Charles Frazier
Unterwegs nach
COLD
MOUNTAIN
Roman Aus dem Englischen
von Karina Of
List
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Die Origi...
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Charles Frazier
Unterwegs nach
COLD
MOUNTAIN
Roman Aus dem Englischen
von Karina Of
List
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Die Originalausgabe erschien 1997 unter dem Titel Cold Mountain bei
The Atlantic Monthly Press, New York, USA.
Der List Verlag ist ein Unternehmen der Econ & List Verlagsgesellschaft, München ISBN 3-471-77555-2 © Charles Frazier 1997 © der deutschen Ausgabe 1998 by Paul List Verlag GmbH, München Alle Rechte vorbehalten. Printed in Germany. Satz: Franzis-Druck GmbH, München Druck und Bindung: Graphischer Großbetrieb, Pößneck Lektorat: Karen Nölle-Fischer Scan by: Crazy2001 K-leser: dago33 Februar 2003
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Es ist schwer zu glauben, dass in den friedvollen Wäldern
und lächelnden Feldern der grauenhafte,
aber stille Krieg des organischen Lebens tobt.
-Darwin, Tagebucheintrag 1839
Die Menschen fragen nach dem Weg zum Kalten Berg. Der Kalte Berg: Es führt kein direkter Weg dorthin. - Han-shan-shib
Für Katherine und Annie
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Der Schatten einer Krähe
Mit dem ersten Anflug des Morgens wurden die Fliegen munter. Inmans Augen und die lange Wunde an seinem Hals lockten sie an, und mit ihrem Flügelgeschwirr und ihrem Gekrabbel rissen sie einen Mann unbarmherziger aus dem Schlaf als ein Hof voller Hähne. So begann für ihn ein weiterer Tag im Krankensaal. Er schlug mit den Händen nach den Fliegen, um sie zu verscheuchen, und blickte über das Fußende seines Bettes hinweg zu einem geöffneten, an drei Angeln aufgehängten Fenster. Normalerweise konnte er die rote Straße mit dem Eichenbaum und der niedrigen Ziegelmauer sehen. Und dahinter die sich bis zum westlichen Horizont erstreckenden Felder und niedrigen Kiefernwälder. Das Land war so eben, dass man eine weite Sicht hatte, zumal das Krankenhaus auf der einzigen Anhöhe weit und breit errichtet worden war. Doch es war noch zu früh, um etwas erkennen zu können. Man hätte meinen können, das Fenster sei mit grauer Farbe zugestrichen. Wäre es nicht zu dunkel gewesen, hätte Inman gelesen, um die Zeit bis zum Frühstück zu überbrücken, denn das Buch, das er gerade las, hatte eine beruhigende Wirkung auf sein Gemüt. Am Vorabend hatte er jedoch beim Lesen, um einschlafen zu können, die letzte Kerze aus seinem eigenen Vorrat aufgebraucht, und Petroleum war so knapp, dass er die Krankenhauslampen nicht zur bloßen Zerstreuung anzünden konnte. Also stand er auf, zog sich an und setzte sich auf einen Stuhl mit Sprossenlehne, so dass er dem düsteren Saal mit den Betten und den darin liegenden Kranken den Rücken zuwandte. Abermals schlug er nach den Fliegen und blickte beim ersten dunstigen Dämmerschein aus dem Fenster, darauf
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wartend, dass die Welt draußen allmählich Gestalt annahm. Das Fenster war so hoch wie eine Tür, und er hatte sich viele Male vorgestellt, dass es sich zu einem anderen Ort hin öffnete und er nur hindurchzusteigen brauchte, um dort anzukommen. In den ersten Wochen im Krankenhaus hatte er seinen Kopf kaum bewegen können und sich allein dadurch Beschäftigung verschafft, dass er aus dem Fenster schaute und sich die alten, grünen Orte seiner Heimat in Erinnerung rief. Orte der Kindheit. Das feuchte Bachufer, an dem der Fichtenspargel wuchs. Ein im Herbst von braunschwarzen Raupen bevölkertes Wiesenstück. Der über einen Feldweg hängende Ast eines Walnußbaumes, von dem aus er seinen Vater oft beobachtet hatte, wie er in der Abenddämmerung die Kühe stallwärts trieb. Sie trotteten allabendlich unter ihm vorbei, und dann schloß er jedesmal die Augen und lauschte, wie der hohle Klang ihrer auf der Erde aufschlagenden Hufe schwächer und schwächer wurde, bis er sich in den Rufen von Laubheuschrecken und Grillenfröschen verlor. Das Fenster wollte seine Gedanken offenbar nur in die Vergangenheit lenken. Was ihm recht war, denn er hatte in das stählerne Antlitz seines Zeitalters geblickt und war von dem Anblick so erschüttert gewesen, dass er sich beim Gedanken an die Zukunft nur eine Welt vorstellen konnte, aus der alles, was er für wichtig hielt, verjagt worden oder freiwillig geflohen war. Er starrte nun schon einen ganzen Sommer lang zu dem Fenster hin, ein Sommer, der so heiß und so schwül war, dass sich die Luft Tag und Nacht anfühlte, als atmete man durch ein Spültuch, und der so feucht war, dass frische Laken unter ihm einen säuerlichen Geruch annahmen und die schlaffen Seiten des Buches auf seinem Nachttisch über Nacht von winzigen schwarzen Pilzen überzogen wurden. Inman vermutete, dass das graue Fenster nach einer so langen Befragung allmählich alles gesagt haben musste, was es zu sagen hatte. An jenem Morgen jedoch überraschte es ihn, denn es rief eine seinem Gedächtnis entfallene Erinnerung aus der Schulzeit zurück, wie er im Klassenzimmer neben einem
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ähnlich hohen Fenster saß, das einen Ausschnitt mit Weideland und niedrigen grünen Hügelketten einrahmte, die stufenförmig zum mächtigen Buckel des Cold Mountain anstiegen. Es war September. Das Gras auf der Wiese jenseits der festgetretenen Erde des Schulhofes stand hüfthoch, und die Rispen waren überreif und gelb, weil die Mahd längst überfällig war. Der Lehrer war ein rundlicher, kleiner Mann, mit kahlem Schädel und rosigem Gesicht. Er besaß nur eine einzige Garnitur Kleider aus schwarzem, verschossenem Stoff sowie ein Paar alter, übergroßer Paradestiefel, die sich an den Spitzen hochbogen und so abgetreten waren, dass die Absätze wie Keile aussahen. Er stand vorne im Klassenzimmer und wippte auf den Zehenspitzen. Er verbreitete sich den ganzen Vormittag lang über nichts als Geschichte, indem er den älteren Schülern von grandiosen, im alten England ausgetragenen Kriegen erzählte. Nachdem er eine Weile nicht zugehört und dabei an andere Dinge gedacht hatte, zog der junge Inman seinen Hut unter dem Pult hervor und hielt ihn an der Krempe fest. Mit einer schnellen Bewegung aus dem Handgelenk schleuderte er ihn aus dem Fenster, und der Hut geriet in einen Aufwind und segelte auf und davon. Weit draußen hinter dem Schulhof, am Wiesenrand, sank er hinab und blieb dort liegen, schwarz wie der Schatten einer auf dem Boden hockenden Krähe. Der Lehrer sah, was Inman getan hatte und befahl ihm, den Hut zu holen und zurückzukommen, um seine Tracht Prügel in Empfang zu nehmen. Der Mann besaß einen langen, hölzernen Bleuel, in dessen Blatt Löcher gebohrt waren und von dem er gerne Gebrauch machte. Inman wusste selbst nicht, was ihn in diesem Augenblick überkam, doch er trat zur Tür hinaus, setzte sich den Hut schief auf den Kopf und marschierte davon, ohne jemals wiederzukehren. Die Erinnerung verblasste, als das Licht vom Fenster her stärker wurde. Inmans Bettnachbar setzte sich auf und zog seine Krücken zu sich heran. Wie jeden Morgen schleppte sich der Mann zum Fenster und spuckte ein paarmal mit großer
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Anstrengung aus, bis seine verschleimten Lungen frei waren. Er zog einen Kamm durch sein schwarzes Haar, das ihm strähnig bis unters Kinn hing und ringsum auf gleiche Länge geschnitten war. Er steckte sich die langen vorderen Strähnen hinter die Ohren und setzte sich seine dunkle Brille auf, die er schon im Dämmerlicht des Morgens trug, da seine Augen offenbar selbst für einen noch so schwachen Lichtschein zu empfindlich waren. Dann schlurfte er, noch immer im Nachthemd, zu seinem Tisch hinüber und beugte sich über einen Stoß Papiere. Er sprach selten mehr als ein oder zwei Worte, und Inman hatte nicht viel mehr aus ihm herausbekommen, als dass er Balis hieß und vor dem Krieg an einem College in Chapel Hill gewesen war, um seine Griechischkenntnisse zu vervollkommnen. Von früh bis spät mühte er sich nun damit ab, uraltes Geschreibsel aus einem dicken kleinen Buch in für jedermann lesbare Schriftzeichen zu übertragen. Er saß über seinem Tisch gebeugt, das Gesicht wenige Zentimeter über seiner Arbeit, und rutschte auf seinem Stuhl hin und her, um eine bequeme Haltung für sein Bein zu finden. Er hatte seinen rechten Fuß in Gold Harbour durch einen Kartätschentreffer verloren, und der Stumpf schien nicht heilen zu wollen und war knöchelaufwärts Zentimeter für Zentimeter abgefault. Mittlerweile war sein Bein stückweise bis über das Knie amputiert worden, und er roch ständig wie roher Schinken vom vergangenen Jahr. Eine Zeitlang waren nur das Kratzen von Balis' Feder und das Rascheln der Seiten beim Umblättern zu hören. Dann begannen sich andere im Saal zu rühren und zu husten, manche zu stöhnen. Schließlich wurde das Licht so hell, dass alle Konturen der lackierten Wandverkleidung deutlich hervortraten und Inman seinen Stuhl auf die beiden hinteren Beine kippen und die Fliegen an der Decke zählen konnte. Er kam auf dreiundsechzig. Als Inmans Aussicht aus dem Fenster schärfere Umrisse gewann, wurde zunächst der dunkle Stamm des Eichenbaumes, dann der stoppelige Rasen und schließlich die
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rote Straße erkennbar. Inman wartete darauf, dass der Blinde kam. Er hatte die Bewegungen und das Tun dieses Mannes den ganzen Sommer hindurch verfolgt, und nun, da er so weit genesen war, dass er wieder zu den Gehfähigen zählte, wollte er unbedingt zu dem Karren hinaus, um mit dem Mann zu reden, denn er glaubte, in ihm einen Menschen zu erkennen, der schon lange mit einer Wunde lebte. Seine eigene Wunde hatte sich Inman während der Gefechte bei Petersburg zugezogen. Als ihm seine zwei engsten Kameraden das Hemd weggerissen und sich seinen Hals besehen hatten, sagten sie ihm, in der Annahme, dass er sterben werde, feierlich Lebewohl. Wir werden uns in einer besseren Welt wiedersehen, sagten sie. Doch er hatte den Transport ins Feldlazarett überlebt, wo die Ärzte der gleichen Meinung gewesen waren wie seine Freunde. Er wurde den Sterbenden zugeteilt und zum Sterben abseits auf ein Feldbett gelegt. Doch er starb nicht. Nach zwei Tagen wurde er wegen Platzmangels in ein reguläres Krankenhaus in seinem Heimatstaat verlegt. Während des Aufenthalts im schmutzigen Feldlazarett und der langen, grausigen Zugfahrt nach Süden in einem mit Verwundeten überladenen Güterwagen war er mit seinen Freunden und den Ärzten einer Meinung gewesen. Er hatte geglaubt, er werde sterben. Beinahe die einzigen Dinge von der Fahrt, an die er sich noch erinnern konnte, waren die Hitze und der Geruch von Blut und von Kot, denn viele der Verwundeten hatten die Ruhr. Wer über genügend Kraft verfügte, stieß mit einem Gewehrkolben ein Loch in die hölzerne Seitenwand des Güterwaggons und streckte den Kopf wie in Lattenkisten gesperrtes Geflügel hinaus, um frische Luft zu bekommen. Im Krankenhaus hatten die Ärzte ihn sich angesehen und gesagt, sie könnten nicht viel tun. Er werde vielleicht davonkommen, vielleicht auch nicht. Sie gaben ihm nur einen grauen Lappen und eine kleine Schüssel, damit er sich seine Wunde reinigte. Immer wenn er in jenen ersten paar Tagen die Kraft fand, wischte er mit dem Lappen an seinem Hals herum,
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bis das Wasser in der Schüssel so rot war wie ein Truthahnkamm. Doch die Wunde hatte sich größtenteils selbst reinigen wollen. Ehe sich auf ihr eine Schorfschicht zu bilden begann, spie sie verschiedene Dinge aus. Einen Kragenknopf und ein Stück Wollkragen von dem Hemd, das er getragen hatte, als ihn die Kugel traf, einen Splitter aus weichem grauem Metall von der Größe eines Vierteldollars und, unerklärlicherweise, etwas, das beinahe aussah wie ein Pfirsichkern. Dieses Ding legte er auf den Nachttisch und betrachtete es mehrere Tage lang. Er kam zu keinem Schluß, ob es ein Teil von ihm war oder nicht. Schließlich warf er es aus dem Fenster, doch danach verfolgten ihn unruhige Träume, in denen es Wurzeln schlug und sich zu etwas Riesenhaftem entwickelte – wie Jacks Wunderbohne, deren Stengel bis in die Wolken ins Reich des Riesen hinaufgewachsen war. Mit der Zeit hatte Inmans Hals beschlossen zu verheilen. Doch während der langen Wochen, in denen er weder seinen Kopf drehen noch ein Buch hochhalten konnte, um zu lesen, hatte er dagelegen und Tag für Tag den Blinden beobachtet. Der Mann kam stets kurz nach Tagesanbruch und immer alleine an, wobei er seinen Karren nicht unbeholfener die Straße hinaufschob als ein Mensch, der sehen kann. Er baute seinen Verkaufsstand unter dem Eichenbaum auf der anderen Straßenseite auf und entfachte in einem Ring aus Steinen ein Feuer, über dem er in einem gußeisernen Topf Erdnüsse kochte. Er saß den ganzen Tag lang mit dem Rücken zur Mauer auf einem Schemel und verkaufte jenen Patienten Erdnüsse und Zeitungen, die so weit wiederhergestellt waren, dass sie laufen konnten. Wenn niemand kam, hockte er reglos wie ausgestopft da, die Hände im Schoss. In jenen Wochen hatte Inman die Welt betrachtet, als sei sie ein von dem Fenster eingerahmtes Bild. Es verstrich häufig eine lange Zeit, in der man den Ausschnitt trotz darin stattfindender Veränderungen für ein altmeisterliches Gemälde von einer Straße, einer Mauer, einem Baum, einem Karren und
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einem blinden Mann hätte halten können. Inman hatte manchmal langsam im Kopf angefangen zu zählen, um einen Anhalt zu haben, wie lange es dauerte, bis sich eine entscheidende Veränderung vollzog. Es war ein Spiel mit festen Regeln. Ein vorbeifliegender Vogel zählte nicht. Ein die Straße entlanggehender Mensch zählte. Deutliche Wetteränderungen zählten – die hervorbrechende Sonne, einsetzender Regen –, die Schatten vorbeiziehender Wolken hingegen nicht. An manchen Tagen kam er auf mehrere Tausend, ehe sich in den Bildelementen etwas Wesentliches änderte. Er war überzeugt, dass er diese Szene – Mauer, blinder Mann, Baum, Karren, Straße – sein Leben lang nicht mehr vergessen würde. Er stellte sich vor, wie er als alter Mann daran zurückdachte. Die einzelnen Elemente schienen eine bestimmte Bedeutung zu haben, doch er wusste nicht welche und glaubte auch nicht, sie jemals finden zu können. Während Inman sein Frühstück, Haferschleim mit Butter, verzehrte, hielt er den Blick auf das Fenster gerichtet, und bald schon sah er den Blinden die Straße heraufstapfen, den Rücken zum Schieben des schweren Karrens gekrümmt, während unter den rollenden Wagenrädern kleine Staubwolken aufstiegen. Als der Blinde das Feuer in Gang und die Erdnüsse zum Kochen gebracht hatte, stellte Inman seinen Teller auf der Fensterbank ab, ging hinaus und überquerte mit dem schlurfenden Gang eines alten Mannes den Rasen bis zur Straße. Der Blinde hatte kräftige, breite Schultern und Hüften, und seine Hose war in der Taille mit einem langen Ledergürtel von der Breite eines Streichriemens zusammengezurrt. Er trug keinen Hut, nicht einmal bei der Hitze, und sein kurzgeschorenes, dichtes graues Haar war drahtig wie eine Bürste zum Hanfhecheln. Er hockte mit gesenktem Kopf und scheinbar in Gedanken verloren da, doch als Inman näher kam, blickte er auf, als könnte er ihn sehen. Seine Augenlider waren jedoch tot wie Schuhleder und in runzlige Mulden eingesunken, in denen einmal die Augäpfel gewesen waren.
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— Wer hat Ihnen die Augen ausgestochen, fragte Inman, ohne einen Gruß voranzuschicken. — Niemand, sagte der Blinde, ein freundliches Lächeln auf dem Gesicht. Ich hatte niemals welche. Das überraschte Inman, denn in seiner Vorstellung war er davon ausgegangen, dass sie ihm bei einem grausamen und blutigen Kampf in einem bestialischen Augenblick herausgerissen worden waren. Jede abscheuliche Tat, die er in letzter Zeit mit angesehen hatte, war von Menschenhand ausgeführt worden, und so hatte er beinahe vergessen, dass es noch eine Unmenge Unglücksfälle anderer Ursache gab. — Warum hatten Sie niemals welche? fragte Inman. — Es war halt einfach so. — Ich muss schon sagen, fuhr Inman fort, Sie sind ja sehr gelassen. Insbesondere für einen Mann, von dem die meisten Menschen sagen würden, dass er sein Leben lang zu kurz gekommen ist. Der Blinde sagte: Schlimmer wäre es vielleicht gewesen, wenn mir erst ein Blick auf die Welt gewährt, dann aber wieder genommen worden wäre. — Schon möglich, sagte Inman. Aber was würden Sie in diesem Moment dafür geben, Ihre Augäpfel für zehn Minuten zurückzubekommen? Eine Menge, wette ich. Der Mann sann über die Frage nach. Er fuhr sich mit der Zunge über einen Mundwinkel und sagte: Ich würde nicht einen Cent dafür geben. Ich fürchte, es würde mich nur mit Haß erfüllen. — So war es bei mir, sagte Inman. Es gibt vieles, was ich wünschte, nie gesehen zu haben. — So habe ich das nicht gemeint. Sie sprachen von zehn Minuten. Mir ging es darum, wie es wäre, erst etwas zu besitzen und dann wieder zu verlieren. Der Blinde drehte ein viereckiges Stück Zeitungspapier zu einer Tüte, tauchte eine gelochte Schöpfkelle in den Topf und füllte die Tüte mit nassen Erdnüssen. Er reichte sie Inman und sagte: Na los, nennen Sie mir einen Augenblick, in dem Sie
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gerne blind gewesen wären. Wo anfangen? fragte sich Inman. Matvern Hill. Sharpsburg. Petersburg. Jeder einzelne dieser Orte gäbe ein vortreffliches Beispiel für Anblicke, die er sich lieber erspart hätte. Doch der Tag in Fredericksburg hatte sich besonders tief in sein Gedächtnis eingebrannt. Er setzte sich, den Rücken an die Eiche gelehnt, auf den Boden, brach die nassen Erdnußschalen auf, schnippte sich das Fleisch in den Mund und erzählte dem Blinden seine Geschichte, die damit begann, wie sich an jenem Morgen der Nebel lichtete und eine riesige Armee sichtbar werden ließ, die hügelan auf eine Steinmauer zumarschierte, hinter der sich ein Hohlweg befand. Inmans Regiment erhielt den Befehl, sich den bereits hinter der Mauer postierten Männern anzuschließen, und hatte sich schnell hinter dem großen weißen Haus auf dem Gipfel von Maryes Heights formiert. Lee, Longstreet und Stuart mit seiner Hutfeder standen auf dem Rasen vor der Veranda und beobachteten, während sie sich unterhielten, abwechselnd durch einen Feldstecher das gegenüberliegende Flussufer. Longstreet hatte einen grauen Wollschal um die Schultern. Neben den beiden anderen wirkte er wie ein stämmiger Schweinetreiber. Doch nach dem, was Inman von Lees Denkweise mitbekommen hatte, würde er es allemal vorziehen, während eines Gefechts von Longstreet gedeckt zu werden. So einfältig Longstreet aussah, hatte er doch einen Instinkt dafür, Stellungen ausfindig zu machen, in denen man sich niederkauern und aus relativ sicherer Position ganze Bataillone ins Jenseits befördern konnte. Und an jenem Tag in Fredericksburg verliefen die Gefechte ganz nach der Manier, wie sie Lee nicht behagte, Longstreet sie hingegen guthieß. Nachdem sich Inmans Regiment aufgestellt hatte, stürzten die Männer über die Hügelkuppe in das vernichtende Feuer der Unionsarmee. Sie machten einmal halt, um eine Gewehrsalve abzufeuern, und rannten dann bis zu dem hinter der Steinmauer verlaufenden Hohlweg hinunter. Auf dem Weg
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dorthin wurde Inmans Handgelenk von einer Kugel gestreift, was sich anfühlte wie die Zunge einer leckenden Katze und keine ernsthafte Verletzung, sondern nur eine kleine Hautabschürfung hinterließ. Als sie den Hohlweg erreicht hatten, stellte Inman fest, dass er ideale Sicherheit bot. Die Männer, die dort bereits in Stellung waren, hatten entlang der massiven Mauer einen Graben ausgehoben, so dass sie bequem aufrecht stehen konnten und dennoch geschützt waren. Die Soldaten der Unionstruppe mussten über weites offenes Gelände hügelan auf die Mauer zumarschieren. Die Stellung war so vortrefflich, dass einer der Männer auf die Mauer sprang und den Feinden entgegenbrüllte: Kehrt um. Hört ihr? Ihr rennt ins Verderben. Als die Kugeln um ihn her zischten, sprang er zurück in den Graben hinter die Mauer und vollführte einen Freudentanz. Es war ein kalter Tag, und der morastige Feldweg war zu einem zähen Lehm gefroren. Ein paar der Männer waren barfuß. Viele trugen selbstgeschneiderte Uniformen in den stumpfen Tönen, die durch Pflanzenfarben erzeugt werden. Die Soldaten der Unionstruppen hatten sich auf dem Feld gefechtsbereit aufgestellt. Sie waren alle neu ausstaffiert mit leuchtenden, fabrikgefertigten Uniformen und nagelneuen, glänzenden Stiefeln. Als die Unionssoldaten zum Sturmangriff ansetzten, stellten die Männer hinter der Mauer das Feuer ein und verhöhnten ihre Gegner, und einer von ihnen rief: Nun kommt schon näher, ich will die Stiefel da haben. Und sie ließen die Unionisten bis auf zwanzig Schritt herankommen, ehe sie sie niederschossen. Die Männer hinter der Mauer feuerten aus so geringer Entfernung, dass einer von ihnen meinte, es sei ein Jammer, dass sie Papierpatronen hätten, denn wenn sie die einzelnen Komponenten hätten – Pulver, Kugeln und Hülsen –, könnten sie kleine ökonomische Mengen laden und somit Pulver sparen. Als Inman sich niederkauerte, um sein Gewehr zu laden, konnte er nicht nur das Gefechtfeuer hören, sondern auch den Einschlag von Kugeln in Fleisch. Ein Mann neben Inman
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vergaß vor Aufregung, vielleicht auch aus Erschöpfung, den Ladestock aus dem Gewehrlauf zu ziehen. Er feuerte ihn mit ab, und er bohrte sich einem Unionssoldaten in die Brust. Der Mann fiel nach hinten, und der aus seinem Körper ragende Ladestock vibrierte mit seinen letzten Atemzügen hin und her, wie ein ungefiederter Pfeil von einem Indianerbogen. Den ganzen Tag lang stießen die Unionisten unablässig zu Tausenden auf die Mauer vor, stiegen den Hügel hinan, um sich abschießen zu lassen. Auf dem Gelände standen verstreut drei oder vier Backsteinhäuser, und nach einer gewissen Zeit drängten sich die Unionisten in so großer Zahl hinter diesen zusammen, dass sie aussahen wie lange, blaue Häuserschatten bei Sonnenaufgang. Immer wieder wurden sie von ihren eigenen Kavalleristen hinter den Häusern hervorgetrieben, indem diese mit der flachen Seite ihrer Säbel auf sie einschlugen wie Lehrer mit einem Stock auf ihre Schüler. Dann rannten sie vornübergebeugt und mit hochgezogenen Schultern auf die Mauer zu, was auf viele Zeugen an jenem Tag so wirkte, als suchten sie sich vor einem heftigen Regen zu schützen. Die Unionssoldaten rückten immer noch an, lange nachdem den Südstaatlern das Vergnügen daran vergangen war, sie hinzumetzeln. Inman begann, sie schlicht zu hassen, wegen ihrer stumpfsinnigen Entschlossenheit, in den Tod zu marschieren. Die Schlacht verlief wie in einem Traum, in dem die Feinde zahllos und übermächtig vor einem aufmarschieren, wahrend man selbst ganz schwach ist. Und trotzdem fallen sie einer nach dem anderen, bis keiner von ihnen mehr am Leben ist. Inman hatte geschossen, bis sein rechter Arm lahm war vom Hinein und Hinaus des Ladestocks und seine Kiefer wund waren vom Abbeißen der Papierpatronenenden. Sein Gewehr war so heiß geworden, dass das Pulver manchmal schon verzischte, ehe er das Geschoss hineindrücken konnte. Gegen Abend schimmerten die Gesichter der Männer um ihn herum von den Pulverschwaden in der Luft in allen Schattierungen von Blau, so dass Inman sich an einen großen Affen mit einem
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wulstigen, buntschillernden Hintern erinnert fühlte, den er einmal in einem Wanderzirkus gesehen hatte. Sie hatten den ganzen Tag lang unter den Augen von Lee und Longstreet gekämpft. Die Männer hinter der Mauer brauchten nur ihre Köpfe nach hinten zu drehen, um die großen Männer zu sehen, die unmittelbar über ihnen droben auf dem Hügel standen und ihnen zuschauten. Die beiden Generäle brachten den Nachmittag damit zu, einander wie zwei Spaßmacher mit passenden Sprüchen zu überbieten. Longstreet sagte, seine Männer hätten in dem Hohlweg hinter der Mauer eine so vorzügliche Stellung, dass sie, ließe man sämtliche Soldaten der Potomac-Armee über das Feld marschieren, allesamt töten würden, ehe sie die Mauer erreichten. Und er sagte, dass die Unionisten den langen Nachmittag hindurch so fielen wie Regentropfen von den Dachkanten eines Hauses. Old Lee, der nicht zurückstehen wollte, gab zum besten, es sei nur gut, dass der Krieg so schrecklich sei, denn sonst würden sie noch zuviel Spaß daran finden. Wie alles andere, was Master Robert von sich gab, wiederholten die Männer dieses geistreiche Bonmot etliche Male unter sich, gaben es von Mann zu Mann weiter, als hätte der Allmächtige persönlich die Worte gesprochen. Als der Ausspruch das Mauerende erreichte, an dem Inman stand, schüttelte er nur den Kopf. Schon damals, zu Beginn des Krieges, hatte sich seine Meinung beträchtlich von der Lees unterschieden, denn ihm schien, wir wären nur allzu bereit zu kämpfen, und je abschreckender der Krieg war, um so besser. Und er hegte den Verdacht, dass Lee derjenige war, der am meisten Spaß daran hatte, und dass er, wenn es nach ihm gegangen wäre, sie geradewegs durch das Tor des Todes hindurch kommandiert hätte. Was Inman jedoch am meisten beunruhigte, war, dass Lee unverhohlen äußerte, dass er den Krieg für ein Instrument halte, mit dem man Gottes dunklen Willen erhellen könne. Lee schien zu glauben, dass der Krieg – von allen Taten, die ein Mensch vollbringen kann – an Heiligkeit nur durch Gebete
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und Bibellektüre zu übertreffen sei. Inman befürchtete, dass jemand, der so dachte, bald den Sieger bei jeder Rauferei und bei jedem Handgemenge zu Gottes ausgemachtem Liebling erklärte. Solche Gedanken hätte er bei seinen Kameraden unmöglich aussprechen können, genausowenig wie er äußern konnte, dass er nicht Soldat geworden war, um sich einem Herrn anzudienen, nicht einmal einem, der so ehrwürdig und vornehm aussah wie Lee an jenem Tag auf Maryes Heights. Am Spätnachmittag ebbte der Vormarsch der Unionsarmee ab, und die Gewehre verstummten allmählich. Tausende von Männern lagen tot und dem Tode nah auf dem abschüssigen Feld unterhalb der Mauer, und bei Einbruch der Dunkelheit hatten diejenigen, die noch laufen konnten, Leichen übereinandergestapelt, um sich einen Schutzwall zu bauen. Die ganze Nacht hindurch schimmerten am nördlichen Himmel die gespenstischen Farben des Polarlichts. Die Männer in ihrer Stellung hielten ein so seltenes Phänomen für ein Omen und wetteiferten darum, wer seine Bedeutung am klarsten in einfache Worte zu fassen vermochte. Irgendwo hinter ihnen auf der Anhöhe fing jemand auf der Fiedel die traurige Lorena-Melodie an zu spielen. Die verwundeten Unionssoldaten auf dem gefrorenen Feld seufzten und jammerten und murmelten mit aufeinandergebissenen Zähnen vor sich hin, und einige riefen laut die Namen ihrer Liebsten. Unter diesen Begleitklängen kletterten die schlecht Beschuhten aus Inmans Trupp über die Mauer, um den Toten die Stiefel auszuziehen. Obwohl seine eigenen Stiefel in gutem Zustand waren, unternahm auch Inman spätabends einen Streifzug über das Feld, nur um zu schauen, was die Anstrengungen des Tages eingebracht hatten. Die Unionisten lagen dicht an dicht, in blutigen Haufen, auf dem Boden, die Körper in jeder nur erdenklichen Weise zerfetzt. Ein neben Inman einhergehender Mann musterte das sich ihnen darbietende Bild und sagte: Wenn es nach mir ginge, würde alles, was nördlich des Potomac liegt, haargenau so aussehen wie das hier. Inmans einziger Gedanke bei der Betrachtung der
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Feinde war: Geht nach Hause. Einige der Toten hatten Zettel mit ihren Namen an ihre Kleidung geheftet, damit man wusste, wer sie gewesen waren, und der Rest war einfach namenlos. Inman sah, wie ein Mann in die Hocke ging, um einem Leichnam, der flach auf dem Rücken lag, die Stiefel auszuziehen, doch als er einen Fuß packte und daran zerrte, setzte sich der vermeintlich Tote auf und sagte etwas in einem so breiten irischen Akzent, dass das einzige, was man verstehen konnte, das Wort Scheiße war. Später, viele Stunden nach Mitternacht, schaute Inman in eines der verstreut auf dem Feld stehenden Häuser hinein. Aus einer offenen Tür an der Giebelseite drang ein Lichtschein. Drinnen saß eine alte Frau, das Haar wild zerzaust, das Gesicht von Gram verzehrt. Ein brennender Kerzenstummel stand neben ihr auf einem Tisch. Leichen vor ihrer Tür. Andere drinnen, erstarrt in der Haltung, in der sie auf allen vieren in die Zuflucht gekrochen waren. Die Frau starrte mit irrem Blick an der Türschwelle und an Inmans Gesicht vorbei, als ob sie nichts sähe. Inman ging durch das Haus, trat durch die Hintertür wieder hinaus und gewahrte einen Mann, der eine Gruppe schwer verwundeter Unionssoldaten umbrachte, indem er ihnen mit einem Hammer die Köpfe einschlug. Die Unionisten lagen in einer Reihe nebeneinander, die Köpfe alle in eine Richtung, und der Mann bewegte sich zügig die Reihe hinunter, sichtlich bemüht, mit einem Schlag pro Kopf fertig zu werden. Nicht aggressiv, sondern einfach von einem zum nächsten weitergehend wie ein Mann, der einen bestimmten Auftrag zu erledigen hat. Er pfiff dabei, kaum hörbar, die Cora-Ellen-Melodie vor sich hin. Wenn ihn einer der feinsinnigen Offiziere erwischt hätte, wäre er vielleicht erschossen worden, doch er war einfach müde und wollte sich ein paar weiterer Feinde entledigen, ohne dabei ein großes Risiko einzugehen. Inman würde nie vergessen, wie sich in dem Augenblick, da der Mann das Ende der Reihe erreicht hatte, der erste Schimmer der Morgenröte auf seinem Gesicht spiegelte.
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Der Blinde hatte Inmans Geschichte schweigend angehört. Doch als Inman geendet hatte, sagte er: Sie müssen sich davon losmachen. — Da bin ich ganz Ihrer Meinung, sagte Inman. Allerdings erzählte Inman dem Blinden nicht, dass ihm das Feld von jener Nacht, so sehr er sich auch bemühte, nicht aus dem Kopf gehen wollte und ihn statt dessen in einem immer wiederkehrenden Traum verfolgte, einem Traum, den er in seiner Zeit im Krankenhaus ständig geträumt hatte. In dem Traum leuchtete das Polarlicht, und die blutigen, verstreut umherliegenden Teile – Arme, Köpfe, Beine, Rümpfe – bewegten sich langsam aufeinander zu und setzten sich zu neuen, grausigen Körpern aus nicht passenden Teilen zusammen. Sie humpelten und taumelten und stürzten auf dem dunklen Schlachtfeld umher wie blinde Trunkenbolde auf wackligen Beinen. Sie prallten zusammen und stießen in ihrer Benommenheit die blutigen, gespaltenen Schädel aneinander. Sie fuchtelten mit ihren jeweiligen Armen in der Luft herum, und nur wenige der Händepaare sahen aus, als gehörten sie zusammen. Manche von ihnen murmelten die Namen ihrer Frauen vor sich hin. Manche wiederholten immer die gleichen Bruchstücke des gleichen Liedes. Andere standen abseits und spähten in die Dunkelheit hinein und riefen eindringlich nach ihren Hunden. Eine Gestalt, deren Wunden so entsetzlich waren, dass sie mehr einem Fleischklumpen ähnelte als einem Menschen, versuchte sich hochzurappeln, schaffte es aber nicht. Der Mann plumpste nieder und lag reglos da, nur der Kopf drehte sich hin und her. Er reckte im Liegen den Hals, blickte Inman aus toten Augen an und sagte leise seinen Namen. Immer wenn Inman diesen Traum geträumt hatte, erwachte er am Morgen in einer Stimmung, die schwärzer war als die schwärzeste Krähe. Müde von seinem Spaziergang kehrte Inman in den Krankensaal zurück. Balis saß mit seiner dunklen Brille in dem düsteren Raum und kratzte mit seinem Federkiel auf den
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Papierbögen herum. Inman stieg mit der Absicht ins Bett, den restlichen Morgen zu schlafen, doch es gelang ihm nicht, zur Ruhe zu kommen, und so nahm er sein Buch zur Hand, um zu lesen. Es handelte sich um den dritten Band von Bartrams Travels. Er hatte ihn aus einer Kiste mit Büchern gefischt, die von Damen aus der Hauptstadt gespendet worden war, denen sowohl die geistige als auch die körperliche Genesung der Patienten am Herzen lag. Das Buch war vermutlich weggegeben worden, weil der obere Buchdeckel fehlte, und Inman hatte der Symmetrie wegen den hinteren ebenfalls abgerissen, so dass jetzt nur noch der Lederrücken vorhanden war. Er bewahrte das Buch auf, indem er es zusammenrollte und mit einem Bindfaden verschnürte. Es war nicht notwendig, den Inhalt fortlaufend zu lesen, und Inman schlug einfach eine beliebige Seite auf, wie er es, seit er im Krankenhaus war, Nacht für Nacht machte, um zu lesen, bis er so ruhig geworden war, dass er einschlafen konnte. Das Treiben jenes liebenswürdigen, einsamen Wandervogels – von den Cherokee aus Hochachtung vor seinen Tornistern voller Pflanzen und der liebevollen Aufmerksamkeit, die er der wilden Flora und Fauna widmete, der Pflanzensammler ge nannt – wirkte stets beruhigend auf seine Sinne. Die Passage, der er sich an jenem Morgen zuwandte, war zu einer seiner Lieblingsstellen geworden, und der erste Satz, der ihm ins Auge sprang, war folgender: Stieg weiter bergan, bis ich den Gipfel eines hohen, felsigen Bergkammes erreichte, wo sich zwischen noch höheren Hängen vor mir eine Kluft oder eine Spalte auftat, welche ich längs eines rauhen, felsige Pfads durchquerte, dicht an dem gewundenen Ufer eines breiten schnellen Baches, der schließlich nach einer Linkskehre einen felsigen Abgrund hinabströmte und durch dunkle Gehölze und hohe Wälder davonglitt, den Feldern im Tal Ströme der Fruchtbarkeit und der Freude bringend.
Solche Bilder machten Inman glücklich, genauso wie die
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darauffolgenden Seiten, wo Bartram verzückt durch das Vale of Cowee bis tief in die Berge hinein wanderte und atemlos eine Welt aus Steilabfällen und schroffen Felsspitzen schilderte, deren blaue Hügel- und Bergketten in der Ferne immer mehr verblassten, und wo er schließlich die Namen sämtlicher Pflanzen rezitierte, die er um sich her erblickte, als zählte er die Zutaten für einen mächtigen Zaubertrank auf. Nach einer Weile merkte Inman jedoch, dass seine Gedanken von dem Buch abgeschweift waren und er sich, statt zu lesen, einfach die Landschaft seiner Heimat ausmalte. Cold Mountain mit all seinen Hügelkämmen, seinen Tälern und Wasserläufen. Pigeon River, Little East Fork, Sorrell Cove, Deep Gap, Fire Scald Ridge. Er kannte ihre Namen und murmelte sie vor sich hin wie Zauberworte und Beschwörungsformeln, mit denen man die Dinge abzuwehren versucht, die man am meisten fürchtet. Ein paar Tage später unternahm Inman einen Spaziergang vom Krankenhaus in die Stadt. Sein Hals schmerzte, als würde ein von dort bis zum Fußballen gespannter roter Strick bei jedem Schritt so straff gezogen, dass er zitterte. Seine Beine hingegen fühlten sich kräftig an, und das beunruhigte ihn. Sobald er kampftauglich war, würden sie ihn schnurstracks zurück nach Virginia verfrachten. Nichtsdestotrotz war er froh, sich solange dem Nichtstun hingeben zu können, wie es ihm gelang, den Doktoren keinen zu vitalen Eindruck zu machen. Von zu Hause war Geld eingetroffen und außerdem war ein Teil des rückständigen Soldes ausgezahlt worden, und so schlenderte er durch die Straßen, um in den Läden in den roten Backsteinhäusern mit weißen Fensterrahmen einzukaufen. Bei einem Schneider fand er einen schwarzen Gehrock aus kräftigem Wollstoff, der ihm wie angegossen passte, obwohl er nach den Maßen eines Mannes zugeschnitten worden war, der während der Fertigstellung gestorben war. Der Schneider überließ ihm das Stück zu einem günstigen Preis, und Inman zog es sich sogleich über und trat damit ins Freie, In einem Kramladen kaufte er sich eine Hose aus steifem,
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indigofarbenem Köper, ein cremefarbenes Wollhemd, zwei Paar Socken, ein Klappmesser, ein Fahrtenmesser, einen kleinen Topf, eine Tasse und sämtliche Kugelpatronen und Zündhütchen für seinen Revolver, die dort auf Lager waren. Er ließ alles miteinander in Packpapier wickeln und trug das Päckchen, einen Finger in die über Kreuz gebundene Schnur gehakt, davon. Bei einem Hutmacher erstand er einen schwarzen Schlapphut mit grauem Band und nahm, als er wieder draußen auf der Straße war, sein altes, speckiges Exemplar vom Kopf und schleuderte es zwischen die Bohnenreihen eines Gemüsegartens. Vielleicht konnten ihn die Leute für eine Vogelscheuche gebrauchen. Er setzte sich den neuen Hut auf und ging zu einem Schuhmacher, bei dem er ein Paar guter, stabiler Stiefel fand, die stramm über seinen Waden saßen. Seine abgenutzten alten ließ er verbogen und zerknautscht auf dem Boden stehen. In einer Schreibwarenhandlung kaufte er sich eine Feder mit Goldspitze, ein Tintenfaß und ein Paar Bögen Schreibpapier. Nachdem er all diese Einkäufe getätigt hatte, war er einen Stoß beinahe wertlosen Papiergeldes losgeworden, der ausgereicht hätte, um ein Feuer aus feuchtem Holz in Gang zu bringen. Erschöpft machte er bei einem Wirtshaus unweit des mit einem Kuppeldach versehenen Regierungsgebäudes halt und ließ sich an einem der unter einem Baum aufgestellten Tische nieder. Er trank eine Tasse von einem Gebräu, das der Wirt ihm als durch die Blockade geschmuggelten Kaffee verkaufte, obwohl der Satz offensichtlich zum Großteil aus Zichorie und geröstetem Maisschrot und höchstens ein paar Staubkörnchen echten Kaffeepulvers bestand. Der rostige Metalltisch schürfte an den Kanten ab, so dass Inman sich in acht nehmen musste, dass er nicht mit den Ärmeln seines neuen Rocks an das verwitterte Material kam, als er die Kaffeetasse auf die Untertasse zurückstellte. Er saß ein wenig steif da, mit geradem Rücken, die zu Fäusten geballten Hände auf den Oberschenkeln. Auf einen Beobachter, der von der Straße aus auf die im Schatten der Eiche stehenden Tische geblickt hätte,
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hätte er den Eindruck eines grimmigen Mannes gemacht, der sich in seiner schwarzen Jacke, mit dem wie ein enganliegendes Halstuch aussehenden Verband um den Hals, unwohl fühlte. Er wirkte wie ein Mann, der wahrend der langen, für eine Daguerreotypie benötigten Belichtungszeit regungslos dasitzt, ein Objekt, das völlig weggetreten war, während die Uhr tickte und die Silberplatte langsam sein Bild aufsaugte und einen Teil seiner Seele für alle Zeit fixierte. Inman musste an den Blinden denken. Er hatte ihm am Morgen eine Ausgabe des Standard abgekauft, wie er es seit einiger Zeit allmorgendlich tat. Seit Inman wusste, wie er zu seiner Blindheit gekommen war, tat ihm der Blinde leid, denn wie sollte man jemanden finden, den man für etwas hassen konnte, das einfach so war, wie es war? Was war der Preis dafür, keinen Feind zu haben? An wem konnte man Rache üben, außer an sich selbst? Inman trank den Kaffee bis zum Bodensatz aus und nahm dann seine Zeitung zur Hand, in der Hoffnung, darin etwas Fesselndes zu finden, das seine Gedanken in eine andere Richtung lenkte. Er versuchte einen Artikel zu lesen, in dem berichtet wurde, wie schlecht die Dinge vor Petersburg standen, doch er konnte sich nicht darauf konzentrieren. Außerdem wusste er bereits alles, was es zu diesem Thema zu sagen gab. Als er die dritte Seite aufschlug, stieß er auf eine Mitteilung der Regierung an Deserteure, Drückeberger und ihre Familien. Sie würden unerbittlich verfolgt werden. Ihre Namen würden auf eine Liste gesetzt, und die Bürgermiliz werde in jedem Landkreis in Alarmbereitschaft sein und Tag und Nacht Patrouillen durchführen. Dann las Inman eine am Fuß einer Seite in der Zeitungsmitte versteckte Meldung. Darin hieß es, dass Thomas und seine Cherokee-Truppen in den Bergen an der Westgrenze des Staates zahlreiche Scharmützel mit den Unionisten gehabt hätten. Sie seien beschuldigt worden, die Gegner skalpiert zu haben. Die Zeitung vertrat die Meinung, dass diese Praxis zwar barbarisch sein möge, aber als eine unmissverständliche Warnung dafür
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dienen könne, dass eine Invasion den Gegner teuer zu stehen kommen würde. Inman ließ die Zeitung sinken und stellte sich junge Cherokee-Indianer beim Skalpieren von Unionssoldaten vor. Es hatte etwas Amüsantes, wie diese bleichen Fabrikarbeiter so selbstsicher gen Süden zogen, um Land zu stehlen, und statt dessen draußen in den Wäldern ihre Kopfhaut einbüßten. Inman kannte viele Cherokee, die dem Alter nach unter Thomas' Kommando hätten kämpfen können, und er fragte sich, ob wohl auch Swimmer darunter war. Er hatte Swimmer in dem Sommer kennengelernt, als sie beide sechzehn waren. Innvan war mit der angenehmen Aufgabe betraut worden, ein paar Färsen auf die kahlen, baumlosen Höhen des Balsam Mountain zu geleiten, wo sie das letzte Gras des Sommers abweiden sollten. Er hatte ein Lastpferd, beladen mit Kochgeschirr, Pökelfleisch, Maismehl, Angelzeug, einer Schrotflinte, Decken und einer Plane aus gewachstem Segeltuch für ein Zelt mitgeführt. Er war auf Einsamkeit und Eigenständigkeit eingestellt gewesen. Doch als er die Wiesen auf der Bergkuppe erreichte, war dort eine regelrechte Party im Gange. Etwa ein Dutzend Männer aus Catalooch hatten auf dem Bergkamm seit über einer Woche ein Lager aufgeschlagen, um in der kühlen Luft des Hochlands zu faulenzen und die befreiende Entfernung von Heim und Herd zu genießen. Es war ein herrliches Fleckchen, dort oben auf der kahlen Höhe. Sie hatten eine weite Aussicht nach Osten und nach Westen, gutes Weidegras für das Vieh und nahe gelegene, fischreiche Bäche. Inman gesellte sich zu den Männern, und sie kochten mehrere Tage hintereinander üppige Mahlzeiten aus geröstetem Maisbrot und Bachsaiblingen und Wildbretragouts über einem großen Feuer, das sie Tag und Nacht kniehoch brennen ließen. Sie spülten das Essen mit allen Arten von Maisschnaps, Apfelbrand und dickflüssigem Honigwein herunter, so dass etliche von ihnen von einer Morgendämmerung bis zur nächsten betrunken darniederlagen.
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Bald darauf war eine Gruppe Cherokee-Indianer aus Cove Creek mit einer Herde magerer, scheckiger Kühe unbestimmter Rasse von der anderen Seite des Kammes her heraufgekommen. Die Indianer hatten ihr Lager ganz in der Nähe aufgeschlagen und dann hohe Kiefern gefällt und daraus Tore gebaut und Grenzlinien für ihr tückisches Ballspiel abgesteckt. Swimmer, ein sonderbarer Junge mit großen Händen und weit auseinanderstehenden Augen, war herübergekommen und hatte die Gruppe aus Catalooch eingeladen mitzuspielen, wobei er dunkel andeutete, dass es bei dem Spiel manchmal Tote gebe. Inman und ein paar andere nahmen die Herausforderung an. Sie schnitten und spalteten grüne Schößlinge, um sich daraus Schläger zu machen, die sie mit schmalen Fellstreifen und Schnürsenkeln bespannten. Die beiden Gruppen kampierten vierzehn Tage lang nebeneinander, wobei die jüngeren Männer den größten Teil des Tages mit Ballspielen verbrachten und hohe Wetten auf die Ergebnisse abschlossen. Es war ein Wettkampf ohne feste Spielzeit und mit wenigen Regeln, in dem sie einfach umherrannten und aufeinander eindroschen und mit den Schlägern wie mit Keulen herumschlugen, bis eine Mannschaft durch Treffer mit dem Ball gegen die Torpfosten eine bestimmte Punktzahl erzielt hatte. Sie spielten fast den ganzen Tag und verbrachten anschließend die halbe Nacht saufend und Geschichten erzählend am Lagerfeuer und verdrückten dazu riesige Mengen kleiner Bachsaiblinge, knusprig gebraten, mitsamt Gräten und Eingeweiden. Dort droben im Hochland blieb das Wetter die meiste Zeit klar. Es lag weniger Dunst in der Luft als anderswo, und der Blick erstreckte sich über zahllose Ketten blauer Berge, die mit zunehmender Entfernung immer blasser wurden, bis die letzten Ketten nicht mehr vom Himmel zu unterscheiden waren. Es schien, als wäre die ganze Welt aus nichts als Tälern und Gebirgszügen zusammengesetzt. In einer Spielpause hatte Swimmer seinen Blick über die Formen der Landschaft
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schweifen lassen und gesagt, er glaube, der Cold Mountain sei der höchste Berg der Welt. Inman fragte ihn, woher er das wissen wolle, und Swimmer machte eine weitausholende Geste über den Horizont bis zu dem Punkt, wo der Cold Mountain stand, und fragte: Siehst du vielleicht 'nen größeren? Am Morgen war die Luft auf der kahlen Höhe stets sehr frisch, und über den Tälern lag Nebel, so dass die Bergspitzen wie isolierte spitze blaue Inseln in einem blassen Meer daraus hervorragten. Wenn Inman erwachte, noch immer halb betrunken, stieg er in ein kleines Tal hinab, um dort mit Swimmer eine oder zwei Stunden lang zu angeln, bis sie sich auf den Rückweg machten, um das Spiel zu beginnen. Sie saßen an dem rauschenden Bergbach, Grashüpfer und Köcherfliegenlarven an den Angelhaken. Swimmer redete pausenlos und mit so leiser Stimme, dass sie mit dem Rauschen des Wassers verschmolz. Er erzählte Geschichten von Tieren, davon, wie sie so geworden waren, wie sie sind. Woher das Opossum seinen unbehaarten Schwanz hatte, das Eichhörnchen seinen buschigen Schwanz. Der Hirsch sein Geweih. Der Silberlöwe seine Reißzähne und Krallen, die Uktena ihren Giftzahn und die Fähigkeit, sich aufzurollen. Geschichten, die erklärten, wie die Welt entstanden war und wohin sie ging. Swimmer erzählte auch von Zauberformeln, die er gerade lernte, um damit erwünschte Ziele zu verwirklichen. Er erklärte, wie sich Unglück, Krankheit und Tod herbeiführen ließen, wie Böses durch Feuer vergolten werden könne, wie ein Mann, der nachts allein unterwegs war, zu schützen sei und wie man es bewerkstelligte, dass einem ein zurückzulegender Weg kurz erscheine. Eine Anzahl von Zauberformeln betraf die Seele. Swimmer kannte ein paar Methoden, mit denen man die Seele eines Feindes töten konnte, und viele Methoden, die eigene zu schützen. In seinen Zauberformeln schien die Seele ein schwaches Ding, das unablässig Angriffen ausgesetzt war, dem es ständig an Stärke mangelte und das immer in Gefahr war, im Innern des Menschen abzusterben. Für Inman war diese Vorstellung
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ungemein trostlos, hatte man ihm doch in Predigten und Kirchenliedern den Glauben beigebracht, dass die Seele unsterblich sei. Während Inman den Geschichten und Zauberformeln lauschte, die Swimmer mit einer Stimme erzählte, die beruhigend war wie das Geplätscher des Baches, behielt er die Stelle im Auge, wo seine Angelleine in die Strömung eintauchte. Wenn sie einen Sack voll Saiblinge gefangen hatten, machten sie Schluß und liefen zurück, um den restlichen Tag mit ihren Schlägern aufeinander einzudreschen, sich gegenseitig herumzustoßen und zu schubsen und Schläge einzustecken. Nach etlichen Tagen setzte schlechtes Wetter ein, und das keineswegs zu früh, denn beide Gruppen waren völlig erschöpft, verkatert und durchgeprügelt. Einige von ihnen hatten gebrochene Finger und Nasen, etliche hatten Fleischwunden davongetragen. Alle waren von den Schlägern vom Knöchel bis zur Hüfte grün und blau geschlagen. Die Männer aus Catalooch hatten an die Indianer alles verloren, was sie entbehren konnten, aber auch einige Dinge, die unentbehrlich waren – Bratpfannen und Bratentöpfe, Säcke mit Maismehl, Angelruten, Gewehre und Pistolen. Inman hatte eine ganze Kuh verloren und hatte keine Ahnung, wie er das seinem Vater beibringen sollte. Er hatte sie Stück für Stück verwettet, Punkt um Punkt. Hatte in der Hitze des Gefechts gesagt: Ich wette das Lendenstück der Färse da drüben, dass wir den nächsten Punkt machen. Oder: Alle Rippen auf der linken Seite meiner Wettkuh, dass wir gewinnen. Als sich die beiden Gruppen trennten, war Inmans Färse zwar noch immer auf den Beinen, doch mehrere Cherokee hatten Anspruch auf ihre diversen Teilstücke. Als Entschädigung und zum Andenken hatte Swimmer Inman jedoch einen schönen Schläger aus Hickoryholz geschenkt, in dessen Bespannung aus Eichhörnchenleder Fledermausschnurrhaare eingeflochten waren. Swimmer behauptete, der Schläger würde seinem Benutzer die
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Geschwindigkeit und den Listenreichtum einer Fledermaus verleihen. Und durch die Schwalben-, Falken- und Reiherfedern, mit denen er geschmückt war, erklärte Swimmer, würden sich die Charaktereigenschaften dieser Tiere – elegantes Kreisen, Aufsteigen und Niederstoßen, eiserne Beharrlichkeit – ebenfalls auf Inman übertragen. Nicht alles davon war eingetreten, aber Inman hoffte, dass Swimmer nicht unter denen war, die gegen die Unionisten kämpften, sondern in einer Hütte aus Baumrinde an einem rauschenden Bach lebte. Drinnen im Wirtshaus stimmte jemand eine Geige; Gezupfe und Probestriche drangen nach draußen, dann ein langsamer und unsicherer Versuch, die Volksweise Aura Lee zu spielen, jeweils nach ein paar Noten von unbeabsichtigten Quietschern und Heultönen unterbrochen. Doch das erbärmliche Gefiedel konnte der schönen und vertrauten Weise nichts anhaben, und Inman fand, dass sie schmerzlich jung klang, geradezu als ließe die Notenfolge des Liedes es nicht zu, sich eine düstere und verworrene und beschnittene Zukunft vorzustellen. Er führte die Kaffeetasse an den Mund, merkte, dass sie kalt und fast leer war und stellte sie wieder ab. Er starrte in sie hinein und beobachtete, wie der dunkle Satz im verbliebenen Rest Flüssigkeit versank. Die schwarzen Teilchen wirbelten durcheinander, versammelten sich zu einem Muster und setzten sich. Ihm fiel ein, dass es üblich war, aus Kaffeesatz, Teeblättern, Schweinegedärmen oder Wolkenformationen die Zukunft vorherzusagen. Als könnte ein Muster etwas Wissenswertes verraten. Er gab der Tasse einen Stoß, um den Bann zu brechen, und ließ seinen Blick über die Straße schweifen. Hinter einer Reihe junger Bäume ragte das Kapitol, das Regierungsgebäude, empor, ein beeindruckendes Bauwerk aus Steinquadern mit einem Kuppeldach. Es war nur eine Spur dunkler als die hohen Wolken, durch die die graue Scheibe der bereits nach Westen hinabsinkenden Sonne schien. In dem Dunstschleier wirkte das Kapitol unglaublich hoch, ein Bauwerk so riesig wie eine mittelalterliche Festung. Gardinen
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wehten aus den offenen Bürofenstern und flatterten im Wind. Über der Kuppel kreiste ein dunkler Ring von Geiern am austernfarbenen Himmel, deren lange fransige Federn an den stumpfen Flügelspitzen gerade noch erkennbar waren. Solange Inman sie beobachtete, schlugen die Vögel kein einziges Mal mit den Flügeln, stiegen aber dennoch stetig höher, indem sie sich von einer aufsteigenden Luftsäule tragen ließen, segelten höher und höher hinauf, bis sie nur noch kleine schwarze Striche am Himmel waren. Im Geist verglich Inman die Kreisbahnen des Geierflugs mit dem sich zu einem Muster versammelnden Kaffeesatz in seiner Tasse. Aus den zufälligen Formen, die sich bilden, wenn Dinge aufeinandertreffen, konnte jeder wahrsagen. Es war ganz einfach, Vorhersagen zu machen, wenn man von der Vorstellung ausging, dass die Zukunft unweigerlich schlechter sein würde als die Vergangenheit und dass die Zeit ein Pfad ist, der zu nichts anderem hinführt als zu einem Ort großer und ständiger Gefahr. Wenn man so etwas wie Fredericksburg als Markierung der gegenwärtigen Position nahm, durfte es nach Inmans Ansicht bei dem Tempo, in dem die Menschen voranmarschierten, nicht mehr lange dauern, bis sie sich gegenseitig roh auffraßen. Ferner glaubte Inman, dass Swimmers Zauberformeln recht hatten, wenn sie davon ausgingen, dass die Seele eines Menschen entzweigerissen werden und erlöschen konnte, während der Körper weiterlebte. Körper und Seele konnten unabhängig voneinander getötet werden. Er selbst war ein Beispiel dafür, und vielleicht gar kein seltenes, denn, es schien, als wäre seine Seele so gut wie ausgebrannt, und er konnte gleichwohl noch laufen. Wobei er sich allerdings so hohl fühlte wie der Kern eines großen Tupelobaumes. Und verunsichert. Denn seine jüngsten Erfahrungen hatten in ihm die Befürchtung geweckt, dass die bloße Existenz des HenryStutzens oder des Eprouvette-Mörsers im Handumdrehen alles Gerede über die Seele zu etwas Gestrigem machte. Seine Seele, so fürchtete er, war weggesprengt worden, so dass er
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sich den Menschen um ihn herum entfremdet hatte und einsam geworden war wie ein trauriger alter Reiher, der sinnlos am Rand eines Teiches im Schlick wacht, obwohl es dort keine Frösche gibt. Es schien ein schlechter Tausch, wenn die einzige Möglichkeit, den Tod nicht mehr zu fürchten, darin bestand, stumpf und isoliert durchs Leben zu gehen, als wäre man bereits tot, dieweil von einem selbst kaum mehr übrig war als ein Haufen alter Knochen. Während Inman grübelnd dasaß und seinem verlorenen Selbst nachtrauerte, kam ihm plötzlich eine äußerst plastische Erinnerung an eine Geschichte Swimmers vom Flussufer, die ihm sehr verlockend erschien. Swimmer hatte behauptet, dass sich jenseits des blauen Himmelsgewölbes ein von einer göttlichen Rasse bewohnter Wald befinde. Die Menschen könnten nicht dorthin gelangen und dort wohnen, doch könnte in dem Land da droben die Seele wiedergeboren werden. Swimmer beschrieb es als ein weit entferntes und unzugängliches Reich, in dessen unterste Region jedoch die dunklen Gipfel der höchsten Berge hineinragten. Manchmal gelangten Zeichen und Wunder, große wie auch kleine, von jener Welt in die unsere. Die Boten, so hatte Swimmer gesagt, seien vornehmlich Tiere. Inman hatte Swimmer darauf hingewiesen, dass er den Cold Mountain sowie den Pisgah und den Mount Sterling bis zum Gipfel erstiegen habe. Es gebe keine Berge, die viel höher seien als diese, aber er habe von ihren Gipfeln kein höheres Reich erblickt. — Hochklettern allein reicht nicht, hatte Swimmer gesagt. Inman konnte sich zwar nicht erinnern, ob Swimmer ihm gesagt hatte, was noch dazugehörte, um jenes heilsame Reich erreichen zu können, doch in ihm war plötzlich die Vorstellung geweckt, dass der Cold Mountain der Ort sei, an dem all seine zersprengten Kräfte sich wieder zusammenfinden könnten. Inman hielt sich nicht für abergläubisch, doch er glaubte an die Existenz einer uns unsichtbaren Welt. Er hielt diese mittlerweile nicht mehr für den Himmel, und er glaubte auch nicht mehr daran, dass wir
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dorthin gelangen, wenn wir sterben. Diese Lehren waren ihm ausgebrannt worden. Doch er konnte sich nicht mit einer Welt abfinden, die nur aus dem für ihn Sichtbaren bestand, vor allem, da das Sichtbare so häufig abscheulich war. Folglich hielt er an der Vorstellung einer anderen Welt, eines besseren Ortes, fest, und er glaubte, den Cold Mountain genausogut als deren Standort betrachten zu können wie jeden anderen Berg. Inman zog seinen neuen Rock aus und hängte ihn über die Stuhllehne. Dann begann er, einen Brief zu verfassen. Es war ein langer Brief, und während der Nachmittag verstrich, leerte er noch manche Tasse Kaffee und schwärzte mehrere Briefbögen auf Vorder- und Rückseite mit Tinte. Auf einmal stellte er fest, dass er Einzelheiten über den Krieg erzählte, die er eigentlich nicht hatte erzählen wollen. An einer Stelle hieß es: Die Erde war mit Blut getränkt, und wir konnten sehen, wo das Blut auf die Felsen geflossen war und wo blutige Hände an Baumstämmen Abdrücke hinterlassen hatten ...
Er hielt inne, knüllte das Geschriebene zusammen und begann auf einem neuen Blatt von vorn, so dass unter anderem folgendes zu lesen war: Ich werde auf dem einen oder anderen Wege nach Hause kommen, und ich bin mir nicht sicher, wie die Dinge zwischen uns stehen. Ich hatte eigentlich die Absicht, Dir in diesem Brief zu erzählen, was ich getan und gesehen habe, damit Du Dir vor meiner Rückkehr ein Urteil über mich bilden kannst. Doch dann merkte ich, dass man für diese Geschichte eine Seite beschreiben müsste, die so groß wäre wie der blaue Himmel, und dazu habe ich weder den Willen noch die Energie. Erinnerst Du Dich an den Abend kurz vor Weihnachten, als ich Dich in der Küche neben dem Herd auf den Schoss nahm und Du mir sagtest, Du würdest am liebsten immer dort sitzen bleiben und Deinen Kopf an meine Schulter lehnen? Inzwischen habe ich die bittere Gewißheit in meinem Herzen, dass Du Dich, wüßtest Du, was ich gesehen und getan habe,
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fürchten würdest, dergleichen noch einmal zu tun.
Inman lehnte sich zurück und ließ seinen Blick über den Rasen vor dem Kapitol schweifen. Eine Frau in einem weißen Kleid, ein kleines Päckchen in der Hand, eilte über das Gras. Eine schwarze Kutsche fuhr die Straße zwischen dem Kapitol und der roten Backsteinkirche entlang. Eine Windbö wirbelte über der Fahrbahn Staub auf, und Inman bemerkte, dass der Nachmittag bereits weit fortgeschritten war und das schräg einfallende Licht den nahenden Herbst ankündigte. Er spürte, wie die Brise durch eine Falte in seinem Verband drang und die Wunde an seinem Hals streifte, die in dem Luftzug zu schmerzen begann. Inman erhob sich, faltete den Brief zusammen und legte seine Hand an den Kragen, um die verkrustete Wunde zu betasten. Die Ärzte behaupteten, dass die Heilung jetzt schnell voranschreite, doch er hatte noch immer das Gefühl, an dieser Stelle einen Stock hineinstecken und zur anderen Seite wieder herauspressen zu können, ohne dabei auf größeren Widerstand zu stoßen als bei einem faulenden Kürbis. Beim Sprechen und beim Essen schmerzte die Wunde noch immer, manchmal auch beim Atmen. Beunruhigend waren auch die sich bei feuchter Witterung meldenden, tiefsitzenden Schmerzen von der Hüftwunde, die er sich vor Jahren in Malvern Hill zugezogen hatte. Alles in allem gaben ihm seine Verletzungen ausreichend Grund zu bezweifeln, dass er jemals wieder völlig genesen und sich wieder heil und unversehrt fühlen würde. Als er die Straße hinunterging, um den Brief aufzugeben, und auch auf dem Weg zurück zum Krankenhaus fühlten sich seine Beine allerdings erstaunlich kräftig und willig an. Als Inman den Krankensaal betrat, fiel ihm sofort auf, dass Balis nicht an seinem Tisch saß. Auch sein Bett war leer. Die dunkle Brille lag auf seinem Papierberg. Inman erkundigte sich nach ihm und erfuhr, dass Balis am Nachmittag gestorben sei, einen ruhigen Tod. Er sei grau im Gesicht gewesen und sei von seinem Tisch aufgestanden, um sich ins Bett zu legen. Er habe sich auf die Seite gedreht und zur Wand gesehen und sei
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einfach eingeschlafen. Inman ging zu den Manuskripten hinüber und blätterte darin. Am Kopf der ersten Seite stand, dreimal unterstrichen, das Wort Fragmente. Die Arbeit schien ein heilloses Durcheinander zu sein. Die Schrift war krakelig, eng und dünn. Es war mehr Durchgestrichenes und Ausschraffiertes zu sehen als Unkorrigiertes. Hin und wieder war eine ganze Zeile deutlich zu lesen, aber auch dann meistens kein ganzer Satz, sondern nur ein Bruchstück eines Satzes. Während Inman die Seiten durchblätterte, sprang ihm die folgende Äußerung ins Auge: Wir bezeichnen manche Tage als schön und andere als scheußlich, weil wir nicht merken, dass alle Tage ihrem Charakter nach identisch sind. Inman fand, er würde lieber sterben, als sich dieser Einstellung anzuschließen, und es stimmte ihn traurig, dass Balis offenbar seine letzten Tage damit vergeudet hatte, die Ergüsse eines Narren zu entziffern. Doch dann stieß er auf eine Zeile, die ihm sinnvoller schien: Die vermeintlich perfekteste Ordnung auf der Erde ist nichts als ein Haufen willkürlich zusammengefegten Kehrichts. Dem, fand Inman, konnte er zustimmen. Er begradigte den Stoß Papier, indem er die Blätter auf der Tischplatte aufstieß, und legte sie an ihren Platz zurück. Nach dem Abendessen überprüfte Inman die Gepäckstücke unter seinem Bett. Zu der bereits in seinem Tornister befindlichen Decke und der gewachsten Zeltbodenplane steckte er die Tasse, den kleinen Topf und das Fahrtenmesser. Der Brotbeutel war bereits seit längerem mit Trockenkeksen, etwas Maismehl, einem Stück gepökelten Schweinefleischs und einem kleinen Stück getrockneten Rindfleischs gefüllt, Dinge, die er dem Krankenhauspersonal abgekauft hatte. Er saß am Fenster und beobachtete, wie sich der Tag dem Ende näherte. Der Sonnenuntergang war beunruhigend. Unten am Horizont zogen sich niedrige graue Wolken zusammen, doch als die sinkende Sonne die Horizontlinie erreichte, fand sie ein Loch in den Wolken und schoss einen Lichtstrahl von
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der Farbe heißer Hickorykohlen senkrecht nach oben. Der Strahl war röhrenförmig und scharf umrandet wie ein Gewehrlauf und ragte volle fünf Minuten steil in den Himmel auf, ehe er jäh erlosch. Die Natur, so war sich Inman wohl bewusst, lenkt zuweilen die Aufmerksamkeit der Menschen auf ihre besonderen Phänomene und fordert sie auf, diese zu deuten. Dieses Zeichen wies jedoch beim besten Willen auf nichts anderes als Zwietracht, Gefahr und Leid. An diese Dinge brauchte er nicht gemahnt zu werden, und folglich tat er das Schauspiel als vergeudete Mühe ab. Er stieg ins Bett und zog die Decke hoch. Müde davon, den ganzen Tag in der Stadt herumgelaufen zu sein, las Inman nur einen kurzen Moment, ehe er einschlief, während draußen noch der Abend dämmerte. Irgendwann tief in der Nacht wachte er auf. Der Saal war schwarz, und die einzigen Geräusche waren die von atmenden, schnarchenden und sich in den Betten herumwälzenden Männern. Vom Fenster her schimmerte nur ein schwaches Licht, und Inman konnte das helle Funkeln des zum westlichen Horizont herabsinkenden Jupiter erkennen. Eine Brise wehte durch die Fenster herein, und die Papierseiten des toten Balis fingen auf dem Tisch an zu rascheln, ein paar wellten sich nach hinten und stellten sich fast senkrecht auf, so dass sie im schwachen Licht vom Fenster schimmerten wie zwergenhafte Geister, die gekommen waren, um zu spuken. Inman erhob sich und streifte sich seine neuen Kleider über. Er steckte seinen zusammengerollten Bartram zu den anderen Sachen in den Tornister, dann schnallte er sich die Gepäckstücke um, trat an das große, geöffnete Fenster hin und sah hinaus. Es herrschte die Dunkelheit des Neumonds. Nebelbänder schlängelten sich tief über der Erde, obwohl der Himmel droben klar war. Er setzte einen Fuß auf die Fensterbank und stieg aus dem Fenster.
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Die Erde unter ihren Händen
Ada saß auf der Veranda des Hauses, das nun ihr gehörte, ein tragbares Schreibpult auf dem Schoss. Sie tauchte die Spitze einer Feder in Tinte und schrieb: Dies musst Du wissen: dass ich die glückliche Beziehung zwischen uns trotz Deiner langen Abwesenheit noch immer in einem Licht sehe, das es mir unmöglich macht, jemals auch nur einen einzigen Gedanken vor Dir verheimlichen zu wollen. Lass Dich nicht von solchen Ängsten plagen. Du sollst wissen, dass ich es für unsere beiderseitige Pflicht und Schuldigkeit halte, uns einander mit vollkommener Offenheit und Ehrlichkeit mitzuteilen. Lass uns dies stets mit unverschlossenen Herzen tun.
Sie blies auf das Blatt, damit es trocknete, und überflog mit kritischem Blick, was sie geschrieben hatte. Ihr mißfiel ihre Handschrift, denn wie sehr sie sich auch bemühte, wollten ihr die schwungvollen Schnörkel und Bögen der feinen Schreibkunst einfach nicht gelingen. Die Buchstaben, die ihre Hand hartnäckig formte, waren dagegen eckig und hölzern wie Runen. Mehr noch als ihre Schrift mißfiel ihr der Tenor des Briefes. Sie knüllte das Blatt zusammen und schleuderte es in einen Buchsbaum. — Das ist bloß das übliche Gerede, und hat mit dem, was wirklich ist, nichts zu tun, sagte sie laut. Sie blickte über den Hof hinweg zum Küchengarten hin, in dem die Bohnen-, Kürbis- und Tomatenpflanzen Früchte trugen, die kaum mehr als daumengroß waren, obwohl der Höhepunkt der Wachstumsphase überschritten war. Viele
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Blätter waren bis auf die Rippen von Insekten und Würmern abgefressen. Zwischen den Beetreihen standen höher als die Gemüsepflanzen dicht an dicht Wildkräuter, deren Namen Ada nicht kannte und die zu bekämpfen sie weder die Energie noch die Lust hatte. Jenseits des mißratenen Gartens erstreckte sich das ehemalige Maisfeld, das jetzt schulterhoch mit Kermesbeerensträuchern und Sumachgewächsen zugewuchert war. Hinter den Feldern und Weiden wurden, während sich der Morgennebel auflöste, allmählich die Berge sichtbar. Ihre blass am Horizont erkennbaren Umrisse glichen eher Schattenbildern als tatsächlichen Bergen. Ada blieb sitzen und wartete darauf, dass sie eine klare Gestalt annahmen. Sie versprach sich eine tröstliche Wirkung davon, etwas sehen zu können, das so war, wie es sein sollte, denn es quälte sie, dass alles andere in ihrem Blickfeld Zeichen der Vernachlässigung trug. Seit der Beerdigung ihres Vaters hatte Ada auf dem Hof kaum eine Hand gerührt. Sie hatte wohl die Kuh gemolken, die Monroe ohne Beachtung ihres Geschlechts Waldo getauft hatte, und Ralph, das Pferd, gefüttert. Aber viel mehr hatte sie nicht getan, denn sie wusste in den meisten Fällen nicht, wie sie es hätte anstellen sollen. Die Hühner, die sich ihr Futter jetzt selbst suchen mussten, waren mager und scheu geworden. Die Hennen hatten den kleinen Hühnerstall verlassen und schliefen nun auf Bäumen und legten ihre Eier, wo immer es ihnen gerade einfiel. Ada ärgerte sich, dass sie nicht imstande waren, sich für einen Nistplatz zu entscheiden. Sie musste jeden Schlupfwinkel des Hofes nach den Eiern absuchen, deren Geschmack ihr, seit die Hennen statt Speiseresten nur noch Insekten fraßen, eigenartig vorkam. Die Ernährung war für Ada zu einem drängenden Problem geworden. Sie war ständig hungrig und hatte sich den ganzen Sommer fast ausschließlich von Milch, Spiegeleiern, Salaten und Tellern voll winziger Tomaten von den ungepflegten Stöcken ernährt, die zu dichten Büschen mit vielen Nebentrieben herangewachsen waren. Selbst zum
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Buttermachen hatte sie sich als untauglich erwiesen, denn der Rahm, den sie zu schlagen versucht hatte, war nie fester geworden als labbrige Dickmilch. Sie sehnte sich nach einer Schüssel Hühnerfleisch, nach Knödeln und Pfirsichkuchen, doch sie hatte nicht die geringste Ahnung, wie man dergleichen zustande brachte. Ada warf einen letzten Blick auf die fernen, noch immer blassen Berge, dann erhob sie sich, um auf Eiersuche zu gehen. Sie suchte das wilde Unkraut am Zaun zum Feldweg ab, bog die hohen Gräser am Fuße des Birnbaumes im Hof neben dem Haus auseinander, wühlte im Krimskrams auf der hinteren Veranda herum, tastete die staubigen Regale im Geräteschuppen ab. Sie fand nichts. Ihr fiel ein, dass sich eine rote Henne in letzter Zeit manchmal bei den großen Buchsbäumen zu beiden Seiten der Vordertreppe herumtrieb. Sie ging zu dem Busch hinüber, in den sie den Brief geworfen hatte und versuchte, das dichte Blattwerk auseinanderzubiegen und hineinzuspähen, konnte jedoch in dem Dunkel nichts erkennen. Sie wickelte sich ihre Röcke eng um die Beine und arbeitete sich auf Händen und Knien ins Innere des Buchsbaumes vor. Seine Äste kratzten beim Vorwärtskriechen über ihre Unterarme, ihr Gesicht und ihren Hals. Die Erde unter ihren Händen war ausgedörrt und mit Hühnerfedern, altem Hühnermist und den harten, vertrockneten Blättern des Busches übersät. Im Inneren befand sich eine Höhlung. Die dichten äußeren Äste waren nur eine Schale, die einen Hohlraum einer kleinen Kammer gleich umschloß. Ada setzte sich hinein und suchte den Boden und die Zweige nach Eiern ab, fand jedoch nur eine zerbrochene Schale, in deren einer gezackten Hälfte vertrocknetes, rostfarbenes Eigelb klebte. Sie machte es sich zwischen zwei Ästen bequem und lehnte sich mit dem Rücken an den Stamm. Die Buchsbaumlaube roch durchdringend und scharf nach Hühnern und nach Erde. Die darin herrschende Dunkelheit erinnerte sie an Kinderspiele in Höhlen, die sie gebaut hatten,
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indem sie Leintücher über Tische gehängt oder Teppiche über Wäscheleinen zu Zelten drapiert hatten. Das beste waren die Tunnel gewesen, die sie mit ihrer Cousine Lucy auf der Farm ihres Onkels tief in die Heuhäufen gegraben hatte. Ganze verregnete Nachmittage hatten sie darin gemütlich und geschützt wie die Füchse in ihrem Bau verbracht und einander Geheimnisse zugeflüstert. Mit der gleichen freudigen Erregung wie damals und mit abgeschnürtem Atem wurde ihr bewusst, dass sie jetzt ebenso versteckt war wie einst und dass keiner, der vom Hoftor zur Veranda ging, merken würde, dass sie hier drinnen war. Wenn eine der Damen ihrer Kirchengemeinde einen Pflichtbesuch machte, um sich nach ihrem Wohlergehen zu erkundigen, konnte sie reglos hier sitzen bleiben, während die Frau ihren Namen rief und an die Tür klopfte. Sie würde erst lange, nachdem sie den Riegel am Hoftor hatte zuklappen hören, herauskommen. Doch sie rechnete gar nicht damit, dass jemand kam. Die Besuche hatten angesichts der Gleichgültigkeit, mit der sie auf sie reagiert hatte, allmählich aufgehört. Ada blickte ein wenig enttäuscht zu dem schwach durch das Blattwerk hindurchschimmernden blassblauen Himmel auf. Sie wünschte, es würde zu regnen anfangen, damit sie sich noch geborgener fühlen könnte, während die Blätter über ihr zu rascheln begannen. Wenn sich ab und zu ein Tropfen den Weg durch die Zweige bahnte und beim Auftreffen auf der Erde einen winzigen Krater hinterließ, würde das nur um so deutlicher machen, dass es da draußen heftig regnete, während sie hier drinnen im Trockenen saß. Ada wünschte sich, diesen herrlichen Unterschlupf niemals verlassen zu müssen, denn bei dem Gedanken, wie sehr sich ihre Lage mittlerweile zugespitzt hatte, fragte sie sich, ob es wohl einen Menschen gab, der durch seine Erziehung schlechter als sie auf die Anforderungen vorbereitet worden war, die ein ungeborgenes Leben stellte. Sie war in Charleston aufgewachsen, und Monroe hatte
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darauf bestanden, dass sie eine gründlichere Schulbildung erhielt, als es für Mädchen allgemein für ratsam erachtet wurde. Sie war ihm eine kenntnisreiche Begleiterin geworden, eine lebhafte und aufmerksame Tochter. Sie war voll von Ansichten zu Kunst, Politik und Literatur und jederzeit bereit, die Vorzüge ihrer Positionen zu vertreten. Doch welcher echten Fertigkeiten konnte sie sich rühmen? Welcher Gaben? Einer recht ordentlichen Kenntnis der französischen und lateinischen Sprache. Einiger Grundkenntnisse in Griechisch. Einem passablen Geschick für feine Handarbeiten. Einer hinreichenden, wenn auch nicht herausragenden Beherrschung des Klaviers. Der Fähigkeit, Landschaften und Stilleben mit Bleistift wie in Aquarell naturgetreu wiederzugeben. Und sie war belesen. Dies waren die Fähigkeiten, mit denen sie aufwarten konnte. Keine einzige davon schien von wirklichem Nutzen angesichts der harten Realität, dass sie nun Besitzerin von annähernd dreihundert Morgen Hoch- und Tiefland war, einem Haus, einer Scheune sowie Nebengebäuden, aber nicht die geringste Ahnung hatte, was sie damit anstellen sollte. Es machte ihr Freude, Klavier zu spielen, aber nicht genügend Freude, um sich über ihre jüngste Erkenntnis hinwegzutrösten, dass sie nicht imstande war, das zwischen den Bohnenreihen wuchernde Traubenkraut zu jäten, ohne dabei die Hälfte der Bohnenpflanzen auszureißen. Es befiel sie ein leichter Groll bei dem Gedanken, dass ihr ein paar praktische Kenntnisse auf dem Gebiet der Nahrungs mittelherstellung und Essenszubereitung gegenwärtig besser zustatten kamen als die feinsinnige Kenntnis der perspektivischen Gesetze beim Malen. Ihr Vater hatte sie jedoch ihr Leben lang von ernsthafter Arbeit verschont. Soweit sie zurückdenken konnte, hatte er stets geeignete Hilfskräfte eingestellt, manchmal freigelassene Sklaven, manchmal landlose Weiße von gutem Charakter, manchmal Sklaven, deren Löhne dann direkt an ihre Besitzer gezahlt wurden. Den Großteil der sechs Jahre, die sie nun in den Bergen lebten,
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hatte Monroe einen weißen Mann und seine Frau, eine Cherokee-Mestizin, eingestellt, um die Farm zu verwalten, während Ada nicht viel mehr zu tun geblieben war, als den wöchentlichen Speiseplan aufzustellen. Folglich hatte sie ihre Zeit wie zuvor mit Lesen und Handarbeiten, mit Zeichnen und Musizieren verbringen können. Doch nun waren die Arbeitskräfte fort. Der Mann war von den Sezessionsbestrebungen nicht sonderlich begeistert gewesen und hatte sich glücklich geschätzt, dass er zu alt war, um sich in den ersten Kriegsjahren freiwillig zu melden. In diesem Frühjahr, als die Divisionen in Virginia hoffnungslos unterbesetzt gewesen waren, hatte er jedoch Angst bekommen, dass man ihn womöglich bald einziehen würde. Und kurz nach Monroes Tod hatten sich seine Frau und er dann unversehens über die Berge fortgemacht, um die Grenze zu dem von den Unionisten besetzten Territorium zu überqueren, und Ada sich selbst überlassen. Seitdem hatte sie erkennen müssen, dass sie erschreckend schlecht darauf vorbereitet war, sich selbst zu versorgen und allein auf einer Farm zu leben, die ihr Vater mehr um der Idee als um des Unterhalts willen geführt hatte. Monroe selbst hatte nie viel Interesse für die vielen eintönigen Teilbereiche der Landwirtschaft entwickelt. Er war der Ansicht gewesen, dass es unnötig sei, mehr anzupflanzen als sie an Zuckermais zum Rösten brauchten, wenn er es sich leisten konnte, Futtermais und Maismehl zu kaufen. Wenn es Schinken und Koteletts zu kaufen gab, warum sollte er sich dann mit den weniger angenehmen Teilen des Schweins abgeben? Ada hatte einmal mitbekommen, wie er seinem Lohnarbeiter auftrug, etwa ein Dutzend Schafe zu kaufen und sie zu der Milchkuh auf die Weide vor dem Hof zu stellen. Der Mann hatte Einwände erhoben und Monroe darauf hingewiesen, dass es nicht gut sei, wenn Kühe und Schafe zusammen auf einer Weide seien. Wozu wollen Sie Schafe? hatte der Mann gefragt. Wegen der Wolle? Dem Fleisch? — Wegen der Atmosphäre, hatte Monroes Antwort gelautet.
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Doch es war schwer, von Atmosphäre zu leben, und so schien der Buchsbaum fast den einzigen Schutz zu bieten, mit dem Ada in nächster Zeit rechnen konnte. Sie beschloss, den Busch nicht zu verlassen, ehe sie nicht mindestens drei überzeugende Gründe nennen konnte, warum sie das tun sollte. Nach mehreren Minuten Überlegung war ihr jedoch nur ein einziger Grund eingefallen: dass sie nicht besonders erpicht darauf war, im Bauch des Buchsbaums zu sterben. In diesem Augenblick kam die rote Henne durch das Blattwerk gestürzt, die Flügel halb geöffnet und auf der Erde schleifend. Sie hüpfte auf einen Ast neben Adas Kopf und be gann aufgeregt zu gackern. Ihr auf dem Fuße folgte der große schwarzgoldene Hahn, der Ada wegen seiner Wildheit nie ganz geheuer war. Er war darauf aus, die Henne zu begatten, blieb aber vor Überraschung, Ada an einem so unerwarteten Ort zu sehen, abrupt stehen. Er stellte seinen Kopf schief und glotzte sie aus einem glänzenden schwarzen Auge an. Er machte einen Schritt zurück und scharrte auf dem Boden. Er war so nahe, dass Ada den zwischen den Schuppen seiner gelben Beine sitzenden Schmutz erkennen konnte. Seine bernsteinfarbenen Sporne schienen lang wie Finger zu sein. Die goldene Federhaube auf Kopf und Hals plusterte und stellte sich auf, wobei sie glänzte, als wäre sie mit Makassaröl eingerieben. Er schüttelte sich, damit die Federn sich wieder glattlegten. Die schwarzgefiederten Körperpartien hatten einen blaugrünen Schimmer wie auf Wasser schwimmendes Öl. Sein gelber Schnabel ging auf und zu. Wenn er hundertfünfzig Pfund wöge, würde er mich mit Sicherheit auf der Stelle töten, dachte Ada. Sie setzte sich auf und kniete sich hin, fuchtelte mit den Händen und rief: Sch! Daraufhin stürzte sich der Hahn auf ihr Gesicht, wobei er in der Luft eine Drehung vollführte, so dass er sie mit den Spornen zuerst traf, während seine Flügel heftig flappten. Ada riss eine Hand hoch, um ihn abzuwehren, doch der Sporn ritzte sie quer über das Handgelenk. Der Vogel wurde von dem Schlag zu Boden geschleudert, rappelte sich
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wieder hoch und ging abermals auf sie los, die Flügel fächerförmig ausgebreitet. Als sie wie ein Krebs seitlich aus dem Busch herauszukrabbeln begann, stieß der Hahn mit einem Sporn nach ihr und blieb damit in den Falten ihres Rockes hängen. Wild um sich schlagend, stürzte sie unter dem Busch hervor und richtete sich auf, um davonzurennen, während der Hahn noch immer in Kniehöhe an ihrem Rock hing. Der Vogel pickte nach ihren Waden, stieß wiederholt mit dem Sporn seines freien Fußes zu und schlug mit den Flügeln nach ihr. Ada hieb mit der flachen Hand auf ihn ein, bis er von ihr abfiel, dann rannte sie zur Veranda und ins Haus. Sie sank in einen Sessel und untersuchte ihre Wunden. Ihr Handgelenk war blutverschmiert. Sie wischte das Blut ab und stellte erleichtert fest, dass sie nur eine leichte Schramme davongetragen hatte. Sie begutachtete ihren Rock, der staubig, mit Hühnerkot verschmiert und an drei Stellen eingerissen war. Sie hob ihn hoch und besah sich ihre Beine. Sie hatten einige Kratzer und Bißwunden abbekommen, aber keine davon war so tief, dass sie blutete. Ihr Gesicht und ihr Hals brannten von den Schrammen, die sie sich beim Herauskrabbeln aus dem Busch zugezogen hatte. Sie betastete ihr Haar und befand, dass es völlig verstrubbelt war. Soweit ist es also mit mir gekommen, dachte sie. Ich lebe in einer neuen Welt, in der eine harmlose Suche nach Eiern mich so zurichtet. Sie erhob sich aus dem Sessel und ging hinauf in ihr Zimmer, um sich umzukleiden. Sie füllte die auf der Marmorplatte ihres Waschtischs stehende Schüssel mit Wasser aus dem Krug und wusch sich mit einem Stück Lavendelseife und einem Waschlappen. Dann fuhr sie sich mit den Fingern durch ihr Haar, um die Buchsbaumblätter herauszuklauben, und ließ es dann einfach offen über die Schultern fallen. Sie hatte aufgehört, ihr Haar nach einer der zwei derzeit üblichen Moden zu frisieren – entweder ringsum zusammengenommen und zu zwei großen Schlaufen gefaßt, die zu beiden Seiten eines Frauenkopfes herabhingen wie Hundeohren, oder straff zurückgekämmt und am Hinterkopf zu einem Knoten gedreht,
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der aussah wie der gestutzte Schwanz eines Pferdes. Sie hatte es nicht mehr nötig und auch keine Geduld mehr, sich ihre Haare umständlich hochzustecken. Es war gleichgültig, ob sie aussah wie eine Meduse auf einem Exlibris, denn manchmal sah sie eine Woche oder zehn Tage lang keine einzige Menschenseele. Sie trat an ihre Kommode, um sich frische Unterkleidung herauszuholen, fand aber keine, da sie schon seit längerem nichts mehr gewaschen hatte. Sie zog sich Wäsche an, die sie ganz unten aus dem Berg schmutziger Wäsche herauszog, weil sie sich vorstellte, dass diese mit der Zeit vielleicht frischer geworden war als jene, die sie gerade ausgezogen hatte. Nachdem sie ein einigermaßen sauberes Kleid darüber gestreift hatte, fragte sie sich, wie sie die Stunden bis zur Schlafenszeit herumbringen sollte. Wann hatte sie aufgehört, sich Gedanken darüber zu machen, wie sie den Tag angenehm und nutzbringend verbringen könnte, anstatt sich lediglich zu fragen, wie sie ihn herumbringen sollte? In ihr war so gut wie aller Tatendrang erloschen. Monroes persönliche Habe durchzusehen, seine Kleider und Papiere zu sichten, war das einzig Nennenswerte, was sie in den Monaten seit seinem Tod vollbracht hatte. Und selbst das hatte sie große Überwindung gekostet, denn das Zimmer ihres Vaters war ihr irgendwie unheimlich gewesen, und sie hatte es erst viele Tage nach der Beerdigung zu betreten gewagt. In dieser Zeit hatte sie indessen häufig an der Tür gestanden und hineingeblickt, so wie Menschen sich magisch vom Rand einer Klippe angezogen fühlen und hinabblicken. Das Wasser in dem Krug an seinem Waschtisch war von selbst verdunstet. Irgendwann hatte sie schließlich allen Mut zusammengenommen und war hineingegangen, hatte sich auf das Bett gesetzt und weinend die gediegenen weißen Hemden, die schwarzen Jacketts und die Hosen zur Aufbewahrung zusammengelegt. Sie hatte Monroes Papiere sortiert und beschriftet und in Schachteln verstaut, seine Predigten, seine botanischen Aufzeichnungen und seine Notizbücher. Bei jeder dieser kleinen Aufgaben war
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sie erneut von Trauer übermannt worden, und danach hatte sie tagelang eine innere Leere empfunden, bis sie schließlich einen Zustand erreicht hatte, in dem die Antwort auf die Frage: Was hast du heute zustande gebracht? unweigerlich lautete: Nichts. Ada nahm ein Buch von ihrem Nachttisch und begab sich damit in die obere Diele. Dort setzte sie sich in einen Polsterstuhl, den sie aus Monroes Schlafzimmer herausgezogen und an eine Stelle geschoben hatte, an der sie so viel wie möglich von dem durch das Dielenfenster einfallenden Licht abbekam. In den letzten drei feuchten Monaten hatte sie die meiste Zeit lesend in dem Stuhl verbracht und sich zum Schutz gegen die selbst im Juli in dem Haus herrschende Kälte in eine Decke gewickelt. Die Bücher, die sie in diesem Sommer aus den Regalen gezogen hatte, waren bunt gemischt und zufällig gewählt gewesen, vorwiegend Romane neueren Datums und alles, was ihr in Monroes Studierzimmer eben so in die Hände fiel. Triviales wie Sword and Gown von Lawrence und ähnliches. Dergleichen konnte sie lesen und einen Tag später schon vergessen haben, welchen Inhalts sie gewesen waren. Wenn sie an anspruchsvollere Lektüre geraten war, hatten die harten Schicksale der Heldinnen nur dazu geführt, dass sich ihre Schwermut noch verstärkte. Eine Zeitlang hatte ihr jedes Buch, das sie aus dem Regal zog, Furcht eingeflößt, denn sie hatten sämtlich von todunglücklichen, dunkelhaarigen Frauen gehandelt, die aufgrund irgendwelcher Verfehlungen ihr Dasein als Bestrafte., Ausgestoßene und Fremdlinge fristeten. Im Anschluß an die Lektüre von George Eliots Die Mühle am Fluß hatte sie eine kurze, aufwühlende Erzählung von Hawthorne mit einer ähnlichen Thematik gewählt. Monroe hatte sie offensichtlich nicht zu Ende gelesen, denn vom dritten Kapitel an waren die Seiten noch nicht aufgeschnitten. Ada vermutete, dass Monroe das Buch als unnötig grausam empfunden hatte, doch Ada erschien es als eine gute Vorbereitung auf ihr zukünftiges Dasein. Ganz gleich, welches
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Buch sie in die Hand nahm, die Charaktere schienen ausnahmslos ein erfüllteres Leben zu führen als sie selbst. Zunächst schätzte sie an ihrer Leseecke allein den bequemen Stuhl und das gute Licht, doch im Laufe der Monate gefiel es ihr auch, wie der Ausblick, den das Fenster ihr bot, den Alpdruck, den sie nach solch düsteren Geschichten verspürte, zu mildern vermochte, denn wenn sie von der Buchseite aufsah, schweifte ihr Blick über die Felder und Welle um Welle nebelverhangener Höhenzüge hinauf bis zum blauen Massiv des Cold Mountain. Die Aussicht von ihrem Lesestuhl konfrontierte sie mit allen Formen und Farben, die ihrer gegenwärtigen Lage entsprachen. Fast den ganzen Sommer über war die Stimmung der Landschaft düster und schwermütig gewesen. Die durch das Fenster hereinwehende feuchte Luft war geschwängert vom Geruch von Fäulnis und wucherndem Wachstum und hatte für das Auge eine ähnlich glasige Konsistenz wie das Bild, das sich bei einem Blick durch das Fernrohr in eine große Entfernung bietet. Die Feuchtigkeit in der Luft hatte auf das Sehvermögen die gleiche Auswirkung wie eine Linse schlechter Qualität – sie verzerrte, vergrößerte und verkleinerte Entfernung und Höhe, veränderte ständig die Proportionen. Ada war durch das Fenster ein Kursus über die vielfältigen Formen sichtbarer Feuchtigkeit erteilt worden – dünne Nebelschleier, dichte Talnebel, Wolkenfetzen, die wie Lappen auf den Schultern des Cold Mountain hingen, grauer Regen, der den ganzen Tag in Streifen niederging, als hingen alte Zwirnsfäden vom Himmel herab. Dieses wolkenverhangene, bucklige Land mögen zu lernen, war weitaus diffiziler, als sich etwa der Lieblichkeit Charlestons hinzugeben, wenn man in stiller Abendstunde die Battery entlang flanierte, die Insel mit Fort Sumter vor sich in der Ferne, hinter sich die weißen Villen und überall Fächerpalmen, deren Blattwerk in der Meeresbrise klackerte. Die Worte, die aus dieser schroffen Landschaft sprachen, waren nicht so gedämpft, waren rauher. Die Täler, die
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Höhenzüge und Gipfel wirkten verschlossen und unergründlich, eine ideale Gegend, um sich zu verstecken. Ada hatte auch an diesem Tag wieder ein Buch ihres Vaters vor sich liegen, eine Erzählung über das abenteuerliche Grenzerleben von Simms, einem aus Charleston stammenden Autor, mit dem Monroe persönlich bekannt gewesen und dem Ada einige Male begegnet war, wenn er von seiner Plantage am Edisto in die Stadt gekommen war. Ihre Erinnerung an Simms war durch den Brief eines Bekannten aus Charleston geweckt worden, den sie unlängst erhalten hatte und in dem er nebenbei erwähnte, wie sehr Simms unter dem kürzlichen Tod seiner Frau gelitten habe. Allein Opiate hätten ihn davor bewahrt, wahnsinnig zu werden, hatte ihr Freund geschrieben, und dieser Satz wollte Ada nicht aus dem Kopf gehen. Sie begann zu lesen, doch so spannend die Geschichte auch war, sie musste ständig ans Essen denken. Da ihre Suche nach Hühnereiern erfolglos verlaufen war, hatte sie noch immer nichts gefrühstückt, obwohl der Vormittag schon fast vergangen war. Nach wenigen Seiten steckte sie das Buch in eine Tasche ihres Kleides, ging hinunter in die Küche und durchstöberte die Speisekammer nach Zutaten, die sie in eine Mahlzeit verwandeln könnte. Sie verbrachte fast zwei Stunden damit, den Ofen anzufeuern und zu versuchen, einen Laib Weizenbrot mit Soda zum Aufgehen zu bringen, dem einzigen Treibmittel, das sie finden konnte. Das Brot, das sie schließlich aus dem Ofen zog, sah aus wie ein riesiges, auseinandergelaufenes Brötchen; die Kruste war hart und trocken, der Rest war klitschig und schmeckte nach rohem Mehl. Ada knabberte an einem Stück herum, gab es dann auf und warf den Laib in den Hof, damit die Hühner daran picken konnten. Ihr Mittagessen bestand aus einem Teller voll kleiner Tomaten und Gurken, die sie in Scheiben geschnitten, mit Essig beträufelt und mit Salz bestreut hatte. Obwohl sie ihr gut schmeckten, war sie hinterher so wenig satt, als hätte sie Luft geatmet. Ada ließ ihren schmutzigen Teller mit der benutzten Gabel
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auf dem Tisch stehen. Sie holte sich einen zusammengeknüllt auf dem Sofa liegenden Wollschal, schüttelte ihn aus und legte ihn sich um die Schultern. Dann ging sie auf die Veranda und schaute hinaus. Der Himmel war wolkenlos, aber so dunstig, dass ihr sein Blau ausgebleicht und dünn vorkam. Sie konnte den schwarzgoldenen Hahn unten bei der Scheune sehen. Er scharrte in der Erde, pickte an der Stelle herum, wo er gescharrt hatte, und stolzierte dann grimmig auf und ab. Ada ging vom Haus auf das Tor zu und trat hinaus auf den Feldweg. Er war in letzter Zeit so wenig benutzt worden, dass in der Wegmitte ein hoher Streifen aus Astern und Fuchsschwanzgras gewachsen war. Am Zaun längs des Weges standen Pflanzen mit winzigen gelben und orangefarbenen Blüten, und Ada ging hinüber, um eine davon zu berühren und zuzusehen, wie sie aufsprang und ihre Samen herausschleuderte. — Schleuderkraut, sagte sie laut – glücklich, etwas zu haben, das sie benennen konnte, auch wenn sie den Namen selbst erfunden hatte. Nachdem sie dem Weg eine Meile weit gefolgt war, ließ sie das Tal von Black Cove hinter sich und bog in die zum Fluss führende Straße ein. Im Vorbeigehen pflückte sie einen Strauß Wildblumen – alles, was ihr gerade ins Auge sprang –, Flohkraut, Engelwurz, Mädchenauge, Braunwurz. Am Fluss angekommen, schlug sie den Weg flussaufwärts ein, um zur Kirche zu gehen. Dieser führte sie die Hauptverkehrsstraße der Gemeinde entlang, die von Wagenspuren zerfurcht und von der intensiven Benutzung weit bis unter das Niveau des umgebenden Geländes abgetragen war. An tieferen Stellen hatten Pferde, Kühe und Schweine die Erde zu einem schwarzen, matschigen Morast gestampft, und dort hatten Fußgänger, die nicht bis zu den Stiefeloberkanten hatten einsinken wollen, neben der Straße Fußpfade ausgetreten. Die Bäume entlang der Straße trugen nun, gegen Ende der Saison, schwer an der grünen Last ihrer Blätter. Sie schienen des Wachstums müde, und ihre Zweige hingen tief, aber nicht von
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Wassermangel, denn der Sommer war nass gewesen, und der dunkle Fluss neben der Straße strömte tief und ruhig dahin. Eine Viertelstunde später war Ada bei der kleinen Kirche angelangt, in der Monroe Pfarrer gewesen war. Verglichen mit den prächtigen Steinkirchen in Charleston war sie architektonisch von der Primitivität einer Vogelfalle, doch ihre Proportionen – der Winkel des Giebeldachs, das Verhältnis von Länge, Breite und Höhe, die Stellung des einfachen Kirchturms – wirkten fraglos schlicht und elegant. Monroe hatte eine große Zuneigung für die Kirche entwickelt, deren strenge Geometrie gut mit seinem Hang zur Einfachheit harmonierte, den er in seinen späteren Jahre entwickelt hatte. Wenn er mit Ada vom Fluss her auf die Kirche zuging, hatte er häufig gesagt: So sieht es aus, wenn Gott zur hiesigen Bevölkerung spricht. Ada stieg die Anhöhe hinauf und ging um die Kirche herum zum Friedhof, wo sie sich vor Monroes Grab stellte. Auf der schwarzen Erde war noch kein dichter Grasteppich gewachsen. Das Grab war auch noch nicht mit einem Stein versehen, denn Ada hatte sich gegen die in dieser Gegend üblichen Grabsteine entschieden – flache Flussteine oder Eichenbretter, in die der Name und die Lebensdaten des Verstorbenen eingeritzt wurden. Statt dessen hatte sie in der Kreishauptstadt einen behauenen Granitstein bestellt, der aber noch immer nicht geliefert worden war. Sie legte die Blumen an das Kopfende des Grabes und entfernte den alten, inzwischen völlig verwelkten Strauß. Monroe war an einem Tag im Mai gestorben. Ada hatte sich am Spätnachmittag jenes Tages fertiggemacht, um mit einem Aquarellkasten und einem Bogen Papier eine Weile hinauszugehen und die gerade aufgegangenen Blüten eines Rhododendronbusches am unteren Bachlauf zu malen. Beim Verlassen des Hauses war sie bei Monroe stehengeblieben, der lesend in einem Liegestuhl mit gestreiftem Segeltuchbezug unter dem Birnbaum saß, und hatte ein paar Worte mit ihm gewechselt. Er hatte müde gewirkt und gesagt, er fühle sich so
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schlapp, dass er vermutlich über der Seite, die er gerade lese, einschlafen, werde. Er bat sie, ihn bei ihrer Rückkehr aufzuwecken, damit er nicht noch schlafe, wenn die abendliche Feuchtigkeit falle. Außerdem äußerte er noch die Befürchtung, soeben die Altersgrenze überschritten zu haben, wo er nicht mehr ohne Hilfe aus einem so niedrigen Stuhl hochkomme. Ada blieb nur eine knappe Stunde fort. Als sie über die Felder kommend den Hof betrat, sah sie Monroe ganz friedlich daliegen. Sein Mund stand offen. Sie glaubte, er schnarche, und nahm sich vor, ihn beim Abendessen damit aufzuziehen, dass er in aller Öffentlichkeit in einer so würdelosen Position dagelegen hatte. Sie ging hin, um ihn zu wecken, doch beim Näherkommen sah sie, dass seine Augen geöffnet waren und das Buch ins Gras gefallen war. Sie rannte die drei letzten Schritte und legte ihre Hand auf seine Schulter, um ihn zu schütteln, merkte jedoch sogleich, dass er tot war, denn das Fleisch unter ihrer Hand zeigte nicht die geringste Reaktion. Ada ging so schnell wie möglich Hilfe holen, nahm, teils rennend, teils gehend, die Abkürzung über den Bergkamm, die am Hof der Swangers in die Straße am Fluss mündete. Auf diesem Weg waren sie die nächsten Nachbarn. Sie gehörten der Kirchengemeinde ihres Vaters an, und Ada kannte sie seit ihren ersten Tagen in den Bergen. Atemlos und weinend erreichte sie ihr Haus. Ehe Esco Swanger seine Pferde anspannen und mit Ada auf der längeren Strecke entlang der regulären Straße zurückfahren konnte, brach von Westen her ein Regen los. Als sie Black Cove erreichten, begann es bereits zu dunkeln, und Monroe war nass wie ein Fisch und sein Gesicht mit Hartriegelblüten besät. Das Aquarell, das Ada unter dem Birnbaum fallen lassen hatte, war ein abstraktes Geschmier aus Rosa und Grün. Sie verbrachte die Nacht im Haus der Swangers, lag hellwach und mit tränenlosen Augen da und dachte lange, dass sie lieber vor Monroe gestorben wäre, obwohl sie im Grunde ihres Herzens wusste, dass die Natur eine bestimmte
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Reihenfolge bevorzugt: erst sterben die Eltern, dann die Kinder. Doch dies war eine harte, wenig tröstliche Ordnung, denn sie besagte, dass die glücklichen Überlebenden als Waisen zurückbleiben. Zwei Tage später hatte Ada ihren Vater auf der Kuppe oberhalb des Little East Fork, einem Flussarm des Pigeon River, begraben. Es war ein heiterer Morgen, und vom Cold Mountain wehte ein milder Wind herab, der alles in leichte Bewegung versetzte. Die Feuchtigkeit in der Luft war ausnahmsweise einmal gering, und alle Farben und Umrisse wirkten übernatürlich klar. Die kleine Kirche war mit den vierzig schwarzgewandeten Besuchern beinahe bis auf den letzten Platz besetzt. Der Sarg stand auf Sägeböcken vor der Kanzel, der Deckel war abgenommen. Monroes Gesicht war seit seinem Tod in sich zusammengefallen. Die an schlaffer Haut wirkende Schwerkraft hatte seine Wangen und Augenhöhlen einfallen lassen, und seine Nase wirkte spitzer und länger als zu Lebzeiten. Unter einem Lid, das einen Spalt offenstand, schimmerte das blasse Weiß des Augapfels hervor. Ada beugte sich zu dem Mann auf der gegenüberliegenden Seite des Mittelganges hinüber und flüsterte ihm mit vorgehaltener Hand etwas zu. Er erhob sich, kramte in seinen Taschen nach Kleingeld und zog zwei Kupfercents hervor. Er ging nach vorne und legte je eine Münze auf Monroes Augen, denn nur das leicht geöffnete Auge zu bedecken, hätte seltsam und piratenhaft ausgesehen. Der Trauergottesdienst war improvisiert gewesen, da es in der näheren Umgebung keinen weiteren ordinierten Pfarrer ihrer Glaubensrichtung gab. Und die Pfarrer der verschiedenen lokalen Baptistengemeinden hatten eine Beteiligung verweigert, als Vergeltung dafür, dass Monroe nicht hatte an einen Gott glauben wollen, dessen Geduld und Gnade strenge Grenzen hatte. Monroe hatte in der Tat gepredigt, dass Gott keineswegs war wie wir und nicht dazu neigte, zornig auf uns herumzutrampeln, bis unser Blut spritzte und sein weißes Gewand besudelte, sondern dass er mit müder, nachsichtiger
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Geduld auf die besten wie die schlechtesten Menschen herabsah. Folglich mussten sie sich mit den Reden einiger Männer aus der Gemeinde begnügen. Einer nach dem anderen waren sie zur Kanzel geschlichen und hatten mit gesenktem Kopf dagestanden, um die Versammelten nicht direkt anblicken zu müssen, vor allem nicht Ada, die in der ersten Bankreihe auf der Frauenseite saß. Ihr Trauerkleid, das sie am Vortag in dem grünlichen Schwarz der Schuppen eines Drachenkopfes eingefärbt hatte, verströmte noch den Geruch der Pflanzenfarben. In ihrem eisigen Schmerz war ihr Gesicht so weiß wie eine freigelegte Sehne. Die Männer sprachen unbeholfen von Monroes großer Gelehrtheit und seinen vielen anderen Qualitäten. Von dem leuchtenden Licht, das er seit seiner Ankunft aus Charleston über der Gemeinde verbreitet habe. Sie sprachen von seinen kleinen guten Taten und dem klugen Rat, mit dem er stets zur Stelle gewesen sei. Esco Swanger war einer der Redner gewesen, von etwas größerer Gewandtheit als die anderen, wenn auch nicht weniger nervös. Er sprach von Ada und ihrem schrecklichen Verlust, davon, wie sehr man sie hier vermissen würde, wenn sie in ihre Heimatstadt Charleston zurückkehrte. Wenig später standen sie dann am Grab, während der Sarg von sechs Männern der Gemeinde, die ihn zuvor von der Kirche dorthin getragen hatten, an Seilen hinabgelassen wurde. Als der Sarg in der Grube lag, stimmte einer der Männer ein letztes Gebet an, pries noch einmal Monroes Vitalität, seinen unermüdlichen Dienst an der Kirche und der Gemeinde, und merkte an, mit welch beunruhigender Plötzlichkeit ihn seine Kräfte verlassen hätten und er in den ewigen Schlummer des Todes gesunken sei. Er schien in diesen schlichten Ereignissen eine Botschaft für sie alle zu sehen, eine Lehre Gottes, die daran erinnern sollte, wie unberechenbar das Leben sei. Sie hatten alle dagestanden und zugesehen, wie das Grab zugeschaufelt wurde, doch Ada hatte mittendrin ihren Kopf
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abwenden und zur Flussbiegung hinübersehen müssen, um diesen Moment durchstehen zu können. Als die Erde auf dem Grab festgestampft und aufgehäuft wurde, wandten sich alle zum Gehen. Sally Swanger hatte Ada am Ellbogen gefaßt und die Anhöhe hinuntergeleitet. — Du bleibst so lange bei uns, bis du imstande bist, deine Rückkehr nach Charleston vorzubereiten, sagte sie. Ada blieb stehen und schaute sie an: Ich habe nicht vor, in nächster Zeit nach Charleston zurückzukehren, sagte sie. — Liebe Güte, sagte Mrs. Swanger. Wohin willst du denn dann? — Nach Black Cove, sagte Ada. Ich werde hierbleiben, zumindest eine Zeitlang. Mrs. Swanger starrte sie an, dann faßte sie sich wieder: Und wie willst du das schaffen? fragte sie. — Das weiß ich noch nicht genau, sagte Ada. — Du wirst heute nicht allein in dieses große düstere Haus zurückkehren. Iß mit uns zu Mittag und bleib so lange bei uns, bis du zurückgehen magst. Ada bedankte sich für das Angebot. Sie blieb drei Tage bei den Swangers und kehrte dann in das leere Haus zurück, angstvoll und allein. Nach drei Wochen harte sich die Angst ein wenig gelegt, doch Ada empfand das nur als einen schwachen Trost, denn dieses neue Leben schien ihr lediglich ein Vorgeschmack auf ihre Zukunft als alte Frau zu sein, die in Einsamkeit versank und spürte, wie ihre Kräfte immer mehr versiegten. Ada wandte sich von dem Grab ab, ging wieder hinunter zur Straße und beschloss dann, ihre Schritte flussaufwärts zu lenken und die Abkürzung nach Black Cove zu nehmen. Diese Strecke war nicht nur kürzer, sie hatte auch den Vorteil, dass sie bei der Post vorbeiführte. Und sie würde bei den Swangers hereinschauen können, die ihr vielleicht ein Mittagessen anboten. Unterwegs begegnete sie einer alten Frau, die ein rotbraunes Schwein und zwei Truthühner vor sich her trieb und mit einer
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Weidenrute traktierte, wenn sie vom Weg abkamen. Ein Stück weiter wurde sie von einem Mann überholt. Er ging schnellen Schrittes, vornübergebeugt, und trug eine Schaufel mit einem Haufen heißer, rauchender Kohlen vor sich her. Der Mann grinste und rief ihr, ohne anzuhalten, über die Schulter zu, dass ihm sein Feuer ausgegangen und er sich welches borgen gegangen sei. Dann traf Ada auf einen Mann, der vor einem Kastanienbaum stand, von dem ein schwerer Jutesack herabhing. Drei Krähen saßen hoch oben auf einem Ast und spähten stumm hinunter. Der Mann war von großer, kräftiger Statur und drosch mit dem abgebrochenen Stiel einer Hacke auf den Sack ein, dass der Staub nur so wirbelte. Dabei beschimpfte er ihn in einer Weise, als trüge er die Hauptschuld daran, dass er nicht in Ruhe und Zufriedenheit dahinleben konnte. Man hörte dumpfe Schläge, seine Atemzüge und sein Gegrummel sowie das Scheuern seiner Füße auf dem Boden, wenn er Halt suchte, um zu einem neuen Schlag auf den Sack auszuholen. Ada musterte ihn im Vorbeigehen, blieb dann stehen und ging zurück, um ihn zu fragen, was er da tue. Die Bohnen enthülsen, sagte er. Und er ließ sie wissen, dass er jede einzelne kleine Bohne da drinnen hasse. Dass er voll Haß gepflügt und gesät habe. Voll Haß die Pflanzen an den Stangen hochgeleitet, voll Haß die Reihen gejätet und voll Haß zugesehen habe, wie die Blüten Früchte ansetzten und wie sich Schoten bildeten und füllten. Dass er beim Pflücken jede einzelne Bohne, die seine Finger berührt hatte, verflucht und in einen Weidenkorb geschleudert habe, als hinge Dreck an seinen Händen. Das Dreschen sei der einzige Teil des gesamten Prozesses, der ihm Spaß mache, mehr noch, als die Bohnen zu essen. Als Ada bei der Mühle ankam, hatte sich der Nebel noch nicht ganz gelichtet, aber ihr Tuch wurde ihr dennoch zu warm. Sie streifte es ab, rollte es zusammen und klemmte es unter den Arm. Das Mühlrad drehte sich und ergoss seine Wasserladung sprühend und spritzend in den Mühlgraben. Als Ada ihre Hand an den Türpfosten legte, vibrierte das ganze
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Gebäude von dem Kreisen des Mühlrads, der Zahnräder, der Radwelle und den Mühlsteinen. Als sie den Kopf zur Tür hineinsteckte, musste sie fast schreien, um das Gequietsche und Geächze des Räderwerks zu übertönen: Mr. Peek? rief sie. Der Raum roch nach getrocknetem Mais, nach altem Holz, herabstürzendem Wasser und bemoostem Fluder. Drinnen war es dunkel, und das spärliche, durch die zwei kleinen Fenster und die Tür dringende Licht zeichnete dünne Strahlen in die mit Maismehlstaub erfüllte Luft. Der Müller kam hinter den Mühlsteinen hervor. Er rieb sich die Hände und wirbelte damit noch mehr Staub auf. Als er in das Licht der Tür trat, gewahrte Ada, dass sein Haar, seine Augenbrauen und die Haare an seinen Armen von blassgrauem Maisstaub überzogen waren. — Kommen Sie die Post holen? fragte er. — Wenn welche da ist. Der Müller ging hinüber in die Poststube, einen winzigen, provisorisch an die Getreidemühle angebauten Raum mit einem Pultdach. Er kam mit einem Brief heraus und musterte ihn dabei auf Vorder- und Rückseite. Ada steckte ihn zwischen die Seiten ihres Buchs, des Simms, in die Tasche und setzte ihren Weg zum Hof der Swangers fort. Sie fand Esco neben der Scheune. Er stand über ein Wagenrad gebeugt und versuchte gerade, mit dem Klüpfel einen Splint hineinzutreiben, den er aus einem Robinienzweig geschnitzt hatte. Als Ada von der Straße her auf ihn zukam, richtete er sich auf, legte den Hammer beiseite und lehnte sich, das oberste Pritschenbrett mit beiden Fäusten umklammernd, vorwärts an den Wagen. Seine Hände schienen sich von ihrer Härte und vom Farbton her kaum von den Holzbrettern zu unterscheiden. Sein Hemd war durchgeschwitzt, und beim Näherkommen sog Ada seinen Geruch ein, der dem feuchten Tonguts ähnelte. Esco war groß und hager, hatte einen extrem kleinen Kopf und einen dichten Haarschopf mit strohigen, grauen Haaren, die an einem Wirbel stachelig in die Höhe standen wie die Haube einer Meise. Froh über eine Ausrede, die Arbeit niederlegen zu können,
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begleitete er Ada durch das Gatter und über den Hof zum Haus. Esco hatte am Zaun eine Stange zum Festbinden von Pferden angebracht, und die Spitzen der Holzpfähle waren von gelangweilten Pferden zu ausgefaserten Hubbein abgenagt worden. Der Hof war kahl, sauber gefegt und ohne einen einzigen Busch oder ein Blumenbeet als Verzierung. Er enthielt nichts als ein halbes Dutzend großer Eichen und einen abgedeckten Brunnen, etwas ganz Neues in dieser Gegend des fließenden Wassers, denn der Ort, den sie sich zum Leben ausgesucht hatten, hieß No Creek Cove, Tal ohne Fluss. Das große Haus war einst weiß gestrichen gewesen, doch jetzt blätterte die Farbe in handtellergroßen Fetzen ab, so dass man momentan zu Recht sagen konnte, es gleiche einer scheckigen Stute, während es in nicht allzu ferner Zeit einfach nur noch grau sein würde. Sally saß auf der Veranda und fädelte Bohnen zum Trocknen auf. An dem Verandabalken über ihr waren bereits fünf lange Schnüre mit Schoten aufgespannt. Alles an Sallys Gesicht war rundlich, ihre Haut so klar und glänzend wie eine Talgkerze und ihr ergrauendes, mit Henna gefärbtes Haar von der gleichen Farbe wie der Streifen auf dem Rücken eines Maultiers. Esco schob Ada einen Sprossenstuhl hin und ging ins Haus, um sich ebenfalls einen zu holen. Dann machte er sich daran, Bohnen entzweizubrechen. Niemand sagte etwas von Mittagessen, und Ada blickte zu dem blassen Himmel empor. Zu ihrer Enttäuschung verriet ihr die Position des hellen Flecks, wo die Sonne stand, dass der Nachmittag schon halb verstrichen war. Die Swangers mussten das Mittagessen längst hinter sich haben. Sie saßen eine Weile schweigend da, während nichts zu hören war als das Knacken der Bohnen, das Geräusch, das entstand, wenn Sally mit der Nadel den Faden durch die Schalen zog, und das Ticken der Uhr auf dem Kaminsims im Haus, das klang, als klopfte jemand mit dem Fingerknöchel an eine Kiste. Esco und Sally arbeiteten gemächlich vor sich hin, von Zeit zu Zeit berührten sich ihre Hände, wenn beide
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gleichzeitig in den Bohnenkorb griffen. Ihre Bewegungen waren ruhig und bedächtig, sie gingen sanft miteinander um und faßten jede Schote an, als sei sie etwas sehr Empfindliches. Obwohl sie kein kinderloses Ehepaar waren, umgab sie noch immer ein romantischer Zauber, wie man ihn häufig bei Kinderlosen findet. Sie schienen die Phase der Verliebtheit nie richtig hinter sich gelassen zu haben. Ada empfand die beiden als ein liebevolles Ehepaar, ihr harmonisches Miteinander aber als nicht weiter bemerkenswert. Da sie ihr bisheriges Leben mit einem Witwer verbracht hatte, hatte sie keine rechte Vorstellung vom Eheleben und davon, welchen Tribut der tägliche Trott fordern mochte. Das erste Thema, dem sie sich zuwandten, war der Krieg. Die Aussichten schienen düster, nun, da die Unionstruppen an der nördlichen Grenze über die Berge gedrungen waren, und wenn man den Zeitungsberichten über den Stellungskrieg in Petersburg glauben konnte, war die Lage in Virginia verzweifelt. Weder Esco noch Sally machten sich mehr als ein vages Bild von dem Krieg, und es gab nur zwei Dinge, die sie mit Sicherheit wussten: dass sie grundsätzlich dagegen waren und dass Esco ein Alter erreicht hatte, in dem er auf dem Hof Hilfe brauchte. Aus diesen und vielen anderen Gründen wären sie froh, wenn der Krieg endlich vorbei wäre und sie ihre Söhne die Straße heraufkommen sähen. Ada erkundigte sich, ob sie irgend etwas von den Jungen gehört hätten, denn beide Söhne der Swangers waren Soldaten. Sie hatten jedoch seit vielen Monaten keine Nachricht von ihnen erhalten und wussten nicht einmal, in welchem Staat sie waren. Die Swangers waren von Anfang an gegen den Krieg und, wie viele Bewohner der Bergregion, bis vor kurzem im großen und ganzen den Unionisten wohlgesonnen gewesen. Doch inzwischen empfand Esco gegen beide Seiten Verbitterung und fürchtete sie nun, da die Truppen der Unionsstaaten eben jenseits der großen Berge im Norden aufmarschiert waren, beinahe gleichermaßen. Er mutmaßte, dass sie bald auftauchen
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würden, um nach Eßbarem zu suchen, und alles mitnehmen würden, was sie brauchen konnten, während die Einheimischen ohne einen Bissen zurückblieben. Er war kürzlich in der Kreisstadt gewesen, wo die Nachricht umgegangen war, dass Kirk und seine Blauröcke kurz hinter der Staatsgrenze bereits Raubzüge durchgeführt hätten. Sie seien im Morgengrauen über eine Familie hergefallen und hätten ihre Farm geplündert, jedes Tier gestohlen, das sie finden konnten, und alle Lebensmittel mitgenommen, die sie tragen konnten, und ehe sie abzogen, den Maisspeicher in Brand gesetzt. — Und so was will sich Befreier nennen, sagte Esco. Und unser eigener Haufen ist genauso schlimm, wenn nicht noch schlimmer. Teague und seine Miliz führen sich auf wie eine Räuberbande. Stellen ihre eigenen Gesetze auf, wie es ihnen gerade passt, und dabei sind sie nichts als Gesindel, das sich um den Kriegsdienst drücken will. Er habe gehört, dass die Miliz in der Mittagszeit auf dem Hof einer Familie eine Razzia durchgeführt hätte. Bei den Owenses aus der Gegend von Iron Duff. Teague habe behauptet, sie seien ausgewiesene Freunde der Nordstaatler und mutmaßliche Mitglieder der Red String Band, und sie aufgefordert, sämtliche in ihrem Besitz befindlichen Schätze herauszurücken. Zuerst nahmen sie das Haus auseinander, und dann stocherten sie mit ihren Säbeln im Hof herum, um Stellen aufzuspüren, an denen die Erde weich und frisch gegraben war. Sie schlugen erst den Mann, dann seine Frau. Dann hängten sie zwei Hühnerhunde nebeneinander auf, und als der Mann sich davon nicht beeindrucken ließ, banden sie seiner Frau die Daumen hinter dem Rücken zusammen und zogen sie an einem Seil, das sie über einen Ast geworfen hatten, in die Höhe. Zogen sie hoch, bis ihre Zehen gerade noch den Boden berührten. Doch der Mann sagte noch immer kein Wort, so dass sie seine Frau wieder abseilten und ihr einen Zaunpfahl auf die Daumen stellten, doch auch das ließ den Mann kalt. Die Kinder heulten, und die Frau lag auf dem Boden, die
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Daumen noch immer unter dem Zaunpfosten, und schrie, sie wisse, dass ihr Mann das Silberbesteck und den Rest der Goldmünzen versteckt habe, der ihnen nach den schweren Kriegszeiten noch geblieben sei. Sie wisse nicht, wo er die Sachen vergraben habe, sie wisse nur, dass er es getan habe. Sie flehte zuerst ihren Mann an, es zu verraten, dann flehte sie die Milizsoldaten um Gnade an. Als Owens sich darauf immer noch weigerte zu sprechen, bat sie die Männer, zuerst ihren Mann zu töten, damit sie wenigstens die Befriedigung hätte, zusehen zu können. Irgendwann sagte einer der Milizionäre, ein Junge namens Birch mit flachsblondem Haar, sie sollten jetzt vielleicht besser aufhören und gehen, doch Teague richtete eine Pistole auf ihn und sagte: Ich lasse mir nicht vorschreiben, wie ich Leute wie Bill Owens und seine Frau und die Jungen zu behandeln habe. Eher gehe ich zu den Unionisten, als dass ich in einem Land bleibe, wo ich solchen Leuten nicht austeilen kann, was sie verdienen. — Am Ende, sagte Esco abschließend, töteten sie niemanden, fanden aber auch das Silber nicht. Sie verloren einfach das Interesse und machten sich davon. Die Frau verließ Owens auf der Stelle. Zog mit den Kindern in die Stadt und lebt dort bei ihrem Bruder und erzählt die Geschichte jedem, der sie hören will. Esco saß eine Weile vornübergebeugt, die Unterarme auf den Knien und die Hände locker baumelnd, auf seinem Stuhl. Er sah aus, als prüfe er den Verandaboden oder den Zustand seiner Lederstiefel. Ada wusste aus Erfahrung, dass er, wenn er draußen wäre, jetzt zwischen seine Füße spucken und danach in augenscheinlicher Faszination auf den Fleck starren würde. — Ein blödsinniger Krieg ist das, fuhr er kurz darauf fort. Der Schweiß eines jeden Mannes kostet seinen Preis. Die dicken Baumwollbarone stehlen ihn Tag für Tag, aber irgendwann werden sie sich vielleicht wünschen, sie hätten ihre verdammte Baumwolle selbst abgehackt. Ich will nichts
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weiter, als dass meine Söhne heimkommen und das Land drüben im Tal bearbeiten, während ich auf der Veranda sitze und ihnen jedesmal, wenn die Uhr die nächste halbe Stunde schlägt, zubrülle: Gut gemacht. Sally nickte und sagte: M-hm, und damit schien das Thema beendet zu sein. Sie wandten sich anderen Dingen zu, und Ada hörte interessiert zu, wie Esco und Sally alle alten Zeichen dafür aufzählten, dass der kommende Winter hart sein würde. Grauhörnchen, die fieberhaft in Hickorybäumen herumrumorten, um Nüsse zu horten. Dicke Wachsschichten auf den wilden Holzäpfeln. Breite schwarze Streifen auf Raupen. Schafgarbe, die scharf nach fallendem Schnee roch, wenn man sie zwischen den Händen zerdrückte. Weißdornsträucher, beladen mit roten, wie Blut glänzenden Mehlbeeren. — Und andere Zeichen, sagte Esco. Schlechte. Er hatte gute und böse Omen aus der ganzen Gegend zusammengetragen. Bei Catalooch habe angeblich ein Maultier ein Junges zur Welt gebracht, in Balsam sei ein Schwein mit Menschenhänden geboren worden. Ein Mann aus Cove Creek habe behauptet, ein Schaf geschlachtet zu haben, unter dessen Innereien kein Herz zu finden gewesen sei. Jäger auf dem Big Laurel hätten geschworen, eine Eule gehört zu haben, die menschliche Laute von sich gab, und obwohl sie sich nicht auf den Wortlaut einigen konnten, bestätigten sie einvernehmlich, dass jedesmal, wenn die Eule sprach, zwei Monde am Himmel zu stehen schienen. Drei Jahre hintereinander seien die Wölfe im Winter ungewöhnlich angriffslustig gewesen und habe es im Sommer eine schlechte Kornernte gegeben. Dies alles deute auf schlechte Zeiten hin. Esco meinte, dass sich nun, obwohl sie bisher im wesentlichen von der Niedertracht des Krieges verschont geblieben seien, alsbald der Pfuhl durch die unteren Risse ergießen könnte, um sie alle mit seiner stinkenden Brühe zu überschwemmen. Es entstand eine Pause, dann fragte Sally: Bist du schon zu
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einer Entscheidung gekommen, was du tun wirst? — Nein, sagte Ada. — Du bist also noch nicht entschlossen, heimzukehren? fragte Sally. — Heimkehren? fragte Ada, einen Augenblick lang verwirrt, denn sie hatte den ganzen Sommer das Gefühl gehabt, kein Heim zu haben. — Nach Charleston, sagte Sally. — Nein. Ich bin noch nicht soweit, sagte Ada. — Hast du etwas aus Charleston gehört? — Bisher nicht, antwortete Ada. Aber ich vermute, dass in dem Brief, den ich gerade bei Mr. Peek abgeholt habe, die Vermögensfragen klargestellt sein werden. Er scheint vom Rechtsanwalt meines Vaters zu sein. — Hol ihn raus und sieh nach, was drinsteht, sagte Esco. — Ich traue mich nicht. Außerdem steht wahrscheinlich sowieso nichts weiter drin, als dass ich Geld zum Leben haben werde oder nicht. Es steht gewiß nicht drin, wo ich im nächsten Jahr sein oder was ich mit mir anfangen werde. Das sind die Fragen, die mich am meisten beschäftigen. Esco rieb sich grinsend die Hände: Ich bin vermutlich der einzige Mann im ganzen Bezirk, der dir diesbezüglich weiterhelfen kann, sagte er. Es wird behauptet, man kann, wenn man sich einen Spiegel vors Gesicht hält und nach hinten in einen Brunnen sieht, unten im Wasser seine Zukunft erkennen. Folglich fand sich Ada kurz darauf rückwärts über den vermoosten Brunnenrand gebeugt in einer Haltung wieder, die weder würdevoll aussah noch bequem war – den Rücken nach hinten gekrümmt, die Hüften vorgestreckt, die Beine breit auseinander in den Boden gestemmt, um das Gleichgewicht zu halten. Sie hielt sich einen Handspiegel so schräg vor das Gesicht, dass sie die Wasseroberfläche darin einfangen konnte. Ada hatte sich auf das Brunnenschauen als eine Art Experiment zum Kennenlernen lokalen Brauchtums eingelassen, und weil sie hoffte, damit ihre düstere Stimmung
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ein wenig heben zu können. Ihre Gedanken waren lange Zeit so unverhältnismäßig trübsinnig und rückwärtsgewandt gewesen, dass sie die Gelegenheit begrüßte, dieser Tendenz ein wenig gegenzusteuern, wieder nach vorne zu schauen und an die Zukunft zu denken, obwohl sie damit rechnete, am Grund des Brunnens nichts als Wasser zu sehen. Sie verschob die Füße, um auf dem festgestampften Hofboden besseren Halt zu finden und versuchte dann, in den Spiegel zu schauen. Der weiße Himmel über ihr war mit sonnendurchstrahltem Dunst überzogen und schimmerte ebenfalls wie eine Perle oder ein silberner Spiegel. Die dunklen Eichenblätter am Brunnenrand umrahmten den Himmel wie eine Verdopplung des Holzrahmens des Spiegels, in den Ada hineinsah, um dem Spiegelbild des unergründlichen Brunnens zu entlocken, was im Leben vor ihr liegen mochte. Das wäßrig glänzende Auge des Brunnens am Grund des schwarzen Schachts war wie ein zweiter Spiegel. Er reflektierte das Leuchten des Himmels und wirkte durch die Farnwedel, die zwischen den Steinen wuchsen, hier und da zum Rand hin ausgefranst. Ada versuchte, sich auf den Handspiegel zu konzentrieren, doch der helle Himmel dahinter lenkte ihren Blick immer wieder ab. Sie war von Licht und Schatten geblendet, von der verwirrenden Verdoppelung von Reflexionen und Rahmen. Alles kam aus zu vielen Richtungen, als dass sie es hätte erfassen können. Die verschiedenen Bilder überlagerten sich, bis sie ein verzweifeltes Schwindelgefühl überkam, so dass sie befürchtete, jeden Augenblick nach hinten kippen und kopfüber in den Brunnenschacht stürzen und darin ertrinken zu müssen, während ihr letzter Blick auf den Himmel hoch droben fallen würde – ein heller Kreis inmitten des Dunkels, nicht größer als ein Vollmond. Ihr drehte sich alles, und sie tastete mit ihrer freien Hand nach dem Brunnenrand, um sich daran festzuhalten. Doch dann wurde für einen kurzen Augenblick alles ruhig, und in dem Spiegel schien sich tatsächlich ein Bild abzuzeichnen. Es
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sah aus wie ein schlechter Lichtdruck. Die Details kaum erkennbar, schwach in den Kontrasten, grobkörnig. Was sie sah, war ein Kreis aus hellem Licht, der von Blättern umsäumt war. Möglicherweise die Andeutung einer abschüssigen, durch einen Korridor aus Bäumen hindurchführenden Straße. Im Zentrum des Lichts bewegte sich die schwarze Silhouette einer Gestalt, die aussah, als laufe sie, doch das Bild war zu unscharf, um erkennen zu können, ob sie näher kam oder sich entfernte. Doch wohin sie auch unterwegs sein mochte, irgend etwas an ihrer Körperhaltung deutete auf feste Entschlossenheit hin. Soll ich ihr folgen, oder soll ich warten, dass sie näher kommt? fragte sich Ada. Dann wurde ihr erneut schwindelig. Ihre Knie wurden weich, und sie sackte zu Boden. Eine Sekunde lang drehte sich alles um sie herum. Die Ohren klingelten, und in ihrem Kopf kreiste unaufhörlich die Melodie vom Wayfaring Stranger. Sie befürchtete, jeden Augenblick in Ohnmacht zu fallen, doch plötzlich hielt die sich drehende Welt an, und alles stand wieder still. Sie blickte zur Veranda hinüber, um festzustellen, ob jemand ihren Sturz bemerkt hatte, doch Sally und Esco waren selbstvergessen in ihre Arbeit vertieft. Ada rappelte sich hoch und ging zur Veranda. — Irgendwas gesehen? fragte Esco. — Nicht direkt, antwortete Ada. Sally warf ihr einen eindringlichen Blick zu, begann wieder, Bohnen aufzufädeln, änderte dann jedoch ihren Entschluß und sagte: Du siehst ganz blass aus. Ist dir nicht gut? Ada versuchte zuzuhören, vermochte ihre Gedanken aber nicht auf Sallys Stimme zu konzentrieren. Im Geist sah sie noch immer die schemenhafte Gestalt, und die trotzigen Verse des Liedes hallten weiter in ihren Ohren: Traveling through this world below. No toil, no sick nor danger in that fair land to which I go. Sie war sich sicher, dass die Gestalt wichtig war, konnte ihr aber kein Gesicht geben. — Hast du nun da unten im Brunnen was gesehen oder nicht? fragte Sally.
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— Ich bin mir nicht sicher, antwortete Ada. — Sie sieht ganz bleich aus, sagte Sally zu Esco. — Das ist nur so eine Geschichte, die sich die Leute erzählen, sagte Esco. Ich selbst habe immer mal wieder hineingeguckt, aber nichts gesehen. — Ja, sagte Ada. Da war nichts. Doch das Bild wollte ihr nicht aus dem Kopf gehen. Ein Wald. Ein Weg, der durch ihn hindurchführte. Eine Lichtung. Eine gehende Gestalt. Das Gefühl, dass sie folgen sollte. Oder warten. Die Uhr ließ vier Glockenschläge ertönen, die so stumpf und unmelodiös klangen wie Hammerschläge auf das eiserne Blatt einer Breithacke. Ada erhob sich, um heimzugehen, doch Sally forderte sie auf, sich wieder hinzusetzen. Sie streckte die Hand aus und befühlte Adas Wange. — Du bist ganz kalt. Hast du heute schon etwas gegessen? fragte sie. — Ja, habe ich, sagte Ada. — Bestimmt nicht viel, möchte ich wetten, sagte Sally. Komm mal mit, ich gebe dir etwas, das du mit heimnehmen kannst. Ada folgte ihr ins Haus. Es roch nach getrockneten Kräutern und Paprikaschoten, die an quer über den Hausflur gespannten Schnüren hingen, um einmal all die Saucen und Relishes, Pickles und Chutneys, für die Sally berühmt war, zu verfeinern. Über sämtlichen Kaminen, Türrahmen und Spiegeln hingen rote Bänder, und der Endpfosten des Treppengeländers in der Diele war wie das Ladenzeichen der Friseure spiralig mit roten und weißen Streifen angemalt. In der Küche nahm Sally ein Steingutgefäß mit Brombeerkompott, dessen Öffnung mit Bienenwachs versiegelt war, aus dem Schrank. Sie reichte es Ada und sagte: Das wird gut zu deinen Brötchen schmecken, die von heute mittag übrig sind. Ada bedankte sich, ohne Sally zu gestehen, dass sie gar keine Brötchen backen konnte. Draußen auf der Veranda lud sie Esco und Sally ein, doch einmal bei ihr
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vorbeizuschauen, wenn sie mit dem Wagen in der Gegend von Black Cove seien. Dann machte sie sich auf den Weg, ihr Umschlagtuch und den Topf mit dem Eingemachten in den Armen tragend. Der alte Fußpfad über den Bergkamm nach Black Cove zweigte knapp fünfhundert Meter hinter der Farm der Swangers von der Straße ab und führte steil bergan vom Fluss fort. Er verlief zunächst durch lichte Wälder mit nachgewachsenen Eichen, Hickorynußbäumen und Pappeln, während in Kammnähe Rottannen, Hemlocktannen und auch ein paar dunkle Balsamtannen wuchsen, die ungeschlagen und von gewaltiger Höhe waren. Kreuz und quer auf dem Boden lagen umgestürzte Bäume in verschiedenen Verfallsstadien. Ada kletterte ohne Unterlass bergan und stellte nach einer Weile fest, dass sie sich im Rhythmus der Melodie des Wayfaring Stranger bewegte, die ihr noch immer leise im Kopf herumging. Die trotzigen und aufmunternden Verse machten ihr zwar Mut, doch sie wagte trotzdem kaum, geradeaus zu schauen – aus Angst, plötzlich eine dunkle Gestalt vor sich auftauchen zu sehen. Als sie den Bergkamm erreichte, legte sie eine Pause ein und ließ sich auf einer Felsnase nieder, von der aus sie das hinter ihr liegende Flusstal überblicken konnte. Sie konnte den Fluss und die Straße ausmachen, und auf der rechten Seite – ein weißer Fleck in dem vorherrschenden Grün – die kleine Kirche. Sie wandte sich um und schaute in die andere Richtung – hinauf zum Cold Mountain, der blass und grau und unnahbar dastand, und hinunter nach Black Cove. Aus dieser Entfernung wirkten ihr Haus und ihre Felder keineswegs vernachlässigt. Die Felder sahen saftig und gepflegt aus. Und drumherum ihre Wälder, ihre Hügelketten, ihr Bach. Bei dem dschungelähnlichen Wachstumstempo, das in dieser Gegend herrschte, war ihr jedoch klar, dass sie Hilfe benötigen würde, wenn sie hierbliebe; andernfalls würden die Felder und der Hof bald mit Unkraut und Gestrüpp zuwuchern, bis das Haus
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in einem Dickicht versank, das so undurchdringlich war wie das von Rosengestrüpp umrankte Schloß von Dornröschen. Da sich alle arbeitsfähigen Männer im Krieg befanden, war es jedoch fraglich, ob sie eine taugliche Hilfskraft würde finden können. Ada saß da und fuhr mit ihren Augen die ungefähre Grenzlinie ihrer Farm ab. Als sie wieder am Anfangspunkt angelangt war, erschien ihr das so abgemessene Land als eine stattliche Portion der Erde. Wie es in ihren Besitz gekommen war, war ihr noch immer ein Rätsel, auch wenn sie jeden der Schritte, der sie dorthin geführt hatte, zu benennen wusste. Sie und ihr Vater waren vor sechs Jahren in die Berge gezogen, weil sie hofften, dass die Schwindsucht, die sich langsam über Monroes Lungen ausgebreitet hatte, bis er täglich ein halbes Dutzend Taschentücher mit Blut vollhustete, sich dort zurückbilden würde. Sein Arzt in Charleston, der darauf vertraute, dass frische, kühle Luft und körperliche Bewegung ihm aufhelfen würden, hatte ihm eine bekannte Kurklinik im Hochland empfohlen – mit einem vornehmen Speisesaal und therapeutischen Thermalquellen. Monroe jedoch behagte die Vorstellung eines ruhigen, beschaulichen Ortes, an dem es von reichen Leuten mit ihren vielfältigen Gebrechen wimmelte, überhaupt nicht. Er machte statt dessen eine Kirche seiner Konfession in den Bergen ausfindig, der ein Pfarrer fehlte – mit der Begründung, dass nützliche Arbeit von größerem therapeutischem Nutzen sei als stinkendes Schwefelwasser. Sie hatten sich unverzüglich auf den Weg gemacht und waren mit dem Zug bis nach Spartanburg gefahren, der Endstation im Nordwesten des Staates. In der rauhen, unmittelbar am Gebirgsrand gelegenen Stadt hatten sie mehrere Tage in einer Unterkunft, die sich Hotel nannte, Station gemacht, bis Monroe Maultiertreiber organisieren konnte, um ihre in Kisten verpackten Habseligkeiten über den Blue Ridge in das Städtchen Cold Mountain transportieren zu lassen. In diesen Tagen erwarb Monroe eine Kutsche und ein
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Pferd und hatte dabei, wie immer, wenn er einen Kauf tätigte, großes Glück. Er stieß zufällig auf einen Mann, der gerade dabei war, die schwarze Lackschicht eines nagelneuen, wunderschönen Einspänners auf Hochglanz zu polieren. Der Mann hatte zudem einen kräftigen Wallach, einen Apfelschimmel, zu verkaufen, der gut zu der Kutsche passte. Monroe nahm beides, ohne auch nur eine Sekunde zu feilschen, und zählte das Geld aus seiner Brieftasche in die gelblichen, schwieligen Hände des Wagners. Das dauerte eine Weile, doch danach besaß Monroe eine für einen Landpfarrer höchst schnittige Equipage. Mit dieser Ausstattung reisten sie ihrem Gepäck voraus, zunächst in die kleine Stadt Brevard, in der es kein Hotel, sondern nur eine Pension gab. Von dort brachen sie im blauen Licht der Stunde vor dem Morgengrauen auf. Es war ein schöner Frühlingsmorgen, und während sie die Stadt durchquerten, meinte Monroe: Man hat mir gesagt, wir müssten so gegen Abend in Cold Mountain sein. Dem Wallach schien der Ausflug Spaß zu machen. Er schritt munter aus und zog das leichte Gespann, dessen glänzende Speichen in den zwei hohen Rädern nur so surrten, in einem atemberaubenden Tempo hinter sich her. Den ganzen sonnigen Morgen hindurch ging es bergan. Die Fahrstraße war auf beiden Seiten durch überhängende Zweige und dichtes Unterholz verengt und schlängelte sich in einer endlosen Folge von Serpentinen ein enges Tal hinauf. Von dem blauen Himmel war zwischen den dunklen Hängen nur noch ein schmaler Streifen auszumachen. Sie überquerten zweimal hintereinander einen Oberarm des French Broad River und kamen einmal so dicht an einem Wasserfall vorbei, dass die kalte Gischt ihre Gesichter nass spritzte. Ada hatte außer den felsigen Alpen noch nie Berge gesehen und wusste nicht so recht, was sie von dieser ungewohnten, urwaldartigen Landschaft halten sollte, wo in jeder Felsspalte und auf jeder Klippe eine im kargen und sandigen Tiefland unbekannte Blattpflanze sproß. Die ausladenden Kronen von
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Eichen, Kastanien und Tulpenbäumen wuchsen zu einem Baldachin zusammen, der kein Sonnenlicht mehr hindurchließ. Azaleen und Rhododendren bildeten ein Unterholz, das so dicht war wie eine Steinmauer. Ebenfalls nicht ganz geheuer waren Ada die erbärmlichen und behelfsmäßigen Straßen. Verglichen mit den breiten und sandigen Landstraßen des Tieflands waren diese tief gefurchten Wege so primitiv, dass sie eher wie das Werk von umherstreifendem Vieh wirkten als von Menschenhand gebaut. Der Fahrweg wurde mit jeder Biegung schmaler, und Ada sah es kommen, dass er bald ganz enden würde und sie beide hilflos in dieser unwegsamen und undurchdringlichen Wildnis verloren wären, die aussah wie die Urlandschaft, die emporgeschossen war, als Gott zum ersten Mal das Wort Wald ausgesprochen hatte. Monroe hingegen war für einen Mann, der noch vor kurzem Blut gespuckt hatte, in höchst ausgelassener Stimmung. Er besah sich alles so gründlich, als hätte man ihn bei Androhung der Todesstrafe angewiesen, sich jede Bodenfalte und jede Grünschattierung einzuprägen. Immer wieder erschreckte er das Pferd, indem er plötzlich anhob, aus vollem Halse Verse von Wordsworth zu deklamieren. Als sie hinter einer Kurve an einer Stelle anhielten, von der aus man in der Ferne undeutlich das Tiefland ausmachen konnte, das sie eben verlassen hatten, rief er schallend aus: Die Erde hat nichts Schöneres aufzuweisen; wie stumpf muss eine Seele sein, die einen Anblick von so ergreifender Erhabenheit zu übersehen vermag. Als sich der Himmel am späten Nachmittag mit aufgewühlten, von einem Ostwind herbeigewehten Wolken überzog, machten sie an der Stelle, wo der Pfad Wagon Road Gap passierte, in einem Hain aus schwarzen Balsamtannen halt. Von dem Paß fiel der Weg beängstigend steil ab und folgte den herabstürzenden Fluten eines tosenden Armes des Pigeon River. Vor ihnen ragte das über sechstausend Fuß hohe Massiv des Cold Mountain auf, dessen Gipfel hinter dunklen,
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mit weißen Nebelbändern durchzogenen Wolken verborgen war. Zwischen dem Paß und dem Berg erstreckte sich wildes und zerklüftetes Gelände aus Steilabhängen und Schluchten. An diesem einsamen Fleck machte Monroe abermals eine Anleihe bei seinem Lieblingsdichter und rief: Der schaurige, herrlichen Schwindel erregende Anblick des schäumenden Baches, die unbehinderten Wolken und Himmelsregionen, Aufruhr und Frieden, die Dunkelheit und das Licht – alles schien wie das Werk eines einzigen Kopfes, wie die Züge eines einzigen Gesichts, wie Blüten an einem Baum, Visionen der großen Apokalypse, wie die Bilder und Symbole der Ewigkeit, von Anfang und Ende und jetzt und immerdar. Ada hatte Monroe lachend auf die Wange geküßt und dabei gedacht: Ich würde diesem alten Mann bis nach Liberia folgen, wenn er mich darum bitten würde. Dann musterte Monroe die düsteren Wolken und zog das zusammengefaltete Wagendach aus geöltem und gewachstem Segeltuch vor, das so schwarz und eckig auf seinem Gerippe saß wie der Flügel einer Fledermaus. Es knisterte ganz neu, als er es entfaltete. Er schnalzte mit den Zügeln, und der verschwitzte Wallach trabte weiter, froh, die Schwerkraft auf seiner Seite zu haben. Bald fiel der Weg jedoch derart steil ab, dass Monroe die Bremse anziehen musste, damit der Einspänner dem Pferd nicht an die Hinterbacken fuhr. Es begann zu regnen, und dann wurde es dunkel. Es schien kein Mond, und nirgends leuchtete Laternenlicht aus einem einladenden Heim. Der Ort Cold Mountain lag zwar vor ihnen, doch sie wussten nicht, wie weit es bis dorthin noch war. Sie fuhren weiter in die Dunkelheit hinein und verließen sich darauf, dass das Pferd nicht kopfüber über einen Felsvorsprung stürzen würde. Dass nicht einmal von Zeit zu Zeit eine einsame Hütte auftauchte, ließ darauf schließen, dass sie noch immer ein ordentliches Stück vom Ort entfernt waren. Die Strecke war offensichtlich falsch eingeschätzt worden. Der Regen fiel so schräg, dass er in ihre Gesichter klatschte
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und das Kutschendach kaum Schutz bot. Das Pferd ging mit hängendem Kopf im Schritt. Sie kamen an etlichen Abzweigungen vorbei, von denen keine einzige mit einem Wegweiser markiert war. Bei jeder Weggabelung entschied sich Monroe aufs Geratewohl für einen der beiden Wege. Weit nach Mitternacht machten sie an einer dunklen, auf einer Anhöhe oberhalb der Straße und eines Flusses stehenden kleinen Kirche halt. Sie liefen durch den Regen hinein und übernachteten darin, auf Kirchenbänken ausgestreckt, in ihren durchnässten Kleidern. Am nächsten Morgen herrschte Nebel, doch sein Leuchten verriet, dass er sich rasch auflösen würde. Monroe erhob sich steif und ging ins Freie. Ada hörte ihn lachen und dann sagen: Ihr Mächte dort droben, habt abermals Dank. Sie trat zu ihm. Er stand vor der Kirche und deutete grinsend auf eine Stelle über der Tür. Sie wandte sich um und las das Schild: Kirchspiel Cold Mountain. — Wir sind allen Widrigkeiten zum Trotz zu Hause angelangt, sagte Monroe. Ada hatte diese Äußerung damals mit großer Skepsis aufgenommen. All ihre Freunde in Charleston hatten die Ansicht vertreten, dass die Bergregion ein heidnischer Teil der Schöpfung sei, dessen Unkultiviertheit auf vielfältige Weise das Feingefühl verletze; eine wilde, düstere und regenreiche Gegend, die Mann, Frau und Kind ausmergelte und so brutalisierte, dass sie ihrem Hang zu rohen Gewalttaten ohne jede Selbstbeherrschung freien Lauf ließen. Nur Männer von gehobenem Rang könnten sich mit Unterwäsche anfreunden, und die Frauen gleich welcher Gesellschaftsschicht stillten ihre kleinen Kinder, statt wie zivilisierte Menschen die Dienste einer Amme in Anspruch zu nehmen. Adas Informanten hatten behauptet, dass die Bergbewohner in ihrer Lebensweise nur eine Stufe höher entwickelt seien als die Stämme umherziehender Wilder. Als Monroe in den ersten Wochen nach ihrer Ankunft gemeinsam mit ihr Mitglieder und potentielle Mitglieder seiner Gemeinde besuchte, stellte Ada fest, dass diese
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Menschen tatsächlich seltsam waren, wenn auch nicht genau auf die von ihren Charlestoner Bekannten beschriebene Weise. Sie waren bei ihren Besuchen überempfindlich und reserviert und einigermaßen undurchschaubar. Häufig benahmen sie sich so, als hätte man sie beleidigt, obwohl weder Ada noch Monroe hätten sagen können, womit. Viele Gehöfte wirkten wie Festungen. Nur die Männer kamen heraus auf die Veranda, um die beiden Besucher zu begrüßen, und manchmal wurden Monroe und Ada ins Haus gelassen, manchmal nicht. Ada fand es häufig sogar unangenehmer, hineingebeten zu werden, als verlegen draußen im Hof stehenbleiben zu müssen, denn die Häuser waren ihr unheimlich. Selbst an heiteren Tagen war es darin stockdunkel. Hatte das Haus Fensterläden, blieben sie geschlossen. Hatte es Vorhänge, blieben sie zugezogen. Sie waren von einem eigenartigen Geruch erfüllt, nicht gerade von Unsauberkeit, aber nach Gekochtem, nach Tieren und arbeitenden Menschen. Gewehre standen in den Ecken oder hingen an Haken über Kaminsimsen und Türen. Monroe redete und redete, stellte sich zunächst selbst vor, legte seine Ansichten über die Aufgaben seiner Kirche dar, erläuterte seine theologische Position und forderte die Leute auf, an seinen Gebetsversammlungen und Gottesdiensten teilzunehmen. Die Männer saßen derweil auf ihren Sprossenstühlen und glotzten ins Feuer. Viele von ihnen waren barfuß und streckten völlig ungeniert die Füße von sich. Sie verhielten sich geradezu, als wären sie allein. Sie starrten ins Feuer, ohne ein Wort zu sagen oder als Reaktion auf das, was Monroe sagte, auch nur einen Gesichtsmuskel zu verziehen. Wenn er sie mit einer direkten Frage konfrontierte, hockten sie da, sannen eine Ewigkeit darüber nach und antworteten manchmal in knappen, ausweichenden Sätzen. Meistens jedoch blickten sie ihn nur scharf an, als enthielte ihr Blick alle Auskunft, die sie zu geben gewillt waren. In den Häusern versteckten sich weitere Menschen. Ada konnte sie in den anderen Räumen rumoren hören, doch sie ließen sich nicht blicken. Sie vermutete, dass
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es sich dabei um Frauen, Kinder und alte Leute handelte. Man hatte den Eindruck, als fänden sie die Welt außerhalb ihres kleinen Tals so schrecklich, dass sie fürchteten, durch den geringsten Kontakt mit Fremden verunreinigt zu werden, und es für geraten hielten, jeden als Feind zu betrachten, der kein Blutsverwandter war. Wenn Ada und Monroe einen solchen Besuch hinter sich hatten, fuhren sie stets in rasantem Tempo davon, und während sie in ihrem Einspanner die Straße hinunter ratterten, beklagte Monroe die Ignoranz der Leute und entwickelte Strategien zu ihrer Bekämpfung. Ada nahm nur das Gesumm der Räder, die Geschwindigkeit ihres Rückzugs wahr und verspürte einen leisen Neid auf die Leute, die von allem unberührt schienen, was Monroe und sie wussten. Sie waren offenbar zu gänzlich anderen Ansichten über das Leben gekommen und lebten ausschließlich nach ihren eigenen Vorstellungen. Das größte Debakel in seiner Laufbahn als Missionar hatte Monroe später in jenem Sommer erlitten, und zwar mit Sally und Esco. Ein Gemeindemitglied namens Mies hatte Monroe erzählt, dass die Swangers unglaublich ungebildet seien. Mies zufolge konnte Esco kaum lesen. Seine Geschichtskenntnisse beschränkten sich angeblich auf Gottes erste Handlungen in der Schöpfungsgeschichte. Die Erschaffung des Lichts sei so ungefähr das letzte, wovon er Kenntnis habe. Sally Swanger, so hatte Mies behauptet, sei sogar noch unbedarfter. Sie hielten die Bibel alle beide für ein Zauberbuch und gingen damit um wie ein wahrsagender Zigeuner. Sie nähmen sie zwischen die Hände, ließen sie an einer beliebigen Stelle aufklappen, stießen blindlings mit einem Finger auf die Seite und versuchten dann, die Bedeutung des Verses, auf den der Finger zeigte, zu enträtseln. Sie faßten das Wort als Orakel auf und handelten danach, als wäre es ein direkter Befehl Gottes. Wenn Gott sagte, geht, gingen sie. Sagte er, verweilet, blieben sie. Sagte er, tötet, packte Esco das Beil und machte sich auf die Suche nach einem jungen Huhn. Ihrer Beschränktheit zum
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Trotz seien sie aber zwangsläufig wohlhabend, denn ihre Farm erstrecke sich über ein breites Stück Talboden mit so schwarzem und so fettem Boden, dass man dort Süßkartoffeln von der Länge eines Armes ernten könne, wenn man nur das Unkraut ein wenig in Schach halte. Sie würden gewiß nützliche Gemeindemitglieder abgeben, vorausgesetzt, Monroe gelänge es, sie ein wenig auf Vordermann zu bringen. Also hatte Monroe ihnen einen Besuch abgestattet, Ada an seiner Seite. Sie hatten alle in der Wohnstube gesessen, Esco vorgebeugt und die Arme auf die Knie gestützt, während Monroe versuchte, ihn in ein Gespräch über Glaubensdinge zu verwickeln. Doch Esco war nicht bereit gewesen, etwas von sich und von seinen Anschauungen preiszugeben. Monroe fand abgesehen von seiner Verehrung von Tieren, Bäumen, Felsen und dem Wetter keinerlei Anzeichen von Religiosität. Er kam zu dem Schluß, dass Esco ein alter, gestriger Kelte sein müsse, der das bisschen, was er zu denken imstande war, höchstwahrscheinlich auf Gälisch dachte. Eine solch einmalige Gelegenheit konnte sich Monroe nicht entgehen lassen, und so machte er sich daran, dem Mann die wichtigsten Inhalte der wahren Religion zu erklären. Als er auf die Heilige Dreifaltigkeit zu sprechen kam, wurde Esco munter und brummte: Drei in einem. Wie bei einem Truthahnfuß. Monroe war schließlich überzeugt, dass Esco tatsächlich noch nichts von dem zentralen Mythos seiner Kultur gehört hatte, und erzählte ihm daraufhin die Lebensgeschichte von Jesus, angefangen von der heiligen Geburt bis zu seinem blutigen Ende am Kreuz. Er ließ keine der allseits bekannten Einzelheiten aus, wobei er sich bemühte, sich einfach, aber so packend wie möglich auszudrücken. Als er geendet hatte, lehnte er sich zurück und wartete auf die Reaktion. — Und das soll vor einem Weilchen stattgefunden haben, sagten Sie? fragte Esco. — Vor zweitausend Jahren, falls Sie das als Weilchen bezeichnen möchten, sagte Monroe.
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— Na ja, das ist doch wohl eher eine lange Zeit, erwiderte Esco. Er blickte auf seine Hände, an die Stelle, wo sie von den Handgelenken herabbaumelten. Er krümmte und spreizte die Finger und beäugte sie dabei so kritisch, als überprüfe er die Beschläge eines neuen Werkzeugs. Er sann eine Weile über die Geschichte nach und sagte dann: Und dieser Bursche ist also runtergekommen, um uns zu erretten? — Ja, sagte Monroe. — Von unserer eigenen Schlechtigkeit und so weiter? — Ja. — Und trotzdem haben sie ihn so behandelt? Haben ihn festgenagelt und mit Messern verletzt und so weiter? — Ja, allerdings, sagte Monroe. — Aber Sie sagten doch, dass man sich diese Geschichte schon seit zweitausend Jahren erzählt, sagte Esco. — Beinahe. — Seit langer Zeit also. — Sehr langer Zeit. Esco grinste, als hatte er ein Rätsel gelöst, erhob sich und klopfte Monroe auf die Schutter, indem er sagte: Tja, dann bleibt uns nur die Hoffnung, dass sie nicht wahr ist. Als sie an jenem Abend wieder daheim gewesen waren, hatte Monroe Pläne gemacht, wie er es bewerkstelligen könnte, Esco die richtige Lehre nahezubringen, um ihn vor dem Heidentum zu erretten. Es kam Monroe keine Sekunde in den Sinn, dass er zum besten gehalten worden sein könnte und dass man ihm die Überzeugung, auf Unwissenheit zu treffen, bereits beim Betreten von Escos Hof so deutlich angesehen hatte, dass es zutiefst beleidigend gewesen war. Ebensowenig ahnte er natürlich, dass Esco, eine gutmütige Seele, schlichtweg Spaß daran gehabt hatte, Monroe eine ordentliche Portion der gesuchten Unwissenheit zu liefern, anstatt ihm die Tür vor der Nase zuzuschlagen, ihn mit einer Schüssel schmutzigen Fußwaschwassers zu übergießen oder ihm das Kaliber seines Schießgewehrs zu demonstrieren, wie es andere an seiner Stelle getan hätten, wenn sie so beleidigt worden
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wären. Esco prahlte nirgendwo mit dem herum, was er getan hatte. Es schien ihn nicht einmal zu interessieren, ob Monroe in dieser Sache jemals die Wahrheit erfuhr oder nicht, dass nämlich er und seine Frau getaufte Baptisten waren. Monroe selbst war es, der diese Geschichte verbreitete, indem er sich nach den Namen weiterer so unbedarfter Leute erkundigte. Er wunderte sich nur, was die Leute an seiner Geschichte so amüsant fanden, und dass er im Laden oder auf der Straße darauf angesprochen und gebeten wurde, sie zu erzählen. Die Zuhörer warteten dann gespannt darauf, dass er Escos Schlußsatz noch einmal wiederholte, wie es die meisten Menschen bei einer gelungenen Pointe zu tun pflegen. Unterließ Monroe dies, wiederholte einer von ihnen selbst den Satz, als hielte er die Geschichte sonst für unvollständig. So ging es einige Zeit, bis Sally Mitleid mit Monroe bekam und ihm erzählte, dass man ihn auf den Arm genommen habe, aber auch, aus welchem Grund. Monroe war wegen des Schabernacks, den die ganze Gemeinde da mit ihm getrieben hatte, tagelang gedrückter Stimmung. Er hatte Zweifel, ob er in dieser Gemeinde jemals würde Fuß fassen können, bis Ada schließlich sagte: Ich finde, nachdem uns nun eine Lektion bezüglich unserer Umgangsformen erteilt worden ist, sollten wir uns dementsprechend verhalten. Danach kam alles ins Lot. Sie suchten die Swangers auf, um sich bei ihnen zu entschuldigen, freundeten sich mit ihnen an und waren regelmäßig bei ihnen zum Essen. Außerdem traten die Swangers – vielleicht zur Wiedergutmachung für Escos Streich – bald darauf aus der baptistischen Gemeinde aus und in Monroes Kirche ein. In jenem ersten Jahr gab Monroe ihr Haus in Charleston noch nicht auf, und sie wohnten in der feuchten kleinen Pfarrei am Fluss, in der es im Juli und August so scharf nach Schimmel roch, dass es in der Nase brannte. Als sich der Klimawechsel dennoch wohltuend auf Monroes Lungen
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auszuwirken schien, die Gemeinde ihn zu tolerieren begann und es zudem aussah, als würde sie ihn eines Tages auch akzeptieren, beschloss er, auf unbegrenzte Zeit zu bleiben. Er trennte sich von dem Haus in Charleston und kaufte einer Familie Black, die plötzlich auf die Idee verfallen war, nach Texas umzusiedeln, ihre Farm ab. Monroe gefiel die malerische Umgebung und die Lage des Lands, das im Talgrund offen und eben war und von dem über zwanzig Morgen gerodet und in Felder und Weiden abgeteilt worden waren. Ihm gefielen die welligen, bewaldeten Berghänge, die in einem Wechsel von Kämmen und Senken zum Cold Mountain anstiegen. Ihm schmeckte das Wasser von der Quelle, das so kalt war, dass es einem davon sogar im Sommer in den Zähnen zog, und das den sauberen, neutralen Geschmack der Steine hatte, zwischen denen es entsprang. Und ganz besonders gefiel ihm das Wohnhaus, das er dort erbauen ließ, vor allem darum, weil es seinen Glauben an eine Zukunft symbolisierte, die ihn zumindest noch für einige Jahre mit einschließen würde. Monroe zeichnete eigenhändig die Pläne für das neue Haus und überwachte den Bau. Und es erwies sich in seiner gegenwärtigen Form als gut gebaut, außen mit weißgetünchten Brettern verschalt, innen mit dunklen Holzpaneelen verkleidet, eine breite, über die gesamte Front gehende Veranda, eine am hinteren Hausteil über die ganze Länge angebaute Küche, ein großer, geräumiger Kamin im Wohnzimmer sowie – in den Bergen eine Rarität – Holzöfen in den Schlafzimmern. Das Blockhaus der Blacks stand in ein paar hundert Ruten Entfernung von dem neuen Haus an dem zum Cold Mountain ansteigenden Hang und diente später den Lohnarbeitern als Unterkunft. Als Monroe die Farm gekauft hatte, war sie voll bewirtschaftet gewesen, doch Monroe ließ bald Teilbereiche brachliegen, denn er hatte nie im Sinn gehabt, mit den Erträgen seinen gesamten Lebensbedarf zu decken. Und das war auch nicht notwendig, wenn, wie er annahm, seine Anlagen in Reis, Indigo und Baumwolle in Charleston
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weiterhin gutes Geld abwarfen. Es sah jedoch ganz so aus, als würde das Geld nicht weiterfließen, stellte Ada fest, nachdem sie die Vermessung ihres Landbesitzes von ihrem Hochsitz auf dem Kamm aus eingestellt und den Brief gelesen hatte, der in dem Buch in ihrer Tasche gesteckt hatte. Kurz nach der Beerdigung hatte sie an Monroes Freund und Rechtsanwalt in Charleston geschrieben, um ihn von dem Tod zu unterrichten und ihn um Informationen über ihre finanzielle Lage zu bitten. Der Brief war die längst überfällige Antwort. Er klang distanziert, vorsichtig. Der Anwalt schrieb wie aus großer Ferne über den Krieg, über das Embargo, die zahlreichen anderen Erscheinungen dieser harten Zeiten sowie deren Auswirkung auf Adas Einkommen, das sich de facto gegen Null reduzieren werde, zumindest bis zur erfolgreichen Beendigung des Krieges. Sollte der Krieg verloren werden, könne Ada realistisch gesehen überhaupt nichts mehr erwarten. Der Brief schloß mit dem Angebot, als Verwalter von Monroes Vermögen zu fungieren, da Ada sich verständlicherweise außerstande fühlen dürfte, diese Pflichten selbst zu übernehmen. Der Anwalt deutete vorsichtig an, dass diese Aufgabe ein Urteilsvermögen und Kenntnisse erfordere, die Adas Kompetenz überstiegen. Sie erhob sich, stopfte den Brief in die Tasche und stieg den Pfad nach Black Cove hinab. Bei dem Gedanken, dass die Gegenwart schon bedrohlich genug war und niemand wusste, welch schreckliche Dinge in der nächsten Zeit noch bevorstanden, fragte sich Ada, wo sie den Mut hernehmen sollte, nach Hoffnungsvollem Ausschau zu halten. Als sie unter den hohen Bäumen auf dem Kamm heraustrat, stellte sie fest, dass sich der Dunst aufgelöst hatte oder fortgeweht worden war. Der Himmel war klar, und der Cold Mountain schien plötzlich so nahe zu sein, dass sie das Gefühl hatte, nur die Hand ausstrecken zu müssen, um ihn zu berühren. Der Tag schritt voran und die Sonne neigte sich stetig tiefer. In zwei Stunden würde sie hinter den Bergen versinken, und dann
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würde die endlose Abenddämmerung des Hochlands beginnen. Ein Rothörnchen schnatterte ihr von seinem Ast hoch oben in einem Hickorybaum zu, als sie darunter hindurchging. Um sie herum prasselten Nußschalenstücke nieder. Als sie die alte Steinmauer erreichte, die die obere Weide begrenzte, blieb sie abermals stehen. Es war ein wunderschönes Fleckchen, eine ihrer liebsten Ecken auf der ganzen Farm. Die Steine waren mit Flechten und Moos bewachsen, so dass die Mauer alt wirkte, obwohl sie es gar nicht war. Einer der älteren Söhne der Blacks hatte sie offenbar in dem Versuch, das Feld von Steinen zu befreien, zu bauen begonnen, dies aber nach nur zwanzig Fuß wieder aufgegeben, denn danach wurde die Mauer von einem Zaun aus halben Stangen abgelöst. Die Mauer verlief von Norden nach Süden und war an diesem sonnigen Nachmittag an der Westseite von der Nachmittagssonne aufgewärmt worden. Unweit der Mauer stand ein Apfelbaum, ein Golden Delicious, und ein paar früh gereifte Äpfel waren in das hohe Gras gefallen. Bienen, von dem süßen Geruch verfaulender Apfel angezogen, summten im Sonnenschein. Die Mauer bot keine weite Aussicht, sondern nur einen idyllischen Blick auf den Zipfel einer Waldparzelle, ein Brombeergestrüpp und zwei mächtige Kastanienbäume. Ada empfand es als das friedvollste Fleckchen Erde, das sie je gesehen hatte. Sie ließ sich am Fuß der Mauer im Gras nieder und rollte ihr Umschlagtuch zu einem Kissen zusammen. Sie zog das Buch aus ihrer Tasche und begann ein Kapitel zu lesen, das den Titel trug: Wie Negersklaven gefangen werden und wie Negersklaven davonlaufen. Sie las und las und vergaß sich in der Erzählung über Krieg und Gesetzlosigkeit, bis sie schließlich einschlief, während die Sonne tiefer sank und die Bienen summten. Sie schlief lange und wurde dabei von einem intensiven Traum heimgesucht, in dem sie sich inmitten wartender Passagiere in einer Bahnhofshalle befand. Mitten in der Halle stand ein Glaskasten mit einem menschlichen Skelett, ähnlich
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einem Anatomiemodell, das sie einmal in einem Museum gesehen hatte. Während sie dasaß und auf den Zug wartete, füllte sich der Kasten mit einem blauen Licht, das langsam emporstieg wie die Flamme am Docht in einer Lampenglocke. Ada gewahrte mit Entsetzen, dass die Knochen sich wieder mit Fleisch überzogen, und im Laufe dieses Vorgangs wurde ihr klar, dass es sich um ihren Vater handelte, der da wiederhergestellt wurde. Die anderen Fahrgäste drängten sich entsetzt zurück an die Saalwände, doch Ada ging, obgleich sie ebenso von Angst erfüllt war, zu dem Glaskasten hin, legte ihre Hände daran und wartete. Monroe nahm jedoch nur teilweise seine alte Gestalt an. Er blieb ein belebter Leichnam, die Haut über den Knochen dünn wie Pergament. Seine Bewegungen waren langsam, aber zugleich panisch wie bei einem Menschen, der unter Wasser zappelt. Er legte den Mund an das Glas und redete tiefernst und eindringlich auf Ada ein. Sein Gebaren war wie das eines Menschen, der einem anderen etwas überaus Wichtiges mitteilen will. Doch obwohl Ada ihr Ohr an die Glaswand preßte, hörte sie nichts als unverständliches Gemurmel. Dann vernahm sie etwas wie das Aufheulen des Windes vor einem Sturm, und plötzlich war der Kasten leer. Als dann ein Zugbegleiter erschien und die Fahrgäste zum Zug rief, wurde Ada klar, dass die Zugfahrt in das Charleston der Vergangenheit führen würde und sie, wenn sie zustieg, in ihrer Mädchenzeit ankommen würde, die Uhr um zwanzig Jahre zurückgedreht. Sämtliche Fahrgäste, eine vergnügte Schar, stiegen ein, und winkten ihr lächelnd aus den Fenstern zu. Aus den Abteilen drangen Bruchstücke von Melodien. Der Zug rollte davon, und Ada stand allein auf dem Bahnsteig. Als Ada erwachte, war über ihr der Nachthimmel. Hinter der Waldparzelle im Westen versank gerade das rostfarbene Leuchtfeuer des Mars. Daran erkannte sie, dass es nach Mitternacht sein musste, denn sie hatte in ihrem Notizbuch seine Positionen in den frühen Abendstunden vermerkt. Der Halbmond stand hoch oben am Himmel. Die Nacht war
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trocken und nicht sehr kalt. Ada rollte ihr Umschlagtuch auseinander und wickelte es um ihren Körper. Sie hatte natürlich noch nie eine Nacht allein in den Wäldern verbracht, fand es aber weniger beängstigend, als sie vermutet hatte, selbst nach dem beunruhigenden Traum. Der Mond überzog Wälder und Felder mit einem zartblauen Licht. Der Cold Mountain war nur als eine schwache dunkle Form gegen den Himmel sichtbar. Bis auf den Ruf einer Virginischen Wachtel in der Ferne war kein Laut zu hören, Sie hatte nicht das Gefühl, sich schnell auf den Heimweg machen zu müssen. Ada entfernte die Wachsversiegelung von dem Brombeertopf, tauchte zwei Finger hinein und schaufelte sich die Beeren in den Mund. Das Kompott war nur wenig gesüßt und schmeckte frisch und säuerlich. Ada saß stundenlang da, beobachtete den über den Himmel wandernden Mond und aß, bis der kleine Topf leer war. Sie dachte an ihren Vater in dem Traum und an die dunkle Gestalt in dem Brunnen. Obwohl sie Monroe innig geliebt hatte, wurde ihr bewusst, dass sein Erscheinen in ihren Traumbildern sie unangenehm berührte. Sie wollte nicht, dass er sie holen kam, und sie wollte ihm auch noch nicht so bald folgen. Ada blieb so lange sitzen, dass sie beobachten konnte, wie der Morgen anbrach. Zunächst dämmerte ein schwaches graues Licht, und während es heller wurde, begannen sich die Berge herauszubilden, das Dunkel der Nacht in ihren massigen Formen bewahrend. Der an den Gipfeln hängende Nebel hob sich, verlor seine bucklige Form und löste sich in der Wärme des Morgens auf. Auf dem Gras der Weide zeichneten sich die Umrisse der Bäume ab, weil der Tau unter ihnen liegenblieb. Als Ada sich erhob, um zum Haus zu gehen, hing unter den zwei Kastanienbäumen noch der Geruch der Nacht. Im Haus holte sich Ada ihr tragbares Schreibpult und setzte sich damit in ihren Lesestuhl. Die Diele war bis auf ein paar Strahlen goldenen Morgenlichts, die auf den Tisch über ihrem Schoss fielen, in tiefe Düsternis getaucht. Das Licht wurde von den Zwischenstäben der Schiebefenster in zwei Felder geteilt,
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und die Luft, durch die es fiel, war voll schwebender Staubkörner. Ada schob ihr Blatt in eines der Lichtquadrate und schrieb einen schnellen Brief, in dem sie dem Anwalt für sein Angebot dankte, es jedoch mit der Begründung ablehnte, dass sie im Moment der Meinung sei, ihre Qualifikationen seien mehr als ausreichend, um ein Vermögen zu verwalten, das aus beinahe nichts bestand. In den Stunden ihrer Nachtwache war sie die Möglichkeiten, die ihr zur Auswahl standen, wieder und wieder durchgegangen. Es waren nur wenige. Wenn sie versuchte, ihren Besitz zu verkaufen, um nach Charleston zurückzukehren, würde sie von dem bisschen Geld, das sie in diesen schlechten Zeiten, da die Käufer rar waren, für die Farm erzielen konnte, kaum über längere Zeit hinweg leben können. Sie würde sich bald gezwungen sehen, sich Freunden von Monroe aufzudrängen, um irgendeine kaum verhüllte parasitäre Beziehung einzugehen – als Hauslehrerin, Musiklehrerin oder ähnliches. Dies oder heiraten. Aber der Gedanke, als eine verzweifelte, auf Männerfang ausgehende alte Jungfer nach Charleston zurückzukehren, war ihr entsetzlich. Sie konnte sich genau vorstellen, wie das vonstatten gehen würde. Sie würde ein Großteil des ihr zur Verfügung stehenden Geldes für angemessene Kleidung ausgeben, um sodann mit eher ältlichen und nichtsnutzigen Überbleibseln aus einer Schicht der Charlestoner Gesellschaft, die mehrere Stufen unterhalb der obersten angesiedelt war, Chancen einer Eheschließung auszuhandeln, während sich alle Männer, die ungefähr in ihrem Alter waren, im Krieg befanden. Sie sah nichts anderes voraus, als dass sie schließlich zu jemandem sagte, sie liebe ihn, während sie in Wirklichkeit meinte, dass er zufällig in einer ausgesprochenen Notzeit aufgetaucht sei. Nicht einmal unter dem gegenwärtigen Druck wollte es ihr gelingen, sich – über ein vages Gefühl erstickender Enge in der Brust hinaus – die Trauung mit so einem Menschen auszumalen. Kehrte sie unter solch demütigenden Voraussetzungen nach
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Charleston zurück, konnte sie mit wenig Verständnis, aber um so mehr vernichtenden Kommentaren rechnen, denn in den Augen vieler ihrer Bekannten hatte sie die flüchtigen Jahre des Freiens, in denen junge Damen auf den Thron ihrer Kultur gehoben wurden, töricht vergeudet, die wenigen Jahre, in denen die Männer ehrfürchtig vor ihnen knieten und die ganze Gesellschaft regen Anteil an dem Fortgang ihrer Bemühungen um baldige Eheschließungen nahm, als wäre die wichtigste moralische Kraft des Universums auf nichts anderes gerichtet. Ihr relatives Desinteresse an dem Prozeß war damals von Monroes Freunden und Bekannten als rätselhaft empfunden worden. Sie hatte wenig dazu beigetragen, diesem Eindruck entgegenzuwirken, denn in den Damensalons, in die sich die Damen nach ihren Dinnerpartys zurückzogen und wo die Vermählten und die noch Ledigen sich gegenseitig mit bissigen Kommentaren überboten, war sie geneigt gewesen zu betonen, wie sehr sie all diese Freier langweilten – deren Interessen sich auf Geschäfte, Jagen und Pferde zu beschränken schienen –, so dass sie es für geraten halte, ein Schild mit der Aufschrift Betreten für Gentlemen verboten anfertigen zu lassen und am Aufgang zu ihrer Veranda aufzuhängen. Sie konnte sich darauf verlassen, dass eine solche Äußerung eine dogmatische Antwort provozierte, entweder von Seiten einer der älteren Damen oder einer der zarten Debütantinnen, die bestrebt waren, sich bei jenen einzuschmeicheln, die meinten, dass das höchste Glück einer verheirateten Frau darin bestehe, sich in angemessener Weise dem Willen ihres Gatten zu unterwerfen. Die Ehe ist die eigentliche Lebensaufgabe der Frau, sagte gewöhnlich eine von ihnen. Worauf Ada antwortete: In der Tat. In diesem Punkt sind wir einer Meinung, zumindest, solange wir nicht näher auf die Bedeutung des drittletzten Wortes in Ihrem Satz eingehen. Sie amüsierte sich über das Schweigen, das eintrat, während alle Anwesenden rückwärts zählten, um das zur Debatte stehende Wort zu finden.
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Ein solches Verhalten führte dazu, dass so manche ihrer Bekannten zu der Ansicht gelangte, Monroe habe sie zu einer Art Monstrum herangezogen, einer Kreatur, die nicht recht für die Gesellschaft von Männern und Frauen geeignet sei. Folglich lösten Adas Reaktionen auf zwei Heiratsanträge in ihrem neunzehnten Lebensjahr auch kaum Überraschung, dafür aber beträchtliche Entrüstung aus: Sie gab den Bewerbern auf der Stelle einen Korb, und begründete dies später damit, dass sie bei ihnen ein gewisses Niveau – des Denkens, des Fühlens, der Lebensweise – vermisst habe. Und dass beide ihr Haar mit Pomade zum Glänzen zu bringen pflegten, als wollten sie damit auf eine sichtbare Weise den Mangel an funkelndem Geist ausgleichen. Den Heiratsantrag eines begüterten Mannes abzulehnen, der keine offensichtlichen Fehler besaß, hielten viele ihrer Freundinnen wenn nicht für unbegreiflich, dann zumindest für unverzeihlich, und im letzten Jahr vor ihrer Übersiedlung in die Berge hatten ihr viele Freundinnen den Rücken gekehrt, da sie ihnen zu kratzbürstig und exzentrisch war. Auch jetzt, fünf Jahre später, war es ihr ein bitterer Gedanke, nach Charleston zurückzukehren, eine Vorstellung, gegen die sich ihr Stolz auflehnte. Es gab nichts, was sie dorthin zurückzog. Mit Sicherheit keine Familie. Außer ihrer Cousine Lucy besaß sie keine näheren Verwandten. Keine gütigen Tanten oder in sie vernarrten Großeltern, die sich über ihre Rückkehr gefreut hätten. Keine Verwandten zu haben, erschien ihr auch deshalb bitter, weil die Leute ringsum in den Bergen über so weitverzweigte und so feste familiäre Bande verfügten, dass sie kaum eine Meile die Flusstraße entlangmarschieren konnten, ohne auf einen Verwandten zu treffen. Doch obwohl sie eine Außenseiterin war, schien diese Landschaft, schienen die blauen Berge sie nicht loslassen zu wollen. Wie sie es auch drehte und wendete, war der einzige Schluß, der ihr Hoffnung auf ein Leben in Selbstzufriedenheit zu eröffnen schien, folgender: Was sie um sich her sehen
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konnte, war das einzige, auf das sie zählen konnte. Die Berge und der innere Drang herauszufinden, ob sie in der hiesigen Einfachheit ein glückliches Leben zu führen imstande wäre – dies beides zusammen schien ihr die Aussicht auf ein zufriedeneres und ungebundeneres Leben zu bieten, obgleich sie sich dieses nicht einmal in den gröbsten Umrissen vorzustellen vermochte. Es war recht einfach, sich, wie Monroe es oft getan hatte, zu sagen, dass der Weg zur Zufriedenheit darin bestand, seiner Natur treu zu bleiben und ihrem Pfad zu folgen. Das, so glaubte sie, war mit Sicherheit wahr. Wenn man jedoch nicht den geringsten Anhaltspunkt hatte, wie man herausfinden sollte, was seine Natur war, betrat man schon beim ersten Aufbruch einen Weg voller Hindernisse. Aus diesem Grund saß sie an jenem Morgen am Fenster und fragte sich ernsthaft und einigermaßen ratlos, was sie als nächstes tun sollte, als sie auf einmal eine Gestalt den Weg heraufkommen sah. Während sich diese dem Haus näherte, kam Ada zu dem Schluß, dass sie nach einem Mädchen aussah, klein gewachsen, dünn wie ein Hühnerhals, bis auf ihre deutlich hervortretenden Hüftknochen, die kräftig und breit waren. Ada ging hinunter auf die Veranda, um sich dort hinzusetzen und abzuwarten, was die Person wollte. Das Mädchen kam auf die Veranda und setzte sich, ohne um Erlaubnis zu bitten, neben Ada in einen Schaukelstuhl, wo sie die Fersen auf den Streben abstellte. Sie begann zu schaukeln. Vom Körperbau her war sie stabil wie ein Ernteschlitten, mit einem tiefliegenden Schwerpunkt, aber kräftigen und zugleich zierlichen Gliedmaßen, Sie trug ein Kleid aus grobem, handgesponnenem Stoff mit einem viereckigen Ausschnitt und in dem stumpfen Blau, das durch Färben mit dem Fleisch von Traubenkrautgallen entsteht. — Die alte Lady Swanger meint, Sie brauchen Hilfe, sagte sie. Ada betrachtete das Mädchen näher. Sie war ein dunkles Ding, mit sehnigem Hals und sehnigen Armen. Flachbrüstig.
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Ihr Haar war schwarz und drahtig wie Roßhaar. Ein breiter Nasenrücken. Große dunkle Augen, praktisch ohne Pupillen, das Weiß von auffallender Klarheit. Sie trug keine Schuhe, aber ihre Füße waren sauber. Ihre Zehennägel waren matt und silbrig wie Fischschuppen. — Es stimmt, was Mrs. Swanger sagt. Ich brauche tatsächlich Hilfe, sagte Ada, aber ich brauche jemand für die harte Arbeit. Zum Pflügen, Pflanzen, Ernten, Holzhacken und dergleichen. Die Erträge der Farm sollen in Zukunft meinen Lebensbedarf decken. Ich glaube, ich brauche eine männliche Hilfskraft für diese Arbeiten. — Erstens, sagte das Mädchen, kann ich, wenn Sie ein Pferd haben, den ganzen Tag pflügen. Zweitens, hat mir die alte Lady Swanger gesagt, in was für 'ner Klemme Sie stecken. Vergessen Sie nicht, dass alle brauchbaren Männer fort sind. Das ist eine bittere Wahrheit, aber die ist meistens bitter, auch unter günstigen Bedingungen. Wie Ada bald herausfand, hieß das Mädchen Ruby, und obgleich sie nicht gerade vertrauenerweckend aussah, klang ihre Behauptung, dass sie sämtliche auf einer Farm anfallenden Arbeiten beherrschte, glaubhaft. Außerdem stellte Ada während ihrer Unterhaltung fest, dass Ruby höchst aufmunternd auf sie wirkte. Adas stärkster Eindruck war, dass sie ein gutwilliger Mensch war. Und obwohl Ruby nicht einen Tag ihres Lebens in der Schule verbracht hatte und weder lesen noch ihren Namen schreiben konnte, glaubte Ada in ihr einen Funken zu sehen, der so hell und so kräftig war, wie einer, der entsteht, wenn man Stahl und Feuerstein aneinanderschlägt. Zudem war Ruby wie Ada seit dem Tag ihrer Geburt ein mutterloses Kind. Dies war ein Punkt, in dem sie einander verstanden, in allen anderen Punkten hätten sie einander nicht fremder sein können. Sie begannen alsbald, und ein wenig zu Adas eigener Verwunderung, ein Abkommen zu treffen. Ruby sagte: Ich habe mich noch nie als Lohnarbeiterin oder Dienstmädchen verdingt, und ich habe nichts Gutes über
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solche Arbeitsverhältnisse gehört. Aber Sally sagte, Sie brauchen Hilfe, und sie hatte recht. Deshalb mein ich, wir sollten uns über ein paar Dinge einig werden. Jetzt heißt es also, über Geld zu reden, dachte Ada. Monroe hatte sich nie mit ihr besprochen, wenn er eine Hilfskraft eingestellt hatte, doch sie hatte das Gefühl, dass es normalerweise nicht die Hilfskraft war, die die Bedingungen diktierte. Sie sagte: Im Augenblick, und wahrscheinlich noch für länger, bin ich sehr knapp bei Kasse. — Ich habe nicht das Geld gemeint, sagte Ruby. Wie schon gesagt, bin ich nicht direkt auf der Suche nach einer Anstellung. Was ich sagen will, ist folgendes: Wenn ich Ihnen hier helfen soll, muss beiden von uns klar sein, dass jeder seinen eigenen Nachttopf leert. Ada musste lachen, doch dann wurde ihr klar, dass dieser Ausspruch nicht als Scherz gemeint war. Was Ruby forderte, war so etwas wie Gleichrangigkeit. Ada erschien das aus ihrer Sicht seltsam. Doch bei näherer Überlegung kam sie zu dem Schluß, dass die Forderung nur recht und billig war angesichts der Tatsache, dass niemand sonst anstand, um ihr zu helfen, und sie zudem ihr Schmutzwasser den ganzen Sommer über selbst ausgeleert hatte. Während sie die übrigen Einzelheiten besprachen, stolzierte der schwarzgoldene Hahn vor der Veranda entlang und blieb stehen, um sie zu beäugen. Er zuckte mit dem Kopf und ließ seinen roten Kamm von einer Seite zur anderen flappen. — Ich kann diesen Vogel nicht ausstehen, sagte Ada. Er ist auf mich losgegangen. Ruby sagte: Ich würde keinen Hahn halten, der auf mich losgeht. — Wie sollen wir ihn denn davonjagen? Ruby maß sie mit einem zutiefst erstaunten Blick. Sie erhob sich, stieg von der Veranda und schnappte sich den Hahn mit einer einzigen schnellen Bewegung, klemmte ihn sich unter den linken Arm und riss ihm mit der rechten Hand den Kopf ab. Er zappelte noch einen Moment in ihrem Arm, dann wurde
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er still, Ruby schleuderte den Kopf in eine am Zaun stehende Berberitze. — Er wird zäh sein, also lassen wir ihn lieber schön lange kochen, sagte Ruby. Um die Mittagszeit löste sich das Fleisch des Hahns von den Knochen, und in der dicken, gelben Brühe schwammen Teigklöße, so groß wie Katzenköpfe.
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Die Farbe der Verzweiflung
Zu einer anderen Zeit hätte die Szene vielleicht etwas Unbeschwertes gehabt. Wer die Elemente betrachtete, aus denen sie sich zusammensetzte, konnte kaum umhin, an die legendäre Freiheit der Landstraße zu denken: die Morgendämmerung, die goldene, tief über dem Horizont stehende Sonne; ein zur Linken von Rotahorn, zur Rechten von einem Weidenzaun gesäumter Feldweg; ein großer, schlanker Mann mit einem Schlapphut, der, einen Rucksack auf dem Rücken, gen Westen schritt. Doch Inman fühlte sich nach den nassen und schrecklichen Nächten, die er hinter sich hatte, vollkommen ausgebrannt. Er blieb stehen, stellte einen Fuß auf die unterste Zaunstange und ließ seinen Blick über die taufeuchten Felder schweifen. Er versuchte, den Tag mit dankbarem Herzen zu begrüßen, doch das erste, was er in dem blassen Morgenlicht deutlich wahrnahm, war eine ekelhafte braune, wabbelige Flachlandviper, die sich wie eine Kotspur vom Weg in ein dichtes Büschel Vogelmiere schlängelte. Jenseits der Felder erstreckte sich ein niedriger Wald. Nichts als minderwertiges Gesträuch. Strauchkiefern, Gelbkiefern, Virginischer Wacholder. Inman haßte dieses einheitlich hohe, verkrüppelte Kieferngestrüpp. Haßte dieses flache Land. Die rote Erde, Die schäbigen Städte. So war die gesamte Gegend, in der er gekämpft hatte, beschaffen gewesen, vom Fuß der Berge bis hin zum Meer, und es kam ihm vor, als sei hier alles, was es an Fauligem und Schäbigem gab, hingeflossen, um sich an den niedrigen Stellen zu sammeln. Ein Land des Schmutzwassers und der Jauche, die Senkgrube des Kontinents. Fürwahr ein schreckliches Sumpfloch, das er kaum noch ertragen konnte. Vom Wald drang das laute
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Gezirpe von Zikaden herüber – ein pulsierendes, schrilles Geräusch, als knirschten unzählige morsche Knochen gegeneinander. Der Lärm war so durchdringend, dass es Inman vorkam, als hörte er seinen eigenen aufgewühlten Geist in seinem Kopf vibrieren. Ein Geräusch, das nur ihn persönlich plagte, und nicht eines, das für alle Welt zu vernehmen war. Die Wunde an seinem Hals fühlte sich an, als sei sie wieder aufgeplatzt, und sie pochte im Rhythmus der Zikadenschreie. Er fuhr sich mit einem Finger unter den Verband, und obwohl er eigentlich damit rechnete, auf eine tiefe rote kiemenspaltengleiche Kerbe zu stoßen, spürte er nur einen langen, verschorften Striemen auf der Höhe seines Kragenrands. Er schätzte, dass er sich, seit er unterwegs war, nicht sonderlich weit vom Krankenhaus entfernt hatte. Wegen seines angeschlagenen Zustands hatte er langsamer laufen und häufiger Pausen einlegen müssen, als ihm recht gewesen war, und obwohl er jeweils nur einige Meilen am Stück hatte zurücklegen können, hatte ihn selbst dieses langsame Tempo große Kraft gekostet. Er war hundemüde, hatte sich zumindest leicht verlaufen und suchte noch immer nach einer Verbindung, die ihn ohne große Umwege in westliche Richtung heimwärts führte. Doch dieses Land der kleinen Gehöfte war von einem Wirrwarr sich kreuzender Wege zerschnitten, und nirgendwo stand ein Wegweiser, der einem verraten hätte, dass einer von ihnen eher nach Westen führte als ein anderer. Er wurde das Gefühl nicht los, dass er weiter südlich geraten war, als er beabsichtigt hatte. Und das Wetter war die ganze Zeit über schlecht gewesen, mit kurzen, heftigen Regenschauern und plötzlichen Wolkenbrüchen mit Gewitter, sowohl tagsüber als auch nachts. Die kleinen, mit Holz verschalten Farmhäuser standen so dicht beieinander, dass die Maisfelder beinahe ineinander wuchsen und nur durch Zäune auf verschiedene Besitztümer aufgeteilt waren. Auf jeder Farm gab es zwei oder drei bösartige Hunde, die beim leisesten Geräusch losschossen, um sich lautlos und geduckt aus den
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dunklen Schatten der am Wegrand stehenden Bäume zu stürzen und mit sensenscharfen Zähnen an seinen Beinen zu reißen. In der ersten Nacht hatte er mehrere Angriffe durch Fußtritte abgewehrt, doch eine scheckige Töle hatte die Haut seiner Wade wie mit einer Lederlochzange durchbohrt. Nachdem ihm das passiert war, hatte er nach einer Waffe Ausschau gehalten und in einem Graben einen kräftigen Robinienast gefunden. Damit hatte er den nächsten Hund, der nach ihm schnappen wollte, mit einiger Anstrengung weggeprügelt, indem er mit kurzen, harten Schlägen auf ihn eingedroschen hatte, wie wenn man die Erde um einen frisch gesetzten Pfosten feststampft. Immer wieder musste er in jener und den darauffolgenden Nächten mit dumpfen Schlägen auf Hunde einschlagen, damit sie, immer noch lautlos, abzischten in die Dunkelheit. Die Hunde und die ständig lauernde Gefahr, herumschleichenden Milizionären zu begegnen, aber auch die Finsternis der wolkenverhangenen Nächte machten den Fußmarsch zu einer nervenaufreibenden Angelegenheit. Die Nacht, die er gerade hinter sich hatte, war die schlimmste bisher gewesen. Die Wolken waren aufgebrochen und hatten Meteore sichtbar werden lassen, die sich aus einem tiefen Himmelsloch gestürzt hatten. Sie waren auf zischenden Flugbahnen hereingeschossen und hatten ausgesehen, als kämen sie direkt auf Inman zu. Kleine, aus großer Höhe abgeschleuderte Projektile. Später war ein riesiger Feuerball aus der Dunkelheit und mit Donnergegroll langsam, aber geradewegs auf Inman zugesteuert. Ehe er ihn erreicht hatte, war er jedoch einfach erloschen wie eine zwischen speichelbenetztem Zeigefinger und Daumen ausgedrückte Kerzenflamme. Kurz darauf zischte einmal ein stumpfflügeliger Nachtvogel, vielleicht auch eine schweinsgesichtige Fledermaus, so dicht an Inmans Kopf vorbei, dass er sich hatte ducken und drei volle Schritte in gebückter Haltung gehen müssen. Dann blitzten direkt vor seiner Nase die Augenflecken auf den riesigen Flügeln eines vorüberflatternden Mondspinners auf. Er war ihm
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vorgekommen wie ein bizarres grünes Gesicht aus der Traumwelt, das plötzlich aus der Dunkelheit auf ihn zustieß, um ihm eine Botschaft zu überbringen. Inman hatte aufgeschrien und mit heftigen Schlägen, die ins Nichts gingen, um sich geschlagen. Später hatte er die Hufschläge leicht galoppierender Pferde vernommen, war auf einen Baum geklettert und hatte eine Bande Milizionäre vorbeidonnern sehen, die Männer wie ihn suchten, um sie zu fassen und durchzuprügeln und zum Militär zurückzuschleifen. Nachdem er wieder hinuntergeklettert und weitergelaufen war, glaubte er in jedem Baumstumpf die Gestalt eines Spähers in der Dunkelheit zu sehen, und einmal hatte er sogar einen struppigen Myrtenstrauch, der ausgesehen hatte wie ein dicker Mann mit großem Hut, mit dem Revolver bedroht. Als er spät nach Mitternacht einen niedrigen Bach durchquerte, hatte er einen Finger in den nassen Lehm des Ufers getaucht, sich zwei konzentrische Kreise mit einem Punkt in der Mitte auf die Rockbrust geschmiert und war weitergelaufen – als Prügelknabe der himmlischen Heere, ein Nachtwanderer, ein Flüchtling, ein Fahnenflüchtiger. Und hatte dabei gedacht: Diese Reise wird die Achse meines Lebens sein. Nachdem er diese lange Nacht hinter sich gebracht hatte, wünschte er sich jetzt nichts sehnlicher, als über den Zaun klettern und querfeldein über dieses alte Feld in den Niederwald laufen zu können. Sich zwischen den Kiefern zu verkriechen und zu schlafen. Doch nachdem er nun endlich offenes Gelände erreicht hatte, musste er sehen, dass er weiterkam, und so nahm er seinen Fuß vom Zaun und setzte seinen Marsch fort. Die Sonne stieg immer höher und wurde heiß, und die gesamte Insektenweit schien von Inmans Körperflüssigkeiten fasziniert zu sein. Stechmücken sirrten um seine Ohren und stachen ihm durch das Hemd in den Rücken. Zecken ließen sich von dem Gestrüpp am Wegesrand fallen, bohrten sich am Haaransatz und über dem Hosenbund in seine Haut und saugten sich voll, bis sie fett und prall waren. Kriebelmücken
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nahmen seine Augenflüssigkeit aufs Korn. Eine Bremse – eine dicke, schwarze, surrende Masse von der Größe seines vorderen Daumenglieds – verfolgte ihn eine Zeitlang und traktierte seinen Hals. Er versuchte sie totzuklatschen, doch so wild er auch herumzuckte und auf sich selbst einschlug, wenn das Biest sich auf ihm niederließ, um ihm Haut- und Blutstückchen herauszubeißen, er erwischte sie nicht. Die Schläge hallten in der stillen Luft wider. Aus der Ferne hätte man ihn für einen Musikus halten können, der eine neue Art zu trommeln ausprobierte, oder für einen entlaufenen Irren, der den Verstand verloren hatte und sich aus Selbsthaß mit der flachen Hand züchtigte. Er blieb stehen und pinkelte auf den Boden. Kaum war er fertig, ließen sich Morphofalter, deren Flügel in der Sonne wie blau angelaufenes Metall schillerten, zum Trinken an der Lache nieder. Sie schienen ihm viel zu prachtvoll, um Pisse zu trinken. Doch entsprachen sie scheint's der Natur dieser Gegend. Am Nachmittag gelangte er zu einer kleinen Siedlung. Er blieb am Ortsrand stehen und musterte die Szene. Es gab nur einen Laden, ein paar Häuser und einen Schuppen, vor dem ein Schmied gerade an einem Schleifstein kurbelte, um die lange Klinge einer Sense zu wetzen. Er schleift sie falsch, dachte Inman, denn er schärfte das Blatt von der Schneide weg, statt zu ihr hin, und hielt es im rechten Winkel zur Schleifscheibe, statt diagonal. Sonst war niemand auf der Straße. Inman beschloss, es zu riskieren, den weißgetünchten Laden aufzusuchen, um sich etwas Eßbares zu kaufen. Um harmlos auszusehen und keine Aufmerksamkeit zu erregen, steckte er seinen Revolver in die zusammengerollte Decke. Zwei auf der Veranda vor dem Laden sitzende Männer schauten kaum auf, als er die Treppe hinaufstieg. Einer von ihnen war ohne Kopfbedeckung, und sein Haar stand auf einer Seite struppig in die Höhe, als wäre er eben erst aus dem Bett gestiegen und wäre sich seitdem nicht einmal mit den Fingern durch die Haare gefahren. Er war ganz darin versunken, sich
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mit dem Zündkanalreiniger für einen Vorderlader den Dreck unter seinen Fingernägeln herauszupulen. Diese Tätigkeit schien ihn so sehr in Anspruch zu nehmen, dass seine Zungenspitze grau wie ein Gänsefuß aus einem Mundwinkel herausragte. Der andere Mann war in eine Zeitung vertieft. Er trug Überreste einer Uniform, doch der Schirm seines Käppis war abgerissen, so dass nur noch die Krone wie ein grauer Fes auf seinem Kopf saß. Er hatte es so extrem schief aufgesetzt, dass Inman den Eindruck hatte, der Mann wolle bewusst verwegen wirken. Hinter ihm an der Wand lehnte ein schönes, aufwendig gearbeitetes Whitworth-Gewehr mit seitlich montiertem Zielfernrohr aus Messing und vielen feinen Schrauben und Rädchen zum Einstellen der Seiten- und Höhenabweichung. Der sechskantige Gewehrlauf war mit einem Mündungspfropfen aus Ahornholz zugestöpselt, damit kein Schmutz eindringen konnte. Inman hatte bislang noch nicht viele Whitworth' gesehen. Die Gewehre wie die schwer erhältlichen und teuren Patronen aus einer gerollten Papierhülse wurden aus England importiert und waren bei Scharfschützen sehr beliebt. Mit ihrem 45er Geschoss waren sie nicht gerade ein furchteinflößendes Kaliber, auf Entfernungen von bis zu fast einer Meile jedoch erschreckend präzise. Wer das Ziel erfassen konnte und auch nur ein bisschen Treffsicherheit mitbrachte, traf mit einer Whitworth sehr genau. Inman fragte sich, wie Männer wie diese an ein so prächtiges Gewehr gekommen waren. Als er an ihnen vorbei in den Laden ging, blickten sie noch immer nicht auf. Drinnen am Kamin spielten zwei alte Männer auf einem Faßdeckel ein Spiel. Einer der beiden legte seine Hand mit gespreizten Fingern auf die runde Holzfläche. Der andere stach mit der Spitze eines Taschenmessers in die Zwischenräume der Finger. Inman sah eine Weile zu, fand aber nicht heraus, nach welchen Regeln das Spiel funktionierte oder wie man einen Punkt machte, geschweige denn, was geschehen musste, damit einer von beiden zum Sieger erklärt wurde.
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Von den mageren Vorräten, die der Laden zu bieten hatte, kaufte sich Inman fünf Pfund Maismehl, ein Stück Käse, ein wenig Zwieback sowie eine große, eingelegte Gurke und trat dann wieder auf die Veranda hinaus. Die zwei Männer waren fort, schienen aber gerade erst gegangen zu sein, denn ihre Schaukelstühle wippten noch auf und ab. Inman stieg die Treppe hinab, schlug die Richtung nach Westen ein und aß im Gehen. Vor ihm überquerten zwei schwarze Hunde die Straße, von einem Schattenfleck in den anderen. Als Inman den Ortsrand erreichte, kamen die beiden Männer, die zuvor auf der Veranda gesessen hatten, hinter der Schmiede hervor und verstellten ihm den Weg. Der Schmied nahm den Fuß von dem Pedal seines Treibrads und blickte auf. — Wo willst du hin, du Hurensohn? fragte der Mann mit dem Käppi. Inman gab keine Antwort. Er schlang die tropfende Gurke mit zwei großen Bissen hinunter und stopfte den Rest Käse mit dem Zwieback in seinen Brotbeutel. Der Zündkanalreiniger-Mann pflanzte sich seitlich neben ihm auf. Der Schmied, eine schwere Lederschürze um den Bauch und die Sense in der Hand, trat aus dem Schuppen und umrundete Inman, um ihn von der anderen Seite abzufangen. Die Männer waren eher schmächtig, selbst der Schmied, der in jeder Hinsicht für sein Handwerk ungeeignet schien. Sie sahen aus wie Tagediebe, waren möglicherweise betrunken und blickten höchst siegesgewiß drein. Wegen ihrer zahlenmäßigen Überlegenheit schienen sie sich einzubilden, ihn mit der Sense als einziger Waffe überwältigen zu können. Inman wollte gerade nach hinten in seine Deckenrolle fassen, als die drei gleichzeitig auf ihn zusprangen und mit den Fäusten auf ihn einschlugen. Er hatte nicht einmal mehr Zeit, sein Gepäck abzunehmen, und versuchte sich, beladen wie er war, zu verteidigen. Inman wehrte sich und wich dabei zugleich nach hinten aus. Das letzte, was er wollte, war, dass sie ihn zu Boden warfen, und so bewegte er sich rückwärts, bis sie ihn an die
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Ladenwand gedrängt hatten. Der Schmied trat einen Schritt zurück und schwang die Sense über seinem Kopf, als wollte er Holz spalten. Er hatte vermutlich vor, Inman mittendurch zu schneiden, ihn vom Schlüsselbein bis zur Leiste aufzuhacken, doch der Schlag war nicht nur ungeschickt, sondern musste schon wegen des gebogenen Sensenblatts mißlingen. Er verfehlte Inman um dreißig Zentimeter, und die Sensenspitze grub sich in die Erde. Inman riss dem Schmied die Sense aus der Hand und gebrauchte sie so, wie es gedacht war – indem er lange, weit ausholende Streiche dicht über dem Boden machte. Er zielte auf die Füße der Männer, als wollte er sie abmähen, und die Männer mussten zurückweichen, damit er ihnen nicht die Knöchel durchschnitt. Es war ihm ein vertrautes Gefühl, eine Sense in der Hand zu halten und damit zu arbeiten, auch wenn er stärker zustieß als beim Mähen von Futtergras, denn hier war er darauf aus, Knochen zu treffen. Doch obgleich er das Gerät zweckentfremdete, merkte er zu seiner Freude, dass sein Umgang mit der Sense – die Art, sie zu halten, der breitbeinige Stand, der leicht schräge Winkel des Messers zum Boden – dem altvertrauten Muster gehorchte und er sich offenbar recht geschickt dabei anstellte. Die Männer hüpften abwechselnd in die Höhe und zur Seite, um der langen Schneide auszuweichen, rotteten sich jedoch jedesmal bald wieder zusammen und kamen auf ihn zu. Inman holte nach den Schienbeinen des Schmiedes aus, doch die Klinge stieß funkensprühend gegen eine Mauer und brach vollständig ab, so dass er nur noch den Sensenstiel in der Hand hielt. Er kämpfte damit weiter, obwohl das krumme und lange Ding nicht gerade ein idealer Prügel war. Aber er erwies sich trotzdem als ein brauchbares Gerät, denn es gelang Inman schließlich, die drei in die Knie zu zwingen, so dass sie aussahen wie mitten auf der Straße hockende Katholiken beim Gebet. Doch er gab erst Ruhe, als alle drei stumm und bäuchlings auf der Erde lagen. Er schmetterte den Sensenstiel quer über die Straße in ein
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Traubenkrautgestrüpp. Kaum hatte er das getan, rollte sich der Schmied auf den Rücken und richtete sich schwankend auf, zog dann unter seiner Schürze einen kleinkalibrigen Revolver hervor und richtete ihn mit zitternder Hand auf Inman. Inman sagte: Knallkopf. Er schnappte sich die kleine Waffe, drückte sie dem Mann unterhalb eines Auges an den Kopf und begann aus schierer Verzweiflung über die Halsstarrigkeit dieser erbärmlichen Typen den Abzug durchzudrücken. Die Zündhütchen schienen jedoch feucht oder sonstwie defekt zu sein. Der Revolver klickte auf vier Kammern, und Inman gab es auf. Er zog dem Mann mit der Waffe nur eins über den Schädel, schleuderte sie dann auf das Dach eines Hauses und ging davon. Als er das Ortsende erreicht hatte, ging er in den Wald und mied alle Wege, um möglichen Verfolgern auszuweichen. Er konnte nicht mehr tun als sich den Nachmittag über im Schutz des Kiefernwaldes weiter in Richtung Westen zu bewegen, sich einen Weg durch das Gesträuch zu bahnen und hin und wieder stehenzubleiben, um zu lauschen, ob ihn jemand verfolgte. Ab und zu vermeinte er in der Ferne Stimmen zu hören, doch nur ganz schwach, und vielleicht bildete er sich das auch nur ein – so wie wenn man an einem Fluss übernachtet und die ganze Nacht Stimmen zu hören glaubt, die zu leise sind, um Genaueres zu verstehen. Da kein Hundegebell zu vernehmen war und es außerdem bald dunkel würde, glaubte Inman sich keine großen Gedanken machen zu müssen, selbst wenn es sich bei den Stimmen um die der Männer aus dem Dorf handelte. Als Richtungsweiser diente ihm die Sonne, die sich auf den westlichen Rand der Erde zubewegte und deren Licht gebrochen durch die Kiefernäste drang. Während er dahinging, fiel ihm eine der Beschwörungsformeln ein, die Swimmer ihm einmal beigebracht hatte, eine Formel von besonders großer Wirksamkeit zur Zerstörung von Leben, und ihr Wortlaut ging ihm unaufhörlich im Kopf herum. Swimmer hatte erklärt, dass
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die Formel nicht auf Englisch, sondern nur in der Sprache der Cherokee funktioniere und somit wirkungslos bleibe, wenn er sie Inman beibrachte. Doch Inman war überzeugt, dass jedes Wort eine Wirkung hatte, deshalb sagte er die Formel beim Laufen vor sich hin und richtete sie gegen die Allgemeinheit, gegen all seine Feinde. Er wiederholte die Worte wieder und wieder – so wie andere aus Angst, oder um sich Hoffnung zu machen, ein Gebet unzählige Male vor sich herleiern, bis es sich so fest in ihrem Kopf eingebrannt hat, dass sie eine Arbeit verrichten oder sogar ein Gespräch führen können, während es sich weiter in ihrem Kopf abspult. Die Worte, derer Inman sich noch entsinnen konnte, waren folgende: Hör mir zu. Dein Weg wird dich ins Land der Nacht führen. Du wirst einsam sein. Du wirst wie eine läufige Hündin sein. Du wirst in deinen hohlen Händen Hundehaufen vor dir hertragen. Während du allein auf das Land der Nacht zugehst, wirst du jaulen wie ein Hund. Du wirst mit Hundekot beschmiert sein. Er wird an dir kleben bleiben. Dein schwarzes Gedärm wird um dich her baumeln. Es wird sich beim Laufen um deine Füße wickeln. Du wirst ein unruhiges Dasein fristen. Deine Seele wird zu einem blassen Blau ausbleichen, der Farbe der Verzweiflung. Dein Geist wird schwach werden und dahinschwinden, um niemals wiederzukehren. Dein Weg führt ins Land der Nacht. Dies ist dein Weg. Es gibt keinen anderen.
Inman sprach diese Worte über eine Strecke von mehreren Meilen vor sich hin, doch er hatte den Eindruck, dass sie lediglich auf ihn selbst zurückprallten. Nach einer Weile rief ihm der Gehalt von Swimmers Worten eine Predigt Monroes ins Gedächtnis, eine Predigt, die wie alle Predigten Monroes mit Zitaten nur so gespickt gewesen war. Er hatte sie nicht etwa auf einem Bibelwort aufgebaut, sondern auf einer rätselhaften Passage von Emerson. Inman hatte eine gewisse Ähnlichkeit zu der Beschwörungsformel festgestellt, wenn er auch Swimmers Formulierung im ganzen vorzog. Die Passage,
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an die sich Inman noch erinnerte und die Monroe während der Predigt viermal in dramatischen Abständen wiederholt hatte, war folgende: Alles, was zeigt, dass Gott in mir ist, macht mich stark. Alles, was zeigt, dass Gott nicht in mir ist, macht mich zu einer Warze und zu einer Geschwulst. Es gibt keinen zwingenden Grund mehr dafür, dass ich lebe. Schon holen mich die langen Schatten des vorzeitigen Vergessens ein, und ich werde schwächer und schwächer werden. Für Inman war es die beste Predigt, die er je gehört hatte, und Monroe hatte sie an jenem Tag gehalten, an dem Inman Ada zum erstenmal sah. Inman hatte den Gottesdienst ausschließlich besucht, um Ada in Augenschein nehmen zu können. In den ersten Wochen nach ihrer Ankunft in Cold Mountain hatte Inman zwar viel über sie gehört, sie jedoch nie zu Gesicht bekommen. Ihr Vater und sie verhielten sich in der Gegend, in der sie sich niedergelassen hatten, allzulange allzu unbedarft und stellten für viele Haushalte entlang der Flusstraße bald eine Quelle großer Belustigung dar. Auf der Veranda zu sitzen und Ada und Monroe zu beobachten, wie sie in ihrem Einspänner vorbeipolterten, oder Ada bei einem ihrer Spaziergänge auf der Landstraße zu begegnen, faszinierte sie mehr als jedes Theaterstück es getan hätte, und Ada löste ebenso viele Diskussionen aus wie eine neue Produktion im großen Opernhaus an der Dock Street. Alle waren sich einig, dass sie recht hübsch war, machten sich jedoch lustig über ihre Kleidung und ihre pompösen Frisuren nach der Charlestoner Mode. Wenn die Leute sie sahen, wie sie einen blühenden Bartfadenzweig in der Hand hielt, um die Farben zu bewundern, oder wie sie sich bückte, um die Zähne eines Stechapfelblatts zu berühren, behaupteten manche ernsthaft, sie sei verwirrt im Kopf, weil sie den Bartfaden nicht durch bloßes Ansehen erkenne, während sich andere grinsend fragten, ob sie vielleicht so blöde war, Stechapfelblätter zu essen. Es wurde gemunkelt, dass sie mit einem Notizbuch und einem Bleistift umherlaufe und irgend etwas lange anstarre –
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einen Vogel oder einen Strauch, ein Unkraut, den Sonnenuntergang, einen Berg –, und dann eine Weile auf dem Papier herumkritzelte, dass man meinen könnte, sie hätte ein so schlechtes Gedächtnis, dass sie das, was ihr wichtig war, womöglich vergaß, wenn sie es sich nicht notierte. Eines Sonntagmorgens kleidete sich Inman also sorgfältig an – mit einem neuen schwarzen Anzug, weißem Hemd, schwarzer Halsbinde, schwarzem Hut – und machte sich auf den Weg zur Kirche, um Ada in Augenschein zu nehmen. Das war während einer Kaltwetterperiode im Spätfrühling gewesen, als die Brombeeren blühten. Seit drei Tagen war pausenlos ein kühler Regen gefallen. Obwohl es irgendwann in der Nacht aufgehört hatte zu regnen, hatte sich die Morgensonne noch nicht durch die Wolken gebrannt, und der zwischen den Bergkämmen sichtbare Himmelsstreifen war dunkel und tief und vollkommen konturenlos. Die Straßen waren ein einziger saugender Morast, so dass Inman verspätet angekommen war und auf einer der hinteren Kirchenbänke Platz genommen hatte. Es wurde bereits ein Lied gesungen. Jemand hatte im Ofen mit feuchtem Holz Feuer gemacht. Der Rauch quoll aus dem Deckel heraus, schwebte zur Decke hoch und breitete sich an den Holzpaneelen aus, wo er dann wie eine graue Miniaturausgabe des Himmels draußen hängenblieb. Inman musste Ada an ihrem Hinterkopf ausfindig machen – was nicht schwer war, da ihr dunkles Haar zu einem dicken, kunstvollen Zopf geflochten war – eine Frisur, die erst seit kurzer Zeit Mode und in den Bergen noch vollkommen unbekannt war. Unterhalb ihres hochgesteckten Haars waren auf beiden Seiten ihres weißen Halses die zarten Muskelstränge zu sehen, mit denen ihr Kopf gehalten wurde. Dazwischen eine Mulde, eine schattige Vertiefung. Locken, die zu fein waren, um in den Zopf eingeflochten zu werden. Während die Gemeinde das Lied sang, hielt Inman den Blick unverwandt auf diese Stelle gerichtet und war bald – noch ehe er überhaupt ihr Gesicht gesehen hatte – von dem heftigen
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Verlangen erfüllt, seine zwei Fingerspitzen auf diese geheimnisvolle Stelle zu legen. Monroe leitete die Predigt mit einem Kommentar zu dem Lied ein, das sie alle soeben gesungen hatten. Der Liedtext scheine inbrünstig eine Zeit herbeizusehnen, in der sie alle in einem Ozean der Liebe schwimmen würden, sagte er. Doch wenn sie glaubten, es sei möglich, eines Tages von der gesamten Schöpfung geliebt zu werden, hätten sie das Lied mißverstanden. Das eigentlich Erforderliche sei nämlich, dass sie selbst die gesamte Schöpfung liebten. Das sei etwas weitaus Schwierigeres, und, den Mienen der hier Versammelten nach zu urteilen, einigermaßen schockierend und schmerzlich. Die weitere Predigt drehte sich um das gleiche Thema wie alle anderen Predigten, die Monroe seit seiner Ankunft in Cold Mountain gehalten hatte. Sowohl sonntags als auch mittwochs hatte er einzig über das gesprochen, was er für die zentrale Frage der Schöpfung hielt: Warum der Mensch geboren werde, um zu sterben. Das erscheine doch auf den ersten Blick widersinnig. Im Laufe der Wochen hatte Monroe versucht, diese Frage aus jeder nur erdenklichen Richtung anzugehen. Hatte die Bibel befragt. Die Ansichten der Weisen vieler Länder und aller Zeiten gesammelt. Aufschlußreiche Metaphern aus der Natur. Monroe hatte jede nur erdenkliche Stütze zu Hilfe genommen, doch stets ohne Erfolg. Nach mehreren Wochen machte das Gegrummel unter den Gottesdienstbesuchern deutlich, dass der Tod ihm mehr zu schaffen machte als ihnen. Im Gegensatz zu Monroe hielten viele von ihnen den Tod keineswegs für eine Tragödie, sondern eher für eine gute Sache. Sie freuten sich auf die Ruhe. Einige von ihnen hatten die Meinung geäußert, dass Monroe besser daran täte, sich an das zu halten, was der verstorbene Pfarrer gemacht hätte. Die Verdammung von Sündern und das Erzählen von Geschichten aus der Bibel mit unterhaltsamer Inbrunst. Von Baby Moses in seinem Binsenkorb. Dem jungen David mit seiner Steinschleuder.
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Monroe hatte diesen Rat nicht beherzigt und einem der Gemeindeältesten erklärt, dass dies nicht seine Mission sei. Diese Äußerung hatte sich wie ein Lauffeuer in der ganzen Gemeinde herumgesprochen und war von den meisten so aufgefaßt worden, als zeigte der Gebrauch des Wortes Mission, dass er sie alle für rückständige Wilde halte. Viele von ihnen hatten Geld gesammelt, um Missionare zu tatsächlichen Wilden zu schicken, zu Menschen, die ihrer Vorstellung nach mit Lederhäuten unterschiedlicher trüber Färbungen bekleidet waren und in Gegenden lebten, die weitaus abgelegener und unzivilisierter waren als die ihre, so dass sie diese Bemerkung nicht ohne weiteres schlucken konnten. Um die in seiner Kirchengemeinde aufsteigenden Wogen zu glätten, hatte Monroe seine Predigt an besagtem Sonntag mit dem Satz eingeleitet, dass jeder Mann und jede Frau eine Mission habe. Das Wort bedeute nicht mehr und nicht weniger als eine Aufgabe, sagte er. Eine seiner Aufgaben sei es, sich Gedanken darüber zu machen, warum der Mensch geboren werde, um zu sterben, und er gedenke sich dieser Aufgabe mit mindestens ebensoviel Beharrlichkeit zu widmen wie ein Mann, der ein Pferd zuzureiten oder ein Feld von Steinen zu befreien habe. Und daran halte er sich. In aller Ausführlichkeit. Inman starrte während der gesamten Moralpredigt jenes Morgens auf Adas Hals und vernahm, wie Monroe viermal die Passage von Emerson über die Warzen und die Geschwulste und das Dahinschwinden wiederholte. Nach dem Gottesdienst verließen Männer und Frauen die Kirche durch ihre jeweiligen Pforten. Schlammbespritzte Pferde standen dösend in ihren Zugriemen, Pferdedecken und Gespanne bis zu den Speichen mit Matsch bespritzt. Die Stimmen der Leute weckten die Tiere, und als eine Fuchsstute ihr Fell schüttelte, klang das, als würde ein schmutziger Teppich ausgeschlagen. Der gesamte Kirchhof roch nach Schlamm, nach nassem Laub, nassen Kleidern und nassen Pferden. Die Männer stellten sich hintereinander auf, um
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Monroe die Hand zu schütteln, und danach stapften sie auf dem nassen Kirchhof umher, um mit anderen ein Schwätzchen zu halten und darüber zu spekulieren, ob der Regen nun endgültig aufgehört habe oder nur eine Pause einlege. Einige der Älteren unterhielten sich leise über Monroes eigenartige Predigt, in der gar keine Bibelstellen vorgekommen seien, und darüber, wie sehr sie seine unnachgiebige Haltung den Wünschen anderer gegenüber bewunderten. Die unverheirateten Männer standen mit ihren schlammigen Stiefeln und bespritzten Hosenaufschlägen in einer Gruppe zusammen. Ihr Gerede klang mehr nach Samstagabend als nach Sonntagmorgen, und alle schielten hin und wieder zu Ada hinüber, die am Rand des Friedhofs stand und unendlich fremd und schön und unbeholfen wirkte. Während alle anderen zum Schutz gegen die feuchte Kälte in dicker Wollkleidung steckten, trug Ada ein elfenbeinfarbenes Leinenkleid mit Spitzen an Ärmeln, Kragen und Saum. Sie schien sich bei der Auswahl ihres Kleides mehr nach dem Kalender gerichtet zu haben als nach dem Wetter. Die Arme verschränkt und die Hände an die Ellbogen geklammert, stand sie da. Die älteren Frauen gingen zu ihr hin und sprachen sie an, worauf alsbald ein peinliches Schweigen entstand, bis die Frauen sich wieder entfernten. Inman bemerkte, dass Ada jedesmal, wenn jemand auf sie zukam, einen Schritt rückwärts machte, bis sie schließlich am Grabstein eines Mannes stand, der im Unabhängigkeitskrieg gekämpft hatte. — Wenn ich zu ihr hingehe und ihr meinen Namen sage, meinst du, sie sagt dann auch was zu mir? fragte ein Mann namens Dillard, der aus dem gleichen Grund in die Kirche gegangen war wie Inman. — Weiß ich nicht, sagte Inman. — Du wüßtest ja nicht mal, wie du's anstellen solltest, ihr den Hof zu machen, sagte Hob Mars zu Dillard. Überlass das am besten mir. Mars war von kleiner Statur und hatte einen breiten
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Brustkorb. Seine Westentasche, in der eine dicke Taschenuhr steckte, stülpte sich beutelartig aus, und eine Silberkette, an der eine verzierte Uhrtasche hing, baumelte bis zu seinem Hosenbund hinunter. Dillard sagte: Du meinst wohl, mit deinem Bohrer kann keiner mit. — Das meine ich nicht, das weiß ich, sagte Mars. Ein anderer – ein Mann von so schmächtiger Statur und mit einem so häßlichen Gesicht, dass er hier nur als Zuschauer fungierte – meinte: Ich wette hundert Dollar gegen einen halben Ingwerkuchen, dass unten in Charleston schon ein Auserwählter auf sie wartet. — So einer kann ja mal vergessen werden, sagte Hob. Wäre nicht der erste, dem das passiert. Dann starrte Hob zu Inman hin und musterte seine strenge Aufmachung: Du siehst aus wie ein Hüter des Gesetzes, sagte er. Ein Mann, der auf Freiersfüßen ist, braucht 'n bisschen Farbe. Inman befürchtete, sie würden dieses Thema so lange durchkauen, bis einer von ihnen schließlich den Mut faßte, zu Ada hinzugehen und sich zum Narren zu machen. Oder aber sie würden anfangen, sich gegenseitig Beleidigungen an den Kopf zu werfen, bis sich zwei von ihnen ein Stück die Straße hinunter treffen und gegeneinander kämpfen mussten. Deshalb tippte er nur mit dem Finger an seine Hutkrempe, sagte: Jungs, und ging davon. Er ging geradewegs zu Sally Swanger und sagte: Wenn Sie mich bekannt machen, wäre ich bereit, einen Morgen Neuland zu roden. Sally hatte eine Haube mit einer so breiten Krempe auf dem Kopf, dass sie einen Schritt zurücktreten und den Kopf schieflegen musste, um keinen Schatten mehr vor den Augen zu haben und zu Inman aufsehen zu können. Sie grinste ihn an und strich dabei mit der Hand über eine unechte Brosche an ihrem Kragen. — Ich denke, ich brauche gar nicht erst zu fragen, mit wem,
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sagte sie. — Jetzt wäre der richtige Zeitpunkt, sagte Inman, indem er zu Ada hinblickte, die gerade allein dastand und, den Leuten den Rücken zukehrend, in leicht vorgebeugter Haltung mit scheinbarer Faszination die Inschrift auf dem Grabstein studierte. Der Saum ihres Kleides war von dem hohen, die Gräber bedeckenden Gras durchnässt, und das hintere Ende wies Schlammspuren auf. Mrs. Swanger packte Inman beim Ärmel seines schwarzen Rockes und zog ihn mit sanfter Gewalt über den Kirchhof zu Ada hin. Als sein Ärmel wieder frei war, hob er eine Hand, um seinen Hut abzunehmen; mit der anderen Hand fuhr er sich an den Stellen, die von dem Hut platt- und eingedrückt worden waren, rasch durch die Haare. Er strich das Haar an den Schläfen zurück und rieb sich mit der Hand von der Stirn bis zum Kinn über das Gesicht. Mrs. Swanger räusperte sich, und Ada drehte sich um. — Miss Monroe, sagte Sally Swanger mit fröhlicher Miene. Mr. Inman hat großes Interesse daran bekundet, mit Ihnen bekannt gemacht zu werden. Seine Eltern haben Sie ja bereits kennengelernt. Sie waren es, die diese Kirche hier gebaut haben, fügte sie noch erklärend hinzu, ehe sie sich entfernte. Ada sah Inman direkt ins Gesicht, und zu spät wurde ihm bewusst, dass er sich gar nicht überlegt hatte, was er sagen wollte. Noch bevor er einen Satz formulieren konnte, sagte Ada: Ja? Ihre Stimme klang leicht ungeduldig, was Inman aus einem unerfindlichen Grund amüsierte. Er blickte zur Seite, dorthin, wo der Fluss sich um den Hügel schlängelte, und versuchte krampfhaft, seine Mundwinkel unter Kontrolle zu halten. Die Blätter der Bäume und Rhododendren am Flussufer glänzten feucht und waren vom Wasser schwer. Der Fluss floß zäh und dunkel wie geschmolzenes Glas über unsichtbare Felsen und versank dann in tiefen Mulden. Inman hielt seinen Hut an der Krone fest und blickte, da er nicht wusste, was er sagen sollte, in ihn hinein, als erwarte er aus früherer Erfahrung, dass etwas
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daraus auftauche. Ada sah ihm noch einen Moment lang ins Gesicht und blickte dann ebenfalls in den Hut hinein. Inman, der befürchtete, dass er aussah wie ein vor dem Bau eines Waldmurmeltiers hockender Hund, riss sich zusammen. Er sah Ada an, die ihre Handflächen nach oben drehte und fragend eine Augenbraue hochzog. — Sie dürfen sich Ihren Hut ruhig wieder aufsetzen und etwas sagen, sagte sie. — Na ja, die Leute haben eben so viele Vermutungen über Sie angestellt, sagte Inman. — Es ist so etwas wie der Reiz des Neuen, mit mir zu sprechen, oder? — Nein. — Dann vielleicht so etwas wie eine Herausforderung. Vielleicht von der Runde Dummköpfe da drüben. — Keineswegs. — Nun, dann liefern Sie mir das passende Gleichnis. — Wie wenn man eine Kastanienkapsel aufhebt, zumindest bis jetzt. Ada lächelte und nickte. Sie hatte nicht gedacht, dass er wissen würde, was sie mit Gleichnis meinte. Dann sagte sie: Erklären Sie mir doch bitte folgendes. Vorhin hat eine Frau eine Bemerkung über das Wetter gemacht. Sie nannte es ein Wetter zum Schafetöten. Seitdem frage ich mich die ganze Zeit: Wollte sie damit ausdrücken, dass dies das geeignete Wetter sei, um Schafe zu schlachten, oder dass das Wetter so abscheulich sei, dass es die Schafe von allein umbringt, vielleicht indem sie ertrinken oder eine Lungenentzündung bekommen? — Ersteres, sagte Inman. — Aha, vielen Dank. Sie haben mir einen wertvollen Dienst erwiesen. Sie wandte sich um und ging zu ihrem Vater. Inman sah, wie sie Monroes Arm berührte und etwas zu ihm sagte, dann gingen sie zu ihrer Kutsche, kletterten hinein und fuhren die
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Straße hinunter, bis sie zwischen den mit blühenden Brombeerzweigen umwucherten Zaunreihen nicht mehr zu sehen waren. Gegen Abend hatte Inman die verkrüppelten Kiefernwälder endlich durchquert und fand sich am Ufer eines breiten, angeschwollenen Flusses wieder. Die Sonne stand nur noch ein kleines Stück über dem niedrigen Horizont am anderen Ufer, und es war so dunstig, dass alles mit einem grellen gelben Licht überzogen war. Der Regen war weiter flussaufwärts offenbar stärker gewesen und hatte den Fluss teilweise über die Ufer treten lassen. Selbst wenn Inman ein guter Schwimmer gewesen wäre, hätte er nicht hinüber schwimmen können, so stark war die Strömung und so weit waren die Ufer voneinander entfernt. In der Hoffnung, eine unbewachte Brücke oder einen Steg zu finden, folgte er einem schmalen Fußpfad, der zwischen dem trostlosen Kiefernwald zu seiner Rechten und dem jämmerlichen Fluss zu seiner Linken verlief. Es war eine scheußliche Gegend, die bis auf die Stellen, wo sich rohe Gräben tief in den roten Ton eingefressen hatten, wie plattgehobelt war. Überall nichts als struppige Kiefern. Einst hatten hochwertigere Bäume an ihrer Stelle gestanden, doch die waren vor langer Zeit gefällt worden, und das einzige, was davon noch übriggeblieben war, waren ein paar vereinzelte eßtischgroße Laubbaumstümpfe. So weit Inmans Blick reichte, war der Wald mit Giftsumachsträuchern zugewuchert. Die Pflanze rankte sich an den Kiefern hoch und kroch über ihre Aste. Die abfallenden Nadeln verfingen sich in den gewundenen efeuartigen Schlingen, ließen die Umrisse der Stämme und Aste weicher wirken und erzeugten schwere neue Formen, so dass die Bäume aussahen wie aus dem Boden gestiegene grüngraue Ungeheuer. Der Wald sah aus wie ein unangenehmer und gefährlicher Ort. Er erinnerte Inman an die Zeit der Gefechte entlang der Küste, als ihm ein Mann einmal eine winzige Pflanze gezeigt hatte. Ein merkwürdiges, haariges, in Sümpfen wachsendes
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Gebilde. Es war ein fleischfressendes Gewächs, und sie fütterten es mit kleinen, auf ein Reis gespießten Speckstücken. Wenn man die Fingerspitze an die Stelle hielt, wo der sogenannte Mund war, schnappte es nach einem. Dieser Strauchwald schien nur einen Schritt weit davon entfernt, den gleichen Trick in größerem Maßstab lernen zu wollen. Inman wollte fort, doch der Fluss vor ihm war zu breit, ein kackbraunes Hindernis auf seinem Weg. Die Flüssigkeit darin ähnelte eher Melasse, wenn sie anfängt dick zu werden, als Wasser. Er wollte sich niemals an diese erbärmliche Art von Wasserstraße gewöhnen müssen. Sie entsprach nicht einmal seiner Vorstellung von einem Fluss. Dort, wo er herkam, verband man mit dem Wort Fluss Felsen und Moos und das Rauschen weißen, mit geballter Kraft dahinschießenden Wassers. Dort, wo er herkam, gab es keinen einzigen Fluss, der zu breit war, um einen Stock hinüberzuwerfen, und das Wasser war überall so klar, dass man bis auf den Grund sehen konnte. Dieser breite Graben war ein Schmutzfleck in der Landschaft. Abgesehen von dem gelben, flussabwärts treibenden Schaum, der sich als schwammige Masse vor umgestürzten Baumstämmen sammelte, war der Fluss trübe und undurchsichtig wie braungestrichenes Blech. Übelriechend wie der Inhalt eines Außenklosetts. Während Inman diese Landschaft durchquerte, stieß er sich an allem, was er sah. Wie hatte er dies hier jemals für sein Land halten können, ein Land, für das es sich zu kämpfen lohnte? Er konnte es sich nur mit Dummheit erklären. Das einzige, wofür es sich zu kämpfen lohnte, schien ihm in diesem Augenblick das Recht auf ein ungestörtes Leben irgendwo am westlichen Flussarm des Pigeon River zu sein, oben auf dem Cold Mountain, in der Gegend, wo der Scapecat Branch entspringt. Er dachte an seine Heimat mit den mächtigen Hochwäldern, wo die Luft ganzjährig dünn und kühl war. Wo die Tulpenbäume so dicke Stämme hatten, dass sie an senkrecht
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gestellte Lokomotiven erinnerten. Er malte sich aus, wie er heimkam und sich oben auf dem Cold Mountain eine Hütte baute – in so großer Höhe, dass außer den im Herbst über die Wolken hinwegfliegenden Nachteulen keine Seele seinen traurigen Schrei vernehmen konnte. Wie er ein so stilles Leben führte, dass er gar keine Ohren brauchte. Und wenn Ada mit ihm ginge, bestand vielleicht Hoffnung – wenn auch in so weiter Ferne, dass er sie nicht wirklich sehen konnte –, dass sich seine Verzweiflung irgendwann so abschleifen würde, dass sie so gut wie überwunden wäre. Doch obwohl er überzeugt war, dass man sich etwas ausmalen konnte, bis es eines Tages tatsächlich wahr wurde, nahm dieser letzte Gedanke, so sehr er sich auch bemühte, keine deutliche Gestalt an. Der Hoffnungsfunke in ihm war nicht heller, als wenn jemand auf einem Berggipfel eine dünne Wachskerze angezündet hätte, nach der er aus weiter Ferne hätte versuchen müssen, seinen Weg auszurichten. Er lief weiter, und kurze Zeit später begann es zu dunkeln, und ein Stück Mond schimmerte durch die Wolkenfetzen. Er stieß auf einen am Flussufer endenden Querpfad; auf einem Schild, das jemand an dieser Stelle am Ufer aufgestellt hatte, stand: Fähre. $ 5. Bitte laut rufen. Über den Fluss war ein kräftiges, an einem dicken Pfosten befestigtes und teilweise im Wasser hängendes Seil gespannt. Es tauchte in der Nähe des anderen Ufers wieder aus dem Wasser auf und war dort ebenfalls an einem Pfosten befestigt. Ein Stück weit hinter dem Anlegeplatz erblickte Inman ein auf Pfählen, die über die Hochwassermarke reichten, errichtetes Haus. Hinter einem der Fenster brannte Licht, und aus dem Kamin stieg Rauch auf. Inman rief hinüber, und kurz darauf wurde auf der Veranda eine Gestalt sichtbar, die ihm kurz zuwinkte und dann wieder im Haus verschwand. Wenig später tauchte sie hinter dem Haus wieder auf, ein Einbaumkanu an einem Strick hinter sich her ziehend. Der Bootsführer schob es ins Wasser, kletterte hinein und paddelte in Ufernähe, wo das Wasser langsamer
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floß, gegen den Strom. Die Strömung war auch dort noch ziemlich stark, und er paddelte angestrengt und mit gekrümmtem Rücken dagegen an, dass es beinahe aussah, als wolle er einfach weiter Flussauf fahren. Kurz bevor er Inmans Blick entschwand, wendete er jedoch, richtete sich gerade auf und ließ sich mit der Strömung zurücktreiben, wobei er das Boot mit leichten, kraftsparenden Paddelbewegungen auf das Ostufer zusteuerte. Er tauchte das Paddel dabei nur leicht ins Wasser ein. Das Kanu war alt, das Holz ausgetrocknet und von der Sonne ausgebleicht, und als der Mond durch die Wolken brach, glänzten die ungehobelten, klobigen Seiten über dem dunklen Wasser wie gehämmertes Zinn. Als sich das Boot dem Ufer näherte, an dem Inman stand, erkannte er, dass es nicht von einem Fährmann gesteuert wurde, sondern von einem apfelwangigen Mädchen. Ihr dunkles Haar und die dunkle Haut ließen darauf schließen, dass sie indianisches Blut in sich hatte, dass vermutlich ein Eltern- oder Großelternteil Indianer war. Sie trug ein Kleid aus handgesponnenem Stoff, der, soweit er das in dem schwachen Licht erkennen konnte, von gelber Farbe zu sein schien. Sie hatte große, kräftige Hände, und die Muskeln ihrer Unterarme traten bei jeder Paddelbewegung hervor. Ihr schwarzes Haar hing ihr offen über die Schultern. Sie pfiff beim Näherkommen ein Lied vor sich hin. Am Ufer stieg sie barfuß aus dem Kanu in das schlammige Wasser und zog das Kanu an einem am Bug befestigten Strick hinter sich her. Inman nahm einen Fünf-Dollar-Schein aus der Tasche und reichte ihn ihr. Statt ihn zu ergreifen, blickte sie den Schein nur leicht verächtlich an. — Für fünf Dollar würde ich einem durstigen Mann nicht einmal einen Schöpflöffel voll von diesem Flusswasser geben und ihn schon gar nicht über den Fluss paddeln. — Auf dem Schild steht, dass die Fähre fünf Dollar kostet. — Sieht das hier vielleicht wie 'ne Fähre aus? — Kann man hier nun mit einer Fähre übersetzen oder nicht? — Nur, wenn Daddy da ist. Er hat ein Flachboot, das so groß
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ist, dass ein Gespann mit zwei Pferden draufpasst. Er zieht es an dem Seil da hinüber. Wenn das Wasser so hoch ist wie jetzt, geht das allerdings nicht. Er ist so lange auf die Jagd gegangen, bis der Wasserpegel wieder sinkt. Bis dahin nehme ich den Höchstpreis, den jemand zu zahlen bereit ist. Ich habe mir nämlich eine Kuhhaut gekauft, aus der ich mir einen Sattel machen lassen will. Wenn ich den habe, fange ich an, für ein Pferd zu sparen, und wenn ich das habe, werfe ich ihm den Sattel auf, kehre dem Fluss hier den Rücken und mache, dass ich wegkomme. — Wie heißt denn dieses Ding? fragte Inman. — Na, das ist doch der mächtige Cape Fear River, sagte das Mädchen. — Und was verlangst du für die Überfahrt? fragte Inman. — Fünfzig Dollar, sagte das Mädchen. — Reichen auch zwanzig in Notgeld? — Los geht's. Ehe sie in das Boot klettern konnten, sah Inman in etwa drei Meter Entfernung große ölige Blasen an die Wasseroberfläche steigen. Sie glänzten beim Zerplatzen im Mondlicht und bewegten sich ungefähr in Schrittgeschwindigkeit gegen die Strömung flussaufwärts. Die Nacht war windstill und ruhig, und außer dem Geblubber des Wassers und dem schrillen Gekreische der Insekten in den Kiefern war kein Laut zu hören. — Siehst du das da? fragte Inman. — Ja, sagte das Mädchen. — Wo kommt das her? — Schwer zu sagen, da es vom Grund des Flusses kommt. Das Wasser brach sich so gewaltig und schäumend wie von dem ausgestoßenen Atem einer ertrinkenden Kuh. Inman und das Mädchen blickten den Blasen, die sich gemächlich weiter den Fluss hinauf bewegten, nach, bis der Mond von einer vorübertreibenden Wolkenwand verdeckt wurde und sie in der Dunkelheit nicht mehr zu erkennen waren. — Ist vielleicht ein Wels, der da am Boden rumwühlt, um
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was Eßbares auszubuddeln, sagte das Mädchen. Die ernähren sich von Sachen, die einen Truthahngeier umbringen würden. Hab mal einen gesehen, der war so groß wie ein Eber. War tot auf eine Sandbank gespült worden. Bartfäden so lang wie Schwarznattern. Das ist genau das, was man in einem solchen Fluss vermutet hätte, dachte Inman. Ein schwabbeliges Monstrum von Fisch mit Fleisch, das so wabbelig ist wie Rückenspeck. Er dachte an den großen Unterschied zwischen einem solchen Vieh und den kleinen Saiblingen in den oberen Armen des Pigeon River, deren Wasser den Cold Mountain hinabschoss. Sie waren selten länger als eine Hand. Glänzend und fest wie Splitter von einem Silberbarren. Inman warf sein Gepäck ins Boot, ehe er selbst einstieg und sich am Bug niederließ. Das Mädchen stieg hinter ihm ein und kämpfte gegen die Strömung an, indem sie das Paddel mit starker und sicherer Hand immer nur an einer Seite eintauchte, um einen geraden Kurs zu halten. Das Geplatsche des Paddels übertönte sogar das Gekreische der Insekten. Das Mädchen paddelte von der Anlegestelle ein ordentliches Stück flussaufwärts, wobei sie abermals die schwächere Strömung in Ufernähe ausnutzte. Dann wendete sie das Boot, hörte auf zu paddeln und hielt das Paddel wie ein Ruder ins Wasser. Sie lenkte das Boot mit Hilfe der Strömung in die Mitte des Flusses. Da der Mond verdeckt war, war das jenseits der Ufer liegende Land bald nicht mehr zu erkennen, und sie trieben blind in einer Welt dahin, in der es so schwarz war wie im Bauch einer Kuh. Vom östlichen Anlegeplatz her hallten weit über das Wasser hinweg Stimmen durch die Stille. Es konnte sonstwer sein. Inman konnte sich nicht vorstellen, dass die Männer aus dem Dorf genug Initiative besaßen, um ihm bis hierher zu folgen. Dennoch wandte er sich um und flüsterte dem Mädchen zu: Es ist besser, wenn wir nicht gesehen werden. Doch im gleichen Augenblick tauchte hinter den Wolken eine Ecke des Mondes auf. Bald darauf stand er vollkommen enthüllt in
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einem kleinen ausgefransten Himmelsfenster. Die von der Sonne ausgebleichte Kanuwand leuchtete auf dem dunklen Wasser wie ein Signalfeuer. Sie hörten ein Geräusch, wie wenn Fingernägel über Kordsamt ritzen, und einen lauten Schlag. Dann knallte ein Schuss. Die Whitworth, dachte Inman. Am hinteren Ende des Kanus klaffte in Höhe des Wasserspiegels ein Loch. Braunes Wasser schoss herein – mit einem Strahl, der so gewaltig war wie der einer pissenden Kuh. Inman sah zu der Anlegestelle hinüber und erblickte im Mondlicht eine Gruppe von sechs Männern. Einige von ihnen begannen mit ihren kleinen Pistolen loszuballern, deren Reichweite jedoch zu gering war. Einer der Männer hatte sein Gewehr senkrecht gestellt und stieß mit dem Ladestock ein neues Geschoss hinab. Inman vermutete, dass die Kerle sich vorgenommen hatten, an diesem Abend zum Sport eine Art Waschbärenjagd zu veranstalten; anders konnte er es sich nicht erklären, dass sie nicht längst in das Dorf zurückgekehrt waren. Das Bootsmädchen erfaßte die Situation sofort und setzte ihr ganzes Gewicht ein, um das Boot heftig hin und her zu schaukeln, damit die Außenseiten nass und somit dunkler wurden. Inman riss eine Manschette von seinem Hemd und machte sich gerade daran, das Loch zuzustopfen, als eine weitere Kugel in Höhe der Wasserlinie in das Boot einschlug und ein handtellergroßes Stück Holz herausriss. Das Wasser schoss herein und begann bald den Boden des Bootes zu füllen. — Es bleibt uns nichts anderes übrig, als uns ins Wasser hinabzulassen. Inman dachte zunächst, sie meine damit, sie sollten in Richtung Ufer schwimmen. Da er aus einem Land der seichten Gewässer stammte, bezweifelte er, dass er imstande wäre, eine so weite Strecke zu bewältigen. Was sie hingegen vorschlug, war, sich ins Wasser hinabzulassen, um sich an dem Kanu
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festzuhalten und dahinter Deckung zu suchen. Inman wickelte seine Gepäckstücke in die Wachsplane und verknotete die Enden so fest wie möglich, damit die Sachen nicht nass wurden, falls das Kanu ganz unterging. Dann ließen sich das Mädchen und er gleichzeitig in den Fluss fallen, um sich von der Strömung davontragen, flussabwärts treiben zu lassen. Obgleich die Wasseroberfläche spiegelglatt war und aussah, als könnte sie nicht schneller fließen als zähflüssiger Schlamm, schoss der Fluss mit der Geschwindigkeit eines Mühlgrabens dahin. Das teilweise mit Wasser vollgelaufene Kanu trieb tief im Wasser dahin, nur der schaufelförmige Bug ragte über die Oberfläche hinaus. Inman hatte Wasser geschluckt, und er spuckte wieder und wieder aus, um seinen Mund von dem ekligen Flusswasser zu reinigen, bis er nur noch weißen Schaum herausbrachte. So ekelhaftes Wasser hatte er noch nie zuvor geschmeckt. Der Mond tauchte mal zwischen den Wolken auf und verschwand dann wieder, und jedesmal, wenn genügend Licht da war, um zielen zu können, schlugen Schüsse von der Whitworth in das Boot ein oder auf dem Wasser auf und hüpften dann stotternd über die Oberfläche. Inman und das Mädchen versuchten das fast volle Boot an das westliche Ufer zu ziehen, doch das schwere Ding schien einen eigenen Willen zu haben und gehorchte ihnen nicht. Sie gaben auf und ließen sich einfach weiter treiben, so dass nur ihre Gesichter aus dem Wasser ragten. Sie konnten nichts weiter tun, als sich weiter festzuklammern, abzuwarten, bis der Fluss eine Biegung machte, und hoffen, dass der Abend sich zu ihren Gunsten wenden würde. Aus dieser Perspektive wirkte der Fluss noch breiter als vom Ufer aus. Die gräßliche Landschaft, die beiderseits an ihnen vorüberzog, wirkte im Mondlicht geisterhaft und bedrohlich. Inman empfand sie als so widerwärtig, dass er hoffte, sie werde weder Spuren in ihm hinterlassen noch sich seinem Gedächtnis einprägen. Selbst dort im Fluss konnte er das anhaltende Gekreisch der
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Insekten im Giftsumach vernehmen. Er war nichts weiter als ein kleiner, in einer breiten, kahlen Ebene dahintreibender Kopf inmitten eines dunklen Dschungels voll giftiger Pflanzen. Er rechnete jeden Augenblick damit, den weißen, schnurrbart-besetzten Schlund des Monsterwelses aus dem Wasser auftauchen zu sehen und von ihm verschlungen zu werden. Auf dass nichts weiter von ihm übrigbliebe als der am Grunde dieses Schmutzwassertrogs liegende Fischkot. Während er weiter dahintrieb, wünschte er sich, die Welt lieben zu können, so wie sie war. Er empfand es als eine beachtliche Leistung, dies gelegentlich fertiggebracht zu haben, da es viel leichter war, das Gegenteil zu tun. Zu hassen erforderte keine größere Mühe, als sich umzublicken. Er musste sich eingestehen, dass es ein Zeichen von Schwäche war, wenn er erwartete, alles um ihn herum müsse so beschaffen sein, dass es ihm behagte. Aber bei einigen Orten, die er kannte, war das durchaus weitgehend der Fall. Cold Mountain. Scapecat Branch. Doch um dorthin zu gelangen, musste er zunächst einmal diese hundert Meter Fluss überwinden. Als sie nach einiger Zeit direkt an der Anlegestelle vorüberglitten, wurde der Mond abermals von Wolken verhüllt. Inman konnte die Männer so deutlich sprechen hören, als stünde er mitten in der Gruppe. Einer der Männer – offenbar der mit der Whitworth – sagte: Bei Tageslicht könnte ich dem Kerl mit diesem Ding die Ohren vom Kopf schießen. Es dauerte ziemlich lange, bis der Mond abermals zum Vorschein kam. Inman zog sich ein Stück an der Kanuwand hoch und spähte hinüber. Weit hinten an der Anlegestelle sah er winzige Gestalten mit den Armen fuchteln und wütend auf und ab springen. Während der Abstand immer größer wurde, fielen ihm viele Dinge ein, von denen er wünschte, sie könnten auf die gleiche Weise einfach kleiner und kleiner werden, bis sie schließlich ganz verschwunden wären. Der deutlichste Hinweis auf ihr Vorhandensein bestand aus dem gelegentlichen Aufplatschen eines Geschosses, dem nach
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einem bestimmten Abstand der Knall des langen Gewehrs folgte. Wie Donner und Blitz, dachte Inman. Er nutzte die Zeit, um die Sekunden zu zählen, die zwischen dem Aufschlag einer Kugel und dem schwachen Knall vergingen. Es wollte ihm jedoch nicht einfallen, wie man daraus die Entfernung berechnete. Und er wusste auch nicht, ob hier überhaupt das gleiche Prinzip anwendbar war. Der Fluss spülte sie schließlich um eine Biegung, und die Anlegestelle war nicht mehr zu sehen. Nun konnten sie gefahrlos auf die andere Kanuseite überwechseln, und von dort aus ließ sich das Boot in Richtung Ufer drücken, so dass sie kurze Zeit später an Land kletterten. Die eine Seite des Kanus war so zerschossen, dass es nicht mehr zu flicken war, und so ließen sie es im seichten Wasser schaukelnd zurück und gingen zu Fuß flussaufwärts. Als sie bei dem Haus angelangt waren, gab Inman dem Mädchen als Entschädigung für das alte Kanu noch ein paar Scheine dazu, und sie erklärte ihm, wie er gehen müsse, um auf die nach Westen führende Straße zu treffen. — Ein paar Meilen weiter oben gabelt sich der Fluss in den Haw und in den Deep. Der Deep ist der linke Arm, und dem müssen Sie ein Stück folgen, denn er kommt fast direkt von Westen. Inman lief weiter flussauf, bis er die Gabelung erreichte, und kletterte dann so tief in das Gestrüpp hinein, dass er vom Weg aus nicht mehr zu sehen war. Er wagte nicht, ein Feuer zu entfachen, um sich Maisbrei zu machen, und so aß er nur einen grünen Apfel, den er unterwegs vom Boden aufgelesen hatte, sowie den Käse und den Zwieback, der jetzt intensiv nach Cape Fear River schmeckte. Er scharrte mit den Füßen das Laub auf dem Waldboden zusammen, bis die Schicht dick genug war, um die Bodenfeuchte abzuhalten. Dann streckte er sich darauf aus und schlief drei Stunden. Als er erwachte, schmerzte sein Gesicht von den blauen Flecken, die er sich bei dem Kampf zugezogen hatte. Seine Hände waren von der Flucht durch den Niederwald mit von dem Giftsumach
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hervorgerufenen Blasen übersät. Als er sich über den Hals strich, merkte er an dem frischen Blut an seiner Hand, dass seine Wunde wieder aufgeplatzt war – entweder von der Anstrengung, als er sich gegen die drei Männer zur Wehr gesetzt hatte, oder weil die Schorfschicht im Fluss aufgeweicht war. Er schnallte sich seine Gepäckstücke um und machte sich wieder auf den Weg.
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Lauter ermüdende Tätigkeiten
Die Übereinkunft, zu der Ada und Ruby an jenem ersten Morgen gelangten, war folgende: Ruby würde zu Ada ins Tal ziehen und ihr beibringen, wie man eine Farm führte. Ihre Arbeit würde nur zu einem geringen Teil mit Geld bezahlt werden. Die beiden würden die meisten Mahlzeiten gemeinsam einnehmen, doch da Ruby die Vorstellung nicht benagte, mit jemand anderem zusammenzuwohnen, beschloss sie, in die alte Jagdhütte zu ziehen. Nach ihrem ersten gemeinsamen Mittagessen, das aus Hühnerfleisch und Klößen bestanden hatte, machte sich Ruby auf den Heimweg und wickelte alles, was sich mitzunehmen lohnte, in eine Decke. Sie knüpfte die Enden zusammen, hängte sich das Bündel über die Schulter und brach, ohne sich noch einmal umzusehen, nach Black Cove auf. In den ersten gemeinsamen Tagen machten die beiden Frauen eine Bestandsaufnahme der Farm, wobei sie die zu erledigenden Arbeiten in der Reihenfolge ihrer Dringlichkeit auflisteten. Während sie zusammen über die Farm gingen, begutachtete Ruby alles kritisch und gab dabei pausenlos Kommentare ab. Das Vordringlichste sei es, das Wintergemüse in den Boden zu bringen. Ada ging neben ihr einher und vermerkte alles in einem Notizbuch, in das sie bislang nur kurze Gedichte, Gedanken über das Leben und die wichtigsten Tagesereignisse geschrieben hatte. Jetzt kamen Einträge wie diese hinein: Sofort in Angriff nehmen: Einen Garten mit Gemüse für die kalte Zeit anlegen – Steckrüben, Zwiebeln, Kohl, Kopfsalat, Blattgemüse. Haben wir Kohlsamen vorrätig?
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Demnächst erledigen: Schadhafte Schindeln auf dem Scheunendach ersetzen; haben wir einen Schlegel und ein Spalteisen? Steinguttöpfe zum Einlegen von Bohnen und Tomaten kaufen. Kräuter für Wurmpillen für das Pferd sammeln.
Und so weiter. Unzählige Arbeiten, denn Ruby war offenbar entschlossen, jeden Quadratmeter Boden nutzbar zu machen. Da die Wiesen nicht oft genug gemäht worden seien, drohe das Gras von Wolfsmilch, Scharfgarbe und Traubenkraut verdrängt zu werden, meinte Ruby, aber es sei noch nicht zu spät, um einzugreifen. Dem alten Maisfeld habe es gutgetan, mehrere Jahre lang brachzuliegen, erklärte sie, und man könne es jetzt von Unkraut befreien. Die Nebengebäude seien ganz gut in Schuss, aber der Hühnerbestand sei zu klein. Der Gemüsekeller im Vorratsschopf sei ihrer Einschätzung nach nicht tief genug; wenn sie ihn nicht dreißig Zentimeter tiefer gruben, bestehe die Gefahr, dass darin eingelagerte Kartoffeln während einer Frostperiode erfroren. Wenn es ihnen gelänge, in Flaschenkürbishäusern entlang des Gartens eine Schwalbenkolonie anzusiedeln, würde das helfen, die Krähen zu vertreiben. Rubys Vorschläge erstreckten sich in alle Richtungen und schienen kein Ende zu nehmen. Sie gedachte die Äcker nach dem System der Dreifelderwirtschaft zu bebauen. Plante, eine kleine Kornmühle zu errichten, damit sie ihr feines und grobes Maismehl nach der ersten Maisernte – unter Nutzung der Wasserkraft des Baches – selbst mahlen könnten und ihnen die Zahlung des Zehnten an den Müller erspart bliebe. Eines Abends, kurz bevor sie sich in der Dunkelheit zu ihrer Hütte aufmachte, sagte sie noch: Wir müssen uns ein paar Perlhühner zulegen. Als Spiegeleier taugen ihre Eier zwar nicht viel, aber zum Backen sind sie nicht schlecht. Und es ist einfach nett, ein paar Perlhühner zu haben, selbst wenn man die Eier gar nicht verwendet. Außerdem sind sie in mehrfacher Hinsicht nützlich. Zum einen sind sie gute Aufpasser, und zum anderen haben sie die Schädlinge in einer Reihe
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Stangenbohnen ruckzuck weggefressen. Ihre ersten Worte am darauffolgenden Morgen waren: Hast du eigentlich freilaufende Schweine im Wald? Ada entgegnete: Nein, wir haben unseren Schinken immer gekauft. — Ein Schwein hat etliches mehr zu bieten als nur die zwei Schinken, sagte Ruby. Schweineschmalz zum Beispiel. Davon werden wir eine Menge brauchen. Obwohl Monroe mit seinem Grundbesitz in Black Cove so nachlässig umgegangen war, gab er mehr her, als Ada bewusst gewesen war. Bei einem ihrer ersten Rundgänge zeigte sich Ruby begeistert über die vielen Apfelbäume. Sie waren von der Familie Black gepflanzt und gepflegt worden und wiesen erst jetzt die ersten Zeichen mangelnder Pflege auf. Obwohl sie seit längerem nicht beschnitten worden waren, hingen sie voll mit reifenden Früchten. — Im Oktober, sagte Ruby, werden wir diese Äpfel gegen etliche andere Waren eintauschen können, und folglich im Winter wesentlich besser über die Runden kommen. Sie hielt inne und dachte eine Weile nach: Du hast nicht etwa eine Presse, oder? fragte sie. Als Ada erwiderte, dass möglicherweise irgendwo eine stehe, juchzte Ruby laut auf. — Gegen Apfelmost läßt sich beträchtlich mehr eintauschen als gegen Äpfel, sagte sie. Das einzige, was wir tun müssen, ist, ihn herzustellen. Auch von dem kleinen Tabakfeld zeigte sich Ruby angetan. Im Frühjahr hatte Monroe seinem Lohnarbeiter die Erlaubnis gegeben, sich auf einem kleinen Stück Land Tabak für den Eigenbedarf anzubauen. Obwohl sich fast den ganzen Sommer über niemand um die Pflanzen gekümmert hatte, waren sie erstaunlich groß und buschig geworden und nicht abgefressen, wenn auch das Unkraut zwischen den Reihen nur so wucherte und die Pflanzen dringend gekappt und ausgegeizt werden mussten. Ruby glaubte, dass sich die Pflanzen trotz mangelnder Pflege so gut entwickelt hatten, weil sie unter Beachtung der Mondphasen gepflanzt worden seien. Sie
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schätzte, dass sie mit etwas Glück eine kleine Ernte würden einholen können. Wenn sie die Blätter trockneten, mit Melasse saucierten und zu Priemen wickelten, könnten sie den Tabak gegen Saatgut, Salz, Treibmittel und andere Dinge eintauschen, die sie nicht selbst herstellen konnten. Die Praxis des Tauschhandels beschäftigte Adas Gedanken sehr, da sie davon keine Ahnung hatte und sich doch zugleich mit ihren Geldmitteln so plötzlich am Ende fand. Partnerschaftlich und vertrauensvoll hatte sie Ruby in allen Einzelheiten über ihre zerrütteten Vermögensverhältnisse ins Bild gesetzt. Als sie Ruby darlegte, mit wie wenig Geld sie auskommen müssten, sagte Ruby: Ich habe noch nie ein größeres Geldstück in meiner Hand gehalten als einen Dollar. Ada sah bald ein, dass auch wenn sie sich wegen der fehlenden Barmittel große Sorgen machte, sie nach Rubys Meinung ohne Geld nicht viel schlechter dran waren als mit. Ruby hatte es immer nach Kräften vermieden, Dinge käuflich zu erwerben, und hegte selbst in besseren Zeiten ein tiefes Mißtrauen gegen Geld als Zahlungsmittel, insbesondere, wenn sie es mit so handfesten Dingen wie Jagen und Sammeln, Pflanzen und Ernten verglich. Rubys tiefes Mißtrauen wurde gegenwärtig noch dadurch untermauert, dass Papiergeld so sehr an Wert verloren hatte, dass man dafür kaum noch etwas kaufen konnte. Bei ihrer ersten gemeinsamen Fahrt in die Stadt hatten sie es kaum fassen können, als man ihnen fünfzehn Dollar für ein Pfund Soda abverlangt hatte, fünf Dollar für ein Heft mit Nähnadeln in drei Größen und zehn Dollar für vierundzwanzig Bogen Schreibpapier. Hätten sie es sich leisten können, hätten sie für einen Ballen Stoff fünfzig Dollar hinblättern müssen. Ruby wies Ada darauf hin, dass sie für Stoff keinen Cent auszugeben brauchten, wenn sie Schafe hätten. Sie könnten sie scheren und die Wolle kardätschen, spinnen, aufwickeln, färben und Stoffe für Kleider und Unterwäsche daraus weben. Ada argwöhnte, dass jeder einzelne dieser von Ruby so locker aufgezählten Schritte viele Tage harter Arbeit bedeutete, deren Ergebnis dann ein paar
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Meter Stoff von der Struktur groben Sackleinens wären. Geld zu haben machte alles viel einfacher. Doch selbst wenn sie welches hätten, wollten die Ladenbesitzer es gar nicht unbedingt haben, da der Wert, noch ehe sie es wieder ausgeben konnten, vermutlich schon wieder gesunken sein würde. Die Leute hatten allgemein das Gefühl, ihr Papiergeld so schnell wie möglich ausgeben zu müssen, da sonst leicht die Gefahr bestand, dass es nicht mehr wert sein würde als ein entsprechend großer Haufen Weizenspreu. Tauschhandel war somit wesentlich sicherer. Und das schien Ruby voll und ganz zu verstehen. Sie hatte den Kopf voller Ideen, wie sie diesbezüglich so viel wie möglich aus Black Cove herausholen könnte. Es dauerte nicht lange, bis Ruby einen Plan aufgestellt hatte. Sie legte ihn Ada dar, damit sie wählen konnte. Bei ihrer Besichtigungsrunde um die Farm hatte sie festgestellt, dass es dort zwei Gegenstände gab, die von Wert und zugleich transportierbar und entbehrlich waren: die Kutsche und das Klavier. Sie glaubte, gegen eins von beiden genügend Waren eintauschen zu können, um damit über den Winter zu kommen. Ada überlegte zwei Tage lang hin und her. In dieser Zeit sagte sie einmal zu Ruby: Es wäre eine Schande, den prächtigen Apfelschimmel zu einem Ackergaul zu degradieren, und Ruby sagte: Pflügen wird er ohnehin müssen, egal wofür du dich entscheidest. Er wird sein Futter genauso abarbeiten müssen wie jeder andere hier. Ada überraschte sich schließlich selbst mit ihrem Entschluß, sich von dem Klavier zu trennen. Es muss allerdings der Wahrheit halber gesagt werden, dass sie das Instrument nicht besonders gut beherrschte, und es zudem Monroe gewesen war, der sie dazu angehalten hatte, Klavier spielen zu lernen. Es war ihm daran so viel gelegen gewesen, dass er einen Lehrer eingestellt hatte, der bei ihnen im Haus gewohnt hatte. Ein kleiner Mann namens Tip Benson, der selten je eine Stellung über längere Zeit behielt, weil er es nicht unterlassen konnte, sich in seine Schützlinge zu verlieben. Ada war da
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keine Ausnahme gewesen. Sie war damals fünfzehn, und eines Nachmittags, als sie gerade eine komplizierte Passage von Bach einübte, war Benson neben der Klavierbank auf die Knie gesunken, hatte ihre Hände von der Tastatur gezogen und die Handrücken an seine Pausbacken gedrückt. Er war damals höchstens vierundzwanzig Jahre alt und recht dicklich, wobei er für seine untersetzte Figur ungewöhnlich lange Finger hatte. Er drückte seine geschürzten roten Lippen auf ihre Handrücken und küßte sie leidenschaftlich. Ein anderes Mädchen in Adas Alter hätte ihn möglicherweise eine Zeitlang zu ihrem Vorteil ausgenutzt, doch Ada entschuldigte sich auf der Stelle, begab sich schnurstracks zu Monroe und erzählte ihm, was vorgefallen war. Die Uhr hatte noch nicht sechs geschlagen, als Benson bereits seine Sachen gepackt hatte und fort war. Monroe stellte unverzüglich eine alte Jungfer als Musiklehrerin ein, deren Kleider nach Kerosin und Achselschweiß rochen. Dass Ada sich entschied, das Klavier gegen andere Dinge einzutauschen, lag zum Teil in dem Gedanken begründet, dass sie in ihrem zukünftigen Leben für die Kunst nur wenig Zeit haben würde, und dass sie das bisschen, was ihr bliebe, mit Zeichnen ausfüllen konnte. Dafür würde sie nichts weiter benötigen als einen Bleistift und Papier. Sie war sich über sämtliche Gründe im klaren, die dafür sprachen, sich von dem Klavier zu trennen. Was sie hingegen dazu bewog, die Kutsche zu behalten, hätte sie nicht zu sagen vermocht. Da war zum einen die Tatsache, dass sie Monroe gehört hatte, doch glaubte sie nicht, dass dies der ausschlaggebende Beweggrund war. Sie hatte vielmehr den Verdacht, das Entscheidende war die mit dem Gefährt verbundene Mobilität. Die in seinen großen Rädern liegende Verheißung, wenn es hart auf hart kam, einfach nur hineinklettern und davonfahren zu können. Sich wie vor ihr die Familie Black von der Einstellung leiten lassen zu können, dass man jede Last abwerfen und jedes verfehlte Leben ins Lot bringen konnte, indem man einfach die Zelte abbrach und sich
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auf den Weg machte. Als Ada ihre Entscheidung äußerte, wurde Ruby unverzüglich aktiv. Sie wusste genau, wer über mehr Vieh und Ernteprodukte verfügte, als er benötigte, und mit wem sich ein vorteilhaftes Tauschgeschäft machen ließe. In diesem Fall fiel ihre Wahl auf den alten Jones am East Fork. Sie wusste, dass seine Frau schon seit längerem mit einem Klavier liebäugelte und versuchte deshalb, so viel herauszuhandeln wie nur möglich. Jones musste als Gegenwert schließlich eine rotbunte Zuchtsau, ein Ferkel und hundert Pfund grobes Maismehl herausrücken. Außerdem meinte Ruby – in Anbetracht der Tatsache, dass Wolle in so vielerlei Hinsicht nützlich war, insbesondere bei den gegenwärtig hohen Stoffpreisen –, dass es nicht schaden könne, ein paar der kleinen Bergschafe zu besitzen, die nicht viel größer waren als ein ausgewachsener Hund mittelgroßer Rasse. Deshalb überredete sie Jones, noch ein halbes Dutzend davon dazuzugeben. Außerdem eine Fuhre Kohlköpfe. Und einen Schinken und zehn Pfund Speck von dem ersten Schwein, das er im November schlachtete. Wenige Tage später hatte Ruby die Schweine und die kleinen Schafe, unter denen auch zwei schwarze waren, nach Black Cove getrieben. Sie scheuchte sie auf die Hänge des Cold Mountain, damit sie sich den Herbst über ihr Futter selbst suchten, sich von dem mästeten, was sie finden konnten, denn das würde eine Menge sein. Ehe sie die Tiere ziehen ließ, zog sie ihr Messer heraus, stutzte ihnen als Erkennungszeichen mit zwei glatten Schnitten die linken Ohren und schlitzte sie dann an einer Stelle ein, so dass alle Tiere quiekend und blökend und mit blutüberströmten Köpfen bergwärts flohen. Eines Nachmittags kam Old Jones mit einem Wagen und einem zweiten alten Mann, um das Klavier zu holen. Die beiden standen lange im Wohnzimmer und betrachteten das Instrument. Der zweite alte Mann sagte: Ich bin nicht sicher, ob wir das Ding heben können, worauf Old Jones sagte: Wir haben es bezahlt, also muss es mit. Nach unendlichen Mühen
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hatten sie es schließlich auf den Wagen gehievt, wo sie es festzurren mussten, denn es ragte hinten ein ganzes Stück über die Ladefläche hinaus. Ada saß auf der Veranda und sah zu, wie ihr Klavier davonfuhr. Der ungefederte Wagen polterte über jede Furche und jeden Stein, so dass das Klavier zum Abschied seine eigene beängstigende und mißtönende Melodie spielte. Ada verspürte kein großes Bedauern, musste aber, während sie den Wagen davonfahren sah, an eine Gesellschaft denken, die Monroe im letzten Winter vor dem Krieg vier Tage vor Weihnachten gegeben hatte. Sämtliche Wohnzimmerstühle waren an die Wände gerückt worden, damit in der Raummitte Platz zum Tanzen war, und alle, die Klavier spielen konnten, hauten abwechselnd in die Tasten, spielten Weihnachtslieder, Walzer und sentimentale Salonweisen. Im Eßzimmer war der Tisch beladen mit kleinen Schinkenbrötchen, Kuchen, dunklem Brot, gefüllten Pasteten und einer Kanne Tee, die den Geruch von Orangen, Zimt und Nelken verströmte. Da keine Baptisten zugegen waren, verursachte die Tatsache, dass Monroe Champagner ausschenkte, nur einen kleineren Skandal. Sämtliche Petroleumlampen brannten, und die Leute bestaunten ihre Glaszylinder, deren Öffnungen geformt waren wie sich öffnende Blüten – damals etwas ganz Neues und noch nicht weit verbreitet. Sally Swanger allerdings befürchtete, dass sie explodieren könnten, fand ihr Licht außerdem zu grell und meinte, dass dünne Wachskerzen und das Licht vom Kamin ihren alten Augen besser bekämen. Gegen Abend bildeten sich Grüppchen von Gleichgesinnten, die beieinandersaßen und miteinander plauderten. Ada saß bei den Frauen, ließ ihre Blicke jedoch ständig durch das Zimmer schweifen. Sechs alte Männer zogen ihre Stühle vor den Kamin und unterhielten sich über die sich im Kongreß zusammenbrauende Krise, nippten dabei an ihren Sektflöten und hielten sie gegen das Licht, um die Perlen zu bestaunen. Esco sagte: Wenn es zu einem Kampf kommt, werden die
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Unionisten uns alle niedermetzeln. Als ihm andere in der Gruppe heftig widersprachen, blickte Esco in sein Glas und sagte: Einen Mann, der so perlenden Schnaps brannte, würde man für verrückt erklären. Auch die jungen Männer beobachtete Ada mit milder Neugier, Söhne hochgeschätzter Gemeindemitglieder. Sie saßen in einer Ecke am anderen Ende des Wohnzimmers und unterhielten sich lautstark. Die meisten von ihnen verschmähten den Champagner und nahmen nur hin und wieder halb verstohlen einen Schluck aus ihren mit Korn gefüllten Flachmännern. Hob Mars, der bei Ada kürzlich einen ziemlich erfolglosen Annäherungsversuch gemacht hatte, verkündete so laut, als waren seine Worte an den ganzen Saal gerichtet, dass er nun schon seit einer Woche Abend für Abend die Geburt des Erlösers feiere. Er brüstete sich damit, von den Gesellschaften, die so langweilig gewesen seien, dass sie schon vor dem Morgengrauen geendet hätten, heimgegangen zu sein, indem er sich mit Pistolenfeuer den Weg geleuchtet habe. Er griff nach dem Flachmann seines Sitznachbarn und nahm einen Schluck. Dann rieb er sich mit dem Handrücken über den Mund, besah sich die Hand und rieb noch einmal. Der haut mächtig rein, sagte er laut und reichte die Flasche zurück. In einer anderen Ecke saßen Frauen verschiedenen Alters beieinander. Dort saß Sally Swanger wie eine Puppe mit abgewinkelten Füßen und vorgestreckten Beinen und wartete darauf, dass jemand ihre schönen neuen Schuhe bewunderte. Eine andere der älteren Frauen erzählte lang und breit von der schlechten Partie, die ihre Tochter gemacht habe. Auf Beharren des Ehemanns müsse ihre Tochter ein Haus mit einer Hundefamilie teilen, die ständig in der Küche herumlungere, außer, wenn sie mit auf Waschbärenjagd sei. Die Frau erklärte, sie komme dort nicht gerne zu Besuch, weil immer Hundehaare in der Sauce schwämmen. Ihre Tochter habe seit mehreren Jahren ein Baby nach dem anderen zur Welt gebracht, erzählte sie weiter, und sehe, obwohl sie damals
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ganz wild aufs Heiraten gewesen sei, die Ehe mittlerweile in einem ziemlich düsteren Licht. Sie betrachte die Ehe nunmehr als einen Zustand, der sich im wesentlichen auf das Wischen nackter Hinterteile beschränke. Die anderen Frauen lachten, aber Ada hatte einen Augenblick lang das Gefühl, ihr bliebe die Luft weg. Später vermischten sich die Gruppen; einige standen singend um das Klavier herum, und ein paar der jüngeren Leute tanzten. Auch Ada griff eine Weile in die Tasten, war mit ihren Gedanken jedoch nicht bei der Musik. Nachdem sie ein paar Walzer gespielt hatte, erhob sie sich wieder und sah amüsiert zu, wie Esco aufstand und ohne Tanzpartner mit nur seinem Gepfeife als Begleitmusik einen Schleifer hinlegte, dass ihm die Augen glasig wurden und sein Kopf hin und her wackelte, als hinge er an einem Seil. Als der Abend voranschritt, spürte Ada, dass sie mehr als nur ein Glas Champagner zuviel getrunken hatte. Ihr Gesicht fühlte sich feuchtkalt und klebrig an, und ihr Hals schwitzte unter dem Rüschenbesatz des hohen Kragens ihres grünen Samtkleides. Ihre Nase fühlte sich an, als wäre sie geschwollen, und zwar dermaßen, dass sie sie zwischen Daumen und Zeigefinger nahm, um festzustellen, wie breit sie geworden war, und dann in die Diele vor den Spiegel trat, wo sie zu ihrer Verwunderung feststellte, dass sie ganz normal aussah. In diesem Moment hatte Sally Swanger, die offensichtlich ebenfalls unter dem Einfluss von Monroes Champagner stand, Ada in der Diele beiseite gezogen und ihr zugeflüstert: Der junge Inman ist gerade eingetrudelt. Ich sollte vielleicht lieber den Mund halten, aber ich finde, du solltest ihn heiraten. Ihr beide würdet bestimmt ganz goldige braunäugige Babys zustande bringen. Ada war über diese Bemerkung so schockiert gewesen, dass sie tiefrot anlief und in die Küche floh, um ihre Fassung wiederzufinden. Doch zu ihrem noch größeren Entsetzen musste sie
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feststellen, dass dort Inman allein in der Ofenecke saß. Er war verspätet eingetroffen und wärmte sich, nachdem er durch einen nieselnden Winterregen geritten war, gerade etwas auf und trocknete seine Kleider, ehe er zu den anderen hinübergehen wollte. Er trug einen schwarzen Anzug und saß mit übereinandergeschlagenen Beinen da, wobei er seinen nassen Hut über eine Stiefelspitze gehängt hatte und an den heißen Ofen hielt. Er hielt die Handflächen hoch, um sie vom Feuer wärmen zu lassen, so dass es aussah, als stemmte er sich gegen etwas. — Ach, sagte Ada. Da sind Sie also. Die Damen sind schon ganz entzückt, dass Sie da sind. — Die älteren Damen? fragte Inman. — Eigentlich alle. Aber Mrs. Swanger zeigte sich über Ihre Ankunft ganz besonders erfreut. Bei diesen Worten stieg Ada unvermittelt ein durch Mrs. Swangers Bemerkung hervorgerufenes Bild so deutlich vor Augen, dass sie einen Blutandrang im Kopf spürte. Sie errötete abermals und fügte schnell hinzu: Und sie war bestimmt nicht die einzige. — Ist Ihnen nicht gut? fragte Inman, der über ihr Verhalten einigermaßen verblüfft war. — Doch, doch. Es ist nur so stickig hier. — Sie wirken erhitzt. Ada betastete ihr feuchtes Gesicht mit den Rückseiten ihrer Finger und wusste nicht, was sie sagen sollte. Sie spreizte Daumen und Zeigefinger und vermaß abermals ihre Nase. Sie ging zur Tür und öffnete sie, um einen Zug kühler Luft einzuatmen. Die Nacht roch nach feuchtem, faulendem Laub und war so schwarz, dass sie hinter den vom Verandadach fallenden Wassertropfen, die von dem durch die Tür fallenden Licht angestrahlt wurden, nichts erkennen konnte. Aus dem Wohnzimmer drangen die einfachen ersten Takte von Good King Wenceslas herüber, und Ada erkannte an der steifen Phrasierung, dass es Monroe war, der am Klavier saß. Dann wurde das hohe, einsame Geheul eines Grauwolfes weit oben
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in den Bergen durch die Dunkelheit getragen. — Das klingt richtig verzweifelt, sagte Inman. Ada hielt die Tür auf und wartete auf einen Antwortruf, aber es kam keiner. Armer Kerl, sagte sie. Sie schloß die Tür und drehte sich zu Inman hin. Dabei wurde sie unvermittelt von der in dem Raum herrschenden Hitze, dem Champagner und dem Ausdruck auf Inmans Gesicht übermannt, der so innig war, wie sie dort noch nie einen gesehen hatte. Ihr wurde weich in den Knien und schwindelig. Sie machte ein paar unsichere Schritte nach vorn, und als Inman sich halb erhob und seine Hand vorstreckte, um sie zu stützen, ergriff sie die Hand. Und dann – sie konnte später selbst nicht mehr nachvollziehen, wie es vonstatten gegangen war – saß sie plötzlich auf seinem Schoss. Er legte seine Hände einen Moment lang auf ihre Schultern, und sie lehnte ihren Kopf an seine Brust. Ada erinnerte sich, dass sie sich gewünscht hatte, diesen Platz niemals verlassen zu müssen, nicht aber daran, ob sie diese Worte laut ausgesprochen hatte. Woran sie sich hingegen erinnerte, war, dass er genauso zufrieden gewirkt hatte wie sie und dass er sie nicht etwa bedrängt hatte, sondern die Hände nur bis zu ihren Schulterkappen geführt und sie dort ruhen gelassen hatte. Sie erinnerte sich an den Geruch seines feuchten Wollanzugs und einen intensiven Geruch nach Pferd und Sattelzeug. Sie saß vielleicht eine halbe Minute, nicht länger, auf seinem Schoss. Dann sprang sie auf und lief aus der Küche. Sie erinnerte sich, wie sie an der Tür die Hand an den Türrahmen legte und noch einen Blick zu ihm zurückwarf, und wie er dagesessen hatte, ein verwirrtes Lächeln auf dem Gesicht, seinen Hut mit der Krone nach unten neben sich auf dem Fußboden. Ada ging zurück zum Klavier, löste Monroe ab und spielte eine ganze Weile. Irgendwann kam Inman hinterher und blieb, die Schulter an den Türpfosten gelehnt, an der Schwelle zum Wohnzimmer stehen. Er nippte an einer Sektflöte und sah ihr eine Zeitlang zu, dann ging er zu Esco hinüber, der noch
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immer vor dem Kamin saß. Während des restlichen Abends erwähnten weder Ada noch Inman, was in der Küche vorgefallen war. Sie redeten nur noch einmal kurz und verlegen miteinander, und Inman machte sich früh auf den Heimweg. Als sich in den frühen Morgenstunden die anderen Gäste auf den Heimweg machten, stand Ada hinter dem Wohnzimmerfenster und beobachtete, wie die jungen Männer die Straße hinabliefen und dabei mit ihren Pistolen in die Luft schossen, so dass ihre Silhouetten im Schein des Mündungsfeuers jedesmal kurz aufleuchteten. Ada blieb noch eine Weile sitzen, nachdem der Wagen mit dem Klavier hinter der Kurve im Weg verschwunden war. Dann zündete sie eine Lampe an und stieg ins Kellergeschoss hinab, da ihr der Gedanke gekommen war, dass Monroe dort vielleicht ein oder zwei Kisten Champagner eingekellert hatte, und es ganz nett wäre, hin und wieder eine Flasche zu öffnen. Sie fand zwar keinen Sekt, dafür aber einen echten Schatz – einen Schatz, mit dem sie noch einträglichere Tauschgeschäfte würden tätigen können als bisher. In einer Ecke stand dick und schief ein Zentnersack grüner Kaffeebohnen, die Monroe eingelagert hatte. Sie rief Ruby herbei, und sie füllten sogleich die Kaffeetrommel, rösteten ein halbes Pfund der Bohnen über dem Feuer, mahlten sie und brühten sich den ersten richtigen Kaffee auf, den sie beide seit über einem Jahr getrunken hatten. Sie tranken eine Tasse nach der anderen und blieben fast die ganze Nacht auf, schmiedeten Zukunftspläne und tauschten Erinnerungen aus der Vergangenheit aus. Irgendwann erzählte Ada sogar die ganze spannende Geschichte von Linie Dornt, eines der Bücher, das sie während des Sommers gelesen hatte. In den darauffolgenden Tagen tauschten sie bei ihren Nachbarn die Kaffeebohnen halbpfundund tassenweise gegen andere Waren ein. Nur zehn Pfund behielten sie für den Eigengebrauch. Als der Sack leer war, waren sie im Besitz von einer Speckseite, fünf Scheffeln
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irischen Kartoffeln, vier Scheffeln Süßkartoffeln und sechs Scheffeln getrocknetem Mais, einer Dose Backpulver, acht Hühnern, mehrerer Körbe Kürbisse, Bohnen und Okras, sowie eines altes Spinnrads, eines leicht reparaturbedürftigen Webstuhls und einer Zahl Holzschindeln, die ausreichte, um das Räucherhaus neu zu decken. Das wertvollste, was sie für den Kaffee bekamen, war ein Sack mit fünf Pfund Salz, denn Salz war so knapp und so teuer geworden, dass manche Leute die Böden ihrer Räucherhäuser aufgruben, die Erde auskochten und filterten, abermals auskochten und filterten – und so weiter, bis die ganze Erde herausgefiltert und das Wasser verdampft war, so dass sie am Ende das von den Schinken der Vorjahre herabgetropfte Salz wiedergewonnen hatten. Bei diesen Handelsaktionen und in jeder Hinsicht sonst erwies sich Ruby als das reinste Energiebündel, und sie zwang auch Adas Tagen bald eine feste Routine auf. Die Sonne war noch nicht aufgegangen, da war Ruby bereits von ihrer Hütte zur Farm hinuntergegangen, hatte das Pferd gefüttert, die Kuh gemolken und hantierte dann laut klappernd mit Töpfen und Pfannen in der Küche. Im Herd brannte ein prasselndes Feuer, in einem Topf blubberte gelbe Maisgrütze und aus einer schwarzen Pfanne mit Eiern und Speck spritzte Fett. Ada war es nicht gewohnt, bei Morgengrauen aufzustehen – genauer gesagt: sie war den Sommer über selten vor zehn Uhr aufgestanden –, doch auf einmal blieb ihr kaum etwas anderes übrig. Falls Ada noch im Bett lag, kam Ruby und scheuchte sie hinaus. Ruby hielt es für ihre Aufgabe, Dinge in Gang zu setzen und nicht etwa zu warten, bis ihr jemand Befehle erteilte. Wenn Ada hin und wieder versehentlich ein Befehl herausrutschte, als spräche sie mit einem Dienstmädchen, sah Ruby sie nur scharf an und fuhr dann seelenruhig mit dem fort, was sie gerade machte. Und ihr Blick besagte, dass sie jederzeit von einer Minute auf die andere verschwunden sein könnte wie an einem sonnigen Tag der Morgennebel. Ruby erwartete zwar nicht, dass Ada die Zubereitung des
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Frühstücks übernahm, bestand aber darauf, dass sie zumindest anwesend war, um seiner Fertigstellung beizuwohnen. Demzufolge kam Ada im Morgenrock hinunter in die Küche, ließ sich auf dem Stuhl in der warmen Ofenecke nieder und hielt sich mit beiden Händen an ihrer Kaffeetasse fest. Durch das Fenster konnte sie beobachten, wie der graue, konturenlose Tag langsam Formen annahm. Selbst an Tagen, an denen der Himmel Stunden später ganz klar war, konnte Ada durch den Morgennebel meist nicht einmal die Latten des Zaunes um den Küchengarten erkennen. Irgendwann blies Ruby dann das gelbe Lampenlicht aus, und in der Küche wurde es schlagartig dunkel. Bald darauf nahm das Licht von draußen her zu und erfüllte den Raum. Ada, die in ihrem Leben noch nicht viele Tagesanbrüche erlebt hatte, empfand es täglich als ein Wunder. Ruby redete sowohl beim Kochen als auch beim Essen ununterbrochen und stellte den Arbeitsplan des jeweiligen Tages auf – lauter harte Arbeiten, die für Adas Empfinden nur schwer mit dem durch das Fenster sichtbaren weichen, verschwommenen Tag zu vereinbaren waren. Als sich der Sommer allmählich dem Ende zuneigte, schien Ruby den herannahenden Winter so eindringlich zu spüren wie ein Bär, der im Herbst die ganze Nacht und den halben Tag hindurch futtert, um das Fett anzusetzen, das notwendig ist, um durch den Winterschlaf zu kommen. Ruby redete nur von Dingen, die anstrengend waren. Von Arbeiten, die erforderlich seien, um sie durch den Winter zu bringen. Ada hatte den Eindruck, dass Rubys Monologe fast ausschließlich aus Verben bestanden – Verben, die lauter ermüdende Tätigkeiten bezeichneten. Pflügen, pflanzen, hacken, schneiden, einmachen, füttern, schlachten. Als Ada einmal bemerkte, dass sie doch zumindest im Winter eine Ruhepause einlegen könnten, sagte Ruby: Oh, im Winter werden wir den Zaun ausbessern, Flickendecken nähen und alles, was kaputt ist, reparieren – und das ist hier eine ganze Menge.
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Dass es so viel Anstrengung bedeutete, einfach nur zu leben, war Ada bis dahin nicht in den Sinn gekommen. Wenn sie gefrühstückt hatten, arbeiteten sie ohne Pause. An Tagen, an denen es keine größere Sache in Angriff zu nehmen galt, erledigten sie die vielen kleinen Routinearbeiten. Solange Monroe lebte, hatte es kaum größere Mühen gegeben als Geld von Konten abzuheben, ein recht abstraktes Tun. Jetzt mit Ruby war alles, was sich um die Ernährung, Bekleidung und das Wohnen drehte, unangenehm konkret, verlangte nach sofortiger und eigenhändiger Erledigung und war ohne Ausnahme strapaziös. In ihrem bisherigen Leben hatte sich Ada naturgemäß kaum um den Garten gekümmert. Monroe hatte stets jemanden dafür bezahlt, das Gemüse für sie anzubauen, und folglich hatte Ada immer nur das Endprodukt gesehen – das auf dem Tisch stehende Essen –, nicht die Arbeit, die erforderlich war, damit es dorthin gelangte. Diese Sicht trieb Ruby ihr aus. Sie schien Ada in jenem ersten Monat täglich auf die rauhe Seite des Essens und des Lebens aufmerksam machen zu wollen. Sie stieß Ada mit der Nase an die Erde, damit sie ihren Zweck erkannte. Sie zwang Ada zur Arbeit, wenn sie nicht wollte, zwang sie, derbe Kleider anzuziehen und in der Erde zu wühlen, bis ihre Fingernägel ihr so rauh vorkamen wie Raubtierkrallen, zwang sie, auf das schräge Dach des Räucherhauses zu klettern und Schindeln zu verlegen, obwohl sich das grüne Dreieck des Cold Mountain am Horizont zu drehen schien. Ruby verbuchte es als einen ersten Erfolg für sich, als es Ada gelang, Rahm zu Butter zu stampfen. Ihren zweiten Triumph feierte sie, als sie merkte, dass Ada sich kein Buch mehr in die Tasche steckte, wenn sie aufs Feld ging, um den Boden zu hacken. Ruby bestand darauf, dass sich Ada auch an den unangenehmen Arbeiten beteiligte und zwang sie, ein zappelndes Huhn auf den Hackblock zu drücken und ihm mit einem Beil den Kopf abzuhauen. Als der blutüberströmte, kopflose Rumpf über den Hof torkelte, wie man es seit alters
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her von Säufern kennt, deutete Ruby mit ihrem gezackten Messer darauf und sagte: Da läuft dein Essen. Ruby konnte sich leisten, Ada auf diese Weise anzutreiben, weil Ada sich irgendwo im klaren darüber war, dass jeder andere, den sie einstellte, irgendwann die Nase voll haben und sie im Stich lassen würde. Ruby würde sie nicht im Stich lassen. Die einzige Zeit, in der die Arbeit ruhte, waren die Stunden, nachdem das Abendbrotgeschirr gespült und weggeräumt war. Dann saßen Ada und Ruby auf der Veranda, und Ada las bis zum Einbruch der Dämmerung aus einem Buch vor. Bücher und ihr Inhalt waren etwas völlig Neues für Ruby, deshalb hatte Ada es für das beste gehalten, möglichst weit am Anfang anzufangen. Nachdem sie Ruby mit den Griechen bekannt gemacht hatte, begann sie ihr aus Homer vorzulesen. Sie schafften pro Abend meistens fünfzehn bis zwanzig Seiten. Wenn es dann zum Lesen zu dunkel wurde und sich ein bläulicher Dunst über die Landschaft legte, klappte Ada das Buch zu und ermunterte Ruby, von sich zu erzählen. So erfuhr sie über mehrere Wochen hinweg Stück für Stück Rubys Lebensgeschichte. Ruby war so arm aufgewachsen, dass sie – so drückte sie sich aus – zum Kochen nur das Fett gehabt hatte, das man erhält, wenn man die Bratpfanne mit einer Schwarte einreibt. Und sie war es leid. Sie hatte ihre Mutter nie gekannt, und ihr Vater war ein notorischer Taugenichts und Gesetzesverächter namens Stobrod Thewes. Sie lebten in einer Hütte mit Lehmboden, die nicht viel besser war als ein überdachter Pferch. Sie war winzig und hatte immer etwas Provisorisches gehabt. So ziemlich das einzige, was die Hütte von einem Zigeunerwagen unterschied, war, dass sie keine Räder und keinen Fußboden hatte. Ruby hatte auf einer Art MiniaturDachboden geschlafen, der genaugenommen nichts weiter war als ein Regalbrett. Sie besaß einen alten Matratzenbezug, den sie mit getrocknetem Moos ausstopfte. Weil die Hütte keine Decke hatte, sondern über ihr nur das geometrische Muster der
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sich überlappenden Dachschindeln gewesen war, kam es häufig vor, dass Ruby morgens beim Aufwachen eine zentimeterdicke Schneeschicht auf ihrem Deckenberg liegen hatte, die der Wind wie durchgesiebtes Mehl durch die verbogenen Schindeln geblasen hatte. An solchen Tagen stellte Ruby fest, dass der große Vorteil einer so kleinen Hütte darin bestand, dass man bloß ein paar Zweige brauchte, um sie warm zu bekommen, wenn auch der von Stobrod zusammengestoppelte Kamin so schlecht zog, dass man in der Hütte Schinken hätte räuchern können. Immer wenn das Wetter nicht allzu ekelhaft war, kochte Ruby darum lieber an einer geschützten Stelle im Freien. Doch so klein und primitiv die Hütte auch war, so war sie immer noch mehr, als Stobrod in Schuss zu halten gewillt war. Hätte er nicht dummerweise eine Tochter gehabt, hätte er wahrscheinlich mit einem hohlen Baum als Wohnung vorliebgenommen, denn Rubys Einschätzung nach betrachtete sich auch ihr Vater bestenfalls als Tier mit Erinnerungsvermögen. Sobald Ruby alt genug dazu war, musste sie sich selbst um ihre Ernährung kümmern – und dieser Zeitpunkt war Stobrods Meinung nach bald, nachdem sie laufen gelernt hatte, eingetreten. Schon als kleines Kind suchte sich Ruby im Wald und bei mitleidigen Bauern flussauf und flussab ihr Essen zusammen. Das Kindheitserlebnis, das sich ihr am tiefsten eingeprägt hatte, hatte sich an einem Tag zugetragen, als sie flussaufwärts gelaufen war, um bei Sally Swanger einen Teller weiße Bohnensuppe zu essen. Auf dem Rückweg war sie mit ihrem Nachthemd, das jahrelang ihr einziges Kleidungsstück gewesen war – auch tagsüber –, am Wegrand in einem Schwarzdorngestrüpp hängengeblieben. Die Dornen waren so lang wie Hahnensporne, und es war ihr nicht gelungen, sich zu befreien. Den ganzen Nachmittag über kam kein einziger Mensch vorbei. Wolkenfetzen strichen über sie hinweg, und der Tag verlosch wie eine flackernde Lampe. Die Nacht brach herein, und der Mond war schwarz, ein Neumond im Mai.
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Ruby war vier Jahre alt, als sie eine ganze Nacht an einem Schwarzdornbusch hing. Diese dunklen Stunden waren für sie eine Offenbarung, und sie hatte sie nie vergessen. Nebelschwaden stiegen vom Flussufer auf, und es war bitterkalt. Sie erinnerte sich, wie sie gezittert und eine Zeitlang um Hilfe gerufen hatte. Sie hatte Angst, von einem der Pumas gefressen zu werden, die auf dem Cold Mountain umherstreiften. Die trügen ein Kind in Windeseile davon, hatten ihr Stobrods Saufkumpane erzählt. Ihrem Gerede zufolge wimmelte es in den Bergen von wilden Tieren, die ganz verrückt nach dem Fleisch von kleinen Kindern waren. Bären auf Futtersuche. Umherziehende Wölfe. Und außerdem lebten in den Bergen jede Menge böse Geister. Sie kamen in allen möglichen grauenerregenden Formen daher, und sie packten und verschleppten dich in wer weiß was für Höllen. Sie hatte die alten Cherokee-Indianerinnen von Kannibalengeistern reden hören, die in den Flüssen lebten und Menschenfleisch fraßen, wobei sie die Menschen kurz vor Tagesanbruch stahlen und sie ins Wasser hinabtrugen. Kinder waren ihre Lieblingskost, und wenn sie ein Kind raubten, hinterließen sie an seiner Stelle einen Schatten, einen Zwilling, der herumlaufen und reden konnte, aber kein richtiges Leben in sich hatte. Sieben Tage später verwelkte er dann und starb. In dieser Nacht stürzten alle diese bedrohlichen Visionen auf die kleine Ruby ein, und sie saß stundenlang zitternd vor Kälte da und schluchzte vor Angst, bis sie kaum noch Luft bekam, weil sie sich von all diesen Wesen, die Jagd auf hilflose Opfer machten, umschlichen fühlte. Irgendwann wurde sie dann jedoch von einer Stimme in der Dunkelheit angesprochen. Die Worte schienen von dem Murmeln und Rauschen des Flusses herzukommen, stammten aber nicht von einem Kannibalengeist. Es schien sich um ein gütiges, der Landschaft oder dem Himmel entsprungenes Wesen zu handeln, einen Tierkobold, einen Beschützer, der sie in seine Obhut nahm und von diesem Augenblick an für ihr
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Wohlergehen sorgte. Sie erinnerte sich an jede Sternformation, die über den zwischen den Zweigen sichtbaren Himmelsausschnitt gezogen war, und an jedes einzelne, direkt an ihr Innerstes gerichtete Wort der ruhigen Stimme, die sie einlullte und tröstete und die ganze Nacht hindurch beschützte. Sie hörte auf in ihrem dünnen Hemd zu zittern, und ihr Schluchzen verstummte. Am nächsten Morgen wurde sie von einem Mann befreit, der Fischen gehen wollte, und sie lief heim und erzählte Stobrod kein einziges Wort von all dem. Er fragte auch nicht, wo sie gewesen war. Die Stimme jedoch hallte in ihrem Kopf wider, und seit jener Nacht war sie wie ein Kind, das mit einer Glückshaube über dem Gesicht geboren wird und Dinge weiß, von denen andere niemals erfahren. Als sie älter wurde, hatten Stobrod und sie von dem gelebt, was Ruby auf dem kleinen Stück ihres Lands anbaute, das nicht so steil anstieg, dass man es nicht mehr pflügen konnte. Ihr Vater hingegen trieb sich ständig anderweitig herum und ließ sich oft tagelang nicht blicken. Wenn irgendwo im Umkreis von vierzig Meilen eine Feier stattfand, machte er sich dorthin auf. Es brauchte nur das Gerücht umzugehen, dass irgendwo eine Tanzveranstaltung geplant war – schon zockelte er los, seine Fiedel, auf der er gerade mal eine Handvoll Grundgriffe beherrschte, unter dem Arm. Ruby sah ihn dann vielleicht tagelang nicht wieder. War keine Unterhaltung dieser Art geboten, verzog sich Stobrod in die Wälder. Um zu jagen, wie er behauptete. Doch das einzige, was er je für den Schmortopf mitbrachte, war dann und wann ein Eichhörnchen oder ein Waldmurmeltier. Er entwickelte nie den Ehrgeiz, auch einmal einen Hirsch zu schießen, und wenn keine Nagetiere aufzutreiben waren, ernährten sie sich von Maronen, Rhabarber, den Blättern der Kermesbeere und anderen wildwachsenden Pflanzen, die Ruby sammelte, so dass man sagen konnte, ihre Ernährung habe zum Großteil aus Grünfutter bestanden. Nicht einmal seine Liebe zum Schnaps konnte aus Stobrod
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einen Farmer machen. Statt selbst Mais anzupflanzen, zog er in mondlosen Nächten, wenn die Maiskolben reif waren, lieber mit einem Hanfsack los, um Mais zu stehlen. Daraus brannte er dann ein öliges, gelbes Gebräu, das nach Ansicht seiner Kumpane nicht seinesgleichen hatte, was Schärfe und Stärke anbetraf. Soweit bekannt war, hatte er sich nur ein einziges Mal um eine Arbeitsstelle bemüht –, und das hatte sogleich in einer Katastrophe geendet. Ein weiter unten am Fluss wohnender Mann hatte ihn eingestellt, damit er ihm helfe, ein Stück frisch gerodetes Land für die Frühjahrsbepflanzung vorzubereiten. Die hohen Bäume waren bereits gefällt worden und lagen in mehreren Lagen kreuz und quer übereinander am Waldrand. Stobrod sollte dem Mann beim Verbrennen der Stämme zur Hand gehen. Sie entzündeten ein prasselndes Feuer und waren gerade dabei, die Stämme abzuästen, um sie in die Flammen rollen zu können, als Stobrod plötzlich aufging, dass dies mehr Arbeit war, als er angenommen hatte. Er rollte die Hemdsärmel herunter und verdrückte sich. Der Mann machte allein weiter, indem er die Stämme mit Hilfe eines Wendehakens ins Feuer zu rollen versuchte. Er stand gerade in der Nähe der Flammen, als mehrere brennende Stämme ins Rutschen kamen und sein Bein unter sich einquetschten. Er versuchte verzweifelt, sich zu befreien, doch es gelang ihm nicht. Er schrie um Hilfe, bis ihm die Stimme versagte. Das Feuer kam immer näher auf ihn zugekrochen, und um nicht mit in Flammen aufzugehen, griff er schließlich zu der Axt, die er zum Abästen benutzt hatte, und hackte sich sein Bein in Kniehöhe ab. Er band die blutende Wunde mit einem Stück Stoff von seinem Hosenbein ab, das er mit einem Stock festdrehte, und schleppte sich, nachdem er sich einen gegabelten Ast als Krücke zurechtgehauen hatte, nach Hause. Er überlebte, aber mit knapper Not. Noch Jahre später vermied es Stobrod nach Möglichkeit, an dem Haus dieses Mannes vorbeizukommen, denn der Mann mit dem Holzbein hegte zu Stobrods bitterer Enttäuschung
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einen unauslöschlichen Groll gegen ihn und feuerte zuweilen von der Veranda aus einen Schuss auf ihn ab. Erst als Ruby schon fast erwachsen war, kam sie zum ersten Mal auf die Idee sich zu fragen, was für eine Frau ihre Mutter wohl gewesen sein mochte, dass sie einen Mann wie Stobrod geheiratet hatte. Doch zu diesem Zeitpunkt schienen die Erinnerungen an ihre Mutter in seinem Kopf so gut wie ausgelöscht zu sein, denn als Ruby ihn fragte, was für ein Mensch sie gewesen sei, behauptete er, nichts mehr von ihr zu wissen: Ich kann mich nicht mal mehr entsinnen, ob sie schlank oder stämmig war, sagte er. Zum allgemeinen Erstaunen hatte sich Stobrod in den ersten Tagen des Kriegsfiebers freiwillig als Soldat gemeldet. Er war eines Morgens auf ihrem alten Maulesel davongeritten, und seitdem hatte Ruby nichts mehr von ihm gehört. Ihre letzte Erinnerung an ihn waren seine weißen Unterschenkel, die über der Stiefelkante hervorschimmerten, als er die Straße hinunterzuckelte. Sie vermutete, dass Stobrod nicht lange gekämpft hatte. Entweder war er beim ersten Gefecht, an dem er teilgenommen hatte, gefallen, oder aber er war desertiert – denn ein Mann aus seinem Regiment, der heimgekehrt war, nachdem er einen Arm verloren hatte, hatte ihr erzählt, dass Stobrod seit der Schlacht bei Sharpsburg als vermisst gelte. Welches Schicksal ihn auch ereilt hatte – ob sein Hinterteil ein Minie-Geschoss abbekommen oder er sich in Richtung Westen verdrückt hatte –, sicher war, dass er Ruby auf dem trockenen sitzenlassen hatte. Ohne den Maulesel konnte sie nicht einmal mehr die kümmerlichen Felder umpflügen. Sie konnte lediglich einen kleinen Gemüsegarten anlegen, den sie mit einem Handpflug, der nur ein Messer hatte, und einer Hacke bearbeitete. Das erste Kriegsjahr war hart für sie gewesen, aber Stobrod hatte wenigstens seine alte Flinte, die noch einen ungezogenen Lauf hatte, zurückgelassen, weil er darauf spekuliert hatte, seine Schießausrüstung verbessern zu können, wenn er mit leeren Händen ankam. Ruby hatte mit dem vorsintflutlichen
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Stück – das mehr einer mittelalterlichen Hakenbüchse ähnelte als den gegenwärtig gebräuchlichen Gewehren – den Winter über wilde Truthühner und Hirsche gejagt und das in Streifen geschnittene Wildbret am Feuer getrocknet wie ein Indianer. Stobrod hatte ihr einziges Messer mitgenommen, weshalb sie das Fleisch mit einem Messer zerteilte, das sie sich aus dem Blatt einer abgebrochenen Baumsäge gebastelt hatte. Ihr Hauptwerkzeug für die Arbeit als Messerschmied war der Hammer. Sie erhitzte das Sägeblatt im Feuer und ritzte mit einem verbogenen Hufeisennagel, den sie von der Straße aufgelesen hatte, die Form einer Klinge in das glühende Metall. Nach dem Erkalten des Metalls hämmerte sie den Rest von der angerissenen Linie weg und feilte die rauhen Kanten von Klingenblatt und Angel glatt. Dann verankerte sie die Klinge mit Nieten, die sie aus Kupferresten hergestellt hatte, in einem Griff aus Apfelholz, das sie wiederum von einem dicken Ast abgesägt hatte. Sie schliff die Klinge auf einem eingefetteten Flusstein blank. Ihr Werkstück sah zwar rustikal aus, doch es schnitt nicht schlechter als ein gekauftes Messer. Wenn sie auf ihr bisheriges Leben zurückblickte, zählte sie es zu einer ihrer wichtigsten Leistungen, im Alter von etwa zehn Jahren die Berge im Umkreis von fünfundzwanzig Meilen so genau gekannt zu haben wie ein Gärtner seine Bohnenreihen. Und dass sie sich später, als blutjunges Mädchen, ganz allein gegen Männer zur Wehr gesetzt hatte – bei Begegnungen, auf die sie nicht näher eingehen wollte. Gegenwärtig glaubte sie einundzwanzig Jahre alt zu sein, was sie jedoch nicht mit Sicherheit wusste, da sich Stobrod weder das Jahr noch den Tag ihrer Geburt gemerkt hatte. Er konnte sich nicht einmal mehr entsinnen, in welcher Jahreszeit sie zur Welt gekommen war. Nicht dass sie etwa daran dachte, ihren Geburtstag zu feiern – denn Feiern waren etwas, was sie nie kennengelernt hatte, da der Kampf ums nackte Überleben sie unnachgiebig gezwungen hatte, ihre Aufmerksamkeit anderen Dingen zuzuwenden.
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Eine ganz normale Begabung
Spät am Abend folgte Inman einem kaum erkennbaren, am Ufer des Deep River entlang verlaufenden Pfad, der nach einer Weile in eine zerklüftete Senke abfiel und schließlich in eine enge Felsschlucht mündete. Vom Himmel war zwischen den hohen Wänden aus Felsgeröll und Bäumen nur direkt über ihm ein schmaler Streifen auszumachen, und die einzige Lichtquelle war die Milchstraße. In dem Felseinschnitt war es streckenweise so dunkel, dass er sich mit den Füßen vorantasten musste, um nicht vom Weg abzukommen. Der Lichtschimmer auf dem Wasser war so schwach, dass er ihn nur indirekt wahrnahm, so wie man schwach leuchtende Sterne entdeckt, indem man sie nicht direkt anschaut. Nachdem er ein Stück steinigen Felsufers überquert hatte, verengte sich der Pfad zu einem schmalen Gratweg zwischen dem ein Stück weiter unten verlaufenden Fluss und einem zerklüfteten, teilweise mit Gestrüpp bewachsenen Steilufer. Inman behagte diese Strecke gar nicht. Er befürchtete, dass sich die Bürgermiliz in der Gegend herumtrieb. Reiter konnten plötzlich vor ihm stehen, ehe er die Möglichkeit hatte, eine Stelle zu finden, wo er sich verstecken konnte, und das Ufer war zu steil und zu steinig, um es im Dunkeln geräuschlos erklettern zu können. Gegen bewaffnete Reiter würde er hier kaum eine Chance haben. Das beste war es, forsch auszuschreiten und diese Wunde in der Erde so schnell wie möglich hinter sich zu lassen. Inman schlug einen beschwerlichen Laufschritt an und behielt dieses Tempo einige Minuten lang bei, bis er vor sich ein flackerndes Licht erblickte, das direkt vor ihm auf dem Weg zu brennen schien. Er verlangsamte seinen Schritt und
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war bald darauf nahe genug an die Lichtquelle herangekommen, um erkennen zu können, dass da mitten auf dem Weg ein Mann mit einem breitkrempigen Hut stand. Er hielt eine qualmende Fackel in der Hand, die ihn mit einem gelben Lichtkegel umstrahlte. Inman schlich sich vorsichtig heran und blieb in knapp zehn Metern Entfernung neben einem Felsblock stehen. Der Mann trug einen schwarzen Anzug und ein weißes Hemd. Er hielt ein Pferd an einem fest um dessen Hals gebundenen Leitseil. In dem Licht erkannte Inman, dass das Pferd eine Last trug – eine unförmige weiße Masse, die wie ein schlaffer Leinenballen über seinem Rücken hing. Während Inman den Mann beobachtete, ließ dieser sich mitten auf dem Pfad nieder und zog mit einem Arm die Knie an seine Brust. Den Ellbogen des Armes, mit dem er die Fackel hielt, hatte er zwischen die Knie geklemmt, so dass sich seine Faust genau vor dem Gesicht befand und er die Fackel so ruhig hielt, als steckte sie in einem Wandhalter. Er senkte den Kopf, bis die Hutkrempe seinen hochgestreckten Arm berührte. Er sah aus wie ein dunkler, angestrahlter Klumpen auf der Straße. Er schläft mit der brennenden Fackel in der Hand ein, dachte Inman. Gleich brennt er seine Füße an. Doch der Mann war nicht kurz vor dem Einschlafen; er war verzweifelt. Er sah zu dem Pferd hinüber und stöhnte laut auf. — Gott, o Gott, rief er aus. Einst lebten wir in einem paradiesischen Land. Er schaukelte auf seinen Gesäßknochen hin und her und rief abermals: Gott, o Gott. Was tun? fragte sich Inman. Schon wieder ein Hindernis auf seinem Weg. Zurück konnte er nicht. Drumherum auch nicht. Die ganze Nacht wie eine eingepferchte Färse hier stehenbleiben wollte er auch nicht. Er zog seinen Revolver heraus, hielt ihn hoch, damit möglichst viel Licht von der Fackel darauf fiel und kontrollierte, wie viele Kammern geladen waren. Als Inman sich gerade in Bewegung setzen wollte, stand der
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Mann auf, beugte sich vor und bohrte den Stiel der Fackel in die Erde. Dann richtete er sich wieder auf, ging um das Pferd herum und versuchte, das Bündel von dem Pferd zu heben. Das Pferd tänzelte mit angelegten Ohren und weit aufgerissenen Augen nervös hin und her. Der Mann wuchtete sich das Bündel über die Schulter und kam leicht schwankend hinter dem Tier hervor. Jetzt erkannte Inman, dass es eine Frau war, die der Mann schleppte. Ihr einer Arm baumelte schlaff, und ihr dichtes schwarzes Haar hing kopfüber herab und streifte den Boden. Der Mann trat mit ihr aus dem Lichtkegel der Fackel, so dass sie beide kaum noch zu sehen waren, doch er steuerte eindeutig auf den Rand des Abhangs zu. Inman hörte, wie der Mann im Gehen schluchzte. Inman lief zur Fackel, zog sie aus der Erde und hielt sie in die Richtung, aus der das Schluchzen kam. Im Fackelschein sah er, dass der Mann unmittelbar am Rand des Steilufers stand und die Frau jetzt auf den Armen trug. Als der Lichtstrahl auf ihn fiel, versuchte er sich rasch umzudrehen, um festzustellen, woher er kam, doch das dauerte, beladen wie er war, eine Weile. Schlurfend drehte er sich zu Inman hin. — Legen Sie sie auf den Boden, sagte Inman. Der Mann ließ sie vor seine Füße sacken. — Was soll der verdammte Revolver? fragte der Mann, die Augen auf die unterschiedlich großen Kaliber der zwei Läufe gerichtet. — Gehen Sie da weg und kommen Sie hierher, wo ich Sie sehen kann. Der Mann trat über den Körper hinweg und kam auf Inman zu. Er hielt den Kopf gesenkt, so dass der Fackelschein ihn nicht blendete, sondern auf die Hutkrempe fiel. — Bleiben Sie jetzt stehen, sagte Inman, als der Mann fast bei ihm war. — Sie kommen wie ein Botschafter Gottes, der nein sagt, sagte der Mann. Er machte zwei weitere Schritte nach vorn, fiel dann auf die Knie und umklammerte Inmans Beine. Inman
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richtete den Revolver auf den Kopf des Mannes und zog den Abzug durch, bis er spüren konnte, wie sich sämtliche Metallteile des Systems spannten. Doch da hob der Mann das Gesicht, so dass das Licht der im Boden steckenden Fackel darauf fiel und Inman bemerkte, dass seine Wangen tränenfeucht glänzten. Inman wurde weich, was er vermutlich ohnehin geworden wäre, und versetzte dem Mann mit dem langen Lauf des Revolvers nur einen mittelstarken Schlag auf den Backenknochen. Der Mann fiel rücklings zu Boden, eine kleine Platzwunde unter dem Auge. Sein Hut war abgefallen und sein mit Pomade eingeschmierter Kopf glänzte wie ein Apfel, während ihm die Spitzen seiner flachsgelben Haare lockig bis über die Schultern hingen. Er tastete die Wunde ab und betrachtete das Blut an seinen Fingern. — Ich sehe ein, dass ich das verdient habe. — Sie verdienten es, erschossen zu werden, sagte Inman. Er ließ seinen Blick zu der zusammengesackt am Rand des Steilufers liegenden Frau wandern. Sie hatte sich noch immer nicht bewegt. Kann durchaus sein, dass ich mich später noch genötigt sehe, es zu tun, sagte Inman. — Töten Sie mich nicht, ich bin ein Mann Gottes, sagte der Mann. — Es gibt Leute, die behaupten, das seien wir alle, sagte Inman. — Ich bin ein Prediger, wollte ich damit sagen, entgegnete der Mann. Ein Prediger. Inman wusste nicht, was er darauf erwidern sollte und blies nur geräuschvoll die Luft durch die Nase aus. Der Prediger kniete sich wieder auf. — Ist sie tot? fragte Inman. — Nein. — Was ist los mit ihr? fragte Inman. — Nicht viel. Zum einen ist sie schwanger. Und zum anderen habe ich ihr was gegeben. — Und das wäre?
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— Ein kleines Päckchen mit einem Pulver, das ich einem Straßenhändler abgekauft habe. Er sagte, man würde davon vier Stunden lang schlafen. Seit ich ihr die Dosis verabreicht habe, ist ungefähr die Hälfte davon verstrichen. — Und Sie sind der Vater? — Sieht so aus. — Nicht mit ihr verheiratet, schätze ich. — Nein. Inman ging um die Frau herum und kniete sich neben ihr nieder. Er schob eine Hand unter ihren dunklen Schopf und
Nachhauseweg einen Waschbären, um seiner Geschichte mit der nächtlichen Jagd Glaubwürdigkeit zu verleihen. Wenn er keinen bekommen konnte, beklagte er bei der Heimkehr seine schlechten Schießkünste, die Dummheit seiner unerfahrenen Hunde, oder dass die Zahl der Wildtiere immer mehr abnehme. So ging es ein ganzes Jahr. Dann teilte ihm Lucinda eines Nachts mit, dass sie schwanger sei. Als er das hörte, hielt es Odell nicht länger aus und suchte tags darauf seinen Vater in dessen Studierzimmer, wie er es nannte, auf – obwohl das einzige, was er dort studierte, die dicken Hauptbücher der Plantage waren. Vater und Sohn standen nebeneinander vor dem Kamin. Odell schlug ihm vor, ihm Lucinda abzukaufen. Er würde jeden Preis zahlen, den er verlangte, ohne jedes Gefeilsche. Sein Vater ließ sich, ungläubig mit den Augen blinzelnd, auf einen Stuhl fallen: Dass ich dich recht verstehe, willst du dir diesen Nigger für die Feldarbeit zulegen oder als Betthase? Odell versetzte seinem Vater einen harten Schlag auf das linke Ohr. Der alte Mann fiel vom Stuhl, richtete sich auf und sank wieder zu Boden. Aus dem Ohr rann Blut. Er schrie: Hilfe! Sie sperrten Odell eine Woche lang in einem Vorratsschuppen ein – mit Beulen an Kopf und Rippen von den Prügeln, die ihm sein jüngerer Bruder und der Aufseher seines Vaters verabreicht hatten. Am zweiten Tag kam sein Vater zur Tür und zischte durch einen Spalt: Ich habe das Miststück nach Mississippi verkauft. Odell warf sich wieder und wieder gegen die Tür. Er heulte die ganze Nacht hindurch wie einer seiner Jagdhunde, und auch in den darauffolgenden Tagen brach er immer wieder in Geheul aus. Als er schließlich so erschöpft war, dass er nicht mehr heulen konnte, schloß sein Vater die Tür auf. Odell stolperte blinzelnd heraus ans Licht. Ich denke, du hast deine Lektion gelernt, sagte sein Vater und marschierte, mit seiner geflochtenen
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Reitpeitsche auf die Blütenköpfe von Unkräutern und Wildblumen eindreschend, in Richtung der unteren Felder. Odell ging ins Haus und packte ein paar Kleidungsstücke in eine Reisetasche. Der Geldkassette im Büro seines Vaters entnahm er das gesamte Bargeld – einen ansehnlichen Beutel mit Goldstücken und einen Stoß Papiergeld. Im Zimmer seiner Mutter entwendete er eine Diamant- und eine Rubinbrosche, einen Smaragdring sowie mehrere Perlenketten. Dann sattelte er sein Pferd und ritt in Richtung Mississippi davon. In den Jahren vor dem Krieg hatte er die Baumwollstaaten abgesucht, bis er drei Pferde verschlissen und seinen Vorrat an Wertgegenständen aufgebraucht hatte. Doch er hatte Lucinda bis heute nicht gefunden, und auf den heimatlichen Boden hatte er nie wieder einen Fuß gesetzt. Er war gewissermaßen noch immer auf der Suche. Aus diesem Grund hatte er, als es nötig wurde, Geld zu verdienen, ein Leben gewählt, in dem er herumreisen musste. Er hatte als ein Händler mit Pferd und Wagen angefangen und war mittlerweile zum karrenschiebenden Kesselflicker abgestiegen. Viel tiefer konnte er nicht mehr sinken, und er sah sich schon, wie er demnächst einen radlosen, aus zwei Stangen und Querbrettern bestehenden Transportschlitten hinter sich herzog oder gar mit nichts als einem Tornister auf dem Rücken durch die Lande zog und Krimskrams verkaufte. Als Odell mit seiner Geschichte zu Ende war, war die Whiskeyflasche leer. Odell ging zu seinen Warenpaketen hinüber und kam mit zwei kleinen Flaschen Markenmedizin zurück, die zum größten Teil aus Äthylalkohol bestand. Sie nippten eine Zeitlang schweigend daran, bis Odell sagte: Sie haben bestimmt noch nie auch nur annähernd solche Niedertracht gesehen wie ich. Er erzählte, wie er auf seinen Fahrten durch Mississippi, als er auf der Suche nach Lucinda gewesen sei, Dinge gesehen habe, die ihn hätten befürchten lassen, dass sie längst auf irgendeine entsetzliche und blutige Weise zu Tode gekommen und in die nächste Welt übergegangen sei. Und Dinge, die ihn hätten befürchten
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lassen, dass dem nicht so sei. Er erzählte von Negern, die bei lebendigem Leibe verbrannt worden seien. Denen wegen diverser Vergehen Ohren und Finger gekappt worden seien. Die schlimmste Art der Bestrafung hatte er in der Nähe von Natchez gesehen, als er auf einer längs eines Flusses verlaufenden, menschenleeren Landstraße unterwegs war. Aus dem Wald drang das wilde Geschrei von Bussarden und ein hohes Wehklagen herüber. Er packte seine Schrotflinte, ging dem Lärm nach und entdeckte unter einer Immergrünen Virginischen Eiche einen aus Bohnenstangen gebauten Käfig mit einer Frau. Der Baum war schwarz von Bussarden. Sie hockten auf den Käfigstangen und pickten nach der Frau. Sie hatten ihr bereits ein Auge herausgehackt und Hautstücke aus ihrem Rücken und ihren Armen herausgerissen. Als sie Odell mit ihrem einen Auge erblickte, schrie sie: Erschießen Sie mich. Doch Odell feuerte beide Läufe auf den Baum ab. Überall prasselten Bussarde nieder, und der Rest ergriff schwankend die Flucht. Dann durchzuckte Odell der schreckliche Gedanke, dass die Frau womöglich Lucinda war. Er lief zu ihr hin, brach den Käfig mit dem Gewehrkolben auf und zog sie heraus. Er legte sie auf den Boden und gab ihr Wasser. Er wusste nicht, wie er weiter vorgehen sollte, doch ehe er das entscheiden konnte, spuckte die Frau Blut und verschied. Er musterte ihr Gesicht, berührte ihre Füße, ihr Schlüsselbein und ihr Haar, aber sie konnte nicht Lucinda gewesen sein. Sie hatte eine andere Hautfarbe und krumme, schwielige Füße. Als Odell schließlich verstummte, war er betrunken und trocknete sich mit dem Hemdaufschlag die Augen. — Die Welt ist aus den Fugen, sagte Inman, weil ihm kein besserer Kommentar einfiel. Im dunstigen Morgengrauen verließ Inman das angekohlte Wirtshaus und setzte seinen Weg fort. Es dauerte nicht lange, da kam Veasey hinter ihm hergerannt. Er hatte einen dünnen Rasiermesserschnitt unter einem Auge, der noch immer blutete, und er fuhr sich wiederholt mit dem Mantelärmel über
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die Backe, um das Blut abzuwischen. — Rauhe Nacht gehabt? fragte Inman. — Sie hat's nicht böse gemeint. Diesen Schnitt habe ich mir eingehandelt, weil ich zu stur war, als wir den Preis für die Nacht ausgehandelt haben. Zum Glück ist meine größte Befürchtung nicht eingetreten und sie ist mir mit dieser Klinge nicht an meine Männlichkeit gegangen. — Nun, ich hoffe, die Nacht war die Schramme wert. — Voll und ganz. Dass von lasterhaften und unkeuschen Frauen eine große Faszination ausgeht, ist ja allgemein bekannt, und ich muss gestehen, dass ich zu den Männern gehöre, die von den Eigenheiten des weiblichen Körpers über die Maßen entzückt sind. Als sie gestern abend dieses riesige Hemd auszog und vor mir stand, blieb mir schier die Spucke weg. Ich war regelrecht überwältigt. Das war ein Anblick, den man bis ins hohe Alter im Kopf behalten muss. Dann hat man immer etwas, womit man sich aufmuntern kann, wenn man der Verzweiflung anheimzufallen droht.
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Ursprung und Herkunft
Sie waren in einem kühlen Nieselregen in die Stadt aufgebrochen. Ada hatte zum Schutz gegen die Nässe einen langen Mantel aus gewachster Popeline getragen, Ruby einen übergroßen, aus ungefärbter und naturbelassener Wolle gestrickten Pullover. Das Wollfett, so behauptete sie, halte das Wasser ebensogut ab wie ein Regenmantel. Der einzige Nachteil war, dass der Pullover in der feuchten Witterung den Geruch eines ungeschorenen Mutterschafs ausströmte. Ada hatte darauf bestanden, Regenschirme mitzunehmen, doch nach einer Stunde Fußweg brachen die Wolken auf und ließen die Sonne zum Vorschein kommen. Als es nicht mehr von den Bäumen tropfte, klappten sie die Schirme zu, und Ruby schulterte ihren wie ein Jäger im Wald seine Flinte. Scharen von Stand- und Zugvögeln, die sich bereits früher als gewöhnlich in Richtung Süden aufmachten, flogen über den aufklarenden Himmel: Schwärme von Enten und Gänsen, sowohl weißen als auch grauen, Singschwäne, Ziegenmelker, Hüttensänger, Eichelhäher, Wachteln, Lerchen, Eisvögel, Rundschwanzsperber und Rotschwanzbussarde. Zu all diesen und weiteren Vogelarten hatte Ruby auf dem Weg in die Stadt eine Bemerkung parat, wusste über jeden etwas zu erzählen oder aus fast unmerklichen Verhaltensweisen bestimmte Charaktereigenschaften abzuleiten. Ruby glaubte, dass das Vogelgezwitscher wie die menschliche Sprache einen Bedeutungsinhalt habe und erklärte, dass sie die Zeit im Frühjahr, wenn die Vögel aus den Winterquartieren zurückkehrten und in ihren Liedern erzählten, wo sie gewesen seien und was sie getan hätten, während sie selbst hiergeblieben sei, ganz besonders möge.
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Als Ruby und Ada auf fünf, am Rand eines gelben Stoppelfelds zu Rate sitzende Saatkrähen trafen, sagte Ruby, sie habe gehört, dass Saatkrähen angeblich viele hundert Jahre lang lebten, wenn auch niemand sagen könne, wie das zu beweisen sei. Als ein Kardinalvogelweibchen mit einem Zweig im Schnabel an ihnen vorüberflog, verwunderte sich Ruby. Der Vogel müsse vollkommen verwirrt sein, glaubte sie, denn einen solchen Zweig könne er doch nur zum Nestbau gebrauchen. Und dafür sei jetzt nicht die richtige Zeit. Als sie an einem Buchenhain vorüberkamen, erklärte Ruby, dass der Name des Pigeon River, an dem die Bäume standen, von den unzähligen Wandertauben herrühre, die sich manchmal dort versammelten, um die Bucheckern zu fressen. Sie erzählte, dass sie in ihrer Kindheit, wenn Stobrod sich wieder einmal tagelang herumgetrieben und sie sich selbst überlassen habe, so manche Taube gegessen habe. Für ein Kind seien sie von allen Wildtieren am leichtesten zu fangen. Man brauche sie nicht einmal zu erschießen, sondern schlage sie einfach mit einem Stock vom Baum herunter und drehe ihnen, ehe sie wieder zur Besinnung kämen, den Hals um. Als sie drei Krähen sahen, die am Himmel einen Falken verfolgten, drückte Ruby ihren großen Respekt für die so oft geschmähte Krähe aus, denn sie fand an deren Lebenseinstellung viel Nachahmenswertes. Sie stellte mißbilligend fest, dass viele Vogel lieber sterben würden, als etwas zu fressen, das ihnen nicht schmeckte. Krähen ließen sich alles schmecken, was ihnen gerade in die Quere kam. Sie bewunderte ihren scharfen Verstand, ihr gefiel, dass sie nicht hochmütig waren, Spaß an Streichen hatten und listige Kämpfer waren. All dies machte ihrer Ansicht nach die Wesensart einer Krähe aus und stellte so etwas wie eine durch Willenskraft errungene Beherrschung ihrer – Rubys Meinung nach – angeborenen Neigung zu Übellaunigkeit und Schwermut dar, die man ihnen an ihrem düsteren Gefieder ansehe. — Wir können uns alle an den Krähen ein Beispiel nehmen,
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sagte Ruby nachdrücklich, denn Ada war in einer deutlich geknickten Stimmung, die sich auch nicht hob, als der Himmel aufklarte. Ada war schon fast den ganzen Morgen so traurig und schweigsam, dass sie sich gleich eine schwarze Trauerbinde über den Ärmel hätte streifen können, um es der ganzen Welt anzuzeigen. Ihre Trübsinnigkeit war zum Teil auf die harte Arbeit der vergangenen Woche zurückzuführen. Sie hatten auf den verwahrlosten Feldern Heu gemacht, das jedoch in einem solchen Maße mit Beifuß, blättrigem Traubenkraut und giftigen Wolfsmilchgewächsen durchmischt war, dass sie es eigentlich kaum verwenden konnten. An einem Tag hatten sie mehrere Stunden damit zugebracht, die Sensen, die sie im Geräteschuppen, an die Dachsparren gelehnt, gefunden hatten, schnittfertig zu machen. Um die schartigen und verrosteten Sensenblätter zu schärfen, brauchten sie eine Eisenfeile und einen großen Wetzstein. Ada hatte keine Ahnung, ob Monroe solche Werkzeuge besessen hatte oder nicht. Sie bezweifelte es eher, denn die Sensen stammten noch aus der Zeit, da die Blacks die Farm bewirtschaftet hatten. Sie hatten den Schuppen so lange durchstöbert, bis sie eine Feile gefunden hatten, deren schleifenförmig nach hinten gebogenes Ende mit der Spitze in einen verstaubten alten Maiskolben getrieben worden war, damit man sie besser halten konnte. Einen Schleifstein hatten sie jedoch zwischen all dem Gerümpel nicht finden können. — Mein Daddy hat auch nie einen Wetzstein gehabt, sagte Ruby. Er hat einfach auf ein Stück Schiefer gespuckt und das Messer ein paarmal drübergestrichen. Es war ihm egal, wie scharf es wurde, er hatte nicht den Ehrgeiz, sich damit die Haare am Arm rasieren zu können. Ihm reichte es, wenn es scharf genug war, um sich damit ein Stück Kautabak abzusäbeln. Sie hatten die Suche schließlich eingestellt und zu Stobrods Methode gegriffen, indem sie einen flachen, glatten Schieferstein benutzten, den sie am Bach fanden. Doch so
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lange sie die Sensenblätter auch daran wetzten, sie wurden nicht richtig scharf. Ada und Ruby begaben sich trotzdem auf das Feld, schwangen den ganzen Nachmittag hindurch die Sensen und harkten das geschnittene Gras anschließend zu Schwaden zusammen. Im letzten Dämmerlicht, als die Sonne längst untergegangen war, waren sie endlich fertig. Einen Tag vor ihrem Ausflug in die Stadt – als das auf dem Feld liegende Heu trocken genug war – beluden sie den Ernteschlitten ein ums andere Mal und luden das Heu in der Scheune ab. Die Stoppeln auf dem Boden waren so hart und spitz, dass sie durch die Schuhsohlen hindurch zu spüren waren. Ada und Ruby standen sich jeweils an einer Reihe gegenüber und warfen abwechselnd eine Gabelladung Heu auf den Schlitten. Wenn sie einmal aus dem Rhythmus gerieten, stießen die Zinken der Heugabeln klirrend aneinander, so dass Ralph, der in den Zugriemen stand und döste, jedesmal aufschreckte und den Kopf zurückwarf. Obwohl der Tag nicht übermäßig warm war, kamen sie bei der Arbeit heftig ins Schwitzen. Es war ein staubiges Geschäft, und die Spreu hing in ihren Haaren, in den Falten ihrer Kleider und klebte an ihren schweißnassen Unterarmen und Gesichtern. Als sie das gesamte Heu eingefahren hatten, fühlte sich Ada dem Zusammenbruch nahe. Ihre Arme waren von dem piksenden Stroh zerschrammt und rot gesprenkelt, als hätte sie die Masern; auf der Haut zwischen Daumen und Zeigefinger hatte sie eine große, blutgefüllte Blase. Sie hatte sich gewaschen, lediglich ein kaltes Brötchen mit Butter und Zucker gegessen und war noch vor Einbruch der Dunkelheit ins Bett gesunken. Doch obwohl sie todmüde war, fiel sie immer wieder aus dem richtigen Schlaf in einen halbwachen, nebelhaften und wie schwebenden Zustand, eine entnervende Mischung aus Schlafen und Wachen, die die unangenehmsten Seiten aus beidem in sich vereinte. Sie hatte die ganze Nacht hindurch das Gefühl, weiter Heu zusammenzurechen und hochzuschleudern. Als sie soweit bei Bewusstsein war, dass
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sie die Augen öffnete, sah sie, wie sich in dem Mondlichtquadrat auf dem Dielenboden die schwarzen Schatten der Äste bewegten – was seltsam beunruhigend und bedrohlich wirkte. Irgendwann in der Nacht wurde der Mond dann von Wolken verdunkelt, und dann setzte ein heftiger Regen ein, und irgendwann schlief Ada endlich ein. Als sie im regnerischen Morgengrauen erwachte, fühlte sie sich vor Muskelschmerzen wie gelähmt. Ihre Hände hielten noch immer eine imaginäre Heugabel umklammert und ließen sich nur schwer aufbiegen. Außerdem hatte sie rasende Kopfschmerzen, ganz besonders an der Stelle über und hinter dem rechten Augenlid. Dennoch beschloss sie, dass der Ausflug in die Stadt wie geplant stattfinden sollte, denn er war hauptsächlich als Vergnügung gedacht, auch wenn sie ein paar kleine Besorgungen machen mussten. Ruby wollte ihre Vorräte an Geschossblei für die Schrotflinte auffüllen – Vogelschrot, Hirschposten und Flintenlaufgeschosse –, denn bei der kühler werdenden Witterung bekam sie Lust, wilde Truthühner und Hirsche zu schießen. Ada hingegen wollte die Regale im hinteren Teil des Schreibwarenladens nach neuen Büchern durchsehen und sich ein Skizzenbuch mit Ledereinband und ein paar Zeichenstifte kaufen, damit sie ein paar Pflanzen, die sie gesammelt und gepresst hatte, abzeichnen konnte. In erster Linie verspürte sie jedoch den Wunsch, nach wochenlanger Arbeit einmal wieder aus ihrem Tal herauszukommen. Sie sehnte sich so sehr nach einem Ausflug in die Stadt, dass weder Muskelkater noch düstere Stimmung, geschweige denn das nicht gerade vielversprechende morgendliche Wetter, sie zurückhalten konnten. Auch als sie im Stall die unerfreuliche Entdeckung machten, dass sich das Pferd tags zuvor bei ihrer Arbeit den Huf mit einem Stein verletzt hatte und folglich die Kutsche nicht ziehen konnte, ließ sie sich nicht von ihrem Entschluß abbringen. — Ich gehe in die Stadt, und wenn ich auf allen vieren kriechen muss, hatte Ada zu Rubys Rücken gesagt, als Ruby
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sich im Regen bückte und den schlammbespritzten Huf des Pferdes hochhielt. Und so schleppte sich Ada an jenem Morgen Rubys munteren vogelkundlichen Vorträgen zum Trotz verdrießlich die Straße hinunter. Sie gingen an Gehöften in kleinen Tälern und Seitentälern vorüber, deren Felder sich zwischen den bewaldeten Hügeln auftaten wie Zimmer in einem Haus. Frauen und Kinder und alte Männer machten die Erntearbeit, da alle Männer im wehrfähigen Alter im Krieg waren. Die Blätter der Maisstauden waren an den Spitzen und Kanten braun, und die Kolben, die für Trockenmais vorgesehen waren, standen noch immer am Stengel und warteten auf Sonne und Frost, damit sie ausdörrten. Auf der Erde zwischen den Maisreihen leuchteten Kürbisse und Winterkürbchen. Goldrute, Wasserdost und Schlangenwurz standen hoch und blühend entlang der Holzzäune, und die Blätter an Brombeerzweigen und Hartriegel waren kupferbraun. In der Stadt schlenderten Ada und Ruby zunächst durch die Straßen und betrachteten die Schaufenster, die Pferdegespanne und die Frauen mit ihren Einkaufskörben. Es war mittlerweile so warm geworden, dass Ada ihren gewachsten Mantel zusammengerollt unter dem Arm trug, Ruby hatte sich ihren Pullover um die Hüften gebunden und ihr Haar im Nacken mit einem aus Roßhaar geflochtenen Band zusammengebunden. Die Luft war noch immer leicht dunstig. Der Cold Mountain war nicht mehr als ein blauer Fleck, ein Hocker auf der hintersten Bergkette, der mit der zurückgelegten Entfernung klein geworden war und so flächig vor dem Himmel stand wie ein aufgeklebter Papierschnipsel. Die Bezirkshauptstadt war nicht gerade ein feines Städtchen. Auf der einen Straßenseite standen vier aneinandergebaute, mit Holz verschalte Ladengeschäfte, dann kamen ein Schweinepferch und ein Schlammloch, dann zwei weitere Läden, eine Kirche und ein Mietstall. Auf der anderen Seite standen drei Läden sowie, etwas zurückversetzt, das Gerichtsgebäude mit Kuppeldach, weißen Fensterrahmen und
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einem stoppeligen Rasen davor, dann vier weitere Ladenfronten, zwei davon aus Backstein. Dahinter verlor sich die Stadt in einem umzäunten Feld mit vertrockneten Maisstauden. Die schmalen Räder der Fuhrwerke hatten tiefe Rillen in die Straßen gegraben. Das Wasser in den zahllosen, von Pferdehufen eingedrückten Mulden glitzerte im Licht. Ada und Ruby suchten einen Eisenwarenhändler auf und besorgten sich Pulver, Blei, Schusspflaster und Zündhütchen. Beim Buch- und Schreibwarenhändler bezahlte Ada mehr als sie sich leisten konnte für eine dreibändige Ausgabe von Adam Bede, sechs dicke Kohlebleistifte und ein Skizzenbuch im Oktavformat aus gutem Papier, das ihr zusagte, weil es so klein war, dass es in die Manteltasche passte. Bei einem Straßenhändler kauften sie zwei Zeitungen – die Bezirkszeitung und die Zeitung aus Ashville, die ein größeres Verbreitungsgebiet hatte. Dann ließen sie sich von einer Frau, die in einem Schubkarren ein Faß mitführte, jede ein warmes Kräuterbier zapfen, tranken es im Stehen und reichten der Frau die Blechbecher zurück. Zum Mittagessen kauften sie sich Hartkäse und frisches Brot, gingen damit ans Flussufer hinunter und ließen sich dort auf Steinen nieder, um ihre Mahlzeit zu verzehren. Am frühen Nachmittag suchten sie das Haus von Mrs. McKennet auf, einer wohlhabenden Witwe mittleren Alters, die Monroe eine Zeitlang angehimmelt hatte und ihm später, als sie merkte, dass er ihre Gefühle nicht erwiderte, einfach eine gute Freundin geworden war. Es war eigentlich nicht die richtige Tageszeit für einen Besuch, doch sie war so entzückt darüber, Ada zu sehen, dass sie den beiden unbedingt einen ganz besonderen Leckerbissen anbieten wollte. Da der Sommer so feucht und kühl gewesen war, war ihr Eisvorrat im Keller noch immer nicht aufgebraucht. Das Eis war im Februar in großen Blöcken aus dem See gehauen und in Sägespäne eingebettet worden. Nachdem sie die beiden hatte schwören lassen, dass sie nichts weitersagen würden, verriet sie ihnen, dass sie auch vier Fässer Salz und drei Fässer
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Zucker gelagert hatte, die noch aus den Zeiten vor dem Krieg stammten. Was sie den beiden nun anbieten wollte, war eine Portion köstlicher Eiskrem, und so schickte sie ihren Diener – einen alten, grauhaarigen Burschen, den man nicht eingezogen hatte, weil er zu schwächlich war – in den Keller, um Eis zu stoßen und die Maschine anzukurbeln. Sie hatte vor einiger Zeit einmal Unmengen süßer Crepes gebacken, zu Hörnchen gerollt und trocknen lassen – und darin servierte sie nun die Eiskrem. Ruby, die dergleichen natürlich noch nie gegessen hatte, war begeistert. Nachdem sie den letzten weißen Tropfen abgeleckt hatte, streckte sie Mrs. McKennet die Eistüte hm und sagte: Hier haben Sie Ihr kleines Horn zurück. Als sie dann auf den Krieg und seine Folgen zu sprechen kamen, stellte Ada fest, dass Mrs. McKennets Ansichten haargenau mit den Leitartikeln in den Zeitungen übereinstimmten, die sie in den letzten vier Jahren gelesen hatte, das heißt, Mrs. McKennet fand die Gefechte glorreich und tragisch und heldenhaft. So heldenhaft, dass ihr die Worte dafür fehlten. Sie erzählte ihnen eine lange und rührselige Geschichte über eine Schlacht, von der sie kürzlich in der Zeitung gelesen hatte, wobei sie nicht zu merken schien, dass diese eindeutig erfunden war. Sie war – wie das in letzter Zeit bei sämtlichen Schlachten der Fall war – gegen eine enorme Übermacht geführt worden. Als sich der Kampf seinem unvermeidlichen Ende näherte, erlitt ein schneidiger junger Offizier eine schwere Brustverletzung. Er stürzte, Unmengen Herzbluts vergießend, zu Boden. Ein Kamerad kniete sich neben ihm nieder und hielt dem Sterbenden tröstend den Kopf. Doch während die Schlacht um sie her weiterwütete, stand der junge Offizier plötzlich auf, zog, im gleichen Augenblick, da er sein Leben aushauchte, seinen Revolver und feuerte wild drauflos. Er starb aufrecht in dem Moment, als der Hahn seines Revolvers auf eine leere Kammer schlug. Doch damit nicht genug der tragikomischen Details. In seinen Kleidern fand man einen Brief an seine Liebste, in dem er genau beschrieb, auf welche Weise er zu Tode kommen werde. Und
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als dann ein Bote zu dem Haus des Mädchens geschickt wurde, um den Brief zu überbringen, wurde festgestellt, dass sie genau an dem Tag und zu der Stunde, da ihr Geliebter verschieden war, überraschend an einem Herzanfall gestorben war. Bei den letzten Passagen der Geschichte verspürte Ada auf einmal einen Juckreiz in der Nase. Doch auch als sie daraufhin unauffällig ihre Nasenflügel zudrückte, vermochte sie ein heftiges Zucken ihrer Mundwinkel nur mit Mühe zu unterdrücken. Als Mrs. McKennet geendet hatte, sah sich Ada im Zimmer um, musterte die Möbel, den Teppich, die Lampen, den ganzen so reibungslos ablaufenden Haushalt und schließlich Mrs. McKennet, wie sie mit ihren beidseitig baumelnden Schillerlocken rund und zufrieden in ihrem Samtsessel saß. Ada kam sich vor, als wäre sie nach Charleston zurückversetzt. Und verspürte folglich den Drang, ein wenig von ihrem früheren Verhalten an den Tag zu legen. Sie sagte: Das ist die absurdeste Geschichte, die ich je gehört habe. Sie ging noch weiter, indem sie anmerkte, dass sie im Gegensatz zur Allgemeinheit an dem Krieg nichts Edles und TragischHeldenhaftes finden könne. Sie habe zwar keinen direkten Einblick, sei aber trotzdem der Meinung, dass der Krieg auf beiden Seiten gleichermaßen brutal und barbarisch sei. Entwürdigend für alle. Sie gedachte mit diesen Worten eigentlich zu schockieren oder Empörung hervorzurufen, doch Mrs. McKennet schien darüber eher belustigt zu sein. Sie sah Ada milde lächelnd an und sagte: Du weißt, dass ich dich sehr mag, aber du bist trotzdem das naivste Mädchen, das ich je das Vergnügen hatte kennenzulernen. Ada verfiel darauf in Schweigen, und es entstand eine peinliche Stille, die Ruby überbrückte, indem sie die Vögel auflistete, die sie am Morgen erblickt hatte, und erzählte, wie gut die späten Feldfrüchte gediehen, und dass Esco Swangers Rüben in seiner fetten, schwarzen Erde doch tatsächlich so groß geworden seien, dass nicht mehr als sechs Stück in einen
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Viertelscheffel-Korb passten. Mrs. McKennet unterbrach sie jedoch bald und fragte: Möchten Sie uns nicht verraten, was Sie über den Krieg denken? Ruby zögerte nur eine Sekunde und sagte dann, dass der Krieg sie nicht sonderlich interessiere. Nach allem, was sie über die Nordstaaten gehört habe, habe sie den Eindruck gewonnen, dass es ein gottloses Land sei, oder besser gesagt, ein Land, in dem es nur einen einzigen Gott gebe, nämlich das Geld. Man habe ihr berichtet, dass die Menschen, die einem so raffgierigen Glauben anhingen, gemein, verbittert und seelisch so zerrüttet würden, dass ganze Familien mangels besseren Trostes morphiumsüchtig würden. Zudem hätten sie, wie Ruby erst kürzlich gehört habe, einen Feiertag namens Thanksgiving erfunden, der ebenfalls deutliche Merkmale einer verderbten Kultur trage. Man könne doch seine Dankbarkeit nicht auf einen einzigen Tag beschränken! Als Ada und Ruby später am Nachmittag stadtauswärts die Hauptstraße hinabliefen, bemerkten sie vor der Seitenfront des Gerichtsgebäudes eine Traube von Menschen mit emporgereckten Köpfen. Als sie hinübergingen, um festzustellen, was es da zu sehen gab, erblickten sie hinter einem der Fenster im zweiten Stock einen Gefangenen, der vor den Leuten unten eine Rede hielt. Er hielt die Gitterstäbe umklammert und preßte sein Gesicht so weit wie möglich zwischen ihnen hindurch. Sein schwarzes, fettiges Haar hing ihm wie Rattenschwänze bis unters Kinn. Unter der Unterlippe trug er ein nach französischer Mode gestutztes Bärtchen. Von seiner Kleidung war oberhalb des Fensterbretts nur eine verschlissene, bis unters Kinn zugeknöpfte Uniformjacke sichtbar. Er redete in dem eindringlichen Tonfall eines Wanderpredigers und hatte mit seiner zornigen Stimme eine große Menschenmenge angezogen. Er habe im Krieg hart gekämpft, behauptete er. Er habe viele Unionssoldaten erschossen und bei Williamsburg eine Kugel in die Schulter abbekommen. Doch habe er kürzlich den Glauben an den
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Krieg verloren und Sehnsucht nach seiner Frau gehabt. Er sei nicht zwangsrekrutiert worden, sondern habe sich freiwillig gemeldet, und sein einziges Vergehen habe darin bestanden, dass er nicht länger freiwillig am Krieg habe teilnehmen wollen und nach Hause gegangen sei. Und jetzt stehe er hier als Gefangener. Und werde vielleicht, obwohl er doch ein Kriegsheld war, am Galgen sterben. Der Gefangene erzählte weiter, wie er vor ein paar Tagen auf der Farm seines Vaters, die in einem versteckten Seitental des Balsam Mountain lag, von der Bürgermiliz aufgegriffen worden sei. Er habe sich dort zusammen mit anderen Fahnenflüchtigen versteckt. In den Wäldern wimmle es mittlerweile von solchen Leuten. Als einziger Überlebender jenes Tages halte er es für seine Pflicht, aus dem vergitterten Zellenfenster heraus alles genau zu erzählen. Ada und Ruby blieben stehen, um zuzuhören, obwohl es eine Geschichte voll Greuel und Blutvergießen war. Es war kurz vor Einbruch der Dunkelheit gewesen, und die Bergspitzen waren von einer dicken grauen Wolkendecke umhüllt. Es hatte ein so feiner und windloser Regen eingesetzt, dass es selbst jemanden, der die ganze Nacht im Freien geblieben wäre, kaum durchnässt hätte. Er bewirkte lediglich, dass sämtliche Farben kräftiger wurden – die Erde der Straße wurde röter und die Blätter der zu einem Dach zusammenwachsenden Pappeln grüner. Der Gefangene, zwei weitere Deserteure und der Vater des Gefangenen waren gerade im Haus gewesen, als sie unten an der Wegbiegung Pferdegetrappel vernahmen. Sein Vater ergriff die Flinte, die einzige Schusswaffe, die sie hatten, und trat auf die Straße hinaus. Da die Zeit zu knapp war, um in den Wald zu laufen, nahmen die anderen drei Männer provisorisch aus landwirtschaftlichen Geräten gebastelte Waffen zur Hand und versteckten sich damit im Lagerschuppen und spähten durch die Ritzen in der Holzwand hinaus auf die Straße. Eine kleine Gruppe kunterbunt gekleideter Reiter kam langsam und schweigsam um die Wegbiegung in das Seitental
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hinauf. Sie hatten sich offenbar nicht auf eine einheitliche Montur einigen können. Zwei große dunkelhäutige Männer, die sich so ähnlich sahen, dass man sie für Zwillinge hätte halten können, trugen eine Art Uniform, die aussah, als hätten sie die einzelnen Stücke bei den Toten auf dem Schlachtfeld zusammengeklaubt. Ein schmächtiger flachsblonder Junge trug Bauernkleider – Leinenhose, braunes Wollhemd, kurze graue Wolljacke. Den vierten Mann hätte man in seinem langen, schwarzen Gehrock, der Hose aus Moleskin, dem weißen Hemd und einer schwarzen Halsbinde am Stehkragen für einen Wanderprediger halten können. Ihre Pferde waren räudige Klepper mit vorstehenden Rippen, Pusteln an den Hälsen und grünlich schimmernden Hinterhänden, aus deren sämtlichen Kopföffnungen klebrige, gelbe Schleimfäden trieften. Mit klobigen Kerr-Revolvern an den Hüften, Flinten und Gewehren in Sattelfutteralen waren die Männer allerdings mit Waffen gut ausstaffiert. Der alte Mann erwartete sie, und in dem grauen Licht und dem Sprühregen wirkte er wie eine Art Gespenst, ein graues Wesen, das breitbeinig über dem Grasstreifen zwischen den Wagenspuren stand. Er trug Kleider aus handgesponnener, mit einem Brei aus Walnußschalen zimtfarben gefärbter Wolle. Er trug einen Hut, der so schlaff aussah wie eine Schlafmütze und auf seinem Kopf saß wie ein unförmiger Klumpen, der gerade schmilzt. Seine Backen hingen fleischig herab, wie die Lefzen eines Hundes, und er hielt das lange Gewehr hinter sich an ein Bein gelehnt. — Halt, stopp, sagte er, als die Reiter auf zwanzig Schritte herangekommen waren. Die zwei massigen Männer und der flachshaarige Junge ignorierten den Befehl und drückten ihren Reittieren die Fersen in die Flanken, damit sie im Schritttempo weitergingen. Der wie ein Prediger aussehende Mann bewegte sich schräg auf die Wegkante zu, indem er sein Pferd so lenkte, dass der kurzläufige, im Futteral neben seinem Knie steckende Spencer-Karabiner von dessen Rumpf verdeckt wurde. Seine
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Kumpane blieben nebeneinander vor dem alten Mann stehen. Plötzlich gewahrte man eine ruckartige Bewegung, und es ertönte ein spitzer Schrei. Der alte Mann hatte seine Flinte hervorgezogen, sie blitzschnell einem der bulligen Männer unter das wabbelige Kinn gestoßen und dann wieder zurückgezogen. Es war eine Vogelflinte veralteter Bauart. Ihr Hahn war gespannt, und ihr Kaliber war so groß wie die Öffnung einer Pulverflasche. Über den Hals des massigen Mannes lief eine dünne Blutspur und verschwand in seinem Hemdkragen. Der andere massige Mann und der flachshaarige Junge blickten regungslos zu einem an den Waldrand grenzenden Maisfeld hinüber, auf dem seit der letztjährigen Ernte ein grauer, wie ein eingesackter Kegel aussehender Garbenhaufen stand. Sie lächelten, als rechneten sie damit, dass zwischen den Bäumen gleich etwas ziemlich Spaßiges auftauchen würde. Der alte Mann sagte: Du da am Zaun. Ich weiß, wer du bist. Du bist Teague, Los, komm her. Teague rührte sich nicht vom Fleck. Der alte Mann sagte: Willst du nicht? Teague blieb ungerührt sitzen. Auf seinem Gesicht lag ein breites Grinsen, doch seine Augen sahen aus wie ein kalter Kamin, aus dem die Asche herausgeschaufelt worden ist. — Sind das da deine dicken Nigger? sagte der alte Mann zu Teague. — Nigger kann sein, sagte Teague. Meine aber jedenfalls nicht. Die würde ich nicht mal geschenkt nehmen. — Wem gehören sie dann? — Sich selbst vermutlich, sagte Teague. — Komm jetzt endlich mit hierüber, sagte der Mann. — Ich bleib lieber hier am Waldrand stehen, sagte Teague. — Du machst mich so nervös, dass ich gleich jemandem eine Ladung verpasse, sagte der Mann. — Du hast doch nur einen Lauf, bemerkte Teague. — Dieses Gewehr hat einen ziemlich breiten Streukreis,
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sagte der Mann. Er ging ein paar Schritte rückwärts, bis er alle drei Männer im Schussfeld der langen Flinte zu haben meinte. Dann sagte er: Kommt von den Pferden runter und stellt euch auf einen Haufen. Alle bis auf Teague stiegen ab. Die Pferde standen mit schleifenden Zügeln da, die Ohren nach vorn gelegt, als ob ihnen, die Sache Spaß machte. Der verwundete Mann – der Byron hieß – strich mit den Fingern über die Wunde, besah sich das Blut und wischte sich dann die Hände an seinem heraushängenden Hemdsaum ab. Der andere, Ayron mit Namen, legte den Kopf schief, und an seinem Mundwinkel kroch seine rosa Zungenspitze hervor, so konzentriert verfolgte er nun alles, was sich hier tat. Der flachshaarige Junge rieb sich die blauen Augen und zog seine Kleidungsstücke zurecht, als hätte er darin geschlafen und wäre gerade erst aufgewacht. Dann beäugte er fasziniert den Nagel seines linken Zeigefingers. Der Fingernagel war fast so lang wie der Finger selbst – wie bei Leuten, die ihn wachsen ließen, um damit Butter zu schneiden, Schmalz zu schöpfen und ähnliches. Der alte Mann hielt seine Flinte auf die drei gerichtet und musterte ihre diversen Waffen. — Wozu brauchen die Nigger so lange Kavallerie-Säbel? Um Fleisch aufzuspießen und übers Feuer zu hatten? fragte er Teague. Es entstand ein langes Schweigen, dann sagte der alte Mann: Was sucht ihr hier oben? — Das weißt du doch, sagte Teague. Fahnenflüchtige. — Die sind alle fort, sagte der alte Mann. Schon lange. Haben sich in den Wäldern versteckt, wo sie schwer zu finden sind. Oder sind weiter über die Berge, um auf die andere Seite überzuwechseln. — Aha, sagte Teague. Wenn ich dich recht verstehe, sollen wir also einfach wieder in die Stadt zurückreiten. Ist es so? — Würde uns allen Ärger ersparen, sagte der Mann. — Wenn du nicht aufpasst, kriegen wir's fertig und hängen
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dich alten Gauner gleich mit auf, sagte Teague. Wenn sie weg wären, würdest du uns nicht mit einer Flinte begrüßen. In diesem Augenblick ließ sich der flachshaarige Junge flach auf den Boden fallen und brüllte: König der Könige! Als der alte Mann dadurch abgelenkt zu dem Jungen hin blickte, machte Ayron mit einer Anmut, die man einem so bulligen Kerl gar nicht zugetraut hätte, einen Satz nach vorn und hieb dem Mann die linke Faust wie eine Keule auf den Kopf. Dann versetzte er ihm einen Schlag gegen die Hand, dass ihm die Flinte wegflog. Der alte Mann fiel auf den Rücken, sein Hut neben ihn auf die Erde. Ayron hob die Flinte auf und schlug damit auf den Alten ein, bis der Gewehrschaft abbrach. Danach schlug er einfach mit dem Gewehrlauf weiter. Nach einer Weile lag der Mann reglos auf der Straße. Er war noch bei Bewusstsein, hatte aber einen glasigen Blick. Aus einem Ohr lief etwas heraus, das aussah wie rötlicher Fusel. Byron spuckte auf den Boden und wischte sich das Blut vom Kinn. Dann zog er den Säbel, hielt die Spitze an das wabbelige Kinn des alten Mannes und drückte zu, bis das Blut aus dem Ritz rann wie bei ihm selbst. — Fleisch aufspießen und übers Feuer halten, sagte er. — Lass ihn in Ruhe, sagte Ayron. Der kann uns nichts mehr anhaben. Die beiden Männer hatten trotz ihrer Größe dünne, piepsige Stimmen, die hell waren wie Vogelgezwitscher. Byron zog den Säbel aus dem Kinn des Mannes, doch dann nahm er, ehe jemand begreifen konnte, was er vorhatte, den Griff in beide Hände und stach – mit einer Bewegung, die nicht viel mühsamer aussah, als wenn man einen Butterstößel in ein Butterfaß stößt – dem alten Mann den Säbel durch den Bauch. Byron streckte die Hände aus und trat zurück. Von der Schwertklinge war nichts zu sehen; nur die verzierte Glocke und der drahtumwickelte Griff ragten noch aus dem Körper des alten Mannes. Dieser versuchte sich aufzurichten, doch er
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konnte nur den Kopf und die Knie heben, denn er war am Boden festgespießt. Byron sah zu Teague hinüber und sagte: Soll ich ihn kalt machen? — Lass ihn das mit seinem Schöpfer ausfechten, sagte Teague. Der Junge, der bis jetzt am Boden gelegen hatte, stand auf, pflanzte sich vor dem Mann auf und glotzte ihn an. — Der ist kurz vorm Abkratzen, sagte er. Seine Lampe brennt, und er wartet auf den Bräutigam. Alle lachten – nur Teague und der alte Mann nicht. Teague sagte: Halt die Klappe, Birch. Weiter geht's. Sie saßen auf, um zum Haus hinüber zu reiten, und der alte Mann machte indessen seine letzten Atemzüge und verschied mit einem Wimmern. Geschmeidig wie ein Kunstreiter beugte sich Byron beim Vorbeireiten in seinem Sattel hinunter, zog den Säbel heraus und wischte ihn, ehe er ihn in die Scheide zurücksteckte, an der Mähne seines Pferdes ab. Byron ritt zum Gatter, trat mit dem Fuß dagegen, um den Riegel abzubrechen, und dann ritten sie hindurch und direkt an die Veranda. — Los, kommt raus, rief Teague, einen feierlichen Unterton in der Stimme. Als niemand kam, warf Teague Byron und Ayron einen Blick zu und deutete mit dem Kinn zur Haustür. Die beiden stiegen ab, banden die Zügel an den Verandapfosten fest und umrundeten das Haus mit gezogenen Revolvern von links und von rechts. Sie bewegten sich wie zwei jagende Wölfe, die stumm und harmonisch auf ein gemeinsames Ziel hin arbeiten. Sie waren ihrer bulligen Gestalt zum Trotz sehr wendig, und ihre Bewegungen geschmeidig. Doch ihre größte Stärke lag im Nahkampf, denn beide sahen aus, als wären sie imstande, einen Mann mit bloßen Händen zu zerreißen. Nachdem sie das leere Haus dreimal umrundet hatten, stürzten sie zeitgleich zur Vorder- und Hintertür hinein. Eine
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Minute später kamen sie wieder heraus, Ayron die Faust voll dünner Wachskerzen, jeweils zwei an einem Docht, und Byron mit einem angebrochenen Schinken, den er wie ein Hühnerbein an dem weißen Unterschenkel gepackt hielt. Sie stopften die Sachen in ihre Satteltaschen. Ohne ein Wort oder eine Geste, die man als Befehl oder Aufforderung hätte deuten können, stiegen darauf Teague und Birch von ihren Reittieren, und alle vier gingen gemeinsam zur Scheune hinüber, wo sie die Tür zum Stall aufstießen. Dort fanden sie nur ein altes Maultier. Sie trampelten auf dem Heuboden im Heu herum und stießen ihre Säbel in die dicksten Haufen hinein. Dann kamen sie wieder heraus und wandten ihre Aufmerksamkeit dem Lagerschuppen zu. Während sie darauf zugingen, flog plötzlich die Tür auf, und die drei Fahnenflüchtigen stürmten heraus, um zu fliehen. Die Männer wurden bei der Flucht von ihren behelfsmäßigen Waffen behindert, die aussahen wie die Werkzeuge eines noch finstereren Zeitalters – eine geschärfte, an einer Kette baumelnde Pflugschar, ein alter Spaten, der so gehämmert und gefeilt worden war, dass er spitz zulief wie eine Art Speer, ein am Kopf mit Hufeisennägeln gespickter Kiefernknorren. Teague ließ die Männer ein Stück weit laufen, dann legte er seinen Karabiner an und schoss die zwei Vorderen nieder, die unter lautem Geschepper ihrer Waffen zu Boden stürzten. Der Hintere, der Gefangene, blieb stehen, hob die Hände und drehte sich zu ihnen um. Teague musterte ihn kurz. Der Mann trug an jenem Tag keine Stiefel und grub seine Zehen in die Erde, als versuche er, besseren Halt zu finden. Teague befeuchtete seinen Daumen und rieb damit über das Korn seines Karabiners, hob den Lauf und brachte Kimme und Korn auf eine Linie. Der Mann blieb reglos stehen. Die mit Nägeln besetzte Keule hielt er hoch erhoben über den Kopf, dass er aussah wie ein auf einem Exlibris dargestellter Wilder. Teague ließ den Karabiner sinken, stellte ihn mit dem Kolben auf den Boden und hielt ihn mit einer Hand locker am Lauf fest.
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— Lass diesen Prügel fallen, oder ich schick dir die beiden da rüber, damit sie dich in Stücke reißen, sagte er. Der Gefangene warf den beiden bulligen Männern einen Blick zu und ließ den Kiefernknorren vor seine Füße fallen. — Gut so, sagte Teague. Und jetzt bleib so stehen. Die Männer gingen gemeinsam auf den Gefangenen zu, und Ayron packte ihn im Nacken und hob ihn am Genick hoch wie einen Welpen. Dann wandten sie ihre Aufmerksamkeit den beiden auf dem Boden liegenden Männern zu. Einer von ihnen war tot, hatte aber so wenig Blut verloren, dass seine Kleider kaum besudelt waren. Den anderen hatte die Kugel in die Eingeweide getroffen. Er lebte noch, spürte aber, dass er sterben musste. Er hatte sich auf die Ellbogen gestützt und sich Hosen und Unterhosen bis zu den Knien heruntergezogen. Er betastete mit zwei Fingern seine Wunde, sah dann zu den Männern auf und brüllte: Ihr habt mich getötet. Die Milizionäre gingen zu ihm hin und stellten sich um ihn, doch als sie seinen scharfen Geruch wahrnahmen, wichen sie zurück. Der Gefangene wand sich unruhig, als wollte er zu seinem niedergeschossenen Freund, aber Ayron versetzte ihm mit der Faust drei stumpfe Schläge an die Schläfe. Birch zog eine schwarze Rolle Kautabak heraus, klemmte ein Ende zwischen die Zähne, säbelte sich mit dem Messer vor seinen Lippen ein Stück ab und steckte den Rest wieder in die Tasche. Als er ausspuckte, scharrte er mit der Stiefelspitze Erde über die gelbbraune Stelle, als störte ihn der Fleck auf dem Boden oder als wäre er darauf bedacht, keine Spuren zu hinterlassen. Der angeschossene Mann kippte flach nach hinten und blinzelte zum Himmel hinauf, als sei dort etwas Verwirrendes zu sehen. Sein Mund formte Worte, doch außer den Schnalzlauten eines trockenen Mundes kam kein Laut heraus. Dann schloß er die Augen, und wenn er nicht von Zeit zu Zeit seine Finger bewegt hätte, hätte man ihn für tot halten können. Er verlor unglaublich viel Blut. Das Gras um ihn herum war rot getränkt, und seine Kleider waren vollgesogen und glatt
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wie Wachsleinwand. Sie glänzten sogar fast in dem schwachen Licht. Nach einer Weile hörte das Blut auf zu fließen, und er schlug die Augen wieder auf, ohne seinen Blick irgendwohin zu lenken. Sie nahmen an, dass er jetzt tot war. Birch erbot sich, ihm etwas Saft in die Augen zu spucken, um festzustellen, ob er dann blinzelte, doch Teague sagte: Das tut nicht nötig. Der ist hinüber. — Der da ist dir im Tod vorangegangen wie dein alter Daddy, sagte Birch zu dem Gefangenen. Der Mann schwieg, und Teague sagte: Birch, halt den Mund und hol mir was, womit ich seine Hände zusammenbinden kann, dann führen wir ihn an der Leine in die Stadt. Der Junge ging zu den Pferden hinüber und kam mit einem aufgerollten Seil zurück. Doch als Teague sich vorbeugte, um dem Gefangenen die Hände zu fesseln, drehte dieser plötzlich durch. Sein Verhalten war nicht anders zu erklären, als dass er lieber sterben wollte als sich fesseln zu lassen. Er trat wild um sich und traf Teague dabei am Oberschenkel. Daraufhin stürzten sich Teague und die massigen Männer auf ihn, doch der Mann schlug so wild um sich, dass es eine Zeitlang nicht sicher war, wer sich behaupten würde. Er schlug mit sämtlichen Körperteilen auf sie ein, auch mit dem Kopf. Dabei stieß er hohe, durchdringende Schreie aus, die die anderen beinahe entnervten. Doch schließlich gelang es ihnen, den Mann zu Boden zu werfen und seine Handgelenke und Füße zusammenzubinden. Auch da hörte er nicht auf, herumzuzappeln, und er streckte den Kopf so weit vor, bis er Teague in die Hand beißen konnte, dass sie blutete. Teague wischte sich die Hand an seinem Rockschoss ab und besah sie sich. — Lieber lasse ich mich von einem Schwein beißen als von einem Mann, sagte er. Er schickte Birch ins Haus, um einen Sprossenstuhl zu holen, und dann machten sie sich gemeinsam daran, den Mann darauf festzubinden, fesselten seine Arme an den Seiten und
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schlangen das Seil um seinen Hals, bis er nur noch leicht mit den Fingern wackeln und den Kopf drehen konnte wie eine Schildkröte, die auf dem Rücken liegt. — Na also, sagte Teague. Jetzt soll er mal versuchen, mich zu beißen. — Ein Berserker, sagte Birch. Kenn ich vom Lesen. Ist ein Wort für wie Leute sind, wenn sie durchdrehen. Sie legten eine kurze Pause ein, indem sie in die Knie gingen und verschnauften, während der Mann sich in seinen Fesseln hin und her wand, bis er sich den Hals blutig gescheuert hatte. Darauf wurde er ruhig. Byron und Ayron kauerten am Boden, die Unterarme auf ihre prallen Schenkel gestützt. Teague saugte an seiner Wunde, holte dann ein Taschentuch heraus, bürstete damit den Schmutz von seinem schwarzen Gehrock und wischte sich die Fußspuren ab, die der Mann am Oberschenkel seiner hellen Hose hinterlassen hatte. Birch hielt sich die linke Hand vor das Gesicht und stellte fest, dass er sich bei dem Kampf den langen Fingernagel eingerissen hatte. Er nahm sein Messer heraus und schnitt ihn, über den Verlust fluchend, ab. Ayron sagte: Wir könnten den kleinen Transportschlitten da drüben nehmen und den Kerl mitsamt dem Stuhl darauf setzen und ihn, gefesselt wie er ist, in die Stadt schleifen. — Könnten wir, sagte Teague. Ich tendiere im Augenblick aber eher dazu, ihn auf den Heuboden raufzutragen, ihn mit einer Schlinge um den Hals an einem Dachbalken aufzuhängen und ihn aus der Heuluke zu schubsen. — Man kann einen Mann doch nicht im Sitzen erhängen, sagte Birch. — Nicht? sagte Teague. Wieso soll das nicht gehen? Hab so was doch schon gesehen, verdammt. — Na gut, würd trotzdem besser aussehen, wenn wir ab und zu mal jemanden mitbringen, sagte Birch. Die Männer berieten sich eine Weile und kamen offenbar zu dem Schluß, dass Birch gar nicht so unrecht hatte, denn sie stellten sich um den Stuhl, hoben ihn hoch und trugen ihn zu
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dem Schlitten hinüber. Sie zurrten den Stuhl auf dem Schlitten fest, spannten diesen an das Maultier und machten sich auf den Weg in die Stadt. Der Kopf des Mannes baumelte während der Fahrt hin und her, denn er hatte nicht einmal mehr den Willen, ihn gerade zu halten. — Diese Welt wird nicht lange bestehen, brütete der Gefangene abschließend. Gott wird eine solche Welt nicht lange bestehen lassen. Als er geendet hatte, stand die Sonne bereits ziemlich tief im Westen, und Ada und Ruby wandten sich von dem Gerichtsgebäude ab und machten sich auf den Heimweg. Zunächst schwiegen beide betroffen, doch als sie ein Stück weit gegangen waren, unterhielten sie sich über das, was der Gefangene erzählt hatte. Ada wollte seinen Bericht als Übertreibung abtun, doch Ruby kam zu dem Schluß, dass man ihn ruhig für bare Münze nehmen könne, da er durchaus in den Bereich dessen gehöre, wozu Menschen fähig seien. Dann diskutierten sie über eine Strecke von ein, zwei Meilen ganz allgemein darüber, ob es besser war, die Welt als einen Ort der Gefahr und der Angst zu betrachten – was zwangsläufig zu einer pessimistischen Grundhaltung führte –, oder ob man stets dem Licht zustreben und guten Mutes sein sollte, selbst wenn über einem ständig eine drohende Faust zu schweben schien, jeden Augenblick zum Zuschlagen bereit. Als sie den Westarm des Pigeon River erreichten und in die Straße am Fluss einbogen, begann es allmählich zu dunkeln, und die höheren Berge des Blue Ridge warfen bereits ihre Schatten auf den Buckel namens Big Stomp. Das Wasser sah schwarz und kalt aus, und in der Luft hing der Geruch des Flusses, der zu etwa gleichen Teilen mineralischen und pflanzlichen Ursprungs war. Obwohl der Wasserstand seit dem Morgen ein wenig gesunken war, war er nach dem Regen der vergangenen Nacht noch immer ziemlich hoch, und die aus dem Fluss herausragenden Felsen waren an Stellen, wo sich die Kronen der Uferbäume in der Flussmitte beinahe trafen und den Wasserlauf den ganzen Tag lang beschatteten,
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dunkel und nass. Sie waren dem Flussarm erst ein kurzes Stück gefolgt, als Ruby stehenblieb, sich zum Fluss umdrehte und etwas darin anvisierte, als wollte sie die Entfernung abschätzen. Sie ging ein Stück in die Knie wie ein Kämpfer, der seinen Schwerpunkt senkt, um sich für einen Angriff zu sammeln. Schau mal, da drüben, sagte sie. Das sieht man nicht alle Tage. Da stand ein Graureiher im Fluss, ein Vogel von ohnehin beträchtlicher Größe, der aber aus ihrem Blickwinkel und im Licht der tiefstehenden Sonne noch größer wirkte. Mit dem langen, durch das schräg einfallende Licht auf dem Wasser erzeugten Schatten wirkte er so groß wie ein Mensch. Seine Beine und Flügelspitzen waren schwarz wie der Fluss. Der Schnabel war auf der Oberseite schwarz und auf der Unterseite gelb, und er glänzte im Licht matt wie Atlasseide oder ein angeschlagener Feuerstein. Der Reiher starrte mit tiefer Konzentration in das Wasser. Dann und wann machte er einen langsamen, behutsamen Schritt nach vorn, indem er einen Fuß aus dem Wasser hob, ihn in der Luft hochhielt, als wartete er, bis das Wasser abgetropft war, und ihn dann an einer anderen, offenbar nach sorgfältiger Überlegung gewählten Stelle wieder absetzte. Ruby sagte: Er hält nach einem Frosch oder einem Fisch Ausschau. Doch Ada fühlte sich beim Anblick des aufmerksam ins Wasser starrenden Vogels an Narziß erinnert, und sie erzählte Ruby zur Vertiefung ihrer abendlichen Studien über die alten Griechen eine Kurzversion dieser Geschichte. — Dieser Vogel da ist überhaupt nicht mit sich beschäftigt, sagte Ruby, als Ada geendet hatte. Sieh dir seinen Schnabel an. Zuschnappen, mehr interessiert ihn nicht. Er ist damit beschäftigt, was er als nächstes erdolchen und auffressen kann. Sie traten langsam ans Flussufer, und der Reiher drehte seinen Hals und beäugte sie mit ruhiger Neugier. Er veränderte die Haltung seines schmalen Kopfes mit winzigen, präzisen Bewegungen, als hätte er Mühe, um seinen klingenförmigen
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Schnabel herum zu sehen. Ada hatte das Gefühl, seine Augen durchforschten sie nach ihren, persönlichen Vorzügen, konnten jedoch keine finden. — Was tust du hier? rief sie dem Reiher zu. Doch sie sah seiner Miene an, dass er ein einsiedlerisches und wunderliches Wesen hatte. Er war wie alle Reiher ein einsamer Pilger, mit eigentümlichen Verhaltensweisen, von völlig anderen Prinzipien geleitet als Vögel, die in Schwärmen lebten. Ada wunderte sich, dass sich Reiher überhaupt so nah aneinander heranließen, dass sie sich fortpflanzen konnten. Sie hatte in ihrem Leben bislang nur wenige Reiher gesehen, und wenn, dann hatten sie stets so einsam gewirkt, dass es dem Herzen einen Stich gab. Exilvögel. Jeder Ort, an dem sie sich befanden, schien fern der Heimat zu sein. Der Reiher stelzte in ihre Richtung auf das Ufer zu und blieb auf einer Schlammbank stehen. Er war nur noch gut drei Meter von ihnen entfernt. Er reckte seinen Kopf ein Stück nach oben und hob ein schwarzes Bein – mit Schuppen, die so groß waren wie Fingernägel – kaum merklich vom Boden. Ada starrte auf den seltsamen Fußabdruck im Schlamm. Als sie aufsah, starrte der Vogel sie an wie jemanden, den man schon einmal irgendwo gesehen, aber nur noch vage in Erinnerung hat. Dann breitete der Reiher langsam seine Flügel aus – auf eine Art, als gälte es dabei Scharniere, Hebel, Kurbeln und Rollen in Bewegung zu setzen. Unter den Federn waren deutlich die langen Knochen zu erkennen. Die gespreizten Flügel waren so breit, dass Ada sich nicht vorstellen konnte, wie er zwischen den Bäumen hindurchkommen wollte. Der Vogel kam einen Schritt auf Ada zu, machte einen kleinen Satz vom Boden, stieg mit nur ein, zwei langsamen Flügelschlägen dicht über ihrem Kopf auf und flog durch den Baldachin der Bäume auf und davon. Ada spürte das Brausen der Flügel, die aufgewirbelte Luft, einen kalten blauen Schatten über dem Boden und auf der Haut ihres Gesichts. Sie drehte sich um und blickte dem Reiher nach, bis er am Himmel verschwunden
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war. Sie streckte eine Hand hoch, als wollte sie einem Verwandten nachwinken, der auf Besuch gewesen war. Wie war das wohl zu deuten? fragte sie sich. Als ein Segen? Ein Warnsignal? Ein Bote aus dem Jenseits? Ada holte ihr neues Skizzenbuch heraus und spitzte mit ihrem Federmesser einen der Kohlebleistifte an. Dann machte sie aus der Erinnerung eine schnelle, grobe Skizze von dem Reiher, wie er im Schlamm stand. Als sie fertig war, war sie mit dem Schwung seines Halses und der Krümmung seines Schnabels unzufrieden, doch die Beine, der Federring an seinem Kröpf und sein Blick waren gut getroffen. An den unteren Rand der Seite schrieb sie in ihrer eckigen Schrift Graureiher/Nebenarm des Pigeon River/9. Oktober 1864. Sie sah zum Himmel auf und fragte Ruby: Was meinst du, wie spät es ist? Ruby blickte mit einem zusammengekniffenen Auge nach Westen und sagte: Kurz nach fünf, worauf Ada fünf Uhr in ihr Skizzenbuch schrieb und es zuklappte. Während sie weiter flussaufwärts liefen, unterhielten sie sich über den Vogel, und dabei vertraute Ruby ihr an, dass sie das Gefühl hatte, zu Reihern einen eigenartigen Bezug zu haben. Stobrod, so erzählte sie, habe in ihrer Kindheit oft jede Verantwortung für sie abgelehnt, indem er behauptete, sie habe keinen menschlichen Vater. Als ihre Mutter mit Ruby schwanger war, hatte sie – wenn sie betrunken und verbittert war und ihn auf die Palme bringen wollte – ihm oft zu verstehen gegeben, dass er an dem Baby keinen Anteil habe und dass dessen Erzeuger ein großer Graureiher sei. Sie behauptete, dass er sich eines Morgens im Bach niedergelassen hatte und, nachdem er den Vormittag damit verbracht hatte, Flusskrebse aufzuspießen, in den Hof gekommen war, wo sie gerade eine Kruste alten Maisbrots zerbröckelte und für die Hühner ausstreute. Laut Stobrod erzählte Rubys Mutter, dass der Reiher auf seinen langen staksigen Beinen auf sie zugeschritten kam und ihr fest in die Augen sah. Sie behauptete, dass der Blick unmissverständlich
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gewesen sei, nur auf eine einzige Art zu deuten. Sie wandte sich um und rannte davon, doch der Reiher jagte hinter ihr her ins Haus, wo er sich ihr, während sie versuchte, auf allen vieren unter das Bett zu kriechen, von hinten näherte. Was dann folgte, beschrieb sie als eine brutale Rauferei. — Diese Geschichte hat er mir hunderte Male erzählt, sagte Ruby. Ich weiß natürlich im Grunde, dass es eine seiner Lügen ist, aber ich habe trotzdem immer ein komisches Gefühl, wenn ich einen dieser Vögel sehe. Ada wusste nicht, was sie dazu sagen sollte. Das Licht unter den Bäumen am Fluss hatte sich golden verfärbt, und die Blätter an den Buchen und Pappeln zitterten in einer milden Brise. Ruby blieb stehen und zog sich ihren Pullover über, während Ada die Knitterfalten aus ihrem Mantel schüttelte und ihn sich wie einen Umhang über die Schultern hängte. Sie gingen weiter und begegneten an einer seichten Stelle des Flusses einer jungen Frau, die ein in ein kariertes Tischtuch gewickeltes Baby auf dem Rücken trug. Sie hüpfte barfuß und so leichtfüßig wie ein Reh über die Trittsteine und sagte weder ein Wort, noch sah sie zu ihnen hin, als sie an ihr vorübergingen. Nur das Baby starrte sie ausdruckslos an aus Augen, die so braun waren wie Eichelnäpfe. Kurz hinter der Furt flogen kleine Vögel von einem einsam auf einem alten Feld stehenden Apfelbaum auf. Sie flogen dicht über dem Boden in den Wald. Ruby wurde von der untergehenden Sonne geblendet und konnte zwar nicht genau erkennen, um welche Art Vögel es sich handelte, doch das Wetter ließ sich auch so vorhersagen. Ihr tiefer Flug wies darauf hin, dass es mehr Regen geben würde. Ein weiteres Stück flussaufwärts, in der Nähe einer Vertiefung im Fluss, in der manchmal Baptisten getauft wurden, stieg ein Schwarm Baumschwalben aus einem Ahorn auf, der sich schon intensiv verfärbt hatte. Die Sonne berührte soeben die Kammlinie, und der Himmel hatte die Farbe gehämmerten Zinns. Die Schwalben flogen wie Glieder eines einzigen Leibes aus dem Baum auf, noch immer in der Form
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des runden Ahorns, auf dem sie sich versammelt hatten. Dann legten sie sich schräg in den Wind, ließen sich in der Brise auf ausgebreiteten Flügeln zwei Herzschläge lang seitwärts tragen, so dass Ada ihr schmales Profil und zwischen den einzelnen Vögeln viel silbernen Zwischenraum sah. Plötzlich, wie auf ein Signal, stiegen sie steil auf und drehten sich, so dass ihre Flügel nun frontal zu sehen waren und sich die hellen Zwischenräume zwischen den Vögeln schlossen. Der Schwarm sah jetzt aus wie das schwarze, in den Himmel geworfene Spiegelbild des roten Ahornbaums. Die Schatten der Vögel flackerten auf dem hohen Wiesengras jenseits der Straße. Die Dämmerung legte sich um Ada und Ruby, als ob die Dunkelheit vom Fluss himmelwärts stieg. Rubys bizarre Reiher-Geschichte über Ursprung und Herkunft erinnerte Ada an eine Geschichte, die ihr Monroe kurz vor seinem Tod erzählt hatte. Sie handelte davon, wie er ihre Mutter umworben hatte, und um die flussaufwärts in die Nacht hinein führenden Meilen zu verkürzen, gab Ada sie Ruby in allen Einzelheiten wieder. Ada hatte bereits gewusst, dass Monroe und ihre Mutter relativ spät im Leben geheiratet hatten – er mit fünfundvierzig, sie mit sechsunddreißig. Und dass sie nur eine kurze Zeit miteinander gehabt hatten. Was sie hingegen nicht gewusst hatte, war Näheres darüber, wie sie sich kennengelernt hatten und wie es zu ihrer Heirat gekommen war. Sie hatte stets angenommen, dass es ein überlegter Bund zwischen Freunden gewesen war, die Art Verbindung, wie sie sie schon des öfteren zwischen Paaren beobachtet hatte, bei denen er ein kauziger alter Junggeselle und sie eine ältere Jungfer gewesen war. Sie hatte immer angenommen, dass sie das Produkt eines bedauerlichen Rechenfehlers war. Bis zu einem Nachmittag in dem Winter vor Monroes Tod. Es war den ganzen Tag lang ein nasser Schnee gefallen, dessen große Flocken beim Auftreffen auf dem Boden sofort wieder schmolzen. Ada und Monroe saßen den ganzen langen
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Nachmittag vor dem Kamin, wo Ada ihm aus einem neuen Buch mit dem Titel The Conduct of Life vorlas. Monroe hatte seit Jahren jede gedruckte Äußerung von Emerson mit regem Interesse verfolgt, und an jenem Tag empfand er Emersons spirituelle Ansichten – wie immer, auch noch im hohen Alter – als tendenziell einen Grad extremer denn nötig. Als es vor den Fenstern dunkel zu werden begann, legte Ada das Buch zur Seite. Monroe sah müde aus, fahl im Gesicht, die Augen eingesunken. Er saß da und sah ins Feuer, das inmitten seiner Asche langsam und fast flammenlos brannte. Nach einer Weile sagte er: Ich habe dir nie erzählt, wie es dazu kam, dass ich deine Mutter geheiratet habe. — Nein, sagte Ada. — Ich muss in letzter Zeit ständig daran denken. Ich weiß nicht, warum. Ich habe dir nie erzählt, dass ich deine Mutter kennenlernte, als sie knapp sechzehn war und ich fünfundzwanzig. — Nein, sagte Ada. — O ja. Als ich sie zum erstenmal sah, fand ich, sie sei das hübscheste Mädchen, das ich je gesehen hatte. Es war Februar. Ein grauer Tag, kühl, und mit einer schwachen, feuchten, vom Ozean her wehenden Brise. Ich machte gerade einen Ausritt. Ich hatte mir kürzlich einen wunderbaren HannoveranerWallach gekauft. Gut achtundsechzig Zoll Schulterhöhe. Ein dunkler Fuchs. Eine Idee kuhhessig, was aber kaum auffiel. Sein Galopp war wundervoll, geradezu als schwebe man. Ich war mit ihm ein Stück aus Charleston hinausgeritten, in nördliche Richtung, am Ashley entlang und durch Middleton hindurch. Und auf dem Rückweg über Hanahan wieder zurück. Es war ein langer Ausritt. Das Pferd war trotz der kühlen Witterung schaumbedeckt, und ich war hungrig und konnte es kaum noch erwarten, bis es Abendessen gab. Es war genau die gleiche Tageszeit wie jetzt. Graue Nacht. Wir befanden uns gerade an der Stelle, wo man eindeutig sagen konnte, dass wir das Land hinter uns gelassen und die Stadt betreten hatten.
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Wir kamen an einem Haus vorbei, das man weder als bescheiden noch als vornehm hätte bezeichnen können. Es hatte eine breite Veranda, an deren beiden Enden alte Fächerpalmen standen. Für meinen Geschmack stand es zu dicht an der Straße. Die Fenster waren dunkel, und im Hof stand ein Wassertrog. In der Annahme, dass niemand daheim sei, hielt ich an und stieg ab, um mein Pferd zu tränken. Da hörte ich von der Veranda eine Frauenstimme, die sagte: Sie hätten ruhig erst einmal um Erlaubnis bitten können. Sie hatte offenbar allein auf einer Bank unter den Fenstern gesessen. Ich nahm meinen Hut ab und sagte: Ich bitte vielmals um Verzeihung. Sie trat aus dem Verandaschatten hervor, stieg die Treppe herab und blieb auf der untersten Stufe stehen. Sie trug ein Winterkleid aus grauer Wolle und ein schwarzes Umschlagtuch über den Schultern. Kohlrabenschwarzes Haar. Sie war gerade dabei gewesen, es zu bürsten, denn es hing ihr offen fast bis über die Taille, und sie hielt eine Bürste mit einem Schildpattgriff in der Hand. Ihr Gesicht war blass wie Marmor. Alles an ihr war entweder schwarz, weiß oder in einem Farbton dazwischen. Trotz ihrer strengen Kleidung war ich vollkommen entwaffnet. Ich habe im ganzen Leben niemanden gesehen, der es mit ihr aufnehmen kann. Es läßt sich nicht in Worten ausdrücken, wie schön ich sie fand. Ich brachte nichts weiter heraus als: Ich bitte nochmals um Entschuldigung, Miss. Ich stieg auf und ritt davon, völlig verwirrt und innerlich aufgewühlt. Irgendwann in jener Nacht – nachdem ich zu Abend gegessen hatte und zu Bett gegangen war – ging es mir auf. Sie war diejenige, die mir zur Frau bestimmt war. Gleich am nächsten Tag begann ich, sie zu umwerben, und ich ging dabei so zielstrebig und umsichtig vor wie nur möglich. Zunächst holte ich Informationen ein. Ich fand heraus, dass sie Claire Dechutes hieß. Ihr Vater, ein Franzose, verdiente seinen Lebensunterhalt, indem er mit seinem Heimatland Handel trieb – indem er Wein importierte und Reis exportierte. Er war nicht reich, aber er hatte ein gutes
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Auskommen. Ich arrangierte ein Treffen mit ihm. In seinem Lagerhaus an einem Dock am Cooper. Einem feuchten, dunklen Schuppen, in dem es nach dem Fluss roch. Es war vollgestellt mit Holzkisten voller Rotwein, sowohl edlem als auch billigem, und Jutesäcken mit unserem Reis. Wir wurden einander von meinem Freund Aswell vorgestellt, der in der Vergangenheit mit Dechutes geschäftlich zu tun gehabt hatte. Dechutes, dein Großvater, war ein kleiner Mann, und kräftig gebaut. Wohlbeleibt ist wohl der richtige Ausdruck. Französischer in seiner Art, als mir angenehm ist, wenn du verstehst. Weder du noch deine Mutter haben merkliche Charaktereigenschaften von ihm geerbt. Ich machte meine Absichten von Anfang an deutlich: Ich wollte seine Tochter heiraten und suchte seine Zustimmung und Unterstützung. Ich bot ihm an, ihm Referenzen zu liefern, Angaben über meine Vermögensverhältnisse, alles, was ihn davon überzeugen konnte, dass ich ein wünschenswerter Schwiegersohn sei. Ich konnte sehen, wie seine Rädchen rasselten. Er zupfte an seiner Krawatte. Drehte die Augen hin und her. Er trat ein Stück zur Seite und beriet sich eine Weile mit Aswell. Als er wiederkam, streckte er die Hand aus und sagte: Lassen Sie mich Ihnen jede Unterstützung anbieten, die in meiner Macht liegt. Seine einzige Bedingung war folgende: Er wünschte, dass Claire nicht vor ihrem achtzehnten Geburtstag heiratete. Ich willigte ein. Zwei Jahre Wartezeit schienen nicht zu lang und eine faire Bitte seinerseits. Binnen weniger Tage brachte er mich als Gast an seinem Tisch mit nach Hause. Durch ihn wurde ich deiner Mutter vorgestellt. Ich sah in ihren Augen, dass sie mich von dem Abend im Hof wiedererkannte, aber sie sagte kein Wort davon. Ich glaubte von Anfang an, dass sie meine Gefühle erwiderte. Wir waren monatelang ein glückliches junges Paar, den Frühling und den Sommer hindurch, bis hinein in den Herbst. Wir trafen uns auf Bällen, für die ich Einladungen für sie arrangierte. Ich ritt unzählige Male auf dem Hannoveraner
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Wallach in Richtung Norden zum Haus der Dechutes'. Claire und ich saßen den ganzen schwül warmen Sommer hindurch Abend für Abend auf der breiten Veranda auf der Bank und unterhielten uns über alles, was uns am Herzen lag. An Tagen, da ich nicht ausreiten konnte, schrieben wir uns Briefe, die sich irgendwo auf der Meeting Street kreuzten. Im Spätherbst ließ ich für sie einen Ring anfertigen. Es war ein blauer Diamantring, mit einem Stein so groß wie die Spitze deines kleinen Fingers. Er war in einen filigranen Ring aus Weißgold eingepasst. Ich beschloss, ihn ihr an einem Abend gegen Ende November als Überraschung zu überreichen. An dem Tag, den ich dafür ausgewählt hatte, ritt ich in der Dämmerung auf dem Hannoveraner nordwärts, und der Ring steckte in einem Samtsäckchen in meiner Westentasche. Es war ein kühler Abend, frisch und winterlich, zumindest für Charlestoner Verhältnisse. Ein Abend, der haargenau so war, wie jener, an dem wir uns zum ersten Mal gesehen hatten. Als ich bei dem Haus der Dechutes' anlangte, war der Himmel bereits vollkommen dunkel. Doch das Haus war hell erleuchtet, jedes einzelne Fenster strahlte Willkommen aus. Von drinnen drang leise Klaviermusik, Bach, an mein Ohr. Ich hielt einen Augenblick auf der Straße an und dachte, dass diese Nacht der Höhepunkt meiner monatelangen Bemühungen sein würde. Die Erfüllung meines großen Herzenswunsches in greifbarer Nähe. Auf einmal vernahm ich auf der Veranda leises Stimmengemurmel. Sah, wie sich dort etwas bewegte. Claires Profil, als sie sich vorbeugte, ihre schwarze Silhouette von dem gelben Licht im Fenster umrahmt. Es war ausgeschlossen, dass es eine andere war. Von der anderen Fensterseite beugte sich ein anderes Gesicht vor, das eines Mannes. Ihre Gesichter berührten sich, und sie küßten sich lange – und soweit ich erkennen konnte, leidenschaftlich. Ihre Gesichter trennten sich wieder, und sie streckte die Hand aus und zog sein Gesicht noch einmal heran. Mein Magen krampfte sich zusammen. Und meine Hände. Ich wäre am liebsten auf die Veranda
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gestürmt, um meine Empörung herauszubrüllen und jemanden zusammenzuschlagen. Doch es war mir unangenehm, die demütigende Rolle des betrogenen Freiers zu spielen. Ohne einen weiteren Gedanken gab ich dem Pferd die Sporen und ritt in fieberhaftem Tempo weiter in Richtung Norden. Wir ließen Meile um Meile hinter uns. Das hochbeinige Pferd streckte sich im Galopp. Es war, als ritt ich in einem Traum, als sauste ich in einer Geschwindigkeit durch eine dunkle Welt, die eher einem Flug durch die Luft entsprach als dem Ritt auf einem Pferderücken. Wir durchquerten dicht bewaldete Ebenen mit Eichen, Gelbkiefern und Stechpalmen, baumlose Landstriche mit Rispengras und Schneidegras, bis das Pferd schließlich an einer Stelle, wo die Straße rechts und links von Wachsmyrten gesäumt war, heftig schnaufend und mit herabhängendem Kopf ins Schrittempo verfiel. Ich hatte keine genaue Ahnung, wo ich mich befand. Ich hatte nicht darauf geachtet, welche Abzweigungen ich genommen hatte, geschweige denn mir die Himmelsrichtungen gemerkt, in die wir geritten waren. Ich wusste nur, dass wir uns grob Richtung Norden bewegt haben mussten, denn wir waren weder in den Ashley noch in den Cooper gestürzt und darin ertrunken. In dem schwachen Licht eines partiellen Mondes wirkte der verschwitzte FuchsWallach schwarz wie Ebenholz und ebenso glänzend. Außer der Alternative, jetzt vollends den wilden Mann zu spielen und einen westlichen Kurs einzuschlagen, um mich für das restliche Leben in den unermeßlichen Weiten von Texas zu verlieren, blieb mir nicht viel anderes übrig, als umzudrehen und wieder heimwärts zu reiten. Als ich gerade beschloss, dies zu tun, sah ich jedoch, dass der Himmel über den Wachsmyrten vor mir gelb erstrahlte wie von einem brennenden Scheiterhaufen. Andere Elemente der Schöpfung schienen genauso entbrannt zu sein wie ich. Das Feuer legte mir nahe, so folgerte ich, eine mittlere Richtung einzuschlagen.
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Ich ritt in die Richtung, aus der das Licht kam, und fand mich nach einer oder zwei Biegungen vor einer brennenden Kirche wieder. Das Dach und der Turm standen in Flammen, nur das Schiff war noch unversehrt. Ich stieg vom Pferd, ging zu der Kirche hin, betrat sie und ging den Mittelgang hinunter. Ich zog das Säckchen mit dem Ring aus meiner Tasche, legte es auf den Altar und blieb dann in dem Rauch und dem gleißenden Licht stehen. Um mich her begannen brennende Dachteile herunterzufallen. Ich bin der am Altar wartende Bräutigam; ich werde mich aufbrennen lassen, dachte ich. In diesem Augenblick kam ein Mann zum Portal hereingestürzt. Seine Kleider hingen unordentlich an ihm herunter, und in der Hand hielt er eine Literflasche Schnaps, in der höchstens noch zwei Zentimeter leuchtenden Bernsteins schillerten. Er sagte: Was tun Sie hier? Machen Sie, dass Sie rauskommen. Vermutlich war es Stolz, der mich sagen ließ: Ich kam zufällig hier vorbei. Ich bin hineingegangen, um nachzusehen, ob ich irgendwie helfen kann. — Na gut, aber raus jetzt, sagte er. Ich ging mit ihm hinaus, und wir beschlossen, den Versuch zu unternehmen, die Kirche zu retten, obwohl er betrunken und ich halb von Sinnen war. Von einem nahe gelegenen Fluss trugen wir so viel Wasser, wie wir konnten, in seiner Schnapsflasche herbei. Wir kauerten uns am Bach nieder, warteten, bis das Wasser durch den schmalen Hals gegluckert und die Flasche voll war, liefen dann gemeinsam zur Kirche und schütteten einen Liter Wasser ins Feuer – weniger in der Hoffnung, es zu löschen, als, um auf Befragen sagen zu können, dass wir es wenigstens versucht hätten. Als die Morgendämmerung kam, hielten der Mann und ich endlich mit rußigen Gesichtern inne und starrten auf einen schwarzen runden Kreis auf dem Boden. — Die ist hin. Alles verbrannt bis auf die Türangeln und die Türgriffe, sagte der Mann. — Ja, sagte ich.
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— Wir haben getan, was wir konnten. — Ohne Zweifel. — Kein Mensch kann uns vorwerfen, wir hätten uns nicht bemüht. — Nein. Kein Mensch, sagte ich. Er schüttelte die letzten Wassertropfen aus seiner Schnapsflasche auf das versengte Gras am Rande des Feuerrings, steckte sie in seine Manteltasche und lief weiter die Straße hinauf. Ich ging zu meinem Pferd, saß auf und ritt nach Charleston zurück. Eine Woche später buchte ich eine Schiffspassage nach England und tat dann ein Jahr lang kaum etwas anderes, als umherzustreifen und alte Kirchen und alte Gemälde zu studieren. Bei meiner Rückkehr erfuhr ich, dass deine Mutter den Mann geheiratet hatte, mit dem ich sie auf der Veranda gesehen hatte. Er war Franzose, ein Geschäftspartner ihres Vaters, ein Weinhändler. Sie war mit ihm nach Frankreich gegangen. Es war, als hätte sich eine Tür geschlossen. Ich hatte mich schon immer zu geistigen Dingen hingezogen gefühlt, und so zog ich mich von meinen Pflichten im Familienbetrieb zurück und bereitete mich teils resigniert, teils freudig auf ein geistliches Amt vor. Ich habe diese Entscheidung niemals auch nur eine Sekunde lang bereut. Es vergingen neunzehn Jahre, und eines Frühlingstages hörte ich, dass Claire allein aus Frankreich zurückgekehrt war. Ihr Ehemann war gestorben. Es war eine kinderlose Ehe gewesen, und eine nicht ganz angenehme, wenn man dem Gerede der Leute glauben konnte. Genauer gesagt, eine bittere. Der kleine Franzose hatte sich so verhalten, wie ich es mir in meinen eigensüchtigsten Träumen gewünscht hatte. Nur wenige Tage, nachdem ich diese Neuigkeit gehört hatte, begab ich mich abermals in das Lagerhaus am Cooper, um mich noch einmal mit Dechutes zu treffen. Er war inzwischen ein alter Mann, mit mächtigem Bauchumfang und Hängebacken, während ich selbst Geheimratsecken hatte und an den Schläfen ergraut war. Den Blick, den er mir zuwarf,
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hätte man bestens zur Verdeutlichung des Wortes Präpotenz heranziehen können. Er fragte: Was kann ich für Sie tun? – in einem Ton, der in früheren Zeiten Sekundanten und Pistolen auf den Plan gerufen hätte. Ich sagte: Wir werden das ganze noch einmal angehen, und diesmal möchte ich sehen, dass die Sache klappt. Im Herbst des gleichen Jahres heirateten deine Mutter und ich, und ich war zwei Jahre lang der glücklichste Mann der Welt. Und ich glaube, ich habe auch sie glücklich gemacht. Ihr erster Mann, der kleine Franzose, war in jeder Beziehung unzulänglich gewesen. Er gab ihr die Schuld daran, dass sie keine Kinder bekamen, und wurde misslaunig und grob. Ich machte es zu meiner Aufgabe, jede Kränkung, jede Gemeinheit wettzumachen. Die Monate, in denen wir wussten, dass du unterwegs warst, schienen für ein Paar wie uns – alt und von der Vergangenheit gezeichnet – ein unverhoffter Segen. Als Claire bei der Geburt starb, konnte ich es kaum glauben, dass Gott so streng mit uns verfuhr. Ich war wochenlang zu fast nichts imstande. Freundliche Nachbarn suchten eine Amme für dich, während ich mich ins Bett legte. Als ich wieder aufstand, tat ich das mit dem Entschluß, dass mein Leben von jetzt an dir gewidmet sein sollte. Als ihr Vater seine Geschichte beendet hatte, hatte sich Ada erhoben, war hinter seinen Sessel getreten, hatte ihm das Haar aus der Stirn gestrichen und ihn auf den Kopf geküßt. Sie wusste nicht, was sie sagen sollte. Sie war von der Geschichte ihrer Entstehung zutiefst erschüttert. Es fiel ihr in diesem Augenblick schwer, sich in dem neuen Bild wiederzufinden – sich nicht mehr als das Produkt einer Fehlplanung, sondern als das Produkt einer alle Widerstände überwindenden Leidenschaft zu sehen. Als Ada ihre Geschichte beendet hatte, war es beinahe völlig dunkel geworden, und über einer Wolkenbank stand im Osten ein verschwommener Mond. Über das Gesicht des Mondes huschte der dunkle Schatten eines Vogels. Dann ein weiterer,
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und dann immer mehr in dahineilenden Zügen. Vermutlich eine in der Nacht fliegende Art von Seetaucher oder Schnepfe auf dem Weg nach Süden. Die Sterne standen noch nicht am Himmel, doch im Westen waren zwei Planeten – funkelnde Lichtpunkte am indigofarbenen Himmel – im Begriff, hinter einer Flanke des Cold Mountain unterzugehen. — Der blaue, der hellere, ist die Venus, sagte Ada zu Ruby, als sie in den Weg nach Black Cove einbogen.
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Leben wie ein Kampfhahn
Gegen Mittag kamen Inman und Veasey an einer Stelle vorbei, an der neben dem Weg ein frisch gefällter Baum lag – ein Hickorynußbaum beträchtlicher Länge. Daneben lag eine lange Bundsäge, deren Blatt eingefettet und vollkommen rostfrei war, und die feinen Zacken der Schneide glänzten, als wären sie vor kurzem erst geschärft worden. — Ja, da schau her, sagte Veasey. Eine herrenlose Säge. Dafür würde mir manch einer bestimmt ein hübsches Sümmchen zahlen. Als er hinüberging, um sie aufzuheben, sagte Inman: Die Holzfäller sind bestimmt gerade Mittagessen gegangen. Sie werden bald zurückkommen, um diesen Hickorybaum zu zersägen und zu spalten. — Ich weiß nicht mehr, als dass da am Straßenrand eine Säge liegt und ich sie gefunden habe. Veasey hob sie hoch, legte sie sich mit der Breitseite über die Schulter und ging weiter. Die beiden Holzbügel der Säge federten bei jedem Schritt auf und ab, und das große Sägeblatt summte und oinkte wie die Musik einer Maultrommel. — Ich werde sie an den Erstbesten verkaufen, der uns über den Weg läuft, sagte er. — Sie scheinen zu dem Eigentum anderer ein ziemlich ungezwungenes Verhältnis zu haben. Ich hätte zu gerne gehört, wie Sie das bei Ihren Predigten mit der christlichen Lehre in Einklang gebracht haben, sagte Inman. — Täuschen Sie sich da nicht, mit dem Eigentum nimmt es Gott nicht sonderlich genau. Er zeigt davor keinen großen Respekt – das beweist er uns ständig von neuem. Denken Sie vor allem an seinen Einsatz von Feuer und Flut. Haben Sie
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jemals feststellen können, dass er dabei auf Gerechtigkeit achtet? — Nein. Nicht ohne weiteres. — Na also. Ich kann nur sagen, dass sich ein Mensch, der sich Gott zum Vorbild nehmen will, nicht allzu viele Gedanken darüber machen sollte, wem eine bestimmte Säge gehört. So etwas lenkt einen nur von dem Wesentlichen ab. — Dem Wesentlichen? fragte Inman. Er musterte den verschorften Schädel des Predigers, die dünne Schnittwunde unter seinem Auge, die ihm die dicke Hure beigebracht hatte, und die noch immer sichtbare Schramme von dem Schlag, den Inman ihm am Deep River mit dem Revolver versetzt hatte. Ausgerechnet Sie, der Sie soviel Prügel eingesteckt haben, müssen vom Wesentlichen sprechen. Noch dazu, wo jede Tracht Prügel gerechtfertigt war. — Ich behaupte gar nicht, ich hätte die Prügel nicht verdient, sagte Veasey. Und so mancher Mensch, der tugendhafter ist als ich, hat schlimmere Prügel einstecken müssen. Aber ich habe nicht vor, weitere gelassen über mich ergehen zu lassen. Dieser Gedanke lenkte seine Aufmerksamkeit auf Verteidigungsfragen, und er sagte: Lassen Sie mich doch mal Ihren mächtigen Revolver sehen. — Nein, sagte Inman. — Na kommen Sie. Ich werde ihn schon nicht kaputtmachen. — Nein. — Ich dachte nur gerade, das wäre genau die richtige Waffe für einen Revolverhelden. — Zu groß und zu schwer, sagte Inman. Was Sie brauchen, ist ein Navy-Modell. Einen Colt oder einen Starr. Die haben das richtige Gewicht, um sie blitzschnell ziehen zu können. — Dann will ich wenigsten meinen eigenen wiederhaben. — Ich gedenke ihn so lange zu behalten, bis sich unsere Wege trennen, sagte Inman. — Das könnte unerwartet geschehen, sagte Veasey. Und dann stehe ich auf einmal ohne Waffe da.
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— Aber die Welt wäre dafür eine bessere. Kurz darauf gingen sie unter einer mächtigen Gleditschie hindurch, deren Äste sich über den Pfad spannten. Da sie nichts Besseres zu essen hatten, bückten sie sich und füllten ihre Taschen mit den länglichen, rostbraunen Hülsen. Während sie weitergingen, schlitzten sie die Schoten mit den Daumennägeln auf und aßen das süße weiße Fruchtfleisch, indem sie es mit den Zähnen von den Schoten schabten. Eine Weile darauf erblickten sie einen Mann, der unterhalb der Straße nachdenklich eine vor ihm liegende Szene zu betrachten schien, deren Hauptgegenstand ein großer schwarzer Bulle war, der tot im Nebenarm eines kleinen Flusses lag. Als der Mann die beiden vorbeigehen sah, grüßte er sie und fragte, ob zwei so Pfundskerle wie sie ihm nicht ein wenig zur Hand gehen wollten. Inman kletterte die Böschung hinunter. Veasey legte seine Säge am Wegrand ab und folgte ihm. Sie stellten sich neben den Mann und betrachteten den aufgedunsenen Bullen. Das Flusswasser schwappte an seinen Bauch, und Schwärme von Fliegen krabbelten auf seinem Maul und Hinterteil herum. Mit verschränkten Armen und gesenktem Blick standen sie da wie drei Arbeiter vor einer Aufgabe, an die sie sich nur widerstrebend machen. Der Mann war noch nicht richtig alt zu nennen, aber er war nicht mehr weit davon entfernt. Er hatte einen tonnenförmigen Wanst, wie dies bei kräftigen Männchen der meisten Säugetierarten, vom Affen bis zum Pferd, im fortgeschrittenen Alter häufig vorkommt. Auf seinem Kopf saß ein schwarzes, vorsintflutliches Gebilde aus Wolle mit einer zuckerhutförmigen Krone. Obwohl es nicht sehr kalt war, hatte er sich die breite Krempe mit einem Stück Sisal über die Ohren gebunden, so dass sich der Hut wie eine Mütze um seinen Kopf schmiegte. Er trug einen dicken, buschigen, bis zur Kinnlade verlaufenden Backenbart und linste mit dunklen Augen, deren Lider raubvogelartig und geschwollen waren, unter der Krempe hervor. Er hatte einen kleinen runden Mund,
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der Inman an die Schnauze eines riesigen großmäuligen Fisches erinnerte, den er einmal an der Küste gesehen hatte, als er während einer Schlacht zu Beginn des Krieges kurz dort stationiert gewesen war. An einem Baum in ihrer Nähe lehnte eine einläufige Schrotflinte im Kaliber .10. Der Lauf sah aus, als wäre er ein Stück abgesägt worden, um einen größeren Streukreis zu erzielen, als üblich oder zweckmäßig war. Es waren dazu die falschen Werkzeuge benutzt worden, denn die Schnittkante war ein wenig schräg geraten und die Mündung schartig. — Wie wollen Sie den da raus kriegen? fragte Veasey. Der Mann antwortete nicht gleich, sondern legte Daumen und Zeigefinger aneinander und begann in seiner Hose nach einem winzigen Tierchen zu suchen, das ihn in der Leistengegend quälte. Dann zog er seine Fingerzange wieder heraus, hielt sie sich dicht vor die Augen und schien etwas zwischen seinen dicken gelben Fingernägeln zu zerdrücken. Er hatte große Hände mit weißlich schuppiger Haut. Der Bulle, erklärte er, sei vor ein paar Tagen davongelaufen und an einer ihm nicht bekannten Krankheit eingegangen. Der Flussarm sei ihre Wasserquelle. Das Wasser, das normalerweise nach nichts schmecke, habe auf einmal einen widerlichen Beigeschmack, und er sei daraufhin flussauf gelaufen, um nach der Ursache zu suchen. Er habe einen langen Strick dabei und glaube, dass es ihnen mit vereinten Kräften gelingen müsste, den Bullen aus dem Wasser zu ziehen. Inman ließ seinen Blick von dem Mann zu Veasey wandern. Und dann zu dem dicken Fleischhügel. Es wären mindestens zwei Zugpferde nötig, um den Bullen herauszuzerren, schätzte er. — Wir könnten zwar versuchen, ihn herauszuziehen, sagte er. Aber das ist wirklich ein Riesenviech. Wir sollten uns lieber eine andere Lösung einfallen lassen. Ohne auf ihn zu hören, band der Mann dem Bullen den Strick um den Hals, und die drei packten zu und begannen zu
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ziehen. Der Kadaver bewegte sich keinen Millimeter. — Hebel wären die Lösung, sagte der Mann. Wenn wir uns Stangen suchen, können wir ihn damit hochstemmen. — Wir brauchen sie nicht zu suchen, wir können uns passende Stangen zurechtsägen, sagte Veasey. Ich habe eine gute Säge, die Sie mir vielleicht abkaufen möchten, wenn wir hier fertig sind. Er lief die Böschung hinauf, um die Säge zu holen. Er war aufgeregt wie ein Junge, der zum ersten Mal mit Männern zusammenarbeiten darf. Inman, der von der Idee nichts hielt, setzte sich auf einen gefällten Baum und beobachtete amüsiert, wie sich die beiden Männer mit fehlgeleitetem Feuereifer ans Werk machten. Sie erinnerten ihn an Pioniertruppen und ihre Hilfsleute, die sich mit einem Eifer daran machten, eine Brücke oder dergleichen zu bauen, der in keinem Verhältnis zu dem tatsächlichen Wert ihrer Arbeit stand, bis sie am Ende einen Haufen Mühe auf etwas verwendet hatten, das aus Inmans Sicht besser ungetan geblieben wäre. Während Inman zusah, sägten Veasey und der Mann drei kräftige Pfähle zurecht. Kurz darauf standen sie bis zu den Waden im Wasser und schichteten große Steine auf, die als Hebelträger dienen sollten. Gemeinsam versuchten sie dann, den Bullen auf die Pfähle zu rollen, doch sie brachten ihn bloß leicht ins Wanken. Inman kam ihnen zu Hilfe, und jetzt schafften sie es. Das Problem war nur, dass sie die Pfähle nicht mehr als dreißig Zentimeter anheben konnten, selbst wenn sie die Enden tief ins Wasser drückten. Dann ging ihnen jedesmal die Kraft aus, sie ließen die Pfähle los, und der Bulle fiel platschend zurück ins Wasser. — Ich weiß was, sagte Veasey. Wir können ihn hochstemmen und dann mit den Füßen Steine unter die Pfähle schieben, damit er oben bleibt. Dann stemmen wir ihn mit einem höheren Hebelträger wieder ein Stück hoch und schieben wieder Steine darunter. Das machen wir so lange, bis er sich herumrollen läßt.
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Inman maß mit den Augen die Entfernung zwischen dem Bullen und dem trockenen Land. — Selbst wenn wir es schafften, ihn einmal ganz umzudrehen, läge er noch immer im Wasser, sagte er. — Dann rollen wir ihn eben zweimal, sagte Veasey. — Damit läge er am Ufer, sagte Inman, aber da wird er weiter verwesen, und die Brühe läuft weiter ins Wasser. — Dann rollen wir ihn dreimal, sagte Veasey. Er war vollkommen im Bann der übermächtigen Wirkung des Hebels und der mannhaften Pionierarbeit. Inman stellte sich vor, wie sie bis zum Einbruch der Dunkelheit den Bullen hochhievten, mit Steinen abstützten und wieder hievten, während Stunde um Stunde guter Wanderzeit oder angenehmer Rastzeit vergingen. Inman ging zu der Säge hinüber, die Veasey am Flussufer hatte liegen lassen. Er nahm sie, kehrte zu dem Bullen zurück und setzte die Schnittkante des Sägeblatts an dessen Hals an. — Geh mal jemand auf die andere Seite, sagte er. Veasey blickte zutiefst enttäuscht drein, aber der andere Mann ging hinüber und packte den Griff, und nach ein paar Zügen war der Kopf ab. Bald darauf ein Teil der Brust mitsamt den Vorderbeinen. Der nächste Schnitt trennte das Hinterviertel vom Bauch. Dabei quoll ein großer Schwall Innereien und dunkler Flüssigkeit heraus, sowie eine stinkende Gaswolke. Veasey, der zusah, krümmte sich und erbrach sich ins Wasser. Eine schaumige Masse Gleditschienbrei floß stromabwärts. Der Mann sah Veasey an und kicherte, als hätte jemand einen tollen Witz erzählt: Schwacher Magen, was, sagte er. — Er ist ein Pfaffe, sagte Inman. So was bekommt er in dem Beruf, den er erwählt hat, selten zu sehen. Als sie die Säge schließlich niederlegten, war der Bach voll mit Bullenstücken, die sie sogleich herausschleppten und in einiger Entfernung von dem Gewässer auf die Erde legten. Das Wasser war trotzdem noch blutrot und erinnerte Inman an den Fluss bei Sharpsburg. — Von dem Wasser würde ich ein paar Tage nicht trinken,
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sagte Inman. — Ja, sagte der Mann. Das denke ich auch. Inman und der Mann spülten sich Hände und Unterarme ein Stück flussaufwärts im klaren Wasser ab. — Kommen Sie mit zum Abendessen zu uns, sagte der Mann. Wir haben auch einen Heuboden, wo man gut schlafen kann. — Nur, wenn Sie uns diese Säge abnehmen, sagte Inman zu dem Mann. — Ich hätte dafür gerne zwei Dollar in Unionswährung Oder fünfzig in Südstaatennoten, sagte Veasey, plötzlich hellhörig. — Nehmen Sie sie, sagte Inman. Umsonst. Der Mann hob die Säge auf, legte sie sich über die Schulter und packte mit der freien Hand seine verunstaltete Flinte. Inman und Veasey begleiteten ihn die flussabwärts verlaufende Straße hinab. Der Mann schien erleichtert darüber, den Bullen aus seiner Trinkwasserquelle geräumt zu haben und war geradezu ausgelassen. Sie waren noch nicht weit gegangen, als er stehenblieb, einen Finger an die Nasenspitze legte und ihnen zuzwinkerte. Er trat zu einer großen Eiche hin, in deren Stamm sich ungefähr in Augenhöhe ein Loch befand. Er steckte einen Arm hinein und zog eine verstöpselte braune Flasche hervor. — Ich hab ein paar in der Umgebung versteckt, für den Fall, dass mich das Bedürfnis überkommt, sagte er. Sie setzten sich an den Baum und ließen die Flasche zwischen sich kreisen. Der Mann sagte, er heiße Junior, und dann fing er an, von sich als junger Mann zu erzählen, aus der Zeit, da er von einem Hahnenkampf zum anderen gereist war. Er erzählte vor allem von einem bestimmten Hahn, einem großen Dominique-Hahn, der für nichts anderes gelebt habe, als zu kämpfen und Hennen zu treten. Wie dieser monatelang jeden Hahn besiegt habe, den man ihm entgegenstellte. Von heldenhaften Kämpfen und spektakulären Siegen. Wie der Hahn in Situationen, in denen eine Niederlage unausweichlich
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schien, zu den Dachbalken der Scheune, in der der Kampf stattfand, hinaufflog und dort hocken blieb, bis ihn die Zuschauer laut verhöhnten, um dann, wenn das Gejohle am lautesten war, wie ein Hammer auf den gegnerischen Vogel niederzusausen, dass von diesem nichts zurückblieb als ein buntschillernder Haufen Blut und Federn. Junior erzählte weiterhin, wie sich die Frauen bei seinen Reisen fast ebenso wild auf ihn gestürzt hätten wie der Hahn auf seine Feinde. Eine verheiratete Frau, deren Mann ihn eingeladen hatte, zwischen zwei Kämpfen ein paar Tage bei ihnen zu bleiben, sei ihm noch besonders deutlich in Erinnerung. Sie habe ein Auge auf ihn geworfen gehabt und ihn bei jeder sich bietenden Gelegenheit mit ihrem Körper gestreift. An einem Tag, als der Mann draußen auf dem Feld war, um zu pflügen, sei sie hinausgegangen, um am Brunnen Wasser zu schöpfen. Als sie sich vornüberbeugte, um den Eimer hochzuziehen, habe er sich ihr von hinten genähert und ihr die Röcke über den Rücken geworfen. Sie habe, behauptete er, keine Unterhosen angehabt und habe ihr Hinterteil emporgereckt und sich auf die Zehenspitzen gestellt. Er habe sie gleich so, über den Brunnenrand gebeugt, genommen. Das habe etwa so lange gedauert, wie sie brauchte, um den Wassereimer heraufzuziehen. Als er fertig gewesen sei, habe er seinen Hahn unter den Arm geklemmt und sich auf den Weg gemacht. Er machte Inman und Veasey glauben, dass es in seinen jüngeren Jahren eine Menge so wundervoller Tage gegeben habe: Ich hab in meinem Leben so manches Mal am Sahnetopf geschleckt, sagte er. Veasey, dem der Schnaps aufgrund seines leeren Magens in den Kopf gestiegen war, war von dieser Geschichte hell entzückt. Als Junior geendet hatte, juchzte er laut auf und befand, das sei das richtige Leben für einen Mann. — Zu leben wie ein Kampfhahn, ja, das ist mein Ziel, sagte er wehmütig. Junior bestätigte, dass das Vagabundenleben für ihn eine herrliche Zeit gewesen sei, und erklärte, dass all seine
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Schwierigkeiten erst begonnen hätten, als er sich häuslich niedergelassen und geheiratet habe. Seine Ehefrau habe ihm nämlich drei Jahre nach der Hochzeit ein Negerbaby geboren. Zu allem Übel weigere sie sich auch noch, ihm den Namen des Vaters zu nennen und verwehre ihm folglich seine gerechte Rache. Er habe daraufhin versucht, sich von ihr scheiden zu lassen, doch der Richter habe die Scheidung mit der Begründung abgelehnt, dass Junior bereits bei der Heirat gewusst hätte, dass sie eine Schlampe sei. Später habe sie dann noch ihre beiden Schwestern zu sich ins Haus geholt. Die beiden hätten sich ihrer als Huren ebenbürtig erwiesen, denn eine von ihnen habe Zwillingsjungen von undefinierbarer Hautfarbe geboren, und obwohl diese mittlerweile mehrere Jahre alt seien – die genaue Zahl wisse er selber nicht –, hätten sie nicht mehr Erziehung erfahren als zwei verwilderte Schweine, und weder die Mutter noch irgendein anderes Haushaltsmitglied habe sich die Mühe gemacht, ihnen einen Namen zu geben. Wer sich auf einen der beiden beziehe, deute einfach mit dem Daumen in die Richtung des betreffenden Jungen und sage: Der da. Junior behauptete, dass er aufgrund seiner ehelichen Erfahrungen zu dem Schluß gekommen sei, er hätte besser daran getan, eine Dreizehnjährige zu heiraten und so zu erziehen, wie es ihm passte. Dagegen verbringe er jetzt unzählige schlaflose Nächte, weil ihn der Gedanke quäle, dass er bis zu seinem Tod nichts als düstere Momente erleben werde und dass sein einziger Ausweg sei, der ganzen Blase im Schlaf die Gurgel durchzuschneiden und sich anschließend die Flinte an den Kopf zu halten oder in die Wälder zu fliehen, um irgendwann von Hunden niedergehetzt und wie ein Waschbär abgeknallt zu werden. Das setzte Veasey einen Dämpfer auf, und bald darauf stellte Junior die Flasche an ihren Platz zurück und schulterte die Säge. Er führte sie ein paar Biegungen weiter hinab bis zu seinem Haus, das ein Stück abseits der Straße in einer feuchten, schattigen Senke stand. Das große, mit Holz
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verkleidete Gebäude war in einem so schlechten Zustand, dass eine ganze Seite von dem Fundament aus aufgestapelten flachen Flussteinen heruntergesackt war. Es stand in einem so schrägen Winkel da, dass es aussah, als wäre es im Begriff, in die Erde abzutauchen. Überall im Hof standen pyramidenförmige Kampfhahnkäfige herum, aus nicht entrindeten Zweigen, die mit Geißblattreben zusammengeflochten waren. Durch die Stäbe starrten leuchtend bunte Vögel mit kalten, glänzenden Augen, die die Welt fast ausschließlich als einen Ort betrachteten, der Gegner zum Kämpfen bot. Aus dem Kamin kam dünner weißer Rauch, und von einer anderen Feuerquelle hinter dem Haus stieg eine schwarze Rauchsäule himmelwärts. Als sie von der Straße in die Senke einbogen, kroch ein dreibeiniger, struppiger Terrier unter der Veranda hervor und kam tief geduckt und vollkommen lautlos geradewegs auf Inman zu, der mittlerweile gelernt hatte, sich vor einem nicht bellenden Hund mehr in acht zu nehmen als vor einem bellenden. Er versetzte dem Hund, noch ehe er ihn erreicht hatte, mit seiner Stiefelspitze einen Tritt unter das Kinn. Der Hund sackte zusammen und blieb reglos auf der Erde liegen. Inman sah zu Junior hinüber und fragte: Was hätte ich sonst tun sollen? — Es sind nicht alle Diebe, die von Hunden angebellt werden, entgegnete Veasey. Junior stand nur da und glotzte. Nach einer Weile rappelte sich der Hund wieder auf seine drei Beine und verzog sich auf Umwegen wieder unter die Veranda. — Freut mich, dass er nicht tot ist, sagte Inman. — Das ist mir scheißegal, sagte Junior. Sie gingen ins Haus und gleich in die Eßküche. Junior trat sofort an den Fliegenschrank und holte eine Flasche und drei Blechbecher heraus. Der Zimmerboden war schief wie eine Rampe, und als sich Inman auf einen Stuhl an den Tisch setzte, musste er die Füße, so gut es ging, auf den Boden
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pressen, um nicht durch die Schwerkraft an die tiefergelegene Wand zu rutschen. In der Ecke neben dem Kamin stand ein Bettgestell, und Inman stellte fest, dass man gar nicht erst versucht hatte, einen Keil unterzulegen, damit es gerade stand, sondern lediglich die bescheidene Anstrengung unternommen hatte, es so zu drehen, dass das Kopfende am höheren Ende war. An den Wänden hingen aus Büchern oder Zeitungen ausgeschnittene Bilder, teils parallel zu dem schrägen Boden, teils willkürlich ausgerichtet, was möglicherweise auf einen gewissen Alkoholpegel zurückzuführen war. Im Kamin schwelte ein Feuer, und aus einem über den glühenden Kohlen stehenden Bratentopf roch es stechend nach Fleisch. Die Feuerstelle war so schief, dass der Rauch zunächst gegen die Seitenwand stieß, ehe er den Weg durch den Kamin nach oben fand. In einer dermaßen aus dem Lot geratenen Welt war selbst das Ausgießen eines Schlucks Schnaps aus der Flasche in den Becher ein schwieriges Unterfangen, und als Inman dies versuchte, vergoss er erst einen Schluck auf seine Stiefelspitzen, bevor er den richtigen Abstand und den richtigen Neigungswinkel fand. Nachdem es ihm gelungen war, seinen Becher zu füllen, und er ihn nach einem Schluck wieder auf den Eßtisch stellen wollte, bemerkte er, dass an jedem Platz kleine, aus Birkenästen zurechtgesägte Puffer auf den Tisch genagelt worden waren, damit Teller und Becher nicht zum tiefergelegenen Ende hinunterrutschen konnten. Veasey stapfte, an seinem Becher nippend, bergauf und bergab im Zimmer umher, und nahm alles in Augenschein. Dann kam ihm plötzlich eine Idee. — Wir könnten doch Hebel unter das abgesackte Ende schieben und das Ding wieder geraderichten, sagte er. Sein Denken schien derzeit von Hebeln beherrscht zu sein – als hätte er eine Maschine erfunden, die sämtliche im Leben auftauchenden Probleme zu beheben vermochte. Steck unter alles, was nicht so ist, wie es sein sollte, einen Hebel, und
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rücke es einfach wieder zurecht. — Möglich, dass wir es anhebeln könnten, sagte Junior. Aber es ist schon so lange so schief, dass wir mittlerweile den Bogen raushaben. Es wäre ein komisches Gefühl, in einem Haus zu leben, das kein Gefälle hat. Sie pichelten eine Weile weiter, und Inman, der seit dem kärglichen Abendessen vom Vorabend nichts als die Schoten gegessen hatte, stieg der Alkohol sofort in den Kopf. Bei Veasey mit seinem völlig leeren Magen wirkte er noch schneller, und er hockte mit eigenartig schief gestelltem Kopf da und starrte in seinen Becher. Bald darauf kam ein Mädchen von acht oder zehn Jahren zur Vordertür herein. Sie war ein zierliches Kind, mit schlanken Fesseln und zarten Schulterknochen. Ihre Haut war sahnefarben, das braune Haar fiel ihr in krausen Ringellöckchen über die Schultern. Inman hatte selten ein hübscheres Kind gesehen. — Is' deine Mama da? fragte Junior. — Jau, sagte das Mädchen. — Wo denn? fragte Junior. — Draußen, hinterm Haus. Vor 'ner Minute jedenfalls. Veasey blickte von seinem Becher auf und musterte das Kind. Also, ich hab schon weiße Kinder mit dunklerem Teint gesehen als das hier, sagte er zu Junior. Was meinen Sie, hat sie 'n Achtel Negerblut oder weniger? — Ob ein Achtel oder ein Viertel macht keinen Unterschied. Alles was ich sehe ist, dass sie 'n Nigger ist, sagte Junior. Veasey erhob sich unvermittelt und wankte auf das Bett zu. Er ließ sich hineinfallen und schlief unverzüglich ein. — Wie heißt du? fragte Inman das Mädchen. — Lula, sagte sie. — Nein, is' nich' wahr, entgegnete Junior. Er drehte sich zu dem Mädchen um und funkelte es wütend an. Sag, wie du richtig heißt, sagte er. — Mama sagt, ich heiß Lula, sagte das Mädchen. — Heißt du aber nich'. Das is' grad so 'n Puffname, auf den
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nur deine Mutter kommen kann. Aber ich bestimme hier, wer wie heißt. Dein Name ist Chastity. — Sind doch beides schöne Namen, sagte Inman. — Nein, sagte Junior. Mein Name stellt den anderen in den Schatten, denn meiner erinnert immer daran, was für 'ne Hure ihre Mama ist. Er trank den letzten Rest aus, der noch in seinem Becher war, und sagte: Kommen Sie. Ohne sich zu vergewissern, ob Inman ihm folgte, trat er auf die Veranda hinaus und setzte sich in einen Schaukelstuhl. Inman stieg in den Hof hinunter und legte seinen Kopf in den Nacken, um den Himmel zu betrachten. Die Nacht brach langsam herein, das schwache Licht fiel schräg ein, und am östlichen Himmel waren ein Teil des Mondes und die glitzernde Venus sichtbar. Die Luft war trocken und frisch, und Inman machte einen tiefen Atemzug. Der Geschmack der Luft und ihre beißende Kühle auf der Haut ließ einen Gedanken laut werden: Jetzt ist es wirklich Herbst. Die Luft sagte ihm, dass sich das Jahresrad abermals ein Stück weitergedreht hatte. Lila, rief Junior. Eine Minute später kam eine junge Frau um die Hausecke geschlendert und ließ sich genau zwischen Inman und Junior auf der Verandatreppe nieder. Sie zog ihre Knie an und beäugte Inman kritisch. Sie war flachshaarig und breithüftig und trug ein Baumwollkleid, das so dünn und vom Waschen so verschossen war, dass man ihre Haut deutlich durch den pergamentfarbenen Stoff hindurchschimmern sah. Der Stoff war einmal mit Streublumenstreifen bedruckt gewesen, doch sie waren mittlerweile so ausgebleicht, dass das, was noch übrig war, mehr nach Buchstaben aussah – wie verblasstes Gekritzel in einer der vertikalen Schriften. Alles an dem Mädchen war rundlich, und wo der Kleidersaum auf den Stufen lag, war die untere Hälfte ihrer weißen Schenkel voll zu sehen. Ihre Augen waren blassblau wie Glockenblumen. Sie lief mit ungekämmten Haaren herum.
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Ihre Füße waren nackt und von Dornen zerkratzt, und irgend etwas an ihr war so über die Maßen wunderlich, dass Inman sich dabei ertappte, wie er die schmutzigen Zehen eines ihrer rundlichen Füße zählte, um sich zu vergewissern, ob es tatsächlich fünf waren, und er noch ganz klar im Kopf war. Junior zog eine Maiskolbenpfeife mit einem tönernen Pfeifenstiel aus der Tasche. Und einen großen, verschrumpelten Tabaksbeutel. Er stopfte die Pfeife und steckte sie sich in die runde Mundöffnung. Er schlenkerte den Beutel vor Inmans Nase hin und her, damit er ihn begutachten konnte. — Bullensack, sagte er. Kein Mensch kann einen besseren Beutel anfertigen als Gott. Mit solchen Dingen will Gott prüfen, ob wir uns mit dem zufriedengeben, was er uns schenkt, oder ob wir uns seiner Herrschaft widersetzen und versuchen, mit unseren ärmlichen Werkzeugen was Besseres zustande zu bringen. Dann wandte er sich an das Mädchen: Feuer, sagte er. Sie erhob sich widerwillig, indem sie den Umsitzenden reichlich Einblick in ihr Kleid gewährte, ging ins Haus und kehrte mit dem brennenden Hüllblatt eines Maiskolbens zurück. Sie beugte sich vor, um das Blatt an die Pfeife zu halten und streckte Inman dabei ihr Hinterteil entgegen. Das dünne Kleid hatte sich in der Gesäßspalte verfangen und spannte sich so eng darüber, dass er die seitlichen Kuhlen in den zusammengepressten Hinterbacken und die zwei Grübchen sehen konnte, wo ihr Rückgrat auf die Hüftknochen traf. Alles unter dem Kleid war deutlich zu erkennen, und Inman kam es vor, als säße er von Angesicht zu Angesicht einem fremdartigen Antlitz gegenüber, das freilich nicht unbedingt unsympathisch war. Doch plötzlich zuckte das Mädchen heftig zusammen und kreischte auf wie ein Kaninchen, das von einer Eule gepackt wird. Inman sah gerade noch, wie Junior seine Fingerzange aus der Gegend ihres Busens zurückzog. — Junior, verdammt noch mal, schrie sie.
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Darauf nahm Lila wieder ihren Platz auf der Treppe ein und hielt den Unterarm fest an ihre Brust gepresst, während Junior vor sich hin paffte. Als Lila ihren Arm sinken ließ, wurde vorne auf ihrem Kleid ein winziger schwarzer Blutfleck sichtbar. Junior sagte: Lassen Sie sich von diesen Weibern was zu essen geben. Ich muss noch mal auf der unteren Weide nach einer Stute sehen. Er erhob sich, trat an den Rand der Veranda, kramte in seiner Hose und pinkelte in hohem Bogen auf einen Schneeballbusch. Er schüttelte sich, steckte sein Ding wieder ein, stieg hinunter in den Hof und ging, noch immer schmauchend und mit dem Pfeifenstiel im Mund ein Liedchen singend die schummerige Straße hinab davon. Die Worte, die Inman davon verstehen konnte, waren: God gave Noab the rainbow sign, not no water but the fire next time. Inman folgte Lila ums Haus herum. Separate Nebengebäude – Räucherhaus, Vorratsschuppen, Kühlhaus, Hühnerhaus, Maisspeicher – umschlossen eine Fläche aus festgestampfter Erde wie einen Hofraum. In der Mitte des Hofs brannte ein aus großen Scheiten errichtetes Feuer. Es loderte so hoch wie Lilas Kopf und sprühte noch höhere Funken. Die Dunkelheit nahm zu und legte sich um die Bäume hinter einem verwahrlosten Mais- und einem abgeernteten Bohnenbeet, die ein Stück weit hinter dem Hof lagen. In unmittelbarer Nähe befand sich ein Küchengarten, der von spitzen Pfählen umstanden war, auf die tote, schlaff herabhängende Krähen in unterschiedlichen Stadien der Verwesung aufgespießt waren. Das Feuer sandte seinen gelben Schein in die Dunkelheit und warf scharfe Schatten an die rohen Bretterwände der Gebäude. Die Himmelskuppel direkt über ihnen hatte jedoch immer noch einen silbrigen Schimmer und ließ noch keine Sterne erkennen. — Hey, rief Lila. Aus dem Räucherhaus kamen zwei bleiche Mädchen, denen man auf den ersten Blick ansah, dass sie Lilas Schwestern
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waren, denn sie sahen ihr so ähnlich, dass sie Drillinge hätten sein können. Und aus dem Kühlhaus tauchten zwei dunkelhaarige Jungen auf. Nachdem sie sich alle um das Feuer versammelt hatten, fragte Lila: Abendbrot fertig? Es kam keine Antwort. Eine der Schwestern steckte einen schmutzigbraunen Zeigefinger in den Henkel am Hals eines verstöpselten, neben dem Feuer stehenden Tonkruges und hob ihn hoch. Sie stützte den Krug mit der Armbeuge ab und nahm geräuschvoll einen kräftigen Schluck. Sie reichte ihn weiter, und als er bei Inman angelangt war, machte er sich auf ein widerliches, selbstgebrautes Gesöff gefaßt, doch der Geschmack war mit keinem Schnaps vergleichbar, den er je getrunken hatte. Er schmeckte nach fetter Erde und noch etwas anderem – nach einem kräftigen Auszug aus einer Mischung von Baumschwämmen und Tierdrüsen, deren heilkräftige Eigenschaften nur den wenigsten bekannt sind. Der Krug machte mehrere Male die Runde. Eine der Schwestern stellte sich mit dem Rücken ans Feuer, zog, indem sie sich vorbeugte, hinten ihr Kleid hoch, hielt ihr Hinterteil ans Feuer und starrte Inman dabei mit einem glasig verzückten Blick aus blauen Augen an. Ihre Brüste baumelten rund und prall, dass es aussah, als wollten sie aus dem dünnen Oberteil platzen. Inman fragte sich, in was für eine Lasterhöhle er da bloß geraten war. Die dritte Schwester blickte, die Hand an ihre Leiste gelegt, einen Moment lang über das Maisfeld hinweg in die Ferne, ging dann in das Räucherhaus und kehrte mit einem hölzernen Rechen zurück. Sie stocherte damit in der Asche am Rand des Feuers herum und holte nach und nach verkohlte, mit Maishülsen umwickelte Päckchen heraus. Die beiden Jungen sahen ihr gebannt zu. Einer der beiden trat zu dem Stapel hin und sagte mit dumpfer Stimme: Teigmännchen, Teig. Ansonsten kamen Inman die Kinder vor, als wären sie irgendwie benommen. Ihre Augen lagen in tiefen Höhlen, und sie tappten im Schein der Flammen mechanisch und stumm umher. Sie schienen auf dem grell erleuchteten Hof ständig
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einer Bahn zu folgen, die sie mit ihren schlurfenden Schritten in den Boden getrampelt hatten. Als Inman sie ansprach, gaben sie keine Antwort und warfen ihm nicht einmal einen flüchtigen Blick zu, zum Zeichen, dass sie seine Stimme gehört hatten. Er bekam allmählich den Verdacht, dass die Worte, die der Junge am Feuer gesagt hatte, ihren gesamten Wortschatz darstellten. Während die Schwestern die Maishülsenpäckchen aufwickelten, stiegen in der kühlen Luft Dampfwolken daraus auf. Als sie fertig waren, hatten sie sechs Laibe Schwarzbrot vor sich liegen, die wie kleine Menschen geformt waren – mit übergroßen Köpfen und sogar solchen Einzelheiten wie dicken, sich auf den Bäuchen der Figuren wölbenden Geschlechtsorganen. Die Mädchen warfen die Maishülsen ins Feuer, die aufflammten und im Nu verbrannten. — Wir ham gewusst, dass du kommst, sagte Lila. Die beiden Schwestern reichten jedem der beiden Jungen einen Laib. Die machten sich darüber her und stopften sich faustgroße Stücke in den Mund. Als sie das ganze Brot verschlungen hatten, begannen sie abermals auf den undeutlich sichtbaren Pfaden, die sie in die Erde getreten hatten, einherzustapfen. Inman beobachtete sie und versuchte herauszufinden, ob sie ein bestimmtes Muster abliefen. Vielleicht lag darin ein Signal, das er nicht übersehen durfte. Doch nach einer Weile gab er es auf. Er vermochte die Spuren auf dem Boden nicht zu deuten. Die beiden Mädchen nahmen die restlichen vier Laibe und gingen damit ins Haus. Lila kam zu Inman hinüber und stellte sich neben ihn. Sie legte ihm eine Hand auf die Schulter und sagte: So 'n stattlicher Bursche. Er wusste nicht, was für eine Antwort hier wohl angebracht sein könnte. Schließlich nahm er seinen Brotbeutel von der Schulter, in dem sein Geld und der LeMat steckten, und stellte ihn neben sich auf den Boden. Es war mittlerweile fast vollkommen dunkel geworden. Inman vermeinte an einem Hang in der Ferne ein gelbes, flackerndes Licht zu sehen, das
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sich zwischen den Bäumen hindurchbewegte und einmal verschwommen und von einem Hof umgeben war und im nächsten Augenblick als ein scharfer, leuchtender Punkt erschien. Das Licht war so geisterhaft, dass Inman sich fragte, ob es vielleicht gar nicht von einer äußeren Quelle ausstrahlte, sondern durch eine Fehlfunktion seines Geistes hervorgerufen wurde. — Was ist das? fragte Inman. Lila folgte dem Licht mit den Augen und sagte dann: Das is' noch gar nix. Heute isses direkt winzig. Manchmal isses so groß wie 'n zweiter Mond. Da oben auf dem Hügel hat Junior, als ich noch klein war, mal 'nen Mann und seinen Hund umgebracht. Hat ihre Köpfe mit 'nem Spaltmesser abgesäbelt und nebeneinander auf 'nen Hickorystumpf gestellt. Wir sind alle hingegangen und haben's uns angesehen. Das Gesicht von dem Mann war fast niggerschwarz geworden, und er hatte 'nen komischen Blick. Seitdem bewegt sich manchmal nachts das Licht da über den Hügel. Wenn du jetzt auf der Stelle hochgehen tätest, würdest du nichts zu sehen kriegen, aber vielleicht täte dich was streifen wie 'ne alte, trockene Kuhhaut. — Warum hat er den Mann umgebracht? fragte Inman. — Das hat er uns nie gesagt. Er ist ziemlich jähzornig. Und er haut schnell zu. Er hat seine eigene Mama totgeschossen. Behauptet, sie hatte 'ne Schürze umgebunden, und er hat sie für 'nen Schwan gehalten. — Ist mir noch gar nicht aufgefallen, dass es in dieser Gegend viele Schwäne gibt. — 'n paar schon. Das Licht auf dem Hügel war bläulich und scharf geworden und bewegte sich nun schneller als vorhin flackernd zwischen den Bäumen weiter. Auf einmal war es verschwunden. — Was glaubst du, woher dieses Licht kommt? fragte Inman. — Der Allmächtige sagt in der Bibel klipp und klar, dass die Toten keine Gedanken im Kopf haben. Ihnen entfleuchen alle
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Gedanken. Also kann es nicht der kopflose Mann sein. Ich glaube, es ist so, wie die Leute sagen, dass nämlich manchmal Geisterhunde mit Laternen auf ihren Köpfen umgehen. Aber vielleicht auch nicht. Die Alten sagen, dass es früher viel mehr Geister gegeben hat als heute. Lila sah ihn lange an. Sie strich ihm mit der Hand über den Unterarm. Ich glaube, du reist unter einer schwarzen Flagge, sagte sie. — Ich reise unter gar keiner Flagge, entgegnete er. Auf der Hintertreppe erschien eine der Schwestern und sagte: Kommt essen. Inman trug den Brotbeutel auf die Veranda, wo ihm Lila die Riemen seines Rucksacks von den Schultern streifte und diesen neben den Beutel stellte. Inman sah auf ihn hinunter und dachte: Das könnte ein Fehler sein, vermochte diesen Gedanken jedoch nicht weiterzuführen. Als Lila und ihre Schwester sich umwandten, um ins Haus zu gehen, nahm er den Brotbeutel und stopfte ihn ellbogentief in einen Hohlraum zwischen den auf der Veranda aufgeschich teten Holzscheiten. Er folgte den drei Mädchen in das Haus, das ihm jetzt unerklärlicherweise größer erschien als vorher. Als sie ihn eine rampenartige, mit ungestrichenen Holzplanken verkleidete Diele entlang führten, hatte er das Gefühl, dass seine Füße beinahe unter ihm wegrutschten. Im Dunkeln wirkte das Haus wie ein riesiges Labyrinth aus unzähligen kleinen Räumen, die an jeder Wand eine Tür hatten. Die Zimmer gingen auf logisch nicht nachvollziehbare Weise ineinander über, doch schließlich erreichten Inman und Lila den schräg abfallenden Hauptraum, wo mittlerweile der gepufferte Tisch gedeckt worden war. In der Kaminecke schlief Veasey noch immer wie ein Toter. Auf dem Tisch brannte rußend eine Lampe, und ihr trübes Licht bewegte sich über Wände, Fußboden und Tischtuch wie Schatten auf den Steinen am Grunde eines Baches. Lila ließ Inman am Kopfende des Tisches Platz nehmen und band ihm eine karierte Serviette um den Hals. In der Mitte des Tisches lag, in eine Serviette gewickelt, einer der aus der Asche
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geholten Brotlaibe. Eine der Schwestern brachte von der Feuerstelle eine Platte mit einem riesigen, in klarem Fett schwimmenden Braten herüber. Inman konnte nicht eindeutig feststellen, von was für einem Tier er stammte. Für ein Schwein schien er zu groß, für eine Kuh zu blass. Er bestand aus einem Kugelgelenk mit Fleischklumpen zu beiden Seiten. Das Fleisch war von weißen Sehnen und Fettstreifen durchzogen. Das Mädchen stellte die Platte vor Inman hin und klemmte einen Kochlöffel quer darunter, damit sie gerade stand. Neben seinem Teller lag nur ein Messer mit Rostflecken. Er nahm es in die Hand und sah Lila fragend an. — Wir ham keine Fleischgabel, sagte sie. Inman hielt den Knochen mit der linken Hand fest und säbelte und säbelte, ohne mit dem Messer auch nur eine Spur auf der Bratenhaut zu hinterlassen. Alle drei Mädchen stellten sich jetzt um den Tisch herum, um ihm zuzusehen. So dicht nebeneinander dünsteten sie einen intensiven, an feuchtes Bronzeblatt erinnernden Geruch aus, der sogar den widerlichen Geruch des merkwürdigen Bratens übertäubte. Lila schob sich neben Inman an den Tisch, indem sie mit ihrem weichen Bauch seine Schulter streifte, und als sie sich dann auf die Zehenspitzen stellte, spürte er durch das dünne Kleid die behaarte Kerbe zwischen ihren Beinen. — Bist 'n schöner Kerl, sagte sie. Möcht wetten, du ziehst die Weiber an wie Hundehaare 'nen Blitz. Eine der Schwestern starrte Inman an und sagte: Von dem würd ich mich gern drücken lassen, bis mir die Luft wegbleibt. Lila sagte: Der gehört mir. Ihr dürft ihn bloß angucken, und dann könnt ihr euch was in die eine Hand wünschen und in die andere scheißen und sehen, welche zuerst voll wird. Inman fühlte sich merkwürdig matt und benommen. Er sägte noch immer an dem Braten herum, doch seine Arme waren schwer wie Blei. Der brennende Lampendocht schien seltsame Strahlen in den Raum auszusenden. Inman musste an den Krug denken und fragte sich, wie betrunken er wohl war.
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Lila ergriff seine fettige linke Hand, mit der er den Knochen gehalten hatte, schob sie unter ihr Kleid und legte sie weit oben auf ihren Schenkel, so dass er fühlen konnte, dass sie keinen Schlüpfer trug. — Verzieht euch, sagte sie zu ihren Schwestern, die daraufhin in den Flur hinausgingen. Eine der beiden drehte sich in der Tür noch einmal um und sagte: Es stimmt, was der Pfarrer sagt. Deine Kirche ist auf Hörn gebaut. Lila schob die Fleischplatte mit dem Daumen tischaufwärts, wobei diese von dem untergelegten Löffel sprang, so dass grauer Bratensaft verschüttet wurde, der tischabwärts lief und von der Kante tropfte. Lila zwängte sich zwischen Inman und die Tischplatte, setzte sich auf den Tisch und stellte die nackten Füße rechts und links von ihm auf die Stuhllehnen. Sie zog sich ihr Kleid bis zur Hüfte hoch, lehnte sich zurück auf die Ellbogen und sagte: Na, wie isses? Wem ist das gut? Niemandem als sich selbst, dachte Inman. Doch sein Verstand konnte einfach keine Worte bilden, er war so schwerfällig, als wäre er verhext. Auf ihrem weißen Schenkel war der Abdruck seiner fettigen Hand zu sehen und ein Stück weiter oben die klaffende Öffnung. Sie hatte etwas ungeheuer Faszinierendes, obwohl sie nichts weiter war als ein Spalt im Fleisch. — Bedien dich, sagte sie, indem sie ihre Schultern aus dem Oberteil ihres Kleides schüttelte, so dass ihre Brüste herauskullerten, mit blassen Brustwarzen und Höfen vom Durchmesser eines Halbliterkrugs. Lila beugte sich vor und zog Inmans Kopf in die Wölbung zwischen ihren Brüsten. In diesem Augenblick sprang die Tür auf, und dahinter stand Junior, in der einen Hand eine räuchernde Laterne, in der anderen seine Flinte. — Was zum Teufel geht hier vor? rief er. Inman lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und sah, wie Junior die Schrotflinte auf ihn richtete und den spitzen Hahn spannte, der ihm so lang zu sein schien wie ein Maultierohr. Das schartige Loch am Ende des kurzen Laufs war schwarz
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und riesengroß. Es würde sein Schrot über die ganze Wand verteilen. Lila rollte sich vom Tisch und zerrte an ihrem Kleid herum, bis sie wieder einigermaßen verhüllt war. In diesem erbärmlichen Scheißloch will ich nicht sterben, dachte Inman. Es entstand eine lange Pause, in der Junior dastand und an einem Eckzahn lutschte und angestrengt über etwas nachdachte. Schließlich sagte er: Gleich wirst du erfahren, dass in Gilead kein Balsam wächst. Inman starrte auf die Mündung von Juniors Schrotflinte und dachte: Hier muss was geschehen. Muss hart durchgegriffen werden. Doch er rührte sich nicht. Er fühlte sich unbeweglich wie ein Stein. Er starrte auf seine Hände, die vor ihm auf dem Tischtuch lagen und dachte unsinnigerweise: Sie sehen immer mehr aus wie die meines Vaters, obwohl das bis vor kurzem noch nicht so war. Junior sagte: Die einzige befriedigende Erklärung, die mir dazu einfällt, ist, dass uns eine Hochzeit ins Haus steht. Oder ein Todesfall. Lila sagte: Au fein. — Moment, sagte Inman. — Moment? entgegnete Junior. Worauf soll ich denn noch warten? Er sah zu Veasey hinüber, der noch immer in dem Bett neben dem Kamin schlief. Geh, weck ihn auf, sagte er zu Lila. — Moment, sagte Inman abermals, war jedoch außerstande, den Satz weiterzuführen. Er konnte keinen klaren Gedanken fassen. Sein Kopf weigerte sich, seine Gedanken zu ordnen oder klar zu formulieren, und er fragte sich wieder, was wohl in dem Krug gewesen war, aus dem sie draußen am Feuer getrunken hatten. Lila ging zu Veasey hinüber, beugte sich über ihn und schüttelte ihn. Er erwachte mit Brüsten über dem Gesicht und grinste, als wäre er in eine neue Welt eingegangen. Bis er die Büchsenmündung sah. — Und jetzt geh und hol die andern, sage Junior zu Lila. Er
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ging zu ihr hin und schlug ihr heftig ins Gesicht. Sie legte eine Hand auf die sich rötende Stelle und verließ das Zimmer. — Ich hab da noch was, sagte Junior zu Inman. Steh auf. Inman erhob sich und merkte dabei, wie wacklig er auf den Beinen war. Junior hielt die Flinte auf Inman gerichtet, während er zu Veasey hinüberging, ihn am Kragen packte und ihn aus dem Bett zerrte. Dann zog er ihn langsam durch das Zimmer und hielt ihn dabei so hoch, dass Veasey auf Zehenspitzen gehen musste und aussah wie jemand, der sich an etwas heranschleicht. Als Junior die beiden nebeneinander stehen hatte stieß er Inman mit dem ausgefransten Gewehrlauf in den Hintern. — Guck mal, was ich mitgebracht habe, sagte Junior. Inman bewegte sich wie ein Mensch unter Wasser mit langsamen, taumeligen Bewegungen hinaus auf die Veranda. Er sah, dass sich unten an der Straße im Dunkeln etwas bewegte, konnte aber nur die Umrisse erkennen. Er hörte Pferde schnauben. Einen Mann husten. Das Geräusch eines Hufs, der an einen Stein stößt. Dann strich jemand ein Zündholz an, und eine Laterne leuchtete auf. Dann eine weitere und noch eine, bis Inman in dem grellen gelben Licht eine Bande von Milizionären erkennen konnte. Dahinter, in der Düsternis nur undeutlich auszumachen, ein Knäuel von Männern, gefesselt und mit hängenden Köpfen. — Du bist nicht der erste, den ich in diese Falle gelockt habe, sagte Junior zu Inman. Ich kriege fünf Dollar für jeden Ausreißer, den ich ausliefere. Einer der Reiter brüllte: Geht's bald weiter, oder was? Doch eine Stunde später waren sie noch immer nicht weitergezogen. Sie hatten Inman und Veasey zusammen mit den anderen Gefangenen an einen Strick gebunden und sie alle an die Wand des Räucherhauses gestoßen. Keiner der gefesselten Männer sagte ein Wort. Sie bewegten sich fast so leblos auf die Wand zu wie eine Leichen-Parade. Schlurfend und geistesabwesend und mit ausdruckslosem Blick. Sie waren von dem Leben, das sie in letzter Zeit geführt hatten –
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als Soldat, Flüchtling, Gefangener – so erschöpft, dass sie sich zurücklehnten und sofort einschliefen – mit offenen Mündern, ohne die geringste Zuckung, ohne zu schnarchen. Inman und Veasey hingegen blieben die ganze Nacht wach. In Abständen zerrten sie an dem Seil um ihre Hände, in der Hoffnung, es ein wenig zu lockern. Die Milizionäre stapelten Scheite übereinander, bis das Feuer die Höhe der Dachtraufe des Hauses erreichte und auf die Wände der Gebäude grelles Licht und Schatten warf. Das Licht war so hell, dass die Sterne nicht mehr zu sehen waren. Funken flogen in einer Säule hoch und verschwanden in der Dunkelheit, ein Anblick, bei dem sich Inman der Gedanke aufdrängte, dass die Sterne übereingekommen waren, gemeinsam zu fliehen, um ihr Licht in eine freundlichere Welt auszusenden. Droben am Berghang leuchtete das Licht des Geisterhundes orangefarben wie ein Kürbis und hüpfte zwischen den Bäumen umher. Inman drehte sich um und starrte ins Feuer. Dunkle Gestalten schritten davor auf und ab, und nach einer Weile holte einer der Milizionäre eine Fiedel heraus und zupfte an den Saiten, um zu prüfen, ob das Instrument richtig gestimmt war. Befriedigt legte er dann den Bogen an und begann eine einfache, monotone Tonfolge zu spielen, die sich bald als Rundtanz erwies. Das Thema wiederholte sich in kurzen Abständen immer von neuem und schien gleichermaßen geeignet, um dazu zu tanzen oder – wenn man lange genug spielte – die Zuhörer einzulullen. Die Milizionäre, deren Silhouetten sich gegen das Feuer abhoben, beugten ihre Oberkörper nach hinten und tranken in großen Zügen aus diversen Krügen und Bechern. Dann fingen sie an, um das Feuer zu tanzen, und manchmal konnte man sie mit Lila oder einer ihrer Schwestern sehen, wie sie sich in schattenhafter Brunst aneinanderrieben. — Zwischen diesem Haus und einem verdammten Dirnenschuppen ist kein großer Unterschied, sagte Veasey. Außer, dass sie hier bis jetzt noch kein Geld verlangt haben.
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Die Männer, die nicht unmittelbar mit Lila oder den Schwestern beschäftigt waren, tanzten allein. Sie drehten sich im Kreis, bewegten sich ruckhaft wie in einem Steptanz, wiegten sich in der Hüfte, warfen die Knie hoch, wobei sie sich abwechselnd vorbeugten und auf ihre Füße starrten oder den Kopf in den Nacken legten, wie um über den sternlos gewordenen Himmel nachzusinnen. Hin und wieder stieß einer von ihnen, von der Musik berauscht, einen Schrei aus, der klang, als wäre er verwundet worden. Sie tanzten, bis sie alle außer Atem waren, und dann versuchte Junior, der offensichtlich schon ziemlich angetrunken war, eine Hochzeit zwischen Inman und Lila zu organisieren. — Ich kam ins Zimmer, als der Große da Lila gerade an die Wäsche ging, sagte Junior. Wir sollten sie trauen. — Du bist doch kein Priester, sagte der Anführer der Milizionäre. — Aber der kleine Kahlrasierte da, sagte Junior mit einem Blick auf Veasey. — Gottverdammich, sagte der Hauptmann. Sieht nicht sonderlich danach aus. — Machst du den Trauzeugen? fragte Junior. — Wenn wir dann schneller wegkommen, sagte der Mann. Sie holten Inman und Veasey vom Räucherhaus herüber, nahmen ihnen die Fesseln ab und dirigierten sie mit vorgehaltener Waffe zum Feuer. Die drei Mädchen warteten bereits, und neben ihnen die beiden dunkelhaarigen Jungen. Die Milizionäre hatten sich seitlich aufgestellt, um zuzusehen, so dass ihre Schatten riesengroß an den Hauswänden flackerten. — Geh da rüber, sagte Junior. Inman machte einen Schritt auf Lila zu, doch in diesem Augenblick gelang es ihm, endlich den Gedanken zu fassen, der seit Stunden versuchte, sich in seinem Kopf zu formulieren. Er sagte: Aber sie ist doch schon verheiratet. — Nach dem Gesetz schon. Aber nicht in meinen oder in
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Gottes Augen, sagte Junior. Los, komm her. Willenlos stellte sich Inman neben Lila. — O je, sagte diese. Ihr Haar war jetzt zu einem wie mit einem Haarnetz befestigten Knoten im Nacken zusammengefaßt. Ihre Wangen waren mit Schminke zugekleistert, doch auf der linken Gesichtshälfte schimmerte noch immer der rote Striemen von Juniors Hand. Sie hielt einen Strauß aus Goldruten und Eisenkraut an ihren Bauch gepresst, Blumen, die am Zaun längs des Maisfelds gepflückt worden waren. Sie malte mit ihren Zehen kleine, aufgeregte Kreise in die Erde. Junior, der neben Veasey stand, drückte diesem die Flinte ins Kreuz. — Ich sage alles, was nötig ist, und du sagst einfach M-hm, sagte Junior zu Veasey. Junior knotete das Seil unter seinem Kinn auf, um sich den Hut abzunehmen und legte ihn zu seinen Füßen auf den Boden. Sein Kopf war dünn mit schmierigen, drahtigen Haaren bedeckt, die eher an ein männliches Gesäß gepasst hätten. Er nahm, die Flinte in den Armen, eine steife Pose ein und begann mit heiserer Stimme ein Hochzeitsgedicht zu deklamieren. Es klang fast wie ein Lied, moduliert und dunkel, und seine todtraurige, abgehackte Melodie schmerzte in den Ohren. Es ging darin, soweit Inman das heraushören konnte, um den Tod und dessen Unvermeidlichkeit und die unangenehmen Folgen des Lebens. Die zwei kleinen Jungen klopften mit den Füßen den Takt mit, als würden sie den Hauptrhythmus des Liedes kennen und mögen. Als Junior das Lied zu Ende gesungen hatte, ging er zum gesprochenen Teil der Zeremonie über. Die Worte Fesseln und Tod und Siechtum kamen auffällig oft darin vor. Inman sah zu dem Berghang hinüber, wo sich das Geisterlicht wieder durch die Bäume bewegte. Inman wünschte, es würde einfach kommen und ihn forttragen. Als die Trauung vorbei war, warf Lila die Blumen ins Feuer und zog Inman fest an sich. Drückte einen ihrer drallen Schenkel zwischen seine Beine. Sie sah ihm in die Augen und
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sagte: Leb wohl. Einer der Milizionäre trat hinter ihn, drückte ihm einen ColtRevolver an die Schläfe und sagte: Stell dir das vor. In dem einen Augenblick eine Braut und im nächsten, wenn ich diesen Abzug hier drücke, scharrt sie lächelnd das Hirn ihres Mannes vom Boden in ein Taschentuch. — Ich verstehe euch nicht, sagte Inman, worauf man ihn und Veasey wieder zu den anderen Männern an das Seil band und sie in östlicher Richtung die Straße hinunter marschieren ließ. Inman blieb mehrere Tage lang mit den Handgelenken an das Ende eines langen Seiles gefesselt, an dem fünfzehn weitere Männer hingen wie aufgereihte Fohlen. Veasey war direkt vor Inman angebunden, und er schleppte sich, zutiefst erschüttert über sein Unglück, mit gesenktem Kopf voran. Jedesmal, wenn sich die Reihe in Bewegung setzte, wurde er nach vorn gerissen, und seine gefesselten Hände schnellten in die Höhe wie bei einem Mann, der hastig ein Gebet spricht. Einige der Männer vor ihnen an der Leine waren alt und graubärtig, andere fast noch Jungen, doch allen wurde vorgeworfen, Deserteure oder Helfershelfer zu sein. Die meisten kamen vom Land und trugen handgesponnene Kleider. Inman vermutete, dass ihnen allen das Gefängnis bevorstand. Oder dass sie wieder in den Krieg geschickt würden. Einige der Männer rechtfertigten sich laut vor den Milizionären und erklärten, nicht das getan zu haben, was man ihnen vorwarf. Sie seien unschuldig, behaupteten sie. Andere stießen Drohungen aus und erklärten, wenn ihre Hände nicht gefesselt wären und sie eine Axt hätten, würden sie die Milizionäre vom Scheitel bis zur Leiste spalten. Sie würden sie in zwei gleich große blutige Hälften hacken und auf sie pissen, ehe sie sich auf den Weg nach Hause machten. Andere schluchzten und flehten die Milizionäre an, sie freizulassen, indem sie an eine imaginäre gütige Macht in ihren Herzen appellierten. Wie die Mehrzahl der Menschen würden auch die Gefangenen die Erde verlassen, ohne eine bleibendere Spur zu
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hinterlassen als eine gepflügte Furche. Wenn man sie begrub, ihre Namen in eine Eichenbohle ritzte und diese in die Erde steckte, würde nichts, gar nichts – weder die Gemeinheiten, die sie begangen hatten, noch ihre gütigen, feigen oder mutigen Taten, weder ihre Ängste oder Hoffnungen, noch ihre Gesichtszüge – auch nur so lange im Gedächtnis bleiben, wie es dauerte, bis die in die Planke geritzten Buchstaben verwittert waren. Deshalb gingen sie gebeugt, als trügen sie die Last eines Lebens, das bereits jenseits der Erinnerung gelebt wurde. Inman war es verhaßt, mit den anderen an einen Strick gebunden zu sein, es wurmte ihn, dass er keine Waffe hatte, und am meisten wurmte es ihn, dass er gezwungen war, sich in die Richtung zu bewegen, die seinen Wünschen entgegengesetzt war. Jeder Schritt nach Osten war bitter wie ein Rückfall. Mit jeder Meile, die sie zurücklegten, schwand seine Hoffnung, jemals sein Zuhause zu erreichen. Als die Sonne eine Höhe erreichte, von der sie ihm voll ins Gesicht schien, spuckte er sie, da er nicht nach ihr schlagen konnte, an. Während dieses ersten Tages und auch in den darauffolgenden Tagen wechselten die Gefangenen kaum ein Wort miteinander. Eines Nachmittags ritt einer der Milizionäre die Reihe ab und hieb sämtlichen Männern spaßeshalber mit dem Gewehrlauf die Hüte vom Kopf, und jedem, der sich bückte, um seinen Hut aufzuheben, versetzte er mit dem Gewehrschaft einen Schlag. Also gingen sie weiter und ließen fünfzehn schwarze Hüte wie eine Fährte auf dem Weg zurück. Zu essen bekamen sie gar nichts, und zu trinken gab es nur dann etwas, wenn sie unterwegs durch einen Bach wateten und sie mit den Händen Wasser schöpfen konnten. Den Alten unter ihnen machte diese schmale Kost am meisten zu schaffen, und wenn sie selbst dann nicht mehr weiterkonnten, wenn die Milizionäre sie mit den Gewehrläufen anzutreiben versuchten, gab man ihnen einen Brei aus Buttermilch und hineingebrocktem altem Maisbrot. Sobald sie dann nicht mehr taumelig waren, ging es weiter.
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Die Männer waren ausnahmslos auf die übliche Weise in diese Klemme geraten – indem ein dummer Zufall auf den anderen gefolgt war, bis ihnen schließlich Dinge passierten, die sie nie für möglich gehalten hätten, und sie sich in einer Lage wiederfanden, aus der sie keinen Ausweg sahen. Inmans Gedanken drehten sich ohne Unterlass um seine Zwangslage. Und neben dem Wunsch, freigelassen zu werden, ersehnte er sich nichts heftiger, als Juniors Blut fließen zu sehen. An manchen Tagen trieben die Milizionäre die Gefangenen von morgens bis abends voran und ließen sie nachts schlafen. An anderen Tagen schliefen sie tagsüber und machten sich bei Sonnenuntergang auf den Weg, um die ganze Nacht hindurch zu marschieren. Doch nach jeder Etappe sah es dort, wo sie ankamen, nicht viel anders aus als dort, wo sie losgezogen waren: Kiefernwälder, die so dicht waren, dass die Sonne nie bis auf den Boden schien. Selbst wenn Inman geringfügige landschaftliche Unterschiede wahrnahm, kam es ihm vor, als bewegte er sich durch die Dunkelheit wie in einem Traum, in dem man vor etwas wegrennt, aber kaum vorankommt, so sehr man sich auch bemüht. Außerdem taten ihm von den beschwerlichen Märschen alle Knochen weh. Er war schwach und ihm war schwindelig. Und er hatte Hunger. Die Wunde an seinem Hals pochte mit jedem Herzschlag, und er befürchtete, sie könnte aufbrechen und wieder anfangen, wie damals im Krankenhaus Gegenstände auszuspeien. Die Linse eines Feldstechers, einen Korkenzieher, ein kleines, blutgetränktes Psalmenbuch. Er sah förmlich, wie all die Meilen, die er bereits in westliche Richtung zurückgelegt hatte, sich unter seinen Füßen wieder abspulten und verknäulten. Nach mehreren Tagen machten sie eines Abends bei Einbruch der Dunkelheit halt. Die Gefangenen blieben gefesselt und bekamen weder zu essen noch zu trinken. Wie in den vorangegangenen Nächten schlugen die Milizionäre weder ein Schlaflager auf und teilten Decken aus, noch machten sie Feuer. Erschöpft wie die Männer waren, drängten sie sich wie eine Hundemeute
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aneinander und schliefen auf der nackten, roten Erde ein. Inman hatte Bücher gelesen, in denen Gefangene in Burgverliesen in Stöcke oder Steine Striche einritzen, um die Tage zu zählen. Doch obwohl er einsah, wie nützlich dies wäre, weil er sich auf seinen geistigen Kalender längst nicht mehr verlassen konnte, hatte er nicht einmal die Mittel, sich auf diese Weise zu behelfen. Wie sich aber bald herausstellte, war es gar nicht mehr nötig, die Tage zu zählen, denn tief in der Nacht wurden die Gefangenen von einem der Milizionäre aus ihrem leichten Schlaf gerüttelt. Er hielt eine Laterne in der Hand und befahl ihnen aufzustehen. Die anderen sechs Milizionäre standen lose beieinander. Ein paar von ihnen rauchten Pfeife und hielten ihre Musketen mit den Kolben nach unten auf den Boden gestützt. Einer von ihnen, der Mann, der sich als Anführer aufspielte, sagte: Wir haben uns besprochen und sind zu dem Schluß gekommen, dass ihr Scheißpack nur unsere Zeit vergeudet. Darauf legten die Milizionäre ihre Gewehre an. Einer der Gefangenen, ein Junge von nicht viel mehr als zwölf Jahren, fiel auf die Knie und begann zu weinen. Ein alter, grauhaariger Mann, sagte: Ihr könnt uns doch hier nicht alle erschießen. Einer der Milizionäre ließ sein Gewehr sinken, sah zu dem Anführer hin und sagte: Ich habe mich nicht verpflichtet, um Großpapas und kleine Jungen zu erschießen. Der Anführer sagte: Entweder du spannst jetzt deinen Gewehrhahn, um zu schießen, oder du stellst dich zu denen da rüber. Inman sah in den dunklen Kiefernwald hinein. Das ist also der Blick von meinem letzten Ruheplatz, dachte er. Dann ging eine Gewehrsalve los. Männer und Jungen sackten zu Boden. Veasey trat vor, so weit es der Strick zuließ, und schrie laut in das Gewehrfeuer: Es ist noch nicht zu spät, von dieser Niedertracht zu lassen. Dann wurde er von mehreren Kugeln durchbohrt. Die Kugel, von der Inman getroffen wurde, hatte bereits
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Veaseys Schulter durchdrungen und traf ihn folglich nicht mit voller Wucht. Sie drang am seitlichen Haaransatz in die Kopfhaut ein und schürfte am Schädelknochen entlang. Hinter dem Ohr trat sie wieder aus. Er sank wie von einem Lattenhammer getroffen zu Boden, verlor aber nicht ganz das Bewusstsein. Er konnte sich nicht bewegen, konnte nicht einmal blinzeln – legte aber auch gar keinen Wert darauf. Er merkte, dass sich die Welt um ihn herum weiter drehte, doch er fühlte sich nicht als ein Teil davon. Sie schien sich seinem Verstand zu entziehen. Um ihn herum starben die Männer und sackten aneinandergebunden zu Boden. Als die Milizionäre das Feuer einstellten, standen sie da, als wüßten sie nicht, wie es jetzt weitergehen sollte. Einer von ihnen schien eine Art Anfall zu bekommen, denn er fing plötzlich an, Cotton Eye Joe zu singen und dazu herumzuhüpfen – so lange, bis ihm einer der Männer den Schaft seiner Muskete aufs Kreuz schlug. Schließlich sagte einer von ihnen: Es ist wohl besser, wir bringen sie unter die Erde. Sie machten sich halbherzig an die Arbeit, gruben nur eine flache Mulde aus, zogen die Männer hinein und bedeckten sie mit einer Schicht Erde, so dass sie nicht tiefer lagen als eine gesetzte Kartoffel. Als sie fertig waren, saßen sie auf und ritten davon. Inman war mit dem Gesicht in die Armbeuge gefallen und hatte somit Atemraum. Die Erdschicht über ihm war aber ohnehin so locker und dünn, dass er vermutlich eher verhungert als erstickt wäre. Er blieb liegen und dämmerte lange benommen vor sich hin. Der Erdgeruch zog ihn nach unten, und er fand nicht die Kraft, dagegen anzukämpfen. Dort zu sterben erschien ihm leichter, als es nicht zu tun. Doch kurz vor Tagesanbruch kamen, angezogen von dem scharfen Geruch in der Luft, verwilderte Schweine aus dem Wald. Sie wühlten mit ihren Schnauzen in der Erde und gruben Arme und Beine und Köpfe aus, und bald darauf fand sich auch Inman ausgegraben und starrte hilflos, feindselig
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und entgeistert in das lange Gesicht eines großen Ebers. — Pfui, sagte Inman. Der Eber wich ein Stück zurück, blieb stehen und starrte dann verblüfft und mit zwinkernden Augen wieder zu ihm hin. Inman wuchtete sich der Länge nach aus der Erde. In ihm wurde der Wunsch wach, sich zu regen, wieder neu zu werden. Als Inman sich wieder in eine aufrechte Stellung hochgearbeitet hatte, verlor der Eber das Interesse an ihm und wühlte anderswo weiter in der Erde. Inman neigte den Kopf nach hinten, um zum Himmel aufzusehen, und stellte fest, dass er nicht richtig aussah. Es waren zwar Sterne da, doch konnte er an dem mondlosen Himmel nicht ein einziges Sternbild erkennen. Es schien, als hätte jemand einen Stock genommen und den Himmel umgerührt, so dass nichts geblieben war als ein paar zusammenhanglose Lichtspritzer, die ohne Sinn über das allgemeine Dunkel verteilt waren. Wie das bei Kopfwunden meist der Fall ist, blutete die seine ziemlich heftig, obgleich sie eigentlich gar nicht tief war. Sein ganzes Gesicht war mit Blut verschmiert, an dem wiederum Erde klebte, so dass es ockerfarben war und wie eine Tonskulptur wirkte, die eine frühere Phase der Menschheit illustrierte, als die Gesichtszüge noch nicht voll ausgebildet waren. Als er die zwei Löcher in seinem Schädel gefunden hatte und sie mit seinen Fingern abtastete, stellte er fest, dass sie empfindungslos waren und zu verschorfen begannen. Er versuchte, sich mit dem Hemdschoss abzureiben, doch das erwies sich als ziemlich zwecklos. Er begann, an dem Seil an seinen Händen zu zerren und bog sich dabei so weit zurück, dass Veasey aus der Erde auftauchte wie ein dicker, am Angelhaken hängender Barsch aus einem Moorsee. Veaseys Gesicht war in einem Ausdruck fassungsloser Bestürzung erstarrt. An den feuchten Stellen seiner geöffneten Augen klebte Dreck. Als Inman ihn betrachtete, empfand er zwar kein großes Bedauern über seinen Tod, fand aber auch nicht, dass dies ein
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Beispiel von waltender Gerechtigkeit war, das bewiesen hätte, dass das von einem Menschen begangene Unrecht auf ihn zurückfällt. Inman hatte nun schon so viele Tote gesehen, dass ihm der Tod mittlerweile als etwas vollkommen Willkürliches vorkam. Er konnte sich nicht einmal dazu aufraffen nachzuzählen, wie viele Todesfälle er in der jüngsten Vergangenheit miterlebt hatte. Die Zahl ging zweifelsohne in die Tausende, in jeder erdenklichen Todesart, und auch in mancher, auf die man selbst nach tagelangem Überlegen nie kommen würde. Er hatte sich so sehr daran gewöhnt, den Tod zu sehen, zwischen Toten einherzulaufen, zwischen ihnen zu schlafen und sogar sich selbst gleichmütig zu den beinahe Toten zu zählen, dass ihm der Tod längst nicht mehr als etwas Dunkles und Geheimnisvolles erschien. Er befürchtete, dass sein Herz so oft vom Feuer angesengt worden war, dass es ihm womöglich nie wieder gelingen würde, ein Zivilist zu sein. Inman ließ seinen Blick umherschweifen, bis er einen spitzen Stein entdeckt hatte, an dem er dann bis zum Sonnenaufgang das Seil scheuerte, mit dem seine Hände gefesselt waren. Als er sich endlich befreit hatte, sah er Veasey noch einmal an. Eins seiner Augenlider hing jetzt so weit herunter, dass das Auge fast geschlossen war. Inman hatte das Bedürfnis, Veasey noch eine freundliche Geste zu erweisen, doch da er nicht einmal eine Schaufel zur Hand hatte, um ihn zu begraben, fiel ihm nichts Besseres ein, als Veasey herumzurollen, damit er mit dem Gesicht nach unten lag. Inman kehrte dem Sonnenaufgang den Rücken zu und machte sich in westliche Richtung davon. Den ganzen Vormittag fühlte er sich benommen und wie gerädert. Sein Kopf pochte im Rhythmus des Pulsschlags, und er hatte das Gefühl, sein Schädel würde jeden Moment zerplatzen und in tausend Stücke zersprungen vor seine Füße fallen. An einem Zaun pflückte er eine Handvoll gefiederter Scharfgarbenblätter und band sich den Bausch mit dem geschälten Stengel der Pflanze am Kopf fest. Schafgarbe sei schmerzlindernd, hatte er gehört – und seine Schmerzen nahmen tatsächlich ein wenig
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ab. Die Blätter wippten im Takt mit seinen müden Schritten, und Inman behielt den ganzen Morgen ihre Schatten im Blick, die sich vor ihm die Straße entlang bewegten. Als er gegen Mittag an einer Wegkreuzung stand, war sein Hirn so benebelt, dass er unfähig war, sich für einen der drei zur Auswahl stehenden Wege zu entscheiden. Er war lediglich imstande, den Weg auszuschließen, auf dem er gekommen war. Er blickte zur Orientierung zum Himmel auf, doch die Sonne stand direkt über ihm. Es war nicht auszumachen, in welche Richtung sie weiterziehen würde. Er betastete die verschorfte Haut an seinem Kopf, spürte das verkrustete Blut unterhalb seines Haaransatzes und dachte: Ich werde bald eine einzige Narbe sein. Der rote Petersburger Striemen an seinem Hals begann wie aus Mitgefühl mit seinem neuen Bruder zu schmerzen. Seine oberen Körperpartien fühlten sich an wie ein einziges riesiges, offenes Geschwür. Er beschloss, sich in der Kiefernstreu am Wegrand niederzulassen und auf irgendein Zeichen oder einen Wink zu warten, dem er entnehmen könnte, welchem der vor ihm liegenden Wege der Vorzug zu geben war. Nach einiger Zeit, in der er wechselweise eingenickt und wieder aufgewacht war, sah er einen hellhäutigen Sklaven die Straße heraufkommen, der ein Gespann mit einem roten und einem weißen Ochsen führte. Sie zogen einen Transportschlitten mit neuen Fässern und einer großen Zahl kleiner dunkler Melonen hinter sich her, die so ordentlich aufeinandergestapelt waren wie Klafterhofz. Als der Mann Inman erblickte, brachte er die Ochsen zum Stehen. — Gütiger Gott, sagte er. Sie sehen aus wie ein Erdmensch. Er langte zum Schlitten hinüber, klopfte prüfend an zwei oder drei Melonen und warf Inman eine zu. Inman brach sie an einer Steinkante auf. Das faserige Fleisch in den beiden Hälften war rosa und fest und von dunklen Kernen durchsetzt, und er tauchte seinen Kopf wie ein hungriger Hund zuerst in die eine, dann in die andere Hälfte. Als er den Kopf wieder hob, waren von der Melone nur noch
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zwei dünne Schalen übrig, und von seinem Bart tropfte rosafarbener Saft auf die Erde. Inman starrte eine Weile auf das von den Tropfen gezeichnete Muster, um zu sehen, ob sich daraus etwas deuten ließ, denn er brauchte Hilfe, ganz gleich aus welcher seltsamen Quelle sie kommen mochte. Doch aus welchem Winkel er die Tropfen auch betrachtete, sie gaben nichts her – weder als Ideogramm noch als Totem. Die metaphysische Welt, sagte er sich, hatte ihn als eine umherziehende Seele seinem Schicksal überlassen, so dass er allein, ohne Führer oder Wegkarte durch eine feindselige, aus wenig anderem als Hindernissen bestehende Welt wandern musste. Inman stellte sein Bodenstudium ein, blickte auf und bedankte sich für die Melone. Der hellhäutige Sklave war ein drahtiger Bursche, schlank an allen Gliedern, aber mit kräftigen Muskelsträngen an Hals und Unterarmen – was sichtbar war, da er die Ärmel seines grauen Wollhemds bis zu den Ellbogen hochgekrempelt hatte. Seine Leinenhosen waren offenbar für einen größeren Mann als ihn geschneidert worden, denn er hatte sie oberhalb seiner nackten Füße zu dicken Aufschlägen aufgerollt. — Steigen Sie auf den Schlitten und kommen Sie mit mir, sagte er. Inman setzte sich hinten auf den Schlitten und ließ sich ziehen, den Rücken an ein schimmerndes, nach frisch gespaltener Weißeiche duftendes Faß gelehnt. Er versuchte zu schlafen, doch es ging nicht, und so starrte er wie in Trance auf die Schleifspuren, die die breiten Eschekufen hinterließen, zwei parallele Linien auf der staubigen Straße, die eine bestimmte Botschaft zu enthalten schienen, indem sie mit zunehmender Entfernung immer dichter zusammenliefen. Er rieß sich seinen Schafgarbenschmuck vom Kopf und ließ ihn Stück für Stück zwischen die Kufenspuren fallen. Der hellhäutige Sklave forderte Inman kurz vor der Farm, zu deren Besitz er gehörte, auf, in eins der Fässer zu kriechen, lenkte den Schlitten dann über den Hof und entlud ihn in der
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Tenne. Er versteckte Inman unter der Dachtraufe des Heubodens im Heu, wo er ein paar Tage lang ausruhte und dabei abermals jedes Zeitgefühl verlor. Er schlief die meiste Zeit und wurde zwischendurch von den Sklaven mit Essen versorgt mit in Schweineschmalz geröstetem Maisbrot, scharfem Gemüse und gegrilltem, knusprig gebratenem Schweinerücken, von dem das verschmorte Fett tropfte. Als er das Gefühl hatte, dass seine Beine ihn wieder tragen könnten, machte sich Inman zum Aufbruch bereit. Seine Kleider waren ausgekocht worden, und seine Kopfwunden waren teilweise verheilt und unter einem alten schwarzen Hut verdeckt, dessen Stirnband dunkel von Sklavenschweiß war. Als Inman am Scheunentor stand und seinem Wohltäter Lebewohl sagte, stand ein halber Mond am Himmel. — Ich muss weiter, sagte Inman, Ich habe unterwegs noch eine Kleinigkeit zu erledigen, und dann muss ich mich auf den Heimweg machen. — Passen Sie auf, sagte der Sklave. Letzte Woche ist eine Bande von Unionisten aus dem Gefängnis in Salisbury ausgebrochen, und auf den Straßen wimmelt es Tag und Nacht von berittenen Spähtrupps, die auf der Suche nach ihnen sind. Wenn Sie da hindurch wollen, werden Sie mit Sicherheit geschnappt werden, wenn Sie nicht vorsichtig sind. Wahrscheinlich auch, wenn Sie vorsichtig sind. — Was raten Sie mir dann? — Wo wollen Sie denn hin? — Nach Westen. — Halten Sie sich nach Norden. Gehen Sie in Richtung Wilkes. Da wohnen überall Herrnhuter Brüder und Quäker, die Ihnen helfen werden. Gehen Sie bis zum Fuß des Blue Ridge und von da durchs Vorgebirge nach Süden. Oder Sie gehen in die Berge und folgen den Kämmen wieder zurück in ihre Richtung. Aber es soll da kalt sein und rauh. — Da komm ich her, sagte Inman. Der hellhäutige Sklave reichte ihm eine Portion Maismehl, in Papier gewickelt und mit einer Schnur zusammengebunden,
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einen Streifen Pökelfleisch und ein paar Stücke Schweinebraten. Dann nahm er Tinte und Papier zur Hand und begann eine Wegskizze anzufertigen, die zu einem vollendeten Kunstwerk wurde. Es waren darauf kleine Häuser und windschiefe Scheunen zu sehen, knorrige Bäume, in deren Stämmen Gesichter waren und deren Äste wie Arme und Haare aussahen. In einer Ecke strahlte eine kunstvolle Windrose. Und in Anmerkungen war – in fein säuberlicher Schrift – verzeichnet, wem man trauen konnte und wem nicht. Mit zunehmender Entfernung wurde die Skizze ungenauer, bis sie im Westen in eine reine weiße Fläche überging, auf der die Berge nur noch mit wenigen ineinander verlaufenden Bogen angedeutet waren. — So weit bin ich bis jetzt gekommen, sagte er. Bis zu dieser Ecke hier. — Sie können lesen und schreiben? fragte Inman. — Hab 'nen verrückten Mann zum Herrn. Der schert sich nicht um das Gesetz. Inman griff in seine Taschen, um dem Mann Geld zu geben. Er gedachte ihm eine großzügige Summe zu geben, stellte jedoch fest, dass seine Taschen leer waren. Da fiel ihm ein, dass sein gesamtes restliches Geld in dem Brotbeutel steckte, den er in Juniors Holzstoß versteckt hatte. — Ich wünschte, ich könnte Ihnen etwas Geld geben, sagte Inman. — Ich hätte es wahrscheinlich nicht genommen, sagte der Mann. Ein paar Abende später stand Inman vor dem schiefen Haus. Es hockte wie eine Kröte in seiner Mulde, und hinter keinem der Fenster brannte Licht. Er rief leise den dreibeinigen Hund aus seiner Hütte herbei und hielt ihm einen Schweineknochen hin, den er, in Platanenblätter gewickelt, in der Tasche getragen hatte. Der Hund kam schnüffelnd und lautlos angekrochen. Er schnappte sich den Knochen und verzog sich damit unter die vordere Veranda. Inman folgte dem Hund zum Haus und ging nach hinten in
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den Hof. Von dem riesigen Feuer war nur noch ein kalter schwarzer Haufen übrig. Er ging zur hinteren Veranda. Sein Tornister lag noch immer zusammengesackt da. Er kontrollierte den Inhalt und stellte fest, dass bis auf Veaseys Colt nichts fehlte. Er steckte seinen Arm in den Holzstoß, zog den Brotbeutel heraus und konnte durch den Stoff hindurch den Griff des LeMat spüren. Er zog den Revolver heraus, und es war wie ein Tonikum, das Gewicht des Revolvers in der Hand zu spüren, seine Ausgewogenheit und das Klicken, als er den Hahn spannte. Unter der Tür des Räucherhauses war ein Lichtstreifen zu sehen und Inman ging hinüber, öffnete die Tür einen Spalt und schaute hinein. Junior stand da und rieb einen Schinken mit Salz ein. In dem Lehmboden steckte ein Bajonett, in dessen Halterung für den Gewehrlauf eine Wachskerze stand wie in einem silbernen Kerzenleuchter. Der Boden des Räucherhauses war so festgestampft und fettig, dass er im Licht der Kerze glänzte. Junior war über den Schinken gebeugt. Er hatte seinen Hut auf dem Kopf, und sein Gesicht lag im Schatten der Krempe. Inman machte die Tür weit auf und stellte sich ins Licht. Junior hob das Gesicht und sah ihn an, schien ihn jedoch nicht zu erkennen. Inman machte einen Schritt auf Junior zu, schlug ihm den Lauf des LeMat aufs Ohr und drosch dann mit dem Revolvergriff auf ihn ein, bis er flach auf dem Rücken lag. Außer dem roten Blut, das aus seiner Nase und den Wunden an seinem Kopf und den Augenwinkeln floß, bewegte sich nichts an ihm. Das Blut sammelte sich in Pfützen auf dem schwarzen Lehmboden des Räucherhauses. Inman hielt inne, hockte sich nieder und stützte die Unterarme auf die Knie, um zu verschnaufen. Er drehte die Kerze aus ihrer Fassung und spürte dabei die rauhen Stellen, wo Schaben den Talg angenagt hatten. Er hielt die Kerze an Juniors Gesicht. Was da vor ihm lag, war in der Tat grauenerregend, doch zugleich befürchtete Inman, dass sich der Rest der Menschheit charakterlich nicht wesentlich von
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ihm unterschied. Er blies die Kerze aus, wandte sich ab und ging hinaus. Am östlichen Horizont, an der Stelle, wo der Mond bald aufsteigen würde, schimmerte ein Keil grauen Lichts. Das Geisterlicht auf dem Hügel war nur schwach zu sehen und bewegte sich flackernd durch die Bäume. Es wurde blasser und erlosch, aber so langsam, dass man nicht genau sagen konnte, in welchem Moment. Inman wanderte die ganze Nacht auf Umwegen in nördliche Richtung durch eine dicht bevölkerte Gegend mit erleuchteten Fenstern und unzähligen bellenden Hunden. Und der hellhäutige Sklave hatte recht gehabt; überall waren in der Dunkelheit Reiter unterwegs, doch Inman konnte sie rechtzeitig hören und sich im Gebüsch verstecken. Bei Tagesanbruch war es so neblig, dass er sich wegen ein bisschen Rauch keine Gedanken zu machen brauchte. Er machte im Wald ein Feuer, über dem er sich zwei Streifen Pökelfleisch wärmte und aus Mehl und Wasser eine Portion Maisbrei machte. Er blieb den ganzen Tag in einem Dickicht liegen, teils schlafend, teils grübelnd. In den Ästen über ihm hockten drei Krähen und ärgerten eine Rattenschlange, die sie dort oben im Baum entdeckt hatten. Sie hockten in den Ästen über der Schlange und krächzten ihr zu, und hin und wieder flog eine von ihnen dicht an der Schlange vorbei und tat so, als wollte sie mit ihrem glänzenden Schnabel nach ihr schnappen. Die Schlange reagierte auf die übliche Weise, richtete sich auf, wölbte ihren Hals, zischte und schlug mit ihren Giftzähnen zu. Doch die Krähen reagierten darauf nur mit Heiterkeit und Spott, so dass sich die Schlange bald verzog. Die Krähen blieben fast den ganzen Nachmittag in dem Baum sitzen und feierten ihren Sieg. Wenn Inman die Augen geöffnet hatte, sah er jedesmal zu ihnen hinauf und prägte sich ihr Verhalten ein und die Laute, die sie von sich gaben. Und wenn seine Augen geschlossen waren, träumte er, er lebe in einer Welt, in der ein Mensch sich in eine Krähengestalt hineinwünschen konnte, so dass er, obwohl in dunklen Irrungen und Wirrungen befangen, die Macht hatte, vor Feinden davonzufliegen oder sie durch
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Lachen zu verscheuchen. Nachdem Inman auf diese Weise einige Zeit verbracht hatte, wurde es Nacht, und es kam ihm vor, als hätten die Krähen sich aufgebläht und alles schwarz werden lassen.
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An Stelle der Wahrheit
Der Morgenhimmel war trübe – von einer Farbe, wie sie entsteht, wenn man Lampenruß auf Papier verreibt. Ralph war mitten auf dem Feld stehengeblieben, mit hängendem Kopf, schnaubend. Er war vor einen Transportschlitten mit Zaunlatten aus Robinienholz geschirrt, die so schwer waren wie eine entsprechende Menge Steine. Er schien nicht gewillt, den Schlitten auch nur einen Schritt weiter in Richtung Bachufer zu ziehen, an dem Ruby einen zickzackförmigen Weidezaun errichten wollte. Ada knallte Ralph ein paarmal die Quaste der geflochtenen Kutschpeitsche auf den Rücken, doch ohne Erfolg. — Er ist ein Kutschpferd, sagte sie zu Ruby.
Ruby sagte: Er ist ein Pferd.
Sie stellte sich vor Ralph hin, legte die Hand an seinen
Unterkiefer und sah ihm in die Augen. Er legte die Ohren an und riss die Augen so weit auf, dass der weiße Rand über seinen Augäpfeln zu sehen war. Ruby drückte ihren Mund auf die samtige Nase des Pferdes, wich ein Stück zurück und öffnete weit den Mund, um ihm einen tiefen, langen Atemzug in die geweiteten Nüstern zu hauchen. Sie glaubte, dass eine solche Geste sie zu Verbündeten machte. Damit werde ausgedrückt, dass Ralph und sie in der vorliegenden Angelegenheit einer Meinung seien. So mache man das, wenn man Pferde besänftigen wolle. Eine solche Botschaft helfe ihnen, ihre extreme Nervosität zu überwinden. Mit einem solchen freundschaftlichen Atemzug ließen sich augenrollende Pferde allgemein beruhigen. Ruby hauchte noch einmal in Ralphs Nüstern, griff dann oberhalb des Widerrists in seine Mähne und zerrte leicht
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daran. Er schritt aus und zog den Schlitten, und als sie beim Bach angekommen waren, schirrte sie ihn los. Sie führte ihn in den Klee, der am Rand eines Baumschattens wuchs, damit er dort weiden konnte, und dann machten sich die beiden Frauen daran, längs des Ufers eine zickzackförmige Reihe aus Robinienstämmen auszulegen. Sobald sie genügend Zeit hätten, würden sie drei weitere, sich an den Holzenden überlappende Reihen über die Schlange legen. Ada war aufgefallen, dass Ruby eine angefangene Arbeit nicht immer sogleich bis zu Ende durchführte. Sie nahm Sachen in Angriff, wie sie gerade kamen, und führte sie dann in der Reihenfolge ihrer Dringlichkeit weiter. Wenn es nichts besonders Eiliges zu tun gab, pickte sich Ruby eine Arbeit heraus, die in der gerade zur Verfügung stehenden Zeit erledigt werden konnte. An diesem Morgen hatte sie beschlossen, die unterste Reihe Zaunstangen auszulegen, weil sie in einer Stunde zu Esco aufbrechen wollte, um mit ihm Tauschgeschäfte zu machen – Äpfel gegen Kohl und Rüben –, und diese Arbeit bis dahin zu schaffen war. Ada trug beim Hantieren mit den schweren Holzstangen zwar ein Paar lederne Arbeitshandschuhe, doch waren diese mit der rauhen Seite nach innen genäht worden, so dass ihre Fingerspitzen nach getaner Arbeit beinahe ebenso wund waren, wie wenn sie ohne Handschuhe gearbeitet hätte. Sie saß auf dem Schlitten und betastete ihre Blasen, kühlte ihre Hände im Bach und trocknete sie an ihrem Rock ab. Sie führten Ralph zur Scheune zurück, spannten ihn aus und begannen ihn aufzuzäumen, damit sich Ruby zu ihrer Tauschaktion aufmachen konnte. Doch Ruby hielt auf einmal inne und starrte zu einer alten Falle hinüber, die an einem Holznagel an der Scheunenwand hing. Es war eine Falle für Biber, Waldmurmeltiere und dergleichen. Einer von den Gegenständen, die die Blacks bei ihrer Übersiedlung nach Texas zurückgelassen hatten. Die Klemmbacken waren fast zusammengerostet, und die Falle hing schon so lange dort, dass die Fangeisen mit Rostflecken übersät waren.
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— Das ist genau das, was wir brauchen, sagte sie. Ich könnte sie eigentlich noch schnell aufstellen, bevor ich gehe. Die beiden Frauen machten sich Sorgen um den Maisspeicher. Seit einigen Tagen fehlte jeden Morgen eine kleine Menge Mais. Nachdem Ruby dies aufgefallen war, hatte sie Haken und Schloß an der Tür angebracht sowie die Ritzen gestopft, wo das Holz getrocknet oder abgesplittert war. Am darauffolgenden Morgen fand sie jedoch in dem frischen Lehm zwischen den Holzlatten ein neues Loch. Es war groß genug für ein Eichhörnchen oder eine Hand, vielleicht auch für einen kleinen Waschbären, ein Opossum oder ein Waldmurmeltier. Sie hatte das Loch zweimal mit Lehm verstopft, nur um es am nächsten Morgen wieder offen vorzufinden. Es fehlte jeweils nur eine kleine Menge – so wenig, dass man es gerade eben bemerkte, doch wenn es so weiterging, würde der Verlust bald so groß sein, dass er durchaus ins Gewicht fiel. Also brachten Ada und Ruby die Falle auf Vordermann, kratzten den Rost mit einer Drahtbürste ab und fetteten die Scharniere mit Schweineschmalz ein. Als sie fertig waren, stellte Ruby den Fuß darauf und drückte die Klemmbacken auseinander. Als sie dann einen Stecken an den Tritteller hielt, schnappte die Falle mit einer solchen Wucht zu, dass sie einen Satz über den Boden machte. Sie trugen die Falle zum Maisspeicher und versteckten sie in Reichweite des Lochs im Mais. Ruby schlug den an einer Kette hängenden Eisenstift so tief es ging in die festgestampfte Erde. Ada drängte darauf, die Zähne der Falle mit Sackleinenstreifen zu ummanteln, für den Fall, dass es kein Tier, sondern ein Mensch war, der da ihren Mais stibitzte. Ruby folgte ihrem Vorschlag, wobei sie allerdings achtgab, dass das Polster nicht zu dick wurde, um es mit der Güte nicht gar zu sehr zu übertreiben. Als dies erledigt war, zäumte Ruby das Pferd auf und hängte zwei pralle Säcke mit Äpfeln über seinen Widerrist. Sie schwang sich auf seinen Rücken und ritt ohne Sattel davon. Auf dem Feldweg hielt sie noch einmal an und rief Ada zu,
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sie solle sich derweilen nützlich machen und im Wintergarten eine Vogelscheuche aufstellen. Dann drückte sie dem Pferd die Fersen in die Flanken und trabte davon. Als Ada Ruby um die Wegbiegung verschwinden sah, atmete sie direkt ein wenig erleichtert auf. Jetzt konnte sie sich den ganzen restlichen Vormittag der angenehmen und irgendwie kindlichen Aufgabe widmen, eine große Puppe zu basteln. Im Wintergarten hatte sich eine Schar Krähen an den jungen Pflanzen zu schaffen gemacht. Sie hatten zwar nur halbherzig daran herumgepickt, doch wenn man nichts gegen sie unternahm, würden sie dennoch bald alles abgefressen haben. Eine der Krähen hatte an den äußeren Zipfeln beider Flügel zwei gleich große viereckige Kerben, wo ihr die Federn fehlten. Sie schien die Anführerin dieses Schwarms zu sein und flog immer als erste vom Feld oder von einem Zweig herunter. Die anderen kamen stets hinterher. Kerbflügel war auch gesprächiger als die anderen, gab sämtliche Laute von sich, zu denen Krähen fähig sind – vom Geräusch eines quietschenden Scharniers bis zum Geschnatter einer Ente, die von einem Fuchs getötet wird. Ada hatte ihr Treiben seit Wochen verfolgt, und Ruby hatte einmal so die Wut auf die Krähe gepackt, dass sie eine ganze Schrotladung auf sie abgeschossen hatte, wenn auch aus zu großer Entfernung, um ihr etwas anzuhaben. Ada freute sich, dass Kerbflügel bald gezwungen sein würde, ihre Vogelscheuche in ihre Gedanken einzuschließen. Mit gemischten Gefühlen sagte sie laut vor sich hin: Ich führe mittlerweile ein Leben, in dem ich über das Treiben bestimmter Vögel Buch führe. Sie ging ins Haus. Aus einer Truhe im oberen Stockwerk nahm sie ein altes Paar Reithosen und ein kastanienbraunes Wollhemd von Monroe. Seinen Kastorhut und ein buntes Halstuch. Damit ließ sich eine schöne, elegante Vogelscheuche bauen. Doch während sie so dastand und die gefalteten Kleider in ihren Händen betrachtete, stellte sie sich
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vor, wie sie Tag für Tag hinausging und Monroes Abbild auf dem Feld stehen sah. Von der Veranda aus würde es in der Dämmerung so aussehen, als stünde da eine dunkle Gestalt und beobachtete sie. Sie befürchtete, dass die Vogelscheuche ihr mehr zu schaffen machen würde als den Krähen. Ada packte die Kleider wieder in die Truhe, ging in ihr Schlafzimmer und sah dort sämtliche Schubladen und Schränke durch. Schließlich entschied sie sich für das mauvefarbene Kleid, das sie am letzten Abend der Feier am Wando River getragen hatte. Dazu zog sie einen französischen Strohhut heraus, den ihr Monroe vor fünfzehn Jahren während ihrer Europareise gekauft hatte, und der mittlerweile an den Rändern ausfranste. Ruby, das war ihr klar, würde gegen das Kleid Einwände erheben – nicht aus Gründen des Feingefühls, sondern weil man den Stoff sinnvoller verwenden konnte. Wenn man das Kleid auftrennte, konnte man daraus alle möglichen nützlichen Dinge wie Kissenbezüge, Deckenbezüge und Sesselschoner herstellen. Ada hingegen befand, dass sie genügend andere Kleider hatte, die sie, wenn sie unbedingt Seide brauchten, auftrennen konnten. Doch dieses hier wollte sie bei Regen und Sonnenschein auf einem Feld stehen sehen. Sie trug das Kleid nach draußen und baute dann aus Bohnenstangen, die sie mit Draht aneinanderband, ein Gerüst, das sie in der Mitte des Gartens aufstellte und mit einem Holzhammer fest in die Erde klopfte. Sie steckte einen Kopf darauf, der aus einem zusammengezurrten, mit Blättern und Stroh gefüllten alten Kopfkissen bestand, auf das sie mit aus Kaminruß und Lampenöl zusammengemischter Farbe ein grinsendes Gesicht malte. Sie streifte das Kleid über die Stangen, stopfte das Oberteil mit Stroh aus und setzte der Gestalt als modisches Beiwerk den Strohhut auf. An einen der Arme hängte sie einen kleinen Blecheimer, der ein Loch im Boden hatte. Sie ging an den Zaun, um ein paar Stengel Goldrute und Astern zu pflücken und steckte sie in den Eimer. Als sie fertig war, trat Ada zurück und begutachtete ihr Werk. Die Figur blickte mit weit aufgerissenen Augen zum
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Cold Mountain hinüber und sah aus, ais hätte sie während eines gemächlichen Spaziergangs Blumen für einen Tischschmuck gesammelt und wäre, fasziniert von dem Anblick der vor ihr liegenden Landschaft, gerade einen Augenblick stehengeblieben. Die bauschigen Röcke des blauvioletten Kleides wogten leicht in der Brise, und Ada dachte, dass es in einem Jahr von Wind und Wetter so ausgebleicht sein würde, dass es die Farbe vertrockneter Maishülsen hätte. Ada selbst trug ein Kleid aus einem verschossenen, gemusterten Stoff und einen Strohhut. Sie fragte sich, ob ein Beobachter, der oben auf dem Jonas Ridge stand und in den Taleinschnitt hinunterblickte, wenn man ihn aufforderte, zu entscheiden, welche der beiden dort unten stehenden Gestalten die Vogelscheuche war, richtig wählen würde. Sie wusch sich in der Schüssel auf der Küchenveranda die Hände und stellte sich aus ein paar dunkelbraunen Streifen von Escos Schinken, kalten, vom Frühstück übriggebliebenen Brötchen und einem Stück gebackenen Kürbis vom letzten Abendessen ein Mittagsmahl zusammen. Dann begab sie sich mit ihrem Skizzenbuch und ihrem Teller hinaus zu dem Tisch unter dem Birnbaum. Als sie gegessen hatte, blätterte sie in dem Skizzenbuch – auf den Seiten hinter der Zeichnung von dem Graureiher waren Studien von Hartriegelbeeren, Früchten eines Sumachstrauches und zwei Wasserschneidern – bis zur nächsten leeren Seite, skizzierte darauf die Vogelscheuche und darüber die eingekerbten Krähenflügel. Sie notierte das Datum, die ungefähre Zeit und außerdem die derzeitige Mondphase. An den unteren Rand der Seite schrieb sie die Namen der in dem Eimer der Vogelscheuche befindlichen Blumen, und in eine freie Ecke der Seite skizzierte sie noch einen Ausschnitt einer Asternblüte. Es dauerte nicht lange, da kam Ruby den Feldweg hinaufgelaufen. Sie führte das Pferd, über dessen Rücken sechs paarweise zusammengebundene, knubbelige Säcke voller Kohlköpfe hingen. Das waren zwei Säcke mehr als
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angemessen, doch Ruby war nicht so stolz gewesen, Escos Anfall von Großmut zurückzuweisen. Ada trat auf den Weg hinaus. Ruby kam auf sie zu, blieb stehen und kramte einen Brief aus ihrer Rocktasche hervor. — Hier, bitte, sagte sie. Ich habe bei der Mühle haltgemacht. Man hörte ihrem Tonfall an, dass sie der Überzeugung war, keine Botschaft, die nicht per Stimme, von Angesicht zu Angesicht übermittelt wurde, könne etwas Gutes bedeuten. Der Brief war zerknittert, zerknautscht und verschmutzt wie ein alter Arbeitshandschuh. Er war irgendwann auf seiner Reise feucht und beim Trocknen wellig und fleckig geworden. Es stand kein Absender darauf, doch Ada kannte die Handschrift, in der ihr Name geschrieben war. Da sie den Brief nicht unter Rubys forschendem Blick lesen wollte, steckte sie ihn in ihre Rocktasche. Gemeinsam luden sie neben dem Räucherhaus die Säcke ab, und während Ruby das Pferd fortbrachte, ging Ada in die Küche, um für Ruby einen Teller mit den gleichen Speisen wie zuvor für sich selbst zusammenzustellen. Während Ruby ihr Mittagessen verspeiste, redete sie unentwegt von Kohlköpfen und den vielen Sachen, die sie daraus machen würden. Ada erschien es eher wenig – Sauerkraut, überbackener Kohl, gedünsteter Kohl, Kohlrouladen, Krautsalat. Als Ruby gegessen hatte, gingen sie zu den Säcken. Einen behielten sie zurück, um daraus Sauerkraut zu machen, sobald der Mond richtig stand. Wenn man die Mondphasen nicht beachte, erklärte Ruby, bestehe die Gefahr, dass das Kraut in den Gärtöpfen verfaule. Den Rest gruben sie für den Winter ein. Ada empfand es als mühsam und merkwürdig, hinter dem Räucherhaus die grabartige Grube auszuheben, mit Stroh auszulegen und die weißlichen Köpfe darauf zu stapeln und sie dann mit Stroh und anschließend mit Erde zu bedecken. Als sie die Erde aufgehäuft hatten, steckte Ruby zur Markierung ein Brett hinein, auf das sie mit der Spatenkante einhämmerte, bis es in der Erde stand wie ein Grabstein. — So, sagte Ruby. So brauchen wir nicht erst lange
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herumzuscharren, falls im Januar Schnee liegt. Ada dachte nur daran, wie unangenehm es sein würde, an einem trüben, bewölkten Nachmittag mitten im Winter – bei heftigem Wind und kahlen, hin und her wogenden Bäumen, der Boden mit einer grauen Kruste alten Schnees bedeckt – aus dem Haus zu gehen und in dieser Miete zu buddeln, um nichts weiter herauszuholen als einen ollen Kohlkopf. Am Spätnachmittag saßen sie beide auf der Steintreppe, Ada eine Stufe über Ruby. Ruby lehnte sich an Adas Schienbeine und Knie wie an eine Stuhllehne. Sie sahen zu, wie die Sonne tiefer sank. Wie die blauen Schatten des Jonas Ridge über den Bach und weiter über die Weide krochen. Wie die Rauchschwalben rasant und wendig umherflitzten. Ada bürstete Rubys dunkles Haar mit einer aus England importierten, mit Schweinsborsten versehenen Bürste. Sie bürstete so lange, bis das Haar ganz glatt war und glänzte wie der Lauf eines neuen Gewehrs. Sie fuhr mit den Fingern durch das Haar und zerteilte es in sieben Teile, und jeder Strang hatte sein eigenes Gewicht und seine eigene Festigkeit in ihrer Hand. Sie verteilte sie über Rubys Schultern und betrachtete sie nachdenklich. Ada und Ruby veranstalteten einen Frisurenwettbewerb. Die Idee dazu war Ada gekommen, als sie Ruby zugesehen hatte, wie diese geistesabwesend hinter Ralph gestanden und komplizierte Zöpfe in seinen Schwanz geflochten hatte. Ruby stand öfter so da – mit den Gedanken weit weg und blicklosen Augen, während ihre Finger sich scheinbar automatisch durch den langen Schweif bewegten. Sie schien dabei besser nachdenken zu können – während Ralph dabei beinahe einschlief. Er stand da und hatte einen Hinterhuf mit der Spitze aufgesetzt, und seine Augenlider flatterten. Wenn sie fertig war, stapfte er stets mit leicht eingezogenem Hinterteil umher und sah dabei nervös und verlegen drein, bis eine der beiden zu ihm ging, den Zopf wieder löste und ausbürstete. Wenn Ruby diese Zöpfe flocht, sah sie stets so beneidenswert verträumt aus, dass sie Ada vorkam wie ein
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einsames, verlassenes Kind, das durch die Landschaft wanderte und aus dem Bedürfnis nach Nähe zu etwas Lebendigem und Warmem die Schwänze alter, allein auf der Weide stehender Ackergäule flocht. Um sie auf eine vertrauliche und zugleich distanzierte Weise zu berühren, ihre Hand nicht direkt an den lebendigen Leib zu legen, sondern an den schönen, blutlosen Fortsatz. In einer solchen Stimmung hatte Ada vorgeschlagen, einen Wettbewerb zu veranstalten, wer aus dem Haar der anderen den kompliziertesten, schönsten oder ausgefallensten Zopf flechten könne. Interessanter würde der Wettstreit noch dadurch, dass keine von beiden wüßte, was mit ihrem eigenen Haar geschehen war, sondern nur, was sie selbst an dem Haar der anderen gemacht hatte – bis sie beide ins Haus gingen und sich mit zwei Spiegeln nebeneinander stellten, um ihre Hinterköpfe zu begutachten. Die Verliererin müsste die gesamte Abendarbeit erledigen, während die Gewinnerin auf der Veranda im Schaukelstuhl saß und beobachtete, wie der Himmel dunkler wurde, und die nacheinander auftauchenden Sterne zählte. Adas Zopf war bereits fertig. Ruby hatte eine Weile an dem Haar herumgezerrt und gedreht, bis es an ihren Schläfen straff nach hinten gekämmt war. Der Zopf war so stramm, dass es Ada die Augenwinkel langzog. Als sie ihren Hinterkopf abzutasten versuchte, schlug Ruby ihre Hand weg, um zu verhindern, dass Ada schon eine Ahnung bekam, wie der Wettbewerb stand. Ada nahm die drei mittleren Stränge und flocht daraus einen einfachen Zopf. Das war der leichte Teil. Mit den verbleibenden Strängen beabsichtigte sie einen komplizierten Überzopf zu machen, indem sie diesen im Fischgrätmuster verwob, wie bei ihrem Lieblingskorb aus Raphiabast. Vier Krähen, allen voran Kerbflügel, kamen ins Tal hereingesegelt, schwenkten jedoch abrupt ab, als sie die neue Vogelscheuche sahen. Quiekend wie angeschossene Schweine flogen sie davon. Ruby deutete das als einen zustimmenden Kommentar zu
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Adas Werk. — Vor allem der Hut gibt dem ganzen was Besonderes. — Er ist aus Frankreich, sagte Ada. — Frankreich? sagte Ruby. Wir haben doch selber Hüte hier. Am Hast Fork wohnt ein Mann, der flicht Strohhüte, und die kann man gegen Butter und Eier eintauschen. Der Hutmacher in der Stadt macht Hüte aus Biberhaar und Wolle, aber der will meistens Geld dafür. Dass man Hüte um die halbe Welt transportierte, um sie zu verkaufen, erschien ihr hirnrissig. Für sie war es ein Zeichen von Oberflächlichkeit, wenn sich ein Mensch über solche Dinge Gedanken machte. Es gab weder in Frankreich, noch in New York oder Charleston irgendetwas, das Ruby gern haben wollte. Sie brauchte überhaupt kaum etwas, das sie nicht auf dem Cold Mountain herstellen, anpflanzen oder finden konnte. Reisen waren ihr zutiefst suspekt, sei es nach Europa oder sonstwohin. Sie war der Ansicht, dass eine ordentlich aufgebaute Welt Einwohner hervorbringen würde, die so gut an die ihnen zugewiesenen Orte passten, dass sie weder reisen mussten noch wollten. Dann brauchte man keine Postkutsche, keine Eisenbahn und kein Dampfschiff; diese Verkehrsmittel würden allesamt stillstehen. Die Leute würden aus lauter Zufriedenheit zu Hause bleiben wollen, da die Reiserei offenkundig die Wurzel vieler Übel sei, heute wie früher. In der stabilen Welt, wie sie ihr vorschwebte, könnte es durchaus vorkommen, dass Menschen viele glückliche Jahre lang das Gebell des Hundes eines entfernten Nachbarn vernahmen, ohne sich jemals weit genug von den eigenen Feldern zu entfernen, um festzustellen, ob das Kläffen von einem Jagdhund oder einem Setter, einem einfarbigen oder gescheckten Hund stammte. Ada hatte keine Lust, Ruby zu widersprechen, denn sie hatte das Gefühl, dass sich ihr Leben auf eine Form zubewegte, in der Reisen und importierte Hüte eine geringe Rolle spielten. Der Zopf war fertig, und sie betrachtete ihn enttäuscht. Wie bei all ihren künstlerischen Versuchen, entsprach das Ergebnis
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nicht dem, was sie sich vorgestellt hatte. Sie fand, er sah aus wie ein Hanfreep, geflochten von einem geisteskranken oder besoffenen Seemann. Ada und Ruby erhoben sich und strichen an den Zöpfen wechselweise noch ein paar Haare glatt und fügten vergessene Strähnen ein. Dann gingen sie hinauf in Adas Schlafzimmer, stellten sich mit einem silbernen Handspiegel in der Hand rückwärts vor den großen Spiegel über der Frisierkommode und betrachteten sich mit Hilfe beider von hinten. Adas Zopf war einfach und stramm, und als sie ihn betastete, fand sie, er fühle sich an wie ein Kastanienast. Damit ließe sich den ganzen Tag arbeiten, ohne dass er sich löste. Als Ruby an die Reihe kam, stand sie lange betrachtend da. Sie hatte ihren Hinterkopf noch nie gesehen. Sie tastete ihr Haar mit der flachen Hand ab, strich wieder und wieder darüber. Sie fand den Zopf großartig und bestand darauf, dass Ada zur Siegerin erklärt wurde. Sie gingen wieder hinaus auf die Veranda, und Ruby stieg in den Hof hinunter, um die Abendarbeit zu erledigen. Doch dann blieb sie stehen, blickte umher und dann zum Himmel hinauf. Sie berührte das Haar im Nacken und oben auf dem Kopf. Nun, da sie nicht mehr im Schatten der Veranda stand, stellte sie fest, dass es noch hell genug war, um ein paar Seiten aus dem Sommernachtstraum zu lesen, und sagte dies auch. Also ließen sie sich wieder auf der Treppe nieder, und Ada las vor und gab zwischendurch Erläuterungen. Als sie zu dem Vers kam, wo Puck sagt: Will grunzen, wiehern, bellen, brummen, flammen, Wie Eber, Pferd, Hund, Bär und Feuer zusammen – freute sich Ruby wie ein Schneekönig und wiederholte die Worte ein ums andere Mal, als hätten sie eine tiefe Bedeutung und waren schon in sich ganz wunderbar. Das Licht war bald darauf so grau geworden, dass Ada nicht mehr weiterlesen konnte. Zwei Virginische Wachteln riefen sich wechselweise ihre identische, aus drei Wörtern bestehende Botschaft vom Feld in den Wald zu. Ruby erhob sich und sagte: Dann will ich mich mal an die Arbeit machen.
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— Sieh nach der Falle, sagte Ada. — Ach wo. Tagsüber fängt man nichts, sagte Ruby und ging davon. Ada legte ein abgezupftes Buchsbaumblatt als Lesezeichen zwischen die Seiten und klappte das Buch zu. Sie zog Inmans Brief aus ihrer Rocktasche und hielt die Vorderseite nach Westen, damit die letzten Lichtstrahlen auf das Blatt fielen. Fünfmal hatte sie im Laufe des Nachmittags nun schon die überaus vage Nachricht gelesen, dass er verwundet worden sei und heimzukehren beabsichtige. Doch auch nach dem fünften Durchlesen wusste sie nicht mehr als nach der ersten Lektüre: dass sich Inman über seine Gefühle ihr gegenüber im klaren zu sein schien, während sie ihrerseits nicht zu sagen wusste, wie es um sie stand. Sie hatte Inman fast vier Jahre nicht mehr gesehen, und seit sie das letzte Mal von ihm gehört hatte, waren mehr als vier Monate vergangen. Und damals hatte sie lediglich eine kurze, hastig geschriebene Notiz aus Petersburg bekommen – in einem so unpersönlichen Ton, als wäre er an eine entfernte Verwandte gerichtet. Was allerdings nicht weiter verwunderlich war, hatte Inman doch in einem der früheren Briefe darum gebeten, auf alle Spekulationen darüber, wie es nach dem Krieg mit ihnen weitergehen würde, zu verzichten. Niemand könne vorhersagen, was dann sein werde, und wenn er sich die verschiedenen Möglichkeiten – die erfreulichen wie auch die unangenehmen – ausmale, stimme ihn das nur traurig. Sie halten sich während des Krieges in unregelmäßigen Abständen geschrieben. Manchmal war ein Brief auf den anderen gefolgt, dann wieder hatte lange Zeit Schweigen geherrscht. Diese letzte Zeitspanne war jedoch selbst für ihre Verhältnisse sehr lang. Der Brief, den Ada nun in Händen hielt, war ohne Datum, und er enthielt weder Angaben über jüngste Ereignisse noch über das Wetter, so dass keine Rückschlüsse auf das Datum zu ziehen waren. Der Brief konnte in der vergangenen Woche ge schrieben worden sein, war vielleicht aber auch schon drei Monate alt. Der lädierte Zustand des Briefes ließ eher auf ein
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weiter zurückliegendes Datum schließen, doch ließ sich das nicht mit Sicherheit sagen. Ihr war auch nicht klar, wie er das mit dem Heimkehren gemeint hatte. Wollte er jetzt heimkehren oder erst bei Kriegsende? Falls er jetzt gemeint hatte, ließ sich nicht sagen, ob er längst daheim sein müsste, oder ob er sich gerade erst auf den Weg machte. Ada musste an die Geschichte des Gefangenen hinter dem vergitterten Fenster im Gerichtsgebäude denken, die sie und Ruby mit angehört hatten. Sie befürchtete, dass es in jedem Verwaltungsbezirk einen Teague gab. Sie blickte mit zusammengekniffenen Augen auf den Briefbogen. Da Inmans Handschrift ziemlich klein und verkrampft war, konnte sie in der Dunkelheit nur diesen kurzen Absatz entziffern: Falls Du das Porträt noch besitzt, das ich Dir vor vier Jahren geschickt habe, schau es bitte nicht an. Ich habe damit gegenwärtig keine Ähnlichkeit, weder äußerlich noch geistig.
Ada ging daraufhin natürlich unverzüglich hinauf in ihr Schlafzimmer, zündete eine Lampe an und zog eine Schublade nach der anderen auf, bis sie das Porträt gefunden hatte. Sie hatte es weggesteckt, weil sie fand, dass es ihm nicht sehr ähnlich sah. Als es angekommen war, hatte sie es Monroe gezeigt, der selbst nichts vom Photographieren hielt, sich bislang noch nie hatte photographieren lassen und es auch in Zukunft nicht zu tun gedachte, obwohl er sich in jüngeren Jahren zweimal von einem Maler hatte porträtieren lassen. Er hatte Inmans Konterfei interessiert beäugt und das Etui dann zugeklappt. Dann war er zu seinem Bücherregal gegangen, hatte einen Band herausgezogen und die Passage vorgelesen, in der Emerson mit folgenden Worten seine Erfahrung mit der Daguerreotypie beschrieb: Und hast du dich in deinem Bestreben, auf dem Bild nicht verwackelt zu sein, mit solcher Kraft bemüht, deine Finger stillzuhalten, dass sich deine Hände verkrampften wie in äußerster Verzweiflung, und
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wurde deine Miene vor lauter Entschlossenheit, sie auf keinen Fall zu verziehen, mit jedem Augenblick starrer, dass die Augenbrauen sich finster zusammenzogen und die Augen erstarrten wie bei einem Schlaganfall, im Wahnsinn oder im Tod? Und obgleich man dies nicht unbedingt von Inmans Bild sagen konnte, hatte Ada doch zugeben müssen, dass die Schilderung in die richtige Richtung ging. Also hatte sie es weggesteckt, damit ihre Erinnerung an Inman nicht davon verfälscht wurde. Solche kleinen, mechanisch hergestellten Porträts wie Ada gerade eines in der Hand hielt, waren nichts Seltenes. Sie hatte schon etliche gesehen. Fast jede Familie in der Siedlung, die einen Sohn oder Ehemann im Krieg hatte, besaß eines, wenn auch manchmal nur mit einem Blechrahmen. Neben der Bibel, einer Wachskerze und Bronzeblattzweigen auf dem Kaminsims oder dem Tisch aufgestellt wie auf einem Hausaltar. 1861 konnte jeder Soldat, der einen Dollar und fünfundsiebzig Cents übrig hatte, eine Ambrotypie, Ferrotypie, Kalotypie oder Daguerreotypie von sich anfertigen lassen. Damals, in den Anfangstagen des Krieges hatte Ada die meisten dieser Bilder lächerlich gefunden. Später fand sie die Bildnisse der Männer, die mittlerweile tot waren, bedrückend. Waffenstarrend hatte einer nach dem anderen die lange Belichtungszeit vor dem Porträtisten abgesessen. Sie hielten Revolver gekreuzt vor der Brust oder Gewehre mit aufgestelltem Bajonett neben sich. Schwangen vor der Kamera drohend nagelneue, glänzende Bowiemesser. Die Käppis schief auf dem Kopf, um recht schneidig auszusehen. Bauernjungen, die fröhlicher gestimmt waren als an Schlachttagen. Die Kleidung der Männer war kunterbunt zusammengestellt. Sie trugen alles mögliche, um darin zu kämpfen – von Sachen, die man zum Pflügen tragen könnte, bis zu richtigen Uniformen und Kluften von so abenteuerlicher Lächerlichkeit, dass der Träger sich selbst in Friedenszeiten kaum hätte wundern dürfen, wenn er darin erschossen worden
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wäre. Inmans Porträt unterschied sich von den meisten anderen dadurch, dass er für das Etui mehr Geld ausgegeben hatte, als üblich war. Es war eine schöne Filigranarbeit in Silber. Ada rieb es auf beiden Seiten in Hüfthöhe an ihrem Rock, um das angelaufene Metall zu polieren. Sie öffnete es und hielt es gegen die Lampe. Das Bildnis schillerte wie Öl auf Wasser. Sie musste es in ihrer Hand hin und her bewegen, bis das Licht im richtigen Winkel darauf fiel, dass sie etwas erkennen konnte. Inmans Regiment hatte keinen Wert auf Uniformen gelegt. Sie waren mit ihrem Hauptmann übereingekommen, dass keine besondere Kleidung nötig war, um Unionisten zu erschießen. Inman trug folglich eine weite Tweedjacke, ein kragenloses Hemd und einen weichen Schlapphut, dessen Krempe ihm tief in die Stirn hing. Er hatte damals einen kleinen Spitzbart gehabt und sah weniger wie ein Soldat, sondern eher wie ein Bohemien aus. An seiner Hüfte steckte ein Colt Modell Navy, der jedoch bis auf den Griff von seiner Jacke verdeckt war. Er berührte ihn nicht. Seine Hände lagen flach auf den Oberschenkeln. Er hatte versucht, seine Augen auf eine etwa zwanzig Grad seitlich der Linse gelegene Stelle zu richten, schien sie jedoch während der Belichtung bewegt zu haben, denn sie sahen eigenartig verschwommen aus. Sein Gesichtsausdruck war ernst und aufmerksam, so als sei sein Blick konzentriert auf irgend etwas Bestimmtes gerichtet und als sei er weder an der Kamera noch an dem Aufnahmeprozeß, geschweige denn an dem Eindruck interessiert, den er in dieser statischen Form auf einen Betrachter machte. Ada konnte mit der Bemerkung, dass er mit dem Abbild keine Ähnlichkeit mehr habe, nicht viel anfangen. Es entsprach ohnehin in keinerlei Hinsicht dem Bild, das sie von dem Tag vor seiner Abreise in Erinnerung hatte, und dabei konnte das Photo höchstens ein paar Wochen nach ihrem Abschied aufgenommen worden sein. Er war bei ihr vorbeigekommen, um sich zu verabschieden. Damals wohnte
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er noch in einem Zimmer in der Bezirkshauptstadt, wollte aber in zwei, höchstens drei Tagen abreisen. Monroe hatte gerade im Wohnzimmer vor dem Kamin gesessen und gelesen und hatte keinen Anlass gesehen, herauszukommen, um mit ihm zu sprechen. Ada und Inman hatten einen Spaziergang hinunter zum Bach gemacht. An seine Kleidung konnte sich Ada nicht erinnern, wusste nur noch, dass er einen Schlapphut getragen hatte – denselben wie auf dem Photo – und dass seine Stiefel nagelneu gewesen waren. Es war ein feuchter, kühler Morgen, dem ein Regentag vorausgegangen war, und der Himmel war noch immer halb mit hohen, dünnen Wolken überzogen. Die Kuhweide am Bach war von den neuen Trieben, die zwischen den grauen Stoppeln des vergangenen Jahres aus dem Boden wuchsen, blassgrün gewesen. Der Boden war vom Regen durchweicht, und sie mussten achtgeben, wohin sie traten, um nicht knöcheltief im Morast zu versinken. Am Bach und am Berghang leuchteten die Knospen der Judasbäume und Hartriegelsträucher zwischen den grauen Bäumen hervor, deren Zweige von den ersten sprießenden Blättern mit einem sanften Grünschimmer überzogen waren. Nachdem sie die Weide durchquert hatten, liefen sie am Bachufer entlang und blieben bei einer Baumgruppe aus Eichen und Tulpenbäumen stehen. Inman wirkte im Gespräch mal fröhlich, mal ernst, und als er irgendwann seinen Hut abnahm, deutete Ada das als ein Zeichen, dass er ihr einen Kuß zu geben gedachte. Er streckte die Hand aus, um ein blassgrünes Hartriegelblatt, das sich in ihrem Haar verfangen hatte, herauszuzupfen, und ließ seine Hand sinken, um ihr über die Schulter zu streichen und sie an sich zu ziehen. Dabei streifte er jedoch eine Onyxbrosche mit eingefaßter Perle, die an ihrem Kragen steckte. Der Verschluß ging auf und die Brosche fiel herunter, prallte an einem Stein ab und purzelte in den Bach. Inman setzte sich den Hut wieder auf und sprang in den Bach, wo er eine Weile zwischen den bemoosten Steinen herumtastete, bis er mitsamt der Brosche wieder herausstieg.
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Er steckte sie ihr wieder an dem Kragen fest, doch sie war nass, wie auch seine Hände, so dass ihr Kleid am Kragen einen dunklen Fleck bekam. Er trat einen Schritt zurück. Seine Hosenaufschläge tropften. Er hob einen seiner neuen Stiefel in die Höhe und schüttelte das Wasser ab. Er schien betrübt darüber, dass der zärtliche Augenblick zerstört worden war, und wusste nicht, wie er ihn zurückholen sollte. Ada fragte sich unvermittelt: Was ist, wenn er umkommt? Aber sie konnte diesen Gedanken natürlich nicht laut aussprechen. Was auch gar nicht nötig war, denn in diesem Moment sagte Inman: Falls ich erschossen werde, wirst du dich in fünf Jahren kaum noch an meinen Namen erinnern. Sie war sich nicht sicher gewesen, ob er sie damit provozieren oder prüfen wollte, oder ob er einfach nur sagte, was er für die Wahrheit hielt. — Du weißt, dass dem nicht so ist, sagte sie. Insgeheim fragte sie sich jedoch: Ist es möglich, dass man etwas nie vergißt? Inman schienen seine Worte selbst ein wenig befangen gemacht zu haben, und er wandte den Blick ab. — Schau mal da, sagte er. Er neigte den Kopf nach hinten, um den Cold Mountain, dessen Hänge noch winterlich graubraun waren wie eine Holzschindel, ganz im Blick zu haben. Inman sah zu dem Berg hinauf und erzählte ihr eine Geschichte davon. Eine alte Cherokee-Indianerin hatte sie ihm erzählt, als er noch ein kleiner Junge war. Es war ihr gelungen, sich vor der Armee zu verstecken, als diese die Berge durchkämmte, um die Indianer zunächst in Konzentrationslager und anschließend auf den Pfad der Tränen zu treiben. Die Frau war ihm unheimlich gewesen. Sie behauptete, hundertfünfunddreißig Jahre alt zu sein und sich noch an eine Zeit erinnern zu können, als noch kein weißer Mann in dieses Gebiet vorgedrungen war. In ihrer Stimme war der ganze Abscheu für die Veränderungen zu hören, die seit der damaligen Zeit stattgefunden hatten. Ihr Gesicht war zerfurcht und runzlig. Eine Pupille war vollkommen farblos,
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so dass das Auge so weiß und glatt in ihrem Kopf saß wie ein gekochtes Hühnerei ohne Schale. In ihr Gesicht waren zwei Schlangen eintätowiert, deren Körper sich über ihre Wangen schlängelten und deren Schwanzspitzen sich in das Haar an ihren Schläfen ringelten. Ihre Köpfe standen sich an den Mundwinkeln gegenüber, und wenn die Frau sprach, rissen die Schlangen ebenfalls ihre Mäuler auf, als ob sie die Geschichte mit erzählten. Sie handelte von einem Dorf namens Kanuga, das vor vielen Jahren an der Gabelung des Pigeon River gestanden hatte. Es existiert längst nicht mehr, und die einzigen verbliebenen Spuren sind die Topfscherben, die Angler auf der Suche nach Ködern manchmal am Flussufer finden. Eines Tages kam ein Mann, dem weiter nichts Ungewöhnliches anzusehen war, in dieses Kanuga. Er schien ein Fremder zu sein, doch die Leute hießen ihn willkommen und gaben ihm zu essen. So pflegten sie jedermann zu behandeln, der mit leeren Händen kam. Während er seine Mahlzeit verspeiste, fragten sie ihn, ob er von weither aus den westlichen Landesteilen komme. — Nein, sagte er. Ich lebe in einem nahe gelegenen Dorf. Wir sind sozusagen alle Verwandte von euch. Sie waren verblüfft. Es konnte doch unmöglich Blutsverwandte in ihrer Nähe geben, die sie nicht kannten. — Was ist denn das für ein Dorf, aus dem du kommst? fragten sie. — Oh, ihr habt es noch nie gesehen, sagte er, obwohl es gleich da hinten ist. Und er wies nach Süden in die Richtung des Datsunalasgunyi, was, so die Schlangenfrau, ihr Name für den Cold Mountain sei, der weder kalt noch Berg bedeute, sondern etwas vollkommen anderes. — Dort oben gibt es kein Dorf, sagten die Leute. — O doch, sagte der Fremde. Die Shining Rocks sind die Torpfosten zu unserem Land. — Aber ich bin schon oft bei den Shining Rocks gewesen und habe kein solches Land gesehen, sagte einer. Und andere
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pflichteten ihm bei, denn sie kannten besagte Gegend gut. — Ihr müßt fasten, sagte der Fremde; wenn ihr das nicht tut, können wir zwar euch sehen, aber ihr könnt uns nicht sehen. Unser Land ist vollkommen anders als eures. Hier herrschen ständig Krieg und Krankheit. Wohin man sich wendet, sind Feinde. Und bald wird ein Feind kommen, der stärker ist als alle Feinde, die ihr bisher gesehen habt. Er wird euch euer Land wegnehmen und euch zu Verbannten machen. Aber bei uns herrscht Frieden. Und obgleich wir sterben wie alle anderen Menschen auch und uns für unser Essen abmühen müssen, brauchen wir keine Angst vor Gefahr zu haben. Wir leben nicht in Angst. Wir streiten nicht ständig. Ich bin gekommen, um euch einzuladen, bei uns zu leben. Es ist alles bereit. Es gibt Platz genug für euch alle. Doch wenn ihr kommen wollt, müßt ihr zuvor in das Versammlungshaus gehen und dort sieben Tage fasten. Ihr dürft das Gebäude nicht verlassen und kein einziges Mal den Kriegsruf ausstoßen. Wenn ihr danach zu den Shining Rocks hinaufklettert, werden sie sich auftun wie ein Tor, und ihr dürft in unser Land eintreten und bei uns wohnen. Nachdem er dies gesagt hatte, ging der Fremde fort. Die Leute blickten ihm nach und begannen dann, über seine Einladung zu diskutieren. Einige hielten ihn für einen Erlöser, andere für einen Lügner. Sie kamen aber dennoch überein, die Einladung anzunehmen. Sie begaben sich in das Versammlungshaus und blieben sieben Tage lang dort, und nahmen täglich nichts als ein paar Tropfen Wasser zu sich. Alle bis auf einen – der sich des Nachts, wenn die anderen schliefen, heimlich davonschlich. Er ging in sein Haus, schlug sich den Bauch mit geräuchertem Hirschfleisch voll und kehrte vor Tagesanbruch in das Versammlungshaus zurück. Am Morgen des siebten Tages begannen die Leute den Datsunalasgunyi hinaufzusteigen und kamen kurz vor Sonnenuntergang bei den Shining Rocks an. Die Felsen waren weiß wie eine Schneewehe, und als die Menschen davorstanden, öffnete sich auf einmal ein Tor zu einer Art
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Höhle, die ins Herz des Berges führte. Doch war es darin nicht etwa dunkel, sondern hell. In der Ferne, im Berginnern, erblickten sie offenes Land. Einen Fluss. Fruchtbares Tiefland. Riesige Maisfelder. Ein Dorf im Tal mit Langhäusern und einem Versammlungshaus, das auf einem pyramidenförmigen Hügel stand. Menschen, die auf dem Platz davor tanzten. Leises Getrommel. Auf einmal donnerte es. Lautes Krachen und Donnerrollen, das immer näher zu kommen schien. Der Himmel wurde schwarz, und die vor der Höhle stehenden Menschen wurden von Blitzen umzuckt. Alle zitterten, doch nur der Mann, der das Hirschfleisch gegessen hatte, drehte vor Angst durch. Er rannte zum Höhleneingang und stieß den Kriegsschrei aus, und als er das tat, hörte es auf zu blitzen, und das Donnergrollen zog nach Westen ab, begann in der Ferne zu verhallen und erstarb bald darauf. Die Leute sahen zu, wie es verschwand. Als sie sich wieder zu den Felsen umdrehten, sahen sie keine Höhle mehr, sondern nur die weiße, im letzten Sonnenlicht leuchtende Felswand. Sie gingen zurück nach Kanuga, stiegen den dunklen Pfad wie in einem Trauermarsch hinab, und dachten jeder für sich über die Vision nach, die sie in dem Berg gesehen hatten. Bald darauf trat das ein, was der Fremde vorhergesagt hatte. Man nahm ihnen ihr Land weg und vertrieb sie ins Exil – bis auf die wenigen, die sich verteidigten oder in den Felsen versteckten, wo sie in Angst lebten und gejagt wurden wie die Tiere. Als Inman geendet hatte, wusste Ada nicht, was sie sagen sollte, und sagte folglich obenhin: Was für ein schönes Märchen. Sie bereute ihre Worte sofort, denn die Geschichte schien Inman etwas zu bedeuten, wenn sie auch nicht ganz sicher war, was. Er sah sie an und öffnete den Mund, um etwas zu sagen, doch dann hielt er inne und schaute zum Fluss hinüber. Kurz darauf sagte er: Diese alte Frau sah älter aus als Gott, und während sie die Geschichte erzählte, weinte sie Tränen aus
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ihrem weißen Augapfel. — Aber du hältst sie nicht für wahr? fragte Ada. — Ich interpretiere sie so, dass die Frau in einer besseren Welt hätte leben können, aber als Flüchtling endete, in der Wildnis versteckt. Da beiden nichts einfiel, was sie noch hätten sagen können, meinte Inman: Ich muss mich auf den Weg machen. Er ergriff Adas Hand, berührte sie nur flüchtig mit den Lippen und ließ sie los. Er war jedoch noch keine zwanzig Schritte gegangen, als er über die Schulter zurückblickte und mitbekam, wie sich Ada gerade abwandte, um zum Haus zurückzugehen. Zu früh. Sie hatte nicht einmal gewartet, bis er hinter der ersten Wegbiegung verschwunden war. Ada blieb abrupt stehen und sah ihn an. Sie hob eine Hand, um ihm nachzuwinken, doch da wurde ihr bewusst, dass er dafür noch gar nicht weit genug entfernt war. Darum führte sie die Hand nur ungelenk an den Kopf und steckte sich eine Haarsträhne, die sich gelöst hatte, in den schweren Knoten in ihrem Nacken zurück, als hätte sie das von Anfang an im Sinn gehabt. Inman blieb stehen, drehte sich zu ihr um und sagte: Du kannst ruhig weitergehen. Du musst nicht stehenbleiben und mir nachsehen. — Das weiß ich, sagte Ada. — Du möchtest es nicht, will ich damit sagen. — Ich wüßte auch nicht, wozu das gut sein sollte, sagte sie. — Manche Männer würden sich darüber vielleicht freuen. — Du nicht, sagte Ada, indem sie sich, allerdings ziemlich erfolglos, bemühte, gelassen zu klingen. — Ich nicht, sagte Inman, wie um diese Aussage auf ihre Richtigkeit zu testen. Dann nahm er seinen Hut ab und hielt ihn sich neben das Bein. Er fuhr sich mit der anderen Hand durch die Haare und tippte sie dann grüßend an die Stirn. — Nein, ich vermutlich nicht, sagte er. Also dann – bis
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irgendwann. Sie gingen beide weiter, diesmal ohne sich noch einmal umzusehen. Am Abend des gleichen Tages fühlte sich Ada jedoch gar nicht mehr so gelassen, was den Krieg und Inmans Teilnahme daran anbetraf. Es war ein trüber Abend, an dem es vor Sonnenuntergang einen kurzen Regenschauer gegeben hatte. Monroe begab sich gleich nach dem Essen in sein Arbeitszimmer und schloß die Tür hinter sich, um einige Stunden damit zuzubringen, die Predigt für die kommende Woche zu verfassen. Ada saß beim Licht einer Kerze allein im Wohnzimmer. Sie las ein wenig in der neuesten Ausgabe der North American Review und blätterte, als sie merkte, dass sie sich nicht konzentrieren konnte, in älteren Ausgaben des Dial und des Southern Literary Messenger, die Monroe abonniert hatte. Dann klimperte sie eine Weile auf dem Klavier herum. Als sie aufhörte, war nur das leise Rauschen das Baches zu hören, hin und wieder ein von den Dachtraufen fallender Regentropfen und ein Grillenfrosch, der aber bald verstummte, so dass sich Stille über das Haus legte. Ab und zu drang leise Monroes Stimme zu ihr herüber, wenn er einen neu formulierten Satz laut vor sich hersagte, um den Sprechrhythmus zu prüfen. In Charleston würden um diese Zeit Wellen gegen die Dämme schlagen und Fächerpalmen im Wind klappern. Die Stahlbänder von Wagenrädern würden rattern und Pferdehufe würden tacken wie riesige, ungleichmäßig gehende Uhren. Es wären Stimmen von Spaziergängern zu hören und das Klacken der Ledersohlen auf dem Kopfsteinpflaster der mit Gaslaternen beleuchteten Straßen. In diesem Bergtal hingegen rauschte es Ada mangels anderer Geräusche förmlich in den Ohren. Es war so still, dass sie den Eindruck bekam, die Stille als einen Schmerz hinter ihrer Stirn spüren zu können. Und die Dunkelheit hinter den Fensterscheiben war so tief, als wäre das Glas schwarz angestrichen. Ihre Gedanken sprangen in dieser Leere hin und her. Ihr ließ
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einiges von dem, was am Morgen vorgefallen war, keine Ruhe. Nicht etwa, dass sie keine Tränen vergossen hatte. Auch nicht, dass sie nicht das gesagt hatte, was Tausende von Frauen – verheiratete und unverheiratete – zu sagen pflegten, wenn ihre Männer und Liebsten fortzogen, Worte, mit denen sie beteuerten, dass sie ewig auf den Mann warten würden. Was ihr keine Ruhe ließ, war Inmans Frage. Wie würde sie auf die Nachricht reagieren, dass er gefallen sei? Sie wusste es nicht, doch machte ihr diese Aussicht an diesem Abend mehr zu schaffen, als sie für möglich gehalten hätte. Und sie machte sich Vorwürfe, dass sie Inmans Geschichte so grob abgetan hatte, dass sie nicht gleich begriffen hatte, dass es nicht um die alte Frau, sondern um seine eigenen Ängste und Sehnsüchte gegangen war. Alles in allem hatte sie das Gefühl, sich oberflächlich und gedankenlos verhalten zu haben. Oder hartherzig und kratzbürstig. Was eigentlich nicht ihre Absicht gewesen war. Sicher, solche Verhaltensweisen hatten ihren Vorzug, indem sie das Gegenüber veranlassten, einen halben Schritt zurückzutreten, damit man selbst Luft zum Atmen bekam. Doch sie hatte sich ihrer aus reiner Gewohnheit und zum falschen Zeitpunkt bedient, und das bereute sie jetzt. Ohne eine Geste der Versöhnung, so fürchtete sie, würde sich dieses Verhalten in ihr festsetzen und verhärten, bis sie eines Tages so fest in sich verschlossen wäre wie eine Hartriegelblüte im Januar. Sie hatte in dieser Nacht kaum geschlafen und sich in ihrem kaltklammen Bett unruhig hin und her geworfen. Irgendwann hatte sie dann eine Kerze angezündet und eine Weile versucht, Bleakhaus weiterzulesen, konnte sich aber nicht konzentrieren. Sie blies die Kerze aus und lag zusammengerollt unter ihrer Decke. Sie wünschte, sie hätte eine Dosis Opium zur Hand. Irgendwann, lange nach Mitternacht nahm sie Zuflucht zu dem Trostmittel aller jungen und alten Mädchen. Mit dreizehn hatte sie sich Sorgen gemacht, weil sie glaubte, die einzige zu sein, die diese Möglichkeit bei sich entdeckt hatte, oder aber sie
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müsse eine Mißgeburt sein, wenn sie so schmählicher Dinge fähig sei. Folglich war es eine große Beruhigung gewesen, als ihre Cousine Lucy, die ein paar Monate älter war, sie in Sachen einsamer Liebe eines Besseren belehrt hatte. Lucy hatte die schockierende Ansicht vertreten, dass diese fast genauso alltäglich sei wie Tabakkauen, Tabak schnupfen und Pfeiferauchen und folglich als allgemein üblich betrachtet werden könne. Ada hatte diese Ansicht für zutiefst niederträchtig und zynisch erklärt. Doch Lucy war nicht von ihrer Meinung abgerückt und hörte nicht auf, sich ungezwungen, ja fast frivol über eine Sache zu äußern, die in Adas Augen ein dunkles Rätsel war und einer so großen Verzweiflung entsprang, dass man am Tag darauf doch bestimmt mit einem sichtbaren Mal gezeichnet sein müsse. Weder Lucys geäußerte Ansichten noch der Lauf der Zeit hatten Adas Gefühle diesbezüglich sehr verändert. Es waren Bilder von Inman, die Ihr in jener unruhigen Nacht ungebeten und traumhaft im Kopf herumschwirrten. Und weil ihre Anatomiekenntnisse höchst fragmentarisch waren – sie rührten lediglich von diversen Tieren, männlichen Säuglingen und den erstaunlichen Statuen in Italien her –, waren es seine Finger, Handgelenke und Unterarme, die ihr am deutlichsten vor Augen traten. Alles andere war spekulativ und folglich schattenhaft und ohne rechte Form. Anschließend lag sie fast bis zum Morgengrauen schlaflos da, noch immer von Sehnsucht und Hoffnungslosigkeit durchdrungen. Doch am nächsten Tag erwachte sie mit klarem Kopf und in heiterer Stimmung sowie mit dem festen Vorsatz, ihre Fehler auszubügeln. Der Tag war wolkenlos und wärmer als der vorangegangene, und Ada, die genau wusste, wohin die Fahrt gehen würde, wenn Monroe die Zügel hielt, erklärte, sie würde gerne eine Ausfahrt machen. Er beauftragte den Lohnarbeiter, Ralph vor das Kabriolett zu spannen, und eine Stunde später rollten sie in Richtung Stadt. Sie fuhren zur Mietstallung, wo das Pferd aus den Gabeldeichseln genommen, untergestellt und mit einer halben Tagesration Getreide versorgt wurde.
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Draußen auf der Straße klopfte Monroe seine diversen Taschen an Hose, Weste und Überrock nach seiner Geldbörse ab. Er suchte ein kleines Zwanzig-Dollar-Goldstück heraus und reichte es Ada so selbstverständlich, als handelte es sich um ein Fünfcentstück. Er sagte, sie solle sich davon etwas Schönes zum Anziehen oder zum Lesen kaufen und sich in zwei Stunden wieder mit ihm am Mietstall treffen. Sie wusste, dass er seinen Freund, einen alten Doktor, aufsuchen würde, um sich mit ihm über Schriftsteller, Maler und dergleichen zu unterhalten und dabei entweder ein Gläschen Scotch oder einen Pokal Rotwein zu trinken, und dass er sie exakt eine Viertelstunde später als vereinbart wieder treffen würde. Sie ging schnurstracks zum Buch- und Papierwarenhändler und kaufte sich unbesehen Notenblätter von ein paar neuen Stücken Stephen Fosters, eines Sängers, über dessen Können Monroe und sie sehr unterschiedlicher Meinung waren. Dann ging sie zu den Büchern, wo ihr als erstes ein dreibändiger Trollope in die Hände fiel – beinahe würfelförmig im Format. Sie brannte nicht gerade darauf, ihn zu lesen, doch er war nun einmal da. Sie ließ alles in Packpapier wickeln und zum Mietstall bringen. Dann ging sie zum Kaufmann, wo sie rasch einen Schal, ein paar Handschuhe aus Büffelleder und rehbraune Halbstiefel auswählte. Auch diese Sachen ließ sie einpacken und zum Stall schicken. Sie trat hinaus auf die Straße, schaute auf die Uhr und stellte fest, dass sie für ihre Einkäufe nicht einmal eine Stunde gebraucht hatte. Wohl wissend, dass das, was sie jetzt tat, mehr als unziemlich war, bog sie in die Gasse zwischen dem Anwaltsbüro und der Schmiede ein. Sie stieg die Außentreppe zu dem überdachten Podest vor Inmans Tür hinauf und klopfte an. Er war gerade dabei gewesen, seine Stiefel zu putzen, und als er die Tür öffnete, steckte seine linke Hand noch in einem Stiefel. In der Hand, die am Türgriff lag, hielt er einen Lappen. Ein Fuß bestrumpft, der andere in dem zweiten, noch ungeputzten Stiefel. Er hatte kein Jackett an, und seine
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Hemdsärmel waren bis fast zu den Ellbogen aufgerollt. Und er war ohne Kopfbedeckung. Auf Inmans Gesicht spiegelte sich nackte Verwunderung, als Ada so unvermutet vor ihm stand. Denn beide wären nie darauf gekommen, dass sie ihn in seiner Wohnung aufsuchen könnte. Er schien nicht zu wissen, was er sagen sollte, sondern lediglich gewiß zu sein, dass er sie nicht hereinbitten durfte. Er hob wortlos einen Zeigefinger, zum Zeichen, dass sie einen Moment warten solle. Dann schloß er die Tür und ließ sie draußen stehen. Der Blick, den Ada durch die geöffnete Tür von dem Zimmer erhascht hatte, war deprimierend gewesen. Das Zimmer war winzig und hatte ein einziges kleines Fenster hoch oben an der gegenüberliegenden Wand, aus dem man lediglich auf die Holzverkleidung und die Dachschindeln des gegenüberliegenden Ladens sah. Möbliert war der Raum mit einem schmalen Eisenbett, einer Kommode, auf der eine Waschschüssel stand, einem Sprossenstuhl und einem Schreibtisch, auf dem mehrere Stapel Bücher lagen. Es war eine Zelle. Alles in allem eher geeignet für einen Mönch, dachte sie, als für jemanden, den sie als einen Beau betrachten würde. Wie Inmans Zeichen versprochen hatte, ging die Tür im Nu wieder auf. Inman hatte seine Hemdsärmel heruntergerollt, sich ein Jackett angezogen und einen Hut aufgesetzt. Er hatte beide Stiefel an, obwohl der eine noch schmutzigbraun, der andere schwarz war wie ein frisch gefetteter Ofendeckel. Und er hatte seine Fassung einigermaßen wiedererlangt. — Entschuldige bitte, sagte er. Ich war vollkommen überrascht. — Ich hoffe nicht unangenehm. — Angenehm, sagte er, freilich mit einer Miene, die diese Aussage in keiner Weise bestätigte. Inman kam auf den Treppenabsatz heraus und lehnte sich mit dem Rücken an das Geländer, die Arme vor der Brust verschränkt. Hier draußen in der Sonne warf der Hut einen
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Schatten auf sein Gesicht, so dass die Partie oberhalb seines Mundes nur undeutlich zu erkennen war. Es entstand eine lange Stille. Er blickte zur Tür. Er hatte sie offengelassen, und Ada vermutete, er wünschte, er hätte sie zugemacht, könne sich nun aber nicht entscheiden, was peinlicher wäre – zwei Schritte nach vorn zu machen, um die Tür zu schließen oder Ada durch die weit geöffnete Tür Einblick in sein Zimmer und auf sein schmales Bett nehmen zu lassen. Sie sagte: Ich wollte dir sagen, dass es mir unangenehm ist, wie dein gestriger Besuch verlaufen ist. Gar nicht meinem Wunsch gemäß. Gar nicht zufriedenstellend. Inmans Mund wurde straff wie ein strammgezogenes Seil. Er sagte: Ich verstehe, glaube ich, nicht, was du meinst. Ich war flussaufwärts unterwegs zu Esco und Sally, um mich von ihnen zu verabschieden. Als ich an dem Abzweig nach Black Cove vorbeikam, dachte ich, ich könnte mich ja auch bei dir verabschieden. Was ich auch tat. Für mein Empfinden war es durchaus zufriedenstellend. Ada hatte es noch nie erlebt, dass jemand eine Entschuldigung ihrerseits zurückwies, und ihr erster Gedanke war, sich umzudrehen, die Treppe hinunterzusteigen und Inman für immer aus ihrem Gedächtnis zu streichen. Doch dann hörte sie sich sagen: Es kann sein, dass wir nie wieder miteinander sprechen, und ich will nicht, dass diese Bemerkung an Stelle der Wahrheit stehenbleibt. Du willst es zwar nicht zugeben, aber du bist mit bestimmten Erwartungen gekommen, und die haben sich nicht erfüllt. Was größtenteils daran lag, dass ich mich gegen meine wahren Gefühle verhalten habe. Und das tut mir leid. Wenn ich die Chance hätte, noch einmal zurückzugehen und alles zu wiederholen, würde ich es anders machen. — Niemand kann zurück. Wir können nicht wegwischen, was uns später nicht mehr behagt, und es unseren Wünschen anpassen. Man kann nur weitergehen. Inman stand noch immer mit verschränkten Armen da, und Ada streckte die Hand aus und berührte ihn an der Stelle, wo
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seine Manschette aus dem Jackenärmel ragte. Sie hielt die Manschette zwischen Finger und Daumen und zog, bis seine Arme sich aus der Verschränkung lösten. Sie berührte seinen Handrücken und fuhr mit dem Finger eine vom Knöchel bis zum Handgelenk verlaufende Vene entlang. Dann umfaßte sie sein Handgelenk und drückte es, und das Gefühl in ihrer Hand weckte in ihr die Sehnsucht zu erfahren, wie sich der Rest von ihm wohl anfühlte. Einen Augenblick lang konnten beide dem anderen nicht ins Gesicht sehen. Dann zog Inman seine Hand weg, nahm seinen Hut ab und schleuderte ihn in die Luft. Er fing ihn wieder auf und ließ ihn mit einer flinken Handbewegung durch die Tür segeln, dass er irgendwo im Zimmer landete. Sie lächelten beide, und Inman legte eine Hand an Adas Taille und die andere an ihren Hinterkopf. Ihr Haar war zu einer lockeren Hochfrisur aufgesteckt und mit einer Spange befestigt, und Inmans Finger berührten das kühle Perlmutt, als er ihr Gesicht zu sich hochzog, um ihr den Kuß zu geben, der ihnen am Tag zuvor entgangen war. Ada war mit allen Kleidungsstücken angetan, die Frauen ihrer Gesellschaftsschicht damals zu tragen pflegten, und folglich war ihr Körper von vielen übereinandergeschichteten und gefältelten Metern toten Stoffs umhüllt. Inmans Hand an ihrer Taille berührte die Fischbeinstäbe des Korsetts, und als sie einen Schritt zurücktrat und ihn ansah, knarzten die Stäbe. Sie meinte, sie müsse sich für ihn anfühlen wie eine Schildkröte in ihrem Panzer, bei der kaum zu spüren war, dass darunter ein lebendiges Geschöpf steckte, warm und mit einer weichen Haut. Sie stiegen gemeinsam die Treppe hinunter, und als sie an der Tür vorübergingen, schien sie wie ein Versprechen zwischen ihnen. Kurz vor dem Ausgang zur Gasse drehte sich Ada um und legte ihren Zeigefinger an Inmans Kragenknopf, um ihn anzuhalten. — Bis hierher ist weit genug, sagte sie. Geh ruhig zurück.
Wie du schon sagtest – bis irgendwann.
— Ich hoffe, bald.
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— Dann hoffen wir beide dasselbe. Damals hatten sie geglaubt, dass Inmans Abwesenheit lediglich in der Zeiteinheit von Monaten zu zählen sein werde. Der Krieg sollte jedoch länger dauern, als sie beide angenommen hatten.
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Viel zu tun
Inman folgte der kunstvollen Landkarte des hellhäutigen Sklaven durch die ersten Ausläufer des Gebirges oder die Hügel, wie es bei den Einheimischen hieß. Die Nächte waren kühl, und die Blätter begannen sich zu verfärben. Als er sich nach einer knappen Woche der weißen Fläche am äußeren Rand der Landkarte näherte, sah er die Blue Ridge Mountains wie eine Rauchfahne am Himmel vor sich hängen. Er musste drei weitere Nächte wandern, um eine unsichere Gegend namens Happy Valley zu durchqueren – einen langen, breiten Streifen Acker- und Weidelands am Fuß der Berge. Das Gelände war so offen und ungeschützt, dass er tagsüber nicht unbesorgt wandern konnte, und nachts waren Gewehrschüsse zu hören, brannten überall Fackeln, wimmelte es auf den Straßen so von dunklen Reitern, dass Inman ebensoviel Zeit damit zubrachte, sich in Gräben und Heuhaufen zu verstecken, wie mit Laufen. Er nahm an, dass es sich bei den Reitern um Milizionäre handelte, die betrunken waren wie die Waschbärjäger beim Morgengrauen. Und auf der Suche nach den aus dem Gefängnis in Sahsbury ausgebrochenen Unionssoldaten ohne lange zu fackeln den Abzug drücken würden. In diesem Tal standen in weiten Abständen große Herrenhäuser mit weißen Säulen. Die rundherum verstreuten armseligen Hütten ließen darauf schließen, dass das Tal in Lehen aufgeteilt war. Wenn Inman nachts zu den hell erleuchteten großen Häusern hinsah, fiel ihm ein, dass er für Leute wie die Bewohner dieser Häuser gekämpft hatte, und ihm wurde schlecht. Er wollte endlich die dünn besiedelten Bergregionen erreichen, wo die Leute, so hoffte er, ihm
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weniger gefährlich sein würden. Deshalb verließ er bei der ersten Gelegenheit die bedrohlichen Straßen des Tieflands und schlug einen schmalen Fahrweg ein, der in nördlicher Richtung auf einen Höhenzug führte, dann in eine tiefe Schlucht mit einem Fluss abfiel und anschließend steil hinauf zum Kamm der Blue Ridge Mountains führte. Nachdem Inman einen halben Tag und den ganzen nächsten Tag bergan gestiegen war, ragte noch immer eine hohe Bergwand vor ihm auf, schien der in Serpentinen ansteigende Weg kein Ende nehmen zu wollen. Bald war seine Umgebung wesentlich herbstlicher als im Tal, denn im Hochland war die Jahreszeit bereits weiter vorgeschritten, und es waren ebenso viele Blätter auf dem Boden wie an den Bäumen. Am Spätnachmittag setzte ein kalter Regen ein, und Inman stapfte ziemlich verdrießlich in die zunehmende Dunkelheit hinein. Weit nach Mitternacht, als seine Kräfte kurz vor dem Versagen waren und er triefend nass war wie ein Otter, stieß er auf einen mächtigen Kastanienbaum, in dessen Stamm sich eine Höhlung befand. Die Rinde war um die Öffnung herum zu wulstigen Lippen verheilt. Er kroch hinein, und obwohl es darin so eng war, dass er sich klein zusammenkauern musste, war er zumindest im Trockenen. Er saß lange Zeit da und lauschte dem fallenden Regen. Er rollte tote Blätter zwischen Daumen und Zeigefinger zu festen Zylindern zusammen und schnippte sie in die Dunkelheit hinaus. Während er dort so kauerte, begann er sich wie ein Gespenst zu fühlen, das in der Dunkelheit lauert, wie ein Kobold oder ein Troll, der unter einer Brücke haust. Wie ein von Haß erfüllter Ausgestoßener, der aus reiner Boshaftigkeit auf jeden Vorübergehenden einschlagen könnte. Während er darauf wartete, dass die Nacht verging, nickte er hin und wieder ein. Doch gegen Morgen sank er endlich, eingekeilt in das Herz der Kastanie, in einen tiefen Schlaf. Er träumte seinen Traum von Fredericksburg und erwachte kurz nach dem Morgengrauen zitternd und in düsterer Stimmung. Er hatte das Gefühl, dass sich irgend etwas
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verändert hatte. Als er versuchte, aus dem Baumloch zu klettern, stellte er fest, dass sein gesamter Unterkörper wie abgestorben war. Er robbte sich auf den Armen aus dem Baum heraus. Seine Beine waren so gefühllos, dass es ihm vorkam, als wäre er unterhalb der Taille abgesägt worden. Es war, als wäre nichts mehr da, als wäre er im Begriff, zu einem bloßen Schemen zu werden. Als löste er sich vom Boden her auf und müsste die vor ihm liegende Reise als Nebelschleier fortsetzen. Als ein Gespenst. Die Idee hatte etwas für sich. Ein reisender Schatten. Inman streckte sich auf der nassen Waldstreu aus und blickte durch die Äste und ihre tropfenden Blätter nach oben. Die Wolken am Himmel waren dick und grau. Blassblaue, duftige Nebelfetzen zogen durch die oberen, mit leuchtenden Herbstblättern besetzten Äste von Kastanien und Eichen. Das Burren eines Rauhfußhuhns hallte durch den Wald, ein tiefes, durchdringendes Geräusch, das sich anhörte wie das Pochen von Inmans Herz kurz vor dem Zerspringen. Er hob den Kopf vom Boden und lauschte, denn er fand, wenn dies sein letzter Tag auf Erden sein sollte, müsse er wenigstens wachsam sein. Doch in diesem Augenblick flatterte das Huhn unter lautem Flügelgeschwirr davon, und bald darauf waren seine Flügelschläge im Wald verhallt. Inman sah an sich hinunter und stellte mit gemischten Gefühlen fest, dass soweit alles noch vorhanden war. Als er versuchsweise mit den Füßen wackelte, reagierten sie. Er massierte sich mit den Handflächen das Gesicht und ordnete seine verknitterten Kleider. Er war nass bis auf die Haut. Er kroch zu seinem neben dem Baum stehenden Gepäck und lehnte sich an den Stamm, schraubte seine Wasserflasche auf und trank einen kräftigen Schluck. Das einzige, was er noch an Eßbarem in seinem Brotbeutel hatte, war eine Tasse Maismehl, und so sammelte er ein paar Zweige für ein Feuer, um sich darauf einen Brei zu kochen. Er zündete die Rinde an und blies darauf, bis vor seinen Augen kleine silberne Funken
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umhertanzten, doch das Feuer flammte nur einmal kurz auf, entwickelte eine Menge Rauch und erlosch. — Dann stehe ich eben auf und gehe weiter, sagte Inman an jeden gerichtet, der gerade zuhören mochte. Doch er blieb nach dieser Ankündigung noch geraume Zeit sitzen. Ich werde von Minute zu Minute stärker, redete er sich ein. Doch als er nach Anzeichen suchte, die diese Aussage bestätigten, konnte er keine finden. Inman rappelte sich von dem nassen Boden hoch und stand schwankend wie ein Betrunkener da. Er machte ein paar Schritte nach vorn und krümmte sich. Seine Körpermitte wurde von so starken Wogen geschüttelt, dass er fürchtete, jeden Moment einen unentbehrlichen Teil von sich zu erbrechen. Die Wunde an seinem Hals und die neueren Verletzungen an seinem Kopf brannten und klopften, als hätten sie sich gemeinsam gegen ihn verschworen. Er setzte sich eine Weile auf einen Stein, erhob sich wieder und stapfte den ganzen Morgen weiter durch den düsteren Wald. Der Pfad war kaum benutzt und so gewunden und bucklig, dass er nicht genau ausmachen konnte, in welche Richtung er führte. Sicher war nur, dass er bergauf ging. Gestrüpp und Farnkraut überwucherten den Pfad, und der Boden schien dabei zu sein zu verheilen, so dass von dem Weg irgendwann in naher Zukunft nicht einmal eine Narbe zurückbleiben würde. Über eine Strecke von mehreren Meilen wand er sich größtenteils durch einen Wald aus hochragenden Hemlocktannen, deren grüne Aste von dichtem Nebel verhüllt waren. Nur die schwarzen Stämme waren sichtbar und erhoben sich in den niedrigen Himmel wie alte, von einer vergessenen Rasse zum Gedenken an die dunkelsten Ereignisse ihrer Geschichte aufgestellte Menhire. Außer diesem Pfad durch die Wildnis hatte Inman noch nichts gesehen, was auf menschliche Lebewesen hindeutete. Niemand, bei dem er sich hätte erkundigen können, wo er sich befand. Er fühlte sich benebelt und verloren, und der Steig
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schraubte sich höher und höher. Er setzte noch immer einen Fuß vor den anderen, aber mehr auch nicht. Und selbst dies tat er ohne die Zuversicht, dass ihn das auch nur einen Deut näher an einen der von ihm angepeilten Punkte heranführte. Gegen Mittag traf er hinter einer Wegbiegung auf ein kleines, ausgemergeltes, im Farndickicht unter einer riesigen Hemlocktanne hockendes Gerippe von Mensch. Über den Farnwedeln – die vom Frost verbrannt und an deren braunen Spitzen jeweils ein schillernder Tropfen gesammelten Nebels hing – ragte nicht viel mehr als der Kopf und die Schultern heraus. So wie die Person da kauerte, dachte Inman im ersten Moment, er habe einen alten Tattergreis bei seinem Geschäft aufgestört. Doch als er näher kam, erkannte er, dass es eine kleine alte Frau war, die gerade niederkauerte, um den Köder einer Vogelfalle mit einem Klumpen Talg zu versehen. Kein Tattergreis also, sondern ein altes Hutzelweibchen. Inman blieb stehen und sagte: Hallo, Ma'm. Die kleine Frau schaute kurz auf, entgegnete aber nichts und machte auch keine grüßende Geste. Sie blieb hocken wie sie war und richtete bedächtig und selig vor sich hin lächelnd die Falle ein. Als sie fertig war, erhob sie sich und stapfte solange um die Falle herum, um sie zu begutachten, bis sie einen richtigen Kreis in das Farndickicht getreten hatte. Sie war ziemlich alt, soviel war klar, doch obwohl ihr Gesicht von einem Flechtwerk von Runzeln überzogen war, glühten ihre Wangen so rosig und zart wie die eines jungen Mädchens. Sie trug einen Männerfilzhut, und das dünne, weiße Haar, das darunter hervorhing, reichte ihr bis auf die Schultern. Ihre Kleider – ein bauschiger Rock und eine Bluse aus weich gegerbtem Leder – sahen aus, als wären sie mit einem Klappmesser zugeschnitten und grob zusammengeheftet worden. Sie trug eine speckige Baumwollschürze, aus deren Bund der Griff einer kleinkalibrigen Pistole herausragte. Ihre Stiefel sahen aus, als wären sie von einem Anfänger in dem Handwerk zusammengeschustert worden und wölbten sich an den Spitzen hoch wie Schlittenkufen. An einem hohen
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Tulpenbaum lehnte eine langläufige Vogelflinte, ein Relikt aus einem früheren Jahrhundert. Inman musterte die Frau ein paar Atemzüge lang und sagte: Sie werden in dieser Falle keine Wachtel fangen, wenn es drumherum nach Mensch riecht. — Ich gebe nicht viel Geruch ab, sagte die Frau. — Wie Sie meinen, sagte Inman. Was ich gern wüßte, ist, ob dieser Weg wohl irgendwohin führt, oder ob er demnächst einfach aufhört. — Er geht nach ein oder zwei Meilen in einen schmalen Fußpfad über, aber soweit ich weiß, geht der endlos weiter. — Richtung Westen? — Grob nach Westen. Den Bergkamm entlang. Südwesten wäre wohl genauer ausgedrückt. Ein alter Handelspfad aus Indianertagen. — Besten Dank, sagte Inman. Er hakte einen Daumen unter seinen Rucksackriemen, um weiterzugehen. Doch da begann es aus dem niedrigen Himmel zu regnen – in schweren Tropfen, die wie Kugeln aus einem Schrotturm prasselten. Die Frau streckte eine hohle Hand aus und beobachtete, wie sich das Wasser darin sammelte. Dann sah sie Inman an. Sie musterte eingehend seine nicht verbundenen Wunden und sagte: Die sehen aus wie Einschusslöcher. Dem konnte Inman nicht widersprechen. — Sie sehen schlecht aus, sagte sie. Ganz weiß im Gesicht. — Mir geht's gut, sagte Inman. Die Frau sah ihn noch eindringlicher an: Sie sehen aus, als könnten Sie was zu essen gebrauchen, sagte sie. — Vielleicht könnten Sie mir gegen Bezahlung ein Spiegelei braten, sagte Inman. — Was? sagte sie. — Ich habe gefragt, ob Sie mir wohl gegen Bezahlung ein paar Eier in die Pfanne hauen könnten, sagte Inman. — Ihnen ein Essen verkaufen? sagte sie. Ich glaube kaum. So arm bin ich noch nicht dran. Könnte aber sein, dass ich Sie einlade, mit mir zu essen. Eier hab ich allerdings keine. Kann
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es nicht ausstehen, Hühner um mich zu haben. Hühner haben einfach keinen Charakter. — Ist es weit bis zu Ihrer Wohnung? — Eine knappe Meile. Es wäre mir wirklich eine Freude, wenn Sie bei mir essen und eine Nacht ausruhen würden. — Dann wäre es dumm von mir, nein zu sagen. Während Inman hinter der Frau herging, fiel ihm auf, dass sie über den großen Onkel lief – wie es angeblich viele Indianer taten, obgleich Inman einige Cherokee, darunter auch Swimmer, kennengelernt hatte, die wie die Gänsesäger mit nach außen gestellten Füßen watschelten. Sie stiegen bis zu einer Biegung hinauf, wo sie den Weg verließen und auf großen Felsplatten weiter bergan kletterten. Inman kam es vor, als wären sie am Rand einer Klippe, denn die Luft roch so dünn, dass sie sich auf einer beträchtlichen Höhe befinden mussten, wobei der Nebel verhinderte, dass er sehen konnte, wie hoch sie wirklich waren. Der Regen schwächte sich zu einem feinen Nieseln ab, doch bald darauf prasselten harte, kleine Schneekugeln auf die Felsen. Die beiden blieben stehen, um dem Schauspiel zuzuschauen, doch es dauerte nur eine Minute, und dann begann sich der Nebel zu lichten – wogende Nebelmassen, die schnell in einem Aufwind davonglitten. Über ihnen wurde stellenweise blauer Himmel sichtbar, und Inman legte den Kopf in den Nacken, um ihn zu betrachten. Er schätzte, dass dies einer jener Tage war, an denen das Wetter sämtliche Jahreszeiten durchspielte. Als er dann wieder nach unten blickte, erfaßte ihn ein Schwindel, weil er plötzlich die Welt unter sich zwischen seinen Stiefelspitzen sah. Er stand in der Tat an einem Klippenrand und machte rasch einen Schritt nach hinten. Unter ihm dehnte sich bläulichviolett eine Schlucht mit einem Flussbett aus – vermutlich die, aus der er gekommen war –, und er hatte fast den Eindruck, von hier aus auf die Stelle hinunterspucken zu können, die er zwei Tage zuvor passiert hatte. Die Landschaft ringsum war hoch und zerklüftet. Inman ließ seinen Blick schweifen und war fasziniert von dem
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Anblick eines großen, höckrigen Berges, der sich im Westen aus dem Nebel herausschälte und in den Himmel aufragte. Die Sonne brach durch einen Schlitz in den Wolken, und dann stand auf einmal ein jakobsleiterdicker Strahl wie ein Gazeschleier zwischen Inman und dem blauen Berg in der Luft. Die Felsen an der Nordflanke des Berges sahen aus wie ein riesiger, bärtiger, sich am Horizont ausstreckender Mann im Profil. — Hat der Berg da einen Namen? fragte er. — Tanawha, sagte die Frau. So nannten ihn die Indianer. Inman schaute von dem mächtigen Großvaterberg zu den dahinter liegenden niedrigeren Bergen, die, von dünnem, rauchigem Dunst umhüllt, am südwestlichen Horizont mit zunehmender Entfernung verblassten. Welle um Welle von Bergen, augenscheinlich ohne Ende. Die grauen, sich überlappenden Buckel der entferntesten Gipfel waren nur um eine Nuance dunkler als die blassgraue Luft. Die Formen und ihr geisterhaftes Aussehen bewegten Inman auf eine Weise, die er nicht klar zu deuten vermochte. Sie schwanden stufenweise nach hinten zu – ähnlich dem schwindenden Schmerz seiner heilenden Halswunde. Die Frau machte eine ausholende Armbewegung in die Richtung, in die er blickte, und deutete auf zwei scharfe Spitzen am fernen Rand des Horizonts. — Table Rock, sagte sie. Hawk's Bill. Es heißt, die Indianer machten darauf des Nachts Feuer, die man im Umkreis von hundert Meilen sehen konnte. Sie erhob sich und ging wieder weiter. Mein Lager ist gleich hier oben, sagte sie. Kurz darauf verließen sie den Hauptweg und traten in eine schmale, stark ausgetretene Waldlichtung, einen dunklen Taleinschluß, in dem es nach verrottenden Pflanzen und feuchter Erde roch. Ein kleiner Bachlauf schlängelte sich hindurch. Die Bäume waren verkrüppelt und knorrig und von Flechten überzogen, und sie waren alle in die gleiche Richtung geneigt. Inman konnte sich vorstellen, wie es hier im Februar war – mit einem heulenden, talwärts wehenden Wind, der den
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Schnee seitlich durch die kahlen Bäume fegte. Als sie das Lager der Frau erreichten, erkannte Inman, dass es sich bei ihrer Behausung um eine Konstruktion handelte, die ihr Dasein offensichtlich nomadisch begonnen hatte, dann aber ortsfest geworden war. Was da zwischen den schiefstehenden Bäumen in einer Lichtung stand, war ein kleiner, rostfarbener Wohnwagen. Die Schindeln des gewölbten Daches waren mit schwarzen Schimmelflecken, grünem Moos und grauen Flechten überzogen. Drei Raben stolzierten auf dem Dach umher und pickten in den Spalten herum. Winden rankten sich um die Speichen der großen Räder. Die Außenwände des Wagens waren mit grellen Szenen und Porträts, mit Aufschriften und Sprüchen in plumpen Lettern bemalt, und unter den Dachtraufen hingen Büschel trocknender Kräuter, Schnüre mit roten Paprikaschoten und diverse schrumpelige Wurzeln. Aus einer Riphre im Dach schlängelte sich eine dünne Rauchfahne. Die Frau blieb stehen und rief: Heda! Während die Raben auf ihren Ruf hin krächzend davonflogen, kamen kleine, zierliche, zweifarbige Ziegen aus dem Wald und hinter dem Wohnwagen hervor. Sie waren auf einmal überall, mindestens zwei Dutzend oder mehr. Sie kamen auf Inman zu und beäugten ihn mit hochgereckten Hälsen aus ihren geschlitzten gelben Augen, die glänzten und gewitzt aussahen. Inman wunderte sich, wieso eine Ziege soviel neugieriger und intelligenter dreinschauen konnte als ein Schaf, obwohl sie einander doch in vielerlei Hinsicht ähnelten. Die Ziegen umringten ihn, sie stießen sich meckernd gegenseitig mit den Schultern weg, während die Glöckchen an ihren Hälsen bimmelten. Die weiter hinten Stehenden stellten ihre kleinen Hufe auf die Hinterteile der Ziegen vor ihnen, um besser sehen zu können. Die Frau war weitergegangen, und Inman wollte ihr gerade folgen, als ein großer Ziegenbock auf einmal ein, zwei Schritte rückwärts machte und die kleineren Ziegen beiseite schubste. Er stemmte sich auf die Hinterbeine, machte einen Satz nach
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vorn und versetzte Inman mit den Hörnern einen Stoß in den Oberschenkel. Inman, der von dem anstrengenden Fußmarsch der vergangenen Tage geschwächt war und dem der Kopf vor Hunger schwirrte, ging bei dem Stoß in die Knie und fiel flach auf den Rücken in die Bodenstreu. Der Ziegenbock war schwarzbraun gemustert und hatte lange, spitz zulaufende Kinnhaare wie ein Satan. Er pflanzte sich vor Inman auf, als begutachtete er sein Werk. Das Schwindelgefühl und der Schmerz in Inmans Kopf nahmen zu, und er befürchtete, jeden Augenblick ohnmächtig zu werden. Doch er riss sich zusammen, setzte sich auf und nahm seinen Hut ab, um ihn der Ziege um die Ohren zu schlagen und sie zu verscheuchen. Dann rappelte er sich schwankend auf und versuchte, das Gleichgewicht zu halten. Er nahm den Hut und versetzte der Ziege abermals ein paar Backpfeifen. Die Frau war, ohne auch nur anzuhalten, hinter dem Wohnwagen verschwunden. Inman, der Ziegenbock und ein paar weitere Ziegen folgten ihr. Er fand sie unter einem mit Kiefernästen gedeckten Anbau kauernd, wo sie Anzündholz an die übereinandergeschichten Holzscheite ihres Kochfeuers legte. Als sie das Feuer in Gang gebracht hatte, hockte sich Inman dazu, um sich die Hände daran zu wärmen. Die Frau warf größere Klötze Hickoryholz auf das Feuer, nahm dann eine weiße Emailleschüssel zur Hand und stellte sie in einiger Entfernung auf den Boden. Eine kleine, braun-weiß gefleckte Ziege kam zu ihr, und die Frau streichelte sie und kraulte sie unter dem Hals, bis die Ziege die Beine einknickte und sich hinlegte. Der lange Hals des Tieres war vorgereckt. Die alte Frau kraulte es dicht unter dem Kiefer und spielte mit seinen Ohren. Ein sehr friedliches Bild, fand Inman. Er beobachtete, wie sie das Tier mit ihrer linken Hand weiter kraulte und mit der rechten in eine Schürzentasche langte. Mit einer einzigen Bewegung zog sie ein Messer mit einer kurzen Klinge heraus und stach es der Ziege tief in die Arterie unterhalb des Kiefers in den Hals. Dann schob sie die weiße Schüssel darunter, um das herausschießende Blut aufzufangen. Das Tier zuckte
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einmal und lag dann zitternd da, während die Frau weiterhin sein Fell kraulte und die Ohren liebkoste. Die Schüssel füllte sich langsam. Die Ziege und die Frau starrten konzentriert in die Ferne, als warteten sie auf ein Signal. Während die Ziege aus dem Leben schied, besah sich Inman den Wohnwagen und die Wandzeichnungen. Um den unteren Rand herum tanzte Hand in Hand eine Reihe kleiner blauer menschlicher Gestalten. Darüber waren kreuz und quer verschiedene Porträts zu sehen, einige davon unvollendet, als hätte derjenige, der sie gemalt hatte, auf einmal die Lust verloren. Über einem Gesicht mit angstverzerrten Zügen stand der Name Hiob. Darunter stand, teilweise von einem aufgespannten Ziegenfell verdeckt, etwas in schwarzer Schreibschrift. Der Teil, den Inman lesen konnte, lautete: Uneins mit dem Schöpfer. Auf einem weiteren Bild war ein auf Hände und Knie gestützter Mann zu sehen, der den Kopf zu einem weißen Ball über ihm hochreckte. Sonne? Mond? Was? Der Mann hatte einen leeren Blick. Unter ihm die Frage: Gehörst du zu den Verlorenen? Eines der unvollendeten Gesichter war nur ein Farbfleck mit Augen. Die Bildunterschrift lautete: Kurz ist unser Erdenleben. Inman wandte den Blick von den Bildern und beobachtete die Frau bei der Arbeit. Sie schnitt die kleine Ziege vom Brustbein bis zum After auf und ließ die Innereien zu dem Blut in die Schüssel fallen. Dann enthäutete sie die Ziege, die darauf seltsam langhalsig und glotzäugig aussah. Sie zerteilte sie mit dem Messer. Die zartesten Stücke rieb sie mit getrockneten Kräutern, gemahlenem Paprika, Salz und ein wenig Zucker ein. Dann spießte sie diese auf frische Zweige und hängte sie zum Grillen über das Feuer. Die anderen Stücke legte sie in einen Kochtopf, in den sie außerdem Wasser, Zwiebeln, eine ganze Knoblauchknolle, fünf getrocknete Paprika, Salbeiblätter und zwischen ihren Handflächen zerriebenes Bohnenkraut tat. Der Topf hatte kleine Füße, und sie scharrte mit einem Stock Kohlen darunter, damit das Gericht langsam köchelte.
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— Wenn es eine Zeitlang gekocht hat, gebe ich noch ein paar weiße Bohnen hinein, und bis Mittag werden wir etwas Gutes zu essen haben, sagte sie. Etwas später zog wieder Nebel auf und tropfte Regen auf das Wohnwagendach. Inman saß in dem schummerigen, beengten Wageninneren vor dem winzigen Ofen. Es roch nach Kräutern und Wurzeln, nach Erde und Holzrauch. Er war durch die Hintertür eingetreten und durch eine Art Korridor gegangen – einen schmalen, drei Schritte langen Gang zwischen einem Schränkchen und einem Tisch auf der einen Seite und einer schmalen Schlafpritsche auf der anderen. Dahinter war so etwas wie ein Zimmer, das jedoch nicht größer war als zwei Grabstellen. Dicht in einer Ecke stand ein kleiner Eisenofen, dessen Gehäuse nicht viel größer war als ein Schmalzeimer. Die Wände dahinter waren mit Blech verkleidet, damit sie nicht Feuer fangen konnten. Die Frau hatte zwei kleine Talglichter angezündet – gesprungene, mit Schmalz gefüllte Teetassen mit einem Docht aus zusammengerollten Stoffetzen. Sie qualmten beim Brennen und rochen leicht nach Ziege. Der Tisch war mit Schreibarbeit vollgestapelt, mit Stößen meist aufgeklappter und mit der Innenseite nach unten übereinandergelegter Bücher, deren Kanten von der Feuchtigkeit stockfleckig geworden waren. Kreuz und quer an den Wänden hingen krakelige Tuschzeichnungen von Pflanzen und Tieren, teilweise mit dünn aufgetragener Farbe in gedämpften Tönen bunt angemalt. Die Zeichnungen waren rundherum mit Texten in winziger Schrift umgeben, als bedürften die schmucklosen Zeichnungen ausführlicher Erläuterungen. An der Decke hingen Schnüre mit Büscheln getrockneter Kräuter und Wurzeln, und zwischen den Büchern und auf dem Fußboden lagen stapelweise braune Felle diverser kleiner Tiere herum. Auf dem höchsten Bücherstoß lagen die Flügel eines Ziegenmelkers, die dunklen Federn ausgebreitet wie zum Flug. Durch die Ritzen in der Herdklappe quoll dünner Rauch von dem schwelenden Fichtenholzfeuer und blieb unter dem Lattenwerk des Dachs und den gebogenen
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Deckenbalken hängen. Inman sah der Frau beim Kochen zu. Über der einzigen Herdplatte briet sie in einer Pfanne Fladenbrot aus Maismehlteig. Sie schöpfte den Teig portionsweise in das zischende Fett und briet ein Stück nach dem anderen. Als sie einen hohen Stapel auf einen Teller getürmt hatte, legte sie einen Fladen um ein Stück gegrilltes Ziegenfleisch und reichte es Inman. Das Brot glänzte vor Fett, und das Fleisch hatte vom Feuer und den Kräutern eine satte, rötlichbraune Farbe. — Danke, sagte Inman. Er aß so hastig, dass ihm die Frau einfach einen Teller mit Fleisch und Brot reichte, damit er sich selbst bediente. Während er aß, tauschte sie die Pfanne gegen einen Topf und begann aus Ziegenmilch Käse zu machen. Sie rührte die Milch während des Erhitzens, bis sie dick geworden war, und goss sie dann in ein Sieb aus geflochtenen Weidenruten, um die Molke in einen Blechtopf ablaufen zu lassen. Die in dem Sieb verbliebene Quarkmasse gab sie dann in eine flache Eichenschüssel. Während sie so herumhantierte, musste Inman ständig seine Beine einziehen, um ihr Platz zu machen. Sie redeten kaum miteinander, denn sie hatte zu tun, und Inman aß mit großer Konzentration. Als sie fertig war, reichte sie ihm einen Tonbecher mit warmer, spülwasserfarbener Molke. — Hätten Sie es heute morgen, als Sie aufgestanden sind, für möglich gehalten, dass Sie vor Sonnenuntergang miterleben, wie Käse gemacht wird? fragte sie. Inman dachte über die Frage nach. Er war längst zu dem Schluß gekommen, dass es wenig Sinn hatte, darüber zu spekulieren, was der Tag bringen würde. Das führte nur dazu, dass man sich entweder zu große Sorgen oder zuviel Hoffnung machte. Keins von beiden diente seiner Erfahrung nach dazu, sich besser zu fühlen. Doch er musste zugeben, dass Käse in seinen morgendlichen Gedanken nicht enthalten gewesen war. Die Frau setzte sich auf einen Stuhl neben dem Ofen und zog sich die Schuhe aus. Sie öffnete die Herdklappe und zündete sich mit einem Strohhalm eine Bruyerepfeife an. Ihre nackten
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Füße und die zum Feuer hin ausgestreckten Unterschenkel waren schuppig wie Hühnerbeine. Sie nahm ihren Hut ab und fuhr sich mit den Fingern durch das Haar, das so dünn war, dass man aus jedem Winkel die rosa Kopfhaut hindurchschimmern sah. — Kommen Sie gerade vom Totschießen in Petersburg? fragte sie. — Nun ja, das kann man auch andersrum sehen. Ich hab den Eindruck, dass man es auf mich schon eine ganze Weile abgesehen hat. — Sind sie davongelaufen, oder was? Inman zog seinen Kragen heraus und zeigte ihr den entzündeten Striemen an seinem Hals. Verwundet und beurlaubt, sagte er. — Haben Sie 'nen Urlaubsschein? — Hab ich verloren. — Oh, das dachte ich mir, sagte sie. Sie rauchte einen Zug aus ihrer Pfeife und setzte die Füße auf den Fersen auf, damit die schmutzigen Sohlen in den vollen Genuß des Feuers kamen. Inman vertilgte das letzte Stück Brot und spülte es mit einem Schluck Ziegenmolke hinunter. Sie schmeckte ganz so, wie er es sich vorgestellt hatte. — Ich habe keinen Käse mehr, darum habe ich neuen gemacht, sagte sie. Andernfalls würde ich Ihnen jetzt welchen anbieten. — Sie wohnen die ganze Zeit in diesem kleinen Ding hier? fragte Inman. — 'ne andere Unterkunft hab ich nicht. Und ich brauche das Gefühl, dass ich jederzeit weiterfahren kann. Ich möchte nicht länger an einem Ort bleiben, als es mir passt. Inman betrachtete den winzigen Wohnwagen und die harte, schmale Schlafpritsche. Er dachte an die mit Winden zugerankten Radspeichen und fragte: Wie lange haben Sie Ihr Lager denn hier schon aufgeschlagen? Die Frau streckte ihre Hände mit der Innenfläche nach oben vor und sah auf ihre Finger hinunter, so dass Inman annahm,
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sie wolle die Jahre an den Fingern abzählen. Doch statt dessen drehte sie die Hände um und betrachtete die Handrücken. Die Haut war runzlig und wie ein Stahlstich mit feinen, dicht nebeneinanderliegenden Linien schraffiert. Die Frau ging an das schmale Schränkchen und öffnete die an Lederscharnieren aufgehängten Türen. Sie kramte in Fächern voller Tagebücher mit Ledereinbänden herum, und als sie das gesuchte gefunden hatte, richtete sie sich wieder auf und blätterte es bedächtig durch. — Wenn jetzt achtzehnhundertdreiundsechzig ist, wären es fünfundzwanzig Jahre, sagte sie schließlich. — Wir haben das Jahr vierundsechzig, sagte Inman. — Dann also sechsundzwanzig. — Sie leben hier schon seit sechsundzwanzig Jahren? Die Frau schaute noch einmal suchend in das Tagebuch und sagte: Siebenundzwanzig im nächsten April. — Großer Gott, sagte Inman, abermals auf die schmale Pritsche blickend. Die Frau legte das Tagebuch mit dem Einband nach oben auf einen der Bücherstöße auf dem Tisch. Ich könnte jederzeit weiterziehen, sagte sie. Ich brauche nur die Ziegen anzuspannen, die Räder aus dem Boden zu wuchten und kann weiterfahren. Früher haben mich die Ziegen herumgezogen, wohin es mir beliebte. Ich bin durch die ganze Welt gereist. Bis nach Richmond im Norden. Bis kurz vor Charleston im Süden, und die ganze Gegend dazwischen habe ich auch abgeklappert. — Sie waren nie verheiratet, nehme ich an. Die Frau verzog den Mund und rümpfte die Nase, als röche sie sauer gewordene Milch. Doch, sagte sie, war ich. Bin's vielleicht noch immer, aber ich schätze, er ist längst tot. Ich war ein kleines dummes Mädchen, und er war alt. Drei Ehefrauen waren ihm schon weggestorben. Aber er hatte einen schönen Hof, und meine Alten haben mich sozusagen an ihn verkauft. Es gab da einen Jungen, auf den ich ein Auge geworfen hatte. Flachsblonde Haare. Sein Lächeln sehe ich
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noch immer mindestens einmal im Jahr in meinen Träumen. Hat mich einmal von einem Tanz heimbegleitet und mich an jeder Wegbiegung geküßt. Aber sie haben mich statt dessen unter die Fuchtel von diesem alten Mann gesteckt. Er hat mich nicht viel besser behandelt als eine Magd. Er hatte die drei anderen Ehefrauen auf einem Hügel unter einer Platane begraben, und er ging manchmal allein hinauf und setzte sich dorthin. Sie kennen bestimmt solche alten Knacker – von fünfundsechzig, siebzig –, die an die fünf Ehefrauen verschlissen haben. Haben sie mit Arbeit und Babys und Gemeinheiten umgebracht. Eines Nachts wachte ich im Bett neben ihm auf und mir ging plötzlich auf, dass ich nichts weiter war als der vierte in einer Reihe von fünf Grabsteinen. Ich stand unverzüglich auf und ritt vor dem Morgengrauen auf seinem besten Pferd davon. Tauschte es eine Woche später gegen diesen Wagen und acht Ziegen ein. Inzwischen läßt es sich gar nicht mehr mit ururur ausdrücken, wie viele Generationen diese Ziegen von der ersten entfernt sind. Und mit dem Wagen verhält es sich wie mit der hundert Jahre alten Axt, von der es heißt, sie habe lediglich zwei neue Klingen und vier neue Stiele bekommen. — Und seitdem leben Sie allein? fragte Inman. — Tag für Tag. Ich lernte bald, dass ein Mensch sich größtenteils von Ziegen – von ihrer Milch und vom Käse – ernähren kann. Und zuzeiten, wenn sie mehr werden, als ich brauchen kann, auch von ihrem Fleisch. Ich pflücke alles an Wildkräutern, was gerade wächst. Stelle Vogelfallen auf. Man kann überall Nahrung finden, wenn man nur weiß, wo man sie suchen muss. Und außerdem gibt es eine kleine Stadt etwa einen halben Tagesmarsch nach Norden. Da gehe ich hin, um Käse gegen Erdknollen, Maismehl, Schweineschmalz und dergleichen einzutauschen. Und ich stelle Kräuterauszüge her und verkaufe sie. Medizin. Tinkturen. Salben. Zaubere Warzen weg. — Eine Kräuterhexe also, sagte Inman. — Ja, und außerdem verdiene ich mir hin und wieder ein
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paar Kupfercents mit dem Verkauf von Traktaten. — Traktate worüber? — Eins handelt von Sünde und Seelenrettung, sagte sie. Die gehen tüchtig. Ein anderes handelt von richtiger Ernährung. In dem heißt es, dass man auf Fleisch verzichten und sich hauptsächlich von Weizenschrotbrot und Wurzelgemüse ernähren soll. Außerdem gibt es eins über Höcker am Kopf und was sie über einen Menschen aussagen. Sie streckte die Hand aus, um Inmans Schädel abzutasten, doch er zog ihn schnell weg und sagte: Ich nehme das über Ernährung. Dann kann ich es immer lesen, wenn ich Hunger kriege. Er zog ein Bündel Geldscheine aus seiner Tasche. — Ich nehm nur Hartgeld, sagte sie. Drei Cents. Inman klimperte in seinen Taschen herum und gab ihr den gewünschten Betrag. Die Frau trat an einen Schrank, nahm eine gelbe Broschüre herunter und reichte sie ihm. — Auf dem Einband steht, dass diese Schrift Ihr Leben verändern wird, wenn Sie sie befolgen, sagte sie. Aber ich garantiere für nichts. Inman blätterte die Broschüre durch. Es war ein schlechter Druck auf rauhem grauen Papier. Er las Überschriften wie Die Kartoffel: Speise der Götter. Kohl: Tonikum für die Seele. Weizenschrot: Der Weg zu einem erfüllten Leben. Der letzte Satz sprang Inman ins Auge. Er las ihn laut. Der Weg zu einem erfüllten Leben. — Danach suchen viele, sagte die Frau. Aber ich bin nicht sicher, ob ein Sack Mehl einen wirklich auf den richtigen Weg bringen kann. — Ja, sagte Inman, Erfüllung war seiner Erfahrung nach etwas nur schwer zu Erreichendes. Es sei denn, man zählte Not und Elend dazu. Davon gab es mehr als genug. Dass jedoch das in Erfüllung ging, was sich jemand tatsächlich wünschte, war etwas ganz Anderes. — Meiner Meinung nach ist ein Leben viel häufiger durch Mangel gekennzeichnet, sagte die Frau.
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— Ja, sagte Inman. Die Frau beugte sich zum Ofen vor, klopfte die letzte Glut aus ihrer Pfeife und steckte sie sich wieder in den Mund. Dann blies sie hindurch, bis es beinahe pfiff. Sie zog einen Tabaksbeutel aus einer Schürzentasche, um die Pfeife neu zu stopfen und drückte den Tabak mit ihrem schwieligen Daumen fest. Sie zündete im Ofen einen Strohhalm an, hielt ihn an die Pfeife und zog daran, bis sie zu ihrer Zufriedenheit brannte. — Wie sind Sie zu dieser großen runden Wunde und den zwei kleinen neuen da gekommen? fragte sie. — Die Halswunde habe ich mir im Sommer bei Globe Tavern zugezogen. — 'ne Messerstecherei in einer Taverne? — Bei einem Gefecht. Südlich von Petersburg. — Also waren es Nordstaatler, die Sie angeschossen haben? — Sie wollten die Bahnlinie von Weldon einnehmen, und wir wollten sie daran hindern. Haben es den ganzen Nachmittag versucht, im Kieferngestrüpp, auf Feldern mit Bartgras, auf brachliegenden Äckern und an allen möglichen anderen Stellen. Eine furchtbar platte Gegend, nichts als Gestrüpp. Es war heiß, und wir haben dermaßen geschwitzt, dass wir runterlangen und unsere Hosenbeine auswringen konnten, so nass waren sie. — Sie haben bestimmt schon oft gedacht, dass Sie tot gewesen wären, wenn die Kugel einen Daumenbreit weiter links eingeschlagen wäre, oder? Sie hat Ihnen ja wirklich um ein Haar den Kopf abgerissen. — Ja. — Sie sieht immer noch aus, als könnte sie wieder aufplatzen. — Sie fühlt sich auch ganz so an. — Und die frischen Wunden, wie sind Sie zu denen gekommen? — Auf die übliche Weise. Bin angeschossen worden, sagte Inman. — Von Nordstaatlern?
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— Nein. Von dem andern Haufen. Die Frau verwedelte mit der Hand den Tabakrauch, als wolle sie mit den verwirrenden Einzelheiten über seine Wunden nicht weiter belästigt werden. Sie sagte: Na ja, die neuen sind nicht so schlimm. Wenn sie geheilt sind, werden sie unter den Haaren liegen, und nur Sie und Ihre Liebste werden davon wissen. Sie wird eine kleine Schwiele spüren, wenn sie mit den Fingern durch Ihr Haar streicht. Was ich gerne wissen würde, ist, ob es die Sache wert war, wegen der Nigger der Reichen ins Feld zu ziehen. — So habe ich das nicht gesehen. — Wie denn dann? fragte sie. Ich bin einiges unten im Flachland herumgekommen. Die Sklaverei macht den reichen Mann hochmütig und häßlich und den armen Mann gemein. Sie ist ein Fluch, der über dem Land liegt. Wir haben ein Feuer angezündet, und jetzt frisst es uns auf. Gott wird die Nigger befreien, und wenn man dafür kämpft, das zu verhindern, vergeht man sich gegen Gott. Haben Sie welche besessen? — Nein. Auch sonst keiner, den ich kannte. — Was hat Sie dann dazu bewegen, in das Gemetzel zu ziehen? — Vor vier Jahren hätte ich Ihnen das vielleicht sagen können. Jetzt weiß ich es nicht mehr. Jedenfalls habe ich jetzt mehr als genug davon. — Das ist eine etwas fadenscheinige Antwort. — Ich denke, viele von uns haben gekämpft, um die Invasoren zu vertreiben. Ich kannte mal einen, der die großen Städte im Norden bereist hatte, und der sagte einmal, dass wir gegen alles kämpfen, was diese Städte darstellen. Ich weiß nur, dass jeder, der glaubt, die Nordstaatler sind bereit, dafür zu sterben, dass die Sklaven befreit werden, eine allzu blauäugige Meinung von der Menschheit hat. — Wenn Sie so viele gute Gründe hatten, zu kämpfen, frage ich mich, warum Sie abgehauen sind. — Beurlaubt.
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— Ach ja, natürlich, sagte sie, indem sie den Kopf zurückwarf und loskicherte, als hätte jemand einen Witz gerissen. Mann auf Urlaub, sagte sie. Aber keine Papiere. Sind ihm gestohlen worden. — Hab sie verloren. Sie hörte auf zu lachen und sah Inman ins Gesicht. Hören Sie, sagte sie, mein Herz schlägt für keine der beiden Seiten. Dass Sie abgehauen sind, macht mir genausowenig aus, wie in dieses Feuer zu spucken. Und um ihren Worten Nachdruck zu verleihen, spuckte sie gekonnt einen bräunlichen Schleimklumpen mitten durch die offene Ofenklappe. Dann sah sie wieder zu Inman hin und sagte: Aber für Sie ist es gefährlich. Er sah ihr in die Augen und war überrascht, wie gütig ihr Blick war, obwohl sie sich so hartgesotten gab. Keiner der Menschen, denen er in letzter Zeit begegnet war, hatte ihn so aus der Reserve locken können wie diese Ziegenfrau, und so erzählte er ihr, was ihm auf der Seele brannte. Wie er sich mittlerweile schämte, im Jahre einundsechzig mit Feuereifer in den Krieg gezogen zu sein, um gegen die geknechteten Fabrikarbeiter der Unionsarmee zu kämpfen, Männer, die so unbedarft waren, dass es vieler Lektionen bedurfte, um ihnen beizubringen, dass sie ihre Patronen mit dem Bleigeschoss nach vorne laden mussten. Das waren ihre Feinde, und sie waren so zahllos, dass sie nicht einmal von ihrer eigenen Regierung groß geschätzt wurden. Die trieb sie ihnen einfach jahrelang entgegen, ohne dass es an Nachschub zu mangeln schien. Man konnte sie abknallen, bis einem das Herz brach, ohne sie in ihrem Marsch nach Süden aufzuhalten. Dann erzählte er ihr, wie er unlängst eines Morgens einen Heidelbeerstrauch gefunden habe, an dem noch Früchte gehangen hätten – staubblau auf der Sonnenseite, noch grün auf der im Schatten liegenden Rückseite. Wie er sie gepflückt und zum Frühstück verzehrt und dabei beobachtet habe, wie ein Schwarm Wandertauben auf dem Weg in ihr südliches Winterquartier die Sonne einen Augenblick lang verdunkelte,
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als sie darüber hinwegflogen. Zumindest diese Dinge seien unverändert geblieben, habe er gedacht – dass Beeren reiften und Vogel flogen. Er sagte, er habe vier Jahre lang fast ausschließlich Unbekanntes und Neues gesehen, und er vermute, dass die anfängliche Kriegsbegeisterung teilweise auf ebendiese Aussicht zurückzuführen gewesen sei. Dass der Anreiz für viele darin bestanden habe, neue Gesichter zu sehen, neue Orte, ein neues Leben. Und in den neuen Gesetzen, nach denen man soviel morden konnte, wie man wollte, ohne dass man dafür eingesperrt wurde, sondern im Gegenteil noch Auszeichnungen bekam. Die Männer hatten so geredet, als gingen sie in den Krieg, um das zu bewahren, was sie hatten und woran sie glaubten. Doch er hatte inzwischen den Verdacht, dass die Langeweile des täglichen Trotts das war, was sie zu den Waffen hatte greifen lassen. Das endlose Kreisen der Sonne, die ständige Wiederholung der Jahreszeiten. Der Krieg riss einen Mann aus diesem Kreislauf des Alltäglichen heraus und schuf eine eigene, von anderen Faktoren ziemlich unabhängige Jahreszeit. Er war gegen diesen Sog nicht unempfänglich gewesen. Doch früher oder später wird man es unendlich leid, Leuten dabei zuzusehen, wie sie sich aus jedem kleinsten Anlass gegenseitig umbringen und dafür jedes Werkzeug gebrauchen, das ihnen gerade in die Hände fällt, bis man es schließlich nicht mehr aushält. An diesem Morgen also habe er sich die Beeren und die Vögel angesehen und sich durch sie aufgemuntert gefühlt, sich gefreut, dass sie auf ihn gewartet hatten, bis er wieder zur Vernunft kam, obgleich er mittlerweile befürchtete, nicht mehr das geringste mit solchen Elementen der harmonischen Natur gemein zu haben. Die Frau dachte über das nach, was er gesagt hatte, und zeigte dann mit ihrem Pfeifenstiel auf seinen Kopf und Hals: Tun sie noch sehr weh? fragte sie. — Sie scheinen nicht verheilen zu wollen. — Sieht ganz so aus. Rot wie'n oller Winesap-Apfel. Aber da kann ich helfen. Da kenn ich mich aus.
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Sie stand auf, trat an das Schränkchen und holte einen Korb verwelkter Mohnblüten hervor, um daraus Laudanum zu machen. Sie nahm eine Blüte nach der anderen, stach die Kapseln mit einer Nähnadel auf und gab sie dann in einen kleinen glasierten Tonkrug, den sie neben den Ofen stellte, damit das Opium ausschwitzen konnte. — Es dauert nicht lange, bis es fertig ist. Ich werde mir einen Schuss Maisschnaps und Zucker hineintun. Dann rutscht es besser. Wenn es abkühlt, dickt es nämlich ein. Es ist gut gegen jede Art von Schmerzen – schmerzende Gelenke, Kopfschmerzen, alles, was weh tut. Wenn man nicht schlafen kann, braucht man nur davon zu trinken und sich auf dem Bett auszustrecken, und bald ist man weg. Sie ging abermals an den Schrank, nahm ein kleines irdenes Gefäß mit einer schmalen Öffnung heraus und tauchte den Finger hinein. Dann schmierte sie Inmans Wunden an Hals und Kopf mit einer Masse ein, die wie schwarze Achsschmiere aussah, aber nach bitteren Kräutern und Wurzeln roch. Er zuckte zusammen, als sie mit den Fingern die Wunden berührte. — Das sind nur Schmerzen. Die vergehen nach einer Weile. Und wenn sie weg sind, schwindet auch bald die Erinnerung daran. An die schlimmsten jedenfalls. Erinnerungen verblassen. Unser Gedächtnis ist nicht dazu geschaffen, Einzelheiten über Schmerzen zu behalten, wie das bei glücklichen Ereignissen der Fall ist. Das ist ein Geschenk Gottes, ein Zeichen, dass er um unser Wohl besorgt ist. Inman wollte ihr zunächst widersprechen, doch dann zog er es vor, zu schweigen und sie denken zu lassen, was sie wollte. Hauptsache, es gab ihr Trost, wie falsch ihre Logik auch sein mochte. Doch dann begann sich sein Mund wie von selbst zu bewegen, und er sagte: Es ist allerdings auch müßig, sich Gedanken zu machen, warum es den Schmerz überhaupt gibt, und erst recht darüber, in welcher Geistesverfassung wohl jemand sein muss, der etwas wie den Schmerz überhaupt erfindet.
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Die alte Frau starrte auf das Feuer in der Ofentür, dann besah sie sich ihren mit Salbe beschmierten Zeigefinger. Sie rieb dreimal schnell hintereinander mit dem Daumen darüber und wischte ihn dann mit dem Saum ihrer Schürze ab. Sie wandte ihre Aufmerksamkeit von der Hand ab und ließ sie neben sich herabbaumeln. Sie sagte: Wenn Sie erst in meinem Alter sind, ist es sogar schmerzhaft, sich nur an die schönen Dinge aus alten Zeiten zu erinnern. Sie verstöpselte den Salbentopf mit einem Maispfropf und steckte ihn in Inmans Jackentasche: Nehmen Sie das mit, sagte sie. Reiben Sie sich immer dick ein, bis sie alle ist, aber passen Sie auf, dass der Kragen nichts abkriegt. Sie läßt sich nicht auswaschen. Dann griff sie in einen geräumigen Beutel aus Ziegenhaut und holte eine Handvoll zigarrenstummelgroßer Pastillen aus zusammengerollten und zusammengebundenen Kräutern hervor. Diese ließ sie in Inmans Hand gleiten. — Schlucken Sie täglich eine. Jetzt gleich die erste. Inman steckte sich alle außer einer in die Tasche und steckte diese gleich in den Mund. Er versuchte sie hinunterzuschlucken. Sie schien aufzuquellen. Zu einem dicken, matschigen Kloß wie ein Stück Kautabak. Sie wollte einfach nicht hinunterrutschen, und sie schmeckte wie alte Socken. Inman traten die Tränen in die Augen. Er würgte und griff nach dem Molkebecher, um die Pille hinunterzuspülen. Im Verlauf des Abends aßen sie dann den Eintopf aus weißen Bohnen und den Stücken der kleinen Ziege. Sie saßen nebeneinander im grünbewachsenen Vorbau und lauschten dem leisen Regen, der auf die Blätter tropfte. Inman aß drei Näpfe von dem Eintopf, und anschließend tranken sie beide eine kleine Tonschale voll Laudanum, beschickten hin und wieder das Feuer und unterhielten sich. Zu seiner Überraschung begann Inman von Ada zu erzählen. Er beschrieb Punkt für Punkt ihren Charakter und ihr Äußeres und erzählte, wie ihm im Krankenhaus klargeworden sei, dass er sie liebe und heiraten wolle, obgleich er sich bewusst sei, dass man bei einer Heirat auch einen gewissen Glauben an
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eine theoretische Zukunft haben müsse, dass einem so etwas wie das Bild zweier Parallelen einleuchten müsse, die mit immer ferner werdender Zeit einander immer näher rückten, bis sie schließlich zu einer einzigen Linie verschmolzen. Die sei etwas, an das er nicht ganz glauben könne. Auch sei er sich keineswegs sicher, ob Ada seinen Antrag annehmen würde – einen Antrag von einem Mann, der an Körper und Geist zerrieben und verkümmert war. Er schloß mit der Bemerkung, dass Ada zwar ein wenig kratzbürstig, aber seiner Meinung nach sehr schön sei. Ihre Augen seien leicht schräg und ein wenig asymmetrisch, was ihr einen melancholischen Ausdruck verleihe, der seiner Meinung nach jedoch ihre Schönheit noch unterstreiche. Die Frau sah Inman an, als redete er den größten Blödsinn, den sie je vernommen hatte. Sie sagte mit dem Pfeifenstiel auf ihn gerichtet: Hören Sie. Eine Frau ihrer Schönheit wegen zu heiraten, ist genauso sinnlos wie einen Vogel zu essen, weil er schön singt. Aber es ist ein Fehler, der häufig vorkommt. Sie saßen eine Weile schweigend da und nippten an ihrem Laudanum. Es war süß und eingedickt, so dass es fast so zähflüssig war wie Hirsesirup und auch fast genauso trüb. Es erinnerte ein wenig an Met, obwohl der Honiggeschmack fehlte, und es klebte so fest in der Schale, dass Inman sie schließlich ausleckte. Der Regen wurde stärker, und ein paar Tropfen bahnten sich durch das Blätterdach und verzischten im Feuer. Es war ein einsames Geräusch, der Regen und das Feuer und weiter nichts. Inman versuchte sich vorzustellen, wie es wäre, wenn er genauso einsiedlerisch in einer ebenso unzugänglichen und einsamen Zuflucht auf dem Cold Mountain lebte. Sich auf einem nebelumwogten Felsen eine Hütte baute und monatelang dahinlebte, ohne eine Menschenseele zu sehen. Ein genauso reines und abgeschiedenes Leben, wie es das der Ziegenfrau zu sein schien. Es war eine verlockende Vorstellung, doch er sah sich im Geiste schon, wie er jede Minute haßte, wie seine Tage von Alleinsein und Sehnsucht vergiftet wären.
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— Im Winter wird es hier oben bestimmt kalt, sagte Inman. — Ziemlich. In den kältesten Monaten lasse ich das Feuer ständig tüchtig brennen und wickle mich in mehrere Decken, und meine größte Sorge ist dann, dass meine Tinte und Wasserfarben nicht einfrieren, wenn ich am Tisch sitze und arbeite. Es gibt Tage, da ist es so kalt, dass ich die Tasse mit Tuschwasser zwischen die Beine nehme, um es zu wärmen. Und trotzdem kommt es vor, dass ich einen nassen Pinsel in die Farbe tauche und die Borsten einfrieren, ehe ich die Spitze auf das Papier setzen kann. — Was machen Sie in diesen Büchern? fragte Inman. — Ich mache Aufzeichnungen, sagte die Frau. Male Bilder und schreibe. — Worüber? — Alles. Die Ziegen. Pflanzen. Das Wetter. Ich behalte alles im Auge. Man kann seine ganze Zeit damit verbringen, einfach nur zu notieren, was um einen herum geschieht. Wenn man einen Tag ausläßt, gerät man. sofort in Rückstand und holt ihn womöglich nie wieder auf. — Wie haben Sie lesen, schreiben und zeichnen gelernt? fragte Inman, — Genauso wie Sie. Jemand hat es mir beigebracht. — Und Sie haben Ihr ganzes Leben auf diese Weise verbracht? — Bisher, ja. Noch bin ich nicht tot. — Fühlen Sie sich hier nicht einsam? fragte Inman. — Hin und wieder vielleicht. Aber es gibt viel zu tun, und das hält mich davon ab, mir zu viele Gedanken zu machen. — Was ist, wenn Sie krank werden, hier oben so ganz allein? fragte Inman. — Ich habe meine Kräuter. — Und wenn Sie sterben? Die Frau räumte ein, dass dieses zurückgezogene Leben auch seine Nachteile habe. Ihr sei klar, dass sie nicht in jedem Fall auf Hilfe hoffen könne, doch habe sie auch keine große Lust weiterzuleben, wenn sie sich nicht mehr selbst versorgen
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könne. Sie glaube allerdings, dass bis dahin noch etliche Jahre ins Land gehen würden. Dass sie wahrscheinlich allein sterben und von niemandem begraben würde, kümmere sie keinen Deut. Wenn sie spüre, dass der Tod nahe, gedenke sie sich oben auf die Felsklippe zu legen und sich von den Raben zerpicken und forttragen zu lassen. — Die Alternative ist, von Würmern gefressen zu werden, sagte sie. Da ist es mir lieber, wenn mich die Raben auf schwarzen Schwingen davontragen. Der Regen wurde noch stärker, und es tropfte kräftig durch das Laubdach. Sie erklärten den Abend für beendet, und Inman kroch unter den Wagen, rollte sich in seine Decken und schlief ein. Als er erwachte, war ein ganzer Tag verstrichen, und die nächste Nacht brach bereits an. Auf einer Radspeiche hockte ein Rabe und glotzte ihn an. Inman stand auf, rieb sich seine Wunden mit der Salbe ein, nahm die Kräutermedizin und trank einen weiteren Schluck Laudanum mit Schnaps. Die Frau wärmte ihm eine Portion von dem Bohnen- und Zickleineintopf auf, und sie setzten sich, während er aß, nebeneinander auf die Wagentreppe. Die Frau erzählte ihm eine lange und weitschweifige Geschichte von einer Ziegenverkaufsaktion, die sie ganz bis in die Hauptstadt geführt hatte. Sie hatte einem Mann ein halbes Dutzend Ziegen verkauft. Hielt das Geld bereits in der Hand, als ihr einfiel, dass sie die Glöckchen wiederhaben wollte. Der Mann weigerte sich, sie ihr auszuhändigen, weil der Kauf bereits abgeschlossen sei. Sie erklärte, die Glöckchen seien von vornherein nicht mit inbegriffen gewesen, doch er hetzte seine Hunde auf sie und jagte sie davon. Spät in der Nacht sei sie mit einem Messer zurückgekommen, habe die Lederhalsbänder durchgeschnitten und sich die Glöckchen geholt. Und sei erst dann, wie sie es ausdrückte, unter lautem Fluchen zur Hauptstadt hinausgelaufen. Während sie erzählte, fühlte sich Inman ziemlich von der Medizin benebelt. Doch als sie geendet hatte, streckte er den Arm aus, um ihren runzligen und fleckigen Handrücken zu
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tätscheln, und sagte: Die Heldin der Ziegenglocken. Inman schlief abermals. Als er erwachte, war es dunkel, und es regnete nicht mehr, war jedoch kalt. Die Ziegen hatten sich um ihn geschart, um sich zu wärmen, und ihr Geruch war so scharf, dass ihm beinahe die Tränen in die Augen traten. Er hatte keine Ahnung, ob es dieselbe Dunkelheit war, in der er eingeschlafen war, oder ob ein weiterer Tag dazwischenlag. Der Schein von einem Talglicht leuchtete in dünnen Strahlen durch die Ritzen im Boden des Wohnwagens, deshalb kroch Inman heraus und richtete sich draußen auf den nassen Blättern auf. Am östlichen Himmel stand in halber Höhe eine Mondscherbe, und die Sterne standen alle da, wo sie hingehörten, und sahen kühl und gläsern aus. Am Grat oberhalb der Talmulde hob sich eine riesige, kahle Felsspitze schwarz gegen den Himmel ab wie eine Feldwache, die nach etwaigen vom Himmel herabstürzenden Angreifern Ausschau hielt. Inman verspürte auf einmal den Drang, sich wieder auf den Weg zu machen. Er klopfte an die Tür und wartete darauf, dass die alte Frau ihn einließ, doch es machte niemand auf. Inman öffnete die Tür, trat ein und stellte fest, dass niemand da war. Er betrachtete die auf dem Tisch liegenden Papiere und schlug dann eines der Tagebücher an einer Seite mit einer Zeichnung von Ziegen auf. Sie hatten Augen und Füße wie Menschen, und die darunter stehenden Sätze waren schwer zu entziffern. Es schien sich um einen Vergleich des Verhaltens bestimmter Ziegen an kalten und an warmen Tagen zu handeln. Inman blätterte weiter und fand Zeichnungen von Pflanzen und weitere Bilder von Ziegen in jeder erdenklichen Haltung – alle in gedämpften und kaum variierenden Farben, so dass er den Eindruck bekam, die Frau male mit Pflanzenfarben. Inman las die Geschichten neben den Bildern, die davon erzählten, was die Ziegen fraßen, wie sie sich untereinander verhielten und von welchen Launen sie an verschiedenen Tagen befallen wurden. Anscheinend war die Frau darauf aus, ausnahmslos alle Verhaltensmerkmale dieser Rasse aufzuzeichnen.
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Dies wäre eine denkbare Lebensweise, dachte Inman – als Einsiedler inmitten der Wolken. Die streitsüchtige Welt nichts als eine verblassende Erinnerung. Die Gedanken lediglich Gottes edleren Schöpfungen zugewandt. Doch je weiter er in dem Buch blätterte, um so mehr fragte er sich, was die Frau wohl dabei empfand, wenn sie die Jahrzehnte im Geist an sich vorüberziehen ließ und sich vorstellte, wie viele Jahre seit einem bestimmten Ereignis in ihrer Jugend vergangen waren – der Romanze mit dem flachsblonden Bauernjungen, den sie anstelle des alten Mannes hatte heiraten wollen. Ein Herbsttag von besonderer Pracht, an dem abends nach der Ernte zum Tanz aufgespielt wurde. Später draußen auf der Veranda ein bernsteinfarbener Mond, der über den Bäumen aufstieg, in dessen Licht sie den Jungen mit geöffneten Lippen küßte, während drinnen Fiedler eine alte Weise spielten, die sie aus unerfindlichen Gründen besonders liebte. So viele Jahre waren zwischen damals und heute verstrichen, dass schon die bloße Zahl unsäglich traurig erscheinen musste, selbst ohne die süße Erinnerung. Inman sah sich in dem Wagen um und stellte fest, dass es darin nicht einmal eine Spiegelscherbe gab, woraus er folgerte, dass die Frau sich nach Gefühl zurechtmachen musste. Wusste sie überhaupt, wie sie gegenwärtig aussah? Langes, farbloses, spinnwebfeines Haar, die Haut um die Augen und an den Wangen schlaff, runzlig und eingefallen, eine tief gefurchte Stirn, Borsten in den Ohren. Nur ihre Wangen waren rosa, die Pupillen ihrer Augen noch immer leuchtend blau. Angenommen, man hielte ihr einen Spiegel vor – würde sie, die vielleicht noch immer ein Bild von sich vor Augen hatte, als sie Jahrzehnte jünger war, überrascht und entsetzt vor dem alten Gesicht zurückschrecken, das ihr da entgegenblickte? Einem Menschen, der so fernab von allem lebte, könnte es durchaus so ergehen. Inman wartete lange, bis die Ziegenfrau zurückkam. Der Morgen dämmerte, und er blies das Talglicht aus und zerbrach ein paar Zweige, um sie in den kleinen Ofen zu stecken. Er
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wollte weiter, aber er wollte nicht gehen, ohne sich bei ihr bedankt zu haben. Sie kehrte erst ziemlich spät am Vormittag zurück. Sie kam mit zwei Kaninchen zur Tür herein, die schlaff an ihren Hinterbeinen in ihrer Hand baumelten. — Ich muss weiter, sagte Inman. Ich wollte nur noch fragen, ob ich Ihnen das Essen und die Medizin bezahlen kann. — Sie könnten es versuchen, sagte die Frau. Aber ich würde es nicht annehmen. — Ja, dann vielen Dank, sagte Inman. — Hören Sie, sagte die Frau. Wenn ich einen Sohn hätte, würde ich ihm dasselbe sagen, was ich jetzt Ihnen sage. Geben Sie auf sich acht. — Mach ich, sagte Inman. Er drehte sich um, um aus dem Wohnwagen zu steigen, doch sie rief ihn zurück. Sie sagte: Hier, nehmen Sie das mit, und sie reichte ihm ein Blatt Papier mit einer bis ins feinste Detail ausgearbeiteten Zeichnung der kugeligen, blauvioletten Beerentraube einer Sarsaparille im Herbst.
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Freiwillige Wilde
Beim ersten Dämmerschein war Ruby bereits auf dem Weg zum Haus, um den Herd anzufeuern, einen Topf mit Maisgrütze aufzusetzen und ein paar Spiegeleier zu brutzeln. Es war noch so dunkel, dass man kaum etwas sehen konnte, und über der Talsohle von Black Cove lag dichter Nebel – wie fast das ganze Jahr über, außer im Winter, jeden Morgen für ein, zwei Stunden. Doch als sich Ruby dem Haus näherte, gewahrte sie neben dem Maisspeicher einen dunkelgekleideten Mann. Sie stieg schnurstracks zur Küchenveranda hinauf, ging ins Haus und holte sich ihre Schrotflinte, die stets geladen in zwei über der Tür angenagelten Astgabeln hing. Sie spannte beide Hähne und eilte zum Maisspeicher. Der Mann hatte sich seinen großen, grauen Schlapphut tief in die Stirn gezogen und den Kopf nach unten geneigt. Er lehnte mit der Schulter an der Wand des Maisspeichers, das eine Bein über das andere geschlagen und auf der Fußspitze aufgestellt. Lässig wie ein Reisender, der, an einen Baum gelehnt, am Straßenrand auf die Postkutsche wartet und währenddessen seinen Gedanken nachhängt. Selbst in dem schwachen Licht konnte Ruby erkennen, dass der Anzug des Mannes aus feinem Stoff und von elegantem Schnitt war. Und die Stiefel sahen zwar ein wenig ramponiert aus, doch auch sie waren so elegant, dass man darin eher einen Großgrundbesitzer als einen Maisdieb vermutet hatte. Nur eines sprach dagegen, dass der Mann vollkommen entspannt war. Sein rechter Arm steckte bis zur Schulter in einem Spalt in der Bretterwand des Maisspeichers. Ruby ging ohne zu zögern auf ihn zu, die Schrotflinte leicht nach unten geneigt, aber dennoch ungefähr auf seine Knie
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gerichtet. Sie wollte gerade anheben, dem Maisdieb eine ordentliche Standpauke zu halten, doch als sie nur noch wenige Schritte von ihm entfernt war, hob der Mann den Kopf, um unter der Hutkrempe hervorlugen zu können, sah Ruby grinsend an und sagte: Teufel noch mal. — Du bist also nicht tot? sagte Ruby. — Noch nicht, sagte Stobrod. Komm, lass deinen Daddy frei. Ruby lehnte die Flinte an die Wand des Maisspeichers, entriegelte die Tür und ging hinein. Sie zog den Nagel der Falle aus dem Boden, stemmte die um Stobrods Hand zugeschnappten Klemmbacken auf und kam wieder heraus. Als Stobrod seinen Arm aus dem Loch zog, tropfte, obwohl die Zähne ummantelt gewesen waren, Blut aus einer Wunde am Handgelenk, wo sich die Haut dünn über die Knochen spannte. Sein Unterarm war mit blauen Flecken übersät. Er rieb sich mit seiner unversehrten Hand darüber, zog dann ein feines Leinentaschentuch heraus, nahm den Hut ab und wischte sich damit über Stirn und Hals. — Die Nacht wird einem ganz schön lang, wenn man so in der Falle steckt, sagte er. — Ohne Zweifel, entgegnete Ruby. Sie musterte ihn von Kopf bis Fuß. Er hatte sich verändert. Wie er da vor ihr stand, kam er ihr vor wie ein alter Mann. Die Haare waren ihm zur Hälfte ausgefallen, sein Bart war grau. Dicker geworden war er hingegen nicht. War immer noch das kleine drahtige Männchen. Da war an einem Quiltrahmen mehr dran. — Wie alt bist du jetzt? fragte sie.
Sein Mund zuckte, als er im Kopf zu zählen versuchte.
— Um die Fünfundvierzig, sagte er schließlich. — Fünfundvierzig, wiederholte Ruby. — Ungefähr. — Das sieht man dir nicht an. — Dankeschön. — Ich meinte es andersrum. — Oh.
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— Jeden anderen, sagte Ruby, würde ich fragen, warum er sich an unserem Mais vergreift, wenn er nicht aussieht, als hätte er es nötig. Aber dich kenne ich zu gut. Du läufst rum und holst dir hier was und da was, um dir daraus eine Ladung Schnaps zu brennen. Und den Anzug da hast du entweder gestohlen oder beim Kartenspielen gewonnen. — So was Ähnliches. — Und aus dem Krieg bist du weggelaufen, stimmt's? — Mir stand Urlaub zu, als Held, der ich war. — Du? — Ich war bei jedem Angriff vorneweg, sagte Stobrod. — Ich habe gehört, dass die Offiziere gerne die größten Lumpen in die vorderste Reihe stellen. Auf diese Weise werden sie sie schneller los. Und ehe Stobrod etwas erwidern konnte, fuhr sie fort: Jetzt komm mal mit. Sie nahm die Schrotflinte in die Hand und ging zum Haus. Sie forderte Stobrod auf, sich auf die Verandatreppe zu setzen und dort zu warten. Drinnen machte sie Feuer und setzte Kaffeewasser auf. Sie rührte Brötchenteig an und klapperte, während sie das Frühstück zubereitete, mit Töpfen und Pfannen. Brötchen, Maisgrütze und Eier. Ein paar Scheiben gebratenen Speck. Ada kam herunter, um sich, muffelig wie immer am frühen Morgen, in ihren Stuhl am Fenster zu setzen und ihren Kaffee zu trinken. — Wir haben endlich was in der Falle, sagte Ruby. — Wird auch langsam Zeit. Und was? — Meinen Daddy. Er sitzt jetzt draußen auf der Veranda, sagte Ruby, eine Pfanne mit heißem, aus dem Speck ausgelaufenem Fett schwenkend. — Wie bitte? — Stobrod. Er ist zurückgekommen. Aber ob tot oder lebendig, er ist mir vollkommen egal. Er kriegt einen Teller Frühstück, und dann soll er machen, dass er fortkommt. Ada erhob sich und sah durch die Tür auf den schmalen Rücken von Stobrod, der vorgebeugt auf der untersten
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Treppenstufe saß. Er hatte die linke Hand vorgestreckt und summte vor sich hin, während er die Finger nacheinander an den Handballen tippte wie jemand, der etwas im Kopf ausrechnet. — Du hättest ihn doch hereinbitten können, sagte Ada, als sie sich wieder hingesetzt hatte. — Er kann da draußen warten. Als das Frühstück fertig war, trug Ruby einen Teller für Stobrod zu dem Tisch unter dem Birnbaum. Ada und sie nahmen ihr Frühstück im Eßzimmer ein und konnten vom Fenster aus beobachten, mit welcher Hast er gierig seinen Teller leerte, und wie seine Hutkrempe im Takt zu seinen Kaubewegungen wippte. Er beherrschte sich gerade noch, den Teller nicht an den Mund zu heben, um das Fett abzulecken. — Er hätte ruhig hier drinnen essen können, sagte Ada. — Nicht mit mir.
Sie ging hinaus, um seinen Teller zu holen.
— Hast du irgendwo eine Bleibe? erkundigte sich Ruby bei Stobrod. Stobrod erwiderte, dass er in der Tat eine Art Zuhause und eine Reihe Gefährten habe – eine Gruppe schwerbewaffneter Deserteure, denen er sich angeschlossen habe. Sie lebten wie freiwillige Wilde in einer Höhle tief im Berg. Sie wollten nichts weiter als jagen, essen und saufend und musizierend die Nächte durchmachen. — Na, das ist ja genau das Richtige für dich, sagte Ruby. Dein Lebensziel ist es doch schon immer gewesen, die ganze Nacht mit einer Flasche in der Hand herumzutanzen. Ich habe dir zu essen gegeben, und jetzt mach, dass du weiterkommst. Mehr haben wir dir nicht zu bieten. Solltest du dich noch mal an unserem Mais vergreifen, mach dich darauf gefaßt, dass ich dir eine Ladung aus meiner Schrotflinte verpasse, und glaub bloß nicht, dass ich mit Salz schieße. Sie klatschte in die Hände, wie jemand, der Kühe antreiben will, und er schlenderte, die Hände in den Hosentaschen, in Richtung Cold Mountain davon.
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Es wurde ein warmer, strahlender und trockener Tag. Es hatte diesen Monat bislang nur ein einziges Mal am Morgen leicht geregnet, und die herabgefallenen wie die noch an den Bäumen hängenden Blätter waren kroß wie kalte Schweinegrieben. Als Ruby und Ada zur Scheune hinuntergingen, um nach dem trocknenden Tabak zu sehen, raschelten die Blätter über ihnen im Wind und unter ihren Schuhsohlen. Die breiten Tabakblätter waren an den Stengelenden zu Büscheln zusammengebunden und im Schutz des vorspringenden Scheunendaches an einer Stange aufgereiht worden. Die sich wie alte, vergilbte Baumwollröcke bauschenden Büschel hatten etwas Menschliches, Weibliches und irgendwie Verheißungsvolles. Ruby stapfte zwischen ihnen einher, berührte die Blätter und rieb sie zwischen ihren Fingern. Sie bekundete, dass alles bestens sei – dank der günstigen, trockenen Witterung und der Tatsache, dass der Tabak unter Beachtung der Mondphasen gepflanzt und geerntet worden sei. Bald schon würden sie die Blätter in Melassewasser einlegen und zu Priemen drehen können, um dann damit Tauschgeschäfte zu machen. Als sie fertig war, schlug Ruby vor, auf dem Heuboden ein wenig auszuruhen – der ideale Platz für ein Päuschen, sagte sie. Sie kletterte die Leiter hoch, hockte sich breitbeinig in die breite Heuluke und ließ ihre Beine baumeln – wie es keine andere erwachsene Frau, die Ada kannte, jemals getan hätte. Ada zögerte zunächst, sich zu ihr zu gesellen. Sie saß im Heu, die Beine unter den Körper gezogen und die Röcke ordentlich um sich ausgebreitet. Ruby sah sie leicht amüsiert an, als wollte sie sagen: Ich kann mir das erlauben, weil ich gar nicht erst gelernt habe, mich an die Regeln des Anstandes zu halten, und du kannst dir das erlauben, weil du dich seit einiger Zeit von ihnen verabschiedet hast. Ada ging und setzte sich neben sie in die Heuluke. Sie hockten einfach nur da, kauten auf Strohhalmen und schaukelten mit den Beinen wie zwei Lausbuben. Die große Luke umrahmte den Blick hügelan zum Haus und zu den dahinter ansteigenden Feldern bis zum
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Cold Mountain. Der Berg wirkte in der trockenen Luft ganz nah und scharfkantig und war von oben bis unten in den bunten Farben des Herbstes gesprenkelt. Das Haus wirkte strahlend weiß und schmuck. Aus dem schwarzen Küchenkamin stieg eine blaue Rauchfeder senkrecht in den Himmel. Dann fegte eine Brise durch das Tal und riss sie wirbelnd mit sich fort. — Du sagst doch, du willst lernen, was es über dieses Land zu wissen gibt, sagte Ruby. — Ja, sagte Ada. Ruby erhob sich, kniete sich hinter sie und legte die Hände über Adas Augen. — Hör genau hin, sagte Ruby. Ihre Hände fühlten sich auf Adas Gesicht warm und rauh an. Sie rochen nach Heu, Tabakblättern, Mehl und etwas tieferem – einem sauberen Tiergeruch. Ada spürte die zarten Knochen an ihren flatternden Augenlidern. — Nun, was hörst du? fragte Ruby. Ada hörte das Rauschen des Windes in den Bäumen, das trockene Geknister der noch nicht abgefallenen Blätter, und sagte dies. — Bäume, sagte Ruby verächtlich, als hatte sie genau so eine törichte Antwort erwartet. Nichts weiter als Bäume? Du hast wirklich noch viel zu lernen. Sie nahm ihre Hände von Adas Augen, setzte sich wieder auf ihren Platz und sagte kein Wort mehr zu dem Thema. Ada konnte folglich nur mutmaßen, dass sie mit diesen Worten hatte andeuten wollen, dass dies eine ganz spezielle Welt sei. Ehe sie nicht imstande war, auch nur den unterschiedlichen Klang von raschelnden Pappel- und Eichenblättern herauszuhören – und das in dieser Jahreszeit, wenn es am leichtesten fiel –, hatte sie noch nicht einmal angefangen, sich in ihrer Umgebung auszukennen. Am Spätnachmittag war das Licht trotz der Wärme hart und blau und ließ durch seinen schrägen Einfall deutlich erkennen, dass sich das Jahr dem Ende zuneigte. Dies war mit Sicherheit
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einer der letzten warmen, trockenen Tage, und aus diesem Anlass beschlossen Ada und Ruby, ihr Abendessen draußen am Tisch unter dem Birnbaum einzunehmen. Sie brieten sich ein Hirschfilet, das Esco ihnen vorbeigebracht hatte. Machten sich eine Pfanne voll Röstkartoffeln mit Zwiebeln und tröpfelten ausgelassenen Speck über ein paar späte Salatblätter. Sie hatten eben die braunen Blätter vom Tisch gefegt und waren gerade dabei, für sie beide den Tisch zu decken, als Stobrod aus dem Wald gestiefelt kam. Er trug einen Jutesack über der Schulter, und er kam zu ihnen herüber und setzte sich an den Tisch, als hätte er eine Einladung in der Jackentasche. — Du brauchst nur ein Wort zu sagen, und ich jage ihn fort, sagte Ruby zu Ada. Ada sagte: Es ist genug da. Während sie aßen und Ruby beharrlich schwieg, verwickelte Stobrod Ada in ein Gespräch über den Krieg. Er wünschte zwar, er würde enden, damit er das Versteck im Berg verlassen könne, befürchte aber, dass er sich in die Länge ziehen und ihnen allen hart zusetzen werde. Ada hörte sich ihm beipflichten, doch als sie dann ihren Blick über das im blauen Dunst liegende Tal schweifen ließ, hatte sie das Gefühl, als lägen die harten Zeiten noch in weiter Ferne. Nach dem Abendbrot hob Stobrod seinen Sack vom Boden, zog daraus eine Geige hervor und legte sie sich über die Knie. Sie war von origineller Bauart, denn an der Stelle, wo sich normalerweise die Schnecke befindet, hatte sie einen großen, nach hinten gebogenen Schlangenkopf, in den sogar solche Details wie Schuppen und Schlitzaugen eingeschnitzt waren. Stobrod war darauf sichtlich ungeheuer stolz, und das mit Recht, denn obgleich die Geige keineswegs perfekt war, hatte er sie doch in den Monaten, seitdem er als Flüchtling lebte, selbst gebaut. Sein altes Instrument war ihm auf dem Heimweg gestohlen worden, und in Ermangelung eines Modells hatte er die neue aus dem Gedächtnis gebaut. Sie sah folglich aus wie ein seltenes Artefakt aus einer primitiven
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Periode des Instrumentenbaus. Er drehte sie erst auf die eine, dann auf die andere Seite, damit sie beide bewundern konnten, und dann erzählte er ihnen ihre Entstehungsgeschichte. Wochenlang war er durch die Berge gezogen, um Fichtenholz, Ahorn- und Buchsbaumholz zu schneiden, und als es getrocknet gewesen war, hatte er zahllose Stunden damit zugebracht, die Geigenteile mit einem Messer herauszuschneiden. Er schnitt die Geigendecke, den Boden und die Zargen nach eigenen Vorstellungen zu. Kochte das Holz für den Zargenkranz weich und bog es so zurecht, dass es nach dem Abkühlen und Trocknen bogenförmig geschwungen war. Er schnitzte den Saitenhalter, den Steg und das Griffbrett freihändig zu. Kochte die Hufe von Hirschen aus, um daraus Leim zu gewinnen. Bohrte die Löcher für die Stimmwirbel hinein, setzte die Teile zusammen und ließ alles trocknen. Mit Hilfe eines Drahtes setzte er dann den Stimmstock fest, beizte das Griffbrett aus Buchsbaum mit dem Saft von Kermesbeeren dunkel, und verbrachte etliche Stunden damit, den schneckenförmig gebogenen Schlangenkopf zu schnitzen. Schließlich stahl er tief in der Nacht noch eine kleine Dose Firnis aus einem Werkzeugschuppen und trug den Lack auf. Dann zog er die Saiten auf und stimmte das Instrument. Ging eines Nachts sogar los, um einem Pferd den Schwanz abzuschneiden, damit er den Bogen mit Roßhaaren bespannen konnte. Dann betrachtete er sein Werk und dachte: Jetzt ist meine Musik fast fertig. Es fehlte nämlich nur noch eine Kleinigkeit, und zwar eine tote Schlange. Er trug sich schon eine Weile mit der Idee, dass sich der Klang seines Instruments deutlich verbessern ließe, wenn er das Schwanzstück einer Klapperschlange im Resonanzkörper anbrächte. Das müsste dem Instrument einen einzigartigen düster-klagenden und zischelnden Klang verleihen. Je größer die Anzahl der Rasseln, desto besser, dachte er sich. Er beschrieb es als eine Art Gralssuche. Die Verbesserung der Tonqualität erhoffte er sich sowohl von der tatsächlichen Funktion der Rasseln im
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Geigenkörper als auch von der geheimnisvollen, beschwörenden Übung, mit deren Hilfe er sie sich beschaffen wollte. Zu diesem Zweck war er auf dem Cold Mountain umhergestreift. Er wusste, dass sich die Schlangen in den ersten kühlen Herbsttagen, wenn sie merkten, dass der Winter bevorstand, auf die Suche nach einem Unterschlupf machten. Er tötete ein paar ansehnliche Klapperschlangen, doch kaum lagen sie tot vor ihm, erschienen ihm ihre Schwanzenden viel zu kümmerlich. Als er bis in die Höhen hinaufgestiegen war, wo die schwarzen Balsamtannen wachsen, stieß er schließlich auf eine große alte Waldklapperschlange, die sich auf einer Schiefernplatte sonnte. Sie war nicht übermäßig lang, denn das werden sie generell nicht, doch ihr Körperumfang war dicker als die dickste Stelle eines Männerarmes. Die Zeichnungen auf ihrem Rücken waren ineinander verlaufen, so dass sie beinahe so schwarz war wie eine Kletternatter. Die Hornringe an ihrer Schwanzspitze waren zusammen fast so lang wie Stobrods Zeigefinger. Als er Ada dies erzählte, hielt er ihr den Finger hin und zeigte mit dem Daumennagel der anderen Hand auf die Stelle hinter dem dritten Knöchel. So lang waren sie, sagte er. Und schabte dabei ein paarmal mit dem Fingernagel quer über die trockene Haut. Stobrod war zu dem Stein hingegangen und hatte der Schlange verkündet: Hey, ich werd mir deine Rasseln holen. Die große Schlange hob ihren faustgroßen Kopf und beäugte Stobrod durch geschlitzte gelbe Augen. Sie ringelte sich leicht zusammen und gab ihm damit zu verstehen, dass sie eher zu kämpfen gedenke, als zu verschwinden. Die Schlange bewegte einen Augenblick lang zitternd ihre Schwanzspitze, um sie aufzuwärmen. Dann ließ sie ihre Rasseln vibrieren und machte ein so durchdringendes, hell zischendes Geräusch, dass einem schier der Kopf zersprang. Stobrod machte instinktiv einen Schritt zurück. Doch er wollte diese Rasseln unbedingt haben. Er zog sein Klappmesser heraus, schnitt sich eine Astgabel von etwa vier
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Fuß Länge und ging zu der Schlange zurück, die sich keineswegs davongemacht hatte, sondern sich auf den Kampf zu freuen schien. Stobrod baute sich etwa eine Armeslänge weiter von der Schlange entfernt auf, als diese nach seiner Einschätzung springen konnte. Die Schlange wurde munter und richtete sich noch höher auf. Stobrod begann sie zu reizen. Huh! rief er und fuchtelte mit dem Stock vor ihrem Gesicht herum. Die Schlange klapperte ungerührt weiter. Waah! schrie Stobrod und stieß mit der Astgabel nach ihr. Als die Schlange daraufhin ihren Körper bewegte, wurde das Gerassel ein wenig leiser und tiefer. Dann verfiel sie in Schweigen, geradezu als wäre sie gelangweilt. Die Schlange brauchte eindeutig stärkeren Tobak. Stobrod bewegte sich langsam näher heran und kauerte sich nieder. Er klemmte sich das Messer zwischen die Zähne und hielt den gegabelten Zweig mit der rechten Hand hoch in die Luft. Mit der linken Hand wedelte er in Reichweite der Schlange in der Luft herum. Sie stieß ruckartig parallel zum Boden auf ihn zu, das Maul mit den nach unten ragenden Giftzähnen sperrangelweit aufgerissen. Die rosa Fläche in ihrem Maul war handballengroß. Sie verfehlte ihn. Stobrod stieß mit der Astgabel zu und klemmte ihren Kopf am Stein fest. Dann stellte er ihr mit einer schnellen Bewegung den Fuß aufs Genick. Packte den hin und her peitschenden Schwanz. Nahm das Messer aus dem Mund. Schnitt die Rasseln mit einem glatten Schnitt genau am Endglied ab. Sprang zurück wie eine Katze, wenn sie erschrickt. Die Schlange wand sich und sammelte sich für einen erneuten Angriff. Sie versuchte zu rasseln, hatte aber nur noch einen blutenden Stummel. — Leb weiter, wenn du magst, hatte Stobrod gesagt und war, die Rasseln schwingend, davongegangen. Er war überzeugt, dass von nun an jeder Ton, den er geigte, einen anderen Klang haben würde. Irgendwo würde darin das gefährliche, schrille Wehklagen einer drohenden Schlange mitschwingen.
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Nachdem er Ruby und Ada seine Geschichte von der Entstehung der Geige erzählt hatte, sah er das Instrument an, als wäre es ein Wunderwerk. Er hob sie hoch und streckte sie ihnen entgegen wie ein Schaustück, als den Teil einer Vorführung, mit der er demonstrieren wollte, dass er nun in mancherlei Hinsicht ein anderer war als der, der in den Krieg gezogen war. Irgend etwas an dem Krieg habe ihn und seine Musik vollkommen verändert, behauptete er. Ruby blieb skeptisch. Sie sagte: Vor dem Krieg hast du dich nicht mehr für Geigenmusik interessiert, als nötig war, um bei einem Tanz aufspielen zu können und dafür einen Schnaps spendiert zu kriegen. — Es gibt Leute, die finden, ich geige jetzt wie ein Mann im Fieber, sagte Stobrod zu seiner Verteidigung. Zu seiner Wandlung sei es ganz unerwartet gekommen, sagte er. Und zwar im Januar 1862. Bei Richmond. Seine Truppe habe dort ihr Winterquartier aufgeschlagen gehabt. Eines Tages sei ein Mann in das Lager gekommen, um nach einem Geiger zu fragen, und sei daraufhin zu Stobrod geschickt worden. Der Mann erklärte, dass seine Tochter, ein fünfzehnjähriges Mädchen, beim morgendlichen Feuermachen Petroleum auf das frische Brennmaterial geschüttet hatte, wie sie das meistens zu tun pflegte. An diesem Morgen jedoch war es auf noch glimmende Asche geflossen, und genau in dem Moment, da sie die Ofenplatte wieder aufsetzte, war es zu einer Explosion gekommen. Die gußeiserne Platte war ihr mit voller Wucht an den Kopf geprallt, und die Stichflamme, die aus der Öffnung geschossen war, hatte ihre Haut bis fast auf die Knochen verbrannt. Sie liege im Sterben. Das sei ganz sicher. Doch sie sei vor ein paar Stunden zu Bewusstsein gekommen, und als man sie gefragt habe, womit man ihr das Sterben erleichtern könne, habe sie geantwortet, mit Geigenmusik. Stobrod nahm sein Instrument und folgte dem Mann zu dessen Haus, das eine Stunde Fußweg entfernt lag. Im Schlafzimmer hatte sich die ganze Familie versammelt. Das
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Mädchen mit den Verbrennungen saß auf Kissen gestützt im Bett. Ihre Haare waren bis auf ein paar Büschel verbrannt, und ihr Gesicht sah aus wie ein enthäuteter Waschbär. Das Kopfkissen war um ihren Kopf herum ganz feucht, da die offene Haut genäßt hatte. Über ihrem Ohr, an der Stelle, an der die Ofenplatte aufgeprallt war, klaffte ein tiefer Riss. Die Wunde blutete nicht mehr, hatte sich aber noch nicht einmal braun gefärbt. Sie musterte Stobrod von Kopf bis Fuß, wobei das Weiße ihrer Augen sich erschreckend von der wunden Haut abhob: Spielen Sie mir etwas vor, sagte sie. Stobrod setzte sich auf einen neben dem Bett stehenden Lehnstuhl und begann sein Instrument zu stimmen. Er drehte so lange an den Wirbeln herum, bis das Mädchen sagte: Wenn Sie mich mit Musik hinüberbegleiten wollen, wird es langsam Zeit, dass Sie anfangen. Stobrod spielte Peas in the Pot und Sally Ann und sämtliche anderen Lieder aus seinem Repertoire – das nur aus sechs Stücken bestand. Es waren lauter Tänze, und selbst Stobrod war klar, dass sie der Situation nicht gerade angemessen waren. Er bemühte sich, sie wenigstens langsamer zu spielen, doch so schleppend das Tempo auch war, sie wollten einfach nicht getragen klingen. Als er zu spielen aufhörte, war das Mädchen noch immer nicht gestorben. — Spielen Sie noch was anderes, sagte sie. — Mehr kann ich nicht, sagte Stobrod. — Das ist aber schwach, sagte das Mädchen. Was sind Sie denn für ein Geiger? — Nur ein oller Wald- und Wiesenfiedler, sagte er. Das Mädchen verzog das Gesicht zu einem Lächeln, doch in ihren Augen war zu lesen, dass sie dabei große Schmerzen hatte, und das Lächeln verging ihr schnell. — Dann denken Sie sich eine Melodie für mich aus, sagte sie. Stobrod war perplex über diese ungewöhnliche Bitte. Selbst etwas zu komponieren war ihm noch nie in den Sinn
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gekommen. — Ich glaube nicht, dass ich das kann, sagte er. — Warum nicht? Haben Sie es noch nie versucht? — Nein. — Dann fangen Sie lieber gleich an, sagte sie. Es ist nicht mehr viel Zeit. Er dachte einen Augenblick nach. Zupfte an den Saiten und stimmte die Geige noch einmal. Er legte sie an, strich mit dem Bogen darüber und war selbst überrascht, welche Töne da herauskamen. Die Melodie, die er ersann, war langsam und stockend, und fand ihren Ausdruck hauptsächlich mit Hilfe von gehaltenen Grundtönen und Doppelgriffen. Er wäre selbst nicht darauf gekommen, aber die Melodie erinnerte an eine unheimliche und ehrfurchteinflößende alte Kirchentonart, und die Mutter des Mädchens brach bei seinem Spiel in Tränen aus und rannte hinaus in den Flur. Als er geendet hatte, sah das Mädchen Stobrod an und sagte: Das war schön. — Ach nicht doch, sagte er bescheiden. — Doch, sagte das Mädchen. Sie wandte ihr Gesicht ab, und ihr Atem ging auf einmal rasselnd und gurgelnd. Der Vater des Mädchens trat zu Stobrod hin, ergriff ihn am Ellbogen und führte ihn hinunter in die Küche. Er ließ ihn am Tisch Platz nehmen, reichte ihm eine Tasse Milch und stieg wieder die Treppe hinauf. Die Tasse war kaum leer, da war der Mann schon wieder unten. — Sie ist von uns gegangen, sagte er. Er zog einen Dollar in Bundeswährung aus der Tasche und drückte ihn Stobrod in die Hand. Sie haben ihr den Weg ein wenig leichter gemacht, sagte er. Stobrod steckte den Dollar in seine Hemdtasche und ging. Auf dem Rückweg ins Lager blieb er immer wieder stehen und betrachtete seine Geige, als sähe er sie zum ersten Mal. Er war noch nie auf den Gedanken gekommen, dass er versuchen könnte, sein Geigenspiel zu verbessern, doch nun war in ihm der Eifer geweckt, sich jede Melodie anzueignen, als brannte
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alles in Hörweite plötzlich lichterloh. Die Musik, die er sich für das Mädchen ausgedacht hatte, spielte er seither jeden Tag. Er wurde ihrer nie überdrüssig – im Gegenteil, er hielt die Melodie für so unerschöpflich, dass er sie bis an sein Lebensende täglich spielen und dabei jedesmal etwas Neues dazulernen könnte. Mittlerweile hatten seine Finger die Töne so oft gegriffen, hatte sein Arm den Saiten mit dem Bogen so oft diese Melodie entlockt, dass er sich beim Spielen gar nicht mehr zu konzentrieren brauchte. Die Töne kamen wie von selbst. Die Melodie hatte sich verselbständigt, war zu einem Ritual geworden, das einem ausklingenden Tag Sinn und Ordnung verlieh – so wie manche vor dem Schlafengehen beten, andere zweimal nachprüfen, ob die Haustür verriegelt ist und wieder andere einen Nachttrunk zu sich nehmen. Seit dem Tag mit dem Brandunfall nahm die Musik bei ihm einen immer größeren Raum ein. Der Krieg interessierte ihn nicht mehr. Er versah seinen Dienst immer nachlässiger. Aber er wurde kaum vermisst. Er zog es vor, so viel Zeit wie möglich in Richmonds zwielichtigen Kneipen zu verbringen, üblen Spelunken, die nach ungewaschenen Körpern, verschüttetem Schnaps, billigen Duftwässern und ungeleerten Nachttöpfen rochen. Genau genommen hatte er schon den ganzen Krieg hindurch jede freie Minute in solchen Lokalitäten zugebracht, doch anders als bisher galt sein Interesse nun in erster Linie den Negermusikern, die häufig für die Gaste aufspielten. So manche Nacht zog Stobrod von Schenke zu Schenke, bis er jemanden entdeckte, der ein Saiteninstrument virtuos beherrschte, einen Meister an der Gitarre oder am Banjo. Dann holte er seine Geige heraus und spielte bis zum Morgengrauen und lernte jedesmal etwas Neues hinzu. Anfangs richtete er sein Augenmerk auf die Technik des Stimmens, des Fingersatzes und der Phrasierung. Dann begann er auf die Liedtexte der Neger zu achten und sie dafür zu bewundern, wie klar und stolz sie alle Sehnsüchte und Ängste
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ihres Lebens heraussangen. Und er gewann immer mehr den Eindruck, dass er Dinge über sich selbst lernte, die ihm noch nie zuvor ins Bewusstsein gedrungen waren. Zu seinem großen Erstaunen wurde ihm beispielsweise klar, dass die Musik für ihn mehr bedeutete als nur ein Vergnügen. Dass sein Interesse daran substantiell war. Die Anordnung der Töne, ihre Schwingungen in der Luft, wenn sie ausklangen und verschwanden, sagten ihm etwas über die Gesetze der Schöpfung, das er als tröstlich empfand. Die Musik sagte ihm, dass sich eine Ordnung in die Dinge des Lebens bringen ließ, so dass es nicht nur aus Chaos und Sichtreibenlassen bestehen musste, sondern Form und Ziel haben konnte. Es war ein überzeugendes Argument gegen die Behauptung, dass alles nichts als Zufall sei. Neunhundert Geigenstücke beherrsche er mittlerweile, von denen er einige hundert selbst komponiert habe. Ruby zweifelte diese Zahl an, indem sie darauf hinwies, dass ihm bislang stets die Finger seiner beiden Hände genügt hätten, um alles abzuzählen, was es in seinem Leben zu zählen gab. — Er hat noch nie von irgendetwas so viel gehabt, dass er weiter zählen musste als bis zehn, sagte sie. Neunhundert Stücke, beharrte Stobrod. — Also, dann spiel mal eins vor, sagte Ruby. Stobrod überlegte kurz, strich dann mit dem Daumen über die Saiten, drehte an einem Wirbel, strich abermals über die Saiten und drehte an weiteren Wirbeln, bis er eine exotische Stimmung erreicht hatte, bei der die E-Saite um etwa drei Töne tiefer war als gewöhnlich und dem dritten Ton auf der ASaite entsprach. — Ich habe diesem Stück bisher noch keinen Namen gegeben, sagte er. Aber ich könnte es vielleicht Das Mädchen mit den grünen Augen nennen. Der Ton, den er erzeugte, als er den Bogen auf der neuen Geige ansetzte, war von erstaunlicher Klarheit, Schärfe und Reinheit, und die tiefe Stimmung der Geige führte zu
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ungewohnten und dissonanten Klangeffekten. Die Melodie war getragen und harmonisch, doch von einem spannungsvollen Rhythmus und einer erstaunlichen Variationsbreite. Man wurde beim Hören ständig darauf gestoßen, dass die Melodie vergänglich war, durch nichts festzuhalten, ein bloßer Hauch. Was sie ausdrückte, war Sehnsucht. Ada und Ruby hörten beeindruckt zu, während Stobrod die Musik vor ihnen ausspann. Er hatte offenbar, zumindest bei diesem wehmütigen Stück, die kurze, abgehackte Bogenführung der üblichen Fiedler aufgegeben und erzeugte mit langsamen Ganzbogenstrichen Töne von großer Süße und Eindringlichkeit. Es war Musik, wie sie Ruby noch nie gehört hatte. Und Ada ebensowenig. Sein Spiel war so mühelos wie das Atmen, und dennoch durch und durch von der Überzeugung getragen, dass sie den Mittelpunkt eines Lebens darstellte, das sich zu leben lohnte. Als Stobrod zum Ende kam und die Geige von seinem grauen Stoppelkinn nahm, entstand ein langes Schweigen, während dem das Quaken der Grillenfrösche unten am Fluss zugleich traurig und angesichts des bevorstehenden Winters ungewöhnlich hoffnungsvoll klang. Er sah Ruby an, als mache er sich auf ein hartes Urteil gefaßt. Ada sah sie ebenfalls an, und der Ausdruck auf Rubys Gesicht verriet, dass es mehr bedürfen würde als einer Geschichte und eines Lieds auf der Geige, um ihr Herz zu erweichen. Sie richtete ihr Wort nicht an ihn, sondern wandte sich an Ada und sagte: Mächtig seltsam, dass er so spät im Leben endlich zu dem einzigen Werkzeug gefunden hat, für das er je eine Begabung gezeigt hat. Ein Mann von solcher Armseligkeit, dass er seinen Spitznamen daher hat, wie er mit einem Stock halb totgeschlagen wurde, nachdem man ihn erwischte, wie er einen Schinken klauen wollte. Ada hingegen kam es beinahe wie ein Wunder vor, dass ausgerechnet Stobrod den Beweis erbringen sollte, dass es, ganz gleich, wie tief man den Karren in den Dreck gefahren
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hat, immer möglich ist, doch noch auf den richtigen Pfad zu gelangen – und sei es nur in einem Aspekt.
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Ein blutbesudeltes Brautbett
Inman wanderte tagelang, orientierungslos und umnebelt, bei miserablem Wetter durch die Berge. Es schien vom Neumond bis fast zum nächsten Vollmond ununterbrochen zu regnen – obwohl sich das wegen des bedeckten Himmels nicht genau sagen ließ – es sei denn, man hätte daran gedacht, die Tage von dem Zeitpunkt an zu zählen, da der erste Tropfen fiel. Inman hatte über eine Woche weder Sonne, Mond, noch Sterne gesehen, und er wäre nicht erstaunt gewesen, wenn er hätte feststellen müssen, dass er sich die ganze Zeit im Kreis bewegt hätte oder in komplizierteren, aber gleichermaßen richtungslosen geometrischen Figuren. Um einen geraden Kurs einzuhalten, peilte er jeweils einen vor ihm liegenden Punkt – einen bestimmten Baum beispielsweise oder einen Felsen – an. Er behielt diese Taktik bei, bis ihm der Gedanke kam, dass die gewählten Punkte alle auf einer großen Kreisbahn liegen könnten, und es erschien ihm gleichermaßen sinnlos, sich in großen Kreisen zu bewegen wie in kleinen. Von da an tappte er einfach blindlings weiter durch den Nebel, indem er an Weggabelungen jeweils die Richtung einschlug, die er für Westen hielt, und versuchte, sich damit zufriedenzugeben, einfach nur in Bewegung zu sein. Er hatte die Salbe der Ziegenfrau aufgetragen, bis sie aufgebraucht war, und die beiden Kopfwunden waren nach kurzer Zeit zu kleinen, runzligen Narben verheilt, die Halswunde zu einem harten, silbrigen Striemen. Die Schmerzen waren nun in den Hintergrund gerückt wie das Geräusch eines Baches, in dessen Nahe man lebte – ein Geräusch, das er glaubte, ohne Ende anhören zu können. Nur seinen Gedanken war keine so schnelle Heilung beschieden.
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Sein Brotbeutel wurde immer leerer. Er versuchte zunächst, sich etwas zu schießen, doch der hohe Balsamtannenwald schien von allen Tieren verlassen zu sein. Dann probierte er, sich Flusskrebse zu fangen. Er brauchte mehrere Stunden, bis er einen Hut voll gesammelt hatte, und stellte, nachdem er sie gekocht und gegessen hatte, fest, dass sich die Mühe kaum gelohnt hatte. Er zog die Rinde eines Ulmenschößlings ab, um sie zu kauen, und vertilgte den Hut eines rubinroten, pfannengroßen Röhrenpilzes. Schon eine Viertelstunde später war er wieder hungrig wie ein Bär. Bald fiel ihm nichts mehr ein, als mit den Händen geschöpftes Bachwasser zu trinken und sich am Bachrand Brunnenkresse zu rupfen. Eines Nachmittags war er dann tatsächlich soweit, dass er wie ein am Ufer äsendes Wildtier auf allen vieren an einem bemoosten Bach umherkroch – das Gesicht nass bis zu den Ohren, im Mund den scharfen Geschmack der Kresse und nicht eine Idee mehr im Kopf. Als er an einer tiefen, unbewegten Stelle in den Bach hinuntersah und darin verschwommen sein finsteres Gesicht erblickte, rührte er das Wasser hastig mit den Fingern auf, um das Spiegelbild zu zerstören und sich nicht sehen zu müssen. Gott, könnte ich mir doch Flügel wachsen lassen und mich in die Lüfte erheben, dachte er. Dann wäre ich auf der Stelle fort von hier, ließe mich auf meinen breiten Schwingen mit langen, im Wind zischenden Federn auf und davon tragen. Die Welt unter mir würde sich aufrollen wie ein buntes Bild auf einer Papierrolle, und es gäbe nichts, das mich am Boden halten könnte. Alle Wasserläufe und Hügel ließe ich mühelos unter mir vorbeiziehen. Während ich höher und höher stiege, bis ich nur noch ein dunkler Fleck am klaren Himmel wäre. Auf dem Weg nach anderswo. Um auf Bäumen und zwischen Felsen zu leben. Hin und wieder würden mich vielleicht Gesandte der Menschen aufsuchen, um mich in die Gesellschaft zurückzuholen. Doch jedesmal ohne Erfolg. Ach, könnte ich doch auf einen hohen Bergkamm fliegen und dort sitzen bleiben, um in Frieden das helle Licht des Alltags zu
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betrachten. Er setzte sich auf und lauschte eine Weile dem Gemurmel des Wassers, wie es über die runden Steine floß, und dem auf die abgefallenen Blätter tröpfelnden Regen. Auf einem Kastanienast ließ sich eine durchnässte Krähe nieder, versuchte sich das Wasser aus dem Gefieder zu schütteln und blieb dann aufgeplustert und mürrisch hocken. Inman erhob sich und ging, wie es sich für seine Art gehörte, auf zwei Beinen weiter, einem kleinen, kaum betretenen Pfad folgend. Irgendwann am nächsten Tag hatte Inman auf einmal das Gefühl, er werde verfolgt. Er wirbelte herum und sah unmittelbar hinter sich einen kleinen, schweinsäugigen Mann in einer verschossenen Arbeitshose und einem schwarzen Gehrock, der sich ihm lautlos näherte. Er hätte nur die Arme ausstrecken müssen, um ihn am Hals zu würgen. — Wer zum Teufel sind Sie? rief Inman. Der Mann sprang in den Wald und duckte sich hinter einen hohen Tulpenbaum. Inman ging zu dem Baum und spähte um den Stamm. Nichts. Er ging weiter und drehte sich im Gehen ständig um. Wenn er blitzschnell herumfuhr, um den schattenhaften Verfolger zu überraschen, erblickte er ihn manchmal in einiger Entfernung zwischen den Bäumen. Er versucht herauszufinden, in welche Richtung ich gehe, und dann rennt er zur Bürgermiliz, um mich zu verpfeifen, dachte Inman. Er zog den LeMat heraus und fuchtelte damit herum. — Ich knalle dich ab, brüllte Inman in den Wald. Paß nur auf. Ohne lange zu fackeln. Ich puste dir ein Loch in den Bauch, das so groß ist, dass man einen Hund hindurchjagen könnte. Der Mann blieb ein Stück zurück, folgte ihm aber weiterhin, immer zwischen den Bäumen hin und her huschend. Als Inman schließlich um eine Wegbiegung kam, trat der Mann auf einmal vor ihm hinter einem Felsen hervor. — Was zum Teufel wollen Sie? fragte Inman.
Der kleine Mann legte zwei Finger an seinen Mund und ließ
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sie einen Augenblick dort liegen. Inman erkannte dies als eines der Erkennungszeichen der Red String Band oder der Heroes of America, hatte aber vergessen, welcher der beiden. Ein ehrenamtlicher Pfleger im Krankenhaus hatte ihnen Informationen über diese Sympathisanten der Unionisten geliefert. Mit ihren Geheimsignalen betrieben sie den gleichen Zirkus wie die Freimaurer. Inman gab das Gegensignal, indem er mit einem Finger über sein rechtes Auge strich. Der kleine Mann lächelte und sagte: Wir haben düstere Zeiten. Inman wusste, dass dies ein weiterer Kode war. Die richtige Antwort darauf hätte gelautet: Ja, aber wir hoffen auf bessere. Worauf der Mann fragen würde: Warum? Und Inman antworten würde: Weil wir uns an den Pfad der Erlösung halten. Doch Inman sagte statt dessen: Sie können gleich damit aufhören. Ich gehöre nicht zu den HOA oder dergleichen. Ich habe weder mit denen was am Hut, noch mit sonst wem. — Sind Sie 'n Ausreißer? — Das wäre ich bestimmt, wenn ich wo wäre, wo's was zum Ausreißen gäbe. — Um es gleich zu sagen, ich bin genauso neutral wie Sie. Mein Sohn ist in Sharpsburg erschossen worden, und seitdem schere ich mich einen Dreck um die eine wie um die andere Seite. — Ich war bei der Schlacht in Sharpsburg dabei, sagte Inman. — Potts, sagte der Mann und streckte die Hand aus. Inman ergriff die Hand und nannte seinen eigenen Namen. — Wie war es in Sharpsburg? fragte Potts. — Nicht viel anders als anderswo auch, nur größer. Zuerst warfen sie Granaten auf uns und wir auf sie. Dann kam der Sturm und das Geschiebe, mit Kugeln und Kartätschen. Viele Tote. Sie standen eine Weile da und starrten in den Wald, bis Potts sagte: Sie sehen völlig ausgehungert aus. — Hab in letzter Zeit nicht viel zu essen gekriegt und
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trotzdem so schnell voran gemacht wie möglich – also ziemlich langsam. — Ich würde Ihnen was zu essen geben, wenn ich was hätte, aber ich habe selber nichts. Drei oder vier Meilen weiter wohnt ein nettes Mädel, das Ihnen bestimmt was zu essen gibt und keine Fragen stellt. Der Regen prasselte, vom Wind getrieben, seitlich und wie Nadeln auf ihn ein. Inman hüllte sich in seine Bodenplane und marschierte weiter, ohne seinen Schritt zu verlangsamen. Er sah aus wie ein mit Kapuze und langer Kutte angetaner Pilger aus vergangenen Zeiten, wie ein dunkel gewandeter Mönch, der auf der Wanderschaft war, um das Gute in seiner Seele zu finden und sich durch seinen Marsch von dem Schmutz der Welt zu reinigen. Der Regen tropfte von seiner Nasenspitze in seinen Bart. Binnen einer Stunde erreichte er das von Potts genannte Haus – eine einsame, aus einem einzigen Raum bestehende Hütte aus vierkantig behauenem Holz, die ein Stück abseits der Straße am Eingang zu einem feuchten Taleinschluß stand. Die Fensterscheiben bestanden aus geöltem Papier. Eine dünne braune Rauchfahne stieg aus dem lehmverputzten Kamin und wirbelte mit dem Wind davon. In einem Pferch am Hang hinter dem Haus suhlte sich ein Mastschwein. Hühnerkäfige in der Ecke zwischen Haus und angebautem Kamin. Inman ging an das Tor und machte sich durch einen Ruf bemerkbar. In den Regen hatte sich mittlerweile Graupel gemischt. Inmans Wangen fühlten sich so eingefallen an, dass es ihm vorkam, als berührten sie sich in seiner leeren Mundhöhle. Während er dastand und wartete, betrachtete er einen hinter dem Zaun stehenden Gewürzstrauch, auf dessen roten Beeren sich ein Eisüberzug bildete. Nachdem er ein zweites Mal gerufen hatte, machte eine junge Frau, besser gesagt ein Mädchen, die Tür einen Spalt weit auf, streckte ihren braunen Schopf heraus und zog ihn sogleich wieder zurück. Er hörte, wie der Riegel einschnappte. Ihre Angst ist nur zu berechtigt,
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dachte Inman. Er rief noch einmal, und fügte diesmal hinzu, dass Potts ihn hierhergeschickt habe, um sich hier etwas zu essen geben zu lassen. Die Tür ging auf, und das Mädchen trat auf die Veranda heraus. — Warum haben Sie das nicht gleich gesagt? fragte sie. Sie war ein hübsches Ding, klein und schlank und mit straffer Haut. Ihr Haar war braun, und sie trug ein Kleid aus bedruckter Baumwolle, das schlecht zum bitterkalten Wetter passte. Inman nahm die Kette von dem Nagel am Torpfosten und ging, indem er sich aus seinem Überzug schälte, auf die Veranda zu. Er schüttelte die Bodenplane aus und hängte sie über das Geländer, damit das Wasser ablaufen konnte. Er nahm Tornister und Brotbeutel und stellte beides an eine geschützte Stelle auf der Veranda. Dann blieb er wartend im niederprasselnden Eis stehen. — Na, kommen Sie schon herauf, sagte sie. — Ich bezahle für das, was ich esse, sagte Inman. Er stieg zu der Frau auf die Veranda. — Ich bin zwar knapp bei Kasse, aber so arm bin ich dann doch noch nicht, dass ich für das wenige, das ich anbieten kann, Geld verlangen müsste. Ein Maisbrot und ein paar Bohnen – mehr habe ich nicht. Sie drehte sich um und ging ins Haus. Inman folgte ihr. In dem Zimmer, das lediglich von dem Kaminfeuer und dem schwachen braunen Licht beleuchtet wurde, das durch die Papierfenster auf den blank gescheuerten Dielenboden fiel, war es dunkel, doch er konnte erkennen, dass es zwar kahl wie eine Scheune, aber sauber war. Einen Tisch, zwei Stühle, einen Schrank, ein mit Seilen bespanntes Bett, mehr Möbel gab es nicht. Außer dem Patchwork-Quilt auf dem Bett fehlte in dem Raum jeglicher Schmuck. Weder das Bild eines geliebten Menschen noch von Jesus an der Wand, nicht einmal eine aus einer Zeitung ausgeschnittene Illustration, so dass es schien, als herrschte hier eine strenge Ablehnung gegen jede Art von
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Götzenbildern. Weder eine Porzellanfigur auf dem Kaminsims, noch eine Schleife am Kaminbesen. Das einzig Dekorative war der Quilt. Er hatte ein für die Gegend unübliches Muster – kein Siebenstern, kein fliegender Vogel, kein Butterstößel und auch kein Pappelblatt, sondern eine Art Tierkreis aus unwirklichen Kreaturen, ein vollkommen selbsterfundenes Bestiarium. Es war in den matten Rot-, Grünund Gelbtönen gehalten, die man aus Rinde, Blumen und Nußschalen gewinnt. Sonst gab es bis auf das rotwunde Gesicht eines Säuglings, der dick eingewickelt in einer grob zusammengezimmerten Wiege aus Kiefernzweigen lag, die noch nicht einmal entrindet worden waren, in der ganzen Hütte keine andere Farbe als Braun. Während Inman sich in dem Zimmer umsah, wurde ihm auf einmal bewusst, wie verdreckt er war. In diesem sauberen, geschlossenen Raum merkte er, dass seine Kleider von all dem Schweiß, der sich bei seinem langen Marsch darin gesammelt hatte, einen durchdringenden Gestank ausströmten. Seine Stiefel und Hosenbeine waren bis zu den Schienbeinen mit Schlamm bespritzt, und er hinterließ bei jedem Schritt Schmutzspuren. Er überlegte, ob er seine Stiefel ausziehen sollte, fürchtete jedoch, dass seine Socken stanken wie verdorbenes Fleisch. Es war schon eine Weile her, seit er sich die Stiefel zum letztenmal ausgezogen hatte. Die Hütte war noch ziemlich neu und roch immer noch leicht nach frisch gehobeltem Holz, nach Kastanie und Hickorynuß – ein Duft, bei dem sich Inman umso unbehaglicher fühlte. Die Frau zog einen der Stühle neben die Feuerstelle und bedeutete ihm, sich zu setzen. Kurze Zeit später begannen seine durchnässten Kleidern leicht zu dampfen, und unter seinen Hosenbeinen hatten sich kleine schlammige Pfützen auf dem Boden gebildet. Als er zu seinen Füßen hinuntersah, bemerkte er, dass die Dielen vor dem Kamin halbkreisförmig abgetreten und ausgebleicht waren – wie die festgetretene Erde in Reichweite eines Kettenhundes. Der Henkeltopf mit den Gefleckten Feldbohnen hing seitlich
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über dem Feuer an einem Eisenhaken. In einem flachen Bratentopf auf dem Herd lag ein frisches rundes Maisbrot. Die Frau brachte Inman einen Teller mit einer großen Portion Bohnen, Brot und einer großen, geschälten Zwiebel und stellte einen Eimer mit Quellwasser und eine Schöpfkelle neben ihn. — Sie können entweder am Tisch essen oder hier. Hier ist es wärmer, sagte sie. Inman stellte den Teller auf seinen Schoss und machte sich mit Messer und Löffel über das Essen her. Einerseits wollte er gern höflich sein, doch dann gewann etwas Wölfisches in seinem Innern die Oberhand, und er schlang seine Mahlzeit geräuschvoll und gierig hinunter und kaute nur, wenn es absolut nicht zu vermeiden war. Die Zwiebel schnitt er gar nicht auf, sondern biß in sie hinein wie in einen Apfel. Die heißen Bohnen schaufelte er sich so hastig in den Mund und die fettigen Brotstücke zerkaute er mit einer Geschwindigkeit, dass er selbst darüber erschrak. Die Bohnensoße tropfte von seinem Bart auf sein dreckiges Hemd. Weil er nicht regelmäßig Luft holte, ging sein Atem kurz und pfiff in seiner Nase. Er zwang sich mit großer Mühe, langsamer zu kauen und trank einen Schöpflöffel kalten Quellwassers. Die Frau hatte den Stuhl auf die andere Seite der Feuerstelle gezogen und beobachtete ihn wie jemand, der einer Wildsau beim Verschlingen von Aas zusieht – mit einer Art faszinierten Ekels. — Entschuldigen Sie bitte, aber ich habe seit Tagen so gut wie nichts gegessen. Nur Brunnenkresse und Bachwasser, sagte er. — Sie brauchen sich nicht zu entschuldigen, sagte sie – in einem so ruhigen, bestimmten Ton, dass Inman nicht sicher war, ob das Gesagte verständnisvoll oder vorwurfsvoll gemeint war. Daraufhin sah er sie zum ersten Mal genauer an. Sie war tatsächlich nicht mehr als ein blasses, schmächtiges Mädchen, das allein hier in diesem düsteren Tal hauste, in das die Sonne
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niemals für längere Zeit hineinschien. Sie war so arm, dass es ihr sogar an Knöpfen mangelte, denn das Oberteil ihres Kleides wurde mit dem langen Dorn eines HahnenspornWeißdorns zusammengehalten. — Wie alt sind Sie? fragte Inman. — Achtzehn, sagte sie. — Ich heiße Inman. Und Sie? — Sara. — Wie kommt es, dass Sie ganz allein hier wohnen? — Mein Mann, John, ist in den Krieg gezogen. Er ist vor einer Weile gefallen. Ist in Virginia erschossen worden. Er hat sein Baby nie gesehen, und jetzt sind wir beide allein. Inman schwieg eine Weile, während ihm der Gedanke durch den Kopf ging, dass sich angesichts der Sinnlosigkeit dieses Mordens eigentlich jeder Mann, der auf einer der beiden Seiten starb, seinen eigenen Revolver an den Gaumen hätte halten können, um sich den Hinterkopf herauszublasen. — Gibt es jemand, der Ihnen zur Hand geht? fragte er. — Nein, niemand. — Wie schaffen Sie das denn alleine? — Ich nehme einen Handpflug und versuche hinten am Hang so gut es geht ein kleines Stück Land mit Mais zu bebauen und einen Küchengarten zu halten, habe aber dieses Jahr nicht viel ernten können. Ich habe eine kleine Mühle, in der ich den Mais mahlen kann. Und ein paar Hühner, die Eier liefern. Wir hatten auch eine Kuh, doch diesen Sommer sind die Plünderer über den Berg gekommen und haben sie mir weggenommen. Sie haben auch die kleine Scheune niedergebrannt, die Bienenkörbe gestohlen und auf der Veranda, vor meinen Augen, unseren blauscheckigen Jagdhund mit einer Axt erschlagen. Das dicke Schwein oben im Pferch ist so gut wie alles, was ich für den Winter habe. Ich werde es bald schlachten müssen, aber mir graut davor, denn ich habe noch nie ein Schwein geschlachtet. — Sie brauchen jemand, der Ihnen dabei hilft, sagte Inman. Sie schien ihm viel zu zart, um Schweine zu metzgen.
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— Brauchen und bekommen sind zweierlei. Meine Familienangehörigen sind mittlerweile alle tot, und bis auf Potts habe ich hier keine Nachbarn, die ich um Hilfe bitten könnte. Doch wenn es um Arbeit geht, ist der keine Hilfe. Alles, was getan werden muss, muss ich allein tun. Bei diesem Leben würde sie binnen fünf Jahren eine alte Frau sein, und als Inman dies klar wurde, wünschte er, seinen Fuß niemals in dieses Haus gesetzt zu haben, sondern weitergelaufen zu sein – selbst auf die Gefahr hin, am Wegesrand zusammenzubrechen und niemals wieder aufzustehen. Er erkannte bekümmert, dass sie ein Leben führte, in das er auf der Stelle eintreten und von heute an bis zu seinem Tod ohne Unterlass arbeiten könnte. Wenn er sich auch nur eine Minute darüber nachzudenken gestattete, sah er die ganze Welt über dem Mädchen schweben wie der Prügel über einer Falle – bereit, niederzusausen und sie zu zerschmettern. Draußen war es mittlerweile fast dunkel, und in dem Zimmer war es bis auf das gelbleuchtende Kaminfeuer so düster wie in einer Bärenhöhle. Das Mädchen hatte die Beine zum Feuer hin ausgestreckt. Sie hatte dicke graue Männersocken an den Füßen, die an den Knöcheln umgeschlagen waren, und ihr Kleidersaum war ein Stück hochgerutscht, so dass er im Schein des Feuers die feinen goldenen Härchen an ihren dünnen Waden sehen konnte. Er war nach dem zwangsweisen Fasten der vergangenen Tage so wirr im Kopf, dass er um ein Haar darübergestrichen hätte wie über den Hals eines nervösen Pferdes, das man zu beruhigen versucht – denn er konnte in jeder Faser ihres Körpers die Zeichen der Verzweiflung erkennen. — Ich könnte Ihnen helfen, hörte Inman sich sagen. Es ist zwar noch ein wenig früh, aber das Wetter ist ganz gut zum Schweineschlachten. — Das kann ich nicht verlangen. — Sie haben es nicht verlangt. Ich habe es angeboten. — Dann müsste ich mich aber auf irgendeine Weise
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revanchieren. Ich könnte beispielsweise Ihre Sachen waschen und flicken. Die haben's wirklich bitter nötig. Der lange Riss in Ihrem Mantel könnte einen Flicken gebrauchen. Sie könnten derweil ein paar Sachen von meinem Mann anziehen. Er war ungefähr so groß wie Sie. Inman beugte sich wieder über seinen Teller, um zu essen, und bald darauf tunkte er den verbliebenen Saft mit einem Kanten Maisbrot auf. Ohne zu fragen, schöpfte Sara ihm eine zweite Portion Bohnen auf den Teller und reichte ihm noch ein Stück Brot. Das Baby fing an zu schreien. Während Inman sich über den zweiten Teller hermachte, ging sie zu dem im Dunkeln stehenden Bett hinüber, knöpfte ihr Kleid bis fast zum Bauch auf und stillte das Kind. Er bemühte sich, nicht hinzuschauen, konnte aber in dem flackernden Licht die weiß schimmernde Rundung ihrer Brust nicht übersehen. Als sie das Baby nach einer Weile absetzte, glitzerte ihre nasse Brustspitze im Licht. Kurz darauf kam sie mit einem Stapel zusammengefalteter Kleider zum Kamin zurück, obenauf ein sauberes Paar solider Stiefel. Er reichte ihr den leeren Teller, und sie legte die Kleider und die Stiefel auf seinen Schoss. — Sie können auf die Veranda gehen und sich diese Sachen anziehen. Und nehmen Sie dies. Sie reichte ihm eine aus dem Boden eines Kürbisses gefertigte Schüssel mit Wasser, einen Klumpen grauer Seife und einen Waschlappen. Er trat ins Dunkel hinaus. An einem Ende der Veranda stand ein Waschbrett, und an dem Pfosten über dem Brett hing ein kleiner, runder Spiegel aus poliertem, rostigem Metall. Der Rasierplatz des jungen John. Die vertrockneten, an den schwarzen Eichen hängenden Blätter knisterten noch unter dem Eisüberzug, doch an der Talöffnung sah er, dass die über den Mond dahintreibenden Wolken aufbrachen. Inman musste an den Hund denken, den die Plünderer vor den Augen des Mädchens getötet hatten. Er entkleidete sich in der Kälte, und die Kleider, die er auszog, waren wie gehäutete Felle – nass,
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schwer und schlaff. Ohne in den Spiegel zu schauen, schrubbte er sich mit der Seife und dem Lappen ab. Er schüttete sich das restliche Wasser aus der Kürbisschale über den Kopf und kleidete sich an. Die weichen und vom häufigen Waschen dünn gewordenen Kleider des toten Mannes passten ihm tadellos, und die Stiefel waren wie maßgeschneidert. Trotzdem kam es ihm vor, als härte er sich die Schale eines anderen Lebens übergestreift. Als er die Hütte betrat, fühlte er sich wie ein Geist, der in eine abgelegte Hülle kriecht, ohne sie damit zum Leben zu erwecken. Sara hatte ein Talglicht angezündet und wusch am Tisch in einer Schüssel das Geschirr ab. Die Luft um das Licht wirkte dick. Sämtliche Gegenstände ringsum waren von einem Lichthof umgeben. Was dahinter im Schatten lag, war nicht zu sehen. Die Krümmung des Rückens der über den Tisch gebeugten jungen Frau erschien Inman so schön, dass er vermeinte, so etwas würde er wohl in seinem ganzen Leben nicht wieder zu Gesicht bekommen. Er nahm sich vor, es im Gedächtnis zu bewahren, damit er sich, für den Fall, dass er einmal alt würde, daran erinnern konnte – nicht als Heilmittel gegen die verronnene Zeit, aber doch immerhin zum Trost. Er setzte sich wieder in den Stuhl am Kamin. Das Mädchen gesellte sich bald zu ihm, und dann saßen sie beide schweigend da und blickten in das rotglühende Feuer. Sie sah zu ihm auf, ihr Gesicht ein unleserliches, goldiges Etwas. — Wenn ich eine Scheune hätte, könnten Sie darin schlafen, sagte sie. Aber ich habe keine mehr. — Der Maisspeicher tut's auch. Sie blickte wieder ins Feuer, wie zum Zeichen, dass er gehen sollte, und Inman trat wieder hinaus auf die Veranda, sammelte seine Gepäckstücke und sein durchweichtes Bettzeug ein und begab sich zum Maisspeicher hinter dem Haus. Die Wolken brachen nun tatsächlich auf, und im Licht des freigelegten Mondes begann die umliegende Landschaft Formen anzunehmen. Die Temperatur lag deutlich unter dem Gefrierpunkt. Inman kletterte in den Speicher und vergrub sich
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mit seiner Decke so gut es ging zwischen den Maiskolben. Weiter oben im Tal ertönte ein paarmal der Ruf einer Eule, jedesmal ein wenig tiefer. Das Schwein rumorte und schnüffelte noch eine Weile herum, dann wurde es still. Inman sah eine düstere und hubbelige Nacht auf sich zukommen, doch das war allemal besser, als auf dem nackten Boden zu schlafen. Durch die Ritzen der Holzwand drang blaues Mondlicht, und Inman sah genug, um den LeMat aus seinem Brotbeutel holen und die zehn Ladungen überprüfen zu können. Er polierte den Revolver mit dem Saum des Hemdes des toten Ehemannes und brachte ihn in Vorderraststellung. Dann holte er noch sein Messer heraus, strich mit der Klinge über das saubere Leder einer Stiefelsohle und rollte sich in seine Decke ein. Doch er war kaum eingeschlafen, als er von dem Geräusch auf dem gefrorenen Laub knirschender Schritte geweckt wurde. Er streckte seine Hand langsam und vorsichtig nach seinem Revolver aus, damit die Maiskolben nicht knisterten. In etwa zehn Schritt Entfernung vom Maisspeicher verstummten die Schritte. — Kommen Sie bitte rein, sagte Sara. Dann machte sie kehrt und ging davon. Inman kletterte heraus, steckte sich den Revolver in den Hosenbund und legte den Kopf in den Nacken, um den schmalen Himmelsstreifen zu mustern. Der Orion war voll aufgegangen und schien sich breitbeinig über den dicht beieinander liegenden Kämmen zu beiden Seiten des Talgrunds aufgepflanzt zu haben – selbstbewusst wie einer, der weiß, was er will und dementsprechend handelt. Während Inman auf das Haus zuging, bemerkte er, dass die Papierfenster wie japanische Laternen leuchteten. Drinnen stellte er fest, dass das Mädchen große Hickorynußscheite auf das Feuer gelegt hatte, so dass es jetzt hell und hoch loderte und es im Zimmer mollig warm war. Sie lag im Bett und ihr Zopf war gelöst, so dass der im Licht schimmernde Haarschopf ihr wallend über die Schultern fiel.
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Inman ging zum Kamin und legte den Revolver auf ein kleines Brett, das als Kaminsims diente. Das Kinderbett war in die Nähe des Kamins gerückt worden, und da das Baby auf dem Bauch lag, sah man auf dem Kissen nur eine bleiche, mit feinem Flaum bedeckte Kugel. — Mit dem großen Revolver sehen Sie aus wie ein Bandit, sagte das Mädchen. — Ich glaube nicht, dass ich derzeit irgend etwas bin, das mit einem Wort zu benennen wäre. — Wenn ich Sie um etwas bäte, würden Sie es tun? Inman überlegte, dass es hier wohl ratsam wäre, mit Vielleicht zu antworten oder Wenn ich kann oder einer ähnlich ausweichenden Formulierung. Was er hingegen sagte, war: Ja. — Wenn ich Sie bitten würde, sich zu mir ins Bett zu legen, aber sonst nichts weiter zu tun – könnten Sie das? Inman sah sie an und fragte sich, was sie wohl in ihm sah. Eine die Kleider ihres Mannes ausfüllende hehre Gestalt? Einen halb begehrten, halb gefürchteten Geist? Sein Blick ruhte auf der Patchworkdecke über ihr. Die zusammengesetzten Quadrate stellten klobige Ungeheuer dar, mit großen Augen und kurzen Beinen, plump, aber heraldisch. Es schien sich um halb der Traumwelt entsprungene Tiere zu handeln. Die Schultern mit dicken Muskelpaketen, die Beine voller Borsten, brüllende, weit aufgerissene Mäuler mit langen Zähnen. — Könnten Sie das? — Ja. — Das dachte ich mir, sonst hätte ich gar nicht erst gefragt. Er ging zu dem Bett, zog sich die Stiefel aus, kletterte vollbekleidet unter die Decke und blieb flach auf dem Rücken liegen. Die Matratze über der Bespannung war mit frischem Stroh gefüllt, dessen trockener, herbstlicher und süßer Geruch sich mit dem des Mädchens vermischte – ein Duft, der an nasse Berglorbeersträucher erinnerte, nachdem ihre Blüten abgefallen sind.
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Sie lagen beide so reglos da, als hätten sie eine geladene und gespannte Schrotflinte zwischen sich. Nach ein paar Minuten fing sie an, trocken und heftig zu schluchzen. — Ich sollte vielleicht doch lieber gehen. — Scht. Nach einer Weile hörte sie auf zu weinen. Sie setzte sich auf, rieb sich mit einem Zipfel der Steppdecke die Augen und begann von ihrem Mann zu erzählen. Sie wollte von Inman nichts weiter, als dass er sich ihre Lebensgeschichte anhörte. Jedesmal, wenn er zum Sprechen ansetzte, sagte sie: Scht. An ihrer Geschichte war nichts Außergewöhnliches, abgesehen davon, dass es sich dabei um ihr Leben handelte. Sie erzählte, wie John und sie sich kennengelernt und ineinander verliebt hatten. Wie sie gemeinsam diese Hütte gebaut hatten und sie mit ihm wie ein Mann Bäume gefällt, die gehobelten Stämme übereinandergesetzt und die Ritzen zugespachtelt habe. Von dem glücklichen Leben, das sie an diesem einsamen Ort hatten führen wollen – einem Ort, der Inmans Ansicht nach viel zu ungünstig gelegen war, um genügend für den Lebensunterhalt herzugeben. Von der Härte der letzten vier Jahre, von Johns Tod und der knappen Nahrung. Der einzige Lichtblick sei Johns kurzer Urlaub gewesen, eine Zeit, in der sie sehr glücklich gewesen seien und aus der das neben dem Kamin schlafende Baby hervorgegangen sei. Wenn sie nicht wäre, sagte Sara, gäbe es auf dieser Erde nichts, was mich halten würde. Abschließend sagte sie: Das Schwein da draußen wird viel Fleisch geben. Es hat hauptsächlich von Kastanien gelebt, und vor zwei Wochen habe ich es aus dem Wald hereingeholt und seitdem mit Mais gefüttert, damit der Speck schön klar wird. Es ist so fett, dass die Augen beinahe zugeschwollen sind. Dann verstummte sie, streckte ihre Hand aus und berührte die Wunde an Inmans Hals – zunächst nur mit den Fingerspitzen, dann mit der ganzen Hand. Sie ließ ihre Hand einen Augenblick lang dort liegen, zog sie weg und drehte sich mit dem Rücken zu Inman auf die Seite. Kurz darauf ging ihr
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Atem tief und regelmäßig. Inman vermutete, dass es ihr einfach gutgetan hatte, einem anderen Menschen zu erzählen, was für ein einsames, dürftiges Leben sie führte – ein Leben, in dem ein Mastschwein den Pfropfen zu einem ganzen Faß voll Kummer darstellte. Obwohl er todmüde war, fand Inman keine Ruhe. Während Sara schlief, lag er da und starrte nach oben, beobachtete, wie das Licht des Feuers unter dem Dach schwächer wurde, als die Holzscheite niederbrannten. Er war schon so lange nicht mehr zärtlich von einer Frau berührt worden, dass er sich mittlerweile für ein Wesen hielt, das nichts mehr mit dem Mann gemein hatte, der er einmal gewesen war. Es war dazu verurteilt, die Strafe der Verdammten zu ertragen, so dass ihm Zärtlichkeiten für immer und ewig versagt bleiben und sein Leben nichts weiter sein würde als ein einziger, böser Irrtum. In seiner Verzweiflung kam er nicht einmal darauf, seine Hand nach Saras Hüfte auszustrecken, um sie zu sich heranzuziehen und bis zum Morgengrauen festzuhalten. Wenn er zwischendurch einmal einnickte, wurde er von Träumen geplagt, die von dem Muster auf dem PatchworkQuilt ausgelöst wurden. Die Ungeheuer von der Decke jagten in einem dunklen Wald hinter ihm her, und wohin er sich auch wandte, nirgends war ein Unterschlupf. Sämtliche Bewohner dieses düsteren Reichs hatten es auf ihn in seiner Einsamkeit abgesehen, und alles dort war grau und schwarz – bis auf die Fänge und Krallen der Tiere, die so weiß schimmerten wie der Mond. Inman erwachte, als Sara ihn an der Schulter schüttelte und rief: Schnell, stehen Sie auf und laufen Sie hinaus. Draußen graute eben erst der Morgen. In der Hütte war es eiskalt, und von der auf das Haus zu führenden Straße drang leise das Getrappel von Pferdehufen herüber. — Schnell, sagte Sara. Vielleicht sind es Milizionäre, vielleicht auch Plünderer, aber auf jeden Fall ist es besser für uns beide, wenn Sie nicht hier sind. Sie rannte zur Hintertür und öffnete sie. Inman schlüpfte
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hastig in die Stiefel, nahm den LeMat vom Kaminsims und eilte hinaus. Er rannte so schnell er konnte auf den Waldrand hinter der Quelle zu. Dann tauchte er in das Gebüsch ein und arbeitete sich im Schutz der Bäume zu einer dichten Berglorbeergruppe vor, von der er einen Blick auf die Vorderseite des Hauses hatte. Er kroch tief in das Dunkel des Gebüschs hinein und spähte, das Gesicht hinter den Ästen verborgen, hinaus. Der Boden unter ihm war zu einer knirschenden Masse gefroren. Er sah, wie Sara barfuß und im Nachthemd über den gefrorenen Boden zum Schweinepferch rannte. Sie warf die Stangen des Gatters von den Halterungen und versuchte, das Schwein herauszuscheuchen. Es ließ sich jedoch nicht dazu bringen, aufzustehen. Sie stieg in den matschigen Pferch und trat mit dem Fuß nach dem Schwein, und als sie ihre Füße hob, waren sie schwarz vor Schlamm und Schweinekot, weil sie durch die gefrorene Kruste in den Matsch eingebrochen war. Das Schwein rappelte sich hoch und setzte sich in Gang, doch es war so dick und sein Bauch hing so tief, dass es kaum über die auf dem Boden liegenden Gatterstangen kam. Als es endlich draußen war und, von Sara in Richtung Wald getrieben, allmählich ein wenig schneller wurde, ertönte von der Straße ein Ruf. — Stehen bleiben. Blaujacken. Inman sah drei Stück auf traurigen Kleppern. Sie stiegen ab und schritten durch das Eingangstor. Zwei von ihnen trugen Springfield-Musketen in der linken Armbeuge. Die Mündungen zeigten schräg nach unten, doch die Finger der Männer lagen an den Abzugsbügeln. Der andere Mann hielt einen Navy-Revolver senkrecht nach oben, als wollte er einen Vogel vom Himmel herunterschießen, doch sein Blick war geradeaus auf Sara gerichtet. Der Mann mit dem Revolver ging zu ihr hin und befahl ihr, sich auf den Boden zu setzen, was sie auch tat. Das Schwein ließ sich neben ihr niederplumpsen. Die zwei mit den
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Musketen stiegen auf die Veranda und gingen ins Haus, wobei der eine den anderen deckte, als dieser die Tür öffnete und eintrat. Während sie im Haus waren, blieb der Mann mit dem Revolver vor Sara stehen, ohne sie anzusehen oder mit ihr zu reden. Aus dem Haus drang das Geschepper und Geklirr von zerbrechenden Gegenständen. Als die zwei Männer wieder auftauchten, schlenkerte einer von ihnen das Baby an einer Falte in seinen Tüchern, wie eine Tasche an ihrem Henkel. Das Baby schrie, und Sara versuchte aufzustehen, um ihm entgegenzugehen, doch der Mann mit dem Revolver stieß sie zurück auf den gefrorenen Boden. Die drei Unionssoldaten berieten sich im Hof, doch Inman konnte wegen des Babygeschreis und Saras flehentlichen Rufen, ihr das Kind zu geben, nicht verstehen, was sie sagten. Doch er konnte ihren Akzent hören, monoton und abgehackt wie Hammerschläge, und in ihm stieg der Drang auf, sie abzuknallen. Er war jedoch zu weit entfernt, um mit dem LeMat auf sie schießen zu können, und selbst wenn er in Schussweite gewesen wäre, hätte er nicht gewusst, nach welcher Taktik er vorgehen sollte, ohne Sara, das Baby und sein eigenes Leben zu gefährden. Dann vernahm er, wie sie Sara fragten, wo sie ihr Geld versteckt habe. Davon leben sie, dachte Inman. Sara sagte – was eindeutig der Wahrheit entsprach –, dass sie nichts an irdischen Gütern besitze als das wenige, was sie sehen könnten. Sie fragten jedoch immer wieder, und als sie keine andere Antwort bekamen, führten sie Sara zur Veranda, wo der Revolvermann ihr die Hände hinter dem Rücken festhielt, während einer der Musketenmänner zu den Pferden ging und ein paar Riemen aus einer Satteltasche zog, die aussahen wie Überreste von einem alten Pflug. Der Revolvermann band sie mit den Riemen an einem Pfosten fest und deutete dann wortlos mit einem Finger auf das Baby. Einer der Männer wickelte das Baby aus den Tüchern und legte es auf den gefrorenen Boden. Inman konnte hören, wie der Mann mit dem Revolver sagte:
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Wir haben den ganzen Tag Zeit, und wie Sara daraufhin aufschrie. Die Männer hockten sich auf die Verandakante, ließen die Beine baumeln und unterhielten sich. Sie drehten sich Zigaretten und rauchten sie zu speichelnassen Stummeln. Die zwei Untergebenen gingen zu den Pferden und kamen mit Säbeln zurück, mit denen sie sodann im Hof herumstocherten, um etwaige, in dem frostigen Boden vergrabene Schätze aufzuspüren. Sie waren eine Weile damit beschäftigt, während das Baby schrie und Sara flehte. Dann ließ sich der mit dem Revolver von der Veranda herunter, ging auf Sara zu, stieß ihr die Waffe zwischen die Beine und sagte: Du hast wirklich gar nichts, was? Die beiden anderen stellten sich dazu und glotzten. Inman begann sich durch den Wald zurückzuschlängeln, um sich von der Rückseite des Hauses anschleichen und, wenn er um die Ecke kam, wenigstens einen der Männer erschießen zu können, bevor sie ihn bemerkten. Es war ein lächerlicher Plan, doch er sah angesichts des offenen Geländes, das er überqueren musste, um zu den Männern zu gelangen, keine andere Möglichkeit. Er befürchtete zwar, dass er und die Frau und das Baby dabei ums Leben kommen würden, doch er wusste keine andere Lösung. Er war jedoch noch nicht weit gekommen, als die Männer von Sara abrückten. Inman blieb stehen und beobachtete sie in der Hoffnung auf eine Wendung zum Besseren. Der Revolvermann ging zu seinem Pferd, um ein langes Seil zu holen und es dem Schwein um den Hals zu binden. Einer der Musketenmänner band Sara los, während der andere das Baby an einem Arm hochhievte und es ihr entgegenstreckte. Dann jagten sie im Hof umher, um sich ein paar Hühner zu fangen. Sie fingen drei Hennen, banden ihre Beine mit Schnüren zusammen und hängten sie kopfüber hinten an ihre Sättel. Sara hielt das Baby an sich gepresst. Als sie sah, wie der Revolvermann das Schwein davonführte, rief sie aus: Das Schwein ist alles, was ich habe. Wenn Sie es mir wegnehmen,
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schlagen Sie uns beiden besser gleich die Köpfe ein, denn sterben müssen wir dann sowieso. Doch die Männer stiegen auf und ritten die Straße hinunter. Der Revolvermann hielt das Schwein an der Leine, so dass es schnaufend mitzockeln musste. Sie bogen um eine Kurve und waren nicht mehr zu sehen. Inman rannte zur Veranda und sah zu Sara hinauf. Er sagte: Wärmen Sie Ihr Baby auf, und dann machen Sie im Hof ein Feuer, das so hoch ist wie Sie selbst, und setzen Sie einen großen Bottich Wasser auf. Und dann rannte er die Straße hinunter. Während er die Unionssoldaten am Waldrand entlang verfolgte, fragte er sich, was er eigentlich vorhatte. Er konnte im Prinzip nur darauf hoffen, dass sich irgendwie eine günstige Situation ergab. Die Männer gingen nicht weit, sondern bogen nach etwa zwei oder drei Meilen in eine Senke ab, hinter der sich ein zerklüftetes, von Wald umschlossenes kleines Seitental auftat. Sie gingen ein Stück weit hinein, banden das Schwein an einer jungen Robinie fest und machten sich daran, vor einer Felsbank in der Nähe eines rauschenden Baches ein Feuer zu errichten. Inman nahm an, dass sie hier ihr Nachtlager aufzuschlagen gedachten und sich erstmal sattessen würden, selbst wenn sie dem Schwein dazu die Schinken herausschneiden müssten. Inman schlängelte sich durch den Wald, bis er über ihnen auf dem Felssims war. Er versteckte sich zwischen den Steinen und beobachtete, wie sie zwei Hühnern den Hals umdrehten, sie rupften, ausnahmen, auf frisch geschnittene Spieße steckten und über das Feuer hängten. Sie saßen mit den Rücken zum Felsen und starrten auf die brutzelnden Hühner. Inman konnte hören, dass sie von ihrem Zuhause redeten, und es stellte sich heraus, dass zwei von ihnen aus Philadelphia stammten und der mit dem Revolver aus New York. Sie redeten davon, wie sehr sie ihr Zuhause vermissten und sich danach sehnten, dort zu sein, und Inman
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wünschte ebenfalls, sie wären dort, denn das hätte ihm das, was er jetzt versuchen wollte, erspart. Er kroch leise und vorsichtig über die Felsbank bis zu der Stelle, wo sie auf ebener Erde endete. Dort am Rand des Felsens entdeckte er eine kleine Höhle, und als er seinen Kopf hineinsteckte, stellte er fest, dass sie nur zehn Fuß tief in den Felsen hineinragte. Sie hatte vor langer Zeit einmal Waschbärenjägern oder dergleichen als Unterschlupf gedient, denn am Eingang war ein alter, schwarzer Feuerring zu sehen. Die Höhle hatte auch schon früher Menschen beherbergt, die an den Höhlenwänden ihre Spuren hinterlassen hatten – seltsame, eckige Zeichen einer vergessenen Schrift, die kein heute Lebender mehr entziffern konnte. Außerdem entdeckte er Zeichnungen von längst von dieser Erde verschwundenen oder nie dagewesenen Tieren – reine Phantasieprodukte aus Hirnschalen, die längst so leer waren wie ein alter Flaschenkürbis. Inman verließ die Höhle und schlug einen Bogen um die Felsbank, bis er am Bach entlang hügelab durch die Schlucht auf das Lager zulaufen konnte. Ein Stück außer Sichtweite der Männer fand er eine große Hemlocktanne mit tiefstehenden Ästen, und in die kletterte er bis auf eine Höhe von etwa zehn Fuß, wo er sich direkt an den dunklen Stamm auf einen Ast stellte, wie es die Waldohreulen zu tun pflegen, um sich tagsüber zu verstecken. Er kollerte dreimal wie ein Wildtruthahn und wartete. Er konnte die Männer zwar sprechen hören, aber nicht verstehen, was sie sagten. Unmittelbar nach seinem Schrei kam der Mann mit dem Navy-Revolver vorsichtig in seine Richtung geschlichen. Er ging bis direkt zu dem Baum und blieb darunter stehen. Inman blickte auf die Hutkrone hinab. Der Mann klemmte sich seinen Revolver unter die Achsel, nahm den Hut ab und fuhr sich mit der Hand durchs Haar. Er hatte eine weiße kahle Stelle von der Größe eines Poker-Chips an seinem nur noch dünn behaarten Hinterkopf, und genau darauf richtete Inman seinen Revolver.
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— Hey, rief er. Der Revolvermann blickte auf, und Inman schoss so auf ihn, dass er die kahle Stelle verfehlte. Die Kugel trat in Halsnähe in seine Schulter ein und am Bauch wieder aus – wobei sich ein heller Schwall einer Masse aus ihm ergoss, die an eine große Ladung Erbrochenes erinnerte. Der Mann fiel zu Boden, als hätten sich die Knochen in seinen Beinen schlagartig verflüssigt. Er versuchte sich mit den Armen am Boden entlang zu ziehen, doch die Erde schien sich seinem Griff zu entziehen. Er rollte sich herum und sah nach oben, um festzustellen, was für ein Raubtier sich da mit solcher Wucht auf ihn gestürzt hatte. Als sich ihre Blicke trafen, legte Inman wie zum Gruß zwei Finger an die Hutkrempe, worauf der Mann mit einem Ausdruck tiefer Verwirrung verschied. — Hast du getroffen? rief einer der Musketenmänner vom Fuß des Hügels herauf. Was danach kam, war ziemlich einfach. Inman kletterte von dem Baum herunter und ging die gleiche Strecke, die er gekommen war, zurück, indem er sich von der Seite auf den langen Felssims zubewegte und diesen bis zum anderen Ende überquerte, so dass er sich dem Lager diesmal flussaufwärts näherte. Hinter einem Rhododendrendickicht blieb er stehen und wartete. Die zwei am Lagerfeuer sitzenden Musketenmänner riefen immer wieder nach dem toten Mann, und so erfuhr Inman, dass er Eben geheißen hatte. Schließlich gaben sie es auf, packten ihre Springfields und gingen flussauf, um den Mann zu suchen. Inman folgte ihnen im Schutz der Bäume, bis sie Eben fanden. Sie blieben eine Weile ein paar Schritte vor dem teilweise zerfetzten Körper stehen und berieten sich, was sie tun sollten. Ihrem Tonfall war deutlich anzuhören, dass sie am liebsten vergessen hätten, was da vor ihnen lag und sich umgedreht und heimwärts auf den Weg gemacht hätten. Doch dann taten sie das, was Inman vorausgesehen hatte – sie gingen flussauf, um, in der Annahme, dass der Mörder geflohen sei, nach ihm zu suchen.
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Inman schlich hinter ihnen her durch das Tal. Die beiden schlängelten sich zwischen den hohen, dicht an dicht stehenden Bäumen am Flussufer entlang, aus Angst, sich zu verlaufen, wenn sie sich zu weit davon entfernten. Sie waren Städter, denen die Wälder nicht geheuer waren, und der Mord, den sie zu begehen trachteten, lag ihnen auf der Seele. Für sie war dies eine weglose Wildnis, die sie mit großer Scheu betraten. Auf Inman wirkten sie dennoch wie zwei Männer, die durch eine Hauptverkehrsstraße liefen. Sie suchten deutlich nach Spuren, die ihnen zeigten, wohin der Mörder gelaufen war, hatten aber keine Chance, etwas wahrzunehmen, das unauffälliger war als ein großer, tiefer Fußabdruck. Inman holte immer mehr auf, und als er mit dem LeMat auf sie schoss, stand er so dicht hinter ihnen, dass er sie mit der Hand am Kragen hätte berühren können. Den ersten erwischte die Kugel im Nacken und riss beim Austreten fast die gesamte Stirn mit. Der Mann sackte erwartungsgemäß in sich zusammen. Den anderen erwischte Inman, als er sich gerade umdrehte, ungefähr in Höhe der Achselhöhle. Doch zu Inmans Entsetzen war er nicht gleich tot. Der Mann fiel auf die Knie und tastete nach seiner vor ihm liegenden Muskete. — Wenn du zu Hause geblieben warst, wäre das nicht passiert, sagte Inman. Als der Mann versuchte, die lange Springfield herumzudrehen, um den Lauf auf Inman zu richten, schoss Inman dem Mann aus so geringer Entfernung in die Brust, dass das Mündungsfeuer seine Jackenbrust in Brand setzte. Da die Männer aus Philadelphia nur ein kleines Stück oberhalb der Höhle verendet waren, schleifte Inman sie dort hinein und setzte sie nebeneinander. Er ging zurück, um die Springfields zu holen, und lehnte sie neben die Männer an die Wand. Dann ging er die Felsschlucht hinunter. Als er bei der Hemlocktanne anlangte, sah er, dass sich die noch lebende Henne befreit hatte und ihren Kopf in den aufgeplatzten Bauch von Eben, dem New Yorker, steckte. Sie pickte an dem rotbunten Matsch seiner geplatzten Gedärme herum.
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Inman suchte in den Taschen des Mannes nach Tabak und Filterpapier, kauerte sich am Boden nieder und sah der Henne zu. Er rollte sich eine Zigarette, rauchte sie und drückte sie an der Stiefelsohle aus. Ihm kam ein Kirchenlied in den Sinn, das normalerweise im Kanon gesungen wird, doch er summte ein Stück davon vor sich hin und dachte sich die Worte dazu. Es waren folgende: Für immer genommen ist mir die Furcht vor dem Grab.
Wenn ich sterbe, werde ich wiederauferstehen.
Meine Seele wird jauchzen am kristallklaren Bache.
Wenn ich sterbe, werde ich wiederauferstehen.
Hallelujah, ich werde wiederauferstehen.
Inman beschloss, das, was ihm bevorstand, in folgendem Lichte zu sehen: Im Vergleich zu dem Schlachtfeld vor dem Hohlweg bei Fredericksburg oder den Leichenbergen am Grunde des Kraters war dies hier fast nichts. An beiden Orten hatte er vermutlich zahllose Männer getötet, die diesem Eben charakterlich überlegen waren. Dennoch glaubte er, diese Geschichte niemals erzählen zu wollen. Er erhob sich, packte das Huhn bei den Beinen und zerrte es von dem New Yorker fort. Dann ging er an den Fluss, um das Huhn im Wasser zu schwenken, bis es wieder sauber war. Nachdem er ihm mit einem Stück Schnur der Unionssoldaten die Beine zusammengebunden hatte, setzte er es auf dem Boden ab. Das Huhn drehte den Kopf hin und her und betrach tete die Welt durch seine schwarzen Knopfaugen mit, so schien es Inman, neu erwachtem Interesse und Tatendrang. Er schleifte den New Yorker an den Füßen bis in die Höhle und setzte ihn neben seine Kameraden. Die Höhle war so klein, dass die drei beinahe im Kreis saßen. Sie blickten fassungslos und verdutzt drein, wirkten in ihrer Haltung wie Betrunkene, die gerade beschließen, eine Runde Karten zu spielen. Ihrem Gesichtsausdruck zufolge schien sich der Tod ähnlich wie Melancholie über sie gelegt zu haben, wie ein Stimmungstief. Inman holte sich einen verkohlten Zweig von
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dem alten Feuer am Höhleneingang und malte damit Abbilder von Saras Patchwork-Ungeheuern, die ihn in der vorangegangenen Nacht im Traum verfolgt hatten, auf die Höhlenwand. Angesichts ihrer klobigen Formen wurde ihm bewusst, wie zerbrechlich der menschliche Körper im Vergleich zu allem ist, was eckig und hart ist. Seine Bilder unterschieden sich kaum von den bereits vorhandenen Zeichnungen der Cherokee oder derjenigen, die noch vor ihnen da gewesen waren. Inman ging zu der Lichtung zurück, um die Pferde in Augenschein zu nehmen, und stellte zu seinem Leidwesen fest, dass sie Brandzeichen der Armee trugen. Er band sie los und führte sie nacheinander zu der Höhle, um das Gepäck neben den Unionssoldaten abzulegen. Nur einen Brotbeutel behielt er zurück, um die zwei gebratenen Hühner hineinzustopfen. Er führte die Pferde ein Stück weit ins Tal und tötete sie nacheinander durch Kopfschüsse. Ihm war dabei zum Heulen zumute, doch blieb ihm der Brandzeichen wegen keine andere Wahl, wenn er Sara oder sich nicht gefährden wollte. Als er wieder beim Lager war, stopfte er das lebende Huhn zu den gebratenen Hühnern in den Brotbeutel und schlang ihn sich über die Schulter. Er band das Schwein los, zog an dem Strick und ließ diesen Ort hinter sich. Als er an der Hütte ankam, brannte im Hof ein kräftiges Feuer. Aus einem großen schwarzen Wasserkessel stieg eine Dampfwolke in die schneidend kalte Luft. Sara hatte seine Kleider gewaschen und zum Trocknen über Büsche gehängt. Als Inman seinen Kopf nach hinten legte, um zur Sonne aufzusehen, konnte er es kaum fassen, dass es noch immer Vormittag war. Sie machten sich mit den gebratenen Hühnern ein frühes Mittagessen und gingen dann an die Arbeit. Binnen zwei Stunden hing das bleiche Mastschwein – tot, abgebrüht und enthaart – aufgehängt an einem durch die Haxen gestoßenen Spriegel an einem starken Ast. Seine diversen Innereien und Flüssigkeiten dampften in Kübeln auf dem Boden. Das
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Mädchen war gerade an einem Kübel mit Schweineschmalz zugange. Sie hielt ein Bauchnetz hoch, blickte hindurch wie durch ein Spitzentuch, drückte es dann zusammen und legte es in den Kübel, um das Fett auszulassen. Inman spaltete mit einem Beil den Rumpf. Er hackte zwei lange Bahnen rechts und links der Wirbelsäule, bis sich das Fleisch in zwei großen Stücken von den Knochen trennte, und zerlegte diese dann in die naturgegebenen Portionen. Sie arbeiteten bis kurz vor Einbruch der Dunkelheit, ließen das gesamte Fett zu Schweineschmalz aus, putzten die Kutteln, verarbeiteten die zerkleinerten Abfälle und Reststücke zu Wurst und füllten sie in Behälter, legten die Schinken und Mittelstücke in Salzlake ein und ließen das Blut aus dem Kopf auslaufen, um ihn zu Sülze verarbeiten zu können. Sie wuschen sich und gingen ins Haus. Während Sara das Abendessen zubereitete, tat sich Inman an einem Teller mit Schweinegrieben gütlich, die Sara eigentlich in ein Maisbrot hatte einhacken wollen. Da die Leber und die Lungen nicht lange halten würden, kochte sie davon eine Art Eintopf, den sie mit viel Zwiebeln und Paprika würzte. Sie aßen, legten eine Pause ein und aßen weiter. Nach dem Abendessen sagte Sara: Ich glaube, Sie würden schon besser aussehen, wenn Sie sich den Bart abrasierten. — Wenn Sie ein Rasiermesser haben, kann ich's ja mal versuchen, meinte Inman. Sie ging an eine Truhe, kramte darin herum und kam mit einem Rasiermesser und einem schweren Streichriemen aus geöltem Leder zurück. Sie legte beides in Inmans Schoss. — Das hat auch John gehört, sagte sie. Sie schöpfte so viel Wasser, wie zum Rasieren nötig war, aus dem Wassereimer in einen schwarzen Topf und stellte ihn aufs Feuer. Als das Wasser zu dampfen begann, goss sie es in das kleine Kürbisgefäß. Nachdem sie eine in einem Blechhalter steckende Kerze angezündet hatte, trug Inman alles hinaus und stellte es auf das Waschbrett am Ende der Veranda. Inman zog das Rasiermesser ab und befeuchtete seinen Bart.
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Als er das Rasiermesser hochhob, bemerkte er an der Manschette von Johns Hemd einen braunen Blutfleck. Mann oder Schwein, eins von beiden. Er schaute in den Metallspiegel, setzte das Rasiermesser an und machte sich in dem flackernden Licht der Kerzenflamme an die Arbeit. Er hatte sich seinen Bart seit dem zweiten Kriegsjahr nicht mehr abrasiert, und er sah dem Gesicht, das nach dieser langen Zeit darunter zum Vorschein kommen würde, mit gemischten Gefühlen entgegen. Er schabte an den Barthaaren, bis das Messer stumpf wurde, dann zog er es erneut ab. Dass er aufgehört hatte, sich zu rasieren, lag zum einen daran, dass er sich nicht gerne so lange ansah, wie es zum Rasieren notwendig war. Zum anderen aber war es schwierig gewesen, an ein Rasiermesser zu kommen und sich Wasser heiß zu machen. Sich einen Bart stehen zu lassen bedeutete, wenigstens nicht in diesem Punkt versagen zu müssen. Es dauerte einige Zeit, doch schließlich war sein Gesicht kahl. Als sich Inman in dem von braunen Rostflecken durchsetzten Spiegel betrachtete, sah es aus, als wäre sein bleiches Gesicht mit verkrusteten Wunden bedeckt. Die Augen, die ihm da entgegenblickten, hatten etwas Scheeles, an das er sich nicht erinnerte. Spitze, eingefallene Züge, die auf mehr als bloße Unterernährung zurückzuführen waren. Was da herausschaut, ist ein vollkommen anderer als ihr junger Ehemann, dachte Inman. Wo einmal der junge John herausgesehen hatte, war jetzt das Gesicht eines Mörders. Wie würdest du reagieren, wenn du im Winter am Feuer säßest, zu einem der schwarzen Fenster hinsähest und dahinter dieses Gesicht erblicktest? fragte er sich. Was für einen Anfall oder Krampf würde das auslösen? Es sprach jedoch für Inman, dass er sich einzureden versuchte, dass ein solches Gesicht nicht seinem wirklichen Wesen entsprach, und dass es sich allmählich wieder zum Besseren hin verändern lassen würde. Als er wieder hineinging, sah Sara ihn lächelnd an und sagte: Jetzt sehen Sie wieder fast wie ein Mensch aus.
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Sie setzten sich vor das Feuer, und Sara wiegte das Baby in ihren Armen. Es hatte einen Krupphusten. Inman schätzte, dass es den Winter nicht lebend überstehen würde. Es wimmerte in Saras Armen und wollte nicht einschlafen, und so sang sie ihm ein Lied vor. Sie sang, als schämte sie sich ihrer eigenen Laute und des Ausdrucks, den ihr Leben damit fand. Als sie begann, schien sie einen Kloß im Hals zu haben, denn sie brachte die Töne nur unter großer Anstrengung hervor. Die angestaute Luft aus ihrem Brustkorb musste irgendwohin entweichen, doch da der Kiefer verkrampft war und der Mund sich gegen die Musik sperrte, bahnte sie sich weiter hinauf und bildete hohe, nasale Töne, die so verlassen klangen, dass es in der Seele weh tat. Der schrille Gesang wurde in das Zwielicht getragen, und die Laute zeugten von Verzweiflung, Bitterkeit, unterschwelliger Panik. Gegen solche Widerstände anzusingen, erschien Inman als so ziemlich das Tapferste, das er je miterlebt hatte. Es war, als beobachtete er einen bitteren Kampf, der unter großen Verlusten gewonnen wird. Ihre Stimme klang so alt und müde wie die einer Frau, die im vorigen Jahrhundert geboren war und noch immer lebte. Sara war noch viel zu jung, um so klingen zu dürfen. Wäre sie eine alte Frau gewesen, die in ihrer fernen Jugend einmal hatte gut singen können, hätte man sagen können, sie habe gelernt, aus ihrer schwächer gewordenen Stimme das Bestmögliche herauszuholen; oder sie zeige beispielhaft, wie man sich mit Beeinträchtigungen aussöhnen und das Beste aus ihnen machen könne. Aber sie war keine alte Frau. Und ihr Gesang war beunruhigend. Man hätte meinen sollen, dass die Kleine schreien würde, wenn sie ihre Mutter in einem solchen Zustand hörte, aber sie blieb ruhig. Sie schlief in ihren Armen ein, als sänge sie ein Wiegenlied. Die Worte des Liedes waren jedoch alles andere als ein Wiegenlied. Sie erzählten eine schreckliche Geschichte, eine Ballade von Mord und Totschlag mit dem Titel Fair Margaret and Sweet William. Es war ein altes Lied, aber Inman hatte es
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noch nie gehört. Die ersten Zeilen lauteten: Mir träumte, mein Schlafgemach war voll rotbrauner
Schweine, und mein Brautbett voller Blut.
Danach stimmte sie den Wayfaring Stranger an, indem sie die Melodie zunächst nur summte und mit dem Fuß den Takt klopfte. Als sie schließlich zu singen begann, klang der Gesang weniger nach Musik als nach einer Wehklage voll seelischer Qual, nach einem schrillen Schrei verzweifelter Einsamkeit, so rein und durchdringend wie der Schmerz nach einem harten Schlag auf die Nase. Als sie verstummte, entstand ein langes Schweigen, das nur von dem Ruf einer Eule in dem dunklen Wald durchbrochen wurde – ein passender Abschluss zu diesen Liedern über Tod und Einsamkeit mit einer deutlichen Erinnerung an die Geisterwelt. Es wäre zu vermuten gewesen, dass Saras trauriger Gesang weder dem Baby noch vor allem Inman Trost zu spenden vermochte. Es mag unwahrscheinlich scheinen, dass ein so bitteres Geschenk seine Traurigkeit lindern konnte, wenn es doch selbst so hoffnungslos klang. Aber genau das war der Fall, denn obwohl sie an dem verbleibenden Abend nur wenig redeten, saßen sie nebeneinander vor dem Feuer, müde von der Anstrengung des Lebens, zufrieden, entspannt und glücklich, und in der Nacht lagen sie wieder nebeneinander im Bett. Ehe sich Inman am nächsten Morgen auf den Weg machte, aß er das Schweinshirn, weich gekocht und mit einem Ei von der Henne verrührt, die an dem Plünderer aus New York herumgepickt hatte.
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Zufriedenheit
Ada und Ruby brachten im Herbst viele Stunden mit der Verarbeitung ihrer Äpfel zu. Die Bäume hingen brechend voll, und die Äpfel mussten gepflückt, geschält, in Scheiben geschnitten und zu Saft gepresst werden. Es war eine angenehme, saubere Tätigkeit, dort draußen unter den Bäumen mit den Früchten zu arbeiten. Der Himmel war überwiegend blau und wolkenlos, die Luft trocken. Das Licht war schon um die Mittagszeit fahl und fiel so schräg ein, dass man daran ablesen konnte, wie sehr sich das Jahr dem Ende zuneigte. Am frühen Morgen, wenn der Tau noch auf dem Gras lag, zogen die beiden mit Leitern auf die Obstwiese. Sie kletterten zwischen den Ästen herum, um die Äpfel in Säcke zu füllen, und die Leitern schwankten, weil die Äste, an die sie gelehnt waren, unter ihrem Gewicht nachgaben. Wenn sämtliche Säcke voll waren, holten sie das Pferd und den Ernteschlitten, um sie nach Hause zu transportieren, auszuleeren und von neuem zu beginnen. Diese Arbeit war längst nicht so ermüdend wie das Heumachen und erzeugte in Adas Träumen nur friedvolle, ruhige Bilder: ein roter oder gelber, an einem gebeugten Ast hängender Apfel, dahinter tiefblauer Himmel, ihre Hand mit der Innenfläche nach oben nach einem Apfel ausgestreckt, ohne ihn zu berühren. Eine ganze Weile aßen Ada und Ruby zu jeder Mahlzeit Äpfel – gebraten, gedünstet, als Kuchen und Kompott. Sie dörrten Apfelringe und füllten die kleinen ledrigen Rädchen in Stoffsäckchen, die sie an die Küchendecke hängten. An einem Tag errichteten sie im Hof ein Feuer und kochten einen schwarzen Kessel voll Apfelkraut ein, in einem Kessel, der so
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groß war, dass Ada, als sie sich darüber beugten und den Apfelbrei mit Rührhölzern rührten, an die Hexen in Macbeth denken musste, wie sie ihren Zaubertrank bereiteten. Das Apfelkraut war schön dick geworden, und von den Gewürzen und dem braunen Zucker dunkel wie altes Pferdegeschirr. Sie versiegelten eine so große Menge davon in Steinguttöpfen, dass sie ein ganzes Jahr lang davon würden essen können. Schorfige und wurmstichige Äpfel wurden vermostet und die Fruchtmasse an die Schweine verfüttert, denn Ruby war der Meinung, dass sie das Fleisch schön süß machte. Der Apfelmost war mittlerweile so weit vergoren, dass er trinkbar war, und Ruby brach eines Nachmittags zu einer Tauschaktion auf. Sie hatte mitbekommen, dass ein Mann namens Adams, der ein Stück flussabwärts wohnte, ein Rind geschlachtet hatte, und war mit zwei Krügen Apfelmost losgezogen, um zu sehen, wieviel Fleisch sie dafür herausschlagen konnte. Ada sollte derweilen zwei Dinge erledigen: Das Reisig verbrennen, das sich unlängst beim Aufräumen eines Teils des verwahrlosten unteren Feldes angesammelt hatte, und die sechs Klötze eines bereits zersägten alten Schwarzeichenstamms spalten, den sie im hohen Gras am Rande des Feldes gefunden hatten – nach der Methode, die Ruby ihr beigebracht hatte. Dies würde eine gute Einarbeitung in den Umgang mit Holz darstellen, denn bald schon würden sie auf den Berg steigen müssen, um einen Eichen- oder Hickorynußbaum zu fällen, abzuästen und von dem Pferd mit einem Holzgreifer heimziehen zu lassen, damit sie ihn anschließend zersägen und spalten konnten. Ada hatte Bedenken gehabt, ob diese Arbeit nicht zu schwer für sie wäre, doch Ruby hatte ihr ausführlich erklärt, dass es nicht in erster Linie auf die reine Muskelkraft ankam. Das wichtigste seien Tempo, Geduld und Rhythmus. Die Säge ziehen und entspannen. Abwarten, bis die andere die Säge zu sich hinzog, und dann selber wieder ziehen. Dabei nichts übertreiben. Die Hauptsache sei es, so Ruby, sich nicht zu überanstrengen. Einen Rhythmus zu finden, den man durchhalten könne. Nur
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soviel zu tun, dass man es schaffte, am nächsten Morgen wieder aufzustehen und weiterzumachen. Nicht mehr und nicht weniger. Ada sah Ruby nach, wie sie die Straße hinunterging, und beschloss, zunächst die Holzklötze zu spalten und am kühlen Nachmittag dann das Feuer zu genießen. Sie ging durch den Garten zum Werkzeugschuppen, holte sich einen Schlegel und einen Scheitkeil, trug beides zum unteren Feld und trat das hüfthohe Gras um die Eichenklötze herum platt, um genügend Bewegungsfreiheit zu haben. Die Klötze lagen auf der Seite und hatten einen Durchmesser von mehr als zwei Fuß. Das Holz war grau geworden, denn der Baum war noch von dem Lohnarbeiter gefällt worden und lag folglich schon zwei oder drei Jahre vergessen im Gras. Ruby hatte sie gewarnt, dass sich die trockenen Klötze nicht so leicht würden spalten lassen wie frisches, feuchtes Holz. Als Ada die großen Holzzylinder herumwuchtete, spürte sie, wie sie am Boden hafteten, und als die Klötze dann hochkam standen, entdeckte sie, wie sich glänzende schwarze Hirschkäfer von der Größe ihres Daumens unter die morsche Rinde verkrochen. Sie ging so vor, wie Ruby es ihr gezeigt hatte, und suchte zunächst auf der Schnittseite nach einem Spalt, in den sie den Keil hineintreiben konnte. Mit langsamen Bewegungen, ohne sich zu überanstrengen, hob sie den sieben Pfund schweren Holzhammer in die Höhe und ließ ihn niedersausen, so dass sich der Klotz durch die Zusammenwirkung von Gewicht, Schwerkraft und richtigem Einschlagwinkel spaltete. Es gefiel ihr, den Keil ein Stück weit hineinzutreiben und dann innezuhalten, um dem Geräusch zu lauschen, das entstand, wenn sich der Spalt nach einem Schlag noch einige Sekunden verbreiterte – ein Geräusch wie bei zerreißendem Stoff. Trotz der wuchtigen Schläge war es eine ruhige Arbeit. Das widerspenstige Holz und das Gewicht des Holzhammers zwangen ihr einen langsamen Rhythmus auf. In nicht viel mehr als einer Stunde hatte Ada alles gespalten – bis auf eine schwierige Stelle, an der einmal dicke Äste aus dem
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Stamm gewachsen waren und die Fasern verdreht hatten. Sie hatte jeden Klotz in acht stattliche Holzscheite gespalten und schätzte, dass da nun gut vierzig Scheite auf der Erde bereitlagen, um nach Hause transportiert und zum Feuern verwendet zu werden. Sie war richtig stolz auf ihre Leistung – bis ihr klar wurde, dass das Holz nur für vier, höchstens fünf Tage reichen würde. Sie begann hochzurechnen, wie viele Scheite sie für den gesamten Winter brauchten, ließ aber bald davon ab, denn die Zahl drohte erschreckend hoch zu werden. Adas Kleid war an den Schultern und am Rücken von Schweiß durchnässt, die Haare klebten an ihrem Nacken. Deshalb ging sie zum Haus, trank zwei Schöpfkellen Quellwasser und nahm ihren Hut ab, um sich zwei weitere Kellen Wasser über das Haar zu gießen und es dann auszuwringen. Sie machte sich das Gesicht nass, rieb es mit den Händen sauber und trocknete es an ihrem Ärmel ab. Dann ging sie ins Haus, um sich ihr tragbares Schreibpult und ihr Skizzenbuch zu holen, und setzte sich auf den Verandarand, um sich von der Sonne trocknen zu lassen. Ada tauchte ihre Feder in Tinte und begann, ihrer Cousine Lucy in Charleston einen Brief zu schreiben. Eine Zeitlang war außer dem Kratzen der Feder auf dem Papier kaum ein Geräusch zu hören. Wenn wir uns auf der Market Street begegneten, würdest Du mich vermutlich nicht erkennen; und wenn Du sähest, wie derb ich daherkomme, wie wenig elegant gekleidet, würdest Du mich vermutlich auch gar nicht erkennen wollen. Im Moment sitze ich auf der Hintertreppe und schreibe auf meinen Knien: Ich habe ein altes Hemdblusenkleid aus bedruckter Baumwolle an, das völlig durchgeschwitzt ist, weil ich gerade Eichenklötze gespalten habe, und ich laufe seit längerem mit einem Strohhut herum, der sich an Krempe und Krone auflöst und so stachlig ist wie die Heuhaufen, unter denen wir uns einst verkrochen haben, um zu warten, bis der Regen aufhört (erinnerst Du Dich noch?). Die Finger, die diese Feder halten, sind von Walnüssen, die ich aus ihren stinkenden, fleischigen Kapseln geschält habe,
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braun wie Steigbügelriemen, und der Nagel am Zeigefinger ist schartig und eingerissen und müsste dringend gefeilt werden. Das Silberarmhand den eingravierten Hartriegelblüten hebt sich scharf von der dunklen Haut meines Handgelenks ab. Heute ist ein so herbstlicher Tag, dass es schwärmerisch klingen würde, wenn ich ihn zu beschreiben versuchte. Ich ruhe mich gerade aus und warte darauf, dass mein Kleid trocknet, bevor ich mich daran mache, einen Reisighaufen zu verbrennen. Ich wüßte gar nicht, wo ich anfangen sollte, wenn ich all die harte Arbeit beschreiben wollte, die ich seit Vaters Tod verrichtet habe. Sie hat mich verändert. Es ist erstaunlich, wie sich der Körper innerhalb weniger Monate wandelt, wenn man körperlich arbeitet. Ich bin braun wie ein Kupfercent, weil ich mich von morgens bis abends im Freien aufhalte, und meine Handgelenke und Unterarme werden immer sehniger. Das Gesicht, das mir aus dem Spiegel entgegenblickt, ist etwas straffer als früher, die Wangen sind ein wenig schmaler. Außerdem kommt es mir vor, als sähe ich einen anderen Ausdruck darin. Wenn ich draußen auf den Feldern arbeite, habe ich oftmals keinen einzigen Gedanken im Kopf. Doch obwohl ich nichts denke, sind meine Sinne hellwach. Wenn eine Krähe , über mir hinwegfliegt, nehme ich sie in allen Einzelheiten wahr, überlege aber nicht, womit sich ihr schwarzes Gefieder vergleichen ließe. Ich weiß, dass sie für nichts anderes steht, kein Symbol ist. Ein Geschöpf ohnegleichen. Ich glaube, dass meine veränderte Miene diesen Augenblicken entspringt. Du wärst überrascht, diesen Ausdruck auf meinem Gesicht zu sehen, denn ich habe den Verdacht, er strahlt so etwas wie Zufriedenheit aus.
Als sie das Geschriebene noch einmal überflog, fand sie es verwunderlich und auch ein wenig unaufrichtig, dass sie Ruby gar nicht erwähnt hatte, denn so entstand der Eindruck, als lebte sie allein. Mit dem Vorsatz, dies später zu berichtigen, legte sie den angefangenen Brief in das Fach unter der Schreibplatte. Sie ging sich eine Heugabel holen, ein paar Streichhölzer, ein Umschlagtuch, den dritten Band von Adam
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Bede sowie einen kleinen Sprossenstuhl mit gekürzten Beinen, und trug alles zu dem Reisighaufen hinunter. Ruby und sie hatten im vorangegangenen Monat den Großteil der Tage mit Sensen, Sicheln und Bügelsägen gearbeitet und das abgeschnittene Gestrüpp fallen lassen, wohin es gerade fiel. Das Gemisch aus Brombeerzweigen, hohem Gras, mittelhohen Strauchkiefern und Sumachsträuchern hatte einige Wochen in der Sonne gelegen und war nun mittlerweile ziemlich trocken. Ada war eine Weile damit beschäftigt, das Gestrüpp mit der Heugabel aufzuschichten, bis der Haufen schließlich so hoch war wie der Maisspeicher und die Luft erfüllt vom strengen Geruch geschnittenen und verdorrten Laubwerks. Sie trat ein paar matschige und durch beginnende Fäulnis verfärbte Zweige am Rand des Haufens los und zündete ihn an. Während das Feuer in Gang kam, zog sie den niedrigen Stuhl in die Wärme und ließ sich darauf nieder, um Adam Bede zu lesen, kam jedoch nur langsam voran. Sie konnte sich nicht darauf konzentrieren, da sie ständig aufstehen musste, um abirrende, über die Stoppeln des Feldes züngelnde Flammen zu löschen. Sie schlug sie mit dem Rücken der Heugabel aus. Und wenn der Haufen herunterbrannte, musste sie ihn zusammenschieben und neu aufhäufen, so dass sein Durchmesser immer kleiner wurde. Als sich der Nachmittag dem Ende zuneigte, stand der Haufen hoch und kegelförmig im Feld, und die Flammen stiegen daraus empor wie aus der Miniaturausgabe eines feuerspeienden Vulkans, von dem sie in einem Buch über Südamerika eine Abbildung gesehen hatte. Somit hatte sie die Arbeit als Ausrede, ihre Gedanken nicht auf das Buch zu lenken. Adam und Hetty und die anderen Charaktere gingen ihr ohnehin seit langem auf die Nerven, und wäre das Buch nicht so teuer gewesen, hätte sie es längst beiseite gelegt. Sie wünschte, die Romanfiguren wären aufgeschlossener und nicht so auf ihre kleine Welt beschränkt. Was sie brauchten, war ein weiterer geistiger Horizont, ein größerer Aktionsradius. Geht zu den Independenten, trug sie
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ihnen auf. Oder in die Anden. Sie pflückte sich einen Schafgarbenzweig als Lesezeichen, klappte das Buch zu und legte es in ihren Schoss. Sie fragte sich, ob die Literatur wohl an Interesse für sie verlieren würde, wenn sie in ein Alter käme oder einen Geisteszustand erreichte, in dem ihr Leben in so festgefügten Bahnen verlief, dass ihr das, was sie las, nicht mehr als so verlockende Alternative zu ihrem Dasein erschien. Neben ihr stand eine dicke Distel. Sie erinnerte sich, dass sie aus Bewunderung für die faustgroße violette Blüte, die mittlerweile vertrocknet und silbrigweiß war, mit der Sense um die Pflanze herum gemäht hatte. Sie streckte die Hand aus und begann den Blütenkopf zu zerpflücken. Da jeder noch so winzige Schlupfwinkel in dieser Welt irgendeine Kreatur zu beherbergen schien, glaubte sie, auf diese Weise herausfinden zu können, wer die Distelbewohner seien. Die Distelwolle begann in der Brise umherzuschweben und setzte sich in ihre verräucherten Kleider und Haare. Sie fand in der vertrockneten Blüte lediglich ein wild zappelndes, krebsartiges Ding, das nicht größer war als ein Stecknadelkopf. Es klammerte sich mit seinen Hinterbeinen an einen Samenfaden und fuchtelte zur Abwehr mit einer winzigen Schere herum. Ada pustete den schillernden Distelflaum mitsamt dem namenlosen Tierchen fort und sah ihnen hinterher, wie sie in einen Aufwind gerieten und immer höher schwebten, bis sie himmelwärts entschwanden, wie man es den Seelen der Toten nachsagt. Als sie das Feuer angefacht und zu lesen begonnen hatte, war das Licht gleichmäßig hell gewesen, und die Farben des Himmels zwischen Horizont und Zenit waren irgendwie zu glatt von Weiß nach Blau abgestuft gewesen, wie Ada es häufig bei Landschaftsbildern bemängelte, die sie als zweitklassig empfand. Doch nun legte sich der Abend auf die bewaldeten Hänge und die Weiden. Der Himmel teilte sich in Streifen und Spiralen von gedämpften Tönen, bis der gesamte Westen marmoriert war wie die Vorsatzblätter ihres
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Skizzenbuchs. Kanadische Wildgänse flogen schreiend und in pfeilförmiger Formation gen Süden über den Himmel, auf der Suche nach einem Ruheplatz für die Nacht. Ein leichter Wind bauschte die Röcke der Vogelscheuche draußen im Garten. Waldo war zum Gatter neben der Scheune getrabt. Sie wartete und würde bald anfangen zu muhen, denn ihr Euter war voll und sie wollte gemolken werden. Also erhob sich Ada, um die Kuh in den Stall zu führen. Die Luft war still und feucht, mit dem vergehenden Tag wurde es kalt, und als die Kuh ihren Kopf drehte, um zuzusehen, wie sie gemolken wurde, dampfte ihr Atem und roch wie nasses Gras. Während Ada an den Zitzen zog, beobachtete sie, wie die Milch herausströmte, und lauschte, wie sich die Tonhöhe mit dem Füllstand im Eimer veränderte – von einem hohen Prasseln, als der Strahl gegen Wand und Boden spritzte, zu einem tieferen Sprudeln. Ihre Finger hoben sich dunkel gegen die rosafarbene Haut der Zitzen ab. Nachdem Ada die Milch ins Kühlhaus gebracht hatte, ging sie wieder auf das Feld, wo das Feuer noch immer leise brannte und zu Asche zerfiel. Sie hätte es nun gefahrlos über Nacht sich selbst überlassen können, doch das wollte sie nicht. Ada wollte, dass Ruby die Straße hinaufkam und sah, wie sie rußbedeckt vor ihrer nachmittäglichen Arbeit Wache stand. Die Luft war kalt und schneidend, und Ada hüllte sich in ihr Umschlagtuch. Sie schätzte, dass die Abende binnen weniger Tage zu kalt sein würden, um bei Sonnenuntergang draußen sitzen zu können, selbst wenn man sich in eine Decke wickelte. Auf der Wiese lag Tau, und sie bückte sich, um ihr Buch aufzuheben, das sie ins Gras hatte fallen lassen, und rieb Vorder- und Rückseite an ihrem Rock trocken. Als sie mit der Heugabel das Feuer schürte, sprühten Funken in den Himmel. Sie sammelte abgebrochene Hickorynußzweige und trockene Strauchkieferzweige vom Rand des Feldes und warf sie auf das Feuer, das sogleich aufloderte und seine Hitze über einen weiteren Umkreis abstrahlte. Ada zog ihren Stuhl nahe heran und streckte ihre Hände vor, um sie zu wärmen. Sie sah zu den
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Bergketten hinüber und beobachtete, wie sich die Grautöne mit zunehmender Entfernung veränderten. Sie musterte den Himmel, um abzuschätzen, wann sein Blau dunkel genug sein würde, um die Blinklichter zweier Planeten, der Venus und eines anderen – sie vermutete, es war Jupiter oder Saturn –, tief im Westen sichtbar werden zu lassen und damit das schwindelerregende Kreisen und Wirbeln am Nachthimmel einzuleiten. An diesem Abend achtete sie darauf, an welcher Stelle die Sonne am Horizont aufsetzte, denn in den vorhergehenden Wochen hatte sie es sich zur Gewohnheit gemacht, sich den Punkt zu merken, wo sie auf den Bergkamm traf. Sie hatte beobachtet, wie die Sonne mit den kürzer werdenden Tagen immer weiter südwärts marschierte. Sollte sie sich entscheiden, bis an ihr Lebensende hier in Black Cove zu bleiben, würde sie auf dem Kamm vielleicht Türme errichten, um den jeweils südlichsten und nördlichsten Punkt der Sonne zu markieren. Die gesamte Spannweite des Bergkamms, in der die Sonne im Verlauf des Jahres unterging, gehörte ihr, und das war etwas, woran sie sich ergötzen wollte. Dazu musste man nur die Stellen markieren, an denen die Sonne im Dezember und im Juni ihren Umkehrpunkt erreichte und eine neue Jahreszeit einleitete. Bei näherer Überlegung fand sie, dass ein Turm überflüssig wäre. Man brauchte auf dem Kamm nur ein paar Bäume zu fällen, damit an den Wendepunkten ein Einschnitt entstand. Es wäre faszinierend, Jahr für Jahr gespannt zu beobachten, wie sich die Sonne der Einkerbung näherte, an einem bestimmten Tag hineinfiel und dann wieder herausstieg, um denselben Weg zurückzugehen. Wenn man dies über einen langen Zeitraum hinweg beobachtete, würden einem die Jahre vielleicht nicht mehr als ein schrecklich lineares Band erscheinen, sondern als ein Kreislauf und eine Wiederkehr. Dergleichen im Auge zu behalten, würde einem dazu verhelfen, zu wissen, wohin man gehörte, wäre eine Art zu sagen: Du bist hier, an diesem einen Ort, jetzt. Es wäre eine Antwort auf die Frage: Wo bin ich?
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Als die Sonne längst untergegangen war, saß Ada noch immer vor dem Feuer und wartete auf Ruby. Venus und Saturn hatten bereits hell leuchtend im Westen aufgeblinkt und waren am Horizont versunken, und der Vollmond war aufgegangen, als Ada im Wald etwas rascheln hörte. Schritte im Laub. Leise Stimmen. Sie zog instinktiv die Heugabel aus der Erde und trat ein paar Schritte aus dem Lichtkreis des Feuers. Am Rand des Feldes bewegte sich etwas, und Ada wich weiter in die Dunkelheit zurück, die Gabel mit den fünf scharfen Zinken in die Richtung haltend, aus der die Geräusche kamen. Dann hörte sie ihren Namen. — Hey, Miss Ada Monroe, rief jemand mit leiser Stimme. Beide Namen waren genau auf die Weise ausgesprochen, wie es ihr Vater gehaßt hatte. Er war es nicht müde geworden, die Leute zu berichtigen: Reines, langes offenes Anfangs-A bei Ada, Monroe auf der zweiten Silbe betont, pflegte er zu sagen. Doch Ada hatte es im Laufe des Sommers aufgegeben, die Leute zu korrigieren und gewöhnte sich allmählich daran, die Ada Monroe zu sein, die von dieser Stimme gerufen wurde. Flaches, langgezogenes A, Mon mit einer starken Betonung auf der ersten Silbe. — Wer ist da? fragte sie. — Wir. Stobrod und ein Kamerad traten aus dem Dunkel in den Feuerschein. Stobrod hatte seine Geige und den Bogen unter den linken Arm geklemmt. Der andere Mann hielt ein klobiges Banjo am Hals umfaßt und streckte es vor wie jemand, der an einem Grenzübergang seine Papiere vorzeigt, um sich auszuweisen. Beide blinzelten, weil das Feuer sie blendete. — Miss Monroe, rief Stobrod abermals. Wir sind's nur. Ada kam ihnen ein paar Schritte entgegen und hielt sich dabei die Hand über die Stirn, um nicht geblendet zu werden. — Ruby ist nicht hier, sagte sie. — Wir wollten nur mal so vorbeischauen, sagte Stobrod. Sie haben doch sicher nichts dagegen, wenn wir Ihnen ein bisschen Gesellschaft leisten.
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Die beiden Männer legten ihre Instrumente ab, und Stobrod ließ sich dicht neben Adas Stuhl auf dem Boden nieder. Ada rückte den Stuhl ein Stück von ihm ab und setzte sich ebenfalls. — Geh und hol uns noch ein bisschen Holz, damit wir das Feuer wieder in Fahrt bringen können, sagte Stobrod zu dem Mann mit dem Banjo. Der Mann verzog sich wortlos an den dunklen Waldrand, und Ada konnte hören, wie er Zweige aufhob und in eine zum Feuermachen passende Länge zerknackte. Stobrod kramte unter seinem Mantel eine Halbliter-Feldflasche mit braunem Alkohol hervor. Das Glas war so zerkratzt und mit Fingerabdrücken verschmiert, dass man kaum hindurchsehen konnte. Er zog den Korken heraus und hielt sich die Öffnung unter die Nase. Dann hielt er das Glas gegen das Licht, sah durch den Whiskey hindurch und nahm genüßlich einen Schluck. Er stieß einen leisen, aus zwei Tönen bestehenden Pfiff aus, von hoch nach tief. — Viel zu gut für mich, aber trinken tue ich's trotzdem, sagte er. Nachdem er noch einen ordentlichen Schluck genommen hatte, drückte er mit dem Daumen den Korken wieder hinein und steckte die Flasche weg. — Wir haben Sie schon länger nicht mehr gesehen, sagte Ada. Geht es Ihnen gut? — Mittelprächtig, sagte er. Wie ein Geächteter in den Bergen zu wohnen, ist nicht gerade ein Zuckerlecken. Ada musste an die Geschichte denken, die der Gefangene durch das Gefängnisgitter erzählt hatte. Um ihn auf die Gefahr hinzuweisen, in der sich Deserteure befanden, erzählte sie Stobrod davon, doch er kannte die Geschichte bereits. Sie hatte im Bezirk mehrere Male die Runde gemacht – zunächst als neueste Nachricht, dann als abenteuerliche Geschichte und schließlich als Legende. — Diese Teague-Bande sind nichts als Killer, sagte Stobrod. Vor allem, wenn sie in der Überzahl sind.
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Der Holzsammler kam zurück ans Feuer, warf ein paar zerkleinerte Zweige darauf und zog dann noch ein paarmal in den Wald, um Holz auf Vorrat zu sammeln. Danach hockte er sich neben Stobrod auf die Erde. Der Mann sagte weder ein Wort, noch blickte er Ada an, sondern setzte sich ein wenig schräg an das Feuer, damit er Stobrod im Blickfeld hatte. — Wer ist das da neben Ihnen? fragte Ada. — Ein Sprößling der Swangers oder der Pangles. Manchmal nennt er die einen, manchmal die anderen. Beide streiten ab, dass er zu ihnen gehört, weil er nicht ganz richtig im Oberstübchen ist, aber ich finde, er sieht nach 'nem Pangle aus. Der Mann hatte einen unverhältnismäßig großen, kugeligen Kopf, so dass man hätte meinen können, Gott hätte sich einen Scherz erlaubt, indem er den Inhalt so klein gemacht hatte. Obwohl er laut Stobrod fast dreißig war, nannten ihn die Leute immer noch einen Jungen, weil er nicht einmal die einfachsten Gedanken fassen konnte. Für ihn gab es keine logischen Zusammenhänge auf der Welt, keine Ursache, keine bekannten Beispiele. Alles, was er sah, war funkelnagelneu, und so war jeder Tag voller Wunder. Er war dick und schwammig und sein Hinterteil so breit, als wäre er mit Maismehl und Rückenspeck aufgezogen worden. Unter seinem Hemd zeichneten sich Zitzen ab, die so groß waren wie von einer Muttersau und die beim Gehen schwabbelten. Seine in die Stiefel gesteckte Hose bauschte sich wie eine Pluderhose, und seine winzigen Füße waren kaum groß genug, um sein Gewicht zu tragen. Sein Haar war fast weiß und seine Haut gräulich, so dass er insgesamt aussah wie ein mit Brötchen und Soßenpampe gefüllter Porzellanteller. Abgesehen von seinem kürzlich entdeckten Talent zum Banjospiel verfügte er über keinerlei Gaben – es sei denn, man betrachtete die Tatsache, dass er gutmütig und freundlich war und alles, was um ihn herum geschah, mit sanften, weit aufgerissenen Augen betrachtete, als eine solche. Während Stobrod erzählte, wie sie sich kennengelernt hatten, hörte der Junge überhaupt nicht zu. Es war ihm entweder gar
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nicht bewusst, dass von ihm die Rede war, oder aber es war ihm gleichgültig. Pangle sei als Kind ziemlich vernachlässigt worden, so Stobrod. Die Leute hielten ihn allgemein für einen Taugenichts, denn er konnte weder richtig denken, noch war er zu harter Arbeit zu gebrauchen. Wenn man ihm eine zu schwere Arbeit auftrug, hockte er sich einfach hin. Schlug man ihn, zuckte er mit keiner Wimper und stand auch nicht auf. Daher war er als junger Bursche davongejagt worden und zog seitdem auf dem Cold Mountain umher. Er kannte jeden Spalt und jede Ritze. Ernährte sich von dem, was ihm gerade in die Hände fiel, sei es Insekt oder Wildbret. Achtete kaum auf die Tageszeiten und war in den helleren Mondphasen vorwiegend nachts aktiv. Im Sommer schlief er auf dem duftenden Waldboden unter Hemlock- und Balsamtannen, außer in Regenperioden. Dann suchte er unter Felsbänken Zuflucht. Im Winter tat er es Kröte und Waldmurmeltier gleich: Er verkroch sich in eine Höhle und rührte sich während der kalten Monate kaum vom Fleck. Als Pangle einigermaßen überrascht entdeckt hatte, dass die Deserteure sich in seiner Höhle eingenistet hatten, schloß er sich ihnen an. An Stobrod hing er ganz besonders, weil er süchtig nach Geigenmusik war. Stobrod war für ihn ein Mann von tiefem Wissen, ein Weiser, jemand, der ihm die Augen öffnete. Wenn Stobrod den Bogen über die Saiten strich, versuchte der Junge manchmal mitzusingen, doch seine Stimme klang, als blase jemand in eine Entenpfeife. Wenn die anderen ihn entnervt aufforderten, still zu sein, stand er auf und fing an zu tanzen – ein geheimnisvolles Gestampfe mit zuckenden, spastischen Bewegungen, das aussah wie die Freudentänze alter Kelten, nachdem sie eine Schlacht gegen die Römer, Juten, Sachsen, Angeln und Britannier gewonnen hatten. Der Junge hüpfte so lange herum, bis ihm der Schweiß aus allen Poren troff, und dann ließ er sich auf den pulverigen, festgetretenen Höhlenboden plumpsen und lauschte der Geigenmusik, wobei er die Nase im Takt der Musik hin und her kreisen ließ wie ein Mann, der mit den Augen eine Fliege
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verfolgt. Wenn Stobrod eine bestimmte Phrase anstimmte und diese im Spiel oft genug wiederholte, geriet Pangle nach einer Weile wie in Trance. Pangle mochte das Gefühl, das Stobrods Geigenspiel bei ihm hervorrief, wurde ganz verrückt nach der Geige und dem Geiger. Anhänglich wie ein Spaniel, der auf sein Futter wartet, folgte er Stobrod überallhin. Nachts in der Berghöhle wartete er stets ab, bis Stobrod eingeschlafen war, kroch dann zu ihm hin und drückte sich an seinen gekrümmten Rücken. Wenn Stobrod beim Morgengrauen erwachte, schlug er mit seinem Hut nach dem Jungen, damit er ihm von der Pelle rückte. Dann hockte sich der Junge ans Feuer und starrte zu Stobrod hinüber, als erwartete er, dass jeden Moment ein Wunder geschehe. Auf Pangles Banjo war Stobrod bei einer Razzia gestoßen – wie die Höhlenbewohner sagten, um ihrer neuesten Angewohnheit, jeden reichen Farmer auszurauben, gegen den einer von ihnen auch nur den leisesten Groll hegte, mehr Würde zu verleihen. Jede Kränkung, die man einem der Männer zugefügt hatte – mochte sie auch noch so klein und gar zehn Jahre her sein –, diente ihnen als Vorwand. Es reichte, dass jemand vorbeigaloppiert war und einen von ihnen bespritzt hatte, als er am matschigen Straßenrand stand, dass jemand einen von ihnen beim Verlassen eines Ladens angerempelt hatte, ohne sich dafür zu entschuldigen, einen von ihnen für eine Arbeit eingestellt und ihm nicht den vollen Lohn ausbezahlt oder in einem Ton Befehle erteilt hatte, der darauf schließen ließ, dass er ihn für minderwertig hielt. Jede Brüskierung, Beleidigung oder höhnische Bemerkung, wie lange sie auch her war, wurde als Begründung herangezogen. Die Zeiten würden vielleicht nie wieder so günstig sein, um mit solchen Leuten abzurechnen. Sie waren zum Hof eines Mannes namens Walker hinabgestiegen. Er war einer der wenigen Großgrundbesitzer des Bezirks und Eigentümer zahlloser Sklaven – und das war es, woran der Höhlenverein Anstoß nahm. Die Männer waren
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nämlich kürzlich zu der Einsicht gelangt, dass die Sklavenbesitzer für den Krieg und die damit verbundenen Unannehmlichkeiten verantwortlich waren. Außerdem hatte sich Walker schon seit langem allen Leuten gegenüber, die er für geringer hielt als sich selbst – wozu seiner Einschätzung nach so gut wie jeder gehörte –, als arroganter Schnösel erwiesen. Einen Denkzettel, so befanden die Höhlenmänner, hatte er mehr als verdient. Sie waren bei Einbruch der Dunkelheit zu der Farm hinuntergestiegen, hatten Walker und seine Frau ans Treppengeländer gefesselt und ihm der Reihe nach Ohrfeigen verpasst. Sie hatten die Außengebäude durchkämmt und sämtliche Nahrungsmittel eingesackt, die ihnen unter die Augen gekommen waren – Schinken und Bauchfleisch, große Mengen eingemachter Waren, Säcke voll Maismehl und Maisgrütze. Aus dem Wohnhaus hatten sie einen Mahagonitisch, Silberbesteck, Kerzenhalter, Bienenwachskerzen, ein an der Wand im Eßzimmer hängendes Gemälde von General Washington, englisches Porzellan und legal gebrannten Whiskey aus Tennessee mitgehen lassen. Mit der Beute hatten sie dann ihre Höhle ausgeschmückt. Washington lehnte in einer Nische an der Wand, Kerzen in silbernen Kerzenhaltern daneben. Der Tisch war mit Wedgwoodporzellan und Silberbesteck gedeckt, obgleich viele von ihnen ihr Leben lang von Tischgeschirr gegessen hatten, das ausschließlich aus ausgehöhlten Kürbissen und Horngefäßen bestand. Stobrod war bei der Razzia allerdings nicht recht bei der Sache gewesen, und so stellte Pangles Banjo sein einziges Beutestück dar. Er hatte es von einem Haken in Walkers Werkzeugschuppen genommen. Es war zwar ein wenig krumm geraten, doch das Fell war von einem Waldmurmeltier, die Saiten aus Darm, und es hatte einen schönen weichen Klang. Außerdem hatte Stobrod Walker nur eine einzige Ohrfeige verpasst als Vergeltung dafür, dass er einmal zufällig mitbekommen hatte, wie Walker ihn einen Idioten genannt
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hatte, als er betrunken am Straßenrand auf einem Baumstamm gesessen und vergeblich versucht hatte, aus seiner Fiedel Musik herauszukratzen. Ich bin inzwischen ein Meisterfiedler, hatte Stobrod gesagt, nachdem er seinen Schlag auf Walkers bereits heftig geröteter Backe gelandet hatte. Im nachhinein hatte er wegen der Razzia auf der Walker-Farm ein ungutes Gefühl. Zum erstenmal in seinem Leben hielt er es für möglich, dass man ihn für seine Taten zur Rechenschaft ziehen könnte. Als sie zurück in der Höhle gewesen waren, hatte Stobrod dem jungen Pangle das Banjo gegeben und ihm – obwohl er selbst keine große Ahnung hatte – gezeigt, wie man darauf spielte: wie man die Wirbel drehte, um die Saiten zu stimmen, wie man die Saiten mit Daumen und Zeigefinger anschlug – entweder, indem man drüber strich oder sie packte wie eine Eule ein Kaninchen. Zu Stobrods großem Erstaunen hatte der Junge – offenbar aufgrund einer natürlichen Veranlagung und dem Herzenswunsch, Stobrod gebührend auf der Geige begleiten zu können, schneller darauf zu spielen gelernt, als manch anderer es fertigbrachte, einen einfachen Rhythmus auf der Trommel zu beherrschen. Pangle und er hatten seit der Razzia fast nichts anderes getan als musiziert. Für den Durst hatten sie Walkers guten Whiskey, und zum Essen gab es nichts als geklaute Sülze. Sie schliefen nur, wenn sie zu betrunken waren, um zu spielen, und zum Höhlenausgang bewegten sie sich so selten, dass sie nicht mitbekamen, wann es Tag und wann es Nacht war. Dafür beherrschte der Junge mittlerweile Stobrods gesamtes Repertoire, und sie hatten sich zu einem Duo zusammengetan. Als Ruby endlich heimkehrte, brachte sie nur ein kleines blutiges, in Papier gewickeltes Bruststück und einen Krug Apfelmost mit, denn Adams hatte eine erheblich kleinere Menge Rindfleisch herausgerückt, als sie gehofft hatte. Sie blieb stehen und sah ihren Vater und den Jungen an, ohne ein Wort zu sagen. Ihre Augen waren schwarze Höhlen, und ihr Haar hatte sich unterwegs gelöst und hing offen über ihre
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Schultern. Sie trug ein dunkelgrünes Wollkleid mir cremefarbenen Streifen, ihren grauen Pullover und einen grauen Männerfilzhut mit einer winzigen Kardinalvogelfeder im Satinband. Sie hielt das Päckchen auf der flachen Hand und bewegte diese auf und ab, um das Gewicht vorzuführen. — Nicht mal vier Pfund, sagte sie. Sie legte das Päckchen auf den Boden, stellte den Krug daneben und ging ins Haus, um bald darauf mit vier kleinen Gläsern und einer Tasse, in der Salz, Zucker, schwarzer Pfeffer und Paprika vermischt waren, wieder zurückzukommen. Sie wickelte das Papier auf, rieb das Fleisch mit der Gewürzmischung ein, vergrub es dann zwischen der Asche und setzte sich neben Ada auf den Boden. Ihr Kleid war ohnehin schon dreckig, so dass es nicht viel ausmachte, wenn sie sich damit auf die Erde setzte. Während das Fleisch garte, schlürften sie gemeinsam den Apfelmost, und dann nahm Stobrod seine Geige zur Hand, schüttelte sie, dass man die Rasseln im Geigenkörper hörte, und klemmte sie sich unters Kinn. Er strich einmal mit dem Bogen über die Saiten und drehte an einem Wirbel. Während er dies tat, richtete sich der Junge auf, griff nach seinem Instrument und schlug ein paar Akkorde an. Stobrod begann mit einem Stück in Moll, das aber dennoch recht lebhaft klang. Als er geendet hatte, sagte Ada: Die Klagegeige. Ruby warf ihr einen eigentümlichen Blick zu. — Mein Vater hat das immer gesagt, und es war ironisch gemeint, erklärte Ada. Monroe habe die Geige im Gegensatz zu den meisten anderen Pfarrern – die Geigenmusik für eine Sünde und das Instrument für ein Teufelsding hielten – aus ästhetischen Gründen nicht gemocht. Er habe behauptet, alle Geigenstücke klängen gleich und hätten lauter merkwürdige Namen. — Das ist es gerade, was mir an ihnen gefällt, sagte Stobrod. Er drehte abermals an den Wirbeln und sagte dann: Das ist jetzt eins von mir. Es heißt Der besoffene Neger. Es war eine schräge Weise, mit vielen Schleifen und Synkopen, bei dem die linke Hand nicht viel tun musste, der rechte Arm mit dem
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Bogen hingegen so hektische Bewegungen vollführte wie jemand, der eine Bremse verscheuchen will, die um seinen Kopf herumsummt. Stobrod spielte noch ein paar weitere Eigenkompositionen. Sie waren alle irgendwie eigenartig. Mit einem strengen Rhythmus, aber dennoch fast alle zum Tanzen ungeeignet, obwohl Geigenmusik Rubys Erfahrung nach doch einzig zu diesem Zweck gemacht wurde. Während Ada und Ruby nebeneinander saßen und zuhörten, ergriff Ruby Adas Hand und nahm ihr geistesabwesend das Silberarmband ab, streifte es über ihre eigene Hand und schob es nach einer Weile wieder an seinen Platz. Stobrod stimmte sein Instrument auf eine andere Tonhöhe und rief vor jedem Stück, das er spielte, aus, wie es hieß. Ada und Ruby schwante allmählich, dass das, was sie zu hören bekamen, eine Art Autobiographie seiner Kriegsjahre war. Die Stücke hießen unter anderem: Berührung mit dem Elefanten; Mein Kopfkissen war der Musketenkolben; Ladestock; Sechs Nächte im Suff; Keilerei in der Taverne; Verlang kein Geld, schenk es hin; Rasiermesserschnitt; Die Ladies von Richmond; Lebwohl General Lee. Zum Abschluss der Serie spielte er ein Stück namens Mein Bett war aus Stein – ein Stück das größtenteils aus kratzenden Tönen bestand, vorwiegend in mittlerem Tempo, auf- und abschwellend und voll spannungsgeladener metrischer Beziehungen. Es war ein Stück ohne Text – bei dem Stobrod nur ein einziges Mal den Kopf in den Nacken legte und dreimal hintereinander den Titel des Liedes intonierte. Der junge Pangle hatte so viel Einfühlungsvermögen, dass er nur unaufdringliche Begleittöne und Akkorde beisteuerte und die Töne jeweils dämpfte, indem er die Saiten ganz leicht mit dem weichen Teil von Daumen und Zeigefinger berührte. So einfach und spröde das Lied auch sein mochte, war Ada doch davon ergriffen. Stärker, so glaubte sie, als von jeder Oper, die sie zwischen der Dock Street und Mailand gehört hatte, weil Stobrods Spiel von einem so festen Glauben an die
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Fähigkeit des Liedes zeugte, den Weg zu einem besseren Leben zu eröffnen – einem Leben, in dem man eines Tages zur Zufriedenheit gelangen könnte. Ada wünschte, sie könnte das Gehörte festhalten wie ein Bild auf einer Ambrotypie, um es für zukünftige Generationen aufzubewahren, die vielleicht wieder des Zugriffs auf einen solchen Gehalt bedürfen würden. Als das Stück langsam zu Ende ging, legte Stobrod den Kopf nach hinten, als wollte er die Sterne betrachten, doch seine Augen waren geschlossen. Das untere Ende der Geige war an sein Herz gepresst, und der Bogen machte ruckartige, stotternde kurze Striche. Beim letzten Ton riss er den Mund auf, doch nicht, wie Ada erwartete, um zu johlen oder zu kreischen. Über sein Gesicht breitete sich vielmehr ein tiefes, langes Lächeln voll stiller Seligkeit. Er hörte auf zu spielen, hielt den Bogen in der Position, wo der letzte Aufwärtsstrich geendet hatte, öffnete die Augen und sah die anderen am Feuer Sitzenden an, um festzustellen, wie sein Spiel auf sie gewirkt hatte. In diesem flüchtigen Moment glich sein Gesicht dem eines gütigen Heiligen, der gelöst und milde lächelnd eine großzügige Gabe austeilt und angesichts seiner Fähigkeiten keinerlei Überheblichkeit zeigt – als hätte er sich seit langem fröhlich damit abgefunden, dass jedes Stück, und spielte er noch so schön, mit jedem Mal besser werden konnte. Wenn die ganze Welt ein ähnliches Gesicht zeigte, wäre der Krieg nichts als eine bittere Erinnerung. — Da hat er Ihnen was Gutes getan, sagte Pangle zu Ada. Doch dann zog er, offenbar erschrocken darüber, sie direkt angesprochen zu haben, den Kopf ein und starrte auf den Wald. — Noch eins zum Abschluss, sagte Stobrod. Pangle und er legten die Instrumente auf den Boden und nahmen ihre Hüte ab zum Zeichen, dass das nächste Lied ein geistliches sein würde. Ein Gospel. Stobrod stimmte es an, und Pangle fiel wenige Takte später ein. Stobrod hatte die einst leiernde Stimme des Jungen zu einem künstlich klingenden
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hohen Tenor ausgebildet, und er brachte die Phrasen, die er Stobrod nachkrächzte, in einem Ton hervor, der unter manchen Umständen komisch gewirkt hätte. Ihre Stimmen erklangen im Wechsel, fast als kämpften sie gegeneinander – bis der Refrain kam und sie zu tiefem Einklang zusammenfanden. Das Lied handelte davon, wie sehr wir im Finsteren leben, wie kalt und stürmisch und unbegreiflich das Leben ist, bis wir am Ende in den Tod gehen. Das war alles. Das Lied endete abrupt, ohne einen sonst in Liedern dieses Genres üblichen tröstlichen Schluß und Hoffnungsschimmer. Es war, als hatten sie die wichtigste Strophe weggelassen. Doch die gemeinsam gesungenen Partien waren wohltönend und brüderlich und für sich genommen so harmonisch, dass sie den düsteren Grundtenor des Liedes teilweise aufwogen. Nachdem sie sich ihre Hüte wieder aufgesetzt hatten, streckte Stobrod sein Glas vor. Ruby goss ihm einen Schluck Apfelmost ein und wollte den Krug wieder zurückziehen, als er mit dem Zeigefinger über ihren Handrücken strich. Ada, die das bemerkte, hielt es zunächst für eine zärtliche Geste, bis ihr klar wurde, dass es nur als Aufforderung gedacht war, mehr einzuschenken. Als hinter dem Jonas Ridge der rotglühende Mars aufgegangen und das Feuer zu heißer Glut niedergebrannt war, erklärte Ruby das Fleisch für gar und angelte es mit der Heugabel aus der Asche. Von den Gewürzen hatte das Bruststück eine schöne Kruste bekommen. Ruby legte es auf einen Baumstumpf und schnitt es mit ihrem Messer quer zur Faser auf. Das Innere war rosig, und der Saft lief heraus. Sie aßen es mit den Fingern, ohne es auf Teller zu legen und ohne jegliche Beilagen. Als sie fertig waren, rupften sie vertrocknetes Riedgras vom Wiesenrand und rieben sich damit die Hände sauber. Danach knöpfte sich Stobrod den obersten Hemdknopf zu und zupfte an seinen Jackenaufschlägen herum, bis die Jacke richtig saß. Er nahm den Hut ab, strich sich die zwei Haarsträhnen aus der Stirn und setzte den Hut wieder auf.
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Ruby beobachtete ihn dabei und sagte, ohne sich an jemand Bestimmten zu wenden: Jetzt haut er gleich jemanden um einen Gefallen an. — Ich will nur mit euch reden, sagte Stobrod. Euch was fragen. — Und das wäre? fragte sie. — Die Sache ist die – ich brauche Hilfe, sagte Stobrod. — Ist dir der Schnaps ausgegangen? — Oh, davon ist genug da. Aber worum es mir geht, ist, ich hab Angst, sagte er, darum geht's. Er befürchte, so erklärte er, dass man sie wegen der Razzia verhaften könnte. Unter den Deserteuren in der Höhle hatte sich einer zum Anführer gemacht – der Mann mit dem Bärenfell. Er spuckte gern große Töne und hatte ihnen folgendes eingebleut: Dass ihr Kampf im Krieg nicht so edel gewesen sei, wie sie es geglaubt hätten. Er sei dadurch beschmutzt gewesen, dass sie sich von der menschlichen Schwäche namens Haß hätten leiten lassen und, ohne es zu merken, nur für den reichen Mann gekämpft hätten, damit der seine Nigger behalten könne. Sie seien alle Dummköpfe gewesen, aber jetzt sei ihnen ein Licht aufgegangen. Sie redeten über nichts anderes mehr, versammelten sich ums Feuer und hielten Rat. In Zukunft, so kamen sie überein, würden sie nur noch für ihre eigenen Interessen kämpfen. Sie würden bis zum letzten kämpfen und sich nicht zur Armee zurückschicken lassen. — Er will von uns, dass wir einen Blutschwur ablegen, wie die Hunde zu verrecken, sagte Stobrod. Mit den Zähnen in irgendeine Gurgel verbissen. Aber ich bin nicht von der Armee weg, um mich bei der nächsten zu verpflichten. Stobrod hatte beschlossen, dass er und Pangle demnächst aussteigen und sich eine andere Unterkunft suchen würden. Ohne die Kriegerbande. Was er brauche, sei die Sicherheit, dass sie zu essen bekämen, bei schlechtem Wetter einen trockenen Heuschober. Und vielleicht hin und wieder ein bisschen Geld, zumindest, bis der Krieg vorüber sei und er
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sich wieder frei bewegen könne. — Friss Wurzeln, sagte Ruby. Trink Schlammwasser. Schlaf in einem hohlen Baumstamm. — Hast du kein bisschen Mitgefühl mit deinem Daddy? fragte Stobrod. — Ich gebe dir lediglich ein paar Tips, wie du im Wald überleben kannst. Sie kommen aus Erfahrung. Ich habe mich oft von Wurzeln ernährt, wenn du auf Sauftour warst. Habe an unangenehmeren Orten übernachtet als in hohlen Baumstämmen. — Du weißt, dass ich mein Möglichstes für dich getan habe. Es waren harte Zeiten. — Nicht so hart wie jetzt. Und erzähl hier nicht, du hättest dein Möglichstes getan. Du hast immer nur das getan, was dir gerade gepasst hat. Und tu jetzt bloß nicht so, als ob wir einander viel bedeutet hätten. Ich habe dir niemals etwas bedeutet. Du bist gekommen und gegangen, wie es dir gerade einfiel, und es war dir bei deiner Rückkehr egal, ob ich da war oder nicht. Wenn ich in den Bergen gestorben wäre, hättest du dich vielleicht ein, zwei Wochen gefragt, ob ich wohl wieder auftauchen würde. So wie wenn nach einer Waschbärenjagd bei Morgengrauen das Horn geblasen wird und man feststellt, dass ein Hund aus der Meute fehlt. Nur so viel Bedauern und keinen Deut mehr. Also erwarte jetzt nicht von mir, dass ich springe, wenn du rufst. — Aber ich bin ein alter Mann, sagte Stobrod. — Du hast doch gesagt, du bist noch keine fünfzig. — Ich fühle mich alt. — Ich mich auch, wenn mich einer fragt. Und mal davon abgesehen. Wenn von dem, was über Teague erzählt wird, auch nur die Hälfte wahr ist, gehen wir ein ziemliches Risiko ein, wenn wir dir Unterschlupf gewähren. Mir gehört diese Farm nicht. Ich habe hier nichts zu bestimmen. Aber wenn ich etwas zu bestimmen hätte, würde ich nein sagen. Beider Blicke wandten sich zu Ada. Sie saß in ihr Umhängetuch gewickelt da, die Hände in die Röcke zwischen
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den Knien gesteckt, um sich zu wärmen. Sie konnte es den Gesichtern der beiden ansehen, dass sie von ihr ein Machtwort erwarteten – vielleicht als Landbesitzerin, vielleicht ihrer höheren Bildung wegen. Doch obwohl sie gewissermaßen die Herrin des umliegenden Landes war, fühlte sie sich in der Rolle der Gebieterin unwohl. Ihr einziger Gedanke war, dass Rubys Vater sozusagen von den Toten wiedergekehrt war, und dass dies eine zweite Chance war, wie sie nur wenigen gewährt wird. — Du musst bedenken, dass er dein Vater ist, und dass es einen Punkt gibt, von dem an du verpflichtet bist, dich um ihn zu kümmern. — Amen, sagte Stobrod. Ruby schüttelte den Kopf. Wir haben offenbar unterschiedliche Vorstellungen von einem Vater, sagte sie. Ich werde dir jetzt erzählen, wie ich es von meiner Warte sehe. Ich weiß nicht, wie alt ich damals war, sondern nur, dass ich damals noch jede Menge Milchzähne hatte. Er ließ mich allein, um Schnaps brennen zu gehen. Sie warf Stobrod einen Blick zu und fragte: Erinnerst du dich überhaupt noch daran? Du und Poozler und der Cold Mountain? Klingelt's da bei dir? — Ja, ich entsinne mich, sagte Stobrod. — Na gut, dann erzähl du deinen Teil, sagte Ruby. Also erzählte Stobrod seine Geschichte. Er und sein Partner waren auf die Idee verfallen, Branntwein zu brennen, um damit Geld zu machen, und waren auf den Berg gestiegen, wo sie in Unterständen aus Baumrinde gehaust hatten. Er hatte den Eindruck gehabt, dass Ruby ganz gut allein zurechtkam, und sie folglich im Alter von knapp acht Jahren drei Monate lang allein gelassen. Er und Poozler waren völlige Laien gewesen, was den Schnapshandel betraf. Sie destillierten jeweils nur eine so kleine Menge, dass davon nicht einmal eine Teekanne voll geworden wäre, und sie fanden, dass es zuviel Theater war, gewaschene Feuerkohlen in den Nachlauf zu geben, um das Zeug zu filtern. Folglich war das, was am Ende
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herauströpfelte, entweder trübgrün oder trübgelb. Aber das Zeug war stark. Sie verdünnten es nie unter drei Viertel reinen Alkoholgehalt. Es unterschied sich nur unwesentlich von dem Usquebaugh und dem schwarz gebrannten Aquavit ihrer keltischen Vorfahren. Viele Kunden beklagten jedoch seine verdauungsfördernde Wirkung. Die Nachfrage ließ nach und das Geschäft brachte nichts ein, denn nachdem sie die Menge abgegossen hatten, die sie für den Eigenbedarf brauchten, blieb gerade so viel Schnaps übrig, dass sie die Zutaten für den nächsten Brand eintauschen konnten. Trotzdem blieb Stobrod so lange auf dem Berg, bis ihn die Unrentabilität des Unternehmens und das kalte Novemberwetter hinuntertrieben. Als er geendet hatte, erzählte Ruby ihren Teil der Geschichte – wie sie während dieser Monate über die Runden gekommen war. Sie suchte in der Natur nach Eßbarem. Buddelte Wurzeln aus, fing Fische in Fallen aus geflochtenen Weidenzweigen und Vögel in Fallen ähnlicher Bauart. Sie aß jeden Vogel, den sie gerade fing, und mied lediglich, wenn möglich, die fischfressenden und grundsätzlich die aasfressenden. Lernte nur durch Ausprobieren, welche Teile ihrer Innereien eßbar waren und welche nicht. In einer dieser unvergeßlichen Wochen hatte sie mit ihren Fallen kein Glück und ernährte sich ausschließlich von zu Mehl zerstoßenen Kastanien und Hickorynüssen, aus denen sie auf einem flachen Schieferstein neben dem Feuer ein krümeliges Brot buk. Als sie an einem dieser Tage durch den Wald streifte, um Nüsse zu sammeln, stieß sie zufällig auf die Destille. Stobrod lag gerade schlafend in der Hütte, und sein Partner sagte: Er liegt den ganzen Tag im Bett. Dass er nicht tot ist, merkt man bloß daran, dass er ab und zu mit den Zehen wackelt. Ruby hätte damals und auch bei späteren Gelegenheiten am liebsten mit einem Wolfskind getauscht. Ihrer Meinung nach waren Romulus und Remus, von denen Ada ihr vorgelesen hatte, glücklich dran, denn sie hatten zumindest einen grimmigen Beschützer. Trotz dieser harten und einsamen Zeiten musste Ruby jedoch gerechterweise eines einräumen: Er hatte niemals im Zorn
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Hand an sie gelegt. Sie konnte sich nicht daran erinnern, jemals geschlagen worden zu sein. Andererseits war es aber auch nie vorgekommen, dass er ihr zärtlich über den Kopf strich oder die Wange streichelte. Ruby sah Ada an und sagte: So. Jetzt bring das mit deiner Vorstellung von Pflicht in Einklang. Ehe Ada einen vollständigen Gedanken formulieren oder auch nur O weh sagen konnte, stand Ruby auf und stolzierte in die Dunkelheit hinein davon. Stobrod sagte nichts, aber Pangle sagte leise, wie zu sich selbst: Bei der ist zappenduster. Etwas später, nachdem sie Stobrod und Pangle mit der vagen Hoffnung, dass sie irgendeinen Kompromiß finden würden, fortgeschickt hatte, ging Ada den Pfad zum Abort hinauf. Die Temperatur fiel immer weiter, und sie rechnete mit Nachfrost. Der hoch stehende Vollmond strahlte so hell, dass die Äste der Bäume blaue Schatten warfen. Hätte Ada Lust gehabt, hätte sie Adam Bede aus der Tasche ziehen und im Mondlicht lesen können. An dem grauen Himmel waren nur die hellsten Sterne zu sehen. Bei genauerer Betrachtung entdeckte sie im Osten den aufgehenden Orion, und dann bemerkte sie, dass dem Mond ein Stück fehlte. Ein kleine Mulde war aus ihm heraus geschnitten. Es war Mondfinsternis. Sie ging ins Haus und holte sich drei Decken und Monroes Fernrohr. Es war ein italienisches Fabrikat mit vielen Verzierungen im Messing und sehr hübsch anzuschauen, wenn auch die Optik nicht so gut war wie die der deutschen Fabrikate. Sie ging zum Schuppen, um sich einen Liegestuhl zu holen, und fragte sich, während sie einen aus dem Viererstapel herauszog, ob es wohl derjenige war, in dem Monroe gestorben war. Sie klappte ihn im vorderen Hof auf, mummelte sich in die Decken und streckte sich, das Gesicht gen Himmel geneigt, aus. Sie blickte durch das Fernrohr und stellte es scharf. Der Mond sprang ihr deutlich ins Auge; die beschattete Ecke war kupferrot, aber deutlich erkennbar. Ganz oben ein Krater mit einem Berg mittendrin.
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Ada verfolgte den über das leuchtende Gesicht hinwegziehenden Schatten, unter dem der Mond, auch als die Finsternis komplett war, noch immer schwach sichtbar war. Er hatte die Farbe eines alten Kupfercents und schien auch ungefähr die gleiche Größe zu haben. Als der Mond vollkommen verdunkelt war, leuchtete die Milchstraße hell und klar – ein Himmelsfluss aus Licht, eine Fahne wie von aufgewirbeltem Straßenstaub. Ada fuhr sie mit dem Fernrohr ab, machte an einer Stelle halt und versuchte, in die Tiefe zu blicken. Durch das Fernrohr vervielfachten sich die Sterne zu einem Gewirr von Lichtern, und sie schienen sich endlos weiter fortzusetzen, so dass Ada das Gefühl bekam, ungeschützt am äußersten Rand einer Schlucht zu liegen. Als schaute sie von der Kante ihres Planeten in die Tiefe und nicht in den Himmel hinauf. Einen Moment lang befiel sie das gleiche Schwindelgefühl wie an Escos Brunnen, drohte sie das Gleichgewicht zu verlieren und hilflos in dieses Lichtermeer zu stürzen. Sie öffnete das andere Auge und legte das Fernrohr beiseite. Die dunklen, ringsum aufragenden Wände von Black Cove hielten sie wie eine Schale umschlossen, und sie lag selig da und beobachtete weiter den Himmel, bis der Mond allmählich wieder aus dem Schatten der Erde hervortrat. Sie musste an den Refrain eines Liedes denken, das Stobrod an diesem Abend gesungen hatte, ein rauhes Liebeslied. Die letzten Worte waren: Ich bitte dich, komm zurück zu mir. Stobrod hätte die Worte auch dann nicht mit mehr Inbrunst singen können, wenn es sich um einen der tiefsinnigeren Verse des Endymion gehandelt hätte. Ada musste sich eingestehen, dass es – zumindest manchmal – mehr bewirkte, einfach offen, ungekünstelt und spontan auszusprechen, was das eigene Herz empfand, als viertausend Verse von John Keats zu zitieren. Sie hatte dies zwar in ihrem gesamten bisherigen Leben noch nie fertiggebracht, dachte aber, dass sie es gerne lernen würde. Sie ging ins Haus, holte sich ihr tragbares Schreibpult und ein Windlicht und setzte sich wieder in den Stuhl. Sie benetzte
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ihre Feder mit Tinte und starrte so lange auf das Papier, dass die Federspitze eintrocknete. Alle Sätze, die ihr in den Sinn kamen, erschienen ihr nichts weiter als affektiert und lächerlich. Sie wischte die Feder an einem Tintenlöscher ab, tauchte sie abermals ein und schrieb: Ich bitte dich, komm zurück zu mir. Sie schrieb ihren Namen darunter, faltete den Bogen zusammen und adressierte ihn an das Krankenhaus in der Hauptstadt. Dann wickelte sie sich fest in die Decken ein und war bald darauf eingeschlafen – während der Frost näher kroch und die oberste Decke mit Rauhreif überzog.
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Ein Gelöbnis an die Bären
Inman wanderte durch bergiges Land und begegnete, obwohl er auf offiziellen Wegen blieb, kaum einer Menschenseele. Die jeweils zurückgelegten Strecken maß er in Tagesabschnitten. Ein Tagesmarsch. Ein Halbtagesmarsch. Weniger als ein Halbtagesmarsch. Alles, was kürzer war, zählte nicht mehr als ein Stück die Straße hinunter. Meilen und Stunden wurden für ihn zu unbrauchbaren Begriffen, da er weder das eine, noch das andere messen konnte. Einmal wurde er unterwegs aufgehalten, als er auf eine kleingewachsene Frau stieß, die vornübergebeugt auf einem Lattenzaun saß und ihr totes Töchterchen beweinte. Das Gesicht der Frau lag ihm Schatten ihrer Haube, so dass Inman außer ihrer Nasenspitze nur eine schwarze Fläche sah. Als sie jedoch ihr Gesicht hob, glitzerten die von ihren Wangen tropfenden Tränen im Morgenlicht. Ihr schmerzverzerrter Mund stand einen Spalt offen und erinnerte Inman an die Öffnung einer Säbelscheide. Die Sonne war noch nicht ganz aufgegangen, und sie musste ihr Kind notgedrungen in einer alten Decke begraben, da sie nicht wusste, wie man einen Sarg baute. Inman bot ihr seine Hilfe an und brachte den Tag damit zu, in ihrem Hinterhof mit Hilfe von Brettern eines ehemaligen Räucherhauses einen kleinen Sarg zusammenzuzimmern. Die Bretter rochen nach Schweinefett und Hickoryholzfeuer, und die Innenseiten waren von vielen Jahren der Schinkenherstellung glänzend schwarz. Von Zeit zu Zeit kam die Frau an die Hintertür, um nachzusehen, wie er vorankam, und jedesmal sagte sie: Der Stuhl von meiner Kleinen war in den letzten beiden Wochen vor ihrem Tod so locker wie
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Herdasche. Als Inman seine Tischlerarbeit beendet hatte, polsterte er den Sargboden mit trockenen Kiefernnadeln aus. Dann ging er ins Haus, um das Mädchen zu holen, das in eine Steppdecke gewickelt auf einem Bett im Erdgeschoss lag. Das Bündel, das er hochhob, war hart und fest wie ein Kokon oder ein Gallapfel. Als er das Mädchen durch die Hintertür trug, saß die Mutter am Küchentisch und sah ihm mit leerem Blick nach. Inman wickelte die Decke auseinander, legte das Mädchen auf den Sargdeckel und versuchte dabei, sich nicht von dem Anblick ihrer eingefallenen grauen Wangen und spitzen Nase erschüttern zu lassen. Er zerschnitt die Decke mit seinem Messer, um den Sarg damit auszufüttern, und dann legte er das Mädchen in die Kiste, nahm den Hammer und ging zur Tür. — Ich sollte ihn jetzt zunageln, sagte er. Die Frau kam heraus und küßte das Mädchen auf die eingesunkenen Wangen und die Stirn, dann setzte sie sich auf den Rand der Veranda und sah zu, wie Inman den Deckel festhämmerte. Sie begruben sie auf einer nahe gelegenen Anhöhe, auf der sich bereits vier mit Flusschiefertafeln versehene Gräber befanden. Die ersten drei waren Gräber von Säuglingen, deren Geburtstage jeweils elf Monate auseinanderlagen. Gestorben wenige Tage nach ihrer Geburt. In dem vierten lag die Mutter, und Inman stellte fest, dass sie am Geburtstag des letzten Kindes gestorben war. Er rechnete rasch im Kopf aus, dass sie nur zwanzig Jahre alt geworden war. Inman schaufelte das Loch für das neue Grab neben dem letzten Grabstein aus, und als er fertig war, fragte er: Möchten Sie ein paar Worte sagen? — Nein, sagte die Frau. Die Worte, die ich herausbrächte, würden nur verbittert klingen. Als Inman das Loch wieder zugeschaufelt hatte, begann es bereits zu dunkeln. Er geleitete die Frau zurück zum Haus. — Eigentlich müsste ich Ihnen jetzt etwas zu essen machen, aber ich bin nicht in der Lage, ein Feuer anzufachen,
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geschweige denn, etwas zu kochen. Sie ging hinein und kam mit allerlei Vorräten zurück: Zwei kleinen Stoffbündeln – einem mit Maisgrütze, einem mit Mehl. Einem Batzen Schweineschmalz in fettgetränktem Papier, einem Stück braunem, geräuchertem Schweinenacken, etwas Röstmais, etwa einer Tasse voll Suppenbohnen, in ein Stück Papier gewickelt, einer Stange Lauch, einer Steckrübe, drei Karotten und einem Stück Laugenseife. Inman nahm die Sachen, dankte der Frau und wandte sich zum Gehen. Doch ehe er das Tor erreicht hatte, rief sie: — Ich werde nie ruhigen Gewissens an diesen Tag zurückdenken können, wenn ich Sie fortgehen lasse, ohne Ihnen eine Mahlzeit gekocht zu haben, sagte sie. Also brachte Inman ein Feuer in Gang, und die Frau setzte sich auf einen niedrigen Schemel und briet ihm ein riesiges Steak vom Kalb eines Nachbarn, das in einem Sumpfloch steckengeblieben und verreckt war, ehe jemand überhaupt gemerkt hatte, dass es fehlte. Die Frau schöpfte gelbe Maisgrütze, die so labberig war, dass sie verlief, auf einen Steingutteller. Das Steak bog sich beim Braten nach oben wie eine Hand, die ausgestreckt wird, um Wechselgeld in Empfang zu nehmen, und sie legte es umgedreht auf die Grütze und packte noch zwei Spiegeleier auf die Fleischkuppel. Als letzte Garnierung gab sie ein Stück Butter von der Größe eines Eichhörnchenkopfs auf die Eier. Als sie den Teller vor Inman auf den Tisch stellte, blickte er darauf hinunter und brach beinahe in Tränen aus, während er zusah, wie die Butter über die Eidotter, das Eiweiß, das braune Fleisch und die gelbe Grütze lief, bis der ganze Teller im Kerzenlicht glitzerte. Er hielt Messer und Gabel in den Fäusten aufrecht auf den Tisch gestützt, konnte aber nicht essen. Er hatte das Gefühl, dass diese Mahlzeit eines speziellen Dankes bedurfte, fand jedoch nicht die richtigen Worte. Draußen in der Dunkelheit ertönte der Ruf einer Virginischen Wachtel. Sie wartete auf eine Antwort und rief noch einmal, während sich im gleichen Augenblick eine kleine
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Brise erhob und ein kurzer Regenschauer einsetzte, auf Blätter und Dachschindeln trommelte und versiegte. — Dieses Gericht bedarf eines Tischgebets, sagte Inman. — Dann sprechen Sie doch eins, sagte die Frau. Inman dachte kurz nach und sagte: Mir fällt keins ein. — Herr, ich danke dir für diese Speise. Das wäre eins, sagte sie. Inman murmelte die Worte vor sich hin, als probierte er aus, ob sie passten. Dann sagte er: Wenn Sie wüßten, wie lange das her ist. Während er aß, nahm die Frau eine gerahmte Photographie aus einem Regal und betrachtete sie. — Wir haben einmal ein Bildnis von uns machen lassen, sagte sie. Von einem Mann, der mit einem Karren durch die Gegend zog, in dem er seine ganze Kameraausrüstung hatte. Die einzige, die jetzt noch am Leben ist, bin ich. Sie wischte mit dem Ärmel den Staub ab und reichte Inman das kleine, gerahmte Bild, damit er es bewunderte. Inman nahm es ihr ab und hielt es schräg ans Kerzenlicht. Eine Daguerreotypie. Darauf abgebildet waren ein Vater, die Frau, als sie noch ein paar Jahre jünger war, eine alte Großmutter und sechs Kinder – von Jungen, die alt genug waren, um Hüte mit Krempen zu tragen, bis zu kleinen Babys mit Häubchen. Sie waren alle schwarz gekleidet, saßen mit gekrümmten Schultern da und blickten argwöhnisch oder so fassungslos drein, als hätten sie gerade die Nachricht von ihrem Tode erhalten. — Oh, das tut mir leid, sagte Inman. Nachdem er gegessen hatte, geleitete ihn die Frau hinaus. Er marschierte so lange in die Dunkelheit hinein, bis neue Sternbilder aufgegangen waren, und machte sich an einem kleinen Bach ein Nachtlager. Er trampelte sich in dem hohen, verdorrten Gras eine Schlafmulde zurecht, rollte sich in seine Decke ein und verbrachte eine harte Nacht. In den darauffolgenden Tagen marschierte er jeweils so weit, bis er nicht mehr weiter konnte, und übernachtete in
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Vogelschlafplätzen. Eine Nacht fand er Unterschlupf in einem hohlen Baumstamm, in dem Tauben wohnten. Die Vögel beachteten ihn gar nicht. Nur wenn er sich auf die andere Seite drehte, rumorten sie ein wenig, gaben ein paar gurrende Laute von sich und dösten wieder ein. In der Nacht darauf schlief er auf dem trockenen Stück Erde unter einem Taubenschlag, der auf einem hohen Pfahl stand und mit einem Turm versehen war – ein Bauwerk, das ihm vorkam wie der einem winzigen, nicht existenten Gott geweihte Tempel. Er musste sich zum Schlafen zusammenrollen, denn wenn er sich ausstreckte, tropfte der Regen von dem steilen Walmdach entweder auf seine Füße oder auf seinen Kopf. Eine andere Nacht verbrachte er in einem verlassenen Hühnerhaus. Er breitete seine Bodenplane auf der dick mit kreideweißem, altem Hühnerkot verdreckten Erde aus, die unter ihm knirschte, wenn er sich bewegte, und roch wie staubige, uralte Knochengerippe. Als er bereits Stunden vor Tagesanbruch aufwachte und nicht wieder einschlafen konnte, kramte er in seinem Tornister nach einem Kerzenstummel und zündete ihn an. Er rollte seinen Bartram auseinander, hielt ihn an das gelbe Licht und blätterte darin herum, bis ihm folgender Absatz ins Auge fiel: Die wilde Gebirgslandschaft, die ich unlängst durchwandert hatte, war so gleichmäßig gewellt wie der große Ozean nach einem Sturm; die Wellen wurden mit zunehmender Entfernung flacher, blieben aber völlig ebenmäßig – wie Fischschuppen oder schuppig angeordnete Dachziegel: unmittelbar vor mir von einem satten Grün; dahinter eher bläulichgrün, und in der Entfernung fast so blau wie der Äther, mit dem die äußerste Woge am Horizont verschmolzen zu sein schien. Während ich ganz in die Betrachtung dieser großartigen, ungeheuer abwechslungsreichen und grenzenlosen Landschaft versunken war, bemerkte oder beachtete ich kaum, was an bezaubernden Objekten in meiner näheren Umgebung lag.
Ein Bild der von Bartram beschriebenen Landschaft trat Inman mehrdimensional vor das innere Auge. Berge und Täler
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in endloser Folge. Eine knorrige, höckrige, zerklüftete Landschaft, in welche die Menschen erst im nachhinein eingeplant worden zu sein schienen. Inman hatte den von Bartram beschriebenen Ausblick unzählige Male genossen. Es war das sich vom Cold Mountain endlos nach Norden und Westen erstreckende Grenzland. Inman kannte es gut. Er hatte seine Höhen kreuz und quer abgelaufen, hatte es zu allen Jahreszeiten erlebt, sich seine Farben eingeprägt und seine Gerüche gerochen. Bartram war nur ein Reisender und hatte die Gegend lediglich in der Jahreszeit erlebt, in der er dort gewesen war, bei dem Wetter, das zufällig gerade geherrscht hatte. Aber das Land sah in Inmans Erinnerung nicht etwa so aus, wie er selbst es sein Leben lang gesehen und gekannt hatte, sondern so wie Bartram es beschrieben hatte. Die Gipfel waren jetzt höher, die Täler tiefer, als sie es in Wirklichkeit waren. Inman stellte sich die hintereinanderliegenden Bergketten vor, blass und breit wie Wolkenbänke, und er zeichnete im Geist ihre Konturen und malte sie aus, jede Reihe mit einem blasseren Blauton, und als er schließlich die imaginäre Kammlinie, die mit dem Himmel verschmolz, erreicht hatte, war er eingeschlafen. Am nächsten Tag marschierte Inman in südwestlicher Richtung einen alten, sich durch die Berge windenden Fahrweg hinunter. Es war ein schneidend kalter Tag, und sämtliche Blätter lagen abgefallen und vertrocknet auf dem Boden. Er wusste nicht einmal, in welchem Bezirk er sich befand. Im verdammten Madison vielleicht. Er kam an einem Wegweiser vorbei, auf dessen einer Seite Bo55M und auf der anderen Av65M stand. Er konnte daraus nicht mehr ersehen, als dass bis zu beiden Orten, wie immer sie hießen, ein strammer Fußmarsch zurückzulegen wäre. Hinter einer Wegbiegung kam er an eine kleine Wasserstelle, eine Art Quelle inmitten von grünen, mit Sumpfmoos bewachsenen Steinen. Der Grund war mit vermodernden Eichen- und Pappelblättern bedeckt, und das Wasser war bernsteinfarben wie ein schwacher Teeaufguß aus ebendiesen
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Blättern. Inman beugte sich vor, um seine Feldflasche hineinzutauchen. Im gleichen Moment erhob sich ein Wind, und er vernahm ein seltsames Tocken und Klicken – als versuchte jemand, mit morschen Stecken Musik zu machen. Er sah zu dem Waid hinter der Quelle hinüber, aus dem die Geräusche kamen, und erblickte etwas Sonderbares – drei nebeneinander hängende Skelette, die im Wind schaukelten und dabei aneinanderstießen. Die Feldflasche lief gluckernd voll. Inman richtete sich auf, verstöpselte sie und ging zu den Gerippen hin. Sie hingen in einer Reihe an einem der unteren Äste einer hohen Hemlocktanne. Nicht einmal an richtigen Seilen, sondern an geflochtenen Rindenstreifen von jungen Hickorynußbäumen. Das Becken und die Beinknochen des einen waren abgefallen und lagen in einem Haufen, aus dem die Zehen des einen Fußes herausstanden, auf dem Boden. Die Flechtschnur um den Hals eines der noch kompletten Skelette hatte sich so weit gedehnt, dass die Zehen des Mannes den Boden berührten. Inman fegte mit dem Fuß das Laub zur Seite, in der Annahme, dass er unter ihm eine festgestampfte Fläche finden würde, wo der Mann im Sterben gezappelt und die Erde festgetreten hatte. Sein Haar war vom Schädel gefallen und lag im Laub um seine Zehenknochen. Blond. Und die Knochen alle schneeweiß, die Zähne in den aufgeklappten Kiefern gelb. Inman strich mit der Hand über die Armknochen des zur Hälfte abgefallenen Mannes. Sie fühlten sich rauh an. Beinund Fußknochen auf einem Haufen wie Anmachholz für ein Feuer. Er konnte sich nicht selber abschneiden, dachte Inman, aber wenn er ein bisschen Geduld hat, wird es von allein geschehen. Ein paar Tage später stieg Inman den ganzen Vormittag hindurch bergan, ohne recht zu wissen, wo er war. Nebelschwaden huschten vor ihm her wie Rehe durch die Bäume. Und am Nachmittag folgte er dann einem Gratweg zwischen mit Balsamtannen bestandenen Hochebenen und kleinen, lichten Schluchten, in denen Buchenhaine und oben
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die letzten, gerade noch in dieser Höhe wachsenden Laubbäume standen. Langsam begann er zu ahnen, in welcher Gegend er sich ungefähr befand. Der Weg war eine alte Paßstraße, soviel war sicher. Inman kam an einem der Steinhügel vorbei, die die Cherokee in längst vergangenen Zeiten zu irgendeinem Zweck an Wegesrändern zu errichten pflegten – ob als Wegmarkierung, Denkmal oder heilige Stätte wusste heute niemand mehr. Inman hob einen Stein vom Boden auf und legte ihn im Vorbeigehen auf den Hügel – zum Gedenken an ein unbestimmtes, altes himmelwärts gerichtetes Sehnen. Spätnachmittags gelangte er über eine Heidefläche zu einem felsigen Steilabhang, vor dessen kahlem Felssims ein dichtes Gestrüpp aus hüfthohen Azaleen, Berglorbeersträuchern und Myrtensträuchern stand. Der Pfad mündete darauf, als hätten es sich Wanderer zur Gewohnheit gemacht, hier stehenzubleiben, um die Aussicht zu genießen. Dann tauchte der Weg etwa vierzig Fuß hinter der Stelle, an der Inman herausgekommen war, über einen fast zugewachsenen Pfad durch die Azaleen wieder in den Wald ein. Die Sonne ging bereits unter, und Inman sah keine andere Möglichkeit, als abermals ein Nachtlager aufzuschlagen, ohne sich ein Feuer machen zu können oder eine Wasserquelle in der Nähe zu haben. Um eine weichere Schlafunterlage zu haben, scharrte er in Nähe des Abgrunds das bisschen Humus zusammen, das dort vorhanden war. Er aß eine Portion Röstkorn aus der Hand, streckte sich in seinem Bettzeug aus und wünschte sich dabei, dass der Mond am Himmel voller wäre, damit er die vor ihm liegende Aussicht beleuchte. Im ersten Morgengrauen wurde er von Schritten auf der Heide geweckt. Er setzte sich auf, spannte den Hahn des LeMat und zielte in die Richtung, aus der das Geräusch kam. Alsbald streckte keine zwanzig Fuß von der Stelle, an der Inman saß, eine Schwarzbärin den Kopf durch das Gebüsch. Die gelbbraune Schnauze nach oben gerichtet, den Hals gestreckt, stand sie witternd und mit ihren Knopfaugen
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zwinkernd da. Was sie da witterte, gefiel ihr gar nicht. Sie schlurfte weiter vor und brummte. Ein einzelnes Bärenjunges, nicht viel größer als der Kopf eines Menschen, kletterte ein Stück hinter ihr am Stamm auf eine junge Fräser-Fichte. Inman wusste, dass sie ihn zwar riechen, wegen ihres schlechten Sehvermögens in dem dämmrigen Licht jedoch nicht sehen konnte. Sie war so nahe, dass er sie trotz der schlechten Nase der Menschen riechen konnte. Es war ein Geruch nach nassem Hund mit einem schwereren Beigeruch. Die Bärin schnaubte zweimal durch Nase und Maul und tappte zögernd weiter vor. Als Inman ein Stück zur Seite rutschte und aufstand, stellte die Bärin die Ohren auf. Sie blinzelte und reckte abermals den Hals, witterte und machte einen weiteren Schritt nach vorn. Inman legte den Revolver auf seiner Decke ab, denn er hatte einmal ein Gelöbnis an die Bären abgelegt, nie wieder einen von ihnen zu erschießen – obgleich er in seiner Jugend zahlreiche Bären getötet und verzehrt hatte und sich bewusst war, dass der Geschmack von Bärenfett ihn durchaus noch verlockte. Zu diesem Entschluß war er nach einer Reihe von Träumen gekommen, die er in den matschigen Schützengräben von Petersburg eine Woche lang in Abfolgen geträumt hatte. In dem ersten dieser Träume war er ein Mann gewesen. Er war krank und trank zur Stärkung Bärentraubenblättertee, und allmählich verwandelte er sich in einen Schwarzbären. In den Nächten, da ihn die Bärenvisionen verfolgten, streifte Inman allein und auf allen vieren durch die grünen Traumberge und ging dabei allen Artgenossen und allen anderen Lebewesen aus dem Weg. Er grub in der Erde nach weißlichen Maden, klaubte in Bienenbäumen nach Honig, aß büschelweise Heidelbeeren und war glücklich und stark. Von einer solchen Lebensweise, dachte er, könnte man lernen, wie man in Frieden leben und die Kriegswunden zu weißen Narben verheilen lassen kann. In dem letzten Traum wurde er jedoch nach einer langen
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Hetzjagd von Jägern erschossen. Sie banden ihm einen Strick um den Hals, um ihn an einen Baum zu hängen und ihm das Fell abzuziehen – was er selbst wie von oben herab beobachtete. Sein tropfender roter Kadaver sah aus wie der eines wirklichen Bären nach der Häutung, das heißt, menschenähnlich und dünner als man es erwartet hatte, die abgehäuteten Pfoten wie eine Menschenhand gebaut. Mit dieser Episode war die Traumfolge beendet gewesen, und er war an jenem letzten Morgen mit dem Gefühl erwacht, dass der Bär für ihn ein Tier von besonderer Bedeutung sei, ein Tier, das er beobachten sollte und von dem er lernen könnte. Und er beschloss, dass es einer Sünde gleichkäme, einen Bären zu töten – ganz gleich in welcher Zwangslage er sich befand –, denn der Bär verkörperte für ihn etwas Hoffnungsvolles. Trotzdem gefiel ihm seine gegenwärtige Lage gar nicht – hinter ihm der Abgrund, vor ihm die knorrige Heide und die wegen ihres zu spät im Jahr geborenen Jungen nervöse Bärin. Worauf er hoffen konnte, war folgendes: Er wusste, dass ein Bär eher wegläuft als angreift und dass die Bärin allenfalls einen Scheinangriff machen würde, indem sie mit kräftigen Sprüngen etwa fünfzehn Fuß auf ihn zugesprungen kam und jedesmal wenn sie auf den Vorderfüßen landete, tüchtig schnaubte. Auf die Weise würde sie ihn vertreiben wollen, nicht verletzen. Aber er konnte nirgendwohin. Er wollte, dass sie wusste, wo er war, und deshalb redete er sie an und sagte: Ich will dir nichts tun. Ich werde einfach nur weitergehen und nie wiederkommen. Ich bitte um nichts weiter als freien Durchgang. Er sprach ruhig und bestimmt und versuchte, darauf zu achten, dass seine Stimme respektvoll klang. Die Bärin windete abermals. Sie trat von einer Tatze auf die andere, schaukelte von einer Seite zur anderen. Inman rollte sein Bettzeug zusammen und streifte sich seinen Tornister und den Brotbeutel über. — Ich gehe jetzt, sagte er.
Er machte zwei Schritte nach vorn, und die Bärin ging zum
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Scheinangriff über. Im gleichen Augenblick wurde Inman klar, dass sie mit dem Platz nicht hinkommen würde. Wie bei einer Tischlerarbeit, wenn Maße schlicht nicht stimmten. Er konnte nur drei Schritte zurückweichen. Sie hatte die ganze Wucht ihres Körpergewichts und nur zehn Fuß bis zum Klippenrand. Inman machte einen Schritt zur Seite, und die Bärin schoss an ihm vorbei und stürzte von der hohen Felskante, die sie in dem Dämmerlicht nicht gesehen hatte. Er konnte sie deutlich riechen, als sie an ihm vorbeischoss. Nasser Hund, schwarze Erde. Er blickte über den Klippenrand und sah, wie sie weit unten auf den Felsen aufplatzte wie eine große rote Blüte im Morgenlicht. Schwarze Pelzfetzen zerstreuten sich über die Felsen. Mist, dachte er. Sogar meine besten Absichten gehen fehl, und selbst die Hoffnung ist nichts als eine Sackgasse. Das Bärenjunge auf der Fichte brüllte in panischer Angst. Es war noch nicht einmal entwöhnt und würde ohne die Mutter verdorren und sterben. Es würde tagelang schreien, bis es verhungerte oder von einem Wolf oder Panther gefressen wurde. Inman trat an den Baum und sah dem kleinen Bären ins Gesicht. Er blinzelte ihn mit seinen schwarzen Augen an, riss das Maul auf und schrie wie ein menschliches Baby. Inman konnte sich ohne weiteres vorstellen, dass er die Arme ausstreckte, das Bärenjunge am Genick packte und sagte: Wir sind Verwandte. Dass er seinen Tornister abnahm und das Bärenjunge hineinstopfte, so dass nur der Kopf herausschaute. Ihn dann wieder aufschnallte und losmarschierte, während sich der Bär aus dieser neuen Perspektive mit glänzenden Augen umblickte wie ein Indianerbaby. Dass er ihn Ada als Haustier schenkte. Oder wenn sie ihn abwies, konnte er ihn vielleicht zu einem halbzahmen Bären heranziehen, der, wenn er ausgewachsen wäre, vielleicht hin und wieder in seiner Einsiedelei auf dem Cold Mountain vorbeischauen und ihm
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Gesellschaft leisten würde. Und Frau und Kinder mitbringen würde, so dass Inman wenigstens eine Tierfamilie hätte, wenn schon keine andere. Das wäre eine Möglichkeit, das Desaster mit der toten Bärin wiedergutzumachen. Was Inman hingegen tat, war das einzig mögliche. Er nahm den LeMat und jagte dem Bärenjungen eine Kugel in den Kopf und sah zu, wie es zusammenzuckte, wie sein Griff sich löste und es zu Boden fiel. Um das Fleisch nicht verkommen zu lassen, errichtete Inman ein Feuer, zog dem Bärenjungen das Fell ab, zerschnitt es in Stücke und briet diese halb gar. Er breitete den schwarzen Pelz auf einem Felsen aus und stellte fest, dass er nicht größer war als der eines Waschbären. Während das Fleisch briet, setzte er sich an den Steilabhang und beobachtete, wie der Morgen anbrach, sich die Nebelbänke auflösten und bis zum fernen Erdrand Berge und Flüsse sichtbar wurden. Schatten glitten die Abhänge der nächstgelegenen Bergkette hinunter, rutschten zu Tal, als tauchten sie in einen riesigen unterirdischen See aus Dunkelheit hinein. Wolkenfetzen hingen in den Tälern unter Inmans Füßen, doch nirgendwo war ein Hausdach, eine Rauchfahne oder ein gerodetes Stück Land zu sehen, das auf menschliche Besiedlung hingewiesen hatte. Wenn man den Blick über diese aufgeworfene Landschaft schweifen ließ, sprach es sich allen Sinnen zu, dass dies die ganze Welt war. Der aus dem Tal über den Berg fegende Wind trug den Duft des bratenden Bärenfleisches mit sich fort und ließ nur den Geruch nassen Gesteins zurück. Inman konnte meilenweit nach Westen sehen. Bergkämme, Steilabhänge und Felsklippen, grau und ineinander verschachtelt bis zum langen Horizont. Cataloochee nannten die Cherokee dieses Land. Was soviel hieß wie Bergwellen in immer blasser werdenden Reihen. An diesem Tag waren die Wellen kaum von dem düsteren Winterhimmel zu unterscheiden. Beide waren in den gleichen reduzierten Grautönen gestreift und marmoriert, so dass der gesamte Ausblick sich vor ihm erstreckte wie eine
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riesige Scheibe durchwachsenen Fleisches. Inman hätte nicht besser gekleidet sein können, um sich in dieser Welt zu tarnen, denn alles, was er am Leib trug, war grau und schwarz und schmutzigweiß. So trübe die Landschaft auch war, wurde Inman dennoch von einer tiefen Freude erfaßt. Er näherte sich seiner Heimat; er konnte dies an der dünnen Luft auf seiner Haut spüren, an seiner Sehnsucht danach, Kaminrauch aus den Häusern der Menschen aufsteigen zu sehen, die er schon seit seiner Kindheit kannte. Menschen, die er weder zu hassen noch zu fürchten brauchte. Er erhob sich, stellte sich breitbeinig auf den Felsen und kniff die Augen zusammen, um einen bestimmten Berg in weiter Ferne besser erkennen zu können. Er war vom Himmel nur so abgesetzt wie ein mit allzu dünner Feder gezeichneter Strich, eine dünne, skizzenhafte Linie. Doch allmählich bildete sich die Form deutlich und unverwechselbar heraus. Es war der Cold Mountain, zu dem er hinübersah. Er hatte einen Punkt erreicht, der ihm Aussicht auf seine Heimat bot. Während er die Landschaft eingehend betrachtete, merkte er, dass er sich an die Linien sämtlicher fernen Höhen und Täler mehr als nur erinnerte. Sie schienen vor langer Zeit mit einem spitzen Instrument unauslöschbar in die Hornhaut seiner Augen eingraviert worden zu sein. Er ließ seinen Blick über das Hochland wandern und wusste die Namen sämtlicher Kämme, Pässe und Bäche. Er sagte sie laut vor sich hin: Little Beartail Ridge, Wagon Road Gap, Ripshin, Hunger Creek, Clawhammer Knob, Rocky Face. Kein Berg oder Wasserlauf, den er nicht benennen konnte. Kein Vogel oder Busch, der ihm unbekannt war. Sein Zuhause. Er wiegte den Kopf hin und her und hatte das Gefühl, dass er wieder ausbalanciert auf seinem Hals saß. Es kam ihm vor, als stehe er ungewohnt lotrecht zum Horizont. Einen Augenblick lang hielt er es für denkbar, dass er sich nicht immer so ausgebrannt fühlen würde. In diesem zerklüfteten Land gab es auf jeden Fall genügend Raum, um sich verstecken zu können.
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Er konnte es durchstreifen, und der Wind würde die gelben Blätter über seine Fußabdrücke wehen, so dass er verborgen wäre und vor dem wölfischen Blick der restlichen Welt sicher. Inman saß da und bewunderte sein Land, bis die Bärenstücke gar genug waren. Dann bestreute er sie mit Mehl und briet sie in dem letzten Rest Schmalz aus dem durchweichten Papier, das ihm die Frau Tage zuvor gegeben hatte. Er setzte sich mit seiner Mahlzeit auf den Felssims. Er hatte noch nie Fleisch von einem so jungen Bären gegessen, und obwohl es nicht so schwarz und so fett war wie das von älteren Bären, schmeckte es dennoch nach Sünde. Er überlegte, zu welcher der sieben Todsünden sie zu zählen wäre, und als er nicht darauf kam, beschloss er, eine achte hinzuzufügen – Reue.
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Nichts und wieder nichts
Falls der Buckel, den sie gerade erklommen, einen Namen hatte, wusste Stobrod ihn jedenfalls nicht. Er und seine zwei Kumpanen liefen mit hochgezogenen Schultern, gesenkten Köpfen und zusammengekniffenen Augen und Mündern durch die eisige Kälte. Die Hüte tief ins Gesicht gezogen, die Hände in den Mantelärmeln versteckt. Die Schatten vor ihnen waren so lang, dass sie förmlich auf ihre Spiegelbilder traten. Den Wald, durch den sie stapften, nahmen sie gar nicht wahr. Kahle Äste von Roßkastanien, Schneeglöckchenbäumen, Tulpenbäumen und Schwarzlinden schaukelten im Wind. Tausende von nassen, am Boden liegenden Blättern dämpften ihre Schritte. Der junge Pangle trottete dicht hinter Stobrod einher. Die dritte Gestalt folgte in sechs Schritten Abstand. Stobrod hatte sich den Sack mit seiner Fiedel unter den Arm geklemmt, und Pangle trug sein Banjo, das Griffbrett nach unten, an einem Riemen über der Schulter. Der dritte Mann trug kein Musikinstrument, sondern einen Tornister mit ihren mageren Vorräten auf dem Rücken. Er hatte sich eine mottenzerfressene, zimtfarbene Decke über den Kopf gezogen, die bis auf den Boden reichte und im Laub Schleifspuren hinterließ. Die Gedärme der drei waren seit dem letzten Abendessen im Aufruhr – ein Essen, das aus einer toten, am Boden festgefrorenen Hirschkuh bestanden hatte. In ihrem Heißhunger nach Fleisch hatten sie sämtliche Zeichen, die darauf hinwiesen, wie lange das Tier schon dalag oder woran es gestorben war, ignoriert. Sie hatten aus feuchtem Pappelholz ein qualmendes kleines Feuer gemacht und darüber
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eine Hirschkeule gegrillt, bis das Fleisch gerade eben aufgetaut war. Und eine große Portion davon verspeist – was sie jetzt bereuten. Keiner von ihnen sagte ein Wort. Ab und zu flüchtete einer von ihnen hinter ein Berglorbeerdickicht und kam eine Weile später hinterher. Kein Wind pfiff, kein Vogel sang. Nur das Geräusch rieselnder Nadeln, wenn sie die Äste von Hemlocktannen streiften. Im Osten hingen noch immer ockerfarbene Überreste des Morgengrauens, und dünne Wolken jagten über die fahle Sonne hinweg. Die knorrigen, dunklen Äste der Laubbäume hoben sich scharf gegen das schwache Licht ab. Eine Zeitlang waren nirgends andere Farben als düstere Braun- und Grautöne zu sehen. Dann kamen sie an einem vereisten Felssims vorbei, auf dem eine schwammartige Pflanze oder Flechte wuchs – von so grellgelber Farbe, dass es in den Augen stach. Pangle brach sich einen gewölbten, lederartigen Lappen ab und probierte ihn vorsichtig. Da er den Brocken weder ausspuckte, noch mehr von der Pflanze aß, ließ sich schwer feststellen, wie es ihm schmeckte. Er ging danach aber mit leuchtenden Augen und wachen Sinnen weiter – Ausschau haltend, ob die Welt weitere solche Geschenke zu bieten hatte. Nach einer Weile gelangten sie zu einer kleinen Ebene, an der sich drei Pfade kreuzten: der eine, den sie hinaufgestiegen waren, und der jetzt talwärts führte, und zwei noch unwegsamere, weiter bergan führende. Der breitere der beiden Abzweige war einst von Bisons ausgetreten worden, später hatten ihn Indianer benutzt, und auch jetzt war er noch so schmal, dass man mit einem Karren nicht zwischen den Bäumen hindurchgekommen wäre. Jäger hatten an dieser Wegkreuzung oft ihr Lager aufgeschlagen und einen vielbenutzten Ring aus Steinen hinterlassen. Sie hatten Bäume geschlagen, um Holz für ihr Lagerfeuer zu haben, weshalb der Wald im Umkreis von etwa fünfzig Schritten recht licht war. In der Gabelung zwischen den beiden ansteigenden Wegen stand jedoch noch immer eine riesige Pappel. Sie war nicht etwa aus Ehrfurcht vor ihrer Schönheit, ihrem Umfang oder
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Alter verschont worden. Es gab in den umliegenden Siedlungen einfach keine Bundsäge, deren Blatt länger war als der Durchmesser dieses Baumes. Der Stamm hatte unten, an seiner dicksten Stelle den Umfang eines Maisspeichers. Als Stobrod, dem diese Lichtung irgendwie bekannt vorkam, stehenblieb, um sich umzusehen, trat ihm Pangle in die Hacke und Stobrods Fuß rutschte aus dem Stiefel, so dass er mit dem Socken auf der gefrorenen Lauberde stand. Er drehte sich um, stach dem Jungen den Zeigefinger in die Brust und schob ihn ein Stück von sich weg. Dann bückte er sich, legte seinen Geigensack auf den Boden und schlüpfte wieder in seinen Stiefel. Die Männer standen nach dem anstrengenden Aufstieg keuchend beisammen und musterten die zwei ansteigenden Wege. Ihr Atem schwebte über ihnen, als wäre er besorgt, doch dann verloren die schemenhaften Formen das Interesse und verschwanden. Irgendwo in Hörweite rieselte ein Bach den Berg hinab, und sein Rauschen war das einzige vernehmbare Geräusch. — Ganz schön kalt, sagte der dritte Mann. Stobrod blickte ihn an, räusperte sich und spuckte – zum Kommentar zur trostlosen Kulisse und die außerordentlich tiefsinnige Bemerkung – auf den Boden. Pangle streckte eine Hand aus dem Ärmel hervor, hielt sie mit dem Handteller nach oben in die Luft, ballte sie zur Faust und zog sie wieder zurück wie eine Schildkröte ihren Kopf. — Huh, da schrumpft einem ja der Darm im Bauch, sagte er. — Sag ich doch, sagte der dritte Mann. Der Mann war einer von den Höhlenbewohnern und hatte sich ihnen angeschlossen. Er hatte nicht gesagt, wie er hieß, was Stobrod auch völlig gleich war. Er war ein Junge aus Georgia von höchstens siebzehn Jahren, mit schwarzem Haar, brauner Haut, einem kleinen, flaumigen Kinnbart, sonst aber glattwangig wie ein junges Mädchen. Mit etwas Cherokee oder Creek-Blut. Wie jeder von ihnen, hatte er eine eigene Kriegsgeschichte. Zusammen mit seinem Cousin war er, fast
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noch ein Kind, dreiundsechzig eingezogen worden. Die beiden hatten ein Jahr lang im selben Regiment gekämpft, obwohl ihre Musketen größer waren als sie selbst, und sie kaum etwas ausrichten konnten. Sie hatten jede Nacht zusammen unter einer Decke geschlafen und waren gemeinsam desertiert. Sie hatten sich gedacht, dass kein Krieg ewig dauern könne, und dass es, obwohl der Mensch geboren werde, um zu sterben, töricht wäre, dies kurz vor Friedensbeginn zu tun. Deshalb machten sie sich davon. Doch der Heimweg war lang und nicht leicht zu finden, und sie hatten nicht damit gerechnet, dermaßen weite Gegenden durchqueren zu müssen. Für die Strecke bis zum Cold Mountain hatten sie drei Monate gebraucht, und sie wussten nicht einmal, in welchem Bundesstaat er sich befand. Sie hatten sich hoffnungslos verlaufen, und der Cousin war in einer finsteren Höhle verreckt, von Fieber und Husten geschüttelt, denn er war an Lungenentzündung erkrankt. Einer der Höhlenbewohner hatte den Jungen ein paar Tage später, als er ziellos umherwanderte, gefunden. Man hatte ihn Stobrod und Pangle mitgegeben, als sie sich zu den Shining Rocks aufgemacht harten, um in dieser Gegend ihre eigene Zweiergemeinschaft zu gründen. Stobrod konnte Georgia zwar nicht ausstehen, hatte sich aber bereit erklärt, dem Jungen zu zeigen, wo der Staat lag, sobald sie eine Höhe erreicht hätten, von der aus man einen weiten Blick nach Süden hatte. Ehe sie ihren Aufstieg begannen, waren sie allerdings von der Höhle zunächst zu einem Vorratsversteck abgestiegen und hatten dem Jungen unterwegs von Ada erzählt und wie sie Ruby schließlich doch noch überredet hatte, Milde walten zu lassen. Ruby hatte freilich strenge Bedingungen gestellt. Ada und sie würden den Winter über selbst knapsen müssen und konnten nur wenig abgeben – nicht genug, damit zwei Männer ausschließlich davon leben konnten. Sie hielt es für zu riskant, dass Stobrod und Pangle sie besuchten. Sie wollte auf der Farm künftig nicht auch nur den kleinsten Schatten von ihnen sehen. Das Essen sollte an einem sicheren und geheimen Ort
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hinterlegt werden, und sie hatte eine Stelle auf dem Bergkamm vorgeschlagen, die sie als Kind bei ihren Streifzügen entdeckt hatte. Ein flacher runder Stein, in dessen Oberfläche merkwürdige Schriftzeichen eingraviert waren. Außerdem wollte sie sich keinen festen Zeitplan aufzwingen lassen. Sie würde Nahrungsmittel dorthin bringen, wann es ihr passte, und es bleiben lassen, wenn sie keine Lust hatte. Stobrod musste schlicht nachsehen gehen, ob etwas da war. Als die Männer besagte Stelle erreicht hatten, sah sich Stobrod vorsichtig um, kniete nieder und tastete mit den Händen die Erde unter den Blättern ab. Dann fing er an, mit der Stiefelspitze herumzustochern, und bald darauf hatte er einen flachen, runden, in den Boden eingelassenen Stein freigelegt, der ungefähr den Durchmesser eines Waschzubers hatte. Die Zeichen darauf sahen nicht so aus, als stammten sie von den Cherokee. Dazu waren die Striche, die da über den Stein huschten wie eine Spinne über eine Bratpfanne, zu steil und zu eckig. Sie sahen aus, als stammten sie von einer Rasse, die vor den Menschen existiert hatte. Unter dem Stein fanden sie eine Blechdose mit Maismehl, ein paar in Zeitungspapier gewickelte Dörräpfel, ein paar Scheiben Speck und einen Steinguttopf mit eingelegten Bohnen. Sie steckten alles zu ihren eigenen Vorräten – Schnaps, Zigarettentabak und Kautabak. — Nehmen wir den, oder den anderen? fragte der Junge aus Georgia Stobrod. Sein Ellbogen, mit dem er in Richtung der Weggabelung deutete, wölbte die Decke aus, so dass sie zum Boden hin Falten warf wie bei einer Statue aus Stein. Stobrod blickte in die angedeutete Richtung, war sich jedoch selbst nicht sicher, wo sie sich befanden, geschweige denn, welchen Weg sie wählen sollten. Er wusste nur, dass sie höher wollten und weiter in die Abgeschiedenheit. Der Berg war riesig. Wenn man ihn an seinem Fuß umrunden wollte, musste man eine Strecke von annähernd hundert Meilen bewältigen. Die darin eingeschlossene Fläche wäre auch dann von einem beträchtlichen Ausmaß, wenn sie platt wäre wie eine
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Landkarte und nicht steil in den Himmel ragte und sich zudem in allerlei Täler, Senken und Niederungen faltete. Und Stobrod war stets möglichst in betrunkenem Zustand auf dem Berg umhergestreift, so dass die Pfade in seiner Erinnerung einen einzigen Wirrwarr bildeten und überallhin führen konnten. Pangle beobachtete Stobrod, der verwirrt und ratlos in die Landschaft blickte. Dann schickte er schüchtern eine Entschuldigungsfloskel voran, weil er mehr wusste als sein Meister, und erklärte, dass er genau wisse, wo sie sich befänden, und dass der rechte Abzweig nach einer kurzen Wegstrecke immer schmaler werde, aber immer höher auf den Berg und darüber hinaus führe, dahin, wo früher die Indianer hingewandert seien, und zwar weiter, als er dem Weg je gefolgt sei. Der linke Abzweig sei zwar zunächst breiter, verlaufe aber nur kreuz und quer durch die Gegend und ende an einem modrigen Tümpel. — Dann lasst uns jetzt etwas zu essen kochen und anschließend weitermarschieren, sagte Stobrod. Die Männer gingen Holz sammeln und entzündeten in dem alten, schwarzen Steinring ein klägliches Feuer. Sie kochten sich mit Bachwasser einen Maisbrei, in der Hoffnung, dass dieses milde Gericht ihr rumorendes Gedärm beruhigen würde. Sie zogen sich ein paar Stämme zum Sitzen heran, zündeten sich ihre Tonpfeifen an und drängten sich paffend so dicht an die schwach züngelnden Flammen, wie es ging, ohne ihre Kleider und Schuhsohlen anzubrennen. Sie ließen die Schnapsflasche zwischen sich kreisen und nahmen jeweils einen kräftigen Schluck. Die schneidende Kälte war ihnen in die Knochen gekrochen und hatte das Mark fest werden lassen wie kaltes Schweineschmalz. Sie saßen stumm da und warteten darauf, dass die Wärme des Feuers und der Schnaps sie auftauten. Es dauerte nicht lange, da nahm Stobrod den Topf mit den eingelegten Bohnen in die Hand und angelte sich mit seinem Messer eine Bohne nach der anderen heraus. Er knabberte sie von der Messerspitze herunter und wischte nach jeder Bohne
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den Essig von der Klinge an seinem Hosenbein ab. Pangle nagte an einem kleinen, verhutzelten Apfelring, den er zunächst zwischen den Handflächen breitgedrückt und sich vors Auge gehalten hatte, als blickte er durch ein Fernrohr, das ihm eine neue Perspektive auf die Dinge dieser Welt vermittelte. Der Junge aus Georgia beugte sich vor und hielt die Hände ans Feuer. Er hatte sich die Decke wie eine Kapuze über den Kopf gezogen, so dass sein Gesicht beschattet war und nur die schwarzen Augen im Widerschein des Feuers glänzten. Er legte sich eine Hand auf den Bauch und richtete sich auf einmal steif auf, als hätte ihm jemand einen spitzen Stock durch seine Eingeweide gestoßen. — Wenn ich gewusst hätte, dass ich davon so 'nen Dünnflitz kriege, hätte ich von diesem Hirsch keinen einzigen Bissen verdrückt, sagte er. Er stand auf und ging langsam und leicht verkrampft zu dem Rhododendrongebüsch am anderem Ende der Lichtung hinüber. Stobrod blickte ihm nach. — Der Junge tut mir leid, sagte er. Er wünscht sich bestimmt, er wäre niemals von zu Hause fortgegangen und hat keinen blassen Schimmer, was für 'n erbärmlicher Staat das ist. Wenn ein Bruder von mir im Gefängnis wäre und ein anderer in Georgia, würde ich als erstes versuchen, den aus Georgia rauszuholen. — Ich war noch nie in Georgia, sagte Pangle. — Ich nur ein einziges Mal, sagte Stobrod. Bis kurz hinter der Grenze. Nur so weit, bis ich sehen konnte, was das ganze Land für 'n Schrott ist, dann bin ich wieder umgedreht. Ein Windstoß ließ das Feuer auflodern, und die Männer streckten ihre Hände vor, um sie zu wärmen. Stobrod duselte ein. Sein Kopf sank immer tiefer, bis das Kinn auf der Brust lag. Als er seinen Kopf wieder hochriss, fiel sein Blick auf eine Gruppe berittener Männer, die gerade die Kuppe erklommen. Ein kleiner Haufen trauriger, von einem Dandy und einem schmächtigen Jungen angeführte Gestalten. Aber sie waren mit Säbeln, Revolvern und Gewehren bewaffnet,
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von denen mehrere auf Stobrod gerichtet waren. Die Milizionäre saßen in dicken Mänteln und in Decken gehüllt auf ihren Pferden, die in der kalten Luft dampften und aus ihren geblähten Nüstern Rauchfahnen ausstießen. Der Pfad war mit einer dünnen Eisschicht überzogen, so dass ihre Hufe bei jedem Schritt knirschten wie ein Stößel in einem Mörser. Die Milizionäre erreichten die Lichtung und kamen auf die Männer zugeritten, bis sie bedrohlich über ihnen aufragten und ihren Schatten auf sie warfen. Stobrod machte Anstalten, sich zu erheben, aber Teague sagte: Bleib sitzen. Er saß lässig im Sattel und hielt einen der kürzeren Spencer-Karabiner in der Hand, die gekrümmte Kolbenkappe an die Wölbung des Oberschenkels gelegt. Er hatte Wollhandschuhe an, deren rechter Daumen und Zeigefinger abgeschnitten waren, so dass er unbehindert den Hahn spannen und den Abzug drücken konnte. Mit der anderen Hand hielt er geziert die Zügel aus geflochtenem Leder zwischen dem wohlbedeckten Zeigefinger und Daumen. Er musterte die beiden vor ihm sitzenden Männer eine Zeitlang. Ihre Haut war grau, und ihre Augen saßen in ihren Köpfen wie frisch in eine Flickendecke gebrannte Löcher. Das braune, fettige Haar des dicken Jungen stand auf der einen Seite in baiserartigen Zipfeln ab und war auf der anderen Seite an den Schädel geklatscht. Die stumpfe, geäderte Haut unter Stobrods schütterem Haar war nicht wie bei vielen Glatzköpfigen glatt und glänzend, sondern lag schlaff und matt über dem Knochen. Sein Gesicht floh rings um den Vorsprung seiner Nase so abrupt nach hinten, dass es an einen Trichter erinnerte. Teague sagte: Ich frage euch erst gar nicht, ob ihr Papiere habt. Ich habe diesbezüglich schon jede Lüge gehört, die man sich dazu einfallen lassen kann. Wir sind hinter einer Meute von Deserteuren her, die irgendwo in einer Höhle hausen sollen. Sie haben mehrere Leute ausgeraubt. Falls einer weiß, wo sich diese Höhle in den Berg bohrt, könnte es für ihn von Vorteil sein, wenn er es uns sagt. — Ich weiß es nicht genau, sagte Stobrod. Seine Stimme klang ganz munter, obwohl ihm in Wirklichkeit zum Heulen
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zumute war bei der Vorstellung, dass er binnen eines Monats wieder in dem verdammten Virginia sitzen und einen Ladestock in eine Muskete rammen würde. Wenn ich's wüßte, würde ich's sagen, sagte er. Aber ich habe auch nur davon gehört. Manche behaupten, sie ist irgendwo auf der anderen Seite des Berges, in der Nähe vom Bearpen Branch oder Shining Creek oder so. Pangle sah Stobrod verdutzt an. Die Verwirrung lag wie ein Schatten auf seinem Gesicht. — Was hast du dazu zu sagen? sagte Teague zu Pangle. Der Junge saß mit nach hinten geneigtem Oberkörper da, das Gewicht auf den breiten Hüftknochen. Er hielt sich eine Hand über die Augen, weil ihn die verschleierte Sonne hinter den Schultern der Reiter blendete. Er lugte ziemlich verwirrt aus seinen kleinen Augen und überlegte angestrengt, wie er die Frage am besten beantworten sollte. Alle möglichen Gedanken huschten über sein weiches Gesicht. — Also, das ist doch 'ne ganz andere Kante, sagte Pangle schließlich und sah Stobrod dabei an. Die is' auf dieser Seite. Das weißt du doch. Drüben auf dem Big Stomp. Keine drei Meilen den Nick Creek hoch. An der Stelle, wo er sich wie'n Truthahnfuß teilt, 'n Paar Hickorybäume wachsen rechts am Hang. Da drunter tummeln sich im Herbst jede Menge Eichhörnchen. Sie sind überall. Man kann sie mit Steinen abschießen. Zwischen den Hickorys klettert man rauf bis zu 'nem Felssturz. Und da oben drauf isses. In dem Felsen is 'n Loch, das is' so groß wie 'n Heustock. — Verbindlichsten Dank, sagte Teague. Er wandte sich zwei massigen, dunkelhäutigen Reitern zu und verzog einen Mundwinkel zu einem bedeutungsvollen Grinsen. Dann verlagerte er sein Gewicht in die Steigbügel, wobei seine Lederstiefel knarzten, schwang ein Bein hinüber und saß ab. Die anderen Männer folgten seinem Beispiel. — Wir leisten euch an eurem Feuer ein bisschen Gesellschaft, wenn ihr nichts dagegen habt, sagte Teague zu Stobrod. Frühstücken mit euch zusammen. Kochen und essen.
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Und danach werdet ihr Jungs uns ein bisschen was vorspielen. Woll'n doch mal sehen, ob ihr was könnt. Sie legten Holz nach und setzten sich um das Feuer, als wären sie alle gute Kumpel. Die Milizionäre hatten einen großen Vorrat an Würsten dabei, die in langen Darmschläuchen abgebunden aneinanderhingen, und als sie diese aus ihren Satteltaschen zogen, waren sie hartgefroren und spiralig wie das Gedärm von irgendeinem Tier. Sie mussten sie mit kleinen Handäxten in bratgerechte Stücke hacken. Sie legten die Stücke auf flache Steine an den Rand des Feuers, damit sie so weit auftauten, dass man sie auf angespitzte Stecken spießen und zum Rösten übers Feuer halten konnte. Bald darauf hatten sie ein Feuer mit hochlodernder Flamme, rotglühendem Holz und einem Bett aus weißer Asche, das eine solche Hitze abstrahlte, dass sich Pangle erst die Jacke und dann das Hemd aufknöpfte, seine bleiche Brust und seinen bleichen Bauch ein Stück weit entblößte und sich vollkommen entspannte. Er nahm nichts anderes wahr als Wärme, Kameradschaft und den Geruch bratenden Essens. Er betrachtete sein Banjo eine Weile, als bewunderte er dessen Form und gutes Material und als sähe er es zum erstenmal. Als hätte er ebensoviel Freude daran, seine Konturen zu betrachten, wie darauf zu spielen. Dann verschleierte sich sein Blick, die Augen fielen ihm zu, und er sackte so in sich zusammen, dass sich das gesamte Gewicht der oberen Körperhälfte auf sein breites Gesäß verlagerte und sich seine Vorderseite zu weißen, übereinanderliegenden Fleischwülsten wellte. Er sah aus wie eine in Schweineschmalz gehauene Skulptur. — Total weg, sagte Stobrod. Völlig erledigt. Teague zog eine Schnapsflasche aus seiner Manteltasche und reichte sie Stobrod. — Ist doch wohl nicht zu früh für dich, oder? sagte er. — Hab schon vor 'ner Weile angefangen, entgegnete Stobrod. Wenn man seit Tagen kaum ein Auge zugetan hat,
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läßt sich schwer sagen, was zu früh ist. Er nahm die angebotene Flasche, zog den Korken heraus und setzte sie an die Lippen. Obwohl der Inhalt nur von mittlerer Qualität war, tat er höflichkeitshalber so, als ob es ihm schmeckte. Er schmatzte mit den Lippen, blies die Luft aus und nickte anerkennend. — Warum habt ihr denn nicht geschlafen? fragte Teague. Stobrod erklärte, dass sie ein paar Tage und Nächte hindurch mit ein paar Halunken Musik gemacht und gespielt hätten, erwähnte jedoch nicht, dass dies in der Höhle der Deserteure gewesen war. Karten, Hahnenkämpfe, Ringkämpfe, Würfelspiele. Alles, worauf man Wetten abschließen konnte. Verrückte Spieler, ganz versessen aufs Wetten. Manche in einem solchen Fieber, dass sie dir den Hut vom Kopf abgewannen und am liebsten gleich noch um deine Haare gewürfelt hätten. Da sie nichts Besseres zur Verfügung gehabt hätten, hätten sie Geld darauf gesetzt, welcher der Vögel auf einem Ast zuerst wegfliegen würde. Stobrod behauptete stolz, keinen Verlust gemacht zu haben, was bei solchen Burschen schon erstaunlich sei. Teague legte die Fingerknöchel aneinander und machte eine Bewegung, als ob er Karten von einem Stapel wegschnippte. — Mordskerle, sagte er. Die Würstchen quollen auf, schwitzten Fett aus, quiekten leise in ihren Därmen und zischten, wenn sie auf das glühende Holz tropften. Schließlich waren sie braun. Alle bis auf Pangle, der noch immer schlief, aßen sie von den angespitzten Stecken. Als sie dann alles vertilgt hatten, sah Teague zu der Geige und dem Banjo hin und fragte: Könnt ihr auf den Dingern spielen? — Ein bisschen, sagte Stobrod. — Dann spielt mir was vor, sagte Teague. Stobrod hatte keine rechte Lust. Er war müde. Außerdem hatte er den Verdacht, dass sein Publikum für Musik gar nichts übrig hatte, dass ihm alles fehlte, was nötig war, um sie zu lieben. Trotzdem nahm er seine Geige zur Hand, strich leicht
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mit seiner rauhen Handinnenfläche über die Saiten und hörte an ihrem Geflüster, an welchen Wirbeln er drehen musste. — Was wollt ihr hören? fragte er. — Egal. Entscheide du. Stobrod knuffte Pangle in die Schulter. Der Junge kam zu sich und öffnete seine kleinen Augen einen Schlitz weit. Es kostete ihn merkliche Anstrengung, seine Gehirnwindungen in Gang zu bringen. — Sie wollen, dass wir ihnen was vorspielen, sagte Stobrod. Pangle sagte nichts, sondern machte nur eine Weile Fingerübungen an dem wärmenden Eeuer. Er hob sein Banjo auf, drehte an den Wirbeln und begann, ohne auf Stobrod zu warten, ein paar Takte von Backstep Cindy zu zupfen. Die Fettwülste auf seinem Bauch wackelten dabei im Takt zu seinen Anschlägen, doch kurz vor der Stelle, wo die Melodie von vorn anfängt, purzelten die Noten durcheinander, er kam ins Stocken und brach ab. — Das war nichts und wieder nichts, sagte er zu Stobrod. Stimm du mal an, vielleicht wird's dann was. Stobrod strich ein paar Töne von Cindy und dann, scheinbar willkürlich und zusammenhanglos, ein paar Töne aus anderen Stücken. Er wiederholte sie wieder und wieder, und es sah schon aus, als käme nichts dabei heraus. Doch plötzlich fing er an, sie leicht zu variieren, dann noch einmal etwas präziser, und auf einmal wurde eine Melodie daraus. Er entdeckte die gesuchte Tonfolge und ließ sich, als er das Grundmuster gefunden hatte – lebhaft, schrill und gelöst wie Gelächter –, einfach auf dem Notenpfad weitertreiben. Er spielte die Notenfolge ein-, zweimal, bis Pangle seine Saiten tiefer gestimmt und ein paar schnelle Antwortakkorde ersonnen hatte, in heiter grellen Tönen. Dann legten sie gemeinsam los, um zu sehen, was sie da komponiert hatten. Obwohl es der Form nach weder eine Gigue noch ein Kontertanz war, hätte man gut danach tanzen können. Ihre Bäuche waren jedoch immer noch so in Aufruhr, dass keiner von ihnen auch nur einen Schleifer zuwege gebracht hätte.
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Pangle klopfte wenigstens bei den unbetonten Takten mit dem Fuß auf den Boden und nickte dazu mit fast geschlossenen Lidern, so dass zwischen den Wimpern nur ein flackernder weißer Streifen zu sehen war. Stobrod strich eine Notenfolge, dann ließ er die Geige von seinem Stoppelkinn sinken und legte sie so an, dass das untere Ende an seiner Brust ruhte. Er schlug mit dem Bogen auf den Saiten den Rhythmus an. Pangle fiel mit ein, indem er mit der flachen Hand auf das Waldmurmeltierfell des Banjos klopfte, so dass man einen Augenblick das Gefühl hatte, die Instrumente wären nur verfeinerte Trommeln. Stobrod legte den Kopf in den Nacken und sang dazu einen spontan erdachten Liedtext. Er handelte von Frauen, deren Bäuche so hart waren wie die Maultierhälse. Solche Frauen, hieß es in dem Lied, seien noch grausamer als Frauen sonst. Als er ausgesungen hatte, spielten sie die Melodie noch einmal durch und hielten dann inne. Sie berieten sich, drehten abermals an den Wirbeln, bis sie eine Moll-Stimmung erreicht hatten und spielten dann eine Weise, die entfernt an ein Stück namens Napoleons Rückzug – von manchen auch General Washingtons Lied genannt – erinnerte. Sie war weicher und besinnlicher, aber zugleich schaurig wie der Tod. Als die Mollakkorde anschwollen, klang es wie Schatten unter Bäumen, und das Stück beschwor etwas von dunklen Wäldern und Laternenlicht herauf. Es war eine ehrwürdige Musik in einer der alten Tonarten, Musik, die eine Kultur charakterisiert und der wahre Ausdruck ihres Innenlebens ist. Birch sagte: Au weia. Jetzt hat's sie erwischt. Keiner der Milizionäre hatte je zuvor Geige und Banjo zusammen in dieser tiefen Stimmung gehört, geschweige denn so schaurige und elegische Melodien in so kraftvoll rhythmischem Spiel. Pangles Art, mit dem Daumen zwischen der fünften und der zweiten Saite hin und her zu springen, erstaunte die Männer zutiefst. Es klang wie das Läuten einer Essensglocke, nur feierlicher. Mit den anderen beiden Fingern zupfte er die Saiten nur hart und steif an, doch auch das mit
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äußerster Perfektion. Stobrods Finger auf dem Geigenhals fanden Tonfolgen, die so festgefügt zu sein schienen wie Naturgesetze. Die Genauigkeit und Überlegtheit, mit der er auf die Saiten drückte, stand in deutlichem Kontrast zur verwegenen Bogenführung der rechten Hand. Und dazu sang Stobrod einen Text, der einen Traum wiedergab – einen selbst geträumten oder den eines fiktiven Sprechers –, der angeblich auf einem Bett aus Hemlocknadeln geträumt worden war und von verlorener Liebe, der schrecklichen Vergänglichkeit der Zeit und einem Mädchen mit einem grünen Umhang erzählte. Ohne die Musik wären die Worte nicht viel mehr gewesen als eine telegraphische Nachricht, doch beides zusammen ergab eine vollständige Welt. Als das Lied ausklang, sagte Birch zu Teague: Gütiger Gott, das sind ja zwei Heilige. Die haben Sachen im Kopf, die Leuten wie dir und mir auf immer verschlossen sind. Teague saugte an einem Zahn und blickte in die Ferne, als versuchte er, sich an etwas zu erinnern. Er stand auf und rückte seine Mantelaufschläge zurecht und zog an seinem Hosenbund, bis die Hose so saß, wie er sie haben wollte. Er hob seinen Spencer vom Boden und richtete die Mündung auf die Lücke zwischen Stobrod und Pangle. Der Vorderschaft lag auf dem linken Handgelenk, und die Hand hing locker nach unten. — Stell dich vor die große Pappel da drüben, sagte er zu Stobrod. Und nimm den Jungen mit. Da ihm nichts Besseres einfiel, ging Stobrod zu dem Baum und stellte sich davor. Der Baum ragte fast dreißig Meter kerzengerade und monolithisch über ihm auf, ehe der erste Ast abging. Und auch dann teilte er sich nur in zwei Äste, die beide so groß waren wie ein Baum und geschwungen emporragten wie die Arme eines Leuchters. Die Baumkrone war irgendwann im vorigen Jahrhundert abgebrochen, und der bemooste, dicke Zylinder lag als letzter Überrest unweit des Baumes auf der Erde, verschmolz allmählich mit dem Boden
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und war schon so verrottet und weich, dass man ihn hätte zertreten können wie einen alten Kuhfladen, aus dem man sodann die Stutzkäfer hätte wegflitzen sehen. Stobrod hielt die Geige vor sich in der Armbeuge. Der Bogen hing an einem Finger und zuckte leicht im Takt mit seinem Herzschlag. Pangle stellte sich neben ihn, und sie standen in der gleichen stolzen und angespannten Pose da wie die Männer, die am Anfang des Krieges eine Ambrotypie von sich anfertigen ließen – nur dass Stobrod und Pangle statt Musketen, Colt-Revolvern und Bowie-Messern als charakteristische Ausrüstung Geige und Banjo vor sich hielten. Pangle legte seinen freien Arm um Stobrods Schulter, wie es Schulkameraden zu tun pflegen. Die Milizionäre brachten ihre Gewehre in Anschlag, und Pangle grinste sie an. In dem Lächeln war keine Spur Ironie oder gespielte Tapferkeit. Es war einfach nur freundlich. — Ich kann niemanden erschießen, der mich angrinst, sagte einer der Männer, indem er sein Gewehr ein Stück sinken ließ. — Hör auf zu grinsen, sagte Teague zu Pangle. Pangle verzog den Mund und versuchte, die Mundwinkel herunterzuzwingen, doch dann zuckten die Lippen und das Grinsen breitete sich wieder aus. — Hier gibt es nichts zu lachen, sagte Teague. Nicht das geringste. Mach dich bereit zum Sterben. Pangle strich sich mit beiden Händen vom Haaransatz bis hinunter zum Kinn über das Gesicht. Er zog die Mundwinkel mit beiden Daumen herunter, doch als er sie losließ, sprangen sie wieder hoch, und sein Gesicht erblühte zu einem Lächeln. — Nimm den Hut ab, sagte Teague. Pangle nahm seinen Hut ab und hielt ihn, noch immer grinsend, mit beiden Händen in Hüfthöhe an der Krempe. Er ließ ihn in den Händen kreisen, als wollte er demonstrieren, wie sich die Welt dreht. — Halt ihn dir vors Gesicht, sagte Teague.
Sobald Pangle den Hut vor sein Gesicht hob, drückten die
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Milizionäre ab, und aus dem mächtigen Pappelstamm stoben Holzsplitter, wo ihn die Kugeln trafen, nachdem sie die zwei Männer durchbohrt hatten.
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Schwarze Rinde im Winter
— Und nachdem sie abgedrückt hatten, haben die Pferde vor Schreck einen Satz gemacht, und der Anführer hat sie angebrüllt und sie mit seinem Hut ins Gesicht geschlagen. Sie haben sie nicht zugedeckt und sich nicht mal vor sie hingestellt, um ein paar Worte zu sagen, bis auf einen, der gesagt hat, dass man das, was da passiert ist, wohl eine Schießerei nennen kann, weil nämlich Schüsse gefallen sind. Da hat einer von ihnen gelacht und ein anderer hat ins Feuer gepinkelt, und dann sind sie aufgesessen und weggeritten. Ich frage mich, was das hier für eine Gegend ist, wo die Leute so miteinander umgehen. Dem Jungen aus Georgia saß, wie man sehen konnte, der Schreck noch in den Gliedern. Er war noch ganz erregt und sichtlich darauf erpicht, eine Geschichte zu erzählen, die er aufregend fand und die doch wahr war. — Ich hab alles mit angesehen, sagte er. Alles. — Warum haben sie dich dann nicht erschossen oder gefangen genommen, wenn du so dicht dran warst, dass du alles mit ansehen konntest? fragte Ada. Der Junge sann über diese Frage nach. Er wich ihrem Blick aus, kämmte sich mit gespreizten Fingern das Haar aus der Stirn und spielte mit dem Daumen am Riegel des Hoftors. Er stand auf der einen Seite des Zaunes auf dem Feldweg, Ada und Ruby auf der anderen. Sie redeten mit ihm über den Zaun hinweg und konnten den Holzrauch in seinen feuchten, durchgeschwitzten Kleidern und in seinem nassen, ungewaschenen Haar riechen. — Na ja, ich habe alles gehört, gab er zur Antwort. Hab gehört, was ich nicht gesehen habe, sollte ich wohl besser
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sagen. Ich war ein Stück in den Wald gegangen, hinter die Lorbeerbüsche. Wegen 'nem dringenden Bedürfnis. — Ja, sagte Ada. — An ein stilles Örtchen, sozusagen. — Wir haben's kapiert, sagte Ruby. Und wie ist die Sache ausgegangen? — Das versuche ich doch gerade zu erzählen. Dass ich sie blutig und tot auf einem Haufen unter 'ner großen Pappel liegengelassen habe. Und dann bin ich bis hierher gerannt. Der Geiger hatte mir gesagt, wo Sie wohnen. Ich bin zu diesem Stein mit Zeichen drauf runter, wo wir gestern angehalten haben, um das Essen rauszuholen. Und von dort bin ich dann weitergerannt, bis ich das Haus gefunden habe. — Wie lange? fragte Ruby. Der Junge sah sich um und musterte die flachen grauen Wolken und die blauen Kammlinien, als versuche er zu ergründen, in welcher Richtung Westen war, um die Zeit abschätzen zu können. Doch er fand es nicht heraus, und auch der Himmel gab ihm keine Hilfestellung, denn er wies keinerlei helle Flecken auf, sondern nur die bescheidene Farbpalette einer alten Axt. — Es ist drei, sagte Ada zu seiner Information. Vielleicht auch erst halb drei, aber auf keinen Fall früher. — Drei? sagte der Junge in einem Ton, als überraschte ihn das. Er senkte den Kopf und starrte auf die festgetretene Erde unter dem Hoftor. Er preßte die Lippen aufeinander und bewegte den Mund. Er zählte rückwärts. Er umklammerte zwei der Zaunpfähle. Er blies die Luft durch die Lippen, beinahe so, als wollte er pfeifen. — Sieben Stunden, sagte er schließlich. Sechs oder sieben, würde ich sagen. — Und du bist den ganzen Weg gerannt? fragte Ruby. — Einen Teil, sagte er. Ich hatte Angst. Ich kann mich nicht mehr genau erinnern, aber ich bin gerannt, bis ich nicht mehr konnte. Dann bin ich mal gerannt, mal gegangen. Immer abwechselnd.
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— Du wirst uns hinführen müssen, sagte Ada. Doch der Junge wollte auf keinen Fall noch einmal auf diesen Berg und würde sich, so behauptete er, lieber auf der Stelle totschießen lassen, als noch einmal den Schauplatz aufzusuchen. Er hatte genug gesehen. Alle Kameraden, die er je gehabt hatte, lagen hier jetzt tot in den Wäldern. Er wollte nichts weiter als nach Hause. Und seiner Einschätzung nach waren die Nachrichten, die er überbracht hatte, ein wenig Essen und eine zweite Decke wert und ein, zwei Dinge, die er unterwegs brauchen könnte. — Andere an meiner Stelle hätten die beiden liegenlassen, wo sie umgefallen sind, und es wäre ihnen egal gewesen, dass die Wölfe sie bald bis auf die Knochen abgenagt hätten, sagte er. Und dann erzählte er den Frauen, dass sich die Wölfe wahrscheinlich bereits über seinen toten Cousin hergemacht hätten. Da er keine Grabwerkzeuge zur Hand gehabt habe, sei ihm nichts anderes übrig geblieben, als die Leiche zum Ersatz für ein Begräbnis unter den Felssims eines kleinen Wasserfalls zu setzen. Unter der unterhöhlten Felsbank sei eine trockene Stelle gewesen, über die das Wasser wie ein Vorhang hinwegrauschte, so dass dahinter eine Art Kammer zwischen Erde und Wasser gewesen sei. Er erzählte, wie er seinen Cousin im Schneidersitz an den Felsen gelehnt und vor dem starren Gesicht ein paar Abschiedsworte gesagt habe – in dem Sinne, dass es diese Welt gebe und eine Welt danach und dass sie sich in der nächsten vielleicht wiedersehen würden. Dann sei er weggegangen, und als er sich noch einmal umgedreht habe, habe die Sonne auf den Wasserschleier geschienen und Regenbögen entstehen lassen. Nein, wirklich. Er habe nicht die Absicht, jemals wieder einen Fuß auf diesen Berg zu setzen. — Der Cold Mountain steht aber genau auf dem Weg dahin, wo du hin willst, sagte Ruby. Aber mach, was du willst, wir kommen auch ohne dich aus. Ich denke, ich weiß ungefähr, wo die Stelle ist. Wir könnten den Weg in weniger als fünf
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Stunden bis dorthin schaffen, ohne dabei rennen zu müssen, selbst wenn wir das Pferd mitführten. Aber zu essen sollst du haben. Schließlich füttern wir auch sonst alle, die sich hierher verirren. Ruby öffnete das Tor und ließ den Jungen in den Hof. Er ging zur Veranda hinüber, setzte sich zwischen den großen Buchsbäumen auf die Vordertreppe, rieb sich die Hände und hauchte hinein. Ruby blieb am Tor stehen. Sie streckte einen Arm nach oben, legte eine Hand auf den kahlen, knorrigen Ast des Holzapfelbaumes und blickte auf den Feldweg hinaus. Ada stellte sich neben sie und sah sie von der Seite an. Nach Adas Erfahrung pflegten Frauen bei einem solchen Verlust zu weinen, sich in die Arme zu nehmen und Worte des Trostes und des Gottvertrauens zu sagen. Und obwohl Ada diesen Formeln mittlerweile nicht mehr recht traute, war sie gewillt, sie Ruby zuliebe auszusprechen, wenn sie ihr guttaten. Ada streckte sogar schon ihre Hand aus, um das dunkle, mit einem Fellstreifen zusammengebundene Haar in Rubys Nacken zu berühren. Doch Ruby schien selbst diese kleine tröstliche Geste zuviel zu sein, denn sie zog ihren Kopf weg. Sie weinte nicht, knetete nicht den Saum ihrer Schürze in den Händen, und ihr war auch auf keine andere sichtbare Weise anzumerken, ob sie von der Nachricht über Stobrods Tod erschüttert war. Sie ließ ihre Hand einfach nur auf dem Holzapfelzweig liegen und blickte auf den Feldweg. Nur eine einzige Frage beschäftigte sie, und diese äußerte sie laut: ob sie die Männer auf dem Berg begraben oder nach Black Cove bringen und neben den Blacks auf dem kleinen Friedhof beisetzen sollten. Für beides gab es Gründe, die dafür und dagegen sprachen. Allerdings hätten sich Stobrod und die Blacks zu Lebzeiten nicht gemocht, weshalb es wohl besser sei, sie auch im Tod auf Abstand zu halten. — Wir sollten das gleich entscheiden, denn davon hängt es ab, was wir mitnehmen, sagte Ruby. Schaufeln und dergleichen.
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Ada war ein wenig bestürzt darüber, dass Ruby sich überhaupt mit dem Gedanken trug, die Männer nicht zurückzuholen. Es klang so nüchtern – als ginge es darum, einen Hund zu begraben. — Wir können doch nicht einfach nur hinaufsteigen, ein Loch buddeln, sie hineinlegen und dann wieder heimgehen, sagte sie. — Was wäre anders, wenn wir sie hierher schleppten? fragte Ruby. Wenn es nach mir ginge, ich würde lieber oben auf dem Berg begraben sein als an jedem anderen Ort. So gesehen, vermochte Ada dem nichts entgegenzusetzen. Sie musste ins Haus, um dem Jungen etwas zu essen zu machen, doch ehe sie ging, nahm sie Ruby rasch in die Arme – wenn schon nicht zu deren, dann zumindest zu ihrem eigenen Trost. Ada wurde dabei bewusst, dass es das erste Mal war, dass sie sich umarmten. Ruby ließ es mit hängenden Armen über sich ergehen und fühlte sich in Adas Armen an wie ein Brett. In der Küche stellte Ada einen Teller mit Resten ihres Mittagessens zusammen – gebratene Apfelscheiben, Maisbrot und eine Portion zu Brei zerkochter Limabohnen. Die Bohnen waren beim Abkühlen im Topf geliert und erinnerten sie von Farbe und Beschaffenheit her an eine Pastete. Aus einer Laune heraus stürzte sie die Bohnenmasse aus dem Topf und schnitt davon zwei Scheiben ab. Als sie hinausging und dem Jungen den Teller reichte, beäugte er die Bohnen mißtrauisch. Der Ausdruck auf seinem Gesicht verriet, dass er glaubte, einen weiteren Beweis dafür gefunden zu haben, in eine äußerst merkwürdige Gegend geraten zu sein. — Das sind Bohnen, sagte Ada. Der Junge beäugte sie abermals und nahm dann einen winzigen Happen auf die Gabel, um Adas Worte auf ihre Richtigkeit zu prüfen. — Da wo ich herkomme, essen wir die aber ganz anders, sagte er.
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Während der Junge essend auf der Treppe hockte, saß Ruby eine Stufe hinter ihm und beschrieb ihm in aller Ausführlichkeit den langen Weg um den Cold Mountain herum. Ada saß auf der Veranda in einem Schaukelstuhl und beobachtete die beiden – zwei kleingewachsene, dunkelhäutige Menschen, die einander so ähnlich sahen, dass man sie für Bruder und Schwester hätte halten können. Ruby erklärte dem Jungen, er solle sich an die hohen Bergkämme halten und die Hauptwege durch das Flusstal meiden, da er dort zu vielen Leuten begegnen würde. Nannte ihm sämtliche markanten Punkte, auf die er achten musste, um den Weg zum Cold Spring Knob hinauf zu finden, zur Double Spring Gap und weiter über Bearpen Gap, Horsebone Gap, Beech Gap. An diesem Paß sollte er dann hinuntersteigen und an der nächstmöglichen Wegkreuzung oder Flussgabelung nach Südwesten schwenken. Wenn er diese Route einhielte, würde er seine platte, jämmerliche Heimat in spätestens zwei Wochen erreichen. — Schlaf tagsüber und setz dich in Marsch, sobald es dunkel wird, aber ohne ein Licht anzuzünden, sagte Ruby. Auch wenn du nicht die ganze Strecke rennst, müsstest du zu Weihnachten da sein. Man erkennt angeblich auf Anhieb, wann man in Georgia ist, weil es aus nichts als roter Erde und holprigen Wegen besteht. Damit wandte Ruby ihre Aufmerksamkeit Ada zu und begann ihren eigenen Marsch zu planen. Ruby meinte, da sie sich dem kürzesten Tag im Jahr näherten, würden sie nicht umhin können, entweder auf dem Hin- oder auf dem Rückweg eine Nacht im Wald zu verbringen. Welche, wäre egal. Folglich könnten sie sich gleich auf den Weg machen. Also ließen sie den Jungen, der gerade seinen Teller mit einem Brotkanten abwischte, auf der Treppe sitzen, um ins Haus zu gehen, das Feuer mit Asche zu belegen und nach Rubys Anweisungen rasch das Notwendige zusammenzupacken. Bettzeug, Kochgeschirr, Proviant, Kerzen, eine Blechdose mit Streichhölzern und Sandpapier, um sie anstreichen zu können,
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ein Bündel trockenen Anzündholzes, ein Seil, eine Handaxt, eine Schrotflinte mit Pulver, Blei und Schusspflaster, Getreide für das Pferd, eine Breithacke und einen Spaten. Sie verstauten die Sachen in zwei Hanfsäcken, banden diese aneinander und warfen sie über Ralphs Rücken, wo sie aussahen wie ein Paar rustikale, ausgebeulte Satteltaschen. Ruby suchte den Himmel nach allem ab, was ihr die Wolken, die Luft und das Licht über das kommende Wetter sagen konnten, und was diese verrieten, war, dass es Schnee geben und kalt werden würde. — Hast du im Haus irgendwo Hosen? — Hosen? fragte Ada. — Aus Wolle oder Leinen, egal was. Zwei Paar. — Ja, von meinem Vater. — Wir müssen sie anziehen, sagte Ruby. — Männerhosen? fragte Ada. — Du kannst anziehen, was du willst, aber ich kann jedenfalls darauf verzichten, dass mir der Winterwind unter die Rockzipfel bläst. Außerdem sieht uns da oben sowieso keiner. Sie fanden zwei Paar kräftige Jagdhosen aus Wolle, die eine schwarz, die andere grau. Sie zogen sich lange Unterwäsche an und streiften die Hosen darüber, krempelten die Hosenbeine ein Stück um und zurrten die Hosen am Bund mit Gürteln fest, so dass sich das Zuviel an Stoff in große Falten legte. Nachdem sie sich Wollhemden und Pullover übergezogen hatten, entdeckte Ruby Monroes breitkrempige Hüte und befand, dass sie einen guten Schutz gegen den Schnee abgeben würden. Also zogen sie zwei davon aus dem Schrankregal und setzten sie sich auf. Unter glücklicheren Umständen wäre dies beinahe so etwas wie ihr Frisurenwettbewerb gewesen, dachte Ada – ein Verkleidungsspiel, bei dem sie darum hätten wetten können, wer von beiden sich überzeugender als Mann zurechtmachen konnte. Fehlte nur noch Lampenruß, um sich Schnurrbärte und einen Backenbart aufzumalen und ein paar nicht angezündete Zigaretten, um die lächerlichen Gesten
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rauchender Männer nachahmen zu können. Stattdessen wechselten sie während des Ankleidens kaum ein Wort miteinander, und beiden war angesichts der bevorstehenden Tage ziemlich mulmig zumute. Ehe sie loszogen, rieben sie ihre Stiefel mit Bienenwachs ein, öffneten das Tor des Hühnerhauses sowie das Tor zum Kuhstall und streuten den Boden dick mit Heu aus. Ruby meinte, Waldo würde bei ihrer Rückkehr sicherlich brüllen, weil sie gemolken werden wollte. Sie gaben dem Jungen Proviant und eine Decke und wiesen ihn an, auf dem Heuboden zu schlafen, bis es so dunkel wurde, dass er gefahrlos weiterziehen konnte. Als sie sich mitsamt dem Pferd auf den Weg machten, saß der Junge noch immer zwischen den beiden Buchsbäumen, und er winkte ihnen zum Abschied nach wie ein Gastgeber seinen Gästen. Gegen Abend begann es im nebeltrüben Wald zu schneien. Ada und Ruby stapften im Halbdunkel zwischen den Tannen hindurch, zwei verschwommene, dunkle Schatten, die sich durch eine Gegend bewegten, in der es außer den diversen Schattierungen der Düsternis keinerlei Farben gab. Die Bäume in unmittelbarer Nähe sahen noch aus wie echte Bäume, doch schon ein Stück weit entfernt wirkten sie wie auf einer schnellen Skizze flüchtig angedeutete Formen von Bäumen. Ada kam es vor, als wäre dies gar keine Landschaft, sondern als wanderte sie durch eine Wolke, in der sich ihr nur das erschloß, was nicht mehr als eine Armeslänge entfernt war. Alles andere war dem Verständnis durch einen Schleier entzogen. Ralph, den das nervös machte, streckte seinen Kopf unablässig nach rechts und links und bewegte seine Ohren hin und her, um nach Bedrohungen zu lauschen. Sie waren über eine weite Strecke hinweg unter dem dichten Baldachin dunkler Hemlocktannen bergan gestiegen. Dann überquerten sie einen niedrigen Kamm und stiegen in ein Flusstal hinab. Die Gegend, die Ada vertraut war, hatten sie längst hinter sich gelassen. Der Boden unter ihren Füßen war mit einer dicken Schicht abgefallener Nadeln gepolstert, und
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der trudelnde Schnee rieselte trocken wie durchgesiebtes Mehl durch die Baumwipfel und wirbelte bogen- und spiralförmig über den Boden. Er schien sich nicht hinlegen zu wollen. Nach einiger Zeit überquerten sie einen dunklen Bach, indem sie vorsichtig über die aus dem Wasser ragenden Steinbuckel balancierten. Ada bemerkte, dass sich entlang des Ufers und um Steine, hineingestürzte Bäume, Mooshubbel und andere den Wasserstrom behindernde Gebilde herum dünne, glitzernde Eisränder bildeten. In der Flussmitte schoss das Wasser hingegen so schnell wie immer dahin. Demnach neigten die Stellen, an denen das Wasser seichter und langsamer war, dazu, zu gefrieren. Monroe hätte daraus ein Anschauungsbeispiel gemacht, dachte Ada. Er hätte erklärt, welchen Elementen im Leben eines Menschen die verschiedenen Bereiche des Baches entsprachen und was Gott damit symbolisieren wollte. Sämtliche Werke Gottes seien nichts anderes als sinnreiche Analogien. Jedes helle Bild in der sichtbaren Welt sei nur ein Schatten eines göttlichen Etwas, so dass Himmel und Erde, Oben und Unten, in Form und Bedeutung übereinstimmten, weil sie nämlich kongruent seien. Monroe hatte ein Buch, in dem man solche Symbole nachschlagen konnte. Die Rose – ihre Dornen und ihre Blüte – ein Symbol für den schwierigen und gefährlichen Weg zur religiösen Erleuchtung. Das Baby – das schreiend, unter Schmerzen und Blutvergießen auf die Welt kam – ein Symbol für unser elendes, von Gewalt durchdrungenes irdisches Leben. Die Rabenkrähe – ihre Schwärze, ihr Außenseiterdasein, ihre Angewohnheit, Aas zu fressen – ein Symbol für die dunklen Mächte, die darauf lauern, die menschliche Seele zu befallen. Ada nahm folglich instinktiv an, das Eis in dem Wasserstrom könne dem Geist möglicherweise als Werkzeug dienen. Oder vielleicht als Warnung. Allerdings glaubte sie nicht, dass ein Buch vorgeben konnte, wie etwas ausgelegt werden oder welchem Zweck es dienen sollte. Dem, was ein Buch sagte, würde immer etwas Wesentliches fehlen, es war für sich
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genommen so nutzlos wie eine Türangel ohne Zapfen. Am anderen Ufer blieb Ralph stehen und schüttelte sein Fell, dass die Topfe in den Säcken nur so schepperten. Dann streckte er den Hals vor und schnaubte leicht und ausgiebig in die Welt hinaus – in der Hoffnung auf eine tröstliche Erwiderung. Ada hielt ihre gewölbte Hand über sein samtiges Maul. Ralph streckte die Zunge heraus, und Ada nahm sie zwischen Daumen und Zeigefinger, wackelte leicht daran, und dann gingen sie weiter. Sie folgten eine Weile dem rauschenden Bach, bis der Pfad neben einem schmalen Nebenarm her in einen Laubwald führte. An den Eichen hingen noch immer ein paar knittrige Blätter. Es waren alte Eichen, deren Äste voller Misteln waren. Der Schnee fiel jetzt in dichten Flocken und begann am Boden liegenzubleiben, so dass der Pfad allmählich nur noch als eine schwache Vertiefung zwischen den Bäumen erkennbar war, die man mit zunehmender Dunkelheit leicht würde übersehen können. Nicht einmal Hufeindrücke von Schweinen waren zu sehen. Es schien sich um einen ehemaligen Indianerpfad zu handeln, der einst irgendwelche heute nicht mehr existierenden Punkte miteinander verbunden hatte und auf dem schon lange niemand mehr gelaufen war. Sie stapften auch nach Einbruch der Dunkelheit noch ein ganzes Stück weiter durch den Schnee. Die Wolken waren so dicht, dass sie den zunehmenden Mond hinter sich verbargen, doch unter den schwarzen Baumstämmen schimmerte der Schnee auch ohne direkte Lichtquelle. Ada dachte nur noch daran, endlich ein Nachtlager aufzuschlagen, und sagte bei jedem Felssims, an dem sie vorüberkamen: Da ist ein Unterschlupf, wo wir übernachten könnten. Doch Ruby behauptete, sie wisse einen besseren oder glaube sich zumindest zu erinnern, dass hier in der Nähe ein besserer sein müsse, und so gingen sie immer weiter. Irgendwann stießen sie auf eine Stelle, an der kreuz und quer große, flache Felsen herumlagen. Ruby ließ ihren Blick umherschweifen, bis sie fand, wonach sie Ausschau gehalten
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hatte: drei Felsblöcke, die so übereinandergefallen waren, dass sie ein Pultdach bildeten – eine Art zufällig entstandener Dolmen mit glatten, geraden Wänden und einer schrägen, dicht aufliegenden Deckplatte, von der das Wasser ablaufen konnte. Darunter war ein Raum, der nicht größer als eine Dachkammer war, aber groß genug, um darin aufrecht sitzen und auf allen allen vieren kriechen zu können. Die Form der Steinhütte erinnerte Ada an den griechischen Buchstaben Pi. Der Boden im Inneren war dick mit vertrocknetem Laub besät. Keine zwanzig Meter entfernt stieg Quellwasser aus dem Boden. Ringsum standen Kastanien und Eichenbäume, die seit dem Schöpfungstag nicht beschnitten worden waren. Einen besseren Lagerplatz hätte man sich gar nicht vorstellen können, und obwohl Ruby seit Jahren nicht mehr hier gewesen war, fand sie, dass es hier noch genauso aussehe, wie sie es aus ihren Kindertagen in Erinnerung hatte. Damals habe sie hier, wenn sie auf Nahrungssuche war, so manche Nacht verbracht. Ruby trug Ada auf, möglichst trockenes Reisig zu sammeln, und binnen einer halben Stunde loderte vor ihrem Unterstand ein warmes Feuer. Mit einem Topf Wasser darauf, damit sie sich Tee machen konnten. Als der Tee gezogen hatte, ließen sie sich nieder, um ihn zu trinken und dazu ein paar Kekse und Dörräpfel zu essen. Die Apfelkringel waren so klein, dass jeder kaum mehr als einen Bissen ergab, doch sie schmeckten intensiv nach allem, was der vergangene Sommer an Herrlichem zu bieten gehabt hatte. Sie redeten nicht viel, während sie aßen. Ada bemerkte lediglich, dass der Junge aus Georgia als Mannsbild nicht viel hermachte. Ruby sagte, sie finde ihn nicht unbedingt übler als die Männer im allgemeinen, das heißt, auch ihm würde es sehr gut tun, wenn man ihm von früh bis spät in den Hintern träte. Nachdem sie gegessen hatten, wischte Ruby die Blätter auf dem Boden beiseite, nahm ein bisschen Erde in die Hand und ließ sie durch die Finger rieseln. Dann hielt sie eine Hand ans Licht des Feuers, damit Ada sehen konnte, was sie da hatte.
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Kohlestückchen und Feuersteinsplitter. Reste von uraltem Feuer und Teile von zerbrochenen und weggeworfenen Pfeilspitzen. Alte Hoffnungsfunken, mochten sie auch noch so klein sein. Keine von beiden sagte etwas, doch Ada nahm einen Steinsplitter nach dem anderen in die Hand und sammelte die am besten erhaltenen Pfeilspitzen heraus. Sie empfand Trost bei dem Gedanken, dass Menschen in grauer Vorzeit dasselbe getan hatten wie sie – dass sie unter dem Steinhaufen Unterschlupf gesucht, eine Mahlzeit verzehrt und übernachtet hatten. Der Schnee zischte beim Fallen, und es wurde zunehmend kälter. Doch das Feuer hatte die Steine bald aufgeheizt, und als sich Ada und Ruby in ihre Decken wickelten, in dem trockenen Laub eingruben und zudem noch eine Schicht Laub über die Decken häuften, lagen sie so warm wie daheim im Bett. Hier ließ es sich sein, dachte Ada, als sie dort lag. Der seit langem nicht mehr benutzte, über Berge und Flüsse führende Pfad. Keine Menschenseele weit und breit. Der Unterschlupf aus Stein warm und trocken und geheimnisvoll wie eine Elfenbehausung. Andere Menschen mochten dies für eine primitive Zufluchtsstätte halten, doch Ada fand, dass sie hier alles hatte, was sie brauchte, und konnte sich vorstellen, einfach hierher zu ziehen und hier zu leben. Das Feuer warf Muster aus Licht und Schatten auf den schrägliegenden Dachstein, und Ada fiel auf, dass das Feuer, wenn sie lange genug hinsah, alle möglichen Figuren formte. Einen Vogel. Einen Bären. Eine Schlange. Einen Fuchs. Vielleicht war es auch ein Wolf. Das Feuer schien an nichts anderem als an Tieren interessiert zu sein. Die Bilder erinnerten Ada an eins von Stobrods Liedern. Es war ihr ganz besonders deutlich in Erinnerung geblieben, hatte sich ihr eingeprägt, weil es einen so eigenartigen Text hatte und weil Stobrod es auf eine so merkwürdige Weise gesungen hatte – mit einer Inbrunst, die, so vermutete Ada, von einer tiefen, persönlichen Betroffenheit herrührte. Das Lied handelte
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davon, was ein fiktiver Sprecher tun würde, wenn er sich in verschiedene Tiere verwandeln könnte. Im Frühling ein Eidechs – möcht lauschen der Liebsten Gekrächz. Ein gefiedert Vögelein möcht fliegen zu seinem Liebelein – und klagt und zirpt, bis es stirbt. Ein Maulwurf in seinem Stollengang – möcht stürzen des Berges stolzen Rang. Ada gab das Lied zu denken. Die Tiere und ihre Sehnsüchte schienen ihr verwunderlich und schrecklich, vor allem der Maulwurf – ein kleiner, machtloser, blinder Einsiedler, der, von Einsamkeit und Bitterkeit zerfressen, die Welt zum Einsturz bringen will. Doch noch verwunderlicher und schrecklicher war die menschliche Stimme, die sich in diesem Liedtext wünschte, kein Mensch mehr zu sein, um die Schmerzen verlorener Liebe, enttäuschter Liebe, heimlicher Liebe und unerwiderter Liebe nicht mehr spüren zu müssen. Ada hörte Rubys Atemzügen an, dass sie noch nicht schlief und fragte: Erinnerst du dich an das Lied von dem Maulwurf, das dein Vater gesungen hat? Ruby bejahte, und Ada fragte, ob Ruby glaube, dass Stobrod das Lied selbst komponiert habe. Ruby entgegnete, dass man bei vielen Liedern nicht sagen könne, sie seien von einer bestimmten Person erdacht worden. Ein Lied werde von einem Geiger an den nächsten weitergegeben, und jeder füge etwas hinzu und nehme etwas weg, so dass sich das Lied mit der Zeit immer mehr verändere, bis die ursprüngliche Melodie oder der ursprüngliche Text kaum noch wiederzuerkennen sei. Man könne aber nicht sagen, dass das Lied durch diesen Prozeß besser werde, denn wie bei allem von Menschen Hervorgebrachten gebe es auch hier keinen Fortschritt. Jedesmal, wenn etwas neu hinzugefügt werde, gehe etwas anderes verloren, und in mindestens der Hälfte der Fälle sei das Verlorengegangene besser gewesen als das neu Hinzugewonnene, so dass wir froh sein könnten, wenn sich beides ungefähr die Waage halte. Das nicht so zu sehen, sei eitler Stolz. Ada beobachtete die Schatten des Feuers, lauschte dem auf
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die Blätter rieselnden Schnee und schlummerte bald ein. Sie schlief traumlos und wurde nicht einmal wach, als Ruby aufstand, um Holz nachzulegen. Als Ada erwachte, begann es gerade zu dämmern, und sie sah, dass es noch immer schneite, wenn auch nicht mehr so heftig. Der Boden war knöcheltief mit Schnee bedeckt. Weder Ruby noch Ada verspürten große Lust auf das, was ihnen an diesem Tag bevorstand. Sie hockten, die Decken über ihre Schultern gezogen, da, und Ruby blies die Glut an und schürte das Feuer, Sie briet ein Stück Speck, angelte es aus dem Fett und legte es auf einen flachen Stein. Dann goss sie Wasser in das Fett, kochte einen Topf Maisgrütze, nahm den Speck vom Stein, krümelte ihn in den Topf und verrührte die Stücke mit der Grütze. In dem kleineren Topf machte Ada Tee, und während sie ihn schlürften, erzählte Ruby, dass der erste Tee, den sie je getrunken habe, ein Geschenk von Mrs. Swanger gewesen sei. Sie sei davon so begeistert gewesen, dass sie eine Handvoll davon in ein Stück Stoff wickelte, um dies Stobrod mitzugeben, als er auf Waschbärenjagd ging. Als sie ihn ein paar Wochen später wiedersah, fragte sie ihn, wie ihm der Tee geschmeckt habe. Stobrod erwiderte, dass er nichts Besonderes gewesen sei und er ihn nicht besser und nicht schlechter gefunden habe als anderes Grünzeug auch. Und Ruby stellte fest, dass er die Blätter zusammen mit einer Scheibe Rückenspeck gebraten und wie Kresse verzehrt hatte. Als sie die Weggabelung erreichten, fanden sie unter der Pappel nur den jungen Pangle. Er lag mit dem Gesicht nach oben und war von Schnee bedeckt. Er war über ihm eingesackt und dünner als auf der umliegenden Erde, was darauf hinwies, dass der Schnee zunächst auf ihm geschmolzen und dann liegengeblieben war. Ruby wischte ihm den Schnee aus dem Gesicht und stellte fest, dass er noch immer lächelte, wenn auch mit einem verwirrten Ausdruck in den Augen, der aber möglicherweise nichts weiter war als der Ausdruck des Todes. Ruby legte ihre Hand auf seine dicke Backe und berührte ihn dann mit den Fingerspitzen an der Stirn, als wollte sie ihm
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schwesterlich das Siegel der Ausgestoßenen aufdrücken. Ada wandte sich von ihm ab und begann mit der Stiefelspitze im Schnee herumzustochern. Dabei förderte sie Stücke des zerbrochenen Banjos zutage. Dann den zerbrochenen Geigenbogen, dessen Frosch noch am Roßhaar baumelte. Sie suchte weiter nach der Geige, fand sie aber nicht. Keine Geige und keinen Stobrod. — Wo mag er wohl sein? fragte Ada. — Es gibt doch in ganz Georgia keinen einzigen Menschen, der mehr als die halbe Wahrheit sagen kann, erwiderte Ruby. Ob tot oder lebendig, sie müssen ihn mitgenommen haben. Sie beschlossen, Pangle ein Stück wegaufwärts an einer kleinen, ebenen Stelle neben einer Kastanie zu begraben. Die Erde ließ sich leicht ausheben, so dass sie die Breithacke fast nicht brauchten. Nur die oberste Erdkruste war gefroren, während die Bodenkrume darunter schwarz und locker war und tiefer und tiefer ging. Sie wechselten sich mit dem Schaufeln ab und waren bald so erhitzt, dass sie ihre Mäntel auszogen und über Äste hängten. Kaum hatten sie das getan, wurde es ihnen zu kalt, doch es war besser zu frieren, als die Kleider durchzuschwitzen. Als sie schließlich auf größeres Gestein stießen, war das Loch schon recht tief, wenn auch immer noch zwei Fuß niedriger als die sechs, die Adas Wissen nach bei Gräbern einzuhalten waren. Aber so würde es reichen, meinte Ruby. Sie gingen zu Pangle hinüber, packten jede ein Bein, schleiften ihn durch den Schnee zu dem Grab und beförderten ihn hinein. Sie hatten keinen Sarg und keine Decke übrig, in die sie ihn hätten einwickeln können, und so legte ihm Ada wenigstens ihr Taschentuch über das Gesicht, ehe sie ihn mit Erde zuzuschaufeln begannen. Als sie ihn so weit mit Erde bedeckt hatten, dass nur noch eine Stiefelspitze herausragte, fing Ada an zu weinen, obgleich sie den Jungen nur ein einziges Mal in ihrem Leben gesehen hatte, und das bei Feuerschein. Und die einzigen Worte, die zwischen ihnen gefallen waren, hatten aus seiner Äußerung bestanden, dass
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Stobrods Geigenspiel ihr gutgetan habe. Ada erinnerte sich, welche Gedanken ihr durch den Kopf gegangen waren, als sie den Wintervorrat an Kohl vergraben hatten – wie sie diese Tätigkeit sinnbildlich gesehen hatte. Dieses Begräbnis indes erschien ihr als etwas völlig anderes. Abgesehen von der Tatsache, dass beide Male Löcher in die Erde gegraben wurden, hatten beide nicht das geringste gemein. Als das Grab bereits höher war als die umliegende Erde, war, wie Ruby bemerkte, noch immer Erde übrig. Sie führte dies auf die derzeitige Mondphase, den nahenden Vollmond zurück. Schaufelte man bei abnehmendem Mond ein Grab, habe man nach dem Zuschaufeln eine Mulde. Sie häuften die Extraportion Erde über Pangle auf und klopften sie mit dem Spatenrücken fest. Mit ihrem Klappmesser schälte Ada sodann Rindenstreifen von einem Hickoryschößling, suchte sich eine Robinie, von der sie mit der Handaxt zwei Zweige abhackte, und band diese mit der Hickoryrinde zu einem Kreuz zusammen. Sie steckte es über Pangles Kopf in die weiche Erde und sprach dann zwar nicht laut, aber immerhin im Geist ein paar Abschiedsworte. Ruby hatte ihr einmal gesagt, Robinien hätten einen solchen Lebenswillen, dass man den Stamm in Zaunpfähle spalten könne, die dann in den Pfahllöchern manchmal Wurzeln schlügen und weiterwüchsen. Dieses erhoffte sich Ada auch für ihre eigene Konstruktion – dass an Pangles Ruhestätte eines Tages eine hohe Robinie stehen würde, die bis ins nächste Jahrhundert hinein Jahr für Jahr eine Geschichte frei nach dem Mythos von Persephone erzählte. Schwarze Rinde im Winter, weiße Blüten im Lenz. Ihre Hände waren dreckig. Ruby schaufelte sich einfach Schnee in die Hand, verrieb ihn zwischen den Handflächen und schüttelte das schmutzige Wasser ab. Ada hingegen ging durch den Wald an den Bach und kniete nieder, um sich die Hände zu waschen und ihr Gesicht mit dem eisigen Wasser zu benetzen. Als sie sich wieder aufgerichtet und ihr Gesicht
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abgeschüttelt hatte, fiel ihr Blick auf einen niedrigen Felssims am anderen Ufer. Er hatte einen Überhang, ein Schutzdach. Die braune Erde hob sich deutlich gegen den Schnee ab. Unter dem Felsen saß Stobrod – wenn es auch eine Weile dauerte, bis Ada ihn erkannte, denn seine Kleider waren von der gleichen Farbe wie der schneefreie Boden. Er bewegte sich nicht, hatte die Augen geschlossen und saß mit gekreuzten Beinen da, den Kopf zur Seite gekippt und die Hände um die in seinem Schoss liegende Geige geschlungen. Eine kleine Windbö rüttelte an den wenigen noch am Baum hängenden Eichenblättern und schüttelte etwas Schnee von den kahlen Ästen. Er fiel auf Adas Haar und in den Bach, wo er beim Auftreffen auf die Wasseroberfläche schmolz. — Ruby, rief Ada. Ruby, komm, ich brauche deine Hilfe. Dann standen sie vor ihm. Sein Gesicht war so weiß wie der Schnee, und er sah schrecklich ausgemergelt aus. Ganz klein. Er hatte durch die Wunden viel Blut verloren und zudem noch welches gespuckt, so dass die Vorderseite seines Hemdes vollkommen besudelt war. Als Ruby die Geige von seinem Schoss nahm und sie Ada reichte, klapperten die Schlangenrasseln. Ruby knöpfte das Hemd auf, das von dem schwarzen, eingetrockneten Blut ganz steif geworden war. Sein Brustkorb war eingefallen und weiß. Ruby legte das Ohr daran, wich ein Stück zurück und horchte abermals. — Er lebt noch, sagte sie. Sie öffnete seine Kleider, drehte ihn hin und her, um sich seine Verletzungen zu besehen, und stellte fest, dass er dreimal getroffen worden war. Ein Schuss in die rechte Hand, in der er den Bogen gehalten hatte. Ein Streifschuss vom seitlichen Oberschenkel bis zur Hüfte. Und – die schwerste Verletzung – durch die Brustwarze in den Brustkorb. Die Kugel hatte eine Rippe zerschmettert, den oberen Lungenzipfel durchdrungen und war in den Rückenmuskeln oberhalb des Schulterblatts steckengeblieben. Unter seiner Haut war eine blaue Beule von der Größe eines Holzapfels. Während Ruby ihn hin und her bewegte, kam Stobrod weder zu Bewusstsein, noch stöhnte er
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vor Schmerz auf. Ruby ging Reisig sammeln, schälte von einem Kiefernzweig ein paar Späne ab und entzündete mit den Streichhölzern ein Feuer. Sobald es brannte, hielt sie die Klinge ihres selbstgemachten Messers in die Flammen. Auch als sie es Stobrod in den Rücken stach, gab er weder einen Laut von sich, noch flackerten seine Augenlider. Der Schnitt blutete auch kaum – als hätte Stobrod bis auf ein paar rote Tröpfchen kein Blut mehr für die neue Wunde übrig. Ruby steckte ihren Zeigefinger in Stobrods Rücken, ertastete die Wunde und angelte die Kugel heraus. Sie legte das Ding, das aussah wie ein Klumpen rohen Fleisches, in Adas Hand. — Geh und spül sie ab, sagte Ruby. Er wird sie eines Tages haben wollen. Ada ging zum Bach, tauchte die Hand ins Wasser und ließ die Strömung durch ihre lose Faust fließen. Als sie die Kugel wieder herauszog, war das graue Blei sauber. Die Kugel hatte sich beim Eindringen in Stobrods Körper pilzformig verformt und der obere Teil war angerissen. Der Geschossboden mit den drei Führungsrillen, die der Kugel ihren Drall verleihen, war hingegen unversehrt. Ada ging zu der Felsbank zurück und legte die Kugel neben die Geige. Ruby hatte Stobrod in Decken gewickelt, und das Feuer brannte jetzt kniehoch. — Bleib du hier und koch mir Wasser ab, sagte Ruby zu Ada. Ada blickte ihr nach, wie sie mit geschulterter Schaufel und gesenktem Kopf zwischen den Bäumen davonzog – auf der Suche nach Heilwurzeln, die sie lediglich anhand der vertrockneten Stengel und aus dem Schnee ragenden Hülsen erkennen konnte. Ada legte Steine um das Feuer, um eine Abstellfläche für den Topf zu haben, ging zum Pferd und zog aus einem der Säcke einen Topf heraus. Diesen füllte sie mit Bachwasser und stellte ihn auf die Steine, damit sich das Wasser erwärmte. Dann ließ sie sich nieder und betrachtete Stobrod. Er lag da
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wie ein Toter. Außer dem leichten Heben und Senken seiner Jacke beim Atmen wies nichts darauf hin, dass er lebte. Ada fragte sich, wo jetzt wohl seine hundert Melodien waren und wohin sie gehen würden, wenn er starb. Als Ruby eine Stunde später wieder zurückkehrte, waren ihre Taschen voll mit allen Arten von Wurzeln, die sie hatte finden können und die irgendwie von Nutzen sein konnten – Königskerze, Schafgarbe, Große Klette, Ginseng. Kanadische Orangenwurz, die Pflanze, die sie am dringendsten gebraucht hatte, war nicht dabei. Das Kraut sei in letzter Zeit immer seltener geworden, meinte sie. Schwer zu finden. Sie hegte den Verdacht, dass es die Menschen nicht mehr verdienten, gesund zu werden, und dass die Orangenwurz vor Abscheu verschwunden sei. Sie schmierte einen Brei aus Königskerzen , Schafgarben- und Klettenwurzeln in Stobrods Wunden und verband sie mit Stoffstreifen von einer Decke. Dann braute sie aus Königskerze und Ginseng einen Tee und träufelte ihn Stobrod in den Mund. Seine Kehle schien jedoch zugeschnürt zu sein, und sie konnte nicht beurteilen, ob etwas hinunterrann oder nicht. Nach einer Weile sagte sie: Es ist zu weit bis nach Hause. Er wird eine so lange Strecke nicht überleben. Es kann noch Tage dauern, bis er transportfähig ist, und es würde mich nicht wundern, wenn noch mehr Schnee käme. Wir brauchen einen besseren Unterstand als diesen hier. — Zurück in die Steinhütte? fragte Ada. — Da ist nicht genug Platz für uns alle. Nicht, wenn wir auch kochen und ihn versorgen wollen. Ich kenne eine gute Unterkunft. Falls sie noch da ist. Sie ließen Stobrod liegen, wo er war, und schnitten ein paar lange Stangen zurecht, um daraus einen Transportschlitten zu bauen. Sie banden die Stangen mit ihrem Seil aneinander, befestigten Querbalken zur Versteifung darüber und spannten das provisorische Fuhrwerk hinter das Pferd. Sie trugen Stobrod in Decken gewickelt über den Bach und legten ihn darauf, doch als sie in den linken Pfad einbogen und merkten,
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wie Stobrod hinter dem Pferd an jedem Stein und jeder Wurzel durchgeschüttelt wurde, sahen sie ein, dass der Schlitten keine gute Idee gewesen war. Die Erschütterungen würden die Wunden nur weiter aufreißen. Also zerlegten sie den Schlitten wieder, wickelten das Seil auf, legten Stobrod über das Pferd und gingen langsam weiter. Der tiefe, graue Himmel schwebte so dicht über ihren Köpfen, dass sie das Gefühl hatten, nur die Hand ausstrecken zu brauchen, um ihn zu berühren. Eine Zeitlang rieselten aus den Wolken Schneeflocken, angetrieben von einem schneidenden Wind. Zuerst waren die Flocken so groß wie Gänsedaunen, dann wurden sie winzig und trocken wie Aschekörner. Als es aufhörte zu schneien, stieg rings um sie her Nebel auf, und das einzig Klare war die Tatsache, dass die Abenddämmerung hereinbrach. Sie stapften eine Weile schweigend dahin, nur Ruby sagte hin und wieder: Hier, wenn sie in einen Nebenpfad abbiegen mussten. Ada wusste weder, wohin sie gingen, noch konnte sie mit Sicherheit sagen, wo welche Himmelsrichtung war. Als sie einmal anhielten, um zu verschnaufen, ließ das Pferd müde und verzweifelt den Kopf hängen – es war von der Last auf seinem Rücken und dem überwundenen Höhenunterschied erschöpft. Ada und Ruby wischten den Schnee von einem Baumstamm und setzten sich. Sie konnten in dem Nebel nicht weiter sehen als bis zu den nächsten Bäumen. Das Gefühl sagte ihnen jedoch, dass sie sich auf einem Bergkamm befanden, von offener Luft und großem Gefälle umgeben. Ada mummelte sich in ihren Mantel ein und versuchte, nicht weiter zu denken als bis zur nächsten Meile – und nicht etwa daran, dass sie noch einen Tag wie diesen würden durchstehen müssen oder wo sie die Nacht verbringen würden. Stobrod lag noch genauso da, wie Ada und Ruby ihn über das Pferd gelegt hatten. Während sie auf dem Stamm saßen, kamen plötzlich zwei Wanderfalken aus dem Nebel geflogen. Mit kurzen, abgehackten Flügelschlägen kämpften sie gegen den böigen
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Wind an. Sie flatterten so dicht an ihnen vorüber, dass Ada hören konnte, wie der Wind durch ihre Federn zischte. Stobrod erwachte, hob kurz den Kopf und starrte ihnen, als sie wieder in den Nebel eintauchten, ausdruckslos nach. Aus seinem Mund rann ein wenig Blut, dünn wie ein Rasiermesserschnitt, über das Kinn. — Merlin, murmelte er – als konnte er schneller zu sich finden, wenn er den Vögeln einen Namen gab. Er fing an herumzuzappeln, dass es den Eindruck machte, als wollte er sich rittlings auf das Pferd setzen, und deshalb half Ruby ihm. Als sie ihn losließ, kippte er jedoch nach vorn, bis sein Kopf auf dem Widerrist lag. Seine Augen waren geschlossen, doch er klammerte sich mit beiden Händen in der Mähne fest. Seine Beine schlenkerten an Ralphs rundem Bauch. Ruby wischte ihm mit ihrem Mantelärmel den Mund ab, und dann gingen sie weiter. Nachdem sie fast eine Stunde lang einen steilen Hang hinabgestiegen waren, kam es Ada auf einmal so vor, als befänden sie sich in einer Talmulde. Die Sicht war jedoch nach allen Richtungen zu schlecht, um feststellen zu können, ob das tatsächlich zutraf. Sie durchquerten ein mooriges Feld, in dem der Pfad beidseitig von mannshohen Heidelbeerbüschen gesäumt war. In der Talsohle kamen sie an einem kleinen See mit stillem, schwarzem Wasser vorbei. Er tauchte aus dem Nebel auf, als hätte sich plötzlich ein Loch in der Erde aufgetan. Er war von alten, abgestorbenen, gelblichgrauen Federgrashalmen umstanden und der mit zackenförmigem Eis umgebene Rand sah aus wie eine sich schließende Irisblende. Drei schwarze Enten trieben reglos in der Seemitte, die Köpfe an die Brust gedrückt. Wenn sie ein Buch über Symbole schriebe, dachte Ada, würde dies hier Angst symbolisieren. Der Nebel lichtete sich ein wenig. Sie erklommen einen niedrigen Kamm, dessen Grat mit Hemlocktannen bestanden war, von denen etliche umgestürzt waren, so dass ihre Wurzelteller wie Knochengerippe in die Luft ragten. Sie
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schlängelten sich zwischen den Bäumen hindurch und stiegen zu einem Kastanienhain hinunter. Sie konnten hören, dass sie sich einem Fluss näherten, ihn jedoch nicht sehen. Es war ein mühseliges Vorankommen, denn es gab keinen richtigen Pfad, sondern nur so viel Platz zwischen den Bäumen, den struppigen Sträuchern und dem niedrigen Gestrüpp, dass man sich eben hindurchzwängen konnte. Als sie am Fuß des Kamms auf einen schmalen Flusslauf trafen, hatte sich das Licht nicht verändert, obwohl es ihnen vorkam, als müsste der Tag sich mittlerweile dem Ende zuneigen. Ada machte zwischen den Bäumen nach und nach rechteckige Gebilde aus. Hütten. Blockhäuser. Ein winziges Cherokee-Dorf, eine Geisterstadt, deren Bewohner vor langer Zeit auf den Pfad der Tränen gescheucht und in ein ödes Land vertrieben worden waren. Abgesehen von einem verfallenen Relikt aus dem Zeitalter, da man Hütten aus Weidengeflecht baute und mit Lehm verputzte, bestanden die Blockhütten aus entrindeten und an den Ecken verzahnten Kastanienstämmen. Die Dächer waren mit Holzschindeln und Kastanienrinde gedeckt. Auf eine der Hütten war eine große Weißeiche gefallen, doch die anderen waren, obwohl sie drei Jahrzehnte sich selbst überlassen gewesen waren, noch weitgehend intakt. Und das Kastanienholz war gegen Feuchtigkeit so beständig, dass die Hütten möglicherweise noch weitere hundert Jahre überstehen würden, ehe sie in den Boden sackten. Die Balken waren mit grauen Flechten bewachsen, und im Schnee zwischen den Türöffnungen standen verdorrte Büschel von Berufskraut, Fuchsschwanzgras und Flohkraut. Da in der Umgebung kein flaches Land war, auf dem man Getreide hätte anbauen können, waren diese Hütten vermutlich nur während der Jagdsaison bewohnt worden. Oder sie hatten einer Handvoll fleischfressender Ausgestoßener als Zufluchtsstätte gedient, an der sie so gut wie einsiedlerisch leben konnten. Alles in allem waren es nicht mehr als ein halbes Dutzend kleine, fensterlose Zellen. Sie standen verstreut am Ufer des Flusses, der tief und kräftig und schwarz dahinströmte in
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einem Bett voll großer, glatter Flussteine, deren Oberseiten mit Moos überzogen waren. Vor lauter Müdigkeit kam es Ada auf einmal äußerst wichtig vor, ohne zu fragen herauszubekommen, an welchem Flussufer die Hütten standen. Im Norden, Süden, Osten oder Westen. Es würde ihr helfen, sich darauf einzustellen, wo sie gelandet war. Ruby schien immer genau zu wissen, wo welche Himmelsrichtung war und schien die Angabe der Himmelsrichtungen nicht nur für wichtig zu halten, wenn es darum ging, einen Weg zu beschreiben, sondern auch dann, wenn sie eine Geschichte erzählte und schilderte, wo ein bestimmtes Ereignis stattgefunden hatte. Am Westufer des Little East Fork, am Ostufer des West Fork, und so weiter. Um eine solche Sprache sprechen zu können, musste man ein genaues Bild von dem Land im Kopf haben, in dem man lebte. Ada wusste, dass die Bergkämme, Täler und Wasserläufe den Rahmen, das Grundgerippe dieses Bildes darstellten. Man prägte sich ihre jeweilige Lage ein und fügte dann alles, was dazwischen lag, ein. Vom Allgemeinen zum Besonderen. Alles hatte einen Namen. Um den Ort, an dem man sein Leben verbrachte, wirklich kennenzulernen, musste man seine Aufmerksamkeit auf immer kleinere Details richten. Ada hatte gerade erst begonnen, sich ein solches Bild zu entwerfen, und sie blickte hilfesuchend empor, um die Himmelsrichtungen abzulesen. Doch der Himmel bot ihr keine Hilfe, denn er hing so tief, dass sie das Gefühl hatte, beinahe mit dem Kopf daran zu stoßen. Sie sah auch sonst keinerlei Hinweise, die ihr hätten weiterhelfen können. In diesem feuchten Klima waren die Baume allseitig mit Moos bewachsen. Es richtete sich hier nicht danach, wo Norden war. Ada konnte also nicht mehr feststellen, als dass das Dorf an einem Flussufer stand. In welcher Himmelsrichtung war nicht zu sagen. Die verlassenen Hütten, zwischen denen sie umherliefen, wirkten düster und wie eingezwängt zwischen dem Wasserlauf und der verschwommen aufragenden Bergkuppe. Es war gut
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möglich, dass ein paar der ehemaligen Bewohner noch am Leben waren, und Ada fragte sich, wie oft sie wohl an diesen einsamen Ort zurückdachten, der nun so still war wie angehaltener Atem. Das Wort, mit dem sie dieses Dorf benannt hatten, würde bald zu den Namen zählen, die nicht an uns überliefert wurden und die mit den Dingen, die sie benannt haben, aus unseren Köpfen verbannt sind. Sie vermutete, dass die Bewohner noch wenige Tage vor ihrer Vertreibung nicht geahnt hatten oder sich nicht hatten vorstellen können, dass sie so bald einen so totalen Verlust erleiden würden. Sie hatten nicht vorausgesehen, dass sie in naher Zukunft in einer anderen Welt leben würden – einer Welt, in der Menschen lebten, deren Münder andere Worte sprachen, deren Schlaf von anderen Träumen besänftigt oder beunruhigt wurde, deren Gebete anderen Göttern dargebracht wurden. Ruby suchte die besterhaltene Hütte aus, und sie machten davor halt. Sie hievten Stobrod vom Pferd, betteten ihn, in Decken gewickelt, auf die Segeltuchplane am Boden und betraten dann den fensterlosen Raum der Hütte. Die Tür war aus behauenen Brettern und hatte einst an Lederscharnieren gehangen, die längst zerrissen waren und auf dem Boden lagen. Wenn sie den Raum schließen wollten, würden sie die Tür vor die Öffnung schieben müssen. Der Boden aus gestampfter Erde war mit Laub übersät, das von draußen hereingeweht war. Sie fegten es mit einem Kiefernwedel hinaus. In dem Raum waren eine ohne Mörtel errichtete Feuerstelle und ein Kamin aus lehmverputztem Weidengeflecht. Als Ruby ihren Kopf hineinsteckte, um nach oben zu schauen, konnte sie Tageslicht sehen. An den glänzenden und vom Rauch etlicher Jahre geschwärzten Dachbalken aus Kastanienholz war zu erkennen, dass der Kamin noch nie gut gezogen hatte. Unter dem Staubgeruch war noch immer der intensive Geruch Tausender alter Lagerfeuer wahrnehmbar. An einer Wand befand sich eine hölzerne Schlafpritsche, auf der noch eine Schicht grauen Strohs lag. Sie trugen Stobrod hinein und legten ihn dort ab.
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Während Ruby in der Feuerstelle Feuer machte, ging Ada hinaus, schnitt einen langen, geraden Ast, spitzte ihn mit dem Beil an, hämmerte ihn unter einer Zeder in den Boden und pflockte das Pferd daran an. Nass und zitternd stand es mit gesenktem Kopf da, sein dicker Winterpelz klebte von geschmolzenem Schnee getränkt in dunklen Kringeln auf der Haut. Ada sah Ralph an, blickte zum Himmel auf und spürte an ihren Wangen, wie kalt es war. Wenn sie ihn hier draußen ließe, würde er womöglich in der Frühe tot auf dem Boden liegen. Sie band ihn wieder los und versuchte, ihn in eine der Hütten zu führen, doch er wollte den Kopf einfach nicht einziehen, um durch die Tür zu passen. Als sie am Halfterstrick zog, stemmte er sich in den Boden und machte einen solchen Ruck nach hinten, dass er Ada mitzog, die daraufhin bäuchlings in den Schnee fiel. Sie rappelte sich auf, suchte sich einen armdicken Stock, stellte sich hinter das Pferd und schlug mit der ganzen ihr verbliebenen Kraft – viel war es nicht – wieder und wieder auf sein Hinterteil ein. Schließlich sprang es durch die schwarze Türöffnung, als spränge es in den Tod. Als Ralph erst einmal drinnen war, fühlte er sich sogleich wohl, denn die Hütte unterschied sich weder in ihrer Größe noch vom Material her von einem normalen Stall. Innerhalb weniger Minuten hatte er sich entspannt. Er schüttelte sein Fell, stellte sich breitbeinig hin und ließ lang und genüßlich Wasser ab. Ada fütterte ihn aus dem Kochtopf mit Getreide, nahm dann den Topf mit hinaus und spülte ihn im Fluss aus. Es war fast dunkel, als Ada am Ufer stand und die letzten Lichtschimmer auf dem Wasser beobachtete. Sie war müde, ihr war kalt und außerdem unheimlich zumute. Dies erschien ihr wie der einsamste Ort der Welt. Ihr graute vor der Nacht und vor dem Augenblick, da alles, was es in ihrem Lager zu tun gab, getan war und sie sich in eine Decke wickeln und in der Dunkelheit auf den kalten Erdboden der Geisterhütte legen musste, um auf den Morgen zu warten. Sie war so müde, dass ihre Beine sich ausgebrannt und hohl anfühlten. Doch sie war
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sicher, dass sie alles überstehen konnte, wenn sie einfach eine Sache nach der anderen erledigte und nicht versuchte, alles gleichzeitig zu bedenken. Sie ging hinein und stellte fest, dass Ruby ein Abendessen gekocht hatte, das aus den gleichen Zutaten bestand wie ihr Frühstück. Als sich Ada einen Löffel der fettigen Grütze in den Mund schob, brachte sie diese nicht herunter. Ihr Magen krampfte sich zusammen. Sie stand auf und ging hinaus und erbrach sich im Schnee, obwohl in ihrem Magen nicht viel mehr war als schwarze Galle. Sie rieb sich ihren Mund mit Schnee ab, ging wieder hinein und aß, bis ihre Schüssel leer war. Dann ließ sie die Schüssel in den Schoss sinken und blieb schweigend und gelähmt vor Müdigkeit an der Feuerstelle sitzen. Sie hatte den ganzen Tag über kaum einen Schluck Wasser getrunken. Darum und vor Kälte, von der Anstrengung des Fußmarsches, des Schaufelns und der Versorgung des Verletzten war ihr nun ganz seltsam zumute, und sie hatte nur noch den einen Wunsch, in dem brennenden Feuer glücklichere Visionen zu entdecken. Sie schaute und schaute, fand aber keine – weder in den verschwommenen Formen der Flamme, noch in den geometrischen Formen, die sich in die brennenden Klötze eingruben. Doch das Holz knackte beim Verbrennen wie Schritte in trockenem Schnee, und sogar Ada wusste, was das bedeutete. Es würde weiterschneien.
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Spuren im Schnee
Als Inman die Stelle erreichte, an der sich die drei Wege kreuzten, war hinter den Wolken im Westen kaum noch genügend Licht, um die Spuren auf dem Boden deuten zu können. Die Eindrücke im Schnee führten hinauf zu der ebenen Fläche an der Weggabelung und von dort weiter den ansteigenden linken Pfad hinauf. Auf dem Boden unter einer großen Pappel war schwarzes Blut zu sehen, das von einer Schießerei herrührte. Drumherum war der Schnee von Schuhen und Pferdehufen zertrampelt. In einem Ring aus Steinen hinter der Pappel hatte kürzlich ein Feuer gebrannt, dessen Asche zwar kalt war, aber noch immer nach Schweinefett roch. Fußstapfen und eine Schleifspur führten zu einem Holzkreuz am oberen Rand einer frischen Grabung. Inman hockte sich davor und dachte, während er es betrachtete: Falls es, wie in Kirchenliedern behauptet wird, eine Welt jenseits des Grabes gibt, stellt ein solches Loch eine ziemlich trostlose, einsame Pforte ins Jenseits dar. Er war ein wenig verwirrt. Eigentlich hätten es zwei Gräber sein müssen. Inman hatte zwar schon erlebt, dass man zwei Männer übereinander in ein Grab gelegt hatte, um sich Grabarbeit zu ersparen, glaubte jedoch nicht, dass dies hier der Fall war. Er richtete sich auf und ging zurück, um die Spuren zu lesen und folgte ihnen über den Bach zu dem Felsvorsprung, unter dem er mehr Blut entdeckte und Glutreste eines kleinen Feuers. Und einen Haufen durchweichter Wurzeln – dort wo sie zusammen mit dem Kochwasser auf den Boden geschüttet worden waren. Er nahm ein paar Wurzelstücke in die Hand, zerrieb sie und erkannte an dem Geruch, dass es sich um Ginseng und Königskerze
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handelte. Er legte sie auf einen Stein, ging an den Bach und schöpfte eine Handvoll Wasser, um zu trinken. Zwischen den Steinen lugte ein bunt gefleckter Salamander hervor – mit einer Musterung und Farben, wie sie nur bei an diesem Bach lebenden Salamandern vorkamen. Inman zog ihn heraus und hielt ihn in seiner gewölbten Hand, um sich sein Gesicht anzusehen. Mit seinem breiten, weit um den Kopf herumreichenden Maul sah der Salamander aus, als lächelte er, und er strahlte eine so heitere Gemütsruhe aus, dass Inman Neid und Verbitterung empfand. Eine solche Miene machen konnte fast nur, wer versteckt unter einem Felsen im Bach lebte, dachte Inman. Er setzte den Salamander wieder hin und ging zu der Weggabelung zurück, um festzustellen, wohin die Pfade führten. Nach knapp drei Metern verschwammen sie jedoch in der sich rasch herabsenkenden Dunkelheit. Er sah es kommen, dass Ada für immer vor ihm entschwand und ihn als einsamen, weiter und weiter ziehenden Pilger zurückließ. Der Himmel war mit Tiefziehenden, dicken Wolken verhangen. Es würde also kein Mond zu sehen sein, und die Nacht würde bald so schwarz sein wie der Bauch eines kalten Kamins. Er legte den Kopf in den Nacken, sog die Luft ein, und sie roch nach Schnee. Er fragte sich, was schlimmer wäre – wenn er die Spuren in der Dunkelheit verlöre oder sie über Nacht zuschneiten. Sicher war jedenfalls, dass es in Kürze ganz dunkel sein würde, und so kehrte Inman zu dem Felsvorsprung zurück, um sich dort niederzulassen, und beboachtete, wie das Licht allmählich schwand. Er lauschte dem Rauschen des Baches und versuchte, sich eine Geschichte zu den Fußspuren zusammenzureimen, eine Geschichte, die erklärte, warum es nur ein Grab gab und warum die zwei Frauen weiter bergauf gestiegen waren, statt ihren eigenen Spuren heimwärts zu folgen. Doch in seinem gegenwärtigen Zustand fiel es ihm schwer, etwas logisch zu durchdenken. Teils aus freiem Willen, teils
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unfreiwillig hatte Inman seit einer Weile gefastet, und als Folge davon ließen sich seine Gedanken nicht mehr richtig aneinanderreihen. Er hatte seit dem Tag, da er das gebratene Bärenfleisch verzehrt hatte, keinen Bissen mehr zu sich genommen. Das Rauschen des Baches und das Klicken der Kiesel in seinem Bett klang wie Stimmen, und Inman dachte, dass sie ihm, wenn er angestrengt hinhörte, vielleicht erzählen würden, was an diesem Ort vorgefallen war. Doch die Stimmen veränderten ihre Tonlage und wurden undeutlich, und so sehr er sich auch bemühte, konnte er den Worten keine Bedeutung entnehmen. Dann überlegte er sich auf einmal, dass er gar keine Stimmen hörte, sondern die Wörter nur im Kopf formulierte, doch auch dann kam er nicht dahinter, was sie hießen. Er war zu leer, um Sinn zu finden. In seinem Brotbeutel steckte nichts Eßbares mehr – bis auf ein paar Walnüsse, die er zwei Tage zuvor bei einer abgebrannten Blockhütte vom Boden aufgelesen hatte. Außer einem Kegel rußiger Erde an der Stelle, wo der irdene Kamin gestanden hatte, war von der Hütte nichts übriggeblieben. Dahinter, vermutlich an der Stelle, wo die Hausfront gewesen war, stand ein Walnußbaum von stattlicher Größe, unter dem noch Walnüsse lagen. Die schwarzen Schalen lagen in kleinen Nestern im Gras, das um die Kapseln herum in die Höhe geschossen war, während die Kapseln verrottet waren. Inman hatte sämtliche Nüsse, die er hatte finden können, in seinen Brotbeutel gesteckt, sich bislang jedoch noch nicht dazu durchringen können, sie zu essen. Je länger er nachdachte, um so mehr kam er nämlich zu der Überzeugung, dass die Kraft, die erforderlich wäre, um sie aufzuknacken, ihren Nährwert übersteigen würde, da jede Schale wahrscheinlich nicht mehr Fleisch enthielt als das oberste Glied seines Zeigefingers. Er warf sie trotzdem nicht weg, denn er hegte die Befürchtung, dass es sich, wenn man alles im Leben einem solchen Vergleich unterzöge, nicht lohnen würde zu leben. Außerdem klapperten sie beruhigend, wenn er lief. Es klang wie das dürre Klappern morscher Knochen, die an Bäumen hingen.
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Er sah zu den bitteren Wurzeln auf dem Stein hinüber. Er war versucht, daran herumzunagen, doch dann nahm er sie nur in die Hand und warf sie in den Bach. Er holte eine Walnuß aus seinem Brotbeutel und schleuderte sie hinterher. Als sie auf dem Wasser aufklatschte, klang es wie ein aufgeschreckter Frosch, der ins Wasser platscht. Die anderen Nüsse bewahrte er auf, obwohl er keine davon zu essen gedachte, ehe er Ada gefunden hatte. Wenn sie ihn abwies, würde er weiter bergan steigen bis zu den Shining Rocks, um zu sehen, ob sich die Pforten für ihn öffneten – wie das gemäß den Worten der Frau mit den Schlangentätowierungen bei Menschen der Fall sein soll, die gefastet haben und in jeder Beziehung leer sind. Inman konnte sich keinen Grund vorstellen, warum er nicht vertrauensvoll darauf losmarschieren sollte. Er bezweifelte, dass es in diesem Moment irgendwo auf der Welt einen Menschen gab, der leerer war als er. Er würde geradewegs aus dieser Welt hinaus- und in das Tal der Seligen hineinlaufen, das die Frau ihm beschrieben hatte. Inman brach Äste zurecht und entzündete auf der Glut des vorherigen Feuers eine kräftige Flamme. Dann rollte er zwei große Steine hinein, damit sie sich aufheizten. Er lag lange in seine Decken gewickelt da, streckte die Füße zum Feuer hin und machte sich Gedanken, wohin die beiden Pfade wohl führten. Zu Beginn dieses Tages hätte er nicht gedacht, dass er am Abend abermals auf kaltem Boden liegen würde. Wenn er erst zu Hause war, dachte er, würde er sich in jeder Hinsicht von seinem bisherigen Ich unterscheiden, in seiner Lebensart, seiner Lebensphilosophie und sogar in seiner Haltung und seinem Gang. Und er war morgens überzeugt gewesen, dass er Ada bis zum Abend einen Heiratsantrag gemacht und darauf eine Antwort erhalten haben würde. Ja, nein oder vielleicht. Er hatte diese Szene seit vielen Tagen – unterwegs oder wenn er in einem unwirtlichen Nachtlager auf den Schlaf wartete – immer wieder durchgespielt. Er würde den Feldweg nach Black Cove heraufkommen und einen sehr erschöpften
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Eindruck machen. Seinem Gesicht und seinem Körper wäre alles anzusehen, was er durchgemacht hatte, aber nur so, dass es ihm einen heldenhaften Anstrich gab. Er wäre bereits gewaschen und sauber gekleidet. Ada würde ahnungslos auf die Veranda heraustreten, um irgend etwas zu erledigen. Sie würde ein schönes Kleid anhaben. Sie würde ihn erblicken und ihn sofort erkennen. Sie würde auf ihn zugelaufen kommen, und, wenn sie die Treppe hinuntereilte, die Röcke bis über ihre Schnürstiefel schürzen. Sie würde mit wehenden Unterröcken über den Hof und durch das Tor eilen, und noch ehe das Tor zuschnappte, wären sie einander auf der Straße um den Hals gefallen. Er hatte sich diese Szene so oft ausgemalt, dass er schließlich glaubte, sie könne gar nicht anders vonstatten gehen – es sei denn, er würde auf dem Heimweg erschossen. Diese Vorstellung von Heimkehr hatte seine Schritte beflügelt, als er gegen Mittag den Feldweg nach Black Cove hinaufgelaufen war. Er hatte seinen Teil zu ihrer Verwirklichung beigetragen, denn er war müde, aber sauber angekommen, nachdem er am Vortag – in dem Bewusstsein, dass er wüster aussah als der wildeste Maultiertreiber – an einem Bach haltgemacht hatte, um sich zu säubern und seine Kleider zu waschen. Das Wetter war für ein solches Unternehmen zwar recht kalt, doch er errichtete aus trockenen Holzscheiten ein Feuer, bis die Flammen schulterhoch loderten. Er erhitzte einen Topf Wasser nach dem anderen, bis es fast kochte, und wickelte seine Seife aus dem braunen Papier, das von dem Talg dunkel und fettig geworden war. Er schüttete das Wasser über die Kleider, rieb sie mit der Seife ein, wrang sie aus, schlug sie gegen Steine und spülte sie anschließend im Bach aus. Er hängte die Kleider zum Trocknen über Büsche in der Nähe des Feuers und begann sich dann selbst zu bearbeiten. Die braune, sandige Seife war so scharf, dass sie die Haut angriff. Er wusch sich mit Wasser, das so heiß war, wie er es gerade noch aushalten konnte, und schrubbte sich mit der Seife ab, bis seine Haut krebsrot war. Dann betastete er sein Gesicht und seine Haare. Seit er sich
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vor dem Blockhaus des Mädchens rasiert hatte, war ihm bereits wieder ein recht dichter Bart gewachsen, und die Haare standen ihm wild um den Kopf. Da er kein Rasiermesser besaß, musste der Bart bleiben. Und er schätzte, dass er, selbst wenn er Schere und Spiegel besessen hätte, ein schlechter Barbier gewesen wäre. Mit nichts weiter als einem Fahrtenmesser und einer stillen Stelle am Bachrand als Spiegel, konnte er auch an seiner Frisur nichts ausrichten. Es musste sich darauf beschränken, noch einmal Wasser zu erhitzen, sich die Haare einzuseifen und auszuspülen, sie mit den Fingern durchzukämmen und zu versuchen, sie am Kopf glattzustreichen, damit sie nicht so zum Fürchten aussahen. Nachdem er seine Waschaktion beendet hatte, verkroch er sich für den Rest des kühlen Tages nackt, aber sauber unter seinen Decken, während seine Kleider am Feuer trockneten. An der Stelle, wo er sein Lager aufgeschlagen hatte, rieselte nur vorübergehend Schnee aus dem Himmel und hörte bald wieder auf. Als er sich am nächsten Morgen ankleidete, rochen die Kleider zumindest nach Laugenseife, Bachwasser und Kastanienholz, statt nach Schweiß. Er hatte sich dann auf Nebenpfaden nach Black Cove aufgemacht und darauf geachtet, dass er erst ein oder zwei Biegungen unterhalb des Hauses auf dem offiziellen Feldweg rauskam. Als er das Haus erreichte, sah er zwar Rauch aus dem Schornstein steigen, aber keine anderen Anzeichen, die darauf hingedeutet hätten, dass hier Menschen waren. Die dünne Schneeschicht im Hof war unberührt. Er öffnete das Tor, ging zur Tür und klopfte an. Als niemand kam, klopfte er noch einmal. Er ging um das Haus herum und entdeckte zwischen Haus und Außenabort die Abdrücke von Männerstiefeln im Schnee. An der Wäscheleine hing ein steifgefrorenes Nachthemd. Die Hühner im Hühnerhaus flatterten auf, gackerten und beruhigten sich wieder. Er ging zur Hintertür und klopfte kräftig an, und kurz darauf wurde im oberen Stockwerk ein Fenster aufgerissen, und ein
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schwarzhaariger Junge steckte seinen Kopf heraus und fragte ihn, wer zum Teufel er sei und warum zum Teufel er einen solchen Radau mache. Es dauerte eine Weile, bis Inman den Jungen aus Georgia dazu gebracht hatte, an die Tür zu kommen und ihn hereinzulassen. Während sie vor dem Kamin saßen, hörte Inman die Geschichte von der Exekution. Der Junge hatte die Geschichte in seinem Kopf überarbeitet und verfeinert, bis sie sämtliche Details einer tollen Schießerei beinhaltete, bei der sich der Junge seinen Weg freigeschossen hatte, Stobrod und Pangle jedoch gefangen und getötet worden waren. Außerdem war Stobrods letztes Geigenstück in dieser neuesten Version eine Eigenkomposition gewesen, die er im vollen Bewusstsein des bevorstehenden Todes ersonnen hatte. Stobrod habe es Der Abschiedsgruß des Geigers genannt, und es sei das traurigste Lied gewesen, das er sich je ausgedacht hätte, und es habe allen Anwesenden die Tränen in die Augen getrieben, sogar seinen Mördern. Doch er selbst sei kein Musiker und könne die Melodie nicht wiedergeben, nicht einmal richtig pfeifen, und so sei sie leider für immer verloren. Er sei den ganzen Weg bis hierher gerannt, um den Frauen diese Geschichte zu überbringen, und sie hätten zum Dank dafür darauf bestanden, dass er sich so lange in dem Haus ausruhte und versorgte, bis er sich von dem Fieberfrost erholt hätte, den er sich bei seiner verzweifelten Flucht den Berg hinunter zugezogen habe. Es sei ein seltenes und, wenn er Pech habe, todbringendes Leiden, das aber äußerlich kaum wahrnehmbar sei. Inman stellte dem Jungen ein paar Fragen, merkte jedoch, dass er weder wusste, wer Monroe war, noch wo er sein könnte. Er konnte ihm auch keine Einzelheiten über Adas weibliche Begleiterin sagen – bis auf die Vermutung, dass sie die Tochter des Geigers sei. Der Junge hatte ihm die Strecke beschrieben, so gut er konnte, und Inman machte sich einmal mehr auf den Weg. Und so kam es, dass er ein weiteres Mal auf der Erde schlief. Er vermochte keinen klaren Gedanken zu fassen. Er lag neben
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dem Feuer, und die Gedanken kamen und gingen, ohne dass er Kontrolle über sie hatte. Inman befürchtete, ausgerechnet im ungünstigsten Augenblick schlappzumachen. Doch dann fragte er sich, wann wohl ein günstiger Augenblick wäre. Er wusste es nicht. Er versuchte, sich zu regelmäßigen Atemzügen zu zwingen. Wenn es ihm gelänge, seine Lungen unter Kontrolle zu bringen, würde er vielleicht auch seine Gedanken unter Kontrolle bringen können – doch es gelang ihm nicht einmal, seinen Brustkorb auf Befehl zu heben und zu senken, und so ging sein Atem weiterhin stoßweise, und seine Gedanken blieben verworren. Er glaubte, dass Ada ihn vielleicht aus seiner seelischen Not erretten und ihm helfen könnte, die vergangenen vier Jahre zu überwinden, und dass nun eine Zeit kommen könnte, in der dies möglich wäre. Er vermutete, dass man selbst zu seiner inneren Ruhe beitragen konnte, indem man an die Zukunft dachte und sich vorstellte, welch eine Freude es sein würde, seine Enkelkinder auf dem Schoss zu halten. Um wirklich glauben zu können, dass es dazu kam, brauchte es jedoch Vertrauen in die Ordnung der Dinge. Woraus sollte man aber Vertrauen schöpfen, wenn es nichts gab, worauf man vertäuen konnte? Eine dunkle Stimme in Inmans Innerem sagte ihm, dass es ihm immer verwehrt sein würde, so sehr er sich auch danach sehnen und darum beten mochte. Es konnte sein, dass die inneren Zerstörungen zu weit fortgeschritten waren. Dass man bis ins Mark von Angst und Haß zerfressen war. Zu solchen Zeiten hatte es keinen Sinn, auf Glaube und Hoffnung zu setzen. Dann blieb einem nichts mehr als der Tod und das kühle Grab. Wie Veasey behaupteten viele Prediger, sie könnten die Seelen der schlimmsten Sünder retten. Sie versprachen nicht nur Mördern und Dieben und Ehebrechern das Seelenheil, sondern selbst denen, die von Verzweiflung verzehrt waren. Doch Inmans dunkle Stimme mutmaßte, dass solche prahlerischen Behauptungen Lügen waren. Diese Männer konnten nicht einmal sich selbst davor bewahren, ein Leben in Sünde zu führen. Die falsche Hoffnung, die sie
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anboten, war so tödlich wie Schlangengift. Die einzige Art der Auferstehung, mit der ein Mensch rechnen konnte, war jene, die Veasey widerfahren war – als er tot an einem Seil aus dem Grab gezerrt worden war. An dem, was die dunkle Stimme ihm sagte, war etwas Wahres. Man konnte sich so in Bitterkeit und Zorn verrennen, dass es kein Zurück mehr gab. Für eine solche Reise gab es keine vorgezeichneten Wege. Das wusste Inman einerseits. Doch er wusste gleichzeitig, dass da Spuren im Schnee waren, und dass er ihnen, wenn er den morgigen Tag erlebte, folgen würde – wohin sie auch führten und so lange er einen Fuß vor den anderen setzen konnte. Das Feuer begann zu erlöschen, und er rollte die heißen Steine aus der Asche, streckte sich neben ihnen aus und schlief ein. Als er vor dem Morgengrauen durch die Kälte geweckt wurde, fand er sich an den größeren der beiden Steine geschmiegt wie an eine Geliebte. Sobald es zu dämmern begann, machte er sich auf den Weg. Mit den Augen konnte er keinen richtigen Pfad erkennen, höchstens eine Art Leere ahnen, in die es ihn hineinzog. Hätte er nicht den Spuren im alten Schnee folgen können, wäre es unmöglich gewesen, den Weg zu finden. Er hatte das Vertrauen in seinen Richtungssinn verloren, denn er hatte sich in den vergangenen Monaten immer dann verlaufen, wenn ihn nicht parallel zum Weg verlaufende Zäune daran gehindert hatten, in die Irre zu gehen. Die Wolken sanken tiefer. Dann wehte ein kleiner Wind hangabwärts und trug Schnee mit sich heran, der zu trocken und zu fein war, als dass man von Flocken hätte sprechen können. Eine Minute lang war er so hart, dass er ihm wie Nadeln ins Gesicht stach, doch in der nächsten war er bereits wieder versiegt. Inman hielt den Blick auf die Fußstapfen gerichtet, in denen der frische Schnee wie Streusand hängen blieb. Er gelangte zu einem schwarzen See, der rund wie ein Topfdeckel auf dem Boden saß. Die Ränder waren von Eis eingefaßt, und in seiner Mitte schwamm ein einsamer Erpel,
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der sich von Inman so wenig beeindrucken ließ, dass er nicht einmal den Kopf zu ihm hin drehte. Er schien ins Leere zu starren. Inman schätzte, dass sich die Welt des Erpels immer mehr um ihn herum zuschnüren und er dort treiben würde, bis das Eis an seinen Schwimmhäuten festklebte. Dann konnte er mit den Flügeln schlagen, so lange er wollte, er würde herabgezogen werden in den Tod. Inman dachte einen Augenblick daran, ihn zu erschießen und sein Schicksal wenigstens in einem kleinen Detail zu verändern, doch wenn er das tat, musste er in den See hineinwaten, um ihn zu holen, denn er mochte kein Tier töten, ohne es anschließend zu verzehren. Aber das brächte ihn in Konflikt mit seinem Vorsatz zu fasten. Also beschloss er, die Ente ihrem Schicksal zu überlassen, und ging weiter. Als der Pfad abermals bergan führte, begann es erneut zu schneien. Diesmal war es richtiger Schnee – in Flocken wie Distelwolle –, und er fiel so dicht und so schräg, dass es Inman schwindelig wurde. Die Spuren füllten sich mit Schnee und begannen wie Zwielicht zu verblassen. Er schritt rasch aus, erklomm einen Grat, und als die Spuren zu verschwinden drohten, fing er an zu laufen. Er rannte und rannte bergab durch dunkle Hemlocktannen. Er sah zu, wie sich die Fußstapfen füllten und verwischten. Er konnte so schnell laufen, wie er wollte, sie wurden immer undeutlicher, bis sie schließlich nur noch so schwach sichtbar waren wie die Narben alter Wunden. Dann wie Wasserzeichen im Papier, das man gegen ein Fenster hält. Und schließlich war die Schneedecke geschlossen und spurenlos. Der Schnee fiel immer noch in dichten Flocken, und obwohl Inman den Weg nicht einmal mehr ertasten konnte, rannte er weiter bis zu einer Stelle, wo er von schwarzen Hemlocktannen umringt war und die Welt in alle Richtungen gleich aussah und kein Geräusch zu hören war als auf Schnee fallender Schnee. Wenn er sich jetzt hinlegte, dachte er, würde ihn der Schnee zudecken, und wenn er schmolz, würde er die Tränen von seinen Augen waschen und schließlich die Augen
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aus seinem Kopf und die Haut von seinem Schädel. Ada und Ruby schliefen, bis Stobrod gurgelnd und keuchend zu husten anfing. Ada hatte sich in ihren Kleidern schlafen gelegt, und als sie erwachte, empfand sie es als komisches Gefühl, dass da Hosen um ihre Beine gewickelt waren. In der Hütte war es kalt und dämmerig, und das Feuer schwelte nur noch leicht. Das Licht draußen war seltsam marmoriert und sah nach Schnee aus. Ruby ging zu Stobrod hinüber. Ein dünner Streifen frischen Blutes rann von einem Mundwinkel bis in seinen Kragen. Er schlug die Augen auf, schien sie jedoch nicht zu erkennen. Ruby legte die Hand auf seine Stirn, sah Ada an und sagte: Er ist ganz heiß. Sie ging von einer Zimmerecke zur anderen und zog die dort hängenden Spinnweben herunter, bis sie ein ganzes Knäuel beisammen hatte, kramte dann in ihrer Tasche mit den Wurzeln herum, zog zwei davon hervor und sagte: Geh mir etwas Wasser holen, damit ich einen frischen Breiumschlag machen und ihn auf das Einschussloch an seiner Brust auftragen kann. Sie legte etwas Holz auf die glühende Asche und bückte sich, um das Feuer anzublasen. Ada nahm ihr Haar hoch und setzte sich den Hut darüber, damit es oben blieb. Sie holte sich einen Topf, füllte ihn am Bach mit Wasser und brachte ihn dem Pferd. Es trank ihn laut schlabbernd aus. Sie füllte den Topf ein zweites Mal und ging zur Hütte zurück. Aus dem trüben, tiefhängenden Himmel fiel dichter Schnee und überzog den Mantelärmel des ausgestreckten Armes, in dem Ada den Topf hielt, mit einer weißen Schicht. Eine Windbö klatschte ihr den Kragen ins Gesicht. Kurz vor der Hütte nahm sie an dem Hang, über den sie am vorhergehenden Nachmittag in das Dorf gekommen waren, eine leichte Bewegung wahr. Zwischen den kahlen, am Hang stehenden Bäumen pickte eine Herde von zehn oder zwölf wilden Truthühnern im Schnee herum. Ein großer Hahn, blassgrau wie eine Taube, führte sie an. Er machte jeweils ein oder zwei Schritte, blieb dann stehen, stocherte mit dem
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Schnabel im Schnee und bewegte sich wieder ein Stück vorwärts. Als die Truthühner den Hügel emporstiegen, neigten sie sich nach vorn, so dass ihr Rücken fast parallel zum Boden war. Ihr Gang wirkte schleppend – wie bei alten Männern, die mit Tragriemen um die Brust Lasten hinter sich herziehen. Anders als Haustruthühner hatten sie lange, schlanke Körper. Ada schlich vorsichtig weiter bis zur Hütte, wo sie den Blicken der Vögel entzogen war. Sie ging hinein und stellte den Topf ans Feuer. Stobrod lag reglos da. Seine Augen waren geschlossen, und sein Gesicht war aschgrau wie kaltes Schmalz. Ruby, die neben ihm gesessen hatte, erhob sich, um das Wasser aufzusetzen und die Kräuterwurzeln vorzubereiten. — Auf dem Hang da drüben sind Truthühner, sagte Ada zu Ruby, während diese sich über ihre Arbeit beugte und die Wurzeln schälte und zerhackte. Ruby blickte auf: Ich hätte nichts dagegen, mein Kinn mit dem Fett von 'nem Truthahnschlegel zu beschmieren, sagte sie. Die Schrotflinte ist geladen, beide Läufe. Geh uns eins schießen. — Ich habe noch nie mit einem Gewehr geschossen, sagte Ada. — Das ist so ziemlich das einfachste, was man sich vorstellen kann. Spann die beiden Hähne, leg das Gewehr an, bring Kimme und Korn auf eine Linie, drück einen der beiden Abzüge und mach dabei bloß nicht die Augen zu. Wenn du danebenschießt, drück den anderen Abzug. Preß den Gewehrschaft fest an die Schulter, sonst zerschmettert er dir beim Rückstoß womöglich das Schlüsselbein. Beweg dich langsam, denn wilde Truthühner verschwinden, ehe du dich versiehst. Wenn du nicht bis auf mindestens zwanzig Schritt an sie herankommst, brauchst du gar nicht erst eine Ladung zu vergeuden. Ruby begann die Wurzelstücke mit der flachen Seite ihres Messers auf einem Stein zu zerreiben. Als sich Ada nicht vom Fleck rührte, blickte sie noch einmal auf. Sie sah die Unschlüssigkeit in Adas Gesicht.
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Ruby sagte: Zerbrich dir nicht lange den Kopf. Das Schlimmste, was passieren kann, ist, dass du danebenschießst, und es gibt auf der ganzen Welt keinen Jäger, dem das noch nie passiert ist. Also los. Ada stieg so vorsichtig und behutsam wie möglich die Böschung hinauf. Die Truthühner zockelten in einiger Entfernung von ihr durch den Kastanienhain hügelan. Sie bewegten sich in die gleiche Richtung wie der vom Wind angetriebene Schnee. Scheinbar seelenruhig überquerten sie den Hügel. Jedesmal, wenn der graue Hahn etwas zu fressen fand, scharten sie sich zusammen, pickten an dieser Stelle am Boden herum und watschelten dann weiter. Ada wusste, dass Ruby unrecht hatte, wenn sie behauptete, sie könne nicht mehr als danebenschießen. Jeder in der Gemeinde kannte die Geschichte von der Kriegswitwe, die ein Stück flussabwärts lebte. Die Frau war im vergangenen Winter auf einen Hochstand geklettert, und dabei war ihr die Flinte heruntergefallen. Beim Aufprall war ein Schuss losgegangen, mit dem sie sich sozusagen selbst von dem Baum heruntergeschossen hatte. Sie konnte von Glück sagen, dass sie überlebt hatte, um den Spott davonzutragen. Die Frau brach sich bei dem Sturz ein Bein und konnte seitdem nicht mehr richtig laufen. Außerdem hatte der grobe Schrot auf ihren Wangen zwei Wunden hinterlassen, die aussahen wie Pockennarben. Während Ada beunruhigende Gedanken über die Folgen schlechter Jagdkünste im Kopf bewegte, schlich sie sich zaghaft den Hang hinauf. Die Schrotflinte kam ihr allzu lang und kopflastig vor und schien in ihren Händen zu zittern. Sie versuchte, einen Bogen um die Truthühner zu schlagen, um dann auf der gegenüberliegenden Seite auf sie zu warten, doch die Tiere änderten die Richtung und kletterten auf direkterem Wege den Hang hinauf. Sie folgte ihnen eine Weile, indem sie weiterging, wenn die Truthühner weitergingen und stehenblieb, wenn sie stehenblieben. Sie versuchte sich beim Laufen geräuschlos und ruhig zu bewegen. Sie setzte jeden
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Fuß ganz langsam auf, wobei der Schnee ihre Schritte dämpfte. Sie war froh, dass sie Hosen trug, denn mit einem langen Rock und Unterröcken wäre es unmöglich gewesen, sich unauffällig zu verhalten. Das wäre nicht viel anders gewesen, als wenn sie mit einer Steppdecke wedelnd durch den Wald gestapft wäre. Ada befürchtete, dass die Vögel trotz aller Behutsamkeit verschwinden würden, wie Ruby es vorhergesagt hatte. Sie ließ sie nicht aus den Augen, blieb geduldig und hatte sich den Tieren schließlich ungefähr bis auf die von Ruby empfohlene Entfernung genähert. Die Truthühner hielten inne und drehten die Köpfe, um sich umzuschauen. Ada blieb stehen, doch sie sahen sie nicht. Sie pickten weiter futtersuchend im Schnee herum. Ada schätzte, dass sie kaum eine günstigere Schussgelegenheit bekommen würde, und so legte sie langsam die Flinte an und zielte auf die hinterdrein zottelnden Vögel. Sie drückte ab, und zu ihrer Überraschung fielen zwei Truthühner zu Boden. Die anderen flatterten zu Tode erschrocken tief über dem Boden davon. In ihrer Panik flogen sie den Hügel hinunter und geradewegs auf Ada zu. Einen Moment lang stürmten zwei Zentner Vögel um Adas Kopf herum durch die Luft. Sie suchten in einem Lorbeerrosendickicht Schutz, und Ada blieb stehen und holte endlich wieder Luft. So sehr sie sich bemühte, konnte sie sich nicht an einen Rückstoß erinnern, obwohl sich ihre Schulter taub anfühlte. Obgleich sie noch nie zuvor eine Feuerwaffe in die Hand genommen hatte, und dies ihr erster Schuss gewesen war, war ihr aufgefallen, dass der Mechanismus der Schrotflinte nicht präzise funktionierte – dass der Abzugsweg lang war, und es beim Abdrücken irgendwann knackte und man nicht mit Sicherheit wissen konnte, an welchem Punkt der Abzug den Schuss auslöste. Sie betrachtete die verschnörkelten Gravuren auf der Flinte, die Reben und Blätter darstellten, und die fein geschwungenen Hähne, mit denen dieses Motiv fortgeführt wurde. Sie entspannte behutsam den zweiten Hahn.
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Als Ada bei den erlegten Vögeln anlangte, stellte sie fest, dass es ein Huhn und ein junger Hahn waren. Ihre Federn glänzten metallisch, und die Krallen eines der schuppigen Füße des Huhns gingen im Schnee immer noch auf und zu. Inman hörte unweit von der Stelle, an der er stand, einen Schuss. Er spannte den Haupthahn des LeMat und ging weiter. Als er aus dem Schatten der dichten Hemlocktannen herausgetreten war, gelangte er zu einem mit Kastanienbäumen bestandenen Hang, an dessen Fuß sich irgendwo ein gurgelnder Bach befand. Das Licht war schwach und fahl, und der Schnee hatte auf den Ästen der Kastanien weiße Hauben hinterlassen. Er stieg zu ihnen hinunter und stellte fest, dass die Bäume zwischen sich eine Lücke bildeten, indem die schwarzen Stämme beidseitig reihenförmig angeordnet waren und die weißen Zipfel der oberen Äste aneinanderstießen, so dass sie einen Tunnel formten. Der Zwischenraum wirkte wie ein Durchgang, obwohl dort nie ein Weg gewesen war. Der Schnee fiel in dichten Flocken und ließ sämtliche Einzelheiten verschwimmen. Obwohl Inman durch das Schneegestöber hindurch nur bis zum dritten Baum klar sehen konnte, schien am Ende des Durchgangs ein von verschneiten Ästen umrahmter, schwacher Lichtkreis zu schimmern. Er hielt den Revolver locker in der Hand, die Mündung nach vorn, aber in keine bestimmte Richtung. Sein Finger hatte den Abzug durchgezogen, so dass er die Spannung des Hammers spüren konnte. Er ging weiter, und kurz darauf wurde in dem Licht vor ihm eine Gestalt sichtbar, eine schwarze, von den Ästen eingerahmte Silhouette. Sie stand mit gespreizten Beinen am anderen Ende des Kastanientunnels, und als sie ihn erblickte, richtete sie ein langes Gewehr auf ihn. Es war so still, dass Imnan das Klicken von Metall hören konnte, als ein Hahn gespannt wurde. Ein Jäger, dachte Inman: Ich habe mich verlaufen, rief er der Gestalt zu. Und außerdem wissen wir noch nicht genug voneinander, um uns gegenseitig zu beschießen.
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Er ging langsam vorwärts. Als erstes erblickte er die nebeneinander auf dem Boden liegenden Truthühner. Dann sah er Adas schönes Gesicht – über einer mit einer merkwürdigen Hose bekleideten Gestalt. Sie sah aus wie ein großer Junge. — Ada Monroe? sagte Inman. Ada?
Sie antwortete nicht, sondern sah ihn nur an.
Nach dem, was er in letzter Zeit erlebt hatte, war er geneigt,
seinen Sinnen eher nicht zu trauen. Er glaubte, dass seine Gedankenwelt auf Abwege geraten sein müsse, und dass in seinem Kopf nicht mehr Ordnung herrschte als bei einem Haufen blinder Welpen in einer Wurfkiste. Was er vor sich sah, waren womöglich irgendwelche Lichtspiegelungen, die auf einen verwirrten Geist einwirkten, böse, Gestalt gewordene Geister, die über ihn gekommen waren, um ihn zu narren. Es kam häufig vor, dass Menschen im Wald einem Spuk aufsaßen, selbst solche mit vollen Bäuchen und klarem Verstand. Sie sahen Lichter tanzen, wo gar keine Lichter sein konnten, oder Gestalten zwischen Bäumen herumhuschen, die längst gestorben waren, und sie hörten Stimmen, die vor langer Zeit verstummt waren – alles Trugbilder der geheimsten Wünsche, die einen in die Irre lockten, bis man elend in einer Berglorbeerhölle verreckte. Inman zog den zweiten, kleineren Hahn für den Schrotlauf des LeMat zurück. Ada war verwirrt, als sie ihren Namen hörte. Sie ließ die Mündung ihrer Flinte, die auf Inmans Brust gerichtet gewesen war, ein paar Zentimeter sinken. Sie starrte ihn an, erkannte ihn aber nicht. Er sah aus wie ein Bettler in ausrangierten Kleidern, wie ein Vogelscheuchengerüst mit übergestreiften Lumpen. Sein Gesicht oberhalb des Stoppelbarts war abgehärmt und eingefallen, und er starrte sie aus seltsam glänzenden, schwarzen Augen an, die im Schatten seiner Hutkrempe tief in den Höhlen lagen. Sie standen sich argwöhnisch gegenüber, ungefähr in dem Abstand, wie ihn Duellanten einzunehmen pflegen. Inman versuchte zu ergründen, ob sein eigener oder ein
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fremder Geist ihm Ada vorspiegelte. Ihr Gesicht war fester, als er es in Erinnerung hatte, härter. Doch je länger er hinsah, um so mehr glaubte er, dass sie es wirklich war, trotz der ungewöhnlichen Bekleidung. Nachdem er seine Waffe manches Mal in der Vergangenheit ohne Rücksicht auf die Folgen gezogen hatte, beschloss er nun, sie genauso ohne Rücksicht auf die Folgen wegzustecken. Er entspannte den Hahn wieder, schob seine Jacke zur Seite und steckte den Revolver in seinen Hosenbund. Er schaute ihr in die Augen und wusste, dass sie es war, und die Liebe, die ihn überwältigte, war wie ein Brausen in seiner Seele. Er wusste nicht, was er sagen sollte, und so sagte er, was er damals in dem Zigeunerlager im Traum gesagt hatte: Ich habe einen schweren Weg zurückgelegt, um zu dir zu kommen, und jetzt lasse ich dich nie mehr los. Doch irgend etwas hielt ihn davon ab, zu ihr hinzugehen und sie zu umarmen. Es war nicht nur die Schrotflinte, die ihn zurückhielt. Den Tod fürchtete er nicht. Er konnte einfach keinen Schritt nach vorn machen. Er hielt seine leeren Hände mit den Handflächen nach oben seitlich von sich. Ada erkannte ihn noch immer nicht. Sie hielt ihn für einen Verrückten, der da im Sturm umherwanderte, mit einem Rucksack auf dem Rücken, mit Schnee im Bart und auf der Hutkrempe, und der allem, was vor ihm auftauchte – ob Fels, Baum oder Bach –, wirre und zärtliche Worte zurief. Einer, der imstande war, einem die Gurgel durchzuschneiden, würde Ruby sagen. Ada legte die Flinte wieder an, so dass sie nur abzudrücken brauchte, um ihn zu zerschmettern. — Ich kenne Sie nicht, sagte sie. Inman hörte die Worte, und sie erschienen ihm berechtigt. Vollkommen gerechtfertigt und irgendwie auch erwartet. Er dachte: Vier Jahre im Krieg, und nun, da ich wieder auf heimatlichem Boden bin, bin ich nur mehr ein unwillkommener Fremder. Ein vagabundierender Pilger in meiner eigenen Heimat. Das ist der Preis, den ich für die vergangenen vier Jahre zu zahlen habe. Feuerwaffen zwischen
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mir und allem, was ich haben möchte. — Ich muss mich getäuscht haben, sagte er. Er wandte sich zum Gehen. Weiter zu den Shining Rocks, um zu sehen, ob sie ihn einließen. Wenn nicht, würde er Veaseys Idee aufgreifen und nach Texas gehen oder in Landesteile, die noch freier waren, falls es das gab. Doch vor ihm war kein Pfad, dem er hätte folgen können. Nur Bäume und Schnee und seine eigenen, beinahe schon wieder zugeschneiten Fußstapfen. Er drehte sich wieder zu ihr hin, streckte abermals seine leeren Hände aus und sagte: Wenn ich wüßte, wohin, würde ich mich auf den Weg machen. Vielleicht war es der Klang seiner Stimme, der Blickwinkel, aus dem sie sein Profil sah. Irgend etwas. Die Länge seiner Unterarmknochen, die Form der Knöchel unter der Haut seiner Hände. Jedenfalls erkannte Ada ihn plötzlich oder glaubte ihn zumindest zu erkennen. Sie ließ das Gewehr so weit sinken, dass ihn ein Schuss nur noch am Knie getroffen hätte. Sie sagte seinen Namen, und er sagte: Ja. Dann brauchte Ada nur noch in sein abgehärmtes Gesicht zu sehen, um zu erkennen, dass da kein Verrückter vor ihr stand, sondern Inman. Er war schwer angeschlagen und übel zugerichtet, war erschöpft und zu einem Gerippe abgemagert, doch er war dennoch Inman. Mit dem Stempel des Hungers auf seiner Stirn wie ein über ihm schwebender Schatten. Voll Sehnsucht nach Wärme, Güte, Essen. In seinen tiefliegenden Augen konnte sie sehen, dass der lange Krieg und der anstrengende Heimweg seinen Geist ausgehöhlt und sein Herz hinter den Bögen seiner Rippen mit Ketten beschwert hatte. Tränen traten ihr in die Augen, doch sie musste nur einmal blinzeln, um sie zu verscheuchen. Sie ließ das Gewehr sinken und entspannte den Hahn. — Komm mit mir, sagte sie. Sie legte die Truthahnfüße nebeneinander und nahm beide Vögel gleichzeitig in eine Hand, so dass ihre Flügel aufklappten, ihre Köpfe nach unten baumelten und sich ihre
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langen Hälse ineinander verschlangen wie in seltsamer, auf den Kopf gestellter Liebe. Sie setzte sich in Gang, das Gewehr mit dem Kolben nach hinten über der Schulter, den Lauf locker in der hochgehaltenen linken Hand. Inman folgte ihr, und er war so müde, dass ihm nicht einmal der Gedanke kam, ihr einen Teil ihrer Last abzunehmen. Sie schlängelten sich durch die Kastanien den Hang hinunter, und bald darauf kam der Fluss mit seinen bemoosten Steinen in Sicht, und ein Stück dahinter das Dorf. Aus dem Schornstein von Rubys Hütte stieg Rauch, und sein Geruch zog durch den Wald. Ada redete unterwegs in dem gleichen Tonfall mit Inman, den Ruby anzuschlagen pflegte, wenn das Pferd nervös war. Es war ziemlich egal, welche Worte man gebrauchte. Man konnte sagen, was einem gerade in den Sinn kam. Ob man sich über das Wetter ausließ oder Verse aus der Ballade vom alten Seemann rezitierte, war vollkommen gleichgültig. Wichtig war nur der beruhigende Ton, die tröstliche Stimme eines Genossen. Ada redete deshalb vom Erstbesten, was ihr in den Sinn kam. Sie zählte die Merkmale der gegenwärtigen Szene auf. Angefangen mit sich selbst, die sie in dunkler Jägermontur mit geschossenem Wild über bewaldete Hügel zurückkehrte, über das Dorf weiter unten mit Hütten, aus denen Rauch aufstieg, bis zu den blauen Bergen ringsherum. — Fehlen nur noch das Strohfeuer und ein paar Menschen, dann hätte man Bruegels Jäger im Schnee, sagte Ada. Und sie erzählte weiter drauflos, wie sie das Bild vor Jahren auf ihrer Europareise mit Monroe gesehen habe. Ihm hatte alles daran mißfallen – ihm war es zu schlicht gewesen, die Farben zu gedämpft, und er hatte moniert, dass jeder Bezug zu einer Welt außerhalb des Bildes fehlte. Kein italienischer Maler hätte Interesse daran, so etwas zu malen, war Monroes Meinung gewesen. Ada hingegen war von dem Bild gefesselt gewesen und hatte es eine Weile aus allen Blickwinkeln betrachtet, letztlich aber nicht den Mut gefunden zu sagen, was
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sie empfand – denn die Gründe, weshalb ihr das Bild gefiel, waren haargenau die gleichen, die Monroe angeführt hatte, um sein Mißfallen zu begründen. Inmans Hirn war zu umnebelt, um ihr folgen zu können. Er hörte nur heraus, dass sie von Monroe sprach, als wäre er tot, und dass sie genau zu wissen schien, was sie wollte, und dass irgend etwas in ihrer Stimme sagte: Jetzt, in diesem Augenblick, weiß ich mehr als du, und was ich weiß, ist, dass sich alles zum Guten wenden könnte.
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Das Ende des Tunnels
Dank des im Kamin prasselnden Feuers war es in der Hütte hell und mollig warm, und bei geschlossener Tür ließ es sich kaum ausmachen, ob es draußen Morgen oder Nacht war. Ruby hatte Kaffee gemacht. Während Ada und Inman ihn tranken, saßen sie so nahe am Feuer, dass der geschmolzene Schnee auf ihren Mänteln zu dampfen begann. Sie redeten kaum miteinander, und der Raum wirkte mit den vier Leuten darin winzig. Ruby stellte eine Schale Maisgrütze als Frühstück neben Inman auf den Boden, nahm aber ansonsten kaum Notiz von ihm. Stobrod kam kurz zu Bewusstsein und drehte seinen Kopf hin und her. Als er die Augen öffnete, konnte man in ihnen seine Verwirrung und seine Schmerzen erkennen. Dann lag er wieder reglos da. — Er weiß nicht, wo er ist, sagte Ada. — Wie sollte er auch? entgegnete Ruby. Stobrod sagte mit geschlossen Augen in den Raum hinein: Damals war überall Musik. Er ließ den Kopf sinken und schlief wieder ein. Ruby ging zu ihm, streifte ihren Ärmel zurück und legte ihr Handgelenk an seine Stirn. — Feuchtkalt, sagte sie. Das kann ein gutes oder ein schlechtes Zeichen sein. Inman sah zu der Schale mir der Grütze hinunter und konnte sich nicht entscheiden, ob er sie aufnehmen sollte oder nicht. Er stellte die Kaffeetasse daneben. Er versuchte, zu überlegen, was jetzt als nächstes geschehen sollte. Doch er konnte vor Müdigkeit, die von der Wärme noch verstärkt wurde, kaum noch die Augen offen halten. Sein Kopf nickte ruckweise, und
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ihm verschwamm immer wieder alles vor den Augen. Da war so vieles, was er wollte, doch was er als erstes brauchte, war Schlaf. — Der sieht völlig fertig aus, sagte Ruby. Ada breitete eine Decke aus und machte Inman auf dem Boden ein Lager zurecht. Sie führte ihn dahin und versuchte ihm beim Aufziehen der Schnürsenkel und aus dem Mantel zu helfen, doch er sträubte sich dagegen. Er streckte sich aus und schlief, bekleidet wie er war, sofort ein. Ada und Ruby schürten das Feuer und ließen die zwei Männer allein. Während Inman und Stobrod schliefen, schneite es pausenlos, und die Frauen brachten eine kalte und fast wortlose Stunde damit zu, Holz zu sammeln, eine weitere Hütte zu säubern und Tannenäste zu schlagen, um ein kleines Loch in dem alten Dach aus Rindenschindeln zu flicken. Der gesamte Boden dieser Hütte war mit toten Käfern übersät – vertrockneten, blasigen Viechern. Sie knirschten und zerplatzten unter ihren Füßen. Irgendwelche in Hütten lebende Insekten altertümlicher Machart. Ada fegte sie mit einem Zedernwedel zur Tür hinaus. In dem auf dem Boden herumliegenden Gerümpel fand sie einen alten Holzbecher. Oder eher eine Schale. Die Form war nicht genau zu bestimmen. An einer Stelle, wo das Holz getrocknet war, hatte das Gefäß einen breiten, mit Bienenwachs zugeschmierten Riss, das jetzt verhärtet und brüchig war. Sie betrachtete die Maserung und dachte: Hartriegelholz. Sie stellte sich vor, wie das Gefäß hergestellt, verwendet und dann geflickt worden war, und sie beschloss, die Schale aufzustellen – als Gedenkstück für das viele, was verlorengegangen war. In der Hüttenwand befand sich eine kleine Nische, ein aus dem Holzbalken ausgestemmtes Bord. Dort stellte Ada die Schüssel auf wie Menschen in anderen Teilen der Erde Heiligenbilder oder kleine geschnitzte Tierfiguren aufstellten. Als die Hütte sauber war und das Dach geflickt, rückten sie die Tür vor die Öffnung und machten mit allen Arten von
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Ästen und Zweigen, die sie im Schnee finden konnten, ein starkes Feuer im Kamin. Als es brannte, bauten sie aus kreuz und quer übereinandergeschichteten Hemlocktannenästen ein hohes Lager und breiteten darüber eine Steppdecke aus. Dann rupften sie die Truthühner, nahmen sie aus und häuften die Innereien in ein großes, gebogenes, von einem umgestürzten Kastanienstamm abgeschältes Rindenstück. Ada warf die Rinde mitsamt ihrem Inhalt am Fluss hinter einen Baum. Er sah eklig aus, dieser rosa- und graufarbene Haufen im Schnee. Sobald das Feuer nur noch glühte, legten sie frische Hickoryzweige zum Räuchern darauf. Sie spießten die Truthühner auf angespitzte Zweige und grillten sie den ganzen Tag lang über einem milde schwelenden Feuer und sahen zu, wie die Haut allmählich dunkelbraun wurde. Die Hütte war warm und schummerig, und es roch nach Hickoryrauch und Truthahnfleisch. Durch die geflickte Stelle im Dach rieselte bei jedem Windzug Schnee um sie herum nieder und schmolz beim Auftreffen auf dem Boden. Sie saßen lange nebeneinander vor dem Feuer, schweigend und ohne sich zu rühren – nur Ruby ging gelegentlich hinaus, um in der anderen Hütte Holz nachzulegen und mit dem Handgelenk Stobrods Temperatur zu messen. Als es zu dämmern begann, saß Ruby mit dem Profil zu Ada am Feuer, die Knie abgewinkelt und die Hände auf den Knien. Sie hatte eine Decke um sich gewickelt, die sich straff und flach wie ein Bettuch über ihren Schoss spannte. Sie schnitzte mit ihrem Messer an einem Hickoryzweig herum, bis er eine scharfe Spitze hatte. Dann stach sie damit gereizt in die Truthühner, bis klarer Saft aus der rauhen Haut rann und spritzend und zischend auf die Glut tropfte. — Ist irgendwas? fragte Ada. Ruby sagte: Ich habe dich heute morgen da drüben mit ihm beobachtet, und seither mache ich mir Gedanken. — Über ihn? fragte Ada. — Über dich. — Was für welche denn?
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— Ich habe versucht dahinterzukommen, was in deinem Kopf vorgeht. Aber ich kriege es einfach nicht zu fassen. Also werde ich jetzt einfach frei heraus sagen, was ich denke. Dass wir nämlich auch ohne ihn zurechtkommen. Du denkst vielleicht, wir schaffen es nicht, aber wir können es schaffen. Wir sind gerade erst am Anfang. Ich habe ein genaues Bild im Kopf, wie die Farm einmal aussehen muss. Und ich weiß, was getan werden muss, um das zu erreichen. Was wir anbauen müssen und welche Tiere wir brauchen. Was mit dem Land und den Gebäuden geschehen muss. Es wird eine ganze Weile dauern, bis alles soweit ist. Aber ich weiß, wie es zu schaffen ist. Ob im Krieg oder Frieden, es gibt nichts, was wir nicht allein schaffen können. Du brauchst ihn nicht. Ada blickte ins Feuer. Sie tätschelte Rubys auf dem Knie liegende Hand, dann ergriff sie sie und rieb mit dem Daumen fest über den Handteller, bis sie die Sehnen unter der Haut spürte. Sie zog einen ihrer Ringe ab, steckte ihn an Rubys Hand und hielt sie an den Feuerschein, damit sie ihn betrachten konnte. Ein großer, in Gold gefaßter Smaragd mit kleineren Rubinen drumherum. Ein Geschenk, das ihr Monroe vor Jahren zu Weihnachten gemacht hatte. Es sah so aus, als wollte Ada den Ring an Rubys Finger steckenlassen, doch Ruby streifte ihn ab und steckte ihn energisch an Adas Finger zurück. — Du brauchst ihn nicht, sagte Ruby. — Ich weiß, dass ich ihn nicht brauche, sagte Ada. Aber ich glaube, ich will ihn. — Das ist natürlich was anderes. Da Ada nicht wusste, wie sie fortfahren sollte, schwieg sie, dachte dabei aber angestrengt nach. Dinge, die ihr in ihrem bisherigen Leben unvorstellbar gewesen waren, schienen auf einmal möglich – und nicht nur möglich, sondern notwendig. Sie dachte, dass Inman zu lange allein gewesen war, zu lange ein Deserteur. Ohne tröstende menschliche Berührung, ohne eine liebevolle Hand, die sich sanft und warm auf Schulter, Rücken oder Bein legte. Und mit ihr stand es nicht anders.
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— Was ich mit Sicherheit nicht erleben möchte, sagte sie schließlich laut, ist, dass ich mich eines Tages in einem neuen Jahrhundert wiederfinde und als alte, verbitterte Frau zurückblicke und mir wünsche, ich hätte jetzt, in diesem Augenblick, mehr Mumm gehabt. Es war bereits dunkel, als Inman erwachte. Das Feuer war niedergebrannt und erhellte die Hütte nur noch mit einem schwachen Schein. Es ließ sich nicht feststellen, wie weit die Nacht vorgeschritten war. Im ersten Moment konnte er sich nicht einmal mehr genau erinnern, wo er sich befand. Es war so lange her, dass er zwei Nächte hintereinander am gleichen Ort geschlafen hatte, dass er still daliegen musste, um zu überlegen, wann er zum letztenmal in einem ihm bekannten Bett gelegen hatte. Er richtete sich auf, brach Äste entzwei und warf sie auf die Glut. Dann blies er sie an, bis neue Flammen aufloderten und Schatten an die Wände warfen. Erst da war er imstande, mit Sicherheit sagen zu können, an welchem Ort er sich befand. Inman vernahm Atemgeräusche, ein gurgelndes Röcheln. Er drehte sich um und erblickte Stobrod auf seiner Schlafstelle, dessen geöffnete Augen im Licht schwarz schimmerten. Inman versuchte sich zu erinnern, wer der Mann war. Man hatte es ihm gesagt, doch es fiel ihm nicht ein. Als Stobrod den Mund bewegte, wurde ein trockenes Schmatzen laut. Er sah Inman an und lallte: Irwo Wasser? Inman sah sich um, entdeckte aber weder Kübel noch Krug. Er erhob sich und strich sich mit den Händen über das Gesicht und durch die Haare. — Ich bringe Ihnen was zu trinken, sagte er. Er ging zu seinem Tornister, zog seine Wasserflasche heraus, schüttelte sie und stellte fest, dass sie leer war. Er steckte den Revolver in seinen Brotbeutel und hängte ihn sich über die Schulter. — Ich bin gleich wieder da, sagte er. Er schob die Tür ein Stück zur Seite. Draußen war finstere Nacht, und durch die Türöffnung wehte Schnee herein.
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Inman wandte sich um und fragte: Wo sind sie hingegangen? Stobrod lag mit geschlossenen Augen da. Er machte keine Anstalten, ihm eine Antwort zu geben, sondern zuckte nur zweimal leicht mit dem Zeige- und Mittelfinger seiner neben der Decke liegenden Hand. Inman trat hinaus, rückte die Tür wieder vor die Öffnung und wartete, bis sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten. In der Luft lag ein schneidender, metallischer Geruch von Kälte und Schnee. Und die sich überlagernden Gerüche von Holzrauch und nassen Flussteinen. Als Inman genug sehen konnte, ging er ans Wasser hinunter. Der Schnee, durch den er stapfte, reichte ihm bis ans Schienbein. Der Bach sah schwarz und abgrundtief aus und kam ihm vor, als strömte er eine tiefe, zum Herzen der Welt führende Ader entlang. Als er in die Hocke ging und die Flasche eintauchte, um sie aufzufüllen, fühlte sich das Wasser an seiner Hand und seinem Handgelenk wärmer an als die Luft. Als er sich auf den Rückweg machte, sah er durch die Ritzen der Hütte, in der er geschlafen hatte, gelbe Lichtstreifen schimmern. Und ebenso aus einer anderen Hütte weiter unten am Fluss. Der Geruch gebratenen Fleisches stieg ihm in die Nase, und er verspürte plötzlich einen Bärenhunger. Inman ging wieder hinein, hob Stobrods Kopf ein Stück an und träufelte ihm Wasser in den Mund. Kurz darauf stützte sich Stobrod auf die Ellbogen und trank, und Inman hielt ihm die Flasche, bis er sich verschluckte und hustete. Dann trank er weiter. Er hielt den Kopf hoch, den Mund aufgerissen, den Hals gereckt. Seine Gurgel bewegte sich beim Schlucken auf und ab. Stobrods Gebaren, sein struppiges Haar, der stoppelige Bart und der blinde Blick in seinen Augen erinnerten Inman an einen frisch geschlüpften, mit der gleichen schwachen und beängstigenden Lebensgier erfüllten Nestling. Inman sah diese nicht zum erstenmal, hatte aber auch das Gegenteil erlebt – den Willen zu sterben. Auf Verwundungen reagierten Männer völlig unterschiedlich. Inman hatte in den letzten Jahren so viele Männer mit Schussverletzungen
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gesehen, dass es ihm ganz natürlich erschien, wenn einer angeschossen war. Ein ganz normaler Zustand. Er hatte Einschüsse in jeden Teil des Körpers gesehen, der angeschossen werden konnte. Und er hatte alle erdenklichen Reaktionen auf Schussverletzungen gesehen – vom sofortigen Tod über wilde Schmerzensschreie bis zu einem Mann bei Malvern Hill, der, als aus seiner zerfetzten rechten Hand Blut tropfte, in dröhnendes Gelächter ausbrach, weil ihm klar war, dass er nicht sterben würde, aber fortan außerstande sein würde, den Abzug zu drücken. Inman konnte nicht beurteilen, welches Schicksal Stobrod ereilen würde, weder nach dem Ausdruck in seinem Gesicht, noch nach dem Zustand seiner Wunde, die, wie er bei genauerer Untersuchung feststellte, trocken und mit Spinnweben und Wurzelschnitzeln bestrichen war. Stobrod fühlte sich heiß an, doch Inman hatte längst aufgegeben, vorherzusagen, ob ein Verletzter sterben würde oder nicht. Die Erfahrung hatte ihm gezeigt, dass es schwere Wunden gab, die verheilten, und kleine, die anfingen zu eitern. Jede Wunde konnte oberflächlich verheilen, sich darunter jedoch immer tiefer in das Körperinnere eines Menschen hineinfressen, bis sie ihn ganz zerstört hatte. Warum das so war, war wie vieles andere im Leben nicht logisch zu erklären. Inman schürte das Feuer, und als es in der Hütte hell und warm war, ließ er Stobrod schlafen und ging hinaus. Er stapfte in seinen eigenen Spuren noch einmal an den Fluss, schöpfte mit den hohlen Händen Wasser und spritzte es sich ins Gesicht. Er riss einen Buchenzweig ab, zerfranste das Ende mit dem Daumennagel und putzte sich die Zähne. Dann ging er zu der anderen erleuchteten Hütte hinüber. Er stellte sich davor und horchte, konnte aber keine Stimmen hören. Der Duft von gebratenem Putenfleisch schwebte in der Luft. Inman rief: Hallo? Er wartete, und als keine Antwort kam, rief er noch einmal. Dann klopfte er an die Tür. Ruby schob sie eine Handbreit
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zur Seite und sah hinaus. — Oh, sagte sie, als hätte sie jemand anderen erwartet. — Ich bin aufgewacht, sagte er. Ich weiß nicht, wie lange ich geschlafen habe. Der Mann da drin wollte Wasser, und ich habe ihm was gegeben. — Sie haben mindestens zwölf Stunden geschlafen, sagte Ruby. Sie rückte die Tür zur Seite, um ihn einzulassen. Ada saß im Schneidersitz vor dem Feuer, und als Inman eintrat, sah sie zu ihm auf. Das gelbe Licht schien ihr auf das Gesicht, und ihr dunkles Haar hing offen über ihre Schultern. Inman fand den Anblick so überwältigend, dass er einen Augenblick lang regelrecht außer Fassung war. Sie sah so wunderschön aus, dass er ganz heiße Wangen bekam. Es tat so weh, dass er einen Fingerknöchel in die Haut unter seinem Auge preßte. Er wusste nicht, wohin mit sich. Ihm schien keine der üblichen Benimmregeln angebracht zu sein, höchstens, den Hut abzunehmen. In einer Indianerhütte im Schneesturm boten sich nicht viele Anstandsregeln als Stütze, zumindest keine, die er gekannt hätte. Er beschloss, dass eigentlich nichts dagegen sprach, sich neben Ada zu setzen. Doch kaum hatte er diesen Entschluß gefaßt und seinen Brotbeutel in die Ecke gestellt, erhob sie sich, trat dicht an ihn heran und tat etwas, was er, so wusste er, niemals vergessen würde. Sie faßte hinter ihn und legte ihm eine Hand aufs Kreuz. Die andere Hand drückte sie ein Stück oberhalb des Hosenbundes auf seinen Bauch. — Du fühlst dich so dünn an zwischen meinen Händen, sagte sie. Inman fiel keine Antwort ein, die er später nicht bereut hätte. Ada zog die Hände zurück und sagte: Wann hast du zum letzten Mal was gegessen? Inman rechnete nach: Vor drei Tagen, sagte er. Oder vier. Vier, glaube ich. — Na, dann dürftest du solchen Hunger haben, dass es dir nicht auf die äußere Form ankommt. Ruby hatte das Fleisch eines der beiden Truthühner bereits
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von den Knochen gelöst und kochte das Gerippe in dem großen Topf über dem Feuer aus, um für Stobrod eine Brühe zu bereiten. Ada forderte Inman auf, sich vor die Feuerstelle zu setzen und reichte ihm einen Teller mit Putenfleisch, damit er daran schon einmal herumknabbern konnte. Ruby kniete sich nieder und machte sich eifrig an dem Topf zu schaffen. Sie schöpfte den grauen Schaum mit einem Rührbesen aus dem Wasser, den sie sich am Nachmittag in Ermangelung von Hartriegelholz aus einem Pappelzweig geschnitzt hatte. Sie schleuderte den Schaum in das Feuer, wo er verzischte. Während Inman die Fleischbrocken, vertilgte, stellte Ada ein richtiges Abendessen zusammen. Sie legte getrocknete Apfelringe in eine Schüssel mit Wasser, und während sie einweichten, briet sie die übriggebliebene Maisgrütze portionsweise in ausgelassenem Fett. Sobald die Grützestücke braun und knusprig waren, nahm sie sie heraus, legte die Äpfel in die Pfanne und schob sie im Fett hin und her. Dabei saß sie im Schneidersitz, den Oberkörper zu der Pfanne hin vorgebeugt. Nach einer Weile neigte sie sich zur Seite und streckte ein Bein aus, während sie das andere abgewinkelt ließ. Inman sah interessiert zu. Er hatte sich noch nicht daran gewöhnt, dass sie Hosen trug, und er fand es faszinierend, wie frei sie sich darin bewegen konnte. Das Gericht, das Ada schließlich auftischte, war nahrhaft und braun und schmeckte nach Holzrauch und Schweinefett – genau das richtige Essen für die bevorstehende Wintersonnenwende – ein Essen, das über die kurzen Tage und langen Nächte hinwegzutrösten vermochte. Ausgehungert wie er war, machte Inman sich gierig darüber her, doch dann hielt er inne und fragte: Eßt ihr denn gar nichts? — Wir haben schon vor einer Weile gegessen, sagte Ada. Inman aß, ohne zu sprechen. Noch ehe er fertig war, befand Ruby, dass das Truthahngerippe nun seinen gesamten Nährwert an das Bachwasser abgegeben habe. Sie schöpfte den kleineren Topf bis zur Hälfte damit voll. Die Brühe enthielt das Leben des wilden Vogels, war kräftig und trüb und
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von der gleichen Farbe wie geröstete Walnüsse. — Ich werde mal versuchen, ihm etwas davon einzuflößen, sagte sie. Sie ergriff den Topf am Henkel und ging damit zur Tür. Ehe sie hinausging, sagte sie: Es wird auch Zeit, dass ich die Packung auf seiner Wunde wechsle, und dann werde ich noch eine Weile bei ihm sitzen bleiben. Es dauert wahrscheinlich etwas länger, bis ich wiederkomme. Nachdem Ruby fort war, wirkte die Hütte kleiner, als drückten sich ihre Wände nach innen. Beiden fiel kaum etwas ein, was sie hätten sagen können. Einen Augenblick lang machten ihnen die anerzogenen gesellschaftlichen Konventionen zu schaffen, denen zufolge es ungehörig war, wenn sich eine junge Frau und ein Mann allein in einem Haus befanden, und sie schwiegen verlegen. Doch dann sagte sich Ada, dass Charleston mit seinen Heerscharen von verknöcherten alten Tanten, die sich um die Einhaltung komplizierter Rituale mit Anstandsdamen und allem Pipapo kümmerten, vielleicht nur ein Ort aus dem Märchen war, ein Ort, der nur wenig mit der Welt zu tun hatte, in der sie jetzt lebte – ähnlich wie Arkadien oder Prosperos Insel. Um das Schweigen zu brechen, begann Inman, wie bei einem Sonntagsmahl, das Essen zu loben. Doch er hatte kaum angehoben, den Truthahn zu preisen, als er sich töricht vorkam und verstummte. In ihm stiegen mit einem Mal so vielerlei Sehnsüchte auf, dass er befürchtete, alles würde in einem furchtbaren Durcheinander aus ihm herausbrechen, wenn er nicht den Mund hielt und seine Gedanken in eine andere Richtung lenkte. Er erhob sich, ging zu seinem Brotbeutel und zog den Bartram heraus, um ihn Ada zu präsentieren wie ein Beweisstück für irgend etwas. Er war zusammengerollt und mit einem verdreckten Band verschnürt und sah, nachdem er seit Monaten immer wieder nass geworden, getrocknet und wieder nass geworden war, nun so verschmutzt und uralt aus, dass man hätte meinen können, er enthalte das gesammelte
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Wissen einer untergegangenen Zivilisation. Er erzählte ihr, dass ihm das Buch auf seinem Weg Kraft gegeben habe, dass er es in vielen Nächten in einsamen Nachtlagern im Freien beim Feuerschein gelesen habe. Ada hatte noch nie davon gehört, und Inman beschrieb es ihr als ein Buch, in dem es genau um diese Region der Erde ging und um alles, was darin von Bedeutung war. Er vertraute ihr an, dass ihm das Buch fast heilig sei und von so tiefem Gehalt, dass man es an jeder beliebigen Stelle aufschlagen könne und nur einen Satz zu lesen brauche und dennoch sicher sein könne, Lernenswertes und Schönes zu erfahren. Um dies unter Beweis zu stellen, löste er die Schleife und ließ das schlaffe, deckellose Buch aufklappen. Er legte den Finger auf einen Satz, der, wie so viele, mit einer Bergbesteigung begann und fast über die gesamte Seite ging. Doch als er ihn laut vorlas, konnte er es kaum erwarten, an das Satzende zu kommen, denn die ganze Passage erschien ihm so unüberhörbar erotisch, dass ihm vor Verlegenheit immer wieder die Stimme versagte und ihm die Röte ins Gesicht stieg. Der Satz war folgender: Als wir den Gipfel erreicht hatten, genossen wir einen höchst bezaubernden Ausblick; eine ausgedehnte grüne Wiesenfläche und Erdbeerfelder; ein Fluss, der sich durch sie hindurch schlängelte und mit jeder Windung anschwellende, grüne, federnde Hügelkuppen begrüßte, die mit Blumenbeeten und fruchtschweren Erdbeerfeldern geschmückt waren; Truthühner stolzierten scharenweise darauf umher; Hirschrudel sprangen über die Wiesen und Hügel; mehrere Gruppen junger, unschuldiger Cherokee-Mädchen, manche eifrig damit beschäftigt, die duftenden, saftigen Früchte zu pflücken, während andere, die ihre Körbe bereits gefüllt hatten, im Schatten blütenreicher und duftender einheimischer Magnolien-, Azaleen- und Pfeifensträucher ruhten, unter wohlriechendem Gewürzstrauch, lieblich duftendem Gelben Jasmin und himmelblauen Strauchwisterien, ihre Schönheit der zitternden Brise offenbarten und ihre Glieder in den kühl dahinfließenden Bächen erfrischten und wieder andere,
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lebhaftere und ausgelassenere Grüppchen noch immer Erdbeeren pflückten oder übermütig hinter ihren Gefährtinnen herliefen, sie neckten und ihre Lippen und Wangen mit der saftigen Frucht befleckten.
Als er geendet hatte, blieb er schweigend sitzen. Ada fragte: Ist das ganze Buch so? — Das ist so ziemlich die einzige Stelle dieser Art, sagte, Inman. Er hätte sich am liebsten mit Ada auf das Tannenbett gelegt und sie an sich gedrückt – so wie sich Bartram offensichtlich danach sehnte, sich zu den Mädchen unter ihr Laubendach zu legen. Doch er tat es nicht, sondern rollte das Buch zusammen und stellte es neben eine alte Holztasse in die Wandnische. Dann begann er das Kochgeschirr zusammenzuräumen. Übereinandergestapelt und wackelig hielt er es in den Armen. — Ich gehe dies mal abwaschen, sagte er. Er ging zur Tür und blickte über die Schulter zurück. Ada saß reglos da und starrte ins Eeuer. Inman ging zum Fluss hinunter, kauerte sich nieder und schrubbte jedes Geschirrstück mit Flussand aus dem Bett des schwarzen Gewässers sauber. Es schneite immer noch heftig. Die Flocken fielen dicht und senkrecht, und mittlerweile waren sogar die Flussteine mit dicken Schneehauben bedeckt. Inman blies Atemwolken durch die Flocken und überlegte, was er tun sollte. Es bedurfte mehr als zwölf Stunden Schlafs und eines kräftigen Abendessens, um ihn wieder auf die Beine zu bringen, doch er war nun zumindest wieder imstande, seine Gedanken zu ordnen. Was er sich am meisten wünschte, war, sich seiner Einsamkeit zu entledigen. Er war zu stolz darauf geworden, allein unterwegs zu sein, zu stolz auf sein Einzelgängertum, sein Eigenbrödlertum. An seinem Bauch und seinem Rücken spürte er noch immer den Druck von Adas Händen. Und während er da in der Dunkelheit des Cold Mountain hockte, erschien ihm diese liebevolle Berührung als der Schlüssel zum Erdenleben. Alle Worte in ihm, die ausgesprochen sein wollten, wogen nichts
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gegen diese Berührung ihrer Hände. Inman betrat die Hütte mit dem Vorsatz, zu Ada zu gehen, eine Hand an ihren Hals und die andere an ihre Hüfte zu legen und sie an sich zu ziehen und damit all seine Wünsche deutlich zu machen. Doch als er die Tür von der Öffnung rückte, schlug ihm die Hitze des Feuers entgegen, und seine Finger verkrampften sich. Sie waren rauh von dem Sand, steif von dem kalten Wasser und vor Kälte krumm gefroren wie die Scheren der Blaukrabben, die er während seines Einsatzes entlang der Küste gesehen hatte. Alptraumartige Wesen, die vor der ganzen Welt, ja sogar vor ihren Artgenossen mit gezahnten Waffen herumfuchtelten. Er sah auf die Teller und das Besteck hinunter, auf den Topf und die Bratpfanne, und stellte fest, dass sie noch immer mit einem weißen Fettfilm überzogen waren. Also war seine Mühe umsonst gewesen, und er hätte ebensogut hierbleiben und die Geschirrstücke umgedreht in die Glut stellen können, damit sie sauberbrannten. Ada blickte zu ihm auf, und er sah, wie sie zweimal tief durchatmete, und dann schaute sie wieder weg. Er konnte ihrer Miene ansehen, dass sie ihren ganzen Mut hatte zusammennehmen müssen, um ihn so zu berühren, wie sie es getan hatte, als sie ihn zwischen ihre Hände nahm. Etwas so Intimes hatte sie bestimmt noch nie getan. Dessen war er gewiß. Sie hatte ihre bisher gekannte Welt verlassen und sich auf ein Feld begeben, auf dem eine vollkommen neue Ordnung herrschte. Doch er war derjenige gewesen, der im August jene Worte niedergeschrieben hatte, und nun war es an ihm, zu sagen, was er zu sagen hatte. Inman setzte seinen Geschirrberg ab und ging zu ihr hinüber. Er setzte sich hinter sie und rieb seine Handflächen erst aneinander und dann an seinen Schenkeln. Er verschränkte die Arme, klemmte die Hände darunter und drückte sie fest an beide Körperseiten. Dann streckte er die Arme rechts und links von Ada aus, hielt die Hände ans Feuer und drückte dabei die Innenseiten seiner Unterarme an ihre Schultern.
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— Hast du mir Briefe geschrieben, während ich im Krankenhaus lag? fragte er. — Mehrere, sagte sie. Zwei im Sommer und eine kurze Notiz im Herbst. Aber ich habe von deinem Krankenhausaufenthalt erst erfahren, als du schon fort warst. Die ersten zwei Briefe habe ich also noch nach Virginia geschickt. — Sie haben mich dort nicht erreicht, sagte er. Erzähl mir, was drinstand. Ada faßte sie zusammen, änderte den Inhalt allerdings ein wenig ab. Sie beschrieb sie, wie sie gewesen wären, wenn sie sie aus ihrer gegenwärtigen Perspektive hätte umformulieren können. Die Gelegenheit, auch nur ein Bruchstück der Vergangenheit umzuschreiben, bekam man nicht oft im Leben, und folglich nutzte Ada sie nach Kräften aus. In ihrer abgeänderten Form waren die Briefe für beide befriedigender, als es die Originale gewesen wären. Sie gaben mehr von ihr preis, zeigten mehr Gefühl, waren eindeutiger und offener formuliert. Alles in allem: sie waren mehr. Die kurze Notiz hingegen ließ sie unerwähnt. — Ich wünschte, ich hätte sie erhalten, sagte Inman, als sie geendet hatte. Er fügte noch hinzu, dass sie ihm geholfen hätten, einige schlimme Tage leichter zu ertragen, wollte aber in diesem Augenblick nicht über die Zeit im Krankenhaus reden. Er hielt seine Hände an den warmen Kamin und rechnete nach, wie viele Winter er kalt und dunkel dagestanden hatte. Sechsundzwanzig Jahre, seit hier das letzte Feuer entzündet wurde, sagte er. Damit hatten sie ein Gesprächsthema. Sie saßen eine Weile entspannt beieinander und redeten, wie es Menschen gerne tun, über Ruinen der Vergangenheit, was zwangsläufig ihr Gefühl nährt, nur eine kurze Zeit hier zu verbringen und eine lange Zeit anderswo. Sie stellten sich das letzte Feuer vor, das in dem Kamin gebrannt hatte, und sie entwarfen die Figuren, die davor saßen. Eine Cherokee-Familie. Mutter, Vater,
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Kinder, eine alte Großmutter. Sie statteten jede der Figuren mit einem eigenen Charakter aus, einem tragischen oder komischen, wie es gerade in die Geschichte passte. Inman dachte sich einen Jungen aus, der große Ähnlichkeit mit Swimmer hatte und sonderbar und geheimnisvoll war. Es gefiel ihnen, sich für die erfundene Familie Lebensgeschichten auszudenken, die intakter waren, als es ihnen jemals für ihr eigenes Leben denkbar war, und wenn sie sich noch so anstrengten. In ihrer Geschichte ließen Ada und Inman die Familie Vorahnungen haben, dass das Ende ihrer Welt bevorstehe. Und obgleich die Menschen jedes Zeitalters glauben, dass sich die Welt in einem bedenklichen Zustand befindet, am Rande der Finsternis, glaubten Ada und Inman, dass dieses Gefühl des bevorstehenden Endes an keinem Punkt der Weltgeschichte so gerechtfertigt gewesen war wie zu jener Zeit. Die Befürchtungen dieser Menschen hatten sich voll bewahrheitet. Die große Welt hatte sie gefunden, sogar hier in diesem versteckten Winkel, und hatte sich mit ihrer ganzen Wucht auf sie gestürzt. Nachdem sie geendet hatten, saßen sie eine Weile schweigend da und hatten das unbehagliche Gefühl, einen Raum zu besetzen, in dem sich anderes Leben entwickelt hatte und dann verschwunden war. Nach einer Weile erzählte ihr Inman, wie er auf dem ganzen langen Heimweg immer nur daran habe denken können, wie sehr er hoffte, dass sie ihn haben, ihn heiraten wollte. Er habe sich an diesem Gedanken festgehalten, und er sei selbst in seinen Träumen lebendig gewesen. Doch nun, sagte er, könne er sie nicht bitten, sich an ihn zu binden. Nicht an einen Mann, der so zerrüttet sei wie er. — Ich fürchte, ich bin so kaputt, dass ich nicht mehr wiederherzustellen bin, sagte er. Und wenn dem so ist, werden wir irgendwann beide unglücklich und verbittert sein. Ada drehte sich um und sah ihn über die Schulter hinweg an. Er hatte sich in der Wärme den Kragen aufgeknöpft, und sie sah die weiße Wunde an seinem Hals. Und weitere Wunden in
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seinem Gesicht und in seinen Augen, die ihrem Blick nicht recht begegnen wollten. Sie drehte den Kopf wieder nach vorn. Ihre Überzeugung sagte ihr, dass es in der Natur Heilmittel aller Art gebe. In jedem Winkel und jeder Ritze schienen sich Heil- und Stärkungsmittel zu finden, mit denen sich Wunden von außen versorgen ließen. Selbst die versteckteste Wurzel oder die älteste Spinnwebe konnten noch helfen. Und im Innern wuchsen Kräfte, die die Wunden von innen her mit strapazierfähigen Narben versahen. Auf alle Fälle jedoch musste man selbst mit daran arbeiten, und es würde alles nichts nützen, wenn man seinen Zweifeln zu sehr nachgab. Zumindest soviel hatte sie schon von Ruby gelernt. Schließlich sagte sie, ohne ihn anzusehen: Ich weiß, dass Menschen geheilt werden können. Nicht alle, und manche schneller als andere. Aber bei einigen geht es. Ich wüßte nicht, warum es bei dir nicht gehen sollte. — Warum nicht bei mir, sagte Inman, wie um den Gedanken zu prüfen. Er zog seine zum warmen Feuer hin ausgestreckten Hände zurück und hielt sich die Fingerkuppen an die Wangen, um festzustellen, ob sie noch immer kalt waren wie Eiszapfenspitzen. Zu seiner Überraschung stellte er fest, dass sie warm waren. Sie fühlten sich keineswegs an wie der Lauf einer Waffe. Er streckte die Hände nach Adas dunklem Haar aus, das offen auf ihrem Rücken lag, und nahm es als dicken Büschel in die Hand. Er hob es mit der einen Hand hoch und strich mit den Fingerspitzen der anderen über die Mulde zwischen den Muskelsträngen an ihrem Hals und über den feinen Flaum dort. Er beugte sich vor und berührte mit seinen Lippen die Kuhle an ihrem Hals. Er ließ das Haar fallen und küßte Ada auf den Scheitel und sog dabei den noch wohl erinnerten Geruch ihrer Haare ein. Er lehnte sich zurück und zog Ada an sich, ihre Taille an seinen Bauch, ihre Schultern an seinen Brustkorb. Sie schmiegte ihren Kopf unter sein Kinn, und er spürte, wie
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sich ihr Gewicht auf ihn legte. Er hielt sie fest an sich gedrückt, und die Worte sprudelten aus ihm hervor, ohne dass er sie vorher zurechtgelegt hatte. Und diesmal bemühte er sich nicht, seine Lippen zusammenzupressen, um die Worte abzuwürgen. Er erzählte ihr, wie er zum ersten Mal ihren Hals betrachtet hatte, als sie vor ihm in der Kirchenbank saß. Von dem Gefühl, das ihn seither nicht mehr losgelassen hatte. Wie viele Jahre seitdem vergeudet worden seien. Eine lange Zeit. Doch es sei zwecklos, sagte er, sich vorzustellen, wie diese Jahre hätten besser genutzt werden können, denn er hätte sie kaum schlechter nutzen können. Sie ließen sich nicht mehr zurückdrehen. Man könne sich endlos wegen der verlorenen Zeit und dem in dieser Zeit angerichteten Schaden grämen. Den Toten nachtrauern und seinem eigenen verlorenen Ich. Doch die Weisheit der Alten lehrt uns, dass wir nicht gut daran tun, wenn wir immer weiter trauern. Und diese Alten wussten, wovon sie redeten, sagte Inman, denn man kann sich das Herz aus der Seele grämen und ist doch am Ende nicht weitergekommen. Trauer allein vermag nichts auszurichten. Was man verloren hat, wird einem nicht mehr zurückgegeben. Es ist für immer verloren. Die einzigen Spuren, die auf die Leere hinweisen, sind deine Narben. Man könne nur wählen, ob man weitergehen wolle oder nicht. Doch wenn man weitergehe, dann tue man das in dem Bewusstsein, dass man seine Narben mit sich herumtrage. Trotz all dieser vergeudeten Jahre habe er ständig den Wunsch in sich getragen, sie hinten auf ihren Hals zu küssen, und nun habe er es getan. Und wenn ein so lange gehegter Wunsch in Erfüllung gehe, sei das, so glaube er, eine Art Wiedergutmachung. Ada konnte sich an besagten Sonntag nicht recht erinnern, für sie war es einer unter vielen gewesen. Sie hatte keine eigenen Erinnerungen beizusteuern, die den Tag zu einem gemeinsamen Gedenktag hätten machen können. Doch ihr war klar, dass sich Inman mit seinen Worten auf seine Weise für die Berührung, die sie ihm gewährt hatte, als er die Hütte betrat, revanchierte. Sie streckte die Hand nach hinten, hob ihr
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Haar hoch und drückte es mit dem Handgelenk an ihren Hinterkopf. Sie beugte den Kopf ein wenig vor. — Mach das noch einmal, sagte sie. Doch ehe Inman reagieren konnte, klapperte es an der Tür. Bis Ruby sie aus dem Rahmen gerückt hatte und ihren Kopf hereinsteckte, saß Ada schon wieder aufrecht da, und ihr Haar lag wieder über ihren Schultern. Ruby musterte die beiden, wie sie da so verlegen und so komisch hintereinander saßen. — Soll ich noch mal rausgehen und husten? fragte sie. Keiner sagte etwas. Ruby schob die Tür wieder zu und stellte den Topf auf den Boden. Sie strich den Schnee von ihrem Mantel und klopfte ihren Hut an ihrem Bein aus. — Sein Fieber ist etwas gesunken, sagte Ruby. Aber das will nicht viel heißen. Es steigt und fällt. Ruby blickte Inman an. Sie sagte: Ich habe ein paar Äste geschlagen und ein gescheiteres Bett gebaut als nur ein Deckenlager. Sie hielt inne und fügte dann hinzu: Wer will, kann sich da hinlegen. Ada stocherte mit einem Stecken im Feuer herum und warf ihn dann hinein: Geh du ruhig, sagte sie zu Inman. Ich weiß, dass du müde bist. Doch so müde Inman auch war, es dauerte lange, bis er endlich einschlafen konnte. Stobrod schnarchte und brummte Bruchstücke des Refrains irgendeines schwachsinnigen Geigenlieds vor sich hin, das – soweit Inman es heraushören konnte – nur aus folgenden Worten bestand: Je höher hinauf der Affe stieg, um so größer wurde sein ja-ta-dada-la-ta-da-dida. Inman hatte Männer in der Umnachtung nach einer schweren Verletzung schon allerlei sagen hören, von Gebeten angefangen bis hin zu Flüchen. Doch Stobrods Gemurmel war das dümmste, was er je vernommen hatte. Wenn es zwischendurch einmal still war, versuchte Inman zu entscheiden, welchen Teil des Abends er für den schöneren erklären sollte. Adas Hand auf seinem Bauch oder die Bitte, die sie äußerte, kurz bevor Ruby die Tür aufschob. Als er
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schließlich einnickte, war er noch immer nicht zu einer Entscheidung gekommen. Auch Ada lag lange Zeit wach. Ihr gingen alle möglichen Gedanken im Kopf herum. Dass Inman in den vier Jahren unverhältnismäßig stark gealtert, dass er so dünn und ernst und in sich gekehrt war. Und einen Augenblick lang glaubte sie, sich über ihre vergehende Schönheit Gedanken machen zu müssen, darüber, wie braun und sehnig und derb sie geworden war. Und dann dachte sie, dass man Tag um Tag lebte, und irgendwann zu einem ganz anderen Menschen wurde – einem engen Verwandten des einstigen Ich zwar, einer Schwester oder einem Bruder, mit dem man eine gemeinsame Vergangenheit teilte, aber dennoch eine andere Person mit ihrem eigenen Leben. Auf jeden Fall waren Inman und sie nicht mehr die gleichen wie damals, als sie sich zum letztenmal gesehen hatten. Doch sie hatte den Eindruck, dass sie ihn und sich, wie sie heute waren, lieber hatte. Ruby warf sich in ihrem Bett herum, blieb eine Weile still liegen und drehte sich dann wieder andersherum. Sie setzte sich auf und schnaufte mißmutig: Ich kann nicht schlafen, knurrte sie. Und ich weiß, dass du da hinten wach bist und rumschmachtest. — Ja, ich bin wach, sagte Ada. — Ich kann nicht einschlafen, weil ich mir die ganze Zeit den Kopf zerbreche, was ich mit ihm anstellen soll, wenn er überlebt, sagte Ruby. — Inman? fragte Ada verwirrt. — Mit Paps. So eine Wunde wie seine braucht lange, bis sie verheilt ist. Und so wie ich ihn kenne, wird er das Bett ganz besonders lang hüten. Ich weiß wirklich nicht, was ich mit ihm tun soll. — Wir werden ihn ganz einfach mit nach Hause nehmen und ihn versorgen, sagte Ada. Einen so schwer Verletzten wird niemand suchen kommen. Jedenfalls nicht so bald. Und irgendwann muss dieser Krieg ja mal zu Ende gehen. — Ich bin dir sehr verbunden, sagte Ruby.
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— Du warst noch nie zuvor jemandem verbunden, sagte Ada. Und ich lege keinen Wert darauf, die erste zu sein. Ein einfaches Danke genügt vollauf. — Meinetwegen, sagte Ruby. Nachdem sie eine Weile geschwiegen hatte, sagte sie: Als ich klein war, habe ich mir so manche Nacht, wenn ich allein in unserer Hütte lag, gewünscht, ich könnte seine blöde Fiedel zum höchsten Gipfel schleppen und in die Luft werfen und vom Wind davontragen lassen. Ich habe ihr im Geist nachgesehen, bis sie nur noch ein kleiner Punkt war, und mir dabei vorgestellt, was für einen süßen Klang das gäbe, wenn sie tief unten auf den Flussfelsen in tausend Stücke zerschellte. Am darauffolgenden Morgen war es noch grauer und kälter. Der Schnee fiel nicht mehr in großen, dichten Flocken vom Himmel, sondern schwebte so leise und fein herab wie gemahlener Mais aus einer Getreidemühle. Sie schliefen lange, und Inman frühstückte in der Hütte der Frauen – Truthahnbrühe mit Truthhahnstücken. Dann, am Spätvormittag, fütterten und tränkten Ada und Inman das Pferd und gingen gemeinsam auf die Jagd. Sie hofften, weitere Truthühner schießen zu können oder vielleicht sogar ein Reh. Sie stiegen die Anhöhe hinauf, ohne im Wald auf irgendetwas zu treffen, das sich bewegte. Nicht einmal Spuren von Tieren waren in dem tiefen Schnee zu sehen. Sie stapften durch die Kastanien bergan, schlängelten sich durch den Tannenhain bis zum Grat hinauf und folgten diesem bis zu einer Biegung. Es war noch immer kein Wild zu sehen, nur ein paar schnatternde Rothörnchen hoch oben in den Tannen. Selbst wenn es ihnen gelänge, eins abzuschießen, gäbe das nicht mehr als einen Happen grauen Fleisches, und so vergeudeten sie gar nicht erst einen Schuss. Irgendwann kamen sie an eine flache, aus einer Felsbank herausragende Steinplatte und ließen sich, nachdem Inman den Schnee abgewischt hatte, im Schneidersitz darauf nieder, Knie an Knie und die Bodenplane aus Inmans Tornister wie ein Zelt über ihren Köpfen. Das Licht, das durch das Gewebe drang,
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war braun und trübe. Inman holte die Walnüsse aus seinem Brotbeutel und knackte sie mit einem faustgroßen Stein auf, und dann pulten sie das Fleisch heraus und aßen es. Als sie alles verzehrt hatten, legte Inman die Hände auf Adas Schultern, beugte sich vor und legte seine Stirn an die ihre. Eine Zeitlang wurde das Schweigen nur von dem auf die Plane prasselnden Schnee gebrochen, doch dann begann Ada zu reden. Sie wollte ihm erzählen, wie sie zu der geworden sei, die sie jetzt war. Sie seien jetzt andere als früher. Das müsse er wissen. Sie erzählte von Monroes Tod, von dem Ausdruck auf seinem regennassen Gesicht und den Hartriegelblüten darauf. Sie erzählte Inman, wie sie beschlossen hatte, nicht nach Charleston zurückzukehren, erzählte von dem Sommer und alles über Ruby. Von dem Wetter und den Tieren, von den Pflanzen und den vielen Dingen, die sie allmählich kennenlernte. Von der unendlichen Vielgestaltigkeit des Lebens. Auf die Beobachtung dessen könne man sein Leben aufbauen. Sie vermisse Monroe immer noch mehr als sie sagen könne, und sie erzählte Inman viele wundervolle Dinge über ihn. Aber sie erzählte ihm auch etwas Schreckliches: dass er versucht habe, sie auf einem kindlichen Stand zu halten, und dass ihm dies ohne großen Widerstand ihrerseits weitgehend gelungen sei. — Und was Ruby betrifft, musst du eines wissen, sagte Ada. Was immer aus uns, dir und mir wird, ich will, dass sie so lange in Black Cove bleibt, wie sie möchte. Ich würde mich freuen, wenn sie niemals ginge, und wenn sie ginge, würde ich sie schmerzlich vermissen. — Die Frage ist nur, ob sie sich mit meiner Anwesenheit abfinden könnte, sagte Inman. — Ich denke schon, sagte Ada. Vorausgesetzt du begreifst, dass sie weder ein Dienstmädchen noch eine Tagelöhnerin ist. Sie ist meine Freundin. Sie nimmt keine Befehle entgegen, und sie leert nur ihren eigenen Nachttopf. Sie rappelten sich wieder auf und setzten ihre Suche fort,
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indem sie in eine feuchte Senke hinabstiegen, in der es intensiv nach Bronzeblattsträuchern roch, und weiter hinab durch verstreute Gruppen von ineinander verschlungenen Berglorbeersträuchern bis zu einem schmalen Bach. Sie stapften um eine umgewehte, auf dem Waldboden liegende Hemlocktanne herum. Der Wurzelteller ragte hausgiebelhoch in die Luft, und zwischen den Wurzeln klemmten mehrere Fuß über dem Boden Steine, die größer waren als Whiskey fassen Dort unten in der Senke entdeckte Ada einen Standort der Kanadischen Orangenwurz – deren hahnenfußförmige Blätter zwar verdorrt, aber erkennbar waren. Sie steckten an einer Stelle, wo die Schneedecke dünner war – im Windschatten einer Pappel, deren Stammumfang so groß war, dass sich fünf Personen an den Händen halten müssten, um ihn zu umfassen. — Ruby braucht Orangenwurz für ihren Vater, sagte Ada. Sie kniete sich an dem Baum nieder und buddelte die Pflanzen mit den Händen aus. Inman stand daneben und sah zu. Es war ein ganz unspektakufäres Bild. Eine kniende Frau, die in der Erde grub, ein stehender, hochgewachsener Mann, der zusah und wartete. Wenn sie keine fabrikgeschneiderten Mäntel angehabt hätten, hätte es ein Bild aus jedem beliebigen Jahrhundert sein können. Kaum ein Merkmal, das auf eine bestimmte Epoche hingewiesen hätte. Ada klopfte die Erde von den bleichen Wurzeln und steckte sie in ihre Manteltasche. Als Ada wieder stand, entdeckte sie auf einmal den Pfeil in der Pappel. Sie hätte ihn beinahe übersehen, ihn für einen abgebrochenen Zweig gehalten, denn es hing noch ein Stück des Pfeilschafts daran, nicht aber die Federn. Das halb verrottete Holz war noch immer mit Sehnen an der Pfeilspitze festgeschnürt. Die Spitze aus grauem, scharfkantig geschlagenem Flintstein. Von so perfekter Symmetrie, wie ein handgearbeitetes Werkzeug perfekter nicht sein kann. Sie steckte mehr als zwei Zentimeter tief in dem Baum, dessen Rinde drumherum weitergewachsen war und aussah wie eine wulstige Narbe. Doch das sichtbare Stück war groß genug, um
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erkennen, zu lassen, dass die Spitze breit und lang war. Kein kleiner Vogelpfeil. Ada zeigte mit dem Finger, um Inman darauf aufmerksam zu machen. — Ein Hirschpfeil, sagte Inman. Oder ein Menschenpfeil. Er befeuchtete eine Daumenspitze mit Spucke und strich damit über den hervorstehenden Teil der Schneide wie jemand, der die Schärfe einer Taschenmesserklinge prüft. — Sie ist immer noch scharf genug, um in Fleisch eindringen zu können, sagte er. Während Ada und Ruby im Spätsommer das Feld mit Pflug und Egge bearbeitet hatten, waren in der Erde eine Reihe von Vogelpfeilen und Steinschabern zum Vorschein gekommen, doch dieser Pfeil hier erschien ihr wegen seiner Lage irgendwie anders – als wäre er noch teilweise lebendig. Ada trat zurück und betrachtete ihn aus ein paar Schritten Entfernung. Auch wenn es für so vieles stand, war es doch ein winziges Ding. Ein vor hundert Jahren danebengegangener Schuss. Vielleicht vor noch längerer Zeit. Vor langer Zeit. Oder vor gar nicht langer Zeit, wenn man es relativ sah. Ada trat an den Baum, legte einen Finger auf das Schaftende und wackelte daran. Fest. Man hätte den Pfeil als ein Relikt, ein Überbleibsel aus einer anderen Welt ansehen können, und Ada tat dies gleichsam. Sie betrachtete ihn als ein Objekt, das bereits der Vergangenheit angehörte. Doch Inman ging etwas anderes durch den Kopf. Er sagte: Da hat sich jemand um eine Mahlzeit gebracht. Dann fragte er: Hat er sein Ziel aus Ungeschicklichkeit verfehlt? Aus Verzweiflung? Weil der Wind gedreht hatte? Wegen schlechter Lichtverhältnisse? — Merk dir diese Stelle, sagte er zu Ada. Außerdem schlug er vor, dass sie im Laufe ihres Lebens immer wieder hierher zurückkommen sollten, um den fortschreitenden Verfall des Pfeilschafts im Auge zu behalten, das Wachstum des frischen Pappelholzes um die Pfeilspitze herum. Er entwarf eine zukünftige Szene: er und Ada alt und
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gebeugt und grau wie die Asche, wie sie in einer metallischen zukünftigen Welt – die er sich nicht einmal in groben Zügen vorstellen konnte – mit Kindern zu diesem Baum kamen. Bis dahin wäre der Schaft verrottet. Abgebröckelt. Aber die Pappel wäre noch dicker geworden, hätte die Steinspitze vollkommen umwuchert. Von ihr wäre nicht mehr zu sehen als eine kleine Ausbuchtung in der Rinde. Inman konnte sich nicht vorstellen, wessen Kinder das sein würden, doch sie würden mit offenen Mündern dastehen und zusehen, wie die zwei Alten mit Messern in das weiche Pappelholz hineinschnitten und zunächst ein wenig frisches Holz herauskratzten. Und plötzlich würden dann die Kinder die Feuersteinspitze erblicken, als wäre sie hervorgezaubert worden. Einen kleinen Kunstgegenstand mit einem bestimmten Verwendungszweck, meinte Inman. Und obwohl Ada sich nicht recht in die ferne Zeit hineinzuversetzen vermochte, konnte sie die staunenden kleinen Gesichter deutlich vor sich sehen. — Indianer, sagte Ada, Inmans Geschichte weiterspinnend.
Das alte Ehepaar wird einfach nur sagen: Indianer.
Sie kehrten an diesem Nachmittag ins Dorf zurück, ohne
etwas geschossen zu haben. Alles, was sie von ihrem Ausflug mitbrachten, waren die Orangenwurz und so viel Brennholz, wie sie schleppen konnten. Das Holz, das sie hinter sich her schleiften, hinterließ im Schnee Streifen und Konturen. Dicke Äste von einer Kastanie und dünnere von einer Zeder. Sie fanden Ruby bei Stobrod. Er war halbwegs bei Bewusstsein und schien Ruby und Ada zu erkennen, hatte jedoch Angst vor Inman. — Wer ist der große dunkle Mann da? fragte er. Inman ging neben Stobrods Lager in die Knie, um nicht so bedrohlich über ihm aufzuragen: Ich habe Ihnen Wasser gegeben, sagte er. Ich bin nicht hinter Ihnen her. Stobrod sagte: Aha. Ruby befeuchtete ein Tuch, und als sie ihm damit das Gesicht abwischte, sträubte er sich wie ein Kind. Sie
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zerstampfte Stücke der Orangenwurz und strich sie auf die Wunden. Mit weiteren Stücken braute sie einen Tee und flößte ihn Stobrod ein. Unmittelbar darauf schlief er wieder ein. Ada sah Inman an und bemerkte die Müdigkeit in seinem Gesicht. Sie sagte: Ich glaube, du solltest es ihm nachtun. — Aber weck mich, ehe es dunkel wird, sagte Inman. Er ging hinaus, und durch die offene Tür konnten Ada und Ruby sehen, wie der fallende Schnee hinter ihm die Luft mit Streifen durchzog. Sie hörten, wie Inman Äste zerbrach, und kurz darauf wurde die Tür wieder aufgeschoben. Er legte eine Ladung Kastanienholz in die Hütte und ging wieder hinaus. Ada und Ruby legten Brennholz nach und saßen lange, beide zusammen unter einer Decke, nebeneinander an der Hüttenwand. Ada sagte: Erzähl mir, was wir alles tun werden, wenn es wieder wärmer wird. Was müssen wir in Angriff nehmen, um die Farm auf Vordermann zu bringen? Ruby nahm einen Stecken und kratzte damit eine Skizze von Black Cove in die Erde. Sie zeichnete den Feldweg ein, das Haus, die Scheune sowie die Umrisse der derzeitigen Felder, der Waldparzellen und der Obstwiese. Dann fing sie an zu reden, und was sie da schilderte, war die Vision eines Lebens im Überfluss und dessen Umsetzung in die Realität. Sie sollten sich zwei Maultiere erhandeln. Die alten Felder von Traubenkraut und Sumachgestrüpp befreien, damit sie wieder bepflanzt werden konnten. Neue Gemüsegärten anlegen. Ein weiteres Stück Land urbar machen. So viel Mais und Weizen anpflanzen, dass es für ihren Brotbedarf reichte. Den Obstgarten vergrößern. Solide Lagerschuppen für Eingemachtes und Äpfel bauen. Jahr um Jahr voller Arbeit. Doch eines Tages würde dann das Getreide im Sommer hoch auf den Feldern stehen. Hühner im Hof herumpicken, Kühe auf der Weide grasen, Schweine am Berghang nach Futter suchen. So viele, dass sie zweierlei Sorten haben könnten: Speckschweine mit dünnen Beinen und langen Seiten sowie Schinkenschweine, gedrungen und stämmig, mit
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Hängebäuchen bis zum Boden. Das Räucherhaus voll mit Schinken und Speckseiten; ständig eine ordentlich eingefettete Bratpfanne auf der Herdplatte. Apfelberge im Apfelschuppen, Topf an Topf mit eingelegtem Gemüse auf den Regalen im Vorratsschuppen. Überfluss. — Das wird ein herrlicher Anblick sein, sagte Ada. Ruby zerrieb die Skizze mit dem Handballen. Nachdem sie eine Weile schweigend dagesessen hatten, sackte Ruby in sich zusammen, fiel gegen Adas Schulter und nickte, müde von der Anstrengung ihrer Einbildungskraft, ein. Ada blickte ins Feuer und lauschte dem Geknacke und Gezisch und später dem Geknister der zu Asche zerfallenden Glut. Sie sog den Geruch des süßen Holzrauches ein und dachte, dass man ermessen könnte, wie weit man es in seinem Bemühen, auf alle Einzelheiten der Welt ringsum acht zu geben, gebracht habe, wenn man Bäume nach dem Geruch ihres brennenden Holzes bestimmen konnte. Dies wäre etwas, das es sich zu lernen lohnte. Es war nicht das Schlechteste, womit man sich abgeben konnte. Es gab etliches, das anderen und schließlich auch einem selbst mehr schadete. Als Ruby erwachte, war es später Nachmittag, fast schon dunkel. Sie setzte sich auf, blinzelte mit den Augen, rieb sich über das Gesicht und gähnte. Dann sah sie nach Stobrod. Sie berührte sein Gesicht und seine Stirn, zog die Decken zurück und untersuchte seine Wunde. — Sein Fieber ist wieder gestiegen, sagte sie. Ich glaube, heute nacht tritt die Krise ein. Entweder, er kommt durch, oder er stirbt, aber heute nacht wird es sich entscheiden. Es ist wohl besser, wenn ich bei ihm bleibe. Ada trat zu ihr und legte ihr Handgelenk an Stobrods Stirn. Sie konnte keinen Unterschied zu früher feststellen. Sie sah Ruby an, doch die wich ihrem Blick aus. — Ich hätte keine Ruhe, wenn ich ihn heute nacht allein ließe, sagte Ruby. Als Ada flussabwärts zu der anderen Hütte ging, war es dunkel. Der Schnee fiel in feinen Flocken. Die Schicht auf
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dem Boden war so dick, dass sie bei jedem Schritt die Knie hochziehen musste, obwohl sie in bereits vorhandene Fußstapfen trat. Der Schnee reflektierte das durch die Wolken kommende Licht, dass es aussah, als leuchtete die Erde gleichmäßig von innen heraus wie eine Glimmerlaterne. Sie schob leise die Tür auf und trat ein. Inman schlief und rührte sich nicht. Das Feuer war heruntergebrannt. Seine Sachen waren davor zum Trocknen ausgelegt wie in einem Museum ausgestellte Objekte – als brauchte jeder Gegenstand Raum, damit man seine wirkliche Bedeutung gebührend würdigen konnte. Die Kleider, die Stiefel, Hut, Rucksack, Brotbeutel, Kochgeschirr, das Fahrtenmesser und der große häßliche Revolver mit den dazugehörigen Teilen: Ladestock, Zündhütchen, Zündkanalreiniger und Kugelpatronen sowie Schusspflaster, Pulver und Rehposten für den Schrotlauf. Zur Vervollständigung der Auslage hätte man nur noch den Bartram aus der Nische holen und ihn neben den Revolver legen müssen. Und ein weißes, bedrucktes Schildchen zur Erläuterung: Ausrüstung eines Fahnenflüchtigen. Ada zog ihren Mantel aus, legte drei Zedernäste auf das Feuer und blies die Glut an. Dann ging sie zu Inman hinüber und kniete sich neben ihm nieder. Er lag mit dem Gesicht zur Wand. Die in dem Bett aus Hemlocktannenästen unter ihm zusammengedrückten Nadeln verströmten einen intensiven, sauberen Geruch. Ada berührte Inmans Stirn, strich sein Haar zurück, fuhr mit den Fingerspitzen über seine Augenlider, Backenknochen, Nase, Lippen und das stoppelige Kinn. Sie schlug die Decke zurück urrd stellte fest, dass er sein Hemd ausgezogen hatte. Sie drückte ihre Hand an seinen Hals, an die feste, frische Narbe. Sie ließ ihre Hand an seine Schulter gleiten und hielt ihn dort fest. Er wachte langsam auf. Er drehte sich um und sah sie an, schien auch ihre Absicht zu verstehen, doch dann fielen ihm wieder die Augen zu, und er schlief wieder ein. Die Welt war ein so unsäglich einsamer Ort, und sich neben ihn zu legen, Haut an Haut, schien das einzige Heilmittel
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dagegen zu sein. Ada durchfuhr der Wunsch, dies zu tun. Dann zitterte eine Art Panik in ihr wie Blätter im Wind. Doch sie verdrängte sie, richtete sich auf und begann, den Knopf am Hosenbund und die lange, komische Knopfreihe am Hosenschlitz aufzuknöpfen. Sie stellte fest, dass die Hose ein Kleidungsstück war, dessen man sich nicht graziös entledigen konnte. Das erste Hosenbein ließ sich problemlos abstreifen, doch dann, als sie das Gewicht von einem Fuß auf den anderen verlagerte, verlor sie das Gleichgewicht und musste, um es wiederzufinden, wie eine Krähe umherhüpfen. Sie sah zu Inman hinüber und stellte fest, dass seine Augen offen waren und er ihr zusah. Sie kam sich lächerlich vor und wünschte, sie stünde im Dunkeln und nicht vor den niedrigen, gelben Flammen des räuchernden Zedernfeuers. Oder sie trüge ein Gewand, das sie einfach herabgleiten lassen konnte. Ein Wall zu ihren Füßen, über den sie hinwegschreiten konnte. Doch stattdessen hing ihr Monroes Hose an einem Bein. — Dreh dich um, sagte sie. — Nicht um jeden Golddollar in der Bundesschatzkammer. Nervös und verlegen wandte sie sich ab. Als sie dann entkleidet war, hielt sie die Kleider vor sich und drehte sich halb zu ihm hin. Inman setzte sich auf, die Decke um seine Hüfte gelegt. Er hatte so lange wie ein Toter gelebt, und hier stand Leben vor ihm, ein Geschenk, nach dem er nur die Hand ausstrecken musste. Er beugte sich vor, nahm Ada die Kleider aus den Händen und zog sie zu sich heran. Er legte die Hände vorne auf ihre Schenkel, ließ sie über die Seiten hinaufgleiten und berührte dann, mit den Unterarmen an ihren Hüftknochen, die Mulde an ihrem Steißbein mit den Fingerspitzen. Er wanderte mit den Fingern hinauf und berührte nacheinander einzeln jeden Wirbel ihrer Wirbelsäule. Er berührte die Innenseiten ihrer Arme und fuhr mit den Händen seitlich herunter bis zu der Wölbung ihrer Hüften. Er beugte seine Stirn zu ihrem weichen Bauch hinunter. Dann küßte er sie dorthin, und sie
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duftete nach Hickoryrauch. Er zog sie an sich und hielt sie fest. Sie legte eine Hand an seinen Nacken und zog ihn noch näher heran, und dann schlang sie ihre weißen Arme so fest um ihn, als wollte sie ihn nie mehr loslassen. Während sich draußen der Schnee anhäufte, war die warme, trockene, in der Bergfalte versteckte Hütte wie ein sicheres Nest – auch wenn sie das nicht für die Menschen gewesen war, die einst hier gelebt hatten. Soldaten hatten sie aufgespürt und die Hütte zum Ausgangspunkt eines Pfades gemacht, der ins Exil, in den Verlust und in den Tod führte. Doch in dieser Nacht beherbergte diese Stätte eine Zeitlang keinerlei Schmerz innerhalb ihrer Wände, ja nicht einmal eine leise Erinnerung daran. Später lagen Ada und Inman ineinander verschlungen auf ihrem Bett aus Hemlockzweigen. Es war in der alten Hütte fast dunkel geworden, die Zedernäste im Kamin schwelten, und das heiße Harz verströmte einen Duft, als wäre jemand mit einem Weihrauchfaß durch den Raum gelaufen. Das Feuer knackte. Der Schnee, der darauf fiel, zischte und seufzte. Und sie taten das, was Liebende häufig tun, wenn sie glauben, dass sich die Zukunft endlos und strahlend wie am Schöpfungstage vor ihnen erstreckt: Sie redeten ohne Unterlass von der Vergangenheit – als müsste der jeweils andere erst einmal über das eigene Vorleben ins Bild gesetzt werden, ehe beide gemeinsam weitergehen konnten. Sie redeten fast die ganze Nacht hindurch, als wären sie gesetzlich dazu verpflichtet worden, in allen Einzelheiten über ihre Kindheit und ihre Jugendzeit Rechenschaft abzulegen. Und beiden geriet diese zur glücklichen Idylle. Sogar die brutale, schwüle Hitze der Charlestoner Sommer hatte in Adas Bericht etwas Dramatisches. Doch als Inman zu den Kriegsjahren kam, faßte er sich so kurz wie eine Zeitungsmeldung – zählte die Namen der Generäle auf, die ihn befehligt hatten, die großen Truppenbewegungen, berichtete vom Mißlingen und Gelingen diverser Strategien und davon, wie oft allein das Glück bestimmt hatte, welche Seite den Sieg
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davontrug. Er wollte Ada nahebringen, dass man von diesen Dingen unendlich viel erzählen konnte, ohne dabei zur vollen Wahrheit über den Krieg vorzudringen, genausowenig wie man zur vollen Wahrheit über das Leben einer alten Bärin vordrang, indem man ihren Spuren durch den Wald folgte. Eine Krallenspur an einem Bienenbaum und ein großer, fetter, mit gelben Beerensamen durchsetzter Kotfladen erzählten nur zwei kurze und möglicherweise mißverständliche Episoden aus dem großen, geheimnisvollen Leben der Bärin. Kein Mensch, nicht einmal einer, der in so gehobener Stellung gewesen war wie Lee, konnte mehr als die große Vordertatze der Bärin genau beschreiben – die gebogenen schwarzen Krallen, die runden, rissigen Ballen, das rauhe, schimmernde, sich vorne um die Tatze legende Fell. Inman schätzte, dass er selbst von ihr höchstens etwas so Flüchtiges kannte wie den Geruch ihres Atems. Kein Mensch kann mehr über das Leben als Ganzes wissen, als wir über das Leben eines einzigen Tieres wissen, denn jedes Leben bewohnt eine Welt für sich, die uns fremd ist. Das einzige, was Inman über persönliche Erlebnisse preiszugeben bereit war, waren kleine Episoden wie jene aus dem Winterlager des Jahres Zweiundsechzig, als die mit Lehm ummantelte Holzarmierung des Schornsteins in seiner Hütte Feuer fing und das mit Moos und Rinden belegte Dach brennend auf ihn und seine schlafenden Kameraden herabstürzte. Lachend und johlend seien sie in Unterhosen in die Kälte hinausgerannt und hätten zugesehen, wie alles niederbrannte, und sich mit Schneebällen beworfen und das Feuer, als es zu erlöschen drohte, mit Zaunlatten gefüttert, damit es die Nacht über warm blieb. Ada fragte ihn, ob er die großen, gefeierten Kriegsherren zu Gesicht bekommen habe. Den angeblich gottgleichen Lee, den grimmigen Jackson, den aufgeputzten Stuart, den bocksturen Longstreet. Oder die kleinen Lichter. Den tragischen Pelham, den jämmerlichen Pickett. Inman hatte sie bis auf Pelham alle gesehen, doch er sagte
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Ada, dass er nichts über sie zu berichten habe, weder über die Überlebenden, noch über die Toten. Er habe auch keine Lust, sich über die Befehlshaber der Unionstruppen zu äußern, obwohl er einige von ihnen aus der Entfernung gesehen habe und sich den Rest anhand ihrer Taten dazudenken könne. Er wünsche sich ein Leben, in dem man Despotenbanden, die Angriffe aufeinander verübten, möglichst geringes Interesse widme. Und er wolle auch nicht weiter auf die Taten eingehen, die er selbst begangen habe, denn er wolle sich eines Tages, in einer Zeit, da nicht mehr so viele Menschen umkamen, an anderen Dingen messen. — Dann erzähl mir von deinem langen Heimweg, sagte Ada. Inman überlegte, ob er das tun sollte, doch dann versuchte er sich einzureden, dass er nun endlich das andere Ende des Tunnels erreicht habe, und er verspürte keinen Wunsch, im Geiste wieder hineinzutauchen. Deshalb erzählte er nur, dass er auf dem ganzen Weg die Mondnächte beobachtet, sie stets bis achtundzwanzig ausgezählt und dann wieder von vorn begonnen habe, dass er beobachtet habe, wie der Orion am Himmel Nacht für Nacht höher kletterte, und dass er versucht habe, unterwegs weder Hoffnung zu hegen, noch Angst zu haben, diesbezüglich aber kläglich versagt habe, denn er habe beides empfunden. Wie es ihm aber an guten Tagen einigermaßen gelungen sei, seine Gedanken – trübe oder hell – dem Wetter anzugleichen, um sich auf die Launen Gottes einzustellen, die diesen veranlassten, Wolken zu schicken oder die Sonne scheinen zu lassen. Dann ergänzte er: Ich bin unterwegs einer Reihe von Leuten begegnet. Einer Ziegenfrau, die mir zu essen gab, und die meinte, es ist ein Zeichen von Gottes Gnade, dass er uns die schlimmsten Schmerzen vergessen läßt. Er weiß, was zuviel für uns ist und sorgt dafür, dass unser Gedächtnis es nicht ständig reproduziert. Mit der Zeit verblasst dann die Erinnerung. So sah es zumindest die Frau. Gott bürdet uns das Unerträgliche auf, und dann nimmt er uns einen Teil davon wieder ab.
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Ada war mit dieser Sichtweise nicht ganz einverstanden. Sie sagte: Ich denke, man muss zu Gottes Hilfe auch selbst etwas beitragen. Man muss sich bemühen, solche Gedanken ruhen zu lassen, denn wenn man sie ständig wachruft, wird man sie nicht los. Als sie die Vergangenheit fürs erste abgehandelt hatten, wandten sie sich der Zukunft zu. Sie entwarfen alle möglichen Pläne. In Virgina hatte Inman ein transportables und mit Wasserkraft betriebenes Sägewerk gesehen. Sogar hier in den Bergen lösten mit Lamellen verkleidete Häuser allmählich die Blockhäuser ab, und er hielt es deshalb für eine feine Sache, sich so ein Sägewerk zuzulegen. Er könnte sie von Farm zu Farm transportieren, auf dem Grundstück der jeweiligen Besitzer aufstellen und das Material für ein Haus aus dem Holz des jeweiligen Besitzers zusammensägen. Das wäre zum einen sehr kostengünstig, zum andern aber auch sehr befriedigend für den Besitzer, denn er könne in seinem fertiggestellten Haus sitzen und sich daran freuen, dass sämtliche Bauteile von seinem eigenen Land stammten. Inman könnte für seine Arbeit Bargeld verlangen, oder sich, wenn die Leute keines hatten, mit Nutzholz auszahlen lassen, das er dann zersägen und verkaufen könnte. Er könne sich von seiner Familie Geld leihen, um die Ausrüstung zu kaufen. Der Plan sei nicht übel. So mancher sei mit weniger reich geworden. Doch damit nicht genug. Sie würden Bücher zu allen möglichen Themen bestellen: Landbau, Kunst, Botanik, Reisen. Sie würden Musikinstrumente spielen lernen – Geige und Gitarre, oder vielleicht Mandoline. Wenn Stobrod überlebte, könnte er es ihnen beibringen. Und Inman wollte gerne Griechisch lernen. Das wäre eine tolle Sache. Dann könnte er Balis' Arbeit fortsetzen. Er erzählte ihr die Geschichte von dem Mann im Hospital, seinem verlorenen Bein und den Papierstößen, die er bei seinem tragischen Ableben zurückgelassen hatte. Es wird also mit gewissem Recht eine tote Sprache genannt, sagte Inman abschließend. Als nächstes widmeten sie sich dem Thema Zeit. Sie malten
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sich aus, wie ihr Eheleben aussehen würde – glückliche und friedvolle Jahre. Wie Black Cove nach Rubys Vorgaben auf Vordermann gebracht würde. Ada beschrieb ihm ausführlich, welche Pläne Ruby hatte, und das einzige, was Inman sich dazu wünschte, waren Ziegen. Sie stimmten darin überein, dass es völlig schnuppe sei, wie Ehen normalerweise geführt wurden. Sie würden ihr Leben nach ihren eigenen Vorstellungen gestalten und am Rhythmus der Jahreszeiten ausrichten. Im Herbst würden die Apfelbäume brechend voll hängen mit leuchtenden Äpfeln, und sie würden gemeinsam auf Truthahnjagd gehen, nun da sich Ada dabei schon als so geschickt erwiesen hatte. Sie würden nicht mit Monroes verschnörkeltem italienischen Modell jagen, sondern mit schönen schlichten Schrotflinten, die sie in England bestellen würden. Im Sommer würden sie mit Angelgerät aus dem gleichen sportliebenden Land Forellen fangen. Sie würden gemeinsam alt werden, und die Zeit anhand aufeinanderfolgender Generationen buntscheckiger Vorstehhunde messen. Irgendwann, wenn sie die Lebensmitte weit überschritten hätten, würden sie vielleicht anfangen zu malen und sich kleine Aquarellkästen zulegen, ebenfalls aus England. Sie würden Wanderungen durch die Natur unternehmen, und wenn sie einen Landschaftsausschnitt sahen, der ihnen gefiel, würden sie stehenbleiben und ihre Näpfe an einem Bach mit Wasser füllen und die Umrisse und Farbtöne auf Papier festhalten. Darum wetteifern, wer die Szene besser wiederzugeben vermochte. Sie sahen schon vor sich, wie die Schiffe einige Jahrzehnte lang über den tückischen Nordatlantik hin- und herfuhren, um ihnen schöne Dinge zur Zerstreuung zu bringen. Oh, was sie nicht alles tun würden. Sie waren beide in einem Alter, da sie an einem Scheitelpunkt standen. Einerseits hatten sie das Gefühl, dass ihr ganzes Leben noch uferlos vor ihnen lag. Andererseits ahnten sie, dass ihre Jugend so gut wie vorüber war und dass sie nun in ein Reich mit vollkommen anderen Gesetzen
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eintreten würden, in dem sich die Vielfalt der Möglichkeiten mit jedem Moment verringerte.
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Hüpfende Krähenseelen
Am Morgen des dritten Tages im alten Dorf klarte der Himmel auf, und die Sonne brach hinter den Wolken hervor. Der Schnee begann zu schmelzen. Er fiel klatschend von den gebeugten Ästen, und den ganzen Tag gurgelte auf der Erde unter dem Schnee das Tauwasser. Am Abend stieg der Vollmond hinter dem Bergkamm auf, und sein Licht war so hell, dass die Baumstämme und Äste scharfe Schatten auf den Schnee warfen. Die perlweiße Nacht schien nicht des Tages Gegenstück, sondern eine neue Spielart des Tages zu sein, seine Abgesandte. Ada und Inman lagen eine Zeitlang aneinandergeschmiegt unter den Decken und unterhielten sich. Das Feuer brannte schwach, und die Tür ihrer Hütte stand offen, so dass ein glänzendes Trapez kalten Mondlichts auf ihr Bett fiel. Sie entwarfen einen Plan für die unmittelbare Zukunft, und ihre Beratungen nahmen einen großen Teil der Nacht in Anspruch. Das Lichttrapez kroch über den Boden und veränderte dabei seine Form, und irgendwann rückte Inman die Tür wieder an ihren Platz und schürte das Feuer. Obwohl sie so lange brauchten, bis sie den Plan fertig hatten, war er doch einfach und keineswegs außergewöhnlich. Mit ihnen kamen viele Liebespaare in jenen letzten Tagen zu dem gleichen Schluß, denn es gab nur drei Möglichkeiten, zwischen denen sie wählen konnten, und jede war gefährlich und auf jeweils eigene Art bitter. Die Logik, der sie folgten, war einfach. Der Krieg war so gut wie verloren und konnte höchstens noch ein paar Monate dauern. Vielleicht würde er im Frühjahr zu Ende sein, vielleicht noch nicht. Doch es war vollkommen undenkbar, dass er länger als bis zum nächsten Spätsommer dauerte. Es
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gab folgende Möglichkeiten: Inman konnte zur Armee zurückkehren. Wegen des Mangels an Soldaten würde er mit offenen Armen empfangen und schnurstracks in die schlammnassen Schützengräben von Petersburg zurückgesteckt werden, wo er nach Kräften den Kopf einziehen und auf ein baldiges Ende hoffen würde. Oder aber er versteckte sich wie andere Deserteure in den Bergen oder im Tal von Black Cove und ließe sich jagen wie ein Bär, Wolf oder Puma. Oder er ging über die Berge im Norden und begab sich in die Hände der Unionisten – ebender Schweinehunde, die ihn vier Jahre lang beschossen hatten. Er würde zwar den Treueid auf ihre Fahne schwören müssen, doch danach würde er abwarten können, bis der Krieg vorüber war, und dann heimkehren. Sie suchten nach weiteren Alternativen, doch was sie da zusammenspannen, waren nichts als Illusionen. Inman erzählte Ada von Veaseys Traum von Texas, der Wildnis, der Freiheit und den Möglichkeiten, die das Land bot. Sie könnten sich ein zweites Pferd kaufen, eine Zeltausrüstung, und sich damit nach Westen aufmachen. Und wenn sich Texas als zu trostlos erwies, gab es noch Colorado. Wyoming. Das große Gebiet am Columbia River. Doch dort herrschte ebenfalls Krieg. Wenn sie reich wären, könnten sie weit weg in ein sonniges Land segeln, nach Spanien oder nach Italien. Doch sie hatten kein Geld, und außerdem war die Blockade da. Als letzten Ausweg gab es noch die Möglichkeit, die vorgeschriebene Anzahl von Tagen zu fasten und darauf zu warten, ob sich die Pforten der Shining Rocks für sie auftaten und sie in das Land des Friedens einließen. Schließlich gestanden sie sich ein, dass es Grenzen gab. Der Krieg ließ ihnen nicht mehr als die ersten drei bitteren Möglichkeiten. Die erste verwarf Inman als unannehmbar. Und die zweite lehnte Ada ab, da sie ihrer Einschätzung nach die gefährlichste war. Folglich einigten sie sich auf die dritte. Über den Blue Ridge. Drei oder vier Tage strammen Fußmarschs auf versteckten Nebenpfaden und über die
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Staatsgrenze. Die Hände hochhalten, den Kopf senken und sagen, er gebe sich geschlagen. Vor ihrer gestreiften Flagge salutieren, gegen die er mit aller Kraft gekämpft hatte. Von den Gesichtern der Feinde lernen, dass – entgegen den Lehren einiger Religionen – derjenige, der schlägt, sich im allgemeinen besser fühlt, als derjenige, der geschlagen wird, egal, wer im Unrecht ist. — Aber es kann auch anders sein, steuerte Ada bei. Viele Pastoren und alte Frauen glauben, dass Schläge Mitleid hervorrufen. Und sie haben recht. Das kann tatsächlich der Fall sein. Aber es kann auch Hartherzigkeit erzeugen. Welches, ist zu einem gewissen Grade offen. Worauf sie schließlich ihre Gedanken zu konzentrieren gelobten, war die Heimkehr in einigen Monaten. Von diesem Punkt aus würden sie weitergehen in die neue Welt, die der Krieg hinterließ. Sich darin einrichten und versuchen, die Zukunftsvisionen, die sie in den vorangegangenen beiden Nächten besprochen hatten, zu verwirklichen. Am vierten Tag im Dorf begannen sich in den Waldlichtungen Flecken von braunem Laub und schwarzer Erde aufzutun. Scharen von Kleibern und Meisen ließen sich dort nieder und pickten auf dem schneefreien Boden herum. An diesem Tag konnte Stobrod zum erstenmal wieder ohne Hilfe sitzen und halbwegs verständliche Sätze äußern. Viel mehr, so Ruby, sei von ihm ohnehin nicht zu erwarten, nicht einmal, wenn er bei blühender Gesundheit sei. Seine Wunden waren sauber und geruchsfrei und begannen allmählich zu verheilen. Und er konnte feste Nahrung zu sich nehmen, wobei jedoch das einzige, was sie noch zu essen hatten, aus einem Rest Maisgrütze und fünf Eichhörnchen bestand, die Ruby geschossen, ausgenommen und gehäutet hatte. Sie hatte sie auf Stöcke gespießt und grillte sie mitsamt den Köpfen über einer Kastanienglut. Ruby, Stobrod und Inman verspeisten ihre Portionen am Abend in der gleichen Manier wie einen Maiskolben, während Ada dasaß und beklommen auf die ihr zugedachte Portion sah. Die Schneidezähne waren lang und
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gelb. Sie war es nicht gewohnt, Sachen zu essen, in denen noch die Zahne steckten. Stobrod beobachtete sie und sagte: Dreh'n Sie den Kopf doch einfach ab, wenn er Sie stört. Als der fünfte Tag anbrach, war der Schnee um mehr als die Hälfte geschmolzen. Die noch unter Hemlocktannen verbliebenen Schneehaufen waren voller Nadeln, und die schwarze Rinde an den Stämmen wies von der Schmelze nasse Streifen auf. Nach den zwei Sonnentagen überzog sich der Himmel mit hohen Wolken, und Stobrod erklärte, er fühle sich imstande, den Rückweg anzutreten. — Sechs Stunden bis nach Hause, sagte Ruby. Höchstens sieben, wenn man die schlechten Wegverhältnisse und ein paar Pausen einrechnet. Ada war davon ausgegangen, dass sie sich alle gemeinsam auf den Weg machen würden, doch Inman war dagegen. — Der Wald kommt einem manchmal so leer vor, und dann wieder so voll. Ihr zwei könnt hingehen, wo ihr wollt, ohne behelligt zu werden. Wenn sie jemanden wollen, dann uns, sagte er, indem er mit dem Daumen zunächst auf sich und dann auf Stobrod zeigte. Es wäre sinnlos, alle in Gefahr zu bringen. Er bestand darauf, dass Ruby und Ada vorausgingen. Er würde kurz darauf mit Stobrod auf dem Pferd hinterherkommen. Im Wald warten, bis es dunkel wurde. Falls es am nächsten Morgen nach gutem Werter aussah, würde er sich zur Grenze aufmachen, um sich zu ergeben. Ada und Ruby würden Stobrod daheim verstecken, und falls der Krieg noch immer nicht zu Ende war, wenn seine Wunden verheilt waren, würden sie ihn ebenfalls über die Berge schicken, zu Inman. Stobrod hatte dazu keine Meinung, doch Ruby fand, dass Inman recht hatte, deshalb machten sie es genau so. Die Frauen gingen zu Fuß los, und Imnan sah ihnen nach, wie sie die Anhöhe erklommen. Als Ada zwischen den Bäumen verschwand, war ihm, als wäre ein Teil der Schönheit dieser Welt mit ihr gegangen. Er war so lange allein in der Welt und
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innerlich leer gewesen. Doch nun füllte ihn Ada voll aus, und er glaubte gar, es hatte vielleicht einem Zweck gedient, dass das alles aus ihm herausgerissen worden war. Dem Zweck, Platz zu schaffen für etwas Besseres. Er wartete eine Weile, dann hievte er Stobrod auf das Pferd und machte sich ebenfalls auf den Weg. Stobrod ließ streckenweise den Kopf auf die Brust hängen, und dann wieder ritt er mit hochgerecktem Kopf und glänzenden Augen. Sie kamen an dem runden See vorbei, der zugefroren war, ohne dass ein Erpel oder auch nur der Kadaver eines Erpels darin steckte. Entweder, er war untergegangen und auf den morastigen Grund des Sees gesunken, oder er war fortgeflogen. Es ließ sich nicht sagen, welches von beiden, doch Inman stellte sich vor, wie der Erpel verzweifelt mit den Flügeln geschlagen und dann in den Himmel aufgestiegen war, mit Eissplittern, die an den gespannten gelben Schwimmhäuten festgeklebt waren, an den Füßen. Als sie die Weggabelung erreichten, sah Stobrod zu der mächtigen Pappel und den hellen Abschürfungen hin, wo die Kugeln die Rinde gestreift hatten: Scheißbaum, elender, zischte er. Sie kamen an Pangles Grab vorbei, das am Nordhang im Schatten lag, so dass der Schnee darauf noch fast bis zu dem Querstab von Adas Robinienkreuz reichte. Inman zeigte nur mit dem Finger darauf, und Stobrod musterte es im Vorüberreiten. Er erzählte, wie sich Pangle in der Höhle immer an seinen Rücken geschmiegt hatte, wenn er sich schlafen legte. Dass der Junge nichts weiter als Wärme und Musik hatte haben wollen. Abschließend sagte er: Wenn Gott alle Menschen auf Erden töten wollte, und mit dem mit den meisten Sünden anfinge, käme der Junge da ganz hinten. Dann folgten ein paar beschwerliche Meilen, über ihnen dunkle Wolken, unter ihnen der steile, steinige Pfad. Sie kamen an eine Stelle, wo der Weg beidseitig dicht mit Berglorbeersträuchern gesäumt war, die ihn wie einen Tunnel überspannten. Der Boden war von Bronzeblattsträuchern
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bedeckt, mit glänzenden, kastanienbraunen Blättern. Die breiten Blätter der Lorbeerrosen hatten sich in der Kälte eingerollt. Hinter dem Tunnel gelangten sie auf eine kleine Lichtung, und als sie ihren Weg fortsetzten, vernahmen sie plötzlich hinter sich Geräusche. Als sie sich umdrehten, kam hinter ihnen eine Gruppe von Reitern auf den Pfad herausgeritten. — O Gott, sagte Stobrod.
Teague sagte: Der Kerl ist wirklich schwer totzukriegen.
Sieht allerdings aus wie 'ne aufgewärmte Leiche.
Stobrod musterte die Kerle und stellte fest, dass es nicht
mehr alle dieselben waren. Teague und der Junge an seiner Seite waren geblieben. Sie hatten in den Tagen, seit sie ihn angeschossen hatten, ein paar Männer verloren und ein paar andere hinzugewonnen. In einem der Gesichter erkannte Stobrod einen der Deserteure aus der Höhte. Außerdem hatten die Milizionäre jetzt zwei Hunde dabei. Einen schlappohrigen Bluthund. Eine drahthaarige Wolfshündin. Die Hunde hockten träge da. Dann erhob sich die Wolfshündin plötzlich unaufgefordert und schlich sich an Inman und Stobrod heran. Teague saß rittlings auf seinem Pferd, die Zügel locker in der linken Hand. Mit der anderen Hand spielte er am Hahn seines Spencer-Karabiners herum, als wäre er nicht ganz sicher, ob es angeraten war, ihn zu spannen. — Wir sind dir und dem Jungen sehr verbunden, dass ihr uns den Weg zu der Höhle beschrieben habt. Schönes trockenes Plätzchen zum Ausharren, wenn es schneit. Die Wolfshündin schlug einen Bogen und machte sich langsam von der Seite an Inman und Stobrod heran. Sie nahm keinen Blickkontakt auf, doch jede Bewegung brachte sie näher an die beiden heran. Inman taxierte das Gelände, um auszumachen, ob es genügend Deckung bot, und erkannte dabei, dass er sich wieder auf dem bekannten Terrain von Kampf und Gewalt befand. Er wünschte sich eine Steinmauer, aber es gab keine. Er musterte die Milizionäre und brauchte nur den Ausdruck in
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ihren Augen zu sehen, um Bescheid zu wissen. Es hatte keinen Sinn, mit solchen Männern zu reden. Mit Worten war nichts zu erreichen, da konnte man auch gleich ins Leere lallen. Wozu also noch warten? Er beugte sich zu Stobrod hin und tat so, als wollte er das Halfter und das Leitseil überprüfen. Mit leiser Stimme sagte er: Halt dich fest. Er versetzte dem Pferd mit der linken Faust einen harten Schlag auf das Hinterteil und zog mit der rechten seinen Revolver. In der gleichen Bewegung erschoss er die auf ihn zu kommende Hündin und anschließend einen der Männer. Zwischen den beiden Schüssen hätte man kaum mit den Augen zwinkern können. Die Hündin und der Mann sanken gleichzeitig getroffen zu Boden und blieben reglos liegen. Stobrod holperte auf dem bockenden Pferd den Pfad hinunter, als reite er ein dreijähriges Reitpferd zu. Dann war er hinter den Bäumen verschwunden. Einen Augenblick lang herrschte Stille, und dann brach ein Tumult los. Die Pferde bäumten sich auf und tänzelten mit eingezogenen Hinterbacken auf der Stelle. Sie wussten nicht wohin, sondern wollten nur fort. Der Bluthund geriet zwischen ihre Beine und reizte sie noch mehr. Er bekam einen Tritt an den Kopf und ging jaulend zu Boden. Die Reiter rissen an den Zügeln, um die Pferde im Zaum zu halten. Das Pferd, dessen Reiter erschossen worden war, blickte sich hilfesuchend um und wollte, als sich niemand fand, blindlings davongaloppieren. Schon nach drei Schritten stolperte es jedoch über die schleppenden Zügel in die Gruppe der anderen Pferde hinein, worauf sie allesamt in ein heiseres Gewieher ausbrachen und bockten, während die Reiter verzweifelt versuchten, sich in den Sätteln zu halten. Inman stürmte geradewegs auf das Durcheinander los. Ringsum war nichts, was sich zur Deckung eignete, nur dünne Bäume. Keine Mauer, hinter die er hätte springen können. Die einzige Richtung, die ihm blieb, war voran, und zwar sofort. Mit der einzigen Hoffnung, mitten zwischen seine Gegner zu
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preschen und sie alle zu erschießen. Einen der Reiter schoss er voll aus dem Sattel. Damit blieben noch drei übrig, wobei einer aussah, als hätte er bereits den Rückzug angetreten – vielleicht war aber auch nur sein Pferd durchgegangen. Es brach seitlich aus und stolperte bergan in einen Hickoryhain hinein. Die beiden anderen Reiter standen dicht nebeneinander, und als abermals Schüsse ertönten, bäumten sich ihre Pferde erneut auf, und dann lag eines von ihnen brüllend am Boden und scharrte auf der Erde, um wieder auf die Hinterbeine zu kommen. Sein Reiter griff sich an sein Bein und tastete nach der verletzten Stelle, auf die das Pferd gefallen war. Als seine Hand auf einen zerfetzten, nackten Knochen traf, der sich durch Haut und Hosenbein gebohrt hatte, jaulte er vor Schmerz auf. Zwischen die Schreie mischten sich verständliche Worte, teils Stoßgebete an Gott und teils fluchende Kommentare darüber, wie schwer doch ein Gaul sei. Er brüllte so laut, dass es fast das Gewieher seines Pferdes übertönte. Das andere Pferd drehte durch. Es kreiste mit verdrehtem Hals und winzigen Schritten um seine eigene Achse. Teague zerrte mit der einen Hand an den Zügeln und hielt in der anderen den Karabiner in die Höhe. Er hatte einen Steigbügel verloren, und zwischen ihm und seinem Sattel war Tageslicht zu sehen. Er konnte sich kaum noch oben halten und feuerte ungewollt einen Schuss in die Luft ab. Das Pferd bäumte sich abermals auf, als hätte ihm jemand einen rotglühenden Schürhaken in den Bauch gestochen. Es wirbelte noch schneller im Kreis herum. Inman rannte in den stillen Mittelpunkt der Achse, um die sich das Pferd drehte. Er langte nach oben, riss Teague den Spencer aus der Hand und ließ ihn zu Boden fallen. Die beiden Männer starrten einander erbittert an, und Teague griff mit seiner freien Hand an seinen Gürtel, zog ein langes Messer heraus und brüllte: Ich werd mein Messer mit deinem Blut schwärzen.
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Inman zog den Hahn für den Schrotlauf seines LeMat zurück und feuerte. Der große Revolver sprang ihm beinahe aus der Hand – als wollte er fort von ihm. Die Ladung traf Teague in die Brust und zerfetzte seinen Brustkorb. Er stürzte zu Boden und sackte in sich zusammen, während sein Pferd ein paar Sätze zur Seite machte und dann mit rollenden Augen und angelegten Ohren stehenblieb. Inman drehte sich um und betrachtete den brüllenden Mann. Er verfluchte jetzt Inman, und dabei tastete er nach seinem Revolver, der mitten im aufgewühlten Schneematsch lag. Inman bückte sich und hob den Spencer vorne am Lauf hoch. Er holte aus, schlug dem Mann mit der Breitseite des Kolbens an die Schläfe, und der Mann schrie auf und blieb reglos liegen. Inman hob Teagues Revolver auf und steckte ihn sich in den Hosenbund. Das gestürzte Pferd war wieder auf den Beinen. Es war grau und sah in dem schwachen Licht aus wie ein Geisterpferd. Es stellte sich zu den anderen reiterlosen Pferden, die alle so benommen zu sein schienen, dass sie nicht darauf kamen zu fliehen. Sie wieherten sich gegenseitig zu, als versuchten sie irgendetwas herauszuhören, das sie als Trost interpretieren konnten. Inman sah sich nach dem noch verbliebenen Reiter um. Er vermutete, dass sich der Mann längst aus dem Staub gemacht hatte, doch da entdeckte er ihn an der dichtesten Stelle des Hickoryhains, etwa fünfzig Schritt weit entfernt. Zu weit, um ihn sicher mit einem Revolverschuss zu treffen. Von dem Schnee, der noch unter den Bäumen lag, und von dem nassen Fell des Pferdes stieg feuchter Dunst auf, und aus seinen Nüstern kamen zwei Atemwolken. Es war eine scheckige Stute, deren Fell so gut mit dem Schnee, den Bäumen und den schneefreien Flecken harmonierte, dass sie fast damit verschmolz. Hinter den Hickorybäumen ein steiler, zerklüfteter Felsabhang. Der Reiter versuchte das Pferd so zu dirigieren, dass zwischen ihm und Inman ein Baum war, was ihm jedoch nur
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teilweise gelang. Immer dann, wenn er hinter dem Stamm sichtbar wurde, war zu erkennen, dass er noch ein Junge war. Inman bemerkte, dass er seinen Hut verloren hatte. Sein Haar war weiß. Er sah aus, als habe er deutsches oder holländisches Blut, vielleicht auch irisches, oder er war ein Inzuchtprodukt aus Cornwall. Egal. Jetzt war er jedenfalls durch und durch Amerikaner, weiße Haut, weißes Haar, und ein Killer. Doch er sah aus, als hätte er seine erste Rasur noch vor sich, und Inman hoffte, er würde nicht auch noch gezwungen sein, einen Jungen zu erschießen. — Komm da raus, sagte Inman, laut genug, um gehört zu werden. Nichts. Der Junge blieb hinter dem Baum. Zu sehen war lediglich das von dem Hickorybaum halbierte Pferd – auf der einen Seite das Hinterteil, auf der anderen der Kopf. Die Stute machte einen Schritt nach vorn, und der Junge lenkte sie zurück. — Na, komm schon, sagte Inman. Ich fordere dich zum letzten Mal auf. Lass alles fallen, was du an Waffen hast, und dann kannst du nach Hause reiten. — Kommt nicht in Frage, sagte der Junge. Hier sitz ich gut. — Finde ich nicht, sagte Inman. Ganz und gar nicht. Ich erschieße ganz einfach dein Pferd, dann musst du hervorkommen. — Dann erschieß es doch, sagte der Junge. Es gehört mir nicht. — Verdammt, sagte Inman. Ich suche nach einer Möglichkeit, dich nicht zu erschießen. Wir können dies hier so regeln, dass wir, wenn wir uns in zwanzig Jahren zufällig irgendwo über den Weg laufen, zusammen einen trinken gehen können und dabei an diese dunkle Zeit zurückdenken und darüber nur den Kopf schütteln. — Können wir nich', sagte der Junge. Weil du mich erschießt, wenn ich meinen Revolver fallen lasse. — Ich bin nicht so einer wie ihr. So was tu ich nicht. Aber
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bevor ich diesen Berg runterlaufen und bei jedem Schritt befürchten muss, dass du hinter 'nem Felsen hockst und auf meinen Kopf zielst, erschieße ich dich. — Klar, ich würde dir auflauern, sagte der Junge. Worauf du Gift nehmen kannst. — Na also, damit ist ja so ziemlich alles klar, sagte Inman. Du wirst an mir vorbei müssen, wenn du da raus willst. Inman ging zu dem Spencer-Karabiner hinüber, hob ihn vom Boden, um das Röhrenmagazin im Schaft zu überprüfen und stellte fest, dass es leer war. Eine abgefeuerte Messinghülse steckte in der Kammer. Er warf den Karabiner zu Boden und kontrollierte die Trommel des LeMat. Sechs von den neun Kammern waren noch geladen, aber der Schrotlauf war abgefeuert. Er zog eine Papierpatrone aus der Tasche, biß das Ende der Papierhülle ab und schüttete das Pulver in die Mündung des Schrotlaufs. Dann steckte er das Papier mit dem Schrot in den Lauf, stieß es mit dem kleinen Ladestock hinab und steckte ein Zündhütchen auf den Piston. Er ging in Kampfstellung und wartete. — Irgendwann wirst du hinter diesem Baum hervorkommen müssen, sagte er. Kurz darauf setzte sich das Pferd in Bewegung. Der Junge versuchte, zwischen den Bäumen hindurchzureiten und in einem Bogen auf den Pfad zuzusteuern. Inman rannte los, um ihm den Weg abzuschneiden. Sie waren nichts weiter als ein Mann auf einem Reittier und ein Mann zu Fuß, die einander im Wald jagten. Sie benutzten die Bäume und die Bodenwellen zur Deckung, und sie sprangen vor und zurück, indem sie versuchten, eine gute Schussmöglichkeit zu finden, sich dabei aber nicht zu nahe zu kommen. Die Stute war konfus und hatte ihre eigenen Wünsche, von denen der dringlichste war, sich Schulter an Schulter neben die anderen aufgeschreckten Pferde zu stellen. Sie nahm störrisch die Gebißstange zwischen die Zähne, wich von der Richtung ab, in die sie der Junge mit den Zügeln zu lenken versuchte und rannte geradewegs auf Inman zu. Unmittelbar vor ihm
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bockte sie und streifte dabei den Jungen gegen einen Hickorybaum, so dass er aus dem Sattel fiel. Mit der lockeren Gebißstange im Maul schrie sie wie ein Esel, galoppierte zu den anderen Pferden, und sie stießen zitternd die Nasen aneinander. Der Junge blieb im Schnee liegen, wo er hingefallen war. Dann setzte er sich halb auf und fummelte mit Zündhütchen und dem Hahn seines Revolver herum. — Lass das Ding fallen, sagte Inman. Er hatte den Hahn für den Schrotlauf gespannt und die Mündung auf den Jungen gerichtet. Der Junge sah ihn an, und seine blauen Augen waren so ausdrucksleer wie eine runde Eisschicht auf einem Wassereimer. Sein Gesicht war weiß, und die Ringe unter seinen Augen waren noch weißer. Er war ein kleiner, kümmerlicher, blonder Bursche mit so kurzen Haaren, als hätte er unlängst mit Kopfläusen zu tun gehabt. Ausdruckslose Miene. Das einzige, was sich an dem Jungen bewegte, war seine Hand, und die war schneller, als man hinschauen konnte. Plötzlich lag Inman am Boden. Der Junge setzte sich auf, sah ihn an, blickte dann auf den Revolver in seiner Hand und sagte: Mein Gott. Als hätte er gar nicht geglaubt, dass er funktioniert. Ada hörte die Schüsse in der Ferne, dünn und trocken wie zerknackende Zweige. Ohne ein Wort zu Ruby zu sagen, drehte sie sich um und rannte los. Der Hut flog ihr vom Kopf, und sie rannte weiter und ließ ihn hinter sich auf dem Boden liegen wie einen Schatten. Sie begegnete Stobrod, der sich krampfhaft in Ralphs Mähne festkrallte, obwohl das Pferd nur noch im Trab lief. — Da hinten, sagte Stobrod, und ritt weiter. Als sie die Stelle erreichte, war der Junge bereits mitsamt den Pferden fort. Sie ging zu den am Boden liegenden Männern und musterte sie, und dann fand sie Inman ein Stück abseits. Sie setzte sich auf den Boden und zog seinen Kopf auf
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ihren Schoss. Er versuchte zu reden, doch sie bedeutete ihm, zu schweigen. Er sackte weg und träumte einen heiteren Traum von einem Zuhause. Es hatte eine kühle, aus einem Felsen entspringende Quelle, Äcker mit schwarzer Erde, mächtige alte Bäume. In seinem Traum schienen sämtliche Jahreszeiten miteinander verschmolzen zu sein, so dass alles gleichzeitig ablief. Die Apfelbäume hingen prallvoll mit Früchten, blühten aber eigenartigerweise zugleich, die Quelle war von Eis gesäumt, Okrapflanzen blühten gelb und bronzefarben, Ahornblätter waren so rot gefärbt wie im Oktober, der Mais stand in voller Blüte, vor dem rotglühenden Kamin im Wohnzimmer stand ein Polsterstuhl, leuchtende Kürbisse auf den Feldern, blühender Berglorbeer an den Berghängen, mit orangefarbenem Springkraut bewachsene Grabenböschungen, weiße Blüten am Hartriegel, purpurrote am Kanadischen Judasbaum. Alles zur selben Zeit. Und Weißeichen, in deren Krone unzählige Krähen – oder zumindest Krähenseelen, hüpften und krächzten. Er wollte irgend etwas sagen. Ein auf dem Bergkamm stehender Beobachter hätte in der Ferne inmitten der winterlichen Wälder eine stille Szene erblickt. Ein Bach, Schneereste. Eine von Bäumen eingerahmte Lichtung, von der Außenwelt abgeschnitten. Ein Liebespaar. Der Kopf des Mannes im Schoss der Frau. Sie, in seine Augen blickend, ihm das Haar aus der Stirn streichend. Er, einen Arm ungelenk an ihre weiche Hüfte legend. Beide einander mit großer Zärtlichkeit berührend. Ein so stilles und friedvolles Bild, dass unbeschwerte Naturen, denen der Beobachter die Szene später beschrieben hätte, sich eine Geschichte hätten ausmalen können, in der den beiden dort unten viele Jahrzehnte glücklicher Zweisamkeit beschieden waren.
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Epilog. Oktober 1874
Auch nach so langer Zeit und mit drei gemeinsamen Kindern, entdeckte Ada sie immer wieder, wie sie einander in den unmöglichsten Augenblicken in den Armen lagen. Auf dem Scheunenboden, nachdem sie die Lehmnester der Schwalben abgeschlagen hatten. Hinter dem Räucherhaus, nachdem sie mit nassen Maiskolben und Hickoryästen ein Feuer geschürt hatten. Ein paar Stunden zuvor war es draußen auf dem Kartoffelacker gewesen, während sie die Erde mit großen Rodehacken aufbrachen. Sie hatten wackelig und breitbeinig in den Furchen gestanden, je einen Arm um den anderen geschlungen und in der freien Hand die Hacke. Ada war versucht gewesen, eine spöttische Bemerkung zu machen. Soll ich hüsteln? Doch dann fiel ihr Blick auf die Hackenstiele. Wie sie da in der Erde steckten, sahen sie aus wie Hebel, die die geheimen Motoren der Welt in Gang setzen. Sie fuhr schlicht mit ihrer Arbeit fort und ließ die beiden in Frieden. Der Junge war nie nach Georgia zurückgekehrt und war in Black Cove zum Mann geworden, einem recht passablen Kerl. Dafür hatte Ruby gesorgt. Sie hatte ihn in den zwei Jahren, in denen er als Knecht bei ihnen gearbeitet hatte, hart herangenommen. Und sie ließ auch nicht locker, nachdem er ihr Ehemann geworden war. Ein Tritt in den Hintern, wenn es nötig war, sonst eine Umarmung. Beides hielt sich in etwa die Waage. Sein Name war Reid. Ihre Kinder waren im Abstand von achtzehn Monaten auf die Welt gekommen, lauter Jungen, mit dichten, schwarzen Haarschöpfen und leuchtenden braunen Augen, die aussahen wie kleine, in ihren Köpfen steckende Walnüsse. Sie wuchsen zu kräftigen kleinen
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Stöpseln heran, mit roten Backen und lachenden Gesichtern, und Ruby erzog sie streng, tollte aber auch wild mit ihnen herum. Wenn sie sich unten im Hof bei den Buchsbäumen herumwälzten, sahen sie einander trotz des Altersunterschieds so ähnlich wie ein Wurf Welpen. Jetzt, am Spätnachmittag, hockten die drei Jungen an einem Feuer hinter dem Haus. Vier kleine Hähnchen grillten über der Glut auf dem Boden, und die drei stritten sich darum, wer sie als nächster mit der Sauce aus Essig und Paprika bestreichen durfte. Ada stand unter dem Birnbaum und sah, während sie ein Tischtuch ausbreitete und acht Teller dicht nebeneinander auf den kleinen Tisch stellte, immer wieder zu ihnen hinüber. Sie hatte es seit dem Krieg erst einmal versäumt, vor Einsetzen der kühlen Witterung noch ein letztes Picknick im Freien zu machen. Und das war vor drei Jahren gewesen, als der Oktober anders gewesen war als gewöhnlich – den ganzen Monat lang dicht bewölkt und regnerisch, bis auf einen Tag, an dem es leicht geschneit hatte. Ada hatte sich bemüht, alle Jahreszeiten gleich zu lieben – den grauen, trüben Winter mit seinem Geruch nach vermodertem Laub, der Totenstille in Feld und Wald genauso wie die anderen Jahreszeiten. Doch nach wie vor war ihr der Herbst am liebsten, und sie hatte nie eine gewisse sentimentale Wehmut überwinden können, wenn die Blätter fielen, weil das für sie immer noch hieß, dass das Jahr zu Ende ging, und daher von symbolischem Wert war, obgleich ihr klar war, dass sich die Jahreszeiten unaufhörlich wiederholten und weder Anfang noch Ende hatten. Der Oktober des Jahres 1874 entwickelte sich zu ihrer Freude so schön, wie der Monat in den Bergen nur sein kann. Es war seit Wochen trocken, warm und klar gewesen, und die Blätter waren in ihrem Farbwechsel so weit fortgeschritten, dass die Pappel gelb war und der Ahorn rot, die Eiche hingegen noch immer grün. Der hinter dem Haus aufsteigende Cold Mountain war ein Gesprenkel aus bunten Farbflecken.
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Die Farben veränderten sich von Tag zu Tag, und wenn man genau achtgab, konnte man verfolgen, wie die Farben das Grün überdeckten und immer weiter den Berg herunterkamen und sich über das Tal ausbreiteten wie eine langsam hereinrollende Woge. Bald darauf, etwa eine Stunde vor Einbruch der Dämmerung, kam Ruby aus der Küche. Neben ihr ein großes, schlankes, neunjähriges Mädchen. Beide trugen Körbe mit Kartoffelsalat, Mais, Maisbrot, grünen Bohnen. Reid nahm die Hähnchen von der Glut, und Ruby und das Mädchen stellten das Essen auf den Tisch. Stobrod kam von der Scheune herauf, wo er gemolken hatte. Er stellte den Eimer neben den Tisch auf den Boden, und die Kinder schöpften sich ihre Becher voll. Sie setzten sich alle an den Tisch. Später, als sich das Zwielicht über das Tal legte, schürten sie das Feuer, und Stobrod nahm seine Fiedel heraus und spielte eine Variation von Bonnie George Campbell, indem er das Tempo beschleunigte und das Stück im Rhythmus einer Gigue spielte. Die Kinder sprangen krakeelend um das Feuer herum. Sie tanzten nicht, sondern rannten zur Musik, und das Mädchen wedelte mit einem brennenden Stock umher und malte mit der gelbglühenden Spitze Kreise in die Dunkelheit, bis Ada sie aufforderte, damit aufzuhören. Das Mädchen sagte: Aber Mama, doch Ada schüttelte den Kopf. Das Mädchen kam zu ihr, küßte sie auf die Wange, tanzte wieder weg und warf den Stecken in die Flammen. Stobrod spielte die einfache Melodie wieder und wieder, bis die Kinder glühten und schwitzten. Als er aufhörte, ließen sie sich neben dem Feuer auf den Boden fallen. Stobrod nahm die Geige vom Kinn. Er wollte einen Gospel singen, und die Geige war schließlich ein Teufelsding, auf dem man solche Lieder nicht spielen durfte. Trotzdem hielt er sie zumindest liebevoll an seine Brust gepresst und ließ den Bogen von seinem gekrümmten Finger hängen. Er sang Angel Band, eine neue Weise. Das Mädchen fiel in den Refrain mit ein, mit klarer, hoher und kräftiger Stimme. Trag mich hinweg auf
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deinen schneeweißen Flügeln. Stobrod stellte die Geige weg, und die Kinder bettelten darum, eine Geschichte vorgelesen zu bekommen. Ada nahm ein Buch aus ihrer Schürzentasche, neigte es an den Feuerschein und las. Philemon und Baucis. Sie blätterte die Seiten etwas ungelenk um, denn sie hatte vor vier Jahren, einen Tag nach der Wintersonnenwende, das obere Glied ihres rechten Zeigefingers verloren. Sie war allein auf dem Grat gewesen, um an der Stelle die Bäume zu fällen, an der sie tags zuvor von der Veranda aus die Sonne hatte untergehen sehen. Die Zugkette hatte sich verheddert, und sie hatte versucht, die verhakten Glieder zu entwirren, als das Pferd in den Zugriemen einen Ruck machte und ihr dabei die Fingerspitze abzwickte wie einen Tomatenschößling. Ruby legte einen Breiumschlag um den Finger, und obwohl es fast ein Jahr dauerte, bis er verheilte, sah er hinterher so perfekt aus, dass man hätte meinen können, die Fingerspitze eines Menschen müsse so aussehen. Als Ada zum Ende der Geschichte kam und sich das alte Liebespaar nach langen gemeinsamen Jahren in Frieden und Harmonie in eine Eiche und eine Linde verwandelt hatte, war es vollkommen dunkel. Es wurde allmählich frisch, und Ada steckte das Buch weg. Ein sichelförmiger Mond stand dicht neben der Venus am Himmel. Die Kinder waren müde, und der nächste Morgen würde so früh und arbeitsam wie immer beginnen. Es war Zeit, ins Haus zu gehen, die Glut mit Asche zu belegen und den Riegel vor die Tür zu schieben. Ich möchte mich bei mehreren Menschen für die mir während des Schreibens von Unterwegs nach Cold Mountain gewährte Unterstützung bedanken. Ich stehe gerne in ihrer Schuld. Mein Vater, Charles O. Frazier hat die Familiengeschichten im Gedächtnis bewahrt und sie mir erzählt. Er hat mich auf Inmans Fährte gesetzt, und sein detailliertes Wissen über Geschichte und Kultur des westlichen North Carolina war mir eine große Hilfe. Kaye
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Gibbons hat mich beraten und ermutigt; sie hat mein Schreiben ernst genommen, bevor ich selbst soweit war, und war mir ein Muster an Fleiß und Engagement. W. F. und Dora Beal haben mir ein wundervolles Domizil in den Bergen North Carolinas zur Verfügung gestellt, wo ich einen Großteil des Buches geschrieben habe; der weite Blick von der Veranda bestimmt den Geist dieses Buches. Leigh Feldman hat mich angespornt, als ich mich festgefahren hatte. Er half mir, die Geschichte in die richtige Richtung zu lenken. Elisabeth Schmitz' aufmerksame, einfühlsame und engagierte Bearbeitung hat entscheidend zur Verbesserung der Endversion beigetragen. Eine Reihe von Büchern waren für den kulturellen und geschichtlichen Hintergrund des Romans hilfreich, insbesondere: Robert Cantwell, Bluegrass Breakdown: The Making of the Old Southern Sound (1984); Richard Chase, Jack Tales (1943) und Grandfather Tales (1948); Walter Clark, Histories of the Several Regiments and Battalions from North Carolina in the Great War (1901); Daniel Ellis, Thrilling Adventures (1867); J. V. Hadley, Seven Months a Prisoner (1898); Horace Kephart, Our Southern Highlanders (1913); W. K. McNeil, Applachian Images in Folk and Popular Culture (1995); James Mooney, Myths of the Cherokee (1900) und Sacred formulas of the Cherokees (1981); Philip Shaw Paludin, Victims (1981); William R. Trotter, Bushwhackers: The Civil War in North Carolina, Vol. II, The Mountains (1988). Zum Schluß bitte ich um Nachsicht dafür, dass ich mir erlaubt habe, mit den Einzelheiten von W. P. Inmans Leben und der geographischen Umgebung des Cold Mountain (1838m) sehr frei umzugehen.
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