Vorstoß zum
Kometen
von Ronald M. Hahn
Nr. 80 Februar 2012 Als Warstein den von einer dicken Schneeschicht bedeckten...
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Vorstoß zum
Kometen
von Ronald M. Hahn
Nr. 80 Februar 2012 Als Warstein den von einer dicken Schneeschicht bedeckten Mercedes Maybach in die Hauptstraße einbie gen ließ, wurde ihm klar, dass in die sem Ort etwas nicht stimmte. Schon die Außenbezirke von Ja kutsk waren ihm merkwürdig leer er schienen. Doch hier, wo sich um diese Zeit das pralle Leben hätte ab spielen müssen, sah es nicht anders aus: Die verschneite Straße war frei von Autos. Er sah Parkplätze ohne Zahl. Die Schaufenster der Geschäfte schauten finster und ohne Licht in die Welt hinaus. Die Straßenlaternen wa ren erloschen, die Ampeln wirkten wie dreiäugig vor sich hin glotzende Wesen. Jakutsk war eine Geister stadt.
WAS BISHER GESCHAH Am 8. Februar 2012 trifft der Komet »Christopher-Floyd« die Erde. Die Folgen sind verheerend. Die Erdachse verschiebt sich, weite Teile Russlands und Chinas werden ausradiert, ein Leichentuch aus Staub legt sich um den Planeten … für Jahrhunderte. Als die Eiszeit endet, hat sich das Antlitz der Erde gewandelt: Muta tionen bevölkern die Landet und die Menschheit ist unter dem Einfluss grüner Kristalle aus dem Kometen auf rätselhafte Weise degeneriert. In dieses Szenario verschlägt es den US-Piloten Matthew Drax, dessen Jet-Staffel beim Kometeneinschlag durch einen Zeitriss ins Jahr 2516 gerät. Beim Absturz wird er von seinen Kameraden getrennt und von Barba ren gerettet, die ihn als Gott »Maddrax« verehren. Zusammen mit der telepathisch begabten Kriegerin Aruula wandert er über eine dunkle, postapokalyptische Erde … Beim Wettlauf zum Kratersee, wo das Geheimnis um die Veränderungen auf der Erde verborgen liegt, haben Matt Drax, Aruula und der Cyborg Aiko, sowie Mr. Black und Miss Hardy von den Running Men Konkurrenz: General Crows Tochter Lynne leitet eine Weltrat-Expedition, begleitet vom irren Professor Dr. Jacob Smythe. Bevor sie das russische Festland betreten, fordert Matthew über die Hydriten, eine im Verborgenen lebende Untersee-Rasse, Unterstützung aus der Londoner Community an, wo sich Matts alter Kamerad Dave McKenzie und der Neo-Barbar Rulfan mit seinem Lupa auf den Weg machen. Geführt werden sie vom Hydriten Quart'ol, der Matthew einst als »Seelenträger« benutzte und ihm seitdem verbunden ist, und dessen Assistenten Mer'ol. Matt & Co. begegnet unterdessen dem russischen Techno Boris, der von einer Kristallfestung berichtet - und von einem Panzer, der dort zurückgelassen wurde. Beide Gruppen haben erste Kontakte mit fliegenden Rochen, die offenbar den Kratersee bewachen. Dann trifft die Expedition auf Jed Stuart, Majela Ncombe und den Barba ren Pieroo, drei Mitglieder des WCA-Trupps, die sich nach einer Revolte abgesetzt haben und sich nun Matt Drax anschließen. Schließlich kommt es zur Begegnung mit Smythe, der sich an seinem Todfeind rächen will. Er hetzt das Volk der Geistmeister auf Matt, doch die Mutanten erkennen die böse Absicht und wenden sich gegen Smythe, der mit seinen Leuten und Majela als Geisel zu den Schwertkriegern flieht. Das hätte er besser nicht getan, denn dieses Volk lebt nach strengen Regeln, für deren Nichtbeachtung es drastische Strafen gibt. Nur Matt und Stuart ist es zu verdanken, dass sie wieder freikommen. Die WCA-Leute und ein gedemütigter Jacob Smythe setzen sich ab, während Matt & Co. am Treffpunkt die Kristallfestung entdecken. Dave, Rulfan und die beiden Hydri ten sind schon dort, ebenso der ARET-Panzer - und ein einzelner Mutant, der sich als Feuerteufel entpuppt. Ro chen tauchen auf und töten ihn. Die Gruppe beschließt hier eine Basis zu errichten …
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Warstein lenkte den Maybach an den Straßenrand und stoppte vor einem drei stöckigen Hotel. Die Leuchtreklame war abgeschaltet. Kyrillische Buchsta ben verkündeten, dass der Laden »Odessa« hieß. Na prima. Nachdem das Brummen des Motors erstorben war, blieb Warstein hinter dem Steuer sitzen und schüttelte sich. Ihm war saukalt. Die Heizung hatte vor zwei Stunden den Geist aufgegeben. Er hatte die Karre, ein Modell von 2004, in War schau gekauft. Sie hatte ihm während der langen Fahrt nach Sibirien treu ge dient, aber jetzt war der Ofen offenbar aus. Warstein freute sich, endlich aus steigen und sich die Beine vertreten zu können. Außerdem sehnte sich nach ei nem ordentlichen Frühstück mit Kaffee, nach einer heißen Dusche und einem Bett, in dem er die nächsten vierund zwanzig Stunden verbringen konnte. Er nahm den kleinen Schweinsleder koffer vom Rücksitz, überprüfte den Sitz seiner Beretta im Schulterholster und stieg aus. Kalter Wind wehte ihm ins Gesicht, als er zum Eingang des Ho tels schritt. Der Schnee knirschte unter seinen Füßen. Er hatte die Tür noch nicht erreicht, als rechts von ihm ein Surren laut wurde. Eine Garagentür, of fenbar fernbedient, glitt in die Höhe. Dann fuhr ein schneefreier BMW über den Bürgersteig auf die stille Straße hinaus. Am Steuer saß ein knochiger Mann mit einem dicken Schnauzbart. Er trug eine Pelzkappe, und auf dem Rück sitz waren mehrere Koffer zu sehen. Der Wagen wirkte auch sonst schwer beladen. Der Schnauzbärtige zwinkerte Warstein zu, dann gab er Gas. Der Wa 4
gen fuhr davon und bog fünfzig Meter weiter links ab. Die Glastür des Odessa war gut ge ölt. Warstein trat ein. Die Empfangs halle war unbeleuchtet, fast finster. Es roch nach Mottenkugeln und Staub. Au ßerdem war der Raum nur spärlich be heizt. Aber ein Mann auf der Flucht konnte nicht wählerisch sein. Warstein seufzte. Die Rezeption war nicht besetzt. Er wurde nicht erwartet. Dies erstaunte ihn, dem er hatte die Re servierung schon vor einer Woche über ein Internet-Cafe in Wiljussk vorge nommen. Warstein stellte den Koffer ab, peilte die Klingel auf ,dem Tresen an und betätigte sie. Klingeling. Nichts rührte sich. Immer cool bleiben, Mann. Warstein lehnte sich mit dem Rücken an den Empfangstresen, schaute in alle Rich tungen und lauschte konzentriert. Ir gendwo, vermutlich in fernen Landen, hörte er jemanden »Ferry Cross the Mersey« singen. Mach dir nichts vor, dachte er. Du bist hier im tiefsten Sibirien, dreitau sendsiebenhundert Kilometer von dei nem Ziel entfernt. Hier am kalten Arsch der Welt gab es keinen Rundfunksen der, der Songs aus dem 20. Jahrhundert spielte. Oder? Erneut betätigte Warstein die Klin gel. Der Erfolg war der gleiche. Kein Schwanz ließ sich blicken. Schließlich packte er den Koffer und warf einen Blick auf die Türen, die von der Emp fangshalle abgingen. Seine Sprach kenntnisse waren für einen Mann seines Standes eigentlich nicht übel, aber die Umsetzung kyrillischer Lettern hatte
ihm schon immer Schwierigkeiten ge macht. Er entzifferte mit Mühe und Not eine Buchstabenkombination, die seiner Meinung nach »Restaurant« bedeutete, und setzte sich in Bewegung. Kurz dar auf fand er sich in einem großen, men schenleeren Raum wieder. Sein Blick schweifte über allerlei Tisch und Stühle. Dann sah er auf der rechten Seite eine lange hölzerne Theke. Dahinter jede Menge blitzblank polierte Spiegel. Sie reflektierten einen stoppelbärtigen, mit telblonden, leicht angegrauten Burschen mit kantigem Gesicht, dessen blaue Au gen den Eindruck erweckten, als hätte er das eine oder andere Buch gelesen. Seine schwarze Lederjacke mit Pelzkra gen war über dem Herzen leicht ausge beult. Ralph Warstein, dachte er. Wie er leibt und hoffentlich noch lange lebt. Warstein schaute sich um. Das Re staurant war verlassen. Das heißt, es war fast verlassen. Am Ende der Theke saß eine flachbrüstige dunkelhaarige Frau mit roten Lippen auf einem Bar hocker. Ihre leicht schräg gestellten Au gen wiesen auf tatarische Abstammung hin. Vor der Frau stand eine angebro chene Wodkaflasche. Daneben ein Glas, zu zwei Dritteln geleert. Sie rauchte eine mörderisch qualmende Zigarette. Auf dem Hocker neben ihr lagen ein Mantel und eine prall gefüllte Handtasche. Sie blätterte in einer Zeitung. »Hallo, gute Frau« , sagte Warstein auf Englisch. »Haben Sie zufällig ein Zimmer frei?« Die Frau hob den Kopf und schaute
ihn an. Ihre Augen waren schwarz. In ihren Pupillen glitzerte der Schalk. Sie nahm Warstein in Augenschein, dann glitt sie von ihrem Hocker. Sie war klein und zierlich. Warstein schätzte sie auf einsfünfundsechzig. Ihr schwarzes Haar war schulterlang; sie hatte eine Frisur wie Prinz Eisenherz. Ihre Taille wirkte zerbrechlich. Ihr grauer Rock war für Sibirien und diese Jahreszeit verdammt kurz und enthüllte zwei von dunklem Nylon verhüllte Knie. Die Ab sätze ihrer Schuhe waren hoch und fast bleistiftdünn. Die Frau wirkte, als sei sie zu einer konservativen Tanzveran staltung unterwegs. »Wollen Sie mich verscheißern?« Ihre englische Grammatik war per fekt, aber ihre Aussprache verriet die Einheimische. Ihre Stimme war so rau und erotisierend, dass sich in Warsteins Hose zum ersten Mal seit Wochen et was tat. Er stellte den Koffer vor der Theke ab und ging auf die Frau zu. Sie war Anfang dreißig. Sie stand mit der Zigarette zwischen den roten Lippen da und begutachtete ihn. Sie war genau der Typ, den er gern näher kennen gelernt hätte. Aber er war müde und auf der Flucht und konnte sich jetzt kein Aben teuer leisten. »Glauben Sie, ich arbeite hier?« »Jetzt nicht mehr.« Warstein löste seinen Blick von ihr und schaute sich um. Neben der Theke stand eine antike Wurlitzer an der Wand. »Ich trink mir nur einen« , sagte die Unbekannte, ohne Warstein aus den Augen zu lassen. »Wer weiß, wann ich wieder dazu komme.« Warstein nickte. Sein Blick wanderte 5
von der Wurlitzer zu der Wodkaflasche auf der Theke und dann wieder zurück. »Wollen Sie auch einen?« »Offen gesagt, ein Frühstück wäre mir lieber.« Warstein ging auf die Wur litzer zu und schaute sich an, welche Scheiben sie enthielt. Die Titel der Plat ten prangten ihm in lateinischer Schrift entgegen. Er stellte fest, dass er sich nicht getäuscht hatte. »Ferry Cross the Mersey« war enthalten. Es versetzte ihm fast einen Schock. Die Kiste war mit allen Songs bestückt, die ihn an seine Jugend erinnerten. Und das ihm tiefsten Sibirien. Wie bizarr! »Mögen Sie alte Musik?« , fragte die Frau. Warstein drehte sich zu ihr um. Dann nickte er, kehrte an die Theke zurück und beäugte die Wodkaflasche. Ihm war noch immer kalt. Er hatte vierundzwan zig Stunden nicht geschlafen. »Frühstück wird's wohl nicht geben« , sagte die Frau. »Es sei denn, Sie ma chen sich selbst was.« Sie deutete zur Straße hinaus. »Der Hotelier ist weg. Sie hätten ihm eigentlich begegnen müssen.« Der Mann mit dem BMW. »Wo ist er hin?« , fragte Warstein und trat hinter die Theke, sodass er der Frau nun ge genüber stand. Er nahm ein leeres Glas, kippte die Wodkaflasche und schenkte sich ein. »Sah nicht so aus als wäre er mal eben weg, um 'ne Besorgung zu machen.« »Er ist abgehauen, wie alle in der Stadt.« Die Frau zupfte sich an der Nase. »Und ich bin auch nicht mehr lange hier. Ich nehm den letzten Zug nach Tiksi.« 6
Tiksi war eine Hafenstadt. Sie lag im Norden, dort wo die Lena in Form eines Deltas in die Laptewsee mündete. Bis dahin waren es - Luftlinie - sechshun dert Kilometer. Warstein trank einen Schluck. Das Gesöff war teuflisch scharf. Er musste sich schütteln. »Gibt's da irgendwas umsonst?« Die Frau lächelte, und zwar ziemlich schräg. »Glaub ich kaum. Ich nehm an, sie wollen erst mal so weit wie möglich aus dem Einschlagsbereich raus.« »Einschlagsbereich?« Warstein zwin kerte. Das russische Feuerwasser wärmte ihn von innen, doch er spürte nun die mörderische Müdigkeit seiner Knochen. »Was soll das heißen?« Die Frau schwang sich wieder auf den Hocker. Sie nahm ihr Glas und kippte einen großen Schluck. Dann deu tete sie auf die Zeitung, die zwischen ihnen auf der Theke lag. Warstein drehte sie zu sich herum, doch die kyril lischen Buchstaben der Schlagzeile ver schwammen vor seinen Augen. Er brauchte eine Weile, bis er das Wort »Komet« erkannte und begriff, dass die schwarzhaarige Unbekannte of fenbar den Brocken meinte, den zwei schottische Hobby-Astronomen vor ein paar Monaten entdeckt hatten. Warstein hatte die Sache nicht verfolgt, da die Randale-Sender und Radaublätter ihm seit seiner Geburt mit abstrusen Mel dungen Angst einzujagen versuchten. Bisher hatte sich jedes angekündigte Ende der Welt als Schauermär entpuppt. Der ganze Kram diente nur zur Aufla gensteigerung und zur Erhöhung der Sehbeteiligung privater Fernsehsender. Außerdem wusste Warstein, dass seit
Anbeginn der Zeiten täglich Hunderte von Gesteinsbrocken aus dem Welt raum zur Erde niederprasselten. Sie ver glühten aufgrund der Reibungshitze der Atmosphäre. Was war an diesem »Christopher-Floyd«-Steinchen so Be sonderes, dass sogar die Bewohner von Jakutsk die Flucht ergriffen? »Sie wissen überhaupt nicht, wovon ich rede, was?« , sagte die Frau. »Sie haben nicht die geringste Ahnung.« Warstein zuckte die Achseln. Wenn er ehrlich war, hatte ihn Käse dieser Art noch nie interessiert. Die Welt war vol ler Sektierer, die sich alle naselang von den Medien vor die Kamera zerren lie ßen und den Untergang der Menschheit prophezeiten. Seit seiner Kindheit hatte er mindestens zehn Weltuntergänge überlebt. Auch dieser würde sich zwei fellos als gigantischer Schwindel ent puppen. Wenn der Steinbrocken wirk lich gefährlich war, würden die Ameri kaner ihn mit ihrer überragenden Tech nik plattmachen. Er hatte mal einen Film mit Bruce Willis gesehen … »Glauben Sie etwa an diesen Scheiß?« Warstein genehmigte sich noch ein Schlückchen. Ihm wurde jetzt richtig heiß, aber er fühlte sich sauwohl dabei. »Glauben Sie wirklich, so 'n Steinchen kann die Menschheit auslö schen?« Ihm war nach Kichern zumute. »Steinchen?« Die Frau schaute ihn an, als sei er nicht ganz bei Trost. »Steinchen?« Sie schlug mit der flachen Hand auf die Zeitung. »Das Steinchen ist so groß, dass der Staub, den es auf wirbelt, wenn es auf Erde fällt, die ganze Welt wie einen Mantel umhüllt.
Die Folge wäre ein nuklearer Winter, der …« »Nuklearer Winter, was?« Warstein schenkte sich nach. Er konnte mit dem Begriff nichts anfangen. Der sibirische Winter genügte ihm schon. »… monate-, wenn nicht jahrelange Finsternis zur Folge hätte. Auf der gan zen Welt würde die Ernte auf den Fel dern erfrieren. Das Vieh wird auf der Weide verrecken.« »Glaub ich nicht« , erwiderte War stein und machte eine abfällige Handbe wegung. »Den Wissenschaftlern wird schon was einfallen, um das Ding zu zerblasen. Ich hab da mal einen Film mit Bruce Willis gesehen …« Die Frau starrte ihn an. »Wo haben Sie in den letzten Wochen gesteckt? Im Urwald?« Sie deutete erneut auf die Zeitung. »Das Ding ist kein Steinchen. Es hat einen Durchmesser von acht Ki lometern. Die Wissenschaftler sagen, es wäre ein Großer Auslöscher. Er wird neunzig Prozent des Lebens auf der Erde vernichten …« Sie schaute War stein an, und ihre Augen blitzten. »Und heute Nacht« , fuhr sie fort und hob er neut ihr Glas an die Lippen, »soll er in der Gegend des Baikalsees einschla gen.« Warstein runzelte die Stirn. »Am Baikalsee? Der ist tausendfünfhundert Kilometer von hier entfernt, meine Liebe.« »Alexandra« , sagte die Frau. »Mein Lieber.« »Ralph Warstein. Angenehm.« War stein deutete eine Verbeugung an. Ah, wie wohlig ihm zumute war. Er hatte nun keinen Hunger mehr. Der Wodka 7
wärmte ihn wunderbar und machte ihn Ja, er war fertig. Die lange Flucht froh wie schon lange nicht mehr.' Als er hatte ihn Kraft und Nerven gekostet. Er sich hinter der Theke aufrichtete, wurde war den Menschen wochenlang ausge sein Blick wie magisch von der Wurlit wichen, hatte sich über die abgelegen zer angezogen. Er vergaß den Kometen, sten Schleichwege voran bewegt. Er trat vor die Theke und baute sich vor hatte allerlei schmutzige Tricks ange der Jukebox auf. Er glaubte nicht, dass wandt, um den Leuten zu entwischen, ein auf die Erde krachender Stein aus die irgendwie von seinen Ausstiegsplä dem All, selbst wenn er acht Kilometer nen erfahren hatten. Klar, sie mussten verhindern, dass er durchmaß, hier etwas bewirken konnte. So ein Quatsch. Na schön, vielleicht sich abseilte. Er wusste einfach zu viel würde die Erde ein wenig beben. Dort, über ihre schweinischen Geschäfte. Es ging nicht nur um getürkte Bilanzen. wo der Einschlag erfolgte, war be Aber wenn die Welt wirklich unterging, stimmt mehr los. Aber hier? Andert halbtausend Kilometer entfernt? Nu wenn all seine Bemühungen für die Katz gewesen waren … Irgendwie be mach mal keine Pferde scheu. Dann entdeckte Warstein den Song, dauerte er es, dass ihn das Schicksal den er hören wollte. Er fischte die nöti ausgerechnet am Arsch der Welt ereilte. gen Kopeken aus der Tasche, steckte sie Die Beretta würde ihm dann auch nichts in den Schlitz und drückte den erforder mehr nützen. Warstein seufzte. Sein Blick fiel auf lichen Knopf. Leise Gitarrenklänge und Alexandra. Es war wirklich bedauerlich, Flötenmusik erfüllten den Raum. Wai ting by the side ofthe road… Er dass er ihr erst jetzt begegnet war. Das lauschte den sentimentalen, ihn immer nächste Lied war »Wake Up Time« . Pianoklänge. Sie gingen ihm durch und wieder ergreifenden Worten, die von ei nem Säufer erzählten, der nach einer durch. Alexandra glitt von ihrem wüsten Kneipenschlägerei auf die Hocker, nahm Warstein das Glas aus der Hand, stellte es auf die Theke und Sonne wartete, um zu der einen zurück zukriechen, deren Blick ihm Rettung schlang die Arme um seine Taille. Ehe er einen klaren Gedanken fassen versprach - wenn er nur an sie glaubte. Oohoohoohoohooh - I keep crawling konnte, wiegten sie sich in dem men schenleeren Restaurant auf der Stelle. back to you … Aber angenommen - nur mal ange Erst jetzt, bei Alexandras unsicheren nommen -, es stimmte doch? Angenom Schritten spürte er, dass sie ebenso an men, die Welt ging wirklich unter? Traf geschickert war wie er, doch irgendwie es dann auch sie und ihn? War es dann fand er es süß, dass sie ausgerechnet bei nicht angesagt, Alaska zu vergessen und »You hang out forever and still miss the den letzten Zug nach Tiksi zu nehmen? dance« die Wange an seine Schulter Warstein seufzte. Sein Hochgefühl legte und die Augen schloss. Der Wodka ließ ihn so leichtfüßig nahm plötzlich ab und er fühlte sich un wie nie durch den Raum schweben, und endlich müde. 8
zog sie an sich. »A Boy finds a girl« , murmelte Warstein, »… to help him to shoulder the pain in this world …« Alexandra schaute zu ihm auf, und in einem Anfall von Sentimentalität küsste er sie. Nur mal eben so. Ganz sanft auf die Lippen. Sie wich ihm nicht aus. Als das Lied zu Ende war, hob War stein Alexandra auf die Arme und trug sie in den ersten Stock, wo er sie in ei nem leeren Zimmer, dessen Tür offen stand, aufs Bett legte. Sie schloss die Augen und schlief auf der Stelle ein. *
1632, wusste Warstein aus einem Reiseführer, war Jakutsk ein Fort am rechten Ufer der Lena gewesen. Zehn Jahre später hatte man es aus ihm unbe kannten Gründen siebzig Kilometer weiter flussaufwärts verlegt: Über Jahr hunderte hinweg war der Ort ein Nest aus bloßen Holzhäusern. Im 19. Jahr hundert hatten die russischen Zaren Ja kutsk genutzt, sich Dissidenten vom Hals zu schaffen. Heute verfügte die Stadt über einen Flusshafen, eine Uni versität und leichte Industrie. Nach der Emigrationswelle, die Sibirien ab 2010 erfasst hatte, war die Einwohnerzahl von 194.000 auf 68.000 gesunken. Doch auch von diesen 68.000 er spähte Warstein keine Seele, als er nach der dringend nötigen Rasur aus dem Fenster des kalten kleinen Badezimmers schaute. Sein müder Blick, der auf die verschneite Straße fiel, erspähte weder Autos noch Menschen. Er hörte nur ein durch Mark und Bein gehendes Pfeifen, wie von einem Zug. Auf der anderen
Seite der Straße warf eine dürre Prome nadenmischung mit lautem Scheppern eine Mülltonne um und stürzte sich auf den Inhalt, der sich auf die Fahrbahn er goss. Der Himmel drohte mit weiterem Schnee. In der Ferne heulte ein Auto motor auf. Ihm folgte das Geräusch von Reifen, die auf einem vereisten Unter grund durchdrehten. Einige Leute schie nen also noch in der Stadt sein. Viel leicht sollte er den Maybach im Auge behalten … Warstein wischte sich die Rasierseife aus dem Gesicht und öffnete die Tür, die ins Zimmer zurück führte. Dabei sah er zweierlei: Alexandra lag nicht mehr auf dem Bett. Dafür schoss ein dicker, gefährlich aussehender Base ballschläger in der gleichen Sekunde frontal auf seinen Schädel zu. Warstein ging instinktiv in die Knie. Seine Hand zuckte zur Beretta im Schulterholster, doch als seine Hand sich um den Griff krallte, explodierte seine Stirn in mörderischem Schmerz. Die kalte Herrlichkeit des Kosmos tat sich vor ihm auf. Als sein Hintern den Boden berührte und sein Steißbein sich schmerzhaft meldete, bekam Warstein das Schießeisen endlich heraus. Doch schon tauchte im Türrahmen des Bade zimmers ein Schatten auf und der Schläger krachte so heftig auf seinen Oberarm, dass die Beretta ihm entfiel. Sie knallte auf den Boden und schlit terte über die schlecht verfugten Flie sen. Warsteins Kopf fuhr hoch. Nun er blickte er die Gestalt, die mit kalter Miene das Sportgerät schwang und schon zum nächsten Hieb ausholte: Alexandra. 9
Warstein stellte sich keine Fragen. Es gehörte zu seinem Berufsbild, die Dinge so zu nehmen, wie sie kamen. Er erkun digte sich nie nach Motiven und Hinter gründen. Der Angreifer war identifiziert und musste so schnell wie möglich aus geschaltet werden. Warstein riss den linken Arm hoch - den rechten würde er irgendwann noch zum Schießen brau chen - und spürte den Aufschlag des harten Holzes. Im gleichen Moment flog sein rechtes Bein hoch. Ein spitzer Schuh traf Alexandra in den Bauch. Sie klappte wie ein Taschenmesser in der Mitte zusammen und stolperte zu rück. Warstein sprang mit dröhnendem Schädel und heftig pulsierendem Arm federnd auf. Schon war sein Bein wie der in Aktion und trat zielgerichtet ge gen den Arm, der den Schläger hielt. Alexandra schrie auf. Der Schläger flog im hohen Bogen durch das Hotel zimmer und zerschmetterte die Glas scheibe eines Kitschgemäldes, das über dem Bett an der Wand hing. Scherben regneten auf die Tagesdecke. Ohne ih nen Beachtung zu schenken, riss War stein beide Arme hoch, denn Alexandra war wie ein Gummiball vom. Boden hochgesprungen und nahm eine ge duckte Position ein, die ahnen ließ, dass sie Karatekenntnisse hatte. Leben oder Tod, dachte Warstein. Mit dem linken Bein nahm er eine Finte vor, auf die sie hereinfiel. Seine rechte Handkante krachte quer über ihr Ge sicht und traf den Raum zwischen ihrer Nasenspitze und ihrer Oberlippe. Alex andra verdrehte die Augen. Dann seufzte sie, fiel nach hinten und landete auf dem Bett. Ihre Beine baumelten zu 10
Boden. Warstein rang heftig nach Atem. Er verharrte drei Sekunden, bis er sicher war, dass sie tatsächlich die Besinnung verloren hatte. Dann eilte er ins Bad zu rück und suchte die verlorene Beretta. Ins Zimmer zurückgekehrt, fingen seine Knie an zu schlottern. Ihm wurde übel. Er musste sich zusammenreißen, um nicht auf den abgelatschten Teppich zu kotzen. Obwohl Alexandra reglos auf dem Bett lag, war Warstein nicht darauf aus, sich noch einmal überraschen zu lassen. Er zog sie nach oben, bis ihre ausge streckten Arme das Messinggestell des Kopfteils berührten, dann zog er die Handschellen aus seiner Lederjacke und fesselte ihren rechten Arm am Ge stänge. Schließlich lief er die Treppe hinunter und ins Restaurant. Ihr Mantel und ihre Handtasche lagen noch auf dem Barhocker, neben dem sie gesessen hatte. Warstein filzte das eine wie das andere. Er fand ein Schießeisen jenes Typs, das für die russische Kripo typisch war, einen amtlich aussehenden Ausweis mit ihrem Foto und - dies war die größte Überraschung - eine Scheck karte der Genfer Bank, bei der auch er ein Konto unterhielt. Es war die Bank, die für seine ehemaligen Auftraggeber Geld wusch. Verdammt, dachte Warstein. Sie ist 'ne Kollegin. Es wunderte ihn eigentlich nicht. Die Organisation war weit ver zweigt und hatte auch Mitarbeiter in den Reihen der schlecht bezahlten russi schen Polizei. Es hätte ihn eher über rascht, wenn der Verein in Jakutsk kei nen Residenten gehabt hätte.
Was sollte er nun tun? Sie umlegen, Gesichtsmuskeln. »Du hast persönliche um seine Spur zu verwischen? Ich bin Motive.« Alexandra schwieg, doch ihre Miene kein Mörder, dachte er. Ich kille nur im besagte, dass er ins Schwarze getroffen Auftrag. Außerdem lege ich nur Men schen um, die ich nicht kenne. Aber ich hatte. Warstein wusste, wie seine alten muss verduften. So schnell wie möglich Herren vorgingen, wenn sie einen Neu ling abrichteten: Der erste Vertrag erle … Er ging wieder hinauf. Als er das digt sich immer am leichtesten, wenn Zimmer betrat, kam Alexandra gerade man den Kandidaten auf jemanden zu sich. Sie stöhnte leise und zerrte an hetzt, von dem er glaubt, er hätte ihm der stählernen Fessel. Ihr Blick traf ihn. ein persönliches Leid angetan. Hat er Er sah blanken Hass und dachte: Viel den Vertrag, von blindem Hass diri leicht arbeitet sie für den Laden, aber giert, zur Zufriedenheit erfüllt, haben sie ist keine aus meiner Branche. Hier die Herren einen in der Hand und rich spielen Gefühle mit, und das darf bei ten einen zur Gefühllosigkeit ab. Lei Typen unserer Art nicht sein. denschaft erhöht nämlich den Blutdruck »Wer bist du?« Warstein blieb am und sorgt für zittrige Hände. Auftrags Fußende des Bettes stehen. »Und was killer hingegen müssen wie Maschihast du gegen mich?« nen'funktionieren. »Krepier, du Sau!« , fauchte Alexan »Ich wette, sie haben dich aufge dra. Ihre Augen sprühten Blitze. »Bring hetzt« , sagte Warstein. »Sie haben dir mich schon um. Lass mich nicht so irgendeine Sauerei zu Ohren gebracht, lange warten.« die ich angeblich begangen habe. Nicht »Ich leg niemanden um, nur weil er wahr?« Alexandra schwieg. Ihr Blick sprach mich verdroschen hat« , erwiderte War Bände. stein. Er steckte Alexandras Dienst »Sie wollen mich erledigen, weil ich waffe ein und warf ihre Handtasche aufs Bett. »Ich würd gern hören, was ausgestiegen bin« , fuhr Warstein fort. man dir über mich erzählt hat.« Damit »Weil ich zu viel weiß. Weil ihnen die ich rauskriege, ob die Lumpen, für die Muffe eins zu achtzig geht. Weil sie ich bisher gearbeitet habe, etwas über glauben, ich könnte mein Wissen ir mein Reiseziel wissen. Denn wenn sie es gendwann versilbern.« Er räusperte kennen, muss ich mir überlegen, ob ich sich. »Ich versteh ja, dass sie das nicht so gern haben. Du kennst den Eid: Un es nicht ändere. »Verreck!« sere Firma verlässt man nur als Lei Warstein setzte sich ans Fußende des che.« Alexandra sagte noch immer nichts. Bettes und achtete sorgfältig darauf, nicht in die Reichweite ihrer Beine zu Warstein betrachtete ihr Gesicht, regi kommen. »Du bist keine von meiner strierte ihre innere Aufgewühltheit. Sie Art« , sagte er. »In dir steckt zu viel bebte am ganzen Körper. Sie hatte Leidenschaft.« Er sah das Zucken ihrer Angst vor dem Tod, aber sie wollte es 11
nicht zeigen. Vielleicht glaubte sie, er würde sie zuerst vergewaltigen und dann auf möglichst bestialische Art ab servieren. Warstein stand auf. »Hör zu, Mäd chen« , sagte er. »Ich dreh keine Dinger mehr. Ich hab mit dieser Scheiße Schluss gemacht. Ich will nur meine Ruhe haben.« Er hielt ihr die Scheck karte unter die Nase. »Wir haben übri gens die gleiche Bankverbindung.« Alexandra zuckte sichtlich schockiert zusammen. »Weiß deine Behörde ei gentlich, mit welchen Ratten du dich eingelassen hast?« Er warf die Karte auf ihren Bauch. »Du … bringst mich nicht um?« Alexandras Augen waren groß und zeigten Erleichterung. »Warum sollte ich?« Warstein trat neben das Bett und zückte den Schlüs sel, um die Handschellen aufzuschlie ßen. »Was bringt es mir, wenn doch die Welt, wie du sagst, in Bälde hinüber ist?« Als er sich zu ihr umwandte, um ihr beim Aufstehen zu helfen, krachte eine Faust gegen sein Nasenbein. Warstein schlug mit dem Schädel ge gen die Heizungsrippen und tauchte ins Nichts ein. *
Februar 2519. Der Morgen dämmerte grau herauf, als sich Captain Lynne Crow, die offizi elle Leiterin der Washingtoner WCAExpedition, über die rechte Platte des Gaskochers beugte, die Kanne mit dem heißen Kafi an sich nahm und eine 12
Blechtasse mit dem schwarzen Gebräu füllte. Gefrühstückt hatte sie schon, deswe gen war sie, sofern man es in einer bar barischen Umgebung wie dieser über haupt sein konnte, satt und zufrieden. Nicht fern von ihrem Lagerplatz er blickte sie Private Andy Bellows. Er wand sich wie eine Schlange im Tarn anzug über die Hügelkuppe und kam, den Driller an der Seite, zu ihr herab. Er war etwas blass um die Nase, was daran lag, dass er in der vergangenen Nacht nicht zum Schlafen gekommen war. Ja cob Smythe, der nicht nur Lynnes Stell vertreter, sondern seit einiger Zeit auch ihr Geliebter war, hatte ihm am Abend zuvor den Befehl erteilt, das Camp ihrer Konkurrenten am Ufer des Kratersees auszuspionieren. Eigentlich hatte Smythe den Auftrag selbst durchführen wollen. Lynne hatte es verhindert. Wenn - wie sie vermutete - ihre Konkurrenz unter dem Kom mando von Mr. Black stand, war es ein zu großes Risiko. Dieser Mann war der Gründer und Leiter der Terrororganisa tion »Running Men« . Lynne hatte vor zehn Jahren ihre eigenen Erfahrungen mit Black gemacht, deswegen wünschte sie ihm den Tod. Jacob Smythe war ihm nicht gewachsen. Als offiziellen Grund für eine nächt liche Aufklärungsmission hatte Smythe die zwei wertvollen ISS-Funkgeräte ins Spiel gebracht, die die Meuterer und Überläufer ihnen gestohlen hatten. So lange sie im Besitz der Geräte waren, würden sie - auf die richtige Frequenz eingestellt - alle geheimen Gespräche mit Washington abhören können.
Natürlich wusste Lynne, dass diese Sorge nur vorgeschoben war: Der wahre Grund für Jacob Smythe, die Konkurrenz auszuspitzeln, war ein Mann namens Matthew Drax. Aus ir gendwelchen Gründen, die in fernster Vergangenheit ihren Ursprung hatten, hasste Smythe ihn, als wäre er der Anti christ persönlich. Leider verlor er, so bald er Drax' ansichtig wurde, jede Zu rechnungsfähigkeit. Deswegen hatte Lynne Bellows mit dieser Aufgabe be traut. Der Private trat vor den Kocher hin und stand stramm. Seine rechte Hand flog an seine Mütze. Allem Anschein nach wollte er ihr lauthals Meldung er statten. Um zu verhindern, dass er Smy the und die drei restlichen Angehörigen ihrer arg geschrumpften Einheit aus dem Schlaf riss, hob Lynne schnell die Hand und sagte: »Hinsetzen. Und Maul halten.« Private Bellows folgte ihrer Anwei sung. Er nahm ihr und dem Gaskocher gegenüber auf einem abgeflachten Fel sen Platz und beäugte die Kaf ikanne mit sehnsüchtigen Blicken. Lynne lä chelte und reichte ihm eine Blechtasse. »Bedienen Sie sich, Bellows. Nur keine falsche Bescheidenheit.« »Danke, Captain.« Obwohl Bellows die ganze Nacht über kein Auge zuge macht hatte, glänzten seine Pupillen in strahlender Wachheit. Lynne schrieb es entweder einer erfolgreichen Mission oder dem Anblick ihrer Kurven zugute auch wenn sie unter dem gefleckten Tarnanzug nicht sonderlich zur Geltung kamen. »Berichten Sie« , sagte sie knapp und
trank einen Schluck. »Aber leise.« »Gewiss, Captain.« Bellows hob den Becher an seine Lippen und genehmige sich ebenfalls einen Schluck. Dann rich teten sich seine braunen Hundeaugen schmachtend auf seine Vorgesetzte und er beugte sich vor. »Mission auftragsge mäß, erfolgreich und ungesehen abge schlossen, Captain.« Er räusperte sich. »Der Feind hat sich am Seeufer in einer Art Festung verschanzt …« »In einer Art Festung?« Lynne schaute den jungen Mann an. »Etwas präziser, wenn ich bitten darf.« Bellows schaute verlegen drein. »Das Bauwerk ist schwer zu beschreiben, Captain. Es besteht aus einer mir nicht bekannten Baumasse - falls man es überhaupt so nennen kann …« Er zog entschuldigend die Schultern hoch. »Sie wirkt kristallin, eisenhart und scheint nicht gemauert zu sein …. Fast als wäre sie gewachsen … Ich weiß nicht, wie ich es beschreiben soll.« Lynne runzelte die Stirn. »Fahren Sie fort.« »Gewiss, Captain.« Bellows atmete tief durch. »Ich habe in der Umgebung der Festung eine ganze Reihe von Men schen beobachtet, die ich beschreiben kann.« Er hüstelte. »Wie Professor Smythe schon vermutet hat, habe ich auch einige der Meuterer dort wiederge sehen … Doc Stuart, Staff Sergeant Ncombe und den verlausten Barbaren, der so spricht, dass es sogar der Wiisau graust.« Lynne zischte bösartig. »Ich wusste es! Sie haben sich dem Pack ange schlossen! - Haben Sie auch Sergeant Laramy gesehen?« , wandte sie sich 13
wieder an Bellows. Der schüttelte den Kopf. »Nein.« Er beschrieb ihr die restlichen Personen, die er in der Umgebung der Kristallfe stung gesehen hatte. Seine Beschreibun gen waren so detailliert, dass Lynne keine Mühe hatte, den Renegaten Drax, seine europäische Barbarenschlampe Aruula und den Erzterroristen Black so fort zu identifizieren. Außerdem hatte Bellows eine junge schwarze Frau mit einem - wie er sich ausdrückte »ziemlich scharfen Hinterteil« sowie einen bezopften, asiatisch wirkenden Burschen erspäht. Zwei oder drei an dere Gestalten hatte er leider nicht iden tifizieren können, denn er war ihrer nur ganz kurz und aus der Ferne ansichtig geworden. Sie sind uns personell also haushoch überlegen, dachte Lynne grimmig. »Noch etwas von Wichtigkeit?« Sie stellte die Blechtasse zwischen ihren Beinen ab. Bellows nickte. Seine Miene verfin sterte sich so sehr, dass Lynne das Schlimmste vermutete. »Die Typen haben einen Panzer« , sagte Bellows. »Es ist ein Fabrikat, das ich noch nie gesehen habe.« Lynne runzelte die Stirn. Dass Blacks Terroristen über einen Panzer verfüg ten, wunderte sie eigentlich nicht, denn zu Fuß war die Bande ja wohl kaum hier angekommen. Zudem wusste sie, dass die Running Men der inzwischen verstorbenen Captain Melanie Cham bers während eines Angriffs in Wa shington einen Prototypen des NixonPanzers entwendet hatten. Was aber hatte sie davon zu halten, 14
dass der von Bellows gesichtete Panzer ein unbekanntes Fabrikat sein sollte? Hatten sich die Running Men mit einer Macht verbündet, die Panzer baute? Mit einer der europäischen Communities vielleicht? Aber wie und wann hätten sie das anstellen sollen? »Auch wenn ich kein Offizier bin und mir ein solches Urteil vielleicht nicht zusteht, Captain«, raunte Private Bellows im Tonfall eines Verschwörers und schaute sich argwöhnisch um, als befürchte er, belauscht zu werden. »Ich sehe einen Abgrund von Landesverrat!« Seine braunen Augen blitzten. »Ich glaube, der Feind hat sich mit den Nachfahren jener Kräfte zusammenge tan, von denen der legendäre Reagan gesagt hat, sie regierten das Reich des Bösen.« Er holte tief Luft. »Mit den Kommies!« Ah ja, das Reich des Bösen. Lynne erinnerte sich an den Politunterricht für Stabsoffizierskinder in der zwölften Klasse. Dieser langweilige Scheiß hatte unter anderem zu ihrer Revolte gegen das System ihrer Eltern beigetragen, so dass sie schließlich aus dem Washington-Bunker an die Oberwelt emigriert war, um das kennenzulernen, was sie für das wahre Leben gehalten hatte. Ihr Vater, schon damals ein hoher Offizier, hatte ihr Black und einen an deren Mann auf den Hals gehetzt, der ulkigerweise White hieß. Black und White hatten sie in der Kaschemme »Zum Einäugigen« mit dem herrlich ungebildeten, aber umso potenteren Dauntless Kid auf der Matratze erwi scht … Bellows leerte seine Tasse und stand
auf. Sein Blick fiel auf den plätschern Der Feind saß in einer ausgebauten Fe den Bach, der nicht fern vom Eingang stung, während sie in einer türlosen der Grotte durch die Landschaft plät Grotte hockten und sich von Trocken scherte, von allerlei Grünzeug und Bir fraß und Vitaminpillen ernährten. Drei ken umsäumt. »Wenn Sie gestatten, ihrer Leute - Stuart, Ncombe und Ser Captain …« , er deutete auf das Gewäs geant Brian Laramy - waren zum Feind ser, »…würde ich mich jetzt gern ein übergelaufen und hatten ihn wahr wenig frisch machen und mich dann scheinlich mit hochbrisanten Informa aufs Ohr hauen.« tionen gespickt. Die Konkurrenz war »Ja, machen Sie das.« Lynne nahm über ihre Lage also genau um Bilde. So ihre Tasse und blickte sinnierend in sie was war kein guter Ausgangspunkt für hinein. Bellows' Worte entbehrten nicht einen Wettbewerb. In Lynnes Schädel kreisten die Ge einer gewissen Logik. Aber auch die Briten konnten ihre Hand in diesem danken. Als sie den Kopf hob, stand Spiel haben, denn sie waren in Europa Private Bellows in all seiner muskulö die am weitesten entwickelte Macht. sen Pracht nackt im Bach und seifte Angenommen, der Panzer war deren sich ein. Zwischen seinen Beinen bau Produkt - was zum Henker hatten die melte etwas, das an eine Treibhaus-SaBriten hier suchen? Vermutlich wusste latgurke erinnerte. Als Lynne sich vor man auch in England von der Existenz beugte, um zu erkunden, ob sie an Hal luzinationen litt, fiel ihr Blick hinter des Kratersees, aber die zeitliche Über einstimmung mit ihrer Expedition wäre dem Gaskocher auf zwei bestiefelte Beine. dann doch ein zu großer Zufall gewe »Ein gut bestückter Knabe« , sagte sen. Es sei denn, Commander Drax, der Jacob Smythe hämisch. »Aber nicht die schon früher mit den Briten zusammen Größe zählt, sondern die Technik.« Lynne schaute auf. gearbeitet hat, steckt dahinter. Lynne biss sich auf die Unterlippe. Professor Dr. Jacob Smythe, der Wenn es Drax tatsächlich gelungen war, nicht müde wurde, jedem Hinz und der Londoner Community Meldung Kunz einzubläuen, dass er »in früheren über seine Reisepläne zu machen … Jahren« Leiter der Astronomie Division wieso sollte es ihnen nicht gelungen der US Air Force gewesen war, Astro sein, ein Kommando in Gang zu setzen, physik unterrichtet und nebenbei noch um ihm und seinen Leuten zu Hilfe zu seinen Doktor der Medizin gemacht kommen? Dann sitzen wir in der hatte, wirkte im Gegensatz zu Private Scheiße, dachte Lynne. Sie waren nur Bellows eigentlich nicht sehr beein noch sechs Mann mit zwei Panzern. Die druckend. Lynne wusste, dass er biolo Munition war nach der Meuterei knapp gisch vierundvierzig Jahre alt war. An geworden. Sie hatten ein Kommando dererseits entstammte er, wie auch der Running Men am Hals, das mögli Commander Drax, dem 21. Jahrhundert. cherweise von Briten unterstützt wurde. Und im Widerspruch zu seinen gerade 15
geäußerten Worten verzog sich sein knochiges Gesicht vor Neid, als der Soldat in den Bach abtauchte, sich die Seife vom Leib spülte und anschließend mit federnden Schritten in der Grotte verschwand, um den versäumten Schlaf nachzuholen. »Du bist doch wohl nicht neidisch, Jacob?« »Pah.« Smythe kniete sich vor den Kocher hin und griff nach der Pfanne. »Habe ich einen Grund dazu? Eine Frau von hohem Intellekt, wie du es bist, fällt doch wohl nicht auf pure Äußerlichkei ten rein.« »Menschen von hohem Intellekt« , erwiderte Lynne spöttisch, obwohl sie sich geschmeichelt fühlte, »sind doch wohl keine Spießer, Jacob, hm?« Sie schaute ihn an. »Oder gar monogam veranlagt?« Smythe wich ihrem Blick aus. Er ignorierte auch die spitze Bemerkung. Stattdessen schüttete er Eipulver in die Pfanne. »Erzähl mir, was Bellows gese hen hat.« Lynne wiederholte den Bericht des jungen Soldaten. Smythe verrührte das Eipulver und spickte es mit kleinen Würfeln aus Synthospeck. Er hörte ihr geduldig zu. Obwohl er keine Zwi schenfragen stellte, kannte Lynne ihn gut genug, um zu wissen, dass schon die Erwähnung des Namens Matthew Drax ausreichte, um mörderische Ra chepläne in seinem Herzen entstehen zu lassen. Aber sie verstand seine Rachsucht. Sie war schließlich nicht anders. Sie war die Tochter eines mächtigen Man nes und hatte - im Rahmen der Mög 16
lichkeiten - immer alles bekommen, was sie sich wünschte. Deswegen hatte sie als Zwanzigjährige auch rebelliert. Sie hatte das Abenteuer abseits vom re glementierten Leben im Bunker ge sucht. Auch sie vergaß niemanden, der ihr je schräg gekommen war. Niemals. Wer ihr ein Bein stellte, konnte sein Te stament machen. Wie zum Beispiel Mr. Black, dem sie ihre Hüftattrappe und den bionischen Arm verdankte. Der verfluchte Schwei nehund hatte auf der Insel Cape Cana veral in einem übelriechenden Schacht ein monströses Untier auf sie losgelas sen. Irgendwann würde er dafür ins Gras beißen. Doch nicht ohne zuvor schreckliche Schmerzen zu erleiden. Lynne musterte kurz ihren künstli chen Arm aus den Werkstätten des An droiden Miki Takeo. Eigentlich wusste sie, dass er von einem normalen nicht zu unterscheiden war. Trotzdem ver barg sie ihre bionischen Finger, die ihr immer irgendwie falsch erschienen, un ter einem Handschuh. Eine nicht lo gisch denkende Abteilung ihres Hirn flüsterte ihr ständig zu, dass sonst jeder es erkennen müsste. Jacob hatte sie sich erst vor kurzem offenbart; sonst wusste keiner ihrer Begleiter etwas davon. Smythe nahm auf dem Stein Platz, wo zuvor Bellows gesessen hatte. Er stocherte mit der Gabel eines Feldbe stecks in seinem Frühstück herum und schaufelte es in sich hinein. Hinter Lynne wurden Geräusche laut. Sie sah auf. Corporal Jackson, Private Blayre und Corporal Maggie Pole verließen in oliv grüner Unterwäsche im Gänsemarsch
die Grotte und trabten zum Bach. Ihre Augen waren verquollen. Sie wirkten alles andere als ausgeschlafen. Kein Wunder bei dem harten Höhlenboden. »Glaubst du, es sind die Briten?« , fragte Lynne. »Ich meine, die Leute mit dem Panzer?« »Ich werde es dir sagen« , erwiderte Smythe kauend, »sobald ich es weiß.« Das Grau des Morgens wich allmäh lich dem Licht. Die Wolken rissen auf. Corporal Jackson spritzte Corporal Maggie Pole nass. Sie erwiderte krei schend seine Attacke und ließ ihr blon des Haar wehen. Im Licht des frühen Morgens sah sie mit ihrer Mähne ir gendwie vulgär aus. *
Trotz des Winters war der Himmel über dem Lena-Becken auch in den Abendstunden noch klar. Von Wind war kaum zu reden. Vor fünfhundert Jahren war es hier im Februar nur selten wärmer als 30 Grad unter Null gewor den. Doch nach dem Einschlag des Ko meten »Christopher-Floyd« , den der Barbarenmob aufgrund mangelnder Ar tikulationsfähigkeit »Kristofluu« nannte, hatte sich gerade in diesem Teil der Welt klimatisch vieles verändert. Das Wasser des Kratersees war das ganze Jahr über lauwarm, als würde es künstlich erhitzt. Dementsprechend herrschte an seinen Ufern ein warmes Klima, das durch die ringförmig aufge türmten Gebirgsmassive konstant blieb. Jenseits der Berge herrschte bitterer Frost, aber diesseits brauchte man kaum mehr als eine Badehose als Bekleidung.
Diese klimatische Besonderheit hatte wohl auch die Jahrhunderte lange Eis zeit erträglich gemacht und dafür ge sorgt, dass sich hier lange vor allen an deren Gegenden Mutationen entwickeln konnten. Mutationen, an denen die grü nen Kristalle aus den Kometen maßgeb lich beteiligt waren. Aber entstanden sie zufällig … oder wurden sie bewusst in itiiert? »Nur eines der Rätsel, die ich lösen werde« , murmelte Jacob Smythe vor sich hin, als er in der halbdunklen Grotte vor den beiden Tauchpanzern stand und die Schussanzeige seines Drillers prüfte. Die Waffentechnik dieser Zeit übte große Faszination auf den Mann aus der Vergangenheit aus. Wie er Lynne ge standen hatte, war er damals von den »hirnlosen Kommissköpfen der USMarine« als »für den Militärdienst un tauglich« eingestuft worden. Später hatte Smythe es immerhin zur Luft waffe geschafft, wenn auch nur über seine wissenschaftliche Kompetenz und seinen Job als Berater des USPräsidenten. In diesen Sphären war es fast unabdingbar, zum Militär zu gehö ren, schon der Geheimhaltung wegen. Smythe steckte den Driller ein und erfasste mit herrischem Blick den nun völlig ausgeschlafenen und in Grund stellung neben den drei anderen Solda ten stehenden Private Bellows. »Die Aufgabenstellung ist Ihnen bekannt?« »Yes, Sir!« , schnarrte Bellows. »Erneutes Ausspähen der feindlichen Festung. Wenn möglich, unbemerktes Eindringen und Rückeroberung der von Dr. Stuart entwendeten Funkgeräte!« 17
»Richtig, Bellows.« Smythe nickte Lynne zu. Die wandte sich an die drei anderen WCA-Agenten, die dem Spektakel mit großen Augen folgten. »Corporal Jack son?« »Captain?« Jackson knallte die Hacken zusammen. »Sie übernehmen während unserer Abwesenheit das Kommando und hal ten die Stellung. Sind wir um acht Uhr Ortszeit nicht zurück, folgen Sie uns und klären unseren Verbleib. Sollten wir dem Feind in die Hände gefallen oder gar getötet worden sein, kehren Sie zu Ihren Kameraden zurück, beladen einen Panzer mit sämtlicher vorhande ner Munition und bringen dem Feind so viele Verluste wie nur möglich bei.« »Verstanden, Captain.« Lynne räusperte sich. »Anschließend erstatten Sie über das verbliebene Funk gerät Bericht an meinen Vater. Wenn Sie von ihm keine gegenteilige Befehle erhalten, schlagen Sie sich nach Kam tschatka durch, versorgen sich beim dortigen ›Meister der Erde‹ und kehren nach Washington zurück.« Corporal Jackson erbleichte. Lynne wusste, dass er weder Tod noch Teufel fürchtete, aber General Arthur Crow die Meldung zu überbringen, dass seine Tochter ins Gras gebissen hatte, ließ das Blut aus seinem Gesicht weichen. Warum Captain Crow nicht schon zuvor Washington über ihr Vorhaben informierte, lag auf der Hand: Mit den beiden gestohlenen Geräten könnte der Feind die Meldung abhören und wäre gewarnt. »Natürlich ist es wenig wahrschein 18
lich, dass wir in die Hand des Feindes geraten« , relativierte Smythe. »Captain Crow möchte nur, dass Sie auf alle Eventualitäten vorbereitet sind, Jack son.« Corporal Jackson salutierte. »Natürlich, Sir.« Ob er Smythes Zuver sicht teilte, blieb unklar. Der Professor nickte Lynne zu. Lynne nickte Bellows zu. »Abmarsch.« Bellows setzte sich in Bewegung. Lynne folgte ihm. Smythe stiefelte hin ter ihr her. Wieder hatte Lynne Crow das Ge fühl, dass eigentlich er die Befehle gab, dass er sie nur brauchte, um selbige zu sanktionieren. Aber sie verdrängte den Gedanken rasch. Natürlich hatte sie das Kommando; bestenfalls erlaubte sie Ja cob einen gleichberechtigten Status. Als sie die Grotte verließen und ins Freie traten, wehte ein leiser Wind. Der Himmel war fast dunkel und zeigte die ersten Sterne. Ein letzter Blick zurück zeigte Lynne die Gesichter von Jackson, Pole und Blayre. Auch Blayre war irgendwann mal Corporal gewesen, aber er hatte sich, weil er lieber Befehle ausführte als zu geben, degradieren lassen. Ein devo ter Schwachkopf. Aber es musste auch Soldaten seiner Art geben. Je mehr, de sto besser. Eine Schlacht war schließ lich kein Blumenkorso. Wer wusste, welcher Platz ihm gebührte, litt auch nicht an irgendwelchen Zweifeln. Nach Bellows' Erkenntnissen hatte sie Jacob nicht mehr verbieten können, gegen die Kristallfestung zu ziehen. Sie befanden sich in einer verzweifelten
Lage. Der Feind war ihnen nicht nur zahlenmäßig überlegen, sondern ver fügte nun auch über Alliierte. Eigene Verbündete gab es zwar am östlichen Ende des Kratersees, auf der Halbinsel Kamtschtka, aber schon der Erstkontakt zu ihnen war vor Wochen fehlgeschlagen. Lynne hatte nach dem Überqueren der Beringstraße eine gene tisch programmierte Libelle mit der Bitte um Unterstützung losgeschickt. Diese primitive Art der Nachrichten übermittlung war nötig, da Kamtschatka noch nicht über ISS-Funkgeräte ver fügte. Doch die Truppen mit der Ausrü stung waren nie am vorgegebenen Treffpunkt angelangt. Mochte der Teu fel wissen, was da schiefgelaufen war. Vielleicht existierte der Stützpunkt mongolischer WCA-Hilfstruppen, der sogenannten Ostmänner, gar nicht mehr. Der »Meister der Insel« hielt den Kontakt zur Heimat wegen der großen Entfernung nur zwei Mal im Jahr mit tels eines barbarischen Boten aufrecht. Private Bellows huschte geschmeidig wie eine Wildkatze einen moosbewach senen Hügel hinauf. Dann bewegten sie sich im glitzernden Licht der Sterne durch einen erdigen Graben in Richtung Süden. Smythe, dicht hinter Bellows, trug ein aufgerolltes Seil mit einem En terhaken über der Schulter. Gelegent lich richtete sich sein Blick zum Him mel. Befürchte er einen Angriff? Lynne hielt das Misstrauen ihres Ge fährten durchaus für begründet. Vor nicht allzu langer Zeit war ein Schwarm fliegender Geschöpfe aufgetaucht, die an Eochen erinnerten. Dass mit den
seltsamen Kreaturen irgendetwas nicht stimmte, war auch ihr aufgefallen: Sie hatten sich wie stille Beobachter verhal ten. Es lief Lynne kalt über den Rücken, wenn sie sich vorstellte, dass die Biester gar keine Tiere waren, sondern fernge steuerte Spionaugen. Von wem auch immer gelenkt. Nach dem Graben kamen sie in hüge liges Felsgelände. Diesem folgte ein Gehölz, in dem es knisterte und knackte. Bellows hatte sich den Weg gut eingeprägt; er führte sie, als sei er in diesen Breitengraden aufgewachsen. Nach einer Stunde konnte Lynne die Wasser des Kratersees gegen das Ufer rauschen hören. Eine laue Brise wehte ihnen entgegen. Der Himmel war noch immer klar, und als sie nach oben schaute, fiel ihr Blick auf tausend Sterne. Minuten später endete das Waldge biet. Das Rauschen wurde lauter. Vor ihnen ragte ein steiniger Hügel auf. Er war hier und da mit Gras und Dornen büschen bewachsen. Private Bellows blieb stehen. »Vom Hügelkamm aus kann man die Festung gut sehen« , raunte er. Smythe ignorierte ihn. Die rechte Hand auf dem Knauf seines Drillers, die linke auf dem vor seiner Brust baumeln den Feldstecher, trabte er an ihnen vor bei. Lynne gab Bellows ein Zeichen, ihm zu folgen. Sie überquerten eine grasige, etwa fünfzig Meter breite Fläche und nahmen den Hügel in Angriff. Als die Hälfte der Strecke hinter ihnen lag, war Smythe schon oben angekommen. Er lag zwischen zwei sich im Wind wie 19
genden Büschen auf dem Bauch und spähte durch sein Fernglas. Lynne sank neben ihm zu Boden. Vor ihr fiel der Hügel in ein langes, schmales, stark bewaldetes und von zahlreichen Findlingen bedecktes Tal ab. Etwa zweihundert Meter weiter stieg es wieder an und endete auf dem Kamm eines anderen Hügels, der aber viel niedriger war als der, auf dem sie lagen. Dahinter erspähte Lynne den Kratersee, etwa einen Kilometer von ih rem gegenwärtigen Standort entfernt. Im Sternenlicht wirkte das Gewässer wie eine bis an den Horizont reichende schwarze Fläche. Auf halber Strecke stand die Festung. Lynne sog unwillkürlich die Luft scharf ein. Der Anblick war in der Tat atemberaubend, sogar bei Nacht. Ein grünliches Schillern, durch das Mond licht hervorgerufen, lenkte den Blick unwillkürlich auf das monströse Ge bilde, das sich wie ein bizarr gedrehter und geborstener Stalagmit in den Him mel schraubte. Lynne brauchte eine Weile, um den Anblick zu verdauen und ihren eigenen Feldstecher an die Augen zu führen. Das Äußere der Kristallfestung ent sprach Bellows' Schilderung. Das spitz zulaufende Bauwerk war in seinen Di mensionen riesenhaft und sah tatsäch lich so aus, als sei es gewachsen. Hier und da sah sie etwas, das an Fenster höhlen erinnerte. Waren sie vergittert? Sie justierte die Schärfe und konzen trierte sich. Hm. Nein, keine Gitter. Auch die Streben wirkten wie gewach sen. »Schau dir das an« , zischte Jacob ne 20
ben ihr. »Da, vor dem Eingang!« Lynnes Blick wanderte an der Fe stung nach unten, bis sie mehrere Ge stalten sah, die gerade im Begriff wa ren, mit Hilfe eines primitiven Fla schenzugs und eines Fahrzeugs ein höl zernes Portal vor den Eingang der Fe stung zu hieven. Black und seine Leute hatten eindeutig vor, sich hier einzu richten. Lynne glaubte plötzlich ein leises Rauschen zu vernehmen, das nicht nach Brandung klang. Sie ließ den Feldste cher sinken. Bellows hockte an ihrer linken Seite. Er reckte den Hals und lauschte angestrengt in die Nacht hin ein. »Was ist, Bellows?« , fragte Lynne leise. Der Private schreckte aus seiner Kon zentration auf. »Ich dachte, ich hätte was gehört.« Er schüttelte den Kopf. »War wohl nur Einbildung.« Er deutete zur Festung hinab. »Was halten Sie da von?« Bellows hat es also auch gehört. Lynne konzentrierte sich, aber das ei gentümliche Rauschen war verstummt. Oder die Wellen übertönten es. »Ich glaub nicht, dass wir 'ne Chance haben, in die Festung reinzukommen« , raunte Bellows. »Das lass mal meine Sorge sein« , knurrte Smythe. Auch er ließ nun sein Fernglas sinken. »Ich schlage vor, wir sehen uns dieses Ding mal aus der Nähe an.« Als Lynne an die Echsenwesen dachte, von denen sie gehetzt worden waren, und an die Mönchswesen, die von einem Moment auf den anderen be
gonnen hatten, ihre Leute abzuschlach ten, hielt sie nicht viel von der Idee. Wer wusste schon, ob sich nicht weitere Mutanten dort unten in der Festung auf hielten. Schließlich war es ihr Reich. Sie hatte den beschämenden Auszug aus der Stadt der Schwertkrieger noch vor Augen; als die tödlichen Zwei kämpfe so schnell beendet worden wa ren, wie sie begonnen hatten, als man Majela Ncombe von ihnen getrennt und sie dann mitsamt der Panzer fortge schickt hatte. Commander Drax und Jed Stuart hatten am Stadttor gestanden und sich offenbar bestens mit den Mutanten verstanden. Es hatte Jacob einige schlaflose Nächte gekostet, die Schmach des Of fensichtlichen zu überwinden: Drax und seine Konsorten hatten Verhandlungen mit den Schwertkämpfern geführt und nicht nur Stuarts Flittchen Majela geret tet, sondern sie gleich mit dazu. »Was meinen Sie, Captain?« Lynne zuckte zusammen. Ja, was meinte sie? Sie hielt nicht viel von Ja cobs Vorhaben. Sah er nicht die Gefah ren, die ihnen drohten? Hielt er sich für unverwundbar? Seine Rechnung ent hielt einfach zu viele Unbekannte. Aber sie wusste, dass sie nicht gegen seine Entscheidung ankommen würde. Dort unten war Matthew Drax, der Mann, dessen Tod er beschlossen hatte, und nichts und niemand würde ihn da von abbringen. »Na schön« , sagte Lynne. »Einverstanden.« »Wunderbar.« Smythe stand auf und rieb sich die Hände. Das Rauschen war plötzlich wieder da!
Als Lynne begriff, dass es nicht vom See her kam, sondern aus der Luft, ruckte ihr Kopf hoch. Smythe und Bel lows hörten es im gleichen Augenblick. Im nächsten spritzen sie mit einem kollektiven Fluch auseinander. Über ih nen schwebte ein Dutzend Rochen! Große schwarze Augen an der Unter seite ihrer weißen Leiber starrten auf sie herab. Smythe zückte seinen Driller. »Nicht schießen« , rief Lynne ge dämpft. »Sie beobachten -« Weiter kam sie nicht. In der Dunkelheit hatte sie nicht se hen können, wohin sie gehechtet war. Als sie fühlte, dass unter ihr der Hügel kamm scharf abfiel, war es zu spät. Der Schwung trug sie über die Kante hin aus. Bevor sie einen klaren Gedanken fassen konnte, rutschte sie auch schon auf der anderen Seite nach unten. Der Hang war steiler als angenom men. Lynne versuchte noch, sich ir gendwo festzuklammern, fand aber kei nen Halt. Schon verschwanden Bellows und Smythe aus ihrem Blickfeld. Offen bar waren die beiden klug genug, nicht zu schießen. Die Explosivgeschosse der Driller hätte man meilenweit hören kön nen. Nicht, dass Lynne das im Augenblick half! Mit dem Gepolter loser Steine rollte sie in die Tiefe. In Panik streckte sie die Arme aus. Die bionische Hand empfand nichts, doch die organische schrammte über steinigen Boden und ließ Lynne vor Schmerzen aufschreien. Sie riss beide Arme schützend an den Körper. Im Mondlicht tauchten zwei manns 21
hohe Findlinge vor ihr auf - wie ge schaffen, um einen mit hoher Ge schwindigkeit auf sie zurasenden Schä del zu Brei zu schlagen. Gott … Lynne presste verzweifelt die Hände vors Gesicht. Gleich würde sie aufschlagen. Ich werde sterben …! Da wurde sie unerwartet abgebremst. Irgendetwas Nachgiebiges lag plötz lich im Weg, gegen das sie mit Wucht prallte und das ihr die Luft aus den Lun gen trieb, sie aber wenigstens vor den Felsen bewahrte. Abrupt kam sie zum Halten und schnappte nach Atem. Als sie die Augen öffnete, fiel ihr Blick auf zwei schmutzige Stiefel. Ein Fabrikat, das sie kannte. Nein, dachte Lynne nur. Nicht das … bitte! Doch als sie den Kopf hob, bestätigte sich ihre schlimmste Ahnung. Sie schaute geradewegs in das kantige Ge sicht eines Mannes, den sie schon in jungen Jahren zu fürchten gelernt hatte. Er hielt ein Lasergewehr in der Hand, und die Mündung war genau auf ihre Stirn gerichtet. Trotzdem griff sie nach ihrer Waffe. Aber sie hatte sie verloren. »Irgendwie« , sagte Black leise, »habe ich immer gewusst, dass wir uns eines Tages Wiedersehen, Miss Crow.« Er schüttelte den Kopf. »Dass unsere Begegnung auf der anderen Seite der Erdkugel stattfindet, hätte ich mir aber wahrlich nicht träumen lassen.« *
Angesichts des Lasergewehrs zog Lynne Crow es vor, auf dem Bauch lie gen zu bleiben. Jacob und Bellows hiel 22
ten bestimmt nach ihr Ausschau, und wenn sie den blonden Hünen zwischen den Findlingen sahen, würden sie ihn aufs Korn nehmen. Sie musste nur Zeit gewinnen. Offenbar hatte Black den gleichen Gedanken, dehn seine linke Hand schoss vor, packte Lynne am Kragen und schleifte sie hinter einen der beiden Felsen. »Wir wollen doch nicht, dass Ihre Knechte im Dunkeln versehentlich Sie treffen …« Lynne schluckte. Sie wagte keinen Finger zu rühren. »Mr. Black, ich …« Sie setzte neu an: »Ich verstehe ja, dass Sie nicht gut auf mich zu sprechen sind …« »Nicht gut zu sprechen?« , unter brach Black sie. »Das ist …« Jetzt fehl ten ihm die Worte. »Miss Crow, Sie sind sich doch bewusst, dass Sie mein Leben versaut und meinen besten Freund auf dem Gewissen haben?« »Ich …« »Aber eigentlich muss ich Ihnen ja dankbar sein« , fuhr er fort. »Ihre Lügen haben mich zwar geächtet und in die Rebellion getrieben, aber nur so konnte ich letztlich erkennen, wie skrupellos der Weltrat denkt und handelt.« O ja, Lynne Crow erinnerte sich gut. Als Black und White und sie damals auf Befehl ihres Vaters zurückgeholt hatten, warf sie Ihnen vor, sie brutal vergewal tigt zu haben. Den beiden gelang die Flucht. Dies war die Geburtsstunde der Running Men gewesen, und wenn sich Lynne Crow auch bis heute weigerte, es einzugestehen: An dem langen und blu tigen Guerillakrieg in Washington trug allein sie die Schuld.
»Ich … ich entschuldige mich dafür« strophe. »Ich verabscheue meine Tat von da , hörte sie sich jetzt zuckersüß und kleinmädchenhaft flöten. Ah, wie reuig mals« , hauchte sie. »Ich kann Ihnen gar sie klang! Sie glaubte ihren Worten fast nicht sagen, wie sehr ich mich schäme. Gäbe es einen Weg, es ungeschehen zu selbst. »Ich war ein unreifes, verzoge machen, ich würde ihn gehen.« Und sie nes, nur auf den eigenen Vorteil be dachte: Wo bleibst du, Jacob? Hast du dachtes Kind.« Black lachte leise. »Soll das heißen, nicht gesehen, wohin ich gerutscht bin? Sie denken heute anders?« Seine Lip Schleich dich endlich ran und leg die pen wurden zu einem schmalen Strich. sen Muskelprotz um, bevor ich noch an »Lautet Ihre Parole nicht mehr: Wenn fange, mich vor seinen Augen selbst zu jeder an sich selbst denkt, ist an alle ge geißeln. Sie schöpfte Hoffnung aus der Tatsa dacht?« Jacob, tu was, dachte Lynne. Der che, dass er sie nicht auf der Stelle mit Typ hasst mich. Er wird mich umlegen. seiner Laserwaffe grillte. Offenbar Und wenn er mich nicht umlegt, siegte die Vernunft über seine Wut. Umso besser. Lynne stützte sich auf schleppt er mich in die Festung und fol ihre Ellbogen und schaute Black an. Sie tert mich so lange, bis ich alle Geheim musste seine Nachdenklichkeit nutzen, nisse des Pentagons verraten habe … »Auch verzogene Gören lernen um eine neue Intrige zu spinnen. Da Ja hinzu« , sagte sie und hob zaghaft den cob Smythes Eingreifen auf sich warten Kopf. Ihr Blick suchte Blacks Augen, ließ, räusperte sie sich. »Sie können natürlich nicht wissen, denn sie wusste um die Wirkung ihres Charmes. Am meisten verwünschte sie, warum ich zu Commander Drax und Ih dass ihre Kurven in dem Tarnanzug nen unterwegs war« , sagte sie, während ihr Hirn noch fieberhaft nach den näch nicht zur Geltung kamen. Aber viel leicht war er mit schönen Worten viel sten Worten suchte. Black verzog keine Miene, doch eher einzuwickeln. Sie traute ihm nicht zu, dass er auf schnöde weibliche Reize seine Augen kündeten von Interesse. »Fahren Sie fort« , sagte er. »Aber blei ansprach. Black war kein Dummkopf. Sie ben Sie flach auf dem Bauch liegen.« Lynne sank wieder zu Boden. Wenn kannte seine Akte auswendig. Seine äu ßerliche Steifheit besagte nicht, dass er sie ihm weismachen konnte, dass sie ein bornierter Paragraphenreiter war. Er sich von Smythe getrennt hatte, kam sie ließ nur niemanden an sich heran. Kein vielleicht in die Höhle des Löwen. Aber sie musste vorsichtig sein! Wunder, war er doch als Klon unter Wissenschaftlern auf gewachsen. Black Menschen wie Black und Drax verach teten Verräter. Es kam auf eine ge hatte nie eine Familie, nie Freunde ge habt. Nicht mal leibliche Eltern. Sein schickte, glaubwürdige Argumentation »Vater« war eine Genprobe des letzten an. Warum könnte sie Jacob verlassen US-Präsidenten vor der Großen Kata 23
haben?… Weil sie ihre Leute nicht nenfutter eines Irren enden, dessen mehr unter Kontrolle hatte! Weil ihre blinde Rachsucht nur in einer Katastro Truppe unter der Knute eines Irren phe enden kann.« Black nickte. Dann tat er etwas, das stand, der sie fanatisierte und die Kon kurrenz mit Stumpf und Stiel ausrotten er in Lynnes Gegenwart noch nie getan hatte: Er grinste. wollte, egal wie hoch der Preis war. »Ich bitte um Asyl, Mr. Black« , be Hatte er sie etwa durchschaut? In der gleichen Sekunde polterte ein gann sie. »Ich bin längst nicht mehr Herr über meine Truppen …« Und dann Stein den Hang hinab. Er wurde von ei leierte sie herunter, was ihr spontan in nem leisen Fluch begleitet, als hätte je mand unbeabsichtigt etwas losgetreten. den Sinn kam: Dass Professor Dr. Smy Blacks Lasergewehr fuhr wie ein the sie in einem Putsch ihres Komman dos enthoben und ihre Leute mit wüsten Blitz in die Höhe, dann krachte es auch schon auf dem Hügelkamm und Private Versprechungen auf seine Seite gezo gen hätte, nur um mit allen Kräften Bellows brüllte: »Deckung, Captain!« Der Findling, hinter dem sich Black Commander Drax' Grab zu schaufeln, und seine Gefangene aufhielten, den er abgrundtief hasste. »So wie er sich in den letzten Tagen spuckte Steinsplitter. Der Rebellenchef aufgeführt hat« , sagte sie, »scheint er sprang mit einem weiten Satz hinter den vollkommen wahnsinnig geworden zu zweiten Fels und brachte seine langläu sein.« Sie atmete tief ein. »Offen ge fige Laserwaffe in Anschlag. Lynne warf sich zur Seite, ließ die sagt, ich fürchte um mein Leben, Mr. Black. Deswegen bin ich hier.« Sie steinerne Deckung hinter sich, rollte wagte erneut, den Kopf zu heben, um übers Gras, sprang einige Metern weiter flink wie eine Katze auf die Beine und zu sehen, wie ihre Worte auf ihn wirk ten. »Ich kann Ihnen sicherlich von suchte sich ein Versteck, in dem sie es Nutzen sein. Und ich bin mir sicher, aushalten konnte, bis Bellows und Smy dass mein Vater, wenn Sie mich mit the den Hünen erledigt oder zumindest in die Flucht geschlagen hatten. ihm sprechen lassen, im Gegenzug be Zum Glück wimmelte es in dem reit ist, Ihre Leuten in Washington bis schmalen Tal von Steinen, hinter denen zu meiner sicheren Rückkehr zu scho nen.« Lynne drückte ihr Gesicht wieder man Deckung fand. Als Lynne den vier ins Gras, damit Black ihr Grinsen nicht ten hinter sich gebracht hatte und auf sehen konnte. Wie kann er jetzt noch den fünften zu hastete, krachte sie mit Smythe zusammen, der wie ein Kasten nein sagen, geschweige denn mich tö teufel hinter ihrem anvisierten Ziel her ten? »Hm« , machte Black nachdenklich. vorsprang. Lynnes Stirn knallte gegen »Ihr Angebot erscheint mir in der Tat seine Nase. Beide schrien auf und stürz überdenkenswert …« ten zu Boden. Lynne frohlockte. »Ich muss weg von Bellows ballerte weiter vom Hügel diesem Smythe. Ich will nicht als Kano kamm nach unten. Als Lynne den Kopf 24
hob, flogen ihr Querschläger und Fels splitter um die Ohren. Smythe lag flach auf dem Rücken, ruderte mit der Hand, die den Driller hielt, und presste die an dere auf seine Nase, aus der das Blut spritzte. Da er mehr oder weniger kampfunfä hig wirkte, fiel es Lynne leicht, ihm die Waffe zu entreißen, sich dem Standort Blacks zuzuwenden und ihn unter Be schuss zu nehmen. Erstaunlicherweise erwiderte der Hüne das Feuer nicht. Während Smythe sich im Gras wälzte, robbte Lynne an den Findlingen entlang zurück - doch nur um zu sehen, dass die Stelle, an der Black noch kurz zuvor ge wesen war, mit seiner Abwesenheit glänzte. Lynne schaute sich fassungslos um. Wo war der Hund? Wo hatte er sich verkrochen? »Wo ist er, Captain?« , schrie Bel lows auf dem Hügelkamm. »Ich seh ihn nicht mehr!« Lynne ließ den Driller sinken, dann kehrte sie zu Smythe zurück. Als sie sich über ihn beugte, blitzten seine großen Augen sie voller Wut an. »Hab dich nicht so, Jacob« , sagte sie. »Wir sind im Krieg. Da kommt so was schon mal vor.« Sie half ihm auf die Beine, und er saute das Oberteil ihres Tarnanzugs mit seinem Blut ein. »Alarm!« , brüllte nun Private Bellows. »Panzer im An marsch!« Smythe riss sich von Lynne los und schaute zum Hügelkamm hinauf. Der Blick, den er Bellows schenkte, verkün dete Mord und Tod. Dann setzte er sich eilig in Bewegung und kletterte schnur
stracks den Hang hinauf. Lynne folgte ihm - mit einem äußerst mulmigen Gefühl in der Magengrube. *
Februar 2012. Noch nie in meinem Leben, dachte Warstein, von dicken Schneeflocken umwirbelt auf dem Bahnhof von Ja kutsk, bin ich so gedemütigt worden. Er schnaubte verhalten vor sich hin. Am wenigsten schmerzten ihn die Blicke der Menschen, wenn sie die Handschellen sahen, mit denen Alexan dra ihm die Arme auf den Rücken ge bunden hatte: Die Schmerzen in seinem Kopf machten ihn verrückt. Sie waren unerträglich. Außerdem zitterten seine Knie. Er kam sich vor wie ein Schwäch ling. Aber natürlich war sein Erschöp fungszustand daran schuld. Nach seinem Erwachen hatte Alexan dra ihn in den Maybach gezwungen und seine Beretta vor dem Odessa in einem Gully versenkt. Nun stand er gefesselt und mit dröhnendem Schädel auf dem windigen Bahnsteig von Jakutsk. Ein zweites Handschellenpaar band ihn an ein Eisengitter. Alexandra stand vor dem Zug und parlierte mit dem pferdegesichtigen Zugführer, der eine wundersame starre preußische Haltung an den Tag - bezie hungsweise den frühen Abend - legte. Hin und wieder musterte er mit starrer Miene ihren in der Kälte stehenden Ge fangenen. Zweifellos wies Alexandra auf seine Gefährlichkeit hin. Die Passagiere des letzten Zuges, der die Stadt in wenigen Minuten in Rich 25
tung Tiksi verlassen würde, drückten sich die Nasen an den Waggonfenstern platt und begafften den bösartigen Ma fioso, der sich in diesem Moment wie ein Häufchen Elend fühlte. Seine Nase war geschwollen, vielleicht sogar ge brochen. Außerdem schillerte sie in al len Regenbogenfarben. Ein Passagier mit einem gewaltigen Schnauzbart und einem Arztköfferchen, der bei seinem jämmerlicher Anblick Mitleid empfunden hatte, hatte War stein in einer unbekannten Sprache Hilfe angeboten. Alexandra hatte ihn mit groben russischen Worten zunächst zu verscheuchen versucht, doch dann nachgegeben. Der Arzt, ein Bulgare, hatte ihren Gefangenen notdürftig ver arztet und war dann kopfschüttelnd in den Zug gestiegen. Der Zug war auch so eine Sache - ein Fossil aus dem 20. Jahrhundert, wahr scheinlich sechziger Jahre. DDRProduktion. Dampflok. Kohlentender inklusive. Auf der Lok drei haarige Ge stalten mit verrußten Pelzmützen und Ohrenschützern. Ein Wunder, dass sie bei diesen Temperaturen im Freien überleben konnten. Wahrscheinlich gab der Kessel mächtige Hitze ab. Der Zugführer salutierte vor Alexan dra und zückte seine Trillerpfeife. Alex andra kehrte mit blassem Gesicht zu Warstein zurück und machte ihn vom Eisengitter los. »Wir steigen jetzt ein« , sagte sie. »Ich rate dir, dich ordentlich aufzuführen, sonst spick ich dich mit Blei.« »Wohin gehts denn?« , erkundigte sich Warstein, als er sich in Bewegung setzte. »Etwa zum nächsten Justizpa 26
last?« Er lachte hämisch, denn er wus ste, dass die Organisation keinerlei Wert darauf legte, dass er je in die Hände eines Richters fiel, der nicht in ihrem Sold stand. »Auf geradem Weg nach Tiksi« , er widerte Alexandra. »So weit wie mög lich weg vom Einschlagsort des Kome ten.« Im Inneren des Waggons wurde War stein von wohliger Wärme umfangen. Sie machte ihn noch müder. Sein Blick glitt über die Passagiere hinweg. Ge sichter. Gesichter. Gesichter. Er fragte sich, was Alexandra davon hatte, wenn sie ihn nach Tiksi brachte. Warum hatte sie ihn nicht gleich im Odessa umge legt? »Hier rein.« Alexandra hielt ihn an den Handschellen fest, sodass er bei nahe aufs Maul gefallen wäre. Sie öff nete eine Abteiltür. »Wir haben reserviert?« »Das Lachen wird dir noch verge hen.« Warstein nahm in Fahrtrichtung am Fenster Platz. Man konnte nie wissen. Vielleicht ruckte der Zug irgendwann mal, oder der Lokführer musste eine un vorhersehbare Bremsung vornehmen. Vielleicht landete er dann auf dem Alexandras Schoß und konnte sie mit einer raschen, fest ausgeführten Kopf nuss außer Gefecht setzen. Leider nahm sie neben ihm Platz. Merde, alors! Die Waggontüren wurden krachend zugeworfen. Eine Pfeife schrillte. Der Zug setzte sich TschuggTschugg-Tschugg - langsam nach Nor den in Bewegung. Westen wäre dumm gewesen. Wenn der Komet wirklich be
schloss, im Baikalsee zu landen, würde es mächtig in ihre Richtung spritzen. »Hast du vielleicht die Güte, mir eine Zigarette anzuzünden?« , fragte War stein. »Einen Scheiß werd ich tun« , fauchte Alexandra. Sie stand wieder auf. In ihrer Hand klirrte ein kleiner Schlüsselbund. Warstein sah erst jetzt, dass die Abteiltür abschließbar war. Wahrscheinlich hatte sie dem Zugführer das Dienstabteil abgeschwatzt. Es mus ste verschließbar sein, weil das Zugper sonal dort hochwichtige Dokumente aufbewahrte - zum Beispiel furchtbar geheime Fahrpläne. »Ich an deiner Stelle würde brav hier sitzen bleiben« , sagte sie, als sie sich in der Tür um drehte. Sie deutete zum Fenster. »Es sei denn, du willst Selbstmord begehen.« Die Tür ratschte ins Schloss. Der Schlüssel drehte sich. Dann war sie weg. Richtung Lokomotive. Warstein saß da, knirschte mit den Zähnen und stierte die Fensterscheibe an. Sie sah hart aus. Sie sah bestimmt nicht nur so aus. In diesen Breitengra den durften Scheiben nicht kaputtgehen, weil es draußen arschkalt war. Gesetzt den Fall, es gelang ihm, die Scheibe mit Schädel einzuschlagen: Was erwartete ihn wohl neben diversen Beulen und Blutergüssen, wenn er aus dem fahren den Zug sprang? Die Freiheit? Ha, ha. Er schaute hinaus. Steppe. Grasflächen. Unendliche Weiten. Kiefern und Bir ken. Kälte. Hunger. Tod. Drei Minuten später ging die Tür wieder auf. Alexandra kehrte zurück. Warstein hatte erwartet, dass sie Kaffee und belegte Brote mitbrachte, aber er
hatte sich verrechnet. Wahrscheinlich war sie nur mal für kleine Kommissa rinnen gewesen. Diesmal nahm sie ge genüber Platz. Musterte ihn. Ihr Baller mann lag auf ihrem Schoß. Sie hielt sie mit einer Hand fest. Sie wirkte ent schlossen. Warstein zweifelte daran, dass die Polizei ihn je zu Gesicht kriegen würde. Irgendwann, wenn der Zug in einem Kuhdorf anhielt - vielleicht in Knatte rottopowsk oder so - würden zwei, drei hartgesichtige, schlecht rasierte Männer ins Abteil kommen und ihn ins Freie zerren. Die Herren, auf deren Soldliste sie standen, wollten bestimmt allerhand von ihm wissen. Um sämtliche Spuren zu beseitigen, die ihn mit ihnen in Ver bindung brachten. When you walk through the storm… hold your head up high … and don't be afraid of the dark … Warsteins Blick fiel auf Alexandras Knie. Er dachte an die fast intime Situation im OdessaRestaurant. Sie hatte den Eindruck er weckt, als sei er ihr sympathisch; als gäbe es nach den schrecklichen Zei tungsmeldungen nur noch den Tanz auf dem Vulkan … Aber sie hatte alles nur vorgetäuscht. Sie hatte ihn in Sicherheit gewiegt, um dann hart und erbarmungs los zuzuschlagen. Und er Blödian hatte sie freilassen wollen. Der Ehrliche ist immer der Dumme. Wer hatte das noch mal ge sagt? Warstein seufzte schwer. Er sank zurück, um sich anzulehnen, doch bei der Berührung mit der Kopfstütze stach es heftig in seinem Schädel. Er musste ein Stöhnen unterdrücken. Er fühlte sich so tot und leer. 27
So müde. Erschlagen. Fertig. Er Warstein erbleichte. Er konnte nichts schossen. dagegen machen. Seine Kehle wurde »Ich hab Hunger« , sagte er. eng. Er schnappte nach Luft. »Das … »Du hast nichts zu haben« , erwiderte hab ich nicht gewusst« , keuchte er. Alexandra kalt. »Du hast abzuwarten, »Wie zum Teufel hätte ich es wissen was du kriegst.« Sie deutete mit dem sollen? Der Vertrag kam über die Lei Kopf nach hinten. »Aber ich werd dich tung in Moskau. Man hat mir gesagt, er schon nicht verhungern lassen.« wäre Franzose. Ein gewisser Jean Paul »Mit welchem Gift haben sie dich ge Sowieso … Mein Gott, Alexandra, ich impft?« Warstein schaute sie an. »Wen hab es wirklich nicht gewusst. Wir er soll ich umgelegt haben? Dein Kind? fahren nie etwas über die Hintergründe, Deinen Lieblingsbruder? Deinen Vater? und das hat auch seinen Sinn.« »Komm mir bloß nicht mit diesem Das erzählen sie den Neulingen nämlich immer - damit sie richtig wütend und Scheiß« , erwiderte Alexandra höh blind für die Wahrheit werden.« Er nisch. »Dass der Vertrag über die Lei tung gekommen ist, glaubst du doch räusperte sich. »Nach dem ersten Ver trag haben sie dich dann am Wickel. selbst nicht! Mein Vater hatte einen Vertrag. Er sollte dich ausschalten, weil Dann wohnst du für den Rest deines Le bens in Hotels und unterhältst dich vor man von deinen Ausstiegsplänen erfah dem Schlafengehen nur noch mit den ren hatte. Du bist ihm nur zuvorgekom men.« Waffen in deinem Koffer.« Alexandras Augen blitzten auf. »Ja, Warstein drückte den Hinterkopf vor sie haben mir wirklich was erzählt.« sichtig gegen die Kopfstütze. Draußen »Pack aus« , erwiderte Warstein. war es nun ziemlich dunkel geworden. »Vielleicht kann ich ja zur Erhellung Die schneebedeckte Landschaft wurde der Sachlage beitragen.« Er machte sich einer verwaschenen Fläche. Durch sein trotzdem wenig Hoffnungen. Wer ge schmerzendes Hirn torkelten allerlei impft war, war auch darauf vorbereitet, Gedanken. Nun saß er wirklich in der dass sein Opfer die eigene Mutter in die Tinte. Die Idee, Alexandra mit seinem Pfanne haute, um seinen Kopf aus der Charme einzuwickeln, konnte er ver Schlinge zu ziehen. gessen. Die Leitung hatte von seinem »Sie haben mir von deinem letzten Vorhaben erfahren und zwei Fliegen Vertrag erzählt« , fauchte Alexandra. mit einer Klappe geschlagen: Er hatte »Der Job in Paris, im Hotel Ritz. Vor Korsakow - aus Gründen, die nieman sechs Wochen. Der Mann war mein Va den mehr interessierten - umgelegt, da ter.« mit Alexandra ihre Feuertaufe bestehen Warstein gab sich die größte Mühe, konnte. Man hatte sie beide nicht aufzustöhnen. Heiligabend 2011. missbraucht. Korsakow hatte selbst zur Der Franzose. Leitung gehört. Der Teufel mochte wis »Er hieß Iwan Pawlowitsch Korsa sen, aus welchen Gründen er sich bei kow.« seinen Kollegen unbeliebt gemacht 28
hatte. ten oft auf die Uhr. Ein russischothodo »Wenn ich dir diesen Vertrag gege xer Pope, der mit dem bulgarischen ben hätte, hätte ich dir das Gleiche er Arzt an einem Zweiertisch saß, bewegte zählt« , sagte Warstein leise. murmelnd die Lippen, als spräche er ein »Ich habe gar keinen Vertrag« , erwi Gebet. Warstein sah den Reisenden an, derte Alexandra. »Ich soll dich nur in dass jeder Kilometer, der sie von Ja Sicherheit bringen. Das heißt aber nicht, kutsk fort brachte, sie glücklich machte. Einige Passagiere saßen vor halb ge dass ich dich nicht umniete, wenn du leerten Flaschen und stierten vor sich Zicken machst.« »Wo bringst du mich hin?« , fragte hin. Viele rauchten nervös. Andere tele Warstein. fonierten. Ein junger Glatzkopf, auf Alexandra zuckte die Achseln. »Zu dessen T-Shirt Rich Kid stand - seine ein paar Leuten, die dringend mit dir hochnäsige Miene deutete an, dass er sprechen wollen.« Sohn von Beruf war -, legte sich keine »Obwohl das Ende der Welt vor der verbalen Zügel an: Seine mit amerikani Tür steht?« schem Akzent hervorgestoßenen Worte »Ganz wird sie bestimmt nicht unter zielten darauf ab, den anderen Fahrgäste gehen. Und die Leute, die ich meine, zu verklickern, dass er dicke Aktienpa haben natürlich vorgesorgt.« kete besaß. Ein halbes Dutzend Männer Warstein seufzte. Ja, dachte er, das und Frauen, die Deutsch sprachen und kann ich mir lebhaft vorstellen. Die ha WDR-Kappen trugen, nuckelten an ben seit dem Zusammenbruch der alten Cocktails. Nur an einem Tisch waren Sowjetunion Milliarden und Abermilli noch Plätze frei. An ihm saß eine Was arden gescheffelt. Und da sie schon vor serstoffblondine mit den dicksten Silider Wende zu den Wohlsituierten gehört kon-Klötzen, die Warstein je außerhalb haben, wissen sie auch, wo die wirklich schweinischer Videos gesehen hatte. sicheren Bunker unter der Erde vergra Vor ihr lag ein amerikanisches Ta ben sind … Die werden ganz bestimmt schenbuch. Irgendein Bestseller, tau überleben … send Seiten dick. »Ist hier noch frei?« Obwohl Alexan * dras Miene deutlich sagte, was sie von Wasserstoffblondinen und Silikon hielt, Früher Abend. Noch nicht ganz Es sprach sie die Lady an. »Dürfen wir uns senszeit. zu Ihnen setzen?« Der Zug ratterte durch endloses Dun »Yeah, of course.« Kalifornischer kel. Am Himmel glitzerten Sterne. Der Speisewagen, der sich an den Waggon Akzent. Hollywood. Oder nähere Um gebung. mit dem abschließbaren Dienstabteil an Alexandra gab Warstein mit einem schloss, war voller Menschen. Warstein sah ihnen schon beim Eintreten an, dass Nicken zu verstehen, er solle sich ans Fenster setzen, der Blonden gegenüber. sie auf heißen Kohlen saßen. Sie schau Als er Platz nahm, fiel der Blick der 29
Lady auf seine Hände und sie sah die Warstein. Della nickte. »Ich bin auch da gebo blitzenden Armbänder. Alexandra hatte ren, aber ich kann mich an nichts mehr sie ihm mit Unterstützung des pferdege erinnern. Ich war noch 'n Baby, als wir sichtigen Zugführers und eines kräfti gen Schaffners nach vorn geschnallt. da weg sind.« Der Kellner kam. Alexandra sprach Sonst hätte er keine Mahlzeit einneh auf Russisch mit ihm, und Warstein men können. »Gosh! Wow!« Blondie bleckte ihre nutzte die Gelegenheit, einen Blick auf vierundsechzig Zähne. »Sind Sie 'n ech den Rest der Fahrgäste zu werfen. Rich ter Gangster?« Kid, der noch immer telefonierte, begat Warstein zuckte mit einem leichten tete Della mit den Augen. Auch die bei Grinsen die Achseln. »Ich bin noch den schnauzbärtigen Jakuten - sie wirk nicht verurteilt. Bis dahin bin im herr ten wie Pelzjäger - und der bulgarische schenden Sprachgebrauch nur 'n mut Arzt schienen beim Anblick des blon maßlicher Gangster.« den Busenwunders visuelle Freude zu Blondie lachte. »Ich bin entzückt! Sie empfinden. Das Sprachgewirr in ihrer sind 'n Mann nach meinem Ge Umgebung war babylonisch. Die mei schmack.« Sie streckte eine Hand aus, sten Passagiere waren offenbar Touri packte Warsteins Rechte und beäugte sten. Möglicherweise hatten sie auf interessiert die Armbänder. Alexandra grund mangelnder Sprachkenntnisse als schenkte ihr einen verächtlichen Blick, Letzte von der bevorstehenden Kata griff aber nicht ein. »Ich bin Della Del strophe erfahren. »Sehen Sie den Clown da hinten, der Rio. Aber sagen Sie Della zu mir.« Alexandra ignorierte die Dame und ständig mit seinem Börsenmakler tele griff nach der Speisekarte. foniert?« Della kicherte. »Der hängt »Ralph Warstein. Ebenfalls sehr ent schon seit Rom wie eine Klette an mir.« zückt. Sind Sie beim Film, Della?« Sie beugte sich vor. »Ich glaub, er ist 'n Della kicherte. »Sozusagen. Eigent Fan von mir.« Warstein nickte. »Er glotzt Sie an lich mach ich nur DVDs. Filme für Er wachsene, wenn Sie wissen, was ich wie Nachbars Lumpi.« Della schüttelte sich. »Er ist irgend meine.« Sie deutete hinter sich. »Ich wie unheimlich, nicht?« Sie nahm War hab grad 'n dicken Preis für meine Ar beit gekriegt, in Rom, Frankreich. Auf steins bunte Nase in Augenschein. »Sind Sie hingefallen? Brauchen Sie 'nem Festival.« »Rom, Italien« , sagte Warstein. ärztliche Hilfe?« Sie deutete auf den »Wirklich? Als das Festival zu Ende Bulgaren. »Es ist nämlich 'n Arzt an war, hab ich mir gedacht, fahr doch mal Bord. Dr. Rogoff heißt er. Ist auch 'n 'n bisschen durch Europa, Della, und Fan von mir. Auf dem Bahnhof wollte guck dir die Gegend an, aus der deine er 'n Autogramm von mir haben. Er ist Eltern 1990 abgehauen sind.« viel netter als der blöde Yuppie.« »Stammen die aus Jakutsk?« , fragte »Ich hab ihn schon kennen gelernt.« 30
Der Kellner kam zurück. Die Aus wahl war nicht groß: Er servierte Alex andra und Warstein Koteletts mit Brat kartoffeln. Della erbot sich, ihm das .Fleisch klein zu schneiden. Alexandra, der dies nicht zu schmecken schien, überwachte sie dabei mit scheelen Blicken. Warstein haute rein. Das Knurren in seinem Magen legte sich. Zwar war er noch immer weit davon entfernt, Bäume ausreißen zu können, aber er spürte, dass seine Lebensgeister langsam wie der erwachten. »Ist Ihre Begleiterin von der Polizei oder vom Geheimdienst?« , plapperte Della weiter. »Kann sie uns überhaupt verstehen? Was haben Sie für 'n Ding gedreht? Sind Sie Spion oder so was? Soll ich mich bei Ihrem Konsulat für Sie einsetzen? Wo kommen Sie über haupt her? Sind Sie Amerikaner? Sie sprechen wie einer aus New York.« »Die entzückende junge Dame neben mir arbeitet für die russische Mafia« , sagte Warstein frech. Es bereitete ihm diebisches Vergnügen, Alexandra neben sich empört nach Luft schnappen zu hö ren. »Diesen Typen kann man nicht trauen. Ich wette, sie legt mich bei nächster Gelegenheit um.« »Was?« Della riss Augen und Mund auf. Einer die WDR-Journalisten wandte sich um, korrigierte den Sitz seiner Brille und nahm Warstein näher in Augenschein. »Mr. Warstein scherzt nur.« Alexan dra erdolchte Warstein mit einem Blick. Natürlich konnte sie kein Interesse daran haben, die Beachtung der Fahrgä ste auf sich zu ziehen. Die Zugpassa
giere gingen angesichts der Handschel len wahrscheinlich davon aus, dass sie Polizistin war und irgendeinen Verbre cher irgendwohin überführte. So etwas war in einem Land, in dem die meisten Straßen im Winter unpassierbar waren, nicht ungewöhnlich. Doch Sprüche dieser Art konnten sich als gefährlich erweisen: Journali sten waren von Natur aus neugierig. Zu dem waren die Männer an Nebentisch Deutsche. Erst jetzt schien Alexandra klar zu werden, was passieren konnte, wenn Warstein sich in seiner Mutter sprache an sie wandte. »Was haben Sie eigentlich früher ge macht, Ralph?« , fragte Della neugierig. »Bevor Sie Gangster wurden, mein ich.« »Ich hab Bücher geschrieben. Aber die wollte niemand lesen. Den Kritikern haben sie auch nicht gefallen. Da mus ste ich mir ein neues Betätigungsfeld suchen. Von irgendwas muss der Men sch ja leben.« »Bücher?« Alexandra wirkte recht schaffen schockiert. Sie glaubte wohl, Auftragskiller seien samt und sonders Analphabeten. »Ja« , sagte Warstein. »Ich …« Ein schreckliches metallisches Krei schen schnitt ihm das Wort ab. Die mei sten Fahrgästehielten sich erschreckt an den Tischplatten fest und schauten sich mit besorgter Miene um. Der Zug, der gerade noch monoton durch die Tundra gerattert war, bremste scharf ab. Was war passiert? Als er quietschend zum Stehen kam, fiel Warsteins Blick auf die Waffe, die Alexandra unter dem Tisch auf seinen 31
Schritt richtete. Sie bemühte sich wirk lich, kein Aufsehen zu erregen. Die deutschen Journalisten - War stein sah erst jetzt, dass einer eine Ka mera dabei hatte - standen eilig auf, schwangen sich in ihre dicken Pelz Jacken und folgten ihrem Chef an der kleinen Küche vorbei zur Tür. Die Leute waren vermutlich nicht zum Ver gnügen in Sibirien, und Zwischenfälle wie dieser kamen ihnen wohl gerade recht. Als die Journalisten hinausgegangen waren, drückten sich die restlichen Fahrgäste an die Scheiben und äugten angestrengt und nervös ins Dunkel. Dann trat der Zugführer ein und sagte etwas. Alexandra übersetzte: Die Voll bremsung sei vermutlich auf irgendei nen technischen Defekt zurückzufüh ren; der Zugführer habe noch keine ge nauen Informationen, sei aber ganz si cher, dass man die Fahrt in kürzester Zeit fortsetzen könne. Die meisten Fahrgäste atmeten auf, doch vier, fünf Reisende schlängelten sich durch die Tischreihen und folgten dem Kamerateam, das nun offenbar im Freien Filmaufnahmen machte. War stein sah den Kameramann und einige seiner Begleiter am Zug entlang in Richtung Lokomotive eilen. Die Gelegenheit ist günstig, dachte er, als ihm auffiel, dass auch Alexandra und Della konzentriert nach draußen starrten. Er warf einen Blick auf Alex andras Waffe und kalkulierte die Chan cen, sie ihr zu entreißen. Gesetzt den Fall, er bekam sie in die Hände. Was sollte er dann tun? Geiseln nehmen? Den Zugführer zur Rückfahrt 32
nach Jakutsk zwingen, dort in seinen am Bahnhof geparkten Maybach steigen und Richtung Beringstraße abhauen? Die WDR-Journalisten und die anderen, die draußen in der Kälte herumkrauch ten, dem sicheren Erfrierungstod auslie fern? Hätte ich doch bloß nie ein Buch auf geschlagen, dachte Warstein verzwei felt. Hätte ich doch bloß nie gelernt, was Mitleid ist. »Es ist Schwachsinn« , hörte er Alex andra sagen. »Und das weißt du.« Warstein blinzelte. Sie hatte ihn be obachtet und seine Gedanken gelesen »Wenn du hier abspringst, bist du auch mit einer Knarre in der Hand in ein paar Stunden tot.« Warstein nickte. Sie hatte Recht. Es hatte keinen Sinn, sich was vorzuma chen. Er hatte die Arschkarte gezogen. Ebenso gut hätte er versuchen können, einem Bullenkommando in der Antark tis zu entwischen. Er konnte nichts an deres tun, als im Zug zu bleiben und ir gendwann einen Versuch zu machen, ihr die Waffe zu entreißen und im näch sten Bahnhof auszusteigen. Er rechnete nicht damit, dass die Firma ihnen ein Kommando entgegen schickte, um ihn in Empfang zu neh men. Wenn der Komet so groß war, wie Alexandra behauptete, und die Auswir kungen seines Einschlags sich noch im Umkreis von eineinhalbtausend Kilo metern bemerkbar machten, waren be stimmt längst alle Dörfer zwischen Ja kutsk und Tiksi evakuiert. Warstein hörte nun aufgeregte Stim men. Ein Schaffner kam in den Speise wagen. Er rief etwas, das die meisten
Fahrgäste nicht verstanden, aber meh rere des Russischen kundige Männer sprangen sofort auf und folgten ihm aus dem Speisewagen. »Steinschlag« , übersetzte Alexandra für die Touristen. »Die Lok kann nicht weiter. Man braucht Freiwillige, um die Strecke freizumachen.« Ein bärtiger blonder Tourist, der bis her rauchend und Bier vernichtend mit einer drallen dunkelblonden Frau ge schäkert hatte, sprang ebenfalls auf und rief, sich einen Weg zur Tür bahnend, seiner Begleiterin in deftigem Kölsch zu: »Da mussisch doch hälllfen, Ma rina!« Auch Warstein machte Anstalten sich zu erheben, doch der stählerne Lauf von Alexandras Waffe drückte nun in seine Rippen. Ihre Blicke trafen sich. »Wie lange, hast du gesagt, kann ich da draußen ohne Schießeisen überle ben?« Alexandra spitzte die Lippen. Dann nickte sie. »Na schön. Geh raus. Wir müssen so schnell wie möglich weiter. Die Leute hier brauchen jede Hand.« Warstein hielt ihr die Handschellen hin. Zuerst sah es so aus, als wolle sie in die Tasche greifen, um sie aufzu schließen, doch dann schien sie es sich zu überlegen. »Das geht zu weit. Und dicke Steine kannst du auch so heben.« Sie deutete mit dem Kopf zur Tür. Warstein seufzte, dann ergab er sich seinem Schicksal. Alexandra stand auf und machte ihm Platz. Während Della sie kopfschüttelnd musterte, durchquerte Warstein den Speisewagen. Kurz darauf schaute er durch die of
fene Waggontür ins Freie. Vorne, an der Lok, war allerhand los. Ein bis zwei Dutzend Männer wimmelten dort herum und schleppten Felsbrocken. Der Spei sewagenkellner, der neben Alexandra ins .Freie sprang, setzte Warstein im Vorbeigehen einen Schutzhelm auf. In Gebieten, in denen es zu Steinschlag kam, konnte einem sicher auch mal was auf den Kopf fallen. Die Luft war eiskalt. Ein schneiden der Wind fauchte Warstein ins Gesicht. Als er den Kinnriemen des Helms an seinen Hals drückte, erfüllte ein un heimliches Brausen die Luft. Irgendwie schien es heller geworden zu sein. Ob wohl Warstein es besser wusste, schob den Kopf ins Freie, um zu prüfen, ob die geografischen Gegebenheiten einer Flucht vielleicht doch förderlich waren. Doch die Landschaft war felsig und ver schneit. Nirgendwo war ein Licht zu se hen, das auf eine bewohntes Gegend hindeutete. »Wenn du türmst« , sagte Alexandra, »schieß ich dich über den Haufen.« Und dann war es plötzlich da. Das Licht. Es flutete blutrot über den Horizont wie eine aus kalten Meeresfluten auf tauchende Sonne. Ein runder Körper, flackernd wie ein Irrlicht. Eine Sekunde später sahen es auch die Leute im Spei sewagen. Sie schrien überrascht auf. Warsteins Kinnlade sank herunter. Er spürte, dass die hinter ihm stehende Alexandra zurückwich. Im gleichen Moment vernahm er ein gewaltiges To sen und Pfeifen. Am Horizont blitzte es knallrot. Die Männer, die an der Lok zugange waren, schrien überrascht auf. 33
Dutzende von Köpfen flogen herum. Alle schauten auf das unerklärliche Phänomen, das sich nun anschickte, die Nacht zu erhellen. »Der Komet« , hörte Warstein Alex andra keuchen. Das Tosen schwoll dermaßen an, dass es Warsteins Gehörgänge quälte. Ein kurzer Blick nach rechts sagte ihm, dass es den Eisenbahnern, Journalisten und Fahrgästen nicht anders erging: Die Menschen standen wie Ölgötzen neben dem Gleisschotter und hielten sich die Ohren zu. Ein infernalisches Pfeifkon zert jagte ihnen vom Horizont her ent gegen, und als Warstein zum Himmel aufschaute, glaubte er ganze Wälder entwurzelter Bäume wie Streichhölzer durch die Luft fliegen zu sehen. Das Pfeifen zwang ihn in die Knie und ließ seine Augen so heftig tränten, dass er alles nur noch wie durch einen Gaze schleier sah. Dann wurde das Krachen einer Ex plosion laut, die alles in den Schatten stellte, was er je gehört hatte. Dort, wo gerade noch das rote Licht gewesen war, breitete sich nun rasend schnell Schwärze aus. Sie war so absolut, dass sämtliche Sterne verblassten. Ein schwarzer Pilz, der Warstein an die Do kumentaraufnahme einer Atomexplo sion erinnerte, stieg hinter dem Hori zont die Höhe. Hoch, hoch, noch höher. Der Pilz durchbohrte die Wolken. Schwärze breitete sich aus und fegte Erde, Ge stein, Wälder und von Permafrost er starrten Tundraboden vor sich her. Dann spielte die Luft verrückt. Im Nu bildeten sich riesige Wirbel, die wie 34
Tornados über die Landschaft fegten. Schwerelosigkeit … Warstein spürte, dass seine Füße nicht mehr auf festem Boden standen. Etwas schob ihn vor sich her. Etwas an deres saugte an ihm. Irgendwas krachte in seinen Rücken. Finger krallten sich in das Leder seiner Jacke. Er drehte sich plötzlich im Kreis. Eine Gestalt war in seinen Armen, dann ergriff ihn ein Wir bel und er starrte mit offenem Mund, der sich sogleich mit Dreck füllte, auf den Speisewagen. Er selbst - und die an ihn geklam merte Gestalt - schwebte in der Luft. Der Speisewagen hob sich von den Schienen und entfernte sich von ihm wie eine Papierschwalbe. All dies ge schah in Sekunden, doch Warstein emp fand es wie einen in Zeitlupe ablaufen den Film: Der ganze Zug - schätzungs weise zwanzig Waggons - wurde wie eine Spielzeugeisenbahn von der Kraft eines heranfegenden Sturms erfasst. Zahllose Tonnen Eisen verloren ihren Halt auf den Schienen, wurden in die Luft gerissen und wehten in mehreren Metern Höhe fort von ihm. Die Kupplungen zwischen den Wag gons rissen wie Bindfäden. Die Einzel teile des Ganzen mächten sich selbst ständig. Ein Waggon jagte, von einem Luftwirbel erfasst und in Rotation ver setzt, so hoch in die Luft, dass Warstein ihn aus den Augen verlor. Die anderen entfernten sich mit rasender Geschwin digkeit von ihm und verschwanden im Dunkel der Nacht. Ein kurzer Blick dorthin, wo gerade noch die Lok gewesen war: Absolute Leere. Keine Spur vom Zugpersonal,
von den Journalisten, von den hilfsbe reiten Fahrgästen. Dann sank Warstein in einem Inferno aus Dreck, Gestein, Holz und Metall in die Tiefe, knallte auf aufgewühlten Boden und hörte seine Knochen knacken. Die sich an ihn klammernde Last war Alexandra Korsakowa. Als er auf dem Boden lag, vor einem hoch aufragenden Felsen, ein gutes Dutzend Meter vom Gleiskörper entfernt, bemerkte War stein, dass sie ohnmächtig war. Der Sturm, der mit Titanenkraft vom Hori zont heranwehte, warf ihn über sie, und die Drecksturmflut, die über ihn hinweg wehte, verstopfte ihm Mund und Nase. Irgendein Instinkt sagte ihm, dass er Deckung suchen, sich an den riesigen Felsen pressen musste, damit die flie gende Erde ihn nicht begrub. Kleine Steine und Äste prasselten gegen seinen Schutzhelm und schlugen ihm ins Ge sicht. Die Erde schien nun überall zu beben. Sie ächzte, knirschte, knackte und kreischte wie ein weidwundes Tier. Als Warstein in den Schutz des Fel sens kriechen wollte, erwies sich dies als unmöglich, da die Wirbel nun wie der an ihm rissen. Alexandra hing wie eine Klette an ihm, und er brauchte eine ganze Weile, bis er bemerkte, dass der offene Reißverschluss seiner Jacke sich an ihrer Kleidung verhakt hatte. Schon fühlte er sich von dem Wirbel gepackt. Alexandras Kreuz krachte in seine Rip pen. Warstein riss instinktiv die Arme hoch, warf sie über ihren Oberkörper und presste sie an sich. Er wusste nicht, ob sie noch lebte, und in diesem Moment war es ihm auch herzlich gleichgültig. Er hielt sie fest,
denn wenn sie tot war, konnte sie ihn vielleicht vor dem herumfliegenden Ge stein schützen. Dann schleuderte der Wirbel sie und ihn nach hinten und Warsteins Rücken krachte gegen den schützenden Felsen. Er sah nun gar nichts mehr. Die Luft war schwarz und steinig und machte schon das Atmen zu einem gefährlichen Unterfangen. Erde bedeckte sie. Der Sturm fegte über sie hinweg. Die Lok und die Män ner, die draußen gewesen waren, um den Steinschlag zu beseitigen, waren verschwunden. Vom Winde verweht. Der Speisewagen lag etwa fünfzig Meter von ihm entfernt auf der Seite. Was war aus den Menschen geworden, die arglos darin gesessen hatten? Der Schnee, der das Land noch vor wenigen Minuten bedeckt hatte, war verschwun den. Frisch herangetragene Erde hatte ihn bedeckt. Warstein schloss die Augen. Als er sie wieder öffnete, spürte er, dass er den Schutzhelm verloren hatte. Der Sturm war etwas abgeebbt, aber er hatte noch immer Orkanstärke. Als sein Blick auf den Speisewagen fiel, bemerkte er, dass der nun fast völ lig unter einer dicken Erdschicht ver graben war. War er ohnmächtig geworden? Wenn ja, wie lange? Alexandra ruhte noch immer an sei ner Brust. Sie rührte sich nicht, aber er spürte ihre Wärme. Noch immer peitschten Dreck und Vegetation War steins Gesicht. Er steckte bis zum Bauch in der Erde. Die Nacht war noch immer so schwarz wie die Hölle. Was 35
hatte Alexandra gesagt? Nuklearer Win zitterten. Selbst wenn er ihn fand, ter? Ewige Nacht? Für Monate, wenn würde er ihn vermutlich verlieren. Er musste sich Alexandra über die nicht gar für Jahre? Gott im Himmel. Er war wie betäubt. Schulter wuchten und zum Wrack des Er wollte schreien, damit Alexandra er Speisewagens schleppen. Schwachsinn, wachte, doch seine Stimmbänder waren mit gefesselten Händen. Wo war ihre wie gelähmt. Dafür klapperten seine Kanone? Er musste sie wenigstens ent Zähne. Sein Nasenrücken schmerzte. waffnen. Warstein spannte seine Muskeln, um Er fand auch ihr Schießeisen nicht. zu prüfen, ob er sich etwas gebrochen Vielleicht hatte sie es verloren. War hatte. Er empfand keinen Schmerz. stein brachte Alexandra schnaufend in Trotzdem war er erledigt. In dieser Jah eine halb sitzende Position und drückte reszeit konnte niemand lange im Freien sie rückwärts an den hohen Felsen. Sie überleben. Schon gar nicht in einer end schien mehrere Zentner zu wiegen, was losen Nacht. bei ihrer Körpergröße mehr als unwahr Als er einen Versuch machte, sich scheinlich war. Aber wahrscheinlich aus der Erde zu graben, fiel ihm ein, empfand er nur aufgrund seiner Er dass ihn die Handschellen noch immer schöpfung so. Mehrere Versuche, ihre banden. Wie gut, dass er Alexandra schlaffe Gestalt auf seine Schulter zu festgehalten hatte. In einer ihrer Ta heben, endeten fruchtlos: Der Sturm schen musste der Schlüssel sein, den er warf ihn jedes Mal um, sobald er sich brauchte, um die Scheißdinger auf zu aufrichtete. Schließlich gab Warstein es auf. Er schließen. Dort wo der umgekippte Speisewa packte Alexandra am Kragen und gen lag, flackerte nun ein Licht auf. schleifte sie geduckt dorthin, wo das Gleich darauf hörte Warstein das hyste Geschrei der Frau nicht verstummen rische Weinen einer Frau. Er hatte die wollte. Er schätzte die Strecke auf fünf Katastrophe also nicht allein überlebt. zig Meter, aber sie kam ihm wie fünfzig Warstein grub sich ächzend einen Kilometer vor. Der Waggon war zu neunzig Prozent Weg aus der Erde, schob Alexandra von sich herunter, presste sich neben ihr auf unter einem Erdhügel vergraben. Er den harten kalten Boden und legte die musste Alexandra hinauf ziehen. Die rechte Hand auf ihre Halsschlagader. Er Tür, durch die der Wirbel sie ins Freie ertastete nichts. Kein Wunder. Seine gesaugt hatte, war nun eine Art Dach luke. Finger waren schmutzverkrustet und sa Warstein ignorierte seine schmerzen hen aus wie Maulwurfskrallen. Er nahm sich die Taschen ihrer Jacke den Muskeln, versuchte den Hügel vor. Sie waren mit Erde gefüllt. Ver rückwärts zu erklimmen und zerrte dammt. In dieser Umgebung hatte es Alexandra am Kragen hinter sich her. keinen Zweck, den Schlüssel zu suchen. Als er ihn fast überwunden hatte, Seine Hände waren kalt, gefühllos und drosch der Orkan gegen seine Brust und 36
warf ihn nach hinten. Der Kragen riss ab. Warstein rappelte sich fluchend auf, arbeitete sich erneut an die Bewusstlose heran und griff unter ihre Achseln. Er zog Alexandra hinter sich her, bis er hinter sich eine Leere spürte. Er hatte den Eingang zum Speisewagen erreicht. Irgendwie gelang es ihm, sich in die Tiefe hinab gleiten zu lassen und Alex andra mit sich zu ziehen. Über ihm kreischte der Sturm, doch er wehte ihm wenigstens nicht mehr ins Gesicht. Warstein ließ sich zu Boden sinken und schnappte nach Luft. Hinter ihm in der Finsternis war das Geschrei nun verstummt. Er hörte mehrere Stim men. Sie fluchten und beteten. Warstein verschnaufte. Er brauchte einen Mo ment Ruhe, damit sich das Zittern sei ner Hände legte. Alexandra lag flach vor ihm auf dem Boden. »Ralph! Ralph, sind Sie das?« Della. Warstein meldete sich. Kurz darauf kroch eine schmutzige Gestalt auf ihn zu. Der Strahl einer Taschenlampe leuchtete ihm ins Gesicht. »Guter Gott, Sie sind es wirklich.« »Sie glauben nicht, wie ich mich freue, Sie zu sehen« , schnaufte War stein. Er deutete auf Alexandra. »Seien Sie lieb. Leuchten Sie Alexandra mal an.« »Ist sie tot?« Warstein konnte zwar nicht viel erkennen, aber Della sah schrecklich aus. Sie rutschte auf den Knien neben ihn und beugte sich über die leblose Gestalt. Ihre Nylons waren nur noch Fetzen. »Ich weiß nicht.« Warsteins Herz schlug heftig, und er empfand plötzlich leichte Übelkeit. Hoffentlich hatte er
sich nichts gebrochen. »Ich muss den Schlüssel für die Handschellen finden, sonst kann ich mich nicht bewegen.« Della leuchtete Alexandras Oberkör per an, und Warstein filzte mit äußerster Sorgfalt ihre Taschen. Er förderte meh rere Pfund Dreck zutage. Schließlich fand er den winzigen Schlüssel. Er reichte ihn Della, damit sie die Hand schellen aufschloss. »Danke …« Warstein rieb seine Handgelenke und atmete tief ein. Er fühlte sich nun wieder als Mensch. Jetzt galt es nur noch, Alexandras Schießprü gel zu finden. Es war nicht auszuschlie ßen, dass sie beschloss, ihn selbst zu richten, . wenn sie zu sich kam und den Ernst der Lage erkannte. »Ich bin froh, dass Sie wieder frei sind« , sagte Della krächzend. »Sie ha ben doch bestimmt nichts Böses getan.« Sie grinste. »Na, selbst wenn Sie was Böses getan haben … Es ist mir schei ßegal, solange Sie mir nichts tun.« Warstein klopfte ihr auf die Schulter. »Keine Bange. Ich tu niemandem mehr was.« Er schaute sich um, deutete auf die Tür, die ins Speisewagen-Restaurant führte. »Wer ist da noch drin?« Dellas Kinn zitterte. »Dr. Rogoff« , hauchte sie. »Und die Russin, die im mer ,Hansi' schreit. Ich weiß nicht, was Hansi bedeutet. Ich versteh kein Rus sisch.« Sie schluckte. »Der doofe Yup pie ist auch noch da. Und noch 'n paar andere Leute. Vielleicht zehn oder zwölf. Ich weiß nicht. Viele rühren sich nicht mehr. Ich glaub, die sind tot.« Ein plötzliches Husten ließ Warstein zusammenzucken. Dann krachte etwas gegen seine Wange. Er flog zurück, 37
griff instinktiv zu und erwischte ein Verbleib meiner Kanone zu fragen, Handgelenk. was?« Alexandra rappelte sich auf. »Alexandra?« »Nein.« Warstein schüttelte den Dellas Taschenlampenstrahl richtete Kopf. Ich wüsste selbst gern, wo sie ist. sich wieder auf die liegende Gestalt. Aber es ist wohl besser, dass du von Alexandras Gesicht war rabenschwarz. meiner Ahnung slosigkeit nichts er Nur das Weiße ihrer Augen war sicht fährst. Er deutete ins Innere des Speise bar. Sie würgte, öffnete den Mund und wagens. »Ich schlag vor, wir schauen spuckte Dreck aus. »Wo … bin ich?« , nach, ob wir jemandem helfen können.« Alexandra schenkte ihm einen ver brachte sie abgehackt heraus. »Was ist passiert?« Sie schaute sich verwirrt um. ächtlichen Blick. Dann nickte sie und setzte sich in Bewegung. Warstein und »Wieso ist es so dunkel?« »Der Komet ist passiert« , erwiderte Della schlossen sich ihr an. Als sie in den Raum kamen, in dem Warstein leise. »Der Zug ist hin.« »Hin?« sie kurz zuvor noch bei Kotelett und »Der Sturm hat ihn fortgeweht.« Bratkartoffeln gesessen hatten, empfand Alexandra richtete sich stöhnend auf. er fast Dankbarkeit dafür, dass nur dif »Wo sind wir?« fuse Helligkeit herrschte. Es minderte »Im Speisewagen, Schätzchen« , den Anblick der Menschen, die ums Le sagte Della. Sie strich Alexandra übers ben gekommen waren. Irgendjemandem Haar. »Er ist umgekippt. Das hat viel war es gelungen, aus der Küche Kerzen leicht gekracht …« zu organisieren. Dr. Rogoff tastete sich »Der Sturm hat ihn gegen einen Hü von einem Fahrgast zum nächsten und gel geworfen«, sagte Warstein. verabreichte denen schmerzstillende »Vielleicht war das unser Glück.« Mittel, die es ohne nicht aushielten. Als Quatsch, dachte er. Es wird unser Able Warstein hereinkam, schiente er mit ben nur ein wenig verzögern. Unterstützung eines Jakuten dem Popen »Hansi!« , schrie nun eine Frauen gerade den linken Arm. Marina, die Russin, saß weinend in stimme. Und dann, auf Deutsch: »Wo einer Ecke und rief leise nach ihrem bist du? Wo bist du?« »Wer ist Hansi?« , fragte Alexandra. Hansi. Der Zugführer hatte seine »Der Kölsche Jung, glaub ich.« War Dienstmütze verloren. Sein rotblonder stein zuckte die Achseln. »Ich fürchte, Schopf wurde von einem Verband ge er hat längst ins Gras gebissen, wie die ziert, auf dem sich ein Blutfleck zeigte. meisten Menschen, die nicht im Speise Drei junge Frauen, offenbar Studentin wagen waren.« nen aus Holland, zogen gerade einen Alexandra setzte sich aufrecht hin. Toten in den hinteren Teil des Wagg Das Licht der Taschenlampe, das nun ons. Rich Kid hockte inmitten des auf Warsteins Hände fiel, zeigte ihr, Chaos am Boden und brabbelte in sein dass er frei war. Satellitentelefon. Der Chef der Journali »Hat wohl keinen Zweck, nach dem sten, der die Katastrophe offenbar als 38
Einziger überlebt hatte, beobachtete ihn kopfschüttelnd. Als er Warsteins fragenden Blick be merkte, sagte auf Englisch: »Der Typ hat einen an der Waffel.« Er hob sein eigenes Telefon hoch. »Sämtliche Ver bindungen sind tot. Ich hab's versucht. Aber der blöde Hund da redet angeblich mit seinem Broker.« »Scheiße« , sagte Warstein auf Deutsch. »Sind Sie ein Landsmann?« Der Journalist streckte ihm überrascht die Hand hin. »Freut mich, Sie kennen zu lernen. Ich bin Claus Bednarz. Ich glaub, die Welt geht unter.« »Malen Sie bloß nicht den Teufel an die Wand.« Warstein schüttelte Bednarz die Hand und stellte sich vor. Es küm merte ihn jetzt nicht mehr, wer seine Identität kannte. Geheimniskrämerei war ab sofort fehl am Platze. Kein Aas würde sich jetzt noch dafür interessie ren, was er auf dem Kerbholz hatte. Au ßerdem war der Name sowieso erfun den. *
Februar 2519. Eine halbe Stunde nach der entsetzli chen Schlappe, deren Konsequenzen allmählich hinter ihnen verstummten, ließ Jacob Smythe sich in dem Gehölz, das sie schon auf dem Hinweg durch quert hatten, ächzend unter einen Baum sinken. Das Schlimmste an der Niederlage war nicht, dass der Mann, vom dem er inzwischen wusste, dass er Black hieß, ihnen entkommen war. Es war viel
schlimmer, dass er, Professor Dr. Jacob Smythe, von der Vorsehung zum Herrn der Welt auserkoren, mit einer Frau zu sammengekracht war und mit einer blu tenden Nase hilflos am Boden gelegen hatte. Natürlich wurmte es ihn auch, dass der Hüne mit dem Vierkantkinn, der Arnold Schwarzenegger so ähnlich sah wie ein Zwilling, im Dunkel der Nacht verschwunden war. Nun musste er sei nen schönen Plan, sich bei Nacht und Nebel in die Festung zu schleichen und Drax mit einer Drahtschlinge zu erdros seln, erst mal zu den Akten legen. Ver mutlich wimmelte es in der Umgebung von Drax' bizarrer Zuflucht nun von Bewaffneten. Das Dröhnen des fremd artigen Panzers war jedenfalls nicht zu überhören gewesen. Wenigstens waren sie von den flie genden Rochen verschont geblieben. Die verdammten Viecher hatten offen bar nur beobachten wollen und sich zu rückgezogen, als Lynne Crow abstürzte. »Was ist, Jacob?« Lynne beugte sich über ihn. »Kannst du nicht mehr?« Wenn du wüsstest, was ich alles kann, du blöde Kuh, dachte Smythe. Warst du jetzt nicht hier, würde ich da für sorgen, dass dieser Stümper Bellows mindestens sechs Mal in mein Messer rennt … Er stöhnte leise, dann richtete er sich auf und erdolchte den jungen Mann, der mit seiner Ungeschicklich keit alles verdorben hatte, mit einem Blick. Na, warte, wir sprechen uns noch. Bellows wäre nicht der Erste, den er auf der Reise von Washington hier her um einen Kopf kürzer gemacht hätte. 39
Aber es war klüger, sich Lynne nicht bis in die letzte Einzelheit zu offenba ren. Ihr Vater spielte eine wichtige Rolle im Sicherheitsrat der USRegierungsbunker. Wenn Jacob Smythe sein Fernziel erreichen wollte, tat er gut daran, sich ihr Vertrauen zu bewahren. Lynne würde eine Stiege in der Leiter sein, auf der er in der Hierarchie schnell aufstieg. Smythe schüttelte sich. »Los, wir ge hen weiter.« Er nickte Bellows zu, der wieder die Führung übernahm. Sie brauchten diesmal fast zwei Stun den, um ihr gebirgiges Versteck zu er reichen. Als sie auf den Platz vor der Grotte kamen, verlangte sinnigerweise jemand nach der Parole. Bellows rief sie mit bebender Stimme, um nicht über den Haufen geschossen zu werden. Jackson, Pole und Blayre wirkten er leichtert, als sie sahen, dass es keine Verluste zu beklagen gab. Sie hatten das Feuergefecht in der Ferne gehört und das Schlimmste angenommen. Wenigstens hatte die Pole frischen Kafi aufgebrüht. Sie brachte Smythe eine Tasse, und er ließ sich in der Grotte vor einem Panzer auf einem Klappstuhl nieder. Seine Hände zitter ten noch immer. Seine Nase tat weh. Die verdammten Rochen hatten sie ab gelenkt. Wären sie nicht gewesen, hät ten sie Black bestimmt früher bemerkt und schnell ausgeschaltet … Smythe war nun fest davon über zeugt, dass die fliegenden Biester keine gewöhnlichen Tiere waren. Nein. Sie mussten ferngesteuerte Beobachter ei ner einheimischen Macht sein - mögli cherweise der Echsenbiester. 40
Dass der Kafi so heiß war, dass er sich beinahe die Lippen verbrannte, besserte Smythes Laune auch nicht. Lynne unterhielt sich kurz mit dem Mob, dann schickte sie Private Blayre und Corporal Jackson hinaus, um die Lage zu peilen. Corporal Pole und Pri vate Bellows begaben sich zu ihren Schlaf sacken und rollten sich ein. Smy the hörte, dass sie sich flüsternd unter hielten. Lynne kam zu ihm hin und baute sich vor ihm auf. Natürlich sah sie seiner Miene an, wie sauer er war. »Sei nicht kindisch, Jacob« , sagte sie. »Du glaubst doch wohl nicht, dass ich ernsthaft überlaufen und dich in die Pfanne hauen wollte?« Was? Smythes Kopf zuckte hoch. Da war er wieder, der alte Argwohn. Er war von Inkompetenz und schleichen dem Verrat umgeben. Was redete sie da? Dann begriff er. Sie hatte keine Ah nung, was er von ihrem Gespräch mit Black mitbekommen hatte. Nur deswe gen ging sie in die Offensive. Sie hatte ihm also das Angebot gemacht, mit Drax' Haufen zusammen zu arbeiten. Wie schön. »Ich hab das doch nur gesagt, um Black hinzuhalten« , fuhr Lynne fort. Sie wirkte irgendwie fahrig, fand er. Wie jemand, der ein schlechtes Gewis sen hat. Ich glaub dir kein Wort, dachte er. Du wolltest deinen Hals retten, du falsche Schlange. Dazu hättest du, wenn nötig, auch deinen hochdekorierten Al ten ans Messer geliefert. »Das weiß ich doch« , heuchelte er und blies mit gesenktem Blick in die Blechtasse.
Dennoch, der Spaltpilz wucherte. Er fühlte sich heftig in seiner Ehre ge kränkt. Mit ihm trieb man keine Scherze. Nicht mal zum Spaß. Er war derjenige, der Scherze mit anderen trieb. Bellows würde in Bälde zu spüren kriegen, wie witzig Professor Dr. Jacob Smythe sein konnte. Der Versager hatte den Tod verdient. Ganz ruhig bleiben! Smythe nippte an seinem Kafi. Er musste sich zusam mennehmen. Es hatte keinen Zweck, jetzt zu schäumen und zu toben. Es hätte nur Lynnes Widerborstigkeit ge weckt. Man durfte es nicht zu weit mir ihr treiben. In dieser Hinsicht war sie fast wie er. Andererseits neigte sie zur Nachgie bigkeit, wenn er schmollte. Vielleicht sollte er die Gelegenheit nutzen. Er trank noch einen Schluck, dann bedeu tete er ihr, sich hinzusetzen. Lynne war brav. Sie wollte keinen Stress. »Wir haben eine Chance vertan, die wir nie wieder kriegen werden« , sagte er so leise, dass Bellows und die Pole ihn nicht hörten. »Dir ist natürlich klar, dass wir aufgrund unserer jämmerlichen Personallage nur noch in der Lage sind, den ersten Teil unseres Auftrags erfül len - die Beschaffenheit des Kometen im Kratersee festzustellen. Den zweiten Teil - seine Absicherung gegen Dritte müssen wir vergessen, da der Feind uns haushoch überlegen ist und vermutlich mit uns unbekannten Mächten paktiert.« Lynne nickte langsam. Smythe sah ihrem Gesicht an, dass sie nicht in der Lage war, dies zu bestreiten. Smythe beugte sich vor. »Da unsere
Munition inzwischen knapp ist und die Wahrscheinlichkeit besteht, dass Drax und seine Banditen uns irgendwann hier aufstöbern, schlage ich Folgendes vor: Wir erledigen so schnell wie möglich den ersten Teil unseres Auftrags. Dann packen wir die Aufzeichnungen und al les, was wir noch haben, in einen Pan zer, machen den anderen unbrauchbar und kehren nach Washington zurück.« Lynne nickte zögernd. »Der erste Teil unseres Auftrags ist ohnehin der Wichtigere. Das Geheimnis des Krater sees ist möglicherweise von besonderer Bedeutung für die künftigen Herren der Welt.« Herren?, dachte Smythe belustigt, doch ohne eine Miene zu verziehen. Es kann nur einen geben. Dann nickte er und setzte die Tasse wieder an seine Lippen. »Sobald ich hiermit fertig bin« , sagte er, »brechen wir auf.« *
Februar 2519. In den oberen Etagen der mysteriösen Kristallfestung roch es noch immer stark nach Rauch. Matthew Drax, von seinen Kumpels Matt, von seinen Untergebenen in der nicht mehr existenten US Air Force »Sir« oder »Commander« gerufen und von seiner Geliebten aufgrund eines Verständigungsproblems von Anfang an nur »Maddrax« genannt, rümpfte die Nase, als er die nächste Ecke umrun dete. Die Nachwirkungen der Feuerka tastrophe, die sich der inzwischen tote Bru'ban mit seinen mentalen Kräften 41
entfacht hatte, waren überall spürbar. Okay, er selbst hatte sich auch zwei Der Rauch der Flammen war bis ganz Seitensprünge in Meeraka geleistet, nach oben gestiegen. Es muffelte in al nicht mehr als flüchtige Abenteuer. len Gängen und Räumen. Vorbei. Er hatte es Aruula gebeichtet, Matts schlaksiger Freund und Kol und sie hatte ihm - wenn auch erst nach lege David McKenzie, in besseren Zei einer Weile - verziehen. Aber Matt ten Astrophysiker und Angehöriger der spürte deutlich, dass Rulfan noch immer Astronomie Division der US-Luftwaffe, scharf auf Aruula war und das auch bei nun mehr oder weniger in den Diensten jeder sich bietenden Gelegenheit durch der britischen Monarchie stehend, hielt blicken ließ. Und er wirkte so ver sich die Nase zu. Er hatte sich zudem dammt selbstsicher dabei. Vergiss den Scheiß, flehte Drax seine einen Lappen vor den Mund gebunden, damit sein Bart den Qualmgeruch nicht nagende Eifersucht an. dm bist doch annahm. Eine Dusche hatten sie in dem kein Spießer. Du bist ein Kind des tollen 20. Jahrhunderts. Da waren alle Men verschachtelten Kasten, über dessen Er bauer sie wenig mehr als den Namen schen frei und hatten keine sexuellen wussten, noch nicht entdeckt. Der dritte Komplexe. Er bedauerte es wirklich, keine Hirn Angehörige des Kommandos, der hell häutige Albino Rulfan von Coellen, erweiterungen zu haben wie der Cyborg hatte für die empfindlichen Nasen der . Aiko. Er hätte die ganzen Zweifel und beiden Männer aus der Vergangenheit das Misstrauen darauf ausgelagert und abgeschaltet. nur verächtliche Blicke übrig. Wieso habe ich, wenn ich den Kerl Mit aller Macht zwang er seine Ge sehe, immer das Gefühl, ich müsste je danken zur ursprünglichen Aufgabe zu mandem in den Arsch beißen?, dachte rück. Sie wollten herausfinden, was das Matthew Drax, während sein Blick seltsame Klirren erzeugte, das ihn, durch einen Korridor wanderte, von Dave und Rulfan so spät am Abend in dem allerlei offene Türlöcher abwichen. die obersten Stockwerke gelockt hatte. Dabei wusste er die Antwort: Weil Es war nicht so, dass sie glaubten, sich Rulfan mit Aruula vergnügt hatte, hier triebe ein Gespenst mit rostigen während er selbst in Meeraka verschol Ketten sein Unwesen. Aber die mannig len gewesen war. Wenn er ehrlich war, faltigen Gefahren am Kratersee - so hatte damals nicht die geringste Chance wohl tierischer als auch pflanzlicher bestanden, dass Aruula ihn je wieder Natur - legten nahe, auch ein einfaches sah. Als Sklave hatte er auf dem Segler Klirren erst einmal als Bedrohung ein eines Kolumbus der Gegenwart den zustufen, bis sie sich vom Gegenteil Ozean überquert, um das Land der un überzeugt hatten. Matt und seine Be begrenzten Möglichkeiten zum zweiten gleiter schauten in jeden Raum dieser Mal zu entdecken, während Aruula in Etage, und dies beschäftigte sie über Rulfans Begleitung durch das Land ih eine halbe Stunde lang. Dann wandten rer Väter gezogen war … sie sich wieder der Kristalltreppe zu und 42
nahmen das nächste Stockwerk des mo numentalen Baus in Angriff. Irgendwann fand Matt sich in luftiger Höhe in einer Art Wintergarten wieder und schaute einem Rochenschwarm zu, der mit eleganten Bewegungen die obersten Bereiche der Festung umkrei ste. Die Rochen waren auf ihrem Rücken pechschwarz und weiß auf der Unterseite. Als sie ihn bemerkten, stie gen sie höher, als wollten sie sich nicht zum Angelpunkt seiner Aufmerksam keit machen. Matt sah ihre schwarzen Knopfaugen, über denen ein grünlich schillernder Punkt prangte. Diese klei nen grünen Kristalle erinnerten ihn an das Material, aus dem auch diese Fe stung bestand. Je nachdem, wie sich das Mondlicht in ihnen brach, schillerten sie im gleichen Farbton. Matt schüttelte sich. Wenn man diese flachen Geschöpfe durch die luftigen Höhen gleiten sah, wirkten sie majestä tisch, ungefährlich. Doch der Schein trog: Aruula hatte schon unliebsame Bekanntschaft mit ihnen gemacht. Es war sicher, dass die Rochen über Intelli genz verfügten. Eins der Biester hatte seine Gefährtin mit einer mentalen Energieattacke kampfunfähig gemacht und verschleppt. Aruula hatte festge stellt, dass ihre Tentakel, wenn sie sie verloren, wie Eidechsenschwänze nach wuchsen. Ihre Stachelschwänze konnten Menschen mit einem Hieb in zwei Teile zerlegen. Heute Nacht schienen sie jedoch nicht auf Beute aus zu sein. Deswegen fühlte Matt sich hinter den kristallinen Gitterstäben des Wintergartens relativ sicher. Er wandte sich ab.
Im gleichen Moment vernahm er wieder das geheimnisvolle Klirren, das ihn und seine Begleiter nach oben ge lockt hatte. Matts Blick fiel durch den offenen Eingang des leeren Raumes und über den Korridor hinweg in ein gegen überliegendes Zimmer, in dem Dave und Rulfan wie erstarrt standen. Matt huschte lautlos zu ihnen hin über. Als er im Rahmen der Tür stand, erblickte er die Quelle des melodiösen Klirrens: ein phantastisch anmutendes, drei Meter hohes, von der Hand eines unbekannten Künstlers aus hauchdün nen Kristallscheiben erzeugtes Objekt. Sein Anblick versetzte ihn in Erstau nen. Das Objekt war ebenso mit dem Boden verwachsen wie viele der »Möbel« , auf die sie in der Festung ge stoßen waren. Durch die kristallenen Gitterstäbe zweier großer, sich gegen über liegender Fenster wehte leiser Wind. Er versetzte die »Blätter« des Objekts in Schwingungen und erzeugte so das feine Klirren, das bis weit nach unten zu hören war. »Es sieht wie 'ne Palme aus« , sagte McKenzie. Er zog das Halstuch von sei nem Mund und zerzauste sinnierend seinen Kinnbart. »Kaum zu glauben, dass ein Künstler dieser Epoche so eine Feinarbeit hinbekommen hat. Sonst sieht hier alles ziemlich grob aus.« »Vielleicht war es kein Künstler die ser Epoche« , sagte Matt. Ihm fiel ein, was sie in den Datenspeichern des ARET über die mysteriösen »Waa'steiner« gefunden hatte, die Ah nen der ums Leben gekommenen Fe stungsbewohner. Ihr Name erinnerte ihn an manchen fröhlichen Abend in 43
Deutschland … Das unerwartete Krachen von Driller schüssen ließ Matt und seine Begleiter zusammenfahren. Der Astrophysiker McKenzie warf sich flach auf den Bo den. Rulfan jagte mit wehender Mähne an der Kristallpalme vorbei und presste sich neben einem Fenster mit dem Rücken an die Wand. Sein feines Gehör hatte offenbar in Sekundenschnelle in Erfahrung gebracht, wo geschossen wurde. Da in dieser Höhe keine Gefahr be stand, von einem Projektil getroffen zu werden, durchquerte Matt kaltblütig den Raum und baute sich an der anderen Fensterseite auf. Sein Blick fiel auf das hügelige Gebiet, das sich hinter der Fe stung erstreckte und nach und nach in eine Bergkette überging. An einer bestimmten Stelle - sie war vielleicht einen Kilometer entfernt - sah er das Aufblitzen einer Schusswaffe. Dann flammten kurz hintereinander in der Gegenrichtung einige Laserstrahlen auf und ließen ahnen, was los war: Mr. Black, der sich seit ihrer Ankunft in der Festung keine Gelegenheit entgehen ließ, die umliegenden Hügel zu erkun den und nach Spuren der WCAExpedition zu suchen, hatte Feindbe rührung! Dave McKenzie nickte Matt zu. »Sieht aus, als wäre unser Muskelmann in Schwierigkeiten.« »Yeah …« Matt legte die Hand auf das Schießeisen an seinem Gurt. »Wird Zeit, dass wir dem Kunstgenuss entsa gen und uns auf die Socken machen.« Er hatte kaum ausgesprochen, als der vor Festung geparkte ARET aufheulte 44
und Rulfans Wolfshund anschlug. *
Februar 2012. Durch die nordostsibirische Republik Jakutien verliefen mehrere ins arktische Meer mündende Flüsse. Die Lena, die sich in die Laptewsee ergoss, war der größte. 1922 hatte ein gewisser Genösse Lenin die abgelegene Odnis zur autono men Republik befördert. Doch auch nach dem Zerfall des von seinen Erben in Grund und Boden gewirtschafteten Systems war Jakutien die zweitgrößte russische Provinz geblieben. Tundra, Taiga, Sümpfe, Gebirge, Birken-, Fichten- und Kiefernwälder bestimmten das Antlitz der Region. Die früher noma disch lebenden Jakuten, über Jahrhun derte hinweg die größte Volksgruppe der Republik, waren im 20. Jahrhundert in die Minderheit geraten. Die Wirtschaft Jakutiens widerspie gelte die Abgeschiedenheit und harten Lebensumstände der Region: Nur im Süden und im Lena-Becken waren Landwirtschaft, Rinder- und Rentier zucht möglich. Die Jakuten fischten und gingen auf Fuchs-, Hermelin- und Eich hörnchenjagd. Bergbau und Holzindu strie spielten eine gewichtige Rolle. Fünfundzwanzig Prozent aller Diaman ten kamen aus jakutischen Minen. Rie sige Gasvorkommen im WiljujsskBecken wurden über eine Pipeline nach Jakutsk geleitet. Im Jahr 2008 hatte man sogar die bis dahin nicht nennenswerten Verkehrswege zwischen der Hauptstadt und Tiksi ausgebaut, um von der nur drei bis vier Monate im Jahr schiffbaren
Lena unabhängiger zu sein. Doch all das nützt uns jetzt gar nichts mehr. Warstein seufzte und schüttelte sich. Der Sturm, der einfach nicht nach lassen wollte, ließ ihn trotz der Pelz kappe - er hatte sie einem Toten abge nommen - frösteln. Seine Nase schmerzte mehr als zuvor. Wahrschein lich würde sie sich über kurz oder lang ohnehin in einen Eiszapfen verwandeln. Durch den Schal, den er vor seinen Mund presste, bekam er nur mangelhaft Luft. Sein Kopf ragte aus der Tür des umgekippten Speisewagens, doch wo hin er auch schaute, er sah nur schwarze Finsternis. Kein Stern glitzerte am Himmel. Da bei behauptete das Leuchtzifferblatt sei ner Armbanduhr, es sei nun elf Uhr morgens. Hell wurde es trotzdem nicht. Die Nacht war geblieben. Wenn War stein einatmete, hatte er ständig das Ge fühl, Staub zu schlucken. So sehr er sich auch anstrengte - er hörte nichts außer dem Heulen und Tosen des Win des. Und nun fing es auch noch an zu regnen … Die Welt war irrsinnig geworden. Warstein zerbiss einen Fluch zwischen den Lippen und zog sich langsam zu rück. Die Waggontür war völlig ver beult und ließ sich nicht mehr schlie ßen. Hoffentlich gab es keinen Wolken bruch. Er hatte keine Lust, mitten in Si birien zu ersaufen. Er tastete sich durch das Dunkel, was nicht einfach war, denn im Speisewagen hatten sich die Dimensionen sehr ver schoben. Hinter der Tür, die ins Restau rant des Speisewagens führte, ging er erst mal in die Hocke und schaute sich
um. Chaos. Scherbenmeer. Zerschlagenes Mobiliar. Die beiden jakutischen Trap per hatten die nun den Fußboden bil denden Fenster notdürftig mit Tisch platten bedeckt, damit niemand aus rutschte und sich verletzte. Dem Zug führer Kolja war es immerhin gelungen, den Heizgenerator wieder ans Laufen zu kriegen. So waren sie wenigstens einstweilen vor dem Erfrieren ge schützt. Della und Marina krauchten in den Überresten der Küche herum und versuchten so viele Lebensmittel wie möglich zu retten. Der Pope, die holländischen Studen tinnen und Alexandra lagen, von der Er schöpfung übermannt, auf harten Be helfslagern. Im Licht der Kerzen wirk ten ihre Gesichter bleich und ihre Nasen unglaublich spitz. Der Pope murmelte im Schlaf. Dr. Rogoff kniete mit sor genzerfurchter Miene vor der phantasie renden Gattin des finnischen WodkaImporteurs, dessen Augen er vor einer Stunde zugedrückt hatte. Rich Kid hockte im Schneidersitz auf dem Boden und wählte irgendeine Nummer in New York. Sein Broker schien jedoch den Abschied eingereicht zu haben. Gegen Mitternacht hatte Warstein er folglos eine halbe Stunde lang versucht, mit Alexandras Mobiltelefon irgendeine Verbindung zu kriegen und es dann auf gegeben. Auch Bednarz und Kolja hat ten sich bemüht, Hilfe herbeizurufen. Aber entweder waren alle Systeme aus gefallen oder der Rest der Welt hatte genug mit sich zu tun. Der Ofen ist aus, dachte Warstein. Uns wird niemand retten. Wir sind auf 45
uns allein angewiesen. Punkt. »Ich glaube nicht, dass die Dame den Tag überlebt.« Dr. Rogoff sprach das wie gedruckt klingende Deutsch eines fleißigen Abendschülers. Er hatte sich seine praktischen Sporen als Touristen arzt an der Goldküste verdient. Seine Stirn war gerunzelt. »Andererseits glaube ich kaum, dass wir es viel länger machen, Herr Warstein.« Warstein seufzte. Nachdem er und die Jakuten die vielen Toten aus dem Waggon gehievt hatten, hatten sie ihre prekäre Lage stundenlang diskutiert. Abgesehen von dem verrückten Yuppie machte sich niemand Illusionen über das, was ihnen bevorstand. Sie konnten hier bleiben, bis die Batterie des Heiz generators leer war, und dann langsam erfrieren. Vermutlich würden sie aber vorher verhungern, denn die Bahn, mit der sie unterwegs gewesen waren, war im Gegensatz zur weiter südlich ver kehrenden Transsibirischen nicht auf alle möglichen unvorhersehbaren Situa tionen und Zwischenfälle eingerichtet: Wer von Moskau nach Wladiwostok fuhr, musste damit rechnen, dass er statt der fahrplanmäßigen acht zehn oder zwölf Tage unterwegs war. Doch das, was sie an Lebensmitteln hatten, reichte auch bei strengster Ratio nierung höchstens für drei Tage. Der Kühlwaggon mit den Vorräten war vom Sturm verweht worden. Auch der Hei zung war nicht unbedingt zu trauen: Kolja hatte gemeldet, dass irgendein wichtiges Teil abgebrochen war. Das Gerät war jetzt nur noch mit maximaler Leistung fahrbar. Entsprechend schnell würde das Heizöl verballert ein. 46
Nach der eiskalten Wacht an der Tür empfand Warstein die mollige Wärme im Waggon als sehr angenehm. Aber wenn es so weiterging, würden sie bald ins Schwitzen geraten und mussten trin ken. Zwar waren nicht alle Flaschen zerbrochen, aber nicht jedes Getränk eignete sich zum Durstlöschen. Zu ih rem großen Pech hatten hauptsächlich Cognac und Krimsekt die Katastrophe überlebt. »Ich habe festgestellt, dass der linke Unterschenkel Ihrer Freundin angebro chen ist« , sagte Dr. Rogoff. »Wie? Was?« Warstein schaute auf. Sein Blick fiel auf Della, die mit Marina die noch verzehrfähigen Lebensmittel so verpackte, dass der allgegenwärtige Dreck sie nicht verschmutzte. Dann wurde ihm klar, dass Rogoff Alexandra meinte. »Ich habe das Bein notdürftig ge schient. Aber laufen kann sie damit nicht.« »Wieso hat sie nichts davon gesagt?« , fragte Warstein. »Sie hatte einen Schock.« Dr. Rogoff löste sein Stethoskop und stopfte es in seine Tasche. »Sie hat es gar nicht ge merkt.« Warstein bahnte sich einen Weg nach hinten, wo Alexandra auf dem Pelzman tel eines ins Freie beförderten Toten lag. Sie schlief, aber sie zuckte in einer Tour und atmete rasselnd. Welche Dä monen auch in ihrer Brust wüteten - als er sie so daliegen sah, vergaß er, was sie ihm angetan hatte. Es war keine Frage, dass sie ihren Unterstand in Kürze verlassen mussten. Wie Kolja gesagt hatte, war Jakutsk
nicht fern. Ein gesunder, kräftiger Men sch konnte die Strecke vielleicht in zwei Tagen hinter sich bringen. Aber wie wollte Alexandra es mit einem ange knacksten Bein schaffen? »Ich glaube, wir können nicht hier bleiben« , sagte Bednarz. Warstein drehte sich müde zu ihm um. »Oder glauben Sie, dass uns jemand rettet?« Warstein schüttelte den Kopf. »Niemand vermisst uns. Ich schlage vor, wir machen uns auf den Rückweg nach Jakutsk, sobald der Sturm es er laubt.« »Glauben Sie, da lebt noch jemand?« Bednarz zuckte die Achseln. »Ich weiß nicht. Aber die Stadt ist für sibiri sche Verhältnisse groß. Vielleicht fin den wir dort wenigstens einen Unter stand, in dem wir uns wohler fühlen.« Er kratzte Schmutz von seinem Kinn. »Vielleicht kann man sich da sogar wa schen.« Warstein beugte sich über Alexandra und begutachtete die Schiene, die Ro goff an ihrem Bein befestigt hatte. Draußen toste, heulte, knarzte und kni sterte der Sturm. Er schleuderte noch immer Gestein und Holz gegen das Wrack, aber Warstein glaubte zu hören, dass er schwächer wurde. Vielleicht flaute er bald ab. Vielleicht verwüstete er jetzt gerade die großen Städte im Westen. »Hört zu, Leute, ich hab einen Be schluss gefasst.« Warstein und Bednarz fuhren herum. Sie waren beide ziemlich verblüfft, als sie sahen, dass Rich Kid sich zu Wort meldete. Der junge Mann war aufge standen und steckte sein Mobiltelefon
ein. Seine grünen Augen glitzerten im Kerzenschein und verliehen ihm ein wenig Vertrauen erweckendes Ausse hen. Warstein kannte diesen Blick. Er hatte ihn oft genug bei den höheren Chargen seiner Firma gesehen - meist dann, wenn zu viel Macht und Geld in. Größenwahn umschlugen. Rich Kids Blick deutete aufkeimenden Irrsinn an, vielleicht auch ein Delirium. »Mein ganzer Stoff war in meinem Koffer« , sagte Rich Kid mit nervöser Stimme. Er deutete in eine Richtung, in der sich vermutlich der Waggon mit sei nem Abteil befunden hatte. »Ich hab jetzt nichts mehr. Meinen Broker kann ich auch nicht erreichen. Vermutlich bin ich also jetzt mittellos. Ich finde, dass sich das Leben für mich nicht mehr lohnt.« »Überlegen Sie sich, was Sie tun, junger Mann« , wandte Bednarz ein. Die anderen Überlebenden, sofern sie nicht schliefen, starrten Rich Kid an. »Lassen Sie ihn« , zischte Warstein dem Journalisten zu. »Ohne diesen Irren kommen wir allemal besser zurecht.« »Da mir das Leben nicht mehr le benswert erscheint« , fuhr Rich Kid fort und schob eine Hand hinter seinen Rücken, »hab ich beschlossen, meine Existenz zu beenden.« Er schaute sich triumphierend um. »Ich hab nämlich keine Lust, mir den Arsch abzufrieren und im Dreck zu verhungern.« Sein Arm verharrte hinter seinem Rücken, und Warstein, der ihn mit professionel ler Gewohnheit im Blickfeld behielt, ahnte Fürchterliches. Rich Kids Arm zuckte nach vorn. In 47
seiner Faust schimmerte eine ver dreckte, aber gut erkennbare Schusswaffe. Alexandras Brünna. Das Schießeisen, das sie im Augenblick der Katastrophe verloren hatte. »Ich werd mir 'ne Kugel in die Birne jagen« , sagte Rich Kid und hielt sich den Lauf an die Stirn. Irrsinn glitzerte in seinem Blick. Nur zu, dachte Warstein. Los, mach schon, du Arsch. »Tun Sie das nicht« , sagte Dr. Ro goff auf Französisch. Er hatte zwar kein Wort verstanden, doch die Mimik und die Gesten des jungen Mannes waren vielsagend genug. Bednarz machte An stalten, sich von seinem Lager zu erhe ben, doch Warstein drückte, ohne ihn anzusehen, eine Hand auf seine Brust. »Nicht bewegen.« Rich Kids Blick richtete sich nun auf die zerbeulte Küchenzeile des Speise wagens, hinter der Marina und Della Del Rio sich verängstigt duckten. »Allerdings« , fuhr er fort, »werde ich nicht aus dem Leben scheiden, ohne mir zuvor den Traum zu erfüllen, der mich seit einem halben Jahr um den Erdball reisen und Geld verpulvern lässt …« Sein irrsinniger Blick richtete sich auf Della. »O nein« , sagte Della. »Ich hab es doch gewusst …« Sie warf Warstein einen bittenden Blick zu. »Gütiger Gott« , keuchte Bednarz. »Was hat er vor? Etwa das, was ich denke?« Warstein nickte, ohne ihn anzusehen. »Die meisten Fans würden für eine sol che Gelegenheit sonst was geben …« Rich Kid kam, die Brünna im Vor 48
halt, aus seiner Ecke. Sein Gang war unsicher, seine Stirn voller Schweiß tropfen. Außerdem zog er aufgeregt die Nase hoch, was auf allzu viel Koksge nuss schließen ließ. Der Mann war nicht zurechnungsfähig. Vielleicht war er es von Anfang an nicht gewesen. Ein Mann, der eine Porno-Aktrice um die halbe Welt verfolgte, ohne sie auch nur ein einziges Mal anzusprechen, konnte nicht ganz richtig ticken. Und nun hatte er auch noch ein Schießeisen in der Hand. Dass er seinem Leben ein Ende set zen wollte, störte Warstein nicht. Im Gegenteil. In ihrer momentanen Lage war er bereit, alles zu unterstützen, was ihn und die anderen von diesem Durch gedrehten befreite. Andererseits konnte er Menschen, die andere mit Waffenge walt zu etwas zwangen, ums Verrecken nicht ausstehen. »Hören Sie« , hörte er Bednarz in makellosem Englisch keuchen. »Das meinen Sie doch nicht im Ernst … Sie scherzen doch, oder?« Rich Kid verharrte vor der Küchen zeile. Marina war auf Tauchstation ge gangen. Kolja stand, einen Schrauben schlüssel in der Hand, vor irgendwel chen Geräten. Dr. Rogoff, der noch im mer neben der röchelnden Finnin hockte, zupfte aufgeregt an den Fransen seiner Krawatte. Della stierjte Rich Kid mit offenem Mund an. Sie war fassungslos. »Komm her, Baby« , sagte Rich Kid und winkte mit der Brünna. »Komm her und knie vor mir nieder.« Er stand etwa zwei Meter vor dem knienden Warstein und wandte ihm den
Rücken zu. Warstein kalkulierte seine Chancen. Wenn er sich an die Beine des Burschen hechtete und seine Kniekehlen erwi schte … Wenn er ihn zu Fall brachte, musste ihn jemand rasend schnell ent waffnen. Er warf einen Blick zu Bed narz hinüber, doch der Journalist war mindestens vierzig Jahre älter als Rich Kid und hatte die wüstesten Kämpfe seines Lebens vermutlich an einem Schreibtisch gefochten. Dr. Rogoff war jünger, aber zu weit entfernt. Kolja wurde durch elektrische Gerätschaften und die Thekenzeile behindert. Die bei den jakutischen Trapper, harte Bur schen und jung genug,, um jedem Durchgedrehten die Knochen zu bre chen, lagen im Tiefschlaf und waren noch weiter entfernt … »Ich sag das nicht noch mal, Baby« , rasselte Rich Kid. Della setzte sich trotz ihrer Fassungs losigkeit in Bewegung. Als sie vor Rich Kid stand, deutete dieser mit dem Schießeisen zu Boden. »In die Knie, Schnucki - wie du es in deinen Filmen immer machst.« Er griff sich mit der freien Hand an den Gürtel und drückte der am ganzen Leibe zitternden Della die Mündung der Waffe an die Stirn. Della schlug den Blick zu Boden und griff mit zitternder Hand an seinen Ho senstall. Rich Kid presste die Mündung fest an ihren Kopf und keuchte aufge regt: »Und wenn es am Schönsten ist, gehen wir gemeinsam rüber - auf die andere Seite.« Das reicht, dachte Warstein. Unge achtet seiner schmerzenden Muskeln spannte er alles an, was er hatte, und
schoss aus der Hocke nach vorn. Seine linke Hand drosch in Rich Kids rechte Kniekehle. Seine rechte Hand zuckte hoch und flog auf die Brünna zu. Della schrie auf, als Rich Kids Kniescheibe vorzuckte und ihre Kinn lade traf. Sie fiel nach hinten. Warsteins Hand krallte sich um Kids Waffenhand. Rich Kid wirbelte herum. Er schrie wie am Spieß; wie ein Junge, den Mama in flagranti beim Masturbieren erwischt hat. Seine Waffe richtete sich auf War steins Brustkorb. Ein mörderisches Donnern zerriss die Luft und hüllte das Innere des Waggons in ätzenden Pulverdampf. Ein fester Schlag krachte gegen Warsteins Herz gegend, und er dachte: Ich bin im Arsch. Della kreischte und verbarg ihr Ge sicht in den Händen. Kolja warf sich zu Boden. Die jakutischen Trapper und die niederländischen Studentinnen fuhren aus dem Schlaf hoch und schrien vor Schreck. Dr. Rogoff vergaß seine Pati entin und hechtete auf Rich Kid zu. Bednarz war plötzlich neben Warstein auf den Beinen und schlug mit etwas, das wie ein Kamerastativ aussah, auf Rich Kids Nasenrücken ein. Warsteins Linke, in Kids Handgelenk verkrallt, war plötzlich klatschnass und blutrot. Er wich verwundert zurück und betrachtete seine Finger. Es ist sein Blut, nicht meins. Rich Kid brach wie ein nasser Sack zusammen und knallte mit dem Hinter kopf auf den Boden. Auf seiner Brust breitete sich ein großer roter Fleck aus. Als Bednarz' Stativ ihn an der Stirn traf, war er vermutlich längst tot. 49
Hinter Warstein wurde ein nervöses Husten laut. Die Überlebenden starrten Rich Kids Leiche an. Die Studentinnen, von Entsetzen geschüttelt, fingen an zu weinen. Warstein drehte sich um. Alexandra saß mit fiebrig glänzenden Augen auf ihrem Lager und musterte ihn. Sie hatte ihren Hose bis zum Knie hochgezogen. Um ihren linken Unter schenkel schlang sich ein dünnes Leder holster. Es war leer: Ihre Hand umklam merte eine kleine Pistole. »Ich hab Durst« , keuchte sie. »Und mein Bein tut weh.« Dr. Rogoff und Della eilten zu ihr. Marina kam mit einer Wasserflasche. Bednarz erklärte den Jakuten auf Rus sisch und den Niederländerinnen auf Deutsch, was geschehen war. Warstein winkte Kolja heran, und sie packten den Toten und schleiften ihn aus dem Spei sewagen. Weit hinter ihnen, in der Richtung, in der Warstein Jakutsk vermutete, loderte eine gewaltige Feuersbrunst. War die Pipeline explodiert? Oder brannte die Stadt? Nachdem sie Rich Kids Taschen nach brauchbaren Gegenständen gefilzt und seine Leiche aus dem Waggon ge worfen hatten, sagte Kolja leise in keh ligem Englisch: »Wenn wir bleiben hier, wir erfrieren.« Warstein warf einen Blick auf das Feuer. »Was schlagen Sie vor? Glauben Sie, dass Jakutsk noch existiert?« Kolja zuckte die Achseln. Dann brachte er ein Grinsen zustande. »Bei Feuer wir haben wenigstens warm.« »Was Sie nicht sagen.« Warstein stieß einen Seufzer aus. Der Sturm hatte 50
nun wirklich nachgelassen. Er war kaum mehr als ein starker Wind. Viel leicht schafften sie es. Vielleicht fanden sie in Jakutsk oder in der Umgebung der Stadt ein Quartier, in dem man nicht bei jedem Atemzug Dreck in den Mund kriegte. Vielleicht fanden sie, wie Bed narz gesagt hatte, sogar eine Möglich keit, sich vom dem an ihnen klebenden Schmutz zu befreien. Sie mussten sich gegen die Kälte schützen. Sie mussten kräftig ausschrei ten. Sich beladen, damit sie schwitzten. So was wärmte den Körper. Dann dachte er an Alexandras Bein und fluchte leise. *
Februar 2519. Auch wenn Mr. Blacks Physiogno mie bei Menschen, die ihn nur ober flächlich kannten, gelegentlich den Ein druck erweckte, das alte Vorteil »stark = doof« müsse stimmen, war der Hüne aus Washington doch alles andere als ein Blödian. So wusste er zum Beispiel, dass es kein Zeichen von Klugheit ist, sich in finsterer Nacht in einem Gebiet, das er nicht besonders gut kannte, allein gegen mehrere entschlossene, militä risch ausgebildete und mit unbekannten Waffen ausgerüstete Gegner herumzu schlagen. Die WCA-Agenten hatten ein Ziel: Sie wollten eine der ihren befreien, die unverhofft in Gefangenschaft geraten war. Vielleicht setzten sie ihre Kampf kraft auch nur ein, um Lorbeeren zu ernten. Black hingegen brauchte sich nichts zu beweisen. Er wusste auch so,
dass er gut war. Deswegen hatte er, nachdem der Schusswechsel ihm klar gemacht hatte, dass er den WCA-Agenten personell unterlegen war, für einen taktischen Rückzug votiert. Nun sind aber auch kluge Menschen gegen Missgeschicke nicht gefeit: Nachdem Black, Haken schlagend wie ein Hase, dem Beschuss seiner unbe kannten Gegner entwischt war, hatte er in einem am Fuße des schmalen Tals aufragenden Wäldchen verschnauft und so lange gewartet, bis er sicher war, dass seine Gegner den Rückzug ange treten hatten. Dann war er den Hügel hinauf und an der anderen Seite wieder hinab geeilt. Dort hatte sich sein Schicksal erfüllt. Als er wieder zu sich kam, brauchte er eine Weile, um zu erkennen, dass der Sternenhimmel über ihm auf die Größe eines kleinen Quadrats geschrumpft war. Als er mit dröhnendem Schädel aufstand, um dieses Phänomen näher zu untersuchen, verspürte er einen stechen den Schmerz in seinem rechten Fuß und stieß - was er nur tat, wenn er ganz al lein war - den einzigen ihm bekannten amerikanischen Fluch aus: »Fuck! Fuck! FUCK!« Was jetzt?, dachte er. Ein Beinbruch hat mir gerade noch gefehlt. Er setzte sich hin, zückte eine Taschenlampe, be leuchtete den schmerzenden Fuß und ta stete ihn ab. Er tat weh, ja, aber war er gebro chen? Da er keine Möglichkeit hatte, eine genaue Diagnose stellen, doch an dererseits wusste, dass ein Marsch mit einem gebrochenen Fuß einen Bruch
unnötig verkomplizieren würde, gab er seufzend nach und aktivierte eines der beiden ISS-Funkgeräte, die der zu ihnen übergelaufene Dr. Stuart - leider kein Mediziner - mitgebracht hatte. Sie wa ren übereingekommen, die Geräte nur im Notfall zu benutzen, da auch die Ge genseite noch mindestens eines besaß und mit etwas Pech den Funkspruch ab hören konnte. Aber wenn das hier kein Notfall war …? »Tsuyoshi hier« , meldete sich eine ihm gut bekannte Stimme. »Wo stecken Sie? Wir sind schon mit dem ARET un terwegs.« Black räusperte sich. Er war selten in seinem Leben so verlegen gewesen. »Ich muss leider gestehen, dass ich es nicht weiß, Mr. Tsuyoshi.« »Ihre Angaben sind wirklich sehr hilfreich, Mr. Black« , erwiderte Tsuyoshi nicht ganz ohne Harne. Seit der Asiate Miss Kareen Hardy, die alle Honeybutt nannten, den Kopf verdreht hatte, sodass ihr revolutionärer Elan in letzter Zeit zu wünschen übrig ließ, stand Black dem Cyborg eher kritisch gegenüber. »Ich stecke in einem Loch« , erwi derte Black, »und habe mir das Bein verstaucht. Oder gebrochen.« »Es wird immer besser, Mr. Black.« Tsuyoshi seufzte. »Aber keine Sorge. Wir finden Sie schon. Wir haben näm lich einen …« , er räusperte sich, »… eine Art Hund dabei. Es kann vielleicht etwas dauern.« »Ansonsten gehts mir gut« , sagte Black und schaute sich um. »Ich scheine in einer Höhle zu sein. Bin 51
wohl irgendwo durchgebrochen.« »Hüten Sie sich vor den Bären« , sagte Tsuyoshi, und Black konnte nicht genau einordnen, ob es ein gut gemein ter Rat war oder der Cyborg ihn veräp pelte. Er kappte die Verbindung. Es bestand kein Grund, dem Feind mehr Hinweise auf sein Missgeschick zu geben als nö tig. Er legte keinen Wert auf unverhoff ten Besuch durch die Henkersknechte General Crows. Er wusste, sie konnten ihn nicht leiden. Black nahm die Taschenlampe und erforschte die nähere Umgebung. Er war nicht in einer Höhle. Die Wände waren glatt und wirkten irgend wie metallischrostig. Er richtete sich vorsichtig auf und stützte sich auf sein Lasergewehr. Jetzt verstand er, wieso der Sternenhimmel so klein geworden war: Über ihm war eine Luke. Den Rest des Firmaments verdeckte eine Decke. Metall, wohin das Auge schaute. Ein Bunker? Wohl kaum. Black tappte an der Wand entlang, die ihm an nächsten war. Am Boden lag allerlei Gerumpel, aber auch längst verdorrte Äste und Wurzeln. In der Luft war ein undefi nierbarer Geruch. Möglicherweise hatte Tsuyoshi die richtige Nase gehabt. Nicht alle Tiere waren so fleißig, sich einen eigenen Bau zu graben. Der Raum erwies sich nach einmali gem Abschreiten als ungefähr zwanzig Meter lang und vier Meter breit. Ein künstliches Produkt. Vermutlich - nein, ganz sicher - aus alter, uralter Zeit. Dann stieß Blacks Fuß gegen ein am Boden liegendes Eisenteil. Er bückte 52
sich und hob es auf. Es war rostig, steinalt, nicht mehr zu gebrauchen. Aber relativ gut zu erkennen. Eine tschechische Pistole. Eine Jahreszahl war in die rechte Seite des Laufs eingra viert: 1999. Modell Brünna. Welch hübsches Artefakt. *
Der südliche Horizont färbte sich all mählich grau, als die WCATauchpanzer zwanzig Kilometer östlich der Kristallfestung aus einer Granit schlucht rollten und sich leise rasselnd auf den Weg machten, um den einen Kilometer hinter sich zu bringen, der sie vom Ufer des Kratersees trennte. Die Grotte, in der sie sich in den letz ten Tagen verborgen hatten, lag weit hinter ihnen. Um die Mission auf kei nen Fall im letzten Moment zu gefähr den, hatte Jacob Smythe auf einem lan gen Umweg bestanden. Er wollte nicht von Drax und seinen Leuten gesehen werden, wenn sie zum Tauchgang schritten, das Geheimnis in den Tiefen des Sees lösten und sich dann - wie ab gesprochen - auf die Heimfahrt mach ten. Die Expedition war vom ersten Tag an vom Pech verfolgt worden. Sie hat ten auf der Fahrt nach Sibirien unge heure Verluste einstecken müssen. Jetzt sollte nichts mehr ihren Triumph torpe dieren. Die dunklen Wasser des Sees tauch ten - vor ihnen auf. Feiner Dunst dräute über der spiegel glatten Fläche. An Land war es so wun derbar neblig, dass eine Entdeckung
durch die Konkurrenz unwahrscheinlich war. Größere Sorgen machten Captain Lynne Crow, die hoch konzentriert und sich auf die Unterlippe beißend hinter dem Steuer von Panzer l saß, die weit hin leuchtenden weißen Unterseiten der Rochen. Sie segelten vor ihnen in einer Höhe von ungefähr hundert Metern über dem Wasser. Smythe saß neben ihr an den Ge schützen. Zur Feier des Tages und um gegen Schweißhände gewappnet zu sein, trug er Lederhandschuhe. Private Bellows, vor Aufregung hin und her rutschend, nahm einen der Sitze hinter ihnen ein und bediente die Ortung. Smythes Blick hatte ihm klargemacht, dass seine Tage gezählt waren, sobald er sich den nächsten Fauxpas erlaubte. Heute ging es nämlich, wie Jacob es mit einem seiner altertümlichen Sprüche ausgedrückt hatte, »um die Wurst« . Als Panzer l die Böschung zum See hinter sich gebracht hatte und seine Ket ten ihn ins Wasser trugen, hielten alle an Bord den Atem an. Kurz darauf zeig ten die Bildschirme, dass das Wasser um sie herum stieg. Schließlich schlug es über ihnen zusammen. Lynne schal tete das Kettentriebwerk aus und akti vierte die Strömungstriebwerke. Das Gerassel der Ketten wurde vom Wis pern des komprimierten Wasserstroms ersetzt. Es ging tiefer hinab. Dann ver schwand der Boden unter ihnen. Panzer l schwebte im Wasser. »Tauchvorgang erfolgreich abge schlossen« , sagte Lynne in das Mikro des Headsets. »Wie siehts bei Ihnen aus, Jackson?«
Rauschen. Smythes Kopf fuhr herum. Seine Au gen funkelten wütend. Wenn er etwas nicht ausstehen konnte, dann »menschliche Unzulänglichkeit« . Technische Probleme, so seine Ansicht, seien in der Regel nur Ausreden für In kompetenz. Wenn etwas nicht funktio nierte, lag es meist nicht an der Tech nik, sondern an den Menschen, die sie unfachmännisch bedienten. »Jackson?« , wiederholte Lynne. »Empfangen Sie mich?« »… erfolgreich« , hörte sie Corporal Jackson mit gepresster Stimme sagen. »Wiederhole: Tauchvorgang ebenfalls erfolgreich.« Dann: »Ich glaube, irgend was beeinträchtigt den Funkverkehr, Captain.« »Das glaube ich auch.« Lynne nickte. Smythe schnaubte verächtlich. Private Bellows hielt sich bedeckt. Lynne behielt den Tiefenmesser im Auge. Sie hatten nun dreißig Meter hin ter sich gebracht. Das Wasser war, wie zu dieser frühen Stunde nicht anders zu erwarten, dunkel und trüb. In ihrer Um gebung schwamm allerlei fischiges und schalenkrustiges Getier und beglotzte sie Stiel- und Glubschaugen. Auf dem Heckbildschirm wurde nun Panzer 2 sichtbar. Corporal Jackson steuerte ihn. »Was ist das da?« , fragte Bellows plötzlich und deutete auf den Seiten bildschirm. »Einer dieser Rochen?« Lynne blickte auf ihre Anzeigen und bestätigte Bellows' Vermutung. »Entfernung vierzig Meter.« Smythe beugte sich vor, nickte und knirschte mit den Zähnen. »Behalten 53
Sie ihn im Auge, Bellows, Wenn er nä her kommt, will ich eine Meldung hö ren.« »Jawohl, Sir.« Der Rochen hielt Abstand, blieb aber auf ihrer Höhe. In sechzig Metern Tiefe gesellte sich ein zweiter zu ihm. Dann ein dritter. Sie hielten Abstand, schie nen die Panzer zu belauern. Lynne wurde immer unwohler zu mute. Hielten sie die Tauchpanzer für Riesenfische - oder stimmte Jacobs Theorie, dass sie künstlichen Ursprungs und nichts anderes als Spionaugen der Herren dieses Gebiets waren? Wenn seine Vermutung zutraf, war ihr Unter nehmen dem Feind längst bekannt. Auf Smythes hoher Stirn standen Schweißtröpfchen. Er umklammerte die Waffenkonsole und stierte auf die Bil der der Außenbordkameras. Aus dem Rochentrio war nun ein Dutzend gewor den, das die Expedition mit wedelnden Flossen begleitete. »Die brüten doch irgendwas aus« , rasselte Smythe gepresst. »Die führen was im Schilde! Aber die sollen nur kommen!« Mach jetzt keinen Scheiß, dachte Lynne. Trotz seiner hohen Bildung und seiner akademischen Titel verhielt sich Jacob manchmal wie ein Halbstarker, der ständig aller Welt beweisen musste, dass ihm niemand das Wasser reichen konnte. In diesen Momenten wurde sie den Verdacht nicht los, dass er vielleicht zu irre für sie war. In seiner Selbstüber schätzung wagte er sich nicht zum er sten Mal in eine Situation, die zur To desfalle werden konnte. 54
Vielleicht war ihr irrwitziger, aus der Not geborene Scheinplan, sich mit Black und Drax zusammenzutun, für ihre nähere Zukunft doch Erfolg ver sprechender als ein Leben an der Seite des unberechenbaren Jacob Smythe … *
In einer Tauchtiefe von zweihundert fünfzig Metern breitete sich in Smythes noch immer leicht schmerzender Nase eine angenehme Wärme aus. Kurze Zeit später erfasste sie seinen gesamten Schädel. Die Wärme verlieh ihm ein noch nie dagewesenes Hochgefühl. Dann breitete sie sich auch im Rest sei nes Körpers aus, bis in die Spitzen sämtlicher Extremitäten. Die Hitze, die ihn körperlich erfasste, war am ehesten mit den Auswirkungen einer Kalziumspritze zu vergleichen. Außerdem verursachte sie ihm eine so gewaltige Erektion, dass er um die Nähte seines Tarnanzugs fürchtete. Smythe lugte schnell nach links und hinter sich, um festzustellen, ob Lynne und der nichtsnutzige Bellows etwas davon mitbekamen. Zum Glück ließen die beiden die Anzeigen ihrer Instru mente und die Bildschirme des Kampf gefährts nicht aus den Augen. Smythe fragte sich, was wohl für sein Wohlgefühl verantwortlich war. Der Schluss, zu dem er kam, War wenig er freulich: Eine fremde Macht wirkt auf mich ein. Schon begann sein Puls zu ra sen. Von seiner hohen Stirn strömte Schweiß. Er schmeckte Salz auf seinen Lippen. »Zweihundertsiebzig« , sagte Lynne.
»Zweihundertsiebzig« , bestätigte ler, keine Null, die zum sabbernden Corporal Jackson über Funk aus dem Idioten wird, sobald sie die physikali ihnen folgenden Panzer. schen Gegebenheiten nicht mehr ver »Die Rochen umkreisen uns immer steht … Ja, die Enge macht dir zu noch in konstantem Abstand« , meldete schaffen, aber du hast die Gefahr er Private Bellows. kannt und wirst dich nicht von ihr ver Ein grünes Licht erschien vor ihnen einnahmen lassen. Als er nach links schaute, zu Lynne in der Dunkelheit des Kratersees. Doch als Smythe sich überrascht vorbeugte, Crow hin, die wie üblich Handschuhen um es heran zu zoomen, war es schon trug, damit niemand auf die Idee kam, wieder verschwunden. Nein, doch nicht; sie könne einen künstlichen Arm haben, glaubte er seinen Augen nicht zu trauen. aus den Augenwinkeln konnte er es se Sie hatte sich nach hinten gedreht und hen. Aber wenn er den Kopf zur Matt tat etwas, das ihn bis ins Mark erschüt scheibe wandte … Merkwürdig … terte: Sie knutschte mit Private Bellows, Urplötzlich empfand er das Innere der seine Arme von hinten um sie ge des Tauchpanzers als sehr beengend. legt hatte und Jacob Smythe frech zu Und dann vernahm er überall um sich zwinkerte. Smythes Hand zuckte zu seinem herum ein Knirschen und Knacken, als Driller. wollten die finsteren Wasser des Krater »Jacob?« sees prüfen, wie viel Kraft sie brauch Er schüttelte den Kopf. Die Halluzi ten, um das Gefährt und seine Insassen nation verblasste. Lynne saß allein am zu zerquetschen. Smythes rechte Hand löste sich von Steuer. »Ist dir schlecht?« , fragte Lynne. der Waffenkontrolle. Er griff sich an den Hals. Ihm fiel ein, dass er sich noch »Du siehst blass aus.« Smythe verneinte mit krächzender nie im Leben so tief unter Wasser be funden und in seinem ganzen Leben Stimme und wandte sich wieder der noch keinen Gedanken an die Frage Konsole zu. Die Munitionsanzeige hatte verschwendet hatte, ob er vielleicht, dem Gesicht von Commander Drax ohne es zu wissen, an Klaustrophobie Platz gemacht. Auch er grinste Smythe frech an. litt. Ein merkwürdiges Kribbeln machte Smythe schüttelte erneut den Kopf. sich in seinem Bauch breit. Eine bisher Drax verschwand. An seiner Stelle unbekannte Angst wogte in ihm hoch. tauchte nun Bellows auf, und er sprach Er registrierte, dass er sehr flach atmete, sogar zu ihm. »Die geile Braut spann als befürchte sein Körper, er könne plat ich dir aus« , sagte er. »Da verlass dich zen, wenn er zu viel Sauerstoff auf mal drauf. Gegen mich bist du nichts nahm. weiter als ein alter Sack mit schütterem Reiß dich am Riemen, dachte er. Du Haar. Du glaubt doch nicht wirklich, bist ein hochdekorierter Wissenschaft dass Lynne auf dich abfährt, Mann.« 55
Ich werd dir zeigen, was ein ,alter Sack' alles drauf hat, knirschte es in Smythes Hirn. Ich werd dir das Herz rausschneiden, du dämlicher Prolet. Er drehte sich um. Bellows saß, als könne er kein Wässerchen trüben, vor der Or tung. Aber ein Jacob Smythe ließ sich nicht täuschen. Niemals! Als seine Hand auf dem Knauf des Drillers lag, wurde Smythe klar, dass es Irrsinn war, im Inneren des Panzers zu schießen. Zu groß war die Gefahr, dass das Projektil Bellows' weichen Wanst durchschlug und lebensgefährliche Schäden anrichtete. Nein, er würde das Messer nehmen. Bevor er es jedoch ziehen konnte, quäkte es in seinem Headset und die Stimme Corporal Poles sagte in einem fast hysterischen Tonfall: »Wir haben Probleme, Captain … Jackson …« Gleich darauf kreischte in Smythes Gehörgängen eine Stimme unverständ liche Worte. Sie übertönte Pole und ließ Lynne erschreckt den Kopf herumrei ßen. Smythe brauchte fünf Sekunden, bis er begriff, dass es Jacksons Stimme war. Die Worte, die er hysterisch brüllte, bewiesen nur eins: Er litt an Wahnvorstellungen. Durch die Wände des Panzers, so krakeelte Jackson, kämen Tausende von Käfern, um ihm das Hirri auszusaugen. Er müsse die Mission sofort abbrechen und auftau chen. Private Blayre und Corporal Pole versuchten ihn zu übertönen und der Besatzung von Panzer l einen Lagebe richt zu geben, doch Jackson setzte sich allem Anschein nach nun auch körper lich gegen sie zur Wehr. 56
In Smythes Headset knisterte, knackte und rauschte es. Lynne saß kreidebleich am Steuer und stierte ihn mit offenem Mund an, während Bel lows zu irgendeiner Gottheit betete, mit denen dieser Planet seit »Christopher-Floyd« im Überfluss ge segnet war. Um das Getöse in seinem Kopfhörer zu übertönen und zu Pole und Blayre durchzudringen, sah Smythe sich ge zwungen, nach Disziplin zu brüllen. Private Blayre fing unmotiviert zu sin gen an. Maggie Pole schrie um Hilfe. Zwei Drittel der Besatzung des Panzers 2 waren offenbar nicht bei Sinnen. »Reißt euch zusammen!« , schrie Smythe ins Mikro. »Es ist eine Attacke! Eine Attacke! Die verdammten Rochen sind daran Schuld! Es sind nur Halluzi nationen!« Er beugte sich über die Waf fenkontrollen. »Kommt zu euch! Schießt die verdammten Rochen über den Haufen!« »Sie saugen mein Hirn aus!« , kreischte Corporal Jackson. »Au! Au! Es tut so weh!« Er fing an zu flennen wie ein Waschweib. »Ausschalten!« , rief Smythe ins Mi kro. »Schalten Sie die Memme Jackson aus, Pole, wie auch immer! Das ist ein Befehll« Das Ächzen, das sein Headset über trug, schien aus einer weiblichen Kehle zu kommen. Was war da los? War Jack son im Begriff, Pole zu erdrosseln? Nun schrie Private Blayre um Hilfe. Smythe befahl ihn, das Kommando zu überneh men und Pole zu Hilfe zu kommen. Aber offenbar entwickelte Jackson in seinem Wahn Bärenkräfte und ließ we
der Pole noch Blayre an sich heran. »Vampirkäfer!« , schrie er. »Hirnsauger! Aber nicht mit mir!« Smythes Kopfhörer übertrug heftige Kampfgeräusche. Dann schrie Jackson vor Schmerz auf und verstummte. Pri vate Blayre heulte triumphierend auf. »Ich hab ihn erledigt, Sir! Ich hab ihn erledigt!« Smythe atmete auf. »Wie geht es Corporal Pole?« , erkundigte er sich. »Sie ist 'n bisschen blass um die Nase und massiert sich den Hals« , meldete Blayre. »Aber ich glaub, ich krieg sie schon wieder hin.« »Mein Gott« , stöhnte Corporal Pole. »All das Blut … All das Blut … Ich glaub, ich muss …« Das nachfolgende Geräusch verkündete, dass sie sich übergab. »Können Sie die Kiste steuern, Blayre?« , fragte Smythe besorgt. »Ich glaub schon, Sir« , erwiderte Blayre. »Corporal Pole kann es natür lich besser, aber … Moment, ich muss Jackson eben beiseite schaffen.« Smythe schaute Lynne an. Sie war noch immer blass, schien sich aber ge fangen zu haben. »Das kriegen wir schon wieder auf die Reihe« , sagte er und tätschelte beruhigend ihren Ober schenkel. »Die Pole ist fähig. Sie hat auch mehr auf dem Kasten als Jack son.« »Dein Wort in Gottes Ohr.« Lynne seufzte. »Alles klar, Sir« , meldete Blayre kurz darauf. »Hab den Pilotensitz über nommen. Jetzt können wir ordentlich auf die Kacke hauen.« Er fing wieder an zu singen.
Lynne und Smythe schauten sich an. »Blayre?« , sagte Lynne argwöh nisch. »Sind Sie wirklich ganz in Ord nung?« »Yeah, Baby …« »Beschuss von achtern« , keuchte Private Bellows plötzlich. »O gütiger Himmel …« Smythe zuckte nach vorn, über den Monitor. Lynnes Hände flitzten über die Kontrollen, leiteten ein blitzschnelles Ausweichmanöver ein. Panzer 2 unter dem Kommando von Private Blayre feuerte aus allen Rohren - doch nicht auf die Rochen, sondern auf das Fahrzeug der Expeditionslei tung! Die Strömungstriebwerke heulten auf und zwangen Panzer l auf einen Aus weichkurs. Blayres Schüsse gingen ins Leere. Bellows stieß einen Freuden schrei aus. Smythe umklammerte mit beiden Händen die Waffensteuerung. Er brauchte nicht zu wenden, um das zu tun, von dem er nun wusste, dass es un ausweichlich war. Sie oder ich. Seine Finger aktivierten die Systeme. Am Heck passierte etwas. Tödliche Feuerzungen peitschten durch das dunkle Wasser. Bumm! Bumm! Bumm! Corporal Maggie Pole kreischte in sei nem Kopfhörer. Lynne stieß bittere Flü che aus. Smythe brachte eine zweite Dreier salve auf den Weg. Hinter ihnen brei tete sich ein Feuerball aus, der das Was ser sprudeln ließ. Als die Luftblasen aufstiegen, war von Panzer 2 nichts mehr zu sehen. »Das reicht mir« , stieß Lynne her 57
vor. »Die Expedition wird abgebrochen. Wir tauchen auf!« Smythe schaute von seiner Konsole auf. Sein Kopf flog zur ihr herum. Dann seine rechte Faust. Er versetzte Lynne einen Kinnhaken, der sie besinnungslos hinter der Steuerung zusammensacken ließ. Er ignorierte das entsetzte Stöhnen Bellows', packte ihre Schultern und zerrte sie vom Sitz auf den Boden. Ver ächtlich sah er auf sie hinab. Abbrechen? Dafür war er schon zu weit gegangen. Er hatte getan, was ge tan werden musste, und würde es auch weiter tun. Für Furcht oder Verzagtheit war kein Platz. Als Nächstes waren die Rochen dran. Er musste verhindern, dass sie weitere Halluzinationen schickten. Mit einer flinken Handbewegung schaltete Smythe den Autopiloten ein, beugte sich wieder über die Waffenkon trollen und nahm den Schwarm ins Vi sier. Feuer! Feuer! FEUER! Er erwischte mit drei Salven minde stens ein Dutzend der Bestien, die so fort auseinander schwärmten. Etwas geschah. Klarheit kam über Smythe, als ob je mand ein schwarzes Tuch von seinem Verstand gezogen hätte. Vor sich erblickte er in der Tiefe, am Grund des Kratersees, eine riesige dunkle Masse, in deren mächtigem Leib unzählige grüne Lichter glühten. Dann hörte er ein Geräusch hinter sich. Und als er sich umdrehte, schaute er in Bellows' kalkweißes Gesicht - und 58
in die Mündung eines Drillers. Bellows' Pupillen waren wie die ei nes Epileptikers, der einen Anfall hatte, nach oben geklappt. »Ja, ich habe ver standen« , sagte er mit einer Stimme, die klang, als käme sie aus einer ande ren Welt. Smythes Hand zuckte hoch. Die Klinge seines Messers bohrte sich in Bellows' Hals. *
Februar 2012. Laut Gerry Marsden aus Liverpool erwartete einen am Ende des Sturms ein goldener Himmel. Aber der brave Gerry hatte im 20. Jahrhundert nur ins Ohr ge hende Popsongs geschrieben und ver mutlich nichts von Meteorologie ver standen. Auch dieser Tag war so schwarz und kalt wie die davor. Eigentlich konnte man Tag und Nacht nur unterscheiden, wenn man auf die Uhr blickte. Wie lange machts die Batterie wohl noch? Seit zwanzig Stunden mar schierte Warstein nun hinter den jakuti schen Trappern her. Kolja zufolge kannten sie sich in dieser Gegend sehr gut aus. Inzwischen hatte sich jedoch herausgestellt, dass die Gegend, durch die sie, dick vermummt und in Tisch decken gehüllt wanderten, nichts mehr mit der gemein hatte, die die Naturbur schen gewöhnt waren: Sie fanden kei nen bekannten Weg oder Steg. Der Ko meteneinschlag und der ihm nachfol gende Sturm hatte alles von unten nach oben gekehrt. Er hatte die Bäume im Lena-Becken entwurzelt und wie einen
Schwarm gigantischer Zugvögel nach Norden fliegen lassen. Die Überleben den der Eisenbahnkatastrophe mussten sich in dunkler Nacht einen Weg durch eine fremde planetarische Landschaft bahnen. In Küchenfett getauchte, aus Vorhangstoff und Stuhlbeinen geba stelte Fackeln wiesen ihnen den Weg durch eine bizarre Landschaft. Sie gingen dem Feuer entgegen. Nach dem Tod der Finnin hatten sie die Lage besprochen und sich entschie den, den Marsch nach Jakutsk zu wa gen. Der Pope, ein kräftiger, schwarz bärtiger Bursche, hatte zwar einen ge brochenen Arm, aber gesunde Beine. Warstein trug Alexandra Huckepack. Die restlichen Überlebenden zuckelten durch die finstere, aufgewühlte Land schaft hinter ihnen her. Schnee war nir gendwo mehr zu sehen. In der Luft war ein mysteriöses Rauschen. Es erinnerte Warstein an die Brandung der See. Auch am linken Ufer der Lena loder ten gigantische Feuer. Ihr Knistern und Knacken war überall zu hören. Wärme wehte über Fluss. Die Helligkeit der Flammen wurde so stark, dass man die Fackeln bald nicht mehr brauchte. Den noch kamen sie nur langsam voran, denn der frisch aufgeworfene Boden war nicht festgetreten. Dummerweise war er aber auch nicht weich, denn in diesen Breitengraden herrschte ständi ger Permafrost. Warstein hatte das Ge fühl, auf Eiern gehen. Die beiden Jakuten blieben plötzlich stehen. »Schschsch!« , machte der Äl tere. »Was ist?« Warstein hielt mit seiner schlafenden Last an. Er spürte, dass die
anderen es ihm gleichtaten. Alexandra, an seine regelmäßigen Bewegungen ge wöhnt, zuckte zusammen und murmelte etwas. Kolja huschte an die Spitze und tuschelte mit den Jakuten, die nun auf geregt nach vorn deuteten. »Da kommt jemand« , sagte Kolja und starrte in die Finsternis. Warstein strengte sich an, sah aber nichts. Er hörte auch nichts, aber er war bereit, den Trappern zu glauben. Dann loderte auf der anderen Seite der Lena ein neuer Waldabschnitt auf. Im Schein des Feuers fiel Warsteins Blick auf einen gespenstisch anmutenden Zug von Menschen, die sich ihnen aus Rich tung Jakutsk näherten. Es mussten Dut zende sein. Sie waren völlig verdreckt und verrußt, in schmutzige Lumpen ge kleidet und brabbelten leise und unver ständlich vor sich hin. Sie näherten sich den Jakuten und Kolja im Gänsemarsch, schienen sie jedoch nicht wahrzuneh men. Die Jakuten schauten sich an. Kolja stutzte. Als die zerrissene Karawane nahe genug herangekommen waren, rief der Zugführer ihnen etwas zu, doch nie mand reagierte. Die Menschen gingen weiter. Eins, zwei, eins, zwei … War stein blickte in starre Gesichter, leere Augen. Viele der Ankömmlinge waren verletzt und notdürftig mit schmutzigen Lumpen verbunden, durch die dennoch Blut tropfte. Es waren meist junge Men schen. Auch einige Kinder waren dabei. Sie wirkten wie eine Abordnung leben der Toter, die auf dem Weg zum Fried hof war, um sich dort zur letzten Ruhe zu betten. Kolja stürzte sich auf den ersten 59
Mann, hielt ihn an den Kleidern fest und redete auf ihn ein. Der Mann ging einfach weiter, als sähe er ihn nicht. Auch beim zweiten erging es dem Zug führer nicht anders. Die Ankömmlinge wirkten, als stünden sie ausnahmslos unter schwerem Schock, als seien sie geistig in eine andere Dimension ge wechselt. Viele stöhnten und brabbelten vor sich hin. Alle marschierten in stumpfem Gleichmut an ihnen vorbei. Niemand schenkte ihnen einen Blick. Warstein blieb stocksteif stehen und musterte die Leute. Das Grauen breitete sich in seinem Herzen aus. Er schüttelte sich. Alexandra murmelte etwas. Dann scherte der kräftige Pope aus ihrer Gruppe aus, hob seinen gesunden Arm und trat den Menschen in den Weg. Warstein verstand seine Worte nicht, doch auch ihm erwies man keinen Re spekt. Die abgerissenen Zombies wi chen ihm aus, gingen um ihn herum. Schließlich, als fast alle an ihnen vor beigegangen waren und in der Finster nis verschwanden, sagte der Pope etwas zu den Jakuten. Der letzte Wanderer, ein bleicher Bursche mit einem blutigen Kopfverband, der sein linkes Auge ver deckte, wurde am Kragen gepackt und festgehalten. Der Pope brüllte ihn an. Der Bursche richtete den Blick zu Boden, dann mur melte er etwas, das die Jakuten und den Geistlichen so verdutzte, dass sie ihn losließen. Der Bursche wankte weiter, verschwand im Dunkel. »Was hat er gesagt?« , fragte War stein. Die Jakuten schauten sich fassungs los an. Der Pope schüttelte den Kopf, 60
als traue er seinen Ohren nicht. Warstein drehte sich zu Kolja um und wiederholte seine Frage. Kolja zuckte verlegen die Achseln. »Er chat gesagt …« Er schüttelte sich. »Das Meer ist da … Das Meer ist gechommen …« »Das Meer ist gekommen?« Warstein fiel das Rauschen ein, das er gehört zu haben glaubte. Aber es konnte natürlich nur Einbildung sein. Jakutsk lag minde stens siebenhundertfünfzig Kilometer von der Laptew-See entfernt. Wenn »das Meer« in die Stadt gekommen wäre, hätte es sich einen Weg durch die Lena bahnen müssen, an deren Ufer sie nun seit Stunden entlang gingen. Nicht mal einem Blinden hätte dies entgehen können. »Ein Verrückter« , sagte Kolja. »Zweifellos.« Die lebenden Toten waren ver schwunden. Der Teufel mochte wissen, wo sie hin wollten - in der Gegend, in die sie zogen, war bestimmt kein Blu mentopf zu gewinnen. Zwischen Ja kutsk und Tiksi lagen nur Kaffs, deren Holzbauten der Sturm geplättet haben musste. Wollten sie etwa zu Fuß nach Tiksi gehen? Es war reiner Wahnsinn. Minuten später hörte Warstein einen der Jakuten fluchen. Seine Arme wir belten durch die Luft. Der Mann schien über etwas gestolpert zu sein. Er verlor das Gleichgewicht und fiel nach vorn. Sein Gefährte eilte ihm zu Hilfe. Als Warstein und die anderen sie erreichten, sahen sie, dass da nicht einer, sondern zwei Mann am Boden lagen. Warstein rief nach Dr. Rogoff, der nach vorn eilte und den Unbekannten
untersuchte, über den der Jakute gestol pert war. Ein Mann. Er war bewusstlos. Rogoff versetzte ihm ein paar Ohrfei gen. Schließlich stöhnte der Mann und öffnete die Augen. Sein Blick war so wirr wie der aller anderen, die ihnen be gegnet waren, doch dann - im Ange sicht des Todes - klärte er sich und er sagte etwas, das alle, die ihn verstan den, offenbar verdutzte. »Was sagt er?« , fragte Warstein. Er hatte damit gerechnet, dass Rogoff übersetzte, doch zu seinem Erstaunen vernahm er Alexandras Stimme. »Er hat gesagt: Guten Tag, meine Herren, wie geht es Ihnen?« »Was?« Warstein war zu verdutzt, um sich darüber zu wundern, dass Alex andra mit ihm redete, ohne ihn zu schmähen. Aber wahrscheinlich war sie zu dem Schluss gekommen, dass ihr eine große Klappe in ihrer Lage nicht zum Vorteil gereichte. Die Jakuten hat ten sie im Schlaf mit Riemen auf seinen Rücken geschnallt, sodass es an sich nicht nötig war, dass sie sich an ihm festhielt. Zu seinem Erstaunen spürte er jedoch, dass sie nun von hinten die Arme um seinen Hals schlang. Rogoff sprach auf den Mann ein, der keine Anstalten machte, sich zu erhe ben. Er wirkte nun völlig klar und schien zu wissen, dass es mit ihm zu Ende ging. Er beantwortete Rogoffs Fragen, dann schloss er die Augen und starb. »Jakutsk existiert nicht mehr« , raunte Alexandra in Warsteins Ohr. »Die Pipeline ist in die Luft geflogen. Und …« , sie räusperte sich, »das Meer ist gekommen.«
»Was zum Henker hat das zu bedeu ten?« Warstein wuchtete ihr kaum nen nenswertes Gewicht in eine für ihn be quemere Lage. Als Alexandra es merkte, machte sie sich leicht, als wollte sie ihm so wenig wie möglich eine Last sein. Sie waren ganz gut auf einander eingespielt. »Ich weiß es nicht.« Rogoff und die Jakuten richteten sich auf und schauten sich ratlos an. Es bedeutet jedenfalls nichts Gutes, dachte Warstein. Er betrachtete die vor ihnen lodernden Wälder. Aber wenn ich schon krepieren muss, soll es wenig stens im Warmen sein. Sie ließen den Toten liegen und gin gen, jeder tief in Gedanken versunken, weiter. Je näher sie dem Feuer kamen, desto wärmer wurde es und desto besser konnten sie sehen, wohin sie traten. Als die Umgebung fast taghell war, fiel Warsteins Blick hin und wieder auf merkwürdige, grünlich schillernde Brocken, Sie strahlten in eigenartiger Helligkeit, als enthielten sie eine eigene Lichtquelle. Je näher sie Jakutsk kamen, desto zahlreicher wurden sie, und so fragte er sich bald, ob der Aufschlag des Kometen etwa eine bisher unbekannte Smaragd-Ablagerung zu Tage gefördert hatte. Aber das war natürlich unmög lich, denn die kleinsten der Brocken waren so groß wie eine Männerfaust. Manche waren kopfgroß, andere mus sten, ihrem Umfang zufolge, einen hal ben Zentner wiegen. Welche Ironie, dachte er erheitert, als er mit Alexandra auf dem Rücken durch die von gespenstischem Feuerschein er hellte Landschaft wankte. Die Welt geht 61
unter - und Ralph Warstein stößt auf das größte Edelsteinvorkommen der Erde. Ein Schinkenbrötchen wäre ihm lieber gewesen. Dann vernahm er wieder das mysteri öse Rauschen. Kam nun der Wolken bruch, damit ihr Pech wirklich hundert Prozent erreichte? Wenn ja, löschte er die Brände? Fiel nun, da sie endlich in der Nähe der Wärme waren, Eiswasser vom Himmel und durchnässte sie bis auf die Haut, sodass sie in ein paar Stunden wie die Fliegen an einer Lun genentzündung krepierten? Die Jakuten deuteten aufgeregt nach links und redeten mit gutturalen Lauten auf den Popen und Kolja ein. Warstein schaute in die angegebene Richtung. Sein Blick fiel auf einen frisch aufgeworfenen Hügel, aus dem ein helles Objekt herausragte. Er er spähte kyrillische Buchstaben: »Lux« . Er hatte diesen Namen während der lan gen Fahrt von Moskau nach Sibirien mehr als hundert Mal gelesen und ir gendwann, vor einem Supermarkt, einen Tieflader gesehen, der einen Con tainer mit dieser Aufschrift abgeladen hatte. Lux war der Name eines Unter nehmens, das abgelegene Provinzen mit allem versorgte, was man brauchte. Ein Grund zum Jubeln? Dann hörte Warstein Alexandra keu chen. Er schaute nach rechts. Auch die anderen Überlebenden fuhren herum. Alexandra deutete fassungslos auf den Fluss, der knapp hundert Meter vor ihnen endete, obwohl er sich gestern noch tausendfünfhundert Kilometer weiter erstreckt hatte - bis zum Baikal see. Die Lena mündete in ein Meer! 62
Das Land hat sich gesenkt, zuckte es durch Warsteins Verstand. Das Meer ist gekommen. Doch welches Meer? Es konnte nur das Ochotskische sein. Als ihm die Dimensionen der Kata strophe klar wurden, schwindelte ihm und er musste sich zusammenreißen, um nicht zu Boden zu sinken. Die Jaku ten gingen fassungslos in die Knie. Der Pope murmelte etwas, das wie ein Ge bet klang. Während rings um ihn her die Über lebenden, die offenbar noch gar nicht verstanden, was passiert war, die Gele genheit nutzten, um zu verschnaufen, betrachtete Ralph Warstein im Glosen des Feuers viele grünlich schillernde Kristallbrocken. Dann blickte er zum noch immer schwarzen und absolut sternenlosen Himmel auf und dachte an Alexandras Worte: dass es vielleicht Jahre so blieb wie jetzt. Finster, eiskalt. Dass der nu kleare Winter vor der Tür stand. Dass jedes Weizenkorn auf der Erde erfror. Dass das Vieh, von dem der Mensch lebte, steif gefroren auf den Weiden lag. Dass die meisten Menschen, die noch lebten, dem Tod geweiht waren, auch wenn sie es noch nicht ahnten. Dass auch ihre Überlebenschancen in dieser lebensfeindlichen Umgebung gleich Null waren. »Ich hab wirklich nicht gewusst, wer der Mann in Paris war« , sagte er vor sich hin, obwohl es wirklich keine Rolle mehr spielte. »Und es stimmt auch, dass die Leitung mir den Vertrag gegeben hat.« »Mach dir keine Vorwürfe, Mann« ,
erwiderte Alexandra. »Ich glaube dir. Wenn du das Schwein wärst, für das ich dich anfangs gehalten habe, hättest du mich doch verrecken lassen.« Sie regte sich. »Lass mich mal runter.« Warstein löste vorsichtig das Rie mengeschirr, das sie an ihn band, dann ließ er sie langsam von seinem Rücken gleiten. Alexandra stand auf einem Bein. Er nahm ihre Arme und zog sie an seine Brust, damit sie eine Stütze hatte. An ihrem Standort war es herrlich warm. Noch herrlicher war es, jeman den in den Armen zu halten, von dem er wusste, das sie wenigstens der gleiche musikalische Geschmack einte. Denn böse Menschen haben kein Klavier. Aber das Feuer würde nicht in alle Ewigkeit brennen. Sie brauchten einen festen Unterstand. Der Container war als Notquartier bestimmt geeignet. Ohne Fenster und Schießscharten war er allerdings nicht leicht zu verteidigen. Warstein fragte sich, wer alles in dieser Gegend auf kreuzen würde, wenn die Wälder abge brannt waren und der Wind sich legte. Nicht alle Überlebenden der Katastro phe würden um Aufnahme in ihre Gruppe bitten. In den sibirischen Wäl dern trieben harte und skrupellose Bur schen ihr Unwesen. Sie waren bewaff net und setzten in erster Linie auf ihre eigene Stärke und Ausdauer. War der Mensch nicht des Menschen schlimm ster Feind? Auf was würden sie im Inneren des Containers stoßen? Auf eingelegte Gur ken? Auf Knackwürstchen im Glas? Auf eine Million zerbrochene Flaschen Perrier-Tafelwasser? Ihm war alles
Recht. Selbst Rote Beete. Schon wieder fiel sein Blick auf grü nen Kristallbrocken. Sie sahen hart aus. Vielleicht konnten sie auch Gewehrku geln abschmettern. Vielleicht ließen sie sich zum Bau einer Befestigungsmauer verwenden. Rund um den Container. Warstein musterte die Schar der Überlebenden. Sie waren alle fix und fertig und so grau wie Gespenster, aber auch sie streichelten den Container mit sehnsuchtsvollen Blicken. Ja, er würde das Ding befestigen. Er würde es mit Hilfe der Männer zur Fe stung ausbauen, an der sich jeder die Zähne ausbiss, der den Versuch machte, ihnen an die Gurgel zu gehen. Danach konnte man weitersehen. *
Februar 2519. Die Stimme des murmelnden Ge spensts wollte einfach nicht verstum men. Sein heiseres Organ drang bis in die letzte Zelle ihres Leibes vor und ni stete sich dort ein. Das Gespenst war körperlos, ungreifbar, aber seine Stimme war unerträglich. Captain Lynne Crow sehnte sich nach Stille, denn der endlose Wort schwall klang so, als spräche das Ge spenst rückwärts. Es zehrte an ihren Nerven. Außerdem tat ihr Unterkiefer verdammt weh und sie hatte den Ver dacht, dass einer ihrer makellosen Zähne wackelte. Lynne Crow hatte schon Menschen aus geringeren Gründen in Schwierig keiten gebracht. Sie war immerhin die Tochter des Mannes, der dienstgradmä 63
ßig gleich nach Präsident Hymes kam. Format einer mittleren Großstadt. Er Ihr Vater verfügte über Möglichkeiten, schien zu pulsieren. Jacob Smythe - das plappernde Ge jedem Angehörigen des Mobs glasklar zu machen, dass es sehr teuer kam, spenst - hockte wie gebannt hinter den wenn jemand seiner Tochter ein Leid Waffenkontrollen. Was war mit ihm los? Phantasierte er? antat. Gespenstern, vermutete Lynne ent Lynne ignorierte den Schmerz in ih nervt, als ihr Ego über die Schwelle des rem Unterkiefer und das Blut und rich Bewusstseins trat, kann aber auch Ge tete sich im Sitz auf. Sie hatte einen mi neral Arthur Crow nicht viel antun. Sie litärischen Dienstgrad. Sie war Captain. entzogen sich seiner Macht, weil sie Dinge dieser Art durften eine Frau wie körperlos waren. Ihnen konnte man sie nicht schrecken. »Was ist los mit dir, Jacob?« , fragte nicht mal in den Arsch treten. Lynne hob den Kopf und schaute sich sie. »Und vor allem: Was ist mit Bel um. Der Anblick, der sich ihr bot, bestä lows passiert?« Smythe wirkte, als erwache er aus ei tigte sie einmal mehr in der Ansicht, dass es ein Fehler war, mit Männern im nem Trancezustand. Er wandte ihr sein gleichen Schlafsack zu nächtigen, die Gesicht zu, doch es dauerte eine ganze man weniger als ein halbes Jahr kannte. Weile, bis in seinen Augen so etwas wie Wohin sie auch schaute, fiel ihr Blick Erkennen aufflackerte. Er deutete mit auf frisches Blut. Ihr Tarnanzug war fahriger Hand auf den toten Bellows voll davon. Auch die Armaturen und und sagte mit einer Stimme, die mit sei ner eigenen kaum Ähnlichkeit hatte: die Fläche vor ihren Beinen. Als sie den Kopf drehte, erspähte sie »Alle, die Schuld tragen, müssen bezah auf dem Sitz hinter sich das totenblei len.« Er ist durchgeknallt. Lynne presste che Gesicht von Private Bellows. Seine Halspartie sah so aus, als sei sie mit der die Lippen aufeinander und beäugte die scharfen Schneide eines Bowie-Messers Kontrollen. Die Uhr sagte ihr, dass sie zehn Minuten ohne Bewusstsein gewe in Konflikt geraten. Er war mausetot. Seine Klamotten sen war. Was war in dieser Zeit alles hatten sich dunkelrot verfärbt. Sein passiert? Ihr Blick fiel wieder auf die Mund stand offen, was ihm ein irgend Monitore. Über dem pulsierenden grü wie einfältiges Aussehen verlieh. Seine nen Klotz, der vom Boden des Krater braunen Augen starrten Lynne an. sees zu ihnen hinauf leuchtete, drehte Am liebsten wäre sie auf der Stelle in ein Rochenschwarm seine Kreise. »Du brauchst keine Angst zu haben« den Traum zurückgekehrt, den die Stimme des plappernden Gespensts so , versicherte Smythe ihr mit glänzenden rüde unterbrochen hatte. Aber das war Augen. »Ich weiß jetzt, wer sie sind.« wohl jetzt nicht mehr möglich. Ihr Blick Er kicherte wie ein elfjähriger Bub, dem fiel auf die Außenbildschirme. Sie sah die Enträtselung des größten Geheim einen grün gesprenkelten Brocken vom nisses aller Zeiten geglückt ist. Sie 64
hoffte, dass es kein Geheimnis war, das Zwölfjährige schon nicht mehr interes sierte. »Gnadenlose Gottheiten« , fuhr er mit der hektischen Gespensterstimme fort, die sie aus ihrem Traum geholt hatte. Er hob die Hände, als brauche er sie, um ihr die Größe und Tragweite seines Wissens zu verdeutlichen. »Die Zeit der Dorfmusik ist vorbei … Wir haben sie gefunden … Sie sind endlich da … Und ich werde ihr Statthalter sein.« Er kicherte. O Mann, dachte Lynne, als sie spürte, dass sich ihre Nackenhaare aufrichteten. Wie komme ich nur hier raus? Sie schaute sich um. Er wird mich daran hindern. Sie nickte Smythe zu und sagte: »Ich schau mir Bellows mal an.« Wenn sie hinter Jacob gelangen konnte, ergab sich bestimmt eine Möglichkeit, ihm eins auf die Nuss zu geben und das Auf tauchmanöver einzuleiten. Sie wollte nicht hier unten bleiben. Sie wollte nicht in einer Konservendose sitzen, die von Lebewesen umkreist wurde, die sie für gefährlich hielt. Sie hatte miterlebt, wie zuerst Jackson und dann Blayre in den Irrsinn abstürzten. Es drängte sie nicht danach, in Gesellschaft des letzten Überlebenden ihrer Expedition dreihun dert Meter unter dem Wasserspiegel den letzten Atemzug zu tun. »Er ist tot, hm?« , fragte Smythe, als Lynne sich über Bellows beugte. Bel lows hielt seinen Driller in der Hand. Es bestand also die Möglichkeit, dass Smy the ihn in Notwehr getötet hatte. Viel leicht war auch Bellows durchgedreht. Aber es war Lynne jetzt egal. Sie hatte die Schnauze voll. Endgültig.
Sie nahm Bellows die Waffe aus der Hand und fragte sich, wie sie Jacob das Ding am besten über den Schädel hauen konnte. Sie musste ihn mit dem ersten Schlag fällen. Eine zweite Chance würde er ihr nicht einräumen. Am be sten … Lynne verhielt in der Bewegung, als ihr Blick auf den Monitor fiel, vor dem Smythe saß. Sie schauderte. Sie waren von Myriaden von Rochen umgeben! »Gleich kommt es!« , kicherte Smy the aufgeregt. »Gleich!« »Was?« , fragte Lynne und hob lang sam Bellows Waffe. »Das Licht …« Plötzlich erfüllte ein intensives grü nes Leuchten das Innere des Panzers. Smythe hob beide Hände vor die Au gen und kreischte. In Lynnes Bauch breitete sich ein Kribbeln aus, das sich bis in ihre Fuß- und Fingerspitzen aus dehnte. Dann hatte sie das Gefühl, schwerelos durch einen Kosmos voller glitzernder Sterne zu rasen. Sie sah vor sich die Erdkugel. Sie fühlte die Kälte des Alls. Sie hörte die Stimmen. Und sie begriff. »Gott im Himmel« , hauchte sie. »Es war alles geplant …!« *
Februar 2519. Der Morgen graute. Der Dunst über dem Kratersee löste sich langsam auf. Das Wasser war spiegelglatt. Nir gendwo zeigte sich ein Rochen. Matthew Drax schüttelte sich. Dann musterte er seine Gefährten. Sie saßen 65
vor dem neuen Holzportal der Festung in dem inzwischen zurückgekehrten ARET-Panzer, dessen Plastiflex-Räder sie ins Hügelgebiet und zurück getragen hatten. Die gespenstischen Stimmen aus dem Lautsprecher hallten noch immer in sei nen Ohren. Schon auf der Fahrt zu dem alten Container, durch dessen morsche Decke Mr. Black auf der Flucht gebro chen war, hatte Aiko Tsuyoshi mit dem Funkgerät des russischen Allzweck-Panzers sämtliche Frequenzen durchforstet, bis er diejenige gefunden hatte, auf der sich die WCA-Agenten verständigten. So hatten sie den Funkverkehr zwi schen den Tauchpanzern mitgehört und die Unterwassertragödie schaudernd aus der Ferne verfolgt. Das unerklärliche Fiasko an Bord des zweiten Panzers hatte Smythe offenbar vergessen lassen, dass sein Funkkanal noch immer offen war. Sein völlig zusammenhangloses, undechiffrierbares Gebrabbel konnte nur eins bedeuten: Er hatte nun völlig den Verstand verloren. Viel hatte ja eh nicht gefehlt. Matt dachte an die letzten Worte Lynne Crows und fragte sich, was sie gesehen hatte. Er kannte diese Frau. Er hatte tagelang mit ihr in der Wildnis ge lebt. Sie war eine gerissene und mit al len Wassern gewaschene Agentin. Er hatte sie beten hören, aber er konnte sich ums Verrecken nicht vorstellen,
dass sie einem religiösen Aberglauben anhing. Menschen wie sie erkannten nur weltliche Mächte als göttlich an. Ande rerseits kehrten viele Menschen zur Mystik zurück, wenn sie unerwartet dem Sensenmann ins Auge schauten … Gott im Himmel! Es war alles ge plant … »Sie haben ins Gras gebissen.« David McKenzie schnippte mit den Fingern. »Wenn wir das Geheimnis des Krater sees ergründen wollen, müssen wir vor sichtiger sein als sie.« »Das glaube ich auch.« Aiko Tsuyoshi griff sich ans Kinn und nickte. Rulfan verzog keine Miene. Matts Blick fiel auf die muskulöse Gestalt in der zweiten Reihe. Mr. Black, inzwischen wieder quietschfidel, kraulte den Wolfs hund des Albinos, der ihn in seinem Loch aufgespürt hatte, dankbar hinter den Ohren. »Tja …« Matt seufzte. Irgendwie war es ein angenehmes Gefühl, Jacob Smy the bei den Fischen zu wissen. Doch an dererseits war der Mann der reinste Ka stenteufel und sprang einem immer dann entgegen, wenn man ihn am we nigsten gebrauchen konnte. Ich fresse einen Besen, wenn er dies mal wirklich hinüber ist, dachte Matt. Wie sagt doch dieses deutsche Sprich wort? Unkraut vergeht nicht.
ENDE
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Ausblick:
Schatten der Vergangenheit.
von Claudia Kern and Stephanie Seidel
Wenn sich Matthew Drax einer Tatsache bewusst ist, dann der, dass seine Welt von 2012 seit
über 500 Jahren Vergangenheit ist. Doch nun scheint es, als wollten ihn die Schatten dieser Vergangenheit heimsuchen. Es beginnt, als die Gruppe um Matt auf eine Familie trifft, die vor einem geheimnisvollen Verfolger flüchtet. So jedenfalls sagt sie. Doch der Gegner bleibt un sichtbar. Dafür tauchen andere, vertraute Gestalten auf. Matts Ex-Frau Liz. Sein bester Freund Burt Cassidy. Seine Eltern. Sind sie tatsächlich nur Schatten - oder eine konkrete Gefahr?
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