Arthur Heye
Unterwegs Die Lebensfahrt eines romantischen Strolches
revised by AnyBody
Mit der Flucht des Vierzehnjähr...
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Arthur Heye
Unterwegs Die Lebensfahrt eines romantischen Strolches
revised by AnyBody
Mit der Flucht des Vierzehnjährigen aus seinem Elternhaus beginnt ein Reiseleben auf allen Kontinenten und Meeren. © 1996 by Archiv zur Geschichte des Individuellen Reisens - AGIR
Dieses E-Book ist nicht zum Verkauf bestimmt!!!
Inhalt 1 Vorbemerkung ..................................................................... 3 2 Kurzbiographie..................................................................... 3 3 Die Reisen Artur Heyes 1899-1934 .................................... 6 Flucht aus dem Elternhaus (1899) ...................................... 6 Seefahrer-Romantik (1900-1902) ....................................... 7 Indianer und edle Wilde (1902-1904)............................... 10 Zwanzig Berufe in drei Jahren (1904-1905) .................... 13 Eigener Kamin ist Goldes wert (1905-1908) ................... 15 Fremd in der Heimat (1909).............................................. 18 Sanatorium und Beduinen (1909-1912)............................ 19 Im Auftrag der Redaktion (1912-1914) ............................ 27 Rund ums Mittelmeer ....................................................... 28 Ins Innere Afrikas.............................................................. 30 Der Weg zum Tierphotographen....................................... 32 Tierphotographie im Paradies (1913-1914) ...................... 33 Der 1.Weltkrieg (1914-1917)............................................ 39 Gefangenschaft in Indien (1917-1920) ............................. 44 Reisen als Nebensache (1920-1925) ................................. 48 Mit der Kamera in Ostafrika (1925-1926) ........................ 49 Erholung und Heirat (1926-1927)..................................... 50 Mit der Kamera in Amazonien (1929-1930).................... 52 Die letzte Reise - Alaska (1932-1934).............................. 53 4 Überblick............................................................................ 55 Zur Person Artur Heye...................................................... 55 Kritische Anmerkungen .................................................... 57 5 Literatur.............................................................................. 60 5.1 Heye-Bibliographie..................................................... 60 5.2 Weitere Literatur ......................................................... 62
Wohin Du blickst, dorthin wirst Du auch fliegen. Thailändisches Sprichwort
1 Vorbemerkung Die Bücher von Artur Heye sind nahezu die einzige Quelle über sein Leben. Die daraus rekonstruierte Biographie weist notwendigerweise Lücken auf. Ergänzungen und Hinweise sind willkommen.
2 Kurzbiographie Artur Heye wurde am 4. November 1885 in Leipzig geboren. Er entstammt einer Arbeiterfamilie, besucht die Volksschule, dann ein halbes Jahr die Fortbildungsschule. Im Alter von 14 Jahren (1899) entflieht er dem Stiefvater und ist zunächst ein halbes Jahr auf Wanderschaft, bevor er in Antwerpen auf der Dreimastbark Luise Henriette anheuert, die bereits am 25. April 1900 vor der westafrikanischen Küste sinkt. Nach seiner Rettung fährt er auf dem Vollschiff Black Swan um Kap Horn zu den Galapagos und ist Weihnachten 1901 wieder in Antwerpen. Er heuert auf dem Dampfer Westfalen als Heizer an, schippert über Indien nach Südostasien und ist am 27. April 1901 in Genua. In Hartlepool mustert er ab und fährt auf dem Vollschiff Gwendolin im Juni/Juli nach Florida. Nach einer Auseinandersetzung mit dem Steuermann flüchtet er vom Schiff und ist als Junge zwei Monate auf einer Jacht in der Karibik unterwegs. An einer fiebrigen Krankheit sterben fünf der sieben Besatzungsmitglieder, Heye überlebt, ist wochenlang erblindet und gewinnt auch später nur etwa ein Drittel der Sehkraft -3-
zurück. Als Kohlenzieher auf dem Dampfer Dolly Dane fährt er 1902 nach Hamburg. Nach einem kurzen Heimatbesuch wird er Heizer auf dem Dampfer Kaiser Wilhelm II., verschwindet aber am 16.10.1902 in Hoboken von Bord. Drei Jahre betätigt er sich in etwa zwanzig Berufen, zieht weitere zwei Jahre als Tramp durch die USA. Nach dem Tode seines Stiefvaters heuert er als Heizer auf dem Passagierdampfer Potsdam an und trifft 10 Jahre, nachdem er von zu Hause abgehauen ist, wieder in Deutschland ein. Erstmals hat er die Gelegenheit zu veröffentlichen. Doch im Herbst 1909 treibt es ihn wieder in die Welt; er wandert nach Italien und setzt auf der Baron Call nach Ägypten über. Er verbringt dort drei Jahre, arbeitet im Winter in einem Sanatorium und lebt im Sommer bei den Beduinen. 1912 folgt ein kurzer Heimaturlaub, dann wandert er im Oktober durch die Schweiz, über Mailand, Florenz, Rom, Neapel nach Palermo. Eine Jacht nimmt ihn nach Barcelona mit, er besucht Madrid, Sevilla und Granada, setzt nach Marokko über, zieht mit einer Eselskarawane durch das Rif-Gebirge, Algerien und Tunesien und erreicht erneut Ägypten. Von dort reist er über den Sudan nach Äthiopien, muß aber die Reise verschiedener Unglücke wegen abbrechen. Über den Jemen und Somalia erreicht er 1913 Britisch-Ostafrika und betätigt sich als Tierphotograph. Einige Monate ist er in Uganda und im östlichen Kongo. Im August 1914 erhält er seinen Gestellungsbefehl, ist drei Jahre Soldat und Unteroffizier in Ostafrika. Im Juni 1917 bringen ihn die Engländer als Kriegsgefangenen nach Indien, per Schiff von Daressalam aus. Bis 1920 lebt er im Gefangenenlager. Es folgt eine längere Zeit in der Heimat, die mit Schreiben und Vorträgen ausgefüllt ist. 1921 ist er in Italien, 1922/23 verbringt er sieben Monate in Ägypten, die Sommer 1923 und 1924 wieder schreibend in der Schweiz und Italien. 1925/26 ist er in Ostafrika und dreht einen Film, im März 1926 ist er wieder in Deutschland. Die nächsten -4-
Jahre überschattet eine Gallenerkrankung sein Wohlbefinden. Im Juli 1928 heiratet er. 1929/30 ist er mit seiner Frau in Brasilien unterwegs, leidet jedoch weiter an seiner chronischen Gallenerkrankung, zusätzlich an einem Magengeschwür. 19321933 treibt er sich in Alaska herum. Aus politischen Gründen verlegt er seinen Wohnsitz dann in die Schweiz, nach Ascona. Nach 1940 erscheinen die Bände der Wilden Lebensfahrt, von den neueren Reisen berichtet nur der 1939 erschienene Band "Mit Trappern, Fischern, Goldsuchern in Alaska". Falls danach weitere Reisen stattgefunden haben, so hat Heye nichts davon publiziert. Er stirbt am 1.11.1947 in Ascona in der Schweiz.
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Warum reisen wir? - Damit wir noch einmal erfahren, was uns in diesem Leben möglich ist! Max Frisch, Tagebuch
3 Die Reisen Artur Heyes 1899-1934 Flucht aus dem Elternhaus (1899) Artur Heye ist ein romantischer Träumer mit einer Sehnsucht nach außergewöhnlichen Abenteuern und dem Drang nach neuen, unbekannten Wegen. Für Träume war jedoch kein Platz: "[Meinen Stiefvater] interessierten nur Wochenlohn und Kostgeld." Bereits als Elfjähriger muß er in Kneipen Kegel aufstellen, um zum Lebensunterhalt der Familie beizutragen. Seine Schulzeit ist vorbei und ein halbes Jahr hat er bereits für die Buchhandlung Wagner & Sohn in Leipzig Pakete ausgefahren, als er an einem regnerischen Oktobertag ein goldenes Zwanzigmarkstück auf der Straße findet. Kurz entschlossen bringt er die Bücher zurück, läßt sich Lohn und Papiere geben und begibt sich zum Bahnhof, ohne noch einmal nach Hause zu gehen, und ist am nächsten Vormittag in Hamburg. Er flieht vor der Enge des Elternhauses und der Heimat. Der wahre Reisende weiß nicht, wohin die Reise geht, der wahre Abenteurer weiß nicht, was er erleben wird. Seine Reisen führen ihn nicht eher in eine Richtung als in eine andere. Seine Neugierde ist nicht auf einen bestimmten Punkt gerichtet. Tschuangtse
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Seefahrer-Romantik (1900-1902) Sein Plan, sich auf einem Schiff zu verdingen, scheitert jedoch an seinem Alter: Ohne eine polizeilich beglaubigte Einwilligungserklärung der Eltern kein Anheuern. So ergeht es ihm in Hamburg, in Bremen, in den holländischen Häfen bis Rotterdam, im belgischen Antwerpen. Geld und Stiefel wurden ihm bereits in der zweiten Nacht gestohlen, danach wurde es bitter: "Es war eine elende Wanderung. Ich hatte keine Auslandspapiere, kein Geld, keine Sprachkenntnisse und keine Lebenserfahrung. Nur eine Mordsangst vor jeder Uniform und vor dem Betteln. So marschierte ich meist nachts, lebte von Rüben und Kartoffeln, die ich aus den Mieten scharrte, und schlief stundenweise in Feldscheunen..." Nach drei Wochen spendiert ihm eine Bäuerin Strümpfe und Stiefel und vernünftiges Essen. Drei Tage vor Weihnachten findet er in einer Schifferkneipe in der Antwerpener Margaretengracht eine Stelle in einer Kneipe. Anfang März geht er als Illegaler an Bord der Dreimastbark Luise Henriette mit Richtung Antarktis, zum Walfischfang. Mit der Sauberkeit an Bord ist es nicht weit her: "Die Sonne briet das alte Walfischboot förmlich aus, es schwitzte Tran aus allen Fugen und gebar Lebendiges aus allen Ritzen. Die Kojen begannen von Flöhen und Wanzen, das Hartbrot und Backobst und zuletzt auch das Fleisch von Käfern, Würmern und Maden zu wimmeln..." Auch in der Mannschaft gärt es: "Unter den sechundvierzig Mann befanden sich Vertreter von etwa zwanzig Nationen; und fast jeder wäre würdig gewesen, das Verbrecheralbum seiner Nation als Titelblatt zu zieren." In der Biskaya gibt es den ersten Aufstand mit Messerstecherei, kurze Zeit später will ihn ein Matrose vergewaltigen, nochmals einige Tage darauf verschwindet der erste Steuermann: spurlos und mitten auf See. Die Woche drauf brennt das Schiff. Nur zwei der fünf Rettungsboote überstehen den Untergang des Schiffes am 25. April 1900 vor der -7-
westafrikanischen Küste. Anderntags schon werden sie von der Kinfounds Castle aufgenommen und in Lissabon abgesetzt. Die Passagiere sammeln 120 Franken für ihn, das deutsche Konsulat stellt ihm ein Seefahrtsbuch aus. Außerdem läuft er einem hübschen Mädchen in die Arme: "Heute noch bin ich jenem portugiesischen Mädel tief dankbar, daß durch sie der Weg zu den Frauen für mich nicht der übliche war, den sonst junge Männer zu gehen haben..." Vier Wochen später verabschiedet er sich und schifft sich an Bord des englischen Vollschiffes Black Swan ein. Über Pernambuco, Bahia, Rio de Janeiro und an Kap Horn vorbei geht es zu den Galapagos, um Guano zu bunkern: "Das ganze Schiff war in die penetrant und stechend riechenden Staubwolken dieses Teufelszeugs gehüllt. Es legte sich auf die hustenden Lungen, fraß sich, mit dem unaufhörlich rinnenden Schweiß vermischt, wie flüssiges Feuer in Augen, Nase und jede Hautritze und erzeugte einen juckenden Hautausschlag..." Auf dem Rückweg holt bei Kap Horn ein gigantischer Brecher den neben Heye stehenden Matrosen so schnell von Bord, daß der keinen Laut von sich geben kann. Weihnachten 1901 läuft das Schiff in Rotterdam ein. Ein kurzer Besuch zu Hause, dann begibt er sich als Leichtmatrose mit einem Sack voller antiquarischer Bücher an Bord des Geestemünder Dampfers Westfalen. Die Fahrt geht über Indien und Ceylon nach Java und zurück durchs Mittelmeer. Im tunesischen Sfax laden sie Guano: "Mein Körper sah aus wie eine geschabte Mohrrübe." Als sie den Hafen von Genua am 27. April 1901 verlassen, rammt sie ein Torpedoboot und das Schiff sinkt beinah. Das Schiff wird im Dock instandgesetzt, Heye kuriert eine gebrochene Rippe und eine Gehirnerschütterung aus. Eines Tages sitzt er wartend auf dem Konsulat, liest Schopenhauer und verdankt diesem Anblick, daß der Konsul ihm 14 Tage Landurlaub verschafft. Die verbringt er wandernd in Oberitalien. -8-
Im Juni oder Juli wechselt er auf das Vollschiff Gwendolin und setzt nach Florida über. Einige Frechheiten verschaffen ihm zwar die Sympathie der Mannschaft, aber Hiebe vom Steuermann. Pech ist, daß er sich wehrt, denn darauf steht Zuchthaus. Die Mannschaft verhilft ihm jedoch zur Flucht und schmuggelt ihn von Bord. Ohne Seefahrtsbuch findet er lediglich einen Job als Junge auf der Jacht Pigeon, bei einem reichen Exzentriker, der vor der Küste Yukatans nach Perlenbänken suchen will. Auch diese Fahrt endet nach zwei Monaten mit einem Desaster. Vom Fieber befallen sterben fünf der sieben Besatzungsmitglieder, nur Heye und der Jachtbesitzer überleben. Im Hospital von New Orleans verbringt er drei Monate. Als er nach 4 Wochen feststellt, daß er anscheinend dauerhaft erblindet ist, unternimmt er zwei Selbstmordversuche. Nach weiteren acht Wochen hat er ein Drittel seiner Sehkraft zurückgewonnen, weitere zwei Monate braucht es zur völligen Genesung. Mit seiner schlechten Sehkraft verdingt er sich als Kohlenzieher auf dem Dampfer Dolly Dane und landet Anfang 1902 in Hamburg. Nun ist ihm, der gerade mal eben 16 Jahre alt, aber bereits dreimal dem Tod von der Schippe gesprungen ist, klar geworden, daß die Zeit der Seefahrt für ihn vorbei ist: "Es war Romantik gewesen, die ich gesucht hatte; gefunden hatte ich Schmutz und Rohheit und menschenunwürdige Behandlung und Beköstigung.... in der harten, stumpfen Fron der Kesselhöllen... sah ich in dem roten Schein der Feuer immer nur weite, windüberbrauste Grasflächen und wilde Gestalten... hörte... jauchzende, kraft- und freiheitstrunkene Schreie - immer lebendiger, immer plastischer und lockender." Nur unterwegs erfährt man das Gefühl märchenhafter Verwunschenheit. Erich Kästner
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Indianer und edle Wilde (1902-1904) Schon nach drei Tagen Heimaturlaub findet er sich wieder als Heizer an Bord der Kaiser Wilhelm II. auf dem Weg nach Amerika. Am 16. Oktober 1902 macht er sich in Hoboken davon, auf der Suche nach seinen Träumen. Zunächst einmal landet er jedoch auf einer Farm und schaufelt drei Wochen lang Mist im Akkord. Er verdient einiges und lernt dabei amerikanisch: "Im Gegensatz zu allen anderen Dialekten, die ich schon gehört hatte, wurde es nicht mit dem Munde, sondern mit der Nase gesprochen." Er geht den Weg aller Greenhörner: "...auf dem Wege lagen noch viele Misthaufen... Ich arbeitete bald hier, bald da, niemals lange... war Farmarbeiter und Blumengärtner, Silberwäscher in einem Hotel, Speicherarbeiter auf einem Bahnhof, Streckenarbeiter bei der Bahn... wurde...natürlich auch hier und da um meinen Lohn betrogen oder, wenn ich ihn hatte, in den Elendsquartieren, wo ich kampierte, darum bestohlen..." Er reitet Ponys zu, wird dann Postreiter. Das ist so ganz nach seinem Geschmack, allein durch die Wildnis von Tennessy, alle vier Tage 150 Meilen hin und wieder zurück. Doch eines Tages wacht er nachts von intensivem Brandgeruch auf und entkommt nur mit knapper Not einem Waldbrand. Er reitet vier bis fünf Stunden vor dem Feuer her, während das Gras unter den Hufen bereits raucht. Bei seinen Fahrten lernt er die Tramps kennen: "Sie rekrutieren sich aus Männern aller Länder, doch bilden Deutsche und Skandinavier den überwiegenden Teil. Es sind zum größten Teil für immer entwurzelte Existenzen, Leute, die ihre Veranlagung oder ihr Schicksal aus der Bahn des seßhaften, auf Erwerb gestellten bürgerlichen Lebens geworfen hat, die sich vor nichts und niemanden auf der Welt, vor keiner Härte, Entbehrung und Gefahr ihres Wanderlebens, wenn´s sein muß auch vor keinem verwegenen Spitzbubenstreich und Verbrechen fürchten, außer vor anhaltender Arbeit! Ich habe -10-
Menschen unter ihnen getroffen, die seit vierzig Jahren kreuz und quer durch die riesigen Länderstrecken der Vereinigten Staaten zogen, Menschen, die seit zehn Jahren in keinem Bett geschlafen und keine drei Nächte hintereinander an demselben Platz gearbeitet hatten; Menschen, die ihren Namen und ihren Geburtsort vergessen hatten. Und wen das Leben amerikanischer Tramps einmal gepackt hat, der bleibt ihm meist verfallen für immer. Hinter jeder Weite liegen ja dort immer wieder neue, blaudämmernde Weiten, liegen Prärien, Wüsten, Ströme und Gebirge, tosende Millionenstädte und menschenleere Einöden, liegen eisige, von Schneestürmen überbrauste Gebiete, in denen halbjahrelange, polare Winter herrschen, und andere in strotzender, üppiger Fülle wuchernde, über denen sich glutheißer Tropenhimmel wölbt. Rastlos durchwandert der Tramp diese Mannigfaltigkeit und Gegensätzlichkeit, und Schauen und Wandern wird zuletzt Lebenszweck und Schicksal." Doch Heye hat ein Ziel, er sucht die Indianer aus den Büchern seiner Kindheit und Jugend, den edlen Wilden, der Bisons jagt und Schmerz nicht kennt. Auf einer Farm arbeitet er dann mit einem Indianer zusammen: "Jedoch mein roter Kollege hier besaß die Gemeinheit, John Goodman zu heißen und mir, als ich am zweiten Tage anhub, ihn nach seinen Erlebnissen auf dem Kriegspfade auszuhorchen, mit sanftem Lächeln und demütig gesenkten Augen eine Bibel in die Hand zu drücken Von Stund an war er für mich Luft, er hatte mich zu tief getroffen." Einem Zwischenspiel als Zimmermann schließt sich eine Periode als Schmuggler an. Drei Monate holt er zusammen mit einem Kameraden Schmuggelgut auf Pferden aus Mexiko, dann erwischt sie die Grenzpolizei. Sein Kompagnon wird erschossen, Heye flieht. Als er nach einigen Wochen wieder seinen Kontaktmann im US-amerikanischen Alexander City aufsucht, hat schlechte Nachrichten für ihn: Heye wird wegen Mordes gesucht. "Bei eurer Rauferei mit den Grenzern ist einer -11-
erschossen worden. Mit einem Militärgewehr. Und da der arme Charles keins gehabt hat, mußt du´s gewesen sein.... Der Mann ist natürlich bei der blödsinnigen Schießerei im Finstern von seinen eigenen Kameraden versehentlich über den Haufen geknallt worden." Heye flieht ins Apachen-Territorium. Dort wird er gastfreundlich aufgenommen, ist Gast des Häuptlings (der sich Sheriff nennt) und im übrigen enttäuscht: "Diese Abkömmlinge des wildesten und kriegerischsten aller Indianerstämme fristeten hier auf einem undankbaren Boden durch harte Arbeit, zu der sie weder Lust noch Befähigung hatten, ein kümmerliches und prosaisches Dasein." Dann erzählt man ihm von den "Indianos bravos", die nicht in Dörfern, sondern in ledernen Wigwams wohnen und noch nomadisch leben. Am nächsten Tag ist er auf dem Weg nach Mexiko, Indianer suchen. Fünf Wochen später finden jedoch die Indianer ihn, als sie die Farm überfallen, auf der er gerade arbeitet: "Sie sahen immerhin anders aus als ihre Brüder drüben im Territorium. Zwar noch schmieriger und zerlumpter als jene, aber auch lebendiger und selbstbewußter." Sechs Wochen zieht er mit ihnen herum, dann bietet ihm der Medizinmann die Aufnahme in den Stamm an! Einzige Bedingung ist, daß er das Stammeszeichen, eine Schlange tätowiert bekommt. Heye stimmt zu. Während sich der ganze Stamm fein zurecht gemacht hat und die Trommeln dröhnen, ist Heye Gegenstand der Bemühungen des Medizinmannes. In einem Lederzelt werden ständig heiße Steine in Wasser geworfen und so eine Art Sauna erzeugt, während er tätowiert wird: "Das Schlimmste der Prozedur waren die Begleitumstände, die Ströme von Schweiß, die unaufhörlich an mir herabrannen, die erstickenden Wolken von Dampf und von beißendem Rauch, die von den Feuern und Öllampen kamen, der ranzige Gestank von gebratenem Fisch, gemischt mit dem widerlich süßen des Agavenschnapses, der in unheimlichen Mengen konsumiert und auch mir, trotz allem Sträuben, immer -12-
wieder einfiltriert wurde, das Gebrüll und Gegröle der Tanzenden und Saufenden und die paar hundert Nackenschläge, die nach und nach auf mich herabklatschten. Die Tierquälerei hat geschlagene neun Stunden gedauert!" Am nächsten Tag kommt der Medizinmann völlig verkatert und mit gläsernen Augen angeschwankt, lobt ihn, daß er gut ausgehalten habe, und kündigt die Tätowierung der zweiten, größeren Schlange auf dem Bauch an. Heyes Bedarf an Indianerromantik war gedeckt und in der kommenden Nacht nimmt er Reißaus.
Zwanzig Berufe in drei Jahren (1904-1905) Es folgen Arbeitswochen in einem Silberbergwerk in Nevada, als Erntearbeiter in Kalifornien, als Führer einer Dreschmaschine und als Holzfäller in Saskatchewan/Kanada. Mit Henrick Gullison, einem Finnen, den er im Silberbergwerk kennengelernt hat, sechs anderen Lumberern und 18 weiteren Leuten, einem Koch und einem Jäger zieht er in die verschneiten Urwälder von Saskatchewan, um den Winter über Bäume zu fällen. Jeder zahlt einen festen Betrag für Proviant, Schrotsägen und Stahlkeile. Im Frühjahr soll dann der erzielte Gewinn gleichmäßig unter alle verteilt werden. Schon nach kurzer Zeit herrscht Zwietracht; Raufereien wechseln sich mit Beschimpfungen ab, es bildeten sich Cliquen. Weihnachten gibt es den ersten Mord und die Aggressionen brechen offen aus. Im Bett liegend erhält Heye einen Messerstich. In der folgenden Prügelei werden zwei der drei Cliquen aus dem Blockhaus geworfen, erhalten Proviant und ihre persönlichen Sachen und ein Nimmerwiedersehen mit auf den Weg. Nachts rächen sie sich jedoch, indem sie den restlichen Proviant stehlen und, was sie nicht tragen konnten, den Füchsen und Wölfen überließen. Der Rest reichte nur noch für acht Tage. Mit der Holzfällerei -13-
war es damit zu Ende. Sieben Kameraden ziehen am nächsten Tag der Bahnlinie zu, Heye mit seinem verwundeten Bein, ein Holländer und Gullison bleiben zurück. Zwei Wochen später brechen auch sie auf und geraten in einen drei Tage dauernden Blizzard. Den Holländer erschlägt ein umstürzender Baum, auch zwei Drittel des Proviants verlieren sie. Zwei Tage später sind Gullisons Füße erfroren, so daß Heye ihn auf einem improvisierten Schlitten ziehen muß. Schließlich wird er zu schwach, geht allein weiter. Am fünften Tag erreicht er die Bahnlinie, macht ein Feuer und hält einen Güterzug an. Die Bahnangestellten holen Gullison, der bald darauf im Hospital liegt und einige Zehen amputiert bekommt. Heye sucht in St. Paul, Minneapolis, Milwaukee und Chicago erfolglos Arbeit, dann findet er mit viel Frechheit eine Stelle als Beleuchter im Deutschen Theater: Eines Abends fällt er lachend von der Scheinwerfergalerie auf die Bühne, auf der gerade eine Komödie gegeben wird, und hat damit soviel Erfolg, daß er das nun jeden Abend macht und je drei Dollar extra erhält. Der Heldendarsteller des Ensemble nimmt bei ihm bezahlten Boxunterricht und einem angehenden Schriftsteller erzählt er seine selbst erlebten Abenteuerstories, das Stück zu fünf Dollar. Zuguterletzt verdient er sich ein Zubrot mit dem Verkauf seiner Freikarten für die Vorstellung. Insgesamt lebt er wie die Made im Speck, und seine Zusatzeinnahmen schickt er Gullison ins Krankenhaus, da diesem die gesamten Ersparnisse gestohlen worden waren. Ab Mai macht das Theater Sommerpause und Heye fährt mit zwei Freunden, einem steirischen Zimmermann namens Steinlehner und einem Iren gen Norden. Dort treffen sie sich mit Gullison und ziehen das im Winter gefällte Holz aus dem Wald. In sechs Wochen verdient er 220 Dollar und ist so reich wie nie zuvor.
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Eine Reise ist ein vortreffliches Heilmittel für verworrene Zustände. Franz Grillparzer
Eigener Kamin ist Goldes wert (1905-1908) "Mir selbst aber war merkwürdigerweise in letzter Zeit öfters die Sehnsucht und jetzt der Entschluß gekommen, mir ein eigenes Stück Land und damit vielleicht etwas zu erwerben, was ich, wenigstens in seinem tieferen Sinne, noch nie besessen hatte - eine Heimat." Heye ist nun 19 Jahre alt. Zusammen mit dem Schotten Frederik McArran plant er, in Britisch-Columbia eine Obst- und Geflügelfarm aufzubauen. "Die Zuteilung des Landes hatte keine Schwierigkeiten gemacht. Es war nur eine Erklärung zu unterschreiben, daß ich "British Subject" werden wollte, und eine kleine Schreibgebühr, zu der später noch eine für die Vermessung des Landes kam, zu bezahlen, und das Formale an der Sache war erledigt." Die beiden arbeiten wie die Besinnungslosen, Tag für Tag, bis spät in die Nacht in der abgeschiedenen Bergwelt. Einige hundert Beerensträucher, eine Milchziege und Hühner bilden vorerst die Lebensgrundlage. Heye überläßt das Geschäftliche dem sparsamen McArran. Der stellt noch zwei Leute ein. Nach einigen Monaten zahlt Heye für seine Vertrauensseligkeit: die drei haben sich zusammengetan und seine Enteignung geplant. Heye muß gehen, sein Geld ist weg und erst recht seine Träume von einer Heimat. "Es war mir rot vor den Augen und schwer in den Beinen, als ich langsam nach meinem Platze am Flusse ging. Ich habe lange dort gesessen und nachgedacht... Aber als Abschluß stieg ganz leise und von ganz tief ein Lachen herauf, das immer stärker und stärker wurde, mir den Körper krümmte und Tränen aus den Augen preßte.... Ich warf mich zurück, -15-
faltete die Hände überm Bauche, strampelte mit den Beinen und lachte, lachte so souverän, so herzlich heiter und so frei. Und nicht nur innerlich frei. Frei !" Im Hochgefühl der neuentdeckten Freiheit verprügelt er ganz genüßlich den Schotten, packt dann seine Sachen und sucht sein Glück nunmehr in den Staaten. Kaum hat er die Grenze überschritten, gerät seine Freiheit wieder in Gefahr: "Tat sich nicht der Boden unter mir auf?.... Über mir im Rahmen des Fensters leuchtete ein Frauengesicht, das schönste Frauengesicht, das ich je gesehen hatte, und das auch das schönste für mich geblieben ist." Eigentlich will er nur ein Mittagessen schnorren, doch des Müllers Nichte hat es ihm angetan. Er bleibt, arbeitet, betet seine Holde an und seine Gefühle werden erwidert. So winkt schon wieder die Chance einer neuen Heimat. Doch das Glück ist kurz: "Ich wußte alles vom ersten Tage an; der Müller hatte mir gesagt, daß seine Nichte hier oben in den Bergen lebte, weil sie krank war, unheilbar." Einige Wochen später ist sie tot. "Dann kam das Bitterste, was mir das Leben gebracht hat bis jetzt. Ihre zerstörte, versagende Stimme und ihre Sonnenaugen baten mich, jetzt noch Abschied zu nehmen, solange auch sie noch, und wir beide allein und ohne die anderen Abschied nehmen konnten. Die Nacht brach an in mir, die für viele, viele Jahre keinen Morgen mehr haben sollte.... Ich bin dann monatelang in den Gebirgen an der Küste des Stillen Ozeans herumgewandert... Das einzige, was mich mit der Gegenwart verband, war der immerwiederkehrende Gedanke, wie gut es war, daß ich dort droben über hundert Dollar verdient und jetzt in der Tasche hatte, die es mir ermöglichten, alles, was ich zum Leben brauchte, mit drei oder vier Worten zu kaufen, die dann wieder für mehrere Tage, daß ich es nicht nötig hatte, Menschen um etwas zu fragen, zu bitten, überhaupt zu sprechen, das Schrecklichste, was mir damals begegnen konnte." Es folgen wieder Zeiten mit Arbeit in einem Wanderzirkus, -16-
als Bergmann, als Schmiedgehilfe, als Telegraphen- und Farmarbeiter. Dann ergreift er die Gelegenheit, ein abgelegenes Sommer-Blockhaus in den Bergen, auf 2500 Metern Höhe, zu betreuen und hält sich dort fast ein Jahr auf. Dabei liest er ununterbrochen, eignet sich die Weltliteratur an. Das dabei leicht verdiente Geld reicht für weitere zehn Monate ohne zu arbeiten und er "lernte in einem fast schon an Manie und Irrsinn grenzenden Wander- und Bewegungstriebe 41 von den 48 Staaten der Union kennen." Es folgen drei Monate Gefängnis wegen "Jumping". Anschließend verdingt er sich als Bauarbeiter und Wagenwäscher. Den folgenden Winter verbringt er auf See, heuert auf einem Viehdampfer nach London an und fährt umgehend als Passagier auf der Main wieder nach Amerika. Auf einem Bananendampfer fährt er als Heizer dreimal nach Jamaica und zurück, dann geht der Kahn unter, aber Heye überlebt (wieder einmal). Einige Monate ist er mit der Blumenschere in Florida aktiv, dann legt er für einen Farmer einen Sumpf trocken und holt sich die Malaria. Vier Jahre ist er nun in Amerika, man schreibt das Jahr 1906, und er macht sich mit seinem Kumpel Geodfrey auf zur Goldsuche - wie so viele andere. Der Erfolg läßt trotz intensiver Arbeit zu wünschen übrig: sie waschen für 82 Dollar Gold und hatten Ausgaben in Höhe von 210 Dollar. Nicht nur das, aus den Bergen kommend erliegt er mehrere Wochen einer Art Nervenfieber, das er in einem Kloster auskuriert. Wieder schließen sich viele Monate Wanderschaft und Arbeit als Farmarbeiter, Kellner, Mannschaftskoch auf einem Mississipidampfer an, auch in den berüchtigten Stahlwerken von Carnegie: "Bargeld bekamen wir so gut wie niemals in die Finger, die erbärmlichen Löhne wurden in Bons ausgezahlt. Für die kauften wir unsere Lebensmittelbedürfnisse in den Magazinen der Werke ein, wobei Carnegie nochmals verdiente. Mit diesen bezahlten wir auch die Wohnungsmiete für die -17-
schmierigen Baracken, in denen wir hausten... Bei jeder Unpünktlichkeit und Widersetzlichkeit oder bei ungenügender Leistung gab es eine Geldstrafe... Wer krank wurde, flog hinaus... Irgendwelche Sicherheitsvorkehrungen gab es nicht, in meiner Sektion verbrannte oder verunglückten vor den Puddelöfen in drei Monaten vierzehn Mann tödlich; die Verletzten habe ich nicht gezählt." 1908/09 erfährt er vom Tode seines Stiefvaters und fährt als Heizer auf dem Passagierdampfer Potsdam nach Rotterdam. Herz, raff auf dich, zu reisen, nur so entfliehst du Gewalt und Gesetz, entfliehst du der eigenen Schwere, die dir dein Wesen umschränkt und erdrückt. Wirf dich ins Weite, wirf dich ins Leere, nur Ferne gewinnt dich dir selber zurück! Stefan Zweig
Fremd in der Heimat (1909) An der Grenzstation in Emmerich will die Polizei seine Papiere sehen. Heye hat keine. Und daß er stattdessen den Grenzern die Zeitung reicht (er denkt englisch: Papiere=papers=Zeitungen), macht die Sache auch nicht besser. Vier Tage wartet er in einer Zelle auf die polizeiliche Auskunft aus Berlin, dann darf er einreisen. Zu Hause findet er eine alte und müde Mutter, Erinnerungen an Heimat, an seine verstorbene Geliebte. Er muß arbeiten, um seine Mutter zu versorgen. Doch ohne Papiere geht das nicht so leicht in Deutschland und der Bau, auf dem er dann landet, friert nach vier Tagen ein. Da kommt er erstmals auf die Idee, seine Erlebnisse aufzuschreiben, Geschichten zu verkaufen. Bei der Arbeiterzeitung wird er vorstellig, bietet einem Dr. Morgenstern seinen ersten Artikel an - das, so sagt er, sei der -18-
schwerste Gang gewesen, den er je getan hat. Und er hat eine Goldgrube aufgetan: er soll so viel schreiben, wie er nur kann. Etwa fünfzig Geschichten verfaßt er in den nächsten Wochen und ist erstaunt und glücklich über den Geldsegen, den ihm die Geschichten bringen. Dann stirbt seine Mutter, und Heye hält es nicht mehr in Deutschland. Er ist nun völlig bindungslos: "Was wollte ich eigentlich noch hier in dieser Wohnung, dieser Stadt, diesem Deutschland -?" Die Erfahrung, daß wir eines reinen Enthusiasmus fähig sind: dies ist der eigentlichste Gewinn der Reisen. Johann Wolfgang von Goethe
Sanatorium und Beduinen (1909-1912) In Herbst 1909 wandert er durch die Schweiz und Österreich, halb betäubt, ohne Perspektive und Ziel, bindungslos, lebensmüde: "Wie schon einmal, drüben im fernen Oregon, trug ich ein schweres Herz auf die Höhen der Berge hinauf. Auf dieser Wanderung geriet ich zweimal nacheinander in einen Schneesturm, und beim zweiten mal war es nur ein Zufall, daß ich in tiefer Nacht noch das Hospiz St. Christoph am Arlberg erreichte. Ich war jenem Zufall kaum dankbar." Als er in Venedig das Meer sieht, schifft er sich als Passagier auf der "Baron Call" nach Alexandria ein. Von seinen 100 Mark zahlt er 65 Franken für die Überfahrt (Deckpassage, ohne Bett und Beköstigung), einiges für Verpflegung (Salami, Gorgonzola, Biskuits, Kaffee, Brot). Kaum in Alexandria gelandet, nimmt er schon die Eisenbahn nach Kairo. Alexandria, Eisenbahn und Kairo sind nicht anders als heute: Überfüllt, laut, lebendig. Jeder kauft, verkauft, handelt, bietet Dienstleistungen an. Den "alltäglich lärmenden Maskenball" nennt das Heye. Mit nur 12 Mark erlebt er seinen ersten Tag in Kairo, verbringt die erste Nacht im Hotel Khedivial. Die Arbeitsuche hat wenig Erfolg, -19-
darum quartiert er sich für zwei Piaster pro Nacht (40 Pfennig) in der Philantropic Society Home in der Sharia Dawawine ein. Dort trifft er auch noch "...zwei unverkennbar deutsche Wandervögel mit Kniehosen, Schillerkragen und Rucksäcken, und auf einen war tatsächlich eine Klampfe aufgeschnallt!" Die beiden hatten den ganzen Balkan, die Türkei, Syrien und Palästina durchlaufen und legten nur die letzte Strecke von Haifa nach Alexandria mit dem Schiff zurück. Ihren Lebensunterhalt verdienten sie sich mit dem Musizieren auf Klampfe und Mundharmonika. Einer der beiden heißt Franzl Kirchleitner, ist Kaufmann aus Tirol, der zweite ist ein namenlos bleibender Berliner. Zwei Nächte verbringt er zwischen Sphinx und Pyramiden. Die haben es ihm so sehr angetan, daß er sich gar nicht satt sehen kann und sie bei Sonnenauf- und untergang erleben will. Schon damals schimpft er bereits auf die aufdringlichen Fremdenführer und Händler, die jedem Touristen den letzten Piaster abzuknöpfen versuchen. Am dritten Tag findet er eine Stelle als Hausdiener bei einem Dr. Finkelstein, dem Leiter eines Sanatoriums für alkoholgeschädigte Russen in Heluan. Da gibt es zwar nur 15 Franken monatlich, doch die Arbeit ist leicht und schnell gemacht und Heye hat Zeit für das von ihm so geschätzte Volksleben: "Anfangs trieb ich mich auf Markt und Gassen des Araberviertels herum, lauschte, spannte und schnüffelte in jede Unterhaltung, jede Schimpf- und Keilerei, jede Handwerker-, Markt- oder Kaffeebude hinein, wurde dabei auch manchmal aus privaten Lokalitäten wie winkligen Höfen, dämmerigkühlen Moscheen und verträumten Paschagärten, in die es mich wie am Schopf hineingezogen hatte, wieder herausgeworfen und vermißte dabei immer wieder und immer schmerzlicher die Kenntnis der Landessprache." Von einem englischsprechenden Kaffeewirt und einem emeritierten Dozenten der Al-Azar-Universität lernt er während zahlloser Kaffees Arabisch. -20-
Gemeinsam mit Kirchleitner und einem Architekten macht er einen Ausflug nach Bedraschem; sie organisieren Bahnkarten in der dritten Klasse: "Man bekommt zu leicht Läuse in dem Gedränge; so fingen wir einen zerlumpten Jungen ein, der die Fahrkarten besorgte. Er kroch einem Fellah zwischen den nackten Beinen hindurch und kam bald zurück. Fahrkarten und Geld stimmten, er erhielt Bakschisch und gleich darauf eine Ohrfeige, weil er nicht zufrieden war. Dann war er´s." In Bedraschem steigen sie aus, zahlreiche Jungen bieten offensiv ihre Esel an. "Jetzt versuchten sie es in Englisch und Französisch und ermäßigten alle hundert Schritte den Preis um einen Schilling. Wir sahen und hörten einfach nicht. Da mußten sie das Unfaßbare glauben, daß wir zu Fuß gehen wollten. Lautes Hohngeschrei erscholl." Im Heluaner Sanatorium engagiert er sich, installiert elektrisches Licht und verdient dabei satte 150 Franken. Als der bisherige Direktor wegen Unfähigkeit entlassen wird, übernimmt er die Verwaltung des Sanatoriums. Den Sommer über ist das Sanatorium geschlossen und so zieht er im April in die Oase El Fayoum. Beduinen sucht er, die Welad Ali, von denen ihm Kirchleitner erzählt hatte. Als Freund eines Freundes wird er freudig begrüßt und als Gast aufgenommen, doch das nachhaltigste Andenken war ihm die erste Nacht: "...Dazwischen kratzte ich mich einmal, und dann noch einmal, wurde müd, legte mich auf die Seite, kratzte mich wieder, dann an zwei Stellen zugleich, dann an sechsen, fuhr beunruhigt in die Höhe, konstatierte, daß es mich schon an mindestens sechzig biß und zwackte, rieb und scharrte mich in steigender Verzweiflung und stellte mit gestrräubtem Haar fest, daß der ganze Teppich springlebendig war in des Wortes verwegenster Bedeutung, von hunderttausend Zwackern und Beißern!" Den ganzen nächsten Tag staunen ihn Besuchern an, inspizieren seinen Rucksack neugierig und nennen das Auflösen einer Brausetablettte Zauberei. -21-
Die Beduinen genießen keinen guten Ruf bei der seßhaften Bevölkerung. Der zuständige Bey beschuldigt sie des Haschisch- und Waffenschmuggels, der Steuerhinterziehung, des Wild- und Viehdiebs und anderer Vergehen. In der Sache wohl auch zu Recht, doch haben die Beduinen ein anderes, tradiertes Rechtsempfinden. Der unverbesserlich romantische Heye (er über sich selbst) erwischt sich: "...daß ich ganz absonderliche Träume spann von ziehenden Kamelen in grenzenlosen Wüsteneinöden, von wilden Ritten auf falbem Pferde durch Wind und Sonnenglanz, von einem niederen Zelt unter rauschenden Dattelpalmen und von dunklen heißen Augen, die unter schwarzen Locken und klirrenden Silbermünzen hervorblitzten..." Ähnliche Phantasien gab es wohl auch auf der anderen Seite, da Heye sich mit einem Beduinenmädchen, Omm er Cherik, anfreundete in einer Art, die für ihn eher Kameradschaft war, für die Beduinen gleichwohl mehr bedeutete. Als er sich dann noch erfolgreich bei dem Bey für den Anführer der Beduinen, Abd er Rahd, einsetzt, wollen die ihn gar nicht mehr gehen lassen und veranstalten ein Fest zu seinen Ehren: "Nach dem ersten Kaffee aber erhob sich Abd er Rahd... Er log mir in schamloser Weise nie besessene Tugenden an, pries die meiner Vorfahren, von denen ich selber nichts wußte, und versicherte mir, daß die Herzen seiner Brüder öde und unnütz wie versiegte Brunnen sein würden, wenn ich ihren Duar je wieder verließe." Sein Gastgeber preist ihm die Notwendigkeit, am nächsten Tag zum Islam überzutreten und Omm er Cherik als Ehefrau in sein Zelt zu führen. "Eiweih!" sagte ich, aber nur ganz leise... Ich sprach von der großen Ehre und dem Glück, das hier daherkäme wie der Simum der Wüste, und daß ich sie alle beim Wort nehmen würde, aber erst an jenem Tage, an dem ich alles wüßte, was ein wahrer Gläubiger wissen muß von der Lehre des Propheten und mein Herz mich drängen würde, sie zu bekennen -22-
- ohne Lüge!" Das wird akzeptiert, Heye entkommt dem Glaubenswechsel und der Ehe. "Ich aber saß noch lange vor meinem kleinen Zelt mit einem unfreien und auch ein bißchen schamvollen Gefühl in der Brust. Ich war mir bewußt, daß ich hier nicht mehr lange bleiben und Hoffnungen nähren durfte, die ich nie erfüllen konnte, und starrte traurig in die stille Mondlandschaft der Wüste hinaus und wollte nichts mehr als hineinwandern in diese Weiten ohne Grenzen und ohne Ziel wandern wie seither, getrieben von einem ruhelosen Herzen, für das es weder hier noch anderswo je eine Stätte des Bleibens gab" Mit einigen Männern des Stammes macht er sich auf zu einer Reise an die libysche Grenze, zum Dschebel Gheme im Gar el Lebben. Erst spät merkt er, daß seine Stammesbrüder vorhaben, dort Blutrache zu nehmen an den Welad Selmani. Heye findet sich plötzlich im Chaos: er wird krank, fiebert, der Sandsturm tobt, die Welad Selmani greifen an; Heye flieht auf einem Kamel, stürzt und erwacht nach Wochen, kaum genesen von Krankheit und den Folgen des Sturzes, schwach und abgezehrt. Bis zum nächsten Frühsommer bleibt er bei den Beduinen, vereitelt durch einen Zufall einen Mordanschlag von SenussiDerwischen auf den Mudir von Fayoum: "eine Sache, die mir einerseits einen schweren Kolbenhieb über den Schädel, andererseits aber auch einige wertvolle Geschenke und Empfehlungen von dem dankbaren Mudir und einen wahren Heldenruhm bei den Beduinen eingetragen hatte." Nach diesem abenteuerlichen Winter taucht er wieder als Direktor in dem Sanatorium des Dr. Finkelstein unter, die Zivilisation hat ihn wieder: "So kam es, daß ich vom Morgen bis Mitternacht aus einer atemlosen Hetze nicht herauskam und mir mein Leben in der Wüste schon nach kurzer Zeit wie ein gänzlich unglaubhafter Traum erschien." Nur drei freie Tage hat er in diesem zweiten ägyptischen Winter, ein Ausgleich bietet sich anschließend: -23-
In 26 Tagen läuft er zu Fuß, immer am Nil entlang, von Kairo nach Assuan, rund 1000 Kilometer. Er besucht zahlreiche Sehenswürdigkeiten und zahlt nirgends Eintritt, denn als Zeitungsschreiber hat er vom "Direktor der Altertümer" in Kairo eine Freikarte erhalten. Für Abendbrot und Nachtlager sorgte in jedem Dorf die orientalische Gastfreundschaft. "In den größeren Dörfern, die ich passierte, gab´s manchmal einen armseligen Kramladen, der immerhin genug für meine bescheidenen Bedürfnisse feilbot: Brot, Schafkäse, Datteln, Apfelsinen, Halaw, das ist eine orientalische Süßigkeit, die aus Honig, Mandeln und Nüssen besteht und köstlich schmeckt, dann Kaffee und Zigaretten." In den Städten erwartet ihn sein vorausgeschickter Koffer, er erholt sich zwei, drei Tage in einem Hotel mit Bad und Barbier, dann zieht er als Tramp weiter. Ende Juni ist er in Wadi Halfa, am 6. Juli wieder in Assuan und besucht den Deutschen Neufeld, der eine Pension betrieb: "... er ist Verfasser des Buches "In den Ketten des Kalifen". Neufeld war viele Jahre hindurch Gefangener des Mahdi; in der ersten Zeit hat er monatelang jeden Sonnenaufgang mit dem Gedanken betrachtet, daß es der letzte sein könnte... [Er] erzählte mir in abendlichen Plauderstunden mancherlei aus jener stürmischen Zeit, da die wilden Scharen des falschen Propheten die Wüsten des Sudan und die Wasser des Nil rot gefärbt hatten mit dem Blut der Ungläubigen... Es waren Geschichten voller Blut und Grauen, die ich da hörte." Seine Erlebnisse beschrieb Neufeld in einem eigenen Buch. Mit Neufelds Hilfe ersteht er ein Kamel für 55 Pfund (= 1500 Schweizer Franken). Sein Freund Ali, ein ägyptischer Polizist aus Heluan, und ein einheimischer Führer namens Assibje begleiten ihn auf dem Weg zur südlichsten Oase von El Charge (=El Kharga) in der Libyschen Wüste, auf einem 250 Kilometer langen Ritt, davon 180 Kilometer ohne Wasser. Ein viertes Kamel trägt einen zusätzlichen Wasservorrat: "Die Tour war und blieb trotz dieser Vorsichtsmaßnahme ein gewagtes -24-
Unternehmen; mir ist erst später klar geworden, daß sie eigentlich eine unverantwortliche Tollkühnheit gewesen ist." Die Mißlichkeiten bleiben nicht aus: Dem Führer fehlt jedes Orientierungsvermögen, bereits am zweiten Tag klagt er über Durst, Hunger, Schmerzen in den Beinen, Kopfweh etc., dann versucht er sich mit dem Wasser davonzumachen, wenig später geraten sie in einen Sandsturm und überdies scheint das neuerworbene Kamel völlig überzüchtet und zu jung zu sein für solch eine Tour. Halb verdurstet erreichen sie ihr Ziel. Erholt brechen sie sechs Tage später nach El Charge auf. Dort trifft Heye einen Berliner: "Ick bin ´n Berliner, mein Name ist Herbig. Det heeßt, so ha´ick früher mal jeheeßen, hier kennt man mir unter dem Namen Said Hamis. Ick lebe schon zweeunzwanzig Jahre uff diesem Kaff, fabriziere Schuhe und Babuschen, besitze vierzig Dattelpalmen, ´ne Herde Ziegen und keene Frau mehr. Dafür aber fünf Jöhren." Weitere 22 Tage lang begleiten sie eine Karawane nach der 450 Kilometer entfernten Oase El Farafre. Heye ist vorsichtig, da er nach seinen Auseinandersetzungen mit den Senussi im Vorjahr auf deren Abschußliste steht. Allein ziehen sie weiter, über Ain el Wadi zur Oase Siwa, wo er bereits im Vorjahr bei Jussuf ibn Joris gewohnt hatte. Wieder schaffen sie es nur knapp, Ali konnte sich nicht mehr auf dem Kamel halten, Heye wird bewußtlos, als er die ersten berittenen Polizisten sieht. Nach zwei Tagen und drei Nächten erwachen die beiden, haben die Krisis überwunden. Da die Senussi die Bevölkerung gegen ihn aufwiegeln, verläßt er einen Tag später in Begleitung einiger Polizisten die Oase. Sie besuchen die Welad Ali, müssen jedoch nach einigen Wochen aufbrechen, da Ali schwer erkrankt ist, und begeben sich über Wadi Achdar und Bir Fuka nach Alexandria. Insgesamt hatten sie etwa siebenhundert Kilometer mit ihren Kamelen zurückgelegt. Noch einen dritten Winter arbeitet Heye im Sanatorium, doch langsam wird ihm die Arbeit ärgerlich und widerlich. Im Mai -25-
vertauscht er den schwarzen Rock gegen den abgeschabten weißwollenen Beduinenmantel und empfiehlt sich mit einem "Salem aleik, ya sitt" aus dem Sanatorium "Sdorowje". Über das Natrontal und das Kloster Amba Bichai zieht er zum Brunnen Schech Selim. Dort begegnet er drei Derwischen; einer davon, Ibrahim der Senussi-Missionar, hatte ihm im Vorjahr den Scheitel mit dem Gewehrkolben gezogen. Mit der Pistole drohend entkommt Heye in die Nacht. Diese Feindschaft war so tief, daß das Oberhaupt der Senussi in Kufra den Stämmen der Mariut-Steppe drohte, daß jeden der Senussi-Fluch treffen würde, der Heye Gastfreundschaft gewähre. Um seine Freunde nicht zu gefährden, verläßt Heye die libysche Wüste, verbringt die nächsten drei Monate auf dem Weg nach Jerusalem und zurück, freilich alles mit dem Kamel. Auf der Rückreise sieht er auf dem Suez-Kanal den OstasienDampfer Fürst Blücher vorbeiziehen. Ein ungewaschener Heye, nach Kamelen stinkend hier - dort der weiße Dampfer mit blitzsauberen Menschen. Heye fragt sich: "Warum zum Teufel ließ ich mir schon den dritten Sommer hindurch tagsüber Blut und Gehirn von der Sonne der Wüste ausdörren und nachts die Knochen von Eiseskälte durcheinanderschütteln? Warum gab ich Läusen und Flöhen, Wanzen und Zecken Gelegenheit, mich zu peinigen?... Wer zwang mich denn, mir den Magen fortwährend mit dungstinkenden dürren Brotfladen, mit ranzigen Ölsardinen, versalzenem und versandetem Tee und Kaffee zu füllen? War es auf die Dauer erträglich, keine Menschen zu haben, mit dem ich auch andere Gespräche führen konnte als über Pferde und Kamele, über das mehr oder weniger bittere oder salzige Wasser des nächsten Brunnens... Wieso mußte ich jeden Herbst diese Art von Hundeleben mit dem keinesfalls beglückenden Dasein in einem öden Sanatorium vertauschen, wo ich den ganzen Winter hindurch Ärger hatte mit einem zappeligen, knickrigen Chef und seiner bösartigdummen Frau, mit schlecht bezahltem und behandeltem Personal, mit -26-
ebenso verkommenen wie anmaßendem russischen Saufbolden?... Ich hatte nunmehr genug Geld auf der Bank, um mir auch einmal eine Fahrt erster Klasse leisten zu können auf solchem Dampfer, dessen Tische von Silber und Damast funkelten!... Ich träumte davon Bücher zu lesen, Theater und Musik zu genießen, in Muße gut zu essen und zu trinken, mich sauber zu halten und anständige Wäsche und Kleider zu tragen..." Die wahren wandrer aber sinds die reisen Nur um zu reisen - federleichter hauf! Sie können nie ihr schicksal von sich weisen. Sie wissen nicht warum und rufen: auf! Der sonne glanz auf veilchenfarbnen meeren Der glanz der städte wenn die sonne sinkt Entzündete in uns ein heiß begehren Nach einem himmel der verlockend winkt. Charles Baudelaire, Die Reise
Im Auftrag der Redaktion (1912-1914) Zurück in Kairo verkauft er sein Kamel, kündigt dem Sanatoriumschef, packt seinen Koffer und verabschiedet sich von seinem Freund und Lehrer, dem Choga Dawud Scherif. Erster Klasse schifft er sich auf dem italienischen Passagierdampfer Vittorio Emanuele ein. Fünf Tage später, am 12.10.1912, sitzt er in seiner Heimatstadt (Leipzig?) im Café Reichskanzler und fragt sich: "Warum in aller Welt war ich dreifachgestrichener Idiot eigentlich `heim´, in dieses trübgraue, naßkalte, trostlose Europa gekommen-?" So sinnierend trifft er Dr. Selle, den Redakteur der "Mußestunde", den er durch die Vermittlung des Dr. Morgenstern kennengelernt hatte. Zwei Stunden und zwei Flaschen Wein später sind sie einig: Heye ist der neue -27-
Weltreisende für die Mußestunde und berichtet regelmäßig. Dafür gibt es monatlich 150 Mark, maximal 300 Mark monatliche Reisespesen und eine Fotoausrüstung. Abends sitzt er wieder im Zug, Richtung Zürich. Überflüssiges hat er einer Tante geschickt, der einzigen noch lebenden Verwandten. Erst nach sieben Jahren kehrt er zurück. Er wandert von Zürich über Flüelen, Airolo und Chiasso nach Mailand. Dort erhält er seinen Vertrag, in Florenz die Kamera mit einem Gewicht von zehn Kilo: "Es war ein äußerst solid gearbeitetes Tropenmodell aus termitensicherem Teakholz, mit einem vorzüglichen Objektiv, doppeltem Balgauszug, auswechselbarem Balg- und Compoundverschluß, und für Platten wie auch für Filmpack eingerichtet. Dazu kamen ein ebenfalls unverwüstliches und himmelhoch ausziehbares Stativ. Sechs Doppelkassetten aus Teakholz für Platten sowie zwei für Packfilme, Vorsatz- und Teleobjektive, Gelbscheiben und Belichtungsmesser, außerdem sechs mit einem kleinen Uhrwerk betriebene Selbstauslöser vervollständigten die Ausrüstung. Und das alles steckte obendrein in unsinnig schweren Lederkästen und Futteralen. Kopfschüttelnd stand ich vor diesem Segen..." Du Gehender, es gibt keine Wege, nur die Fährten des Windes auf dem Meer. Antonio Machado
Rund ums Mittelmeer Zu Fuß, mit Bahn und Schiff bummelt er bis November durch Italien und Sizilien. Dort lernt er Capitano Pedro Carras vom Segelschiff Stella Mare aus Barcelona kennen, hilft ihn bei einer Keilerei, segelt dann mit ihm nach Barcelona. Dort zieht es ihn in den wärmeren Süden, nach Sevilla und Gibraltar, und weil es partout nicht wärmer werden will, landet er schließlich in Tanger. -28-
Obwohl seine Ausgaben in den ersten Wochen die Einnahmen übersteigen, ist er bei der Ankunft in Marokko entschlossen, Reisen und Schreiben fortan als einzigen Beruf zu betrachten und nebenher noch einige andere Zeitschriften mit seinen Artikeln zu beehren. Er entwirft einen groben Plan für seine Weltreise, die er auf fünf bis sechs Jahre ansetzt, kauft sich zwei Maultiere und engagiert Assul "einen komischen, kleinen Mann mit einer überlebensgroßen Nase, der sich um geringen Lohn als Diener und Begleiter bis nach seiner Heimat Tripolitanien anbot". Drei Monate zieht er die Küste entlang, durch das Rif-Gebirge und die Wüste, aber überall im Rif-Gebirge stößt er auf glühenden Haß und eisige Ablehnung; sie werden mit Steinen beworfen und beschossen. Begleitet werden sie bis Melilla von drei schwedischen Gelehrten, darunter ein Professor Lundstein. Ein nächtlicher Überfall kostet sie zwei Maultiere und den Schnapsvorrat seines Faktotums Assul: "...wenigstens zweimal in der Woche war er voll und dreimal nicht nüchtern, und der Menschen, von denen er in Frieden schied, waren wenige." Über Oran und Orléansville ziehen sie nach Boghari und dem Schott el Hodna. "Von diesem langen Wege gibt es nicht viel zu berichten. Unvermeidliche Strapazen, gelegentliches Hungern, Dürsten und Frieren, ab und zu ein Rausch meines getreuen Knappen das ist alles." Batna, Philippeville, die Oase Ain Baida, die Grenze nach Tunesien bei Kalaa es Senam sind weitere Stationen. Eines Tages wirft ihn sein Pferd ab, Heye fällt in eine Kakteenhecke. Es kommt zu Entzündungen und Fieber, ein Arzt empfiehlt zur Heilung die See. So reisen sie von Susa nach Tripolis mit dem Schiff, dann nach Bengasi. Vier Monate begleiten sie Colman, einen amerikanischarabischen Forscher. Bei Bengasi schließen sie sich dessen Freund, dem Sub-Chef der ägyptischen Polizei, Mohammed Pascha, an und begleiten ihn auf einer Dienstreise. Heye durchquert erneut die libysche -29-
Wüste, besucht seine Freunde, die Welad Ali, hält sich sechs Wochen in Ägypten auf und reist dann in den Sudan. In erster Linie eignen sich für die Verteidigung gegen Wilde natürlich Gewehre. Falls die Umstände es erlauben, sollte man auch heißen Sand oder siedendes Wasser in Betracht ziehen. Beides wirkt sehr gut auf der nackten Haut der Wilden. The Art of Travel, London 1855
Ins Innere Afrikas In Kairo ließ er sich aus Zeltstoff einen Rucksack schneidern. Mit dem Zug fährt er von Abu Simbel nach Chartum. Dort wird ihm ein Ausreisevisum nach Abessinien über Dakhlar verwehrt; auch eine Audienz beim damaligen Gouverneur, Lord Kitchener, ändert daran nichts. Seit Wochen tobten blutige Kämpfe im Grenzgebiet und die britische Regierung will die Verantwortung für seine Reise nicht übernehmen. Heye fährt daraufhin über Port Sudan nach Massaua am Roten Meer, dann nach Asmara, kauft sich Reit- und Lasttiere und verpflichtet zwei Mann als Führer und Begleiter, einen halbtauben Galla namens Manas und einen alten, etwas wackligen Abessinier. Zehn Tage lang ziehen sie durch Schlamm, denn täglich gehen Gewitter nieder und Regenfluten reißen den Boden auf: Die Regenzeit hat früher eingesetzt und ist ergiebiger als normal. In Adi Quala betreten sie abessinischen Boden. Bei der ersten Flußdurchquerung gehen allerdings fast die gesamten Geldmittel verloren: 380 Mariatheresientaler, die damals gangbare Münze in Abessinien. Mit dem verbleibenden Geld ist an ein Weiterreisen nicht zu denken, Heye kehrt mit dem Galla um, der Alte zieht weiter. Auf einer Dhau schifft er sich nach Assab ein und nimmt den Dampfer nach Aden. Hier warten -30-
fünfhundert Mark auf ihn und ein Brief, der ihm die Mittel kürzt. Nun heißt es billig reisen. Das billigste Reiseland soll Somalia sein und Heye begibt sich an Bord des italienischen Passagierschiffes "Roma" dorthin. Bis Mogadischu bekommt er noch einiges über Somalia zu hören, doch alle Informationen betonen eines besonders: "Fremden gegenüber schienen sie nur eine einzige Sitte zu kennen, und die war allgemeingültig, schlicht und eindeutig: sie schnitten ihnen die Köpfe ab!" Auch der erste Eindruck von Mogadischu kann ihn nicht aufheitern, da: "...die Hauptstadt von ItalienischSomaliland außer dem Regierungsgebäude aus sechs Europäerund etwa zweihundert Eingeborenenhäusern bestand, aus einem Baum - wirklich nur einem einzigen! - aus etlichen Abfallhaufen und zahlreichen Hunden und Katzen." Nach den ersten Reaktionen hört er lieber auf, von seinem Vorhaben, BritischOstafrika auf dem Landweg zu erreichen, zu reden: Man lacht ihn einfach aus. Dann findet er doch noch einen Reisegefährten, der gleichwohl allen Grund hat unerkannt zu reisen und die Engländer zu meiden: "Ich heiße Abd er Rachman. Das ist der Name, unter dem ich in früherer Zeit Allah gedient habe, und unter dem ich ihm künftighin weiter dienen werde. Nur noch Allah allein! In den letzten Jahren habe ich einem anderen gedient, einem Streiter für den Islam - ihr nennt ihn El Machnun. ich war einer seiner Emire, und man kannte mich unter dem Namen El Sef el Mullah." Idris, ein riesiger Schwarzer und Diener von Abd er Rachman, begleitet die beiden. Beim Abschied rät ihm ein italienischer Feldwebel: "Schießen sie auf jeden Somal, der sich ihnen auf zehn Meter nähert! Sonst schleudert er ihnen sein Messer mit tödlicher Sicherheit ins Herz!" Die Somali verkaufen kein Wasser, so daß eine Reise durch ihr Gebiet zum ständigen Kampf gerät. Kleineren Bedrohungen folgt am vierten Reisetag der erste Überfall; bei den Somali gibt es Tote und Verwundete. Auch die beiden nächsten Tage -31-
bringen wieder je einen Überfall, mit ähnlichem Ergebnis. Dann treffen die drei auf die Karawane des Tierphotgraphen Sir Godfrey Kingsley Burton und schließen sich ihr an. Am siebten Tag passieren sie das letzte somalische Dorf und gelangen nach Chisimaio in Britisch-Ostafrika. Abd er Rachman und Idris gehen ihre eigenen Wege, Heye bleibt bei Burton. Mittlerweile ist es November 1913. Erst das Auge schafft die Welt. Christian Morgenstern
Der Weg zum Tierphotographen Mit Burton begegnet ihm mal wieder das Schicksal: Heye ist fasziniert von dessen Tierphotos und wird zu einem gelehrigen Schüler. Die ihn in Chisimaio erwartende Post bestärkt ihn in darin, künftig als Tierphotograph zu arbeiten. Die Mußestunde knausert mit dem Geld und will Photos, auf denen nur noch Heye zu sehen ist. Gleichzeitig bietet ihm Dr. Morgenstern in einem Brief neue Publikationsmöglichkeiten an. Heye schreibt sich durch ganz Kenia, Burton schenkt ihm seine alte Reiseschreibmaschine, eine "Remington Portable". Heye geht ganz in der Planung künftiger Safaris auf und rechnet mit einem Bedarf von etwa zehn Trägern, deren jeder monatlich 40 Schweizer Franken erhält, so daß er monatlich mit dreißig englischen Pfunden rechnet. Das ist schon arg geknausert, denn Burton ging nie mit weniger als dreißig Leuten. Sein erster Ausflug führt ihn zusammen mit seinem schwarzen Begleiter Tumbolianiumo an den Victoria-See. In der Intermediate-Klasse (genauso eingerichtet wie die dritte Klasse, aber abgetrennt für Europäer ohne Geld) fährt er nach Kisumu. Dort angekommen bemerkt er, daß die Kawirondo allesamt nackt herumlaufen: "Die englische Regierung, die Missionen und Schulen bohren schon seit Jahrzehnten an diesen -32-
ungläubigen Kawirondo herum, aber auf irgendwelches Schamgefühl ist der Bohrer in ihren verstockten Seelen noch nicht gestoßen. Wohl aber nach übereinstimmendem Urteil auf eine erstaunliche Ehrlichkeit und Wahrhaftigkeit... und einen ausgeprägten Familiensinn." Einige englische Damen einer menschenfreundlichen Gesellschaft ließen tausende knallrot gefärbter Wolldecken herschaffen. Die Kawirondo nahmen die Wolldecken dankbar an und trugen sie dann als Turban auf dem Kopf. Der Rest des Körpers blieb weiterhin nackt. Heye durchfährt die Reservate, sieht ungeheure Mengen an Wild, tausende Gazellen, Antilopen, Buch-, Spring- und Wasserböcke, Gnus und Säbelantilopen, Büffel, Strauße und Zebras. Im April 1913 ist er wieder in Nairobi. Die Stadt ist gerade erst 15 Jahre alt. Alles scheint provisorisch, viel Wellblech, Pappe und Holz ist zu sehen und neben "halbnackten, speerbewaffneten Negern und drängenden Viehherden sausten Automobile, Motor- und Fahrräder durch die schlammigen Straßen". Nachts heulten Schakale vor dem Hotel an der Mainstreet. Im Augenblick des Zusammenkommens beginnt die Trennung. Singhalesisches Sprichwort
Tierphotographie im Paradies (1913-1914) Burton ist immer noch in Nairobi und leidet schwer an seiner Malaria und an einer kranken Leber. Er betrachtet Heye als seinen Schüler und hilft ihm, die erste richtige Safari vorzubereiten. Das Kartenstudium ist dabei allerdings weitgehend sinnlos: "Es war eine große Karte des Wildschutzgebiets, die er aus der Mappe nahm und auf seiner Decke ausbreitete. Das Charakteristischste auf der fast weißen -33-
Fläche bildeten die beinahe über das ganze Gebiet hinweggedruckten Buchstaben ‹W.W.W.A.I.›, die Abkürzung für ‹Without Ways, Water and Inhabitants›...". Er sucht sich sechs Unyamwezi als Träger, einen riesenhaften Kavirondo-Mann namens Mlomu und Mze, einen Massai-Mischling aus der Gegend von Taveta aus: "Als Höchstgewicht einer Trägerlast gelten dreißig Kilogramm, als durchschnittliche Tagesstrecke rechnet man zwanzig Kilometer. Aber man stelle sich einmal vor, was es heißt, zwanzig, oder wenn es sein muß, auch dreißig, vierzig, ja fünfzig Kilometer mit einer Last von einem halben Zentner auf dem Kopfe in tropischer Sonnenglut, durch pfadlose Gras-, Busch- und Waldwildnisse, durch unergründliche Sümpfe und brückenlose Flüsse, über viele tausend Meter hohe wilde Gebirge und brennendheisse Salz- und Sandflächen zu marschieren! Und das tage- und wochen-, ja manchmal monatelang! Dann wird man diese Leistung begreifen, soweit sie überhaupt begreifbar ist." Noch vor dem Abmarsch hat Heye ein Erlebnis, das seinen künftigen Namen in Afrika bestimmt: Er besteigt leichtsinnigerweise ein gesatteltes Zebra. Das geht daraufhin mit ihm durch, läuft quer durch Nairobi und kollidiert irgendwann mit einem Fahrradfahrer. Die Geschichte macht die Runde und sorgt allenthalben für Heiterkeit. Heye wird seither "Bwana Punda Melia" genannt: Der Herr der Zebras. Mit der Ugandabahn fährt er bis zur Station Simba. Von dort sind es drei Tagesmärsche bis zu seinem Ziel, Ol Matun. Hundert Meilen im Umkreis gibt es keine menschlichen Siedlungen, nur hin und wieder durchqueren nomadisierende Massai und Ndorobbo die Gegend. "Angetan war ich mit... Khakihosen, Ledergamaschen und halbhohen Schnürschuhen mit dicken Gummisohlen. Den Oberkörper bedeckte ein Khakihemd, dessen Ärmel ich stets aufgekrempelt trug. Als wirksamen Hitzeschutz hatte es ein Futter aus roter Seide. Der traditionelle Tropenhelm hatte sich bei mir dank einem -34-
ungewöhnlich dicken Haarschopf als überflüssig erwiesen; statt dessen trug ich während der heißesten Tageszeit einen breitrandigenFilzhut... An Gürtel und Schulterriemen hingen ein Felltäschchen mit Notvorrat, der meist aus Schokolade bestand, ferner die gewöhnlich mit dünnem Kaffee gefüllte Feldtasche, ein Feldstecher, ein Messer in Lederscheide und eine kleine Rollfilmkamera... Als Wanderstab diente ein Speer." Ol Matun war ein paradiesischer Ort mit schattenspendendem Laubwald, einem ergiebigen Quellbecken, Papageien und Affenherden. Von hier aus will Heye seine Fotosafaris starten und baut sich ein stabiles Lager mit Hütten und Hecken als Schutz gegen nächtlich eindringende Tiere: "Der gesamte Raubtierbestand der Umgegend schien von alters her gewohnt zu sein, seinen Durst nirgends anders als am Wasser von Ol Matun zu löschen, und besonders die großen Raubkatzen machten in den ersten Nächten ihrer Entrüstung über unser Dasein mit voller Stimmkraft Luft." Das Gerüst des Hauses entsteht aus einigen Akazienstämmen und zahlreichen Ästen, wird mit einer Mischung aus dem zerstampften Material eines Termitenhügels, trockenem Gras und Tierdung ausgekleidet und glattgestrichen. Darin trennt er eine Dunkelkammer für Entwicklungsarbeiten ab, als Möbel dienen ein Feldbett, zwei Tropenkoffer und vier Safarikisten. Später schreinert er sich eine Bank, Tische, einen Schemel, einige Schränke, Gestelle und Bücherborde. "Was mir aber die Hauptsache war: Seine [des Hauses] Gesamterscheinung stört in keiner Weise die wilde, einsame Schönheit von Ol Matun, des einzigen Platzes, den ich je als `Heimat´ bezeichnet habe." 400-500 Franken verdient er in dieser Zeit durch Schreiben, den größeren Teil durch Honorare einer amerikanischen Zeitschrift, die monatlich einen bebeilderten Artikel erhielt, den kleineren Teil durch Dr. Morgenstern, der Heyes Artikel in einer Arbeiterzeitung verwendet und sich um Nachdrucke kümmert. Überraschend meldet sich dann noch eine skaninavische -35-
Agentur, die monatlich vier bis fünf seiner Beiträge will. Für Heye waren die Tage ausgefüllt mit Wanderungen durch die Steppe, anschleichen auf Tiere, warten im selbstgebauten Hochsitz am Wasserloch, photographieren, schreiben. Zwei Ndorobbo führen ihn einige Wochen lang zu Tieren: "Mit den Ndorobbo als Schrittmacher hatte ich in den vergangenen Wochen, teils aus Notwendigkeit und teils aus reinem Ehrgeiz, gelernt, vier bis fünf Stunden lang ohne Pause im Siebenkilometertempo zu marschieren und, wenn es nötig war, ihnen auch eine Stunde lang in ihrem eigentümlichen Hundetrab zu folgen. Zum Glück war meine Gegend hier vor knipswütigen Touristen sicher, denn ein Bild von uns dreien in voller Fahrt wäre mir peinlich gewesen - ich zog nämlich dabei stets die Hosen aus, hängte sie mir zusammengerollt auf den Rücken und sockelte in Hemd, Gamaschen und Stiefeln hinter den beiden her." Alle Anstrengungen bringen ihm in den ersten drei Monaten nur 38 gelungene Aufnahmen. Nach drei Monaten in der Wildnis bekommt er erstmals Besuch von einem Weißen, dem Distriktskommissar von Taveta, Delafontaine, mit dem er sich anfreundet. Einige Wochen darauf zwingt ihn eine Zahnwurzelentzündung, nach Nairobi zu fahren und sich behandeln zu lassen. Die Kosten für diese Aktion sind so hoch, daß er sich Ratenzahlung ausbittet. Im Dezember 1913, vier Monate nach seinem ersten Besuch, erscheint Delafontaine erneut. Einer der Träger Delafontaines wird in einer Nacht von einem in das Lager eindringenden Leoparden getötet. Zwischen zwei anderen Schwarzen bricht später Streit aus, einer wird erschlagen, der andere entkommt in die Wildnis. Bis dahin hat Heye 140 brauchbare Aufnahmen zustande gebracht, von denen fünfzig bereits veröffentlicht waren. Sechzig Dollar erhält er für drei Aufnahmen, die das Naturhistorische Museum in Washington ankauft, zehn -36-
Sovereigns bringt ihm eine Veröffentlichung in der englischen Zeitschrift "Wild Life". Gegen Ende seiner Zeit in Ol Matun hat er die Tierwelt dieser Gegend ziemlich komplett auf 240 Platten, nur Elefanten- und Löwenaufnahmen fehlen. Das aber "...war mein einziger Kummer in dieser Zeit, die ich sonst als die glücklichste meines Lebens betrachte. Nicht zumindest auch deshalb als die glücklichste, weil ich nie zuvor und nie mehr nachher körperlich derartig in Form gewesen bin. Wenn ich heute daran zurückdenke, was ich mir damals bei kargster Ernährung und in einem als ungesund verschrienen tropischen Klima zumuten konnte, schüttle ich selbst den Kopf." Eines Tages, als er einen Ochsen von der Bahnstation Simba abholen will, wird ihm dieser Ochse in einem unbewachten Augenblick von einem Löwn geschlagen. Das verschafft ihm die langerhofften Löwenaufnahmen: "Von dem, was mir die vier Bilder einbrachten, hätte ich mir an Stelle des darangegebenen Ochsen beinahe einen kleinen Bauernhof kaufen können; denn ich erhielt die Dollars erst sieben Jahre später - in Deutschland, zur Zeit der Inflation." Nach seiner Rückkehr nach Ol Matun und einem Abstecher nach Taveta erwischt ihn nun zum dritten Mal die Malaria, die ihn in der Folgezeit immer wieder aufs Krankenbett wirft. Daher entschließt er sich zum Aufbruch nach Taveta und zum Besuch des dortigen Krankenhauses. Einige seiner Bediensteten läßt er zusammen mit seiner ganzen Habe zurück, da er plant, nach einigen Wochen zurückzukehren; nur seine Bilder nimmt er mit und einen kleinen Geparden, den ihm die Ndorobbo eines Tages gebracht hatten, den er aufgezogen hat und der ihm folgt wie ein Hund. Er sah Ol Matun nicht mehr wieder. Am 15. Juli 1914 ist er in Voi, um von dort über Taveta nach Deutsch-Ostafrika zu marschieren, mitten durch das Wildreservat. Man empfieht ihm zwanzig Träger: "Drei tragen das Zelt, zwei Proviant, fünf Wasser, je einer das Bett, Küchen- und andere geräte, dann -37-
einen Gewehrträger, einen Koch....". Bei sieben Leuten wird sich Heye mit dem Distriktkommissar einig. Die erhalten 35 Cent am Tag, etwa fünfzig Pfennige. Heye betrachtet seine Gefährten: "Es waren alles kräftige, sehnige Gestalten mit wilden, aber nicht unangenehmen Gesichtern. Nur der Vormann hatte eine kurze Hose und eine Art Trikothemd an, die anderen trugen Suahelihemden oder auch nur einen Lendenschurz. Ihre Decken hatten sie wie Turbane als Unterlagen für die Last um den Kopf geschlungen. Aber allen baumelten Perlen, Münzen und Ketten aus den aufgeschlitzten Ohrläppchen bis fast auf die Schultern herab, am Gürtel hingen große, schwertähnliche Buschmesser, Schnupftabakdosen und eine silberglänzende Wurst, die aus den gelochten und auf Riemen gezogenen Nickelcents von British-Ostafrika bestand. Eine aus einem hohlen Kürbis verfertigte Wasserflasche und eine Felltasche mit einem Vorrat von Maiskolben und grünen Bananen vervollständigte die Ausrüstung." Zu Fuß gehen sie los, schlafen im Freien, denn ein Zelt kann sich Heye nicht leisten. Dort, wo Löwen vermutet werden, baut man sich eine "Boma", eine Festung aus Büschen, bei der die Lücken einer natürlichen Dornenhecke mit Gestrüpp ausgefüllt werden, und hofft, daß Dichte und Höhe des dornigen Gestrüpps ausreichen, die Löwen nach einer leichteren Beute suchen zu lassen. Über Taveta erreichen sie nach einigen Tagen Moschi. Sind die Wendekreise überschritten, so ist das Tragen des Tropenhelms obligatorisch von morgens 8 Uhr bis abends 17 Uhr. Handbuch für Überseer 1947
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Der 1.Weltkrieg (1914-1917) Am 27.7.1914 überschreitet er die Grenze zwischen Britischund Deutsch-Ostafrika auf dem Weg zum Kilimandscharo, um sich in der Petershütte von seiner Erkrankung zu erholen. "Am Abend des zehnten August lag ich, in zwei Decken gehüllt, in einem Liegestuhl vor der Tür der Petershütte und steckte mir bedachtsam eine Havanna an.... Obgleich auch meine Hände vor Kälte starr und steif waren, öffnete ich den Brief sofort... »Sie werden hierdurch aufgefordert, sich innerhalb von drei Tagen nach Erhalt dieser Benachrichtigung bei der unterzeichnenden Amtsstelle zu melden und Ihren Paß und, falls Sie Reichsdeutscher sind, Ihre Militärpapiere vorzulegen. Zu Ihrer Information wird Ihnen mitgeteilt, daß sich das Deutsche Reich und seine Kolonien seit Anfang dieses Monats mit Rußland, Frankreich, Belgien und England im Kriegszustand befindet.«" Für Heye, gerade neunundzwanzig Jahre alt, bedeutete das eine mehr als grundlegende Umwälzung seines Lebens: "...von den fünfzehn Jahren, die seit meiner Entlassung aus der Schule vergangen waren, hatte ich vierzehn im Ausland verbracht. Die beiden letzten Jahre war ich drüben in der englischen Nachbarkolonie gewesen, und von den Menschen, die ich dort kennengelernt hatte, war mir überwiegend nur Gutes widerfahren. Sie waren jetzt die Feinde meines Vaterlandes, und es wäre meine Pflicht gewesen, sie zu hassen. Aber - ich konnte und konnte ihnen gegenüber nichts anderes als Dankbarkeit empfinden, und ich fühlte abgrundtiefen Kummer über das, was nun eingetreten war." Nichtsdestotrotz war er am kommenden Tag Soldat, Landsturmmann bei der vierten Schützenkompanie in Tanga. Wegen seiner Vergangenheit und seinem guten Kontakt zu den Engländern begegnet man Heye überwiegend mit Mißtrauen. -39-
Seine Berichterstattung in der Mußestunde, die wegen ihres Namens fälschlicherweise als sozialdemokratisch angesehen wird, verhilft ihm zudem zu dem Spitznamen "Der Rote Spion". Die deutsche Truppe umfaßte auch Staatsangehörige Österreichs, Bulgariens und der Türkei, kriegsfreiwillige Buren, Amerikaner, Syrer und Schweizer. Fast alle waren Pflanzer, Kaufleute, Handwerker und Beamte, die jahrelang in Ostafrika gelebt hatten. "Nun sind Menschen, die in die Kolonien gehen, meist an sich schon unabhängig gesinnte, eigenwillige Naturen, und Klima, Trinksitten und sonstige bedenkliche Einflüsse des tropischen Landes machen sie in der Regel rasch zu hypernervösen und ausgesprochen krakeelsüchtigen Herren. Unter den höchst rauhbeinigen Seeleuten, Viehknechten, Minenund Eisenbahnarbeitern, die ich während meiner Amerikazeit kennengelernt habe, hat es bei weitem nicht so viele Unverträglichkeit und Streit gegeben wie bei meinen Kameradenin dieser ostafrikanischen Schützenkompanie. Die schwierigsten unter ihnen waren die Pflanzer." Die Zustände in Heyes Kompanie sind durch die afrikanischen Verhältnisse bestimmt. Selbst der ärmste deutsche Soldat hat einen Boy und einen Koch, manche haben bis zu fünfzehn Trägern, die Gummibadewanne, Liegestühle und Getränkekisten schleppen. Viele unverheiratete Europäer haben außerdem schwarze Haushälterinnen, sogenannte Bibis, die ihnen ebenso wie die Frauen der schwarzen Askaris im Felde folgten. In Heyes Kompanie gab es etwa vierzig Europäer, zwanzig Askaris, 400 Träger und Diener sowie über 200 Bibis! Heye fühlt sich nicht wohl, hat nur zwei, drei Freunde, die meisten Kameraden stehen ihm jedoch ablehnend gegenüber. Nach einiger Zeit bittet er daher um die Versetzung an die Front. Front bedeutete damals, zusammen mit einigen Askaris wochenund tagelang auf Patrouille in feindlichem Gebiet unterwegs zu sein, auf dem 50-100 Kilometer breiten Grenzstreifen, der sich vom Victoria-See bis zum Indischen Ozean hinzog. Das war -40-
eher nach Heyes Geschmack: Einsamkeit, Wildnis, Unterwegssein, keine Gelegenheit für Streitereien. Er kommt zum Küstenschutz Tanga und wird in das Gebiet Mtangta-Fähre beordert, einem Posten auf einer flachen kleinen Halbinsel, auf drei Seiten umgeben von Mangrovensümpfen. Dort verbringt er einige Wochen mit der erfolglosen Jagd auf einen menschenfressenden Löwen. Dann geht die Schlacht um Tanga los und Heye bewacht die Zufahrtsstraße, ohne jedoch den Feind zu sehen oder gar zu schießen. Danach gelingt ihm endlich die Versetzung in eine Feldkompanie, die fünfzehnte, und er kann sich in der Wildnis herumtreiben. Im Januar 1915 ist er an der Erstürmung von Jassin beteiligt. Diese Schlacht wird ihm das grausigste Erlebnis seines Lebens. Die Tatsache, daß er durch einen glatten Durchschuß in der Wade verwundet wird, bringt ihm Glück, denn er wird fortan mit der Feldwache Kwakinjembe am Mittellauf des Umbaflusses, in der Mitte zwischen Jassin und dem achtzig Kilometer landeinwärts gelegenen Dorf Majorenei, betraut. Er wird zum Unteroffizier befördert und leitet nun selbständig diesen Posten mit dreißig Untergebenen. "Hervorragenden persönlichen Verdiensten war diese Beförderung jedoch nicht zuzuschreiben, denn wer sich von den Weißen als einigermaßen brauchbarer Soldat erwies, erhielt schon aus Prestigegründen gegenüber den farbigen Soldaten sehr bald einen militärischen Rang.... Schon ein einfacher Landsturmmann erhielt neben den monatlichen Kleider- und Verpflegungsgeldern im Betrag von hundertfünfzig Rupien noch eine Löhnung von 65 Rupien; ein Unteroffizier bezog einen doppelt so hohen Sold. Hätte der Krieg noch ein paar Jahre länger gedauert, so wären wir alle zu Kapitalisten geworden, denn von dem Verpflegungsgeld konnte man auch bei üppigstem Schwelgen in Milch, Geflügeln, Eier, Honig und Früchten infolge der afrikanischen Preise kaum ein Viertel verbrauchen.... Da es schon nach kurzer Zeit überhaupt keine Kleidungsstücke mehr zu kaufen gab, sparte man das -41-
hierfür vorgesehene Geld gänzlich." Schon bald gilt es, den Angriff einer englischen Truppe abzuwehren; die Bewohner eines nahegelegenen Dorfes hatten den Posten an die Engländer verraten. Für Heyes Truppe geht das jedoch glimpflich aus, die Gegner flüchten, die Bewohner des Dorfes werden gefangengenommen abtransportiert und vor Gericht gestellt. Da immer mehr Schwarze zum Kriegsdienst herangezogen werden und auf den Feldern fehlen, treten im zweiten Jahr Verpflegungsmängel auf; auch Träger gibt es immer weniger. Beim "großen Rückzug... besaß allerdings kaum einer von uns noch irgend etwas, zu dessen Beförderung er Träger gebraucht hätte." Heye bekommt den Auftrag, Wild zu schießen. "Ich will mich hier nicht weitläufig über die Gefühle äußern, die mich beim Empfang dieses Befehls überkamen. Ich kann nur sagen, daß er für mich - bei meinem Verhältnis zum Tier - gleichbedeutend war mit einem Auftrag zum Mord.... [Ich] erwog... den Gedanken, zu desertieren.... Während der nächsten sieben Wochen wurden unter meiner Anleitung und Aufsicht in dem einsamen Tierparadies der Umbasteppe gegen zweitausend Stück Großwild niedergeknallt, das Fleisch und die verwertbaren Häute verpackt und die Lasten von einem Tag und Nacht unablässig hin- und herflutenden Strome von Trägern ins Hinterland transportiert." An den Schlächtereien beteiligt er sich nicht; seine Aufgabe besteht darin, die Träger aufzustöbern, die sich mit dem Fleisch zu Freßorgien abgesetzt hatten und vollgestopft irgendwo im Gras lagen; Angriffe der Engländer abzuwehren; dafür zu sorgen, daß das Wild waidgerecht behandelt und waidwund geschossene Tiere verfolgt wurden. Auf seine Bitte wird er von seinem Posten abgelöst und unternimmt nun Patrouillengänge ins Niemandsland. Nach zwei Monaten haut ihn die schwerste Malaria um, die er bisher hatte und er verbringt einige Wochen im Hospital sowie einen -42-
weiteren Monat im Soldaten-Erholungsheim Wugiri im Usambaragebirge. Wieder schließen sich Patrouillengänge an mit dem Auftrag, irgendwie dem Gegner irgendwas abzunehmen - brauchen konnte man alles. Heye ist immer noch mit seinem alten Rucksack unterwegs. Seine Ausrüstung besteht aus Decke, Moskitonetz, Kochtopf, Brot, Reis, Zucker, Kaffee, einem 9,3mm-Gewehr, seiner Kodak, einer Notration in Büchsen und einigen Kleinigkeiten. Es folgen zahllose Patrouillen mit immer den gleichen endlosen Märschen und Mühen, Überfällen, Verwüstungen, Metzeleien, Fluchten. Und Heye spürt, wie er sich verändert: "Eine ständig zunehmende ungeheure Müdigkeit lastet auf mir.... Meine frühere Lust am Schauen und Erleben hatte sich im Laufe der Zeit in dumpfe Gleichgültigkeit und Teilnahmslosigkeit verwandelt; die einzige Sehnsucht, die in mir lebendig blieb, war gerade die nach dem Nichtmehrlebenmüssen.... Rund um mich herum mußten sie gehen, einer nach dem andern. Sie fielen nicht alle vorm Feind; ich glaube, es war sogar die Mehrzahl, die den vielen bösartigen Krankheiten der Tropen erlag..." Andere starben an Hunger und Erschöpfung, durch räuberische Eingeborenenstämme, besonders die Massai, und durch wilde Tiere, insbesondere durch Krokodile, Nashörner und Elefanten. Jede Patrouille bedeutete auch den Verlust von unersetzlichen Ausrüstungsgegenständen. Heye sagt von sich selbst, daß er einer der ersten war, der sich dem Aussehen eines Robinson näherte: "lang herniederwallendes Lockenhaar hinten, ein zweizipfliger Wotansbart vorn, darüber ein von tausend Lagerfeuern speckigschwärzliches Gesicht mit einer einäugigen Brille, darunter Khakihemd und Hose, beide gleichermaßen zerrissen, und zuunterst ein Paar fast sohlenloser Trittlinge, die von vorn gesehen an junge Klaffschnäbel erinnerten." Einer der schlimmsten Schicksalsschläge war, im Juli 1916 den Koffer mit sämtlichen Aufnahmen aus afrikanischer Zeit in einem Fluß zu verlieren, nachdem er sie zwei Jahre lang hatte hüten können -43-
und überall hin mitgeschleppt hatte. Ach, Freiheit! Freiheit! Weite Gefilde! Da unsere eingezwängten Seelen ersticken und am Fenster hinsiechen, da unser gefangener Geist, wie der Bär im Zwinger, sich immer um sich selbst dreht und an die Mauern stößt, so gebt wenigstens den Nüstern den Duft aller Winde der Erde! Gustave Flaubert, Über Feld und Strand
Gefangenschaft in Indien (1917-1920) Fast drei Jahre war er "auf Kriegspfaden" im Busch unterwegs, bis er am 19. April 1917 angeschossen und gefangengenommen wurde. Seine Gefühle sind zwiespältig: Der Erleichterung, dem Krieg entronnen zu sein, steht der Abschiedsschmerz gegenüber, ein Land zu verlassen, das ihm fünf Jahre Heimat war. Im Juni 1917 befand er sich an Bord des englischen Dampfers Windsor Castle, auf dem Weg nach Indien, und gelangt wie die meisten in das Gefangenenlager Ahmednagar. Dort findet er etwa fünfhundert Deutsche, luftige Wohnbaracken, Gärten, Duschen, Sportplätze, sogar eine Musik- und Theaterhalle. Es gibt Sport-, Gesang-, Musik- und Theatervereine; einige Gefangene führen Coiffeursalons, Schuster- und Schneiderwerkstätten. In der Kantine kann man so ziemlich alles kaufen, Alkohol erhält man unter der Hand. Ein Problem ist das Geld: "Den vornehmtuenden Vertretern der großen deutschen Handels- und Baufirmen fehlte es auch offenkundig nicht an Mitteln dazu; bei uns Afrikasoldaten haperte es in dieser Hinsicht jedoch erheblich. Wir besaßen wohl ausnahmslos Löhnungsguthaben von tausenden von Rupien, aber wir besaßen kein bares Geld." Heye verdiente sich einiges hinzu, indem er zunächst eine Art -44-
Konditorei betrieb: "Ich stellte nur eine einzige Spezialität her: Sandtorte eins zu eins. Der Name erklärt sich aus dem Rezept: ein Pfund Mehl, ein Pfund Zucker, ein Pfund Butter und ein Dutzend Eier. Wer von diesem währschaften Erzeugnis drei Scheiben zum Frühstück aß, hatte noch am Abend keinen Hunger. Den Backofen selbst hatte ich mir aus Lehm und einem Haufen Ziegeltrümmer hinter dem Waschhaus erbaut; das Heizmaterial war das landesübliche, nämlich getrockneter Kuhdung." Als ihm das Geschäft vom Kommandanten wegen Feuergefahr untersagt wurde, verlegte er sich auf die Herstellung von Tamarindenmarmelade, einem allerdings wenig begehrten Produkt. "Die Einnahmen schnellten jedoch in äußerst erfreulicher Weise in die Höhe... Eine Anzahl eingeweichter Früchte war mir in Gärung übergegangen; gerade als ich im Begriff stand, das Zeug wegzuschütten, steckte ein hoffnungslos versoffener Barackengenosse seine rote Nase schnüffelnd in den Bottich, kostete das Gebräu und fand den Geschmack so lieblich, daß er es restlos ausbecherte, wobei er immer handfestere Gesänge anstimmte.... Der Absatz wurde aber geradezu reißend, als ich herausfand, daß bei richtiger Behandlung aus dem Zeug sogar ein schäumender Sekt entstand..." Auch dieses Geschäft war von kurzer Dauer, nachdem eines Nachts eine nach der anderen die unter dem Bett gestapelten und verkorkten Flaschen explosiv ihre Korken durch die Gegend jagten. Ein Geräusch, daß schnell zwei Engländer mit gefälltem Bajonett herbeilockte, an eine Schießerei glaubend. Der findige Heye erteilt nun den Deutschen im Lager Englischunterricht, wobei er einen besonderen Wert auf vielfältige Flüche legte, die die Lagerinsassen mit den Bewachern austauschen konnten. "Monate hindurch gab ich einer Nachmittags- und einer Abendklasse von je zwanzig bis dreißig Teilnehmern Unterricht." Den Unterricht mußte er -45-
schließlich wegen seines immer schlechteren Gesundheitszustandes aufgeben, verbrachte mehrere Monate im Gefängnishospital und hielt ein ganzes Jahr lang eine Diät aus Schleimsuppen ein. Ein Mitgefangener, Hauer, berichtet in einem eigenen Buch von einer Flucht, die auch Heye erwähnt: "Eines Morgens fehlte jener schlagfertige Leipziger. In einem Brief, der jedem Melancholiker Ehre gemacht hätte, teilte er dem Kommandanten mit, daß die Quälereien des `schwarzen Peter´... ihn zum Selbstmord getrieben hätten. Während nun tagelang Busch und Höhlen vergebens durchsucht wurden, saß Herr Hahn zuversichtlich in der Bahn. Bei der Ankunft in Madras... ward er der Polizei nur dadurch verdächtig, daß er das wenigste Gepäck von allen Reisenden trug." Bei Heye heißt der Flüchtige allerdings Blum und die Flucht fand aus Ramandrugh statt, im übrigen gleichen sich die Angaben. Heye traf Blum später nochmals in Deutschland und nennt zahlreiche Details, so z. B., daß Blum zu vier Jahren Militärgefängnis in Poona verurteilt wurde, diese jedoch nicht abzusitzen brauchte und zusammen mit allen anderen Anfang 1920 nach Deutschland überführt wurde. Nachdem 1918 der Krieg beendet war, gab es auch nach Monaten noch keine Anzeichen für eine Verschiffung nach Hause, die Moral im Lager sank: "Die geistigen Interessen, die zahlreichen Bestrebungen zur Weiterbildung flauten ab, und schließlich hörte sogar die sportliche Betätigung fast völlig auf. Bei vielen machte sich stattdessen dauernde Gereiztheit und Zanksucht und eine Neigung zu alkoholischen Ausschweifungen bemerkbar, andere flüchteten sich in die sonderbarsten sektiererischen Lehren, in okkulten Hokuspokus oder einfach in schiere stumpfe Verzweiflung und Selbstaufgabe - und einige flüchteten aus dem Leben überhaupt. Denjenigen, die freiwillig gegangen waren, sollten im Laufe dieses düsteren Jahres noch viele unfreiwillig folgen. Nachdem schon eine Choleraepidemie -46-
auch unter uns mehrere Opfer gefordert hatte, fiel der schwarze Schatten der weltumspannenden Grippe auch über Indien.... [Dann] flammte die dortzulande nie ganz verlöschende tropische Pest, die Bubonenpest, wieder auf; ihr auf dem Fuße folgten eine neue Cholerapest und dieser dann noch der Typhus." Heye ging es schlecht, obwohl er nicht unter diesen Seuchen zu leiden hatte. Er kam in das Erholungslager Ramandrugh im Süden der Provinz Madras. Dort lernte er den Ethnologen Dr. Schlesinger kennen, der im Himalaya zu ethnologischen Studien unterwegs gewesen war, und dessen Vater Inhaber eines bekannten Frankfurter Bankhauses war. Mit ihm ging er in den fünf Monaten Erholungslager auf insgesamt acht Wochen währende Forschungs- und Jagdausflüge; für zwei Rupien pro Person und Tag meldete der irische Sergeantmajor die beiden jeden Abend als anwesend. Heye trifft auch den Dr. Söderland, der Redakteur bei dem Versicherungsblatt "Die Mußestunde" gewesen war und sich in ein buddhistisches Kloster auf Ceylon zurückgezogen hatte. Dort hatte man ihn ausgewiesen, obwohl er bereits mehrere Jahre unter den Mönchen lebte. Vor seiner Internierung war Heye dessen Nachfolger als Weltreisender der Mußestunde. Heye zitiert den Spruch eines indischen Weisen: "Wer hier auf der Welt nichts liebt und nichts haßt und nichts erstrebt, nur der ist ohne Fesseln und kennt keine Furcht." Das war ihm selbst lange Leitspruch gewesen, doch in den letzten Jahren entstanden Wünsche und Hoffnungen: "Ich hatte vielerlei erstrebt und unter unsäglichen Anstrengungen auch manches erreicht; aber zuletzt war mir doch alles wieder unter den Händen zerronnen, und heute stand ich wahrscheinlich mit leereren Händen und leererem Herzen da als jener Mann." Er ist "mit 35 Jahren schon des Erlebens müde und überdrüssig, als lägen hundert Jahre hinter" ihm. "Mehr noch als die wilden Erlebnisse des Krieges, die nur Grauen und Abscheu in mir erregten, hatten die Jahre des Eingesperrt-Seins mit ihrem -47-
nervenzermürbenden Warten auf Befreiung einen Schatten über meine Seele geworfen, der immer tiefer und dunkler wurde. Er ist auch späterhin nie völlig gewichen." Erst Silvester 1919 werden alle Gefangenen Hals über Kopf nach Bombay und dort auf ein Schiff gebracht. Am 24. Februar 1920 landet Heye im Rotterdamer Hafen und "kriecht von Bord", kaum genesen von einer Grippe, die unter den 1400 Passagieren zahllose Tote gefordert hatte. Um fliegen zu können, muß man nicht nur Flügel haben, sondern sie auch schwingen. Burmesisches Sprichwort
Reisen als Nebensache (1920-1925) In den folgenden zwei Jahren lebt Heye von aufgelaufenen Löhnungsguthaben, das ihm zudem bis Mitte 1920 zusteht. "Ich saß in verschiedenen Gegenden Deutschlands herum und schrieb von früh bis abends": ein Buch über die Kriegserlebnisse, ein zweites über einen schwarzen Kameraden, Mariani, einen Kannibalen aus dem Kongo-Gebiet und noch ein drittes, das die bisher erschienenen Berichte zusammenfaßte. Sein Gesundheitszustand besserte sich allmählich; Konstitution, Kondition und Lebensfreude erreichten jedoch niemals wieder die Qualität von vor dem Kriege. 1922 hält er erstmals Vorträge, zunächst für die sozialdemokratische Partei in Zürich. Ein Zuhörer lädt ihn daraufhin ein, den Winter über in Ägypten sein Gast zu sein. Sieben Monate verbringt er in Ägypten, ab Oktober 1922, doch findet er seine alten Freunde tot oder sehr verändert, auch die Beduinen sind fortgezogen und er widmet sich dem Studium der ägyptischen Geschichte. Die Sommer 1923 und 1924 verbringt er wieder mit Schreiben und Reisen in der Schweiz, Florenz und Rom, -48-
zusammen mit "einem lieben Menschen", dessen Name er verschweigt; im Winter hält er Vorträge. Beides lohnte sich finanziell sehr und 1925 reicht das Geld für eine Fahrt nach Ostafrika.
Mit der Kamera in Ostafrika (1925-1926) Sein Geld teilt er mit einem Buren, Andreas (oder Andries) Baldan, der einen Tierfilm drehen will. Dessen Familie hat eine Farm in der Nähe von Moshi in Tanzania und dort bereiten sie ihre Safari vor. Zehn Monate fahren sie kreuz und quer durch die Steppe und versuchen seltene Tieraufnahmen zu machen. Das gelingt auch im großen und ganzen und der Film wird später in Deutschland gezeigt und läuft in gekürzter Form noch etliche Jahre im Beiprogramm der Kinos. Bei den Baldans geht es mittlerweile drunter und drüber: Andries ist mit dem Filmmaterial nach Europa gefahren, um es zu Geld zu machen, sein Bruder ist von einem Leoparden angefallen, schwer verwundet und verstümmelt worden, Vater Baldan verlor viel Geld durch Spekulationen, seine Tochter Martha liegt im Hospital. Heye wird daher gebeten, doch zu bleiben und die Familie mit Wild zu versorgen. Heye nimmt an, baut sich eine Hütte zwei Kilometer von der Farm entfernt und begibt sich von dort auf Photosafaris. Mit nur knapper Not entkommt er einmal einem wütenden Büffel, einige Tage später beißt ihn ein Schakal in den Fuß, der sich daraufhin derart entzündet, daß der Arzt bereits von Amputation spricht. Zehn Wochen Hospital verdankt er dem Schakal, eine fast völlige Pleite und noch lang andauernde Störungen seiner Gesundheit. Um Geld zu machen, entwickelt er alle seine Filme und Platten und stellt sie zum trocknen auf. Eine Hyäne, die nachts ins Lager einbricht, zerstört fast alle Aufnahmen, so daß -49-
Heye nichts anderes übrigbleibt, als nach Europa zurückzufahren. Mir ist es immer ein unaussprechliches Vergnügen, mich im möglichst kleinsten körperlichen Raume im Geiste auf der großen Erde herumzutummeln." Friedrich Schiller, Brief an seine spätere Frau
Erholung und Heirat (1926-1927) Anfang März 1926 geht er in Suez von Bord der York Castle und nimmt den Zug nach Kairo. Zwei Monate verbringt er im Haus eines alten Freundes, um sich langsam an europäische Verhältnisse zu akklimatisieren. Auf dem weiteren Weg nach Hause trifft er allenthalben Bekannte, die staunen, daß er noch lebt. Werbewirksam hatte sein Verleger aus dem Schakal einen Löwen gemacht, der Heye an den Rand des Grabes brachte. So wütend ist Heye darüber, daß er die Geschichte als "Der Löwe meines Verlegers" kurz darauf in "Reclams Universum" veröffentlicht. Geld hat er aber noch immer nicht, nicht einmal eine Schreibmaschine und so kommt er auf die Idee, eine Annonce aufzugeben: Sekretärin mit Schreibmaschine gesucht. Am nächsten Morgen bittet ihn der Hotelier in die Halle, dort würden etwa 100 junge, hübsche Mädchen warten. Nachdem er die ersten sechs interviewt hat, wird es ihm zuviel und er engagiert kurzerhand die siebte. Allerdings stellt sich am nächsten Morgen heraus, daß sie keine Schreibmaschine hat, jedoch weiß, wo man eine leihen kann. Der erste Brief geht an einen Redakteur mit der Bitte um Zahlung rückständiger Honorare, damit er wenigstens seine Sekretärin bezahlen könne. Die neue Sekretärin hat überhaupt ungeahnte Qualitäten im Organisieren: sie überredet eine Redaktion zum Vorabdruck -50-
eines Buches, erpreßt vom Verleger besonders günstige Bedingungen, holt Zahlungen aus säumigen Redaktionen herein und läßt sich zu hohe Vermittlungsgebühren eines Vortragsbüros zurückzahlen. "Da ich sie, wie mir recht und billig schien, an allem von ihr Erreichten mit Provisionen beteiligte, außerdem ihr Gehalt erhöht hatte und ihr, da wir oft bis spät abends arbeiteten, dann auch noch ein Abendessen im Restaurant bezahlen mußte, weil sie ja um diese Zeit daheim nichts mehr vorfinden würde, überlegte ich mir eines Tages, daß es viel praktischer wäre, wenn ich sie heiratete. Was ich am 3. Juli desselben Jahres [1926? 1928?], sieben Wochen, nachdem wir einander kennengelernt hatten, denn auch tat." Seine Frau heißt Ruth, ist zwanzig Jahre jünger als er, empfindet eine ebensolche Fernen- und Abenteuerlust und gleicht die mangelnde körperliche Robustheit durch eine psychische Widerstandsfähigkeit aus. In den nächsten sechs Monaten schreiben sie zwei Bücher und etwa dreißig Zeitungsartikel. Da außerdem das Honorar des Films zu fließen beginnt, richten sie sich ein behagliches Haus in Ascona in der Schweiz ein. Heye laboriert jedoch ständig mit seiner Gesundheit und erst spät erkennt ein Arzt, daß es sich um eine chronische Gallenerkrankung handelt. Seine Belastbarkeit ist dauerhaft eingeschränkt, er hat oft Koliken und Schmerzen. Und als er im nächsten Winter mit seiner Frau eine Fahrt nach Ägypten plant, stellt der Arzt auch noch ein Magengeschwür fest.
Und war´s kein Gottesdienst im Kirchenstuhle Und war´s kein Tagewerk im Joch der Pflicht, Auch in der Ferne hält das Leben Schule, Es reut mich nicht! Unbekannt, Palmblätter -51-
Mit der Kamera in Amazonien (1929-1930) In einem Berliner Cafe lernt er im Herbst 1928 zufällig den Filmoperateur Adalbert Bittner kennen und vereinbart mit ihm eine gemeinsame Reise zum Amazonas, um dort einen Film zu drehen. Bittner selbst hat bereits einmal dort einen Film gedreht. Der Arzt prophezeit ihm darauf ein baldiges Ende, da seine Gesundheit das niemals überstehen würde. Heye, seine Frau und Bittner reden sich jedoch in Begeisterung, das einzige Problem ist das Geld. Ruth Heye jedoch hat einen bayrischen Vetter, Joseph Jungblut, bei dessen Familie sie früher oft die Ferien verbracht hatte. Dieser hatte gerade sein Erbe angetreten, war unternehmungslustig, auf der Suche nach einer neuen Beschäftigung und Ruth Heye schreibt ihm: "Mein Mann ist der berühmte Reiseschriftsteller Artur Heye. Afrika, Amerika, Kanada und Alaska hat er bereist. Als Tramp. Er ist aber ein Gentleman. Ich lernte ihn im Safari-Verlag kennen, wo ich arbeitete und wo Heyes Bücher erscheinen. In der den komischen Gesetzen der Zivilisation entsprechenden kurzmöglichsten Frist... waren wir verheiratet. Mit gleicher Post sende ich Euch seine wundervollen Bücher...." Der Vetter ist einverstanden und bei einem Notar wird ein Vertrag aufgesetzt, der sie aneinander bindet und dem Vetter finanzielle Sicherheiten bietet. Zu fünft, denn auch Bittners Frau fährt mit, machen sie sich im Januar 1929 auf den Weg nach Rio de Janeiro. Schon bei der Abfahrt ist das Klima so, daß Heye und seine Frau überlegen, zurückzutreten. Frau Bittner ist keinem sympathisch, Bittner selbst und der bayrische Vetter liegen sich ständig in den Jahren, da Jungblut jeden Groschen dreimal rumdreht. Heye geht beiden aus dem Weg und auch er merkt selbstkritisch an, daß er durch seine Gallengeschichte vermutlich ziemlich ungenießbar geworden sei. Fünf Wochen verbringen sie in Rio mit endlosem Papierkram, Erlaubnissen -52-
und Zollverhandlungen. Während Bittner sich die Hacken abläuft, ist Jungblut fasziniert von der Exotik und betätigt ständig seine Kodak; Heye fällt von einem Leiden ins nächste und trägt gar nichts bei. Das ändert sich erst in Para, und Heye ist erstmals seit zwei Jahren monatelang beschwerdefrei. Die Streitereien nehmen dennoch zu, Bittner ertränkt seinen Ärger immer öfter im Alkohol. Letzten Endes kommt der bayrische Vetter ohne finanziellen Schaden aus der Geschichte heraus und findet künftig sein Glück bei weiteren Reisen und Filmen. So endet das Unternehmen kläglich, und Heye setzt sich nach zwei Monaten mit seiner Frau ab, um sich in entferntere Wildnisse zu begeben. Fünf Monate sind sie dann zu zweit unterwegs. Dabei genossen sie lange die großzügige Gastfreundschaft von Dr. Penna, dem größten Großgrundbesitzer in Amazonien, der etwa 200.000 Stück Vieh sein eigen nannte. Mit dessen Kamera dreht Heye seinen eigenen Film. Er gerät bei einem seiner Ausflüge auf das Gebiet des Nachbarn, der mit Dr. Penna verfeindet ist, und muß um sein Leben kämpfen. Mit Mühe erreicht er nach wochenlangem Unterwegs-Sein fast verhungert die nächste Stadt. Seine Gesundheit ist so angegriffen, daß er einen längeren Aufenthalt im Krankenhaus von Para genießt. Zur gleichen Zeit wird der an einem Leberabszeß erkrankte Bittner eingeliefert und stirbt an den Folgen der Operation. So fand die Reise nach etwa einem Jahr ihren Abschluß.
Die letzte Reise - Alaska (1932-1934) Bereits 1926 erhält Heye den Brief eines ihm völlig unbekannten, schon recht betagten Trappers aus Alaska, der eines seiner auf englisch übersetzten Bücher gelesen hat, und wird eingeladen, auf ein Jahr vorbeizukommen, dort zu leben -53-
und zu jagen. 1928 kommt erneut ein Brief des Trappers, aber, wie Heye schreibt, dauert es noch drei Jahre, bis er das Angebot wahrnehmen konnte, dann allerdings gemeinsam mit seiner Frau. 1932 war es dann soweit: die beiden brechen auf und treffen etwa im Juni in Alaska ein. "Old" Tom Summer hat seine Hütte an der Mündung des Alexandra in den Susitna, etwa 80 Meilen von Anchorage entfernt und Capt´n Billy fährt sie hin. Fast jeder, der ihnen begegnet, wundert sich darüber; einer bietet ihnen an, bei ihm unterschlüpfen zu können, wenn sie es bei Tom nicht mehr aushalten: Es scheint, er hat einen schlechten Ruf und muß wohl recht eigenartig sein. Sie kommen mehr oder weniger schlecht mit ihm aus und teilen bis Januar die normale Arbeit mit ihm: Garten anlegen, Dach reparieren, Lachse fangen, Holzvorräte anlegen. Dann geht es einfach nicht mehr und sie verlassen mit einem anderen Trapper, Guyse, den ungastlich gewordenen Ort, verbringen den Rest des Winters und den Sommer mit Guyse. In Anchorage besorgen sie sich eine Trapperlizenz, so daß sie Fallen legen und jagen dürfen. Im Herbst beziehen Heye und seine Frau eine Hütte am Mount McKinley und überwintern in einer paradiesischen Umgebung. Mit Jagd und Fallenstellen verdienen sie Ihren Unterhalt. Im Mai (1934?) verlassen sie Alaska, ungern, aber die Trapperlizenz wird nicht verlängert, außerdem muß Heyes Galle bedarf der Operation. Damit scheint Heyes Reiseleben beendet zu sein - zumindest gibt es von ihm keine Veröffentlichung über einen späteren Zeitraum. Im Grunde genommen ist das Leben bloß eine günstige Gelegenheit, sich die Welt anzusehen. Hans Reimann -54-
4 Überblick Zur Person Artur Heye Franz Eichhorn, ein Reisegefährte Artur Heyes während seiner Amazonasfahrt, beschreibt ihn: "Dieser ganz in Gelb, Kanten und Strichen. Gelbe Schuhe, gelber Kamelhaarmantel, gelbe Umrandung der Brille, gelbe Haut und gelbe Mütze. Sogar die Augen hatten einen gelben Schimmer. Körperlich war der erste Eindruck: nur Haut und Knochen. Nach einer kurzen, aber eindringlichen Musterung seiner scharfen Augen... streckte er mir seine sich wie ein Scheitholz anfühlende, mit gelbem Schweinsleder bedeckte Rechte hin und murmelte mit englischem Akzent: `Freut mich, Boy! Hoffentlich klappt es.´ Damit war seine Rede zu Ende. Der Strich, bei anderen Leuten die Lippen, bog sich nach abwärts zu einem Halbkreis. Das Kinn schob sich vor, der Rücken rundete sich, der Schirm seiner Reisemütze schien sich unendlich weit nach vorn zu verschieben. Die Hände vergruben sich zutiefst in den aufgesetzten Manteltaschen. Howgh! Artur Heye hatte gesprochen!" Was wissen wir noch? Er ist ein genügsamer Mensch, ißt wenig, trinkt kaum Alkohol. Genuß findet er in einer Tasse Kaffee und, weit abgeschlagen, in einer Zigarette. Heye ist Romantiker, immer wieder sucht das glückliche Leben, die heile Natur, zufriedene Gesellschaft: erst auf See, dann bei den Indianern Nordamerikas, dann bei den Beduinen Ägyptens, schließlich im Tierparadies Ostafrika. Doch seine Erfahrungen enden meist mit Katastrophen. Drei Schiffsuntergänge, Schmutz und Rohheit, menschenunwürdige Behandlung vertreiben ihn von der See. Christianisierte, alkoholabhängige Indianer desillusionieren seine Vorstellung des edlen Wilden. Das Leben bei den Beduinen kommt seinen -55-
Vorstellungen noch am nächsten, doch ist er bereits zu sehr von westlicher Kultur durchdrungen. Monatelang hält er es bei ihnen aus, doch Teil des Stammes werden - nein! Zu sehr sind ihm die Lebensbedingungen auf Dauer zuwider. In Ostafrika beendet der Krieg sein selbstgeschaffenes paradiesisches Leben in Ol Matun. Und nicht nur das - er selbst muß aktiv an dessen Zerstörung teilnehmen: Seine Fleischbeschaffungsmaßnahmen kosten tausende von Wildtieren das Leben. Die moralischen Bedenken, Tiere zu töten, sind bei ihm stärker ausgeprägt als die Bedenken, am Krieg teilzunehmen. Parallel zu seinem romantischen Streben offenbart sich eine Sehnsucht nach Heimat. Bereits mit 19 Jahren versucht er sich ein Heim zu schaffen, seinem Leben einen festen Standort und eine wirtschaftliche Grundlage zu geben. Das mißlingt jedoch gründlich und er ist mehr als glücklich, wieder frei zu sein. Eine Heimat findet er weder bei Indianern, noch bei den Beduinen, obwohl diese ihm ein Zelt, eine Frau, eine Heimat anbieten. Auch Deutschland ist seine Heimat nicht und seine wenigen Besuche dort dauern immer nur wenige Tage. Heimat ist für ihn einzig die Wildnis um Ol Matun in Ostafrika; und diese Heimat nimmt ihm der Krieg. Spätere Versuche, dort wieder heimisch zu werden, scheitern. Krieg und Gefangenschaft haben die Menschen, das Land und auch ihn selbst zu sehr verändert. Erst mit 43 Jahren schafft er eine dauerhafte Bindung und heiratet, es folgt ein Haus in Ascona. Das Haus war ihm ein Nest, seine Frau der beste Kamerad, den er je hatte. Von Heimat ist keine Rede mehr. Seine Frau nennt er in seinen Büchern nur selten Ruth, meist schreibt er "die Frau", im Gespräch nennt er sie "Kamerad". Bei aller Sehnsucht nach Einsamkeit sucht er immer auch die Gemeinschaft, das sind ihm oft die Tiere, die er liebt. Seit seiner ersten Liebe zu der Müllerstochter in Amerika ist etwas in ihm entzwei gegangen; mag sein, der Schmerz war zu groß jedenfalls scheut er die enge Bindung an eine Frau. Als seine -56-
Mutter stirbt, erlebt er wieder dieses Gefühl inniger Verbundenheit und den Schmerz des Abschieds; es erinnert ihn erneut an die Müllerstochter - sein Dasein erscheint ihm wenig lebenswert. Freund- und Kameradschaften erscheinen ihm sicherer, es sind wenige zwar: Omm el Cherik, Abd el Fadl und die wenigen Freunde, die er fand: Burton, Delafontaine, Dabelsteen. Und er verliert sie alle, schon nach einiger Zeit. Auch das schmerzt, aber es ist zu verkraften. Und so sehr er sich Heimat und Heim, Freundschaft und vielleicht, Liebe, wünscht, so sehr graut ihm vor Bindung; ein Grauen, daß er anscheinend erst durch eine Krankheit und deren Folgen überwindet. Als er sich festlegt, mit seiner Frau Ruth und einem Haus in Ascona, bezeichnet er das eine nicht mehr mit Liebe, das andere nicht mit Heimat, vielmehr ist von Kameradschaft und Nest die Rede. Beides ist funktional und rational, aber nur begrenzt emotional. Heye erfuhr das Leben in vollen Zügen und in allen Extremen. So sehr er das Pech kannte, so sehr war ihm auch das Glück hold. Das Glück stand ihm jedoch meist erst dann zur Verfügung, wenn ihn sein Pech in eine scheinbar ausweglose Situation gebracht hatte. Glück hatte er auch oft nur dann, wenn er alleine war, auf sich gestellt; da trafen ihn glückliche Fügungen. Wer von weither kommt, hat leicht lügen. Voltaire
Kritische Anmerkungen Heyes Reiseberichte lassen sich in drei Kategorien einteilen: Berichte, die er für Zeitschriften und Zeitungen schrieb, -57-
überwiegend 1912-1928; Bücher, die teils einfach Zusammenfassungen dieser Reiseberichte sind, bis etwa 1933, und schließlich die Bände der "Wilden Lebensfahrt", die ab 1940 erscheinen und eine chronologische Autobiographie darstellen. Viele seiner Reiseerlebnisse sind daher an zwei oder drei Stellen beschrieben, zum Teil weichen die Schilderungen jedoch erheblich voneinander ab. Das ist einerseits nicht verwunderlich, denn er ist schon zehn Jahre unterwegs, bevor er die erste Story schriftlich niederlegt, da mag das Gedächtnis Namen, Orte, Reihenfolgen verwechseln. Ein Tagebuch erwähnt er niemals, so daß es wenig wahrscheinlich ist, daß er eines führte; somit müssen die Niederschriften mehr oder weniger aus dem Gedächtnis erfolgen. Das erklärt aber nicht krasse Unterschiede: zwischen 1912 und 1914 ist ein Jahr mehr beschrieben, als zeitlich möglich; ob ihn sein Pflegesohn nun ein halbes Jahr begleitet oder nicht, ob dieser dabei getötet wird oder nicht; ob seine Filme im Fluß untergingen oder von einem Gurkha erbeutet wurden; ob er seine Frau 1926 oder 1927 oder 1928 geheiratet hat; ob der Krieg ausbrach, als er aus Uganda kam oder gerade an einer Malaria in Ol Matun laborierte; ob Idris sein Diener war oder der des Abd er Rachman; ob er Äthiopien im Auto verließ oder auf dem Rücken eines Esels - all dies scheint mir so gravierend, daß ein mangelndes Gedächtnis nicht die Ursache sein kann. Mangels weiterer Quellen kann die eine oder andere Version nur aufgrund von Annahmen bestimmt werden: die frühen Berichte Heyes für Zeitschriften standen a) unter dem Zwang, Geld verdienen zu müssen und b) unter dem Zwang, regelmäßig Geschichten zu produzieren. Ich vermute daher, daß die Versuchung groß war, kleine Ereignisse aufzubauschen; Geschichten, die er von anderen hörte, als eigene darzustellen oder auch der Phantasie gehörigen Raum zu gewähren. Mag sein, daß daher rückblickend mehr Reisen beschrieben wurden, als zeitlich überhaupt durchführbar waren bzw. daß kürzere -58-
Phasen durch ausufernde Beschreibungen zeitlich gestreckt wurden. Mir erscheint es fraglich, ob er je in Uganda oder im östlichen Kongo war. Auch die Äthiopienerlebnisse sind sehr widersprüchlich. Zwischen 1926 und 1929 ist es gerade umgekehrt: Hier fehlen zwei Jahre, die überhaupt nicht angesprochen werden. An einer Stelle erweckt er den Anschein, daß er seine Frau unmittelbar nach der Rückkehr von seiner letzten Afrikareise 1926 kennenlernte und wenige Wochen später heiratete. Der Vetter seiner Frau beschreibt in einem eigenen Buch, daß er von Ruth Heye einen Brief erhielt, in dem sie mitteilt, daß sie frisch verheiratet ist und ihren Mann nur sieben Wochen vor der Heirat kennenlernte. Dieser Brief wurde aber Ende 1928 geschrieben, denn nur wenig später befinden sich Ruth, ihr Vetter und Heye für ein Jahr in Brasilien (1929). Heye erzählt Anfang 1929, daß er schon seit über zwei Jahren an einer Gallenerkrankung litt. Das fiele nun genau in die betreffende Lücke. Aber warum wird das verschwiegen? Auch folgendes: Im März 1926 ist er völlig pleite, auch noch im Juli, als er angeblich seine Frau heiratet. Sechs Monate später kauft er sich ein Haus in Ascona. Wovon? Auch dies spricht dafür, daß Frau und Haus erst 1928 aktuell wurden. Ich erachte die Publikationen der Reihe "Wilde Lebensfahrt" als der Wahrheit am nächsten stehend einzuordnen: sie sind Überarbeitungen der früheren Publikationen; sie enthalten zahlreiche Jahreszahlen; sie sind in Heyes letztem Lebensabschnitt niedergeschrieben und publiziert worden: Was sollen da noch Übertreibungen? 1995 by Norbert Lüdtke
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5 Literatur
Artur Heyes Publikationen sind unübersichtlich, da er zunächst in Deutschland, während des Dritten Reiches in der Schweiz, dann wieder in Deutschland veröffentlichte. Manche der folgenden Bände überschneiden sich inhaltlich: Erzählungen sind ausgekoppelt oder überarbeitet und sind daher teilweise zusammengefaßt angegeben. Chronologisch und in den letzten Lebensjahren entstanden sind die Publikationen der Reihe "Wilde Lebensfahrt".
5.1 Heye-Bibliographie Vitani. Kriegs- und Jagderlebnisse in Ostafrika 1914-1916 Leipzig, Grunow, 1921, 4 Aufl. bis 1931 Hatako. Das Leben e. Kannibalen Berlin, Safari-Vlg. (DEA 1921) in zwei Aufl. u. vier Ausgaben bis 1945 Wanderer ohne Ziel. Von abenteuerlichem Zwei- und Vierbein Berlin, Safari (DEA 1922), 2 Ausg. Unterwegs. Die Lebensfahrt eines romantischen Strolches Berlin, Safari (DEA 1925), 30 Aufl. in 5 Ausg. bis 1948, (=Wilde Lebensfahrt 13) Allah hu akbar. Unterwegs im Morgenlande Berlin, Safari Vlg. (DEA 1926) 5 Aufl. u. 3 Ausg.bis 1961 Meine Brüder. Bilderbuch einer langen Fahrt durch befremdliche Länder und Zeiten Berlin, Safari-Vlg., (DEA 1926), 2 Aufl. u. sechs Ausgaben bis 1951 Pech. Afrikanische Zufälle -60-
Berlin,
Safari,
(DEA
1927),
2
Aufl.
Brennende Wildnis. Bilderbuch eines langen Weges durch befremdliche Länder und Zeiten Berlin, Safari-Vlg. (DEA 1927) Filmjagd auf Kolibris und Faultiere. Nach brasilianischen Tagebuchblättern eines Kurbelmannes Berlin, Safari (DEA 1929), 2 Ausg. Millionen am Amazonas. Roman Berlin, Safari-Vlg. (DEA 1930) Tiere, wie ich sie sah. Aus Urwald und Steppe Berlin, Safari Vlg. (DEA 1933) Im letzten Westen. Mit Trappern, Fischern, Goldsuchern in Alaska Zürich, Müller, 1939, 32 Tfll., 304 S., Ln in 5 Aufl. bis 1953 In Freiheit dressiert Zürich, Müller, (DEA 1940) 160 S (=Wilde Lebensfahrt Bd. 1) zwei Aufl. und zwei Ausgaben bis 1961 Hinein nach Afrika Zürich, 1940, 160 S., Ill., zwei Aufl (=Wilde Lebensfahrt Bd. 3) Die Wildnis ruft Zürich, Müller, 1941, 164 S., Ln (=Wilde Lebensfahrt 4), 2 Aufl. bis 1943 Steppe im Zürich, 1942, 159 (=Wilde Lebensfahrt Bd. 5) Ewige Zürich, Müller, 1942, (=Wilde Lebensfahrt Bd. 6) 2 Ausg. -61-
S.,
154
Sturm Ln
Wanderschaft S., Ln
Amazonasfahrt. Erlebn. in Brasilien Zürich, Büchergilde Gutenberg 1944, 2 Ausg. bis 1950 Hatako-Mariani. Das Leben eines Kannibalen Zürich, Müller, 1945, 192 S., Ln (=Wilde Lebensfahrt Bd. 11) Unterwegs. Afrikanische Zufälle Zürich, Müller, 1947, 170 S (=Wilde Lebensfahrt Bd. 13) Amazonasfahrt. Erlebn. in Brasilien Zürich, Müller, 1950, 302 S., Ln. (=Wilde Lebensfahrt Bd. 19) Ein Leben unterwegs Berlin, Safari, 1948, 2 Ausg. bis 1950 Allahs Garten. Erlebnisse im Morgenland Zürich, Müller, 1961, 188 S (=Wilde Lebensfahrt Bd. 2)
5.2 Weitere Literatur Pola Brückner Eine Frau ging in den Urwald Berlin: E. Steininger 1939 179p, 18 SW-Abb. a. 16 Tfll., 2 Ktn. Francis Courtade, Pierre Cadars Geschichte des Films im Dritten Reich Bücherg. Gutenberg Frankf./M. 1976 Franz Eichhorn In der grünen Hölle. Kurbelfahrten durch Brasilien C. Bertelsmann, Gütersloh 1952 237p, OLn, 24 SW-Tfll. Carl Hagemann -62-
Weltfahrt. Ein unempfindsames Reisebuch Schuster u. Loeffler, Berlin, 1921 15 x 22 cm, 339p, OInt.-Brosch. August Hauer Kumbuke Deutsch-Literar. Institut J. Schneider, Berlin, 7.A. 1943 15x21cm, OPppbd, 326p, 30 SW-Abb. a. Tfll. u. 3 Kartenskizzen Johannes Beer (Hg.) Der Romanführer. Teil II. Bd. 4 Stuttgart: Hiersemann 1953 Wilhelm Kosch, H. Rupp, L. lang Literatur-Lexikon. Biographisch-Bibliographisches Handbuch. 9. Bd. Bern/München: Francke 1984 Frank Eden Sehnsucht nach Freiheit und Abenteuer. Exkurs: Artur Heye. In: Gottfried Bergner, Ansgar Häfner: Der Afrikaner im deutschen Kinder- und Jugendbuch. Untersuchungen zur rassistischen Stereotypenbildung im deutschen Kinder- und Jugendbuch von der Aufklärung bis zum Nationalsozialismus. Eine Ausstellung im Rahmen der 11. Kinder- und Jugendbuchmesse aus den Beständen der Universitätsbibliothek Oldenburg aus Privatbesitz und Sammlungen Oldenburg 1985 Ausrüstung: "In einen guten deutschen Rucksack kamen ein Hemd und ein Paar Strümpfe, ein Wandervogel-Kochgeschirr, die Taschenapotheke und die Kamera, an die Füße ein Paar vertrauenswürdig dickesohlige Schuhe und Ledergamaschen, über die Schulter die Feldflasche, auf den Buckel dann der Rucksack." Auch ein Kompaß, Hartspiritus, eine elektrische -63-
Taschenlampe, Füllfederhalter, Rasierapparat, Zahnbürste gehören zur Ausrüstung. Ende April 1926 sitzt Heye im Cafe Groppi in Kairo
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