hatten Hunger und kämpften inmitten von Toten und hatten keine Verbündeten.« »Woher weißt du das?« fragte Wenjamin. »Warschau ist nicht so weit, und Nachrichten gehen auch ohne Radio durchs Land.« Wenjamin trat vor das Zelt, sprach leise mit Stiopka und Wolodja, kam wieder herein und sagte: »Eigentlich müßte ich euch die Waffen abnehmen, aber ich lasse sie euch. Ihr habt gesehen, wer wir sind und wo wir sind, eigentlich dürfte ich euch nicht gehen lassen, aber ich lasse euch gehen: ein Tag mit uns ist wenig gewesen, aber vielleicht wird euch das, was ihr bei uns gesehen habt, helfen. Geht, und haltet die Augen offen. Und geht nach Nowoselki.« »Warum nach Nowoselki? Wo ist das?« »In der Schleife des Ptitsch, hundertzwanzig Kilometer westlich von hier, in den Sümpfen von Polesje. Dort soll ein Dorf von bewaffneten Juden sein, mit Männern und Frauen. Die Waldhüter haben davon erzählt, die kommen überall herum und wissen 81
alles, sie sind unser Telegraph und unsere Zeitung. Vielleicht könnt ihr dort eure Waffen gebrauchen. Bei uns könnt ihr nicht länger bleiben.« Die beiden verabschiedeten sich, überquerten den Dnjepr auf einem Floß aus vier zusammengebundenen Stämmen und zogen weiter. Sie marschierten zehn Tage lang. Das Wetter war schlecht geworden, es regnete häufig, bald in plötzlichen Güssen, bald in einem feinen und allesdurchdringenden Nieseln, das beinahe wie Nebel war. Die Wege waren schlammig, und aus den Wäldern strömte ein scharfer Geruch von Pilzen, der schon den Herbst ahnen ließ. Die Nahrung wurde allmählich knapp, sie mußten sich nachts bei den spärlichen Bauernhöfen aufhalten, um Kartoffeln und Rüben auszugraben. Es gab zwar reichlich Beeren im Wald, Heidelbeeren und Erdbeeren, aber nach ein bis zwei Stunden Pflücken wuchs der Hunger, statt abzunehmen; der Hunger und damit auch Leonids Ärger: »Das Zeug ist gut für Schulkinder in den Ferien. Es reizt den Magen, statt ihn zu füllen.« Mendel grübelte über die Nachrichten, die er in Wenjamins Lager gehört hatte. Was war von ihnen zu halten? Für sich genommen, ohne erläuternden Kommentar und ohne weitere Informationen, die eine globale Bewertung erlaubten, waren sie aufreizend wie die Beeren und ließen den Kopf genauso hungrig wie jene den Magen. Mussolini gestürzt, der König erneut an der Macht? Was ist ein König? 82
So eine Art Zar, bigott und korrupt, ein Wesen aus einer anderen Zeit, eine Märchenfigur mit Purpurmantel und Helmbusch und Degen, hochfahrend und herzlos; doch dieser König von Italien mußte ja wohl ein Verbündeter sein, ein Freund, wenn er Mussolini eingesperrt hatte. Schade, daß es in Deutschland nicht mehr den Kaiser gab, sonst hätte der Krieg vielleicht wirklich bald aus sein können, wie Wenjamin in seiner Trunkenheit meinte. Daß der Faschismus in Italien gefallen war, sicher, das war eine gute Nachricht, aber welche Bedeutung mochte sie haben? Es war schwer, sich ein Bild zu machen: in den Artikeln der Prawda war das faschistische Italien mal als gerissener und gefährlicher Gegner beschrieben worden und mal als verächtlicher, feiger Schakal im Gefolge der deutschen Bestie. Gewiß, die italienischen Truppen am Don hatten nicht viel Widerstand geleistet, sie waren schlecht ausgerüstet und schlecht bewaffnet gewesen und hatten kaum Lust zu kämpfen, das wußte jeder. Vielleicht hatten auch sie schon genug von Mussolini, und der König hatte dem Willen des Volkes entsprochen. Aber in Deutschland gab’s keinen König, dort gab’s nur Hitler. Besser also, sich keine Illusionen zu machen. Wenn ein König jedoch eine Märchenfigur ist, dann ist ein König von Italien doppelt märchenhaft, denn Italien ist selber ein Märchen. Es war unmöglich, sich ein konkretes Bild zu machen: Wie paßten all diese Widersprüche in ein und denselben Rahmen – der Vesuv und die Gondeln, Pompeji und Fiat, die 83
Scala in Mailand und die Mussolini-Karikaturen im Krokodil, wo er als eine Art Straßenräuber dargestellt wurde, mit Hyänenmaul und Quastenmütze, mit Kapitalistenwanst und einem Dolch in der Faust? Und doch war es grad dieser König, der ihn … nein, wirklich, wer sollte das begreifen? Mendel hätte ein Vermögen gegeben, um ein Radiogerät zu bekommen, aber das war natürlich bloß so eine Redensart, denn in Wahrheit hatte er nichts mehr zu tauschen, nur noch die Pistole und das MG, und die wollte er lieber behalten. Ob es auch Juden gab in Italien? Wenn ja, dann mußten es seltsame Juden sein: Wie kann man sich einen Juden in einer Gondel vorstellen oder auf dem Vesuv? Trotzdem mußte es welche dort geben, es gab ja sogar in Indien und China welche, und es war nicht gesagt, daß es ihnen dort schlecht ging. Es war erstmal abzuwarten, ob die Zionisten von Kiew und Charkow recht hatten, die immer sagten, den Juden ginge es nur in Eretz Israel gut und darum sollten sie weggehen aus Italien, aus Rußland, aus Indien und China, und sich alle dort unten versammeln, um Orangen zu züchten und Hebräisch zu lernen und im Kreis miteinander die Hora zu tanzen. Vielleicht lag es an seiner Müdigkeit, vielleicht an der feuchten Luft, jedenfalls begann die Narbe in Mendels Haaren wieder zu jucken. Leonids Stiefel waren zerrissen, und seine Füße quatschten bei jedem Schritt im Wasser und Schlamm. Mendel spürte in seinem Rücken Leonids mürrische Gegenwart, 84
das Gewicht seines Schweigens: sie behinderten ihn beim Gehen mehr als der Schlamm. Es war nicht mehr nur der Schlamm vom Regen, der furchtbare Schlamm, der vom Himmel kommt und den man in seiner Jahreszeit dankbar annehmen muß: je weiter die beiden nach Westen vordrangen, desto öfter stießen sie auf einen anderen Schlamm, einen immerwährenden, allesbeherrschenden, der aus der Erde kam und nicht vom Himmel. Der Wald hatte sich gelichtet, weite offene Flächen taten sich auf, aber nirgendwo fanden sich Spuren von Menschenhand. Der Boden war nicht mehr schwarz und lehmig, sondern jetzt leichenblaß; feucht zwar, aber mager und sandig, und das Wasser schien aus seiner innersten Tiefe hervorzuquellen. Dennoch war er nicht unfruchtbar: Schilf und Rohrgras wuchsen darauf und üppige Blumen, die Mendel noch nie gesehen hatte, und breite Flechten, die sich dicht auf die Erde duckten, als hätten sie keine Freude am Himmel. Man versank bis über die Knöchel im Boden oder im fauligen Laub. Leonid zog sich die unnütz gewordenen Stiefel aus, und Mendel tat es ihm nach; zwar hielten die seinen noch gut, aber es wäre schade gewesen, sie abzunutzen. Am siebten Tag ihrer Wanderung wurde es zum Problem, ein trockenes Fleckchen zum Übernachten zu finden, obwohl der Regen aufgehört hatte. Am achten Tag wurde es schwierig, die Richtung zu halten; sie hatten keinen Kompaß, der Himmel hellte sich immer seltener auf, und der Weg wurde immer 85
öfter von großen Wasserpfützen unterbrochen, die zwar nicht tief waren, aber sie doch zu mühsamen Umwegen zwangen. Es waren Tümpel mit klarem, modrig riechendem Wasser, auf denen dicke runde Blätter schwammen, fleischige Blumen und hin und wieder ein Vogelnest. Sie suchten vergeblich nach Eiern, es gab keine Eier, nur ein paar zerbrochene Schalen und faulige Federn. Dafür gab es Frösche in großen Mengen, ausgewachsene, handgroße Frösche, Kaulquappen und girlandenartige Bänder von klebrigen Froscheiern. Sie fingen sich einige ohne Mühe, rösteten sie auf Stöckchen und aßen sie, Leonid mit der wilden Gier des ausgehungerten Jungen, Mendel mit einer leichten Verwunderung über die Spur von atavistischem Ekel vor verbotenem Fleisch, den er dabei empfand. »Wie in Ägypten zu Mosches Zeiten«, sagte er, um ein Gespräch anzufangen. »Aber ich habe nie begriffen, wie sie eine Plage sein konnten: die Ägypter hätten sie doch essen können, so wie wir es jetzt tun.« »Die Frösche waren eine Plage?« fragte Leonid kauend. »Die zweite Plage: Dam, Tsefardéa’ … Tsefardéa’ sind die Frösche.« »Und was war die erste?« »Dam, das Blut«, antwortete Mendel. »Das Blut haben wir schon gehabt«, sagte Leonid nachdenklich. »Und die anderen? Die danach kommen?« Um der Erinnerung aufzuhelfen, fing Mendel an, 86
den Abzählreim vorzusingen, den man zum Passahfest rezitiert, um die Kinder zu unterhalten: »Dam, Tsefardéa’, Kiním, ’Arov …« Dann übersetzte er ihn ins Russische: Blut, Frösche, Mücken, Ungeziefer, Krätze, Pestilenz, Hagel, Heuschrecken … Doch er unterbrach sich, bevor er ans Ende gekommen war, um Leonid zu fragen: »Hast du denn als Kind nie Passah gefeiert?« Er bereute die Frage sofort. Ohne im Kauen innezuhalten, hatte sich Leonid abgewandt, sein Blick war starr und düster geworden. Nach einer Weile sagte er leise, scheinbar ohne jeden Zusammenhang: »Als mein Vater auf die Solowki-Inseln verbannt worden war, hat meine Mutter nicht auf ihn gewartet. Jedenfalls nicht lange. Sie hat mich in ein Waisenhaus gebracht und ist fortgegangen, um mit einem anderen zu leben, und hat sich nicht mehr um mich gekümmert. Sie kam mich zwei- oder dreimal im Jahr besuchen, zusammen mit diesem anderen. Er war auch Eisenbahner, und er redete immer nur leise. Vielleicht fürchtete er, auch auf den SolowkiInseln zu landen; er fürchtete sich vor allem. Soweit ich weiß, leben sie heute noch zusammen. Und ich hab jetzt genug davon. Genug vom Wandern, ohne zu wissen, wohin. Genug von Blut und von Fröschen und allem. Ich möchte hierbleiben, ich möchte sterben.« Mendel gab keine Antwort: ihm wurde klar, daß sein Gefährte keiner von denen war, die sich mit Worten trösten lassen; vielleicht ließ sich niemand, 87
der eine solche Geschichte hinter sich hatte, mit Worten trösten. Trotzdem fühlte er sich ihm gegenüber irgendwie schuldig, als hätte er etwas versäumt – wie wenn man einen in flachem Wasser ertrinken sieht, aber er schreit nicht um Hilfe, und weil er nicht um Hilfe schreit, läßt man ihn eben ertrinken. Um ihm zu helfen, müßte man ihn verstehen, und um ihn zu verstehen, müßte er reden, aber dieser hier redete immer nur so wie eben, ein paar knappe Worte und dann wieder Schweigen, mit einem Blick, der dem Blick des anderen auswich. Er war bereit zu verletzen, und er war bereit, sich verletzen zu lassen. Und wenn nun Mendel versucht hätte, ihn zu zwingen? Das konnte gefährlich sein, wie wenn man eine Schraube schlecht in das Gewinde eingesetzt hat und den Widerstand spürt: zwingt man sie mit dem Schraubenzieher hinein, so kann das Gewinde zerbrechen, und die Schraube ist hin. Hat man aber Geduld und beginnt von vorne, so läßt sie sich mühelos eindrehen und sitzt schön fest. Geduld muß man haben, auch mit dem, der keine hat. Besonders mit dem, der keine hat. Der sie verloren hat. Der sie nie gehabt hat. Der weder die Zeit noch den Stoff gehabt hat, sie sich zu schaffen. Mendel wollte schon sagen: »Wenn du wirklich sterben möchtest, wird’s dir an Gelegenheiten nicht fehlen«; statt dessen sagte er: »Laß uns jetzt schlafen. Für diesmal wenigstens haben wir unsere Mägen gefüllt.« Am neunten Tag ihrer Wanderung war der Weg praktisch nicht mehr zu sehen, man konnte ihn nur 88
noch bisweilen erkennen, auf den Sandbänken zwischen den Tümpeln, und die Tümpel wurden von Mal zu Mal breiter und flossen zu Teichen und Seen zusammen. Der Wald bestand nur noch aus einzelnen Baumgruppen, und der Horizont hinter ihnen war noch niemals so weit gewesen, seit die beiden sich auf die Reise gemacht hatten. Weit und trübe, erfüllt vom intensiven Modergeruch der Binsendickichte; auf den reglosen Wasserflächen spiegelten sich in klaren Konturen die reglosen Schäfchenwolken am Himmel. Beim planschenden Schritt der beiden Männer flatterten ein paar Enten schnatternd auf aus dem Rohr, doch Mendel wollte nicht schießen, um keine Munition zu vergeuden und um ihre Anwesenheit nicht zu verraten. Ein hölzernes Bauwerk tauchte auf. Als sie es erreicht hatten, sahen sie, daß es eine Wassermühle war, verlassen und halb verfallen; das rostige Speichenrad tauchte in einen brackigen Wasserlauf, der sich gemächlich durch die Sümpfe wand. Es mußte der Ptitsch sein, und demnach konnte es nicht mehr weit sein bis Nowoselki. Jenseits des Flusses wurde der Boden fester, und in der Ferne zeichnete sich eine flache Erhöhung ab, bewachsen mit dunklen Bäumen, Eichen oder Erlen. Die beiden fanden sogar einen alten Holzfällerweg, der mit toten Blättern und Brombeeren übersät war. Mendel schlüpfte wieder in seine Stiefel, Leonid wickelte sich seine Fußlappen um die Füße, um sie vor Dornen zu schützen. Nach einer halben Stunde rief er plötzlich: »He, sieh mal, was ich hier habe!« 89
Mendel drehte sich um und sah eine Puppe in seiner Hand, ein kleines armseliges Kinderpüppchen, rosa und nackt und mit nur einem Bein. Er hielt es sich an die Nase und roch einen zarten Geruch von Kindheit, den längst vergessenen Geruch von Kampfer und Zelluloid, und für einen Augenblick kamen ihm, plötzlich heraufbeschworen durch diesen Geruch, seine Schwestern in den Sinn, die kleine Freundin der Schwestern, die seine Frau werden sollte, Strelka, die Grube … Er schwieg und schluckte, dann sagte er mit flacher Stimme zu Leonid: »Solche Dinge findet man nicht in den Wäldern.« Rechts neben dem Weg war eine Lichtung, und auf der Lichtung sahen sie einen Mann. Er war groß und hager, schmalbrüstig und bleich. Als er sie erblickte, versuchte er ungeschickt zu entfliehen oder sich zu verstecken. Sie riefen ihn an, und da blieb er stehen. Seine Kleidung bestand aus Lumpen, und an den Füßen trug er Sandalen, die aus Autoreifen geschnitten waren; in der Hand hielt er ein Bündel Kräuter. Er sah nicht aus wie ein Bauer. Sie sprachen ihn an: »Ist hier das Dorf der Juden?« »Hier ist kein Dorf«, antwortete der Mann. »Bist du denn kein Jude?« »Ich bin ein Flüchtling«, sagte er, doch sein Akzent verriet ihn. Leonid streckte die Puppe vor. »Und das hier, wo kommt das her?« Der Blick des Mannes ging ein paar Zentimeter zur Seite: hinter Leonids Rücken kam jemand näher. 90
Es war ein Kind, ein kleines Mädchen, dunkelhaarig und schmal; es nahm ihm die Puppe aus der Hand und sagte sehr ernst: »Das ist meine. Gut, daß du sie gefunden hast.«
Drittes Kapitel August – November 1943
Es sei eigentlich kein Dorf, sondern eher eine »Republik der Sümpfe«, erklärte nicht ohne Stolz der Mann, zu Mendel gewandt. Eher ein Lager, ein Unterschlupf oder eine Festung, und sie beide wären bestimmt willkommen, denn kräftige Arme zum Zupacken gebe es nicht viele, und Männer, die mit Waffen umzugehen wüßten, noch weniger. Er hieß Adam. Da es langsam dunkel wurde, rief er die Kinder zusammen, die am Rande der Lichtung Kräuter suchten. Mendel und Leonid forderte er auf, ihm zu folgen. Die Kinder, Jungen und Mädchen zwischen fünf und zwölf Jahren, zählten ungefähr auf ein Dutzend; ein jedes von ihnen hatte ein Bündel Kräuter gesammelt und zu kleinen Sträußchen zusammengebunden. »Bei uns muß sich jeder nützlich machen, auch die Kinder. Es gibt Heilkräuter, die gut sind gegen bestimmte Krankheiten, andere, die man essen kann, roh oder gekocht: Kräuter, Beeren, Wurzeln. Wir haben ihnen beigebracht, wie man sie unterscheidet. Viel mehr bringen wir ihnen allerdings nicht bei.« Sie machten sich auf den Weg. Die Kinder beobachteten die beiden Soldaten mit mißtrauischer Neugier, stellten aber keine Fragen und sprachen auch untereinander nicht. Mit ihren rastlosen Augen glichen 92
sie scheuen wilden Tierchen. Ohne irgendeinen Befehl von Adam stellten sie sich in Zweierreihen auf und setzten sich in Richtung auf die Anhöhe in Bewegung, wobei sie offenbar einer vertrauten Piste folgten. Auch sie trugen die aus Autoreifen geschnittenen Sandalen, und um den Leib schlotterte ihnen alte, abgerissene Militärkleidung. Das Mädchen, das seine Puppe wiedergefunden hatte, drückte sie wie zur Verteidigung fest an seine Brust, es sprach aber nicht mit ihr und schaute sie auch nicht an: mit den ruckartigen und unruhigen Bewegungen eines Vogels blickte es ab und zu um sich. Adam dagegen war redselig und zum Zuhören aufgelegt. Fünfundfünfzig Jahre sei er alt, und damit der Älteste im Lager, und deshalb habe er sich um die Kinder zu kümmern. Frauen gebe es, ja, aber die würden bei schwereren Arbeiten gebraucht; eine davon sei seine Tochter. Bevor er jedoch weitere Fragen beantwortete, wollte er doch die Geschichte der beiden Neuankömmlinge hören. Mendel gab ihm bereitwillig und weitschweifig Auskunft, Leonid in wenigen knappen Worten. Er, Adam, kam von weit her. Er war in Minsk Textilarbeiter gewesen und seit dem sechzehnten Lebensjahr im »Bund«, der jüdischen Gewerkschaft, organisiert. Er hatte noch die Gefängnisse des Zaren kennengelernt, was ihn dann auch nicht vor dem Fronteinsatz im ersten Weltkrieg bewahrt hatte. Wer im Bund organisiert war, galt aber als Menschewik, und deshalb war er 1930 angeklagt und wieder ver93
haftet worden. Das war nicht schön gewesen, man hatte ihn in eisige Zellen gesperrt oder in brütend heiße, da er gestehen sollte, daß er vom Ausland bestochen war. Zwei Verhöre hatte er durchgehalten, dann hatte er sich die Pulsadern aufgeschnitten. Die wurden ihm aber wieder zusammengeflickt, weil er geständig werden sollte. Zwei Wochen lang hatte man ihn dann nicht eine Stunde schlafen lassen, und da hatte er alles gesagt, was die Richter hören wollten. Er hatte dann noch zwei Jahre im Gefängnis abgesessen, und drei weitere Jahre wurde er in die Verbannung geschickt, nach Wologda, auf halber Strecke zwischen Moskau und Archangelsk. Das war besser als im Gefängnis, er arbeitete in einer Kolchose, und eben dort hatte er Kräuter bestimmen gelernt. Es gab davon mehr, als die Städter so glaubten: so kann selbst die Verbannung ihr Gutes haben. Im Sommer sind die Kräuter wichtig, ein bißchen Substanz haben sie, auch wenn man sie nicht anmacht. Im Winter freilich ist es etwas anderes, an den Winter dachte man besser nicht. Als die Zeit der Verbannung um war, hatte man ihn nach Hause geschickt, aber dann war der Krieg ausgebrochen, und nach wenigen Tagen schon standen die Deutschen vor Minsk. Ja, und hier fühlte Adam eine Last auf seinem Gewissen, denn er und alle, die so alt waren wie er, hatten die allgemeine Unruhe abzuwiegeln versucht: gute Soldaten waren die Deutschen wohl, dabei aber doch anständige Menschen. Warum sich also verstecken oder fliehen? 94
Äußerstenfalls würden sie den Bauern ihr Land zurückgeben. Jene Deutschen aber hatten dann in Minsk etwas angerichtet, was er nicht erzählen konnte, wollte und auch nicht durfte: »Das ist nämlich oberstes Gesetz in unserer Republik. Wollten wir uns dauernd gegenseitig erzählen, was wir erlebt haben, dann würden wir verrückt. Wir müssen aber schlau sein, alle, auch die Kinder. Und deshalb bringen wir ihnen außer dem Kräuterbestimmen auch das Lügenerzählen bei, denn wir haben Feinde überall, nicht nur die Deutschen.« Während er so sprach, waren sie im Lager angekommen. Dieses Gebilde mit einem einzigen Wort zutreffend zu kennzeichnen, wäre schwergefallen, denn Mendel hatte so etwas weder je gesehen noch für möglich gehalten. Auf jeden Fall war es mehr ein Unterschlupf als eine Festung. Auf der Anhöhe, die sie schon von weitem gesehen hatten und die sich kaum mehr als zwanzig Meter über die Ebene ringsum erhob, lag zwischen dichten Bäumen versteckt ein ehemaliges Kloster. Es bestand aus einem zweistöckigen Backsteinbau, der an den drei Seiten eines Quadrats entlanglief. An den beiden Ecken standen zwei plumpe Türme, deren einer noch die Reste eines Glockenstuhls trug, während der andere, eingefallen und in Holz wiederaufgebaut, als Wachturm gedient haben mußte. Unweit davon, an der freien Seite des Quadrats, lag die ehemalige Klostermeierei, ein Bau aus kaum behauenen Baumstämmen mit großem Einfahrtstor und winzigen Fenstern. 95
Mehr als von den Bäumen versteckt war das Kloster förmlich von ihnen belagert. Von den drei Gebäudeflügeln war nur einer noch intakt, die anderen beiden trugen die Spuren mehrfacher Zerstörung. Das ursprünglich ziegelgedeckte Dach war an mehreren Stellen eingestürzt und notdürftig mit Stroh und Schilfrohr ausgebessert. Auch in den Außenmauern waren große Breschen, durch die man in das Innere voller Trümmer sehen konnte. Das ganze mußte wohl jahrzehntelang so verlassen dagelegen haben, wahrscheinlich seit dem Bürgerkrieg, denn Erlen, Eichen und Weiden wuchsen dicht an den Mauern hinauf, und einige hatten sogar innen, zwischen den Trümmern, Wurzeln geschlagen und streckten nun durch die Löcher im Dach ihre Äste dem Licht entgegen. Es war jetzt fast dunkel. Adam ließ die beiden draußen im Hof warten, der ganz von niedergetretenem Unkraut bedeckt war. Bald schon kam er zurück und führte sie in einen Raum, dessen Fußboden mit Stroh und Stengeln von Sonnenblumen ausgelegt war und wo schon viele Leute im Sitzen und im Liegen warteten. Auch die Kinder kamen herein, und im Halbdunkel wurde an alle eine Kräutersuppe verteilt. Es gab kein Licht. Zwei Frauen richteten die Kinder für die Nacht her. Adam kam noch einmal zurück und ermahnte die beiden Neuankömmlinge, keine Streichhölzer anzuzünden. Mendel und Leonid fühlten sich beschützt und geborgen. Sie waren müde: nur ein paar Minuten lang nahmen sie noch bewußt 96
das Geflüster ihrer Nachbarn wahr, dann glitten sie in die Bewußtlosigkeit des Schlafs hinüber. Am nächsten Morgen erwachte Mendel mit dem freudigerregten Gefühl, in einer anderen Welt, in einer anderen Zeit zu sein: vielleicht mitten in der Wüste, auf vierzigjährigem Marsch ins Gelobte Land, vielleicht innerhalb der Mauern Jerusalems unter römischer Belagerung, vielleicht auch in der Arche Noah. In dem Raum hielten sich jetzt außer ihnen beiden nur noch zwei Männer und eine Frau auf, alle mittleren Alters und anscheinend krank. Sie sprachen nicht Russisch und auch nicht Jiddisch, sondern einen polnischen Dialekt. Kindergesichter, vielleicht dieselben wie am Vorabend, schauten neugierig und stumm bei der Tür herein. Ein schmächtiges junges Mädchen mit geschultertem Maschinengewehr trat ein, sah die beiden Fremden kurz an und ging gleich wieder hinaus, ohne eine Frage an sie zu richten. Ringsum hörte man einen Wirrwarr leiser Geräusche, wie von Mäusen auf dem Speicher: kurze Rufe, Hammerschläge, das Quietschen einer Brunnenkette, den heiseren Schrei eines Hahns. Unter den feuchten Lufthauch aus den Sümpfen und Wäldern, der durch die offenstehenden Fenster hereinstrich, mischte sich ein anderer, ungewohnter und säuerlicher Geruch nach Drogerie, nach Verkokeltem, nach schlecht gelüfteten Hinterzimmern und nach Elend. Etwas später kam Adam und forderte die beiden auf, ihm zu folgen: Dov, ihr Chef, erwarte sie, in der »Kommandostelle«, setzte er stolz hinzu. Das 97
war ein kleiner, mit Tannenholzbrettern ausgetäfelter Raum in der ehemaligen Meierei, der zur Hälfte von einem gemauerten Ofen ausgefüllt wurde. Auf und neben dem Ofen standen drei Liegen, neben der Tür ein aus ungehobelten Brettern zusammengenagelter Tisch, weiter nichts. Auch der Stuhl, auf dem Dov saß, sah solide, aber plump aus: handwerkliches Geschick hatte hier nur notdürftig den Mangel an Werkzeugen ausgleichen können. Dov war mittleren Alters, nicht sehr groß, aber kräftig, und hatte breite Schultern: ohne wirklich bucklig zu sein, war sein Rücken krumm, und er hielt den Kopf gesenkt, als habe er eine Last zu tragen. Daher sah er seinen Gesprächspartner von unten herauf an, wie über den Rand einer imaginären Brille hinweg. Früher mußten seine Haare blond gewesen sein, jetzt waren sie fast völlig weiß, aber noch dicht: er trug sie sorgfältig gekämmt und gescheitelt. Große, kräftige Hände hingen ihm, wenn er sprach, reglos von den Unterarmen herab, und ab und zu schaute er sie an, als gehörten sie nicht zu ihm. Er hatte einen viereckigen Schädel, festen Blick, verbrauchte, aber aufrichtige und energische Gesichtszüge und sprach sehr langsam. Er ließ die beiden auf der Liege neben dem Ofen Platz nehmen und sagte: »Aufgenommen hätte ich euch auf jeden Fall, um so besser, daß ihr Soldaten seid. Leute, die hier Schutz suchen, haben wir schon mehr als genug. Auch von weither kommen sie, um sich hier in Sicherheit zu 98
bringen. Unrecht haben sie ja nicht, im Umkreis von tausend Kilometern ist das hier der sicherste Ort für einen Juden. Was aber nicht heißt, daß der Ort sicher wäre. Das ist er ganz und gar nicht: wir sind schwach, schlecht bewaffnet, und einem ernsthaften Angriff könnten wir nicht standhalten. Auch sind wir zu viele: wir wissen nicht einmal genau, wie viele wir eigentlich jeweils sind. Täglich gehen welche, andere kommen. Augenblicklich sind wir rund fünfzig. Nicht alles Juden, es sind zwei oder drei polnische Bauernfamilien darunter. Die ukrainischen Nationalisten haben ihnen Vorräte und Vieh geraubt und ihnen die Häuser in Brand gesteckt. Da haben sie es mit der Angst bekommen und sind hierher geflüchtet. Die Juden kommen aus den Gettos oder sind aus den Arbeitslagern der Deutschen geflohen. Jeder einzelne hat eine grauenhafte Geschichte hinter sich. Es sind Alte, Frauen und Kinder unter uns. Nur eine Handvoll junger Leute weiß mit Waffen umzugehen.« »Was für Waffen habt ihr?« fragte Mendel. »Nur wenige. Ein Dutzend Handgranaten vielleicht, ein paar Pistolen und ein schweres Maschinengewehr mit Munition für fünf Minuten Feuer. Zum Glück haben sich die Deutschen hier in der Gegend noch kaum blicken lassen. Ihre besten Truppen sind an der Front eingesetzt, und die ist einige hundert Kilometer entfernt. In dieser Gegend gibt es bloß hier und da eine verstreute Garnison, die für Nachschub und Arbeitskräfte sorgt und die Straßen 99
und Eisenbahnwege überwacht. Gefährlicher sind schon die Ukrainer. Die Deutschen haben sie ihren Truppen eingegliedert und bewaffnet, und sie indoktrinieren sie. Als ob das nötig wäre! Seit jeher sehen die Ukrainer Polen und Juden als ihre natürlichen Feinde an. Der beste Schutz für das Lager sind die Sümpfe ringsum. Sie erstrecken sich kilometerweit in alle Richtungen, und um sie zu durchqueren, muß man sie sehr genau kennen. An einigen Stellen geht das Wasser nur bis zu den Knien, an anderen aber ist es übermannshoch. Es gibt nur wenige Furten, und die sind schwer zu finden. Die Deutschen mögen die Sümpfe nicht, da läßt sich kein Blitzkrieg führen: sogar die Panzer versinken darin, und je schwerer sie sind, desto schlimmer.« »… aber im Winter frieren sie doch zu!« »Der Winter ist schrecklich. Im Winter werden der Wald und die Sümpfe zu unseren Feinden, den schlimmsten Feinden für Leute, die verborgen bleiben wollen. Die Bäume verlieren ihre Blätter, und das ist, als wäre man nackt: die Flugzeuge der Luftaufklärung können alles sehen, was vorgeht. Die Sümpfe frieren zu und sind kein Hindernis mehr. Im Schnee sieht man alle Spuren. Und gegen die Kälte kann man sich nur mit Feuer wehren, Feuer aber macht Rauch, und Rauch sieht man von weitem. Und noch habe ich euch nichts über das Essen gesagt. Auch da gibt es nichts Sicheres. Ein bißchen was kommt von den Bauern, und die geben es uns freiwillig oder eben anders; aber die Dörfer sind arm 100
und liegen weit weg, und im übrigen räumen die Deutschen und die Banditen sie schon leer. Etwas kommt von den Partisanen, im Winter haben die aber dieselben Probleme wie wir. Manchmal bekommen sie Nachschub durch Fallschirmabwürfe, und dann kriegen wir auch etwas davon ab. Schließlich geben auch die Wälder ein bißchen was her: Kräuter, Frösche, Karpfen, Pilze und Beeren, das alles aber nur im Sommer. Im Winter nichts. Der Winter bedeutet Hunger und Schrecken für uns.« »Kann man die Kontakte zu den Partisanen nicht verbessern?« »Bisher hatten wir nur unregelmäßig Kontakt mit ihnen. Und was gibt es denn Unberechenbareres als die Partišanka? Bis letzten Winter war ich selbst bei ihnen; dann haben sie mich ausgemustert, denn für sie war ich zu alt, und im übrigen war ich verletzt worden und konnte nicht mehr so gut laufen. Die Gruppen in dieser Gegend sind wie Quecksilbertropfen: sie verschmelzen miteinander, laufen auseinander und vereinigen sich wieder. Sie werden zerschlagen, und neue entstehen. Die größten und stabilsten Gruppen unter ihnen haben ein Radio und stehen in Funkkontakt mit dem Weiten Land …« »Was ist denn das, das ›Weite Land‹?« »Auch wir nennen es so: es ist das sowjetische Gebiet hinter der Front, das nicht von den Nazis besetzt ist. Das Radio ist wie Blut für die Partisanen: es versorgt sie mit Anweisungen, Verstärkung, Aus101
bildern, Nachschub und Waffen. Nicht nur über Fallschirmabwürfe; wenn es möglich ist, landen die Flugzeuge aus dem Weiten Land auf Partisanengebiet, laden Männer und Waren aus, Kranke und Verwundete ein und fliegen wieder zurück. In dieser Hinsicht ist der Winter besser, denn die Flugzeuge brauchen einen Flugplatz, oder doch zumindest ein Stück flaches, freies Gelände. Ein solches Gelände ist aber von oben gut erkennbar, und sobald die Deutschen es entdecken, werfen sie ihre Bomben darauf, um es unbrauchbar zu machen. Im Winter aber taugt jeder See, Sumpf oder Fluß, wenn nur das Eis dick genug ist. Glaubt aber jetzt bloß nicht, die Versorgung sei regelmäßig. Nicht alle Abwürfe und Landungen gehen gut, und auch nicht alle Gruppen sind bereit, mit uns zu teilen. Viele Bandenchefs halten uns für überflüssige Mäuler, weil wir nicht kämpfen. Gerade deshalb aber müssen wir uns nützlich machen, und da gibt es verschiedene Möglichkeiten. In erster Linie muß sich jeder, der nur irgend laufen und schießen kann, als Partisan verstehen, zur Verteidigung beitragen und sich den Partisanen anschließen, wenn sie es verlangen. Und tatsächlich besteht ein reger Austausch zwischen den Partisanengruppen und dem Kloster, und solange die Deutschen es nicht entdecken, ist es ein brauchbarer Unterschlupf für verwundete und erschöpfte Partisanen. Man kann aber noch mehr machen, und das tun wir auch. Wir flicken ihre Kleidung, waschen die Wäsche, mit 102
Eichenrinde gerben wir Leder, und aus dem Leder machen wir Schuhe. Ja, was ihr da riecht, das ist der Geruch der Gerberei: aus Birkenrinde machen wir Pech für das Stiefelleder, damit es schön weich und wasserundurchlässig bleibt. Hast du einen Beruf?« fragte er dann zu Mendel gewandt. »Von Beruf bin ich Uhrmacher, aber ich habe in einer Kolchose als Mechaniker gearbeitet.« »Bestens. Für dich haben wir gleich Arbeit. Und du, Moskowit?« »Ich habe Buchhaltung gelernt.« »Das nützt uns schon weniger«, sagte Dov lachend. »Ich würde schon gern Buch führen, aber wir haben ja nicht einmal den Überblick darüber, wer kommt und wer geht. Hierher kommen Juden, die den Massakern der SS durch ein Wunder entgangen sind, es kommen Bauern, die Schutz suchen, und es kommen Leute, vor denen wir uns in acht nehmen müssen: sie könnten Spitzel sein, aber was sollen wir machen? Es bleibt uns nichts weiter übrig, als ihren Gesichtern zu vertrauen, so wie ich das jetzt in eurem Fall tue: Geheimdienst haben wir keinen. Viele kommen, andere gehen oder sterben. Die Jungen gehen fort, mit oder ohne meine Erlaubnis. Lieber schließen sie sich den Partisanen an, als hier in der Republik des Hungers und des Schreckens dahinzuvegetieren. Es sterben Alte und Kranke, aber auch junge und kräftige Leute: aus Verzweiflung. Die Verzweiflung ist schlimmer als eine Krankheit: sie überfällt einen an Tagen des Wartens, wenn keine 103
Nachricht kommt, kein Kontakt sich herstellen läßt, wenn Truppenbewegungen der Deutschen oder der ukrainischen oder ungarischen Söldner angesagt sind. Warten ist tödlich wie die Ruhr. Gegen die Verzweiflung gibt es nur zwei Mittel: arbeiten oder kämpfen, aber auch das hilft nicht immer. Es gibt noch ein drittes Mittel, nämlich sich gegenseitig etwas vorzulügen: wir verfallen früher oder später alle darauf. Gut, damit habe ich meine Ansprache beendet. Schön, daß ihr Waffen bei euch habt; besser wäre es allerdings gewesen, wenn ihr ein Funkgerät mitgebracht hättet. Nun ja, man kann nicht alles haben, nicht einmal in Nowoselki.« Sie wurden gleich mit zum Wachdienst eingeteilt. Das war die wichtigste Aufgabe in der Gemeinschaft, und die zwei alten Türme des Klosters eigneten sich gut als Wachtposten. Der normale Tagesablauf für einen einsatzfähigen Lagerbewohner sah zwölf Stunden Arbeit vor, acht Stunden Ruhe und vier Stunden Wachdienst, der in drei Schichten zu je zwei Stunden aufgeteilt war. Dieses System brachte Komplikationen mit sich, aber Dov hielt an einer strengen Zeiteinteilung fest und bestand darauf, daß sie eingehalten wurde. In der ersten Nacht gleich hatte Mendel Wachdienst, und zwar gemeinsam mit dem mageren Mädchen, das er flüchtig im Schlafraum gesehen hatte, jeder saß auf seinem Turm. Er erfuhr von ihr nur, daß sie Line hieß. Bei der Ablösung bat er sie: 104
»Ich habe einen Riß in der Hose. Könntest du mir den vielleicht flicken?« Trocken erwiderte Line: »Ich geb dir Nadel und Faden, und dann schau zu, wie du zurecht kommst, ich habe keine Zeit.« Sie hob die Laterne in die Höhe und schaute Mendel direkt ins Gesicht mit einer Aufmerksamkeit, die an Dreistigkeit grenzte. »Wo hast du dir denn die Narbe geholt?«, und Mendel antwortete: »An der Front.« Weiter wollte Line nichts wissen, und sie gingen schlafen. Leonid hatte sich den Wachdienst mit Ber geteilt, einem blutjungen Jüngling mit Brille, der ebenfalls mit den Worten geizte. Beide waren zur Arbeit in der Gerberei eingeteilt, wo es ekelhaft roch; es herrschte große Stille, die nur vom Auswaschen der Tröge und von kurzem Geflüster unterbrochen wurde. Mit verschlossenen Gesichtern schabten hier Männer und Frauen die Häute ab, entfernten Fleisch- und Fellreste. Es waren Häute von Kaninchen, Hunden, Katzen und Ziegen. Nichts wurde weggeworfen, selbst die Fleischreste von den frisch abgezogenen Häuten wurden sorgfältig gesammelt, um später Düngemittel daraus zu machen. Andere kochten Baumrinden aus oder spannten die Häute auf Holzrahmen. Sie gewöhnten sich rasch an diese Lebensart und an die zwanghafte und unsinnige Ordnung, die sich alle bis auf die Minute genau einzuhalten bemühten. Gemeinsame Mahlzeiten gab es nicht, zu Mittag und 105
am Abend stellten sich alle in einer Reihe vor den Küchentöpfen auf, dann aber verkroch sich ein jeder in einen Winkel und verzehrte in Stille, was ihm zugeteilt worden war: meist eine magere Kräutersuppe mit einem Stückchen Kartoffel, selten etwas Fleisch oder Käse, einen Löffel voll Heidelbeeren, ein Glas Milch. Adam war der einzige, der, vielleicht aufgrund seines Alters, am Erzählen noch Vergnügen fand: »Dov? Das ist einer, der keinen Zollbreit nachgibt. Wehe, wenn er nicht da wäre, um die Streitereien zu schlichten. Der hat sein Teil mitgemacht, und er kommt von weither. Er stammt aus einem gottverlassenen Flecken der zentralsibirischen Hochebene, ich erinnere mich nie an den Namen. Seinen Großvater, einen Nihilisten, hatte man dorthin verbannt, noch zu Zeiten des Zaren, und dort oben ist sein Vater geboren, und dort ist auch er geboren. Als der Krieg ausbrach, haben sie ihn in der Luftwaffe eingesetzt. Er wurde gleich gefangen genommen, im Juli 1941. Die Deutschen haben alle Gefangenen in einem Lager zusammengepfercht, das gerade aus einem Hektar Grund mit Stacheldraht drumherum bestand, drinnen nichts, weder Baracken noch Wetterdächer, nur zehntausend erschöpfte Soldaten, verwundet und verrückt vor Hunger und Durst. In dem Durcheinander haben sie nicht bemerkt, daß er Jude ist, und so haben sie ihn unbehelligt gelassen. Nach ein paar Tagen verluden sie ihn dann mit ungefähr tausend anderen auf einen Militärzug. Er 106
bemerkte, daß die Bodenplatten in seinem Waggon morsch waren; mit den Füßen trat er sie dann ganz ein und ließ sich unter den fahrenden Zug fallen: er allein, die anderen achtzig im Waggon hatten nicht den Mut dazu. Ein Bein hat er sich dabei gebrochen, ist aber doch von den Geleisen weggekommen und zu einem Bauernhof, wo die Bauern ihn mehrere Monate hindurch versteckt hielten, ohne ihn anzuzeigen, und ihm sogar das Bein pflegten, so daß es wieder in Ordnung kam. Sobald er laufen konnte, ging er zu den Partisanen, aber im letzten Winter ist er am Knie verwundet worden, und seitdem hinkt er. Die Partisanen haben ihm geholfen, und er hat sich mit einer Handvoll Juden hier eingerichtet. Er ist ein sibirischer Dickschädel: in wenigen Monaten haben er und seine Leute dieses Kloster hergerichtet, aus einem Trümmerhaufen haben sie einen Ort gemacht, wo man leben kann.« Den ganzen August über fiel in der Republik der Sümpfe nichts Besonderes vor. Aus Osaritschi kamen neun Versprengte der Roten Armee, die auf eigene Faust ein deutsches Vorratslager in Brand gesetzt und geplündert hatten. Sie führten zwei vollbeladene Maultiere mit sich: Säcke mit Kartoffeln, vier italienische Karabinergewehre, zwanzig Handgranaten und eine Information, die noch einmal so viel wert war, wie das alles zusammen: die Russen hatten Charkow zurückerobert. Sofort entbrannte unter den Lagerbewohnern eine leidenschaftliche Diskussion darüber, wie weit Charkow entfernt sei: die einen 107
behaupteten 500, andere 600, einige sogar 800 Kilometer. Die letzteren beschuldigten die ersteren, sich falschen Hoffnungen hinzugeben, die ersteren schimpften die letzteren Defaitisten und Verräter. Die Leute aus Osaritschi hatten auch einen Arzt bei sich, und ein Arzt wäre in Nowoselki sehr nützlich gewesen. Dieser aber, ein ungefähr vierzigjähriger Hauptmann und Jude, war schwer krank. Er fieberte, das letzte Stück Weges hatte er sich nur mühsam vorwärtsgeschleppt, und streckenweise hatten sie ihn auf ein Maultier laden müssen. Kaum im Kloster angekommen, mußte er sich hinlegen, weil er sich nicht mehr auf den Beinen halten konnte. Im Gesicht hatte er violette Flecken bekommen, und sprechen konnte er nur unter Anstrengung, nur mit Lippenbewegungen, so als wäre ihm die Zunge gelähmt. Er stellte sich selbst die Diagnose: er habe Flecktyphus, meinte er, und werde bald sterben; er wolle bloß niemanden anstecken und in Ruhe sterben dürfen. Dov fragte, wie man ihm helfen könne, und er antwortete, daß es keine Hilfe gebe. Er verlangte etwas Wasser, dann sprach er gar nicht mehr. Sie legten ihn im Freien auf den Boden und deckten ihn mit einer Decke zu. Am nächsten Morgen war er tot. Er wurde mit äußerster Vorsicht begraben, um jede Ansteckung zu vermeiden. Ber, der Junge mit der Brille, der Rabbinerschüler war, sprach am Grab den Kaddisch. Was sollte man gegen die Ansteckung tun? Oder wurde der Typhus vielleicht nur durch die Läuse übertragen? Keiner wußte es. Für alle 108
Fälle ließ Dov sämtliche Gegenstände, mit denen der Kranke in Berührung gekommen war, verbrennen, einschließlich der unersetzlichen Decke. Es wurde September, der erste Regen fiel und die Blätter begannen gelb zu werden. Mendel bemerkte, daß in Leonid etwas vorging. Zu Beginn ihres Aufenthalts in Nowoselki war sein Verhalten unverändert geblieben: langes, finsteres Schweigen wurde nur gelegentlich von Zornausbrüchen unterbrochen, die ausschließlich gegen Mendel gerichtet waren, so, als hätte er höchstpersönlich mit den Deutschen paktiert, den Krieg angezettelt, ihn, Leonid, zu den Fallschirmspringern gesteckt, um ihn dann über den Sümpfen abzuwerfen. Jetzt aber suchte Leonid Mendel immer seltener auf, ja, er schien ihm aus dem Weg zu gehen, und wenn eine Begegnung unvermeidlich war, wich er seinem Blick aus. Es kam der Tag, da Mendel ihn nicht mehr bei den Trögen der Gerberei sah. Man sagte ihm, er habe den Geruch nicht mehr ausgehalten und Dov gebeten, ihn dorthin zu versetzen, wo Line und zwei weitere Mädchen Birkenholz destillierten, um Pech daraus zu gewinnen. Und es kam der Tag, an dem Dov sich bei Mendel beschwerte, weil sein Freund nicht zur Arbeit angetreten war, und das war ein schwerer Verstoß, den Dov sich nicht zu erklären wußte. Mendel entgegnete, er sei für Leonids Tun und Lassen nicht verantwortlich. Während er aber so sprach, verspürte er ein Kribbeln in der Herzgegend, denn ihm fiel auf, daß die Worte, die ihm da über die Lippen gekommen waren, genau 109
dieselben waren wie die, die Kain gesprochen hatte, als der Herr ihn nach Abel fragte. Was für ein Unsinn! War Leonid vielleicht sein Bruder? Ach was, Bruder, ein Unseliger wie er selbst, ein am Straßenrand aufgelesenes Findelkind. Aber nein, Mendel war nicht sein Beschützer, und schon gar nicht hatte er sein Blut vergossen. Er hatte ihn nicht mitten auf seinem Feld erschlagen. Das Kribbeln hielt aber dennoch an: vielleicht ist es genauso, vielleicht ist ein jeder von uns der Kain irgendeines Abel, erschlägt ihn mitten auf seinem Feld, ohne es zu wissen, einfach durch die Dinge, die er ihm antut, durch die Dinge, die er ihm sagt, und durch die, die er ihm sagen sollte, aber nicht sagt. Mendel sagte zu Dov, daß Leonid ein schweres Leben gehabt habe, Dov aber antwortete ihm nur mit einer einzigen Silbe, wobei er ihm scharf in die Augen sah: »Nu?« In Nowoselki war das keine Rechtfertigung. Wer hatte denn hier kein schweres Leben hinter sich? Keine Entschuldigung gab es für die partisanščina, sagte Dov hart. Was das sei, die partisanščina? Anarchie bei den Partisanen, erklärte ihm Dov, Mangel an Disziplin. Eine große Gefahr. Außerhalb des Gesetzes zu stehen, bedeutet nicht, gesetzlos zu sein. Die einzige Rettung vor dem Tod durch die Faschisten besteht darin, noch strengere Disziplin zu wahren, als die Faschisten sie erzwingen: strenger, aber gerechter, weil selbst gewählt. Wer sie nicht 110
annehmen will, dem steht es jederzeit frei zu gehen. Mendel und Leonid sollten darüber nachdenken. Eigentlich hätten sie das schon von Anfang an tun sollen, denn es gab etwas für sie, eine dringende und wichtige Aufgabe, jedoch nicht sehr schwierig. Es war der Befehl eingegangen, eine Eisenbahnlinie zu sabotieren. Das war gerade das richtige für sie, um sich die Bürgerrechte der Republik zu erwerben; im übrigen war das Partisanenbrauch: von den Neuen verlangte man ein Probestück, wie beim Eintritt in eine Fabrik. Am nächsten Tag ließ Dov auch Leonid kommen und erläuterte die Einzelheiten: »Die Linie Brest – Rowno – Kiew ist gesprengt worden, sie versorgte die deutsche Front in der südlichen Ukraine. Von nun an geht die Verbindung über die Linie Brest – Gomel, und die verläuft ungefähr dreißig Kilometer südlich von Nowoselki. Sie ist eingleisig und muß so bald wie möglich unterbrochen werden. Das ist eure Aufgabe. Habt ihr eine Idee dazu?« »Habt ihr Sprengstoff?« fragte Mendel. »Wir haben welchen, aber nur wenig, und der ist nicht sehr geeignet. Wir haben ihn aus einer Granate, die in die Sümpfe eingeschlagen, aber nicht explodiert ist.« Leonid unterbrach ihn, wobei er Mendel einen herausfordernden Seitenblick zuwarf: »Hör mal, Chef, bei solchen Arbeiten richtet Sprengstoff mehr Schaden an als Gutes. Auf Sabo111
tage von Eisenbahnlinien verstehe ich mich. Im Ausbildungskurs für Fallschirmspringer haben sie uns alle möglichen Systeme erklärt. Ein Schraubenschlüssel ist hier besser, sicherer, macht keinen Lärm und hinterläßt keine Spuren.« »Haben sie euch in eurem Kurs auch die Praxis beigebracht, oder bloß die Theorie?« fragte Mendel ärgerlich. »In dieser Sache übernehme ich die Verantwortung. Kümmere du dich mal um deine eigenen Angelegenheiten.« »Nun gut«, erwiderte Mendel, wobei er die Silben einzeln betonte, »ich hab nichts dagegen. Ich bin besser im Reparieren von Dingen, als darin, sie in die Luft zu jagen.« Dov hörte dieser Zänkerei offensichtlich amüsiert zu. »Moment mal«, schaltete er sich ein, »es wäre günstig, wenn die Sabotage der Linie gleich mit einer Entgleisung verbunden wäre. Ein Schaden an den Gleisen ist in wenigen Stunden behoben, ein entgleister Zug dagegen blockiert die Linie für einige Tage, ganz abgesehen davon, daß er einen realen Verlust bedeutet. Das wissen die Deutschen aber auch. Deshalb schicken sie seit einiger Zeit bei wichtigen Transporten einen Erkundungswagen voraus.« Dov und Leonid beredeten kurz die technischen Details, und so kam der endgültige Plan zustande: unvorsichtig wäre es, die Eisenbahnlinie in der Nähe von Kopzewitschi zu sabotieren, also direkt 112
im Süden von Nowoselki. Das würde heißen, die Gestapo geradezu auf die Fährte zum Lager anzusetzen. Besser, man ging etwas weiter weg, in der Nähe von Schitkowitschi, ungefähr 50 Kilometer weiter westlich, führte die Linie über eine Brücke und überquerte einen Kanal. Das war die geeignetste Stelle. »Macht euch fertig«, sagte Dov, »in zwei Stunden geht ihr los. Ich gebe euch einen Führer mit, der sich in der Gegend auskennt. Keine Waffen. Über die Art und Weise, wie ihr die Linie unterbrechen wollt, einigt ihr euch; wenn du, Leonid, ein paar Tricks gelernt hast, um so besser. Und ich warne euch: keine Streitereien während der Mission. Die Schraubenschlüssel werden gerade geschmiedet, zwei in der richtigen Größe.« Auf einen Führer wie diesen hätte Mendel gerne verzichtet, auch wenn er sich zweifellos in der Gegend und insbesondere mit den Furten vorzüglich auskannte. Er hieß Karlis, war Lette, zweiundzwanzig Jahre alt, groß, mager, blond und bewegte sich mit geräuschloser Behendigkeit. Wie es käme, daß er, der so weit weg geboren war, sich hier in den Polesje-Sümpfen so gut auskenne? Er habe sie unter den Deutschen kennengelernt, antwortete Karlis, der eher schlecht Russisch sprach. Bei ihm zu Hause habe man die Deutschen den Russen vorgezogen, auch er habe sie lieber gemocht, jedenfalls am Anfang. Er sei zu ihnen übergelaufen, und sie hätten 113
ihm beigebracht, wie man Jagd auf Partisanen machte. Ja, genau hier in dieser Gegend. Fast ein Jahr war er dabei gewesen und kannte das Gelände Zoll für Zoll. Er war aber nicht auf den Kopf gefallen, nach Stalingrad hatte er kapiert, daß die Deutschen den Krieg verlieren würden und war ein zweites Mal desertiert. Er lächelte, Zustimmung heischend: besser, man hielt sich an die Sieger, nicht? Jetzt aber mußte er auf der Hut sein, durfte weder Hitler noch Stalin in die Hände fallen. Ob er deswegen nach Nowoselki gekommen sei, fragte Leonid. Deswegen, sicher: er persönlich habe ja nichts gegen die Juden. »Auch wir müssen auf der Hut sein«, flüsterte Mendel Leonid zu, »der hat Dam Israel an den Händen, das Blut Israels.« Karlis setzte wieder sein schiefes Lächeln auf: »Es nützt nichts, wenn ihr jiddisch redet, ich verstehe es, ich verstehe auch Deutsch.« »Dann meinst du also, die Juden von Nowoselki sind die künftigen Sieger«, fragte Mendel. »Das habe ich nicht gesagt«, antwortete der Lette. »Vorsicht, hier wird das Wasser tief. Halten wir uns mehr rechts.« Im Morgengrauen kamen sie aus den Sümpfen heraus und gingen noch ein paar Stunden weiter über Weiden und Brachland. Dann ruhten sie sich aus bis zum frühen Nachmittag, und bei vorgerückter Nacht trafen sie auf die Eisenbahnlinie. Nach Karlis’ Angaben mußten sie ihr ungefähr acht oder 114
zehn Kilometer nach Westen folgen, bevor sie den Kanal überquerte. Besser, man lief nicht auf dem Bahndamm, sondern parallel zu den Gleisen, ein paar hundert Meter davon entfernt, aber in Sichtweite. Der Mond schien, was den Marsch erleichterte, aber ohne ihn hätten die drei sich sicherer gefühlt. Sie waren jetzt müde; dennoch beschleunigte Leonid seinen Schritt und versuchte immer wieder, sich an die Spitze zu setzen. Der Lette hingegen stellte es so an, daß er der letzte blieb. Das irritierte Mendel, und an einem bestimmten Punkt sagte er barsch zu ihm: »Vorwärts marsch! Letzter bleibe ich.« Bei Sonnenaufgang erblickte Leonid die Brücke. Es war nicht die günstigste Tageszeit, um die Arbeit in Angriff zu nehmen, aber man sah keine Menschenseele weit und breit, und die Brücke, die im übrigen nur ein paar Meter Länge hatte, war nicht bewacht. Ganz offenkundig legte Leonid es darauf an, die Führung des Unternehmens zu übernehmen. Mit leiser, aber erregter und nervöser Stimme erteilte er Anweisungen. Mendel half ihm, und sie entfernten die Backen an einer Nahtstelle zwischen zwei Gleisstücken, unmittelbar vor der Brücke; dann lokkerten sie die Schrauben, mit denen die Gleisplatten an den Schwellen festgeschraubt waren: das Holz war morsch und die Schrauben lösten sich leicht. Widerwillig hatte Karlis zunächst seine Hilfe angeboten, jetzt aber begnügte er sich damit, aufzupassen, daß niemand kam. Als die Gleise frei lagen, verschob Leonid sie nicht, sondern band ein Seil darum, 115
das er dann ungefähr dreißig Meter weit quer zu den Gleisen verlegte. Leider hatte es in Nowoselki kein längeres Seil gegeben. Das freiliegende Ende bedeckten sie mit Erdreich und Gestrüpp. »Fertig«, sagte Leonid voller Stolz, »jetzt brauchen wir nur noch den Zug abzuwarten. Den Erkundungswagen durchlassen und dann, unmittelbar vor der Lokomotive, an dem Strick ziehen, um die Gleise zu verschieben. Nicht zu früh, sonst bemerkt der Lokführer noch den Schaden.« Den ganzen Tag lang warteten sie und schliefen reihum. Gegen Abend vernahm man in der ländlichen Stille das Geräusch des Zuges. Alle drei umklammerten sie das Ende des Stricks und warfen sich ins Gebüsch, um nicht gesehen zu werden. Kein Erkundungswagen. Der Zug bestand aus ungefähr 30 geschlossenen Güterwaggons und fuhr ziemlich schnell; in Sichtweite der Brücke jedoch verlangsamte er seine Fahrt. Mendel verspürte plötzlich den brennenden Wunsch zu beten; er unterdrückte ihn aber, denn keines der Gebete seiner Kindheit wollte so recht auf diese Situation passen, und dann war es ja auch nicht gewiß, ob der Ewige – Gelobt sei Er! – über die Eisenbahnlinien gebot. Der Zug fuhr jetzt langsam bis dicht an das losgeschraubte Gleisstück heran. »Jetzt!« befahl Leonid. Die drei sprangen auf und rissen heftig an dem Seil. Sie trafen aber auf einen unvorhergesehenen Widerstand, dann löste sich etwas, und das Seil gab 116
unter ihren krampfhaften Anstrengungen nach, aber nicht viel, nicht mehr als eine Handbreit. Kreischend bremste die Lokomotive, daß aus den Rädern Funken stoben. Der Lokführer mußte etwas gesehen und Gegendampf gegeben haben, aber zu spät: die Vorderräder glitten von den Gleisen auf den Kies des Bahndamms. Unter betäubendem Lärm und in eine dichte Staubwolke gehüllt, rückten Lokomotive und Waggons durch den Schub noch etwa zehn Meter vor, und dann kam alles zum Stillstand. Die Lokomotive war mit den Vorderrädern noch auf die Brücke gefahren und hing leicht schief; sie mußte wohl an das Brückengeländer geraten sein, und aus dem zerbrochenen Rohr entwich der Dampf mit einem ohrenbetäubenden Pfiff, so daß die drei kein Wort wechseln konnten. Leonid war leichenblaß und bedeutete den anderen, ihm in Richtung auf den ersten Waggon zu folgen: wahrscheinlich wollte er Beute machen. Das war der helle Wahnsinn. Den Zug entlang sahen sie menschliche Gestalten auf und ab laufen. Mendel setzte sich durch: mit Karlis’ Hilfe schleifte er Leonid auf das nächste Wäldchen zu. Keuchend sahen sie sich an. Eine halbe Entgleisung, ein halber Erfolg. Die Lokomotive mit Maschinenschaden, aber nicht zerstört; die Linie wohl unterbrochen, aber reparabel in wenigen Tagen, Brücke und Waggons fast völlig intakt. Leonid verfluchte sich, er hätte es voraussehen müssen, daß der Zug an der Brücke sein Tempo verlangsamen würde. Hätte er die Gleise einen Kilometer weiter oben 117
unterbrochen – der Schaden wäre zehnmal so groß gewesen! Die Männer der Eskorte, nicht mehr als ein Dutzend, machten sich an der Lokomotive zu schaffen und kümmerten sich nicht um die Urheber des Schadens. Die drei erwarteten in ihrem Versteck die Dunkelheit, dann machten sie sich ohne Eile auf den Rückweg. Leonid schien niedergeschlagen, und Mendel redete ihm gut zu: es war nicht seine Schuld, es fehlten die Mittel, und angehalten hatten sie den Zug ja irgendwie. Leonid schwieg lange und kehrte ihm den Rücken zu, dann sagte er: »Du verstehst ja nicht. Es war ein Geschenk.« »Ein Geschenk? Für wen?« »Für Line, das Mädchen mit dem Maschinengewehr, ja, die mit dir Wache macht. Sie ist mein Mädchen seit neulich nacht. Der Zug war ein Geschenk für sie.« Mendel war zum Lachen und Weinen zugleich zumute. Er wollte Leonid sagen, daß Nowoselki wohl nicht der rechte Ort für eine Liebesgeschichte sei, dann behielt er es aber für sich. Schweigend gingen sie weiter. Um Mitternacht bemerkten sie, daß Karlis zurückgeblieben war, und sie machten halt, um auf ihn zu warten. Eine Stunde verging, und Karlis tauchte nicht wieder auf: er hatte sich aus dem Staub gemacht. Die beiden suchten weiter ihren Weg in der Finsternis, die immer undurchdringlicher wurde. Ins Lager zurückgekehrt, erstatteten sie Bericht, schweigend hörte Dov sie an, ohne Kommentar und 118
Urteil: er wußte, wie solche Unternehmungen verliefen. Karlis’ Flucht war schlimm, aber man hatte sie nicht vorhersehen und auch nicht verhindern können, und im übrigen war er nicht der erste. Nowoselki war kein Lager, wer wollte, der ging. Ob er reden würde? Das Kopfgeld der Polizei war verführerisch, zehn Rubel auf den Kopf jedes ausgelieferten Juden: die Deutschen waren großzügig. Andererseits war Karlis mit den Deutschen selbst nicht im reinen, und im Kloster war er stets gut behandelt worden, und schließlich: sein Brot wußte er sich auch auf andere Weise zu verdienen. Wie auch immer, machen konnte man nichts, bloß aufpassen mußte man, vor allem in den ersten Tagen, und sich verteidigen, falls es zu einem Angriff käme. Einen Angriff gab es nicht. Gegen Mitte September aber kam durch Dovs geheimnisvolle Zuträger die Nachricht von der Kapitulation Italiens ins Lager und versetzte seine Bewohner in Aufruhr. Die gleichbleibend siegreichen Kriegsmeldungen machten einen wesentlichen Bestandteil im Lagerleben von Nowoselki aus. Keine Woche verging, ohne daß nicht die Alliierten in Griechenland landeten, Hitler ermordet wurde oder die Amerikaner mit Hilfe einer Wunderwaffe die Japaner liquidierten. Jede Meldung dieser Art machte dann mehrmals die Runde im Lager, wurde ausgemalt und in allen Einzelheiten ausgeschmückt, und für Tage schirmte sie wirksam gegen die Angst ab. Wer nicht daran glauben wollte, wurde schief angeschaut. Schließlich verschwand 119
sie spurlos, keiner erinnerte sich mehr daran, so daß die nächste Nachricht dann ebenso vorbehaltlos geglaubt werden konnte. Diesmal aber war es anders. Die Kapitulationsmeldung war durch zwei Quellen beglaubigt: Radio Moskau hatte sie gebracht, und Dov, der sonst eher skeptisch war, bestätigte sie höchstpersönlich. Die Kommentare überschlugen sich, von nichts anderem war die Rede. Dann waren also die Achsenmächte entzweit; dann war der Krieg also in einem Monat, höchstens zweien aus. Sollten die Alliierten die Lage etwa nicht nützen: waren ihre Truppen nicht vielleicht schon in Italien gelandet? Italien war für sie doch bloß eine Kleinigkeit, in drei Tagen würden sie an die Grenze gelangt und ins Innere Deutschlands vorgedrungen sein. Welche Grenze? Fieberhaft wurde die europäische Geographie aus Erinnerungsbruchstücken an Schule und Legende zusammengesetzt. Pavel, der einzige in der Republik der Sümpfe, der jemals wirklich dort gewesen war, thronte wie ein Orakel im Zentrum eines Grüppchens, dessen Zusammensetzung ständig wechselte. Pavel Jurevič Levinski hielt sehr viel auf seinen Vatersnamen, weniger auf seinen allzu beredten Nachnamen: er war jüdischer Russe, kein russischer Jude. Mit seinen fünfunddreißig Jahren hatte er eine abwechslungsreiche Laufbahn hinter sich: Gewichtheber war er gewesen, dann Laien- und Berufsschauspieler, Sänger und für einige Monate sogar 120
Ansager im Leningrader Rundfunk. Er spielte gern Karten und würfelte gern, der Wein schmeckte ihm und gelegentlich konnte er fluchen wie ein Kosak. Von den ausgezehrten Gestalten der Gemeinschaft von Nowoselki hob er sich durch seine athletische Statur ab: keiner begriff, woher Pavel bei diesen Hungerrationen die Nahrung für seine Muskeln bezog. Er war mittelgroß und kompakt gebaut, ein kräftiger Sanguiniker. Sein rasierter Bart reichte bis unter die Augen und wuchs so rasch, daß schon ein paar Stunden nach der Rasur wieder ein blauschwarzer Schatten auf seinem Gesicht lag. Haare und Augenbrauen waren buschig schwarz. Er hatte eine echte Russenstimme, weich, tief und sonor. Hörte er aber auf zu sprechen oder zu singen, klappte sein Mund zu, hart wie ein Fangeisen. Sein Gesicht war in starken Reliefs, mit Höhen und Tiefen gezeichnet: breite Backenknochen und die Furche zwischen Nasenscheidewand und Oberlippe tief eingekerbt, die Einmündung der Furche in die Oberlippe von zwei fleischigen Wülsten markiert. Er hatte kräftige, weitstehende Zähne und die Augen eines Zauberers. Mit diesen Augen und mit seinen schweren, kurzen Händen behob er Gelenkschmerzen, Rückenschmerzen und manchmal auch, wenigstens vorübergehend, Hunger und Angst. Er hatte nur wenig Neigung zur Disziplin, und im Kloster wurde das stillschweigend geduldet. Seine Zuhörer bedrängten ihn mit Fragen über Italien. 121
»Aber sicher war ich dort. Vor mehreren Jahren, auf der berühmten Tournee des jüdischen Theaters von Moskau. Ich war Jeremias, der Unglücksprophet. Mit einem Joch auf den Schultern kam ich auf die Bühne und prophezeite die Verschleppung der Juden nach Babylon und muhte wie ein Ochs. Eine lila Perücke hatte ich auf, und man hatte mich ganz ausgestopft, damit ich noch dicker aussähe, und ich trug Schuhe mit spannenhohem Absatz, denn ein Prophet ist groß. Wir spielten auf jiddisch und hebräisch, und die Italiener in Mailand, Venedig, Rom und Neapel verstanden kein Wort, applaudierten aber wie verrückt.« »Dann hast du also Italien wahrhaftig und mit deinen eigenen Augen gesehen?« fragte ihn Ber, der Rabbinerschüler. »Sicher, vom Zug aus. Ganz Italien ist so lang wie von Leningrad bis Kiew, von den Alpen bis Sizilien braucht man einen Tag. Jetzt, wo die italienische Armee kapituliert hat, sind die Alliierten bestimmt im Handumdrehen an der deutschen Grenze. Und im übrigen waren die Italiener nie so richtige Faschisten. Mussolini selbst hat ja das Moskauer Theater nach Rom kommen lassen, und die italienischen Soldaten in der Ukraine haben keinen Widerstand geleistet. Italien ist ein wunderschönes Land, mit Meeren, Seen und Bergen, überall grün und blühend. Die Leute sind freundlich und zuvorkommend, sie sind gut gekleidet, bloß stehlen sie recht gern. Kurzum: es ist ein seltsames Land, ganz anders als Rußland.« 122
Und die Grenzen? Bis wohin würden die Alliierten vorrücken? Hier erwies es sich, daß Pavel keine sehr klaren Vorstellungen hatte, undeutlich erinnerte er sich an Tarvis, wußte aber nicht mehr so recht, ob das, was jenseits der Grenze lag, nun Deutschland, Jugoslawien oder Ungarn war. Gut erinnerte er sich hingegen an ein Mädchen mit schwarzen Augen, mit dem er in Mailand eine Nacht verbracht hatte. Doch das interessierte seine Zuhörer nicht. Der Oktober ging vorbei, die Kälte brach herein und die Moral der Gemeinschaft sank. Widersprüchliche Nachrichten liefen ein: die Russen hatten Smolensk zurückerobert, aber die Deutschen hatten sich nicht ergeben. Kämpfe in Italien, aber nicht an den Grenzen, nicht in den Alpen. Man sprach von Landungen der Alliierten in Gegenden, von denen man noch nie etwas gehört hatte. Sollten die Engländer und Amerikaner bei all ihrem Gold und Erdöl nicht in der Lage sein, den Deutschen den Garaus zu machen? Und der Ewige, gelobt sei Er, warum verbarg er sich hinter den grauen Wolken der Polesje, anstatt seinem Volk beizustehen? »Unter allen Völkern hast du uns erwählt« – warum gerade uns? Und warum bleiben die Gottlosen am Leben und nehmen zu an Kraft, und warum werden die niedergemacht, die ohne Verteidigung sind, warum der Hunger, die Massengräber, der Typhus und die Flammenwerfer der SS in den Erdhöhlen voller entsetzter Kinder? Und warum müssen Ungarn, Polen, Ukrainer, Litauer und Tataren die Juden aus123
plündern und ermorden, ihnen die letzten Waffen aus der Hand schlagen, anstatt sich mit ihnen zusammenzutun und gegen den gemeinsamen Feind zu kämpfen? Und dann kam der Winter, Freund und Verbündeter der russischen Armee, grausamer Feind der Eingeschlossenen von Nowoselki. Der Wind aus Sibirien hatte schon einen durchsichtigen Schleier aus Eis über das dunkle Gesicht der Sümpfe gelegt. Der würde bald fester werden und das Gewicht der Menschenjäger tragen. Die Fußspuren im Schnee würde man bald aus der Luft und auch auf der Erde erkennen können, lesen würde man sie können wie die Rollen der Schrift. An Holz mangelte es nicht, jedes Feuer aber war ein Signal. Die Rauchsäulen, die aus den Kaminen stiegen, würden kilometerweit sichtbar sein, wie ein aus dem Himmel herabfahrender Zeigefinger würden sie verkünden: »Die Schlachttiere für das Opfer sind hier.« Dov ordnete an, daß die vom Dienst befreiten Mitglieder der Gemeinschaft sich tagsüber in einem einzigen Raum aufzuhalten und bei Nacht in dem gleichen Raum zu schlafen hatten. Nur ein einziges Feuer durfte angezündet werden. Das Kaminrohr mußte so verlegt werden, daß sein Ende zwischen den Ästen einer großen Eiche, die dicht an der Mauer entlangwuchs, austrat, so daß der Ruß sich in den Zweigen verfing und nicht den Schnee ringsum schwärzte. Würde das alles etwas nützen? Würde es genügen? Vielleicht ja, vielleicht auch nicht, wichtig war vor allem, daß alle 124
das Gefühl hatten, es wird etwas entschieden und entsprechend gehandelt. Gerber und Schuster begannen, Stiefel in allen Größen zu fabrizieren, aus jeder Art von Fellen, die die Bauern abzutreten bereit waren, auch aus Katzen- und Hundefellen: grobe, barbarische Stiefel mit nach innen gewendetem Fell, mit dickem Zwirn zusammengenäht. Nicht nur für den lokalen Gebrauch: Dov schickte eine Abordnung in das Dorf Rowno, dessen Einwohner Ukrainer baptistischer Konfession waren, um eine Lieferung Stiefel gegen Lebensmittel und Wolle einzutauschen. Auch die Baptisten waren geächtet und verfolgt, sei es von den Deutschen, sei es von den Russen; zu den Juden unterhielten sie gute Beziehungen. Die Gesandten kehrten wenige Tage später aus Rowno zurück, mit einer ansehnlichen Warenladung und einer Nachricht für Dov. Sie war unterzeichnet von Gedale, dem legendären Anführer des Aufstands im Getto von Kossowo, dem eine Geige das Leben gerettet hatte. Dov, der Mendel mittlerweile als seinen Stellvertreter betrachtete, las ihm die Nachricht vor und besprach sie mit ihm. Sie bestand aus zwei Punkten: erstens ließ Gedale Dov wissen, daß die Deutschen im inzwischen dezimierten Getto von Soligorsk einen »Amnestieerlaß« hatten anschlagen lassen, der im üblichen zynischen Jargon voller Euphemismen verkündete: die Umsiedlungen, d. h. die Deportationen (»Umsiedlung« nannten sie das!) waren auf unbegrenzte Zeit eingestellt; den in der Umgebung versteckten Juden, insbesondere 125
den Handwerkern wurde angeboten, ins Getto zurückzukehren, sie würden für ihre Flucht nicht bestraft werden und Lebensmittelmarken erhalten. Der Winter stehe vor der Tür, und Dov solle sich verhalten, wie er es für richtig hielte. Zweitens lud Gedale Dov zu einer Jagdpartie ein. Zu einer Jagd auf die Jäger: eine einmalige Gelegenheit. Der Graf Daraganow, ehemaliger Großgrundbesitzer, war im Gefolge der Deutschen auf seine Güter zurückgekehrt und bot ihnen auf seinen Besitzungen an den Ufern des Cerwonoje-Sees, einen Tagesmarsch von Nowoselki entfernt, eine Jagdpartie an. Gut ein Dutzend Offiziere der Wehrmacht würden da versammelt sein. Die Information war zuverlässig, sie kam von einem Ukrainer, der mit den Partisanen kollaborierte und als Treiber ausgesucht worden war. Die Gruppe, der Gedale vorübergehend angehörte, war stark und gut organisiert, zum größten Teil bestand sie aus Freiwilligen des Winters 1941, d. h. aus der Elite der sowjetischen Partisanen. Gedale meinte, eine Beteiligung der Juden an der Jagdpartie wäre erwünscht, ja angezeigt, und könnte womöglich mit Waffen oder ähnlichem entschädigt werden. Im ersten Punkt schob Dov die Entscheidung auf, im zweiten Punkt stand sie sofort fest. Es war unerläßlich, den Russen zu zeigen, daß die Juden zu kämpfen wußten und auch wünschten. Mendel bot sich freiwillig an: er war Soldat, schießen konnte er. Dov überlegte einen Augenblick: nein, weder Mendel noch Leonid, eben gerade weil sie ausgebil126
dete Soldaten waren. Die von Gedale vorgeschlagene Aktion war wichtig aus Propagandagründen, war ein Streich, militärisch gesehen aber unbedeutend und eher gefährlich. Die Logik der Partisanen war hier unerbittlich. Sie schrieb vor, daß die besten Männer zu schonen und nur bei wichtigen Operationen wie Ablenkungsmanövern, bei Angriff und Verteidigung einzusetzen seien. Er würde Ber und Wadim schikken, zwei Nebbiche, zwei unerfahrene Grünlinge. Eben gerade weil sie unerfahren waren. »Du findest, daß ich mir die Hände schmutzig mache? Das tue ich wie jeder, der entscheiden muß.« Ihrer Sache gewiß, machten sich Ber, der Junge mit der Brille, der mit Leonid Wachdienst hatte, und Wadim auf den Weg. Wadim war ein unvorsichtiger, geschwätziger und zerstreuter Junge, und in übermütigem Stolz meinte er: »Löcher werden wir ihnen schießen in ihre medaillenbehängten Bäuche.« Sie hatten jeder bloß eine Pistole und zwei Handgranaten bei sich. Zurück kam nur Wadim. Zwei Tage später, aschfahl im Gesicht und erschöpft, mit einer durchschossenen Schulter, und erzählte von dem Unternehmen. Nein, Kinderspiel war das keins gewesen, ein Fiasko war es gewesen und ein Durcheinander. Jeder schoß auf jeden, Kugeln pfiffen aus allen Richtungen. Angefangen hatten die russischen Partisanen, die im Gebüsch gut postiert waren. Mit einer einzigen Salve hatten sie vier von den deutschen Offizieren erledigt, er wußte nicht, ob Oberste oder Generäle. Dann hatte er 127
die ukrainischen Hilfstruppen herauskommen sehen, sie schossen auf die Partisanen, schossen in die Luft und beschossen sich auch untereinander. Einer von ihnen hatte vor seinen Augen einen deutschen Offizier mit dem Gewehrkolben zusammengeschlagen. Ber war sofort tot, erschossen von Gott weiß wem, wahrscheinlich durch Zufall: aufrecht hatte er dagestanden und sich umgeschaut, er sah ja nicht so gut. Er, Wadim, hatte zwei Handgranaten auf die Gruppe der Deutschen geworfen, die, anstatt sich zu zerstreuen, nur noch enger zusammengerückt waren und so einen Block bildeten; eine war explodiert, die andere nicht. Dov schickte Wadim zum Ausruhen, aber der Junge ruhte sich nicht aus. Er hatte heftige Hustenanfälle und spuckte blutigen Schleim. In der Nacht bekam er Fieber und verlor das Bewußtsein; am Morgen war er tot. Tot wofür? »Er war erst zweiundzwanzig Jahre alt«, sagte Mendel zu Dov und konnte nicht verhindern, daß darin ein Vorwurf mitschwang. »Es ist nicht gesagt, daß wir ihn um diese Art zu sterben nicht noch beneiden werden«, gab Dov zurück. Wadim wurde am Fuß einer Erle begraben, in einem plötzlich hereinbrechenden Schneesturm. Auf sein Grab ließ Dov ein Kreuz setzen, da Wadim konvertierter Jude gewesen war. Und da niemand die orthodoxen Gesetze kannte, sprach er selbst den Kaddisch. »Besser als nichts«, meinte er zu Mendel. »Ist ja nicht für den Toten, sondern für die Lebenden, 128
die daran glauben.« Der Himmel war derart finster, daß der durch die Luft wirbelnde Schnee und der Schnee am Boden einen einzigen grauen Schleier bildeten. Dov schickte einen Boten nach Rowno, der Gedale und seine Bande aufsuchen und sofortige Verstärkung anfordern sollte, aber der Bote kam unverrichteter Dinge zurück. Er hatte niemanden angetroffen, dafür aber hatte er die Bauern von Rowno gesehen, Männer und Frauen mit gefesselten Händen auf dem Platz. Auch hatte er einen Trupp der SS gesehen mit dem Gewehr im Anschlag, die die Bauern auf einen Wagen verluden. Männer von der Hilfsmiliz hatte er gesehen, die Schaufeln auf den Wagen luden, und dann hatte er gesehen, wie sich der Wagen in Richtung auf das Tal im Süden des Dorfes in Bewegung setzte, gefolgt von den SSMännern, die lachten und rauchten. Das war alles, was er zu berichten hatte. Niemand in Nowoselki und im gesamten besetzten Gebiet, der nicht gewußt hätte, was die Schaufeln zu bedeuten hatten. Dov sagte zu Mendel, er bereue es, Ber der Gefahr ausgesetzt zu haben: »Wäre die Aktion gut ausgegangen, mit einem klaren Sieg, dann hätte ich zu Recht zwei Männer aufs Spiel gesetzt. Es ist aber schief gegangen, und jetzt bin ich im Unrecht. Ber ist auch als Toter ein Jude. Das sieht jeder auf den ersten Blick. Mit seiner Leiche befaßt sich bestimmt die Gestapo. Unsere Teilnahme an der Jagd hat uns vielleicht bei 129
Gedales Russen aufgewertet, wir ziehen uns damit aber auch die Repressalien der Deutschen zu. Karlis’ Flucht, die Schaufeln von Rowno, Ber: drei bedrohliche Zeichen. Es wird nicht lange dauern, und die Deutschen haben uns ausgemacht. Das Wunder unseres unbehelligten Daseins hat ein Ende.« Ähnliches mußten sich auch die Älteren im Lager überlegt haben, denen Dov von der »Amnestie« erzählt hatte, die die Deutschen zugesichert hätten. Sie wollten nach Soligorsk zurückkehren: sie baten um die Erlaubnis, gehen zu dürfen, und um Geleit bis ins Getto. Lieber klammerten sie sich an die Versprechungen der Nazis, als daß sie in Nowoselki dem Schnee und dem gewissen Tod entgegensahen. Sie waren Handwerker, im Getto würden sie arbeiten, in Soligorsk standen ihre Häuser und neben den Häusern war der Friedhof. Sie zogen die Knechtschaft und das magere Brot des Feindes vor: hatten sie denn Unrecht? Mendel kam ein furchtbares Wort von vor dreitausend Jahren in den Sinn: die Anklage, die die Juden gegen Moses erhoben hatten, als die Wagen des Pharao sie bedrängten: »Waren nicht Gräber in Ägypten, daß du uns wegführen mußtest, damit wir in der Wüste sterben? Es wäre besser für uns, den Ägyptern zu dienen, als in der Wüste zu sterben.« Der Herr, unser Gott, Gebieter über die Welt, hatte das Rote Meer geteilt und die Wagen waren verschluckt worden. Wer würde vor den Juden aus Nowoselki die Wogen teilen? Wer würde sie mit Wachteln und 130
Manna nähren? Vom schwarzen Himmel kam kein Manna herab, sondern erbarmungslos der Schnee. Jeder müsse selbst über sein Los bestimmen. Dov ließ drei Schlitten herrichten, um die siebenundzwanzig Bürger ohne militärische Aufgaben, die sich für das Getto entschieden hatten, nach Soligorsk zu bringen. Sämtliche Kinder waren dabei, Adam aber wollte lieber bleiben. Von den Leuten aus Osaritschi waren bloß zwei Maultiere da: eines mußte zwei Schlitten ziehen. Stumm und ohne Abschied zu nehmen, brachen sie auf; vermummt in Lumpen, Stroh und Decken folgten sie der miserablen Hoffnung auf ein paar Wochen mehr Leben auf Abruf. Der Schnee fiel dicht, bald schon verschwanden sie darin wie hinter einem Vorhang, und so scheiden sie aus dieser Geschichte. Dov ließ drei Bunker, besser: drei Gruben in der nackten Erde graben, die trotz der Kälte noch nicht gefroren war. Sie lagen ungefähr zweihundert Meter vom Kloster entfernt in der Richtung, aus der seiner Voraussicht nach die Deutschen, die im halbzerstörten Rowno eine Garnison stationiert hatten, anrükken würden. Jede Grube bot Platz für zwei Männer, und sie wurden mit Zweigen getarnt, die rasch vom Schnee bedeckt waren. »Schaufeln sind auch uns von Nutzen«, sagte er und schickte eine andere Mannschaft, um eine viereckige, zwei Meter tiefe Grube auszuheben, und zwar auf der Piste, die von Rowno zum Kloster führte. Er 131
ließ sie mit dünnen Holzbrettern abdecken und darüber, bis auf die Höhe der Schneedecke rundherum, Zweige legen: nach einer Nacht ununterbrochenen Schneefalls war der Höhenunterschied kaum noch sichtbar. Auf der Piste und über die derart hergerichtete Falle ließ er zwei Männer mehrmals hinund hergehen, die mit Steinen beschwerte Schaufeln hinter sich herzogen, um frische Wagenspuren vorzutäuschen. Er gab Waffen an alle aus und ließ das Maschinengewehr auf dem intakten Turm aufstellen. Zwei Tage später kamen die Menschenjäger. Es waren mehr als fünfzig, irgendwer mußte die Anzahl der Verteidiger überschätzt haben. Zuerst vernahm man das Geräusch von Ketten, bevor noch durch den weiterhin dicht fallenden Schnee etwas sichtbar wurde. Ein leichtes Raupenfahrzeug eröffnete die Kolonne und folgte der Piste, die Dov vorgezeichnet hatte. Es fuhr langsam, kam an die Falle, schwankte einen Moment lang an deren Rand, krachend zerbarsten die Holzbretter und das Fahrzeug kippte hinunter. Dov stieg auf den Turm, wo Mendel am Maschinengewehr in Bereitschaft stand. Dov hielt ihn zurück. »Spar die Munition. Schieß erst, wenn jemand aus der Grube heraus will.« Es kam aber niemand heraus, wahrscheinlich hatte sich das Fahrzeug überschlagen. Auf das leichte Raupenfahrzeug folgte ein schweres, und dahinter die Männer zu Fuß, fächerförmig über die Piste 132
und zwischen den Bäumen verteilt. Der schwere Raupenwagen wich der Grube aus und eröffnete das Feuer; im selben Moment begann auch Mendel, vom Schlachtfieber ergriffen, kurze Salven abzufeuern. Er sah einige Deutsche fallen, und gleichzeitig hörte er unter sich zwei heftige Explosionen: zwei Panzergranaten hatten das Dach des Klosters getroffen, das einstürzte und Feuer fing. Weitere Schläge trafen die Mauern des Gebäudes an mehreren Stellen. Mitten in dem Rauch und dem Getöse schrie Dov ihm ins Ohr: »Jetzt alles abfeuern. Rücksichtslos. Wir kämpfen um drei Zeilen in den Geschichtsbüchern.« Auch Dov feuerte mit einem der italienischen Karabiner nach unten. Plötzlich sah Mendel, wie er taumelte. Er fiel nach hinten, stand aber sofort wieder auf. Gleichzeitig hörte er Schüsse von leichten Waffen von den Bunkern her: den Anordnungen Dovs gemäß griffen die Männer in den Gruben die Deutschen von hinten an. Dieser Überraschungsangriff verwirrte sie, sie kehrten dem Kloster den Rücken. Mendel stürzte mit Dov die Stiegen hinunter, mitten in die Trümmer und Flammen. Er sah Leute hin- und herlaufen und schrie ihnen zu, sie sollten ihm folgen. Sie liefen auf der Rückseite des Gebäudes hinaus und gelangten unter die Bäume. »In Sicherheit« dachte Mendel unsinnigerweise. Auf der anderen Seite wurde das Gefecht wieder eröffnet. Sie hörten Granateneinschläge und durch Lautsprecher gebrüllte Kommandos, sahen Männer und Frauen 133
mit erhobenen Händen durch die Breschen ins Freie treten. Sie sahen, wie die Menschenjäger sie lachend durchsuchten, ausfragten und dann der Reihe nach an die Wand stellten. Was weiter im Hof von Nowoselki geschah, wird hier jedoch nicht berichtet. Nicht um Massaker zu beschreiben, erzählt sich diese Geschichte. Sie zählten ab. Sie waren elf: Mendel, Dov, Leonid, Line, Pavel, Adam und eine weitere Frau, deren Namen Mendel nicht kannte, und vier von den Männern aus Osaritschi. Adam verblutete aus einer Wunde am Oberschenkel, die so hoch saß, daß man sie nicht abbinden konnte. Er streckte sich im Schnee aus und starb in Stille. Dov war nicht verwundet, nur betäubt. Er hatte eine Prellung an der Schläfe, wahrscheinlich von einer abgeschmetterten Kugel oder von einem durch die Explosionen herausgeschleuderten Stein. Die Deutschen hielten sich bis tief in die Nacht hinein dabei auf, das, was von dem Kloster noch übrig war, in die Luft zu jagen. Den Spuren der Flüchtlinge folgten sie nicht, der Schnee bedeckte sie im übrigen schon, und als sie abzogen, nahmen sie ihre Toten und das Maschinengewehr mit.
Viertes Kapitel November 1943 – Januar 1944
Sie hatten nur wenige Waffen, wenig Munition und nichts zu essen. Wie betäubt rührten sie sich nicht vom Fleck, eine bleierne Schwere war nach der Aktion über sie gekommen und lähmte ihnen Kopf und Glieder. Endlos würde der Krieg weitergehen, Tod, Verfolgung und Flucht würden nie mehr ein Ende nehmen, es würde so weiterschneien bis in alle Ewigkeit, und auch das Tageslicht käme nie mehr wieder. Nichts würde den roten Flecken im Schnee um Adams Körper tilgen können, und keiner von ihnen würde je den Frieden wiedersehen, die weiche, heitere Jahreszeit und geglücktes Menschenwerk. Die Frau mit dem hellen, sanften Gesicht und dem kräftigen Körper einer Bäuerin, deren Namen Mendel nicht kannte, hockte im Schnee und weinte leise vor sich hin. Mendel erfuhr, daß sie Sissl hieß und Adams Tochter war. Pavel erholte sich als erster. »Nu, am Leben sind wir, und die Deutschen sind abgezogen. Die Nacht über können wir hier nicht bleiben. Gehen wir in den Keller. Alles werden sie ja nicht gesprengt haben.« Auch Dov raffte sich auf. Ja, unter dem Kloster gab es ein ausgedehntes Netz von Gängen und Gewölben, das sich über mehrere hundert Meter 135
erstreckte. Dort waren auch ein paar Vorräte, und auf jeden Fall konnte man sich vorläufig dort in Sicherheit bringen. Zwei Falltüren führten hinunter, die größere aber war unter einem eindrucksvollen Trümmerhaufen verschüttet. Die kleinere im Küchenboden lag fast völlig frei. Einer nach dem anderen tasteten sie sich die Sprossenleiter hinunter, fanden Stroh und Holz und zündeten ein Feuer an. Auch ein Bündel Fichtenholzzweige fand sich. Im Licht improvisierter Fackeln sahen sie, daß die Vorräte an Kartoffeln und Mais unangetastet waren, ebenso das Munitionsdepot. Sie beratschlagten. »Wir könnten ein paar Tage hier bleiben, uns ausruhen und Kräfte sammeln«, sagte Pavel, aber Dov und Mendel waren anderer Ansicht. Dov sagte: »Die Deutschen haben in Rowno eine Garnison stationiert, und hier haben sie Verluste gehabt. Sie kommen bestimmt wieder, denn sie machen nichts halb. Wir aber haben keine schweren Waffen mehr, sind wenige und erschöpft, und in einem Keller wie diesem können wir nicht überleben, wir würden entweder vor Kälte umkommen oder im Rauch ersticken.« »Wir müssen wieder mit Gedale Verbindung aufnehmen«, meinte Mendel. »Wo steckt er?« »Das weiß ich nicht«, antwortete Dov. »Die letzte Nachricht von ihm lautete, daß er bei einer gut organisierten Gruppe von erfahrenen Partisanen ist als ihr Vizekommandant. Aber gerade weil sie Erfahrung haben, werden sie keine Spuren hinter136
lassen, und es wird schwer sein, sie ausfindig zu machen.« »Aber sie haben doch bestimmt Informanten in Rowno. Sie werden von dem Angriff der Deutschen auf das Kloster erfahren haben und jemanden herschicken, um zu sehen, was passiert ist«, sagte Line, die bisher geschwiegen hatte. Mendel wandte sich zu ihr um und betrachtete sie im unsteten Licht der Fackeln. Sie saß neben Leonid am Boden, klein und schmal, mit braunen Augen, kurzgeschnittenen schwarzen Haaren und abgekauten Fingernägeln wie ein Schulmädchen. Sie hatte mit leiser, aber bestimmter Stimme gesprochen. Schwer zu durchschauen, diese Frau, dachte er, nicht einfach, nicht geradeheraus. Nicht zu sagen, was für eine Gefährtin sie für Leonid sein mochte: sie konnten einer dem anderen Kraft geben, ebensogut aber konnten sie sich gegenseitig zerstören. Dann fiel sein Blick auf Sissl, und mit einem Mal empfand er das stumme Gewicht der Einsamkeit. Wehe dem Mann, der alleine ist. Mit einer Frau an seiner Seite, mit irgendeiner Frau, sähe auch für ihn der Weg anders aus. Pavel stimmte Lines Überlegung zu und fügte hinzu: »Wenn sie jemand schicken, dann bald.« Tatsächlich hörten sie am nächsten Morgen Hundegebell. Pavel stieg ins Freie hinauf und durch die Mauerrisse sah er, daß es Oleg war, der Waldhüter, der um die Klosterruinen strich. Man konnte ihm vertrauen, das hatte er schon mehrfach bewiesen. Er 137
benutzte seine Inspektionsrunden dazu, den Kontakt zwischen den Gruppen aufrechtzuerhalten und Nachrichten zu übermitteln. Ja, Ulybin hatte ihn geschickt, der Kommandant von Gedales Gruppe. Sie überwinterten in einem Lager in der Nähe von Turow, siebzig Kilometer westlich. Ulybin nahm nur einsatzfähige und ausgebildete Leute auf, sonst niemand. Es sei nicht schwierig, hinzukommen. »Haltet euch auf Waldwegen und vermeidet die Straßen. Es ist mühsamer, aber ihr riskiert nicht, den Patrouillen in die Arme zu laufen.« Sie folgten dem Rat des Waldhüters, aber der Marsch war beschwerlich. Der Schnee lag hoch und war weich, wer an der Spitze ging, versank darin bis zu den Knien und manchmal, in den Schneewehen, sogar bis zu den Hüften. Sie wechselten sich an der Spitze ab, aber auch so schafften sie nicht mehr als zwei, drei Kilometer in der Stunde, auch weil sie mit den Lebensmittelvorräten und der Munition, die sie im Keller gefunden hatten, bepackt waren, und weil Dov häufig stehenbleiben mußte. Es hatte aufgehört zu schneien, aber der Himmel hing weiterhin bedrohlich tief und war dermaßen finster, daß man die Orientierung verlor. Gegen Abend dämmerte im Osten genau das gleiche stumpfe, graue Licht wie im Westen. Sie versuchten, die von Oleg angegebene Richtung einzuhalten, indem sie auf das Moos an den Baumstämmen achteten. Der Wald bestand aber vorwiegend aus Birken, auf deren weißer Rinde kein Moos wächst. Im übrigen wurden 138
die Bäume immer seltener: auf bucklige Lichtungen folgten immer ausgedehntere, ebene Flächen, offenbar zugefrorene Sümpfe oder Seen. Keiner von ihnen kannte sich besonders gut aus in der Gegend, und bald überließen sich alle Pavels Führung. Pavel zeigte sich mutig und zuversichtlich. Er stand Dov zur Seite, den der lange Marsch wegen des verwundeten Knies besonders erschöpfte, zumal er von dem Schlag, den er während des deutschen Angriffs erhalten hatte, noch mitgenommen war. Pavel half ihm beim Gehen, stützte ihn und trug einen Großteil seines Gepäcks. Gleichzeitig versuchte er, ihm auch die Entscheidungen und Kommandos abzunehmen. »Hier lang, nicht wahr, Dov?« Pavel behauptete, den Norden zu fühlen, er wußte nicht wie; wußte es so, wie ein Wünschelrutengänger das Wasser fühlt. Die anderen reagierten mit Mißtrauen und Ungeduld; die wenigen Male jedoch, die sie auf eine Eiche trafen, war das Moos tatsächlich auf der Seite, wo Pavel es vorhergesehen hatte: im großen und ganzen stimmte die von ihm eingeschlagene Richtung. Außer unter der Müdigkeit litten sie auch unter dem Durst. Alle kannten sie aber den russischen Winter gut genug, um zu wissen, daß es sinnlos und gefährlich war, Schnee zu essen: bevor er noch den Durst löschte, reizte er den Gaumen und schwoll die Zunge auf. Gegen den Durst half kein Schnee und kein Eis, nur Wasser. Um aber Wasser zu bekommen, brauchte man Feuer, und um Feuer zu machen, brauchte man Holz. Sie trafen gar nicht 139
so selten auf Holz, das die Bauern in Stapeln zurückgelassen hatten, aber Pavel verbot, es anzurühren. Genauer: er verkündete im Kommandoton das Ergebnis eines Meinungsaustausches mit Mendel und Dov. »Kein Feuer, solange es hell ist, sagt Dov. Haltet durch, ertragt den Durst, von einem Tag Durst stirbt man nicht. Tagsüber sieht man den Rauch von weitem. Wir machen nachts Feuer. Auch Feuer sieht man von weitem, aber wir bilden rundherum einen Wall aus Schnee und unseren eigenen Körpern, so wärmen wir uns auch ein bißchen auf. Im übrigen aber glaube ich, daß wir bald einen Unterschlupf finden. In Gebieten wie diesem gibt es schon ab und zu eine Kate.« Das mochte nun Intuition sein oder das zweite Gesicht oder einfach ein billiger Zaubertrick, Pavel sollte jedenfalls recht behalten. Gegen Abend wurde auf der verlassenen Ebene eine leichte Erhebung sichtbar. Schwarz und teerglänzend ragten aus dem Schnee die Spitzen eines Lattenzauns hervor und der Dachgiebel einer Hütte. Sie gruben ein Loch in den Schnee, legten die Tür frei und zwängten sich alle miteinander in den engen Raum. Drinnen standen ein Kachelofen und ein Zinkeimer. An der Rückwand des Hauses war ein ansehnlicher Holzvorrat aufgestapelt. Es gelang ihnen, in der Ofenglut Kartoffeln zu rösten und im Eimer den Schnee zum Schmelzen zu bringen. Dicht beim Haus zündeten sie in einer Schneegrube ein Feuer an 140
und kochten in Blechnäpfen den Mais. Es wurde ein scheußlicher, geschmackloser Brei, der sie aber doch wärmte und Hunger und Durst stillte. Dann legten sie sich zum Schlafen nieder, die Männer am Boden, die zwei Frauen auf der Bettstatt oben auf dem Ofen. In wenigen Minuten waren alle eingeschlafen, bis auf Dov, den die Wunde am Knie und die zerschlagenen Glieder schmerzten. Er stöhnte im Halbschlaf und wälzte sich hin und her auf der Suche nach einer Position, die den Schmerz beruhigte. Gegen Mitternacht fuhr Mendel aus dem Schlaf. Zu hören war nichts, aber durchs Fenster fiel ein starker Lichtstrahl, der von einer Wand der Hütte zur anderen wanderte, wie um sie abzusuchen. Mendel ging zum Fenster. Einen Moment lang traf das Licht voll auf ihn, dann ging es aus. Als seine Augen sich wieder an die Dunkelheit gewöhnt hatten, erkannte er auf der hellen Schneefläche drei menschliche Gestalten. Es waren drei Männer in weißen Tarnanzügen, bewaffnet und auf Skiern. Einer von ihnen hielt ein Maschinengewehr in der Hand, an dessen Lauf eine elektrische Taschenlampe befestigt war. In diesem Moment zeigten Gewehrlauf und Lampe nach unten auf den Schnee. Dann fiel das Licht wieder beim Fenster herein, man hörte einen Pistolenschuß, und eine Stimme rief auf russisch: »Ihr seid unter Beschuß. Rührt euch nicht, nehmt die Hände hoch. Einer von euch soll unbewaffnet und mit erhobenen Händen herauskommen.« Der gleiche Befehl wurde dann von derselben 141
Stimme in gebrochenem Deutsch wiederholt. Dov wollte schon zur Tür gehen, aber Pavel kam ihm zuvor: noch bevor Dov aufgestanden war, stand er schon mit erhobenen Händen draußen. »Wer seid ihr? Woher kommt ihr, und wohin seid ihr unterwegs?« »Wir sind Soldaten, Partisanen, Juden. Wir sind nicht aus dieser Gegend, wir kommen aus Nowoselki.« »Ich habe auch gefragt, wohin ihr geht.« Pavel zögerte. Mendel ging mit erhobenen Händen hinaus und stellte sich neben ihn. »Genosse, wir waren fünfzig und haben zu zehnt überlebt. Wir haben gekämpft und unser Lager ist zerstört worden. Wir sind obdachlos und erschöpft, aber kampftauglich. Wir sind auf der Suche nach einer Gruppe, die uns aufnimmt. Wir wollen weitermachen in unserem Kampf, der auch der eure ist.« Der Mann in Weiß antwortete: »Ob ihr was taugt, das werden wir sehen. Überflüssige Mäuler können wir nicht brauchen. Bei uns kriegt nur zu essen, wer auch kämpft. Das hier ist unser Gebiet, und ihr habt Glück gehabt: wir haben eure Frauen auf dem Ofen gesehen und deshalb nicht geschossen. Sonst halten wir das anders. Auf den ersten Blick hin schießen ist fast nie verkehrt.« Der Mann lachte kurz auf und setzte dann hinzu: »Fast nie.« Mendel wurde es weit ums Herz. Es dämmerte. Zwei der Männer stiegen von den 142
Skiern und traten in die Hütte ein. Der dritte, der, der gesprochen hatte, blieb mit dem Gewehr im Anschlag draußen stehen. Er war groß, sehr jung und trug einen kurzgeschnittenen schwarzen Bart. Alle drei sahen in der gefütterten Kleidung unter den Tarnanzügen unförmig dick aus, was in Widerspruch zur Gewandtheit ihrer Bewegungen stand. Mit der Pistole in der Hand befahlen die zwei, daß sich keiner rühren solle, und mit raschen und gezielten Handgriffen durchsuchten sie alle, auch die Frauen, wobei sie sich mit einigen scherzhaften Bemerkungen bei ihnen entschuldigten. Sie fragten einen jeden nach Namen und Herkunft und trugen die Waffen und die Munition, die sie gefunden hatten, in einem Winkel zusammen. Dann gingen sie wieder hinaus und erstatteten ihrem Chef kurz Bericht, wovon man drinnen nichts verstehen konnte. Der junge Mann mit dem Bart senkte das Gewehr, schnallte die Skier ab, trat in die Hütte und setzte sich vertraulich am Boden nieder. »Für uns seid ihr wohl nicht gefährlich. Ich heiße Piotr. Wer ist euer Anführer?« Dov sagte: »Du siehst wohl, daß wir keine organisierte Gruppe sind. Wir sind die Überlebenden eines Familienlagers. Bei uns gab es Alte, Kinder und Leute, die nur kurz bei uns blieben. Ich war ihr Ältester oder Anführer, wenn du mich so nennen willst. Ich war Kampfgenosse von Manuel ›dem Pfeil‹ und von Onkel Wanka und bin im Februar letzten Jahres bei Bobrujsk verwundet worden. Ich war bei 143
der Luftwaffe. Außer Onkel Wanka war da auch Gedale, wir waren Freunde. Kennt ihr Gedale?« Piotr holte eine Pfeife aus der Tasche und zündete sie an. »Für uns seid ihr nicht gefährlich, aber ihr könntet es werden. Du hast weiße Haare, Chef; du warst Partisan; weißt du denn nicht, daß man Partisanen keine Fragen stellt?« Beschämt schwieg Dov. Allerdings, in Kriegszeiten wird man rasch alt. Er senkte den Kopf, schaute auf seine großen Hände, die ihm von den Gelenken herabhingen und massierte sich ab und zu das Knie. Piotr fuhr fort: »… aber wir werden euch schon nicht sitzenlassen, ob ihr nun kampftauglich seid oder nicht. Wenigstens vorläufig. Was dann geschieht, das weiß kein Mensch, weder unser Chef noch sonst jemand. Bei uns läuft die Zeit wie ein Hase: schnell und im Zickzack. Wer für den nächsten Tag einen Plan macht und ihn dann auch durchführt, der ist tüchtig; wer aber einen Plan für die nächste Woche aufstellen will, der ist verrückt. Oder ein deutscher Spitzel.« Er rauchte noch eine Weile ruhig vor sich hin, dann sagte er: »Unser Lager ist nicht weit weg. Wir könnten vor morgen abend dort sein. Behaltet eure Waffen, aber ungeladen; ihr müßt schon entschuldigen, aber die Munition behalten wir. Vorläufig. Später, wenn wir uns besser kennen, werden wir sehen.« Sie machten sich auf den Weg, die drei Skifahrer vorweg und die anderen hinterdrein. Der Schnee lag hoch und war pulverig, und das Gewicht der 144
drei reichte nicht aus, um ihn festzudrücken. Die Fußgänger kamen nur mühsam voran, bei jedem Schritt sanken sie ein und wurden immer langsamer. Am langsamsten war Dov. Er klagte nicht, aber er war sichtbar in Schwierigkeiten. Piotr überließ ihm seine Stöcke, was ihm aber auch nicht viel half: er keuchte, war bleich, Schweißperlen standen ihm im Gesicht, und er mußte häufig stehenbleiben. Piotr, der an der Spitze ging, schaute sich ab und zu besorgt um: sie waren auf freiem Gelände ohne Bäume oder sonstigen Schutz. Sümpfe wechselten sich ab mit flachen, kahlen Hügeln. Von der Höhe aus sah man hinter ihnen ihre Spur: tief wie eine Gletscherspalte zog sie sich schnurgerade hin wie ein Meridian. Am Ende der Spur waren sie: dreizehn Ameisen. Wenn ein deutscher Aufklärer daherkam, gab es kein Entrinnen. Zum Glück war der Himmel weiterhin bedeckt, er würde es aber nicht mehr lange bleiben. Piotr schnüffelte in der Luft wie ein Spürhund: es wehte ein schwacher Nordwind. Mit der Zeit würde er den Schnee aufwirbeln und dadurch die Spur verwischen, vorher aber würde es aufklaren. Es drängte ihn, ins Lager zu kommen. Er trat aus der Spur und ließ die anderen an sich vorbei. »Bist müde, Onkel, nichts für ungut. Komm, steig hinten auf meine Skier und halt dich an mir fest. So geht’s leichter.« Wortlos folgte Dov, und die beiden setzten sich wieder an die Spitze. Das war von Vorteil für alle: 145
unter dem verdoppelten Gewicht wurde der Schnee fester zusammengedrückt und die Fußgänger sanken fast gar nicht mehr ein. Line, die leichteste von allen, trug ein Paar viel zu große Militärstiefel und segelte damit wie auf Tellern über den Schnee. Leonid wich ihr keine Handbreit von der Seite. Sie marschierten bis tief in die Nacht, übernachteten in einem Biwak, das Piotr kannte, und gingen am nächsten Morgen weiter. Früher als erwartet, in den ersten Nachmittagsstunden und bei strahlendem, unnatürlich warmem Sonnenschein rückte das Lager in Sichtweite. »In Sichtweite« nur für denjenigen, wohlgemerkt, der wußte, wo und wie es lag. Piotr wies auf ein ausgedehntes Waldstück, das wie ein feiner Pinselstrich am Horizont den Schnee vom winterlich blauen Himmel schied. Dort irgendwo zwischen Bäumen war das Lager von Ulybins Gruppe. Bei Einbruch der Nacht würden sie dort ankommen, allerdings nicht in gerader Linie. Diese Erfahrung hatten sie schon teuer bezahlt: auf keinen Fall bei klarem Wetter und bei Windstille zu deutliche Spuren hinterlassen. Ein paar Umwege waren nötig. Im Schutz der Bäume würden sie dann wieder direkt auf das Lager zusteuern. Die ehemaligen Sumpfbewohner glaubten zu träumen. Als vorläufiger Unterschlupf war Nowoselki intelligent improvisiert gewesen; das Lager aber, in das sie hier eintraten, war Ergebnis professioneller Arbeit, perfektioniert durch dreijährige Erfahrung. 146
Mendel und Leonid drängten sich Vergleiche auf zwischen der vorbildlichen Organisation hier in Ulybins Gruppe und den leichtsinnigen und phantastischen Unternehmungen von Wenjamins herumstreunender Bande. Auf den ersten flüchtigen Blick kaum erkennbar, standen zwischen dichten Bäumen drei Holzbarakken, die die drei Seiten eines gleichseitigen Dreiecks bildeten und fast vollständig unter Bodenniveau lagen. Im Zentrum des Dreiecks lagen, ebensowenig sichtbar, die Küche und der Brunnen. Auf die Idee, das Kaminrohr so zu verlegen, daß sich der Rauch im Geäst verfing, war man also nicht nur in Nowoselki gekommen: hier war das gleiche gemacht worden. Wenn die Zeiten dafür reif sind, kommen bestimmte Erfindungen an verschiedenen Orten gleichzeitig auf, und unter bestimmten Umständen gibt es für die verschiedenen Probleme nur eine einzige Lösung. In Nowoselki hatte sich Dov über Leonids Beruf lustig gemacht: Buchhalter konnte er keinen brauchen. In Turow gab es einen, besser gesagt einen Furier, der sämtliche Aufgaben, die zu seinem Amt gehörten, voll ausüben konnte. Gleichzeitig war er Vertreter des NKVD und politischer Kommissar, und mit flinker Effizienz nahm er sich der Neuankömmlinge an: Name, Vatername, Truppenzugehörigkeit bei den Soldaten, Alter, Beruf, Registrierung der Ausweispapiere (aber die wenigsten von ihnen hatte welche). Und dann ins Bett, den Rest am nächsten Morgen. Jawohl, tatsächlich hieß 147
es: ins Bett. In jeder Baracke stand ein Ofen, und auf einem großen Holzbrett war frisches Stroh aufgeschüttet. Die Luft war warm und trocken, obgleich der Fußboden beinah zwei Meter unter Bodenniveau lag. In einem Wirbel konfuser Eindrücke schlief Mendel ein: er war erschöpft und fühlte sich entrückt, aber doch beschützt, weniger Vater als Sohn, sicherer, aber weniger frei, daheim und doch wieder wie in der Kaserne. Bald aber übermannte ihn der Schlaf wie ein mitfühlender Schlag auf den Kopf. Am nächsten Morgen hatte das Lager ihnen nichts Geringeres zu bieten als ein heißes Bad, getrennt für Männer und Frauen, wie es sich gehört. Es folgte die Entlausung, oder besser die dringende Aufforderung zu gewissenhafter Selbstkontrolle, und die Ausgabe von Wäsche, die zwar rauh und nicht neu, aber sauber war. Schließlich eine wunderbare, ausgiebige und heiße kaša, die sie gemeinsam mit richtigen Löffeln und aus richtigen Aluminiumtellern verzehrten, gefolgt von reichlich süßem Tee. Der Tag versprach ruhig zu werden, mit ausgesprochen mildem Klima für die Jahreszeit. An den sonnigen Stellen fing der Schnee an zu tauen, was eine gewisse Unruhe auslöste. »Für uns ist der Frost gut«, sagte Piotr, der den Hausherrn spielte, zu Mendel, »wenn es taut, müssen wir verdammt aufpassen, sonst überschwemmt es uns die Baracken, und wir versinken im Schlamm.« Stolz erläuterte er ihnen die Elektrizitätszentrale. Ein findiger Mechaniker hatte das Kegelpaar einer 148
alten Mühle an die Gangschaltung eines deutschen Lasters angeschlossen. Ein Pferd mit verbundenen Augen ging langsam im Kreis und betrieb durch die Übersetzung des Räderwerks einen Dynamo, der seinerseits eine Gruppe von Batterien auflud. Wenn alles reibungslos funktionierte, lieferten die Batterien ausreichend Strom für das elektrische Licht und für das Funkgerät. »Im Herbst haben wir anstelle des Pferdes sieben Tage lang vier ungarische Kriegsgefangene gehabt.« »Und habt ihr sie dann erschossen?« »Wir erschießen nur die Deutschen, und auch das nicht immer. Wir sind nicht wie sie, uns macht das Töten keinen Spaß. Wir haben sie so, wie sie waren, mit verbundenen Augen, am anderen Flußufer abgesetzt und laufen lassen. Es war ihnen wohl ein bißchen schwindlig.« Piotr warnte sie davor, das Lager zu verlassen, sie sollten sich nicht weiter als dreißig Meter von den Baracken entfernen. »Ringsum ist alles vermint, der ganze Wald ist vermint. Einige Minen liegen drei Fingerbreit unter der Erde, andere sind paarweise verlegt und unter dem Schnee mit einer Schnur verbunden. Das war ganze Arbeit: mehrere Nächte hintereinander haben wir nach und nach ein ganzes deutsches Lager entmint und die Minen, die wir dort wegholten, hier verlegt. Nicht einen Mann haben wir dabei verloren, und seitdem lassen uns die Deutschen in Ruhe. Wir jedoch lassen sie nicht so sehr in Ruhe.« 149
Die Zehnergruppe, die Piotr da in einer Hütte aufgestöbert hatte und beinahe erschossen hätte, erregte seine Neugier und sein Interesse. Besonders freundschaftlich war er Mendel gegenüber. Er zeigte ihm ein Meisterstück, das Michail, der Funker, sich ausgedacht und ohne fremde Hilfe verwirklicht hatte. In einem Winkel seiner Baracke fand sich eine alte, noch mit Pedal betriebene Setzmaschine und ein kleiner Vorrat an kyrillischen und lateinischen Lettern. Michail war kein Setzer, aber er hatte sein Bestes getan. Auf zwei nebeneinanderstehenden Seiten hatte er ein zweisprachiges Propagandaplakat montiert, das haargenau denjenigen glich, mit denen die Deutschen die Städte und Dörfer des besetzten Gebiets überzogen hatten. Den deutschen Text hatte er von den deutschen Originalplakaten abgeschrieben. Er versprach Wiedereinführung des Privateigentums, Öffnung der Kirchen, forderte die Jugendlichen auf, dem Arbeitsdienst beizutreten und drohte schwere Strafen für Partisanen und Saboteure an. Der russische Text daneben war allerdings nicht die Übersetzung des deutschen, sondern besagte genau das Gegenteil: »Junge Sowjetbürger! Glaubt den Deutschen nicht. Sie haben unser Land besetzt und ermorden unsere Landsleute. Arbeitet nicht für sie! Wenn ihr nach Deutschland geht, erwarten euch Hunger und Schläge, und sie werden euch brandmarken wie das Vieh. Wenn ihr zurückkommt (wenn ihr zurückkommt), wird die Gerechtigkeit des Sozialismus mit euch abrechnen. Keinen Mann, 150
nicht ein Kilo Weizen, nicht eine Information für Hitlers Schlächter! Kommt zu uns, kämpft mit uns in der Partisanenarmee!« In beiden Versionen wimmelte es von orthographischen Fehlern. Das war aber nicht die Schuld des Funkers: in dem kleinen Letternvorrat hatte es nur wenige »a« und »e« gegeben, und da hatte er die Buchstaben eingesetzt, die ihm am passendsten erschienen waren. Mehrere hundert Exemplare hatte er davon gedruckt, und sie waren bis nach Baranowitschi, Rowno und Minsk verteilt und angeschlagen worden. Es gab eine Anzahl leichter Waffen zu reparieren: im Lager von Turow fehlte es nicht an Arbeit für Mendel. Wenn er keine bestimmten Verpflichtungen hatte, wich Piotr ihm nicht von der Seite. »Alle zehn seid ihr Juden?« »Nein, nur sechs von uns: ich, die zwei Frauen, der Junge, der immer mit der Kleinen zusammen ist, der Alte, den du auf deine Skier genommen hast und Pavel Jurevič, der kräftigste von allen. Die anderen vier sind Versprengte, die zu uns gekommen sind, kurz bevor die Deutschen unser Lager zerstörten.« »Warum wollen die Deutschen euch alle umbringen?« »Das ist schwer zu erklären«, antwortete Mendel. »Dazu müßte man die Deutschen verstehen, das ist mir aber nie so recht gelungen. Die Deutschen meinen, ein Jude ist weniger wert als ein Russe und ein 151
Russe weniger als ein Engländer und ein Deutscher ist am meisten wert von allen. Dann meinen sie auch, daß einer, der mehr wert ist als ein anderer, jedes Recht über ihn hat, daß er ihn zum Sklaven machen kann oder ihn umbringen. Vielleicht sind nicht alle wirklich davon überzeugt, aber so was bringen sie ihnen in der Schule bei, und das sagt auch ihre Propaganda.« »Ich glaube, daß ein Russe mehr wert ist als ein Chinese«, sagte Piotr nachdenklich. »Aber wenn China Rußland kein Unrecht zufügt, käme es mir doch nie in den Sinn, alle Chinesen umzubringen.« Mendel sagte: »Meiner Meinung nach ist es ein Unsinn zu sagen, einer ist mehr wert als ein anderer. Ein Mann kann stärker sein als ein anderer, aber weniger klug. Oder gebildeter, aber weniger mutig. Oder großzügiger, aber auch dümmer. So hängt sein Wert davon ab, was man von ihm erwartet. Einer kann in seinem Beruf sehr tüchtig sein, zu einer anderen Arbeit aber überhaupt nicht taugen.« »Das stimmt ganz genau«, sagte Piotr, und sein Gesicht hellte sich dabei auf. »Ich habe als Kassierer im Komsomol gearbeitet, aber ich war zerstreut, verrechnete mich, und alle lachten mich aus und sagten, ich sei zu nichts nütze. Dann kam der Krieg; ich habe mich gleich freiwillig gemeldet, und seitdem habe ich das Gefühl, ich bin mehr wert. Es ist seltsam: töten macht mir keinen Spaß, schießen aber wohl, und da kann es schon vorkommen, daß mir auch das Töten keinen großen Eindruck mehr macht. Am Anfang 152
war das anders, ich hatte auch eine blödsinnige Vorstellung. Ich glaubte nämlich, daß die Deutschen anstelle unserer Haut einen Stahlpanzer hätten, und daß die Kugeln von ihnen abprallten. Jetzt glaube ich das nicht mehr, ich habe schon einige Deutsche getötet und bemerkt, daß sie genauso weich sind wie wir, wenn nicht noch weicher. Und du, Jud, wie viele Deutsche hast du getötet?« »Das weiß ich nicht«, antwortete Mendel. »Ich war bei der Artillerie. Weißt du, das ist nicht wie mit dem Gewehr; man stellt das Ding auf, richtet es aus, schießt und sieht nichts. Wenn’s hoch kommt, sieht man den Einschlag in fünf oder zehn Kilometern Entfernung. Wer weiß, wie viele durch meine Hand umgekommen sind. Vielleicht tausend, vielleicht nicht einmal einer. Die Befehle bekommst du per Telefon oder Radio über Kopfhörer: drei Grad nach links, ein Grad weniger Höhe, du gehorchst und aus. Das ist wie bei den Bombern, oder wenn einer Säure in einen Ameisenhaufen schüttet, um die Ameisen auszurotten: Hunderttausende von Ameisen sterben, und du hörst nichts davon, du bemerkst es nicht einmal. In meinem Dorf haben die Deutschen die Juden eine Grube ausheben lassen, dann am Rand der Grube aufgestellt und alle erschossen, auch die Kinder und einige Christen, die Juden versteckt hatten, und unter den Erschossenen war meine Frau. Seitdem meine ich, daß Töten zwar häßlich ist, daß wir die Deutschen aber töten müssen. Aus der Ferne oder von nahem, auf deine Weise oder auf unsere. Denn 153
das ist die einzige Sprache, die sie verstehen, das einzige Argument, das sie überzeugt. Schieße ich auf einen Deutschen, so ist er gezwungen zuzugeben, daß ich, ein Jude, mehr wert bin als er. Das ist seine Logik, verstehst du, nicht meine. Sie verstehen bloß die Gewalt. Freilich, einen Sterbenden zu überzeugen hilft nicht viel, aber auf die Dauer begreifen schließlich auch seine Kameraden etwas. Die Deutschen haben erst nach Stalingrad angefangen, etwas zu begreifen. Eben darum ist es wichtig, daß es jüdische Partisanen gibt und Juden in der Roten Armee. Wichtig, aber auch schrecklich. Nur indem ich einen Deutschen töte, überzeuge ich die anderen Deutschen davon, daß ich ein Mensch bin. Und dabei haben wir doch ein Gesetz, das besagt: Du sollst nicht töten.« »Ihr seid aber auch seltsam, ihr seid wirklich seltsame Leute. Schießen ist eins, nachdenken etwas anderes. Wenn einer zuviel nachdenkt, dann schießt er am Ende nicht mehr geradeaus, und ihr denkt immer zuviel nach. Vielleicht bringen euch die Deutschen deswegen um. Schau, ich zum Beispiel, ich bin von klein auf im Komsomol, und für Stalin würde ich mein Leben hingeben, wie es mein Vater getan hat; ich glaube an Christus den Welterlöser so wie meine Mutter; ich trinke gern Wodka, und die Mädchen gefallen mir, ich schieße auch gern, und es geht mir gut hier in der Ebene und bei der Jagd auf Faschisten. Ich mache mir darüber aber weiter keine Gedanken. Wenn eine meiner Ideen mit einer anderen nicht übereinstimmt, so ist mir das ganz gleich.« 154
Mendel hörte ihm mit einem Ohr und einer Gehirnhälfte zu, während die andere Hälfte und seine Hände damit beschäftigt waren, die Schrauben und Federn eines automatischen Gewehrs, das er auseinandergenommen hatte, mit Petroleum zu entrosten. Er nützte diese vertrauliche Plauderei, um Piotr eine Frage zu stellen, die ihm und Dov am Herzen lag: »Was ist mit eurem Vizekommandanten? War hier nicht Gedale bei euch, Gedale Skidler, ein halb russischer, halb polnischer Jude, der bei Kossowo gekämpft hat? Ein Langer mit Hakennase und großem Mund?« Piotr zögerte mit der Antwort, er schaute in die Luft, kraulte sich den Bart und tat so, als müsse er sich längstvergangene Ereignisse erst wieder in Erinnerung rufen. Dann sagte er: »Ja, ja, Gedale, sicher doch. Er war aber nie Vizekommandant, nur manchmal, wenn Ulybin nicht da war, gab er Befehle. Er ist auf Mission, Gedale. Er wird schon zurückkommen, in einer Woche, vielleicht auch in zwei oder drei. Es könnte aber auch sein, daß er versetzt worden ist; bei den Partisanen ist nie etwas hundertprozentig sicher.« Dieser Piotr läuft besser Ski, als er Lügen erzählt! dachte Mendel bei sich. Lachend sagte er dann: »War das auch einer von denen, die zuviel nachdenken?« »Nicht, daß er zuviel nachdachte, das nicht grad, das war nicht sein Fehler, aber seltsam war er auch. 155
Ich hab dir’s ja schon gesagt, ihr Juden seid alle ein bißchen komisch, so oder so, nichts für ungut. Dieser Gedale schoß fast so gut wie ich, ich weiß auch nicht, wer ihm das beigebracht hat. Aber er schrieb Gedichte und hatte immer eine Violine bei sich.« »Komponierte er Lieder und spielte sie dann auf der Violine?« »Nein, die Gedichte waren eine Sache, die Violine eine andere. Er spielte am Abend. Im August, als die Deutschen die große Säuberungsaktion um Luninez machten, da hatte er sie bei sich. Es ist uns gelungen, durch die Absperrung aus der Umzingelung hinauszukommen, und da hat ein Heckenschütze auf ihn geschossen. Die Kugel hat die Violine auf beiden Seiten durchlöchert und verlor so ihre Stoßkraft, und er blieb unverletzt. Die Löcher hat er dann mit Fichtenharz und mit Pflaster aus der Feldapotheke gestopft, und seither trägt er die Violine immer bei sich. Er sagte, sie klänge jetzt besser als vorher, und er hat ihr sogar eine Bronzemedaille umgehängt, die wir bei einem toten Ungarn gefunden haben. Da siehst du, was für ein komischer Vogel er war.« »Wären wir alle gleich, dann wäre die Welt langweilig. Wir haben einen bestimmten Lobspruch, mit dem wir Gott danken, wenn uns jemand begegnet, der anders ist als die anderen: ein Zwerg, ein Riese, ein Neger oder einer voller Warzen. Wir sagen dann: ›Gelobt seist du Herr, unser Gott, Herr der Welt, der du Vielfalt in die Gestalt deiner Geschöpfe gelegt hast.‹ Wenn man ihn für Warzen lobt, um wieviel 156
mehr muß man ihn dann loben für einen Partisanen, der Geige spielt?« »Du hast recht, und gleichzeitig machst du einen wütend. Auch Gedale war so. Immer wollte er zu allem seine Meinung abgeben, und er verstand sich nicht mit Ulybin und auch nicht mit Maksim. Maksim ist der Furier oder Schreiberling, der die Buchhaltung führt und vom NKVD kommt. Sie haben ihn aus Moskau mit dem Fallschirm hierhergeschickt, damit er die Disziplin aufrechterhält, als ob Disziplin das Wichtigste wäre! Im übrigen verstehe auch ich mich nicht so gut mit Maksim.« Mendel wollte das Eisen schmieden, solange es heiß war. »Also, was war denn nun zwischen dem Kommandanten und Gedale?« »Eh, es gab Streit, Anfang des Winters. Es war schon eine Zeitlang, daß sie verschiedener Meinung waren, Ulybin und Gedale. Nein, nicht wegen der Violine, es gab ernsthaftere Gründe. Gedale hätte durch die Wälder ziehen und eine Gruppe von jüdischen Partisanen zusammenstellen wollen. Ulybin aber sagte, daß die Befehle aus Moskau anders lauteten. Die jüdischen Kämpfer sollten einzeln in die russischen Abteilungen eingegliedert werden. Zum Bruch ist es dann gekommen, als Gedale einen Brief schrieb und ihn ohne Erlaubnis Ulybins nach Nowoselki schickte. Ich weiß nicht, was in dem Brief stand, und kann dir auch nicht sagen, wer recht hatte. Tatsache ist, daß Ulybin wütend war und brüllte, 157
daß man es durch’s ganze Lager hörte, und mit der Faust auf den Tisch schlug.« »Was brüllte er?« »Ich hab es nicht recht verstanden«, antwortete Piotr, wobei er über und über rot wurde. »Was schrie er?« wiederholte Mendel. »Er schrie, daß er in seiner Abteilung von Dichtern nichts mehr hören wollte.« »Er wird doch nicht gerade ›Dichter‹ gesagt haben«, meinte Mendel. »Nein, er hat nicht Dichter gesagt.« Piotr schwieg einen Moment, dann setzte er hinzu: »Aber sag mal, ist es wahr, habt wirklich ihr Christus ans Kreuz geschlagen?« Im Lager von Turow genossen die Flüchtlinge aus Nowoselki Sicherheit und einen gewissen materiellen Wohlstand, aber sie fühlten sich nicht wohl. Die vier aus Osaritschi wurden regulär dem Militärdienst eingegliedert, die anderen sechs, einschließlich der Frauen, wurden mit wechselnden Aufgaben betraut. Ulybin hatte sie einige Tage nach ihrer Ankunft mit distanzierter Höflichkeit empfangen und sich dann nicht mehr blicken lassen. Nach und nach waren die Temperaturen gesunken. Gegen Mitte Januar waren es -15°, Ende Januar -30°. Kleine Patrouillen von Skifahrern schwärmten vom Lager aus zur Lebensmittelbeschaffung oder zu Stör- und Sabotageaktionen. Bruchstückhaft erfuhr Mendel durch Piotr davon. 158
Eines Tages ließ Ulybin anfragen, wer von ihnen Deutsch spräche. Alle sechs Juden beherrschten das Deutsche mehr oder weniger gut, mit mehr oder weniger deutlichem jiddischem Akzent. Warum diese Anfrage? Worum ging es? Über Maksim ließ Ulybin sie wissen, daß er mit dem Mann mit der besten Aussprache zu reden wünsche, Frauen kämen in dieser Angelegenheit nicht in Frage. An jenem Abend gab es in der gut beheizten Baracke ein besonderes Essen. Kurz nach Sonnenuntergang war ein Schlitten ins Lager gekommen, hatte eine Kiste abgeladen und war gleich wieder weitergefahren. Beim Abendessen gab der Furier an jeden eine ungewöhnlich geformte Konservenbüchse aus. Mendel drehte sie verwundert zwischen den Fingern hin und her: sie war schwer, trug kein Etikett und der fest verschweißte Deckel hatte einen kleineren Durchmesser als der äußere Büchsenrand. Er sah, wie seine Tischgenossen mit der Messerspitze zwei Löcher in den äußeren Rand um den Büchsendeckel machten: ein großes und ein kleines, in das größere etwas Wasser gossen und es dann mit Brotkrumen verschlossen. Neugierig geworden folgte er ihrem Beispiel und spürte, wie die Büchse sich erwärmte, bis sie ihm die Finger verbrannte, während aus dem freien Loch der wohlbekannte Geruch von Acetylen stieg. Wie die anderen hielt er ein angezündetes Streichholz daran, und bald darauf hatte der Tisch eine Krone aus lauter kleinen Flämmchen auf, ganz wie in den Feenmärchen. In der Büchse 159
war Fleisch mit Erbsen und im äußeren Hohlraum Karbid, das mit dem Wasser reagierte und dadurch den Büchseninhalt erwärmte. Während draußen der Sturm heulte, gab drinnen Pavel beim flackernden Licht der Flämmchen eine Vorstellung. Er mimte Verärgerung: »Ja was? Habt ihr mich vergessen? Oder tut ihr nur so, als wüßtet ihr es nicht? Aber versteht sich doch von selbst, aber sicher doch, aber ganz bestimmt! Ich spreche Deutsch wie ein Deutscher, wenn ich will, besser als Hitler, der Österreicher ist. Ich spreche es mit Hamburger Akzent, mit Stuttgarter oder Berliner Akzent, ganz nach Wunsch. Oder akzentfrei, wie im Radio. Ich spreche auch Russisch mit deutschem Akzent oder Deutsch mit russischem Akzent. Sag ihm das, dem Kommandanten. Sag ihm, daß ich Schauspieler gewesen und in der Welt herumgekommen bin. Und auch, daß ich Ansager beim Rundfunk war und im Radio auch komische Nummern gemacht habe. A propos: kennt ihr die Geschichte von dem Juden, der Heringsköpfe aß?« Er erzählte sie auf russisch, in lächerlich jiddischem Tonfall, und erzählte dann noch eine und noch eine; er schöpfte dabei aus dem reichen Schatz an Ausdrucksformen, den die subtile und surreale Selbstironie der Juden als notwendiges Gegengewicht zur Subtilität und surrealen Formelhaftigkeit des Rituals hervorgebracht hat – die wohl reifste Frucht an Zivilisation und Raffinesse, die die verdrehte Welt der aschkenasischen Juden im Verlauf der 160
Jahrhunderte herausdestilliert hat. Seine Gefährten lächelten verlegen, die Russen hielten sich den Bauch und lachten schallend. Sie gaben Pavel dröhnende Schläge auf den kräftigen Rücken und ermunterten ihn immer wieder weiterzumachen. Der hätte sich nichts Besseres wünschen können: seit wieviel Jahren hatte er schon kein Publikum mehr? »… und die Geschichte von den Jeshiva Bucherim, den Schülern der Rabbinerschule, die zum Militärdienst eingezogen wurden, kennt ihr die nicht? Es war zur Zeit des Zaren, und damals gab es viele Rabbinerschulen, von Litauen bis in die Ukraine. Man brauchte mindestens sieben Jahre, um Rabbiner zu werden, und die Studenten waren fast alle arm. Aber auch die Bessergestellten sahen blaß und mager aus, denn ein Jeshiva Bucher darf nur Brot und Salz essen und muß auf den Schulbänken schlafen, so daß man noch heute sagt: ›Nebbech, der Arme, ist er mager wie ein Jeshiva Bucher.‹ Kurz und gut: Kommt die Musterungskommission in eine Rabbinerschule und sämtliche Schüler werden der Infanterie zugeteilt. Ein Monat vergeht und die Ausbilder bemerken, daß alle Schüler hervorragend zielen: sie werden alle Scharfschützen. Warum? Das kann ich euch nicht sagen, die Geschichte erzählt es nicht. Vielleicht, weil das viele Talmudstudieren den Blick schärft. Kommt der Krieg, und das Regiment der Talmudisten rückt an die Front ein, direkt in die erste Linie. Sie sind im Schützengraben mit dem Gewehr im Anschlag, und der Feind rückt an. Der Kommandant ruft: ›Feuer!‹. 161
Nichts, keiner schießt. Der Feind kommt näher. Der Kommandant schreit noch einmal ›Feuer!‹, und wieder gehorcht keiner. Der Feind ist inzwischen nur noch einen Steinwurf weit entfernt. ›Feuer, hab ich gesagt, verdammte Hurensöhne! Warum schießt ihr denn nicht?‹ brüllt der Kommandant.« Pavel unterbrach sich. Ulybin war eingetreten, hatte sich an den Tisch gesetzt, und sofort war das angeregte Gemurmel unter den Zuhörern verstummt. Ulybin war ungefähr dreißig, mittelgroß, muskulös und dunkel: er hatte ein ovales, undurchdringliches Gesicht und war stets frisch rasiert. »Nun, warum machst du denn nicht weiter? Laß hören, wie es ausgeht«, sagte Ulybin. Pavel fuhr fort, aber weniger sicher und weniger lebendig. »Da sagt einer der Studenten: ›Sehen Sie denn nicht, Herr Hauptmann? Das sind keine Pappfiguren, das sind Menschen wie wir. Wir könnten sie verletzen, wenn wir schießen würden.‹« Die Partisanen um den Tisch deuteten ein zögerndes Gelächter an, wobei sie abwechselnd Ulybin und Pavel anschauten. Ulybin sagte: »Ich habe den Anfang nicht gehört. Wer wollte nicht schießen?« Pavel gab eine ziemlich verworrene Zusammenfassung vom Anfang der Geschichte, und Ulybin fragte eisig: »Und ihr, was würdet ihr tun?« Es entstand eine Pause, dann ließ sich leise Mendels Stimme vernehmen: »Wir sind keine Jeshiva Bucherim.« 162
Ulybin antwortete nicht, aber kurz darauf wandte er sich an Pavel: »Bist du das, der Deutsch spricht?« »Bin ich.« »Morgen kommst du mit mir. Ist einer unter euch, der auch ein bißchen Elektriker ist?« Mendel hob die Hand: »In meinem Dorf reparierte ich die Radios.« »Gut. Du kommst auch mit.« Am folgenden Morgen ließ Ulybin Mendel und Pavel um vier Uhr früh wecken. Es war noch stockdunkel, und während sie rasch etwas frühstückten, erklärte er ihnen den Zweck der Expedition. Einer der Partisanen hatte auf seinem Rundgang durch den Wald entdeckt, daß die Deutschen zwischen dem Dorf Turow und der Bahnstation Schitkowitschi eine Telefonleitung verlegt hatten. Sie hatten keine Masten aufgestellt, sondern die Leitung einfach an die Bäume genagelt. Der Partisan war auf einen Baum geklettert und hatte sie durchgeschnitten. Voller Stolz auf seine Initiative war er dann ins Lager zurückgekehrt und hatte sich von Ulybin einen Esel schimpfen lassen müssen: Telefonleitungen schneidet man nicht durch, sondern hört sie ab. Im Lager von Turow gab es ein Feldtelefon, das noch nie benützt worden war. Konnte man die Verbindung wiederherstellen, sich mit dem Feldtelefon dazwischenschalten und hören, was die Deutschen sagten? Ja, antwortete Mendel, das sei möglich, vorausgesetzt, sie hätten ein Mikrophon. Sie müßten sofort los, sagte Ulybin, 163
bevor die Deutschen bemerken, daß die Verbindung unterbrochen sei und Verdacht schöpften. Zu viert machten sie sich auf den Weg: Ulybin, Mendel, Pavel und Fedja, der Junge, der die Leitung entdeckt und durchgeschnitten hatte. Fedja war noch keine siebzehn Jahre alt, war in Turow geboren, weniger als eine Stunde Fußmarsch vom Lager entfernt. Er kannte diese Wälder, seit er als Kind hier Vogelnester ausgehoben hatte. Geräuschlos und sicher wie ein Luchs flog er auf den Skiern nur so durch die Dunkelheit und blieb ab und zu stehen, um auf die anderen zu warten. Ulybin lief leidlich gut; Mendel, der aus der Übung war und dem die Bindungen zu weit waren, schleppte sich mühsam vorwärts. Pavel hatte zum ersten Mal im Leben Skier unter den Füßen, trotz der strengen Kälte schwitzte er, fiel oft hin und fluchte leise vor sich hin. Ulybin war ungeduldig. Der Vorsicht halber sollten sie die Verbindung besser noch vor Tagesanbruch reparieren. Ein Glück, daß die Stelle, wie Fedja sagte, nicht weit weg war. Nach einer Stunde Fußmarsch waren sie da. Mendel hatte einige Meter Kabel mitgenommen. Er schnallte die Skier ab, stieg auf Pavels Schultern, und in wenigen Minuten verband er die beiden Enden der Leitung, die im Schnee baumelten. Dazu hatte er die Handschuhe ausziehen müssen, und er spürte, wie ihm vom Frost rasch die Finger taub wurden. Er mußte seine Arbeit unterbrechen und sich die Finger lange mit Schnee abreiben, während Ulybin auf den Himmel schaute, wo es langsam dämmerte, und vor 164
Kälte und Ungeduld mit den Füßen stampfte. Dann schloß er einen der Drähte des Mikrophons mit dem Kabel in der Luft zusammen, stieg herunter, rammte einen Pflock in die Erde und verband ihn mit dem anderen Draht. Ulybin riß ihm das Mikrophon aus der Hand und hielt es sich ans Ohr. »Was hörst du?« fragte Mendel mit gedämpfter Stimme. »Nichts. Bloß ein Rauschen.« »Das ist gut«, flüsterte Mendel, »ein Zeichen, daß der Kontakt funktioniert.« Ulybin hielt Pavel das Mikrophon hin. »Bleib du dran, du verstehst Deutsch. Wenn du was hörst, gib mir ein Zeichen.« Dann fragte er Mendel: »Wenn wir miteinander sprechen, können sie das hören?« »Es genügt, wenn wir nicht zu laut reden und das Mikrophon mit den Handschuhen abdecken. Wenn es nötig ist, können wir auch den Erdkontakt unterbrechen, das ist kein Problem.« »Gut. Warten wir, bis es Tag ist. Dann gehen wir und kommen morgen abend wieder. Wenn dir kalt ist, Pavel, löse ich dich ab.« Tatsächlich lösten sie sich alle vier am Mikrophon ab. Wem kalt war, der ging und schlug sich in einiger Entfernung vom Mikrophon Hände und Füße warm. Gegen sieben nickte Fedja lebhaft mit dem Kopf und übergab Pavel das Mikrophon. Ulybin nahm ihn beiseite: »Was hast du gehört?« 165
»Ich habe einen Deutschen gehört, der ›Turow, Turow‹ rief. Aber in Turow antwortete niemand.« Im selben Moment machte Pavel Zeichen mit der vermummten Hand und nickte mehrmals mit dem Kopf: es hatte jemand geantwortet. Er lauschte ein paar Minuten, dann sagte er: »Sie haben aufgehört. Schade.« »Was haben sie gesagt?« »Nichts Besonderes, aber ich fand’s witzig. Da war ein Deutscher, der jammerte, daß er wegen Magenschmerzen nicht hatte schlafen können, und er fragte einen anderen Deutschen, ob er ein bestimmtes Medikament hätte. Der mit den Magenkrämpfen hieß Hermann und der andere Sigi. Sigi hatte das Medikament nicht, gähnte, das Gespräch war ihm lästig und er legte auf. Ich wollte ihm schon sagen, daß wir die rechte Medizin für ihn hätten. Ob sie mich wohl gehört hätten?« »Wir sind nicht zum Witzereißen hier«, sagte Ulybin. Dann fügte er hinzu, er habe trotz des Risikos beschlossen, daß sie noch ein paar Stunden hierbleiben würden: die Gelegenheit war zu verlockend. Tatsächlich hörten sie etwas später ein interessanteres Gespräch mit. Diesmal war es Sigi, der von Turow aus Hermann anrief. Er teilte mit, daß er mehrfach versucht habe, sich mit der Garnison von Medwedka in Verbindung zu setzen, aber in Medwedka antworte niemand. Hermann, der noch immer Schmerzen hatte, gab zurück, die vier Männer in Medwedka könnten ausgegangen sein, Sigi solle sich weiter keine 166
Sorgen machen. Aber Sigi wollte der Sache auf den Grund gehen: er hatte von »Banditen« in der Gegend reden hören. Hermann, der entweder ranghöher oder einfach älter war als Sigi, gab ihm einen Rat: er solle einen seiner Männer als Holzfäller verkleiden, mit Stricken und einer Axt, und ihn von Turow nach Medwedka schicken, um zu sehen, was los sei. »Wie weit ist Medwedka entfernt?« fragte Ulybin Fedja. »Von hier werden es sechs, sieben Kilometer sein.« »Und wie weit ist es von Turow nach Medwedka?« »Ungefähr doppelt so weit.« »Wie groß ist Medwedka?« »Medwedka ist kein Dorf, bloß eine Kolchose. Früher arbeiteten dort ungefähr dreißig Bauern, aber jetzt ist sie, glaube ich, verlassen.« »Geht ihr zwei«, sagte Ulybin zu Fedja und Mendel, »und bringt mir den Holzfäller lebendig. Wir warten hier oder unmittelbar in der Nähe auf euch.« Mendel und Fedja kamen gegen Mittag mit dem Gefangenen zurück, der zwar wohlbehalten, aber völlig verstört war. Sie hatten ihm die Hände auf dem Rücken mit Telefonkabel zusammengebunden. Ulybin bebte vor Ungeduld: Sigi hatte Hermann noch einmal angerufen. Er war unruhig, der Holzfäller war noch nicht zurück. Hermann hatte etwas vor sich hingebrummt von wegen Schnee und Wald, dann hatte er zu Sigi gesagt, er solle einen anderen Mann losschicken, diesmal als Bauer verkleidet, der solle den Weg am Fluß entlanggehen. Der 167
Glaubwürdigkeit halber solle er ihm zwei Hühner mitgeben. Ulybin sagte zu Mendel und Fedja, sie müßten sofort wieder losgehen, diesmal zur Flußbiegung, und dort den Bauern abpassen. Diesmal dauerte es länger: die zwei Männer, der zweite Gefangene und die zwei Hühner kamen erst bei Sonnenuntergang zurück. Die zwei Gefangenen waren keine Deutschen, sondern Ukrainer von der Hilfsmiliz, und es war nicht schwer, sie zum Reden zu bringen. In Turow waren die Deutschen nur zu siebt oder acht. Alles Männer vom Landsturm und nicht mehr jung, die nicht die geringste Lust hatten, das Dorf zu verlassen, und schon gar nicht, sich auf irgendwelche Abenteuer mit den Partisanen einzulassen. In Schitkowitschi sah die Situation anders aus. Im Oktober hatte jemand unweit der Stadt die Eisenbahngleise unterminiert, ein Güterzug war entgleist und hatte dabei eine Brücke beschädigt, und seither war die Garnison, die den Bahnhof und die Eisenbahnlinie zu überwachen hatte, verstärkt und besser ausgerüstet worden. Es gab dort eine Kommandoabteilung der Wehrmacht mit einem kleinen Zeughaus und ungefähr zwanzig Ukrainern und Letten als Hilfsmiliz. Es gab auch ein Lebensmittelund Fouragelager und ein Büro der Gestapo. Bevor sie sich auf den Rückweg ins Lager machten, beschloß Ulybin, den Deutschen eine Nachricht zu schicken. Er gab Pavel Anweisungen, der antwortete: »Laß mich nur machen«, stellte sich ans Mikrophon 168
und rief in Abständen Turow und Schitkowitschi, bis schließlich eine Stimme antwortete. Dann sagte er: »Hier spricht Oberst Graf Heinrich von Neudeck und Langenau, Kommandant des 3. Regiments der 13. Division der Roten Armee, Abteilung Innere Front und besetztes Gebiet. Ich will mit dem ranghöchsten Offizier der Garnison sprechen.« Pavel war entzückt von seiner Rolle. Bis zu den Knien im Schnee, mitten im Wald, wo es inzwischen finster geworden war und ein eisiger Wind pfiff, mit einem absurden Telefonhörer in der Hand, dessen Kabel sich im schneebeladenen Geäst der Bäume verlor, hatte er ein autoritäres und schmetterndes Deutsch hingelegt, martialisch und guttural, mit rund rollendem »r« und »ch« tief aus der Kehle. Innerlich lobte er sich selbst: sehr gut, Pavel Jurevič, alle Achtung, bist preußischer als ein Preuße! Erschreckt und verwundert antwortete am anderen Ende der Leitung eine Stimme: sie kam vom Kommando David Gorodok und verlangte Erklärungen. »Nichts da Erklärungen«, antwortete Pavel mit Donnerstimme, »keine Widerrede. Morgen greifen wir mit fünfhundert Mann eure Stellung an: wir geben euch vier Stunden Zeit zur Evakuierung, euch und euren verräterischen Helfershelfern. Nicht ein Mann soll dort bleiben: wen wir am Ort finden, wird aufgehängt. Ende.« Auf ein Zeichen von Ulybin hin unterbrach Mendel 169
die Verbindung, und die vier machten sich mit den Gefangenen auf den Weg ins Lager. Selbst der finstere Ulybin, der sonst mit Worten und vor allem mit Lob so geizte, konnte sich ein trockenes, asymmetrisches Lächeln nicht verkneifen, das ihm zwar nicht in die Augen stieg, aber die vor Kälte blauen Lippen auseinanderzog. Ohne sich an jemand Bestimmten zu wenden, und als dächte er bloß laut nach, sagte er: »Gut. Heute abend haben sie bei der Gestapo was zu bereden. Sie werden in Berlin anrufen, um zu erfahren, wer der gräfliche Deserteur ist.« Mendel fragte Pavel: »War der Oberst deine Idee?« »Nein, der Oberst war von Ulybin, aber der Graf kam von mir. Hab ich nicht einen schönen Namen für ihn gefunden?« »Wunderschön. Wie war das noch?« »Wie soll ich mich denn daran noch erinnern. Wenn du willst, denke ich mir einen anderen aus.« Ohne irgendwelche Rücksicht auf die Gefangenen zu nehmen, sagte Ulybin: »Wir werden nicht mit fünfhundert Mann David Gorodok angreifen, sondern mit fünfzig Mann Schitkowitschi. Ich glaube ja nicht, daß die Deutschen die Geschichte geschluckt haben, aber im Zweifelsfall schicken sie Verstärkung von Schitkowitschi nach David Gorodok, und wir haben mit geringerem Widerstand zu rechnen.« Es war inzwischen Nacht geworden. Ulybin holte aus dem Rucksack eine elektrische Taschenlampe 170
hervor und befestigte sie am Gewehrlauf, schaltete sie aber nicht ein. Sie setzten sich in Bewegung, Fedja auf Skiern an der Spitze, dann die zwei Ukrainer und der Reihe nach Pavel, Mendel und Ulybin. Als sie ein besonders dichtes Waldstück durchquerten, scherte der als Holzfäller verkleidete Ukrainer plötzlich aus der Reihe aus und lief nach links aus der Piste, er kämpfte sich durch den tiefen Schnee und suchte hinter den Baumstämmen Deckung. Ulybin schaltete die Taschenlampe ein, richtete den schmalen Lichtkegel auf den Flüchtenden und feuerte einen einzigen Schuß ab. Der Ukrainer beugte sich nach vorn, machte noch ein paar Schritte, dann fiel er auf die Hände. In dieser Stellung, auf allen Vieren wie ein Tier, robbte er noch einige Meter weiter, wobei er eine tiefe, blutige Spur in den Schnee grub, dann blieb er liegen. Die anderen traten zu ihm: er war an einem Schienbein verletzt, anscheinend war die Kugel durchs Bein gegangen und hatte dabei den Knochen zerschmettert. Ohne ein Wort hielt Ulybin Mendel das Gewehr hin. »Ich soll …«, stotterte Mendel. »Los, Jeshiva Bucher«, sagte Ulybin. »Laufen kann er nicht, und wenn sie ihn finden, redet er. Spitzel bleibt Spitzel, der ändert sich nicht.« Mendel spürte, wie ihm bitterer Speichel in den Mund stieg. Er trat zwei Schritte zurück, zielte genau und schoß. »Gehen wir«, sagte Ulybin, »um den hier kümmern sich die Füchse.« 171
Dann wandte er sich erneut Mendel zu und leuchtete ihm mit der Lampe ins Gesicht: »War’s das erste Mal? Mach dir nichts draus, mit der Zeit wird’s leichter.«
Fünftes Kapitel Januar – Mai 1944
Der Angriff auf Schitkowitschi fand nie statt. Wochenlang hatte das Feldradio nur über Truppenbewegungen der Deutschen und von der Front berichtet; seit der Rückkehr von Ulybins Gruppe ins Lager aber sendete es wiederholt das Codezeichen für »am Apparat bleiben«. Es kam zur Auseinandersetzung zwischen Ulybin und Maksim, wobei die Meinung des letzteren bestimmend wurde: er galt als Repräsentant von Partei und Regierung bei der Gruppe. Sie würden nichts unternehmen, abwarten, wahrscheinlich würde Befehl zu bestimmten Operationen ergehen. Ulybin isolierte sich. Er ließ sich selten sehen und wenn, dann nur, um an allem und jedem herumzunörgeln. Dem Koch beispielsweise machte er Vorwürfe, weil die kaša zu stark gesalzen war: ob er vielleicht meine, das Salz fiele so reichlich und gratis vom Himmel wie Schnee? Dem Funker warf er vor, daß seine Aufzeichnungen unleserlich seien; Pavel, daß er zuviel äße und spräche, und allen zusammen schließlich, daß das Lager seiner Ansicht nach nicht sauber und ordentlich genug sei. Den beiden Frauen, die in die Küche verbannt worden waren, begegnete er mit Mißtrauen; sei es aus Schüchternheit oder Verachtung – außer in streng dienstlichen Angelegenheiten richtete er nie ein Wort an sie. 173
Dov begegnete Ulybin mit jenem finsteren Respekt des dem Älteren an Autorität Überlegenen, der leicht in gereizte Unhöflichkeit umschlägt. Dov hatte sich von den Strapazen des letzten Marsches nicht mehr richtig erholt. Das verletzte Knie schmerzte ihn ununterbrochen, nachts raubte es ihm den heilsamen Schlaf, tagsüber behinderte es ihn in seinen Bewegungen. In einer geschlossenen und ganz auf Verteidigung abgestellten Gemeinschaft wie Nowoselki war seine geringe physische Belastbarkeit nicht ins Gewicht gefallen, da Erfahrung sie ausglich. Im Lager von Turow aber, das ausschließlich aus jungen Männern bestand, fiel Dov zur Last und war sich dessen bewußt. Er versuchte, sich nützlich zu machen, in der Küche, beim Putzen und bei kleineren Instandsetzungsarbeiten: keiner wies ihn zurück, aber er fühlte sich überflüssig. Er war schweigsam geworden, und da alle wußten, wie ansteckend Trauer und Mutlosigkeit sind, richtete kaum jemand das Wort an ihn. Pavel, der durch die Abhöraktion eine gewisse Popularität erlangt hatte, behandelte ihn mit lautstarker und floskelhafter Herzlichkeit: ist doch klar, daß einem bei dieser Feuchtigkeit und Kälte die Knochen weh tun, das kommt selbst in Moskau vor, geschweige denn hier, mitten in den Sümpfen und in diesen Baracken, zur einen Hälfte unter der Erde, zur anderen unterm Schnee. Der Frühling würde aber nicht mehr lange auf sich warten lassen, und mit dem Frühling käme, wer weiß, vielleicht auch der Frieden. Die Russen hätten den 174
Dnjepr überquert, so schiene es, und in der Gegend von Krivoj Rog würde gekämpft … Nur bei Sissl und Mendel fühlte Dov sich wohl. Mendel suchte ihm Mut zu machen, vermied aber mit instinktivem Feingefühl jede Anspielung auf seine Gebrechen und seine Erschöpfung. Er versuchte ihn zu zerstreuen, fragte ihn um Rat, nach seiner Ansicht über den Kriegsverlauf, als müsse Dov mehr darüber wissen als das Radio. Am erholsamsten aber war für Dov die Gesellschaft Sissls. In ihrer ruhigen Art setzte sie sich zu ihm, wenn sie mit ihren klobigen Männerhänden geschickt Kartoffeln schälte oder schon über und über mit Flicken besetzte Jacken oder Hosen noch einmal flickte. Sie schwiegen oft lange und genossen diese entspannte und natürliche Stille, die gegenseitigem Vertrauen entspringt: wenn man gemeinsam Schweres durchgemacht hat, dann bedarf es keiner Worte. Auch Mendel ließ seinen Blick gerne auf Sissls Gesicht ruhen, wenn sie, in ihre Arbeit vertieft, im warmen Licht der unterversorgten elektrischen Lampe saß. Dieses Gesicht stand im Gegensatz zu ihrem reifen, kräftigen weiblichen Körper und zeugte von einer verwickelten Rassenmischung. Sissl hatte blasse Haut und glatte blonde Haare, die sie über der Stirn gerade gescheitelt und im Nacken zu einem Knoten zusammengefaßt trug. Auch die Augenbrauen waren blond, die Augen schräg geschnitten und durch eine leichte, mongolische Falte mit der Nase verbunden, in der Farbe aber eher grau wie bei den Balten. Ihr Mund war breit 175
und weich, die Backenknochen hoch und Kinn und Kinnlade waren fein, vielleicht etwas scharf gezeichnet. Nicht mehr die Jüngste, verbreitete sie Sicherheit und Ruhe um sich, aber keine Fröhlichkeit, ganz so, als könnten ihre breiten Schultern ein wirksamer Schutzschild sein gegen alle Widrigkeiten. Von ihrem Vater sprach sie nie. Sie ließ sich von Dov Geschichten erzählen über die Jagd in den Wäldern, über die Listen des Luchses, das Verhalten der Wölfe im Rudel oder über die Tücken des sibirischen Tigers. In Dovs Dorf, Mutoraj auf der Tunguska, dreitausend Kilometer entfernt, dauerte der Winter neun Monate und in einem Meter Tiefe taute die Erde nie auf, aber Dov erzählte voller Heimweh davon. Wer dort oben kein Jäger war, galt nicht als Mann. Mutoraj war einzig auf der Welt. 1908, er war gerade zehn Jahre alt, war achtzig Kilometer vom Dorf ein Stern gefallen oder ein Meteor oder Komet. Wissenschaftler aus aller Welt waren gekommen, aber keiner hatte das Rätsel gelöst. Er erinnerte sich gut an jenen Tag: der Himmel war klar gewesen, aber dann hatte es einen Knall gegeben wie von hundert Donnerschlägen, und der Wald war in Flammen aufgegangen, so daß der Qualm die Sonne verdunkelte. Ein enormer Krater hatte sich aufgetan, und im Umkreis von 60 Kilometern waren alle Bäume verbrannt oder entwurzelt worden. Es war Sommer gewesen, und der Brand war erst unmittelbar vor dem Dorf zum Stillstand gekommen. Mendel, Pavel, Leonid, Line und die Männer aus 176
Osaritschi nahmen an den Marsch- und Schießübungen teil und auch an den Expeditionen zur Vorratsbeschaffung auf den umliegenden Dörfern und Bauernhöfen. Das ging meist reibungslos und ohne Widerstand der Bauern vor sich: die Versorgung der Partisanen mit Nahrungsmitteln galt als Naturaliensteuer, die, einst mit Zwang eingeführt, inzwischen zur Selbstverständlichkeit geworden war. Selbst diejenigen Bauern, die mit der Kollektivierung am wenigsten einverstanden gewesen waren, hatten mittlerweile begriffen, auf welcher Seite die Sieger standen. Und im übrigen verteidigten Ulybins Partisanen sie gegen die Deutschen, die auf der verzweifelten Suche nach Arbeitskräften für ihre Arbeitslager die Gegend durchkämmten. Von einer dieser Expeditionen kehrte Pavel auf einem Pferd zurück, wie ein Prahlhans mit schiefsitzender Pelzmütze. Es war kein Reitpferd, sondern ein Zugtier von ehrfurchtgebietendem Alter. Pavel erzählte, er habe es halbverhungert im Wald gefunden, wo es sich verirrt hätte, aber keiner glaubte ihm das, so abgezehrt war das Tier nicht. Pavel betrachtete es als seinen rechtmäßigen Besitz, er gewann es lieb und das Pferd ihn. Sobald er es rief, trottete es in seiner schwerfälligen, kurzatmigen Gangart herbei wie ein Hund. Pavel war in seinem Leben nie geritten, überdies war der Rücken des Pferdes so breit, daß der Reiter in eine unnatürliche Haltung gezwungen wurde. Trotzdem war Pavel in seinen freien Stunden häufiger auf dem Gelände um die Baracken 177
zu sehen, wo er sich im Reiten übte. Ulybin meinte, Pavels Pferd müsse sich mit dem anderen, das den Dynamo betrieb, abwechseln, Pavel protestierte, einige Partisanen ergriffen Partei für ihn, und Ulybin, der selten für Pavel eingenommen schien, gab nach. Weniger nachsichtig zeigte sich der Kommandant Leonid gegenüber. Nur unwillig sah er dessen Verbindung mit Line, über die im übrigen alle redeten und Witze rissen, im Guten wie im Bösen, je nach Anlaß. Leonid hatte sich krampfhaft an das Mädchen geklammert, wie ein Ertrinkender an die Planke, die ihn über Wasser hält. Offenbar wollte er sie in einer totalen Umarmung von jedem menschlichen Kontakt abschließen und sie der übrigen Welt entfremden. Er sprach mit niemandem mehr, nicht einmal mit Mendel. Eines Tages nahm Ulybin Mendel beiseite: »Ich hab ja nichts gegen Frauen, und eigentlich geht mich das auch gar nichts an. Ich fürchte aber, daß dein Freund sich und womöglich andere in Schwierigkeiten bringt. Feste Beziehungen sind für Friedenszeiten, hier ist das was anderes. Hier gibt es zwei Frauen und fünfzig Männer.« Mendel wollte ihm schon antworten, wie er im September Dov geantwortet hatte, und zwar, daß er für Leonids Tun und Lassen nicht verantwortlich sei, er spürte aber, daß Ulybin aus härterem Stoff war als Dov; deshalb ließ er es bleiben und antwortete unbestimmt, daß er mit Leonid sprechen werde. Er wußte aber, daß er log. Er würde es nicht wagen, Leonid 178
etwas zu sagen; hinsichtlich dessen Beziehung zu Line empfand er die widersprüchlichsten Gefühle, die er seit der Ankunft in Turow immer wieder vergeblich zu entwirren versucht hatte. Zweifellos war er neidisch, und ein wenig schämte er sich auch dafür. Es war ein mit Eifersucht durchsetzter Neid auf Leonids neunzehn Jahre, auf das Rasche und Natürliche in seiner Liebe, wodurch er sich schmerzlich an seine eigene Liebe erinnert fühlte, die ihn sechs Jahre zuvor (oder waren es sechzig? oder sechshundert?) in Rivkes Arme geworfen hatte wie einen Pfeil an sein Ziel. Rivke! Neid auch auf das Glück, das Leonid ausgerechnet in das Kraftfeld Lines geführt hatte: ein Junge wie er hätte in alle möglichen Fallen laufen können, Line aber schien keine FallenFrau. Was mochte sie wohl an Leonid finden? Das fragte Mendel sich. Vielleicht sah sie in ihm bloß einen Schiffbrüchigen; es gibt Frauen, die sind zur Retterin geboren, und vielleicht war Line eine solche Frau. Auch ich bin ein Retter, dachte Mendel, ein Tröster. Schöne Aufgabe, das, die Beladenen zu trösten mitten im Schnee und umgeben von Morast und schußbereiten Waffen. Vielleicht ist es auch anders, und Line versucht nicht einen Schiffbrüchigen zu retten, sondern im Gegenteil einen gedemütigten Menschen noch mehr zu demütigen, auf ihn zu steigen, wie man auf ein Podest steigt, um etwas höher zu stehen und etwas weiter zu sehen. Es gibt solche Menschen: sie tun den anderen Böses, ohne es selbst zu merken. Ich beneide ihn, aber ich habe auch Angst um ihn. 179
In Turow folgte ein Tag der Waffenruhe dem anderen, und Mendel und Sissl wurden ein Paar. Es bedurfte dazu keiner Worte, alles ergab sich ganz natürlich und selbstverständlich, wie im Paradies auf Erden, war aber doch zugleich hastig und unbequem. Die Sonne schien und alle Männer waren draußen, um Decken auszuklopfen oder Waffen zu ölen. Mendel ging zu Sissl in die Küche, sagte: »Kommst du mit?«, und Sissl stand auf und sagte: »Ich komme.« Mendel führte sie in den Holzschuppen, der auch als Stall für die zwei Pferde diente, und von da über die gemauerte Treppe hinauf zum Heuschober. Es war kalt, sie zogen sich nur halb aus, und Mendel war betäubt von Sissls Frauengeruch und vom Schimmer ihrer Haut. Sissl öffnete sich wie eine Blume, weich und warm; Mendel fühlte, wie ihm Kraft und Begehren, die zwei Jahre lang geschwiegen hatten, in die Lenden schossen. Er versank in Sissl, aber ohne sich zu verlieren, im Gegenteil, er war ganz bewußt und wach: alles wollte er genießen, nichts sich entgehen lassen, alles sich in seinem Inneren einprägen. Sissl bebte kaum wahrnehmbar, als sie ihn empfing, mit geschlossenen Augen, als träume sie, und dann war auch schon alles vorbei: man hörte Stimmen und Schritte in der Nähe, Mendel und Sissl lösten sich aus ihrer Umarmung, schüttelten das Heu ab und zogen sich wieder an. Nach diesem einen Mal hatten sie nur noch selten Gelegenheit zu einer Begegnung. Es gelang ihnen, die Diskretion zu wahren, nicht aber das Geheimnis. 180
Die Partisanen sagten zu Mendel »deine Frau«, wenn sie von Sissl sprachen, und das befriedigte ihn. Er fand bei Sissl Frieden und Erquickung, war sich aber nicht sicher, ob er sie liebte, denn dazu war seine Seele zu sehr beladen, fühlte er sich zu ausgebrannt, verwirrte ihn schließlich Lines Gegenwart zu sehr. Bei Line hatte Mendel stets den Eindruck, es mit einem ganz besonderen und kostbaren, aber unruhigen und beunruhigenden Wesen zu tun zu haben. Sissl war wie eine Palme in der Sonne, Line aber wie verschlungener, nächtlicher Efeu. Sie war vermutlich nur ein paar Jahre älter als Leonid, aber die Entbehrungen des Gettos hatten alle Jugend aus ihrem Gesicht getilgt, dessen Haut stumpf und müde und von vorzeitigen Falten gezeichnet war. Sie hatte weitstehende Augen, die tief in den aschfahlen Höhlen lagen, eine kleine, gerade Nase und so feine Gesichtszüge wie eine Kamee, was ihr einen zugleich traurigen und entschlossenen Ausdruck verlieh. Sie bewegte sich rasch und sicher, manchmal ruckartig. Line hatte bei Ulybin darauf bestanden, an den Übungen teilnehmen zu dürfen: sie war Partisanin, kein Flüchtling. In Nowoselki hatte Mendel ihre Geschicklichkeit im Umgang mit Waffen bewundert, und während des Marsches ihre Zähigkeit, die der Leonids mindestens gleichkam. Das ist keine natürliche Gabe, dachte er, das ist eine Reserve an Mut und Kraft, die jeden Tag neu aufgefrischt sein will, alle müßten wir es so halten wie sie. Dieses Mädchen weiß zu wollen; vielleicht weiß sie nicht immer, was 181
sie will, wenn sie es aber weiß, dann ficht sie die Sache durch. Er beneidete Leonid, und gleichzeitig machte er sich Sorgen um ihn: Line schien ihn ins Schlepptau genommen zu haben, dabei war das Seil jedoch zu straff gespannt. Ein überspanntes Seil kann reißen, und dann? Line sprach wenig und nie Überflüssiges, wenige, wohlüberlegte Worte, ohne Emphase und mit leiser, leicht belegter Stimme vorgetragen, den Blick dabei fest auf das Gesicht des Gesprächspartners gerichtet. Sie benahm sich anders als alle jüdischen und nichtjüdischen Frauen, die Mendel bis dahin kennengelernt hatte. Sie war weder prüde, noch legte sie falsche Scham an den Tag, sie machte kein Theater und hatte keine Launen. Wenn sie aber mit jemandem sprach, so brachte sie ihr Gesicht dicht an das des anderen heran, wie um die Reaktionen aus der Nähe beobachten zu können. Oft legte sie dabei ihrem Gegenüber die kleine, kräftige Hand mit den abgekauten Fingernägeln auf die Schulter oder auf den Arm. Ob sie wohl wußte, welche stark weibliche Ausstrahlung diese Geste hatte? Mendel empfand sie intensiv, und er wunderte sich nicht, daß Leonid Line nachlief wie ein Hund seinem Herrn. Vielleicht war das nur eine Folge der langen Abstinenz, aber wenn Mendel Line anschaute, kam ihm Rahab in den Sinn, die Verführerin von Jericho, und all die anderen Zauberinnen aus der Talmudlegende. In einem alten Buch seines Rabbiners war er erstmals auf deren Spuren gestoßen; das war natürlich ein verbotenes 182
Buch, aber Mendel wußte, wo es versteckt war, und mit der brennenden Neugier des Dreizehnjährigen hatte er es mehrmals durchgeblättert, wenn der Rabbi in der Schwüle der Nachmittagsstunden auf seinem Stuhl mit der hohen Rückenlehne eingenickt war. Da war Michàl, die allein durch ihren Anblick bezauberte. Jael, die todbringende Partisanin von einst, die dem feindlichen General einen Nagel durch die Schläfen getrieben hatte, die aber alle Männer allein durch den Klang ihrer Stimme verführte. Abigaíl, die kluge Königin, die jeden bestrickte, der nur an sie dachte. Rahab aber war ihnen allen überlegen, jeder Mann, der nur ihren Namen aussprach, verströmte augenblicklich seinen Samen. Nein, solche Gewalt hatte Lines Name nicht. In Nowoselki kannten alle ihre Geschichte und die ihres Namens, der weder russisch noch jiddisch noch hebräisch ist. Die Eltern, beide russische Juden und Philosophiestudenten, hatten Line in den Wirren der Revolutionsjahre und des Bürgerkriegs in die Welt gesetzt, ohne sich lange Gedanken darüber zu machen. Der Vater hatte sich als Freiwilliger gemeldet und war dann im Kampf gegen die Polen in Wolhynien verschollen geblieben. Die Mutter hatte eine Anstellung als Arbeiterin in einer Spinnerei gefunden. Vorher hatte sie aktiv an der Oktoberrevolution teilgenommen, weil sie sich davon ihre eigene Befreiung versprach, als Jüdin und als Frau. Auf Plätzen hatte sie Versammlungen abgehalten und in den Sowjets Reden gehalten. Sie war Anhängerin 183
und Bewunderin der Emmeline Pankhurst, jener freundlichen, unbeugsamen Dame, die 1918 den englischen Frauen das Wahlrecht erstritten hatte, und sie war froh gewesen, als sie wenige Monate später ein Mädchen zur Welt brachte, dem sie nun den Namen Emmeline geben konnte, den, vom Kindergarten an, alle zu »Line« verkürzten. Auch Lines Großmutter mütterlicherseits, Anna Kaminskaja, war schon keine Frau für Kinder, Küche und Kirche gewesen. 1858, auf den Tag genau zum gleichen Datum geboren wie die Pankhurst, war sie von zu Hause ausgerissen, um in Zürich Wirtschaftswissenschaften zu studieren, war dann nach Rußland zurückgekehrt, um den Verzicht auf weltliche Güter und auf die Ehe zu predigen, die Gleichheit aller Arbeitenden, Gleichheit zwischen Christen und Juden, zwischen Mann und Frau. Deshalb war sie nach Omsk verbannt worden, wo dann Lines Mutter geboren wurde. In dem winzigen Zimmer, das sie und ihre Mutter in Tschernigow bewohnten, erinnerte sich Line an eine Fotografie der Pankhurst, die die Mutter aus einer Zeitung ausgeschnitten und in einem Rahmen hinter dem Ofen aufgehängt hatte: sie zeigte die schmächtige Revolutionärin in langem Rock und Hut mit Straußenfedern bei ihrer Verhaftung 1914, zwei Handbreit über dem regennassen Pflaster schwebend, würdevoll und unbeirrbar zwischen den Pranken eines britischen Polizisten, der ihren schmalen Rücken gegen den eigenen kolossalen Bauch preßte. In Tschernigow und Kiew, wohin sie gezo184
gen war, um die Ausbildung zur Volksschullehrerin zu machen, hatte Line zionistische Kreise besucht und daneben den örtlichen Komsomol: für sie bestand kein Widerspruch zwischen dem sowjetischen Kommunismus und dem agrarischen Kollektivismus, wie ihn die Zionisten predigten. Aber seit 1932 hatten die zionistischen Vereinigungen ein immer schwierigeres Leben gehabt, bis sie offiziell aufgelöst wurden. Den Juden, die eigenes Land beanspruchten, auf dem sie sich einrichten und ihren Traditionen gemäß leben konnten, hatte Stalin einen elenden Landstrich im östlichen Sibirien, im Birjobidjan angeboten: entweder oder, wer wie ein Jude leben will, der soll nach Sibirien gehen, will einer nicht nach Sibirien, so bedeutet das, daß er lieber Russe ist. Einen Mittelweg gibt es nicht. Was aber kann und muß ein Jude tun, wenn der Russe ihn nicht zur Universität zuläßt, ihn žid schimpft, Pogrome gegen ihn veranstaltet und einen Pakt mit Hitler schließt? Nichts kann er tun, und schon gar nicht, wenn er eine Frau ist. Line war in Tschernigow geblieben, die Deutschen waren gekommen und hatten die Juden ins Getto gesperrt. Dort hatte sie einige von den zionistischen Freunden aus Kiew wiedergetroffen. Mit ihnen gemeinsam, und jetzt unterstützt von den sowjetischen Partisanen, hatten sie Waffen gekauft, wenn auch nur wenige und unzureichende, und hatten damit umgehen gelernt. Line war in keiner Weise theoretisch veranlagt. Im Getto hatte sie unter Hunger, Kälte und Erschöpfung gelitten, dabei 185
aber gespürt, wie ihre vielen Seelen sich zu einer zusammenschlossen. Die Frau, die Jüdin, die Zionistin und die Kommunistin waren in Line zu einer einzigen Person geworden, die nur einen einzigen Feind hatte. Ende Februar traf endlich die langerwartete Radiomeldung ein und versetzte das Lager in Aufruhr. Auf den seit vier Monaten vereisten Sümpfen der Stwiga in der Nähe von David Gorodok hatten die Deutschen ein Feld für nächtliche Fallschirmabwürfe eingerichtet: das war nichts weiter als ein Schneefeld, an den Spitzen eines langgezogenen Dreiecks von drei Feuern markiert. Die Feuer, einfach zu Stapeln aufgeschichtete Zweige, wurden angezündet, sobald das Radio ein bestimmtes Signal sendete. Ulybins Abteilung erhielt den Befehl, unweit des Lagers von Turow und in zehn Kilometern Entfernung vom deutschen Lager ein ähnliches Gelände herzurichten, es blieb Ulybin überlassen, wo genau. Auf das Radiosignal hin sollte eine Gruppe von Männern die Feuer des falschen Feldes anzünden, während eine andere Gruppe die Deutschen ablenken und die Feuer ihres Feldes löschen sollte. In der eintönigen Ebene würden die Deutschen nur die Feuer des von den Partisanen eingerichteten Landeplatzes als Anhaltspunkte haben und ihre Fallschirme hier abwerfen. Es wurden Abwürfe von Lebensmitteln, Winterkleidung und leichten Waffen erwartet. Ulybin schickte bei Nacht zwei Skifahrer aus, um 186
Maße und Lage des deutschen Dreiecks auszukundschaften. Sie waren bald zurück: alles entsprach den Informationen aus dem Radio. Das Feld mit den drei Holzstapeln in den Winkeln lag bereit und erstreckte sich in Ost-West-Richtung. An einer seiner Seiten lief eine Landstraße entlang, die von einem Schneepflug geräumt und befahrbar gemacht worden war. Auf der Straße waren ältere und frische Spuren von Pferden, Wagenrädern und Gummireifen erkennbar. Zwischen der Straße und dem Abwurfgelände lag eine kleine Holzbaracke mit rauchendem Schornstein: nicht mehr als zehn, zwölf Männer hatten darin Platz. Vermutlich war das abgeworfene Material nicht ausschließlich für das Kommando von David Gorodok bestimmt, sondern für sämtliche deutschen Garnisonen, die über Polesje und die Sümpfe des Pripjet verteilt waren. In diesem Gebiet machte sich die Anwesenheit der Partisanen bemerkbar, deswegen war der Luftweg nicht nur der schnellste, sondern auch der sicherste. Ein Gelände zu finden, das dem deutschen ähnelte, war nicht schwer, schwieriger wäre es gewesen, eins zu finden, das ihm nicht ähnlich sah. Ulybin wählte einen großen Weiher, zwanzig Minuten Fußweg vom Lager entfernt, an dem ebenfalls eine befahrbare Straße entlanglief, und an der entsprechenden Stelle ließ er, wie bei den Deutschen, aus dünnen Holzbrettern eine Baracke errichten. Es war zwar ausgeschlossen, daß die Deutschen tagsüber abwerfen würden, aber sie könnten einen Aufklärer schicken, um das Gelände zu 187
fotografieren. In Erwartung des Radiosignals stellte Ulybin dann zwei Mannschaften zusammen. Zur ersten, die den Auftrag hatte, die Deutschen abzulenken und ihre Feuer zu löschen, gehörten neun Männer, darunter Leonid, Piotr und Pavel. Die zweite, die die Feuer auf dem falschen Gelände anzünden sollte, bestand aus sechs Männern, unter ihnen Mendel. Als die Vorbereitungen abgeschlossen waren, wurde die Kommandozentrale der Partisanen per Radio davon benachrichtigt. Das Wetter blieb unverändert kalt. Um den 5. März schneite es noch, feiner, trockener Schnee fiel in unregelmäßigen Schauern. Zwischendurch blieb der Himmel dunstig und bedeckt. Für die Abwürfe würden die Deutschen bestimmt klares Wetter abwarten. Dennoch hörte man eines Morgens Motorenlärm von einem Flugzeug. Es flog nicht hoch, war aber über den Wolken unsichtbar, kam näher und entfernte sich wieder, so als suchte es nach einer Landemöglichkeit. Für Fallschirmabwürfe flog es zu tief, im übrigen war kein Radiosignal vorausgegangen. Ulybin gab Befehl, das schwere Maschinengewehr aufzustellen: es war auf einen Schlitten montiert, wurde nun abgeschraubt und von Hand auf den Himmel gerichtet. Das Flugzeug flog weiter hin und her, aber das Motorengeräusch wurde schwächer. Die Partisanen traten aus den Baracken und schauten in den zwar hellen, aber undurchdringlichen Himmel. Ab und zu tauchte in einem Nebelflor die Sonne auf, um gleich darauf wieder zu verschwinden. 188
»Alles zurück in die Baracken, ihr Dummköpfe und Gaffer«, schrie Ulybin, »wenn er unter die Wolkendecke heruntersteigt, dann nimmt er uns alle unter Beschuß.« Tatsächlich wurde das Flugzeug mit einem Mal knapp über den Baumspitzen sichtbar: es kam direkt auf sie zu. Die zwei Männer am Maschinengewehr versuchten, es ins Visier zu bekommen, aber da hörte man von verschiedenen Seiten Stimmen, die brüllten: »Das ist einer von den unseren, nicht schießen!« Es war in der Tat ein kleines Jagdflugzeug, das auf der Unterseite der Tragflächen das Zeichen der sowjetischen Luftwaffe trug. Es kreiste über den Baracken und aus dem Fenster wurde zum Gruß ein Arm geschwenkt. Sämtliche Männer am Boden gestikulierten heftig, um zu bezeichnen, in welcher Richtung die Landebahn lag, das Flugzeug drehte in diese Richtung ab und verschwand hinter den Baumreihen. »Ob er die Landung wohl schaffen wird?« »Er hat Kufen dran, keine Räder. Wenn er die Bahn richtig anfliegt, schafft er’s.« »Kommt, wir gehen hin!« Aber Ulybin widersprach: nur er, Maksim und zwei weitere Männer schnallten die Skier an und machten sich auf den Weg, zunächst vorsichtig im Zick-Zack zwischen den Minenfeldern durch, dann geradeaus im raschen, weitausholenden Schritt der Langläufer. Nach einer Stunde kamen sie zurück und waren nicht allein. Ein Leutnant und ein Hauptmann 189
der Roten Armee waren bei ihnen, glattrasierte, lächelnde junge Männer in wunderbaren gefütterten Fliegeranzügen und blankpolierten Lederstiefeln. Sie begrüßten alle herzlich, dann aber zogen sie sich sofort mit Ulybin in den Kommandoraum zurück. Die Besprechung dauerte mehrere Stunden; ab und zu schickte Ulybin nach Brot, Käse und Wodka. Die Ankunft der beiden unangemeldeten Besucher im Lager wurde ausführlich kommentiert: im Tone von Sympathie, Hoffnung, Mißtrauen und mit einem Gran von Ironie. Was sie wohl aus dem Weiten Land mitbrachten? Sicher Nachrichten, neue Anordnungen, Befehle. Und warum waren sie so überraschend gekommen, ohne sich vorher per Radio anzukündigen? Das ist wie bei der Armee, antwortete ein anderer: Inspektionen kündigt man nicht vorher an, sonst sind es ja keine Inspektionen. »Denen geht’s gut, den Herren aus dem Weiten Land«, meinte ein dritter, »ich wette, sie haben die letzte Nacht in ihren Betten geschlafen, mit Kissen und Leintüchern und womöglich mit ihrer Frau. Ob sie vielleicht außer Propaganda auch Rasierseife mitgebracht haben?« Die Partisanen aller Zeiten und aller Länder haben nämlich eines gemeinsam: sie unterstellen sich einer zentralen Befehlsgewalt, aber sie kämen lieber ohne sie aus. Was die Rasierseife anbetraf, so war sie Witzthema Nummer eins im Lager. In Turow waren Bärte nicht erwünscht, in anderen Gruppen war es sogar ausdrücklich verboten, Bart zu tragen, da ein Bärtiger allzu leicht als Partisan erkennbar war. 190
Ungeachtet der Verbote und Gefahren trugen aber dennoch viele Männer in den Wäldern und Sümpfen dichte Bärte. Der Bart war zum Wahrzeichen der partisanščina geworden, Symbol für die Freiheit in den Wäldern, für regelloses Draufgängertum und die Unabhängigkeit von jeder Disziplin. Mehr oder weniger bewußt wurde je nach Länge des Bartes auf die Dauer der Zugehörigkeit zu den Partisanen geschlossen, insgeheim fungierte er also fast wie ein Adelsprädikat oder wie ein militärischer Grad. »Moskau will nicht, daß wir Bärte tragen, aber Seife und Rasiermesser schicken sie nicht. Womit sollen wir uns denn rasieren? Mit den Äxten vielleicht oder den Bajonetten? Ohne Seife keine Rasur: der Bart bleibt dran.« »Alles harmloses Zeug«, verkündete Piotr, der das Material, das die Offiziere mitgebracht hatten, aufzuteilen hatte. »Weder Waffen noch Munition, bloß bedrucktes Papier und Salbe gegen Krätze. Nein, Rasierseife ist keine dabei, noch nicht einmal Waschmittel.« Und aus eigenem Antrieb überbrachte er selbst den beiden Frauen, die in der Wäscherei beschäftigt waren, die Nachricht: »Geduld, meine Damen. Weiterhin nach Großmütterart mit Asche und Lauge. Hauptsache, die Läuse gehen kaputt. Aber der Krieg ist sowieso bald aus.« Die beiden Offiziere reisten noch am selben Abend ab. Während sie schon reisefertig in ihren Fliegeranzügen mit demonstrativer Geduld zum 191
Fenster hinausschauten, sah man, wie Ulybin Dov beiseite nahm und leise mit ihm sprach. Dann sah man, wie Dov seine paar Habseligkeiten in einen Rucksack stopfte. Gefaßt verabschiedete er sich von allen, nur als er zum Abschied Sissl kurz in die Arme schloß, wurden ihm die Augen feucht. Hinkend ging er mit den beiden Offizieren und einem Partisan, der fieberte, hinaus und verschwand mit ihnen im fahlen Licht der Abenddämmerung. Piotr sagte: »Ihr braucht euch keine Sorgen zu machen. Sie bringen sie ins Krankenhaus im Weiten Land, dort geht’s ihnen besser als hier, und sie werden gepflegt.« Mendel versetzte ihm mit einer Hand einen Schlag auf die Schulter und sagte nichts. Nach diesem Besuch wurde Ulybin noch schweigsamer und reizbarer. Wie um sämtliche Kontakte auf ein Minimum zu reduzieren, wählte er unter den Partisanen eine Art Stellvertreter aus, Zachar, einen langen Kerl, mager wie eine Bohnenstange und noch wortkarger als er selbst. Zachar überbrachte Befehle in der einen, Beschwerden in der anderen Richtung und fungierte in beiden Richtungen als eine Art Puffer. Nicht mehr der Jüngste, fast Analphabet, Kosake vom Kuban und von Beruf Schafzüchter, war Zachar der geborene Diplomat. Er erwies sich als äußerst geschickt im Ausgleich von Meinungsverschiedenheiten, im Abwiegeln von Meutereien und darin, Disziplin und Mannschaftsgeist aufrechtzuerhalten. Es gingen Gerüchte um, Ulybin habe in seinem Kommandoraum angefangen 192
zu trinken; Zachar dementierte, aber das Hin und Her der vollen und leeren Flaschen ließ sich nicht verbergen. Das falsche Feld für die Fallschirmabwürfe war vorbereitet, alle waren bereit, aber der Befehl zum Handeln blieb aus. Der ganze Monat März verging in fast vollständiger Tatenlosigkeit, was sich für alle als demoralisierend erwies, nicht nur für den Kommandanten, der nichts zu kommandieren hatte. Der Hunger machte sich bemerkbar: nicht der schneidende Hunger, wie Leonid und andere ihn in den deutschen Lagern in der Etappe erlitten hatten, sondern ein Heimweh-Hunger, ein blindes Verlangen nach frischem Gemüse, nach ofenwarmem Brot, nach durchaus einfachen Dingen, die aber doch einem momentanen Gelüst entsprachen. Heimweh nach zu Hause kam auf und lastete schwer auf allen, die Juden unter ihnen aber zerriß es. Für die Russen bedeutete Heimweh, eine nicht unvernünftige Hoffnung hegen, die wahrscheinlich in Erfüllung gehen würde: es war ein Verlangen zurück, eine Art Ruf von daheim. Für die Juden bedeutete Heimweh nicht Hoffnung, sondern die schiere Verzweiflung, die bis dahin unter akuteren und schlimmeren Schmerzen bloß geschwelt hatte. Ihr Zuhause gab es nicht mehr: es war dem Erdboden gleichgemacht worden, war in Krieg und Massakern in Flammen aufgegangen, von den Einheiten der Menschenjäger mit Blut überzogen worden; Grabeshäuser, an die man besser nicht dachte, Aschehäuser. Wozu weiter193
leben, wofür noch kämpfen? Für welches Zuhause, für welches Vaterland, welche Zukunft? Fedjas Zuhause hingegen war zu nah. Am 30. März wurde er siebzehn, erhielt von Ulybin die Erlaubnis, seinen Geburtstag zu Hause, im Dorf Turow, zu verbringen, und kam nicht wieder. Als drei Tage vergangen waren, ließ Ulybin über Zachar wissen, daß Fedja als Deserteur anzusehen sei: zwei Männer mußten ihn holen gehen und zur Gruppe zurückbringen. Sie fanden ihn ohne weiteres, er war zu Hause und hatte nicht im entferntesten daran gedacht, daß in einer Zeit der Untätigkeit eine Abwesenheit von drei Tagen ein derart schweres Vergehen sein könnte. Was schlimmer war: Fedja bekannte öffentlich, daß er sich zu Hause mit anderen Burschen betrunken hatte und daß er in betrunkenem Zustand geplaudert hatte. Worüber? Auch über die Baracken? Auch über das falsche Feld für die Abwürfe? Kreidebleich im Gesicht sagte Fedja, er wisse es nicht mehr, könne sich nicht erinnern, wahrscheinlich nicht, von Geheimsachen habe er nicht gesprochen, bestimmt habe er davon nicht gesprochen. Ulybin ließ Fedja in den Holzschuppen sperren. Zachar mußte ihm seine Ration Essen und den Tee bringen, aber im Morgengrauen sahen alle Zachar barfuß zum Holzschuppen gehen, und alle hörten den Pistolenschuß. Sissl und Line mußten den toten Körper des Jungen entkleiden, um Kleidung und Stiefel zurückzubehalten. Pavel und Leonid mußten die Grube in der vom Tauwetter aufgeweich194
ten Erde ausheben. Warum ausgerechnet Pavel und Leonid? Wenige Tage später bemerkte Mendel, daß Sissl unruhig war. Er fragte sie: nein, es war nicht wegen der Sache mit Fedja. Zachar hatte sie beiseite genommen und ihr gesagt: »Genossin, nimm dich in acht! Wenn du schwanger wirst, ist das schlimm. Wir sind hier nicht in der Klinik, und die Flugzeuge vom Weiten Land kommen nicht alle Tage. Sag das deinem Mann.« Dieselbe Rede hatte Zachar auch Line gehalten, aber die hatte bloß die Achseln gezuckt. Zur gleichen Zeit wurde auch am schwarzen Brett ein Tagesbefehl ausgehängt, in Schönschrift mit Bleistift geschrieben und von Ulybin unterzeichnet: Bald würde das Tauwetter einsetzen, und es würde notwendig sein, einen Ablaufgraben rund um die Baracken anzulegen, damit sie nicht überschwemmt würden. Diese Arbeit war wichtig und hatte absoluten Vorrang, deshalb wurde die Zusammensetzung der zwei Kommandos, die nun schon seit einem Monat für die Aktion der Fallschirmabwürfe bereit waren, verändert. Leonid und Mendel gehörten nicht mehr dazu, sie sollten das Gewehr mit Spitzhacke und Schaufel vertauschen. Pavel nicht, Pavel blieb weiterhin aktiv in der ersten Abteilung, die die Feuer der Deutschen löschen sollte. Mendel, Leonid und vier weitere Männer machten sich an die Aushebungsarbeiten. Der Schnee und die Erde gefroren während der Nacht, tagsüber, in den wärmsten Stunden, schmolzen sie zu einem glitschigen, 195
rötlichen Schlamm zusammen. Große Krähen setzten sich auf die Zweige der umstehenden Tannen, als seien sie neugierig geworden, und überwachten die Arbeit, immer mehr wurden es, und sie saßen eine dicht neben der anderen. Da bog mit einem Mal ihr Gewicht den Ast herab, krächzend flatterten sie auf und ließen sich auf einem anderen Ast nieder. Der Befehl traf ein, als schon niemand mehr daran glaubte: die deutschen Radiomeldungen, die sie mithörten, kündigten einen baldigen Abwurf an. Es mußte sich um einen bedeutenderen Transport handeln, denn die Nachricht war mehrmals wiederholt worden. Am 12. April kam schließlich die endgültige Meldung: der Abwurf wurde für kommende Nacht erwartet. Die beiden Kommandos brachen sofort auf. Für alle Fälle vertraute Pavel sein Pferd, das er aus unerfindlichen Gründen »Drossel« genannt hatte, Leonid zur Pflege an. Die übrigen Männer im Lager richteten sich auf eine lange Nacht ein. Es war zwar kein diesbezüglicher Befehl ergangen, aber alle blieben wach und lauschten, insbesondere Michail, der Funker, und Mendel, der ihn ablöste, um ihm ein paar Stunden Schlaf zu vergönnen. Der Empfang war miserabel, gestört von Pfeifen und Rauschen; die wenigen Funksprüche, die sie mithören konnten, wurden mehrmals wiederholt, aber in so erregtem Ton, daß Michail und Mendel, obwohl sie ziemlich gut Deutsch konnten, fast nichts verstanden. 196
Gegen zwei Uhr früh hörte man im Osten Motorenlärm und alle waren sofort auf den Beinen. Der Himmel war klar und dunkel, das Dröhnen der Motoren wurde lauter, Modulationsschwingungen mischten sich hinein, wie wenn mehrere schlechtgestimmte Saiten gleichzeitig vibrieren. Es war gewiß nicht nur ein Flugzeug allein, es waren mindestens zwei oder drei. Unsichtbar flogen sie im Norden an den Baracken vorbei, dann wurde das Dröhnen leiser und verschwand. Eine Stunde später traf völlig außer Atem ein Partisan vom zweiten Kommando ein. Es hatte alles wunderbar geklappt: die Feuer im richtigen Moment angezündet, die Flugzeuge: vier, Fallschirme: dreißig oder vierzig oder vielleicht noch mehr, viele auf dem vorbereiteten Gelände, andere zwischen den Bäumen, einige in den Zweigen verfangen. Sofort Verstärkung schicken und einen Schlitten: es war viel Material. Alle wollten hinaus, aber Ulybin widersprach. Nur er selbst ging mit Maksim und Zachar; nicht einmal der Bote, der die Nachricht überbracht hatte, durfte zurück. Zum ersten Mal in seiner Laufbahn machte sich »Drossel« als Partisanenpferd nützlich: Ulybin ließ das Pferd vor einen Schlitten spannen, und damit zog es über den vom Tauwetter zusammengepreßten Schnee, der nun von einer dünnen nächtlichen Frostschicht überzogen war. In der Zwischenzeit war auch das andere Kommando zurückgekehrt, vollzählig, nur ein Mann hatte eine Verletzung am Arm. Die Aktion war im 197
wesentlichen gut verlaufen, erzählten Piotr und Pavel. Sie hatten sich in der Nähe der Baracke postiert, hatten den Motorenlärm der Flugzeuge gehört und drei Deutsche mit Benzinkanistern herauskommen sehen, die die Holzstapel in Brand setzen wollten. Sie hatten sie erschossen, noch bevor sie die Feuer anzünden konnten und gleichzeitig hatte ein Partisan, der auf das Dach der Baracke geklettert war, eine Handgranate durch den Kamin geworfen. Einige der Deutschen mußten auf der Stelle tot gewesen sein, andere waren aus der Baracke gekommen und hatten das Feuer eröffnet. Ein Partisan war verletzt worden und ein Deutscher getötet. Zwei oder drei andere hatten ein Motorrad erwischt, aber auch sie wurden getötet, während sie davonfahren wollten. In der Baracke hatten sie außer leichten Waffen und ein paar Konservenbüchsen nichts Interessantes gefunden. Ein Radio war da, aber es war durch die Explosion zerstört worden. Sie hatten sich dann zu beiden Seiten der Straße postiert, da sie dachten, aus dem Ort müsse ein Fahrzeug kommen, um das abgeworfene Material zu verladen, als sie aber bis in den hohen Vormittag nichts sahen, waren sie zurückgekehrt. Der Schlitten kam beladen zurück, der Bote hatte allerdings übertrieben: es waren nicht mehr als ungefähr zwanzig abgeworfene Pakete. Ulybin ließ niemanden daran. Er ließ alle Pakete in seinem Zimmer aufstapeln und öffnete sie dann mit Zachars Hilfe, die anderen durften den Inhalt inventarisie198
ren, allerdings erst, nachdem er alles persönlich in Augenschein genommen hatte. Es war von allem etwas dabei, wie bei einer Tombola: Sachen von Wert, unnützes Zeug, merkwürdige und lächerliche Dinge. Genußmittel, wie Mendel und seine Freunde sie noch nie gesehen hatten: Eier aus Ersatzschokolade für die bevorstehenden Ostertage, andere große Schokoladenfiguren in Form von Schafen, Käfern oder Mäuschen; Zigarren und Zigaretten, Schnaps und Cognac in Büchsen: diese Verpackungsform hatten die deutschen Techniker wohl wegen des Bodenaufpralls ausgeklügelt. Fußwärmer aus Ton, offenbar für die Wachen. Eine Schachtel mit Verdienstkreuzen und verschiedenen Auszeichnungen samt den dazugehörigen Urkunden. Stapel von Zeitungen und Zeitschriften, ein Packen mit Führerporträts, ein Päckchen Privatkorrespondenz, die an die verschiedenen Garnisonen in der Gegend adressiert war, ein anderer Packen mit Dienstkorrespondenz, den Ulybin beiseite legen ließ. Zwei Kisten voll Munition für das Maschinengewehr der Wehrmacht, zwei weitere Kisten mit Ladestöcken für einen Maschinengewehrtypus, der allen hier unbekannt war. In einer Kiste befand sich eine Schreibmaschine mit diversem Büromaterial. Andere Kisten enthielten sechs Exemplare eines Geräts, das niemand in Turow kannte und mit dem sie nichts anzufangen wußten: ein abgeflachter Zylinder, der, so groß wie eine Pfanne und mit einem langen Griff, in Einzelteile zerlegt war. 199
»Das hier ist für dich, Uhrmacher«, sagte Ulybin zu Mendel. »Schau dir das an, und sag uns, wozu es gut ist.« Am Abend erlaubte Ulybin, den Anlaß mit einem kleinen Fest zu feiern. Er selbst zog sich mit Pavel zurück, um die gefundenen Dokumente durchzugehen: sie waren nicht chiffriert, kein sensationelles Material, bloß genaue Auflistungen, Rechnungen in mehrfacher Ausfertigung, Buchhaltungskram der Fourage: Ulybin war es bald leid und ging dazu über, sich von Pavel die Privatbriefe übersetzen zu lassen, und die waren interessanter. Sie waren in einer Sprache abgefaßt, die verschlüsselt und voller Anspielungen sein wollte, die Begriffe waren jedoch derart naiv gewählt, daß selbst einem außenstehenden Leser wie Pavel alles völlig durchsichtig war. Es war klar: das schlechte Wetter, über das alle Väter und Mütter klagten, war die Daueroffensive der Bombardierungen durch die Alliierten, und die Trockenheit war die Lebensmittelknappheit. Das war unfreiwillige Zersetzungspropaganda: Ulybin sagte Pavel, er solle einige Stellen in Anwesenheit aller übersetzen. Pavel war gerade dabei; er las auf russisch, aber mit vorsätzlich übertriebenem deutschem Akzent, der alle zum Lachen brachte. Da ertönten plötzlich am dunklen Himmel wieder die Klangwellen, dasselbe musikalische Dröhnen wie am Abend zuvor. »Schnell«, rief Ulybin, »das zweite Kommando, 200
Ski anschnallen und im Laufschritt die Feuer anzünden: die schenken uns einen zweiten Abwurf.« Die sechs Männer des Kommandos stürzten hinaus und Ulybin schaute auf die Uhr: wenn sie sich beeilten, konnten sie in einer Viertelstunde am Ort sein, noch bevor die Flugzeuge im Dunkeln ihre Suche nach dem Gelände aufgeben würden. Sie suchten tatsächlich: das Getöse der Motoren war mal näher, mal ferner, einmal flog das Geschwader direkt über die Baracken, dann entfernte es sich wieder. Genau zwanzig Minuten waren auf Ulybins Uhr vergangen, als man eine Salve von Explosionen vernahm. Alle liefen hinaus und begriffen nicht: die Explosionsschläge waren zu weit entfernt und zu tief, um von den Minen rund um die Baracken herzurühren. Man sah Flammen im Nordosten. Auf jedes Aufflackern folgte der Einschlag mit einer Verspätung von sechs Sekunden. Es bestand kein Zweifel, das waren Bomben auf das falsche Feld. Die Deutschen hatten begriffen und rächten sich. Die Abteilung kam zurück, nur vier Männer. Ihr Führer berichtete in abgerissenen Sätzen. Sie waren in Rekordzeit zur Stelle gewesen, gerade als die Flugzeuge unmittelbar über ihren Köpfen kreuzten. Sie hatten den ersten Holzstoß angezündet, und sofort hatte es Bomben gehagelt: große, mindestens Zweihundertkilo-Bomben. Wäre das Eis noch so dick gewesen wie im Januar, hätte es vielleicht standgehalten. So aber, durch das Tauwetter, war es dünner geworden, die Bomben 201
durchschlugen es und explodierten unter der Eisdecke, wobei es ganze Eisschollen durch die Luft wirbelte. Die zwei fehlenden Männer waren verschwunden, verschluckt von den Sümpfen, es war sinnlos, sie zu suchen. Für die Männer von Turow begann eine schwierige Zeit. Tauwetter hatte eingesetzt, und das war schlimmer als der Winter. Ulybin hatte einige Männer ausgeschickt, um den Zustand des bombardierten Geländes zu erkunden, es war unbrauchbar, weder konnten Flugzeuge landen, noch waren Abwürfe möglich. Die Bombenexplosionen hatten die dicke winterliche Eisdecke aufgerissen, nachts bildete sich zwar wieder eine Eisschicht, aber die war so dünn, daß sie nicht einmal das Gewicht eines Menschen trug. Auf den anderen Sümpfen war das Eis besser erhalten, da die Schneedecke es vor direkter Sonneneinstrahlung geschützt hatte. Allerdings hatten Tauwetter und Wind den Schnee selbst angegriffen, er war zu einer harten, klumpigen Kruste geworden, auf der kein normales, auch kein mit Kufen versehenes Flugzeug hätte landen können, ohne sich zu überschlagen. Ulybin mußte Funkstille verhängen, da der umgeleitete Abwurf die deutsche Luftwaffe offenbar zu verstärkter Aktivität angeregt hatte. Den ganzen Winter über war sie eher gering und scheinbar zufällig gewesen. Jetzt aber verging kein klarer Tag, an dem nicht ein Aufklärer in der Gegend zu sehen gewesen wäre. 202
Und klare Tage gab es jetzt viele. Die Delikatessen aus dem Abwurf hatten nicht lange vorgehalten, Mehl, Speck und Konserven begannen knapp zu werden. Ulybin schrieb Rationierungen vor, was die allgemeine Moral noch weiter senkte. Das Schreckgespenst der vergangenen Winter, der Hunger, kündigte sich wieder an, als ob die Zeit rückwärtsliefe und die schrecklichen Monate aus den Anfängen des Partisanenkriegs wiederkehrten, als noch alles – Nahrung, Waffen, Unterkünfte, Aktionspläne, Unternehmungslust und Lebensmut – von der verzweifelten Initiative einiger weniger abgehangen hatte. Die Männer drängten darauf, die Expeditionen zur Lebensmittelbeschaffung in den Dörfern wiederaufnehmen zu dürfen, sie nahmen viel lieber Mühe und Gefahr auf sich als den Hunger, aber Ulybin wollte nicht. Es lag noch zu viel Schnee. Ohnedies grenzte es beinahe an ein Wunder, daß die Aufklärer die Baracken noch nicht ausgemacht hatten. Es war klar, daß sie sie suchten; zum Glück waren sie gut getarnt, und wahrscheinlich würden sie unentdeckt bleiben; eine frische Spur aber würde den Deutschen auf keinen Fall entgehen. Was tun? Warten. Warten, daß die Zeit vergeht, eine miserable, aber die einzig mögliche Lösung. Warten, daß der Schnee schmilzt, denn auf der nackten Erde sieht man die Spuren weniger, auch wenn sie feucht ist. Warten, daß die Aufklärer woanders weitersuchen. Still die Radionachrichten abwarten: die Deutschen hatten Odessa evakuiert, aber Odessa war 203
weit weg. Die Funkstille war ebenso schwer zu ertragen wie eine Verstümmelung, als wollte man einen Menschen gerade in dem Moment knebeln, in dem er um Hilfe rufen will. Mit Hunger und Funkstille hatte sich eine Art seelischer Belagerungszustand über das Lager von Turow gelegt. Diesen Männern waren Entbehrungen, Mühsal, Beschwerlichkeiten und Gefahr nicht neu, Isolation und Klausur aber trafen sie unvorbereitet: sie waren an weite Räume und an die ungebundene Lebensweise in den Wäldern gewöhnt, und unter diesen Bedingungen litten sie mit der blinden Angst des wilden Tieres in der Falle oder im Käfig. Ulybin trank nach wie vor. Die Tatsache war allgemein bekannt und wurde von allen außer Zachar kritisiert, hinter vorgehaltener Hand und nicht immer hinter vorgehaltener Hand. Er trank alleine, hatte aber weder an geistiger Klarheit noch an seiner mürrischen Autorität etwas eingebüßt. Mendel hatte ihn um eine Erklärung für Dovs überstürzte Abreise gebeten, und Ulybin hatte ihm geantwortet: »Verletzte oder kranke Kämpfer bekommen ärztliche Pflege, soweit das möglich ist. Auch euer Freund wird behandelt, weiter kann ich dir nichts sagen. Vielleicht hört ihr was von ihm, wenn der Krieg aus ist, aber das Einzelschicksal zählt nicht.« Ulybin war zu intelligent und zu erfahren im Partisanenleben, um nicht einzusehen, daß irgend etwas unternommen werden mußte, daß Spuren zwar gefährlich waren, die Angst aber noch mehr. 204
Eine einzige Spur, die von den Baracken ausging, würde die Deutschen unfehlbar zu ihnen hinführen; wenn die Spur aber das kleine Waldstück, in dem die Baracken verborgen lagen, bloß durchquerte, wäre die Entdeckung des Lagers nicht die zwangsläufige Folge. Widerwillig erlaubte Ulybin also, daß nicht eine, sondern zwei Expeditionen zur Lebensmittelbeschaffung aufbrächen, und zwar in der gleichen Nacht, in entgegengesetzter Richtung und zu verschiedenen Dörfern. Die Mannschaften waren kaum losgegangen, und es begann gerade erst zu dämmern, als man ein Geräusch vernahm: den Juden im Lager war es neu und unheimlich, für die Alteingesessenen von Turow vertraut und beruhigend. Es hörte sich an wie Motorradgeknatter, zunächst schwach und in der Ferne, dann kam es näher. Es wurde lauter und tiefer im Ton, wie wenn man eine Schallplatte anhält, spuckte noch ein paarmal und verstummte dann. Ulybins Männer waren sofort auf den Beinen. »Eine P-2! Sie ist hier auf der Lichtung gelandet. Kommt, wir gehen schauen. Vielleicht war es gar nicht nötig, die Mannschaften zu schicken«, meinte Piotr. »Was ist eine P-2?« fragte ihn Mendel. »Die P-2 sind Partisanenflugzeuge. Sie sind aus Holz, fliegen langsam, aber sie starten und landen überall. Sie fliegen bei Nacht und ohne Licht, sie werfen Granaten auf die Deutschen und bringen Lebensmittel.« Kurz darauf trat der Pilot in die Baracke ein, in sei205
nem Fliegeranzug aus gewendetem Lammfell sah er gedrungen und unförmig aus. Er zog ihn aus, nahm die Fliegerbrille von der Stirn, und zum Vorschein kam ein Mädchen. Sie war klein und rundlich mit einem breiten, ruhigen Hausfrauengesicht. Die Haare trug sie gescheitelt und im Nacken zu zwei kurzen Zöpfen geflochten, die von einem schwarzen Bindfaden zusammengehalten wurden. Die beiden Männer, die ihr entgegengegangen waren, trugen zwei große Quersäcke, als kämen sie vom Markt. Die Partisanen scharten sich um das Mädchen, umarmten sie und küßten sie auf die runden, von der Kälte zusammengezogenen Wangen. »Polina! Gute Polina! Willkommen, mein Herz, endlich sieht man dich wieder! Was hast du uns mitgebracht?« Das Mädchen, das nicht älter als zwanzig sein mochte, wehrte sich lachend mit der widerspenstigen Anmut der Bäuerinnen. »Ist ja gut, Genossen. Ich bin geschickt worden, um nachzusehen, was hier los ist, und weil euer Radio schweigt. Aber nun laßt mich doch los, ich muß gleich wieder weg. Hättet ihr nicht einen Schluck Wodka? Wo ist der Kommandant?« Und sie zog sich mit Ulybin in den Kommandoraum zurück. »Sie ist es, Polina Michajlowna«, sagte Piotr glücklich und stolz. »Polina Gelman, vom Frauenregiment. Wußtet ihr das nicht? Das sind alles Frauen, sie fliegen die P-2. Lauter feine Mädchen, aber Polina ist die beste von allen. Sie kommt aus Gomel, ihr Vater 206
war Rabbiner und ihr Großvater Flickschuster. Sie hat schon mehr als siebenhundert Missionen hinter sich, zu uns ist sie aber erst einmal gekommen, vor sechs Monaten. Da ist sie ein paar Tage geblieben, und wir haben Freundschaft geschlossen. Diesmal hat sie es offenbar eilig, schade.« Polina verabschiedete sich und flog mit ihrer zerbrechlichen Maschine weiter. Sie hatte ein paar Lebensmittel und Medikamente mitgebracht und schlechte Nachrichten. Es waren Truppen- und Panzerbewegungen in Gang. In den verschiedenen Dörfern um Turow wurden auf die Partisanenbekämpfung spezialisierte Einheiten der deutschen und ukrainischen Truppen zusammengezogen. Sie bereiteten eine konzentrische Säuberungsaktion vor, und zwar mit einem Aufwand an Menschen und Material, der die Verteidigungsmöglichkeiten des Lagers von Turow bei weitem überstieg. Andere Partisanengruppen gab es in der Gegend keine. Aus irgendeinem Grund hatten die Deutschen die Stärke der Partisanen überschätzt; oder es handelte sich um eine großangelegte Operation, die sich über das gesamte Sumpfgebiet des Pripjet oder gar auf die ganze Polesje erstrecken sollte. Das Getto von Soligorsk, wo die Alten und Kranken von Nowoselki Zuflucht gesucht hatten, war ausgehoben und sämtliche Bewohner erschossen worden. Zum Kommando von Soligorsk war eine Sondereinheit der SS dazugekommen, die auf die Suche nach Versteckten spezialisiert und mit besonders abgerichteten Hunden ausgerü207
stet war. Viele der Männer in Turow kannten diese Hunde und fürchteten sie mehr als Panzer. Kurz: das Lager von Turow mußte evakuiert werden. Ulybin bestellte Mendel zum Rapport und erkundigte sich, ob er herausgefunden hätte, wozu die Geräte dienten, die sie bei dem abgeworfenen Material gefunden hatten. »Es sind Minensucher«, antwortete Mendel. »Genauer gesagt: Metallsucher, sie zeigen vergrabene Metallgegenstände an.« »Wenn die Deutschen diese Dinger zur Verfügung haben, bedeutet das also, daß sie unsere Minenfelder finden?« »Sie finden sie mit Sicherheit. Vielleicht nicht auf Anhieb, aber sie finden sie.« Ulybin stierte ihn an. »Die Baracken laß ich aber trotzdem verminen, ob die Deutschen nun deine Minensucher haben oder nicht. Die vergrabenen Minen werden sie finden, die hier drinnen nicht. Ich werd’s dir schon zeigen, ob ich nicht ein paar von diesen Hurensöhnen in die Luft gehen lasse!« Mendel war erschrocken. Daß der Kommandant getrunken hatte, und zwar mehr als gewöhnlich, das sah man gleich, mehr als das aber erschreckte ihn sein Tonfall. »Was sagst du denn da, Ossip Ivanovič? Warum sprichst du so mit mir? Hab ich vielleicht die Minensucher erfunden? Hab vielleicht ich sie den Deutschen geschenkt?« »Das ist mir völlig egal, wer die erfunden hat. 208
Tatsache ist, daß wir hier wegmüssen. Du willst doch nicht hier warten, bis die Panzer kommen und uns niedermachen!« Verstört ging Mendel hinaus, aber wenig später rief Ulybin ihn zurück. »Funktionieren die Dinger?« »Ja, sie funktionieren.« »Nimm Dimitri und Wladimir und erklär ihnen, wie man sie benützt.« »Willst du die Minen von den Feldern ringsum hier in die Baracken verlegen?« »Kluges Kerlchen, du hast’s erfaßt. Andere Minen haben wir nicht.« »Aber paß bloß auf, das ist keine Arbeit für Kinder. Vor den Minen fürchten sich die Experten mehr als die Laien. Und dann: je länger sie eingegraben waren, desto gefährlicher sind sie.« »Willst dich hier wohl aufspielen, hm? Schluß jetzt, und tu, was ich dir gesagt habe. Der Kommandant bin ich, und Kritik paßt mir nicht. Alle seid ihr gleich, alle ganz groß im Reden und alles halbe Deutsche: Rosenfeld, Mandelstamm … Und du, wie heißt denn du? Dajčer, nicht? Mendel Nachmanovič Dajčer: schon vom Namen her bist du ein Deutscher!« Mendel erteilte seinen Unterricht, so gewissenhaft er konnte, und schickte die beiden Jungen dann wegen aller weiteren Befehle zu Ulybin. Er selbst zog sich verbittert zurück. Früher nahmen die Juden am Versöhnungsfest einen Ziegenbock; der Priester legte ihm die Hände 209
auf, zählte alle Sünden des Volkes her und lud sie ihm auf: der Schuldige war er und er allein. Beladen mit den Sünden, die er nie begangen hatte, wurde der Ziegenbock dann in die Wüste gejagt. So denken auch die Nichtjuden, auch sie haben ein Schaf, das die Sünden der Welt auf sich nimmt. Ich nicht, ich glaube daran nicht. Wenn ich gesündigt habe, dann trage ich allein die Last meiner Sünden, nur die meiner Sünden allerdings, und ich habe davon mehr als genug. Die Sünden der anderen freilich nehme ich nicht auf mich. Ich habe die Mannschaft nicht in den Bombenregen geschickt. Ich habe nicht auf Fedja geschossen, während er schlief. Wenn wir in die Wüste gehen müssen, dann gehen wir, aber ohne die Sünden auf unserem Haupt, die wir gar nicht begangen haben. Und wenn Dimitri und Wladimir die Minen in den Händen explodieren, bin dann ich dafür verantwortlich, ich, Mendel, der Uhrmacher? Die beiden Jungen kamen mit heiler Haut davon: acht von den vergrabenen Minen wurden entschärft und an verschiedenen Stellen in den Baracken verlegt. Ende April war, nachdem drei Tage lang als Vorbote ein warmer, trockener Wind geweht hatte, schließlich der Frühling hereingebrochen. Der schmelzende Schnee prasselte in einer Art Dauerregen von den Ästen herab, und nur nachts verlangsamte sich sein Rhythmus etwas. Auch der Schnee am Boden schmolz rasch, und zwischen den plattgedrückten Stengeln des vom langen Frost faulig-gelben 210
Grases sprossen aus dem aufgeweichten Erdreich schüchtern und unsinnig die ersten Blumen hervor. Die deutschen Aufklärer kamen immer häufiger, und einer von ihnen nahm kurz die Baracken unter Beschuß: vielleicht zufällig, vielleicht auch, weil ihm eine Bewegung aufgefallen war. Es entstand jedoch weder Schaden, noch wurde jemand verletzt. Ulybin befahl, den Auszug aus dem Lager vorzubereiten. Die Schlitten wurden verbrannt, da sie mittlerweile überflüssig geworden waren. Wagen hatten sie keine und auch keine Zeit, sich welche zu besorgen. Der Transport des ganzen Trosses mußte von den beiden Pferden und von den Männern selbst bewerkstelligt werden: keiner Verlegung von aktiven Kämpfern sähe das gleich, sondern eher einer Gepäckträgerkarawane. Viele der Männer protestierten, sie wären lieber im Lager geblieben und hätten gegen die Deutschen gekämpft, aber Ulybin schnitt ihnen das Wort ab: am Ort zu bleiben war aussichtslos, und im übrigen war die Evakuierung des Lagers per Radio angeordnet worden. Das Radio hatte auch die günstigste Richtung angegeben, in der es gelingen könnte, die Einkesselung durch die Antipartisanenkräfte zu durchbrechen: in Richtung Südwesten, die Stwiga flußaufwärts, ohne den Sumpfgürtel zu verlassen. Bei Tauwetter waren die Sümpfe mit ihren Labyrinth von Stegen, Engen und Furten wieder Verbündete geworden. Sie hätten in der Nacht zum 2. Mai aufbrechen sollen, aber am Abend gaben die Wachen Alarm: im Norden 211
hatten sie Geräusche gehört, Menschenstimmen und Hundegebell. Viele Männer griffen zu den Waffen, unschlüssig, ob sie sich auf Verteidigung oder vorzeitigen Rückzug einstellen sollten, aber Ulybin fuhr dazwischen. »Zurück auf eure Plätze, Dummköpfe und Einfaltspinsel, die ihr seid! Weitermachen beim Packen, Säcke zuschnüren und Kisten verschließen! Ihr seid wohl von gestern? Die Hunde der Deutschen bellen nicht, was für Kriegshunde wären das denn?« Und zu den Wachen gewandt: »Paßt auf, aber nicht schießen. Es könnten Freunde sein, sie haben die Hunde vorausgeschickt, um die Piste zwischen den Minen hindurch auszumachen.« Tatsächlich kamen zuerst die Hunde an: nur zwei, und keine Kriegshunde, bloß zwei aufgeregte und verwirrte Kettenhunde. Sie bellten nervös, mal in Richtung auf die Baracken, mal in Richtung auf die Nachfolgenden, die noch außer Sichtweite waren, stolz auf die vollbrachte Leistung und zugleich von der neuen Umgebung irritiert. Sie wedelten und knurrten abwechselnd oder gleichzeitig, sprangen vor und zurück, tänzelten auf steifen Vorderbeinen auf der Stelle und bellten aus voller Kehle, wobei sie ab und zu mit krampfartigem Röcheln nach Luft schnappten. Dann sah man zwei Kühe näherkommen, angetrieben von zerlumpten Jungen, die darauf achteten, daß sie die von den Hunden vorgezeichnete Spur nicht verließen. Schließlich kam der größere Teil der Gruppe: un212
gefähr dreißig Leute, Männer und Frauen, mit und ohne Waffen, müde, abgerissen und stolz. Mitten unter ihnen ging ein Mann mit braungebranntem Gesicht und Adlernase: um den Hals hatte er eine Parabellumpistole und eine Geige hängen. Am Ende der Reihe ging Dov, und Mendel sagte bei sich: »Gelobt sei Er, der die Toten wieder zum Leben erweckt.« Es entstand ein heilloses Durcheinander, ein jeder fragte und keiner antwortete. Schließlich setzte sich Dovs Stimme durch und die des großgewachsenen Mannes: das war Gedale. Sie sollten alle ruhig sein und die Befehle abwarten. Ulybin und Gedale zogen sich daraufhin in den Kommandoraum zurück. Fast alle in Turow erinnerten sich noch an den Streit, der zu Beginn des Winters zwischen den beiden entstanden war. Was würde jetzt wohl geschehen, bei diesem Wiedertreffen? Ob sie sich angesichts der bevorstehenden Gefahr aussöhnen würden? Ob sie zu einer Einigung fänden? Während man so das Ende der Verhandlungen abwartete, baten die Neuankömmlinge, in den mittlerweile ausgeräumten Baracken Platz nehmen zu dürfen. Einige setzten sich auf den Boden, andere streckten sich aus und schliefen auf der Stelle ein, wieder andere baten um Tabak oder um warmes Wasser, um die Füße zu waschen. Sie baten mit der Demut der Bedürftigen, und doch mit der Würde derer, die ihr Recht beanspruchten. Sie waren keine Bettler und kein vagabundierendes Volk, 213
sondern die Gruppe von Juden, die Gedale zusammengestellt hatte und die sich aus Überlebenden aus den Gemeinden der Polesje, Wolhyniens und Weißrußlands zusammensetzte, eine jämmerliche Elite, die Stärksten, die Klügsten und die, die am meisten Glück gehabt hatten. Einige kamen aber von weiter her auf Wegen voller Blut. Sie waren den Pogromen der litauischen Plünderer entgangen, den Flammenwerfern der Einsatzkommandos, den Massengräbern von Riga und Kowno. Einige wenige Überlebende des Massakers von Ruzany waren unter ihnen; monatelang hatten sie wie die Wölfe in Höhlen im Wald gehaust und wie die Wölfe jagten sie unhörbar und im Rudel. Jüdische Bauern aus Blizna waren dabei, und von der Arbeit mit Axt und Spaten waren ihre Hände voller Schwielen. Auch Arbeiter aus den Sägewerken und Spinnereien von Slonim waren unter ihnen, die noch vor Hitlers Barbarei gegen die polnischen Besitzer in den Streik getreten waren und dafür Repression und Gefängnis kennengelernt hatten. Jeder von ihnen, ob Mann oder Frau, hatte seine eigene Geschichte hinter sich, eine wie geschmolzenes Blei glühende Last. Jeder von ihnen hätte hundert Tote beweinen können, wenn der Krieg und drei schreckliche Winter ihm dazu Zeit und Luft gelassen hätten. Sie waren müde, arm und zerlumpt, aber unbesiegt. Söhne von Händlern, Schneidern, Rabbinern und Kantoren, hatten sie sich mit den Waffen, die sie den Deutschen abgenommen hatten, 214
ausgerüstet und sich das Recht erobert, die abgerissenen Uniformen ohne Rangabzeichen zu tragen, und mehrfach hatten sie von dem herben Geschmack des Tötens gekostet. Die Russen von Turow waren irritiert, wie von etwas Unbegreiflichem. In diesen abgezehrten, aber entschlossenen Gesichtern erkannten sie den žid ihrer Tradition nicht wieder, den Fremden im eigenen Haus, der russisch sprach, wenn er einen über’s Ohr haute, im übrigen aber in seiner seltsamen Sprache dachte, der Christus nicht kannte und statt dessen seine undurchsichtigen und lächerlichen Vorschriften befolgte, stark nur durch seine Schläue, und feige und reich. Die Welt hatte sich verkehrt: diese Juden hier waren bewaffnete Verbündete, wie die Engländer, wie die Amerikaner, und wie vor Jahren noch Hitler. Die Ideen, die einem beigebracht wurden, waren einfach, die Welt aber war kompliziert. Verbündete also: Waffenbrüder. Sie würden sie akzeptieren müssen, ihnen die Hand reichen und mit ihnen Wodka trinken. Manch einer versuchte es mit einem schüchternen Annäherungsversuch an die zerzausten Frauen, deren Gesichter vor Staub und Müdigkeit grau über der unförmigen Militärkleidung standen. Ein verwurzeltes Vorurteil aufzugeben, ist ebenso schmerzhaft, wie einen Nerv zu ziehen. Die Wand der Verständnislosigkeit hat, wie alle Mauern, zwei Seiten, und aus Verständnislosigkeit entstehen Verlegenheit, Unbehagen und Feindseligkeit. Gedales Juden aber fühlten sich in jenem 215
Moment weder verlegen noch feindselig. Sie waren fröhlich: im täglich wechselnden Abenteuerleben der partišanka, im Eis der Steppe, in Schnee und Schlamm, hatten sie eine ihren Vätern und Großvätern unbekannte Freiheit entdeckt, die sie berauschte wie die Weine des Purim, wenn es an der Zeit war, die übliche Nüchternheit aufzugeben und zu trinken, bis kein Unterschied mehr war zwischen Segnen und Verdammen. Fröhlich und wild waren sie, wie aus dem Käfig gelassene Tiere, wie Sklaven im Aufstand. Sie hatten die Rache gekostet, wenn auch um teuren Preis, mehrfach, in Sabotageakten, Attentaten und Zusammenstößen in der Etappe. Noch vor kurzem, wenige Tage zuvor und nicht weit entfernt. Es war ihre große Stunde gewesen. Alleine hatten sie die Garnison von Ljuban angegriffen, achtzig Kilometer weiter nördlich, wo die deutschen und ukrainischen Truppen für die Säuberungsaktion zusammengezogen wurden. Im Dorf gab es auch ein kleines Handwerkergetto. Gemeinsam mit seinen Bewohnern hatten sie die Deutschen aus Ljuban verjagt: sie waren nicht aus Stahl, sie waren sterblich. Als sie sich überrumpelt sahen, waren sie Hals über Kopf geflohen, selbst vor den Juden. Einige von ihnen hatten die Waffen weggeworfen und sich in den vom Tauwasser aufgeschwollenen Fluß gestürzt. Ein erheiternder Anblick war das gewesen, ein Bild, wert, es mit ins Grab zu nehmen. Mit begeisterten Gesichtern erzählten die Juden den Russen davon. Ja, die blonden und grü216
nen Männer der Wehrmacht waren wahrhaftig vor ihnen geflohen, waren ins Wasser gesprungen und hatten sich an die Eisschollen geklammert, die der Fluß mit sich fortriß, sie aber hatten weitergeschossen und hatten die Leiber der Deutschen untergehen oder auf ihren Bahren aus Eis der Flußmündung zutreiben sehen. Der Triumph hatte aber nicht lange angehalten, Triumphe dauern nie lange, und, wie geschrieben steht, die Freude der Juden endet mit Schrecken. Zusammen mit den Kampftauglichen aus dem Getto hatten sie sich in die Wälder zurückgezogen, die Deutschen aber waren wiedergekommen und hatten alle, die im Getto geblieben waren, erschossen. So sah ihr Kampf aus, ein Kampf, in dem man nicht zurückschaut und nicht aufrechnet, ein Kampf von tausend Deutschen gegen einen Juden und tausend toten Juden auf einen toten Deutschen. Fröhlich waren sie, weil sie kein Morgen hatten und sich darum auch keine Sorgen machten, und weil sie die Herrenmenschen gesehen hatten, wie sie im eiskalten Wasser zappelten wie die Frösche: ein Geschenk, das ihnen niemand mehr würde nehmen können. Sie brachten auch andere, nützlichere Informationen. Die Säuberungsaktion hatte schon begonnen, und sie hatten ihr Lager, das im übrigen ein armseliges Hüttenlager gewesen war, provisorisch und keinesfalls mit dem von Turow vergleichbar, räumen müssen. Es handelte sich aber keineswegs um eine große Aktion, weder Panzer noch Artillerie waren 217
dabei, und ein deutscher Gefangener, den sie befragten, hatte bestätigt, daß der schwächste Punkt in der Einkesselung tatsächlich dort lag, wo Ulybin vermutet hatte: im Südwesten, am Lauf der Stwiga. Dov war wohlauf, er hinkte fast nicht mehr, war jedoch gebeugter als früher. Seine nun wieder glattgescheitelten Haare waren lichter und weißer geworden. Sissl fragte, ob er etwas essen wolle, und lachend erwiderte er: »Einen Kranken fragt man, einem Gesunden gibt man«, aber Erzählen war ihm wichtiger als Essen. Ein Kreis von Zuhörern, Russen und Juden, hatte sich um ihn gebildet: es kam nicht oft vor, daß einer aus dem Weiten Land in Partisanengebiet zurückkehrte. »Wie lange reden die zwei jetzt schon? Eine Stunde? Das ist ein gutes Zeichen: je länger sie reden, desto einiger werden sie sich. Und es bedeutet auch, daß die Deutschen noch nicht so nah sind oder daß sie die Route geändert haben. Aber sicher bin ich behandelt worden, was dachtet ihr denn? Im Krankenhaus von Kiew. Es hatte kein Dach mehr, besser: es hatte noch keins, denn es wurde gerade erst wieder aufgebaut. Und wißt ihr von wem? Von deutschen Kriegsgefangenen, die sich bei Stalingrad ergeben hatten. Es gab kein Dach, nichts zu essen und keine Anästhesie, aber Ärztinnen waren da, und sie haben mich sofort operiert. Sie haben mir etwas aus dem Knie herausgenommen, einen Knochen, und haben 218
ihn mir auch gezeigt. Im Keller haben sie mich operiert bei Acetylenbeleuchtung und mich dann auf den Gang hinausgeschoben, einen endlosen Gang, mehr als hundert Betten auf jeder Seite, mit Lebenden, Sterbenden und Toten darin. Es ist nicht schön im Krankenhaus, aber genau in diesem Gang ist mir das Glück begegnet. Wenn das Glück mitspielt, dann kalbt selbst ein Ochse. Es ist Besuch gekommen, ein hohes Tier vom Politbüro, ein Ukrainer, klein, fett und glatzköpfig, er sah aus wie ein Bauer und hatte die Brust voller Auszeichnungen. Mitten in diesem Durcheinander von Trägern, die hin und her liefen, ist er ausgerechnet bei mir stehengeblieben. Er hat mich gefragt, wer ich bin, woher ich komme, und wo ich verwundet worden bin. Er hatte die Leute vom Radio dabei und hat eine Rede improvisiert und gesagt, daß wir alle, Russen und Georgier, Jakuten und Juden, alle miteinander Kinder der großen Mutter Rußland sind, und daß alle Streitigkeiten aufhören sollen …« Piotr ließ sich vernehmen: »Wenn das ein Ukrainer war und ein hohes Tier, dann hättest du ihm ruhig sagen können, er soll erst mal vor der eigenen Tür kehren. Die Ukrainer sind ein Pack, als die Deutschen kamen, haben sie ihnen Tür und Tor geöffnet und ihnen Brot und Salz gegeben. Und Banderas Leute sind schlimmer als die Deutschen.« Andere Stimmen brachten Piotr zum Schweigen und forderten Dov zum Weitererzählen auf. 219
»… und sie haben mich gefragt, wohin ich geschickt werden möchte, wenn ich wieder gesund bin. Da hab ich ihnen geantwortet, daß meine Heimat zu weit weg ist und daß ich Freunde bei den Partisanen habe, die ich gerne wiedersehen möchte. Kaum war ich gesund, da hat der Ukrainer alle Hebel in Bewegung gesetzt, vielleicht wollte er ein Beispiel geben. Er hat Gedale und seine Bande ausfindig gemacht und mich in der Nähe seines Lagers mit dem Fallschirm abwerfen lassen, zusammen mit einer Kiste, worin er als persönliches Geschenk vier Parabellumpistolen schickte. Vor dem Fallschirmabsprung hatte ich ziemliche Angst, ich bin aber im Schlamm gelandet und habe mir nichts getan.« Dov hätte noch eine Menge zu erzählen gehabt über alles, was er während der Zeit seiner Genesung im Weiten Land gehört und gesehen hatte; aber die Tür zum Kommandoraum ging auf und heraus traten Gedale und Ulybin. Alles verstummte.
Sechstes Kapitel Mai 1944
Zuerst sprach Ulybin in offiziellem Ton: »Meine Informationen und die des Genossen hier stimmen völlig überein. Die Deutschen rücken von der polnischen Grenze her an und haben nicht viele Kräfte: die besten Truppen schicken sie an die Front, und wenn die von dort zurückkommen, sind es nicht mehr die besten. Die Italiener und die Ungarn sind abgesprungen; den Slowaken und Weißpolen trauen sie nicht mehr. Sie wollen diese Sümpfe umzingeln und den Kreis nach und nach enger ziehen. Der schwächste Punkt der Einkreisung liegt im Süden, in Richtung Retschiza und polnische Grenze. Wir versuchen, durch die Absperrung zu kommen, und dann gehen wir getrennt weiter. Vom Zusammenschluß der beiden Gruppen hätten wir keinerlei Vorteil, würden nur zu sehr auffallen. Und im übrigen hat die Einheit des Genossen Gedale von Moskau offizielle Anerkennung und Unterstützung bekommen …« »Viel Anerkennung und wenig Unterstützung«, unterbrach jemand auf jiddisch. »Ruhe, Jozek«, sagte Gedale trocken. »… und sie hat völlige Bewegungsfreiheit. Die Juden im Lager können wählen: entweder bei uns bleiben, die Umzingelung durchbrechen und nach Osten in Richtung auf die Front ziehen, oder aber …« 221
»… mit uns kommen«, fiel Gedale ein. »Wir haben andere Anweisungen. Wir haben es nicht eilig nach Hause. Wenn wir durchkommen, ziehen wir nach Westen, wir wollen Gefangene befreien, die deutsche Etappe stören und Rechnungen begleichen. Wer mit uns gehen will, soll auf diese Seite treten. Jeder kann die persönlichen Waffen, die er bei seiner Ankunft aus Nowoselki bei sich hatte, behalten.« Die Baracke war überfüllt, und bei der Aufteilung in zwei Gruppen entstand ein großes Geschiebe und Gedränge. Mendel, Sissl, Line und Leonid wählten ohne Zögern Gedales Seite. Um Pavel hingegen hatte sich ein Diskussionsherd gebildet. Auch Pavel wollte mit Gedale gehen, er hing jedoch an seinem Pferd: wenn Ulybin es behielt, dann würde er auch bleiben. Gedale begriff nicht und verlangte Erklärungen. Aus dem Durcheinander hörte man Pavels tiefe Stimme heraus: »Ich bin dir von Nutzen, weil ich Deutsch kann, mein Pferd kann es aber nicht. Was willst du schon mit ihm anfangen?« Ohne zu lachen, schnitt Ulybin eine schwer zu interpretierende Grimasse und erwiderte dann: »Ist gut, behaltet das Pferd mitsamt seinem Besitzer.« Weniger versöhnlich zeigte er sich, als er bemerkte, daß sich auch Piotr zur Gruppe von Gedale gesellt hatte. »Was hast du denn da verloren? Was fällt dir ein? Was machst du denn da, bei denen?« 222
»Sie kommen alle von weit her«, antwortete Piotr, »keiner von ihnen kennt die Gegend. Nach einer halben Stunde unterwegs würden sie alle ertrinken.« »Dummes Zeug. Keiner von ihnen hat dich gebeten, sie zu führen. Sie kommen sehr gut allein zurecht. Paß auf, was du tust: du willst doch nicht, daß es dir ergeht wie Fedja!« »Er hat mich gebeten, sie zu führen«, sagte Piotr, wobei er auf Dov zeigte, aber man sah deutlich, daß er sich schnell etwas ausgedacht hatte. Dann setzte er hinzu: »… und überhaupt ist das keine Desertion, Genosse Kommandant. Dies hier ist eine Gruppe, und das ist genauso eine.« Während er sprach, entfernte er sich aber doch von Gedales Gruppe und kehrte mit betretenem Gesicht wie ein bestraftes Kind auf Ulybins Seite zurück. Sie hatten sich schon zu lange aufgehalten, mittlerweile war es Nacht geworden, höchste Zeit zum Aufbruch. Ulybin ließ die in den Baracken versteckten Minen entsichern und versammelte alle draußen auf dem Vorplatz. Es war Schweigen angeordnet, aber man vernahm ein erregtes Gemurmel in verschiedenen Stimmlagen, wie wenn vor der Ouvertüre die Orchestermusiker ihre Instrumente stimmen. Verschiedene, durcheinanderlaufende Stimmen, aber einem aufmerksamen Zuhörer wäre doch ein wiederkehrendes Motiv nicht entgangen, das von Russen und Juden in verschiedenen Tonlagen variiert wurde: Piotr, der tapfere, reine Piotr hatte den Kopf verloren 223
wegen der Augen einer Fremden, wie Stienka Razin. Ob es sich dabei um Sissls graue Augen oder um die braunen Augen Lines handelte, darüber gingen die Meinungen auseinander. Der Klatsch ist eine Kraft der Natur, er gleicht viele Unannehmlichkeiten aus und gedeiht selbst mitten im Sumpf, im Krieg und im schmelzenden Schnee. Sie marschierten die ganze Nacht hindurch, einer hinter dem anderen, ohne auf eine Spur von den Deutschen zu stoßen. Im Morgengrauen machten sie halt und ruhten sich in einer verlassenen Hütte nahe der polnischen Grenze aus. Gegen Mittag sahen die Wachtposten deutsche Truppen auf der Hauptstraße vorüberziehen. Alle machten sich verteidigungsbereit, aber die Kolonne marschierte weiter, ohne sich um die Hütte zu kümmern. Nachts setzten sie ihren Marsch fort, und auf einem Stück Heideland trennten sich die beiden Gruppen. Ulybin und die Seinen bogen nach links ab, zurück auf sowjetisches Gebiet. Gedales Gruppe zog weiter, durch Brachland, in Richtung Retschiza. Gedale sprach seinen Leuten Mut zu: »Das Schlimmste ist vorbei. Noch eine Nachtwanderung, und wir sind draußen.« Aber Mendel und seine Freunde hatten sich vorher sicherer gefühlt, im Lager von Turow, wo man nicht unter Hunger und Kälte litt, und wo jeder ein Dach aus soliden Balken über dem Kopf hatte und eine Autorität: Ulybin, die Gesandten, die vom Himmel kamen, oder eine entferntere Macht. Diese 224
Gedalisten hier, so nannten sie sich selbst, waren verwegene Leute, rastlos und arm. Jozek, Gedales Stellvertreter, drehte sich in einem Stück Zeitungspapier aus Kräutern eine Zigarette, bat Leonid um ein Streichholz, spaltete es der Länge nach, zündete sich mit der einen Hälfte die Zigarette an und steckte die andere in die Tasche. Die beiden Kühe waren, so drückte er sich aus, Kriegsbeute. Sie hatten sie bei dem Angriff auf Ljuban, wenige Tage zuvor, mitgenommen, denn, so Jozek, auch im Krieg müsse man an den Handel denken. Sie waren mager und störrisch, wo immer sie ein Büschel Gras fanden, blieben sie stehen und weideten es stur ab, reagierten auf kein Ziehen und Zerren und verzögerten so das Marschtempo. Die Schneeflecken an den schattigen Stellen im Wald pflügten sie mit ihren Hufen um auf der Suche nach Flechten. »Bei der ersten Gelegenheit verkaufen wir sie«, sagte Jozek in handfestem Ton. Jozek war kein Russe, sondern Pole aus Bialystok und Fälscher von Beruf. Während der ersten Marschetappe erzählte er Mendel seine Geschichte, vorher nicht, denn er wußte ja nicht, wie die Russen sie aufgenommen hätten. »Es ist ein gutes Geschäft, aber nicht leicht. Ich hab als Junge schon damit angefangen, 1928, da war ich Druckerlehrling und fälschte Briefmarken. Die polnische Polizei hatte damals anderes im Kopf, und es war nicht sonderlich gefährlich, allerdings auch nicht so lukrativ. 1937 hab ich mit den Ausweisen angefangen, besonders gut war ich bei Pässen. Dann 225
kam der Krieg, die Russen kamen nach Bialystok und ’41 die Deutschen. Ich mußte untertauchen, lebte aber gut: Ausweise waren sehr gefragt, und besonders Lebensmittelkarten für die Polen und arische Personalausweise für die Juden. Ich hätte gut und gerne bis zum Ende des Krieges so weitermachen können, aber dann hat mich ein Konkurrent angezeigt, weil ich zu billig anbot. Drei Wochen saß ich im Gefängnis. Auch meine eigenen Papiere waren falsch, versteht sich, ich war in der dritten Generation Christ. Dann mußte ich mich aber ausziehen, und da haben sie kapiert, daß ich Jude bin und haben mich nach Sachsenhausen ins Lager geschickt zum Steineklopfen.« Jozek unterbrach sich und zündete sich mit dem halben Streichholz, das er weggesteckt hatte, eine neue Zigarette an. Er war aschblond, mittelgroß und schmächtig und hatte ein längliches Fuchsgesicht mit grünen, fast wimperlosen Augen, die er stets halb geschlossen hielt, wie um den Blick zu schärfen. Die Gruppe hatte auf einer Lichtung haltgemacht, Jozek hatte sich im taufeuchten Gras ausgestreckt und erzählte genüßlich. Einige hatten sich um ihn geschart, um ihm zuzuhören; sie kannten die Geschichte zwar schon, hörten sie aber gerne noch einmal. Andere schliefen; Leonid hatte sich mit Line abgesondert und Sissl hörte etwas abseits zu: sie hatte Nadel und Faden hervorgeholt und stopfte im Zwielicht der Dämmerung einen Strumpf. »Die Welt ist schon seltsam«, nahm Jozek seine 226
Erzählung wieder auf, »ein Jude kommt um, aber ein jüdischer Fälscher kann sich retten. Ende ’42 gab es im Lager einen Aushang: die Deutschen suchten Drucker und Setzer. Ich hab mich gemeldet, und man hat mich in eine Baracke am Rand des Lagers geschickt, und da traute ich erst mal meinen Augen nicht. Das war ein regelrechtes Labor, wesentlich besser ausgestattet als meines, und polnische, tschechische, deutsche und jüdische Gefangene stellten hier falsche Dollars und englische Pfund Sterling her und auch Ausweise für Spionageagenten. Ohne Übertreibung, ich war am geschicktesten, und die heiklen Arbeiten gab man mir. Ich hab natürlich bald kapiert, daß die ganze Geschichte brenzlig war und daß keiner von uns da lebend herauskommen würde. Also hab ich angefangen, Gold zu sammeln, das fehlt nie in den Lagern, und mir einen Überweisungsschein gebastelt.« »Und warum keinen Entlassungsschein?« fragte Mendel. »Man sieht, du hast keine Ahnung, wie es in einem Lager zugeht. Das gibt es einfach nicht, daß ein Jude entlassen wird, und schon gar nicht ein Jude wie ich. Ich hab mir einen Überweisungsschein nach BrestLitowsk gemacht, denn für einen Polen ist es besser, in Polen zu türmen: einen richtigen Befehl auf Papier der SS, mit Stempeln und Unterschriften und allem Drum und Dran, ausgestellt auf Jozef Treistman, Nr. 67703, Funktionshäftling. Ich riskierte viel, aber keine Wahl haben, ist auch eine Wahl. Sie haben 227
mich auf einen Zug gesetzt mit zwei Begleitern, das waren zwei ältere Militärs vom Landsturm. Die hab ich mit dem Gold bestochen, und sie erwarteten auch gar nichts anderes. Kurz vor der Ankunft in Brest bin ich abgehauen, habe mich zwei Wochen lang schwarz durchgeschlagen und bin dann zu Gedale gestoßen.« Mit der Zeit und bei näherem Kennenlernen verstand Mendel immer besser, daß und warum Ulybin und Gedale nicht miteinander hatten auskommen können. Abgesehen von dem jahrhundertealten Zwist zwischen Russen und Juden, hätte man sich schwerlich zwei verschiedenere Naturen vorstellen können: die einzige Eigenschaft, die sie gemeinsam hatten, war der Mut, und das war nicht weiter verwunderlich, denn ein Kommandant ohne Mut bleibt nicht lange Kommandant. Aber selbst noch ihr Mut war verschieden. Ulybins Mut war finster und eisern, ein Mut aus Pflicht und mehr das Ergebnis von Übung und Selbstdisziplin als natürliche Begabung. Alle seine Entscheidungen und jeder Befehl kamen wie von hoch oben herab, mit Autorität und einer unausgesprochenen Drohung. Meist waren die Befehle vernünftig, denn Ulybin war klug, aber selbst wenn sie es nicht waren, klangen sie unumstößlich, und nur schwer hätte man sich ihnen widersetzen können. Gedales Mut hingegen war improvisiert und unberechenbar, war eben nicht das Ergebnis von Erziehung, sondern eine Charakterfrage: Gedale ertrug keine Einschränkungen und dachte wenig an 228
die Zukunft. Wo Ulybin kalkulierte, da warf Gedale wie im Spiel. Wie in einer wertvollen Legierung zusammengeschmolzen, unterschied Mendel verschiedene heterogene Metalle in ihm: die kühne Logik der Talmudisten, die Sensibilität der Musiker und Kinder, die derbe Komik fahrender Schausteller und eine Vitalität, wie sie nur auf russischem Boden gedeiht. Gedale war groß und mager, breitschultrig, aber mit feinem Knochenbau und eher flachem Brustkasten. Die Nase war scharf gekrümmt, wie ein Schiffsbug, die Stirn tief unter der Waldgrenze der schwarzen Haare, die Wangen eingefallen und ihre von Wind und Sonne gegerbte Haut von tiefen Furchen durchzogen, der Mund war breit und voller Zähne. Er bewegte sich rasch, aber derart linkisch, daß es gewollt wirkte wie bei einem Clown im Zirkus. Er sprach mit dröhnend lauter Stimme, auch wenn dazu gar kein Anlaß bestand, so, als wäre seine Brust ein Resonanzkasten; er lachte oft, auch bei den unpassendsten Gelegenheiten. Mendel und Leonid, die an die hierarchische Ordnung der Roten Armee gewöhnt waren, fühlten sich durch die Manieren der Gedalisten verwirrt und beunruhigt. Die Entscheidungen kamen in lautstarken Versammlungen irgendwie zustande; einmal stimmte man bedenkenlos halsbrecherischen Plänen Gedales, Jozeks oder anderer zu, dann wieder gab es Streit, der aber bald beigelegt wurde. Dauerhafte Spannungen oder Unstimmigkeiten schienen in der 229
Gruppe nicht zu bestehen. Sämtliche Mitglieder bekannten sich zum Zionismus, allerdings der verschiedensten Richtungen und mit allen nur erdenklichen Varianten, vom hebräischen Nationalismus über die marxistische Orthodoxie und religiöse Orthodoxie bis zu anarchistischem Gleichheitsdenken und dem Tolstoijschen »Zurück zur Scholle«, die dich erlöst, wenn du sie erlöst. Auch Gedale bekannte sich zum Zionismus, und ein paar Tage lang bemühte Mendel sich redlich herauszufinden, welcher Richtung er angehörte. Er gab es aber schließlich auf, denn entweder hatte Gedale mehrere Ideen gleichzeitig oder gar keine, oder er wechselte sie ständig. Gewiß war er weniger Theoretiker als Tatmensch, und seine Ziele waren einfach und klar: überleben, den Deutschen den größtmöglichen Schaden zufügen und nach Palästina gehen. Gedale war neugierig bis zur Taktlosigkeit. Die Neuankömmlinge fragte er nicht nach den üblichen Formalitäten, nahm sie auch nicht offiziell in Dienst, sondern wollte von jedem einzelnen seine Geschichte hören und lauschte den Erzählungen mit der sanftmütigen Aufmerksamkeit eines Kindes. Er schien alle zu mögen, die Tugenden jedes einzelnen zu schätzen und seine Schwächen zu übersehen. »L’khàyim«, sagte er zu Pavel, als er seine Geschichte gehört hatte, »auf das Leben. Willkommen bei uns, gesegnet sei dein Rücken. Wir brauchen Rücken wie deinen. Du bist ein jüdischer Bison, ein ausgesprochen rares Tier, und wir werden dich zu schätzen 230
wissen. Willst es vielleicht nicht sein, aber wer als Jude zur Welt kommt, der bleibt es, und wer als Bison zur Welt kommt, auch. Segen dem Eintretenden!« Es war die erste längere Ruhepause, die die Gruppe sich seit dem Austritt aus der Umzingelung gönnte. Die Nacht hatten sie in einem verlassenen Bauernhof verbracht, dort hatte es im Brunnen klares Wasser gegeben, die Luft war lau und würzig, die Gesichter waren entspannt, und Gedale amüsierte sich. Leonid preßte seine Geschichte auf knappe zwei, drei Minuten zusammen, Gedale war nicht ärgerlich darüber, meinte aber zu ihm: »Du bist sehr jung. Das ist eine Krankheit, die rasch verheilt, auch ohne Medizin, sie kann aber trotzdem gefährlich werden. Deshalb paß auf dich auf, solange du sie mit dir herumträgst.« Verdutzt und mißtrauisch sah Leonid ihn an: »Was willst du damit sagen?« »Wirst doch nicht alles wörtlich nehmen! Wie jeder Sohn Israels hab ich was vom Propheten im Blut, und ab und zu spiel ich halt den Propheten.« Line und Sissl gegenüber legte er hingegen die Prophetenrolle ab und schlug dafür Operettentöne an. Er nannte sie »meine edlen Damen«, wollte aber wissen, wie alt sie waren, ob sie noch Jungfrauen und wer ihre Männer gewesen waren. Sissl gab verschämt Auskunft, Line mit verschlossenem Stolz, sichtlich aber wollten sie diese Vernehmung so schnell wie möglich hinter sich bringen. Gedale drang denn auch nicht weiter in sie und wandte sich Mendel zu. 231
Aufmerksam hörte er dessen Erzählung zu und sagte dann zu ihm: »Du machst dir nichts vor. Du bist Uhrmacher geblieben, hast dich nicht mit falschen Federn geschmückt, weder mit denen des Pfauen, noch mit denen des Falken. Willkommen auch du, du wirst uns von Nutzen sein durch deine Vorsicht. Da kannst du ein Gegengewicht sein, die Vorsicht wird nämlich bei uns recht leicht vergessen. Überhaupt sind wir ziemlich vergeßlich, außer in einer Sache.« »Und die wäre?« fragte Mendel. »›Erinnere dich daran, was Amalek dir tat auf dem Weg, als ihr aus Ägypten zogt: wie er dich unterwegs angriff und deine Nachzügler erschlug, all die Schwachen, die hinter dir zurückgeblieben waren, als du müde und matt warst. Und er hatte keine Furcht vor Gott. Wenn nun der Herr dir von allen Feinden ringsumher Ruhe vergönnt, so sollst du selbst die Erinnerung an Amalek austilgen. Vergiß das nicht.‹ Das vergessen wir nicht. Ich habe aus dem Gedächtnis zitiert, diesmal aber bei der richtigen Gelegenheit.« Mitte Mai lagerte die Gruppe an den Ufern des Goryn, die von Maiglöckchen und vorzeitigen Margeriten weiß überzogen waren. Halb oder ganz nackt wuschen sich Männer wie Frauen voller Wonne im trägen Wasser des Flusses. Jozek war in Begleitung zweier Kameraden mit den beiden Kühen und Pavels Pferd nach Retschiza gegangen: in Retschiza 232
an der ukrainischen Grenze war Markt. Schon nach wenigen Stunden war er wieder zurück und hatte die Kühe gegen Brot, Käse, Speck, Pökelfleisch und Seife eingetauscht, der Rest waren deutsche Besatzungsmark. Schweißnaß unter ihrer Last, aber gemessenen Schritts wie ein siegreicher Feldherr hielt »Drossel« im Lager Einzug. Es sah fast so aus, als wäre der Krieg zu Ende; zumindest aber war der Winter vorbei. Im Ort hatte Jozek von den Deutschen keine Spur entdecken können; wenn sie dort waren, hatten sie sich gut versteckt. Niemand hatte Erklärungen von ihm verlangt, und er hatte nicht zu feilschen brauchen: die Bauern hatten längst begriffen, daß man zu den Partisanen, gleich welcher Couleur, besser großzügig war und ihnen nicht allzu viele Fragen stellte. Bei seiner Rückkehr fand Jozek gut die Hälfte der Gruppe still an einem Ufer versammelt. Gedale saß auf einem Baumstumpf, ließ die Füße ins Wasser hängen und hatte die Geige angelegt. Izu, einer der Männer aus Blizna, watete splitternackt und behaart wie ein Bär Schritt für Schritt ganz langsam auf einen Felsen in der Mitte des Flusses zu. Alle beobachteten ihn gespannt, und er bedeutete ihnen, sie sollten stillhalten und nicht sprechen. Als er bei dem Felsen angekommen war, tauchte er ganz langsam unter, einen Moment lang sah man eine Bewegung an der Wasseroberfläche, dann tauchte Izu wieder auf und hielt einen großen, zappelnden Fisch in Händen. Er biß ihm ins Genick und der Fisch hing schlaff in 233
seiner Hand: er war zwei Spannen lang und seine bronzefarbenen Schuppen glänzten in der Sonne. »Was hast du da gefangen, Izu?« fragte Gedale. »Ich dachte, es wär eine Forelle, aber es ist ein sazàn«, antwortete Izu voller Stolz und stieg die Uferböschung herauf. »Das ist selten in so flachem Wasser.« Er hockte sich in der Nähe eines glatten Steins nieder, nahm den Fisch aus, wusch ihn im fließenden Wasser, schnitt ihm mit dem Messer den Rücken auf und begann das Fleisch von den Gräten zu lösen und zu essen. »Was, kochst du ihn nicht?« »Gekochter Fisch hat keine Vitamine mehr«, antwortete Izu kauend. »Schmeckt aber besser. Und dann hat er mehr Phosphor, und Phosphor macht intelligent. Man sieht, daß ihr in Blizna den Fisch immer roh eßt.« Gedale winkte Jozek schon von weitem zu: »Gut gemacht, Jozek. Für eine Woche sind wir versorgt.« Dann nahm er sein Geigenspiel wieder auf. Er saß mit nacktem Oberkörper da und hatte einen verzückten Gesichtsausdruck, wobei nicht klar war, ob wegen der Musik oder wegen des Fußbads. Bella aber ließ ihm keine Ruhe. Von den drei Frauen der Gruppe, die nach Turow gekommen waren, schien sie Gedale am nächsten zu stehen, offenbar hielt sie sich für seine rechtmäßige oder endgültige Gefährtin, und anscheinend war Gedale da anderer 234
Ansicht, hatte aber auch kein Interesse daran, diese Angelegenheit zu klären. Zusammen mit anderen war Bella damit beschäftigt, ein Militärzelt aufzustellen, unterbrach sich aber dauernd und unterbrach auch Gedale, indem sie ihm ins Ohr brüllte wie einem Tauben. Geduldig antwortete Gedale ihr, begann wieder zu spielen, und wieder unterbrach ihn Bella mit ihren Beschwerden: »Hör endlich auf mit deiner Fiedel! Komm lieber her und hilf uns!« »Häng sie wie die Leier an die Weide«, rief Dov von weitem herüber. »Noch sind wir nicht in Jerusalem, aber in Babylon sind wir auch nicht mehr«, erwiderte Gedale und begann wieder zu spielen. Bella war eine schmächtige Blondine mit einem länglichen, mürrischen Gesicht. Sie mochte an die vierzig sein, während Gedale noch keine dreißig Jahre alt war. Sie sparte nicht mit Verweisen und Kritik und erteilte Befehle, die niemand ausführte, was sie allerdings nicht weiter zu stören schien. Gedale behandelte sie mit Zärtlichkeit und einer Spur von Ironie. Am späten Vormittag machten die Wachposten einen einzelnen Mann aus, der schon von weitem »Nicht schießen!« rief. Sie ließen ihn näherkommen, und es war Piotr. Gedale begrüßte ihn, ohne sonderlich überrascht zu sein. »Sehr gut. Das hast du gut gemacht, daß du zu uns gekommen bist. Setz dich, es gibt bald Essen.« »Genosse Kommandant«, sagte Piotr, »ich hab 235
nur den Revolver, die Parabellumpistole hab ich bei Ulybins Leuten gelassen.« »Besser wär gewesen, du hättest sie mitgebracht, aber das macht nichts.« »Siehst du, ich weiß ja, daß ich nicht recht getan habe, aber mit Ulybin habe ich Streit bekommen. Er war zu streng, nicht nur zu mir, zu allen. Und eines Abends ist es zu einer ernsthaften Diskussion gekommen, zu einer politischen Diskussion.« »Und ihr habt über die Gedalisten gesprochen, nicht wahr?« »Woher weißt du das?« Gedale antwortete nicht, sondern fragte seinerseits: »Wird er dich nicht suchen lassen? Paß auf, mit Ulybin wollen wir keinen Ärger.« »Er wird mich nicht suchen lassen. Er hat mich ja selbst weggejagt. Er hat gesagt, ich soll die Parabellumpistole dalassen und gehen. Er hat selbst gesagt, ich soll zu euch gehen.« »Das hat er wohl in der Wut gesagt, oder betrunken. Womöglich überlegt er sich’s anders.« »Wütend war er wohl, aber nicht betrunken«, gab Piotr zurück. »Und dann: seine Gruppe ist jetzt vier bis fünf Tagesmärsche entfernt. Und ich bin kein Deserteur. Ich bin nicht aus Angst zu euch gekommen; ich bin gekommen, um mit euch zu kämpfen.« Ohne bestimmten Anlaß gab es an jenem Abend in Gedales Lager ein Fest: vielleicht weil es der erste Tag außerhalb der Sümpfe und außer Gefahr, weil es 236
der erste klare Frühlingstag gewesen war; vielleicht, weil sich alle über die Ankunft Piotrs freuten; vielleicht auch nur, weil unter den Lebensmitteln, die Jozek auf »Drossels« Rücken gepackt hatte, auch ein Fäßchen polnischen Wodkas gewesen war. Sie hatten zwischen zwei Sanddünen Feuer gemacht und saßen alle im Kreis darum herum. Dov meinte zu Gedale, das wäre wohl unvorsichtig, also machte Gedale das Feuer aus, aber der Feuerschein der Glut wärmte die Seelen ebensogut. Den Anfang machte Pavel. Ohne daß ihn jemand dazu aufgefordert hätte, pflanzte er sich breitbeinig bei der Glut auf, nahm ein Stückchen Kohle und malte sich damit einen Schnurrbart auf die Oberlippe, zog sich eine feuchte Haarsträhne schräg in die Stirn, grüßte alle mit ausgestrecktem Arm auf Augenhöhe und begann seine Ansprache. Zuerst sprach er auf deutsch und in einem wütenden Crescendo: es war eine improvisierte Rede, bei der es weniger auf den Inhalt als auf den Ton ankam. Es mußten aber doch alle lachen, als sie ihn hörten, wie er sich an die deutschen Soldaten wandte, sie aufforderte, bis zum letzten Mann zu kämpfen und sie dabei abwechselnd Großdeutschlands Helden, Hurensöhne, Himmelhunde, Verteidiger von Blut und Boden und Arschlöcher nannte. Er steigerte sich in immer heftigere Wut, bis die Worte in ein unartikuliertes Geknurr übergingen, unterbrochen von krampfartigem Husten. Plötzlich, als wäre ein Geschwür aufgeplatzt, verfiel er vom Deutschen ins Jiddische, und alle bogen sich vor Lachen: es war zu 237
komisch, Hitler in der Sprache der Paria delirieren zu hören, wie er einen aufforderte, einen anderen umzubringen, wobei nicht klar war, ob die Deutschen die Juden umbringen sollten, oder umgekehrt. Er erntete tobenden Beifall, man verlangte eine Zugabe, und würdevoll nahm Pavel an: anstatt aber seine Nummer – die er, wie er erklärte, erstmals 1937 in einem Warschauer Kabarett vorgetragen hatte – zu wiederholen, sang er »O sole mio« in einer Sprache, die hier keiner verstand, und von der er behauptete, es sei Italienisch. Dann trat Mottel der Halsabschneider auf. Mottel war ein kleines Männchen mit kurzen Beinen und überaus langen Armen und so beweglich wie ein Aff. Er nahm drei, dann vier, schließlich fünf der glühenden Scheite auf und ließ sie um sich durch die Luft wirbeln, über dem Kopf und zwischen den Beinen durch, und vor dem violetten Nachthimmel zeichnete sich ein stets wechselndes Geflecht glühender Linien ab. Man applaudierte ihm, er bedankte sich mit Verbeugungen in die vier Himmelsrichtungen und zog sich zurück, wobei er die schiefe Gangart eines Orang-Utan nachahmte. Wieso »Halsabschneider«? Man setzte Mendel auseinander, daß Mottel nicht irgendwer war. Er stammte aus Minsk, war sechsunddreißig und Halsabschneider im doppelten Sinn. Den ersten Teil seiner Laufbahn hatte er als ehrbarer Halsabschneider zugebracht: vier Jahre lang war er der shokhèt, der koschere Schlächter der Gemeinde gewesen. Er hatte die vorgeschriebene 238
Prüfung abgelegt, hatte eine Lizenz und galt als Meister in der Kunst, mit einem einzigen Schnitt Kehle, Mageneingang und Hauptschlagader des Tieres zu durchtrennen. Dann aber war er wegen einer Frau, so munkelte man, auf die schiefe Bahn geraten. Er hatte seine Frau und sein Zuhause verlassen, sich der lokalen Unterwelt angeschlossen, und ohne seinen vorherigen Beruf und seine theoretische Ausbildung verleugnen zu müssen, war er nun auch im Aufschneiden von Handtaschen und im Klettern über Balkone Fachmann geworden. Er hatte das lange Ritualmesser mit der abgestumpften Spitze noch bei sich; zum Zeichen seiner neuen Bestimmung jedoch hatte er an einer Seite eine scharfe Spitze abgespalten. In dieser modifizierten Form diente das Messer nun auch anderen Zwecken. »Eine Frau! Los, eine Frau ist dran!« rief jemand mit vom Wodka rauher Stimme. Bella trat vor und kämmte sich ihre wergfarbenen Haare, aber Pavel, der bärenmäßig schwankte, stieß sie mit der Hüfte in den Kreis der Zuschauer zurück und nahm selbst wieder den Platz in der Mitte ein. Er war noch nicht fertig, und es war nicht klar, ob er tatsächlich betrunken war, oder ob er nur so tat. Diesmal stellte er einen chassidischen Rabbi dar, der betrunken natürlich die Sabbatgebete herunterleiert, angeblich auf hebräisch, in Wirklichkeit aber in einem verhunzten Russisch. Pavel betete in einem Atemzug, ohne Unterbrechung und in schwindelerregendem Tempo, denn, so erklärte er »beiseite«, zwischen 239
einem Gitterstab und dem nächsten darf das Ferkel nicht hindurch: so darf zwischen einem heiligen Wort und dem nächsten kein Raum sein für profane Gedanken. Diesmal war der Beifall etwas mäßiger. Bella ließ nicht locker. Sie trat an die Glut, hob in anmutiger Geste die linke Hand, legte die rechte aufs Herz und begann eine Romanze vorzutragen. »Ja, weit fort werd ich ziehn«. Sie kam aber nicht weit, denn schon nach wenigen Takten überschlug sich ihre Stimme schrill, und sie brach in Schluchzen aus. Gedale trat hinzu, nahm sie bei der Hand und führte sie fort. Immer wieder wurde Dovs Name genannt. »Komm vor, Sibirier«, sagte Piotr zu ihm, »und erzähl uns was über das Weite Land.« Pavel, der mittlerweile ungefragt die Rolle des Festgestalters übernommen hatte, fiel mit ein: »Und nun, speziell für euch: David Yavor, der weiseste von uns allen, der älteste und beliebteste. Los, Dov, alle wollen dich sehen und hören.« Der Mond war aufgegangen, es war beinah Vollmond, und in seinem Licht schimmerten Dovs weiße Haare; nur widerstrebend ging er auf die Mitte des Kreises zu, lachte schüchtern und sagte: »Was wollt ihr denn von mir? Ich kann weder singen noch tanzen, und was ich in Kiew erlebt habe, hab ich euch doch schon so oft erzählt.« »Erzähl uns von deinem Großvater, dem Nihilisten.« – »Erzähl uns von der Bärenjagd bei dir zu Hause.« – »Erzähl uns, wie du damals von dem deut240
schen Zug abgesprungen bist.« – »Erzähl uns vom Kometen.« Dov aber wehrte ab: »Alles Sachen, die ich euch schon erzählt habe, und es gibt nichts Langweiligeres, als sich zu wiederholen. Laßt uns lieber ein Spiel machen oder einen Wettkampf.« »Einen Zweikampf!« rief Piotr. »Wer will sich mit mir messen?« Im ersten Moment rührte sich niemand. Dann kam es zu einem kurzen Wortwechsel zwischen Line und Leonid. Leonid wollte die Herausforderung annehmen, und aus irgendeinem Grund versuchte Line mit allem Nachdruck, ihn davon abzubringen. Schließlich machte sich Leonid los. Die beiden Kämpfer zogen sich Jacke und Stiefel aus und stellten sich auf. Sie packten einander bei den Schultern, und durch Beinspiel versuchte einer den anderen umzuwerfen. Sie drehten sich mehrmals im Kreis, dann versuchte Leonid Piotr um die Mitte zu fassen, aber es gelang ihm nicht. Die beiden Hunde der Gruppe bellten unruhig, knurrten und stellten die Haare auf. Piotr war nicht nur stärker als Leonid, sondern war auch durch seine langen Arme im Vorteil. Nach einem wirren und nicht allzu fairen Gefecht fiel Leonid hin, und Piotr war sofort über ihm und drückte ihn mit der Schulter zu Boden. Mit erhobenen Händen grüßte Piotr sein Publikum, und da stand Dov vor ihm. »Was willst du, Onkel?« fragte Piotr. Er war fast um einen ganzen Kopf größer als Dov. »Mit dir kämpfen«, antwortete Dov und brachte 241
sich in Positur, war dabei aber völlig entspannt, die Hände baumelten ihm von den Gelenken wie immer, wenn er sich ausruhte. »Jetzt zeig ich dir was«, sagte Dov und trat vor. Piotr wich zurück und ließ ihn nicht aus den Augen. Im fahlen Mondlicht konnte man Dovs Bewegungen nicht genau verfolgen. Man sah ihn bloß, wie er ein Knie und eine Hand hielt, sich etwas bückte, und dann sah man Piotr aus dem Gleichgewicht kommen und auf den Rücken fallen. Er stand auf und schüttelte den Staub ab. »Wo hast du diese Griffe gelernt?« fragte er gereizt. »Haben sie die dir beim Militär beigebracht?« »Nein«, antwortete Dov, »die hat mir mein Vater beigebracht.« Gedale meinte, Dov solle die ganze Gruppe in dieser Kampftechnik unterrichten, und Dov antwortete, das würde er gerne tun, besonders bei den Frauen. Alle lachten, und Dov setzte hinzu, daß dies die Kampftechnik der Samojeden sei; einige Samojedenfamilien seien in seinen Geburtsort deportiert worden. »Die Russen haben sie zuerst so genannt, weil sie glaubten, sie äßen Menschenfleisch: ›Samo-jed‹ heißt ›ißt sich selbst‹, aber sie mögen diesen Namen nicht. Es sind anständige Leute, und man kann eine Menge von ihnen lernen. Wie man bei Wind Feuer macht, zum Beispiel, und wie man sich unter einem Haufen Stroh vor Schneestürmen schützt. Und auch, wie man die Hundeschlitten lenkt.« 242
»Das wird uns wohl nichts nützen«, bemerkte Piotr. »Aber das hier wohl«, sagte Dov. Aus dem Gürtel, den Piotr zusammen mit der Jacke abgelegt hatte, zog er das Messer heraus. Er nahm es mit zwei Fingern bei der Spitze, wog es einen Moment lang in der Hand, wie um Ziel zu nehmen, und schleuderte es dann auf den Stamm eines Ahornbaumes, der in ungefähr acht oder zehn Metern Entfernung stand. Wirbelnd flog das Messer durch die Luft und fuhr dann tief ins Holz. Die anderen versuchten es, Piotr, der vor Bewunderung neidisch war, allen voran, aber keinem gelang es, auch nicht, als sie den Abstand vom Baum auf die Hälfte verringerten: bestenfalls schlug das Messer mit dem Griff oder längs an den Baumstamm und fiel dann zu Boden. Gedale und Mendel trafen nicht einmal den Baumstamm. »Zu schade, daß anstelle des Ahorns nicht der Herr Doktor Goebbels gestanden hat«, sagte Jozek, der weder an den Vorstellungen noch an den Wettkämpfen teilgenommen hatte. Dov erklärte, daß man zum Töten eines Menschen nicht irgendein beliebiges Messer nehmen könne; man brauchte dazu ein ganz besonderes Messer, schmal, aber schwer müßte es sein und gut austariert. »Hast du verstanden, Jozek?« fragte Gedale. »Denk dran, wenn du das nächste Mal auf den Markt gehst.« Einige schliefen schon, als Gedale zur Geige griff und zu singen begann, er sang aber nicht, um Beifall zu erhalten. Er, der beim Sprechen so lärmend war, 243
sang mit ganz leiser Stimme. Einige der Gedalisten fielen ein, manche Stimmen im Chor, andere weniger harmonisch, alle aber bestimmt und kräftig. Erstaunt lauschten Mendel und seine Leute dem munteren, fast marschähnlichen Rhythmus und den Worten, die so lauteten: Kennt ihr uns wieder? Mir seind’s, die Lämmer aus’m Getto g’schoren tausend Jahr und g’wöhnt an’d Schmach. Schreiber seind mir, Schneider und Kantoren, verwelkt im Schatten vom Kreuz. Jetzt ham mir de Waldpfad entdeckt haben’s Schießen g’lernt und zielen recht. Wer für mich, wenn nicht ich? Wie, wenn nicht so? Wann, wenn nicht jetzt? Uns’re Brüder seind in’n Himmel g’fahrn durch die Kamine von Sobibor und Treblinka. Überlebt ham nur wir paar unserm g’schundnen Volk zur Ehr zu Zeugenschaft und Rach. Wer für mich, wenn nicht ich? Wie, wenn nicht so? Wann, wenn nicht jetzt? Davids Söhne seind mir und stur wie die in Masada. A jeder von uns tragt in der Tasche den Stein der dem Goliath die Stirn schlug ein. 244
Brüder: fort aus’m Europa der Gräber laßt uns gehn g’meinsam ins Land, wo mir Mensch sein derfen unter Menschen. Wer für mich, wenn nicht ich? Wie, wenn nicht so? Wann, wenn nicht jetzt? Als sie ihren Gesang beendet hatten, schliefen sie in ihre Decken gewickelt ein. Nur die Wachtposten auf den Bäumen an den vier Seiten des Lagers blieben munter. Am nächsten Morgen fragte Mendel Gedale: »Was habt ihr da gestern abend gesungen? Ist das eure Hymne?« »Du kannst es so nennen, wenn du willst. Es ist aber keine Hymne, nur ein einfaches Lied.« »Hast du es komponiert?« »Die Musik ist von mir, aber sie ändert sich von Mal zu Mal, weil sie nirgends aufgeschrieben steht. Die Worte sind nicht von mir. Da schau, hier sind sie geschrieben.« Aus einer Innentasche seiner Jacke zog Gedale einen wachspapierenen Umschlag hervor, der mit einem Stück Schnur zusammengebunden war. Er machte ihn auf und nahm ein zerknittertes Blatt kariertes Papier heraus, das mit Samstag, 13. Juni überschrieben war. Es war achtlos aus einem Kalender herausgerissen worden und in Bleistift dicht mit jiddischen Schriftzeichen bedeckt. Mendel nahm das Blatt in die Hand, betrachtete es aufmerksam und gab es dann Gedale zurück. 245
»Ich tu mir schon schwer mit der Druckschrift, kursiv lese ich überhaupt nicht. Ich hab’s vergessen.« »Ich hab es erst spät lesen gelernt, ’42 im Getto von Kossowo, da haben wir es sogar einmal als Geheimschrift benutzt. In Kossowo war Martin Fontasch bei uns. Von Beruf war er Tischler, und bis zuletzt hat er sich damit sein Geld verdient, aber seine eigentliche Leidenschaft war das Liederschreiben. Er machte alles selbst, Text und Musik, und war in ganz Galizien bekannt. Er begleitete sich auf der Gitarre und sang seine Lieder auf Hochzeiten und Dorffesten, manchmal auch in den Konzertcafés. Er war ein friedlicher Mensch und hatte vier Kinder, beim Aufstand des Gettos war er dabei und ist mit uns in die Wälder geflohen, er allein, und jung war er auch nicht mehr; alle seine Angehörigen waren umgebracht worden. Im Frühling letzten Jahres waren wir in der Nähe von Nowogrudok, und da gab es eine schreckliche Säuberungsaktion. Die Hälfte von uns ist im Kampf gefallen, Martin wurde verletzt und gefangengenommen. Der Deutsche, der ihn durchsuchte, hat in seiner Tasche eine Flöte gefunden, das war eher ein Pfeifchen als eine Flöte, ein wertloses Spielzeug, das Martin sich aus einem Holunderzweig geschnitten hatte. Nun war aber dieser Deutsche selbst Flötenspieler. Ein Partisan wird aufgehängt, ein Jude erschossen, setzte er Martin auseinander, er sei beides und könne deshalb wählen. Wie gesagt war der Deutsche Flötenspieler, und als musikliebender Mensch gewährte er ihm einen letzten Wunsch: es 246
sollte aber ja ein vernünftiger Wunsch sein. Martin bat darum, ein letztes Lied komponieren zu dürfen, und der Deutsche ließ ihm eine halbe Stunde Zeit, gab ihm dieses Blatt und sperrte ihn in eine Zelle. Als die Zeit um war, kam er zurück, ließ sich das Blatt geben und brachte Martin um. Ein Russe hat mir die ganze Geschichte erzählt. Zuerst kollaborierte der mit den Deutschen, dann verdächtigten sie ihn aber, er würde doppeltes Spiel treiben und sperrten ihn in die Zelle neben Martin. Er konnte fliehen und blieb ein paar Monate bei uns. Der Deutsche war scheinbar besonders stolz auf Martins Lied, überall zeigte er es wie eine Kuriosität herum und hatte sich vorgenommen, es sich bei nächster Gelegenheit übersetzen zu lassen. Dazu ist er aber nicht mehr gekommen. Wir beobachteten ihn, gingen ihm nach und isolierten ihn, und eines Nachts sind wir barfuß in die beschlagnahmte Kate eingedrungen, wo er wohnte. Ich hab was übrig für Gerechtigkeit und wollte ihn nach seinem letzten Wunsch fragen, aber Mottel hat mir Eile gemacht, und so hab ich ihn in seinem Bett erdrosselt. Wir fanden Martins Flöte und das Lied bei ihm: ihm hat es kein Glück gebracht, für uns aber ist es wie ein Talisman. Da, schau her, bis hierher geht der Text, den du uns hast singen hören, und diese Worte hier am Ende bedeuten: ›Geschrieben von mir, Martin Fontasch, der ich bald sterben muß. Samstag, 13. Juni 1943‹. Die allerletzte Zeile ist nicht auf jiddisch, sondern auf hebräisch, Worte, die du kennst: ›Höre Israel, einzig ist der Herr, dein Gott.‹ 247
Er hatte noch viele andere Lieder geschrieben, lustige und traurige. Das berühmteste hatte er geschrieben, lange bevor die Deutschen nach Polen kamen, und zwar aus Anlaß eines Pogroms. Pogrome besorgten damals die Bauern. Fast alle Polen kannten das Lied, nicht nur die Juden, aber keiner weiß, daß Martin Fontasch, der Tischler, es komponiert hat.« Gedale verschloß das Blatt in seinem Umschlag und steckte ihn wieder ein. »Genug davon. Das sind keine Gedanken für alle Tage. Nur ab und zu tun sie gut, wenn aber einer dauernd mit ihnen umgeht, dann wird er trübsinnig und ist kein Partisan mehr. Und denk dran, ich glaube nur an drei Dinge im Leben: an den Wodka, die Frauen und an die Parabellumpistole. Früher, da glaubte ich auch mal an die Vernunft, aber jetzt nicht mehr.« Einige Tage später beschloß Gedale, die Ruhepause habe nun lange genug gedauert und es sei an der Zeit weiterzuziehen. »… wir sind aber eine offene Bande, und wer lieber in Rußland bleiben möchte, kann gehen. Ohne Waffen, versteht sich. Soll er hier die Front abwarten oder gehen, wohin er will.« Niemand wollte die Bande verlassen, und Gedale fragte Piotr: »Kennst du die Gegend hier?« »Einigermaßen«, antwortete Piotr. »Wie weit ist die Eisenbahnlinie entfernt?« 248
»Zwölf Kilometer ungefähr.« »Bestens«, sagte darauf Gedale, »die nächste Etappe legen wir mit dem Zug zurück.« »Mit dem Zug? Aber es fahren doch alle Züge mit Eskorte!« gab Mendel zu bedenken. »Na und, wir versuchen es trotzdem. Mit der Eskorte werden wir uns schon noch einig.« Bedenklicher schien Gedale dagegen Pavels Einwand: »Und das Pferd? Du willst es doch wohl nicht hier lassen? Schließlich ist es uns nützlich, es trägt die Hälfte des Gepäcks.« Gedale wandte sich wieder an Piotr: »Was für Züge fahren auf dieser Strecke?« »Güterzüge, fast ausschließlich. Manchmal ist auch ein Passagier dabei, Schwarzhändler und so. Wenn sie Material für die Deutschen geladen haben, fährt eine Eskorte mit, die ist aber nie stark: zwei Männer auf der Lokomotive und zwei am Zugende. Militärzüge kommen hier nie durch.« »Welches ist der nächste Bahnhof?« »Kolki, zwanzig Kilometer südlich. Ein kleiner Bahnhof.« »Gibt es dort eine Laderampe?« »Das weiß ich nicht, ich kann mich nicht erinnern.« Dov griff ein: »Aber warum willst du dann, daß wir mit dem Zug fahren?« Ungeduldig erwiderte Gedale: »Und warum sollten wir denn nicht mit dem Zug fahren? Wir sind 249
schon mehr als tausend Kilometer gelaufen und die Eisenbahn liegt so nah. Und dann: ich will auf eine Art und Weise nach Polen einreisen, daß die Leute es nicht so schnell wieder vergessen.« Er überlegte einen Augenblick, dann setzte er hinzu: »Einen Zug auf dem Bahnhof zu überfallen, ist zu gefährlich. Wir müssen ihn auf offener Strecke anhalten, aber dann kann wieder das Pferd nicht einsteigen. Also, nehmen wir den Großteil des Gepäcks, schließlich ist es nicht weit; du, Pavel, gehst mit dem Pferd voraus und erwartest uns in Kolki.« Pavel war nicht überzeugt: »Und wenn ihr nicht kommt?« »Wenn wir nicht kommen, dann gehst du uns halt mit dem Pferd entgegen.« »Und wenn keine Laderampe da ist?« Gedale zuckte die Achseln: »Und wenn, und wenn, und wenn! Nur die Deutschen planen alles voraus, und deswegen verlieren sie auch die Kriege. Wenn keine Laderampe da ist, dann lassen wir uns eben was einfallen. Das sehen wir dann schon an Ort und Stelle, ein Weg wird sich finden. Los, Pavel, geh. Und denk dran: du bist ein Bauer, und laß dich nicht zu viel in den Ortschaften sehen. In dieser Gegend hier werden Pferde sofort von den Deutschen beschlagnahmt.« Pavel zog im Trott los, aber noch in Sichtweite verfiel »Drossel« wieder in ihre gewöhnliche, majestätische Gangart. Gedale und die Seinen brachen auf, und in wenig mehr als zwei Stunden hatten 250
sie die Eisenbahnlinie erreicht. Es war ein einziges Gleis, das die Grassteppe von Horizont zu Horizont durchschnitt, schnurgerade wie ein Lichtstrahl. Leicht macht man aus Hoffnung Gewißheit. Alle erwarteten, daß der Zug von Norden käme und in Richtung der polnischen Grenze führe; nach ein paar Stunden sahen sie ihn aber von Süden kommen. Es war ein Güterzug, und er fuhr sehr langsam. Gedale postierte seine Leute hinter den Sträuchern zu beiden Seiten des Gleises, dann stellte er selber sich unbewaffnet und in Hemdsärmeln zwischen die Gleise und schwenkte ein rotes Tuch. Der Zug verlangsamte seine Fahrt, hielt an, und im gleichen Moment wurde auch schon das Feuer eröffnet. Blitzschnell sprang Gedale beiseite und brachte sich hinter einem Nußbaum in Deckung. Seine Leute beantworteten das Feuer. Auch Mendel schoß und versuchte die Öffnungschlitze der Kabine zu treffen, und nebenbei bewunderte er die militärische Disziplin der Gedalisten. Nach allem, was er bislang von ihren Manieren gesehen hatte, erwartete er sich Tollkühnheiten von ihnen, die sie ja tatsächlich auch begingen. Nicht vorhergesehen hatte er allerdings die Sparsamkeit und Treffsicherheit, mit der sie feuerten, und die korrekte Art, wie sie Deckung gesucht und sich verteilt hatten. Von Schneidern, Schreibern und Kantoren sang ihr Lied: sie hatten sich aber schnell in ihr neues Handwerk geschickt und beherrschten es gründlich. Den Unerfahrenen oder Ängstlichen erkennt man daran, daß er die massive Deckung 251
sucht, einen Felsen oder einen großen Baumstrunk, hinter denen man wohl sicher, aber unbeweglich ist und obendrein gezwungen, beim Schießen den Kopf freizugeben. Sie aber hatten sich alle hinter dichten Sträuchern flach auf den Boden gelegt und schossen zwischen Blättern und Zweigen hindurch, wobei sie häufig die Position wechselten, um den Gegner zu täuschen. Auch die Eskorte des Zuges schoß scharf; es mußten mindestens vier Männer sein, und sie sparten nicht an Munition. Im letzten Waggon aber war niemand. Plötzlich sah Mendel Mottel vorspringen und auf den Zug zulaufen. Im Handumdrehen war er auf das Dach des letzten Wagens geklettert. Dort oben war er in Sicherheit, und im übrigen hatten ihn die von der Führerkabine nicht sehen können. Am Gürtel hatte er eine deutsche Handgranate, eine von den keulenförmigen mit Zeitzünder. Er lief vor zur Lokomotive, wobei er über die Zwischenräume zwischen den Waggons geschickt hinwegsetzte. Auf dem ersten Waggon angelangt, zog er die Zündung der Granate, verharrte einen Moment, schlug dann mit der Granate selbst das Rückfenster der Kabine ein und ließ sie ins Innere fallen. Es kam zur Explosion, und das Feuer setzte aus. In der Kabine stellten sie fest, daß die Eskorte nur aus drei Deutschen bestanden hatte, einer von ihnen lebte noch, und ohne zu zögern erschoß Gedale ihn. Auch der Heizer und der Maschinist waren tot. Schade, sagte Gedale, sie hatten eigentlich nichts 252
damit zu tun, und hätten uns nützlich sein können. Nu ja, wer sich mit den Deutschen einläßt, setzt einiges aufs Spiel und weiß das auch. Er zog ein finsteres Gesicht und schmollte wie ein Kind: Mottels Initiative war genial gewesen, aber sie hatte seine Pläne durchkreuzt. »Und wer soll das Ding jetzt in Bewegung setzen? Wer weiß, was für Schaden deine Bombe an den Kommandohebeln angerichtet hat, und zu allem müssen wir auch noch die Richtung ändern.« »Du bist ein Dickschädel, Kommandant, und nie kann man es dir recht machen«, erwiderte Mottel, der sich eine Belobigung erwartet hatte. »Schenk ich dir einen Zug, und du krittelst an mir herum. Nächstes Mal geht ihr in den Angriff, und ich dreh Däumchen.« Gedale hörte gar nicht auf ihn, sondern sagte zu Mendel, er solle in die Kabine steigen und zusehen, ob er die Maschine nicht wieder in Bewegung brächte. In der Zwischenzeit untersuchten einige der Männer den Zug. Enttäuscht kamen sie zurück: nichts von Wert hatte er geladen, bloß Kalk und Kohle und Säcke mit Zement. Gedale ließ aus zwei der gedeckten Waggons die Zementsäcke hinausschaffen, um Platz zu haben für seine Leute und das Pferd: er hielt an seinem Plan zu einer Landpartie im Zug fest. Er war sehr erregt, ordnete an, alle Säcke aufzuschneiden, überlegte es sich dann wieder anders und ließ einige Säcke vor der Motorlok zwischen den Gleisen aufstapeln. 253
»Hätten wir’s nicht so eilig, könnten wir eine schöne Bescherung anrichten. Aber auch so, mit ein bissel Regen und ein bissel Glück, wird das eine ganz nette Blockade.« Dann stieg er zu Mendel in die Kabine: »Na, was sagst du?« »Eine Lokomotive ist keine Uhr«, gab Mendel gereizt zurück. »Nu, Räderwerk sind’s allemal, und deine Antwort ist keine. Eine Lokomotive ist keine Uhr, und ein Uhrmacher ist kein Lokführer, und ein Ochs kein Schwein; und einer wie ich ist kein Bandenchef, sondern er spielt höchstens den Bandenchef, so gut es geht; besser: er spielt den Banditenchef.« Hier lachte Gedale auf die ihm eigene leichte Art, womit er schlagartig die ganze Atmosphäre aufzuheitern vermochte. Auch Mendel mußte lachen. »Geh jetzt runter. Wir machen eine Probe.« Gedale stieg aus, und Mendel wirtschaftete zwischen den Kommandohebeln herum. »Achtung, ich geb jetzt Dampf!« Der Schornstein schnaubte, die Puffer ächzten, und der ganze Zug rückte ein paar Meter rückwärts. Alle schrien »Hurra«, aber Mendel sagte: »Noch ist Druck auf dem Kessel, aber der reicht nicht mehr lang. Der Maschinist allein genügt nicht, auch ein Heizer ist nötig.« So effizient die Gedalisten im Kampf waren, so konfus waren sie, wenn es galt, im Frieden Entscheidungen zu treffen. Keiner wollte den Heizer machen. 254
Nach einer verworrenen Diskussion wurde Mendel eine Frau als Heizer zugeteilt, die allerdings kräftig war wie ein Mann: die schwarze Rokhele, die eine Strafe abzuleisten hatte, weil sie ein paar Tage zuvor beim Waffenreinigen die Feder von einer Muskete verloren hatte. Sie wurde die »schwarze« Rokhele genannt, um sie von der »weißen« Rokhele zu unterscheiden: sie war dunkel im Gesicht wie eine Zigeunerin, mager und flink in ihren Bewegungen, hatte sehr lange Beine und einen ebenfalls langen Hals, über dem ein kleines, dreieckiges Gesicht stand, das von lachenden, schrägstehenden Augen überstrahlt war. Die schwarzen Haare trug sie zu einem Knoten zusammengefaßt. Auch sie gehörte zu der Gruppe von Veteranen aus Kossowo, obwohl sie kaum älter als zwanzig war. Die weiße Rokhele hingegen war ein einfaches, sanftes Geschöpf; sie sprach fast nie, und wenn, dann mit so leiser Stimme, daß man sie kaum verstand. Aus diesem Grund wußte niemand etwas von ihr, und sie schien auch keinen Wert darauf zu legen, etwas von sich bekannt zu geben. Völlig passiv folgte sie der Bande auf ihrem Weg, gehorchte allen und beklagte sich nie. Sie stammte aus einem abgelegenen Dorf im ukrainischen Galizien. Mendel zeigte der Schwarzen, wie man den Kessel versorgt, alle anderen stiegen in die beiden leeren Waggons, und der Zug setzte sich in Bewegung, geschoben anstatt gezogen. Mendel stellte den Dampfhebel auf eine sehr niedrige Geschwindigkeit ein, weil er von der Kabine aus die Strecke nicht überblicken 255
konnte. Im Bremserhäuschen auf dem letzten Waggon, der jetzt der erste war, hatte sich Jozek mit dem Maschinengewehr postiert und machte den Kundschafter. Ab und zu lehnten sich beide hinaus, und Jozek zeigte Mendel an, ob die Strecke frei war. Die Heizerin lachte, als wäre alles bloß ein Kinderspiel, und schaufelte begeistert Kohlen. Schon nach kurzer Zeit war sie schweißüberströmt und nun wirklich schwarz, von Kopf bis Fuß und so sehr, daß ihre Augen und Zähne wie Lichter in der Dunkelheit blitzten. Mendel aber wurde seiner Lage ganz und gar nicht froh. Die Befriedigung darüber, dieses mechanische Monstrum gebändigt zu haben, war bald verflogen. Das Blut auf dem Blechboden der Kabine störte ihn, diese Fahrt blindlings ins Ungewisse beunruhigte ihn, und das ganze Unternehmen erschien ihm überflüssig, wahnwitzig und äußerst gefährlich. Es fehlte ihm der Einblick in die Reichweite von Gedales Absichten. Auf halber Strecke mußte er sich allerdings davon überzeugen, daß Gedales Absichten so weit nicht reichten, und er lieber improvisierte. Er hatte sich aus seinem Waggon hinausgelehnt und ihm Zeichen gemacht, er solle anhalten. Mendel hielt an, und beide stiegen aus. »Hör zu, Uhrmacher, ich hab mir überlegt, daß es wohl das beste wäre, diesen Zug zu beschädigen, so sehr es geht. Was kann man da machen?« »In diesem Fall rein gar nichts«, antwortete Mendel. »Führen wir vorwärts statt rückwärts, dann 256
könnte man die Waggons abhängen und irgendwie blockieren, so aber ist das was anderes. Das einzige, was man tun kann, ist, die Seitenwände der Wagen herunterzuklappen. Durch die Stöße beim Fahren streuen wir Kohle und Kalk auf die Böschung.« »Und die Waggons selbst und die Lok?« »Das kommt später«, sagte Mendel, »wenn du endlich genug davon hast.« Gedale überging die Provokation und schickte zwei Männer die Seitenwände herunterklappen, der Zug fuhr wieder an, und fröhlich streute er nach beiden Seiten das geladene Material aus den Waggons. Als sie am frühen Nachmittag in Kolki ankamen, waren die Wagen fast leer, und Pavel erwartete sie mitsamt seinem Pferd auf der Laderampe. In dem kleinen Bahnhof war niemand, außer einem Bahnhofsvorsteher. Als der aber das Maschinengewehr in Jozeks Händen sah, stattete er eine Art militärischen Gruß ab und verschwand. Mendel bremste, im Handumdrehen waren Pavel und »Drossel« aufgeladen, und sie fuhren weiter. Gedale war selig und machte Mendel Zeichen, er solle vorwärtsmachen und schneller fahren. »Nach Sarny! Nach Sarny!« Durch das Getöse der Lok hindurch vernahm Mendel Geschrei und Gesang und das verschreckte Wiehern von »Drossel«. Wenig später war es Mendel, der die Initiative ergriff und den Zug an einem Flüßchen anhielt, das die öde Steppe durchzog. Nicht nur, um sich auszuruhen und Rokhele Gelegenheit zu geben, sich 257
etwas zu waschen, sondern auch um mitzuteilen, daß das Wasser im Tender zur Neige ging. Alle gemeinsam machten sich an die Arbeit und liefen mit den wenigen verfügbaren Gefäßen – ein paar Küchentöpfen und einem Eimer, der sich in der Lok gefunden hatte – zwischen Zug und Fluß hin und her. Die Operation zog sich in die Länge, und Mendel nützte die Gelegenheit, um Pavel zuzuhören, der gerade erzählte, was er in Kolki gesehen hatte. »Überhaupt nicht gefährlich war’s, weder für das Pferd noch für mich. Hat sich niemand um uns gekümmert oder uns angesprochen, und doch hat mich bestimmt keiner für einen Bauern gehalten. Deutsche habe ich keine gesehen; sie müssen aber da sein, denn am Rathaus waren ihre Propagandaplakate angeschlagen, auf der Straße lassen sie sich aber nicht blicken. Die Leute haben keine Angst mehr zu reden, oder doch weniger als früher. Ich bin in ein Gasthaus gegangen, da lief das Radio, und man hörte die Stimme von Radio Moskau. Die sagte, daß die Russen die Krim zurückerobert haben, daß die deutschen Städte Tag und Nacht bombardiert werden und daß die Alliierten in Italien vor Rom stehen. Ach, ist das herrlich, durch die Dorfstraßen zu gehen, zwischen Balkonen mit Blumen darauf, die Schilder an den Geschäften zu sehen und Gardinen an den Fenstern! Schaut her, was ich euch mitgebracht habe: ich hab es von einer Mauer abgenommen, die hängen an jeder Straßenecke.« Pavel zeigte ein Plakat herum, das in großen 258
Lettern auf schlechtes, gelbliches Papier gedruckt war. Auf russisch und auf polnisch hieß es da: Arbeitet nicht für die Deutschen, gebt ihnen keine Informationen. Wer Getreide an die Deutschen liefert, wird mit dem Tode bestraft. Leser, wir beobachten dich. Wenn du dieses Plakat abreißt, wirst du erschossen. »Und du hast es abgerissen?« fragte Mottel. »Nein, nicht abgerissen, abgenommen hab ich’s: das ist was anderes. Ganz behutsam hab ich es von der Mauer abgelöst, und ein jeder hätte sehen können, daß ich es mitnehmen wollte, um es wem zu zeigen. Und sie haben ja auch nicht auf mich geschossen. Seht ihr? Es ist gezeichnet vom Regiment Roter Stern: die haben jetzt das Kommando.« »Auch wir haben was mitzureden«, brauste Gedale auf. »Wir werden auf eine Art und Weise Einzug halten in Sarny, daß man es so schnell nicht wieder vergessen soll. Wer kennt Sarny?« Jozek kannte es, da er hier seinen Wehrdienst in der polnischen Armee abgeleistet hatte: eine kleine Stadt, rund 20 000 Einwohner. Ein paar Fabriken, eine Spinnerei und eine Werkstatt für die Reparatur von Eisenbahnmaterial. Der Bahnhof? Den kannte Jozek ganz genau, weil er kurz vor Ausbruch des Krieges hier stationiert gewesen war. Sarny war die letzte polnische Stadt vor der Grenze, und die 259
Russen hatten sie sofort nach Beginn der Feindseligkeiten kampflos eingenommen. Der Bahnhof war relativ wichtig, weil hier die Linien nach Warschau und Lublin durchliefen und weil hier die Reparaturwerkstatt war. Es gab dort einen großen Schuppen und eine drehbare Plattform, um die Lokomotiven in die Werkstatt zu verschieben. Gedale strahlte plötzlich übers ganze Gesicht und sagte zu Mendel: »Ein ruhmreiches Ende wird deine Maschine nehmen!« Mendel erwiderte, er hoffe, das gelte nicht auch für ihn. Gedale ließ den Zug in der Nacht am Eingang zur Rangierstrecke anhalten und alle aussteigen. Das Pferd fürchtete sich vor der Dunkelheit und scheute: es weigerte sich auszusteigen, machte einen Versuch, sich aufzubäumen, wieherte krampfhaft und schlug gegen die Rückwand des Waggons aus. Nach langem Zerren und Schieben entschloß es sich endlich zu springen, kam aber unglücklich auf und brach sich einen Vorderlauf. Pavel ging schweigend weg und Gedale gab ihm einen Genickschuß. Auch der Bahnhof von Sarny schien verlassen: auf den Schuß keine Reaktion. Gedale sagte zu Mendel, er solle die Waggons auf ein Seitengleis verschieben, zu Jozek und Pavel, sie sollten vorsichtig vorausgehen und die Weichen in Richtung auf die Plattform stellen. Nach verrichteter Arbeit kamen sie zurück und berichteten, die Brücke der Plattform stünde quer zum Ankunftsgleis. Fein, sagte Gedale. Die Lok 260
würde im Graben der Plattform zerschellen und die Werkstatt für mindestens einen Monat blockieren. »Überzeugt dich das nicht, Uhrmacher? Hast sie wohl liebgewonnen, was? Ich auch ein bißchen, aber damit weiterfahren trau ich mich nicht, und den Deutschen will ich sie auch nicht schenken. Und eins sag ich dir, das hab ich in den Wäldern gelernt: am besten gehen die Aktionen aus, die dir der Feind am wenigsten zutraut. Los, schieb die Waggons beiseite, setz die Lok in Bewegung und spring ab!« Mendel gehorchte. Die unbemannte Lok verschwand in der Dunkelheit, erkennbar nur noch an den Funken, die aus dem Schornstein stoben. Alle hielten den Atem an. Wenige Minuten später vernahm man ein Krachen von berstendem Blech, einen dröhnenden Aufprall und dann einen schrillen Pfiff, der nach und nach leiser wurde. Eine Alarmsirene heulte, erregte Stimmen wurden hörbar, und die Gedalisten flohen lautlos in Richtung aufs offene Land. Während er sich in der Finsternis der Verdunkelung vorwärts tastete und über Gleise und Kabel stolperte, kamen Mendel ganz unpassenderweise die Worte aus der Lobpreisung der Wunder in den Sinn: »Gelobt seist Du, o Herr unser Gott, König der Erde, denn ein Wunder hast Du getan an uns an diesem Ort.« Auf diese Weise gab Gedales Bande ihren Einzug in besiedeltes Gebiet bekannt.
Siebtes Kapitel Juni – Juli 1944
»Tut mir leid für dich, Pavel, aber vorerst machen wir um Fenster mit Gardinen und Balkone voller Blumen lieber einen Bogen, vor allem aber um die Eisenbahn.« So hatte Gedale gesprochen, als er die Bande ins Innere des Waldes führte. Aber drei Tage, nachdem sie dort ihr Lager aufgeschlagen hatten, zog er vergleichsweise zivile Kleidung an, legte die Waffen ab, sagte, sie sollten nichts auf eigene Initiative unternehmen, sondern auf ihn warten, und ging allein fort. Die Zurückgebliebenen stellten Vermutungen an, eine verwegener als die andere, bis Dov sie schließlich aufforderte, das sein zu lassen: »Gedale spielt gern, aber er ist ein guter Spieler. Wenn er weggegangen ist, ohne etwas zu sagen, so wird er seine guten Gründe dafür haben. Macht euch lieber an die Arbeit, in einem Lager gibt es immer etwas zu tun.« Ein paar Tage verstrichen unter Müßiggang, Unruhe und den täglichen Verrichtungen des Lagerlebens, die zwar öde sind, über denen aber die Zeit vergeht. Am 10. Juni kam Gedale zurück, seelenruhig, als hätte er in Friedenszeiten bloß einen Spaziergang gemacht. Er verlangte etwas zu essen, legte sich eine halbe Stunde schlafen, wachte auf, streckte 262
sich, setzte sich etwas abseits und spielte Geige. Aber es war offensichtlich, daß er förmlich darauf brannte zu erzählen: er wartete nur darauf, daß ihm jemand den Vorwand dazu lieferte. Das tat schließlich Bella, die sich, ohne offiziell damit beauftragt worden zu sein, für die Vorratsbeschaffung verantwortlich hielt. Wenn Bella sprach, war es, als ob ein Spatz mit seinem Schnabel auf einen einhackte: die Hiebe zwickten wohl, verletzten aber nicht. »Da gehst du einfach weg, ohne etwas zu sagen, läufst hinter deinen Gedanken oder weiß ich was her, und läßt uns hier sitzen wie die Idioten. Die Vorräte sind fast aus, daran hast du wohl nicht gedacht!« Gedale legte die Geige beiseite und zog ein Bündel Banknoten aus der Tasche: »Hier, Frau. So schnell verhungern wir nicht. Los, ruf alle zusammen, wir wollen Parlament halten. Wir haben schon viel zu lange keins mehr gehalten, es gab aber auch schon lange keine guten Nachrichten mehr. Heute gibt’s welche.« Alle scharten sich um Gedale, und er sagte: »Erwartet euch keine Ansprache von mir, das liegt mir nicht. Und stellt auch keine Fragen, wenigstens vorläufig nicht. Ich werd euch sagen, so viel ich kann, und das ist wenig genug, aber wichtig. Wir sind keine Waisen und keine herrenlosen Hunde mehr. Ich hab mit einem geredet, und der wußte, wer wir sind und woher wir kommen. Die Sache mit der Lok hat genützt, mehr als ich dachte. Ich hab Geld bekommen, wir werden noch mehr kriegen, vielleicht auch 263
Waffen und reguläre Uniformen. Ich hab erfahren, daß wir nicht allein sind: unter den Banden, die in die Rote Armee eingegliedert sind, wie Ulybins Gruppe, gibt es auch spontane Bauernbanden, Gruppen von ukrainischen und tatarischen Deserteuren, Banditenbanden, aber auch andere Banden von Juden, wie unsere, andere Gedales und Gedalisten. Man spricht nicht viel von ihnen, weil die Russen den Separatismus nicht leiden können, aber es gibt sie, mehr oder weniger gut bewaffnet, große und kleine, mobile Gruppen und solche, die fest an einem Ort sind. Es gibt auch russische Banden unter jüdischem Kommando. Ich habe unsere Ziele dargelegt, und sie haben Zustimmung gefunden. Wir können unseren Weg fortsetzen, das kommt denen auch zugute. Wir brauchen nicht auf die Front zu warten: wir sind eine Vorhut und sollen ihr vorausziehen. Man erwartet von uns, daß wir so weitermachen wie bisher, also Guerilla, Sabotage, Ablenkungsmanöver, aber auch noch etwas mehr: wir sollen ins Innere Polens vordringen und die Kriegsgefangenenlager und die KZs angreifen, sofern wir noch welche finden. Wir sollen die Versprengten sammeln und das Land von Spionen und Kollaborateuren reinigen. Und wir sollen nach Westen ziehen. Den Russen kommt es darauf an, daß wir als Russen dort präsent sind; uns kommt es darauf an, als Juden präsent zu sein, und ausnahmsweise widersprechen sich die beiden Dinge einmal nicht. Wir haben freie Hand: wir können 264
über die Grenzen ziehen und unsere Gerechtigkeit üben.« »Über sämtliche Grenzen?« fragte Line. Gedale antwortete: »Keine Fragen, hatte ich gesagt.« So zogen sie weiter, tagelang, bei Sonne und bei Regen, über die Felder und durch die niedrigen Wälder der tristen Landschaft Wolhyniens. Sie vermieden belebte Straßen, kamen aber doch ab und zu durch Dörfer, und so geschah es, daß sie auf einem der Marktplätze auf ein Plakat stießen, ein anderes als das, welches Pavel abgenommen hatte. Dieses hier ging sie ganz direkt an und lautete: Wer den gefährlichen Banditen und Juden Gedale Skidler erschießt, bekommt zwei Kilo Salz. Wer dieser Dienststelle nützliche Hinweise geben kann, bekommt ein Kilo Salz. Wer ihn faßt und lebend ausliefert, erhält fünf Kilo Salz. Gedale wußte sich vor Vergnügen kaum zu fassen, denn das Foto auf dem Plakat war nicht seines; es war das Foto eines ukrainischen Kollaborateurs, der in der Gegend allgemein bekannt war. Gedale konnte sich von dem Plakat nicht trennen. »Eine phantastische Idee, mir hätte die kommen sollen. Und das schönste wär, wir würden diesen Gedale fangen!« 265
Es bedurfte einiger Überredungskunst, um ihn von dieser Idee abzubringen und zum Weitergehen zu bewegen. Mitte Juni begann es in Strömen zu regnen, die Flüsse führten Hochwasser, und sie zu Fuß zu durchwaten wurde praktisch unmöglich, auch versank man im Schlamm. Sie stießen auf eine Windmühle, durchsuchten sie und fanden sie verlassen und leer. Völlig leer allerdings: kein Mehl war da, nicht ein Sack, nicht einmal eine Handvoll, aber der säuerliche Geruch von vergorenem Mehl stand in allen Winkeln des Gebäudes und mischte sich unter den Geruch von Schimmel und verfaultem, nassem Holz. Das Dach aber war dicht und der Raum mit dem Mahlwerk einigermaßen trocken. An den Wänden entlang lief ein Bord aus groben Balken, worauf früher wahrscheinlich die Mehlsäcke abgestellt worden waren. Die Gedalisten richteten sich für die Nacht hier ein, einige auf dem Boden, andere auf dem Bord. Bei Kerzenlicht bot der Raum einen malerischen Anblick, halb Theaterbühne, halb Kulisse. Bequem war es nicht, aber es war Platz für alle, auch wenn sie sich ausstreckten, und das Trommeln des Regens auf dem Holzdach klang lustig und heimelig. Isidor, einer der Überlebenden aus Blizna, hatte sich eine Kerze und ein Stück Blech beschafft: bäuchlings lag er auf dem Boden und schabte Zoll für Zoll den Fußboden ab. Er war der jüngste in der Gruppe, noch keine siebzehn Jahre alt. Bevor er zu Gedales Gruppe gestoßen war, hatte er vier Jahre lang ver266
steckt gelebt: gemeinsam mit Vater, Mutter und einem Schwesterchen hatten sie in einem Loch unter einem Stallboden gehaust. Der Bauer, dem der Stall gehörte, hatte dem Vater dafür alles Geld und sämtliche Wertgegenstände der Familie abgenommen und ihn dann bei der polnischen Polizei angezeigt. Isidor hatte Glück gehabt, als die Deutschen kamen, war er gerade draußen gewesen, ab und zu nämlich ging einer von den vieren im Wald etwas frische Luft schnappen. Er kam gerade zurück, versteckte sich, und von seinem Versteck aus sah er die SS-Männer, junge Burschen wie er, kaum älter als er selbst, wie sie Vater, Mutter und Schwester mit Stöcken zu Tode prügelten. Ihre Gesichter waren nicht grausam, es sah eher aus, als hätten sie ihren Spaß bei der Sache. Hinter ihnen hatte Isidor den Bauern mit seiner Frau stehen sehen, kreidebleich im Gesicht. Seit damals war Isidor nicht mehr ganz richtig im Kopf. Er machte stets einen abwesenden Eindruck, ging leicht vornübergebeugt, mit langen Armen und Beinen. Er trug immer ein Messer im Gürtel und manchmal faselte er etwas daher von nach Hause gehen und den Bauern umbringen. »Was machst du denn da, Isidor? Osterputz?« fragte Mottel von der Höhe seines Bords herab. Isidor gab keine Antwort und fuhr fort, den Boden abzuschaben. Ab und zu, wenn er ein bißchen weißlichen Staub zusammengekratzt hatte, steckte er ihn in den Mund, kaute darauf herum und spuckte dann aus. 267
»Laß das sein, du kriegst noch Bauchweh«, sagte Mottel, »du ißt da mehr fauliges Holz als Mehl.« Isidor richtete oft Unheil an und man mußte auf ihn aufpassen. Er versuchte aber, sich nützlich zu machen, und alle hatten ihn gern. Er war vom Hunger besessen und steckte alles, was er nur kriegen konnte, in den Mund. »Da, iß das«, sagte die schwarze Rokhele und hielt ihm eine Handvoll Stachelbeeren hin, die sie im Wald gepflückt hatte. »Bald kommt Jozek zurück, und er wird schon etwas aufgetrieben haben.« Tatsächlich kam Jozek zurück mit wenig Sachen in geringer Vielfalt. Die Bauern in der Gegend waren arm und überdies mißtrauisch, Russen, Juden und Partisanen waren ihnen gleichermaßen verdächtig, und mit Jozek hatten sie sich nur deshalb auf Verhandlungen eingelassen, weil er sie auf Polnisch angesprochen hatte. Sie hatten ihm aber nur Eier und Brot gegeben und einen übertriebenen Preis dafür verlangt. »Für heute und morgen reicht’s, und dann sehen wir schon«, sagte Gedale, »wir sehen dann schon weiter.« Wind war aufgekommen, und sie fühlten sich wie im Bauch eines Schiffes. Das Gerüst der Konstruktion aus kolossalen, fast rohen Holzbalken ächzte, bebte und stampfte. Bei jedem Windstoß setzten sich die vier Windmühlenflügel, die keine Stoffbespannung 268
mehr hatten und wer weiß wie lange schon stillgestanden waren, ruckartig in Bewegung, um gleich darauf mit einem dumpfen Schlag wieder stehenzubleiben. Diese mühselige und vergebliche Anstrengung setzte sich unter Ächzen und Krachen durchs ganze Gebälk und bis in die Mühlwerke hinein fort; die ganze Konstruktion schien sich aufrichten zu wollen wie ein Riesensklave, der versucht, seine Ketten abzuwerfen. Nur Pavel hatte einschlafen können, er lag auf dem Rücken und schnarchte mit weit offenem Mund. »Igitt, hier ist alles voll Würmer«, sagte auf einmal Isidor, der mit einem Stecken in den Ritzen des Fußbodens herumstocherte. »Laß sie in Ruh«, sagte Bella besorgt, »iß dein Brot und leg dich schlafen.« Mit einem blöden Lächeln wandte sich Isidor an Bella: »Sicher laß ich sie in Ruh. Würmer eß ich nicht: sie sind nicht koscher.« »Ach was, Dummkopf, Würmer ißt man nicht, weil sie schmutzig sind, nicht, weil sie nicht koscher sind«, sagte Bella, die damit beschäftigt war, sich mit einem Scherchen die Fingernägel zu schneiden. Es war dies die einzige Schere, die die Bande besaß. Bella behauptete, sie sei ihr persönliches Eigentum, und wer sie benützen wollte, mußte sie bei ihr ausleihen und sich verpflichten, sie auch ja wieder zurückzugeben. Nach jedem geschnittenen Nagel betrachtete Bella aufmerksam und voller Befriedigung ihren Handrücken, wie ein Maler sein Gemälde nach einem Pinselstrich. 269
Mit fast tonloser Stimme griff die weiße Rokhele ein: »Würmer sind unrein, eben weil sie schmutzig sind. Auch das Schwein ist schmutzig, und deshalb treife. Wie kann man bloß nicht an die Reinheitsvorschriften der Kaschrut glauben? Da bräuchte man ja gleich kein Jude zu sein.« »Für mich sind das alles alte, überholte Geschichten«, sagte Jozek. »Das Schwein mag schmutzig sein, aber das Pferd und der Hase sind sauber und doch nicht koscher. Warum?« »Man kann nicht alles wissen«, gab die Weiße gereizt zurück, »vielleicht waren sie zu Moses’ Zeiten schmutzig oder übertrugen eine Krankheit.« »Na bitte, da sagst du es ja selbst: alte Geschichten. Wenn Moses hier unter uns wäre, hier in dieser Mühle, er würde nicht einen Augenblick lang zögern und die Vorschriften ändern. Er würde die Tafeln zerbrechen, wie damals, als er über das Goldene Kalb in Zorn geriet, und er würde neue machen. Und schon gar, wenn er gesehen hätte, was wir gesehen haben.« »Koscher – schmoscher«, gähnte Mottel und benützte damit ein jiddisches Wortspiel, das durch verzerrte Wiederholung den Gegenstand der Rede lächerlich macht. »Koscher – schmoscher, hätt ich einen Hasen, ich würd ihn essen. Ja, morgen noch geh ich Fallen aufstellen. Als Junge war ich gut im Fallenstellen, ich muß erst wieder in Übung kommen.« 270
Mit aufgerissenem Mund hörte Piotr zu. Er wandte sich an Leonid, der neben ihm saß: »Warum dürft ihr denn keinen Hasen essen?« »Weiß ich nicht. Ich weiß, daß man es nicht soll, aber ich kann dir auch nicht sagen warum. Der Hase ist verboten, so steht’s in der Torah geschrieben.« Dov mischte sich ein. »Der Hase ist verboten, weil er keinen Spalthuf hat.« Isidor sagte: »Wenn also meine Würmer einen Spalthuf hätten, könnt man sie dann essen?« Gedale hatte Piotrs verdutzten Gesichtsausdruck bemerkt. »Mach dir nichts draus, Russe. Wenn du bei uns bleiben willst, mußt du dich an solche Sachen gewöhnen. Alle Juden sind ein bißchen verrückt, aber wir sind noch etwas verrückter als die anderen. Darum haben wir auch Glück gehabt bisher, wir haben das Glück der Meschuggen. Halt, wo ich daran denke: wir haben eine Hymne, aber keine Fahne. Du solltest uns eine nähen, Bella, anstatt die Zeit mit deiner Toilette zu vertrödeln. Eine Fahne mit sämtlichen Farben drin, in die Mitte setzt du keinen Hammer und keine Sichel, keinen Doppeladler und keinen Davidstern, da setzt du einen Meschuggen hin mit Schellenkappe und Schmetterlingsnetz.« Dann wandte er sich wieder Piotr zu: »Im übrigen, wenn du mit uns kommen wolltest, dann, weil auch du ein bißchen verrückt bist, eine 271
andere Erklärung gibt es nicht. Die Russen sind entweder langweilig oder verrückt, man sieht, daß du zur Familie der Verrückten gehörst. Du wirst dich hier wohl fühlen, auch wenn unsere Gesetze ein bißchen kompliziert sind. Aber mach dir keine Sorgen, wir halten uns nur daran, wenn sie nicht mit der partišanka in Konflikt kommen, aber es macht uns Spaß, sie zu diskutieren. Wir sind gut im Ausklügeln von Unterscheidungen: zwischen rein und unrein, zwischen Mann und Frau, zwischen Juden und Gojim, und wir machen auch einen Unterschied zwischen Friedensgesetzen und Kriegsgesetzen. Das Friedensgesetz schreibt zum Beispiel vor, daß du nicht die Frau deines Nächsten begehren sollst …« Piotr, der neben der schwarzen Rokhele lag, rückte unwillkürlich ein Stückchen von ihr ab. »Nein, eben, du brauchst dir keine Sorgen zu machen, hier begehrt jeder jede.« »Nie nimmst du etwas ernst, Kommandant«, unterbrach ihn Line, die stets alles ernst nahm. Ohne laut zu sein, hatte ihre etwas rauhe Altstimme doch eine stille Gewalt, mit der sie sich gegen die anderen Stimmen durchsetzte: »In der Frage ›Frau deines Nächsten‹ haben wir ein Wörtchen mitzureden.« »Wer: wir?«fragte Gedale. »Wir Frauen. Vor allem: warum kann eine Frau einem oder einem anderen Mann angehören, ein Mann aber nicht einer Frau? Findet ihr das richtig? Wir halten das nicht für richtig, wir können das nicht akzeptieren. Nicht mehr, heute gehen die Frauen ins 272
Exil wie die Männer, werden aufgehängt wie sie, und oft schießen sie besser als die Männer. Das allein ist schon Beweis genug dafür, daß das mosaische Gesetz reaktionär ist.« Pavel war aufgewacht, kicherte und flüsterte Piotr etwas zu. Leonid schwieg, beobachtete Line jedoch verstohlen mit beunruhigter Mine. Eine heftige Böe schlug den mit Hagel vermischten Regen gegen die Wand. Die Mühle knarrte und ruckte wie ein Karussell um ihren riesigen Achsbolzen, der tief in das Erdreich gerammt war. Isidor schmiegte sich an die weiße Rokhele, die ihm beruhigend über die struppigen Haare strich. »Nur Mut, Line«, sagte Gedale, »du wirst dir doch nicht von so einem bißchen Wind bange machen lassen. Sag uns, wie dein Gesetz lautet, und wenn es nicht zu eng ist, wollen wir versuchen, es einzuhalten.« »Nicht der Wind macht mir Angst, sondern ihr. Ihr seid zynisch und primitiv. Unser Gesetz ist einfach: solange sie nicht verheiratet sind, können Männer und Frauen sich lieben und begehren, soviel sie wollen. Bis zur Ehe soll die Liebe frei sein, und tatsächlich ist sie es schon, ist es schon immer gewesen, und kein Gesetz kann sie einsperren. Nicht einmal die Bibel sagt da etwas anderes, unsere Väter waren wie wir, sie liebten wie wir, damals wie heute.« »Damals mehr als heute«, warf Pavel ein. »Nicht umsonst fängt die Bibel mit einer großen Vögelei an.« »… aber in der Ehe ist es nicht mehr so«, fuhr Line 273
fort, ohne auf ihn einzugehen. »An die Ehe glauben wir, weil sie ein Pakt ist, und Pakte werden eingehalten. Die Frau gehört dem Mann an, aber ebenso gehört der Mann der Frau an.« »Dann heiraten wir eben nicht«, sagte Gedale. »Was meinst du, Bella?« »Sei bloß ruhig, du«, gab Bella zurück, »weiß ohnehin jeder, was für ein Schmutzfink du bist. Und dann: hab ich dich nie darum gebeten, daß du mich heiraten sollst. Als Kommandant kannst du ja noch angehen, aber als Ehemann … reden wir lieber nicht davon.« »Bestens«, sagte Gedale, »wie du siehst, sind wir uns wieder mal vollkommen einig. Mit dem Heiraten können wir uns Zeit lassen, erst muß mal der Krieg aus sein.« Dann wandte er sich an Leonid, der mit finsterem Gesicht neben Line kauerte. »Und du, Moskowit, was meinst du zu den Theorien deiner Frau?« »Nichts meine ich dazu. Laß mich in Ruh!« »… und ich bin niemandes Frau«, setzte Line hinzu. »Was ihr für Geschichten macht«, ließ sich aus einem Winkel Jozek vernehmen, der zu einem der Männer aus Slonim sprach. »Jakob, unser Urahn zum Beispiel, hatte vier Frauen, und die verstanden sich prächtig miteinander.« Mottel mischte sich ein: »Das waren aber nicht die Frauen eines anderen. Jakob war völlig im Recht, denn eine hatte er irr274
tümlich bekommen, genauer gesagt, durch Labans Betrug, und die anderen beiden waren Sklavinnen. Wirkliche Ehefrau hatte er nur eine einzige: das war ganz in Ordnung so.« »Sehr gut, Mottel«, warf Gedale ein, »ich wußte gar nicht, daß du so gelehrt bist. Hast du vielleicht in Jeshiva studiert, bevor du anfingst, Hälse abzuschneiden?« »Ich hab Verschiedenes studiert«, erwiderte Mottel gespreizt. »Ich hab auch den Talmud studiert, und wißt ihr, was der Talmud über die Frauen sagt? Er sagt, daß man mit keiner Frau außer der eigenen sprechen darf, nicht einmal Zeichen machen darf man ihr, weder mit Händen noch mit Füßen oder Augen. Daß man ihre Kleider nicht anschauen darf, auch wenn sie sie nicht am Leib trägt. Daß eine Frau singen hören soviel ist, wie sie nackt sehen. Daß es eine schwere Sünde ist, wenn Verlobte sich umarmen: die Frau wird unrein davon, als ob sie die Regel hätte, und muß sich mit den rituellen Waschungen davon reinigen.« »Das alles steht im Talmud?« fragte Mendel, der bisher geschwiegen hatte. »Im Talmud und anderswo«, antwortete Mottel. »Was ist der Talmud«, fragte Piotr. »Ist das euer Evangelium?« »Der Talmud ist wie eine Suppe aus allem, was der Mensch nur verdauen kann«, sagte Dov. »Allerdings ist der Weizen mit der Spreu drin, die Früchte mit ihrem Kern und das Fleisch mitsamt den Knochen. 275
Sie schmeckt nicht besonders gut, ist aber nahrhaft. So ist der Talmud, voller Fehler und Widersprüche, aber genau deshalb lernt man das Denken daran, und die ihn ganz gelesen haben …« Pavel unterbrach ihn: »Das will ich dir erklären, was der Talmud ist, an einem Beispiel. Paß gut auf: zwei Schornsteinfeger fahren durch einen Kamin. Einer kommt schwarz und voller Ruß heraus, der andere bleibt sauber: wer von beiden geht sich waschen?« Piotr, der eine Falle hinter der Frage vermutete, schaute sich hilfesuchend um. Dann faßte er sich ein Herz und antwortete: »Der Schmutzige geht sich waschen.« »Falsch«, sagte Pavel. »Der Schmutzige sieht das Gesicht des anderen, das sauber ist, und glaubt, auch er sei sauber. Der Saubere aber sieht den Ruß im Gesicht des anderen, glaubt, auch er sei schmutzig, und geht sich waschen. Hast du das begriffen?« »Das hab ich begriffen, ja, das ist scharf gedacht.« »Aber warte nur, das Beispiel ist noch nicht aus. Jetzt stell ich dir eine zweite Frage. Dieselben beiden Kaminkehrer kommen ein zweites Mal durch den Kamin, und noch einmal ist der eine schmutzig und der andere nicht. Wer geht sich waschen?« »Ich hab dir doch gesagt, ich hab’s verstanden. Der saubere Schornsteinfeger geht sich waschen.« »Falsch«, sagte Pavel erbarmungslos. »Als er sich nach dem ersten Mal waschen ging, hat der Saubere gesehen, daß das Wasser im Becken nicht schmutzig 276
wurde, der Schmutzige aber hat verstanden, weshalb der Saubere sich waschen ging. Deshalb geht diesmal der schmutzige Schornsteinfeger sich waschen.« Teils verschüchtert, teils amüsiert hörte Piotr mit halb offenem Mund zu. »Und jetzt die dritte Frage. Die beiden kommen ein drittes Mal durch den Kamin. Wer von den beiden geht sich waschen?« »Von jetzt an geht sich immer der Schmutzige waschen.« »Noch einmal falsch. Hast du je gesehen, daß zwei Schornsteinfeger durch denselben Kamin kommen, und der eine ist schmutzig und der andere sauber? Da siehst du: so ist der Talmud.« Piotr saß noch einen Moment lang verdutzt da, dann schüttelte er sich wie ein Hund, der aus dem Wasser kommt, und meinte: »Wie ein begossener Pudel komm ich mir vor, durch deine Schuld. Wie ein Rekrut, der zum ersten Mal eine Kaserne von innen sieht. Na gut, jetzt hab ich verstanden, was euer Talmud ist, aber wenn ihr noch einmal so eine Prüfung mit mir machen wollt, dann geh ich zu Ulybin zurück. Das liegt mir nicht, ich geh lieber in den Kampf.« »Ärgere dich nicht, Russe«, sagte Gedale. »Es war nicht bös gemeint von Pavel, er wollte dich nicht aufziehen.« Und Line erläuterte: »Er wollte dich nur fühlen lassen, wie es ist als Jude. Ich meine, wie es ist, wenn einem das Hirn in einer 277
bestimmten Weise funktioniert, und man mitten unter Menschen lebt, deren Hirne eben anders sind. Der Jude bist diesmal du, allein mitten unter den Gojim, die dich auslachen.« »… und du tätest gut daran, deinen Namen zu ändern«, sagte Gedale, »denn deiner ist zu christlich. Anstatt Piotr Fomič laß dich Jeremias oder Habakuk oder mit sonst einem unauffälligen Namen rufen. Lern Jiddisch und vergiß das Russische; und laß dich womöglich auch beschneiden, sonst veranstalten wir früher oder später ein Pogrom.« Nachdem er so gesprochen hatte, gähnte Gedale genüßlich, blies die Kerze aus, wünschte allen eine gute Nacht und zog sich mit Bella zurück. Auch die anderen beiden Kerzen wurden gelöscht. In der Dunkelheit ließ sich noch eine schläfrig belegte Stimme vernehmen, wahrscheinlich von einem der Männer aus Ruzany: »… bei mir im Dorf gab’s einen Mann, der hatte Wildschweinsalami gegessen, und der Rabbiner machte ihm Vorwürfe deswegen. Er aber sagte, dieses Wildschwein hätte wiedergekäut und wär deshalb koscher. ›Unsinn, Wildschweine käuen nicht wieder‹ gab der Rabbi zurück. ›Im allgemeinen käuen Wildschweine nicht wieder, dieses hier aber wohl, es kaute ganz besonders: wie ein Ochs käute es wieder‹, sagte der Jude. Und nachdem das Wildschwein nicht mehr da war, mußte der Rabbi nachgeben.« »Bei mir im Dorf gab’s einen Juden, der hat sich vierzehnmal taufen lassen.« 278
»Warum? War einmal nicht genug?« »Sicher, aber ihm gefiel die Zeremonie so gut.« Nach Räuspern und Spucken ließ sich eine dritte Stimme vernehmen: »Bei mir im Dorf gab’s einen Juden, der betrank sich.« »Na und, was ist besonderes dran?« fragte jemand anderer. »Nichts. Ich hab ja nicht gesagt, daß es was Besonderes ist. Heute abend ist es aber etwas Besonderes, etwas Gewöhnliches zu erzählen, wo doch alle etwas Besonderes erzählen.« »Bei mir im Dorf«, setzte Isidor an, aber eine Frauenstimme unterbrach ihn: »Schluß jetzt, schlaf jetzt, es ist spät.« Aber Isidor fuhr fort: »Bei mir im Dorf gab’s eine Frau, die hatte den Teufel gesehen. Er hieß Anduschas, hatte die Gestalt eines Einhorns und spielte ein Instrument.« »Was für ein Instrument spielte er?« »Er spielte Horn.« »Aber wie ging denn das, wo er das Horn doch auf dem Kopf hatte?« »Das weiß ich nicht«, sagte Isidor. »Das hab ich nicht gefragt.« Von oben gähnte eine Baßstimme: »Seid jetzt still. Es ist Zeit zum Schlafen, wir sind weit gelaufen und müssen uns ausruhen. Auch der Herr hat sechs Tage gebraucht, um die Welt zu erschaffen, aber am siebten Tag hat er sich ausgeruht.« 279
Gedale ergänzte: »Ausgeruht hat er sich und sich gesagt: hoffentlich funktioniert das ganze.« Man hörte noch die leise Stimme der weißen Rokhele, die ihre Abendgebete murmelte: »In deine Hand leg ich meinen Geist« und den Segen »Es zerbreche der Barmherzige das Joch, das uns erdrückt, und führe uns mit erhobener Stirn in unser Land.« Dann wurde es still. Der Regenguß vom Abend war in einen sanften Nieselregen übergegangen, und auch der Wind hatte nachgelassen. Das Gebälk der Mühle ächzte und stöhnte nicht mehr, es knackte nur noch leise, als nagten Hunderte von Holzwürmern daran, und Mendel, der auf den harten Dielen ausgestreckt lag, konnte keinen Schlaf finden. Andere, undeutliche Geräusche drangen vom Speicher herab, schnelles, leichtes Getrappel, vielleicht von Mäusen oder Wieseln, und mischte sich unter die Atemzüge und das Gebrumm der schlafenden Genossen. Die Luft war lau, durchtränkt von nächtlicher Feuchtigkeit und von herbsüßem Pollenduft, und Mendel fühlte, wie Verlangen ihn erfaßte. Es war ein Verlangen, wie Jugendliche es verspüren, formlos, weich, warm und weiß: Mendel versuchte, es sich zu verdeutlichen, aber es gelang ihm nicht. Verlangen nach einem Bett und nach einem Frauenleib in dem Bett; das Verlangen, sich in einer Frau aufzulösen, ein einziges Fleisch zu sein mit ihr, ein einziges, zwiefaches, von der Welt abgeschlossenes Fleisch, abseits 280
von den Straßen, den Waffen, den Ängsten und abseits von den Erinnerungen an die Massaker. Neben ihm atmete leise Sissl. Mendel streckte eine Hand aus und fühlte ihre in die rauhe Decke gehüllte Hüfte. Mit sanftem Druck versuchte er sie an sich zu ziehen, aber Sissl war vom Schlaf wie versteinert und rührte sich nicht. Unsichere und schwankende Bilder zogen am Horizont seines Halbschlafes dahin, Namen und Gesichter, nahe und fern. Sissl, blond und müde. Rivke mit ihren traurigen, schwarzen Augen, aber sofort verscheuchte Mendel ihr Bild, er wollte, er konnte nicht an sie denken. Rivke, Strelka, das Massengrab: geh, geh weg, Rivke, bitte. Kehr zurück, woher du gekommen bist, laß mich leben. Vorsätzlich versuchte Mendel einzuschlafen, merkte aber, wie gerade diese willentliche Anstrengung der Stachel war, der ihn wach hielt. Sein Geist war noch nicht so benommen, daß er nicht gewahr geworden wäre, wie ein anderes Gesicht und ein anderer Name bei ihm vorsprachen. Ein Name ohne Gesicht, der Name Rahab, die mächtige, perverse Dirne. Ja, sie war wahr, jene seltsame Geschichte: Mendel brauchte nur ihren Namen auszusprechen, und sei es auch nur im Geiste, so spannte sich schon sein Fleisch. Und ein namenloses Gesicht, ein eingefallenes, junges Gesicht, verbraucht und mit großen, weitstehenden Augen. Es versetzte Mendel einen Stoß: es war nicht namenlos, dieses Gesicht. Es hatte einen Namen, und das war der Name Lines. Er sah sie vor sich, wie er sie wenige Stunden zuvor gesehen hatte 281
in der Diskussion, leidenschaftlich überzeugt, ohne jede Konzession an Bequemlichkeit und frei von Zweifeln, ernsthaft bis zur Lächerlichkeit, bebend wie ein gespanntes Seil. Er wickelte sich aus der Decke, zog die Schuhe aus und tastete sich vorwärts, wobei er an die Körper und Gliedmaßen der Schlafenden stieß. Er hatte gesehen, wohin sie sich zum Schlafen zurückgezogen hatte und fand sie ohne Schwierigkeiten unter der Treppe, die zum Dachboden führte. Im Dunkeln berührte er ihr Haar, und augenblicklich lief sein Blut rascher. Neben Line schlief Leonid, die beiden waren in dieselbe Decke gewickelt. Einen Moment lang traten die Gestalten von Leonid und Sissl vor sein Gewissen, zogen sich dann aber in die Dunkelheit zurück, wurden immer kleiner und durchsichtiger, bis sie ganz verschwanden, wie auch das schreckliche Gesicht Rivkes verschwunden war. Mendel berührte Lines Schulter, dann ihre Stirn. Die kräftige, kleine Hand des Mädchens kam unter der Decke hervor, fand Mendels Arm und fuhr ihn erforschend hinauf. Sie schlüpfte in den Hemdkragen, strich über die unrasierten Wangen; die Finger ertasteten die Narbe auf der Stirn, und sensibel folgten sie ihrem Verlauf, bis unter den Haaransatz. Die andere Hand kam hinzu, legte sich Mendel in den Nacken und zog seinen Kopf herab. Mendel half Line, sich aus der Decke zu wickeln, ohne Leonid zu wecken. Gemeinsam stiegen sie zum Dachboden hinauf, die Stiege knarrte unter ihrem Gewicht, das 282
Geräusch ging aber im Rauschen von Wind und Regen unter. Der Dachboden war vollgestellt. Mendel tastete sich vorwärts und erkannte einen Trichter, dann berührte er ein Räderwerk voller Wagenschmiere. Angewidert zog er die Hand zurück und wischte sie am Hosenboden ab. Mit den Füßen machte er einen freien Raum aus und zog Line, die ihm willig folgte, dorthin. Sie streckten sich am Boden aus und Mendel zog Line die Militärkleidung aus. Der Körper, der darunter zum Vorschein kam, war nervös und mager, beinah maskulin; der Bauch war flach, Arme und Schenkel schmal und sehnig. Die Knie waren eckig, hart und rauh wie bei Kindern. Begierig erforschte Mendels Hand die Kuhlen zu beiden Seiten der Sehnen unter der Kniescheibe, glitt dann an der Hüfte entlang wieder hinauf. Die Brüste waren zwar klein, aber schon verwelkt, traurige, leere Hautsäcke, unter denen man die Rippen spürte. Mendel zog sich aus, und sofort umklammerte Line seinen Leib wie zum Kampf. Unter das Gewicht des männlichen Körpers gepreßt, wand sie sich wie ein zäher, stoßfester Gegner, reizte und forderte ihn heraus, es war eine Sprache, und selbst durch die roten Nebel des Begehrens verstand Mendel sie: ich will dich, aber ich widersteh dir. Ich widersteh dir, weil ich dich will. Schmal lieg ich unter dir, gehör dir aber nicht. Ich bin niemandes Frau, und indem ich dir widersteh, bind ich dich an mich. Mendel fühlte sie auch nackt wie in Waffen, bewaffnet wie damals, als er sie 283
im Schlafsaal von Nowoselki zum ersten Mal gesehen hatte. Gehör allen und keinem, wie Rahab von Jericho. Mendel spürte es, und es versetzte ihm einen Stich, als er sich im letzten Moment von ihr losriß. Die Anstrengung war schmerzlich, und laut stöhnte er auf in der dunklen Stille der Mühle. Als das Fieber sich in der Ruhe des besänftigten, befriedigten Körpers gelöst hatte, horchte Mendel in die Dunkelheit: die Stille war nicht vollständig, man hörte andere, erstickte Stimmen, die nur schwer erkennbar waren. An Lines Seite, die schon ruhig schlief, glitt auch Mendel in den Schlaf. Wenig später, im ersten Morgengrauen, als die anderen noch alle schliefen, wachte er wieder auf und unterschied Gedale neben Bella, Pavel neben der schwarzen Rokhele und die weiße Rokhele neben Isidor. Lines schmales, blasses Gesicht lag in seinem Arm. Warum hab ich das getan? Was suche ich bei ihr? Liebe und Lust. Nein, nicht nur das. Eine andere Frau suche ich in ihr, und das ist furchtbar und ungerecht. In Sissl hab ich sie gesucht und nicht gefunden. Ich suche die, die nicht mehr ist, und ich werd sie nie finden. Und jetzt bin ich an die hier gebunden: von ihr gebunden, vom Efeu umwunden. Für immer, vielleicht auch nicht für immer, ich weiß nicht, nichts ist für immer. Und sie ist an mich nicht gebunden: sie bindet und bindet sich nicht, das hättest du wissen müssen, Mendel, bist ja kein Kind mehr, mach dich los, solange es noch möglich ist, dies ist nicht 284
die Zeit, sich zu binden. Mach dich los, oder es wird schlimm mit dir enden, wie mit Leonid. Er schaute sich um, Leonid war nicht da. Das war nicht weiter verwunderlich, er konnte kurz hinausgegangen sein. Und er fuhr fort mit seinen brüderlich wohlmeinenden Ratschlägen: sich von Line loszumachen, er befahl es sich, wollte sich dazu zwingen; und dabei wußte er genau: hätte jemand anderer so zu ihm gesprochen, er, Mendel, der sanftmütige Uhrmacher, er hätte ihm ins Gesicht geschlagen. Nach einer halben Stunde waren alle wach, und Leonid war nicht da, auch sein Gewehr und sein Rucksack waren weg. Gedale fluchte auf polnisch vor sich hin, der Teufel solle Leonid holen, dann fuhr er auf jiddisch fort: »Nu, wir sind nicht die Rote Armee, und ich bin kein Ulybin, und als Partisan taugt er ohnehin nicht viel. Er ist nicht von dem Schlag, die uns verraten, aber wenn er auf die Deutschen trifft, dann kann das bös ausgehen. Hoffen wir bloß, daß er keine Dummheiten macht. Alleine kommt er nicht weit. In spätestens drei Tagen finden wir ihn wieder, ihr werdet sehen.« »Aber das Maschinengewehr hätte er ruhig dalassen können«, meinte Jozek. »Allerdings, das ist es ja. Wenn er es mitgenommen hat, dann will er auch Gebrauch davon machen.« Mendel schlug vor, ihn suchen zu gehen, Dov fügte hinzu, man könne es mit den Hunden versuchen, und Gedale meinte, sie sollten zusehen, wie sie zurecht kämen, aber keine Zeit verlieren. Dov 285
führte einen Hund zu der Decke, unter der Leonid geschlafen hatte, ließ ihn daran schnuppern, dann führte er ihn ins Freie. Der Hund schnüffelte lustlos am Boden herum, hob die Schnauze und schnupperte die Luft, drehte sich zwei-, dreimal im Kreis. Schließlich ließ er Schwanz und Ohren hängen und schaute Dov und Mendel an, als wollte er sagen: was wollt ihr denn von mir? »Gehen wir«, sagte Gedale. »Macht euch fertig zum Aufbruch. Ihn suchen gehen kommt gar nicht in Frage. Sucht er uns, so weiß er, wie er uns findet.« Mendel dachte bei sich: Er ist losgezogen, um auf die Deutschen zu schießen, im Grunde aber wollte er wohl auf mich schießen. Unter strahlendem Himmel und auf regennassem Gelände setzten sie ihren Weg fort. Sie umgingen einige offenbar verlassene Dörfer. Jozek führte die Kolonne an, es ging durch kleine Waldstücke und über unkrautüberwucherte Felder, und sie kamen nur langsam voran. Das Gelände war eben, gegen Westen zeichnete sich allerdings eine flache Hügelkette ab. Schweigend ging Mendel dahin und fühlte sich nicht wohl in seiner Haut. In einer einzigen Nacht hatte er zweifachen Verrat begangen, womöglich dreifachen, wenn man Sissl mitrechnete. Aber Sissl zählte nicht, da, etwas weiter vorne in der Reihe ging sie hinter Piotr drein, mit ruhigem Schritt wie immer. Und auch die Toten zählen nicht, sie leben in ihrer Totenwelt und kommen fast nie daraus hervor. Man 286
darf sie da auch nicht herauslassen, das ist wie beim Typhus, man muß die Quarantäne verschärfen, muß die Leute in ihrem Lazarett einsperren. Denn die Lebenden haben ein Recht, sich zu verteidigen. Aber mit Leonid war das etwas anderes, Leonid war nicht tot … und weißt du denn, ob er nicht tot ist? Ob du ihn nicht ermordet hast, du, der du sein Bruder warst und mit frecher Stirn geantwortet hast, als man dich nach ihm fragte? Womöglich hast du ihm das einzige genommen, was er auf dieser Welt besaß, hast das Schlepptau durchschnitten, das ihn über Wasser hielt, und er geht gerade unter, oder ist schon untergegangen. Nein, Ärgeres hast du getan: du hast ihn vom Seil abgehängt und dich an seine Stelle gesetzt. Jetzt läßt du dich schleppen. Von ihr, von dem eigenwilligen Mädchen mit den abgekauten Fingernägeln. Paß auf, was du tust, Mendel, Nachmans Sohn! Am Morgen des dritten Tages standen sie vor dem Rand einer Schlucht. Die Wand war abschüssig, der Lehmboden war vom Regen aufgeweicht und widerlich glitschig; auch die gegenüberliegende Wand war steil, und am Grunde der Schlucht, dreißig Meter tiefer, toste, eingezwängt zwischen die beiden Ufer, das schmutzige Schlammwasser des Flusses. »Im Dollarfälschen magst du ja ganz gut sein, aber als Führer taugst du nicht viel«, meinte Gedale. »Hier kommen wir nicht weiter. Du hast dich vertan.« Jozek sucht sich zu rechtfertigen: es gab viele Pisten hier, man konnte nicht von ihm verlangen, daß er sich nach Jahren noch an alle erinnerte. Der 287
Regen war schuld, bei gutem Wetter, da war er ganz sicher, wäre man ziemlich leicht hinunter und auch wieder hinaufgekommen, der Fluß war dann bloß ein Rinnsal, das niemandem Angst machen konnte. Sie brauchten aber deswegen nicht umzukehren, sie konnten am Rande der Schlucht Richtung Norden weitergehen, und früher oder später würden sie schon einen Übergang finden. Auf brombeerüberwucherten Pfaden zogen sie weiter. Bald sahen sie, daß der Fluß nicht nach Norden, sondern nach Nordosten, beinah nach Osten abbog, und Jozeks Popularität sank beträchtlich: Das war noch nie dagewesen, daß man, um in Richtung Westen zu gehen, sich nach Osten wenden mußte. Gedale sagte, Christoph Kolumbus hätte es ganz genauso gemacht, oder wenigstens umgekehrt. Bella, die todmüde war, meinte, er solle keine dummen Witze machen. Jozek bestand darauf, es mußte einen Übergang geben, und auch nicht weit entfernt. Tatsächlich trafen sie gegen Mittag auf einen gut erkennbaren Weg, der am Rand der Schlucht entlanglief. Sie folgten ihm eine halbe Stunde lang und sahen, daß Jozek recht gehabt hatte: die Schlucht bog in scharfem Winkel nach links, das heißt nach Westen, und an einer Seite fiel der immer ausgetretenere Weg schräg ab. Trotz des Regens, der wenige Tage zuvor gefallen war, erkannte man deutlich Spuren von Rinderhufen: wahrscheinlich führte der Weg zu einer Furt, zu einer Brücke oder zu einer Viehtränke. Sie stiegen hinunter, der Weg erreichte 288
den Fluß genau an der Spitze seiner Krümmung, und hinter der Kurve weitete sich die Klamm zu einem ebenen, breiten Flußbett, der Fluß teilte sich in mehrere Arme, die sich gemächlich über den Kies dahinschlängelten. Auf der kleinen Ebene erkannte man die Ruinen einer steinernen Baracke, auf der Schwelle standen sechs Männer, und einer davon war Leonid. Von den anderen waren vier bewaffnet, und sie trugen zerschlissene und ausgebleichte Uniformen der ehemaligen polnischen Armee; der sechste stand unbewaffnet und mit nacktem Oberkörper etwas abseits und sonnte sich. Einer der Bewaffneten kam auf die Gedalisten zu. Er zog sich das Gewehr, das er geschultert getragen hatte, über den Kopf, richtete es aber nicht direkt auf die Ankömmlinge, sondern hielt es beim Lauf und ließ es nachlässig herabhängen. Dann sagte er auf polnisch: »Stehenbleiben!« Gedale, der in Polen geboren und aufgewachsen war und besser Polnisch als Russisch sprach, blieb stehen, machte der Kolonne Zeichen, ebenfalls anzuhalten, und sagte dann auf russisch zu Jozek: »Frag mal, was der Pan will!« Der Pan, das heißt jener Herr, verstand – und im übrigen hatte Gedale es geradezu darauf angelegt, daß er verstünde – und antwortete in kalter Wut: »Ich will, daß ihr weggeht von hier. Das ist unser Gebiet, und ihr habt schon genug Schaden angerichtet.« Bei der Aussicht auf einen Streit hatte Gedales 289
Gesicht einen begeisterten Ausdruck angenommen, was den Polen noch mehr irritierte. Er sagte zu Jozek: »Sag dem Herrn, wenn wir ihm Unannehmlichkeiten bereitet haben, so geschah das ganz ohne unsere Schuld, oder doch ohne die Absicht, ihm persönlich Schaden zuzufügen. Frag ihn, ob er vielleicht auf die Geschichte mit der Lokomotive in Sarny anspielen will, und wenn ja, dann sag ihm, daß wir es nicht wieder tun wollen. Sag ihm, daß wir große Lust haben, von hier wegzukommen, und daß wir seine Ermunterungen dazu gar nicht brauchen. Frag ihn …« Es stellte sich heraus, daß der Pole ziemlich gut Russisch verstand, denn er wartete Jozeks Übersetzung nicht ab, sondern unterbrach Gedale heftig: »Versteht sich, daß ich von der Lokomotive rede. Auch Sarny gehört zu unserem Gebiet, Gebiet der Nationalen Streitkräfte, und die Repressalien der Deutschen haben wir abbekommen. Aber ich rede auch von eurem Mann hier«, und er wies dabei verächtlich mit dem Daumen auf Leonid, »von diesem tollkühnen Dummkopf, der allein auszieht, den Helden zu spielen, ohne zu bedenken, daß …« Diesmal war es Gedale, der unterbrach; als Überraschungseffekt ließ er das Spielchen mit dem Übersetzer sein und sagte in fließendem Polnisch: »Wie? Was hat er getan? Wo habt ihr ihn gefangengenommen?« »Wir haben ihn nicht gefangengenommen«, brüllte 290
der Pole, »wir haben ihn gerettet. Und erzählt das bloß niemandem, denn das ist auch noch nicht dagewesen, Blut eines Hundes, daß die NSZ vor den Kugeln der Deutschen einen Jidden retten, der obendrein noch Russe ist und Kommunist. Er muß aber wirklich ein bißchen beschränkt sein: geht er doch am hellichten Tag, bewaffnet und ohne sich auch nur umzuschauen, auf die Absperrung der Deutschen los …« »Welche Absperrung?« »Die bei der Zentrale von Zielonka. Und riskiert dabei, eine Katastrophe heraufzubeschwören. Ganz davon zu schweigen, daß auch wir auf die Energie von Zielonka angewiesen sind. Wenn ihr sabotieren wollt, dann geht gefälligst etwas weiter weg, wo der Pfeffer wächst. Und informiert euch über die politische Lage. Und vor allem: schickt nicht solche Hornochsen vor wie diesen hier!« »Den haben wir nicht geschickt, das hat er auf eigene Faust unternommen«, sagte Gedale. »Wir werden ihn verhören und bestrafen.« »Das hat er uns auch schon erzählt, daß das seine Initiative war: das Verhör haben wir schon selbst besorgt. Aber wir lassen uns nicht für dumm verkaufen, wir sind schließlich keine Kinder. Seit ’39 kämpfen wir an zwei Fronten, und gewisse Tricks haben wir gelernt. Und ihr habt sie von den Nazis abgeschaut: alles ganz genauso wie damals beim Reichstagsbrand, man nimmt einen, der ein bißchen schwach ist im Kopf, und schickt ihn ins Feuer, und 291
wie aus heiterem Himmel regnet’s dann Repressalien auf der Seite, wo es euch paßt.« Der Pole unterbrach sich und schnappte nach Luft. Er war groß, mager, nicht mehr jung, und sein grauer Schnurrbart bebte vor Wut. Gedale warf einen Blick auf Leonid: er saß auf der Steinschwelle der Baracke, die gefesselten Hände auf den Knien. Er war nur zehn Schritt entfernt und konnte alles hören, schien aber wie taub. Der Pole musterte Jozek aufmerksam. »Auch du siehst mir aus wie ein Jud. Wir haben ja schon einiges erlebt, aber das schlägt dem Faß den Boden aus: Juden, die durch Polen ziehen mit den Waffen, die sie den Polen gestohlen haben, und sich für Partisanen ausgeben, Huren müssen ihre Mütter sein!« Gedale fuhr auf, riß dem Polen mit der Linken das Gewehr aus der Hand und versetzte ihm mit der Rechten eine schallende Ohrfeige auf die rechte Wange. Der Pole schwankte, machte ein paar unsichere Schritte, fiel aber nicht hin. Sofort waren die anderen drei mit drohender Gebärde herangetreten, ihr Führer sagte aber etwas zu ihnen, und sie zogen sich wieder ein paar Schritte zurück, behielten jedoch die Gewehre im Anschlag. »Auch ich bin Jude, Panje Kondotierze«, sagte Gedale gelassen. »Die Waffen haben wir nicht gestohlen, und wir wissen sehr gut damit umzugehen. Ihr kämpft seit fünf Jahren, wir seit dreitausend; ihr an zwei Fronten, wir an zahllosen. Seien 292
Sie doch vernünftig, Herr Kondottiere. Wir kämpfen gegen denselben Feind: sparen wir daher unsere Kräfte.« Und mit einem verbindlichen Lächeln setzte er hinzu: »Und sparen wir uns auch unsere Beschimpfungen.« Bestimmt hätte sich der »Kondottiere« nicht so nachgiebig erwiesen, wenn er sich nicht von ungefähr zwanzig Gedalisten mit eher entschlossenen Gesichtern umringt gesehen hätte. So aber fluchte er unverständlich etwas vor sich hin, im Sinne von Donnerwetter und Pest, und sagte dann mürrisch: »Wir wollen nichts von euch wissen und nichts mit euch zu tun haben. Hier habt ihr euren Mann wieder. Und nehmt auch gleich den anderen da mit, der behauptet, er gehört zu euch, wir können nichts mit ihm anfangen.« Auf ein Zeichen von ihm packten seine Gefolgsleute Leonid bei den Armen, stellten ihn auf die Füße und stießen ihn auf Gedale zu, der als erstes das Seil durchschnitt, mit dem man Leonid die Hände gebunden hatte. Leonid sagte kein Wort, hob die Augen nicht vom Boden und trat zu der Gruppe der Gedalisten, die auf dem Weg stand. Der andere Mann, von dem der Pole gesprochen hatte, der, der sich mit nacktem Oberkörper gesonnt hatte, kam aus eigenem Antrieb. Er war so groß wie Gedale, hatte eine kühne Falkennase und einen prächtigen, schwarzen Schnurrbart, konnte aber nicht viel älter als zwanzig sein. Sein muskulöser und geschmeidiger Körper hätte ein hervorragendes Modell für die 293
Statue eines Athleten abgegeben, wäre da nicht ein Klumpfuß gewesen, der ein Bein entstellte. Vom Boden hatte er ein Bündel aufgelesen und schien sichtlich erfreut über diesen Wechsel seines Herrn. Es war Zeit zum Weiterziehen. Gedale gab dem Polen sein Gewehr zurück und sagte: »Herr Kondottiere, ich glaube, nur in einem einzigen Punkt sind wir uns einig, und zwar: daß auch wir nichts mit euch zu tun haben wollen. Sagen Sie uns, welchen Weg wir einschlagen sollen.« Der Pole antwortete: »Haltet euch von Kowel und Lukow fern und auch von der Eisenbahn. Laßt die Deutschen in unserem Gebiet in Ruhe und geht zum Teufel.« »Was für ein Kerl!« sagte Gedale zu Mendel ohne jede Wut oder Verachtung, als sie weiterzogen. »Richtig phantastisch der Kerl, wie aus einem Indianerfilm. Meiner Meinung nach hat er sich im Jahrhundert geirrt.« »Du hast ihn aber doch geohrfeigt!« »Natürlich, aber was hat das damit zu tun? Trotzdem hab ich ihn bewundert: wie man einen Wasserfall oder ein seltenes Tier bewundert. Er ist dumm und vielleicht gefährlich, aber es war doch ein köstliches Schauspiel.« Im übrigen schien sich Gedale jenseits von allen moralischen Bedenken oder Nützlichkeitserwägungen in jeden Neuankömmling zu verlieben. Jetzt strich er beständig um Arié herum, den hinkenden Jungen, als wollte er herausfinden, wie er roch oder 294
sein Profil von allen Seiten studieren. Trotz seiner Behinderung konnte Arié ohne weiteres mit der Gruppe Schritt halten, er lief leicht und elastisch und machte sich sofort beliebt, indem er mit einem Steinwurf eine Wachtel erlegte und sie der weißen Rokhele zum Geschenk machte. Er sprach und verstand kein Jiddisch, und auch das Russische sprach er sehr seltsam aus: Arié war Georgier und stolz darauf. Seine Muttersprache war das Georgische, Russisch hatte er in der Schule gelernt, aber sein Name war rein hebräisch, und auch darauf war er stolz: Arié heißt Löwe. Nur wenige der Gedalisten hatten schon einmal einen georgischen Juden gesehen, und Jozek erlaubte sich, halb im Ernst, halb im Scherz, sein Judentum zu bezweifeln; wer nicht Jiddisch redet, ist kein Jud, das ist fast ein Axiom, auch das Sprichwort sagt ja: »Redest keyn jiddisch, bist nit keyn jid!« »Bist du ein Jude, dann sag wenigstens einen Segen auf hebräisch.« Der junge Mann nahm die Herausforderung an und sprach den Weinsegen. Er sprach aber in der vollen, feierlichen Art der Sefardim, nicht mit der harten, synkopierten Betonung der Aschkenasim. Viele mußten lachen: »Hihi, du sprichst Hebräisch wie die Christen.« »Nein«, antwortete Arié in vornehmer Entrüstung, »wir sprechen wie Abraham, unser Vater. Ihr, ihr sprecht falsch.« Arié integrierte sich überraschend schnell in die Bande. Er war kräftig und willig, gutwillig nahm 295
er alle Arbeiten an. Er akzeptierte auch das bißchen Partisanendisziplin, das Gedales Bande sich bewahrt hatte. Während alle ihn neugierig ausfragten, schien er seinerseits den Zielen der Bande kein besonderes Interesse entgegenzubringen: »Wenn ihr die Deutschen erschießen geht, dann komm ich mit. Wenn ihr nach Israel zieht, dann komm ich mit.« Er war intelligent, stolz und empfindlich. Stolz auf vielerlei: darauf, Georgier zu sein – und damit Nachfahr von Alexander dem Großen, präzisierte er, ohne es auch nur im mindesten beweisen zu können –; darauf, kein Russe zu sein und doch gleichzeitig Landsmann Stalins; auf seinen Nachnamen Hazanšvili. »Aber klar doch, du ähnelst ihm sogar«, lachte Mottel, »nicht nur im Schnurrbart, auch im Namen.« »Stalin ist ein großer Mann, und ihr solltet euch nicht über ihn lustig machen. Das würde mir schon gefallen, wenn ich auch den gleichen Namen hätt, das ist aber leider nicht so. Er ist Džugašvili, also: Sohn des Džuga, und ich bin Hazanšvili, was so viel heißt wie Sohn des Hassan, und das ist der Kantor in der Synagoge.« Empfindlich war Arié in bezug auf seine Behinderung, und er mochte es nicht, daß man darüber sprach. Wahrscheinlich verdankte er ihr aber sein Leben: »Bei der Musterung wurde ich zurückgestellt, und bei mir zu Hause haben sie mich ausgelacht, denn 296
zum Militär gehen ist für uns eine Ehre. Aber dann, ’42, als sie alle nahmen, haben sie auch mich eingezogen, und ich wurde nach Minsk in die Etappe abkommandiert und mußte in der Militärbäckerei das Brot backen. Die Deutschen haben mich gefangengenommen, aber als Zivilarbeiter, und das war mein Glück. Daß ich Jude bin, haben sie nicht gemerkt …« »Nur wegen deines Schnurrbarts, glaub mir«, sagte Jozek. »Zu dumm, daß so wenige auf die Idee gekommen sind, sich einen wachsen zu lassen.« »Der Schnurrbart und die Statur haben’s gemacht. Und dann, weil ich angegeben hab, ich bin Bauer und auf Veredelung spezialisiert.« »Das war schlau von dir.« »Aber nein, das ist wirklich mein Beruf, ich, mein Vater, mein Großvater, wir haben schon immer Wein veredelt. Da kam ich also in einen landwirtschaftlichen Betrieb, wo ich Bäume pfropfen mußte, die ich noch nie gesehen hatte. Wir waren so gut wie frei, und im April bin ich geflohen. Ich wollte zu den Partisanen und bin auf die gestoßen, die ihr gesehen habt. Bei ihnen fühlte ich mich aber nicht wohl, sie nannten mich ›Jud‹ und ich mußte die Lasten tragen wie ein Muli.« Gewöhnlich traf Gedale seine Entscheidungen, ohne lang zu überlegen, aber die Sache mit Leonid schien ihm ernstere Behandlung zu verdienen. Er nahm Jozek, Dov und Mendel beiseite und war wie aus297
gewechselt: er sprach leise, blieb bei der Sache und überlegte sich, was er sagte. »Strafen mag ich nicht, weder austeilen, noch bekommen. Das ist was für die Preußen, Leuten wie uns hilft das wenig. Der Junge aber hat ein starkes Stück geliefert: ist mit den Waffen auf und davon, ohne Befehl oder Erlaubnis, und hat alles darangesetzt, uns allesamt in Schwierigkeiten zu bringen. Zum Glück war der Großteil der NSZ weit weg, sonst hätte es schlimm für uns ausgesehen. Er hat sich wie ein Idiot benommen, und seinetwegen stehen wir jetzt alle wie Idioten da: wie Stümper, die anderen auf die idiotischste Weise ins Handwerk pfuschen. Ohnedies waren wir nie sehr beliebt hier in der Gegend, und nach dieser Geschichte sind wir es bestimmt noch weniger. Wir haben aber einen weiten Weg vor uns und sind auf die Unterstützung der Bevölkerung angewiesen, oder doch zumindest auf ihre stillschweigende Duldung. Das muß Leonid einsehen: man muß es ihm beibringen.« Jozek hob die Hand und bat ums Wort: »Wär’s ein anderer, dann wär das beste Mittel wohl, man gibt ihm ein paar Schläge und läßt ihn dann Selbstkritik üben, wie die Russen das machen. Aber Leonid ist ein komischer Vogel, man wird nicht schlau aus ihm. Sehr richtig sagst du, Kommandant, daß er bestimmte Dinge einsehen muß. Meiner Meinung nach ist der Junge aber, im Moment zumindest, überhaupt nicht in der Lage, etwas zu verstehen. Seitdem er wieder bei uns ist, hat er noch kein Wort 298
gesprochen, nicht eines. Er hat mich nicht einmal angeschaut, und jedesmal, wenn ich ihm den Blechnapf bringe, dann tut er so, als würde er essen, sobald ich aber weggeh, schüttet er alles aus: das hab ich ganz genau gesehen. Wär Frieden, dann wüßt ich schon, was der Junge braucht.« »Einen Arzt?« fragte Gedale. »Ja, einen Irrenarzt.« »Ihr beiden, ihr kennt ihn schon länger«, sagte Gedale, zu Dov und Mendel gewandt. »Was meint ihr?« Dov sprach zuerst, und Mendel fühlte sich erleichtert. »In Nowoselki hat er mir ein bißchen Ärger gemacht, weil er unzuverlässig bei der Arbeit war. Ich hab ihn auf eine Sabotageaktion geschickt, um ihn auf die Probe zu stellen und um ihm eine Gelegenheit zu geben, vor den anderen eine gute Figur zu machen: ich hatte den Eindruck, er braucht das. Er hat’s weder gut noch schlecht gemacht, mutig, aber überstürzt: die Nerven sind ihm durchgegangen. Meiner Meinung nach ist er ein anständiger Junge mit einem schwierigen Charakter, aber ich glaube nicht, daß man jemand danach beurteilen kann, was er in Nowoselki gemacht hat, und auch nicht danach, was er hier tut.« »Ich will ihn gar nicht beurteilen«, sagte Gedale, »ich will bloß wissen, was wir mit ihm machen sollen. Was meinst du, Uhrmacher?« Mendel saß auf glühenden Kohlen. Wußte Gedale, 299
oder ahnte er vielleicht den wahren Grund für Leonids selbstmörderisches Unternehmen? Wenn ja, dann war es kindisch und gemein, nicht davon zu sprechen. Wenn nicht, wenn er nichts ahnte, dann hätte Mendel es vorgezogen, Gedales Neugier und der Klatschsucht der Leute lieber keinen Stoff zu liefern. Das war doch schließlich seine Angelegenheit, oder nicht? Eine Sache zwischen ihm und Line, Privatangelegenheit. Leonids Position zu verschlechtern, brachte er nicht fertig, und zu erzählen, daß er wegen einer Frauengeschichte desertiert war, hieß Leonids Position verschlechtern. Und auch seine eigene. Ja, auch seine eigene. Er blieb ganz allgemein und kam sich dabei zutiefst verlogen vor und erbärmlich wie ein Wurm. »Ein Jahr ist’s, daß wir zusammen sind, wir sind uns im Juli letzten Jahres in den Wäldern von Brjansk begegnet. Ich bin der gleichen Meinung wie Dov, er ist ein guter Junge mit einem schwierigen Charakter. Er hat mir seine Geschichte erzählt, er hat es nicht leicht gehabt, hat früher zu leiden angefangen als wir. Meiner Meinung nach wäre es grausam, ihn zu bestrafen, und sinnlos obendrein: er bestraft sich selbst schon genug. Ich bin auch einverstanden mit dem, was Jozek sagt: er brauchte einen Arzt.« Gedale sprang auf und begann, auf und ab zu laufen. »Schöne Ratgeber seid ihr mir! Behandeln, aber das kann man nicht, bestrafen, aber das darf man nicht. Da hättet ihr ja gleich klipp und klar sagen können, 300
daß ihr mir ratet, die Dinge so zu belassen, wie sie sind, und abzuwarten, daß die Sache von selbst in Ordnung kommt. Wie Hiobs Tröster kommt ihr mir vor. Na gut, lassen wir’s fürs erste dabei. Ich werd sehn, ob mir das Mädchen konkretere Vorschläge machen kann. Sie kennt ihn besser als ihr, oder doch von einer anderen Seite.« Er weiß also nichts, dachte Mendel erleichtert, und gleichzeitig schämte er sich seiner Erleichterung. Über die Unterredung zwischen Gedale und Line erfuhr er nichts; entweder hatte sie nicht stattgefunden, oder, was wahrscheinlicher war, Line hatte nichts Wesentliches gesagt. Gedales schlechte Laune hielt aber nicht lange vor, bald schon verfiel er wieder in seine übliche Manier. In den ersten Julitagen, während die Bande in der Nähe von Anapol, unweit der Weichsel, Rast machte, verschwand er, wie schon einmal in Sarny. Am nächsten Tag tauchte er wieder auf, mit einer neuen Samtjacke und einem Strohhut, wie ihn die Bauern tragen, einem Fläschchen ErsatzParfüm für Bella und weiteren kleinen Geschenken auch für die anderen vier Frauen. Er war jedoch nicht in der Stadt einkaufen gewesen. Von diesem Zeitpunkt an änderte sich Verschiedenes. Die Vorsichtsmaßnahmen wurden verschärft: wie schon im Frühjahr marschierten die Gedalisten wieder nachts und lagerten tagsüber so unauffällig wie möglich. Das wurde immer schwieriger, da die Gegend von einem dichten Straßennetz durchzogen und mit Dörfern und Bauernhöfen übersät war. Gedale schien es eilig 301
zu haben und hielt eine ganz bestimmte Richtung ein: auf Opatow und Kielce zu. Allen schärfte er ein, sich bei der Gruppe zu halten und nicht mit den Bauern zu sprechen, denen sie eventuell begegneten. Mit der örtlichen Bevölkerung durften sich nur diejenigen unterhalten, die Polnisch sprachen, und auch die nur, wenn es unbedingt nötig war. Leonids Gegenwart war für alle schwer erträglich geworden, in den Pausen ebenso wie während der Marschetappen, besonders aber für Mendel. Er mußte sich eingestehen, daß Leonid ihm Angst machte. Er vermied seine Nähe; wenn sie in einer Reihe marschierten, versuchte er am Anfang zu gehen, wenn Leonid am Schluß ging, und umgekehrt. Leonid aber, bemerkte Mendel mit Verdruß, legte es bewußt oder unbewußt darauf an, in seiner Nähe zu bleiben, auch wenn er nie das Wort an ihn richtete. Er beschränkte sich darauf, ihn aus seinen schwarzen Augen traurig und vielsagend anzuschauen, als wollte er ihn durch seine bloße Anwesenheit quälen, sich in Erinnerung rufen, sich durch diese Quälerei rächen. Oder ihn vielleicht auch überwachen? Vielleicht. Einige seiner Gesten ließen vermuten, daß Leonid sich verfolgt fühlte. Manchmal schaute er sich plötzlich ruckartig um. Während der Rast, die sie tagsüber und meist in verlassenen Bauernhöfen machten, wählte er seinen Schlafplatz so nah wie möglich bei der Tür und schlief wenig. Er fuhr aus dem Schlaf auf, schaute unruhig um sich und spähte durch Türen und Fenster hinaus. 302
An einem grauen, wolkenverhangenen Morgen nach einem Nachtmarsch, der alle erschöpft hatte, war Mendel gerade dabei, Holz zu sammeln, als er Leonid neben sich sah; er sammelte ebenfalls Holz, obwohl ihn keiner dazu aufgefordert hatte. Er war abgemagert und angespannt, und seine Augen glänzten fiebrig. Komplizenhaft wandte er sich an Mendel: »Du hast’s auch verstanden, nicht wahr?« »Was verstanden?« »Daß wir verkauft sind. Wir brauchen uns keine Hoffnungen mehr zu machen. Wir sind verkauft, und verkauft hat er uns.« »Wer: er?« fragte Mendel erstaunt. Leonid senkte die Stimme: »Er, Gedale. Aber er konnte nicht anders, sie haben ihn erpreßt, er ist eine Marionette in ihren Händen.« Dann bedeutete er Mendel mit dem Zeigefinger auf den Lippen, er solle Schweigen bewahren, und fuhr fort, Holz zu sammeln. Mendel erzählte niemandem von diesem Zwischenfall, aber wenige Tage später sagte Dov zu ihm: »Dein Freund, der hat vielleicht merkwürdige Ideen. Er sagt, Gedale arbeitet für den NKWD oder was weiß ich für eine Geheimpolizei, und die erpressen ihn, und wir sind alle Geiseln in ihren Händen.« »So was Ähnliches hat er mir auch erzählt«, gab Mendel zurück. »Was sollen wir tun?« »Nichts«, sagte Dov. 303
Mendel erinnerte sich, wie er Leonid einmal mit einem verstaubten Uhrwerk verglichen hatte. Jetzt kamen ihm allerdings gewisse andere Uhren in den Sinn, die man ihm zur Reparatur gebracht hatte: die hatten vielleicht einen Stoß abbekommen, jedenfalls hatten sich die Federwindungen übereinandergelegt und ineinander verwickelt, mal gingen sie nach, dann wieder liefen sie vor wie verrückt, früher oder später aber gingen sie endgültig kaputt und jeder Versuch, sie zu retten, war aussichtslos. Strahlende, windige Sommertage folgten einander, und die Gedalisten mußten feststellen, daß sie eine Zone des Elends betreten hatten. Gedales Ermahnungen, keinen Kontakt mit der Bevölkerung aufzunehmen, erwiesen sich als überflüssig, wenn nicht als die blanke Ironie: dieser Landstrich war wie ausgestorben, kein einziger Mann, kaum eine Frau, nur Kinder und Greise auf den Schwellen der zerstörten Bauernhäuser. Das waren nicht die Leute, vor denen man Angst haben mußte, ihnen hatte es selbst vor Angst die Sprache verschlagen. Wenige Monate zuvor hatten die Soldaten der Armia Krajowa einen Angriff auf die in der Gegend stationierten deutschen Garnisonen unternommen, während südlich von Lublin sowjetische Fallschirmspringereinheiten die deutschen Verbindungslinien unterbrachen, auf denen der Nachschub an Verpflegung und Munition an die Front gebracht wurde. Andere polnische Einheiten hatten Brücken und Viadukte gesprengt 304
und ein Dorf angegriffen, aus dem die Deutschen die dort ansässigen Bauern mit Gewalt vertrieben hatten, um an ihrer Stelle die Pächter des Tausendjährigen Reichs anzusiedeln. Die Deutschen hatten das gesamte Gebiet mit grausamen Vergeltungsmaßnahmen überzogen, die sie nicht gegen die Partisanengruppen richteten, da diese in den Wäldern so gut wie unauffindbar waren, sondern gegen die Zivilbevölkerung. Aus der Etappe hatten sie Verstärkung angefordert und umstellten nun bei Nacht die polnischen Dörfer, zündeten sie an oder deportierten sämtliche Männer und Frauen im arbeitsfähigen Alter: sie gaben ihnen eine halbe Stunde Zeit, um ihre Sachen zusammenzupacken, verluden sie dann auf ihre Lastwagen und brachten sie weg. In einigen Dörfern hatten die Deutschen sich besonders auf die Kinder konzentriert: diejenigen, die »arisch« aussahen, deportierten sie nach Deutschland, die anderen brachten sie um. Die schon seit jeher armen Dörfer waren jetzt nur noch Anhäufungen von rauchschwarzen Trümmern und Schutt, die Felder ringsum aber lagen unversehrt, und das reife Getreide wartete vergeblich auf die Mahd. Die Initiative ging von Mottel aus. Ungefähr einen Kilometer von Zborz entfernt war er zu einer alleinstehenden Hütte gegangen, um Wasser zu holen. Er hatte eine alte Frau dort gefunden, die allein auf dem Stroh im Stall lag, wo kein Vieh mehr stand. Wegen eines gebrochenen Beins, das nicht behandelt worden war, konnte sie sich kaum bewegen. Sie hatte 305
Mottel gesagt, er solle nur zum Brunnen gehen, und sich so viel Wasser nehmen, wie er wolle, solle aber auch ihr etwas davon bringen. Vor allem aber solle er ihr etwas zu essen bringen, ganz gleich was. Sie hatte drei Tage lang nichts gegessen, denn nur ab und zu erinnerte sich im Dorf jemand an sie und brachte ihr ein Stück Brot. Dabei stand das Getreide hoch, eine ganze Familie hätte man davon ernähren können, beim ersten Regen aber würde es verfaulen, denn es war niemand da, um es zu mähen. Mottel erstattete Gedale Bericht, und augenblicklich stand Gedales Entscheidung fest: »Wir müssen diesen Leuten helfen, auch das gehört zu unserem Kampf. Dies ist die beste Gelegenheit, um ihnen zu zeigen, daß wir nicht als Feinde kommen, sondern als Freunde.« Jozek verzog das Gesicht: »In dieser Gegend waren wir nie gern gesehen. Bevor die Deutschen kamen und ihre Häuser niederbrannten, steckten sie unsere Häuser an. Sie haben was gegen Juden und auch gegen Russen, und viele von uns sind Juden und Russen. Sie haben gehört, was in den zwanziger Jahren mit den russischen Bauern passiert ist, und fürchten die Kollektivierung. Wir können ihnen ja helfen, sollten aber auf der Hut sein.« Alle anderen waren sofort und vorbehaltlos einverstanden: sie hatten genug vom Zerstören, von den sinnlosen und rein negativen Aktionen, zu denen der Krieg die Menschen treibt. Am meisten waren Piotr 306
und Arié begeistert, denn sie kannten sich in landwirtschaftlichen Dingen aus. Mottel hatte berichtet, daß das Dach »seiner« Alten eingefallen war, und Piotr sagte: »Das reparier ich. Ich bin gut im Flicken von Strohdächern, bei mir zu Hause hab ich das als Arbeit gemacht und wurde dafür bezahlt. Heute würd ich noch was dafür geben, daß ich das Dach der Alten reparieren darf, ebensoviel, wie ich damals bekam, wenn ich Rubel hätte, versteht sich, denn ich hab ja keine.« Die Alte nahm das Angebot an, und mit Sissls Hilfe machte sich Piotr an die Arbeit. Wenige Tage später sahen sie einen Alten mit hängendem Schnurrbart in der Gegend herumstreichen. Er tat so, als wäre er beschäftigt, rückte Pfähle zurecht und untersuchte die Schotten der Bewässerungskanäle, obwohl die hoffnungslos trocken waren. Von weitem aber schielte er nach den beiden. Eines Tages kam er auf Piotr zu und stellte ihm auf polnisch verschiedene Fragen. Piotr tat so, als verstünde er nicht und holte Gedale dazu. »Ich bin der Burmistrz, der Bürgermeister vom Dorf«, sagte der Alte würdevoll, obwohl er eher wie ein Bettler aussah. »Wer seid ihr? Wohin seid ihr unterwegs? Was wollt ihr?« Gedale war unbewaffnet zu der Unterredung gekommen, in Hemdsärmeln und zerrissenen Zivilhosen und mit dem Strohhut, den er kürzlich gekauft hatte. Er sprach Polnisch ohne jiddischen Akzent, 307
und es wäre jedem schwergefallen, seine Herkunft zu bestimmen. Anfänglich war er vorsichtig: »Wir sind eine Gruppe von Versprengten, Männer und Frauen. Wir kommen aus verschiedenen Ländern und wollen euch nichts Böses. Wir sind hier nur auf der Durchreise, wir haben noch einen weiten Weg vor uns und wollen niemanden belästigen, allerdings wollen auch wir nicht belästigt werden. Wir sind müde, haben aber Arme zum Zupacken: vielleicht können wir euch irgendwie behilflich sein?« »Wie zum Beispiel?« fragte der Bürgermeister mißtrauisch. »Wir könnten zum Beispiel mähen, bevor der Roggen verdirbt.« »Und was wollt ihr dafür?« »Einen Anteil an der Ernte, so viel du für richtig hältst. Dann Wasser, ein Dach über dem Kopf und, daß kein Aufhebens von uns gemacht wird.« »Wie viele seid ihr?« »Ungefähr vierzig, fünf Frauen sind dabei.« »Bist du ihr Chef?« »Ja, das bin ich.« »Wir sind weniger als ihr, nicht einmal dreißig, wenn man auch die Kinder mitzählt. Überleg dir das gut, Geld haben wir nie welches gehabt, Vieh haben wir keins mehr, nicht einmal junge Frauen gibt es bei uns.« »Pech für die jungen Frauen«, lachte Gedale, »aber daran denken wir nicht in erster Linie. Ich hab dir schon gesagt: uns genügt Wasser, Stillschweigen und 308
womöglich ein Dach, unter dem wir ein paar Nächte lang schlafen können. Wir haben genug vom Krieg und vom Herumziehen, wir haben Sehnsucht nach den friedlichen Arbeiten.« »Auch wir haben genug vom Krieg«, sagte der Bürgermeister, und sofort fügte er hinzu: »Könnt ihr denn überhaupt mähen?« »Wir sind ein bißchen aus der Übung, aber wir kommen schon zurecht.« »In Opatow steht die Mühle, und wie es aussieht, funktioniert sie sogar. Auch Sensen sind da, so viele sie uns dagelassen haben. Morgen könnt ihr anfangen.« Sämtliche Männer aus Blizna und Ruzany gingen zum Mähen, dazu Arié, Dov, Line und die schwarze Rokhele, später, nachdem er das Dach instand gesetzt hatte, kam noch Piotr dazu: insgesamt waren sie ungefähr zwanzig. Arié hatte die meiste Erfahrung und zeigte den anderen, wie man die Sense schleift: zuerst mit dem Hammer, dann mit dem Schleifstein. Auch Piotr war kräftig und ausdauernd, Line aber versetzte alle in Erstaunen: schmal wie sie war, mähte sie von Sonnenauf- bis Sonnenuntergang, ohne irgendwelche Anzeichen von Müdigkeit oder Erschöpfung, mühelos ertrug sie die Hitze, den Durst und den Schwarm Bremsen und Mücken, der sich sofort eingestellt hatte. Sie tat diese Arbeit nicht zum ersten Mal: schon einmal hatte sie sie getan, vor tausend Jahren in der Nähe von Kiew in einem landwirtschaftlichen Kollektiv, wo die Zionisten 309
sich auf die Emigration nach Palästina vorbereiteten, in jenen fernen Zeiten, als es noch kein unauflösbarer Widerspruch gewesen war, Zionist zu sein und zugleich Kommunist. Dov arbeitete ebenfalls gut; auch für ihn war diese Erfahrung nicht neu: er hatte Sonnenblumen gemäht während seiner Verbannung in Wologda, wo die Sommertage achtzehn Stunden dauerten und ebenso lange gearbeitet wurde. Die anderen Mitglieder der Bande, darunter Mendel, Leonid, Jozek und Isidor verteilten sich im Dorf und führten verschiedene kleinere Arbeiten aus, die der Bürgermeister ihnen angewiesen hatte: Hühnerställe waren in Ordnung zu bringen, weitere Dächer zu reparieren, Gärten umzugraben. Als das erste Mißtrauen geschwunden war, erfuhren sie, daß auch Kartoffeln zu ernten waren, und diese Kartoffeln sollten zum Bindemittel werden zwischen den herumziehenden Juden und den verzweifelten polnischen Bauern, abends, als sie unter sommerlichem Sternenhimmel auf dem Tennenboden saßen, auf der gestampften, noch sonnenwarmen Erde.
Achtes Kapitel Juli – August 1944
Die Kartoffeln kochten im Topf oder rösteten in der Glut; währenddessen schaute sich der Bürgermeister unter den Fremden um, aufmerksam studierte er im roten Feuerschein ihre Gesichter. Im Kreis saß neben ihm seine Frau, ein unergründlicher Ausdruck lag auf ihrem breiten Gesicht mit den hohen Backenknochen. Sie schaute die Gedalisten nicht an, sah ausschließlich auf ihren Mann, als hätte sie Angst um ihn oder wollte ihn schützen und zugleich vor Unvorsichtigkeiten bewahren. »Ihr seid Juden«, sagte auf einmal der Alte mit ruhiger Stimme. Seine Frau flüsterte ihm rasch etwas ins Ohr, und er antwortete ihr: »Sei still, Seweryna, nie läßt du mich ausreden.« »Der da ist Russe«, sagte Gedale, wobei er auf Piotr wies, »wir anderen sind Juden, ja, russische und polnische. Aber woran hast du das erkannt?« »An den Augen«, sagte der Bürgermeister. »Auch hier bei uns gab es Juden, und sie hatten genau solche Augen wie ihr.« »Wie sind denn unsere Augen?« fragte Mendel. »Unstet. Wie bei gehetzten Tieren.« »Wir sind keine gehetzten Tiere mehr«, sagte Line. »Viele von uns haben gekämpft und sind im Kampf gefallen. Unsere Feinde sind auch eure 311
Feinde, es sind dieselben, die eure Häuser zerstört haben.« Der Bürgermeister schwieg ein paar Minuten und kaute an seiner Ration Kartoffeln. Dann meinte er: »Ganz so einfach liegen die Dinge bei uns nicht, Mädchen. In diesem Dorf zum Beispiel haben Juden und Polen zusammen gelebt, seit wer weiß wie vielen Jahrhunderten, aber sie sind nie gut miteinander ausgekommen. Die Polen schufteten auf den Feldern, die Juden waren Handwerker und Händler und trieben im Auftrag der Grundbesitzer die Steuern ein, und der Pfarrer in der Kirche erzählte, daß sie es gewesen sind, die Christus verraten und ans Kreuz geschlagen haben. Wir haben nie ihr Blut vergossen, als aber 1939 die Deutschen anfingen, die Juden auszuziehen, als sie sie verspotteten und ins Getto sperrten, wenn ich ehrlich sein soll …« Hier mischte sich erneut Seweryna ein, indem sie ihrem Mann etwas ins Ohr wisperte, der zuckte aber bloß die Achseln und fuhr fort: »… wenn ich ganz ehrlich sein soll, da waren wir froh, auch ich war froh. Die Deutschen waren uns auch nicht so sympathisch, aber wir glaubten, sie wären gekommen, um Gerechtigkeit zu schaffen, also den Juden das Geld abzunehmen und es uns zu geben.« »Waren denn die Juden von Zborz so reich?« »Alle sagten, ja. Sie waren zwar schlecht angezogen, aber die Leute meinten, das käme davon, daß sie geizig sind. Und noch anderes erzählten sich die 312
Leute: daß die Juden Bolschewiken sind, daß sie den Boden enteignen und kollektivieren wollen wie in Rußland und alle Priester umbringen.« »Aber das hat doch alles keinen Sinn«, mischte sich Line ein. »Wie konnten sie denn gleichzeitig reich, geizig und Bolschewiken sein?« »Doch, es hat wohl Sinn. Ein Pole sagte, alle Juden wären reich, ein anderer, sie wären alle Kommunisten. Und wieder ein anderer Pole erzählte, der eine Jude ist reich, der andere ist Kommunist. Da seht ihr, daß die Dinge so einfach nicht sind. Sie haben sich aber noch mehr verwickelt, als die Deutschen den Ukrainern Gewehre gaben, damit sie ihnen halfen, die Juden umzubringen, die Ukrainer dann aber auf uns schossen und uns das Vieh wegnahmen, und als die russischen Partisanen anfingen, die polnischen Partisanen zu entwaffnen und zu deportieren. Was euch angeht, habe ich dann später meine Meinung geändert, als ich nämlich mit eigenen Augen gesehen habe, was die Deutschen den Juden von Opatow angetan haben.« »Was haben sie ihnen denn getan?« fragte Mendel. »Sie haben sie aus dem Getto hervorgeholt und in den Kinosaal gesperrt, alle, auch Kinder, Greise und Sterbende, mehr als zweitausend in einem Kino mit 500 Plätzen. Sieben Tage haben sie sie da drin gelassen, ohne Essen und Trinken, und wer von uns ihnen aus Mitleid etwas durchs Fenster geben wollte, wurde erschossen, und auch diejenigen von uns, die ihnen Wasser bringen wollten im Tausch gegen ihr 313
letztes Geld. Dann haben sie die Türen geöffnet und ihnen befohlen, herauszukommen. Nur ungefähr hundert kamen lebend heraus, und die haben sie auf dem Marktplatz erschossen und dann uns befohlen, sie zu begraben, alle, die auf dem Platz und die im Kino. Und als ich sah, wie da Kinder umgekommen waren, habe ich angefangen zu begreifen, daß die Juden genauso Menschen sind wie wir, und daß die Deutschen über kurz oder lang uns dasselbe antun würden wie ihnen. Aber wenn ich ehrlich sein soll: das haben noch lange nicht alle begriffen. Und ich erzähle euch das, weil wenn einer sich irrt, dann ist es gut, daß er seinen Irrtum einsieht, und auch, weil ihr gemäht habt und die Kartoffeln geerntet habt.« »Bürgermeister«, sagte Gedale, »die Dinge, die du erzählst, sind uns nicht neu, aber wir haben dir Neues zu berichten. Wir mögen euch vielleicht merkwürdig vorkommen: du mußt aber wissen, daß ein lebender Jude an sich eine Merkwürdigkeit ist. Du mußt auch wissen, daß die Dinge, die du gesehen hast, nicht nur in Opatow geschehen sind, sondern überall dort, wohin die Deutschen ihren Fuß gesetzt haben: in Polen, in Rußland, in Frankreich und in Griechenland. Und auch mußt du wissen, daß die Deutschen, wenn sie jeden fünften Polen durch Hunger oder Waffengewalt umkommen lassen, von uns Juden nicht einen am Leben lassen.« »Was du erzählst, ist mir nicht neu. Wir haben hier zwar nicht einmal ein Radio, aber die Nachrichten gelangen trotzdem zu uns. Wir wissen, was die 314
Deutschen angerichtet haben, und was sie weiterhin anrichten, hier und überall.« »Du weißt nicht alles. Es gibt andere Dinge, derart grauenhafte Dinge, daß du nicht daran glauben würdest, und doch geschehen sie hier ganz in der Nähe. Von uns rettet sich nur, wer unseren Weg eingeschlagen hat.« »Auch das hab ich gleich bemerkt, daß ihr bewaffnet seid.« »Auch an den Augen?« fragte Gedale lachend. »Nein, nicht an den Augen: an allen euren Jacken ist die linke Schulter abgewetzt vom Gewehrriemen. Ich bitte euch, im Namen eures Gottes, im Namen des unseren und aller Heiligen, greift die Deutschen nicht hier an. Geht weiter weg, geht, wohin ihr wollt, aber richtet hier keinen Schaden an, sonst habt ihr womöglich umsonst für uns gearbeitet. Warum versteckt ihr euch nicht in den Wäldern und wartet, bis die Russen kommen? Sie sind nicht mehr weit weg, vielleicht stehen sie schon vor Lublin, wenn der Wind günstig ist, hört man die Artillerie.« »Auch unsere Angelegenheiten sind nicht so einfach«, antwortete nun Gedale. »Wir sind Juden, sind Russen und Partisanen. Als Russen würden wir gern die Front abwarten, uns ausruhen und nach Hause zurückkehren, aber unser Zuhause gibt es nicht mehr und unsere Familien auch nicht. Und wenn wir zurückgingen, würde uns womöglich niemand wollen, das ist, wie wenn man aus einem Holzblock einen Keil herauszieht: das Holz schließt sich wieder. Für 315
uns Partisanen sieht der Kampf anders aus als für die Soldaten, das weißt du auch: man kämpft nicht an der Front, sondern hinter den feindlichen Linien. Und als Juden schließlich haben wir einen weiten Weg vor uns. Was würdest denn du tun, Bürgermeister, wenn du tausend Kilometer von zu Hause weg wärst, allein, und wüßtest, daß dein Dorf, die Felder, deine Familie nicht mehr existieren?« »Ich bin alt und wahrscheinlich würde ich einen Strick nehmen und mich aufhängen. Aber wenn ich jünger wäre, dann würde ich nach Amerika gehen: wie mein Bruder es gemacht hat, der hatte mehr Mut als ich und mehr Weitblick.« »Siehst du, da hast du recht. Auch unter uns Juden gibt es welche, die Verwandte in Amerika haben und gerne zu ihnen gehen würden. In unserer Gruppe aber hat niemand Verwandte in Amerika. Unser Amerika ist nicht so weit weg. Wir werden bis ans Ende des Krieges weiterkämpfen, denn wir halten den Krieg wohl für schlimm, meinen aber, daß es heutzutage das einzig Richtige auf dieser Welt ist, die Nazis umzubringen. Dann gehen wir nach Palästina und versuchen, uns dort das Zuhause aufzubauen, das wir hier verloren haben, und wieder zu leben, wie alle anderen auch. Deshalb bleiben wir nicht hier, sondern ziehen weiter in Richtung Westen: um im Rücken der Deutschen zu bleiben und um den Weg in unser Amerika zu finden.« Als die Kartoffeln aufgegessen waren, hatten die Gedalisten und die Bauern sich schlafen gelegt. 316
Auf der Tenne saßen nur noch Gedale, Mendel, Line, der Bürgermeister und seine Frau. Der Bürgermeister schaute nachdenklich in die Glut und sagte dann: »Was wollt ihr denn in Palästina machen?« »Den Boden bebauen«, antwortete Line. »Dort unten wird der Boden uns gehören.« »Wollt ihr denn dort Bauern werden?« fragte der Bürgermeister. »Ihr tut gut daran, daß ihr weit fort geht von hier, daran aber, daß ihr Bauern werden wollt, nicht. Bauer sein ist gar nicht schön.« »Wir werden leben, wie alle anderen Völker auch«, sagte Line, die ihre Hand auf Mendels Arm gelegt hatte. Mendel setzte hinzu: »Wir werden alle Arbeiten verrichten, die zu tun sind.« »… außer für die Grundbesitzer Steuern eintreiben.« ergänzte Gedale. Der Wind hatte sich gelegt, Glühwürmchen tanzten am Rand der Tenne, und in der nächtlichen Stille konnte man hören, daß der Alte die Wahrheit gesagt hatte: von weitem, aus keiner bestimmten Richtung, vielleicht aus verschiedenen Richtungen gleichzeitig, vernahm man, bedrohlich und hoffnungsvoll, das leise Grollen der Front. Mühsam erhob sich der Bürgermeister und meinte, es sei nun Zeit zum Schlafengehen. »Ich bin froh, daß ich euch kennengelernt habe und daß ihr für uns gemäht habt. Ich bin froh, daß ich mit euch sprechen konnte, wie man mit Freunden 317
spricht, aber ich bin doch auch froh, daß ihr weiterzieht.« In den Wäldern und Sümpfen der Polesje war es einfacher gewesen, die Kontakte und Nachrichtenverbindungen zur übrigen Welt aufrechtzuerhalten, als in dem dicht besiedelten Gebiet, das Gedales Bande nun im August 1944 durchquerte. Die Vorschrift, nur bei Nacht zu marschieren und alle Ortschaften zu meiden, wurde jetzt strengstens eingehalten. Trotz dieser elementaren Vorsichtsmaßnahme stellte sie jede Straßenüberquerung, vor allem aber jeder Brückenübergang erneut vor Gefahren und Probleme. In der Gegend wimmelte es von Deutschen, und zwar nicht mehr von ihren Bundesgenossen, die immer mißtrauischer geworden und teils schon abgesprungen waren, sondern von echten Deutschen aus Wehrmacht und Polizei. Sie bevölkerten die Ortschaften, und auf den Straßen und Eisenbahnwegen veranstalteten sie ein fieberhaftes Kommen und Gehen. Die Russen hatten in Lublin die Front durchbrochen, waren bei Sandomierz über die Weichsel gesetzt und hatten auf dem linken Flußufer einen starken Brückenkopf errichtet. Die Deutschen bereiteten den Gegenangriff vor. Die zur Lebensmittelbeschaffung notwendigen Kontakte mit den Bauern waren aufs äußerste eingeschränkt worden. Gedale wollte nicht, daß seine Leute mit der Bevölkerung sprachen, die verwirrten und verängstigten Bauern hatten ihrerseits ohnehin 318
keinerlei Bedürfnis, mit ihnen zu reden. Unter diesen Umständen wurden paradoxerweise die Zeitungen ihre wichtigste Informationsquelle. Ab und zu fanden sie welche in den Bauernhäusern, häufiger aber lasen sie sie, schmutzig und zerfleddert, von den Abfallhaufen auf, oder aber Jozek wagte sich kühn an einen Kiosk heran und kaufte eine. Aus der Zeitung wußten sie also, daß die Alliierten in der Normandie gelandet waren und gegen Paris vorrückten; daß am 20. Juli ein Attentat auf Hitler fehlgeschlagen war; daß in Warschau ein Aufstand stattgefunden hatte (der ›Völkische Beobachter‹ spielte die Tatsachen herunter und sprach bloß von »Verrätern, subversiven Elementen und Banditen«). Sie hatten aber noch andere Nachrichten erhalten, und die stammten nicht aus der Zeitung. Außer von Deutschen wimmelte es in der Etappe auch von undurchsichtigen Gestalten, die wie die Gedalisten das Tageslicht scheuten: da waren Polen, Ukrainer, Litauer und Tataren, die begriffen hatten, woher der Wind wehte, desertiert waren und sich jetzt im Untergrund mit Schwarzmarkthandel oder offener Kriminalität durchschlugen; da waren Partisanen aus den verschiedenen polnischen Formationen, die den Kontakt zu ihrer Einheit verloren und bei den Bauern Unterschlupf gesucht hatten; und dann berufsmäßige Schmuggler, Straßendiebe und russische und deutsche Spitzel, die sich getarnt unter diese Gruppen mischten. Durch diese Leute waren Gedale Gerüchte bestätigt worden, von denen er schon früher gehört und auf die er 319
im Gespräch mit dem Bürgermeister angespielt hatte: Die Deutschen hatten die ersten Vernichtungslager aufgelöst, Treblinka, Sobibor, Belzec, Majdanek und Chelmno, allerdings nur, um sie durch ein neues, effizienteres zu ersetzen, das sie alle überflüssig machte, weil hier die Erfahrungen aus den vorherigen Lagern genutzt worden waren: Auschwitz in Oberschlesien. Polen, Russen und Gefangene aus ganz Europa wurden hier umgebracht und verbrannt, vor allem aber Juden; augenblicklich vernichteten sie gerade einen Zug ungarischer Juden nach dem anderen. Von einem ukrainischen Deserteur schließlich hatte Gedale alarmierende Nachrichten erhalten: die russischen Partisanen, die mit Fallschirmen hinter den deutschen Linien abgesprungen oder aus deutschen Lagern geflüchtet waren, schienen unberechenbar. Einige Kommandanten hatten jüdische Arbeitslager aufgelöst, die Überlebenden gerettet und beschützt und ihnen angeboten, in ihre Abteilungen einzutreten. Andere aber hatten versucht, jüdische Partisanengruppen, auf die sie in den Wäldern gestoßen waren, mit Gewalt auseinanderzutreiben: es war zu Kämpfen gekommen und hatte Tote gegeben. Andere Juden wiederum waren von mehr oder weniger regulären polnischen Partisaneneinheiten entwaffnet oder erschossen worden. »Als Märtyrer sind wir ihnen recht: später errichten sie uns dann wahrscheinlich Denkmäler in den Gettos, als Verbündete aber wollen sie uns nicht«, sagte Dov. 320
»Wir ziehen weiter auf unserem Weg«, sagte Gedale, »und entscheiden dann jeweils von Fall zu Fall, was zu tun ist.« Ein solcher Fall trat bald ein. Sowohl Mendel als auch Dov und Line war aufgefallen, daß die Überschreitung der polnischen Grenze eine gründliche Änderung der Pläne Gedales bewirkt hatte, genauer gesagt: der Art, wie er seine Entscheidungen traf. Er fühlte sich, nicht nur materiell, von Rußland abgeschnitten, damit ungeschützter, autonomer, bedrohter und gleichzeitig freier. Kurz: verantwortlicher. Noch einmal, um den 20. August, hatte er sich von der Gruppe entfernt, diesmal aber weder Einkäufe gemacht noch Geschenke mitgebracht. Ganz gegen seine Gewohnheit, wonach Entscheidungen in wirren Versammlungen zu fallen hatten, nahm er sofort nach seiner Rückkehr Dov, Mendel und Line beiseite. Noch nie hatten sie ihn so angespannt gesehen. Ohne Umschweife begann er: »Zwanzig Kilometer von hier befindet sich ein Lager, in der Nähe von Chmielnik, keins von den großen: es sind ungefähr hundertzwanzig Gefangene, alles Juden, außer den Kapos. Sie arbeiten alle in einer Fabrik in der Nähe, wo Präzisionsgeräte für die Luftwaffe hergestellt werden …« »Woher weißt du das alles?« fragte Mendel. »Ich weiß es eben. Jetzt, wo die Front näherrückt, wird die Fabrik nach Deutschland verlegt, und alle Gefangenen werden umgebracht, denn sie kennen gewisse Geheimnisse. Sie wissen noch nicht, ob sie an Ort und Stelle erschossen werden sollen oder nicht; 321
sie haben einen Kassiber ausgeschickt, wenn sie auf Unterstützung von außen rechnen könnten, wollten sie einen Aufstand versuchen. Die Bewachung durch die Deutschen ist nicht sehr stark, ungefähr zehn, zwölf Mann.« »Haben die Gefangenen Waffen?« »Sie erwähnen nichts davon, also, haben sie keine.« »Gehen wir schauen«, sagte Dov. »Viel können wir nicht tun, aber schauengehen.« »Ja, aber nicht alle«, meinte Gedale. »Wir würden zu sehr auffallen. Es ist das erste Mal, daß wir uns trennen, aber in diesem Fall ist es notwendig. Wir gehen zu sechst: das wichtigste ist der Überraschungseffekt, wenn der nicht dabei ist, dann ist das ganze Unternehmen sinnlos, auch wenn wir zu dreißig wären.« »Können wir eine Antwort schicken?« fragte Line. »Das können wir nicht. Es wäre zu gefährlich, auch für sie. Wir müssen selbst hingehen und brechen sofort auf.« »Wir vier, und wer noch?« fragte Linie, die ängstlich darauf bedacht schien, die Brücken hinter sich abzubrechen. Gedale zögerte: »Dov nicht, Dov bleibt beim Hauptteil der Gruppe. Es gibt zwar bei uns keine Dienstgrade, aber im Grunde ist Dov der Vizekommandant. Und von uns allen hat er die größte Erfahrung.« Dov zeigte keinerlei Bewegung, weder mit Worten noch in der Mimik, aber Mendel verstand, daß dies nicht der wahre Grund war, warum Gedale ihn ausschloß, 322
und daß auch Dov das verstanden hatte und ihn betrübte. »Wir drei, Piotr, Mottel und Arié«, schlug Mendel vor. »Arié nicht, er hinkt und hat keine militärische Erfahrung«, sagte Gedale. »Aber er kann gut mit dem Messer umgehen.« »Mottel ist besser als er. Arié ist noch nicht reif, ich will ihn nicht dabeihaben. Ich will Leonid.« Mendel und Line waren verblüfft und sprachen gleichzeitig: »Aber Leonid ist doch nicht … es geht ihm doch nicht gut. Er ist nicht in der Verfassung zu kämpfen.« »Leonid muß kämpfen. Er braucht das wie Brot und wie die Luft zum Atmen. Und wir brauchen ihn: er war Gefangener bei den Deutschen und weiß, wie ein Lager aussieht. Er ist Fallschirmspringer, er hat die Ausbildung gemacht, er hat Erfahrung in Sabotageakten und Kommandoaktionen. Und er hat Mut: das hat er erst kürzlich bewiesen.« »Auf recht merkwürdige Weise«, sagte Line. »Er muß nur einem Ganzen richtig eingegliedert werden und klare Befehle bekommen«, gab Gedale ungewohnt hart zurück. »Glaubt mir, in Kossowo gab es einige wie ihn, ich weiß, was ich sage.« Nach diesen Worten stand er auf und bedeutete damit, daß die Unterredung beendet war. Dov und Line zogen sich zurück. Zu Mendel, der noch einen Augenblick geblieben war, sagte Gedale: »Geh, mach du dich auch fertig, Uhrmacher. Ich 323
hab Erfahrung in solchen Sachen: für aussichtslose Unternehmen braucht man Männer ohne Aussichten.« »Aussichtsloses unternimmt man nicht«, sagte Mendel und wandte sich zum Gehen. Gedale legte ihm mit einem leichten Schlag die Hand auf die Schulter: »Ach Mendel, ich kenn sie, deine Weisheit. Es ist auch die meine, aber hier ist sie fehl am Platze. Vor hundert Jahren taugte sie vielleicht etwas, vielleicht in hundert Jahren wieder, hier aber ist sie so viel wert wie der Schnee vom vorigen Jahr.« In der Nacht brachen sie auf. Alle sechs waren gut zu Fuß, außer den Waffen trugen sie keine Lasten, und diese Waffen waren leider leicht. Trotzdem brauchten sie fünf oder sechs Stunden, bis sie in der Gegend von Chmielnik anlangten, denn keiner von ihnen kannte sich hier aus, und immer wieder mußten sie Umwege machen, um Straßen und Siedlungen auszuweichen. Im Licht des Morgengrauens erblickten sie das Gelände, und es bot einen traurigen Anblick: schwarz von Ruß und Kohlenstaub lag es eingeschlossen von einer niedrigen Hügelkette, zwischen Kohle- und Schlackehalden und schien fast nur aus Schornsteinen und Werkhallen zu bestehen. Weitere Zeit verloren sie mit der Suche nach dem Lager. Gedales Informationen waren recht allgemein und unbestimmt gewesen, und das Gelände schien von Lagern übersät, das heißt von Stacheldrahteinzäunungen. 324
»Ein einziges, riesiges Gefängnis«, raunte Line Mendel zu und nutzte dabei einen Augenblick, in dem Leonid einmal nicht zwischen ihnen war. Sei es Zufall oder Berechnung, während des ganzen Marsches war Leonid immer zwischen Mendel und Line gegangen, obwohl er kein Wort mit ihnen wechselte. Er ging rasch, mit angespanntem Gesichtsausdruck. Zuerst fanden sie die Fabrik, ja, die Fabrik erst brachte sie auf die richtige Spur zum Lager. Neu, groß und sauber wie sie war, fiel sie inmitten der alten Teersiedereien, überdachten Schrotthaufen und rußschwarzen Schmelzöfen sofort auf. Schon von weitem sahen sie das Wachhäuschen neben dem Eingangstor. Das Lager konnte also nicht weit sein. Tatsächlich fanden sie es in drei Kilometer Entfernung. Es lag in einer Mulde und sah anders aus als die Einzäunungen, die sie vorher gesehen hatten. Hier war der Zaun doppelt, und zwischen den beiden Vierecken aus Stacheldraht verlief ein breiter Korridor. Die Baracken waren in Tarnfarben gestrichen, es waren vier nicht sehr große, und sie lagen an den vier Seiten des Lagergeländes. Von der Mitte des Platzes stieg eine schwarze Rauchsäule auf. Außerhalb des Drahtverhaus standen zwei Wachtürme und eine weiße Villa. »Gehen wir näher hin«, sagte Gedale. Die Hügel, die das Lager ringsum in einem Halbrund einschlossen, waren von einem niederen Wald bedeckt, und so konnten sie das gefahrlos tun. Sie stießen auf eine 325
Absperrung aus verrostetem Stacheldraht, folgten ihr ein Stück und sahen ein Schilderhäuschen aus Holzbrettern. Die Tür stand offen und drinnen war niemand. »Bloß Zigarettenstummel«, sagte Mottel, der nachschauen gegangen war. Es war nicht schwer, den Stacheldraht zu durchschneiden, und die sechs stiegen weiter hinunter. Plötzlich aber blieben sie wie versteinert stehen; der Wind hatte sich gedreht, er wehte den Rauch nun in ihre Richtung, und alle hatten den Geruch sofort erkannt: es war der Geruch von verbranntem Fleisch. »Es ist alles aus, wir sind zu spät gekommen«, sagte Gedale. Von der Stelle, die sie erreicht hatten, ließen sich die Einzelheiten genauer erkennen: die Rauchsäule kam von einem Holzstoß, um den herum sich ein paar Männer zu schaffen machten, nicht viele, vielleicht zehn. Mendel glitt das Maschinengewehr aus der Hand, und er selbst ließ sich zwischen den Sträuchern auf den Boden nieder. Eine nie gekannte Müdigkeit war über ihn gekommen und drückte ihn wie eine große Welle nieder. Eine tausendjährige Müdigkeit und zugleich Ekel, Wut und Grauen. Eine Wut, die von Grauen überlagert und erstickt war, eine ohnmächtige, gefrorene Wut ohne die Flamme, die Feuer gibt und an der sich der Widerstand nährt. Und dann der Wille, nachzugeben, sich in Rauch aufzulösen, in jenen Rauch. Und Scham und Erstaunen: Erstaunen 326
darüber, daß seine Genossen stehen geblieben waren, mit der Waffe in der Hand, und daß sie Worte fanden, um miteinander zu sprechen. Aber durch den Ekel, der sich wie Watte um ihn gelegt hatte, drangen ihre Stimmen nur gedämpft und wie von weit her an sein Ohr. »Sie haben’s eilig, diese Hunde«, sagte Gedale. »Sie sind schon weg und wollen nur noch ihre Spuren verwischen.« Piotr meinte: »Bestimmt sind nicht alle weg. Irgendwer muß dageblieben sein, um diese Arbeit zu überwachen. Und die müssen wir töten.« Piotr ist doch der Beste von allen, dachte Mendel, als er seine ruhige Stimme vernahm. Der einzige wirkliche Soldat. Piotr möcht ich sein, bravo, Piotr! Er spürte Lines Blick auf sich und stand auf. »Sie werden zu sechst dageblieben sein«, sagte Leonid und machte damit zum ersten Mal, seitdem sie aufgebrochen waren, den Mund auf. »Warum zu sechst?« fragte Gedale. »Zwei Wachtürme und drei für jeden Turm, die sich bei der Wache ablösen. Die Deutschen halten das so.« Aber Mottel und Line, die die besten Augen hatten von allen, meinten, es könne auch anders sein. Aus dieser Entfernung konnte man den Umlauf an der Spitze des Turms gut erkennen, und die auf das Lager gerichteten Maschinengewehre waren fort. Was aber sollte eine Wache ohne Maschinengewehr? »Sie werden in dem Haus sein. Um die Arbeit am 327
Scheiterhaufen zu beaufsichtigen, reicht einer«, sagte Mottel. »Viele sind sicher nicht dageblieben, um ein aufgelöstes Lager zu beaufsichtigen. Heute noch greifen wir sie an, ganz gleich, wie viele es sind«, sagte Gedale. »Warten wir ab, ob sie die Arbeit auch nachts fortsetzen, das glaube ich aber nicht. Danach richten wir uns jedenfalls.« Mendel sagte: »Wie wir sie auch angreifen, eins steht fest: als erstes bringen sie die Leute am Scheiterhaufen um. Die dürfen nicht reden.« »Es ist gleichgültig, ob die sterben«, meinte Line. »Warum?« fragte Mendel, »es sind Menschen wie wir.« »Nein, das sind sie nicht mehr. Sie werden sich nie mehr in die Augen schauen können. Für sie ist es besser, sie sind tot.« Gedale wies Line darauf hin, daß es nicht an ihr sei, über das Schicksal dieser Unglückseligen zu entscheiden, und Piotr schnitt allen das Wort ab mit dem Verweis, das sei alles sinnloses Geschwätz. Widerwillig verzehrten sie die paar Vorräte, die sie mitgenommen hatten, und begannen darauf zu warten, daß die Nacht hereinbrach. In der Dämmerung wurde der Scheiterhaufen gelöscht, die Gefangenen aber nicht ins Haus gebracht. In einem unangenehmen Zustand von ruheloser Rast, der weder Schlaf noch Entspannung gewährte, brachten die sechs ein paar Stunden hin, bis endlich Piotr sagte: »Gehen wir!« Mendel fühlte sich doppelt erleichtert, einmal, 328
weil die Wartezeit um war, dann aber, weil es Piotr gewesen war, der diesen Befehl gegeben hatte. Trotz der allgemeinen Kriegsverdunkelung waren das Lager und die Villa mit Scheinwerfern angestrahlt. Leonid sagte, auch das Lager von Smolensk, aus dem er ’43 geflohen war, sei nachts immer beleuchtet gewesen: die Deutschen fürchteten Ausbrüche mehr als Bombenangriffe. Es gab nur einen einzigen Wachposten für Haus und Lager: er zog in regelmäßigen Abständen um beide eine Achterschleife, einmal in der einen, dann wieder in der anderen Richtung. »Los!« sagte Piotr zu Mottel. Mottel huschte leise hinunter und postierte sich im Schatten hinter der Hausecke. Auch die anderen kamen bis auf ungefähr dreißig Meter heran. Der Wachposten schien schläfrig, mit müden Schritten kam er bis dicht an Mottel heran, bückte sich, wohl um einen Schuh zu binden, und nahm dann seinen Rundgang in entgegengesetzter Richtung wieder auf. Er ging um das Lager, verschwand hinter dem Haus und tauchte nicht wieder auf. Dafür sah man Mottel, der aus seinem Versteck herausgetreten war und ihnen Zeichen machte, sie sollten näherkommen. Alle schauten fragend Gedale an, Gedale schaute Piotr an. Piotr gab das Zeichen zum Weitergehen und ging selbst als erster voran: er hatte eine italienische Handgranate in der Hand, eine von den Angriffsbomben, die mehr Lärm als Schaden verursachen; aber augenblicklich hatten die Gedalisten 329
nichts anderes. Piotr ging auf das Haus zu. Im Erdgeschoß lagen drei vergitterte Fenster. Er trat an eines von ihnen und bedeutete Gedale und Line, sich an die anderen zwei zu stellen. Mendel und Leonid postierte er hinter einer Hecke vor der Eingangstür. Dann schlug er mit dem Gewehrkolben, den er durch die Vergitterung geschoben hatte, die Scheiben seines Fensters ein, warf eine Bombe hinein und bückte sich. Line und Gedale taten dasselbe an den beiden anderen Fenstern. Es gab nur zwei Explosionen: aus irgendeinem Grund war Gedales Bombe nicht losgegangen. Er warf eine zweite, dann liefen er, Line, Piotr und Mottel hinter die Hecke, die das ganze Haus umgab, und brachten sich in Deckung. Es war eine sehr niedrige Myrthenhecke, so daß sie sich fast flach auf den Boden legen mußten. Einen Moment lang geschah nichts, dann hörte man das Geknatter eines Maschinengewehrs. Irgend jemand schoß aus dem Flur des Hauses blind Salven zur Tür hinaus. Mendel preßte sich flach auf den Boden, knapp über seinem Kopf hörte er die Kugeln pfeifen, und aus einem Augenwinkel sah er, wie Leonid aufsprang. »Runter«, fauchte er ihm zu und versuchte ihn zurückzuhalten. Aber Leonid machte sich los, sprang über die Hecke, feuerte eine Salve in Richtung Haustür und stürzte mit gesenktem Kopf auf sie los. Aus dem Haus hörte man einen einzelnen Schuß, und Leonid fiel quer über die Schwelle. Von der Tür her kamen noch zwei, drei kurze Salven. Mendel robbte an der Hecke entlang. Es war klar, 330
daß der Deutsche vom Ende des Flurs aus schoß, denn die Kugeln trafen nur in relativ spitzem Winkel auf die Hecke. In der Position, die er erreicht hatte, war Mendel außer Beschuß, allerdings war der Deutsche auch außerhalb der Reichweite seiner Schußwaffe. Mendel hatte noch zwei Handgranaten. Er zog die Sicherung von einer der beiden und warf sie über den Kopf weg in Richtung auf die Tür. Die Bombe explodierte wenig hinter Leonids Körper, und der Deutsche kam mit erhobenen Händen heraus: es war ein Scharführer der SS. Er schien unverletzt, mit verkrampften Lippen und gebleckten Zähnen sah er um sich. »Keine Bewegung«, rief Mendel auf deutsch, »Hände hoch. Du bist unter Beschuß!« Während er sprach, sah er, wie Line über die Hecke setzte, in der viel zu weiten Militärkleidung wirkte sie geradezu lächerlich zierlich. Ohne jede Hast oder Nervosität trat sie mit ruhigen Schritten hinter den Deutschen, öffnete die Revolvertasche, zog die Ordonanzpistole heraus, steckte sie ein und kam zu Mendel herüber. Auch Piotr und Gedale waren aufgestanden. Gedale beriet sich kurz mit Piotr, dann fragte er den Deutschen: »Wie viele seid ihr?« »Fünf. Vier drinnen und einer draußen als Wache.« »Was ist mit den anderen drei, die drin geblieben sind?« »Einer ist mit Sicherheit tot. Die anderen weiß ich nicht.« 331
»Gehen wir nachschauen«, sagte Gedale zu Piotr und Mendel. Sie ließen den Deutschen unter der Bewachung von Mottel und Line zurück und gingen um das Haus herum, um durch die Fenster zu schauen. »Wartet!« sagte Piotr. Er zog die Jacke aus, band die Ärmel zusammen, so daß ein großes Bündel entstand, steckte es auf den Gewehrlauf und hielt es vor das Gitter, wobei er laut rief: »Wer da?« Es kam keine Antwort und auch sonst kein Lebenszeichen. »Gut«, sagte Piotr. Er zog die Jacke wieder an und trat ins Haus. Von draußen hörte man seine Schritte, dann einen einzelnen Pistolenschuß. Piotr kam wieder heraus: »Zwei waren schon tot, der dritte beinah.« Leonid war die Kugel durch die Brust gegangen, er mußte sofort tot gewesen sein. Der von Mottel erledigte Wachposten lag mit durchschnittener Kehle in einer Blutlache. Mottel wies sein berühmtes Messer vor: »Wenn einer nicht schreien soll, dann muß man es so machen«, sagte er fachkundig zu Mendel, »gleich hier unter dem Kinn durchschneiden.« Erst in diesem Moment bemerkten sie, daß ihr Kampf beobachtet worden war: zehn menschliche Gestalten waren auf die Explosionsschläge und Schüsse hin aus den Baracken gekommen und standen nun hinter der Absperrung aus Stacheldraht und blickten stumm herüber. In ihren graublaugestreiften Anzügen und mit ihren von Rauch und 332
Bartstoppeln schwarzen Gesichtern sahen sie jämmerlich mager und abgerissen aus. »Wir müssen sie befreien, den Deutschen erledigen und gehen«, sagte Piotr. Gedale nickte, Mottel ging auf die Absperrung zu, aber Mendel hielt ihn zurück: »Warte, der Draht könnte geladen sein.« Er trat selbst hinzu und sah, daß die Drähte an den Pfählen nicht über Isolatoren liefen. Er wollte aber ganz sicher gehen: er schaute sich um, sah am Boden ein Rundeisen aus einem Zementblock, schob den Block an den Zaun und brachte die Spitze des Drahts mit Hilfe eines Holzstöckchens mit der Einzäunung in Kontakt. Nichts geschah. Mit ihren Gewehrkolben schlugen Mottel und Piotr eine Bresche in die Umzäunung. Die zehn Gefangenen zögerten herauszukommen. »Kommt nur heraus«, sagte Gedale, »wir haben sie alle umgebracht, bis auf diesen hier.« »Wer seid ihr?« fragte einer der Gefangenen, der hochgewachsen war und leicht vornübergeneigt ging. »Jüdische Partisanen«, antwortete Gedale, und indem er mit dem Kinn in Richtung auf den Scheiterhaufen deutete, setzte er hinzu: »Wir sind zu spät gekommen. Und ihr, wer seid ihr?« »Das siehst du ja«, antwortete der große Gefangene. »Wir waren 120 und arbeiteten für die Luftwaffe. Uns zehn haben sie übriggelassen, die anderen alle umgebracht. Sie haben uns übriggelassen, damit wir diese Arbeit hier machen. Ich heiße Goldner, ich war Ingenieur und komme aus Berlin.« 333
Auch die anderen Gefangenen waren inzwischen näher gekommen, sie blieben aber hinter Goldner und sprachen nicht. »Was könnt ihr mir über den da sagen?« fragte Gedale, wobei er auf den Deutschen wies, der noch immer mit erhobenen Händen dastand. »Bringt ihn sofort um. Egal wie. Laßt ihn nicht reden. Er war der Kommandant, die Befehle gab er, und er schoß auch vom Turm herunter. Das machte ihm Spaß. Bringt ihn um.« »Willst du das machen?« fragte Gedale. »Nein«, gab Goldner zurück. Gedale schien unentschlossen. Dann trat er zu dem Deutschen, der, von Mottel und Line bewacht, die Hände hochhielt, und durchsuchte ihm rasch Taschen und Kleider. »Du kannst die Hände runternehmen. Gib mir deine Kennmarke.« Der Deutsche fummelte an dem Kettchen herum, bekam den Verschluß nicht auf. Piotr trat hinzu, riß ihm mit einem Ruck das Kettchen vom Hals und händigte es Gedale aus. Der steckte es weg und sagte: »Wir sind Juden. Ich weiß auch nicht, warum ich dir das erzähle, es ändert nichts, aber wir wollen, daß du es weißt. Ich hatte einen Freund, der schrieb Lieder. Ihr habt ihn geschnappt und ihm eine halbe Stunde Zeit gegeben, damit er sein letztes Lied schreibt. Du nicht, oder? Ihr schreibt keine Lieder.« Der Deutsche schüttelte den Kopf. »Es ist das erste Mal, daß ich mit einem von euch 334
rede«, sagte Gedale. »Wenn wir dich laufen ließen, was würdest du tun?« Der Deutsche gab sich einen Ruck: »Genug davon. Macht es rasch und sauber.« Gedale trat einen Schritt zurück und hob die Waffe, ließ sie dann aber wieder sinken und sagte zu Mottel: »Die Uniform können wir brauchen. Schau zu …« Mottel stieß den Deutschen ins Innere des Hauses und erledigte das, rasch und sauber. »Gehen wir«, sagte Gedale, aber Line fragte: »Unterzeichnen wir nicht?« Alle schauten sie verständnislos an, aber sie bestand darauf: »Wir müssen kenntlich machen, daß wir das waren, sonst hat es keinen Sinn.« Piotr war dagegen: »Das wäre unklug und ein unnützes Risiko.« Gedale und Mendel waren unschlüssig. »Wer wir?« fragte Mendel, »wir sechs, oder die ganze Bande? Oder alle, die …« Aber Mottel setzte den Zweifeln ein Ende. Er lief zum Scheiterhaufen, nahm ein Stück Kohle heraus und zeichnete fünf große hebräische Buchstaben auf den weißen Verputz des Hauses: UNTNU. »Was hast du da geschrieben?« fragte Piotr. »V’natnu, und sie werden es heimzahlen. Siehst du, man kann es von rechts nach links und von links nach rechts lesen: das bedeutet, alle können austeilen und alle heimzahlen.« 335
»Werden sie das denn verstehen?« fragte Piotr. »Das, was sie verstehen, reicht völlig«, antwortete Mottel. »Kommt ihr mit uns?« sagte Gedale zu Goldner, aber es lag wenig Überzeugung in seiner Stimme. »Jeder von uns trifft seine eigene Wahl«, sagte Goldner, »aber ich komme nicht mit. Wir sind nicht wie ihr, wir fühlen uns nicht wohl unter Menschen.« Die zehn beratschlagten kurz miteinander, dann erklärten sie Gedale, sie seien alle Goldners Ansicht, alle außer einem. Sie würden sich in den Wäldern oder zwischen den Trümmern der zerstörten Häuser verstecken und auf die Russen warten. Der, der mit Gedale gehen wollte, war ein junger Mann aus Budapest. Gemeinsam mit den fünfen machte er sich auf den Weg. Obgleich sie nun zusätzlich die erbeuteten Waffen bei sich trugen, gingen sie schnell. Nach einer halben Stunde Weges brach der Junge zusammen und ließ sich auf einen Stein nieder. Er wolle lieber zu den anderen zurückkehren, sagte er. Mendel träumte schon seit geräumter Zeit nicht mehr, er erinnerte sich auch nicht mehr daran, wann es das letzte Mal vorgekommen war, wahrscheinlich noch vor Ausbruch des Krieges. In dieser Nacht aber träumte er, vielleicht wegen der Erschöpfung nach der Anspannung und dem Marsch, einen seltsamen Traum. Er befand sich in Strelka in seiner kleinen 336
Uhrmacherwerkstatt, die er sich eigenhändig in einem Abstellraum seines Hauses eingerichtet hatte. Der Raum war eng, im Traum aber war er noch enger als in Wirklichkeit, so daß er nicht einmal die Ellbogen beim Arbeiten frei bewegen konnte. Dennoch war er an der Arbeit, Dutzende von Uhren lagen vor ihm, alle waren sie stehengeblieben oder sonstwie kaputt, und mit dem Monokel im Auge und einem winzigen Schraubenzieher in der Hand reparierte er gerade eine davon. Zwei Männer waren gekommen und hatten ihm befohlen, er solle mit ihnen kommen. Rivke war nicht einverstanden damit, sie war ärgerlich und hatte Angst, er aber war trotzdem mit ihnen gegangen. Sie hatten ihn eine Treppe hinuntergeführt, oder vielleicht war es auch der Schacht eines Bergwerks, und dann durch einen langen Gang. Die Decke war schwarz gestrichen, und an den Wänden hingen viele Uhren. Die standen nicht, man hörte ihr Ticken, aber jede von ihnen zeigte eine andere Uhrzeit an, und einige liefen sogar rückwärts, wofür Mendel sich irgendwie verantwortlich fühlte. In dem Korridor kam ihm ein Mann in Zivil mit Krawatte entgegen. Herablassend fragte er ihn nach seinem Namen, und Mendel wußte keine Antwort: er erinnerte sich nicht mehr an seinen Namen, auch nicht daran, wo er geboren war. Dov weckte ihn und auch Line, die an seiner Seite schlief. Wie manchmal nach besonders tiefem Schlaf fand Mendel sich im ersten Moment nicht zurecht, wo er war. Dann fiel es ihm wieder ein: am Abend zuvor 337
hatte sich die Bande ins Untergeschoß einer ausgebombten Glaserei zurückgezogen, und die Decke hier war schwarz wie in seinem Traum. Bella und Sissl hatten eine Suppe gekocht und teilten sie gerade aus. Gedale war schon wach und erzählte Dov, wie das Unternehmen verlaufen war: »… also am tapfersten sind Mottel und Piotr gewesen. Und Line, ja sicher. Hier die Uniform, mit Rangabzeichen und allem, sogar gebügelt ist sie.« »Meinst du, wir können sie gebrauchen?« fragte Dov. »Nein, das wäre zu riskant. Wir verkaufen sie. Jozek besorgt das schon.« Jozek löffelte seine Suppe, er saß neben Pavel, Piotr und der weißen Rokhele. »… es war aber doch Sabbat«, sagte Pavel. »Wenn die Sonne am Freitag Abend untergeht, dann ist es schon Sabbat, und am Sabbat töten, ist das nicht Sünde?« Rokhele saß auf Nadeln: »Töten ist immer Sünde.« »Auch wenn es ein SS-Mann ist?« stichelte Pavel. »Auch. Oder vielleicht nicht. Ein SS-Mann ist wie ein Philister, und Samson tötete sie. Samson ist ein Held, eben weil er die Philister getötet hat.« »Aber vielleicht tötete er sie nicht gerade am Sabbat?« sagte Jozek. »Also, ich weiß nicht. Warum quält ihr mich? Mein Mann, der hätte euch antworten können. Er war Rabbiner, und ihr seid alle Ignoranten und Ungläubige, alle miteinander.« 338
»Was ist mit deinem Mann geschehen?« fragte Piotr. »Sie haben ihn umgebracht, als ersten im Dorf. Sie haben ihn gezwungen, auf die Torah zu spucken, und dann haben sie ihn umgebracht.« »Und war das vielleicht kein SS-Mann, der ihn ermordet hat?« »Sicher, er hatte den Totenkopf an der Mütze.« »Na siehst du«, schloß Piotr, »Wenn Mottel ihn vorher getötet hätte, dann wäre dein Mann noch am Leben.« Rokhele antwortete nicht, sondern ging weg. Piotr schaute fragend Pavel an, Pavel hob etwas die Arme und ließ sie dann wieder sinken. »Und von ihm redet keiner«, sagte Mendel zu Line. »Vom wem?« »Von Leonid. Keiner denkt mehr an ihn. Nicht einmal Gedale. Und dabei war er es doch, der ihn mitnehmen wollte. Schau sie dir an, als ob nichts geschehen wäre gestern.« Die Suppenausgabe war beendet. In einem Winkel des Kellers schnitt Isidor jedem, der es wünschte, mit Bellas Scherchen Haare und Bart. Die Kunden standen Schlange und hatten sich auf Pfeiler aus Ziegelsteinen niedergelassen. Der letzte in der Reihe war Gedale. Um sich die Wartezeit zu verkürzen, hatte er seine Geige hervorgeholt und zupfte darauf eine Melodie, aber nur leise, damit man es draußen nicht hörte. Es war ein komisches Lied, und alle kannten es: das Lied vom Wunderrabbi, der einen 339
Blinden laufen macht, einen Tauben sehen und einen Lahmen hören, und der schließlich in der letzten Strophe mitsamt den Kleidern ins Wasser steigt, um wunderbarerweise naß wieder herauszusteigen. Isidor lachte bei seiner Arbeit und trällerte die Melodie mit. Auch die schwarze Rokhele sang leise mit. Sie hatte Isidor gebeten, ihr die Haare so kurz zu schneiden, wie die Lines, und in diesem Moment war sie gerade unter der Schere. »Gedale hat viele Gesichter«, sagte Line, »und deshalb ist er nicht leicht zu verstehen, denn da ist nicht nur ein Gedale. Er läßt alles hinter sich. Der Gedale von heute läßt den von gestern hinter sich.« »Auch Leonid hat er hinter sich gelassen«, antwortete Mendel. »Aber warum wollte er bloß unbedingt, daß er mitkommt, anstatt Arié? Seit gestern frage ich mich das.« »Wahrscheinlich hat er es in der besten Absicht getan. Er wollte ihm eine Chance geben. Er meinte, kämpfen würde ihm guttun, er würde sich selbst dadurch wiederfinden. Oder er wollte ihn auf die Probe stellen.« »Ich glaube was anderes«, sagte Mendel. »Ich glaube, Gedale wußte nicht, daß er es wollte, aber er wollte etwas anderes. Im Tiefsten seines Bewußtseins wollte er ihn loswerden. Bevor wir aufbrachen, hat er es mir fast ausdrücklich gesagt.« »Was hat er dir gesagt?« »Daß man für aussichtslose Unternehmen Männer ohne Aussichten braucht.« 340
Line schwieg und kaute an den Fingernägeln. Dann fragte sie: »Wußte Gedale, warum Leonid verzweifelt war?« Auch Mendel schwieg lange, dann sagte er: »Ich weiß nicht, ob er es wußte. Wahrscheinlich ja. Er wird es vermutet haben. Gedale riecht so was, er braucht gar keine Beweise und braucht auch keine Fragen zu stellen.« Er saß auf einem Mörtelblock und zeichnete mit der Ferse Figuren auf den gestampften Lehmboden. Dann fügte er hinzu: »Nicht der Deutsche hat Leonid ermordet und auch nicht Gedale.« »Wer dann?« »Wir zwei.« Line sagte: »Gehen wir auch singen.« Zu viert oder fünft standen sie um Gedale herum und sangen zur Geige lustige Lieder, wie sie auf Hochzeiten und in Wirtshäusern üblich sind. Piotr klopfte den Rhythmus mit, imitierte die harten Kehllaute des Jiddischen und freute sich wie ein Kind. »Mir ist nicht nach Singen zumute«, sagte Mendel. »Ich habe zu gar nichts Lust, ich weiß nicht mehr, wer Gedale ist, nicht mehr, was ich will, noch, wo ich bin, und wahrscheinlich weiß ich nicht einmal mehr, wer ich bin. Heute nacht habe ich geträumt, daß jemand mich danach fragt, und ich wußte keine Antwort.« »Auf Träume soll man nichts geben«, sagte Line trocken. 341
In diesem Augenblick stürzte durch den Trichter im Schutt, durch den man in den Keller gelangte, Izu herunter, der Fischer vom Goryn. Er hatte Wachdienst: »Ja seid ihr denn vollständig verrückt geworden? Oder habt ihr euch betrunken? Von oben hört man alles: wollt ihr denn unbedingt die Polizei herbeirufen?« Gedale entschuldigte sich wie ein Schulknabe, den man auf frischer Tat ertappt, und legte die Geige beiseite. »Kommt alle mal her«, sagte er dann. »Wir haben ein paar Dinge zu besprechen. Im Juni habe ich euch gesagt, daß wir keine Waisen und auch keine herrenlosen Hunde mehr sind. Das ist auch weiterhin so. Wir sind aber dabei, den Herrn zu wechseln oder den Vater, wie ihr wollt. Wir sind Teil einer riesigen Familie, die von Norwegen bis Griechenland in Waffen gegen die Deutschen steht. In dieser Familie gibt es aber einige Streitigkeiten: es wird viel darüber diskutiert, was geschehen soll, wenn Hitler erst einmal aus der Welt geschafft ist, wo die Grenzen verlaufen sollen, wem der Boden und wem die Fabriken gehören sollen. Zur Familie gehört auch Josip Vissarionovič, ja, Ariés Vetter. Er ist der Erstgeborene, sicher, aber er kann sich mit Churchill nicht einig werden über die Farbe, die sie Polen geben wollen: Stalin möchte rot, Churchill hat eine andere Farbe im Sinn, und die Polen selbst wieder eine andere, fünf, sechs verschiedene Farben 342
sind im Gespräch. Nicht alle Polen sind wie diese Hampelmänner von der NSZ; sie sind tapfere Partisanen und kämpfen gegen die Deutschen, aber sie trauen den Russen nicht und uns auch nicht. Wir sind wenige und sind schwach. Seitdem wir die Grenze überschritten haben, interessieren sich die Russen nicht mehr allzusehr für uns. Sie lassen uns unseres Weges ziehen. Und eben über diesen Weg müssen wir beratschlagen.« »Ich bin kein Vetter Stalins«, meinte Arié beleidigt. »Wir sind bloß Landsmänner. Und Weg gibt es für mich nur einen: auf die Deutschen schießen, solange noch welche da sind, und nach Israel ziehen und Bäume pflanzen.« »Über diesen letzten Punkt sind wir uns, glaube ich, wohl alle einig«, sagte Gedale. »Du nicht, Dov? Gut, verzeih, aber darüber sprechen wir später. Jetzt wollte ich euch nur sagen, daß wir Unterstützung haben, oder doch wenigstens einen Kompaß, einen Wegweiser, der uns die Richtung angibt. Wir sind nämlich nicht allein in diesen Wäldern. Es gibt hier Männer, vor denen alle Respekt haben: es sind Kämpfer aus den Gettos wie wir, aus Warschau, Wilno und von der Neunten Festung von Kowno, und solche, die den Mut gehabt haben, sich in Treblinka und Sobibor gegen die Nazis zu erheben. Sie sind auch nicht mehr allein: sie gehören alle zur JKO, zur Jüdischen Kampforganisation, der ersten Organisation, die sich vor aller Welt so zu nennen wagt, seitdem Titus den Tempel niederreißen ließ. 343
Man hat Respekt vor ihnen, sie sind aber weder sehr vermögend noch sehr zahlreich. Und daß man ihnen Achtung entgegenbringt, heißt nicht, daß sie stark sind: sie haben weder Festungen noch Flugzeuge oder Kanonen. Sie haben ein paar Waffen und ein bißchen Geld, aber mit dem wenigen, was ihnen zur Verfügung steht, haben sie uns schon geholfen und werden das auch weiterhin tun. Wir bleiben auch in Zukunft unabhängig, denn das steht uns zu, aber wir halten uns an die Anweisungen, die sie uns geben. Und die wichtigste ist die: unser Weg führt uns durch Italien. Wenn die Front uns überholt hat und wenn wir noch am Leben und eine Bande sind, dann versuchen wir, nach Italien zu kommen, denn Italien ist das Sprungbrett. Es ist aber nicht gesagt, daß das ein einfacher Weg ist.« »Wenn Hitler erst einmal tot ist, dann sind alle Wege einfach«, sagte Jozek. »Einfacher als jetzt, ja, aber so einfach auch wieder nicht. Die Engländer werden uns Schwierigkeiten machen, wo sie nur können, denn sie wollen es sich mit den Arabern in Palästina nicht verderben. Die Russen aber werden uns helfen, weil die Engländer in Palästina sind, und Stalin sie mit allen Mitteln zu schwächen versucht, denn er beneidet sie um ihr Weltreich. Von Italien gehen schon jetzt heimlich Schiffe ab nach Israel, einige kommen durch, andere nicht, und aufgehalten werden sie nicht von den Deutschen, sondern von den Engländern.« 344
»Und wenn uns jemand aufhalten will?« fragte Line. »Das ist ja der Punkt«, antwortete Gedale. »Niemand weiß, wann und wie der Krieg ausgehen wird, aber es kann sein, daß wir die Waffen auch danach noch brauchen. Kann sein, daß unsere Bande und andere, Leute wie wir, weiterhin Krieg führen müssen, wenn schon alle Welt in Frieden lebt. Deshalb hat Gott uns ausgezeichnet vor allen Völkern, wie unsere Rabbiner sagen. So, das war’s, was ich euch sagen wollte. Du hast ums Wort gebeten, Dov? Ich bin fertig, sprich du jetzt.« Dov machte es kurz: »Mitten im Krieg die Front zu passieren ist unmöglich, schon gar nicht für einen Mann allein, aber wenn es möglich wäre, dann hätte ich es schon längst getan. Entschuldigt, Freunde, aber ich bin sechsundvierzig. Ich bleibe bei euch, solange ihr mich brauchen könnt, aber wenn uns die Russen erreichen, dann geh ich mit ihnen. Ich bin in Sibirien geboren, und nach Sibirien gehe ich zurück. Da oben war kein Krieg, und mein Haus steht noch. Zum Arbeiten hab ich vielleicht noch genug Kraft, aber zum Kämpfen reicht es nicht mehr. Und dann: die Sibirier nennen einen nicht ›Jud‹ und zwingen dich auch nicht, ›es lebe Stalin‹ zu brüllen.« »Du wirst tun, was du für richtig hältst, Dov«, sagte Gedale. »Noch aber ist Hitler am Leben, und für bestimmte Entscheidungen ist es zu früh. Und dann brauchen wir dich noch. Was willst du, Piotr?« Piotr, dem Gedale in der Aktion gegen das Lager 345
das Kommando übertragen hatte und der sie klug und mutig durchgeführt hatte, stand auf wie ein Schuljunge, wenn er gefragt wird. Alle lachten, er setzte sich wieder hin und sagte: »Ich wollte bloß wissen, ob sie in Israel, wo ihr hingeht, auch solche wie mich nehmen?« »Sicher nehmen sie dich«, entgegnete Mottel. »Gib ich dir eine Empfehlung und brauchst du weder deinen Namen zu ändern noch dich beschneiden zu lassen. Gedale hat bloß Spaß gemacht an dem Abend in der Mühle.« Pavels tiefe Stimme ließ sich vernehmen: »Hör auf mich, Russe: der Name spielt keine Rolle, aber laß dich beschneiden, nütz die Gelegenheit. Es ist nicht so sehr wegen dem Pakt mit Gott: es ist eher wie mit den Apfelbäumen. Wenn man sie im rechten Moment stutzt, wachsen sie schön gerade in die Höhe und geben mehr Äpfel.« Die schwarze Rokhele brach in ein anhaltendes, nervöses Gelächter aus. Bella stand auf und erklärte, hochrot im Gesicht, sie habe nicht so viele Kilometer zurückgelegt und so viele Gefahren auf sich genommen, um solche Reden anhören zu müssen. Piotr schaute sich entgeistert und verschüchtert um. Ernst wie immer sagte Line: »Sicher nehmen sie dich, auch ohne Mottels Empfehlung. Aber sag mir: warum willst du mitkommen?« »Öh«, setzte Piotr an und kam immer mehr durcheinander, »das hat viele Gründe …« Er hob die Hand 346
und spreizte dabei den kleinen Finger ab, wie die Russen es machen, wenn sie eine Aufzählung beginnen. »Erstens …« »Erstens?« ermunterte ihn Dov. »Erstens bin ich gläubig«, sagte Piotr mit der Erleichterung dessen, dem endlich doch noch etwas eingefallen ist. »Got, schenk mir an oysred!« zitierte Mottel auf jiddisch. Alle lachten, und Piotr schaute gekränkt um sich. »Was hast du da gesagt?« fragte er Mottel. »Das ist eine Redensart bei uns, und sie bedeutet: ›Gott, schick mir eine passende Ausrede.‹ Du willst uns doch nicht erzählen, daß du bei uns bleiben willst, weil du an Christus glaubst. Du bist Partisan und Kommunist, und allzusehr scheinst du nicht an Christus zu glauben. Und dann: an Christus glauben wir nicht. Nicht einmal an Gott glauben alle.« Der gläubige Piotr fluchte saftig auf russisch und fuhr dann fort: »Ihr seid gut darin, die Dinge kompliziert zu machen. Gut, ich kann es euch nicht erklären, aber es ist genau so: ich will bei euch bleiben, weil ich an Christus glaube, und geht doch zum Teufel mit euren Unterscheidungen!« Beleidigt stand er auf und ging entschlossenen Schrittes auf den Ausgang zu, als wollte er weggehen, kehrte aber dann um: »… und ich hab noch zehn andere Gründe, warum ich bei dieser Bande von Holzköpfen bleiben 347
will. Weil ich die Welt sehen will. Weil ich mich mit Ulybin gestritten habe. Weil ich ein Deserteur bin, und wenn sie mich erwischen, dann geht’s mir schlecht. Weil ich eure Hurenmütter gefickt hab, und weil …« An diesem Punkt sah man Dov auf Piotr zulaufen, als wollte er ihn angreifen; er schloß ihn aber in die Arme, und sie versetzten sich gegenseitig kräftige Faustschläge auf den Rücken.
Neuntes Kapitel September 1944 – Januar 1945
Die Front war zum Stillstand gekommen, und der Sommer ging seinem Ende zu. Polen, das von fünf Jahren Krieg und erbarmungsloser Besatzung völlig ausgezehrt war, schien in einen Zustand vorgeschichtlichen Chaos zurückgefallen. Warschau war zerstört: nicht nur das Getto, sondern diesmal die ganze Stadt, und mit ihr der Keim zu einem freien und einigen Polen. So wie seinerzeit die Polen den Aufstand der Juden im Getto, so ließen nun die Russen den Aufstand von Warschau ausgehen, den die polnische Exilregierung von London aus direkt geleitet hatte. Die letzte Abkühlung der erhitzten Gemüter überließ man damals wie heute den Deutschen. Und die besorgten das auch. Im Rückzug an sämtlichen Kriegsfronten, waren sie an der inneren Front, im täglichen Kampf gegen die Partisanen und gegen die wehrlose Bevölkerung weiterhin siegreich. Von der Hauptstadt her strömten Scharen von Flüchtlingen in alle Richtungen, wilde Haufen ohne Brot und ohne eine Bleibe, in panischer Flucht vor den Vergeltungsmaßnahmen der Deutschen und ihren Razzien. Denn die Deutschen handelten nicht nur aus Rachegelüsten, sondern brauchten auch dringend Arbeitskräfte. Umstandslos wurden allenthalben Bauern und Städter, Männer, Frauen, 349
Kinder und Greise aufgegriffen, bekamen Schaufel und Spitzhacke in die Hand gedrückt und mußten in aller Eile Panzergräben ausheben in der Erde, die auf den Pflug wartete. Und mit der den Nazis eigenen Zerstörungswut demontierten deutsche Störtrupps alles, was der Roten Armee auf ihrem Vormarsch nur irgend hätte nützlich sein können, und nahmen es mit: Gleise, elektrische Leitungen, Eisenbahn- und Straßenbahnmaterial, Holz, Eisen, ja ganze Fabriken. Die polnischen Partisanen der Armia Krajowa, die älteren Jahrgänge, die schon von Anfang an, seit dem Blitzfeldzug von 1939, gegen die Deutschen gekämpft hatten, diejenigen, die aus Liebe zu ihrem zerrissenen Land oder aus Angst vor Deportation in die Wälder geflüchtet waren, bis zu denen, die mit knapper Not noch hatten aus Warschau entkommen können, sie alle kämpften mit verzweifelter Ausdauer weiter. Gedales Bande legte nur jeweils kurze Etappen zurück, die sie jedesmal durch ein Täuschungsmanöver deckten. An Geld und Munition kam Gedale ziemlich leicht, immer schwieriger aber wurde es, gegen Geld Lebensmittel zu bekommen. Die mehr oder weniger brachliegenden Felder gaben kaum etwas her, und das wenige, was die Bauern sich sichern konnten, schmolz unter den Requisitionen der Deutschen und den nicht weniger gefürchteten der wirklichen Partisanen und der als Partisanen getarnten Banditen noch weiter zusammen. In den ersten Oktobertagen überbrachten zwei 350
der Männer aus Slonim, die als Vorhut ausgeschickt worden waren, die Nachricht, auf dem Bahnhof von Tunel stehe auf einem Abstellgleis ein Güterzug, der aller Wahrscheinlichkeit nach Lebensmittel geladen habe. Der Zug war sehr lang, so daß seine letzten Waggons noch im Tunnel standen, dem das Dorf seinen Namen verdankte. Bewacht wurde er bloß von den Blauen der polnischen Polizei. Gedale ließ die Bande in einem Kilometer Entfernung an der Eisenbahnlinie Lager beziehen, und nachts gingen er, Mendel, Mottel und Arié zum Bahnhof. Es waren bloß zwei Blaue als Wache da, einer ganz weit vorne, am Anfang des Zuges, der andere an seinem Ende. Er stand aber nicht im Tunnel, sondern vor seinem Ausgang, so daß er die letzten Waggons nicht sehen konnte. Gedale befahl seinen Leuten, sich ruhig zu verhalten und auf ihn zu warten und verschwand in der Dunkelheit. Nach ein paar Minuten war er wieder da: »Nein Mottel, diesmal brauchen wir deine Künste nicht. Ein bißchen Geld hat genügt. Geh, lauf zu Dov und bring vier kräftige Männer mit.« Mottel ging, und nach zwanzig Minuten war er mit Pavel und drei weiteren Männern zurück: acht waren sie insgesamt, neun mit dem Blauen, der ihnen half, den Waggon abzuhängen. Er hatte gesehen, wie er beladen worden war, es waren Kartoffeln und Rüben, und der Waggon war für das deutsche Kommando von Krakau bestimmt. Als sie ihn ab351
gehängt hatten, stemmten sich alle neun mit den Schultern dagegen und versuchten ihn anzuschieben, aber er bewegte sich nicht einen Fingerbreit. Sie versuchten es noch einmal, Gedale gab mit gedämpfter Stimme die Kommandos, damit sie gleichzeitig anschöben, aber es rührte sich nichts. »Wartet«, flüsterte der Blaue und verschwand. »Ja sag mal, hast du den behext?« fragte Mendel voller Bewunderung. »Nein«, sagte Gedale. »Außer dem Geld hab ich ihm Kartoffeln für seine Familie versprochen und ihm vorgeschlagen, mit uns zu kommen. Er wohnt hier ganz in der Nähe.« Der Pole ließ auf sich warten, und im bläulichen Licht der abgeblendeten Scheinwerfer hielten Gedales Leute ungeduldig nach ihm Ausschau. Dem Bahnhof gegenüber lag ein Feld, und man erkannte merkwürdige, runde Gegenstände darauf. Mottel war neugierig geworden und ging nachschauen: es waren Kürbisse, nichts Besonderes also und auch nicht gefährlich. Auf leisen Sohlen kam der Pole zurück und trug ein Werkzeug in der Hand, das er »Pantoffel« nannte. Es bestand aus einem langen Hebel, der in eine keilförmige Stahlsohle auslief: drückte man den Hebel hinunter, so hob sich die Sohle ein paar Millimeter. »Das ist eigens dazu da, um die Waggons in Bewegung zu setzen«, erläuterte er. »Auf allen Güterbahnhöfen haben wir so was. Sind die Wagen erst mal im Rollen, dann fahren sie von allein weiter.« Er 352
umwickelte den »Pantoffel« mit einem Stoffetzen, um keinen Lärm zu machen, schob ihn unter die Räder und drückte den Hebel hinunter. Der Waggon ruckte unmerklich und stand dann wieder still. »Gut«, flüsterte Gedale. »Wie lang ist der Tunnel?« »Sechshundert Meter. Kurz dahinter ist eine Kreuzung, von da an geht ein Abstellgleis weg, das durch den Wald zu einer aufgelassenen Schmelzhütte führt. Besser, ihr verschiebt den Waggon auf das Nebengleis: da könnt ihr ihn ausladen, ohne daß euch jemand sieht. Gehen wir?« Aber Gedale führte etwas im Schilde. Er schickte vier Männer aus, sie sollten ein Dutzend Kürbisse sammeln, und die ließ er dann in das Gehege der Oberleitungsmasten stecken, je einen Kürbis pro Mast. »Wozu ist das gut?« fragte Mendel. »Zu gar nichts«, gab Gedale zurück. »Bloß dazu, daß die Deutschen sich den Kopf darüber zerbrechen, wozu es gut ist. Uns kostet das zwei Minuten, die Deutschen sind gründlich, und sie werden einige Zeit darüber verlieren.« Der Blaue sagte, sie sollten sich alle parat halten, und wiederholte das Manöver mit dem Pantoffel: »So, jetzt schiebt!« Der Waggon setzte sich erneut in Bewegung und fuhr ganz leise und sehr langsam an. »Später wird’s besser«, meinte der Pole. »Auf dem Nebengleis geht’s bergab.« Gedale schickte Arié voraus, er solle dem Rest der 353
Bande Bescheid geben, daß der Waggon bald käme. Sie sollten ihm an dem Nebengleis entgegengehen und sich fürs Ausladen bereit machen. »Aber das sind zehn Tonnen«, bemerkte Mottel. »Wie sollen wir die denn alle ausladen?« Gedale schien unbesorgt. »Wird uns schon wer helfen. Wir behalten nur einen Teil, den Rest lassen wir den Bauern.« Hinter dem Tunnel gerieten sie in ein Nebelfeld, durch das trübe das erste Licht des Morgengrauens sickerte. Aus dem Nebel sahen sie menschliche Gestalten auftauchen, sechs, zwölf und mehr, zu viele, als daß es die Vorhut der Bande hätte sein können. Eine energische Stimme rief auf polnisch: »Stoj!« Rund ein Dutzend bewaffneter Männer versperrte die Linie. Der Blaue nützte die erste Verwirrung, sprang beiseite und verschwand im Nebel. Gedale und die Seinen taten ihr Bestes, um die Fahrt des Waggons zu stoppen, der rollte trotzdem noch etwa zehn Meter weiter, bis schließlich Mottel aufsprang und von innen die Handbremse zog. Die Stimme von vorhin wiederholte noch einmal »Stoj!«, der Befehl wurde diesmal von einer kurzen Maschinengewehrsalve unterstrichen, und dann hieß es: »Rece do góry! Hände hoch!« Gedale gehorchte, und alle anderen folgten seinem Beispiel: sie hatten nur Messer und Pistolen bei sich, die Schnellfeuerwaffen hatten sie beim Gros der Gruppe gelassen, und an Widerstand war daher 354
gar nicht zu denken. Ein schlanker, junger Mann mit ernster Miene trat vor, er hatte regelmäßige Gesichtszüge und trug eine Stahlrandbrille: »Wer ist euer Chef?« »Das bin ich«, antwortete Gedale. »Wer seid ihr? Wohin bringt ihr diesen Waggon?« »Wir sind jüdische Partisanen, einige sind Russen, andere Polen. Wir kommen von weit her. Den Waggon haben wir den Deutschen abgenommen.« »Ob ihr Partisanen seid, wird sich erst erweisen müssen. Aber dieses Gebiet hier kontrollieren wir.« »Wer, wir?« »Wir von der Armia Krajowa, von der inneren polnischen Armee. Folgt uns. Wenn ihr versucht zu fliehen, schießen wir.« »Herr Leutnant, wir kommen mit und fliehen nicht. Bald werden aber die Deutschen hier sein. Wäre es nicht jammerschade, ihnen eine ganze Wagenladung Kartoffeln zu überlassen?« »Hierher kommen die Deutschen nicht, oder jedenfalls nicht so bald. Sie haben Angst vor uns. Wenn sie einzelne von uns isoliert antreffen, dann greifen sie an, ja, aber in die Wälder trauen sie sich nicht. Den Waggon schieben wir in den Wald. Was wolltet ihr denn mit den Kartoffeln anfangen?« »Zum Teil behalten, zum Teil den Bauern geben.« »Für den Moment behalten wir sie. Vorwärts, schiebt weiter«, befahl Edek, der Leutnant. Er kommandierte aber sechs von seinen eigenen Leuten ab, daß sie mit anschoben und die Fahrt des Waggons 355
beschleunigten. Während des Marsches trat er zu Gedale und fragte weiter: »Wie viele seid ihr?« »Das siehst du ja, wir sind acht.« »Das stimmt nicht«, erwiderte Edek. »Ihr seid vor ein paar Tagen gesehen worden, als ihr unterwegs wart, und ihr seid viel mehr. Du brauchst mich nicht zu belügen, wir haben nichts gegen euch, wenn ihr uns nicht stört. Wir haben selbst Juden in unseren Reihen.« »Wir sind achtunddreißig«, sagte Gedale. »Dreißig sind bewaffnet und kampftauglich, fünf sind Frauen.« »Kämpfen die Frauen nicht?« »Doch, eine ja, und ein, nein zwei Männer kämpfen nicht.« »Wieso?« »Einer ist zu jung und nicht ganz helle. Der andere ist zu alt und war verwundet.« Wie sich bald herausstellen sollte, wäre es ohnedies zwecklos gewesen, auf der Lüge zu beharren: der Waggon rollte fast geräuschlos dahin, der Nebel war dichter geworden, und der Großteil der Gedalisten, die Gedale nichtsahnend entgegengingen, wurde von Edeks Leuten gesichtet, noch ehe sie sich verstecken konnten. Die polnischen Partisanen – es waren ungefähr hundert – umstellten sie und hießen sie mit Waffen und Gepäck weiterziehen. Gedale erklärte Dov, was vorgefallen war. Nach einer Stunde Weges waren sie ins Innere des 356
Waldes gelangt. Edek ließ anhalten, ihr Standquartier war nicht mehr weit. Er schickte einen Kurier, und in Kürze hatten sie die Entladung des Waggons organisiert. Juden und Polen packten gleichermaßen kräftig mit an, jeder mit einem Sack beladen, liefen sie zwischen Waggon und Lager hin und her. Der leere Wagen wurde bis zu der verlassenen Fabrik geschoben, die Säcke im Magazin des Lagers verstaut und die Gedalisten alle miteinander in einer der halb in die Erde eingelassenen Holzbaracken untergebracht, die Edeks Einheit als Stützpunkt dienten. Die polnischen Partisanen waren gut bewaffnet, effizient, kühl und korrekt. Sie boten den Juden Essen an, denen war aber nach der durchwachten Nacht eher nach Schlafen zumute. Das Gros der polnischen Abteilung brach am frühen Morgen bewaffnet auf. In den Baracken blieben nur ein paar Wachposten zurück, und man ließ die Gedalisten ausruhen, die Frauen auf Feldbetten, die Männer auf frisch aufgeschüttetem Stroh. Allerdings hatten sie »vorläufig« ihre Waffen abliefern müssen, die inventarisiert und in einer anderen Baracke eingeschlossen worden waren. Edek und seine Leute kamen gegen Abend zurück, und es wurde Essen ausgegeben: Hirsesuppe, Dosenbier und Büchsenfleisch mit englischer Aufschrift auf dem Etikett. »Ihr seid ja reich«, sagte Dov voller Bewunderung. »Die Sachen kommen per Fallschirm«, erklärte Edek. »Die Amerikaner werfen sie ab, aber eigent357
lich kommen sie aus England. Unsere Regierung in London schickt sie. Die Amerikaner haben keine Zeit und machen die Abwürfe eher schludrig: sie kommen von Brindisi in Italien, und bis hierher kommen sie gerade mit einer Tankfüllung. Sie kommen, werfen ab und fliegen sofort wieder zurück, und so landet die Hälfte ihrer Abwürfe in den Händen der Deutschen. Aber für uns reicht es immer noch, wir sind ja inzwischen nur noch wenige.« »Sind viele von euch gefallen?« fragte Mendel »Gefallen, versprengt, andere hatten genug und sind nach Hause zurückgekehrt.« »Warum gehen sie nach Hause zurück? Haben sie denn keine Angst vor den Deportationen der Deutschen?« »Doch, sie haben Angst, gehen aber trotzdem. Sie wissen nicht mehr, wofür und für wen sie kämpfen.« »Und du, für wen kämpfst du?« frage Gedale. »Für Polen. Für die Freiheit Polens, aber es ist ein aussichtsloser Kampf. Es fällt schwer, unter diesen Bedingungen weiterzukämpfen.« »Aber Polen wird doch frei sein: die Deutschen ziehen ab, praktisch haben sie schon verloren, sie sind an allen Fronten im Rückzug.« Edek musterte seine drei Gesprächspartner, Dov, Mendel und Gedale, eine Weile eindringlich durch seine Brillengläser hindurch. Er war um einiges jünger als sie, schien aber von einer den anderen unbekannten Last bedrückt. 358
»Wo geht ihr denn hin?« fragte er schließlich. »Wir gehen weit weg«, antwortete Gedale. »Wir wollen bis zum Ende des Krieges gegen die Deutschen kämpfen, und wer weiß, vielleicht auch danach noch. Dann versuchen wir wegzukommen. Wir wollen nach Palästina gehen, in Europa ist für uns kein Platz mehr. Den Krieg gegen die Juden hat Hitler gewonnen, und auch seine Adepten haben ganze Arbeit geleistet. Sein Evangelium haben sie alle gelernt: Russen, Litauer, Ukrainer, Kroaten und Slowaken.« Gedale zögerte einen Augenblick, dann setzte er hinzu: »Auch ihr habt es gelernt, oder vielleicht kanntet ihr es auch schon vorher. Sag mal, Leutnant: sind wir hier Gäste oder Gefangene bei euch?« »Laßt mir etwas Zeit«, gab Edek zurück. »Bald kann ich dir antworten. Einstweilen wollte ich dir nur sagen, daß die Idee mit den Kürbissen sehr gut war.« »Woher weißt du das mit den Kürbissen?« »Wir haben hier in der Gegend überall Freunde, auch unter den Eisenbahnern, und die haben uns erzählt, daß es die Deutschen bisher nicht gewagt haben, die Kürbisse anzurühren. Sie haben die Linie gesperrt und aus Krakau eine Einheit Feuerwerker kommen lassen. Die Kürbisse waren ihnen viel wichtiger als der Wagen, den ihr abgeschleppt habt.« Er öffnete zwei Schachteln »Lucky Strike« und bot sie zum allgemeinen Erstaunen der Gedalisten in der Runde herum an. Dann fuhr er fort: 359
»Ihr dürft nicht ungerecht urteilen, auch wenn einige Polen euch Unrecht getan haben. Nicht alle waren wir eure Feinde.« »Nicht alle, aber viele«, antwortete Gedale. Edek seufzte. »Polen ist ein trauriges Land. Ein unglückliches Land seit jeher, bedrängt von übermächtigen Nachbarn. Es ist schwer, im Unglück nicht zu hassen, und all die Jahre unserer Knechtschaft und unserer Teilung hindurch haben wir auch alle um uns herum gehaßt: die Russen, die Deutschen, die Tschechen, die Litauer und die Ukrainer; auch euch haßten wir, weil ihr über unser Land verstreut lebtet, aber nicht so sein wolltet wie wir, weil ihr nicht aufgehen wolltet in uns, und wir verstanden euch nicht. Erst als ihr euch in Warschau erhoben habt, da haben wir angefangen, euch zu begreifen. Ihr habt uns den Weg gezeigt, habt uns beigebracht, daß man kämpfen kann, auch wenn man verzweifelt ist.« »Aber da war es schon zu spät«, sagte Gedale. »Wir waren alle tot.« »Spät war es, ja. Aber jetzt seid ihr dafür reicher als wir: ihr wißt, wohin ihr gehen könnt. Ihr habt ein Ziel und eine Hoffnung.« »Und warum solltet ihr denn keine Hoffnung haben?« meinte Dov. »Der Krieg wird zu Ende gehen, und wir werden eine neue Welt aufbauen, frei von Sklaventum und Ungerechtigkeit.« Edek sagte: »Der Krieg wird nie zu Ende gehen. Aus diesem Krieg wird ein neuer Krieg hervorgehen, und Krieg wird immer sein. Niemals können 360
Amerikaner und Russen Freunde werden, und Polen hat keine Freunde, auch wenn uns jetzt die Alliierten zur Seite stehen. Die Russen sähen es am liebsten, wenn es uns nicht gäbe, wenn wir nie erschaffen worden wären. Als die Deutschen 1939 einmarschierten, haben sie als erstes unsere Professoren, Schriftsteller und Priester ermordet oder deportiert. Die Russen, die von ihrer Grenze her vorrückten, haben das gleiche getan, allerdings haben sie noch obendrein die polnischen Kommunisten, die bei ihnen Zuflucht gesucht hatten, an die Gestapo ausgeliefert. Sie wollten nicht, daß Polen eine Seele hat, weder die einen noch die anderen. Sie wollten es nicht, als sie verbündet waren, und wollen es auch jetzt nicht, wo sie Feinde sind. Die Russen waren froh, daß der Aufstand von Warschau fehlschlug und daß die Deutschen mit den Aufständischen aufräumten: während wir umkamen, standen sie am anderen Flußufer und warteten.« Dov griff ein: »Leutnant, ich bin Russe; Jude, aber Russe. Viele von uns sind in Rußland geboren, und der große junge Mann, den du da hinten siehst, das ist ein russischer Christ, der uns auf unserem Weg folgt. Der hier – und dabei deutete er auf Mendel – und viele unserer Gefallenen waren Soldaten der Roten Armee: ich auch. Bevor wir unsere Reise antraten, haben wir in erster Linie als Russen, nicht als Juden gekämpft, als Russen und für die Russen. Sie sind es, die Europa befreien, und sie zahlen dafür mit ihrem Blut, Millionen von ihnen sind gefallen, und was du 361
erzählst, kommt mir ungerecht vor. Ich selbst bin, als ich erschöpft und verwundet war, in Kiew behandelt worden, und dann haben mich die Russen zu meinen Genossen zurückgebracht.« »Die Russen werden die Nazis aus unserem Land vertreiben«, sagte Edek, »aber sie selbst werden nicht gehen. Man sollte Wunsch und Wirklichkeit nicht miteinander verwechseln. Stalins Rußland und das Rußland des Zaren – das ist ein und dasselbe: es will ein russisches, kein polnisches Polen. Deshalb ist unser Kampf so aussichtslos: wir müssen uns selbst und die Bevölkerung gegen die Nazis verteidigen, müssen uns aber auch nach rückwärts verteidigen, denn die siegreichen Russen wollen von der Armia Krajowa nichts wissen. Wenn sie uns aufgreifen, gliedern sie uns einzeln ihren Verbänden ein. Und wenn wir uns weigern, entwaffnen sie uns und deportieren uns nach Sibirien.« »Und warum weigert ihr euch?« fragte Dov. »Weil wir Polen sind. Weil wir der Welt beweisen wollen, daß es uns noch gibt. Und wenn nötig, beweisen wir es durch unseren Tod.« Mendel und Dov wechselten rasch einen Blick. Beiden war der Satz in Erinnerung gekommen, den Dov Mendel in Nowoselki mitten in der Schlacht zugerufen hatte: »Wir kämpfen für drei Zeilen in den Geschichtsbüchern.« Mendel erzählte Edek die Begebenheit, und Edeks Antwort war: »Es wäre töricht, wenn wir uns als Feinde aufspielten.« 362
Ein paar Tage vergingen, während derer Edek vergeblich versuchte, Verbindung zu seinen Vorgesetzten aufzunehmen und zu erfahren, wie er sich zu verhalten habe. Die Polen hatten zwar ein modernes, leistungsstarkes Funkgerät, benützten es aber kaum. Seit dem Zusammenbruch von Warschau war die Armia Krajowa in eine moralische Krise geraten, die wenig oder nichts mit Versorgungsschwierigkeiten zu tun hatte. Die Gruppen verloren den Kontakt zueinander, viele der Gruppenführer waren gefallen oder von den Russen gefangengenommen worden. Endlich kam ein Kurier zurück, und mit einem schmalen Lächeln verkündete Edek Gedale: »Alles in Ordnung. Ihr seid nicht Gefangene, sondern Gäste hier. Und bald könnt ihr auch Verbündete sein, vorausgesetzt, ihr wollt das.« Edek war Medizinstudent und dreiundzwanzig Jahre alt. Er war gerade im ersten Semester immatrikuliert gewesen, als die Deutschen das gesamte akademische Corps zusammenriefen. Einige der Dozenten hatten gleich begriffen, daß das eine Falle war, und waren nicht erschienen. Die anderen waren alle sofort nach Sachsenhausen deportiert worden. »Da haben wir, Professoren und Studenten gemeinsam, angefangen, eine geheime Universität aufzubauen, weil wir nicht zulassen wollten, daß die polnische Kultur zugrunde ging. Ebenso hatten wir damals eine geheime Regierung, Kirche und eine geheime Armee: ganz Polen lebte in jenen Jahren im Untergrund. Ich studierte und arbeitete gleichzeitig 363
in einer illegalen Druckerei. Aber auch zum Studieren mußte ich mich verstecken. Hitler und Himmler hatten verfügt, daß für die Polen vier Jahre Volksschule reichten, daß es schon mehr als genug sei, wenn sie bis 500 zählen und ihren Namen schreiben könnten. Lesen und schreiben zu können galt als überflüssig, ja schädlich. Anatomie und Physiologie haben meine Kommilitonen und ich aus den Lehrbüchern gelernt, ohne je auch nur von weitem ein Mikroskop zu sehen, ohne jede Leichensektion und ohne je einen Fuß in ein Krankenhaus gesetzt zu haben. Aber im August, da war auch ich in Warschau, und da hab ich mehr Verwundete, Kranke und Tote auf einmal gesehen, als ein Feldarzt im Verlauf seiner ganzen Karriere.« »Nicht schlecht«, sagte Gedale zu ihm, »da hast du die Praxis vor der Theorie gelernt. Auch laufen und sprechen lernt man schließlich auch nur in der Praxis, stimmt’s? Der Frieden wird kommen, und du wirst ein berühmter Arzt werden, da bin ich ganz sicher.« Die aufdringliche Zuneigung, die Gedale allen Menschen gegenüber an den Tag legte, schien im Falle Edeks verzehnfacht. Mendel fragte ihn nach dem Grund, und Gedale meinte, er wisse es nicht. Dann überlegte er es sich aber: »Vielleicht wegen der Seltenheit. Ich bin schon lange niemandem mehr begegnet, der wie er mit Krawatte und mit dem Bleistift in der Tasche herumläuft. In den Wäldern gab es solche Leute nicht.« »Edek hat aber doch keine Krawatte um!« 364
»Geistig ja: er macht alles so, als hätte er wirklich eine um.« Die langen, verregneten Abende der Wartezeit brachten sie mit Erzählen und Rauchen hin, manchmal spielte Gedale auch Geige. Im Lager der Polen durfte nicht getrunken werden: Edek war als Kommandant vernünftig und human, in einigen Punkten aber war er unnachgiebig und hatte eine Reihe kleiner Ticks. Vor einigen Monaten hatte einer seiner Soldaten in betrunkenem Zustand eine Schlägerei provoziert, und seitdem hatte Edek ein Alkoholverbot verhängt, und er bestand mit puritanischer Strenge auf seiner Einhaltung. Er hatte Gedale gebeten, bei seinen Leuten dieses Verbot ebenso durchzusetzen, damit sie kein schlechtes Beispiel gäben, und nur widerstrebend hatte Gedale eingewilligt. Auch hatte Edek große Angst vor Hunden. Selbst von den armen beiden Hunden der Gedalisten, die sie durch die Minenfelder von Turow geführt hatten und jedes einzelne Gruppenmitglied kannten, wollte er nichts wissen. Unter dem Vorwand, ihr nächtliches Gebell könnte die Position des Lagers verraten, hatte er sie in einem nahegelegenen Dorf verkaufen lassen, und Gedales Einwände waren alle vergeblich gewesen. Edek war eher zurückhaltend und stellte wenige Fragen, aber die Gedalisten und insbesondere Gedales Geschichte erweckten doch seine Neugier. »Ha ha, wer weiß, was für ein berühmter Violinist ich hätte werden können«, sagte Gedale lachend. 365
»Mein Vater bestand darauf: eine Geige, sagte er, ist leichtes Gepäck, und was auch passiert, du kannst sie immer und überall mitnehmen; Talent ist noch leichteres Gepäck, und man zahlt keinen Zoll dafür. Geh in die Welt, gib Konzerte und verdien Geld. Womöglich wirst du dann auch Amerikaner, wie Jascha Heifetz. Spielen mochte ich gern, lernen und üben gar nicht. Anstatt in die Musikstunde, ging ich im Winter Schlittschuh laufen und im Sommer schwimmen. Mein Vater war ein kleiner Geschäftsmann, ’23 hat er Bankrott gemacht, da hat er angefangen zu trinken und ist gestorben, als ich gerade zwölf war. Wir hatten kein Geld, und meine Mutter hat mich in eine Lehre gesteckt. Ich wurde Verkäufer in einem Schuhgeschäft, Geige hab ich weiterhin gespielt, nur so zum Trost, wenn ich den ganzen Tag über die Füße der Kunden in Händen gehalten hatte. Ich schrieb auch Gedichte, sie waren traurig und nicht mal besonders schön. Ich widmete sie den Kundinnen mit zierlichen Füßen, hab sie aber alle verloren. Das Geigenspiel hat mir immer Gesellschaft geleistet. Ich spielte, anstatt zu denken, ja, ich muß gestehen: Denken war nie meine starke Seite. Ich meine, so richtig ernsthaft denken, aus den Voraussetzungen seine Schlüsse ziehen, und so. Das Geigenspiel war meine Art zu denken, auch jetzt noch, wo ich ein ganz anderes Handwerk betreibe; die besten Ideen kommen mir, wenn ich Geige spiele.« »Die Idee mit den Kürbissen zum Beispiel?« fragte Edek. 366
»Aber nein«, erwiderte Gedale voller Bescheidenheit. »Die Idee mit den Kürbissen ist mir gekommen, als ich die Kürbisse sah.« »Und wie bist du auf die Idee gekommen, das Metier zu wechseln?« »Die kam vom Himmel: eine Klosterschwester hat sie mir eingegeben.« Während er sprach, hatte Gedale die Geige zur Hand genommen, und ohne sie eigentlich zu spielen, berührte er nur zärtlich mit dem Bogen die Saiten und entlockte ihnen hier und da unbestimmte, leise Töne. »Eine Schwester, ja. Als die Deutschen nach Bialystok kamen, gelang es meiner Mutter, in einem Kloster Unterschlupf zu finden. Anfangs war ich dagegen, mich einsperren zu lassen, ich hatte ein Mädchen, und wir schliefen jede Nacht woanders. Damals war ich vierundzwanzig, aber ich lebte wie im Schlaf, von einem Tag auf den anderen wie ein Tier. Über gar nichts war ich mir im klaren, weder über die Gefahr, noch über meine Pflicht. Dann haben die Deutschen die Juden ins Getto gesperrt. Meine Mutter ließ mir sagen, daß sie im Kloster auch mich aufnehmen würden, und ich bin hingegangen. Meine Mutter war Russin, eine starke Frau, die zu befehlen wußte, und ich mochte es, daß sie mir befahl. Nein, zu verkleiden brauchte ich mich nicht, die Schwestern hatten mich in einem Verschlag unter einer Treppe untergebracht. Sie haben auch nicht versucht, mich zu taufen, sie hatten uns aus 367
Mitleid aufgenommen, ohne Hintergedanken und auf ihr eigenes Risiko. Sie brachten mir zu essen, und ich fühlte mich wohl in dem Kloster: ich war kein Kämpfer, ich war ein vierundzwanzigjähriges Kind, gut zum Schuhe verkaufen und Geige spielen. Ich wär auch bis zum Ende des Krieges in meinem Verschlag geblieben. Der Krieg war nicht meine Angelegenheit, war Sache der Deutschen und der Russen, für mich war er wie ein Orkan, wenn ein Orkan kommt, sucht jeder vernünftige Mensch sich einen sicheren Unterschlupf. Die Schwester, die mir zu essen brachte, war jung und fröhlich, wie halt Schwestern so fröhlich sind. Eines Tages, es war im März ’43, hat sie mir, zusammen mit dem Brot, einen Zettel zugesteckt. Er kam aus dem Getto, war in Jiddisch und von einem Freund von mir unterschrieben, und lautete: ›Komm zu uns. Dein Platz ist hier.‹ Die Deutschen hätten angefangen, die Kinder und Kranken aus dem Getto nach Treblinka zu deportieren, hieß es da, und bald würden sie alle liquidieren, und man müsse sich zum Widerstand rüsten. Die Schwester schaute mir mit sehr ernstem Gesicht beim Lesen zu, woraus ich schloß, daß sie wußte, was da geschrieben stand. Dann fragte sie mich, ob ich antworten wolle, und ich sagte ihr, das müsse ich mir noch überlegen, und am nächsten Tag hab ich sie gefragt, wie sie an den Zettel gekommen sei. Sie erklärte mir, im Getto gäbe es eine Reihe getaufter Juden, und die Schwestern hätten die Erlaubnis erhalten, ihnen Medikamente 368
zu bringen. Ich hab ihr gesagt, ich sei bereit zu gehen, und sie sagte, ich solle bis zur Nacht warten. Vor der Frühmesse ist sie dann gekommen und hat gesagt, ich solle ihr folgen. Sie hat mich in eine Abstellkammer gebracht, hatte eine Laterne bei sich, die sie mir in die Hand drückte, damit ich sie hielte, und dann sagte sie: ›Drehen Sie sich um, Panje!‹ Ich hörte ihre Gewänder rascheln, und mir kamen profane Gedanken. Aber dann hat sie mir erlaubt, mich umzudrehen, und hielt mir zwei Pistolen hin. Sie hat mir die Kontaktadressen gegeben, um ins Getto zu kommen, und mir viel Glück gewünscht. Nur wenige der jungen Leute im Getto waren bewaffnet, aber sie waren zu allem entschlossen. Wie ein Gewehr aussieht, wußten sie aus Enzyklopädien, und schießen hatten sie vor Ort gelernt. Acht Tage lang haben wir gemeinsam gekämpft. Zweihundert waren wir, fast alle sind gefallen. Ich und weitere fünf, wir haben uns bis Kossowo durchgeschlagen und uns den Aufständischen des dortigen Gettos angeschlossen.« Nach und nach war das Grüppchen um Edek und Gedale größer geworden; nicht nur die Polen, sondern auch die Juden hatten der Erzählung zugehört, denn nicht alle kannten die Geschichte. Als Gedale geendet hatte, streckte Edek die Beine, richtete sich auf seinem Schemel auf, fuhr sich durch die Haare, strich sich über den Knien die Hosen glatt und fragte dann förmlich: »Und wie sind eure politischen Ansichten?« 369
Gedale entlockte der Geige so etwas wie ein Gelächter: »Sprenkelig, bunt und gefleckt wie die Schafe Labans.« Er sah sich um. Rings um den Tisch im fahlen Karbidlicht saßen, zwischen die breiten, blonden Gesichter der Polen eingestreut, seine Leute, und mit dem Finger wies er Edek auf jeden einzelnen hin: da war Ariés kaukasischer Schnurrbart, Dovs weiße, glatt gekämmte Mähne, Jozek mit seinen schlauen Augen, Lines schmale, gespannte Gestalt, Mendels müdes, gezeichnetes Gesicht, Pavel halb Schamane und halb Gladiator, die rohen Gesichter der Männer aus Ruzany und Blizna, Isidor und die beiden Rokhele, die vor Müdigkeit fast umfielen: »Siehst du, auch wir sind recht gemischte Ware.« Dann griff er wieder zur Geige und fuhr fort: »Spaß beiseite, Leutnant, ich verstehe, warum du fragst, aber die Antwort bringt mich in Verlegenheit. Wir sind nicht orthodox, sind weder durch eine Regel noch durch einen Eid gebunden. Keiner von uns hat viel Zeit gehabt zum Nachdenken oder dazu, seine Ideen zu klären. Ein jeder von uns hat eine grauenvolle Vergangenheit hinter sich, und jeder seine eigene. Diejenigen unter uns, die in Rußland geboren sind, haben den Kommunismus gleichsam mit der Muttermilch eingesogen. Ja, ihre Väter und Mütter waren es, die sie zu Bolschewiken gemacht haben, weil die Oktoberrevolution die Juden emanzipiert und freie Bürger mit allen Rechten aus ihnen 370
gemacht hatte. Auf ihre Weise sind sie Kommunisten geblieben, aber für Stalin hat keiner von uns mehr was übrig, seit er den Pakt mit Hitler geschlossen hat. Und im übrigen hat Stalin uns auch nie besonders gemocht. Was mich angeht und alle anderen, die aus Polen gebürtig sind, nun, wir haben die verschiedensten Ideen, aber eines haben wir gemeinsam, unter uns und auch mit den russischen Juden. Alle, der eine mehr, der andere weniger, haben wir uns früher oder später als Fremde gefühlt im eigenen Land. Alle haben wir uns nach einer anderen Heimat gesehnt, wo wir leben könnten, wie alle anderen Völker auch, ohne uns als Eindringlinge fühlen zu müssen und ohne daß man wie auf Fremde mit dem Finger auf uns zeigt, aber keiner von uns wäre auf die Idee gekommen, ein Stück Erde einzuzäunen und zu sagen: ›Dies ist mein Eigentum!‹ Es liegt uns nichts daran, Eigentümer zu werden. Wir wollen den unfruchtbaren Boden Palästinas fruchtbar machen, wollen Orangen- und Olivenbäume pflanzen in der Wüste und machen, daß sie Früchte tragen. Stalins Kolchosen wollen wir nicht: wir wollen eine Gemeinschaft, in der alle frei und gleich sind, ohne Zwang und ohne Gewalt; wo man tagsüber arbeiten und abends Geige spielen kann; wo es kein Geld gibt, sondern wo jeder seinen Fähigkeiten gemäß arbeitet und jeder empfängt seinen Bedürfnissen gemäß. Das mag als ein Traum erscheinen, ist es aber nicht: diese Welt ist schon geschaffen worden, diejenigen unserer Brüder, die mehr Mut und mehr Weitblick 371
hatten als wir, sie sind dorthin ausgewandert und haben sie geschaffen, bevor Europa ein einziges Lager wurde. In diesem Sinn kannst du uns Sozialisten nennen, aber Partisanen sind wir nicht unserer politischen Ideen wegen geworden. Wir kämpfen, um uns vor den Deutschen zu retten, um uns zu rächen, uns den Weg freizukämpfen, vor allem aber, verzeih das große Wort, unserer Würde wegen. Und schließlich muß ich dir sagen: viele von uns haben vorher noch nie den Geschmack der Freiheit gekostet, haben ihn erst hier, in den Wäldern und Sümpfen und in der Gefahr, kennengelernt, zusammen mit dem Abenteuer und dem Gefühl der Solidarität.« »Und zu denen gehörst du, nicht wahr?« »Ja, ich gehöre dazu, und ich bereue nichts und trauere nichts nach, nicht einmal den Freunden, die ich habe sterben sehen. Hätte ich nicht dieses Handwerk gefunden, wär ich wohl ein Kind geblieben. Jetzt wäre ich ein siebenundzwanzigjähriges Kind, und am Ende des Krieges, wenn ich ihn überlebt hätte, hätte ich wohl wieder angefangen, Gedichte zu schreiben und Schuhe zu verkaufen.« »Oder du wärst ein berühmter Geiger geworden.« »Schwerlich«, sagte Gedale. »Aus einem Kind wird kein Geiger, und wenn doch, dann bleibt es ein geigenspielendes, virtuoses Kind.« Der dreiundzwanzigjährige Edek schaute dem siebenundzwanzigjährigen Gedale voller Ernst ins Gesicht: 372
»Bist du sicher, daß du nicht ein bißchen Kind geblieben bist?« Gedale legte die Geige beiseite: »Nicht immer. Nur wenn ich will. Hier nicht.« »Von wem bekommt ihr eure Befehle?« fragte Edek noch. »Wir sind als Gruppe autonom, aber wir folgen den Anweisungen der Jüdischen Kampforganisation, soweit wir die Kontakte aufrechterhalten können, und unsere Anweisungen lauten so: die deutschen Verbindungswege sabotieren, die für die Massaker verantwortlichen Nazis erschießen, nach Westen ziehen und den Kontakt mit den Russen vermeiden, denn bisher haben sie uns geholfen, es ist aber nicht klar, was sie in Zukunft mit uns vorhaben.« Edek sagte: »Uns ist das recht so.« Der Krieg schien weit entfernt. Mehrere Wochen hindurch hatte es ohne Unterbrechung geregnet, und das Lager der Polen war vom Schlamm eingekreist. Auch an der Front schien alles ruhig. Kein Dröhnen der Artillerie war mehr zu hören, und auch das Brummen der Flugzeuge wurde seltener: unbekannte Flugzeuge, unwirklich und unklar, ob Freund oder Feind, zogen unsichtbar über den Wolken ihre unerforschliche Bahn. Abwürfe hatten keine mehr stattgefunden, und die Lebensmittel begannen knapp zu werden. In den ersten Novembertagen hörte es auf zu regnen, und kurz darauf erhielt Edek eine Funknach373
richt. Es war ein dringender SOS-Ruf, und er kam von der Kommandozentrale: auf den Bergen vom Heiligen Kreuz, achtzig Kilometer nordöstlich, war eine Kompanie der Armia Krajowa von der Wehrmacht eingekesselt worden und befand sich in einer ausweglosen Situation. Man mußte sofort aufbrechen und ihnen Hilfe bringen. Edek befahl siebzig von seinen Männern, sich bereit zu machen. Und so, wie vor einem endlos langen Jahr Gedale Dov zu einer sinistren Jagdpartie eingeladen hatte, so lud nun Edek Gedale und die Seinen zur Teilnahme an der Expedition ein. Gedale sagte sofort zu, aber nur unwillig: es war das erste Mal, daß man von seinen Leuten verlangte, sie sollten auf offenem Feld gegen die Deutschen kämpfen, keine isolierte Garnison angreifen wie im April in Ljuban, sondern die deutsche Infanterie und Artillerie mit ihrer Erfahrung und vorbildlichen Organisation. Allerdings hatten sie auch bei Ljuban nicht wenige Verluste gehabt, und andererseits waren sie diesmal nicht allein: Edeks Polen waren entschlossen, gut bewaffnet und von einem Haß auf die Deutschen beseelt, der selbst den der Juden noch übertraf. Gedale wählte zwanzig von seinen Leuten aus, und die gemischte Mannschaft machte sich unverzüglich auf den Weg. Die Felder waren vom Regen aufgeweicht, Edek hatte es eilig und schlug den kürzesten Weg ein: sie marschierten an der Eisenbahnlinie entlang, in Dreierreihen über die Holzschwellen, von Sonnenuntergang bis zum Morgengrauen und 374
manchmal auch länger. Keine Schutzpatrouillen flankierten die Kolonne, keine Nachhut folgte ihr; die Vorhut bestand nur aus sechs Männern, darunter Mendel und Edek selbst. Mendel war erstaunt über die Kühnheit der Aktion, aber Edek beruhigte ihn: er kannte die Gegend, die Bauern würden sie nicht denunzieren, sie standen auf seiten der Partisanen, und alle anderen fürchteten ihre Repressalien. Am 16. November kamen sie in die unmittelbare Nähe von Kielce: in Kielce gab es eine deutsche Kaserne voller ukrainischer Hilfstruppen, und Edek mußte den Ort umgehen, was kostbare Zeit raubte. Unmittelbar hinter dem Ort begann das Hügelland: düster und bewaldet tauchten die Hügel auf, eingehüllt in die Nebelstreifen, die langsam mit dem Wind dahinsegelten und sich in den Spitzen der Tannen verfransten. Nach Edeks Informationen mußte das Schlachtfeld ganz in der Nähe sein, in der Talsenke zwischen Gorno und Bielny, aber von einer Schlacht war keine Spur. Edek ordnete an, sie sollten alle ein paar Stunden ausruhen, bis das Tageslicht ihnen zu Hilfe käme. Im ersten Morgengrauen war der Nebel noch dichter geworden. Man hörte vereinzelte Schüsse, kurze MG-Salven, dann Stille und in die Stille hinein die Stimme eines Lautsprechers. Man verstand kaum etwas, die Worte drangen nur fetzenweise bis zu ihnen, je nach Laune des Windes: es waren Worte auf polnisch, und die Deutschen forderten damit die Polen zur Kapitulation auf. Dann fielen wieder, 375
schwach und vereinzelt, ein paar Schüsse. Edek gab Befehl zum Vorrücken. Ungefähr auf halber Höhe des Abhangs bezogen alle hinter Sträuchern und Bäumen Stellung und eröffneten das Feuer in der Richtung, in der sie die Deutschen vermuteten. Sie schossen blindlings. Der Nebel war so dicht, daß es im Grunde überflüssig war, sich in Deckung zu bringen, aber gerade diese Art Vorhang, der sie einhüllte und ihnen auf eine Entfernung von mehr als zwanzig Metern die Sicht nahm, verschärfte auch das Gefühl der Gefahr: der Angriff konnte von allen Seiten kommen. Die Reaktion der Deutschen war wütend, aber kurz und schlecht koordiniert; ein schweres MG eröffnete das Feuer, ein zweites kam dazu, beide befanden sich links von Edeks Einheit. Mendel sah, wie die Rinde der Bäume vor ihm zersplitterte, suchte Deckung und schoß mit der Parabellumpistole in die Richtung, aus der die Salven zu kommen schienen. Edek befahl eine zweite, verlängerte Salve, wahrscheinlich wollte er bei den Deutschen den Eindruck erwecken, die neu eingetroffene Einheit sei stärker, als sie in Wirklichkeit war, aber das war vergeudete Munition. Nach ein paar Minuten hörten sie die Explosionsschläge der Artillerie, auch die kamen von weitem und von links, und wenige Sekunden später die Einschläge der Granaten, die ziemlich willkürlich vor und hinter ihnen auftrafen. Dann kamen einige näher, eine schlug nicht weit entfernt von Mendel ein, bohrte sich aber bloß in den aufgeweichten Boden, ohne zu explo376
dieren. Eine andere fiel rechts von ihm, und durch den Nebelschleier sah Mendel die Stichflamme. Er lief hinzu und fand Marian, Edeks Stellvertreter zur Stelle. Die Granate hatte ein Bäumchen abgeschlagen, und im aufgewühlten Erdreich lagen zwei Polen tot. »Sie schießen nicht von oben«, sagte Marian. »Sie sind auf der Straße nach Gorno. Es können nicht viele sein.« Mit einem Mal wurde das Bombardement eingestellt, keine weiteren Schüsse folgten mehr, und gegen zehn hörten sie gedämpften Motorenlärm. »Sie ziehen ab«, sagte Marian. »Vielleicht halten sie uns für stärker, als wir sind«, meinte Mendel. »Das glaube ich nicht. Aber den Nebel mögen sie auch nicht.« Das Brummen der deutschen Fahrzeuge wurde leiser, bis es gänzlich verschwand. Edek befahl, geräuschlos vorzurücken. Von einem Baumstamm zum nächsten arbeiteten sich die Männer den Hügel hinauf, ohne auf Widerstand oder irgendein Lebenszeichen zu stoßen. Etwas weiter oben wurden die Bäume lichter, dann verschwanden sie ganz. Auch der Nebel hatte sich gehoben und gab nun den Blick auf das Schlachtfeld frei. Die Kuppe des Hügels war von ödem Heideland bedeckt, durchzogen nur von schmalen Stegen und einem einzigen Fahrweg, der zu einem massiven Bau führte, vermutlich einer ehemaligen Festung. Das Gelände war mit Toten 377
übersät, einige waren schon kalt und steif, die meisten mit grauenhaften Wunden, verstümmelt und zerfetzt. Es waren nicht nur Polen von der Armia Krajowa, eine ganze Gruppe russischer Partisanen war darunter, die sich allem Anschein nach bis zum Letzten verteidigt hatte, andere Tote am Rande des Schlachtfelds waren von der Wehrmacht. »Sie sind alle tot. Ich versteh nicht, wem sie noch den Befehl zur Kapitulation gegeben haben«, sagte Gedale, und unwillkürlich hatte er wie in der Kirche seine Stimme gesenkt. »Ich weiß nicht«, antwortete Edek. »Wahrscheinlich waren die Schüsse, die wir bei unserer Ankunft gehört haben, von den letzten Überlebenden.« Mendel sagte: »Vorhin war der Nebel sehr dicht, und so befahlen sie den Toten, sich zu ergeben.« »Wahrscheinlich kam die Rede aus dem Lautsprecher von einer Platte«, meinte Marian. »Die Deutschen haben das schon öfter so gemacht.« Sie durchstreiften das Gelände und untersuchten jeden einzelnen Körper: vielleicht war ja noch jemand am Leben. Niemand war mehr am Leben. Einige der Toten trugen an der Schläfe oder im Nacken das Zeichen des Gnadenschusses. Auch in der Festung gab es nur Tote, Russen und Polen, ein großer Teil hatte sich in dem Turm verbarrikadiert, der von einer Kanonenkugel zertrümmert worden war. Es fiel ihnen auf, daß einige der Leichen extrem mager waren. »Dann stimmte das Gerücht also«, sagte Marian. 378
»Welches Gerücht?« fragte Mendel. »Daß auf den Bergen vom Heiligen Kreuz ein Gefängnis war, und daß die Deutschen die Gefangenen verhungern ließen.« Tatsächlich fanden sie in den Kellergewölben der Festung Gänge und Zellen, deren Holztüren eingeschlagen worden waren. An einer Wand fand Mendel Worte, die dort mit Kohle hingekritzelt waren, und er rief Edek herbei, damit er sie ihm entzifferte. »Das sind drei Zeilen von einem unserer Dichter«, sagte Edek, »und sie bedeuten: Maria, komm nicht in Polen nieder willst du nicht deinen Sohn neugeboren kaum, ans Kreuz geschlagen sehn.« »Wann hat dieser Dichter geschrieben?« fragte Gedale. »Weiß ich nicht. Aber in unserem Land kann es jedes Jahrhundert gewesen sein.« Mendel schwieg und fühlte, wie formlose und wirre Gedanken auf ihn einstürmten. Also nicht nur wir. Das Meer des Schmerzes, es ist uferlos, bodenlos, unermeßlich. Da sind sie, die Polen, die Fanatiker des Kreuzes, die unsere Väter erstachen und nach Rußland zogen, um die Revolution zu ersticken. Auch Edek ist Pole. Und jetzt kommen sie um wie wir, gemeinsam mit uns. Sie haben ihre Schuld gebüßt, bist du nicht froh? Nein, froh bin ich nicht, die Schuld ist nicht kleiner geworden dadurch, sie ist 379
gewachsen, niemand wird sie je mehr tilgen können. Es soll keiner mehr sterben. Auch die Deutschen nicht? Ich weiß nicht. Darüber denk ich später nach, wenn alles vorbei ist. Die Deutschen umzubringen ist vielleicht wie ein chirurgischer Eingriff; einen Arm amputieren ist gräßlich, aber es muß sein und wird gemacht. Der Krieg soll aufhören, o Herr, an den ich nicht glaube. Wenn es dich gibt, dann laß den Krieg enden. Bald und überall. Hitler ist schon besiegt, diese Toten hier sind umsonst. Neben ihm stand Edek, mit den Füßen im Heidekraut, das von Blut und Regen aufgeschwollen war, aschfahl im Gesicht sah er ihn an. »Betest du, Jud?« fragte er ihn, aber in Edeks Mund hatte das Wort »Jud« keinen Stachel. Weil jeder eines anderen Jude ist, weil die Polen die Juden der Deutschen und der Russen sind. Weil Edek ein sanfter Mensch ist, der das Kämpfen lernen mußte. Er hat die gleiche Wahl getroffen wie ich und ist mein Bruder, auch wenn er Pole ist und studiert hat, und ich ein Russe vom Dorf bin und ein jüdischer Uhrmacher. Mendel antwortete nicht auf Edeks Frage, und Edek fuhr fort: »Du solltest beten. Auch ich sollte, und kann es nicht mehr. Ich glaube nicht, daß es was nützt, weder mir noch den anderen. Du wirst vielleicht überleben und ich werde sterben, dann erzähl, was du hier auf den Bergen vom Heiligen Kreuz gesehen hast. Versuch zu verstehen, und versuch so zu er380
zählen, daß auch die anderen verstehen. Die hier an unserer Seite umgekommen sind, das waren Russen; Russen sind aber auch die, die uns das Gewehr aus den Händen schlagen. Erzähl du, der du noch den Messias erwartest. Vielleicht kommt er ja für euch, für Polen ist er umsonst gekommen.« Es schien ganz so, als beantworte Edek die Fragen, die Mendel sich im Stillen vorlegte, als läse er auf dem Grund seines Gehirns, in jenem verborgenen Bett, wo die Gedanken entstehen. Aber so verwunderlich ist das nicht, dachte Mendel; zwei Uhren, auch wenn es verschiedene Marken sind, zeigen die gleiche Stunde, es genügt, daß sie gleichzeitig losgehen. Edek und Gedale machten Appell. Es fehlten vier Polen und einer der Juden, Jozek, der Fälscher. Gestorben war er nicht als Fälscher. Sie fanden ihn auf dem Grund eines Grabens mit zerfetztem Bauch: wahrscheinlich hatte er lange gerufen, und niemand hatte ihn gehört. Die Toten begraben? »Entweder alle oder keinen«, sagte Edek, »und alle ist unmöglich. Nehmen wir ihnen die Ausweise ab und die Kennmarke, soweit sie welche haben.« Ohne Ausweis waren die Leichen vieler Jungen, und Edek und Marian erkannten in ihnen Angehörige des polnischen Bauernbataillons. Schweigend und mit gesenkten Köpfen traten sie den Rückzug an, wie eine geschlagene Armee. Es bestand kein Grund mehr zur Eile, und sie zogen in lockerer Ordnung dahin, bei Nacht und über Felder und durch die 381
Wälder. Im Wald von Sobkow merkten sie, daß sie die Orientierung verloren hatten. Der einzige Kompaß der Abteilung war bei Zbigniew geblieben, einem der gefallenen Polen, keiner hatte daran gedacht, ihm das Gerät abzunehmen. Schweren Herzens beschloß Edek, den folgenden Morgen abzuwarten, dann auf einer der Pisten bis zu einem Dorf zu gehen, dort würden sie dann die Bauern nach dem Weg fragen. Aber in der nebeligen Morgendämmerung fand Arié zwischen den Wurzeln einer Esche einen halberfrorenen Vogel und sagte, der würde ihnen den Weg weisen. Er hob ihn auf, wärmte ihn an seiner Brust unter dem Hemd, gab ihm Brotkrümel, die er in seiner Spucke aufgeweicht hatte, und als der Vogel sich wieder regte, ließ er ihn fliegen. Der Vogel verschwand im Nebel; ohne zu zögern, hatte er eine ganz bestimmte Richtung eingeschlagen. »Ist das Süden?« fragte Marian. »Nein«, antwortete Arié, »das war ein Star, und wenn der Winter kommt, fliegen die Stare nach Westen.« »Ein Star möchte ich sein«, sagte Mottel. Ohne weitere Umwege kamen sie ins Lager, und Arié gewann an Ansehen. Es folgten Wochen der Tatenlosigkeit und voller Spannungen. Die Kälte hatte eingesetzt, der Schlamm war gefroren und dadurch fest geworden, auf sämtlichen Haupt- und Nebenstraßen zogen Konvois der Deutschen zur Front oder kehrten zurück in die Etappe. Motorisierte Einheiten der 382
Artillerie kamen vorbei, in Erwartung des Schnees schon in Weiß getarnte Panzer vom Typ ›Tiger‹, deutsche Truppen auf Lastwagen, ukrainische Hilfsmiliz auf Leiterwagen oder zu Fuß. In allen Dörfern gab es Zentralen der Militärpolizei und der Gestapo, und die Verbindungen zwischen den Partisanen wurden immer schwieriger. Die deutschen Streifen griffen alle jungen Leute auf und zwangen sie, Panzergräben und Schützengräben auszuheben oder Erdwälle aufzuwerfen. Die Staffeln, bestehend aus Männern und Frauen, wurden nur nachts verlegt. Die einzige Möglichkeit, die Edeks Einheit nun noch verblieb, um mit der Außenwelt Kontakt aufzunehmen, war das Feldradio, aber das schwieg oder verbreitete beunruhigende oder widersprüchliche Nachrichten. Radio London gab sich siegesgewiß und ironisch. Die Deutschen und die Japaner waren praktisch besiegt, so hieß es, gleichzeitig aber auch, die Deutschen hätten eine Großoffensive in den Ardennen gestartet. Wo mochten die Ardennen nun wieder sein? Fing alles noch einmal von vorne an, mit Deutschen, die Frankreich überschwemmen? Auch der deutsche Rundfunk war siegesgewiß, der Führer war unschlagbar, der Krieg fing jetzt erst richtig an, und Großdeutschland besaß neue Geheimwaffen, die absolut waren und gegen die jede Verteidigung unmöglich war. Weihnachten ging herum, Neujahr 1945 ging herum. Im Lager der Polen gediehen die beiden Hauptfeinde der Partisanen: Mutlosigkeit und Unsicher383
heit. Edek fühlte sich verlassen, er empfing weder Weisungen noch Informationen, er wußte nicht mehr, was um ihn herum vorging. Einige seiner Männer waren verschwunden, sie waren ganz einfach weggegangen ohne ein Wort, mit den Waffen oder ohne. Auch innerhalb des Lagers hatte die Disziplin nachgelassen. Bislang war es zwischen Polen und Juden noch nicht zu Reibereien gekommen, halb verschluckte Worte aber und schiefe Blicke ließen vermuten, daß sie unmittelbar bevorstanden. Entgegen Edeks Verbot war wieder Wodka im Lager aufgetaucht, zunächst heimlich, dann auch am hellichten Tag. Und Läuse hatten sich verbreitet, ein ganz schlechtes Zeichen. Sich gegen sie zu wehren war nicht leicht, denn Pulver und Medikamente gab es nicht, und Edek wußte auch nicht, wie er sie hätte beschaffen können. Marian, ein sanguinischer, stiernackiger Typ und ehemaliger Feldwebel der polnischen Armee, hielt eine öffentliche Lektion: auf einer Blechplatte zündete er in einer der Baracken ein kleines Holzfeuer an und führte vor, wie man die Kleider nur in einer bestimmten Entfernung vom Feuer zu halten brauchte, dann zerplatzten die Läuse, ohne daß das Gewebe beschädigt wurde. Aber es war ein Teufelskreis: die Läuse entstanden aus der Demoralisation, und waren sie erst einmal da, erzeugten sie weitere Demoralisation. Line entfernte sich von Mendel. Das war traurig, wie jede Entfernung, überraschte aber niemanden. Schon seit einiger Zeit hatte es in der Luft gelegen, 384
seit dem Angriff auf das Lager von Chmielnik. Mendel litt darunter, aber dieses Leiden war grau und stumpf, es fehlte ihm der Stachel der Verzweiflung. Line war nie sein gewesen, außer im Fleisch, noch war Mendel je der ihre gewesen. Sie hatten sich aneinander genug getan, oft und in wütender Lust, aber gesprochen hatten sie wenig miteinander, und fast jedesmal waren ihre Gespräche in Verständnislosigkeit oder Uneinigkeit versandet. Line kannte keine Zweifel, und sie ertrug Mendels Zweifel nicht. Wenn die auftauchten – und das geschah meist in den Augenblicken der Müdigkeit und der Wahrheit, wenn ihre Körper sich voneinander lösten –, dann verhärtete sich Line, und Mendel fürchtete sich dann vor ihr. Irgendwie schämte er sich auch vor sich selbst, und schwerlich liebt man eine Frau, die Furcht und Scham in einem erzeugt. Unbestimmt und dunkel fühlte Mendel, daß Line recht hatte. Nein, sie hatte nicht recht, sie war im Recht, war auf der Seite des Rechts. Wer Partisan ist, ob Jude, Russe oder Pole, wer kämpft, muß so sein wie Line, nicht wie Mendel. Er darf nicht zweifeln, der Zweifel legt sich aufs Visier des Gewehrs, und er läßt dich das Ziel verfehlen, schlimmer als die Angst. Das ist es ja: Line hat Leonid umgebracht, und es macht ihr nichts aus. Auch mich würde sie umbringen, wenn ich dünnhäutig wäre wie er; wenn ich nicht einen schwieligen, dicken Hautpanzer hätte, keinen schimmernden und klirrenden, sondern einen stumpfen, zähen Panzer aus Haut. Die Schläge treffen mich 385
wohl, aber nur dumpf, sie verbeulen, ohne zu verletzen. Und doch erweckte Line wieder sein Begehren, und es verletzte Mendel, als er erfuhr, sie sei nun Marians Frau. Verletzt war er und beleidigt zugleich, erfüllt von hämischer Befriedigung und heuchlerischer Empörung. Eine schikse also, eine, die’s mit allen treibt, sogar mit den Polen. Schäm dich, Mendel, dazu bist du nun wirklich nicht Partisan geworden! Ein Pole ist genausoviel wert wie du, vielleicht sogar mehr, wenn Line ihm den Vorzug gegeben hat. Rivke hätte das nicht getan. Natürlich nicht, sie hätte das nicht getan, aber Rivke ist nicht mehr, Rivke liegt in Strelka unter einem Meter Kalk und einem Meter Erde, Rivke ist nicht von dieser Welt. Sie gehörte zur Ordnung, zu der Welt, in der zur rechten Zeit das Rechte geschieht: sie kochte, hielt das Haus sauber, denn damals lebten Mann und Frau gemeinsam in einem Haus. Sie führte Buch, auch in meinen Geschäften, sie sprach mir Mut zu, wenn ich es brauchte. Sogar an dem Tag, als der Krieg ausbrach und ich an die Front ging, hat sie mir Mut gemacht. Sie wusch sich nicht allzuoft, die modernen Mädchen von Strelka wuschen sich viel häufiger, sie wusch sich einmal im Monat, wie es Vorschrift ist, aber wir waren ein Fleisch. Eine balebusteh war sie: Königin im Haus; sie kommandierte, und ich merkte es nicht. Mit müdem Blick sah Mendel andere Verbindungen im Lager entstehen, zerstreute und vergängliche Bindungen. Sissl und Arié, na gut, um so besser, 386
Glück und Fruchtbarkeit für sie. Hoffen wir bloß, daß er sie nicht schlägt, die Georgier schlagen ihre Frauen, und Arié ist mehr Georgier als Jude. Beide haben sie solide Knochen: werden sie schöne Kinder zeugen, gute chalutzim, brauchbare Bauern für Israels Erde, wenn wir je dahin kommen. Hoffen wir aber auch, daß keiner der Polen Sissl allzu genau anschaut, denn Arié ist schnell mit dem Messer dabei. Die schwarze Rokhele und Piotr. Gut auch für sie, es war ja schon eine Zeitlang, daß sich das anbahnte. Unter den Polen war Piotr einsamer als die Juden, und nichts ist besser gegen die Einsamkeit als eine Frau. Auch wenn’s nur eine halbe Frau ist; die Situation war nicht ganz klar, Mendel hatte aber keine Lust, da genauer nachzuforschen, es sah jedenfalls so aus, als schleppte Rokhele auch Mietek, den Funker, mit. Schade für Edek, er hätte mehr als alle anderen eine Frau gebraucht, oder doch wenigstens Gesellschaft, jemanden, der sein Leiden mit ihm teilte. Edek isolierte sich ganz im Gegenteil immer mehr, verkroch sich in sein Schneckenhaus und errichtete eine Mauer zwischen sich und der Welt. Bella und Gedale: über dieses Paar gab es nichts zu sagen. Sie waren schon seit jeher ein Paar, ein unglaublich stabiles Paar, ohne daß man verstanden hätte, warum. Gedale, der in Tat und Rede so freie Gedale schien fest mit Bella vertäut, wie ein Schiff vor der Mole. Bella war nicht schön, scheinbar um einiges älter als Gedale, sie kämpfte nicht, und bei den täglichen Verrichtungen der Bande half sie nur träge 387
und widerwillig mit und kritisierte, zu Recht oder Unrecht, alle, insbesondere die Frauen. Sie schleppte die zusammenhanglosen Versatzstücke ihres früheren bürgerlichen Lebens mit sich, von dem niemand etwas wußte, lächerliche Überbleibsel, die bloß lästig und im Wege waren, Gewohnheiten, auf die alle längst verzichtet hatten, auf die zu verzichten Bella aber nicht gewillt schien. Fast wie ein Ritual wiederholte sich häufig folgende Szene zwischen ihnen: wenn Gedale über einem Programm, einem Plan oder auch nur über einer phantastischen oder witzigen Rede in Schwung geriet und abhob, holte Bella ihn jedesmal mit einer vollkommen platten und vorhersehbaren Bemerkung zurück auf den Boden. Mit gespieltem Ärger, als gehorchten sie beide einer fixen Rollenverteilung, wandte Gedale sich dann an sie: »Bella, warum stutzt du mir die Flügel?« Nach fast achtmonatigem Zusammenleben und einer ganzen Reihe gemeinsamer Erlebnisse fragte Mendel sich immer noch, was Gedale wohl an Bella binden mochte. Andererseits war Gedale nicht nur in dieser Hinsicht schwer zu verstehen, auch sein Handeln war nie vorhersehbar. Vielleicht war sich Gedale bewußt, daß er keine Grenzen kannte, und suchte sie sich deshalb außerhalb, in einer anderen Person; vielleicht auch verkörperte Bella an seiner Seite für ihn die Qualitäten und Freuden der Friedenszeiten: Sicherheit, gesunden Menschenverstand, Wirtschaftlichkeit und Bequemlichkeit. Bescheidene und farblose Freuden freilich, denen alle, ob sie es wußten oder nicht, 388
nachtrauerten und hofften, sie irgendwann wiederzufinden, wenn die Massaker vorbei waren, am Ende ihres Weges. Gedale war unruhig, hatte aber nicht dem Sog der Mutlosigkeit nachgegeben, der von den Polen ausgehend nach und nach auch die Gedalisten erfaßt hatte. Mendel erinnerte er an den Star, den Arié gefunden hatte: wie der Vogel brannte er darauf weiterzuziehen. Er lief im Lager umher, setzte dem Funker zu, stritt mit Edek, mit Dov und Line, selbst mit Mendel. Er spielte noch Geige, aber nicht mehr mit Hingabe, manchmal gelangweilt, dann wieder hektisch. Weder unruhig noch mutlos war die weiße Rokhele: sie war nicht mehr allein. Seitdem die Bande im Lager der Polen ihr Asyl gefunden hatte, sah man sie kaum noch ohne Isidor. Anfangs hatte sich niemand darüber gewundert, Isidor stellte leicht etwas an oder beging irgendwelche Dummheiten, und da war es nur natürlich, daß die Weiße ihm gegenüber ein bißchen die Mutterrolle übernahm. Zuerst hatte sich ja Sissl um Isidor gekümmert, und eine Zeitlang war es auch zwischen den beiden Frauen zu einer Art Rivalität gekommen, aber jetzt hatte Sissl anderes im Kopf. Die Weiße ihrerseits schien es zu brauchen, daß man sie brauchte. Sie paßte auf den Jungen auf, achtete darauf, daß er sich warm anzog und sauberhielt, und wenn es nötig war, konnte sie ihn auch mit mütterlicher Autorität zurechtweisen. Seit den ersten Dezembertagen vollzog sich nun sowohl in den beiden als auch in ihren Beziehungen 389
zueinander eine schwer definierbare, aber doch für alle spürbare Wandlung. Isidor sprach weniger und vernünftiger; er schwadronierte nicht mehr von undurchführbaren Racheakten daher, trug kein Messer mehr im Gürtel und hatte Edek und Gedale gebeten, an den Schießübungen teilnehmen zu dürfen. Er schaute sich wacher und aufmerksamer um, versuchte sich nützlich zu machen, sein Gang war rascher und bestimmter geworden, und sogar in den Schultern schien er breiter. Er begann, Fragen zu stellen, wenige, aber die waren weder blöd noch kindisch. Rokhele hingegen schien zugleich gereift und verjüngt. Genauer gesagt: während sie vorher alterslos gewesen war, hatte sie jetzt plötzlich ein Alter. Mit Staunen und Freude konnte man beobachten, wie unter der Schicht von Trauer und Schüchternheit, die sie abgetötet hatten, von Tag zu Tag deutlicher ihre wahren siebenundzwanzig Jahre zum Vorschein kamen. Sie lief nun nicht mehr ständig mit niedergeschlagenen Augen umher, und alle wurden gewahr, daß sie sehr schöne Augen hatte: große, braune, warme Augen. Elegant war sie gewiß nicht – keine der fünf Frauen war es –, aber ein unförmiges Bündel war sie jetzt nicht mehr. Im Lampenschein sah man sie bei Näharbeiten. Die Militärkleidung, die sie monatelang achtlos getragen hatte, machte sie sich nun für ihre Größe zurecht. Auf einmal hatte nun auch die Weiße Haare, Beine, Brüste, kurz: einen Körper. Traf man die beiden gemeinsam, so ging Isidor nicht mehr hinter Rokhele, sondern an ihrer Seite. Er war 390
größer als sie, und kaum merklich neigte er den Kopf in Richtung der Frau, wie um sie zu schützen. Eines Abends, als Isidor Putzdienst hatte, nahm die Weiße Mendel beiseite: sie wolle allein mit ihm sprechen. »Was willst du, Rokhele? Was kann ich für dich tun?« fragte Mendel. »Du sollst uns verheiraten«, sagte die Weiße und wurde rot. Mendel riß den Mund auf und klappte ihn wieder zu, dann sagte er: »Ja was kommt denn dir in den Sinn? Ich bin kein Rabbiner und auch kein Bürgermeister; Ausweise habt ihr keine, ihr könntet ja schon verheiratet sein. Und Isidor ist erst siebzehn. Und hältst du das vielleicht für den geeigneten Moment zum Heiraten?« Die Weiße erwiderte: »Ich weiß schon, daß das nicht die Regel ist und daß es Schwierigkeiten gibt. Aber das Alter spielt keine Rolle: ein Mann darf schon mit dreizehn heiraten, so steht’s im Talmud. Und ich bin Witwe, das wissen doch alle.« Mendel war fassungslos: »Das ist doch Unsinn, eine narischkeit. Eine Flause, die dir morgen vergangen sein wird. Und warum kommst du denn ausgerechnet zu mir? Zu allem bin ich noch nicht einmal fromm. Das hat doch alles keinen Sinn, genausogut könntest du von mir verlangen, ich solle fliegen oder zaubern.« »Zu dir komme ich, weil du ein Gerechter bist und weil ich in der Sünde lebe.« 391
»Wenn du in Sünde lebst, da kann ich nichts machen, das geht nur euch beide etwas an. Und dann, meiner Meinung nach sind Sünden etwas anderes, als was ihr da tut; was die Deutschen anstellen, das ist Sünde. Und daß ich ein Gerechter bin, ist auch nicht gesagt.« Rokhele ließ nicht locker: »Das ist wie auf einem Schiff oder auf einer Insel: wenn kein Rabbiner da ist, dann kann ein jeder die Ehe schließen. Besser, wenn es ein Gerechter ist, aber es genügt irgendwer, ja, er muß es tun, das ist eine mitzva.« Mendel schöpfte aus dem Bestand jahrhundertealter, in ihm schlummernder Erinnerungen: »Damit die Ehe gültig ist, braucht man die ketubà, den Vertrag: du mußt dich verpflichten, Isidor eine Mitgift zu bringen, und er muß versichern, daß er dich erhalten kann. Isidor und dich erhalten! Das ist doch nicht dein Ernst?« »Die ketubà ist eine bloße Formalität, die Ehe aber ist eine ernste Angelegenheit. Und Isidor und ich, wir mögen uns sehr.« »Laß mir wenigstens bis morgen Zeit zum Nachdenken. Die Sache kostet mich weder Mühe noch Geld, aber das ganze kommt wir wie ein Betrug vor, so als würdest du sagen: ›Mendel, belüge mich‹, verstehst du? Und wenn ich dir deinen Willen tue, dann versündige ich mich. Kannst du denn nicht warten, bis der Krieg aus ist? Ihr könntet dann zu einem Rabbi gehen und alles ganz nach Vorschrift machen. Ich wüßte nicht einmal, welche Worte ich sagen soll. 392
Man muß sie auf hebräisch sprechen, nicht wahr? Und das Hebräische hab ich vergessen, und wenn ich mich dann vertu, dann glaubst du womöglich noch, du bist verheiratet, und in Wirklichkeit bist du ledig.« »Die Worte spreche ich dir vor, und es ist gleich, ob sie auf hebräisch sind oder nicht; alle Sprachen sind recht, der Herr versteht sie alle.« »Ich glaube nicht an den Herrn«, sagte Mendel. »Das macht nichts. Hauptsache, Isidor und ich glauben an ihn.« »Also wirklich, ich versteh nicht, warum ihr es so eilig habt.« Die weiße Rokhele sagte: »Ich bin schwanger.« Am nächsten Tag berichtete Mendel Gedale von der Unterredung und erwartete, daß Gedale in Gelächter ausbräche. Er blieb aber völlig ernst und meinte, Mendel müsse unbedingt annehmen: »Ich muß dir gestehen, daß ich an dieser Geschichte nicht ganz unschuldig bin. Isidor war noch nie bei einer Frau gewesen. Er hat es mir vor einiger Zeit schon gesagt, an dem Tag, in der Windmühle, als ich ihn ein bißchen hänselte. Ich sah, daß er darunter litt. Er erzählte mir, er hätte nie den Mut gehabt. Er war ja erst dreizehn, als er sich unter dem Stall verstecken mußte, dort ist er dann vier Jahre lang geblieben, und was ihm dann zugestoßen ist, weißt du ohnehin. ›Man muß ihm helfen‹, hab ich mir gedacht. Einerseits schien es mir eine mitzva, andererseits war ich gespannt, wie das Experiment ausgehen 393
würde. So hab ich also mit Rokhele darüber gesprochen, sie war auch allein geblieben, und ich hab ihr vorgeschlagen, sich um ihn zu kümmern. Nun, das hat sie getan. Ich hätte allerdings nicht gedacht, daß sich die Geschichte so rasch und so gut entwickeln würde.« »Bist du sicher, daß es eine gute Entwicklung ist?« »Ich weiß nicht, ich glaube aber ja. Mir scheint es ein gutes Zeichen, auch wenn beide nebechs sind, ja gerade weil sie nebechs sind.« Mendel traute Isidor und die Weiße, so gut er es verstand, und schämte sich dabei.
Zehntes Kapitel Januar – Februar 1945
Gedale sollte recht behalten: es war ein gutes Zeichen. Gemeinsam mit einigen Polen, die gebeten hatten, teilnehmen zu dürfen, feierten die Gedalisten Hochzeit. Zu essen gab es wenig, ging aber hoch her. Natürlich spielte Gedale Geige, die durfte selbst auf der bescheidensten Hochzeit nicht fehlen. Er hatte ein umfangreiches und vielfältiges Repertoire, das von der Kreutzer-Sonate bis zu den seichtesten Liedern reichte. Zu fortgeschrittener Stunde sang und spielte er das Lied vom Törichten Buben, die anderen sangen leise mit. Bestimmt wollte er nicht direkt auf Isidor anspielen, und wenn, dann war die Anspielung nicht bös gemeint, sondern ein harmloser, vielleicht etwas grober Scherz, wie es auf Hochzeiten so üblich ist. Wahrscheinlich war ihm das Lied nur so, per Assoziation, in den Sinn gekommen; im übrigen aber war es derart populär, daß ein Fest kein Fest war, wenn es nicht gesungen wurde. Auch das Lied selbst war töricht, gleichzeitig aber von einer ganz eigenen Zärtlichkeit durchzogen, wie von einem verdrehten Traum, der sich in der Wärme des großen Majolikaofens unter den rauchschwarzen Deckenbalken eines Holzhauses entfaltete, sacht und bebend wie eine Blume; und über der Decke stellte man sich dazu einen düstren, schneeverhangenen 395
Himmel vor, über den vielleicht ein silberner Fisch schwamm und eine weiß verschleierte Braut und ein grüner Ziegenbock mit dem Kopf nach unten. Töricht war der Junge des Liedes, der narische bucher, vor allem wegen seiner Unentschlossenheit. Eine ganze Nacht hindurch dachte er darüber nach, welches Mädchen er nun wählen sollte, denn er war ein gewissenhafter bucher und wußte, daß er mit der Entscheidung für ein Mädchen alle anderen zurücksetzte. Wie es zur Wahl kam, wurde nicht gesagt, aber dann legte der Junge dem meidele – eine ganze Nacht hindurch? – absurde und gleichzeitig rührende Fragen vor: Welches ist der König ohne Land? Welches Wasser führt keinen Sand? Was ist schneller als die Maus, und was höher als ein Haus? Und schließlich: Was brennt ohne Flamme, und was weint ohne Tränen? Das waren keine sinnlosen Rätsel, sie hatten ihre eigene Logik, denn auf diesen verschlungenen Umwegen hatte der Schüchterne seine Erklärung vorgetragen, und das Mädchen hatte ihn verstanden. »Törichter Bub«, antwortete sie ihm melodisch, »der König ohne Land ist der Kartenkönig, und das Wasser ohne Sand ist das Wasser der Tränen. Schneller als die Maus ist die Katz, und höher als das Haus sein Kamin. Und brennen ohne Flamme kann die Liebe, und weinen ohne Tränen ein Herz.« Dieses abstrakte Wortgefecht ging jedoch nicht gut aus. Während der Junge sich noch quälte und fragte, ob sie denn nun wirklich das Mädchen seines 396
Herzens sei, kam ein anderer daher und nahm sie ihm kurzerhand weg. Es war wie Ferien für alle, Polen wie Juden: ein Moment lang Waffenstillstand, eine Entspannung von der Qual des Wartens. Sogar der ernste Edek klopfte mit den Knöcheln auf dem Blechnapf den Rhythmus mit, und die Polen sangen, auch wenn sie kein Jiddisch verstanden, doch im Chor den fast sinnlosen Kehrreim mit: Tumbala tùmbala tumbalalaika, Tumbala tùmbala tumbalalaika, Tumbalalaika, schpil balalaika, Tumbalalaika, frailech sol sain! Einige stampften mit den Füßen auf den Boden, andere schlugen mit den Händen auf den Tisch. Die dem Brautpaar am nächsten saßen, versetzten den beiden wohlmeinende Rippenstöße und stellten ihnen schlüpfrige Fragen. Schweißglänzend und hochrot im Gesicht von der Aufregung, schauten Isidor und Rokhele verlegen um sich. Erst einige und dann alle überließen sich dem hypnotischen Rhythmus des Liedes und begannen zu tanzen: sie hielten sich im Kreis bei den Händen, mit selbstvergessenem Lächeln warfen sie den Kopf nach rechts, nach links und in die Höh’ und schlugen mit den Füßen den Rhythmus: frailech sol sain, es herrsche die Fröhlichkeit. Dov war dabei mit seinen weißen Haaren, die schüchternen Brautleute selbst, 397
die allzu sichere Line auch, die Weber von Slonim mit ihren unbeholfenen Gesten, und Mottel der Halsabschneider auch. Es herrsche die Fröhlichkeit! In wenigen Minuten war der schmale Raum zwischen den Bänken und den Barackenwänden ganz von Tanz und Feststimmung erfüllt. Da bebte auf einmal die Erde, und alle hielten ein. Das war kein Erdbeben, das war eine Salve von schwerer Artillerie. Gleich darauf erfüllten Flugzeuggeschwader den nächtlichen Himmel mit ihrem Getöse. Es entstand ein großes Durcheinander, alle stürzten zu den Waffen, aber weder Edek noch Gedale wußten, was sie befehlen sollten. Dann hörte man Marian brüllen: »Nicht hinausgehen! Bleibt drinnen in Deckung!« Tatsächlich gewährten die Barackenwände aus groben Baumstämmen einen gewissen Schutz. Die Explosionen folgten dichter aufeinander, und der Lärm wurde ohrenbetäubend. Mendel horchte genau hin, seine Erfahrung als Artillerist sagte ihm, daß die Explosionsschläge von Osten kamen, und daß die Geschosse im Westen, in der Nähe von Zarnowiec einschlugen, heulend schossen sie über ihre Köpfe weg. Also war es eine russische Offensive, da bestand kein Zweifel, ein Angriff in großem Maßstab, wahrscheinlich der entscheidende. Durch das Getöse hindurch hörte man Dovs Stimme: »Das ist die Front! Die Front zieht über uns hinweg!« Im selben Moment stürzte Bogdan, der Pole, der draußen Wachdienst hatte, in die Baracke. Er 398
stieß dabei einen schlammbesudelten, in einen langen, zerrissenen Überrock gewickelten Mann mit Stoppelbart vor sich her. »Schaut ihr mal zu, was das hier für einer ist«, sagte er zu Edek und Marian, aber die beiden überhörten ihn, sie diskutierten heftigst miteinander und mit anderen Polen, die um sie herumstanden. Bogdan wiederholte sein Anliegen und wollte schon ungeduldig auf seinen Posten zurückkehren, da rief Edek ihn zurück: »Nein, bleib du auch hier. Wir müssen uns entscheiden.« Bogdan wandte sich an die Gruppe der Gedalisten: »Kümmert ihr euch um den hier, das muß einer von euch sein. Waffen hat er keine.« Verstört schaute der Mann sich um, verwirrt von den Explosionen und geblendet vom Karbidlicht. Mottel fragte ihn: »Wer bist du? Woher kommst du?« Als er Jiddisch reden hörte, fuhr er erschrocken zusammen, antwortete aber nicht, sondern fragte seinerseits: »Juden? Juden hier?« Er wirkte wie ein Tier in der Falle. Mit den Augen suchte er die Tür, aber Mendel hielt ihn mit entschiedener Geste fest, er zuckte in krampfartiger Verteidigung zurück: »Laßt mich gehen. Was wollt ihr von mir?« In der Baracke konnte man sich mittlerweile nur 399
noch durch Brüllen verständigen. Trotzdem verstand Mendel schließlich, daß der Mann, der Schmulek hieß, von den Wachposten aufgehalten worden war, als er durch die Absperrung laufen wollte. In der Dunkelheit hatten sie ihn für einen Deutschen gehalten. Gemeinsam hörten sie nun, daß die Polen darüber beratschlagten, ob sie hier auf die Rote Armee warten oder sich zerstreuen sollten. Sobald Schmulek begriffen hatte, daß hier weder die Juden die Gefangenen der Polen, noch umgekehrt, diese die Gefangenen der Juden waren, begann er in einem Schwall zu reden: alle sollten ihm folgen, sofort, auf der Stelle. Er habe durch ein Wunder eine Bombe überlebt und sei vom aufgewühlten Erdreich verschüttet worden. Wie um seine Worte zu bekräftigen, schlug im gleichen Moment mit ohrenbetäubendem Lärm ganz in der Nähe eine Bombe ein. Die Tür der Baracke sprang auf, dann schleuderte der Sog sie nach draußen. Das Licht ging aus, und das Getöse zerriß einem das Trommelfell, es hagelte jetzt Bomben, eine nach der anderen, nah und fern, und die Wände der Baracken knarrten bedrohlich, als würden sie im nächsten Moment einstürzen. Es war nicht klar, woher die Bomben kamen, ob von der Artillerie oder von den Flugzeugen. Alle liefen in wilder Unordnung hinaus in die eiskalte, von den Stichflammen erleuchtete Nacht. Mit der Autorität, die das allgemeine Entsetzen ihm verlieh, rief Schmulek, alle sollten ihm folgen, er hätte einen sicheren Unterschlupf ganz in der Nähe. Er schnappte 400
sich den erstbesten beim Arm, das war Bella, und zerrte sie mit sich. Mendel und noch ein paar andere folgten ihm, vielleicht zwölf insgesamt. Die übrigen zerstreuten sich im Wald. Gebückt hastete Schmulek von einem Baumstamm zum nächsten, die anderen liefen in einer Reihe hinter ihm her und hielten sich wie die Blinden bei den Händen. Einige Bäume standen in Flammen. Mendel erreichte Schmulek und schrie ihm ins Ohr: »Wohin bringst du uns?«, der aber rannte einfach weiter. Er führte sie zu einem halb in der Erde vergrabenen Bunker aus Holzbalken; daneben war ein Brunnen. Schmulek stieg über den Rand und hinunter, bis nur noch sein Kopf zu sehen war und sagte: »Kommt, hier geht’s weiter!« Im rötlichen Flammenschein stiegen Mendel und die anderen hinunter. Verrostete Steigeisen waren in den inneren Brunnenrand gemauert. Zwei oder drei Meter tiefer befand sich auf einer Seite eine Öffnung, sie tasteten sich hinein und befanden sich in einem leicht abschüssigen, unterirdischen Gang, etwas weiter öffnete sich eine in die lehmige Erde gegrabene Höhle, deren Decke von Holzbalken abgestützt war. Hier erwartete sie keuchend und mit einer Fackel in der Hand Schmulek. »Hier lebe ich«, sagte er zu Mendel. Mendel schaute sich um. Dov, Bella, Mottel, Line und Piotr waren da, Gedale nicht, dafür sechs oder sieben von den Überlebenden aus Ruzany und Blizna und vier Polen, die er nicht kannte. Hier 401
unten war das Dröhnen der Explosionen nur gedämpft zu hören, die Luft war feucht, und es roch nach Erde. In den Wänden waren Nischen, worin verschiedene Gegenstände verstaut waren: zusammengerollte Decken, Schüsseln, Pfannen. An einer Wand entlang lief eine Bank, auf dem gestampften Boden waren Laub und Stroh ausgestreut. »Setzt euch«, sagte Schmulek. »Wie lange lebst du schon hier?« fragte Dov. »Seit drei Jahren«, antwortete er. Line fragte: »Bist du allein?« »Jetzt bin ich allein. Früher war mein Neffe hier, ein Junge. Er ist was zu essen holen gegangen und nicht wiedergekommen. Aber vor sechs Monaten waren wir zwölf, letztes Jahr noch waren wir vierzig, und vor zwei Jahren mehr als hundert.« »Alle hier drinnen?« fragte Line entsetzt und ungläubig. »Schaut da hinunter«, sagte Schmulek, wobei er die Fackel in die Höhe hob: »der Stollen geht weiter, er verzweigt sich, da sind noch mehr Höhlen. Wir lebten schlecht, aber wir überlebten. Wenn wir immer unter der Erde hätten bleiben können, dann hätten sie uns nicht gefunden, und es wären nur die umgekommen, die Typhus bekommen hatten. Aber wir mußten hinaus, um was zu essen zu kriegen, und da schossen sie dann auf uns.« »Die Deutschen?« »Alle. Die Deutschen, die Ungarn, die Ukrainer. Manchmal auch die Polen, dabei waren wir alle 402
Polen. Wir sind aus den Gettos hier in der Gegend geflohen. Man konnte nie sicher sein: einmal ließen sie uns durch, dann schossen sie auf uns wie auf die Hasen, dann wieder brachten sie uns zu essen. Die letzten, die gekommen sind, das waren keine Partisanen, sondern Banditen, sie hatten bloß Messer bei sich. Sie sind überraschend gekommen. Alle, die hier überlebt hatten, haben sie abgeschlachtet und alles mitgenommen, was wir hatten.« »Und wie hast du dich gerettet?« fragte Mendel. »Zufällig«, antwortete Schmulek. »Im zivilen Leben war ich Pferdehändler von Beruf, und ich zog hier in der Gegend über die Dörfer und kenne daher alle Waldwege. Mehrmals habe ich für die Partisanen den Führer gemacht. Im September führte ich eine Gruppe von Russen, die aus einem deutschen Lager geflohen waren. Sie wollten auf die Berge vom Heiligen Kreuz, und ich hab sie aus den Wäldern herausgeführt. In dem Moment sind die Banditen gekommen und haben das Gemetzel angerichtet. Auch der Junge war zufällig unterwegs.« »Diese russischen Soldaten haben wir gesehen«, sagte Mendel. »Sie sind von den Deutschen eingekesselt worden; sie sind alle tot. Aber jetzt ist der Krieg bald aus.« »Mir ist das ganz egal, ob der Krieg zu Ende geht. Wenn der Krieg zu Ende ist, dann sind auch die polnischen Juden am Ende. Mir ist alles egal. Daß ihr den Mut hattet, zu den Waffen zu greifen, das ist allerdings nicht egal. Den Mut hatte ich nicht.« 403
»Das heißt gar nichts«, sagte Mendel, »du hast dich auf andere Weise nützlich gemacht. Kämpfen ist nichts für alte Leute.« »Für wie alt haltet ihr mich denn?« »Fünfzig«, tippte Dov, aber er dachte siebzig. »Ich bin sechsunddreißig«, sagte Schmulek. Draußen ging die Schlacht weiter. In Schmuleks Höhle drang davon nur ein fernes Grollen, unterbrochen ab und zu von stärkeren Schlägen, die die Erde erschütterten und die man weniger mit den Ohren, als mit dem gesamten Leib wahrnahm. Trotzdem schliefen gegen Mitternacht alle, auch wenn sie wußten, daß sich in diesen Stunden alles entschied: das lange und sehnliche Warten auf diesen Augenblick hatte sie schließlich erschöpft. Am späten Vormittag wachte Mendel auf und merkte, daß es die Stille gewesen war, die ihn geweckt hatte. Die Erde bebte nicht mehr; außer den schweren Atemzügen der Schlafenden war nichts mehr zu hören, und die Dunkelheit war total. Mendel tastete um sich, links erkannte er Bellas schmalen Leib, rechts von sich den groben Stoff und den Gürtel eines der Polen. Vielleicht war es nur eine vorübergehende Waffenruhe, oder die Russen hatten sich zurückgezogen, und ihr Unterschlupf lag jetzt zwischen den Fronten. Dann aber traute Mendel seinen Ohren nicht; von der Stille geschärft, hatten sie einen Laut vernommen, der wie aus der Kindheit herübergeklungen war: es waren wirklich Glocken, war ein lei404
ses, zerbrechliches Glockengeläut, gefiltert von dem Erdreich, das sie begrub; ein Spielzeugglockenwerk, das zum Festtag läutete, verkündete, daß der Krieg zu Ende war. Er war schon im Begriff, auch die anderen zu wecken, hielt sich dann aber zurück: später, das hatte noch Zeit, jetzt hatte er anderes zu tun. Was? Abrechnen, abrechnen mit sich selbst. Er fühlte sich wie ein Schiffbrüchiger, den es an eine fremde, menschenleere Küste verschlagen hatte. Nicht vorbereitet, auf nichts gefaßt, leer; ruhig und antriebslos wie eine abgelaufene Uhr. Ruhig und nicht glücklich, auf eine ruhige Weise unglücklich. Von Erinnerungen aufgebläht: Leonid, der Usbeke, Wenjas Bande, Flüsse, Wälder und Sümpfe, die Schlacht im Kloster, Ulybin, Dovs Rückkehr. Das Mädchen von Waluez mit seinen Ziegen, Line, Sissl. Mendel, der Unbeweibte. Und hinter geschlossenen Lidern sah er wieder Rivkes schmales Gesicht mit den versiegelten Augen vor sich, um das sich die Haare schlängelten. Rivke, unter der Erde wie wir. Sie ist es, die die Frauen von meiner Seite wegbläst, wie die Spreu vom Weizen. Noch immer balebusteh; wer wagt da zu behaupten, die Toten hätten keine Macht? Von Erinnerungen übervoll, und gleichzeitig voller Vergessen; selbst die nächsten Erinnerungen waren blaß und konturlos, seine Müdigkeit verwischte sie, wie wenn über eine halb ausgelöschte Zeichnung an der Tafel etwas Neues gezeichnet wird. Ein Hundertjähriger erinnert sich vielleicht so an sein 405
Leben, oder die Patriarchen, die gar 900 Jahre alt geworden sind. Vielleicht gleicht das Gedächtnis einem Gefäß: gibt man mehr Früchte hinein, als darin Platz haben, so zerdrückt man sie. Die Glocken läuteten unterdes weiter, wer weiß wo. In irgendwelchen Dörfern feierten die Bauern, für sie war der Nazi-Alptraum zu Ende, das Schlimmste überstanden. Auch ich sollte feiern und meine Glocken läuten, dachte Mendel und klammerte sich an den Schlaf, der ihn, wünschte er sich, nicht verlassen sollte. Auch unser Krieg ist zu Ende, vorbei die Zeit des Sterbens und des Tötens, und doch bin ich nicht froh und möchte am liebsten gar nicht aufwachen. Unser Krieg ist zu Ende, wir sind in einer Erdhöhle eingeschlossen und sollten hinaus und wieder weiterziehen. Das hier ist Schmuleks Behausung, der kein Zuhause mehr hat, der alles verloren hat, sogar sich selbst. Und wo ist mein Zuhause? Nirgendwo. Im Rucksack, den ich mitschleppe, in der abgeschossenen Heinkel, in Nowoselki, im Lager von Turow und in Edeks Lager, jenseits des Meeres ist es, in dem Märchenland, wo Milch und Honig fließen. Wenn einer nach Hause kommt, hängt er seine Kleider und seine Erinnerungen an den Nagel in der Wand. Wohin hängst du deine Erinnerungen, Mendel, Nachmans Sohn? Einer nach dem anderen wurden sie wach, alle fragten, und keiner wußte eine Antwort. Die Front war vorbeigezogen, daran bestand kein Zweifel. Und was nun? Noch etwas warten, wie Schmulek vorschlug? 406
Hinaus und den Russen entgegengehen? Hinausgehen und Essen holen? Jemanden vorausschicken? Dov bot sich an, er wollte vorausgehen und die Lage auskundschaften. Ihm konnte man nichts anhaben, er sprach Russisch, trug die russische Uniform, hatte einen russischen Ausweis, kurz, er war Russe, regulärer noch als Piotr. Er machte sich auf den Weg durch den Schacht, kehrte aber sofort um: man mußte warten, es wurde gerade ein Eimer in den Brunnen hinuntergelassen. Der gefüllte Eimer verschwand nach oben, Dov konnte hinaufsteigen und fand sich wieder inmitten einer Abteilung Soldaten, die sich mit nacktem Oberkörper vergnügt mit dem Brunnenwasser wuschen, das sie in eine Viehtränke gegossen hatten. Am Boden lagen ein paar Zentimeter Schnee, zertrampelt und von nächtlichen Bränden zusammengeschmolzen. Ein paar Schritte weiter hatten andere Soldaten ein Feuer angezündet und trockneten daran ihre Kleidung. Die Soldaten reagierten mit humorigem Gleichmut auf Dovs Erscheinen: »Hallo, Onkel, wo kommst du denn her?« »Beinah hätten wir dich mit dem Eimer hochgezogen!« »Das sag ich euch, woher der kommt: er hat sich einen Rausch angetrunken und ist hineingefallen.« »Oder sie haben ihn hineingeworfen. Sag mal, Onkelchen: haben dich die Deutschen in den Brunnen geworfen, oder bist du selbst hineingestiegen, um Schutz zu suchen?« 407
»Es gibt schon merkwürdige Dinge in diesem Land«, sagte, nachdenklich geworden, einer der Soldaten, ein Mongole. »Gestern hab ich mitten in der Schlacht einen Hasen gesehen: anstatt wegzulaufen blieb er wie angewurzelt sitzen. Tags zuvor hab ich in einem Faß ein schönes Mädchen gefunden …« »Was machte sie denn in dem Faß?« »Nichts. Sie hatte sich da versteckt.« »Und du? Was hast du gemacht?« »Nichts. Ich hab ›Guten Morgen, Panienka‹ zu ihr gesagt, und ›entschuldigen Sie die Störung‹, und hab den Deckel wieder zugemacht.« »Entweder lügst du, Afanasij, oder du bist blöd; einen Hasen brät man, und mit einem schönen Mädchen schläft man.« »Also, ich wollt ja bloß sagen, daß das hier ein komisches Land ist. Gestern der Hase, vorgestern das Mädchen, und jetzt kommt aus einem Brunnen ein weißhaariger Soldat heraus. Komm her, Soldat, wenn du kein Gespenst bist, dann trink einen Schluck Wodka; bist du aber ein Gespenst, dann geh zurück, woher du gekommen bist.« Der Gefreite des Kommandos trat an Dov heran, befühlte ihn und sagte dann: »Aber du bist ja gar nicht naß!« »Im Brunnen ist eine Öffnung«, antwortete Dov, »ich erklär dir das.« Der Gefreite aber meinte: »Komm mit zum Kommando. Da kannst du alles erklären.« 408
Eine halbe Stunde später kamen Dov und der Gefreite in Begleitung eines Oberleutnants zurück, der die Armbinde der NKVD trug. Bei seinem Anblick verstummten die Soldaten und wuschen sich still weiter. Der Leutnant befahl Dov, wieder in den Brunnen hinunterzusteigen und alle, die dort versteckt waren, herauszuschicken. Unter dem schweigenden Staunen der Russen kamen sie einer nach dem anderen heraus an das weiße Licht des Himmels, von wo weiterer Schnee drohte. Der Leutnant befahl zweien seiner Leute, sie sollten sich anziehen, die Waffen nehmen, und er ließ das Grüppchen in umgekehrter Richtung denselben Weg geleiten, den sie nachts unter Schmuleks Führung zurückgelegt hatten, d. h. er brachte sie in die Baracken des polnischen Lagers zurück. Hier trafen sie Edek und Marian und fast alle ihre Leute wieder. Auch Gedale war da und die Gedalisten, die Schmulek nicht gefolgt waren. Sowohl die Polen als auch die Juden waren entwaffnet worden, und die Baracke, in die sie eingeschlossen waren, wurde von zwei russischen Posten bewacht. Den ganzen Tag über geschah nichts. Mittags kamen zwei Soldaten und brachten Brot und Wurst für alle; abends kam ein Kessel voll warmer Hirsesuppe mit Fleisch. Sie waren mehr als hundert Gefangene, und in der Baracke war es zu eng. Sie beschwerten sich bei den Wachen, der Leutnant kam und teilte sie in zwei Gruppen ein, eine jede bekam eine Baracke zugewiesen, weshalb er den Wachdienst verdoppeln mußte. Weder der Leutnant noch die Soldaten wa409
ren ihnen feindlich gesinnt; einige schienen neugierig, andere unwillig, wieder andere machten den Eindruck, als wollten sie sich entschuldigen. Die Polen waren unruhig und fühlten sich gedemütigt, weil sie die Waffen hatten abgeben müssen. »Nur Mut, Edek«, ermunterte Gedale. »Das Schlimmste ist vorbei. Das ist das geringere Übel; die hier werden uns nicht behandeln wie die Deutschen. Du hast es ja gesehen, mit denen kann man reden.« Edek schwieg. Am Morgen kam ein Eimer voll Kaffee-Ersatz und bald darauf der Oberleutnant in Begleitung eines Schreibers. Er war offenbar schlecht gelaunt und hatte es eilig. Er ließ die Personalien von allen in ein Schulheft schreiben, dann mußten alle die Hände vorzeigen, Handrücken und Handinnenfläche, und er betrachtete sie aufmerksam. Als er fertig war, teilte er die Gefangenen in drei Gruppen auf. Zur ersten gehörte der größte Teil der Polen. »Ihr seid Soldaten und bleibt es auch weiterhin. Ihr bekommt Uniformen und Waffen und werdet in die Rote Armee eingegliedert.« Ein Raunen und Murren lief durch die Reihen, Proteste wurden laut. Die Wachen senkten die Gewehrläufe, und die Proteste verstummten. »Ihr seid uns in anderer Weise nützlich«, sagte der Leutnant zur zweiten Gruppe gewandt. Die war recht klein, Edek gehörte dazu zusammen mit ungefähr einem Dutzend ehemaliger Studenten und Angestellten. 410
»Ich bin der Kommandant dieser Einheit«, sagte Edek schneeweiß im Gesicht. »Hier gibt es keine Einheit und folglich auch keinen Kommandanten mehr«, sagte der Leutnant. »Die Armia Krajowa ist aufgelöst worden.« »Aufgelöst von wem? Von euch!« »Nein, nein. Sie hat sich von selbst aufgelöst, sie hat keinen Grund mehr zu existieren. Polen befreien wir. Hört ihr denn kein Radio? Nein, nicht unseres: Radio London. Seit drei Tagen senden sie eine Botschaft von eurem obersten Kommandanten. Er grüßt euch und bedankt sich bei euch und teilt mit, daß der Krieg zu Ende ist.« »Wohin schickt ihr uns?« fragte Edek noch. »Das weiß ich nicht. Das geht mich nichts an. Ich habe bloß Befehl, euch an das Ortskommando weiterzuleiten. Dort werdet ihr alles erfahren, was ihr wissen wollt.« Die dritte Gruppe bestand aus den Gedalisten und Schmulek, oder besser, aus sämtlichen Juden und Piotr. Mendel war bislang nicht aufgefallen, es fiel ihm jetzt erst auf, daß Piotr seine zerschlissene Partisanenuniform, die er seit Turow immer an ihm gesehen hatte, abgelegt hatte. Er war groß und schlank wie Gedale und trug jetzt die Zivilkleidung, die Gedale nach dem Anschlag auf Sarny hervorgeholt hatte. »Was euch betrifft, liegen im Moment keine Befehle vor«, sagte der Leutnant. »Zivile seid ihr nicht, ebensowenig Militärs, Kriegsgefangene seid ihr 411
auch nicht, ihr seid schlicht Männer und Frauen ohne Ausweise.« »Genosse Leutnant, wir sind Partisanen«, sagte Gedale. »Partisanen sind die in den Partisaneneinheiten. Von jüdischen Partisanen hat nie jemand was gehört. Das wäre neu. Ihr paßt in keine Kategorie. Vorläufig bleibt ihr hier: ich habe Befehle angefordert. Ihr bekommt die gleiche Behandlung, wie sie unseren Soldaten zusteht. Später sehen wir weiter.« Für Gedales Bande, nach nun mehr als drei Monaten in ihre ursprüngliche Zusammensetzung zurückgekehrt, begannen Tage der Untätigkeit und des Mißtrauens. Gegen Ende Januar sahen sie von ihren Barackenfenstern aus, wie die zweite Gruppe der Polen abzog. Aus diesem Anlaß hatte der Leutnant die Türen verriegeln lassen; sie mußten sich damit begnügen, Edek durch die Scheiben hindurch zuzuwinken. Als er auf den Lastwagen gestiegen war, winkte auch Edek ihnen zu, mit einem Ruck fuhr der Wagen an, und Sissl brach in Tränen aus. Im Unterschied zu den anderen hätten Dov, Mendel, Arié und Piotr als ehemalige Angehörige der Roten Armee keine Schwierigkeiten gehabt, ihren militärischen Status zu klären. Aber Piotr war fest entschlossen: »Sie haben keinen Unterschied gemacht, und mir ist das recht so. Klarerweise interessiert sich der 412
NKVD momentan nur für die Polen: polnische Partisanen kann Stalin nicht brauchen.« »Sie haben dich für einen Juden gehalten«, amüsierte sich Gedale. »Im übrigen hast du es verdient.« »Ich weiß nicht. Der Leutnant stellte mir ein paar Fragen, sah, daß ich auf russisch antwortete, und das genügte ihm.« »Hm«, meinte Gedale, »ich glaube, deine Geschichte ist noch nicht abgeschlossen.« »Für mich wohl«, gab Piotr zurück. »Ich bleibe bei euch.« Dov war ebenfalls fest entschlossen, aber im umgekehrten Sinn. Er hielt an seiner Entscheidung fest, ja, die Abenteuer der letzten Zeit hatten ihn darin nur noch bestärkt. Er war es müde zu kämpfen und herumzuziehen, müde der Ungewißheit und des Lebens auf Abruf, er wollte nach Hause, er, der ein Zuhause noch hatte. Weit weg lag dieses Zuhause, in einem Land, das der Krieg nicht berührt hatte und dem räumliche und zeitliche Entfernung märchenhafte Züge verliehen hatten, im Land der Tiger und Bären, wo alle so waren wie Dov selbst: schlicht und eigensinnig. In jenem Land, an dessen Schilderung Dov sich nicht genug tun konnte, dort war der Winterhimmel grün und violett, rot flackerte das Nordlicht darin auf, und eines Tages, als er noch ein Kind gewesen war, war der schreckliche Komet daraus hervorgeschossen. Mutoraj mit seinen 4 000 Einwohnern, Verbannten, Nihilisten und Samojeden, war einzig auf der Welt. 413
In aller Stille schied Dov von ihnen, traurig, aber nicht verzweifelt. Er setzte sich mit der russischen Intendantur in Verbindung, erläuterte seine militärische Position und seine Laufbahn, auf Anfrage verfaßte er in Schönschrift einen Bericht über die Umstände, unter denen er von Turow weggeholt, im Krankenhaus von Kiew behandelt und schließlich wieder in Partisanengebiet zurückgebracht worden war, und wartete. Zwei Wochen später nahm er von allen Abschied und ging würdevoll ab. Mendel und Arié hatten in dieser Richtung keine Probleme, und auch von russischer Seite wurden ihnen keine gemacht. Die Front war rasch nach Westen weitergezogen, der Leutnant des NKWD ließ sich nicht mehr blicken, und die Aufsicht über die Baracken wurde immer nachlässiger, bis sie gänzlich verschwand. Anfang Februar wurde die gesamte Bande in eine Schule des nahegelegenen Städtchens Wolbrom verlegt und dort sich selbst überlassen. Die russische Garnison, die ohnehin nur noch aus einem alten Hauptmann und ein paar Soldaten bestand, kümmerte sich nicht um sie, außer um ihnen aus Militärbeständen Verpflegung zukommen zu lassen: Kartoffeln, Rüben, Gerste, Fleisch und Salz. Das Brot kam schon fertig gebacken aus einer requirierten Bäckerei, kochen mußten sie allerdings selbst, und dazu fehlten in der Schule die notwendigen Gerätschaften; die Russen hatten nicht dafür gesorgt. Gedale stellte einen formellen Antrag, der 414
Hauptmann machte Versprechungen, und es geschah nichts. »Gehen wir in den Ort und holen uns die Sachen selbst«, sagte Gedale. Das war leichter als erwartet. Düster und verlassen lag der Ort da. Er mußte wohl bombardiert und anschließend mehrfach geplündert worden sein, aber nur obenhin und in Eile. In den zertrümmerten Häusern, in den Kellern, auf den Speichern und in den Luftschutzbunkern fand sich so gut wie alles: nicht nur Kochtöpfe, auch Stühle, Steppdecken, Matratzen, Möbel aller Art. Weitere Möbel gab es täglich auf dem Markt zu kaufen, der spontan auf dem Hauptplatz entstanden war. Haufenweise wurden dort zertrümmerte Möbel als Brennholz verkauft, das Angebot war groß und die Preise entsprechend niedrig. Nach kurzer Zeit schon hatten sie die Schule in eine bewohnbare, wenn auch nicht gerade gemütliche Unterkunft verwandelt. Küchenofen fanden sie allerdings keinen, weder in den Häusern noch in der Umgebung, und so mußte die Suppe auf offenem Feuer gekocht werden, im Freien auf dem Hof, neben der Sandbahn für den Weitsprung. Dafür aber errichteten die Gedalisten in einem der Klassenräume für die weiße Rokhele und Isidor ein prächtiges Ehebett, gekrönt von einem Baldachin, den sie aus Militärdecken zusammengeflickt hatten. Der russische Hauptmann war ein verbrauchter, melancholischer Mann. Gedale und Mendel gingen öfter zu ihm, um mit ihm zu reden, um von ihm zu 415
erfahren, was die russischen Militärbehörden über sie beschlossen hätten. Er beantwortete ihre Fragen gleichbleibend freundlich, zerstreut und ausweichend; er wußte nicht, niemand wußte etwas, der Krieg war noch nicht aus, man mußte erst das Ende des Krieges abwarten. Er hatte im Krieg zwei Söhne verloren, und auch von seiner Frau in Leningrad hatte er lange nichts mehr gehört. Sie hätten doch zu essen und ausreichend Brennmaterial: sie sollten abwarten wie alle anderen. Er wartete ja schließlich auch. Wahrscheinlich würde der Krieg so bald noch nicht aus sein; keiner konnte das wissen, vielleicht würde er weitergehen, wer weiß? Gegen Japan, gegen Amerika. Die Erlaubnis zum Weiterziehen? Er könne eine solche Erlaubnis nicht geben, da sei eine andere Stelle zuständig. Und dann: weiterziehen wohin? Mit welchem Ziel? Es wimmele in der Gegend von aufständischen Deutschen und Polen, die sich zusammenrotteten, und von Banditenbanden. Die Russen hätten deshalb auf sämtlichen Straßen Kontrollposten eingerichtet. Sie sollten ja nicht versuchen, die Stadt zu verlassen, sie würden nicht weit kommen, die Posten hätten Befehl, scharf zu schießen. Er selbst vermied es, außer in dienstlichen Angelegenheiten, die Ortschaft zu verlassen. Es war schon vorgekommen, daß russische Soldaten sich untereinander beschossen hatten. Aber Gedale ertrug die Klausur nur schlecht. Ihm, und nicht nur ihm, kam diese Lebensweise sinnlos vor, entwürdigend und lächerlich. Männer und 416
Frauen erledigten umschichtig die Küchen- und Putzarbeiten, und sie hatten Freizeit im Überfluß. Paradoxerweise empfanden sie unter diesen Bedingungen, mit einer Stadt um sie herum, einem Dach über dem Kopf und einem Tisch, an den sie sich zum Essen setzen konnten, ein merkwürdiges Unbehagen: es war die Sehnsucht nach den Wäldern und der Freiheit der Straße. Sie fühlten sich fremd und unnütz hier, nicht mehr im Krieg und noch nicht im Frieden. Trotz aller Ermahnungen des Hauptmanns zogen sie häufig in kleineren Gruppen aus. In Wolbrom war der Krieg zu Ende, aber unweit davon wütete er weiter. Pausenlos, bei Tag und Nacht, zogen durch die Ortschaft und über die unasphaltierte Umgehungsstraße sowjetische Militäreinheiten in Richtung der schlesischen Front. Tagsüber glich, was da vorüberzog, eher einer Horde, einer Völkerwanderung, als einem modernen Heer: Menschen aller Rassen zogen vorbei, riesige Wikinger und stämmige Lappen, braungebrannte Kaukasier und bleiche Sibirier, zu Fuß, zu Pferde, auf Lastwagen, auf Traktoren oder großen Ochsenkarren, einige sogar auf dem Rücken von Kamelen. Militärs und Zivile, auf jede nur erdenkliche Weise gekleidete Frauen, Kühe, Pferde und Mulis. Abends schlugen die Trupps ihre Zelte auf, wo sie gerade waren, schlachteten Vieh und brieten das Fleisch auf improvisierten Feuerstellen. In diesen Biwaks wimmelte es von Kindern in viel zu großer Militärkleidung, einige von ihnen trugen 417
Messer und Pistolen im Gürtel, alle aber hatten den Roten Stern auf der riesigen Pelzmütze. Wer waren sie? Woher kamen sie? Mendel und seine Genossen blieben stehen und fragten: sie sprachen Russisch, Ukrainisch, Polnisch, einige auch Jiddisch, manche weigerten sich zu reden. Sie waren wild und scheu, es waren Kriegswaisen. Auf ihrem Vormarsch durch verwüstete Dörfer hatte die Rote Armee sie zu Tausenden aufgelesen, in den Trümmern der Städte, auf Feldern und in den Wäldern, wo sie verhungert und verwahrlost herumstreiften. Die Sowjets hatten aber keine Zeit, sie in der Etappe unterzubringen, und auch nicht die Mittel, um sie weiter weg zu schicken. So schleiften sie sie hinter sich her, aller Leuts Kinder, kleine Soldaten und wie diese auf Beute versessen. Sie lungerten um die Feuerstellen herum, manche Soldaten gaben ihnen Brot, Suppe und Fleisch, andere verscheuchten sie ärgerlich. Erstaunlich anders sahen die Truppenverbände aus, die in den Nachtstunden durch die Ortschaft zogen. Mendel, dem die großen Vernichtungsschlachten von ’41 und ’42 mit eingekesselten und schließlich aufgeriebenen Truppen noch in der Erinnerung brannten, traute seinen Augen nicht. Das war sie also, die neue Rote Armee, die Deutschland das Rückgrat gebrochen hatte; sie war wie ausgewechselt, nicht wiederzuerkennen. Eine mächtige, disziplinierte, effiziente Maschinerie, die da beinahe geräuschlos über die Hauptstraße der verdunkelten Stadt rollte. Riesige Panzer auf Transportanhängern mit Gummirädern; 418
Kanonen auf Selbstfahrlafetten, von denen man sich nicht hätte träumen lassen; die legendäre Katjuscha, mit Zeltplanen verhängt, die die Einzelheiten ihrer Konstruktion verbargen. Inmitten der Artillerie und den Panzerdivisionen marschierten, in geschlossener Ordnung und singend, auch Fußtruppen mit. Kriegerisch klangen diese Lieder nicht, eher verhalten und melodisch; sie drückten keine Kampflust aus wie die der Deutschen, sondern die Trauer über vier Jahre Massaker. Erschüttert beobachtete Mendel, der Artillerist, diesen Vorbeimarsch. Trotz allem, trotz der verheerenden und schuldvollen Niederlage, die ihn in den Untergrund gezwungen hatte, trotz der Verachtung und des Unrechts, die er früher hatte erdulden müssen, trotz Ulybin, war doch dies die Armee, deren zerschlissene und ausgebleichte Uniform er noch immer am Leibe trug. Ein krasnoarmeetz, das war er noch immer, wenn auch Jude und unterwegs in ein anderes Land, und jene Soldaten, die da singend vorüberzogen, so sanft in Friedenszeiten wie unerbittlich im Kampf, Soldaten, die alle so waren wie Piotr, das waren seine Genossen. Widerstreitende Gefühle erfüllten ihm die Brust: Stolz, Reue, Groll, Hochachtung und Dankbarkeit. Eines Tages hörte er aus einem Keller Stöhnen. Er stieg mit Piotr hinunter, und sie fanden zehn Angehörige der Waffen-SS, halbnackt auf dem Bauch liegend, einige robbten auf den Armen vorwärts, alle aber hatten einen blutigen Schnitt in Höhe des Kreuzes. 419
»Die Sibirier machen es so«, sagte Piotr. »Wenn sie sie finden, töten sie sie nicht, sondern schneiden ihnen das Rückenmark an.« Sie traten wieder auf die Straße hinaus, und Piotr setzte hinzu: »Ich möchte kein Deutscher sein. Oh nein, um nichts in der Welt möchte ich in den nächsten Monaten ein Berliner sein!« Eines Morgens entdeckten sie beim Erwachen ein Hakenkreuz an der Fassade der Schule, und mit Teer stand darunter geschrieben: »NSZ. Tod den Bolschewisten-Juden.« Wenig später sahen sie vom Fenster des ersten Stocks aus drei, vier junge Männer unten auf der Straße stehen, sie redeten miteinander und schauten ab und zu hinauf. Am selben Abend, während sie beim Essen saßen, ging die Fensterscheibe zu Bruch, und unter den Tisch rollte eine Flasche mit brennender Zündschnur daran. Piotr reagierte als erster: blitzschnell packte er die Flasche, die nicht zerbrochen war, und warf sie auf die Straße zurück. Es gab einen dumpfen Knall, und auf dem Pflaster entzündete sich eine Lache, die noch lange weiterbrannte. Die qualmende Flamme bleckte bis an ihr Fenster hinauf. Gedale sagte: »Wir müssen uns Waffen besorgen und gehen.« Auch Waffen zu besorgen war leichter, als sie gedacht hatten. Schmulek und Pavel übernahmen das, jeder auf seine Weise. Schmulek sagte, in seiner Höhle seien noch Waffen, nicht viele, aber in gutem Zustand, 420
weil unter der Erde vergraben. Er erbat sich von Gedale einen Begleiter, bei Sonnenuntergang zog er los und war bei Morgengrauen wieder da mit einigen Pistolen, Handgranaten, Munition und einem Maschinengewehr. Seit Jozeks Tod hatte Pavel die Rolle des Fourier übernommen, und er berichtete, Waffen seien auf dem Markt leichter zu haben als ein bißchen Butter oder Tabak. In aller Öffentlichkeit wurden sie angeboten, selbst die Russen, die durchziehenden Militärs wie die Zivilisten in ihrem Gefolge, verkauften leichte deutsche Waffen, die sie in Depots oder auf den Schlachtfeldern zusammengelesen hatten. Weiteres Material boten ganz ungeniert die Polen an, die von den Russen eilig zu einer Art Miliz zusammengeschlossen worden waren. Kaum aufgenommen, desertierten viele von ihnen mitsamt den Waffen und schlossen sich Banden an, die sich zum Guerilla-Kampf rüsteten; andere verkauften oder tauschten die Waffen auf dem Markt. Im Verlauf von ein paar Tagen hatten die Gedalisten eine ansehnliche Zahl von Messern und rund ein Dutzend Feuerwaffen der verschiedensten Typen beisammen; das war nicht viel, aber um die Terroristen der polnischen Rechten abzuschrecken, reichte es immerhin. Ende Februar rief der russische Hauptmann Gedale zum Rapport und hielt ihn mehr als eine Stunde lang fest. »Er hat mir zu rauchen und zu trinken angeboten«, berichtete Gedale nachher seinen Genossen. »Er ist 421
nicht so zerstreut, wie es den Anschein hat, und meiner Meinung nach hat er eine Weisung bekommen. Er wußte von dem Molotow-Cocktail, er sagt, die Zeiten sind schwer, und er macht sich Sorgen um uns. Sie seien nicht in der Lage, für unsere Sicherheit zu garantieren, und wir täten gut daran, uns selbst zu schützen. Mit anderen Worten: er weiß von den Waffen, und ihm ist es recht so. Ist ja klar, die NSZ muß denen gerade so angenehm sein wie uns. Er hat wiederholt, daß der Ort hier nicht erfreulich ist; das hat er mir auch beim letzten Mal schon gesagt, aber da meinte er auch, es sei gefährlich, die Stadt zu verlassen, diesmal aber fragte er mich, warum wir hierbleiben. ›Ihr könntet weiterziehen, inzwischen ist die Front vorgerückt: weiter, den Alliierten entgegen …‹ Ich hab ihm gesagt, daß wir nach Italien wollen, und von dort versuchen würden, nach Palästina zu kommen, und er meinte, da täten wir gut daran, England müsse aus Palästina abziehen, genauso wie aus Ägypten und Indien, die Tage der Kolonialreiche seien gezählt. Nach Palästina sollen wir gehen und unseren Staat aufbauen. Er erzählte mir, er hätte viele jüdische Freunde und hätte sogar das Buch von Herzl gelesen. Aber das stimmt glaube ich nicht, oder er hat es schlecht gelesen, denn er sagte zu mir, im Grunde sei Herzl doch ein Russe, während er aber doch Ungar war. Kurz: der Hauptmann weiß Bescheid. Den Russen ist es recht, wenn wir den Engländern Schwierigkeiten machen, und für uns ist es höchste Zeit zum Aufbruch. Allerdings 422
ohne offizielle Erlaubnis, bei diesem Argument hat er sofort einen Rückzieher gemacht.« »Dann gehen wir halt ohne offizielle Erlaubnis«, sagte Line achselzuckend. »Haben wir denn je eine Erlaubnis gehabt?« Bellas näselnde Stimme ließ sich vernehmen: »Die vom NSZ sind Faschisten und feige Hunde, aber in einem Punkt sind wir uns mit ihnen und auch mit den Russen einig: sie wollen uns los sein, und wir gehen gern.« Pavel hatte es sich zur Gewohnheit gemacht, die Schule morgens früh zu verlassen und sich dann bis zum Abend nicht mehr blicken zu lassen. Im Laufe von wenigen Tagen hatte sich die Atmosphäre in Wolbrom völlig verändert, die Richtung des Truppenflusses war nun umgekehrt, hauptsächlich kehrten jetzt Soldaten von der Front zurück. Manche hatten Urlaub, der Großteil aber waren Verwundete oder Verstümmelte, auf notdürftig zusammengebastelten Krücken kamen sie daher, Heranwachsende mit bleichen, bartlosen Gesichtern, die auf den Trümmerhaufen entlang der Straße verschnauften. Von seinen Inspektionsgängen kam Pavel nie mit leeren Händen zurück: auf dem Schwarzmarkt bekam man inzwischen so gut wie alles. Er brachte Kaffee, Milchpulver, Seife und Rasierklingen, Puddingpulver, Vitamine – Kostbarkeiten, wie die Gedalisten sie seit sechs Jahren nicht mehr zu Gesicht bekommen oder überhaupt noch nie gesehen hatten. 423
Eines Tages schleppte er einen mageren, hochaufgeschossenen Kerl mit sandfarbenen Haaren daher, der weder Russisch noch Polnisch, noch Deutsch sprach, nur ein paar Brocken Jiddisch; er hatte ihn auf den Trümmern der Synagoge von Wolbrom aufgelesen, wo er die Morgengebete aufsagte. Es war ein jüdischer Soldat aus Chicago, den die Deutschen in der Normandie gefangengenommen hatten und der von den Soldaten der Roten Armee befreit worden war. Sie begrüßten ihn mit Hallo, aber der Amerikaner erwies sich als nicht gerade ausdrucksstark und als noch weniger trinkfest: schon nach der ersten Runde Wodka lag er unter dem Tisch, schlief dort bis zum nächsten Mittag und machte sich dann ohne Wort und Gruß aus dem Staub. Auf den Straßen trieben sich entlassene Häftlinge aus aller Herren Länder und aller Rassen herum, auch scharenweise Prostituierte. Am 25. Februar kam Pavel mit fünf Paar Seidenstrümpfen nach Hause, und es entstand eine große Aufregung darum, die Frauen wollten sie sofort probieren, sie paßten aber nur Sissl und der schwarzen Rokhele einigermaßen, der anderen Rokhele, Line und Bella waren sie zu groß. Pavel brachte sie zum Schweigen: »Macht nichts, spielt doch keine Rolle, morgen tausch ich sie um und bring euch andere mit. Ich hab euch was Wichtigeres zu sagen: ich hab einen Lastwagen gefunden.« »Hast du ihn gekauft?« fragte Isidor. 424
Nein, gekauft hatte er ihn nicht. Es stellte sich heraus, daß die Russen hinter dem Bahnhof einen Schrottplatz für demobilisiertes Material angelegt hatten, wo so gut wie alles zu finden war. Pavel verstand nichts davon, am nächsten Tag sollte jemand mit ihm kommen. Wer kannte sich mit LKWs aus? Wer konnte sie fahren? Die Bande hatte nun mehr als tausend Kilometer zu Fuß zurückgelegt, war es da nicht vielleicht an der Zeit, daß sie mit einem LKW reisten? »Wir werden ihn doch wohl auch bezahlen müssen«, meinte Mottel. »Das glaube ich nicht«, sagte Pavel. »Das Gelände ist nicht eingezäunt, rundherum ist bloß ein Graben, und Wache gibt es nur eine einzige. Wichtig ist, daß wir schnell machen. Es stöbern da viele Leute herum, heute morgen erst hab ich gesehen, wie zwei Jungen ein Motorrad wegholten. Wer kommt morgen früh mit?« Alle hätten gehen wollen, und sei es nur wegen der Abwechslung. Line und Arié ließen wissen, daß sie Traktoren gefahren hatten. Piotr und Mendel hatten den Militärführerschein, und überdies hatte Mendel in seinem Dorf bei Gelegenheit Traktoren und Lastwagen repariert. Unter ganz ungewöhnlichem Mißbrauch seiner Autorität sagte Gedale, er würde gehen, weil er der Bandenchef sei, am meisten aber drängelte Isidor, der überhaupt nichts vorzuweisen hatte außer einer reinen, kindlichen Leidenschaft für Autos und Maschinen im allgemei425
nen. Um jeden Preis wollte er mit Pavel gehen, und er behauptete, das Lastwagenfahren würde er im Handumdrehen lernen. Schließlich ging Mendel mit und sah, daß Pavel nicht übertrieben hatte: auf dem Schrottplatz gab es wirklich alles, nicht nur Schrott. Die Russen, die von den Alliierten mit Kriegsmaterial versorgt wurden, nahmen es nicht so genau; wiesen Apparaturen oder Fahrzeuge auch nur den geringsten Defekt auf, wurden sie weggeworfen, und neues Material mußte her. Zusätzlich kam auf Lastwagen und per Eisenbahn täglich beschädigtes Material aus der Kampfzone, wurde auf das Gelände geworfen und rostete dort vor sich hin. Auf dem gespenstigen Metallfriedhof herrschte ein merkwürdiges Leben: Experten und Schaulustige trieben sich dort herum und rudelweise Kinder, die zwischen den Wracks Versteck spielten. LKWs waren da, alle Typen und in jedem beliebigen Erhaltungszustand. Mendels Aufmerksamkeit konzentrierte sich auf eine Kolonne von italienischen Lastwagen, es waren 3-Tonner vom Typ Lancia 3 Ro und scheinbar neu, wahrscheinlich kamen sie aus irgendeinem deutschen Depot. Während Pavel den Wachposten durch das Angebot von Tabak und Kaugummi ablenkte, schaute sich Mendel die Fahrzeuge näher an. Sie schienen startbereit, sogar die Zündschlüssel steckten. Mendel versuchte einen anzulassen, aber es rührte sich nichts. Er hatte es bald heraus: die Lastwagen hatten keine Batterie 426
und hatten auch nie eine gehabt, denn die Leitungsenden der elektrischen Anlage waren noch voll Schmierfett. Als Pavel zurückkam, sagte Mendel zu ihm: »Geh zurück zu deinem Mann und unterhalt ihn noch ein bißchen. Ich schau mich inzwischen um, ob ich nicht eine geladene Batterie finde.« »Und was soll ich ihm erzählen?« »Laß dir was einfallen. Erzähl ihm, wie du Schauspieler warst.« Während Pavel sein Gedächtnis und seine Phantasie bemühte, um den Wachposten zu unterhalten, ohne Verdacht zu erregen, suchte Mendel systematisch die anderen Fahrzeuge ab. Bald schon hatte er gefunden, was er brauchte, einen russischen Lastwagen von derselben Tonnage der Lancias, in relativ gutem Zustand, er konnte noch nicht lange hier sein. Er öffnete die Motorhaube und berührte die Pole der Batterie mit einer Messerschneide. Es gab einen Knall und einen blauen Blitz, die Batterie war geladen. Er kehrte mit Pavel in die Schule zurück, die Stunden krochen dahin, es wollte und wollte nicht Nacht werden. Als es schließlich dunkel war, nahmen sie die Waffen und gingen wieder auf den Schrottplatz. Von dem Wachposten keine Spur, entweder schlief er irgendwo in der Nähe, oder er war seelenruhig in die Kaserne zurückgekehrt. Zwischen den dunklen Silhouetten der Fahrzeuge und Schrottreste hingegen war eine verstohlene Gesellschaft am Werk; 427
hurtig wie die Termiten zerlegten und demolierten sie alles, was nur irgend versprach, nützlich oder verkäuflich zu sein: Sitze, Kabel, Reifen, Zusatzmotoren. Einige saugten das Benzin aus den Tanks ab. Pavel lieh sich einen Schlauch aus, tat ebenso und schüttete etwas Dieselöl in den Tank des ersten 3 Ro der Kolonne. Dann baute Mendel die intakte Batterie aus und schleppte sie mit Pavels Hilfe zum Lastwagen. Er setzte sie ein, schloß sie an, sie stiegen in die Fahrerkabine, und Mendel drehte den Zündschlüssel. Er tastete nach dem Hebel für die Scheinwerfer, und sie gingen an. »… und es ward Licht«, dachte er bei sich. Er schaltete das Licht wieder aus und drehte den Zündschlüssel ganz herum, sofort sprang der Motor an, lief glatt und rund, reagierte prompt auf das Gaspedal. Wunderbar! »Das hätten wir!« sagte Pavel. »Das müssen wir erst noch sehen«, gab Mendel zurück. »So große Dinger wie den hier hab ich wohl schon repariert, aber gefahren noch keinen.« »Hast du nicht gesagt, du hast den Führerschein?« »Haben tu ich ihn schon«, preßte Mendel zwischen den Zähnen hervor. »Damals bekam den jeder, die Deutschen standen bei Borodinò und Kaluga, sechsmal eine halbe Stunde Unterricht, und damit hatte es sich. Ich hab dann nur PKWs und Traktoren gefahren. Und bei Nacht ist es noch mal was anderes. Sei jetzt bitte still!« »Nur eins noch«, sagte Pavel. »Nicht beim Tor 428
hinausfahren. Da steht das Schilderhäuschen, und es könnte wer drin sein. So, und jetzt bin ich still.« Die Stirn in Falten gelegt und mit der konzentrierten Anspannung eines Chirurgen bei der Operation trat Mendel das Kupplungspedal, legte den Gang ein und hob den Fuß: mit einem scharfen Ruck fuhr der Laster an. Er schaltete die Scheinwerfer wieder ein, und mit überdrehtem Motor fuhr er durch den freigeräumten Fahrweg auf das hintere Ende des Geländes zu. »Glaub bloß nicht, daß ich den Gang wechsle. Das kommt morgen. Heute fahren wir so weiter.« Der LKW segelte bis an den Graben, neigte sich vornüber und hob dann majestätisch die Kühlerhaube in den Himmel. »Wir sind draußen«, sagte Pavel und sog die regenfeuchte Luft ein, wobei er bemerkte, daß er seit etwa einer Minute nicht geatmet hatte. Hinter ihnen rief eine Stimme: »Stoj! Halt!« Pavel lehnte sich aus dem Fenster und gab eine kurze Salve in die Luft ab, mehr zum Spaß als zur Einschüchterung. Als sie auf die Straße kamen, nahm Mendel seinen ganzen Mut zusammen und legte den zweiten Halbgang ein: das Heulen des Motors ließ etwas nach und die Geschwindigkeit nahm etwas zu. Niemand verfolgte sie, und in wenigen Minuten hatten sie die Schule erreicht. Gedale erwartete sie auf der Straße, auch er war bewaffnet. Lachend umarmte er Mendel und sprach den Segen der Wunder. Mendel, mit schweißbedeckter Stirn trotz der Kälte, erwiderte: 429
»Besser der andere, der für überstandene Gefahr. Wir dürfen keine Zeit verlieren. Laßt uns sofort aufbrechen.« Jählings aus dem Schlaf gerissen, brachten die Gedalisten Gepäck und Waffen hinunter und zwängten sich in den Laderaum. Mendel ließ den Motor wieder an. »Richtung Zawiercie!« schrie ihm Gedale zu, der neben ihm in der Kabine Platz genommen hatte. Mendel folgte den Hinweisschildern, die die Russen an allen Straßenecken angebracht hatten, verließ die Stadt und kam auf eine Nebenstraße voller Schlaglöcher und Pfützen. Nach und nach und unter einigem Gekrächz lernte Mendel auch die höheren Gänge einlegen, und sie erreichten eine beträchtliche Geschwindigkeit. Auch die Stöße nahmen dadurch zu, aber keiner beschwerte sich. Es ging eine leichte Steigung hinauf, dann auf der anderen Seite hinunter, Mendel machte einen Bremsversuch: die Bremsen hielten tadellos, und er fühlte sich sicherer, aber die Anspannung des Fahrens ermüdete ihn stark: »Ich halt das nicht mehr lange durch. Wer löst mich ab?« »Sehen wir dann schon«, brüllte Gedale durch den Motorenlärm und das Geschepper des Blechs hindurch. »Sieh erst mal zu, daß wir aus dem besiedeltem Gebiet hinauskommen.« Ungefähr auf der Hälfte der abschüssigen Strecke war ein Kontrollposten eingerichtet: ein unbehauener Baumstamm war einfach quer über die Straße gelegt, von zwei Strünken zu beiden Seiten gestützt. 430
»Was soll ich tun?« »Nicht stehenbleiben! Fahr schneller!« Wie einen Strohhalm wirbelte es den Baumstamm durch die Luft, sie hörten Maschinengewehrsalven, von der Ladefläche gab jemand vereinzelte Schüsse zurück. Der Lastwagen setzte seine Fahrt durch die Nacht fort, und lachend schrie Gedale: »Wie, wenn nicht so? Wann, wenn nicht jetzt?«
Elftes Kapitel Februar – Juli 1945
In der Fahrerkabine saß man recht bequem, für die Männer und Frauen auf der Ladefläche jedoch mengte sich eisige Nachtluft unter den ersten Hauch der Freiheit; von der Kälte und den unbequemen Positionen wurden ihnen die Glieder taub und steif, und die vielen Schlaglöcher versetzten ihnen schmerzhafte Stöße. Einige protestierten, aber Gedale achtete nicht darauf. »Wieviel Benzin haben wir noch?« fragte er Mendel. »Schwer zu sagen. Vielleicht für dreißig, vierzig Kilometer, mehr nicht.« Im Morgengrauen machten sie auf einer Nebenstraße Rast. An deren beiden Seiten zog sich ein eindrucksvolles, unglaublich abwechslungsreiches Schrottgebirge dahin, der einzige Reichtum, den der Krieg produzierte. Zertrümmerte und umgekippte Wagen lagen da, Panzerwagen, Halbkettenfahrzeuge, Boote und Pontons, die zur Flußüberquerung gedient hatten. Auch eine deutsche Feldküche war darunter, die hätten sie gut brauchen können, aber auf der Ladefläche war beim besten Willen kein Platz mehr. Leider. »Wir müssen Benzin auftreiben«, sagte Gedale, »sonst ist unsere Reise bald zu Ende. Verteilt euch, 432
schraubt die Tankdeckel auf und schaut nach, ob was drin ist.« Isidor hatte das meiste Glück, er fand einen Panzerwagen, der auf Rädern ohne Reifen stand, dessen Tank aber fast voll war. »Ob das auch die richtige Qualität ist?« fragte Mottel. »Man kann nicht mehr als probieren«, erwiderte Mendel. »Und dann: im Krieg gewöhnen sich die Motoren an alles.« »Wie wir«, seufzte die schwarze Rokhele, wobei sie sich dehnte und streckte wie eine Katze. Gedale wollte den Lastwagen so schnell wie möglich von der Straße bringen. Bei Tageslicht war er zu auffällig, und sie konnten nicht wissen, ob der Diebstahl und die Durchbrechung des Kontrollblocks nicht angezeigt worden war. Nervös lief er auf und ab: »Beeilt euch mit dem Umfüllen!« Das war aber nicht so einfach, denn es war kein Schlauch da, und keiner von ihnen hatte einen bei sich. Jemand schlug vor, den Panzerwagen umzukippen, aber Isidor sagte: »Ich mach das schon«. Bevor ihn noch jemand zurückhalten konnte, schnappte er sich einen Eimer, zog die ihm zugeteilte Luger und schoß auf das Bodenblech des Tanks. Ein dünner Strahl gelblichen Dieselöls lief heraus. »Und wenn er explodiert wäre?« fragte Pavel, der sich noch nachträglich fürchtete. »Er ist aber nicht explodiert«, gab Isidor zurück. Der Himmel klarte auf, von Süden hörte man fer433
nes Dröhnen der Artillerie. Der Weg nach Westen war frei, die Deutschen hatten sich bis hinter Legnice zurückgezogen, Breslau leistete allerdings noch Widerstand; an der tschechischen Front hatten die Kämpfe nie ausgesetzt. Ein paar Tage lang fuhren sie weiter, bei Nacht, tagsüber versteckten sie den Laster. Mendel konnte nicht die ganze Nacht hindurch fahren, er wurde müde und bat um Ablösung, aber weder Piotr, Arié noch Line waren sonderlich begeistert davon, sich mit ihm abzuwechseln. Isidor hingegen begehrte nichts sehnlicher, er hatte sich in den Lastwagen verliebt, mehr noch als in Rokhele, jede freie Minute brachte er damit zu, ihn von Schlamm und Staub zu säubern, und ließ keine Gelegenheit aus, seinen Kopf unter die Kühlerhaube zu stecken. Mendel gab ihm ein paar Stunden praktischen Unterricht, er lernte unglaublich schnell, und danach brachte ihn keiner mehr vom Steuer weg. Er war ein ausgezeichneter Fahrer, und alle, Mendel als erster, waren froh. Niemand kannte die Gegend. Bei jeder Kreuzung verlangsamte Isidor und fragte Gedale: »Wohin?« Gedale beriet sich mit Schmulek und entschied dann nach Gefühl. Fast zufällig kamen sie so nach Rawitsch an der Grenze zwischen Großpolen und Schlesien. Sie versteckten den LKW im Wald und gingen in kleinen Gruppen in die Stadt; es war dies die erste, nicht vom Krieg zerstörte Stadt auf ihrer ganzen Reise. Das Leben hatte sich noch nicht wieder normalisiert, einige Geschäfte waren jedoch 434
geöffnet, am Bahnhofskiosk gab es Zeitungen, und bunte Plakate kündigten im einzigen Kino der Stadt einen Liebesfilm an. Auf der Hauptstraße führte eine Dame in Pelz und Stöckelschuhen ein katzenartiges Hündchen an der Leine spazieren. Diese Umgebung schüchterte die Gedalisten ein, sie fühlten sich schmutzig und verwildert, aber in der Stadt gab es viele Flüchtlinge, und niemand beachtete sie. Gedale lud Bella, die Weiße und Isidor in ein Lokal auf einen Kaffee ein, dort saßen sie dann aber wie auf Nadeln. Schmulek hatte erst gar nicht in die Stadt mitkommen wollen, zusammen mit drei weiteren Männern hatte er angeboten, beim Lastwagen zu bleiben und ihn und die Waffen zu bewachen. Sie leisteten sich verschiedene, bescheidene Wunderdinge, die sie schon länger ersehnten oder ganz einfach brauchten: Strümpfe, Zahnbürsten, Unterwäsche und Töpfe. Pavel, der das Polnische nur mit Mühe las, erstand an einem Kiosk eine alte illustrierte Ausgabe der Misérables. Bald schon mußte er das Buch Bella abtreten, die leihweise darum bat, aber dann ließ Piotr es sich unter einem Vorwand von Bella geben. Auch bei Piotr blieb das Buch nicht lange: nicht nur verstand er kein Wort Polnisch, sondern er las nicht einmal die Schriftzeichen. In den folgenden Tagen machte das Buch die Runde und wurde schließlich als kollektives Eigentum betrachtet. Alle hatten große Lust, ins Kino zu gehen, Gedale vielleicht am meisten, aber er hatte in der Zeitung 435
gelesen, daß die Amerikaner bei Remagen den Rhein überschritten und Köln erobert hatten. »Wir ziehen ihnen entgegen. Bei ihnen sind wir sicherer. Wir müssen wieder los.« Widerstrebend wandten sie den verführerischen Annehmlichkeiten des Stadtlebens den Rücken. In Rawitsch hatten Flüchtlinge, woher auch immer sie kommen mochten, ein angenehmes Leben. Auf den Straßen waren englische, amerikanische, australische, neuseeländische Militärs unterwegs, alles ehemalige Kriegsgefangene; dann Franzosen, Jugoslawen, Italiener, die freiwillig – oder auch nicht – in den deutschen Fabriken gearbeitet hatten. Die Bevölkerung war gastfreundlich zu allen, auch zu Gedales Juden, die in dem bunten Gewühl untergingen. Am späten Abend fuhren sie weiter in Richtung Glogau. Ein paar Stunden lang ruhten sie sich auf einer Seitenstraße aus, in ihre Decken gehüllt verteilten sie sich auf die Ladefläche, die ihr neues Zuhause geworden war. Kurz vor Morgengrauen machten sie sich wieder auf den Weg. Unmittelbar hinter einer Kurve tauchte im Scheinwerferlicht ein anderes Fahrzeug auf, das in ihre Richtung wies, aber stillstand. Isidor mußte scharf abbremsen. »Reiß das Steuer rum, über die Felder«, rief Gedale ihm zu, aber da war es schon zu spät. Eine Mannschaft von bewaffneten russischen Soldaten hatte das Fahrzeug umstellt. Alle mußten aussteigen. Die Russen waren miserabler Laune, weil ihr Lastwagen im Schlamm steckengeblieben war: er 436
hatte derart abgefahrene Reifen, daß sie auf dem Schnee nicht mehr griffen. Ihr Gefreiter war außer sich vor Wut. Er bedachte den Fahrer mit den ärgsten Schimpfworten, und Gedales Juden kamen ihm gerade recht, um seinen Zorn an ihnen auszulassen. »Wohin fahrt ihr?« fragte er. »Nach Glogau«, antwortete Gedale. »Nichts da Glogau. Vorwärts marsch, alles aussteigen, faßt alle mal mit an. Ja habt ihr nicht verstanden? Los macht schon, ihr Parasiten, faules Pack, verfluchte Ausländer!« Auf jiddisch sagte Gedale rasch: »Die Waffen unter den Decken verstecken, tut was er sagt, ohne Widerrede.« Dann, zu Pavel und Mendel gewandt: »Sprecht ihr zwei, auf russisch. Die Polen sollen den Mund halten.« In den gekreuzten Lichtkegeln der Scheinwerfer zwischen den beiden Fahrzeugen entstand ein heilloses Durcheinander. Fünfzig Mann, so viele waren Gedalisten und Russen gemeinsam, hatten rein physisch um den steckengebliebenen Laster keinen Platz, aber der Gefreite schickte jeden, der sich abseits stellte, unter Flüchen und Beschimpfungen ins Gemenge zurück. Es war alles umsonst, die Stiefel der Helfer rutschten im Schlamm aus, und im übrigen war der Laster so schwer, daß man ihn unter keinen Umständen mit Manneskraft allein auf die Straße zurückgebracht hätte. Mendel fragte Gedale: »Sollen wir ihnen anbieten, sie abzuschleppen? Unsere Reifen sind neu.« 437
»Versuch’s. Vielleicht beruhigt er sich und läßt uns gehen.« »Genosse Gefreiter«, sagte Mendel, »wenn ihr ein festes Seil oder eine Kette habt, dann könnten wir versuchen, euch herauszuziehen.« Der Russe schaute ihn entgeistert an, als hätte er ein Pferd sprechen hören. Mendel mußte sein Angebot wiederholen, worauf der Gefreite wieder auf seine Leute einschimpfte, weil sie nicht schon früher auf die Idee gekommen waren. Ein Seil war da, es war ein Stahlkabel, allerdings ein bißchen kurz. Das Manöver gelang trotzdem. Im ersten Tageslicht fuhr Gedales Laster im Rückwärtsgang an und schleppte, Kühlerhaube an Kühlerhaube, den russischen Wagen ab. Die Straße war zu schmal für ein Wendemanöver und auf die Felder hinauszufahren bedeutete fast mit Sicherheit, im Schlamm steckenzubleiben. Isidor, der den ganzen Oberkörper aus dem Fenster lehnen mußte, machte seine Sache glänzend, aber anstatt sich nun dankbar zu erweisen, fluchte und schimpfte der Gefreite weiter: »Schneller, vorwärts. Schneller doch!« Nach einem Kilometer ungefähr mündete die Seitenstraße endlich auf eine größere Landstraße. Sie blieben stehen und Mendel stieg aus, um das Abschleppseil zu lösen. Von der Kabine aus mahnte Gedale ihn: »Grüß sie recht höflich und wünsch ihnen eine gute Reise. Sei so freundlich, wie du nur kannst, daß sie ja nicht auf die Idee kommen, uns zu durchsuchen.« 438
»Und wenn sie auf die Idee kommen?« »Dann lassen wir sie machen: du wirst doch nicht russische Soldaten angreifen wollen. Wir sehen dann schon, wie die Dinge sich wenden, und welche Lüge wir ihnen aufbinden können.« Die Dinge wendeten sich aber gleich ganz schlecht, und zum Lügen auftischen war erst gar keine Gelegenheit. Kaum war er ausgestiegen, machte der Gefreite seinen Leuten ein Zeichen, und wieder umstellten sie den Lastwagen. Sie ließen die ganze Bande aussteigen, durchsuchten die Ladefläche und fanden natürlich die unter den Decken versteckten Waffen, die Pistolen und Messer allerdings nicht, die hatten die Gedalisten am Leib. Proteste und Bitten waren vergeblich, der Gefreite war Argumenten nicht zugänglich, unter starker Bewachung verteilte er sie auf die beiden Laster, setzte einen seiner Männer ans Steuer des 3 Ro und gab Zeichen zur Abfahrt. »Wohin bringt ihr uns denn?« wagte Pavel schließlich zu fragen. »Wolltet ihr nicht nach Glogau?« antwortete der Gefreite. »Nun, nach Glogau bringen wir euch. Könntet noch froh sein darum.« Bis Glogau machte er den Mund nicht mehr auf und beantwortete keine ihrer Fragen. Glogau, am Fuße einer düsteren Festung gelegen, war die erste deutsche Stadt, auf die die Bande stieß. Glogau war, und ist es noch heute, ein Berg439
bauzentrum, und sie fanden es abstoßend: schwarz vom Braunkohlestaub und umgeben von Dutzenden von Gruben, aus denen die Deutschen lauter kleine Lager gemacht hatten. Die Russen hatten Glogau erst vor ein paar Wochen eingenommen und weder am Stadtbild noch an der Bestimmung der Gruben etwas geändert, nur daß jetzt anstelle der Sklavenarbeiter der Nazilager deutsche Kriegsgefangene anfuhren, Gefangene, die in wenigen Stunden von der Front hierher gebracht wurden. In die Minilager wurden kunterbunt durcheinander alle Versprengten oder sonstigen verdächtigen Elemente eingesperrt, die der Roten Armee in die Hände fielen. Mit den Gedalisten machte man hier kurzen Prozeß. In fünf Minuten war alles erledigt: sie wurden nicht durchsucht, nicht einmal befragt, der 3 Ro verschwand einfach, und die Kämpfer von Kossowo, Ljuban und Nowoselki machten hier zum ersten Mal die Erfahrung, wie entwürdigend es war, von Stacheldraht eingeschlossen zu sein. In dem Lager, dem sie zugeteilt wurden, waren schon fünfzig andere Internierte, polnische, deutsche, französische, holländische und griechische Juden, die die Russen aus dem Lager von Groß-Rosen befreit hatten. Die Baracken waren beheizt, die Russen schickten unregelmäßig, aber stets reichlich Essen, die Front entfernte sich und die Tage wurden zusehends länger. Die ehemaligen Häftlinge traten aber nicht aus ihrer Isolierung heraus. Sie sprachen kaum, flüsterten 440
meist nur, und hoben selten die Augen vom Boden. Vergeblich versuchten die Gedalisten, Kontakte mit ihnen zu knüpfen. Ihre primären Bedürfnisse waren befriedigt, und weiter schienen sie keine Wünsche zu haben, keine Interessen und keine Neugier. Sie stellten keine Fragen und beantworteten auch keine. Auch Frauen waren darunter, sie trugen noch die gestreiften Anzüge und die Holzschuhe an den Füßen, und ihr Haar begann gerade erst wieder zu wachsen. Am Ende der zweiten Nacht verließ Mendel die Baracke, um auf die Latrine zu gehen. Kaum hatte er die Schwelle überschritten, stieß er gegen einen menschlichen Körper, der leblos hin und her baumelte; er war noch warm und hing an einem Strick vom Dachbalken herab. Die Szene wiederholte sich in den nächsten Tagen, wie in einer Art von stummem Wiederholungszwang. Schmulek entfernte sich von den Gedalisten und schloß sich den ehemaligen Häftlingen an. Die anderen hingegen, zuerst Sissl, dann die anderen Frauen der Bande, gewannen nach und nach die Sympathien einer Frau im Lager. Sie hieß Francine und kam aus Paris, aber auf weiten Umwegen: zuerst war sie nach Auschwitz deportiert worden, von da in ein kleines Lager in der Nähe von Breslau, und als dann die Russen schon nah waren, die Deutschen ihre Lager evakuierten und die Gefangenen auf unmöglichen Fußmärschen in neue Gefangenschaft trieben, war ihr schließlich die Flucht gelungen. Francine war Ärztin, hatte aber im Lager ihren Beruf nicht 441
ausüben können, weil sie nicht gut genug Deutsch konnte. So viel aber hatte sie immerhin gelernt, um berichten zu können, was sie gesehen hatte. Sie hatte Glück gehabt, jeder Jude, der am Leben war, mußte von Glück sprechen. Sie hatte aber auch in anderer Hinsicht Glück gehabt: sie hatte ihre Haare noch, als Ärztin waren sie ihr nicht abrasiert worden, die Deutschen hatten da ihre Vorschriften. Francine erklärte, Jüdin zu sein, aber sie glich in nichts den Juden, die die Gedalisten kennengelernt hatten, und sie hätten ihr nicht geglaubt, wäre da nicht die Überlegung gewesen, daß es keinerlei Vorteil brachte, sich als Jude zu deklarieren. Sie sprach kein Jiddisch, verstand es auch nicht und erzählte, als sie in Paris lebte, habe sie nicht einmal gewußt, was für eine Sprache das sei. Sie habe unbestimmt davon reden hören und geglaubt, es handle sich um eine Art entstelltes Hebräisch. Sie war sechsunddreißig, unverheiratet, hatte aber zuerst mit einem, dann mit einem anderen Mann zusammengelebt. Sie war Kinderärztin und ihr Beruf machte ihr Spaß, sie hatte eine eigene Praxis im Zentrum von Paris, und früher hatte sie wunderbare Ferien gemacht, Kreuzfahrten im Mittelmeer, Reisen durch Italien und Spanien, Ski- und Schlittschuhlaufen in den Dolomiten. Sicher, in Auschwitz war sie gewesen, aber sie redete lieber von anderem, von dem Leben vorher. Francine war groß und schlank, hatte rötlich-braunes Haar, und die Züge ihres strengen Gesichtes waren zerstört. 442
Die Begegnung mit Gedales Bande war ein ständiges wechselseitiges Staunen. Ja, im Lager hatte sie osteuropäische Jüdinnen kennengelernt, aber die seien nicht wie die fünf Frauen der Bande gewesen. Sie habe ihre Lagergenossinnen nicht gemocht, sie seien ihr fremd gewesen, hundertmal ferner als ihre christlichen Freundinnen in Frankreich. Alles habe sie an ihnen gestört und gleichzeitig ihr Mitleid erregt: ihre Passivität, ihre Unbildung, ihre primitiven Sitten, die stumme Ergebenheit, mit der sie ins Gas gingen. Ins Gas? Der Ausdruck war neu und Francine mußte ihn erklären. Sie tat es mit knappen Worten, ohne den jüdischen Kämpfern, die sie fast wie Richter befragten, in die Augen zu sehen. Ins Gas, natürlich, wie konnten sie das denn nicht wissen? Zu Tausenden, zu Millionen. Sie wußte nicht wie viele, aber Tag für Tag waren die Frauen um sie herum weggeschmolzen. In Auschwitz war Sterben die Regel, Überleben die Ausnahme, und sie war eine Ausnahme. Eben: jeder überlebende Jude mußte von Glück sprechen. Und sie? Wie hatte sie überlebt? »Ich weiß nicht«, sagte sie. Wie Edek, wie Schmulek, senkte Francine unwillkürlich die Stimme, wenn sie vom Tod sprach. »Ich weiß nicht. Ich traf eine Französin, die Lazarettärztin war, die half mir, sie gab mir zu essen, und eine Zeitlang hat sie mich als Krankenschwester im Lazarett arbeiten lassen. Aber das alles hätte nicht gereicht, viele Frauen aßen mehr als ich und starben doch, sie gaben sich auf. 443
Ich habe durchgehalten, ich weiß auch nicht, warum, vielleicht weil ich mehr am Leben hing als die anderen, oder weil ich an einen Sinn im Leben glaubte. Seltsam, dort im Lager konnte man das eher glauben als hier, dort brachte sich keiner um. Man hatte einfach keine Zeit dazu, man dachte an anderes, ans Brot und an die Abszesse. Hier hat man Zeit, und die Leute bringen sich um. Auch aus Scham.« »Scham worüber?« fragte Line. »Man schämt sich einer Schuld, aber Schuld hat hier keiner.« »Scham darüber, nicht tot zu sein«, entgegnete Francine. »Auch ich empfinde sie, es ist dumm, aber ich empfinde so. Das ist schwer zu erklären. Es ist das Gefühl, die anderen sind an deiner Stelle gestorben, das Gefühl, umsonst, gratis am Leben zu sein, aus irgendeinem Privileg ohne Verdienst, die Toten um etwas betrogen zu haben. Am Leben zu sein ist keine Schuld, aber wir empfinden es als Schuld.« Gedale wich Francine nicht von der Seite, und Bella war eifersüchtig, aber Gedale kümmerte sich nicht darum. »Na bitte«, sagte Bella, »so macht er es immer, das ist so seine Art. Ausländerinnen interessieren ihn. Jedem neuen Schürzenzipfel rennt er hinterher.« Die Fragen Gedales und der anderen beantwortete Francine mit nervöser Wechselhaftigkeit. Ja, Krankenschwester sei sie gewesen; sie habe Mitleid mit den Kranken gehabt, manchmal aber habe auch sie sie geschlagen. Nicht um ihnen weh zu tun, sie könne es nicht erklären, es sei eher zu ihrer eigenen 444
Verteidigung gewesen, um sich gegen ihre Bitten zu wehren, gegen ihre Klagen. Sie wußte vom Gas, alle älteren Lagerinsassen hatten davon gewußt, aber sie sagte es den Neuankömmlingen nicht, was hätte das schon genutzt. Fliehen? Völlig verrückt: fliehen wohin? Und sie, die schlecht Deutsch und überhaupt kein Polnisch sprach? »Komm mit uns«, sagte Sissl zu ihr. »Jetzt ist alles vorbei. Du wirst unser Arzt.« »Und in ein paar Monaten bekommen wir ein Kind«, sagte Isidor und setzte hinzu: »Mein Kind.« »Ich bin nicht wie ihr«, antwortete Francine, »ich kehr nach Frankreich zurück, da bin ich zu Hause.« Sie sah den Roman in Bellas Hand, und als sie »Victor Hugo« las, stürzte sie sich mit einem Freudenschrei darauf: »Oh, ein französisches Buch!«, gleich darauf aber sah sie den unverständlichen polnischen Titel und gab Bella das Buch zurück, die mit kalter Verachtung in ihrer Lektüre fortfuhr. Ein paar Tage lang bemühte sich Pavel mit der Anmut eines Bären, Francine den Hof zu machen, sie aber lachte bloß über sein in Kabaretts aufgeschnapptes Französisch, und ohne ein Drama daraus zu machen, trat Pavel den Rückzug an, allerdings nicht ohne sich zwischen zusammengebissenen Zähnen zu brüsten: »War nicht mein Typ, das hab ich ihr zu verstehen gegeben. Zu raffiniert, zu empfindlich: ein bißchen meschugge, das kommt wohl von all dem Elend, was sie durchgemacht hat, und dann denkt sie nur ans 445
Essen. Ich hab’s mit meinen eigenen Augen gesehen, jeden Brösel, den sie findet, hebt sie auf und steckt ihn in die Tasche. Und dann wäscht sie sich auch zuviel.« Im Lager von Glogau verging die Zeit auf merkwürdige Weise: die Tage waren leer, einer wie der andere, und die Langeweile zog sie in die Länge, in der Erinnerung aber schoben sie sich einer über den anderen, wurden sich zum Verwechseln ähnlich, und die Zeitspanne schnurrte zu einem kurzen Zeitraum zusammen. Wochen vergingen, die Russen waren zerstreut, oft auch betrunken, aber sie gaben ihnen nicht die Erlaubnis zu gehen. Innerhalb der Einzäunung war ein beständiges Kommen und Gehen: Gefangene aller Nationalitäten und Grade kamen an, andere wurden aufgrund von unergründlichen Anweisungen entlassen. Die Griechen zogen ab, dann die Franzosen und mit ihnen Francine; Polen und Deutsche blieben. Der Lagerkommandant war freundlich, aber er zuckte die Achseln, er wußte nichts, es hing nicht von ihm ab, er führte bloß die Befehle aus, die er von seinen Vorgesetzten erhielt. Freundlich, aber bestimmt; praktisch war der Krieg gewonnen, aber es wurde noch gekämpft, und nicht einmal so weit entfernt: um Breslau und auf den Höhen der westlichen Sudeten. Die Vorschriften waren klar, man mußte die Straßen freihalten. »Habt noch ein paar Tage Geduld und verlangt nichts von mir, was ich euch nicht erlauben kann. 446
Und versucht nicht auszubrechen, das ist ein Gefallen, um den ich euch bitte.« Freundlich, bestimmt und neugierig. Er rief Gedale in sein Büro, dann die anderen, jeden für sich. Er hatte die linke Hand verloren und auf der Brust trug er eine Silber- und eine Bronzemedaille. Er mochte ungefähr vierzig sein, war mager und hatte eine Glatze, dunkle Haut, buschige, schwarze Augenbrauen, sprach mit gesetzter, ruhiger Stimme und schien sehr intelligent zu sein. »Meiner Meinung nach heißt Hauptmann Smirnov noch nicht lange Smirnov«, sagte Gedale, als er von der Unterredung zurückkam. »Was willst du damit sagen?« fragte Mottel, der noch nicht drangewesen war. »Ich will sagen, daß er seinen Namen hat ändern lassen. Daß er Jude ist, und lieber nicht will, daß man es weiß. Fühlt ihr mal nach, wenn ihr dran seid. Aber vorsichtig.« »Was sollen wir sagen, und was nicht?« fragte Line. »So wenig wie möglich. Daß wir Juden sind, versteht sich von selbst. Daß wir bewaffnet waren, können wir nicht leugnen; wenn er danach fragt, dann sagt, daß wir Partisanen sind, das ist immer noch besser, als für Banditen gehalten zu werden. Besteht darauf, daß wir gegen die Deutschen gekämpft haben: erzählt, wann und wo. Kein Wort über Edeks Bande und über die Jüdische Kampforganisation. Wenn möglich verliert auch kein Wort über den 447
Laster, denn das war ein starkes Stück. Wenn’s gar nicht anders geht, sagt, wir hätten ihn kaputt gefunden und repariert. Über alles andere seid ihr besser ganz unbestimmt: woher wir kommen, wohin wir gehen. Wer in der Roten Armee war, behalte das für sich, vor allem du, Piotr. Leg dir eine glaubwürdige Geschichte zurecht. Ich glaube aber nicht, daß er von der Polizei ist, er ist selbst neugierig, und wir interessieren ihn.« Mendel war Ende April an der Reihe, als die Birken schon ihre Knospen öffneten und der anhaltende Regen den braunen Legnitstaub von den Barackendächern gewaschen hatte. Die Kriegsmeldungen waren triumphal: Breslau und Wien waren gefallen, die Truppen der Ersten Ukrainischen Front kämpften in den Vorstädten von Berlin. Auch an der Westfront lag Deutschland in den letzten Zügen, die Amerikaner standen in Nürnberg, die Franzosen in Stuttgart und Berchtesgaden, die Engländer an der Elbe. In Italien hatten die Alliierten den Po erreicht, und die italienischen Partisanen hatten noch vor Einzug der Befreiungstruppen die Nazis vertrieben. Hauptmann Smirnov sah elegant aus in seiner gut gebügelten Uniform, er sprach ein einwandfreies Russisch ohne jeden Akzent und hielt Mendel fast zwei Stunden bei sich, wobei er ihm irischen Whisky und kubanische Zigarren anbot. Die Geschichte, die Mendel sich zurechtgelegt hatte, erwies sich als überflüssig: Smirnov wußte eine Menge über ihn, nicht nur seinen Namen, Vatersnamen und Nachnamen. 448
Er wußte, wo und wann er versprengt worden war und wußte auch über die Ereignisse in Nowoselki und Turow Bescheid. Besonders zu interessieren schien ihn das Zusammentreffen mit Wenjamins Bande, und er stellte dazu viele Fragen. Wie hatte er von der Bande erfahren? Von Ulybin selbst? Von Polina Gelman? Oder von den Boten, die mit dem Flugzeug angereist waren? Mendel wußte es nicht genau. »Dann hat euch also dieser Wenjamin nicht gewollt? Und warum?« Mendel blieb ganz allgemein: »Ich weiß nicht, ich könnte es nicht sagen. Ein Partisanenchef muß nun mal mißtrauisch sein, und in den Wäldern hatte sich damals jede Sorte von Leuten versteckt. Oder vielleicht hat er uns nicht für geeignet gehalten, in seine Bande einzutreten, wir kannten ja die Gegend nicht …« »Mendel Nachmanovič, nein, Mendel ben Nachman,« sagte Smirnov unter besonderer Betonung des hebräischen Vaternamens, »mir brauchst du nichts vorzumachen. Ich würde dich gern davon überzeugen, daß ich kein Inquisitor bin, auch wenn ich Informationen sammle und Fragen stelle. Also, ich würde gerne deine Geschichte aufschreiben, damit sie nicht verlorengeht. Die Geschichte von euch allen möchte ich aufschreiben, die der jüdischen Soldaten in der Roten Armee, die denselben Weg eingeschlagen haben wie du und die beides, Russen und Juden geblieben sind, auch dann, als die Russen ihnen in 449
Wort und Tat zu verstehen gaben, daß sie sich entscheiden müßten, daß sie nur entweder das eine oder das andere sein könnten. Ich weiß nicht, ob es mir gelingt, ob ich dieses Buch werde schreiben können, und ob ich es dann schließlich veröffentlichen kann: die Zeiten können sich ändern, zum Guten wie zum Schlechten.« Mendel schwieg erstaunt, verblüfft, hin und her gerissen zwischen Hochachtung und Mißtrauen. Aus alter Gewohnheit mißtraute er jedem, der Wohlwollen zeigte und Fragen stellte. Smirnov fuhr fort: »Du traust mir nicht, und da hast du nicht ganz unrecht. Ich habe dieselbe Erfahrung wie du, auch ich traue nur ganz wenigen, und oft muß ich gegen die Versuchung ankämpfen, dem Vertrauen nachzugeben. Denk darüber nach; eines aber will ich dir sagen, ich bewundere dich und deine Genossen, und ein bißchen beneide ich euch auch.« »Du beneidest uns? Wir sind nicht zu beneiden. Unser Weg war schwer. Worum beneidest du uns?« »Darum, daß ihr euch keine Wahl habt aufzwingen lassen; darum, daß ihr euer Schicksal selbst bestimmt habt.« »Genosse Hauptmann«, sagte Mendel, »der Krieg ist nicht zu Ende und noch wissen wir nicht, ob dieser Krieg nicht einen anderen hervorbringt. Vielleicht ist es noch zu früh, um unsere Geschichte zu schreiben.« »Ich weiß«, sagte Smirnov. »Ich weiß, was Partisanenkrieg bedeutet. Ich weiß, daß ein Partisan 450
womöglich Dinge gesehen und getan haben mag, die er nicht erzählen darf. Ich weiß aber auch, daß das, was ihr in den Wäldern und Sümpfen gelernt habt, nicht verlorengehen darf; und es genügt nicht, daß es in einem Buch überlebt.« Diese letzten Worte hatte Smirnov unter Betonung jeder einzelnen Silbe gesprochen und Mendel dabei fest in die Augen geschaut. »Was willst du damit sagen?« fragte Mendel. »Ich weiß, wohin ihr geht und daß euer Krieg noch nicht zu Ende ist. In ein paar Jahren wird er von neuem beginnen, und nicht mehr gegen die Deutschen. Nicht für Rußland, aber mit seiner Unterstützung. Und Männer wie du zum Beispiel werden dann gebraucht. Du könntest anderen beibringen, was du gelernt hast, an der Front in Kursk, in Nowoselki, in Turow und womöglich noch anderswo. Denk darüber nach, Artillerist, denk auch daran.« Mendel fühlte sich, als hätte ihn ein Adler in seine Klauen genommen und hoch in die Lüfte entführt. »Genosse Hauptmann«, entgegnete er, »dieser Krieg ist noch nicht ganz zu Ende, und du erzählst mir schon vom nächsten. Wir sind müde, wir haben viel durchgemacht und ertragen, und viele von uns sind tot.« »Ich kann dir nicht unrecht geben. Und selbst wenn du mir erzähltest, du wolltest wieder als Uhrmacher anfangen, könnte ich es nicht. Überleg es dir aber trotzdem.« Der Hauptmann schenkte Mendel und sich selbst 451
Whisky ein, hob sein Glas und sagte: »L’khàyim!« Mendel fuhr auf: dieser Ausdruck bedeutet auf hebräisch »Auf deine Gesundheit!«, und man verwendet ihn eben, wenn man anstößt; er hat aber auch eine weitere Bedeutung, denn wörtlich heißt er »Auf das Leben!«. Nur wenige Russen kennen ihn und die meisten sprechen ihn falsch aus; Smirnov aber hatte das »kh« völlig korrekt hart aspiriert. In den folgenden Tagen rief Smirnov alle Gruppenmitglieder, einen nach dem anderen zu sich, einige auch mehrmals. Zu allen war er ausnehmend freundlich, aber um seine Person und seine wahre Identität entstanden nicht enden wollende Diskussionen. Ein konvertierter Jude; ein maskierter Jude; ein Jude, der sich als Christ ausgibt oder ein Christ, der sich als Jude ausgibt. Ein Historiker. Ein Schnüffler. Viele hielten ihn für zumindest verdächtig, und einige sagten rundheraus, er sei ein Spitzel vom NKWD, nur ein bißchen schlauer als die anderen. Der Großteil der Gedalisten aber, und dazu gehörten auch Mendel und Gedale selbst, faßten Vertrauen zu ihm und erzählten von den Unternehmungen der Bande und von ihren persönlichen Erlebnissen, denn, so sagt das Sprichwort: »Ibergekumene tsores iz gut tsu dertseyln«, überstandenes Leid ist gut zu erzählen. So heißt es in allen Sprachen, im Jiddischen aber klingt es besonders überzeugend. In den denkwürdigen Tagen Anfang Mai 1945, mit denen der Zweite Weltkrieg an allen europäischen 452
Fronten zu Ende ging, verschwanden die Russen, die die Lager von Glogau beaufsichtigt hatten, wie ein nächtlicher Spuk. Bei Nacht und Nebel, ohne Gruß und ohne Abschied waren sie alle abgezogen, und keiner wußte, ob sie nun abkommandiert, demobilisiert oder einfach vom allgemeinen Siegestaumel der Roten Armee erfaßt und weggeschwemmt worden waren. Es gab keine Wachen mehr, die Tore standen offen, die Vorratslager waren leer. Außen an ihrer Baracke fanden die Gedalisten einen Zettel, der in aller Eile geschrieben und dort hingenagelt worden war: Wir müssen weg. Grabt hinter den Küchenkaminen, da liegt ein Geschenk für euch. Wir brauchen die Sachen nicht mehr. Viel Glück. Smirnov. Hinter den Küchenkaminen fanden sie einige Handgranaten, drei Pistolen, eine deutsche Schnellfeuerpistole, einen kleinen Vorrat an Munition, eine Generalstabskarte von Sachsen und Bayern und ein Bündel Geld: achthundert Dollar. Und wieder machte Gedales Bande sich auf den Weg, nicht mehr nachts, nicht mehr auf Schleichwegen und auch nicht mehr durch verwilderte, verlassene Landstriche, sondern auf den Straßen Deutschlands, des ehemals blühenden und stolzen, nun zerstörten Deutschland. Verschlossene Gesichter bildeten eine Mauer an ihrem Weg, Gesichter, gezeichnet von der neuen 453
Ohnmacht, die den alten Haß nur um so verhängnisvoller schürte. »Oberste Regel: zusammenbleiben!« hatte Gedale gesagt. Meist gingen sie zu Fuß, und nur ab und zu baten sie, auf einem sowjetischen Fahrzeug mitfahren zu dürfen, aber nur dann, wenn für alle Platz war. Die weiße Rokhele war nun fast im siebten Monat: ihr allein erlaubte Gedale, auf Pferdewagen aufzusitzen, aber dann gab ihr die ganze Bande das Geleit. Vor dem gleichgültigen Panorama einer Frühlingslandschaft zerfiel die Bevölkerung auf den Straßen gleichsam in zwei ungleiche Teile: die einen niedergeschlagen, die anderen in Festtagsstimmung. Blind vor Müdigkeit kehrten Deutsche zu Fuß oder auf Wagen in ihre zerstörten Städte zurück; auf anderen Wagen strömten Bauern herbei, um den Schwarzmarkt zu versorgen. Die sowjetischen Soldaten hingegen flitzten auf Fahrrädern, Motorrädern, Militärfahrzeugen und beschlagnahmten Autos unter Singen, Hupen und Schüssen in die Luft, wie verrückt in alle Richtungen. Mit knapper Not entgingen die Gedalisten einem Dodge, der sie beinah überfahren hätte; er hatte zwei Flügel geladen: zwei Offiziere in Uniform spielten im Duett darauf die Ouvertüre 1812 von Tschaikowski, während der Fahrer, unter völliger Nichtbeachtung der Fußgänger und kräftigem Hupen den Wagen mit brüsken Manövern durch das Gewühl von Karren und Wagen steuerte. Ehemalige Häftlinge aller Nationalitäten zogen allein oder in 454
Gruppen umher, Männer und Frauen, Zivile in abgerissener Zivilkleidung, alliierte Militärs in der KhakiUniform mit dem großen KG auf dem Rücken: alle auf dem Heimweg oder auf der Suche nach irgendeiner Unterkunft. Ende Mai lagerte die Bande vor den Toren des Städtchens Neuhaus bei Dresden. Seit sie sich auf deutschem Boden bewegten, hatten sie die Erfahrung gemacht, daß in den größeren Zentren, die alle halbzerstört, fast menschenleer und ausgehungert waren, kaum Lebensmittel aufzutreiben waren. Pavel, die schwarze Rokhele und zwei weitere Männer, die zur Vorratsbeschaffung ausgeschickt waren, klopften an die Tür eines Bauernhauses, zwei-, dreimal, aber es antwortete niemand. »Gehen wir rein?« schlug Pavel vor. Die Fensterläden waren in lebhaften Farben frisch gestrichen. Sie gaben sofort nach, dahinter kamen aber keine Fensterscheiben zum Vorschein, sondern eine massive Betonwand, und anstelle des Fensters befand sich eine Schießscharte. Das war kein Bauernhaus, sondern ein getarnter Bunker, der jetzt leer stand und zu nichts mehr nütze war. In der Ortschaft dagegen wimmelte es von Menschen. Sie war von Stadtmauern umgeben, und durch die Tore gingen alte Männer und Frauen aus und ein, scheu und verhungert schleppten sie Wagen mit Lebensmitteln oder irgendwelchem Kram hinter sich her. Am Stadttor standen zwei offenbar unbewaffnete Wachen in Zivil und blickten finster drein. 455
»Was wollt ihr?« fragten sie die vier, die sie als ortsfremd erkannt hatten. »Etwas zum Essen kaufen«, antwortete Pavel in seinem besten Deutsch. Eine der Wachen bedeutete ihnen mit einer Kopfbewegung, sie könnten eintreten. Der Ort war nicht zerstört worden. Die mit Kopfstein gepflasterten Straßen liefen zwischen malerischen Fassaden dahin, deren lebhafte Farben von den schwarzgestrichenen Fachwerkbalken unterbrochen waren. Die Szenerie schien heiter, das menschliche Personal war aber eher beunruhigend. Die Straßen waren überfüllt von Leuten, die scheinbar zielund zwecklos in alle Richtungen liefen: alte Leute, Kinder, Versehrte; gesunde Männer mittleren Alters gab es keine. Auch in den Fenstern lagen verschreckte, mißtrauische Gesichter. »Hier sieht’s aus wie im Getto,« murmelte Rokhele, die in Kossowo gewesen war. »Es ist eins«, gab Pavel zurück. »Das müssen Flüchtlinge aus Dresden sein. Jetzt sind sie dran.« Sie hatten auf jiddisch gesprochen, scheinbar etwas zu laut, denn eine dicke Frau wandte sich an ihren ältlichen Begleiter und sagte laut und vernehmlich: »Da sind sie schon wieder, frecher denn je.« Dann setzte sie direkt zu den vier Juden gewandt hinzu: »Euer Platz ist nicht hier.« »So, und wo dann?« fragte Pavel gutgläubig. »Hinter Stacheldraht«, gab die Frau zurück. Im ersten Impuls packte Pavel sie bei ihren Mantel456
aufschlägen, ließ sie aber gleich wieder los, denn aus den Augenwinkeln hatte er gesehen, daß sich eine Menschenmenge um sie ansammelte. Im gleichen Augenblick hörte er über seinem Kopf einen einzelnen Schuß, und Rokhele an seiner Seite schwankte und fiel vornüber zu Boden. Die Leute rundherum waren im selben Augenblick verschwunden und auch die Fenster leerten sich. Pavel kniete neben dem Mädchen nieder: sie atmete, aber ihre Glieder waren schlaff und leblos. Sie blutete nicht, Wunde sah man keine. »Sie ist in Ohnmacht gefallen, tragen wir sie weg,« sagte Pavel zu den anderen beiden. Im Lager untersuchten Sissl und Mendel sie genauer. Doch, eine Wunde war da, von den dichten, schwarzen Haaren fast völlig verdeckt: ein sauberes, kleines Einschußloch oberhalb der linken Schläfe. Es war kein zweites Loch da, die Kugel saß also im Kopf. Die Augen waren geschlossen. Sissl hob die Lider, und man sah nur das Weiße des Augapfels, die Pupillen waren nach oben verdreht und in die Augenhöhlen gesunken. Rokhele atmete immer oberflächlicher, unregelmäßig, und der Puls war nicht mehr zu fühlen. Solange sie noch am Leben war, wagte keiner zu sprechen, als könnten Worte diesen schwachen Lebenshauch unterbrechen. Am Abend war das Mädchen tot. Gedale sagte: »Los, gehen wir, und mit sämtlichen Waffen.« Bei Nacht brachen sie auf, alle, nur Bella und Sissl 457
blieben im Lager zurück, um das Grab auszuheben, und die Weiße, um beim Leichnam ihrer schwarzen Namensvetterin das Totengebet zu sprechen. Viele Waffen hatten die Gedalisten nicht, aber der Zorn trieb sie voran wie der Sturm ein Schiff. Eine zwanzigjährige Frau, nicht einmal eine aktive Kämpferin; eine Frau, die dem Getto und Treblinka hatte entrinnen können, war jetzt getötet worden, jetzt, in Friedenszeiten, hinterrücks, grundlos und von deutscher Hand. Eine unbewaffnete Frau, fröhlich, unbeschwert und unermüdlich bei der Arbeit, eine, die klaglos alles hinnahm, die einzige, die nicht der lähmenden Verzweiflung erlegen war, Mendels Heizerin, Piotrs Frau. Piotr raste vor Zorn, mehr als die anderen, sah aber auch am klarsten, was zu tun war. »Zum Rathaus«, sagte er kurz. »Die was zählen, sind bestimmt dort.« Rasch und geräuschlos gelangten sie bis an die Stadttore. Wachtposten waren keine da, und im Laufschritt drangen sie durch die verlassenen Straßen vor, während Mendel ferne, verblaßte Bilder in den Sinn kamen, Bilder, die Sand im Getriebe, kein Antrieb sind. Simeon und Levi, die durch ein Blutbad an Sichem und seinen Untertanen die Schande rächen, die ihrer Schwester angetan ward. War jene Rache gerecht? Gab es überhaupt gerechte Rache? Nein, es gab sie nicht. Aber du bist ein Mensch, und es ist dein Blut, das nach Rache schreit, und also läufst du hin und zerstörst und mordest. Wie sie, wie die Deutschen. 458
Sie umstellten das Rathaus. Piotr hatte recht gehabt: in Neuhaus war die Stromversorgung noch nicht wiederhergestellt, die Straßen lagen im Dunkel, und dunkel war auch der größte Teil der Fenster, nur im ersten Stock des Rathauses war eine Reihe von Fenstern schwach erleuchtet. Piotr hatte um die Schnellfeuerpistole, das Geschenk von Smirnov, gebeten und sie auch bekommen. Aus seinem Versteck im Schatten des Hauses erschoß er mit zwei gezielten Schüssen die beiden Männer, die vor dem Eingang Wache hielten. »Schnell jetzt«, schrie er. Er lief zur Tür und versuchte sie mit Gewalt aufzusprengen, erst mit dem Kolben der Pistole, dann mit der Schulter, sie war aber schwer und gab nicht nach, und schon hörte man von drinnen erregte Stimmen. Arié und Mendel traten von der Fassade weg und warfen gleichzeitig jeder eine Handgranate auf die erleuchteten Fenster. Ein Regen von Glasscherben ging auf die Straße nieder, drei endlose Sekunden verstrichen, bis man schließlich die beiden Explosionsschläge vernahm: sämtliche Fenster im ersten Stock gingen zu Bruch und spieen Holzstücke und Papierfetzen auf die Straße. Gleichzeitig half Mottel Piotr beim Aufbrechen der Tür, aber vergeblich. »Warte!« rief er ihm zu, und im Nu war er zu den Fenstern im Erdgeschoß hinaufgeklettert, stieß mit der Hüfte die Scheiben ein und sprang ins Innere. Wenige Sekunden später hörte man ihn drei, vier Schüsse aus seiner Pistole 459
abgeben, und gleich darauf wurde die Tür von innen geöffnet. »Ihr bleibt hier draußen und laßt niemand entkommen«, befahl Piotr vieren von den Männern aus Ruzany; er selbst und alle anderen stürzten die Treppen hinauf, wobei sie über den Leichnam eines alten Mannes setzen mußten, der quer über die Stiege lag. Im Ratssaal standen vier Männer mit erhobenen Händen; weitere zwei waren tot, der siebte stöhnte in einem Winkel und bewegte sich schwach. »Wer ist der Bürgermeister?« brüllte Gedale, aber schon hatte Piotr den Schnellfeuerhahn entsichert und alle niedergemäht. Es hatte niemand einzugreifen, keiner zu fliehen versucht, und die vier als Wache aufgestellten Männer hatten niemanden kommen sehen. Im Keller fanden sie Brot, Schinken und Speck und kehrten beladen und unversehrt ins Lager zurück, aber gleich sagte Gedale: »Wir müssen hier weg. Begrabt die Schwarze, baut die Zelte ab und sofort marsch, auf den Weg: die Amerikaner sind nur dreißig Kilometer weit weg.« Sie marschierten bei Nacht, eilig und mit Gewissensbissen wegen der allzuleichten Rache, und mit Erleichterung, weil sie es hinter sich hatten. Die Weiße marschierte tapfer mit, umschichtig von den anderen gestützt, damit sie nicht zurückblieb. Mendel ging an der Spitze zwischen Line und Gedale. »Habt ihr sie gezählt?« fragte Line. »Zehn«, antwortete Gedale. »Zwei bei der Tür, 460
einen hat Mottel auf der Treppe erschossen, sieben im Saal.« »Zehn gegen einen«, sagte Mendel. »Wir haben es so gemacht, wie sie: zehn Geiseln für einen Deutschen.« »Deine Rechnung stimmt nicht«, sagte Line. »Die zehn in Neuhaus waren nicht für Rokhele, sie gehen auf das Konto der Millionen von Auschwitz. Denk dran, was die Französin erzählt hat.« Mendel erwiderte: »Blut sühnt man nicht mit Blut, sondern nur durch Gerechtigkeit. Wer auf Rokhele geschossen hat, war ein Vieh, und Vieh will ich keins werden. Wenn die Deutschen mit Gas getötet haben, sollen wir deswegen alle Deutschen mit Gas umbringen? Wenn die Deutschen zehn für einen ermorden, und wir es so machen wie sie, dann werden wir auch so wie sie, und es gibt nie mehr Frieden.« Gedale schaltete sich ein: »Wahrscheinlich hast du recht, Mendel. Aber wie erklärt es sich dann, daß ich mich jetzt wohler fühle?« Mendel erforschte sich selbst und mußte zugeben: »Ja, auch ich fühle mich wohler. Aber das beweist nichts. In Neuhaus, das waren Flüchtlinge aus Dresden. Smirnov hat es mir erzählt: in Dresden sind in einer einzigen Nacht 140 000 Deutsche umgekommen. In jener Nacht gab es einen derartigen Brand in Dresden, daß die Laternenmasten schmolzen.« »Wir haben Dresden nicht bombardiert«, sagte Line. 461
»Genug davon«, sagte Mendel. »Es war das letzte Mal, dieser Kampf. Gehen wir, gehen wir zu den Amerikanern.« »Schauen wir mal, wie die aussehen«, meinte Gedale, den die Probleme, die Mendel beschäftigten, nicht sonderlich zu berühren schienen. »Der Krieg ist aus, das ist nicht leicht zu begreifen, nach und nach werden wir’s schon verstehen, daß er aus ist. Morgen beginnt ein neuer Tag, und es wird nichts zu schießen geben und keinen Grund, sich zu verstecken. Kommt, laßt uns einen Ort suchen, wo er in Frieden zur Welt kommen kann.« »Wer: er?« fragte Line. »Das Kind. Unser Sohn. Der Sohn der beiden Unschuldigen.« Mit sehr gemischten Gefühlen zogen sie ins Niemandsland ein. Schüchtern und unsicher waren sie, fühlten sich wie frisch gewaschen, wie unbeschriebene Blätter, wie zu Kindern geworden. Erwachsene und wilde Kinder allerdings, gereift an den Unbillen, der Isolation, in Biwaks und im Krieg, und irgendwie kamen sie sich fehl am Platze vor an dieser Schwelle zum Abendland und zum Frieden. Da hatten sie ihn nun also unter ihren hundertmal geflickten Stiefeln, den feindlichen Boden, das Land des Vernichters, den Boden Germanien-Deutschlands, Dajcland-Niemcy: eine klare freundliche Landschaft, vom Krieg unberührt. Aber Vorsicht, der Schein trog, das wahre Deutschland war in den Städten, einen Ausschnitt 462
davon hatten sie in Glogau und Neuhausen gesehen; Deutschland, das hieß Dresden, Berlin und Hamburg, wovon sie mit Schrecken hatten erzählen hören. Dort war das wahre Deutschland, das sich am Blut berauscht hatte und nun dafür büßte, ein tödlich verwundeter, hingestreckter Leib, schon in Verwesung begriffen und nackt; neben barbarischen Siegesfreude empfanden sie ein neues Unbehagen: sie kamen sich zudringlich und schamlos vor wie Voyeure. Zu beiden Seiten der Straßen sahen sie Häuser mit vergitterten Fenstern, wie erloschene Augen oder Augen, die nicht mehr sehen wollten; einige der Häuser hatten noch das traditionelle Strohdach, andere waren abgedeckt oder das Dach war abgebrannt. Eingestürzte Kirchtürme, Sportplätze, auf denen das Unkraut wucherte. In den Ortschaften auf den Trümmerhaufen Schilder mit der Aufschrift: »Nicht betreten: Menschenleichen.« Lange Schlangen vor den wenigen geöffneten Geschäften; Leute, die eifrigst bemüht waren, die Symbole der Vergangenheit zu übertünchen oder wegzumeißeln, all die Adler und Hakenkreuze, die tausend Jahre hätten überdauern sollen. Von den Balkonen wehten eigenartige rote Fahnen: deutlich erkennbar noch die dunklere Spur des Hakenkreuzes, das schleunigst abgetrennt worden war. Je weiter sie vorrückten, desto seltener wurden die roten Fahnen, bis sie schließlich ganz verschwanden. Gedale sagte zu Mendel: »Freu dich nicht, wenn dein Feind stürzt; hilf ihm aber auch nicht beim Aufstehen.« 463
Die Demarkationslinie zwischen den beiden Heeren stand noch nicht fest. Am Morgen ihres zweiten Marschtages befanden sie sich in einer sanften, freundlichen Hügellandschaft, grün und braun und gesprenkelt von Villen und Bauernhöfen überall. Auf den Feldern waren die Bauern bereits an der Arbeit. »Amerikaner?« Die Bauern zuckten bloß mißtrauisch die Achseln und deuteten unbestimmt nach Westen. »Russen?« Nix Russen, hier keine Russen. Ohne den Übergang sonderlich gewahr zu werden, befanden sie sich plötzlich mitten unter Amerikanern. Die ersten Patrouillen, denen sie begegneten, musterten die abgerissene Karawane der Gedalisten ohne sonderliches Interesse: Deutschland war voll von Flüchtlingen, da hatten sie schon Schlimmeres gesehen. Erst in Scheibenberg hielt eine Streife sie auf und brachte sie ins Etappenkommando. Im Erdgeschoß einer beschlagnahmten Villa war ein kleines Büro eingerichtet, das brechend voll war mit Menschen, vorwiegend Deutschen, die aus den bombardierten Städten evakuiert oder auf der Flucht vor den Russen waren. Die Mitglieder der Bande ließen ihr Gepäck und im Gepäck ihre Waffen unter Mottels Obhut zurück und stellten sich ordentlich in der Schlange an. »Sprich du für uns alle«, sagte Gedale zu Pavel. Der aber war eingeschüchtert: »Aber ich kann doch kein Englisch. Ich tu so als 464
ob, aber ich kau bloß ein bißchen auf den Worten herum, wie Schauspieler und Papageien.« »Das macht nichts. Er fragt dich bestimmt auf deutsch. Und du antworte in schlechtem Deutsch, sag, wir sind Italiener und wollen nach Italien.« »Das glaubt er mir bestimmt nicht. Wir sehen nicht aus wie Italiener.« »Versuch’s! Wenn’s klappt, gut. Wenn nicht, dann sehen wir schon. Wir riskieren nicht viel, Hitler ist ja nicht mehr.« Der Amerikaner hinter dem Schreibtisch saß in Hemdsärmeln da, verschwitzt und gelangweilt, und er fragte Pavel in überraschend gutem Deutsch. So, daß Pavel Schwierigkeiten hatte, sich ein im Munde eines Italieners einigermaßen glaubwürdiges Idiom zurechtzulegen. Glücklicherweise schien es dem Amerikaner völlig gleichgültig zu sein, was Pavel da erzählte und wie; die Bande, ihre Zusammensetzung, ihre Absichten, ihre Vergangenheit und Zukunft interessierten ihn nicht. Nach ein paar Minuten sagte er zu Pavel: »Bitte, könnten Sie sich etwas kürzer fassen.« Nach einer weiteren Minute unterbrach er ihn und sagte, er und seine Genossen sollten draußen, vor der Villa, warten. Pavel kam heraus, alle nahmen ihre Rucksäcke wieder auf die Schultern und verließen Scheibenberg »unter der Macht einer starken Hand«. Gedale meinte: »Es ist nicht gesagt, daß alle Amerikaner so zerstreut sind, und wir wissen nicht, welche Abkommen 465
zwischen Russen und Amerikanern bestehen. Deshalb: wer noch sowjetische Uniformen oder Abzeichen anhat oder im Gepäck mit sich trägt, sollte sie schleunigst verschwinden lassen. Wenn sie uns zurückschicken, das wäre gar nicht lustig.« Sie hatten nun keine Eile mehr. In kleinen Etappen zogen sie nach Westen und machten häufig Rast in der neuen Umgebung, die idyllisch und tragisch zugleich war. Häufig zogen amerikanische Militäreinheiten motorisiert oder zu Fuß an ihnen vorbei auf dem Weg ins Innere Deutschlands, oder sie trafen auf endlose Kolonnen von deutschen Kriegsgefangenen unter der Aufsicht von amerikanischen Soldaten, Weißen und Schwarzen, denen das Gewehr lässig von der Schulter baumelte. Auf dem Bahnhof von Chemnitz stand auf einem Abstellgleis, startbereit in Richtung Demarkationslinie, ein Güterzug mit fünfzig Waggons. Er hatte den gesamten Maschinenpark einer Papierfabrik geladen samt Vorräten, riesigen Papierrollen und dem Mobiliar der Büros. Als Wache war nur ein einziger Soldat bei dem Konvoi; er war sehr jung und blond, trug die sowjetische Uniform und hatte sich auf einem Sofa mitten unter den Maschinen ausgestreckt. Piotr begrüßte ihn auf russisch, sie kamen ins Gespräch, und der junge Soldat erklärte ihm, daß die Papierfabrik nach Rußland gebracht würde, wohin genau wußte er auch nicht; es war ein Geschenk der Amerikaner an die Russen, weil die russischen Fabriken alle kaputt waren. An Piotr stellte der Soldat keine Fragen. 466
Ein Stück weiter lag eine ausgebombte Fabrik, vermutlich eine mechanische Werkstatt. Eine Gruppe von Kriegsgefangenen schaufelte unter Aufsicht von amerikanischen Offizieren und Technikern die Trümmer beiseite. Sie gingen aber nicht wie normale Erdarbeiter vor, sondern eher wie Archäologen: ganz vorsichtig setzten sie die Schaufel an, ja oft arbeiteten sie mit den Händen, und die Amerikaner beugten sich aufmerksam über jedes metallene Fundstück, untersuchten und etikettierten es und legten es dann sorgfältig beiseite. Rokhele beklagte sich nicht, aber sie war erschöpft, und ihr Zustand machte allen Sorgen. Das Gehen bereitete ihr immer mehr Mühe, von Tag zu Tag schwollen ihre Knöchel dicker an, so daß sie keine Stiefel mehr tragen konnte, und sogar das Oberleder der Halbschuhe, die Mendel ihr besorgt hatte, mußte er ihr recht und schlecht zusammenschneiden, bis sie schließlich überhaupt nur noch in Pantinen ging. Über kurze Strecken trugen sie sie auf einer Bahre, aber es war klar, daß dies auf die Dauer keine Lösung sein konnte. Mitte Juni kamen sie nach Plauen an der Eisenbahnstrecke Berlin – München – Brenner, und Gedale schickte Pavel und Mottel voraus, um die Situation zu erkunden. Die Situation war konfus: die Züge fuhren unregelmäßig zu unvorhersehbaren Zeiten und waren hoffnungslos überfüllt. Sie schlugen ihr Lager im Wartesaal auf, der eine Art öffentlicher Schlafsaal geworden war. Sie hatten nicht mehr genug Geld in der Kasse, um die Reise sämtlicher 467
Bandenmitglieder bis zum Brenner zu bezahlen, wie Gedale das gewollt hätte. Zusätzliches Geld kostete sie eine gynäkologische Untersuchung für die Weiße. Sie ging kurzfristig in eine Klinik und kehrte begeistert zurück von der Sauberkeit und der Ordnung, die sie dort vorgefunden hatte. Sie war gesund, die Schwangerschaft normal, nur ein bißchen überanstrengt. Laufen ja, aber nicht zu viel. Unterdessen zog der größere Teil der Bande in der Stadt umher, einerseits aus touristischem Interesse, andererseits auf der Suche nach Tauschmöglichkeiten, um an etwas Geld zu kommen. »Die Winterkleidung ja, denn wir fahren nach Süden und es geht auf den Sommer zu«, hatte Gedale gesagt. Die Küchengeräte nur, wenn ein guter Preis geboten wurde, die Waffen um keinen Preis. Keiner der Gedalisten hatte Erfahrung im Stadtleben, nur Leonid hatte sie gehabt, und jetzt vermißten sie ihn. Die Kontraste in Plauen erstaunten sie und schüchterten sie ein: durch die Straßen voller Trümmer zog der Milchmann mit seinem Karren und der Klingel, jeden Morgen pünktlich zur selben Stunde. Kaffee und Fleisch hatten aberwitzige Preise, Silber wurde eher günstig angeboten. Für ein paar Mark erstand Mottel einen schönen Fotoapparat mitsamt eingelegtem Film. Sie stellten sich in der Gruppe auf, einige standen, andere hockten sich in der ersten Reihe nieder, die Waffen gut sichtbar. Alle wollten mit aufs Bild, und so mußten sie einen Passanten bitten, sie vor dem Hintergrund von Häusern in Trümmern 468
zu fotografieren. Die Züge funktionierten schlecht, dafür funktionierte das Reisebüro, das einzige in der Stadt, die Telefonverbindung war wiederhergestellt, und sie wußten dort mehr als am Bahnhof. Trotzdem entfernte sich Gedale nie sehr weit von der Bahnlinie. Man sah ihn häufig in Begleitung eines Eisenbahnarbeiters. Gedale war großzügig zu ihm, spendierte ihm im Gasthaus Bier und eines Tages sah man sie im Gärtchen beim Bahnhof, wohin sie sich zurückgezogen hatten: Gedale spielte Geige und der Deutsche Flöte, beide waren völlig ernst und in ihr Spiel vertieft. Ohne weitere Erklärungen verlangte Gedale, daß sich keiner zu weit vom Bahnhof entfernte. Vielleicht würden sie schon bald abreisen, auf alle Fälle mußten sie alle in wenigen Minuten erreichbar sein. Sie blieben aber noch einige Wochen in einer Atmosphäre der Trägheit und unbestimmten Erwartung auf dem Bahnhof. Es war warm, im Bahnhof war eine Dienststelle des Roten Kreuzes in Betrieb, die täglich an alle, die danach verlangten, Suppe ausgab; vereinzelte Flüchtlinge und Versprengte aller Rassen und Nationalitäten kamen und gingen. Einige Bewohner von Plauen knüpften zaghaft Beziehungen zu den lagernden Gedalisten an, sie waren neugierig, stellten aber keine Fragen. Immer wieder blieben die Dialoge in Sprachschwierigkeiten stekken. Wer Jiddisch spricht, versteht Deutsch recht gut, und umgekehrt; im übrigen aber sprachen sämtliche Gedalisten mehr oder weniger fließend Deutsch, mit 469
mehr oder weniger deutlichem jiddischem Akzent. Die beiden historisch verschwisterten Sprachen kamen ihren Sprechern jedoch vor wie die Karikatur der jeweils anderen, so wie uns Menschen die Affen als unsere eigene Karikatur vorkommen (und wir ihnen sicher ebenfalls). Wahrscheinlich hat diese Tatsache mit beigetragen zu dem tief verwurzelten Groll der Deutschen gegen die aschkenasischen Juden, die ihr Hochdeutsch verpfuschen. Hier aber lagen die Gründe für das behinderte gegenseitige Verständnis tiefer. Den Deutschen erschienen diese jüdischen Fremdlinge so ganz anders als die ortsansässigen jüdischen Bürger, die sich widerstandslos hatten einfangen und hinschlachten lassen, und sie fanden sie verdächtig. Sie waren zu prompt in ihren Reaktionen, zu energisch, schmutzig, zerlumpt und stolz, zu unberechenbar und primitiv, kurz: zu »russisch«. Die Juden ihrerseits sahen sich vor die unerfüllbare Notwendigkeit gestellt, einen Unterschied zu machen zwischen den Menschenjägern, denen sie entkommen waren und an denen sie leidenschaftlich Rache genommen hatten, und diesen schüchternen, verschlossenen Alten, den freundlichen, blonden Kindern, die an der Tür des Bahnhofs standen wie vor den Käfigen eines Zoos. Sie waren nicht ihre Feinde, nein: aber ihre Väter, ihre Lehrer, ihre Söhne und sie selbst gestern und morgen. Wer sollte diesen Wirrwarr lösen? Er war nicht zu lösen. So schnell wie möglich abfahren. Auch dieser Boden brannte unter den Füßen, dieses gekämmte, ordnungslie470
bende Land, diese sanfte, laue Hochsommerluft, das alles war nicht geheuer. Fort, nur fort von hier, schließlich sind wir nicht vom Rande Polesjens gekommen, um hier im Wartesaal von Plauen an der Elster unsere Zeit zu verschlafen, zum Zeitvertreib Gruppenfotos zu schießen und Rote-Kreuz-Suppen zu löffeln. Aber am 20. Juli kam plötzlich mitten in der Nacht das Zeichen zur Abreise und erfüllte den allgemeinen, unausgesprochenen Wunsch. Gedale rüttelte die Schlafenden im Wartesaal wach: »Alles sofort auf die Beine mit geschnürtem Gepäck. Folgt mir leise, wir fahren in einer halben Stunde.« In dem Durcheinander, das nun entstand, überstürzten sich Fragen und hastig gegebene Erklärungen: alle sollten ihm folgen, nicht weit, nur bis zum Rangiergleis. Sein Freund, der Flötenspieler, der Arbeiter, hatte Wunder gewirkt. Da, da stand er, fast neu, so gut wie neu, der Waggon, der sie nach Italien bringen würde. Gekauft, ja; für ein paar Dollars gekauft, nicht so ganz legal, ein beschädigter Waggon, vor kurzem erst repariert, noch nicht abgenommen; kurz: organisiert. Organisiert? Ja, so nennt man das, so nannte man das in den Gettos, in den Lagern, im ganzen Nazi-Europa; eine Sache, die man sich illegal beschafft, nennt man organisiert. Und bald würde der Zug kommen, das Klingeln, das Bahnhofssignal war schon zu hören. Alle waren augenblicklich fertig, aber beim Appell fehlte Pavel. Gedale fluchte auf polnisch, denn das Jiddische hat keine Flüche, und 471
schickte jemanden, um ihn schleunigst zu suchen. Der hatte ihn denn auch bald aufgestöbert, ganz in der Nähe, mit einer Prostituierten, und ihn, während er sich noch die Hose zuknöpfte, zum Bahnhof gebracht. Auch Pavel fluchte, auf russisch, erhob aber keine Einwände. Geräuschlos stiegen sie alle in den Wagen. »Wer koppelt den Wagen an?« fragte Mendel. »Er, Ludwig. Er hat es mir versprochen. Wenn es nötig ist, helfen wir ihm auch.« »Aber wie hast du das bloß angestellt, daß er dein Freund geworden ist?« »Mit der Geige. Wie der eine in der Antike, der mit seiner Leier Tiger bändigte. Nicht daß Ludwig ein Tiger wäre, er ist freundlich und sehr talentiert, und es war ein Vergnügen, mit ihm zu spielen; und für diesen Gefallen hat er sich mit wenig zufrieden gegeben.« »Ist aber trotzdem ein Deutscher«, knurrte Pavel. »Na und? Was hat das damit zu tun? Den Krieg hat er nicht mitgemacht, er war immer Eisenbahner, er spielt Flöte, und ’33 hat er gegen Hitler gestimmt. Weißt du denn, was du getan hättest, wenn du in Deutschland geboren wärst von rassereinen Eltern und wenn sie dir in der Schule all den Schmonzes von Blut und Boden beigebracht hätten?« Die Frauen richteten in einer Ecke des Waggons aus Stroh und Decken ein Lager für die Weiße her. Bella sagte zu Gedale: »… aber sei mal ehrlich: an Zügen hast du schon 472
immer deinen Spaß gehabt. Ich glaube, wenn nicht die Schwester in Bialystok dazwischengekommen wäre, dann wärst du nicht Geiger, sondern Eisenbahner geworden.« Gedale lachte erheitert und meinte, das sei wirklich wahr, Züge und jede Art von Fahrzeugen gefielen ihm. »Diesmal hat das Spiel aber auch was eingebracht, wir fahren nach Italien mit einem Waggon ganz für uns, richtig herrschaftlich. So reisen sonst nur Staatsoberhäupter.« »Nu«, meinte Isidor nachdenklich, »du bist noch ziemlich jung. Jetzt, wo der Krieg aus ist und man keine Partisanen mehr braucht: warum sollst du denn nicht Eisenbahner werden? Das könnte mir auch noch gefallen, dort unten in Israel.« Im gleichen Augenblick hörte man das Rattern von Rädern auf den Gleisen, Scheinwerfer tauchten auf, und ein langer Güterzug fuhr in den Bahnhof ein. Die Bremsen quietschten, er blieb eine halbe Stunde lang stehen, und dann begann er langsam zu manövrieren. Auf den Puffern des letzten Waggons hockte ein Mann und schwenkte eine Laterne zum Gruß, er war es, Ludwig. Im Schrittempo fuhr der Zug rückwärts, es gab einen Stoß, dann hörte man, wie die Haken einklinkten. Der Zug fuhr wieder los, und mit ihm fuhr der Sonderwagen der Gedalisten Richtung Alpen.
Zwölftes Kapitel Juli – August 1945
So waren sie noch nie gereist: nicht zu Fuß, sondern in einem Waggon am Ende eines Zuges; nicht in der Kälte, nicht unter Beschuß, nicht hungrig und verloren. Legal nicht, noch nicht ganz, und wer weiß, wie lange das noch so bleiben würde. Immerhin aber hing an der Außenwand des Waggons ein Schild und zeigte ganz offiziell die Strecke an: München – Innsbruck – Brenner – Verona. Ludwig hatte an alles gedacht. »Geht so wenig wie möglich hinaus«, sagte Gedale. »Je weniger wir uns blicken lassen, desto unwahrscheinlicher, daß jemand auf die Idee kommt, uns zu kontrollieren.« Es gab jedoch keine Kontrollen. Auf dieser Strecke, wie überhaupt auf sämtlichen europäischen Eisenbahnlinien, gab es Wichtigeres zu tun: Gleise waren zu reparieren, Trümmer beiseite zu räumen und Signale wieder instand zu setzen. Der Zug fuhr langsam, fast ausschließlich nachts. Tagsüber stand er endlos lange auf toten Gleisen herum, brütete in der Sonne, um anderen Zügen die Vorfahrt zu lassen. Das waren meist keine Personen-, sondern Güterzüge, in denen die Menschen derart dicht zusammengepfercht waren, als wären es Waren: Hunderttausende Italiener, Männer und Frauen, 474
Militärs und Zivile, die bezahlt oder als Sklaven in den Werkstätten und Lagern des untergegangenen Dritten Reiches gearbeitet hatten. Auch andere Passagiere waren darunter, weniger zahlreich und weniger ausgelassen: Deutsche, die aus dem besetzten Deutschland flohen, um der Justiz der Alliierten zu entgehen, Soldaten der SS, Funktionäre von Gestapo und Partei. Paradoxerweise war auch für sie, wie für die Juden im Transit, Italien das Land des geringsten Widerstandes, das geeignete Sprungbrett in gastfreundlichere Länder: Südamerika, Syrien, Ägypten. Offiziell oder illegal, mit oder ohne Papiere wälzte sich diese ganz bunt durcheinandergewürfelte Menge nach Süden auf den Brenner zu. Der Brenner war zu einer Art schmalem Hals an einem enormen Trichter geworden. Über ihn kam man nach Italien, das Land des milden Klimas und der öffentlichen Illegalität; das Land der Herzlichkeit und der Mafia, dessen zweideutiger Ruf bis nach Norwegen, bis in die Ukraine und in die abgeriegelten Gettos Osteuropas gedrungen war; das Land der umgangenen Verbote und der anarchischen Toleranz, wo jeder Fremde wie ein Bruder mit offenen Armen aufgenommen wird. In den Bahnhöfen hielten sie die Türen geschlossen, öffneten sie aber, wenn der Zug fuhr und während der langen Aufenthalte auf offener Strecke. Mendel saß am Boden und ließ die Beine hinaushängen. Feierlich entrollte sich vor seinen Augen die Landschaft: die fruchtbaren Felder, Seen und 475
Wälder der Oberpfalz und dann Bayerns. Weder er noch irgendeiner seiner Gefährten hatten je so fruchtbares und kultiviertes Land bewohnt. Hinter ihnen lag ihr Weg, eine von unzähligen Schritten gepunktete Linie, endlos wie in einem bedrückenden Traum führte sie durch Sümpfe, Furten, Wälder voller Fallen, Schnee und Flüsse, selbst erlittenen und anderen zugefügten Tod. Er fühlte sich müde und fremd. Allein; ohne Frau, ziel- und heimatlos. Ohne Freunde? Nein, das konnte er nicht behaupten; die Weggefährten blieben und würden ihm auch künftig bleiben, sie füllten seine Leere aus. Es war ihm gleichgültig, wohin der Zug ihn brachte. Er hatte seine Aufgabe erfüllt, hatte sein Teil getan, es war ihm nicht immer leichtgefallen, und nicht immer hatte er es gern getan, aber er hatte es getan. Schluß, aus. Der Krieg war vorbei, und was fängt ein Artillerist in Friedenszeiten an? Was kann er tun? Uhrmacher? Wer weiß, vielleicht nie wieder, beim Schießen werden die Finger steif und fühllos und die Augen gewöhnen sich an die Ferne, an den Blick durchs Visier. Nach dem Verheißenen Land verspürte er überhaupt keine Sehnsucht, wahrscheinlich würde er auch dort marschieren und kämpfen müssen. Gut, das ist mein Los, ich nehme es an, aber mir wird nicht warm dabei. Es ist eine Pflicht, die man erfüllt, wie damals, als ich den Ukrainer von der Hilfsmiliz erschossen habe. Die Pflicht ist kein Reichtum, auch die Zukunft nicht. In ihnen, in den Gefährten besteht mein Reichtum, und sie bleiben mir. Alle miteinan476
der: mit all ihren Unebenheiten und Fehlern, auch die, die mich beleidigt haben, auch die, die ich beleidigt habe. Auch die Frauen, auch Sissl, die ich wie ein Idiot verlassen habe, auch Line, die weiß, was sie will, und die mich verlassen hat; auch Bella, die lästig und schwerfällig ist, auch die weiße Rokhele mit ihrem Bauch, der kühn anschwillt wie eine Frucht. Er schaute hinter und neben sich. Da war Piotr, zugleich sanft wie ein Kind und fürchterlich im Kampf, verrückt wie alle echten Russen. Würdest du für Piotr dein Leben opfern? Ja, das würde ich allerdings, ohne zu zögern, so wie man ein günstiges Tauschgeschäft ohne Zögern annimmt. Auf dieser Welt ist er nützlicher als ich. Er kommt mit uns nach Italien, fröhlich und vertrauensvoll wie ein Kind, das ein Karussell besteigt. Wie die Ritter aus früheren Zeiten hat er beschlossen, mit uns und für uns zu kämpfen, aus Großmut und weil er an diesen Christus glaubt, den wir nicht anerkennen; und dabei muß ihm der Pope doch erzählt haben, daß wir ihn ans Kreuz geschlagen haben. Da war Gedale. Eigentlich merkwürdig, daß er Gedale hieß: der biblische Gedale war ein geringer Mann gewesen. Nebukadnezar, der Chaldäer, hatte ihn über die paar nach der Deportation in Judäa verbliebenen Juden zum Statthalter eingesetzt, auf die gleiche Weise, wie Hitler seine Stellvertreter ernannte, kurz, dieser Gedale war ein Kollaborateur gewesen. Und war ermordet worden von Ismael, einem Partisanen wie wir. Wenn wir recht haben, dann hatte auch Ismael recht, und hat gut daran 477
getan, jenen Gedale umzubringen. Was für törichte Gedanken! Man kann nichts für den Namen, den man trägt: ich heiße »Tröster« und tröste nun wirklich niemanden, nicht einmal mich selbst. Zu Gedale würde aber doch ein anderer Name besser passen. Jubal, zum Beispiel, der Flöte und Gitarre erfunden hat, oder Jabal, sein Bruder, der erste, der sich auf Wanderschaft begeben und unter Zelten gelebt hat; oder Tubalcain, der dritte Bruder, der allen beigebracht hat, wie man Kupfer und Eisen bearbeitet. Alle drei aber waren sie Söhne des Lamec. Lamec war eine geheimnisvolle Rächerfigur, denn niemand wußte, wofür er sich eigentlich rächte. Lamec in Ljuban, Lamec in Chmielnik, Lamec in Neuhaus. Vielleicht ist Lamec ein fröhlicher Rächer gewesen, genau wie Gedale, und hat abends, nach vollbrachter Rache, im Zelt mit seinen Söhnen Flöte gespielt. Ich verstehe Gedale nicht, seine Handlungen und Entscheidungen sind für mich gänzlich unberechenbar, aber er ist mein Bruder. Und Line? Was soll ich über Line sagen? Meine Schwester ist sie nicht: sie ist mehr und weniger als das, sie ist Mutter, Frau, Tochter, Freundin-Feindin, Rivalin und Meisterin. Sie war Fleisch von meinem Fleisch, ich bin in sie eingegangen, tausend Jahre ist’s her, in einer Sturmnacht in einer Windmühle, als noch Krieg und die Welt am Anfang war und ein jeder von uns ein Racheengel mit dem Schwert in der Hand. Fröhlich ist sie nicht, aber sicher, und ich bin weder das eine noch das andere, bin tausend Jahre alt 478
und trage das Gewicht der Welt. Da sitzt sie neben mir und schaut mich nicht an, sondern schaut starr auf diese deutsche Landschaft, und weiß immer genau, was zu tun ist. Vor tausend Jahren in den Sümpfen wußte ich es auch noch; sie weiß es noch immer, ich aber weiß es nicht mehr. Sie schaut mich nicht an, aber ich sie, und ich schaue sie gern an, es verwirrt und zerreißt mich und erregt mein Verlangen nach der Frau meines Nächsten. Line, Emmeline, Rahab: die heilige Sünderin von Jericho. Wessen Frau? Die Frau aller, was so viel heißt wie: niemandes Frau; sie bindet und bindet sich nicht. Egal wessen Frau, aber wenn ich in der Erinnerung ihren Körper wiederseh oder ihn unter den Kleidern erahne, fühle ich, wie es mich zerreißt, und ich würde noch einmal von vorne anfangen, und genau das ist es, was mich zerreißt. Aber das wäre so in jedem Fall, auch ohne Line, auch ohne Sissl. Auch ohne Rivke? Nein, Mendel, das weißt du nicht, das kannst du nicht sagen. Ohne Rivke wärst du ein anderer, dächtest wer weiß wie und wärst nicht der Mendel, der du bist. Ohne Rivke, ohne den Schatten, den sie über dein Leben wirft, wärst du offen für die Zukunft. Bereit zu leben, zu wachsen wie ein Samen; es gibt Samen, die in jedem Erdreich anschlagen, selbst im Boden Israels, und Line ist so ein Samen, alle anderen auch. Sie kommen aus dem Wasser, schütteln sich wie die Hunde, sie schütteln ihre Erinnerungen ab wie Wasser. Sie haben keine Wunden. Aber geh, wie kannst du so was sagen! Sie alle haben welche, aber sie sprechen nicht 479
davon; wahrscheinlich denkt in diesem Moment ein jeder von ihnen dasselbe wie du. Der Zug hatte Innsbruck passiert und nahm nun mühevoll die Steigung zum Brenner und zur Grenze hinauf. Gedale saß in einer Ecke des Waggons mit dem Rücken an die Holzwand gelehnt und spielte Geige in seiner üblichen Manier: leise und zerstreut. Es war eine Zigeunermelodie, oder vielleicht eine jüdische oder auch eine russische Melodie, einander fremde Völker berühren sich häufig in der Musik, tauschen sie untereinander aus und lernen so, durch die Musik, einander zu verstehen und ihr Mißtrauen abzulegen. Es war ein abgedroschenes Motiv, Dutzendware, platt und sentimental. Doch auf einmal belebte sich der Rhythmus, und in dieser Beschleunigung verwandelte sich das Thema: es wurde plötzlich munter, überraschend neu und hoffnungsfroh, eine lustige Tanzmelodie wurde daraus, die zum Kopfwiegen und Händeklatschen einlud, und die meisten der Bandenmitglieder, unrasiert wie sie waren, mit ihren von der Sonne gegerbten Gesichtern und durch die Mühen des Krieges abgehärteten Körpern, überließen sich, erinnerungslos und wild, ihrem Rhythmus. Vorbei die Gefahren, vorbei der Krieg, hinter ihnen lagen die Wege durch Blut und Eis, tot war der Satan von Berlin, und vor ihnen tat sich eine neue Welt auf, die noch unberührt und frei war, neu zu erschaffen und neu zu bevölkern, wie nach der Sintflut. Es geht wieder bergauf, den fröhlichen Weg nach oben: Aufstieg, alià, so 480
heißt der Weg aus dem Exil, aus der Tiefe empor ans Licht. Auch der Rhythmus der Geige steigerte sein Tempo, wurde zügellos, orgiastisch. Erst zwei, dann vier, dann zehn der Gedalisten tanzten paarweise, in Gruppen, Schulter an Schulter, entfesselt in dem Waggon und schlugen dröhnend mit den Absätzen auf den Boden. Auch Gedale war aufgestanden, tanzte beim Spielen auf der Stelle und warf die Knie in die Höhe. Auf einmal hörte man einen trockenen Knacks, und die Geige verstummte. Gedale hielt den Geigenbogen noch in der Luft, die Geige war zerbrochen. »Fidl kaput!« kicherte Pavel und auch andere lachten. Gedale war ganz und gar nicht zum Lachen zumute. Ernst betrachtete er die altgediente Geige, die ihm bei Luminez das Leben gerettet hatte und vielleicht ohne sein Wissen noch andere Male, indem sie ihn vor Langeweile und Verzweiflung bewahrte. Die Geige, die im Kampf verwundet, von einer Kugel, die eigentlich ihm gegolten hatte, durchschlagen worden war, und die er dafür mit einer ungarischen Bronzemedaille ausgezeichnet hatte – sie war nun kaputt. »Es ist nicht so schlimm, wir lassen sie reparieren«, versuchte die weiße Rokhele zu beschwichtigen, aber das war nicht mehr möglich. Vielleicht hatten Sonne und Regen schließlich das Holz angegriffen, vielleicht auch hatte Gedale selbst das Instrument in dem wilden Reigen, den er eben spielte, zu sehr beansprucht, Tatsache war, daß der Schaden irreparabel 481
war. Der Steg hatte den leicht konvexen Bauch des Instruments durchstoßen und war ins Innere eingebrochen, unansehnlich hingen die Saiten schlaff herunter. Es war nichts mehr zu machen. Gedale streckte den Arm bei der Waggontür hinaus, öffnete die Hand, und mit einem traurigen Laut fiel die Geige auf die Kiesböschung der Eisenbahngleise. Am Mittag des 25. Juli 1945 kam der Zug am Brenner an. Bisher hatte in den Bahnhöfen immer Gedale dafür gesorgt, daß die Türen des Waggons geschlossen wurden, jetzt aber hatte er das scheinbar völlig vergessen; und dabei war es wichtig, denn das hier war die Grenzstation, und aller Wahrscheinlichkeit nach würde es Kontrollen geben. Also kümmerte sich Line darum. Noch bevor der Zug in den Bahnhof einfuhr, hieß sie diejenigen, die in der Türöffnung saßen, aufstehen, schob die Türen zu, verschloß sie von innen mit einem Stück Eisendraht und befahl allen, still zu sein. Auf den Bahnsteigen war anfangs eine gewisse Bewegung, dann wurde es auch draußen still, und während die Stunden dahinschlichen, wuchs ihre Ungeduld. Die auf ein paar Quadratmeter zusammengepferchten 35 Gedalisten fühlten sich wieder einmal in der Falle. Man hörte flüstern: »Sind wir schon in Italien? Haben wir die Grenze schon passiert?« »Vielleicht haben sie den Wagen abgehängt.« »Aber nein, das hätten wir gehört.« »Machen wir auf und gehen nachschauen.« 482
»Steigen wir alle aus und gehen zu Fuß weiter.« Aber Line befahl Schweigen. Auf dem verlassenen Bahnsteig hörte man Schritte und Stimmen. Pavel lugte durch den Türschlitz: »Es sind Soldaten. Sie sehen aus wie Engländer.« Die Stimmen kamen näher: es waren vier oder fünf Personen, sie blieben genau unter ihrem Waggon stehen und unterhielten sich. Pavel horchte genauer hin: »… aber sie sprechen nicht Englisch«, hauchte er. Dann schlug jemand zweimal mit den Fingerknöcheln an die Tür und fragte etwas Unverständliches. Nur Line verstand, arbeitete sich durch das Gedränge bis zur Tür vor und antwortete. Auf hebräisch: nicht im künstlich konservierten, liturgischen Hebräisch der Synagogen, sondern in dem flüssigen, lebendigen Hebräisch, das in Palästina seit jeher gesprochen wird, und das unter ihnen einzig Line verstand und sprach: sie hatte es bei den Zionisten in Kiew gelernt, noch bevor der Himmel sich verfinstert hatte und die Sintflut hereingebrochen war. Line öffnete die Tür. Auf dem Bahnsteig standen vier Männer in sauberer, frisch gebügelter Khaki-Uniform. Sie hatten komische, kurze weite Hosen an, flache Schuhe, Wollstrümpfe bis zum Knie und auf dem Kopf trugen sie eine schwarze Baskenmütze mit den britischen Farben, aber auf das kurzärmelige Hemd war der sechszackige Stern, der Schild Davids, aufgenäht. Englische Juden? Von den Engländern gefangengenommene Juden? Als Juden verkleidete Engländer? 483
Für die Gedalisten war der Stern auf der Brust ein Zeichen für Sklaventum, das Mal, das die Nazis den Juden in den KZs aufgezwungen hatten. Die Juden drinnen im Waggon und die draußen auf dem Bahnhof musterten sich ein paar Minuten lang schweigend, die einen verdutzt, die anderen gelassen. Dann sprach einer von denen auf dem Bahnsteig, ein untersetzter junger Mann mit fröhlichem, rosigem Gesicht: »Wer von euch kann Hebräisch?« »Nur ich«, antwortete Line. »Die anderen sprechen Jiddisch, Russisch und Polnisch.« »Dann sprechen wir Jiddisch«, sagte der junge Mann, aber er sprach es nur mühevoll und unter häufigem Stocken. Seine drei Gefährten verstanden es allem Anschein nach, sprachen es aber nicht. »Ihr braucht keine Angst zu haben vor uns. Wir sind von der Palästinensischen Brigade, wir kommen aus Eretz-Israel, gehören aber der englischen Armee an. Zusammen mit Engländern, Amerikanern, Polen, Marokkanern und Indern sind wir durch Italien heraufgezogen und haben gekämpft. Und ihr, woher kommt ihr?« Die Frage war nicht leicht zu beantworten. Sie antworteten alle durcheinander, aus der Polesje, aus Bialystok, aus Kowno, aus den Gettos, Sümpfen, aus dem Kaukasus, aus der Roten Armee. Der junge Mann, den seine Gefährten Chaim nannten, wehrte mit der Hand ab: »Sprich du, Mädchen.« 484
Bevor sie sprach, beriet Line sich mit Gedale und Mendel: alles erzählen? Die Wahrheit sagen? Das sind merkwürdige Soldaten, Juden, aber in englischer Uniform. Wem unterstehen sie? London oder Tel Aviv? Konnte man ihnen trauen? Gedale blieb unschlüssig, ja interesselos. »Mach du das mal«, sagte er, »bleib ganz allgemein.« Mendel sagte: »Mit welchem Recht stellen sie uns Fragen? Laß dir Zeit mit der Antwort und versuch umgekehrt, sie auszufragen. Dann werden wir schon sehen, welche Linie wir einschlagen.« Chaim wartete ab, lächelte, dann lachte er ganz unverhohlen: »›Wo der Weise ein Wort hört, versteht er sieben‹; ich hab’s euch schon gesagt: das hier ist die englische Uniform, aber der Krieg ist jetzt aus, und wir handeln auf eigene Faust. Wir wollen euch nicht den Weg abschneiden, ganz im Gegenteil. Wir selbst und die Leute von unserer Einheit sind in Deutschland unterwegs, in Ungarn, Polen: wir suchen die Juden zusammen, die sich vor den Lagern retten konnten, die sich versteckt haben, die Kranken und Kinder.« »Und was macht ihr mit ihnen?« »Wir helfen ihnen, versorgen sie, sammeln sie ein und begleiten sie hierher nach Italien. Vor zwei Wochen noch war meine Einheit in Krakau, morgen wird sie in Mauthausen sein und in Gusen, übermorgen in Wien.« »Und wissen die Engländer, was ihr macht?« 485
Chaim zuckte die Achseln: »Auch bei ihnen gibt es vernünftige Leute, die verstehen und uns machen lassen. Natürlich gibt es auch Idioten, die nichts merken. Und dann gibt es Ordnungsfanatiker, und das sind eigentlich die unangenehmsten, die uns die Knüppel zwischen die Beine werfen. Aber wir sind auch nicht von gestern und werden mit ihnen fertig. Wohin wollt ihr?« »Nach Eretz-Israel. Aber wir sind müde, haben kein Geld mehr, und die Frau dort wird bald gebären«, antwortete Line. »Seid ihr bewaffnet?« Die Direktheit der Frage hatte Line überrumpelt und sie antwortete nein, aber mit so wenig Überzeugung, daß Chaim noch einmal lachen mußte. »Nu, ich hab euch schon gesagt, daß wir nicht von gestern sind. Meint ihr, daß wir bei der Arbeit, die wir hier seit drei Monaten machen, einen Heimkehrer oder einen Flüchtling nicht von einem Partisanen zu unterscheiden wüßten? Es steht euch im Gesicht geschrieben, wer ihr seid, und warum solltet ihr euch dafür schämen?« Mottel mischte sich ein: »Keiner schämt sich hier, aber die Waffen behalten wir.« »Wir nehmen sie euch bestimmt nicht weg, ich hab’s euch schon gesagt, wir sind hier bloß auf der Durchreise. Ihr solltet aber vernünftig sein. Kurz hinter dem Grenzübergang ist unser Kommando. Ich weiß nicht, ob sie sich um euch kümmern, aber das vernünftigste wäre, ihr präsentiert euch dort 486
und liefert ihnen die Waffen ab. Weiter unten, in Bozen, ist das englische Kommando, und die kontrollieren euch ganz bestimmt. Besser, ihr gebt uns die Waffen, als daß ihr sie euch von denen abnehmen laßt, hab ich recht?« Pavel sagte: »Du hast deine Erfahrung, wir aber haben die unsere. Und die sagt uns, daß Waffen immer gut sind. Im Krieg wie im Frieden, in Rußland, Polen, in Deutschland und in Italien. Vor zwei Monaten, der Krieg war schon zu Ende, haben die Deutschen eine unserer Genossinnen ermordet, und wir haben sie gerächt. Wie hätten wir das können, ohne Waffen? Und in Polen, unter den Russen, haben uns die Faschisten eine Bombe vor die Füße geworfen.« Chaim sagte: »Führen wir uns doch nicht auf wie Feinde, wir sind es nicht. Kommt, steigt aus und setzen wir uns auf die Wiese. Die Lokomotive ist abgehängt, euer Zug hat hier mindestens noch zwei Stunden Aufenthalt. Seht ihr, es gibt ein paar wichtige Dinge zu besprechen.« Sie stiegen alle aus, und in der würzigen Luft unter einem von hohem Wind blankgefegten Himmel ließen sie sich im Kreis auf der Wiese nieder. »Bei uns heißt so was ein kum-sitz: komm und setz dich«, erläuterte Chaim und fuhr dann fort: »Das ist wie die Geschichte vom Löwen und dem Fuchs. Ihr kommt aus einer schrecklichen Welt, die wir kaum kennen, aus den Erzählungen unserer Väter, ja, und von dem, was wir auf unseren Missionen gesehen haben. Wir wissen aber, daß je487
der einzelne von euch nur durch ein Wunder am Leben ist, und daß er sein Gehenna hinter sich hat. Ihr wie wir, beide haben wir gegen denselben Feind gekämpft, aber jeder auf seine Weise. Ihr wart ganz auf euch selbst gestellt: alles habt ihr erfinden müssen, eure Verteidigung, eure Waffen, eure Bündnisse und Listen. Wir waren da besser dran: wir waren einem großen Heer eingegliedert, organisiert und versorgt. Wir hatten keinen Feind neben uns, nur einen vor uns. Die Waffen haben wir uns nicht erobert, sie sind uns zugeteilt worden, und man hat uns beigebracht, wie man sie gebraucht. Wir haben schwere Schlachten erlebt, aber im Rücken hatten wir die Etappe, Feldküchen und Lazaretts und ein Land, das uns als Befreier empfing. In diesem Land braucht ihr keine Waffen mehr.« »Warum nicht?« fragte Mendel. »Und worin ist dieses Land denn anders als andere Länder? Wir sind hier fremd wie überall; fremder noch als in Rußland oder Polen, und ein Fremder ist immer ein Feind.« »Italien ist ein merkwürdiges Land«, sagte Chaim. »Man braucht ziemlich lange, bis man die Italiener versteht, und nicht einmal wir, die wir von Brindisi bis zu den Alpen durch ganz Italien heraufgezogen sind, haben sie ganz verstanden; eines aber ist sicher: in Italien ist ein Fremder kein Feind. Man könnte fast behaupten, die Italiener seien sich selber mehr Feind als den Fremden, das ist merkwürdig, aber es ist so. Wahrscheinlich kommt das daher, daß die Italiener Gesetze nicht mögen, und nachdem Mussolinis 488
Gesetze und auch seine Politik und seine Propaganda gegen die Fremden waren, haben die Italiener ihnen gerade deswegen geholfen. Die Italiener mögen keine Gesetze, und besonderen Spaß macht es ihnen, sie zu umgehen: das ist ihr Sport, wie in Rußland das Schachspiel. Sie betrügen gern; betrogen werden mögen sie nicht, aber wenn, ist es auch nicht schlimm: wenn jemand sie hereinlegt, dann denken sie: da schau an, bravo, er ist schlauer als ich, und sie sinnen nicht auf Rache, sondern wollen höchstens eine Revanche. Eben wie beim Schach.« »Dann legen sie uns also auch herein«, sagte Line. »Wahrscheinlich. Das ist aber auch euer einziges Risiko. Deswegen hab ich gesagt, daß ihr hier keine Waffen braucht. Das Allermerkwürdigste kommt aber erst: die Italiener haben sich allen Fremden gegenüber als Freunde betragen, niemandem gegenüber aber so sehr, wie gegenüber den Palästinensischen Brigaden.« »Vielleicht haben sie nicht gemerkt, daß ihr Juden seid«, sagte Mendel. »Das haben sie ganz sicher gemerkt, und im übrigen haben wir daraus auch kein Geheimnis gemacht. Sie haben uns geholfen, nicht obwohl, sondern weil wir Juden waren. Auch ihren Juden haben sie geholfen. Als die Deutschen in Italien einmarschierten, haben sie mit allen Mitteln versucht, die Juden zu fangen, haben aber nur ein Fünftel erwischt und ermordet. Die anderen sind alle bei Christen untergekommen, und zwar nicht nur italienische, sondern auch viele 489
ausländische Juden, die nach Italien geflüchtet waren.« »Vielleicht war das möglich, weil die Italiener gute Christen sind«, versuchte Mendel es noch einmal. »Kann schon sein«, entgegnete Chaim und kratzte sich am Kopf, »aber sicher bin ich mir da nicht. Auch als Christen sind die Italiener etwas absonderlich. Sie gehen zwar in die Kirche, aber sie fluchen; sie beten zur Muttergottes und allen Heiligen, an Gott glauben sie aber scheinbar nicht so sehr; sie können die Zehn Gebote auswendig, halten sich aber höchstens an zwei, drei. Ich glaube, sie helfen denen, die es brauchen, schlicht und einfach, weil sie anständig sind, weil sie selbst viel gelitten haben und daher wissen, daß dem der leidet, geholfen werden muß.« »Auch die Polen haben viel gelitten, und trotzdem …« »Ich weiß auch nicht, wie ich es euch erklären soll, man könnte noch zehn weitere Gründe anführen, alle mehr oder weniger triftig. Eines müßt ihr allerdings wissen: die italienischen Juden sind mindestens ebenso merkwürdig wie die Katholiken. Sie sprechen kein Jiddisch, ja oft wissen sie nicht einmal, was das ist. Sie sprechen nur Italienisch, die Juden in Rom sprechen Romanisch, die in Venedig Venezianisch usw. Sie ziehen sich genauso an wie alle anderen, sehen genauso aus …« »Ja und wie unterscheiden sie sich dann auf der Straße von den Christen?« »Sie unterscheiden sich eben nicht. Ist das nicht 490
ein einzigartiges Land? Im übrigen sind es nicht viele. Die Christen kümmern sich nicht um sie, und sie selbst kümmern sich wenig darum, daß sie Juden sind. In Italien hat es nie Pogrome gegeben, nicht, als die Römische Kirche die Christen zur Verachtung gegen die Juden aufstachelte, die sie allesamt Wucherer nannte; nicht einmal, als Mussolini seine Rassengesetze verhängte, und auch dann nicht, als die Deutschen Norditalien besetzten. In Italien weiß niemand, was ein Pogrom ist, nicht einmal das Wort kennt man hier. Italien ist wie eine Oase. Die italienischen Juden sind Faschisten gewesen, als alle anderen es auch waren, und haben Mussolini zugejubelt. Und als die Deutschen kamen, sind einige in die Schweiz geflohen, andere sind zu den Partisanen gegangen, die meisten aber haben sich in der Stadt und auf dem Land versteckt gehalten. Und nur ganz wenige sind entdeckt oder angezeigt worden, obwohl die Deutschen den Kollaborateuren viel Geld boten. Das ist also das Land, das ihr nun betretet. Ein Land von anständigen Leuten, die nur ungern Krieg führen, dafür um so lieber schwindeln. Und nachdem wir die Engländer beschwindeln müssen, um euch nach Palästina zu schicken, ist dies das ideale Land dafür, man könnte fast sagen, eine Mole in der günstigsten Position und wie für uns geschaffen.« Den Gedalisten, wie sie da am Brenner im Gras lagen und hockten, paßte die Idee, ihre Waffen abzuliefern, ganz und gar nicht, niemandem und um keinen Preis hätten sie sie gegeben. Doch den vier Soldaten, 491
die da aus Palästina kamen, die alliierte Uniformen trugen und in ihren Reden so sicher auftraten, wagten sie nicht zu widersprechen. Eine Zeitlang saßen sie stumm da, dann begannen sie sich leise miteinander zu beraten. Chaim und seine Gefährten gaben keinerlei Zeichen von Ungeduld. Sie entfernten sich ein paar Schritte und spazierten auf der Wiese herum. Nach ein paar Minuten kamen sie zurück, und Chaim fragte: »Wer ist euer Chef?« Gedale hob die Hand. »Das wäre ich. Ich habe die Bande im Guten wie im Bösen von Weißrußland bis hierher geführt. Wir haben aber keine Grade und Ränge, siehst du, und haben sie nie gehabt. Ich brauchte fast nie zu befehlen. Ich machte einen Vorschlag oder manchmal auch ein anderer, wir sprachen darüber und wurden uns einig; meistens aber waren wir uns ohne lange Diskussionen einig. Achtzehn Monate hindurch haben wir so gelebt und sind 2 000 Kilometer gelaufen. Ich war ihr Chef, weil ich mir die Sachen ausdachte, weil mir die Ideen und Lösungen einfielen. Aber wozu sollten wir jetzt noch einen Chef haben, wo der Krieg zu Ende ist und wir in ein ruhiges Land kommen?« Chaim wandte sich an seine Leute und sagte auf hebräisch etwas zu ihnen; sie antworteten ohne Spott oder Unmut, eher geduldig und respektvoll. Chaim sagte: »Ich verstehe euch, oder glaube es doch zumindest. Komische Vögel seid ihr allerdings, mehr noch als 492
die Italiener. Aber jeder ist komisch für den anderen, das liegt so in der Natur der Dinge, und der Krieg hat alle kräftig durcheinandergewürfelt. Gut, was den Chef angeht, haltet das, wie ihr wollt, wählt einen oder bestätigt ihn – dabei wies er auf Gedale, der abwehrte – oder bleibt ohne. Mit den Waffen sieht es etwas anders aus. Wir verstehen euch gut, die Engländer und Amerikaner aber werden keinerlei Verständnis für euch haben. Von den Partisanen haben sie genug, sie waren ihnen recht, solange gekämpft wurde, aber jetzt wollen sie nichts mehr von ihnen wissen. Schon letzten Winter, noch bevor der Krieg überhaupt aus war, wollten sie alle italienischen Partisanen in den Ruhestand schicken. Und jetzt regnet’s Medaillen und Auszeichnungen, soviel man nur will, aber Waffen keine. Bei wem sie Waffen finden, sei es, daß er sie trägt oder sie zu Hause hält, den sperren sie ein. Und ausländische Partisanen erst recht, überhaupt, wenn sie aus Rußland kommen. Deshalb solltet ihr vernünftig sein und die Waffen uns übergeben, wir können was damit anfangen. Behaltet die, die ihr versteckt bei euch tragen könnt, und gebt uns die anderen. In Ordnung?« Gedale zögerte einen Moment, dann zuckte er die Achseln und meinte mürrisch: »Werte Genossen, hier beginnt die zivile Welt mit ihren Vorschriften und Regeln.« Er stieg in den Waggon und kam mit der automatischen Pistole von Smirnov und ein paar anderen Waffen wieder heraus. Die vier Soldaten legten keine 493
große Gründlichkeit an den Tag, insistierten nicht weiter und luden alles auf einen Jeep, den sie unweit abgestellt hatten. »Gut. Und was wird jetzt aus uns?« fragte Gedale, als sie wieder zurück waren. »Die Sache ist sehr einfach«, sagte Chaim. »Jetzt, wo ihr entwaffnet seid oder doch fast, fallt ihr nicht mehr so auf. Ihr seid normale DPs geworden.« »Was sind wir geworden?« fragte Line mißtrauisch. »Was ist ein DP?« »Ein DP ist eine displaced person: ein Flüchtling, ein Versprengter oder ein Heimatloser.« »Wir sind aber keine DP«, sagte Line. »Wir hatten eine Heimat, und daß wir sie nicht mehr haben, ist nicht unsere Schuld. Wir werden uns eine neue Heimat aufbauen, sie liegt vor uns, nicht hinter uns. Versprengte haben wir auf unserem Weg viele gesehen, und die waren nicht wie wir. Wir sind keine DP, wir sind Partisanen, und nicht nur dem Namen nach. Wir haben uns unsere Zukunft mit den eigenen Händen aufgebaut.« »Beruhige dich, Mädchen«, sagte Chaim. »Dies ist nicht der rechte Augenblick, um über Definitionen zu streiten, man darf den Worten nicht zu viel Gewicht beimessen. Vielmehr gilt es flexibel zu sein. Hier sind jetzt die Alliierten, früher oder später werdet ihr der Militärpolizei in die Hände laufen. Die sind nicht wie die Nazis, aber doch lästig, und sie werden euch wer weiß wo und wer weiß wie lange einsperren. Ihr bekommt zu essen und zu trinken, aber ihr sitzt im 494
Käfig, vielleicht bis der Krieg mit Japan zu Ende ist; vorausgesetzt immer, daß in der Zwischenzeit nicht Krieg zwischen Amerika und Rußland ausgebrochen ist. Sie werden euch nicht viele Fragen stellen. Für sie ist Partisan gleich Kommunist, und wenn er aus dem Osten kommt, gleich doppelt Kommunist. Ist das deutlich genug? Mit anderen Worten: die Zeiten der Waffenbrüderschaft sind vorbei. Würdet ihr ausgerechnet jetzt gern in ein Lager wandern?« Die Gedalisten beantworteten die Frage mit einem undeutlichen Gemurre, von dem Chaim einige Wortfetzen verstand. »Schwarz leben? Gar nicht daran zu denken. Italien ist nicht wie die Länder, aus denen ihr kommt; insbesondere Norditalien ist dicht besiedelt wie ein Hühnerstall. Wälder gibt es keine, Sümpfe auch nicht, und ihr kennt das Gelände nicht. Die Bauern würden euch nicht verstehen, würden euch für Banditen halten, und das würdet ihr schließlich auch. Seid flexibel, liefert euch aus.« »Wo, wie, wem?« fragte Gedale. »Versucht nach Mailand zu kommen, ohne allzusehr aufzufallen, und in Mailand meldet euch bei dieser Adresse.« Er schrieb ein paar Worte auf ein Blatt Papier und gab es Gedale, dann fügte er hinzu: »Sollten wir uns je wiedersehen, werdet ihr mir bestätigen, daß ich euch gut beraten habe. Jetzt steigt wieder in euren Waggon: die Lokomotive wird gerade wieder angehängt.« 495
Als sie in Mailand ausstiegen, unter der hohen, von Bomben durchlöcherten Kuppel aus Glas und Stahl, kam es ihnen vor, als wäre noch einmal Krieg ausgebrochen. Überall hatten Leute ihre Lager aufgeschlagen, zwischen den Gleisen, auf den Bahnsteigen, auf den breiten Treppen, die zum Vorplatz hinunterführten, auf den Rolltreppen, die nicht funktionierten, auf dem Vorplatz selbst. Da waren in Lumpen gekleidete Italiener, die in die Heimat zurückkehrten, und in Lumpen gekleidete Ausländer, die auf ihren Zug warteten, der sie Gott weiß wohin bringen würde; alliierte Militärs, Schwarze wie Weiße, in ihren eleganten Uniformen und gut gekleidete Italiener in Zivil mit Koffern und Rucksäcken auf dem Weg in die Ferien. Auf dem Vorplatz unter der häßlichen Steinfassade fuhr ab und zu eine Straßenbahn, ganz selten ein Auto. Blumenbeete, die zuerst als Kriegsgärten benutzt und dann geplündert worden waren, lagen jetzt brach da und waren von Unkraut überwuchert. Darauf waren Zelte aufgeschlagen, vor denen erbärmlich aussehende Frauen auf improvisierten Feuerstellen ihre Mahlzeiten bereiteten. Andere Frauen standen mit Dosen, Töpfen oder sonstigen Gefäßen um die Brunnen herum. Die Gebäude ringsum waren sämtlich zerbombt. Nur Pavel konnte ein paar Worte Italienisch aus den Zeiten, da er als Schauspieler durch Europa gereist war. Er zeigte einem Passanten die Adresse, der schaute ihn mißtrauisch an und sagte dann kurz angebunden: »Gibt es nicht mehr.« Was gab es 496
nicht mehr? War die Adresse falsch? Oder war das Gebäude eingestürzt? Die Unterhaltung gestaltete sich schwierig, von gegenseitigem Unverständnis behindert. »Fascio, Faschismus, Faschisten, nichts, vorbei«, bemühte der Passant sich zu wiederholen. Pavel begriff schließlich, daß unter dieser Adresse irgendeine bedeutende faschistische Behörde gewesen war, jetzt aber dort nicht mehr war. Der Mailänder tat sein Bestes, Pavel den Weg zu erklären. Sie mußten drei Kilometer laufen: was waren schon drei Kilometer, lächerlich. Schüchtern und neugierig machten sie sich auf den Weg; noch nie auf ihrem ganzen langen Marsch hatten sie sich so fremd gefühlt. Es war früher Nachmittag und sie gingen in lokkerer Ordnung dahin, achteten aber darauf, daß sie Pavel, der an der Spitze ging, nicht aus den Augen verloren. Oft hielten sie ihn an, um sich etwas umzuschauen. Rauchschwarze Ruinen wechselten sich ab mit unversehrten, prächtigen palazzi; viele Geschäfte waren geöffnet, und unter den unverständlichen Schildern quollen die Schaufenster über von den verführerischsten Dingen. Nur in der Bahnhofsgegend sah man arme Leute; die Passanten in den Straßen der Innenstadt waren gut gekleidet und beantworteten ihre Fragen entgegenkommend, gaben sich Mühe, sie zu verstehen und sich verständlich zu machen. Via Unione? Geradeaus, noch zwei Kilometer, noch einen. Duomo, duomo, non capire? Zum Domplatz, und dann noch ein Stück weiter. 497
Vor dem von Bomben zerfressenen Bollwerk des Doms machten sie halt; argwöhnisch, schmutzig und verschüchtert standen sie da mit ihren Bündeln, die die Sonne ausgebleicht hatte. Hastig und verstohlen bekreuzigte Piotr sich auf die russische Art, mit drei zusammengelegten Fingern. Die Atmosphäre in der Via Unione war ihnen schon vertrauter. In dem Hilfsbüro wimmelte es von Flüchtlingen, Polen, Russen, Tschechen, Ungarn. Fast alle sprachen Jiddisch. Alle brauchten alles, und die Konfusion war ungeheuerlich. Männer, Frauen und Kinder hatten auf den Fluren ihr Lager aufgeschlagen, Familien hatten sich mit Preßspanplatten oder aufgehängten Decken kleine Verschläge abgetrennt. Frauen der verschiedensten Altersstufen machten sich auf den Fluren und hinter den Schaltern zu schaffen, atemlos, schweißgebadet, aber unermüdlich. Keine von ihnen verstand Jiddisch, nur wenige Deutsch. Improvisierte Dolmetscher schrien sich die Kehle aus dem Leib in dem vergeblichen Versuch, etwas Ordnung und Disziplin herzustellen. Es war stickig heiß, Küchen- und Latrinendünste standen in der Luft. Ein Pfeil und ein jiddisch geschriebenes Schild zeigten an, wohin Neuankömmlinge sich zu wenden hatten. Sie stellten sich vor dem Schalter in der Schlange an und warteten geduldig. Die Reihe rückte nur langsam vorwärts, und Mendel überließ sich formlosen und widersprüchlichen Gedanken. Auch er hatte sich noch nie so fremd gefühlt: Russe in Italien, Jude vor dem 498
Dom, Uhrmacher vom Dorf in einer großen Stadt, Partisan in Friedenszeiten; fremd in der Sprache und in seinen Empfindungen, entfremdet und fremd geworden durch Jahre des gesetzlosen Lebens. Und doch hatte er nie zuvor, in keinem der vielen Orte, durch die sie gekommen waren, eine vergleichbare Atmosphäre geatmet wie hier. Fremd, aber angenommen, und zwar nicht nur von den freundlichen Damen des Hilfsbüros. Nicht gelitten, sondern angenommen. Wohl war ab und zu über die Gesichter der Italiener, an die sie sich gewandt hatten, ein Anflug von Mißtrauen gehuscht, oder es hatte gerissen darin aufgeblitzt, nie aber hatte sich jener düstere Schatten über sie gelegt, der dich unweigerlich von einem Polen oder Russen trennt, sobald er bemerkt, daß du Jude bist. In diesem Land sind alle wie Piotr, vielleicht nicht so mutig, oder abgeklärter, oder einfach älter. Abgeklärt wie alte Leute, die eine Menge erlebt haben. Mendel und Pavel traten nebeneinander an den Schalter. Auf der anderen Seite saß eine Dame um die dreißig, in frisch gebügelter weißer Bluse, zierlich, hübsch, höflich, die kastanienbraunen Haare frisch vom Friseur. Sie war parfümiert, und Mendel war es peinlich, daß Pavels scharfer Schweißgeruch sich unter die Woge ihres Parfüms mischte. Die Dame verstand Deutsch und sprach es auch ziemlich gut. Das hätte die Verständigung erleichtern können; Pavel versteifte sich aber darauf, Italienisch zu sprechen und so verkomplizierte er die Situation, 499
anstatt sie zu vereinfachen. Name, und noch einmal: Alter, Herkunft, Staatsbürgerschaft. Sie antworteten zu dritt oder viert gleichzeitig, und es entstand einige Verwirrung. Die Dame verstand, daß es sich um eine Gruppe handelte, und ohne jeden Anflug von Ungeduld bat sie Pavel, er möge für alle antworten. Sie siezte ihn, nannte ihn »Sie«, und auch das war angenehm; Pavel brachte es in Verlegenheit, das war ihm auch noch nicht begegnet. Es war wirklich ein Hilfsbüro, man bemühte sich hier, ihnen zu helfen, und weder wollte man sie so schnell wie möglich wieder loswerden noch hinter Stacheldraht sperren. Die Dame schrieb und schrieb: fünfunddreißig Namen, das ist viel, und ihre Liste wurde länger und länger. Exotische Vor- und Nachnamen, gespickt von Konsonanten; da mußte man absetzen, nachfragen, wiederholen und buchstabieren lassen. So, fertig. Die Dame lehnte sich über die Schalterbank, um sie alle anzuschauen. Eine Gruppe also, eine merkwürdige allerdings. Anders als die üblichen Flüchtlinge, verschieden von den menschlichen Wracks, die hier Tag für Tag an ihrem Schalter vorüberzogen. Schmutzig und müde, aber aufrecht; anders im Blick, in der Sprechweise, in der Haltung. »Wart ihr immer zusammen?« fragte sie Pavel auf deutsch. Der ließ sich die Gelegenheit zu glänzen nicht entgehen. Er versammelte all die Brocken Italienisch, die er vor Jahren, während seiner Reisen auf Kulissen500
böden, in Zügen, Pensionen und Bordellen aufgeschnappt hatte; er warf sich in die Brust: »Gruppe, gnädige Frau, Gruppe. Immer zusammen, Rußland, Poland. Zu Fuß. Wald, Fluß, Schnee. Deutsche tot, viele. Wir Partisano, tutti quanti, porca miseria. Nix DP, wir Krieg, Partisano. Alle Soldaten, verflixt, auch Frauen.« Die gnädige Frau war verblüfft. Sie bat die Gedalisten, beiseite zu treten und etwas zu warten, und griff zum Telefon. Sie sprach lange, in erregtem Ton, bedeckte sich aber den Mund mit der Hand, um nicht gehört zu werden. Schließlich sagte sie zu Pavel, sie möchten noch etwas Geduld haben. Noch eine Nacht müßten sie in einem Provisorium hinbringen, auch sie sollten es sich so gut es ging im Korridor bequem machen, am nächsten Tag aber würde sie eine bessere Unterkunft für sie finden. Waschen? Das war nicht leicht. Keine Bäder, nicht einmal Duschen, das Gebäude war erst vor kurzem wieder instand gesetzt worden. Wasser ja, Waschbecken, Seife und vielleicht auch drei, vier Handtücher. Das war wenig für so viele Personen, sicher, aber was sollte man machen, es war nicht ihre Schuld und auch nicht die ihrer Kolleginnen, alle taten ihr Bestes, steuerten auch selbst einiges bei. In ihren Worten und auf ihrem Gesicht las Mendel Respekt, Mitleid, Solidarität und Sorge. »Wohin schickt ihr uns?« fragte er in seinem besten Deutsch. Die Dame setzte ein angenehmes Lächeln auf und 501
beschrieb mit den Händen eine komplizierte Geste, die Mendel nicht verstand. »Wir schicken euch nicht in ein Flüchtlingslager, sondern an einen Ort, der besser für euch geeignet ist.« Tatsächlich kamen am nächsten Morgen zwei Lastwagen, um sie aufzuladen. Die Dame beruhigte sie, sie würden nicht weit fahren, auf einen Bauernhof in der Umgebung Mailands, höchstens eine halbe Stunde Fahrt. Dort würden sie sich wohler fühlen als in der Stadt, mehr Platz, mehr Ruhe … So hat sie auch ihre Ruhe, dachte Mendel. Er fragte sie, wie es käme, daß sie so gut Deutsch spräche: sprachen alle Italiener Deutsch? Nein, nur wenige können es, antwortete die Dame, sie aber sei Deutschlehrerin. Ja, sie habe es in einer Schule unterrichtet, bis Hitler gekommen und sie in die Schweiz geflüchtet sei. Die Schweiz sei nur vierzig Kilometer von Mailand entfernt. Dort sei sie mit ihrem Mann und ihrem kleinen Kind interniert gewesen. Da sei es ihnen nicht schlecht ergangen. Erst vor wenigen Wochen sei sie nach Mailand zurückgekehrt. Sie sah zu, wie die Gedalisten mit ihren Zigeunerbündeln auf die Lastwagen stiegen. Sie sagte, sie würde wieder Kontakt mit ihnen aufnehmen, winkte ihnen zu und kehrte in ihr Büro zurück. Der Gutshof hatte in den letzten Kriegstagen noch Schaden genommen, und man hatte ihn behoben, so gut es ging. Rund fünfzig polnische und unga502
rische Flüchtlinge waren hier untergebracht, die geräumigen Zimmer boten aber reichlich Platz für zwei- bis dreihundert Personen und waren mit Feldbetten und Liegen ausgestattet. Sie schauten sich um: nein, keine Wachen und kein Stacheldraht, zum ersten Mal. Noch kein eigenes Haus, aber fast. Keinerlei Einschränkungen, magst du ein- und ausgehen, wie es dir paßt. Regelmäßige Mahlzeiten, Wasser, Sonne, Wiesen, ein Bett: fast schon wie in der Sommerfrische, was wollt ihr mehr? Aber man will immer etwas mehr, nichts ist je so schön, wie man es erträumt. Allerdings auch nie etwas so schrecklich, wie man es befürchtet, dachte Mendel in Erinnerung an die Tage besessener Geschäftigkeit in Nowoselki inmitten von Nebel und Sümpfen, an den selbstvergessenen Rausch des Kampfes. Und noch einmal eine Einschreibung an einem Schalter. Ein schmächtiger junger Mann, der gut Jiddisch sprach, aber aus Tel-Aviv kam, erledigte das rasch und ohne lange Schreibereien. Bei Bella und der weißen Rokhele hielt er allerdings ein: die nicht, die müssen nach Mailand zurück, für die Arbeit auf dem Gutshof sind sie nicht geeignet. Die hier vor allem, ja was machen denn die da in der Via Unione, sind die völlig verrückt geworden? Was fällt denen ein, uns eine schwangere Frau hier herauszuschicken? Line, Gedale und Pavel mischten sich ein, Isidor aber überschrie sie alle: wir trennen uns nicht, wir sind keine Flüchtlinge, wir sind eine Bande, eine Einheit. Wenn die Weiße nach Mailand muß, dann 503
gehen wir alle mit nach Mailand. Der junge Mann schaute sie befremdet an, bestand aber nicht auf seiner Anordnung. Am nächsten Tag mußte er allerdings nachdrücklich werden. Es gab etwas zu tun, eine dringende Arbeit. Die Gedalisten hatten schon bemerkt, daß es auf diesem Gutshof merkwürdig zuging, die landwirtschaftliche Arbeit wurde nicht besonders wichtig genommen, dafür aber gab es einen regen Warenverkehr. Es handelte sich dabei um Kisten mit Lebensmitteln und Medikamenten, von denen einige zu schwer waren, als daß man der englischen Aufschrift hätte glauben können. Der junge Mann sagte, alle müßten sie mit anfassen, um die Kisten auf einen Lastwagen zu verladen. Drei, vier der Männer aus Ruzany murrten, sie hätten sich nicht ihren Weg freigekämpft, von Weißrußland bis nach Italien, um dann hier Gepäckträger zu spielen, und einer stieß sogar zwischen den Zähnen hervor »Kapo«. Zvi, so hieß der junge Leiter des Gutshofs, überging den Angriff mit einem Schulterzucken und meinte: »Wenn euer Schiff kommt, dann werdet ihr dieses Zeug auch brauchen«; darauf packte er mit Hilfe von zwei ungarischen Jungen selbst kräftig zu und begann, die Kisten zu verladen. Da gaben auch die Gedalisten ihren Widerstand auf und machten sich ebenfalls an die Arbeit. Auf dem Gutshof gab es einen regen Personenverkehr. Flüchtlinge jeden Alters kamen und gingen, so daß es schwierig wurde, die Bekanntschaften zu 504
vertiefen. Die Gedalisten merkten aber auch, daß einige Personen ständig da waren: sie verhielten sich so unauffällig wie möglich, mußten aber wichtige Funktionen innehaben. Zwei vor allem erweckten Mendels Neugier. Sie waren um die dreißig, athletisch gebaut und geschmeidig in ihren Bewegungen. Sie sprachen wenig, und untereinander sprachen sie Russisch. Häufig verließen sie zusammen mit einer kleinen Schar junger Männer und ausgerüstet mit Sense, Harke und Rechen das Gehöft und verschwanden in Richtung Fluß. Sie kamen dann erst abends wieder, und vom Unterholz her, das den Flußlauf säumte, hörte man ab und zu vereinzelte Schüsse. »Wer sind die beiden?« fragte Mendel Zvi. »Ausbilder. Sie kommen von der Roten Armee. Sie sind in Ordnung. Und falls einer von euch …« »Davon später«, sagte Mendel unverbindlich. »Wir sind gerade erst angekommen, laßt uns erst einmal ein bißchen Luft schöpfen. Und dann: ich glaube nicht, daß wir noch viel zu lernen hätten.« »Nu, so hab ich das ja auch nicht gemeint, ganz im Gegenteil. Ich meinte, daß man von euch eine Menge lernen könnte«, sagte Zvi, wobei er jede einzelne Silbe betonte. Mendel erinnerte sich an den Vorschlag, den ihm Smirnov im Lager von Glogau gemacht hatte, und auf den er aus Müdigkeit nicht eingegangen war. Nein, es reute ihn nicht, belastete sein Gewissen nicht. Unseren Teil haben wir ja schließlich geleistet, ich und die anderen auch. Jetzt 505
jedenfalls nicht, wir sind ja noch ganz außer Atem, wir haben uns noch nicht an die Luft dieses Landes gewöhnt. Nach zwei Tagen traf auf dem Gutshof ein Brief aus Mailand ein: er war in Deutsch verfaßt, an Herrn Pavel Jurevič Levinski adressiert und von Frau Adele S. unterzeichnet. Er verströmte das gleiche Parfüm wie die gnädige Frau in der Via Unione und enthielt eine Einladung zu einem Tee am Sonntag nachmittag in ihrer Wohnung in der Via Monforte. Die Einladung beschränkte sich nicht auf Pavel allein, sondern es hieß ganz unbestimmt: »Sie und einige Ihrer Freunde«. Nicht zu viele, mithin, nicht die ganze Bande. Das war nicht mehr als vernünftig. Es entstand eine große Aufregung und die Bande zerfiel in drei Fraktionen: diejenigen, die zu dem Tee gehen wollten, diejenigen, die um keinen Preis hingehen wollten, und die Unentschlossenen oder Gleichgültigen. Pavel wollte gehen, Bella, Gedale, Line und noch eine Reihe der anderen, jeder aus einem anderen Grund. Pavel, weil er sich als Dolmetscher unersetzlich fühlte und weil der Umschlag seinen Namen trug; Bella und Gedale aus Neugier; Line aus ideologischen Gründen, weil sie nämlich das einzige Mitglied der Bande mit zionistischer Ausbildung war; die anderen, weil sie hofften, etwas Gutes zu essen zu bekommen. Nicht hingehen wollten Piotr und Arié, aus Schüchternheit und weil sie kein Deutsch verstanden; die Weiße, weil sie seit ein paar Tagen an Leibschmerzen litt; Isidor, um 506
sich nicht von ihr zu trennen; und Mottel schließlich, weil ihm, wie er sagte, die »goyischen« Manieren der Dame gegen den Strich gingen und weil er in einen Salon wohl nicht so recht paßte. Schließlich gingen Pavel, Bella, Line, Gedale und Mendel. Mendel war eigentlich unter den Unentschlossenen gewesen, aber die anderen hatten darauf bestanden, daß er mitkommen müsse: weil es eine einmalige Gelegenheit sei, zu sehen, wie die Leute in Italien lebten, weil sie nützliche Hinweise bekommen würden. Vor allem aber, weil er, ob er es nun wollte oder nicht, die zentrale Figur der Bande war, derjenige, der sie alle am besten repräsentierte und sämtliche Unternehmungen mitgemacht hatte. Und hatte er nicht der Roten Armee angehört? Das mußte doch für die Italiener bestimmt wichtig sein, oder zumindest interessant. Sie zogen alle ihre besten Kleider an. Nur Line besaß nichts außer der unförmigen Militärkleidung, die sie seit Nowoselki am Leib trug, und sie sagte, sie würde so, wie sie war, zu dem Empfang gehen: »Wenn ich mich anders anziehen würde, das wäre, als wollte ich mich verkleiden. Als würde ich lügen. Wer mich will, der muß mich auch so nehmen, wie ich bin.« Aber alle redeten ihr zu, sie solle sich etwas besser anziehen, allen voran Bella und Zvi. Zvi kramte denn auch aus den Beständen des Gutshofes eine weiße Seidenbluse, einen beigen Rock mit Plisseefalten, einen Ledergürtel, ein Paar Nylonstrümpfe und ein 507
Paar Sandalen mit Korksohle hervor. Line ließ sich überzeugen und verschwand mit ihrer Ausstattung. Nach ein paar Minuten trat aus dem Umkleideraum, wie ein Schmetterling aus der Puppe, ein völlig neues Wesen hervor. Fast nicht wiederzuerkennen: zierlicher als die Line, die sie alle kannten, jünger, fast mädchenhaft, etwas unbeholfen im Rock, dem sie nun jahrelang entwöhnt war, und in den hohen orthopädischen Sandalen. Die weitstehenden, festen braunen Augen allerdings waren die gleichen geblieben, ebenso die feine, gerade, kurze Nase und die gespannte Blässe ihrer Wangen, die Sonne und Wind nicht zu bräunen vermochten. Unter dem Nylonschleier wirkten ihre Knöchel und sehnigen Beine graziös; Bella strich mit der Hand darüber, wie um sich zu vergewissern, daß sie nicht nackt wären. Im Salon von Frau S. waren schon viele Gäste versammelt, ausnahmslos Italiener. Einige waren sehr elegant, andere hatten abgetragene Kleidung an, und wieder andere trugen die Uniform der Alliierten. Nur zwei oder drei verstanden Deutsch, keiner Jiddisch, und sofort blieb die Konversation stecken. Als hätten sie sich gegen einen Angriff zu verteidigen, versuchten die fünf eng beieinander zu bleiben, das gelang ihnen aber nur ein paar Minuten lang: bald schon fand sich jeder von ihnen allein im Mittelpunkt einer Gruppe von Neugierigen wieder, die mit Fragen auf ihn eindrangen. Pavel und die Dame des Hauses 508
gaben sich redlich Mühe mit dem Übersetzen, aber es war aussichtslos: zu weit lag das Angebot unter der Nachfrage. Zwischen zwei Schultern hindurch entdeckte Mendel Line, die von fünf, sechs eleganten Damen umringt war. »Wie die Tiere im Zoo«, flüsterte ihm das Mädchen auf jiddisch zu. »Aber wilde Tiere«, gab Mendel zurück. »Wenn die wüßten, was wir alles gemacht haben, dann bekämen sie es mit der Angst.« Die Dame des Hauses war unruhig. Die fünf waren ihre Trouvaille, ihre ganz persönliche Entdeckung, und wie für persönlichen Besitz beanspruchte sie Ausschließlichkeit. Jedes Wort war kostbar, gehörte ihr und durfte nicht verlorengehen. Sie gab sich alle Mühe, die fünf im Gedränge ihrer Gäste nicht aus den Augen zu verlieren, und ließ sich Äußerungen, die ihr entgangen waren, wiederholen. Ihre Unruhe hatte aber noch einen anderen Grund: sie war eine wohlerzogene Dame aus gutem Hause, und einiges von dem, was die fünf da erzählten, verletzte ihr feines Ohr. Insbesondere Pavel und Gedale nahmen kein Blatt vor den Mund. Nun ja, man wußte ja, daß es diese Dinge gab, daß so etwas vorgekommen war, der Krieg war schließlich kein Kinderspiel, und was mußte er erst für diese armen Leute hier bedeutet haben; aber in einem Salon, in ihrem Salon … Mutproben, Repressalien gegen die Deutschen, Sabotageakte, das mochte ja noch alles angehen; aber von den Läusen brauchte nun wirklich nicht unbedingt die Rede sein, oder von den Erhängten auf den 509
Latrinen. Fast bereute sie es schon, die fünf eingeladen zu haben, vor allem Pavels wegen, der unseligerweise ein paar Worte Italienisch konnte, darin aber, wer weiß warum, eine ausgeprägte Vorliebe für Flüche und unflätige Ausdrücke an den Tag legte. Sie sah es schon kommen, wie sich ihre Freunde über sie lustig machen würden und wie die Sache in halb Mailand die Runde machen würde. Nach einer halben Stunde flüchtete sie sich in eine Ecke auf ein Sofa, wo schon Bella saß, die etwas weniger grob schien, nur wenig sprach, Konfekt verzehrte und die Bilder an den Wänden bewunderte. Ab und zu warf Frau S. einen Blick auf die Pendeluhr: ihr Mann verspätete sich. Wenn er doch nur bald käme! Mit seiner Hilfe würde sie die Party wieder in den Griff bekommen, so daß jeder der Gäste, ob exotisch oder heimisch, auf seine Kosten kam und Regelverletzungen vermieden wurden. Kurz vor sechs kam Herr S. und entschuldigte sich bei allen. Der Zug war pünktlich in Lugano abgefahren, hatte dann aber an der Grenze, der üblichen Kontrollen wegen, Zeit verloren. Er küßte seine Frau zur Begrüßung und entschuldigte sich bei ihr. Er war dicklich, von dröhnender Herzlichkeit und hatte eine Glatze, die von einem Kranz blonder Haare umstanden war. Auch er sprach Deutsch, aber nur radebrechend, ohne Grammatik, er hatte es auf Reisen gelernt. Er besaß ein Handelsunternehmen und war deshalb oft im Ausland. Als er sich Mendel gegenübersah, begann er ihm sofort von seinen Angelegen510
heiten zu erzählen, als wären sie alte Bekannte, und in der Art von Leuten, die, von sich selbst sehr eingenommen, dem Gesprächspartner wenig Bedeutung beimessen. Wie unbequem das Reisen sei, wie schwierig es sei, die Geschäftsverbindungen wieder anzuknüpfen. Mendel kam in den Sinn, wie sie gereist waren und wie sie dem Usbeken gegen Salz ein Kaninchen abgehandelt hatten, aber er schwieg. Endlich unterbrach sich der andere: »Aber sie werden Durst haben. Kommen Sie, kommen Sie mit!« Er faßte Mendel beim Handgelenk und schleifte ihn bis zu dem Tisch mit den Erfrischungen. Wie betäubt ließ Mendel alles mit sich geschehen. Er empfand ein tiefes Gefühl von Unwirklichkeit, wie in Träumen bei überfülltem Magen. Er nutzte den Moment, in dem S. das Glas zum Mund führte, um ihm ein paar Fragen zu stellen, die ihm schon seit Beginn des Empfangs im Kopf herumgingen: Wer waren all diese Leute? Waren sie wirklich Juden, er und seine Frau? Und gehörte diese Wohnung ihnen? Waren die Deutschen nicht in Mailand gewesen? Wie hatten sie sich selbst und all die herrlichen Dinge um sie herum retten können? Waren alle italienischen Juden so reich wie sie? Oder gar alle Italiener? Hatten alle so schöne Wohnungen wie sie? Der Gastgeber schaute ihn befremdet an, so als hätte Mendel dumme oder unangebrachte Fragen gestellt, dann aber antwortete er ihm nachsichtig, wie einem etwas zurückgebliebenen Kind. Aber sicher, 511
sie waren Juden, alle, die S. hießen, waren Juden. Die Gäste nicht, nein, nicht alle. Aber war denn das so wichtig? Es waren Freunde, nichts weiter, anständige Leute, die sie, die von so weit herkamen, kennenlernen wollten. Die Wohnung gehörte ihm, warum denn nicht? Er hatte gut verdient vor dem Krieg, und auch in den ersten Kriegsjahren noch, bevor die Nazis kamen. Dann hatten sie ihm allerdings die Wohnung beschlagnahmt und einen faschistischen Parteibonzen hineingesetzt, aber sobald er aus der Schweiz zurück war, hatte er gewisse Hebel in Bewegung gesetzt, und seine Wohnung war geräumt worden. Nein, nicht alle hatten eine Wohnung wie er, weder Christen noch Juden. Nicht alle, aber viele: Mailand ist eine reiche Stadt, reich und großzügig. Viele Juden waren in der Stadt geblieben, versteckt oder mit falschen Papieren, und wenn Freunde oder Nachbarn ihnen begegneten, taten sie so, als kennten sie sie nicht, heimlich aber brachten sie ihnen zu essen. Sie wurden von einem großen, wuchtigen Mann mit leichter, jugendlicher Stimme unterbrochen; er verstand und sprach kein Deutsch, betrug sich aber Mendel gegenüber ausgesprochen freundschaftlich. Er bat, ihm vorgestellt zu werden, S. erfüllte ihm den Wunsch, entstellte Mendels Namen und sagte zu Mendel: »Das ist Rechtsanwalt Longo.« Der Rechtsanwalt war zurückhaltender als der Hausherr. Schweigend und respektvoll hörte er Mendels Geschichte an, die er in geraffter Form wiedergab, Satz für Satz von S. übersetzt, und zum Schluß meinte er: 512
»Sie werden müde sein, deine Freunde, sie werden Ruhe brauchen. Frag sie, ob sie in Varazze meine Gäste sein wollen, es ist Platz im Haus, und vielleicht haben sie ja noch nie das Meer gesehen.« Die Einladung kam überraschend für Mendel. Er zögerte, bat um Bedenkzeit und suchte dann seine Gefährten, um sich mit ihnen zu beratschlagen. Er nicht, er würde nicht annehmen, er fühlte sich fremd, anders, lästig und primitiv; es kam ihm so vor, als hätte er noch den Grabgeruch von Schmuleks Höhle an sich. Trotzdem, wenn die anderen zusagten, dann käme auch er mit. Aber auch Bella, Line und Gedale neigten eher zu einer Absage: sie erfanden sich Ausreden, in Wirklichkeit aber schüchterte sie die ihnen angebotene Rolle ein, sie fühlten sich ihr nicht gewachsen. Pavel hingegen hätte gern angenommen, aber nicht allein. So fügte er sich der Mehrheit. Sie bedankten sich, lehnten die Einladung ab und waren froh, daß Frau S. ihre ungeschickten Worte in die Harmonie ihres Italienisch einkleidete. »Aber das Meer hätte ich doch gern gesehen«, flüsterte Bella Gedale zu. Die Hausherrin nützte die Gelegenheit, daß die fünf beisammenstanden, und stellte ihnen einen anderen Freund vor, einen großen, knochigen jungen Mann, der einen energischen Eindruck machte und Hemd und Hosen von militärischem Zuschnitt, aber ohne Gradabzeichen oder Kragenspiegel trug. »Das ist Francesco, ein Kollege von euch«, sagte sie mit bedeutsamen Lächeln. Francesco aber blieb 513
ernst. »Auch er war Partisan«, setzte sie hinzu. »Im Veltlin, in den Alpen, auf den Bergen, die ihr dort hinten seht. Ein couragierter Junge, zu schade, daß er Kommunist ist.« Unter der Vermittlung von Frau S. ging die Unterhaltung mühsam und holprig voran, aber als Francesco erfuhr, daß Mendel der Roten Armee angehört hatte, trat er auf ihn zu und umarmte ihn: »Von dem Moment an, als Deutschland euch angriff, bestand für mich kein Zweifel mehr: Deutschland würde verlieren. Sag ihm das, Adele. Sag ihm, daß wir auch gekämpft haben. Wenn aber die Sowjetunion nicht standgehalten hätte, so wäre das für Europa das Ende gewesen.« Frau S. übersetzte, so gut es ging, und fügte dann von sich aus hinzu: »Er ist ein lieber Junge, aber ein Dickschädel, und er hat komische Ideen im Kopf. Wenn es nach ihm ginge, würde gar nicht lange gefackelt: die Diktatur des Proletariats müßte her, der Boden den Bauern, den Arbeitern die Fabriken und Schluß aus. Für uns, weil wir seine Freunde sind, vielleicht gerade eben noch ein Pöstchen im Gemeindesowjet.« Francesco verstand ungefähr, wollte aber nicht darauf eingehen. Er blieb weiterhin ernst und sagte, seine Partei sei der Kern des italienischen Widerstands gewesen und die wahre Stimme des italienischen Volkes. Dann ließ er Mendel fragen, warum denn er und seine Freunde ihr Land verlassen hätten. Mendel war verwirrt. Er hatte nur sehr undeut514
liche Vorstellungen davon, was in Italien während des Krieges geschehen war, und es verwunderte ihn, mit welchem Nachdruck Frau S. darauf hinwies, daß ihr Freund Kommunist war: war das vielleicht ein Scherz? Und scherzte sie vielleicht auch, wenn sie auf die Angst vor dem Kommunismus anspielte? Oder hatte sie wirklich Angst davor? Und wenn ja, hatte sie zu Recht Angst davor? Jetzt mußte er diesem Francesco auf seine Frage antworten. Wie sollte man ihm klarmachen, daß Jude zu sein in Polen oder Rußland etwas ganz anderes war als in der Schweiz oder hier in Mailand, in der Via Monforte? Dazu hätte er die Geschichte von allen erzählen müssen. Er beschränkte sich darauf, ihm zu erklären, daß er und seine Gefährten nichts gegen Stalin hätten, ja, ihm sogar dankbar seien, weil er Hitler geschlagen hatte. Daß aber ihre Häuser zerstört seien, daß hinter ihnen das Nichts liege und sie hofften, in Palästina eine neue Heimat zu finden. Die Dame übersetzte, und Mendel hatte den Eindruck, daß die Übersetzung länger war als der Text. Francesco machte keinen sehr überzeugten Eindruck und entfernte sich. Auch aus den italienischen Gesichtern wurde Mendel nicht schlau. Es gelang ihm nicht, ihren Ausdruck, ihre Mienen zu entziffern, oder er fürchtete, sie falsch auszulegen. Francesco. Ein Partisan, ein Genosse. Wie lange warst du im Kampf, Francesco? Sechzehn Monate, achtzehn, seit Wenjamins Radio am Dnjepr gemeldet hatte, daß Mussolini im Gefängnis saß, seit Dov 515
die Nachricht von der Kapitulation Italiens gebracht hatte. Wie weit bist du gelaufen, Francesco? Wie viele Freunde hast du verloren? Wo ist dein Zuhause? Wahrscheinlich hier in Mailand oder auf den Bergen, deren Namen ich schon wieder vergessen habe. Du hast aber ein Zuhause, für das du gekämpft hast, außer für deine Ideen. Ein Haus, Boden unter den Füßen und einen Himmel darüber, die dir gehören und sich stets gleich bleiben. Vater und Mutter, ein Mädchen oder eine Frau. Du hast jemanden und etwas, wofür es sich lohnt zu leben. Spräche ich deine Sprache, dann könnte ich es dir vielleicht erklären. Hinter ihm sprach Frau Adele mit Line: »… aber die größte Hilfe kommt jetzt von ihnen. Sie schicken Waffen über die Tschechoslowakei, und es ist die Kommunistische Partei Italiens, die die Streiks beschließt: wenn die Engländer ein Flüchtlingsschiff aufhalten wollen, dann treten sämtliche Hafenarbeiter in Streik, und die Engländer müssen es fahren lassen …« Mendel fühlte sich desorientiert. In einem Salon, umgeben von schönen Dingen und freundlichen Menschen, und gleichzeitig doch bloß ein winziges Steinchen in einem riesigen, grausamen Spiel. Vielleicht war das schon immer so gewesen, vielleicht warst du von Anfang an ein bloßes Werkzeug, seitdem du versprengt wurdest und Leonid getroffen hast. Du glaubst eine Entscheidung zu treffen, und dabei führst du nur aus, was jemand anderer dir als dein Geschick vorgeschrieben hat. Wer? 516
Stalin, Roosevelt oder der Gott der Heere? Er wandte sich an Gedale: »Laß uns gehen, Gedale. Verabschieden wir uns. Hier ist nicht unser Platz.« »Wie?« fragte Gedale erstaunt. Vielleicht fürchtete er, nicht recht verstanden zu haben oder war in Gedanken versunken gewesen. In dem Moment klingelte in der Ecke, wo Bella saß, das Telefon und Frau Adele ging an den Apparat. Wenig später legte sie den Hörer auf und sagte zu Mendel: »Das war Zvi vom Gutshof. Eurer Freundin, der, die ihr die Weiße nennt, geht es nicht gut. Man hat sie in die Stadt bringen müssen; sie ist in einer Klinik ganz hier in der Nähe.« Zu fünft zwängten sie sich in den Wagen des Rechtsanwalts Longo und gelangten so zu der Entbindungsklinik. Es war eine saubere, gut geführte Privatklinik, aber an vielen Stellen waren die Fensterscheiben durch Sperrholzplatten ersetzt, an anderen Stellen war das Glas mit Papierstreifen überklebt. Rokhele lag mit drei weiteren Frauen in einem Zimmer. Sie war blaß, ruhig und wimmerte nur leise: wahrscheinlich hatte sie ein Beruhigungsmittel bekommen. Auf dem Flur vor der Zimmertür war Isidor, er war nervös und finster, und bei sich hatte er Izu, den geschickten Fischer, und drei weitere Landsleute aus Blizna, die gröbsten in der ganzen Bande. Isidor lief auf und ab und trug eine Pistole im Gürtel. Zwei seiner Begleiter saßen auf dem Boden, scheinbar betrunken, die anderen beiden lehnten in 517
einer Fensternische und unterhielten sich. Durch das abgetragene Leder ihrer Stiefel hindurch zeichneten sich Messerknäufe ab. Auf dem Fensterbrett waren eine Flasche Wein und zwei Laib Bauernbrot. »Wie geht es ihr?« fragte Bella Isidor im Flüsterton. Ohne seine Stimme auch nur im geringsten zu dämpfen, antwortete Isidor: »Es geht ihr nicht gut. Sie hat Schmerzen, vorhin hat sie geschrien. Jetzt haben sie ihr eine Spritze gegeben.« Am Ende des Korridors tauchten kurz zwei Schwestern auf, tuschelten etwas und verschwanden dann sofort wieder. »Kommt, wir gehen, sie ist hier gut aufgehoben«, sagte Mendel. »Was wollt ihr denn hier?« »Ich rühr mich nicht vom Fleck«, antwortete Isidor. Die anderen vier erwiderten nichts, warfen lediglich Mendel und den anderen feindselige Blicke zu. »Ihr seid hier zu nichts nütze und steht nur im Weg herum«, meinte Line. »Ich rühr mich nicht vom Fleck«, wiederholte Isidor. »Ich bleib hier. Ich trau denen nicht.« Die fünf traten zur Seite. »Was sollen wir tun?« fragte Gedale. »Hier sind wir zu viele«, sagte Mendel. »Ich bleibe, sehe zu, was passiert und versuche sie zu beruhigen. Geht ihr nur hinunter und fahrt zurück auf den Gutshof, der Rechtsanwalt wartet unten. Wenn was ist, ruf ich euch an.« 518
»Ich bleibe auch«, sagte Line zu seiner Überraschung. »Eine Frau kann nützlich sein.« Gedale, Bella und Pavel gingen. Line und Mendel setzten sich in die Sessel im Warteraum. Durch die angelehnte Tür konnten sie die fünf im Flur lagernden Männer beobachten. »Ist Isidor auch betrunken?« fragte Line. »Das glaube ich nicht«, gab Mendel zurück. »Er führt sich so auf, weil er Angst hat.« »Angst wegen der Geburt? Um Rokhele?« »Ja, aber vielleicht nicht nur deswegen. Er ist so jung und muß sich immer irgendwie wichtig tun. Gedale hätte ihn nicht den Lastwagen fahren lassen sollen.« Die ungewohnten Frauenkleider schienen Line auch innerlich verwandelt zu haben. Leise antwortete sie: »Wann war das noch? Im Februar, nicht? Es lag noch Schnee.« »Es war in den ersten Märztagen, als wir Wolbrom verließen. Ja, es muß genau der erste März gewesen sein!« »Es fällt schwer, die Erinnerungen in die richtige Reihenfolge zu bringen, nicht wahr? Geht es dir nicht auch so?« Mendel nickte bloß, ohne etwas zu sagen. Eine Krankenschwester kam und sagte auf italienisch etwas zu ihnen. Line und Mendel verstanden nicht, sie zuckte die Achseln und ging. Line trat zu Rokhele ins Zimmer und kam gleich wieder heraus: 519
»Sie schläft. Scheinbar ist sie ruhig, aber der Puls geht sehr schnell.« »Vielleicht ist das bei allen Frauen so, wenn sie gebären?« »Ich weiß nicht«, antwortete Line. Sie schwieg, dann setzte sie von neuem an: »Irgendwie stimmt mit uns was nicht. Findest du es vielleicht richtig, daß ein Junge mit siebzehn Vater wird?« »Vielleicht ist es überhaupt nie richtig, Vater zu werden«, gab Mendel zurück. »Sei still, Mendel, solche Gedanken mußt du verscheuchen. Heute Nacht kommt ein Kind zur Welt.« »Meinst du denn, daß unsere Gedanken ihm was anhaben können? Es anders zur Welt kommen lassen?« »Wer weiß«, sagte Line. »Ein Kind, wenn es auf die Welt kommt, ist so etwas Empfindliches! Wo wurde es gezeugt?« Mendel rechnete im Kopf nach: »Als wir mit Edek zusammen waren, bei Tunel. Im November. Aber was wird es denn nur: ein Pole, ein Ukrainer, wie Rokhele, oder ein Italiener?« »Narische bucher, vos darfst du fregen?« sagte Line lachend, und zitierte damit das Lied, das den Vorbeizug der Front markiert hatte. »Dummer Junge, wie kannst du nur fragen?« Seltsamerweise fühlte Mendel sich durch diese Anrede ganz und gar nicht beleidigt, sie rührte ihn vielmehr. Diese neue Line, das war nicht mehr 520
Rahab, eher schon das einfühlsam kluge Maidele aus dem Lied. »Wie kannst du nur fragen«, setzte Line wieder an, wobei sie Mendel ihre Hand auf den Arm legte. »Ein Kind ist ein Kind. Erst später wird es etwas Bestimmtes. Warum zerbrichst du dir darüber den Kopf? Schließlich ist es nicht unser Kind.« »Natürlich. Es ist nicht einmal unseres.« »Auch wir sind geboren worden«, brachte Line auf einmal hervor. Mendel sah sie fragend an, und sie erklärte sich deutlicher: »Geboren, ausgestoßen. Rußland hat uns empfangen, hat uns genährt und in seinem Dunkel wachsen lassen wie in einem Mutterleib. Dann haben die Wehen eingesetzt, der Leib hat sich in Krämpfen zusammengezogen und uns ausgestoßen, und jetzt sind wir hier, nackt und frisch wie neugeborene Kinder. Ist das nicht auch für dich so?« »Narische meidele, vos darfst du fregen?« gab Mendel zurück und er spürte, wie ein zärtliches Lächeln sein Gesicht überzog und seine Augen sich leicht verschleierten. Im Flur entstand eine Bewegung, Schritte, Geflüster. Mendel erhob sich und schaute durch den Türspalt: die Weiße atmete schwer und stöhnte in Abständen auf. Plötzlich krümmte sie sich und schrie zwei-, dreimal laut auf. Sofort sprangen die vier aus Blizna kampfbereit und verschlafen auf. Isidor kniete vor dem Bett nieder, dann eilte er mit lan521
gen Schritten aus dem Zimmer. Nach einer Minute kam er wieder und schleifte eine Schwester und den diensthabenden Arzt mit sich. Alle drei waren erschrocken, allerdings aus verschiedenen Gründen. Auf jiddisch schrie Isidor: »Diese Frau darf nicht sterben, Herr Doktor, verstehen Sie? Sie ist meine Frau, wir sind von Rußland bis hierher gekommen, wir haben gekämpft, sind gelaufen. Und das Kind ist von mir, es muß auf die Welt kommen. Es darf nicht sterben, verstanden? Wehe, wenn die Frau oder das Kind sterben. Wir sind Partisanen. Vorwärts, Herr Doktor, tun Sie, was Ihre Pflicht ist, und passen Sie auf, was Sie tun.« Line ging auf Isidor zu, versuchte ihm gut zuzureden und ihn zu beruhigen, aber Isidor, mit der Hand an der Pistole in seinem Gürtel, stieß sie grob weg. Der Arzt verstand kein Jiddisch, aber er verstand sehr wohl, was eine Pistole in der Hand eines vom Entsetzen gepackten Jungen bedeutete. Er sprach rasch mit der Schwester und machte dann einen Schritt in Richtung auf das Telefon im Korridor, aber Isidor vertrat ihm den Weg. Da nahmen er und die Schwester das fahrbare Bett, das ganz in der Nähe stand, legten die Weiße, die weiterhin schrie, darauf und schoben sie in Richtung Kreißsaal. Isidor machte den Seinen ein Zeichen und folgte ihnen. In den Kreißsaal einzudringen wagte er nicht. Alle sieben setzten sich vor der Tür nieder und es verging eine Stunde nach der anderen. Mendel machte mehrere Versuche, Isidor zu beruhigen und sich die 522
Pistole von ihm aushändigen zu lassen. Er hätte sie ihm wohl auch mit Gewalt abgenommen, wären da nicht die vier Männer aus Blizna in seinem Rücken gewesen. Alles umsonst: Isidor stand vor ihm und hörte ihn gar nicht, zuerst aus Arroganz, später, weil er gespannt und ausschließlich auf die gedämpften Geräusche aus dem Kreißsaal lauschte. Mendel saß wieder neben Line und betrachtete ihre Knie, die unter dem Rock zum Vorschein kamen. Er sah sie zum ersten Mal: nie zuvor hatte er sie mit den Augen gesehen, nur erfühlt mit den vor Verlangen zittrigen und hellsichtigen Fingern im Dunkel ihrer stets wechselnden Nachtlager oder durch den groben Stoff der Hosen hindurch. Nicht weich werden. Liefere dich ihr nicht wieder aus. Fang nicht wieder an, sei vernünftig, reiß dich zusammen. Du würdest nicht an ihrer Seite leben, sie ist keine Frau fürs Leben, du bist noch keine dreißig. Mit dreißig kann man noch einmal von vorn anfangen; wie bei einem Buch, wenn man den ersten Band ausgelesen hat. Wo noch einmal neu anfangen? Hier, heute, an diesem Mailänder Morgen, der hinter den Fensterscheiben dämmert, heute morgen. Das hier ist genau der richtige Ort, um sein Leben neu zu beginnen. Vielleicht hättest du es so machen sollen wie sie, vielleicht hatten sie recht, die beiden nebechs. Sie haben es nicht so gemacht wie du mit Line, sie haben die Augen geschlossen und sich gehen lassen, und der Samen des Mannes ist nicht verlorengegangen, und eine Frau hat davon empfangen. 523
Eine Schwester schob einen Wagen vorbei. Line, die eingenickt war, schreckte auf und sagte: »Es ist schon eine Weile her, daß wir eine Nacht durchwacht haben.« »Ist schon eine Weile her, daß wir eine Nacht gemeinsam verbracht haben«, gab Mendel zurück. Nein, ich könnte nicht ein Leben lang mit Line leben, aber ich kann sie nicht aufgeben und will es nicht. Immer werd ich sie bei mir haben, auch wenn wir getrennt sind, so wie ich von Rivke getrennt bin. Man hörte die Geräusche der erwachenden Stadt: Straßenbahnen kreischten, die Läden der Geschäfte wurden hochgezogen. Eine Schwester kam aus dem Kreißsaal, dann der Arzt selbst, um gleich darauf wieder hineinzugehen. Isidor stellte Fragen, jetzt nicht mehr arrogant, sondern flehentlich, und trotz der sprachlichen Barriere wurden sie verstanden. Der Arzt machte beschwichtigende Gesten und wies auf seine Armbanduhr, in zwei Stunden, in einer. Wiederholt hörte man Schreie, ein Motorengeräusch, dann Stille. Endlich, es war schon hoher Tag, kam eine Schwester mit fröhlichem Gesicht heraus und trug ein Bündel auf dem Arm. »Ein Junge, ein Junge«, lachte sie. Keiner verstand sie, sie schaute sich um und ihr Blick fiel auf den bärtigen Izu, sie zupfte ihn am Bart: »Ein Junge wie er!« Alle erhoben sich. Mendel und Line umarmten Isidor, dessen vom Wachen gerötete Augen glänzend wurden. Auch der Arzt kam heraus, gab Isidor 524
einen Schlag auf die Schulter und ging durch den Korridor davon, traf aber auf einen seiner Kollegen, der ihm mit der aufgeschlagenen Zeitung entgegenkam, und sie sprachen miteinander. Um die beiden bildete sich rasch eine größere Gruppe von Ärzten, Schwestern und Krankenschwestern. Auch Mendel trat hinzu und konnte sehen, daß die Zeitung nur aus einer einzigen Seite bestand und einen Titel in riesigen Lettern trug, den er aber nicht verstand. Es war die Zeitung vom Dienstag, dem 7. August 1945, und sie brachte die Nachricht vom Abwurf der ersten Atombombe auf Hiroshima.
Nachwort
Dieses Buch ist entstanden auf der Grundlage dessen, was mir vor Jahren ein Freund erzählt hat, der im Sommer 1945 in eben jenem Mailänder Hilfsbüro arbeitete, das im letzten Kapitel erwähnt wird. Tatsächlich gelangten damals in der Masse von Flüchtlingen und Heimkehrern einige Gruppen nach Italien, die der hier beschriebenen Gruppe vergleichbar sind: Männer und Frauen, die die Jahre der Entbehrungen und des Leids hart geprüft, aber nicht zerbrochen hatten; erschöpft, aber ihrer Würde bewußt, waren sie die Überlebenden einer (in Italien kaum bekannten) Zivilisation, die der Nationalsozialismus mitsamt den Wurzeln ausgerottet hatte. Es war nicht meine Absicht, eine wahre Geschichte zu erzählen, vielmehr wollte ich in plausibler, aber doch fiktiver Form den Weg rekonstruieren, den eine solche Bande möglicherweise hätte zurücklegen können. Die beschriebenen Ereignisse sind zum größten Teil wirklich geschehen, wenn auch nicht zu dem Zeitpunkt oder an dem Ort, den ich angebe. Es ist wahr, daß jüdische Partisanen gegen die Deutschen gekämpft haben und meist unter verzweifelten Bedingungen, teils in mehr oder weniger regulären sowjetischen oder polnischen Verbänden, teils in ausschließlich jüdischen Formationen. 526
Banden wie die Wenjamins hat es tatsächlich gegeben, und sie haben die jüdischen Kämpfer von Fall zu Fall aufgenommen oder abgewiesen, manchmal auch entwaffnet und erschossen. Auch ist es wahr, daß Gruppen von Juden, insgesamt vielleicht 10 – 15 000 Personen, sehr lange überleben konnten, einige sogar bis ans Ende des Krieges, teils in befestigten Lagern, ähnlich dem, das ich willkürlich nach Nowoselki verlegt habe, oder auch, so unglaublich das klingen mag, in Katakomben wie der, in der ich Schmulek angesiedelt habe. Ablenkungsmanöver wie die Sabotage von Eisenbahnlinien oder die »Umleitung« von Fallschirmabwürfen sind in der Literatur über den Partisanenkrieg in Osteuropa vielfach belegt. Die Personen hingegen sind, mit Ausnahme von Polina, der Fliegerin, allesamt erfunden. Fiktiv ist insbesondere die Figur des Martin Fontasch; wahr ist allerdings, daß viele jüdische Sänger oder Dichter, die, mehr oder weniger bekannt, in den Städten oder über die Dörfer verstreut lebten, so ermordet wurden, wie eben dieser Martin. Und das nicht nur in den Jahren 1939 – 45, und nicht nur von den Nazis. Erfunden ist dementsprechend auch das Lied der Gedalisten sowie der Titel des Buches. Die Anregung zu seinem Refrain entnahm ich einigen Worten des Pirké Avoth (Sprüche der Väter), einer Sammlung von berühmten Sprüchen der Rabbiner aus dem 2. Jahrhundert n. Chr. Dort heißt es (Kap. I, § 13): »Auch sprach er (der Rabbi Hillel): ›Bin ich 527
nicht für mich, wer wird’s je sein? Und denke ich an mich, was bin ich dann? Und wann, wenn nicht jetzt.‹« Selbstverständlich stimmt die Interpretation dieses Spruches, die ich den Personen in den Mund lege, nicht mit seiner orthodoxen Auslegung überein. Da ich eine ganze Epoche zu rekonstruieren hatte, einen kulturellen Hintergrund und eine Sprache, mit denen ich persönlich nur am Rande vertraut bin, machte ich umfangreichen Gebrauch von Dokumentationsmaterial. Einige Bücher waren mir bei dieser Arbeit besonders hilfreich. Die wichtigsten möchte ich hier anführen: R. Ainsztein, Jewish Resistance in Nazi Occupied Eastern Europe, P. Elek, London 1974 – J. A. Armstrong, Soviet Partisans in World War II, The University of Wisconsin Press, Madison 1964 – A. Artuso, Solo in un deserto di ghiaccio, Tipografia Bogliani, Turin 1980 – H. J. Ayalti, Je länger ein Blinder lebt, desto mehr sieht er. Jiddische Sprichwörter, Insel, Frankfurt/Main 1965 – A. Eliav, Between Hammer and Sickle, New American Library, New York 1969 – M. Elkins, Forged in Fury, Ballantine Books, New York 1971 – M. Kaganovic, Di milchamà fun di Jiddische Partisaner in Mizrach-Europe (Der Kampf der jüdischen Partisanen in Ost-Europa), Union Central Israelita Polaca, Buenos Aires 1956 – J. Kamenetzsky, Hitler’s Occupation of Ukraine, The Marquette University Press, Milwaukee 1956 – 528
K. S. Karol, Polen zwischen Ost und West. Ein polnischer Journalist berichtet, Wegner, Hamburg 1962 – S. A. Kovpak, Les Partisans Soviétiques. La jeune Parque, Paris 1945 – S. Landmann, Jüdische Witze, dtv, München 1963 – B. Litvinoff, To the House of Their Fathers. A History of Zionism, New York 1965 – S. Minerbi, Raffaele Cantoni, Carucci, Rom 1978 – O. Pinkus, A Choice of Masks, PrenticeHall, Englewood Cliffs (N. J.) 1969 – A. Sereni, I clandestini del mare, Mursia, Mailand 1973 – L. Sorrentino, Isba e Steppa, Mondadori, Mailand 1947 – G. Vaccarino, Storia della Resistenza in Europa 1938 – 1945, Bd. 1, Feltrinelli, Mailand 1981. Ich danke den Autoren dieser Bücher sowie all denen, die mir mit ihrem Urteil Mut gemacht und mir mit ihrer Kritik den Weg gewiesen haben. Besonderen Dank schulde ich Emilio Vita Finzi, der mir den Kern dieser Geschichte erzählt hat, und ohne den dieses Buch nicht zustande gekommen wäre, und Giorgio Vaccarino, dessen freundschaftliche Aufmerksamkeit mich begleitete und der mir sein umfangreiches Archiv zur Verfügung stellte.
Inhalt Erstes Kapitel: Juli 1943 9 Zweites Kapitel: Juli – August 1943 49 Drittes Kapitel: August – November 1943 92 Viertes Kapitel: November 1943 – Januar 1944 135 Fünftes Kapitel: Januar – Mai 1944 173 Sechstes Kapitel: Mai 1944 221 Siebtes Kapitel: Juni – Juli 1944 262 Achtes Kapitel: Juli – August 1944 311 Neuntes Kapitel: September 1944 – Januar 1945 349 Zehntes Kapitel: Januar – Februar 1945 395 Elftes Kapitel: Februar – Juli 1945 432 Zwölftes Kapitel: Juli – August 1945 474 Nachwort 526
Primo Levi, geboren 1919 in Turin, studierte Chemie. 1944 wurde er als Mitglied der Resistenza verhaftet und nach Auschwitz deportiert. Er überlebte und kehrte in einer endlosen Odyssee nach Italien zurück und arbeitete bis 1977 in der chemischen Industrie. Levi veröffentlichte mehrere mit allen wichtigen Literaturpreisen ausgezeichnete autobiographische Bücher, Erzählungen und Romane. In deutscher Sprache erschienen: Ist das ein Mensch (1961) und Die Atempause (1964). In Vorbereitung: Das periodische System (Roman).
Schutzumschlagabbildung: Aufgehende Sonne über Winterlandschaft 1913 von Otto Dix Mit freundlicher Genehmigung der Otto Dix Stiftung, Vaduz
Er ist einer der wichtigsten und begabtesten Erzähler der Gegenwart. Italo Calvino
Er ist ein Freund, dieser Schriftsteller, der für uns ein Miniaturuniversum der moralischen Anstrengung und der Nachdenklichkeit erschaffen hat. Ich glaubte ständig, die Stimme eines Mannes zu hören, der darum kämpft, wieder zu wissen, was es bedeutet, im zwanzigsten Jahrhundert ein Mensch zu sein oder zu werden. Irving Howe
Ich halte Primo Levi für einen der bedeutendsten italienischen Schriftsteller, und ich bin stolz darauf, Mitglied der Jury gewesen zu sein, die ihm den begehrten ›Premio Viareggio‹ verliehen hat. Umberto Eco
ISBN 3-446-13842-0