Atlan - Minizyklus 06 Intrawelt Nr. 02
Vorstoß in die Intrawelt von Christian Montillon
Auf den von Menschen besiedel...
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Atlan - Minizyklus 06 Intrawelt Nr. 02
Vorstoß in die Intrawelt von Christian Montillon
Auf den von Menschen besiedelten Welten der Milchstraße schreibt man das Jahr 1825 Neuer Galaktischer Zeitrechnung, das dem Jahr 4812 alter Zeit entspricht. Der relativ unsterbliche Arkonide Atlan, der seit Jahrtausenden im Auftrag der Menschheit wirkt, wurde mit der exotisch schönen Varganin Kythara in die Galaxis Dwingeloo verschlagen. Kythara sieht zwar aus wie eine junge Frau, lebt in Wirklichkeit aber schon seit Zehntausenden von Jahren. Ihre Geheimnisse hat Atlan noch lange nicht alle lösen können. Doch zusammen mit der Varganin nimmt er den Kampf gegen die mysteriösen Lordrichter auf. Diese haben zuletzt in der Milchstraße und in Dwingeloo mit Hilfe ihrer Truppen finstere Pläne verfolgt. Im verzweifelten Kampf gegen die Tyrannen gelang es Atlan, den Dunkelstern in Dwingeloo zu zerstören und damit den Lordrichtern eine empfindliche Niederlage beizubringen. Nach dem Untergang des Dunkelsterns entflieht Atlan dem Inferno – mit Kythara verschlägt es ihn an einen Ort, der ihnen unbekannt ist. Um eine geheimnisvolle Waffe gegen die Lordrichter zu erbeuten, wagt Atlan den VORSTOSS IN DIE INTRAWELT …
Vorstoß in die Intrawelt
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Die Hautpersonen des Romans: Atlan - Der Arkonide stellt sich den Prüfungen der Intrawelt hüllenlos. Kythara - Die Varganin darf in die Intrawelt – und dann doch nicht. Paffloir - Ein brutaler Schläger übt sich im Verrat. Papa Schwart - Der betrügerische Anführer wird selbst betrogen. Jolo - Das Echsenwesen will seinem Herrn dienen.
Prolog Gerade in Zeiten wie diesen, meine Lieben, ist es wichtig, festen Regeln zu gehorchen. Ich, Jamoklias, habe sie für euch erstellt, und ich dachte über sie nach, und ich sah, dass sie gut sind. Manchmal können sich die Regeln aber auch irren. Wenn dieser Fall eintritt, muss man sie einfach umdrehen. - Einleitung zu Jamoklias' neun Geboten (mündlich überliefert) -
1. Atlan: 27. Juli 1225 NGZ »Du sollst vertrauen.« Jamoklias' erstes (Ursprungsfassung) -
Gebot
Der Druck um meinen Brustkorb war so stark, dass ich keine Luft mehr bekam. Doch meine Hände waren frei. Ich griff zu und versuchte, die Umklammerung des dicken Krakenarms zu lockern. Ich fühlte festes, zähes Fleisch, spannte meine Muskeln an und zerrte mit aller Kraft, zu der ich fähig war. Das Ergebnis war gleich null. Es gelang mir nicht, mich zu befreien. Meine Gegenwehr stellte einen reinen Verzweiflungsakt dar. Mein Feind, das krakenähnliche Wesen, war mir allein durch seine gewaltige Größe körperlich überlegen – jeder der acht graugrünen Fangarme maß etwa sechs Meter. Ich zweifelte keine Sekunde daran, dass dieses Monstrum mich mit einer beiläufigen Bewegung zerquetschen konnte. Ich hörte ein dumpfes Stöhnen meiner Begleiterin Kythara. Es gelang mir, einen Blick
zur Seite zu werfen. Die Varganin befand sich in einer noch schlechteren Lage als ich selbst. Noch schlechter?, spottete der Extrasinn. Wenn kein Wunder geschieht, sieht dieses Wesen dich und Kythara als willkommene Abwechslung seines Speiseplans, und dann macht es keinen Unterschied, ob man von einem oder von zwei Fangarmen umschlungen ist. Wunder?, dachte ich und vergaß für einen winzigen Augenblick sogar meine äußerst prekäre Situation. Das war für den Logiksektor eine äußerst befremdliche Überlegung. Um Kytharas Brust war ebenfalls ein schmutzig grün schimmernder Krakenarm geschlungen, der sie etwa einen halben Meter über den Boden erhoben und auf den Kopf gestellt hatte. Die goldenen Haare hingen herab und schleiften mit den Spitzen über den Boden. Ihr schmales Gesicht war vor Anstrengung verzerrt. Ein zweiter Fangarm näherte sich soeben ihren Beinen; sie hielt die Hände ausgestreckt, als wolle sie ihn abwehren. Dabei hatte sie nicht einmal eine Chance, ihn auch nur zu erreichen. Sie stieß einen Schrei aus, der ebenso Wut wie Schmerz ausdrücken konnte. Mir wurde die Luft knapp. Verzweifelt versuchte ich einzuatmen, doch erbarmungslos presste das Wesen die Luft aus meinen Lungen. Sollte dies das Ende meines mehrere tausend Jahre langen Lebens sein? Zerquetscht von einem monströsen Kraken, in einer Baracke auf einem namenlosen Asteroiden im Inneren der Sternenwolke SET-3? Ich wusste nicht einmal, ob mein Gegner über Intelligenz verfügte oder ob es sich nur um ein riesenhaftes Tier handelte. Der Krake war unvermittelt aufgetaucht;
4 ich hatte ihm Vertrauen entgegengebracht und war ihm entgegengegangen. Lange Erfahrung hatte mich gelehrt, dass das Äußere nichts über eine Kreatur aussagte, mochte sie im Auge des Betrachters auch noch so monströs erscheinen. In diesem Fall hatte dieses Vertrauen – diese Arglosigkeit, wie der Extrasinn sofort kommentierte – mich in eine verzweifelte Lage gebracht. Ich hatte gehofft, von dem Kraken mehr über die geheimnisvolle Intrawelt zu erfahren, von ihm möglicherweise sogar dorthin geleitet zu werden. Stattdessen hatte das Wesen kommentarlos seine Fangarme ausgestreckt und meine Begleiterin und mich umfasst, ohne uns auch nur die kleinste Chance auf Gegenwehr zu lassen. Offensichtlich war er nicht der Pförtner, sondern vielleicht so etwas wie ein hungriger Wachhund des Pförtners. Körperliche Gewalt konnte mir nicht weiterhelfen, also versuchte ich es auf einem anderen Weg. »Wir kommen als Suchende!«, rief ich, darauf hoffend, es mit einem intelligenten Wesen zu tun zu haben. »Wir bitten dich darum, dass du uns anhörst.« Ich wollte noch mehr sagen, doch es verschlug mir im wahrsten Sinne des Wortes die Sprache. Etwas strich über mein Gesicht, tastete sich mit knappen, schlängelnden Bewegungen bis zu den Lippen vor, schob sich über die Unterlippe, berührte meine Zähne. Instinktiv hob ich die Hände, wischte über den Mund. Was mich dort berührte, war ein langer, fingerdicker Fühler, der sich aus dem Tentakel meines Gegners geschoben hatte. Seine Berührung war wie die gleitende, schleimige Bewegung eines Blutegels, der sich in einem verschmutzten tropischen Fluss unter die Kleidung schob und auf der Haut festsaugte. Der Tentakelfortsatz saß unverrückbar fest. Ich presste die Lippen zusammen, wollte unter allen Umständen verhindern, dass dieses Ding in mich hineinkroch. Der Fühler zog sich zurück, tastete über meine Nasenlö-
Christian Montillon cher. Ein dumpfer Geruch wie das brackige Wasser eines umgekippten Sees ließ mich schwindeln. Ich verkrampfte mich, doch meine Befürchtung bewahrheitete sich nicht. Der Tentakelfortsatz drang nicht durch die Nasenlöcher in mich ein. Ich hörte meinen Herzschlag überlaut in den Ohren dröhnen. Der Tentakelfortsatz des Kraken löste sich mit einem Mal von mir, baumelte einige Zentimeter vor meinen Augen. Was ich sah, gefiel mir gar nicht. Aus der schleimigen Unterseite wuchsen dünne Widerhaken, die sich aufrichteten und mit einer zitternden Bewegung begannen. Oder waren es doch nur feine Härchen, die der sensorischen Aufnahme von Umgebungsreizen dienten? Der Unterschied konnte in den nächsten Minuten für mich zwischen Leben und einem qualvollen Tod bedeuten. Der Fühler zuckte wieder auf mich zu, presste sich gegen meine Schläfe, umschlang meinen Hinterkopf. Und dann … … krochen weitere Fühler über meinen Körper nach oben, schoben sich über meinen Hals, umschlossen meinen Schädel. Jetzt löste sich auch die Frage, wozu die feinen Härchen oder Widerhaken dienten – mein Pessimismus war berechtigt gewesen. Ich spürte Einstiche wie von Hunderten Nadeln. Die spitzen Härchen bohrten sich durch meine Kopfhaut. Sie verursachten keine starken Schmerzen – dieser Vorgang war offenbar nicht dazu da, die Gegner des Kraken zu verletzen, doch er war höchst unangenehm. Ich fühlte unter meinen Haaren und hinter den Ohren schlängelnde Bewegungen. Zur Atemnot und den Schmerzen gesellte sich Ekel. Ich zwang mich, zu Kythara zu sehen. Ihr erging es genauso wie mir. Sie war mittlerweile von den beiden Tentakeln umschlungen, und aus ihnen ragten Dutzende der fingerartigen Fortsätze bis zu Kytharas Kopf. Weitere Fühler schoben sich schmatzend aus den graugrünen Tentakeln und krochen über den Körper der Varganin, die nach wie vor
Vorstoß in die Intrawelt mit dem Kopf nach unten hing. Die goldenen Augen meiner Begleiterin waren geweitet, ihre Bronzehaut schien mir dunkler als gewöhnlich, das Zucken der Lippen wurde von einem bebenden Stöhnen begleitet. Kythara schien einer Panik nahe zu sein. Auch ich verlor von Sekunde zu Sekunde mehr die Kontrolle über mich. Der Sauerstoffmangel machte sich immer stärker bemerkbar. Ich fühlte die Tentakelfortsätze auf meiner Schläfe und der Kopfhaut pulsieren, und nach wie vor steckten die spitzen Härchen in meiner Haut. Nur in der Haut?, fragte der Extrasinn. Bist du dir sicher? Nein, das war ich keinesfalls. In mir stieg eine dumpfe Ahnung auf, was der Krake mit dieser Prozedur bezweckte. So unangenehm mein Verdacht auch war, so beruhigend war er gleichzeitig – denn falls ich Recht hatte, würde mein Gegner mich nicht töten. Wenn die Härchen tatsächlich durch die Schädeldecke bis in mein Gehirn reichten, wenn ich auf diese makabre und rigorose Weise überprüft wurde, dann würde mein Gegner mich und Kythara am Leben lassen. Sonst wäre eine Prüfung völlig unnötig. Denk weiter, Arkonide! Wenn du die Prüfung nicht bestehst, kann dein Feind dich sehr bequem entsorgen. Eine effektive Methode, unerwünschte Gäste zu beseitigen. Plötzlich zogen sich die Tentakelfortsätze aus mir zurück, die Tentakel selbst öffneten sich, und ich prallte hart auf den Boden.
* Mein erster Gedanke galt Kythara. Ich drehte mühsam den Kopf und sah, wie sie ebenfalls stürzte. Sie versuchte noch, mit den Armen ihren Kopf zu schützen, doch es gelang ihr nicht. Sie schlug mit dem Hinterkopf zuerst auf und rollte sich ab. Dabei stieß sie einen leisen Schrei aus. Noch während ich Luft in meine brennenden Lungen saugte und einen misstrauischen Blick zu dem Krakenwesen warf, kroch ich
5 auf allen vieren zu der Varganin. Erleichtert bemerkte ich, dass sie sich offenbar nicht schwer verletzt hatte. Sie warf mir einen grimmigen Blick zu, und zusammen kamen wir mühsam auf die Beine. Wir brachten einige Meter Abstand zwischen uns und unseren monströsen Gegner, der die Tentakel wieder näher an seinen rostroten, sackartigen Körper heranzog. Dabei schleiften sie über den Boden und verursachten ein unangenehm schabendes Geräusch. Kytharas Hände fuhren über ihre Schläfen, und ich sah in ihrem Gesicht denselben Ekel, den ich vor wenigen Augenblicken selbst empfunden hatte. Die Fühler unter der Haut zu spüren war einer Vergewaltigung gleichgekommen. Kythara sog scharf die Luft ein, als sie über ihren Hinterkopf tastete. »Er hätte dich wenigstens herumdrehen können, ehe er dich losließ«, versuchte ich die Situation aufzulockern. Mein Humor klang allerdings äußerst bemüht. Eine rasselnde Stimme drang durch den ganzen Raum. »Das Prüfverfahren ist abgeschlossen.« Der Krake hatte gesprochen und mit seinen wenigen Worten meine Vermutung bestätigt. Durch die feinen Härchen war er nicht nur in unsere Körper, sondern auch in unsere Gedankenwelt vorgedrungen. Er hatte uns einer Prüfung unterzogen – worin auch immer diese bestanden hatte. Alles in mir begehrte gegen dieses rigorose Vorgehen auf. Ich hätte mich freiwillig jedem Test unterzogen; aber auf diese Art und Weise behandelt zu werden widerstrebte mir zutiefst. Es war … viehisch. Ich unterdrückte jedoch jeden Kommentar und erkannte erleichtert, dass Kythara ebenso handelte. Zuerst wollte ich abwarten, was der Krake uns noch mitteilen würde. »Einer darf die Reise antreten, einer nicht.« Die Stimme schien aus der Unterseite des etwa einen Meter durchmessenden Sackkörpers zu dringen, der von den Tentakeln nur wenige Zentimeter über dem Boden
6 gehalten wurde. Auf dem jetzt sichtbaren Teil des Leibes konnte ich keinerlei Sinnesorgane erkennen. »So habe ich, Teph, entschieden.« Ich tauschte einen raschen Blick mit Kythara und erinnerte mich an das, was Risghor-1 zu mir gesagt hatte. Nur derjenige könne in die Intrawelt vordringen und mit dem Flammenstaub zurückkehren, der bereits einmal jenseits der Materiequellen war. Diese Warnung hatte er uns mitgegeben, als er uns von der Intrawelt und dem Flammenstaub, der dort verborgen sein sollte, berichtete. Der Flammenstaub, der der Konterkraft, jener kleinen Rebellengruppe innerhalb der Lordrichtertruppen, als unschätzbar wertvolle und mächtige Waffe dienen könnte. Nur deshalb waren wir überhaupt hierher auf diesen namenlosen Asteroiden und in diese Baracke gekommen – wir suchten den Zugang in die Intrawelt, um dort den geheimnisvollen Flammenstaub zu bergen. Allerdings hätten laut Risghor-1 höhere Mächte eine Sicherung eingebaut: Nur wer den Bereich jenseits der Materiequellen kenne, konnte nach seinen Worten den Flammenstaub bergen und aus der Intrawelt ins Normaluniversum transportieren. Die Worte des Kraken, der sich selbst Teph genannt hatte, schienen diese Information zu bestätigen. Offenbar hatte seine Prüfung ergeben, dass ich bereits einmal jenseits der Materiequellen gewesen war – wie auch immer er das festgestellt hatte, wo ich doch selbst über keinerlei Erinnerung an diese Zeit verfügte. Deshalb durfte ich die Reise antreten, Kythara jedoch nicht. Eine Annahme mit einiger Wahrscheinlichkeit, lobte mein Extrasinn, ehe der unvermeidliche Dämpfer folgte: Du darfst diese Überlegung jedoch keinesfalls als Tatsache ansehen. Warte ab. Plötzlich kam Bewegung in Teph. Er kroch an die Seitenwand der Baracke, zwei seiner Tentakel glitten daran in die Höhe. Die Enden verkrallten sich knapp unter der Decke. Mit einer raschen Bewegung zogen
Christian Montillon die Extremitäten den sackartigen Zentralleib nach oben. Die anderen Tentakel breiteten sich aus, schoben sich unter der Decke bis zu der gegenüberliegenden Wand. Schließlich verhakte sich der Krake, und sein Sackkörper glitt knapp unterhalb der Decke langsam wieder von der Seitenwand weg. Ich sah nach oben und auf die Unterseite seines Leibes. Ein Dutzend Facettenaugen starrten mich von dort an. Es war ein unheimlicher Anblick – immer wieder schoben sich rötlich pulsierende Hautfalten über einige der Augen, dafür kamen an anderen Stellen weitere zum Vorschein. Ich fühlte mich so fixiert und von Blicken durchdrungen wie selten zuvor. Dabei wusste Teph durch sein Eindringen in unsere Gedankenwelt wohl ohnehin alles über uns, was sich auch dadurch zeigte, dass er in gut verständlichem Interkosmo zu uns sprach. »Ich bin der Besitzer des Transferschlauchs«, fuhr Teph mit seiner rasselnden Stimme fort. »Ich entscheide, wer in die Intrawelt überwechseln darf.« Obwohl dieses Wesen mir absolut fremdartig war, hörte ich deutlichen Triumph aus seiner Stimme. »Deine Aufgabe erfüllt dich mit Stolz«, rief ich ihm entgegen. »Ich gebe jedoch zu bedenken, dass wir …« Der Krake beachtete meine Worte nicht. »Einer von euch darf die Reise antreten, einer nicht«, wiederholte er. »Wir akzeptieren deine Entscheidung.« Ich hatte die Rolle des Sprechers übernommen und hoffte, dass Kythara sich ebenso in die ihr zugedachte Rolle fügen würde. Sie musste zurückbleiben – wie ich sie kannte, spielte sie wohl bereits mit dem Gedanken, dagegen aufzubegehren. Ich wandte mich ihr zu. »Du kannst die Zeit nutzen, während ich in der Intrawelt bin. Finde mehr über Teph heraus und halte mir den Rückweg frei. Mit ziemlicher Sicherheit werde ich die Hilfe Tephs benötigen. Er sagt, er sei der …« »Ich kann deine Worte hören, Arkonide namens Atlan.« Einer der Tentakel löste sich von der Wand und kam langsam auf mich zu. »Es ist, wie ich sagte. Einer kann gehen,
Vorstoß in die Intrawelt einer nicht. Doch nicht du wirst die Reise durch den Transferschlauch antreten, sondern die Varganin namens Kythara. Nur sie besitzt das Passagerecht in die Intrawelt!«
* Mir verschlug es einen Augenblick lang die Sprache. »Worauf gründet sich deine Entscheidung?«, fragte ich dann. »Ich bin dir keine Rechenschaft schuldig!« »Ich hörte davon, dass es eine bestimmte Voraussetzung gibt, um die Intrawelt zu betreten«, beharrte ich. Das entsprach zwar nicht genau den Tatsachen – Rishgor-1 sprach nicht vom Betreten, sondern vom Verlassen der Intrawelt –, doch ich verspürte keine Lust, semantische Spitzfindigkeiten zu diskutieren. »Ich erfülle sie!« »Ich werde nicht ohne Atlan gehen«, mischte sich Kythara nun zum ersten Mal ein. »Ich verlange, dass wir beide …« »Schweigt!« Tephs Zorn war unüberhörbar. Der Tentakel schlug auf den Boden. »Schweigt, sonst verwehre ich auch der Varganin die Passage. Ihr seid als Bittsteller hierher gekommen und verfügt nicht über die geringsten Rechte!« »Du handelst im Auftrag einer höheren Macht«, lenkte ich ein. Ich war mir nach den Worten von Risghor-1 sicher, es bei Teph mit einem Beauftragten der Kosmokraten zu tun zu haben. Sollten dessen Informationen allerdings auf einem Irrtum beruhen, begab ich mich in diesem Augenblick auf Glatteis. So ruhig, selbstsicher und überlegen es mir möglich war, fügte ich hinzu: »Ich bin diesen Mächten nicht unbekannt.« Fast alle Facettenaugen verschwanden hinter den pulsierenden Hautfalten, die sie wie Nickhäute verschlossen. Nur noch von einer Stelle aus starrte der Krake uns an. Sein Schweigen interpretierte ich als Auffassung fortzufahren. »Wiederhole deine Prüfung und gib mir die Gelegenheit, sie freiwillig anzutreten. Du wirst erkennen, dass du dich getäuscht hast.«
7 »Ich irre mich niemals«, antwortete Teph. Das Ende des Tentakels bewegte sich langsam vor meinem Kopf, als überlegte der Krake, mir damit einen Schlag zu versetzen, um mich zum Schweigen zu bringen. Das konnte mich nicht einschüchtern. »Ich höre Unsicherheit in deiner Stimme«, widersprach ich. »Du bist dir nicht sicher, ob du nicht doch einen Fehler begangen hast.« Der Krakenleib senkte sich von den Tentakeln getragen herab und näherte sich mir. Der einen Meter durchmessende rötliche Leib verharrte erst kurz vor meinem Gesicht. Die vielen Augen wurden wieder sichtbar und starrten mich an. »Du glaubst mich und meine Herren zu kennen? Du solltest vorsichtig sein, sonst entferne ich dich für immer von hier.« Ich wich keinen Zentimeter zurück. »Ich verfüge über das Recht, in die Intrawelt vorzudringen.« »Ebenso wie ich«, bestätigte Kythara. »Wir werden gemeinsam gehen.« »Oder keiner von euch«, sagte Teph bedrohlich. »Denn ich entscheide! Ich bin der Besitzer des Transferschlauchs. Einer darf gehen, einer nicht!« Er ist unsicher, bestätigte der Extrasinn meinen Eindruck. Hör nur, wie er immer wieder dieselben Floskeln wiederholt, als müsste er sich selbst von ihrer Wahrheit überzeugen. Bestehe weiterhin darauf, dass er seine Entscheidung überdenkt. Das gab den Ausschlag dafür, dass ich alles auf eine Karte setzte. »Ich war hinter den Materiequellen, und ich verlange, dass du deiner Aufgabe gerecht wirst. Oder ich werde melden, dass du in deinem Dienst versagt hast.« Ich hob die Hand und berührte den Krakenleib. Er fühlte sich heiß an, und etwas pulsierte unter meiner Handfläche. »Ich bin ein Ritter der Tiefe. Fühle meine Aura.« Wieder bewegte sich meine Aussage dicht neben dem Rand der Wahrheit – den Status als Ritter der Tiefe hatte ich schon lange abgelegt, doch nach wie vor haftete mir die Ritteraura an. Teph
8 würde den Unterschied sicher nicht wahrnehmen; die Aura als solche musste einem Beauftragten der Kosmokraten bekannt sein. Der Sackleib zuckte zurück und schob sich in einer bedächtig wirkenden Bewegung wieder unter die Decke. »Dir geschehe, wie du es willst.« Blitzschnell zuckten zwei Tentakel heran und verharrten vor mir. An mehreren Stellen schoben sich die fingerartigen Fortsätze daraus hervor. Verblüfft sah ich, wie sie länger und länger wurden. Eine schleimige Flüssigkeit rann an den Austrittsstellen herab. Schmieröl, dachte ich in einer makabren Assoziation. Dann berührten mich die Tentakelfortsätze, und wieder drangen sie in meine Haut ein. Obwohl ich diesmal darauf vorbereitet war, verursachte mir die Prozedur Ekel. Die feinen Härchen bewegten sich unter meiner Kopfhaut. Es kam mir vor, als sei nur eine Sekunde vergangen, als sie sich bereits wieder zurückzogen. Sofort meldete sich Teph erneut. »Die Prozedur ist beendet«, gab er die niederschmetternde Auskunft. »Einer darf gehen, einer nicht.« »Ich akzeptiere es nicht!«, erwiderte ich. Notfalls war ich bereit, mit Gewalt für mein Ziel einzutreten. Ich überlegte bereits, wie ich vorgehen konnte, als die weiteren Worte des Kraken in mein Bewusstsein drangen. »Der Arkonide darf den Transferschlauch durchqueren, die Varganin wird zurückbleiben und auf seine Rückkehr warten. Einer als Reisender, einer als Pfand.« »Er ist sehr wankelmütig für ein Wesen, das sich niemals irrt«, flüsterte Kythara mir mit beißendem Sarkasmus zu. Die rasselnde Stimme war noch nicht am Ende ihrer Ausführungen angelangt. »Zieh dich aus, Arkonide.« »Was …?«, begehrte ich auf. »Du darfst die Intrawelt betreten. Du und nichts sonst – keine Ausrüstung, keine Kleidung.« Kythara kniff ärgerlich die Augen zusam-
Christian Montillon men. »Geh, Arkonide, und bring uns den Flammenstaub.« Sie lächelte, gezwungen, wie mir schien. Wie musste sie sich fühlen – erst passageberechtigt, dann abgelehnt? Und was musste sie jetzt von mir halten? Ich hatte gegreint wie ein kleines Kind und den Entscheidungswandel dieses Kraken erzwungen, zu meinen Gunsten, zu ihren Lasten, und es kam kein Wort des Protests, der Schuldzuweisung von ihr. In diesem Augenblick erahnte ich einen Hauch der Größe, den andere längst vor mir an der unsterblichen Varganin wahrgenommen hatten. »Ich werde nicht fehlgehen«, versprach ich ihr und öffnete die Arme weit. Sie verstand die Geste. Wir umarmten uns wie Freunde, innig verbundene Reisegefährten. Nicht so, als wüssten wir, dass es durchaus ein Abschied für immer sein konnte. Niemand vermochte zu sagen, was mir in der Intrawelt widerfahren würde, niemand war in der Lage abzuschätzen, was sie in dieser Station erleben würde. »Das Passagerecht erlischt in fünf Minuten deiner Zeitrechnung«, blubberte Teph missmutig. »Geh«, wiederholte Kythara mit mühsam beherrschter Stimme. Schweigend begann ich meine Kleidung abzulegen – das bereitete mir weniger Kopfzerbrechen als die Aussicht, die Reise ohne technische Hilfsmittel anzutreten. Ich überlegte, ob ich Teph irgendwie täuschen konnte, als Teph verkündete: »Noch fünf Sekunden.« »Wir treffen uns wieder, Arkonide«, sagte Kythara und musterte mich, während ich das letzte Kleidungsstück ablegte. Einen Lidschlag später packte mich einer der Tentakel und hob mich hoch. Die Decke näherte sich mit rasender Geschwindigkeit. Abwehrend streckte ich die Hände nach oben, und …
*
Vorstoß in die Intrawelt Millisekundenaufschrei: Eisiger Schrecken lässt mein Inneres gefrieren. Mein Herzschlag stockt, und die Bewegung, mit der ich die Hände abwehrend ausstrecke, ist völlig sinnlos. Sie ist nichts als reiner Reflex, geboren ebenso aus jahrhundertelanger Kampferfahrung wie aus nackter Verzweiflung. Der Logiksektor meldet in seiner eiskalten, nüchternen Art, dass mich der Aufprall an der Decke töten wird. Die Geschwindigkeit, mit der Teph mich nach oben zieht, ist rasend. Keine Chance. Ich öffne meine Lippen zu einem Schrei, doch es ist zu spät. Kein Laut dringt mehr über meine Lippen. Ich pralle auf. So ist er also, der alte Feind, der Tod. Ich habe ihn in meinem Umfeld tausendfach erlebt, millionenfach, und nun trifft er mich selbst. Alles wird dunkel. Dunkel, drückend und stumm. Ich fühle nichts mehr. Alles versinkt in Bedeutungslosigkeit. Die Nervenbahnen verweigern den Gehorsam. Der Schmerz ist zu schrecklich, als dass das Gehirn ihn anerkennt. Alle Knochen werden zwischen der Decke und dem Tentakel zermalmt. Die Adern platzen, die inneren Organe werden zerquetscht. Vielleicht erklärt sich der Nicht-Schmerz daher, dass mein Gehirn längst zerstört ist. Es gibt nichts mehr, was die schreckliche Pein aufnehmen und empfinden kann. Nur noch mein Bewusstsein existiert, irgendwie körperlos geworden. Es weigert sich, einfach zu erlöschen oder dorthin zu gehen, wo … Narr, durchzuckt es mich. Meine Gedanken widersprechen den Tatsachen. Kann eine bloße geistige Essenz körperliche Eindrücke empfinden, Sinnesreize in sich aufnehmen? Den leichten Druck, das heftig schlagende Herz, das adrenalingesättigte Zittern der Muskeln infolge des Momentes der Panik? Ich öffne die Augen und sehe. Sehe meine Arme, sehe meine Beine, sehe meinen Leib. Ich bin körperlich. Immer noch. Keine einzige Wunde entstellt mich. Die Panik endet, und mein Leib vergeht.
9 Doch nicht, weil er zerstört und zerquetscht wird. Ich entstoffliche. Es ist fast wie der Durchgang durch einen Transmitter. Ich denke an die Worte des Kraken. Ich bin der Besitzer des Transferschlauchs. Ein neues Gefühl entsteht: unendliches Glück. Ich bade in Lichtkaskaden, Farben explodieren um mich herum. Helligkeit durchströmt mich, erquickt mich, belebt mich. Jede einzelne Körperzelle jubiliert, sonnt sich in Energie. Meine Ritteraura pulsiert, unendliche, ewige Freude erfüllt mich. Ich erinnere mich an all die Wunder der Schöpfung, die ich sah. Ich durchreise wieder das Kosmonukleotid DORIFER, staune ob der überwältigenden Weisheit und Herrlichkeit des ewigen kosmischen Plans, und … meine Reise ist zu Ende.
2. »Du sollst dich fürchten.« Jamoklias' zweites (Ursprungsfassung) -
Gebot
»Jaston, Jaston«, jammerte Paffloir und rollte mit dem dritten blinden Auge, »das ist eine mistig blöde Aufgabe, zu der Papa Schwart uns verdonnert hat.« »Einer muss es eben machen«, erwiderte Jaston barsch. Paffloir schüttete sich schier aus vor Lachen. Seine sechs überlangen Finger fuchtelten dabei wild vor dem grobschlächtigen Gesicht herum. Das Lid des blinden Auges hob und senkte sich unentwegt. Er öffnete den breiten Mund und präsentierte seine Zähne. Zwei von ihnen waren noch nicht faulig, und darauf war er stolz. Drei andere plagten ihn so manches Mal in der Nacht, und vier hatte er bereits verloren, doch das spielte keine Rolle. Andere in seinem Alter mussten ihre Mahlzeiten schon seit Jahren mit den Kiefern zermahlen, und so weit war
10 Paffloir noch lange nicht. »Du sagst es«, gab er zurück. »Einer muss es eben machen. Doch wir sind zu zweit, oder sind wir das nicht?« Jaston zupfte an seiner grünen Oberkleidung, die Papa Schwart für die Erkundungsgänge besorgt hatte. Papa Schwart war nämlich ganz schön klug – wer solche grüne Kleidung trug, der konnte sich im Wald gut verstecken. Tarnkleidung nannte er das. Ziemlich schlaues Wort, fand Jaston. »Papa Schwart schickt nie einen allein an den Ort des Verderbens.« »Musst du den Namen jetzt erwähnen?«, schimpfte Paffloir. Seine gute Laune hatte diesmal nur wenige Augenblicke angedauert. Die plötzlichen Stimmungswechsel hatten ihn ebenso legendär gemacht wie sein hervorragendes Gebiss. Allerdings konnte er auf seine Phasen nicht sonderlich stolz sein. Sie machten ihn eher berüchtigt als berühmt. Dennoch oder gerade deswegen zollte man Paffloir überall in der Parzelle Poricium Respekt. »Warum sollte ich nichts sagen? Deswegen sind wir doch hier!« Paffloir trat vor Wut gegen den Stamm des dicken Zammie-Baumes, in dessen Krone es daraufhin zu rascheln begann. Wütend keckernd sprang ein Nici-Äffchen in die Höhe und stieß einen Schrei aus, der sowohl Aggression als auch Paarungsbereitschaft ausdrücken konnte. Aus Dutzenden Zammie-Bäumen antworteten ihm Hunderte andere Äffchen. »Du Dümmling«, ereiferte sich Jaston. »Jetzt dürfen wir uns diese Mistschreie anhören.« »Maul halten, ihr blöden Viecher!«, schrie Paffloir und hob drohend sein Messer. »Heb dir deine Kraft auf, bis wir was Essbares finden«, riet Jaston. »Die Nicis sollen froh sein, dass man immer kotzen muss, wenn man ihr ausgemergeltes Fleisch hinunterwürgt.« Er erhob die Stimme und fuchtelte mit dem Messer über seinem Kopf herum, wobei er sich fast einige Borsten seines struppigen Kopffells abge-
Christian Montillon schnitten hätte. Jetzt wandte er sich direkt an die Tiere. »Sonst würde ich ein paar von euch schlachten und Papa Schwart als Abendmahlzeit auftischen!« »Sie können dich nicht verstehen«, sagte Jaston gereizt. »Sind doch nur Tiere, blödes Gezücht.« »Weiß ich auch«, schnauzte Paffloir. »Aber mir geht ihr Gekreische auf die Nerven.« Wieder trat er gegen den Stamm. »Nerven, Nerven, Nerven!«, schrie er dabei immer wieder, während ihm das Blut in den Kopf stieg und seine Gesichtshaut ein zorniges dunkles Blau annahm. Oben sprangen Dutzende der NiciÄffchen in die Luft und brüllten immer lauter und aggressiver. Schon flogen erste abgerissene Zweige herab, gefolgt von GrüfNüssen. »Wir sollten hier abhauen«, meinte Jaston, während ein wahrer Hagel an Wurfgeschossen neben ihnen aufprallte. »Hast du etwa Angst?« Wieder lachte Paffloir dröhnend und verzog sein Gesicht zu der Parodie einer furchtsamen Fratze. Das pupillenlose dritte Auge auf der Stirn quoll dabei fast aus seiner Höhle. »Wir haben einen Auftrag zu erledigen. Wir müssen zum Ort des Verderbens und dort nach dem Rechten sehen. Außerdem …« »Ist ja gut! Halt's Maul, Jaston! Ich weiß es ja auch. Außerdem brauchen wir was zum Beißen für die Schwarte und die anderen.« Erschrocken blickte Jaston sich um, warf Blicke über seine Schulter und vollführte unwillkürlich die Geste der Unschuld. »Nenn ihn nicht so!« »Ich nenn ihn, wie immer ich will!« Paffloir fing einen herabgeschleuderten Ast in der Luft auf und warf ihn zurück in die Krone. Er erwischte eines der Äffchen, das jaulend in höhere Gefilde kletterte. »Die Schwarte, die Schwarte, die Schwarte!«, sang er. Jaston eilte davon, näherte sich mit jedem Schritt mehr dem Ort des Verderbens. »Wenn Papa Schwart das hören könnte,
Vorstoß in die Intrawelt würdest du nicht so reden.« »Natürlich nicht. Bin ja nicht dumm, oder glaubst du das vielleicht?« Jaston gelang es, entrüstet den Kopf zu schütteln. »Ich bitte dich! Wer könnte das denken?« Paffloir grinste und hob triumphierend das Messer. Hinter ihnen wurde das Kreischen der Nicis allmählich leiser. Überhaupt wurde es von Schritt zu Schritt stiller um sie herum. So war es immer, wenn sie sich dem Ort des Verderbens näherten. Dort herrschte Totenstille. Die Tiere mieden diesen Platz, an dem nicht einmal der Wind wehen und die Büsche und Sträucher in raschelnde Bewegung versetzen wollte. »Sogar die blöden Affen gehen nicht dorthin«, sagte Paffloir. »Nur wir sind dumm genug.« »Aber wir sind schlau genug, nicht lange dort zu bleiben!« Jaston hob triumphierend alle drei Augenlider und packte seinen Begleiter an der Schulter, als sie auf die winzige Lichtung traten. Gemeinsam starrten sie auf die Basaltwand und auf das Etwas, das sich dort befand. Augenblicklich wurde ihnen übel. »Ein Blick genügt.« Jaston drehte sich demonstrativ um. »Hier ist alles wie immer. Nichts, was weiterer Beobachtung würdig wäre.« Er schloss die beiden Sicht-Augen, denn er wollte das golden irisierende, sich in sich selbst drehende Loch in der Felswand nicht mehr sehen. »Wie immer«, nörgelte Paffloir. »Ich war schon so oft hier, und nie, hörst du, nie, und damit meine ich: Nie war hier irgendetwas außer dem mistigen Loch zu sehen. Mir wird schlecht, wenn ich nur daran denke. Und jetzt ist mir erst recht schlecht.« Von dieser Übelkeit konnte Jaston ein Lied singen. Jedes Mal, wenn er sich dem Ort des Verderbens näherte, war es so. Und wenn man dann noch das Gerede eines Paffloir ertragen musste … »Ist ja schon gut, ich habe dich verstanden. Nun lass uns abhauen. Wir haben unse-
11 re Schuldigkeit getan.« Er wandte sich ab und zog sich wieder in den Wald zurück. »Da sind mir die Nici-Äffchen allemal lieber als dieses Ding.« Als sein Begleiter wenig später neben ihm stand und sie sich wieder entfernten, sagte er: »Ich bin einmal hier gewesen, als jemand angekommen ist. Und wenn jemand ankommt, bedeutet das für denjenigen, der ihn einfängt, eine Menge Ruhm.« »Seitdem ist dein Name wirklich in aller Munde«, ätzte Paffloir. »Ach nein, jetzt habe ich doch tatsächlich dich mit mir selbst verwechselt.« Wieder brach er in schallendes Gelächter aus. »Du übersiehst etwas«, sagte Jaston listig. »Vorher war ich ein Niemand, und jetzt bin ich dein Begleiter.« »Du hast Recht.« Paffloir schüttelte verblüfft den Kopf. »So habe ich das noch gar nicht gesehen.« »Wenn wir also jemals wieder hierher geschickt werden und tatsächlich einen Ankömmling finden, wird uns das bestimmt kein Nachteil sein! Ich komme ebenso ungern an diesen Platz wie du, aber wir dürfen nicht vergessen, dass Papa Schwart aus gutem Grund den Ort des Verderbens immer wieder überprüfen lässt.« »Pah!« Paffloir rümpfte die Knollennase. »Trotzdem wird's einem kotzübel, wenn man dorthin kommt.« Gerade begannen wieder die Geräusche der Natur – das Rauschen des Windes, das Keckern und Scharren und Knuspern der Tiere, das Flattern der Plitzas –, als ein Summen ertönte. Jaston blieb wie angewurzelt stehen. »Aber das gibt es doch nicht!« Das Summen wurde höher, ähnelte inzwischen dem unangenehm in den Ohren schmerzenden Sirren, das die Nicis in der Brunftzeit von sich gaben. Nur war es lauter. Viel lauter. Paffloir starrte seinen Begleiter an. »Ist das etwa …?« Er sprach den Satz nicht zu Ende, sondern verstummte mit offen stehendem Mund. »Es ist! Verdammt noch mal, es ist genau wie damals. Da ist je-
12 mand angekommen.« Paffloir zückte sein Messer. »Zurück! Wir müssen sofort zurück und genau sehen, was dort vor sich geht!« Auch Jaston bewaffnete sich. Sie eilten zum Ort des Verderbens – oder zum »Ende des Transferschlauchs«, wie Papa Schwart ihn nannte, der den blumigen, weit verbreiteten Begriff nicht mochte. Dennoch drückte er die dort herrschende Stimmung weitaus besser aus als die nüchterne Bezeichnung Ende des Transferschlauchs – zumal ohnehin niemand wusste, was man sich darunter vorstellen sollte. Nicht einmal Papa Schwart, der schließlich der Klügste war. Er nannte das goldene Loch eben so, weil sein Vater es schon so genannt hatte. Und dessen Vater. Und dessen Vater. Und wahrscheinlich noch Dutzende von Vätern vorher. Sie versteckten sich hinter dem letzten dicken Stamm am Rand der kleinen Lichtung. Ein Nackter lag auf dem Boden vor dem goldenen Loch. Jaston spürte, dass seine Hände zu zittern begannen. Genauso war es damals gewesen, als der grünhäutige Sechsbeiner mit den beiden Hälsen und den acht – oder waren es neun? – Augen angekommen war. Gegen diesen Exoten war der jetzige Neuankömmling kaum einen zweiten Blick wert. Er hatte eine eher mickrige Statur, zwei Arme, zwei Beine … Jaston kniff die Augen leicht zusammen, um genauer beobachten zu können … Außerdem, zwei Ohren, zwei Augen und ein ganz und gar symmetrisches Gesicht, das von weißen Haaren umrahmt wurde. Weiße Haare! Wie langweilig und einfallslos. Der Nackte erhob sich und sah sich desorientiert um. Irgendetwas an ihm war anders als an all den anderen, die in den letzten Jahrzehnten hier angekommen waren. Nur was? Jaston zermarterte sich das Gehirn. Dann durchzuckte ihn der Geistesblitz! Natürlich! Wie hatte er es nur übersehen können? Der andere Neuankömmling, den Jaston empfangen hatte, hatte sofort die Flucht er-
Christian Montillon griffen. Alle anderen, von denen er gehört hatte, ebenso. Doch der Langweilige starrte geradezu fasziniert auf das golden irisierende Loch in der Felswand. Ihm schien nicht einmal übel zu sein. Ganz im Gegenteil, das Glück stand ihm so deutlich auf seine einfältige Mimik geschrieben, dass man noch nie einen Angehörigen seiner Spezies gesehen haben musste, um es wahrzunehmen. Paffloir bedachte seinen Begleiter mit einem durchdringenden Blick und hob grinsend sein Messer. »Wir warten und werden den Ruhm ernten!« »Und eine satte Belohnung. Papa Schwart lässt sich nicht lumpen, wenn er einen neuen Gefangenen erhält, der sich als Sklave an die Grün-Nomaden verkaufen lässt!« »Bald wird der Nackte sich in Bewegung setzen. Und dann …« Die Schneide des Messers blitzte, als Paffloir sie genüsslich drehte und ein Sonnenstrahl auf sie fiel. »… heißen wir ihn willkommen bei uns in der Intrawelt.«
3. Atlan »Du sollst zuversichtlich sein.« Jamoklias' drittes (Ursprungsfassung) -
Gebot
Millisekundenjubel in der Erinnerung des Arkoniden Atlan im Moment der Ankunft: Es ist anders. Schrecklich und herrlich. Entsetzlich. Wunderbar. Die Panik, das Glück. Jede Faser, jedes Atom meines Körpers gleitet davon. Die Moleküle werden zerrissen, ja sogar die Atome gespalten. Dennoch denke ich, also bin ich. Ich spüre, wie die Milliarden Teile meines Leibes davondriften, und ich bin getragen auf den Wogen eines unendlichen Wohlbefindens, jenseits aller Leiblichkeit. Das, was ich bin, schwebt in Wonne. So ist es eine Ewigkeit lang, eine Sekunde lang,
Vorstoß in die Intrawelt ein Lichtjahr und einen Millimeter weit. Meine Sinne jubilieren und schmecken, riechen, tasten, hören, sehen Genuss. Ich empfinde Wohlbehagen, bin geborgen wie im Leib meiner Mutter. Es prickelt wie feinster Wein auf der Zunge, es duftet wie die Rosen des alten Arkon, es klingt wie die Musik des begnadetsten aller Künstler, vor mir explodieren Wolken reinster Farben, die ein Gott vermischt und zu Schönheit gerinnen lässt. Mein Körper ist überall und nirgends zugleich. Oben und Unten, Rechts und Links existieren nicht mehr. Die Dimensionen verlieren ihre Gültigkeit. Der Raum? Er ist nichts als ein Konstrukt meiner Gedanken, das früher Gültigkeit hatte. Die Zeit? Sie ist nicht existent. Oder doch? Ich denke es, und mit dem Gedanken kommt die Erkenntnis: Zeit vergeht. Dieses Wissen ist das Erste, was das unbeschreibliche Glück trübt. Denn wenn dieser Augenblick nicht der perfekte Moment ist, dessen Ästhetik ewig bleibt – dann kann er vergehen. Dann wird er vergehen. Dann muss er vergehen. Wie wahrscheinlich ist ewiges Glück?, fragt eine Stimme in mir, und ich erkenne sie. Der Logiksektor. Warum schweigt er nicht? Warum nur meldet er sich und reißt mich endgültig aus der Illusion? Der Zweifel ist gesät, und er trübt das Glück. Gleichzeitig setzt sich mein Körper wieder zusammen. Die Atome, Moleküle, Fasern kommen irgendwoher, verschmelzen wieder zu einer Einheit, fügen sich zu Armen, Händen, Augen, und ich werde wieder körperlich. Ich komme an, und das Glück zerbricht. Splitter des Wohlbefindens jagen davon, Dunkelheit und Trauer kehren zurück, überfluten mich, schwemmen über mich, und meine Seele ertrinkt … … ertrinkt nicht. Ich bin ich, und ich stürze zu Boden.
*
13 Ich stürzte zu Boden und wusste, dass das eben alles andere als ein Transmitterdurchgang gewesen war. Zuerst hatte ich geglaubt, ich würde entstofflichen, um an einem unbekannten Ziel wieder zusammengesetzt zu werden, wie ich es bereits Tausende von Malen erlebt hatte. Doch während der Gang durch einen Transmitter keine messbare Zeitspanne in Anspruch nahm, hatte diese Reise Zeit gefordert. Ich wusste nicht, wie viel Zeit, doch im Nachhinein glaubte ich, eine Ewigkeit sei vergangen. Wie viel Zeit vergangen ist, ist eigentlich dein kleinstes Problem, wisperte der Logiksektor. Es geht eher darum, wie viel Zeit du verstreichen lässt, bis du wieder zurückkommst. Nicht allzu viel, hoffe ich, gab ich zurück. Aber es war jedenfalls kein Nullzeittransport. Gewiss, bestätigte der Extrasinn, jedenfalls subjektiv. Ich schlage vor, du sondierst erst einmal die Lage. Ich erhob mich. Nach wie vor war ich nackt, und ich fröstelte. Auf der Intrawelt, zumindest an der Stelle, wo ich gelandet war, war es recht kühl. Kaum stand ich, fühlte ich einen leichten Schwindel und sah mich desorientiert um. Ich befand mich am Rand einer kleinen Lichtung, die auf drei Seiten von hohen Bäumen umgeben war. Auf hohen und sehr dicken Stämmen ruhten gewaltige, dicht belaubte Kronen. Nur an vereinzelten Stellen brachen die Sonnenstrahlen durch das natürliche Dach. Die Lichtung vor mir lag im Sonnenlicht, das mich von seiner Intensität her an eine Phase der Dämmerung erinnerte, die Temperatur mochte um die 13 Grad Celsius betragen, und die Schwerkraft war etwas höher als die gewohnte. Ich atmete tief durch. Die Luft war sehr angenehm und rein. Ich sah in den Himmel und entdeckte einige dunkle Wolken. Regen? Der Boden unter meinen Füßen war ausgetrocknet und hart, wies eine graubraune Färbung auf. Vereinzelt zeigte er Risse wie von großer Trockenheit – ein Widerspruch
14 zu dem satten Grün der umgebenden Vegetation. In diesem Zusammenhang bemerkte ich eine geradezu unnatürliche Stille. In diesem dichten Wald mussten doch einige Tiere hausen; es waren jedoch keinerlei Geräusche zu hören. Hinter mir ragte eine Basaltwand auf. Mitten in dem nackten, zerklüfteten Fels befand sich ein golden irisierendes Loch. Ich sah hinein. Das Loch drehte sich in sich selbst; ein verstörender Anblick, der mir augenblicklich eine leichte Übelkeit verursachte. Mein Magen krampfte sich zusammen. Wahrscheinlich rührte daher auch die Stille an diesem Ort; die Tiere mieden ihn wohl instinktiv. Ich schloss die Augen, und der Schwindel verschwand, kaum sah ich das goldene Rotieren nicht mehr. Es gab keinen Zweifel daran, dass ich das Ende des Transferschlauchs vor mir hatte. Er hatte mich ausgespuckt und auf diese Lichtung geschleudert. Sollte ich in ihn hineingehen, um zu überprüfen, ob der Weg zurück möglich war? Ich öffnete die Augen wieder, und sofort kehrte die Übelkeit zurück, als ich in das sich windende goldene Loch starrte. Ich wandte mich ab, entfernte mich einige Schritte. Eine Rückkehr war zu diesem Zeitpunkt wenig sinnvoll – abgesehen davon, dass ich noch nichts erreicht hatte, fehlte mir schlicht die Kraft, diese eigenartige Reise ein zweites Mal durchzumachen. Sie hatte mich regelrecht ausgelaugt, und ich war froh, die belebenden, Kraft spendenden Impulse meines Zellaktivators zu spüren. Trotzdem – Hunger und Durst stillten sie nicht, und diese beiden Empfindungen waren von einem auf den anderen Augenblick so stark geworden, als hätte ich seit Tagen nichts mehr zu mir genommen. Ich stockte. War dies ein Anhaltspunkt über die Dauer meiner Reise? War ich tatsächlich einige Tage lang unterwegs gewesen, gefangen im Taumel der Gefühle, scheinbar von Raum und Zeit losgelöst? Mein suchender Blick entdeckte am ande-
Christian Montillon ren Ende der Lichtung einen kleinen Trampelpfad. Damit stand mein erstes Ziel fest. Ich musste mir Kleidung beschaffen. Noch vermochte ich nicht zu sagen, zu welcher Tageszeit ich hier angekommen war und wie sich die Temperatur weiter entwickeln würde. Es konnte ebenso wärmer wie merklich kälter werden – und in diesem Fall musste ich meinen Körper schützen. Außerdem benötigte ich Nahrung, Waffen zur Verteidigung und vor allem Informationen. Geh vorsichtig vor, riet der Extrasinn. Ich ignorierte den Einwurf und machte mich auf den Weg zu dem Trampelpfad. Wo immer er auch hinführte, er würde mich mit einiger Wahrscheinlichkeit zu anderen Intelligenzwesen bringen. Mit ihnen musste ich Kontakt aufnehmen. Vielleicht hatte ich Glück, und sie waren mir freundlich gesinnt. Die Sonnenstrahlen auf meiner nackten Haut wärmten immerhin ein wenig und vertrieben mit der Kälte auch einen Teil der Erschöpfung, die die Auseinandersetzung mit Teph und vor allem der Transport hierher hinterlassen hatten. Einen Augenblick lang verweilte ich und genoss das prickelnde Gefühl. Als ich weiterging und mich den ersten Bäumen näherte, hörte ich ein Knacken vor mir. Möglicherweise handelte es sich um nichts weiter als ein harmloses Tier – doch es war ebenso gut möglich, dass es Gefahr bedeutete. Ein Raubtier konnte auf mich lauern. Oder ein Intelligenzwesen, das meine Ankunft beobachtet hatte. Wenn Teph des Öfteren Passagiere auf diesem Weg hierher schickte, war das Ende des Transportschlauches möglicherweise ein intensiv beobachteter Ort. Ich ließ mir nichts anmerken, war innerlich jedoch gespannte Aufmerksamkeit. Im Stillen rechnete ich mir meine Chancen aus, sollte es zu einer Auseinandersetzung kommen. Ich war geschwächt und darüber hinaus völlig waffenlos – es sah gar nicht gut aus. Mein Blick huschte über die Bäume vor mir. Als ich nur noch wenige Schritte auf
Vorstoß in die Intrawelt der Lichtung zurückzulegen hatte, entdeckte ich die Bewegung hinter einem der Stämme. Außerdem nahm ich ein metallisches Aufblitzen wahr. Aller Wahrscheinlichkeit nach lauerten dort Bewaffnete auf mich. Ich entschloss mich, Zeit zu gewinnen und einem Kampf möglichst lange aus dem Weg zu gehen. Scheinbar nachdenklich sah ich über die Schulter zu meinem Ankunftsort. Langsam wandte ich mich um und ging dorthin zurück, als verfolgte ich ein bestimmtes Ziel. Dabei lauschte ich auf jedes Geräusch hinter mir. Ich wollte die Nähe des Transportschlauchs erreichen, um mir einen möglichen Fluchtweg offen zu halten, falls ich in eine ansonsten ausweglose Situation geriet. Niemand konnte sagen, was mir bei einer gewaltsamen Auseinandersetzung bevorstand. Mein Plan wurde durchkreuzt. Ein dumpfer Aufschrei ertönte. Ich wirbelte herum. Zwei zyklopenhafte Gestalten stürmten auf mich zu. Von den Zyklopen aus der terranischen Geschichte unterschieden sie vor allem die Zahl der Augen – drei waren es, von denen das dritte inmitten ihrer Stirn prangte – und die bläuliche Haut. Weitere Details nahm ich nicht wahr. Mein Blick fing sich an den großen Messern, die sie in ihren Händen hielten und mir drohend entgegenstreckten. Sie schrien mir irgendetwas entgegen; ich erkannte den Sinn der Worte nicht. Alles in allem schienen sie plumpe Kerle zu sein. Die Art, wie sie heranstürmten, zeugte nicht gerade von einer ausgefeilten Kampftechnik. Deshalb schöpfte ich trotz meines geschwächten Zustands etwas Hoffnung. Ich empfing den ersten der beiden Angreifer mit einem Tritt, der ihm die Klinge aus der Hand prellte. Dafür traf mich eine Sekunde danach die ganze Wucht seines Angriffs – er kollidierte mit mir. Mir blieb die Luft weg, ich taumelte einige Schritte rückwärts. Nur mit Mühe gelang es mir, auf den Füßen zu bleiben.
15 Eine riesige Faust jagte auf mich zu und krachte gegen meine Brust. Die Luft wurde mir aus den Lungen gepresst. Es gelang mir, den Arm zu packen, ehe mein Gegner ihn zurückziehen konnte. Ich zerrte daran, ließ gleichzeitig mein Knie hochschnellen. Sein Handgelenk kollidierte mit meinem Oberschenkel, und ich drückte seine Hand zusätzlich nach unten. Zufrieden hörte ich, wie der Knochen meines Feindes brach. In derselben Bewegung stieß ich meinen Fuß nach vorne und erwischte den Blauhäutigen an seinem Knie. Er gab ein Grunzen von sich und ging rücklings zu Boden. Mein zweiter Gegner gönnte es mir nicht, den Triumph auszukosten. Schmerz explodierte an meiner Schläfe. Meine Sicht trübte sich, und ich stürzte ebenfalls. Plötzlich drückte mich das Gewicht meines Feindes auf den Boden, und eine Klinge lag an meinem Hals. Ich spürte das kühle Metall, und eisiger Schrecken verdrängte meine Schmerzen. Der andere brauchte nur noch zuzustoßen, und es war um mich geschehen.
* Mein Gegner brachte sein grobschlächtiges Gesicht nahe an meines und öffnete den breiten Mund. Zwei Reihen fauliger Zähne wurden sichtbar, und nach brackigem Wasser stinkender Atem schlug mir entgegen. Ein grollendes Geräusch klang aus seiner Kehle, dann spuckte er mir einen Batzen Schleim auf die Stirn, der zäh an meiner Wange hinabrann. Der Blauhäutige sagte etwas; die Laute klangen völlig fremd. Ich kämpfte meinen Abscheu nieder und versuchte, die kühle Berührung der Klinge an meiner Kehle zu ignorieren. »Was wollt ihr von mir?«, fragte ich in der Sprache der Mächtigen, die in Gebieten, die mit dem Wirken der Kosmokraten in Verbindung standen, weit verbreitet war. Mein Feind zeigte darauf keine Reaktion. Offenbar verstand er mich nicht. Im Hinter-
16 grund kam der von mir Niedergestreckte wieder auf die Beine. Sie sprachen kurz miteinander. Ihre Sprache klang kehlig und war reich an Konsonanten. Sie wirkte auf mich äußerst plump – ich beging jedoch nicht den Fehler, dieser Assoziation Glauben zu schenken. In Wirklichkeit konnte sie weit entwickelt sein; es war eine Binsenweisheit sowohl der Sprach- als auch der Kosmopsychologie, dass Fremdheit oft fälschlicherweise mit Primitivität gleichgesetzt wurde. Innerlich entspannte ich trotz meiner prekären Situation. Wenn die beiden Blauen mich hätten töten wollen, wäre ich bereits nicht mehr am Leben. Eine einzige rasche Bewegung mit dem Messer wäre ausreichend gewesen. Trotz des nicht gerade freundlichen Willkommens hätte mich die Intrawelt noch schlimmer empfangen können. Ein weiterer Schleimbatzen landete über meiner Nasenwurzel. Der von mir Verletzte trat mir in die Rippen und hielt sein gebrochenes Handgelenk vor meine Augen. Ich entdeckte, dass die Fremden über sechs schmale, viergliedrige Finger verfügten. Ich wurde auf die Füße gezerrt. Als sich dabei die Klinge von meinem Hals löste, überlegte ich einen Augenblick, einen Fluchtversuch zu starten, entschied mich aber dagegen. Meine Chancen zu entkommen waren momentan äußerst gering. Noch immer wüteten die Schmerzen in mir und lähmten meine Reaktionsschnelligkeit. Die beiden deuteten auf mein Geschlecht, grollten etwas in ihrer Sprache und brachen in schallendes Gelächter aus. Die Zyklopenaugen auf der Stirn weiteten sich dabei und schienen aus der Höhle quellen zu wollen. Ich bedeckte meine Blöße mit den Händen und deutete danach auf ein Stück Stoff, das der Verletzte um den Hals geschlungen hatte. Beide trugen grüne, in mehreren Lagen locker um den Körper gewickelte Kleidung. Im Schulterbereich war sie hochgestülpt. Der Blauhäutige verzog sein Gesicht zu einer Grimasse, die wohl Belustigung ausdrücken sollte.
Christian Montillon Ich bedeckte mich wieder und senkte den Kopf, sah dabei schräg nach oben. Es lag mir viel daran, herauszufinden, ob eine Verständigung mit meinen Feinden auf der Ebene einer Gestensprache möglich war. Konnte ich sie dazu bringen, mir einige Kleidungsfetzen auszuhändigen? Wieder wechselten die beiden einige raue Worte. Schließlich schlang der eine den schalartigen Stofffetzen von seinem Hals und reichte ihn mir. »Danke«, sagte ich laut, nickte und wickelte ihn um meine Hüfte. Plötzlich hielt der andere einen groben Strick in seinen Händen. Er packte mich, bog meine Hände auf meinen Rücken und fesselte sie brutal. Das raue Seil schnitt in die Haut, und ich spürte Blut warm über meine Finger rinnen. Wieder wurde ich angespuckt, diesmal auf den Rücken. Dann stießen die Blauhäutigen mich voran, auf den Beginn des Trampelpfades zu.
4. »Du sollst die Hoffnung nicht aufgeben.« Jamoklias' viertes Gebot (Ursprungsfassung) Ich ging nun schon seit etlichen Minuten vor meinen beiden Gegnern her; oder besser gesagt: Ich stolperte. Denn sie stießen mich immer wieder in den Rücken, sodass ich einige Male fast gestürzt wäre. Es fiel schwer, das Gleichgewicht zu halten, ohne die Arme nutzen zu können. So auch jetzt wieder. Ich taumelte auf einen der breiten Bäume zu und prallte mit der Schulter gegen den Stamm. Dort war ich bereits durch ähnliche Vorfälle mit Blessuren und kleinen Wunden übersät. Die Haut war abgeschürft, und wieder begann ich zu bluten. Die ungewöhnliche Stille um uns herum hatte sich aufgelöst, als wir die Lichtung mit dem Ende des Transportschlauchs verlassen hatten. Inzwischen hörte ich den Wind rau-
Vorstoß in die Intrawelt schen, vernahm die natürlichen Laute, die ich in einem so dichten Wald erwartete. Vor allem ein hohes Keckern fiel mir auf, das unablässig an der einen oder anderen Stelle ertönte. Jetzt näherten wir uns einem einzeln stehenden Baum. Da die Blauhäutigen mehrfach auf ihn deuteten, ahnte ich, dass er ein erstes Ziel unseres Marsches bildete. Er ragte nicht so weit auf wie die ihn in einigem Abstand umstehenden Bäume. Der Stamm war noch breiter, die Krone wuchtiger und von dichtem Blattwerk erfüllt. Daraus klang der ohrenbetäubende Gesang einer riesigen Vogelschar. Ich konnte kein einziges der Tiere sehen, aber je weiter wir uns näherten, desto lauter wurden ihre Rufe. Als wir die kleine Lichtung betraten, glaubte ich in dem Geräuschorkan taub zu werden. Das Tschilpen klang von Sekunde zu Sekunde aufgeregter und wütender. Ich hatte keinen Zweifel daran, dass Vögel diese Laute hervorbrachten, obwohl ich noch immer keines der Tiere zu Gesicht bekommen hatte. Die Töne waren zu eindeutig – schon auf Hunderten von Welten hatte ich sie gehört. Die Evolution schien diesbezüglich überall denselben Weg zu gehen. Zumindest überall dort, wo die Vögel nicht zur herrschenden Gattung wurden und Intelligenz entwickelten. Die Lichtung war nicht natürlichen Ursprungs. Überall ragten Baumstümpfe aus dem Boden. Jemand hatte durch Rodung dem Vogelbaum eine besondere Stellung gegeben. Erste Regentropfen fielen. Um mich her raschelte es in den Kronen der Bäume; da ich auf der Lichtung stand, rannen bald feuchte Bahnen über meinen Körper. Ich warf einen Blick zu meinen Bewachern. Der Verletzte blieb zurück, setzte sich auf einen der Baumstümpfe und rief seinem Partner etwas zu. Diesmal verstand ich seine Worte schon aufgrund des gewaltigen Lärms nicht. Dem zweiten Blauhäutigen schien es ähnlich zu gehen, denn er gestikulierte wild mit den Armen, ohne etwas zu antworten. Dabei ließ er mich nicht aus den Augen und
17 stieß mit der Klinge des Messers immer wieder wild in meine Richtung. Mir war hier mehr als unbehaglich zumute. Mein Feind klopfte mit der Faust gegen den Stamm des Baumes, wandte sich ab und rannte davon. Ich ahnte Böses und wollte ihm folgen, doch der andere Blauhäutige packte mich und stieß mich zurück. Diesmal fand ich keinen Halt und stürzte dicht vor dem Vogelbaum auf den Boden. Da meine Arme noch immer auf dem Rücken gefesselt waren, prallte ich hart auf. Sofort rollte ich mich auf die Seite, um mich aufzurichten. Währenddessen warf ich einen Blick nach oben. Mir stockte der Atem. Aus der Krone des Baumes erhoben sich Dutzende, Hunderte von kleinen Vögeln. Sie maßen nur etwa vier Zentimeter und erinnerten mich an terranische Küken der gemeinen Henne – gelb und auf den ersten Blick nur ein flauschiges Federbüschel. Die hiesigen Vertreter unterschieden sich allerdings durch einige charakteristische Merkmale von den terranischen. Ihre Flügel waren breiter, und vor allem besaßen sie einen transparenten Schnabel. Einen nadelspitzen transparenten Schnabel … Etwa ein Dutzend der Vögelchen umschwirrte mich, als ich wieder aufrecht stand. Sie flogen immer wieder an mich heran, und ich versuchte ihnen auszuweichen. Ich sprang mal hierhin, mal dorthin, bog den Kopf zur Seite und stieß die Schultern nach vorne, um die Tiere abzuwehren – offensichtlich bot mein Abwehrkampf einen eher belustigenden Eindruck, denn am Rand der Lichtung bogen sich die Blauhäutigen vor Lachen. Eines der Tiere flatterte direkt vor meinen Augen mit den breiten Flügeln. Jetzt entdeckte ich auch die orangefarbenen Krallenfüße. Einen Lidschlag später starrten mich winzige schwarze Knopfaugen an, als könnten sie kein Wässerchen trüben. Die Tiere hätten in der Tat einen possierlichen Anblick geboten, wenn da nicht der nadelspitze
18 Schnabel gewesen wäre, der nichts Gutes ahnen ließ. Ein einzelnes dieser Vögelchen stellte keine Gefahr dar, aber bei einem Massenangriff konnte ich mir gut vorstellen, dass sie mithilfe ihrer Schnäbel auch einem wesentlich größeren Gegner als mir empfindliche Wunden schlagen konnten. Hatten meine Gegner mich hierher gebracht, um mich an diese Vögel zu verfüttern? Ein verstörender Gedanke. Vielleicht stellten die Tiere – wie Teph – auch eine Art »Prüfung« dar, oder ich sollte schlicht als Opfer dienen. Das aber hieße, dass auf der Intrawelt geradezu archaische Bedingungen herrschten. Plötzlich machte ich einen Ausfallschritt zur Seite und hetzte an dem Baum vorbei auf die andere Seite der kleinen Lichtung, umging sorgsam jeden Baumstumpf. Dort wollte ich in den Wald flüchten. Doch ich hatte die Rechnung ohne die Aufmerksamkeit meiner Bewacher gemacht. Gerade erreichte ich die erste Baumreihe, als einer der Blauhäutigen zur Stelle war, mich packte und mit einem von merklicher Wut gekennzeichneten Schrei zurückstieß. Dabei trat er gleichzeitig nach meinen Knien. Ich stürzte wieder, prallte diesmal mit dem Gesicht hart auf. Mühsam quälte ich mich auf die Knie. Blut floss über meinen Nasenrücken. Ein Vogel setzte sich auf meine linke Schulter, ehe ich es verhindern konnte. Ich bemerkte, dass er ein wenig dunkler gefärbt war als seine Artgenossen. Da sich mir kein weiteres der Tiere mehr näherte, fügte ich mich und wartete ab, was geschehen würde. Es kam genauso, wie ich es erwartet hatte. Das orangefarbene Vögelchen bohrte mir den Schnabel mit einem kurzen, schmerzhaften Stich in die Schulter. Ich drehte den Kopf und beobachtete das Tier aus den Augenwinkeln. Der Anblick, der sich mir bot, war Ekel erregend. Durch den transparenten Schnabel sah ich genau, wie der Vogel mir einen hauchdünnen Blutfaden absaugte. Das alles ergab keinen Sinn! Wieso schafften mich meine Feinde hierher und
Christian Montillon sorgten dafür, dass ich von einem einzelnen Tier zu einem makabren Aderlass gebeten wurde? Ich bin dein Dhedeen. Verwirrt drehte ich den Kopf und suchte nach demjenigen, der zu mir gesprochen hatte. Niemand außer den Blauhäutigen und einigen wenigen Vögeln war zu sehen. Die meisten der Tiere hatten sich bereits wieder in die Krone des Baumes zurückgezogen. Langsam wurde auch das ohrenbetäubende Gekreische leiser, von dem mir immer noch die Ohren klangen. »Wer hat hier gesprochen?«, rief ich und ergänzte in Gedanken: Noch dazu in gut verständlichem Interkosmo? Narr!, ertönte daraufhin sofort der Kommentar meines Logiksektors. Augenblicklich verstand ich. Ich hatte eine Gedankenbotschaft erhalten. Ich bin dein Dhedeen, wurden die Worte wiederholt. Du gibst mir Nahrung. Das konnte nur eins bedeuten: Der Vogel hatte zu mir gesprochen! Ich konnte seine Gedanken erfassen. Dadurch, dass er mit seinem Schnabel einen körperlichen Kontakt geschaffen hatte, hatte er auf irgendeine Weise auch unsere Gedankenwelten verbunden. Ich gebe dir Worte. Nun war ich völlig verwirrt. Wie meinst du das?, dachte ich angestrengt, doch ich erhielt keine Antwort. Offenbar funktionierte die telepathische Verständigung nur in eine Richtung. »Komm hierher, Fremder!«, rief einer der Blauhäutigen. Da erkannte ich, was hier vorgefallen war. Die Vögel dienten als eine Art biologischer Translator! Die Frage, wie so etwas funktionieren konnte, verschob ich auf später; jetzt zählte erst einmal das Ergebnis. Ich gehorchte dem Befehl. Inzwischen befand sich kein einziger Vogel mehr in der Luft. Alle hatten sich in die Krone des Baumes zurückgezogen – bis auf den einen, der jetzt auf meiner Schulter saß und seinen Schnabel in mich gebohrt hatte. Er bezeichnete sich als Dhedeen … möglicherweise
Vorstoß in die Intrawelt der Begriff für seine Gattung. Oder auch seine Bezeichnung für einen Symbiosepartner. Genau als solchen verstand er sich offenbar. Nach seinen Worten bildeten wir eine Gemeinschaft, in der jeder vom anderen profitierte. Ich gab ihm Nahrung – mein Blut. Er gab mir Worte, indem er mir auf irgendeine Art und Weise als Übersetzer diente. Als ich neben den beiden Blauhäutigen angekommen war, ergriff der Verletzte sofort das Wort und hob sein gebrochenes Handgelenk. »Wag so etwas nie wieder!« Der Tonfall seiner Worte ließ keinen Zweifel daran; was er anderenfalls zu tun gedachte. Ich entschuldigte mich wortreich, obwohl ich dazu keinerlei Veranlassung sah. Hauptsächlich wollte ich herausfinden, ob sie mich ebenfalls verstanden, was offenbar der Fall war. Jetzt wurde mir auch klar, warum ihre Kleidung im Schulterbereich hochgestülpt war. Sie trugen darunter ihren eigenen Dhedeen. Möglicherweise verfügte jeder Bewohner der Intrawelt über einen solchen Symbiosevogel. Eine höchst ungewöhnliche Lösung des Problems der Verständigung zwischen verschiedenen Völkern, die mit unterschiedlichen Sprachen hierher gekommen waren. Hypnoschulung einer Verkehrssprache wäre wohl zu einfach gewesen, meinte der Extrasinn nur halb spöttisch. Zumindest versteht jeder jeden, egal, was er gerade sagt und in welcher Sprache. Heimlichtuerei fällt da schwer. »Wag so etwas nie wieder, weißhaariger Schwächling!«, wiederholte der Verletzte. Ich unterdrückte mit aller Macht ein Schmunzeln darüber, dass er mich Schwächling nannte, obwohl ich ihn in einem kaum eine Minute dauernden Kampf besiegt hatte. Wäre nicht sein Partner gewesen, hätte er gegen mich trotz seiner Bewaffnung und meiner Schwäche keine Chance gehabt. »Mein Name ist Atlan, du blauer Klotz«, erwiderte ich trotzig. Die Antwort bestand aus einem verächtlichen Brummen.
19 »Wie lauten eure Namen?« Der Verletzte wandte sich kommentarlos ab. »Er heißt Paffloir«, informierte mich sein Partner. »Ich bin Jaston. Und nun weiter!« Ich ging los, in die Richtung, die Jaston mir wies. »Wo bin ich hier?«, fragte ich, um ein Gespräch in Gang zu bringen und gleichzeitig definitive Antworten zu bekommen. Letzten Endes war meine Vermutung, mich in der Intrawelt zu befinden, noch nicht bewiesen. »Halt's Maul!«, antwortete Paffloir ungehalten. »Wie bin ich hierher gekommen?«, gab ich mich unwissend. Der verletzte Blauhäutige wirbelte herum. »Maul halten, klar?« Seine gesunde Hand umklammerte den Griff seines Messers, als wolle er ihn zerbrechen. Die Klinge huschte vor meinem Gesicht hin und her. »Sonst schnitze ich ein hübsches Muster in deine Visage!« Die nächsten Minuten verliefen dementsprechend schweigend. Rasch eilten wir voran. Die Bäume standen überall dicht, und der Boden war überwuchert von Unterholz und Gebüsch, abgesehen von dem schmalen Pfad, auf dem wir gingen. Noch immer raschelte es über uns; die dicht belaubten Bäume schützten uns vor dem feinen Regen jedoch wie ein Dach. Ich versuchte in dieser Zeit, Kontakt mit dem Dhedeen aufzunehmen, doch ich hatte nicht den geringsten Erfolg. Seit seiner Vorstellung schwieg der Vogel und vollbrachte seine Aufgabe. Der Schmerz des Einstichs war mittlerweile vergangen, obwohl sich die Spitze des Schnabels noch immer in mir befand. Das geringe Gewicht des kleinen Tieres spürte ich nicht mehr. Wahrscheinlich würde ich die Gegenwart des Vogels bald vergessen. »Papa Schwart wird sich freuen, wenn wir ihm diesen Atlan bringen«, sagte Jaston schließlich zu seinem Partner. Paffloir grunzte. »Wir hätten ihn killen sollen, das Aas.«
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Christian Montillon
Offenbar hatte ich nicht nur seine Hand, sondern auch seinen Stolz gehörig verletzt. Ich konnte nicht sagen, dass es mir Leid tat. »Wer ist Papa Schwart?«, fragte ich. »Unser Befehlshaber. Wir bringen dich in unsere Ansiedlung.« »Halt's Maul!«, brüllte Paffloir. Es schien sich um seine Lieblingsäußerung zu handeln. Ein wütendes Keckern antwortete aus den umliegenden Bäumen auf seinen Schrei. »Bring bloß nicht wieder die Nicis gegen uns auf«, beschwerte sich Jaston.
* Meine Bewacher gönnten uns eine Ruhepause und zogen aus verborgenen Taschen ihrer Wickelkleidung einige lose Brocken Pökelfleisch, die sie vor mich hinwarfen. Außerdem legten sie einen etwa zwanzig Zentimeter langen bräunlichen Lederschlauch vor mir ab, der wohl Wasser enthielt. Inzwischen war es etwas wärmer geworden, und auch die Helligkeit hatte zugenommen. Offenbar war ich in der Morgendämmerung hier angekommen. »Bedien dich«, sagte Paffloir, grinste schmierig und präsentierte mir seine fauligen Zähne. Ich setzte mich auf den Boden, um mich auszuruhen, ging jedoch nicht auf die Demütigung ein, obwohl mein Magen knurrte und meine Kehle ausgedörrt war. Natürlich wusste Paffloir genau, dass ich mich nicht bedienen konnte – wie denn auch mit auf dem Rücken gefesselten Händen? »Beug dich runter und friss!«, forderte der Blauhäutige dann. »Und denk dabei an meine gebrochene Hand, du Aas!« Ich warf Jaston einen raschen Seitenblick zu. Er hatte sich ebenfalls niedergelassen und beobachtete die Szene, als ginge sie ihn nichts an. Von ihm konnte ich keine Hilfe erwarten, falls Paffloir demnächst vollständig die Kontrolle über sich verlieren würde. Die Ankunft des Echsenartigen befreite mich von der Entscheidung, wie ich nun weiter vorgehen sollte. Das etwa einen Me-
ter große grüne Wesen trat plötzlich zwischen den Stämmen hervor und stellte sich ungeniert vor mich. Es trug ebenfalls grüne, kurze Flatterhosen. »Ich bin Jolo«, sagte es und verbog seinen schlanken Leib so weit nach vorne, dass es wie eine Verbeugung wirkte. Tatsächlich berührte die Stirn für einen kurzen Augenblick den Boden. Sein Gesicht verzog sich danach auf eine Art, die urkomisch wirkte. Es trug seitlich am Hals einen winzigen Dhedeen. Die beiden Blauhäutigen wollten sich ausschütten vor Lachen. Paffloir hielt die gebrochene Hand an seinen Oberkörper und schlug mit der anderen vor Vergnügen auf seinen Schenkel. Das Messer hatte er, schon bevor er das Fleisch vor mich geworfen hatte, neben sich in den Boden gerammt. Jaston hingegen ließ mich keine Sekunde aus den Augen und hielt seine Waffe nach wie vor in der Hand. »Ich habe Hunger«, ergänzte das Echsenwesen und beugte sich zur Seite, um mit einer der kräftigen Handtatzen ein Stück Fleisch zu fassen. Dabei beobachtete es die beiden Blauhäutigen mit seinen gelblichen, weit auseinander liegenden Augen. Sie waren rund, und die Nickhäute schlossen sich in raschem Tempo immer wieder. Jolo bot ein Bild des Jammers und wirkte zugleich so harmlos und hilfsbedürftig, dass es sogar Jaston und Paffloir zu erbarmen schien. Sie hinderten ihn jedenfalls nicht daran, das Fleisch aufzuheben und es sich in den Mund zu werfen. Dabei erkannte ich die breiten Saugnäpfe an den Unterseiten seiner Handtatzen. »Dank, Dank!«, rief Jolo laut schmatzend und legte den Kopf schief. Die warzige Oberfläche seiner Schnauze hob und senkte sich beim Kauen. Dann warf er sich zu Boden und sammelte weitere Fleischbrocken auf. »Sieh dir die Dumpfbacke an«, kommentierte Paffloir das Geschehen. Jolo schlängelte sich über den Boden und hob den Kopf, blickte ihn an. Ich sah von der Seite, wie sich die Echsenschnauze öffnete und
Vorstoß in die Intrawelt wieder schloss. Dabei stieß Jolo einen erbärmlichen Laut aus, was Paffloir zu einem weiteren Lachanfall reizte. Jaston warf nun ebenfalls einige Brocken Fleisch auf den Boden vor dem Echsenartigen. »Friss dich satt«, sagte er mit rollendem Stirnauge und spuckte verächtlich aus. Ich hatte unwillkürlich Mitleid mit Jolo, als der Schleim des Blauhäutigen eine der schmalen Fußtatzen Jolos erwischte und daran herabrann. Gleichzeitig stieg der Hass auf meine Bewacher. Die Echse schmatzte laut vernehmlich und richtete sich wieder auf. In beiden Tatzen hielt sie größere Fleischbrocken. Damit kam sie auf mich zu und hielt mir einen davon hin. Ohne lange zu zögern, nahm ich ihm das Pökelfleisch mit den Zähnen aus den Klauen und kaute es. Ein Ausdruck solch starker kindlicher Freude trat in die Mimik Jolos, dass es einen Beschützerinstinkt in mir weckte. Der Echsenartige hüpfte in die Höhe. Beiläufig entdeckte ich dabei, dass er wie erwartet auch unter den Fußtatzen Saugnäpfe besaß; damit konnte er wohl senkrechte Wände erklettern. Als Jolo wieder aufkam, fiel ihm das verbleibende Stück Fleisch aus der Tatze und wurde in hohem Bogen bis zu Paffloir geschleudert. Jolo senkte den Kopf und bedachte den Verletzten mit einem langen Blick aus seinen Kugelaugen. Dann schob er sich mit gleitenden, schwungvollen Schritten vorwärts und hob das Fleisch wieder auf. Mir stockte der Atem, als ich bemerkte, wie der Echsenartige von meinen Bewachern unbemerkt das neben dem Blauhäutigen in der Erde steckende Messer ergriff und in seiner grünen Hose verschwinden ließ. Dann turnte er zur Seite, zwischen Paffloir und Jaston hindurch und auf mich zu. »Dank, Dank!«, rief er dabei erneut. »Ihr seid so großzügige Herren, dass ihr den Bauch des armen Jolo füllt. Ich erfreue euch dafür!« Er sprang aus dem Stand in die Höhe, schlug einen Salto und landete dicht neben mir. »Seht nur, seht!«, fuhr er fort, breitete sei-
21 ne Handtatzen aus und presste mir die Saugnäpfe an beide Wangen. Dann zog er, und sie lösten sich mit einem laut schmatzenden Geräusch, was meine beiden Bewacher zu weiterem brüllenden Gelächter animierte. So hörten sie nicht, wie Jolo mir zuflüsterte: »Das Messer.« Gleichzeitig spürte ich eine Berührung an meiner rechten Hand, die nach wie vor hinter dem Rücken gefesselt war. Schon schlug der Echsenartige wieder einen Salto, sprang dabei über mich. »Wenn der arme Jolo euch gefällt, so gebt ihm mehr Nahrung«, rief er dabei und berührte wieder mit der Stirn den Boden. »Die Dumpfbacke möge sich satt essen«, erwiderte Paffloir ebenso großzügig wie herablassend und warf weiteres Fleisch auf den Boden. Jolo bückte sich in dem Moment danach, als es mir gelang, meine Fesseln durchzuschneiden. Ich hielt die Hände weiterhin hinter dem Rücken und wartete auf den günstigsten Moment. Meine Finger krampften sich um den Griff des Messers. Der gefährlichere Gegner war Jaston, denn er war nach wie vor bewaffnet. Er schien ohnehin der Besonnenere der beiden zu sein, der wenigstens über etwas Verstand verfügte. Paffloir war in meinen Augen nichts weiter als ein von seiner Aggressivität überwältigter Raufbold, der sehr von seinen in Wirklichkeit nicht vorhandenen Fähigkeiten überzeugt war. Plötzlich befand sich Jolo nach einem beachtlichen Spurt, der in einem in eine Rolle verwandelten Sturz endete, wieder dicht neben mir. Ich bezweifelte keine Sekunde lang, dass mein neuer Freund den Sturz inszeniert hatte. »Ich nehme den Verletzten«, flüsterte er mir zu. »Jetzt!« Ich sah, wie der Echsenartige auf Paffloir zustürmte, und rannte ebenfalls los. Jaston war völlig überrascht. Es gelang ihm gerade noch, das Messer zu heben, als ihn mein erster Tritt erwischte. Die Waffe wurde ihm aus der Hand geprellt. Meine eigene Klinge zuckte vor und zerfetzte seine
22 Kleider über der Brust, fügte ihm einen kleinen Schnitt zu, aus dem augenblicklich blaues Blut pulste. »Keine Bewegung!«, verlangte ich und stieß ihn zu Boden. Von dort, wo Jolo mit Paffloir kämpfte, ertönte ein schmerzerfüllter Schrei. Ich warf einen Blick zur Seite und sah gerade noch, wie Jolos Kopf auf den Blauhäutigen zuschoss – genauer gesagt, auf dessen gebrochenes Handgelenk. Paffloir schrie erneut auf, und ich ahnte, dass sich genau dieselbe Szene eben schon einmal abgespielt hatte. Vor mir rollte sich Jaston zur Seite und trat nach meinen Knien. Ich knickte ein, doch ich stürzte nicht. Erneut stieß ich mit dem Messer zu, versenkte die Klinge in seinem Oberarm. Sein breiter Mund öffnete sich zu einem Schrei, doch noch ehe ein Laut daraus hervordringen konnte, schickte ich meinen Gegner mit einem gezielten Handkantenschlag in eine Ohnmacht. Danach wandte ich mich Paffloir zu, der mit der gesunden Faust auf Jolo einschlagen wollte, jedoch nur Luft traf. Jolo huschte gewandt zur Seite. Ehe Paffloir eine weitere Attacke starten konnte, schlug ich ihm meine Faust aufs Kinn. Er sackte mit einem Grunzen in sich zusammen. »Jetzt hält er das Maul«, imitierte Jolo ihn und lachte. »Was machen wir mit ihnen?«, fragte ich. »Liegen lassen. Wir sollten uns beeilen und von hier fliehen. Wir befinden uns bereits im unmittelbaren Herrschaftsgebiet von Papa Schwart, dem Herrn dieser Blauhäutigen.« »Ich hörte von ihm.« Jolo blickte mich an, und seine Nickhäute schlossen sich. »Papa Schwart ist nicht gerade ein angenehmer Zeitgenosse. Ich bringe dich in Sicherheit! Folge mir!« Er drehte sich um und verschwand zwischen den Bäumen. »Folge mir«, wiederholte er seine Aufforderung. Vertrau ihm nicht, meldete sich der Extrasinn zu Wort. Er rettete mich, widersprach ich.
Christian Montillon Sei dennoch vorsichtig. Er strahlt etwas äußerst Vertrauenerweckendes aus. Das haben deine beiden Wächter auch gedacht, erinnerst du dich? Ich warf einen letzten Blick auf die beiden ohnmächtigen Blauhäutigen, dann eilte ich meinem neuen Freund hinterher. Das Messer nahm ich mit mir. »Gut, dass du endlich kommst«, empfing mich Jolo. »Ich bringe dich erst einmal aus dem Herrschaftsbereich Papa Schwarts heraus.« »Wohin gehen wir?« »In die Siedlung der Freitümmler. Etwa einen halben Tagesmarsch von hier.«
5. »Du sollst dich nicht zu früh freuen.« - Jamoklias' fünftes Gebot (aktualisierte Fassung) Die rasenden Schmerzen an seinem Handgelenk rissen Paffloir aus der Ohnmacht. Das Erste, was ihm bewusst wurde, war die schlichte Tatsache, dass er noch lebte. Daraus folgte ein Zweites: Der weißhaarige Schwächling namens Atlan und der Echsische namens Jolo waren Narren. Er an ihrer Stelle hätte die Gunst des Augenblicks genutzt und seinen Peinigern die Kehle durchgeschnitten. Dass sie das nicht getan hatten, war ein Zeichen von Schwäche. Sie verdienten es nicht, zu siegen und den Triumph davonzutragen. Paffloir rüttelte an den Schultern des reglos auf dem Bauch daliegenden Jaston. Keine Reaktion erfolgte. Paffloir drehte Jastons Kopf zur Seite, leckte sich über den behaarten Handrücken und hielt die feuchte Hand vor die breite Nase seines Begleiters; er atmete flach, lag also nur in einer Ohnmacht. »Wach auf, verdammt! Wir dürfen das Aas nicht entkommen lassen!« Als Jaston noch immer nicht reagierte, packte er zu und wuchtete ihn auf den Rücken. Jetzt erst entdeckte er die stark blu-
Vorstoß in die Intrawelt tende Wunde an Jastons Arm. Die Kleider glänzten bis zu den Schultern blau vor Blut. Die Wunde schien jedoch nicht lebensbedrohlich zu sein. Paffloir machte kurzen Prozess. Er riss ein Stück Stoff aus Jastons Kleidung und wickelte es zu einem behelfsmäßigen Verband, mit dem er brutal die Blutzufuhr unterband. Außerdem kippte er Wasser aus dem Schlauch über die Wunde und entfernte mit einem Ruck die in die Verletzung hineingedrückten Stofffetzen. Durch die damit verbundenen zusätzlichen Schmerzen erwachte der Ohnmächtige. Er stieß einen leisen Schrei aus und verzerrte das Gesicht. Die Iris des blinden Auges hatte sich gelblich verfärbt; ein Zeichen großer Schmerzen. »Schluck deine Angst runter«, höhnte Paffloir. »Es ist nur ein Kratzer. Und dann komm wieder zu dir! Wir müssen das Aas und die verdammte Echse verfolgen.« »Was – was ist überhaupt passiert?« »Halt's Maul und reiß dich zusammen! Die Mistechse hat uns reingelegt und unseren Gefangenen befreit.« »Wie lange sind sie schon weg?« »Wie lange sind sie schon weg?«, äffte Paffloir ihn nach. »Wir waren ohnmächtig, kapiert? Aber ich sag dir eins: Dieser Jolo gehört bestimmt zu den Freitümmlern. Dorthin sind sie unterwegs, und wir werden sie schnappen, ehe sie ihr Ziel erreichen! Und dann gnade ihnen ihr Dhedeen!« »Als dieser Atlan mir das Messer in den Arm gerammt hat, habe ich schon gedacht, mit mir geht es zu Ende.« »Quatsch nicht! Dein Dhedeen wollte noch nicht von deiner Schulter runter. Genauso wenig wie meiner von mir wegwollte! Wir sind noch keine Kadaver!« Paffloir betrachtete erst die Wunde seines Begleiters, dann seine eigene schief stehende Hand, die sich langsam zu dunklem Violett verfärbte. »Noch nicht!« »Noch lange nicht«, stimmte Jaston zu. »Der Heiler bringt uns in drei Tagen wieder in Ordnung, und …« »Halt's Maul! Wir müssen los!« Paffloir
23 stampfte los, mitten in den Wald hinein. Er kannte den kürzesten Weg ins Grenzland, zu dem Hoheitsgebiet der Freitümmler. Er ignorierte die Schmerzen, die in seiner Hand pochten. Er wusste, dass er möglichst rasch den Heiler aufsuchen musste, doch der Hass auf den Weißhaarigen trieb ihn zur Verfolgung. Der Heiler musste warten. Er legte ein rasches Tempo vor, und bald hörte er Jaston hinter sich stöhnen. »Meine Verletzung …« »Maul halten!« »Jetzt hältst du mal das Maul!« Jaston streckte die gesunde Hand angriffsbereit aus. »Mein Arm steht in Flammen. Ich bin schwach, und ich kann deine Sprüche nicht mehr ertragen. Du bist schuld, denn du hast dir dein verfluchtes Messer stehlen lassen, und es war schmutzig! Ich spüre schon, wie meine Wunde sich entzündet.« Paffloir wirbelte herum. »Dann reinige sie und hör endlich auf zu jammern!« »Wie denn? Der Heiler …« »Wir brauchen keinen Heiler. Alles, was wir brauchen, sitzt dutzendfach dort oben.« Er trat wahllos gegen einen Zammie-Baum. Sofort ertönte das Gezeter der Nici-Äffchen. Paffloir trat wieder zu und wieder. Bald begann das Bombardement mit abgerissenen Zweigen und harten Schalen von GrüfNüssen. Paffloir bückte sich und hob eine besonders große Schale auf. Als sich eines der Äffchen zeigte, schleuderte er die Schale nach oben. Er traf genau. Mit einem erbärmlichen Jaulen stürzte das getroffene Äffchen herab. Es landete direkt vor den Füßen der Blauhäutigen. »Laut sind sie, aber auch ziemlich blöd.« Paffloir tötete das Äffchen mit einem gezielten Schlag und hob den Kadaver auf. »Gehen wir.« »Was soll das?«, fragte Jaston fassungslos. »Mir ist es hier zu laut.« Als sie in ruhigere Gefilde vorgedrungen waren und das Gezetere abnahm, deutete Paffloir auf die Leiche des Tieres. »Hast du noch nie gehört, dass das Blut der Nicis reinigende Eigenschaften hat? Gieß es über deine Wunde.«
24 Jastons Gesicht verfärbte sich blassblau. »Was?« Paffloir stieß ein Grunzen aus, fügte dem toten Äffchen mit den Fingernägeln eine blutende Wunde zu und hielt es über Jastons Arm. Blut tropfte auf die Wunde. »So! Jetzt wird sich deine Wunde nicht entzünden. Können wir endlich weitergehen?« »Woher …« »Halt's Maul!« Diesmal fügte sich Jaston. Dass er leise »Du und dein dämliches Halt's Maul« murmelte, hörte Paffloir nicht mehr. Zwei Stunden später entdeckten sie die ersten Fährten, dass sie tatsächlich auf der richtigen Spur waren. »Man kann mir ja einiges nachsagen, aber dumm bin ich nicht!«, behauptete Paffloir triumphierend, als er auf den Fußabdruck am Rande einer Pfütze deutete, der eindeutig von einem Echsenwesen stammte. Jaston grinste. »Warum grinst du so?«, begehrte Paffloir auf. Jaston hob die Hand. »Sei still. Ich höre etwas.« Tatsächlich drangen Gesprächsfetzen bis zu ihnen herüber. »Das sind sie! Ich habe gute Ohren.« Sie hasteten weiter, bemüht, kein Geräusch zu verursachen. Wenig später sahen sie die Verfolgten. Der Weißhaarige und der Echsische hatten sich auf dem Boden niedergelassen. »Sie hätten uns töten sollen«, flüsterte Paffloir. »Oder uns wenigstens besser durchsuchen.« Er griff in eine Tasche, zog ein Blasrohr heraus und legte es neben sich ab. Einen Augenblick später hielt er ein Kästchen in der Hand und streckte es seinem Begleiter entgegen. »Leg mir einen Pfeil ein.« »Wir werden sie damit töten, und tot sind sie nichts wert«, begehrte Jaston auf. »Ich werde nur den Schwächling töten. Die Echse können wir einfangen. Papa Schwart wird über seine Possen und Grimassen begeistert sein. Von Atlan braucht niemals jemand etwas zu erfahren.«
Christian Montillon »Aber …« »Er ist tot, er weiß es nur noch nicht. Jetzt leg mir einen Pfeil ein, ich kann es mit einer Hand verdammt noch mal nicht selbst machen.« Jaston starrte einen Augenblick lang nachdenklich auf das Kästchen, dann nickte er und tat wie ihm geheißen. Sie schlichen noch näher heran, stets gut hinter Sträuchern und Stämmen verborgen. Dann legte Paffloir das Blasrohr an die Lippen, holte tief Luft und schoss.
* Ich verspürte einen Einstich seitlich am Hals. Unwillkürlich zuckte meine Hand dorthin. Meine Finger fanden einen winzigen, etwa fingerlangen Pfeil mit gefiedertem Schaft. Ich zog ihn heraus und wirbelte herum. »Wir werden angegriffen!« Jolo sprang aus dem Sitzen in die Höhe und starrte auf den Pfeil in meiner Hand. »Racure! Oh weh, oh weh!« Er packte mich und zerrte mich zur Seite. »Wir müssen in Deckung, sofort!« Ich folgte ihm, und wir fanden Schutz hinter einem der dicken Stämme. Mein Hals fühlte sich heiß an, die kleine Verletzung pochte. »Weg mit dem Pfeil!«, rief mein neuer Freund entsetzt. »Sie haben dich vergiftet, oh weh!« Er riss mir den kleinen Pfeil aus der Hand und schnupperte daran. »Ich hatte Recht! Racure!« »Was soll das heißen?«, fragte ich mit einem flauen Gefühl. Ich ahnte, worauf Jolo hinauswollte. »Die Pfeilspitze ist mit einem Gift getränkt. Es ist tödlich.« Er warf ihn zur Seite. Ich hob ihn wieder auf. »Vielleicht nicht für mich.« »Weil du von einer anderen Spezies bist als ich?« Jolo stieß ein Zischen aus. »Es tötet alle Spezies, die bis jetzt das Vergnügen hatten, es in die Blutbahn zu bekommen! Und das waren sehr viele, sage ich dir!«
Vorstoß in die Intrawelt »Mich nicht«, gab ich mich zuversichtlich. Mein Zellaktivator würde das Gift neutralisieren – so hoffte ich zumindest. Es war nicht die erste Vergiftung, die ich erlitt. Ich hielt Ausschau nach denen, die uns angegriffen hatten. Mein Blick huschte über die uns umgebenden Bäume. Ich lauschte auf jedes ungewöhnliche Geräusch, jedes Rascheln im Gebüsch. Da hier keine Bodentiere zu existieren schienen – auf meine diesbezügliche Frage hin hatte Jolo nur von Baumaffen gesprochen –, würde das auf intelligente Angreifer hinweisen. »Wir hätten nicht rasten dürfen«, jammerte Jolo. »Aber das Fleisch lag mir doch so schwer im Magen.« »Vergiss es. Wir müssen …« Ich brach ab, als ich unsere Feinde entdeckte. Für einen Moment ragte ein blauer Arm hinter einem Stamm hervor. »Es sind Jaston und Paffloir!«, entfuhr es mir erstaunt. »Wie haben sie uns so schnell einholen können?« Jolo schwieg. »Wir müssen hier weg.« »Ich werde die beiden ausschalten, sonst …« »Auch wenn du glaubst zu überleben – wenn sie auf mich einen Pfeil abschießen, bin ich tot! Also lass uns fliehen.« Nacktes Entsetzen stand Jolo ins Gesicht geschrieben, und ich neigte dazu, ihm zuzustimmen. »Ein Racure-Pfeil braucht mich nur zu ritzen, und ich sterbe unter unsäglichen Qualen!« Du musst die Blauhäuter ausschalten!, meldete sich der Extrasinn zu Wort. Sonst werden sie euch eine weitere unliebsame Überraschung bereiten. Aber ich schulde Jolo etwas. Ohne ihn hätte ich mich nicht befreien können. Ich muss ihn in Sicherheit bringen. Jolo flüchtete. »Folge mir! Es ist nicht mehr weit!« Ich wirbelte herum und rannte hinter dem Echsenartigen her. Es war mir wichtig, ihn nicht zu verlieren. Ich hoffte, dass er mein Führer werden würde. Er schien sich hier sehr gut auszukennen.
25 Hinter mir trampelten unsere Verfolger heran, die nun zu offenem Angriff übergegangen waren. »Das Aas steht immer noch!«, schrie einer von ihnen; ich glaubte Paffloirs ungläubige Stimme zu erkennen. Offenbar handelte es sich bei Racure um ein sehr schnell wirkendes Gift, und mein Gegner war verwundert, dass es seine Wirkung noch nicht vollzogen hatte – ein Hinweis darauf, dass mein Zellaktivator es tatsächlich neutralisierte. Die Blauhäutigen kamen schneller voran als wir. Sie näherten sich uns unerbittlich. Als ich dicht hinter mir einen Zweig brechen hörte, wirbelte ich herum. Jaston stürzte sich mit einem Schrei auf mich. Er hielt ein Messer in der Hand. Ich schalt mich einen Narren, die Ohnmächtigen nicht wenigstens durchsucht und entwaffnet zu haben. Jolo war so schnell davongeeilt, dass dazu keine Zeit geblieben war. Ich riss die Hand hoch, mit der ich immer noch den mit Gift getränkten Pfeil umfasste. Die Spitze bohrte sich in den Brustkorb meines Gegners. Jastons drei Augen weiteten sich ungläubig, er verharrte mitten in der Bewegung. »Paffloir!«, schrie er, und der Schmerz eines ganzen Lebens spiegelte sich in diesem einen Wort. »Atlan!«, hörte ich die Stimme Jolos, bereits weit entfernt. »Wenn du uns folgst, stirbst du ebenfalls!«, drohte ich Paffloir und rannte davon. Bald erreichte ich Jolo. »Wir haben es gleich geschafft!«, rief er. »Ich glaube nicht, dass wir noch verfolgt werden.« Jastons Verletzung und baldiger Tod würden Paffloir eine Lehre sein. Jolo wies hinter sich. »Papa Schwarts Männer geben nicht auf!« Ich sah über die Schulter zurück. Tatsächlich stürmte der Überlebende hinter uns her. Mein neuer Freund eilte weiter. »Bald haben wir es geschafft! Halte durch, mein Freund.« Ich hetzte neben ihm her. Ich sprang über einen dornigen Busch. Meine Beine wiesen
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ohnehin bereits zahllose Kratzer von der Durchquerung des Gestrüpps auf. »Was meinst du damit?« Jolo schwieg, bis er schließlich stehen blieb und nach Luft schnappte. »Wir sind in Sicherheit.« Fragend sah ich ihn an. »Wir haben das Herrschaftsgebiet der Freitümmler erreicht.« Wir hatten keine sichtbare Grenze überquert, aber tatsächlich verfolgte uns Paffloir nicht mehr. Er zog sich zurück.
6. »Du sollst nicht enttäuscht sein.« Jamoklias' sechstes (Ursprungsfassung) -
Gebot
Unser Marsch war noch lange nicht zu Ende. Jolo führte mich immer weiter durch ein endlos scheinendes Waldgebiet. Jetzt kam mir die recht kühle Temperatur zugute; nach allen Anstrengungen erschöpfte mich die Reise zu Fuß sehr. Hinter uns brachen Äste. Ich spannte mich an. »Da ist jemand hinter uns«, informierte ich flüsternd meinen Begleiter und machte mich auf einen Kampf bereit. War Paffloir uns doch gefolgt? Hatte er möglicherweise sogar Verstärkung eingeholt? Jolo legte seinen Kopf zur Seite. »Es werden Tiere sein.« Er züngelte mit halb geöffneter Schnauze. Dann nickte er hastig. »Sieh dort. Ein Flomar.« Ich blickte in die angegebene Richtung. Das vierbeinige graue Tier war in etwa so groß wie mein Begleiter. Es kam mit gemessenen Schritten auf uns zu, weitete dabei seine großen Nüstern. Einige Meter entfernt blieb es stehen und stieß geräuschvoll die Luft aus. Lange Ohren hingen am Kopf herab und verliehen dem Wesen einen traurigen Ausdruck. »Flomars sind völlig harmlos, abgesehen von vereinzelten aggressiven Ausbrüchen, wenn sie in die Enge getrieben werden. Es
wimmelt hier geradezu von ihnen. Sie dienen uns als Hauptnahrungsmittel.« »Du sagtest, es gibt keine größeren Bodentiere.« Jolo hob seine Handtatzen. »Aber nein, nein, nein! Du fragtest mich drüben, im Herrschaftsgebiet von Papa Schwart. Von dort haben sich die Flomars vollständig zurückgezogen, weil Schwarts Horden sie in Treibjagden zu reinem Spaß beinahe ausrotteten. Die Tiere fühlten das, sie kennen die Grenze zu uns Freitümmlern genau. Papa Schwart ist kein angenehmer Geselle, das sagte ich, glaube ich, schon. Und es gilt genauso für seine Untertanen.« »Erzähle mir mehr über dieses Gebiet.« »Später, mein Freund, später«, vertröstete mich der Echsenartige, während das Flomar sich wieder zurückzog. Erst hatte ich mich ein wenig darüber geärgert, stets von Wald umgeben zu sein, sodass ich nie bis zum Horizont sehen und anhand von dessen Krümmung feststellen konnte, ob ich mich tatsächlich in einer Hohlwelt befand oder nicht. Allerdings hatte ich hin und wieder zumindest auf kleinen Lichtungen Blicke in den Himmel werfen können und dabei festgestellt, dass die Sonne offenbar unverrückbar fest in ihrem Zenit stand. Das zumindest war ein Hinweis darauf, dass ich eigentlich nicht in einen »Himmel« blickte, sondern in das geographische Zentrum einer Hohlwelt, in dem die Sonne verankert war. Wir gingen weiter, und Jolo riss einige Blätter von einem Strauch. »Sie schmecken bitter«, meinte er, steckte sich eines in den Mund und begann zu kauen. »Aber sie tun meinem Magen gut. Ich bin ja so empfindlich, was meine Verdauung betrifft«, nuschelte er und sah mich leidend aus seinen runden gelben Augen an. »Mich hungert ständig, doch beim Essen denke ich schon daran, dass ich wieder Verdauungsbeschwerden erleiden muss.« Er streckte mir eines der Blätter entgegen. Ich schüttelte den Kopf und musste mir in den nächsten Minuten das Schmatzen mei-
Vorstoß in die Intrawelt nes Begleiters anhören. Schließlich spuckte er eine grünliche, durchfeuchtete Masse aus. »Merk dir eins, mein Freund. Man sollte die Blätter des Colek nicht hinunterschlucken. Sie liegen schwer im Magen.« Kurz darauf erreichten wir das Lager der Freitümmler. Zwei bullige, vierarmige Wachen, die mich dank eines fehlenden sichtbaren Kopfes und der grauschorfigen Haut fatal an einen mit Extremitäten versehenen Steinklotz erinnerten, ließen uns kommentarlos passieren. Jolo schien wohlbekannt zu sein. Das Lager bestand aus den verschiedensten Hütten und Bauten, die von Angehörigen wenigstens eines Dutzends Spezies bewohnt wurden. Ich sah Humanoide ebenso wie Arachnoide, weitere Echsenartige und Insektoide. Alle eilten eifrig hin und her. »Wir sind ein bunt zusammengemischter Haufen«, kommentierte Jolo unnötigerweise, als wir einen großen Baum in der Nähe des Eingangs passierten. »Da werde ich mich wohl fühlen«, erwiderte ich. »Aber sicher.« Mein neuer Freund warf mir wieder einen Blick zu, und einen Augenblick lang war seine lange Zunge zu sehen, die unruhig hin und her pendelte. »Wir werden gleich Jamoklias treffen.« »Jamoklias?« »Er ist unser Anführer. Ich werde dich ihm … vorstellen.« Die Aussicht, den Herrscher der Freitümmler zu treffen, war erfreulich. Er verfügte über Macht, was gleichzeitig bedeutete, dass er auch das besaß, was ich am dringendsten nötig hatte: Informationen. Ich drehte verblüfft den Kopf, als ich aus dem Augenwinkel einen Haluter zu erkennen glaubte. Genaueres Hinsehen ergab jedoch, dass ich mich getäuscht hatte. Der große Kerl mit den vielen rotglühenden Augen wies lediglich etwas Ähnlichkeit auf. »Jamoklias!«, rief Jolo erfreut und riss meine Gedanken zu dem wirklich Wichtigen zurück. Ein wuchtiges, grobschlächtiges Wesen
27 stampfte auf runden, elefantenähnlichen Beinen auf uns zu. Es überragte mich um etwa einen halben Meter, und sein Gewicht brachte mit jedem Schritt die Erde zum Erbeben. Er deutete mit gewaltigen, sechsfingrigen Händen auf uns. Zwei schmal geschlitzte rotgrüne Sprenkelaugen starrten mich an, darunter ragten mehrere gelbliche Stoßzähne aus einer Hornnase hervor. Dampf umwölkte die Stoßzähne. Die nächsten Worte des Echsenartigen trafen mich wie ein Schlag.
* Paffloir stieß einen zornigen Schrei aus. »Pass gefälligst auf!« Der Heiler antwortete mit einem tief aus der Kehle kommenden Grollen und zog den Verband um das gebrochene Handgelenk demonstrativ noch enger. Paffloir spürte den Schmerz bis in die sechs Fingerspitzen, knirschte mit den Zähnen und bemerkte, wie ihm unter dem Kopffell der Schweiß ausbrach. Wie gerne hätte er dem Heiler einen Faustschlag versetzt – aber der stand jenseits von gut und böse, war aufgrund seines Status unantastbar. »Der Bruch ist nicht besonders schlimm. Schone ihn und tränke den Verband jeweils nach dem An- und Abschalten der Sonne mit dem Kräutersud, den ich dir mitgebe. In vier Tagen wirst du wieder wie neu sein.« »Kräutersud«, wiederholte Paffloir verächtlich. »Er wird deine Knochen zu stärkerem Wachstum an der Bruchstelle und damit zu rascherer Heilung anregen.« »Ich verabscheue diese verweichlichten Methoden. Ich habe Jastons Wunde mit Niciblut gereinigt, aber was hat es ihm gebracht? Die Mühe hätte ich mir sparen können. Er ist jämmerlich am Racure-Gift verendet. Zumindest wäre er das, wenn ich ihn nicht von seinen Leiden erlöst hätte.« Paffloir erinnerte sich nur zu gut daran, wie sein Begleiter mit bereits zugeschwollenen Augen den Mund aufgerissen und ebenso
28 verzweifelt wie vergeblich nach Luft geschnappt hatte. Schließlich hatte er ihm aus Mitleid das Genick gebrochen. »Niciblut?« Die Stimme des Heilers klang amüsiert. »Es reinigt«, dozierte Paffloir, als spräche er mit einem der erbärmlichen und unwissenden Freitümmler. »Es ist ein Mythos, dass das Blut der wilden Affen unsere Seele reinigt«, erwiderte der Heiler und rollte vergnügt mit dem Stirnauge. »Auf einer körperlichen Wunde bewirkt es nichts außer möglicherweise einer Vergiftung, die zu langsamem und qualvollem Siechtum führt. Gratulation – du hättest Jaston mit einiger Wahrscheinlichkeit umgebracht.« »Halt's Maul!« Der Heiler stieß die Luft aus und wandte sich ab. Er zog aus seinem Regal eines von hundert in Paffloirs Augen völlig identisch aussehenden Gefäßen heraus und reichte es seinem Patienten. »Vergiss es nicht. Jedes Mal nach dem An- und Abschalten der Sonne! Aber geh sparsam damit um, es kostet eine Menge Zeit, den Sud herzustellen.« Paffloir nahm das Gefäß und ließ es in einer Tasche seiner Oberkleidung verschwinden. Draußen wartete Papa Schwart bereits auf Paffloir. »Erzähle mir alles über den Tod Jastons.« Die passende Antwort hatte sich Paffloir bereits zurechtgelegt. Er musste auf seinen Anführer hinabsehen, der nicht aus dem Recht des Stärksten heraus regierte, sondern weil er der Sohn des letzten Herrschers war. »Ein Echsenwesen erschlich sich sein Vertrauen. Ich habe ihn gleich gewarnt, doch er war so dumm und ließ sich sein Blasrohr von der Echse klauen. Jolo nannte sich das Biest.« »Jolo«, wiederholte der Anführer nachdenklich. Danach starrte er mit offenem Mund ins Leere, die tiefblaue Zunge umspielte die fauligen Zähne. Paffloir wusste, dass Papa Schwart diese Gestik unbewusst vollführte. Er verachtete
Christian Montillon ihn deswegen, denn sie ließ den Anführer unendlich dumm aussehen. Doch Paffloir schwieg und heuchelte Unterwerfung. Eine Revolte gegen Papa Schwart war undenkbar. Zumindest ohne ausreichende Unterstützung. »Der Echsenartige schoss einen Racure-Pfeil auf Jaston und flüchtete dann, während ich mich um den Sterbenden kümmerte.« »Du hast gut gehandelt«, versicherte Papa Schwart, und sein drittes Auge schloss sich wohlwollend. »Wir werden den Tod Jastons rächen. Erzähle mir mehr von der Echse. Ich muss alles erfahren!« »Sie floh durch den Wald zu den Freitümmlern!« Papa Schwart nickte. »Das dachte ich mir.« Gar nichts wusstest du!, dachte Paffloir. »Ich verfolgte diesen Jolo bis zur Grenze unseres … deines Herrschaftsgebiets.« »Bald werden wir Umstände schaffen, durch die solche dreisten Übergriffe unserer Feinde verhindert werden.« Papa Schwart wandte sich ab. Paffloir blieb allein zurück und grinste zufrieden. Er würde dafür sorgen, dass er am Vergeltungsschlag gegen die Freitümmler teilnehmen konnte. Und da niemand außer ihm von dem weißhaarigen Fremden namens Atlan wusste, konnte auch niemand Paffloirs Rache im Wege stehen. Er freute sich schon darauf, die Hände um den Hals des Schwächlings zu legen und ihm das Genick zu brechen.
* Jolo wandte seinen Oberkörper in einer fließenden Bewegung von mir ab und stieß ein Zischeln aus, ehe er das Wort ergriff. »Jamoklias, mein Herr.« Er verbeugte sich, bis er mit der Stirn den Boden berührte; genau wie er es vor den beiden Blauhäutigen getan hatte. »Ich habe neue Handelsware für dich ergattert.« Dabei wies er mit der Handtatze auf mich. Ich glaubte im ersten Moment meinen
Vorstoß in die Intrawelt Ohren nicht trauen zu dürfen. Handelsware? Jolo hatte mich getäuscht und mich vom Regen in die Traufe geführt … Und du bist auf ihn hereingefallen wie ein tauber Hund. Jamoklias lachte rau und beugte seinen mächtigen Kopf zu mir herab. Die großen Stoßzähne, die aus der Hornnase ragten, verharrten wenige Zentimeter vor meinem Gesicht. Jetzt erkannte ich die unzähligen Membranlöcher um die Hornnase herum. Sie weiteten sich, und wieder wölkte Dampf aus ihnen hervor. Ich zuckte zurück, als er über meine Gesichtshaut strich – er war glühend heiß. Ich fragte mich, welche chemischen Reaktionen wohl in Jamoklias' Körper abliefen. »Eine schmächtige Spezies«, sagte der Anführer der Freitümmler mit tiefer Stimme. Er betrachtete mich intensiv und schien mit dem Ergebnis der Musterung einigermaßen zufrieden zu sein. »Aber er scheint zäh und ausdauernd zu sein. Du hast gute Arbeit geleistet, Jolo.« Alles in mir sträubte sich dagegen, als Ware begutachtet zu werden. Außerdem wühlte mich die Enttäuschung darüber auf, von Jolo verraten worden zu sein. Er hatte mich aus den Händen von Papa Schwarts Männern nur deshalb befreit, weil er mich selbst verkaufen wollte. Ich fixierte den Echsenartigen, den ich für meinen Freund gehalten hatte. Jolo erwiderte meinen Blick derart schuldbewusst, dass mein Zorn beinahe augenblicklich verrauchte und sich in Mitleid verwandelte. Ich überschlug meine Chancen zu fliehen. Sie waren gleich null. Gegen Jamoklias kam ich unbewaffnet nicht an, und außerdem hielten sich um uns herum Dutzende der Freitümmler auf, die sich, ohne zu zögern, gegen mich stellen würden. Ich habe dich gewarnt, kommentierte der Extrasinn. Du hättest Jolo nicht vertrauen dürfen. Die Erfahrung mit Teph hat dich nichts gelehrt. Teph hat sich letzten Endes nicht als Feind erwiesen, antwortete ich in Gedanken. Welch interessante und völlig unerhebli-
29 che Spitzfindigkeit. »Erklär ihm seine Aufgaben«, fuhr Jamoklias an Jolo gewandt fort. »Und melde dich nach der Dämmerung wieder bei mir. Wir werden über deine Belohnung sprechen.« Er schnaubte und stieß dabei eine besonders große Dampfwolke aus. »Wie lautet sein Name?« »Atlan«, antwortete ich. Jamoklias neigte sich erneut vor; diesmal berührten die Spitzen der Stoßzähne drohend mein Gesicht. Nicht so, dass es schmerzte – aber ich verstand die Warnung sofort. Er hatte sich mit einer Schnelligkeit bewegt, die ich seinem grobschlächtigen Körper nicht zugetraut hätte. »Du redest nur mit mir, wenn ich dich dazu auffordere!« Die Membranlöcher weiteten sich, und heißer Dampf strömte über meine Gesichtshaut. Ich verzog keine Miene und wich keinen Millimeter zurück. Doch ich schwieg, um Jamoklias nicht noch weiter zu reizen. In meiner Situation musste ich Vorsicht walten lassen. »Er hat Mumm in den Knochen, und er ist klug.« Jamoklias richtete sich zu seiner vollen Größe auf und wandte sich an Jolo. »Ich bin überzeugt, dass er gute Arbeit leisten und einen guten Preis einbringen wird.« »Oh ja«, versicherte Jolo. »Er ist etwas Besonderes. Er wurde verletzt, und zwar mit einem …« »Später«, unterbrach Jamoklias. »Ich erwarte dich nach der Dämmerung.« Die Erde bebte wieder, als sich der Anführer der Freitümmler stampfend entfernte. »… mit einem Racure-Pfeil«, beendete Jolo schwach seinen Satz. »Ich gratuliere dir«, sagte ich bitter und tastete über meine Wangen. Die Haut war heiß und schmerzte; an einer Stelle bildete sich bereits eine Brandblase. »Du hast nicht nur die Blauhäutigen hinters Licht geführt, sondern auch mich.« »Ich … ich habe doch keine Wahl. Das Leben in der Intrawelt ist hart, und jeder muss sehen, wo er bleibt.« Er sah mich unendlich traurig an. »Es tut mir Leid, aber ich
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Christian Montillon
war gezwungen, es zu tun.« Ich glaubte ihm, dass er bedauerte, was er mir angetan hatte. »Dennoch hast du mich verraten.« »Es wird dir bei uns besser ergehen als im Lager Papa Schwarts. Er ist …« »… kein angenehmer Zeitgenosse, ich weiß.« »Ich darf nur dann bei den Freitümmlern bleiben, wenn ich mich als nützlich erweise. Und was kann eine arme, schmächtige Echse wie ich schon ausrichten?« »Die Freitümmler setzen sich aus Angehörigen vieler verschiedener Spezies zusammen«, sagte ich. »Wir bilden eine Zweckgemeinschaft. Es ist nicht leicht, gerade neben Papa Schwart und den Seinen zu siedeln.« »Gibt es keine Überläufer zwischen den verschiedenen Lagern?« Diese Information konnte sich später als äußerst nützlich erweisen – meine Feinde gegeneinander auszuspielen hatte mir schon manches Mal geholfen, aus einer verzweifelten Lage zu entkommen. »Papa Schwarts Männer bestehen nur aus den Blauhäutigen. Sie nennen sich Pholdek, und sie würden niemals einen Angehörigen einer anderen Spezies neben sich anerkennen.« Jolo wandte sich ab. »Du wirst uns bei unseren Arbeiten helfen«, wechselte er das Thema. »Als Sklave.« Der Echsenartige wand sich, blickte mich wieder an. »Wenn du es so sehen willst. Ein hässliches Wort.« »Erhalte ich Lohn für meine Arbeit, und kann ich selbst über ihr Ausmaß bestimmen?« Jolos Nickhäute schlossen sich. Es war nicht nötig, dass er etwas sagte. »Also bin ich ein Sklave.« »Du hast Recht.« Jolo legte den Kopf auf die Brust und warf mir einen melodramatischen Blick zu. Im nächsten Moment erhielten seine Worte eine makabre Bestätigung.
*
Paffloir wartete ungeduldig vor der Hütte Papa Schwarts, der mit zwei Vertrauten ein Beratungsgespräch führte. Gerüchten zufolge hielten sich diese so genannten Vertrauten nur so lange in ihrer Stellung als Ratgeber, wie sie jeden Satz Papa Schwarts als unfehlbar und weise bestätigten. Das Domizil des Anführers stellte das prächtigste und stabilste der Siedlung dar. Es war komplett aus Steinen gefertigt und verfügte darüber hinaus über ein metallenes Dach – ein absoluter Luxus, denn aus dem kostbaren Rohstoff hätten sich ebenso gut Waffen schmieden lassen. Dafür lebte Papa Schwart auch bei den seltenen heftigen Regenfällen trocken. Die Dächer aller anderen Hütten hielten nur die üblichen leichten Schauer ab, die mehrmals täglich niedergingen. Die schwere Holztür öffnete sich knarrend, und einer der Berater winkte Paffloir heran. Paffloir kannte ihn, wie er jeden in der Siedlung kannte, doch sein Name wollte ihm partout nicht einfallen. Roschka? Rischka? »Papa Schwart wünscht dich zu sehen.« Paffloir ging kommentarlos an ihm vorbei. In diesem Moment ertönte das Klacken, das die Dämmerung ankündigte. Für einen Augenblick dachte er an den Kräutersud, den der Heiler ihm verordnet hatte. Das Gebräu musste warten – es gab Wichtigeres zu tun. Seine Rache und möglicherweise seine Zukunft standen auf dem Spiel. Er betrat den Wohnraum, den Papa Schwart für seine Beratungsgespräche nutzte. Durch mehrere große in der Decke angebrachte Fenster fiel Licht. Papa Schwart saß im Zentrum des Raumes auf einem mit in Paffloirs Augen völlig unnötigen Schnitzereien verzierten Stuhl. »Berichte meinen Beratern, was du gesehen hast.« Paffloir wiederholte seine Lügengeschichte um den Echsischen Jolo, der sich Jastons Vertrauen erschlichen hätte. »Du hast alle wichtigen Einzelheiten erwähnt?«, fragte Papa Schwart gönnerhaft. »Ja.« Außer dem Weißhaarigen. Und der ist nur für mich wichtig.
Vorstoß in die Intrawelt »Dann werden mir meine Berater sicher zustimmen, dass wir einen Angriff auf die Freitümmler starten müssen. Es ist geradezu ungeheuerlich, dass sie einen der Unseren ohne Grund angreifen und töten. Um unser Gesicht zu wahren und die Pholdek nicht der Lächerlichkeit preiszugeben, müssen wir zurückschlagen! Mit aller Härte, die notwendig ist!« Paffloir war es gleichgültig, dass er einen Krieg entfesselte; für ihn zählten nur noch seine Rachegelüste. In Wirklichkeit hatte für das Eingreifen der Echse sehr wohl ein Grund vorgelegen – eben Atlan. Paffloir zweifelte keinen Augenblick daran, dass Jolo den Weißhaarigen nur deshalb befreit hatte, um ihn an den verfluchten Jamoklias zu verscherbeln. »Ich stimme dir zu.«, sagte Roschka (oder Rischka). »Es ist ungeheuerlich«, echote der andere Berater. Beide schlossen nicht nur das dritte, sondern alle Augen und senkten unterwürfig den Kopf. Paffloir verachtete ihre Kriechernatur, die ihnen ein angenehmes Leben verschaffte. »Wir sind uns einig. Die Vorbereitungen werden einige Tage in Anspruch nehmen. Ihr dürft euch entfernen.« Papa Schwart winkte gnädig mit der rechten Hand. Die Berater verließen den Raum, doch Paffloir blieb. Papa Schwart fixierte ihn. »Was willst du noch?« »Ich möchte dich bitten, an dem Angriff gegen die Freitümmler teilhaben zu dürfen.« »Warum?« »Jaston war mein Begleiter, ja mehr als das. Er war mein Freund. Ich möchte ihn persönlich rächen.« »Du bist verletzt.« »Du sagtest selbst, die Vorbereitungen werden einige Tage in Anspruch nehmen. Bis dahin bin ich wiederhergestellt.« »Da du ein guter Kämpfer bist, sehe ich keinen Grund, der dagegen spricht. Nun geh.« »Eins noch.« Paffloir streckte seine Gestalt. Er wusste, dass die folgenden Worte
31 ihn den Kopf kosten konnten. »Ich bitte darum, den Angriff leiten zu dürfen.« »Ich denke darüber nach.« »Es geht mir um Jaston. Ich …« »Ich denke darüber nach«, wiederholte Papa Schwart ärgerlich. »Nun lass mich allein.« Er drehte sich demonstrativ um und stieß einen hohen Pfiff aus. Aus dem hinteren Bereich der Hütte näherte sich eine Frau. Die tiefblaue Haut zeugte von vielen durch ein Glasdach vor dem Regen geschützten Mußestunden unter der Sonne. Ihre Brüste lagen bloß, und das Rot ihrer vier Warzen lockte. Paffloir verließ rasch den Raum, ehe er endgültig den Zorn Papa Schwarts auf sich zog. Noch ehe er die Tür schloss, hörte er das Rascheln von Kleidung und das Lachen der Weiblichen. Vielleicht, dachte Paffloir, konnte er sich bei dem Angriff nicht nur an Atlan rächen, sondern sich auch die Unterstützung der anderen Kämpfer sichern. Dann konnte er Papa Schwart stürzen und selbst in den Genuss kommen, jederzeit willige Frauen zur Verfügung zu haben. Später schlief Paffloir, und in seinem Traum mischten sich die Laute der brechenden Knochen des Weißhaarigen mit dem wollüstigen Stöhnen der namenlosen Frau, als Paffloirs Hände über ihre Brüste strichen. Beide Geräusche waren Musik in seinen Ohren, doch die Todesschreie Atlans gefielen ihm noch einen Deut besser.
* Ein bulliges Wesen stampfte auf mich zu. Es handelte sich um dieselbe Spezies wie die beiden Wächter, die uns in die Siedlung eingelassen hatten. In einer Hand hielt es einen zweigeteilten, sperrigen und in der Mitte auseinander klaffenden Holzbalken. Das Loch war mit Leder überzogen. Ich zweifelte keine Sekunde daran, wozu dieses Werkzeug diente. Dein Pferdegeschirr, gab auch der Extrasinn mit ungewohntem Sarkasmus zum Besten.
32 »Knie dich hin!«, befahl mir der Bullige mit dröhnender Stimme, die irgendwo aus der Mitte des klotzartigen Leibes drang, ohne dass ich dort ein entsprechendes Sinnesorgan wahrnehmen konnte. Ich gehorchte, und der Bullige bog den Balken auseinander und legte ihn um meinen Hals. »Der Kragen wird verhindern, dass du fliehst«, erklärte der Bullige weiter, gefolgt von einem Geräusch, das klang, als werde ein Schwert an einem Schleifstein gewetzt. Wahrscheinlich das Äquivalent eines Lachens. Dann ertönte das Schnappen eines Schlosses. Es stand außer Frage, dass es sich an einer für mich unerreichbaren Stelle befand. Ich erhob mich wieder. Mit diesem Gewicht auf den Schultern – zwanzig Kilogramm, mindestens – zu fliehen wäre Torheit und von vornherein zum Scheitern verurteilt. Erstaunt bemerkte ich, dass der Kragen eine Höhlung aufwies, groß genug, dass auch der Dhedeen darin Platz finden konnte. Man hatte wirklich an alles gedacht. Der andere entfernte sich wieder, und ich blieb mit Jolo allein zurück. In diesem Augenblick ertönte ein deutlich vernehmbares Knacken. »Was war das?«, fragte ich den Echsenartigen. »Es wird Nacht«, erklärte er, als sei es das Selbstverständlichste der Welt. »Und?« »Die Sonne hat sich abgeschaltet«, fuhr Jolo, über meine Unwissenheit verwundert, fort. Meine Augen weiteten sich. »Abgeschaltet?« Die Helligkeit nahm ab, und mit dem Schwinden der Sonnenstrahlen sank auch die Temperatur. Ich begann wieder zu frösteln. Im Nachhinein fiel mir auf, dass es den ganzen Tag über gleich bleibend hell und warm gewesen war, abgesehen von minimalen Schwankungen durch kleine Regenschauer. »Die Dämmerung beginnt«, sagte Jolo und blinzelte mir zu, indem er die Nickhäute mehrfach öffnete und wieder schloss.
Christian Montillon »Erzähl mir mehr über den Tag- undNacht-Rhythmus dieser Welt«, bat ich. »Der Tag ist doppelt so lang wie die Nacht. Dazu kommen morgens und abends die Phasen der Dämmerung, wenn sich die Sonne an- beziehungsweise abschaltet.« Ich stellte noch einige Nachfragen, die mir weiteren Aufschluss gaben. Der Tagesrhythmus dauerte 26 Stunden, davon fielen sechzehn Stunden auf die Helligkeit, acht Stunden auf die Nacht und je eine Stunde auf Morgen- und Abenddämmerung. Jetzt, da sich die Sonne abgeschaltet hatte, würde es eine Stunde bis zur völligen Finsternis dauern, die erst morgens durch das Anschalten der Sonne beendet wurde. Es gab keinen Zweifel mehr: Ich befand mich tatsächlich in der Intrawelt, einem künstlich geschaffenen riesenhaften Objekt mit einer gewaltigen, ebenso künstlichen Sonne.
* Der Mythos von der Erschaffung der Sonne. Ja, Atlan, gerne will ich dir berichten, was man sich erzählt. Höre gut zu, was Jolo dir sagt: Wie alle Welten, so hat auch die Intrawelt einen Schöpfer. Es war einmal, und es ist schon sehr lange her, da beschloss der Schöpfer, dass die Zeit reif sei, die Intrawelt zu erschaffen. Er wandte sich an seine Freunde, die anderen Herren des Universums, und berichtete ihnen von seinem gewaltigen Plan. Wie herrlich, sagte der eine. Wunderbar, meinte ein Zweiter. Voll Kühnheit und Schönheit, ergänzte der Dritte. Also formte der Schöpfer den Boden aus dem Hauch seines Atems und dem Speichel seines Mundes. Er gefiel ihm, doch er war noch nicht perfekt. Also ersann er die Krümmung und vollendete sie in seiner Genialität zu ewiger Eleganz. Er rief seine Freunde und führte sie her-
Vorstoß in die Intrawelt um. So wandelten die Herren des Universums auf unserem Boden und staunten. Exzellent, sagte der eine. Vortrefflich, meinte ein Zweiter. Voll Anmut und Ebenmaß, ergänzte der Dritte. Aber … sagte der eine. … ebenso … meinte ein Zweiter. … voll Dunkelheit und Schwärze, ergänzte der Dritte. Dem musste der Schöpfer zustimmen. Also verabschiedete er seine Freunde und bat sie, bald wiederzukommen. Dann schwebte er nach oben, in den Mittelpunkt der Intrawelt hinein. Dort verharrte er und drehte sich in den Kräften, die er selbst ersonnen und in Existenz gerufen hatte. Er tanzte im Schwung der Ewigen Melodie der Schöpfung. Dann rieb er die Hände über seine Augen, und ein Funke zündete, den er ausweitete und mit einem Teil seiner Intelligenz versah. Die Sonne ward geboren, und sie war klug genug, den Tag und die Nacht zu schaffen sowie die Dämmerung. Da kehrten die Freunde des Schöpfers zurück und bestaunten dessen neues Werk. Meisterhaft, sagte der eine. Mustergültig, meinte ein Zweiter. Voll Licht und Farben, ergänzte der Dritte.
* »So, Atlan, erzählt man sich«, beendete Jolo seinen Bericht. »Doch es ist nichts als ein Mythos, ein Überbleibsel aus den alten Zeiten der Kulte.« Wir befanden uns in der Hütte, die der Echsenartige sein Eigen nannte. Draußen herrschte längst völlige Dunkelheit. Jolo hatte mir angeboten, seine Hütte zu teilen – quasi als Wiedergutmachung, hatte er gesagt, er sei ja schließlich keine schlechte Echse, er müsse eben nur sehen, wo er bliebe … »Ich danke dir trotzdem für den Bericht«, versicherte ich. Der Kragen auf meinen
33 Schultern zwang mich dazu, mich hinzulegen, denn nur so konnte ich das Gewicht auf den Boden verlagern und meine Schultern entlasten. Dennoch war meine Haltung alles andere als bequem. Eigenartigerweise empfand ich keinen Hass oder auch nur Feindschaft gegen Jolo, obwohl er mich in diese Situation gebracht hatte. »Kein Bericht«, wehrte Jolo ab, »sondern eine Geschichte.« »Ist dir bewusst, dass deine Sonne künstlich ist?« Jolo sah mich aus großen Augen an. »Was immer du damit sagen willst, es ist an der Zeit zu schlafen.« »Hast du keine Angst, dass ich dich in der Nacht überwältige?« »Warum solltest du?«, fragte Jolo unschuldig. »Weil du ein windiger Verräter bist.« »Es geht dir hier besser, als es dir bei Papa Schwart gegangen wäre. Dort hätte man dir nichts zu essen gegeben, zumindest nicht so viel.« »Soll ich dir vielleicht dankbar sein?« Jolo wandte sich kommentarlos ab. »Was wird mit mir geschehen?«, fragte ich. »Wenn die Grün-Nomaden wieder hier auftauchen, wird Jamoklias dich an sie verkaufen.« »Und du erhältst ebenfalls deinen Lohn.« Die Antwort bestand aus einem Zischen. »Man hat es nicht leicht als kleine Echse mit Magen- und Verdauungsbeschwerden.« Er sah mich leidend an. »Dafür hat die Natur dich mit Eigenschaften ausgestattet, die dir ein gutes Überleben sichern«, meinte ich. Ich wurde mir immer sicherer, welches Geheimnis Jolo hütete, und ich nahm mir vor, ihn in den folgenden Tagen genau zu beobachten, um herauszufinden, ob mein Verdacht der Wahrheit entsprach. Jolo verschwand nun endgültig in der mir gegenüberliegenden Ecke des Raumes, kam jedoch nach wenigen Augenblicken zurück. Er hielt eine Decke in den Händen und über-
34 reichte sie mir. »Noch etwas, das dir Papa Schwart und die Seinen niemals gegönnt hätten.« In der Nacht fand ich nur wenig Erholung. Dank der Decke fror ich nicht, doch der Kragen verhinderte jede tiefer gehende Entspannung. Als erneut das laute Knacken ertönte, das das Anschalten der Sonne verkündete, schreckte ich aus oberflächlichem Schlaf auf. Jolo hingegen kam mir frisch und ausgeruht vor, als er plötzlich vor mir stand und mir sackartige, behelfsmäßige Kleidung aus grobem Stoff hinwarf. Ich konnte trotz des Kragens hineinschlüpfen, da sie nicht über den Kopf gezogen werden musste. Das graue Material kratzte unangenehm auf der Haut. »Du hast einen langen Arbeitstag vor dir«, informierte mich der Echsenartige. »Dir bleiben nur noch wenige Augenblicke, bis er beginnt, denn die Morgendämmerung ist schon angebrochen.« Er wandte sich wieder ab und kehrte nach wenigen Augenblicken mit zwei großen Früchten in den Handtatzen zurück. »Mich hungert, und dir wird es nicht anders ergehen.« Er legte die Früchte zwischen uns auf dem Boden ab. Sie waren doppelt so groß wie meine Faust und verfügten über eine schuppige, leuchtend gelbe Schale. Jolo ergriff eine davon. »Man isst die Schale mit«, meinte er und biss herzhaft zu. Die Kiefer öffneten sich dabei sehr weit; ich vermutete, dass er sie bei Bedarf ausrenken konnte, wie es bei vielen Echsenarten der Fall war. Der Anblick machte mir Appetit. »Ich danke dir«, sagte ich und wurde wieder ein wenig sicherer, dass Jolo kein so übler Kerl war. Der Saft der Frucht prickelte angenehm auf der Zunge, und als ich schluckte, verspürte ich sofort neue Energie. »Jolo!«, erklang in diesem Augenblick von draußen der laute Ruf. Ich erkannte die Stimme sofort. Sie gehörte Jamoklias, der sich wohl persönlich davon überzeugen wollte, dass ich mir nicht zu viel Ruhe gönnte.
Christian Montillon Eilig huschte Jolo zur Tür und öffnete sie. »Welche Freude, dass du selbst hierher kommst, um …« »Der Gefangene soll mit seiner Arbeit beginnen!«, stellte der Anführer der Freitümmler klar und stieß eine Dampfwolke aus, die seinen Kopf einige Augenblicke lang verbarg. »Aber natürlich, Herr.« Der Echsenartige verneigte sich und zeigte ein unterwürfiges Gesicht, woraufhin Jamoklias sofort besänftigt war. Ich erhob mich und ging nach draußen. »Ich bin bereit.« »Jolo wird dich begleiten und ein Auge darauf haben, dass du genug arbeitest.« »Was hat er zu tun?«, fragte der Echsenartige eifrig. Jamoklias begann mit einer bemerkenswert langen Auflistung niederer Arbeiten. Sein letzter Kommentar lautete: »Du solltest zusehen, dass er damit fertig wird, denn morgen wartet ein neues Tagwerk!« Damit wandte er sich ab. Jolo rollte die Augen und seufzte. »Nichts als Arbeit und kaum was zu essen …«
7. »Du sollst nicht verzweifeln.« Jamoklias' siebtes (Ursprungsfassung) -
Gebot
Jolo kündigte an, mich auf einen Hügel ganz in der Nähe der Freitümmler-Siedlung zu führen. Einige der Bulligen, die auch als Wächter der Siedlung dienten, begleiteten uns. Auf unserem Weg durch den Wald benutzten wir von Sträuchern und hohen Gräsern derart überwucherte Pfade, dass sie mir trotz meiner geschulten Beobachtungsgabe entgangen wären. Die baumlose Kuppe des Hügels diente der Anpflanzung von dornigen Sträuchern, die jene gelben Früchte hervorbrachten, die ich heute Morgen gekostet hatte. Ihre Wurzeln mussten von der feuchten Erde befreit werden und an der Luft trocknen, damit die
Vorstoß in die Intrawelt Pflanzen nicht verfaulten. Die Bulligen begannen sofort mit der Arbeit, und es gab keinen Zweifel, dass man von mir dasselbe erwartete. Bald strömte Schweiß über meine Stirn. Es war harte Arbeit, den durch die Feuchtigkeit schweren Boden zu bearbeiten, und das zusätzliche Gewicht des Kragens machte es nicht einfacher. Jolo beobachtete mich, zeigte jedoch keine Anstalten, selbst tätig zu werden. »Das Elend mit den Loran-Früchten ist, dass sie so empfindlich sind«, erklärte er im Plauderton. »Werden die Wurzeln der Sträucher zu feucht, faulen die Früchte, noch ehe sie reif sind. Regnet es hingegen zu wenig, wird das Fruchtfleisch pulvrig – bäh!« Seine Miene zeigte einen solchen Abscheu, dass ich mir eine Bemerkung nicht verkneifen konnte. »Die Früchte sind nicht das Einzige, was hier empfindlich ist. Ich erinnere an den Magen und den Verdauungstrakt einer gewissen Echse.« Ich entfernte eine letzte Hand voll der feuchten Erde von den dicken Wurzelsträngen. Ein dicker weißlicher Wurm kroch über meine Finger. »Was kann ich dafür?«, ereiferte sich Jolo. »Glaub mir, mir wäre es anders auch lieber.« Ich warf einen Blick zu den vier bulligen Freitümmlern, die wie Maschinen ihre Hände in die Erde gruben und die Wurzeln der Sträucher in rascher Geschwindigkeit freilegten. »Würdest du mich befreien, wenn sie nicht hier wären und uns beobachteten?«, fragte ich provozierend. »Jamoklias würde mir den Kopf abreißen –, oder noch schlimmer, er würde mich aus dem Herrschaftsbereich der Freitümmler verbannen.« Nach einer kurzen Pause fügte er hinzu: »Außerdem habe ich dich gefangen und hierher gebracht. Weshalb sollte ich dich jetzt befreien?« »Weil du alles tun würdest, wenn du dir einen Vorteil davon versprichst. Und ich wäre ein starker Partner für dich. Mit mir zusammen könntest du es weit bringen.« Jolos Nickhäute schlossen sich.
35 »Jamoklias ist der bessere Partner, daran gibt es keinen Zweifel. Sieh dich doch nur einmal an.« Er deutete auf den Holzbalken, den ich zu tragen gezwungen war. »Ist das das Bild eines Mannes, der den Gefahren der Intrawelt siegreich begegnet?« Ich antwortete nichts, sondern warf einen Blick umher. Der Hügel überragte die scheinbar unendliche Waldfläche und erlaubte eine ausgezeichnete Fernsicht. Die Krümmung des Horizonts ging nach oben – ein endgültiger Beweis dafür, dass ich mich in einer Hohlwelt befand. »Die Intrawelt ist riesig«, fuhr ich fort. »Warum gehst du nicht von hier fort, weg von der Bedrohung, die Papa Schwarts Horden darstellen, und suchst dir einen anderen Ort zum Leben? Gibt es hier kein zweites Mitglied deiner Spezies?« Jolo ließ wieder seine Zunge sehen. »Weißt du«, sagte er leise, »es gibt Dinge, die sind so, wie sie sind. Über alles Weitere schweige ich.« »Wenn ich es recht sehe, sind die Freitümmler doch nichts anderes als verlorene Seelen, die sich gefunden haben, ihr Leben leben und sonst ihre Ruhe haben wollen.« »Und?« »Warum verlasst ihr diese Gegend nicht? Und wo seid ihr überhaupt hergekommen?«
* Der Mythos von der Erschaffung der Bewohner der Intrawelt: Atlan, höre zu, was man sich erzählt. Lausche der Erzählung Jolos, der dir den alten Mythos mitteilt. Wo war ich stehen geblieben? Ach ja: Die Freunde des Schöpfers bestaunten dessen neues Werk, die Sonne, die er aus dem Aufblitzen seines Auges erschaffen hatte. Sie badeten in ihrem Licht und ihrer Wärme, durchquerten schwimmend ihren glutflüssigen Kern und lobten den Schöpfer. Doch es kam die Zeit, in der sich alles änderte. Leider … sagte der eine.
36 … fehlt … meinte ein Zweiter. … das Leben, ergänzte der Dritte. Der Schöpfer schickte seine Freunde, die anderen Herren des Universums, wieder zurück zu ihren eigenen Aufgaben. »Ich danke euch«, sagte er. »Und nun geht, geht und kommt wieder, wenn ich dieses Problem bewältigt habe.« Es war schwerer als das vorige. Leben zu erschaffen, war nicht so einfach, wie eine Sonne zu gebären. Also ruhte der Schöpfer und dachte nach. Schließlich gab er einen Teil seines Blutes in den perfekt gekrümmten Boden. Leben spross und verbreitete sich. Bald waren die Nicis da, bald die Flomars. Und dann entstanden die Blauen. »Ihr seid meine Kinder«, sagte der Schöpfer zu ihnen. »Ich nenne euch Pholdek, denn das ist das, was ihr seid.« Doch der Erste der Blauen wandte sich ab. »Die Pholdek sind nicht deine Kinder, sondern meine«, behauptete er, und die Blauhäutigen verfielen in Jubel und verneigten sich vor ihm. Der Schöpfer bestrafte sie für ihren Frevel, indem er ihnen ein Drittel ihrer Sehkraft nahm, sodass sie ihn hinfort nicht mehr erkennen konnten. Da kamen die Freunde des Schöpfers zurück. Auf die Frage hin, wie ihnen die Blauen gefielen, dachten die Freunde erst einmal nach. Groß, sagte der eine. Gewaltig, meinte ein Zweiter. Sehend und blind, ergänzte der Dritte. Aber … sagte der eine. … leider … meinte ein Zweiter. … auch dumm und böse, ergänzte der Dritte. Dann gingen sie wieder, und der Schöpfer war unzufrieden. Er machte sich daran, weitere Völker zu erschaffen. Er holte sie aus den Wäldern und Steppen, den Seen und Wüsten, den Meeren und Gebirgen. Überall lebten sie, einst gesprossen aus seinem Blut. Er brachte sie in die Parzelle Poricium, und sie taten sich zusammen. Alle lebten in Frieden. Nur die Blauen nicht. Da sagte der Schöpfer in seiner unendli-
Christian Montillon chen Weisheit: »Lasset uns einen Weg erschaffen, dass Fremde kommen können und staunen ob meiner Wunder.« Und als die Freunde wieder kamen und wandelten auf unserem Boden, da lächelten sie weise, als sie das goldene Loch in der Basaltwand besahen. Herrlich, sagte der eine. Majestätisch, meinte ein Zweiter. Erhaben und königlich, ergänzte der Dritte.
* »Einer der Fremden, die zu uns stoßen konnten, bist du, Atlan«, beendete Jolo seine Erzählung. »Auch wenn der Transferschlauch sicher aus anderen Gründen entstanden ist, als uns die alte Geschichte weismachen will.« Dieser zweite Mythos war klar von den gegenwärtigen Verhältnissen geprägt, die offenbar weit in die Vergangenheit reichten. Die Verhältnisse zwischen den Pholdek und den Freitümmlern bestanden wohl unverändert bereits seit vielen Generationen. »Weißt du mehr über den Weg, den der Schöpfer für Ankömmlinge erbaut hat?« »Ich glaube nicht an den Schöpfer«, wiegelte der Echsenartige ab. »Deshalb ist deine Frage unlogisch. Ich erzähle dir die alten Mythen, sonst nichts. Sie sind weit verbreitet. Wir mögen es, Geschichten zu erzählen. Noch lieber allerdings hören wir Geschichten von unerhörten Begebenheiten, von Abenteuern, die möglicherweise eines Tages auf uns selbst zukommen werden.« Er hob seine Handtatzen und legte die Saugnäpfe zusammen. »Vielleicht ist dies einer der Gründe, warum der Schöpfer den Transferschlauch erdacht hat. Oder lass es mich so sagen: Es wäre ein Grund, wenn der Schöpfer existieren würde.« Jolo seufzte. »Du solltest nicht so viele Fragen stellen. Die Mythen sind Mythen, nichts weiter.« »Es gibt den Weg zu euch in die Intrawelt«, kam ich auf das eigentliche Thema zurück. »Ich kam von außerhalb und bin ihn
Vorstoß in die Intrawelt gegangen.« »Natürlich bist du das, sonst wärst du ja nicht hier.« Wir redeten aneinander vorbei. Es blieb mir nichts anderes übrig, als direkter vorzugehen. »Kennst du den Ort, an dem ich ankam?« Ich war mir nicht sicher, ob ich wieder dorthin zurückfinden würde – der Weg durch die Wälder war anstrengend gewesen, und es hatte kaum besondere Merkmale gegeben, die ich mir hatte einprägen können. Ich traute mir zu, den Dhedeen-Baum wiederzufinden, aber von dort aus würde es schwierig werden. »Natürlich kenne ich ihn«, antwortete Jolo, und das gab mir ein beruhigendes Gefühl. »Es ist das Ende des Transferschlauches. Papa Schwarts Leute nennen ihn den Ort des Verderbens.« »Gibt es weitere solcher … Eingänge in eure Welt?« »Ich kenne keine«, erwiderte Jolo. »Doch wie du sagtest, die Intrawelt ist groß. Sie spiegelt die Herrlichkeit des Schöpfers – das sagen zumindest die alten Mythen.« »Kommen viele Fremde durch den Transferschlauch?« »Viele … was heißt schon viele?«, philosophierte der Echsenartige. »Wann kam zuletzt jemand?«, stellte ich eine präzise Frage. »Frag Papa Schwart – der Ort des Verderbens liegt in seinem Herrschaftsgebiet. Er schickt Patrouillen dorthin, um die Ankömmlinge abzufangen und sie an die GrünNomaden zu verkaufen. Ich bin nicht jedes Mal zur Stelle. Dass ich dich gefunden habe, war reines …« »… Glück«, führte ich seinen Satz zu Ende und legte demonstrativ meine Hände auf den schweren hölzernen Kragen. Einer der Bulligen kam auf uns zu und drohte mir, indem er alle vier Arme nach mir reckte und die klobigen, an Stummel erinnernden Finger ballte. »An die Arbeit, Sklave!« Inzwischen wusste ich, dass seine Sprechwerkzeuge un-
37 ter einer dicken Hautfalte verborgen lagen und deshalb nicht leicht zu entdecken waren. Ich nickte und beugte mich ohne weiteren Kommentar wieder unter den LoranStrauch. Stunden später wurden die Bulligen abgelöst, doch Jolo und ich mussten zurückbleiben. Der Echsenartige leistete allerdings kaum körperliche Arbeit, sondern ruhte sich die meiste Zeit an schattigen Plätzen aus. »Wir gönnen dir noch eine weitere Schicht, Sklave«, grollte einer der Vierarmigen, ehe er mit dem kratzenden Geräusch, das ich bereits als das Lachen dieser Spezies kannte, den Hügel hinabstampfte. Jolo führte in einigen kleinen Schläuchen Wasser mit sich und ließ mich an seinen Vorräten gnädig teilhaben. Erst nach Einsetzen der Dämmerung durften wir uns in die Siedlung der Freitümmler zurückziehen. Die Nacht verlief für mich ähnlich unruhig wie die vorhergehende. Der folgende Tag glich dem letzten in nahezu jedem Detail – wieder bearbeitete ich die Wurzeln der Loran-Sträucher auf dem Hügel abseits der Siedlung, wieder löste sich strahlender Sonnenschein mit kurzen Regenschauern ab. Am vierten Tag – dem 31. Juli 1225 NGZ, wenn ich davon ausging, dass meine Reise durch den Transferschlauch nur einige Stunden angedauert hatte und keine deutlich größere Zeitspanne vergangen war – trat mir wieder einmal Jamoklias gegenüber, als wir Jolos Hütte verließen. »Hast du dich eingelebt, Bürschlein?«, höhnte er und blies mir eine Wolke heißen Dampfes entgegen. »Ich darf reden?«, fragte ich zynisch. Eingelebt? Ich hatte eine gewisse Routine entwickelt und wurde von Jolo glücklicherweise mit Nahrung und Flüssigkeit versorgt – aber meine Schulter- und Halsmuskulatur stand in Flammen. Mit dem Kragen belastet, würde ich mich ganz sicher nicht einleben. In der kaum vorhandenen Physiognomie des Anführers der Freitümmler regte sich auf meine Frage hin nichts.
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»Willst du mir mitteilen, dass meine Zeit hier abgelaufen ist, weil sich die GrünNomaden eurer Siedlung nähern?«, fuhr ich fort. »Ich habe keine Angst vor ihnen. Du kannst mich nicht einschüchtern.« Jamoklias' Stoßzähne zuckten auf mich zu. Wieder wich ich keinen Millimeter zurück. »Du imponierst mir«, grollte er mit tiefer Stimme. »Unter anderen Umständen hätte ich dich vielleicht als einen Untertan aufgenommen.« »Niemand hindert dich daran.« »Doch«, widersprach Jamoklias. »Die Grün-Nomaden oder genauer gesagt, das, was sie mir für dich bezahlen werden.« Er rammte seinen Kopf noch einige Zentimeter weiter vor und gleichzeitig nach unten. Einer seiner Zähne stieß durch meine Kleidung und zerriss die Haut über meinen Rippen. »Vergiss nie, dass dich nur eine Winzigkeit vom Tod trennt!« Ich verstand genau, welche Winzigkeit er meinte – die wenigen Zentimeter, die seine Stoßzähne von meinem Herzen trennten. Doch ich ließ mich von ihm nicht einschüchtern. »Also zahlen die Grün-Nomaden nur eine Winzigkeit für mich?« Eine Woge heißen Dampfes verbrühte mich an Brustkorb und Hals. »Treib es nicht zu weit.« Jamoklias wandte sich ab und stampfte seinen Aufgaben entgegen, während mein Blut von seinem Zahn auf den Boden tropfte.
* Die Vorbereitungen im Lager Papa Schwarts waren fast beendet. Paffloir beobachtete alles ganz genau. Er nahm an den Kampfübungen teil, die Papa Schwart angeordnet hatte, und er erwies sich trotz seines Handicaps stets als der Sieger. Er besuchte die Waffenmeister, die genau darüber wachten, dass jedem die ihm angemessene Waffe zugeteilt wurde. Dolche, Schwerter, Blasrohre, Spieße … Außerdem waren viele eifrig damit beschäftigt, sich
selbst Knüppel zurechtzuschnitzen. Alle befanden sich in freudiger Erwartung. Vielleicht, hörte Paffloir munkeln, würde man diesmal die Freitümmler endgültig besiegen und wäre sie auf diese Weise endlich los. Dann könnte wieder Frieden einziehen, wie es dem Mythos nach gewesen war, ehe die Freitümmler kamen und die Ruhe störten. Paffloir spürte, dass der Zeitpunkt des Angriffs endlich gekommen war. Alles in ihm fieberte der Entscheidung entgegen, dem Moment, in dem er seine Rache vollziehen konnte. Und dem Moment, in dem er Papa Schwart entmachten und ihm einen Dolch in den Leib rammen konnte. Er freute sich schon darauf, die Schande des dann sterbenden Anführers zu vollenden, indem er ihm die noch warme Zunge aus dem Mund schnitt und sie aufaß. Er verlor sich fast in diesem Tagtraum, doch dann riss ihn der Anblick einer Weiblichen zurück in die Realität. Sie war betörend schön und lenkte seine Gedanken in andere Gefilde. Vor ihr saß ein Kind; sie lehrte es den großen Erschaffungsmythos, wie Paffloir beiläufig mitbekam. »Da drängten die anderen Rassen in unsere Parzelle«, hörte er sie sagen. »Sie zerstörten unseren kostbaren, ewigen Frieden durch ihre Niedertracht.« Paffloir ging weiter, und bald entdeckte er Papa Schwart. Der Anführer wollte gerade seine Hütte betreten. Paffloir rannte ihm entgegen. »Papa Schwart!« Unwillig drehte sich der Anführer um. Doch als er sah, wer ihn störte, hellte sich seine Miene auf. »Es ist gut, dass du kommst. Ich wollte ohnehin mit dir reden.« Das Wohlwollen in seiner Stimme verwirrte Paffloir. Er hatte sich auf eine lange und schwierige Auseinandersetzung eingestellt, doch nun sah es so aus, als sei diese gar nicht nötig. »Ich stehe zu deiner Verfügung.« Papa Schwart nickte huldvoll. »Du hast mich darum gebeten, den Angriff auf die Freitümmler leiten zu dürfen. Ich gewähre
Vorstoß in die Intrawelt dir diese Gunst.« Paffloir verschlug es die Sprache. »Du bist verwundert?« »Ich bin erfreut«, antwortete Paffloir listig, »dass ich der Günstling deiner weisen Entscheidung bin.« »Jedem das, was ihm gebührt.« Papa Schwart öffnete die Tür seiner Hütte. »Eins noch«, ergänzte er leise. »Dir werden alle Angreifer unterstellt sein und absoluten Gehorsam schulden, solange der Angriff dauert. Alle bis auf einen, um genau zu sein.« Paffloir sah ihn fragend an. »Ich selbst werde ebenfalls dabei sein.« Papa Schwart ging in die Hütte und schloss die Tür hinter sich, ehe Paffloir weitere Fragen stellen konnte. Er wunderte sich, was das zu bedeuten hatte. Papa Schwart begleitete die Angreifer, leitete aber nicht den Angriff? Das hatte es noch nie gegeben. Paffloir kümmerte sich nicht weiter darum, denn der Triumph und die Vorfreude vernebelten seine Sinne. Papa Schwart würde seine Gründe haben. Paffloir würde ihm den Dank dafür schon bald abstatten … Eine Hand legte sich auf seine Schulter und riss ihn in die Realität zurück. Er wirbelte herum und sah sich einem der beiden Berater Papa Schwarts gegenüber. »Roschka!«, rief er erstaunt. »Rischka«, verbesserte der andere. »Hör mir gut zu, denn was ich zu sagen habe, werde ich nicht wiederholen. Ich weiß, dass du etwas planst und dich in die Gunst Papa Schwarts einschleichst. Ich warne dich. Sei vorsichtig.« »Wovon redest du, Rischka?«, fragte Paffloir gefährlich leise. Er spürte eiskalte Wut in sich aufsteigen und ballte die Hände. »Du führst Gespräche – hier eines und dort eines, und mir ist nicht verborgen geblieben, dass …« »Halt's Maul!« Paffloir stieß den anderen vor die Brust, dass er zurücktaumelte. »Kriech weiter um Papa Schwart herum und komm mir nie wieder zu nahe!« »Sei bloß vorsichtig«, wiederholte Rischka und wandte sich ab.
39 Paffloir blieb weiterhin nachdenklich vor Papa Schwarts Tür stehen. Plötzlich schwang sie auf, und er befürchtete bereits, dass der Anführer das Gespräch belauscht hatte. »Ich wollte dir noch etwas sagen«, meinte Papa Schwart. Er wirkte unverändert freundlich. Offenbar hatte er die Szene nicht beobachtet. »Wir brechen heute nach Anbruch der Dämmerung auf. In sechs Stunden. Mach dich bereit.« Der Anführer zog sich wieder in die Hütte zurück. Heute Abend! Paffloir konnte es kaum erwarten. Heute noch würden sich alle seine Träume erfüllen! Er eilte zur Hütte des Heilers, riss die Tür auf und stürzte ins Innere. »Entferne meinen Verband und sag mir, ob meine Hand wiederhergestellt ist!«, forderte er sofort. Der Heiler war mit einigen Pulvern beschäftigt und wandte sich langsam um. »Das wird vor allem davon abhängen, ob du regelmäßig den Kräutersud …« »Entferne meinen Verband!«, unterbrach Paffloir barsch. Der Heiler schwieg und tat wie ihm geheißen. Er betastete erst die Finger Paffloirs, dann dessen Handgelenk. »Es fühlt sich gut an. Du solltest noch einige Tage etwas vorsichtig sein und die Hand schonen, aber …« »Halt's Maul!« Paffloir eilte nach draußen und hastete zur Hütte Rischkas. Dort rief er dessen Namen. Er hatte Glück. Nach wenigen Augenblicken schwang die Tür nach außen auf. »Du hast über meine Worte nachgedacht?«, fragte der Berater Papa Schwarts, als er seinen Besucher erkannte. »Das habe ich. Lass mich ein, unser Gespräch geht niemanden etwas an.« Rischka beging den Fehler, zur Seite zu treten. Paffloir drängte sich an ihm vorbei. Kaum hatte der andere die Tür geschlossen, wirbelte er herum. In seiner Hand hielt er einen Dolch, dessen Klinge beidseitig fein geschliffen war. Rischkas Augen weiteten sich ungläubig.
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Das Stirnauge pulsierte unruhig und offenbarte die nackte Panik des Beraters. »Steck die Waffe weg!« Paffloir sprang ungerührt nach vorne und ließ seinem Gegner keine Chance zur Gegenwehr. Er stieß zu und rammte die lange Klinge in die Kehle Rischkas. »Ich habe tatsächlich nachgedacht«, sagte er, während blaues Blut über seine Hand quoll und den Boden besudelte. »Heute Nacht werde ich den Angriff auf die Freitümmler leiten und dabei Papa Schwart töten, der mir alles einfacher macht, indem er an dem Angriff teilnimmt.« Er zog die Klinge aus der Kehle Rischkas. Der Berater sackte zu Boden und öffnete den Mund, doch kein Laut drang daraus hervor. »Du hast also entdeckt, dass ich Gespräche führte, hier und da, ja?« Paffloir beugte sich zu dem Sterbenden hinab. »Viele sind auf meiner Seite, und schon morgen werde ich der Herrscher dieses Lagers sein. Nur wirst du es leider nicht mehr miterleben.« Er griff in den noch immer offen stehenden Mund, hob den Dolch und schnitt die Zunge heraus. »Deine Schande ist komplett, Rischka.« In diesem Moment hörte Paffloir hinter sich einen leisen Schrei. Am anderen Ende des Raumes stand eine Weibliche. Paffloir wusste nicht, wo sie hergekommen war. Es interessierte ihn auch nicht. Er eilte zu ihr, und seine Klinge fand erneut ihr Ziel. Danach säuberte er sich ruhig und ausführlich an der Waschstelle des Ermordeten. Schließlich sollte niemand sehen, was er getan hatte. Morgen würde man Rischka entdecken, doch dann würde bereits alles anders sein. Bis dahin würden noch mehr Zungen abgeschnitten werden.
* Der Mythos vom Schöpfer: Du stellst schwierige Fragen, Atlan. Du willst wissen, wer der Schöpfer ist? Jolo
kann dir nur sagen, was der Mythos darüber berichtet. Am Anfang war das Nichts, und das Nichts war überall. Nichts existierte außer dem Nichts. Die Sonne war noch nicht, und die Intrawelt war noch nicht. Nicht einmal die Herren des Universums waren schon. Da dachte der Schöpfer etwas, und dieses Denken war das Erste. So dachte er sich in die Existenz. Da war niemand, der ihn erdachte. Niemand, der ihn erfand oder ihn aus etwas schuf. Er wurde aus Nichts, und er war alles. Als er dann existierte, freute er sich. Und aus dieser Freude wurden die anderen, und sie erkannten sich selbst. Ich, sagte der Erste. Ich, meinte ein Zweiter. Ich bin, ergänzte der Dritte. »Ihr seid meine Freunde«, sagte der Schöpfer. »Ihr seid, weil ich mich freute, und nun freue ich mich an euch.« Wunderbar, sagte der Erste. Großartig, meinte ein Zweiter. Mächtig und herrlich, ergänzte der Dritte, der von Anfang an geschwätziger war als die anderen. So kamen sie ins Leben und durchstreiften das Nichts, bis sie entschieden, sich Aufgaben zu suchen. Schließlich kam der Tag, und er ist schon sehr lange her, da beschloss der Schöpfer, dass die Zeit reif war, die Intrawelt zu erschaffen.
* »Es ist eine Geschichte, nicht mehr«, beendete Jolo seine Erzählung. »Ein Mythos, noch mehr als alles andere, was ich dir berichtet habe.« Diesmal war ich geneigt, ihm zuzustimmen. Ich konnte keinerlei Bezug zur Realität erkennen. Wer auch immer der oder die Erbauer der Intrawelt sein mochten – sie hatten sich mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht selbst in die Existenz gedacht. Diesmal lieferten mir die alten Mythen keinerlei noch so sehr verschlüsselte Fakten. Das war nicht
Vorstoß in die Intrawelt verwunderlich, denn der Erbauer oder Konstrukteur war in diesen Mythen einem Gott gleichzustellen, und Götter gaben nun einmal nichts über ihre Herkunft preis. Das war in beinahe allen Kulturen so. Der Tag, an dem ich erneut auf Jamoklias getroffen war, neigte sich dem Ende zu. Die Phase der Dämmerung würde in wenigen Minuten beendet sein. Jamoklias hatte noch mehr Arbeit als an den Vortagen für mich vorgesehen, und ich hätte sie nicht bewältigen können, wenn Jolo mir nicht das eine oder andere Mal zur Hand gegangen wäre. Jetzt waren wir wieder in seiner Hütte. So konnte es nicht weitergehen. Ich verlor hier meine Zeit, während Kythara auf meine Rückkehr wartete. »Was weißt du über den Flammenstaub?«, fragte ich rundheraus. Jolo schwieg, und ich erkannte in seiner Mimik nicht, was er dachte. Inzwischen war ich nahezu sicher, dass ich mit meiner Vermutung Recht hatte – Jolo glich seine körperliche Schwäche dadurch aus, dass er mithilfe seiner Mimik andere zu seinen Gunsten beeinflusste. Eine bemerkenswerte Fähigkeit seiner Spezies, der ich selbst mehrfach zum Opfer gefallen war. Ich hatte ihm etwa auch nach seinem Verrat nicht böse sein können, sondern hatte Mitleid mit ihm empfunden. Zuvor hatte ich ihm trotz der Warnungen meines Extrasinns blind vertraut. Ich nannte Jolo aufgrund dieser Eigenart für mich ein Gefühlschamäleon. Er simulierte Gefühle, die beim Beobachter suggestiv Stimmungen erzeugten. Ebenso wie mich hatte er damit in den letzten Tagen viele der Freitümmler zu seinen Gunsten manipuliert, um von ihnen bevorzugt behandelt zu werden. Selbst Jamoklias ging mit ihm freundlicher um als mit seinen anderen Untergebenen. Sein Verhalten auf meine Erwähnung des Flammenstaubs hin überraschte mich nicht. Ich hatte zuletzt mehrere Freitümmler darauf angesprochen und stets nur verbissenes Schweigen geerntet. Ich war davon überzeugt, dass sie alle den Begriff kannten, aber nicht bereit waren, darüber zu reden.
41 »Die Intrawelt ist riesig«, startete ich einen neuen Versuch, weitere Informationen aus Jolo herauszupressen. »Wie kann man große Distanzen zurücklegen?« »Es gibt die Gondeln der Maulspindler«, erwiderte Jolo rasch, offenbar erfreut darüber, das Thema wechseln zu können. »Ein Transportsystem?« »Es heißt, eine dieser Gondeln befinde sich im Land Karapirum, etwa fünf Tagesmärsche von hier. Ich war einmal dort.« »Wie sieht eine solche Gondel aus?« Ich fragte mich, ob damit Gleiter oder andere technische Geräte gemeint waren. Bislang hatte ich auf der Intrawelt keinerlei Technik entdecken können; allerdings kannte ich bislang auch nur die Begebenheiten in der Parzelle Poricium. »Ich sagte nicht, dass ich bei der Gondel war. Ich war im Land Karapirum. Ich bin weit herumgekommen für eine kleine Echse.« »Wer weiß mehr darüber?« »Peonu, der alte Eigenbrötler, hat sich vor einiger Zeit drei Tagesreisen entfernt niedergelassen. Er soll mehr darüber wissen.« »Peonu«, wiederholte ich nachdenklich. »Ich habe diesen Namen schon einmal gehört. Einer der Freitümmler erwähnte ihn, oben auf dem Hügel. Er schien Angst vor ihm zu haben.« »Jeder hat Respekt vor Peonu«, stellte Jolo klar. Mehr erfuhr ich nicht, denn in diesem Augenblick begann der Angriff.
8. »Du sollst nicht wehrlos sein.« Jamoklias' achtes (Ursprungsfassung) -
Gebot
Jolo sprang auf und hastete zur Tür. Er riss sie auf, sah ins Freie und schlug sie gleich wieder zu. Er starrte mich an, züngelte nervös. »Was ist geschehen?«, fragte ich, längst ebenfalls auf den Beinen. Der Ausdruck
42 nackten Entsetzens in Jolos Mimik beunruhigte mich. »Ein Angriff. Ich sah …« Er eilte zur der Tür gegenüberliegenden Wand und stellte sich mit dem Rücken dagegen, ehe er fortfuhr: »Ich sah einen der Blauhäutigen! Papa Schwarts Horden stürmen das Lager!« Ich stellte mich neben Jolo. »Nimm mir den Kragen ab! Ich werde dich beschützen, und dann fliehen wir gemeinsam. Ich könnte dich als meinen Partner gut gebrauchen. Deine Ortskenntnis und meine …« Direkt vor der Tür ertönte ein von tiefem Schmerz erfüllter Schrei. Jolo stöhnte leise auf. »Wir sind verloren«, jammerte er. »Sie kommen, weil ich dich ihnen geraubt habe.« Es erbarmte mich sofort, als ich seine ängstliche und leidende Miene sah. Er manipuliert dich!, warnte mich der Extrasinn. Lass dich nicht von ihm einfangen. »Ich werde dich beschützen«, wiederholte ich trotzig, ebenso an meinen Logiksektor wie an Jolo gerichtet. Die Tür wurde aufgerissen, und ein Insektoider eilte herein, den ich in den vergangenen Tagen mehrfach gesehen hatte. »Ein Angriff! Wir müssen uns verteidigen, sofort!« »Wieso sollte ich euch helfen?«, fragte ich. »Weil du sonst stirbst. Papa Schwart wird keine Gefangenen machen.« Im nächsten Augenblick war ich schon wieder allein mit Jolo. »Nun denn«, sagte der Echsenartige mit gekünstelter Ruhe und wandte sich in Richtung Tür. »Kampf ist nichts für mich. Ich werde mich zurückziehen und beobachten.« Er huschte nach draußen. Ich rannte ihm hinterher, verfluchte die Last des Kragens, die mir im Kampf mehr als nur hinderlich sein würde. Draußen herrschte bereits Nacht. Der Himmel war völlig schwarz. An einigen Hütten steckten brennende Fackeln, sodass die Siedlung in notdürftiges, düster flackerndes Licht getaucht war. Erst nach einigen Momenten gewöhnten sich meine Augen
Christian Montillon daran, und ich erkannte immer besser, was vor sich ging. Die Blauhäutigen waren überall. Schreie gellten, und ich hörte das helle Klirren aneinander schlagender Waffen. Nicht weit entfernt hatte einer der bulligen Wächter einen Angreifer in die Enge gedrängt. Der Blauhäutige stand mit dem Rücken an der Wand und stach mit einem etwa handspannenlangen Messer immer wieder zu. Davon zeigte sich der Freitümmler wenig beeindruckt, und in einem geeigneten Moment sprang er vor und quetschte den Angreifer zwischen seinem bulligen Körper und der Wand ein. Ich hörte das Geräusch brechender Knochen. Schon drang einer der Männer Papa Schwarts auf mich ein. Er hielt ein Kurzschwert in der Hand und schlug zu. Die Klinge sauste heran. Ich ließ mich zur Seite fallen. Das Schwert hämmerte in das Holz des Kragens, der dadurch verrutschte und mir die Luft abdrückte. Ich versuchte mich über die Schulter abzurollen, doch der Kragen schrammte über den Boden und verhinderte es. Er quetschte meinen Hals noch stärker. So blieb ich wie ein gefallener Käfer auf dem Rücken liegen und schnappte nach Luft. Dem Blauhäutigen war durch den Aufprall auf dem massiven Holz das Schwert aus der Hand gerissen worden. Er bückte sich danach. Seine Füße standen direkt neben mir. Ich umfasste mit beiden Händen einen seiner Knöchel, drückte zu und zerrte daran. Mein Gegner verlor den Halt und prallte mit dem Hinterkopf auf den Boden. Er kam dicht neben mir zu liegen, starrte mich hasserfüllt an. Einen Herzschlag später stieß ich ihm meinen Handrücken gegen sein Stirnauge. Er schrie auf, riss seine Hände hoch und presste sie gegen das Gesicht. Ich rutschte auf dem Boden von ihm weg, griff mir sein Schwert, stand auf und wandte mich ihm wieder zu. Ich sah nur noch, wie einer der Freitümm-
Vorstoß in die Intrawelt ler ihm im Vorbeilaufen ein Schwert in die Brust rammte. Eine Sekunde später fiel auch er, von einem Speer durchbohrt. Um mich herum tobte das Chaos. Drei Blauhäutige stürmten auf mich zu, in ihren Augen leuchtete die blanke Mordlust.
* Paffloir sah zufrieden, dass die Freitümmler völlig überrascht worden waren. Seine Kämpfer hatten die Wachen überrannt und sie ohne nennenswerten Widerstand getötet. Er hatte ihnen genaue Anweisungen gegeben, brauchte sich nun nicht mehr um sie zu kümmern. So blieb ihm die Zeit, seine eigentlichen Ziele zu verfolgen. Er musste den Weißhaarigen finden, um ihn langsam und schmerzhaft zu bestrafen. Sollte ihm die Echse in die Hände fallen, wäre das eine nette zusätzliche Freude. Außerdem wartete der Tod auch auf Papa Schwart. Mehr als die Hälfte der Kämpfer würden Paffloir als neuen Führer unterstützen – das hatte er in den letzten Tagen durch zahlreiche Gespräche herausgefunden. Die restlichen würden den Machtwechsel anerkennen müssen, oder sie wurden verbannt. Dieser Strafe würde sich kaum jemand aussetzen. Papa Schwarts Tage waren gezählt! Paffloir hielt sich weitgehend aus den Kampfhandlungen heraus. Ihn gelüstete nur nach ganz besonderem Blut. Er entdeckte Papa Schwart unweit des Eingangs in die Siedlung. Dort fanden keine Kampfhandlungen statt. »Wie schön, dass du auf mich wartest«, flüsterte er und machte sich auf den Weg. Er hatte es dem Zufall überlassen, welcher seiner Feinde zuerst sterben würde – nun war es entschieden. Papa Schwart stand mit dem Rücken an einen Stamm gelehnt, sein Blick huschte suchend über die Menge der Kämpfenden. Offenbar war auch er auf der Suche nach jemandem, wohl dem Echsenartigen, um ihn persönlich zu bestrafen.
43 Paffloir huschte im Schatten einiger Hütten zur Seite, um sich Papa Schwart unentdeckt zu nähern. Er hatte nicht vor, es zu einem Kampf kommen zu lassen, obwohl er dem so genannten Anführer körperlich weit überlegen war. Als er nicht mehr weit entfernt war, zog er ein Blasrohr aus seiner Tasche. Ein Racure-Pfeil würde Papa Schwart ein qualvolles Ende bereiten. Er schob die unscheinbare, aber absolut tödliche Waffe in das Rohr, setzte es an die Lippen … … und sprang zur Seite, als ein Arachnoide auf ihn zustürmte und dabei hohe, kratzende Geräusche ausstieß. Die acht Beine des Spinnenartigen bewegten sich so schnell, dass Paffloir es kaum verfolgen konnte. Der Arachnoide verharrte vor Paffloir, seine vorderen Beine zuckten auf ihn zu, eine scharfe Maulschere schlug dicht vor seinem Gesicht zusammen. Paffloir handelte kühl und überlegt. Er hatte das Blasrohr gar nicht erst von den Lippen genommen. Der tödliche Pfeil traf mitten in den fetten Spinnenleib. Paffloir rannte davon, während hinter ihm ein gequälter Schrei aufklang. Befriedigt bemerkte er, dass der Arachnoide ihn nicht verfolgte. Doch der Zwischenfall hatte ungeahnte Folgen. Papa Schwart war verschwunden. Paffloir fluchte und begann erneut mit der Suche. Er musste vor allem Atlan finden, ehe dieser einem anderen zum Opfer fiel. Paffloir wollte sich die Rache nicht nehmen lassen. Der Weißhaarige sollte durch seine Hand sterben! Unvermittelt entdeckte er den Echsenartigen. Augenblicklich überflutete ihn nagender Hass. Diesem Jolo war es gelungen, das unmittelbare Kampfgeschehen hinter sich zu lassen; er war dabei zu fliehen. Eine erbärmliche Kreatur, die ihr Heil in Flucht, Täuschung und List suchte. Selbst wenn Paffloir nicht persönlich eines ihrer Opfer gewesen wäre, hätte er nur Abscheu
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für den Echsenartigen empfunden. Er verdiente es nicht, weiterzuleben! Paffloir zog ein Messer und stürmte auf Jolo zu.
* Zwischen mir und den drei Angreifern entbrannte in Sekundenschnelle ein erbarmungsloser Kampf. Zu meinem Glück handelte es sich um plumpe Kerle, die keinerlei Kampftechnik beherrschten. Den Ansturm des ersten beendete ich mit einem schnellen Schwertstreich, dem zweiten rammte ich in derselben Bewegung den Ellenbogen ans Kinn, woraufhin er stöhnend zurücktaumelte und ohnmächtig zusammensackte. Der dritte zögerte und ging auf Distanz. Ich ließ ihn nicht zur Ruhe kommen, drang mit dem Schwert auf ihn ein und entwaffnete ihn mit einem raschen Streich. Er wandte sich zur Flucht. Ich bückte mich und entwand der Hand des Toten ein Messer. Dann verließ ich ebenfalls den Platz vor Jolos Hütte. Mein Ziel war nicht, möglichst viele Gegner auszuschalten, sondern Jolo wiederzufinden. Die letzten Tage hatten uns zusammengeschmiedet, und wenn ich diese Siedlung lebend verlassen sollte, dann wollte ich ihn als Begleiter und Führer. Ich war mir sicher, dass er noch mehr wusste, als er mir bislang mitgeteilt hatte. Ich würde den Echsenartigen keinesfalls mitten im Kampfgetümmel finden. Es entsprach seiner Natur, jede Auseinandersetzung zu vermeiden und aus dem Dorf zu flüchten. Niemand kümmerte sich um mich. Die Freitümmler waren damit beschäftigt, sich ihrer Haut zu erwehren. Überall kämpften sie gegen die Eindringlinge in ihr Revier. Es war ungewöhnlich, an solch einer barbarisch mittelalterlich anmutenden Schlacht teilzuhaben. Eine einzige Strahlenwaffe hätte eine entscheidende Wende herbeiführen können. Ich vermutete, dass Jolo die Siedlung über den Weg verlassen würde, den er auch sonst
immer verwendet hatte, um mich zu dem Hügel mit den Loran-Sträuchern zu führen. Ich eilte dorthin und entdeckte rasch, dass ich mich nicht getäuscht hatte. Jolo lief auf den Anfang des Pfades zu, und er bemerkte nicht, dass einer der Blauhäutigen auf ihn zustürmte. Der Angreifer befand sich in Jolos Rücken, und der allgemeine Schlachtenlärm übertönte seine Annäherung. »Jolo!«, schrie ich und stürmte los. Der Echsenartige wandte den Kopf und entdeckte mich. »Hinter dir!« Jolo hörte meinen Ruf, wirbelte herum und warf sich noch in derselben Bewegung zu Boden. Die Attacke des Angreifers ging ins Leere. Doch Jolo befand sich keineswegs in Sicherheit. Ich war nur wenige Meter entfernt. Jolo rollte sich gewandt zur Seite, doch ein Tritt seines Gegners traf ihn am Leib. Er schrie, überschlug sich am Boden und blieb bewegungslos liegen. Der Blauhäutige hob erneut das Messer. Diesmal gab es für Jolo kein Entkommen. Ich war noch zu weit entfernt, um eingreifen zu können. Die rettende Idee kam mir noch in derselben Sekunde. Aus vollem Lauf schleuderte ich mein eigenes Messer. Die Waffe überschlug sich in der Luft und jagte auf den Angreifer zu. Er kam nicht mehr dazu, seinen tödlichen Stich gegen Jolo auszuführen. Meine Klinge schlug in seinen Waffenarm ein. Er stockte in der Bewegung, brüllte wütend auf und zog das Messer aus der Wunde. In diesem Moment war ich heran. Meine Faust schlug in sein Gesicht. Er taumelte zurück, stürzte aber nicht. Sein hasserfüllter Blick fing sich in meinem. »Du!«, brüllte er und schleuderte mir mein Messer entgegen. Es gelang mir nur mit Not auszuweichen. Im Augenwinkel sah ich, wie Jolo wieder hochschnellte. Gleichzeitig erkannte ich, wer Jolo und mich angegriffen hatte.
Vorstoß in die Intrawelt Paffloir! »Zuerst werde ich Papa Schwart töten, dann dich!«, brüllte er mir entgegen, warf sich herum und flüchtete. In diesem Moment rief Jolo meinen Namen. Ich drehte mich zu ihm um. »Du hast mir das Leben gerettet.« Erstaunen lag in seiner Stimme. Er bückte sich und hob das nicht weit von ihm entfernt liegende Messer auf. »Dreh dich um. Ich werde das Schloss des Kragens zerstören und dich befreien.« Ich nickte und bückte mich, hörte Jolo hinter meinem Rücken hantieren. Gleich würde ich den Kragen ablegen können und endlich wieder frei beweglich sein. Stampfende Schritte näherten sich. »Was geht hier vor sich?«, dröhnte eine tiefe Stimme. Ich erkannte sie sofort. Jamoklias!
* Paffloir kochte vor Wut. Schon wieder hatte dieser Weißhaarige ihn verletzt! Dafür würde er büßen. Die Wunde war zwar schmerzhaft, aber nicht wirklich schlimm. Sie blutete nur sehr schwach, und es war kein Muskel in Mitleidenschaft gezogen worden. Paffloir konnte seine Waffenhand nach wie vor benutzen, wenn er auch nicht mehr über seine gewohnte Kraft verfügte. Er hielt nach wie vor sein Messer kampfbereit in der Hand, rechnete jederzeit mit einem Angriff. Als er einen Toten passierte, entwand er ihm ein Kurzschwert. Der Kampf in der Siedlung wogte mit unverminderter Härte; seit seinem Beginn war noch nicht viel Zeit vergangen, wenn sich für Paffloir auch die Ereignisse überschlagen hatten. Es gab bereits etliche Tote – leider auch auf Seiten der Angreifer, wie er mit einigem Bedauern feststellte. Er musste Papa Schwart finden! Es würde seine Wut besänftigen, ihn sterben zu sehen und ihm die Zunge herauszuschneiden. Danach konnte er mit der Unterstützung seiner
45 Vertrauten eine Hetzjagd auf den Weißhaarigen starten und ihn ebenfalls seinem Schicksal übergeben. Paffloir eilte zurück zu dem Baum, wo er Papa Schwart zuletzt gesehen hatte. Von dort konnte er möglicherweise seine Spur verfolgen. Er erreichte sein Ziel und lehnte sich mit dem Rücken gegen den breiten Stamm. Einen Augenblick später spürte er einen scharfen Schmerz am Hals. Seine Hand zuckte hoch und fühlte einen schmalen Holzstift. Ihm war sofort klar, was das zu bedeuten hatte. Er griff zu und zog den kleinen Pfeil aus seinem Fleisch. Fassungslos starrte er auf dessen Spitze, die blau von seinem Blut war. An anderen Stellen des Pfeiles glänzte eine farblose, ölige Flüssigkeit. »Du bist nicht der Einzige, der Pfeilgift verwendet«, hörte er eine Stimme, während sich seine Sicht bereits trübte. »Papa … Schwart?«, ächzte er. Seine Knie begannen zu zittern, und er sank an den Stamm gelehnt nach unten. »Hast du wirklich geglaubt, du könntest Pläne gegen mich schmieden, ohne dass ich es bemerke? Wieso, glaubst du, übergab ich dir den Befehl über diesen Angriff?« Paffloirs Augen schwollen zu, und das Atmen fiel ihm zunehmend schwerer. »Nur aus einem einzigen Grund«, fuhr Papa Schwart triumphierend fort. »Damit du dich in Sicherheit wähnst. Übrigens danke ich dir dafür, dass du Rischka und sein Weib für mich aus dem Weg geräumt hast. Er wurde aufmüpfig in letzter Zeit.« Paffloir versuchte etwas zu erwidern, doch kein Laut drang über seine Lippen. Er musste an das erbärmliche Bild denken, das Jaston geboten hatte, als das Racure-Gift ihn langsam, aber unaufhaltsam tötete. Nun wusste er, wie sein Begleiter sich gefühlt hatte. Doch er hatte niemanden, der ihn von seinen Qualen erlöste. Er spürte, wie sich seine inneren Organe zu zersetzen begannen. »So schmieden wir alle unsere eigenen Pläne«, redete Papa Schwart im Plauderton
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weiter. »Ich suchte schon lange einen Grund, einen Angriff gegen die Freitümmler zu starten. Nur wenn ihnen hin und wieder eine ordentliche Schlacht geboten wird, bleiben meine Untertanen ruhig. Aggression ist ein Teil der Natur der Pholdek.« Warum nur konnte er immer noch hören? Er sah nichts mehr, er konnte nicht mehr sprechen, er bekam keine Luft mehr, sein Blut gerann, sein Körper stand vor Schmerzen in Flammen … aber er war gezwungen, immer noch die süffisante Stimme Papa Schwarts zu hören. »Alles in allem hast du mir einige Probleme vom Hals geschafft. Ich weiß jetzt auch, wer sich im Falle eines Falles gegen mich stellen würde. Das wird einige Leute die Zunge kosten. Ach ja – wo wir gerade davon reden …« Das letzte bisschen Verstand, das Paffloir trotz der Schmerzen geblieben war, wusste, was jetzt geschah. Doch die Dunkelheit um sein Bewusstsein nahm so rasch zu, dass er es nicht spürte. Es war die letzte Gnade, die er in seinem Leben erhielt.
* Das Schloss sprang mit vernehmlichem Klicken auf. Ich bog sofort die Balken auseinander und befreite mich von dem Kragen. Dann erst wandte ich mich an Jamoklias. »Ich weiß, wie wir deine Feinde zurücktreiben können.« Er stieß eine Dampfwolke aus und starrte mich aus seinen schmalen rotgrünen Augen an. »Rede weiter.« Ich reckte mich und lockerte meine seit Tagen geplagte Schultermuskulatur. »Der Anführer der Blauhäutigen ist hier.« Paffloir hatte es indirekt erwähnt, ehe er geflohen war. »Papa Schwart?«, brüllte Jamoklias. »Ich werde ihn suchen und ihm den Kopf von den Schultern reißen!« »Wir brauchen ihn als Geisel!«, widersprach ich. »Wenn wir ihn in unsere Gewalt
bekommen, wird er den Rückzug befehlen.« Jamoklias beugte sich herab, bis sich seine Augen mit meinen in derselben Höhe befanden. Seine langen Stoßzähne ragten bis an meinen Hals. »Widersprich mir nicht, Sklave!« »Aber Herr«, mischte sich Jolo ein und drängte sich zwischen mich und Jamoklias. Er suchte erst den Blick des Anführers, dann fixierte er mich. Seine Miene spiegelte eine Mischung zwischen Herablassung und Bewunderung. »So dumm dieser Atlan normalerweise auch ist, diesmal hat er möglicherweise Recht.« Sofort kam Jamoklias ins Nachdenken – ein weiteres Mal, dass ich Zeuge der eigenartigen Fähigkeit des unscheinbaren Echsenwesens wurde. »Versuch, deinen Plan zu verwirklichen, Sklave!« Ich nickte und ergriff Jolo an der Schulter. »Du kommst mit mir! Ich brauche deine Hilfe. Du kennst Papa Schwart?« »Ja, aber …« »Kein Aber!«, donnerte Jamoklias. »Du tust, was der Sklave dir sagt!« Jolos Widerstand erlosch. Gemeinsam eilten wir los. Als einer der Blauhäutigen uns angreifen wollte, wehrte ich ihn mit einem raschen Schwerthieb ab. Danach trat ich gezielt zu, und er stürzte zu Boden. Wir wurden schneller fündig, als ich erhofft hatte. Jolo deutete auf den großen Baum in der Nähe des Eingangs zur Siedlung. »Er ist es!« Mein Blick folgte der Richtung, in die er wies. Ein kleiner Blauhäutiger beugte sich über einen zuckend am Boden liegenden Artgenossen. »Der Sterbende ist Paffloir«, rief Jolo. »Wie es aussieht, wurde er mit Racure vergiftet.« »Der andere ist Papa Schwart?«, vergewisserte ich mich. Jolo nickte, und ich stürmte auf den Baum zu. Papa Schwart beugte sich gerade über Paffloir und hielt die Hände an dessen Gesicht. Danach erhob er sich, und ich erkann-
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te, dass er ein blutendes Stück Fleisch zwischen den Fingern hielt. »Nun, Paffloir, falls du mich noch hören kannst …« Ich ließ ihn seinen Satz nicht mehr beenden, trat hinter ihn und hielt ihm einen Dolch an die Kehle. Ich brachte meinen Mund ganz nah an seine Ohren. »Du wirst sofort den Rückzug befehlen, oder du stirbst«, flüsterte ich. »Es bleibt dir nicht viel Zeit!«
9. »Du sollst bescheiden sein.« Jamoklias' neuntes (Ursprungsfassung) -
Gebot
Papa Schwart fügte sich sofort. »Ich weiß, wann ich geschlagen bin.« Er drehte vorsichtig den Kopf und sah mich aus den Augenwinkeln an. »Wer bist du?« Jolo antwortete an meiner Stelle. »Er ist der, wegen dem du hier bist.« Papa Schwart sah den Echsenartigen überrascht und befremdet an. »Ich bin wegen dir hier.« »Wegen mir?«, fragte Jolo mit ungewohnt hoher Stimme. »Du bist Jolo?« »In Person.« Er streckte seine einen Meter hohe Gestalt um wenigstens zwei Zentimeter. »Es freut mich, dass mein Ruhm bis zu dir vorgedrungen ist.« »Du tötetest einen meiner Männer. Auch wenn ich es kaum glauben kann, wenn ich dich ansehe.« »Ich? Du täuschst dich. Er war es.« Jolo wies auf mich. Papa Schwart wandte wieder den Kopf, ungeachtet dessen, dass mein Messer seine Haut über dem Kehlkopf ritzte. »Dann frage ich noch einmal: Wer bist du?« »Ich kam durch den Transferschlauch«, gab ich ihm Auskunft. Papa Schwart schwieg einen Augenblick, dann stieß er ein Grollen aus. »Paffloir …«, sagte er nachdenklich. »Nun wird mir einiges klar.«
»Befiehl deinen Männern, dass sie die Kampfhandlungen augenblicklich beenden. Wir versprechen euch freies Geleit.« »Wer bist du, dass du diese Zusage geben kannst?«, donnerte plötzlich die Stimme Jamoklias' neben uns auf. »Ich verspreche euch freies Geleit.« »So sei es«, erwiderte Papa Schwart. Langsam entfernte ich die Klinge von seiner Kehle. An den internen Machtkämpfen der Parzelle Poricium war ich nicht interessiert. Der Abzug der Horden Papa Schwarts vollzog sich innerhalb weniger Minuten. Auf sein Wort hin endeten die blutigen Kämpfe sofort. »Nun darfst auch du gehen«, sagte Jamoklias herablassend zu seinem Feind. »Doch merke dir, was heute geschehen ist, und greif uns nie wieder an!« Papa Schwart schwieg, doch in seinen Augen flackerte ein unruhiges Feuer. Er wandte sich ab und verließ die Siedlung. Ich ahnte, dass die Feindschaft der beiden Gruppen nur noch weiter geschürt worden war, und wandte mich an Jamoklias. »Nachdem das geklärt wäre, solltest du bedenken, dass du den Sieg nur mir zu verdanken hast. Ohne mich hätte es noch zahlreiche weitere Tote unter deinen Männern gegeben.« Der Anführer der Freitümmler schwieg. Im Abstand von wenigen Sekunden stieß er mehrere kleine Dampfwolken aus. »Du hast Recht«, gab er schließlich zu. »Du darfst das Lager ebenfalls verlassen. Du bist frei.« Das beeindruckte mich wenig. »Ich wünsche darüber hinaus angemessene Kleidung. Außerdem verlange ich, dass Jolo mich begleitet.« Sehr klug, kommentierte der Extrasinn. Seine Fähigkeiten können dir noch von Nutzen sein. Solange du ihn unter Kontrolle hast. Jamoklias' Blick wandte sich dem Echsenartigen zu. Er lachte. »Deine Wünsche seien dir gewährt, Atlan.« »Nein!«, begehrte Jolo auf. »Keinesfalls!
48 Ich möchte die Freitümmler nicht verlassen. Hier ist meine Heimat!« »Du wirst bei mir ebenfalls sicher sein«, warf ich ein. »Das ist es doch, worauf es dir ankommt, nicht wahr?« »Ich bleibe hier!«, beharrte Jolo. »Du wirst ihm seinen Wunsch erfüllen und ihn begleiten«, entschied Jamoklias. »Du bist bei uns nicht mehr erwünscht.« »Warum?«, jammerte Jolo. »Es gibt Momente«, sagte Jamoklias, »da bist du mir unheimlich. Auch jetzt hätte ich dir beinahe wieder zugestimmt. Ich brauche nur in dein Gesicht zu sehen …« Die letzten Worte hatte er leise gesprochen, doch jetzt umwölkte ihn wieder eine gewaltige Dampfwolke, und er sagte laut: »Das Urteil ist gefällt. Geht!« Jolo und ich suchten noch einmal die ihm zugeteilte Hütte auf und aßen dort einige Früchte. Ich säuberte meine kleinen Verletzungen. Einer der Freitümmler brachte mir Kleidung, in die ich rasch hineinschlüpfte. Es war eine Wohltat, nicht mehr den groben Sackstoff auf der Haut spüren zu müssen. Den Rest der Nacht schlief ich tief und traumlos, und am nächsten Morgen brachen wir auf. Ich befand mich nun bereits seit fünf Tagen in der Intrawelt, und ich war meinem eigentlichen Ziel noch keinen Schritt näher gekommen. Die Größe der Intrawelt würde es ohne genauere Informationen unmöglich machen, den Flammenstaub zu entdecken. Doch es gab zwei Ansatzpunkte, die unseren weiteren Weg bestimmten. Zum einen den geheimnisvollen Einsiedler Peonu, der sich drei Tagesreisen von hier im Land Karapirum niedergelassen haben sollte; zum anderen die Gondeln der Maulspindler, über die er Näheres wissen sollte und mit deren Hilfe auch größere Entfernungen zurückgelegt werden konnten. Das schien mir dringend nötig, denn ansonsten würden monateoder jahrelange Reisen anstehen. Zeit, die ich nicht hatte, sollte der Flammenstaub draußen erfolgreich gegen die Lordrichter eingesetzt werden.
Christian Montillon »Bevor wir Peonu aufsuchen, gibt es noch etwas zu tun«, sagte ich zu Jolo. »Führe mich an den Ort, an dem ich die Intrawelt betreten habe.« »Zum Ende des Transferschlauches?«, begehrte er auf. »Er liegt mitten im Hoheitsgebiet Papa Schwarts, und …« »Und er ist keine angenehme Person, ja. Wir werden vorsichtig sein. Weder er noch einer der Blauhäutigen werden uns entdecken.« »Was willst du dort?« »Ich werde die Intrawelt für kurze Zeit verlassen, um jemanden zu treffen. Du wirst in der Nähe bleiben und auf mich warten.« Ich musste Kythara darüber in Kenntnis setzen, dass meine Reise länger als geplant dauerte. Ich würde wahrscheinlich noch wochenlang durch die Intrawelt reisen, um den Flammenstaub zu finden. Jolo fügte sich, und wir begannen unseren langen Marsch. Ohne jeden Zwischenfall erreichten wir die kleine Lichtung und den Basaltfelsen, in dem das goldene Loch prangte. Ich wappnete mich für die Rückreise, die wohl von ähnlich intensiven Emotionen geprägt sein würde wie mein Weg hierher. Doch als ich vor den Felsen trat, erlebte ich eine unliebsame Überraschung. Das goldene Irisieren war kaum sichtbar, und das Innere des Schlauches bewegte sich nicht. Ich hielt meine Hand hinein und verspürte nichts. Was das bedeutete, war mir augenblicklich klar. Es gab keinen Rückweg. Ich saß in der Intrawelt fest. Diese Erkenntnis weckte Entschlossenheit in mir. Ich würde mein Schicksal kraft meiner Fähigkeiten meistern. Einen ersten Begleiter hatte ich bereits gefunden. Ich würde auch weitere Informationen erhalten und schließlich den Flammenstaub finden – dann erst galt es, sich über einen Rückweg Gedanken zu machen. »Peonu wartet auf uns«, sagte ich zu Jolo. Er sah mich verzweifelt an, dann liefen wir los, der Parzelle Karapirum entgegen.
Vorstoß in die Intrawelt
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Epilog »Du sollst nur an den Profit denken.« - Jamoklias' zehntes Gebot (neu erdacht) Gerade in Zeiten wie diesen, meine Lieben, ist es wichtig, festen Regeln zu gehorchen. Ich, Jamoklias, habe sie für euch erstellt, und ich dachte über sie nach, und ich sah, dass sie gut sind. Manchmal können sich die Regeln aber auch irren. Wenn dieser Fall eintritt, muss man sie einfach umdrehen.
Außerdem können neue Ereignisse neue Erkenntnisse bringen. So ist es mir gegangen, als ich auf einen Fremden namens Atlan getroffen bin. Ihm verdanke ich die Inspiration für eine neue, zehnte Regel. Dafür sei ihm auf ewig gedankt, wohin immer sein Weg ihn führen wird. - Einleitung zu Jamoklias' zehn Geboten (mündlich überliefert) ENDE
ENDE
Der Seelenhorter von Leo Lukas In dem Moment, als Atlan klar wird, dass eine derzeitige Rückkehr aus der Intrawelt nicht möglich ist, beschließt er, das Schicksal anzunehmen und zu meistern. Einen Begleiter hat er ja bereits gefunden. Mit Jolo hofft er, die weiteren Geheimnisse der Intrawelt zu ergründen und vor allem mehr über den Flammenstaub in Erfahrung zu bringen. Atlan und Jolo bereisen das Grenzland, in dem DER SEELENHORTER beheimatet ist.