BIBLIOTHEK DER KLASSISCHEN ALTERTUMSWISSENSCHAFTEN HERAUSGEGEBEN VON H. PETERSMANN NEUE FOLGE· 2. REIHE· BAND 90
THOMAS BERRES
Vergil und die Helenaszene Mit einem Exkurs zu den Halbversen
HEIDELBERG 1992 CARL WINTER· UNIVERSITÄTSVERLAG
Die Deutsche Bibliothek- CIP-Einheitsaufnahme Berres, Thomas:
Vergil und die Helenaszene: mit einem Exkurs zu den Halbversen I Thomas Berres. - Heidelberg: Winter, 1992 (Bibliothek der klassischen Altertumswissenschaften: Reihe 2; Bd. 90) ISBN 3-533-04574-9 NE: Bibliothek der klassischen Altertumswissenschaften I 02
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ISBN 3-533-04574-9 ISSN 0067-8201 Alle Rechte vorbehalten. © 1992. Carl Winter Universitätsverlag, gegr. 1822, GmbH., Heidelberg Photomechanische Wiedergabe und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen nur mit ausdrücklicher Genehmigung durch den Verlag lmprime en Allemagne. Printed in Germany Reproduktion und Druck: Carl Winter Universitätsverlag, Abteilung Druckerei, Heidelberg
INHALTSVERZEICHNIS Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VII Überlieferungsgeschichte (1): Helenaverse und Servius . . . . . . . . . . 1 Der Text (I) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 Exkurs: Der Verfasser der Helenaszene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14 Der Text (ll) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21 Metrik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29 Wortwiederholungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37 Stil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47 Überlieferungsgeschichte (II): Literarische Nachklänge . . . . . . . . . 63 Ovid .. 63 63 Seneca . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65 Lucan . . . . . . . Valerius Flaccus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 68 Statius . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 70 Firmicus Matemus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71 Zum Inhalt der Lücke II 566/89 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73 Die Einbettung der Helena- und Venusszene in das 2. Buch (I) .... 89 Exkurs: Die Halbverse der Aeneis . . . . . . . . 99 I. Halbverse als Schluß einer Rede . . . . . . 114 2. Halbverse innerhalb einer Rede ..... . 122 3. Halbverse innerhalb erzählender Partien 136 4. Halbverse vor einer Rede ... 161 5. Halbverse nach einer Rede . . . . . . . . . . . . 171 Ergebnisse der Untersuchung . . . . . . . . . . . . 172 Das Bergeschen- Gleichnis (II 626-31) und der Halbvers II 623 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179 Halbversll614 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 192 Die Einbettung der Helena- und Venusszene in das 2. Buch (II) und der Halbvers II 640 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195
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Inhaltsverzeichnis
Ergebnisse und Ausblick Allgemeine Problematik bei Echtheitsuntersuchungen Metrik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Stilistische Abhängigkeiten . . . . . . . . . . . Aeneis ill 204 a-c (vergilisch) . . . . . . . . Aeneis VI 289 a-d (vergilisch) . . . . . . . . Editionsweise des Varius . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Beschaffenheit des Aeneismanuskripts . . . . . . . . . . . . . (219) Prosaplan der Aeneis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Umarbeitung des 4. Georgicabuches . . . . . . . Einige poetische 'Techniken' Vergils . . . . . . . . . . . . . . Unfertigkeit der Aeneis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anhang: Tabellen zur entstehungsgeschichtlichen Gruppierung der Halbverse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wortregister zur Helenaszene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Verzeichnis der Halbverse . . . . . . . . . . . . . Stellenregister zu Vergil . . . . . . . . . . . . . . . . Zitate (ohne Vergil) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Namen- und Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . .
209 216 217 218 219 221 224 225 225
228 . . . . 230 . 233 235 . 241 . . . . 244 247 249 256 258
EINLEITUNG .,Beweisen und widerlegen kann man Bestimmungen nicht. Und die Irnamer werden erst als Irnamer erkannt, wenn sie absterben und abfallen. Die Wahrheit hat hier kein anderes Kriterium, als daß sie fruchtbar ist. " Max J. Friedländer (Von van Eyck bis Bruegel, Frankfurt 1986, S. 17)
Die Frage, ob die Verse 567-588 des 2. Aeneisbuches, die sogenannte Helenaepisode, von Vergil selbst stammen, beschäftigt die Philologie seit der Antike. Die Verse waren bereits für 0. F. GRUPPE (1859) "einer der besuchtesten Kampfplätze philologischer Kritik" 1• Und E. NORDEN urteilte über Versuche, ihre Echtheit zu erweisen, sie würden "dauernd einen Tummelplatz für Dilettanten bilden" 2 • Aber diese Warnung hielt K. BüCHNER nicht davon ab, "mit zu tummeln" 3 • Der 'Dilettantismus', der unverkennbar die Debatte beherrscht, kommt nicht von ungefähr: zu zahlreich und ungleichartig sind die miteinander zusammenhängenden Probleme, denen nachgegangen werden muß. Für alle Echtheitsfragen gilt grundsätzlich: "Unechtheit läßt sich mit e i n e m Argument beweisen, und jede Echtheit kann nur solange gelten, bis ein solches Argument gefunden ist. Echtheit zu beweisen ist viel schwieriger" 4 • Bisher ist es nicht gelungen, auch nur ein einziges überzeugendes Argument gegen die Verfasserschaft Vergils zu finden. Demgegenüber können sich die Befürworter der Echtheit hinter der nicht unbegründeten Behauptung verschanzen, die stilistischen, metrischen und inhaltlichen Besonderheiten seien damit erklärbar, daß der Dichter diese Verse im Rohbau stehengelassen habe 5 • Aber gerade diese Unvollkommenheit dürfen die Vertreter der Interpolationshypothese eigentlich unter keinen Umständen zugeben; so hält G. P. GOOLD die Helenaepisode für "a finished product" und nicht flir "a preliminary draft" 6 . Meistens jedoch
1 1859, S. 173 (Die im chronologisch angelegten Literaturverzeichnis aufgeführten Arbeiten werden nur mit Verfassernamen und Jahreszahl zitiert.). - Siehe auch R. WIECHMANN 1876, S. 17: "qua de re viri docti iam pridem inter se certarunt semperque, ni fallor, certabunt". 2 Kommentar zu Buch VI, 1927, S. 262. ' 1955, Sp. 333. 4 Das Zitat stammt aus BücHNERS Sallustbuch (Heidelberg 2 1982, S. 33) mit Bezug auf die Invektive gegen Cicero. 'Siehe E. KRAGGERUD 1975, S. 113. 6 1970, S. 154f.
vm
Einleitung
schätzen sie die Qualität der Verse eher ungünstig ein7 • Allein diese Diskrepanz in der Beurteilung der Vollendung läßt deutlich erkennen, unter welchen Zwängen die Debatte steht. Aus den hier nur kurz berührten Problemen ergeben sich für eine erneute Untersuchung der alten Streitfrage folgende methodische Forderungen: Berücksichtigung möglichst vieler Aspekte vorurteilsfreie (d.h. nicht einseitige) Auswertung der Sekundärliteratur Einzelprobleme haben prinzipiell Vorrang vor interdependenten (Vermeidung von Zirkelschlüssen). möglichst ungezwungene und widerspruchsfreie Darlegung bzw. Argumentation aber auch Bereitschaft, scheinbar widersprüchliche Beobachtungen und Ergebnisse zunächst hinzunehmen Reflexion darüber, welche Momente auf Echtheit bzw. Unechtheit hindeuten können Diese Regeln müssen um so strenger beachtet werden, als es bei Verfasserfragen im allgemeinen keine Grauzone gibt, sondern nur entweder 'echt' oder 'unecht' möglich ist und daher die Gefahr besteht, durch vorschnelle Verallgemeinerung eines Einzelergebnisses zu einer grundsätzlichen Fehleinschätzung zu kommen. Wenn dem vorangestellten Motto zufolge die Wahrheit erst durch ihre Fruchtbarkeit erkannt wird, so gilt dies für die Helenaverse in zweifacher Hinsicht. Denn die rechte Beurteilung der umstrittenen Partie wirft Licht auf die Aeneis insgesamt, wie umgekehrt tieferes Eindringen in Vergils Dichtung eine hinreichende Voraussetzung für die Klärung der Authentizitätsfrage schaffen muß. 8 Die bisherige Debatte zeigt mit ihren widersprüchlichen Ergebnissen, wie weit wir noch von einem wenigstens befriedigenden Vergilverständnis entfernt sind. Jedoch hat die Forschung deutlich werden lassen, daß die Helenaverse eng mit bestimmten Problemen der Aeneisentstehung zusammenhängen. Zwar erfreuen sich genetische Untersuchungen zur Zeit keiner besonderen Beliebtheit, aber sie sind im Falle der Aeneis unverzichtbar, da das Werk unvollendet in unsere Hände gelangt ist. Tatsächlich kann man bisweilen sogar erhebliche Qualitätsunterschiede beobachten. Als Zeichen der Unfertigkeit fallen am stärksten die 58 Halbverse in die Augen. Von ihnen sind 3 (II 614.623.6~0) mit der Venuserscheinung (II 589ff.) verknüpft, einer Szene, die unmittelbar auf die Helenaverse folgt und von diesen möglicherweise nicht getrennt werden darf. Deshalb war es nötig, in einem großen Exkurs und den drei folgenden Kapiteln eine Übersicht bzw. genetische Analyse sämtlicher Halbverse zu geben. 9
Siehe die bei AusTIN (1961, S. 186) gesammelten Urteile. Diese Feststellung gilt unabhängig davon, ob mir die Lösung gelungen ist oder nicht. 9 In meiner Dissertation (Die Entstehung der Aeneis, Hermes Einzelschrift, Heft 45, 1982) habe ich etwa ein Drittel von ihnen untersucht. Bei Bedarf verweise ich auf dieses Buch. 7
8
Einleitung
IX
Daß Bestimmungen nicht bewiesen werden können, darin mag M. J. Friedländer, soweit es die alte niederländische Malerei betrifft, recht haben. Ob diese Ansicht auch für literarische Kunstwerke gilt, sei dem Urteil des Lesers überlassen. Bei der Abfassung und Fertigstellung der vorliegenden Arbeit habe ich nicht unwesentliche Hilfe erfahren. Ich danke Herrn Dr. ECKEHARD MARTINI und Herrn Prof. Dr. Dr. CLAUS-ARTUR SCHEIER. Herr Dr. ANDREAS MARTENS hat sich - als Biologe - in meine Halbverstheorie vertieft und mir besonders bei der statistischen Behandlung der Halbverse geholfen und mich vor Irrtümern bewahrt. Dank gebührt auch dem Carl Winter Universitätsverlag und Herrn Dr. CARL WINTER für die gute Zusammenarbeit, sowie Herrn Prof. Dr. HUBERT PETERSMANN als dem Herausgeber der Reihe 'Bibliothek der klassischen Altertumswissenschaften' und Herrn Prof. Dr. VIKTOR PöSCHL. Von Kollegen und Bekannten erhielt ich Ratschläge und Hilfe beim Computersatz. Meine Mutter hat nicht nur das Erscheinen dieses Buches finanziell großzügig gefördert, sondern mir auch durch umfassende und sorgfältige Korrekturen des Typoskripts sehr geholfen. Braunschweig, im September 1992
Thomas Herres
ÜBERLIEFERUNGSGESCHICHTE (1): HELENA VERSE UND SERVIUS Die Helenaverse verdanken wir nicht den erhaltenen antiken Vergilcodices, sondern Servius, aus dessen Kommentar sie in einige mittelalterliche Handschriften und dann in fast alle gedruckten Ausgaben eingedrungen sind 1• Hinsichtlich dieses Kommentars muß unterschieden werden zwischen dem Kommentar des Servius (um 400) und dem des Servius auctus (bzw. Servius Danielis); letzterer ist wahrscheinlich das Werk eines irischen Kompilators aus dem 7. J ahrhunderf, der, vermutlich aus dem bedeutenden, heute verlorenen Kommentar des Aelius Donatus (4. Jh.) schöpfend, den Servius auf ziemlich unbeholfene Weise erweitert hatl. Die Helenaverse sind nun sowohl von Servius als auch von Servius auctus überliefert worden, jedoch an verschiedenen Stellen: von Servius in der dem Kommentar vorausgeschickten Vita, von Servius auctus zu A.(eneis) II 566 (s. ÜbersichtS. 2). THILO glaubte, daß Servius auctus die Verse aus Servius genommen habe4 ; den umgekehrten Vorgang behauptete ohne Begründung E. FRAENKEL5 , dem sich ROWELL anschloß 6 • Entschieden wurde die Frage durch GOOLD, der Servius die Priorität gab. Seine (stark vereinfachten) Argumente: I. Servius auctus hat an allen Stellen (von I 1 bis II 592), an denen Servius Rückverweise mit aktiver Verbform aufweist (z.B. zu I 37: ut superius diximus), unpersönliche Formen (zu I 37: ut superius dieturn estf. N a c h II 592 begegnen auch bei Servius auctus fast nur noch aktive Rückverweise. Ermüdung oder Resignation des Kompilators? fragt GOOLD 8 • Dennoch bleibt der Kompilator dann, wenn er Anmerkungen in den Serviustext einfügt, bei den passiven Rückverweisen 9 • Diese Beobachtungen sprechen entschieden dafür, daß Servius auctus die Verwandlung von Aktiv in Passiv vornahm, so auch an der uns interessierenden Stelle zu II 592: ut enim dieturn est (s. Übersicht).
1 Siehe z.B. HEYNE-WAGNER (Kommentar, London 4 1832) und GEYMONAT (Vergilausgabe, Turin 1973) ad loc. 2 Siehe K. BARWICK, Zur Serviusfrage, Philologus 70, 1911, S. 145; BücHNER 1955, Sp. 451; GooLD 1970, S. 104f. 3 Siehe GoOLD 1970, S. 105-17. 4 Serviusausgabe Bd. I, 1881, S. LXXVI Anm. 2. l 1948, s. 132. '1966. 7 GooLD S. 107f. • s. 108. 9 S. 109.
Servius
beide
Vita: et in secundo hos versus constat esse detractos:
Servius auetos Praefatio: et in secundo libro aliquos versus posuerat, quos constat esse detractos, quos inveniemus, cum pervenerimus ad locum, de quo detracti sunt.
.aut ignibus aegra dedere. iamque adeo super unus eram ........ . . . . . .. . . . . . . . . . . furiata mente ferebar, cum mihi se non ante alias. •
zu A.II 566: ignibus aegra dedere: post hunc versum hi versus fuerunt, qui a Tucca et Vario sublati 10 sunt: .iamque adeo super unus eram ..... . . . . . . . . . . . . . . . . furiata mente loquebar. •
zu A.II 592: dextraque prehensum: ea corporis parte, qua ictum Helenae minabatur, quae in templo Vestae stabat omata. ut enim in primo ( = Vita) diximus, aliquos hinc versus
dieturn est, versus illos, qui superius [zu A.ll 566] notati sunt, hinc constat esse sublatos, nec inmerito. nam et turpe est viro forti contra feminam irasci, et contrarium est Helenam in domo Priami fuisse illi rei, quae in sexto [494ff.] dicitur, quia in domo est inventa Deiphobi, postquam ex summa arce vocaverat Graecos. hinc autem versus fuisse sublatos Veneris verba declarant dicentis [II 601] non tibi Tyndaridis facies invisa Lacaenae.
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Überliefert ist obliti. Zu BERGKS wohl richtiger Konjektur sublati s. GooLD S. 132.
Überlieferungsgeschichte (I): Helenaverse und Servius
3
2.a) Servius auctus neigt dazu, Kommentarstücke (auch des Servius) von ihrem ursprünglichen Platz abzulösen und an andere Lemmata anzufügen''· Beweisbar sind diese Manipulationen immer dann, wenn durch sie Unsinn angerichtet wird 12 • b) Da Servius auctus vermutlich beabsichtigte, die karge Serviusvita durch die Donatvita zu ersetzen 13 , scheint er aus der Serviusvita eine historische Nachricht mit Bezug auf Ecl. 9,28 (im Zitat) 14 'gerettet' und als Kommentar zu Ecl. 9,28 übernommen zu haben 15 • Hierbei ist bemerkenswert, daß weder der Belogenvers noch die Helenaszene in irgendeiner Weise in der Donatvita zitiert oder auf sie auch nur angespielt wird. 3. Wenn der Kompilator die Helenaverse in Donats Kommentar gefunden hätte, so verwundert es, daß er a) kein einziges Scholion Donats in seinen Servius übernommen hat 16 und b) zweimal (zu II 566 und 592) statt einmal, wie es natürlich gewesen wäre, auf die Streichung der Verse eingegangen ist 17 • Ein weiteres, sogar zwingendes Ar~ument ist von GOOLD übersehen worden. Servius notiert zu II 592 (s. Ubersicht) u.a.: ut enim in primo ( = Vita) diximus, aliquos hinc versus constat esse sublatos ... , Servius auctus hingegen: ut enim dieturn est, versus illos, qui superius (zu II 566) notati sunt, hinc constat esse sublatos ... Während Servius einen einfachen Rückverweis gebrauchte, glaubte Servius auctus nicht ohne einen doppelten auskommen zu können. Sowohl ut enim dieturn est als auch superius verweisen auf dieselbe Stelle, nämlich die Notiz zu II 566. Diese geradezu irreführende Ungeschicklichkeit ist nur dann begreiflich, wenn man dem Kompilator unterstellt, den Rückverweis des Servius den neuen Verhältnissen entsprechend ziemlich mechanisch 18 abgewandelt zu haben 19 •
S. JjJf. Z.B.: Servius bemerkt zu I 119 arma virum (\W virum Genitiv Plural ist): bene addidit 'virum', arma enim dicuntur cunctarum artium instrumenta, ut (177) 'Cerealiaque arma'. Servius auctus stellt diese Notiz jedoch zu I I arma virumque cano (\W virum Akk. Sing. ist): et bene addidit post arma 'virum', quia 'arma' possunt et aliarum artium instrumenta dici, ut (177) 'Cerealiaque arma'. Siehe GooLD S. !II. 13 Begründung bei GooLD S. 119. 14 Serviusvita Z. 16-22 (Ausgabe von HARDIE, Oxford 2 1957). 15 GooLD S. 12lf.; MURGIA 1971, S. 203 Anm. 2 (mit Hinweis auf seineungedruckte Diss., Harvard 1966). 16 GOOLD S. 134. 17 GOOLD S. 132. 18 Eben dies ist auch sonst typisch ftir die sorglose Arbeit des Kompilators (s. GooLD S.106.108.1llf.ll6). 19 ROWELL (1966, S. 219) vertritt die umgekehrte zeitliche Reihenfolge der beiden Scholien. Seine Begründung, daß auch die Bemerkung der Serviusvita gegenüber der entsprechenden II
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Überlieferungsgeschichte (1): Helenaverse und Servius
Aus den angeführten Argumenten ergibt sich mit hoher Wahrscheinlichkeit, daß Donat die Helenaverse an keiner Stelle erwähnt hat2°. Da er seinen Kommentar, wie er im Widmungsbrief an Munatius bekennt, unter sorgsam auswählender Benutzung fast aller Vorgänger verfaßt hat2 1, könnte sein Schweigen darauf hindeuten, daß die umstrittenen Ve,rse in den ihm vorliegenden Kommentaren entweder (a) fehlten oder (b). als offensichtlich unecht gebrandmarkt waren. Für (a) spricht das völlige Ausbleiben der sonst für Vergil so überreichen Nebenüberlieferung22 • Für (b) könnte sprechen, daß 1. Donat die Traditionsmasse einer strengen Auswahl unterworfen und vieles fortgelassen hat2 3 , 2. Servius die Verse nicht selbst gedichtet haben kann, sie also aus einem älteren Kommentar oder vergleichbaren Schriftwerken genommen haben muß, und 3. der Schluß seiner Bemerkung zu ll 592, die die Tatsächlichkeit des Versausfalls beweisen will, apologetischen Charakter trägt24 • Sicher ist, daß es vor Servius eine Tradition dieser Verse gegeben hat, mag sie auch ein noch so obskures oder dünnes Rinnsal gewesen sein.
Passage des Servius auctus (s. Übersicht) sekundär sei (S. 200), verdoppelt den Fehler (s. dazu GOOLD S. 129f.). 20 GOOLD S. 134.
Viel vorsichtiger MURGIA 1971, S. 206 Anm. 10. Inspectis fere omnibus ante me qui in Virgilii opere calluerunt, brevitati admodum studens quam te amare cognoveram, adeo de multis pauca decerpsi, ut magis iustam offensionem lectoris expectem, quod veterum sciens multa transierim, quam quod paginam compleverim supervacuis (Ausgabe von HARDIE, Z. 1-6), und andere Stellen. 22 Siehe GoOLDS nützliche Aufstellung für II 525-624 (S. 164). 23 Siehe Anm. 21. 24 hinc autem versus fuisse sublatos Veneris verba declarant dicentis [II 601] non tibi 'l'jndaridis facies invisa Lacaenae. Diese Worte wären bei Servius entbehrlich, dienten sie ihm nicht dazu, mit Hilfe des Aeneisverses II 601, wo nach seiner Meinung offensichtlich (declarant) auf die ausgefallenen Verse angespielt wird, ihre vorher nur behauptete ursprüngliche Existenz zu beweisen. Denn zu einem solchen Beweis ist das Lemma dextraque prehensum (II 592), dem eigentlich seine ganze Notiz gelten sollte, nicht stark genug. Ähnlich GooLD S. 139f. 21
DER TEXT (I) 567
570
575
580
585
588
iamque adeo super unus eram, cum limina Vestae servantem et tacitam secreta in sede latentem Tyndarida aspicio; dant clara incendia lucem erranti passimque oculos per cuncta ferenti. illa sibi infestos eversa ob Pergama Teucros et Danaum poenam et deseni coniugis iras praemetuens, Troiae et patriae communis Erinys, abdiderat sese atque aris invisa sedebat. exarsere ignes animo; subit ira cadentem ulcisci patriam et sceleratas sumere poenas. 'Scilicet haec Spanam incolumis patriasque Mycenas aspiciet, partoque ibit regina triumpho, coniugiumque domumque, patres natosque videbit, Iliadum turba et Phrygiis comitata ministris? occiderit ferro Priamus? Troia arserit igni? Dardanium totiens sudarit sanguine litus? non ita. namque etsi nullum memorabile nomen feminea in poena est, habet haec victoria laudem, exstinxisse nefas tarnen et sumpsisse merentes laudabor poenas animumque explesse iuvabit ultricis famae et cineres satiasse meorum. ' talia iactabam et furiata mente ferebar,
Zur (vergilischen) Umgebung dieser Verse siehe u. S. 89. Obwohl der überlieferte Wortlaut im allgemeinen ziemlich leicht herstellbar ist, müssen doch einige Stellen näher betrachtet werden. Statt Danaum poenam (572) muß das unmetrische Danaum poenas, das sowohl von Servius auctus als auch einigen Serviushandschriften bezeugt wird, als Überlieferung gelten 1• Die von den Herausgebern bevorzugte Lesart poenas Danaum ist wohl nicht mehr als ein Verbesserungsversuch2 , zumal man nur schwer einsehen kann, wie es zur metrumwidrigen
s.
1 So der Text des Harvard-Servius; FUNAIOU 1948, S. 244; siehe bes. BRuERE 1948, 127f. 2 BRuERE S. 128.
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Der Text (I)
Umstellung der beiden Wörter kam 3 • Außerdem hat sich der unbekannte Autor, dessen extreme stilistische Nähe zu Vergil offenkundig ist, für et Danaum poenaslm et deseni coniugis iras (TI 572) von tum Danai gemitu atque ereptae virginis ira (ll413) inspirieren lassen, zumal er - gleichsam zum Beweis seiner Abhängigkeit - aus der Nachbarschaft furiata mente (407) wörtlich nach 588 übertragen hat. Der Herausgeber muß sich also entscheiden zwischen (a) Danaum poenas oder (b) Danaum poenam. (b) wird empfohlen durch die Metrik und die scheinbar einfache Fehlererklärung (poenas sei verschrieben aufgrund von iras4 ). Für (a) spricht die Überlieferung, der pluralische Gebrauch von poena bei Vergil 5 und der, wie ich noch zeigen werde, unfertige Zustand der Helenaverse. Da ein metrisch fehlerhafter Vers die Verfasserschaft Vergils nahelegen würde, habe ich entgegen der Regel, daß Konjekturen den Textzusammenhang bzw. -zustand berücksichtigen müssen, das doch wohl falsche Danaum poenam mit GOOLD (S. 143) in den Text gesetzt. GOOLD hat nämlich den bisher energischsten Versuch unternommen, die Unechtheit zu beweisen. Da ich das umgekehrte Beweisziel habe, will ich im Falle von Danaum poenam GOOLDS Text folgen, um mir nicht den Vorwurf einzuhandeln, ich hätte den Text in meinem Sinne (leichtfertig) manipuliert. Den Vers
coniugiumque domumque, patres natosque videbit
(ll 579) hat man verdächtigt, interpoliert zu sein. Soweit sich die Kritik auf inhaltliche Schwierigkeiten des Verses selbst richtete6 , muß sie inzwischen als widerlegt gelten7 • Ernster zu nehmen ist WAGNERS Beobachtung, daß GOOLD 1970, S. 143. MURGIA (zitiert bei GOOLD S. 143). ' Vergil gebraucht (von den Helenaversen abgesehen) poena 36x, davon nur 6x im Singular. Von den Pluralstellen stehen VIII 668 et seelerum poena$, et te ... (vgl. XI 258 supplieia et seelerum poena.f ... ) und VI 565 ipsa deum poenas unserer Stelle besonders nahe wegen des vorangestellten und mit poenas verbundenen Genitiv. Vgl. auch IV 656 u/ta virum poenas, wo virum freilich syntaktisch Akkusativ sein muß, formal aber auch alter Genitiv wie deum und Danaum sein könnte! Der mutmaßliche lnterpolator hat sich also in Vergil hineingehört und dabei unversehens einen metrischen Schnitzer begangen?! Auch II 576 und 586 hat er poenas. Eine Ausnahme bei ihm ist II 584feminea in poena, eine singuläre Wendung und weit kühner als I 136 non simili poena. Die übrigen Belege fiir singularischen Gebrauch von poena sind: V 786; VI 61415.821; XII 949. 6 Z.B. patres: beide Eltern Helenas seien zum damaligen Zeitpunkt tot gewesen {WAGNER); natos: Helena habe nur eine Tochter, Hermione (KVICALA 1881, S. 28). 7 Siehe FORBIGER, LADEWIG-SCHAPER-DEUTICKE und CONJNGIDN zur Stelle; außerdem FAIRCLOUGH 1906, S. 224 und AUSTIN 1964, S. 224. - Allerdings darf man die Überlieferung patres nicht aufgeben zugunsten von patris (Genitiv), wie z.B. AUSTIN a.a.O., HIRTZEL und MYNORS in ihren Ausgaben. patris findet sich nur ·in "einer untergeordneten Handschrift (Menagianus II)" und ist "natürlich nur fiir eine C o n j e c tu r zu halten" (KVICALA S. 28). Daß sich die Verbindung von patris mit domum wegen 577 patriasque Myeenas verbiete, kann 3
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Der Text (I)
7
nach Herausnahme von 579 der Anschluß von 580 an 578 vorzüglich ist, wodurch eine "perfecta victricis quasi et triumphantis reginae imago" hervorgerufen würde. Und ergänzend bemerkt KVICALA: "wenn man sagt, dass V. 579 nicht getilgt zu werden brauche, sondern dass man über denselben hinweg doch 580 mit 578 verbinden könne, so ist dies nur eine willkürliche grammatische A n n a h m e ; denn in Wirklichkeit wird doch jeder Leser und Hörer comitata mit dem zunächst stehenden videbit verbinden " 8 • AUSTIN, der ja sonst für fast jedes Wort und jede Wendung des Interpolators wenigstens e i n e vergilische Parallele bereithält, führt hierzu keinen Beleg an. Vergils Gebrauch des passiven Partizips comitatus läßt nur einen unmittelbaren Bezug auf ein Verb der Bewegung zu 9 • Darin drückt sich nicht eine vergilische Besonderheit aus, sondern eine von der Sache geforderte Notwendigkeit. Warum hat nun der Verfasser der Helenaverse, der ja fast sklavisch Vergils Stil nachzuahmen scheint, im Falle der Verse 578-80 so leichtfertig und stümperhaft gearbeitet? Ehe wir übereilt 579 als Interpolation in der Interpolation entlarven, sollen die Gegenargumente zur Sprache kommen. 579 scheine hervorgerufen durch die (vergilischen) Verse 560 subiit cari genitoris imagound 563 et direpta domus et parvi casus /uli 10 ; der Verfasser von 579 wolle offenbar "das Glück der Helena, welche in der Heimat alles unverändert finden wird, dem traurigen Lose der Trojaner" entgegenstellen 11 • Von daher erklärt sich zwanglos der Pluralpatres und natos 12 • Interesse verdienen auch die literarischen Vorbilder von 579. Möglicherweise klingt der Vers an r 140 an, wo Iris der Helena süßes Verlangen einflößt nach
ixvopoc; re 1rporepov Kal &areoc; ~ö€ roK~wv. 13
ich WAGNER nicht zugeben, da sich der lnterpolator in den Versen 583-6 noch auffälligere Doppelungen erlaubt (s.u.). 8 1881, S. 29. Allerdings behauptet AUSTIN (1964, S. 223) ftir 578/579/580 .,clear continuity: shall Helen return harne in triumph (578) to the bosom of her family (579), with a retinue of captive slaves (580)?" Die Paraphrase .,in den Schoß ihrer Familie" schwächt die Aussage und Bedeutung von Vers 579, der sogar ein eigenes Prädikat (videbit) hat, zu stark ab. 9 I 312 (graditur); IX 47f. (praecesserat). (X 186 ist ganz anders.) Dem passivisch gebrauchten comitatus entspricht funktionell das aktive Partizip Präsens im Ablativ: II 40f. (magna comitante caterva I Laocoon ardens summa decurrit ab arce); II 370f. (se ... o.ffert); III 345f. (sese ... adfert); V 75f. (ibat); XI 498f. (occurrit). (IV 48f. liegt ganz ab.) - Dieselben Verhältnisse sind auch bei stipata (IV 544f. iriferar) und stipante (I 497 incessit; IV 136 progreditur) zu beobachten. 10 G. FRIEDRICH 1868, S. 30. Ebenso AUSTIN 1964, S. 223. Siehe auch MURGIA 1971, S. 209 (Ablehnung der Konjektur patris). 11 LADEWIG-SCHAPER-DEUTICKE zur Stelle. Siehe auch LADEWIG bei WEIDNER; FAIRCLOUGH 1906, S. 223f.; MAZZARINO 1955, S. 24f. 12 Siehe vorige Anm. 13 Vergil hat diesen Vers sicherlich gekannt, denn er hat r 146f., also 2 Verse in unmittelbarer Nachbarschaft, in X 123 (s. auch 129: Clytio) sorgfaltigst verarbeitet (s. BERRES 1982, s. 181).
8
Der Text (I)
Unstrittiges Vorbild sind die Verse XI 269f., die aus der Rede des Diomedes stammen: invidisse deos, patriis ut redditus aris coniugium optatum et pulchram Calydona viderem? Unmittelbar vorher hatte er von der coniugis infandae (267), Clytaemestra (übrigens Schwester der Helena) gesprochen, durch deren Rechte Agamemnon, der Mycenaeus ... ductor (XI 266: vgl. Mycenas, II 577) starb. Aegisths Name fallt nicht, stattdessen wird seine Funktion genannt: adulter (268). Der Verfasser von II 579 hat also die vergilischen Teilvorstellungen - die Untat einer ruchlosen Ehebrecherin (Clytaemestra) und das Unglück, die ersehnte Gattin und geliebte Heimat nicht mehr sehen zu können (Diomedes) - miteinander verbunden und auf Helena bzw. Aeneas, der sich rasend vor Zorn Helenas zukünftiges Glück ausmalt, übertragen. Ja, er hat sogar zwei Verse aus Sinons Trugrede (II 137f.) anklingen lassen, wo der listige Grieche gerade den Schmerz heuchelt, der Aeneas in der umstrittenen Partie beim Anblick Helenas überfallt: nec mihi iam patriam antiquam spes ulla videndi, nec dulcis natos exoptatumque parentern ... Die EinfUgung von II 579 legt Zeugnis ab von hervorragenden Vergilkenntnissen und dem Vermögen, tief in Vergils Herz einzudringen - und doch reicht der Blick des Verfassers nicht einmal 10 Verse zurück, wo Helena in Angst vor den Griechen und ihrem verlassenen Gemahl gezeigt wird (572f.). AUSTIN denkt bei 579 mit Recht an einen alternativen Gedankengang 14 • Der Widerspruch ist zu groß, als daß die Annahme einer sekundären Interpolation hier helfen könnte. Vor scheinbar größte textkritische Schwierigkeiten stellt uns der Anfang von 587: . . . animumque explesse iuvabit ultricis t famam et cineres satiasse meorum. (II 586f.) Die Fülle der bisherigen Forschung erlaubt eine ziemlich sichere Herstellung des ursprünglichen Wortlautes. Die handschriftliche Überlieferung spaltet sich in die beiden ungefahr gleichberechtigten Lesarten famam undfamae auf. Obwohl das im Neapolitanus 5, einer Handschrift des 10. Jahrh., befindliche jlammae fast einhellig als Konjektur gilt 15 , erfreut es sich größter Beliebtheit. HEYNE bezieht animumque ... jlammae inhaltlich auf den ardor ulciscendi, zeigt sich aber unzufrieden mit der harten Ausdrucksweise ("duriter dictum"), sei es, daß man (a) ultricis flammae unmittelbar von animum abhängen läßt im Sinne von flammam animi ( = ulciscendi cupiditatem),
14
1964, S. 223.
15 Z.B. NETILESHIP
zu II 587;
RENEHAN
1973, S. 197.
Der Text (I)
9
oder (b) ultricisjlammae mit explesse verbindet und darunter flamma bzw. ira ultrice ( = ultione) versteht 16 • Gegen (b) hat man eingewandt, daß explere mit Genitiv in der gesamten Latinität sonst nicht belegt ist; doch sind diese Bedenken gegenstandslos, da singuläre syntaktische Erscheinungen nicht per se verdächtigt werden dürfen und überdies genügend analoge Parallelen zur Verfügung stehen 17 • MURGIA faßtjlammae als 'Zorn' (anger) auf, da die Helenaepisode eine Ringkomposition darstelle und daher jlammae die Bedeutung 'Zorn' von ignes (575) wiederaufnehme 18 • Dies ist natürlich eine petitio principii 19 • Doch auch wenn man jlammae mit 'Zorn' übersetzen könnte2°, bleibt das Bedenken, das MURGIA selbst äußert: Die Wendung ultricis jlammae sei "loosely" gebraucht; denn wenn auch die Rache den Zorn einschließe, so sei es doch mehr die Rache, die Aeneas' Sinn befriedige21 • Aber man muß genauer formulieren: Rache kann sehr wohl das Herz befriedigen, nicht aber Zorn, im Gegenteil: er bringt die Leidenschaften auf den Siedepunkt22 • Die Vorstellung 'Zorn' muß also hier ganz ferngehalten werden und darf nicht durch die Konjektur jlammae in einen Kontext (583 -7), in dem es nur um Rache und Ruhm geht, sinnzerstörend Einzug nehmen23 • Will manjlammae im Text halten, bleibt nur noch der Ausweg, ultricis jlammae unmittelbar von animum abhängen zu lassen 24 . "Even more desperate", sagt AUSTIN 25
16 WAGNER kombiniert (a) und (b) und will ulrricisjlammae sowohl von animum als auch von explesse abhängig machen. 17 Genitiv nach campiere, implere, replere, opplere. Umfassend dazu RENEHAN 1973,
s.
197-9. 18 1971, S. 211f. (zustimmend RENEHAN S. 199f.; s. auch KRAGGERUD 1975, S. 116). 19 Eine Ringkomposition liegt nicht vor. Denn laut MURGIA und RENEHAN beziehen sich die Verse 585-7, die den Abschluß von Aeneas' Selbstgespräch bilden, auf die Verse 575f., die der Rede unmittelbar als Einleitung vorausgehen. Beide Stellen befinden sich also nicht in demselben (funktionellen) Zusammenhang. Die zweifellos bestechende Beziehung (die durch die unzulässige Konjektur jlammae teilweise überhaupt erst konstituiert wird!) darf jedoch nicht vorschnell zu der Annahme einer Wortgleichung verleiten, da ein solches Verfahren voraussetzen würde, daß der Verfasser an der zweiten Stelle dasselbe wie an der ersten sage. 20 AUSTIN 1961, S. 193 hatte kategorisch behauptet, daßjlamma im klassischen Latein nicht 'Zorn' bedeuten könne (s. aber KRAGGERUD 1975, S. 119 Anm. 41). Prinzipiell können fehlende Belege sprachliche Singularitäten nicht diskreditieren. 21 S. 212. RENEHAN sucht MURGlAS Bedenken zu zerstreuen, indem er ulrricis das Bedeutungsübergewicht einräumt (S. 200). 22 Siehe schon G. ScHRÖTER, Beiträge zur Kritik und Erklärung von Vergils Aeneis I. Theil, Gymn. Progr. Gr.Strelitz 1875, S. 7: "Wer aber sein Herz anfüllt mit Rachgier, der weckt die Gluth der Leidenschaft und nährt sie anstatt sie zu stillen." 23 RENEHAN versucht auf der Grundlage willkürlich zusammengetragener 'Parallelen' (Cic. in Pis. 20,46; de leg. 1,14,40; Har. resp. 2,4; Ovid met. 4,506-9; Livius 21,10,11; Vergil A.IV 469 -74) eine neue (und abwegige) Interpretation: "8oth of its components, ulrrix and jlamma, suggest the Furiae; ulrrix refers to their function, jlamma to their symbol. Of course, the furiae suggested by ulrrixjlamma are a synecdoche for ultio ... " (S. 201). 24 HEYNE (s.o. S. 8 unter (a)); SCHRÖTER (o. Anm. 22) S. 7; LADEWIG-SCHAPER-DEUTICKE, Komm. ad loc.; PASCAL 1904/5, S. 120 Anm. 2. 25 1961, S. 192, allerdings ohne nähere Begründung.
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Der Text (I)
mit Recht. Selbst wenn man die Verstiegenheit und zugleich Frostigkeit dieser Verbindung hinnehmen könnte, so würde doch kein Leser oder Hörer dieser Verse s p o n t a n auf eine solche Interpretation verfallen. Die Wendung wäre verrätselt und würde dem Verfasser von 567-88, der sich bei aller poetischen Kraft um große Deutlichkeit bemüht, einen Stilbruch unterstellen. Angesichts des Umstandes, daß jlammae als effektvolle, trivialisierende (und daher so beliebte) Konjektur die Textverderbnis nicht heilt, sondern vergrößert, muß eine Rückbesinnung erfolgen auf die überlieferten Lesarten famae undfamam. famam ist, wie MURGIA betont, nicht lectio difficilior, da es keine lectio difficilis ist26 , sondern ein bloßer Abschreibfehler, der zu einer unkonstruierbaren Wortfolge geführt hat27 • Ist nun ultricis famae überhaupt Latein, syntaktisch vertretbar und im Textzusammenhang verständlich? Der sonst nicht belegte Genitiv nach explere ist völlig unanstößig28 • ultricis famae sei "impossible Latin", da die Verbindung von ultrix mit einem Wort wiefamasonst nirgendwo belegt sei (AUSTIN 29 ). Dixeris egregie, notum si callida verbum I reddiderit iunctura novum (Horaz a.p. 47f.). Es ist nicht einzusehen, warum z.B. Vergil und Horaz in hohem Maße Gebrauch von solchen iuncturae machen dürfen, dies aber dem Autor der Helenaverse, der vielen als großer Dichter gilt (wie seine Identifizierung mit Vergil zeigt), verwehrt sein soll. Gewichtiger ist AUSTINS Einwand, daß ultrix fama nur bedeuten könne: "[ama that brings vengeance", was unverständlich sei 30 • AUSTIN läßt dabei außer acht, daß der Interpolator noch an zwei weiteren Stellen einem Substantiv ein Attribut hinzufügt, das, dem normalen Sprachgebrauch zufolge aufgefaßt, widersinnig, im Textzusammenhang jedoch keine semantische Schwierigkeit bereitet: sceleratas sumere poenas (576) sumpsisse merentis I ... poenas (585f.) Zu 576 bemerkt AUSTIN: "this very remarkable phrase has no parallel in any other author. Virgil is experimenting, and the sentiment is clearly that
26
1971,
s.
210.
famam könnte nur dann richtige Lesart sein, wenn man zwischen 586 und 587 Versausfall annimmt (NETILESIDP, Ancient Lives of Vergil, Oxford 1879, S. 24 Anm. 1 zu u/tricisfamam, 27
und Kommentar zu II 586; AusTIN 1961, S. 194; 1964, S. 228). Die Untauglichkeit des Mittels zeigt sich jedoch darin, daß ultricis famam auch jetzt unkonstruierbar bleibt, weshalb NETILESIDP an die zusätzliche Änderung von ultricis in a/tricis (altrix als Epitheton für patria) dachte. Dagegen spricht die enge Verbindung, die explere (586) und satiare (587) in der Latinität gern eingehen: Lucr. 3,1017 (wahrscheinliches Vorbild für den Verfasser der Helenaverse: s.u. S. 17 Anm. 16); Cic. Part. orat. 27,96; de rep. 6.1; Paradoxa 1,1,6; de sen. 47 (PASCAL 1904/5, S. 120 Anm. 2; AUSTIN 1964, S. 228; MURGIA 1971, S. 209f.). Entscheidend natürlich ist, daß die überlieferte Lesart keiner, erst recht nicht so gewaltsamer Heilung bedarf (s. das weitere). 28 Siehe o. S. 9 mit Anm. 17. 29 1964, s. 227. 30 s. 227f.
Der Text (I)
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of XII. 949 'poenas scelerato ex sanguine sumit': he has transferred the epithet from the culprit to the punishment . . . Emendations of a quite improbable nature have been proposed" 31 • (Die Auffassung von sceleratas als 'verbrecherisch', so als ob Aeneas seine eigene Handlungsweise verurteile, lehnt AUSTIN mit Recht ab 32 .) Wider Willen führt hier der Gelehrte seine Argumente gegen ultrixfama ad absurdum. Zu 585f. lesen wir bei ihm: "if this (sc. merentis) is genitive singular, the construction has no parallel; yet Virgil clearly liked inventivness in writing of crime and punishment ... If merentis is accusative plural, it is an experiment like sceleratas sumere poenas (576), but even bolder ... " 33 • Jedoch darf merentis (die besser bezeugte Lesart ist merentes) nicht als Genitiv aufgefaßt werden, weil der lnterpolator dort, wo es um Helenas Schuld geht, nicht mit starken Ausdrücken geizt (Erinys, 573; invisa, 574; sceleratas, 576; nefas, 585 34), hier aber, am Ende und Höhepunkt von Aeneas' Selbstgespräch (nur wenige Worte nach nefas!), Helena mit der blassen Bezeichnung merentis versehen haben soll. (Vergil gebraucht merere in vergleichbaren Situationen nur, wenn auf diesem Wort besonderes Gewicht Iiegtl 5 .) Der Verfasser von ll 585f. will gar nicht die (unbestrittene) Schuld der Helena betonen, sondern die Rache, die Aeneas an einer (wehrlosen) Frau (583f.), die sich zudem noch ins Heiligtum der Vesta geflüchtet hatte (567 -9; 574), üben wollte, rechtfertigen. Aeneas gibt zu verstehen, daß für ein Ausnahmeweib wie Helena auch eine die Konventionen durchbrechende Strafe verdient und angemessen sei. Also: merentis poenas - meritas poenas. Wegen der überaus kühnen, ja beispiellosen Verbindungen sceleratas poenas und merentis poenas 36 muß auch für ultricis famae (bzw. ultrici fama) die Möglichkeit eingeräumt werden, daß ultrix hier eine ungewöhnli-
S. 222 (s. auch 1961, S. 190). Zu sceleratas sumere poenas siehe auch (außer den Kommentaren) JACOB 1829, S. 14; HAECKERMANN 1863, S. 31f.; PöHLIG 1880, S. II; NOACK 1893, S. 425 Anm. I; PASCAL 1904/5, S. 120 Anm. 2; HEINZE 1915, S. 45 Anm. I; KNIGHT 1932, S. 46f.; PALMER 1938, S. 377; HATCH 1959, S. 256 Anm. I; MURGIA 1971, S. 212 Anm. 18 und S. 213f.; HIGHET 1972, S. 170; KRAGGERUD 1975, S. 115f. " 1964, S. 227 (s. auch 1961, S. 191). Weitere Literatur: HAECKERMANN 1863, S. 32; PÖHLIG 1880, S. llf.; TIULO 1886, S. XXXII; NOACK 1893, S. 425 Anm. I; PASCAL 1904/5, S. 120 Anm. 2; MURGIA 1971, S. 212 Anm. 18 und S. 213f.; HIGHET 1972, S. 170; KRAGGERUD 1975, S. 116. 34 Zu nefas s. AUSTIN 1964, S. 226. 35 Z. B. VII 307 quod scelus aut Lapithas tantum aut Calydona merentem? (' quod sce/us merentem' - 'cuius sce/eris poenas merentem', CoNINGTON). Juno bedient sich dieser rhetorischen Frage, um die unverdiente harte Strafe hervorzuheben. - II 229f. et scelus expendisse merentem I Laocoonta ferunt. Hier ist merentem Pointe. - Siehe auch bes. 0.4,455. 36 Vgl. auch II 584 feminea in poena !feminea steht statt des Genitivattributesfeminae), eine kühne Verbindung, mit der man immerhin Ovid am. 3,2,40 captaque femineus pectora torret amorvergleichen kann (AUSTIN 1964, S. 225). 31
32
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Der Text (I)
ehe Bedeutung hat, s o f e r n der Zusammenhang eine solche Umdeutung zuläßt oder gar erzwingt. Setzen wir den ganzen Satz her: namque etsi nullum menwrabile nomen feminea in poena est, habet haec victoria Zaudern, extiluisse nefas tarnen et sumpsisse merentis laudabor poenas animumque explesse iuvabit (TI 583-7) ultrici(s)fama(e) et cineres satiasse meorum. (Ob in 584 habet haec oder nec habet gelesen werden muß, spielt vorerst keine Rolle.) Der Verfasser hat uns die Interpretation erleichtert, indem er - nach seiner Gewohnheit - sämtliche einschlägigen Stellen der ihm vorliegenden Aeneis konsultierte, in denen es um den Komplex 'Frau, Sieg (bzw. Niederlage I Tod) und Ruhm (bzw. Ruhmlosigkeit)' geht. Als Dido in heimlicher Liebe zu Aeneas entbrannt ist, wendet sich Juno, die auf ein Komplott sinnt, an Venus: egregiam vero l a u d e m et spolia ampla refenis tuque puerque tuus, magnum et m e m o r ab i l fi! 7 n o m e n38 , una dolo divum si f e m i n a v i c t a duorum est. (IV 93-5) Die ironische Belobigung durch Juno hat der Interpolator in Ausdruck und Gedanke (s. CONINGTON zu II 583) in das Selbstgespräch des Aeneas übertragen, indem er sie aller Ironie entkleidete (daher die Umkehrung ins Negative: n u II u m memorabile nomen). Die zweite Stelle handelt von Arruns, der Apollo anfleht, ihm die Tötung der Camilla zu gewähren:
da, pater, hoc nostris aboleri dedecus armis, omnipotens. non exuvias pulsaeve tropaeum virginis aut spolia ulla peto, mihi cetera laudem facta ferent; haec dira meo dum vulnere pestis (XI 789-93) pulsa cadat, patrias remeabo inglorius urbes. Schon HENRY hat die "similar sentiments" beobachtet, ohne die Unterschiede zu übersehen 39 • In CONINGTONS Worten40 : "what in Aeneas, the hero, is a mere passing impulse, is deliberately resolved on by Arruns, the coward". Auch den Stil hat der Interpolator nicht einfach kopiert, sondern völlig frei variiert:
37 38
39 40
Zu den Adjektiven auf -bilis im 5. Versfuß bei Vergil s.u. S. 49. Andere Lesart: numen. Kommentar zu II 583. Siehe auch HENRY 1856, S. 620. Zu II 583.
13
Der Text (I)
XI
II
aboleri dedecus dira pestis
extinxisse nefas (dedecus, pestis und nefas von nefas einer Frau gesagt41)
pulsae tropaeum virginis laudem inglorius
haec victoria laudem nullum memorabile nomen
Als dritte, bisher übersehene Stelle schwebten dem Verfasser der Helenaverse Worte der Nymphe Opis vor, die diese zu der von Arruns erschossenen Camilla spricht: neque hoc sine n o m i n e letum per gentis erit aut f a m a m patieris i n u l t a e. nam quicumque tuum violavit vulnere corpus mone luet m er i t a. (XI 846-9) Opis stellt ihr also in Aussicht, daß sie nicht die fama inultae erleiden werde, da Arruns seine Tat mit verdientem Tode büßen werde (morte merita ist eine glänzende Bestätigung für die Auffassung von merentes poenas: s.o. S. ll). Übersetzt man mit Aufhebung der Negation "dir bleibt der Ruhm, daß du nicht rachelos starbest" (Thassilo von Scheffer), so schlägt man leicht die Brücke zur Helenaepisode: der Ruhm der Rache ifama ultrix) wird Aeneas' Herz mit Freude erfüllen, und gerade diese Kunde von Helenas Tod ifama ultri.x) ist es, mit der Aeneas die Asche der Seinigen sättigen kann. Gibt es doch ftir die Toten als einzige Genugtuung nur die fama (der Rache), die bis in die Unterwelt dringt. Man vergleiche Didos Worte an Aeneas:
dabis, improbe, poenas. (IV 386f.)42 audiam et haec manis veniet mihifama sub imos. Der Textzusammenhang43 und die vergilischen Vorbilder legen für die umstrittene Passage der Helenaszene nahe, daß hier Aeneas von der fama ultionis gesprochen hat, ja gesprochen haben muß. Wenn der Interpolator
Siehe u. S. 50 Anm. 20. Siehe auch XI 688f. - Eine enge Verbindung (et) zwischen animum explesse ultricisfamae und cineres satiasse meorum vermag nur die fama ulrionis herzustellen. Die Konjektur jiai11Jnae zerstört dies alles und muß sich sogar von ihrem eigenen Beflif'M>rter Kritik gefallen lassen wegen .the not very happy transition by which the poet passed from the Harne of vengeance to the ashes of his kinsfolk, as both requiring tobe satisfied" (CONINGTON zu II 586). 43 Auf diesen wird ausführlicher eingegangen bei der Diskussion der Lesart habet haec (II 584). 41
42
14
Exkurs: Der Verfasser der Helenasrene
auch mit der Wendung ultricis famae (oder ultrici fama) 44 vergilische Möglichkeiten überschritten haben sollte, so hat er doch seine recht unterschiedlichen Vorlagen (IV 93-5; XI 789-93 und 846-9) ganz im Geiste Vergils aufgefaßt und sie kongenial mutandis mutatis miteinander zu einem neuen Zusammenhang verschmolzen. Die Gunst der Umstände nutzend, schiebe ich hier ein den
EXKURS: DER VERFASSER DER HELENASZENE Der Interpolator hat nicht nur Verse aus der Aeneis, sondern auch aus Euripides herangezogen. HEINZE glaubt, daß der unbekannte Verfasser die Mahnung der Venus an Aeneas, sich zurückzuhalten (II 589ff.), habe motivieren wollen und deshalb die Helenaepisode erfunden habe; "die Anregung gab ihm die Menelaos- Helenaepisode der Iliupersis - auch Menelaos wird ja durch Aphrodite daran gehindert, die Rache zu vollziehen -; in der Ausführung lehnte er sich an die Szene des euripideischen Orestes an, in der Pylades den Orest zur Ermordung der Helena anstachelt. Das ist also ganz die virgilische Imitationstechnik"'. Die Verse lauten:
1135 1137
1142
e[ p.EV "(Ctp er;; "(VIJCXiKCX IIWc/>poiJfiJTf:pCXV ~[cf>oc; p.ef}eip.ev, OVIIKAeijc; &v ~" cf>6voc;· vvv o' inr"i:p chr&a."r;; 'E>->-&ooc; owaet OLKTfV, wv 7rCXTEpcxc; EKTHIJ', wv o' Ct7rWAEIIEIJ TEKVCX ... oAoAv"(p.or;; eamt, 1rvp r' &v&if;ovatv (}eoir;;, aol 7rOAAa Kexp.ol KEOV • &pwp.evot rvxeiv, KCXKijc; "(VIJextKoc; oüvex' cxlp.' e1rp&~cxp.ev.
Nicht Muttermörder werde er genannt, sondern 'EMv."c; }\q6p.evor;; rfjr;; 7roAvKr6vov cf>ovevc;. ov oei 1rOT.' ov oei, MevEAfWIJ p."i:v evrvxeiv, TOIJ IIOIJ OE 1rCXTEpCX KCXL IIE KCtOEAc/>i]v ecxveiv ... 2
44 Die beiden Genitive lassen sich leicht durch Dittographie (eventuell verbunden mit absichtlicher Korrektur) aus den Ablativen herleiten (s. MURGIA 1971, S. 212). - Schon BIRT hat ultrixfama alsfama ultionis verstanden (1913, S. 161 Anm. 1), ebenso der Thes. l.L.: ea laude, quae ultorem sequetur (s. v. expleo, Sp. 1717, 42). Siehe auch T!llLO 1886, S. XXXII und LUCK 1965, S. 54.
I
2
1915, S. 48f. Siehe HEINZE 1915, S. 48 Anm. I; CONINGTON zu II 583.
Exkurs: Der Verfasser der Helenaszene
15
Auch ohne einen Vergleich 3 wird deutlich, daß der Interpolator sich primär der griechischen Vorbilder bediente, um sie sekundär mit Hilfe von Stil und auch von Gedanken Vergils auszuführen. HEINZE irrt, wenn er meint, jener sei "kein Poet", "wenn er auch den virgilischen Stil zur Not zu imitieren verstand" 4 • Die Vereinigung so vieler Vorbilder allein in II 583-7 unterstellt dem Verfasser, selbst wenn man das Resultat - mit einigem Recht - nicht für völlig geglückt halten sollte, eine so gewaltige poetische Kraft und Virtuosität, daß die Annahme näher liegt, V e r g i I sei es, der die Verse geschrieben habe. Denn dann wäre es wahrscheinlich, daß die Helenaepisode selbst zum Vorbild für andere Stellen der Aeneis gedient hätte, bzw. sich die großen Ähnlichkeiten damit erklären ließen, hier sei jeweils derselbe Stilist am Werke gewesen. Die Entlehnungen gehen aber noch weiter, ihre Wege werden noch verschlungener. Als der lnterpolator XI 846-9 (o. S. 13) 'ausbeutete', lenkten ihn die Worte der Opis ... quicumque tuum violavit vulnere corpus (848) zurück zu dem Auftrag, den Diana der Nymphe mit fast gleichlautenden Worten gegeben hatte: haec cape et u l t r i c e m pharetra deprome sagittam: hac, quicumque sacrum violarit vulnere corpus... (590f.) Es scheint, daß ultricem den stilistischen Anstoß zu ultricis (II 587) gegeben hat5 . Vom Tod der Camilla führen weitere Spuren zurück. Opis hatte die tote Camilla getröstet: non tarnen indecorem tua te regina reliquit extrema iam in mone, neque hoc sine nomine letum . .. (XI 845f.) Vergil gebraucht die Verbindung sine nomine noch 3x (II 558; VI 776; IX 343). Am nächsten steht II 558. Dem nicht unrühmlichen Tod, den Opis der Camilla verheißt, steht als Kontrastbild gegenüber das schmähliche Ende des Priamus, von dem Aeneas erzählt: iacet ingens litore truncus, avulsumque umeris caput et sine nomine corpus. (II 557f.) Dieser - zugegeben - nur schwache Anklang könnte Zufall sein, wäre nicht die erste Hälfte von XI 846 gleichlautend mit II 447 (extrema iam in mone6 ). Solche Additionen von Vershälften sind Vergil nicht fremd7 • Die
Siehe RECKFORD 1981, S. 90-3 mit Anm. 7. 1915, S. 48. ' u/trix bei Vergil sonst nur noch 5x, davon 3x auf die Diren (IV 473.610; VI 570 [11siphone)), 1x auf die Curae (VI 274) bezogen. 6 extremus bei Vergil sehr häufig, in Verbindung mit mors nur an den genannten Stellen. Die Phrase ist catullisch (extremam iam ipsa in mone tulistis opem, c. 76,18). 7 Z.B. I 742 - E.6,64 + G.2,478; III 302 - I 618 + VIII 104; III 229 - I 159 + 310; III 511 - G.4,187 + 190; V 102 = I 214 + 215; V 486 - V 291 + 292; VIII 305 - V 149 3
4
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Exkurs: Der Verfasser der Helenaszene
engen Beziehungen zwischen Camillas Tod und Buch TI beschränken sich also nicht nur auf die Helenaverse. Die einfachste und darum wahrscheinlichste Erklärung wird wohl sein, daß Vergilbeider Darstellung von Camillas Untergang bestimmte Stellen von Buch TI, darunter auch die 'Interpolation', benutzt hat8 • Die Verse TI 567-88 wären demnach von Vergilgeschrieben worden. Aber den Befürworter der Unechtheit dürfte die extreme Unwahrscheinlichkeit seiner These kaum beeindrucken, gibt es doch in der Tat gewichtige Gründe, die gegen die Authentizität zu sprechen scheinen. Der Verfasser der Helenaverse hat einen weiteren, von der gesamten Vergilforschung übersehenen Aeneisvers occiderit patriasque explerit sanguine poenas (VTI 766) benutzt, indem er ihn in seine Bestandteile auflöste und die einzelnen Wörter in 5 eigene Verse einbaute: (TI 581) (1) o c c i der i t ferro Priamus? Troia arserit igni? occiderit am Versanfang nur an diesen zwei Stellen. Das dritte Vorkommen im Versinnern in Verbindung mit Troia (!): occidit, occideritque sinas cum nomine Troia (XTI 828). Sonst noch 5x occidit I occidet I occidis am Versanfang (E.4,2415; XTI 544.641.660), 2x im 5. Fuß (G.1,218; X 470), 1x im 2. Fuß (XI 414). (2) scilicet haec Spartarn incolumis p a t r i a s q u e Mycenas (TI 577) Obwohl die Verbindung patriasque bei Vergil insgesamt nur an diesen zwei Stellen und ill 332 vorkommt und damit die Beziehung zwischen TI 577 und VTI 766 gesichert ist, scheint das unmittelbare Vorbild aus Buch TI selbst zu stammen: patrias vento petiere Mycenas (TI 180, Rede des Sino). TI 180 greift seinerseits stilistisch und inhaltlich auf: vento petiisse Mycenas (TI 25) zurück. Natürlich ist TI 577 (und 578) auch beeintlußt durch: si patrios umquam remeassem victor (vgl. parto ... triumpho, TI 578) ad Argos (ll95, ebenfalls Rede des Sino). TI 95 scheint nicht nur TI 578f. angeregt zu haben, sondern auch: patrias remeabo9 inglorius urbes (XI 793). Wie wir gesehen haben (o. S. 12), gehört XI 793 zu einem Verskomplex, den die Forschung als eine der Quellen für den lnterpolator bestimmt hat. Das Beziehungsgewirr kann nicht mehr mit der Tätigkeit eines Interpolators erklärt werden, sondern nur noch mit der Annahme, daß Vergil selbst s ä m t I i c h e Verse verfaßt hat. Denn der Interpolator, der ja nach Vergilgelebt und dem deshalb das ganze vergilische <Euvre vorgelegen hätte, hätte ja a I I e Stellen, die in einem objektiv ablesbaren Verwandt-
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150; vgl. auch VII 108 = Lucr. I ,258
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2,30; XI 731 - Furius Bibaculus fr. 13,1
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14,2
(MOREL). 8 Ob es sich um bewußte oder unbewußte Entlehnungen handelt, ist hier unerheblich (zum Problems. BERRES 1982, S. 333 [Register s.v. Reminiszenzen]). • remeare nur li 95 und XI 793.
Exkurs: Der Verfasser der Helenaszene
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Schaftsverhältnis stehen, auswerten, kombinieren und kontaminieren müssen. Vergil hingegen mußte 'nur' den bereits von ihm geschriebenen Teil seines Werkes berücksichtigen, wobei ihn der natürliche Umstand begünstigte, daß er der beste Imitator seiner selbst war 10 und ihm ähnliche Formulierungen und Gedanken auch ohne bewußte Entlehnungen gelingen konnten' 1 • (3) laudabor poenas animumque e x p l e s s e iuvabit (II 586) Vergil liebt synkopierte Formen 12 und gebraucht sie von explere zweimal: II 586 und VII 766. Daß sich der 'Interpolator' II 586 trotzseiner sonstigen Pedanterie in der Übernahme von VII 766 die Lizenz herausgenommen hat, die finite Form in eine infinite zu verwandeln, mag man ihm verzeihen, da er durch die zusätzliche Entlehnung von poenas den 'Fehler wiedergutgemacht' hat. Zugleich scheint explesse durch Lucr. 3,1004 (atque explere bonis rebus satiareque numquam) angeregt, weil an beiden Stellen die Verben explere und satiare (satiare bei Vergil nur II 587) gemeinsam auftreten 13 und darüber hinaus - wie auch Gegner der Echtheit (GOOLD 14 und MURGIA 15) glauben - weitere Beziehungen bestehen 16 • (4) Dardanium totiens sudmit sang u in e litus? (II 582) sanguine im 5. Versfuß ist bei Vergil extrem häufig und beweist ftir sich allein keine enge Verwandtschaft von II 582 mit VII 766, wohl aber in Verbindung mit occiderit (II 581), patriasque (II 577) und explesse (II 586). Indem der Interpolator die alliterierende Wendung sudarit sanguine schuf, verstieß er nur scheinbar gegen Vergils Sprachgebrauch. Denn Vergil benutzt sudare in der Aeneis (sonst) nicht, dagegen 6x in Bucolica und Georgica (s. auch G .1 ,88 exsudat). Anders verhält es sich mit dem Substantiv sudor: 2x in den Georgica (3,444.501) und 7x in der Aeneis. Von den 7 Aeneisstellen stehen 5 unverkennbar direkt oder indirekt unter
SieheBERRES 1982, S. 334 (Register s.v.. Selbstimitation). Siehe o. S. 16 Anm. 8. 12 Siehe auch NORDEN zu VI 57 direxti. "Siehe o. S. 10 Anrn. 27. 14 1970, s. 146f. "1971, S. 209f. 16 Besondere Aufmerksamkeit verdient praemetuens: jeweils am Versanfang bei Lucr. 3,1019 und 11573 (bei Vergil nur hier; s. AUSTIN 1961, S. 187 mit Anm. 12). Diese Lukrezpassage war Vergil völlig vertraut, vgl. Lucr. 3,984ff. - VI 595ff.; 990 - vergilisch (G.2,343; V 617 etc.); 993 (6,1158) - IX 89; 996 (5,1234) - VI 819 (824); 999 (5,1272; 1359) - VI 437; 1012 VI 273 (s. CÜNINGTON zur Stelle); 1018 (geht praemetuens unmittelbar voraus!) - I 604; 1029 - V 628 (?); 1033 - III 658 (?); 1034 - VI 842f.; 1036 - VII 772 (in ähnlichem Zusammenhang). Die letzte Entsprechung ist enthüllend: VII 772 ist nur 6 Verse entfernt von VII 766, d e m Vers, den der Interpolator ja in zerstückeltem Zustand in seine Helenaepisode übernommen haben soll. Mag die ganze Lukrezpartie sowohl Vergil als auch dem (hypothetischen) lnterpolator noch so gut bekannt und voneinander unabhängige Benutzung möglich gewesen sein, es kann doch jetzt nicht mehr bestritten werden, daß Vergil und sein Imitator geradezu in prästabilierter Harmonie gedichtet haben. 10
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Exkurs: Der Verfasser der Helenaszene
ennianischem Einfluß 17 • Doch auch IX 458 befindet sich in ennianisch I 1ukrezisch gefärbtem Zusammenhang 18 • Wenn endlich Xll 337f. das Wort sudore 19 auch nicht auf Ennius zurückgeführt werden kann, so hat es an dieser entstehungsgeschichtlich gewiß nicht frühen Stelle sozusagen Bürgerrecht erworben20 • Indem nun der Interpolator die Wendung sudarit sanguine litus (TI 582) im Hinblick auf ein ennianisches Vorbild (terra sudat sanguine, sc. 181f 1 wagte, zeigt er sich mit Feinheiten von Vergils Stil vertraut, die wenig wichtig, ziemlich unauffällig und nur mit Hilfe des Instrumentariums der modernen Philologie erkennbar sind. Zugleich gelang auf diesem Wege dem vermeintlichen Interpolator, sanguine aus VII 766 in seine eigenen Verse einzuschleusen. (5) ulcisci patriam et sceleratas sumere p o e n a s (II 576) (Der Verfasser der Helenaverse gebrauchtpoena außerdem 572.584.586; allerdings steht 576 dem Vers VII 766 am nächsten.) Obwohl man die Formulierung sceleratas sumere poenas nicht von XII 949 poenam scelerato ex sanguine sumit trennen kann22 , scheint auch VI 501 quis tam crudelis optavit sumere poenas als Vorbild eine gewichtige Rolle zu spielen. Die Verbindung einer Form von poena mit sumere kommt außerhalb der Helenaepisode nur noch 4x vor (II 103; VI 501; XI 720 - XII 949), der Versschluß sumere poenas jedoch nur VI 501. Dieser Vers stammt aus der Deiphobusszene des 6. Buches (494-547), die hinsichtlich Helenas Rolle in solch unversöhnlichem Gegensatz zur Helenaszene des 2. Buches steht, daß Servius die Tilgung der vergilischen Helenaverse durch die Herausgeber auch mit diesem Widerspruch gerechtfertigt hat (Servius zu II 592 [s.o. S.2]). War aber nicht Vergil, sondern ein Fälscher Verfasser dieser Verse, so nimmt es wunder, warum letzterer sich zwar stilistisch von der Szene in
17 III 175 (turn gelidus roto manabar corpore sudor) geht auf Ennius a. 418 V. (tune rimido manat ex omni corpore sudor) zurück, ebenso VII 459. Mit Enn. a. 406 vgl. IX 812f. (gehört zu
einer umfangreichen Enniusimitation). II 173f. erinnert an Lucr. 5,487. V 199f. steht in engster Beziehung zu IX 812-4 (ennianisch). 18 Blut u n d Schweiß pflegen während eines Kampfes in Strömen zu fließen. Daher kommt IX 458 (multo sudore) nicht unerwartet nach 456 (pleno spumanris sanguine rivos). Mit 456 vgl. Enn. sc. 119 (maria salsa spumanr sanguine [s. auch VI 87]), V 200 (sudor jluit undique rivis: ennianisch [s. Anm. 17]) und XI 668 (sanguinis il/e vomens rivos: vgl. IX 411 - Lucr. 2,354). 19 equos alacer media inter proelia Thrnus I jumantis sudore quatir (quatirque bei Enn. a. 405). 20 Die dramatische Passage XII 331-40 ist in hohem Maße durch Homer bestimmt: XII 331-6- N 298ff.; XII 334f.- B 784f.; Xll335f.- t:. 440f.; XII 337-40- A 531-7 (vgl. auch Y 494-502). Warum sollte Vergil in diese Verse außer einer lukrezischen Wendung (4,173 atraefonnidinis ora = XII 335) nicht auch das ennianische sudor einfließen lassen? 21 Vgl. auch Lucr. 5,1129 sanguine sudent (eine Stelle, die Vergil vermutlich bekannt war, wie weitere Anklänge nahelegen: 5,1128 - VI 851; 5,1137 - X 852 + XI 539). Außerdem s. Enn. sc. 18 sine sudore et sanguine. 22 Siehe o. S. !Of. Vgl. auch XI 720; XI 258; VII 595.
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VI anregen ließ23 , auf eine inhaltliche Übereinstimmung jedoch offensichtlich keinen Wert legte. Die Untersuchung über das Verhältnis der Helenaepisode zu dem Vers VII 766 occiderit patriasque explerit sanguine poenas hat zu dem sicheren Schluß geführt, daß der Interpolator diesen Vers in seine Bestandteile zerlegt und sie unter genauer Beachtung subtiler Regeln von Vergils Diktion in seine eigene Dichtung (II 581.577.586.582.576) übernommen hat. So zwingend der Schluß ist, so unsinnig das Resultat. Denn welchen Zweck hätte der Interpolator mit diesem extrem aufwendigen Verfahren erreichen wollen?
23 Belege (s. auch GERLOFF 1911, S. 57 Anm. I; HIGHET 1972, S. 175f.) ohne Anspruch auf Vollständigkeit:
II 567-9 iamque adeo ... , cum ... 1.. .1 ... aspicio VI 498 vix adeo agnovir II 568f. servantem et tacitam secreta in sede latentem Tyndarida VI 498f. pavitantem et dira legentern supplicia Ähnlichkeit von Rhythmus und Sprachmelodie; beide Wortfolgen als Akkusativobjekte zu den oben angeführten Verben aspicio (II 569) bzw. agnovit (VI 498). VI 501
... sumere poenas I ... sumere poenas I Diese Versschlüsse bei Vergil nur hier.
II 577
scilicet
II 576
VI 526 scilicet An beiden Stellen leitet scilicet mit bitterer Ironie eine für Helena höchst vorteilhafte Zukunftsvision ein, in II aus der Sicht des Aeneas, in VI aus der Helenas, von Deiphobus ihr unterstellt (sperans).
II 583 VI 513
namque etsi namque ur namque ca. 64x bei Vergil, davon vor Nebensätzen 7x (I 453; 11583.736;V 202; VI 513; X 148.303). 4x werden namque und die Nebensatzeinleitung durch 2 oder 3 Wörter getrennt, 3x nicht (II 583; VI 513; X 148). X 148 befindet sich in einem Abschnitt (146-62), der durch stark gedrängte Erzählweise auffällt (s. BERRES I 982, S. 288).
II 585 exstinxisse nejas VI 527 famam exstingui veterum ... malorum exstinguere bezeichnet bei Vergil 8x das Töten von Personen, lx das Auslöschen von Feuer (VIII 267) und 3x das Beseitigen eines abstrakten Begriffes (II 585 nejas; IV 322f. pudor und fama; VI 527 fama). Obwohl IV 322f. und VI 527 einander besonders nahezustehen scheinen, hatfama IV 322f. eine positive Bedeutung (qua sola sidera adibam), VI 527 eine negative (veterum malorum). Dagegen stimmen II 585 und VI 527 darin überein, daß beide Begriffe (nejas und und fama) mit Helena zusammenhängen und negativ sind. Will II 585 Aeneas "den Gräuel" (so Voß; nefas ist Abstraktum für Konkretum [Helena)) tilgen, so VI 527 Helena selbst den Ruf ihrer Schandtaten.
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Exkurs: Der Verfasser der Helenaszene
Offenbar leitet sich der Schluß von einer falschen Voraussetzung her. Ist nicht alles doch Zufall? Der Interpolator hat, gerade als ob er diesen Ausweg hätte verstellen wollen, aus der unmittelbaren Umgebung von Vll 766 die bei Vergil singuläre Verbindung secretis ... sedibus (774f.) übernommen: secreta in sede (ll 568f4 • Wie wir oben (S. 12ff.) gesehen haben, wertete der Verfasser der Helenaverse alle einschlägigen Stellen bei Vergil aus. Zu ihnen gehört auch der Virbius-Abschnitt des Italerkataloges (Vll 761-82)25 , aus dem die Verse Vll 766 und 774 stammen. Dort fand er die Sage vom Vater des Virbius, dem keuschen Hippolytus, der durch die ehebrecherische Liebe seiner Stiefmutter Phaedra zu Tode kam: namque jerunt fama Hippolytum, postquam ane novercae occiderit patriasque explerit sanguine poenas (Vll 765f.) War es doch auch die ehebrecherische Liebe der Helena, die sogar für ein ganzes Volk zum Fluch wurde: Troiae et patriae communis Erinys (ll573). Dennoch kann der Virbius/Hippolytus- Abschnitt nicht eigentlich als Vorbild für die Helenaverse gelten. Die Anklänge erklären sich nämlich zwanglos damit, daß Vergil der Verfasser b e i d er Partien ist. Führt man die Helenaszene dagegen auf einen lnterpolator zurück, so müßte man diesem eine bizarr verspielte (und bis heute unentdeckte) Imitationstechnik unterstellen, die weder in seinem Sinne war noch in seiner Möglichkeit stand. Doch wollen wir hier, am Ende des Exkurses, aus methodischen Gründen den Beweis der Urheberschaft Vergils zunächst auf sich beruhen lassen und im folgenden, bei der weiteren Herstellung des Textes, wieder vom lnterpolator sprechen.
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Vergleiche auch die allerdings syntaktisch ganz anders (parataktisch) geartete Stelle: hospitis
Aeneae sedem et secreta petebat (VIII 463). 25
Siehe KüHLMANN, Katalog und Erzählung, Diss. Freiburg 1973, S. 223-6; s. auch u.
S. 149ff.
DER TEXT (II) Vor das schwerste und für die Verfasserfrage folgenreichste Problem stellt uns die Entscheidung zwischen habet haec und nec habet (II 584). Hier der Text ohne Interpunktion: 583 584 585 586 587
namque etsi nullum menwrabile nomen feminea in poena est h a b e t h a e c victoria laudem exstinxisse nefas tarnen et sumpsisse merentes laudabor poenas animumque explesse iuvabit ultricis famae et cineres satiasse meorum.
nec habet gilt, obwohl in einigen Handschriften überliefert, den Vertretern der unterschiedlichsten Auffassungen übereinstimmend als Konjektur 1• Sie hat sich aber in den gedruckten Ausgaben im allgemeinen durchgesetzt. GOOLD verteidigt die Konjektur damit, daß aus nec habet paläographisch leicht habet haec entstehen könne (nec habet ..... hec habet ..... habet haec [metrische 'Korrektur' durch Umstellung]), der umgekehrte Vorgang aber extrem unwahrscheinlich sei2 • Der Grundsatz der leichteren Erklärbarkeit einer Textverderbnis gilt jedoch nur für die Wahl zwischen mehreren K o n j e k t u r e n3 , nicht zwischen Konjektur und Überlieferung. Ist die Überlieferung (in unserem Fall: habet haec) "die beste ausdenkbare", so ist sie "als original anzusehen" 4 • Da GOOLD für die Ablehnung des überlieferten habet haec sonst keine Gründe angibt, erscheint sein Vorgehen methodisch unhaltbar, - aber auch in der Sache? Die Konjektur nec habet leidet an einer eigentümlichen Schwäche: "denn Aeneas spricht nicht vom Sieg im allgemeinen, sondern von 'diesem' Sieg über das Weib Helena. Das vermißte haec ist aber wirklich überliefert" 5 • Dies wird sogar von der Gegenseite gewissermaßen bestätigt, wenn nämlich LADEWIG und SCHAPER, die nec habet lesen, bemerken, daß zu victoria
1 MACKAIL 1930, S. 79; FRAENKEL 1948, S. 137; AUSTIN !96!, S. 192; GoOLD 1970, S. 144; MURGIA 1971, S. 208 Anm. 12 (s. auch TffiLO 1886, S. XXXII). 2 1970, S. 144 (gegen WATI bei AUSTIN 1964, Addenda S. 292). Möglicherweise haben WATI und GooLD unrecht (s.u.). 3 P. MAAS, Textkritik, Leipzig 1960, S. II § 16. 4 MAAS S. 10 § 14. 5 BIRT 1913, S. 161 Anm. I; ebenso TmLo (Vertreter der Unechtheit!) 1886, S. XXXII; DEUTICKE 1889, S. 331; AUSTIN 1964, S. 226: "Aeneas is contrasting a particular victoria (meritorious) with the general principle that to punish a woman brings no praise: haec is necessary".
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Der Text (II)
"etwafeminea zu ergänzen" sei unter Hinweis auf IV 94f. 6 FAIRCLOUGH übersetzt nec habet victoria laudem: "and such victory wins no honour" 7 • MURGIA kommt das Verdienst zu, überhaupt ein positives8 Argument für nec habet gefunden zu haben. Er beruft sich auf die "rhetorical amplification which the poet is cultivating throughout the passage (nullum ... nomen in poena est amplified by nec habet victoria laudem, a close equivalent)" 9 • Genaugenommen wird hierdurch die Konjektur in Übereinstimmung mit dem Stil des Interpolators gebracht - jedoch nur in eine scheinbare. Denn der Verfasser von II 567-88 hat trotz seiner Neigung zu Doppelungen und Erweiterungen 10 es sonst vermieden, bloße Äquivalente zu schaffen; immer nämlich achtet er über die stilistische Variation hinaus auch auf inhaltliche (z.B. exstin.xisse nefas und sumpsisse merentes poenas, 585f.). nec habet v. I. bringt aber als "close equivalent" zu nullum ... in poena est inhaltlich nicht nur nichts Neues, sondern verschlechtert die klare Aussage des ersten Gliedes durch das unbestimmt gelassene victoria, das ja ein zu ergänzendes haec oder auch feminea erfordert und sich so an das Vorhergehende a n I e h n t, statt es kraftvoll zu fördern oder auch nur zu ergänzen. Mag man vielleicht den einen oder anderen Beleg für ein solches Nachklappern bei Vergil finden, an dieser Stelle wäre es besonders unschön: denn nec habet victoria laudem müßte als Abschluß eines konzessiven Bedingungssatzes großes eigenes Gewicht haben, weil die Apodosis darauf mit einem trotzigen tamen ... laudabor in stilistisch genauer Entsprechung bzw. Umkehrung antwortet. Der Spannungsbogen, den Protasis und Apodosis gemeinsam aufbauen sollten, wird hier an der entscheidenden Stelle gestört''· Die mangelnde Balance erzeugt den Eindruck eines überladenen und ausufernden Satzgefüges. 6 Kommentar zu II 584. Die Verse IV 93-5 haben, wie o. S. 12 dargelegt, dem Interpolator als Anregung gedient. 7 Lat. -eng!. Ausgabe, I..ondon 1965. 8 Seltsamerweise (?) wird nec habet sonst verteidigt durch den Hinweis auf die mit habet haec zusammenhängenden Probleme. 9 1971, S. 208 Anm. 12. 10 Auch Vergil liebt Doppelungen des Ausdrucks sehr (Belege u. S. 58). Wenn aber J. PERRET den zweiten Teil solcher Erscheinungen häufig als superflua anzusehen gewillt ist (Superflua demere, in: Melanges J. CoLLART, Paris 1978, S. 409), so verkennt er den Stilisten Vergil vollkommen. Sein scheinbar bestes Beispiel ist VIII 184:
postquam exempta fames et amor compressus edendi Die hier unbestrittene Tautologie (s. CONINGTON zur Stelle) erklärt sich durch das ebenfalls doppelgliedrige homerische Vorbild H 323: OlUTÖip flrEL lrOULO<; KOlL fO'ITIJO<; f~ epov EPTO
und durch Vergils generelles Bestreben, die umständlich konkrete Ausdrucksweise einiger fester homerischer Formeln als Patina über sein eigenes Epos zu legen. (Zu I 216 postquam exempta james epulis mensaeque remotae s. BERRES 1982, S. 292 Anm. 58). 11 In ähnlicher Weise stört Vers II 579 den ihn umschließenden Satz (s.o. S. 6tf.), jedoch ist 579 - darin aber anders als nec habet v. I. - inhaltlich keine bloße Wiederholung des unmittelbar Vorangehenden, sondern ftihrt darüber hinaus.
Der Text (li)
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Entschiede man sich trotzaller Bedenken für nec habet, führte nichts an der Annahme vorbei, daß der Interpolator einerseits geschludert, mindestens aber eiligen Textaufbau betrieben, andererseits - wie im Exkurs gezeigt extreme Sorgfalt im Kopieren von Vergils Stil und Sentiments an den Tag gelegt hätte. Einen Ausweg hieraus böte nur die Vermutung, Vergil sei es gewesen, der die Verse in großer Eile oder auch Nachlässigkeit provisorisch zu Papier gebracht habe. Die Konjektur nec habet kann, gemessen an sich selbst, keine Plausibilität oder Wahrscheinlichkeit beanspruchen. Dagegen weist das als Überlieferung geltende habet haec zwei Schwächen der Konjektur nicht auf: habet haec victoria Laudem ist nun nicht mehr eine lästige, abundante Verlängerung des etsi -Satzes, sondern seine auf eine scharfe Antithese angelegte Apodosis. Das vorher vermißte haec steht jetzt, durch den Zusammenfall von Wortakzenti 2 und Versiktus besonders betont, höchst wirkungsvoll an der richtigen Stelle. Doch läßt sich mit habet haec der gesamte Verskomplex 583 -7 nicht befriedigend konstruieren. Dieser Nachteil gereicht der Konjektur nec habet zum (einzigen) Vorteil. Hierin auch ist ihre Entstehung begründet: denn entweder lag ein Schreibversehen mit anschließender Schlimmbesserung vor 13 , das wegen vermeintlicher Qualität sein Glück bei den meisten Editoren machte, oder aber eine geniale Konjektur, genial allerdings nur darin, daß sie mit einer in paläographischer Hinsicht geringfügig erscheinenden Änderung 14 den Gesamttext lesbar machte. Andererseits ist die Überlieferung habet haec im beschränkten Rahmen der Verse 583/4 durch ihre völlige Unanstößigkeit, ja Notwendigkeit gesichert. Müßte man deshalb die crux - methodisch einwandfrei - nicht an einer anderen Stelle suchen? Könnte LUCK nicht recht mit der Annahme haben, daß die Verse 583 -7 nur "oberflächlich" "eine grammatische Einheit bilden" und deshalb Erklärungsversuche unmöglich seien, "solange man als syntaktisches Ganzes betrachtet, was keines ist" 15? Im Zentrum steht die Frage, worauf tarnen (585) zu beziehen ist und wie dementsprechend die Satzzeichen gesetzt werden müssen. BIRT interpungiert so: habet haec victoria Laudem, I exstinxisse nejas, tarnen; et ... mit der Erläuterung: "Das tarnen ist also weit nachgestellt, und wir haben habet tarnen haec victoria Laudem zu verbinden" 16 • exstinxisse nefas wäre dann epexegetischer Infinitiv zu haec victoria. BIRTS Vorschlag ist unhaltbar, da
12 Genauer: Satzakzent; denn das einsilbige, in der Arsis stehende haec wäre auch in ungebundener Rede das betonteste Wort der Apodosis. 13 habet hec- habet nec- nec habet (metrische 'Korrektur' durch Umstellung). So WATT bei AUSTIN: s.o. S. 21 Anm. 2. 14 Siehe o. S. 2 I.
" 1965, S. 54. 16
1913, S. 161 Anm. I.
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Der Text (II)
tarnen bei Vergil niemals an siebenter Stelle steht 17 und auch dem Interpolator, der ja in engster Anlehnung an Vergils Stil schreibt, eine solche Wortstellung nicht zugetraut werden darf18 • AUSTIN hatte in seiner früheren Arbeit (1961) die Interpunktion von BIRT geringfügig geändert und nach tarnen statt eines Semikolons ein Komma gesetzt. Ihn leitete dabei der Gedanke, daß tarnen primär zu habet gehöre und sein Einfluß (force) bis laudabor reiche 19 • Die Mängel von BIRTS Lösung bleiben dabei in vollem Umfang bestehen und werden von AUSTIN auch nicht verschwiegen20 • Behoben wurden sie durch MACKAIL, der nach nefas ein Semikolon setzte und tarnen zum Folgenden zog21 • AUSTIN, unzufrieden mit seiner eigenen früheren Lösung, schloß sich 1964 MACKAIL mit Bedenken an 22 • Er meint, daß tarnen möglicherweise eine lockere Wiederaufnahme sei, die auf etsi ... nomen zurückblicke. Es ist offensichtlich sein Ziel, dem (unabweisbaren) Eindruck vorzubeugen, daß tarnen einen Gegensatz zu habet haec victoria laudem exstinxisse nefas aufreißt, oder daß - unter einem anderen Gesichtswinkel - dem mit etsi eingeleiteten Nebensatz zwei konzessive, miteinander konkurrierende und sich nicht ergänzende Nachsätze folgen. Das betonte haec vor victoria (haec hat hier die volle Kraft eines tarnen: ein Sieg von so I c h er Art, daß er das Bedenken etsi . . . in poena est hinwegfegen kann) und das an die Spitze gestellte tarnen schließen einander aus. AUSTIN nimmt jedoch aufrichtigerweise - aber zum Nachteil seines Beweiszieles - seine Erklärung halb zurück und räumt ein, es sei klar (clearly), daß sumpsisse merentis laudabor poenas eine alternative Vorstellung (alternative idea) zu habet haec v. l. sei und beides nicht in einer vollendeten Fassung stehen könne23 • Dies kommt doch dem Eingeständnis gleich, daß das Autograph an dieser Stelle eine Doppelfassung (I gemeinsame Protasis und 2 konkurrierende Apodoseis) enthielt. Zur vorsichtigen
17 Bevorzugte Stellung ist die 2. Position, dann folgt die 3. (E.l ,27; 6,9; 8,20; G.4,130; A.I 477; IV 329.420; V 53.186.281; VIII 566), die I. (E.9,62; 10,31; 0.2,49), die 4. (E.3,7; A.XII815), die 5. (X 437) und die 6. (E.6,49: s. Anm. 18). In G.1,198 steht tamen an 2. Stelle, da es nur zu degenerare gehört. 18 tarnen würde in dieser Position unerträglich nachklappern (vgl. als Kontrast die extreme Stellung von tarnen in E.6,49: at non tam turpis pecudurn tarnen ulla secuta I concubitus). Die 22 Verse der Helenaszene zeigen eine gemäßigte (also normale) Wortstellung und schließen schon deshalb eine so ungewöhnliche von tarnen weitgehend aus. BIRTS Hinweis auf den vermutlich unvergilischen Ursprung der Verse (S. 161 Anm. I) lcann deshalb nicht helfen und ist überdies eine petitio principii. 19 S. 192. 20 "The long postponement of tarnen is uncomfortable, and the rhythm lumbers" (S. 192). 1964 verschärfte AUSTIN seine Kritik und sprach von "very long postponement" und "the very awkward rhythm" (S. 226). 21 1930, Komm. zu II 584f. Für die Anfangsstellung von tarnen verweist er auf E. 9,62; 10,31; G.2,49 (s.o. Anm. 17). 22 S. 226. AUSTINS Argumentation ist leider nicht ganz klar gehalten. 23 S. 227.
Der Text (II)
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Annahme einer Doppelfassung war schon P. DEUTICKE gelangt, der habet haec v. I. für einen möglichen Schluß von Aeneas' Selbstgespräch hielt24 und mit großen Bedenken die 3 folgenden Verse (585-7) als "Dittogramm" aussonderte25 • LUCK hat dann, durch AUSTIN angeregt und in Fortführung seiner Gedanken, nicht weniger als 3 Fassungen unterscheiden zu können geglaubt, von denen jedoch keine überzeugf6 •
1889, s. 331. Im Anhang zum Kommentar von LADEWIG-SCHAPER-DEUTICKE 1902. AUSTIN (1961, S. 197 Anm. 5) schreibt diese Annahme irrtümlich JAHN zu. 26 1965, S. 54 (s. auch o. S. 23). Die 3 Fassungen seien hier kurz erörtert: 24
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namque etsi nullum memorabi/e nomen jeminea in poena est, habet haec victoria laudem exstinxisse nejas animumque explesse iuvabit. animumque explesse iuvabit folgt allzu kraftlos auf das viel betontere (schon durch die größere Wortfiille bedeutendere) habet haec ... nejas. Außerdem stört das Futur iuvabit nach dem Präsens habet; vielmehr wünscht man sich die beiden Futurformen laudabor und iuvabit in einer Fassung I
vereinigt, wie in
namque etsi nullum memorabile nomen feminea in poena est, tarnen er sumpsisse merentis laudabor poenas animumque explesse iuvabit. Daß animumque explesse iuvabit jetzt nicht mehr so stark nachklappert, ist teuer erkauft: die g a n z e mit tamen eingeleitete zweiteilige Apodosis gerät inhaltlich gegenüber der mächtig einsetzenden Protasis zu schwach. Vor allem bleibt merentis merkwürdig blaß: seine wahre Bedeutung und Kraft erhält es nur, wenn exstinxisse n e f a s vorausgeht. - Dennoch könnte II
diese Fassung, fiir sich allein genommen, noch am ehesten zufriedenstellen.
111
namque etsi nullum memorabile nomen jeminea in poena est, habet haec victoria laudem ultricis famae er cineres satiasse meorum.
Diese Variante scheitert bereits an der neuentstandenen Verbindung laudem ultricis jamae, einer unerträglichen Tautologie, sowie an et, das nur noch gezwungen konstruiert werden kann. Der überlieferte Text gibt geringere Probleme auf. Generell: Setzt man eine Mehrfach- Fassung voraus, so muß jede einzelne eine mindestens befriedigende Einheit bilden. Die Unzulänglichkeit nur einer Fassung legt mit hoher Wahrscheinlichkeit die unzweckmäßige Rekonstruktion auch der übrigen nahe. Schon in dieser Hinsicht diskreditieren sich LUCKS Vorschläge gegenseitig. Außerdem ist es der Annahme einer Dreifachfassung besonders abträglich, daß Zeile 3 von I und Zeile 2 von II aus jeweils zwei halben Versen (585 a + 586 b bzw. 584 a + 585 b) bestehen. Der komplizierten Konstruktion entspricht die Unmöglichkeit der Erklärung, wie die 3 Fassungen ineinanderverschachtelt wurden. LucKs Alternative eines .Mißverständnisses" oder "Harmonisierungsversuches" trägt nichts zur Lösung bei: denn sowohl das (übrigens genial konstruktive) Mißverständnis als auch der (großartige) Harmonisierungsversuch setzen voraus, daß der Dichter der Helenaverse seine 3 Fassungen von vornherein auf eine Harmonisierung hin angelegt hätte, die durch ihre Qualität die 3 Ausgangsfassungen noch übertreffen sollte.
26
Der Text (II)
Die Verse ll 583-7 sind in die beiden folgenden Fassungen aufzulösen:
I
narnque etsi nullurn rnemorabile nornen ferninea in poena est, habet haec victoria laudern.
II
narnque etsi nullurn rnemorabile nornen ferninea in poena est, exstinxisse nefas tarnen et surnpsisse rnerentes laudabor poenas anirnurnque explesse iuvabit ultricis famae et cineres satiasse rneorurn.
583 584 583 584 a 585 586 587
Die Begründung dafür im einzelnen: Da habet haec (584 b) und tarnen (585) einerseits jeweils zwei konkurrierende Nachsätze einleiten, andererseits aber durch ihre eigene nächste Umgebung gegen textkritische Manipulationen geschützt sind, dürfen sie nicht zusammen in derselben Fassung auftreten. tarnen steht jetzt (II) an befriedigender 3. Stelle27 • Für etsi als Einleitung eines Satzgefüges u n d tarnen in 3. Position gibt es eine vergilische Parallele: ergo e t s i conferre manurn pudor iraque monstrat, obiciunt ponas tarnen et praeceptafacessunt armatique cavis exspectant turribus hostern.
(IX 44 -6)28
Man beachte auch, daß der Nachsatz ähnlich wie II strukturiert ist: tarnen ef9 •.• -que. Hier herrscht nicht das Spiel des Zufalls, hier schreibt, wie das nur IX 44 und li 583 von Vergil gebrauchte etsi zeigt, derselbe Stilist. Die Perfektinfinitive exstinxisse und surnpsisse sind nun nicht mehr, wie bei BIRT, MACKAIL und AUSTIN durch Interpunktion vor oder nach tarnen auseinandergerissen, sondern in e i n e m Satz vereinigt. Die so erreichte völlige Parallelität der Wortverbindungen exstinxisse nefas und surnpsisse merentes poenas verleiht dem sonst etwas blassen merentes das zukommende Gewicht: bedeutet doch das Auslöschen eines nefas, wie es Helena ist, die verdiente Strafe vollziehen. In beiden Fassungen hat die Apodosis genügend Gewicht, um die Protasis aufzuwiegen bzw. aufzuheben. Außerdem kommen beide ohne jede Änderung des überlieferten Wortlautes aus. Gegen Fassung II könnte man jedoch einwenden, daß sie einen halben Vers (584 a) aufweise und somit metrisch unvollständig sei 30 • Diese Siehe o. S. 24 Anm. 17. AUSTIN (1961, S. 192) betrachtete diese Verse als Bestätigung für sein Komma nach tarnen (II 585), obwohl sie doch - geht man wie er von der vergilischen Urheberschaft beider Stellen aus - ein schlagender Gegenbeleg sind! Siehe auch die folgende Anm. 29 Ein unmittelbar auf tarnen folgendes er nur an diesen 2 Stellen und V 281 (velafacittamen et velis subit ostia plenis), wo tarnen ebenfalls 3. Wort des Satzes u n d Verses ist. Stammt II 585 von Vergil, so sprechen V 281 und IX 45 entschieden dafür, bei II 585 weder vor noch nach tarnen zu interpungieren. 30 Um einem Mißverständnis vorzubeugen: hier handelt es sich nicht um einen der typischen vergilischen Halb- bzw. 'unvollendeten' Verse in statu nascendi, da sie grundsätzlich anderen Ursprungs sind (s.u. S. 99ff.). 27 28
Der Text (II)
27
scheinbare Schwäche aber führt nun von selbst in den Entstehungsprozeß der Doppelfassung: der Interpolator schrieb offensichtlich die beiden Versionen nicht getrennt nieder, so daß jede von ihnen in syntaktischer, inhaltlicher und metrischer Hinsicht eine Einheit hätte bilden müssen, sondern i n e i n e m Z u g u n t e r e i n a n d e r. Kaum hatte er I vollendet, so fiel ihm eine bessere oder mindestens gleichwertig scheinende Apodosis ein, die er nicht in der Mitte des Verses, sondern - natürlicherweise - am Anfang eines neuen beginnen ließ. Unverkennbar greifen die Verse 585-7 (II) den in habet haec victoria laudem 584 (I) in knappster Form angelegten Gedanken auf und führen ihn breit und mächtig aus. Gerade dieses Verhältnis von Apodosis II zu I verleitete die Gelehrten zu Harmonisierungsversuchen, die freilich - wie stets bei Doppelfassungen - nicht gelingen wollten31 •
31 Hier tut eine Besinnung auf textkritische Grundsätze (im Sinne von P. MAAS' Textkritik) not. Hat die Recensio des Textes zu dem Resultat geführt, daß eine Doppelfassung als überliefert gelten muß, so prüft die Examinatio, ob diese Überlieferung als original angesehen werden darf. Sie m u ß es sein, wenn sie die beste ausdenkbare ist. Bringtjedoch eine Konjektur (oder andere Manipulation) ein gleichwertiges Ergebnis, besteht über das Original Unsicherheit. Da die Konjektur nec haber zwar die Doppelfassung (die, für sich genommen, weder 'gut' noch 'schlecht' ist) beseitigt, aber andererseits den Text verschlechtert, und da trotz intensiver Bemühungen mehrerer Forschergenerationen keine befriedigende Erklärung oder evidente Emendation der Verse gefunden worden ist, müssen wir in der überlieferten Doppelfassung auch den originalen Wortlaut sehen. Dies um so mehr, als sich ihre Umgebung, die Helenaverse, überhaupt in einem offensichtlich unfertigen Zustand befindet. Allerdings steht der Identifizierung einer Doppelfassung das psychologische Moment entgegen, daß man bei der Textkonstitution von dem berechtigten und fast immer zutreffenden Vorurteil ausgeht, der originale Wortlaut zeichne sich durch kohärentes (inhaltlich, logisch, syntaktisch etc.) Fortschreiten (wozu übrigens auch Rückgriffe u.a. gehören können) aus. Doppelfassungen bleiben daher häufig lange unentdeckt. Dazu zwei Beispiele: Das erste betrifft Lukrez, dessen Werk ganz ähnlich wie die Aeneis postum ediert wurde. Lukrez hat nach dem Proömium zum 4. Buch zwei miteinander rivalisierende Überleitungen (26-44; 45-53) geschaffen. Selbst wenn man die Verse 45-53 einem lnterpolator zuschreiben wollte, bleibt das Faktum der erst von MEWALIJf erkannten (Hermes 43, 1908, S. 286ff.) Doppelfassung bestehen. Bis dahin las man den Text, wie ihn MARULLUS durch Umstellung mehrerer Versgruppen und durch Athetese der Verse 49 und 50 (die gleichlautend sind mit 29 und 30) 'harmonisiert' hat. Das andere Beispiel entnehme ich Caesar. Bell. Gall. 4,10,112 fließt die Maas - dem überlieferten Text zu folge - zuerst in den Ozean (in Oceanum itifluir) und dann in den Rhein (in Rhenum influir). Diese geographische Unmöglichkeit wollten die Herausgeber KLOTZ und SEEL durch Athetese von in Oceanum influir und eines -que beheben. CONSTANS und BARWICK haben unabhängig voneinander die Doppelfassung entlarvt, von denen eine, wie ich glaube, auf den korrigierenden Eingriff eines lnterpolators zurückgeht (s. BERRES, Hermes 98, 1970, S. 154ff.). - Über eine Doppelfassung bei Ovid (met. 1,544ff.) handelt BöMER, Kommentar (Heidelberg 1969) zur Stelle. Bei Lukrez und Caesar dient also die Athetese von Textstücken einzig und allein der Harmonisierung zweier nicht (oder nur unklar) erkannter Dubletten. Denselben Zweck verfolgt bei Vergil die Ersetzung von ilaber /iaec durch die Konjektur nec haber, deren einzige Aufgabe darin besteht, den Hauptsatz /iaber /iaec v. !. in einen Nebensatz zu verwandeln, damit er in einen vermuteten syntaktischen Zusammenhang eingefügt werden kann. Sinn einer Konjektur sollte die Behebung einer Textverderbnis oder doch zumindest die Verbesserung eines bereits befriedigen-
28
Der Text (II)
Die eilfertige Sorglosigkeit des Interpolators ist innerhalb der Helenaverse nicht einzigartig. Hatte er doch schon mit 579 einen Vers geschaffen, der die umgebenden Verse zugleich bereichert als auch stört (s.o. S. 6ff.). Offensichtlich konnte er der drängenden Fülle seiner Einfälle nicht anders Herr werden, als daß er sie nur notdürftig sortierte und, um ein vollkommenes Resultat unbekümmert, in großer Hast niederschrieb oder diktierte. Weitere Zeichen für diese Eile sind die 'unvergilischen' extremen Wortwiederholungen (s.u. S. 37ff.), die metrischen Stereotypien (S. 29ff.), die allenthalben feststellbare Abundanz im Ausdruck (S. 52), die bisweilen ungehemmt sprachschöpferischen Kühnheilen (sceleratas poenas; exstinxisse nefas; merentes poenas; ultricis famae) und wohl auch der vermutlich metrisch gestörte Vers 572 (o. S. 5f.). Die Ergebnisse der nunmehr beendeten Textkonstitution der Helenaszene schließen die Annahme aus, ein lnterpolator habe sich der ungeheuren und wegen des FehJens geeigneter Hilfsmittel unmöglichen Aufgabe unterwgen, sich Vergils Stil und Gedankenwelt bis ins allerletzte Detail (wovon ich bisher nur einige Proben gegeben habe) anzueignen, um d an n eine Lücke des Aeneistextes mit eilig hingeworfenen Versen zu füllen, ja sogar eine Doppelfassung stehen zu lassen. Der eilige Interpolator war Vergil selbst.
den Wortlautes sein. Nun bedeutet aber eine Doppelfassung, sofern sie nicht ihrerseits durch Fehler entstellt ist, keinen Überlieferungsschaden. nec habet beseitigt also nicht eine Korrupte!, sondern versucht - aus einer Fehlinterpretation des tradierten Textes erv..achsend - eben dieses Mißverständnis in die syntalctisch und inhaltlich völlig tadelsfreien Verse hineinzutragen. Der Wert solcher Konjekturen, Umstellungen, Athetesen etc. beruht also nur darin, daß sie gerade wegen ihrer methodischen Fragwürdigkeit (petitio principii) und technischen Unzulänglichkeit (siehe die Resultate!) die übersehenen oder geleugneten Doppelfassungen unfreiwillig als authentisch entlarven helfen.
METRIK Die Helenaszene stellt wegen ihres geringen Umfanges von 22 Versen für metrische Untersuchungen nur eine sehr unsichere Grundlage dar. Singularitätendes Versbaus können deshalb weder für noch gegen Vergils Verfasserschaft angeführt werden'. Nur statistisch stark in Gewicht fallende Eigentümlichkeiten können Hinweise geben. Dabei ist zu berücksichtigen, daß die Helenaverse nicht vollkommen ausgearbeitet sind und deshalb in metrischer Hinsicht nicht typisch für den Verfasser sein müssen. NORDEN hat festgestellt, daß in einem Abschnitt von 15 Versen der Helenaepisode 3 mal Synaloephe eines spondeischen Wortes vor der Penthemimeres stattfindet (573 Troiae et; 580 turbä et; 587 famae et), während sonst durchschnittlich bei Vergil 1 Fall auf 89 Verse komme2 • Dem steht SHIPLEYS Beobachtung entgegen, daß diese Synaloephen nicht gleichmäßig über Vergils Werk verteilt sind, sondern gehäuft auftreten können 3 • SHIPLEY führt zwei Passagen an: ill 188-222 (188 Phoebo et; 200 cursu et; 222 ferro et) und XII 757 -71 (757 circa et; 769 divo et; 771 puro ut) 4 • Dies ist, bezogen auf die ganze Aeneis, eine geringe Ausbeute, zudem in ihrem Wert gemindert dadurch, daß es sich um Versgruppen handelt, die keine i n h a I t I i c h e Einheit bilden5 . In m 188-222 zeigt sogar ein Halbvers (218) an, daß die Passage zu unterschiedlichen Zeiten entstanden ist6 . Geht man nun über die von NORDEN getadelten Sonderfälle hinaus und vermehrt die Elisionen um die Fälle, in denen vor der Penthemimeres et auf ein (nicht notwendigerweise spondeisches) Wort mit auslautendem Vokal
1 Singularitäten sind - für sich genommen - niemals verdächtig. NORDEN wertet die Enklisis von est an langes a in II 584 (feminea in poenil est) als .Kriterium für die Unechtheit", denn an dieser Versstelle komme solche Enklisis bei Vergil wohl nur noch einmal (G.1 ,83 nec nulla interea est) vor, Enklisis von est an kurzes a hingegen 16 mal (1916, S. 454). Doch erlaubt dieser Befund, wie SHIPLEY einwendet (1925, S. 182), nicht den Schluß, daß Vergil diese Kombination vermieden habe, da man vor est viel eher den Nominativ eines femininen Substantivs oder Adjektivs erwarte als den Ablativ oder ein Adverb.
2 1916, ' 1925,
s. 454.
S. 178ff. - Übrigens finden sich solche Ansammlungen bei fast allen metrischen und stilistischen Phänomenen. Sofern sie nicht beabsichtigt sind (z.B. Anapher), werden sie entweder durch das Spiel des Zufalls oder ~ wesentlich häufiger - durch das psychologische Gesetz der Wiederholung verursacht. Kein Dichter vermag sich bei seiner Arbeit, auch wenn er noch so sehr auf Variation bedacht ist, dem Eindruck gerade des zuletzt Geschriebenen vollständig zu entziehen, und er gerät so in eine gewisse (unbewußte) Abhängigkeit seines eigenen 'Vorbildes'. Je höher das Schreibtempo, desto zahlreicher die Wiederholungen (s.u. S. 37ff.). 4
S. 180.
5
Kritik bei AUSTIN 1961, S. 187 Anm. 5. Siehe BERRES 1982, S. 230ff. und u. S. 14lf.
6
30
Metrik
oder m folgt, nimmt die Möglichkeit, Parallelmaterial zu finden, nur geringfügig zu. Die Helenaverse weisen dann 6 Belege auf (572 poenam1 et; 573; 576; 580; 587; 588). Damit vergleiche man TI 401-12 (401; 409; 412), li 475-95 (475; 478; 484; 495), li 749-808 (749; 766; 775; 780)9 , V 737-47 (737; 743; 744; 747), VI 216-30 (216; 223; 227; 230), VII 66-70 (66; 69; 70), XII 757-73 (757; 769; 77W 0 • Allerdings hat kein Vergleichsabschnitt mehr als 4 dieser Elisionen, so daß der Eindruck einer abnorm langen Serie in der Helenaszene nicht gänzlich beseitigt werden kann. Offensichtlich hat der Verfasser entweder äußerst flüchtig 11 gedichtet oder seine Verse nach einem starren 12 Schema verfertigt. Obwohl für eine genauere Beurteilung dieser besonderen Synaloephenform auch die Anzahl sämtlicher Verschleifungen berücksichtigt werden müßte, ist dies bisher unterblieben. Im Folgenden unterscheide ich nicht zwischen Elision (Synaloephe) und Aphärese, sondern fasse sie unter dem Oberbegriff 'Verschleifung' zusammen 13 • ·· Die Übersicht führt s ä m t I i c h e s von mir untersuchtes Versmaterial auf (Der Vorwurf einer tendenziösen Auswahl kann mich also nicht treffen). Angegeben wird der Prozentsatz der Verschleifungen bezogen auf die VerszahL Verg. A.II 567-88 (Helenaverse) li 466-566 14 li 589-688 15 X 606-705 XI 794-893 XII 500-599 Ciris 16
101-200
109% 69% 66% 58% 60% 60% 39%
Wahrscheinlich muß jedoch das unmetrische poenas in den Text gesetzt werden (s.o. S, 5f), Zum Halbvers 767 S, BERRES 1982, S, 14ltf. und u. S. 141, 9 SHIPLEY S, 181, 10 SHIPLEY S. 179, 11 Siehe o, S. 29 Anm, 3, 12 AUSTIN (1961, S, 187 Anm. 8) versucht das 9malige Auftreten von er in den Helenaversen mit dem Hinweis auf VI 2I2-3I ("a highly finished passage") zu entschärfen, wo et 8mal erscheint, davon 4mal unmittelbar vor der Zäsur. Er übersieht jedoch, daß die Passage in VI rein erzählender Natur, eine entsprechend anreihende Darstellungsweise dort also unanstößig ist. 13 Es gibt sehr unterschiedliche Typen von Elisionen, die bisweilen sogar einer "partial aphaeresis" (SHIPLEY S. 177f) nahe kommen. - Da die Helenaverse 23 Elisionen, aber nur I Aphärese aufweisen, fehlt für den statistischen Vergleich der Häufigkeit von Aphäresen die Grundlage. 14 Ohne den Halbvers 468, 15 Il 466-566 und Il 589-688 sind die der Helenaszene unmittelbar vorangehenden bzw. folgenden Verse, 16 Siehe BüCHNER 1955, Sp, 98. 7
8
31
Metrik
Ovid met. 2, l -100 3,407-506 8,738-837 15,100-199 Culex 17
42-141
Lucan
l ,100-199 6,118-220 18 10,53-152
30% 23% 30% 32% 10(11)% 21% 14% 12%
Die auf Lucan folgende Epik kann außer Betracht bleiben, da sie die Helenaverse vermutlich kennt (s.u. S. 63ff.), also später ist. Wenn auch der Prozentsatz von 109 (entspricht 24 Verschleifungen) für die Helenaszene wegen ihrer schmalen Textbasis von 22 Versen untypisch hoch für den Verfasser sein sollte, so steht doch exzessive Zulassung von Verschleifungen fest. Von den zum Vergleich herangezogenen anderen Dichtern kommt dieser Manier bzw. Unempfindlichkeit I Nachlässigkeit nur Vergil einigermaßen nahe. Die Übereinstimmung wird noch größer, wenn man aus den untersuchten Aeneisstellen Abschnitte von 22 Versen mit starker Häufung herausnimmt und isoliert betrachtet: A.ll 514-35 614-35 651-72 662-83 XI 861-82 19 xn 567-88
100% 86% 95,5% 86% 81% 86%20
Da ich von dem gesamten Versbestand der Aeneis nur etwa 5% untersucht habe, dürften sich wahrscheinlich Abschnitte finden lassen, in denen Verschleifungen noch etwas zahlreicher vertreten sind als in den Helenaversen21 . Als vorläufiges Resultat verdient festgehalten zu werden: die gehäuft auftretenden Elisionen bei et vor der Penthemimeres hängen mit der Neigung des lnterpolators zusammen, Verschleifungen überhaupt in abnorm
Sp. 79.
17
BÜCHNER
18
= 100 Verse in der Ausgabe von HousMAN.
19
Verlängert man dieses Teilstück um 5 Verse (bis 887), so ergeben sich sogar 92,5%. Zum Vergleich: die 'günstigsten' Abschnitte aus Ciris und Ovid met. sind:
20
117-38 Ciris Ovid met. 15,132-53
54,5%
59%
Die von SIDPLEY angeführte Partie II 749-80 (= 32 Verse!) hat immerhin 97% Verschleifungen. 21
32
Metrik
hohem Maße zuzulassen. Diese Neigung findet sich auch bisweilen bei Vergil, nicht jedoch in der übrigen Epik bis Lucan. Die statistische Untersuchung22 der Verseinschnitte23 in der Helenapartie läßt eine besonders geringe Frequenz der ersten 3 Einschnitte erkennen.
a = Einschnitt nach dem 1. Longum, also Monosyllabum am Versbeginn b = nach dem 1. Trochäus c = nach dem I. Daktylus
a
b
c
Summe a-c
Verg. A.TI 567-88 (Helenaszene) TI 466-566 TI 589-688 X 606-705 XI 794-893 XTI 500-599
9% 28% 30% 42% 26% 23%
4,5% 8% 14% 17% 14% 10%
13,6% 37% 40% 32% 40% 34%
27% 73% 84% 91% 80% 67%
101-200
33%
10%
38%
81%
Ovid met. 2,1-100 3,407-506 8,738-837 15,100-199
32% 43% 17% 27%
26% 28% 37% 30%
48% 48% 44% 42%
106% 119% 98% 99%
Culex
42-141
30%
13%
46%
89%
Lucan
1,100-199 6,118-220 10,53-152
34% 37% 33%
20% 15% 21%
32% 37% 32%
86% 89% 86%
Ciris
Durchschnitt:
85%
Die exzeptionelle Stellung der Helenaverse wird besonders deutlich, wenn man jeweils die Prozentsätze für a, b und c addiert. Während die durchschnittliche Rate 85% beträgt, liegt sie in der interpolierten Partie bei 27%. Der am nächsten kommende Betrag ist 67% (Vergil A.XTI 500-599). Auch hier können wir die statistischen Ergebnisse schönen, indem wir Gruppen von je 22 Versen isolieren:
22
23
Basiert auf demselben Versmaterial wie die Untersuchung über die Verschleifungen. Verseinschnitt = Wortende. Bei Elision oder Aphärese nehme ich kein Wortende an.
33
Metrik
a
b
c
Summe a-c
9% 13,6% 23% 45% 23% 9%
4,5% 13,6% 4,5% 23% 18% 4,5%
13,6% 32% 27% 18% 23% 13,6%
27% 59% 54,5% 86% 64% 27%
130-51
36%
4,5%
23%
64%
Ovid met. 2,1-22 3,420-41 8,764-85 15,105-26
18% 36% 9% 23%
23% 23% 9% 18%
36% 41% 45% 32%
77% 100% 64% 73%
Culex
112-33
27%
9%
32%
68%
Lucan
1,147-68 6,122-43 10,103-24
27% 45% 18%
4,5% 4,5% 23%
41% 23% 23%
73% 73% 64%
Verg. A.ll 567-88 (Helenasz.) n 501-22 n 619-40 X 606-27 XI 862-83 xn 576-97 Ciris
Durchschnitt:
65%
Die vergilischen Abschnitte (ohne Helenaverse) weisen mit 58% den deutlich geringsten Durchschnitt der Prozentsumme a -c auf. Der Durchschnitt der übrigen Versgruppen beträgt 73%. Besondere Hervorhebung verdient, daß die Versfolge A.Xll 576-97 denselben Summenprozentsatz wie die Helenaverse hat (27%) und sogar dieselbe prozentuale Verteilung der 3 Verseinschnitte a, b und c. Unter Berücksichtigung der Verschleifungen ergibt sich für die jeweils 'besten' Abschnitte ein noch bemerkenswerteres Bild: Summea-c 27% 27%
109% 77%
130-51
64%
41%
Ovid met. 8,764-85
64%
27%
Culex
112-33
68%
4,5(9)%
Lucan
10,103-24
64%
27%
Verg. Ciris
A.ll 567-88 (Helena) xn 576-97
Verschleifungen
34
Metrik
Auch wenn diese statistischen Ergebnisse auf der Untersuchung verhältnismäßig geringer Versmengen beruhen und der Zufall hier geholfen haben mag, wage ich die Behauptung, daß sich in der nachvergilischen Epik bis einschließlich Lucan keine Versgruppe finden läßt, die auch nur annähernd die Werte von Verg. A.Xll 576-97 erreichen wird. Wohl aber wird man in der Aeneis, da ich nur den 20. Teil ihres Versbestandes überprüft habe, weitere schlagende Parallelabschnitte zu der Helenaszene entdecken 24 • Was können aber nun solche vergilischen Parallelen für die Verfasserfrage bedeuten? Es ist nicht denkbar, daß der Interpolator bei ausgedehnten Studien die Neigung Vergils zu gelegentlich extremen Häufungen metrischer Besonderheiten aufspürte und sich solche Stellen zum Vorbild für die eigenen Verse nahm. Hätte er Vergil imitieren wollen, hätte er die Zahl der Verschleifungen auf das in der Aeneis ü b I i c h e Maß reduziert und die Anfänge seiner Hexameter durch erheblich vermehrte Einschnitte lockerer und leichter gemacht. Verwunderlich ist, daß der Interpolator einer Marotte verfiel, die auch Vergil, obschon sehr selten, teilte! Welcher Zufall! Andererseits ahmte der Verfasser der Helenaverse Vergil in Stil und Gedanken so sehr nach, daß seine Leistung nur als Frucht jahrelanger Forschung an der Aeneis verstanden werden kann. In ihm vereinigen sich also zwei gegensätzliche Merkmale: höchste Bemühung um Vergilimitation und völlige Vernachlässigung von Vergils normalen Gepflogenheiten25 • Die Auflösung dieses Widerspruchs beantwortet die Frage nach dem Verfasser. Die Annahme, der Interpolator habe den Bereich 'Stil und Gedanken' imitiert, den Bereich 'Metrik' jedoch aus uns unbekannten Gründen unberücksichtigt gelassen, hilft nicht weiter. Denn auch die Metrik hat er auf eine ganz verstiegene Weise berücksichtigt, indem er sich an versteckten vergilischen Eigentümlichkeiten orientierte. Hingegen verstieß er sogar gegen Vergils Stil durch Zulassung extrem ausgeprägter Wortwiederholungen (s.u. S. 37ff.). Diese immer größere Rätsel aufgebenden Befunde erlauben jedoch eine Präzisierung des Dilemmas: der Interpolator imitierte, wo es am schwierigsten war, und setzte sich über sein Vorbild hinweg, wo er am leichtesten hätte imitieren können. Dies bedeutet, daß man ihn von dem vielfach erhobenen Vorwurf, er sei ein Fälscher, freisprechen muß. 24 Ausgehend von SmPLEYS Stellen A.VII 66-70 und XII 757-73 mit gehäuften Elisionen bei et vor der Penthemimeres (s.o. S. 30) kam ich zu folgenden Beobachtungen:
VII 65-79 {= 15 V.) XII 755-73 {= 19 V.)
a
b
c
a-c
Verschleifungen
13% 26%
13% 10,5%
6,7% 10,5%
32,7% 47%
100% 84%
25 MURGIA verkennt also vollkommen den metrischen und stilistischen Charakter der Helenaskizze, wenn er schreibt: "it is easier to imitate the peculiarities of a poet's style than his variety, taste, and restraint In seeking to produce a Virgilian passage, the poet has gone too far" (1971, S. 215).
Metrik
35
Aber er kann auch kein Dilettant gewesen sein, der aus irgendwelchen Gründen eine Lücke des 2. Aeneisbuches füllen wollte. Vielmehr stand er Vergil an Rang nahe, ja, weil er ihn in schwierigsten Bereichen perfekt nachzuahmen verstand, sogar noch über ihm. Nur muß ihm allerdings der Wille abgesprochen werden, Vergil überhaupt zu imitieren. Wer aber war er dann? Vergil selbst, der hier eine ebenso geniale wie flüchtige Skizze entworfen hat, ohne sie jedoch in eine endgültige Form zu bringen. So erklärt sich die völlige Vertrautheit des Verfassers der Helenaverse mit Vergils Dichtkunst. Aber auch die Abweichungen passen nunmehr ins Bild: die metrischen, stilistischen und, weniger ausgeprägt, inhaltlichen Wiederholungen resultieren aus der Geschwindigkeit, in der die Verse entstanden sind26 • Zugleich treten dadurch gewisse Eigentümlichkeiten Vergils stark in den Vordergrund, die der Dichter sonst durch vielfache Überarbeitungen zu vermindern suchte. Die Anfertigung solch flüchtiger Versfolgen ist für Vergil aus bester Quelle bezeugt. Wir erfahren aus dem Buch der Freunde über Vergil (de ingenio moribusque eius27 ), daß er jeden Morgen sehr viele Verse ersonnen, diktiert und sie während des ganzen Tages überarbeitet und auf sehr wenige reduziert habe28 • Eine Bestätigung für diese Nachricht gibt Quintilian, der sich auf Varius, den Freund Vergils und Herausgeber der Aeneis, beruft29 • Vollends beweist die im Text verbliebene Doppelfassung (li 583-7)30 den provisorischen Charakter der Helenaskizze und zugleich die Verfasserschaft Vergils. Denn da beide Varianten auf ein und denselben Autor zurückgehen, kann es sich nicht um das Werk eines Interpolators handeln, der die Vorstufen seiner eigenen Komposition natürlich unter allen Umständen unterdrückt hätte. Dagegen kann sich Vergil die Freiheit nehmen, eine Dublette stehen zu lassen, in der Hoffnung, bei anderer Gelegenheit entweder die bessere Fassung zu wählen oder sie durch eine dritte zu ersetzen. Vergil aber starb über der Arbeit an der Aeneis, ohne daß er noch die letzte Hand hätte anlegen können.
Siehe o. S. 29 Anm. 3. Titel bei Gellius, noct. Att. 17,10,2. Zur Existenz dieses Buches s. BERRES 1982, S. 7-9. 28 Cum Georgica scriberet, traditur cotidie meditatos mane plurimos versus dictare solitus ac per totum diem retractando ad paucissimos redigere (Sueton- Donat-Vita § 22). Dieses nur fiir die Georgica bezeugte Vorgehen gilt natürlich auch für die Aeneis. 29 Über den impetus beim Schreiben sagt Quintilian: si feret !Iatus, danda sunt vela, dum nos indulgentia illa non fallat: omnia enim nostra, dum nascuntur, placent: alioqui nec scriberentur. sed redeamus ad iudicium et retractemus suspectam facilitatem. sie scripsisse Sallustium accepimus, et sane manifestus est etiam ex opere ipso Iabor. Vergilium quoque paucissimos die composuisse versus auctor est Varius (inst. or. 10,3,7 -8). 30 Siehe o. S. 2lff. 26
27
WORTWIEDERHOLUNGEN Die hohe Zahl von Wortwiederholungen innerhalb der Helenaepisode hat schon früh die Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Ohne jede Analyse der einzelnen Wiederholungen kam man zu entgegengesetzten Schlüssen. Die Bemerkungen im Rahmen der folgenden Aufstellung gehen von der Annahme aus, daß die Verse von fremder Hand seien. a) sede (568) - sedebat (574) secreta in sede (568) aus secretis ... sedibus (Vll 774f.): s.o. S. 20; sedebat (574) ist möglicherweise Nachklang von sedebant (ll 517) wegen großer inhaltlicher Nähe.
b) aspicio (569) - aspiciet (578) aspicio (569) vielleicht aus ll 596 entlehnt (s. auch respicio, ll 564)
c) ferenti (570) - ferebar (588) d) poenas (572) - sumere poenas (576) - poena (584) - sumpsisse ... poenas (585f.) sumere poenas (576) aus VI 501 (s.o. S. 18f.) und Xll 949 (s.o. S.lOf.).
e) coniugis (572) - coniugium (579) coniugium (579) aus XI 270 (o. S. 8) f) iras (572) - ira (575)
et deserti coniugis iras (572): Nachklang von atque ereptae virginis ira (ll 413; vgl. auch IX 736): o. S. 6.
g) patriae (573 [ = Griechenland]) - patriam (576 [ = Troja]) patriasque (577) - patres (579) Troiae et patriae communis Erinys (573) ist Umformulierung von Catull c. 68,89: Troia (nefas!) commune sepulcrum Asiae Europaeque1 (Der vorangehende Catullvers klingt in A.VI 165, der nachfolgende in I 566 nach); patriasque Mycenas (577) aus patrias ... Mycenas (ll 180) und Vll 766 (o. S. 16); mit patres (579) vgl. XI 269f. und r 140 (o. S. 7f.).
1
Siehe u. S. 63f.
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Wortwiederholungen
h) exarsere ignes (575 [= Zorn]) - arserit igni (581 [=Feuer]) exarsere ignes animo (575) ist vergilisch: exarsit ... dolor (V 172), exarsit in iras (Vll 445), ignescunt irae (IX 66), increscunt animis discordibus irae (IX 688), irae ... surgunt (X 813f.), adsurgunt irae (Xll 494); vgl auch ardent animt (ll 316). i)
animo (575) - animumque (586)
k) ulcisci (576) - ultricis (587) Zu ultricis (587) s.o. S. 15. l)
haec (577 [ = Helena]) - haec (584 [zu victoria]
m) laudem (584) - /audabor (586) Hier liegen zwei sich ausschließende Varianten vor (s.o. S. 21ff.) n) et (9mal) Siehe o. S. 30 Anm. 12. Völlig unanstößig sind a2 , b3, c4 , e5 , fi, i7 , k und I, ebenso m wegen der Doppelfassung. Auch die Gesamtzahl dieser unauffälligen Iterationen entspräche in ihrer Höhe (9) vollkommen vergilischen Gepflogenheiten 8 • Vgl. sedebant (II 517) - sede {II 525). Vgl. aspicies (II 596) - aspice (II 604). 4 Vgl. ferentem (G.2,56) -Jen (G.2,60). 5 Vgl. coniugis (XI 267) - coniugium (XI 270). 6 Vgl. irae (IX 688) - ira (IX 694). 7 Vgl. animos (XI 315) - animus (XI 325). 8 In den nur 20 Versen des inhaltlich in sich geschlossenen Abschnitts II 506-25 finden sich 13 Beispiele: 2
3
vidit (507) - vidit (5 I 9) medium (508) - mediis (512) hostem (508) - hostis (511) arma (509) - armis (518) aevo (509) - longaevum (525) circumdat (510) - circum (515) nequiquam (510) - nequiquam (515) cingitur (5 I I) - cingi (520) moriturus (511) - moriere (524) ara (513) - arae (514) - ara (523) complexa (514) - amplexae (517) sedebant (517) - sede (525) ipsum (518) - ipse (522) Ähnliche Partien sind bei Vergil extrem häufig, z.B. kurz zuvor die Passage II 469-95:
ipsum (469) - ipse (479) - ipsi (491) primoque (469) - primos (479) - primo (485) - primosque (494)
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Übrig bleibend, g, h und n, für die sich bei Vergil wohl vergleichbare Fälle finden Iassen 9 , die in ihrer Häufung (erheblich verschlimmert durch die anderen Wortwiederholungen) aber ein unschönes Bild bieten 10 • Ein großer Teil der Repetitionen (a, d, e, f, g, h, k) beruht - sofern wir an einen Interpolator glauben - auf extrem aufwendiger und virtuoser Vergilimitation (siehe die jeweiligen Bemerkungen). Schon aus diesem Grund irrt GRUPPE, wenn er von Wiederholungen spricht, "wie sie das gewöhnliche Schicksal eines späteren Einschubs sind, denn die geübte Hand vermeidet dergleichen schon im flüchtigsten Wurf" 11 • Umgekehrt unterstellt MURGIA dem Interpolator, er gebrauche die Wiederholungen bewußt (conscious) und sei "proud of these repetitions" 12 • Aber zumindest das neunmalige et und die inhaltlich unterschiedlichen Wendungen exarsere ignes (575) - arserit igni (581) entspringen weder einem bewußten Stilwillen, noch mag der Autor über das wenig geglückte Resultat Freude empfunden haben. Wenn auch die Antike gegen Wiederaufnahme von Wörtern in geringem Abstand nicht sehr empfindlich war 13 , so überschreitet der Interpolator doch den üblichen Rahmen 14 • Das Bemühen limine (469) - limina (480) - limine (485) ore (475) - ore (482 [wenig schön: s.u. S. 57 Anm. 76)) ingens (476) - ingentem (482) - ingentibus (489) tecto (478) - tectis (489) perrumpit (480) - rumpunt (494) posrisque (480) - posris (490) - posres (493) cavavif (481) - cavae (487) /ato (482) - /ate (495) domus (483) - domus (486) vi (491) - vi (494) Unberücksichtigt blieben die absichtlichen Wiederholungen. 9 A. POUTSMA (De repetitionis genere quodam, Mnemosyne N.S. 41, 1913, S. 397-425, ftir Vergil S. 415-9) hat eine Reihe unschöner Beispiele gesammelt, u.a.: iacentem (E.6,14) iacebant (16); curant (0.1,301) - curasque (302); fone (A.I 375) - forte (377); somnos (IV 555) - somnis (557); celerem (XII 853) - celerique (855) - celeris (859); besonders lästig, ja irrefUhrend ist die Wiederholung von comes im Abschnitt IX 176-9:
Nisus erat ponae custos, acerrimus armis, Hyrtacides, c o m i t e m Aeneae quem miserat /da venatrix iaculo celerem /evibusque sagittis, er iuxta c o m e s Eurya/us ... 10 Siehe auch u. S. 56f. II 1859, S. 180f. 12 1971, s. 215. 13 So urteilt Quintilian über die iteratio (inst. or. 8,3,51): haec enim, quamquam non magnopere a summis auctoribus vitata, interim vitium videri potest, in quod saepe incidit etiam Cicero securus tarn parvae observationis, sicut hoc loco: 'non so/um igitur i/lud iudicium iudicii simile, iudices, non.fuit'. Siehe CoNTE 1978, S. 61 Anm. I. 14 Aus dem Rahmen fällt auch Caesar, dessen Neigung zu Wiederholungen "eines der charakteristischen Stilmerkmale seiner Commentarii" ist (F. HECKMANN, Geographie und Ethnographie in Caesars Bellum Gallicum, Dortmund 1930, S. 35f.). So findet sich auf engstem Raum (B.G. 1,49,1-3) die Sequenz locum- loco- locum- locum- locus. Weitere Beispiele bei HECKMANN S. 36f. - Ich ftihre diese Erscheinungen auf Caesars hohes Schreibtempo zurück.
Wortwiederholungen
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eines Interpolators richtet sich im allgemeinen vielmehr auf das Vermeiden solcher stilistischen Auswüchse 15 • Außerdem sollte man annehmen, daß sich der Verfasser der Helenaverse, dem sonst ja große imitatorische Fähigkeiten zugeschrieben werden, auch bei der Wortiteration an sein Vorbild gehalten hätte. "Repetitions for artistic effect is a weil- known feature of the style of Virgil, as of most poets" (MURGIA 16). Von solchen, auf höchste Wirksamkeit berechneten Wiederholungen findet sich jedoch keine einzige in der Helenaepisode, obwohl MURGIA behauptet, der Interpolator habe die größte Mühe aufgewandt, um in den nur 22 Zeilen seine "Virtuosität" zu zeigen 11 • MURGIA unterscheidet offenbar nicht zwischen Wortwiederholungen, die aus künstlerischen Gesichtspunkten erfolgten 18 , und solchen, die ohne besondere Absicht zugelassen wurden. Die Zahl der unabsichtlichen ist bei Vergil stellenweise recht hoch 19 • Aber nur selten fallen einzelne Iterationen störend auf 20 • Es ist demnach so gut wie ausgeschlossen, daß der Interpolator die im allgemeinen nicht wahrnehmbaren unbewußten Wortwiederholungen Vergils zum Gegenstand seiner Bemühungen machte und dermaßen ungeschickt übertrieb, daß sie nunmehr Anlaß zur Kritik geben. Den neueren Vertretern der Unechtheit ist viel daran gelegen, den vollendeten Zustand der Helenaverse zu beweisen. Denn eine unfertige Partie spräche entschieden gegen die Annahme einer Interpolation. GOOLD glaubt, daß sie "a finished product" sei. "Whoever composed it meant it to stand as it is" 21 • Er verlegt also den Maßstab für Vollendung bzw. Nichtvollendung in das subjektive Ermessen des Verfassers. Mit diesem
" Ein schöner Beleg daftir sind die geographischen Interpolationen im Bellum Gallicum (zu Caesars Stil s. die vorige Anm.), deren Urheber mühsam um Variation des Ausdrucks ringt (zu B.G. 1,1,5-7 und 5,13 siehe BERRES, Hermes 98, 1970, S. 167-9). 16 S. 216 Anm. 21. 17 S. 216. Dies tue der Interpolator "with exceedingly heavy hand" (S. 216 Anm. 21)! MURG!A benutzt hier das argumentative Mittel zweier scheinbar einander stützender, in Wirklichkeit aber sich widerlegender Behauptungen, die nicht zu beweisen, aber beweisbar falsch sind. " Beispiele hierftir sind über das ganze Werk Vergils verteilt. Ich führe das erste an (E.1,1-10): Mel. T i 1y r e, 1 u parulae recubans sub Iegmine Jagi silvestrem tenui musam medilaris avena: nos aarriae jinis er dulcia linquimus arva. nos patriamfugimus: 1 u, Ti 1y r e, lentus in umbra formosam resonare doces Amaryllido silvas. Tit. 0 Meliboee, ~ nobis haec otiafecit. namque eril ille· mihi semper ~. illius aram saepe tener rwstris ab ovilibus imbuer agnus. ille meas errare boves, ur cernis, er ipsum ludere quae vellem calamo permisir agresri. 19 20 21
Siehe o. S. 38 Anm. 8. Siehe o. S. 39 Anm. 9. 1970, s. 154.
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Wortwiederholungen
Kunstgriff könnte man nun sogar die eklatantesten Symptome mangelnder Perfektion - methodisch einwandfrei - in Abrede stellen. GOOLD versucht jedoch seine Auffassung, der Interpolator habe sein Bestes getan und den Abschnitt für vollendet gehalten, mit der Struktur der Verse und dem ihr zugrundeliegenden Kompositionsprinzip des 'Goldenen Schnitts' zu beweisen22. Zu diesem Zweck gliedert er die Helenaepisode 567-88 in die beiden Teile 567-74 (= 8 Verse) und 575-87 (= 13 Verse). Für die Teile gilt dann gemäß dem Goldenen Schnitt folgende ungefähre Gleichung: 13
13+8
8
13
----
GOOLD führt seine Gliederung auf GERLOFF (1911, Anhang) zurücl23 zu unrecht, denn GERLOFF setzt den Haupteinschnitt zwischen 576 und 577. Außerdem muß GOOLD seiner Theorie zuliebe den letzten Vers, 588, unberücksichtigt lassen. Wenn man jedoch 588 als Abschlußfloskel des Selbstgesprächs und zugleich als Einleitung der Venuserscheinung abtrennt, so muß man dasselbe mit den Versen 575 und 576 tun, die das Selbstgespräch unmittelbar vorbereiten, ebenso natürlich auch mit Vers 567 a, der die ganze Szene einleitet und an das Vorausgehende anschließt. Eine grobe Gliederung würde folgendes Bild bieten: Verse Verssummen
567 a
567 b-74
575-6
577-87
7
2
11
588
Die Verssummen lassen keine Proportionen des Goldenen Schnitts erkennen 24 . MURGIA übernimmt zwar GOOLDS Gliederung mitsamt dem Hinweis auf den Goldenen Schnitt25 , läßt es aber in einer Anmerkung offen, ob man in der Helenaszene und bei Vergil überhaupt mit der bewußten Anwendung des Goldenen Schnittes rechnen dürfe26 • GRUPPE, GOOLD und MURGIA - verbunden in ihrem Glauben an nichtvergilischen Ursprung der Verse - können das Phänomen der lästigen Wortwiederholungen nicht erklären; ihre Überlegungen gehen nicht nur in die Irre, sondern tun sich auch gegenseitig Abbruch. Worin aber liegt nun der Grund für das nur allzu offensichtliche Phänomen? Nicht darin, daß die Verse "the excesses of an imitator"
S. 147f. und 154. s. 147. 24 Die Doppelfassung in 583-7 bleibt dabei außer Betracht. 25 1971, s. 214f. 26 S. 216 Anm. 22. Er schreibt u.a.: "I da not find that genuine examples of Golden Mean ratios are more numerous in Virgil than we should expect by sheer chance". 22 23
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Wortwiederholungen
verraten, der fähig gewesen sei, "to imitate the anomalies of Virgilian style" (MURGIA27). Denn er ahmte ja gerade die völlig unauffalligen stilistischen Besonderheiten Vergils nach. Die Forschungsgeschichte lehrt nämlich, daß der Interpolator durch seine besondere Art der Imitation I a t e n t e Eigentümlichkeiten Vergils überhaupt erst ans Licht gebracht hat. Dies ist nicht das gewöhnliche Verfahren eines auch noch so tüchtigen Fälschers, sondern vielmehr das Erkennungszeichen Vergils, der in einer schnell niedergeschriebenen provisorischen Verssequenz alle die Schwächen erkennen läßt, die er sonst fast immer durch sorgsames Feilen unsichtbar zu machen wußte. Befassen wir uns abschließend mit den Worten, die die Helenaepisode (567- 88) und der sich daran unmittelbar anschließende Anfang der Venuserscheinung (589-614) gemeinsam haben:
567-88 (Helena)
k) I) m)
sede (568)28 IYndarida (569) aspicio (569); aspiciet (578) clara (569) lucem (569) erranti (570) oculos (570) eversa (571) coniugis (572); coniugium (579) iras (572); ira (515) invisa (574) videbit (579)
n) o)
namque (583?9 furiata (588)
a)
b) c) d) e) f) g) h) i)
589-614 (Venus) sedibus (611) Tyndaridis (601) 30 aspicies (596); aspice (604) clara (589) luce (590) errant (599) oculis (589) evertit (603) coniunx (597) iras (594) invisa (601) 31 videndam (589); videri (591); vides (609) namque (604) 32 furis (595); furens (613)
Mag auch der eine oder andere Anklang belanglos sein (etwa m), so gehen sie doch insgesamt über bloßen Zufall hinaus. Entweder beutete ein Interpolator das Wortmaterial der Venuserscheinung aus, als er für sie die Helenaepisode als Vorbau schuf, oder Vergil ließ in der Venusszene die vorhergehende Verspartie anklingen. Beide Möglichkeiten sind denkbar. Im letzteren Fall muß Vergil natürlich Verfasser auch der interpolierten Verse sein.
S. 217 und 216. Stammt, wenn die Interpolationstheorie gilt, aus VII 775 (o. S. 20). 29 Stammt aus VI 513 (o. S. 19 Anm. 23). 30 Das Patronymikon bei Vergil nur an diesen beiden Stellen. 31 Jeweils an derselben Versstelle; ein drittes Vorkommen in II nur 647. 32 An derselben Versstelle mit Elision. 27
28
Wortwiederholungen
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Es fällt auf, daß in den beiden Versen 569 und 570 eine besonders ausgeprägte Konzentration wiederholter Wörter zu finden ist (b-g). Dieser Umstand erlaubt eine genauere Analyse der Beziehungen. Betrachten wir nun die Wiederholungen von clarus (d) und Iux (e). Unmittelbar nach Aeneas' Selbstgespräch (= Ende der Helenaszene) erscheint ihm Venus: cum mihi se, non ante oculis tarn c l a r a, videndam obtulit et puraper noctem in I u c e refulsit alma parens (ll 589-91) refulsit (590) erinnert an Buch I, wo Venus in der Gestalt eines jungen Mädchens ihrem Sohn begegnet und sich erst nach einem längeren Gespräch im Fortgehen als seine göttliche Mutter zu erkennen gibt:
... et avertens rosea cervice r e f u l s i t (I 402) Beide Erscheinungen stehen, da Venus sich in ll sofort als Göttin offenbart, in gewissem Gegensatz zueinander (siehe die jeweiligen Fortsetzungen). Vers ll 590 erinnert aber noch mehr an Aeneas' Erscheinen vor Dido, der, nachdem sich der Nebel, den Venus um ihn gegossen hatte, gelichtet hat, plötzlich, einem Gott ähnlich, hervortritt: restitit Aeneas c l a r a que in l u c e refulsit (I 588f.) os umerosque deo similis. Wir sehen, wie Vergil mit glücklicher Hand in ll 590 clara durch das metrische Äquivalent pura ersetzt hatl 3 , da er clara bereits im vorhergehenden Vers gebraucht hatte. luce refulsit (I 588) geht seinerseits auf eine Wendung des Lukrez zurück, der bei seinem Versuch, den Atomen die Farbe abzusprechen, darauf hinweist, daß sich die Farbe sogar durch den Einfallswinkel des Lichtes ändern könne: lumine quin ipso mutatur propterea quod recta aut obliqua percussus luce refulget. (2,799f.) Die Entlehnung ist gegen jeden Zweifel gesichert, da Vergil den Lukrezvers 2,800 auch in den Georgica anklingen läßt:
quattuor a ventis obliqua luce fenestras. (G.4,298), wo er zugleich den Anfang eines anderen Lukrezverses verwendet: quattuor a ventis et caeli panibusesse (6, 1111) 34 Es kam mir darauf an zu zeigen, daß die zweifellos vergilischen Verse ll 589-91, die nur PEERLKAMP dem Dichter abgesprochen hatl 5 , ganz und
Die Verbindung von pura mit Iux bei Vergil nur hier. Weitere Beispiele für Vergils Neigung, Versteile zu einem neuen Vers zusammenzusetzen, o. S. 15 Anm. 7. 33
34
" Siehe u. S. 90.
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gar von Vergils eig!!nem, natürlich an seinen Vorgängern geschulten bzw. sie mit Sorgfalt auswählenden Stil geprägt sind. Insbesondere wurde der Hintergrund von clara (589) und luce (590) deutlicher. Beide Wörter übernahm nun der Interpolator: .. . dant c I a r a36 incendia I u c e m (569) Tat er dies naiv, ohne die vergilischen Vorstufen der Verwendung dieser Wörter zu kennen? Nach allem, was wir über seine außerordentlichen Vergilkenntnisse wissen, liegt eine solche Annahme fern. Die Verbindung dare lucem findet sich sonst nur noch zweimal bei Vergil. Die erste Stelle lautet:
ut primum Iux alma data est, ... (I 306) Es ist der Anbruch desjenigen Tages, an dem Aeneas (wenige Verse später [314ff. !]) seiner Mutter Venus begegnet, die die Gestalt eines jungen Mädchens angenommen hat. Vermutlich hat der Interpolator das Zusammentreffen von Aeneas und Venus gelesen 37 , bevor er die Helenaskizze anfertigte. Aber zu welchem Zweck? War er doch gar nicht der Verfasser der Venusszene in II, die ihm ja bereits fertig vorlag. Was begibt er sich also ganz unnötig auf Vergils Spuren? Die zweite Stelle, wo Vergil dare mit Iux verbunden hat, handelt von der leuchtenden Bahn einer Sternschnuppe: . . . turn longo Iimite sulcus (ll 697f.) dat lucem38 ... Anchises, der Jupiter um ein Zeichen gebeten hatte, gibt nun seinen Widerstand auf und erklärt seine Bereitschaft zur Flucht aus Troja: dixerat ille, et iam per moenia c I a r i o r i g n i s (IT 705f.) auditur, propiusque aestus i n c e n d i a volvunt.
RIBBECK konjiziert claram. Meine Ausftihrungen werden davon nicht berührt. Wenn man sich auf die Fiktion eines Interpolators einläßt, können wir noch eine weitere Verbindung finden. Wenige Verse nach ur primum Iux alma data est las der lnterpolator: 36 37
classem in convexo nemorum sub rupe cavata arboribus clausam circum atque horrentibus umbris
(I 3!0f.)
Da erinnerte er sich daran, daß Vergil diese beiden Verse im 9. Buch kühn variiert hatte:
classem, ... aggeribus saeptam eireum et jiuvialibus undis
(IX 69f.)
(Zum Abhängigkeitsverhältnis s. BERRES 1982, S. 235 Anm. 148.) Dort entdeckte er im nächsten Vers (IX 71) das bei Vergil sonst noch 9x vorkommende incendia und übertrug es in seinen eigenen Vers. Außerdem fand er etwa 25 Verse davor (IX 44f.) eine syntaktische Struktur, die er in II 583ff. ebenfalls kopierte (s.o. S. 26). So geht natürlich kein lnterpolator vor; wohl aber darf man Vergil unterstellen, daß er nicht jede Stelle 'nachschlagen' mußte, sondern souverän über seinen geistigen Besitz verfUgte. 38 In Vers 696 geht claram (!) voraus.
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Auch von diesen beiden, eng benachbarten Stellen scheint der Interpolator Anregungen empfangen zu haben. Aus den Bruchstücken dat lucem, clarior (ignis) und incendia gewann er die neue Wortfolge: dant clara incendia lucem. Doch welchen Aufwand mußte der Interpolator treiben, wieviele Aeneisverse mußte er lesen, um zu diesem Resultat zu gelangen? Dieses schlichte Ergebnis, das nur die äußere Voraussetzung dafür schaffen sollte, daß Aeneas in der Dunkelheit Helena entdecken konnte, scheint die enorme Mühe nicht zu rechtfertigen. Hat aber V e r g i I diese vier Worte geschrieben, so versteht sich der vollkommen vergilische Charakter der Diktion von selbst. Erneut zeigt sich, daß der lnterpolator Vergils Stil trotz der zahllosen und verblüffenden Parallelen - gar nicht nachahmen wollte. Auch der Anklang furiata mente (588) - furis (595) verdient besondere Aufmerksamkeit. Die Beziehung ist gesichert, weil furiata mens im letzten Vers der Helenaszene die Gemütsverfassung des Aeneas treffend zusammenfaßt und Venus, die unmittelbar darauf erscheint, ihm diesen Juror zum Vorwurf macht: quid furis? Es ist allgemein bekannt, daß die Wendung furiata mente wörtlich aus II 407 übernommen istl 9 , wo sich Coroebus ins Verderben stürzt40 • Dieser war eben erst nach Troja gekommen, um Priamus zu helfen. Ihn trieb nämlich die Liebe zu Cassandra (II 343). In der Unglücksnacht schließt er sich, zusammen mit anderen, Aeneas an. Zunächst ist ihr Kampf gegen die Griechen, gefördert noch durch Coroebus' List der vertauschten Waffen, erfolgreich. Doch die Katastrophe bereitet sich vor, als er sieht, wie seine Braut Cassandra vom Minervatempel fortgeschleppt wird:
non tulit hanc speciem f u r i a t a m e n t e Coroebus (II 407f.) et sese medium iniecit periturus in agmen. Wenig später muß Coroebus mit vielen anderen seine Hilfe mit dem Tode bezahlen (424ff.). Wenn auch Vergil große Anteilnahme an dessen Schicksal nimmt, so verhehlt er nicht seine Kritik. Coroebus' Liebe zu Cassandra ist von maßloser Leidenschaft bestimmt (insano Cassandrae incensus amore, 343); und er hat nicht auf die mahnenden Worte seiner Braut gehört (qui non sponsae praeceptafurentis I audierit, 345f.). Indem Vergil ihn bei der ersten Erwähnung iuvenis nennt (341), deutet er wohl an, daß dieses Verhalten auf seine Jugend zurückzuführen ist.
39 Bei Vergil findet sich juriata nur an diesen beiden Stellen. juriata mente später auch bei Valerius Flaccus 8,445 (s.u. S. 69) und Silius Italicus 2,210 (vgl. 6,514: mentemjuriata do/ore). Ähnlich Laktanz inst. 4,27 ,2 mentes emotas et malis incursibus daemonum juriatas (vgl. epit. 40,2). Der einzige vorvergilische Beleg des überhaupt seltenenfuriare bei Horaz c. 1,25,14 (vgl. Verg. G.3,266). Siehe auch AUSTIN 1964, zu II 407 und RENEHAN 1973, S. 201. 40 Zur Person des Coroebus und zu ihrer Funktion innerhalb der vergilischen Darstellung s. HEINZE 1915, S. 36-8.
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Wortwiederholungen
Zwischen dieser Kampfesepisode und den Helenaversen fallen Gemeinsamkeiten auf. In beiden Szenen hat sich eine hochgestellte Frau in ein Heiligtum geflüchtet. Der Anblick von Cassandras gewaltsamer Entführung versetzt Coroebus in Raserei lfuriata mente); ebenso bringt die Entdeckung Helenas Aeneas um den Verstand lfuriata mente). Während Coroebus nun in völliger Unbesonnenheit in den Kampf stürzt und damit für sich und seine Mitstreiter eine Katastrophe herbeiführt, denkt Aeneas nicht mehr wie zuvor (560-3) an die Rettung seiner eigenen Familie, sondern trägt sich mit dem wahnwitzigen Gedanken, Helena totzuschlagen. Doch eben in dem Moment, als Aeneas tragisch zu scheitern droht - hier endet die Helenaszene und setzt der unzweifelhaft vergilische Bericht ein -, hält Venus ihn mit physischer Gewalt zurück und bringt ihn zum Umdenken. Wenn man auch Vorsicht bei der Annahme walten lassen sollte, der Interpolator habe die Helenaszene als Gegenstück zur Coroebusepisode komponiert, so legen doch die verwandten Strukturen und Inhalte nahe, daß die Übernahme der Worte furiata mente keineswegs zufällig ist. Die Wortwahl des Interpolators zeugt von tiefem Eindringen in Komposition und Aussage von Buch II überhaupt: Göttliche Fügung und menschliche Unvernunft führen den Untergang Trojas herbei. Aeneas aber, der auch der allgemeinen Wut und Leidenschaft verfallen ist und auf die Stimme der Götter und der Vernunft zunächst nicht hört, erkennt schließlich doch seine Aufgabe und ringt sich zu ihr durch41 •
41 Siehe die schöne Zusammenfassung von BücHNER 1955, Sp. 335, Z. 61tf. Die Helenaszene, die er ftir echt hält, beurteilt er als rein episodisch, während sonst alles in Buch II .Funktion" habe. Dies Urteil trifft nur insofern zu, als die Helenaverse sich sehr locker in den äußeren Gang der Handlung einfügen. Schuld daran ist weniger der .unfertige Zustand" (BÜCHNER) als die Tatsache, daß Vergil diese Verse (zusammen mit der Venuserscheinung) erst nachträglich ins 2. Buch eingelegt hat (s.u. S. 195tf.).
STIL Die Äußerungen zum Stil der Helenaszene reichen von "elender Sprache" bis zu "luculentissimos operosissimosque versus" (CERDA2 ). Grund für diese auf den ersten Blick unverständliche Divergenz sind die Vermengung verschiedener Weisen, sich mit dem Stil der Verse zu befassen, und der deformierende Einfluß des Beweiszieles 'echt' bzw. 'unecht'. Aufgabe dieses Kapitels soll sein, fremde und eigene Beobachtungen zu sammeln, zu würdigen und aus ihnen durch sinnvolle Verknüpfung, falls möglich, Schlüsse hinsichtlich der Urheberschaft zu ziehen. Wegen der Mannigfaltigkeit der stilistischen Phänomene habe ich eine Auswahl getroffen, die allerdings, wie ich meine, ein endgültiges Urteil erlaubt. Die Reihenfolge der Behandlung ist mehr oder weniger willkürlich. KVICALA glaubt in der Helenaszene eine auffällige Häufung von Alliterationen zu beobachten3 • Die Mehrzahl dieser Fälle erkenne ich nicht als beabsichtigt bzw. als beweisbar beabsichtigt an. So z.B. (568) servantem et tacitam secreta in sede latentem (LE0 1)
servantem hat keinen rechten inhaltlichen Bezug zu secreta in sede4 • Das letztere könnte Alliteration sein; es stammt, setzt man die Interpolationstheorie voraus, aus Vll 774f. (o. S. 20). (577) scilicet haec Spanam ... Wohl reiner Zufall! Ebenso müßte man auch über scilicet id magnum sperans aus der Deiphobusszene (VI 526) urteilen, die dem Verfasser der Helenaverse nachweislich bekannt war (o. S. 19 Anm. 23). Sichere Alliteration scheint vorzuliegen bei ... sudarit sanguine litus? (582), aus Ennius entlehnt (o. S. 17f.), und bei non ita. namque etsi nullum memorabile nomen (583), nach IV 94 gemacht (o. S. 12). Insgesamt kann den Versen eine gewisse Neigung zu alliterierender Ausdrucksweise nicht abgesprochen werden. Für die Verfasserfrage läßt sich daraus jedoch - anders KVICALA - nur wenig gewinnen. In einer früheren Arbeit hat KVICALA gezeigt, daß Vergil seine Verse durch einander entsprechende Wörter einzurahmen liebt5 • Am häufigsten ist 1
2 3 4
5
1912, S. 42/3 Anm. 3. Bei GERLOFF 1911, S. 53 (mit einer kleinen Sammlung von Urteilen ähnlicher Art). 1881, S. 33f. Siehe auch KVICALA S. 34 Anm. I. Vergii-Studien, Prag 1878, S. 34ff.
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der Fall, bei dem Prädikate am Anfang und Ende desselben Verses stehen: 11x in Aen. I, 46x in ll, 34x in Ilt. Der Helenaepisode gehören zwei derartige Verse an:
a b d i d e r a t sese atque aris invisa s e d e b a t. (574) lau da b o r poenas, animumque explesse i u v ab i t (586) An die Stelle von Prädikaten können auch Adjektive, Partizipien und Zahlwörter treten: 3x in I, 7x in ll7 , davon 2 Belege in der Helenapartie: s e r v a n t e m et tacitam secreta in sede l a t e n t e m (568) e r r a n t i passimque oculos per cuncta f e r e n t i. Vers 570 zeigt auffallende Ähnlichkeit mit (ll 771) q u a e r e n t i et tectis urbis sine .fine r u e n t i 9 Zur verstechnischen Übereinstimmung kommt die inhaltliche Nähe sowie eine vergleichbare Einbettung in den Kontext. An beiden Stellen erscheint dem Aeneas beim Umherspähen bzw. Suchen eine Frau, an der ersten Helena, an der zweiten das Schattenbild seiner Gattin Creusa. Auch erinnern Erscheinung und Rede der Creusa teilweise bis ins Stilistische an Erscheinung und Rede der Venus im Anschluß an die Helenaepisode. Die Vorstellung, daß Vergil b e i d e Verse (ll 570 und 771) geschaffen hat, ist wesentlich einfacher als die (unbegründbare) Zuweisung von 570 an einen Interpolator 10 • Nicht selten findet sich Einrahmung durch Attribut und Beziehungswort: lOx in 111 , 13x in ll, 17x in ill 12 • Diese Sonderform des Hyperbaton haben wir auch in der Helenaszene: D a r d a n i u m totiens sudarit sanguine l i t u s? (582) Gelegentlich (9x in II) kommt schließlich der Fall vor, daß zwei Prädikate auf den Anfang des ersten und das Ende des zweiten Verses verteilt sind, im Helenaabschnitt: a s p i c i e t, partoque ibit regina triumpho, (578f.) 13 coniugiumque domumque patres natosque v i d e b i t Es ist nicht anzunehmen, daß alle 6 Vorkommen von Verseinrahmungen durch zwei sich entsprechende 'Fiügelwörter' (KVICALA) in der Helenaszene auf Zufall beruhen. Die Antwort auf die Frage jedoch, ob der Verfasser
s.
36f. 37. 8 Die Wiederholung dieser Versstruktur auf engem Raum findet zwar eine gewisse Parallele in li 381 und 384, scheint mir aber doch durch die Eile bei der Versproduktion mitverursacht zu sein (s.o. S. 29 Anm. 3). 9 Andere Lesart: furenti (s. GEYMONAT im app. crit.). 10 Zumal dieser dann auch noch IV 363f. berücksichtigt hätte (u. S. 55). Siehe auch S. 94f. 11 Hinzugerechnet werden müssen auch die Sonderfälle 289.353.502.533. 12 KVICALA S. 34-6. 13 Wer 579 flir sekundäre Interpolation hält (aber s.o. S. 6ff.), mag hier an Zufall glauben. 6
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s.
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hierbei Vergils Vorliebe nachgeahmt oder aus eigenem Vermögen gedichtet hat, hängt davon ab, wie hoch man seine imitatorischen Fähigkeiten einschätzt. Vergil scheint, nach einer Untersuchung ZINGERLES 14 , im häufigen Gebrauch der Adjektive auf -bilis im 5. Versfuß Ovid vorausgegangen zu sein (29x in der ersten Aeneishälfte 15). In der Regel haben diese Adjektive bei Vergil negative Bedeutung (miserabile, I 111; ignobile, I 149) oder stehen in negativem Zusammenhang (sed nullis ille movetur I jletibus, aut voces ullas tractabilis audit, IV 438f.) und sind direkt verneint (non tolerabile, V 768). Die positiven Belege betreffen mirabile (I 652; n 174.680; m 26; IV 182), spirabile (m 600) und Venerabile (VI 408). Eine Sonderstellung nimmt IV 94 (magnum et memorabile nomen) ein: der Ausdruck ist im Munde Junos nur scheinbar positiv, da ihr Lob ironisch gemeint ist. Gerade diese Worte hat nun der Verfasser der Helenaepisode übernommen 16, aber ihrer Ironie beraubt und deshalb folgerichtig in vergilischer Manier verneint. Singularitäten in Wortwahl und Ausdruck dürfen nicht von vornherein Anlaß zu Kritik geben: "wenn auch nicht jeder Ausdruck sich durch viele andere belegen läßt, so hat Vergil so viel in der Sprache geneuert, worin er für die Späteren vorbildlich geworden, neue Formen, neue Wortbedeutungen und Konstructionen eingeführt, von denen aber viele sich nur bei ihm als &1ra~ )o..q6p,ePa finden, - und auch sie nimmt man hin, ohne daran anzustoßen" (NOACK 17). Daher muß umgekehrt gelten, daß eine Aeneispartie, die nicht zumindest einige lexikalische Besonderheiten aufweist, Vergil abgesprochen werden sollte. Die Kritik gegen die bei Vergil singulären Wörter praemetuens (II 573) und satiasse (587) fällt auf die Kritiker selbst zurück 18 •
14 A. ZINGERLE, Ovid und sein Verhältnis zu den Vorgängern und gleichzeitigen römischen Dichtern, 2. Heft, Innsbruck 1871, S. 112. 15 I 111.149.339.652; II 4.154.174.324.583.680; 111 26.39.600.621.707; IV 40.53.94.182 439.569; V 591.768.781; VI 27.408.425.438.590 (Stellen nach ZINGERLE). Autrallig ist das gebündelte Auftreten dieser Wörter (vgl. o. S. 29 mit Anm. 3). 16 Siehe o. S. 12. 17 1893, S. 425. " Beide WÖrter samt einigen anderen stammen sehr wahrscheinlich aus einer Lukrezpassage (o. S. 17 Anm. 16). Daraus glaubt GooLD ein Kriterium gegen die Echtheit der Helenaepisode gewinnen zu können, indem er behauptet: "Virgil, when borrowing striking words from his predecessors, does not so echo the whole context" (1970, S. 146). Zur Absicherung seiner These beruft er sich auf ihre Unbeweisbarkeil (!) und versucht Macrobius (!) die Verantwortung zuzuschieben, dessen im 6. Buch gesammeltes Parallelmaterial zeige, daß Vergil ein "discriminating borrower" gewesen sei (S. 146 Anm. 37). Das Anklingenlassen des ganzen Kontextes ist aber bei Vergil - nachweislich - ein nicht seltenes Phänomen. Ich verweise nur auf Lucr. I ,412-8 und Verg. A.l 372-6 sowie die vorzügliche Bemerkung CoNINGTONS (zu I 375): "The whole passage ... showing the variety of small Obligations which Virg. has incurred to his predecessor, now borrowing thoughts without words, now words without thoughts".
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Etwas anders steht es mit den Ausdrücken sceleratas sumere poenas (576), sumpsisse merentis ... poenas (585) und animum explesse ... ultricis famae 19 (586f.) 20 • LEOS Verdikt: "die elende Sprache mit ihrem hülflosen Tasten nach Ausdrücken höheren Stils" 21 trifft, sofern man die tendenziöse Polemik abzieht, den Kern. Es ist die "extravagance of expression" (MURGIA22), die Befremden erregen muß. Die getadelten Wendungen überschreiten beinahe nicht nur die Grenzen vergilischer Kühnheiten, sondern sogar die Regeln der lateinischen Syntax. Der Grund für diese Verstöße kann nicht in der Unfähigkeit des Verfassers liegen. Man sah in ihnen jedoch mißglückte Versuche des Interpolators, Vergils Stil zu imitieren bzw. zu überbieten 23 • "The poet leaves the clues of an imitator striving to duplicate Virgil's boldness of expression, but not realizing its proper Iimits" (MURGIA24 ). Unterstellt man dem Interpolator solche Ambitionen, gerät man sogleich in Schwierigkeiten. Warum nämlich läßt er dann den Stil bisweilen fast ins Prosaische fallen, z.B. iamque adeo super unus eram (567) und dant clara incendia lucem (569)? Aber auch diese beiden Stellen sind Ergebnis teilweise extremer Vergilimitation25 • Warum verzichtet er vollkommen auf das leicht anwendbare und höchst wirkungsvolle Mittel der Anapher, dessen Vergil sich so häufig bedient? Warum diese Zurückhaltung, wo doch Didos Rede IV 365-87, die dem Interpolator als Vorbild diente26 , von Anaphern geradezu überfüllt erscheint? Warum ahmt er im allgemeinen die unauffälligen Eigenheiten Vergils nach, obwohl seinen Versen hieraus kein besonderer Gewinn erwächst? Welchen imitatorischen Effekt verfolgt die Doppelfassung (583 -7)? Warum hat er den gravierenden Widerspruch zur ihm bekannten27 Deiphobusszene des 6. Buches nicht vermieden, bzw. richtiger: diesen überhaupt erst geschaffen? Warum ahmt er das Unnachahmliche nach? Der Schluß ausalldem ist doch, daß der Interpolator gar kein Imitator gewesen sein kann. Die These einer bewußten Vergilimitation28 konnte nur entstehen und sich in der Folgezeit
19
Zur Herstellung des Wortlautes s.o. S. 8ff.
20
nefas (585), von Helena gesagt, findet sich bei Vergil als Bezeichnung ftir eine Person sonst
nirgend'Ml (AUSTIN 1961, S. 190 und 1964, S. 226 nennt als nachvergilische Parallele Statius Th. 7,514: nupsi equidem peperique nefas). Das Fehlen einer wörtlichen Entsprechung ist natürlich keineswegs verdachterregend, zumal mit ähnlicher Kühnheit Camilla als dedecus (XI 789) und pestis (792) bezeichnet wird (zu beiden Stellen s. CoNINGToN; XI 789-93 ist Vorbild ftir die Helenaszene: o. S. 12f.). nifas (585) verrät also Kongenialität im Gedanken und Ausdruck. 21 1912, S. 42 Anm. 3. 22 1971, s. 213. 23 Zu den vergilischen Vorbildern o. S. I Of. 24 s. 214. 25 Zu 567 s.u. S. 53 Anm. 52; zu 569 o. S. 43ff. 26 Siehe u. S. 55f. 27 Siehe o. S. 18f. 28 Der lnterpolator .kannte seinen Dichter und wußte in seinem Sinne Verse zu machen" (GRUPPE 1859, S. 179) und sei "kein Poet", .wenn er auch den virgilischen Stil zur Not zu imitieren verstand" (HEINZE 1915, S. 48) usw.
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51
behaupten, weil noch Art und Ausmaß der Imitation im Dunkeln lagen. MURGlAS Feststellung: "it is easier to imitate the peculiarities of a poet's style than his variety, taste, and restraint" 29 verkennt weitestgehend die speziellen Verhältnisse der Helenaverse. Die Besonderheiten der Metrik und der Wortwiederholungen, denen eigene Kapitel gewidmet wurden 30 , lassen sich nicht mit der Annahme eines lnterpolators erklären, sondern verweisen auf I a t e n t e vergilische Eigenarten. Diese zu erkennen wäre einem Fälscher in der damaligen Zeit unmöglich gewesen. Hätte er sie aber doch erkennen können, so wäre ihre Nachahmung ohne sichtbaren Gewinn geblieben. Vielmehr gibt das Resultat, wie auch immer es zustandegekommen sein mag, Anlaß zu der Vermutung, die Verse seien gar nicht fertig ausgearbeitet. Der Interpolator hätte also, obwohl kongenial mit Vergil, sein ureigenstes Geschäft (nämlich das Interpolieren) auf die ungeschickteste Weise in Angriff genommen und durchgeführt. Trotz der offensichtlich in sich widersprüchlichen Interpolationsthese verdient die Behauptung GOOLDS Aufmerksamkeit, der lnterpolator verrate sich dadurch, daß die vielen Echos der vergilischen Sprache nicht gleichmäßig und zufällig über Vergils Werk verteilt seien, sondern sich in einer ziemlich verdächtigen Art an "weil- known parts" der Aeneis bündelten, als ob diese Stücke für bewußte Anregungen gesorgt hätten 31 • GOOLD nennt folgende Passagen: II 321-45 (limina 321; -abile 324; Dardaniae 325; incensa 327; Mycenis 331; erinys 337; Phrygibus 344; furentis 345) 32 ; 407-34; 501-17; IV 91-103; 363-79; 605-67; V 785-867; VI 55575; XI 258-89; XII 939-4~ 3 • Diese Stellen legten "a deliberate and careful imitation ofVirgilian vocabulary" nahe 34 • Die "well-known parts" markierenjedoch nicht den Kenntnisumfang des Imitators, sondern GOOLDS. Denn der Verfasser der Helenaverse ist mit vielen weiteren Aeneisstellen vertraut; ich führe nur die Passagen auf, die bisher in meiner Abhandlung, die keine Vollständigkeit anstrebt, zur Sprache gekommen sind: I 306ff. 35 ; II 95+180 36 ; 137ff. 3 \ 589ff. 3 \ 696-706 39 ; 771(ff.) 40 ; VI 494-547 41 ; VII 761-82 42 ;IX 44-6 43 ; XI 590-2 44 ; 789ff. 45 ;
29 30 31 32
J3 34
35 36
37
38 39 40 41
1971, s. 215. S. 29ff. und 37ff. 1970, s. 145. Bei den folgenden Abschnitten lasse ich die Einzelbelege weg. s. 145f. s. 146. Siehe o. S. 44. S. 16. s. 8. S. 42ff. S. 44f. S. 48. S. 18f.
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846ff. 46 Die Stellen lassen sich leicht vermehren. Damit ist GOOLDS These zusammengebrochen. Von Bedeutung bleibt jedoch die Beobachtung, daß der Verfasser der Helenaszene bestimmten Partien der Aeneis besondere Aufmerksamkeit gewidmet und sie für die eigenen Verse ausgebeutet hat. Eben dies - aber meist wesentlich ausgeprägter - ist das Verfahren Vergils47 • GOOLD spricht also dem angeblichen Interpolator das zu, was er Vergil zu Unrecht abspricht. Zu solcher sich überschlagender Argumentation muß stets der gelangen, der die vergilischen Helenaverse als unvergilisch abtun möchte48 • In eben diese Schwierigkeiten geraten auch diejenigen, die der Helenaszene ihre rhetorische Struktur glauben vorwerfen zu können: "Am besten ist noch der Anfang, dann aber wird sie rhetorisch, und das ist wahrlich nicht hinreichend um Virgilisch zu sein" (GRUPPE49). Etwas genauer spricht MURGIA von "rhetorical amplification", in der fast alles paarweise gesagt werde. Das sei vergilisch, obwohl es sich sonst nicht mit ganz derselben Monotonie finde 50 • Das Gegenteil ist richtig. So wendet Vergil z.B. in Didos Rede IV 365-87 (s.u. S. 58) dieses rhetorische Mittel weit häufiger an. Allerdings erscheint es dort gemildert oder - anders betrachtet - sogar wesentlich aufdringlicher durch die Verbindung mit Anapher. Wir werden darauf zurückkommen. Die letzte stilistische Eigentümlichkeit, die ich noch behandeln möchte, betrifft den ersten Vers der Helenaszene (567). Vergil pflegt neue Abschnitte mit oft sehr nüchternen, unpräzisen und etwas stereotypen Worten einzuleiten. Besonders deutlich zeigt sich dies beim Gebrauch der Verbindungspartikel: at; atque; dum; ecce (autem); ergo; et iam; iam; iamque; inde; interea; nec minus (interea); rum (vero). Auch der zugehörige Vers entbehrt häufig poetischen Schmuckes und scheint eine seltsame Unempfindlichkeit Vergils zu offenbaren. Man lese nur:
et iamfinis erat, cum Iuppiter aethere summo iamque adeo exierat ponis equitatus apertis iamque omnis campis exercitus ibat apertis Iunonem interea compellat luppiter ultro
42
S. 16ff.
43
S. 26 und 44 Anm. 37.
44
S. 15. S. 12f. s. 13.
45 46
(I 223) (Vill 585)
(IX 25) (X 606)
47 Ich verweise auf mein Vergilbuch (1982) und besonders auf das Schlag'Mlrtregister s. v. 'Variation' (dort weitere Stichwörter), 'Reminiszenzen' und 'Verschleppung von stil. Material'. 48 Ein anderes Beispiel ftir diese Methode o. S. 49 Anm. 18. 49 50
1859, S. 177. 1971, S. 214.
Zu den vergilischen Doppelungen o. S. 22.
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53
Schon Servius hat an den vergilischen Überleitungen Kritik geübt51 • Auch die Einleitung der Helenaszene iamque adeo super unus eram, cum limina Vestae (li 567) ist mit leichter und unbekümmerter Hand gemacht, aber in Wortwahl und Syntax ganz vergilisch, ohne etwa abgeschrieben zu sein52 • Dies Verfahren paßt weder so recht zu einem Fälscher, der Vergil übertreffen will, noch zu einem Dilettanten, dessen Fähigkeiten hier überfordert wären. Insgesamt stimmt die Mehrzahl der beobachteten Stileigentümlichkeiten der Helenaszene mit der Sprache Vergils überein. Wenn auch der Umfang der Übereinstimmungen noch größer ist, als die Arbeiten von AUSTIN gezeigt haben, so läßt dies nicht zwingend auf Vergil als Verfasser schließen. Es wäre ja denkbar, daß einem talentierten Fälscher nach ausgedehnten und sorgfältigsten Vergilstudien, an deren Qualität die heutige Philologie trotz ihrer modernen Methoden noch nicht heranreicht, eine fast perfekte Imitation gelungen wäre. Diese Leistung überträfe bei weitem die (mechanische) des Simplicius, eines Freundes von Augustinus, der den Vergil vermutlich rückwärts aus dem Gedächtnis aufsagen konnte 53 oder auch die (artistische) des Ausonius, der seinen Cento Nuptialis vollständig aus Vergilversen zusammengesetzt hat. Doch schließt nicht nur das Ausmaß der stilistischen Anklänge, sondern erst recht die besondere Art der Imitation die Annahme eines Interpolators aus. Denn dieser ahmte im allgemeinen die gänzlich unauffälligen und versteckten Züge des Vorbildes nach (z.B. die syntaktische Struktur von IX 44-6 54 , das Vokabular des Verses VII 76655 , eine Besonderheit der vergilischen Enniusrezeption56 , metrische Eigentümlichkeiten57 usw .), verzichtete aber bisweilen auf die Imitation offenkundiger, leicht kopierbarer Erscheinungen. So übernahm er wörtlich nur wenige vergilische Phrasen:
iamque adeo, 567 (oculos per cuncta, 570 sumere poenas, 576 memorabile nomen, 583 (talia iactabam, 588 .furiata mente, 588
V 268 u.a.
oculos per singula, vm 618) VI 501 IV 94 talia iactanti, I 102) li 407,
Zu XI532. Siehe W. H. FRIEDRICH, Philologus 94, 1941, S. 164f.; BERRES 1982, S. 283. iamque adeo: V 268.864 Ueweils mit folgendem cum-Satz); XI 487. Tmesis von superesse: E.6,6; A.VII 559; vgl. auch VIII 251 (mit Ellipse von est; und Ill 489 [dazu CONINGTON]). Mit der ganzen Phrase vgl. V 225 (solus iamque ipso superest infine C/oanthus). 53 Augustinus, de anima IV 7(9): et credidimus eum passe retrorsum recitare Vergilium. 54 Siehe o. S. 26. 55 s. 16ff. 56 S. 17f. 57 s. 29ff. 51
52
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während Vergil sich selbst in hohem Maße wiederholte58 • Auch 'übersah' der lnterpolator die Unzahl vergilischer Anaphern 59 • Überspitzt könnte man sagen, daß er das Nichtimitierbare und Nichtlohnende imitierte, das Imitierbare und Lohnende aber außer acht ließ. Um seinem Verfahren noch groteskere Züge zu verleihen, ließ er in 572 vermutlich eine metrische Störung zu 60 , schuf die Versfolge 578-80, die inhaltlich wie zusammengestückelt erscheint61 , erlaubte sich die Doppelfassung 583-762 , nahm lästige Wortwiederholungen63 und metrische Besonderheiten64 hin, übertrieb vergilische Formulierungen65 und sorgte für einen handfesten Widerspruch zu der ihm bekannten Deiphobusszene des 6. Buches. Wieviel einfacher ist da die Annahme, daß dieses provisorische Stück auf Vergil selbst zurückgeht! Trotz der Mängel ist die Diktion der Verse vergilisch, und zwar in einem solchen Maße, daß die Möglichkeit einer Fälschung ausgeschlossen werden sollte. Allerdings ist die Sprache noch nicht völlig durchgeformt und nicht in den hohen Stil der Aeneis integriert. Der generell unfertige Zustand der Skizze sollte nun also nicht mehr in Abrede gestellt werden, weder durch Umbewertung von Einzelphänomenen (so sei der Verfasser "proud" auf seine Wortwiederholungen [MURGIA66 ]) noch durch den Versuch, eine angebliche Ringkomposition (MURGIA 67) oder gar einen nach dem Goldenen Schnitt ausgerichteten Bau (GOOLD68 ) als Gegenargument anzuführen. Zum Abschluß dieses Kapitels soll zum Vergleich ein anderer Aeneisabschnitt untersucht werden hinsichtlich: Wortwiederholungen, Singularitäten der Wortwahl, Rhetorik (Anapher) und Durchformung der Sprache. Es handelt sich um die Verse, in denen Dido zornentbrannt mit Aeneas, der sie verlassen will, abrechnet:
365
Talia dieentern iamdudum aversa tuetur hue illue volvens oeulos totumque pererrat luminibus taeitis et sie accensa profatur: "nee tibi diva parens, generis nee Dardanus auetor, perfide, sed duris genuit te eautibus horrens
" Die ersten I 00 Aeneisverse weisen nicht weniger als 24 'wiederholte' Verse und Versbestandteile auf, davon nur ca. 6 Zweiwortverbindungen (vollständige Übersicht bei BERRES 1982, s. 166). 59 Siehe u. S. 58. 60 Siehe o. S. 5f. 61 Oben S. 6tf. 62 S. 2ltf. 63 s. 37tf. 64 S. 29tf. 65 S. 50. 66 Oben S. 39. 67 Oben S. 9. 68 Oben S. 41.
Stil
370
375
380
385
Caucasus Hyrcanaeque admorunt ubera tigres. nam quid dissimulo aut quae me ad maiora reservo? num jletu ingemuit nostro? num Iumina jlexit? num lacrimas victus dedit aut miseratus amantem est? quae quibus anteferam? iam iam nec maxima Juno nec Saturnius haec oculis pater adspicit aequis. nusquam tutafides. eiectum litore, egentem excepi et regni demens in pane locavi, amissam classem, socios a mone reduxi. heufuriis incensaferor! nunc augur Apollo, nunc Lyciae sones, nunc et Iove missus ab ipso interpres divumfen horrida iussa per auras. scilicet is superis Iabor est, ea cura quietos sollicitat. neque te teneo neque dicta refello: i, sequere ltaliam ventis, pete regna per undas. spero equidem mediis, si quid pia numina possunt, supplicia hausurum scopulis et nomine Dido saepe vocaturum. sequar atris ignibus absens et cumfrigida mors anima seduxerit anus, omnibus umbra locis adero. dabis, improbe, poenas. audiam et haec manis veniet mihifama sub imos." his medium dictis sermonem abrumpit et auras aegrafugit seque ex oculis avenit et aujen, ...
55
(IV 362-89)
Diese Passage gehört zu den "weil- known parts", durch die der Interpolator inspiriert worden sei (GOOLD 69 ). Folgende Ähnlichkeiten sind zu verzeichnen: (IV 362) talia dieentern (ll 588) 70 talia iactabam
huc illuc volvens oculos totumque pererrat luminibus tacitis erranti passimque oculos per cuncta ferenti. heu jurüs incensa feror. furiata mente jerebar scilicet is scilicet haec dabis, improbe, poenas. audiam et haec manis veniet mihi fama sub imos. sumpsisse merentes laudabor poenas animumque explesse iuvabit ultricis famae et cineres satiasse meorum.
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Oben S. 51.
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Näher steht talia iactanti (I 102). furiala mente aus II 407.
71
(IV 363f.) (ll 570) (IV 376)
(ll 588)71 (IV 379) (ll 577) (IV 386f.)
(ll 585ff.)
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Stil
Die zuletzt aufgeführte Entsprechung bildetjeweils den Schluß der Rede. Didos (erhoffte) Rache an Aeneas und Aeneas' (geplante) Rache an Helena - an beiden Stellen poenae genannt - soll als willkommene Botschaft (jama) zu den Seelen der Verstorbenen dringen (IV) 72 bzw. die Asche der umgekommenen Trojaner versöhnen (II). Die auffälligste Gemeinsamkeit ist trotz völliger Verschiedenheit des Inhalts und Vokabulars das Trikolon empörter Fragen:
num fletu ingemuit nostro? num Iumina jlexit? num lacrimas victus dedit aut miseratus amantem est? occiderit ferro Priamus? Troia arserit igni? Dardanium totiens sudarit sanguine litus?
(IV 369f.)
(II 581f.) All diese Beziehungen können weder durch Zufall erklärt werden noch durch die Annahme, der Verfasser der Helenaskizze habe die Didorede einfach kopiert oder für seine eigenen Zwecke mutandis mutatis umgeschrieben oder auch nur ausgebeutet. Es fällt die geringe Zahl der wörtlichen Übereinstimmungen auf. Innerhalb des Abschnittes IV 362-89 finden wir folgende Wortwiederholungen bzw. -anklänge: dieentern (362) - dicta (380) - dictis (388) aversa (362) - avertit (389) oculos (363) - oculis (372) - oculis (389) luminibus (364) - Iumina (369) accensa (364) - incensa (376) diva (365) - divum (378) generis (365) - genuit (366) horrens (366) - horrida (378) anteferam (371) - feror (376) - fert (378) - aufert (389) regni (374) - regna (381) locavi (374) - locis (386) amissam (375) - missus (377) morte (375) - mors (385) reduxi (375) - seduxerit (385) auras (378) - auras (388): jeweils Versende per auras (378) - per undas (381): jeweils Versende sequere (381) - sequar (384) mediis (382) - medium (388) (Unberücksichtigt blieben natürlich alle beabsichtigten [z.B. anaphorischen] Wiederholungen.) Durchschnittlich ist etwajedes 5. Wort wiederholt oder variiert, in der Helenaskizze jedes 4,5. Wort. Das Ergebnis ist aber zuungunsten der Helenaverse zu korrigieren, da bei höherem Gesamt72 Zum angeblich unfertigen Zustand von IV 38617 siehe LADEWIG-SCHAPER-DEUTICKE, Anhang zu 386.
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wortbestand (ca. 202 Wörter des Didoabschnitts gegenüber 145 der Helenaverse) die Wiederholungen deutlich zunehmen müßten. Während die Wiederholungen in IV trotz bisweilen kurzer Intervalle dem Leser gar nicht zu Bewußtsein kommen, springen sie ihm in ll unangenehm ins Auge. Das liegt wohl daran, daß in ll Fälle vorkommen, bei denen jeweils zwei zusammenhängende Wörter iteriert werden 73 , die Bedeutung sich änderf4 oder ein Wort gar viermal wiederholt wird 75 • Einzelerscheinungen dieser Art, wie sie auch bei Vergil vorkommen76 , erregen im allgemeinen nicht unsere Aufmerksamkeit. Thre Häufung in der Helenaskizze ist dagegen nicht mehr zu übersehen. Ebenso wie die Helenaskizze enthält auch die Didorede zwei Wörter, die bei Vergil nur hier vorkommen: anteferre (371) und seducere (385). anteferre ist in der Dichtung äußerst selten (Horaz ep. 2,1,19 und 65; Ovid Her. 16,206). Die Verwendung von seducere im Vers 385 scheint nicht zufallig. Vergil hatte zwei Lukrezverse donec materies, omnis concussa per artus, vitalis animae nodos a corpore solvit (2,949f.) in Didos Todesszene einfließen lassen, wo Iris, in Junos Auftrag, Didos qualvolles Sterben beschleunigen soll: . . . luctantem animam nexosque resolveret artus. und sie erlöst: ,. . . . teque isto corpore solvo. "
(IV 695) (IV 703)
Es sieht so aus, als habe Vergil, als er Dido von ihrem Tod sprechen ließ: ... cumfrigida mors anima sedu.xerit anus (IV 385), 7 beide Lukrezreminiszenzen vereinigf und sedu.xerit als sehr gewählte stilistische Variation neu geschaffen. Wäre die Didorede einem Interpolationsverdacht ausgesetzt, hätte man anteferre als unvergilisch und eher prosaisch, die Worte quae quibus anteferam? als rhetorisch und obendrein unklar (die genaue Bedeutung steht nicht fest), sedu.xerit als mißglückten Versuch, vergilische Formulierungen 71
sumere poenas, 576 - sumpsisse ... poenas, 585f.; exarsere ignes, 575 - arserit igni,
581. 74
patriae (= Griechenland), 573 - patriam (= Troja), 576; ignes (= Zorn), 575 - igni
(= Feuer),
581.
poenas, 572 - poenas, 576 - poena, 584 - poenas, 586; patriae, 573 - patriam, 576 - patriasque, 577 - (patres, 579). 76 Siehe o. S. 39 Anm. 9. Ein weiteres Beispiel ist ore (= Maul einer Schlange), II 475 ore ( = fensterartige Öffnung), 482. 75
77
Noch preziöser und manierierter formuliert Vergil bei Camillas Tod:
rum frigida toto paulatim exsolvit se corpore .. .
(XI 828f.)
Vergleiche auch die Umkehrung der Vorstellung in VI 726f. (totarnque i'lfusa per anus I mens
agitat molem et magno se corpore miscet).
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noch zu übertreffen, und die frostige Art, wie Dido von ihrem Tod spreche (cum ... artus, 385), gebrandmarkt. Didos Rede ist geprägt durch das rhetorische Mittel der Doppelung. Fast alles wird zweimal gesagt, ohne daß sich jedoch die Rede in leeren Wiederholungen erschöpft. Hierin geht Vergil deutlich über das vom Interpolator verwendete Maß hinaus78 • Den inhaltlichen Iterationen entsprechen die stilistischen (Anapher, Traductio, Anadiplosis): nec ... nec (365); quid ... quae (368); num ... num ... num (369f.); quae quibus (371); iam iam (371); nec ... nec (371f.); nunc ... nunc ... nunc (376f.); is ... ea (379); neque ... neque (380). Demgegenüber findet sich in dem 11 Verse umfassenden Selbstgespräch des Aeneas in der Helenaepisode kein einziges Beispiel für dieses rhetorische Mittel, obwohl festzustehen scheint, daß der Interpolator die Didorede kennt (o. S. 55f.) und bestrebt ist, Vergil allenthalben zu übertreffen - "a super- Virgil" (MURGIA 79 ). Warum hat er die S t r u k t u r der vergilischen Fragen imitiert (o. S. 56), aber die aufdringlichen anaphorischen Einleitungen, denen doch bei seinem Hang zur Rhetorik (s. GRUPPE o. S. 52) seine Aufmerksamkeit eigentlich gelten müßte, geradezu aus seinen Versen verbannt? Der unerwartete Verzicht auf ein beliebtes und leicht anwendbares Mittel müßte Resultat einer bewußten Entscheidung sein. Aber da es dafür keinen einzigen denkbaren Grund gibt, muß die Voraussetzung, die zu diesem paradoxen Ergebnis geführt hat, nämlich daß der Interpolator überhaupt imitiert habe, falsch sein. Er hat die Helenaverse geschrieben, ohne auch nur die geringste Rücksicht auf Vergils Stil zu nehmen. Die dennoch zu beobachtenden Gemeinsamkeiten, die oft nicht an der Oberfläche liegen, aber einen extremen imitatorischen Aufwand erfordern würden, sind kein Spiel des Zufalls, sondern Beweis für die Identität des Interpolators mit Vergil. Auch hinsichtlich der Zahl der wörtlichen Übernahmen hat sich der Verfasser der Helenaszene entgegen Vergils offenkundiger Gepflogenheit stark zurückgehalten. Während ich in II 567-88 nur 6 Entlehnungen im Umfange jeweils nur zweier Worte gefunden habe (o. S. 53), bietet IV 362-89 deren eine Unmenge: huc illuc, 363 = XII 764 volvens oculos, 363 = VII 251; XII 939 totumque pererrat, 363 - totamque pererrat, VII 37580 diva parens, 365 = VI 197 Dardanus auctor, 365 = III 503; VI 650 iam iam, 371 = II 701; XII 676 (vgl. II 530) maxima luno, 371 = VIII 84; X 685 Saturnius haec, 372 = V 799 Siehe o. S. 52. 1971, s. 216. 80 Vers IV 363 scheint aus 3 Teilen zusammengesetzt (s.o. S. 15 Anm. 7 zu ähnlichen Fällen). 78
79
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nec Saturnius haec oculis pater aspicit aequis, 372 - Iuppiter aut quicumque oculis haec aspicit aequis, IX 209 (excepi et regni demens in parte locavi, 374 - praetulerim caelique libens in parte locarim, XII 145) (heufuriis incensaferor, 376 - sedfatis incertaferor, IV 110) Iove missus ab ipso, 377 = IV 35681 (vgl. IV 574) interpres divum, 378 = ID 359; IV 35682 iussa per auras, 378 - mandataper auras, IV 357 83 quietos I sollicitat, 379f. = XI 253f. dicta refello, 380 - dicta refellam, XII 644 si quid pia numina possunt, 382 - si quid mea carmina possunt, IX 446 (vgl. I 603) atris ignibus, 384 - ignibus atris, XI 186 manis ... sub imos, 387 =XI 181 (vgl. XII 884) (seque ex oculis ... aufert, 389 - ex oculis se ... ahstulit, XI 814) Obwohl das Ausmaß der Selbstimitation den bedeutendsten Unterschied zwischen der Sprache der Aeneis und der Helenaszene darstellt, darf nicht auf die Verschiedenheit der Verfasser geschlossen werden. Denn beide kennen sich vollkommen in der Aeneis aus, der 'Interpolator' verzichtet jedoch weitgehend auf wörtliche Übernahmen aus denjenigen Stellen, die er nach allgemeiner Auffassung zuvor konsultiert haben soll. So bleibt er immer wieder hinter seiner eigentlichen Aufgabe zurück und entlarvt sich schließlich als Nichtimitator und damit als Nichtinterpolator. Der viel höhere Anteil von wörtlichen Aeneis-'Zitaten' im Didoabschnitt ist nur ein äußerliches Zeichen dafür, daß Vergil diese Partie auf das gründlichste durchformte, indem er nahezu jeden Vers in sorgfältiger Abstimmung mit bereits erprobten Wendungen und literarischen Vorbildern gestaltete. In der Helenaepisode, über deren Unfertigkeit nicht einmal mehr die Interpolationstheorie hinwegtäuschen kann, unterblieb diese Arbeit. Aber das, was uns vorliegt, übersteigt schon die Möglichkeiten eines Interpolators, der darum nur fiktiv ist. Als Beispiel für perfekte Integrierung in die Sprachnorm der Aeneis diene der Anfang des Didoabschnitts: talia dieentern iamdudum aversa tuetur huc illuc volvens oculos totumque pererrat (IV 362-4) luminibus tacitis ... Die Verse vereinigen Material aus einer verwandten Stelle des 6. Buches, wo Aeneas Dido zu versöhnen sucht, aber von ihr keine Antwort erhält:
Teil einer epischen Wiederholung. Siehe Anm. 81. " Siehe Anm. 81. 81
82
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talibus Aeneas ardentem et torva t u e n t e m lenibat dictis ... (VI 467 -9) 84 illa solo fixos o c u l o s a v e r s a tenebat Auch sonst erscheinen in IV 362-4 vergilische Phrasen in neuer Kombination; man vergleiche nur: ille os o c u l o s que loquentis i a m d u d u m et t o t u m lustrabat l u m i n e corpus. (Vffi l52f.)85 IV 362 und VI 467-9 werden an einer anderen Stelle in fast barocker Manier miteinander verschmolzen (Übereinstimmungen mit VI nicht kursiv): t a I i b u s Ilionei dictis defixa Latinus obtutu tenet ora soloque immobilis haeret, (Vll 249-51) intentos v o l v e n s oculos. 86 Die Verbindung totumque pererrat (IV 363) kehrt mit leichter Änderung in Vll 375 (totamque pererrat) wieder und wird dann stärker variiert in: nunc hos, nunc illos aditus, omnemque pererrat arte locum (V 44lf.) und mit zusätzlicher Manierierung in: hos aditus iamque hos aditus omnemque pererrat undique circuitum (XI 766f.)
84
Die Fortsetzung lautet:
nec magis incepto vultum sermone movetur quam si dura silex aut stet Marpesia cautes.
(VI 470f.)
Auch VI 471 steht mit IV 366, einer Catullreminiszenz (c. 64,154), in Zusammenhang. Die Verse VI 469-71 sind ihrerseits durch die euripideische Medea inspiriert: flfft 1rpo<; ävopo<; ijalifr'
~OUC'IJl.EV'f/,
oiir' op.p. • Elfa[povu' oiir' C.1ra'AA.auuovua ")'~<; 1fpOUW1fOV' w<; OE lfETPO<; ~ OaA.auuw<; K'Avllwv i.KOVH vov8ETOVJl.EV'f/ cf>lAwv.
(26-9)
Dies verstärkt die Vermutung, daß die Didorede des 4. Buches später als die Unterweltszene ist. (Die Passage in IV ist ohnehin ein nachträglicher Einschub wegen des Halbverses IV 361, mit dem der ursprüngliche Text abbricht; zum Halbvers s.u. S. 116.) Der Verdacht ließe sich weiter erhärten, wenn VI 469 aus I 482
diva solo fixos oculos aversa tenebat stammte; aber das Umgekehrte scheint wegen des euripideischen Vorbildes für VI 469 wahrscheinlicher (s. auch NORDEN .zur Stelle). " Vergleiche auch:
86
omnemque accessum lustrans h u c ora ferebat et i I l u c h u c atque h u c acies circumtulit. huc illuc volvens oculos auch XII 939.
(VIII 228f.) (XII 558) (XII764)
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Schließlich findet die Enallage luminibus tacitis (N 364) eine Parallele in obtutu tacito (XII 666). Über die Darbietung des Vergleichsmaterials hinaus müßten die Wendungen und ihre vielfachen Abänderungen auf Struktur, Inhalt und Stimmung untersucht und möglichst zugleich die Abhängigkeitsverhältnisse aufgeklärt werden 87 • Dies kann nicht geschehen ohne Berücksichtigung weiterer, stilistisch entfernterer Parallelen88 und einer Unsumme sekundärer Beziehungen zwischen jeweils zwei Stellen. Nun darf man nicht dem Irrtum verfallen, Vergil habe alle diese Stellen durchverglichen. Vielmehr wählte er die wichtigsten bzw. geeignetsten aus und schuf durch Verschmelzung, Variation, Überbietung und Manierierung eine neue Einheit. Die übrigen Anklänge erklären sich durch die Identität des Dichters und öfter noch dadurch, daß fast jede vergilische Phrase zum prägenden Vorbild für eine andere geworden ist89 • Die Unfertigkeit der Helenaverse beruht nicht darauf, daß ihnen trotz unzähliger Vergilianismen die summa manus fehlt, sondern darauf, daß sie überhaupt keine Überarbeitung erfahren haben. Sie sind das Werk weniger Augenblicke. Ihr Genialität verratender Wildwuchs offenbart die Handschrift Vergils.
87 Versuche dieser Art habe ich unternommen im Rh. Mus. 120, 1977, S. 255-68 (Ennius ann. 292f. V. im Spiegel der genetischen Äneisbetrachtung) und vielerorts in meinem Vergilbuch (1982). 88 Hier wenigstens das ziemlich vollständige Material: E.2,12; A.I 226.482.495.561; II 1.570 (!).754; III 320; IV 331f.362-4; V 441f.853; VI 156.467-9.862; VII 249-51.375; VIII 152f.228f.310.520.618; X 446f.; XI 121.480.507.763.766f.; XII 70.220.478.558.666.743. 763f.938f. 89 Ich meine dies so: wenn Formulierung C auf A und B zurückgeht, so kann D von C abhängen, ohne gleichzeitig von dessen Vorbildern A und B beeinflußt zu sein. An der fertigen Aeneis lassen sich diese Beziehungen nur noch schwer ablesen, so daß der Eindruck entstehen könnte, alle Wendungen seien mit sämtlichen anderen einschlägigen Stellen direkt abgestimmt. Ich nehme jedoch an, daß die indirekten Beziehungen überwiegen.
ÜBERLIEFERUNGSGESCHICHTE (II): LITERARISCHE NACHKLÄNGE Die dürftige Bezeugung des Helenatextes - ihn verdanken wir nur Servius 1 - und das völlige Fehlen der Nebenüberlieferung2 geben den Bemühungen, Benutzung der Verse durch spätere Autoren nachzuweisen, größere Bedeutung. Diese Versuche, die nicht ganz ohne Ergebnisse geblieben sind, sollen hier, soweit sie mir bekannt geworden sind, zu Wort kommen.
OVID NOACK 3 vergleicht ... partoque ibit regina triumpho
(A.ll 578)
mit ibis Dardanias ingens regina per urbes (Ovid Her. 16,333) Helenas triumphaler Rückkehr, die sich Aeneas voller Zorn ausmalt, entspricht ihr triumphaler Einzug in Troja, den Paris Helena verlockend in Aussicht stellt. Doch wegen der wenig signifikanten stilistischen Berührung beider Stellen und des FehJens weiterer Entsprechungen im Brief des Paris an Helena scheint mir ein Nachklang bei Ovid nicht beweisbar, ja sogar unwahrscheinlich. Denn wenn überhaupt eine direkte Beziehung bestehen sollte, wäre eher daran zu denken, daß der Verfasser der Helenaszene das bei Ovid angelegte Motiv entwickelt und noch gesteigert hätte.
SENECA Für die Frage der literarischen Abhängigkeit des Seneca, Lucan und Valerius Flaccus spielen die Worte (A.ll 573) ... Troiae et patriae communis Erinys eine besondere Rolle. Denn diese stilistisch und gedanklich überzeugende Wendung, mit der Helena gebrandmarkt wird, scheint so einmalig und unverwechselbar, daß Imitationen oder auch nur entfernte Anklänge
Siehe o. S. I ff. Oben S. 4. 3 1893. S. 431. 1
2
64
Überlieferungsgeschichte (II): Literarische Nachklänge
Wesentliches der besonderen Struktur bewahren müßten. Aber gerade hier liegt wegen der überragenden Bedeutung Helenas für die Kriegsschuldfrage fast so etwas wie ein Topos vor, so daß bei literarischen Zuordnungen Vorsicht vonnöten ist. Die Worte der Aeneis sind von römischer Seite durch Catull (c. 68,89) Troia (nefas!) commune sepulcrum Asiae Europaeque beeinflußt4 und von griechischer durch Stellen wie (Aesch. Ag. 749) und livueA€1101~, ~eUTWJI 1rEP"fcXJJ.WII 'A1roAAWJ1LWJ1 EPLIIVJI
(Eur. Or. 1387ff.)5 Von der neugewonnenen Verbindung communis Erinys fehlt jedoch bei Seneca6 gerade das zweite Wort, das charakteristischste Element:
iuncta Menelao redit quae Europam et Asiam paribus ajjlixit malis dum luem tantam Troiae atque Achivis quae tulit, Spane, procul absit (Helena) pestis, exitium, Iues utriusque populi tibi jluxit Asiae, jluxit Europae cruor
(Ag. 273f.) (Troad. 853f.)
(Troad. 892f.) (Troad. 896) Die anderen mit Vergil gemeinsamen Elemente (die zwei Erdteile, die Gleichheit bzw. Gemeinsamkeit des Übels) ergeben sich leicht aus dem Gegenstand selbst und der konventionellen - topischen Tradition\ so daß eindeutige Bezugnahme nicht beweisbar ist. Aus demselben Grunde können zusätzliche von GERLOFF herbeigewgene Entsprechungen wie: in me victor et victus.furit (Troad. 914) ardens Troia (Troad. 19) ardente Troia (Troad. 56)8
4 Siehe o. S. 37 g). commune sepulcrum auch hei Lucr. 5,259. Mit Catull vgl. noch Verg. A. VII 223f. (quibus actus uterque I Europae atque Asiae fatis concurrerit orbis), X 90f. (quae causa .fuit consurgere in arma I Europamque Asiamque ... ), Properz 2,3,35f. (quod tanti ad Pergama belli I Europae atque Asiae causa puella.fuit) und Ovid am. 2,12,17f. (nec belU est nova
causa mei. nisi rapta.fuisset 11}ndaris, Europae pax Asiaequeforet). s Siehe HEINZE 1915, S. 48 Anm. I. Der Verfasser der Helenaszene hat auch sonst den euripideischen Orestes benutzt (s.o. S. 14). 6 Stellen bei GERLOFF 1911, S. 34 Anm. 2. 7 Siehe Anm. 4. Die Frage, ob bzw. welche griechischen Vorbilder Seneca für Agamemnon und Troades benutzt hat, ist noch nicht sicher geklärt (s. J. DINGEL, Senecas Tragödien: Vorbilder und poetische Aspekte, in: Aufstieg und Niedergang der röm. Welt, Berlin-New York 1985; zu Ag. S. 1063-6, zu Troad. S. 1066-71). 1 Vgl. A.II 581: T/'oia arserit igni?
Überlieferungsgeschichte (II): Literarische Nachklänge
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die Vermutung einer Abhängigkeit Senecas nicht erhärten. Allerdings steht es außer Frage, daß Seneca in den Troaden die den Helenaversen fast unmittelbar vorangehende Beschreibung von Priamus' Ermordung durch Neoptolemus vor Augen hatte (Troad. 44ff. - A.II 550ff.; Troad. 140f. A.II 557f.9).
LUCAN Lucan hat Vergil in reichem Maße für sein Bellum Civile benutzt10 , auch das 2. Aeneisbuch 11 • Ebenso scheint die Helenaepisode - sowohl in den Augen der Befürworter als auch der Gegner der Echtheit 12 - im 10. Buch des Lucan nachzuklingen. BRUERE kommt das Verdienst zu, zum erstenmal gründlich das allerdings noch unvollständige Vergleichsmaterial gesichtet zu haben 13 • Jedoch ist die entscheidende Entsprechung (A.II 573) . . . Troiae et patriae communis Erinys (B.C.10,59) dedecus Aegypti, Latii feralis Erinys nicht, wie BRUERE anzudeuten scheint 1\ von HEITLAND (1887) entdeckt worden 15 , sondern war schon OUDENDORP (1728) bekannt 16 • An B.C. 10.59 hatte möglicherweise auch PEERLKAMP (1843) gedacht, als er zu A.II 573 bemerkte: "Magis sapit tumorem Lucani et similium Lucano poetarum". Lucan hat Vergils Verdikt über Helena auf Cleopatra übertragen, das Charakteristikum Erinys beibehalten, das fast ebenso markante communis s t i I i s t i s c h durch das nur Erinys steigernde Attributferalis11 ersetzt, aber durch Verdoppelung der Schmähung (dedecus ... Erinys) i n h a I t I i c h, soweit dies die historisch doch sehr verschiedene Situation zuließ, bewahrt. Die Vergil überbietende Umformung zeigt den Virtuosen. Könnte die auch sonst zu beobachtende außerordentliche Selbständigkeit Lucans im Umgang mit seinen Vorbildern der Annahme Raum geben, er schöpfe hier GERLOFF 1911, S. 34 Anm. 2. Zu den literarischen Beziehungen Vergil - Lucan siehe RUTZ, Lucans 'Pharsalia' im Lichte der neuesten Forschung, in: ANRW 11.32.3, Berlin-New York 1985, S. 1465f. Eine nützliche, aber leider viel zu weitgehende Zusammenstellung von Parallelmaterial gibt W. E. HEITLAND in der Lucanausgabe von C. E. HASKINS, London 1887, S. CVIII-CXXVI. 11 Die Auswertung von REITLANDS Liste (s. vorige Anm.) ftihrte zu folgenden ziemlich sicheren Parallelen (ohne Helenaepisode): B.C.7,195 - A.ll 324; 7,588 - II 281; 8,698-711 (mit 711 vgl. 10,100)- 11554-8. Unsicherheit bestehtjedoch bei: 1,524- 11309 (mit 11309f. vgl. 4,746) oder IJJ 375; 4,431f. - II 460-4; 5,678f. - II 744; 5,767f. - II 43f.; 7,256 II 95; 10,194 - II 157. 12 Als Exponenten nenne ich AUSTIN 1961, S. 196 und GooLD 1970, S. 166f. 13 1964, S. 267f. 14 S. 268 Anm. I. " Siehe Anm. 10. 16 In seiner Leydener Lucanausgabe notiert er zu 10,59: "allusit ad illud Virgil. de Helena" (mit Zitat des Aeneisverses). 17 "A favourite word of Lucan" (HASKINS zur Stelle). 9
10
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Überlieferungsgeschichte (II): Literarische Nachklänge
aus Eigenem, sei jedenfalls nicht Vergil verpflichtet, so läßt der fast unmittelbar folgende Vergleich von Cleopatra mit Helena quantum impulit Argos Iliacasque domos facie Spanana nocenti, Hesperios au.xit tantum Cleopatrafurores. (B.C.10,60- 2) diese Überlegung kaum noch zu. Hier wird Helenas zerstörerischer Einfluß auf Griechenland (Argos) und Troja (Iliacas ... domos) zugleich (-que) von Lucan gewissermaßen 'nachgetragen'. Dem lucanischen Argos entspricht das vergilische Mycenae (II 577); auch sonst erinnert manches an Vergil: facie Spanana nocenti an Tyndaridisfacies invisa Lacaenae (II 601: Fortsetzung der Helenaepisode!) und Spartarn (II 577), au.xit tantum ... furores anfuriata mente (II 588) und quis indomitas tantus dolor excitat iras? (II 594!) 18 • Dem Bilde ähnlich, das sich Aeneas von der im Triumph heimkehrenden Helena macht: panoque ibit regina triumpho? malt sich Lucan Cleopatras drohenden Triumph aus: Caesare captivo Pharios ductura triumphos.
(All 578), (B.C.10,65)
Die Rolle des im Zuge mitgeft.ihrten Beuteobjektes Caesar spielen in der Helenaszene die trojanischen Frauen und phrygischen Dienerinnen: Iliadum turba et Phrygiis comitata ministris? (A.II 580) Dieser Vers berührt sich auffällig mit rum famulae numerus turbae populusque minister. (B.C.lO, 127), wo von der Dienerschaft eines von Cleopatra ausgerichteten Banketts die Rede ist. Schwierig gestaltet sich die Frage der literarischen Abhängigkeit dann im weiteren Verlauf des 10. Buches. Als der Königspalast von Alexandria, in dem sich Caesar aufhält, erstürmt wird, findet Lucan ft.ir Caesar die wenig schmeichelhaften Worte: ceu puer imbellis vel captis femina muris, quaerit tuta domus; spem vitae in limine clauso (B.C.10,458-60) ponit, et inceno lustrat vagus atria cursu Sicher ist, daß diese Stelle an die Szene erinnert, in der der Priamussohn Polites dem Neoptolemus zu entkommen sucht: ponicibus Iongis fugit et vacua atria lustrat (A.II 528) 19 , höchst zweifelhaft aber, ob mit BRUERE und HIGHET20 auch an: BRUERE (S. 267) vergleicht exarsere ignes animo (II 575). Die Beziehung beider Stellen wird möglicherweise noch verstärkt durch den zusätzlichen Anklang (bei völlig anderer Bedeutung): si non sint tela nec ignes (B.C.10,463) - per tela, per hostis (A.II 527), obwohl vielleicht eher an per tela, per ignis (II 664) zu denken ist. 20 HIGHET 1972, S. 166. 18
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Überlieferungsgeschichte (II): Literarische Nachklänge
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limina Vestae servantem et tacitam secreta in sede latentem (A.ll 567-9) Tyndarida zu denken ist2 1 • Der puer imbellis jedoch und das Durchstreifen des Palastes rufen, wie GOOLD betonf2 , nicht Aeneas, sondern Polites ins Gedächtnis; und femina könnte durch Hecuba und ihre Töchter (A.ll 515-7), weniger durch Helena, inspiriert sein. Allerdings darf man nicht ausschließen, daß Lucan a u c h die Helenaepisode vor Augen stand, zumal das Aufsuchen eines sicheren Teils des Hauses (quaerit tuta domus) ziemlich genau der Helena entspricht, die sich den Vestatempel als Zufluchtsort erwählt hat "still im Schutz des versteckten Ortes sich bergend" (Voß). Erheblich stärker wird der Eindruck einer nicht zufälligen Übereinstimmung in den anschließenden Versen Lucans. Caesar vergißt auf seiner Flucht nicht, sich des jungen Ptolemaeus zu bemächtigen: sumpturus poenas et grata piacula morti (B.C.l0,462) Die grausige Absicht Caesars, den unkriegerischen Knaben (puer imbellis nennt ihn Lucan 10,35F3) als eine willkommene (grata) Sühne für den Fall des eigenen Todes zu ermorden, korreliert mit Aeneas' Wunsch, Helena, die wehrlose Frau (ll 583f.), zu töten, um willkommene (iuvabit, 586) Rache zu üben und die Toten seines Volkes zu befriedigen (cineres satiasse meorum, 587). Wenn GOOLD für Lucans sumpturus poenas (10,462) keine bestimmte Quelle annehmen will 24 , wird damit doch nicht der Zusammenhang beider Stellen in Frage gestellt. Die Beziehung reicht vielleicht noch weiter: Caesar will im Notfalle sogar das abgeschlagene Haupt des Ptolemaeus auf dessen Diener schleudern. Dieses unglaubliche Vorhaben vergleicht Lucan mit der Tat der Medea: sie barbara Co/chis creditur ultorem m e t u e n s regnique fugaeque ense suo fratrisque simul cervice parata (B.C.l0,464-7) exspectasse patrem. Der Furcht Medeas vor ihrem auf Rache sinnenden Vater entspricht die Helenas vor der Bestrafung durch ihre eigenen Landsleute und vor dem Zorn des von ihr verlassenen Gatten: et Danaum poenam et deserti coniugis iras praemetuens
21
(A.ll 572f.)
Außerdem vergleicht BRUERE Caesars Herumirren im Palast mit erranri passimque oculos
per cuncta ferenti (II 570). 1970, S. 166. in 10,54 (rex puer imbellis) gehört imbellis nicht zu puer, sondern zum folgenden populi. 24 S. 166. Die Verbindung sumere poenas kommt außer zweimal in der Helenaszene (II 576 und 585f.) noch viermal bei Vergil vor (II 103; VI 501; XI 720; XII 949). 22
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Überlieferungsgeschichte (II): Literarische Nachklänge
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Der unabweislichen Vermutung, daß Lucan die Helenaepisode in einer Aeneisausgabe gelesen hat, tritt nun GOOLD, in der Absicht, die textliche Bezeugung der Szene als möglichst unbedeutend erscheinen zu lassen, mit der Behauptung entgegen, Lucan könne als Schüler des Annaeus Cornutus, der einen Vergilkommentar geschrieben hat, die Verse bei seinen Vergilstudien auch außerhalb der Aeneis gefunden haben25 • Doch diesen Ausweg verbaut die Beobachtung, daß Lucan an den beiden Stellen, wo die Helenaszene anklingt (10,59-65 und 458-67), auch ihre Umgebung (TI 527 .664.528.594.601) berücksichtigt hat. Schließlich verdient GOOLDS Gedanke (von dem er sogleich wieder abrückt: "in all probability false"), die Helenaverse stammten von Lucan selbst, da dieser "the requisite genius" besitze26 , kein Vertrauen. Denn der Stil der Verse ist himmelweit verschieden von dem des Lucan, und die Annahme, ihr Verfasser suche seine eigene Person zu maskieren und sich den Mantel einer anderen anzulegen27, bringt keine Hilfe. Hat sich doch im Verlauf der Untersuchungen gezeigt, daß der lnterpolator überhaupt nicht imitieren wollte und die Verse in unvollendetem Zustand, den GOOLD natürlich bestreitet (mit Hilfe des 'Goldenen Schnitts' 28), beließ.
VALERIUS FLACCUS Kommen wir nun zum Argonautenepos des Valerius Flaccus29 • Dieser habe, so behauptet JACHMANN ohne Belege, die Helenaverse "als vergilisch benutzt" 30 • FLECK konnte JACHMANNS These "trotz Durchsicht einschlägiger Arbeiten" nicht verifizieren 31 , obwohl eine wichtige Entsprechung (Verg. A.ll 573 - Val. Fl. 8,396) schon lange bekannt war2 • Gegen Ende des 8. Buches, kurz vor Abbruch des Epos, bedrängen die Argonauten Jason, unter Preisgabe Medeas Frieden zu schließen und einen jeden nach Hause gehen zu lassen: nec Marte cruento Europam atque Asiam prima haec committat Erinys (Arg. 8,395f.)
S. 166. S. 167. lhm war hier, wenn auch noch vorsichtiger, PEERLKAMP vorausgegangen (s.o. s. 65). 27 GooLD S. 167. 28 Siehe o. S. 41. 29 Zur Vergilimitation des Valerius siehe H. STROH, Studien zu Valerius Flaccus, besonders über dessen Verhältnis zu Vergil, Münchener Diss., Augsburg 1905, und R. NoRDERA, I virgilianismi in Valerio Flacco, in: Contributi a tre poeti latini, present. di A. TRAINA, Bologna 1969, S. 1-92 (dort S. 7 Anm. 9 weitere Literatur). 30 1935, s. 223f. " 1977, S. 73 Anm. 24. 32 Kommentar von P. LANGEN, Berlin 1896, zu 8,396; J. H. MOZLEY'S lat. -engl. Ausgabe der Argonautica bei Loeb (1. Auflage 1934), S. 440 Anm. 2 (zu 'Fury'): "Medea is so called in reminiscence of the Virgilian passage (Aen. 2.573)"; AusTIN 1964, zu 573 (corrununis Erirrys). 25
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Die vergilische Bezeichnung für Helena (A.II 573)33 Troiae et patriae communis Erinys ist von Valerius Flaccus auf Medea übertragen worden, und zwar so, daß diese als Vorgängerio jener erscheint (prima haec). Der Dichter erläutert die besondere Rolle Medeas, indem er in den unmittelbar folgenden Versen den Seher der Argonauten, Mopsus, auf Paris, den alius raptor, hindeuten läßt: namque datum hoc fatis trepidus supplexque canebat Mopsus, ut in seros irent magis ista nepotes atque alius lueret tarn dira incendia raptor. (Arg. 8,397 -9) Die enge Beziehung zu Vergil wird durch ein zweites kurzes Zitat, nicht ganz 50 Verse später, gesichert. Medea schöpft, obwohl man die ihr drohende Gefahr geheimhält, Verdacht und macht Jason bittere Vorwürfe. Nach ihrer Rede heißt es: sie fata parantem reddere dicta virum f u r i a t a m e n t e refugit vociferans. (Arg. 8,444-6)34 furiata mente ist wahrscheinlich eine von Vergil geprägte Wendunt5 ; sie findet sich bei ihm im letzten Vers der Helenaepisode, der von dem Monolog des Aeneas zur Venusepiphanie überleitet: talia iactabam et f u r i a t a m e n t e ferebar (A.II 588) Das zweite Vorkommen vonfuriata mente bei Vergil in der Coroebusepisode (li 407), die zwar den Verfasser der Helenaverse beeinflußt hae6 , ist wegen des inhaltlich und strukturell anders gearteten Umfeldes nicht als Vorlage für Valerius zu betrachten37 • Die Vergilreminiszenzen Arg. 8,396 - A.II 573 und 8,445 - li 588 stützen sich gegenseitig und beweisen, daß Valerius die Helenaszene gekannt hat.
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Möglicherweise ist zusätzlich an A.X 90f. zu denken:
quae causa .fuit consurgere in arma Europamque Asiamque et foedera solvere .furto?, zumal einen Vers später auf Paris angespielt wird (Dardanius ... adulter, 92). Val. Flaccus liebt auch sonst die Verschmelzung mehrerer Vorlagen. 14 Die ganze Stelle ist nach Vergil IV 388-91 (zur vorausgehenden Didorede s.o. S. 54ff.) gemacht. "Siehe o. S. 45 Anm. 39. 16 Oben S. 45f. 17 Insofern ist es wenig glücklich, wenn LANGEN zu Arg. 8,445 auf A.II 407 verweist. Zweifellos kannte Valerius auch diese Stelle, da er ihre engste Umgebung imitierte (A.II 405f. - Arg. 2,469; II 411 und IX 667 - 4,455; vielleicht auch II 407 - 5,649). - Aus dem Umfeld der Helenaepisode notiere ich aus H. STROH (o. S. 68 Anm. 29) folgende Entlehnungen: II 512.517 und XII 457f.- 2,17lf. (vgl. Statius Th. 3,112); II 525- 2,257; II 560- 4,37.188; II 596 - 6,444; II 619 und IV 639 - 4,461.
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STATIVS Auch die Thebais des Statius soll Spuren der umstrittenen Aeneispartie erkennen lassen. So glauben MURGIA 38 und RENEHAN 3\ daß die Formulierung ultricis jlammae (A.IT 587) möglicherweise zusammenhänge mit: Postquam magnanimus furias vinutis iniquae consumpsit Capaneus exspiravitque receptum fulmen, et ad terras Longe comitata cadentem signavit muros u I tri c i s semita f I a m m a e (Th. 11, 1-4) Beide Forscher räumen zwar ein, daß die Wendung bei Statius wörtlich zu verstehen sei ('rächender Blitzstrahl'), sehen darin aber keinen Einwand. Ja, RENEHAN betrachtet furias (Th. 11, I) als zusätzliche Bestätigung der Beziehung. Jedoch besteht über die tatsächlichen Vorbilder für den Blitztod des Capaneus kein Zweifel: Vergil A.I 41-5 (Blitztod des kleinen Aiax)40 und m 578-80 (der vom Blitz getroffene und unter dem Ätna liegende Enceladus)41 , wozu möglicherweise noch TI 693-8 und V 525-8 kommen. Deshalb stammtfurias (Th. II, I) aus A.I 41 (jurias Aiacis Oilei) und hat nichts mit der Helenaepisode zu tun. Noch wichtiger ist natürlich, daß in A.ll 587 ultricis jlammae auf einer wenig sinnvollen Konjektur beruht und stattdessen wohl ultricis famae oder ultrici fama gelesen werden muß 42 • PEERLKAMP führt die seiner Meinung nach unvergilischen Worte panoque ibit regina triumpho coniugiumque domumque patres natosque videbit (A.ll 578f.) auf ihr angebliches Vorbild bei Statius zurück, wo Polyneices seiner jungen Frau eine glänzende Zukunft in Aussicht stellt: fors aderit Lux illa tibi, qua moenia cernes coniugis et geminas ibis regina per urbes. (Th. 2,361 f.t 3 Doch abgesehen davon, daß die Helenaverse mindestens vorlucanisch sind, ist die stilistische und inhaltliche Beziehung nicht groß genug, um ein Abhängigkeitsverhältnis zu begründen. Vielmehr hat Statius die Unterredung der Argeia mit Polyneices (bes. 2,353 -61) in enger Anlehnung an die Venus-Jupiter-Szene des I. Aeneisbuches (bes. I 254ff.) gestaltet44 • Dort finden wir auch: 1971, s. 211. 1973, S. 200 Anm. 16. 40 Vgl. A.l 44 (aus Lucr. 6,391f. und 395) auch mit Th. 10,927f. 41 Vgl. zusätzlich A.III 581 mit Th. 3,594f. 42 Siehe o. S. 8ff. 43 Kommentar zu A.II 579. Das umgekehrte Abhängigkeitsverhältnis nimmt NOACK (1893, S. 431) an. 44 Ziel dieser lmitatio ist die Schaffung von tragischer Ironie: so gewiß der vergilische Jupiter seine auf diefatagegründeten Versprechungen erfüllen wird, so gewiß wird der Saturnius parens (Th. 2,358f.) die von Polyneices erhotftenjara (359) nicht verwirklichen. 38
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cernes
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u r b e m et promissa Lavini
moenia
(A.I 258f.)
Möglich ist es sogar, daß bei Statius, wenn auch mit völlig geändertem Sinn, die Formulierung donec r e g i n a sacerdos Marte gravis g e m i n a m partu dabit Ilia prolem. (A.I 273f.) nachklingt. Jedenfalls kommt die Th. 2,362 am nächsten stehende vergilische Parallele IV 173 (magnas it Famaper urbes) nicht in Betracht. Wenn man überhaupt ein direktes Vorbild für Statius annehmen will, ist noch am ehesten an Ovid Her. 16,333 (ibis Dardanias ingens regina per urbes) 45 zu denken. Fazit: Ein Nachwirken der Helenaepisode bei Statius konnte bis jetzt nicht bewiesen oder auch nur wahrscheinlich gemacht werden.
FIRMICUS MATERNUS Firmicus Maternus, ein Prosaschriftsteller des 4. Jahrhunderts, hat zweifellos vergilische Wendungen übernommen46 ; Kenntnis der umstrittenen Aeneispartie ist aber nicht erwiesen. Denn man darf weder Mathesis 8,17 ,8 (jlammis ultricibus concremabuntur) noch de errore profanarum religionum 16,2 (jlammis ultricibus concremetur) auf A.ll 587 (ultricis jlammae) beziehen, da beide Maternussteilen wörtlich aufzufassen sind, weitere Vergilanklänge in der näheren Umgebung fehlen und überdies ultricis jlammae Konjektur ist. Was bedeutet nun die Bezeugung der Helenaverse durch Lucan und Valerius Flaccus für die Textgeschichte? Nicht mehr Servius ist unser frühester Zeuge, sondern zwei Dichter der 2. Hälfte des I. Jahrhunderts n. Chr. hatten Kenntnis von ihnen. Sie fanden sie vermutlich nicht in einem Kommentar oder in sonstigen gelehrten Arbeiten über Vergil, sondern in ihrem Handexemplar der Aeneis. In der postumen Aeneisausgabe, die Varius besorgte, können diese Verse nicht gestanden haben, da sich von ihnen keine Spur in den erhaltenen antiken und den von Servius nicht beeinflußten mittelalterlichen Handschriften erhalten hat. Da Varius seiner Ausgabe keinen textkritischen Apparat beigegeben hat47 , in dem sie hätten erwähnt werden können, entfällt auch diese Möglichkeit. 45
Siehe o. S. 63. Vgl. die weitere Entsprechung Th. 2,344 (regna peres) - Her. 16,324
(regna petas). 46 Belege bei BüRNER, Vergils Einfluss bei den Kirchenschriftstellern der vornikänischen Periode, Diss. Erlangen 1902, S. 48-50. 47 Schluß e silentio. Denn alles, was die Antike über die Herausgebertätigkeit des Varius weiß, ist entweder falsch oder vernurren oder aus dem Zustand der veröffentlichten Aeneis erschlossen (s. dazu BERRES 1982, S. 28-34).
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Einen ähnlichen Überlieferungsbefund stellen wir bei der Ergänzung der Halbverse fest. Obwohl die Sueton- Donat-Vita davon berichtet, daß bald nach der Veröffentlichung der Aeneis viele -freilich vergeblich -versucht hätten, die Halbverse aufzufüllen48 , drangen diese Zusätze nur sehr langsam in die handschriftliche Überlieferung ein49 • Zwei wurden nur durch Servius (Vill 41) und Servius auctus (II 787) erhalten. Demnach scheint der Aeneistext mindestens drei Jahrhunderte lang von solchen Fremdkörpern freigeblieben zu sein. Aber Seneca las den Aeneisvers X 284 offensichtlich 'vollständig', denn er zitiert ihn ep. mor. 94,28 so:
audentis fortuna iuvat, piger ipse sibi obstat. 50 Die Ergänzung (piger ... obstat) ist sonst nirgends überliefert. Dies bedeutet, daß die erhaltenen antiken Codices, auf denen im wesentlichen auch heute noch unser Aeneistext beruht, nicht die ganze bunte Fülle der frühen Überlieferung widerspiegeln und eine ziemliche Uniformierung erfahren haben müssen 51 • Natürlich gehörten die Ergänzungen der Halbverse und die Helenaszene niemals zur Grundausstattung einer standardisierten Vergilausgabe. Verfehlt wäre auch die Annahme, es hätte eine editio minor und maior ('plenior') gegeben. Wohl aber muß man grundsätzlich zwischen der Einfügung der Helenaepisode und den Halbversergänzungen unterscheiden: denn diese konnte jedermann, sei es Buchhändler, Philologe oder Leser, selbst ersinnen und in den Text setzen, während jene, als eine Schöpfung Vergils, nur dem Autograph zu entnehmen war. Schon bald nach Vergils Tod scheint man sich Zugang zu den Urschriften seiner Werke verschafft zu haben. So hat nach einem Bericht des Gellius (1 ,21 ,2) Hygin, ein Freigelassener des Augustus und von diesem mit der Leitung der palatinischen Bibliothek beauftragt, für seinen Vergilkommentar eine Handschrift der Georgica herangezogen, qui fuerit ex domo atque familia Vergilii 52 • Auch Probus scheint eine Georgicahandschrift, quem ego librum manu ipsius correctum legi (Zitat bei Gellius 13,21 ,4), konsultiert zu haben. Selbst wenn diese Nachrichten 53 unglaubwürdig sein sollten54 , so war der Antike der Gedanke offensichtlich nicht fremd, in Zweifelsfällen die Autographen oder ihre direkten Abkömmlinge zu befragen. 41 quos (sc. versus imperfectos) multi mox supplere conati non perinde valuerunt ob difficultatem ... (Ausgabe von HARDIE § 41). 49 Die frühesten Ergänzungen bei III 661 (Vaticanus Palatinus, 4./5. Jh.); V 595 und X 490 (Romanus, 5. Jh.); XI 391 (Mediceus, 5. Jh.; Zusatz bereits getilgt durch Turcius Rufius Apronianus Asterius, Konsul des Jahres 494). Die übrigen: II 614.640.767; III 340.527; VI 835; XII 631 sind mittelalterlich. (Alle Angaben verdanke ich der Ausgabe von GEYMONAT; s. auch Sll\RROW, Half-lines and repetitions in Virgil, Oxford 1931, S. 46ff.). 50 Siehe BüCHELER, Vergilius et Seneca, Rh. Mus. 34, 1879, S. 623f. 51 Siehe BüCHNER 1955, Sp. 447f. " Siehe auch Servius zu A. XII 120. " Weitere Stellen bei H. D. JOCELYN (Servius and the "second edition" of the Georgics, in: Atti del Convegno mondiale scientifico di studi su Virgilio, Mantova, Roma, Napoli 19-24 settembre 1981, a cura deii'Accad. Naz. Virgiliana, Milano, Bd. I, S. 431-48) S. 44I Anm. 10. 54 Siehe GooLD 1970, S. 161 f.
ZUM INHALT DER LÜCKE II 566/89 Nahezu Einigkeit besteht darüber, daß nach Herauslösung der Helenaskizze (ll 567- 88) sowohl syntaktisch als auch inhaltlich zwischen n 566 und 589 eine Lücke klafft: 565 566 589
590
deseruere omnes defessi, et corpora saltu ad terram misere aut ignibus aegra dedere. cum mihi se, non ante oculis tarn clara, videndam obtulit ...
Das cum inversum in 589 kann sich nicht auf die konstatierenden I resultativen Perfekta deseruere, misere und dedere beziehen, sondern nur - gemäß dem vergilischen Sprachgebrauch - auf ein duratives Tempus (im allgemeinen Imperfekt und Plusquamperfekt) 1• Hinsichtlich der inhaltlichen Lücke nimmt unter den Vertretern der Interpolationshypothese KRAGGERUD eine Sonderstellung ein: während jene in der Regel die an die Helenaszene anschließende Intervention der Venus nur auf dem Hintergrund eines (allerdings oft divergierenden) erschlossenen Lückeninhaltes verstehen können, genügt diesem in der Fuge "auch eine kurze Darlegung der Verzweiflung und der Todesbereitschaft des Aeneas " 2 , die das Eingreifen der Göttin (continuit, 593) erklären könnte; er will aber im übrigen die Anspielungen in der Venusrede nicht auf die Lücke bzw. ihren vermuteten Inhalt beziehen. Prüfen wir seine Ansicht. Venus sagt zu ihrem Sohn: nate, quis indomitas tantus dolor excitat iras? quidfuris ... ? (594f.). Venus meine mit dolor nicht, so KRAGGERUD, "die Reaktion des Aeneas beim Anblick Helenas", sondern sie beziehe ihn auf "ein viel würdigeres Objekt", "nämlich das Schicksal Trojas, das im Tod des Priamus gipfelt" 3 . Aeneas stehe dem Unglück der Vaterstadt leidend 1 Imperfekt: I 36.223.509.586; II 256.323.567 (Helenaskizze).589 (bewgen auf den letzten Vers der Helenaskizze).731; 111 10.137.345.522.590; IV 8; V 160.270.328.838.867; VI 125; VII 27; VIII 28; IX 108.353.372; XI 783.904; XII 249.379. Plusquamperfekt: 111 10.590.655; IV 8; V 84.693.838; VI 45.190.372; VII 105; VIII 98.276; IX 108; XI 904; XII 941. Historisches Präsens: VII 166; X 261. Hist. Infinitiv Präsens: V 657. Ellipse des Verbs: IX 395 (der Zusammenhang ist in hist. Präsens gehalten); XII 154 (vix ea [sc. fata erat]; die Ellipse auch XI 296). - Eine Besonderheit stellt I 535 dar, weil hier cwn dem p e r f e k t i s c h e n Halbvers 534 (hic cursus fuit) folgt. Dieser Halbvers ist ein vergilischer tibicen, den der Dichter nur dazu geschaffen hatte, um die Verse 530-3, die wörtlich aus 111 163-6 übernommen sind, mit dem Folgenden verbinden zu können (s. BERRES 1982, S. 56-72). Sämtliche Stellen aus KRAGGERUD 1975, S. 117 Anm. 9 und WALTER 1933, S. 23. 2 1975, S. 110. KRAGGERUDS Darstellung (S. 108-111) istderartig unklar, daß nichteinmal eine widerspruchsfreie Zusammenfassung möglich ist. 3 S. 109. Ebenso BILL 1932, S. 170.
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gegenüber; dieser dolor erwache in ihm in jener Nacht und erfülle ihn mit Juror und ira4 • Dies verträgt sich allerdings nicht damit, daß Aeneas sich n a c h Priamus' Tod und noch v o r der Lücke auf seine eigene Familie besinnt (560-3) und ihr, so darf man vermuten, ein ähnliches Schicksal ersparen will 5 • Außerdem käme die Frage der Venus, bezöge man den tantus dolor auf den Untergang Trojas, "reichlich post festum" (BüCHNER6).
Auch die Erwähnung der Helena (601) verweise nicht auf die Helenaverse. Venus wolle Aeneas klarmachen, daß schuld an Trojas Untergang die Götter seien und nicht Helena, die als Folie den menschlichen Faktor darstelle, der eben nicht die eigentliche Ursache seC. So richtig KRAGGERUDS Auslegung von Venus' Worten ist, so wenig könnte Helena eine solche Funktion erfüllen, wenn diese zum Zeitpunkt der Rede sonst keine Rolle spielte und in Aeneas' Kopf und Herz nicht Gegenstand intensiver Betrachtung wäre. Der fehlgeschlagene Versuch, Umfang und Bedeutung der Lücke herunterzuspielen, erlaubt uns nun, die Arbeit des Interpolators mit den Bemühungen der modernen Philologie zu vergleichen, diese Lücke zu füllen. Jedoch steht der Interpolator, ungleich schlechter gerüstet, einer Überzahl brillanter Köpfe gegenüber. Zunächst aber soll jene Kritik zu Worte kommen, die die überlieferte Helenaszene seit der Spätantike erfahren hat. Am Anfang steht für uns Servius, der zwei Punkte gegen die Verse vorzubringen weiß: 1. sei es für einen Helden schändlich (turpe), gegen eine Frau seinen Zorn auszulassen (irasci), und 2. stehe die Episode im Widerspruch zu Buch VI, wo Helena im Hause des Deiphobus sei, nachdem sie oben von der Burg aus die Griechen herbeigerufen habe. Mit diesen Vorwürfen begründet Servius (und Servius auctus) die für ihn feststehende Tatsache, daß die (vergilischen) Helenaverse von den Herausgebern der Aeneis gestrichen worden seien8 •
4 KRAGGERUD a.a.O. ' Die Besinnung kann in keinem Fall Auftakt zu sinnloser Raserei sein. 6 1955, Sp. 332. 7 KRAGGERUD S. 110: 'Zu A.II 592 und 566 (vollständige Zitate o. S. 2). - Servius' (S. auct.) Gründe können, selbst wenn sie inhaltlich zuträfen, nicht die wirklichen gewesen sein. Schon in der Person des Herausgebers irrt er: nicht Varius und Tucca, sondern nur Varius besorgte im Auftrag des Augustus die postume Edition (s. BücHNER 1955, Sp. 40f.; GooLD 1970, S. 124; BERRES 1982, S. 2lf.). Die Schwere des Widerspruchs mit Buch VI steht prinzipiell nicht auf einer anderen Stufe als eine Reihe gravierender Widersprüche, die Varius nicht beseitigt hat. Die Schändlichkeit von Aeneas' Betragen ist nach Servius' eigener Ansicht Voraussetzung für die Intervention der Venus. Warum sollte Varius die heftige Kritik der göttlichen Mutter an ihrem Sohn zur eigenen gemacht und durch strenge Zensur editorisch vollstreckt haben, so daß nunmehr Venus' Vorwürfe ins leere laufen? Servius (oder seine Quelle) hat die Beweggründe des Varius sich selber zurechtgelegt, da er sich einen Reim darauf machen mußte, daß Varius einerseits die Aeneis so schonend edierte, daß ihre Unfertigkeit (Halbverse) jedem ins Auge springt, andererseits trotz seiner Zurückhaltung einen schweren Texteingriff vornahm und der Intervention der Venus die
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Die Schwere des Widerspruchs zwischen der Darstellung in Buch II und VI hat bei vielen die Zweifel an der Echtheit der Verse genährt und im allgemeinen die Freude an Harmonisierungsversuchen verdorben 9 • Doch gilt grundsätzlich, daß von zwei Stellen, die einander widersprechen, nicht willkürlich eine verantwortlich gemacht werden darf. Außerdem zeigt die Fülle von kleinen und großen Widersprüchen in der Aeneis, daß ein Widerspruch an sich überhaupt kein Kriterium für Unechtheit sein kann10 • Betrachten wir die Unstimmigkeiten in der Behandlung Helenas näher! In VI erzählt Deiphobus, nach Paris' Tod Gemahl der Helena, dem Aeneas in der Unterwelt, wie Helena in der letzten Nacht Trojas von der Burg aus ein Flammenzeichen gab, um die Griechen zu rufen, und wie sie ihn im Schlaf seiner Waffen beraubte, dem Menelaus, in dessen Begleitung Odysseus war, die Tür öffnete und so sein schreckliches Ende herbeiführte (VI 511 ff.). Deiphobus interpretiert Helenas schändliche Tat als Versuch, sich gegenüber Menelaus von ihrer alten Schuld reinzuwaschen (526f.). Dem widerspricht ihr Verhalten in der Helenaepisode, wo sie sich aus Furcht vor der Rache der Griechen und dem Zorn des Menelaus ins Heiligtum der Vesta geflüchtet hat (II 567-74). Aber nicht nur die Helenaszene, sondern auch andere Stellen des 2. Buches sind durch einen Widerspruch betroffen. Denn wenn Deiphobus von dem Flammenzeichen berichtet, das Helena den Griechen gab (VI 518f.), so verträgt sich das nicht recht damit, daß in II Sinon ein Feuerzeichen von Agamemnons Schiff erhält, um das Hölzerne Pferd zu öffnen (II 256-9). Obwohl CONINGTON geneigt ist, auf eine Harmonisierung beider Stellen zu verzichten 11 , versuchen HEINZE 12 und AUSTIN 13 einen Ausgleich. HEINZE geht von der Beobachtung aus, daß die Tradition nur von dem Feuerzeichen wisse, das Sinon oder Antenor oder Helena gebe: der letzten Fassung folge Vergil im Bericht des Deiphobus, und diese Stelle habe er schon in II vor Augen, indem er für sie das Motiv aufspare. Aber Vergil wolle offenbar eine Verbindung zwischen der Flotte und Sinon herstellen, um die Gleichzeitigkeit der Operationen zu erklären, und kehre deshalb das überlieferte Motiv um. Doch diese dem Dichter unterstellte, nicht bewiesene Ökonomie wäre teuer erkauft. HEINZE unterscheidet hier nicht zwischen der wünschenswerten Aufsparung eines Motivs für den Ort seiner höchsten Wirksamkeit und dem geradezu irreführenden Fortlassen eines für das Verständnis Voraussetzung raubte (s. BERRES 1982, S. 24-34). Die relative Wertlosigkeit von Servius' Zeugnis - bekannt ist seine Sorglosigkeit bei Zitaten und historischen Angaben (siehe z.B. GooLD 1970, S. 134ff.) - darf zwar nicht als Argument gegen die Echtheit der Szene ausgespielt werden, nimmt aber natürlich denjenigen, die auf Servius bauen, eine wichtige Stütze. 9 Einen indiskutablen Ausgleich hat NOACK (1893) versucht. 10 Grundsätzliches zu den Widersprüchen in der Aeneis bei BERRES 1982, S. 250-5. 11 Zu VI 519. 12 1915, S. 23 Anm. I. 13 1964, zu II 256 (jlammas).
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wichtigen Motivs. Der Leser des 2. Buches muß daraus, daß Aeneas, der in seiner Schilderung von Trojas Untergang fast über Allwissenheit verfügt und darum häufig genug die Situation der Ich- Erzählung durchbricht 14 , von dem Feuerzeichen der Helena schweigt, aber das gegenüber der Tradition neue Motiv des Signals der Griechen an die Adresse Sinons berichtet, schließen, daß es ein zweites Feuerzeichen nicht gegeben hat. Von der bedeutenden (aktiven) Rolle, die Helena nach Deiphobus' Worten bei der Zerstörung Trojas gespielt haben soll, ist in II keine Spur zu finden. Ja, da Helenaszene u n d Venusepiphanie dem 2. Buch ursprünglich nicht angehörten'\ wurde Helena dort nicht e i n m a I namentlich erwähnt. Offensichtlich hat Vergil Bedeutung und Aufgabe der Helena soweit wie möglich auf Sinon übertragen und ihm bei der Iliupersis eine überragende Rolle zugeteilt 16 • Si non, nicht Helena, ist der 'Verbindungsmann' der Griechen in Troja. Die Verräterin Helena ist erst eine Konzeption von Buch VI. HEINZES Harmonisierungsversuch stößt auch noch auf eine andere Schwierigkeit: Als Aeneas durch den Kampfeslärm aufgewacht ist und sich auf das Dach seines Hauses begeben hat, erblickt er als erstes den Einsturz von Deiphobus' Haus, das dem Feuer zum Opfer gefallen ist (iam Deiphobi dedit ampla ruinam I Volcano superante domus, II 310f.). Die Nennung gerade dieses Hauses geschieht nicht zufällig, wissen wir doch schon aus der Odyssee, daß Odysseus zusammen mit Menelaos nach Verlassen des Hölzernen Pferdes zum Palast des Deiphobos ging, wo er dann den furchtbarsten Kampf siegreich bestand (0 514-20). Für Vergil ist damit der Zusammenhang klar: Helena und Deiphobus, dem sie nach Paris' Tod zur Frau gegeben worden ist, sind die bevorzugten Racheopfer der Griechen. Wenn demnach Helena in der nach ihr benannten Szene aus Furcht nicht nur vor den Troern, sondern auch vor der Rache der Griechen und insbesondere vor dem Zorn des Menelaus, ihres ersten Gemahls (deserti coniugis iras I praemetuens, II 572f.) im Vestatempel Asyl sucht, so paßt dies alles vortrefflich in den Kontext des 2. Buches 17 • AUSTIN bezieht jedoch den Umstand, daß Aeneas das Haus des Deiphobus brennen sieht, nur auf Vergils Gepflogenheit, statt einer allgemeinen eine einzelne, konkrete Angabe zu machen 18 • Deiphobus sei sicherlich gewählt als ein repräsentativer Trojaner, und wohl nicht, weil es sein Haus (wie 0 517) gewesen sei, das Odysseus und Menelaos unmittelbar nach dem Ausstieg aus dem Pferd überfallen hätten. Doch das heißt den Zufall zu weit zu treiben. Vergil rechnet als poeta doctus mit einem gebildeten Leser; denn Siehe u. S. 79f. Siehe u. S. 195ff. 16 "Virgil gives Sinon a far more dramatic part than that of mere call- boy; the drama of the Horse began with him and with him it ends" (AuSTIN 1964, zu II 259). Zu Sinons Bedeutung bei Vergil s. auch HEINZE 1915, S. 7tf. 17 Siehe CARTAULT 1926, S. 54 mit Anm. 2. 18 1964, Zu II 310 (Deiphobi). 14
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nur diesem gilt seine Dichtung. Wenn man mit HEINZE davon ausgeht, daß Vergilbeider Abfassung des 2. Buches schon die Deiphobusszene des 6. im Auge hatte, fällt AUSTINS Annahme sofort in sich zusammen: denn in VI sind es ja gerade Menelaus und Odysseus, die in das Haus des Deiphobus eindringen, in dem sich a u c h Helena befindet. Daß sie in VI Helferin, in ll dagegen Opfer ist, belastet HEINZES Ausgleichsversuch zwischen den beiden Feuerzeichen (ll 256f. und VI 518f.) mit einer zu großen Hypothek. Wer aufHarmonisierung bedacht ist, vergrößert den Widerspruch. Wer aber den Bericht des Deiphobus als Nachtrag 19 eines besonders grausigen Ereignisses zum 2. Buch auffaßt und nicht kleinlich nachrechnet, wird einen Widerspruch gar nicht erst bemerken20 • Ausgeklammert ist hierbei natürlich die Helenaszene, die in schroffem Gegensatz zum Deiphobusbericht steht, aber mit dem 2. Buch in vollkommener Übereinstimmung zu sein scheint. Da das Ende des Deiphobus nun weder zur Helenaepisode noch zu den übrigen Teilen von ll paßt, könnte sich der Verdacht einstellen, daß die Szene des 6., nicht des 2. Buches, für den Widerspruch verantwortlich ist. Obwohl der Verfasser der Helenaverse, sei es nun ein Interpolator oder Vergil, die Deiphobuserzählung nachweislich gekannt hat2 1, hat er sich dennoch dafür entschieden, die Verse in Übereinstimmung mit der Venusepiphanie und mit dem 2. Buch überhaupt zu bringen. Der Grund hierzu ist auch der Grund für die Existenz der umstrittenen Verse22 • Servius' ersten Vorwurf gegen die Verse (turpe est viro forti contra feminam irasci) hat HEINZE aufgegriffen und modifiziert: Nicht das irasci würde Aeneas entehren; wohl aber hätte Vergil seinen frommen Helden niemals auch nur den flüchtigsten Gedanken fassen lassen, ein wehrloses Weib zu töten, vor allem nicht, wenn es am Altar Schutz gesucht habe, 19 namque ut supremamfalsa inter gaudia noctem I egerimus, n o s t i (VI 513f.). "Wenn Aeneas es weiß, warum wird es ihm dann noch erzählt? Hier spricht der Dichter zum Leser" (NORDEN zu VI 514ft'.). Solche Nachträge stimmen bei Vergil bisweilen nicht mit der buchmäßig früheren Stelle zusammen. Erinnert sei an die beiden Palinurusgeschichten in V und VI, das Tischprodigium in III und VII, Nisus und Euryalus in V und IX (der Hyrtacide Nisus [IX 176f.] ist in V noch nicht Sohn eines Hyrtacus). Siehe dazu BERRES 1982, S. 250ft'.; 212ft'.; 169ft'. 20 AUSTIN kombiniert die beiden Feuersignale auf folgende Weise: Erst habe Agamemnons Schiff dem Sinon, da für das Öffnen des Pferdes genaue zeitliche Abstimmung notwendig gewesen sei, das Zeichen dazu gegeben; dann habe Helena mit ihrem Zeichen die Griechen nach der Landung geleitet (1964, zu II 256). Doch sobald einmal die in dem Pferd versteckten Helden in die feindliche Stadt ausgeströmt waren, konnte und durfte das Geschehen innerhalb und außerhalb der Stadt nicht mehr aufgehalten bzw. beeintlußt werden. Dagegen ist CONINGTONS Vorschlag, daß Helena der griechischen Flotte das Startsignal und Agamemnon später dem Sinon ein Zeichen zum Öffnen des Pferdes gegeben habe (zu VI 519), wesentlich einleuchtender, wenn man auch gerade d i e s e Art der Aufgabenverteilung zwischen Helena und Sinon nicht ganz einsehen kann. CoNINGTON zieht mit Recht seinem eigenen Lösungsvorschlag die Anerkennung einer Diskrepanz vor. 21 Siehe o. S. 19 Anm. 23. Es wäre seltsam, wenn der Verfasser, der sich mit der ganzen Aeneis vollkommen vertraut zeigt, gerade die einzige Stelle, an der Helena als handelnde Person vorkommt, übersehen hätte. 22 Siehe u. S. 86f; 206-8; 214f.
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zumal er soeben vo11 tiefster Empörung von einer Altarschändung erzählt habe (550ff.?3 • Ja, durch das ganze 2. Buch läuft als ein "Leitmotiv", wie PALMER gezeigt hat, daß die Griechen straflos Frevel an Altären und heiligen Orten begehen24 • HEINZE übersieht das Entscheidende: der 'fromme' Aeneas ist "bei weitem noch nicht der Aeneas nicht einmal des I. Buches" 25 , sein Gehorsam gegenüber dem Fatum ist noch unentwickelt und die Emotionen gewinnen noch Oberhand über ihn26 ; er befindet sich "auf dem Höhepunkt der Verzweiflung" 27 • Natürlich entkräftet der Hinweis, daß Aeneas den Plan, Helena umzubringen, nicht ausfiihrt28 , nicht HEINZES Argument, bereits der G e d a n k e an einen Mord dürfe dem vergilischen Aeneas nicht kommen. Vielmehr versucht Aeneas in der umstrittenen Partie sein grausiges Vorhaben sogar zu rechtfertigen: ihn habe beim Anblick Helenas jäh entflammter Zorn angetrieben, an ihr, der eine glänzende Zukunft bevorstünde, Rache zu nehmen für den Untergang Trojas. Freilich - und hier scheint der Interpolator auf HEINZES Bedenken gewissermaßen zu antworten - sei die Bestrafung einer Frau ifeminea in poena) kein Ruhmesblatt (memorabile nomen), aber d i es e r Sieg bringe Ruhm (habet h a e c victoria laudem). Und da ein solches Argument dem Interpolator noch zu wenig durchschlagend erscheint, fügt er als Dublette hinzu:
exstinxisse nefas tarnen et sumpsisse merentes laudabor poenas, animumque explesse iuvabit ultricis famae et cineres satiasse meorum.
(585 -7)
Die Strafe ist verdient (merentes), sie wird ihrem Vo11strecker deshalb Lob einbringen (laudabor); es wird ihm eine Freude sein (iuvabit), den Ruhm der Rache zu erwerben (ultricisfamae) und so seinen toten Angehörigen Genugtuung zu verschaffen (satiasse). Das wichtigste Argument ist jedoch das erste: exstinxisse nefas, "the obliteration of a living sin" (PALMER29). Die Vorste11ung, einen Person -gewordenen Frevel zu tilgen, rechtfertigt zwar nicht den "wahnwitzigen Mordgedanken" (HEINZE 30), macht ihn aber verständlich. Die Dublette (dazu o. S. 21ff.) zeigt nicht nur ganz aUgemein die Unfertigkeit der Helenaszene, sondern auch, daß ihr Verfasser mit der Begründung dieser von Aeneas erwogenen Ungeheuerlichkeit nicht auf Anhieb zurechtkam. Warum aber erfand er dann überhaupt 1915, S. 46. 1938, S. 373. Aus PALMERS Aufsatz notiere ich folgende Stellen: ll 154f.l63-8.20lf.245. 364-6.403f.424-6.429f.50lf.513 -7 und 523.550.662f. 25 BüCHNER 1955, Sp. 333. 26 Aeneas ignoriert die Traumerscheinung Hektors, der ihm seine neue Aufgabe vor Augen stellt, vollkommen und stürzt sich nach seinem Erwachen blind vor Wut in den Kampf (armn amens capio, 314;}Uror iraque mentem I praecipitat, 316f.). 27 BÜCHNER Sp. 333. 28 Siehe z.B. FAIRCLOUGH 1906, S. 225; CARTAULT 1926, S. 54; BÜCHNER Sp. 333. 29 1938, S. 375. 30 1915, S. 46. 23
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den Mordgedanken? Offensichtlich verstand er die Intervention der Venus als Reaktion auf etwas Derartiges. Das Problem des angeblich unschicklichen Inhaltes der Helenaszene verschiebt sich also zu der Frage hin, ob auch Venus' Erscheinung auf eine solche Ungeheuerlichkeit möglicherweise Bezug nimmt oder sie gar voraussetzt. Mit dieser Frage werden wir uns beschäftigen, wenn wir zur Analyse der Versuche kommen, aus der Venusszene den mutmaßlichen Inhalt der vorangehenden Lücke zu rekonstruieren. Ebenso soll auch die Untersuchung, ob Aeneas sich während der Helenaepisode noch auf dem Dach des Priamuspalastes befindet oder in der Stadt umherirrt, zurückgestellt werden, da die Venuserscheinung unter derselben Unklarheit Ieidet3 1• Endlich erhebt HEINZE gegen die Worte "scilicet haec Spanam incolumis patriasque Mycenas aspiciet ... " (577ff.) den Vorwurf, daß sie das einzige Selbstgespräch im Rahmen der Apologe des 2. und 3. Buches seien. "Wie unnatürlich und frostig solche Selbstgespräche, noch dazu Räsonnements wie das vorliegende, in der Icherzählung wirken, sieht jeder". HEINZE ist nur dann bereit, "diese Geschmacklosigkeit" hinzunehmen, wenn sie "einwandfrei überliefert" wäre 32 • Demgegenüber muß betont werden, daß über die Hinnahme einer solchen (angeblichen) Entgleisung nicht die Qualität der Überlieferung entscheidet33 , sondern einzig und allein die Echtheit bzw. Unechtheit der Passage. Indem HEINZE überhaupt unter einer bestimmten Bedingung für den so gescholtenen Monolog vergilischen Ursprung erwägt, verrät er die Schwäche seiner Position. Sein "technisches Argument" 34 läßt sich, auch wenn BÜCHNER die Basis von zwei Büchern Ich-Erzählung ftir zu schwach hält35 , durch einen Vergleich mit der epischen Technik Vergils hinlänglich entkräften. HEINZE selbst fUhrt an anderer Stelle aus, daß Vergil "den Standpunkt der Icherzählung nicht streng gewahrt hat" 36 ; ein Dichter könne entweder den Erzähler ganz streng dem Gange seiner Erlebnisse folgen oder die Ereignisse in der Reihenfolge, wie sie faktisch eingetreten sind, vortragen und so seiner späteren Erkenntnis vorgreifen lassen; nach dieser zweiten, "naiven Technik", deren sich Homer in den Apologen des Odysseus bediene, verfahre auch Vergil, "nur in etwas verfeinerter Art'm. Auch sonst " Siehe u. S. 94f. J2 1915, s. 46f. " Ob die Helenaverse als überliefert und für Vergil bezeugt gelten müssen oder nicht, kann auf Grund der Unzuverlässigkeit des Servius (zunächst) nicht geklärt werden. Das Fehlen der Verse in den meisten Handschriften stützt in gewisser Hinsicht zwar die unglaubwürdige Behauptung des Servius, sie seien durch die Herausgeber getilgt worden, beweist aber keinesfalls ihre Unechtheit. 34 HEINZE S. 46. 35 Sp. 333. 36 s. 23f. 37 S. 22. HEINZE zeigt dies an der vorausgreifenden Erzählung II 13-24 und dem ihr zugrundeliegenden Bericht des Panthus II 328tf. (S. 21- 3).
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vernachlässigt Vergil den Rahmen der Ich-Erzählung, wenn Aeneas z.B. abwesende Personen, wie Panthus (II 429), Venus (II 664) und Arethusa (lll 696), direkt (mittels einer Apostrophe) anredet - ohne Rücksicht auf seine Zuhörerin Dido 38 • Überhaupt sind die meisten Partien von Buch II und m trotz formaler Einbindung in die Erzählsituation durch die auktoriale Erzählform geprägt. So gewinnt der Dichter relativ großen Spielraum für die Darstellung seines Stoffes. In diesen erweiterten Rahmen fügt sich auch das Referat eines Selbstgespräches durch Aeneas selbst ganz zwanglos ein 39 • Auch inhaltlich berührt sich das Selbstgespräch der Helenaepisode mit den übrigen Monologen der Aeneis. Wie Aeneas beklagt auch Juno I 37ff. und VII 293ff. den Erfolg ihres Feindes und die eigene Unterlegenheit (vietam, I 37; parto ... triumpho, II 578; vineor, VII 310), um sich dann zum Eingreifen zu entschließen40 • Zorn und Bitterkeit sind allen drei Reden gemeinsam41 • Dieselben Affekte, zu denen dann noch die Verzweiflung kommt, erfüllen auch Didos Monologe IV 534ff. 42 und 590ff. In ihrem letzten Selbstgespräch (651 ff.) gewinnt das Motiv der Rache an Aeneas noch einmal Bedeutung: moriemur inultae, sed moriamur, ait. sie, sie iuvat iresub umbras. (IV 659f.) Während Dido die Hoffnung auf unmittelbare Rache an Aeneas aufgegeben hat und nun ungerächt sterben möchte, will Aeneas durch Helenas Tötung ruhmvolle Rache für sich und Genugtuung für seine umgekommenen Angehörigen erwerben:
38 Siehe PALMER 1938, S. 376 Anm. 3; NORDEN (zu VI 514ff. nostl): IIl 692ff. trete Aeneas mit "verzeihlicher Störung der Illusion" hinter den referierenden Dichter zurück. Weitere Beispiele bei HEINZE S. 41 und WALTER 1933, S. 33. 39 KRAGGERUD (1975, S. 115) bemängelt, daß der Monolog des Aeneas II 577ff. nicht wie die anderen der Aeneis klar von der Umgebung abgehoben sei, da hier die Einführung der direkten Rede fehle. Wenn diese Einzelheit überhaupt als Mangel gefühlt werden sollte (s. AusTIN 1961, S. 194 Anm. 2), so ließe sie sich leicht dem unfertigen Zustand der ganzen Partie zuschreiben. Immerhin hätte der lnterpolator, der, wie ich sogleich zeigen werde, die Selbstgespräche der Aeneis sehr genau kannte, offensichtlich auf die Imitation des Einfachsten und Nächstliegenden verzichtet. Das würde zu meiner allenthalben gemachten Beobachtung stimmen, daß der lnterpolator sich jegliche Vergilimitation versagt hat. 40 HIGHET 1972, S. 164. 41 Besonders auffällig ist die inhaltliche und stilistische Nähe der Redeschlüsse:
talia jlammato secum dea corde volutans (I 50) talia iactabam et furiata mente ferebar (II 588) Auf II 588 scheint auch I 102 (talia iactantl) eingewirkt zu haben. Zufuriata mente (II 588 = II 407) s.o. S. 45f. 42 Siehe auch die vorbereitenden Verse:
ingeminant curae rursusque resurgens saevit amor magnoque irarum jluctuat aestu. sie adeo insistit secumque ita corde volutat IV 533 erinnert stark an I 50 (s. vorige Anm.).
(IV 531-3)
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animumque explesse iuvabit ultricis famae et cineres satiasse meorum.
(II 586f.) Für a I I e eigentlichen Monologe der Aeneis ist es typisch, daß der Sprecher (Juno, Dido) seine Gefühle, vor allem die des Zornes, äußert und begründet und mit ihnen auf eine höchst bewußte Art umgeht. Der Vorwurf des "Räsonnements" II 583-7 (HEINZE43 ), "in der Hitze das Frostigste" (GRUPPE44) richtet sich nicht nur gegen den Interpolator, sondern auch gegen Vergil selbst45 • Die Kritik am Inhalt der Helenaepisode ist in sich zusammengefallen und hat, wenngleich unfreiwillig, nur immer wieder auf Vergilisches geführt. Der Interpolator hat in vollkommener Übereinstimmung mit Vergil eine Szene erfunden, der die Kritiker das Etikett einer (mißglückten) Imitation nicht anhängen konnten. Den Vertretern der Interpolationshypothese fällt fast automatisch die Aufgabe zu, die Lücke zwischen II 566 und 589 durch eine eigene Vermutung über den Inhalt zu schließen. Denn die Kritik am Werk des Interpolators wird geleitet durch das bessere Verständnis sowohl der die Lücke umgebenden Verspartien als auch der generellen Intentionen Vergils in der Aeneis. Zugleich soll die jeweils vorgeschlagene Rekonstruktion die Ungeschicklichkeit oder gar Geschmacklosigkeit des Fälschers deutlich machen. Wider Erwarten sind einige Rekonstruktionen sehr unbestimmt gehalten und lehnen sich bisweilen sogar an den Inhalt der antiken Verse an. GRUPPE glaubt, daß Vergil bei einer Überarbeitung die Lücke "ganz anders ausgefüllt" 46 hätte und "Aeneas ... auf Helena und Paris wollte zürnen lassen " 47 • Dies schließt er offenbar aus Venus' Worten:
non tibi Tyndaridis facies invisa Lacaenae culpatusve Paris
(II 60 1f.) Und damit seine Mutmaßung nicht etwa mit der Erfindung des Interpolators verwechselt werden kann, grenzt GRUPPE sie noch genauer ab: schon das Erblicken der Helena und zumal in ihrer Zuflucht an der Schwelle des Tempels sei hier das Falsche ... , ferner gehöre die Strafe nicht hierher, wenigstens nicht in dieser Weise48 • Durch diese bloß negative Umschreibung gewinnt freilich GRUPPES Vorschlag keinerlei Anschaulichkeit, geschweige denn poetische Kraft. Er gestattet Aeneas lediglich "thatenlose Verwünschung" 49 • Er modifiziert also die Version des Interpolators, indem S. 47. 1859, s. 176. 45 So hat BR. ÜTIS, in Beweisnot geraten, versucht, die Rede der Creusa II 776ff. als "cold" darzustellen (Virgil. A study in civilized poetry, Oxford 1964, App. 7, S. 412). Dazu BERRES 1982, S. 118. 46 1859, s. 181. 47 s. 178. 48 S. 181. 49 s. 181. 43
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er dieses "elende Flickwerk" 50 völlig blutleer macht. Und wie haben wir uns schließlich die "thatenlose Verwünschung" vorzustellen, zumal Aeneas Helena nicht einmal erblicken durfte? RIBBECK hat es nicht bei GRUPPES vagen Andeutungen belassen, sondern ein konkreteres und anschaulicheres Bild von der vermißten Szene entworfen: Aeneas könnte durch den Anblick des daniederliegenden Königspalastes dazu gebracht worden sein, wegen der Zerstörung seiner Vaterstadt und des vergossenen Blutes der Seinen Rachegedanken zu hegen und grausige Verwünschungen gegen Helena und Paris als die, wenn auch abwesenden, Urheber des Verderbens auszustoßen. Und er könnte sogar im Begriff gewesen sein, zur Tat zu schreiten, woran ihn dann die Erscheinung seiner Mutter hinderte ... 51 RIBBECK versucht also, den mutmaßlichen Inhalt der Lücke sowohl nach vorn als auch nach hinten anzuschließen. Es ist allerdings kaum denkbar, daß Aeneas, den soeben das schreckliche Ende des Priamus an seine eigene Familie erinnert hat (ll 559-63), nicht den Seinen zu Hilfe eilte, sondern sich plötzlich wilden Rachegedanken hingäbe. Diese Rachegefühle dienen jedoch RIBBECKS Rekonstruktion als notwendige Überleitung zu der Verwünschung von Helena und Paris. Aber da Paris zu diesem Zeitpunkt bereits lange tot ist und Helena nicht in Aeneas' Blickfeld treten darf, weil die Verräterin sich ja im Haus ihres neuen Gatten Deiphobus aufhält (VI 511ff.), beschritt RIBBECK den Ausweg, beide abwesend sein zu lassen. Wie bei GRUPPE muß also auch bei RIBBECK der Zorn des Aeneas "tatenlos" bleiben. Damit nun diese ganze Szene nicht völlig ins leere läuft und Venus einen dahinstürmenden Aeneas gewaltsam zurückhalten kann (dextraque prehensum I continuit, II 592f.), erwog RIBBECK die Möglichkeit, daß der Held sogar von Worten zu Taten überging. Wie dieser Übergang vorzustellen ist, sagt RIBBECK nicht. Der Kunstgriff der physischen Abwesenheit von Helena und Paris - einer für den Dichter kaum zu bewältigenden Aufgabe - soll den Widerspruch mit dem 6. Buch vermeiden und für Venus' Hinweis auf beide Personen (ll 601 f.) die nötigen Voraussetzungen schaffen. Scheinbar einfacher und konsequenter ist deshalb die Annahme SCHÜLERS, Vergil habe einen "Aeneae et Helenae congressum" vorgesehen, in dem Aeneas durch Helenas Anblick in Zorn geraten und die Person der Helena in Übereinstimmung mit dem 6. Buch dargestellt worden wäre52 . Dies ist - vom Widerspruch zur Deiphobusszene abgesehen - exakt die Version des Interpolators! Wie aber soll man dem Widerspruch entgehen, wenn Helena in VI als Komplizin der Griechen, besonders ihres früheren Gemahls Menelaus auftritt, in II aber offenbar den Schutz ihrer Landsleute verloren haben muß, damit sie sich den Augen des Aeneas als Gegenstand seines Zornes und wahrscheinlich seiner Rache darbieten kann? Hilfe brächte hier nur eine umständliche und weit 50 >t S2
S. 181. 1866, S. 93. Kritik hieran bereits bei 1883, s. 24.
FRIEDRICH
1868, S. 27f.
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hergeholte Handlungsführung, etwa daß Helena den Kontakt zu Menelaus und Odysseus (s. VI 525 -9) verloren und sich anderen Griechen, die doch über die ganze Stadt verteilt waren, zufällig nicht hätte anschließen können. Mit dieser Schwierigkeit hat THILO nicht zu kämpfen, der glaubt, daß Vergil ursprünglich eine Uetzt nicht mehr erhaltene) Szene ohne Helena geschrieben habe: "videtur igitur Aeneas, a sociis desertus et ad summam omnium rerum desperationem adductus, pronuntiasse, omissa patris coniugis filii cura in proelium se rediturum esse, non ut patriam servaret, sed ut ulciscens illos, qui eam pessum dedissent, et fortiter pugnans interiret" 53 • Die Frage, ob die Lücke ohne Helenas Auftreten auskommen kann, sei zurückgestellt. Aber ebensowenig wie RIBBECK vermag THILO zu begründen, warum Aeneas, der sich im entsetzlichsten Moment (Tod des Priamus) seiner Familie entsinnt (560-3), den Gedanken an ihre Rettung sog I e i c h aufgibt. Darüber hinaus nimmt THILO an, daß Vergil diese Szene verworfen habe, da er ihre Ähnlichkeit mit 348ff. (Aeneas' Entschluß, den Tod im Kampf zu suchen) und 661 ff. (erneuter Entschluß zu aussichtslosem Kampf) nicht habe übersehen können und ihm ein Aeneas mißfallen habe, der seine Familie der Grausamkeit der Feinde ausliefere, ohne einen Versuch zu ihrer Rettung unternommen zu haben 54 • Die Vergil unterstellten Motive für die Streichung der Szene entlarven vielmehr die Schwäche und Unmöglichkeit der THILOSCHEN Erfindung. Lediglich HEINZE hat sich, soweit ich sehe, die These von der Tilgung ursprünglicher Verse zu eigen gemachf 5 • HEINZE, dem wir den energischsten Rekonstruktionsversuch verdanken, will Helenas Bedeutung für die Lücke herunterspielen, indem er fragt: wie sich, wenn Venus mit den Worten non tibi Tyndaridisfacies invisaLacaenae ... (601) auf Aeneas' Anschlag eingehen sollte, der Zusatz culpatusve Paris (602) rechtfertige, da an diesen doch Aeneas der ganzen Situation nach nicht einmal gedacht haben könne56 • BüCHNER, auf einem Gedanken von FAIRCLOUGH 57 fußend, entkräftet dieses Argument vollständig: "Wenn V. 601 die Tyndaridis facies Lacaenae erwähnt wird, so fordert der Zusammenhang - die Aufklärung darüber, daß nicht Helena letzte Ursache ist, soll ihn von seinem Handeln abbringen und zum Vaterhaus führen -, daß sie Gegenstand seines sinnlosen Wütens ist. Mitnichten erwartet man dann, vorher auch Paris genannt zu sehen: V. 602 culpatusve Paris stellt
1886, S. XXXlii. S. XXXlii. " 1915, s. 47. 56 s. 46. 51 1906, S. 225: "culpatusve Paris, this is only a corollary to the previous words about Helen. lf she can arouse such anger, so also surely can her guilty paramour. The two have the force of a plural. It is no human agents you must accuse. lt is the gods themselves who are responsible for Troy's downfall". Siehe auch GERLOFF 1911, S. 47f. und HARRISON 1970, S. 329. Anders PALMER 1938, S. 376 Anm. 3: "Of what other sin than her sin with Paris can Aeneas have thought when he utters the words nefas extinxisse (585)?" 53
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Venus mit feiner Ironie den 'Unglücks'paris zur Wahl, von sich aus, um die Ungerechtigkeit des Wütens gegen die eine zu zeigen " 58 • Immerhin räumt HEINZE vorsichtig ein, daß wahrscheinlich "Venus mit der Erwähnung von Helena und Paris an gesprochene oder nur gedachte Vorwürfe des Aeneas anknüpft" 59 • Mit dem Zugeständnis der Existenz solcher Vorwürfe gerät er allerdings unversehens in die Nähe des Aeneasmonologs, den er als "unnatürlich und frostig" gescholten hatte. Diesem Dilemma sucht er durch vage Ausflüchte zu entgehen ("es konnte ein kurzer Ausruf genügen, der keineswegs zum Selbstgespräch erweitert zu sein brauchte60 ; es konnten auch nur die Empfindungen berichtet sein, mit denen Aeneas in den Tod gehen wollte" 61 ), durch die er unfreiwillig den Interpolator, der in diesem Punkte konsequenter ist, wenigstens teilweise rehabilitiert. HEINZE hat für die Füllung der Lücke zwei unterschiedliche Vorschläge gemacht. In der l. Auflage seines Vergilbuches (1903) erwägt er die Alternative, ob Aeneas den Entschluß gefaßt habe, den Tod in den Reihen der Feinde zu suchen, oder ob er - wie bei Tiberius Donatus - "den kürzeren Weg wählen und mit eigener Hand seinem Leben ein Ende machen" wolle62 • HEINZE zieht die Selbstmordhypothese vor, da sich so schöner die Aktion der Venus erklären lasse, die ihn an der rechten Hand packt und festhält (dextraque prehensum I continuit, 592f.), als wenn es sich nur darum handelte, den Fortstürzenden aufzuhalten63 • Dennoch habe Vergil dieses Motiv, so vortrefflich auch an sich die Steigerung sei, später verworfen, da es ihm als "zu kraß" erschienen sei 64 • Mit der 2. Auflage (1908) rückt HEINZE vorsichtig von dieser Hypothese ab, da Venus' Worte nate, quis indomitas tantus dolor excitat i r a s? ... non prius aspicies ubi ... liqueris Anchisen? (594ff.) sie weniger empfehlen65 • Er plädiert nun für den Tod im Kampf, ohne die Schwäche dieser Annahme zu übersehen: es wäre "auf eine Wiederholung des zu Beginn des Kampfs Gesagten -Juror iraque mentem praecipitant pulcrumque mori succurrit in armis 316 hinausgelaufen und ein Grundgesetz der virgilischen Technik, das der allmählichen Steigerung, wäre verletzt worden" 66 • HEINZE aber gewinnt aus diesem (doch wohl durchschlagenden) Einwand sogar ein Argument f ü r seine These: denn nun begreife man, warum Vergil den Gedanken Si
1955, Sp. 332.
s• S. 51. 60
Wohl aber dahin erweitert werden d u r f t e?
"S. 51.
1903, s. 48f. 1903, s. 49. 64 1903, s. 49. 65 1915, S. 49 mit Anm. 2 (Sperrung von HEINZE). KöRTE möchte an ihr aber .unbedingt" festhalten, da nur der Selbstmord .die unerläßliche Steigerung" gegen 317 pulchrumque mori succurrit in armis bringe (1916, S. 146). Venus' Worte 594ff. seien kein Gegenargument, .denn die irae können sich auch gegen das Subjekt selbst richten, und prius steht ... für potius" (S. 146 Anm. I; ruprius s. auch KVICALA 1881, S. 39). Kritik bei PALMER 1938, S. 370 Anm. 4. 66 1915, s. 49. 62 63
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später aufgegeben habe67 • Aber seiner Hypothese ist weniger dieser Zirkelschluß abträglich als die Umgebung der Lücke. B e i d e Hypothesen HEINZES vertragen sich nicht damit, daß nach den Versen 559ff., wo Aeneas sich auf die Lage seiner Angehörigen besinnt, der Gedanke, den Tod in irgendeiner Form zu suchen, ganz abwegig ist68 • Und da Helena in der verlorenen Szene, wie den Worten der Venus zu entnehmen ist, Gegenstand von Aeneas' rasendem Zorn gewesen sein muß, müßte Helena auch den entscheidenden Anstoß für seinen Todesentschluß gegeben haben. Diese Vorstellung ist unmöglich. Welche grundsätzlichen Erkenntnisse und Einsichten gewinnen wir nun aus den erörterten Rekonstruktionsversuchen? Im allgemeinen streben diese Hypothesen nach zwei gegensätzlichen Zielen: einerseits nach möglichst deutlicher Abgrenzung von der überlieferten Szene und andererseits genauer Berücksichtigung des Kontextes. Beides geschieht überwiegend durch Modifikation der verworfenen Verse, indem man versucht, die Rolle der Helena in Übereinstimmung mit derjenigen des 6. Buches zu bringen und Aeneas vom Vorwurf eines geplanten Mordes zu befreien. All diese Bemühungen geraten in Widerspruch zu Venus' Worten, einige führen auch zu Resultaten, die in sich nicht stimmig sind und über deren Schwächen vage Andeutungen hinweghelfen sollen. Eine Verbesserung der Vorschläge bestünde stets in einer Annäherung an die flir unecht erklärten Verse. Auffälligerweise verzichten diese Autoren fast völlig darauf, die Modellentwürfe ihrer Vorgänger kritisch zu würdigen und aus deren Fehlern Konsequenzen zu ziehen 69 • Auch FLECK stellt keine Ausnahme dar, obwohl er wenigstens anmerkungsweise HEINZES Alternativvorschläge - ohne Begründung - zurückweist. Sein eigener Vorschlag zieht jedoch - wenn auch nicht ausdrücklich - ein Fazit aus den bisherigen Versuchen und verdient deshalb besondere Beachtung: "Als Aeneas beim Tod des Priamus sich der Seinen erinnert, kann sein Entschluß nur gewesen sein, ihnen sofort zu Hilfe zu eilen. Dieser eben gefaßte Entschluß wird durch ein Ereignis, das höchsten Schmerz und flammenden Zorn in ihm erregt, in den Hintergrund gedrängt" (Anm. 39: "An Tod in den Reihen der Feinde oder gar Selbstmord ist überhaupt nicht zu denken. " 7~. "Als die Emotionen Gewalt über sein Handeln gewinnen und ihn zu unüberlegtem und verderblichem Tun zu verleiten drohen, greift Venus ein, hält ihn zurück und erinnert ihn an seine eigentliche Pflicht, die der pietas gegenüber den Seinen" 71 • Diese kurze Inhaltsskizze läßt sich bei genauerem Hinsehen unschwer mit der interpolierten Szene zur Deckung bringen! Das "Ereig1915, S. 49. Siehe WALTER 1933, S. 34; BüCHNER 1955, Sp. 332; AUSTIN 1961, S. 195; HIGHET 1972, S. 173 Anm. 127. -Siehe auch die Argumente, die oben S. 73f. gegen KRAGGERUDS These, die der HEINZES stark ähnelt, vorgebracht worden sind. 69 Dies haben dafür andere (z.B. BüCHNER 1955 und AUSTIN 1961) getan. 70 Es folgen Hinweise auf HEINZE 1915, S. 49 und KLINGNER 1967, S. 419. 71 1977, S. 79. 67
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nis", das Aeneas in höchsten Schmerz und Zorn versetzt, wird von Venus unzweideutig beim Namen genannt: es ist die Tyndaridis facies invisa Lacaenae (601). Denn Venus korrigiert den fundamentalen Irrtum ihres Sohnes, in der Person der verhaßten Helena den Grund für Trojas Untergang zu sehen (601-3). Da aber dieser Irrtum in der vorangegangenen Szene eine entscheidende Rolle gespielt haben muß und deshalb sich nicht auf einen bloßen Gedanken oder ein Räsonnement beschränkt haben kann, ist die Annahme unvermeidlich, daß Helena in eigener Person aufgetreten ist. Das "unüberlegte und verderbliche Tun", wozu das "Ereignis" Aeneas zu verleiten droht, ist die Attacke auf Helena, von der ihn seine Mutter gewaltsam zurückhält (592f.), um ihn dann auf die dringenden Pflichten gegenüber seiner Familie hinzuweisen (596-600). Es ist das Verdienst von FLECK, die der Helenaepisode vorangehenden Verse 559ff. im Sinne der Befürworter der Echtheit verstanden zu haben und auf Aeneas' Entschluß hinauslaufen zu lassen, den Seinen "sofort zu Hilfe zu eilen". Damit hängt notwendig ein Zweites zusammen: von diesem Entschluß kann den Aeneas nun nicht mehr irgendeine Überlegung oder auch Überwältigung durch übermächtige Gefühle abbringen, hat er doch zuvor schon das Furchtbarste, Polites' und Priamus' Tod, mit ansehen müssen. FLECK ist also konsequent, wenn er eine solche Wirkung nur einem einschneidenden Ereignis zuschreiben will. Allerdings sagt er nicht, worin dieses Ereignis besteht. Da aber Venus nach der Lücke offensichtlich auf den Inhalt der Lücke Bezug nimmt und einen in der vergilischen lliupersis bisher nicht zur Sprache gebrachten Punkt berührt, nämlich Aeneas' unsinnigen Zorn auf Helena, muß eben dieser Punkt auch mit dem einschneidenden Ereignis zusammenhängen. FLECKS Rekonstruktionsversuch bestätigt also nach dem Scheitern sämtlicher früheren Vorschläge eindrucksvoll unsere Annahme, daß die überlieferten Helenaverse die bestmögliche Füllung der Lücke darstellen und sich in Übereinstimmung mit dem vergilischen Kontext befinden. Damit ist zwar nicht zwangsläufig die Echtheit der Verse erwiesen; wohl aber trifft die an ihrem Inhalt geübte Kritik Vergil selbst, da dessen Venusszene ja einen Inhalt ganz in der Art der 'Interpolation' voraussetzt. Auch die mit dem 6. Buch in Widerspruch stehende Behandlung der Helena darf also nicht nur dem Verfasser der Helenaverse, sondern muß auch dem der Venuserscheinung angelastet werden. Der Interpolator hat trotz Kenntnis der Deiphobusszene eine Harmonisierung nicht einmal versuchsweise angestrebt; offenbar war er mit Vergils Absicht, Helena in II eine ganz andere Rolle zu geben, aufs engste vertraut. Die unterschiedliche Darstellung der Helena in II und VI ist nicht etwa ein Versehen oder eine Ungeschicklichkeit Vergils, sondern Folge kompositorischer Erfordernisse: Das schreckliche Ende des Deiphobus72 verlangte geradezu nach der Mit72 Zur Frage, ob Vergil diesen besonders scheußlichen Tod erfunden oder übernommen hat, siehe NORDEN 1927, S. 262f.
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wirkung seiner verräterischen und meuchelmörderischen Gattin Helena, während ihr in II die völlig passive Rolle zugefallen ist, als wehrloses Opfer dem Aeneas in die Hände zu geraten und ihn durch seinen maßlosen Zorn von seiner eigentlichen Aufgabe abzubringen. Wollte man zwischen beiden Szenen einen Ausgleich schaffen, so brächte man sie um einen wesentlichen Teil ihrer poetischen Wirkung und Funktion. Da ein bequemer Ausweg aus diesem Dilemma sich für Vergil wohl nicht zeigte, neige ich zu der Vermutung, daß der Dichter auf die Fertigstellung der Helenaverse verzichtete, um die Hypothek einer späteren Revision nicht noch größer und bitterer zu machen. Hätte er - dies kann nur Spekulation bleiben - die Helenaverse geändert, wäre wahrscheinlich auch die Venusszene, obgleich weniger, in Mitleidenschaft gezogen worden. Mit dem Wegfall der inhaltlichen Kritik ist zwar den Anhängern der Interpolationshypothese eine wichtiges Argument aus der Hand genommen worden, aber die Hypothese bliebe weiterhin als (bloße) Möglichkeit bestehen, gäbe es nicht einen Hinweis darauf, daß der Interpolator die ihm zugeschriebene Begrenztheit weit überschritten hat. Der communis opinio zufolge soll er die entscheidende Anregung dazu, Helena in seinen Versen auftreten zu lassen, aus Venus' (angeblich nicht ganz richtig verstandenen) Worten
non tibi Tyndaridis facies invisa Lacaenae culpatusve Paris
(601f.)
bekommen haben. Wenn auch Paris, im Gegensatz zu Helena, zu diesem Zeitpunkt bereits tot war, so legt dennoch der Umstand, daß beide scheinbar in einem Atemzug genannt werden, die Vermutung nahe, daß der Interpolator sich eines Hinweises auch auf Paris, der ja ebensosehr wie Helena am Untergang Trojas 'schuld' war, nicht hätte enthalten können. Im Selbstgespräch des Aeneas wäre genügend Gelegenheit für eine kurze oder auch längere Abrechnung mit Paris gewesen. Warum unterließ der Interpolator dies? Weil er Venus' Absicht durchschaute, dem Aeneas "mit feiner Ironie den 'Unglücks'paris zur Wahl" zu stellen, "um die Ungerechtigkeit des Wütens gegen die eine zu zeigen" (BÜCHNER 73 ). Der Interpolator hat aber das vergilische Motiv der ironischen Alternative nicht nur als erster entdeckC4 , sondern auch durch den bewußten Verzicht auf die Erwähnung des Paris zur Entfaltung gebracht. Das volle Verständnis der Venuserscheinung ist auf die Voraussetzungen angewiesen, die der Interpolator geschaffen hat. Dann aber kann es über die Identität des Interpolators keinen Zweifel mehr geben.
Siehe o. S. 83f. GooLD (1970, S. 159) bleib hier hinter dem Kenntnisstand (und Genie) des Interpolators zurück, wenn er in der eigenen Rekonstruktion der Szene Aeneas auf Helena u n d Paris schimpfen läßt. Seine Vermutung, daß "some gifted schoolman" die Helenaepisode möglicherweise geschrieben habe, verrät den eigenen Standort. 73
74
DIE EINBETTUNG DER HELENA- UND VENUSSZENE IN DAS 2. BUCH (I) Verschaffen wir uns zunächst einen groben Überblick über den Zusammenhang, in dem Helena- und Venusszene stehen. II 453ff.
506-58 559-66
567-88 (Helenaszene)
589-621
622-33
634ff.
Aeneas begibt sich auf das Dach des Priamuspalastes (evado ad summifastigia culminis, 458), von wo die Trojaner den Griechen Widerstand leisten. Von diesem erhöhten Standort aus muß er auch den Tod des Priamussohnes Polites und des Priamus selbst im Hof des Palastes mit ansehen. Darüber gerät Aeneas in Entsetzen und erinnert sich an seine eigene schutzlos zurückgelassene Familie. Als er sich nach seinen Mitstreitern umsieht, stellt er fest, daß ihn alle verlassen haben, indem sie entweder (vom Dach) herabgesprungen sind oder sich in die Flammen gestürzt haben. Nunmehr völlig allein (iamque adeo super unus eram, 567) irrt er (erranti, 570) spähend (passimque oculos per cuncta ferenti, 570) umher und erblickt Helena, die sich im Vestatempel aus Furcht vor Rache verbirgt. Zorn bemächtigt sich seiner, und er erwägt in einem Selbstgespräch, sie zu töten. Da erscheint seine Mutter Venus, die ihn zurückhält. Sie stellt ihm seine zurückgebliebene Familie vor Augen, verweist ihm seinen unangebrachten Zorn gegen Helena und rät ihm zur Flucht. Nachdem sie ihm sicheres Geleit versprochen hat, entschwindet sie. Es werden die Troja-feindlichen Gottheiten sichtbar (622f.). Aeneas vergleicht die Zerstörung der Stadt mit dem Fall einer Bergesche (624-31). Er steigt (vom Dach?) hinab (descendo, 632) und entkommt unter Führung eines Gottes (ducente deo, 632) den Feinden und Flammen. Zuhause angekommen, muß Aeneas erleben, daß Anchises für seine Person die Flucht verweigert. Als sein Vatertrotz der Bitten der Angehörigen bei seinem Entschluß bleibt, resigniert Aeneas und rüstet sich, mit einer bitteren Klage gegen Venus (664-7), erneut zum aussichtslosen Kampf.
Da nach Herauslösung der Helenaverse, die ja der u n s bekannten handschriftlichen Aeneisüberlieferung fremd sind, eine inhaltliche (und syn-
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(I)
taktische) Lücke entsteht, weil der Venuserscheinung nun die Voraussetzung fehlt, hat man sich schon früh die Frage gestellt, ob nicht durch zusätzliche Eingriffe in den Text eine ursprünglich kohärente Szenenfolge gewonnen werden könnte. Die Diskussion hierüber wurde mit größerer Offenheit geführt, wohl deshalb, weil davon nicht die vielfach tabuisierte Echtheit bzw. Unechtheit der Helenaverse abzuhängen schien. Gleichwohl besteht bisweilen große Unkenntnis hinsichtlich früherer Forschungsergebnisse. So hat z.B. GOOLD 1970 festgestellt, daß PEERLKAMP (1843), HENRY (1878) und KöRTE (1916) anscheinend unabhängig voneinander zu sehr ähnlichen Hypothesen gelangt sind 1 • GooLD selbst aber weiß nicht, daß KöRTE unwissentlich eine These von SCHÜLER (1883) wiederholt hat, die dieser in PEERLKAMPS Nachfolge, wenn auch modifiziert, aufgestellt hatte. Ärgerlich aber ist es, wenn SCHÜLERS Arbeit, obwohl sie in der für die ältere Literatur maßgeblichen Bibliographie von GERLOFF (1911) aufgeführt wird2 , überhaupt unbekannt zu sein scheint. Betrachten wir nun die bisher aufgestellten Hypothesen in einem chronologischen Schnelldurchgang, um dann einige der dabei zutage getretenen Probleme besonders zu untersuchen. PEERLKAMP sieht nicht nur die Helenaszene als interpoliert an, sondern auch die anschließende Epiphanie der Venus. Nach Herauslösung der Verse 567-623 gewinne man eine "aptam rerum seriem " 3 • So werden auf einen Schlag zwei bis heute immer wieder diskutierte Schwierigkeiten beseitigt: 1. Aeneas behält seinen Standort auf dem Dach des Priamuspalastes bei, auf das er 458 gestiegen ist, und steigt 632 wieder davon herab. Die schwierige Lokalisation der Helena- und Venusszene (s. besonders erranti, 570) trübt nun nicht mehr das Bild. 2. Wenn sich Aeneas mit göttlichem Geleit (ducente deo, 632) zu seinem Haus durchschlägt, so kanndeonunmehr ganz natürlich verstanden werden und bedarf keiner gezwungenen Identifizierung mit Venus4 • Von PEERLKAMPS Vorschlag unterscheidet sich der HENRYS im wesentlichen nur darin, daß letzterer die Verse 567-623 nicht für interpoliert hält, sondern als "afterthought" Vergils ansieht5 • SCHÜLER geht von der Unechtheit der Helenaverse aus. Da Vergil das 2. Buch, in dem ja zwischen 566 und 589 eine Lücke klaffen mußte, Augustus so nicht habe vorlesen können, glaubt er, daß die Venuserscheinung dem
I
2 3
GOOLD S. 156. S. 8. 1843, s. 139.
4 RIBBECK hat PEERLKAMPS Argumentation geschickt für den eigenen Versuch umgebogen, Servius' Nachricht über die Streichung der Helenaverse durch Varius und Thcca als unglaubwürdig hinzustellen. Wenn nämlich die Herausgeber 567-88 gestrichen hätten, warum haben sie dann, weil nun die weiteren Verse ohne Zusammenhang waren, nicht auch die Verse 589-623 getilgt und "continuati saltem fili narrationis laudem praeripuerunt Peerlkarnpo?" (1866,
S. 92).
' 1878
Bd.
ll,
S.
300-2.
Einbettung der Helena- und Venusszene in das 2. Buch (I)
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2. Buch ursprünglich nicht angehörte. Allerdings nimmt er zur Venuserscheinung - darin, technisch gesehen, über PEERLKAMP hinausgehend den großen Bergeschen-Vergleich (624-31) hinzu, so daß in einer früheren Fassung des 2. Buches auf 566 unmittelbar 632 gefolgt wäre. Nach Einfügung von 589-631 durch Vergil schließe der Einschub nicht nur nicht nach oben an (der Interpolator der Helenaverse habe hier Abhilfe schaffen wollen), sondern auch nicht nach unten, da dem ornus- Vergleich die Apodosis fehle. Auch zeige das Vorhandensein der beiden Halbverse 614 und 623, daß die ganze Stelle nicht vollendet sd. Vollkommen unabhängig von SCHÜLER kommt KöRTE auf Grund teilweise übereinstimmender Überlegungen zu demselben Resultaf. 589-631 sei eine "spätere Zutat" Vergils. Wenn man 559-66 und 632ff. hintereinander lese, schlössen beide Partien "ganz glatt" aneinander. "Die Motivirung ist tadellos" 8 • Die Einfügung der Venusszene erkläre sich daher, "daß dem Dichter später ein noch stärkerer Grund zur Rechtfertigung des Ausscheidens seines Helden aus dem Schlachtgetümmel wünschenswert schien" 9 • WALTER übernimmt die Hypothese von KöRTE, oder, wie wir jetzt genauer sagen müssen, von SCHÜLER/KöRTE, wobei er jedoch KÖRTE irrtümlich unterstellt, das Bergesehen-Gleichnis (624-31) von den vorangehenden Versen getrennt zu haben 10 • In einem Punkte geht W ALTER über KöRTE hinaus: dieser hatte aus dem Umstand, daß Aeneas, der schon von sich aus an seine Angehörigen gedacht hatte (560ff.), nun auch von Venus auf die Pflicht für die Seinen hingewiesen wird (596ff.), geschlossen, daß Vergil, hätte er die ganze Szene vollenden können, 560ff. nicht "unangetastet" gelassen hätte 11 • WALTER zufolge hätte Vergil 560-66 sogar völlig aufgeben und durch 589-631 ersetzen wollen. Der Dichter wäre dann unmittelbar von 559 nach 589 gesprungen:
at me tum primum saevus circumstetit horror, cum mihi se non ante oculis tam clara videndam obtulit ... 12
(559) (589)
' I883, s. 20-4. 7 I9I6, S. I45 -I 50. KöRTE ist vom Vorwurf des Plagiats frei, da er die Sekundärliteratur, wie er selbst durchblicken läßt (S. I45 Anm. 1), nur aus zweiter Hand, vorwiegend aus HEINZE (1915) kennt. Aus HEINZE (S. 46 Anm. I) stammt die falsche Namensform HARTMANN (KÖRTE S. 145 Anm. I; richtig: HARTMAN); auch hat KöRTE zwei Hinweise HEINZES auf TIULO (HEINZE S. 45 Anm. 1 und S. 47) ungeschickt kombiniert und dadurch für TIDLO die verkehrte Seitenangabe XXXI (KöRTE S. 146; richtig: XXXIII) ermittelt. Da HEINZE ScHÜLER nicht zitiert, kann ihn auch KöRTE nicht kennen. 'S. 147. 9 s. 148. 10 1933, S. 34. WALTERS Kritik hätte sich gegen PEERLKAMP und HENRY richten müssen, deren Vorschläge er freilich nicht kennt. II S. 148. 12 S. 34f. Der Übergang ist unerträglich hart, zumal Vergil ein cum inversum grundsätzlich nicht an ein Perfekt anschließt (s.o. S. 73).
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Die Motivdoppelung 13 , auf die KöRTE und WALTER ihre Annahmen gründen, könnte nur dann als Argument dienen, wenn die Unechtheit der Helenaverse, von der beide ausgehen, erwiesen wäre und wenn auch THILOS und HEINZES Vermutung, daß an der Stelle der Helenaverse ursprünglich vergilische gestanden hätten, die der Dichter aber ersatzlos getilgt habe 14 , nicht zutreffen sollte 15 • PALMER lehnt KöRTES Ausscheidung von 567-631 ab; denn daß der verbliebene Erzählzusammenhang dann "uninterrupted" sei, beweise nichts, da dies auf fast jede Episode, z.B. die Laokoonepisode, zutreffe 16 • Tatsächlich ist die Herauslösbarkeit einer Versgruppe kein, jedenfalls kein hinreichendes Argument flir ihr einstiges Fehlen. Kommen jedoch Umstände hinzu, die, wie im Fall der Verse 567-631, auf Unstimmigkeiten mit der Umgebung hindeuten, muß der Herauslösbarkeit allerdings hohes Gewicht zuerkannt werden. AUSTIN, obwohl selbst der eifrigste Beflirworter der Echtheit der Helenaverse, gibt KöRTE zu, daß die mit ducente deo (632) verbundenen Schwierigkeiten möglicherweise für spätere Abfassung von 589-631 sprächen; dies beweise aber nicht die Unechtheit von 567-88 17 . Es sei denkbar, daß 567-631 eine unabhängige Szene sei, die noch nicht in den originalen Zusammenhang eingepaßt sei. Allerdings müßten dann die Verse 664-7 (wo Aeneas der Venus Vorhaltungen wegen seiner Rettung macht) nur auf 632f., nicht aber auf 596ff. und 619f. bezogen werden 18 . AUSTIN bleibt unentschieden in der Frage, ob das Bergesehen-Gleichnis (624-31) zum ursprünglichen Versbestand des 2. Buches (also unmittelbar hinter 566) gehörte, oder später zusammen mit der Venusszene eingeschoben wurde 19 • GOOLD sondert in HENRYS Nachfolge 567-623 aus und weist das Gleichnis der älteren Fassung von II zu. Die neue hätte wohl die Änderung von 632f. und die Streichung von 560-4 erforderlich gemacht 0 • KöRTES Hypothese trifft bei FLECK auf radikale Ablehnung. Nach Ausscheidung von 567 -631 bleibe die "Frage nach der Motivierung von Aeneas' plötzlichem Entschluß, die Flucht zu ergreifen". Außerdem sei "das hilfreiche Eingreifen der göttlichen Macht durch nichts vorbereitet"; denn die Verse
descendo ac ducente deo jlammam inter et hostis expedior: dant tela locumjlammaeque recedunt.
(632f.)
Als philologisches Allgemeingut ist sie natürlich auch SCHÜLER bekannt (1883, S. 22f.). Siehe o. S. 83. " KÖRTE lehnt auch konsequenterweise diese Vermutung ab (S. 146). Siehe im übrigen AUSTIN 1961, S. 195. Etwas anders FLECK 1977, S. 79. 16 1938, S. 370 Anm. 4. 17 1961, S. 196. " 1964, S. 229. Auf dieses Problem gehe ich u. S. 198ff. ein. 19 1964, S. 239. 20 1970, s. 156-8. 13
14
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seien "eigentlich erst recht verständlich, wenn man sie mit den Worten der Venus: tutum patrio te limine sistam (620) in Verbindung bringt". "Den endgültigen Beweis für die Unhaltbarkeit von KöRTES Hypothese" sieht FLECK in Aeneas' Worten hoc erat, alma parens, quod me per tela, per ignis (664f.) eripis ... Wenn auch diese Worte nicht notwendig die Venusszene voraussetzen würden (ich urteile hier entschiedener: sie setzen voraus), so ließen sie doch erkennen, daß Aeneas nicht daran zweifle, "daß seine wunderbare Errettung nur seiner Mutter zu verdanken ist". Dann aber meine Vergil mit deo (632) "nicht etwa irgendeine unbestimmte Gottheit, sondern n u r V e n u s" 21 • Das auf die Verse 664f. gestützte Argument entfallt jedoch, wenn man auch 664ff. einer Bearbeitung zuweisf2 • FLECKS Angriff gegen die Hypothese KöRTES (und damit auch aller anderen) deckt ihre empfindlichste Schwäche auf: die scheinbar so leichte Herauslösbarkeit der (Helenaepisode und) Venuserscheinung beweist nicht notwendig, daß die dann übrigbleibenden Teile jemals einen geschlossenen Erzählzusammenhang in einer früheren Fassung von Buch ll gebildet haben. Abschließend sei noch ESTEVEZ genannt, der sich intensiv mit dem Bergeschen-Vergleich befaßt hat und ihn ursprünglich auf 566 folgen läßt. Helena- und Venusszene habe Vergil später hinzugefügf 3 • Dieser flüchtige Überblick zeigt deutlich, wie wenig die Zerstrittenheit über die Authentizität der Helenaverse eine ziemlich einheitliche Hypothese über den ursprünglichen Zustand des Szenenkomplexes verhindern konnte. Völlig unabhängig voneinander gelangten Gelehrte aus verschiedensten Positionen zu annähernd gleichlautenden Resultaten (Herauslösung von 567-623 bzw. 567-631). Der einzige Streitpunkt, ob der ornus-Vergleich (624- 31) früh ist oder späte Zutat, ist unerheblich, da sich in beiden Fällen nichts an der Annahme ändert, daß Helena- und Venusszene nachträgliche Einschübe seien. Die Übereinstimmung der Forschungsergebnisse istjedoch nicht überraschend; denn sie beruht auf den folgenden 5 miteinander zusammenhängenden Gegebenheiten: 1. Die Verse 567 -623 bzw. 631 lassen sich - scheinbar - leicht aus dem Kontext herausnehmen. 2. Helena- und Venusszene bilden eine zusammengehörige bzw. vom Interpolator als zusammengehörig empfundene Szenenfolge. 3. Sollten die Helenaverse interpoliert sein, sind sieapriorispäte Zutat und deswegen herauslösbar.
21 22 23
1977, s. 78. Siehe u. S. 199f. 1980/81. s. 325.
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4. Hält man die Helenaepisode jedoch für vergilisch, so kommt man nicht an der zusätzlichen (und bereits bewiesenen) Annahme vorbei, daß sie unvollendet ist und daher eine genetische Einheit bildet. 5. Da die Venusepiphanie auf der echten Helenaepisode bzw. auf einem Text basiert, dessen Verlust zu der Lücke führte, die ein Interpolator ausftillen zu müssen glaubte, ist die entstehungsgeschichtliche Behandlung der Venusverse unlösbar mit dem Einschnitt nach Vers 566 verknüpft. So sehr dies alles auf die Berechtigung hindeutet, die Schnittstellen nach 566 und 623 bzw. 631 anzusetzen, so sehr muß die 1. Voraussetzung der leichten Herauslösbarkeit, wie die Kritik vonPALMERund besonders FLECK zeigt, unsicher bleiben. Ich will jedoch im Folgenden dieses Problem zunächst nicht weiter behandeln, sondern die Lösung auf Nebenwegen versuchen, indem ich scheinbar geringfügigen Dingen (Standort des Aeneas; Identifizierung von deo [632]; ornus-Vergleich) nachgehen werden. Aeneas hat 458 das Dach des Priamuspalastes erstiegen (evado ad summi fastigia culminis) und scheint nach dem Eingreifen der Venus von dort wieder herabzusteigen (descendo, 632). In der Helenaepisode heißt es jedoch von ihm:
e r r a n t i passimque oculos per cunctaferenti. (570) Die nächstliegende Deutung ist wohl, daß Aeneas in der Stadt spähend umherirrt. Den Widerspruch mit descendo versucht HEYNE durch die Annahme zu beheben, Aeneas sei bereits vom Dach herabgestiegen und irre nun durch den leeren Königspalast (wie schon zuvor Polites, 528)24 • Dann muß descendo das Herabsteigen von der Burg bedeuten. BüCHNER lehnt diese Vermutung ab, "weil dann das erste wichtige Heruntersteigen nicht berichtet worden wäre" 25 • Das betonte descendo wäre überhaupt überflüssig, wenn es keine eigentliche Funktion für die Erzählung besäße und nicht das Gegenstück zur Ersteigung des Daches darstellte. Überdies scheint sich die Venusszene auf dem Dach abzuspielen, weil dieser Standort für Aeneas die geeignetste und natürlichste Voraussetzung bietet, die Götter bei ihrem Zerstörungswerk zu beobachten (604ff}6 . Es ist methodisch fragwürdig, den klaren Sinn einer zweifellos vergiIischen Stelle (descendo, 632) zu verbiegen, um einen Widerspruch mit einer umstrittenen Partie (bes. erranti, 570) auszuräumen. Diesen Fehler vermeidet zwar AUSTIN, indem er descendo richtig auf das Verlassen des Daches bezieht; aber er versteht dann erranti als Umherirren a u f d e m Dach; "Aeneas was pacing about the roof, Iooking everywhere'm. Zu 570. 1955, Sp. 331. Kritik auch schon bei PEERLKAMP 1843, S. 140 zu limina W?stae servantem (567f.) und bei FRIEDRICH 1868, S. 28. 26 FLECK 1977, S. 70 Anm. 8 (s. auch BÜCHNER 1955, Sp. 334). 27 AUSTIN 1961, S. 189 (s. auch AUSTIN 1964, zu 570). Dieselbe oder ähnliche Auffassung auch bei FAIRCLOUGH 1906, S. 223: GERLOFF 1911, S. 50 (in Weiterführung von NW.CK 1893, S. 426-8); KRAGGERUD 1975, S. 113. 24 25
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AUSTINS eigenes Urteil darüber: "strange, but not unintelligible" 28 • Doch lassen sich für diese gezwungene und unnatürliche Vorstellung Argumente finden: Die günstige Position auf dem Dach ermögliche es Aeneas, Helena zu entdecken, zumal dant clara incendia lucem (569) 29 • Und wie zuvor die Frauen im Priamuspalast umhergeirrt seien (pavidae tectis matres ingentibus errant, 489), so sei natürlich dasselbe errare "oben auf dem Dach desselben gewaltigen Komplexes" möglich30 • Aber die technische Erklärbarkeit des Herumirrens auf dem Dach beweist noch lange nicht die Angemessenheit dieser Annahme. Eher müßte man für den Vers 570 erranti passimque oculos per cuncta ferenti. FRIEDRICHS ingeniöse, aber indiskutable Änderung in errantis oculos passim per cuncta ferenti. nach dem Vorbild von IV 691 (oculisque errantibus) akzeptieren31 • Auch CAMPS' Vorschlag, erranti als "as I hesitated" aufzufassen 32 , übersieht dreierlei: 1. Die unmittelbar vorangehenden Worte dant clara incendia lucem (569) gelten in erster Linie, zumindest aber a u c h für erranti. 2. dant clara ... cuncta ferenti dient der rein technischen Begründung dafür, daß Aeneas Helena überhaupt bei Nacht in ihrem Versteck erblicken konnte. 3. Sollte die Helenaepisode auf einen Interpolator zurückgehen, so scheint er den Vers 570 in Anlehnung an (II 771) quaerenti et tectis urbis sine .fine ruenti geschaffen zu haben, wie überdies der enge Zusammenhang zwischen den Kontexten beider Verse lehrt (s.o. S. 48) 33 • Dann kann an der genauen Bedeutung von erranti kein Zweifel bestehen. Dasselbe gilt natürlich auch für den Fall, daß Vergil Verfasser von 570 und 771 (also der Helena- und Creusaszene) ist. Außerdem bietet gerade die Creusaszene ein Lehrstück für Vergils immer wieder zu beobachtende Neigung, die äußeren Rahmenbedingungen einer Szene nachlässig zu behandeln, oder in der Szene selbst den gegebenen " 1964, zu 570. 29 FRJEDRJCH 1868, S. 29; FAIRCLOUGH 1906, S. 223. 3° KRAGGERUD 1975, S. 113. 31 1868, S. 28. Vgl. auch H. BELLING, Studien über die Compositionskunst Vergils in der Aeneide, Leipzig 1899, S. 178. 32 1969, S. 124f. Berechtigte Ablehnung durch KRAGGERUD 1975, S. 113. Siehe schon FRIEDR!CH 1868, S. 28: "Wenn es nun nicht angeht, erranJi = p.
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Rahmen weitgehend zu ignorieren. Aeneas hat bei der Flucht mit seiner Familie Creusa verloren. Darum kehrt er unter Lebensgefahr in die von Griechen besetzte Stadt zurück, um sie zu suchen. Schließlich riskiert er es (ausus quin etiam, 768), wiederholt laut nach ihr zu rufen (768-70): da erscheint ihm das Schattenbild seiner Frau, das ihn in einer 14 Verse umfassenden Rede tröstet, indem es ihm sein künftiges Schicksal prophezeit. Aeneas versucht dann dreimal den entschwindenden Schatten zum Abschied zu umarmen. Diese letzte Begegnung der Eheleute scheint Vergil ohne jede Rücksicht auf die äußeren Umstände geschrieben zu haben. Der fürchterliche Ort des Geschehens ist ausgeklammert, und die Zeit bleibt stehen. Die Abschlußszene des 2. Buches mit dieser wunderbaren Erscheinung ist den irdischen Gegebenheiten entrückt und vollzieht sich nach eigenen Gesetzen. Auch die Venusepiphanie läßt sich nicht genau lokalisieren. Obwohl Aeneas sich auf dem Dach zu befinden scheint, muß man doch wegen der Tatsache, daß Venus ihn an der Rechten packt und zurückhält (dextraque prehensum I continuit, 592f.), an einen anderen Standort denken 34 • Denn fassen wir die Worte 592f. recht eigentlich auf, so dürfen wir nicht annehmen, daß "es sich nur darum gehandelt hätte den Fortstürzenden aufzuhalten" (HEINZE35), sondern müssen sie auf eine Attacke beziehen, die Aeneas gerade ausführen will 36 • Für eine solche Aktion gegen einen Feind ist jedoch das Dach ein denkbar ungünstiger Ort, da sich dort zuvor außer Aeneas niemand sonst befand (564-6) - es sei denn, man folgt dem unglücklichen Einfall HEINZES und nimmt einen Selbstmordversuch an37 • Der Ort, wo Venus ihrem Sohn erscheint, ist also unbestimmt und unbestimmbar und paßt gerade deswegen gut zur Helenaepisode. Beide Szenen teilen den Widerspruch zu der klaren Angabe descendo (632) und schließen sich so noch enger zusammen. Folglich spricht die wohl nicht zu leugnende Diskrepanz zwischen erranti und descendo 38 weniger für die Unechtheit der Helenaverse als für die g e m e i n s a m e Entstehung beider Szenen. Bemerkenswert ist es, daß der Interpolator, dessen überragende Vergilkenntnisse außer Zweifel stehen, das unmißverständliche descendo ignoriert, aber die unklare und uneinheitliche Szenerie der Venuserscheinung geschickt in seine eigene Erfindung übernommen hat. Nicht nur descendo wirft erhebliche analytische Probleme auf, sondern auch die unmittelbar folgenden Worte: Siehe auch BüCHNER 1955, Sp. 334 mit Bezug auf II 594. 1903 (1. Auflage), S. 49. 36 Dafür spricht auch die hier dem Dichter vorschwebende Szene des I. Iliasbuches, wo Athene den Achill, der gegen Agamemnon, von dem er aufs äußerste gereizt worden ist, das Schwert zieht, am Schopf packt (A 197). 37 1903, S. 48f. Dazu s.o. S. 84f. 38 Darin stimmt ein Teil sowohl der Befürworter (z. B. BücHNER 1955, Sp. 331; HIGHET 1972, S. 172) als auch der Gegner (THILO 1886, S. XXXII; FLECK 1977, S. 70 Anm. 8) der Echtheit überein. 34 35
Einbettung der Helena- und Venusszene in das 2. Buch (I)
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descendo ac d u c e n t e d e o jlammam inter et hostis expedior: dant tela locumjlammaeque recedunt. (632f.) Zunächst bereitet die Identifizierung von deo keinerlei Schwierigkeiten: es kann nur Venus gemeint sein, da sie es ja war, die kurz zuvor Aeneas ihr Geleit und ihre Hilfe bei der Flucht versprochen hatte: eripe, nate, fugamfinemque impone labori. (619f.), nusquam abero et tutum patrio te limine sistam. und da Aeneas wenig später Venus bittere Vorwürfe für seine Rettung macht: hoc erat, alma parens, quod me per tela, per ignis eripis, ut mediis hostem in penetralibus utque Ascanium patremque meum iuxtaque Creusam (664 -7) 39 alterum in alterius mactatos sanguine cernam? Trotz des klaren Sachverhaltes erregt die maskuline Formdeo Befremden. Kein Wunder also, daß die handschriftliche Überlieferung gespalten ist in deo und dea 40 • Allerdings besitzt die Lesart deo entschieden den Vorzug, weil ihr das prae der lectio difficilior gebührt, zumal die antiken Erklärer sich große Mühe gaben, deo zu rechtfertigen41 • Aus der Fülle der teilweise abstrusen Rechtfertigungsversuche verdient nur einer unsere Aufmerksamkeit: Servius verweist auf Vll 498 nec dextrae erranti deus afuit und bemerkt dazu: cum aut Iuno fuerit aut Allecto. Dort geht es um den unseligen Schuß, den Ascanius ahnungslos auf den zahmen Hirsch der Silvia abgibt. Dieser kriegsauslösende Zwischenfall war von der Furie Allecto arrangiert worden, die auf Junos Befehl handelte. KöRTE meint, die Bezeichnung 'deus' stelle es ins Belieben des Lesers, sich auszumalen, welche Gottheit den Schuß lenkte, wenn auch der Gedanke an Allecto am nächsten liege42 • Er versteht also deus hier p r i m ä r allgemein bzw. absolut ("Gottheit")43 • (Allerdings glaube ich nicht, daß Vergil mit deus auf Allecto oder Juno hindeuten möchte; er will nur sagen, daß er sich den unglücklich treffenden Schuß des Ascanius nicht ohne göttliche Mitwirkung vorstellen kann.) Gegenüber Vll 498 ist ll 632 ganz anders, da in ll deo wegen seines maskulinen Genus zunächst allgemein verstanden werden müßte44 , die zusätzliche Identifizierung mit Venus aber aufgrund der direkten Be-
39 Ebenso argumentieren LADEWIG bei SCHÜLER 1883, S. 23, NOACK 1893, S. 426 und FLECK (s.o. S. 93). . 40 Siehe GEYMONAT im app. crit.; AUSTIN 1961, S. 196 Anm. 1, und 1964, Komm. zu
ducente deo. Zusammenstellung bei KöRTE 1916, S. 149 und GOOLD 1970, S. 113f. 1916, s. 149. 43 Allgemeiner Gebrauch vondeusbei Vergil z.B. I 199; 111 338.715. 44 Wie dies die Übersetzer gern tun: "von Göttern geführt" (Voß); "führt ... mich ein Gott" (Schiller); "göttlich geführt" (Götte); "göttliche Führung" (Staiger). 41
42
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Einbettung der Helena- und Venusszene in das 2. Buch (I)
zugnahme auf 619f. dem Leser nicht freigestellt, sondern abgenötigt wird. Die Identifizierung wird jedoch dadurch behindert, daß nach Venus' Entschwinden die Troja- feindlichen Gottheiten erscheinen:
apparent dirae facies inimicaque Troiae numina magna deum.
(622f.) Der folgende Bergeschen-Vergleich (624-31) steigert noch die schauerliche Vision. Das verallgemeinerndedeomüßte sich also f o r m a I auf eines der numina magna deum (623) beziehen 45 , was natürlich Unsinn wäre46 • Lehnt man den Ausweg, die gesamte Passage sei schwer gestört, ab, muß die Formulierung ducente deo als "obscure et contorte" (SCHÜLER47) getadelt werden, da die allgemeine Bezeichnung deo für Venus nicht, wie deus in VII 498, einen poetischen Gewinn abwirft, sondern alles nur verschlechtert. Und doch hätte ein Federstrich genügt, um deo in das metrische Äquivalent dea zu verwandeln (nicht möglich in vm48 • Kommen wir zu einer abschließenden Bewertung der mit descendo ac ducente deo (632) gegebenen Schwierigkeiten. Während einerseits descendo sehr wahrscheinlich im Widerspruch zur Örtlichkeit sowohl der Helenaepisode (erranti, 570) als auch des Anfangs der Venusszene (592f.) steht, verträgt sich andererseits ducente deo nur schwer mit der vorangegangenen Erscheinung der Göttin. Ließen sich beide Probleme voneinander isolieren, könnte man mit unwahrscheinlichen, aber nicht unmöglichen Annahmen (z.B. Versehen Vergils) arbeiten. Da aber die Schwierigkeiten in einem einzigen Vers miteinander verknüpft sind, stellt sich der unabweisliche Eindruck ein, daß Vers 632 eine ganz andere Situation voraussetzt49 • Damit ist keineswegs die Herauslösbarkeit von 567-631 (oder 567 -623) aus dem Kontext bewiesen, sondern nur, daß diese Verspartie mit ihrer Umgebung nicht harmoniert. Überdies wäre es ein Irrtum zu glauben, die möglicherweise auszusondernden Verse 567-631 (bzw. ohne Helenaskizze: 589-631) seien zu derselben Zeit entstanden oder beruhten auf einem von vornherein feststehenden Konzept. Dem Nachweis solcher genetischer Brüche in der Aeneis soll der nun folgende große Exkurs über die Halbverse dienen. Zugleich werden wir die nötigen Mittel erhalten, um die Entstehungsgeschichte von Helena- und Venusszene wenigstens in groben Umrissen aufklären zu können.
4 ' .the generalizing deo, equivalent to numine, is indeed odd when Aeneas has just seen the numina magna deum (623) razing Troy" (AUSTIN 1961, S. 196).
46 Vermutlich hat man diesen verzweifelten Weg schon in der Antike beschritten. Denn bei Servius auctus (zu II 632) lesen wir: quamquam veteres deum pro magno numine dicebant. Siehe GooLD 1970, S. 115. 47 1883, s. 23. 48 Vgl. matre dea monstranie viam (I 382). •• Konsequent muß daher der Versuch der 'quidam' bei Macrobius (3,8,1) genannt werden, die das Übel an der vermeintlichen Wurzel packen und 'discedo ac ducenre dea' lesen wollen.
EXKURS: DIE HALBVERSE DER AENEIS Von den 9896 Versen der Aeneis sind 58 metrisch unvollständig; d.h. durchschnittlich jeder 170. Vers bricht vor Erreichen des Hexameterendes ab. Ein solches Gebilde als unvollständigen (incomplete, monco etc.) Vers zu bezeichnen, würde eigentlich ein bestimmtes Ergebnis der Untersuchung präjudizieren. Ich spreche deshalb lieber von einem Halbvers, auch dann, wenn er nur aus e i n e m Wort besteht (z.B. I 560). Die Halbverse verteilen sich sehr ungleichmäßig über die einzelnen Aeneisbücher:
Buch
Anzahl der Verse
davon Halbverse
3 10 7
IX X XI XII
756 804 718 705 871 901 817 731 818 908 915 952
I-XII
9896
58
I II
m IV V VI VII
vm
5 7 2 6 3 6 6 2 1
Die Beurteilung der Halbverse, bzw. die Aufdeckung der Gründe, die zu ihrer Entstehung führten, kann sich nicht auf zuverlässige antike Nachrichten stützen•, sondern ist weitgehend auf Observation und Interpretation
1
Servius auctus bemerkt zum Halbvers I 560
talibus llioneus; cuncti simul ore fremebant Dardanidae. generalisierend: haec hemistichia Vergilius tibicines nominabat, quaein emendando carmine fuerat repleturus. Der Kommentator kombiniert hier auf eigene Faust sein Wissen um die tibicines (s. Sueton-Donat-Vita § 24, HARDIE) mit den rätselhaften Halbversen. Siehe BERRES 1982, S. 16f. Unzutreffend ist auch die Bemerkung von Sueton (§ 41) und Servius zu den beiden angeblich ursprünglichen Halbversen VI 164 und 165 (s.u. S. 106 Anm. 39).
100
Exkurs: Die Halbverse der Aeneis
angewiesen. Jeder Untersuchung der Halbverse sollten folgende Fragen vorausgehen: 1. Sind die Halbverse irgendwie untereinander verwandt oder sind sie Zufallsprodukte und haben nichts miteinander zu tun? 2. Entspringen sie einer oder mehreren unterschiedlichen Absichten (Techniken, Manipulationen usw.) Vergils? 3. Sind die Halbverse oder wenigstens ein Teil von ihnen unvollendete Verse? Die lgnorierung bzw. vorschnelle Beantwortung dieser Fragen hat die Halbverse zu einem unlösbaren Problem gemacht. Am verhängnisvollsten hat sich der psychologisch verständliche Umstand ausgewirkt, daß der naive Betrachter die Halbverse unreflektiert an der Norm kompletter Hexameter mißt. Insofern müssen ihm die Halbverse als unvollständig erscheinen (die man durch bloße Auffüllung vollenden könne2). Aber schon Sueton hat von den zahlreichen Bemühungen berichtet, die versus imperfecti zu vervollständigen (supplere), und den Mißerfolg auf den absolutus perfectusque sensus der Halbverse zurückgeführt (Sueton-Donat-Vita § 41). Die Halbverse markieren keine Lücke; der Erzählzusammenhang gleitet ohne Bruch über sie hinweg 3 • Deswegen führen metrische Vervollständigungen, wie sie uns handschriftlich überliefert sind4 , stets zu einer inhaltlichen Verschlechterung. Ungemein häufig wird von der metrischen Unvollständigkeit auf die inhaltliche geschlossen. Sie seien provisorisch und nur ein stopgap. (Dies trifft für eine Minderheit tatsächlich zu.) Wenn demnach z.B. WALTER zu ll 622f. (vor dem Bergeschen- Vergleich) apparent dirae facies inimicaque Troiae numina magna deum. (Halbvers) sagt, daß die Verse "doch nur eine Randbemerkung des Dichters sein" könnten, "die er bei einerneuen Durchsicht entweder gestrichen oder in die Stelle eingearbeitet hätte" 5 , so unterwirft er - vom Systemzwang getrieben - den Text einem Vorurteil. AUSTIN urteilt über dieselben anderthalb Verse: "This is Virgil at his greatest", "a splendid half -line; it is hard to imagine how Virgil could have found a finer ending to the apocalypse" 6 . Auch die weitere Umgebung der Halbverse wird oft in das Verdikt mangelnder Vollendung einbewgen, so daß die Halbverse als Exponenten unfertiger Partien erscheinen7 • Den Beweis dafür bleibt man natürlich im
Siehe o. S. 99 Anm. I. Einzige, schon bei Sueton verzeichnete (§ 41) Ausnahme ist III 340 quem tibi iam ']}"oia ... Siehe auch Servius auctus zu I 636. 4 Siehe o. S. 72 Anm. 49. ' 1933, S. 35. ' 1964, zu 622 und 623. 7 SieheBERRES 1982, S. 165 Anm. 84; BüCHNER 1955, Sp. 404, Z. 1-3. 2
3
Exkurs: Die Halbverse der Aeneis
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allgemeinen schuldig. Statt einer ermüdenden Analyse der Umgebung sämtlicher Halbverse verweise ich auf die Tatsache, daß das besonders schöne Buch ll mit seinen 10 Halbversen den größten Bestand und die höchste Dichte (1 Halbvers auf 80 Verse) hat, während Buch ill, das seine kompositorischen Schwächen nicht verleugnen kann, e b e n f a I I s über einen hohen (den zweithöchsten) Halbversbestand verfügt (7 Halbverse; Verhältnis 1 : 100). Erwartungsgemäß befindet sich unter den 10 Halbversen von ll kein einziger Flickvers. Aber a u c h in ill gibt es kein Provisorium, sieht man vom Halbvers 340 (quem tibi iam Troia ... ) ab, der strenggenommen kein Behelf ist und unter den Halbversen eine singuläre Stellung einnimmt8 • Der Schluß ist unvermeidlich, daß die Halbverse normalerweise in keiner (erkennbaren) Beziehung zum Grad der Vollendung ihrer näheren und weiteren Umgebung stehen. Ja sogar die berühmteste Partie der Aeneis weist einen Halbvers (VI 835) auf. Scheinbar elegant ist die Annahme, die Halbverse oder wenigstens ein Großteil von ihnen seien Zeichen für die Absicht des Dichters, bei späterer Gelegenheit dort eine ausführlichere Darstellung zu geben 9 • Diese Vermutung kann sich auf gute Tradition berufen (Sueton-Donat-Vita § 24): der Dichter habe, damit nichts seinen impetus aufhalte, gewisse Teile unvollendet gelassen, andere habe er mit levissimis verbis (v .I. versibus) gleichsam abgestützt, von denen er im Scherz gesagt habe: pro tibicinibus interponi ad sustinendum opus, donec solidae columnae advenirent. Freilich ist höchste Vorsicht geboten, die Halbverse voreilig mit den tibicines zu identifizieren. Denn wenn für die Halbverse "Eilfertigkeit" verantwortlich wäre, hätten die Worte "auch einmal in ungebundener Rede" folgen können 10 • Aber unverkennbar zeugen "die Hemistichien von sorgfältiger Arbeit des Dichters" 11 • Sie sind "im eigentlichen Sinne keine 'tibicines', sie schließen und runden ja nicht ab, sondern lassen im Gegenteil den unfertigen Zustand deutlich werden" 12 • Außerdem hat man schon früh den "Kanon" entdeckt, "daß unvollständige Verse einem der üblichen Cäsurabschnitte des Hexameters gleich kommen" 13 •
Siehe u. S. 124ff. Z.B. WALTER 1933 und neuerdings PARATORE, I tibicines dell'Eneide e superflua demere, Bolletino dei Classici, Rom IV, 1983, S. 129-36, hier: S. 135. 10 M. ZILLE, Virgils Aeneide. Viertes Buch. Nebst Bemerkungen über die unvollendeten Verse der Aeneide, Progr. Leipzig 1865 (Titel S. 31: Einige Bemerkungen über die unvollendeten Verse der Aeneide), S. 31-54, hier: S. 40. 11 H. BELLING, Studien über die Compositionskunst Vergils in der Aeneide, Leipzig 1899, 8
9
S. 134. 12 WALTER 1933, S. 3. WALTER will ihnen aber dann doch den Charakter von tibicines mit Vorsicht zusprechen, weil sie der "inhaltlichen Weiterfiihrung" dienten und das Werk so vorläufig zusammenhielten. Dies trifft auf die meisten Halbverse einfach nicht zu. 13 FR. W. MÜNSCHER, Die unvollständigen Verse in Virgils Aeneide, Progr. Gymn. Javer 1879, S. 1-26, hier: S. 19. Siehe auch ZILLE S. 40 und M. M. CRUMP, The growth of the Aeneid, Oxford 1920, S. 15. - Ausnahmen sind I 534 (hic cursusfuit) und V 653 (haec e.ffata).
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Exkurs: Die Halbverse der Aeneis
Allerdings gelten diese Beobachtungen nicht ganz uneingeschränkt. Denn (höchstens) 9 Halbverse stehen möglicherweise im Verdacht, tibicines zu sein: I 534; IV 503; V 653; VIII 469; IX 295.467; X 490.580; XII 631. Diese Halbverse bilden mit Ausnahme von IX 467 14 und X 490 15 in sich geschlossene syntaktische Einheiten (Hauptsätze). Normalerweise sind Halbverse mit dem vorausgehenden Vers durch Enjambement verbunden, z.B. I 560: talibus Ilioneus; cuncti simul ore fremebant Dardanidae. Aber auch Formen von inhaltlichem Enjambement kommen vor, bei denen der Halbvers zwar technisch athetiert werden könnte, ohne daß die syntaktische Struktur Schaden nähme, die Athetese aber zu einer Minderung der Aussage führte, z.B. VI 94:
causa mali tanti coniun.x iterum hospita Teucris externique iterum thalami. 16 Die letzte Gruppe von Halbversen ist dadurch gekennzeichnet, daß sie nicht nur mechanisch entfernt werden könnten, sondern darüber hinaus auch einen selbständigen Satz bilden. Aber anders als die oben genannten tibicen -verdächtigen Halbverse weisen sie inhaltlich nicht nach unten, sondern schließen sich eng an den vorhergehenden Text an, bisweilen so, daß sie aus inhaltlichen Gründen unentbehrlich sind. Ihre syntaktische Eigenständigkeit ist demnach zufälliger, nicht wesentlicher Natur. Sie unterscheiden sich deshalb in funktioneller Hinsicht prinzipiell nicht von den beiden vorgenannten Gruppen (syntaktisches und Inhaltsenjambement). Ein Beispiel (X 876): Mezentius fordert nach dem Tod seines Sohnes Lausus Aeneas grimmig zum Kampf heraus: Aeneas agnovit enim laetusque precatur: "sie paterille deumfaciat, sie altus Apollo! incipias conferre manum. " (X 874-7). tantum effatus et infesta subit obvius hasta. Der Halbvers ist unverzichtbar, weil die kurze Rede des Aeneas nicht nur aus Vers 875 bestehen kann, der ohne die Fortsetzung inhaltlich unklar bliebe 17 • Euryali et Nisi sind an capita (466) angehängte Genitive. " quem 'IUrnus super adsistens gehört zu inquit (491). 16 Die übrigen Fälle: I 636 (munera /aetitiamque dil); II 787 (Dardanis er divae Veneris nurus); III 527 (stans prima in puppt).661 (solamenque mall); IV 44 (germanique minas).400 (i'lfabricata.fugae studio); V 294 (Njsus er Euryalus primi).792 (in regnis hoc ausa tuis); VII 129 (exitiis positura modum).248 (1/iadumque Iabor vestes). 14
17
Die übrigen Stellen:
III 316
vivo equidem vitamque extrema per omnia duco; ne dubita, nam vera vldes.
103
Exkurs: Die Halbverse der Aeneis
Wir können also vorläufig 5 Gruppen von Halbversen unterscheiden: I
unselbständig, nicht abtrennbar
2818
II
unselbständig, aber abtrennbar
1119
m
selbständig und abtrennbar
920
N
selbständig, abtrennbar und unvollendet
121
V
tibicines (?)
Die Gruppen I-m ( = 48 Halbverse) bilden jedoch eigentlich eine Großfamilie, da sie nur in formaler Hinsicht voneinander abweichen. Ihr gemeinsames Kennzeichen ist, daß die Versbruchstücke sich mit dem vorangehenden Vers zu einer Einheit zusammenschließen, sei es inhaltlich/ syntaktisch oder nur inhaltlich. Die syntaktischen Unterschiede ergeben sich aus dem schlichten Umstand, daß Sätze bzw. Satzgefüge in einem Versepos entweder am Versschluß oder innerhalb des Verses enden müssen. Bei Ende im Versinnern besteht entweder, wenn der Halbvers einen schon begonnenen Satz mit einem notwendigen Satzglied fortführt, eine unlösbare syntaktische und inhaltliche Verbindung nach oben, oder aber, wenn die Fortführung kein unverzichtbares Satzglied enthält, eine nur inhaltliche. Ein bloß auf den Inhalt bezogener Zusammenhang liegt auch dann vor, wenn Satz- und
III 470 IV 361 V 815 VI 835 VII 455 IX 721 X 284
... sunt et sua dona parenti. addit equos, additque duces desine meque tuis incendere teque querellis: ltaliam non sponte sequor. unus erit tantum amissum quem gurgite quaeres; unum pro multis dabitur caput. tuque prior, tu parce, genus qui ducis Olympo, proice tela manu, sanguis meus! respice ad haec: adsum dirarum ab sede sororum, bel/a manu letumque gero. " undique conveniunt, quoniam data copia pugnae, bel/atorque animo deus incidit. egressisque labant vestigia prima. audentis Fortuna iuvat. "
Sämtliche Halbverse dieser Gruppe sind relativ lang und reichen bis in den 4. Versfuß hinein. Dies ist nicht nur auf bloßen Zufall zurückzuflihren, wie wir noch sehen werden. " I 560; II 66.233.346.468.614.623.640.720.767; 111 218.640; IV 516; V 322.574.595; VII 439.702.760; VIII 41.536; IX 167 (vgl. 0.3,379).520.761; X 17.728; XI 375.391. 19 I 636; II 787; II1 527.661; IV 44.400; V 294.792; VI 94; Vl1129.248. 20 II1 316.470; IV 361; V 815; VI 835; VII 455; IX 721; X 284.876 (s.o. S. 102 mit Anm. 17). 21 III 340. 22 I 534; IV 503; V 653; VIII 469; IX 295.467; X 490.580; XII 631.
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Exkurs: Die Halbverse der Aeneis
Halbversanfang zusammenfallen, also kein Enjambement vorliegt. In diesem Fall sind die Halbverse relativ lang23 , da Vergil sehr kurze Hauptsätze nicht so häufig verwendet. Der Halbvers ill 340 (quem tibi iam Troia), der einzige Vertreter von Gruppe IV, gehört sehr wahrscheinlich als Sonderfall zu Gruppe ill (s.u. s. 124ff.). Die aus 9 Halbversen bestehende Gruppe V bietet kein einheitliches Bild. Der längste Halbvers unter ihnen (quem Thrnus super adsistens, X 490) muß aufgrund seiner Entstehungsgeschichte (s.u. S. l63f.) in die Gruppe ill aufgenommen werden, möglicherweise auch IV 503 (ergo iussa parat). IX 467 (Euryali et Nisi) ist ein Sonderfall, da beide Genitive in ziemlich ungeschickter Weise mit dem Vorhergehenden verknüpft sind und deshalb wie ein störendes Einschiebsel wirken (zur Entstehung s.u. S. 153ff.). Die Genesis des Halbverses I 534 (hic cursus fuit) konnte durch die Forschung schrittweise aufgeklärt werden. Ihm gehen 4 Verse voraus (I 530-3), die wörtlich in Buch ill wiederkehren (ill 163 -6). Da diese Verse genetisch in ill fest verankert sind, müssen sie in I sekundär sein. Hier hat der Halbvers die Aufgabe, die aus m entlehnten Verse in eine bereits bestehende kohärente Versfolge zu integrieren. Er stellt zweifellos einen tibicen dar, der später hätte ersetzt werden sollen 24 • Auch der Halbvers IX 295 (turn sie e.ffatur) folgt unmittelbar auf einen wiederholten Vers (IX 294 - X 824). IX 294 bereitet im Textzusammenhang solche Verständnisschwierigkeiten, oder genauer: wird von Vergil so überaus kühn verwendet, daß seine Herkunft aus X auf der Hand Iiegt25 • Seine noch nicht endgültige Einbettung in den neuen Kontext ist daran erkennbar, daß der vorangehende Vers (293) eine für Vergil abnorme Konstruktion aufweist, die den Fortfall einer ursprünglichen Fortsetzung nahelegt26 , und daß der Halbvers nur einen provisorischen Übergang von dem entlehnten Vers zur folgenden Rede schafft27 • Der Halbvers I 534 (hic cursus fuit) besitzt eine unter den übrigen Halbversen singuläre metrische Struktur (- - - --). Diese Besonderheit teilt er mit dem Halbvers V 653 (haec e.ffata: - - - -). Außerdem fällt eine fundamentale Gemeinsamkeit auf: beide Halbverse fassen die ihnen unmittelbar vorangehenden Verse zusammen, I 534 die aus ill übernommenen Verse, V 653 die Rede der Pyrgo. Auch diese Rede ist wohl sekundäre Zutat28 • Die restlichen 3 Halbverse von Gruppe V verkörpern kurze Redeeinleitungen: Vill 469 (rex prior haec), X 580 (cui
Siehe o. S. 102 Anm. 17. Umfassend zu dieser FrageBERRES 1982, S. 56ff. 25 Siehe BERRES S. 35ff. " Zu ante omnis puleher lulus (IX 293) s. BERRES S. 42. 27 Auch sonst kommt es bei der nachträglichen Einfügung 'wiederholter' Verse in einen bestehenden Zusammenhang zu Unzuträglichkeiten, z.B. im Falle von I 744 = III 5I6, wo sich I 744 nicht zwanglos in seinen Kontext ftigt (s. BERRES S. 46ff.). 28 BERRES S. 73ff. 23
24
Exkurs: Die Halbverse der Aeneis
105
Liger), Xll 631 (Turnus ad haee). Thre Entstehung mag deswegen einen gemeinsamen Grund haben. So uneinheitlich die Gruppe V auch zu sein scheint, so lassen sich doch partielle Übereinstimmungen nicht übersehen: 3 Halbverse (I 534; V 653; IX 295) stellen Flickstücke dar, die einen nachträglichen Einschub vorläufig integrieren sollen. Es handelt sich hier also um tibicines, allerdings nicht ganz von der Art, die Sueton nennt (o. S. 101). 5 Halbverse (V 653; Vill 469; IX 295; X 580; Xll 631) sind Redeeinleitungen bzw. Redeabschlußfloskeln. Mit Ausnahme von IX 467 und X 490 bilden alle Halbverse selbständige syntaktische Einheiten. Obwohl sich in Gruppe V zweifellos tibicines befinden, weisen doch alle Versbruchstücke an sich selbst keinerlei Zeichen von mangelnder Vollendung auf. Für alle gibt es auch metrisch äquivalente29 Parallelen aus vollständigen 30 Aeneisversen. Ganz aus dem Rahmen fällt nur X 49ül 1 • I 534 hie eursus fuit, I 17 hie eurrus fuit, ...
IV I V IV
503 302 653 499
vm 469 V 394 IX 295 XII10 IX 467 V 294
ergo iussa parat. et iam iussa facit, ... haee effata. haee effata ... 32 rex prior haee: ille sub haee: ... 33 tum sie effatur: tum sie adfatur ... Euryali et Nisi. Nisus et Euryalus ... (ebenfalls Halbvers 34 !)
Ausnahme X 580. Ausnahme IX 467. 31 Für X 490 (quem Thrnus super adsistens), das ja eigentlich nicht in Gruppe V gehört, habe ich keine genaue Parallele finden können (doch vgl. wenigstens IX 559). Aber nur 50 Verse weiter stoßen wir auf einen stilistischen Nachklang: X 540 (quem eongressus agit eampo, lapsumque superstans I ... ). supersrare bei Vergil nur hier. 32 Vgl. außerdem IV 30 sie effata ... ; VI 262 und XII 885 tantum effata ... ; G.4,450 29
30
tantum effatus. . .. 33
Vgl. XI 507 Thrnus ad haec ... ; I 321 ac prior .heus," inquit, ... ; VI 341 sie prior
adloquitur: ... 34 Der Halbvers V 294 war ursprünglich vollständig und wurde später von Vergil gekappt (s.u. S. 147).
106
Exkurs: Die Halbverse der Aeneis
X 580 cui Liger: li 547 cui Pyrrhus: ... 35 XII 631 Turnus ad haec: XI 507 Turnus ad haec .. . IX 207 Nisus ad haec: .. . Wenden wir uns nun den mindestens 48 Belegen der Gruppen I-m zu. Die Homogenität dieser Halbverse und ihre hohe Zahl sollten eigentlich eine systematische Lösung des Problems ermöglichen. Vor allem können dadurch falsche Lösungsansätze mit der nötigen Sicherheit abgewiesen werden. Die Vorstellung, daß wir es bei diesen 48 Halbversen mit Provisorien zu tun haben, stößt auf kaum überwindliehe Schwierigkeiten. Da es unwahrscheinlich ist, daß Vergil sich bei der flüchtigen Erstellung von Flickversen bzw. -worten strengen Regeln unterworfen hätte, sollte man eine Fülle der unterschiedlichsten Halbverstypen erwarten: Halbverse am Anfang und Ende eines Buches; als Anfang eines syntaktisch oder inhaltlich definierten Abschnittes36 ; erst mitten im Vers beginnend37 ; die Hexametermitte aussparend 38 ; unmittelbar hintereinander auftretend 39 • Außerdem kommt " Aufgrund der unterschiedlichen Silbenquantitäten des Namens nicht metrisch gleichwertig. - Vgl. X 611 cui luno summissa: ... 36 Allerdings scheint dieser Fall zweimal vorzukommen (I 534 [Gruppe V] und X 490 [Gruppe V?]). 37 z.B.
(- -- -) jracti bello fatisque repulsi ducrores Danaum tot iam labentibus annis (- -- - -- -) rex arva Latinus er urbes iam senior longa placidas in pace regebat.
(II 13f.) (VII 45f.)
HIRZEL(Ausgabe) weist den beiden von mir künstlich gebildeten Halbversen sogar eine eigene Zeile zu, rückt also den Text innerhalb eines Verses eine Zeile weiter. 38 sunr mihi bis septem (- - - - --) Nymphae (I 71) 39
incute vim venris (- - - - -- - x) aut age diversos (- - -- - -- - x)
(I 69f.)
Einen solchen Fall soll es in der Aeneis der Sueton- Donat-Vita zu folge (§ 34) ursprünglich einmal gegeben haben: Erotem librarium et libertum eius (i.e. Vergilii) exactae iam senectutis tradunt referre solitum, quondam eum in recitando duos dimidiatos versus complesse ex tempore. nam cum hactenus haberet: 'Misenum Aeo/iden' (A. VI 164), adiecisse: 'quo non praestantior alter', item huic: 'aere eiere viros' (VI 165), simili calore iactatum subiunxisse: 'Manemque accendere canru', statimque sibi imperasse ut utrumque volumini adscriberet. In Vergils Manuskript hätte also ursprünglich die unkonstruierbare Wortfolge gestanden:
... arque illi Misenum in litore sicco, ur venere, videnr indigna mone peremptum, Misenum Aeo/iden [quo non praestanrior alter] aere eiere viros. [Manemque accendere canru.]
(VI 162-5)
Zur Unmöglichkeit dieses Vorgangs schreibt GRUPPE (1859, S. 184): "Virgil soll hier nicht Einen Halbvers, sondern deren zwei sogleich beim Vorlesen ergänzt haben, und zwar zwei unmittelbar neben einander stehende Halbverse, ein Fall, welcher nicht vorkommt und nicht vorkommen kann, weil die Lücken eben entstehen durch früheres Abbrechen des Sinnes als des
Exkurs: Die Halbverse der Aeneis
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es nicht vor, "daß Vergil etwa eine Stelle wie I 10 in der Form hinterlassen hat: quidve dolens regina deum tot volvere casus insignem pietate virum impulerit. tantaene animis caelestibus irae; oder eine wie I 651 in der Form: ornatus Argivae Helenae quos illa Mycenis, Pergama cum peteret, extulerat matris Ledae mirabile donum." (BELLING 4 ~ Nach BELLINGS Beobachtung stehen alle Halbverse "epodisch an Stellen, wo formal oder inhaltlich ein Abschnitt bezw. Einschnitt stattfindet" 41 • Ihre im allgemeinen übersehene Artenarmut ist gewiß nicht zufallig, sondern Folge ein und derselben Angewohnheit bzw. Manipulation Vergils. Gegen die Identifizierung der Halbverse mit tibicines spricht auch ihr Auftreten an bestimmten, genau definierbaren und miteinander zusammenhängenden Stellen. Ich greife zwei leicht erkennbare Gruppen heraus. Zur ersten gehören 8 Halbverse, die exakt mit dem Schluß einer Rede zusammenfallen (II 720; IV 361; V 815; VII 248.455; X 284.876; XI 375). Zur zweiten müssen mindestens 5 Halbverse gerechnet werden, auf die jeweils eine den weiteren Gang der Aeneis vorbereitende Partie folgt: V 294 (Vorbereitung des Wettlaufs und besonders des Schicksals von Nisus und Euryalus in Buch IX); VIII 41 (Prophezeiung des Tiberinus); VIII 536 (Prophezeiung des Aeneas); IX 467 ("Proökonomie für den Rückzug des Turnus" 42 ); X 49043 (Turnus' vermessenes Reden und Handeln nach dem Fall des Pallas bereitet seine eigene Katastrophe am Aeneisende vor). Es ist kaum vorstellbar, daß Vergil gerade an Redeschlüssen vom dichterischen impetus derart fortgerissen worden sei, daß er die metrische Vervollständigung des letzten Verses der Rede unterlassen hätte, um sich sogleich den nächsten Versen widmen zu können. Außerdem bringen diese Halbverse die Reden oft mit einem besonderen (bisweilen 'rhetorisch' genannten) Effekt zu Ende. Vollends unbegreiflich ist es, warum sich gelegentlich Halbverse vor vorbereitenden Versfolgen finden. Der Annahme eines provisorischen Charakters der Halbverse ist auch besonders abträglich, daß die Halbverse der Gruppen I und II durch syntaktisches Enjambement mit dem vorhergehenden Vers verbunden sind, Verses. Dies kann sich nicht unmittelbar wiederholen, und vollends ist ja das aere eiere viros kein fUr sich stehender Satz, sondern gehört eben nur mit zur AusfUllung des vorigen". Die Nachricht des Eros ist also unzutreffend und bewg sich vermutlich darauf, daß Vergil die kompletten Verse 164 und 165 mit Hilfe der Anadiplosis von Misenum spontan neu einfUgte (s. BERRES 1982, S. 18 und auch S. 240tf.). 40 BELLING (o. S. 101 Anm. II) S. 132. 41
S. 132. 1915, S. 352.
42
HEINZE
43
Dieser Halbvers aus Gruppe
V gehört
seiner Entstehungsgeschichte nach zur Gruppe III.
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Exkurs: Die Halbverse der Aeneis
die Halbverse der Gruppe ill durch Inhaltsenjambement Es will nicht einleuchten, warum die im Enjambement stehenden Satzglieder Provisorien, die Verse aber, an die sie gebunden sind, vollendet sein sollen. So gelangen wir für die mindestens 48 Halbverse der Gruppen I- ill zu dem paradoxen Ergebnis, daß ihre Unvollendetheit einzig und allein auf ihrer metrischen Unvollständigkeit beruht. Diesem Eindruck kann sich der nüchterne Beobachter nicht entziehen. Ja, er wird sogar die besondere Schönheit vieler Halbverse anerkennen müssen. Und so verwundert es nicht, daß man schon früh in den Halbversen absichtliche Schöpfungen des Dichters erblickte. "Seit Chr. G. Heyne wird die anmerkung des Servius [auctus] zu Aen. IV, 361 immer wieder als der älteste versuch angeführt, die unvollständigen verse aus einer künstlerischen absieht des dichters zu erklären" (A. EUSSNER44). Zum Halbvers IV 361 desine meque tuis incendere teque querellis; ltaliam non sponte sequor. " bemerkt nämlich Servius auctus: et oratorie ibi finivit, ubi vis argumenti constitit45 . Mit dieser Ansicht verbindet sich gern die Annahme, Vergil habe zumindest einen Teil der Halbverse nicht vervollständigen wollen46 • Der Anschein einer gewollten Schöpfung stellt sich leicht ein, "weil sowohl Enjambement als auch Neueinsatz bewußt erstrebt worden sind" (BücHNER47). Aber dieses Kunstmittel wäre einzigartig in der antiken Literatur undangesichtsder relativ reich fließenden Nachrichten über Vergil und sein Dichten vermutlich auch ausdrücklich für die Aeneis bezeugt worden48 . Hätte Vergil über dieses Mittel verfügt, so hätte er es jedoch unsystematisch und vor allem häufig nicht an den dafür geeignetsten Stellen angewandt. Zum Beispiel hätte sich eine Aufteilung des Verses
quos ego -! sed motos praestat componere fluctus.
(I 135)
auf zwei Verse wegen der Aposiopese nach quos ego geradezu aufgedrängt. Auch die Verteilung der Halbverse in der Aeneis gehorcht nicht künstlerischen Gesichtspunkten. Denn dann müßte etwa das 6. Buch seinen Halbversbestand (2) mit dem des künstlerisch weniger bedeutenden 3. Buches (7) tauschen49 . Demgegenüber scheint CAMPS eine einleuchtendere Halbverstheorie vorzutragen. Vergil habe, anders als seine Vorgänger, Sätze und Abschnitte an verschiedenen Stellen innerhalb des Hexameters enden lassen. Da nun Zu Vergils Aeneis, Philologus 43, 1884, S. 466. SPARROW (Half-lines and repetitions in Virgil, Oxford 1931, S. 23 und 43) will diese Notiz nicht auf den Halbvers als solchen, sondern auf den unerwarteten und effektvollen Schluß der Rede des Aeneas beziehen. 46 Z.B. LADEWIG, Über einige Stellen des Yergil, Grat. Schrift des Neustr. Gymn., Neustrelitz 1853, S. 2; ZILLE (o. S. 101 Anm. 10) S. 39. 47 1955, Sp. 404. 48 CAMPS 1969, S. 129. 49 Siehe auch CAMPS S. 129. 44
45
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Vergil "in bursts" gedichtet habe50 , habe er besonders an Enden von Abschnitten Halbverse zugelassen, damit nicht der Fluß seiner dichterischen Inspiration unterbrochen werde51 • (Ähnlich dieser Theorie ist die Auffassung, daß die Halbverse im allgemeinen jeweils genau das Ende von nachträglichen Einschüben oder von Randnotizen, die der Herausgeber Varius in den Text gesetzt habe, markierten 52 .) CAMPS' Annahme kann erklären, warum die meisten Halbverse durch Enjambement bzw. Inhaltsenjambement mit dem vorhergehenden Vers verbunden sind und warum sie überwiegend am Ende von Abschnitten stehen. Aber auch ihre Mängel treten offen zutage. Die sprunghafte, auf ökonomische Ausnutzung der Inspiration bedachte Arbeitsweise wäre dem Dichter teuer zu stehen gekommen; ist doch eine metrische Vervollständigung wegen des abgeschlossenen Sinnes in der Regel unmöglich, so daß die Beseitigung der Halbverse vermutlich eine Umarbeitung sowohl der vorangehenden als auch der folgenden Verse notwendig gemacht hätte. Kaum vorstellbar, daß Vergil sich f r e i w i I I i g in solche Schwierigkeiten begeben hätte53 ! Außerdem: wenn die Halbverse Folge des zu immer neuen Versen eilenden dichterischen impetus wären, müßten sie selbst Spuren irgendwelcher Unvollkommenheiten an sich tragen. Bei der Annahme, Halbverse stellten die letzten Worte einer Hinzufügung dar, wäre eigentlich regelmäßig die Entstehung einer auf sie folgenden inhaltlichen Lücke zu erwarten. Stattdessen berücksichtigt im allgemeinen die 'Fortsetzung' eines Halbverses diesen und die vorangehenden Verse. Damit haben wir die Prüfung der bekanntesten und verbreitetsten Halbverstheorien abgeschlossen. Sie konnten nicht einmal annäherungsweise die zahlreichen Phänomene zu einem befriedigenden Gesamtbild vereinigen. Da aber die 48 Halbverse der Gruppen I-ill prinzipiell dasselbe Strickmuster besitzen und deshalb auch prinzipiell auf dieselbe Weise erklärt werden müssen, sind Lösungen, die nur für einige Fälle gelten können, grundsätzlich abzulehnen. Die bisherige Analyse hat zu dem schlichten und scheinbar wertlosen Ergebnis geführt, daß nicht der Halbvers als Halbvers für sich selbst die mangelnde Vollendung beweist, sondern daß einzig und allein die fehlende metrische Fortsetzung auf einen Defekt hindeutet. Oder paradox gesagt: eine Halbverstheorie darf nicht - von Ausnahmen abgesehen (Gruppen IV und V) - den Halbversen gelten (denn an diesen ist ja nichts auszusetzen), sondern sie muß sich mit den metrischen Lücken beschäftigen. Statt nun aus den gemachten Beobachtungen schrittweise meine eigene Theorie zu entwickeln, stelle ich sie einfach als These vor, um sie dann auf ihre Konsequenzen hin zu überprüfen. " Wie es ja flir Vergil bezeugt ist (o. S. 101). 129. "Z.B. CARTAULT 1926. Für die Halbverse I 534, V 653 und IX 295 aus der Sondergruppe V trifft dies - von der Tätigkeit des Varius abgesehen - auch tatsächlich zu (s.o. S. 104). 53 Wirklich hat Vergil Halbverse oft jahrelang stehen lassen. Durch glückliche Umstände gelang mir der Nachweis, daß der Halbvers II 787 vor 25 v. Chr. entstanden ist, also beim Tod des Dichters sich bereits seit ca. 7 Jahren im Manuskript befunden hat (1982, S. !!Off.).
"s.
110
Exkurs: Die Halbverse der Aeneis
Gehen wir einmal von der Annahme aus, daß Vergil in einen zusammenhängenden Text nachträglich mehrere Verse einschieben wollte. Der ursprüngliche Text mußte also an einer sinnvollen Stelle unterbrochen werden, damit der neue Text angeschlossen werden konnte. Lag nun der sinnvolle und zweckentsprechende Abschluß, der normalerweise mit dem Ende eines vollständigen Satzes zusammenfiel, nicht am Ende eines Hexameters, sondern in seinem Innern, so war Vergil genötigt, den alten Zusammenhang innerhalb des Verses abbrechen zu lassen. Daß ein solch verstümmelter Vers oft nicht mehr eine neue, den Rest des Hexameters ausfüllende Fortsetzung vertrug, die häufig in den nächsten Vers hätte übergreifen müssen, darfangesichtsder Sorgfalt des vergilischen Versbaus und vor allem der Verwendung des Enjambements nicht verwundern. Vergil ließ daher in äußerster Gewissenhaftigkeit die späteren Zusätze oft mit einem neuen Vers beginnen 54 • Die Herleitung der Halbverse aus ursprünglich vollständigen Hexametern zeichnet sich nicht nur durch größte Einfachheit aus, sondern vermag sämtliche beobachteten Eigentümlichkeiten der Halbverse und ihrer Umgebung zwanglos zu erklären, nämlich daß 1. die meisten Halbverse durch Enjambement (39: Gruppen I und ll) oder Inhaltsenjambement (9: Gruppe lll) mit dem vorhergehenden Vers verbunden sind. 2. die Halbverse an den üblichen Verseinschnitten enden (Ausnahmen: I 534 und V 653 in Gruppe V55). 3. nach den Halbversen überwiegend ein (inhaltlich) betonter Neueinsatz folgt. 4. die Halbverse als Abschlüsse einer inhaltlichen Einheit (vgl. 3.) oft hohe künstlerische Qualität aufweisen. 5. die auf die Halbverse folgenden Einschübe häufig von besonderer Schönheit sind. Denn zu Nachträgen dieser Art führt nicht nur das Bestreben, Fehlendes (z.B. für den Gang der Handlung Notwendiges) einzufügen, sondern auch der Wunsch, die Darstellung durch weitere Höhepunkte (z.B. Vergleiche, Reden) zu bereichern56 •
54 Diese Halbverstheorie habe ich schon 1982, S. 89f. dargelegt. - W. SUERBAUM hat in einer fleißigen Rezension (Gnomon 60, 1988, S. 401-9) meine Theorie zu widerlegen versucht. Er glaubt, daß mein "Grundsatz", • Halbverse als Hinweise fiir genetische Strukturfragen zu werten, im Ansatz richtig" sei (S. 406) und daß meine "Schlußfolgerungen" im Rahmen der von mir "angewandten Methode konsistent" seien (S. 405). Ja, er hält die Halbverstheorie sogar fiir "plausibel", da sie erkläre, "wie solche Halbverse zustandekommen (können)"; sie erkläre aber nicht, "warum Vergil solche Halbverse überhaupt stehenließ und sie bei der Interpolation der folgenden Partie nicht auffüllte" (S. 407). Warum? Weil Vergil vor Vollendung der Aeneis gestorben ist! SUERBAUMS 'Methode', dem Dichter vorschreiben zu wollen, was er unter welchen Umständen zu welcher Zeit hätte vollenden müssen, verwechselt Vergils Genius mit dem eigenen. ss Einige der teilweise abnormen Halbverse dieser Gruppe brechen nur zufallig an einer normalen Zäsur ab (z.B. IX 295.467). Vergil gab nämlich auch den wenigen Halbversen, die er n e u hinzusetzte, eine metrische Gestalt. 56 Da die Punkte 4 und 5 natürlich gern kombiniert auftreten, geraten einerseits die metrische Unvollkommenheit der Halbverse und andererseits die makellose poetische und inhaltliche
Exkurs: Die Halbverse der Aeneis
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6.
die Halbverse keine Lücken im Erzählzusammenhang schaffen (Ausnahme: ill 34057). 7. der dem Halbvers folgende Text genauen Bezug auf die unmittelbar vorhergehende Passage (deren Ende der Halbvers bildet) zu nehmen pflegt. 8. die Abschnitte nach Halbversen sich zu einem erheblichen Teil zu s t r u k tu r e I I verwandten Gruppen (z.B. Vergleiche, Reden, vorbereitende Partien) zusammenschließen. Es ist ja von vornherein zu erwarten, daß sich bestimmte Themenbereiche in besonderem Maße für Nachträge eignen. 9. nicht wenige Verspartien nach Halbversen in engem i n h a I t I i c h e m Zusammenhang miteinander stehen und sich dadurch als Bestandteile derselben Überarbeitungsschicht erweisen 58 • 10. die Einschübe nicht selten eine Beziehung zu vieldiskutierten Aeneisproblemen, besonders Widersprüchen, haben. 11. die Halbverse sehr ungleichmäßig über die Bücher der Aeneis verteilt sind (s. Tabelle S. 99). (Dies ist nur verständlich, wenn sie n i c h t Zeichen für mangelnde Vollendung, sondern für denjeweils mehr oder weniger überarbeiteten Zustand der Bücher sind 59 .) Die hier vorgetragene Halbverstheorie ist in ihren Grundzügen freilich nicht völlig neu, wenn sie auch, soviel ich sehe, nirgends konsequent dargestellt und begründet worden ist. So haben HEYNE, PEERLKAMP, RIBBECK60 , ALBRECHT61 , MACKAIL, REHM 62 und CONSTANS 63 den auf den Halbvers Vill 41 folgenden Abschnitt 42-49 a (Prophezeiung des Sauprodigiums durch Tiberinus) als späte Zutat bzw. als Interpolation beurteilt, nach deren Entfernung sich der Halbvers 41 und die vermutlich ursprüngliche Fortsetzung 49 b zu einem neuen Vers vereinigen lassen:
neu belli terrere minis; tumor omnis et irae concessere deum. II nunc qua ratione quod instat expedias victor, paucis (advene) docebo.
40
411149 b 5064
Schönheit der Halbverse selbst sowie ihrer Umgebung in einen scheinbar unauflösbaren, die Forschung immer wieder narrenden Gegensatz zueinander. 57 Dieser einzigartige Halbvers ist jedoch s e I b s t syntaktisch unvollständig, weil ihm mindestens das Prädikat fehlt. 58 Belege u. S. 126f; 144f.; 145-7; 147f.; 153f.; 157f.; 162. 59 Siehe WALTER S. 27. - Aus der extrem geringen Halbverszahl von Buch VI (2) und XII (I) darf man nicht notwendig schließen, daß diese Bücher kaum überarbeitet seien. Vielmehr mag Vergil bei beiden Büchern, die ja die Schluß- und Höhepunkte der zwei Aeneishälften bilden (s. Proömium VII 37 -45), die Spuren früherer Überarbeitung, die Halbverse nämlich, bereits beseitigt haben. 60 1866, s. 83. 61 Wiederholte Verse und Verstheile bei Vergil, Hermes 16, 1881, S. 416. 62 Das geographische Bild des alten Italien in Vergils Aeneis, Philol. Suppl. 24,2, 1932, S. 47 Anrn. 102. 63 L'Eneide de Virgile. Etude et analyse, Paris 1938, S. 275f. 64 Zu dieser Rekonstruktion siehe HERRES 1982, S. 190f.
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Exkurs: Die Halbverse der Aeneis
Das auf diese Weise gewonnene Resultat setzt die Annahme voraus, daß der Halbvers 41 durch Verstümmelung eines zuvor vollständigen Verses entstanden ist. Auf dieselbe Weise haben CARTAULT 65 , MACKAIL und WALTER 66 den Halbvers V 294 zu beseitigen versucht:
undique conveniunt Teucri mixtique Sicani, Nisus et Euryalus primi, 294 [Euryalus forma insignis viridique iuventa, Nisus amore pio pueri;] quos deinde secutus regius egregia Priami de stirpe Diores. Zwar ist es richtig, daß die Charakterisierung der beiden Freunde (295 und 296 a), die auch auf Buch IX vorausdeutet, sekundär ist, aber die Zusammenfügung von Halbvers 294 mit 296 b verdient diesmal kein Vertrauen, da so Nisus und Euryalus anders als die übrigen Wettlaufteilnehmerohne nähere Bestimmung bleiben würden 67 • LUISA DE PICEIS POLVER hat in einem fast unbeachteten Aufsatz die These von CARTAULT (und anderen), die Halbverse zeigten in der Regel das E n d e eines Einschubs an, einer oftmals vernichtenden Kritik unterzogen, indem sie zeigte, daß die Halbverse und die mit ihnen zusammenhängenden vorangehenden Verse der ursprünglichen Fassung angehören müssen 68 • Sie nimmt an, daß Vergil in bestimmten Fällen Verse unvollendet gelassen, dann es aber vorgezogen habe, "iniziare un altro argomento, o riprendere Ia narrazione interrotta con un nuovo verso" 69 • Da sie die auf die Halbverse folgenden Passagen nicht als Zusätze erkennt, gelingt ihr jedoch keine plausible Erklärung der Halbverse. Dies glückte jedoch CONST ANS in einigen wenigen Fällen. Die Halbverse V 815 und VI 94 seien ursprünglich komplett gewesen, dann aber im Verlauf einer Revision provisorisch verstümmelt worden 70 • Auf ganz eigenartige Weise nähert sich PERRET71 meiner Halbverstheorie. In der Serviusvita heißt es, daß Augustus mit der postumen Aeneisedition Tucca und Varius betraut habe mit der Maßgabe: ut superflua demerent, nihil adderent tarnen (29-32). PERRET untersucht nun den Begriff superfluus und ähnliche Ausdrücke in der Literatur- Ästhetik der Kaiserzeit, um dann das gewonnene Ergebnis auf superflua demere zu übertragen, ohne den Zusammenhang bei Servius zu bedenken12 . Resultat seiner Über1926, Anm. 3 zu S. 375 . 47f. 67 Siehe HERRES 1982, S. 174. 68 Gli emistichi di Virgilio, Annali dell'lstituto Sup. di Mag. del Piemonte, III, 1929, S. 59-100. •• S. 98. 7 CONSfANS (o. S. 111 Anm. 63) S. 189 und 198. 71 Superflua demere, I.:Enc!ide devant ses premiers editeurs, in: Melanges J. CoLLART, Paris 1978, s. 405-11. 72 Zu superflua demere s. HERRES 1982, S. 24-27( -34). 6'
.. s.
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legungen ist, daß die antiken Herausgeber, dem kallimacheischen Stilideal verpflichtet, Verse, die sie als Doppelungen oder tibicines empfunden hätten, entfernt hätten. "Quand le superjluum etait une fraction de vers sa Suppression devait aboutir a un vers inclompet" (S. 410). "Bref, les cicatrices Iaissees par une intemperante chirurgie esthetique" (S. 411). PERRETS Spekulation (das barbarische Vorgehen der Editoren) ist nicht nur, wie PARATORE meinf3 , unwahrscheinlich, sondern auf Grund der Formenarmut der Halbverse und ihrer Eigenart, besonders gern an bestimmten Stellen aufzutreten, falsch 74 • Gegenüber diesen vereinzelten und oft nur partiell richtigen Erklärungsversuchen beansprucht die hier vorgelegte Halbverstheorie allgemeine Gültigkeit. Da nur eine geringe Zahl p I a u s i b I e r Erklärungsmöglichkeiten denkbar ist und meine Theorie allen Eigenschaften der weitaus meisten Halbverse gerecht wird, ist ihre Richtigkeit - schon vor ihrer Überprüfung an den Halbversen selbst - nahezu erwiesen. Darüber hinaus läßt sich in nicht wenigen Fällen vermuten oder sogar beweisen, daß die unmittelbar auf den Halbvers folgende Partie nachträglich von Vergil hinzugefügt worden ist. Statt der oben (S. 103) vorgenommenen mehr formalen Einteilung der Halbverse in 5 Gruppen stelle ich nun 5 Klassen von funktionell unterschiedlichen Halbversen zusammen:
73
s.
1.
als Schluß einer Rede
875
2.
innerhalb einer Rede
1676
3.
innerhalb erzählender Partien
2677
4.
vor einer Rede
778
5.
nach einer Rede
179
I tibicines dell'Eneide e superflua demere, Bolletino dei Classici, Rom IV, 1983,
129-36.
74 PERRET hält anläßlich (und trotz) der Besprechung meines Vergilbuches an seiner These fest (Latomus 43, 1984, S. 640). "II 720; IV 361; V 815; VII 248.455; X 284.876; XI 375. 76 I 534; II 614.640.787; III 316.340.640; IV 44; V 792; VI 94.835; VII 129.439; VIII 41.536; XI 391. 77 I 560.636; II 66.233.346.468.623.767; III 218.470.661; IV 400.503.516; V 294.322.574. 595; VII 702.760; IX 167.467.520.721.761; X 728. 78 III 527; VIII 469; IX 295; X 17.490.580; XII 631. 79
V 653.
1. HALBVERSE ALS SCHLUSS EINER REDE Nicht weniger als 8 von insgesamt 58 Halbversen bilden exakt den Schluß einer wörtlichen Rede. Dies kann nicht auf Zufall beruhen, sondern muß durch eine Eigentümlichkeit Vergils und/oder durch die Sache selbst erklärt werden. Da ein Halbvers als Redeschluß automatisch Enjambement bzw. Inhaltsenjambement bedeuteti, kann über den 'rhetorischen' Charakter dieser Halbverse kein Zweifel bestehen. So bemerkt schon Servius auctus zu IV 361 (ltaliam non sponte sequor): et oratorie ibi finivit, ubi vis argumenti constitif. Lohnend ist ein statistischer Vergleich der metrischen Abbruchstellen dieser Halbverse mit den Schlüssen aller übrigen Aeneisreden, die im Vers enden und mehr als 2 Verse Umfang haben 3 • a) Halbverse
4(5) 6
17
b) übrige Fälle(= komplette Verse)
Alle 8 Halbverse gehören zu den Halbversgruppen 1- IIl (o. S. 103). Siehe o. S. 108. ' Noch kürzere Reden weisen eine zum Teil virtuose und manierierte Einbeziehung in den Kontext auf und sollen deshalb hier außer Betracht bleiben. 4 (In Klammern setze ich die Gesamtlänge der Reden.) XI 375 (33). 5 II 720 (14). 6 IV 361 (29); VII 248 (36).455 (4); X 284 (6); da der Halbvers X 876 zu einer nur anderthalb Verse umfassenden Rede gehört, soll er hier außer Betracht bleiben. 7 V 815 (16). 'V 551 (4). ' II 550 (4); IV 570 (11); VI 886 (19); Vlll 583 (24); IX 250 (4); X 495 (5); XII 45 (27). 10 II 119 (4); 111 312 (3); IV 114 (8).276 (11).579 (7).685 (11); V 467 (3).673 (4); VI 155 (31).197 (4).407 (9); VII 560 (9); X 451 (3).776 (4).856 (11).882 (5); XI 827 (5). II 111 543 (5); IX 221 (3). 12 I 370 (36); II 391 (5).524 (6); IV 127 (13); V 164 (3).197 (9).385 (3); VI 76 (21); VIII 443 (5); IX 22 (5).38 (3).280 (24).292 (12).644 (4); X 113 (10).335 (3).583 (3); XI 98 (3).849 (9); XII 159 (4). "I 385 (14).610 (II); V 400 (7); VI 53 (3); VII 599 (6); Vlll 404 (10).503 (5); IX 656 (4); X 62 (45).298 (5); XI 461 (3); XII 806 (14).938 (8). 14 IX 117 (4); X 594 (3).830 (6). 1
2
Exkurs: 1. Halbverse als Schluß einer Rede
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Da der Redeschluß, wie Übersicht b) zeigt, an der Penthemimeres am häufigsten (20) ist, erwartet man, daß auch hier die Mehrzahl der jetzt zur Diskussion stehenden Halbverse endet, falls Vergil sie aus rhetorischen Gründen unvollendet gelassen haben sollte. Stattdessen findet sich kein einziger Beleg, so als ob der Dichter Halbverse von dieser Struktur am Ende von Reden geradezu gemieden hätte. Überraschenderweise brechen jedoch die Halbverse der 2. und 3. Klasse bevorzugt nach der dritten Hebung ab 15 • Damit allein ist der These, daß Vergil Halbverse um einer künstlerischen Wirkungwillen bewußt geschaffen habe, das Fundament entzogen. Auch die 'Ermattungstheorie' (oder 'Erlahmungstheorie'), daß nämlich der Dichter an bestimmten Stellen nicht mehr weitergewußt und nur noch einen halben Vers zuwege gebracht habe, gewissermaßen als Zeichen dafür, daß er bei späterer Gelegenheit hier noch mehr tun wollte, wird durch die Statistik widerlegt. Denn es sind sowohl die längsten, im Vers endenden Reden, die mit einem Halbvers schließen 16 , als auch sehr kurze 17 • Dem vorurteilsfreien Betrachter erscheinen alle Reden, die in einen Halbvers auslaufen, als inhaltlich abgeschlossen. Nicht die Unfertigkeit des Halbverses stört, sondern die metrische Lücke. Nach meiner Auffassung ist diese Lücke Resultat einer Verstümmelung des ursprünglich kompletten Verses, so daß jetzt ein neuer Text, mit einem frischen Vers beginnend, angehängt werden konnte. Wenn Vergil an eine bereits vorhandene Rede, die im (lnhalts-)Enjambement endete, eine neue Partie anfügen wollte, mußte er im allgemeinen die Redeabschlußfloskel samt einer meist folgenden Aktion des Sprechers oder anderer Personen 18 wegschneiden. Daftir ein fingiertes Beispiel: quae me eumque voeant terrae. " [sie fatus amieum Ilionea petit dextra laevaque Serestum] (I 610f.) Bei Redeschluß im Versinnern ist es in der Mehrzahl der Fälle unvermeidlich, daß die Abschlußfloskel (in unserem Beispiel: sie fatus) und die folgende Aktion (amieum I Ilionea petit ... ) mit Enjambement auf den nächsten Vers übergreifen. Weil nun Vergil das Enjambement sehr überlegt anwendet und gerade ftir den heiklen Übergang von der Rede zur Handlung bzw. zu einer weiteren Rede besondere Sorgfalt geboten ist, liegt es auf der Hand, daß ein nach dem Redeschluß geplanter Einschub nicht in jedem Fall den nunmehr verstümmelten letzten Vers metrisch zu Ende führen kann. Von den 63 vollständigen Hexametern mit Redeschluß im Versinnern (s. Übersicht b) kommen nur 7 am Versende zu einem syntaktischen und
Siehe die Übersichten u. S. 122 und 136. XI 375: längste Rede (33 Verse) mit Abbruch nach 1. Daktylus; II 720: zweitlängste Rede (14 Verse) mit Abbruch nach Trithemimeres; VII 248 und IV 361: zweit- und drittlängste Rede (36 und 29 Verse) mit Abbruch nach Hephthemimeres; V 815: längste Rede (16 Verse) mit Abbruch bei der bukolischen Dihärese. 17 VII 455 hat nur 4, X 284 6 und X 876 gar nur anderthalb Verse Umfang. "Sämtliche Belege und Ausnahmen bei BERRES 1982, S. 78-80. 15
16
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Exkurs: I. Halbverse als Schluß einer Rede
inhaltlichen Ruhepunkt 19 , davon lx Redeschluß nach dem ersten Daktylus (IV 570), 5x nach Trithemimeres (V 467; VI 155; Vll 560; X 451.882) und lx nach Penthemimeres (VI 76) 20 • Offensichtlich fiel es Vergil nicht leicht, Reden, die mit der Hephthemimeres oder bukolischen Dihärese endeten, eine neue metrische Fortsetzung zu geben. Aber auch bei den (nicht sehr häufigen) Redeschlüssen am Versbeginn waren die Schwierigkeiten für sekundäre Vervollständigungen groß, da ja kurze Enjambements besonders ausdrucksstark sind und deshalb eine darauf Rücksicht nehmende, sehr sorgfältige Fortsetzung erfordern. Daß gerade die Redeschlüsse beliebte Schnittstellen für Zusätze waren, ist nicht verwunderlich. Denn einerseits sollten ja die oft stark betonten letzten Worte einer Rede erhalten bleiben; andererseits bilden sie eine natürliche Zäsur. Wir wollen nun einen Blick auf diejenigen Partien werfen, die nach diesen Halbversen stehen und die ich für spätere Zusätze halte. Nach IV 361, X 876 und XI 375 folgt jeweils eine Rede mit kurzer Einleitung: IV 361: 362ff. (Rede der Dido) ist die 3. Rede in unmittelbarer Folge; vorausgehen eine andere Rede der Dido (304ff.) und eine Antwort des Aeneas (33lff.). Da Dido Äußerungen des Aeneas, darunter auch den Halbvers 361, mit bitterem Hohn zitiert2 1, kann über die Reihenfolge der Entstehung kein Zweifel herrschen und ist die Annahme ausgeschlossen, daß Vergil die in den Halbvers auslaufende Passage 356-61 (als Provisorium oder gar Randnotiz) neu hinzugesetzt habe. Die einem Monolog nahekommende Rede der Dido (362ff.), die die Handlung nicht weitertreibt und keine neue Entwicklung einleitet, ist als Erweiterung des ursprünglichen Textes sehr wohl denkbar. 22 X 876: Auch hier scheint der Halbvers incipias conferre manum zum alten Versbestand zu gehören; denn nicht nur die folgende Rede des Mezentius (878-82) beschäftigt sich mit dieser Aufforderung des Aeneas, sondern wir finden auch 3 stilistische Anklänge daran in Buch XUZ 3 • Dagegen könnte Zur scheinbaren Ausnahme XII 806 s. BERRES 1982, S. 79. Zu all diesen Fällen s. BERRES S. 78-80. 21 376f. - 345f.; 377f. - 356f.; 381 a - 361 (Halbvers!); 381 b - 350; vgl. auch 369 b (num luminajlexit) mit der Einleitung von Aeneas' Rede 331f. (immota renebat I Iumina). 22 Wer durch vergleichende stilistische Untersuchungen die späte Entstehung der Didorede überprüfen möchte, findet dazu das wichtigste Material oben S. 54ff. (auch S. 60 Anm. 84 und unten S. 136 [zu profatur, IV 364)). Siehe auch BERRES, Vergil und Homer. Ein Beitrag zur Entmythologisierung des Verhältnisses (erscheint demnächst im Gymnasium). 23 Mit incipias coriferre manum (X 876) vergleiche vel coriferre manum (XII 345), wo als zusätzlicher, wenn auch sehr schwacher Anklang iaculis oneravif acutis (X 868) - paribusque ornaverat armis (XII344) hinzukommt. (Eine weitere Parallele ist XI 574: iaculo palmas armavit acuto. Die Beziehung wird noch durch folgende Berührungen verstärkt: XI 539 - X 852; XI 553 [bellator] - X 891; XI 578 - X 886; XI 587 - X 889.) Sichereren Boden betreten wir mit der Parallele nec conferre manum (XII 480), da (Aeneas) magna I voce vocat (XII 482f.) deutlich an 19
20
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Mezentius' kurze Erwiderung ein Zusatz sein. Sie enthält die tiefste Darstellung seiner Tragik: er sieht sich bereits durch den Tod seines Sohnes Lausus vernichtet. Aeneas habe ihn, den Götterverächter, an der einzig verwundbaren Stelle getroffen. Beides, verbrecherische Gottlosigkeit und sich in der Liebe zum Sohn offenbarende Menschlichkeit, wurde von Vergil in der Person des Mezentius überzeugend vereinigt.
XI 375: Der Halbvers qui vocat, der die Rede des Drances abschließt und auf den Turnus' Erwiderung samt Einleitung folgt, ist vermutlich durch Turnus' Replik (solum Aeneas vocat? et vocet oro, 442 24) gegen den Verdacht einer Marginalnotiz geschützt. Die unmittelbar sich anschließende Redeeinleitung talibus exarsit dictis violentia Turni (376) spielt offensichtlich auf Drances' Worte nec te ( = Latinum) ullius ( = Turni) violentia vincat (354) an, so daß alles dafür spricht, daß die Drancesrede der Turnusrede genetisch vorausgeht. Ist aber deshalb die Erwiderung des Turnus, die doch notwendig auf Drances' Vorstoß erfolgen mußte, späte Zutat? Ich vermute, daß diese lange Rede (66 Verse) von Vergil mehrmals umgearbeitet und erweitert worden ist, will aber hier nur einige mir sicher erscheinende Punkte behandeln. Der erste Teil der Turnusrede reicht bis 391. Turnus rechnet nur polemisch mit Drances ab und verspottet ihn als feigen Schwätzer, ohne auf dessen sachliche Vorschläge einzugehen. Im zweiten Teil (392 -409) setzt er sich zwar weiter mit Drances auseinander, nun aber mit Hinweisen auf seine eigenen Erfolge. Beide Teile sind voneinander getrennt durch einen Halbvers (391). Der erste Teil wird also durch zwei Halbverse gewissermaßen eingerahmt. In ihm findet sich eine sehr aufschlußreiche stilistische Berührung mit Buch X; dort trägt Venus Jupiter ihre Not um die Aeneaden vor: non clausa tegunt iam moenia Teucros, quin intra ponas atque ipsis proelia miscent (X 22-4), aggeribus murorum et inundant sanguine fossae2 5 • hier (in XI) wendet sich Turnus mit teilweise gleichlautenden Worten gegen Drances:
(Aenean) magna ter voce vocavit (X 873, vgl. allerdings auch VI 506) erinnert; vgl. zusätzlich X 890 mit XII 496f. Völlig zweifelsfrei ist die Beziehung zu stat conjerre manum Aeneae (XII 678), wie X 870f. = XII 666f. lehrt. - Die Wendung conferre manum findet sich außerdem noch IX 44 und 690. · 24 Allerdings scheint die F o r m u I i e r u n g auf eine frühere Äußerung des Drances Bezug zu nehmen (ingravat haec saevus Drances solumque vocari I testatur, solum posci in cenamina Thrnum, XI 220f.). 25 v. I.: fossas. Eine Entscheidung zwischen den beiden Lesarten ist ftir unsere Untersuchung nicht erforderlich.
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sed non replenda est curia verbis, quae tuto tibi magna volant, dum distinet hostem agger6 murorum nec inundant sanguinefossae. (XI 380-2) Die Priorität von X liegt ziemlich klar zu Tage. Denn in X geht es darum, daß die Mauer den Aeneaden keinen Schutz mehr bietet, sondern der Kampf sogar auf den Mauern tobt und Blut in den Gräben fließt, der Kampf also viele Opfer fordert. In XI behauptet Turnus, Drances sei immer tapfer mit Worten, solange der agger murorum den Feind abhalte. Mit nec inundant sanguine fossae wird die Voraussetzung für Drances' einseitige Tapferkeit nur in negativer Formulierung (nec) fortgeführf 7 • Aber in XI kommt es nicht in erster Linie auf das Blutvergießen am Graben an, sondern auf Drances' sichere Entfernung vom Feind. Auch liegt in XI eine leichte gedankliche Inkonzinnität vor: die Mauer trennt Drances vom Feind; damit ist aber der Gedanke an einen Kampf auf der Mauer noch nicht evoziert. Die Fortsetzung nec inundant sanguine fossae tut dies aber, während in X der Kampf von vornherein auf der Mauer tobt (ipsis proelia miscent I aggeribus). XI 382 ist also aus dem einfachen natürlichen Zusammenhang in X geborgt und ein wenig unscharf, wenn auch sehr wirkungsvoll und gedanklich kompliziert, wiederverwendet Da nun das 'Vorbild' X 24 Bestandteil einer nachträglich in X eingelegten Partie isf 8 , muß auch für XI 382 späte Entstehung angenommen werden. VII 248: Wie die drei bisher behandelten Halbverse steht auch dieser in einem Komplex von drei Reden: Rede des Latinus (195ff.), des Ilioneus (213ff.) und wiederum des Latinus (259ff.). Jedoch ist zwischen die zweite und dritte Rede, und zwar direkt nach dem Halbvers 248, eine längere Darstellung der Betroffenheit des Latinus eingeschoben (249-58), ehe er zu sprechen beginnt (t an dem laetus ait, 259). Diese Schilderung darf man also mit Recht als stark erweiterte Redeeinleitung auffassen. Seltsamerweise bezieht sich die Betroffenheit des Latinus nicht d i r e k t auf die soeben gehörten Worte des troischen Abgesandten Ilioneus29 , sondern auf das Orakel seines Vaters Faunus, demzufolge Lavinia einem Auswärtigen bestimmt sei. Ilioneus aber hatte mit keiner Silbe von Latinus' Tochter oder irgendeiner in Aussicht genommenen ehelichen Verbindung des Aeneas mit dem latinischen Königshaus gesprochen. Das Überdenken des Orakelspruchs bringt Latinus dann dazu, von sich aus Aeneas seine Tochter zur Frau anzubieten. Es wäre nun naiv anzunehmen, daß dieser, zumindest den Ilioneus überraschende Entschluß genetisch sekundär sein müßte. Aber bekanntlich hat Vergil die Kämpfe auf italischem Boden entgegen der 26 Ganz überwiegend ist aggere überliefert, ~hl durch X 24 und 144 verursacht. Aber nur der Nominativ agger läßt sich konstruieren. 27 Thrnus setzt also gewissermaßen die 'positive' Erfahrung in X voraus. 28 Siehe u. S. 162 zum Halbvers X 17. 29 Von Vergil sogar thematisiert: nec ... nwver ... ranrum, quanrum in conubio narae ... (251-3).
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Tradition erheblich konzentriert und zu diesem Zweck starke Änderungen vorgenommen 30 • Zu diesen Änderungen bzw. Neuerungen gehört als wichtigste das Angebot des Latinus, Aeneas als Schwiegersohn seinem Haus zu verbinden. Die daraus sich ergebenden Konsequenzen hat Vergil, trotz HEINZES glättender Interpretation31 , nicht überall vollkommen überzeugend mit der übrigen Darstellung in Übereinstimmung bringen können. Ich kann also das Orakel des Faunus und die von Latinus angebotene Vermählung mit Lavinia nicht als ursprüngliche Idee Vergils auffassen. II 720: Nach der Rede des Aeneas folgt die Beschreibung, wie der Held mit seiner Familie zur Flucht aus Troja aufbricht. Er nimmt seinen alten Vater auf die Schultern und an die rechte Hand sein Söhnchen; hinter ihnen schließt sich die Gattin an (pone subit coniun.x, 725). Diese Anordnung auf der Flucht ist nun die entscheidende technische Voraussetzung für die Komposition des Schlusses von Buch ll. Hören wir dazu HEINZE: "Gesetzt also, Creusa wäre etwa vor Aeneas hergegangen (wie das mehrfach bildlich dargestellt ist) und plötzlich avap1raaflfiaa verschwunden wie etwa Iphigenie vor dem Altar zu Aulis oder wie einer der Kämpfenden, die von Götterhand dem Bereich der feindlichen Lanze entrückt werden. Aeneas hätte, Anchises auf den Schultern, in starrem Staunen dagestanden; eine Stimme vom Himmel her hätte etwa die Erklärung gegeben, und die Fliehenden hätten ihre Weg fortgesetzt. Das Ganze wäre unvergleichlich viel matter und inhaltsloser geworden; nicht nur, daß Aeneas keine Gelegenheit gehabt hätte, seine Gattenliebe zu beweisen: das Wiedersehen mit Creusa wäre unmöglich gewesen, die Situation des Aeneas bei der Entrückung hätte ans Lächerliche gestreift; Spannung und dramatische Bewegung hätten der Szene gefehlt. So ist es durchaus begreiflich, daß Vergil trotz seiner neuen Begründung des Vorgangs an der traditionellen Fassung festhielt: nun ist zwar die Trennung der Creusa von Aeneas Schicksalsbestimmung und die verwirrte Flucht des Aeneas ein gottgewolltes Mittel ihrer Erfüllung; aber ... die Mater mildert die Härte des Schicksals, indem sie Creusa aus den Händen der Feinde zu sich entrückt ... Um den jetzigen Plan durchzuführen, kam es vor allem darauf an, Creusa zu isolieren und so Aeneas den Verlust erst nachträglich bemerken zu lassen. " 32 Der Glaube fällt schwer, daß Vergil sogleich beim ersten Entwurf diesen "jetzigen Plan" in aller Deutlichkeit vor Augen hatte. Ist es also ein Spiel des Zufalls, wenn unmittelbar vor den Versen, in denen der Dichter mit sorgsamer Regie die handlungs- und inhaltsrelevanten Modalitäten des Auszugs schildert (721 ff.), ein Halbvers steht? Da Halbverse erwiesenermaßen nicht Kunst sind, sondern anzeigen, daß 'hier irgendetwas nicht stimmt', wird man einen Zusammenhang zwischen dem Halbvers ll 720 und den mit
30
HEINZE 1915, S. 171-9.
"S. 174 und 176 mit Anm. 2 und 3. 32
S. 60f.
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hoher Wahrscheinlichkeit nicht ursprünglichen folgenden Versen kaum leugnen dürfen 33 • X 284: Auch hier folgt auf den Halbvers (Schluß einer Turnusrede) eine (wenn auch nur erwogene) Regieanweisung des Turnus bzw. des Dichters:
audentis Fonuna iuvat". 34 haec ait, et secum versat quos ducere contra vel quibus obsessos possit concredere muros. (X 284-6) Ebenso scheinen die weiteren Verse (Landung und Schiffbruch des Tarchon) spät zu sein (s.u. S. 167f.). V 815: Der Halbvers bildet das Ende jener Rede, in der Neptun Venus, die ihn um sichere Fahrt für ihre Schützlinge gebeten hatte, eine beruhigende Zusage gibt. Anschließend, nach dem Halbvers, schreitet der Gott sofort zur Tat und glättet mit seinem Pferdegespann die Meereswogen (816ff.). Die Beruhigung der See setzt einen Sturm oder wenigstens stürmisches Wetter voraus. Aber gerade dies war nicht der Fall, denn es herrschten ausgesprochen günstige Verhältnisse für die Abfahrt:. placidi straverunt aequora venti (763f.) creber et aspirans rursus vocat Auster in altum. Es ist also zu subsidunt undae tumidumque sub axe tonanti (820f.) sternitur aequor aquis, fugiunt vasto aethere nimbi. 35 "kein rechter Fortschritt ersichtlich" (HEINZE ). Weniger beschönigend formuliert: zwischen 763f. und 820f. besteht ein unversöhnlicher Widerspruch. Kaum denkbar, daß beide Stellen von Anfang an Bestandteil von Buch V gewesen wären. Vielmehr vermute ich mit CONSTANS, daß der Halbvers V 815 ursprünglich komplett gewesen, dann aber bei einer Revision provisorisch verstümmelt worden istl 6 •
Vll 455: Alleeta gibt sich mit ihren letzten Worten Turnus als Dira zu erkennen: respice ad haec: adsum dirarum ab sede sororum, bella manu letumque gero. " (454f.) Wenn der Halbvers 455 auch syntaktisch selbständig und formal abtrennbar istl 7 , so gehört er doch inhaltlich ganz eng zur übrigen Rede38 • 33
Hiermit steht nicht in Widerspruch, daß kurz vorher auch II 711 (et Ionge servet vestigia
coniunx) die Auszugsmodalitäten vorbereitet. 34 Das Sprichwort erscheint hier in der geläufigen Form. Es wird (und damit auch der Halbvers) vermutlich in X 458 abgeändert wiederaufgenommen: si quafors adiuver auswn (ausum ist masc.). " S. 452 Anm. 1. 36 Siehe o. S. 112. 37 Er ist einzuordnen in Gruppe lll (o. S. 103). 38 Siehe WALTER 1933, S. 55.
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Denn Allecto greift mit höhnischer Ironie die Schelte des ungläubigen Turnus auf. So entsprechen sich nicht nur 440-2 - 452f., sondern auch Turnus' letzte Worte: bella viri pacemque gerent quis bella gerenda. (444) finden ihren Niederschlag im Abschluß von Alleetos Rede, nämlich im Halbvers. Daraus wird auch deutlich, warum Vergil, als er die neue Fortsetzung (456ff.) anfügte, diesen technisch leicht vermeidbaren Halbvers hinnehmen mußte, da er erst nach diesen Worten die alte Fortsetzung tilgen konnte. Die mutmaßlich neue Partie39 bringt eine dramatische Aktion der Furie, den Ausbruch von Turnus' Raserei und einen Vergleich: einer der vielen Höhepunkte von Vergils Schaffen.
39
Zur Neugestaltung dieser Szene s.u. S. 131ff. zum Halbvers Vll 439.
2. HALBVERSE INNERHALB EINER REDE Vorangestellt sei eine Übersicht über die metrischen Abbruchstellen der Halbverse dieser 2. Klasse:
Der Einschnitt nach dem 2. Daktylus ist durch den Halbvers I 534 hervorgerufen, der zur Gruppe V gehört (o. S. I 03), unter allen Halbversen metrisch einzigartig ist und funktionell einen besonderen Typ (tibicen) vertritt (S. 104). Bereinigt man die Statistik um diesen Halbvers, fällt nur noch e i n bedeutsamer Unterschied zur I. Klasse (S. 114) auf: der Einschnitt nach der Penthemimeres. Sieht man von dieser metrischen Besonderheit ab, könnte der Eindruck entstehen, als ob zwischen den Halbversen der 1. Klasse (als Schluß einer Rede) und der 2. (innerhalb einer Rede) kein prinzipieller Unterschied bestünde. Dies könnte auch tatsächlich der Fall sein, wenn nach Halbversen der 1. Klasse die Rede ehemals noch weitergegangen sein sollte. Liegt aber keine Kürzung der Re d e vor, sind die genetischen Verhältnisse doch sehr verschieden. Dies folgt aus einer funktionellen Besonderheit von Reden überhaupt. Denn sie sind, weit stärker als bloß erzählende Partien, dazu prädestiniert, Zusammenhänge und Zusammenfassungen vergangener Ereignisse zu geben 7 , ja auch Zukünftiges zu enthüllen. Somit spiegeln Reden in besonders hohem Maße den jeweils aktuellen Stand des im Entstehen begriffenen vergilischen Epos wider. Deshalb sind Reden schon in dieser Hinsicht von vornherein äußerst 'anfällig' ftir Änderungen und Erweiterungen (evtl. Umarbeitungen). Längere, überwiegend rekapitulierende Reden vor allem der zweiten Aeneishälfte müssen mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit als überarbeitet angesehen werden. Nun zu den Halbversen der 2. Klasse im einzelnen: I 534: Dieser Halbvers gehört als Sonderfall zu Gruppe V (o. S. 103); seine Entstehung wurde bereits S. 104 behandelt.
lii 640. XI 391. 'I 534. 4 II 6I4.640; III 340; IV 44; VII 439; VIII 41.536. 5 III 316; V 792; VI 94; VII 129. ' II 787; VI 835. 7 Bisweilen informieren uns Reden sogar über Vergangenes, das Vergil uns zuvor aus welchen Gründen auch immer - nicht mitgeteilt hat (s. HEINZE S. 393f. unter der Rubrik "Nachträgliches"). I
2
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II 614 und 640: Da beide Halbverse mit der Venusszene von Buch II zusammenhängen, sollen sie aus methodischen Gründen erst später (u. S. 192ff. und 195ff.) erörtert werden. II 787: Der Halbvers 'leitet' den letzten Abschnitt der Creusaepisode von Buch II 'ein'. Wie wir zu Halbvers II 720 bemerkt haben, scheint die ganze Episode grundlegend überarbeitet zu sein, da ihre technische Voraussetzung (Creusa zieht h i n t e r Aeneas aus, 721ff.) vermutlich neu ist8 • So hat Vergil auch die Rolle der Mater (788, also genau nach dem Halbvers 787) gegenüber der Tradition den neuen Bedürfnissen angepaße. Für den Nachweis, daß der Abschnitt 788-95, die Abschiedsszene zwischen Aeneas und Creusa, der Begrüßungsszene zwischen Aeneas und Anchises in Buch VI nachgebildet ist (II 792-4 :::;; VI 700-2) und die Verse 788f. die Voraussetzung daflir schaffen, siehe mein Vergilbuch S. llOff. 111 316: Ebenso wie nach Halbvers VIII 536 beginnt der Neueinsatz mit heu 10 • heu, das bei Vergil etwa 40x vorkommt (von Doppelungen abgesehen), steht gern am Versbeginn und nur 12x an späterer Position 11 , davon allein 5x an 2. Stelle. Die Ausnahmen verraten überwiegend rhetorische Manier. Der normale Gebrauch von heu legte also Vergil nahe, mit heu beginnende Einschübe auch mit einerneuen Zeile anfangen zu lassen. Für die Enträtselung des Halbverses ist hilfreich eine Betrachtung des Zusammenhangs. Die Aeneaden landen auf ihrer Irrfahrt an der Küste von Buthrotum, wo der Priamussohn Helenus, mit Andromache verheiratet, herrscht. "Die Begegnung mit Helenus war eines der wenigen poetischer Ausgestaltung fahigen Motive, die Virgil der Tradition (Dionys. I 32) entnehmen konnte ... ; die Szenen der Begrüßung und des Abschieds hat Virgil mit großer Ausführlichkeit behandelt, um alles Pathos zu entwickeln, das namentlich infolge der EinfUgung der Andromache die Situation in sich enthielt: auf sie viel mehr als auf den farblos gehaltenen Helenus richtet sich der Sinn des Dichters" (HEINZE 12). Ein Blick auf den Text zeigt uns sofort, auf welche Weise Vergil das traurige Schicksal Andromaches recht in den Vordergrund zu rücken wußte. Aeneas berichtet von seiner Begegnung mit ihr: vix pauca furenti subicio et raris turbatus vocibus hisco: 315 ., vivo equidem vitamque extremaper omnia duco; ne dubita, nam vera vides. 13 'Oben S. 119. Zum einzelnen s. HEINZE S. 57-62. 10 Beobachtet von SPARROW (o. S. 108 Anm. 45) S. 44. 11 G.4,491.498; A.IV 13.267.541.657; V 615; VI 458; VII 594; X 849; XI 273; XII 452. 12 S. 107f. 13 Der Halbvers gibt Antwort auf Andromaches ungläubige Fragen: verane te facies, verus mihi nuntius adfers, I nate dea? vivisne? (310f.) und ist keinesfalls ein Provisorium. Ebenso .,untadelhaft" sind .,die Fragen des Aeneas 317ff." (HEINZE S. 109 Anm. 1). Bestätigt wird 9
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heu! quis te casus deiectam coniuge tanto excipit, aut quae digna satis fortuna revisit, Hectoris Andromache? Pyrrhin conubia servas?" (313 -20) 320 deiecit vultum et demissa voce locuta est ... Man kann hier mit Händen greifen, wie Vergil die wenigen Worte, mit denen Aeneas die Wirklichkeit seiner Existenz bestätigt 14 , mitten im Vers abbrechen läßt, um dichtgedrängte Fragen folgen zu lassen (317 -9), die Andromache Gelegenheit geben sollen, über ihr Schicksal Auskunft zu geben (32lff.). Damit dürfte auch ihre Rede großenteils sekundär sein 15 • 111 340: Wir befinden uns hier noch in demselben Zusammenhang wie beim vorigen Halbvers III 316. Am Schluß ihrer Rede wendet sich Andromache wieder dem Schicksal des Aeneas und seiner Familie zu, indem sie ihm eine Reihe von Fragen stellt: sed tibi qui cursum venti, quae fata dedere? aut quisnam ignarum nostris deus appulit oris? quid puer Ascanius? superatne et vescitur aura? 340 quem tibi iam Troia ecqua tarnen puero est amissae cura parentis? ecquid in antiquam virtutem animosque virilis et pater Aeneas et avunculus excitat Hector? (337 -43) 16 CONRADS' Annahme, 339f. sei eingeschoben , ist wenig glücklich, weil dann puero (341) in der Luft hinge. Noch abwegiger erscheint SPARROWS Vermutung, die plötzliche Erinnerung an Creusas Tod habe Andromache mitten im Vers abbrechen lassen 17 • Auf den ersten Blick wäre es viel verlockender, nur den Halbvers selbst als Zusatz auszuscheiden, weil er überflüssig scheint und überdies - als einziger Halbvers - syntaktisch und inhaltlich unvollendet ist 18 • Aber dann erhebt sich mit doppelter Dringlichkeit die Frage, warum Vergil einen in jeder Hinsicht 'verunglückten' Zusatz überhaupt gemacht bzw. 'gedichtet' hat. Oder sollte ihm der Tod gerade an dieser Stelle den Griffel aus der Hand genommen haben? In Wirklichkeit liegen die Schwierigkeiten weniger im Halbvers als in den folgenden Zeilen (341 ff.). Hier nämlich kommt Andromache ziemlich
hierdurch ein wesentlicher Aspekt meiner Halbverstheorie, gemäß der ja in der Regel der Text unmittelbar vor und nach der metrischen Lücke vollkommen ausgearbeitet ist. 14 Es ist W ALTER zuzugeben, "daß Aeneas merkwürdig kurz die doch immerhin erstaunliche Tatsache seiner Ankunft in Epirus erklärt" (1933, S. 39)! " Da wahrscheinlich lli 332 auf II 663 zurückgeht (BERRES 1982, S. 69 Anm. 45), II 663 aber möglicherweise seinerseits einem nachträglichen Einschub angehört (s.u. S. 1951f.), könnte auch der stilistische Befund ftir späte Entstehung von Andromaches Rede IIl 32llf. sprechen. 16 I 863, S. 28. 17 SPARROW (o. S. 108 Anm. 45) S. 43. Ähnlich W. WITION, Two passages in the third book of the Aeneid, Greece and Rome 7, 1960) S. 171: "Virgil could not complete the line, because its speaker could not". 18 Siehe o. S. 100 Anm. 3.
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unvermittelt auf Creusa zu sprechen, ohne ihren Namen zu nennen 19 • Wir erfahren nicht, wie sie zu ihrem Wissen über Creusas Verschwinden gekommen ist2°. HEINZE meint, die Annahme, daß eine Erzählung des Aeneas über Creusas Schicksal ausgefallen sei (RJBBECK), sei ebenso falsch wie die andere, daß Vergil Andromaches Wissen um Creusa bei der Überarbeitung besser motiviert haben würde (GEORGII). Er versucht seine Meinung damit zu stützen, daß Vergil, wie man bei Buch ll gesehen habe, "in diesen Dingen kein Pedant" gewesen sei 21 • Doch da bei Vergil Kompositions- und Entstehungsfugen bisweilen zusammenfallen, darf man hier nicht so sicher urteilen, zumal gerade die Geschichte von Creusas Verlust am Ende von ll insgesamt eine radikale Überarbeitung erfuhr2 und frühestens nach Vollendung von VI abgeschlossen wurde. Wichtiger noch, ja entscheidend ist eine andere Überlegung HEINZES, der daran zweifelt, ob Vers 348: (Helenus) et mutrum lacrimas verba inter singulafundit in unmittelbarer Nähe von 344f.: (Andromache) taliafundebat lacrimans longosque eiebat I incassum jletus stehengeblieben wäre23 . Rätselhaft ist, wieso Vergil sich in kürzester Distanz, wenn er die Verse der Reihe nach gedichtet hätte, so unglücklich wiederholt haben sollte. Stellt man aber HEINZES Vermutung auf den Kopf, läßt also 344f. n a c h 348 geschrieben sein, fallen alle Schwierigkeiten fort. 344f. würde bei dieser Annahme zu einem Einschub gehören, der unmittelbar hinter dem Halbvers 340 begänne. Hauptgrund für Andromaches Tränen ist ja ihre Frage nach Ascanius. Denn im Verhältnis von Ascanius zu seiner verlorenen Mutter (341) spiegelt sich ihre eigene Beziehung zu ihrem verlorenen Sohn Astyanax 24 • Noch deutlicher wird die Richtung ihrer schmerzerfüllten Teilnahme in der Frage, ob Ascanius sich Aeneas und seinen Onkel Rektor zum Vorbild nehme. Der Name ihres ersten Mannes ist nicht zuf:illig das letzte Wort ihrer Rede. Sie ist "die ungetröstete, ohne Ende trauernde Witwe Rektors und Mutter des Astyanax" (HEINZE25 ). Durch die nachträgliche Einfügung von Andromaches Schlußworten und bitteren Tränen (341-5) mußte es zur poetischen Rivalität mit Helenus' Tränen (348) kommen, die wieder dem ursprünglichen Text zuzuordnen sind.
19 Diesem Mangel sollen wohl einige alte Ergänzungen des Halbverses abhelfen: peperit fumante (oder: jiorente) Creusa; obsessa est enixa Creusa. Siehe SPARROW S. 46 (und o. S. 72). 20 W ALTER findet es "merkwürdig, daß Andromache zwar nach allem anderen fragt, aber über das Schicksal der Creusa Bescheid weiß" (1933, S. 40). 21 S. 109 Anm. 1. 22 Siehe o. S. 119 (zum Halbvers II 720), S. 123 (zu II 787) und BERRES 1982, S. 14lff. (zu II 767) und S. !!Off. 23 S. 109 Anm. 1. 24 Siehe CONINGTON zu III 340; HE!NZE S. 108; SPARROW S. 43. 25 S. 108. D i r e k t spricht sie ihren Kummer beim Abschied aus, während sie Ascanius ein Geschenk überreicht (482-91). HEINZE sieht darin nicht zu Unrecht einen "der tiefst empfundenen Züge in Virgils Gedicht" (S. 108). Übrigens war der Abschnitt 470-505 dem 3. Buch ursprünglich fremd (s. BERRES 1982, S. 161-8, und u. S. 143f.).
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Wenn aber meiner Halbverstheorie zu folge Vergil neue Verse so einbettete, daß er den alten Zusammenhang an einer geeigneten Stelle, wenn nötig sogar im Versinnern ( = Halbvers) abschnitt, warum setzte er hier nicht den Schnitt nach 339 und ließ das scheinbar überflüssige Satzbruchstück einfach weg? Offensichtlich lag Vergil sehr viel an dem Halbvers quem tibi iam Troia -. Wie seine ehemalige Fortsetzung lautete, muß Spekulation bleiben; aber auch in dieser verstümmelten Gestalt erlaubt er ein wenigstens rudimentäres Verständnis. Ascanius (quem) wird in Verbindung gebracht zur troischen Vergangenheit (Troia), die aber nicht antiquarisches oder mythologisches Interesse befriedigen, sondern einen aktuellen Bezug zur augenblicklichen Situation (iam) herstellen soll. Betroffene Person, der die Aussage des Halbverses gilt, ist Aeneas ·(tibi)26 • Es ist also immerhin denkbar, daß der alte Schluß des Satzes sich inhaltlich teilweise überschnitt bzw. in gewisse Konkurrenz trat mit der neuen Versfolge. Vielleicht wollte Vergil die nunmehr aufgegebene Passage durch Modifizierung wieder brauchbar für den neuen Zusammenhang machen und beließ zu diesem Zweck den alten Anfang erst einmal an Ort und Stelle. Allerdings mag man zur Erklärung dieses singulären Halbverses auch an eine Unklarheit im Manuskript denken, die Varius nicht durchschaute und deshalb pietätvoll überlieferte. Haupt- und letztlich einziger Grund für die Unfertigkeit der ganzen Partie ist jedoch lediglich die nachträgliche Einfügung einiger wundervoller Verse27 • 111 640: In der Achaemenidesepisode hatte Vergil mit der kaum überbietbaren homerischen Darstellung des Kyklopenabenteuers zu wetteifern. Deshalb vermied er ein "Seitenstück", indem er die Person des Achaemenides neu einführte: "der Unglückliche, der seine Todfeinde um Rettung vor einem Schicksal anflehen muß, das schlimmer ist als der Tod - das ist eine Erfindung, die ganz im Bereich virgilischer Kunst lag" (HEINZE28 ). Das Hauptmotiv dieser Erfindung wird von dem Dichter gleich zweimal thematisiert. Das erste Mal dort, wo Achaemenides es den Aeneaden freistellt, ihn als Kriegsgegner umzubringen, wenn sie ihn nur vom Kyklopengestade erretten (599-606); das zweite Mal, wenn auch verkürzt, in den Versen: satis est gentem e.ffugisse nefandam. (653f.) 29 vos animam hanc potius quocumque absumite Leto. Dieses zweite Vorkommen bildet den Schluß jenes Abschnittes, dem der Halbvers 640 unmittelbar voraufgeht. Der Eindruck einer bloßen Motivwiederholung - Achaemenides hatte ja bereits 612 seine erste Furcht
" Dem Andromache sich ja ab 337 (sed libi ... ) wieder direkt zugewandt hatte. 27 Vergil hat den eingefügten Vers III 343 später in XII 440 wörtlich wiederholt. 28 s. 112. 29 Auch stilistisch klingt diese Stelle an die frühere an; vgl. quascumque abducite terras: I hoc sat erit (601f.).
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abgelegt (depositaformidine) - wird gemildert durch den besonderen Inhalt dieses Abschnittes. In den Versen v o r dem Halbvers hatte der von den Gefahrten Verlassene sein Schicksal und, wesentlich ausftihrlicher, die Menschenfresserei des Kyklopen und dessen Blendung erzählt, um mit der in den Halbvers auslaufenden dringenden Mahnung zur Flucht zu schließen:
sedfugite, o miseri, fugite atque ab litore funem rumpite. (639f.) In den folgenden, wie ich meine neu hinzugefügten bzw. überarbeiteten Versen begründet der Grieche seine Mahnung mit der Vielzahl (centum) anderer Kyklopen neben Polyphem. Erst hier hören wir aus s e i n e m Mund, daß es nicht nur e i n e n Kyklopen gibt. Auch hier fallt zum ersten Mal der Name 'Polyphem', während vorher nur der Gattungsnamen 'Cyclops' gebraucht wurde. Die große Zahl der Kyklopen gibt nun Achaemenides erneut Veranlassung, über seine eigenen Verhältnisse, sein entsetzliches Leben, das durch stetige Angst vor den Monstren bestimmt wurde, zu sprechen. Dies wiederum ist Voraussetzung dafür, daß der Unglückliche seine Rede mit dem bereits bekannten Motiv beenden kann, der Tod durch Feindeshand sei ihm lieber als durch die gens nefanda. Angesichts des homerischen Vorbildes ist freilich die Annahme kühn, Vergil habe ursprünglich nur von dem e i n e n Kyklopen Polyphem erzählen wollen; aber die Fortsetzung der Geschichte scheint ftir diese Vermutung zu sprechen. Denn obwohl Achaemenides zur überstürzten Flucht mit dem Hinweis auf die centum alii gedrängt hatte, tritt unmittelbar nach seinen Worten (vix eafatus erat, 655) wider Erwarten nur Polyphem auf, dem Vergil eine kurze, aber eindringliche Beschreibung widmet, die mit einem weiteren Halbvers (661) abbricht. Erst die vermutlich neue Fortsetzung (662ff.) stellt einen direkten Kontakt zwischen Polyphem und den Aeneaden her: der blinde Kyklop bemerkt die heimliche Abfahrt und nimmt die Verfolgung auf. Als er die Vergeblichkeit seiner Bemühungen einsieht, brüllt er laut auf. Dies ruft die anderen Kyklopen auf den Plan. Auch sie beschreibt Vergil nur kurz, ohne sie jedoch in die weitere Handlung einzubeziehen. Beide Halbverse (640 und 661) und die jeweils folgenden Einschübe bzw. Umarbeitungen sind nicht ganz unabhängig voneinander. Sie zeigen deutlich, wie der Dichter die ehemals einfachere Episode erweitert und dramatisiert hat. Spuren der Überarbeitung finden sich in der nicht ganz geglückten Motivwiederholung ('lieber Tod durch Feindeshand'), in der ein wenig wie angeklebt wirkenden, nachträglichen Exposition der übrigen Kyklopen und natürlich in den Halbversen, die an den entscheidenden Schnittstellen stehen. IV 44: Trotz seiner sonst unbekümmerten Spekulation kapituliert SPARROW bei diesem Halbvers: "There is no apparent reason why a hemistich should occur at this point" 30 • Aber schon ein flüchtiger Blick auf Annas Rede läßt erkennen, daß der Halbvers eine inhaltliche Zäsur kennzeichnet. 30
S. 39.
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HEINZE bemerkt zu der Rede unter der Rubrik "Vollständigkeit der Rede", daß Anna alle nur denkbaren Argumente für eine neue Ehe mit Aeneas aufführe ohne Rücksicht auf Didos Auffassungsgabe; vielmehr diene ihre Rede Vergil nur als Vorwand, um die Tat Didos möglichst erschöpfend psychologisch zu motivieren 31 • Auch hier muß man sich die Frage vorlegen, ob der Dichter sogleich bei der ersten Ausführung der Suasorie alle Motive in endgültiger Form behandelt hat. Vor allem der auf den Halbvers folgende Hinweis Annas darauf, daß es der Götter und Junos Wille gewesen sei, daß die Aeneaden nach Karthago kamen (45f.), unterliegt dem Verdacht, spät zu sein. Denn Anna ahnt gar nicht, welch verhängnisvolle Rolle Juno (und auch Venus) in Wirklichkeit spielt. Die tragische Ironie in Annas Munde setzt allerdings die voll entwickelte Götterhandlung von Buch I und II voraus: der von Juno inszenierte Seesturm, welcher die Aeneaden vernichten, nicht aber an Karthagos Strand werfen soll; das durch Juno ausgelöste mehrmalige Eingreifen der Venus und schließlich - n a c h Annas Rede - das verderbliche Komplott zwischen Juno und Venus, die einander nicht trauen. Der Einschub IV 45ff. kann mit dem nach Halbvers II 640 (u. S. 195ff.) verglichen werden, wo auch Anchises sich über den Götterwillen irrt. Für die späte Entstehung von IV 45ff. gibt es möglicherweise sogar stilistische Anhaltspunkte. Die Verse
dis equidem auspicibus reor et lunone secunda h u n c cursum I l i a c a s vento tenuisse c a r i n a s. (IV 45f.) berühren sich mit Didos Worten felix, heu nimiumfelix, si litora tantum numquam D a r d a n i a e tetigissent n o s t r a c a r i n a e. (IV 657f.) Beide Stellen sind schon auf Grund der scharfen inhaltlichen Antithese aufeinander bezogen 32 . Die stilistischen und motivischen Vorstufen zu IV 657 sind bekannt. Es handelt sich um die Worte der verlassenen Ariadne bei Catull utinam ne tempare prima (c. 64,171 f.) 33 , Gnasia Cecrapiae tetigissent litora puppes die Vergil schon zuvor in den Georgica hatte anklingen lassen: ceu pressae cum iam parturn tetigere carinae (G.1 ,303f.) 34 , puppibus et laeti nautae impasuere caranas. 31
s. 419.
32
Hinzu kommt eine flankierende Parallele:
quam tu urbem, soror, hanc cernes, quae surgere regna urbem praeclaram statui, mea moenia vidi 33 34
Vgl. auch Ap. Rh. 4,32f. (oiiOE G.l,304 = A.IV 418!
CTE
(IV 47) (IV 655) 1r6vros I ~EiVE &€ppcxwEv 1rplv KoAxwcx ')'cxicxv iK€a8cxt).
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und um 3 Eclogenverse, die unglückliche Liebe beklagen:
et fortunatam, si numquam armentafuissent, Pasiphaen ... (E.6,45-7) a, virgo infelix, quae te dementia cepit! Die virtuose Verschmelzung der Vorbilder würde IV 657f. die Priorität sichern, wenn der s t i I i s t i s c h e Bezug zwischen IV 658 und 46 außer allem Zweifel stünde. V 792: Venus wendet sich an Neptun um Hilfe für die Ihrigen, da Juno sie mit unversöhnlichem Zorn verfolge. Sie erinnert ihn an den Seesturm von Buch I: ipse mihi nuper Libycis tu testis in undis 790 quam molem subito excierit: maria omnia caelo miscuit Aeoliis nequiquamfreta procellis, in regnis hoc ausa tuis. per scelus ecce etiam Troianis marribus actis (789-94) exussit foede puppis et classe subegit ... Auch bei diesem Halbvers weiß SPARROW keinen Rat ("The passage seems to be finished in everything but metre" 35 ). Der Halbvers kann nicht, wie WALTER meint 36 , späte Zutat sein, weil Neptun darauf leicht vorwurfsvoll antwortet: Jas omne est, Cytherea, meis tefidere regnis (800). WALTER verschließt sich der besseren Einsicht ("wenn der Halbvers inhaltlich auch noch so gut in den Zusammenhang paßt") und hält den Halbvers für einen nachträglichen "Verbesserungsversuch" Vergils. Begründet wird dieser Unsinn mit einem "unbeweisbaren Eindruck". Freilich ist WALTER einzuräumen, daß es wirklich schwer vorstellbar ist, "Vergil habe während der Ausarbeitung dieser Stelle mitten in der Rede einen Vers unfertig gelassen, entweder weil ihm keine rechte Ergänzung eingefallen sei oder 'ne quid impetum moraretur"'. Die Möglichkeit, daß Vergil die folgenden Verse (Erwähnung des Schiffsbrandes) eingeschoben und zu diesem Zweck den alten Text an einer sinnvollen Stelle abgeschnitten hat, wird von WALTER gar nicht erwogen. Ob die Darstellung des Schiffsbrandes dem Buch V ursprünglich nicht angehörte, ist eine ebenso reizvolle wie schwierige Frage, bei der nicht übersehen werden darf, daß die Unterredung Venus - Neptun erhebliche entstehungsgeschichtliche Probleme aufwirft 37 •
VI 94: Die Sibylle weissagt Aeneas schreckliche Kriege, die den Troern auf italischem Boden bevorstehen; die Vorgänge um Troja werden sich gewissermaßen wiederholen (VI 83ff.). Den Höhepunkt, aber nicht Abschluß
"S. 39. S. 50f. Siehe o. S. 120 zum Halbvers V 815 und BERRES 1982, S. 250ff. zur Palinurusproblematik. 36 37
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ihrer Rede, bildet der Hinweis auf Lavinia, die, wie ehedem Helena, Ursache für solches Unglück sein wird:
95
causa mali tanti coniunx iterum hospita Teucris externique iterum Thalami. tune cede malis, sed contra audentior ito, quam tua te Fonuna sinet. via prima salutis (quod minime reris) Graia pandetur ab urbe."
(93-7)
Um nun Aeneas nicht vollends in die Verzweiflung zu treiben, fügt die Sibylle noch einen ermutigenden, wenn auch dunklen Hinweis auf Euander hinzu. Wenn man mit CONRADS die Verse 93f. als nachträglichen Einschub beurteile 8 , nimmt man Sibylles Rede den Höhepunkt. Es ist schwer vorstellbar, daß Vergil nicht sogleich beim ersten Entwurf der Rede die sich aufdrängende Gleichsetzung Lavinias mit Helena verwendet hätte. CONRADS begründet seine Ansicht u.a. mit dem zwar sehr schwachen, aber populären Argument, daß der Dichter bei der Vorlesung des 6. Buches39 Augustus keinen Halbvers hätte zumuten dürfen, und dem beachtlichen Argument, daß die Verse 93f. den in der zweiten Aeneishälfte öfter angestellten Vergleich von Lavinia mit Helena und vom italischen Krieg mit dem trojanischen vorbereiten sollten ("praestrueret"). Eine solche praestructio ist aber viel eher für die 3 folgenden Verse anzunehmen, da trotzdes Prosaplanes der Aeneis es als unwahrscheinlich gelten muß, daß Vergil bei Abfassung von VI die von der Tradition völlig abweichende Verwendung des Euander bereits in den entscheidenden Punkten festgelegt hätte. CONSTANS hatte wohl recht, als er im Halbvers VI 94 einen ursprünglich vollständigen Hexameter sah 40 • Vielleicht ist externique iterum thalami der alte Schluß von Sibylles Rede, da eine andere Prophezeiung an derselben Versstelle endet: externos optate duces (VIII 503). Während in VIII noch in demselben Vers die Auswirkung der prophetischen Mahnung dargestellt ist (turn Etrusca resedit I hoc acies campo, monitis exterrita divum, 503f.), wäre eine solche oder ähnliche Fortsetzung in VI nahezu unmöglich, weil hier nicht eine Konsequenz oder ein Ergebnis, sondern ein scharfer Gegensatz (tu ne cede malis ... ) folgt, der von selbst an den Versbeginn drängt.
VI 835: Schicksal auch dieses Halbverses war es, daß man ihn als Schluß eines Zusatzes aufgefaßt hat41 • NORDEN hielt ursprünglich die Verse 826-35 (Caesar und Pompejus als künftige Bürgerkriegsgegner) für unpassend an ihrer Stelle: der Diktator Caesar sei schon 789 erwähnt; 826-35 könne "schon deshalb nicht vor Augustus recitirt worden sein, weil
1863, S. 27; s. auch SPARROW S. 44 und WALTER S. 52f. Sueton-Donat-Vita § 32 (vgl. auch§ 27) und Servius zu VI861. 40 Siehe o. S. 112. 41 CoNRADS 1863, S. 27; NORDEN, Vergilstudien II. Einiges über die Aeneisausgabe des Varius, Hermes 28, 1893, S. 502-4; CARTAULT 1926, S. 484; WALTER 1933, S. 53. 38
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es doch eine allzu große Taktlosigkeit gewesen wäre, alle zu loben und nur Caesar zu tadeln"; weniger schwerwiegend sei "das von RIBBECK betonte Moment, daß nämlich v. 826-835 Caesar und Pompeius ganz unmotiviert zwischen Camillus und Mummius gestellt werden". Varius habe die Verse "beliebig irgendwo eingefligt". "Ohne Zweifel sollten in dem vervollständigten Vers 835 und in einigen weiteren die Heldenthaten der beiden gefeiert werden" 42 . NORDEN hat dann in seinem Kommentar diese willkürliche und chaotische Entstehungshypothese aufgegeben: "Daß diese Partie wegen des Halbverses, mit dem sie schließt (835), nachträglich eingefUgt sein müßte, ist ebenso unbeweisbar wie eine andre moderne Behauptung, daß Vergil ein solches Versfragment vor Augustus nicht rezitiert haben könne43 ••• Vollends zurückzuweisen ist die Ansicht, daß die Rezitation dieser Verse den Kaiser verletzt haben könnte wegen des von ihm selbst gegen Antonius geführten Bürgerkrieges ... " 44 • Doch wir müssen uns nicht mit dem Resultat "unbeweisbar" zufrieden geben, sondern wir dürfen, in Analogie zur Mehrzahl der Halbverse, die n a c h 835 folgenden Verse für sekundär ansehen. Auch dieser Halbvers läßt ebensowenig wie z.B. VI 94 eine metrische Vervollständigung zu, wenn man die ersten Worte des folgenden Versbeginns noch in die Lücke setzen wollte; man flihre sich nur einmal die von mir hergestellte Wortfolge vor Augen: proice tela manu, sanguis meus! - ille triumpho victor aget currum Capitolia ad alta ... VII 129: Der folgende Vers (130) hebt mit quare agite an. Da quare agite oder auch ergo agite bei Vergil grundsätzlich am Versanfang steht, konnte Vergil den Halbvers 129, als er die neuen Verse anfügte, nicht wieder zu einem vollständigen Hexameter machen. - SieheBERRES 1982, S. 225f. VII 439: Dem Halbvers geht die Traumszene voraus, in der Allecto, in Gestalt der greisen Junopriesterin Calybe, Turnus wegen Lavinia zum Krieg gegen die trojanischen Neuankömmlinge anstacheln will. Turnus aber lächelt ungläubig und weist ihre Rede zurück, indem er sich - welch tragische Ironie! - auf den Beistand der Juno beruft: ne tantos mihi finge metus; nec regia Iuna (438f.) immemor est nostri. SPARROW, darum bemüht, in dem Halbvers Zeichen von Unfertigkeit zu entdecken, behauptet entgegen dem Augenschein: "The bald nec ... nostri seems to be incomplete not only metrically: sense and rhythm also require elaboration "45 • Vielmehr ist alles tadellos, und die ungeheuerliche Schmähung, die Turnus folgen läßt: NORDEN (s. vorige Anm.). So z. B. CONRADS 1863, S. 27. NORDEN, Kommentar zu 826ff. 4' S. 35. Auch WALTER (S. 54) sieht in dem Ganzen nicht mehr als eine Skizze und meint, man wisse nicht recht, worauf ne ... metus (438) bezogen sei. Ebenso übt HEINZE (S. 188) nicht nachvollziehbare Kritik an den Versen und sieht in dem Halbvers ein Zeichen dafür, daß die Verse "nicht zum Abschluß gebracht" seien. 42
43
44
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(440), sed te victa situ verique e.ffeta senectus, ... ist meines Erachtens nachträglich eingefügt. Vermutlich reicht der Einschub bis 455, weil Calybe-Allecto Turnus' Worte höhnisch zitiert46 . Nun ist aber gerade das Ende dieses Einschubs (455) ein Halbvers: widerlegt das nicht meine Theorie, derzufolge späte Einlagen normalerweise n i c h t mit einem Halbvers enden? Im Gegenteil! Wäre nämlich der Halbvers 455 durch Ermattung des Dichters beim Einfügen von 440-55 entstanden, verstünde man nicht, wieso seine Schaffenskraft u n m i t t e I b a r v o r d e m E i n s c h u b 439 so nachließ, daß es zur Bildung eines Halbverses kam. Hier führt die Auffassung, daß Vergil Halbverse gedichtet habe, durch zwei scheinbar zusammenhängende Halbverse sich selbst ad absurdum. Vielmehr beginnt mit 456 eine neue Passage, die an einen früheren Einschub angehängt ist. Im Zuge dieser Überarbeitung konnte 455 nicht geopfert werden. Möglicherweise verrät auch das Wortmaterial von VII 440 (- 452) späte Entstehung. Denn die Formulierung (VII 440) sed te victa situ verique e.ffeta senectus ist nicht zu trennen von sed mihi tarda gelu saeclisque e.ffeta senectus invidet imperium seraeque adfortia vires. (Vill 508f.) Während in Vill Euander das Nachlassen seiner körperlichen Kräfte beklagt, wirft Turnus der vermeintlichen Calybe das Nachlassen ihrer geistigen vor. Von Hause aus ist natürlich die effeta senectus zunächst mit körperlichem Verfall verbunden. Die Übertragung auf den geistigen Bereich in VII (veri effeta) könnte sekundär sein. Gestützt wird diese Annahme durch anderweitige vergilische Formulierungen:
... sed enim gelidus tardante senecta sanguis hebet, frigentque effetae in corpore vires.
(V 395f.)47
und
... nec tarda senectus debilitat viris animi mutatque vigorem. Diese Stellen gehen vielleicht zurück auf Lukrez:
(IX 610f.)
ut verear ne tarda prius per membra senectus serpat et in nobis vitai claustra resolvat
40 47
(l ,414f.)
Siehe o. S. 120f. Vgl. auch:
dum melior viris sanguis dabar, aemula necdum temporibus geminis canebat sparsa senectus. ... rorpenr in.fractae ad proelia vires . . . . solidaeque suo stanr robore vires
(V 415f.) (IX 499) (II 639)
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Daß Vergil diese Lukrezstelle gekannt hat, steht außer Zweifel, da er in A.I 372-6 die Verse 1,412-8 anklingen läßt (s. die vorzügliche Bemerkung von CONINGTON zu A.l 375). Vlll 41: Ziemlich einmütig hat die Forschung die auf den Halbvers folgende Partie 42-49 a als sekundär erkannt und die alte Versfolge rekonstruiert (s. S. lllf.). Die herausgelösten Verse enthalten die Ankündigung des Sauprodigiums durch Tiberinus. Die Prophezeiung bzw. ihre Erfüllung soll dem Flußgott als Bestätigung seiner Rede dienen (42). Die äußerst komplizierte Verwendung des traditionellen Sauprodigiums, das "unvorbereitet und mit gezwungener Motivierung eintritt" (HEINZE"8), war wohl nicht in dem Prosaplan der Aeneis vorgesehen. Da das Eintreffen der Voraussage (Vill 81-5) auf den Versen 42-49 a beruht, muß auch dieses, das zudem noch den Verlauf der Erzählung etwas störend unterbricht, nachträglich eingeschoben sein. Die Ankündigung des Sauprodigiums in Buch ill, wo Helenus fast dieselben Worte wie Tiberinus gebraucht (ill 390-2 = vm 43-5), ist gegenüber vm sekundär49 •
VIII 536: Der Halbvers steht vor einem Redeschluß, an dem Aeneas einen triumphierenden Blick in die furchtbare Zukunft wirft: heu50 quantae miseris caedes Laurentibus instant! quas poenas mihi, Turne, dabis! quam multa sub undas scuta virum galeasque et fortia corpora volves, Thybri pater! poscant acies et foedera rumpant. " (537 -40) Nicola Terzaghi 51 hat zu diesen Versen das Entscheidende gesagt: 537ff. "sono un' aggiunta non necessaria52 nel momento, in cui vengono pronunziato, ed anticipano inaspettatamente Ia scena finale del poema, a cui allude Ia frase poscant acies ac foedera rumpant" 53 • TERZAGHI glaubt, die Verse
41
1915, S. 94.
Zum gesamten Komplex s. BERRES 1982, S. 189tf. ' 0 Zu heu s.o. S. 123. " Sulla composizione dell'VIII canto dell'Eneide, Atti del Quinto Congresso Nazianale di Studi Romani, Rom 1946, S. 3-11, wieder abgedruckt: Studia Graeca et Latina, Turin 1963, 49
S. 841-50. 52 Tatsächlich muß wohl die Rede, wie ihr Aufbau zeigt, mit dem Halbvers 536 ursprünglich zu Ende gegangen sein. Das Trompetenwunder hat Aeneas zur vollen Anerkennung seiner Pflicht gebracht: ego poscor Olympo (533). Die folgenden Worte:
hoc signum cecinit missuram diva creatrix, si bellum ingrueret, \blcaniaque armaper auras laturam auzilio.
(534-6)
dienen aber nicht als •Trost", der .. nur kurz erwähnt" werde (PöSCHL, Die Dichtkunst Virgils, Darmstadt 2 1964, S. 106), sondern erläutern dem staunenden Euander das Wunder und künden die göttlichen Waffen an, .,größte Ehre, die einem epischen Helden zuteil werden kann" {KUNGNER 1967, S. 536). Die anschließenden Verse heu quantae miseris caedes ... (537tf.) greifen aus Aeneas' Ankündigung einen Nebenzug (si bellum ingrueret) heraus und gewinnen dadurch eine relative Eigenständigkeit. " (1963) S. 845.
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seien erst dann geschrieben worden, "quando tutta Ia serie di episodi compresa in XII, 161-323, o, perdir meglio, in XII, 161-553 ... , era gia composta, o, per lo meno, gia precisamente delineata in tutti i particolari. Per questa via si intende l'esistenza dell'emistichio 536 ... " 54 • XI 391: Der Halbvers leitet denjenigen Teil von Turnus' großer Rede (378-444) ein, in dem er Drances' Aufforderung pulsus abi (366) scharf zurückweist mit Blick auf seine eigenen militärischen Erfolge55 • Listen wir die Taten des Turnus in der Reihenfolge der Verse auf und notieren dazu die jeweils entsprechenden Aeneisstellen: (a) 393f. . .. Iliaco tumidum ... crescere Thybrim sanguine Turnus hat die Prophezeiung der Sibylle: Thybrim multo spumantem sanguine cerno (VI 87) wahrgemacht. (b) 394f. . .. Euandri totam cum stirpe ... procubuisse domum atque exutos Arcadas armis. Pallas, Euanders Sohn, fand X 479ff. den Tod durch Turnus' Hand. (c) 396 ... Bitias et Pandarus ingens Bitias fallt IX 703ff., Pandarus IX 749ff. (735: Pandarus ingens). (d) 397f. et quos mille die victor sub Tanara misi, inclusus muris hostilique aggere saeptus. Turnus war aufgrundeines Versehens des Pandarus ins troische Lager eingedrungen (IX 722ff.) und hatte dort ein furchtbares Blutbad angerichtet. Mnestheus versuchte dann den Mut der Überrumpelten zu stärken, indem er an ihre Ehre appellierte: unus homo et vestris, o cives, undique saeptus aggeribus tantas strages impune per urbem ediderit? iuvenum primos tot miserit Orco? (IX 783- 5) Nur etwa 50 Verse weiter, zu Beginn von Buch X, faßt Venus diese tollkühne Tat des Turnus erneut zusammen: ... non clausa tegunt iam moenia Teucros: quin intra portas atque ipsis proelia miscent aggeribus murorum et inundant sanguine fossae. (X 22-4) 6 Die letzte Erwähnunt geschieht X 143f. ,. s.
846. " Siehe auch o. S. 117f. - Dieser Abschnitt der Thrnusrede (392ff.) nimmt mehrmals auf Drances' Worte Bezug (vgl. 392 - 366; 399 - 362; 406 - 348) und muß deswegen sehr wahrscheinlich auch nach ihnen geschrieben sein. 56 CONINGTON erwägt (zu XI 351), ob Drances XI 350f. (dum T/"oia temptat/ castra,fugae jidens) auf Thrnus' Rückzug aus dem troischen Lager IX 815 anspiele, nicht aber - wie die communis opinio will - auf seine Entftihrung aus dem Kampf X 636ff. Doch wird Drances kaum an den ruhmreichen Kampf des Helden im Feindeslager erinnern wollen (selbst bei gehässiger
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Turnus rekapituliert also in nur 7 Versen (XI 392-8) seine bedeutendsten Leistungen. Solche Zusammenfassungen nähren prinzipiell, wie ich oben S. 122 dargelegt habe, den Verdacht, daß sie einer Überarbeitungsschicht angehören. Doch wie sieht es in diesem Fall aus? Läßt sich nachweisen, daß die eine oder andere Tat des Turnus ursprünglich nicht Bestandteil der Aeneis war, also Turnus in einem früheren Zustand des Gedichtes gar nichts davon wissen konnte? (a) ist so allgemein gehalten, daß eine Entscheidung nicht möglich ist. Die Tötung des Pallas durch Turnus (b) gehört nicht zum ersten Aeneisplan; er fiel, soweit die Spuren erkennen lassen, durch andere Hand. Ich verweise auf frühere Andeutungen (1982, S. 170f.) und gehe hier dem Problem nicht weiter nach. (c) und (d) gehören zusammen, weil Pandarus wegen des Todes seines Bruders Bitias überstürzt das Tor schließt und versehentlich Turnus mit einschließt: Pandarus, ut Juso germanum corpore cernit . . . (IX 722) Unmittelbar vor dieser für den äußeren Handlungsablauf entscheidenden Stelle befindet sich der Halbvers IX 721! Ebenso gehört Venus' Klage über Turnus' Lagerkampf (X 22-4) einer Überarbeitung an, da der Halbvers X 17 vorausgeht! Die 3 Halbverse IX 721, X 17 und XI 391 haben also das gemeinsame Kennzeichen, daß nach ihnen Turnus' Eindringen ins Lager entweder vom Dichter geschildert oder von handelnden Personen (Venus und Turnus) in Reden erzählt wird. Auch der philologisch weniger Geschulte würde aus diesem Umstand den Schluß ziehen, daß alle 3 Stellen nachträglich in die Aeneis eingelegt sind und der Kampf des Turnus im gegnerischen Lager vom Dichter ehemals nicht vorgesehen war. Das Ende von Buch IX (722-818) sowie X 18ff. und XI 392ff. sind neu. Eine einzige weitere (s. Anm. 56) Erwähnung dieser Tat des Turnus finden wir am Ende einer Aufzählung der Verteidiger des troischen Lagers: adfuit et Mnestheus, quem pulsi pristina Turni aggere murorum sublimem gloria tollit, et Capys: hinc nomen Campanae ducitur urbi. (X 143-5) Die Person des Mnestheus scheint einfach mit Hilfe des bequemen adfuit et angehängt zu sein. Deutlich erkennbar ist das Bemühen des Dichters, den umgearbeiteten Schluß von Buch IX, der jetzt Turnus' Aristie enthält, mit den übrigen Aeneisbüchern zu verknüpfen und im Bewußtsein des Lesers wachzuhalten. Dies geschah jedoch nicht durch eine wirkliche Integrierung in die Aeneishandlung, sondern auf dem einfacheren und wohl auch einzig möglichen Wege gelegentlicher Erwähnungen. Entstellung der Fakten), die nach Flucht aussehende Entführung in X dann aber, derentwegen sich Turnus aus Furcht vor Schande das Leben nehmen wollte (668ff.), unerwähnt lassen. CONINGTONS Argument, daß Thrnus' Rückzug in IX mit einer Bestürmung des Lagers zusammenhänge, was ja zu Drances' Äußerung paßt, verkennt, daß Drances keine historisch zuverlässige Bestandsaufnahme, sondern eine Schmähung des Gegners beabsichtigt.
3. HALBVERSE INNERHALB ERZÄHLENDER PARTIEN Die metrischen Abbruchstellen dieser Halbversklasse ergeben folgendes Bild:
Von den 9 Belegen für Einschnitt bei der Penthemimeres gehören 2 (IV 503; IX 467) wohl nicht hierher, da sie vermutlich tibicines sind (Gruppe V5). Anders als die Halbverse innerhalb einer Rede (Übersicht o. S. 122) brechen diejenigen, die in einer Erzählung stehen, relativ häufig bei der Trithemimeres ab. Ein Grund dafür mag in einer etwas unterschiedlichen Handhabung des Enjambements liegen. Nur eine sowohl statistische als auch interpretierende Untersuchung aller Enjambements der Aeneis könnte hier vielleicht Klarheit bringen. I 560: Ursprünglich wurden in Buch I die gestrandeten Trojaner, wie gewisse Unstimmigkeiten der Handlung zeigen, freundlich von den Karthagern empfangen. Erst nach Fertigstellung wesentlicher Teile des Buches entschloß sich Vergil, das Motiv eines feindlichen Empfanges einzuführen, um Didos hohen Sinn und edle Menschlichkeit noch mehr zum Vorschein bringen zu können. Die nach dem Halbvers 560 einsetzende (~berarbeitete) Antwort Didos auf Ilioneus' Beschwerden ist Zeugnis für die Anderung der vergilischen Konzeption. Zum Halbvers und Buch I siehe meine Abhandlung 1982, S. 282-303. -Hinzufügen möchte ich hier eine Einzelbeobachtung: sowohl der Einleitungsvers der Didorede in I (561) als auch derjenige ihrer eingeschobenen Rede in IV (364)6 weisen das Wort profatur auf, das bei Vergil nur an diesen beiden Stellen vorkommt. I 636: Da Wortlaut und Sinn dieses Halbverses nicht ganz klar sind (munera laetitiamque dei oder dii), meint SPARROW, Vergil würde zweifellos die Schwierigkeiten dieser Zeile durch Änderung und Erweiterung beseitigt haben 8 • Doch sollte man im allgemeinen einen Überlieferungsschaden bzw. unser Unvermögen, die Wortform dii zu verstehen, nicht Vergil anlasten. WALTERS Annahme, der Halbvers sei später hinzugeftigt9 , bringt ebenfalls I 560; II 66.346.767; III 218; V 574; Vll 702; X 728. II 233.623; III 661; IV 503; V 322; IX I67.467.520.761. 3 I 636; III 470; IV 400.516; V 294.595; VII 760. 4 II 468; IX 721. 5 Siehe o. S. 103. ' Siehe o. S. 116. 7 Siehe z.B. NETILESlßP zur Stelle; WALTER 1933, S. 26f.; GEYMONAT im krit. App. 8 s. 31. 9 S. 27. 1
2
Exkurs: 3. Halbverse innerhalb erzählender Partien
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keine rechte Hilfe. Aber auch hier gibt ein Blick auf den folgenden Abschnitt, in dem die Zurüstung zum Mahle und die prachtvolle Ausstattung der Räumlichkeiten kurz beschrieben werden (637 -42), einen Hinweis auf die Genese des Halbverses: die für die Handlung nicht notwendige, in sich geschlossene Beschreibung, die sich eng an Catull (c. 64,43- 51) anlehnt 10 , könnte spätere Zutat sein 11 • An I 637-42 erinnert stark die ebenso für sich stehende, aber umfangreichere Schilderung des Latinuspalastes (VII 170-91) 12 •
II 66: Der Halbvers führt uns in die Sinonszene. Soeben haben die Troer einen unbekannten Mann aufgegriffen: undique visendi studio Troiana iuventus circum.fusa ruit certantque inludere capto. 65 accipe nunc Danaum insidias et crimine ab uno disce omnis. namque ut conspectu in medio turbatus, inermis ... (63 -7) Dieser Halbvers läßt sich nicht wie der eben besprochene I 636 isoliert aus dem Kontext entfernen, sondern zusammen mit ihm müßte auch der vorangehende Vers (65) herausgenommen und der Anschluß namque (67) geändert werden (z.B. in ille) 13 • SPARROW, der den Halbvers zu der Gruppe der "effective" zählt, erklärt ihn damit, daß Aeneas eine Pause mache, um das Eindrucksvolle des Folgenden zu erhöhen 14 • Diese Erklärung scheint mit nicht akzeptabel, weil ich von der begründeten und durch viele Einzelfälle gestützten Voraussetzung ausgehe, daß Vergil das Kunstmittel halber Verse nicht kannte 15 • Dann aber bleibt die Frage, warum Vergil hier ohne erkennbaren Grund einen Halbvers zuließ. Es wäre jedoch voreilig, SPARROWS Hinweis auf die (freilich eingeschränkte) Herauslösbarkeit von 65f. zu ignorieren. Die beiden Verse sind wirklich eine Interjektion, mit der Aeneas den Bericht über Sinon unterbricht, um so die Aufmerksamkeit der Hörer zu steigern. Sie können aber ihre Funktion nur dann richtig erfüllen, wenn sie an einer entscheidenden Stelle der Erzählung stehen. Es ist dies die Fuge zwischen der Aufgreifung Sinons, bei der er eine völlig passive Rolle spielt (57 -64), und seiner ersten Rede (67ff.), mit der er geschickt sein großes Lügengespinst vorbereitet. Die Interjektion dient also dazu, die Aufmerksamkeit auf das folgende, völlig unerwartete Verhalten des ja noch unbekannten Mannes zu richten. Da Vergils Überarbeitungen und Erweiterungen häufig eine Dramatisierung beabsichtigen, ist der Gedanke nicht abwegig, der Dichter habe die erste Aktion Sinons noch effektvoller gestalten wollen und sie deshalb durch eine neue ersetzt. 10 11
12 13 14
15
Auch VI 603-5 und X 137 klingen an diese Stelle an. Zum Verhältnis I 637 - II 486 s. BERRES 1982, S. 96 Anm. 28. Zu den vergilischen Beschreibungen s. HEINZE S. 396ff. Siehe SPARROW S. 42 Anm. 2. S. 42. Ähnlich schon WEIDNER zu II 65. Siehe o. S. 108.
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Exkurs: 3. Halbverse innerhalb erzählender Partien
Übrigens sind die engen inhaltlichen und stilistischen Berührungen der Sinonszene mit der Achaemenidesepisode in ill unverkennbar 16 • Die Ähnlichkeit hat sogar dazu geführt, daß in einigen Handschriften Vers ill 612 in den Text von ll als Vers 76 eingedrungen ist. Da auch die Achaemenidesepisode überarbeitet ist 17 , mag zwischen beiden Darstellungen ein wechselseitiges Geben und Nehmen geherrscht haben 18 •
ll233: ducendum ad sedes simulacrum orandaque divae numina conclamant. dividimus muros et moenia pandimus urbis ...
(232-4)
Eine ebenso einfache wie bestechende Argumentation für die Vermutung, daß der Halbvers selber Teil einer eingelegten Partie sei, lesen wir bei SPARROW 19 • Der Halbvers schließe die zweite von zwei herausnehmbaren Passagen (40-56; 199-233) ab, die die Laokoonepisode enthalten. Er sei ein hervorragendes Beispiel eines Halbverses, der das Ende eines gesondert gedichteten Kw"Aov markiere. Vers 234 sei, "as it stands", "weak" und könne ein tibicen sein, der zur selben Zeit wie 199-233 eingefügt sei und einen anderen oder mehr Verse verdrängt habe; auf der anderen Seite könne man, wenn 199-233 herausgelöst würden, 234 mit 198 verbinden, wobei sowohl 195-8 als auch 234 gegenseitigen Gewinn hätten. In der Tat gibt die Einbettung der beiden Laokoonszenen in den Kontext Rätsel auf. 20 Doch unabhängig von der Entstehungsfrage der Laokoonerzählung: kann nicht die großartige Darstellung, wie das Trojanische Pferd in die Stadt gebracht wird (234-49), eine ursprünglich viel schlichtere 16 MACKAIL, der die Parallelen zusammengetragen hat (Appendix B, S. 516f.), spricht sich ohne Begründung für Priorität von IIl aus. 17 Siehe o. S. 126f. und u. S. 144. 18 Siehe Anm. 16. - Priorität von II gegenüber III möchte ich für die Verse II 87 II1 595.614f. annehmen. Die enge Beziehung zwischen pauper in arma pater primis huc misit ab annis. (II 87) und et quondam patriis ad 'll'oiam missus in armis. (III 595) ist offensichtlich. Den genauen Hintergrund von IIl 595 erfahren wir aus Achaemenides' eigenem Mund:
. . . 'll'oiam genitore Adamasro paupere (mansissetque utinamfortuna!) profectus.
(111 614f.) Aber während Sinon ganz schlicht von der Armut seines Vaters spricht, wird in 111 mit dem Begriff der väterlichen paupertas gespielt: paupere als Enjambement einer Ablativkonstruktion, auf deren inhaltliche Bedeutung sogleich der raffinierte Ausruf mansissetque utinam fortuna anspielt. Dieser Ausruf lehnt sich wiederum stilistisch eng an den des Sinon an: fecissentque utinam (II II 0). Offensichtlich versucht der Dichter die Formulierung von II 87 manieristisch zu überbieten. Weniger wahrscheinlich ist es, daß 111 595 und das sehr aufwendig formulierte III 614f. in dem einfachen Vers II 87 zusammengeflossen wären. 19 S. 31; ähnlich WALTER S. 29f. 20 Siehe ZINTZEN, Die Laokoonepisode bei Vergil, Wiesbaden 1979, S. 8ff.
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Darstellung, die schon in 233 begonnen hätte, ersetzt haben? Mit dieser Vermutung wäre wenigstens die Entstehung des Halbverses erklärt, während SPARROW offenbar glaubt, Vergil höre am Ende von Einschüben plötzlich mitten im Vers auf. Wenn SPARROW in Vers 234 einen eingefügten tibicen argwöhnt, so kommt er meiner Halbverstheorie nahe, da auch ich nach dem Halbvers einen neugeschriebenen Abschnitt annehme. Jedoch ist 234 kein tibicen, weder flüchtig gearbeitet noch irgendwie sonst unvollkommen oder provisorisch. Vielleicht hat SPARROW an der Abundanz von muros und moenia Anstoß genommen; aber solche Doppelungen sind charakteristisch für Vergils Stil 21 (vgl.: ... ad muros et moenia Pallantea, IX 196 [letzter Vers von Nisus' Rede]). SPARROW selbst entzieht seiner Vermutung die Grundlage, indem er dem Vers 234, wenn man ihn nach Ausscheidung von 199-233 auf 198 folgen lasse, eine höhere Qualität zuspricht. Noch unglücklicher aber ist sein Einfall, den 'tibicen' 234 zur selben Zeit gedichtet sein zu lassen wie den Einschub 199-233. Denn das bedeutet nichts anderes, als daß nicht der Halbvers 233, sondern erst der nächste vollständige Vers 234 das Ende des mutmaßlichen Einschubes darstellen würde22 ! In jedem Fall geht SPARROW von der Voraussetzung aus, daß die Beschreibung der Einholung des Pferdes (mindestens ab 235) ursprünglich und v o r den beiden Laokoonszenen gedichtet sei. Dem widerspricht, daß die Worte (237) ... scandit fatalis machina muros auf die 1. Szene anzuspielen scheinen: aut haec in nostrosfabricata est machina muros (46) 23 Natürlich schließt eine solche Anspielung nicht notwendig die umgekehrte Reihenfolge der Entstehung aus. SPARROWS Erklärung des Halbverses ist an der Unwahrscheinlichkeit einiger Annahmen und an inneren Widersprüchen gescheitert. Einfacher gestalten sich die genetischen Verhältnisse meistens Siehe o. S. 52 und 58. Es ist übrigens durchaus nicht sicher, daß der Halbvers 233 die 2. Laokoonszene abschließt. Ebenso geeignet wäre auch 231 (232 könnte sehr gut Fortsetzung von 198 sein). 23 Vgl. auch 243 mit 52f. - Möglicherweise sind auch Wörter der 2. Szene in den Abschnitt 234ff. eingedrungen: 21
22
pedibusque (235) - sub pedibusque (227) Das am Versbeginn stehende sub pedibusque hat Vergil schon E.5,57 gebraucht (vgl. G.1 ,243 [möglicherweise auf Lucr. 3,27 zurückgehend]). Iapsus (236) - lapsu (225) Jeweils an derselben Versstelle. Iapsus bei Vergil sonst nur noch 3x: III 225; IV 524 und X 750. delubra (248) - delubra (225) delubrum kommt bei Vergil insgesamt 9x vor (davon in Buch 11 3x: außer 225 und 248 noch 410).
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Exkurs: 3. Halbverse innerhalb erzählender Partien
dann, wenn man mit Einschüben n a c h den Halbversen rechnet. Nur aufgrund dieser Annahme läßt sich die Beobachtung, daß die Partien nach Halbversen im allgemeinen auf diejenigen vor Halbversen anspielen bzw. sie sogar voraussetzen, mühelos verstehen. D 346: Der Halbvers schließt die erste Erwähnung des Coroebus ab, der sich aus wahnsinniger Liebe zu Cassandra den Troern zur Verfügung gestellt hat: 345 infelix, qui non sponsae praeceptafurentis audierit! quos ubi confertos audere in proelia vidi, (345-8) incipio super his: "iuvenes,fortissima.frustra ... Wenn AUSTIN in dem Halbvers ein Anzeichen dafür sieht, daß Vergil hier nicht mehr weitergewußt habe24 , SPARROW aber meint, der Halbvers bezeichne einen "Seufzer" 25 , so heben sich diese Erklärungen gegenseitig auf und verstellen den Blick für die schon von ZILLE gemachte Beobachtung, daß Halbverse immer dort stehen, "wo ein entscheidender Augenblick geschildert wird" 26 • Der Halbvers markiert die Fuge zwischen der Exposition des Coroebus (341-6?7, der zu einer Schar junger Männer gehört, die sich Aeneas angeschlossen hat, und der folgenden Rede des Aeneas (347ff.). Vermutlich ist nicht nur diese Rede eingelegt, sondern der ganze Abschnitt 347-6928 , ein "Gesamtgemälde", wie BüCHNER treffend sagt29 • Ein solches Bild, das mehr die verzweifelte Stimmung der zu hoffnungslosem Kampf Entschlossenen zeigen will und die eigentliche Handlung kaum fördert, könnte eher Resultat gereifter Überlegung als spontane Schöpfung des ersten Entwurfs sein. Daß Vergil zumindest mit der Rede des Aeneas ein Zusätzliches in den Text bringt, sagt er uns selber durch den Mund des
24 1964, zu 346. " S. 42. 26 ZILLE (s.o. S. 101 Anm. 10) S. 47. 27 Diese Verse werden 403ff. vorausgesetzt, sind also kaum sekundär. Zur Coroebushandlung s.o. S. 45f. 28 Möglicherweise lehnt sich die Formulierung
... nox atra cava circumvolat umbra.
(II 360)
an
sed nox atra caputtristi circumvolat umbra.
(VI866)
an. Dem mutmaßlichen (?) Vorbild Horaz
... seu mors atris circumvolat alis
(sat. 2, I ,58),
das vielleicht auf Ennius zurückgeht (s. WIGODSKY, Vergil and early Latin poetry, Hermes Einzelschrift 24, Wiesbaden 1972, S. 116 Anm. 567), steht VI 866 näher als II 360. (circumvolare ist nach Ausweis des Thes. I.L. zuerst bei Horaz, dann bei Vergil [II 360; 111 233; VI 866] belegt.) Die Herkunft von II 360 aus VI 866 könnte auch die gewiß nicht schöne Wiederholung von nox im nächsten Vers illius noctis erklären (s. AUSTIN zu 361). 29 1955, Sp. 330. BücHNER läßt allerdings .das Bild einer untergehenden Welt", wenn ich recht sehe, mit Vers 341 beginnen.
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Helden: incipio s u p er his (348). Wie auch immer man his verstehen will (wahrscheinlich ist dictis zu ergänzen 3 ~, super muß als Adverb im Sinne von insuper aufgefaßt werden, da die jungen Männer, wie Servius sagt (zu 348), "iam audebant; unde paulo post ait 'Juror additus' [355]". II 468 und 623: zu beiden Halbversen, die vor Vergleichen stehen, siehe u. S. 179ff. und BERRES 1982, S. 95ff. und 91ff. II 767: Erscheinung und Prophezeiung der Creusa (768 -95) stehen in Widerspruch zur Unkenntnis der Aeneaden über das Ziel ihrer Flucht in Buch m. Es ist dies die schlimmste crux der Aeneis. Das Problem kann nicht durch HEINZES Annahme gelöst werden, die Konzeption von Buch ill, "die allmähliche, stufenweis fortschreitende Aufhellung des Fahrtzieles", sei Vergil erst gekommen, "als ein großer Teil der Aeneis in der uns vorliegenden Form bereits geschrieben war" 31 • Vielmehr habe ich zeigen können, daß Vergil die Creusaerscheinung nachträglich in II - exakt nach dem Halbvers 767 32 ! - eingelegt hat. Um den Widerspruch zu ill so gering wie möglich zu halten, hat Vergil zugleich der Prophezeiung Creusas eine so große, ftir Aeneas unauflösbare Rätselhaftigkeit verliehen, daß die Aufhellung des Fahrtzieles in ill und vor allem die Penatenerscheinung als Ausdeutung gelten können und sollen 33 • Vergil verfolgt mit seinen Änderungen u.a. die zwei Ziele, das Gefüge der Aeneis durch Voraussagen dichter und kohärenter zu machen und den Buchschlüssen eine besondere Bedeutung zu geben 34 • Hier, am Ende von Buch II, tut Vergil sogar beides. Ja, er gab der eindrucksvollen Erscheinung Creusas später einen anderen, ergreifenden Schluß (788 -95) 35 • 111 21836 : Die metrische Lücke, die der Halbvers 'verursacht', befindet sich genau zwischen der Beschreibung der Harpyien und der Landung der Aeneaden auf der Strophadeninsel:
virginei volucrum vultus, foedissima ventris proluvies uncaeque manus et pallida semper orafame. huc ubi delati portus intravimus, ecce laeta boum passim campis armenta videmus ...
(216-20)
Siehe CONINGTON zur Stelle. 1915, S. 83 und 86. 32 Wenn Vergil den neuen Abschnitt stark betont mit quin etiam einleiten wollte, war ihm die metrische Vervollständigung des Halbverses verwehrt, da der Dichter quin etiam grundsätzlich am Versanfang gebraucht (0.2,269; 3,457; A.IV 309; VII 177.299.385; IX 799) und nur zweimal einem besonders gewichtigen Wort den Vortritt läßt (II 768: ausus; VIII 485: mortua). 33 Siehe BERRES 1982, S. 146ff. 34 Vergil hat z.B. das Ende von IX durch den großartigen Einfall, Turnus versehentlich ins feindliche Lager geraten zu lassen (o. S. 134f.), hervorgehoben. " Siehe o. S. 123. 36 Ausführliche Behandlung bei BERRES 1982, S. 212-39. 30 31
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Exkurs: 3. Halbverse innerhalb erzählender Partien
Da die Beschreibung (inclusive Halbvers) aus dem Text herausgelöst werden kann, hat man sie als Einschub angesehen. Doch dies empfiehlt sich nicht, weil die Verse 227-44 darauf anspielen und Vergil durch die Einfügung eine Ungeschicklichkeit begangen hätte. Denn die Harpyien leiden, wie noch der Halbvers sagt, unter furchtbarem Hunger, obwohl sie den Versen 219ff. zu folge über reiche Viehherden verfügen37 • Solche Herden sind dem Harpyienmythos von Hause aus fremd. Die Neuerung des Vergil ist nicht etwa versehentlich, willkürlich oder gar unerheblich, sondern die Voraussetzung dafür, daß die Trojaner sich an den scheinbar herrenlosen Tieren (nullo custode, 221) vergreifen können, was wiederum die Harpyien auf den Plan ruft und schließlich zur Prophezeiung des Tischprodigiums durch Celaeno führt. Bekanntlich aber beruft sich Aeneas beim Eintritt des Prodigiums in Buch VII auf eine Weissagung seines Vaters (genitor mihi talia namque I - nunc repeto - Anchises fatorum arcana reliquit ... , VII 122ff.). Die Diskrepanz zwischen m und VII läßt sich nicht durch Harmonisierung aufheben, selbst nicht mit der Technik KOLTOt ro utw7rwp.evoP38. Da nun grundsätzlich gilt, daß bei gravierenden Widersprüchen der Aeneis, wo die buchmäßig frühere Stelle zwar auf die spätere anspielt, die spätere aber nichts von der früheren weiß oder sogar mit ihr nicht recht vereinbar ist (wie beim Sauprodigium, Creusaprophezeiung, Palinurus3~, die frühere genetisch sekundär ist, muß wohl auch die Celaenoprophezeiung einer späteren Entstehungsphase angehören. Da Vergil die Ankündigung des Tischprodigiums in m erzählerisch sorgfältig vorbereitet und zu diesem Zweck das Novum des Besitzes an Herden in den Mythos einführt, sind wir genötigt, die Überarbeitung der ursprünglichen Szene mit Vers 219 beginnen zu Jassen; denn schon dort wird mit ecce auf die in den folgenden Versen erwähnten Herden hingewiesen. Davor steht der Halbvers 218! Eine Bestätigung für den Spätansatz des Tischprodigiums in ill liegt darin, daß die beiden Verse, mit denen Helenus auf die Drohung der Celaeno eingeht (ill 394f.), den Kontext etwas störend unterbrechen40 • 111 470" 1: Nicht nur Creusa verstößt mit der Nennung des Tibers
et terram Hesperiam venies, ubi Lydius arva (II 781f.) inter opima virum lenijluit agmine Thybris. gegen das Leitmotiv des 3. Buches, demzufolge das Fahrtziel nur schrittweise aufgeklärt wird, sondern auch Aeneas spricht - seltsamerweise im Irrfahrtenbuch selbst - vom Tiber, der in diesem Buch aber noch nicht genannt worden ist:
Siehe z.B. Servius zu 111 218 und HEINZE S. 113. Siehe HEINZE S. 91 Anm. 1 und BERRES S. 212ff. 19 Dazu gehört in gewisser Weise auch die Behandlung von Nisus und Euryalus in V und 1X. 40 Siehe BERRES S. 228. 41 Bereits ausführlich behandelt bei BERRES S. 157ff. 17 18
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si quando Thybrim vicinaque Thybridis arva intraro gentique meae data moenia cernam ... (lli 500f.) HEINZE, der um seine Hypothese der späten Entstehung von m bangte, nahm deshalb "ein Versehen des Dichters" an42 • Ein Versehen scheidet jedoch aus, weil Aeneas das fremde Glück des Helenus vobis parta quies: nullum maris aequor arandum (ill 495) vor dem Hintergrund der von Creusa angekündigten eigenen Leiden sieht: longa tibi e.xsilia et vastum maris aequor arandum (II 780) Vergil hat die Szene in ill bewußt hinkomponiert auf die in II. Wenn Creusas Prophezeiung später als m ist, müssen auch die auf sie bezugnehmenden Worte des Aeneas spät sein, können also m ursprünglich nicht angehört haben. Die Grenzen des Einschubs sind leicht zu bestimmen. Nach unten weisen der inhaltliche Zusammenhang und die Satzverknüpfung auf Vers 505 hin. Den ungefähren Beginn hatte schon HEINZE entdeckt43 • Fußend auf älteren Beobachtungen hielt er die Ansprache des Helenus an Anchises (472-81) für eingelegt. Helenus habe dem Anchises "nichts Wesentliches zu sagen"; Vergil habe Anchises "bei den ganzen lang ausgesponnenen Helenusszenen nicht völlig ignoriert" sehen wollen. HEINZE erwägt, ob eventuell schon 470f. eingefügt seien, "um eine Grundlage für das Folgende zu schaffen". In Wirklichkeit beginnt der Einschub mit 471, da 470 Halbvers ist"'. Der Vermutung HEINZES kommt um so höheres Gewicht zu, als er das Wesen der Halbverse völlig verkannt und sie im allgemeinen auch gar nicht beachtet hat. Trotz der nun feststehenden Grenzen des Einschubs (471 und 505) bleiben noch die Verse 482-91 ungeklärt45 • Sie enthalten den Auftritt Andromaches, mit ihren Geschenken an Ascanius und ihrer Rede. Diese kurze Szene ist die genaue Fortsetzung ihrer Begegnung mit Aeneas, bei der sie sich nach Ascanius erkundigt hatte. Diese Begegnung ist nach Ausweis der Halbverse 316 und 340 stark überarbeitet bzw. erweitert46 • Vor allem ist beiden Szenen gemeinsam, daß Andromache in Ascanius das Abbild ihres Astyanax sieht47 •
42 43 44
S. 88 Anm. I. S. 109 Anm. I. Mit dem verstümmelten Halbvers
addit equos, additque duces vgl. IX 394
audit equos, audit strepitus et signa sequenrum. Aeneas' Rede (492-505) muß wegen der Bezugnahme von 495 auf das späte II 780 im g a n z e n spät sein. 46 Siehe o. S. 123ff. 47 Oben S. 125. 45
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Fassen wir die bisherigen Ergebnisse zusammen, so sehen wir, daß der Abschnitt ill 471 -505 drei kleine Szenen (Ansprache des Helenus an Anchises; Abschied der Andromache von Ascanius; Abschiedsrede des Aeneas) enthält, von denen jede aus einem anderen Grunde dem ursprünglichen Bestand von m abgesprochen werden muß. Thre gemeinsame späte Entstehung ist also sehr wahrscheinlich, und das Rätsel des Halbverses 470 wäre somit gelöst. Da dieser in engem Zusammenhang mit den ganz ähnlich zu erklärenden ll 767, m 316 und 340 steht, ist das Halbversproblem der Aeneis grundsätzlich aufgehellt. ill 661: Der Halbvers wurde bereits zusammen mit ill 640 besprochen (o. S. 126f.) und seine Entstehung auf die Überarbeitung der Achaemenidesepisode zurückgeführt: Ziel der Änderung war eine Dramatisierung (Die Trojaner kommen mit Polyphem in gefährlichen Kontakt, 662ff.) und eine Erweiterung um die übrigen Kyklopen (64lff. und 675ff.). WALTERS Vermutung, der Halbvers 661 bilde gemeinsam mit dem vorhergehenden Vers einen Einschub und 662 schließe sich besser an 659 an48 , ist willkürlich. Vielmehr räumt SPARROW ein, daß der Halbvers das e i n z i g e Indiz für die mangelnde Vollendung der Passage sei49 • Ich sehe natürlich in dem Halbvers
. . . ea sola voluptas solamenque mali.
(660f.) einen ehemals vollständigen, nun seiner Fortsetzung beraubten Vers und vergleiche
. . . hoc decus illi hoc solamen50 erat, bellis hoc victor abibat .. .
(X 858f.) Wie weit nun der Einschub bzw. die Umarbeitung reicht, ist eine schwierige Frage. Vielleicht bis 691. Der Zusatz enthielte dann den einzigen Vergleich (679-81) von Buch m gegenüber den mehr als 100 Vergleichen der übrigen Aeneisbücher. Für den relativ großen Umfang der Einlage sprechen möglicherweise einige stilistische Beobachtungen. 682 (praecipitis metus acer agit) könnte gleichzeitig mit 666 (nos procul inde fugam trepidi celerare) geschrieben sein wegen der engen Nachbarschaft der mutmaßlichen 'Vorbilder' I 362 (aut metus acer 1 erat) und I 357 (tum celerare fugam). In derselben Weise scheinen auch m 678 (capita altaferentis) und 688 (vivo praetervehor ostia saxo) an zwei nahe beieinanderliegende Stellen von I anzuklingen: I 189 (capita altaferentis) und I 167 (vivoque sedilia saxo 52 ). Natürlich ist es auch denkbar, daß Vergil zu verschiedenen Zeiten Formulie-
41 S. 43. •• S. 39. so solamen begegnet bei Vergil nur noch X 493 ein drittes Mal. " Die Verbindung metus acer bei Vergil nur an diesen beiden Stellen. ' 2 Auch vivum saxum gebraucht Vergil nur an diesen beiden Stellen.
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rungen bestimmter früherer Passagen - bewußt oder unbewußt - wieder aufgriff. IV 400: Zum Halbvers, der vor einem Vergleich steht, siehe u. S. 183ff. und BERRES 1982, S. 84ff. und 165 Anm. 84 (unter 3.). IV 503: ergo iussa parat. Der Halbvers nimmt in mehrfacher Hinsicht eine Sonderstellung ein. Er sieht aus wie ein tibicen53 , ist syntaktisch selbständig und abtrennbar. Wenn er auch nicht überflüssig ist, so kann er doch aus dem Zusammenhang herausgelöst werden, ohne daß eine spürbare Lücke entstünde54 • Am meisten überrascht, daß diese 3 Worte des Halbverses eine komplette Szene darstellen bzw. skizzieren. Dido hat Anna mit der Errichtung des Scheiterhaufens beauftragt, und die Schwester führt den Befehl jetzt aus. Wegen der Singularität dieses Halbverses ist es methodisch fragwürdig, von ihm ausgehend irgendwelche Schlüsse zu ziehen. Vielmehr muß der Kontext auf Besonderheiten hin untersucht werden, die mit dem Halbvers in Verbindung stehen könnten. Schon früh fiel auf, 55 daß Dido, obwohl sie ihrer Schwester detaillierte Anweisungen für den Scheiterhaufen und seine Ausstattung gibt (494-8), dann doch zum Teil selbst aktiv wird (504ff.); nur der Scheiterhaufen selbst wird von Anna errichtet56 • Wenn CONINGTON diesen Umstand mit Vergils üblicher Sorge "for variety more than for apparent consistency" erklärt57 , so muß die Frage erlaubt sein, ob eine solche Variation in dem ursprünglichen Entwurf der ganzen Passage vorgesehen war. Darüber hinaus läßt sich erkennen, daß Vergil die Aktivität Annas geradezu zu einer Nebensache gemacht hat. Es heißt nur lapidar: ergo iussa parat (503). Die Errichtung des Holzstoßes wird in einem umfangreichen Ablativus absolutus - ohne Nennung der tätigen Person - berichtet und der Dido-Handlung subsumiert: at regina, pyra penetrali in sede sub auras erecta ingenti taedis atque ilice secta, intenditque locum sertis et ... (504-6) Ich wage die Vermutung, daß Vergil zu der Einsicht gelangt ist, daß eine d i r e k t e Beteiligung Didos an den Vorbereitungen zu ihrem eigenen Scheiterhaufen viel wirkungsvoller ist, und deshalb die Aktivität Annas auf ein Mindestmaß herabgedrückt hat. So konnte er einen allzu offenen Widerspruch vermeiden. Der Halbvers ist möglicherweise Relikt eines zuvor
"clearly a stop-gap" (SPARROW S. 33). W ALTER hält ihn für möglicherweise eingefügt (S. 46). " CoNINGTON zu IV 497. 56 Mit Recht wendet sich HEINZE gegen SABBADINIS überrogene These, daß Dido alle Aufträge selber ausführe, verharmlost aber dabei die Problematik (S. 141 Anm. 1). 57 Zu IV 497. 53 54
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Exkurs: 3. Halbverse innerhalb erzählender Partien
kompletten Hexameters58 oder ein tibicen, der durch eine etwas längere, aber poetisch nicht so sehr ins Gewicht fallende Beschreibung ersetzt werden sollte. Die Vermutung über die späte Entstehung von 504ff. erfährt eine wesentliche Stärkung, ja fast Bestätigung durch den nächsten Halbvers: IV 516: Nachdem Dido den Scheiterhaufen geschmückt und sogar ein Bildnis des Aeneas daraufgelegt hat (504-8), tritt die von ihr beauftragte (478ff.) massylische Priesterin mit mannigfaltigem Zauber in Aktion. Unter anderem heißt es von ihr: sparserat et latices simulatos fontis Averni falcibus et messae ad lunam quaeruntur ai!nis pubentes herbae nigri cum lacte veneni; 515 quaeritur et nascentis equi de fronte revulsus et matri praereptus amor. ipsa mola manibusque piis altaria iuxta .. . (512 -7) Mit dem Halbvers endet ihre Tätigkeit, und es beginnt wieder die Dido-Handlung (ipsa, 517). SPARROW mißversteht die Stilfigur et ... quaeruntur (513) - quaeritur et (515) als unschöne Wiederholung und ist deshalb geneigt, 515f. als Alternative für 513f. anzusehen 59 • Noch radikaler geht HEINZE vor: 512-6 scheine eingelegt60 , da quaeruntur und quaeritur ilicht in die Situation passe und ipsa (517) weit besser an 509-11 als an 513 -6 anschließe; Vergil habe die magischen Praktiken nachträglich vervollständigen wollen 61 • Doch die Argumentation ist nicht schlüssig. Zum Mißverständnis von quaerere siehe KLINGNER 1967, S. 454 Anm. 262 • ipsa steht nach 511 ebensogut wie nach 516, da an beiden Stellen die Priesterin in Aktion gezeigt wird (509 -11 in aktivischer, 513-6 in passivischer Formulierung). Auf einen Gegensatzamor (516) - ipsa (517) wird wohl niemand verfallen. Das Fehlen von 512-6 würde die Handlung der Priesterin, deren überragender Bedeutung Dido viele Verse gewidmet hat (480-91), auf ein poetisch unzulässiges Maß von nur 3 Versen (509-11) reduzieren. Da der Halbvers 516 den normalen, mit Enjambement verbundenen Typ darstellt, scheint der folgende Abschnitt 517-21 nachträglich angefügt. Vergil hatte ursprünglich keine Handlung der Dido am Scheiterhaufen
" Vergleiche
er iam iussajacir, ponunrquejerocia Poeni ...
(I 302)
Bemerkenswert ist die gedrängte Erzählweise des Abschnitts I 297-304 (dazu s. BERRES 1982, S. 288f.). 59 S. 33. 60 Ebenso W ALTER S. 46f. 61 S. 142 Anm. I. 62 Dort auch Kritik an einer törichten Versumstellung von EITREM.
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vorgesehen; denn auch Didos Rede (478-98) läßt keinen Gedanken an ihre persönliche Beteiligung aufkommen. Als sich Vergil entschloß, Dido eine bedeutendere Rolle zu geben, nahm er der Tätigkeit Annas fast alles Gewicht 63 , ließ aber die Handlung der Zauberin wohl weitgehend unangetastet, da deren magischer Ritus mit dem Tun der Dido nicht in Konflikt geraten konnte64 • Dann schob er nach den Stellen, an denen Anna und die Priesterin ihre Aufträge erfüllt hatten (also nach den Halbversen 503 und 516), die Didoverse ein. Beide Halbverse gehören offensichtlich ein und derselben Überarbeitung an. Die nicht seltene Verknüpfung mehrerer Halbverse hätte eigentlich schon längst zur Lösung des Problems führen müssen. Auch die beiden folgenden Halbverse bilden ein Paar. V 294: Bekanntlich hat Vergil das Schicksal von Nisus und Euryalus in IX in Anlehnung an das nichthomerische 10. Buch der Ilias, die sogenannte Dolonie, gestaltet. Da der unbekannte Verfasser die Dolonie im Hinblick auf die bereits fertige Ilias geschrieben hat, fehlen natürlich vorbereitende und auf die Dolonie hindeutende Partien. Anders bei Vergil: dem tragischen Ende des Freundespaares geht ein "Vorspiel" (HEINZE65 ) in V voraus. Man hat schon früh bemerkt, daß die beiden Freunde in IX ein zweites Mal eingeführt werden, als ob sie vorher nicht erwähnt worden wären66 • Umgekehrt aber weist die Charakterisierung von Nisus und Euryalus als Freundespaar in V (295f.) auf IX hin. Vermutlich wurde entweder die Teilnahme der Freunde am Wettlauf in V später als IX gedichtet67 , oder sie wurde nach Fertigstellung von III im Sinne von IX überarbeitet. Ein Blick auf die Textgestalt gibt die Antwort: Unmittelbar nach der ersten Nennung von Nisus und Euryalus bricht der Text im Vers (Halbvers 294) ab, auf den dann mit dem nächsten Vers eine kurze Charakterisierung folgt (295f.), die zu dem tragischen Geschehen in IX in Beziehung steht68 • Die Überarbeitung setzt also genau nach dem Halbvers ein69 • Mit diesem Halbvers hängt wohl der nächste, V 322, zusammen, der sich innerhalb der Darstellung des Wettlaufes befindet: V 32270 : Nicht nur die Vorstellung der Wettlaufteilnehmer ist im Hinblick auf IX überarbeitet (Halbvers V 294), sondern der Wettlauf selbst wurde von Vergil so gestaltet, daß das Verhalten der beiden Freunde Nisus und Euryalus ihrem Handeln in IX präludiert. Dies bedeutet - sofern meine
Siehe o. S. 145f. Dido lehnt ja im Grunde ihres Herzens das Zauberwesen ab (492f.) und bedient sich seiner mehr zur Täuschung. 65 S. 154. 66 CONRADS 1863, S. 8. 67 Wie CoNRADS meint (S. 23). 68 Siehe o. S. 112. •• Umfassend zu diesem Halbvers BERRES 1982, S. 169-76. 70 Siehe BERRES S. 176ff. 63
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These zutrifft -eine radikale Umarbeitung des Wettlaufs. Da nur die ersten 3 Sieger einen besonderen Preis erhalten sollen (308ff.), muß der Kampf um diese 3 Plätze natürlich sehr heftig sein. Vergil kompliziert nun den Wettlauf dadurch, daß Nisus, kurz bevor er als Sieger durch das Ziel gehen könnte, stürzt, dann aber, um seinem in dritter Position liegenden Freund Euryalus zum Sieg zu verhelfen, Salius, der bisher zweiter war, absichtlich zu Fall bringt. Auf diese Weise rücken alle Läufer, da die beiden ersten ausgeschieden sind, um 2 Plätze nach vorn, so daß nun auch die ehemaligen Positionen 4 und 5 besonders interessant werden. Genau an der Nahtstelle zwischen Position 3 und 4 setzt die vergilische Überarbeitung ein. Betrachten wir den Text: Nisus liegt in Führung; weit abgeschlagen, aber an zweiter Stelle folgt Salius: insequitur Salius; spatio post deinde relicto tertius Euryalus; Euryalumque Helymus sequitur; quo deinde sub ipso ecce volat calcemque terit iam calce Diores ... (321-4) Der Halbvers deutet darauf hin, daß Vergil den Beginn der Darstellung des Wettlaufs (315-22) unangetastet gelassen hat und die Reihenfolge Nisus, Salius und Euryalus die ursprüngliche ist. Durch Nisus' Sturz und seine zweifelhafte Methode, dem Freund zu helfen (als Präludium zu IX) mußte dann die Umarbeitung spätestens bei Position 4 (Helymus) beginnen71. Sofern man die Halbverse V 294 und 322 nicht als isolierte Fremdkörper (sie können aber nicht einfach entfernt werden), sondern in ihrem Textzusammenhang betrachtet und ihren genauen Ort nicht auf Zufall, vielmehr auf einen wirklichen Grund zurückführt, unterliegt das hier gewonnene Resultat keinem Zweifel. Doch eine Philologie, die sogar bei ihren höchsten Dingen (wie Vergil) willkürlichen Annahmen den Vorrang einräumf2 , wird sich diesem Ergebnis noch auf längere Zeit widersetzen müssen. V 574: Wir befinden uns mitten im Trojaspiel: 570 extremus formaque ante omnis puleher Iulus Sidonio est invectus equo, quem candida Dido esse sui dederat monimentum et pignus amoris. 73 cetera Trinacriis pubes senioris Acestae fertur equis. 575 excipiunt plausu pavidos gaudentque tuentes Dardanidae, veterumque agnoscunt ora parentum ... (570-6)
11 12 73
Die genaue Begründung bei BERRES S. 186. Beispiele dieser Art flir V 294 und 322 bei BERRES S. 173 und 176f. Zu 572 - 538 siehe BERRES S. 135tf.
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WALTER hält 573f. für eine "Randbemerkung" 74 . Mit eben derselben Willkür meint SPARROW: "573 -4 obviously need expansion "75 • Dagegen ist es eine auf die Sache gegründete Beobachtung, wenn CONINGTON, HENRY folgend, bemerkt, daß 575 auf
Trinacriae miratafremit Troiaeque iuventus.
(555)
zurückgeht und die dazwischenliegenden Verse (556-74) nur die Erscheinung der reitenden Jünglinge bei ihrem Einzug beschreiben, nichts aber von dem, was sie danach tun 76 • Natürlich darf man den Abschnitt 556-74 nicht als sekundär betrachten, weil nach seiner Entfernung die gleichlautenden Versschlüsse von 553 und 576 (ora parentum) fast direkt hintereinanderstünden. HENRYS Beobachtung läßt sich auch anders - in Übereinstimmung mit meiner Halbverstheorie - formulieren: Nach dem Einzug der lususTroiae- Teilnehmer und ihrem begeisterten Empfang (bis 555) gibt uns Vergil eine ausführliche Beschreibung des Anblicks (bis 574 [Halbvers]), um dann mit einem Neueinsatz, der nochmals den Jubel über das prächtige Bild zusammenfaßt, Bewegung in die jungen Reiter zu bringen und sie in spielerischer Aktion zu zeigen. So gewinnt die Reihenfolge bzw. der Aufbau der Darstellung Plausibilität und wird der mit 553-5 ein wenig konkurrierende Neueinsatz 575f. verständlich. Den Übergang von reiner Beschreibung zu dramatischer Darstellung 'mittels' eines Halbverses haben wir bereits bei dem Harpyienabenteuer (Halbvers ill 218 77) und der Achaemenidesepisode (Halbvers ill 661 78 ) beobachtet. Ebenso wie dort die Partien nach den Halbversen vermutlich sekundär sind, muß wohl auch hier dasselbe entstehungsgeschichtliche Verhältnis angenommen werden. fenur equis könnte durchaus Rest eines unverkürzten Hexameters sein, wie andere, mit denselben Worten beginnende Verse nahelegen79 • Die neue Fortsetzung (575ff.) treibt einen enormen stilistischen Aufwand, den wir auch sonst bisweilen bei später eingefügten Abschnitten finden. V 595 und VII 702: zu den Halbversen, die mit einem Vergleich zusammenhängen, siehe u. S. 185 Anm. 32.
VII 760: Der Halbvers schließt den Umbra-Abschnitt des Völkerkataloges ab; er ist das dritte Glied einer anaphorisch gebauten Apostrophe: te nemus Angitiae, vitrea te Fucinus unda, te liquidi jlevere lacus. (759f.) KÜHLMANNS Meinung, Vergil habe hier "auf die Versfüllung verzichtet, weil sich nach dem harmonischen Dreiklang des Klagemotivs nur noch 74
S. 49.
" S. 34. 76 Zu V 575. 77 Siehe o. S. 14lf. 78 Oben S. 144f. 79 G.l,514; A.I 476; XII 478 (vgl. auch XI 730).
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Stückwerk in den Rest der Zeile hätte einzwängen lassen" 80 , deckt sich zwar vollkommen mit der meinigen, läßt aber zugleich die Frage aufkommen, warum Vergil, da ihn doch niemand im Dichten behinderte, das Trikolon nicht so gestaltet hat, daß es mit dem Versende abschließen konnte81 • Meine Vermutung, daß auch dieser Halbvers ursprünglich komplett gewesen ist wie z.B. der sehr ähnliche Vers: te Stygii tremuere lacus, te ianitor Orci . . . (Vill 296), hilft nicht recht aus der Verlegenheit, weil der Grund für diese Verstümmelung hier einmal ausnahmsweise nicht erkennbar ist. Zwar liegt zwischen dem Halbvers und dem nächsten Vers (Beginn des VirbiusAbschnitts) eine tiefe Fuge und außerdem könnte Virbius als neue Katalogfigur keinesfalls im Schlußvers der vorangehenden eingeführt werden und so den Halbvers vervollständigen, aber Halbverse treten - meiner Theorie gemäß - nur dann auf, wenn der folgende neue Passus den vorangehenden alten in irgendeiner Weise fortsetzt. Diese Voraussetzung ist hier nur bedingt gegeben, weil die Virbiusgeschichte nicht eigentlich den UmbraAbschnitt fortführt. Man könnte also' zunächst, vom Halbvers VII 760 ausgehend, meine Halbverstheorie umstoßen wollen und in den Versen, die dem Halbvers vorausgehen, einen späten Zusatz sehen 82 . Dies würde aber im allgemeinen zu völlig unbefriedigenden Resultaten führen. Besser schon wäre die Annahme, Vergil habe beim Halbvers VII 760 ausnahmsweise einmal ein wunderschönes Trikolon mitten im Vers enden lassen und auf eine metrische Fortsetzung verzichtet. Der Halbvers wäre dann einzigartig. Aber ein Unbehagen bleibt. Denn dieser Halbvers vereinigt in exemplarischer Weise fast alle Eigenschaften der normalen Halbverstypen - und sollte dennoch ganz anders erklärt werden? Ich glaube, daß eine Lösung möglich ist, wenn auch nicht beweisbar. Man hat die Gesamtstruktur des vergilischen Völkerkataloges aufzuhellen versucht, ohne ein schlüssiges Ergebnis zu tinden 83 • Das einzige handgreifliche Resultat ist ebenso ernüchternd wie verblüffend: nimmt man die bedeutenden Führer aus dem Katalog heraus, erscheinen die übrigen Figuren in alphabetischer Reihenfolge84 : (Mezentius und Lausus) Clausus Virbius (Turnus) Aventinus Halaesus Catillus und Coras Oebalus (Camilla) Caeculus Ufens (Messapus) Umbro
° Katalog und Erzählung, Diss.
Freiburg i. Br. 1973, S. 223. Vgl. E.10,13-15; 1,38f.; A.VIII 296-300. 82 So vermutet z.B. WALTER in VII 756-60 eine nachträgliche Einfügung (S. 57). 83 KüHLMANN S. 187-91. 84 KÜID..MANN S. 190. - Der Schiffskatalog .in X ist zu kurz, als daß auch dort mit Sicherheit das Alphabet als Gliederungsprinzip erkannt werden könnte. 8
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Die eingeklammerten Namen der wichtigen Personen sind mit Ausnahme von Messapus auf eine leicht erkennbare Weise in den Gesamtkatalog eingebunden. Camilla fallt völlig aus dem Rahmen: sie, die einzige Frau unter den Helden, wird von Vergil besonders herausgehoben und dem Katalog deutlich an gefügt: hos s u p e r advenit Volsca de gente Camilla ... (803). Läßt man also Vergils Intention zufolge die Camillaverse für sich stehen, so bilden Mezentius und Turnus, die zwei furchtbarsten Erscheinungen, Anfang und Ende des Kataloges (s. KÜHLMANN S. 195, 226 und 233). Darüber hinaus verknüpft Vergil geschickt den Mezentius- und Turnus-Abschnitt miteinander, indem er im ersten den Sohn des Mezentius, Lausus, mit der Schlußfigur, Turnus, vergleicht.
Also stehen Umbro und Virbius nicht zufallig hintereinander. Dies bedeutet aber nicht, daß Vergil den Virbius- Abschnitt später als den des Umbro geschrieben haben muß. Überhaupt wird Vergil den Völkerkatalog nicht en bloc verfaßt haben, sondern zu verschiedenen Zeiten und nicht nur während der Arbeit an Buch Vll. Bester Beleg dafür ist der Ufens-Abschnitt (Vll 744-9), den Vergil in klarer Abhängigkeit von der Numanusepisode des 9. Buches (590ff.) geschrieben hat85 • Ein ziemlich zuverlässiges Kriterium für die Entstehungszeit einer Katalogfigur liefert die Art ihrer Verknüpfung mit den folgenden Büchern. Freilich ist dabei Vorsicht geboten, weil die Person ja bereits vor ihrer Behandlung im Katalog eine Rolle im Kampfgeschehen der zweiten Aeneishälfte gespielt haben kann und weil Vergil natürlich Katalogfiguren durch Einfügungen nachträglich auftreten lassen konnte. Ufens, dessen Katalogverse später als IX sind, tritt noch wenige Male in Erscheinung (Vill 6; Xll 460 [sein Tod]; Xll 641 [von Turnus erwähnt] 86). Aventinus, Oebalus und Virbius kommen außerhalb des Kataloges überhaupt nicht vor und gehören damit wahrscheinlich zu den spätesten Erfindungen Vergils. Die Brüder Catillus und Coras begegnen uns nur noch in Buch XI (465 und 604 [gemeinsam: et cum fratre Coras]; 640 [Catillus) 87 ). Da beide nicht in der Aeneis fallen, reichen diese Belege nicht aus, um ihr ursprüngliches Vorhandensein im Katalog und im Aeneisgeschehen behaupten zu können. Lausus, Caeculus, Clausus, Halaesus und Umbro erscheinen nur noch in Buch X. Lausus fällt aus dieser Reihe heraus, weil er eine bedeutende Rolle in X spielt und dort auch seinen Tod findd 8 • Von den übrigen stirbt nur Halaesus (X 4llff.). Clausus tritt einmal in X (345) auf, zusammen mit Halaesus (352) und Messapus (353f.). Dies ist die - am Katalog gemessen - 'richtige' alphabetische Reihenfolge. Halaesus und Messapus werden bei dieser Gelegenheit deutlich als Kata-
85 SieheBERRES S. 84-6. " Die Thrnusrede scheint ihrerseits eingelegt zu sein (s.u. S. 168tf.). - Ob der in X 518 genannte Ufens identisch ist mit der Katalogfigur, scheint mir fraglich. 87 XI 519 (Tiburtique manus) werden die Brüder nicht erwähnt, obwohl man sie sich als Anführer wohl hinzudenken muß. 88 Immerhin ist auffällig, daß Lausus in VIII und IX nicht erscheint, wohl aber sein Vater Mezentius.
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Iogfiguren charakterisiert89 • Auch Caeculus und Umbro, beide überlebend, obwohl Umbros Tod im Katalog vorausgesagt worden ist (VII 756ff.), treten nur einmal auf und zwar gemeinsam, wiederum als Personen des Katalogs gekennzeichnet (X 543f.)90 . Aus dieser Übersicht geht hervor, daß Vergil Randfiguren 91 zunächst im Katalog behandelt hat und sie erst dann, teilweise mit Anspielung auf den Katalog, an wenigen Stellen der Aeneis, möglichst gemeinsam in Erscheinung treten ließ. Dieses Verfahren bot sich von selbst an, wenn ein genetisch ziemlich später Katalog überhaupt noch in die Aeneis integriert werden sollte. Der Verdacht, daß das spärliche Auftreten der Randfiguren durch Überarbeitung oder Einschübe möglich gemacht worden ist, liegt sehr nahe. Während Umbro zu den Figuren gehört, die Vergil wenigstens noch ein einziges Mal außerhalb des Kataloges erwähnt hat, kommt Virbius sonst nicht mehr vor. Man darf deshalb von der Vermutung ausgehen, daß der Virbius-Abschnitt noch später als der des Umbro entstanden ist, da Vergil - trotz seines erkennbaren Bemühens, Personen des Kataloges mit dem Gang der Aeneis zu verknüpfen - Virbius nirgendwo mehr nennt. Aufgrund der alphabetischen Reihenfolge des Kataloges, die zumindest in der entstehungsgeschichtlichen Endphase als Ordnungsprinzip vorhanden gewesen sein muß, können wir mit einiger Wahrscheinlichkeit annehmen, daß die Virbiusgeschichte von vornherein für den Ort unmittelbar nach Umbro vorgesehen war. Dann wäre es denkbar, daß der ursprüngliche Schluß des Umbro-Abschnittes mit der neuen Darstellung des Virbius92 in (poetische?) Kollision geraten und deshalb eine Kürzung, die zu dem Halbvers führte, nötig geworden wäre. Leider muß diese Annahme ganz unsicher bleiben, aber eine bessere sehe ich nicht.
IX 167: Turnus belagert, Aeneas' Abwesenheit nutzend, das feindliche Lager. Abends ziehen, um den Belagerten keine Chance zu geben, Wachen auf: conlucent ignes, noctem custodia ducit insomnem ludo. haec super e vallo prospectant Troes et armis ... (166-8) "Die Nisusepisode [176ff.] unterbricht die Turnusaristie; ihretwegen führt uns 168 (haec, d.h. die Umzingelung der Mauern, prospectant Troes) ins Lager" (HEINZE93 ). Überdies sind die Verse 168-75 einer der Fälle, "in •• Vgl. accurrit Halaesus I Auruncaeque manus, X 352f. - Aurunci ... patres, VII 727 (die F o r m u I i e r u n g stammt aus VII 795: Auruncaeque manus); subit et Neptunia pro/es, I insignis Messapus equis, X 353f. - at Messapus, equum domitor, Neptunia pro/es, VII 691. 90 Vgl. VII 679 (Caeculus) und VII 758 (Umbro). 91 Möglicherweise auch die bedeutende Person des Mezentius (s.u. S. 156 Anm. 104). 92 Vergil hat dem Virbius- Abschnitt große Bedeutung beigemessen, da er ihn zum längsten des ganzen Kataloges gemacht hat. 93 S. 382.
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denen ein der Haupthandlung angehöriger Zug berichtet wird, der an seiner eigentlichen Stelle beiseite gelassen war: so die Anordnungen, die Aeneas beim Verlassen seines Lagers getroffen hat, IX 40.172: ihre eigentliche Stelle wäre Vill 80 gewesen, aber vielleicht dachte hier Virgil noch gar nicht an die Notwendigkeit solcher Anordnungen" (HEINZE94 ). HEINZES Vermutung trifft zu: IX 168-75 ist, wie der vorangehende Halbvers zeigt, später eingefiige5 • IX 467: Nisus und Euryalus sind auf ihrer nächtlichen Expedition durch Feindeshand gefallen. Am nächsten Morgen werden ihre Köpfe auf Lanzen gespießt: 465 quin ipsa arrectis (visu miserabile) in hastis praefigunt capita et multo clamore sequuntur Euryali et Nisi. Aeneadae duri murorum in parte sinistra opposuere aciem (nam dextera cingitur amni), 470 ingentisque tenent fossas et turribus altis stant maesti; simul ora virum praefixa movebant nota nimis miseris atroque jluentia tabo. (465 -72) Trotz einer singulären Besonderheit des Halbverses wollen wir uns zunächst mit den auf ihn folgenden Versen beschäftigen, die, wie so oft, auch hier den Schlüssel zum Verständnis des Halbverses liefern. HEINZE sieht mit Servius zu recht in den Versen 468-71 a96 "Proökonomie für den Rückzug des Turnus: es soll sich uns die Lage am Flusse einprägen" 97 • Die Parenthese nam dextera cingitur amni (469) weist auf den Moment hin, in dem Turnus, nach seinem Eindringen ins troische Lager schließlich hart bedrängt, sich allmählich zurückzieht: . . . Turnus paulatim excedere pugna et jluvium petere ac partem quae cingitur unda. (789f.) Der Sprung endlich in den Tiber (815f.) gelingt ihm natürlich nur deshalb, weil das troische Lager auf der Flußseite unbefestigt ist, wie aus unserer proökonomischen Stelle 468f. hervorgeht. Wie wir verschiedentlich beobachten konnten, zeichnen sich gerade vorbereitende Partien durch einen vorangehenden Halbvers aus. Also muß auch hier in den Versen 468-72 ein Einschub vermutet werden. Aus der Vermutung wird Gewißheit, da Turnus' Eindringen ins feindliche Lager und damit auch sein rettender Sprung in den Fluß ursprünglich Buch IX nicht angehört haben 98 • Nicht weniger als 4 Halbverse zeugen von S. 392. Das HEINZE-Zitat steht in dem Abschnitt 'Nachträgliches'. - SPARROW fragt vorsichtig, ob 168-75 "a separately composed Kw'Aov" sei (S. 40). 96 Untrennbar davon sind jedoch der Rest des Verses und die folgende Zeile (472). 97 s. 352. 98 Siehe o. S. 134f. und u. S. 157. 94
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dieser umfangreichen Umarbeitung: IX 467.721; X 1799 ; XI 391. Der Grund dafür, daß man den offensichtlichen Zusammenhang dieser Halbverse vollkommen übersehen hat, liegt darin, daß einerseits die großen Vergilforscher wie z.B. HEINZE, NORDEN, KLINGNER, BÜCHNER und PöSCHL den Halbversen keine oder nur geringe Aufmerksamkeit schenkten, andererseits den übrigen Gelehrten, die ihre Blicke mehr auf Einzelheiten, also auch auf die Halbverse richteten, der Überblick über die Riesenkomposition der Aeneis jedoch fehlte. Die oben erwähnte Besonderheit des Halbverses IX 467 (Euryali et Nisi) hat CONINGTON treffend beschrieben: 'Multo clamore secuntur' seems tobe a parenthetical clause, as if it had been "multo clamore secuti", 'capita' going only with 'praefigunt'. This, which is natural enough, has led to a suspicion of the integrity of the text, HEYNE and others thinking the hemistich v. 467 spurious. The names however are obviously wanted. 100 Ließe man den Schwachpunkt der Erklärung, daß die Anhindung der Namen an capita über den angeblich parenthetisch aufzufassenden Zwischensatz hinweg ganz natürlich sei, gelten, fände man meine Halbverstheorie bestätigt: dann hätte Vergil auch in diesem Fall den alten Text an der einzig möglichen Stelle gekappt, nämlich nach der unverzichtbaren Nennung der beiden Namen. Ich kann aber in dem von CONINGTON Vergil unterstellten Verfahren nur eine Unbeholfenheit, keinesfalls aber eine poetische Absicht des Dichters sehen. Der nachklappernde Halbvers gibt sich unschwer als Zusatz zu erkennen 101 • Damit ist der verbreiteten Vorstellung, Halbverse seien das Ende von Einschüben, ein schwerer Schlag versetzt. Denn der Halbvers IX 467 kann gerade n i c h t i n e i n e m Zug mit dem Vorhergehenden geschrieben worden sein, da sonst Vergil die von CONINGTON weginterpretierten Schwierigkeiten erst gar nicht hätte aufkommen lassen müssen. Ebensowenig wahrscheinlich aber ist es auch, daß Vergil die Namen ursprünglich versehentlich ausgelassen habe und später sein Versehen nur noch notdürftig habe korrigieren können. Diese Aporie läßt sich durch folgende Annahme lösen: als Vergil die (erwiesenermaßen späten) Verse 468-72 einlegen wollte, mußte er den vorangehenden Text an einer möglichst sinnvollen Stelle abschneiden. Dies tat er am Ende von Vers 466, der auf diese Weise unbeschädigt erhalten blieb. Die nicht recht befriedigende Hinzufügung der Namen im folgenden Vers (einem zweifelsfreien tibicen) konnte nur dann notwendig werden, wenn die alte, aber nun von Vergil geopferte Fortsetzung von Vers 466 ohne einen solchen erläuternden Zusatz ausgekommen war. Sehr wahrscheinlich folgte die unmittelbare Reaktion der Troer auf das grausige Bild der aufgespießten Köpfe. Und gerade die Stelle, an der die Darstellung des Geschehens von der feindlichen Seite auf die troische überwechselte, war Siehe u. S. 162. Zu IX 466. 101 So z.B. WALTER S. 59.
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geeignet, durch nachträgliche Proökonomie (Lage und Befestigung des troischen Lagers) den Rückzug des Turnus am Ende von IX vorzubereiten. Der seltsame Anschluß des Halbverses IX 467 102 beweist, daß Vergil bei Überarbeitungen soviel wie möglich von der alten Substanz retten wollte. Dieses Bemühen des Dichters war Grund ftir die Bildung der meisten Halbverse. IX 520: Auch hier hat HEINZE unabsichtlich zur Aufhellung des Halbverses beigetragen: "Die Bestürmung des Lagers in IX beginnt mit einer allgemeinen Schilderung (503-524), in der zunächst die großen Massen, Volsker, Troer, Rutuler als solche, dann andere Massen durch ihre Führer Mezentius und Messapus bezeichnet ohne weitere Detailschilderung auftreten. Die beiden letztgenannten leiten über zu Turnus, den die Anrufung der Musen (525-529) energisch in den Vordergrund rückt" 103 • Eine Auswertung und geringfügige Erweiterung von HEINZES Analyse des Abschnittes IX 503-24 läßt folgende Binnenstruktur erkennen: 503-20: Massenszenen 521-4: Wechsel der Darstellungsform (nur die Führer Mezentius und Messapus werden genannt) Wechsel des Schauplatzes (parte alia, 521) Funktion: Überleitung zwischen 503-20 und dem Turnus gewidmeten Musenanruf 525ff. Obwohl 503-24 e i n e Szene bilden, heben sich doch ihre beiden Teile in größter Deutlichkeit voneinander ab. Dieser durch Interpretation gewonnenen Gliederung entspricht die äußere TextgestalL Wir setzen hier das Ende des ersten Teiles samt dem vollständigen zweiten her: ... nec curant caeco contendere Marte amplius audaces Rutuli, sed pellere vallo 520 missilibus ·certant. parte alia horrendus visu quassabat Etruscam pinum et fumiferos infert Mezentius ignis; at Messapus equum domitor, Neptunia proles, reseindir vallum et scalas in moenia poscit. (518- 24) Der Schluß, daß 521-4 später hinzugefügt wurde, ist unvermeidlich. Auch läßt sich hier wie bei vielen anderen Halbversen deutlich erkennen,
102 Die Ähnlichkeit von IX 467 (Euryali et Nisz) mit den Halbversen V 294 (Nisus et Euryalus priml) und V 322 (tenius Euryalus) ist nur scheinbar, da die beiden letzteren keine provisorische
Ergänzung darstellen (s.o. S. 147f.). Dies sieht man leicht, wenn man versuchen wollte, beide Halbverse aus dem Kontext herauszunehmen. Selbst wenn dies vielleicht mit Überwindung erheblicher Schwierigkeiten gelingen sollte, würde man zu dem paradoxen Ergebnis gelangen, daß nicht nur die Verse nach, sondern auch vor dem Halbvers V 322 sekundär wären (schon wegen der Nennung des Nisus in 318, der ja dann aufgrund des angeblichen Zusatzes 294 erst nachträglich von Vergil in die Liste der Läufer aufgenommen worden wäre). 103 S. 221.
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daß nicht etwa der mit einem Halbvers endende Abschnitt sekundär ist, sondern der auf ihn folgende. Denn es wäre abwegig, wenn Vergil zuerst das Geschehen auf einer a n d e r e n Seite (parte a l i a, 521) und später dasjenige davor, zu dem parte alia in Gegensatz steht, beschrieben hätte. Übrigens nährt auch das Auftreten des Mezentius in 521f. den Verdacht, daß 521-4 eingeschoben istl 04 • IX 721:
720
hic Mars armipotens animum virisque Latinis addidit et stimulos acris sub pectore vertit, immisitque Fugam Teucris atrumque Timorem. undique conveniunt, quoniam data copia pugnae bellatorque animo deus incidit. Pandarus ut Juso germanum corpore cernit . . .
(717-22) hält die Erwähnung des Kriegsgottes (721) nach den Versen 717-9 für "awkward" und vielleicht nicht ganz in Übereinstimmung mit ihnen. Es sei einer der wenigen Fälle, wo ein Halbvers auf mangelnde Vollendung deute 105 • CONINGTON verkennt die poetische Gestalt des kurzen Abschnitts 717-21. Vergil versucht das Wirken des Kriegsgottes mit unterschiedlichen Ausdrücken darzustellen. Er wählt dazu das Stilmittel der Abundanz: animum - viris (717) hic Mars ... I addidit (717f.) - et stimulos ... vertit (718) Fugam - Timorem (719) Mars armipotens (717) - bellator ... deus (721) 106 CONINGTON
104 Der im Völkerkatalog zum erstenmal und sogar an erster Stelle genannte Mezentius (VII 647-54) erscheint als handelnde Person in den Büchern VIII und IX, sieht man davon· ab, daß Euander zweimal von ihm s p r i c h t (VIII 481ff. [dazu s.u. S. 165ff.] und 569ff.), nur dreimal (VIII 7; IX 521f. und 586-9). In VIII 7 tritt er, durch contemptorque deum als Katalogfigur gekennzeichnet (siehe contemptor divum, VII 648), zusammen mit Messapus und Ufens auf (6). Da Ufens erst nach Buch IX in den Katalog aufgenommen worden ist (s.o. S. 151), legt seine Erwähnung zu Beginn von VIII nahe, daß der Eingang dieses Buches neu und damit auch die Erwähnung des Mezentius dort nicht ursprünglich ist. - In IX 581-9 tötet Mezentius den Sohn des Arcens mit der Schleuder. Diese Verse bilden den Schluß einer längeren Kampfszene (530ff.) und können ohne Hinterlassung einer spürbaren Lücke abgetrennt werden. Sie sind deshalb möglicherweise nachträglich angefügt. Wenn sich zeigen ließe, daß die Verse IX 583-5 von den ganz ähnlichen VII 762-4 des Virbius-Abschnittes, der vermutlich sehr spät ist (s.o. S. 152), abhängen, dürfte man Gewißheit in dieser Frage erlangen. Auf jeden Fall gibt das Auftreten des Mezentius an einer zweifelsfrei sekundären Stelle (IX 521f.) und an zwei weiteren (VIII lff. und IX 581-9), über deren späte Entstehung keine Sicherheit herrscht, Anlaß zu der Vermutung, daß Vergil auch den Mezentius, wie andere Figuren des Völkerkataloges, erst bei der Überarbeitung von bereits vorhandenen großen Partien der zweiten Aeneishälfte mit dem Geschehen verknüpft hat (s.o. S. 152). 10' Zu IX 721. 106 Schon die sorgfältige Variation in der Bezeichnung des Mars schließt WALTERS Vermutung aus, 720f. sei eine Dublette zu 717f. (1933, S. 60). Offensichtlich ist WALTER der terminus technicus 'Dublette' nicht geläufig; denn wie könnte 720f. jemals als Ersatz für 717f. gedient
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Zugleich vernachlässigt er die völlige Kompatibilität der gewählten Bilder. So schließen, strenggenommen, addidit und sub pectore vertit (718) einander aus. Fuga und Timor (719) stehen nicht auf derselben Stufe: Fuga ist eine der möglichen äußeren Folgen des im Innern wirkenden Timor. Daher rührt der leicht zeugmatische Gebrauch von immisit (719). Dem noch konkret vorstellbaren Mars armipotens (717) tritt die rein metaphorische Bezeichnung bellator deus (721) zur Seite. Vergil kam es nicht auf pedantisch genauen Ausgleich an, sondern allein auf die poetische Wirksamkeit. Der Abschnitt ist geprägt durch eine Blickrichtung, die von außen nach innen geht: vom addere zum sub pectore, von der Fuga zu ihrer inneren Entsprechung Timor (daher das üarepov 1rp6repov der beiden Gestalten), vom anschaulichen Mars armipotens zur Entfesselung der Kriegswut im Herzen (bellatorque animo deus incidit). Der Halbvers ist Resultat und Höhepunkt der Versfolge. Allein aus diesem Grund erweckt SPARROWS Vermutung, 720-1 sei "a marginal jotting" 107 , wenig Vertrauen. Sein Argument, daß das Subjekt zu undique conveniunt unklar sei, ist künstlicher Natur. Der Abschnitt 717-21 gilt der Kampfeswut und militärischen Überlegenheit der Italiker 108 , unterbrochen durch einen Vers, der - als Ergänzung - die Panik auf der Gegenseite zeigt (719). Ganz ungezwungen sind daher als Subjekt zu conveniunt alle Gegner der Trojaner zu denken. Doch wir sollten den Blick von diesen Versuchen, die mit Halbversen endenden Partien auf vielerlei Weise zu verdächtigen 109 , auf diejenigen Verse lenken, die nach dem Halbvers 721 stehen. Pandarus schafft dadurch, daß er Turnus versehentlich ins Lager einschließt, die Voraussetzung für dessen verheerendes Wüten (722ff.). Ebenso haben Partien nach 3 anderen Halbversen (IX 467; X 17; XI 391) Bezug auf diesen Vorgang: IX 468-72 (Proökonomie für Turnus' Rückzug aus dem Lager am Ende von IX); X 18ff. (Venus' Klage über Turnus' jüngsten Erfolg: sein Kampf im feindlichen Lager); XI 392ff. (Turnus' rühmender Hinweis auf die eigenen Taten, darunter die Tötung von Bitias und Pandarus und seinen Kampf im Lager). Die diesen 4 Halbversen v o r a n gehenden Abschnitte beziehen sich zwar auch auf die Kämpfe der zweiten Aeneishälfte (nichts anderes war ja zu
haben bzw. vorgesehen worden sein? 107 S. 36. 108 Er schließt sich organisch an Turnus' Aristie (6911f.) an, die mit einem gewaltigen Vergleich endet (710-6). 109 Es gibt keine 10 zusammenhängenden Vergilverse, die, besonders wenn sie von hoher Qualität sind, einer überrogenen und fehlgerichteten Kritik standhalten könnten.
Exkurs:
158
3.
Halbverse innerhalb erzählender Partien
erwarten), aber ohne jeden inneren Zusammenhang miteinander110 • Die fälligen Schlüsse überlasse ich dem Leser 111 • IX 761: Turnus, im Lager der Troer eingeschlossen, versäumt es, das Tor von innen aufzubrechen und seine Gefährten einzulassen. Dies hätte den Krieg entschieden: sed Juror ardentem caedisque insana cupido egit in adversos. (760-2) principio Phalerim et succiso poplite Gygen ... SPARROW verfällt zur Erklärung des Halbverses auf eine widersprüchliche Annahme: 760f. scheine provisorisch und sei nötig für den Kontext, der ansonsten einen vollständigen Eindruck mache 112 • Entbehrlich allerdings ist der Abschnitt 762-77, der auf den Halbvers folgt. Es handelt sich um eine geschlossene Szene, in der Turnus 12 Gegner tötet. Eine kurze prosopographische Untersuchung der Namen bringt weiteren Aufschluß. Phaleris, Gyges (762) und Halys (765) treten in der Aeneis nur hier auf. Da sie außerdem bei Homer nicht vorkommen, hat Vergil ihre Namen wohl willkürlich eingeführt. Phegeus (765): in V 263 wird ein Phegeus zusammen mit Sagaris genannt: beide sind Diener. CONINGTON hält die Figuren in V 263 für vergilische Erfindungen; möglicherweise seien sie identisch mit Sagaris (IX 575) und Phegeus (IX 765). Weil in Xll 371 aber noch ein anderer Phegeus von Turnus' Hand fällt, ist CONINGTONS Identifizierungsvorschlag wenig wahrscheinlich. Alcander, Halius, Noemon und Prytanis werden bei Vergil nur hier genannt. Ihre Quelle ist der Iliasvers:
110 Vor IX 467: Turnus ruft zu den Waffen. Die Köpfe von Nisus und Euryalus werden auf Spieße gesteckt; vor IX 721: Aristie des Turnus. Mars gibt den Latinern das Übergewicht; vor X 17: Jupiter verbietet den Göttern, am Kampf teilzunehmen; vor XI 391: Turnus rechnet polemisch mit Drances ab. 111 Daß der Abschnitt IX 722tf. zumindest nach 691tf. geschrieben ist, ergibt sich aus einer Versabhängigkeit Anklänge an
... conlapsa ruunt immania membra, dar te/lus gemitum er c/ipeum super inronat ingens.
(708f.)
tinden wir bei . . . immania membra
(734)
fit sonus, ingemi concussa est pondere tellus; conlapsos anus ... sternit humi moriens
(752-4)
und
Da der Fall des Bitias (708f.) einen homerischen Formelvers ziemlich wortgetreu widerspiegelt: ooiili''IOfV o< 1rwwv, &.paß'laf Ii< niixf' fll'. aimjJ. (Ll. 504 u.a.), muß seine Abwandlung beim Tod des Bruders (752 -4) sekundär sein. 112
S. 41.
Exkurs: 3. Halbverse innerhalb erzählender Partien
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• A>.mvop6v 8' • A>.t6v TE No~ttov& TE Ilpvmv[v TE. (E 678), den der Dichter wörtlich übernommen hat. Lynceus (768): nur hier und nicht bei Homer (wohl natürlich bei Ap. Rh.); vermutlich erfunden. Amycus (772): der Name noch 4x in der Aeneis (I 221; V 373; X 704; XII 509). Die in V 373, X 704 und Xll 509 genannten Personen desselben Namens sind nicht miteinander identisch. Daß es sich bei I 221 und IX 772 um dieselbe Person handelt, ist wenig wahrscheinlich. Unschön ist, daß sowohl in IX 772 als auch Xll 509 ein Amycus von Turnus getötet wird. Der Name Amycus findet sich bei Homer nicht. Clytius (774): der Name außerdem X 129.325; XI 666. Der Clytius von X 129 ist vielleicht identisch mit dem von XI 666. Clytius in IX 774 steht für sich allein. Der Name ist homerisch. Cretheus (774/5): ein anderer Cretheus (Xll 538) fallt durch Turnus. Die Anregung zu dem Aeoliden Clytius (IX 774) und zu Cretheus (IX 774/5) erhielt Vergil durch }.. 237: l{p1J81jo~ ... Aio>.[oao. Die Beobachtungen führen zu dem Ergebnis, daß von den 12 Namen in IX 762-77 allein 8 nur hier in der Aeneis vorkommen113 , 2 weitere nicht mit Namen an anderen Stellen identifiziert werden dürfen 114 , die restlichen 2 nur mit größter Vorsicht115 • 5 Namen und 1 Patronymikon sind mit Sicherheit aus Homer entlehnt 116 ; zu 3 von ihnen fehlt bei Homer und Ap. Rh. eine Entsprechung 117 • Das so gewonnene Resultat erlaubt den ziemlich sicheren Schluß, daß Vergil s ä m t I i c h e Namen nur für diese Stelle geschaffen hat, wobei er einen Teil aus literarischen Vorlagen entnahm und zugleich - versehentlich? - Namenüberschneidungen zuließ. Die Verse IX 762-77 sind also ein in sich geschlossener und für sich stehender Abschnitt. Er soll Turnus' Wüten im Lager (760f.) mit konkreten Details veranschaulichen. Die besonderen Verhältnisse dieser Partie (keine erkennbare Verknüpfung der von Turnus getöteten Gegner mit dem übrigen Epos) b e w e i s e n zwar nicht sekundäre Entstehung, zeigen aber wohl, daß die Voraussetzungen für eine bequeme Einschaltung gegeben waren, ohne daß Änderungen an anderen Stellen nötig wurden. Denn Vergil hat die 12 Personen nur ins Leben gerufen, um sie sogleich sterben zu lassen. Der Halbvers 761 gibt uns die Gewißheit, daß die Verse 762-77 auch tatsächlich eingeschoben sind. Eine sekundäre Vervollständigung des ursprünglich kompletten Halbverses 761 hat Vergil deshalb nicht vorgenommen, weil der mit principio
113
Phaleris, Gyges (762); Halys (765); Alcander, Halius, Noemon, Prytanis (767); Lynceus
(768). Clytius (774); Cretheus (774/5). Phegeus (765); Amycus (772). '" Alcander, Halius, Noemon, Prytanis (767); Cretheus (774/5); Aeolides (774). 117 Phaleris, Gyges (762); Halys (765).
114 115
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Exkurs: 3. Halbverse innerhalb erzählender Partien
beginnende Abschnitt ganz neu einsetzt. Adverbial gebrauchtes principio steht bei Vergil im allgemeinen an erster Stelle des Verses und des Satzes. Ausnahmen: V 109 (zweite Stelle im Vers) und VII 342 (zwar Versanfang, aber mitten im Satz). X 728: Der Halbvers hängt mit einem Vergleich zusammen (siehe u. S. 185 Anm. 32).
4. HALBVERSE VOR EINER REDE Von den 7 Halbversen, die einer Rede unmittelbar vorausgehen (4. Klasse'), gehören nicht weniger als 52 der Gruppe V 3 an, deren 9 Halbverse möglicherweise tibicines sind. Diese Übereinstimmung erklärt sich zum größten Teil daher, daß ich für die Konstituierung von Gruppe V keine Kriterien genannt habe und die 4. Klasse bereits berücksichtigt hatte4 • Hinzu kommt die Heterogenität der 4. Klasse: genaugenommen stellen die Halbverse ill 527 und X 490 überhaupt keine redeeinleitende Floskel dar. ill 527 und X 17 stehen im Enjambement. X 490 weist eine für Halbverse singuläre syntaktische Verbindung mit dem folJ~enden Vers auf. XII 631 ist zwar Redeeinleitung, zugleich aber auch Uberleitung von einer vorangehenden Rede. Die 4. Klasse ist also eine Mischklasse, deren Halbverse möglicherweise unterschiedliche Erklärungen verlangen. Eine metrische Analyse wäre deshalb ohne Wert. Dennoch gibt die Tatsache, daß die Halbverse dieser Klasse irgendwie mit Redeanfängen in Verbindung stehen, Anlaß zu einigen Vorüberlegungen. Wollte Vergil eine vorhandene Rede oder zumindest deren Anfang überarbeiten, konnte er im allgemeinen die Redeeinleitungsfloskel unangetastet lassen. Wenn diese Floskel ursprünglich im Hexameterinnern endete und die alte Rede bereits im selben Hexameter begonnen hatte, war die Voraussetzung ftir die Entstehung eines Halbverses gegeben. Ganz anders stellen sich die Verhältnisse dar, wenn Vergil den Abschnitt unmittelbar v o r einer Rede überarbeitet haben sollte. In diesem Falle konnte die alte Redeeinleitung, die ja zugleich das Ende dieses nunmehr verworfenen Abschnittes bildete, unbrauchbar werden. Zur Behebung dieser Anschlußschwierigkeit gab es für Vergil prinzipiell nur 3 Möglichkeiten: (a) (b) (c)
Schaffung einer neuen Einleitung, die die metrische Lücke ausfüllte; Änderung des Redeanfanges, um Platz für die Einleitung zu gewinnen; Schaffung eines (evtl. künstlerisch minderwertigen) tibicen, der nur einen Teil des Hexameters ausfüllte und somit zur Bildung eines provisorischen Halbverses führte.
Da Möglichkeit (a) per definitionem keinen Halbvers nach sich zieht, kann sie hier außer Betracht bleiben. Fall (b) dürfte nicht in Frage kommen, weil Vergil kaum seine sorgfaltigen Redeanfänge einer redeeinleitenden Floskel geopfert hätte. Das Verfahren (c) läßt sich am Beispiel von Halbvers
' Siehe o. S. 113. VIII 469; IX 295; X 490.580; XII 631. 3 Oben S. 103. 4 Eine vorschnelle Identifizierung von Gruppe V mit der 4. Klasse wäre also eine petitio principii. 2
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Exkurs: 4. Halbverse vor einer Rede
IX 295 mit Sicherheit nachweisen. Unglücklicherweise könnte (c), also spontane Neuschöpfung eines Halbverses, auch dann vorliegen, wenn die folgende Rede neu sein sollte und Vergil sich über die genaue Formulierung der Redeeinleitung noch nicht im klaren war. Die Unterscheidung eines tibicen von einem durch Verstümmelung entstandenen Halbvers ist nicht leicht, da beide metrisch und sprachlich einwandfrei sind und sich flir fast alle potentiellen tibicines genaue Parallelen finden lassen (o. S. 105f.). Wegen dieser besonderen Schwierigkeiten behandle ich die Halbverse der 4. Klasse in geänderter, pragmatischer Reihenfolge. Die gefundenen Erklärungen müssen teilweise unsicher bleiben. X 17: Diesen Halbvers reiht SPARROW in eine Gruppe ein, die exakt meiner 4. Klasse und der nur aus V 653 bestehenden 5. Klasse entspricht5 • Für alle 8 Halbverse, die doch teilweise recht unterschiedlich sind, nimmt er denselben Entstehungsgrund an: Vergil habe weder einen Formelvers, wie Homer (rov ö' a7rcxp.ELß6p.evoc;), gebrauchen, noch sich aufhalten und eine neue Variation ausarbeiten wollen; deshalb habe er sich mit einem provisorischen Halbvers beholfen 6 • Die Schwäche dieser durchaus plausiblen Erklärung liegt darin, daß SPARROW sie nicht an den 8 Halbversen überprüft. Auf Halbvers X 17 kann sie sogar nicht einmal vermutungsweise angewandt werden: luppiter haec paucis; at non Venus aurea contra (16f.) pauca refert: Trotz der Wahl einfacher Wörter ist die Überleitung von Jupiters kurzer Rede (6 -15) zur langen Klage der Venus (18 -62) perfekt stilisiert und in vergilischer Antithetik gebaut. Man vergleiche nur die strukturell gleichartigen Überleitungsverse:
sie Venus et Veneris contra sie filius orsus: (I 325) (VI 372) talia fatus erat coepit cum talia vates: sie luppiter orsus; sie dea summisso contra Saturnia vultu: (XII 806f.f Der Halbvers X 17 ist kein tibicen, sondern Rest des alten Textes. Die folgende Klage der Venus berührt ein Thema, das der Aeneis ursprünglich fremd war: den Kampf des Turnus im feindlichen Lager (Ende IX). Noch 3 weitere Halbverse verdanken diesem Umstand ihre Existenz: IX 467 (s.o. S. 153ff.); IX 721 (S. 156ff.); XI 391 (S. 134f.). Der Anfang von Venus' Rede ist daher - mit Sicherheit - überarbeitet bzw. durch einen neuen ersetzt worden. 'S. 37f. S. 37. Warum verdächtigt SPARROW dagegen nicht die viel einfacheren Wendungen randem pauca refen (IV 333) und rum sie pauca rejen (VIII !54) als Provisorien? Etwa weil sie keine Halbverse sind und deshalb ihm das erkenntnisleitende Interesse fehlt? 6 7
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Exkurs: 4. Halbverse vor einer Rede
X 490: Pallas fällt durch Turnus' Hand:
corruit in vulnus (sonitum super arma dedere) et terram hostilem moriens petit ore cruento. 490 quem Turnus super adsistens: ,.Arcades, haec" inquit ,.memores mea dicta referte ... (488-91) Der Halbvers X 490 bildet, anders als X 17, kein Enjambement, ist also syntaktisch nicht mit dem Vorangehenden verbunden (auch nicht durch Inhaltsenjambement). Dennoch kann er nicht herausgelöst werden, da er im Gegensatz zu allen anderen Halbversen mit dem Folgenden verknüpft ist (Turnus ist Subjekt zu inquit [491]) 8 • Auch die Annahme, Vergil habe die zitierten Verse in einem Atemzug, aber unter Hinnahme eines Halbverses geschrieben, ist wenig wahrscheinlich9 ; denn die eigentliche Redeeinleitung inquit befindet sich bereits in einem vollständigen Hexameter und konnte daher nicht Ausgangspunkt für eine provisorische Notmaßnahme werden. Diskutabel ist nur die Alternative: Einschub bzw. Umarbeitung vor oder nach dem Halbvers (s.o. S. 161f.). Wenn die Partie vor X 490 neu wäre, so würde dies vermutlich nur wenige Verse betreffen, nicht aber den ganzen Kampf mit Pallas. Man könnte daran denken, daß Vergil die schönen Verse 486-9 erst nachträglich an die Stelle von früheren gesetzt habe 10 • Analog zu diesem Vorgang wäre die Übernahme von X 824 nach IX 294, wo diese Einfügung zum Halbvers IX 295, der eine Rede einleitet, geführt hat 11 • Wenn aber Verse bis X 489 überarbeitet bzw. neu hinzugesetzt sein sollten, erhebt sich die Frage, wieso der Halbvers 490, der in diesem Falle
8 Deutlich anders ist der Halbvers I 534 (hic cursus .fuil) gelagert. Zwar erstreckt sich auch bei ihm der syntaktische Zusammenhang über die metrische Lücke hinweg. Aber dies geschieht dadurch, daß sich ihm ein cum- Satz anschließt. X 490 hingegen hat eher proklitischen Charakter. Beide Halbverse sind also nicht eigentlich vergleichbar und erlauben deshalb keinen Analogieschluß. • Die syntaktische Struktur von X 490 ist nichts Ungewöhnliches bei Vergil; vgl.:
i/le do/um ridens .quo vincu/a nectitis?" inquit atque hic successu exsu/tans animisque Coroebus .o socii, qua prima • inquit Jonuna sa/utis ... hic victor superans animis tauroque superbus .nate dea, vosque haec" inquit .cognoscite, Teucri ... i/le humilis supp/ex ocu/os dextramque precantem protendens • equidem merui nec deprecor • inquit
(E.6,23) (A.II 386f.) (V 473f.)
(XII 930f.)
Außerdem sei auf die inhaltliche Nähe dieser Stellen zu X 490 hingewiesen. 10 So ist z. 8. X 484 in enger Anlehnung an Homer (.1. 504 u. a.): öoii7r11<1EV öl; 7rEuwv, Öip6.ß11<7E ölo TEVXE · f7r' otimj"
und die ennianische Übernahme (a. 415 V.):
concidit, et sonitum simul insuper anna dederunt gedichtet. Allerdings war der Annalenvers Vergil schon immer geläufig (G.3,83; A.ll 243; III 238; IX 709). 11 Siehe o. S. 104. Eine ähnliche Erscheinung auch bei Halbvers I 534 (o. S. 104).
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Exkurs: 4. Halbverse vor einer Rede
n a c h t r ä g I i c h eine provisorische Überleitung zur Rede herstellen mußte (durch den notwendigen Subjektswechsel von Pallas zu Turnus), 50 Verse später in 540 nachklingt 12 • Die andere Möglichkeit, daß die auf den Halbvers folgende Rede und Handlung des Turnus sekundär sind, verdient entschieden den Vorzug. Denn der Abschnitt 491ff., der die höhnische 13 Turnusrede und den Raub von Pallas' Wehrgehenk enthält, legt den Grund für den Todesstoß, den Turnus selbst von Aeneas am Ende der Aeneis empfangen muß: Aeneas wollte schon den am Boden liegenden Gegner schonen, als das Wehrgehenk des Pallas an Turnus' Schulter aufleuchtet und seinen Tod besiegelt (XII 940ff.). Auf dieses Schicksal weist der Dichter bereits unmittelbar nach dem Waffenraub im eigenen Namen - unter Durchbrechung der Erzählperspektive - hin (X 501-5). Da vorausweisende Fernbezüge in der Aeneis häufig sekundär 14 und bisweilen von vorangehenden Halbversen begleitet sind 15 , muß der Abschnitt X 491 bis etwa 509 als spät gelten. Der Halbvers stellt noch den letzten erkennbaren Rest der früheren Fassung dar.
III 527: Als die Aeneaden zum erstenmal von den Schiffen aus Italien erblicken, bricht Jubel unter ihnen aus: 525 turn pater Anchises magnurn cratera corona induit irnplevitque rnero, divosque vocavit stans prima 16 in puppi: "di maris et terrae ternpestaturnque potentes .. .
(525- 8)
Der Halbvers ist syntaktisch unselbständig (in die Konstruktion des vorangehenden Satzes einbezogen), aber abtrennbar. Obwohl er unmittelbar vor einer Rede steht, leitet nicht er diese ein, sondern vocavit im Vers zuvor. Die Entbehrlichkeit und Herauslösbarkeit des Halbverses darf aber nicht zu der Vermutung Anlaß geben, er sei von Vergil eingefügt. Denn welchen Zweck sollte ein solcher Zusatz haben? Vielmehr scheint auch hier Vergil den ursprünglichen Text mitten im Vers, am Ende einer syntaktischen Einheit, abgeschnitten zu haben, um eine Passage (bis etwa 547) anzuschließen, die die besondere Bedeutung dieses ersten Kontaktes mit der neuen Heimat hervorheben sollte. Auch in diesem Abschnitt findet sich ein V o r v e r w e i s auf die Kämpfe mit den Italikern und den endlichen Friedensschluß (537 -43). IX 295: Der Halbvers turn sie effatur ist dadurch entstanden, daß Vergilden vorhergehenden Vers fast wörtlich aus X 824 übernommen hatte und Siehe o. S. 105 Anm. 31. Zutreffend BüCHNER in der Beurteilung der Rede (1955, Sp. 392). 14 Die Ausrede, die Fernbezüge der Aeneis seien bereits in dem angeblich detaillierten Prosaplan der Aeneis vorgesehen gewesen, muß die groben Widersprüche der Aeneis natürlich hartnäckig leugnen (siehe meine Auseinandersetzung {1982, S. 252tf.] mit BUCHHEIT). 15 Siehe o. S. 107. 16 Die Lesart celsa ist vermutlich aus VIII 680 und X 261 (stans ce/sa in puppt} eingeschleppt worden (vgl. außerdem I 183; IV 554; XII 564). 12
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nunmehr eine neue Einleitung für die folgende Rede (296ff.) benötigte. Siehe o. S. 104; ausführliche Darstellung bei BERRES 1982, S. 35ff. Dieser Halbvers gehört somit zu den wenigen Fällen (I 534; V 653), bei denen der Nachweis gelingt, daß der v o r a n gehende Text eine Überarbeitung erfahren hat. Diese Halbverse sind syntaktisch selbständig, aber aus inhaltlichen Gründen unverzichtbar. Diese formalen Eigenschaften teilen auch die hier noch zu besprechenden Halbverse der 4. Klasse (Vill 469; X 580; XII 631). Allerdings muß vor Analogieschlüssen gewarnt werden. Entscheidend für die Beurteilung eines Halbverses bleibt die Analyse des Kontextes. Der Halbvers IX 295 tum sie effatur weist an sich selbst nicht das mindeste Merkmal dafür auf, daß er ein vorläufiges Verbindungsstück (tibicen) ist. Formal könnte er auch Rest eines alten kompletten Verses sein. Wenn die Forschung geneigt ist, in diesem Halbvers (wie auch in anderen, mit einem Halbvers einhergehenden Redeeinleitungen) den Verzicht des Dichters auf eine inhaltsleere bloße Vervollständigung eines Hexameters zu vermuten, so trifft das auf dieses Versbruchstück zwar zu; aber die eigentliche Ursache der Halbversbildung ist hier wie wohl überall sonst in einer vorgängigen Manipulation am Text {Überarbeitung oder Einschub völlig neuer Verse) zu suchen.
VIII 469: rex prior haec. Mit diesen Worten wird eine lange Rede des Euander eingeleitet. Formal müssen sie nicht als tibicen verdächtigt werden 17 , sie können auch Restbestand eines ehemals vollständigen Verses sein. Wir stehen hier vor der schwierigen Frage, ob die Verse davor (wie bei IX 295) oder, wie sonst üblich, danach sekundärer Natur sind 18 • Ich möchte mit großer Vorsicht in der Euanderrede, die mir aus inhaltlichen Gründen spät zu sein scheint, den Grund für den Halbvers erblicken. Diese Rede enthält eine kühne Änderung und Neukonstruktion der Tradition. Denn abweichend von den überlieferten Sagenformen, die den Mezentius erst sehr spät in die Kämpfe auf italischem Boden eintreten und nach Turnus' Tod fallen lassen 19 , gibt hier Vergil dem Etruskerfürsten schon früh eine bedeutende Rolle. Zugleich hebt Vergil die tradierte Verbindung des Mezentius mit seinen Untertanen auf, indem diese ihn wegen seiner Grausamkeit vertreiben20 • Der Tyrann entkommt zum Rutulerfürsten Turnus. Um nun ein Bündnis des Aeneas mit den Etruskern zu ermöglichen, erfindet Vergil den Spruch eines Haruspex, der die Etrusker, die die Auslieferung des Mezentius mit Krieg durchsetzen wollen, zurückhält, indem er sie auffordert, auf fremde Führer zu warten. Ihre Bitte nach Übernahme der Kriegsleitung lehnt Euander mit dem Hinweis auf sein Parallelmaterial o. S. I 05. Nicht mit letzter Sicherheit kann ausgeschlossen werden, daß Vergil die Verse vor und nach dem Halbvers in e i n e m Arbeitsgang geschrieben hat, also ganz gegen unsere sonstige Erfahrung ohne Not eine Redeeinleitung nur provisorisch konzipiert hat. 17 18
19 20
HEINZE S. 172f. HEINZE S. 214.
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Exkurs: 4. Halbverse vor einer Rede
Alter ab; auch bei seinem Sohn Pallas sieht er wegen dessen Abstammung von einer Sabellerin die geforderte Bedingung nicht erfüllt. So bietet sich denn Aeneas, der bei Euander um Hilfe nachsucht, als der ideale Führer und Verbündete der Etrusker an. Diese Klitterung der Tradition erlaubte es dem Dichter außerdem, eine bei Lykophron erwähnte Verbindung des Aeneas mit dem Etrusker Tarchon aufzugreifen21 • Es ist wenig wahrscheinlich, daß bereits in dem Prosaplan der Aeneis diese komplizierte Verknüpfung der Personen voll ausgebildet gewesen wäre. Vielmehr wird dem Dichter die in der Euanderrede VID 470-519 gefundene Lösung, die zwar recht gezwungen konstruiert, aber doch sorgfaltig durchdacht ist, erst bei der Ausarbeitung der Aeneis gekommen sein. Natürlich muß der Vermutung widersprochen werden, die Euanderrede sei erst nach Abschluß der Aeneis eingefügt worden; aber es scheinen doch noch deutliche Spuren erhalten zu sein, die auf weitreichende Überarbeitungen auch an anderen Stellen deuten. Ich beschränke mich auf zwei Personen, Mezentius und Tarchon. Trotz der bedeutenden Rolle, die Mezentius in der Rede des Euander spielt (VID 478ff; auch 569-71 kommt Euander auf ihn zu sprechen), tritt er als handelnde Person in den Büchern VID und IX kaum in Erscheinung. Von den drei Stellen ist IX 521f. sicher sekundär, VID 7f. vermutlich spät, und IX 581-9 könnte eingeschoben sein22 • Wesentlich aussagekräftiger ist die Behandlung des Mezentius im Italerkatalog (Vll 647 -54). Dort heißt es von seinem Sohn Lausus:
ducit Agyllina nequiquam ex urbe secutos mille viros .. .
(Vll 652f.) Die Zahl von 1000 Mann soll gewiß die stattliche Menge von Lausus' Kontingent bezeichnen, andernfalls hätte sich Vergil mehr als ungeschickt ausgedrückt. Die genaue Angabe soll vielleicht dem Eindruck vorbeugen, als zöge Lausus mit großen Teilen der waffenfähigen Männer aus Agylla (= Caere) heran23 • Denn Lausus war ja zusammen mit seinem Vater von der eigenen Bevölkerung aus Caere vertrieben worden und zu Turnus geflüchtet; Mezentius' Anhänger fanden dabei den Tod (VID 489-93). CONINGTON erklärt sich den Umstand, daß Lausus jetzt wieder 1000 Mann folgen (secutos), damit, daß secutos hier zwei Bedeutungen habe: in den Kampf u n d ins Exil folgen24 • Doch scheint die Zahl 1000 hoch, eigentlich zu hoch, wenn man bedenkt, daß die mit Aeneas verbündeten Etrusker aus Caere nur einen Bruchteil jener Zahl mobilisiert haben (X 182-4)25 • Sollte deshalb CONINGTONS Harmonisierungsversuch als gescheitert gelten, müßte man annehmen, daß der Mezentius- Abschnitt des Lykophron Alexandra 1242ff. Siehe HEINZE S. 179. Siehe o. S. 156 Anrn. 104. Seltsamerweise verwendet Vergil im Italerkatalog sonst fast gar keine absoluten Zahlen; nur von Halaesus heißt es: mille rapit populos (725). 24 Zu VII 652. 25 Siehe LADEWIG-SCHAPER-DEUTICKE zu VII 653. 21
22 23
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Katalogs die Flucht des Etruskerkönigs vor seinem eigenen Volk nicht kennt. In diesem Fall würde die große Euanderrede eine Änderung der Konzeption erweisen. Aber CONINGTONS Erklärung von secutos ist nicht abwegig, weil die Worte dignus, patriis qui laetior esset I imperiis (Vll 653f.) möglicherweise auf den verlorenen Thron des Mezentius anspielen, also dessen Exil voraussetzen. Freilich geraten wir auch dann in Schwierigkeiten: denn sind die 1000 Mann des Lausus identisch mit den Truppen, die sein Vater bewaffnet (agminaque armat, 648)26? Es wäre jedoch gegen alle Wahrscheinlichkeit, wenn Mezentius, der den Völkerkatalog eröffnet, nur als Einzelkämpfer aufträte, sein Sohn aber über eine bedeutende Streitmacht verfügte. Der ganze Mezentius- Abschnitt trägt demnach Züge eines etwas mühsamen Kompromisses, der einen allzu deutlichen Widerspruch mit der von Euander geschilderten Historie des Mezentius vermeiden soll. Dennoch liegen die Verhältnisse - genetisch gesehen - vielleicht ein wenig anders. Es fallt nämlich auf, daß Mezentius trotz seiner Bedeutung die kürzeste Vorstellung aller Katalogfiguren erfährt: primus init belZum Tyrrhenis asper ab oris contemptor divum Mezentius agminaque armat. (647f.)27 Dürftig vor allem sind die Worte, die Mezentius als Heerführer charakterisieren: agminaque armat. Die Erklärung, daß die Gestalt des Mezentius sich in dessen Sohn Lausus spiegeln soll, dem Vergil ja mehr Verse widmet, befriedigt nicht, weil dem Mezentius zu v i e I genommen wird. Ich glaube, daß die Verse 647f. Rest des ursprünglichen Mezentius-Abschnittes sind und daß Vergil mit den folgenden, neu hinzugesetzten Versen die geänderte Konzeption, wie sie im Euanderbuch zu Tage tritt, berücksichtigen wollte. Wie dem auch sei, die unausgewogene Darstellung des Mezentius im Katalog und der angestrengte Versuch, Mezentius u n d Lausus Truppen in die Hand zu geben, zeigen deutlich Vergils Schwierigkeiten mit seiner eigenen Konstruktion des Schicksals von Mezentius in Vill. Der Etruskerführer Tarchon, von dem Euander Vlll 506 gesprochen hatte, wird noch einmal in Vlll erwähnt (603) und tritt dann erst wieder in X auf. Er fährt dort mit Aeneas zum troischen Lager (X 146-62). Bei dieser Gelegenheit gibt uns Vergil auch einen nachträglichen Bericht über die Bündnisverhandlungen des Aeneas mit Tarchon. Der ganze Abschnitt aber wirft so große genetische Probleme auf, 28 daß man entweder "den Eindruck Siehe CONINGTON zu 653. .Die lapidare Herkunftsbezeichnung '1)!rrhenis asper ab oris' vermeidet jede Ausführlichkeit, wie sie selbst bei unbedeutenderen Führern zu finden ist" (KüHLMANN [s.o. S. 150 Anm. 80] S. 196f.). 28 Die Fahrt findet bei Nacht statt (147; 161f.), aber wenig später (215f.) geht die Sonne unter. Den mit 163 beginnenden Schiffskatalog der etruskischen Kontingente wird man sich nur ungern in nächtlicher Dunkelheit (man beachte nur: versicoloribus annis, 181) vorstellen wollen. 26
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von nicht ganz eingearbeiteten Stützversen" (BÜCHNER29) gewinnt, oder aber - da ich nichts Unfertiges an der Szene erkennen kann - einen nachträglichen Einschub 30 annehmen muß. Im Schiffskatalog (X 163-214) wird Tarchon nicht erwähnt. Wohl aber hören wir wieder von ihm, als er bei einer riskanten Landung Schiffbruch erleidet (X 287- 307). Auch diese dramatische Szene ist sehr wahrscheinlich sekundär, da 284 Halbvers istl 1 • X 580: cui Liger. Der Halbvers gleicht morphologisch stark dem zuvor besprochenen rex prior haec (VIII 469), dessen keineswegs sichere Erklärung einen Analogieschluß nicht zuläßt. Gibt der Halbvers X 580 auch von sich aus keinen rechten Aufschluß, so erlaubt der relativ einfache Erzählzusammenhang doch wenigstens eine Vermutung. Der Halbvers befindet sich in einer Kampfszene, in der die Brüder Lucagus und Liger zu Tode kommen (X 575-601 oder 605). Von diesem Paar hören wir nur hier32 ; es ist also für diese Stelle ~eschaffen worden. Wenn der Halbvers, wie vermutlich alle anderen, eine Uberarbeitung des Textes anzeigt, dürfen wir annehmen, daß die nachfolgenden Verse neu sind. Denn für eine Überarbeitung der vorangehenden Verse ist nicht der geringste Grund erkennbar, zumal sie die inhaltliche Voraussetzung für das Folgende bilden. Die Rede des Liger (581-3), auf die nun der Verdacht der späten Entstehung fällt, stimmt mit der Tendenz vieler Einschübe, bestehende Situationen noch stärker zu dramatisieren, überein. Ligers kaum überbietbar dreiste Worte an die Adresse des Aeneas verschärfen die Situation: nachdem Lucagus tödlich getroffen vom Wagen gestürzt ist, erhebt Liger, der ebenfalls gestürzt ist, flehend die Hände zu Aeneas und bittet um sein Leben. Aber Aeneas fertigt ihn mit Hinweis auf seine eben noch so hochfahrenden Worte (haud talia dudum I dicta dabas, 599f. 33 ) höhnisch ab. Da die Handlung sich aus der ersten (wohl späten) Ligerrede entwickelt, muß man davon ausgehen, daß der ganze Abschnitt nach dem Halbvers (581 bis mindestens 601) neu bzw. überarbeitet ist. XII 631: Der Halbvers bildet das Verbindungsglied zwischen zwei Reden und ist insofern singulär: nec numero inferior pugnae nec honore recedes. " T u r n u s a d h a e c: (630-2) "o soror, et dudum agnovi, cum prima per anem ...
1955, Sp. 390. Letzteres ist auch deshalb zu erwarten, weil 146-62 die vermutlich späte Euanderrede VIII 470ff. inhaltlich voraussetzt und auch stilistisch an sie anklingt (vgl. X 154-6 mit VIII 479f. und 503). 31 Siehe o. S. 120. 32 Für die Identifizierung des Liger mit dem in IX 571 genannten Namensvetter spricht nicht viel. 33 Zugleich Anspielung auf vesano talia late I dicta vo/ant Ligeri (583f.). 29
30
Exkurs: 4. Halbverse vor einer Rede
169
Allerdings kann aus dieser Besonderheit kein sicherer Schluß (etwa daß ein tibicen vorliege) gezogen werden, da dieselbe Konstellation - nur ohne Halbvers - noch einmal vorkommt: qui vita bene credat emi, quo tendis, honorem." N i s u s a d h a e c: ., equidem de te nil tale verebar ... (IX 206f.) Auch ist es denkbar, daß die Worte Turnus ad haec, so schlicht sie sein mögen, Rest eines vollständigen Hexameters sind, wie folgende Stelle nahelegen könnte: tu pedes ad muros subsiste et moenia serva. " Tu r n u s a d h a e c, oculos horrenda in virgine fixus: .,o decus ltaliae virgo, quas dicere grates ... (XI 506-8) Drei Erklärungsmöglichkeiten stehen theoretisch zur Verfügung: der Halbvers ist ein tibicen (a), die Verse vor (b) oder nach (c) dem Halbvers sind neu. (a) kann mit (b) verbunden auftreten34 , vielleicht auch mit (c). (b) ist unwahrscheinlich, da die vorangehende Rede der Juturna keine inhaltliche oder stilistische Besonderheit erkennen läßt und überdies die Voraussetzung für die Antwort des Turnus bildet. Möglichkeit (c) ist wegen der mutmaßlich späten Turnusrede die wahrscheinlichste Lösung. Für sekundäre Entstehung der Turnusrede (Xll 632-49) sprechen mehrere Beobachtungen. Turnus erwähnt den Murranus (639) und den Ufens (641), die beide kurz zuvor (529ff. und 460) gefallen sind. Bei Ufens besteht der Verdacht, daß er eine späte Figur der Aeneis ise 5 • Murranus tritt 529 das erstemal auf und fallt sogleich. Sein Schicksal erfüllt sich im Rahmen eines Abschnittes (529-53), der wohl erst nachträglich Buch Xll einverleibt wurde 36 •
' 4 Vgl. Halbvers IX 295 (o. S. 164f.); s. auch die Halbverse I 534 (o. S. 104) und V 653 (u. S. 171). 35 Siehe o. S. 151. " Alle Gefallenen dieses Abschnitts (Murranus, Hyllus, Cretheus, Cupencus, Aeolus) kommen mit Ausnahme des Murranus in der Aeneis nur hier vor. Der Passus gleicht also strukturell dem Einschub IX 762-77, wo Vergil sämtliche von Thrnus getöteten Personen ad hoc geschaffen hat (s.o. S. 158f.). Die Verse XII 529-53 könnten fehlen, ohne vermißt zu werden. Außerdem scheint die Wahl der Namen von Cretheus (XII 538) und Aeolus (542) durch eben den Einschub in IX 'angeregt' zu sein. Denn dort finden wir einen Aeolides und einen (anderen) Cretheus in einem Vers vereinigt (IX 774), die ihre Namen einem identifizierbaren Homervers verdanken (A 237: Kp11llijo<; ... AioAalow). Wenn nun XII 529-53 später als IX 762-77 sein sollte, so müßte fiir die Stelle in XII, da IX 762-77 in eine bereits nachträglich geschaffene Partie (Turnus' Kampf im troischen Lager: s.o. S. 156ff.) eingeschoben ist, mit hoher Wahrscheinlichkeit Entstehung nach XII angenommen werden. - Auf ein zusätzliches Detail sei wenigstens noch hingewiesen: Mnestheus und Serestus, zwei häufig genannte Personen der Aeneis, treten XII 549 (also im mutmaßlichen Einschub) zusammen auf: Mnestheus acerque Serestus. Dieselbe Formulierung gebraucht Vergil auch IX 171 und 779, an zwei Stellen also, deren späte Entstehung schon dargelegt wurde (o. S. 152f. und 156ff.)!
170
Exkurs: 4. Halbverse vor einer Rede
Der Beginn der Turnusrede hält für den Leser eine Überraschung bereit. Turnus erkennt in dem Wagenlenker Metiscus seine Schwester7 und redet sie ohne Umschweife sogleich an: o soror (632). Die Anrede gehört, weil sie mit einem Schlag alles enthüllt, an den Versanfang und kann deshalb nicht die möglicherweise ursprüngliche Redeeinleitung Turnus ad haec metrisch vervollständigen. Die Entlarvung Juturnas ist grundlegend für die Rede des Turnus: er erkennt, daß seine Schwester ihn vor dem Kampf mit Aeneas bewahren will. Indem er feige Flucht ablehnt und lieber sterben will als Schande auf sich Jaden, findet er zu sich selbst. Unmittelbar nach Turnus' Worten berichtet ihm der verwundeteSacesden wahren Stand der Dinge (650ff.). "Omnia quae supra Iuturna dixerat [625ff.] oratio ista dissolvit", sagt Servius (zu 653). In Turnus kommt es darauf zum Aufwallen unterschiedlicher Gefühle (665-8); schließlich wendet er, wieder klarer geworden 38 , seine Augen zu der bedrohten Stadt (669-71). Als er dort den Turm, den er selbst erbaut hatte, brennen sieht, erteilt er Juturna eine Absage und ist zum Zweikampf mit Aeneas und zu einem ehrenvollen Tod bereit:
"iam iamfata, soror, superant, absiste morari; quo deus et quo' dura vocat Fonuna sequamur. stat conferre manum Aeneae, stat, quidquid acerbi est, mone pati, neque me indecorem, germana, videbis amplius. hunc, oro, sine mefurere antefurorem." (Xll 676-80) Zu diesem Entschluß, den ihm die äußeren Umstände hier nahelegen, war Turnus bereits in seiner Antwort an Juturna gelangt, nur mit dem Unterschied, daß er dort von s i c h aus den Weg gefunden hatte, seine moralische Existenz zu retten. Beide Entschlüsse, den Tod auf sich zu nehmen, können ursprünglich nicht nebeneinander gestanden haben. Den ersten (Turnus' Antwort an Juturna, 632-49) hat Vergil später hinzugefügt, um Turnus weniger als Spielball äußerer Umstände denn als Person von einigem und eigenem Rang darzustellen. Der Dichter hat damit der Folgerichtigkeit der Entwicklung durchaus geschadet39 , die Gestalt des Turnus aber geadelt. Über die frühere, nun verlorene Rede des Turnus darf man wohl soviel vermuten, daß auch in ihr - wie 676 zeigt - Turnus die Verkleidung Juturnas durchschaut, aber nicht in derselben Radikalität mit seiner Schwester abgerechnet hat. Auch wird der Todesentschluß, wenn überhaupt, nicht mit solcher Klarheit gefaßt worden sein. 37 CoNJNGTON (zu 632) meint, nichts in der vorausgegangenen Erzählung widerspreche der Vorstellung, daß Thrnus seine Schwester trotz deren Verkleidung erkannt habe. Aber welchen Zweck denn soll die Maskierung der Juturna überhaupt gehabt haben? CoNINGTON mißversteht die Wendung dudum agnovi (632): Vergil will nicht durch Turnus' Mund den Leser über die Entlarvung nachträglich in Kenntnis setzen, sondern Thrnus gibt seiner Schwester - sprachlogisch nicht ganz korrekt, aber psychologisch richtig - zu verstehen, daß er ihren Trug rückschauend entlarvt.
" ut primum discussae umbrae et Iux reddita menti (669). 39 Bemerkenswert bleibt dennoch, wie sorgfaltig Vergilden Einschub 632-49 auf 676-80 abgestimmt hat. So fehlt im Einschub jeder d i r e k t e Hinweis auf Aeneas.
5. HALBVERSE NACH EINER REDE Der Halbvers V 653 haec effata ist der einzige Vertreter der 5. Klasse (s.o. S. 113). Er unterscheidet sich prinzipiell von der 1., da er nicht den Schluß einer Rede bildet. Seine metrische Struktur ist unter den Halbversen singulär'. Er ist ein tibicen, der dazu dient, die vorhergehende Rede der Pyrgo nachträglich in den Text einzulegen. Ich verweise auf meine Untersuchung von 1982 (S. 73ff.). Der Halbvers teilt seine funktionelle und entstehungsgeschichtliche Besonderheit mit den Halbversen I 534 und IX 2952 •
1
2
Siehe o. S. 101 mit Anm. 13 (s. aber auch S. 110 mit Anm. 55). Siehe o. S. 104 und 164f.
ERGEBNISSE DER UNTERSUCHUNG Auch wenn bisher nur 50 der 58 Halbverse der Aeneis behandelt worden sind', ist doch schon eine zuverlässige Auswertung der Beobachtungen möglich. Die große Artenarmut der Halbverse hat sich bestätigt. Auch die Gruppierung der Halbverse nach äußeren funktionellen Unterschieden (o. S. 113) darf nicht darüber hinwegtäuschen, daß die weitaus meisten ihre Entstehung ein und demselben Umstand verdanken: Vergil hat ursprünglich vollständige Verse, in deren Mitte eine syntaktische Einheit zum Abschluß gelangte, verstümmelt (im allgemeinen nach Satzende), wenn er einen neuen Abschnitt secundis curis anfügen wollte. Eine sofortige metrische Vervollständigung des frisch entstandenen Versbruchstückes hätte in vielen Fällen die Regeln des vergilischen Enjambements verletzt und der poetischen Gestaltung geschadet. Daher überrascht uns nicht die Beobachtung, daß Einschübe oft mit einem Wort beginnen, das die Anfangsstellung im Vers verlangt oder doch zumindest bevorzugt. Die Funktionen der Zusätze verraten keine große Mannigfaltigkeit. Schon der verbürgte Prosaplan der Aeneis verbietet es, daran zu denken, daß Vergil eine konfuse 'Uraeneis' durch Überarbeitungen unterschiedlichster Art in den uns vorliegenden Zustand gebracht hätte. Die Zusätze beschränken sich im wesentlichen auf Partien, die genetische Probleme aufwerfen (z.B. Sau- und Tischprodigium; rekapitulierende Reden), auf vorbereitende Verse (z.B. Prophezeiungen), Dramatisierungen und Ausschmückungen (z.B. Vergleiche). Ein nicht geringer Teil dieser Einschübe dient der engeren Verknüpfung der Aeneisteile untereinander. Oft handelt es sich um Höhepunkte vergilischen Schaffens. Die folgende Darstellung aller, also auch der noch nicht besprochenen Halbverse soll der bequemeren Übersicht dienen. I 1.
Halbverse in Verbindung mit nachfolgenden Partien vorausweisenden Charakters (Prophezeiung, Proökonomie) II 720.767; ill 470; VI 942 ; VII 129; Vill 41.536; IX 467; X 490 Auch auf die Halbverse V 294 und 322 (Wettlauf), die überdies ein Paar bilden, folgen jeweils Verse, die Buch IX präludieren. Zu dieser Gruppe gehören vielleicht auch:
1 Auf die restlichen 8 (II 468.614.623.640; IV 400; V 595; VII 702; X 728) gehe ich in den nächsten Kapiteln ein. 2 Allerdings ist VI 94 auch E n d e einer v o r a n gehenden Prophezeiung.
Exkurs: Ergebnisse der Untersuchung
2.
II
111
173
ill 218
Danach Beschreibung der im Harpyienmythos sonst unbekannten Rinderherden als technische Voraussetzung für die Celaenoprophezeiung
ill 527
Im weiteren Verlauf ein Omen und seine Auslegung durch Allchises
Halbverse in Verbindung mit folgendem Nachtrag IX 1673 'Zusammengehörige' Halbverse, deren Fortsetzungen inhaltlich eng zusammenhängen II 767 und ill 470 Nach beiden Halbversen ist vom Tiber die Rede, was der ursprünglichen Konzeption der Aeneis zuwiderläuft; außerdem spielt m 495 auf II 780 eindeutig an. ill 340 und 470 Andromaches besondere Liebe zu Ascanius, o. S. 125 und 143 ill 640 und 661 Erweiterung der Achaemenidesepisode IV 503 und 516 D i r e k t e Beteiligung Didos an den Vorbereitungen für den Scheiterhaufen V 294 und 322 Überarbeitung des Wettlaufes im Hinblick auf das Schicksal von Nisus und Euryalus in IX IX 467.721; X 17; XI 391 Turnus' Eindringen und Kampf im troischen Lager Halbverse in Verbindung mit Vergleichen II 468.623; IV 400; V 595; VII 702; X 728 Es ist zu beachten, daß die Halbverse V 595 und X 728 den Vergleichen nicht v o rau s gehen, sondern sie vielmehr beenden. Ihre Entstehungsgeschichte weicht deswegen möglicherweise ab (s. BERRES 1982, S. 105).
IV 1.
Übergang von ruhiger (vor allem beschreibender) zu lebhafterer Darstellung I 5344 ; II 767; ill 218.661; V 574; VII 129
3 Hier könnte auch der Halbvers VII 129 eingereiht werden, da m i t ihm ein Nachtrag endet (Aeneas erinnert sich an Anchises' Prophezeiung des Tischprodigiums). Allerdings sind nach meiner Auffassung im allgemeinen nur die auf die Halbverse f o I g e n d e n Partien genetisch sekundär. 4 Spezialfall, da die vorangehende Beschreibung (530-3) wörtlich aus 111 163-6 übernommen ist.
Exkurs: Ergebnisse der Untersuchung
174
Mit geringfügiger Einschränkung gehören hierher auch II 233.346
2.
Übergang von lebhafter Darstellung zu Beschreibung I 636; IV 400; V 595; VI 835
V
Schauplatzwechsel I 636; IX 167.467.520; X 284
VI
Halbverse, die eine zweite Rede abschließen, zugleich aber vor einer dritten stehen IV 361; VII 248
VII
Halbverse, die in unmittelbarem Zusammenhang mit einer wörtlichen Übernahme von Versen entstanden sind I 534 (1530-3 IX 295 (IX 294
< m 163-6) < X 824)5
Obwohl hier auch der Halbvers ill 470 aus formalem Grund (ill 471 - vm 80) genannt werden müßte, läßt sich das Abhängigkeitsverhältnis der beiden sehr ähnlichen Verse, die allerdings poetisch unbedeutend sind, leider nicht bestimmen (s. BERRES 1982, S. 163 Anm. 76). Keinesfalls aber darf die Entstehung des Halbverses nur auf die isolierte Übernahme e i n es Verses zurückgeführt werden, da der g an z e folgende Abschnitt (ill 471-505) neu hinzugesetzt ist. Ebenso gehört Vill 41 nicht hierher, da die gleichlautenden Verse Vill 43-5 = ill 390-2 in Vill ursprünglich sind. Der Halbvers I 560 stellt insofern einen Sonderfall dar, als er selber Bestandteil einer Wiederholung sein könnte (I 559 b 1560 = V 385 b/386 a). Aber weder läßt sich die Priorität durch Interpretation ermitteln noch sonst in der Aeneis bei den zahlreichen wiederholten Wortgruppen, die über die Versgrenze reichen, die Beobachtung machen, daß Vergil die im Enjambement stehenden Schlüsse bei der Übernahme als unvollendete Verse stehengelassen hätte (s. BERRES 1982, S. 300 mit Anm. 92).
5 Erinnert sei hier auch an den Halbvers II 787, der die eigentliche Abschiedsszene zwischen Aeneas und dem Schattenbild seiner Frau 'einleitet'. Bei der Einfügung der kurzen Szene hat Vergil 3 wunderschöne Verse aus VI unverändert übertragen (II 792-4 = VI 700-2); dazu
BERRES
1982, S. I I Off.
Exkurs: Ergebnisse der Untersuchung
VIII 1.
2.
IX
175
Halbverse, deren Fortsetzung mit emphatischem heu (s.o. S. 123) m 316; vm 536 oder einer Adversativpartikel beginnt I 560 (Tum).636 (at); II 623 (tum vero).787 (sed); IV 503 (at); V 653 (at; möglicherweise Sonderfall, da ich die v o r a n gehende Rede der Pyrgo für eingeschoben halte); VII 439 (sed) Nach Halbvers II 640 (v o s agitatefugam) folgt ein scharfes adversatives Asyndeton (m e si caelicolae voluissent ducere vitam ... ). Halbverse, die mit inhaltlichen oder syntaktischen Schwierigkeiten einhergehen I 534Auf das Perfekt fuit folgt ungewöhnlicherweise ein cum inversum: s.o. S. 73 Anm. 1. - Die geheimnisvolle Einführung des Namens 'Italia' in den sekundär eingelegten Versen 530-3 (s. Gruppe vm steht im Kontrast zu der Selbstverständlichkeit, mit der später Ilioneus von Italien und Latium spricht (553f.). II 623 und IV 400 Anschließender Vergleich ohne Apodosis: s.u. S. 183ff. II 767 Die folgende Prophezeiung der Creusa widerspricht - strenggenommen-der Konzeption von ill: s.o. S. 141. ill 218 Die Rinderherden der Harpyien (220ff.) vertragen sich nicht recht mit deren chronischer Unterernährung (218f.). ill 340 Obwohl Andromache keinerlei Kenntnisse von Aeneas' Schicksal hat, zeigt sie sich über Creusas Verlust informiert (341). V 294 Vergil hat bei der folgenden neu eingefügten, nach IX vorausblickenden Charakterisierung von Nisus und Euryalus die Angabe ihrer Herkunft 'vergessen', im Gegensatz zu den übrigen Teilnehmern am Wettlauf. V 815 Widersprüchliche Wetterverhältnisse: s.o. S. 120. IX 467 Unbefriedigende Verbindung (Stellung!) der Genitivattribute Euryali et Nisi (467) mit capita (466).
176
Exkurs: Ergebnisse der Untersuchung
X 728
Inkonzinne Apodosis (729): s. BERRES 1982, S. 100ff. Der Halbvers Vll 129 als der Schluß der Ankündigung des Tischprodigiums durch Anchises steht in unversöhnlichem Gegensatz zur Harpyienprophezeiung (ill 255 -7). Aber nicht die Verse von Vll, sondern von m sind sekundär (s. BERRES 1982, S. 212ff.). Übrig bleiben 11 nichtklassifizierte Halbverse n 66.614; IV 44; vn 455.760; vm 469; IX 761; x 580.876; XI 375; xn 631 Dies bedeutet nicht, daß sie auch unklassifizierbar seien, da bei anderen Gruppierungskriterien alle Halbverse hätten erfaßt werden können. Allerdings wurden vorwiegend Kriterien gewählt, die eine vergleichsweise hohe genetische Aussagekraft besitzen. Immerhin ließen sich von den 11 verbliebenen Fällen noch folgende Gruppen bilden: 1. Halbverse vor einer Rede Vill 469; X 580; Xll 631 (die übrigen Belege o. S. 113) 2. Halbverse als Schluß einer Rede Vll 455; X 876; XI 375 (die übrigen Belege o. S. 113) 3. Halbverse, nach denen in sich streng geschlossene Szenen folgen Vll 760 Danach der Virbius- Abschnitt des Völkerkataloges (761-82) IX 761 Danach Kampfszene, in der 12 Personen n e u auftreten, um darauf sogleich von Turnus' Hand zu fallen (762-77) 6 4. Auch der Halbvers IV 44 ist nicht ohne Parallele. Denn wie Anna nach IV 44 den Götterwillen falsch einschätzt, so Allchises nach n 640. Eine Übersicht über die Gruppen I- IX zeigt deutlich, daß die Halbverse besonders eng mit der Entstehung bzw. der Unfertigkeit der Aeneis zusammenhängen. Die Gruppen I, ll, ill, Vll und IX bestätigen, zumindest in ihrer Gesamtheit, unzweideutig den Verdacht, daß dieser Zusammenhang in der nachträglichen Einfügung von Partien zu suchen ist. Insbesondere lassen die Gruppen I und ll erkennen, daß diese Zusätze im allgemeinen
6
Natürlich gibt es dafür unter den anderen Halbversen weitere Belege, z.B. II 233.
Exkurs: Ergebnisse der Untersuchung
177
n a c h den Halbversen erfolgt sind. Die Ermattungs- oder Erlahmungshypothese ist nicht haltbar. Eine Zusammenstellung der Ergebnisse in tabellarischer Form sowie weitere kommentierende Ausführungen finden sich im Anhang (S. 235ff.). Zwar läßt sich meine Halbverstheorie im allgemeinen nicht an nur e i n e m Halbvers in allen ihren Teilen schlüssig beweisen. Aber nahezu jedes Versbruchstück erlaubt in der einen oder anderen Hinsicht einen wichtigen Einblick in den Entstehungsvorgang. Und die Gesamtzahl der Halbverse fügt sich - von wenigen Ausnahmen abgesehen - derartig widerspruchslos einem einzigen Erklärungsschema, daß allein daraus die Richtigkeit der Erklärung abgeleitet werden kann. Aber auch der e i n e Halbvers IX 467, der als ein offenkundiger Zusatz untypisch ist, vermag durch seine Besonderheit die Theorie im ganzen nur zu bestätigen. An ihm läßt sich erkennen, daß der vorangehende Text ursprünglich, der folgende aber neu ist, und daß Vergil bei nachträglichen Erweiterungen soviel wie möglich vom alten Versbestand bewahren wollte7 • Nun mag selbst eine einleuchtende Hypothese, die von kaum anfechtbaren Beobachtungen ausgeht, auf fehlerhaften Schlüssen beruhen. Welche Umstände können uns die Garantie ftir die Richtigkeit der Schlüsse gewähren? Sicherlich nicht die, daß einige wenige Halbverse von der Forschung bisher 'richtig' gedeutet worden sind. Denn die Auswahl dieser 'richtigen' Erklärungsversuche geht allein auf mich zurück. Demgegenüber stellen HEINZES Vergilforschungen gewissermaßen eine Kontrollinstanz dar. HEINZE hat nämlich Halbverse, soweit er sie überhaupt beachtete, falsch oder im günstigsten Fall nur unbefriedigend im Anschluß an gängige Vorstellungen erklärt, andererseits aber die epische Technik Vergils in umfassender Weise wie kein anderer aufgezeigt. Diese Technik darf nun keineswegs vorschnell mit der Entstehung des Werkes in eins gesetzt werden; aber die Entstehungsgeschichte muß notwendig Spuren im Phänotypus hinterlassen. Folgerichtig berühren sich bei HEINZE gelegentlich technische und genetische Beobachtungen und Überlegungen. Aber er bemerkte bei seiner fast völligen Vernachlässigung der Halbverse nicht, daß seine entstehungsgeschichtlichen Beobachtungen und Spekulationen eng mit den Halbversen verknüpft sind. Da niemand HEINZE unterstellen kann, daß er mit Blick auf meine Halbverstheorie sein Vergilbuch geschrieben habe, muß die Koinzidenz zwischen seinen (allerdings teilweise korrekturbedürftigen) und meinen Ergebnissen, die von völlig unterschiedlichen Ausgangspunkten her gewonnen sind, den Charakter eines Beweises annehmen. Das wichtigste Kriterium für meine Theorie ist jedoch, daß sie von allen bisher bekannt gewordenen die einfachste ist, weit einfacher als die verbreitete Annahme, Vergil habe aus irgendwelchen Gründen Verse nicht zu Ende geführt, und daß sie alle Phänomene zwanglos erklärt8 • Ihre 7
8
Siehe o. S. 153ff. Siehe o. S. l!Of.
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Exkurs: Ergebnisse der Untersuchung
Widerlegung darf sich natürlich nicht auf den Nachweis isolierter Irrtümer bei der Erklärung einzelner Halbverse beschränken, sondern müßte einen fundamentalen Irrtum in a I I e n Fällen aufdecken. Aber gerade die durch die Einzelbeobachtungen gemachte und leicht voraussehbare Entdeckung, daß nicht wenige Halbverse miteinander in Verbindung stehen, weil die nachfolgenden Partien jeweils dasselbe Thema behandeln bzw. demselben Überarbeitungsvorgang angehörelf, stellt wohl ein unüberwindliches Hindernis dar. Die bisherige Halbversforschung, die von den großen Zusammenhängen im allgemeinen absah und sich für die Einzelerklärung meistens auf Intuition (Willkür?) verließ, ist zu verabschieden. Ihre bisweilen grotesken und einander widersprechenden Ergebnisse haben fast völlig die Hoffnung genommen, das Problem wissenschaftlich lösen zu können, wohl aber den Nährboden für die geschmacklosesten Deutungsversuche geschaffen 10 • Welche Möglichkeiten erschließt nun die Beschäftigung mit den Halbversen, die bisher nur als Randgebiet der Vergilphilologie gegolten haben, der Forschung? Sie vermag nicht nur punktuelle Einblicke in Entstehungsprobleme der Aeneis zu geben und alte Streitfragen zu lösen, sondern ihre Ergebnisse sind auch übertragbar auf Partien, die keine Halbverse aufweisen11. Denn die Halbverse als Indikatoren vergilischer Überarbeitungen lassen deutlich die Richtung erkennen, in der sich die Aeneis - und zugleich ihr Dichter - entwickelt hat. Außerdem enthüllen die Halbverse, daß die uns vorliegende Aeneis, mag sie uns auch noch so vollkommen erscheinen, ein gewaltiger Torso ist. Wenn Vergil die Aeneis kurz vor seinem Tod eigenhändig verbrennen wollte 12 , so muß dieses Verlangen, das seinen Grund in der mangelnden Vollendung des Werkes hatte, ganz ernst genommen werden. Seine Freunde haben zwar die Vernichtung des Manuskriptes zu verhindern gewußt; uns aber gebietet die Pietät, den unfertigen Zustand der Aeneis zu respektieren und dadurch dem Menschen und Dichter Vergil gerecht zu werden.
9 Umfänglichstes Beispiel: IX 467.721; X 17; XI 391 (Kampf des Turnus im feindlichen Lager): s.o. S. 162 und u. S. 240. 10 Ein Beispiel aus neuester Zeit u. S. 185f. zum Halbvers II 623. 11 Beim Zusammenfall von Vers- und Satzende konnten keine Halbverse entstehen. 12 Sueton-Donat-Vita § 39: ... in extrema valetudine assidue scrinia desideravit, crematurus ipse (dazu BERRES 1982, S. 20- 3).
DAS BERGESCHEN -GLEICHNIS (II 626-31) UND DER HALBVERS II 623 Fast unmittelbar nach dem Entschwinden der Venus (li 621) vergleicht Vergil das in die Flammen sinkende Troja mit einer Bergesche, die unter den Axtschlägen der Bauern schließlich niederbricht (626-31). Der Vergleich ist ohne Apodosis. Den beiden Versen, die ihn einleiten (624f.), geht der Halbvers 623 voraus. Zunächst aber möchte ich, ohne die oben im Exkurs gewonnenen Einsichten in das Wesen der Halbverse heranzuziehen, die bisherige Debatte über den Vergleich wieder aufnehmen. Das Gleichnis hat nicht nur wegen seiner fehlenden Apodosis', sondern auch wegen des Umstandes, daß es mit den besonderen genetischen Verhältnissen der Helena-Venus-Szene in Verbindung zu stehen scheint, die Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Denn je nachdem, ob man die Verse 567-623 oder 567-631 als sekundäre Zutat betrachtet, muß sich das Gleichnis ursprünglich entweder direkt an 566 oder an 623 angeschlossen haben2 • Daher erhob sich die Frage, an welcher der beiden Stellen der Vergleich nun besser 'sitze'. SCHÜLER hatte gegen PEERLKAMP die Meinung vertreten, daß der Vergleich mit dem Vorhergehenden "arcto vinculo" verbunden sei 3 • HÄBERLIN aber nahm Anstoß daran, daß in den Versen 610-2 Neptun bei der Zerstörung Trojas gezeigt werde, in Vers 625 Troja jedoch 'Neptunia' heiße4 :
turn vero omne mihi visum considere in ignis Ilium et ex imo verti Neptunia Troia. (li 624f.) HÄBERLINS Kritik resultiert aus mangelnder Vertrautheit mit der Aeneis. Denn Vergil kennt nicht nur die Geschichte, nach der Neptun und Apoll die Mauern Trojas erbaut hatten, sondern er läßt Neptun an anderer Stelle mit stilistischem Bezug auf li 624f. auch den Wunsch äußern, sein eigenes Werk zu zerstören: ... , cuperem cum v e r t e r e a b i m o (V 810f.)5 structa meis manibus periurae moenia Troiae. 1 ROMANIELLO (1975) blieb es vorbehalten, im Fehlen der Apodosis "Ia prova inconfutabile" ftir die Unechtheit des Gleichnisses zu sehen, das im Munde des Aeneas "un po' troppo retorica" erscheine (S. 14f.). 2 Siehe o. S. 91ff. 3 1883, S. 22 Anm. I. 4 1889, S. 312. - Siehe auch schon HENRY, Aeneidea II, S. 298 (Ihm schließt sich GooLD 1970, S. 156 an). ' Auch Thrnus 'zitiert' die Verse II 624f., wenn er fragt:
at non viderunt moenia Troiae Neprunifabricara manu c o n s i der e in i g n i s? (IX 144f.) und interpretiert so Neptunia Troia. - Ebenso bringt Athene, Trojas Schutzherrin, ihrer eigenen Stadt Verderben (II 615f.)l
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Bergesehen-Gleichnis (II 626-31) und Halbvers II 623
Die Verse II 610-2 und 624f. rivalisieren also nicht miteinander, sondern gehören zusammen und ergänzen sich - im Sinne Vergils - gegenseitig. Die Wirkung des Gleichnisses besonders nach der Vision: apparent dirae fades inirnicaque Troiae (II 622f.) nurnina magna deurn. ist "tremendous" (AUSTIN 6). Der so eindrucksvolle Übergang von dirae fades zu turn vero ... (624) könne aber ebensogut, wie ESTEVEZ meinC, aus der anderen Richtung komponiert sein, indem nämlich dirae fades nachträglich vor turn vero ... gesetzt worden sei. Die Verse 622f. seien ein provisorisches Übergangsstück, erkennbar an dem Halbvers 623 und der unglücklichen Doppelung Troiae (622) und Troia (625) jeweils am Versende; Troiae, nicht Troia, sei die Wiederholung 8 • (Meine Halbverstheorie schließt diese Annahme natürlich aus.) Die Versschlüsse Troiae und Troia auf engem Raum entsprechen einer gewissen Unempfindlichkeit Vergils gegenüber Wortwiederholungen9 • Man vergleiche nur Creusarn (II 769) - Creusae (772) - Creusam (778) - Creusae (784): der Name immer am Versende.Der Bergeschen-Vergleich scheint für den Ort, an dem er jetzt steht, geschaffen. Marginale Kritik kann daran nichts ändern. Allerdings beweist dieses Ergebnis nicht, daß er nicht auch an anderer Stelle, nämlich nach 566, gut passen würde. ESTEVEZ hat sich diesen Nachweis zur Aufgabe gemacht, ohne Glück freilich, wie ich meine. ESTEVEZ geht von der Beobachtung aus, daß einige Wörter des ornus- Vergleichs aus der Darstellung von Priamus' Ende zu stammen scheinen 10 : trementem (550) traxit (551) comarn (552) avulsumque (558)
trernefacta (629) traxitque (631) cornarn (629) avulsa (631)
Da nun bei Homer Priamos (wie allerdings auch einige andere Helden) das Beiwort l:üp.p.EN'f/r; ('mit einem [e s c h e n e n] Speer wohl versehen') bisweilen führt, glaubt ESTEVEZ, daß der Fall des Priamus sich im Sturz der Esche wiederholt. Die abstruse Gelehrsamkeit, die hier der Dichter dem Leser abverlangen würde, ist keine Empfehlung für diese These. Die Wiederholung einzelner Wörter besagt nur wenig; denn das Wortmaterial des Vergleichs berührt sich auch mit der vorangehenden Vision des Aeneas (608-23):
• 1964, zu 624-33. 7 1980/81, S. 328. 8 S. 329 (und 335: .infelicitous double 7roia"). 9 Siehe o. S. 37tf. (bes. S. 39 Anm. 9) und S. 56f. 10 s. 320.
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avulsaque (608) avulsa (631) 11 eruit (612) eruere (628) 12 summis (626) 13 summas (615) Ja sogar ESTEVEZ selbst gelangt bei der Untersuchung, ob sich bestimmte Schlüsselwörter in der Nyktomachie (einschließlich turn vero ... ) und in der Helena- Venus -Szene befinden, zu dem entmutigenden Resultat, daß sich von hieraus keine Entscheidung über den ursprünglichen Ort des Gleichnisses treffen Iäße4 • Schließlich ist auch ESTEVEZ' Schluß, daß Vergil, weil er die Esche umfassend mit personalen Zügen ausgestattet habe (comam, nutat, vulneribus evicta, supremum congemuit), auf Priamus hindeuten wollte15 , nicht zwingend. Dennoch bedarf diese Annahme, die ja nicht a priori falsch sein muß, einer genauen Prüfung. Abträglich ist ihr zunächst, daß Vergil durch die zwei Verse, die den Vergleich unmittelbar vorbereiten (624f.), seine Verknüpfung mit dem Fall Trojas unmißverständlich vorschreibt: turn vero omne mihi visum considere in ignis Ilium et ex imo veni Neptunia Troia. (624f.) Der anschließende Vergleich: ac veluti summis antiquam in montibus ornum cum ferro accisam crebrisque bipennibus instant eruere agricolae cenatim, illa usque minatur et tremefacta comam concusso venice nutat, vulneribus donec paulatim evicta supremum congemuit traxitque iugis avulsa ruinam. (626-31) symbolisiert in der Esche den hartnäckigen und zähen Widerstand, den Troja seinen Gegnern zehn Jahre lang entgegensetzte, um dann doch zu stürzen. Die Beziehung zu Priamus stellt nun ESTEVEZ durch die Überlegung her, daß Priamus "stood for and in a sense was Troy" 16 • In gewissem Maße mag man dieser Gleichsetzung zustimmen; aber ob damit auch das Gleichnis aufPriamus bezogen werden darf, bleibt zunächst offen. Während die Esche den zahlreichen Axthieben der Bauern erst allmählich erliegt (paulatim evicta, 630), ist, wie ESTEVEZ einräumt, Priamus' Tod "alles andere als heroisch" 17 : Neoptolemus bringt den kraftlosen Greis mit einem einzigen Schwertstoß um (552f.). EsTEVEZ versucht diesen gravierenden Widerspruch zwischen Priamus' Ende und dem Vergleich mit der Annahme zu beheben, Jeweils an derselben Versstelle. Jeweils Versanfang. 13 Beachte auch die enge inhaltliche Verflechtung: summas arces - summis ... montibus. 14 S. 332. 15 S. 320. 16 s. 320. 17 s. 324. 11
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daß Priamus hier (im Vergleich nämlich) "in truly heroic form, resisting mightily and with resolve to the very end" erscheine 18 • Die Argumentation überschlägt sich. Da hilft es auch nicht, wenn ESTEVEZ außerhalb des Vergleichs "a eulogistic summary of the king's long life" 19 findet: haec finis Priarni fatorurn, hic exitus illurn sone tulit Troiarn incensarn et prolapsa videntern Pergama, tot quondarn populis terrisque superburn regnatorern Asiae. (554 -7) Mit diesem Nachruf drückt Aeneas seinen Schmerz über Priamus' jämmerliches Ende (haec und hic [554] weisen auf die erbärmlichen Umstände seines Todes hin) aus, der doch in früheren Tagen (quondarn, 556) so mächtig war. Der furchtbare Kontrast zwischen einstiger Größe20 und elendem Tod ist aber dem Eschen -Gleichnis fremd. Wenn nun jeder Gedanke an Priamus bei dem Vergleich ferngehalten werden muß, bleibt dann nicht doch die Möglichkeit, ihn hinter 566 zu rücken? deseruere ornnes defessi, et corpora saltu (565) ad terrarn rnisere aut ignibus aegra dedere. (566) turn vero ornne rnihi visurn considere in ignis .. . (624)
ESTEVEZ hat sich eine geradezu bestechende Erklärung für den Übergang von 566 nach 624 ausgedacht: "Aeneas' mind moves from the particular instance to the general: 'or gave their sick bodies to the fires. Then indeed all Troy appeared to me to be settling into the fires"' 21 • Mit dieser Interpretation wird aber dem g an z e n Abschnitt 559-66, der nunmehr zwischen Priamus' Ende und dem Bergeschen- Gleichnis steht, eine Überleitungsfunktion gegeben. Eine solche Funktion liegt auch wirklich vor, und die Forschung - gleichgültig, ob sie sich für oder gegen die Echtheit der Helenaverse ausspricht - hat zu dem Resultat geführt, daß Aeneas' Entschluß, als er beim Tod des Priamus sich der Seinen erinnerte, nur darin bestanden haben kann, ihnen sofort zu Hilfe zu eilen22 • Daß dann seine Begegnung mit Helena diesen Entschluß zunächst aufhebt, ist kein Einwand gegen diese Deutung. Das Verbindungsstück 559-66 kann also seinem Wesen nach nicht vom Untergang des Priamus zu dem von ganz Troja überleiten. Außerdem würden sonst sowohl die Überleitungsverse als auch die Vision des in Flammen sinkenden Troja mit betontem Neueinsatz in nur geringem Abstand beginnen (at ... turnprirnurn, 559; turn vero, 624). Daran
18 19
20
s. s.
324. 325.
Dieser Kontrast erscheint in äußerster Zuspitzung in der Formulierung: iacet ingens litore
truncus (551). 21
S. 332.
22
Siehe o. S. 85f.
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stört weniger die stilistische Phantasielosigkeit als die unerträgliche Stereotypie, mit der Vergil den Blick des Lesers zu lenken versucht hätte. Das Bergeschen -Gleichnis ist also für die Stelle geschrieben, an der es in unseren Ausgaben auch heute steht. Diese Erkenntnis trägt jedoch nicht dazu bei, das Fehlen der Apodosis und den Halbvers, der dem Gleichnis vorausgeht, zu erklären. Führen wir uns deshalb die verschiedenen normalen Bauformen vergilischer Gleichnisse vor Augen. Ein Gleichnis kann bestehen aus einer vorbereitenden Einleitung (im folgenden 'vorangehende Apodosis' genannt), dem eigentlichen, mit einem relativischen Vergleichswort (wie z.B. qualis, velut) eingeleiteten Vergleich und aus einer folgenden Apodosis mit demonstrativem Korrelativum oder entsprechender Partikel. Ein Beispiel: obstipuit retroque pedem cum voce repressit. improvisum aspris veluti qui sentibus anguem pressit humi nitens trepidusque repente refugit artollentern iras et caerula colla tumentem, haud secus Androgeos visu tremefactus abibat.
(II 378-82)
Weil hier das Bild durch eine vorangehende und eine folgende Apodosis gewissermaßen eingerahmt wird, gibt ESTEVEZ dieser Anordnung zurecht den Namen "ring-form simile" 23 • Natürlich sind für ein vollständiges Gleichnis nicht alle drei Elemente nötig, da von den beiden Apodoseis eine, gleichgültig welche, fehlen kann. Anders liegen jedoch die Verhältnisse, wenn die Bildebene mit ac velut beschritten wird, da ac aus syntaktischem Grund eine folgende Apodosis erfordert. Dennoch läßt Vergil dreimal bei einem mit ac velut eingeführten Vergleich den Nachsatz fort. Verschaffen wir uns einen statistischen Überblick: Von den über 100 Gleichnissen der Aeneis24 weisen 29 velut bzw. ac velut auf. Von den 13 Fällen mit bloßem velut(i) haben 4 eine folgende Apodosis, 9 kommen ohne sie aus. Unter den 16 Belegen mit ac velut(l) finden sich 3 (II 626; IV 402; VI 707) ohne die erforderliche folgende Apodosis25 • 2 dieser 3 syntaktisch unvollständigen und bei Vergil einzigartigen Vergleiche zeigen eine weitere auffallige
s.
330. Die in der Forschung genannten Zahlen schwanken, vermutlich weil sich keine Einigung über die Beurteilung von Doppel- und Kurzvergleichen erzielen läßt. So kommt GöiTE (Übersetzung, München 5 1980, S. 795) auf 103, RIEKS (Die Gleichnisse Vergils, in: ANRW II 31.2, Berlin-New York 1981, S. 1093-6) auf 104 und HORNSBY (Patterns of action in the Aeneid. An interpretation of Vergil's epic similes, lowa 1970, S. 7 und 143f.) sogar auf 116. 25 Im Fall von VI 707 will SPARROW die folgende Apodosis in den Worten strepit omnis munnure campus (709) gefunden haben (Half-lines and repetitions in Virgil, Oxford 1931, S. 32 Anm. 1). Aber Vergil leitet die Apodosis nach ac-ve/ut-Vergleichen immer mit bestimmten Wörtern ein: sie, haud secus, nonlhaud aliter, non segnius. Der Satz strepit ... campus gehört noch zum Vergleich; er ist nur .der homerischen Praxis entsprechend, aus der Konstruktion herausgenommen und asyndetisch angefügt" (NoRDEN, Kommentar zu VI 707ff.). Vgl. IV 407 23
24
(opere omnis semitafervet)!
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Gemeinsamkeit: den sie einleitenden Versen geht jeweils ein Halbvers voraus (II 623; IV 400). Damit ist der Beweis erbracht, daß zwischen den 3 syntaktisch gestörten Gleichnissen und den Halbversen ein enger, aber nicht notwendiger Zusammenhang besteht. (Da gemäß meiner Halbverstheorie bei sekundären Einfügungen Halbverse nicht in jedem Fall, sondern nur dann entstanden, wenn der dem Einschub vorangehende ursprüngliche Text [Satz] mitten im Vers endete, ist dieses Ergebnis nicht überraschend.) Weiteren Aufschluß bietet die Betrachtung der zahlreichen qualis- Vergleiche. Diese haben prinzipiell dieselben Bauformen wie die velut-Gleichnisse: häufig nur vorangehende Apodosis, seltener folgende Apodosis oder auch Ringform. Ein qualis-Vergleich (II 471) ohne (entbehrliche) folgende Apodosis steht unmittelbar hinter einem Halbvers (468). Dieser Vergleich und die 3 mit ac velut eingeleiteten ohne (notwendige) folgende Apodosis lassen den sicheren Schluß zu, daß einerseits syntaktische Unvollständigkeit eines Vergleichs nicht unbedingt mit einem Halbvers einhergeht und daß andererseits Vergleiche als solche eine gewisse Neigung zur 'Bildung' vorausgehender Halbverse besitzen. Die verbreitete Auffassung, Halbverse zeigten das Ende einer unfertigen Partie an, sieht sich hier mit der Tatsache konfrontiert, daß 3 Halbverse im Zusammenhang mit Versen (Gleichnissen) stehen, die ihnen f o I g e n. Vergil scheint 2 dieser Gleichnisse (II 624ff.; IV 40Iff.) noch nicht vollendet zu haben, obwohl es ihm doch ein leichtes hätte sein müssen, durch die Wahl einer anderen Vergleichseinleitung (velut statt a c velut) allen Schwierigkeiten von vornherein zu entgehen. Aber offensichtlich strebte Vergil ein dreiteiliges 'Ringform'-Gleichnis an. In einem solchen Fall mußte der Dichter, wie ESTEVEZ betont, beim dritten Glied, der folgenden Apodosis, Plattheit und Redundanz in der Darstellung vermeiden26. Es ist eine ansprechende Vermutung von ESTEVEZ, wenn er das Fehlen der zweiten Apodosis bei den drei ac-velut- Vergleichen darauf zurückführt, daß Vergil hier keine befriedigende Lösung gefunden habe27 . Doch warum, so müssen wir fragen, bildete sich in 2 von 3 Fällen dann v o r dem Gleichnis ein Halbvers? Liegt da nicht der Verdacht nahe, Vergil habe alle 3 Gleichnisse nachträglich eingefügt28? NORDEN hat aus den beiden Umständen, daß die meisten vergilischen Gleichnisse so gebaut sind, "daß das vergleichende Bild dem verglichenen Objekt folgt", weswegen sie "unbeschadet der Konstruktion fehlen" könnten, und daß in dem "besonders unfertigen" Buch ill nur eines vorkomme, vermutungsweise gefolgert, daß Vergil sie "ornatus causa" "im allgemeinen erst einlegte, wenn das betreffende Buch in seinem Rohbau fertig war" 29 • Das fast völlige Fehlen
,.bathos and redundance" (S. 330). S. 331. 28 Die Frage, ob damit auch der Grund für die mangelnde Vollendung der Gleichnisse gefunden ist, möchte ich heute - entgegen meiner früheren Ansicht (1982, S. 95 Anm. 24) bejahen. 29 Kommentar zu VI 270ff. 26
27
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von Gleichnissen in Buch m, das nach Ausweis seiner Halbverse zu den am stärksten überarbeiteten Büchern der Aeneis gehört, muß man wohl mit HEINZE auf die "Besonderheit des Inhalts und der Erzählungsart" zurückführen30. Auch dienen die Gleichnisse, wie HEINZE betont, nicht nur der Ausschmückung. An früherer Stelle habe ich den Nachweis geführt, daß 2 Vergleiche von Buch I (430ff.; 498ff.) zusammen mit ihrer Umgebung entstanden sind 31 • Aber wenn auch NORDENS Gründe nicht durchschlagend sind, so darf im Einzelfall eine spätere Entstehung natürlich nicht ausgeschlossen werden. Der Exkurs über die Halbverse hat gezeigt, daß F o I g e nachträglicher Einschübe oft der v o r a n gehende Halbvers ist. Immer dann nämlich, wenn der alte Zusammenhang im Versinnern endete (Satzschluß) und Vergil das nunmehr entstandene Versbruchstück nicht sekundär vervollständigen wollte, sondern den Einschub mit einem frischen Vers beginnen ließ, blieb ein verstümmelter Vers zurück. Die 3 Halbverse II 468.623 und IV 400, zu denen noch VII 702 hinzuzurechnen ist, sind klarer Beweis für die späte Entstehung der jeweils folgenden Gleichnisse. Eine abermalige Überprüfung meiner Halbverstheorie im Hinblick auf diese 4 Fälle scheint nicht mehr nötig 32 • Dennoch wi~l ich den Halbvers 623, da er mit der Genese der Helena-Venus-Szene möglicherweise verknüpft ist, gründlich untersuchen. Dem mit tum vero ... (624) vorbereiteten Bergeschen -Gleichnis geht ein Abschnitt voraus, der das Ende von Venus' Rede, ihr Entschwinden und die sich anschließende Vision der Troja -feindlichen Götter enthält. Diese Vision umfaßt nur den Vers 622 und den Halbvers 623:
apparent dirae fades inimicaque Troiae numina magna deum.
(622f.)
623 ist zwar "a splendid half-line" (AUSTIN 33 ), erlaubt aber deswegen keinesfalls eine willkürliche Deutung, die auf seine poetische Schönheit abhebt: der "verso incompleto sembra escogitato apposta per raggiungere un effetto sconvolgente di pietra tombale ehe cade" (PARATORE34). Das Bild vom umfallenden Grabstein ist dem abbrechenden Vers 623 ebenso
19I5, S. 258 Anm. I. 1982, S. 106ff. 32 Zu 11468 siehe BERRES 1982, S. 95ff.; zu IV 400 S. 84ff. und 165 Arun. 84 (unter 3.); zu Vll 702, einem Halbvers, der zwar das Ende eines Vergleiches bildet, aber unmittelbar vor einem weiteren Vergleich steht, S. 97ff. (als Ergänzung dazu siehe L. DE PieEis POLVER [o. S. 112 Arun. 68] S. 68 Anm. 3). - Noch zwei andere Halbverse (V 595 und X 728) stehen mit Vergleichen in Verbindung, gehen ihnen aber nicht voraus, sondern sind ein Bestandteil von ihnen. Beide Halbverse stellen Spezialfälle dar, die eine sehr sorgfältige und undogmatische Betrachtung erfordern (s. BERRES 1982, S. lOOff.); gemeinsam aber ist ihnen bzw. ihrem Kontext, daß eine augenfällige Manipulation Vergils an einer bereits vorhandenen Versfolge ihre Spuren hinterlassen hat. J3 I964, zu 623. 34 I tibicines deii'Eneide e superflua demere, Bolletino dei Classici, Rom IV, 1983, S. 129-36, hier S. 133 (mit irreführender Berufung auf AUSTIN). 30 31
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geschmacklos oktroyiert (Fallen die Götter etwa um?) wie offensichtlich durch die folgenden Verse (624f. samt Eschen- Vergleich) angeregt. Den wenige Zeilen vorangehenden Halbvers 614: . . . hic Iuno Scaeas saevissima portas prima tenet sociumque furens a navibus agmen ferro accincta vocat. (612-4) erklärt PARATORE mit dem Eindruck des Lesers, daß Aeneas bei der Beschreibung des Unglücks seiner Heimat "non possa trattenere i singhiozzi" 35 • Doch warum sollte Aeneas nicht auch nach 623 schluchzen? Mit eben derselben Willkür, wenn auch mit Begründung, versucht WALTER den Halbvers 623 zu erklären: "Mit der Göttin - sollten wir denken - ist auch die Vision geschwunden. Die Verse 622f. stehen nicht etwa an einer falschen Stelle - wo wollte man sie denn unterbringen? - sie können doch nur eine Randbemerkung des Dichters sein, die er bei einer neuen Durchsicht entweder gestrichen oder in die Stelle eingearbeitet hätte. Daß Varius vergilische Verse lieber an eine noch so unsinnige Stelle setzte als sie ganz wegließ, sollte doch vor der Annahme warnen, er habe andere (W ALTER meint die seiner Ansicht nach interpolierte Helenaszene), wenn auch vom Dichter gestrichene Verse, die im Zusammenhang unbedingt notwendig waren, ausgelassen" 36 • Daß die Verse 622f. nach 621 stören würden, ist fehlgeleiteter Rationalismus. Venus hat in einer (unwirklich scheinenden) Vision Aeneas die Augen für die Realität geöffnet, daß nicht Menschen wie Helena oder Paris schuld an Trojas Untergang seien, sondern vielmehr die inclementia der Götter (601-3). Diese furchtbare Wirklichkeit muß nun nicht mit dem Ende der Venuserscheinung aufhören, sondern darf über sie hinaus sichtbar bleiben. In ähnlicher Weise vermischen sich auch in der Palinurusepisode von Buch V der reale und irreale Bereich zu einem unentwirrbaren Gemenge 37 • Gegen die Verse 622f. darf höchstens der 'Vorwurf erhoben werden, sie könnten ohne Beeinträchtigung des Kontextes fehlen 38 • Freilich ließe sich mit dieser Methode ein Großteil der Aeneisverse ausheben 39 • WAL TERS Annahme einer Marginalnoti:t0 leidet unter einem doppelten Mangel, der Unbeweisbarkeil und der begrifflichen Unschärfe. Randbemerkungen in einem (unfertigen) Buch pflegen doch grundsätzlich anders auszusehen. So steht z.B. im 1. Buch von Ciceros Schrift de legibus in der Lücke zwischen Kapitel 33 und 34 die Anmerkung: de amicitia locus. Cicero hat sich also die Ausarbeitung dieser Stelle für einen späteren
35 36 37 38
39 40
a.a.O. Zum Halbvers II 614 s.u. S. 192ff. 1933, S. 35. Siehe BERRES 1982, S. 266f. "The narrative proceeds quite smoothly without it" (SPARROW S. 31). e.g. der wunderschöne Vers X 824 (s. BERRES S. 36f.). Ebenso SPARROW S. 31.
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Zeitpunkt vorgenommen41 • Die Notiz besteht nur aus Stichworten. Wie vollkommen dagegen sind die Verse 622f. ausgearbeitet ("Virgil at his greatest", AUSTIN 42)! Der einzige 'Makel' ist doch nur die metrische Unvollständigkeit von 623. Aber diesen Mangel teilt 623 mit allen anderen Halbversen der Aeneis, die doch deshalb nicht samt und sonders als Randbemerkungen bzw. Schlüsse von Randbemerkungen aufgefaßt werden dürfen. Da uns aber durch einen glücklichen Umstand auch unvollkommen ausgearbeitete Verse (die Helenaskizze II 567-88) überliefert sind, können wir uns ein Bild von Vergils ersten Entwürfen machen. Zwischen diesen und den prinzipiell anders zu beurteilenden Halbversen hat Varius bei der Herausgabe der Aeneis sehr wohl zu unterscheiden gewußt. Ob er durch die Nichtaufnahme der Helenaverse editorische Maßstäbe (z.B. die unseres 20. Jahrhunderts) außer acht gelassen hat, ist eine andere Frage. Ernster zu nehmen ist die Behauptung, die Verse 622f. bedürften der Erweiterung43 • Natürlich kann man nicht grundsätzlich ausschließen, daß Vergil bei einer Beseitigung der Halbverse Erweiterungen angebracht hätte, wie ja überhaupt seine Zusätze der quantitativen und vor allem qualitativen Bereicherung des Epos dienen44 . Andererseits neigt Vergil bisweilen zu extremer Kürze45 . Im Fall von II 622f. wäre eine ausführlichere Darstellung der Troja feindlich gesonnenen Götter in unerträgliche Konkurrenz zu den Versen 604- 18 geraten, in denen Venus ihrem Sohn eben diese Götter bei ihrem Vernichtungswerk zeigt. Dennoch ist es dem Dichter gelungen, dem überwältigenden und furchtbaren E i n d r u c k, den die anderthalb Verse 622f. erzeugen, größeres Gewicht zu verleihen, indem er das Gleichnis von der stürzenden Bergesche (624ff.) einlegte. Der Halbvers II 623 vertritt den Normaltyp: er ist durch Enjambement an den vorangehenden Vers angehängt und überdies als Träger des Subjekts syntaktisch und inhaltlich unverzichtbar. 46 Vergil hat die metrische Fortsetzung (vermutlich den Beginn einer selbständigen syntaktischen Einheit) gestrichen, um den Vergleich anschließen zu können. Diesen ließ er, wie viele seiner Einschübe, mit einem neuen Vers anheben. Das ist nicht etwa eine unverständliche Eigenart des Dichters, sondern poetisch/inhaltliches Erfordernis. Der betonte Beginn turn vero sträubt sich gegen eine Position im Versinnern. Vergil verwendet ihn mit nur 2 Ausnahmen (IX 424; XII 776) stets am Versanfant7 • 41 Siehe BüCHNERS Anmerkung zu I 33 in seiner Übersetzung, Stuttgart 1969. - Schicksal solcher Notizen ist es, daß sie in den eigentlichen Text eingearbeitet werden (so geschehen durch VAHLEN in seiner Ausgabe, Berlin I 883). 42 1964, zu 622. 4 ' "needs expansion" (SPARROW S. 31); "destined for expansion" (GOOLD 1970, S. 151). 44 Siehe den Exkurs. 45 Z.B. et iam iussafacit (I 302). 46 Somit gehört er zur zahlenmäßig stärksten Gruppe I mit insgesamt 28 Halbversen (s.o. S. 103). 47 Belege bei BERRES 1982, S. 92 Anm. 18.
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Gibt es über den Halbvers hinaus noch andere verläßliche Hinweise auf die späte Entstehung des Vergleichs? Vergil pflegt seine Gleichnisse mit besonderer stilistischer Sorgfalt auszuarbeiten. Er lehnt sich dabei häufig nicht nur an griechische und römische Vorbilder an, sondern greift auch auf eigene Formulierungen und Ideen (oft aus anderen Vergleichen) zurück. Das Bergeschen -Gleichnis stellt in dieser Hinsicht keine Ausnahme dar. Es vereinigt in sich die Vorbilder Homer .i 482ff.; Apollonios Rhodios 4,1682ff. und Catull c. 64,105ff. 48 Außerdem fallen Übereinstimmungen mit einem Vergleich in Buch IV auf. Dort wird Aeneas' Standhaftigkeit gegenüber den Bitten der Dido mit einer Eiche im Sturm verglichen: a c v e l u t annoso validam cum robore quercum Alpini Boreae nunc hinc nunc jlatibus illinc e r u e r e inter se c e r t a n t; it stridor, et altae consternunt terram c o n c u s s o stipite frondes; ipsa haeret scopulis et quantum v e r t i c e ad auras aetherias, tantum radice in Tanara tendit. (IV 441-6) Gesperrt sind die s t i I i s t i s c h e n Gemeinsamkeiten mit dem Vergleich in ll (Text o. S. 181). Natürlich trifft ESTEVEZ' Meinung zu, daß einer der beiden Vergleiche vom anderen beeinflußt ist. "The former sheds light on the latter by way of the contrasting circumstances, although the latter has full intelligibility on its own"49 • Ohne das Abhängigkeitsverhältnis zu diskutieren, hält ESTEVEZ das erste Gleichnis für einen Teil des originalen Planes von Buch ll. Dies freilich ist wegen des Halbverses ll 623 unmöglich. In beiden Gleichnissen findet sich das Motiv des Wettstreits. In ll sind es die Bauern, die wetteifernd Hand an die Esche legen (cenatim), in IV treten die Nordwinde in Wettstreit zueinander (inter se certant). Das Motiv des Wettkampfes stammt nun aus dem griechischen Vorbild von IV: wc; o • Evpoc; re Noroc; r • eptoaiverov aAA-r]AoLLv oüpeoc; ev ß~aar;c; ßa8E1'fV 1rEAEJLLtEJLEV i,.A7'fV ...
(II 765f.),
während es in den oben genannten Vorbildern von ll fehlt. Es scheint also mit leichter Veränderung von IV nach ll übernommen zu sein. Dagegen könnte man einwenden, daß das Motiv in ll ja gut passe und sich von selbst suo loco eingestellt habe. Beide Gleichnisse aber sind nicht unabhängig voneinander, so daß bei Priorität von ll angenommen werden müßte, daß Vergil, als er IV schuf, das Motiv sowohl aus ll als auch aus II 765f. übernommen hätte. Dies ist denkbar, aber nicht der wahrscheinlichste Fall. Die Vermutung der Priorität von IV wird noch dadurch verstärkt, daß eruere in IV 443 das Ausreißen des Baumes bezeichnet, in ll 628 das Fällen mit der Axt. Mit Recht bemerkt deshalb Servius zu ll 628: Er u er e pro
48 49
Denselben Vergleich Catulls hat Vergil auch V 448f. (und vielleicht lii 680) verwendet. 1980/81, S. 334.
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deicere et est acyrologia ('uneigentliche Verwendung'). Vergilläßt nämlich, sooft er sonst eruere gebraucht, die ursprüngliche Bedeutung erkennen ('mit der Wurzel', 'aus dem Grunde'), oder sorgt zumindest daftir, daß die eigentliche Bedeutung mitschwingt und die Vorstellungskraft des Lesers lenkt50 • Die Katachrese von eruere in II 628 ist nun nicht nur Folge der Abhängigkeit von IV, sondern auch - was allerdings meine Annahme nicht gerade stützt - bewußte Anpassung des Gleichnisses an das, was verglichen werden soll, nämlich an die zuvor geschilderte Zerstörung Trojas: has evertit opes (603) - disiectas moles avulsaque saxis I saxa (608f.) - emota ... I fundamenta quatit totamque a s e d i b u s urbem I e r u i t (61012) - e x im o verti Neptunia Troia (625). Diese Übereinstimmunlf' bestätigt übrigens die Vermutung, daß der Bergeschen-Vergleich exakt ftir die Stelle gemacht ist, an der er heute steht, und nicht etwa ursprünglich nach 566 gestanden hat, womöglich, wie ESTEVEZ glaubt, mit Bezug auf Priamus' Ende. Vergil wollte vermutlich eine Neuauflage des Eichen-Winde-Vergleichs (IV) in II vermeiden und ersetzte daher die Winde durch die Bauern. Indem er so die Bedeutung von eruere und caedere miteinander vermengte und dem Fällen die großartige Vorstellung des Ausreißens beilegte, erzielte er in dieser Hinsicht gegenüber dem Gleichnis in IV eine erhebliche Steigerung. Fast Gewißheit in der Abhängigkeitsfrage gibt uns eine von der Forschung völlig übersehene Beobachtung von KUMANIECKI: die Formulierung concusso vertice (II 629) verbindet concusso stipite (IV 444) mit quantum v e r t i c e ad auras (IV 445f.), aetherias, tantum radice in Tartara tendit. 52 53 da IV 445f. genaues Georgicazitat ( = G .2,291 f. ) ist • FENIK hat die These aufgestellt, daß aufgrund der Ähnlichkeit beider Vergleiche Aeneas, dem der Vergleich in IV gilt, "indirekt" mit dem zerstörten Troja verglichen werde. Aeneas habe an heroischer Statur gewonnen, und der Baum, der auf tragische Weise in II gefallen sei, stehe
50 Sämtliche Belege: eruere in Bezug auf Städte oder Dinge gebraucht: II 5.612 (totamque a sedibus urbem I eruit); VI 838 (Argos und Mycenas jedoch im nächsten Vers zeugmatisch um ipsumque Aeaciden erweitert ls. CoNINGTON zu 8391); XI 279; XII 569. Von Pflanzen, insbesondere Bäumen: G.l,320 (segetem ab radicibus imis I sublimem expu/sam eruerem); 2,210 (cum stirpibus imis I eruit); 4,329; A.ll 628 (unser Gleichnis); IV 443 (Daß die Eiche fest verwurzelt ist und sich deshalb n ich t ausreißen läßt, wird 445f. deutlich gesagt); V 449 (radicibus eruta pinus). 51 Die noch weiter reicht: vgl. traxitque iugis ls. auch: summis ... in momibus, 626] avulsa ruinam (631) mit srernirque a culmine Troiam (603). 52 Die Georgicastelle geht letzten Endes auf 8 16 (- Hesiod Th. 720) zurück. Vergil hat
seine eigene Formulierung später noch einige Male anklingen lassen, teilweise unter Aufnahme weiterer Vorbilder: I 564f. (vgl. Lucr. 3,405 und 5,857); VI 577-9 (vgl. Lucr. 4,416f.); VI 761f. 53 Quo temporis ordine Vergilius singulos Aeneidos libros elaboraverit, Archiwum Filologiczne PAU Nr. 4, Krakau 1926, S. 18.
Bergeschen- Gleichnis (II 626-31) und Halbvers II 623
190
nun fest und wolle kein zweites Mal zu Boden stürzen 54 • Natürlich sehen wir in dem vergilischen Epos Aeneas eine Entwicklung durchlaufen, dies sogar im Sinne von FENIK; aber die hier dem Dichter unterstellte Art der indirekten Andeutung grenzt ans Abstruse. Der Umstand, daß Vergil den Vergleich in li erst nach IV gemacht hat, entzieht FENIKS These die Grundlage55 • Welche konkreten Ergebnisse haben wir nun durch die Analyse des Bergeschen- Vergleichs und des ihm vorangehenden Halbverses für die Aufhellung der Helena- Venus -Szene gewonnen und welche weiteren Überlegungen lassen sich daran anschließen? Das Gleichnis ist, wie seine inhaltlich -strukturelle Einbindung in den Kontext und der Halbvers als Schnittstelle zeigen, für den jetzigen Ort geschrieben, allerdings erst secundis curis. Damit entfallen alle Spekulationen, die ihm in einer früheren Phase der Aeneis seinen Platz hinter Vers 566 anweisen wollten (PEERLKAMP, HENRY, ESTEVEZ)56 • Die fehlende Apodosis ist einziges Zeichen für die mangelnde Vollendung des sonst bis ins letzte ausgefeilten Gleichnisses. Zwischen dieser Unfertigkeit und dem vorangehenden Halbvers besteht kein notwendiger, aber doch ein mittelbarer Zusammenhang. Nimmt man noch den 2. Halbvers der Helena-Venus-Szene, 614, hinzu, wird es offenkundig, daß diese Aeneispartie sich eine starke Überarbeitung gefallen lassen mußte57 • Der 3. Halbvers, 640, der zwar außerhalb der Szene liegt, aber, wie ich im übernächsten Kapitel zeigen werde, Folge der Einfügung der HelenaVenus-Partie ist, rundet dieses Bild ab. Nirgendwo sonst in der Aeneis finden sich 3 Halbverse auf derart engem Raum beieinander8 • Wie weit nun der Einschub nach Halbvers 623 reicht, ist ein verwickeltes Problem. Es wäre ja denkbar, daß nicht nur der unvollständige Vergleich (624-31), sondern auch eine mehr oder weniger große Zahl der darauf folgenden Verse eingefügt ist. In erster Linie muß man an die Verse 632f. denken:
descendo ac ducente deo jlammam inter et hostis expedior: dant tela locumjlammaeque recedunt, die mit der Helena- Venus- Szene wahrscheinlich in Widerspruch stehen (s.o. S. 94ff.). Doch wird man nicht leicht annehmen, daß Vergil die Verse 632f. g I e i c h z e i t i g mit dem Bergeschen -Gleichnis, das ja die Venuserscheinung voraussetzt und insofern den vermutlich spätesten Teil des Einschubs darstellt, geschrieben hat. Denn dann wäre die Ungeschicklichkeit
54
Parallelism of Theme and lmagery in "Aeneid" II and IV., AJP 80, 1959, S. 1-24, hier
S. 23f. 55 PöSCHL hat sich in seiner schönen Interpretation der beiden Gleichnisse (Die Dichtkunst Virgils, Darmstadt 2 1964, S. 75 -9) vor FENIKS verstiegener Kombination in acht genommen. 56 Siehe o. S. 90ff. 57 Siehe auch SCHÜLER 1883, S. 22. 58 Schon von DEU11CKE beobachtet (1889, S. 331 ).
Bergesehen-Gleichnis (II 626-31) und Halbvers II 623
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von 632f. unbegreiflich. Andererseits ist es zunächst nicht denkbar, daß zu einem früheren Zeitpunkt, als das Gleichnis noch nicht vorhanden war, 632f. unmittelbar auf 622f. gefolgt wäre. Denn inimica Troiae numina deum steht in unversöhnlichem Gegensatz zu ducente deo. Gegenbeweis ist auch der Halbvers 623, der durch seine bloße Existenz bezeugt, daß er ursprünglich vollständig war und sich ihm möglicherweise noch weitere, jetzt verlorene Verse anschlossen. Auf der anderen Seite gehört der Halbvers 623 vielleicht selber einem Einschub an (wegen Halbvers 614: s. das nächste Kapitel). Es hilft an dieser Stelle wenig, die verschiedenen Stufen der Entstehung hinabzusteigen, da wir zwar einige Schnittstellen (die Halbverse) genau lokalisieren können, aber nicht wissen, was in den weggeschnittenen und aufgegebenen Versen gestanden hat. Wir müssen bei der Auswertung von Widersprüchen also sehr vorsichtig sein, weil ihre genetischen Bedingungen oft nicht deutlich erkennbar sind.
HALBVERS II 614 Venus hat Aeneas das Dunkel von den Augen genommen und läßt ihn das Zerstörungswerk der Götter erkennen:
. . . hic luno saevissima ponas prima tenet sociumque furens a navibus agmen ferro accincta vocat. iam summas arces Tritonia, respice, Pallas 615 (ll 612-6) insedit nimbo e.ffulgens et Gorgone saeva. . .. Vor dem Halbvers 614 hören wir von Neptun und Juno, nach ihm von Minerva und Jupiter. Der Halbvers steht also mitten in einem inhaltlichen Kontinuum. Dies hat wohl SPARROW gespürt, wenn er meinte, der Halbvers scheine "entirely without point", aber es sei auch nichts in der Rede, was ihn als unvollendet erweise 1• Diese Äußerung ist um so bemerkenswerter, als sie sich mit den gängigen Halbverstheorien (Halbverse als Zeichen mangelnder Vollendung o d e r - paradox genug - als poetische Stilmittel) nicht verträgt. Dennoch behauptete PARATORE mit bekannter Willkür, daß Aeneas an der Abbruchstelle des Verses geschluchzt habe2 • Offensichtlich glaubte PARA TORE, sich über AUSTINS apodiktische Äußerung hinwegsetzen zu dürfen, daß nichts einen "modernen Leser" empfinden lasse, daß die Zeile, wie sie dastehe, "effective" sd. Aber auch CARTAULT geriet mit seiner Theorie, nach der Halbverse die Schlüsse von Einschüben bilden, im Falle von ll 614 in arge Bedrängnis; denn er räumt ein, es sei möglich, daß nach dem Halbvers "actuellement inacheve il y efit primitivement quelque chose que Virgile aura marque du signe de Ia suppression et que ... Varius a omis" 4 • CARTAULT vermutet also zwischen 614 und 615 eine Lücke. Aber ihre inhaltliche Füllung hätte vermutlich sowohl nach oben als auch nach unten Anschluß haben müssen. Dann ließe sich der Inhalt des Verlorenen leicht erschließen: es könnte sich nur um die Darstellung weiterer Götter handeln, die Trojas Untergang auf diese oder jene Weise förderten. Warum aber sollte Vergil diese Verse stigmatisiert haben? Waren sie etwa nicht makellos? Er hätte sie verbessern können. Waren sie überflüssig? Warum hat er sie dann überhaupt geschrieben? - CARTAULTS Annahme einer Lücke ist nichts als eine aus der Not geborene Fiktion, die
I
S. 38.
Genaues Zitat o. S. 186. - Anders WEIDNER 1869, Kommentar zu II 614: "Der Eindruck ist zu gewaltig, als dass der Schauende mit dem Auge sofort den Worten der Göttin folgen könnte". 3 1964, zu 614. 4 1926, Anm. I zu S. 200. 2
Halbvers II 614
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zwar (zunächst) nicht streng widerlegbar erscheint, jedoch alle Wahrscheinlichkeit vermissen läßt. Von besonderem Interesse aber ist es, daß CARTAULT hier meiner Theorie ganz nahe kommt, indem er den Halbvers li 614 wohl als Rest eines ehemals kompletten Hexameters versteht und die alte Fortsetzung des Halbverses für aufgegeben und verloren hält. Der Unterschied freilich liegt darin, daß ich die vergilische Streichung zwanglos und einleuchtend erklären kann. Die Weiterführung war nämlich deswegen unbrauchbar und störend geworden, weil sich der Dichter entschlossen hatte, die Schilderung von Neptuns und Junos Aktivitäten (608 -14) um einen zusätzlichen Teil (615ff.: Minerva und Jupiter) zu erweitern. Erweiterung ist ja die Funktion a I I e r Partien nach Halbversen (s. Exkurs). Die Schnittstelle mußte also unmittelbar hinter dem letzten Wort liegen, das mit Junos Handlung zusammenhing: hinter vocat. Da vocat im Versinnern liegt, entstand ein Halbvers. Deutlich ist auch zu erkennen, warum Vergilden neuenTeil nicht direkt nach vocat, also noch in demselben Vers beginne ließ. Auf alle vier Gottheiten wird mit einer Partikel, die Aufmerksamkeit heischt, hingewiesen: hic (608, Neptun), hic (612, Juno), iam (615, Minerva) 5 , 2x ipse (617f., Jupiter) 6 • Ganz natürlich verlangen diese Wörter eine bevorzugte Position im Vers. Am Anfang stehen hic (608), iam (615) und ipse (617), an zweiter Stelle hic (612) und ipse (618), die beiden letzten jeweils nach kurzem, aber um so effektvollerem Enjambement (eruit, 612; sufficit, 618). Sollte Vergil von diesem sich aus der Sache selbst ergebenden Kompositionsprinzip 7 abweichen, nur um den Halbvers aufzufüllen? Ein solches Verfahren, gleichbedeutend mit bloßem Verseschmieden, wäre der poetischen Qualität der Aeneis höchst abträglich gewesen. Die Beobachtung, daß die Struktur bzw. die durch sie bedingte Wortwahl den Beginn eines Einschubes am Versanfang nahelegt, läßt sich auch sonst machen 8 • Dies könnte denjenigen ein Argument an die Hand geben, die die Halbverse auf Ermattung des Dichters zurückführen. Eine solche Auffassung wird aber der Fülle der Beobachtungen nicht gerecht (s. Exkurs).
'iam: "a newstage in the horror" (AUSTIN 1964, zu 615). Siehe AUSTIN zu 608. Er sieht hierin zurecht ein "remorseless picture". Dieses finden wir auch in der Heldenschau von Buch VI. Ich möchte hier nicht alle Varianten bzw. Ausnahmen erörtern, wenigstens aber auf die bedeutendste Abweichung hinweisen: Caesar wird erst nach der Penthemimeres neu eingeflihrt. Vorausgehen jedoch anderthalb hochstilisierte, pathetische Verse, die auf die kommenden Personen vorbereiten sollen: 6
7
huc geminas nunc jlecte acies, hanc aspice gentem Romanosque tuos. hic Caesar et omnis Juli progenies ... (VI 788-90) hic steht also an der 'richtigen' Stelle. 8 Z.B. bei den Halbversen 11 623 (o. S. 187); 11 640 (u. S. 195tf.); 11 767 (S. 141 Anm. 32); III 316 und VIII 536 (S. 123); IV 516 (ipsa, 517: Personenwechsel); VI 835 (S. 131); V11 129 (S. 131); IX 761 (S. 159f.); XI 391 (pulsus ego, 392: empörtes Zitat von pulsus abi, 366).
194
Halbvers II 614
Die Aufgabe des Einschubes 615ff. 9 besteht darin, das Wirken der Götter bei der Zerstörung Trojas noch stärker in den Vordergrund zu rücken. Dies ist ja gerade die Funktion der (Helena-) Venus-Szene, Aeneas darüber aufzuklären, daß nicht menschliche Schuld (Helena, auch Paris), sondern die divum inclementia den Untergang bereitet (601-3).
9
Wie weit die Einlage reicht (höchstens aber bis 623}, ist eine schwierige Frage.
DIE EINBETTUNG DER HELENA- UND VENUSSZENE IN DAS 2. BUCH (II) UND DER HALBVERS II 640 In Teil I (S. 89ff.) haben wir gesehen, wie die Forschung von unterschiedlichen und teilweise unvereinbaren Positionen aus zu der Auffassung gelangt ist, die Verse TI 567-623 (631) seien nicht ursprünglicher Bestandteil von Buch ll gewesen und deshalb herauslösbar. Diese Hypothese empfiehlt sich schon deshalb, weil mit der Herausnahme der Verse die Schwierigkeiten der Lokalisation und der Identifizierung von deo (632) mit Venus (o. S. 94ff.) sowie der Widerspruch zur Deiphobusszene von Buch VI fortfallen. Aufgrund der Untersuchungen der beiden letzten Kapitel über die Halbverse ll 614 und 623 können wir die Hypothese dahingehend präzisieren, daß der Einschub, wenn man einen solchen annimmt, bis 631 (also inclusive Bergeschen -Gleichnis) gereicht haben muß und die Venusszene eine Überarbeitung durch Vergil erfahren hat und deshalb nicht in einem Zuge geschrieben worden ist. Damit ist aber erneut die Frage nach der Herauslösbarkeit von 567-631 aufgeworfen, weil die genannten Schwierigkeiten möglicherweise auf bestimmte, erst später hinzugesetzte Partien zurückgeführt werden müssen und Schlußfolgerungen daraus für die Szene im ganzen problematisch sein könnten. Wir wollen aber diese methodischen Bedenken beiseite lassen und die Hypothese auf ihre Konsequenzen hin überprüfen. Wenn nämlich die Venusszene in ihrem Grundbestand sekundär sein sollte, so dürfen wir wenigstens vermuten, daß Vergil diese Partie nachträglich mit Teilen des 2. Buches verknüpft hat. Es versteht sich dabei von selbst, daß auch nur ein einziges, als sekundärer Zusatz enttarntes Verbindungsglied die Hypothese in fast sicheres Wissen verwandelt. Der Halbvers ll 640 ist das markanteste Zeichen für die sekundäre Einbettung der Venusszene und verdient deshalb größte Beachtung. Aeneas hatte sich sofort nach dem Ende der Vision in sein Haus begeben, um seinen Vater in die Berge in Sicherheit zu bringen. Aber Anchises lehnt die Hilfe ab:
640
abnegat excisa vitam producere Troia exiliumque pati. "vos o, quibus integer aevi sanguis," ait, "solidaeque suo stant robore vires, vos agitate fugam. me si caelicolae voluissent ducere vitam, has mihi servassent sedes. satis una superque vidimus excidia et captae superavimus urbi. . . .
(637 -43)
WALTER gelingt es hier nicht, eine poetische Unvollkommenheit zu entdecken; vielmehr erkennt er die feste Verklammerung der Verse
196
Einbettung der Helena-Venus-Szene in das 2. Buch (II) und Halbvers II 640
untereinander und ihren kunstvollen Bau an. Und so erklärt er sich den Halbvers mit der Annahme, Vergil sei "im Augenblick der Konzeption keine rechte Ergänzung des Verses 640 eingefallen" und er habe gerade an dieser Stelle den Halbvers nicht durch einen tibicen vervollständigen wollen 1 • Dieser moderaten (wenn auch unzutreffenden) Erklärung stehen die verstiegenen der metrischen Effekthascherei gegenüber: noch vorsichtig und allgemein bleibt SPARROW mit seiner Ansicht, die metrische Unregelmäßigkeit stimme mit dem bewegten Kontext überein2 . Konkreter schon ist WEIDNER, der den Abbruch des Verses auf den Schmerz zurückführt, der Aeneas am Sprechen hindere3 • PARATORE endlich meint, der unvollständige Vers scheine "un voluto carattere di brusca decisione, quasi di schianto irreparabile" zu haben4 • Wir wollen nicht PARATORE gegen WEIDNER ausspielen und fragen, wer von beiden wohl Recht habe. Aber PARATORE muß sich die Frage gefallen lassen, warum er die drei Halbverse II 614.623 und 640, die nicht nur räumlich eng benachbart sind, sondern auch jeweils nach der Penthemimeres abbrechen, die aus drei Wörtern bestehen und durch Enjambement unlösbar mit dem vorangehenden Vers verbunden sind: ferro accincta vocat (614) numina magna deum (623) vos agitate fugam (640), auf unterschiedliche poetische Absichten zurückführt5 • Das in der Antike sonst nicht bekannte Kunstmittel halber Verse wäre dann ein Universalinstrument zur Erzeugungjeder beliebigen Wirkung. Aber diese Willkür ist nicht dem Dichter, sondern dem Interpreten anzulasten. Das Abbrechen der drei Verse nach jeweils derselben Zäsur ist Zufall und nicht poetische Absicht. Da nämlich Halbverse, wie im Exkurs gezeigt wurde, im allgemeinen dann entstehen, wenn Vergil eine neue Versfolge in einen bestehenden Zusammenhang einfügen wollte und der vorangehende alte Text syntaktisch im Versinnern endete, konnte Vergil die Länge des Enjambements bzw. des Halbverses natürlich nicht verändern. Hätte er z.B. nach den Versen II 259.279.283.285.286 jeweils eine Partie neu angefügt, wären 5 Halbverse von derselben metrischen Länge (Penthemimeres) entstanden6 • Da der Halbvers II 640 (ebenso wie II 614 und 623) von typischer Bauart ist1, dürfen wir die folgenden Verse mit Sicherheit für eingeschoben halten. Daher erklärt sich auch der (scheinbar) tadellose inhaltliche Übergang vom Halbvers zum Folgenden. Gerade die Perfektion, also das Fehlen einer
(933, S. 35f. Half -lines and repetitions in Virgil, Oxford 1931, S. 42. 'Kommentar zu II 604. 4 PARATORE (s.o. S. 185 Anm. 34) S. 134. 5 Zu PARATORES Interpretation von II 614 und 623 s.o. S. 185f. • Deshalb ist es auch kein Wunder, daß die Halbverse normalerweise an den üblichen Zäsuren enden. - Eine metrische Statistik der Halbverse bei SPARROW S. 27. 7 Er gehört zur Gruppe I (o. S. 103) bzw. zur 2. Klasse (o. S. 113). I
2
Einbettung der Helena-Venus-Szene in das 2. Buch (II) und Halbvers II 640
197
Inhaltslücke bei fast allen Halbversen, hat diejenigen, die von u n v o 1 I e n d e t e n Versen sprechen, in größte methodische Schwierigkeiten gebracht. Wenn also die Verse II 64lff. sekundärer Zusatz sind, welche Gründe haben dann Vergil zu einer solchen Maßnahme bewogen? Betrachten wir deshalb zunächst den Anfang der Anchisesrede, die ja bis zum Halbvers einschließlich dem ursprünglichen Text angehört. Anchises fordert seine Angehörigen zur Flucht auf. Die verdeckte Begründung gibt er in einem Relativsatz (quibus ... ):sie seien nämlich nochjung und im Vollbesitz ihrer Kräfte. Dies sagt er im Gegensatz zu seiner eigenen Person, einem alten Mann, und betont es noch durch die Anapher von vos. Außerdem bringt er mit suo robore indirekt zum Ausdruck, daß e r nur noch mit fremder Hilfe fliehen könnte8 und deshalb ein Hemmschuh für die anderen wäre9 • Unmittelbar nach der metrischen Lücke fährt er fort:
me si caelicolae voluissent ducere vitam, (641 f.) has mihi servassent sedes. . .. me halte das Gleichgewicht zu vos (640) und bilde zugleich ein adversatives Asyndeton, meint AUSTIN zu recht 10 • Aber worin besteht denn die Entgegensetzung? Nicht darin jedenfalls, wie wir erwarten sollten: daß Anchises auf seine eigene Hinfälligkeit hinwiese. Vielmehr interpretiert er die Zerstörung Trojas als Manifestation des göttlichen Willens, daß er nicht länger leben solle. Die Gegenüberstellung vos ... vos - me ist durch eine kühne Verschiebung der logischen Struktur gekennzeichnet 11 • Wir müssen deshalb nach dem Grund dieser Abnormität und zugleich nach dem eben dadurch angezeigten besonderen Inhalt der eingeschobenen Verse fragen. Anchises bringt die seiner Meinung nach ihm feindlich gesonnenen Götter ins Spiel (641-9). Dies ist überraschend, war doch Aeneas von Venus beauftragt worden, seine Familie, allen voran seinen Vater Anchises 12 , zu retten. Sollte Aeneas ihm denn nichts vom Auftrag der göttlichen Mutter berichtet haben? Tatsächlich hören wir nichts davon in den wenigen Versen, die zwischen Aeneas' Abstieg vom Dach (descendo, 632) und Anchises' Weigerung zu fliehen liegen. Nun ist aber HEINZE darin recht zu geben, daß Vergil, im Streben nach Konzentration, nicht alles erzählt und den ersten Teil von Anchises' Rede kurz abtut (abnegat ... pati, 637f.), "um so das Siehe CONINGTON zu II 639. Siehe AUSTIN I 964, zu II 640. 10 1964, zu 641. 11 Eine demgegenüber einfache, wenn auch äußerlich in mancher Hinsicht sehr ähnliche Stelle
8 9
ist:
vivite felices, quibus est jonuna peracta iam sua: nos alia ex aliis in fata vocamur.
(111 493f.)
Hier sei mir an diejenigen, die in den Halbversen Kunstmittel wittern, die Frage erlaubt, warum Vergil nach iam sua den Vers nicht vorzeitig abbrechen ließ. 12 597 wird Anchises noch vor Creusa und Ascanius genannt.
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Einbettung der Helena-Venus-Szene in das 2. Buch (II) und Halbvers II 640
Pathos der mitleiderregenden Schlußworte breiter entwickeln zu können, ohne doch durch eine lange Rede die Handlung empfindlich hemmen zu müssen" 13 • Vergil könnte also eine auf Venus bezogene Äußerung des Aeneas unterschlagen haben. Für diese Erzähltechnik (KOITa Ta u~w7rWIJ.fiiOII) sprechen entschieden die Verse 664 -7, mit denen Aeneas nach den fehlgeschlagenen Bemühungen, seinen Vater umzustimmen, bittere Klagen gegen Venus erhebt: hoc erat, alma parens, quod me per tela, per ignis eripis, ut mediis hostem in penetralibus utque Ascanium patremque meum iuxtaque Creusam alterum in alterius mactatos sanguine cernam? Diese Worte spielen unmißverständlich auf die vorliegende Venusszene an. Da wir nicht annehmen dürfen, daß Aeneas diesapart gesprochen hat, so daß seine Angehörigen ihn nicht hätten verstehen können, müssen wir davon ausgehen, daß auch Anchises von Venus' Befehl, ihn zu retten, wußte. Dann aber sind die Worte, mit denen Anchises den Göttern die Absicht unterstellt, ihn nicht länger leben lassen zu wollen (641-9), nur vor dem Hintergrund der Venusszene zu verstehen 14 • Sie stellen eine scharfe Absage an die göttliche Hilfe dar. Anchises beruft sich für seinen Unglauben auf das Faktum der zweimaligen Zerstörung Trojas und darauf, daß er schon längst den Göttern verhaßt sei, seit Jupiter ihn mit dem Blitz getroffen habe. Diese Strafe, die ihn zum Krüppel gemacht hatte 15 , war die Folge davon, daß er sein Verhältnis mit Venus trotz des Verbotes ausgeplaudert hatte. Deutlich ist erkenrtbar, daß Anchises die Erscheinung der Venus nicht abstreitet und die ihm zugesagte Hilfe nicht direkt zurückweist, sondern seine früheren schlechten Erfahrungen ins Feld führt. Die bittere Absage an die Götter ist nun nach Ausweis des Halbverses 640 später hinzugesetzt. Ursprünglich hatte Anchises die Weigerung zu fliehen mit seinem Alter begründet. Die göttliche Dimension existierte für ihn noch nicht, weil - so müssen wir folgern -es die Venusszene noch gar nicht gab. Der Einschub, der das neue Motiv von Venus' Eingreifen berücksichtigen sollte16 , hat zu einer leichten Unstimmigkeit geführt. Hatte Anchises im ersten (ursprünglichen) Teil der Rede sein Weiterleben mit dem indirekten Hinweis auf sein 1915, s. 410. Hier sei eine stilistische Einzelheit vermerkt. Anchises nennt die Götter 'caelicolae' (641), eine Bezeichnung, die wir auch am Anfang der Venusszene finden (592). Das Wort begegnet uns bei Vergil sonst nur noch: III 21; VI 554.787; X 6.97.117. Diese Stellen liegen außer III 21 räumlich weit ab. " Dies wird zwar von Vergil nicht ausdrücklich gesagt, muß aber so verstanden werden. Damit kommt eine Unstimmigkeit in das Anchisesbild bei Vergil (s. AUSTIN 1964, zu II 649). 16 Es ist schwer vorstellbar, daß Anchises in einem früheren Zustand des Gedichtes die Venuserscheinung Kcrra 'TO au.J11'W/otEIIOII übergangen hätte. In diesem Fall nämlich hätte Vergil unbegreiflicherweise auf ein äußerst wirkungsvolles Motiv verzichtet. Der Zweck der Erzähltechnik KOt'I'Ot 'TO au.J'II'W/otfllov kann aber nur darin liegen, überflüssige oder umständliche Ausführungen bzw. Wiederholungen zu vermeiden. I!
14
Einbetnmg der Helena-Venus-Szene in das 2. Buch (II) und Halbvers II 640
199
hohes Alter abgelehnt, so will er im zweiten (hinzugesetzten) nicht mehr länger leben, weil die Götter es nicht wollten. Beide Begründungen schließen strenggenommen einander aus: der vermeintliche Götterwille hat nichts zu tun mit dem hohen Alter des Anchises. Vergil aber, der soviel wie möglich von der früheren Rede zu bewahren suchte, überdeckte die logische Diskrepanz mit der geschickten Antithese vos - me, deren Kraft 17 den Leser oder Hörer verleitet, nicht genauer nachzudenken. Die doppelte Motivierung von Anchises' Weigerung hat sich auch in einer stilistisch unschönen Wiederholung niedergeschlagen: vitam producere (637) - ducere
vitam (641) 18 • Wenn nun auch die Erkenntnis, daß die Verse II 64lff. dazu dienen, die Venuserscheinung nachträglich in den Rahmen von Buch II einzubeziehen, die Hypothese, daß Helena- und Venusszene (567-631) dem Buch II ursprünglich nicht angehört haben, bestätigt hat, so bleibt doch noch ein scheinbarer Zweifel. Denn FLECK sieht "den endgültigen Beweis für die Unhaltbarkeit" dieser Hypothese in den Versen 664f. 19 , wo Aeneas bitter mit Venus abrechnet, die ihn nur gerettet habe, um ihn noch schlimmere Greuel sehen zu lassen. Sollten sich Aeneas' Worte, so folgert FLECK, nicht auf die Venusszene beziehen, sondern nur auf die Verse 632f. (descendo ac ducente deo ... ), so müßte man deo (632) mit Venus identifizieren20 ; diese Identifizierung jedoch sei nur möglich, wenn die Venusszene vorausgegangen sei. FLECK ist hier einem verdeckten Zirkelschluß erlegen. Hält man nämlich gegen FLECK 567-631 für eingeschoben, so muß man dasselbe auch für 664ff. annehmen. Natürlich wäre es ein willkürliches Verfahren, eine Partie aus der Aeneis herauszunehmen und weitere, dieser Maßnahme entgegenstehende Verse ebenfalls der Bearbeitung zuweisen zu wollen. Dieses Vorgehen haben Leute wie GERCKEZ 1 in weitestem Umfang praktiziert und damit zurecht in Mißkredit gebracht. Unser Fall stellt sich prinzipiell anders dar. Die Herausnahme der (Helena- und) Venusszene ist, wie der Überblick über die Forschungsgeschichte gezeigt hat22 , gut begründet und keinesfalls Willkür. Außerdem ist der zweite Teil der Anchisesrede (64lff.), der auf die Venuserscheinung 17 Deshalb steht me am Versanfang und ist nicht zur metrischen Vervollständigung des Halbverses gebraucht worden (weitere Beispiele o. S. 193 Anm. 8). Siehe auch die nächste Anm. 18 Wiederholung von 2 zusammenhängenden Wörtern auf so engem Raum sind bei Vergil nicht an der Tagesordnung (o. S. 37ff.). - Wer jedoch die Doppelung erklären will mit der Herkunft von
me si caelicolae voluissent ducere vitam
(II 641)
me sifata meis paterentur ducere vitam
(IV 340),
aus würde die These, daß II 64lff. sekundär seien, nur zusätzlich abstützen. •• 1977, S. 78 (s.o. S. 93). 20 Ähnlich auch AUSTIN 1964, zu II 589-623. 21 Die Entstehung der Aeneis, Berlin 1913. 22 Oben S. 89ff. (bes. S. 93f.) und S. 195.
200
Einbettung der Helena-Venus-Szene in das 2. Buch (II) und Halbvers II 640
indirekt eingeht und sie in den Kontext integriert, nach Ausweis des Halbverses 640 sekundär eingelegt. Da man bisher in der Forschung mit den Halbversen so gut wie nichts anfangen konnte, ist durch den Halbvers 640 ein neues Beweismittel hinzugekommen. Aus der sekundären Entstehung von 567-631 u n d 641 ff. ergibt sich mit Notwendigkeit, daß auch die Verse 664-7 (Text o. S. 198) eingeschoben sind. Die in diesen Versen gebrauchte Apostrophe (an Venus) war für Vergil ein bequemes Mittel zur Einschaltung. Daß sich diese 4 Zeilen aus dem Kontext herauslösen lassen, will ich nicht als Argument aufführen, da auch ihre Umgebung sekundär sein könnte. Wie dem auch sei, der späte Teil der Anchisesrede (641ff.) und die Venusapostrophe (664 -7) haben außer ihrer gemeinsamen technischen Funktion (Einbindung der Venuserscheinung) auch noch eine stilistische Quelle gemeinsam: II 507-27. Zuerst nenne ich die Übereinstimmungen mit 64lff.: 507 urbis . . . captae 643 captae . . . urbi Die Verbindung bei Vergil nur hier. 510
et inutile 647 et inutilis Jeweils an qerselben Versstelle; inutilis bei Vergil sonst noch G.l,88 und A.X 794.
Inhaltliche Nähe liegt vor bei 511 densos jenur moriturus in hostis
645 ipse manu mortem inveniam; miserebitur hostis ...
Die Übereinstimmungen mit 664-7: 50718 vidit I . . . medium in penetralibus hostem 512 aedibus in mediis
}
mediis hostem in 66517 penetralibus . . . I ... I ... cernam
513
iuxtaque 666 iuxtaque Die Verbindung bei Vergil nur hier. 664 per tela, per ignis 527 per tela, per hostis Jeweils Versende; die Wendung findet sich außerdem II 35823 ; vgl. auch XII 682 perque hostis, per tela. Wenn auch diese Anklänge durch eine verwandte Thematik ermöglicht worden sind, so weist ihre Zahl, die wegen des geringen Umfanges der verglichenen Stücke als relativ groß angesehen werden muß, auf einen engen entstehungsgeschichtlichen Zusammenhang hin. Am natürlichsten bietet sich die Erklärung an, daß Vergil die Neufassung der Anchisesrede und die Venusapostrophe zur selben Zeit verfaßt hat. Da 641 ff. sekundär ist, muß es wohl auch 664-7 sein24 •
II 358 gehöne wohl ursprünglich Buch II nicht an (s.o. S. 140f. zum Halbvers II 346). Aeneas redet Yenus in der Apostrophe mit alma parens an (664). Die Wone sind "bitterly repeated" aus 591 (AUSTIN 1964, zu 591; siehe sogar FLECK 1977, S. 78; die Verbindung sonst 23
24
Einbettung der Helena-Venus-Srene in das 2. Buch (II) und Halbvers II 640
201
Eine weitere Anspielung auf die Venusszene liegt in IV 227f. vor (s. CONINGTON zu 228). Wir können hier auf eine genetische Untersuchung verzichten, weil es genügt, ein einziges Verbindungsstück als sekundär enttarnt zu haben. Denn da Anchises erst in den hinzugesetzten Versen II 641ff. indirekt auf Aeneas' göttlichen Auftrag eingeht, aber bei ursprünglicher Existenz der Venusszene ein entsprechender Hinweis auch in der früheren Fassung der Anchisesrede notwendig gewesen wäre, kann über den Spätansatz der Venusszene kein vernünftiger Zweifel mehr bestehen 25 • Im folgenden Abschnitt sollen wichtige26 stilistische Anklänge der Venusszene sowie der folgenden mit ihr zusammenhängenden Verse (589-671) gesammelt und eventuell kurz besprochen werden. (1) II 593
insuper in Redeeinleitung nur noch XI 107
(2) II 597f. Creusa I Ascaniusque = II 651 f. Vielleicht gehört 651 f. noch zu dem mit 641 beginnenden Einschub . (3) II 604f.
... (nubes), quae nunc obducta tuenti monalis hebetat visus ...
vgl. VI 730-2 igneus est ollis vigor et caelestis origo seminibus, quantumnon noxia corpora tardant terrenique hebetanr7 artus moribundaque membra. VI steht Lucr. 3,128f. wesentlich näher: est igitur calor ac ventus vitalis in ipso corpore, qui nobis moribundos deserit artus. vgl. auch Lucr. 3,151: per membra atque artus nulla novitate cietur. Man kann also nicht mit Sicherheit ausschließen, daß II 605 ein Nachklang von VI 732 ist. nur noch X 252). Aus 592, also einen Vers vorher, ist das bei Vergil recht seltene caelicolae in den späten Teil der Anchisesrede eingedrungen (641; s.o. S. 198 Anm. 14). Auch in diesem Punkt läßt sich die enge genetische Verwandtschaft der beiden sekundären Verbindungsglieder erkennen. 2' Ungewiß ist, ob auch 111 475f.
coniugio, Anchisa, W!neris dignate superbo, cura deum, bis Pergarneis erepte ruinis auf die Venuserscheinung in II anspielt. Immerhin könnte die feierliche Ausschmückung des Namens Anchises (Gemahl der Venus und cura deum) eine solche Beziehung nahelegen. Aber auch dann wären die Verse 111 475f. ganz und gar nicht eine Stütze ftir die Annahme der Ursprünglichkeit der Venussrene in II, weil 111 475f. zu einem Einschub in Buch 111 gehören (s.o. S. 142ff. zum Halbvers 111 470). " Wichtig insofern, als sie möglicherweise zur Aufhellung der Genese beitragen. Weiteres Material kann über den Index gefunden werden. 27 hebetare bei Vergil nur an diesen beiden Stellen.
202 (4)
Einbettung der Helena-Venus-Szene in das 2. Buch (II) und Halbvers II 640
n 605
umida circum
vgl. Xll 476
et nunc ponicibus vacuis, nunc umida circum
Xll 476 sieht aus wie eine Kombination aus ll 605 und ll 761 (et iam ponicibus vacuis). Da Vergil solche Kombinationen liebt (s.o. S. 15 Anm. 7) und sie häufig sekundär sind (sie entspringen Vergils Neigung zur Konzentration [s. BERRES 1982, S. 333 s. v. Konzentration]), lag bei Niederschrift von Buch Xll die Venusszene wohl schon vor. (5)
n 606f.
tu ne qua parentis iussa time neu praeceptis parere recusa.
Diese Worte stellen eine seltsame Vermengung von
praecepta parentis
V 747
und V 749
nec iussa recusat Acestes.
dar. Sofern man Konzentration generell für sekundär hält zu (4) -' ist n 606 vielleicht spät. (6)
n 608
siehe
disiectas mo/es
und
n 631
traxitque iugis avulsa ruinam.
werden vereinigt in
vm
191 f.
disiectae procul ut mo/es desertaque montis stat domus et scopuli ingentem traxere ruinam.
Da TI 608 und ll 631 unterschiedlichen genetischen Schichten angehören (631 ist Bestandteil des nachträglich eingelegten BergeschenGleichnisses und von 608 durch 2 Halbverse 'getrennt'), liegt die Vermutung näher, daß Vill die beiden Stellen in ll kombiniert, als daß Vergil Vill zweimal zu verschiedenen Zeiten für TI benutzt hätte. Allerdings sind beide Verfahren sehr wohl denkbar. (7) ll 612-4
hic Iuna Scaeas saevissima portas prima tenet sociumque furens a navibus agmen ferro accincta vocat. (Ha1bvers)
vgl. VI 570-2 continuo sontis ultrix accinctaflagello
Tisiphone quatit insultans, torvosque sinistra intentans anguis vocat agmina saeva sororum. Mit quatit (VI 571)
vgl.
quatit (TI 611).
Einbettung der Helena-Venus-Szene in das 2. Buch (II) und Halbvers II 640
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(8) II 614 ferro accincta vgl. II 671 ferro accingor. Die Verbindung gibt es nur an diesen beiden Stellen. Dies verstärkt die Vermutung, daß 671 von 614 abhängt und ebenfalls spät ist. (9) II 624f.
turn vero omne mihi visum considere in ignis Ilium et ex imo verti Neptunia Troia.
vgl. ill2f.
ceciditque superbum Ilium et omnis humo fumot Neptunia Troia (Neptun:) ... cuperem cum vertere ab imo V 810f.28 structa meis manibus periurae moenia Troiae. IX l44f. at non viderunt moenia Troiae Neptuni fabricata manu considere in ignis? Möglicherweise gehört V 810ff. einem Einschub an, der mit 793 beginnt (s.o. S. 129 zum Halbvers V 792).
(10) II 626-31: Das Bergesehen-Gleichnis ist jünger als das von der Eiche (IV 441-6): s.o. S. 188ff. Weiteres Parallelmaterial wurde S. 180f. besprochen. (11) 11629 concusso vertice nutat vgl. sublimi vertice nutant. IX 682 IX könnte später sein, da II 629 aus IV 444 und 445 entstanden ist: s. (10)29. (12) II 627-31 : Das Vokabular zeigt eine mehr als zufällige Übereinstimmung mit II 479-99: 479 bipenni30 627 crebrisque bipennibus { 492 ariete crebro 31 627 instant - 491 instat 32 630 evicta - 497 evicit 33
28 Im nächsten Vers, V 812, erinnert perstat an II 650 perstabat. Das Wort kommt bei Vergil nur an diesen zwei Stellen vor, die die frühesten Belege in der Poesie überhaupt sind (s. AUSTIN 1964, zu II 650). 29 nutare bei Vergil sonst nur noch E.4,50. 30 Die einzigen Belege für bipennis in Buch II. 31 Das 3. Vorkommen von creber in Buch II ist 731. 32 instare finden wir in Buch II sonst nur noch 244 (an einer vermutlich späten Stelle: s.o. S. 138ff. zum Halbvers II 233). 33 evincere bei Vergil außerdem IX 474 und 548.
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Einbettung der Helena-Venus-Szene in das 2. Buch (II) und Halbvers II 640
631 traxit - 499 trahit 631 avulsa - 480 vellit Die Prioritätsfrage kann auf der Grundlage nur des Wortmaterials nicht entschieden werden. Psychologische Erwägungen sprechen jedoch dafür, daß die Wortwiederholungen an den verszahlenmäßig späteren Stellen auch genetisch häufig sekundär sind (s. auch BERRES 1982, S. 334 s.v. Verschleppung von stil. Material). (13) ll 637 abnegat: in 654 wiederholt. ahnegare bei Vergil nur in dieser Form und am Versanfang, und zwar insgesamt 4x: G.3,456; A.ll 637.654; Vll 424. Vielleicht ist 654 sekundär (s. auch zu (2) und (8)). (14) TI 641 caelicolae - 592 caelicolis (s.o. S. 198 Anm. 14). Vers 641 zeigt überdies große Ähnlichkeit mit IV 340 (o. S. 199 Anm. 18). (15)
n 64317
-
507/10 (s.o.
(16) ll 650 perstabat (17)
n 657f.
s.
200)
V 812 perstat: siehe zu (9) mit Anm. 28.
mene efferre pedem, genitor, te posse relicto sperasti tantumque nefas patrio excidit ore?
erinnert an IV 305f. dissimulare etiam sperasti, perfide, tantum posse nefas tacitusque mea decedere terra ~ IV 305f. ist durch Catull c. 64, 132-4 beeinflußt: sicine me patriis avectam, perfide, ab aris, perfide, deseno liquisti in litore, Theseu? sicine discedens neglecto numine divum, ... 35 Leider ist die stilistische Verflechtung der 3 Stellen nicht eng genug, um auf diesem Wege die Relationsfrage bei ll 657f. und IV 305f. klären zu können. Immerhin drängt sich der Eindruck auf, daß das Motiv der Klage der verlassenen Frau (bei Catull Ariadne.• bei Vergil Dido) erst sekundär, also über IV 305f. in die Rede des Aeneas (ll 657f.) eingedrungen ist. Denn aus dem Munde von Ariadne oder Dido klingt die Klage über den ungetreuen Freund ganz natürlich, während Aeneas sich nicht etwa darüber empört, daß Anchises ihn verlassen will, sondern daß dieser das Ansinnen an ihn richtet, den eigenen Vater zurückzulassen und nicht mit auf die Flucht zu nehmen. Das Motiv ist also auf den Kopf gestellt: an die Stelle des treulosen 34 Es handelt sich jeweils um Redeanfänge. Die Beziehung beider Stellen wird durch die Entsprechung II 641 - IV 340 (s. zu (14)) gesichert. "Auch IV 316 geht auf Catull c. 64, 141 und 158 zurück.
Einbettung der Helena-Venus-Szene in das
2.
Buch
(II)
und Halbvers
II 640
205
Liebhabers, der sich aus dem Staube gemacht hat bzw. machen will, tritt der Vater, der selbst zurückgelassen werden möchte. Der Sohn, obwohl doch der pietas gegenüber seinem Vater entbunden, sieht in dem Wunsch des Vaters einen ungeheuren Frevel (tantum nefas). Die Umkehrung des Motivs dient dem Nachweis der Größe von Aeneas' Liebe zum Vater. (18)
n 661
patet isti ianua leto
berührt sich mit
patet atri ianua Ditis.
VI 127
Beide Stellen erinnern an Lucr. 5,373-5 36 :
haud igitur leti praeclusa ianua caelo nec soli terraeque neque altis aequoris undis, sed patet immani ac vasto respectat hiatu. 5,375 ist auch Quelle für A.VI 237: vastoque immanis hiatu Außerdem ist mit VI 127 noch VI 106 zu vergleichen: inferni ianua regis Die genetische Reihenfolge der Aeneisstellen zu ermitteln, dürfte sehr schwierig sein. Wenn jedoch VI 127 < VI 106 sein sollte, gäbe es einen leichten Prioritätsvorsprung für VI 127 gegenüber ll 661. (19) II 662f. hängt wohl von II 526(ff.) ab (s. BERRES 1982, S. 69 Anm. 45). (20) ll 663: Da Vergil auf diesen Vers mit Ill 332 bewußt anspielt, kann es über die Reihenfolge kaum einen Zweifel geben (s. BERRES 1982, S. 69 Anm. 45). Dieses Ergebnis schließt keineswegs aus, daß ll 663 seinerseits spät ist; denn auch Ill 332 gehört möglicherweise zu einem mit Ill 317 beginnenden Einschub (s.o. S. 123f. zum Halbvers rn 316). (21) ll 664 (22)
alma parens = ll 591 = X 252 (o. S. 200 Anm. 24)
n 664-7
-
n 507-27
(o.
s.
200)
Die stilistischen Berührungen lassen nur in wenigen Fällen, wie die Übersicht zeigt, eine einigermaßen gesicherte Bestimmung der Priorität zu. (Leider beschränkt sich der Nachweis für späte Abfassung von ll 626-31 36
3,62).
Auch der Anfang von Vers VI 127
(noctes atque dies)
könnte lukrezisch sein (2, 12
=
206
Einbettung der Helena-Venus-Szene in das 2. Buch (II) und Halbvers II 640
( 10) nur auf eben diese Verse, da der Bergeschen-Vergleich nachträglich eingelegt, also nicht genetisch mit der Umgebung verzahnt ist.) Fassen wir aber die Einzelergebnisse bzw. Vermutungen zusammen, so können wir doch gewisse Tendenzen erkennen. Für späte Entstehung der eigentlichen Venusszene (589-631) gibt es, vom Bergeschen-Vergleich abgesehen (10), nur ganz vage Hinweise (1), (3), (5). Dasselbe gilt für das stilistische Material der anschließenden Partie bis etwa 671 (17), (18). Hält man jedoch die Venusszene aus anderen Gründen für eingeschoben, so muß wegen stilistisch I inhaltlicher Abhängigkeit auch 664 (21) spät sein. Ob außerdem 651f. (2) und 671 (8) sekundär sind, bleibt ganz unsicher. Die Venusszene gehört wohl nicht zu den spätesten Teilen des Epos, da sie vermutlich Formulierungen in Buch Vill (6), IX (11) und XII (4) angeregt hat. Einen entscheidenden Schritt weiter bringt uns die zusätzliche Berücksichtigung der 3 Halbverse 614, 623 und 640. Da nach Halbversen eine neue Versfolge eingeschoben zu sein pflegt, müssen wir annehmen, daß innerhalb des Rahmens 589-671 an 3 Stellen Verse eingefügt worden sind (615ff.; 624ff.; 641ff.3 7). Nur beim Nachtrag 624ff. läßt sich auch dessen Ende genau bestimmen (631), da er ein Gleichnis enthält (624-31) und der folgende Vers 632 (descendo ac ducente deo) nicht zur uns vorliegenden Venusszene paßt, also einen früheren Zustand repräsentieren muß. Von größter Bedeutung ist der Halbvers 640, der uns verrät, daß die ·Rede des Anchises den Auftrag der Venus an Aeneas ursprünglich nicht gekannt hat. Da jedoch auch der erhaltene frühe Anfang der Rede (638 -40; dazu noch die vorbereitenden Verse 637f.) die Weigerung des Anchises, freilich ohne Bezug auf die Venusszene, enthält, darf man davon ausgehen, daß die erste Version durch die spätere nicht völlig verdrängt, sondern nur ergänzt oder überlagert worden ist. Die Scheidung von 'alt' und 'neu' kann immer nur von Fall zu Fall erfolgen, und die Grenzen können durch Überarbeitung fließend sein. Es ist deshalb sowohl theoretisch als auch praktisch unmöglich, die Venusszene und die mit ihr zusammenhängenden Verbindungsstücke exakt aus dem Text herauszulösen und so zu einem fiktiven Urzustand zu gelangen. Dennoch sind wir nicht nur auf vage Spekulationen angewiesen, sondern können sehr wohl einige Schnittstellen genau lokalisieren und uns ein ziemlich zutreffendes Bild vom alten Zusammenhang machen. Dies verdanken wir den Halbversen und dem Umstand, daß die Helenaepisode nicht ausgearbeitet und deshalb von Varius nicht ediert worden ist. Die ursprüngliche Szenenfolge sah vermutlich so aus: Aeneas, auf dem Dach des Priamuspalastes (458), wird Zeuge des Todes von Polites und dessen Vater Priamus. Das schreckliche Ende des Greises erinnert ihn an 37 Weil die Verse 641ff. ebenso wie 664-7 von derselben Stelle (507-27) stilistisch inspiriert sind, scheint auch 664-7 genetisch spät zu sein (s.o. S. 200).
Einbettung der Helena-Venus-Szene in das 2. Buch (II) und Halbvers II 640
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seinen eigenen gleichaltrigen Vater und seine übrige Familie (559-63). Er steigt herab und entkommt mittels göttlichen Geleites den Flammen und Feinden (632f.). Zu Hause angekommen stößt Aeneas auf die Weigerung seines Vaters zu fliehen (634-40). Äußerer Ablauf und innere Motivierung des Geschehens sind untadelig. Dennoch war Vergil mit dieser Darstellung nicht zufrieden. Er entschloß sich daher zu einer einschneidenden Überarbeitung, aber nicht, um eventuelle Unebenheiten oder gar Schwächen der Erfindung zu beheben, sondern um dem Geschehen mehr Dramatik und Tiefe zu geben. Er nahm dafür sogar eine deutliche Verschlechterung der äußeren Handlungsführung (Widersprüche) in Kauf. 38 Die Einfügung der Helenaszene (567 -88) sollte Aeneas in Gefahr bringen, über der unfruchtbaren Rache an der vermeintlichen Urheberin von Trojas Unglück die Pflichten der pietas gegenüber seiner Familie zu vernachlässigen. Dieser Versuchung hätte er erliegen müssen, wenn nicht der Dichter durch das plötzliche Erscheinen und Eingreifen der Venus (589ff.) die Sinnlosigkeit eines solchen Vorhabens aufgezeigt und ihm den Auftrag gegeben hätte, sich der Seinen anzunehmen. Was Aeneas in der ersten Fassung aus eigener Einsicht tun wollte und auch tat, vermag er nun nicht mehr aus eigener Kraft. Seine Gestalt hat menschlichere Züge angenommen; zugleich wird der Entschluß zur Flucht nicht mehr allein in Aeneas' Verantwortung gegeben, sondern aus dem göttlichen Auftrag hergeleitet. Der neue Zusammenhang machte nun auch eine Änderung an Anchises' Verhalten notwendig. Seine Weigerung zu fliehen muß sich jetzt gegen den göttlichen Willen richten. In dem neu hinzugesetzten Teil seiner Rede (641-9) begründet er den Widerstand damit, daß sein Leben dem Tode verfallen sei, da er den Göttern schon längst verhaßt sei. Dieser Unglauben oder auch Ungehorsam des Anchises treibt nun Aeneas in die fürchterlichste Verzweiflung, die darin gipfelt, daß er gegen Venus bittere Anklagen erhebt und sich zum Tod in den Reihen der Feinde entschließt (664-70). Die eingeschobene Venusszene hat ihrer Bedeutung entsprechend noch weitere Zusätze von Vergils Hand erfahren, wie die Halbverse 614 und 623 als Abbruchstellen einer früheren Fassung zeigen. Beide Einschübe (615ff. und 624ff.) sollen den Eindruck, daß Troja dem endgültigen Untergang geweiht ist, noch verstärken. Zum Abschluß einige Worte zur entstehungsgeschichtlichen Reihenfolge von Helena- und Venusszene. Wer die Helenaverse für unvergilisch hält, muß sie natürlich als einen nachträglich errichteten Vorbau für die Venusszene ansehen. Da aber nicht nur die Verdachtsmomente gegen die Echtheit ausgeräumt worden sind, sondern ihr vergilischer Ursprung auch positiv, wie ich meine, nachgewiesen worden ist, hindert nichts an der Annahme, daß Vergil die Helenaverse v o r der Venusszene verfaßt hat. Außerdem ist die Venuserscheinung sehr sorgfältig auf die Helenaszene " Eine Übersicht über die Szenenfolge ist o. S. 89 gegeben.
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Einbettung der Helena-Venus-Szene in das 2. Buch (li) und Halbvers li 640
abgestimmt39 • Da wäre es sehr ungeschickt gewesen, wenn Vergil die bereits in Gedanken konzipierte Helenaszene ohne Not erst nachträglich, also nach der Venusepiphanie, zu Papier gebracht hätte. Nun scheinen aber die im Rohzustand verbliebenen Helenaverse ein vergilischer tibicen zu sein. Vergil gebrauchte tibicines (provisorische Verse) dann, wenn er nicht aufgehalten sein und seinem dichterischen impetus folgen wollte (Sueton-Donat-Vita § 24)40 • Warum Vergil die Helenaverse bei späterer Gelegenheit nicht ausgearbeitet hat, können wir nicht mit Sicherheit sagen. Vielleicht war Zufall im Spiel 41 • Eher noch scheint es mir, daß Vergil vor dem großen Problem stand, wie er die für die Venuserscheinung notwendigen Widersprüche der Helenaszene gegenüber dem 2. und 6. Buch beseitigen oder wenigstens mildern konnte42 •
Auch im Vokabular (s.o. S. 42ff.). Siehe o. S. 101. 41 Es sei daran erinnert, daß wir die Überlieferung dieser Verse ja auch nicht zuletzt einem Zufall verdanken! 42 Siehe o. S. 86f. und u. S. 214f. 39 40
ERGEBNISSE UND AUSBLICK Unsere früheste Quelle für die Helenaszene (A.ll 567 -88) ist Servius, der sie in der Vita, die er seinem Kommentar vorausschickt, wörtlich aufführt. Der Kompilator aber, der den Serviuskommentar später erweitert hat (Servius auctus oder Danielis), hat die Verse aus der Vita in den Kommentar übertragen (zu A.ll 566). Literarische Nachklänge lassen sich jedoch schon früher entdecken: Lucan und Valerius Flaccus sind die Verse bekannt. Demnach gab es spätestens 65 n. Chr. (Todesjahr des Lucan) Aeneisausgaben, in denen sich die umstrittene Partie befand. Ihre EinfUgung kann nicht auf Varius, der die unvollendete Aeneis nach Vergils Tod herausgab, zurückgehen, da sie sonst Bestandteil a I I e r Handschriften sein müßte: in den uns erhaltenen antiken und auch den von Servius unbeeinflußten mittelalterlichen Codices fehlt sie aber. Der Nachweis der Echtheit bzw. Unechtheit kann sich deshalb nur auf innere Kriterien stützen. Die Herstellung des Wortlautes führt zu einigen überraschenden Ergebnissen: Vers 572 ist in metrisch gestörter Form (wegen Danaum poenas) überliefert und möglicherweise auch so verfaßt worden; Vers 579 fUgt sich nicht völlig in den Zusammenhang ein, geht aber auf denselben Verfasser zurück; die Verse 583-7 stellen eine Doppelfassung dar, die man vergeblich durch eine harmonisierende Konjektur (nec habet statt habet haec, 584) oder durch verzweifelte Interpunktion zu beheben versucht hat. Dies alles legt die Vermutung nahe, daß wir eine nicht zu Ende gearbeitete Passage vor uns haben. Darauf deuten auch die selbst vergilische Gepflogenheiten übersteigende Zahl von Wortwiederholungen und einige sprachliche Kühnheiten, die zwar an Vergils Stil orientiert sind, aber - offenkundig experimentierend - die Norm lateinischer (Dichter-)Sprache beinahe verletzen 1• Demgegenüber gründen sich Versuche, in der Helenaszene die Anwendung der Ringkomposition oder gar des Goldenen Schnittes zu entdecken, auf ungenaue Beobachtungen. Zum Eindruck mangelnder Vollendung kommt ergänzend und bestätigend der Verdacht hinzu, daß der Verfasser in großer Eile geschrieben hat. Das hohe Schreibtempo verrät sich durch die erwähnten Wortwiederholungen und durch metrische Stereotypie (Häufung bestimmter Verschleifungen). Es wäre nun methodisch fragwürdig, allein aufgrund dieser Phänomene die Urheberschaft Vergils zuversichtlich behaupten zu wollen. Freilich wird man auch nicht recht froh bei dem Gedanken, daß hier ein Interpolator eine zweifellos vorhandene Textlücke derart provisorisch und nachlässig aus-
1 sceleratas sumere poenas (576), sumpsisse merenres ... poenas (585f.), animum explesse ultrici(s) fama(e) (586f.).
210
Ergebnisse und Ausblick
gefüllt haben sollte. Aber es haben sich weitere Merkmale gefunden, die einerseits dem Bild des Verfassers noch deutlichere Züge verleihen und andererseits die Annahme einer Interpolation von fremder Hand nahezu ausschließen. Die Helenaverse legen Zeugnis davon ab, daß ihr Verfasser nicht nur mit "well-known parts" der Aeneis vertraut war (GOOLD), sondern sämtliche Stellen, die irgendwelche, wenn auch noch so versteckte Anregungen bieten konnten, konsultiert haben muß. Das bedeutet nichts anderes, als daß er die Aeneis in ihrer Gesamtheit für seine Verse herangezogen hat. Die Gemeinsamkeiten beschränken sich keineswegs auf die vergleichsweise wenigen wörtlichen Übernahmen, sondern liegen häufig unter der Oberfläche. So verstößt der 'Interpolator' äußerlich gegen Vergils Sprachgebrauch in der Aeneis, indem er das Verbsudare (582) verwendet, zeigt aber zugleich intime Kenntnis einer völlig unwichtigen Besonderheit der vergilischen Enniusrezeption, die nun doch die Benutzung von sudare an dieser Stelle 'erlaubt'. - Ein anderes Beispiel für sein stilistisches Vorgehen: als er den kurzen Satz dant clara incendia lucem (569) schuf, ließ er sich nicht nur vom Beginn der auf die Helenaverse folgenden Venuserscheinung anregen (589f.), sondern spürte sogar eine Quelle hierzu im 1. Aeneisbuch auf. Der Interpolator begab sich also völlig unnötig auf Vergils Spuren. Überhaupt tragen die Vergilimitationen des Interpolators Züge von Sinnlosigkeit. Es hebt die Qualität seiner Verse nicht, daß er Besonderheiten oder Schwächen Vergils übernahm (extrem hohe Zahl von Verschleifungen und Wortwiederholungen; manierierte Wortverbindungen usw.). Der Fälscher hätte jahrelang die Aeneis auf latente Eigenarten Vergils untersuchen müssen. Dies kann aber nicht im Ernst als das Geschäft eines Interpolators angesehen werden. Noch widersinniger zeigt sich sein Verfahren darin, daß er die eigentliche Aufgabe eines Interpolators, nämlich offenkundige Imitation, stark beschränkte, indem er wörtliche Übernahmen nur sehr sparsam verwendete und die Anapher, die Vergil so liebte, völlig vermied, obwohl gerade sie in einer Didorede (IV 365ff.), die dem Interpolator als Vorbild diente, in fast übertriebener Häufung auftritt. Der Interpolator imitierte also diejenigen Züge von Vergils Stil, die im allgemeinen nur angestrengteste Forschung sichtbar machen kann und deren Nachahmung nur geringen oder keinen Gewinn abwarf, ja sogar teilweise zur Verschlechterung führte. Andererseits verzichtete er auf die Verwendung des leicht imitierbaren und in die Augen fallenden Kolorits der vergilischen Sprache. Dieses in sich widersprüchliche Verfahren übersteigt nicht nur die Mittel und Möglichkeiten des fiktiven Interpolators, sondern verträgt sich auch nicht mit der eilfertigen Sorglosigkeit, die eben dieser an den Tag legte. Es zeichnet sich das Bild eines Fälschers ab, der Vergil gar nicht imitieren wollte, dem aber sozusagen wie von selbst - in wenigen Augenblicken - Verse gelangen, die im Kern vollkommen vergilisch sind. Eine besondere Finesse stellen in diesem Zusammenhang die Übernahme und 'Weiterentwicklung' I a t e n t er vergilischer Eigenarten dar. Die Existenz eines solchen Interpolators ist weder aus sachlichen noch psycholo-
Ergebnisse und Ausblick
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giseben Gründen möglich. Aber das Vorhandensein der Verse beweist andererseits die Existenz eines Verfassers. Dieser muß mit Vergil identisch gewesen sein. Denn nur Vergil konnte im Sinne Vergils Verse dichten, ohne vergilisch sein zu wollen. Und nur die Annahme der Urheberschaft Vergils vermag die Doppelfassung in 583-7, die nicht ganz ausgereiften Formulierungen und vor allem einige latente Schwächen zu erklären, die Vergil sonst durch sorgsames Feilen unter das erkennbare Maß zu reduzieren wußte. Die erhaltenen Verse stellen - metrisch, sprachlich und inhaltlich - einen vorläufigen Entwurf dar, der indes selbst die poetische Kraft und technische Virtuosität eines genialen Interpolators überfordert hätte. Vergleicht man den Stil der Skizze z.B. mit dem der ihr verwandten Didorede IV 365ff., so erkennt man, daß die Didorede viel stärker in die hohe Sprachnorm der Aeneis integriert ist. Ein wesentlicher Teil von Vergils Arbeit an der Aeneis muß der Bemühung gegolten haben, die Qualität flüchtig hingeworfener Verse auf höchstes Niveau zu bringen. Die Gunst des Schicksals hat uns eine Äußerung des Dichters selbst bewahrt, die dies bestätigt. Denn im Buch der Freunde Vergils de ingenio moribusque eius stand geschrieben, daß Vergil die Art seines dichterischen Schaffens mit einer Bärin verglichen habe, die ihren Jungen, die nach der Geburt noch ungeformt seien, durch Lecken Gestalt gebe (dicere eum soliturn ferunt, parere se versus more atque
ritu ursino. namque ut illa bestia fetum ederet ineffigiatum informemque lambendoque id postea, quod ita edidisset, conformaret etfingeret, proinde ingenii quoque sui panus recentes rudi esse facie et impeifecta, sed deinceps tractando colendoque reddere iis se oris et vultus liniamenta [Gellius noct. Att. 17,10,2-3])2 • Inhaltliche und formale Einwendungen gegen die Echtheit der Helenaverse, wie metrische Besonderheiten, der schändliche Mordvorsatz des Aeneas und sein angeblich frostiges Selbstgespräch, führen immer wieder nur auf Vergilisches zurück. Vor allem der schon von Servius gerügte Widerspruch zur Deiphobusepisode von Buch VI kann nicht einem Fälscher angelastet werden, der mit allen Teilen der Aeneis vollkommen vertraut war und der, wie stilistische Übereinstimmungen zwischen der Szene in ll und VI offenbaren, die Deiphobusepisode sehr genau kannte; Der Verfasser der Helenaverse hat den Widerspruch also mit vollem Bewußtsein in Kauf genommen. Einen so schwerwiegenden Entschluß faßt normalerweise kein Interpolator, dessen Ziel es doch sein müßte, ein vorhandenes Kunstwerk zu verbessern. Andererseits ist die Rolle, die Helena in der nach ihr benannten Szene spielt, in genauer Übereinstimmung mit den Gegebenheiten von Buch ll gestaltet. Helena ist in ll, wie man aus ll 310f. gerade noch erkennen kann, zum Racheopfer der Griechen ausersehen (s.o. S. 76f.), während sie in der Deiphobusszene (VI) als Verräterio mit den Griechen paktiert. Auch
2 Derselbe Vergleich findet sich auch in der Sueton-Donat- Vita § 22 (eine Untersuchung beider Fassungen mit quellenkritischer Analyse bei BERRES 1982, S. 7 -9).
212
Ergebnisse und Ausblick
die Venuserscheinung (ll 589ff.), die sich mit der vorangehenden Helenaszene in vollständiger Harmonie befindet, setzt eine Rolle der Helena voraus, die sich mit der in Buch VI nicht verträgt. Der Verfasser der umstrittenen Verse hat nicht nur die sachlichen Voraussetzungen von Buch ll, sondern auch dessen eigentliche Aussage sorgfaltig berücksichtigt. Das Auftauchen von Helena und der sich an ihr entzündende Mordgedanke des Aeneas gefährden und retardieren zwar "das Wachsen der Entscheidung zur Flucht" (BÜCHNER 3) - Retardationen und Umschläge sind wichtige vergilische Gestaltungsmittel nicht nur in Buch ll, sondern überall in der Aeneis -, schaffen aber eine Voraussetzung für die immer klarer werdende Einsicht des Helden in das vom fatum Gegebene und Geforderte. Man mag von einem tüchtigen Interpolator verlangen dürfen, daß er die poetischen Zusammenhänge und Intentionen auf das genaueste beachtet. Hier aber hat er seine Aufgabe insofern deutlich übererfüllt, als er sich für seine Szene eine Partie aus demOrestdes Euripides zum Vorbild nahm ("ganz die virgilische Imitationstechnik" [HEINZE4]) und zugleich unauffällige, aber erkennbare strukturelle Beziehungen zur Coroebusepisode (ll 341 ffY und zur Abschiedsszene zwischen Aeneas und seiner zum Schattenbild gewordenen Gattin Creusa (ll 768ff.) 6 schuf. Diese ftir einen Interpolator völlig überflüssigen Bemühungen weisen auf die Verfasserschaft Vergils hin, zumal ja ein Interpolator die entgegengesetzten Extreme von Übereifer und eiliger, teilweise schlampiger Sorglosigkeit vermieden hätte. Beide Pole lassen sich wohl in Vergils Person vereinigen - unter der Voraussetzung freilich, daß die Verse nur einen ersten Entwurf darstellen. Diese Voraussetzung muß allein schon aufgrund der Doppelfassung in den Versen 583 -7 als wahrscheinlich gelten. Da die Helenaverse - unabhängig von der Verfasserfrage - einen Vorbau zur Venuserscheinung bilden, glaubten die Befürworter der Unechtheit ihre These durch den unziemlichen und unangemessenen Inhalt der Passage erhärten zu können. Die Kritik am Inhalt erwies sich als nicht stichhaltig und wurde außerdem durch mannigfaltige Versuche, die nach Athetese der Verse zurückbleibende Lücke zu ftillen, völlig entkräftet. Denn die Vorschläge, die niemals recht befriedigen konnten, näherten sich im Laufe der Forschungsgeschichte immer mehr dem Inhalt der überlieferten Passage, so daß man mit Zuversicht behaupten kann, daß die Helenaverse die bestmögliche Füllung der Lücke darstellen. Obwohl dies nicht automatisch die Echtheit bedeutet, erlaubt eine Besonderheit bei der inhaltlichen Abstimmung der Helenaszene mit der Venuserscheinung einen sicheren Schluß. Dem vermeintlichen lnterpolator gelang es nämlich, uns die Augen
' !955, Sp. 335; siehe auch o. S. 46 Anm. 41. !915, s. 48f. ' Siehe o. S. 45f. 6 Oben S. 48.
4
Ergebnisse und Ausblick
213
für eine besonders subtile ironische Bemerkung der Venus (non tibi Tyndaridis facies invisa Lacaenae I culpatusve Paris, 60lf.) zu öffnen, indem er in seinen eigenen Versen Paris gerade n i c h t erwähnte, obwohl Venus ihn in einem Atemzug mit Helena genannt hatte (s.o. S. 83f.). Die Helenaverse müssen deswegen höchstwahrscheinlich v o r der Venusszene geschrieben und somit vergilisch sein. Das Problem der Verankerung der Helenaverse und der de facto von ihnen nicht abtrennbaren Venusszene wurde ziemlich einmütig - trotz teilweise entgegengesetzter Ausgangspositionen - durch die Annahme beseitigt, daß beide Partien (567 -623 bzw. 631) Buch II ursprünglich nicht angehört hätten. Diese Hypothese kann den unklaren Standort des Aeneas (auf dem Palastdach oder in der Stadt?) begreiflich und die sonst kaum vermeidbare, aber sehr unschöne Identifizierung von deo (632) mit Venus unnötig machen. Aber die (allerdings nur eingeschränkte) Herauslösbarkeit des Abschnitts beweist noch nicht die Berechtigung dieser Maßnahme. Hier hilft eine Betrachtung der vergilischen Halbverse weiter, von denen nicht weniger als 3 (614.623.640) mit der Venuserscheinung verknüpft sind. Die Analyse sämtlicher 58 Halbverse7 ergab: Die Annahme, daß nach den Halbversen (von 3 Ausnahmen abgesehen) jeweils Verspartien sekundär eingelegt worden sind, stellt die einfachste, vernünftigste und in einer Reihe von Fällen sogar beweisbare Lösung dar. Dieser grundlegenden Erkenntnis stand bisher die verlockende Vermutung im Wege, Halbverse seien wegen ihrer metrischen Unvollständigkeit Exponenten unfertiger Partien. Deshalb vernachlässigte man diejenigen Verspartien, die den Halbversen f o I g e n, weitgehend. Da einige dieser Einschübe inhaltlich miteinander zusammenhängen, ist die Vermutung unabweisbar, daß aufgrund e in e r konzeptionellen Änderung m e h r e r e Halbverse entstanden sind8 • Dem Halbvers II 623 verdanken wir die Einsicht, daß der Bergeschen -Vergleich (II 624-31) nachträglich eingefügt worden ist und nicht ursprünglich auf Vers 566 folgte (wie einige Forscher annehmen), sondern für den jetzigen Ort als dramatisierende Erweiterung bestimmt war. Außerdem verrät das stilistische Material des Vergleichs deutliche Abhängigkeit von einem Vergleich des 4. Buches (441ff.) 9 und bestätigt damit die Annahme der späten Entstehung.
7 In einigen Fällen habe ich mich allerdings mit einem Hinweis auf meine früheren Ausführungen (1982) begnügt. 8 Diese Bemerkung darf nicht gepreßt werden: eine solche Änderung mußte natürlich nicht in einem Zuge erfolgen und sie konnte zusätzliche, neu auftretende Aspekte berücksichtigen. 9 SUERBAUMS skeptische Äußerung: .es gibt wohl überhaupt kein stilistisches Argument, das sich bei Prioritätsuntersuchungen als alle überzeugend erwiesen hat" (Gnomon 60, 1988, S. 406) trifft natürlich als Erfahrungstatsache zu. Denn stilistische Vergleichungen können nur relativ selten zur sicheren Bestimmung der Priorität führen und sind andererseits dem Urteil der 'alle' ausgesetzt, denen die im allgemeinen sehr subtilen Untersuchungen bisweilen nicht nachvollziehbar sind. Das vorliegende Buch kommt, anders als meine Arbeit von 1982, mit nur einigen derartigen Untersuchungen aus und dürfte daher in dieser Hinsicht meinen Kritikern weniger Schwierigkeiten bereiten.
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Ergebnisse und Ausblick
Der Halbvers II 614 markiert die Stelle, an der Vergil die Darstellung der Troja zerstörenden Götter um ein zusätzliches Stück (615ff.) erweitert hat. Beide Einschübe zeigen die s i c h t I i c h starke Überarbeitung der Venusszene an. Sie haben die gemeinsame Funktion, die Schilderung noch anschaulicher, noch furchterregender zu machen und keinen Zweifel mehr daran zu lassen, daß Trojas Schicksal besiegelt ist. Der 3. Halbvers, II 640, liegt zwar außerhalb der Venuserscheinung, gibt aber entscheidende Auskunft über die Einbettung der Szene im Ganzen. Der Halbvers teilt nämlich eine Rede des Anchises in zwei Abschnitte: im ersten (638-40) weiß Anchises nichts vom Rettungsauftrag der Venus, im zweiten aber (641-9) leugnet er den Willen der Götter, ihn noch länger leben zu lassen. Dieser zweite Teil, nur zu dem Zweck geschaffen, die von Venus befohlene und von Aeneas in Angriff genommene Rettung vorerst zu vereiteln, ist nach Ausweis des Halbverses späte Zutat. Es handelt sich also um eine Versfolge, die die Venusszene nachträglich in den Kontext einbeziehen soll. Die sekundäre Einfügung der Venusszene ist demnach durch ein technisches Argument gesichert. Helena- und Venusszene sind wahrscheinlich zusammen entstanden. Da die Venuserscheinung auf den von der Helenaszene geschaffenen Voraussetzungen beruht, dürfen die Helenaverse wohl Priorität beanspruchen. Die Funktion der Doppelszene - und damit der Grund ftir ihre EinfUgung besteht darin, den tragenden Gedanken des 2. Buches, das allmähliche und durch Widerstände behinderte Erkennen und Vollbringen der vom fatum gestellten Aufgabe, durch ein retardierendes (Helenaszene) und ein förderndes (Venuserscheinung) Moment zu verstärken. In dieser Hinsicht nimmt die Venuserscheinung eine nicht nur äußerlich zentrale Rolle im 2. Buch ein. Warum hat Vergil aber dann die Helenaszene nicht in demselben Maß ausgearbeitet wie die Venuserscheinung? Zwar fehlt beiden Szenen die letzte Hand, aber die Gründe dafür sind verschieden. Die Darstellung von Venus' Auftritt hat Vergil nach ihrer Vollendung noch mindestens zweimal überarbeitet, wodurch die zwei Halbverse entstanden sind. Die Helenaverse hingegen haben ihren Charakter als tibicines niemals abgelegt. Da sie sich in vollkommener Übereinstimmung mit der Venusepiphanie befinden und dem übrigen Buch II zudem nicht widersprechen - sieht man vom unklaren Standort des Aeneas ab (eine Besonderheit, die die Verse mit der Venusepiphanie teilen!) -, könnte der Grund ihrer mangelnden Vollendung in dem Widerspruch zur Deiphobusszene des Buches VI liegen. Ein Vergleich mit anderen größeren Widersprüchen innerhalb der Aeneis wirft zusätzliches Licht auf unser Problem 10 • Ankündigung des Tischprodigiums in ill und Eintritt in VII sind miteinander unvereinbar. Vergil beabsichtigte keinen Ausgleich, sondern 10 Eine ausfUhrliehe Erörterung aller im folgenden genannten Widersprüche ist in meiner Abhandlung von 1982 zu finden.
Ergebnisse und Ausblick
215
hätte vermutlich die Version in VII (Prophezeiung des Anchises) zugunsten der späteren in ill (Prophezeiung der Celaeno) aufgegeben bzw. abgeändert11. Die Creusaprophezeiung (Ende li) verträgt sich eigentlich weder mit der Unkenntnis der Aeneaden über ihr Fahrtziel noch mit dem Leitgedanken von ill, der allmählichen Aufhellung des Zieles; deutlich ist aber Vergils Bemühen erkennbar, durch Verrätselung von Creusas geographischen Angaben (Lydius ... Ihybris, li 78lf.) für eine weitgehende Harmonisierung zu sorgen 12 . Auch die beiden Palinurusepisoden in V und VI entspringen keiner einheitlichen Konzeption. Das Schicksal von Aeneas' Steuermann wird recht unterschiedlich dargestellt. Da Vergil die Episode von V in Kenntnis der von VI geschrieben hat, darf man annehmen, daß er die ältere Version (VI) entsprechend umgearbeitet hätte. Schließlich treten zwischen der Darstellung von Nisus und Euryalus in V und IX geringfügige Ungereimtheiten auf13 • Die Erzählung in V ist von Vergil im Hinblick auf IX nachträglich überarbeitet worden, so daß das Verhalten der beiden Freunde beim Wettlauf als "Vorspiel" (HE1NZE 14 ) zu dem tragischen Geschehen in IX dienen kann. Folge dieser Manipulation sind die Halbverse V 294 und 322 an der jeweils 'richtigen' Stelle. Mag man auch über die genannten Widersprüche (und ihre mögliche Beseitigung durch Vergil, wenn er noch länger gelebt hätte) anders denken, so unterscheiden sie sich von der widersprüchlichen Darstellung der Rolle Helenas in li und VI auf jeden Fall im Folgenden: jene werden jeweils durch Verspartien konstituiert, die zwar mehr oder weniger einander widerstreiten, aber doch e i n g e m e i n s a m e s Thema behandeln, diese aber umfaßt zwei ganz u n t e r s c h i e d I i c h e Themen: Aeneas erblickt Helena und erwägt sie zu töten (li) - Das Ende des Deiphobus (VI). Beide Szenen sind inhaltlich nicht aufeinander bezogen noch wo I I e n sie miteinander in Verbindung gebracht werden; ja es ist nicht recht vorstellbar, wie die eine zugunsten der anderen hätte überarbeitet werden sollen. Hier hätte möglicherweise nur ein sehr viel größerer Umbau helfen können, zumal die jeweilige Funktion Helenas in den uns überlieferten Textzusammenhängen unverzichtbar erscheint. Vielleicht war es eben diese voraussehbare Schwierigkeit, die Vergil die Freude daran nahm, die Helenaverse aus ihrem Rohzustand herauszuführen. Eine Besinnung auf grundsätzliche Probleme bei Echtheitsfragen und eine Darstellung der mutmaßlichen Folgen, die die Echtheit der Helenaszene für die Vergilforschung mit sich bringt, sollen den Abschluß dieses Buches bilden.
Siehe auch o. S. 14lf. zum Halbvers lll 218. Siehe auch o. S. 141 zum Halbvers II 767. 13 Oben S. 147 zum Halbvers V 294. Außerdem ist die Abkunft des Nisus von Hyrtacus eine Erfindung von Buch IX und nicht im Einklang mit Buch V (s. BERRES 1982, S. 181f.). 14 1915, S. 154. 11
12
216
Ergebnisse und Ausblick: Allgemeine Problematik bei Echtheitsuntersuchungen
Grund für die Schärfe, mit der häufig um die Authentizität von Kunstwerken gestritten wird, ist nicht nur die Alternative zwischen 'echt' und 'unecht', die im allgemeinen keine dritte Möglichkeit zuläßt, sondern auch der Umstand, daß von einer Fehlentscheidung das g an z e Werk eines Autors betroffen wird. Denn wenn man einen Text zu Unrecht einem bestimmten Verfasser zuweist oder abspricht, entspringt dies meistens einer unzureichenden Kenntnis des gesamten Werkes, aus dem sich ja - da es aufgrund irgendwelcher Umstände als authentisch gilt und normalerweise es auch ist - der Maßstab für die (richtige) Beurteilung der umstrittenen Partie ablesen lassen müßte. Es geht also hinsichtlich der Helenaszene weniger um die Herkunft von 22 Versen, als um das doch unverwechselbare Kunstwerk der Aeneis selbst und um die individuelle und einmalige Gestalt ihres Dichters Vergil. Wer demnach wie GOOLD glaubt, daß "some gifted schoolman" die Helenaverse geschrieben habe, die geprägt seien durch ihre "theatrical variationes and dramatic bloodthirstiness" 15 , verkennt auch Vergil und den Charakter der Aeneis. Dies gilt um so mehr, als "le style est l'homme meme" (Buffon). Unglücklicherweise gehen so viele Versuche, Verfasserschaften zu klären, fehl. Dies liegt nicht zuletzt an der besonderen Schwierigkeit, den genauen historischen Ort eines Kunstwerkes oder auch nur einfachen Schriftstückes zu erkennen. Erst recht in der Antike, als noch die feineren Hilfsmittel fehlten, tat man sich mit Echtheitsfragen schwer. So hat z.B. Aristoteles aufgrund kompositioneller Beobachtungen zwischen Homer und den Verfassern der kyklischen Epen unterscheiden können (Poetik 23), aber das Spottgedicht Margites für homerisch gehalten (Poetik 4) 16 , wohl aus dem Wunsch heraus, Homer zum Archegeten a u c h der Komödie zu machen. Herodot hat die Kyprien Homer abgesprochen, da dieser den Aufenthalt von Paris und Helena in Ägypten kenne (wie Herodot aus Z 289ff. schließt), während der Verfasser der Kyprien Paris in nur drei Tagen von Sparta nach Troja reisen lasse (2, 116f.). Die Kriterien, über die die Antike verfügte, waren oft zu grob, als daß mit hinreichender Sicherheit Autorenbestimmungen hätten gelingen können. Allerdings läßt sich Unechtheit bisweilen mit ganz einfachen Argumenten beweisen, wenn man z.B. einen Anachronismus oder andere Unstimmigkeiten aufdecken kann. Der Versuch jedoch, Echtheit nachzuweisen, bereitet viel größere Schwierigkeiten, weil der bloße Hinweis auf Übereinstimmungen zwischen einem umstrittenen Text und einem anderen, für den ein bestimmter Verfasser verbürgt ist, nicht genügen kann. Denn Übereinstimmungen erlauben nur die Annahme, daß beide Texte von demselben Verfasser stammen können, nicht aber müssen. Vonnöten sind zusätzliche
" 1970, S. 159. Mit der irrtümlichen Zuweisung des Margites an Homer steht Aristoteles nicht allein da (s. Plato Alcib. II 147 b-d; Eustratios zu Arist. Eth. Nie. VI 7 1441 a 12 ( = Kallimachos, Fragm. 397 Pf.] nennt noch Archilochos[?], Kratinos und Kallimachos). 16
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Ergebnisse und Ausblick: Metrik
Beobachtungen von fast unsichtbaren Merkmalen und Feinstrukturen, die bei verschiedenen Autoren nicht zugleich vorkommen können und deren Nachahmung auch dem geschicktesten Fälscher weder möglich noch erstrebenswert ist. Bei der Analyse von Metrik und Stil der Helenaszene haben sich solche 'fälschungssicheren' vergilischen Strukturen finden lassen. Metrische Untersuchungen, wie sie K. THRAEDE vorgenommen hat (Der Hexameter in Rom, Verstheorie und Statistik, München 1978 [Zetemata 71]), sind zu grobmaschig und mit einem Grundfehler fast aller textorientierten Statistik behaftet. Die einer solchen Untersuchung zugrundegelegten Texte müßten eigentlich z u v o r eine zeitliche und künstlerische Einordnung erfahren, die aber fast nur durch Interpretation gewonnen werden kann. (Außerdem sollten Partien, deren Echtheit nicht über jeden Verdacht erhaben ist, zunächst gesondert betrachtet werden.) So gibt es z.B. nicht d e n lukrezischen Hexameter. Der Versbau des Lukrez bewegt sich in einem Rahmen, der von unbeholfener Archaik bis zu fast ausgewogener Klassik reicht. "Von zackiger Kurve des Vortrages, der oft zwischen Poesie und Prosa wechselt, hat man mit Recht gesprochen" (BÜCHNER 17). Ein statistischer Vergleich von Helenaszene und Aeneis sowie Dichtwerken anderer Autoren hinsichtlich der 'normalen' Zäsuren führt nicht zu deutlichen Unterschieden 18 • Vielmehr müssen bei Verfasserfragen - je nach den Umständen - erst einmal aussagekräftige Kriterien gefunden werden. Rezepte für die richtige Auswahl gibt es nicht 19 • Stilbetrachtungen eröffnen im allgemeinen, wenn die Texte umfänglich genug sind, ein weites Feld. Da die antike Dichtung stark imitatorischen Charakter hat, verdienen stilistische Übernahmen, Abänderungen, Überbietungen usw. besonderes Interesse. Denn die Stelle, an der 'Vorlage' und eigenes sprachliches Bemühen sich treffen, ist der genaue historische Ort eines Dichters: "Style is the product of the poet's interaction with the
Röm. Literaturgeschichte, Stuttgart 5 1980, S. 249. Zum Nachweis wähle ich einige Verspartien, die ich bereits oben S. aber dort auf völlig andere Verseinschnitte untersucht habe: 17 18
Vcrgil
Ovid Lucan
A.lll67-88 (Helena) A.ll 466-566 met. 3.407-506 B.C. 6,118-220
nach 3. Tr.
Hcphlh.
30ff.
Trith.
Pcnth.
68%
73%
9%
64%
0%
41%
60% 63% 67%
81% 88% 81%
8% 18%
59% 61% 719'0
9% 10% 5%
58% 50% 53%
17%
n11ch 4. To.
herangewgen, Buk. D.
19 Diese Bemerkungen zu metrischen Analysen sollen nicht als Kritik an THRAEDES Buch verstanden werden, das ein anderes Ziel verfolgt. Allerdings zeitigt seine Untersuchung der Merkmalsdichte des in Inhaltsabschnitte gegliederten 2. Aeneisbuches kein signifikantes Ergebnis fiir die Helenaszene (S. 136ff.).
218
Ergebnisse und Ausblick: Stilistische Abhängigkeiten
tradition" (MOSKALEW 20). Für den Dichter ist Tradition nicht nur das Werk seiner Vorgänger, sonder er kann auch sein eigenes, zeitlich vorausliegendes Schrifttum in dieser oder jener Form wiederaufgreifen. Daher befremdet MOSKALEWS Ansicht bezüglich der literarischen Imitation, Prioritätsfragen seien schwierig genug, wenn sie verschiedene Dichter beträfen; aber wenn wir uns mit demselben Dichter befaßten, "particulary one as sensitive and meticulous as Vergil, they are insoluble, unless we areready to believe that he stitched together second- band verse like some hack without talent, taste, or even a simple workmanlike touch to disguise his seams" 21 • Offenbar geht MOSKALEW von der Überzeugung aus, daß nur die sichtbaren Nähte schlecht und mechanisch eingearbeiteter Selbstimitationen eine relative Chronologie ermöglichen würden. Damit rückt er von seiner oben angeführten Definition ab, daß Stil das Produkt der Interaktion mit der Tradition sei. Denn gerade Selbstimitationen hohen Ranges, wie wir sie häufig bei Vergil finden, setzen einen besonders reflektierten und bewußten Umgang mit der selbstgeschaffenen Tradition voraus. MOSKALEW hat vermutlich von den Schwierigkeiten und vielfachen Fehlschlägen bei PrioritätsbestimmungexfZ sowie von der verbreiteten Unsitte, eine Stelle zugunsten einer anderen herabzusetzen, um so die 'schlechtere' für sekundär ausgeben zu können23 , auf die Unmöglichkeit geschlossen, zu einem begründeten Urteil zu gelangen. Im Falle der Helenaszene würden sich, sofern man ihre Unechtheit und somit ihre nachvergilische Entstehung voraussetzte, die literarischen Abhängigkeitsverhältnisse ganz einfach darstellen: alle stilistischen Anklänge an die Aeneis wären ausnahmslos sekundär. Aber die hohe Zahl der Anklänge (darunter überraschend wenige wörtliche Übernahmen 24) und ihr mehr verborgener und unauffälliger Charakter lassen sich nur erklären, wenn man Teile der Aeneis für sekundär hält u n d auße rdem annimmt, daß eine erhebliche Anzahl von vergilischen Formulierungen in der Helenaszene nicht durch absichtliche Imitation, sondern durch eine tiefreichende natürliche Verwandtschaft im Stil beider Autoren gleichsam mühelos entstanden ist. An eine prästabilierte Harmonie wird man nicht glauben wollen und deshalb auch die Helenaszene Vergil zuschreiben müssen. Der Stilvergleich ist dadurch erschwert, daß die Helenaverse in unvollendeter Form vorliegen und skizzenhaften Charakter haben. Dies hat nicht wenig dazu beigetragen, daß man ihren Verfasser unterschätzt hat. Andererseits liegt es in der Natur von Vergleichungen, daß die verglichenen 20
Formular language and poetic design in the Aeneid, Leiden 1982 (Mnemosyne Suppl. 73)
S. 21. S. 12. Zur geringen Akzeptanz derartiger Bestimmungen s.o. S. 213 Anm. 9. 23 Siehe BERRES, Ist der Streit um die Priorität von Theogonie und Odyssee bereits entschieden?, Privatdruck Braunschweig 1981, S. 3. 24 Siehe o. S. 53. 21
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Ergebnisse und Ausblick: Beschaffenheit des Aeneismanuskripts
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Gegenstände eben n i c h t gleich sind. Deshalb müssen ihre jeweiligen Bedingungen (unterschiedlicher Inhalt, Textsorte, Erzählperspektive etc.) gebührend berücksichtigt werden. Dies erschwert nicht nur die Aufgabe des Philologen, sondern stellt auch den Interpolator vor ein oft unlösbares Problem: er will (muß) etwas Eigenständiges schaffen, das aber doch vollkommen an Stil und Inhalt etc. eines fremden Autors angepaßt sein soll. Komposition, Inhalt und Gehalt einer der Unechtheit verdächtigten Partie, sofern sie Bestandteil eines größeren Zusammenhanges ist, lassen fast immer einen prüfenden Vergleich mit dem gesamten Werk zu25 , das nun seinerseits von einer solchen Untersuchung profitiert. Ich schließe hier deshalb eine Betrachtung darüber an, was uns die Helenaverse über Vergil und seine Dichtung sagen können. Wir gewinnen einen, wenn auch unvollkommenen Einblick in das vergilische Autograph und die Editionsweise des Varius. Entweder hat Vergil selbst die Helenaszene als tibicen bzw. tibicines gekennzeichnet (natürlich nicht zur Vorbereitung einer postumen Veröffentlichung26 ), oder Varius hat von sich aus die tibicines an ihrer Unfertigkeit erkannt. Die Helenaverse standen vermutlich, da ihre Entfernung eine syntaktische und inhaltliche Lücke hinterließ, in eben dieser Lücke und waren nicht etwa als Nachtrag am Rande oder sonstwo außerhalb des eigentlichen Textes notiert. Das Aeneismanuskript bestand also aus fertigen und weniger vollendeten Teilen. Deshalb ist es denkbar, daß durch den Ausfall anderer tibicines Textstörungen oder gar Lücken entstanden sind. So mag man mit Vorsicht im Aventinus- Abschnitt des Völkerkataloges (VII 655 -69) zwischen den Versen 663 und 664 eine Lücke ansetzen. In jedem Fall ist der Abschnitt stark gestört27 • Ganz anders liegen die Verhältnisse bei den Versen ill 204 a-c, die dem kanonischen Aeneistext nicht angehören und von Servius auctus überliefert sind:
hinc Pelopis gentes Maleaeque sonantia saxa circumstant pariterque undae terraeque minantur; pulsarnur saevis et circumsistimur undis. hi versus circumducti inventi dicuntur et extra paginam in mundd8 (zum 204).
25 Dies ist natürlich uneingeschränkt auch dann möglich, wenn es um die Echtheit ganz kurzer Stücke geht. 26 Sonst wären Vergils Wunsch, die Aeneis zu verbrennen (Sueton-Donat-Vita § 39), und seine testamentarische Verfligung, das noch nicht Edierte nicht herauszugeben (§ 40), sinnlos. 27 Siehe KLINGNER 1967, S. 521f. und KüHLMANN, Katalog und Erzählung, Diss. Freiburg 1973, S. 199tf. Dort weitere Literaturh inweise. - Aventinus scheint eine sehr späte Katalogfigur zu sein (s.o. S. 150tf.) und hat deswegen vielleicht noch keine endgültige Gestaltung erfahren. 28 mundum ist der unbeschriebene Rand.
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Ergebnisse und Ausblick: Aeneis III 204 a-c (vergilisch)
Wenn man dem Kommentator glauben darf, handelt es sich um an den Rand geschriebene Verse, die Vergil gestrichen habe. Zwar passen die geographischen Angaben zum Kontext (vgl. V 193)29 , aber sie vertragen sich nicht mit dem Umstand, daß die Aeneaden aufgrund eines schweren Unwetters keinerlei Sicht mehr haben und auf dem Meer ohne festen Kurs umherirren. Diese Diskrepanz spricht nicht für eine Fälschung (wie GOOLD annimmt3~; denn warum sollte der Interpolator einen Vers aus einem anderen Buch (V 193) sorgfaltig berücksichtigt, aber ohne Not einen Widerspruch zur unmittelbaren Umgebung zugelassen haben? Vergil, als dem Schöpfer der Aeneis, stand es dagegen frei, einander ausschließende Verspartien zum selben Thema zu schreiben. Zur Inkonsequenz des vermeintlichen Fälschers kommt noch hinzu, daß er nur sonantia saxa (204 a) wörtlich von Vergil übernahm, sonst aber in höchst subtiler Weise den vergilischen Stil imitierte - und zwar auf teilweise so verschlungenen Wegen, daß eine Fälschung unmöglich erscheine 1• 'Dennoch' sind die Siehe auch SABBADINI 1889, S. 102. 1970, S. 133. 31 III 204 a orientiert sich inhaltlich an:
29 JO
... quibus in Gaetulis Synibus usi Iontoquemari Maleaeque sequacibus undis.
(V 192f.)
Maleaeque steht jeweils an derselben Versstelle. Bei der Lektüre von V 192f. 'erinnerte' sich der 'Interpolator' daran, daß auch in IV 40f. von Gaetulien und der Syrte die Rede war:
hinc G a e t u l a e urbes, genus insuperabile bello, et Numidae ilifreni cingunt et inhospita S y r t i s. Von dort übernahm er den Versanfang hinc Gaetu/ae urbes, indem er den Inhalt der neuen Situation anpaßte, aber die Struktur bewahrte: hinc Pelopis gentes (204 a). Dieser Anklang ist nicht zufällig, da es an beiden Stellen um eine bedrohliche Einkreisung geht (circumstant, III 204 b; cingunt, IV 41). Zugleich (!) berücksichtigte der Interpolator auch Sprache und metrischen Aufbau eines weiteren Verses:
h i n c Pelopis g e n t e s Maleae q u e sonantia saxa h i n c /talae g e n t e s omnis q u e Oenotria tellus
(III 204 a) (VII 85)
Weiterhin (!) übernahm er den Versschluß sonantia saxa aus VI 551, ohne das unmittelbar vorangehende -que (torquet q u e sonantia saxa) zu 'vergessen'. Doch damit nicht genug! Wie Vergil den Vers I 162 mit hinc einleitete und mit minantur schloß, so verteilte auch der Fälscher beide Wörter auf Anfang und Ende zwar nicht desselben Verses, wohl aber zweier aufeinanderfolgender Verse (hinc ... I ... minantur, 204 a/b). Hier führt sich der imitatorische Übereifer des lnterpolators von selbst ad absurdum. Wer den vergilischen Ursprung der Verse leugnen will, kann sich nur noch mit der Annahme helfen, der unbekannte Verfasser habe gar nicht imitieren wollen, sondern es sei ihm sozusagen in die Wiege gelegt worden, vollkommen(e) vergilische Verse zu machen. Daß dieser Autor sich nicht um Vergilimitation bemühte, sondern Sprachmelodie und Metrik Vergils ihm geistiges Eigentum waren, zeigt sich auch in den beiden übrigen Versen 204 b und c; vgl.
circumstant, parirerque undae terraeque minantur eireumstunt animae dextra laevaque frequentes
(III 204 b) (VI 486)
(Allerdings ist nach eireumstunt in III 204 b ein stärkerer Einschnitt [Satzende]. Vers VI 486 sieht aus wie eine Kombination zweier Georgicaverse:
quam circum extremae dextra
laevaque rrahuntur
(G.l,235)
Ergebnisse und Ausblick: Aeneis VI 289 a-d (vergilisch)
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Verse nicht gekünstelt, sondern ganz schlicht gestaltet. Der vorliegende Sachverhalt läßt sich nur durch die Annahme erklären, daß hier memoria undingeniumdesselben Dichtersam Werke waren32 • Noch 4 weitere nichtkanonische Aeneisverse sind uns von Servius auctus überliefert (zu VI 289): sane quidam dicunt versus alios hos a poeta hoc loco relictos, qui ab eius emendatoribus sublati sint: Gorgonis in medioportenturn immane Medusae, vipereae circum ora comae cui sibila torquent infamesque rigent oculi mentoque sub imo serpentum extremis nodantur vincula caudis. (VI 289 a -d) Die Bezeugung ist von derselben Unbestimmtheit und Dürftigkeit wie bei ill 204 a-c (dicuntur, ill; quidam dicunt, VI). GOOLD glaubt, daß der Kommentator hier aus Donat schöpfe, der allerdings seine Quelle vermutlich namentlich genannt habe33 • Dann wären aber beide Verspartien immerhin besser verbürgt als die Helenaszene, die wohl nicht im Kommentar des Donat gestanden hatl4 • Die Erwähnung der emendatores erweckt kein Vertrauen, da nur Varius die Aeneis herausgegeben hat. Aber diese
c i r c ums t an t fremiru denso sripanr q u e f r e q u e n r es (G.4,216) Der Interpolator hat also - eine absurde Vorstellung - auch auf die Vorbilder des Vorbildes zurückgegriffen [Endstellung der Prädikate minanrur und rrahunrur].) und
pulsarnur saevis er circumsisrimur undis. inruimus densis er circunifundimur armis
(III 204 c) (II 383)
Wenn nun sowohl für V 192f. a I s a u c h für III 204 a -c die Verfasserschaft Vergils feststehen sollte, so wäre es denkbar, daß der Dichter, als er die eine Stelle unter Berücksichtigung der anderen schrieb, auch in der näheren Umgebung beider Stellen Gemeinsamkeiten zuließ. Dies scheint tatsächlich der Fall zu sein: III 207 remis insurgimus -
V 189 insurgire remis
(Die Verbindung remis insurgere gibt es bei Vergil nur noch ein drittes Mal: III 560 insurgire remis. Die Beziehung zwischen III 560 und V 189 ist, bedenkt man den Kontext, enger als die zwischen 111 207 und V 189.) III 211 lonio in magno -
V 193 (in) Jonioque mari
(Außer diesen beiden Neutrumformen kommt lonius bei Vergil 2x in Verbindung mit dem Plural vonjiuctus vor: G.2,108; A.III 671.) III 253 venrisque vocaris -
V 211 venrisque vocaris
(Jeweils Versschluß; vgl. auch VIII 707 venris ... vocatis.) III 265 di, prohibete minas -
V 197 er prohibere nifas
(Jeweils Versanfang; vgl. G.1,501 ne prohibere.) ' 2 Ich lehne mich an eine Formulierung SUERBAUMS (Gnomon 60, 1988, S. 409) an. " 1970, 133. 34 Siehe o. S. 3f.
s.
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Ergebnisse und Ausblick: Aeneis VI 289 a -d (vergilisch)
Ungenauigkeit beweist nicht zwangsläufig den unvergilischen Charakter der Verse 35 • Wenn man der Angabe des Servius auctus entsprechend die Verse hinter VI 289 einordnet, erkennt man, daß sie mit einer Art von (scheinbarer) Epanadiplosis an das Vorhergehende anschließen: (289) G o r g o n e s Harpyiaeque et forma trieorporis umbrae. (289 a) G o r g o n i s in medioportenrum immane Medusae . . . Diese Stilfigur ist natürlich ein bequemes Mittel zur Einschaltung der Verse; aber seine technische Handhabung verstößt gegen das übliche Verfahren Vergils. Dieser pflegt nämlich einen Begriff, meistens einen Namen, entweder unmittelbar nach der ersten Nennung zu wiederholen:
Pierides: vos haee facietis maxima Ga l l o, Ga ll o, euius amor tantum mihi erescit in horas (E.l0,72f.) oder erst in größerem räumlichen Abstand, wobei jedoch niemals störende Elemente dazwischentreten, also der inhaltliche Zusammenhang gewahrt bleibt: A t l a n t i s duri, eaelum qui vertiee fulcit, A t l a n t i s, eineturn adsidue eui nubibus atris . . . (IV 247f.) 36 Nur einmal verstößt Vergilgegen diese Regel, und zwar bei der Rüstung des Turnus (Anfang xm:
... (Turnus) aptat habendo e n s e m que clipeumque et rubrae eornua eristae, e n s e m, quem Dauno ignipotens deus ipse parenti feeerat et Stygia eandentem tinxerat unda.
(XII 88-91)
Hier wird die Wiederaufnahme von ensem durch die Aufzählung von zwei weiteren Rüstungsteilen (Schild und Helm) in ungewöhnlicher Weise unterbrochen. Das Trikolon ensemque clipeumque et rubra eornua cristae gehorcht dem Gesetz der wachsenden Glieder 37 , so daß eine Epanadiplosis eigentlich das am stärksten betonte dritte Glied (den Helm) aufgreifen müßte. Ich habe zeigen können, daß diese künstlerisch nicht gerechtfertigte Ausnahme Folge davon ist, daß Vergil nachträglich einen Hinweis auf die besondere Natur von Turnus' Schwert eingefügt und sich zu diesem Zweck des bequemen Mittels der Epanadiplosis bedient hat. Ein von Hephaest
" Auch die Helenaverse seien, wie Servius auctus zu II 566 behauptet, von Tucca u n d Varius gestrichen worden. · 36 Weitere Belege für Epanadiplosis: E.6,20f.; G.l ,245f.; 3,280-2; 4,34\f.; A.II 318f.405f.; • IV 25f.I73f.; VI 162-4 (s.u. S. 223 Anm. 38).495f.; IX 774f.; X 180f.778f.821f.; XII 673f. 37 Ähnlich strukturierte Verse sind:
rribulaque rraheaeque er iniquo ponden• rasrri. spiculaque c/ipeique ereptaqUI' rosrra carinis. Brontesque Sreropesque er nudus membra Pyragmon.
(G.I,\64) (A. VII 186) (VIII 425)
Ergebnisse und Ausblick: Aeneis VI 289 a-d (vergilisch)
223
geschmiedetes Schwert des Turnus war im ursprünglichen Plan der Aeneis nicht vorgesehen (siehe IX 148f.; XI 438-40)38 • Hat also der Verfasser von VI 289 a-d diese spezielle Überarbeitungstechnik gekannt und nachgeahmt? Auffällig ist jedenfalls, daß an beiden Stellen jeweils ein Vers von fast identischer Struktur (Trikolon mit dreiteiligem dritten Glied) vorausgeht. Aber die Verhältnisse liegen nicht so einfach. Strenggenommen darf man bei Gorgones (VI 289) - Gorgonis (VI 289 a) nicht von einer Epanadiplosis sprechen, weil Kasus und Numerus des iterierten Wortes verschieden sind und Gorgonis nicht syntaktisch angehängt ist, sondern den Anfang einer selbständigen syntaktischen Einheit darstellt. Zu diesen formalen Anstößen kommen die inhaltlichen: die Ortsangabe in medio (289 a) ist unklar, und die betonte Wiederaufnahme von Gorgones durch Gorgonis scheint nicht gerechtfertigt, da jetzt nur die e i n e Medusa beschrieben wird. GOOLD glaubt, daß jemand an dem Plural Gorgones Anstoß genommen und deshalb die Beschreibung der Medusa als Ersatz für Vers 289 verfaßt habe39 • Diese Annahme kann nicht zutreffen, da in diesem Fall in medio (289 a) - egal, wie es zu verstehen ist - in unerträgliche Konkurrenz zu in medio (282; gemeint ist die Mitte des vestibulum) tritt. Dieses Hindernis umgeht SABBADINI mit der Ansicht, Vergil selbst habe die Verse 289 a-d gestrichen und durch die Verse 282-9 ersetzt40 • Dann wären aber in der erschlossenen ursprünglichen Fassung die Versanfänge vipereum (281) und vipereae (289 b) im Abstand von nur 2 Versen aufeinandergefolgt4 1• Die Verse 289 a-d lassen sich ohne größere Manipulationen überhaupt nicht mit der ihnen von Servius auctus zugewiesenen Umgebung verbinden. Man kann sich nicht recht mit dem Gedanken anfreunden, daß ein Interpolator die qualitätvollen Verse für die vorliegende Stelle geschaffen habe, doch so, daß sie eigentlich nicht zu ihr passen, geschweige denn eine genaue Einordnung in den Text erlauben. Wenn aber Vergil der Autor der Verse 289 a-d ist, kann man sie ohne Zwang als alternative Versfolge begreifen. Überdies legen diese 4 Verse Zeugnis davon ab, daß ihr Verfasser mit Vergils Stil vollkommen vertraut war, aber auf augenfällige und plumpe Übernahmen verzichtet hat42 • Daß Vergil selbst sie geschrieben ,. 1982, S. 240ff. Auf ähnliche Weise hat Vergil wohl auch die Verse VI 164f. eingeschaltet (s.o. S. 106 Anm. 39). ,. 1970, s. 133f. 40 SABBADINI im krit. App. von GEYMONATS Vergilausgabe. 41 Verschärfend wirkt noch der Umstand, daß vipereus vermutlich vergilische Neubildung ist (s. NORDEN zu VI 281). 42 in medio (289 a), das Vergil häufig gebraucht (E.3,46; G.3,16.519; A.II 67; IIl 308; V 110; VI 282; VII 227; VIII 588.675; IX 343.728; XII 213), stammt nicht, was doch für einen Interpolator ohne Überblick naheläge, aus Vers VI 282, der in nur geringem Abstand vorausgeht: der Interpolator hätte durch eine solche Wiederholung die Einfügung seiner Verse in den Text unmöglich gemacht. Andererseits muß zwischen 282 und 289 a eine Beziehung bestehen, da in den jeweils benachbarten Versen das erst bei Vergil belegte und vermutlich von ihm neugebildete vipereus (statt viperinus) vorkommt (Versanfang von 281 und 289 b). Diese Verhältnisse sind nur begreiflich, wenn zwei unversöhnliche Fassungen vorliegen - eine Folgerung, die eine Interpolation nahezu ausschließt. Der dritte und letzte Beleg für vipereus bei Vergil ist VII 351:
224
Ergebnisse und Ausblick: Editionsweise des Varius
hat, dürfte so gut wie sicher sein. In einem wichtigen Punkt unterscheiden sich die Versem 204 a-c und VI 289 a -d von der Helenaszene: diese ist vom Dichter im Rohzustand belassen worden, während jene vollendet sind. Varius hat also unterschiedslos alle 3 Partien gestrichen. Grund für die Tilgung der Helenaverse war demnach vermutlich nicht ihre Unfertigkeit. Andernfalls hätte er auch jene Halbverse, die ftir das Verständnis des Textes nicht unabdingbar und syntaktisch abtrennbar sind43 , unterdrückt, auf jeden Fall aber den Halbvers m 340 (quem tibi iam Troia ... ), der nicht nur verzichtbar, sondern wegen seiner syntaktisch I inhaltlichen Unvollständigkeit sogar stört. Ebenso muß der Gedanke ferngehalten werden, Varius habe Partien, die nicht fugenlos in den Kontext gepaßt hätten (wie VI 289 a -d) oder zur näheren Umgebung in Widerspruch stehen (wie m 204 a -c) oder mit entfernteren Teilen des Epos unvereinbar sind (Helenaszene), nicht veröffentlicht. Denn warum hat er dann andere schwere Widersprüche44 nicht ausgemerzt? Rechte Hilfe bringt auch nicht die zusätzliche Annahme, er habe Widersprüche nur dann beseitigt, wenn dadurch keine Lücken entstanden seien. Dies würde zwar ftir m 204 a-c und VI 289 a-d zutreffen, nicht aber ftir die Helenaszene. Auch die Nachricht der Servius- Vita, daß Augustus die Emendatio der Aeneis befohlen habe mit der Auflage, "ut superflua demerent, nihil adderent tarnen" (Z. 30f.), hilft nicht weiter, da sie nicht auf wirklichem Wissen beruht, sondern aus dem Zustand der publizierten Aeneis erschlossen worden ist45 • vipeream inspirans animam. Es handelt sich um eine der Schlangen, die Alleeta als Haar auf dem Haupte trägt: Gorgoneis Allecto i'!{ecta venenis (341). Das Beiwort Gorgoneus zeigt, daß auch VII 351 und VI 289 b nicht unabhängig voneinander sind. Noch eine andere Stelle der Alleeta-Handlung scheint anzuklingen. Die Furie gerät durch Turnus' Schmährede in Zorn:
at iuveni oranti subill~s tremor occupar artus, d e r i g u e r e o c u I i: tot Erinys s i b i I a t hydris tanraque se facies aperit; rum jlammea 1 o r q u e n s . . . (VII 446- 8) Die Ähnlichkeit des Vokabulars (vgl. rigenr oculi, VI 289 c; sibila und torquenr, 289 b Ueweils an derselben Versstelleil ist nicht zufällig, geht aber nicht ausschließlich auf sachliche Gemeinsamkeiten zurück. Ebenso kann man den Wortbestand von III 308 vergleichen: d e r i g u i 1 visu in m e d i o ... (vorausgeht magnis ... monstris, IIl 307; vgl. [wenn auch mit anderem Sinn] portenrum immane, VI 289 a). - Der Versschluß -que sub imo (VI 289 c) findet sich auch X 464. Der Genitiv Plural von serpens kommt bei Vergil 3x vor: VI 289 d; VIII 436 (mit unsicherer Beziehung auf die Schlangen der Gorgo, die jedenfalls 438 genannt wird); XII 847f. ([Diras] paribusque re v in x i 1 I s e r p e n t um spiris). Die Verbindung extremis ... caudis (289 d) erinnert an exlremae ... caudae (G.3,423 [von einer Schlange gesagt]). nodare gebraucht Vergil 2x, jeweils in derselben Form: nodanrur (IV 138; VI 289 d). In IV sind es die Haare der Dido, in VI die Schlangen- Haare der Medusa, die geknotet werden. Noch an zwei weiteren Stellen fällt das Wort nodus im Zusammenhang mit Schlangen (II 220; V 279). Vgl. auch Furor ... cenrum v in c tu s aenis posttergum n o d i s (I 294ff.) mit n o da n 1 u r v i n c u I a (VI 289 d). 43 I 636; II 787; IIl 316.340.470.527; IV 361.(516); (V 653 [s. BERRES 1982, S. 73ff.]); V 792.815; VI 94; VII 455; IX 721; X 284. 44 Bequeme Übersicht bei CAMPS 1969, S. 127f. 45 Dazu und zu der ähnlich lautenden Eintragung des Hieronymus zu 01. 190,4 siehe BERRES 1982, S. 24ff.
Ergebnisse und Ausblick: Beschaffenheit des Aeneismanuskripts
225
Wir können nun aus diesen Beobachtungen und Überlegungen den Schluß ziehen, daß Varius alles getreulich ediert hat, wobei er jedoch jene Verse ausließ, die der Dichter als unfertige oder aufgegebene Partien in irgendeiner Weise gekennzeichnet hatte. Zwar kann über die Art der Kennzeichnung nur spekuliert werden, aber es läßt sich wenigstens so viel sagen, daß Vergil hierbei nicht an eine postume Edition gedacht hat. Liegt uns nun nicht eine "Aeneis Vergiliana", sondern "Variana" (SUERBAUM46) vor? SUERBAUM vermutet, daß Vergils Autograph ein "verwirrendes Bild" geboten habe: "Streichungen, Einfügungen, nebeneinanderstehende Doppelfassungen, selbst-kritische Zeichen für tibicines, für die Notwendigkeit späterer Überarbeitung usw. usw. sind teils sicher zu erschließen, teils plausibel zu vermuten. Es muß deshalb für Varius eine dornige Editionsaufgabe dargestellt haben" 47 • SUERBAUMS Hauptargument, "der Eindruck von vielfältigen Schichten der Aeneis" 48 , beruht auf der irrigen Identifizierung der Entstehungsgeschichte mit dem Erscheinungsbild des Manuskriptes. Es gibt ziemlich überzeugende Indizien dafür, daß sich das Autograph in einem geordneten Zustand befand. Kurz vor Vergils Tod war die Aeneis so weit fertig, daß er daran gehen konnte, die summa manus anzulegen, und zu diesem Zweck eine auf drei Jahre geplante Reise nach Griechenland und Kleinasien antrat (Sueton- Donat-Vita § 35). Aber schon vorher (frühestens wohl nach September 23 v. Chr. 49) konnte er mindestens 3 Bücher, das 2., 4. und 6., der kaiserlichen Familie vorlesen (§ 32)50 • Kaum vorstellbar, daß er für diese Rezitation sich einer gut lesbaren Abschrift bedient hätte, das originale Manuskript aber, an dem er (und sein librarius Eros) zu arbeiten pflegte, mehr einem Zettelkasten geglichen hätte! Vergil hat für die Aeneis, bevor er an die Gestaltung im einzelnen ging, einen Prosaplan angefertigt, der schon eine Verteilung des Stoffes auf 12 Bücher vorsah (§ 23). Dann habe der Dichter ihn stückweise (particulatim) und nach Gutdünken ohne feste Reihenfolge (prout liberet quidque, et nihil in ordinem arripiens, § 23) ausgearbeitet. Diese sicherlich vertrauenswürdige Nachricht ist häufig dem Mißverständnis ausgesetzt gewesen, daß Vergil einen bis ins letzte detaillierten Prosaplan nur versifiziert habe - unabhängig von jeder sachlichen Ordnung. Aber diese Annahme ist nicht nur schon in sich unwahrscheinlich, sondern sie scheitert bereits an den großen Widersprüchen der Aeneis (Tisch- und Sauprodigium, Palinurus' Tod, septima aestas, Gnomon 60, 1988, S. 409. S. 409. - Zu dieser Ansicht gelangt SUERBAUM durch eine - von mit "selbst nicht bedachte" - "Folgerung" aus meinem Vergilbuch (1982), dessen Ergebnisse er sonst weitgehend ablehnt (!), u n d (!) aus dem Buch von CARTAULT (1926), dessen These von Marginalnotizen ich widerlegt habe. Diese 'Folgerung' ist nicht nachvollziehbar und muß deshalb als SUERBAUMS geistiges Eigentum angesehen werden. 46
47
48
S. 409.
49
Wegen der auf Marcellus' Tod bewgenen Anekdote (§ Siehe auch u. S. 226 Anm. 52.
'0
23).
226
Ergebnisse und Ausblick: Prosaplan der Aeneis
Unkenntnis des Fahrtzieles in Buch Ill, usf.S'), die entweder auf fehlender Planung beruhen oder nachträgliche Änderungen am Plan anzeigen. Außerdem weisen die 58 Halbverse auf größere und kleinere Überarbeitungen hin (s. Exkurs). Trotz dieser Einschränkungen beseitigt allein die Existenz des Prosaplans mögliche Voraussetzungen für einen chaotischen Zustand des Manuskriptes und erlaubt andererseits die für Vergil bezeugte sprunghafte Arbeitsweise. Diese scheint mit der an der Aeneis selbst ablesbaren blockhaften Komposition zusammenzuhängen.52 Allerdings sprechen die Versabhängigkeiten im allgemeinen für eine sukzessiv vom ersten bis zum letzten Buch fortschreitende Entstehung des Epos. Dies muß kein Widerspruch sein, da Vergil während der ganzen elfjährigen Arbeit an der Aeneis ständig auch bereits geschaffene Partien überarbeitet oder durch Einschübe erweitert hat. Beweis hierfür sind die Halbverse, die ausnahmslos in Zusammenhang mit nachträglichen Änderungen entstanden sind53 • Die Zahl der Einschübe, die n i c h t zur Bildung eines Halbverses geführt haben, ist wahrscheinlich deutlich höher; außerdem ist vermutlich ein Teil der Halbverse von Vergil später wieder beseitigt worden. Die Annahme einer Fülle von Randnotizen im Aeneismanuskript beruht vor allem auf der Vorstellung, daß viele Halbverse Provisorien bzw. das Ende von nicht fertig ausgearbeiteten Einfügungen seien54 • Halbverse sind jedoch, wie ich im Exkurs gezeigt habe, von ganz wenigen Ausnahmen abgesehen (I 534; V 653; IX 295.467), keine tibicines und auch nicht Schlüsse von (angeblich unvollendeten) Einschüben. Vielmehr bilden sie das " Seltsamerweise (?) betreffen alle diese Widersprüche m e h r e r e Aeneisbücher, tangieren also die großen, buchübergreifenden Teile des Planes. 52 Wenn Augustus ca. 26 v. Chr. Vergil brieflich um vel prima carminis inrcrypwJ>~ vel quodlibet KWAOP bittet(§ 31), so darf man hinter den griechischen Begriffen nicht eine genaue Kenntnis von Vergils Arbeitsweise wittern, sondern muß in ihnen vielmehr das mit Scherz - per iocum, sagt Sueton - gemischte Bemühen des Herrschers erblicken, dem Dichter überhaupt etwas aus der Werkstatt zu entreißen. Die von Macrobius erhaltene Antwort Vergils, in der dieser sich dem Drängen des Augustus widersetzt, da er noch nichts hätte, was ftir seine Ohren würdig wäre (sat. I ,24,11), zeigt deutlich, daß der Dichter nur vollkommen Ausgearbeitetes aus der Hand geben wollte. Wenn er dann später 3 Aeneisbücher Augustus vorlas, konnte es sich also nicht um irgendwelche größeren oder kleineren Abschnitte (Kw>-.a) handeln. 53 Bisweilen gelingt der Nachweis, daß Halbverse nicht der spätesten Arbeitsphase angehörten, sondern schon länger Bestandteil des Textes waren: I 534 ist vor Buch XI entstanden (s. BERRES 1982, S. 70f.); II 767 vor dem Einschub 111 471-505 und vor V 83 (1982, S. 157ff.); II 787 früher als das Aristaeus-Epyllion der Georgica (1982, S. 118ff.); VII 702 vor Xl456-8 (1982, S. 99f.); VIII 41 vor dem Einschub 111 388-93 (1982, S. 198ff.); IX 467 vor den eingeschobenen Stellen X 23f. und X 143f. (s.o. S. 162; 135); IX 721 vor X 23f. und X 143f. (o. S. 157 und S. 135); X 17 früher als der Einschub XI 376ff. (o. S. 117f.). 54 Dieser Ansicht sind z.B. CARTAULT 1926 und WALTER 1933. In jüngster Zeit neigt SUERBAUM, der sich auf CARTAULT beruft, wieder zur Annahme von Marginalnotizen (Gnomon 60, 1988, S. 409). Siehe dagegen meine Ausführungen zu einzelnen Halbversen: I 534 (1982, S. 70f.); I 560 (S. 298f.); II 623 (s.o. S. 186f.); II 787 (1982, S. 115ff.); 111 218 (S. 231); IV 361 (s.o. S. 116); V 574 (s.o. S. 149); VII 129 (1982, S. 225); VII 702 (S. 99f.); VIII 41 (S. 196); IX 721 (IX 720f. ist keine Dublette: s.o. S. 156 Anm. 106, auch keine Randnotiz: s.o. S. 157); XI 375 (s.o. S. 117).
Ergebnisse und Ausblick: Prosaplan der Aeneis und Edition des Varius
227
Ende des u r s p r ü n g I i c h e n Textes, dem eine neue Fortsetzung angehängt worden ist. Nur für diese sekundären Fortsetzungen darf man zunächst die Möglichkeit erwägen, ob erst Varius sie i n den Text gesetzt habe. Diese Annahme ist aber so unwahrscheinlich, daß sie keiner Erörterung bedarf. 55 Besondere Beachtung müssen wir der U n i f o r m i t ä t von Varius' Aeneisedition schenken. Denn entweder stellte Varius das äußerlich einheitliche Aussehen durch starke und deshalb in gewissem Sinne willkürliche Eingriffe her, oder das Manuskript gab ihm durch übersichtliche und klare Anlage keine editorischen Rätsel auf. Hätte erst Varius die Halbverse geschaffen, indem er etwa ihm als schlecht erscheinende Fortsetzungen weggeschnitten hätte56 , müßten die Halbverse eine größere Formenvielfalt zeigen. Sein Mißfallen hätte sich dann vorwiegend auf Anfänge und Schlüsse von Reden, auf vorausblickende und vorbereitende Partien und auf Vergleiche gerichtet. Zugleich hätte er die Halbverse so gesetzt, daß sie stets mit Schnittstellen vergilischer Einschübe zusammengefallen wären! Es wäre zudem unverständlich, warum er den syntaktisch und inhaltlich unselbständigen Halbvers m 340, der ja nur zu stören scheint, im Text belassen hat. Es sprechen also zwingende Gründe dafür, daß Varius bei der Herausgabe der Aeneis nicht willkürlich verfuhr, sondern sich an das nachgelassene Manuskript hielt, aus dem Vergils Absichten deutlich genug hervorgingen. Der Annahme größerer Eingriffe in den Text stehen weitere Überlegungen im Wege: Wesentliche Teile der Aeneis waren einem engeren Freundeskreis durch Rezitationen schon vor der Publikation bekannt, so daß (verfälschende) Ergänzungen oder Fortlassungen nicht unbemerkt und ungerügt geblieben wären. Auch war es kein geringerer als Augustus, der entgegen dem Letzten Willen des Dichters Varius mit der Edition beauftragte. Auch scheint man, antiken Nachrichten zufolge, nach Vergils Tod die Autographen noch selbst eingesehen zu haben 57 . In 3 Fällen kann für die Aeneis eine solche Einsichtnahme erschlossen werden. Die Überlieferung der Helenaszene II 567-88 sowie der Versgruppen m 204 a-c und VI 289 a-d ist nur auf diesem Wege möglich gewesen, da Varius keine Ausgabe mit kritischem Apparat gemacht hat. Wenn Varius zu sehr vom Versbestand der Aeneis abgewichen wäre, hätte ihm das gewiß herben Tadel eingetragen (Schluß e silentio). Außerdem wären dann weitere vergilische Bruchstücke zum Vorschein gekommen. Offensichtlich hat man nur die drei genannten Stücke für überliefernswert gehalten, die aus gleichwohl unterschiedlichen Gründen von Vergil für eine Publikation nicht vorgesehen sein konnten.
55 Bei mindestens 3 Halbversen lassen sich sogar positive Gründe dafür finden, daß die jeweils folgenden sekundären Verse nicht am Rande standen: III 470 (s. BERRES 1982, S. 163 Anm. 76); VII 702 (S. 99f.); VIII 41 (S. 198f.). 56 Dies entspricht ungefähr PERRETS Auffassung (s.o. S. 112f.). 57 Siehe o. S. 72 und GEYMONAT, Praefatio S. Vll.
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Ergebnisse und Ausblick: Umarbeitung des 4. Georgica-Buches
Mögen all diese Argumente, sofern man sie isoliert, anfechtbar, vielleicht sogar umkehrbar sein, so führt jedoch ihre Verknüpfung zu dem fast sicheren Schluß, daß die klare Anlage des vergilischen Autographs es Varius ermöglichte, einen exzellenten Lesetext herzustellen. Die Aeneis war zwar in den Augen ihres Dichters nicht vollendet, aber sehr wohl für eine Publikation geeignet. Wir lesen heute nicht eine Aeneis Variana, sondern Vergiliana. Die Umstände der postumen Aeneisedition durch Varius waren grundsätzlich anderer Natur als jene, unter denen etwa M. Brod den literarischen Nachlaß Kafkas nur unzureichend herausgegeben hat. Natürlich mag Varius sich in dem einen oder anderen Falle geirrt und Fehlentscheidungen getroffen haben - aber darum geht es hier nicht. Wir dürfen davon überzeugt sein, daß Varius weder geglättet noch unfertige Partien vollendet hat. Beweis hierfür sind die verbliebenen großen Widersprüche in der Aeneis, die Halbverse (bes. Ill 340) und nicht zuletzt die Helenaszene. Es ist deshalb die Aufgabe der modernen Editoren, möglichst den varianischen Text herzustellen, im Bewußtsein, so auch den vergilischen Wortlaut zu erreichen. Die 'außervarianischen' Aeneisbruchstücke II 567-88 (Helenaszene), Ill 204 a -c und VI 289 a -d gehören in den kritischen Apparat. Für unsere heutigen Ausgaben muß nun auch das Faktum berücksichtigt werden, daß Lucan und Valerius Flaccus die Helenaszene in ihren Aeneistexten gelesen und imitiert haben. Während diese Verse in den spätantiken Codices, auf denen der heutige Text im wesentlichen beruht, fehlen, wird hier eine Tradition sichtbar, die vielleicht doch ihren Niederschlag in mittelalterlichen, von Servius unabhängigen Handschriften gefunden hat. Angesichts der Unzahl von Codices, die kollationiert werden müßten, eröffnet sich für die Herausgeber eine mühevolle und vielleicht auch zu schwere Aufgabe. Die Authentizität der Helenaverse beweist, daß Servius' Behauptung, sie hätten ursprünglich im Manuskript gestanden58 , zutrifft. Auf welchem Wege Servius zu diesem Wissen gekommen ist, bleibt ungeklärt. Jedoch können jetzt nicht mehr Nachrichten, die Servius überliefert hat, mit dem Hinweis auf die Unzuverlässigkeit dieses Gewährsmannes ohne weiteres diskreditiert werden. Insbesondere bedarf seine Behauptung (zu E.lO, I und G.4,1), daß Vergil nach dem Tode seines Freundes Gallus die 2. Hälfte des 4. Georgicabuches, in der ursprünglich Iaudes Galli gestanden hätten, umgearbeitet habe, einer sorgfaltigen Prüfung 59 • Die zahlreichen stilisti" Siehe o. S. 2. 59 Eine solche Untersuchung ist in der sehr ausführlichen Diss. von J. HERMES (C. Cornelius Gallus und Vergil. Das Problem der Umarbeitung des vierten Georgica- Buches, Münster 1980) unternommen worden. Er kommt, anders als ich, zu dem Ergebnis, daß die Behauptung des Servius nicht zutreffe. Ich kann hier nur kurz einige Punkte berühren. Wenn HERMES - zu Recht - im Aristaeus- Epyllion keinen Fremdkörper und kein eilig zusammengeflicktes Ersatzstück sieht, so schließt dies die Annahme einer ersten Auflage der Georgica, die die Iaudes Galli enthalten habe, natürlich nicht aus. Auch das Argument, das sich auf die .restlose
Ergebnisse und Ausblick: Umarbeitung des 4. Georgica- Buches
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sehen Übereinstimmungen (und Anklänge) zwischen der 1. Aeneishälfte und dem Aristaeus- Epyllion lassen einige sichere Prioritätsbestimmungen zu, die die Angabe des Servius bestätigen60 • Vernichtung der Erstauflage" (S. 164) gründet, ist schon deshalb nicht stichhaltig, da es die 'Nachwirkung' bei Servius von vornherein als unglaubwürdig voraussetzen muß. Außerdem meint HERMES (S. 179), daß Vergil im Jahre 29 Augustus nicht die Iaudes Galli hätte vorlesen können. Dies wäre eine "schwerer Affront gegen Augustus" gewesen. "Die 'Iaudes Galli' hätten dann mindestens neben sehr viel längeren 'Iaudes Octaviani' stehen müssen". Diese Überlegung beruht auf einer Einschätzung des Verhältnisses von Vergil zu den Mächtigen seiner Zeit, die ich nicht teile. Schließlich: HERMES will die Entstehung der Serviusnotiz damit erklären, daß die Aristaeus -Geschichte als Ende eines Lehrgedichtes den Tadel antiker Vergilkritiker geradezu herausgefordert habe und daß die Rolle des Gallus in den Eclogen sowie "historisch gesicherte Tatsachen aus dem Leben des Gallus" Anlaß zu der Erfindung gegeben hätten, Vergil habe seinen Freund Gallus nicht so schnell vergessen und ihn in den Georgica mit einem Preislied bedacht (S. 291 f.). So unsicher die von HERMES gemachten Voraussetzungen sind, so wenig kann man sich mit der Vorstellung anfreunden, Kritiker hätten das ihnen anstößig erscheinende Epyllion durch die Annahme der Tilgung von ursprünglichen, aber noch viel anstößigeren Iaudes Galli rechtfertigen wollen. Damit fällt auch HERMES' These, daß die bloße Existenz der Serviusnachricht nicht mehr als Indiz für ihre Glaubwürdigkeit gewertet werden könne (S. 293). Entschieden werden kann die alte Streitfrage nur durch die Betrachtung der stilistischen Beziehungen zwischen dem Epyllion und der Aeneis. Zu Recht geht HERMES ausführlich auf diese ein: S. 49ff.; 78ff.; 87ff.; 99f.; 116ff. ("Mir unbegreiflich ist", schreibt SUERBAUM im Gnomon 60, 1988, S. 405 Anm. 4, "warum diese stilistischen Parallelen und ihre Problematik in der 322seitigen Münsteraner Diss. von J. HERMES ... keine Rolle spielen; dadurch wird sein Ergebnis (Servius- Nachricht unzutreffend) entwertet". Unbegreiflich gewiß für jemanden, der sich nur auf die Durchsicht des freilich wenig informativen Inhaltsverzeichnisses verläßt und deshalb glaubt, aus seiner Unkenntnis die Berechtigung zu hochfahrender Kritik ableiten zu dürfen.) HERMES gelangt zu der Ansicht, daß die Priorität der Aeneis nicht bewiesen werden könne (S. I60). Statt einer ausführlichen Entgegnung verweise ich auf Andeutungen in der nächsten Anmerkung. 60 Siehe K. MYUUS, Die wiederholten Verse bei Vergil, Diss. Freiburg i. Br., 1946; BüCHNER 1955, Sp. 295f.; BERRES 1982, S. 118-125; 303-314. - Das umgekehrte Abhängigkeitsverhältnis nimmt W. W. BRIGGS (Lines repeated from the Georgics in the Aeneid, CJ 77, 1981/2, S. 130-147) an, der sich ohne eigene Begründung der Meinung von Ons (1964, Appendix 7, S. 408-13) anschließt, die ich als unhaltbar und willkürlich zurückgewiesen habe (1982). Ebenso hat W. MosKALEW (Formular Language and poetic Design in the Aeneid, Leiden 1982, S. 12 Anm. 19) meine gleichzeitig erschienene Dissertation noch nicht benutzen können, mochte aber später, als er meine Arbeit rezensierte (AJPh CVI, 1985, S. 527-30), nicht von seiner Position (Priorität der Aristaeus -Geschichte) abrücken. 2 Punkte führt er gegen mich an: Das alte Argument, daß 0.4,352 prospiciens summa jlavum caput extulit unda ein spielerisches Echo von A. I 127 prospiciens summa placidum caput extulit unda. sei, ignoriere das Faktum (fact), daßjlavum - vom homerischen xanthos? - ein üblicheres (more common) Beiwort sei als placidum (1985, S. 529). MOSKALEW verkürzt nicht nur meine Argumentation (1982, S. 304f.), sondern schiebt sie auch auf ein ziemlich unfruchtbares Terrain. Denn ein Beiwort muß sich zunächst daran messen lassen, wie es in den jeweiligen Zusammenhang paßt, nicht aber daran, ob es das konventionellere ist. Richtig ist natürlich, daß Vergil im Verlauf seiner Arbeit an der Aeneis immer gewähltere, ungewöhnlichere und kühnere Formulierungen bis hin zu Manierismen zu erfinden pflegt. Aber selbst wenn man sich auf MOSKALEWS Argumentation einläßt, findet sein "fact" keine rechte Stütze in Vergils Sprachgebrauch. Vergil verbindet folgende (adjektivische) Attribute (von Pronomina und Pronominaladjektiven abgesehen) mit caput: altum (I 189; 111 678; V 375; IX 678), arduum (V 428), argutum
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Ergebnisse und Ausblick: Einige poetische 'Techniken' Vergils
Die Helenaverse sind beinahe der einzige überlieferte Beleg für vergilische tibicines. Allerdings verdanken wir die Erhaltung der wenigen anderen, sehr kurzen tibicines61 Varius, so daß man zwischen mindestens 2 Erscheinungsformen unterscheiden muß. Diese kurzen tibicines sind einfache Flickworte, die eine vergilische Selbstinterpolation ermöglichen sollen; die Helenaverse hingegen bilden eine ganze Szene, die Vergil zwar ebenfalls zur Einbettung einer sekundären Versfolge (Venuserscheinung) geschaffen, aber nicht vollendet hat. (G.3,80), asperum (VI 360), avidum (G.3,553), carum (IV 354), Dardanium (IV 640; XI 400), divinum (X 639), dulce (IV 492f.),.finitimum (VIII 569),jlavum (G.4,352), honestum (G.2,392; X 133), implacabile (XII 816), irifandum (IV 613), intonsum (IX 681), nitidum (G.1,467), piniferum (IV 249), placidum (I 127), sacrum (G.4,319), timidum (G.3,422), turpe (G.3,52). Vergil verwendet also überwiegend ungewöhnliche und kostbare Epitheta, von denen nur eine Minderheit die physische Beschaffenheit des Kopfes beschreibt. (Man gewinnt den Eindruck, als habe sich der Dichter um größtmögliche Variation bei der Wahl der Attribute bemüht. Nur altum kommt 4x vor, fallt aber wegen seines vorwiegend prädikativen Gebrauchs aus der Reihe.) jlavus wird in Bezug auf Personen und Körperteile 6x (G.1,96; 4,339.352; A.IV 559.698; VII 31f.) gesagt, placidus 7x (I 127.521; III 265f.; IV 440.578; VII 194). Als 2. Gegenargument führt MosKALEW an (1985, S. 529), daß .fiir den Vers G.4,420 (= A.l 161) und die gante Umgebung, in der er vorkommt, das offensichtliche Vorbild nicht der Phorkys-Hafen (Od. 13,96ff.), sondern die Proteus-Episode in Od. 4,351-572 ist". Aber die Verse G.4,420 und A.I 161 sind nicht völlig gleichlautend:
c o g i t u r inque sinus seindir sese unda reductos
(G.4,420)
f r a n g i t u r inque sinus scindit sese unda reductos.
(A.I 161)
Mit dieser Ungenauigkeit lenkt MOSKALEW davon ab, daß mit der Diskrepanz von cogitur und .frangitur mein Hauptargument für Priorität von A.I 161, das ich BücHNER verdanke, zusammenhängt. Außerdem unterläßt MosKALEW den Hinweis auf die unbestrittene Tatsache, daß die Hafenbeschreibung A.I 159ff. in Anlehnung an den Phorkyshafen der Odyssee (v 96ff.) geschaffen ist (so MosKALEW selbst 1982, S. 12 Anrn. 19). Ebenso unterliegt es keinem Zweifel, daß die Georgicapassage im ganzen der Proteus- Menelaos- Episode des 4. Odysseebuches verpflichtet ist, die Beschreibung des Hafens jedoch (G.4,418ff.) nicht aus ö 358f. stammt, wie der Wortlaut lehrt, sondern mit der Phorkyshafen- Nachbildung des I. Aeneisbuches auffällig übereinstimmt. Überdies ist für die Ermittlung des Abhängigkeitsverhältnisses von G.4,420 A.I 161 die Frage des homerischen Vorbildes völlig unerheblich und hat deshalb ftir BüCHNER und mich keine Rolle gespielt! Wer zu solchen - gelinde gesagt - Taschenspielertricks seine Zuflucht nimmt, muß den Glauben, eine gute Sache zu vertreten, längst aufgegeben haben. Hinsichtlich jener Verse räumt J. HERMES (s. vorige Anm.) zunächst ein, daß man die Priorität der Georgica schwerlich nachweisen könne; wenn es aber gelinge, die Beschreibung in den Georgica als in sich sinnvoll auszuweisen, werde die Frage .gegenstandslos" (S. 99). Dieses Schlußverfahren ist jedoch unzulässig oder zumindest sehr unsicher, da in einigen Fällen das Abhängigkeitsverhältnis auch dann, wenn keine Unstimmigkeiten an der sekundären Stelle auftreten, geklärt werden kann. HERMES versucht zwar die Beschreibung der Proleushöhle in G.4,418ff. mit Hilfe mehrerer Annahmen verständlich zu machen (S. 99f.), verrät aber damit zugleich, daß nur eine verschwommene Vorstellung möglich ist. Die entsprechenden Verse der Aeneis I 159ff., die mit großer Genauigkeit die Beschaffenheit des Hafens schildern, lesen sich fast wie ein Kommentar zur Georgicapassage. Hat nun die nur andeutende, beinahe impressionistische Beschreibung in den Georgica die Aeneisstelle angeregt, oder hat das vollständige und technisch genaue Gemälde von A.I Vergil überhaupt erst in die Lage versetzt, die offenbar sehr komplizierten geographischen Gegebenheiten von G.4 mit wenigen Worten zu skizzieren? 61 1 534 (BERRES 1982, S. 56ff.), V 653 (S. 73ff.), IX 295 (S. 40ff.), IX 467 (s.o. S. 153ff.), X 729 (S. 100ff.). - Die Entdeckung vermeintlicher tibicines begann schon in der Antike (1982, S. 16f.).
Ergebnisse und Ausblick: Einige poetische 'Techniken' Vergils
231
Dieser umfangreiche tibicen gewährt uns Einblick in Vergils Werkstatt. Wir sehen, wie der erste Entwurf einer Szene sozusagen im Eilverfahren niedergeschrieben bzw. diktiert wurde, so daß vergilische Eigentümlichkeiten gehäuft zu Tage treten: unschöne metrische Stereotypien und Wortwiederholungen sowie ausufernder und ungezügelter Stil. Vergil entledigte sich seiner fast überschäumenden Ideenfülle teilweise in einem additiven Verfahren (signifikante Belege: II 578-80 und die Doppelfassung 583-7). Konzept und Ausführung der Skizze sind an griechischen Vorbildern orientiert und müssen bereits vor der schriftlichen Fixierung festgestanden haben. Ein besonders auffälliges Merkmal ist die vergleichsweise geringe Zahl von wörtlichen 'Übernahmen' aus der Aeneis. Aus dem Vergleich der Helenaszene mit anderen Aeneispartien lassen sich nun die wesentlichen Schritte rekonstruieren, die Vergil bis zur Vollendung hätte tun müssen. Die Mühe wäre nicht gering gewesen, hätte doch schon die Beseitigung der metrischen Eintönigkeit und der störenden Wortwiederholungen den Umbau größerer Teile erforderlich gemacht. Wenn Vergil auch zweifellos manches gestrichen und anderes gestrafft hätte, so bedeutet dies natürlich nicht, daß die vollendete Szene kürzer geworden wäre. Vielmehr rechne ich angesichts der grundsätzlichen Neigung Vergils zu Einschüben (Halbverse!) mit einer möglichen Erweiterung. Vermutlich hätte der Dichter den Monolog des Aeneas (II 577- 87) durch den Einbau von Anaphern62 noch rhetorischer und durch Vermehrung der paradoxen Formulierungen63 den Widersinn und die Ungerechtigkeit von Helenas Überleben und triumphaler Rückkehr noch fühlbarer gemacht. Der größte Teil der aufgewandten Energie wäre wohl für das Stutzen allzu üppiger Formulierungen und die Integrierung des Stils in die hohe Sprache der Aeneis benötigt worden. Im Verlaufe dieser Bemühungen hätte die Zahl der wörtlichen 'Übernahmen' sicherlich stark zugenommen64 • Wie aber wäre Vergil im einzelnen vorgegangen? Wir wissen es nicht, können aber seine 'Technik' aus den übrigen Teilen der Aeneis deutlich genug erschließen. So hat Vergil z.B. die 4 (!) Odysseeverse ~ 301 -4 ins 3. Aeneisbuch übertragen (ill 192-5); später hat er dann diese Verse mit geringfügigen, aber sehr sorgfältigen Änderungen ins 5. Buch übernommen (V 8 -11 - ill 192-5)65 • Offensichtlich hat sich Vergil hier nicht nur auf memoria und ingenium verlassen, sondern die Verse 'nachgeschlagen'. In Bezug auf eben diese Verse gelangt SUERBAUM zur entgegengesetzten Ansicht: zwar sei für ihn "Vergil der Prototyp des schriftlich komponierenden Dichters", aber das bedeute nicht, daß er sich "Vergil als einen von Schrift- Rollen (!) umgebenen Literaten vorstelle, der hier einen Homer- Vers liest, dort dessen eigene frühere Nachahmung in
62 63 64 65
Vgl. bes. II 581 f. mit IV 369f. (dazu s.o. S. 58). Vgl. die Monologe der Juno I 371f. und VII 2931f. (o. S. 80f.). Vgl. in dieser Hinsicht den Didomonolog IV 362ff. (o. S. 58f.). Siehe BERRES 1982, S. 129f.
232
Ergebnisse und Ausblick: Einige poetische 'Techniken' Vergils
Aen. m vergleicht und daraufbin jetzt den Vers für Aen. V formuliert" 66 • Der achtlose Umgang mit dem Sachverhalt (es sind jeweils v i e r Verse und nicht e i n e r) befugt SUERBAUM offenbar auch zu jener noch weitergehenden Polemik: "Bar schöpferischer Einfälle sucht er (Vergil) bei der Gestaltung bestimmter Szenen nicht nur Rat bei Homer, Apollonios Rhodios, Ennius, Catull usw., sondern vor allem bei dem, was er selber bisher schon geschrieben hat " 67 • Hier zwei weitere, der subjektiven Willkür entzogene Belege für Vergils Gepflogenheit, sich immer wieder mit bereits fertigen Partien zu befassen, um an ihnen womöglich noch Veränderungen vorzunehmen u n d um aus ihnen Anregungen zu schöpfen. Vergil hat den Vers m 516 wortwörtlich in eine schon bestehende Passage des I. Buches als Vers I 744 eingefügt. 68 Die Umgebung der beiden gleichlautenden Verse zeigt jedoch das umgekehrte Abhängigkeitsverhältnis (I 724 + 729 > ID 525f. 69 ; I 691f. > ID 511 70). Auch Vers IX 294 ist fast unverändert aus X 824 übernommen worden. Daß er in IX sekundär ist, läßt sich u.a. an der Bildung des Halbverses IX 295 erkennen, der den neuen Vers in den vorhandenen Zusammenhang provisorisch einfügen soll' 1• Auch hier weisen die Partien, in denen die beiden Verse stehen, zusätzliche Anklänge aneinander auf. 72 Die komplexen stilistischen Beziehungen zwischen den Passagen in I und m sowie jenen in IX und X können also nicht allein auf die Tatsache zurückgeführt werden, daß jeweils dasselbe dichterische ingenium am Werk war; denn sonst hätte es nicht zur (sekundären) Einfügung von I 744 und IX 294 kommen können. Vielmehr mußte Vergil die entsprechenden Stellen jeweils aufsuchen, um dort Ergänzungen vornehmen zu können73 . Die Gründe für die Schaffung der Helenaskizze und der sie fortsetzenden und auf ihr beruhenden Venuserscheinung lassen die Richtung erkennen, in die Vergil die weitere Ausgestaltung der Aeneis lenken wollte. Es geht ihm formal um Dramatisierung und um grellere Beleuchtung der Handlung, inhaltlich um den bisweilen sich unheilvoll auftuenden Zwiespalt zwischen schwacher Menschennatur und Forderungen des Fatums 74 • Mit diesem Ergebnis stehen die poetischen Tendenzen, die sich aus den 58 mit
66
Gnomon 60, 1988, S. 408 (Ausrufungszeichen von SUERBAUM).
67
s. 408.
68 Die Priorität von 111 516, die schon KUMANIECKI und AUSTIN erkannt haben, unterliegt keinem Zweifel und hat sogar zur Athetese von I 744 geführt (ausführliche Darstellung bei BERRES 1982, S. 46ff.). 69 BERRES 1982, S. 46. . 70 BERRES, Ennius ann. 292f. V. im Spiegel der genetischen Äneisbetrachtung, Rh. Mus. 120, 1977, S. 257 Anm. 5. 71 BERRES 1982, S. 35ff. Auch IX 294 bereitet in seinem neuen Kontext so große Verständnisschwierigkeiten, daß es zur Athetese gekommen ist. n 1982, S. 44f. 73 Zahlreiche weitere Belege flir Übernahmen, die nicht ausschließlich Gedächtnisleist\lngen sind, finden sich in meiner Arbeit von 1982. 74 Siehe auch o. S. 214.
Ergebnisse und Ausblick: Unfertigkeit der Aeneis
233
Halbversen verbundenen Einschüben ablesen lassen, nicht in Widerspruch. Natürlich vermittelt die große Zahl dieser Stellen ein detaillierteres Bild (s.o. S. 172), so daß man insgesamt sagen kann, daß die nachträglichen Einfügungen und Überarbeitungen das in der Aeneis Angelegte entfalten oder auch das Verwirklichte noch vertiefen75 • Sie sind in besonderem Maße geeignet, den Blick des Interpreten auf das Wesentliche der Aeneis zu lenken. Zugleich lassen sie uns erahnen, was aus der Aeneis geworden wäre, wenn Vergil sie hätte zu Ende bringen können76 • Eben dieser Mangel, den wir heutigen Leser nicht recht spüren, weil wir die vorliegende Aeneis bewundern und mit Vergils weiteren Absichten nicht vertraut sind, ist es wohl gewesen, der in dem Dichter den furchtbaren Entschluß hervorgebracht hat, für den Fall seines Todes das noch unfertige Werk zu vernichten. Die unvollendete Helenaszene gibt uns wertvolle Kriterien 77 an die Hand, mit denen andere weniger ausgearbeitete Partien der Aeneis aufgespürt werden können. Hierbei muß große Vorsicht walten, weil die Aeneis verschiedene Stile und Stilhöhen in sich vereinigt und eine zunehmende Neigung zu manierierter Ausdrucksweise zu beobachten ist. Auch glaube ich nicht, daß sich noch größere tibicines in der Aeneis finden lassen. - Der eigentliche Lohn solcher Anstrengungen wird wohl darin liegen, daß wir die Schönheit vergilischer Verse immer bewußter empfinden können.
75 SUERBAUM glaubt, daß nach Abzug der vergilischen Selbstinterpolationen eine "klägliche" "Ur-Aeneis" übrigbleiben müsse (Gnomon 60, 1988, S. 408). Dieser vereinfachenden und deshalb falschen Rechenoperation setzt er die verbürgte Prosafassung entgegen (S. 407f.). Tatsächlich schließt eine vernünftige Beurteilung des Prosaplanes (s.o. S. 225f.; 1982, S. 14f. und 251f.) das (mir vorgehaltene) Subtraktionsverfahren in vielen Fällen aus. Da ichjedoch überzeugt bin, daß Vergil sehr oft von dem Prosaentwurf abgewichen ist, wirft SUERBAUM mir "Lippenbekenntnisse" gegenüber dem Plan vor, der "praktisch zu einem Phantom" werde (S. 407f.). Sapienti sat. 76 Vergil hatte der endgültigen Fertigstellung noch drei volle Jahre widmen wollen (Sueton-Donat-Vita § 27). 77 Es wäre wünschenswert, die Sprache der Helenaszene noch intensiver auf Besonderheiten zu untersuchen. Ob diese dann mit dem provisorischen Charakter der Skizze zusammenhängen, können nur weitergehende, vergleichende Analysen klären.
ANHANG TAB ELLEN ZUR ENTSTEHUNGSGESCHICHTLICHEN GRUPPIERUNG DER HALBVERSE 9 Gruppen werden fiir die Tabellen zugrundegelegt: I
Halbverse mit nachfolgenden Partien vorbereitender (und nachtragender) Funktion
II
'Zusammengehörige' Halbverse, deren Fortsetzungen inhaltlich eng zusammenhängen Halbverse in Verbindung mit Vergleichen Übergang von ruhiger zu lebhafterer Darstellung und umgekehrt Schauplatzwechsel Halbverse, die eine zweite Rede abschließen, zugleich aber vor einer dritten stehen Halbverse, die unmittelbar mit einer wörtlichen Übernahme von Versen zusammenhängen Halbverse, deren Fortsetzung mit heu, einer Adversativpartikel oder einem adversativen Asyndeton beginnt Halbverse, die mit inhaltlichen oder syntaktischen Schwierigkeiten einhergehen
ill IV V VI VII Vill IX
Eine ausführlichere Darstellung der einzelnen Gruppen wurde oben S. 172-6 gegeben.
236
Anhang: Tabellen zur Gruppierung der Halbverse
Tab. 1: Verteilung der Halbverse nach den Gruppen I-IX Halbvers I 534 I 560 I 636 II 233 II 346 II 468 II 623 11640 II 720 II 767 II 787 111 218 111 316 III340 III 470 111 527 III 640 II1 661 IV 361 IV 400 IV 503 IV 516 V 294 V 322 V 574 V 595 V 653 V 815 VI 94 VI 835 VII 129 VII 248 VII 439 VII 702 VIII 41 VIII 536 IX 167 IX 295 IX 467 IX 520 IX 721 X 17 X 284 X 490 X 728 XI 391
I::
46
I
II
III
IV
V
VI
+ + + +
VII
+ +
+ + + +
+
+ (+)
+ +
+
+
+
+ + + + + + + +
+ +
+ + +
(+)
VIII
+
+
+
+
+ + +
+
+ +
+ + +
+
+
+
+ +
+
+
+
+
+ +
+ +
+
+
+ + 14
+
+
+
+
+
+
+
+ + +
IX
13
+ 6
+ 12
5
2
2
10
10
237
Anhang: Tabellen zur Gruppierung der Halbverse
Tab. 2: Halbverse, die keiner Gruppe von Tab. I angehören Halbvers
II II IV V VII VII VIII IX X X XI XII E:
66 614 44
792 455 760 469 761 580 876 375 631 12
Tab. 3: Überschneidungen jeweils zweier Gruppen hinsichtlich der Zahl ihrer gemeinsamen Halbverse II
Gruppe
I II
III
5 5
111
IV
V
3 2 2
2
IV V VI VII VIII IX
3 2
2
1
I
I
I I
4
4
3
4
E:
15
13
6
14
VI
VII
VIII
IX 4 4 3 4
I
2
I
I
6
0
2
6
18
Die Gruppen I- IX wurden nach entstehungsgeschichtlichen Gesichtspunkten gebildet. Natürlich könnte man auch andere Kriterien wählen, z.B.: Vorkommen der Halbverse in den jeweiligen Aeneisbüchern (s.o. S. 99), syntaktische Selb- oder Unselbständigkeit (S. 103), metrische Länge', Stellung im Hinblick auf Reden und erzählende Partien (S. 113). Aber die
1 Siehe J. SPARROW, Half-lines and repetitions in Virgil, Oxford 1931, S. 27; Spezialuntersuchungen o. S. 114f., 122 und 136 (auch 105f.).
238
Anhang: Tabellen zur Gruppierung der Halbverse
so gefundenen Gruppen lassen im allgemeinen nur vage Vermutungen über die Entstehung der Halbverse zu. Die hier vorgenommene Einteilung beruht zwar auf den Ergebnissen der Halbversanalyse, aber die angewandten Kriterien sind nachprüfbar und akzeptabel auch für denjenigen, der meine Halbverstheorie ablehnt. Wenn auch die eine oder andere Zuordnung dem Zweifel unterliegt (Material dazu habe ich selbst oben S. 172ff. geliefert), so ergibt sich doch keine merkliche Trübung des Gesamtbildes. Übrigens widersetzen sich auch die nichtklassifizierten Halbverse (Tab. 2), sofern man nur andere Kriterien nimmt, nicht jeder Klassifizierung (s.o. S. 176). Wie aus Tabelle 3 hervorgeht, hat Gru~pe IX, die insgesamt nur 10 Halbverse umfaßt, die höchste Zahl (18) an Uberschneidungen mit anderen Gruppen. Die einzige Gruppe, die mit IX nicht in Verbindung steht, ist VI, die nur 2 Halbverse aufweist. Der stark übergreifende Charakter von IX hängt damit zusammen, daß IX eine Mischgruppe ist. In ihr nämlich werden diejenigen Halbverse erfaßt, die mit inhaltlichen oder syntaktischen Schwierigkeiten einhergehen. Diese Schwierigkeiten sind unterschiedlicher Art (s.o. S. 175f.), bestehen aber nur in einem Fall (III 340: quem tibi iam Troia -) darin, daß der Halbvers selbst irgendeine Unvollkommenheit zeigt. (Daß einige wenige Halbverse vermutlich als Provisorien dienen, ist eine andere Sache.) Zwar hat die Forschung immer wieder den unfertigen Charakter vieler Halbverse behauptet, ist aber den Beweis dafür meistens schuldig geblieben. Die Halbverse der Mischgruppe IX weisen fast ausschließlich i n d i r e k t e Komplikationen auf, die sich in ihrer näheren Umgebung befinden. Diese Unstimmigkeiten sind von mir nicht künstlich aufgebauscht worden, sondern bereits lange bekannt. Sofern man auch subtile, aber unzweideutige Beobachtungen zuläßt, müssen zur Gruppe IX eigentlich noch II 64()2 und IX 295 3 hinzugezählt werden, die zusätzlich in Gruppe VIII bzw. VII auftreten. Da die Mischgruppe IX fast alle Halbverstypen umfaßt, ist es klar, daß Halbverse trotz ihrer morphologischen, syntaktischen und inhaltlich funktionellen Unterschiede generell Probleme des Kontextes signalisieren. Dieser Befund schreibt für die genetische Analyse a I I e r Halbverse die Berücksichtigung der Umgebung vor. Außerdem verlangt er eine Begründung dafür, daß von 58 Halbversen der Aeneis mindestens 10 (12) eine erkennbare Störung des Kontextes aufweisen. Als Erklärung drängt sich eine nachträgliche Manipulation Vergils an einem bereits bestehenden Text auf. Denn solche Änderungen ftihren angesichtsder komplizierten und empfindli-
2 II 640 und sein 'Fortsetzung' 641 bilden einen nicht einwandfreien inhaltlichen Gegensatz (o. S. 197-9). 3 Der Halbvers IX 295 ist Folge der nachträglichen Übernahme des Verses X 824 nach IX 294. Dadurch entfiel die alte Fortsetzung von IX 293, so daß in IX 293 die Worte ante omnis puleher lulus nunmehr entgegen dem sonstigen Sprachgebrauch Vergils konstruiert und verstanden werden müssen (s. CONINGTON zu IX 293 und BERRES 1982, S. 42).
239
Anhang: Tabellen zur Gruppierung der Halbverse
eben Struktur eines poetischen Textes leicht zu Störungen des ursprünglich organischen und homogenen Zusammenhanges. Welcher Art waren diese sekundären Eingriffe? Die Halbverse der Gruppen I- ill, VII und IX zeigen in ihrer Gesamtheit deutlich, daß sie im Zusammenhang mit nachträglichen Einschüben entstanden sind. Offenbar hat Vergil die Zusätze, wie die Gruppen I und II und einige Halbverse von m lehren, n a c h den Halbversen eingefügt. Besondere Aufmerksamkeit verdient die Gruppe II, die aus 'zusammengehörigen' Halbversen besteht, zusammengehörig insofern, als sich jeweils mehrere Halbverse zu einer Kleingruppe zusammenschließen, deren Fortsetzungen inhaltlich eng verwandt sind. Diese Verwandtschaftsverhältnisse weisen auf die Teilhabe an einer gemeinsamen Überarbeitungsschicht hin. Über das Verhältnis dieser Gruppe zu den übrigen gibt Tabelle 4 Auskunft:
Tab. 4: Zusammenhang der Halbverse von Gruppe II mit anderen Gruppen
Halbverse der Gruppe II II 767
[----i~-~;~---
Gruppe
IV
+
V
VIII
+
+
+ ----------
---------+
+ ----------------- ---------III 470
III 640 III 661
----------------- ----------
IX
----------
+
----------
+
IV 503 IV 516
----------------- ----------
----------
+ + ----------------- ---------IX 467 +
+
V 294 V 322
+
---------+
IX 721 X 17 XI 391 E:
5
2
4
Überschneidungen mit den Gruppen m, VI und VII fehlen. Bei VI und VII mag der Zufall eine Rolle spielen, da sie nur über je 2 Halbverse verfügen. Überdies betreffen die Halbverse von VII stilistische Entlehnungen, die keinen inhaltlichen Zusammenhang implizieren müssen. Auch für m (Vergleiche) gilt, daß man direkte inhaltliche Verflechtung nicht erwarten
240
Anhang: Tabellen zur Gruppierung der Halbverse
darf. Demnach ändern die fehlenden Beziehungen zu 3 Gruppen nichts daran, daß die Vertreter der Gruppe II dem 'normalen' Halbverstyp zuzurechnen sind. Diese Erkenntnis ist folgenreich. Denn die größte Sub -Gruppe von II, die aus nicht weniger als 4 Halbversen besteht (IX 467.721; X 17; XI 391), räumtjeglichen Zweifel darüber aus, daß hier der Halbvers jeweils einer Überarbeitung v o r a u s geht. Dann muß dies aber auch für fast alle anderen Halbverse gelten, zumal der Halbvers IX 467 noch 3 weiteren Gruppen (I, V, IX) angehört. Abschließend sei darauf hingewiesen, daß Gruppe II starke Überschneidungen mit den genetisch besonders aussagekräftigen Gruppen I (5x) und IX (4x) aufweist. Außerdem treten II 767 und IX 467 nicht nur in diesen zwei Gruppen, sondern auch noch in einer dritten (IV bzw. V) auf. Damit schwindet auch der letzte Spielraum für eine andere als die in diesem Buch vorgeschlagene Erklärung der Halbverse.
4 Die diesen Halbversen v o r a n gehenden Verssequenzen lassen dagegen jeden Zusammenhang untereinander vermissen (s.o. S. 157f. mit Anm. 110).
LITERATURVERZEICHNIS In das chronologisch angelegte Verzeichnis wurden nur Arbeiten aufgenommen, die sich ganz oder teilweise (Seitenangaben dann in Klammern) mit der Helenaszene beschäftigen. Unerwähnt blieben im allgemeinen die Kommentare. Vollständigkeit wäre nur mit unverhältnismäßig hohem Aufwand möglich gewesen. Ergänzend verweise ich fiir ältere Literatur auf die Zusammenstellung von GERLOFF (1911, S. 6-8), der außerdem einen Forschungsbericht gibt (S. !Off.).
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1881 - 1900 J. Kvu':ALA, Neue Beiträge zur Erklärung der Aeneis, Prag 1881 (S. 28-38) C. SCHÜLER, Quaestiones Vergilianae, Diss. Greifswald 1883 (S. 20-4) E. BAEHRENS, Emendationes Vergilianae, Jahrbücher fiir class. Philologie 31, 1885 (S. 398 -400) G. T!llLO, P. Vergili Maronis carmina, Leipzig 1886 (S. XXXI-III) P. DEUTICKE, Vergil, 1884 bis 1888, Jahresberichte des philol. Vereins zu Berlin 15, 1889 (S. 330f.) C. HÄBERUN, Quaestiones Vergilianae, Philologus 47, 1889 (S. 311f.) R. SABBADINI, Studi critici sulla Eneide, Lonigo 1889 (S. 75f.) G. KNAAK, Helena bei Virgil, Rh. Mus. 48, 1893, S. 632-4 F. NOACK, Helena bei Vergil, Rh. Mus. 48, 1893, S. 420-32 H. HELLING, De Properti Vergilique libros componentium artificiis, Festschrift für J. VAHLEN, Berlin 1900 (S. 283)
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242
Literaturverzeichnis
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1940
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1980/1,
14; 17; 1983/4, zugäng-
1 Nach Ausweis der Annee Philologique geht BASTO auf Verg. A.ll 567-9 und Horaz epist. 1,5 ,31 (atria servantem postico falle clientem) ein. Zwischen beiden Stellen gibt es natürlich nicht den geringsten literarischen Zusammenhang.
WORTREGISTER ZUR HELENASZENE (Wörter in der Reihenfolge ihres Vorkommens) iamque adeo (II 567) 53 iamque adeo super unus eram (567) 50 iamque adeo super unus eram, cum limina Vestae (567) 52f. iamque adeo ... , cum ... I ... I ... aspicio (567-9) 19,23 limina Vestae I servantem et tacitam secreta in sede latentem I Tyndarida (567-9) 19,23; 47j.: 67 et (568.572 [2x].573.576.580.585.587) 30,12: 38 secreta in sede (568) 20: 37 sede (568) 37j.; 42 Tyndarida (569) 42 aspicio (569) 37j.; 42 (569f.) 43Jf.; 95 dant clara incendia lucem (569) 44f.: 50: 95: 210 clara (569) 42ff. lucem (569) 42Jf. erranti (570) 42: 94ff. erranti passimque oculos per cuncta ferenti (570) 48; 55; 67,21: 94Jf. oculos (570) 42 oculos per cuncta (570) 53 ferenti (570) 37j. eversa (571) 42 et Danaum poenam et deserti coniugis iras I praemetuens (572f.) 6; 8; 28; 37; 67; 76; 209 Danaum poenam [v.l. poenas Danaum] (572) 5f.; 54 poenaslm (572) 6,5; 18: 30,7: 37; 57,75: 209 poenam et (572) 30 coniugis (572) 37j.: 42 iras (572) 37j.: 42 praemetuens (573) 17, 16; 49 Troiae et (573) 29f. Troiae et patriae communis Erinys (573) 20: 37; 63; 65; 68f. patriae (573) 37: 57 Erinys (573) 11 abdiderat sese atque aris invisa sedebat (574) 48 invisa (574) 11; 42 sedebat (574) 37j. exarsere ignes animo (575) 38f.: 57,73: 66,18 ignes (575) 9; 57,74 animo (575) 38 ira (575) 37j.; 42 (575f.) 9,19 ulcisci (576) 38 patriam (576) 37; 57 patriam et (576) 30 sceleratas (576) 11 sceleratas sumere poenas (576) 10f.; 18f. mit A. 23; 28; 50; 209,1 sumere poenas (576) 37: 53; 57,73: 67,24 poenas (576) 6,5; 18f.: 57,75 (577 -87: Rede des Aeneas) 58; 79jf.: 231 scilicet (577) 19,23
Wortregister zur Helenaszene
245
scilicet haec (577) 55 haec (577) 38 scilicet haec Spartarn (577) 47 Spartarn (577) 66 patriasque (577) 16f.; 19; 37; 57,75 patriasque Mycenas (577) 6,7; 37 Mycenas (577) 8; 66 (578f.) 16; 48 (578-80) 6.1f.; 54; 231 aspiciet (578) 37f.; 42 partoque ibit regina triumpho (578) 16; 63; 66; 80 partoque ibit regina triumpho I coniugiumque domumque patres natosque videbit (578f.) 70 coniugium (579) 37f.; 42 coniugiumque domumque, patres natosque videbit (579) 6.1f.; 22,11; 28; 48,13; 209 domum (579) 6, 7 patres (579) 6f.; 37; 57, 75 natos (579) 6f. videbit (579) 7; 42 lliadum turba et Phrygiis comitata ministris (580) 66 turbä et (580) 29f. comitata (580) 7 (581f.) 56; 231,62 occiderit (581) 16f; 19 Troia arserit igni (581) 64,8 arserit igni (581) 38f.; 57,73 igni (581) 57,74 Dardanium totiens sudarit sanguine litus (582) 48 sudarit sanguine litus (582) 17f.; 47; 53; 210 sanguine (582) 17jf. (583-7) 6,7; 12.1f.; 21.1f.; 35; 44,37; 50; 54; 78; 81; 209f.; 212; 231 non ita. namque etsi nullum memorabile nomen (583) 47 namque (583) 42 namque etsi (583) 19,23 etsi (583) 24; 26 nullum memorabile nomen (583) 12f; 49; 53; 78 feminea in poena (584) 6,5; 11 ,36; 78 poena (584) 18; 37; 57, 75 poenä est (584) 29,1 habet haec bzw. nec habet (584) 21.1f.; 209 haec (584) 38 laudem (584) 13; 38 (585-7) 9,19; 25; 27; 55; 78 exstinxisse nefas (585) 13; 19,23; 22f; 26; 28; 78; 83,57 nefas (585) 11; 13; 50,20 tarnen (585) 23.1f. sumpsisse merentis I ... poenas (585f.) 1Qf.; 13; 22; 24; 26; 28; 37; 50; 57,73; 67,24; 209,1 laudabor (586) 38 laudabor poenas, animumque explesse iuvabit (586) 48 poenas (586) 6,5; 18; 57,75 animumque (586) 38 animumque explesse ... I ultricis famae (586f.) 50; 209,1 animumque explesse iuvabit I ultricis t famam et cineres satiasse meorum (586f.) 8; 13,42; 81 explesse (586) 9f.; 17; 19 iuvabit (586) 67 (58617: dazwischen Versausfall?) 10,27
246
Wortregister zur Helenaszene
ultrici(s) fama(e) (587) 10jf.; 15: 28; 38: 70 ultricis flamrnae (587) 81f.; 70f. altricis (Konjektur für ultricis, 587) 10,27 famae et (587) 29/. famam/ae (587) 8; 10 flammae (587) 81f.; 13,42 cineres satiasse meorum (587) 67 satiasse (587) 10,27; 17; 49 talia iactabam et furiata mente ferebar (588) 80,41 talia iactabam (588) 53; 55 iactabam et (588) 30 furiata (588) 42: 45 furiata mente (588) 6; 45f: 53; 66; 69 furiata mente ferebar (588) 55 ferebar (588) 37f.
VERZEICHNIS DER HALBVERSE I 534 I 560 I 636 (II) II 66 II 233 II 346 II 468 II 614 II 623 . II 640
II 720 II 767 II 787
73.1; 101ff.; 104/f.; 109f.; 113,76; 122; 163,8 und 11; 165; 171; 173ff.; 226; 230,61; 236 99; 102f; 113,77; 136; 174f.; 226,54; 236 102f; 113,77; 136f.; 174f.; 224,43; 236 101 103,18; 113,77; 136,1; 137f.; 176 103,18; 113,77; 136,2; 138ff.; 174; 176,6; 236 103,18; 113,77; 136,1; 140f.; 174; 236 30,14; 103,18; 113,77; 136,4; 141; 173; 184; 185,32; 236 V/11; 72,49; 91; 103,18; 113,76; 122f; 176; 186; 191; 192/f.; 195f; 202f; 206f; 213! Vlll; 91; 100; 103,18; 113,77; 136,2; 141; 173; 175; 179ff.; 193,8; 195f; 206f; 213; 226,54; 236 Vlll; 72,49; 103,18; 113,76; 122f; 128; 175f; 190; 193,8; 195/f.; 206; 213f; 236; 238 103,18; 107; 113ff.; 119f.; 123; 172; 236 30,8; 72,49; 103,18; 113,77; 136,1; 141; 144; 172f; 175; 193,8; 226,53; 236; 239f. 72; 102f; 109,53; 113,76; 122,6; 123; 174f; 224,43; 226,53 und 54; 236
II1 III III III
470 527 640 661
101 29; 103,18; 113,77; 136,1; 141f.; 149; 173; 175; 226,54; 236 102f; 113,76; 122,5; 123f.; 143f; 174; 193,8; 224,43; 236 72,49; 100f.; 103f; 111; 113,76; 122,4; 124/J.; 143f; 173; 175; 224; 227f.; 236; 238f 102f; 113,77; 136,3; 142ff.; 172ff.; 224,43; 227,55; 236; 239 72,49; 102f; 113,78; 161; 164; 173; 224,43; 236 103,18; 113,76; 122,1; 126J.; 173; 236; 239 72,49; 102f; 113,77; 127; 136,2; 144f; 149; 173; 236; 239
IV IV IV IV IV
44 361 400 503 516
102f; 113,76; 122,4; 127ff.; 176 60,84; 102f; 107f.; 113ff.; 116; 174; 224,43; 226,54; 236 102f; 113,77; 136,3; 145; 173ff.; 184; 185,32; 236 102ff.; 113,77; 136; 145JJ.; 173; 175; 236; 239 103,18; 113,77; 136,3; 146J.; 173; 193,8; 224,43; 236; 239
(III) III 218 III 316 II1 340
V 294 V 322 V 574 V 595 V 653 V 792 V 815
102f; 105; 107; 112f; 136,3; 147f.; 155,102; 172f; 175; 215; 236; 239 103,18; 113,77; 136,2; 147f.; 155,102; 172f; 215; 236; 239 103,18; 113,77; 136,1; 148f.; 173; 226,54; 236 72,49; 103,18; 113,77; 136,3; 149; 173f; 185,32; 236 101ff.; 109f.; 113,79; 162; 165; 171; 175; 224,43; 226; 230,61; 236 102f; 113,76; 122,5; 129; 224,43 102f; 107; 112ff.; 120; 175; 224,43; 236
(VI) VI 94 VI 835 VII 129 VII 248 VII 439
111,59 102f; 112f; 122,5; 129f.; 131; 172; 224,43; 236 72,49; 101ff.; 113,76; 122,6; 130J.; 174; 193,8; 236 102f; 113,76; 122,5; 131; 172f; 176; 193,8; 226,54; 236 102f; 107; 113ff.; 118f.; 174; 236 103,18; 113,76; 121f; 131/f.; 175; 236
248
Verzeichnis der Halbverse
VII 455 VII 702 VII 760
102f; 107; Jl3ff.; 120f.; 132; 176; 224,43 103.1 8; 113. 77; 136,1; 149; 1 73; 185, 32; 226!; 236 103,18; Jl3,77; 136,3; 149ff.; 176
VIII 41 VIII 469 VIII 536
72; 103,18; 107; 111/f.; 122,4; 133; 172; 174; 226f; 236 102ff.; 113, 78; 161 ,2; 165ff.; 176 103,18; 107; Jl3,76; 122f; 133f.; 172; 175; 193,8; 236
IX 167 IX 295 IX 467
103,18; 113,77; 136,2; 152f.; 173f; 236 102ff.; 109f.; 113,78; 161ff.; 164f.; 171; 174; 226; 230,61; 232; 236; 238 102ff.; 107; 110,55; 113,77; 136; 153ff.; 157f; 162; 172ff.; 177f; 226; 230,61; 236; 239f. 103,18; 113,77; 136,2; 155J.; 174; 236 102f; 113,77; 135f; 154; 156ff.; 162; 173; 178,9; 224,43; 226,53 und 54; 236; 239f. 103,18; 113,77; 136,2; 158/f.; 176; 193,8
IX 520 IX 721 IX 761 X 17 X 284
X 490 X 580 X 728
X 876
103,18; 113,78; 118,28; 135; 154; 157f; 161; 162f.; 173; 178,9; 226,53; 236; 239f. 72; 102j; 107; 113ff.; 120; 168; 174; 224,43; 236 72,49; 102ff.; 113,78; 161; 163f.; 172; 236 102ff.; 113,78; 161,2; 165; 168; 176 103,18; 113,77; 136,1; 160; 173; 176; 185,32; 236 102f; 107; 113ff.; 116f.; 176
XI 375 XI391
103,18; 107; 113ff.; 117f.; 176; 226,54 72,49; 103,18; 113,76; 117; 122,2; 134f.; 154; 157f; 162; 173; 178,9; 193,8; 236; 239f.
(XII) XII 631
111,59 72,49; 102f; 105j; 113,78; 161; 165; 168ff.; 176
STELLENREGISTER ZU VERGIL Vergil Bucolica 1,1-10 40,18 1,27 24,17 I ,38f. 150,81 3,7 24,17 3,46 223,42 4,24f. 16 4,50 203,29 5,57 139,23 6,6 53,52 6,9 24,17 6,14 39,9 6,16 39,9 6,20f. 222,36 6,23 163,9 6,45-7 129 6,49 24,17 und 18 6,64 15,7 8,20 24,17 9,28 3 9,62 24,17 und 21 10,13-5 150,81 10,31 24,17 und 21 10,72f. 222 Georgica 1,83 29,1 1,88 17; 200 1,96 229,60 1,164 222,37 1,198 24,17 1,218 16 1,235 220,31 1,243 139,23 1,245f. 222,36 1,301f. 39,9 1,303f. 128 1,320 189,50 I ,467 229,60 1,501 220,31 1,514 149,79 2,49 24,17 und 21 2,56 38,4 2,60 38,4 2,108 220,31 2,210 189,50 2,269 141,32 2,291f. 189 2,343 17,16
2,392 229,60 2,478 15,7 3,16 223,42 3,52 229,60 3,80 229,60 3,83 163,10 3,266 45,39 3,280-2 222,36 3,379 103,18 3,422 229,60 3,423 223,42 3,444 17 3,456 204 3,457 141,32 3,501 17 3,519 223,42 3,553 229,60 4,130 24,17 4,187 15,7 4,190 15,7 4,216 220,31 4,298 43 4,319 229,60 4,329 189,50 4,339 229,60 4,34lf. 222,36 4,352 229,60 4,418ff. 229,60 4,450 105,32 4,455 11,35 4,491 123,11 4,498 123,11
Aeneis (Halbverse: s. besonderes Register)
I 3,12 1-100 54,58 9-11 107 17 105 37ff. 80; 231,63 41-5 70 50 80,41 und 42 69f. 106,39 71 106,38 102 53; 55,70; 80,41 111 49 119 3,12
127
229,60
135 108 136 6,5 149 49 159 15,7 159ff. 229,60 162 220,31 167 144 177 3,12 183 164,16 189 144; 229,60 199 97,43 214f. 15,7 216 22,10 221 159 223 52 254ff. 70 258f. 71 273f. 71 289 48,11 294f. 223,42 297-304 146,58 302 105; 146,58; 187,45 306(ff.) 44; 51 310 15,7 310f. 44,37 312 7,9 314ff. 44 321 105,33 325 162 353 48,11 357 144 362 144 370 144,12 372-6 49,18; 133 375 39,9; 49,18 377 39,9 382 98,48 385 114,13 402 43 430ff. 185 453 19,23 476 149,79 477 24,17 482 60,84 497 7,9 498ff. 185 502 48,11 521 229,60
250 530-3 73,1; 104; 173ff. 533 48,11 553f. 175 559 b/560 174 561 136 564f. 189,52 566 37 588f. 43 603 59 604 17,16 610f. 114f 618 /5,7 637-42 137 650-2 107 652 49 691f. 232 724 232 729 232 742 15,7 744 104,27; 232 II
5 189,50 13f. 106,37 13-24 79,37 25 16 40f. 7,9 40-56 138f 43f. 65,11 52f. 139,23 57ff. 137 67 223,42 76 138 87 138,18 95 16; 51; 65,1 I 103 18; 67,24 110 138,18 119 14,10 137f. 8; 51 154f. 78,24 !57 65,11 163-8 78,24 173f. 18,17 174 49 180 /6; 37; 51 195-233 138j. 20lf. 78,24 220 223,42 225 139,23 227 139,23 229f. 11,35 231 139,22 232ff. 138! 243 163,10 244 203,32 245 78,24
Stellenregister zu Vergil 256-9 75; 77 259-86 196 281 65,1 I 309f. 65,11 310f. 76; 211 314-7 78,26 316 38 316f. 84 318f. 222,36 321-45 51 324 65,11 328ff. 79, 73 341ff. 45; 140f.; 212 348ff. 83 358 200 364-6 78,24 370f. 7,9 378-82 /83 381 48,8 383 220,31 384 48,8 386f. 163,9 391 114,12 401-12 30 403f. 78,24 403ff. 140,27 405f. 69,37; 222.36 407 6; 45j.; 53; 69 407f. 45 407-34 51 410 139,23 411 69,37 413 6; 37 424-6 78,24 424ff. 45 429 80 429f. 78,24 447 15 453-672 89 458 90; 94; 206 460-4 65,11 466-566 30JJ.; 217,18 469-95 38,8 471 184 475 30; 57,76 475-95 30 479-99 203 482 57,76 486 137,1 I 489 95 501f. 78,24 501-17 51 506-25 38,8 507 204 507-27 200; 205f 510 204
512 69,37 513-7 78,24 514-35 31 515-7 67 517 37f.; 69,37 523 78,24 524 114,12 525 38; 69,37 525-9 83 526(ff.) 205 527f. 66; 68 528 94 530 58 547 106 550 78,24; 114,9 55 0ff. 65; 78; 1SOff. 557f. 15; 65 559ff. 82; 85j.; 91f; 182; 207 560 7; 69,37 560-3 46; 74; 83 563 7 564 37 564-6 96 565f. 73 565f./624 182 566 179; 189f.; 213 566/589 (Inhalt der Lücke) 73ff.; 90 567-88 ( = Helenaszene) Goldener Schnitt 41 Metrik 30ff.; 217,18 bei Servius lff.; 90,4 bei Servius auctus 1ff. Text 5 Wortwiederholungen interne 3 7ff.; 56f zwischen Helenaszene und Venuserscheinung (11 589-614) 42ff. Zusammenfassung der Ergebnisse 209jf. s. auch: Wortregister zur Helenaszene; Namenund Sachregister 567-623 90; 92f; 98; 179; 195; 213 567-631 92j.; 98; /79; 195; 199f.; 2/3 589 42 589f. 73; 210 589ff. 42Jf.; 51; 207; 212 589-623 90,4 589-631 9/f; 98; 206 589-671 20/.ff.
251
Stellenregister zu Vergil
589-688 30ff. 590 42f. 591 42; 200,24; 205 592 2; 4,24; 198,14; 200,24; 204 592f. 82; 84; 86; 96; 98 593 73; 201 594 42; 66; 68; 96,34 594f. 73f. 594ff. 84 595 42; 45 596 37f.; 42; 69,37 596ff. 86; 9lf. 597 42; 197,12 597f. 201 599 42 601 2; 4,24; 42; 66; 68; 74 60lf. 8/.ff.; 213 601-3 86; 186; 194 603f. 42 603-25 189 604 38,3; 42 604f. 20lf. 604ff. 94; 187 606-8 202 608-14 193 608-23 180 609 42 610-2 179J. 611 42; 202 612 189,50 612-4 186; 202 612-6 192.ff. 613 42 614 203 614-35 31 615ff. 193f.; 206f.; 214 619 69,37 619f. 92f.; 97f. 62lff. 179.ff. 622f. 98; 100 624f. 203 624-31 9lff.; 190; 206f.; 213 626 183 626-31 179ft.; 203; 205f. 631 202 632 90.ff.; 96.ff.; 195; 197; 199; 206; 213 632f. 92; 97; 190f.; 199; 207 632ff. 91 634-40 207
637 204 637-43 195.ff.; 206 638-40 206; 214 639 132,47 641 198.ff.; 204; 238,2 64lff. 197.ff. ; 206f.; 214 643 204 647 42,31; 204 650 203f. 651f. 201; 206 651-72 31 654 204 657f. 204 661ff. 83; 205 662f. 78,24 662-83 31 663 124,15 664 66,19; 68; 80; 200,24
664-7
92f.; 97; 198.ff.;
205f.
664-70 207 671 203; 206 680 49 693-8 70 696-8 44 696-706 51 701 58 705f. 44 711
120,33
721ff. 119; 123 731 203,31 736 19,23 744 65,11 749-80 30f. 761 202 768 141,32 768-70 96 768-95 141; 212 769 180 771 48; 51; 95 772 180 776ff. 81,45 778 180 780 173 780-2 142f.; 215 784 180 788-95 123; 141 792-4 123; 174,5
111 2f. 203 21 198,14 26
49
163-6 73,1; 104; 173f.
175 18,17 188-222 29 192-5 231 204 a-c
219.ff.; 227f.
207 220,31 211 220,31 216ff. 14/f. 225 139,23 229 /5,7 233 140,28 238 163,10 253 220,31 255-7 176 265 220,31 265f. 229,60 302
15,7
307f. 223,42 310f. 123,13 312 114,10 313ff. 123f. 317 205 332 16; 124,15; 205 337 126,26 337-43 124 338 97,43 339 126 340-5 125f. 345f. 7,9 348 125 359 59 375 65,11 388-93 226,53 390-2 133; 174 394f. 142 470-505 125,25; 143f.; 174; 226,53 174 475f. 201,25 489 53,52 493f. 197,11 495 143; 173 500f. 143 503 58 511 15,7; 232 516 104,27; 232 525f. 232 525ff. 164 543 114,11 560 220,31 578-81 70 595 138,18 599-606 126 600 49 612 126f.; 138 614f. 138,18 471
252 639ff. 127 64lff. 144 653f. 126 658 17,16 659-62 144 662ff. 127; 144 671 220,31 675ff. 144 678 229,60 680 188,48 692ff. 80 715 97,43
IV 13 123,11 25f. 222,36 30 105,32 40f. 220,31 45ff. 128! 48f. 7,9 91-103 51 93-5 12; 14; 22,6 94 47; 49; 53 110 59 114 114,10 127 114,12 136 7,9 138 223,42 173 71 173f. 222,36 182 49 227f. 201 247f. 222 249 229,60 267 123,11 276 114,10 304ff. 116 305f. 204f 309 141,32 316 204,35 322f. 19,23 329 14,17 33lff. 116 333 162,7 340 199,18; 204 354 229,60 356f. 59 356-61 116 362-4 55; 591f. 362-89 541f. interne WortwiederhoIungen 56; 58 externe Parallelen 581f.; 116; 231 363 58; 60
Stellenregister zu Vergil
363f. 48,10; 55 363-79 51 364 61; 116,22; 136 365 58 365-87 50; 52; 21Qf. 366 60,84 369f. 56; 231,62 371 57 371ff. 58f 376 55 379 55 385 57! 386f. 13; 55! 388-91 69,34 401ff. 184 402 183 407 183,25 418 128,34 420 24,17 438f. 49 440 229,60 441-6 1881f.; 203; 213 469-74 9,23 473 15,5 478ff. 146! 492f. 229,60 494-8 145! 499 105 504ff. 145! 517 193,8 517-21 146 524 139,23 53\ff. 80 541 123,11 544f. 7,9 554f. 164,16 555 39,9 557 39,9 559 229,60 570 114,9; 116 574 59 578 229,60 579 114,10 590ff. 80 605-67 51 610 15,5 613 229,60 639 69,37 640 229,60 651ff. 80 655 128,32 656 6,5 657 123,11 657f. 128f 685 114,10
691 695 698 703
95 57 229,60 57
V 8-11 231 53 24,17 75f. 7,9 83 226,53 102 15,7 109 160 110 223,42 149f. 15,7 164 114,12 172 38 186 24,17 189 220,31 192f. 220 197 114,12; 220,31 199f. 18,17 und 18 202 19,23 211 220,31 225 53,52 263 158 268 53 279 223,42 281 24,17; 26,29 291f. 15,7 293-7 112 295f. 147 308-24 148 318 155,102 373 159 375 229,60 385 114,12 385 b/386 a 174 394 105 395f. 132 400 114,13 415f. 132,47 428 229,60 441f. 60 448f. 188,48 449 189,50 467 114,10; 116 473f. 163,9 486 15,7 525-8 70 538 148,73 551 114,8 553ff. 149 570-6 148! 615 123,11 617 17,16
253
Stellenregister zu Vergil
628 17,16 673 114,10 737-47 30 747 30; 202 749 202 763f. 120 768 49 785-867 51 786 6,5 789-94 129 793 203 799 58 800 129 810f. 179 810ff. 203 812 204 816ff. 120 864 53,52 VI 53 114,13 57 17,12; 76 114,12; 116 83ff. 129 87 18,18; 134 93-7 130 106 205 127 205 155 114,10; 116 162-4 222,36 162-5 106,39 99,1; 106,39; 164f. 223,38 165 37 197 58; 114,10 212-31 30 237 205 262 105,32 273 17,16 274 15,5 281ff. 223 289 222! 289 a-d 221.ff.; 227f 341 105,33 360 229,60 372 162 407 114,10 408 49 437 17,16 458 123,11 467ff. 60 486 220,31 494-547 2; 18; 51 495f. 222,36 498f. 19,23
501 18f; 37; 53; 67,24 506 116,23 511ff. 75.ff.; 82f 513 19,23: 42,29 526 47 526f. 19,23; 75 551 220,31 554 198,14 555-15 51 565 6,5 570 15,5 570-2 202 577-9 189,52 595ff. 17,16 603-5 137,10 614f. 6,5 650 58 700-2 123; 174,5 707 183 709 183,25 726f. 57,77 730-2 201 76\f. 189,52 776 15 787 198,14 788-90 193,7 789 130 819 (824) 17,16 821 6,5 826-35 130! 838f. 189,50 842f. 17,16 851 18,21 866 140,28 886 114,9 VII 3\f. 229,60 37-45 111,59 45f. 106,37 65-79 34,24 66-70 30 85 220,31 108 15,7 122ff. 142 130 131 170-91 137 177 141,32 186 222,37 194 229,60 195ff. 118 213ff. 118 223f. 64,4 227 223,42 249-51 60
249ff. 118 251 58 293ff. 80; 231,63 299 141,32 307 11,35 341 223,42 342 160 351 223,42 375 58; 60 385 141,32 424 204 438ff. 131! 444 121 445 38 446-8 223,42 452ff. 120f. 459 18,17 498 97f 559 53,52 560 114,10; 116 594 123,11 595 18,22 599 114,13 647-54 156,104; 166f 655-69 219 679 152,90 691 152,89 725 166,23 727 152,89 744-9 151 756ff. 150,82; 152 759f. 149/. 761-82 20; 51; 176 762-4 156,104 765f. 20 766 16.ff.; 37; 53 772 17,16 774f. 20; 37; 42,28; 47 795 152,89 803 151 VIII 1ff. 156,104 6 151 7f. 166 40-50 111f; 133 43-5 133; 174 80 153; 174 81-5 133 84 58 104 15,7 152f. 60 154 162,7 184 22,10 19\f. 202
254 228f. 60,85 251 53,52 267 19,23 296 150 296-300 150,81 305 15,7 404 114,13 425 222,37 436-8 223,42 443 114,12 463 20,24 470-519 166./J. 481ff. 156,104 485 141,32 503 114,13 503f. 130 506 167 508f. 132 533ff. 133,52 537-40 133 566 24,17 569 229,60 569-71 156,104; 166 583 114,9 585 52 588 223,42 603 /67 618 53 668 6,5 675 223,42 680 164,16 707 220,31 IX 22 114,12 25 52 38 I 14,12 40 153 44 116,23 44-6 26; 44,37; 51; 53 47f. 7,9 66 38 69-71 44,37 89 17,16 117 114,14 144f. 179,5; 203 148f. 223 166ff. 152f. 171 169,36 176f. 77,19 176-9 39,9 176ff. 152 196 139 206f. 169 207 106
Stellenregister zu Vergil
209 59 221 114,11 250 JI4,9 280 114,12 292 114,12 293f. 104; 238,3 294 163; 174; 232; 238,3 296ff. 165 343 /5; 223,42 394 143,44 411 18,18 424 187 446 59 456 18,18 458 18 465-72 153./J. 466 102,14 466f. 175 468-72 153f; 157 474 203,33 499 132,47 503ff. 155 521f. 156,104; 166 530ff. 156,104 548 203,33 559 105,31 571 168,32 575 158 581-9 156,104; 166 590ff. 151 610f. 132 644 140,12 656 Jl4,13 667 69,37 678 229,60 681 229,60 682 203 688 38 690 116,23 691ff. 157f. 694 38,6 703ff. 134 709 163,10 717-22 156! 720f. 226,54 722ff. 134f; 157f. 728 223,42 735 134 736 37 749ff. 134 752-4 158,111 760ff. 158./J. 762-77 169,36; 176 774f. 222,36 779 169,36
783-5 134 789f. 153 799 141,32 812-4 18,17 815 134,56 815f. 153
X 6 198,14 16-62 162 18ff. 135; 157 22-4 117f.; 134f. 23f. 226,53 62 114,13 90f. 64,4 90-2 69,33 97 198,14 113 114,12 117 198,14 123 7,13 129 7,13; 159 133 229,60 137 137,10 143f. 134; 226,53 143-5 135 144 118,26 146-62 19,23; 167f. 163-214 167f. 180f. 222,36 182-4 166 186 7,9 215f. 167,28 252 200,24; 205 261 164,16 284-6 120 287-307 168 298 114,13 303 19,23 325 159 335 114,12 345 151 352-4 15/f. 411ff. 151 437 24,17 451 114,10; 116 458 120,34 464 223,42 470 16 479ff. 134 484 163,10 488ff. 163/. 491 102,15 493 144,50 495 JJ4,9 518 151,86
Stellenregister zu Vergil
540 105,31; 164 543f. 152 575-605 168 583 114,12 594 114,14 606 52 606-705 30.ff. 611 106,35 636ff. 134,56 639 229,60 668ff. 134,56 685 58 704 159 728f. 176 729 230,61 750 139,23 776 14,10 778f. 222,36 794 200 813f. 38 821f. 222,36 824 104; 163f.; 174; 186,39; 232; 238,3 830 114,14 849 123,11 852 18,21; 116,23 856 114,10 858f. 144 868-73 116,23 874-7 102 878-82 116 882 114,10; 116 886 116,23 889-91 116,23 XI
98 114,12 107 201 181 59 186 59 220f. 11 7,24 253f. 59 258 6,5; 18,22 258-89 51 266ff. 8 267 38,5 269f. 8; 37f. 270 38,5 273 123,11 279 189,50 315 38,7 325 38,7 348 134,55 350f. 134,56
354 117 362 134,55 366 134; 193,8 376 117 376ff. 226,53 378-444 134f. 380-2 118 392 193,8 392ff. 117; 134f.; 157 400 229,60 414 16 438-40 223 442 117 456-8 226,53 461 114,13 465 151 487 53,52 498f. 7,9 506-8 169 507 105J. 519 151,87 532 53,51 539 18,21; 116,23 553 116,23 574 116,23 578 116,23 587 116,23 590f. 15; 51 604 151 640 151 666 159 668 18,18 688f. 13,42 720 18; 67,24 730 149,79 731 15,7 766f. 60 789-93 12ff.; 50f. 793 16 794-893 30.ff. 814 59 827 114,10 828f. 57,77 845f. 15 846-9 13ff.; 52 849 114,12
XII 10 105 45 114,9 88-91 222 145 59 159 114,12
161-553 134 223,42 331-40 18 344f. 116,23 371 156 440 126,27 452 123,11 457f. 69,37 460 151; 169 476 202 478 149,79 480-3 116,23 494 38 496f. 116,23 500-599 30.ff. 509 159 529ff. 169 538 159 544 16 558 60,85 564 164,16 569 189,50 625ff. 170 630ff. 168ff. 641 16; 151 644 59 660 16 666 61 666f. 116,23 673f. 222,36 676 58 678 116,23 682 200 755-73 34,24 757-73 29f. 764 58; 60,85 776 187 806 114,13; 116,19 806f. 162 815 24,17 816 229,60 828 16 847f. 223,42 853-9 39,9 884 59 885 105,32 930f. 163,9 938 114,13 939 58; 60,86 939-49 51 940ff. 164 949 6,5; 11; 18; 37; 67,24 213
ZITATE (OHNE VERGIL) Aischylos Ag. 749 64 Apollonios Rhodios 4,32f. 128,33 4,1682ff. 188 Aristoteles Poetik 4 216 23 216 Augustinus de anima IV 7(9) 53,53 Ausonius cento nupt. 53 Caesar Bellum Gallicum 1,1,5-7 40,15 1,49,1-3 39,14 4,10,1/2 27,31 5,13 40,15 Catull c. 64,43-51 137 105ff. 188 132-4 204f. 141 204,35 154 60,84 158 204,35 171f. 128 68,89 37; 64 76,18 15,6 Cicero Har. resp. 2,4 9,23 de leg. 1,14,40 9,23 1,33/34 186! Paradoxa I, I ,6 10,27 Part. orat. 27,96 10,27 in Pis. 20,46 9,23 de re p. 6, I 10,27 de sen. 47 10,27 Ciris 101-200 30jJ. Culex 42-141 31.ff. Dionys v. Hai. 1,51,1 (bei HEINZE: I ,32) 123 Aelius Donatus Widmungsbrief an Munatius (HARDIE Z. 1-6) 4,21 Ennius a. 405 (V.) 18,19 406 18,17 415 163,10 418 18,17 SC. 18 18,21
119 18,18 181 18 Euripides Medea 26-29 60,84 Orestes I 132-44 14f. 1387ff. 64 Eustratios zu Aristot. Eth. Nie. 6,7, 1441 a 12 216,16 Firmicus Matemus de errore profanarum religionum 16,2 71 Mathesis 8,17,8 71 Furius Bibaculus fr. 13,1 und 14,2 (MoREL) 15,7 Gellius 1,21,2 72 13,21,4 72 17,10,2 35,27 17,10,2-3 211 Herodot 2,116f. 216 Hesiod Th. 720 189,52 Hieronymus Chronik zu 01. 190,4 224,45 Homer llias A 197 96,36 B 784f. 18,20 r 140 7; 37 r I46f. 7.13 .l 440f. 18,20 .l 482ff. 188 .l 504 158,111; 163,10 E 678 159 z 289ff. 216 H 323 22,10 8 16 189,52 K 147 i\531-7 18,20 N 298ff. 18,20 li 765f. 188 y 494-502 18,20 Odyssee 5 351-572 229,60 5 358f. 229,60 8 514-20 76 A 237 159; 169,36
p
~
96ff. 229,60 301-4 231
Horaz a. p. 47f. 10 c. 1,25,14 45,39 epist. 1,5,31 243,1 2,1,19 57 2,1,65 57 sat. 2,1,58 140,28 Kallimachos fr. 397 (PF.) 216,16 Kyklische Epen 216 Kyprien 216 Laktanz epit. 40,2 45,39 inst. 4,27 ,2 45,39 Livius 21,10,11 9,23 Lucan Bellum Civile I, 100-199 31.ff. 1,524 65,11 4,431 f. 65,11 4,746 65,11 5,678f. 65,11 5,767f. 65,11 6,118-220 31ff; 217,18 7,195 65,11 7,256 65,11 7,588 65,11 8,698-711 65,11 10,53-152 31.ff. 10,54 67,23 10,59 65 10,59-65 68 10,60-2 66 10,65 66 10,100 65,11 10,127 66 10,194 65,11 10,351 67 10,458-67 66.ff. 10,463 66,19 10,464-7 67 Lukrez 1,258 15,7 1,412-8 49,18; 132f 2,12 205,36 2,30 15,7
Zitate (ohne Vergil) 2,354 18,18 2,799f. 43 2,949f. 57 3,27 139,23 3,62 205,36 3,128f. 201 3,151 201 3,405 189,52 3,984ff. 17,16 3,993 (6,1158) 17,16 3,996 (5,1234) 17,16 3,999 (5,1272; 1359) 17,16 3,1004 17 3,1012 17,16 3,1017 10,27 3,1018f. 17,16 3,1029 17,16 3,1033-6 17,16 4,26-53 27,31 4,173 18,20 4,416f. 189,52 5,259 64,4 5,373-5 205 5,487 18,17 5,857 189,52 5,1128f. 18,21 5,1137 18,21 6,39lf. 70,40 6,395 70,40 6,1111 43 Lykophron Alexandra 1242ff. 166,21 Macrobius sat. 1,24,11 226,52 3,8,1 98,49 Margites 264 Ovid am. 2,12,17f. 64,4 3,2,40 JJ,36 Her. 16,206 57 16,324 71,45 16,333 63; 71 met. 1,544ff. 27,31 2,1-100 3/.ff. 3,407-506 3/.ff.; 217,18 4,506-9 9,23 8,738-837 3/.ff.
15,100-199 3/.ff. Plato Alcibiades II 147 b -d 216,16 Properz 2,3,35f. 64,4 Quintilian inst. or. 8,3,51 39,13 10,3,7-8 35,29 Seneca Agam. 273f. 64 epist. mor. 94,28 72 Troad. 19 64 44ff. 65 56 64 140f. 65 853f. 64 892f. 64 896 64 914 64 Servius Vita (HARDIE) Z. 16-22 3 29-32 112 30f. 224 40ff. 2: 79,33; 209 zu E.10,1 228f. G.4,1 228f. A.I 37 1 1119 3,12; 32 II 348 141 2.ff.; 18; II 592 74; 77; 79,33; 2ll II 628 188f. III 218 142,37 VI 165 99,1 VJ861 130,39 VII 498 97 Vlll 41 72 XI 532 53 Xll120 72,52 XII 653 170 Servius auctus Praefatio (HarvardEdition) Z. 40-4 2 zu E.9,28 3 A.I I 3,12 I 37 1
2S7 1560 99,1 1636 100,3 II 566 2f.; 74: 209; 222,35 II 592 l.ff.; 74 II 632 98,46 11787 72 Ill204 219 IV 361 108; 114 VI 165 99,1 VI 289 221 Silius 1talicus 2,210 45,39 6.514 45,39 Statius Theb. 2,344 71,45 2,353-62 70f. 3,112 69,37 3,594f. 70,41 7,514 50,20 10,927f. 70,40 11,1-4 70 Sueton- Donat-Vita (HARDIE) § 22 35,28; 211,2 23 225 24 99,1; 101; 208 27 130,39; 233,76 31 226,52 32 130,39; 225 34 106,39 35 225 39 178,12; 219,26 40 219,26 41 72,48; 99f. Tiberius Claudius Donatus zu A. II 589ff. 84 Valerius Flaccus Argonautica 2,17lf. 69,37 2,257 69,37 2,469 69,37 4,37 69,37 4,188 69,37 4,455 69,37 4,461 69,37 5,649 69,37 6,444 69,37 8,395-9 68f. 8,444-6 69 8,445 45,39: 69
NAMEN- UND SACHREGISTER Abundanz s. Doppelung Achaemenides I26j.; I38; I44; I49; 173 Achill 96,36 Addition von Vershälften I5; 43,34; 58,80;
202; 220,3I Adjektive auf -bilis 49 Aegisth 8 Aeneas passim Aeneis Handschriften I; 7Ij.; 79,33; 209; 228 Herausgabe s. Varius Manuskript s. Autograph Prosaplan 130; 133; I35; I64.14; I66;
I72; 225j.; 233. 75 Vll/; 35; 74,8; 10I; I76; I78; I84; I90; 209; 225; 228; 233 'Uraeneis' I72; 206; 233,75
Unfertigkeit
s. auch: Halbverse, Helenaszene (Unfertigkeit), tibicines, Vergil (Arbeitsweise) Aeolides I59; I69,36 Aeolus (Trojaner) I69,36 Agamemnon 8; 75; 77,20; 96,36 Aiax (Sohn des Oileus) 70 Alcander I5 8j. Allecto 97; I20f.; I3Ij.; 223,42 Alliteration I7; 47 alternativer Gedankengang 8; 24j.; s. auch: Doppelfassung Amycus I59 Anadiplosis 58; I06,39 Anapher 50; 52; 54; 56; 58; I49; I97;
210; 23I 44; 89; 119; I23; I28; I42.ff.; 173; 176; I95; I97.ff.; 204.1J.; 2I4j. Andromache I23.ff.; I43j.; 173; 175 Anna I27f.; I45; I47; 176 Antenor 75 Antonius I3I &1ra~ >.ey6JLE•a 49; 57 Aphärese (Enklisis) 30; s. Verschleifungen Aphrodite I4 Apodosis (fehlende) 9I; (175j.); I79; I83; I90 Apollo 12; 179 Apostrophe 80; I49; 200 Arcens I56.104 Arethusa 80 Argeia 70 Ariadne I28; 204 Aristaeus 226,53; 229 Arruns I2j. Ascanius 97; 125!; 143!; I73; I97,I2 Anchises
Astyanax 125; 143 Athene 96,36; 179,5 Augustus 72; 74,8; 90; II2; 130f.; 224;
226.ff. auktoriale Erzählform 80; I64 Ausschmückung I 10; I26; 137.ff.; I 59;
I72; I84f; I87 24; 72; 106.39; 109,53; I26; I78; 2I9; 225.ff.; s. auch: Halbverse (als
Autograph
Randnotiz) Aventinus 150f.; 2I9 Bitias I34j.; I57j. Brod, M. 228 Buch der Freunde über Vergil (de ingenio moribusque eius) 35; 2II Caeculus 150.ff. Caesar 66f; I60f; I93,7 Calybe I3If Camilla I2f; I5f; 50,20; 57,77; I50f Camillus I3I Capaneus 70 caput 229,60 Cassandra 45!; I40 Catillus I50f Celaeno 142; 173; 2I5 Clausus I50j. Cleopatra 65f Clytaemestra 8 Clytius 7,13; I59 comitatus 7 Coras I50f Annaeus Cornutus 68 Coroebus 45f; 69; 140; 212 Cretheus I59; I69,36 Creusa 48; 8I,45; 95!; 119; 123.ff.; I4IjJ.;
174f.; I97,I2; 2I2; 2I5 cum inversum 73; 9I.I2; I75 Cupencus I69,36 Deiphobus(szene) 2; I8f; 47; 50; 54;
74.ff.; I95; 211; 214! Deutlichkeit der Sprache 10 Diana I5 Dido I2f; 43; 50; 52; 54jJ.; 80f.; II6;
I28; 136; I45.ff.; 173; I88; 204; 2IOf; 223,42; 23I,64 Diomedes 8 Dira I20 Dolonie I47 Aelius Donatus I; 3! Doppelfassung 24.ff.; 35; 38; 50; 54; 78; I56,106; 209; 2llf; 220; 223; 225; 23I s. auch: Doppelung (Abundanz)
Namen- und Sachregister Doppelung (Abundanz) 22f.; 28; 35; 52; 58; 11 3; 139; 156; 184 Dramatisierung 121; 127; 137; 144j.; 149; 168; 172J.; 187; 194; 207; 213J.; 232 Drances 117f.; 134; 158,110 Echtheit/Unechtheit Beweisbarkeit VI/- IX; 53J.; 86; 92; 209; 21 1J.; 2161f. methodisches Vorgehen VIII Einrahmung von Versen durch ähnliche/entsprechende Wörter 47jf. Einschübe 110-178; 1841f.; 1921f.; 213f.; 225f.; 239f.; s. auch: Helenaszene (Herauslösbarkeit) Elision (Synaloephe) 29f.; 42,32; s. Verschleifungen Ellipse 53 ,52; 73 .I Enallage 61 Enceladus 70 Enjambement 1021f.; 1081f.; 114jf.; 136; 138,18; 146; 161; 163; 172; 174; 187; 193; 196 Enklisis (Aphärese) 29,1; s. Verschleifungen Epanadiplosis 222f. Eros (Vergils librarius) 106,39; 225 eruere 188f. Euander 130; 1321f.; 156,104; 1651f. Euryalus s. Nisus und Euryalus Faunus 11 BJ. flavus 229,60 Fuga 157 Gallus 228 genetische Untersuchungen VIII Goldener Schnitt 41; 54; 68; 209 Gorgo 2211f. griechische Vorbilder 7; 14f.; 22,10; 64; 96,36; 147; 158J.; 163,10; 169,36; 183,25; 188J.; 212; 229,60 Gyges 158f. Halaesus 150jf.; 166,23 Halbverse Stellen s. besonderes Register allgemein 99jf. antike Ergänzungen 72; 100; 106,3 9; 125,19 s. Ausschmückung s. Dramatisierung s. Einschübe s. Enjambement Entstehung (allgemein) 110f.; 172; 177f.; 184J.; 213; 226J. Ermattungstheorie 115; 132; 177; 193 Funktionelle Typen 113 mit genet. Aeneisproblemen verbunden
s. Exkurs (passim); 179jj:; W2{/. Homogenität (Artenarmut) llk!t:;//.1; 172; 227 als Kennzeichen derselben Überarl>citun~ts schicht 111; 127; 135; 144; 141/.; 153J.; 157; 162; 173; 178; 2/.1; 21~; 239f. künstlerische Qualität 110; /85 metrische Abbruchstellen 101; /02,17: 104J.; 110; 1141f.; 122; 136; 161; 171: 196; 237 s. Prophezeiungen als (angebliche) Randnotiz 100; 11!9; 116J.; 149; 157; 186J.; 2251f. rhetorische Wirkung JOB; 114/: /.17; 157 scheinbare 26,30; 99,1; 106,39 Stellung (s. auch: Proökonomie) tom.: 140 syntaktische Typen 102f. systematischer Überblick 1721f.; 2.15{/. s. tibicines Unfertigkeit VIII; 91; 100; 105; /09; 111,57; 115; 124; 129; 131; /50; 154, 156; 16lf.; 176; 180; 184; 190; 192; 195; 213; 226; 238 Unverzichtbarkeit 102J.; (124; 126); 164; 186J. s. Vergleiche Verteilung 99; 108; 111 Halius 158f. Halys 158f. Harpyien 14Jf.; 149; 173; 175f. Hecuba 67 Hektor 78,26; 125 Helenaszene Einbettung 89jf.; 1951f. episodischer Charakter (?) 46,41 Herauslösbarkeit 89jf.; 195; 199; 213 literarische Nachklänge 45 ,39; 631f.; 209 stilistische Nähe zu Vergil 6f.; 24; 34f.; 39; 45; 50; 53; 80,41; 95; 210; 218 Strukturvergleich 46; 48; 95f. Text 5 Textkritik 51f.; 211f. Überlieferungsgeschichte lff.; 631f. Unfertigkeit V/If.; 6; 24; 27,31; 29; 35; 40f.; 46,41; 51; 54; 59; 61; 68; 78; 80,39; 87; 94; 187; 206; 208J.; 214J.; 218J.; 224J.; 230; 233 s. Verschleifungen Helenus 123; 125; 133; 1421f. Helymus 148 Hephaest 222f. Hermione 6,6
260
Namen- und Sachregister
heu (Stellung) 123; 175; 235 Hippolytus 20 homerische Formeln 22, 10; 162 Hygin 72 Hyllus 169,36 Hyperbaton 48 Hyrtacides 77,19 Hyrtacus 77,19; 215,13 Ich- Erzählung 76; 79f. Ilioneus IIB; 136; 175 Iliupersis 14; 76; 86 Iphigenie JJ9 Iris 7; 57 Irrfahrtenbuch (Konzeption von Aen. III) 14/ff.; 175; 215 Italerkatalog s. Völkerkatalog Jason 68! Juno llf; 49; 57; 80f; 97; 128j; 131; 192; 231,63; Jupiter 44; 70; II7; 158,1 10; 162; 192f; 198 Juturna J69f. Kafka, Fr. 228 Kyklopen 126f; 144 Laokoon(episode) 92; 138! latente Eigentümlichkeiten Vergils 34!; 42; 50f.; 53; 58; 2/0f.; 217f. Latinus ll8f Lausus /02; ll7; 150!; 166! Lavinia IIBJ; 130f. Liger 168 Lucagus 168 lusus Troiae 148! Lynceus 159 Magna Mater Jl9; 123 Manierismus 57,77; 60f; Jl4,3; 138,18; 210; 229,60; 233 Manuskript s. Autograph Marcellus (Sohn der Octavia) 225,49 Mars 156ff. massylische Priesterin 146f Medea 67ff. Medusa 223 Menelaus 8; 14; 75ff.; 229,60 Messapus 150ff.; 155! Metiscus 170 Metrik 28ff.; 51; 53j; I05j; 209jf.; 217; 220,31; 231; s. auch: Halbverse (metrische Abbruchstellen) Mezentius 102; Jl6f; 150ff.; 155J; 165ff. Minerva 45; 192! Mnestheus 134J; 169,36 Monologe s. Selbstgespräche Mopsus 69 Mummius 131
L. Mumitius 4 Murranus 169 Nachträge 77; IIOf.; 122,7; 127; 15/ff.; 173,3; 219; 222; 235 Neoptolemus 65f; 181 Neptun /20; 129; 179; 192f; 203 Nisus und Euryalus 77,19; 107; ll2; 139; 142,39; 147f.; 152f; 155,102; 158,1 10; 173; 175; 215 Noemon 158! Numanus 151 Odysseus 75ff. Oebalus 150! Opis 13; 15 Orest 14 Palinurus 77,19; 142; 186; 215; 225 Pallas /07; 134f; 163j; 166 Pandarus 134f.; 157f. Panthus 79f. Paris 63; 69; 75!; Blff.; 186; 194; 213; 216 Penaten(erscheinung) 141 Phaedra 20 Phaleris 158! Phegeus 158! Phorkys- Hafen 229,60 placidus 229,60 poena 6,5 Polites 66!; 86; 89; 94; 206 Polyneices 70 Polyphem 127; 144 Pampejus 130f. Priamus 2; 15; 45; 65; 73!; 82f.; 85!; 89;
IBOJJ.; 206 principio (Stellung) 159f. Probus 72 Proökonomie 107; lllf; 130; 137; 142; 147f.; 153; 155; 157; 172ff.; 227; 235 Prophezeiungen 107; lll; 122; 130; 133!; 14/ff.; 164; 172!; 175; 215 Prosa 101 prosaischer Stil 50; 57 Proteus 229,60 Prytanis 158! psychologisches Gesetz der Wiederholung 29,3 Ptolemaeus 67 Pylades 14 Pyrgo 104; 171; 175 quin etiam (Stellung) 141,32 Reden (allgemein) IIOJ; Jl4ff.; 122; 128; 135; 16/f rhetorischer Stil 22; 52; 57f.; 107f.; 114!; 123; 231 Rhythmus 19,23; 24,20; 131
Namen- und Sachregister Ringkomposition 9; 54; 209 Ruhm/Ruhmlosigkeit 12ff.; 78; 80f. Saces 170 Sagaris 158 Salius 148 Sauprodigium 11 1; 133; 142; 172; 225 Schiffskatalog (X) 150,84; 168 Schreibtempo 23; 28jf.; 35; 39,14; 42;
48,8; 61; 209; 212; 231 sekundäre Interpolation 7f.; 48,13 Selbstgespräche 58; 79ff.; 84; 87; 116;
211; ; 231 Selbstimitation 17; 53f.; 58Jf.; 188f.; 218 Serestus 169,36 Sibylle 130; 134 Silvia 97 Simplicius (Freund des Augustinus) 53 Singularitäten 9,20; 20; 29; 49; 57; 104;
126; 145; 153f.; 161; 168f.; 171 Sinon 8; 16; 75Jf.; 137f. Stil 47ff.; 217ff.; 231; 233 Feinheiten 18f.; 217 kühne Wortverbindungen 10f.; 14; 28;
50; 209f.; 229,60 61,89; 117f.; 132; 138; 158,111; 174; 188f.; 204f.; 213; 217f.; 226; 229,60; 231f. stilist. Nachklappern 22; 24.18; 25,26; 154 stilist. Überbietung 50; 52./J.; 57f.; 61; 65; 217 stilist. Variation 22; 29,3; 40,15; 52,47; 57; 61; 156,106; 162; 217 stilist. Abhängigkeit
s. auch: Addition von Vershälften, Alliteration, Anadiplosis, Anapher, a11'a~ 'Aey6JJ.EVa, Apostrophe. Doppelung, Einrahmung von Versen. Enallage, Enjambement, Epanadiplosis, Hyperbaton, latente Eigentümlichkeiten, Manierismus, Metrik, Prosa. prosaischer Stil, psychologisches (iesetz der Wiederholung, rhetor. Stil. Rhythmus, Selbstimitation, Singularitäten, synkopierte Verbformen. Tautologie, Tmesis, Traductio, Verhindungspartikel, Vergleiche, virtuose Verschmelzung, wiederholte Verse. Wortst,·l lung, vuTEpov 1l'p6r•pov sudare/sudor 17f.; 210 Synaloephe (Elision) 2?/'.; s. Verschleitun gen synkopierte Verbformen /7 Tarchon 120; 166Jf. Tautologie 22,10; 25,26 Tiberinus 107; 11 1; 133 tibicines 73,1; 99,1; Jou:: 104/1.: II!:
122; 139; 145f.; 154; 161(; /65;
/I>V;
2hl
171: 196: 208: 214; 219; 22V: 2.!0,:: 233 Timor 157 Tischprodigium 77,19; 142; 172}:; 176; 214j.; 225 Tisiphone /5,5 Tmesis 53,52 Traductio 58 Tucca 2; 74,8; (79,33); 90,4; 112; 222,35 Turnus 107; ll7ff.; 131f.; 134f.; 141,34; 150./f.; 157ff.; 162jf.; 173; 176; 178f.; 222f. Tyndaris 42 Ufens 150f.; 156,104; 169 Umbro 149ff. Umkehrung ins Negative 12; 49 Unechtheit s. Echtheit unvollendete Verse s. Halbverse Varius 2; 35; 71; 74; (79,33); 90,4; /09;
112; 126; 131; 186f.; 192; 206; 209; 219; 221f.; 224f.; 227f.; 230 Venus passim Venuserscheinung (A.II 589ff.) passim. s. besonders Vlll; 79; 87ff.; 195./J.; 212jf: Verbindungspartikel 52f. Vergil passim Stellen s. besonderes Register Arbeitsweise 35; 61; 107ff.; 129; 152; 155; 221; 225ff.; 231ff.; s. auch: Halbverse, tibicines, Autograph etc. Vergleiche (allgemein) 110f.; 144; 172(; 183Jf.; 227; 235; 239f. Verschleifungen 30./f.; 210 Verseinschnitte 32Jf. Virbius 20; 150./J.; 156,104; 176 virtuose Verschmelzung von Vorbildern
15; 60; 129; 188f. 20; 149ff.; 156.104; IM/.: 176; 219
Völkerkatalog
Vollendung s. Helenaszene (Unfertigkeit) Wahrheit Vllf. Widersprüche 8; 18j.; 50; 54; 74Jf.; 94./1.;
111; 120; 141J.; 145; 164,14; 167; 1711; 173; 175f.; 191; 195; 198; 207j.; 21 214f.; 220; 224./J. wiederholte Verse und Versteile 53f.; 58Jf.; 104; 123; 126,27; 132j.; 164f.; 17.!(; 210; 218; 220; 23/f.; 235; 238,3; s. auch:
u.:
Wortwiederholungen Wortstellung 24 Wortwiederholungen 28; 34; 37ff.; 51; 54; 56f.; 140,28; 180; 199; 204; 209}:; 2.1/; s. auch: wiederholte Verse und Versteile ÜaTEpov 11'POTEPDV
157
Zufall 26; 29,3; 41,26; 48,13; 56; 58; /lXI;
102,17; 114; 119; 148; 208; 239