C. H. Guenter
VIER ASSE
VERLAGSUNION ERICH PABEL-ARTHUR MOEWIG KG, 7550 RASTATT
1.
Im Frühsommer des vergangenen J...
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C. H. Guenter
VIER ASSE
VERLAGSUNION ERICH PABEL-ARTHUR MOEWIG KG, 7550 RASTATT
1.
Im Frühsommer des vergangenen Jahres, acht Monate vor Eintritt gewisser dramatischer Ereig nisse, flog ein Mann von Hamburg nach Oslo. Er trug Zivil und hielt sich bolzengerade. Aus seinem Flanellanzug, dessen Farbe und Schnitt der Mode von vor zehn Jahren entsprach, sowie aus seinen exerziermäßig korrekten Bewegungen war zu schließen, daß ihn gewöhnlich die Uniform eines Offiziers bekleidete. Laut Paß war er Deutscher und hieß Thomas Lissen. Am Flughafen Oslo erwartete ihn ein norwegi scher Reeder, der vor kurzem Konkurs angemeldet hatte. Die Dampfer seiner kleinen Fischfangflotte, von denen keiner älter als sechs Jahre war, lagen in Kristiansand an der Kette. Der Reeder — schon als Junge hatte man ihn im Rolls-Royce chauffiert - fuhr nun eigenhändig einen älteren Mercedes. Aber er wirkte nicht niedergeschlagen. „Sechs Schiffe", erklärte er, „sind noch verfüg bar. Zwei Trawler, ein Walfänger und drei Hoch seefischdampfer. Meine Schulden belaufen sich auf vier Millionen Dollar. Jeder Dollar, den ich dar über hinaus erlöse, bleibt mir. Am liebsten wäre mir statt Geld einer von den großen Heckfängern. Damit wäre ein neuer Anfang zu machen. Mein Vater hat mich nach England geschickt, damit ich
dort das Bankgeschäft erlerne. Er verlangte aber auch, daß ich das Kapitänspatent erwarb. Nun werde ich in die Hände spucken und Kurs Eismeer nehmen, wo der Hering steht." „Warum kamen Sie in Schwierigkeiten?" fragte der deutsche Besucher. „Die liebe Familie", erzählte der Reeder. „Meine zwei Schwestern bestanden auf Auszahlung des Erbteils. Später kamen die neuen EG-Regelungen mit den Fangquoten und den Sperrzonen hinzu. In der Nordsee fischen die Deutschen, vor Island die Isländer, vor Grönland die Dänen und hinauf bis zu den Shetlands die Engländer." „Norwegen hat selbst eine lange fischreiche Küste", bemerkte Thomas Lissen. „Richtig. Aber meine Reederei hatte dafür die falschen Schiffe. Unsere Reisen gingen entweder hoch in den Norden oder hinunter zur Antarktis. Doch auch dort ist die See leergefischt, seitdem die Japaner und die Russen das Meer mit modernsten Flotten vollelektronisch abkämmen. Ergo: keine Fische, aber hohe Schuldzinsen, und aus. - Was suchen Sie, worauf sind Sie scharf, Mister Lissen?" „Auf einen Walfänger oder einen schnellen, großen Fischdampfer", erklärte der Deutsche. „Wie schnell?" „So, daß man rund um die Erde nicht jahrelang unterwegs ist." „Da habe ich etwas", sagte der Norweger. „NorFisk-zwei. Neunhundert Tonnen. Zwei MAN-Tur bodiesel, Radar, Satellitennavigation, Funk, alles feinste Technik. Das Schiff wurde bei Rasmussen in Bergen gebaut. Vor drei Jahren." „ Rasmussen liefert solide Ware", bestätigte Lissen. 8
„Wozu", wollte der Norweger wissen, „brauchen Sie das Schiff?" Der Besucher aus Hamburg wollte erst nicht mit der Sprache heraus, sagte dann aber: „Gehen Sie von folgender Lage aus: Ein reicher Amerikaner aus dem Ölgeschäft hat von Segelund Luxusyachten die Schnauze voll und möchte endlich etwas Handfestes unter den Beinen haben, um seine Bohrplattformen auch bei Orkanstärken erreichen zu können. Nun hat er meine Werft beauftragt, ein Fahrzeug zu suchen, das, wenn schon nicht seetüchtig wie ein Unterseeboot, doch zumindest das zweitseetüchtigste ist. Wir reißen die Fischlagerräume heraus und bauen ein bißchen Luxus ein." „Nun, Ihr Ölmagnat könnte Glück haben", sagte der Norweger. „Das Schiff darf, alles in allem, nicht teurer werden als zwei Millionen Dollar. Das bedeutet, ich muß bei einem Angebot von siebenhundert fünfzigtausend Dollar Schluß machen." „In dieser Preisklasse habe ich etwas für Sie", versprach der Norweger. Am frühen Nachmittag erreichten sie Kristian sand. Dort lagen die sechs NorFisk-Schiffe in zwei Dreierpäckchen am Pier. Thomas Lissen, ausgebildeter Schiffbauinge nieur, brauchte zwei Tage, um das für seine Zwecke geeignete Schiff herauszusuchen. Er ent schied sich für NorFisk-II. Nun fing das Handeln an. Lissen machte den Kahn herunter, der Reeder pries ihn wie ein Juwel. Unter 800.000 wollte der Norweger nicht gehen. Lissen telefonierte mit einem Mann in Kiel, der wiederum mit einem Mann in Bonn telefonierte.
Beim Abendessen in des Reeders Osloer Luxus villa, die er leider nur noch als Mieter bewohnte, wurde der Kauf besiegelt.
Im Juli des vergangenen Jahres, sieben Monate vor Eintritt des dramatischen Ereignisses, wurde der Hochseefischdampfer NorFisk-II von einer deut schen Besatzung fahrbereit gemacht und nach Kiel überführt. Dort ging er sofort in eine der kleinen Werften, die auf den Umbau von Schiffen aller Art spezialisiert war. Der Finnenslogan lautete: Wir machen Ihnen aus jedem Segelboot ein Schlachtschiff. Nur Flugzeug träger dauern etwas länger. Der Hochseeheckfänger wurde technisch über holt und entkernt. Die umfangreichen Eis- und Laderäume wurden zu bequemen Kabinen und Aufenthaltsräumen, Kombüsen und Messen für eine fünfundvierzigköpfige Besatzung umgebaut. Die Bunker für Trinkwasser und Diesel vergrö ßerte man, ebenso die Lasten und Kühlräume für Proviant. Das Schiff sollte fähig sein, eine Reise von 25.000 Seemeilen und einer Dauer von sechs Monaten ohne Anlaufen eines Hafens durchzuste hen. Deshalb hatte das Schiff auch eine kleine Wäscherei, eine Bordbäckerei und einen Sanitäts raum für Notoperationen an Bord. Im Mittelschiff gab es einen Raum von etwa siebzig Kubikmeter Größe. Er war voll klimatisiert und geeignet zur Aufnahme empfindlicher techni scher Geräte. Die Schotts und Luken hatten bei nahe Tresortürqualität. Die Navionik wurde auf aktuellen Stand 10
gebracht. Vom Echolot über Radar und Loran bis zur Kompaßanlage war jetzt alles von modernster Bauart. Über die Antennen konnte Satellitenfunk betrieben werden. Es gab nicht nur Radiotelefon an Bord, sondern auch Möglichkeiten für jede Form von Radio- und TV-Empfang. Das Schiff bekam einen frischen Anstrich. Hell blau unter der Wasserlinie, weiß die Aufbauten. — Nachdem Bug und Schrauben so verstärkt worden waren, daß sie schwerem Eisgang standhalten konnten, verließ das Schiff Anfang November die Werft an der Kieler Förde. Der Fischdampfer hieß jetzt Annmary, was dem deutschen Annemarie entsprach. Registriert war er in Panama und gehörte keinem Ölmilliardär, son dern einer Reederei in Bremen. Diese Reederei besaß nur dieses eine Schiff und war nur gegründet worden, um dieses eine Schiff zu betreiben. Die Eigentumsverhältnisse der Ree derei waren unklar. Erfahrene Rechtsanwälte hat ten sie bis zur Undurchschaubarkeit verschachtelt.
Nach Werftprobefahrten, die Ende November stattfanden, kehrte die Annmary nach Kiel zurück. Dort übernahm sie Treibstoff, Proviant und Ausrü stung. Die Besatzung, die Urlaub hatte, kam jetzt aus allen Ecken des Landes angereist. An einem nebligen Abend im Spätherbst, also bei früher Dunkelheit, warf die Annmary die Leinen los und lief fördeauswärts bis zum Nord
Ostsee-Kanal. Sie durchfuhr den Kanal bei Nacht. Von Brunsbüttel ab nahm sie Kurs auf Helgoland. Dort wurde sie zum letzten Mal auf der nördli chen Erdkugelhälfte gesehen. Abseits der Schiffahrtsrouten erreichte die Ann mary den Nordatlantik und nahm auf Höhe der Faröer-Inseln Generalkurs Süd. Wenn sie Gefahr lief, auf ihrem einsamen Kurs einem anderen Schiff zu begegnen, dann wich sie ihm aus. Täglich wurde Richtung Heimat ein kurzer Funkspruch abgesetzt. Der BuchstabenZahlen-Code enthielt die Position und wichtige Einzelheiten. Meistens lautete der Code: KBV-PV - keine besonderen Vorkommnisse. — Planmäßiger Ver lauf. Aus all diesen Maßnahmen war zu schließen, daß es sich um eine streng geheime Unternehmung handelte. Die Tarnung war perfekt. Nirgendwo gab es einen Neugierigen, der sich für das Schiff und seine Aufgabe interessierte. Das änderte sich zwar, aber bis dahin sollten noch mehrere Monate ver gehen. Das Verhalten der Besatzung hatte sich seit der Abreise in Kiel stark verändert. Als Fischdampfercrew in Phantasieklamotten war sie an Bord gegangen. Jetzt herrschte militäri scher Ton. Wenn der Funker seine Wettermeldung zur Brücke brachte, dann sagte er: „Der Wetterbericht, Herr Korvettenkapitän." Der Kapitän war hier der Kommandant. Der Erste Offizier und Stellvertreter des Kapitäns hieß I.WO. Außer den Marineangehörigen gab es noch Leute 12
an Bord, die mit Herr Professor und Herr Doktor angesprochen wurden. Planmäßig passierte die Annmary den Äquator. Das war um Ende Dezember des letzten Jahres herum. — Zwei Monate vor Eintritt der dramati schen Ereignisse.
2. Mitte Februar dieses Jahres, etwa zehn Tage vor Eintritt der dramatischen Ereignisse, erhielt der BND-Agent Robert Urban den Auftrag, einen Mann zu suchen. Die Beschreibung dieses Mannes lautete: Name: Peter Kreißler Alter: 34 Jahre Haare: Aschblond Augen: Braun Größe: 182 cm Figur: Schlank/hager Kleidung: Maßkonfektion Beruf: Beamter Arbeitgeber: Bundesministerium für Verteidi gung/Bonn Diensttitel: Regierungsrat Bereich: Sonderaufgaben/Marine Hobby: Klassische Mythologie Gesucht wurde Kreißler, weil er aus einem Krankenurlaub nicht zurückgekehrt war. Nachforschungen hatten ergeben, daß die ärztli chen Atteste, die zu diesem Urlaub geführt hatten, gefälscht waren. Ferner bestand der Verdacht der Spionage im Dienste einer fremden Macht. 13
Kreißler galt als Griechenland-Fan und Liebha ber der Antike. „Dann", so hatte Urban bei Übernahme des Auftrages geäußert, „ist er überall, aber nicht in Athen oder in der Ägäis." Mit den verfügbaren Mitteln hatte der BNDAgent Robert Urban begonnen, nach dem Mann zu suchen. Der Auslandsgeheimdienst der Bundesre publik verfügte über die dazu nötigen Verbin dungen. Zunächst kombinierte Urban die vom MAD (Militärischer Abschirmdienst) gelieferten Einzel heiten mit eigenen Erkenntnissen. Kreißler hatte seine sämtlichen Bankkonten auf gelöst. Der Kontostand war mit vierhunderttau send Mark für einen Beamten recht beachtlich. Auf einer anderen Bank hatte Kreißler das Bargeld gegen Dollars umgetauscht. Dann war er mit seinem Auto, Marke BMW, angeblich nach Bad Mergentheim gefahren, um dort sein Gallenleiden mittels Karlsquelle auszukurieren. Er war nie in Bad Mergentheim angekommen. Sein Vorsprung betrug inzwischen vier Wochen, doch bei aller Umsicht hatte er eine feine Spur hinterlassen. Die innerdeutsche Fahndung ergab, daß Kreißler bei einer BMW-Vertragswerkstätte in Freiburg einen 20.000-Kilometer-Kundendienst gemacht hatte. Der Meister erinnerte sich, daß Kreißler scherzhaft geäußert habe, er hoffe, daß sein Wagen nun marokkofest sei. Auch hatte er um eine Liste der spanischen BMW-Werkstätten gebeten. „ Seine Marschrichtung ist Spanien", hatte Urban kombiniert, „oder er versteht vorzüglich zu bluffen." Sie konnten nicht anders, als es in Spanien 14
weiter zu versuchen. Sie kannten das Fahrzeug, die Farbe, den Typ, das Kennzeichen. Aber Spanien war groß. „Wenn er wirklich nach Marokko will", sagte Urban, „nimmt er die Autofähre ab Algeciras. Beim Zoll gibt es Unterlagen." Urban aktivierte seine Beziehungen in Madrid. Coronel Erneste Segovia, sein zweitbester Freund und Chef der BIS, half ihm weiter. Es stellte sich heraus, daß Kreißler nicht ab Algeciras die Meerenge von Gibraltar überquert hatte. Da er auch im französischen Sète keine Fähre genommen hatte, war anzunehmen, daß er sich noch auf der Iberischen Halbinsel aufhielt. „Spanien oder Portugal, lautet jetzt die Frage", sagte Urban und flog nach Madrid. Als er dort ankam, war die Spur heißer ge worden. In einer Autolackiererei nördlich von Cartagena war ein BMW der Dreierserie von Rot auf Pyre näenweiß umgespritzt worden. Die übrigen Daten des Wagens stimmten mit denen des Gesuchten überein. Urban sprach mit dem MAD und dem Bundes amt für Verfassungsschutz. „Wir haben ihn", meldete er. „Wo ist er?" „In einer kleinen Hotelpension an der Costa del Sol." „Wir brauchen das Material, das er mitnahm." „Die Spanier beobachten ihn." „Unternehmt nichts", bat der Mann in Köln. „Ich weiß, wie leicht man Geheimdokumente ver schwinden lassen kann. Papier brennt, und Filme lösen sich in gewissen Säuren spurlos auf.", 15
Das war Urban ebenfalls bekannt. Aber er hatte nichts dagegen, wenn ein anderer die Verantwor tung trug.
Eine Woche vor Eintritt des dramatischen Ereig nisses — es war an einem kühlen, aber sonnigen spanischen Vorfrühlingstag, die Mandelbäume hin ter Murcia fingen schon zu blühen an - fuhren Urban und Gerlach vom Verfassungsschutz an die Küste. Die Straße durch die Sierra zog sich endlos hin. LKW-Kolonnen bestimmten das Tempo, und Urbans Miet-Renault war auch keiner von den schnellen Überholern. Als Urban die Frage stellte, welche Probleme denn überhaupt anstanden, antwortete Gerlach: „Geheime." „Was ist nicht geheim im Verteidigungsministe rium?" „Dann ist es eben streng geheim. Top-secret." „Um was geht es? Strategie, Taktiken, Ausrü stung, Stützpunkte, Waffen?" „Kreißler kommt aus der Abteilung SiebenStrich-Geheimoperationen. " „Im NATO-Bereich?" „Wie weit reicht der NATO-Bereich?" fragte Gerlach. „Vom Nordkap über den Ostatlantik bis zum Mittelmeer." „Ich weiß wenig", sagte der MAD-Mann. „Ich hörte nur etwas flüstern. Es war die Rede davon, daß die Operation in einem anderen Erdteil statt findet." 16
„Was haben wir dort zu suchen?" „Eben! Deshalb ist es ja so geheim, und deshalb läßt sich mit den Dokumenten etwas anfangen, wenn sie in falsche Hände geraten. Aber ausge rechnet dieser knochentrockene Kreißler, ein Beamter wie ein Uhrwerk, soll Spion sein?" „Jeder tickt mal falsch." „Cherchez la femme", seufzte Gerlach. „Immer die Weiber." Urban hatte etwas in der Tasche, erwähnte es aber nicht sofort. „Meine Freunde von der Brigada investigación, die Kreißler fanden, beschatteten ihn sporadisch. Er wurde mehrmals mit einer Frau gesehen. Sie sieht aus wie eine auf Flamencotänzerin getrimmte Walküre." Gerlach schien aus einem Halbschlaf zu erwa chen. „Können Sie mir diese Frau beschreiben?" „Mehr als das." Urban faßte in die Tasche und griff nach dem Foto. Indem er darauf verzichtete, einen Tankzug zu überholen, reichte er es dem Verfassungsschützer. Gerlach spitzte die Lippen, pfiff aber nicht. „Das ist Miranda Ritter. Als der Verdacht auf kam, sie unterhalte Verbindungen zu internationa len Nachrichtenhändlern, legte man ihr die Kündi gung nahe. Sie ging weg und lebte einige Zeit in Belgien. Dann hat man die Sache nicht weiter verfolgt. Jetzt hat sie sich also an Kreißler range schmissen. Aber Sex dürfte kaum der Grund sein." „Sie passen zusammen wie Hammer und Nagel", bemerkte Urban. „Ich hätte ihr gern etwas angehängt", gestand 17
Gerlach. „Vielleicht treffen wir beide in flagranti an." Nur eines war Urban unklar. Wenn Kreißler Dokumente hatte und Miranda Ritter sie ihm abkaufte, warum dann diese häufigen Rendezvous? Hatten die beiden etwa doch Gefallen aneinander gefunden? Gerlach wurde plötzlich unruhig. „Geht es nicht flotter?" fragte er. „Was bedeutet am Ziel schon eine halbe Stunde?" Die halbe Stunde, die sie zu spät südlich von Cartagena ankamen, kostete sie den Erfolg. Kreißler war ausgeflogen. Die Senora, der die Hotelpension gehörte, sagte: „Er fuhr mit Madame weg. Für ein paar Tage. Richtung Cadiz, Granada. Kirchen besichtigen." „Kirchen besichtigen", stöhnte Gerlach. Es war nicht nötig, mit der Polizei zu drohen. Die Senora zeigte sich einem Pesetenschein gegen über aufgeschlossen. Sie durchsuchten Kreißlers Zimmer bis unter die Fußbodenleisten - ohne etwas zu finden. Also mieteten sie sich im Hotel ein und warteten. Drei Tage vor Eintritt des dramatischen Ereig nisses war Kreißler noch nicht zurück.
3.
Eine Stunde vor Eintritt des dramatischen Ereig nisses ging hinter den Nevada-Bergen die Sonne unter. Im Sacramento-Tal lag schon Dunkelheit. Die 18
Tiere des Tages verkrochen sich, die Nachtvögel verließen ihre Nester. Vor einem massiven Blockhaus am Waldrand stand ein Chevrolet-Geländewagen. Auf der Fläche hinter den Vordersitzen lagen ein Mann und eine Frau, Der Mann mochte dreißig Jahre alt sein, das Mädchen Anfang Zwanzig. Der Mann sah aus wie der Footballspieler einer Universitätsmannschaft, das Mädchen hatte India nerblut. Der Mann mit seinem kantigen Athletengesicht liebte das Mädchen wegen seiner Schönheit und seines Reichtums. Das Mädchen liebte den Mann, weil er bald Assistenzprofessor an der geophysika lischen Fakultät der Universität von Pasadena sein würde. Ihr Urgroßvater, einer der größten Obstplanta genbesitzer im Sacramento-Tal, hatte sich eine Indianerin zur Frau genommen. Ihr Großvater hatte unter seinem indianischen Aussehen gelitten, und ihre Mutter hatte stets gesagt: „Das Indianerblut kriegen wir mit Schnellblei che nicht raus. Nimm also einen weißhäutigen Briten aus New England." Gordon Askin, mit dem sie hinten auf der Decke lag, stammte aus New England. Er hatte ihr den Pullover abgestreift, bei der Jeans half sie ihm. „Im Haus wäre es bequemer", sagte er. „Im Haus stinkt es nach Hunden und Katzen." Es waren nicht seine Hunde und seine Katzen, sondern die anderer Kollegen, mit denen er sich hier ablöste. Für jeden Assistenten der Universität war es Pflicht, sechs Tage pro Monat Wache auf dieser Erdbebenstation zu schieben. Es gab meh rere Dutzend davon, hier und in der Nähe der 19
St.-Andreas-Verwerfung. Schichtenbewegungen, die Kalifornien heimsuchten, konnten in zehn Jahren auftreten, in zehn Tagen, aber auch in zehn Minuten. Jeder Assistent pflegte während der einsamen Wache seine Hobbys. Der eine lernte Gitarrespie len, der andere richtete seine Hunde ab, und der dritte ging fischen. Die Hobbys von Gordon Askin waren seine Habilitationsschrift und diese Frau. Sie trug jetzt nur noch einen winzigen BH und ein sehr schmales Höschen. Und dann hatte sie gar nichts mehr an. Er küßte die dunklen Spitzen ihrer kleinen Indianerbrüste, dann küßte er sie weiter abwärts und tiefer. Er spürte wie sich ihre Schenkel unter seinen Küssen öffneten. „Schön, daß du heute schon gekommen bist", flüsterte er. „Ich hielt es nicht länger aus", stöhnte Laola. „Sind immerhin neunzig Meilen durch die Wildnis." „Und wenn es neunhundert Meilen gewesen wären!" Er lag neben ihr und fummelte an dem Präserva tiv. Sie bemerkte, daß er nicht damit zurechtkam, und fragte ungeduldig: „Wozu das?" „Und wenn du schwanger wirst? Du bist ein anständiges Mädchen. Denk an deine Familie!" „Und du bist ein anständiger Mann. Du hast gesagt, du wirst mich heiraten. Ich nehme nicht an, daß es ein Scherz war, um mich aufs Kreuz zu legen, Gordon Askin." 20
„Wie steht deine Familie dazu?" wollte er wissen. „Du bist willkommen. Und was sagt deine Fa milie?" Er hatte seine Eltern nicht gefragt. Aber wozu auch? Sein Vater, sein Großvater, ja alle Askins hatten immer reiche, exotische Frauen geheiratet. Aus Italien, Polen, Indien. Sogar eine katholische Irin war dabei. Seine Mutter. - Das erwähnte er nicht, sondern: „Mein Clan sagt das gleiche. Du bist ebenfalls willkommen." Sie lachte. Und während sie sich ihm mit Wol lust hingab, flüsterte sie: „Warum sollen wir nicht ein Baby machen?" Die Sonne war untergegangen. Hoch oben fun kelten schon die Sterne. Ihre Gier trieb sie dem Höhepunkt entgegen. Doch plötzlich schrillte an der Blockhütte das Alarmsignal. Es war wie ein Guß kalten Wassers, mit dem man versuchte, zwei ineinander verknäulte Hunde zu trennen.
Nackt sprang der Geophysiker aus der Heckklappe des Blazers, rannte die Stufen der Blockhütte hinauf und wußte sofort Bescheid. Es war nicht der Signalgeber des Funktelefons, sondern der für Erdbebenalarm. Der Seismograph, das Aufzeichnungsgerät für Erdbeben, stand im hinteren Raum. Blind machte Askin mit der Rechten Licht und beugte sich über 21
das Gerät. Drei zitternde Metallfinger hinterließen auf einem Papierstreifen Linien. Der mittlere zeigte die Stärke, der rechte die Dauer, der linke die ungefähre Richtung an. Die Zacken reichten bis an die Ziffer sechs heran. Das bedeutete, daß die Stärke des Bebens im Epizentrum, also dort, wo es entstand, bedeu tend stärker sein mußte. Die Wellen kamen aus Südwesten. Dauer nur wenige Sekunden. Keine Vor- und kaum Nachbeben. Der Geophysiker der Station im Sacramento-Tal schaltete die Sirene ab, die bei Beben über Richter 5 automatisch Alarm auslöste. Dann wartete er, bis die Zeiger des Seismographen einigermaßen zur Ruhe gekommen waren. Noch ehe er die zentrale Registraturstelle der USGS in Los Angeles anrufen konnte, meldete sie sich. Der Ton war kollegial lässig. „Sie wissen, um was es geht, Gordon." „Yes. Es löste bei mir einen Coitus interruptus aus." „Vermutlich war es ein Seebeben", meinte der Mann vom United-States-Geo-Service. „Ja, der Dämpfungseffekt ist typisch für See beben." „Entfernung bis zu achttausend Meilen, schätzen wir." „Irgendwo am Rand der Antarktis wäre das." „Oder südliche Südsee. Den genauen Ort erfah ren wir erst durch Kreuzpeilung." „Ich schicke euch jetzt die Daten rüber", sagte Askin und betätigte einige Schalter. Die im Computer gespeicherten Werte liefen über Femleitung zum Hauptrechner. Von dort flössen alle Daten interpoliert nach Paris, wo die 22
Endauswertung erfolgte. - Aber das konnte meh rere Tage dauern. „Nachbeben sind", sagte der Mann in LA, „nicht zu erwarten. Schätze, Sie können sich wieder der Dame widmen, Gordon." „Werde ich", versicherte Askin und legte auf. Er nahm noch eine Reihe von Schaltungen vor und ging dann wieder hinaus zu dem Gelände wagen. Es war kühl geworden, und ihn fror. Aber bei der Viertelindianerin wurde ihm schnell wieder heiß. „Jetzt haben wir die Nacht für uns", sagte er. „Versprochen?" „Ich schwör's." „Dann laß uns endlich Taten seh'n", zitierte Laola ein wenig im Ton von Hochschulabsolven tinnen. 4.
Zwei Stunden nach Eintritt des dramatischen Ereignisses — in Europa ging es auf 2.00 Uhr — saß der BND-Agent Robert Urban in einer Bodega, trank spanischen Rose und knabberte dazu gerö stete Shrimps. Im Fernsehen lief noch eine Flamenco-Show. Nahezu fünfzig Prozent aller Shows im spanischen Fernsehen bestanden aus Flamenco. Wo immer und wann immer man einschaltete, man konnte darauf wetten, daß Flamenco getanzt wurde. Die Männer in der verräucherten Kneipe, meist Fischer, jetzt im Winter auch arbeitslose Köche, Kellner und Hoteldiener, hockten herum. Sie tran ken, spielten Karten und redeten. 23
Nur einer merkte, daß die Tänzer ihren Fla menco mitten in der Bewegung abgebrochen hat ten. Die Spätnachrichten kamen. Irgendein Gene ralsekretär hatte mit irgendeinem Präsidenten irgendwo drei weltbewegende Worte gesprochen. — Nebenbei erwähnte der Ansager, daß auf der unteren Erdkugelhälfte, möglicherweise südlich von Australien, ein Seebeben erheblicher Stärke stattgefunden habe. — Dann kam das Wetter. Der Patron schaltete das TV-Gerät ab.
Urban bezahlte und ging. Von der Plaza hatte er nicht weit zu der Gasse, wo sie wohnten. Gerlach lag auf dem Bett, wie immer zu warm angezogen und griesgrämig. „Wo bleiben Sie?" fragte Gerlach. „Heute ist mein freier Abend, oder?" „Was heißt hier oder?" „Gestern habe ich gewartet", erinnerte Urban. „Er ist zurückgekommen, Senor Coronel." Urban ersparte sich zu fragen, wer zurückge kommen sei. Es konnte sich nur um Kreißler handeln. „Wann?" „Als ich noch einmal durchlüftete und auf den Balkon trat, stand sein BMW unten." „Dann war er leise wie Kater Samtpfote." „Ja, er galt immer als lautloser Duckmäuser. Und nun: Auf ihn mit Gebrüll, oder was? Sie sind hier der Herr Auslandsgeheimdienst, Senor Co ronel. " „Machen wir es undeutsch", schlug Urban vor. „Ohne Militärmusik."
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In seinem Zimmer brannte noch Licht. Sie gingen hinein wie Gentlemen nach Mitternacht zu einer Dame. Nur das Türschloß splitterte aus dem Holz. Urban war als erster drin. Er warf sich auf Kreißler, der vom Sofa hochspringen wollte. „Urban, BND", stellte er sich vor. „Und Gerlach, Verfassungsschutz." Der Regierungsrat im Verteidigungsministerium stellte keine weiteren Fragen. Sie hatten ihn. Das war unabänderlich. Gerlach suchte erneut das Zimmer ab. Doch er fand nicht, was er suchte. „Wo sind die Filme, Kreißler?" „In der Kamera." „Nicht die von Miranda", entgegnete der Verfas sungsschützer, „die der Dokumente." „Welche Dokumente, bitte?" „Hör zu, Kreißler", sagte Urban. „Wir sind nicht zur Gaudi hier. Du bist abgehauen und hattest eine halbe Million auf dem Konto. Das genügt uns." „Das Geld stammt aus dem Erbe eines Onkels aus Bremen. Außerdem bin ich dienstunfähig ge schrieben. " „Und deine Freundin, die Ritter, gilt als Beschafferin von Nachrichten für eine internatio nale Spionageorganisation, die alle und jeden be dient." „Die Ritter, wo ist sie?" bohrte Gerlach. In den Augen des Spions standen Tränen. „Tot", sagte er fast tonlos. „Wie denn, was denn . . .?" Der Regierungsrat erzählte. „Es war südlich von Cadiz. Ich kam dahinter, daß sie das Verhältnis mit mir nur wegen dieser Dokumente angefangen hatte. Sie suchte meinen 25
Wagen durch, dann mein Gepäck und meine Anzüge. Später, draußen am Kap Trafalgar, bedrohte sie mich mit einem Messer. Sie stand mit dem Rücken zum Kliff. Vielleicht drei Meter ent fernt. Sie wollte mir das Messer in den Leib stoßen, da rammte ich ihr meinen Schädel in den Bauch, und sie stürzte in die Tiefe." Gerlach ging ins Badezimmer und kam bald wieder. „Ist es dieses Messer?" „Ja. Ich habe es in Toledo gekauft. Eine wunder schöne Toledaner Klinge. Oder nicht?" Urban ließ sich das Messer zeigen. Gerlach warf es ihm zu. Doch geschickt fing Kreißler es im Flug. Er richtete sich auf, ging in die Hocke, das Messer im Kreis bewegend wie ein kleiner Ganove. „Wer mich angreift, hat es im Wanst", drohte er. Er konnte sich keine Chance ausrechnen. Aber es ging ihm wohl mehr um das Messer. Er stand nahe der Balkontür. Es war leicht, alles so hinzustellen, als sei ihm das Messer entglitten und hinausge fallen. Gerlach schien dasselbe zu denken wie Urban. Also packte er den Hocker und schleuderte ihn gegen Kreißler. Er traf ihn seitlich an der Stirn. Kreißler taumelte und fiel. Urban erwischte sein Handgelenk und nahm ihm das Messer wieder ab. Der Griff ließ sich von der Klinge drehen. Die Bohrung war tief genug, um eine Kapsel aufzuneh men. Urban klopfte sie heraus. „Das wär's dann", sagte er zu Gerlach. Der schüttelte den Kopf und nahm die Kapsel an sich. „Das war es noch lange nicht. — Machen Sie mit 26
der Laus, was Sie wollen. Ich bringe die Doku mente nach Bonn." „Mich interessiert, was die Kapsel enthält." „Mich weniger", eröffnete Gerlach ihm. „Machen Sie mit der Laus, was Sie wollen." „Das", sagte Urban, „erledigt die spanische Polizei. Erst einmal soll er die wunderschönen Gefängnisse dieses Landes kennenlernen, bis wir gelegentlich einen Auslieferungsantrag stellen." Er rief Coronel Segovia an. Der schickte zwei Beamte vorbei. Am Morgen, als Gerlach zur Bahnstation fuhr, um in Valencia ein Flugzeug zu nehmen, schlief Urban noch. Er dachte an ein paar Ferientage. — Doch daraus wurde nichts. Knapp achtundvierzig Stunden genoß er den späten Februar. Die Küste war noch zugenagelt, kaum, daß man Touristen sah. Nur ab und zu kam ein Bus voll Japaner vorbei. Es war am Donnerstagabend. Urban hatte sich Wurst, kalten Braten, Käse, Brot und Wein aufs Zimmer bringen lassen, als das Telefon ging. Bonn war am Apparat, sein allerhöchster Vorge setzter, der Kanzleramtsminister. „Wir brauchen Sie dringend hier", sagte er. „Ist Gerlach mit den Mikrofilmen durchge brannt?" „Es geht zwar um diese Sache, aber um noch viel mehr. Und schlimmer geht es fast nimmer. Wir stehen da wie Klein Erna vor dem Tribunal für Kriegsverbrecher. Ziehen Sie um Gottes willen die schnellen Stiefel an, Oberst Urban. Den Dienstweg mit Ihrem Hauptquartier in Pullach habe ich bereits kurzgeschlossen. Dort läuft alles okay." Wenn der Minister selbst sich bemühte, dann 27
steckte mehr dahinter, als wenn ein Supertanker mit Rohöl vor Helgoland zu stranden drohte. Dann war er bereits zerbrochen und ausgelaufen. „Ich versuche, es bis morgen abend zu schaffen", versprach Urban. Er legte auf, schaute auf die Uhr. Das war vier Tage nach Eintritt des dramati schen Ereignisses. 5.
Vier Tage nach dem dramatischen Ereignis lief in der japanischen Hafenstadt Hatschinohe ein Wal fänger ein. Mit Mühe hatte das Schiff die letzten 2000 Seemeilen zurückgelegt, um seinen Heimathafen auf Japans Hauptinsel zu erreichen. Bei der Ansteuerungstonne hatte der Walfänger gestoppt und folgenden Funkspruch an die Reede rei durchgegeben: Besatzung erkrankt und nicht in der Lage, Schiff in Hafen zu bringen. Schickt Notbesatzung. — Dann kam ein Nachsatz, der nicht verstanden wurde. Raten zur Verwendung von Aluminiumanzügen. Zunächst dachte man, eines der schweren Kühl aggregate müsse defekt sein, und die giftige Kühl flüssigkeit sei ausgeströmt. - Nach Meinung der Ingenieure ließ sich das aber durch Lüften behe ben. Es mußte also etwas Ernsteres vorgefallen sein. Man schickte einen Hubschrauber mit Notärz ten, Sanitätspersonal und drei Männern, die not falls in der Lage waren, den Walfänger in den Hafen zu bringen. Das erfahrene Team bestand aus 28
einem Chief für die Maschinen, einem Offizier mit Kapitänspatent und einem Lotsen. Als der Hubschrauber, über dem Walfänger schwebend, das Personal abseilte, glich das Schiff unter ihm einem Totenschiff. Die Ärzte fanden die Besatzungsmitglieder wie lebende Leichen in ihren Logis. Oben in den Kajüten des Kapitäns und der Offiziere war es nicht anders. Die Ärzte versuchten, eine Diagnose zu stellen. Dies gestaltete sich äußerst schwierig, denn die Männer waren apathisch und kaum zu einer Aus sage zu bringen. Ein Experte ging mit Lackmusund anderen Teststreifen durch das Schiff, konnte jedoch keine Anwesenheit von Giftgas feststellen. Erst der schwere Rettungskutter, der Stunden später neben dem Walfänger festmachte, hatte einen Geigerzähler an Bord. Das Meßgerät für Radioaktivität reagierte mit hektischem Knattern. „Der Kahn ist total verseucht", sagte einer von der Bergungsmannschaft. „Alles in die Schutzan züge! Keiner betritt ohne Atemmaske den Wal fänger." Wie sich herausstellte, war weniger das Schiff, als vielmehr die Besatzung so verseucht, als habe sie sich in gefährlicher Nähe zu einer Atomexplo sion aufgehalten. Die Tatsache jedoch, daß die Strahlenkrankheit so schnell und auf so verheerende Weise wirkte, konnte sich niemand erklären.
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Der Walfänger erreichte mit eigener Kraft den Hafen, wo man ihn an den Kai für Quarantänefälle dirigierte. Am Vordermast wurde die gelbe Flagge gehißt, wie schon im Mittelalter, wenn Schiffe die Pest an Bord hatten. Zwei der Fischer konnten verhört werden. Ihre relativ gute Verfassung war möglicherweise darauf zurückzuführen, daß sie zum Zeitpunkt des drama tischen Ereignisses in der Koje gelegen hatten. „Wir hatten Freiwache", erzählte der zweite Harpunier, „und arbeiteten nicht an Deck, als es passierte." „Als was passierte?" „Als plötzlich in der Nacht die Sonne aufging." „Wann war das?" „Wird jetzt wohl 'ne Woche her sein." „Um welche Stunde genau?" „Es war Nacht, vielmehr es war dunkel, sagte man uns später." „Welche Position hatte der Walfänger damals?" „Das müssen Sie den Kapitän fragen, oder den Ersten Offizier. Aber es dürfte ziemlich weit im Süden gewesen sein. Mindestens dreitausend Mei len von hier." „Südsee?" wurde gefragt. „Nein, nicht in der Südsee. Da kommen wir nicht her. Wir haben Wale im südlichen Indischen Ozean gejagt. - Oder war es doch schon der Südpazifik? - Keine Ahnung. Auf jeden Fall war es südlich von Neuseeland." „Dann war die Sonne aber verdammt weithin sichtbar." „Sie stand sehr tief, hörte ich." „Wie lange dauerte das Ereignis?" 30
„Eine halbe Minute, sagten meine Mackers." „Hörten Sie Geräusche?" „Nein. Ich verschlief das Ganze", äußerte Harpunier. „Außerdem liege ich nicht direkt an inneren Bordwand. Zwischen meiner Koje und See ist noch der vordere Treibstoffbunker. kommt wenig Schall durch."
der der der Da
„Auch weniger Strahlung", ergänzte der anwe sende Arzt. Das Schiff wurde entseucht. Die Besatzung kam in ein Hospital nach Hiroshima, das mit Strahlen schäden Erfahrung hatte. Keine Erklärung fanden die Fachärzte für den Umstand, daß bei den Strahlenkranken die inneren Organe stärker belastet waren als die Haut. Beson ders den Mund-, Rachen-, Magen- und Darmbe reich hatte es erheblich stärker beeinträchtigt. „Als hätten sie verseuchten Fisch zu sich genom men", kombinierte einer der Experten. „Dann müßte es fliegender Fisch gewesen sein", spottete ein anderer. „Wie sollte verseuchter Fisch so schnell die Entfernung vom kritischen Punkt bis zum Walfänger überwinden? Wie also kam es zu der Verstrahlung der Mannschaft?" Darauf gab es keine befriedigende Antwort. Bald ging es den Betroffenen besser. - Nicht, daß die Strahlenschäden so schnell vergingen, wie sie sich eingestellt hatten, aber es bestand die Hoffnung, daß die meisten es überstehen würden. Mit Ausnahme eines Mannes, des Chiefs. — Aber der war schon über fünfzig und litt an Tuberku lose.
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6.
Am fünften Tag nach Eintritt des dramatischen Ereignisses lagen bei der Zentralstelle für geophy sikalische Symptome in Paris die Daten vor. Sie stammten von den Meßstationen aus aller Welt. Zwischen den Polen, auf allen Kontinenten, rund um den Äquator, sogar auf dem Meeresgrund gab es mehrere Dutzend davon. Die unterentwickelten Länder meldeten sie noch über Telefon, die UdSSR und Südamerika schon über Telex oder Telefax. Die Stationen am Hima laja und auf den fernen Inseln funkten die Werte, aus den USA, Japan und den EG-Ländern liefen sie auf Datenfernleitungen direkt in den Computer. Die Auswertung der Tausende von Parameter dauerte nicht lange. Zur Sicherheit wurde die Prozedur jedoch mehrmals wiederholt. Schließlich stand das Ergebnis fest. Der Direktor der Zentrale teilte es zunächst den Chefs der Nationalen Erdbebenmeßstationen mit. „Das Ereignis", sagte er, „das am Entstehungs ort eine Stärke von neun auf der Richterskala erreichte, fand ziemlich genau zwischen den Mac quarie- und den Balleny-Inseln statt. Es ist mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit auf eine Atomexplosion zurückzuführen. In jedem Fall scheiden Krustenbewegungen, Seebeben et cetera aus." Die Protokolle gingen in englischer Sprache zu den nationalen Zentren. Dort bildeten sich sofort Diskussionszirkel von Geophysikern. Es gab kaum ein Thema, das die Gemüter stärker erregte als die Atomexplosion im Südpazifik. In Paris, wo sich die Mannschaft aus Wissen 32
schaftlern aller Länder zusammensetzte, kam die Debatte zu keinem Ende, aber auch zu keinem Ergebnis. Die Kombinationen kreisten ständig um die bekannten Tatsachen. „Eine Atomexplosion entsteht niemals aus nichts", bemerkte der Franzose. „Man braucht Uran dazu, Plutonium, Zündme chanismen. " „Genannt Atombombe." Der Engländer nuckelte an seiner Pfeife und sagte: „Das ist der Punkt. Wie viele Atommächte gibt es?"
„Was, bitte, ist eine Atommacht?" „Ein Staat, der im Besitz einer funktionsfähigen Atombombe ist", wurde präzisiert. „Davon kenne ich höchstens sechs." „Und ein paar, die nahe daran sind." „Nahe daran bedeutet bei Atombomben: nicht ganz dran." „Und die nicht ganz Drannen müssen eben testen." „Dann gibt es noch Staaten, die die Bombe haben, es aber nicht zugeben." „Wer?" Darauf kam keine Antwort. „Und solche, die sie nicht haben, aber zu ihrem Bau technisch in der Lage sind." „Wer?" fragte der Japaner in einem Ton, als fühle er sich betroffen. Abermals hüteten die Anwesenden sich, eine Vermutung auszusprechen. Der stellvertretende Direktor des Instituts erschien und hatte ein langes Fernschreiben in der 33
Hand. Er hielt es hoch, schwenkte es wie eine Fahne und rief: „Unsere Recherchen bei den in Frage kommen den Staaten sind nun beantwortet. Keiner hat eine Atombombe getestet. Die Russen testen ohnehin nur hoch im Norden auf Nowaja Semlja in der Karasee. Die Amerikaner testen derzeit überhaupt nicht, die Engländer schon lange nicht mehr. Die Franzosen testen erst wieder im nächsten Jahr in ihrem Archipel. Indien hat die Atombombenpro duktion heruntergefahren. China ebenso." „Bleibt noch Israel", wandte der Amerikaner ein. „Sie haben die Bombe. Aber weiß der Teufel, wo sie jemals eine ausprobierten", sagte der Vizedi rektor. „Auch aus Tel Aviv liegt eine Erklärung vor. Negativ. Kein Test." „Und keiner ist dadurch beunruhigt, Gentle men?" fragte der Brite. Mit feinem Lächeln erklärte das Institutsmit glied aus der Sowjetunion: „Gentlemen, gehen Sie bitte davon aus, daß unsere geheimdienstlichen Ermittlungen bereits auf vollen Touren laufen. Denn wenn es einen Club gibt, der keine neuen Mitglieder aufnimmt, dann ist es der exklusive Verein der Atommächte." Das war am Morgen des fünften Tages nach der rätselhaften Atomexplosion im Südpazifik.
Am Abend des fünften Tages nach der rätselhaften Atomexplosion stand das Statement der Erdbeben forscher bereits in den Zeitungen. Ein britischer Privatsender ging in seinem Abendkommentar noch einen Schritt weiter. 34
Angeblich wußte man, von wem die Bombe stammte und wer sie gezündet hatte. Nach Mei nung des Kommentators kamen dafür nur hochent wickelte Industrieländer in Frage, die das techni sche Know-how hatten, aber dem Atomclub nicht angehörten. Er spannte seine Zuschauer nicht länger auf die Folter, sondern sagte: „So schrecklich es klingt, meine Damen und Herren, in einer Zeit des Weltfriedens gibt es offenbar noch Unverbesserliche, die sich schon auf den nächsten Krieg vorbereiten. Natürlich sind sie zu feige oder zu vorsichtig, um ihre Atombomben tests offen einzugestehen. Sie tun alles, um ihr Ansehen zu wahren und um ihre weltweiten Geschäfte nicht zu gefährden. Die Deutschen tragen noch schwer an ihrem Nazi-Erbe und die Japaner daran, daß sie den pazifischen Krieg begannen und verloren. Aber beide Nationen wollen nicht länger in der Reihe der Schwächlinge stehen. Sie haben wieder Welt machtgelüste. Und dazu gehört nun einmal der Besitz der Atombombe. Von einem dieser Staaten wurde der geheimnisvolle Test ausgelöst. Fragt sich nur, von welchem. Von Japan oder von Westdeutschland." Damit war die Sendung noch nicht zu Ende. Der Kommentator hatte noch etwas auf Lager. Nur zwei Sätze, aber sie enthielten eine ungeheuerliche Anklage. Er ließ sie auf der Zunge zergehen. „Ladies and Gentlemen", begann er. „Uns liegen Dokumente von hoher Beweiskraft vor, wonach hinter dem Atombombentest unser NATO-Verbün deter, die Bundesrepublik Deutschland, steht. Die 35
Deutschen beförderten die Bombe heimlich an den Rand der Antarktis und lösten sie dort aus. - Und nun, gute Nacht, Ladies and Gentlemen!" 7.
Der BND-Agent Robert Urban erreichte Bonn mit Verspätung. Ein Pilotenstreik in Spanien zwang ihn zunächst auf die Eisenbahn. Erst in Perpignan bekam er eine Maschine nach Marseiile. Von dort ging es endlich nach Paris weiter. Die letzte Maschine nach Frankfurt war längst weg. Deshalb schickte Bonn ihm einen Lear-Jet der Regierungsflugstaffel. So war es die erste Morgenstunde am sechsten Tag nach der rätselhaften Atomexplosion, als Urban dem Minister gegenübersaß. Es war ein ernüchterndes Büro. Haarfilzteppich und billige Vertäfelung. Urban hatte schon in den Büros von Ministem in aller Welt gesessen. Die luxuriösesten gab es in Lateinamerika, elegante in den USA, prächtige in Frankreich und konserva tive in England. Aber das hier war nicht einmal Fichte einfach, das war Versandhausstil schlecht hin. Es soll jetzt Geschäfte geben, dachte Urban, die Pappmöbel führen. Alles in Pappe. Schränke, Bet ten, Stühle, Sofas. Das müßte man ihnen empfeh len. Die sehen sogar hübsch aus. Andererseits, wer hatte etwas gegen eine Regierung, die nicht mit Gold und Marmor protzte? Der Minister, klein, schmal, mit einem spitzbübi schen Gesicht, fragte: „Lesen Sie Zeitung?" „Nicht nur. Am Flughafen in Paris wurde ein 36
hochaktueller britischer Fernsehkommentar ausge strahlt. " Der Minister nickte. Urban hatte offenbar den Punkt getroffen. „Tee, Kaffee?" „Whisky." „Leider ist nur Scotch da." Das fand Urban beachtlich. Der Mann hatte eine Menge im Kopf und erinnerte sich, daß ein gewis ser BND-Agent Bourbon bevorzugte. Der Minister goß sich eine Fingerbreite ein und schob Urban die Kristallkaraffe hin. „Sie kennen Ihren Bedarf besser." Offenbar füllten sie den Whisky in neutrale Karaffen um, damit niemand die Billigmarke erkannte, die sie im Großhandel kauften. Urban nahm die Hälfte seiner Häme zurück. Der Scotch brannte nicht schon auf der Zunge, sondern erst weiter hinten. „Was sagen Sie zu dem Kommentar, Urban?" „Kein Rauch ohne Feuer." „Nun behaupten die Engländer auch noch, sie hätten Beweise." „Wer? Die Journalisten?" „Nein, auch gewisse amtliche Dienststellen." Wahrscheinlich meinte der Minister die NATO. „Wer?" fragte Urban noch einmal. „Was für Beweise können die haben? Die bluffen doch nur." „Beweise", hinterfragte Urban, „daß wir mit den Vorgängen im Pazifik zu tun haben?" Der Minister drehte das Glas in den Händen und nahm einen winzigen Schluck. Vermutlich benetzte er nur den Gaumen etwas. „Wer, bitte, ist in diesem Falle wir?" 37
Urban überlegte. Sie waren allein. Es gab keine Zeugen. Sie kannten sich, sie vertrauten einander. Die Zeit war zu kostbar, um irgendwelche utopi schen Theorien aufzustellen. Also legte er offen los. „Ein privates Industriekonsortium. Angenom men, es wird subventioniert - schon zieht man den Staat mit in die Verantwortung." „Schade", bedauerte der Minister, „daß wir keine Mafia haben. Man könnte es auf die Mafia schieben. Jaja, die Italiener, die täten sich jetzt leicht. Aber nun mal zurück zu einem möglichen Industrieverband. Angenommen ein subventionier ter Industriezweig, oder noch deutlicher, die Rüstungsindustrie, macht heimliche Atomtests. Halten Sie das allen Ernstes für möglich?" „Theoretisch und praktisch nein", antwortete Urban. Der Minister stand so schnell auf, daß Whisky auf seine Manschette schwappte. „Aber die Engländer besitzen angeblich Mate rial. Woher haben sie das Material?" „Und was ist das für Material?" ergänzte Urban den Fragenkatalog. „Sie haben doch die Mikrofilme diesem Spion Kreißler aus dem Verteidigungsministerium abge nommen und zurückgebracht." „Die Filme schon. Das heißt, nur die Kapsel", schränkte Urban ein. „Das BfV beschlagnahmte alles an Ort und Stelle." „Was bedeuten die Filme schon." „Regierungsrat Kreißler hatte Umgang mit die ser Ex-Sekretärin Miranda Ritter. Niemand weiß, was er ihr erzählt hat." „Er wußte kaum etwas. - Nun ja, mitunter genügt ein einziges Wort." 38
Der Minister lehnte an der Sofakante und er klärte: „Die Geheimdienste fallen in meinen Zuständig keitsbereich. Ich las den ersten Kurzbericht über Ihre spanische Operation. Die Nachrichtenhändle rin Ritter soll tot sein. Wie konnte sie dann Informationen weiterleiten?" „Vorher", befürchtete Urban. „Wenn angeblich schon ein Wort genügt." „Na schon, die Engländer haben das Wort. Na und?" „Ein einziges Wort kann eine weltweite Fahn dung auslösen." Eigentlich war es an der Zeit, Urban einzuwei hen. Der Minister zögerte jedoch. „Das alles ist super-top-secret." Offenbar wollte die Regierung beides: sich entla sten, aber auch das Geheimnis wahren. Urban versuchte es mit einer Provokation. „Wozu die ganze Aufregung, wenn wir unschul dig sind?" Der Minister wischte sich von der Stirn her bis zum Kinn über das Gesicht. „Leider sind wir nicht ganz unschuldig, mein Freund," „Im Sinne von ein bißchen schwanger?" „Mittelschwanger", sagte der Minister, „wenn Sie wissen, wie ich das meine." „Also nicht hochschwanger." „Wenn ein Hinweis auf eine bestimmte Spur führt, sucht man weiter und weiter, findet im Keller eine Leiche, und am Ende sind wir die Buhmänner. Wo, nach Ihrer Erfahrung, Oberst Urban, könnten sich die Beweise befinden?" „Bei der NATO." 39
„In Brüssel?" „Dort werden in der Regel solche Erkenntnisse gesammelt." Der Minister versuchte noch einmal, die Lage auseinanderzudividieren. „Angenommen, wir hätten wirklich einen Atom versuch in der Südsee unternommen — ich stelle das nur als Hypothese in den Raum —, dann verstößt das nicht gegen EG-Rechte. Die Gemein schaft hat damit nichts zu tun. - Es verstößt aber gegen NATO-Verträge, wonach wir uns verpflich tet haben, Atomenergie nur zu friedlichen Zwek ken einzusetzen. Angenommen, es käme zu einer Anklage, wer ist dann der Staatsanwalt?" Urban ging um vierzig Jahre zurück. „Vermutlich die uralte Alliierten-Clique."
„Und wer ist der Kommissar, der die Fakten sammelt?" „Die NATO." Der Minister senkte die Stimme. „Wo bewahrt man solche Beweise auf?" „Dafür gibt es Safes, Herr Minister." „Kennen Sie diese Safes, Urban?" „Ich stand oft davor. Es gibt einen Safe in der Strategischen Abteilung, einen beim Generalsekre tär, einen ..." „Der Generalsekretär ist derzeit ja unser Mann." „Dann umgeht man ihn, und die Unterlagen liegen anderswo", befürchtete Urban. Der Minister senkte die Stimme zu einem Flü stern. „Nur Akteneinsicht, wenn man die bekommen könnte, nur einen Blick in die Akten, kurz mal quer durch, damit man weiß, woher der Wind weht." 40
„Den wird man uns verwehren." „Wir können nicht einmal den offiziellen Antrag stellen. Wir müssen warten, was man uns vor die Füße knallt. Und das haben wir gar nicht allzu gern." Im Grunde war der Fall klar. Der Minister wußte alles. Urban wußte nichts. Der Minister war zum Schweigen verpflichtet, aber Urban sollte die Karre aus dem Dreck ziehen. Er irrte sich nicht. „Brüssel", sagte der Minister. „Sie kennen das NATO-Hauptquartier." „Ich kenne es, und mich kennt man dort." „Ist das ein Vorteil oder eine Erschwerung?" „Kommt darauf an." „Können Sie etwas für Ihr Vaterland tun, Oberst Urban?" „Das ist mein Job." „Verschaffen Sie uns einen Wissensvorsprung. Wie sehen die Beweise aus? Wie kann man dage genhalten? Nur so viel. — Ist das zuviel?" „Eine ganze Menge", sagte Urban. „Wie und wann Sie es machen, ist Ihre Sache. Es sollte nur möglichst bald sein." Der Minister sagte nicht: Steigen Sie ein und knacken Sie den Safe. Er würde sich hüten, das jemals zu fordern. Nicht einmal unter vier Augen. Aber er war ungeheuer scharf darauf zu erfahren, was in der Akte von orangeroter Farbe stand. Urban schaute auf seine Rolex. Heute war das nicht mehr zu erledigen. Bis er nach Brüssel kam, war es Tag. In den Stäben arbeiteten sie oft bis weit nach Mitternacht. — Aber in den ersten Morgenstunden ging es. Das war dann der siebente Tag nach der rätsel haften Atomexplosion in südlichen Gewässern. 41
8.
Die Konferenz hatte Rang. Man wollte sie aber nicht zu sehr hochspielen, also trafen sich nicht die Minister, sondern nur die Stabschefs. An der Konferenz waren sieben Mächte beteiligt. Deshalb hielt man sie auf neutralem Boden ab. Die Konferenz war aber auch geheim. Was man nicht haben wollte, waren Journalisten. Um allen Forderungen gerecht zu werden, trafen sich die sieben Generäle im Salon eines schwedi schen Fährschiffs im Hafen von Reykjavik/Island. Sie trugen Zivil und hatten kaum Gepäck dabei. Nicht einmal Aktentaschen. Es ging ausschließlich um ein Thema, und das hatten sie alle im Kopf. Kaum hatte der letzte den wannen Wintermantel abgelegt, und die Türen waren geschlossen, bildete man einen Kreis um den Rauchtisch. Nur einmal gab es eine kurze Störung, als der Bordsteward den Servierwagen mit Getränken und einem kleinen Imbiß hereinrollte. Aber die Gentle men machten kaum Gebrauch von Tee, Kaffee oder Mineralwasser. Der Initiator, ein General aus dem US-Verteidi gungsministerium, stellte zunächst die Anwesen heit der Teilnehmer fest. Dann erteilte er dem Franzosen das Wort. Dieser, ein auch in Zivil elegant aussehender Brigadier, gab zwei Statements ab. Das erste faßte die Erkenntnisse der Zentrale für geophysikalische Symptome, das zweite das Beweismaterial zu sammen. Zunächst wurde kein Kommentar abgegeben. Man näherte sich dem Problem auf andere Weise. 42
Der Russe, der ein holpriges Englisch sprach, aber immer noch besser zu verstehen war als der Chinese, erklärte in ungewohnter Offenheit: „Im Namen meiner Regierung lege ich hier eine Versicherung vor, daß in den vergangenen zwölf Monaten weder im Bereich der UdSSR noch in internationalen Seegebieten Testversuche mit ato maren Sprengkörpern oder mit solchen mit teilato marer Zusammensetzung vorgenommen wurden. Ich bitte die Anwesenden gemäß unserer Vereinba rung, gleichlautende Erklärungen abzugeben." Die Erklärung der Regierung in Moskau war sechsfach ausgefertigt. Jeder der Anwesenden, mit Ausnahme des Russen, erhielt ein Exemplar und legte es in einer Plastikhülle ab. Ohne feierliche Bemerkungen legten nun auch alle anderen ihre Schriftstücke auf den Tisch. Am Ende hatte jeder der Anwesenden - der Amerikaner, der Russe, der Brite, der Franzose, der Chinese, der Inder und der Israeli - je sechs dieser Erklärungen in Verwah rung. Nun meldete der Engländer sich zu Wort. „Da nur die sieben hier vertretenen Staaten dem Atomclub angehören und auch durch seismologi sche Erkenntnisse bisher nicht bekannt geworden ist, daß andere Nationen derzeit über einsetzbare Atomsprengkörper verfügen, bitte ich jetzt um offene Diskussion." Zunächst einmal befeuchteten die Gentlemen ihre Gaumen. Auch dann kam es zu keiner geord neten Debatte. Der Israeli sagte: „Was mir mißfällt, ist das Wort Atomclub. Was ist ein Club? Besteht er nur aus Mitgliedern oder auch aus den Antragstellern, die draußen vor der 43
Tür warten? Ich kenne eine Reihe von Anwärtern. Pakistan, Irak, Persien, Libyen, um nur ein paar zu nennen." „Die scheiden aus", erklärte der Russe. „Das wird vom KGB garantiert." Dann mußten sie wohl oder übel die zwei Schwarzen Peter aus dem Spiel ziehen. „Und wer, bitte, scheidet nicht aus?" „Bleiben noch Japan und Westdeutschland." Der Amerikaner holte ein Papier aus seiner Sakkotasche. „Japan dürfte wegfallen. Tokio hat schärfstens gegen diese internationale Kampagne protestiert. Sie bezeichnen es als Rufmord und sind bereit, jede Prüfungskommission an jedem Ort ihres Landes zuzulassen, um ihre Unschuld zu beweisen." „Und was sagen die Deutschen?" fragte der Inder. „Die Deutschen sind methodisch wie immer." „Zum Beispiel?" „Sie reagieren nicht auf Zeitungsenten." „Sie warten also auf die offizielle Beschuldi gung." „Vermutlich würde sie das nicht ungerührt las sen. Aber sie werden Beweise fordern. Der Anklä ger muß beweisen, nicht der Angeklagte." „Gibt es diese Beweise?" Alles blickte nun den Amerikaner an. Der nickte, wenn auch nicht gerade heftig, sondern eher verhalten. „Leider." „In welcher Form?" Er sagte es ihnen. „Filme, Fotos, Satellitenaufnahmen." „Kann man sie einsehen?" erkundigte sich der 44
Chinese, dem es offenbar lieber gewesen wäre, man könnte Chinas größtem Handelspartner nichts an haben. „Gerade die Deutschen, die uns doch immer wieder versicherten ..."
„Was?" „Sie hätten keine Atommachtinteressen." „Glaube keinem Deutschen." „Sie sind technisch dazu in der Lage", versuchte der Chinese die Deutschen zu entlasten. „Sie sind dazu so mühelos in der Lage wie ein Mathemati ker, um drei mit neun zu multiplizieren. In so einem Fall ist der Reiz einfach zu groß, einmal auszuprobieren, ob es funktioniert. Die Deutschen gelten nicht nur als Dichter und Denker, sie sind auch Tüftler und Erfinder." „Und großmachtgeil", fügte der Franzose hinzu. „Aber wir werden ihnen auf die Zehen steigen." „Ganz gehörig diesmal." Es wurde vereinbart, gegen die Bundesrepublik Deutschland, sobald die Beweiskette geschlossen sei, und damit rechnete man stündlich, in schärf ster Form vorzugehen. Notfalls mit Maßnahmen, die sich von diplomatischen Schritten über wirt schaftlichen und politischen Druck bis zu einer neuerlichen Besetzung durch die vier alliierten Mächte steigerte. „Denn noch", rief der Russe mit erhobenem Zeigefinger, „gibt es keinen Friedensvertrag mit den Deutschen!" Mitten hinein in die Geheimkonferenz platzte ein Anruf aus Canberra, der Hauptstadt Australiens. Von dort meldete sich der Verteidigungsminister und gab eine scharfe Erklärung folgenden Inhaltes ab: Australien sei ebenfalls eine Atommacht. Der 45
australische Geheimdienst habe von der Island konferenz erfahren, und man sei befremdet, daß Australien, als Mitglied des Atomclubs, nicht ein geladen worden sei. Der Vertreter der Britischen Krone antwortete ihm, er habe Australien, das dem Commonwealth angehörte, würdig vertreten. — Was dem Australier wiederum gar nicht gefiel. Australien sei souverän, beharrte er, und lasse sich nicht, wo immer und wann immer, in irgendei ner Weise bevormunden.
Der Brite bat um Entschuldigung, und dem Australier wurde versichert, er sei bei der nächsten Sitzung selbstverständlich Mitglied der Runde. Der Australier war immer noch beleidigt. Doch das störte die Anwesenden nicht sonderlich. Was ihnen mehr zu denken gab, war, daß Canberra wußte, was in Island lief. Es existierte offenbar eine undichte Stelle, „Es gibt überhaupt keine Diskretion mehr", jammerte der Engländer. In der frühen Dunkelheit löste sich die IslandKonferenz auf. Die Gentlemen verließen die Insel, wie sie gekommen waren. Der Amerikaner mit einem Jet der US-AirForce. Er war weiß lackiert und trug das Emblem einer texanischen Luftlinie. Der Brite nahm eine private Hochseeyacht, die jedoch Eigentum der Royal Navy war. Der Russe bestieg den Linienjet Washington-Mos kau. Die Aero-Flot landete einmal pro Woche in Reykjavik zwischen. Der Russe nahm auch den Chinesen mit. Der Inder benutzte die Fähre nach Norwegen. Allerdings bewohnte er eine Luxuskabine. 46
Wie der Israeli nach Hause fuhr, war unbekannt. Und es würde wohl auch ein Geheimnis des MOSSAD bleiben.
Wenn Urban ehrlich war - und er wurde es immer dann, wenn ihm einiges stank -, dann hatte der Staat ihm nie mehr bedeutet als ein mittelalterli cher Steuereinnehmer. Urban hatte den Staat nie um etwas gebeten, aber der Staat hatte immer verdammt viel von ihm verlangt. Okay, er war für diesen Staat tätig. Aber sein Leben so leichtsinnig aufs Spiel zu setzen, war eine andere Sache. Das galt nur im Krieg. Diesmal konnte er nicht einfach durch das Doppeltor zum NATO-Hauptquartier hineinfah ren. Er mußte kommen wie der Dieb in der Nacht. Zum Glück hatte er ausreichende Ortskenntnis. Er überkletterte also den Doppelzaun mit der Laufgasse für die Hunde. Dort stank es wie frisch gejaucht. Es war das zweite Mal, daß er den NATO-NordKomplex auf diese Weise betrat. Vor ein paar Jahren hatte er Material gesucht, das einen Spion auf der Kommandoebene überführte. - Jetzt ging es um die Ehre. Saubermann oder Schmutzmann - das war heute die Frage. Im grauen Overall, der sich kaum gegen das Grau des Betons der Straßen und Gebäude abhob, schlich Urban auf Umwegen zu Gebäude 2/A. Die Sohlen seiner Turnschuhe waren, nach dem System der Steigfelle bei alpinen Skiwanderungen, 47
mit Filz bespannt. Diese daumendicke Filzschicht wiederum hatte er mit einer lysolähnlichen Flüs sigkeit getränkt. Für menschliche Nasen geruchlos, trieb sie wegen ihrer Penetranz Hundenasen gera dezu in die Flucht. Von einer Hundestreife entdeckt zu werden, konnte Urban also ausschließen. Außerdem waren ihm der Wachplan und die Zeiten der Rundengän ger bekannt. Er selbst hatte bei Einrichtung des neuen Hauptquartiers an den Sicherheitsvorkeh rungen mitgearbeitet. , Zweimal mußte er in Deckung springen. Einmal bei den Büschen am Parkplatz und einmal bei dem Bunker, der die Aggregate für Notstrom und Notheizung enthielt. Mann und Hund passierten mit wenigen Schrit ten die Nische, wo Urban sich versteckte. Der Schäferhund wandte seine Nase angewidert ab. Der Haupteingang von 2/A war verschlossen. Sowohl die Außentüren wie die inneren hingen ab 22.00 Uhr am allgemeinen Sicherheitssystem, das elektrisch wie elektronisch überwacht wurde. In der Wachzentrale saß Tag und Nacht ein Mann vor den Monitoren der Kontrollkameras. Aber es gab einen Weg, und zwar den, auf dem die Bediensteten im Falle eines Brandes ins Freie gelangten. Urban holte an einer Kette das schwenkbare Endglied der Feuerleiter herunter und begab sich in luftige Höhe. Auf dem Dach über der siebenten Etage öffnete er die Außentür des Liftmotorraumes und dort in aller Ruhe die innere Tür. Er hatte den Plan skizziert, hatte ihn aber auch im Kopf: hinteres Treppenhaus abwärts bis zum ersten Stock, dort durch die Glasflügeltüren, — 48
Jetzt auf die Kameras aufpassen! — Aber die Kameras arbeiteten bei Dunkelheit nicht. Sie schalteten erst ein, wenn ein Lichtreflex sie an regte. Urban tastete sich den südlichen Korridor ent lang bis zum Vorzimmer eines der stellvertretenden Generalsekretäre, General Maxwell Six. Die Tür stand offen. Auch die vom Vorzimmer zum Büro des Generals war nur angelehnt. Vor kurzem, als wieder einmal eingebrochen worden war, hatte man die eingebauten Wandsafes ausgemustert. Sie dienten nur noch zur Aufbewah rung von Material niedriger Geheimstufen und von Zigarren und Cognac. Neu waren die kleinen Safes in den Ecken. Stählerne Würfel, etwa doppelt so groß wie ein TVGerät mit 82er Röhre. Urban kannte das Modell. Es war nahezu unknackbar, wenn man es konservativ mit Trenn scheibe, Schweißbrenner und Sprengstoff anging. Urban hatte einen jener seltenen Universaldiet riche, wie die Schnelldienste von Tresorfirmen ihn benutzten. Ein technisches Kunstwerk wie minia turisierte Hände. Das Innere bestand aus einer Mechanik von der Präzision jener Taschenchrono meter, die Sonne, Mond, Sterne und die Weltzeiten anzeigte. Beste Uhrmacherarbeit also. Durch Rän delschrauben am Griff ließ sich die Dicke verän dern, ließen sich Barte aus- und einfahren, Krallen herausspreizen und zurückziehen. Es war nicht einfach, mit dem Ding umzugehen. Man mußte es geübt haben. Aber schwieriger als die Blindlandung für einen Piloten war es auch nicht. Urban, nicht nervös, aber auch nicht cool wie ein 49
Eiswürfel, hatte nahezu zehn Minuten zu fummeln, bis der Dietrich sich einigermaßen dem Labyrinth aus Zuhaltungen, Nasen und Nocken angepaßt hatte. Das Punktlicht seines Kugelschreibers, den er zwischen den Zähnen hielt, verwendete er nur spärlich. Bald verzichtete er ganz auf das Licht, denn von draußen drangen Geräusche herein. Die eisernen Schranken an der Haupteinfahrt hoben sich rat ternd. - Was bei Tag kaum zu hören war, schien sich in der Stille der Nacht zu verstärken. Erst ging der äußere Schlagbaum hoch, dann der innere. Das Stahltor wurde zur Seite bewegt. Fahrzeugmotoren wurden lauter.
Urban trat ans Fenster. Er sah Autoscheinwerfer. Eine Reihe schwerer Limousinen rollte, auf der Zubringerstraße von Brüssel kommend, ins NATO-Hauptquartier.
Der Safe war offen. Urban begann, den Inhalt im Lichtpunkt der Lampe zu sichten. Die Akte, auf die es ankam, lag ziemlich weit oben. Der Schnellhefter mit den roten Top-secretSchrägstreifen führte als Aufschrift nur zwei Worte: Atomtest/Südpazifik. Urban blätterte den Ordner durch. Meldungen, Berichte, Kommentare, alles in Englisch abgefaßt. Dann kamen Fotos, kleine, große, scharfe und undeutliche, solche aus Flugzeugen und welche von Satelliten. Kein Zweifel, er hatte die gesuchten Dokumente 50
vor sich. Sie sollten den Beweis erbringen, daß die Bundesrepublik Deutschland hinter dem heimli chen Atomtest stand. Wie es aussah, kam da einiges zusammen. Es gab Fotos eines großen Fischdampfers mit dem Namen Annmary. Er führte die panamesische Flagge. Der Dampfer lag in einem Hafen am Kai. Die Lager schuppen im Hintergrund waren mit Firmenschil dern versehen. Sie würden sich vergrößern und entziffern lassen. Luftaufnahmen zeigten den Fischdampfer mit hoher Fahrt auf See. Die Sonne stand schräg hinter dem Dampfer. Offenbar nahm er Südkurs. Dann gab es eine Nachtaufnahme, die seine Silhouette gegen den Horizont, aber auch einen Sektor des Nachthimmels zeigte. Urban glaubte jene Sternkonstellation zu erkennen, die man das Kreuz des Südens nannte. Schließlich zeigte ein stark vergrößertes Satelli tenfoto etwas Spindelförmiges, umgeben von wei ßen, unregelmäßigen Punkten. Vielleicht war es die Annmary im Treibeis. Die kompakte weiße Fläche am oberen Bordrand konnte Packeis sein. Die Meldungen und Berichte bestätigten oder kennzeichneten die Bilddokumente. Urban bannte jedes Blatt und jedes Foto auf den Spezialfilm seiner Minox. Dann legte er das Mate rial in den Safe zurück und schloß die Stahltür. Als er das Büro des Generals verließ, hörte er im Korridor Geräusche. Sie kamen vom Hauptein gang. In den Etagen brannte jetzt helles Licht. Unten im Foyer hatte sich eine Handvoll Herren versammelt. Alle trugen Uniform, Mäntel mit den Rangabzeichen höherer Dienstgrade. Offenbar fand hier eine späte Konferenz statt. 51
Im Foyer der ersten Etage hing ein Plan. Zum kleinen Konferenzzimmer ging es nach rechts. Also nahm Urban die Haupttreppe zur zweiten Etage und legte sich flach auf den Absatz, wo die Treppe ihre Richtung um 180 Grad wechselte. So konnte er genug sehen und hoffte, nicht entdeckt zu werden. Sie fuhren in mehreren Partien herauf. Erst drei Offiziere, dann zwei, dann vier, dann einige ein zeln. Am Ende waren die Vertreter fast aller NATO-Mitgliedstaaten versammelt. Die ganze NATO-Spitze. - Mit Ausnahme des Vertreters der Bundesrepublik Deutschland.
Urban war sicher, daß er keinen Deutschen gesehen hatte. Es kostete wenig Logik, um sich Vorzustellen, um was es in dieser nächtlichen Sitzung ging. Urban verließ erst seine Beobachterposition, dann das Gebäude A/2, dann das Gelände des NATO-Hauptquartiers, auf demselben Wege, auf dem er gekommen war.
10.
Am achten Tag nach der geheimnisvollen Atomex plosion im Südlichen Pazifik machte der amerika nische Colonel Jimmy Joe Carty sich auf den Weg. Um seine Blitzaufgabe durchführen zu können, hatte man ihn mit weitgehenden Vollmachten ausgestattet. In Erfüllung des Konferenzbeschlus ses von Brüssel flog er mit dem Hubschrauber in die Normandie, konnte die gesuchte Person aber nicht antreffen. 52
Also ließ er den Helikopter auftanken und flog über den Ärmelkanal nach England. Über Funk erhielt er die Nachricht, daß die zweite gesuchte Person sich in Schottland aufhielt. Und zwar auf einem Stützpunkt für Atom-UBoote. Der Gesuchte - er hieß Mortimer — hatte den Rang eines Korvettenkapitäns inne und war gerade im Begriff, ein U-Boot der Royal Navy auf eine Weltreise zu begleiten. Colonel Carty traf ihn, als er in einer Kneipe seine letzte Flasche Scotch leerte. „Wer auch immer, zum Teufel, Sie sind, Colo nel", sagte der Engländer, „ich habe eine lange Durststrecke vor mir, und Sie erlauben, daß ich mich langsam vollaufen lasse. Was kann ich für Sie tun?" „Ich komme vom NATO-Hauptquartier Brüssel. Ich zeige Ihnen gern meine Vollmachten, aber nicht hier in diesem Bumslokal." „Was für Vollmachten?" Der Engländer hatte schon eine schwere Zunge, hielt sich aber senk recht und in Balance. Noch hatte der Alkohol seine Sinne eher geschärft. „Sie gefallen mir nicht, Colonel", äußerte er mißtrauisch. „Sie führen etwas im Schilde." Der Amerikaner nickte, nahm Mortimer die Flasche ab und goß sie über die Bar hinweg in die Spüle. „Erstens das", sagte er. „Zweitens lassen Sie sofort Ihr Gepäck von der HMS Swordfish holen, Commander. Sie werden eine Durststrecke vor sich haben, aber nicht unter Wasser." „Sondern?" Der Amerikaner weihte ihn ein, so gut er durfte. 53
Der Engländer protestierte daraufhin. „Sie sind Amerikaner und nicht mein Vorge setzter." „Wie gesagt", der Amerikaner klopfte auf seine Brusttasche, „ich habe alle Vollmachten. Ich suche das beste erreichbare Team. Die besten Männer für dies und jenes. Sie sind mein erstes As, Com mander." „Nehmen Sie doch einen anderen." „Meine Wahl ist auf Sie gefallen", erklärte der Colonel. „Sie kommen da nicht raus. Es sei denn, Sie desertieren."
Mortimer kippte das letzte volle Glas hinunter. „Und die anderen Asse?"
„Welche?" „Wenn ich das erste As bin, muß es noch ein zweites und drittes geben." „Top-secret", sagte Colonel Carty. Er bezahlte für Mortimer, half ihm in den Mantel und bugsierte ihn hinaus. Es war naßkalt und neblig. Der Nebel war so feucht, daß man seine Bestandteile im Licht der Tiefstrahler zu sehen glaubte. Der Commander war im Nu wach.
Der zweite Mann war Major Alistair, CIA-Agent, Expilot der US-Luftwaffe. Colonel Carty, der Seelenfänger der NATO, fand ihn hoch am Himmel über Edward Base. „Er macht gerade ein paar Flugübungen auf der F-achtzehn", sagte der Basisadjutant, der neben dem Colonel im Jeep saß. „Und die bestehen nur aus Loopings?" 54
„Und Rollen, Sir, und ein paar Turns."
„Wahnsinn!"
„Es ist wie im Zirkus, Sir. Früher war der
dreifache Salto mortale etwas für Irre. Heute ist er für die Hochseilartisten das tägliche Brot." „Nun ja, es mag noch der am wenigsten gefährli che Teil seines Berufes sein." „ Wir haben im Jet-Training relativ geringe Unfallzahlen", bestätigte der Adjutant. „Wir haben leider höhere", erwiderte der Co lonel. Der F-18-Pilot wurde über Funk zur Landung aufgefordert. Als seine entenflügelige Maschine ausrollte und stand, ging das Kabinendach auf, und Alistair kletterte heraus. Kaum hatte er den Colonel erkannt, als er kehrtmachen und sein Heil wieder in den Wolken suchen wollte. Aber sein Vorgesetzter packte ihn fest am Ellbogen. Er ging mit ihm um wie mit dem Engländer. Und dies, obwohl Alistair nicht betrunken war. „Komm mit, mein Junge! Das Vaterland, das teure, ruft dich." „Ich höre wohl nicht recht." „Dann brauchst du eine Brille." „Wohin soll es gehen, Sir?" „In die weite Welt, Major Alistair." „Aber keiner weiß was Genaues. Das ist immer Shit, Sir." „Shit", klärte der Colonel ihn auf, „ist ein parfümiertes Schaumbad dagegen." Er wich nicht von Major Alistairs Seite, bis dieser sich aus der hautengen Druckkombi geknöpft hatte, geduscht war und Zivilkleidung trug. 55
Doch als er ihn in den Dienstwagen schieben wollte, protestierte Alistair. „ Sie nehmen Ihren Schlitten und ich mein Auto." „Das Ihre bringen wir ins Hauptquartier." „An den Porsche lasse ich keinen Stümper ran. Oder lassen Sie einen anderen an Ihre Frau?" „Dann fährst du hinter uns her", entschied Carty.
„Nein, vornweg", sagte der Major trotzig. Aber so waren sie eben, diese Staragenten: ungestüm, schwer fügsam, uneinsichtig bei Dingen, die sie für Schwachsinn hielten. Der Major bestieg seinen nagelneuen Porsche Carrera und erreichte das CIA-Hauptquartier in Langley so lange vor dem Colonel, daß er sich noch den Blinddarm hätte rausschneiden lassen können. — Aber wie alle Topagenten besaß Alistair keinen Blinddarm mehr und keine faulen Zähne.
Das As Nummer drei, das der Atomclub-Beauf tragte in der Normandie vergebens gesucht hatte, fand er auf einer Farm in Hawaii. Diese Farm züchtete nicht Ananas, sondern diente der Schön heit. Die Gäste waren ausschließlich Frauen. Alle schlank, sportlich, viele drahtig, manche ath letisch. - Woraus der Colonel schloß, daß hier nicht nur Schönheit das maßgebliche Ziel war. Außerdem gab es zu viele Sportplätze. Hier konnte so gut wie jeder körperliche Unsinn ausge übt werden. Von Tennis über Golf, Reiten, Turnen, Schwimmen, Joggen, bis zu den Kampfsportarten Fechten, Judo, Karate und Boxen. 56
„Auch Damenringkampf?" fragte Carty die Trai ningsleiterin. „Nicht im Schlamm", erwiderte sie, auf seinen Spott eingehend. „Und nicht nackt." „Sie nehmen Ihre Girls ganz schön ran." „Sie kommen zu mir, um sich zu quälen, um Ballast loszuwerden von Körper und Seele." „Auch vom Gehirn?" „Nun, auch Intelligenz ist trainierbar." „Seit wann?" fragte der Colonel ironisch und bekam an der alkoholfreien Bar Kontakt mit der Gesuchten. Sie trug über dem Bikini einen gelbseidenen Boxermantel. Er merkte sofort, daß sie eine Wucht war. Dafür hatte er einen geschulten Blick. Aber sie machte ihn nicht an. Bodybuildingkörper lösten nicht die geringste Erregung bei ihm aus. Doch eines wußte er sekundenschnell: Sie war die, die er suchte. Man hatte ihm nicht zuviel versprochen. Das war sie. Das weibliche Mitglied im Sonderteam. „Hallo, Yvonne!" rief Colonel Carty. „Ihr Besuch wurde mir angedroht", antwortete die Französin in erstaunlich weichem Tonfall. Beim Lachen entstanden dünne Falten in ihren Mundwinkeln. Mit wenig Make-up war das zu beheben. Bei einem fürchterlichen Fruchtmix, bei dem man den Eindruck hatte, verbleites Superbenzin in sich hineinzuschütten, setzte er die Dame ins Bild. Sie reagierte wie Mortimer und Alistair. Offen bar reagierten alle Topagenten so, wenn etwas Ähnliches wie Arbeit auf sie zukam. „Merde", antwortete der sinnliche Mund. — Aber es war nicht die ganze Wahrheit. Die Spitzen ihrer 57
Brüste begannen sich zunehmend unter dem Man tel abzuzeichnen. Die Aussicht auf Abenteuer erregte sie offenbar. Well, Agenten waren eben so. „Und was sagt mein Boß bei DB, dazu?" „Ich habe sein Okay, auch das des Innenmini sters." „Und das des Verteidigungsministers?" fragte sie. „Kein Problem."
„Dann muß ich ja wohl, wenn es darum geht, daß unsere Bürger weiterhin getrost ihren Champagner schlürfen können." „Sie sind ein feines Mädchen, Yvonne." „Für Sie, Monsieur", sagte sie daraufhin. „für Sie bin ich Yvonne Comtesse de Lauvoire." Abgesehen davon, daß der Colonel alle Frauen in diesem Job für bescheuert hielt, hielt er eine französische Adlige in diesem Wahnsinnsjob für außerordentlich bescheuert. Aber man hatte ihm versichert, für diesen Einsatz gäbe es keine bes sere.
Am zwölften Tag nach der rätselhaften Atomex plosion im Südlichen Pazifik hatte der Colonel eine Begegnung in Ost-Berlin. Mitten auf dem Boulevard, der sich Unter den Linden nannte, an einer Würstchenbude, stand ein Mann in Jeans, Lederjacke und Castromütze. „Mein Name ist Jimmy Joe Carty", sagte der Amerikaner. „Und ich bin Petar Zockew." „KGB Moskau." 58
„Getroffen, Mister Carty." „Sie sind pünktlich. Also wissen Sie, um was es geht." „Man hat mich instruiert." „Probleme?" fragte der Amerikaner. „Keine." „Dann sind Sie also einsatzbereit." „Die Spesen übernimmt die NATO in Dollars, sagte man mir." „Wir fahren jetzt rüber in den Westsektor und fliegen nach Frankfurt. Dort werden Sie mit neuen Papieren, Devisen und Vollmachten ausgestattet. Ihr Einsatz wird von uns und von Ihren Leuten maximal gedeckt. Das Ergebnis ist alles." „Und das Risiko nichts", bemerkte der Russe zynisch, aber in einem nahezu akzentfreien Eng lisch. Sie bestiegen einen Wagen der amerikanischen Besatzungsmacht in West-Berlin und erreichten über den nicht mehr kontrollierten Übergang nach kurzer Zeit den Flughafen Tempelhof. „Sie sind das vierte As", äußerte der Ameri kaner. Der Russe wollte jeden Irrtum ausschließen. „Im Sinne von Aas, vergammelter Tierleiche, oder im Sinne von As im Kartenspiel?" „Letzteres." Der Amerikaner begann, Zockew schon während des Fluges in seinen Auftrag einzu weisen. „Sie sind Experte für was?" fragte Carty. „Für alles", bemerkte der KGB-Agent. Der Colonel glaubte ihm. Denn daß der sowjeti sche Geheimdienst ihm mit Zockew eine Niete unterjubelte, das bezweifelte er stark. 59
Als das Team der Asse stand, tätigte Colonel Jimmy Joe Carty noch einen Anruf, der ihm von Herzen schwerfiel. Im Grunde hatte er natürlich kein Herz. In diesem Beruf verlor man es irgendwann irgendwo. Aber es war ihm ein Anliegen. Er wollte einen kampferprobten Kameraden nicht im Regen stehen lassen. Carty rief eine Nummer in München. Sie gehörte zur Privatadresse von Robert Urban, BND-Agent Nr. 18, genannt Mister Dynamit. Erst spät bekam er ihn an den Draht. Carty nannte seinen Namen. Urban wußte sofort Bescheid. „Hör gut zu, Mister Dynamit", begann der Amerikaner umständlich. „Sag es einfach. Setz nur ein Wort hinter das andere, Jimmy Joe." „Gegen euch läuft eine böse Kampagne." „Man spürt den Gestank schon beim Luft holen." „Vier Topagenten, echte Asse, sind dabei, euch das Leben schwerzumachen." „Sie werden es nicht leichthaben", höhnte Urban. „Aber sie werden es schaffen." „Falls es was zu schaffen gibt", schränkte Urban ein. „Wenn nicht, dann schafft es aus der Welt." „Ich bin dabei." „Als alter Freund konnte ich nicht anders. Wollte dich nur warnen, Bob." „Hochanständig von dir, Jimmy Joe." „Ich bin zur Geheimhaltung verpflichtet. Aber du 60
bist ein großer Mann. Große Leute darf man nicht mit anderen messen." „Denn große Leute sind selten", spottete Urban. „Das Treiben geht also los." „Vieles wirst du nicht verstehen", erklärte der Amerikaner. „Nimm also Rücksicht auf alles, was du nicht kapierst. Es könnte wichtig sein." „Danke", sagte Urban. „Nichts zu danken. Die vier Asse sind Major Alistair, Commander Mortimer, Gräfin Yvonne und Petar Zockew. Ich denke, du hast von ihnen gehört." „Ich kenne sie." „Dieses Gespräch", bat der Amerikaner, „fand nicht statt." „Es war", sagte Urban, „eine ziemlich wenig anfeuernde Scheiße von einer Ansprache, aber ich wickle sie in Goldpaper." „So long, und halt ihn steif!" Der Amerikaner legte auf. Das war am Abend des zwölften Tages nach der rätselhaften Atomexplosion im Südlichen Pazifik. Der Geheimdienstmanager Colonel Carty hoffte, seinen Auftrag einigermaßen professionell erledigt zu haben. 11. Am vierzehnten Tag nach der rätselhaften Atom explosion stand Robert Urban in einem Hafen von Neuseeland und blinzelte in die warme Sonne. Der Sommer ging bald zu Ende. Begleitet wurde Urban von einem Burschen undefinierbaren Alters zwi schen Mitte Zwanzig und Mitte Vierzig. 61
Während Urban wie immer gekleidet war — er trug seinen Standardkampfanzug: dunkle Gabar dinehose, Glenchecksakko, helles Hemd, unifar bene Krawatte -, bevorzugte sein Begleiter, Ober stabsfeldwebel Bubi Spiegel, zivile Fliegerklamot ten, Jeans, Cowboystiefel und Pilotenjacke. An Urban fiel seine samtige St.-Moritz-Bräune auf, die hellgrauen Augen, der angeborene Gesichtsmuskelschaden, der stets ein spöttisches Grinsen bewirkte, und die dichte Haartolle. Spiegel hingegen trug das schwarze Haar weit hin unkontrolliert. Seine Augen waren eher schmal. Angeblich kam das vom steten Blinzeln durch die Cockpitscheiben. Nach durchzechten Nächten sah er aus wie ein alter Abiturient, sonst eher wie ein junger Abiturient. Urban deutete auf eine freie Stelle am Pier des Hafens von Hastings. „Hier hat sie gelegen, die Annemarie." „Und wo ist der Duft, den eine schöne Frau verbreitet?" Spiegel hockte sich auf den Roller und imitierte einen der bekannten Sprüche eines ehemaligen Bundespräsidenten. „Nun schnüffelt mal schön." Urban beschrieb die Annmary, holte dann ein Foto aus der Tasche und verglich es mit seiner Position. Dabei deutete er auf die andere Seite des Hafenbeckens und dort auf einen Schuppen. Das Firmenschild war nur mit Falkenaugen zu er kennen. „Steam-Ship-Company-Hastings", buchstabierte Spiegel die verblichene Tafel. Urban zeigte ihm das Foto. 62
Durch die Masten und Antennen der Annmary war genau dieses Schild zu erkennen. „Und wer hat das fotografiert?" Urban hob die Schultern. „Agenten." „CIA, KGB, Engländer, die sind hier besonders stark vertreten." „Oder", schränkte Urban ein, „Leute, die uns das in die Schuhe schieben wollen." „Die wirklichen Atombombenzündler also, falls ich recht verstehe." „Nein, die anderen", erwiderte Urban. „Die, die den Täter inzwischen identifiziert zu haben glauben." „Okay, und wer, bitte, ist es gewesen?" „Wir", sagte Urban. Er hatte Spiegel während des Herfluges mit der LH einiges erzählt und weihte ihn nun Schritt für Schritt weiter ein. Spiegel fragte: „Und wo, bitte, ist die Annmary?" „Sie lief", Urban senkte die Stimme, obwohl die Arbeiter am Pier gewiß kein Deutsch verstanden, „Anfang Februar, nachdem sie Frischproviant, Wasser und Treibstoff ergänzt hatte, wieder aus. Sie konnte das Testgebiet bis zum Zeitpunkt der Explosion erreicht haben. - Leider ist sie seitdem verschwunden." „Was bedeutet verschwunden?" „Spurlos." „Kein Funk, keine Brieftaube, nix?" fragte Spiegel. „Gar nix", bestätigte Urban. „Verständlich, daß Bonn in Sorge ist. Ohne Schiff kein Gegenbeweis. Oder andersherum: Das Schiff war da, jetzt ist es 63
unauffindbar. Also diente es als schwimmender Atombombenträger. So logisch ist das." „Wohin ist die Annmary verschwunden?" „Es gibt eine Aufnahme, angeblich von einem amerikanischen Atom-U-Boot durch das Pereskop geschossen. Es zeigt die Annmary als Silhouette unter dem Kreuz des Südens." Spiegel fand das noch immer nicht ausreichend. „Was noch?" „Die Annmary wurde von einem australischen Flugboot im Treibeis fotografiert." „Hier gibt es genug Walfänger und genug Traw ler, wenn man ein paar Stunden in Polrichtung fliegt." Urban hatte sich auf den anderen Poller gesetzt und steckte sich eine MC an. „Wir müssen sie suchen und finden." „Aber nicht im Eskimokajak, oder?" „Was hast du hier an Charterflugzeugen ge funden?" „Wenig." „Wir brauchen etwas Solides", forderte Urban. „Es muß nicht hoch fliegen, nicht schnell, aber weit, ungewöhnlich weit." „Wie weit schätzt du?" „Von hier bis zu dem ungefähren Ort, wo die Erdbebenzentrale das Epizentrum geortet hat, sind es viertausend Kilometer." „Mal zwei gibt neun", rechnete Spiegel, „wenn man etwas Reserve einkalkuliert. Mit einer Einmo torigen geht da gar nichts." „Und mit einer Zweimotorigen nicht viel", fürchtete Urban. „Wenn bei einer Zweimotorigen ein Motor ausfällt, ist sie so mies dran wie eine Einmotorige." 64
„Also eine Dreimotorige." „Bei Dreimotorigen wurde seit der Ju-zweiund fünfzig nichts Brauchbares mehr erfunden." Spiegel griff eins höher. „Also eine Viermotorige." „Am besten eine Constellation mit Zusatztanks oder etwas anderes in dieser Klasse." „Und das soll ich auftreiben?" „Und zwar auf die schnelle."
„In Neuseeland?" „Hier kannst du lange suchen. Am besten, du fliegst rüber nach Australien, klapperst alle Char terfirmen und Gebrauchtflugzeugplätze zwischen Sydney und Adelaide ab." Mit einem schweren Seufzer erhob Spiegel sich. „Und was darf das kosten? Mehr als dreifuffzig?" „Das spielt nicht die große Rolle." „Sondern?" „Daß wir das Schiff finden." Sie gingen ein paar Schritte. „Okay, angenommen, wir haben den giganti schen Massel und finden es. Was dann? Willst du es mit einer Conny am Schlepptau mit nach Hause nehmen, oder was?" „Suchen, finden, Hilfe herbeiholen." „Ganz einfach."
„Leider nein." „Ich mache mir gleich in die Hose", sagte Spiegel, stieß die Hände in die Taschen seiner Fliegerjacke aus abgeschundenem, braunem Rinds leder und kickte eine Coladose weit hinaus in das brackige Hafenwasser. „Bis vorgestern", fügte Urban noch hinzu.
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Sie hatten als Mietwagen einen unauffälligen Escort. Mit ihm brachte Urban den BND-Chefpilo ten zu dem kleinen Provinzflughafen. Offenbar war soeben eines der zwei Passagier flugzeuge, die Hastings pro Tag anflogen, gelandet. Drüben am Eingang zum Terminal herrschte hekti scher Taxiverkehr. Manche Passagiere fuhren mit Gepäckwagen ihre Koffer heraus, obwohl es einge borene Träger gab. Urban wollte gerade aussteigen, um Spiegel auf dem Weg zum Flugsteig noch ein paar Tips zu geben, als er den Kopf wieder zurückzog „He, was ist?" fragte Spiegel. „Das Weib dort." „Hast du sogar hier Jungfrauen zu ledigen Müttern geschwängert?" Unter dem Dach des Eingangs zur Ankunftshalle stand eine attraktive Person weiblichen Geschlechts. Sie wirkte wie ein Mannequin, das mit den neuen Sommermodellen fotografiert wer den sollte. Sie war superschlank, ein wenig schmal in den Hüften, hatte aber Grazie. Das verrieten die Beinstellung, die Arm- und die Kopfhaltung. Das hübsche Gesicht war von einem rotgoldenen Bubikopf umrandet. Das Haar glänzte so, daß die Sonne Reflexe darin warf. Soweit man es auf fünfundzwanzig Meter sehen konnte, benutzte sie Make-up nur für Lippen und Brauen. „Null Titten, null Arsch", bemerkte Spiegel. „Nichts für den Mann, den sie Bubi nennen." „Ist sie es oder nicht?" murmelte Urban zwei felnd. „Wer? Mia Pia della Casa?" Urban holte einen Packen von vier Fotos aus 66
seiner Sakkotasche und verglich die Frau mit einem der Bilder. Dann reichte er es Spiegel. Der drehte es herum, weil hinten erfahrungsge mäß ein Kurzdossier stand. „Yvonne Lauvoire." „Comtesse de Lauvoire." Spiegel pfiff. „Ein Jet also und keine Propellergetriebene. Wenn ich dir damit einen Gefallen erweise, okay, dann ist sie es." „Und ohne jede Freundlichkeit?" „Ist sie es auch. Aber was geht mich das an?" Spiegel faßte nach hinten, wo seine Reisetasche lag, stieg aus und tippte einen Gruß an die Sonnenbrille. „Die Lady ist nicht mein Problem. Die Intigenz der Aborenten ist ohnehin kastrophal." . Alles, was wie ein Problem aussah, überließ er gern seinem Obersten. Er, Spiegel, kam mit Flug zeugen klar, so wie Urban unter anderem mit Frauen. Die Lady bestieg einen Wagen, aber kein Taxi. Sie wurde also erwartet und abgeholt. Bei dem Auto handelte es sich um einen Citroen. Möglicherweise stammte er von der Residentur des französischen Geheimdienstes auf Neuseeland. Urban ließ an und folgte dem CX. Der dunkel blaue Wagen rollte auf dem Zubringer in die Innenstadt und bremste an der Wellington Prome nade, einem eleganten Viertel nahe der Bucht, vor einem Haus im Epochestil. Urban hielt es erst für ein Hotel, sah dann aber hinten im Park die Fahne am Mast. Es war die französische Trikolore. 67
Die vier Asse, vor denen Colonel Carty gewarnt hatte, waren also schon unterwegs. Das bedeutete, daß er sich beeilen mußte. Er fuhr ins Hotel und wartete auf Spiegels Rückkehr. Oder zumindest auf seinen Anruf.
Am siebzehnten Tag nach der rätselhaften Atom explosion traute Urban seinen schockgewohnten Augen kaum. Im seichten Wasser einer einsamen Bucht südlich von Hastings, an einem vermoderten Anleger, schwamm ein Gerät undefinierbaren Aussehens. Es war kein Boot und auch kein Flugzeug. Spiegel, der Urban angerufen hatte und ihn voller Ungeduld erwartete, sagte stolz: „Ein S-43 von Altvater Sikorsky." „Seit wann baut der auch Kartoffelerntema schinen?" „Ich halte es für ein Flugzeug. Es fühlt sich auch so an. Es ist eines der ersten Amphibienflugzeuge mit Ganzmetallhaut." Die Haut sah zwar so aus, als leide der zweimo torige Hochdecker mit dem Bootsrumpf unter einer Braunalgenallergie, doch immerhin hatte Spiegel ihn von Australien übers Meer bis hierher ge bracht. „Wie alt?" „Das Modell stammt von anno fünfunddreißig. Aber die Kiste da ist ein Nachkriegsbau. Sie flog erst für die PanAm auf der lateinamerikanischen Route, dann für den US-Navy-Küstenschutz. Spä ter kaufte sie die australische Fischereiüberwa chung, dann ..." 68
„. . . Zwergkönig Laurin zur Bewachung des Nibelungenschatzes", ergänzte Urban. „Zwei Motoren, uralte Pratt und Whitneys", Reichweite höchstens tausend Kilometer. Damit sind die Bedingungen geradezu ideal erfüllt." „Glaub mir, Oberst, in ganz Australien gibt es nichts Besseres, sondern nur etwas noch zehn Jahre älteres." Spiegel versicherte, er habe sich die Mühle genau angesehen. Die Zeile sei okay, ebenso Funk und Avionik. Die Motoren hätten erst ein paar hundert Betriebsstunden drauf. Ein Gummizusatztank erhöhe die Reichweite um das Doppelte. „Und es gibt da noch ein paar Inseln", sagte er, „mit Benzindepots, Flughäfen und . .." „ ... Friedhöfen." „Die Auckland-, die Macquarie- und die Bai leny-Inseln." Urban winkte ab. „Balleny kannst du vergessen. Oder würdest du dir zutrauen, auf einem Vulkan zu landen?" Urban kannte diese Inselgruppe und ergab sich in sein Schicksal. Aber dazu brauchte er einen tiefen Schluck aus der silbernen Reiseflasche. Sie beschlossen, in Hastings Ausrüstung zu kau fen. Schlauchboot, Notproviant, warme Kombina tionen, Fallschirme, Schwimmwesten. „Die Mühle stiehlt schon keiner!" rief Spiegel, als sie wegfuhren. „Die nicht", versicherte Urban.
Am nächsten Tag flogen sie los.
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Mit randvollen Tanks und langem Anlauf kam die S-43 gerade noch hoch. Endlich, nach zwei Meilen, trennte sie sich von der ruhigen See und hievte ihren Aluminiumkörper Meter für Meter empor. Urban hatte nach dem Start übernommen. Er drosselte die zwei Sternmotoren, so daß sie mit je 500 PS etwa zwei Drittel ihrer Leistung abgaben. Damit machte die Mühle 270 km/h. „Na, wie fühlt sie sich an?" fragte Spiegel. „Majestätisch." „Ihro Gnaden hoch zu Roß auf einem Alumi niumpferd. - Nun mal im Ernst." „Eidechsen in diesem Sinne sind auch Kroko dile", antwortete Urban.
„Was heißt das?" „Ein Richterspruch lautet: Katzen in diesem Sinne sind auch Hunde. Und somit ist dies auch ein Flugzeug. Aber im Sinne von Mastente." „Du bist mit nichts zufrieden", maulte Spiegel. „Das liegt an deiner Erziehung. Verwöhntes Mut tersöhnchen, Gymnasium, Universität, Doktor. Mir wird gleich schlecht. - Fliegen wir, oder gehen wir etwa zu Fuß?" Spiegel meinte es nie in diesem Sinne, sondern kletterte nach hinten in seinen Schlafsack. Urban rechnete. Kurs, Entfernung, Geschwin digkeit, Treibstoffvorrat. Er hörte die Wetterfre quenzen im Radio ab. Immer das übliche. Wetter stürze, typisch für diesen Spätsommer hier im Süden, mit Regen, Gewitter, Schnee, Nebel und Wind, meist aus der falschen Richtung. Aber bis zum ersten Auftankpunkt würden sie schon kommen. Wenn die Motoren hielten. Nach Stunden sah er links eine Hand mit einem Becher Kaffee. 70
„Nimm es leicht", sagte Spiegel, „und es wird leichter." „Es ist nur noch wenige Stunden hell", schätzte Urban. „Wer nicht fliegt, führt das Bordbuch." Spiegel, kein großer Schreiber, fragte:
„Und was schreibe ich?" „Schreib es wie in der Bibel. Klar und verständ lich." „Muß ja kein Bestseller sein, oder?" „Nichts ist je besser gelaufen als die Bibel", sagte Urban. „Weil sie einfach ist. Schreib es so hin." Urban ging ein wenig höher, denn Nebel kam über der See auf. Dann fing der Kompaß an zu spinnen. Spiegel versuchte durch Senderpeilung ihre Position zu ermitteln. Aber er schüttelte nur den Kopf. „Diese Sprache kenne ich nicht."
„Das ist Tasmanisch."
„Sie haben den Wetterbericht erst in Suaheli
übersetzt, daraus ins Chinesische übertragen und danach ins Tasmanische rückübersetzt. Tut mir sorry." Er schaltete ab. Sie hielten ungefähr Kurs 210 Grad bei vereisen den Tragflächen. Und dann verlor der Backbord motor an Leistung. Spiegel fummelte daran herum, so gut es vom Cockpit aus ging. Er gab mehr Gas, weniger Gas, schaltete auf den zweiten Magneten, schaltete auf den anderen Tank, veränderte die Fettigkeit des Gemisches ein wenig. „Mann, was für ein trauriger Job", fluchte er. 71
„Ja, ein fabelhaftes Leben. Tag und Nacht nur Probleme", bestätigte Urban. „Und deine Pension kriegst du erst, wenn du dir nicht mehr selber den Hintern wischen kannst." Der Kompaß spielte weiter verrückt, aber sie sahen ein Licht. Es gehörte zu einem Tanker. Sie versuchten es mit Sprechfunk, bekamen ihre Position und konnten nun die Auckland-Inseln ansteuern. Nach zehn Stunden Flug hätten sie in Sicht kommen müssen. „Und ringsherum Salzwasser", sagte Spiegel. „Kaltes." Urban deutete nach unten.
„On the Rocks." Im Wasser schwammen helle Punkte. Eis schollen. Nachdem sich der linke Motor gefangen hatte, fing der andere an. Spiegel versuchte es mit den gleichen Tricks. Aber dann setzte der Motor ganz aus. Der andere bekam volle Leistung, damit sie einigermaßen oben blieben. Und dann, auf den letzten Drücker, sahen sie Lichter und einen dunk len Streifen Land. - Die Inseln. Der Flugplatz war für Wasserlandungen einge richtet. Sie drehten eine Runde, meldeten sich beim Tower, holten weit aus und setzten zur Wasserung an. „Und was erzählen wir ihnen, was wir suchen?" fragte Spiegel. „Wir sind Melonenzüchter", feixte Urban, „und bauen in der Arktis eine winterfeste Sorte an," „Das glaubt uns keiner." 72
„Du kannst erzählen, was du willst. Hier glaubt keiner dem anderen etwas." Sie warfen die Leinen. Die S-43 wurde festge macht. Sie stiegen aus und kletterten an Land. Spiegel machte sich über den ausgefallenen Motor her. Urban orderte tausend Gallonen Flug benzin.
Sie starteten mit Sonnenaufgang, hatten aber erneut Schwierigkeiten mit dem Kompaß und der Hauptbenzinpumpe. Drei Stunden später landeten sie wieder in der Inselbucht. Diesmal kümmerte Urban sich um den Motor. Spiegel hatte die ganze Nacht durchgear beitet und lag wie tot im Schlaf sack. Als die Hauptpumpe mit neuen Dichtungen versehen war und er nachgetankt hatte, startete Urban wieder. Über den ungefähren Ort der Atomexplosion hinaus flogen sie bis zum Rand des antarktischen Packeises. Urban entschied, daß sie daran entlang patrouillierten. Es wurde dunkel. Nebel wallte über der Eis grenze. Sie brachen den Suchflug ab. Nach elf Stunden landeten sie auf den Macqua rie-Inseln, gingen in die Baracke essen, dann schlafen. Am Morgen tankten sie auf, checkten die Motoren, starteten erneut. Wieder stundenlanger Anflug. Dann die Eis grenze, gehäkelt und gefranst wie ein Spitzendeck chen auf Omas Kaffeetisch. Und endlich sahen sie etwas. 73
Nahe ihrem Umkehrpunkt entdeckten sie schwarzen Rauch, wie er entstand, wenn Dieselöl in primitiven Öfen verbrannt wurde. Sie nahmen Kurs auf die Rauchfahne. Nun sahen sie das Schiff. Es war vom Eis eingeschlossen. Über die graue Spindel hatten sich schon Packeis platten geschoben. Allem Anschein nach hatte das Schiff starke Schlagseite. Sie gingen tiefer, bis sie den Schiffsnamen erkannten. Es war die Annmary. Sie schössen Signalraketen und versuchten es über Sprechfunk. Keine Reaktion. Nur an Deck standen ein paar müde Gestalten und winkten.
„Das Eis", sagte Urban, „preßt sie zusammen. Das halten auch Fischdampferrümpfe nicht ewig aus." „Ich verstehe nichts von der Seefahrt", gestand Spiegel. Urban, mit dem Dienstgrad eines Kapitäns zur See der Reserve, schätzte, daß sich die Annmary noch einige Zeit halten würde. Es konnte aber auch schnell gehen. Wenn der Wind ungünstig stand und der Eisdruck zunahm, soffen sie in Minutenschnelle ab. Urban teilte Spiegel seinen Entschluß mit. „Du hast die Position?" fragte er.
„Stadt, Straße und Hausnummer", bestätigte Spiegel. „Du fliegst zurück und holst Hilfe. Eisbrecher."
„Und du, Oberst?" „Ich fliege auch. Aber mit dem Fallschirm." „Warum läßt du mich immer im Stich, Oberst?" „Weil du ein erwachsener Junge bist und allein klarkommst." Urban machte sich fertig zum Ab sprung. 74
„Ich komme zurück, Oberst!" schrie Spiegel. „Sobald der Sturm dreht, das Treibeis wegbläst und ich landen kann . . . " Das war Ende der dritten Woche nach der rätselhaften Atomexplosion im Südlichen Pazifik. 12. Die vier Asse verteilten sich nach dem Rat des Apostels Mathäus: Gehet hin in alle Welt. Sie teilten den Globus in Sektionen auf. Der Russe übernahm Südamerika und Fernost, der Engländer die Territorien von Arabien über Indien bis zu den Philippinen, der Amerikaner Nahost und die Französin die Ecke Südafrika/Australien/ Neuseeland. Über die Zentrale in Brüssel standen sie in ständigem Kontakt. Täglich einmal wurden die neuesten Erkenntnisse ausgetauscht. Sie suchten alle Häfen auf, die der Dampfer Annmary angelaufen haben konnte. Sie sprachen mit Schiffsausrüstern, mit Hafenkapitänen, mit Fischdampferbesatzungen, mit Piloten von Flugli nien im Südpazifik. Mit Sonderpermits, die ihnen die jeweiligen Regierungen auf Druck Washingtons ausstellten, hatten sie überall Zugang. In Wellington/Neuseeland fand die französische Agentin Yvonne nach langem Suchen einen Piloten der Känguruh-Airlines, einen Mann mit vorzügli chem Gedächtnis. Im Gegensatz zu anderen Flie gern konnte er Ort und Stunde seiner Beobachtung und des Gesehenen präzise wiedergeben. „Es war", erzählte er auf Befragen, „an dem Tag, 75
den Sie nannten, auf einem Versorgungsflug zur Antarktis. Wir hatten zur australischen For schungsstation auf Süd-Viktorialand Proviant, Medikamente und Treibstoff zu bringen." „Wie ging das vor sich?" fragte Yvonne. „Durch Abwurf von Containern. Die Container mit Konserven und die Gummitanks mit Kerosin wurden auf Paletten aus dem Rumpf gekippt und segelten an Lastenfallschirmen in die Tiefe. Gebremst von den Fallschirmen kamen sie im Schnee weich auf. — Dann flogen wir zurück." „Und was beobachteten Sie um Mitternacht Ortszeit?" „Mitternacht europäischer Zeit", verbesserte der Pilot der Transportmaschine. „Es war etwa 03 Uhr Ortszeit und noch dunkel. Die Sonne ging erst zwei Stunden später auf. - Plötzlich fährt ein greller Blitz von Osten her über den Horizont. Mein Copilot packt mich am Arm und deutet nach rechts. In der Ferne glüht das Meer wie eine riesige Herdplatte. Dann wölbt es sich hoch, als würde es tief einatmen. Das Glühen wechselt von Rot über Orange zu einem strahlenden Weiß. So hell, daß es die Augen blendet." „Spürten Sie eine Erschütterung in Ihrer Ma schine?" „Nichts dergleichen, Madame. Die Entfernung war wohl zu groß." „Wie groß?" „Hundert Meilen mindestens." „Vernahmen Sie ein Geräusch?" „Nein, Madame", sagte der Pilot. „Dies wohl aus mehreren Gründen. Wir erhöhten die Triebwerks leistung auf Vollschub und flogen um achthundert Stundenkilometer schnell, nur dreihundert unter 76
der Schallgeschwindigkeit. Der Explosionsknall holte uns nicht ein." „Sahen Sie einen typischen Atompilz?" „Wir drehten ab, Madame, gingen auf zweihun dertsiebzig Grad und kehrten erst später auf unseren ursprünglichen Kurs zurück." „Wurde am Rumpf Ihrer Boeing Radioaktivität gemessen?" „Keine erhöhten Werte, Madame." Yvonne Lauvoire stellte eine letzte Frage. „Halten Sie die Ursache des Beobachteten für eine Atomexplosion oder für ein Naturereignis?" Der Pilot überlegte lange. „Welches Naturereignis käme in Frage? Der Ausbruch eines unterseeischen Vulkans, oder was?" „Das frage ich Sie." Der Pilot äußerte daraufhin: „Nun, wenn Sie mich so fragen, eine verträumte Eierhandgranate wurde dort nicht gezündet, Ma dame." Yvonne de Lauvoire hatte alles auf Band aufge nommen. Sie dankte dem Piloten für das Gespräch.
Von Feuerland aus unternahm der KGB-Agent Zockew mehrere Flüge und Fahrten zu Bohrinseln am südlichen Wendekreis. In einer langen Kette zogen sich diese Bohrsta tionen vor Graham-Land über mehrere tausend Meilen bis zum Ross-Meer. Nur die in Betracht kommenden Stationen, die nahe dem 160. Längengrad lagen, bestieg der Russe. Bei Sturm eine mühsame Prozedur. 77
Leider kam nicht viel heraus. Einer der Chef ingenieure sprach für alle anderen. „Wissen Sie, Mister", sagte er, „diese Gegend der Welt ist zu vergleichen mit einem alten engli schen Spukschloß. Hier geschehen Dinge, die man in Florida oder an der Mittelmeerküste mit Schrecken registrieren würde. Wir sehen gar nicht mehr hin, wenn Riesenseen hoch wie Gebirge vorbeirollen, wenn die Luft vor Elektrizität vibriert, wenn blitzartige Entladungen stattfinden wie im Zentrum der Hölle, wenn alles um uns herum bebt, vibriert, erzittert. Man denkt, man träumt, doch es ist Wirklichkeit. Aber wenn es vorüber ist, glaubt man dennoch, geträumt zu haben. Dies hier ist ein kritischer Punkt der Erde. Vielleicht jener, wo die Erde instabil in ihrem Drehlager ruht, wo man sie aushebeln kann wie dieser griechische Mathematiker - Archimedes, glaube ich, hieß er - sagte. Also geben Sie nichts darauf, was Sie erzählt bekommen. Ein Sonnen aufgang um Mitternacht? Na und? Das erleben wir hier oft. Es sind nur Gasentladungen oder Meeres spiegelungen. - Und Donnergeräusche? Madonna! Hier donnert es oft so, daß einem fast das Trom melfell platzt. - Natürlich haben wir von der Atomexplosion gehört. Aber was bedeutet das im Vergleich zu dieser unmenschlichen Arbeit, die man hier leisten muß? Nach Öl bohren im orkan gepeitschten Meer, in Eis, Schnee und Nebel - das ist der Orkus. Wo, bitte, war ein Feuer am Him mel? Sagen Sie es uns! Wir würden uns gern mal wieder die Hände wärmen. — Okay, das wär's dann, Sir." Als der KGB-Agent die Plattform schon verlas sen wollte, reichte einer der Männer ihm am 78
Hubschrauberlandeplatz ein Sprechfunkgerät. Der Chefingenieur war noch einmal dran. „Fällt mir gerade ein, Sir", übermittelte er. „Ein Versorgungsschlepper soll einen Mann aufgefischt haben. Und zwar hier in der Nähe. Der Bursche trieb halbtot in einem Rettungsboot. Sie stellten starke Radioaktivität an ihm fest. Sie nahmen ihn wohl an Bord und versorgten ihn. Aber wie das Schiff hieß und wo man den Schiffbrüchigen fand, ist mir unbekannt. Das wär's, Sir. So long!" Der KGB-Oberst Zockew wußte, daß er auch dieser Spur nachgehen würde. — Auch wenn sie nichts brachte.
Für einen Zwischenbericht in der MI-6-Zentrale flog der britische Agent Commander Mortimer von Pakistan nach London. Der Flug über Moskau war so weit und so lang wie der über Kairo. Die Verbindung hatte aber den Vorteil, daß Mortimer sofort einen Platz in der Aeroflot-Maschine bekam. Allerdings war Moskau für seine miserablen Anschlüsse berüchtigt. Das Beste hoffend, überstand Mortimer den fünfstündigen Nachtflug. Zerknittert kam er in Moskau an. Mit dem Anschluß nach London sah es gut aus, als ihn ein Mann ansprach. Er war zweiter Sekretär des Militärattaches an der britischen Botschaft. „Ich habe Ihnen eine Nachricht zu übermitteln, Sir", sagte er, „die wir nicht dem Telefon anver trauen wollten. Es geht um die Hintergründe dieser Bombenexplosion." „Wir verfolgen jede Spur." 79
„Hier gibt es eine Spur, Sir." „Die Russen scheiden aus. Sie testen nur in ihrem eigenen arktischen Bereich. Franz-JosephLand, Karasee, Sewernaja-Semlia-Inseln. „Das ist richtig, Sir."
„Und bestätigt." „Es ist die offizielle Version, Sir", schränkte der Sekretär ein. „Wie wir erfuhren, bestehen aber Pläne, die nächsten Tests zu verlegen. Auch die Russen werden jetzt umweltbewußt. Die steten Winde aus Nordwest trugen nicht mehr länger ignorierbaren radioaktiven Fallout nach Nordost sibirien. Es gab Proteste, Gutachten. Man sprach von Vernichtung der Natur und der Tierwelt. Auch von einer erhöhten Krebssterberate bei den Sibiri ern ist die Rede." Der Commander steckte sich in Ruhe eine Ziga rette an, war aber innerlich alarmiert. „Und weiter? Wo will man jetzt testen?" „Dort, wo die anderen auch testen, die Amerika ner, Franzosen und wir." „Südsee?" „So ist es, Sir." „Und woher beziehen Sie Ihr Wissen?" forschte der Commander. „Aus Quellen bei der geophysikalischen Fakultät der Technischen Universität von Moskau. Sie stel len dort Studien an." Der Commander nahm sein Handgepäck und wußte, daß er den Flug nach London versäumen würde. Er fuhr mit dem Botschaftssekretär in die Stadt. Seine Permits verschafften ihm Zugang zu allen Unterlagen, die er einzusehen wünschte. 80
In London angekommen, meldete er dazu fol gendes: „Wegen zu starker Verseuchung Sibiriens plante die Sowjetunion, ihren nächsten Atomtest im Süd pazifik oder gar in der Antarktis vorzunehmen. Dafür gab und gibt es Studien." Nach einer Pause fuhr er fort: „Aber die Pläne wurden verworfen." „Ist das sicher?" „Eine absolut gesicherte Erkenntnis, Gentle men", erklärte Commander Mortimer in der MI-6 Zentrale. „Gültig für jetzt und heute. Aber was ist mor gen?" wurde eingewendet. „Gentlemen", erwiderte Mortimer. „Ich denke eigentlich nicht daran, was morgen ist, sondern daran, was sich in jener Februarnacht vor zwei undzwanzig Tagen in der Südsee ereignete. An diesem Ereignis können Russen nicht beteiligt gewesen sein." „Dann stehen wir also immer noch am Anfang." „Wir haben kaum die Startlinie überschritten", erklärte Commander Mortimer. 13. Das letzte, was der BND-Agent Robert Urban von seinem Piloten gehört hatte, war: „Ich komme zurück, Oberst. Sobald der Sturm dreht, das Treibeis wegbläst und ich landen kann, hol' ich dich da raus." Urban flog ein Stück im freien Fall. Der Schirm ging auf. Es gab einen Ruck. Er schwebte. Das Schlauchboot kam vor ihm unten an. Urban landete nicht auf einer Scholle, sondern im Wasser. 81
Die Ausrüstung wurde sofort naß und schwer. Aber er erreichte das Boot, das sich automatisch aufgeblasen hatte. Er ruderte zu dem Eisstau, der die Annmary umgab. Am Rand standen ein paar abenteuerliche Gestalten und hievten ihn an Land und an Bord. Das Schiff glich dem Inneren einer Tiefkühl truhe. Die Besatzung, einschließlich der Verwun deten und Kranken, hatte sich in einem Raum versammelt. Er wurde von einem selbstgebastelten Kerosinofen mühsam geheizt und hatte eine Schräglage von etwa dreißig Grad. Die Männer, bärtig und verdreckt, waren sicht lich am Ende. Es stank nach allem, was ein Mensch von sich geben konnte. Den Kommandanten erkannte Urban nur an der Mütze mit dem ehemals weißen Bezug. Er hockte in der Ecke vor einer Kiste mit Papieren. Urban sagte, wer er sei, woher und warum er komme. Der Kommandant bot ihm eine andere Kiste zum Sitzen an. „Erst mal die nassen Klamotten runter, Oberst Urban!" Bevor er sich auszog, um die Sachen am Ofen zu trocknen, fragte Urban: „Was ist passiert?" „Kein Funk, keine Energie, kein Antrieb", sagte der Kommandant. „Mein Name ist übrigens Tho mas Lissen." „Wie kam es dazu, Käpten?" „Erst beschädigte Eis beide Schrauben. Das versuchten wir zu beheben. Doch dann kam schwere See auf, und wir krachten achtern auf eine Scholle so groß wie die Stadt Hamburg. Wellenla 82
ger kaputt, Ruder weggerissen. Das Schiff machte Wasser, und wir trieben manövrierunfähig." „Warum gaben Sie kein SOS?" „Bei einer Geheimoperation? Unmöglich", erklärte der Kommandant. „Wir versuchten alles, um allein klarzukommen. Wir hätten es auch geschafft. Notfalls mit Segeln. Aber der Sturm war erst der Anfang. Orkanseen warfen uns aufs Eis. Die Motoren kippten aus den Fundamenten. Die Bordwände rissen auf. Wir verloren neunzig Pro zent unseres Dieselöls. Die Generatoren waren auch hin, ebenso die Pumpen. Alles kaputt. Kein Strom, kein Funk. Nichts mehr ging." „Zum Glück sanken Sie nicht." „Noch hält uns das Eis fest. Es gibt nur zwei Möglichkeiten. Zerdrückt werden oder absaufen." „Und eine dritte", erwähnte Urban. „Ein Eisbre cher. Mein Pilot ruft ihn herbei. Er pumpt Ihr Schiff leer und zieht Sie aus dem Packeis. Wenn das nicht hinhaut, holt er Sie von Bord. Dann servus, Annemarie." Der Kommandant bekam einen starren Blick. „Eisbrecher, o Gott! - Und was wird aus der Geheimhaltung?" „Wollen Sie lieber krepieren?" „Notfalls ja. Wir sind an den Eid gebunden. Wir sind alle Angehörige der Bundesmarine." Urban konnte über so viel Tapferkeit nur lächeln. „Gruß vom Minister", sagte er. „Ihre Mission ist hiermit beendet. Die Geheimhaltung ist aufgeho ben. Welchen Auftrag Sie auch immer gehabt haben mögen." Urban hatte die letzte Unterhose ausgezogen. Er saß jetzt nackt da und bekam von einem der Offiziere einen vergammelten Bademantel. 83
Seine nassen Sachen dampften am Ofen. Kom mandant Lissen zauberte aus einer Ecke noch eine vorletzte Flasche Rum.
Urban stellte fest, daß die Stimmung an Bord besser war, als sie der Lage nach sein konnte. „Ihre Leute halten sich gut", sagte er zu Lissen. „Wir haben ein psychologisches Training absol viert", erklärte der Kommandant. „Wir sind auf Pannen und Krisen vorbereitet worden." „Wollten Sie hier an Land gehen?" „Ja, im australisch-neuseeländischen Sektor. Das Land gehört ja keinem wirklich. Es wird nur beansprucht. Die Australier und Neuseeländer wollen nahezu die Hälfte der Antarktis für sich. Wir hatten den Auftrag, hier eine Station zu errichten." „Und Landnahme zu betreiben", verstand Urban es richtig. „Land, das keinem gehört. Schließlich muß man zur Stelle sein, wenn es an die Verteilung geht. Nicht zuletzt der riesigen Bodenschätze an Metall und fossilen Brennstoffen wegen."
„Wessen Idee ist das gewesen?" erkundigte Urban sich. Der Kapitän holte ein wenig aus. „Es gibt ein sogenanntes Alfred-Egener-Institut für Polar- und Meeresforschung. Es unterhält auch die deutsche Station." „Die Neumayer-Station", erinnerte Urban sich. „Dort arbeiten Wissenschaftler sechs Meter tief unter dem Schnee. Aber das ist territorial gesehen nur Fuzzikram. Deshalb sollten wir jetzt, im 84
Februar, wenn der antarktische Winter, der ja neun Monate dauert, endet, ein bißchen Remmi demmi veranstalten. Wer sich hier festgesetzt hat, den vertreibt keiner so schnell. Das ist ungeheuer wichtig, denn nächstes Jahr läuft der internatio nale Antarktispakt aus." Das also war das geheimnisvolle AnnmaryUnternehmen. Und es war eindeutig gescheitert. Die Bundesregierung wollte ein wenig mitspielen. Ihr gutes Recht. Aber man hatte die Geheimhal tung wohl übertrieben und mächtig was auf die Nase bekommen. „Nun verdächtigt man uns", berichtete Urban, „die Annmary habe Atombomben in der Antarktis getestet." Lissen strich sich von der Nase über die Mund winkel bis zum Kinnbart. „Das auch noch", äußerte er entsetzt. Und noch einmal: „Das auch noch." „Ist natürlich Wahnsinn." „Kristallklarer Wahnsinn." „Die Wahrheit ist nur zu beweisen", erklärte Urban, „indem man das Schiff rettet. Nur anhand des Schiffes, seiner Ladung, seiner Besatzung, seiner Sauberkeit von Radioaktivität. . . " Der Kommandant der Annmary winkte ab. Er hatte begriffen. Doch was er begriffen hatte, machte ihm offenbar angst. Er entkorkte die Rumflasche und setzte sie an.
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In einer vier Tage dauernden Bergungsaktion wurde die Annmary von dem Eisbrecher ExxonAlpha erst abgedichtet, dann leergepumpt und in drei Phasen zum Schwimmen gebracht. Mit Phase eins brach die Exxon eine eisfreie Rinne bis nahe an das deutsche Forschungsschiff. In der zweiten Phase wurden rings um die Annmary Sprengladungen gezündet, die den Eispanzer lösten, indem sie ihm seitlich Platz zum Wegdriften verschafften. In der letzten Phase zog die Exxon mit ihrer 30.000-PS-Maschinenleistung den Fischdampfer an Trossen ins offene Wasser. Dort wurde die fahruntüchtige Annmary von einem Hochseeschlepper übernommen, der sie Richtung Norden bringen würde. In der Stunde, als für die Annmary keine Gefahr mehr bestand, landete ein merkwürdig aussehendes Flugboot im eisfreien Wasser. Es nahm den Mann, der als rettender Engel auf die Annmary geschwebt war, auf. Beim Abschied sagte Kapitän Lissen: „Und was wird aus uns?" „Es wird ein paar Verhöre geben", befürchtete Urban. „Von wem?" „Von einer internationalen Kommission." „Darf ich aussagen?" „Sie müssen." „Und wer garantiert mir, daß ich das darf?" „Ich werde dafür sorgen, daß in dem Hafen, in den man Sie bringt, eine schriftliche Genehmigung aus Bonn vorliegt. Mehr kann ich nicht tun, Lissen." 86
„Sie haben uns gefunden", erwähnte Lissen. „Das war eine ganze Menge." „Halten Sie die Ohren steif, Käpten", wünschte Urban. „Und Sie, was werden Sie jetzt tun?" Urban steckte sich eine Zigarette an. Es war die vorletzte Goldmundstück-MC aus dem Päckchen. „Rasieren, baden, ein frisches Hemd. Dann gut futtern und kräftig einen heben", zählte er auf. „Weil ich eines nicht geschafft habe, nämlich den Fall zu lösen. - Okay, ich konnte ein paar Dutzend Männer retten. Wenn man bedenkt, wie oft man einen Mann zu retten versuchte, und er und hundert andere gingen dabei drauf, dann ist das ein schönes Ergebnis." „Ohne Sie hätten wir nicht überlebt", bemerkte Lissen. „Vielleicht", sagte Urban. „Servus, und habt Sonne im Herzen!" Er kletterte zu Spiegel in die S-43. Während Spiegel startete, fiel Urban vor Erschöpfung um. Krachend wie ein Baum, der von Profis gefällt wurde. 14.
Am Morgen des neunundzwanzigsten Tages nach der rätselhaften Atomexplosion im Südpazifik wurde das deutsche Forschungsschiff Annmary in den neuseeländischen Hafen Dundee geschleppt. Der KGB-Oberst Zockew, Experte für alles, wartete schon voller Ungeduld. Er wollte der erste sein, der den Deutschen etwas Handfestes anhängte. Das brachte Punkte ein.
Er hatte einen Notar mitgebracht, einen Colonel der Streitkräfte, einen Richter und einen Gerichts vollzieher. Der Russe, ein Mann von starker Überzeugungs kraft, versuchte die Behörden zu überreden, daß sie das Schiff an die Kette legten. Das bedeutete, daß es so behandelt wurde wie ein Häftling. Nur eben, daß man Schiffe nicht in Zuchthauszellen einsperren konnte. Nach den Gründen befragt, äußerte Zockew: „Dieses deutsche sogenannte Forschungsschiff hat eine Besatzung, bestehend aus Angehörigen der deutschen Bundesmarine." „Was nicht verboten ist", hielt man ihm entge gen. „Alle Nationen der Welt betreiben For schung." „Aber", beharrte der Russe, „das Schiff befand sich auf einer Top-secret-Reise, oder nennen wir es: auf einem Geheimeinsatz im Südpazifik." „Die Meere sind frei", wurde ihm vom Richter entgegengehalten. „Das Schiff kreuzte im Südpazifik, an jenem Ort und zu jener Zeit, als dort eine unangemeldete Atomexplosion stattfand." Die Behördenvertreter konnten nicht anders, als dem Begehren des Russen, der über Vollmachten verfügte, nachzukommen. Fachleute gingen an Bord. Sie fanden aber nur ein Gerät, wie es zum Aufbau einer Eisstation in der Antarktis gebraucht wurde. Vorgefertigte Wohncontainer, Kleinbagger mit Schneeräumvor richtung, Eissägen, Stromaggregate, Heizgebläse und hochempfindliche elektronische Apparaturen. Und nicht mehr radioaktive Strahlung als an einem frischgeernteten Blumenkohl. 88
In seinem Eifer, doch noch irgend etwas zu entdecken, ging der KGB-Agent nachts noch ein mal an Bord der Annmary, um in aller Ruhe jeden Winkel abzuklopfen. Nach menschlichem Ermessen schien es unmög lich, auf diesem Schiff eine Atombombe mit den dazugehörigen Apparaturen ins Testgebiet zu brin gen und sie dort auszulösen. Aber wer kannte schon diese verdammten Germans? Ihnen war alles zuzutrauen. Oberst Peter Zockew genoß das Vertrauen der KGB-Führung. Er hatte immer Erfolg gehabt. Seiner Verbissenheit verdankte er seine Karriere. Moskau wartete auf Ergebnisse. Ergebnisse ließen sich, wenn man es geschickt anstellte, notfalls auch auf Wunsch herbeiführen. Zockew hatte ein Eisen und ein halbes im Feuer. Er hatte die Spur jenes radioaktiv verseuchten Mannes aufgenommen, der von einem Hilfsschiff gerettet worden war. Nun hoffte er, der Mann sei Deutscher. - Wenn er irgendwo in den Zwischen wänden der Annmary Hinweise entdeckte, dann war er der Allergrößte. Der KGB-Agent Oberst Petar Zockew fand nicht, was er suchte, aber etwas, das er nicht gesucht hatte, nämlich den Tod. Wie es dazu kam, war schwer zu rekonstruieren. Jedenfalls fand man seine Leiche am Morgen im Wasser des Hafenbeckens treibend. Sie trieb des halb oben, weil sich unter dem Trenchcoat des Russen Luft angesammelt hatte. Im übrigen wies der Schädel des Toten Verlet zungen auf. Sie konnten von einer Spillspake stammen, aber auch beim Sturz vom Deck der Annmary entstanden sein. 89
Das zweite As, der amerikanische CIA-Agent Major Alistair, eilte nach Dundee. Am Schauplatz des Todes von Oberst Zockew sollte er Genaueres feststellen. Zum einen, warum der Russe zu Tode gekommen war, zum anderen, was er als Erbe hinterlassen hatte. Der KGB-Agent, ein im Feuer gehärteter Mann, war nach Auffassung der örtlichen Mordkommis sion an Deck der Annmary schlichtweg ausge glitten, „Es war nahe dem Heck", sagte der Inspektor. „Wir fanden Absatzspuren, die darauf hindeuten, daß er die Balance verlor." „Erzählen Sie mir bloß nichts von einer Bana nenschale", bat Alistair ironisch. „Es befand sich öl an Deck, vielleicht mit Schmierfett vom achteren Spill." „Und er konnte sich nicht an der Reling fest klammern? Ein trainierter Mann wie er?" „Die Annmary", wurde dem Major erklärt, „ist ein ehemaliger Heckfänger. Ein Fischdampfer also, der das Netz über eine Heckrampe einholt. In diesem Fall ist das ein abgerundeter Stahlwulst. Da man diese Rampe wohl zum Ausbringen von Meßsonden benutzen wollte, war sie nur durch eine Kette gesichert. Der Betroffene muß unter der Kette hindurch über den Wulst ins Wasser gefallen sein." „Und die Schädelverletzung? Haben Sie dafür auch eine so einfache Erklärung?"
„Beim Sturz prallte er gegen den Heckanker." „Ist das sicher?" „Es wurde so rekonstruiert. Haare, Haut und Blut fanden wir allerdings nicht am Anker. Er 90
hängt sehr tief. Ständig fahren Boote vorbei. Dabei erzeugen sie Wellengang, der den Anker umspült." Major Alistair mußte die Erklärung akzeptieren, durfte jedoch die Leiche und den Unfallort besich tigen. Er überprüfte auch die Hinterlassenschaft des Russen, fand dort aber nichts. Nur der Polizist, der die Annmary bewachte, erinnerte sich an ein kurzes Gespräch, das er mit dem Russen geführt hatte. „Er wollte noch einmal an Bord, weil er die Absicht hatte, am nächsten Morgen nach Südame rika zu fliegen." „Nannte er einen Ort?"
„Ich glaube es war Santa Cruz." Vom Hotel aus telefonierte Alistair mit seinem Hauptquartier in Langley, wo die Meldungen aller Asse ausgewertet wurden, „Was Zockew in Santa Cruz suchte", antwortete Colonel Carty auf Allistairs Frage, „hat uns Mos kau gestern übermittelt. Zockew besuchte mehrere Ölplattformen in der Nähe des Explosionsortes. Auf einer erzählte man ihm, daß ein Schiffbrüchi ger, in einem Rettungsboot treibend, gefunden worden sei. Ein Hilfsschiff hat ihn aufgenommen und Strahlenschäden an ihm festgestellt. Das Hilfsschiff übergab den unbekannten Mann später einem argentinischen Zerstörer, der Capitan Mat his. Der Zerstörer brachte den Schiffbrüchigen nach Santa Cruz. Dort liegt er im Militärhospital. Nach Erledigung seines Auftrages in Dundee wollte Ihr russischer Kollege sich dieses Mannes annehmen." 91
„Jetzt nehme ich mich seiner an", entschied Alistair. „Was gibt es sonst Neues?" „Die deutsche Bundesregierung streitet nach wie vor ab, mit der Atomexplosion auch nur das geringste zu tun zu haben." „Wenn der Unbekannte im Hospital in Santa Cruz Strahlenschäden hat und Deutscher ist, dann haben wir sie." „Okay, dann haben wir sie", frohlockte der Colonel. „Wenn er Deutscher ist und Strahlenschä den hat,"
Als Militärpilot, der er bis zu seiner Übernahme bei der CIA gewesen war, vertraute Alistair sich ungern Linienflugzeugen an. Die CIA hatte ihm einen Lear-Jet zur Verfügung gestellt. Das schnelle Geschäftsreiseflugzeug war mit Zusatztanks ausgerüstet. Alistair flog es die 9000 Kilometer mit Zwi schenlandung auf den Osterinseln nach Argenti nien. Er erreichte die Hafenstadt Santa Cruz nach elfstündigem Flug spätabends. Müde und kaputt begab er sich ins Hotel. Am Morgen hatte Washington mit den argentini schen Behörden alles abgeklärt. Doch als Alistair im Militärhospital ankam, war das Bett, in dem der Schiffbrüchige gelegen hatte, leer. Der Chefarzt, ein Internist, erklärte ihm diese Maßnahme. „Wir mußten ihn verlegen, weil uns die nötigen Geräte fehlen." „Sie haben doch eine Intensivstation." 92
„Der Mann braucht laufend Blutwäsche sowie künstliche Beatmung wie ein hochgradig an Polio melitis Erkrankter. Wir konnten das einzige Gerät, das wir haben, nicht ständig blockieren." „Durch einen unbekannten, unbedeutenden Mann, meinen Sie, Professor." „Dem sowieso nicht zu helfen ist", entgegnete der Chefarzt. „Dazu kommt noch, daß wir auf die Behandlung von Strahlenschäden nicht eingerich tet sind." „Es ist also erwiesen, daß er Strahlung er wischte?" „Als hätte er einen Plutoniumcocktail ge trunken." Der Mann wurde immer mehr von Bedeutung. „Ist er ansprechbar?" „Nur manchmal, für Sekunden, für eine Minute."
„Wie lange hat er noch zu leben?" „Tage, Stunden. Bis sich seine lebenswichtigen Organe praktisch zersetzt haben."
„Ist das schmerzhaft?" „Sehr. Er bekommt zur künstlichen Ernährung natürlich schmerzstillende Mittel." „Starke?" „Die stärksten, Senor Major", sagte der Arzt. Inzwischen hatte Alistair erfahren, wohin man den unbekannten Mann gebracht hatte, nämlich in eine Spezialklinik in den Bergen. Bei der Hinfahrt sprach Alistair mit dem Begleitoffizier der argentinischen Marine. „Es war also wahrscheinlich eine Plutonium bombe." „Sie drücken damit aus, daß es keine endgültige Erklärung gibt, Sir." „Oder anders: Grippe bekommt man nicht durch 93
radioaktive Strahlung und eine Plutoniumverseu chung nicht durch einen Schnupfenvirus." Der Argentinier schwieg, denn er hatte so gut wie nichts davon verstanden. Die Fahrt dauerte mehrere Stunden. Endlich erreichten sie die Spezialklinik. Wie man ihnen erklärte, lag der Verseuchte in einem Gebäude abseits der anderen. Dort konnte man Seuchen kranke, Träger seltener Viren, aber auch Leute, die in den Atomkraftwerken zu hohe Dosen abbekom men hatten, isoliert behandeln. Als sie die Schleuse durchschritten hatten, als man ihnen Mäntel, Mundschutz und Schuhhüllen verpaßt hatte, kam ihnen der Stationsarzt ent gegen. „Bedaure, Senores", sagte er, „Sie kommen zu spät. Nur ein paar Stunden. Der Patient ist tot." „Wir riefen doch vorher an", erwiderte Alistair enttäuscht „Da lebte er noch, Senor." Der Amerikaner riß den Mundschutz ab und zog den Mantel aus. „Verdammt, warum klappt hier auch gar nichts?" „Selbst wenn er noch leben würde", bemerkte der Stationsarzt, „es hätte wenig genutzt. Er kam nicht wieder zu Bewußtsein. Sein Gehirn und die übrigen Organe waren schon zu sehr zerstört." Alistair, der schon gehen wollte, machte noch einmal kehrt. „Er kam also nicht wieder zu Bewußtsein. Wol len Sie damit ausdrücken, daß er das Bewußtsein vorher schon einmal gewann?" Dies bestätigte der Arzt. „Konnten Sie mit ihm sprechen?" 94
„Nur wenig. Er verstand kaum Spanisch." „Was erfuhren Sie von ihm?" „Lediglich seinen Namen. Er heißt Muhamad Solari." „Araber?" „Wenn wir sein Flüstern recht verstanden, kommt er aus einem Ort namens Bapka. Ich habe von Bapka leider nie gehört." Der Amerikaner kannte Bapka nur deshalb, weil es ein US-Luftwaffenstützpunkt gewesen war, ehe die Libyer die Amerikaner aus dem Land geworfen hatten. „Nordafrika", sagte Alistair und ging endgültig. Zurück in Santa Cruz telefonierte er sofort mit CIA-Headquarters. „Der Unbekannte ist tot", meldete er. „Hochgra dig strahlenverseucht durch Plutonium. Daß die Deutschen dahinterstecken, ist auch nicht mehr ganz sicher. Der Tote war Libyer." „Oder", folgerte der CIA-Koordinator, „die Deutschen haben uns mit ihm eine falsche Spur gelegt. - Ihre nächsten Pläne, Alistair?" „Ich fliege nach Tunesien. Von dort versuche ich, nach Libyen hineinzukommen. Wäre interessant zu wissen, ob es diesen Muhamad Solari jemals in Bapka gab." „Wir versuchen das vorzubereiten", versprach der Colonel in Langley.
Nach einer halben Mütze Schlaf ließ Major Alistair seinen Lear-Jet volltanken und durchchecken. Er machte sich fertig für den langen Drei-EtappenFlug. 95
Zunächst wollte er an der Küste nach Norden bis Recife. Von dort über den Atlantik bis Sierra Leone in Westafrika. Dann hatte er nur noch einen Katzensprung bis Tunis. Insgesamt sechzehn Stun den Flug, wenn alles glattging. Major Alistair erreichte nach einem glatten Start seine Reiseflughöhe von 8000 Metern. Doch dann lief alles anders als geplant. Erst horte er schleifende Geräusche hinter sich. Dann spürte er die steife Kälte einer Waffe im Nacken und den Hauch heißen Atems. Er schielte seitwärts. „ Schau nach vorn!" befahl der mit Akzent sprechende Mann. Die Cockpitscheiben spiegelten. Alistair konnte ein Gesicht erkennen. Es war bärtig und hatte fanatische schwarze Augen, Der Terrorist trug eine gepolsterte Nylonjacke. „Sie sind ein kluger Mann, Mister Alistair", sagte der, den der Amerikaner für einen Libyer hielt. Alistair dachte an ein abruptes Flugmanöver, bei dem es ihm gelingen konnte, den Terroristen zu überwinden. „Bloß keine Mätzchen", warnte der Mann hinter ihm. „Schalten Sie den Autopiloten ein." Alistair betätigte den Knopf. „Jetzt Hände weg vom Knüppel, Füße aus den Pedalen!"
Alistair befolgte den Befehl und sah seine Chan cen sinken. „Was Sie auch tun", erklärte der Bärtige, „ob Sie den Jet in den Looping bringen, in den Turn oder ins Trudeln, Sie haben keine Chance. Ich bin selbst 96
Pilot und würde das Flugzeug abfangen. Aber vorher treten Sie ab ins Jenseits, Major." „Was", fragte Alistair, „hätten Sie dann noch davon? Nur das Flugzeug? Ist ja lächerlich." „Eine Menge." Der Bärtige setzte sich auf den Copilotensessel. Dabei ließ er Alistair weder aus den Augen noch aus der Schußlinie seiner Waffe.
„Ich nütze euch wenig." „Aber", sagte der andere, „Sie sind ein kluger Mann. Wir wollen den klugen Mann und das Flugzeug."
„Mich kriegen Sie nicht." Da spürte der Amerikaner einen Stich. Das Gesicht des Terroristen wurde riesengroß. Es erschien ihm fast porengenau. „O doch, wir kriegen dich, Alistair." Der Bärtige mußte ihm unbemerkt eine Injektion verpaßt haben. - Oder es gab noch einen dritten Mann an Bord. Major Alistair sah jetzt nur noch eine Chance. Alle Flugzeuge im Dienste der CIA hatten eine geheime Vorrichtung. Sie vermochte zweierlei: ein mal Notrufe auszusenden und die Druckkabine so zu entlüften, daß alle Passagiere durch Sauerstoff mangel bewußtlos wurden. Nur Eingeweihte wuß ten, wo die Sauerstoffmasken hingen. — Diese Einrichtung konnte über einen Knopf unter dem Bodenteppich durch Fußdruck betätigt werden, wie der Alarmschalter am Platz des Kassierers in einer Bank. Major Alistair suchte mit der Spitze des linken Schuhs die kleine Erhebung links von seinem Sessel.
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15.
Einen Monat nach der rätselhaften Atomexplosion in der Antarktis legte der BND-Agent Robert Urban in Washington etwas vor, das er für Beweise der Unschuld hielt, Bei der CIA war man jedoch anderer Meinung. Colonel Jimmy Joe Carty, der sich bei seinem Anruf in München als guter Freund bezeichnet hatte, nahm Urbans Material frostig zur Kenntnis. Bei der anschließenden Diskussion wurde die Atmosphäre geradezu eisig. „Dynamit", kommentierte der Amerikaner und vermied damit die Anrede Bob. „Dynamit, das ist doch alles Zwergenkacke." „Auf der Annmary gibt es nachweislich keine Spur von Radioaktivität", erläuterte Urban die Meßprotokolle. Carty winkte müde ab. „Bomben werden heute in speziellen Behältern befördert. Man kann sie wie eine schwimmende Insel ins Meer setzen." „Die Annmary hätte in jedem Fall Strahlung abbekommen." „Nicht auf große Entfernung. Bekanntlich gibt es Zünder, die sich durch Funk auslösen lassen. Du installierst in Kalifornien eine Bombe und drückst in New York auf den Knopf. Gar kein Problem." „Die Besatzung war dafür nicht geschult. Nicht einer davon." „Die Annmary hatte auch Wissenschaftler dabei." „Ja, Geologen, Biologen, Glaziologen." Der Amerikaner blätterte in seinen Akten., „Der sogenannte Glaziologe", sagte er, „der 98
Eisexperte, ist unter anderem studierter Chemiker. Der Geologe ist Pionieroffizier der Reserve, der Leitende Ingenieur der Annmary hat eine Ausbil dung als Feuerwerker absolviert. Er kennt sich aus bei Zündern." „Solche Lehrgänge sind bei der Marine durchaus üblich." „Andere Mitglieder der Besatzung kommen von U-Booten und Minensuchern. Sie sind Torpedound Minenmechaniker und verstehen etwas von Bombentechnik. Also, erzähl mir keine Märchen, Dynamit. Ist doch alles Moskitoshit." Urban legte Fotos vor. Es hatte große Mühe gekostet, sie herbeizuschaffen. Sie zeigten vierund zwanzig Stunden nach dem Atomtest kein Wasser fahrzeug in der Nähe des Explosionsortes. „Keines, das mit zehn Meilen in der Stunde abhauen kann", bemerkte der Colonel. „Eure Ann mary läuft doppelt so schnell, wenn sie voll aufdreht. Sie hat überdimensionierte TurboDiesel." Es gab noch andere Fotos. Sie waren von der Annmary aus gemacht worden und zeigten weit in der Ferne eine Himmelserscheinung wie Wetter leuchten. „Das war die Bombe", sagte Urban. „Eine reine Amateuraufnahme. Wenn wir die Bombe gezündet hätten, dann hätten wir professionelle Film- und Videoaufzeichnungen mit Teleobjektiv herge stellt." „Das Filmmaterial kann längst in Bonn ein." „Per Flaschenpost?" fragte Urban ironisch. Es hatte wenig Sinn. Der Colonel gab sich uneinsichtig und hielt an der offiziellen Schuldver sion fest. 99
Trotzdem versuchte Urban es noch von einer anderen Seite. „Carty", setzte er an. „Ihr verrennt euch. Ihr versteift euch darauf, daß wir es gewesen sind. Dabei geht euch der wahre Schuldige durch die Lappen. Das kann zu einer Katastrophe führen." „Wir haben den Schuldigen", erklärte Carty stur. „Und einer genügt," „Und der strahlenverseuchte Libyer in Santa Cruz? Was ist mit dem?" „Was weißt du von ihm?" fragte der Colonel mißtrauisch. „Das stand schon in allen argentinischen Zei tungen." Jimmy Joe Carty machte die Augen schmal und äußerte etwas Ungeheuerliches. „Habt ihr ihn vielleicht als Türken aufgebaut, ihn verseucht und in einem Rettungsboot ausge setzt, um anderen die Schuld . . . " Bevor Urban ihm die Visage zerschlug, wurden sie gestört. Der Adjutant kam herein, legte ein Papier vor und flüsterte einen kurzen Kommentar dazu. Es handelte sich um ein Fernschreiben. Der Colonel überflog es, legte es weg und lehnte sich zurück. Doch dann beugte er sich wieder vor, nahm das Telex, las es erneut und fluchte. So, als sei er wütend, zerknüllte er es und warf es in den Papierkorb. Langsam veränderte sich der feindliche Aus druck seines Gesichtes. „ Schlechte Nachrichten?" fragte Urban ein wenig schadenfroh. „Wie kommst du darauf?" „Du siehst aus wie Quasimodo der Dritte." 100
Der Colonel sprang auf, ging zum Schrank und goß sich hinter der offenen Tür einen Bourbon ein. Mit der Flasche und zwei Gläsern kam er zurück. „Auch einen?" „Was hat dich so erschüttert?" wollte Urban wissen. Carty wirkte fassungslos. „Da baust du dir ein Haus, und der Furz eines Kolibris, der drüberwegfliegt, bläst es um." Urban glaubte ihn zu verstehen. „Das Haus ist das Gebäude der Anschuldigungen gegen uns. Stimmt's?" Der Colonel nickte. „Und der Wind des Kolibris?" „Gaddafi, der Hundesohn." Aus der Brust des Amerikaners kam ein Stöhnen. „Er hat eben offi ziell erklärt, daß es seine Bombe war, die vor einem Monat gezündet wurde. Es läuft weltweit über alle Stationen." Urban leerte den Drink, nahm seine spärlichen Akten und wollte gehen. „Die Erde ist eben doch rund", sagte er. „Aber innen verdammt eckig", erwiderte der Amerikaner. „Ich bekam noch eine Meldung. Das zweite der Asse ist überfällig." „Der Russe kam in Dundee um. Wer ist der nächste?" „Major Alistair. Er startete von Santa Cruz mit unserem Lear-Jet. Er wollte nach Tunesien, um von dort die Spur des Libyers aufzunehmen. Er landete nicht zum Zwischentanken. In Recife fürchten sie, daß es zu einer Katastrophe kam."
„Gibt es Hinweise dafür?" „Ja, Fischer an der Küste von Brasilien wollen einen Feuerball gesehen haben, sehr hoch oben." 101
„Tut mir leid", bedauerte Urban. „Es kann auch ein technischer Defekt vorliegen." „Oder menschliches Versagen." „Oder ein Anschlag von Luftterroristen." „Oder. . . " Urban sprach nicht weiter, sondern erinnerte den Colonel daran, was jetzt wirklich akut war. „Gaddafi hat eine Atombombe. Na, Mahlzeit!" „So schnell war nicht damit zu rechnen." „Daß Gaddafi die A-Bombe hat, ist kaum ver stellbar", äußerte Urban. „Er sagt, er hat sie." „Er sagt 'ne Menge Zeug." „Das behauptest ausgerechnet du, der doch froh sein sollte, daß er aus dem Schneider ist." „Ich war nie im Schneider", betonte Urban. „Aber daß Gaddafi es auf sich nimmt, gefällt mir noch weniger als alles andere." „Damit sind wir jetzt alle gefordert." „Ihr alle", verbesserte Urban. „Du hast noch zwei Asse." „Asse", befürchtete der Colonel, „stechen auch nicht mehr so wie früher."
„Sie ist in Nizza eingetroffen", wurde Urban gemeldet. Der BND-Agent Nr. 18 befaßte sich mit Grund lagenforschung, nur wenn es um Frauen, Whisky und gutes Essen ging. Im übrigen überließ er die Knochenarbeit gern Leuten, die dafür qualifiziert waren. Sein Auftrag hatte darin bestanden, Unheil von der Republik abzuwenden. Das war ihm gelungen. 102
Sein neuer Auftrag würde lauten, Unheil von der NATO abzuwenden. Denn wenn Gaddafi die Bombe hatte, würden die Amerikaner das nicht hinnehmen. Und dann konnte es zu einer Eskala tion kommen. Die Informationen aus Washington würden nun spärlich fließen. Deshalb beschloß Urban, sich an die Erkenntnisse der letzten zwei Asse anzuhän gen. Zunächst so, daß sie nichts davon merkten. Seinen besonderen Fähigkeiten entsprechend, machte Urban sich an Yvonne heran. Es dauerte knapp vierundzwanzig Stunden, bis man sie ausfindig gemacht hatte. Dann dauerte es noch einmal zwölf Stunden, bis Urban ihren Dunstkreis erreicht hatte, und noch einmal sechs Stunden, bis ihm etwas eingefallen war, wie man sich einer so stählernen Schönheit näherte, ohne gleich etwas zwischen die Augen zu kriegen. Yvonne de Lauvoire hatte Nizza offenbar als Absprungbasis gewählt. Fragte sich nur, als Absprungbasis wohin. Urban beschloß, ebenfalls Nizza als Absprung basis zu wählen. Er wußte aber genau, wohin er springen wollte. Als er Yvonne gefunden und einen ganzen Tag lang beobachtet hatte, war am Ende des langen Tages sein einziger Gedanke, was für Unterwäsche sie wohl trug. Weiße aus Baumwolle kam nicht in Frage. Lachsfarbene paßte nicht zu ihrem Haar, beige war nicht in Mode. Entweder weiße Seide, überlegte er, nicht Slips, sondern die weiten französischen Hemdhöschen, oder schwarze. Schwarze mit Spitzen. Aber für wen wohl? Er sah keinen Mann in ihrer Nähe, für den sich dieser Aufwand gelohnt hätte. 103
Andererseits trieb diese Frau einen ungeheuren Aufwand. Daß das alles vom sparsamen französi schen SDECE finanziert werden sollte, kam Urban unwahrscheinlich vor. Sie bewohnte eine Suite, die unter dreitausend Francs pro Nacht nicht zu mieten war. Sie trug einen Zobelmantel, der unter Pelzhändlern im Einkauf zehntausend Dollar kostete. Sie scheute sich nicht, Pelz zu tragen, denn sie war eine intelligente Frau. Von der Anti-Pelz-Kampagne ließ sich eine kluge Französin nicht einschüchtern. Wenn es nach den Tierschützern ging, durften weder Schuhe noch Lederjacken, weder Gürtel noch Handtaschen aus Tierhaut hergestellt wer den. Abgesehen davon, daß dann die Metzger pleite machten, mußte möglicherweise auch ein Teil der Menschheit verhungern. Yvonne de Lauvoire trug also Zobel gegen die Kälte, schwarze Unterwäsche aus Seide von ausge beuteten Seidenraupen und fuhr ein sagenhaftes Automobil: einen Lagonda. Flach und spitz wie ein Pfeil. — Dafür konnte man zehn kleine Peugeots erwerben oder tausend Vietnam-Flüchtlinge ein Jahr locker durchfüttern. Trotzdem wurde Urban mächtig scharf auf die sen Abschaum des weiblichen Geschlechts. Er wußte, daß es geschmacklos, primitiv und uralt war, aber er ließ vorn links die Luft aus ihrem Lagonda-Reifen. Dann parkte er seinen BMW dicht vor dem britischen Luxusautomobil. Er sah sie aus einer Boutique kommen, bepackt mit Tüten und Päckchen. Die warf sie in den Koffer des Lagonda und ihren Pelzmantel hinter her, denn es war warm geworden. Nun überquerte sie schräg die Avenue Gustave 104
und verschwand im Büro der Skandinavian Airli nes. Dort blieb sie nur wenige Minuten und verließ es wieder mit einem Ticket in der Hand. Das Flugticket steckte sie in ihre Krokohandtasche. Dann kramte sie nach dem Autoschlüssel. Auf der Straßenseite sperrte sie den Lagonda auf, glitt hinters Lenkrad und merkte noch immer nichts. — Sie ließ an, schaute nach hinten und nach vorn und stellte fest, daß sie zugeparkt war. Erst hupte sie, dann stellte sie den Motor ab, stieg aus und näherte sich mit wütendem Dragonerschritt Urbans BMW-Coupe. Er fläzte hinter dem Lenkrad und las in der Le Soir-Ausgabe von gestern. Sie versuchte, die Tür zu öffnen. Doch er hatte sie innen verriegelt. Nun klopfte sie an die Scheibe. Er tat erstaunt, lächelte und kurbelte die Scheibe ab. „Madame?" „Sehen Sie nicht, daß Sie mich eingeklemmt haben?" „Ich war vor Ihnen da, Gnädigste." „Unverschämt sind Sie auch noch." Er stieg aus und war größer als sie. Nicht viel, aber als er vor ihr stand, reicht sie ihm nur bis zu den Augenbrauen. Sie musterte ihn blitzschnell. Sein Outfit kam dabei gewiß besser weg als sein ramponiertes Coupe. Offenbar hatte sie einen Blick für Gucci-Slipper und Sakkos aus der Saville Row. Er tat, als checke er die Situation. Er beurteilte die Abstände der Stoßstangen bei den Fahrzeugen vor ihm und weiter hinten. „Der Lieferwagen", sagte er, „läßt mir keine zehn Zentimeter. Und der Kombi hinter Ihnen, Madame, steht hautnah vor dem R-vier. Der steht 105
dicht vor dem Peugeot, und der lehnt schon am Hydranten." Sie deutete auf sein Kennzeichen. „Sie sind Ausländer", zischte sie. „Hier zieht keiner die Handbremse an und legt den Gang ein. Helfen Sie mir schieben." „Das nützt wenig, Madame", bedauerte er. „Außerdem mache ich mir ungern die Hände schmutzig."
Ihre Empörung wuchs. „Spanier, he? Aus Madrid. Spanier sind ver dammte Machos." „Verzeihung, Madame, Deutsche aus München auch." „Eh bien", drohte sie. „Ich verfüge über zwei hundertfünfzig PS. Ich werde mich schon freibo xen. Und wenn ich euch alle zusammenquetsche, ich komme schon raus. Irgendwie." „Vielleicht." Urban deutete auf ihr Vorderrad. „Aber nicht sehr weit. Mit dem platten Pneu, Madame, würde ich Heber hierbleiben und warten, bis der Pannendienst kommt." Jetzt erst merkte sie, daß der Reifen keine Luft hatte. Sie stemmte die Hände in die Seiten, ihr Körper spannte sich so, daß unter dem Jersey des Kleides sich einiges abdrückte. Die Strapse, der Ansatz des Slips und die Stelle, wo der BH-Träger in die Haut einschnitt. Schwarze Unterwäsche, überlegte Urban, oder doch weiße? Wütend stieß sie mit der Spitze ihres hochhacki gen Pumps gegen den Reifen, warf das Haar zurück, und reckte das Kinn vor. „Man muß ihn wechseln." 106
„Oder aufpumpen." „Helfen Sie mir wechseln? — Pardon, Sie beschmutzen sich ja ungern die Hände." Urban hatte einen Kompressor. Den holte er heraus, schloß das Kabel an den Zigarrenanzünder des Lagonda und den Druckschlauch an den Rei fen, nachdem er das Ventil überprüft hatte. „Schalten Sie mal ein!" rief er. Sie suchte und fand den Schalter. Der Kompres sor lief. Doch Urban zog den Luftschlauch wieder ab.
„Was ist?" Er deutete auf einen Nagel im Gummi. „Den haben Sie sich eingesammelt." Sie wirkte fassungslos. „Den einzigen Pferdehufnagel an der ganzen Riviera." „Bedaure." Urban packte seinen Kompressor wieder weg. „Aber ich kann Sie ins Hotel bringen." Zu spät erkannte er den Fehler. „Woher wissen Sie, daß ich im Hotel. . .?" „Ihr Wagen hat eine Pariser Nummer, Gnädig ste", wand er sich heraus. Sie war mißtrauisch geworden, wie sich das für eine Agentin gehörte. Sie fragte: „Wieso sprechen sie als Deutscher so gut Franzö sisch?" „Meine Mutter stammt aus der Provence." „Was tun Sie hier, warum sitzen Sie in Ihrem Auto herum, während andere Leute schwer ar beiten?" „Ich warte auf elegante Damen mit Autopannen, um mich an sie ranzuschmeißen. Ich bin Heirats schwindler und scharf auf reiche Ladies." 107
„Den Heiratsschwindler nehme ich Ihnen glatt ab." Bei Frauen wie Yvonne mußte man von einem Extrem ins andere fallen, oder man hatte keine Chance. Er griff in den Sakko und zeigte ihr seinen Paß. Sie war so frei und las ihn, „Ludwig Hausleit. .. leit. . . " „Hausleitner", ergänzte er. „Doktor med. vet. — was ist med. vet.?" „Tierarzt", erklärte er. „Kanarienvögel, Kobras und kranke Vogelspinnen." „Machen Sie in Nizza eine Praxis auf?" „Wir hatten in Cannes einen Kongreß. Ich bin mit einem Kollegen verabredet." Er log ungeheuer stark. Lügen trainierte er immer vor dem Spiegel. Und die Tatsache, daß er dazu grinste, machte alles noch unglaubwürdiger. „Kann Ihr Kollege warten?" fragte sie. „Er wird müssen", sagte Urban. Sie holte ihren Pelzmantel und die Pakete. Er fuhr sie auf der Promenade des Angiais die fünf Blocks entlang bis zum Negresco. Kurz vorher kamen sie in einen Stau. Urban schüttelte den Kopf, als zweifle er an irgend etwas. „Was haben Sie?" „Kann ich nicht sagen, Madame, pardon." „Los, sagen Sie es schon", drängte sie. Ohne sie anzusehen, antwortete er: „Wenn ich Ihr Liebhaber wäre, Madame, ich würde Ihnen schwarze Unterwäsche schenken, aus Seide mit Spitzen. Schwarze Strümpfe, oben am Rand mit Diamanten bestickt, und ein exoti 108
sches Parfüm, mit dem Sie Ihre Brüste betupfen, den Nabel und. . . " „Und?" „Und Ihre Oberschenkel-Innenseite." „Natürlich auch ein schwarzes Parfüm", bemerkte sie ironisch und zeigte, daß sie es nicht übelnahm. „Ich weiß, ich bin animalisch, Madame, doch keiner glaubt es mir." Sie lächelte jetzt zum ersten Mal. „Ich glaube Ihnen", gestand sie. „Ich bin es auch." Der Stau löste sich auf, es ging weiter. Vor dem Hotel eilte der Page heraus und die Stufen herun ter und nahm die Pakete von Madame. „Darf ich Sie zu einem Drink einladen?" fragte Urban. „Eigentlich wäre ich damit dran", sagte sie. „Aber die Bar ist jetzt zu." „Nicht die in meinem Zimmer", sagte Yvonne de Lauvoire.
„Ich heiße Yvonne." Sie trug überhaupt keine Unterwäsche. Er hatte davon gehört, daß es Frauen gab, die darauf verzichteten. Sie gehörte offenbar dazu. Sie hatte Strümpfe an und ein Hemdchen, aber sonst nichts. Und sie benutzte ein umwerfend erotisches Parfüm an den entscheidenden Stellen. Noch bevor der Champagner kam, lagen sie im Bett. Sie tastete ihn ab. „Woher hast du die vielen Narben?" 109
„Tigerkrallen", sagte er. „Weibliche Tiger?" Draußen wurde geklopft. Das störte Yvonne nicht im mindesten in ihrer Wollust. Erst rief sie: „Herein!" dann rief sie: „Öffnen Sie die Flasche!" Und als es geknallt hatte: „Die fünfzig Francs auf dem Tisch sind für Sie." Dann begann sie zu stöhnen. So sehr, daß man nicht hören konnte, ob der Etagenkellner hinaus ging. Und dann sagte sie: „Mach es dem Tier so brutal, wie du willst, du Tier." Urban beherrschte sich lieber noch, denn er wollte sie am Leben und bei Laune erhalten. Sie sagte immer wieder, wie glücklich und zufrieden sie sei. Dann holte sie den Schampus, und sie lagen nebeneinander. Die Sonne stand schräg hinter den Vorhängen. Jetzt geht es los, dachte Urban. Vergiß nicht, warum du hier bist. Er machte es mit Anschleichen. „Ich würde das gern zur Nachahmung empfeh len", sagte er. „Wem? Deiner Frau?" „Nein, mir. Uns beiden." „Dem steht nichts im Wege. Soll's gleich sein oder etwas später?" „Wie lange bist du noch hier, Yvonne?" Sie betupfte ihre Brüste mit ein paar Tropfen Champagner. „Warum fragst du nicht, was macht eine Frau wie du im Spätwinter in Nizza?" „Bumsen", sagte er. „Ich habe mit Mode zu tun." 110
Er stellte sich halbinformiert „Findet Mode nicht meistens in Paris statt?" „Die Haute Couture", schränkte sie ein. „Aber die tragbare Mode ist eine Reduktion davon. Sie unterscheidet sich davon wie Whisky von reinem Alkohol. Ich fliege nach Afrika. Muß dort den Harem eines reichen Scheichs für den Sommer einkleiden." „Harem in Afrika?" staunte er. „ Arabisch-Afrika." „Libyen?" fragte er direkt. Sofort spürte er, wie sich verschiedene Muskel partien ihres nackten Körpers verspannten. „Wie kommst du auf Libyen, Doktor?" „Nur die SAS fliegt von Nizza aus Tripolis an. Und auf deiner Tasche liegt ein SAS-Ticket." „Was Tierärzte so alles wissen", wunderte sie sich. Sie machte so wenig in Mode, wie er eine Kleintierpraxis in Rosenheim unterhielt. Nur mit dem Unterschied, daß er wußte, wer sie war und auf welcher Spur sie sich befand. Es ging um die Spur der Bombe und nicht um den Harem des Oberst. „Bikinis also für Gaddafis Frauen", kommen tierte er. „Geld stinkt nicht. Oder? Ist doch egal, aus welchem Ölbohrloch es sprudelt." Er leerte sein Glas. „Offenbar hast du Geld gar nicht nötig." „Du meinst wegen der Suite hier, dem Lagonda, dem Zobel, dem Schmuck? - Ich bin arm geboren, in kleinen Verhältnissen aufgewachsen, versuchte aber bald, mir reiche Liebhaber zu angeln." 111
In diesem Satz waren mindestens drei Lügen enthalten. Sie war Comtesse de Lauvoire, stammte also nicht aus kleinen Verhältnissen. Ob die Lauvoires noch Vermögen hatten, wußte Urban nicht. Auch das Märchen mit den reichen Liebhabern bezwei felte er. Sie liebte die körperliche Sinnlichkeit und den Sex in allen Variationen, aber sie war keine Hure, auch keine Edelnutte. - Und von ihrem Arbeitgeber, dem französischen Geheimdienst SDECE, konnten so utopische Spesen auch nicht stammen. In diesem Punkt waren die Franzosen eher geizig. - Woher also stammten die Mittel? „Wann", fragte er, „fliegst du?" „Morgen", sagte sie. „In einer Woche bin ich zurück. Und wie lange bleibst du?" „In einer Woche kastriere ich in meiner Praxis in Rosenheim schon wieder Siamkater oder behandle die Milben bei Papageien." „Das könnte ich nie ertragen, so ein Leben", gestand sie. Ich auch nicht, dachte er. Sie redeten und redeten, aber er kam nicht näher an sie heran, als es die Panzerglasplatte, die sie vor sich aufgerichtet hatte, zuließ. Als der Champagner zu Ende ging, verließ sie das Bett und ging ins Badezimmer. An einigen Stellen, nur hier und dort, ein halbes Pfündchen mehr, dachte Urban, und ihr Körper ist absolut perfekt. Er wollte sich eine Goldmundstück-MC anstek ken. Luftzug ließ die Flamme flackern und blies sie aus. Er fragte sich, woher der Luftzug kam, da sah er 112
die zwei Männer an der Zwischentür zum Salon stehen. Beide hatten Waffen in der Hand. Aber solche, die gefährlicher aussahen als schwere Kaliber. Der eine hatte ein Messer, der andere ein Stück Dros selschnur. Was immer sie vorhatten, sie wollten es offenbar lautlos machen.
Urban war völlig auf sich allein gestellt. Im Badezimmer rauschte die Dusche. Bis die französi sche Agentin mitbekam, was passierte, konnte er tot sein. Die bärtigen Killer trugen Anzüge, er war nackt. Sie hatten Waffen, er keine. Seine Kleidung war das Bettlaken und seine Waffe die Champagnerfla sche. Der mit dem Messer — er kaute irgendwelche Kerne zwischen den Zähnen - drückte sich von der Türkante und kam näher. „Los, aufstehen! Hände hoch! Umdrehen!" „Sie haben sich auch nicht in der Tür geirrt?" „Du bist Dynamit. Stimmt's?" „ Neugier kommt vor dem Fall", sagte der andere. „Gib ihm was auf die Fresse." Der mit dem Messer blieb auf Distanz, nahm aber ständig Maß, wo das Messer am besten anzubringen sei. Da riß Urban das Laken hoch, um ihm das Zielen zu erschweren. Gleichzeitig sprang er aus dem Bett und versuchte, das Laken über den Messerstecher zu werfen. Kugeln durchschlugen 113
Leinen, Messer nie, wenn das Leinen nicht straff auflag. Der mit dem Messer geriet unter das Tuch wie unter ein Netz, und der mit der Drosselschnur wartete jetzt darauf, daß er sie über Urbans Hals werfen konnte. Urban stürzte sich auf den mit dem Messer. Die Schnur schlang sich um seinen Hals. Doch ehe sie festgezogen wurde, wand Urban sich heraus und griff nach rechts. Die Champagnerflasche krachte auf die Stirn des Killers mit der Schnur. Die Flasche zerbrach nicht. - Ein Beweis für ihre Qualität. Urban konnte sie noch einmal verwenden. Der mit der Schnur stürzte zu Boden, aber der mit dem Messer stach jetzt blindlings zu. Urban schwang die Champagnerflasche dorthin, wo er unter dem Laken den Kopf vermutete. Diesmal ging die Flasche in Scherben. - Dem anderen entglitt das Messer. Aber schon war der erste Mann wieder auf den Beinen. Taumelnd zwar und angeschlagen, packte er den Sektkühler und wuchtete ihn Urban in den Nacken. Der schwere, mit Eiswasser gefüllte silberne Topf fällte Urban nur in Zeitlupe, so daß er noch zu seinem Sakko kam. Er riß die Mauser aus der Innentasche. Während die schwarzen Nebel schon in seinem Kopf wallten, richtete er die Waffe auf den Killer. „Nimm deinen Bruder unter den Arm, und dann raus hier, bevor ich die Polizei rufe." Urban fühlte, daß er nicht dazu in der Lage sein würde und daß es nur noch Sekunden dauerte, bis er weg war. Mit letzter Kraft hielt er die Waffe auf die zwei Killer gerichtet. 114
Der eine half dem anderen auf die Beine. Sie wankten hinaus. Urban wußte, wie wichtig es gewesen wäre, zu erfahren, wer sie waren, woher sie kamen und wer sie geschickt hatte. Aber die Schwärze breitete sich vom Hinterkopf bis zu den Augen aus und gab nur noch einen schmalen Schlitz frei, durch den Licht in sein Inneres fiel. Als der letzte Spalt zugegangen war, schaltete sich auch Urbans Bewußtsein aus. Urban erwachte und hatte die schlimmsten Kopfschmerzen, an die er sich erinnern konnte. — Es war Nacht, und Yvonne war auch nicht mehr da. Mit letzter Energie fingerte er die Folienpackung aus der Reverstasche seines Sakkos, drückte zwei Thomapyrin heraus und schluckte sie trocken. Auf dem Teppich hockend, wartete er die Wirkung ab. Soviel stand fest: Die Dame war gegangen. Ohne Gruß, ohne Servus oder Adieu. Ihre Koffer, ihre Sachen, alles war weg. Kein Zweifel, sie hatte ihn k. o. gesehen. — Aber jetzt war sie fort. Auf und davon. — Nicht ohne Grund. Aber was war ihr verdammter Grund gewesen, ihn hier so liegen zu lassen? 16 Mortimer, das vierte As, meldete sich aus Neapel. Der Commander teilte seiner Zentrale, dem bri tischen Geheimdienst MI-6, in London mit, daß er eine sehr heiße Spur verfolge. Da man ihm erklärte, auch die anderen Agenten hätten sehr heiße Spuren verfolgt und er möge 115
sich nicht wundern, wenn auch seine Spur sich als unbrauchbar erweise, schwieg der Commander einige Tage lang. Am Ende der fünften Woche nach der rätselhaf ten Atomexplosion im Südpazifik rief er nachts in der MI-6-Zentrale Westminster Bridge Road Nr. 100 an. Er ließ sich zu dem Einsatzkoordinator durch verbinden und erklärte kurz: „Ich fliege morgen nach Athen." „Was gibt es in Athen, Commander?" „Die Spur eines Chemikers, der an der Bombe mitbaute." „Ein Grieche?" „Die Griechen beabsichtigten, den Plutoniumab fall aus ihren Atomkraftwerken für die Bombe zu nutzen. Aber die Kosten waren zu hoch. Das stellte sich heraus, als die Experten mittendrin waren. Das Projekt wurde abgeblasen. Dies auch schon deshalb, weil die Regierung in Athen fürchtete, die Aufnahme in die EG würde daran scheitern. Aber das wissenschaftliche Team ist noch vorhanden. Einer der besten Leute ist mir jetzt bekannt. Er weiß mehr über die Südsee-Explosion." „Also ließ er sich vom Hersteller dieser A-Bombe anheuern." „Jetzt lebt er zurückgezogen irgendwo auf Chal kidike und hat Angst um sein Leben." „Am Ende will es immer keiner gewesen sein", höhnte der Mann in London. „Sie fliegen also nach Athen und von da nach Chalkidike, Commander. Und wie geht es dann weiter?" „Kommt darauf an, was ich erfahre." „Was hoffen Sie zu erfahren? Ich meine, wonach riecht das Ganze?" 116
„Sorry", bemerkte Mortimer. „Die Parfümfla sche ist noch zugekorkt." ,,Sind Sie beleidigt wegen der Rüge mit der heißen Spur?" „Ich melde mich, wenn die Flasche entkorkt ist." „Welche Farbe hat das Parfüm?" „Gar keine", sagte Mortimer. „Wohin zielt die Spur? Nach Nahost, Irak, Syrien, Persien, Pakistan?" „Hat nicht der Libyer sich zum Urheber des Atomtests erklärt?" „Der redet viel." „Und ich", beendete Mortimer das Gespräch, „rede nur noch, wenn ich etwas weiß. Ganz sicher weiß. Gute Nacht, alter Junge." Danach wartete der Kontaktoffizier in London einen Tag und noch einen, am dritten Tag mit wachsender Ungeduld, am vierten Tag voller Sorge, am fünften dann kam endlich ein Anruf. Aber nicht von Mortimer aus Chalkidike, son dern von Scotland Yard am Themseufer. „Mir liegt da eine Interpol-Anfrage vor", sagte der Chiefintendent, „betreffend einen gewissen Neville Mortimer. Der Name fiel kürzlich bei einem unserer Gespräche. Ist Mortimer nicht Ihr Mann?" „Unser Mann in Chalkidike", wurde ihm bestä tigt. „Dann ist Ihr Mann in Chalkidike tot", erklärte der Beamte vom Yard. „Sein Wagen wurde an einem Bahnübergang vom Zug erfaßt und brannte aus. Mortimer wurde herausgeschleudert und starb dem Notarzt unter den Händen weg. - Wie ich die Verhältnisse in Nordgriechenland kenne, kam der Arzt erst nach zehn Stunden. Tut mir leid." 117
Eines wußte Mortimers Kontaktoffizier mit Sicherheit. Der Commander war ein sicherer und vorsichtiger Autofahrer. Er hätte nie einen griechi schen Eisenbahnübergang passiert, ohne sich zu überzeugen, daß er auch frei war. - Kein Zweifel, man hatte es auf Mortimer abgesehen gehabt. Es lag Mord vor. Der Bericht lief weiter an den Chef vom MI-6. Aus dem Bericht ging hervor, daß von den vier eingesetzten Agenten drei ausgefallen waren. Vom vierten wußte man nicht, wo er sich aufhielt. Der MI-6-Chef, Lord Babington, sah sich veran laßt, jetzt endlich das zu tun, was er schon von Anfang an hatte tun wollen. Er rief in München an und dort den Präsidenten des deutschen Bundes nachrichtendienstes .
„Späte Ehre, keine Ehre", sagte Urban, als man ihn zum fünften As ernannt hatte. Aber Ehre war ihm schon immer scheißegal gewesen wie alles, was sich nicht in Mark und Pfennig, also in Bourbonflaschen ausdrücken ließ. Mann, dachte er, wenn du stets den Gewinn maximiert hättest, wärst du jetzt reich wie Rocke feller. Aber ein Schnitzel pro Mahlzeit, eine Fla sche Schampus und einmal vögeln am Tag — mehr war sowieso nicht drin. In dieser Totensonntagsstimmung flog Urban nach Griechenland, wo man Mortimers Leichnam aufbewahrte. Seine frisch ausgefertigten, unterschriebenen und gestempelten Vollmachten öffneten Urban sogar Leichenhauskühlschränke. 118
„Das ist er, Sir", sagte der Angestellte im Schauhaus von Melissburgos. „Sind Sie auch sicher?" „Name und Nummer finden Sie am Etikett an seiner großen Zehe, Sir." Urban hielt wenig von Zetteln. Er hatte ein Foto. Mit etwas Phantasie konnte man die Aufnahme des lebenden Mortimer mit dem Gesicht des Toten in Übereinstimmung bringen. „Woran starb er?" „Schädelbruch." „Schädel sind recht hart." „Fliegen Sie mal zwanzig Meter durch die Luft und landen dann auf der Schiene." Urban stand vor dem Toten wie Pik sieben vor Pik As. Er hatte das Autowrack durchsucht und nichts gefunden. Nicht den Hauch eines Hinweises. Er hatte Mortimers Gepäck im Hotel durchsucht und auch dort nicht den Hauch eines Hinweises ent deckt. — Wenn er auch hier nichts fand, dann wurde es langsam eng. Leichen aus Kühlkammern waren absolut geruchlos. Sie gaben nicht den Schimmer eines Duftes von sich. Aber eine Leiche hatte Haare, Zähne, Augäpfel, Finger und Fußnägel und mehr als zwei Quadratmeter Hautfläche. Mortimer war nach dem mysteriösen Unfall noch am Leben gewesen. - Urban hielt es zwar für verstiegen, aber vielleicht hatte er der Nachwelt doch etwas von seinen Erkenntnissen hinterlassen. Der Grieche stand dabei, die Hände auf dem Rücken wie ein Lehrer, der eine Frage gestellt hatte und nun erwartungsvoll auf deren Beantwor tung lauschte. 119
Nachdem einige Minuten verstrichen waren, räusperte er sich. Urban blickte ihn an. „Sagen Sie es schon", forderte er den Griechen auf. „An dem finden Sie nichts, Sir." „Was glauben Sie wohl, was ich suche?" „Keine Ahnung, Sir. Aber Sie suchen, was andere schon suchten und auch nicht fanden. - Ich bin kein Arzt, Sir, aber seit dreißig Jahren Lei chenwärter. Von einer Leiche verstehe ich mehr als jeder Doktor. Ich möchte sagen, es gibt keinen Mann in der ganzen Provinz Chalkidike, der von Leichen mehr versteht. Ich bin der Zweitälteste Leichenwärter und Vorsitzender der Gewerk schaftsgruppe der Leichenwärter in Nordgriechen land. Wenn ich Ihnen also sage ..." Mit einer Handbewegung schnitt Urban seinen Redefluß ab. Er wollte nicht zur Kenntnis nehmen, daß er völlig ohne Aussicht auf Erfolg hierherge fahren sein sollte. Der Grieche im schmutzigweißen Mantel fuhr fort: „Wir waschen die Leichen und richten sie her. Zum Waschen gehört auch das Säubern aller Leibesöffnungen. Denn von dort aus nimmt die Verwesung ihren Anfang und schreitet schnell voran. Ich kann Ihnen versichern, er hatte nichts in der Nase, nichts unter der Zunge, nichts im After und nichts in der Harnröhre. Er hatte nichts in den Ohren, im Haar, unter den Nägeln, im Nabel oder in die Haut implantiert." „Und wo ist der Ring?" fragte Urban. „Welcher Ring?" „Der vom Zeigefinger rechts." 120
Der Tote hatte an der Wurzel des Zeigefingers eine helle Stelle. Trotz der Hautveränderung war es zu sehen, denn der helle Streifen hatte sich kaum mitverändert. „Der Ring muß bei seinen Sachen sein, Sir." „Ich habe ihn nicht gefunden." „Dann müssen Sie die Polizei fragen", sagte der Leichenwärter. „Ich übergab ihn in einer Plastik tüte." „Was war das für ein Ring?" „Nichts Besonderes, Sir. Ein Goldreif, etwa fünf Millimeter breit, ziemlich dünn." „Mit Gravierung?" „Davon war nichts zu erkennen, Sir", erinnerte der Leichenwärter sich. „Der Ring war ziemlich alt, wohl im Laufe der Zeit dünner geworden. Ringe aus purem Gold können, wenn sie viele Generationen hindurch getragen werden, so dünn werden, daß sie brechen." „So dünn war er noch nicht, oder?" „Er hatte Kratzer, Sir, aber keine Gravierung. Ich bin sicher. Aber ..." Urban wartete auf das, was kam. „. . . aber merkwürdig war eines, Sir", berichtete der Leibwärter noch. „Er hatte den Ring nicht am Finger, sondern in der Hand. In der Faust. Er hielt den Ring in der Faust, so als wollte er ihn nicht hergeben." Oder, überlegte Urban, er zog ihn ab, um damit ein Zeichen zu hinterlassen. Er bedankte sich bei dem Mann im Schauhaus und fuhr zur Polizeizentrale nach Thessaloniki.
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Der goldene Ring vom Zeigefinger der rechten Hand des toten britischen Geheimagenten Morti mer wurde Urban vorgelegt. Mit bloßem Auge war keine Gravur zu erkennen. Unter der Lupe im Polizeilabor auch nicht. „Warum nahm er ihn bloß ab?" fragte Urban immer wieder. „Oft sitzen Ringe so locker, daß man sie abzieht, um sie nicht zu verlieren", lautete eine von vielen Antworten. Auf der Karte ließ Urban sich zeigen, an wel chem Bahnübergang es passiert war. „Er war auf der Fahrt von woher nach wohin?" „Von Arnea nach Appolonia." Urban entwickelte eine letzte verzweifelte Idee. Commander Mortimer war unterwegs gewesen, um einen Chemiker zu suchen, der in der griechi schen Atomforschung gearbeitet hatte, ehe das Bombenprojekt aufgegeben worden war. Da er die Beamten der Mordkommission in Thessaloniki damit für überfordert hielt, rief er beim Geheimdienst in Athen an. Er legte ihnen sein Problem dar und hatte vier Stunden später die Antwort. In den alten Personalakten für das Atomprojekt, die damals vom Sicherheitsbüro überprüft worden waren, gab es einen Chemiker namens Dr. Stavros Epanomi. Er stammte aus Néa Appolonia und wohnte auch noch dort. Urban bat einen der Beamten, ihn zu begleiten. Der Grieche fand sich trotz der Dunkelheit gut zurecht. Sie brauchten für die vierzig Kilometer weniger als eine Stunde. Im Haus des Chemikers - es lag ein Stück 122
außerhalb des Ortes auf einem Hügel — brannte Licht. „Das macht es einfach", freute der Kriminalbe amte sich. „Ein Bauernhaus", stellte Urban fest. „Seine Eltern dürften noch mit Oliven, Wein und ein paar Ziegen ihren Unterhalt bestritten haben. Das ist hier die Lebensgrundlage seit Jahrtau senden." Sie fuhren zu dem Haus hinauf und gingen durch die offene Tür hinein. Das Radio spielte. Im Haus herrschte Ordnung. Nur am Steinboden vor dem Kamin lag ein Toter. Der Beamte hielt Urban zurück. „Nicht berühren, bitte." Aber eines sah Urban sofort: Der Mann war auf eine Weise umgebracht worden, die doppelte Sicherheit bot. Man hatte ihm ein Messer ins Herz gestoßen und ihn obendrein erdrosselt. Der Blutfleck am Hemd in Herzhöhe umrandete eine Stichstelle, die Haut am Hals zeigte Spuren der Drosselschnur. Urban kannte die Täter. Es mußten dieselben Leute gewesen sein, die auch ihn in Nizza hatten stoppen wollen. Jetzt hatten sie den Chemiker und Commander Mortimer gestoppt. — Also gab es etwas zu verbergen. Der Beamte griff mit spitzen Fingern in den Mantel, der draußen im Flur hing. Dem Bild der Kennkarte nach war der Tote Dr. Epanomi. „Das war's dann", sagte der Beamte. „Commander Mortimer hatte ihn also besucht." „Na schön. Aber das war es dann, Colonel Urban." „Das war es nicht." 123
„Was suchen Sie?" fragte der Beamte von der Mordkommission nervös. „Auch er trug einen Ring. Sehen Sie her. Aber wo ist der Ring jetzt?" „Was haben Sie bloß immer mit den Ringen?" fragte der Grieche und telefonierte mit den Kolle gen vom Erkennungsdienst. Aber da hatte Urban den Ring schon gefunden. Er lag seitlich unter dem Toten. Im Gegensatz zu dem des Engländers hatte dieser Ring einen Bril lanten, einen Halbkaräter in Kegelschliff. Urban hielt den Ring ans Licht. Der Grieche war neben ihn getreten. „Sehen Sie den weißen Staub rings um den Brillanten?" fragte Urban. „Hautabschürfungen vielleicht oder Seife", meinte der Grieche. Urban blies auf den Ring. Der weiße Staub verflüchtigte sich. „Hautabschürfungen und Seifenreste kleben. Das hier war staubtrocken." „Zucker, Mehl vielleicht." Urban suchte etwas ganz Bestimmtes. Der Commander hatte seinen Ring abgenommen, um irgendeinen Hinweis zu geben. - Aber worauf? - Auf den Umstand, daß auch der Chemiker seinen Ring abgenommen hatte? Aber warum hatte der ihn abgenommen? - Und noch etwas: Hatte Morti mer gefürchtet, die Männer, die ihn umbrachten, könnten auch den Chemiker töten? Also war etwas mit dem Ring des Chemikers gemacht worden. - Was konnte man mit Brillant ringen anstellen? Woher kam der weiße, trockene Staub? — Mit Brillantringen konnte man eigentlich nur eines tun, man konnte etwas einritzen. Dia 124
mant war härter als alles. Härter als Metall, Keramik und Glas. „Verdammt, es war Glasstaub!" rief Urban. Mit der Stablampe leuchtete er alle Gegenstände aus Glas ab, fand aber keine Gravur. Nun ver suchte er es an dem Fenster, vor dem der Schreib tisch stand. — Dort fand er dann, was er suchte. Zunächst schwer lesbare Zeichen nahmen die Formen von Ziffern an: 6-0-1-4-6. Urban zeigte sie dem Griechen. „Sechs, null — eins, vier, sechs." „Schade", sagte Urban. „Ist das nichts?" Urban steckte sich eine Goldmundstück-MC an. „Es ist das, was ich suchte", gestand er. „Aber es bringt mich nicht weiter." „Es muß eine besondere Bedeutung haben, wenn er es in das Glas ritzte, Colonel." „Er tat es nur, um es nicht aussprechen zu müssen." „Verstehe ich nicht, Sir." „Ich auch nicht", gestand Urban. „Es bezeichnet lediglich den geographischen Ort, vielmehr die Koordinaten, wo die rätselhafte Atomexplosion stattfand. Sechzig Grad Süd, einhundertsechsund vierzig Ost. Aber das ist uns längst bekannt." „Wozu dann das Theater mit den Ringen, Sir?" „Gute Frage", sagte Urban. „Aber soviel steht fest: Die beiden sprachen über diese Testexplosion." „Seit Wochen", erklärte Urban, „geht es bei den NATO-Geheimdiensten um nichts anderes. Irgend ein Staat hat eine Atombombe. Aber welcher Staat hat sie?" „Libyen gab eine entsprechende Erklärung ab." 125
„Wenn Oberst Gaddafi", erwiderte Urban, „die Bombe gezündet hätte, dann hätte er das unmittel bar nach der Testexplosion bekanntgegeben und nicht erst einen Monat später. Soviel versteht der Bursche noch von Werbung und Reklame." „Zum Teufel, wer war es dann, Sir?" „Das ist die zweite gute Frage heute abend, Kommissar", sagte Urban. „Verstehe, zwei gute Fragen ohne Antwort erge ben eine schlechte Frage ohne Antwort." Sie warteten, bis die Mordkommission erschien. Dann fuhren sie nach Thessaloniki zurück. — Urban nahm das nächste Flugzeug nach München.
17. Die Spezialschiffe hatten den Testort erreicht und begannen dort mit ihren Untersuchungen. Zunächst wurden, beginnend im Abstand von zweihundertfünfzig Seemeilen bis zum Testpunkt, Wasserproben entnommen. Man fand im Wasser keine Radioaktivität, aber Bestandteile von Uranhexaflorid, Yellow-cake genannt, aus dem reines Uran 238 gewonnen wurde. Auf den Explosionsort hin nahm der Bestandteil an Uran stetig, aber nicht wesentlich zu. „Wie kommt die Yellow-cake ins Wasser?" frag ten sich die Experten. „Normalerweise verläßt diese Brühe niemals die Aufbereitungsanlagen." „Vielleicht eine neuartige Bombe." „Yellow-cake explodiert nicht. Sie explodiert ungefähr so sicher wie Vanille-Pudding", hieß es. 126
Einer von den Wissenschaftlern, der nicht klas sisch, sondern progressiv dachte, sagte: „Wenn wir Vanillepudding mit TNT verrühren, dann explodiert er sehr wohl." „Dann explodiert nur das TNT", wurde ihm entgegnet. „Niemand hat bis heute erforscht, ob Vanille pudding nicht die Sprengkraft von TNT erhöht." „Weil es Unsinn ist." „Urankonzentrate sind kein Vanillepudding." „Es klappt auch mit Schokoladenpudding nicht", meinte ein Scherzbold. Es gab aber einige, die waren anderer Meinung. „Wasser brennt für gewöhnlich nicht", wurde eingewandt, „und trotzdem spritzt man es bei Rennmotoren ein, um die Leistung zu erhöhen," „Nur der Kühlung wegen." „Wasser besteht aus Wasserstoff und Sauer stoff." „Auch Vanillepudding besteht aus bestimmten Grundstoffen. Aus Gelatine, Wasser, Eiweiß und Zucker. Uns allen ist bekannt, daß man aus Kunstdünger, Zucker und Waschpulver Spreng sätze bauen kann, die ganze Hochhäuser umlegen." „Aber nur mit Vanillearoma", ergänzte der Komiker der Gruppe, „und Himbeersoße." Dann ging man wieder an die Arbeit.
Die amerikanische Marine hatte ihr modernstes Tauchboot, Sexplorer, herangeschafft, denn das Meer war hier 2 300 Meter tief. Bevor das Navy-Hilfsschiff USS-Wisconsin das kostbare Instrument — es war konstruiert worden, 127
um gesunkene Atom-U-Boote ausfindig zu machen - einsetzte, schickte man unbemannte Geräte hinunter. Diese torpedoähnlichen Apparate, bestückt mit starken Lampen, Kameras und Senso ren, wurden an Stahltrossen über den Meeresgrund geschleppt. Eines dieser Geräte entdeckte am fünfundvier zigsten Tag nach der Testexplosion auf nahezu 8000 Fuß Tiefe Wrackteile. Die Videoaufnahmen wurden ausgewertet. „Ein ziemlich neues Wrack, das steht fest", lautete die einhellige Meinung. „Kein Rost." „Wie ist der Verrostungskoeffizient bei diesem Salzgehalt und der gemessenen Temperatur?" Tabellen wurden befragt und Taschenrechner betätigt. „Also an offenen Bruchstellen beginnt der Oxy dationsprozeß praktisch sofort. Moderne Schiffs farbe hält sich länger, wenn sie nicht durch Hitze ..." „Und wie steht es mit Algen- und Muschelbe wuchs?" „Der ist erst nach drei Monaten meßbar." Materialproben von Wrackstücken wurden ge prüft. „Normaler Schiffbaustahl", lautete die Erkennt nis. „Kein Rost, kein Muschelbewuchs. Auch die Stellen, wo die Farbschicht durch Hitzeeinwirkung weggeschmolzen ist, weisen kaum Veränderungen auf." „Also ein nahezu nagelneues Wrack." „Ja, das ist der schwarze Schimmel, das nagel neue Wrack, das wir suchen." Der Lageort stimmte mit den allgemeinen Beob 128
achtungen und auch mit den Koordinaten überein, die aus Griechenland gemeldet worden waren. Eine Bogensekunde hin und her, so genau nahm man es nicht. „Jetzt wäre zu ermitteln", kam die Expeditions leitung überein, „was für ein Schiff es war. Größe, Tonnage, Bauart. Wenn möglich Name, Herkunfts land und wo ist es registriert gewesen." „Dazu muß ein Fachmann runtersteigen." „Mit Sexplorer." „Sexplorer!" bemerkte einer der Navy-Offiziere. „Ich habe mich immer gegen diesen Namen ge sträubt." „Sie haben eine schmutzige Phantasie", sagte der Leiter der Expedition. „Es ist die ganz logische Zusammensetzung aus den Wörtern See und Explorer: Sexplorer. Wir haben Raumfahrzeuge, die Explorer heißen, und nun haben wir ein Tiefseetauchboot, das S-Explorer heißt. Sein Wir kungsbereich ist nicht die Stratosphäre, sondern die See." „Laßt ihn doch", meinte ein anderer. „Er hat schon damals die Wandzeitung in der Analphabe tenschule geschrieben. Der eine hat Vaseline auf den Augen, der andere hat sie anderswo. Was mich betrifft, da gibt es - wenn ich je wieder Land sehen sollte - 'ne echte Sexploration. Oder heißt es Sexplosion?" Am nächsten Tag kam Sexplorer zum Einsatz.
Das Tiefseetauchboot, besetzt mit einem Mann, brachte die bestmöglichen Fotos mit an die Mee resoberfläche. 129
Die Wrackteile wurden ihrer Form und Lage nach in einem SpezialComputer gespeichert und auf dem Bildschirm zusammengesetzt. Sie ergaben das Bild eines Schiffes von etwa 3000 Tonnen. „Frachter oder Tanker?" lautete die nächste Frage. „Ein Kombischiff", meinte der Operateur am Computer. „Vorn hat es Tanks, aber nahe der Brücke die Ladebäume, und die Brücke ist nicht so weit achtern wie auf reinen Tankern." „Auch nicht so weit vorn wie auf Frachtern." „Aber es hat einen Wulstbug." „Also eine relativ neue Konstruktion." „Und Doppelschrauben." „Dann lief es über fünfzehn Knoten." „Der geheimnisvolle Atom-Expreß also. Sein Zielhafen ist bekannt. Der liegt hier. Aber wo fuhr er ab?" Die Bildschirmrekonstruktion des Schiffes wurde mit gespeicherten Daten aller bekannten Dreitausendtonner, sowohl Frachtern und Halb frachtern als auch Tankern, Kombischiffen et cetera verglichen. Sie fanden jedoch keine Identität. „Es ist ein Spezialumbau."
„Spezialumbauten nehmen nur Spezialwerften vor." Werften zu ermitteln, die in der Lage waren, solche Umbauten vorzunehmen, erwies sich als unmöglich. Es gab weltweit, von Schottland bis Taiwan, Dutzende davon, die diese Technik beherrschten. Und Werften in Nordkorea, Vietnam, Albanien, Rumänien, in Libyen, auch in der 130
UdSSR gaben überhaupt keine Auskunft über ihre Neu- und Umbauten. Das Thema wurde abgehakt. „Herkunft mithin unbestimmbar." „Zumindest schwierig. Auf den Weltmeeren dampfen ständig Zehntausende von Pötten aller Kaliber herum." Sie gingen das Problem von einer anderen Seite an: Waren die Wrackteile typisch für die Überreste einer atomaren Explosion? Wie sich herausstellte, wußte man zwar einiges über die Wirkung atomarer Explosionen auf Häu ser, Bunker, Fahrzeuge, ja auf ganze Landstriche und auch über ihre Wirkung auf Schiffe bis hin zum Flugzeugträger. Doch wie die gesunkenen Wracks aussahen, wie sie auf dem Meeresgrund ankamen, darüber wußte man so gut wie nichts. „Wenn keine Atomexplosion vorlag", lautete die nächste Frage, „was passierte dann? Es gab eine zweite Sonne wie bei Atomexplosionen, einen Pilz wie bei Atomexplosionen und Erdbebenwellen wie bei Atomexplosionen." „Aber kaum Verseuchung wie bei Atomexplo sionen." „Ein Zeichen von technischem Fortschritt viel leicht . . . " Die Expedition kostete bis jetzt vier Millionen US-Dollar. Sie verschlang täglich weitere Unsum men. - Und sie brachte so gut wie keine neuen Erkenntnisse.
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Anhand der Meßdaten am Explosionsort erstellten japanische Fachleute eine neue Expertise. In Auftrag gegeben wurde sie von der Regierung in Tokio. Der japanische Geheimdienst Kempetai trieb sie voran. Der Grund dafür lag nahe: Den Japanern ging es um eine totale Reinwaschung. Sie wollten mit der Atomexplosion ebensowenig in Verbindung gebracht werden wie die Bundesre publik Deutschland. Die japanischen Wissenschaftler der Universität in Osaka ermittelten, daß die für eine Atomexplo sion typischen Erscheinungsbilder auch mit her kömmlichem Sprengstoff zu erreichen seien. Dazu benötigte man aber eine Menge TNT, die bei mehreren tausend Tonnen lag. Das Schiff auf dem Meeresgrund war durchaus in der Lage gewesen, so viel TNT mitzuführen und mit dieser Explosion die Erbebenwellen, die Druckwellen, die zweite Sonne, den Atompilz hervorzurufen. Die Frage lautete nur, wer wollte diesen Effekt erzielen, und woher kamen die Uranspuren? Die NATO-Geheimdienste, von dieser Expertise beeindruckt, begannen nun nach einer Menge von dreitausend Tonnen TNT zu suchen. Wer konnte sie herstellen, wo war sie gelagert, wo fehlte diese Menge? Man suchte nur zu gern nach dem TNT, um die Atomtesttheorie dadurch ad absurdum zu fuhren. Aber dreitausend Tonnen TNT waren eine Menge, für deren Transport man zweihundert Güterwagen mit einer Tragfähigkeit von je fünfzehn Tonnen benötigte. 132
„Das läßt sich verdammt nicht an einer Uhrkette tragen", sagte Colonel Carty von der CIA. „Und auch nicht unbemerkt langsam ansam meln." „Also muß ein Staat mit eigener TNT-Produk tion dahinterstehen." Colonel Jimmy Joe Carty wußte, daß sie mit dieser Theorie möglicherweise im Inneren eines Irrgartens standen. Sie hatten sich hineingeflüch tet, nur um die Möglichkeit einer Atomexplosion auszuschalten. Nach wie vor war die entscheidende Frage offen: Wer konnte unbemerkt von den weltweiten Kon trollen eine Atombombe gebaut haben, oder wer konnte im Ersatzfall dreitausend Tonnen TNT abgezweigt haben? „Was", fragte Colonel Carty von der CIA, „treibt eigentlich Urban?" „Keine Ahnung", hieß es. „Vielleicht denkt er nach." „Das machen wir schon. Dafür ist er nicht eingesetzt." Cartys Mitarbeiter deutete auf das Telefon. „Rufen Sie doch in Pullach an, Sir", riet er. Mit einer Handbewegung, die starken Ekel aus drückte, verließ der Colonel sein Büro. Doch als er draußen stand, machte er kehrt, weil er nicht wußte, warum er hinausgegangen war. 18. Der BND-Agent Robert Urban blieb von den Ergebnissen aus der Südsee völlig unbeeindruckt. „Was für ein opulentes Artistenfrühstück", sagte 133
er zum Vizedirektor des BND. „Eine Scheibe Karo, trocken belegt mit Daumen und Zeigefinger." „Dann liefern Sie doch Butter und Marmelade dazu." Urban räumte ein, daß er sich darum bemühe. Seit Tagen grübele er daran herum. „Woran?" „Die Koordinaten des Testgebietes waren bekannt. Warum kratzte der Grieche sie in seine Wohnzimmerscheibe? Warum zog Commander Mortimer den Ring ab?" Der BND-Vize, hanseatisch, wenn nicht sogar britisch cool, fragte: „Wie lauteten doch die Ziffern?" „Sechzig und hundertsechsundvierzig." Der Vize verließ seinen bequemen Drehsessel und ging quer durchs Büro zu der großen Wand karte, einer Weltprojektion. Mit ausgestreckten Pianistenfingern fuhr er am Längengrad nach unten, bis auf 60 Grad Süd. „Das ist der Testort." „Richtig", bestätigte Urban. „Er war bekannt. Warum sollte man ihn also in die Glasscheibe kratzen?" „Das ist die Frage." „Alles dreht sich nur um die Südhalbkugel. Was aber liegt auf den gleichen Koordinaten im Norden?" „Sibirien", äußerte Urban. „Sibirien ergibt wenig Sinn, oder?"
„Gar keinen." „Die Russen testen nicht mehr auf dem Fest land." „Die Erdbebenwelle kam auch nicht aus Sibi rien. " 134
„Wie, zum Teufel.. .?" Plötzlich hatte Urban den Einfall, der ihm bis zu dieser Sekunde versagt geblieben war. „Könnte nicht ein Schreibfehler vorliegen?" „Bei einem Chemiker, der im Umgang mit For meln geübt ist?" „Oder ein Ablesefehler." Urban holte Papier, schrieb die bekannten Zif fern hin und dachte nach. Dann strich er die eine und andere Ziffer, und am Ende die Eins von einhundertsechsundvierzig. Der Vize schaute ihm interessiert zu. „Was soll das werden, wenn es fertig ist?" „Angenommen, die Eins wäre ein Schrägstrich. Nur mal angenommen." „Na schön, dann haben Sie statt eins-sechsund vierzig nur den Längengrad sechsundvierzig." Sie traten wieder an die Karte und verfolgten den sechsundvierzigsten Meridian. Er lief, von der Sowjetunion kommend, durch den Irak und SaudiArabien. „Aber sechzig ergibt nichts", befand Urban. „Die geographische Breite in diesem Krisengebiet ist, selbst wenn man Persien einbezieht, zwischen zwanzig und vierzig Grad." Der BND-Vize hatte auch keine Erklärung. Urban starrte auf den sechsundvierzigsten Län gengrad, und mit einemmal pfiff er. „Angenommen, der Strich, den wir für eine Eins hielten, ist nur ein Schrägstrich, dann kann die Ziffer sechzig auch etwas anderes bedeuten als die geographische Breite." „Meilen etwa?" „Oder Kilometer." Sie griffen vom Kartenrand die Distanz ab. 135
Wenn sie Kilometer zugrunde legten - in Grie chenland wurde vorwiegend mit Kilometern gerechnet —, kamen sie zu einem Punkt, der im südlichen Irak lag. Urban umriß die Gegend mit dem Daumen. „An der Straße nach Kashmat."
„Was ist da?" „Wüste." „Und Sperrgebiet. Ich war mal ganz in der Nähe." „Wüstensand als Sperrzone, das macht wenig Sinn." „Möglicherweise gibt es dort unterirdische For schungsstätten. " „Für Weißkohl, der im Dunkeln wächst."
„Für Waffen", befürchtete Urban. „Kommt man da hin?" nahm der Vizedirektor ihm den Gedanken vorweg. „Schwerlich." „Im Sinne von unmöglich?" „Unmöglich ist nichts." Mit einemmal war sogar Urbans Dauergrinsen, hervorgerufen durch zu kurze Gesichtsmuskeln, verschwunden. Doch irgend etwas zuckte in seinen Augen. „Warum blinzeln Sie?" fragte der Vize. „Neugier", sagte Urban. „Ungestillte Neugier macht mich nervös." Doch wie er den Laden kannte, hinderte ihn keiner daran, seine Neugier zu stillen.
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Im Militärjargon hießen solche Operationen Insel springen. Sie bedeuteten, daß eine bestimmte Sache in kürzester Zeit an einen bestimmten Punkt der Erde zu bringen war. — Diese Sache war Robert Urban. Und der Ort war die Grenze von Saudi-Arabien zum Irak. Genaue Ortskenntnis und ein Minimum an Unterstützung waren bei so einem Unternehmen, wenn es Erfolg haben sollte, Voraussetzung. Also landete Urban in Tel Aviv zwischen. Im Hauptquartier des israelischen Geheimdien stes MOSSAD, wo man den Fall kannte und Urban Freunde hatte, wurde die Lage in aller Offenheit analysiert. Colonel Ben Nußbaum verschaffte Urban an Hand der Karte einen Überblick. „Wir dachten daran", begann der Israeli, „Sie von Eilat, unserer südlichsten Position am Golf von Akaba, mit dem Hubschrauber auf Position sechzig/vierundsechzig zu bringen." „Entfernung tausend Kilometer", rechnete Urban. „Es sind sogar elfhundertvierzig Kilometer. Der Helikopter müßte in der Lage sein, mindestens einen Jeep, Ausrüstung und einen sprachkundigen Scout mitzunehmen. — Damit müßte er drei uns unfreundlich gesinnte Länder, nämlich Jordanien, Saudi-Arabien und Teile des Iraks, überfliegen. Okay, bei Nacht wäre das vielleicht möglich, aber was, bitte, ist das dazu taugliche Fluggerät?" „Der Boeing Chinook mit seinen zwei Rotoren ist zu laut und müßte dreimal nachtanken." „Und er ist zu groß. Mithin also leicht ortbar." „Der Puma", sagte Urban, „käme mit Zusatz tanks hin und halb zurück." 137
„Treibstoffmäßig ist die Aufgabe lösbar. Wir errichten in der Nafid-Wüste ein Kerosindepot. Aber in den Puma kriegen wir den Jeep nicht hinein." Der Plan, das Ziel mit dem Helikopter anzuflie gen, mußte fallengelassen werden. Absprung aus einem Propellerflugzeug wurde erwogen und auch verworfen. Denn ohne Fahrzeug gab es kaum eine Chance der Rückkehr. Nun zog der Colonel seine letzte Karte aus dem Ärmel. „Gewöhnlich", sagte er, „sind die Araber unter einander stark uneins. Doch wenn es gegen gemeinsame Feinde geht, beweisen sie Solidarität. - Die Saudis haben im Golfkrieg das Regime in Bagdad unterstützt und werden es weiterhin tun. Sie haben auch nichts dagegen, wenn einer von ihnen eine funktionierende Atombombe besitzt. Sie würden Oberst Urban eher behindern als unter stützen." Nußbaum nahm einen Schluck Tee, ehe er fort fuhr: „Aber unter den saudiarabischen Offizieren, die samt und sonders von der US-Army ausgebildet wurden, gibt es Gruppen, die anders denken. Wir haben Kontakte zu so einer Gruppe. Das sind vorwiegend Offiziere, die als Hauptfeinde die Aja tollahs in Teheran sehen. Sie fürchten, der religiöse Fanatismus könnte auch auf die anderen arabi schen Länder übergreifen. Sie wünschen auch nicht, daß Persien auf dem Weg über den Irak eines Tages Zugriff zu Nuklearwaffen bekäme. So eine Gruppe unter Captain Ali Halef steht mit uns in Kontakt." Im Verlauf der Diskussion begriff Urban, daß es 138
den Israelis lieber war, wenn er als Operationsba sis den Norden von Saudi-Arabien wählte. „Angenommen", sagte Nußbaum, „sie bauen dort wirklich an einer Atombombe, dann läuft es doch auf Zerstörung der Anlagen hinaus. Schon einmal haben wir durch Jagdbombereinsatz den irakischen Atommeiler in Bagdad zerstört. Das führte uns an den Rand eines Krieges. Damals waren wir stärker als heute. Heute macht uns die Indifada, der Palästinenseraufstand im eigenen Land, schwer zu schaffen." Urban hatte verstanden und begnügte sich damit, daß sie für ihn den Kontakt mit den Saudis herstellten. Als die Sitzung beendet war, nahm Colonel Nußbaum Urban noch einmal zur Seite. Er zeigte ihm ein Foto. Es handelte sich um eine Luftaufnahme, die man stark vergrößert hatte. ,,Das ist präzise der Punkt sechzig/sechsund vierzig." Urban sagte die Aufnahme zunächst wenig. Er bekam eine Lupe. Nun erkannte er unter anderem Häuser, Plätze, eine Moschee, Straßen, Parks mit Palmen, geparkte Autos, Menschen. „Das ist ja eine Stadt", staunte er. „Sie haben sie mitten in die Wüste gebaut." „Eine Stadt", wunderte Urban sich, „und kein Sperrgebiet." „Die ganze Stadt ist Sperrgebiet", fürchtete der Israeli. „Sie meinen, man hat sie in den Sand gesetzt, um das Atom-Projekt zu tarnen?" „Genau über die Fabrik. Ja, das fürchte ich." 139
„Um so einen neuerlichen Angriff Ihrer Bomber zu vereiteln." „Niemals könnten wir uns herausreden", sagte der Israeli, „eine Stadt mit unschuldigen Menschen bombardiert zu haben, nur weil wir vermuteten, daß darunter das wichtigste Zentrum der iraki schen Rüstungsindustrie versteckt ist." Urban wußte nicht, wie er sich verhalten sollte. Zuversichtlich oder entsetzt. „Es kann Ihren Auftrag erleichtern", meinte Colonel Nußbaum. „Oder auch bis zur Undurchführbarkeit erschweren", bemerkte Urban. In der Nacht flog er mit einer Linienmaschine der Lufthansa von Tel Aviv nach Kuweit.
In Al Jahara, einer Stadt an der Kuweit Bay, telefonierte Urban mit einer Nummer, die man ihm in Tel Aviv genannt hatte. Ein Mann, der arabisch sprach, meldete sich. Urban konnte sich zur Not auf arabisch unter halten, sofern es nur um die zweihundert gebräuchlichsten Begriffe ging. Offenbar hatte der Mann den Anruf erwartet und sprach deutsch weiter. „Ich erwarte Sie in Ar Ruq", sagte er. „Das ist eine Oase mit Garnison. Die Wüstenpiste führt daran vorbei. Am besten, Sie nehmen den Bus. Grenzkontrollen finden nicht statt. Der Bus geht um vierzehn Uhr." „Den schaffe ich noch", hoffte Urban. Der Busbahnhof war nicht weit entfernt. „Fahrzeit zwei Stunden. Es sind nur hundert 140
dreißig Kilometer. Kümmern Sie sich nicht um die Ausrüstung. Das erledige ich." „Und wie erkenne ich Sie?" „Ich werde Sie erkennen." Der Unbekannte am anderen Ende des Drahtes legte auf. Urban verließ das Cafe, eilte im Schatten der Häuser über den Platz bis zum Busbahnhof. Dort suchte er den Bus mit der Aufschrift Ar Ruq-Hafar al Batin. Am Bus waren die Türen zu, damit die heiße Luft nicht hineinkam. Der Bus war klimatisiert. — Das reiche Kuweit konnte sich diesen Luxus leisten. Drinnen löste Urban ein Billett und ging zu der Sitzreihe, wo die Männer saßen. Pünktlich, mit nur zehn Minuten Verspätung, fuhr der Mercedes-Bus los. Der Tag war heiß, der Himmel dunstig, so daß er die Hitze noch drückender erscheinen ließ. Ein Wetter wie das ganze Jahr über. Der Bus hielt Tempo achtzig und überholte mit schmetternden Preßluftfanfaren die LKW-Kolonnen. Es war meist ein Blindflug in Wolken aus Staub und Sand. Aber der Fahrer war wohl darin geübt. Die Grenze zwischen Kuweit und Saudi-Arabien tauchte auf. Es gab Schlagbäume und Bunker. Aber die Schlagbäume standen offen, und die Wachbaracke war zugesperrt. - Der Bus donnerte durch. Gegen 16.00 Uhr - die Schatten wurden schon länger — stand Urban an der alten Karawanserei. Mit ihm waren zwei Männer und eine verschleierte Frau ausgestiegen. Sie waren längst verschwun den. Urban stand allein da und wartete. 141
Hinter den Lehmmauern der Karawanserei parkten einige Sattelschlepper und Öltransporter. An einem davon wurde herumrepariert. Im Schat ten neben den anderen schlief der Fahrer. Die Straße herauf staubte ein MAN-Vierachser, wie das Militär ihn hier überall benutzte. Er führte die Kennzeichen einer Wüstengarnison, einen stili sierten Geier. Der LKW ratterte vorbei. Urban stand da und wartete. Schon fünfzehn Minuten jetzt. Mit einemmal ertönte wieder Dieselmotorenge räusch- Der MAN-Vierachser kam aus der Oase herausgekurvt. Hart vor Urban bremste er ab. Der Fahrer öffnete die Tür. „Commander Urban?"
Urban nickte. „Gut so. Steigen Sie ein. Rasch." Urban nahm seine Reisetasche und war schon drin. Der Fahrer ließ die Kupplung los und gab Gas. „Wir haben telefoniert, stimmt's?" Der Fahrter trug eine piksaubere und scharf gebügelte Offiziersuniform. „Captain Halef." In Halefs Gesicht war schwarz, was nur schwarz sein konnte. Das Haar, die Augen und der Oberlip penbart. Sein Profil glich dem eines räuberischen Beduinen. Zähne hatte er wie ein Pferd. Damit lachte er, daß es offener nicht ging. „Gut so?" „Gut so, Captain." „Sie wundern sich über mein gutes Deutsch." „Ja, es ist vorzüglich." „Ich habe zwei Jahre auf der Bundeswehrakade 142
mie in Koblenz studiert. Ich bin Panzerspezialist. Panzeraufklärer. Gut so?" Das war auch an seinem exquisiten Fahrstil zu erkennen. Er ging mit dem Truck um, als hätte er einen Leo-II zwischen den Fäusten. „Wie geht es weiter?" fragte Urban. „Ich bringe Sie zu Beduinen an die Grenze. Freunde von mir. Dort schlüpfen Sie in ein Zelt, bis es dunkel wird. Ich hole Sie ab. Bringe alles mit. Fahrzeug, Ausrüstung, Waffen, Sprit und bißchen Proviant." Er fügte sein gut so hinzu und lachte. Urban nickte nur. Der Saudi-Captain sagte noch: „Dann zwei Stunden quer durch den Sand. Schlage vor, wir nehmen das für diesen Zweck geeignetste Fahrzeug. Gut so?" Urban fürchtete schon, er meine damit einen Kampfpanzer oder einen Wüstenspähwagen. Doch der Saudi schlug mit der Hand auf den Lenkrad kranz. „Den da. Einverstanden? Gut so?" „Sie sind der Experte, Captain." „Ich bin Ihr Scout", sagte der etwa dreißigjäh rige Offizier. „Die Irakis fahren das gleiche Modell in der gleichen Farbe. Daß auch die Kennzeichen die gleichen sind, dafür sorgen wir. Eine Scha blone, ein Pinsel, ein bißchen Farbe. Gut so?" Er benutzte gut so wie die Amerikaner okay. „Sie denken an alles, Captain." „Bei den Preußen geschliffen, Colonel", sagte er. „Das war gut so." Halef verließ die Straße jetzt in Richtung Nor den. Nach weiteren zehn Kilometern sahen sie Zelte und davor eine Fahne an einer Stange. 143
Die Beduinen umringten den Captain, als wäre er einer der ihren. Wortlos führten sie Urban in ein leeres Zelt. Am Boden lag eine Matratze. Urban fand eine Schüssel vor, Waschwasser und eine Kanne mit Tee.
19. Das Radarnetz des südlichen Irak war im Golf krieg zerstört worden, und hier an der Grenze nach Saudi-Arabien gab es kaum Kontrollen. Nur ein mal während der Fahrt zu Punkt 60/46 sahen sie Scheinwerfer. Der Captain wich ihnen in weitem Bogen aus. „Könnte eine Patrouille gewesen sein", sagte er. „Aber die haben Wichtigeres zu tun." „Die sind noch mit dem Wundenlecken beschäf tigt", schätzte Urban. Um 22.15 Uhr hatte Halef ihn abgeholt. Jetzt ging es auf 23.00 Uhr. Der schwere MAN bahnte sich seinen Weg mit einem Dreißigerschritt durch die Geröllwüste. In einem Flußtal schaltete Halef die Kraft des Diesels auf alle acht Räder plus Differentialsper ren. Er bewegte den Wagen im Dunkeln ohne Licht. Ein kurzer Blitz mit dem Scheinwerfer zum Abtasten der Wadiböschung genügte, und aufwärts ging's. Sie kamen in Flugsand und gerieten in Bomben trichter. Aber der robuste Vierachser war das optimale Gerät für diesen Trip. Er arbeitete sich durch und heraus wie ein Krebs. 144
Nach Urbans Berechnung mußten sie den Punkt 60/46 bald erreicht haben. Die Motorhaube senkte sich in eine Mulde. Als sie auf der anderen Seite wieder heraustauchte, schien es als würde am Horizont im Nordosten eine Lichterkette brennen. Je näher sie kamen, um so deutlicher merkte man, daß sie sich einer Stadt näherten. Der Cap tain hielt an. Sie frisierten den MAN um. Statt des Geiers bekam er eine Palme und andere taktische Num mern. Der Saudi hatte vorgestanzte Pappfolien dabei. Erst sprühte er die eigenen Kennzeichen mit Sandgelb ab, dann hielt Urban die Folie fest, und der Saudi spritzte mit Schwarz nach. „Gut so?" „Sehr gut so." „Fertig", sagte Halef. „Nun möge Allah auf einem Auge blind sein." Folien und Spraydosen flogen hinaus in die Dunkelheit. Sie fuhren weiter zu der neuen Stadt in der Wüste, die so synthetisch war wie ein Klavierkonzert auf einer elektrischen Heimorgel. „Das Problem ist nur, wie finden wir das, was wir suchen", bemerkte der Saudi. „Mit einem Geigerzähler", erklärte Urban. „Er ersetzt, was Strahlung betrifft, jede Hundenase." „Und ausgerechnet den habe ich nicht mitge nommen." „Aber ich." Urban kletterte nach hinten auf die Pritsche und holte das Gerät aus seiner Reisetasche. Wieder vorn bei dem Saudi sagte er: „Was haben Sie bloß alles dabei, Captain?" 145
„Zwei Bazookas, Reservediesel, Mineralwasser in Büchsen, Konserven. Gut so?" „Und unter der Plane? Sind das Kartoffeln?" Der Saudi kam nicht mehr dazu, diese Frage zu beantworten. Sie hatten jetzt den Ortsrand von City 60/46 erreicht und fuhren langsam hinein. Die Häuser, arabisch würfelförmig, waren neu. Sie sahen aus wie nie benutzt. Die Lampen der Straßenbeleuchtung schaukelten im Wind und täuschten Leben vor. Aber Urban konnte kein echtes Leben entdecken. Vor manchen Häusern parkten Autos. Sie waren verstaubt, ihre Räder waren bis zu den Naben vom Sand zugeweht, als hätte man sie nie benutzt. -Bei näherer Betrachtung zeigte sich, daß es sich um Autowracks handelte, die man mit etwas frischem Lack versehen hatte. Vom Ortsrand führte eine schnurgerade Straße ins Zentrum. Wie hatte man bloß so rasch die Palmen zum Wachsen gebracht? — Bald wußte Urban es und erschrak. „Künstliche Bäume!" rief der Saudi. „Japan import. Plastik." Es kam noch besser. In den hell erleuchteten Schaufenstern der Geschäfte lagen nur Verpackungen, und auf den Stühlen in den Cafes saßen Puppen. Auch die Menschen auf den Straßen, die Männer, die Frauen, die Kinder, der Polizist, alles waren nur Puppen, wie von einem starken Stromschlag mitten in der Bewegung fixiert. Allein der Wüstenwind bewegte die weiten Bur nusse der Puppen, die Fahnen und Palmwedel und täuschte Leben vor. Selbst das Wasser im Brunnen auf dem Platz vor der Moschee rauschte nicht. Es 146
handelte sich um Imitationen aus Spiegelglasplat ten und Glasrohren. „Sogar die Kamelscheiße ist Kunststoff", sagte der Captain. „Ihre Meinung, Colonel?" „Luftaufnahmen täuschten eine lebendige Stadt vor. Natürlich machte sich keiner die Mühe, meh rere Aufnahmen zu vergleichen. Man hätte festge stellt, daß sich nichts in der Stadt bewegt. Wie ein Märchen aus Tausendundeiner Nacht ist das." „Ein Horrormärchen." „Fahren Sie weiter!" Urban schaltete den Gei gerzähler ein.
Die Fläche der künstlichen Wüstenstadt war nicht größer als einen Quadratkilometer. Die Straßen verliefen kreuzförmig. Die Nebenstraßen verban den die Hauptstraßen spitzwinklig und bildeten damit ein auf der Seite stehendes Quadrat. Die Länge aller Straßen betrug etwa sechs Kilometer. In einer halben Stunde hatten sie sämtliche Straßen von City 60/46 durchfahren, ohne auch nur einer Ratte zu begegnen. Der Geigerzähler behielt sein Meßtempo bei. Mit Ausnahme bei der Gegend hinter der Moschee. Urban stieg aus und machte die Messungen zu Fuß. Besonders hektisch tickte der Zähler auf der Straße, die zu der Moschee hinführte. Sie endete in einer Marmorplatte. Sie maß etwa zwanzig Meter im Geviert, trug Kübel mit Rosen, Bänke, einen Brunnen und in der Mitte kostbares Mosaik. Aber Brunnen und Bänke waren aus marmorisiertem Styropor, und das Mosaik war nur aufgemalt. Urban suche und fand fingerbreite Fugen. 147
Nachdem er keinen Zweifel mehr hatte, daß es sich hier um den Deckel für die Einfahrtrampe zu der unterirdischen Fabrik handelte, stellte sich die Frage, wie man hineinkam. Er kehrte zum Vierachser zurück und saß minu tenlang nachdenklich neben dem Captain. „Alles klar", sagte er, „keiner weiß Bescheid. Offenbar arbeitet die Fabrik voll- oder halbauto matisch mit einem Minimum an Personal. Aber sie brauchen ständig neues Material, das mit LKWs angefahren wird. - Am Tor der Moschee ist eine Art Kamera angebracht, kann auch ein gläsernes Auge sein, eine fotooptische Zelle." „Dann gibt es einen Code", befürchtete der Captain. „Versuchen wir es einfach mal", schlug Urban vor. „Aber nicht in Gabardine und Glencheck, Colo nel", riet der Saudi. „Wie wär's mit einer Uni form?" „Dazu brauche ich noch passende Aufkleber." „Alles da. Ich habe eine Schauspielertruppe beraubt. Was hätten Sie gern? Perücke, Bart, Brille?" „Eine Tarnkappe", gestand Urban. Aber dieser Wunsch war unerfüllbar. Urban schlüpfte in einen sandfarbenen Overall und tarnte sich als irakischer Offizier. Es dauerte nur wenige Minuten. „Gut so", sagte der Captain, ließ an, wendete und fuhr den MAN vorsichtig auf der asphaltierten Stichstraße zu der Moschee hin. Kurz vor der Betonplatte mit dem Brunnen, den Bänken und den Rosenbüschen bremste er. „Und jetzt?" 148
„Es gibt Codes", sagte Urban, „die von Com putern abgeglichen werden. Das erfordert hoch moderne teure Anlagen. Die Fabrik unter der Erde zu bauen, kostete die Irakis Geld genug. Daß sie auch noch unsere Fingerabdrücke prüfen wie im Pentagon, das glaube ich nicht. Ich denke, die Fotozelle wird auf Blinkzeichen rea gieren. Geben Sie in unregelmäßiger Reihenfolge Signal. Kurz, lang — kurz, lang. Rasch hinter einander, um die Anlage zu irritieren. Mit ein wenig Glück ..." Halef fragte: „Hatten Sie bisher Glück, Colonel?" „Bis jetzt schon." „Dann wäre jetzt Pech an der Reihe. General stabsmäßig gerechnet. Gut so?" „Nein, schlecht so." Halef betätigte den Blinkerhebel und ließ ein Gewitter von langen und kurzen Lichtintervallen los. - Ohne Ergebnis. Nach dreißig Sekunden versuchte er es noch mals. - Ohne Erfolg. „Scheiße", sagte er. „Aber es muß doch Kamine für Zu- und Abluft geben." „Blinken Sie noch einmal. Vielleicht ist es eine Dreierkombination." Noch ehe der Captain es ausführte, vernahmen sie gedämpftes Summen. Wenige Meter vor ihnen entstand eine Schattenlinie, wie sie von einer Bordsteinkante geworfen wurde. Die Schattenlinie wurde breiter, die Bordstein kante höher und höher. Meterhoch. Zwei Meter hoch. Ein kantiges Maul aus Beton ohne Zähne öffnete sich. - Dann folgte ein hartes metallisches Einrasten. 149
„Das ist sie, die Hölle." „Die Hölle", sagte Urban, „ist nicht nur hier, alter Junge. Los, geben Sie Gas!"
Es stank nach Technik, so wie Maschinen, Isolie rungen, Kabelstränge, Farben, Kunststoffe eben stanken: nach Ozon, Lysol, Hochspannung und künstlichem Klima, alles unterlegt von einem gedämpften Motorensound. Die Rampe war mindestens fünfzig Meter lang und führte in starkem Gefalle unter die Erde. Captain Halef hatte den Diesel abgestellt und ließ den MAN ausrollen. Vor einer Wand am Ende der Rampe, die mit Nirosta-Blechen verkleidet war, kam er zum Stehen. Urban deutete auf die Tür in der Wand. „Lift oder Schleuse?" fragte er. „Und rotes Licht. Also ist der Laden in Betrieb." Links oben an der Tunnelhöhe war eine TVKamera montiert. Auch sie hatte eine rote Lampe, die aber nicht brannte. „Schätze, sie müssen im Rückwärtsfahren ziem lich perfekt sein", wandte Urban sich an Halef. „Wenden geht hier nicht." Der Saudi lächelte mit all seinen Zähnen. Er hatte mindestens zehn mehr davon als andere Pferde. „Dieser Wagen wird keinen Meter mehr bewegt werden, Commander." Urban schwante einiges. „Was haben Sie vor, Captain?" „Kommt darauf an." Sie stiegen aus. Urban konnte nicht feststellen, 150
daß Halef an dem MAN besondere Manipulationen vornahm. Er zog nur den Zündschlüssel ab. Von oben dröhnte ein Geräusch herunter, als drehe man einen Häuserblock hydraulisch in eine andere Richtung. Die Rampe war zugefahren. Urban stand schon an der Doppeltür. Mit Aus nahme der Fugen war sie absolut glatt. Kein Schlüsselloch, keine Kontaktstelle war zu sehen. Er tastete die Tür ab. „Irgendwie müssen die Leute ja reinkommen", bemerkte der Saudi. Urban deutete auf die Kamera. „Sie wird wohl von der Zentrale aus bedient." Urban leuchtete mit dem Strahl seiner Lampe ins Kameraobjektiv, ohne jedoch Wirkung zu erzielen. Die Kamera blieb tot, und die Tür blieb zu. Dann tat er das Allereinfachste: Er versuchte es nach Trick vierzehn. Leider hatte er weder eine Visitenkarte noch eine Spielkarte noch eine dieser dünnen Plastik-Kredit karten bei sich. Er suchte im MAN. Auf dem Armaturenbrett lag die Straßenkarte. Sie steckte in einer festen Klarsichthülle. Eine Ecke der Hülle steckte Urban in die Türfuge und streifte sie entlang. Hinauf, herüber, herunter. Dann die Mit telfuge. Die steife Folie hakte. Vorsichtig überwand Urban die Stelle. Vielleicht war es ein Sensor oder ein Kontakt. - Plötzlich lief ein Motor an. Eine Rutschkupplung pfiff. Ruckartig sprang die Tür auf. - Es war eine Lifttür. Innen rechts leuchtete eine Schalterleiste mit Symbolen. Pfeile deuteten nach oben und nach unten. — Aufwärts ging es zu einem Kreuz im Kreis, abwärts zu den Etagen eins, zwei, drei und vier. 151
Urban langte kräftig zu, wollte sich aber nicht übernehmen. Also wählte er die Zwei. - Der Lift fuhr abwärts. Unten zischte die Tür auf. Es war dunkel. Nur ein paar Lampen brannten, gedämpft wie die Notbe leuchtung im Kino. Sie tasteten sich hinein bis zu einer Reihe von Panoramafenstern, die im Halbkreis angeordnet waren. Hinter den Scheiben sah man ein schwaches bläuliches Glimmen. Wie sich herausstellte, wurde der Lift in einer Art Turm in die Tiefe geführt. Von diesem Turm aus konnte man die einzelnen Etagen betreten. Man konnte aber auch durch die rundum eingebauten Fenster die Produktion überwachen. Sie traten an eines dieser Panoramafenster. Der Geigerzähler führte sich auf, als wäre er einem Infarkt nahe. Unter ihnen sah es aus wie in einer hochmoder nen, staubfreien, auf Hochglanz polierten Raffinie rie. Überall Edelstahlrohre, Chrom, Lack, Zentrifu gen in langen Reihen. Und Verdichter, Pumpen, Filter, Motoren, Kompressoren, Schaltanlagen. Alles ineinander, übereinander, hintereinander geschaltet, verschlungen, verschachtelt, und kein Mensch war zu sehen.
„Was machen die hier? Himbeerschokolade?" „Das ist die Urantrennanlage." „Sie meinen, vorn kommt unreines Uran rein, hinten kommt reines heraus?" „Ja. Uran dreihundertachtundfünfzig. Bomben sprengstoff. " „Die arbeiten Tag und Nacht, rund um die Uhr." „Die Ausbeute ist ungeheuer gering. Ein paar Gramm vielleicht pro Tag. Oder weniger." 152
„Und wieviel benötigt man für eine Bombe?" „Mehrere Kilogramm sicher." „Dann brauchen sie Jahre für die kritische Masse. Gut so?" Sie standen da wie fasziniert. In der Fabrik rund um den Liftturm erzeugten die Kontrollampen in dem blanken Stahl und dem blitzenden Chrom grüne, rote und blaue Reflexe. „Noch genau vierhundert Tage!" rief plötzlich eine Stimme hinter ihnen. Urban drehte sich nicht einmal um. Er sah das Gesicht des Mannes in der schräg nach außen gewölbten Scheibe des Beobachtungsfensters, und dieser Mann sprach wie ein Amerikaner. Er trug einen weißen Mantel, eine weiße Haube und Handschuhe, aber es war zweifellos der Bur sche auf dem Foto aus Washington. Eines der totgeglaubten Asse. „Major Alistair", fragte Urban. „Wie geht es Ihnen?" „Sie sind kein bißchen überrascht, Dynamit?" „Nein", log Urban. „Falls Sie", sagte Alistair, „die Anlagen besichti gen wollen, drüben hängen die sterilen Anzüge." Nun drehte Urban sich doch um. „Wozu? Wir wissen genug." „Nicht alles." „Den Rest werden Sie uns sicher erzählen, Alistair." Der Amerikaner war unbewaffnet. Er lächelte jetzt ein wenig gequält. „Aber gern", sagte er, „denn man wird Ihnen keine Chance lassen, es jemals weiterzugeben. Fragen Sie schon, fragen Sie, los, fragen Sie!" Urban ließ sich nicht lange bitten. 153
„Es war keine Atomexplosion in der Antarktis. Stimmt's?" „Sie brachten etwa dreitausend Tonnen Semp tex-ähnliches TNT, vermischt mit Abfällen aus der Urangewinnung zur Explosion. Die seismographi sche Wirkung auf diesen Planeten war die einer Atom bombe." „Und wozu der Aufwand?" „Um die neuen Kriegsgelüste der Perser zu dämpfen. Einmal schon zerstörten die Israeli die Anlage bei Bagdad. Deshalb verlegte man sie hier unter die Erde. Und in Teheran gibt es eine fanatische Gruppe, die den Krieg wieder aufflam men lassen möchte, ehe Bagdad die Bombe hat. Man hat sie aber erst in vierhundert Tagen. Deshalb der Bluff mit dem Bombentest in der Südsee. Daß man eines Tages die wahren Hintermänner kennen wird, war beabsichtigt und der Sinn dieser Operation." „Nur gibt es die vier Asse offiziell nicht mehr", erwähnte der Saudi. „Aber das fünfte As", fuhr Alistair fort, „nämlich Sie, Urban. Bagdad liegt nichts an der vollständi gen Aufklärung. Das ist Ihr Pech. Und eines noch, Gentlemen: Ich bin ebenfalls unfreiwillig hier. Man zwang mich dazu. Ich nehme an, die Wirkung von Foltern und Psychodrogen ist Ihnen bekannt. Man fing mich praktisch hoch in der Luft ab, um zu erfahren, was die NATO weiß und was sie unterneh men wird." Urban wollte noch einiges erklärt haben. „Ohne Atomexplosion keine Strahlen. Wie kam es, daß die japanischen Fischer verseucht waren?" „Man brachte einen Koch an Bord des Walfän gers, der winzige Dosen von Plutonium in den Tee mischte." 154
„Und der tote Libyer im Schlauchboot?" „Den hinterließ man, nachdem man ihn ebenfalls verseucht hatte, um eine falsche Spur zu legen. Denn nichts entlarvt sich schneller als eine Lüge. Nichts wird deutlicher als eine falsche Spur. Gaddafi schwang sich auf das Trittbrett des fahren den Zuges. Er buchte die Bombe auf sein Konto, und jeder wußte, daß er nur blufft. Madame Yvonne dürfte es nicht schwergefallen sein, die Wahrheit herauszufinden." „Wo ist Yvonne?" fragte Urban. „Keine Ahnung", bedauerte der Ex-CIA-Agent. Im selben Moment flammte im Hintergrund des Liftturmes Licht auf. „Sie ist tot", sagte ein Araber im Straßenanzug. „Bei ihr hatten wir mehr Glück als bei Ihnen, Mister Dynamit. Bei ihr hatten wir so viel Glück wie bei dem griechischen Chemiker und Commander Mor timer auf Chalkidike. Und heute werden wir auch bei Ihnen und unserem Bruder aus Saudi-Arabien Glück haben." Diesmal hatte der Bärtige, der gewöhnlich mit dem Messer arbeitete, eine Maschinenpistole. Und der andere hatte nicht nur eine Seidenschnur, sondern zwei. Beide waren daumendick, etwa einen halben Meter lang und am Ende mit Knoten versehen. — Und ein schwerer Revolver hing an seinem Gürtel.
Urban und der Saudi-Captain wurden gefesselt. Urban hatte erwogen anzugreifen. Er wäre in eine MPi-Garbe gerannt. Wenn man sie fesselte, bedeu tete das Zeitgewinn. 155
„Ich lege sie um", sagte der zweite Iraker. „Der eine ist ein Agentenschwein und der andere ein Verräterschwein." „Das würde man in Bagdad nicht gern sehen", erwiderte Alistair. „Nur die zwei wissen, was noch gegen unsere kleine Stadt läuft, was man von ihr weiß und ob etwas geplant ist." Da brach es aus dem Saudi heraus. „Nicht nur geplant!" rief er. „Der Angriff läuft bereits. Zu spät Gentlemen. Die Bombe tickt schon." „Unsinn! Draußen ist es ruhig", sagte der Iraker mit der Maschinenpistole. Sie stießen die Eindringlinge in den Lift und drückten den Knopf mit dem Kreuz im Kreis. Der Lift zog an und fuhr durch bis oben. Er hielt, und die Tür ging auf. Sie traten hinaus in den Innenhof der Moschee — ein Rund, so groß wie eine Zirkusarena, umgeben von Säulenbögen. Alles äußerst stilvoll. Hoch über ihnen der Sternenhimmel. Die kühle Luft tat gut. Was aus der Reihe fiel, war der Hubschrauber. Eine Alouette II. Ein Iraker befahl: „Sie fliegen, Major." „Wo ist der Pilot?" Der Iraker grinste. „Er entschärft die Sprengladung, die dieses Verräterschwein von einem ungläubigen Hunde sohn auf dem Lastwagen mitbrachte. Los, steigen Sie ein, lassen Sie an, Major!" Der Amerikaner blickte Urban an. „Stimmt das?" „Schon möglich." 156
Captain Halef schaute auf die Armbanduhr. „In drei Minuten, Gentlemen, gibt es hier keine kleine verträumte Stadt mehr. Und gut so." „Unser Experte ist ein Techniker von hohen Graden. Der hat schon andere Bomben entschärft." „Zu Lebzeiten vielleicht!" rief plötzlich eine Frauenstimme vom Säulengang her. Die Iraker fuhren herum. Der mit der Drossel schnur schoß seinen Revolver leer, der andere gab mit der Skorpion Dauerfeuer. Das Ziel war nicht zu sehen. Sie aber standen im Licht und in der MPi-Garbe. Urban packte Halef und riß ihn mit zu Boden. Die Kugeln sirrten, sangen, pfiffen heran und vorbei. Sie schlugen in Stein, Metall und Glas. Sie trafen am Hubschrauber den Motor, den Tank und die Kanzel. Es war nur Kaliber 7,65. So was hielt die Maschine leicht aus. Auch Major Alistair hatte sich in Deckung geworfen, aber etwas zu spät. Außerdem stand er zu nahe bei den Irakern. Er schrie auf. Es hatte ihn erwischt. Die Iraker hatte es ebenfalls erwischt. Sie schrien jedoch nicht. Sie waren erledigt oder schwer verletzt. Die MPi hatte aufgehört zu hämmern. Eine Frau im grünen Kampfoverall trat frei, die Waffe angeschlagen, bereit, jeden Widerstand zu brechen. „Noch zwei Minuten", sagte Yvonne. „Kriegst du die Alouette hoch, Doktor?" Urban hielt ihr die gefesselten Hände hin. Sie riß ein Messer aus dem Gürtel und schnitt den Strick auf. Urban turnte ins Cockpit und machte sich an die Anlaßprozedur. 157
Er sah, wie Yvonne und Halef den Amerikaner durch die Schiebetür in die Alouette hievten. - Die Systeme standen unter Strom. Die Pumpen liefen. Der Anlasser summte, aber die Turbinen sprangen nicht an. Verzweifelt schlug Urban auf die Armaturen. „Komm schon! Verdammt, komm endlich!" „Die Welt glaubte, ich wäre tot", sagte Yvonne strahlend. „Gleich sind wir es alle. Wie kommst du hierher, du Satansbraten?" „Immer auf des Meisters Spuren", antwortete sie. Endlich zündeten die Turbinen und begannen ihr Lied. Der Drehzahlenmesser hüpfte hoch, das Singen nahm zu, tausend Umdrehungen, dreitau send, fünftausend. Der Rotor begann sich zu drehen. „Noch neunzig Sekunden", sagte Yvonne. So was von Eiseskälte war bewundernswert. „Du wußtest es also, Yvonne?" „Vom ersten Augenblick an", gestand sie, „wußte ich, wer du bist. Oder glaubst du, ich gehe mit jedem Kuhdoktor gleich ins Bett?" „Ja, man muß schon in der Familie bleiben. Gut so." Ein Film lief in Urbans Kopf ab. Ein Sex-Film, ein Porno. Es war ein trüber, regnerischer Tag. In einem breiten Bett lagen er und Yvonne bei Schampus und Kaviarbrötchen. Der Rotor kam auf Abhebedrehzahl. Bei dreihun dert fühlte Urban Druck im Pitch. „Noch sechzig Sekunden", zählte Yvonne ruhig. Stur beobachtete Urban die Instrumente. „Du bist die absolute Spitzenbraut hier in der Gegend." 158
Da alle Instrumente bei Drehzahlen, Turbinen ausgangstemperatur und Einspritzdruck Startbe reitschaft anzeigten, zog Urban am Pitch. Der Helikopter hob sich ein Stück und sackte zurück. Er hob erneut ab und stieg senkrecht aus dem Innenhof der Moschee himmelwärts. Als Urban vierzig Meter Höhe erreicht hatte, legte er den Hubschrauber schräg und machte, daß er wegkam. Zwischen ihm und Yvonne tauchte Halef auf. „Der Amerikaner atmet nicht mehr. Gut so?" „Dann ist er tot", vermutete Yvonne. „Er sieht aber gar nicht so aus, als ob er tot wäre." „Das kommt noch . . .", sagte Urban. Den Rest fetzte ihm die Wahnsinnsexplosion von den Lippen. Gelbzuckendes Licht, Donner mit einer Million Phon, Luftdruck, der die Lungen beinah platzen ließ. Das hinter ihnen war Götterdämmerung und Weltuntergang in einem. Die Erde wölbte sich auf wie der Leib einer Schwangeren. Dann platzte der Bauch in orangefarbenem Feuer, und Lava quoll heraus. Die Häuser der künstlichen Stadt purzelten um wie Kinderbausteine. Die Wucht der Explosion und die schallschnelle Faust des Drucks holten den Helikopter ein, pack ten ihn, schüttelten ihn, rissen ihn hinauf und hinab, schienen ihn zurückholen zu wollen, um ihn erneut totzuschütteln. Urban zauberte. Er tat alles, was in seinen Kräften stand. Es war etwa so schwierig, wie in der Achterbahn mit den drei Loopings einen Taschen rechner zu bedienen. Aber er gewann mehr an 159
Höhe, als er verlor. Mit jedem Kilometer verringerte sich die Gefahr, vom Satan doch noch in den Schlund der Hölle gesaugt zu werden, Endlich war es geschafft. Hinter ihnen das Chaos. Vor ihnen die friedliche, samtene Nacht. „Eigentlich sieht es gar nicht so aus, als ob es eine Katastrophe wäre", sagte Captain Halef mit Schweiß auf der Stirn. „Auch das kommt noch", befürchtete Urban.
Als Urban in Brüssel landete, um im NATOHauptquartier seine Schlußmeldung abzugeben, war da ein Mann, der eine Ansprache halten wollte. Urban, der wußte, was dabei herauskam, und der auch wußte, daß die Lobrede auf ihn gemünzt sein würde, sagte zu dem Generalsekretär: „Zum Glück sind wir hier nicht in Bayern." Der Generalsekretär fragte leise: „Hat das Bedeutung?" „Kaum", antwortete Urban, „nur die eine: Wer in Bayern länger als eine Minute spricht, der wird erschossen." Der Generalsekretär richtete sich danach. ENDE
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