Untersuchungen zu den baltischen Sprachen (Brill's Studies in Indo-European Languages & Linguistics)

Untersuchungen zu den baltischen Sprachen von

Daniel Petit

•

s

BRILL

LEIDEN . BOSTON 2010

Brills Studies in Indo-European Languages & Linguistics Series Editors

Craig Melchert University of California at Los Angeles

Olav Hackstein Ludwig-Maximilians-Universität Munich

Editorial Board

Jose-Luis Garcia-Ramön, University of Cologne Andrew Garrett, University of California at Berkeley Stephanie Jamison, University of California at Los Angeles Joshua T. Katz, Princeton University Alexander Lubotsky, University of Leiden Alan J. Nussbaum, Cornell University Georges-Jean Pinault, Ėcoles Pratiques des Hautes Ėtudes, Paris Jeremy Rau, Harvard University Elisabeth Rieken, Philipps-Universität Marburg Stefan Schumacher, Vienna University

VOLUME 4

Cover Illustration: The first page of the 'Elbing Vocabulary' (facsimile of the Codex N e u m a n nianus, f r o m V. Mažiulis 1966, Vilnius, Mokslas). This book is printed on acid-free paper. Library of Congress Cataloging-in-Publication Data Petit, Daniel, 1967Untersuchungen zu den baltischen Sprachen / von Daniel Petit. p. cm. Includes bibliographical references and index. ISBN 978-90-04-17836-6 (hardback : alk. paper) 1. Baltie languages—Grammar, Comparative. 2. Baltie languages—Phonology, Comparative. 3. Baltie languages—Clitics. I. Title. PG8018.P48 2010 491'.9—dc22 2010010989

ISSN 1875-6328 ISBN 978 90 04 17836 6 Copyright 2010 by Koninklijke Brill NV, Leiden, The Netherlands. Koninklijke Brill NV incorporates the imprints Brill, Hotei Publishing, I D C Publishers, Martinus Nij hoff Publisher s and VSP. All rights reserved. No part of this publication may be reproduced, translated, stored in a retrieval system, or transmitted in any form or by any means, electronic, mechanical, photocopying, recording or otherwise, without prior written permission from the publisher. Authorization to photocopy items for internal or personal use is granted by Koninklijke Brill NV provided that the appropriate fees are paid directly to The Copyright Clearance Center, 222 Rosewood Drive, Suite 910, Danvers, MA 01923, USA. Fees are subject to change.

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INHALT

Abkürzungen Einleitung

vii 1

I. Einführung in die baltische Dialektologie 1. Das Gemeinbaltische 2. Die Trennung des Westbaltischen und des Ostbaltischen . . . 3. Das Westbaltische 4. Das Ostbaltische 5. Die litauischen Dialekte 6. Die lettischen Dialekte

3 6 11 21 25 35 44

II. Das baltische Akzent- und Intonationssystem 1. Das baltische Intonationssystem 1.1. Das lettische Intonationssystem 1.2. Das litauische Intonationssystem 1.3. Die lettischen Intonationen und die litauischen Akzentparadigmen 1.4. Die niederlitauischen Intonationen 1.5. Das altpreussische Akzent- und Intonationssystem. . . . 2. Die indogermanischen Grundlagen des baltischen Akzent- und Intonationssystems

52 55 55 60

100

III. Das baltische Neutrum 1. Das altpreussische Neutrum 1.1. Substantive 1.2. Adjektive 1.3. Pronomina 1.4. Fazit 2. Das Neutrum im Litauischen 2.1. Substantive 2.2. Adjektive 2.3. Pronomina 2.4. Fazit

140 141 141 154 164 168 169 169 171 174 183

64 71 75

Vi

INHALT

3. Das Neutrum im Lettischen 3.1. Substantive 3.2. Adjektive 3.3. Pronomina 4. Das Neutrum in den ostseefinnischen Lehnwörtern aus dem Baltischen 5. Fazit

183 183 185 191 194 198

IV. Die halbthematische Flexion im Baltischen 1. Das baltische Verbalsystem 1.1. Litauisch 1.2. Lettisch 1.3. Altpreussisch 2. Die indogermanischen Grundlagen des baltischen Verbalsystems 2.1. Athematische Klasse 2.2. Thematische Klasse 2.3. Halbthematische Klassen 2.4. Präteritalbildungen 2.5. Halbthematische Präsensklassen

205 206 206 218 222

V. Die Klitika im Baltischen 1. Identifizierung der Klitika 1.1. Die Klitika im Altpreussischen 1.2. Die Klitika im Ostbaltischen 1.3. Die baltischen Klitika und ihre Herkunft 2. Die Positionsregeln der Klitika 2.1. Die Positionsregeln der Enklitika 2.2. Die Positionsregeln der Proklitika

261 262 264 271 281 285 285 297

Literatur Index verborum

309 327

241 242 243 244 249 254

ABKÜRZUNGEN

aavest. Abi. Adj. Adv. aeng. ahd. aind. air. aisl. Akk. aksl. Akt. alb. alett. alit. äol. Aor. apers. apoln. apr. arm. aruss. asächs. avest. balt. böot.

=

= = = = = = = = = = = = = = = = = = = = = = =

bsl. čak. Dat. dial. dor.

=

dt. eng. Enkl. estn. Fem. finn. fr.

=

gall. Gen.

=

= = = =

= = = = = =

=

altavestisch Ablativ Adjektiv Adverb altenglisch althochdeutsch altindisch altirisch altisländisch Akkusativ altkirchenslavisch Aktiv albanisch altlettisch altlitauisch äolisch Aorist altpersisch altpolnisch altprcussisch armenisch altrussisch altsächsich avestisch baltisch böotisch baltoslavisch čakavisch Dativ dialektal dorisch deutsch englisch Enklitikon estnisch Femininum finnisch französisch gallisch Genitiv

germ. got.

=

grheth. hochlit. hom. idg. Impf. Ind. Inf. Instr.

=

ion. Iter. javcst. klass. Koll. Konj. kur. kymr. lat. lett. lit. liv. Lok. luw. Mask. messap. mhd. mir. mnd. myk. niederlit. Nom. Nt. Obj. osk. ostbalt. ostlit. ostsl. Part.

=

= = = = = = = = = = = = = = = = = = = = = = = = = = = = = = = = = = = = =

germanisch gotisch griechisch hethitisch hochlitauisch homerisch indogermanisch Imperfekt Indikativ Infinitiv Instrumental ionisch Iterativ jungavestisch klassisch Kollektiv Konjunktiv kurisch kymrisch lateinisch lettisch litauisch livisch Lokativ luwisch Maskulinum messapisch mittelhochdeutsch mittelirisch mittelniederdeutsch mykenisch niederlitauisch Nominativ Neutrum Objekt oskisch ostbaltisch ostlitauisch ostslavisch Partizip

viii

ABKÜRZUNGEN

Pass. Pers.

=

Passiv

skr.

=

serbokroatisch

=

Person

sl.

=

slavisch

PI.

=

Plural

Subst.

=

Substantiv

poln.

=

polnisch

toch.

prākr.

=

prākrit

tocharisch tschechisch

pranešt.

=

pränestinisch

tsch. umbr.

= = =

umbrisch

Präs.

=

urbalt.

=

urbaltisch

Prät.

=

Präsens Präteritum

uridg.

=

urindogermanisch

Präv. Prokl.

=

Präverb

Vok.

=

Vokativ weißrussisch

=

Proklitikon

weißruss.

=

Rcfl. Rcl.

=

Reflexiv

westdt.

=

westdeutsch

=

Relativ

westsl.

=

westslavisch

russ.

=

russisch

Wz.

=

Wurzel

schriftlctt.

=

schriftlettisch

=

Zahlwort

schriftlit.

=

schriftlitauisch

Zahlw. zemg.

=

zemgalisch

Sg-

=

Singular

EINLEITUNG Als ich nach einer Reise durch das Baltikum im Winter 1991-1992 begann, mich für die baltischen Sprachen zu interessieren, hatte ich von ihrer Altertümlichkeit innerhalb der indogermanischen Sprachfamilie natürlich gehört, aber ich ahnte damals noch nicht, daß sie ein unendliches Forschungsfeld darstellen, wo sehr vieles noch zu tun bleibt. Es wurde mir bald peinlich, daß die Baltistik, die in Frankreich seit Saussure, Meillet, Gauthiot, Vaillant und anderen eine langwährende Tradition beanspruchen konnte, in den sprachwissenschaftlichen Kreisen meines Landes fast nicht mehr vertreten war. Seit dem Beginn meiner Studien faßte ich den Plan, eines Tages eine Einführung in die baltischen Sprachen zu verfassen. Als Michael Meier-Brügger mich im April 2006 zum indogermanistischen Sommerkurs nach Berlin einlud, hatte ich diesen Plan noch im Kopf. Es stellte sich aber bald heraus, daß ich für so ein allgemeines Buch weder genügend Zeit noch Kompetenz hatte, sondern nur skizzenhaft einige der m.E. wichtigsten baltistischen Fragen behandeln konnte. Ende August 2006 war das Buch fast fertig, so daß ich die Ergebnisse meiner Arbeit in Berlin darstellen konnte. Die endgültige Fertigstellung des Buchs war zugegebenermaßen ein schwieriger Prozess - nicht zuletzt wegen der deutschen Sprache, die mir ständig Widerstand bereitete, sondern auch wegen des Inhalts, der nur mit großer Mühe beherrscht werden konnte. Das Buch ist in 5 Kapitel gegliedert, die die Struktur meiner Berliner Vorträge reflektieren. Mein tiefster Dank gebührt all denen, die mir bei der Verfassung dieses Buchs geholfen haben, zuerst Michael Meier-Brügger (Berlin), durch dessen Anregung ich zu dieser Arbeit kam, sowie den Zuhörern meiner Berliner Vorträge, die sie mit Nachsicht überstanden. Stefan Zimmer (Bonn) hat mir freundlicherweise die Gelegenheit gegeben, das Kapitel über die indogermanischen Dehnstufen im Baltischen im Februar 2008 in Bonn darzustellen, wofür ich ihm sehr dankbar bin. Vielen Dank auch Irene Balles, Torsten Meißner und Franz Heidermanns (Bonn), die nach diesem Vortrag eine Diskussion mit mir eröffnet haben. Mein Dank gebührt auch Georges-Jean Pinault und Audrey Mathys (Paris), die meinen Text sorgfältig gelesen und korrigiert haben, und Markus Egetmeyer (Paris), der meine deutsche Sprache durchgeschaut

2

EINLEITUNG

hat. Dieses Buch verdankt vieles meinem Lehrer, Charles de Lamberterie, der mich schon vor mehr als 20 Jahren, als ich noch ein zukunftsloser Student in Reims war, in die Mysterien der indogermanischen Sprachwissenschaft einweihte. Und ohne meine liebe Frau Justyna, die mich stets unterstützt und inspiriert hat, würde es dieses Buch einfach nicht geben. Es gehört ihr sowie meinen lieben Kindern, Antoine, Gabrielle und Marianne, die viel Leben in die Entstehung dieser Arbeit gebracht haben. Paris, September 2009

KAPITEL I

EINFÜHRUNG IN DIE BALTISCHE DIALEKTOLOGIE In der indogermanistischen Literatur wird den baltischen Sprachen nicht immer die ihnen gebührende Aufmerksamkeit geschenkt. Diese relative Unterbewertung läßt sich zum Teil durch die späte Überlieferung dieser Sprachen erklären, zum Teil auch durch die Tatsache, daß das baltische Quellenmaterial immer noch schwer zugänglich bleibt. Das vorliegende Buch ist als ein Versuch anzusehen, den Werdegang der baltischen Sprachen von der indogermanischen Grundsprache bis in die neueste Zeit hinein zu beschreiben und somit die baltische Sprachwissenschaft in ihren charakteristischen Zügen besser bekanntzumachen. Es bietet sowohl eine Einführung in baltistische Fragen als auch eine Diskussion eigener, zum Teil auch neuer Analysen. Sein Hauptziel liegt darin, anhand historisch-vergleichender Betrachtungen zu zeigen, daß der Beitrag des Baltischen zur indogermanistischen Forschung keineswegs so gering ist, wie er beim ersten Anblick erscheint, und die baltischen Sprachen Besseres verdienen, als nur ein toter Winkel in der Ausbildung der Indogermanisten zu sein. Ziel dieser ersten Untersuchung ist es, die baltischen Sprachen vor allem unter einem geographischen und historischen Gesichtspunkt darzustellen. Innerhalb der idg. Sprachgruppe werden die baltischen Sprachen durch zwei Paradoxe gekennzeichnet: Obwohl sie heutzutage auf einem sehr kleinen Gebiet an den östlichen Küsten der Ostsee gesprochen werden, weisen sie eine sehr große Vielfalt an Dialekten auf, und obwohl sie für die am spätesten bezeugten idg. Sprachen gelten, sind sie für ihre Altertümlichkeit bekannt. Es ist hier nicht mein Ziel, diese Paradoxe zu lösen. In den folgenden Seiten möchte ich nur einige Fakten ansprechen, die dazu beitragen könnten, sie besser zu verstehen. Im Mittelpunkt der Untersuchung steht die Dialektfrage: Ohne dialektologische Vorkenntnisse ist die Geschichte der baltischen Sprachen schwer verständlich. Seit dem Anfang ihrer Überlieferung - d.h. seit dem 14. (Altpreussisch), bzw. 16. Jahrhundert (Litauisch, Lettisch) - sind die baltischen Sprachen durch starke dialektale Unterschiede geprägt. Diese Vielfalt an Dialekten läßt sich teilweise dadurch erklären, daß die baltischen Sprachen bis in die neueste Zeit keinen offiziellen Status hatten. Dies ist auch der Grund

4

KAPITEL II

dafür, weshalb ihre Normalisierung sehr spät (Litauisch, Lettisch) oder überhaupt nie (Altpreussisch) erfolgte. Die Buntheit der baltischen Dialekte kann auf zweifache Weise beschrieben werden, und zwar anhand eines stammbaumartigen Modells, das seit August Schleicher (1861-1862) in indogermanistischen Studien oft vertreten wird, oder anhand eines geographischen Modells, das Johannes Schmidt (1872) durch seine berühmte Wellentheorie wohl als erster popularisiert hat. In dieser Untersuchung werde ich der Verständlichkeit halber vor allem das Stammbaummodell verwenden. Ich bin aber davon überzeugt, daß das geographische Modell für eine Beschreibung der baltischen Dialekte wohl realistischer wäre. Das Stammbaummodell beruht auf dem Begriff der Dialektspaltung: Eine einheitliche (oder so aufgefaßte) Sprache spaltet sich in zwei oder mehrere Zweige, die im Laufe der Zeit selbst in verschiedene Unterzweige zerfallen, usw. Die Spaltung erfolgt dadurch, daß sich in einem Zweig etliche Innovationen entwickeln, die in den anderen Zweigen nicht oder anders auftreten. Es ist das bekannte Leskiensche Prinzip der geteilten Innovationen 1 . Dieses Beschreibungsmodell ist auch in der Baltistik üblich. Es kann zu einer einfachen stammbaumartigen Schematisierung führen, die bereits im 19. Jahrhundert mehr oder weniger genau dargestellt wurde (s. Abb. 1). Wichtig ist bei dieser Schematisierung, daß jede Verzweigung durch sprachliche Unterschiede definiert wird, die als Grundlagen der Trennungslinien gelten. Es kann sich entweder um Innovationen auf der einen Seite gegenüber Archaismen auf der anderen Seite (privative Innovationen) oder um abweichende Innovationen auf beiden Seiten (kontrastive Innovationen) handeln. Beides läßt sich im Baltischen beobachten.

Leskien (1876: XIII). Dazu s. noch Petit (2007b: 15).

E I N F Ü H R U N G IN DIE BALTISCHE DIALEKTOLOGIE

5

Indogermanisch

Balto-Slavisch

andere idg. Sprachen

Slavisch

Baltisch

Westbaltisch

Ostbaltisch

Altpreussisch (14.-fl7.Jhr.)

Jatwingisch (f 16. Jhr.)

Westpreussisch (Pomeranisch)

West-HL (vakarų aukštaičiai)

Kurisch ( f l 6 . Jhr.)

Lettisch (latviešu valoda) (16. Jhr.+)

Ostpreussisch Hochlitauisch Niederlitauisch Niedcrlcttisch Hochlettisch (Sambisch) (Aukschtaitisch) (Zemaitisch) (lejzemnieku (augšzemnieku (aukštaičių (žemaičių dialekts) dialekts) tarmės) tarmės)

Ost-HL Süd-HL (rytų aukštaičiai)

Litauisch (lietuvių kalbä) (16. Jhr.+)

(jiietų aukštaičiai)

Abbildung

West-NL Nord-NL Süd-NL

Mittellettisch

(vakarų žemaičiai)

(vidus dialekts)

(šiaurės žemaičiai)

(jiietų žemaičiai)

Livisch (lībiskais dialekts)

/. Stammbaum der baltischen Dialekte

Im folgenden werden die Trennungslinien, die vom Gemeinbaltischen her bis zu den heutigen baltischen Dialekten geführt haben, durch einige Beispiele illustriert werden. Weitere Verknüpfungen, wie etwa den Verwandtschaftsgrad der baltischen und der slavischen Sprachen, werde ich hier unberücksichtigt lassen, da ich mich bereits andernorts zu diesem Thema ausführlich geäußert habe 2 . Ausgangspunkt der folgenden Betrachtungen wird das als eine sprachliche Einheit aufgefaßte Gemeinbaltische sein.

Petit (2004b).

6

KAPITEL II

1. Das

Gemeinbaltische

Zunächst seien einige der wichtigsten Züge präsentiert, die das Baltische von allen anderen idg. Sprachen trennen. Als charakteristisch für die baltische Sprachgruppe können beispielsweise folgende Erscheinungen betrachtet werden: Im Bereich der Morphologie sei z.B. auf die Entwicklung einer femininen Deklination auf *-ē hingewiesen. Paradebeispiel ist apr. saule /sunne (EV 7), lit. saulė, lett. saüle "Sonne" (< balt. *sāul-ē). Dieser Flexionstyp ist als eine Besonderheit des Baltischen anzusehen, da er über keine Entsprechung anderswo verfügt. Die oftmals wiederholte Verknüpfung mit dem lateinischen Typ māteriēs "Materie" ist insofern unbefriedigend, als in beiden Sprachgruppen die Erscheinungsbedingungen nicht völlig identisch sind (so auch Stang 1966: 115). Die Endung des Nominativ Singular ist sigmatisch im Lateinischen (-/äs), asigmatisch im Baltischen (*-ē); der Typ bildet fast nur Abstrakte im Lateinischen (z.B. lat. māteriēs "Materie", aciēs "Schärfe"), meist Adjektive und Substantiva Mobilia und nur sekundär Abstrakte im Baltischen (z.B. lit. kairė "link, sich links befindend" Fem., vilkė "Wölfin", teisė "Recht, Gesetz"). Die tocharische Endung *-e (z.B. toch. B cake "Fluß") ist ebenfalls trotz Schmid (1963: 19-20) und Ambrazas (1992: 49) mit der baltischen Bildung auf *-ē nicht zu vergleichen, da es sich im Tocharischen bekanntlich um die Entwicklung der idg. thematischen Endung *-os handelt (z.B. cake < *cäke < *tekosf. Die Herkunft der baltischen Deklination auf *-ē bleibt also nach wie vor umstritten. Ich bin geneigt, mich der Meinung von Kurylowicz (1966: 83-88, 1968: 147) u.a. anzuschließen, der die Endung *-ē von *-iiä herleitet4. Bei den Adjektiven läßt sich eine Korrelation zwischen Mask. *-īs und Fem. *-ē (z.B. lit. Mask. kairys "link, sich links befindend" / Fem. kaire) beobachten, was bei einer Analyse von *-īs als *-iios auch für das Femininum *-ē eine ursprüngliche Endung *-iiā nahelegt. Diachron ist ein Wort wie balt. *sāul-ē "Sonne" nicht anders zu deuten als das Femininum *seh2ul-iieh7 einer Form *seh2ul-iios, die in gr. hom. i1eA,ioę "Sonne" (<*seh 2 uel-iios) eine Entsprechung hat. Nur die Rekonstruktion einer solchen Endung *-iiā bietet außerdem eine passende Erklärung für die im Genitiv Plural auftretende Palatalisierung (lit. didelė, Gen.PI.

1

Pinault (1989: 49). S. auch Pedersen (1921: 65-68). Dagegen Skardžius (RR IV 6 1 4 - 6 2 0 [1955]). Eine Mittelstellung vertritt Stang (1966: 203-204). 4

E I N F Ü H R U N G IN DIE BALTISCHE DIALEKTOLOGIE

7

didelių "groß"). Auszugehen ist von einer Bildung *-iiā, Gen.PI. *-iiöm, woraus im Nominativ Singular *-iiā zu *-iiē umgefärbt wurde, während im Genitiv Plural zunächst *-iiöm unverändert blieb. Später trat Desyllabisierung von *-ii- in der Stellung vor Langvokal auf (*-ii- > *-i-), eine Erscheinung, die auch in der maskulinen Bildung auf *-iios zu beobachten ist5. Daraus entstand ein Paradigma *-iē, Gen.Pl. *-iöm. Dann hat man im Nominativ Singular mit dem regelmäßigen Schwund von *i vor *ē (vgl. lit. būrė "Segel" < finn. purje) zu rechnen. Dies ergab schließlich Nom.Sg. *-ē, Gen.Pl. *-iöm > lit. -ė, Gen.Pl. -ių. Weiter ist zu bemerken, daß diese Analyse einen Vergleich mit dem Slavischen ermöglicht. Apr. same/Erde (EV 24), lit. žemė, lett. zeme "Erde" entspricht sl. *zemiā (aksl. zemlja, poln. ziemia). Beide Formen können unter eine gemeinsame (balto-slavische?) Vorform *žemiiā zurückgeführt werden, unter der Annahme, daß das Slavische eine ähnliche Desyllabisierung wie das Baltische gekannt hat (*žemiiā > sl. *zemjä) 6 , aber wohl unabhängig davon und ohne die für das Baltische charakteristische Färbung (*-iiā > *-iiē). Jm Bereich der Syntax sei als eine merkwürdige Gemeinsamkeit aller baltischen Sprachen insbesondere die Tatsache erwähnt, daß die finiten Formen des Verbs in der dritten Person den Singular und den Plural nicht unterscheiden. Vgl. apr. laiku "er hält" (III 879) / läiku "sie halten" (III 3718), lit. jis laiko "er hält" / jie laiko "sie halten", lett. viņš tur "er hält" / viņi tur "sie halten". Historisch gesehen hat man es mit einer Verallgemeinerung der Form des Singulars zu tun, wie z.B. aus der athematischen Flexion ersichtlich wird, vgl. alit. esti "er ist" (MŽ 245 [1547]) / esti "sie sind" (MŽ 3216 [1547]), apr. ast "er ist" (III 3919) / ast "sie sind" (III 377) aus idg. *hjes~ti (Sg.3.). Diese Nichtunterscheidung des Numerus in der dritten Person wird herkömmlich als eine Innovation des Baltischen, d.h. als ein Verlust betrachtet. Erst in den sechziger Jahren wurde die entgegengesetzte These z.B. von Toporov (1961: 62-63) und Kazlauskas (1968a: 303) verteidigt, nämlich daß sie als Archaismus zu werten sei. Erhart (1987: 126) hat aber mit Recht hervorgehoben, daß diese These unwahrscheinlich ist, weil gerade die athematische Flexion den sekundären Charakter der Nichtunterscheidung illustriert. Aber selbst die Hypothese von Erhart, die mit einer lautgesetzlichen Verschmelzung von *-e-t (Sg.3.) und *-e-r (PI.3.) im Präteritum zu *-e (> *-ē nach der 5 Vgl. idg. Nom.Sg.Nt. *medhiiom > balt. *medijan > ostbalt. *medijas (Mask.) > mit Färbung *medijis > *medi(j)is > *medīs > lit. medis " B a u m " gegenüber Abl.Sg. *medhiiöd (Transponat) > balt. Gen.Sg. *medijā > mit Desyllabisierung *medjā > lit. medžio. 6 Vgl. Lühr (1999: 303).

8

K A P I T E L II

anderen Präteritalbildung *-ä) und folglich mit einer analogischen Neuverteilung im Präsens *-o-t (Sg.3.) / *-o-nt (PI.3.) > *-a / *-an > *-a (Sg. und PI.3.) operiert, bereitet Schwierigkeiten. Ich nehme als möglich an, daß die Nichtunterscheidung des Numerus im baltischen Verb mit der bekannten xa tļ&a xpexei-Regel, die im Altgriechischen, im Avestischen und im Hethitischen auftritt, in Verbindung zu bringen ist. Man könnte z.B. vermuten, daß das Baltische Syntagmen wie *uortā dega "die Türen brennen" (Nt.Pl. *uortä "die Türen" + Sg.3. *dega "brennt/brennen") aus dem Indogermanischen ererbt und ihre seltsame Inkongruenz auf alle nominalen Pluralformen ausgedehnt hat. Im Bereich des Wortschatzes ist die enge Verwandtschaft der baltischen Sprachen evident. Man kann auf eine ganze Reihe von Lexemen hinweisen, die allen baltischen Sprachen gemein sind. Darunter findet man viele Wörter, die über keine idg. Etymologie verfügen und somit als baltische Neuerungen zu deuten sind. Hierfür einige Beispiele: • • • • •

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"Vater": lit. tėvas, lett. tęvs, apr. towis (EV 169). Ohne Etymologie (Lallwort der Kindersprache?). "Eiche": lit. ąžuolas, lett. uözuöls, apr. ansonis (EV 590). Herkunft unsicher. "Pferd": lit. žirgas, lett. zirgs, apr. sirgis (EV 430). Dazu noch lit. žergti "rittlings besteigen". Weitere Verknüpfungen unsicher. "tief': lit. gilus, lett. dziļš, apr. gillin (III 10112). Ohne Etymologie. "anderer": lit. kitas, lett. cits, apr. kittan (III 55 2ļ , usw.). Ohne Etymologie. Gehört wohl zum Indefinitstamm *ka- (< *k-o-). Die Bildung bleibt jedoch dunkel. "wahr": lit. tikras, lett. tikrs, apr. tickars (III 479, usw.). Gehört wohl zu lit. tikti "passen", lett. tikt "werden, gelangen, zuteil werden, zufallen" (ME IV 184-185), apr. teickut "machen" (III 1052, usw.). Ohne weitere Verknüpfungen. "fern": lit. tolūs, lett. täls, apr. tälis (III 119V usw., Komparativ). Ohne Etymologie. "erreichen": lit. käkti, lett. kakt, apr. kackint (III 997, usw.). Ohne Etymologie (vgl. russ. cekät' "warten"?). "ziehen": lit. traukti, lett. traukt, apr. pertrauki (III 10114, Präteritum). Unsicher.

Dazu gehören auch Wörter, die nur unsichere Entsprechungen in den anderen idg. Sprachen haben. Beispiele:

E I N F Ü H R U N G IN DIE BALTISCHE DIALEKTOLOGIE

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"Elentier": lit. briedis, lett. briedis, apr. braydis (EV 650). Ohne Etymologie. Die Verknüpfung mit messap. ßpevSov' eX,atpov (Hesych) ist lautlich unmöglich. "Specht": lit. genys, lett. dzenis, apr. genix (EV 742). Die Verknüpfung mit lit. ginti "jagen, treiben", ginti "wehren, verteidigen" (idg. Wz. *gvhen- "schlagen" LIV 194-195) ist unsicher7. "Bär": lit. lokys, lett. läcis, apr. clokis (EV 655). Etymologie unsicher. Nach Smoczynski (2001a: 367-377 [1999]) gehört das Wort zur idg. Wurzel *leh?k- "zerren, zerreißen" (vgl. lat. lacer "zerfetzt, zerrissen, zerfleischt", gr. A,aidę "Riß, Fetzen, Lumpen"). Der Anlaut des apr. Wortes ist schwierig (volksetymologisch?). "Mädchen": lit. mergä, lett. mērga, apr. mergo (EV 192). Äußere Verknüpfungen sind unsicher (vgl. aind. märya- "Mann, Jüngling, Geliebter", gr. ļieipa^ "Mädchen"?). "Messer": lit. peilis, lett. peilis, apr. peile (GrA 27, usw.). Das Wort gehört vielleicht zu russ. pilä "Säge", ahd. fila "Feile". Ohne weitere Verknüpfungen 8 . "Stahl": lit. plienas, lett. dial. pliens, apr. playnis (EV 521). Etymologie unsicher. Vielleicht mit Trautmann (1910: 400) und Fraenkel (LEW I 623 [1962]) zu aisl.fleinn "Haken, Stachel, Pfeil", aeng. fldn "Widerhaken, Pfeil(spitze), Wurfspieß". "Meer": lit .jūra, lett .Jura, apr. iürin (III 107,, usw.). Entweder stammt das Wort wie arm. Jowr "Wasser" aus idg. *iūr- oder es setzt idg. *ürfort (< idg. *h/euH-r-, *h/uH-r-, vgl. apr. wurs "Teich" EV 61, aisl. ür "Nieselregen", lat. ūrīna "Harn, Urin"), mit Anlaut *j- nach vollstufigem lit. jäura "Sumpf' (< idg. *hleųH-r-f. "klein": lit. māžas, lett. mazs, apr. massais (III 1158, Komparativ). Nach EndzelTns (ME II 574 [1925-1927]) könnte es ironischerweise zur Wurzel *meg- "groß" (gr. Įiėyaę, usw.) gehören10. Dies erinnert an die sogenannte "Enantiosemie", die Anfang des 20. Jahrhunderts in Mode war. Sehr unsicher. "verbieten": lit. drausti, lett. draudēt, apr. draudieiti (III 1 1 3 u s w . , Imperativ). Ohne Etymologie. Fraenkel (LEW I 102 [1962]) erwähnt eine idg. Wurzel *dhreu- "halten" (vgl. aind. dhruvä- "feststehend, bleibend, dauernd"). 7

Vgl. Fraenkel (LEW I 152 [1962]). Vgl. Fraenkel (LEW I 563-564 [1962]). y Vgl. Petit (2004a: 53-54). Die zweite Möglichkeit halte ich für besser. Vgl. auch Smoczynski (SEJL 239-240 [2007]). 1(1 So auch Smoczynski (SEJL 380 [2007]). H

10

•

KAPITEL II

"binden": lit. rišti, lett. rist, apr. senrists (III 599, Partizip). Die Anknüpfung mit lat. rica "Schleier" ist unsicher. Smoczyriski (LAV 311 [2005], SEJL 518 [2007]) schlägt eine Verwandtschaft mit avest. uruuisiieiti "dreht sich, wendet sich" (idg. Wurzel *ųreįk-) vor.

Spezifisch baltische Bildungen, die auf anderswo gut bezeugten Wurzeln beruhen, sind ebenfalls zahlreich belegt. Beispiele: •

"Ding": lit. daiktas, lett. daikts, apr. deicktas (III 103 n , usw., Gen. Sg.). Gehört wohl zu lit. diegti "stechen" (zur semantischen Entwicklung vgl. lat. punctum "Stich, Punkt"). Zugrunde liegt die idg. Wurzel *dheiHgv- "hineinstecken, stechen" (LIV 142, IEW 243-244), vgl. lat. figere "anheften, hineinstecken, durchbohren". • "Kupfer": lit. vāris, lett. varš, apr. wargien (EV 525). Unsicher. Ivanov (1977: 234) verknüpft das Wort mit der idg. Wurzel *uerH- "heiß sein" (LIV 689, IEW 1166, vgl. heth. warnu- "läßt verbrennen", lit. virti "kochen"). • "gut": lit. läbas, lett. labs, apr. labs (III 5120, usw.). Etymologisch zu aind. läbhate "nehmen, bekommen, besitzen", gr. Mcpupov "Beute" zu stellen. Grundbedeutung noch in lit. löbis "großer Besitz, Schatz, Reichtum", löbti "reich werden" 11 . • "halten, haben": lit. turėti, lett. turėt, apr. turīt (III 2710, usw.). Das Wort stellt sich als Zustandsverbum zu lit. tverti "fassen, ergreifen, umzäunen, ausharren", idg. *tuerH- "fassen" (LIV 656, IEW 1101), vgl. auch gr. G e i p d "Seil, Band" (< *tuerH-iä), aopoę "Graburne, Sarg" (< *tuorH~os). Exklusive Entsprechungen sind auch im semantischen Bereich gut bezeugt. Beispiele: •

Die Wurzel *gl-'em-, die in den meisten idg. Sprachen in der Bedeutung "gehen" oder "kommen" bezeugt ist (aind. gäcchati, gr. ßaivco, lat. ueniö, got. ąimari), wurde im Baltischen in der Bedeutung "zur Welt kommen, geboren werden" spezialisiert: lit. gimti, lett. dzimt "geboren werden", apr. gimsenin "Geburt" (III 632). Diese Spezialisierung existiert schon im Keime in anderen Sprachen (cf. gr. eßa0r|' ey8vvf|0ri Hesych, avest. nijämaiieinti "gebären", alb. preģlm "Feier

11

Vgl. Fraenkel (LEW I 327 [1962]).

E I N F Ü H R U N G IN DIE BALTISCHE DIALEKTOLOGIE

11

zum Geburtstag eines neugeborenen Kindes", vgl. Meyer 1891: 352), aber nirgends so exklusiv wie in den baltischen Sprachen. • Das Adjektiv *medh-ios "mittlerer" (aind. mädhya-, gr. Įieooę, lat. medius) bildet im Baltischen eine Bezeichnung des "Baums" und des "Waldes" : lit. mēdis "Baum", lit. dial. medžias, lett. mežs, apr. median "Wald" (EV 586). Man kann von einer Bedeutung "Grenze" ausgehen (< "was in der Mitte steht", vgl. aksl. mežda "Grenze"), die sich zu "Wald, der die Grenze (eines Feldes?) kennzeichnet" entwickelt hat12. Als Parallele könnte man z.B. aisl. męrk "Wald" gegenüber got. marka "Grenze" oder aeng. widu "Wald" neben lit. vidūs "die Mitte" anführen. Ich nehme als möglich an, daß lit. medis "Baum" ursprünglich ein Neutrum Singular singulativer Bedeutung *medijan (> *medijas > *medijis > *mediis in nachtoniger Stellung > mēdis), lit. dial. medžias ein Neutrum Plural kollektiver Bedeutung *medijä (> *medjä mit Desyllabisierung vor Langvokal > Rückbildung Sg. *medjan > medžias) fortsetzt. Apr. median kann ebenfalls eine Rückbildung sein. Diese Rekonstruktion findet eine Bestätigung in der Tatsache, daß viele Substantive auf -ias im Litauischen eine kollektive Bedeutung haben (vgl. lit. dial. varias "Kupfer", lit. kelias "Weg"), worauf schon Kazlauskas (RR II 42 [1958]) hingewiesen hat. Ausnahmen sind aber anzutreffen, wenn auch selten (lit. svečias "Gast", elnias "Hirsch"). • Eine alte Bezeichnung des "Berges" *gŲ[H- (aind. giri-, vgl. aksl. gora) wurde im Baltischen zur Bezeichnung des "Waldes" (lit. giriä, lett. dzira) oder des "Baumes" (apr. garian EV 628). Die semantische Neuerung ("Berg" > "waldiger Berg" > "Wald") ist für die baltischen Sprachen charakteristisch. • Die Bezeichnung des "Knochen" im Baltischen (lit. käulas, lett. kaüls, apr. caulan EV 155) ist metaphorisch auf eine alte Bezeichnung des "hohlen Rohres" zurückzuführen (vgl. gr. Kai)A,öq, lat. caulis "Stengel", mir. cuaille "Pfahl" < *kaulīnio-). Die Intonation der baltischen Formen legt eine Rekonstruktion *keh2ul- nahe. 2. Die Trennung des Westbaltischen und des

Ostbaltischen

Die baltische Sprachgruppe zerfällt in zwei Hauptzweige, das Westbaltische und das Ostbaltische, die durch eine ganze Reihe von Unterschieden getrennt werden. Es besteht Grund zur Annahme, daß die

12

So Skardžius (RR IV 319-320 [ 1935b]).

KAPITEL II

12

Unterscheidung beider Zweige etwas Altes ist. Einige Wissenschaftler vermuten sogar, daß sie schon im 4. Jahrhundert vor Christus eintrat13. Beispiele, die diese Unterscheidung illustrieren, können auf allen Ebenen gefunden werden14. Zunächst im Bereich der Phonologie: •

•

Der indogermanische Diphthong *ei ist im Westbaltischen (Altpreussisch) erhalten geblieben, im Ostbaltischen (Litauisch, Lettisch) meist zu *ie geworden: z.B. apr. deiws (III 378, usw.) gegenüber lit. dievas, lett. dievs "Gott" aus balt. *deivas (< idg. *deįųos). Das Ostbaltische bewahrt aber manchmal den Diphthong *ei als ei, unter Bedingungen, die immer noch umstritten sind: z.B. lit. deivė "Göttin" gegenüber dievas "Gott", lit. eiti gegenüber lett. iėt "gehen", lit. greībti oder griebti "greifen". Aufgrund der Flexion des Verbs iėt "gehen" in den lettischen Dialekten, wo man einen Wechsel zwischen ei und ie beobachtet (Sg.l. eimu, 3. iet), kann mit Stang (1970: 140 [1935], 1966: 58) angenommen werden, daß *ei in betonter Stellung sich zu *ie entwickelt hat (etwa Sg.l. *ei-mie gegenüber 3. *eī-ti > lett. dial. eimu, vs. iet). Darüber hinaus hat man oft den Eindruck, daß *ei sekundär als neue Vollstufe zu alten Schwundstufen geschaffen wurde, so z.B. in lit. keisti "verändern" (neben älterem kiēsti) zu kisti "sich verändern" nach dem Ablautverhältnis von lenkti "biegen" / linkti "sich biegen" (*e / *0 > *e / *i)15. Der indogermanische Diphthong *eu ist im Westbaltischen erhalten geblieben, im Ostbaltischen zu * 'au geworden. Paradebeispiel ist apr. keuto "Haut" (EV 156, 497) gegenüber lit. kiautas "Schale" aus idg. *keuH-to- (vgl. aisl. hüd, aeng. hyd, ahd. hüt "Haut"). Ein weiteres Beispiel ist apr. peuse "Fichte" EV 597 (< idg. *peuk-, vgl. gr. 7isuKrļ, afod.fiuhta) gegenüber lit. liaudis, lett. ļaudis "Volk" (< idg. *hlleudh-). Diese Entwicklung hatte zur Folge, daß der Vokalwechsel *Keu / *Kou im Ostbaltischen zu einem Konsonantenwechsel *K 'au / *Kau wurde, der in den Stammsilben meist nicht toleriert wurde. Kontraste sind deswegen nur spärlich erhalten. Ein schönes Beispiel, das Kazlauskas (RR II 171-174 [1970]) als erster identifiziert hat, ist *dheugh> *džiaug- (in lit. džiaugtis "Freude empfinden, sich freuen") neben *dhouģ'- > *daug- (in lit. daüg "viel"). Zugrunde liegt die idg. Wurzel

13 14 15

So Būga (RR III 102 [1924]). Vgl. Petit (1999a: 12). Vgl. z.B. Būga (RR III 104 [1924]), Salys (1985: 17-18). Petit ( 1 9 9 9 a : 87).

E I N F Ü H R U N G IN DIE BALTISCHE DIALEKTOLOGIE

•

13

*dheųg?- "nutzbar machen, (Ertrag) produzieren" (LIV 148-149, vgl. gr. xenx© "verfertigen", aind. duhe "Milch geben"). Semantisch ist im Baltischen von einer Grundbedeutung "stark sein" auszugehen, die sich trivial einerseits zu "viel" (lit. daüg) entwickelte und andererseits aufgrund der weit verbreiteten Metapher, die die Freude mit der Stärke identifiziert (vgl. aind. mahä- "groß" / mahäyati "belebt, stärkt, erfreut") 16 , auch zu lit. džiaugtis "sich freuen" führte. Hier wurden beide Varianten durch ihren semantischen Unterschied geschützt. Die Konsonantengruppen *-//- und *-dl- sind im Westbaltischen meist erhalten geblieben, im Ostbaltischen zu *-kl- und *-gl- geworden. Nehmen wir als Beispiel den baltischen Stamm *zenH- "kennen, wissen" (< sekundäre Vollstufe I zu idg. *gnehf, vgl. lit. žinoti, aksl. znati, gr. eyvcov). Davon abgeleitet ist ein Substantiv *zenH-tlan "Kennmittel, Zeichen" mit dem Suffix der Nomina instrumenti *-tlan (< idg. *-tlom). Im Altpreussischen ist das Suffix als -tlan bezeugt, vgl. *zentlan in der Ableitung ebsentliuns "bezeichnet" (III 109lo_n, 1192n). Im Litauischen ist das Suffix zu *-klas geworden: lit. ženklas "Zeichen". Ein ähnlicher Unterschied ist zwischen apr. addle "Tanne" (EV 596) und lit. eglė, lett. egle aus balt. *edl-ē (vgl. poln.jodla < sl. *edl-ä) zu beobachten. Die ostbaltische Innovation findet eine Parallele im Lateinischen (vgl. lat. pöculum "Becher" < *pö-klom < idg. *pö-tlom) und teilweise im Griechischen (vgl. gr. yA,ei)Koę "Süßwein" < *8^si)Koę, cf. myk. de-re-u-ko *5^eijKoę).

Im Bereich der Morphologie sei auf folgende Unterschiede hingewiesen: •

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Der Genitiv Singular der thematischen Maskulina hat im Altpreussischen eine Endung -as (apr. deiwas, I 57, usw., Gen.Sg. von deiws "Gott"), die gemeinhin aus einer Pronominalendung *-o-so hergeleitet wird (vgl. etwa gr. AAJK-OU "des Wolfes"). Das Ostbaltische hingegen verwendet wie das Slavische eine Endung *-äd (lit. dievo, lett. dieva, Gen.Sg. von lit. dievas, lett. dievs "Gott", wie aksl. boga, Gen. Sg. von bogy "Gott"), die, wenn auch nicht unmittelbar, eine alte Ablativendung *~öd (vgl. lat. lup-ö) fortsetzen kann. Das Neutrum ist im Alpreussischen bei den Nomina, Adjektiva und Pronomina erhalten geblieben. Im Ostbaltischen ist es bei den Nomina (Litauisch), bzw. überall (Lettisch) verschwunden.

16

Zum Vcdischen vgl. Mayrhofer (EWAla II 3 3 7 - 3 3 9 [1986-1996]).

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K A P I T E L II

Die Pronominalendung des Dativ Singular lautet im Apr. *-sm- (apr. stesmu "ihm", II 1316, usw., vgl. aind. Dat.Sg. täsmai), im Ostbaltischen *-m- (lit. tarn, lett. tam "diesem", vgl. aksl. tom-b). Bei den Personalpronomina des Singulars hat das Altpreussische Dativformen wie tebbei (III 719, usw., Sg.2.), sebbei (III 10310, usw., Refl.) aus dem Indogermanischen ererbt (idg. *tebhei, *sebhei, vgl. lat. tibi, sibī). Im Slavischen wurde der Stamm mit *-bh- im ganzen Paradigma verallgemeinert: aksl. tebė, sebė (Dat.Sg.), daraus sekundär auch tebe, sehe (Gen.Sg.), usw. Das Ostbaltische hat im Dativ Singular einen anderen Stamm verallgemeinert, *teu-, *seu-: lit. tau "dir", sau "sich" (Dat.Sg.) aus ostbalt. *tavei, *savei (< Transponat *teuei, *seuei). Der Genitiv des Personalpronomens der ersten Person Plural hat im Altpreussischen seinen alten Anlaut n- erhalten (apr. noūson, III 339, usw., vgl. aksl. nas-b), im Ostbaltischen den Anlaut m- vom Nominativ bekommen (lit. mūsų, lett. müsu). Die Bildung der Possessivadjektive verläuft völlig anders. Das Altpreussische hat mais "mein" (Akk.Sg. maian I 138, usw., Sg.l.), twais "dein" (I 9 | 4 , usw., Sg.2.), swais "sein" (III 5120, usw., Refl.). Diese Formen lassen sich mit ihren slavischen Gegenstücken (aksl. moi, tvoi, svoi) genau vergleichen und sind wohl als Thematisierungen *moi-o-, *tuoi-o-, *suoi-o- aufgrund der alten enklitischen GenitivDativformen *moį, *tuoi, *suoi (sekundär statt *toi, *soi) zu deuten. Als Parallele läßt sich lat. meus "mein" aus *mei-o- anführen. Das Ostbaltische hat andere Formen: lit. manas "mein" (Sg.l.), tavas "dein" (Sg.2.), savas "sein" (Refl.), lett. mäns, tävs, sävs. Diese ersten zwei Formen gehen auf Thematisierungen *men-o-, *teu-o- aufgrund der alten betonten Genitivformen *mene, *teue (vgl. avest. mana, tauuä) zurück. Lit. sävas "sein", lett. sävs (Refl.) setzt ein idg. Adjektiv *seu-o- fort, das in gr. hom. eöq und avest. hauua- eine Entsprechung hat. Diese Form *seu-o- läßt sich als ursprüngliche Vrddhi-Bildung zum idg. Reflexivstamm *sue- deuten (vgl. Petit 1999b: 233-234). Das Zahlwort "eins" hat im Altpreussischen einen Anlaut ai- (apr. ains "eins" III 65 g , usw.), der vom Indogermanischen ererbt ist (< *hĮoį-no-). Im Ostbaltischen hat man einen unerklärten Anlaut vien- (lit. vienas, lett. viens "eins"). Das Zahlwort "neun" hat im Altpreussischen offensichtlich seinen alten Anlaut *n- erhalten (apr. newmts "der neunte" III 355, usw.), während er im Ostbaltischen, wie im Slavischen, durch d- nach dem

E I N F Ü H R U N G IN DIE BALTISCHE DIALEKTOLOGIE

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Zahlwort "zehn" ersetzt wurde (lit. devyni, lett. deviņi "neun" nach lit. dēšimt, lett. desmit wie aksl. devętb nach desętb). Im Altpreussischen könnte deutscher Einfluß vorliegen. Das Ordinalzahlwort "dritter" weist im Apr. Schwundstufe auf (apr. tīrts < *trt-, III 29v usw.), im Ostbaltischen hingegen Vollstufe (lit. trečias, lett. trešais < *tret~). Das Präsens des Verbs "sich setzen" ist im Altpreussischen mit Nasalinfix gebildet (apr. sindats I 9, 2, syndens II 92, Partizip) wie im Slavischen (aksl. sędę), aber nicht im Ostbaltischen (lit. seda, lett. sėst), vgl. Smoczyriski (LAV 332-333 [2005]).

Lexikalische Unterschiede zwischen dem Westbaltischen und dem Ostbaltischen sind zahlreich. Sie stellen oft Innovationen des Ostbaltischen gegenüber dem altertümlicheren Altpreussischen dar. Zum Beispiel hat das Altpreussische in pūton "trinken" (III 416, usw.) ein uraltes idg. Verb erhalten (< idg. *pehf, LIV 462-163, IEW 839-840, vgl. aind. äpät Aorist, gr. äol. 7tGMū). Im Ostbaltischen ist dieses Verb nur noch in einer isolierten Ableitung bewahrt (lit.puotä "Festmahl", vgl. lat.pötus). Sonst wurde es durch ein anderes Lexem ersetzt, das ursprünglich eine breitere Bedeutung hatte, lit. gerti, lett. dzert aus idg. *guerhf "verschlingen, verschlucken" (LIV 211-212, IEW 474, vgl. lat. uoräre, gr. eßptov). Weitere Beispiele: •

"Weg": lit. kelias, lett. cęlš, aber apr. pintis (EV 799). Das apr. Wort pintis ist altertümlich und hat eine Entsprechung im Slavischen *pętb (aksl. pętb, russ. put', skr. put, tsch. pout, apoln. pąč "Weg"), vgl. ferner javest. panta, aind. pänthäh "Weg" (< *pent-oh2-s), lat. pons, pontis "Brücke", arm. hown "Furt", gr. Ttovioę "die See", 7tax0ę "Pfad". Im Altpreussischen liegt Schwundstufe (*pint- < *pnt-), im Slavischen o S t u f e (*pęt- < *pont~) vor. Die ostbaltische Bezeichnung (lit. kėlias, lett. cęlš) ist eine Neuerung. Ein Vergleich mit gr. K£X,eD0oę "Weg" ist denkbar, aber ungenau. • "Milch": lit .pienas, lett .piens, aber apr. dadan (EV 687). Die Bezeichnung der "Milch" ist im Altpreussischen uralt (vgl. aind. dädhi, Nt.). Im Ostbaltischen liegt eine Neuerung vor: lit. pienas, lett. piėns aus *peiH-no- (vgl. lit. pyti "Milch geben", aind. päyah "Milch", wohl zu idg.*peiH- "anschwellen", LIV 464-465, IEW 793)17.

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Vgl. Skardžius (RR I 217 [1943]).

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K A P I T E L II

"Butter": lit. sviestas, lett. sviests, aber apr. anctan (EV 689). Apr. anctan ist wohl mit dem Suffix *-tan der Nomina instrumenti von einem Stamm *ank- abgeleitet, der in aind. anäkti "salben, bestreichen", lat. unguö "dss." eine Entsprechung hat; für die semantische Entwicklung vgl. air. imb "Butter". Zugrunde liegt die idg. Wurzel *h7eng'J- "bestreichen, salben" (LIV 267, IEW 779). Lit. sviestas und lett. sviests weisen dasselbe Suffix *-tan > ostbalt. *-tas auf, doch ist der Stamm dunkel. Der Vergleich mit avest. xsvid- "Milch" ist unsicher. "Herbst": lit. ruduö, lett. rudens, aber apr. assanis (EV 14). Die Bezeichnung des "Herbstes" ist ein Archaismus im Altpreussischen (apr. assanis, vgl. russ. Ösengot. asans), eine Innovation im Ostbaltischen (lit. ruduö, lett. rudens, vgl. lit. rūdas "rot, fuchsrot"). Es fällt auf, daß die Neuerung des Ostbaltischen das nasalhaltige Suffix der alten Form erhalten hat. Man könnte von einem Syntagma *rud-as as-en- "der rotfarbige Herbst" ausgehen, mit weiterer Vereinfachung zu *rud-en- "der Rotfarbige". "Zeit": lit. laīkas, lett. laiks, aber apr. kērdan (III 978). Lit. laikas, lett. laiks gehören zu lit. likti "lassen, bleiben", lett. likt "legen" (idg. *leikv- "lassen"); Grundbedeutung etwa: "übrig, müßig". Apr. kērdan entspricht russ. ceredä "Reihe, Viehherde; (dial.) Zeit" (vgl. ferner got. hairda "Viehherde"); die Grundbedeutung wird noch in dem karelischen Lehnwort aus dem Baltischen kerda "Ordnung, Reihe" widergespiegelt. "Regen": lit. lietūs, lett. lietus, aber apr. aglo (EV 47). Apr. aglo wird gewöhnlich zu gr. aykbc, "Nebel, Finsternis, Dunkel" gestellt, während lit. lietūs und lett. lietus sowie lit. lyti, lett. līt "regnen" mit aksl. lijati "vergießen" (idg. *leiH- "gießen", LIV 405^106, IEW 664-665) verglichen werden. "Haut": lit. öda, lett. äda, aber apr. keuto (EV 156, 497). Apr. keuto, das in lit. kiäutas "Schale" eine Entsprechung hat, erinnert an aisl. hiid, aeng. hyd, ahd. hüt "Haut", weiter an lat. cutis "Haut". Die ostbaltische Form (lit. öda, lett. äda) verfügt über keine überzeugende Etymologie. "gesund": lit. sveikas, lett. sveiks, aber apr. kails (apr. Fragment bei Maletius, 16. Jhr.). Apr. kails bildet eine Gleichung mit sl. *ceh "vollkommen" (aksl. cēh) und germ. *haila- "gesund" (got. hails, ahd. heil). Lit. sveikas und lett. sveiks setzen ein altes Kompositum fort (aus *hrsu- "gut" + *hjei- "gehen" oder vielleicht besser aus *hlsu- "gut" + *ueik- "Stärke").

E I N F Ü H R U N G IN DIE BALTISCHE DIALEKTOLOGIE

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17

"finden": lit. rästi, lett. rast, aber apr. aupallai (III 6919, usw.). Das apr. Verb wird herkömmlich als mit lit. pülti, Sg.3. püola "befallen, angreifen" verwandt angesehen. Zugrunde liegt eine Wurzel, die gewöhnlich als *pehļH- "fallen" (LIV 4 6 3 ^ 6 4 , IEW 851) rekonstruiert wird und noch in aisl. falla "fallen" bezeugt sein könnte, vgl. Smoczynski (LAV 40 [2005], SEJL 488 [2007]). Hingegen trennt Neri (2007) apr. aupallai und lit. pülti; für apr. aupallai nimmt er ein calque zu dt. entdecken und sieht somit in -pallai eine zu einer Wurzel *pel- "decken" zugehörige Form. Die ostbaltischen Formen (lit. rästi, lett. rast) sind etymologisch dunkel.

Entgegengesetzte Fälle kommen auch vor. Manchmal ist das Altpreussische innovativ, das Ostbaltische konservativ. Eine Neuerung liegt z.B. in apr. stabis "Stein" (EV 32, vgl. lit. stabas "Götze, Götzenbild") gegenüber lit. akmuö, lett. akmens "Stein" (< idg. *h1ek-mön, vgl. aind. äsmä "Stein", gr. aKļacov "Amboß") vor. Andere Beispiele: •

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"Berg": lit. kalnas, lett. kalns, aber apr. grābis (EV 28, für *garbis, vgl. den Ortsnamen Gailgarben "Weissenberg"). Das ostbaltische Wort ist alt, vgl. lat. collis "Hügel" (< *kol(H)-ni-), aeng. hyll "Hügel" (< germ. *hulni- < idg. *kl(H)-ni-). Zugrunde liegt die Wurzel *kelH"aufragen, hochragen" (LIV 349, IEW 544, cf. lit. kelti "(ausheben"). Apr. *garbis ist eine Neuerung; Mažiulis (PKEŽ I 324-326 [1988]) schlägt eine Verknüpfung mit der Wurzel *gerbh- "drehen" vor (vgl. garbanos "Flechte"). Dies bleibt sehr unsicher. "Abend": lit. vakaras, lett. vakärs, aber apr. bītas (III 75x, usw., Gen. Sg.). Lit. vakaras und lett. vakärs gehören mit sl. *večer-b (aksl. večerb) trotz lautlicher Schwierigkeiten zur idg. Bezeichnung des Abends18. Apr. bītas ist isoliert. "Hals": lit. kaklas, lett. kakls, aber apr. winsus (EV 102). Die ostbaltische Bezeichnung des "Halses" setzt das uridg. Wort *k"ekvlo- "Rad" (aind. cakrä- "Rad", gr. ktjk^oģ "Zirkel", usw.) fort. Die Herkunft von apr. winsus ist unklar; der Vergleich mit weißruss. vjazy "Nacken" ist wenig einleuchtend. "Distel": lit. dagys, lett. dadzis, aber apr. kaäubri (III 105|2, wohl Fehler für *käubri). Die ostbaltische Bezeichnung setzt ein urbaltisches Wort fort (vgl. das baltische Lehnwort im Ostseefinnischen, finn. takiainen, estn. takijas "Distel"). Zugrunde liegt das Verbum lit. degti,

K

Deutungsversuch bei Katz (2000: 69-93).

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KAPITEL II

lett. degt "brennen" (idg. *dhegŲh- "mit Feuer behandeln, verbrennen", LIV 133-134, IEW 240-241). Die Herkunft des apr. Wortes *käubri ist unsicher. Man vergleicht ahd. hiufo "Dornstrauch" (?). • "Moskito": lit. uodas, lett. uöds, aber apr. tussis (EV 783, wohl als *cussis zu lesen). Die ostbaltische Bezeichnung gehört zu lit. ėsti "fressen", lett. ėst "essen". Eine Entsprechung findet sich im Slavischen *ovadb "Insekt" (< *au- "fort" + *öd-o- nach Smoczynski 2001a: 351-354 [1992b], SEJL 704 [2007]). Ap. cussis ist dunkel; der Vergleich mit aind. kusäti "kneifen" ist fraglich. • "selbst": lit. päts, lett. pats, aber apr. subs (III 1720, usw.). Die ostbaltischen Formen stammen aus *potis "selbst", vgl. heth. pat "eben(so), ebenfalls, just, noch dazu, gerade". Dieselben Formen weisen auch die Bedeutung "Herr" auf, vgl. lit. viešpats "Herr", apr. waispattin "Frau" (III 69 s , usw.) und ferner aind. päti- "Herr, Gatte", gr. rcooię "Gatte", usw. Apr. subs ist dunkel. Es muß wohl mit dem idg. Reflexivstamm *sue- (oder zu *sebh- ?) in Verbindungen gestellt werden. Doch bleiben die Einzelheiten dunkel19. • "sterben": lit. mirti, lett. mirt, aber apr. auläut (III 6316, usw.). Das ostbaltische Verb ist ererbt (idg. *mer- "verschwinden, sterben", LIV 439—440, IEW 735, vgl. lat. morior, usw.). Apr. auläut ist wohl eine mildernde Ausdrucksweise (etwa "fortgehen"); es besteht aus dem Präverb au- "fort" und der Wurzel von lit. liäutis "aufhören" (idg. *leuH- "abschneiden, lösen", LIV 417, IEW 681-682, vgl. aind. lunāti). Es ist zu bemerken, daß eine ähnliche semantische Entwicklung in lit. lavonas "Leiche" vorliegt. •

"tun": lit. daryti, lett. darit, aber apr. segglt (III 394, usw.). Beide Bezeichnungen sind unklarer Herkunft. Der Vergleich von lit. daryti, lett. darit mit gr. öpäv "tun" ist schwach begründet. Man denkt vielmehr an die idg. Wurzel *dher- "befestigen, fixieren" (LIV 145-146, IEW 252-253, vgl. aind. dhäräyati "festhalten, stützen"); diese Wurzel wird im Baltischen noch in lit. dereti "taugen, passen" vertreten. Für apr. seggīt akzeptiere ich den Vorschlag von Smoczynski (LAV 326 [2005]), daß das Wort aus mhd. sacken "schaffen, erzeugen, bewirken, machen" entlehnt wurde.

Es gibt auch viele Fälle, wo eine Neuerung auf beiden Seiten zu stehen scheint:

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Deutungsversuch bei Petit ( 1 9 9 % : 322-323).

E I N F Ü H R U N G IN DIE BALTISCHE DIALEKTOLOGIE

•

19

"Bein": lit. köja, lett. kāja, aber apr. nage (EV 145). Apr. nage "Fuß" verdankt seine Bedeutung gegenüber lit. nagä "Huf (von Pferden)" wohl dem Einfluß des Slavischen (russ. nogä "Bein"). Die ostbaltische Bezeichnung gilt als ungeklärt (vgl. Smoczynski SEJL 303 [2007]). • "Ofen": lit. krösnis, lett. krāsns, aber apr. stabni (EV 221). Lit. krosnis, lett. krāsns sind wohl zu lett. krāt "sammeln, aufhäufen" zu stellen20; weitere Verknüpfungen sind unsicher. Die apr. Bezeichnung stabni (wohl aus * stabiņi) ist eine innerpreussische Ableitung von stabis "Stein". • "Mauer": lit. siena, lett. siena, aber apr. seydis (EV 198). Lit. siena und lett. siena gehören wohl zu lit. sieti, lett. siet "binden". Apr. seydis ist hingegen wohl als *zeidas zu deuten und gehört zur Wurzel von lit. žiesti "aus Lehm modellieren" (balt. *žeid-, Metathese von *deiž< idg. *dheig>'-, lat.fingöl). • "Tonerde, Lehm": lit. mölis, lett. māls, aber apr. laydis (EV 25). Beide Bezeichnungen bleiben ohne Etymologie. • "Sand": lit. smēlis, lett. smilts, aber apr. sixdo (EV 26). Lit. smėlis, lett. smilts gehören wohl zur Wurzel *(s)melh2- "zerreißen, mahlen" (LIV 432-433, IEW 716-717), zu der auch lit. mälti "mahlen" (ohne s mobile) zu stellen ist. Apr. sixdo ist mit lit. žizdras "Kies, grober Sand" verwandt; weitere Verknüpfungen sind unsicher. • "Huhn": lit. višta, lett. vista, aber apr. gerto (EV 764). Beide Bezeichnungen bleiben ohne Etymologie; der Vergleich der ostbaltischen Formen mit lat. auis "Vogel" ist als äußerst fragwürdig anzusehen. • "weiß": lit. bältas, lett. balts, aber apr. gaylis (EV 459). Lit. bältas, lett. balts "weiß" beruht wohl auf einer Farbwurzel *bhelH- (vgl. gr. cpaA,ioę "glänzend, weiß"). Apr. gaylis "weiß" gehört zu einer anderen Farbwurzel *g~hei- (vgl. *gvhei-d- in lit. giedras "heiter", gr. (paiöpöq "hell, klar, heiter"). Suffix *-lo- wie in sl. *beh "weiß". • "schreiben": lit. rašyti, lett. rakstīt, aber apr. peisāton (III 1052|, usw.). Dem apr. Verb entspricht sl. *pbsati (aksl. pbsati "schreiben"). Im Ostbaltischen hat diese Sippe eine ältere Bedeutung erhalten (lit. piešti "zeichnen"). Zugrunde liegt idg. *peik- "heraushauen, herausschneiden" (LIV 465-466, IEW 794-795). Was nun die ostbaltischen Formen lit. rašyti, lett. rakstīt betrifft, so gibt es keine klare Etymologie. Sie müssen wohl ursprünglich eine Bedeutung "einritzen" gehabt

20

So Skardžius (RR I 13 [1943]); vgl. auch Būga (RR II 203 [1922]).

20

•

K A P I T E L II

haben, aber der Vergleich mit lit. rākštas "Grabmal", rakti "graben" ist lautlich unmöglich. "werden": lit. täpti, lett. tapt, aber apr. wirst (III 17,,, usw.), postāt (III 113l7, USW.). Lit. täpti und lett. tapt haben keine Etymologie. Gemeinhin werden sie mit gr. Torcoę "Ort" verglichen. Im Altpreussischen liegen Innovationen z.T. unter dem Einfluß des Deutschen vor.

Es kommt seltener vor, daß das Altpreussische nur mit dem Litauischen gegen das Lettische oder mit dem Lettischen gegen das Litauische übereinstimmt. Man vergleiche z.B. apr. dangus (EV 3, usw.), lit. dangūs "Himmel" (: lit. dengti "decken") gegenüber lett. debess "Himmel" (< "Wolke") oder umgekehrt apr. ist (III 416, usw.), lett. ėst "essen" gegenüber lit. välgyti "essen" (< "die Suppe anrichten", vgl. lit. vilgyti "befeuchten"); lit. ėsti hat nun eine pejorative Bedeutung bekommen ("fressen"). Unterschiede sind auch im semantischen Bereich bezeugt. Beispiele: •

•

•

Idg. *teutä "Volk" (vgl. got. Piuda, air. tuath) hat seine ursprüngliche Bedeutung im Ostbaltischen erhalten (lit. tautä, lett. täuta "Volk"), während es im Altpreussischen eine andere Bedeutung bekommen hat (apr. tauto "Land" EV 793, usw.). "Volk" heißt im Altpreussischen amsis (Gen.Sg. III 123 n , Akk.Sg. amsin III 59 ļ4 , 11917, vgl. lit. amžius "Zeitalter, Lebenszeit"). Die Bezeichnung des "Sternes" ist im Litauischen žvaigždė, im Lettischen zvaigzne (vgl. russ. zvezdä, poln. gwiazda). Das Altpreussische hingegen verwendet dieses Wort in einer allgemeineren Bedeutung (apr. swäigstan "Licht" III 35 )V usw.) und hat als Bezeichnung des "Sternes" ein anderes Wort (apr. lauxnos "Sterne" EV 4, Fem.Pl., vgl. lat. lüna "Mond", avest. raoxsnä- "Licht"). Das Altpreussische bewahrt die alte Unterscheidung zwischen "wissen" (apr. waist < idg. *uoid-) und "kennen" (apr. ersinnat "erkennen" III 53?, usw,,posinnat "bekennen" III 6521, usw. < idg. *gnehf). Das Ostbaltische hat sie eingebüßt und verwendet verschiedene Ableitungen derselben Wurzel für beide Bedeutungen (lit. žinoti, lett. zinät "wissen" neben lit. pažinti, lett. pazīt "kennen").

Einige der angeführten Beispiele, z.B. die Bildung der Possessivadjektive, zeugen von einer engeren Verwandtschaft des Altpreussischen mit dem Slavischen als mit dem Ostbaltischen. Andere Beispiele, z.B. der Genitiv

E I N F Ü H R U N G IN DIE BALTISCHE DIALEKTOLOGIE

21

Singular der thematischen Maskulina, deuten hingegen auf eine gewisse Nähe zwischen dem Ostbaltischen und dem Slavischen.

3. Das

Westbaltische

Unsere Kenntnis der westbaltischen Dialekte leidet an der Tatsache, daß innerhalb dieses Zweigs nur das Altpreussische verhältnismäßig gut dokumentiert ist. Die anderen westbaltischen Dialekte sind alle bis zum 16. Jahrhundert schriftlos verschwunden. Das Jatwingische, das im Nordosten Polens und im Nordwesten Weißrußlands gesprochen wurde und manchmal mit dem Sudauischen identifiziert wird, ist uns lediglich durch onomastisches Material sowie durch Substraterscheinungen bekannt. Das sogenannte "Polnisch-Jatwingische Glossar", das 1978 von Vladimir Zinov gefunden und 1985 von Zigmas Zinkevičius herausgegeben wurde, kann nicht mit Sicherheit der jatwingischen Sprache zugeschrieben werden und muß daher als zuverlässige Quelle dieser Sprache außer acht gelassen werden. Versucht man, das dürftige Material des Jatwingischen und die altpreussischen Dokumente zu vergleichen, so stellt man fest, daß beide Sprachen so nah verwandt waren, daß es fast unmöglich ist, signifikante Unterschiede zwischen ihnen zu finden21. Nach Otrębski (1963) war das Jatwingische durch zwei Phänomene gekennzeichnet, die dem Altpreussischen fremd waren: die Entwicklung von *ä zu *o, wie im Litauischen, und die Tendenz, die Dentalen *t und *d in palatalem Kontext zu *k und *g zu entwickeln - eine Tendenz, die auch in den litauischen Dialekten des ehemaligen Jatwingerterritoriums zu beobachten ist. Außerdem deutet Otrębski (1963: 161) den Seenamen Dülgas in der Nähe von Lazdijai als jatwingischer Herkunft. Er denkt, daß das Jatwingische ein Adjektiv *dülgas "lang" hatte, das sich von den Entsprechungen der anderen baltischen Sprachen (lit. ilgas, lett. ilgs, apr. ilga "lange" III 953) sowohl durch die Bewahrung des anlautenden Konsonants (wie im Slavischen: aksl. dlbg-b < idg. *dlh!gl'o-, vgl. aind. dīrgha-) als auch durch die Entwicklung von */ zu *ul unterscheidet. Doch bleibt das alles sehr unsicher 22 . Das Altpreussische bleibt also für uns der einzige zuverlässige Zeuge der westbaltischen Sprachgruppe. Diese Sprache ist aber selbst 21

S. Schmalstieg (1976: 17-49); vgl. auch Salys (1985: 128-130). Vgl. die Kritik von Savukynas (1966: 165-176). Andere Züge des Jatwingischen werden von Būga (RR III 136-152 [1924]) aufgelistet. 22

22

KAPITEL II

sehr trümmerhaft, durch unvollkommene und philologisch mangelhafte Dokumente bezeugt. Das altpreussische Korpus besteht aus folgenden Texten 23 : •

•

•

•

(1) das sogenannte humoristische Baseler Epigramm, das 1974 von Stephen C. McCluskey gefunden wurde und aus der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts datieren könnte24. Der Text lautet: Kayle rekyse. thoneaw labonache thewelyse. Eg. koyte. poyte nykoyte. pėnega doyte. Seit der Entdeckung dieses kurzen Fragments hat seine Interpretation Schwierigkeiten bereitet. Es ist klar, daß es sich um ein Trinklied in preussischer Sprache handelt: vgl. kayle = apr. kails "gesund", "Servus!", rekyse = apr. rikis "Herr" (EV 404), labonache = apr. labs "gut", thewelyse = Diminutiv zu apr. thewis "Vetter, Bruder des Vaters" (EV 176), eg = apr. ik "wenn", koyte = apr. quoi tu "du willst" (III 99IX), poyte = apr. püton "trinken" (III 41 6 , usw.), nykoyte "du willst nicht", penega = apr. penningans "Geld" (III 339), doyte = apr. dät "geben" (III 8912). Die Einzelheiten sind aber immer noch dunkel, vgl. Schaeken (2002-2003[2006]: 331-342). (2) das Elbinger Vokabular, ein kleines deutsch-preussisches Lexikon von ungefähr 800 Wörtern, das vielleicht aus dem 14. Jahrhundert oder gar aus dem 13. Jahrhundert datiert, aber nur in einer Abschrift vom Anfang des 15. Jahrhunderts bewahrt wurde. Dieses Vokabular wurde 1825 im sogenannten Codex Neumannianus gefunden. (3) ein kleines deutsch-preussisches Lexikon von ungefähr 100 Wörtern, das der Historiker Simon Grunau in seine Preussische Chronik (1517-1526) integriert hat. Das Werk von Grunau ist uns nur durch spätere Abschriften bekannt. Unter ihnen sind besonders zu erwähnen GrA (eine Abschrift aus dem 17. Jahrhundert in der Königsberger Universitätsbibliothek) und GrG (eine Abschrift aus dem 16. Jahrhundert in der Göttingener Universitätsbibliothek). (4) drei evangelische Katechismen des 16. Jahrhunderts (I aus dem Jahre 1545, II aus dem Jahre 1545, III aus dem Jahre 1561). Diese Katechismen sind wortwörtliche Übersetzungen aus dem Deutschen. Die ersten zwei Katechismen sind ziemlich kurz (15 Seiten) und stellen zwei Varianten desselben Textes dar. Der zweite Katechismus ist eine revidierte, von den gröbsten Fehlern gereinigte Neuausgabe des ersten. Der dritte Katechimus (1561) ist eine Übersetzung ins Preussi23 24

Schmalstieg (1976: 68 f.); s. auch Salys (1985: 135-164). Mažiulis (1975: 125-131).

E I N F Ü H R U N G IN DIE BALTISCHE DIALEKTOLOGIE

23

sehe von Martin Luthers Enchiridion. Der Übersetzer war Abel Will, ein Pfarrer aus der Gemeinde von Pobethen, der selbst wenig Preussisch konnte und sich eines Informanten, Paul Megott, bediente. Die Übersetzung besteht aus 64 Seiten. Es ist das längste und wichtigste Denkmal der preussischen Sprache überhaupt. Außer diesen Texten sind auch einige Fragmente bezeugt; ihre Relevanz für die Kenntnis der Sprache ist jedoch gering. Die altpreussische Sprache muß um das Ende des 17. Jahrhunderts ausgestorben sein. Im Jahre 1684 schreibt der Deutsche Christian Hartknoch, daß es nur noch sehr wenige Dörfer gebe, wo man Preussisch spreche. In einer Ausgabe des zweiten preussischen Katechismus um das Jahr 1700 wird geschrieben, daß der letzte Greis, der noch Preussisch konnte, 1677 in der Gegend der Kurischen Nehrung verstorben ist. In dialektaler Hinsicht sind die altpreussischen Dokumente heterogen. Es wird angenommen, daß das Elbinger Vokabular in der Gegend von Elbing (heute Elblqg im nordöstlichen Teil Polens), die Katechismen in der Gegend von Königsberg (heute Kaliningrad) verfaßt wurden. Der Übersetzer des dritten Katechismus, Abel Will, war Pfarrer in Pobethen (heute Romanovo, Distrikt von Zelenogradsk), ungefähr 25 Kilometer nordwestlich von Königsberg. Es besteht also Grund zur Annahme, daß das Elbinger Vokabular aus einer westpreussischen oder "pomeranischen" Mundart (EV), die Katechismen aus einer ostpreussischen oder "samländischen" Mundart (Kat.) stammen. Wenn man mit altpreussischen Daten operiert, muß man diese Unterscheidung unbedingt berücksichtigen. Diese Unterscheidung beruht auf sprachlichen Differenzen, die beide Varianten deutlich trennen. Beispiele25: •

Der gemeinbaltische Langvokal *ē wurde im Pomeranischen wahrscheinlich offen ausgesprochen, was meist als <e>, <ee>, <ea> oder <ey> wiedergegeben wurde, z.B .semen "Same" (EV 256) aus *sēmen-, wosee "Ziege" (EV 676) aus *āzē, geasnis "Schnepfe" (EV 753) aus *gēsnis (vgl. lett. dzēsna), seyr "Herz" (EV 124) aus *kēr (vgl. gr. hom. Kfļp). Im Samländischen wurde derselbe Vokal wahrscheinlich als geschlossenes */ē/ ausgesprochen, was als <e> im ersten Katechismus, meist als , , oder (< *ī) im zweiten und dritten Katechismus wiedergegeben wurde, z.B. turrettwey "haben" (I 53 4 ) aus *turē-t- (vgl. lit. turėti) gegenüber ist "essen" (III 5312) aus *ēs-t25

Vgl. Būga (RR III 105 f. [1924]).

24

KAPITEL II

(vgl. lit. esti), turrltwey "haben" (III 27?), ydieyti "essen" (Imperativ P1.2. II 138), grijkans "Sünden" (III 65 2| ) aus *grēk- (vgl. poln. grzech). Vermutlich erfolgte die Entwicklung von * im Auslaut aufweist, z.B. muti "Mutter" (GrA 69) aus *mātē (vgl. mothe EV 170, müti III 673) gegenüber corpe "Schuh" (GrA 89) aus *kurpē (vgl. kurpe EV 500, cf. lit. kurpė). • Der gemeinbaltische Langvokal *ä wurde im Pomeranischen gerundet ausgesprochen und fiel mit altem *ö zusammen, z.B. brote "Bruder" (EV 173) aus *brātē, mothe "Mutter" (EV 170) aus *mātē, wie podalis "wertloser T o p f ' (EV 351) aus *pöd-elis (vgl. lit. püodas). Der Vorschlag von Larsson (2003: 87-105), demzufolge im Pomeranischen schleiftoniges *ö (< *ā oder *ö) zum Diphthong oa geworden sei (vgl. soalis "Gras" EV 293 < *zali- gegenüber sälin III 105]3, lit. žolę Akk.Sg.), ist unsicher27. Im Samländischen wurde der Langvokal erhalten, vgl. brāti "Bruder" (III 6710), salin "Kraut" (III 10513). In der Stellung nach Labial und Velar wurde *ā zu *ü, vgl. müti "Mutter" (III 673). Die Behandlung von altem *ö in den Katechismen ist nicht ganz klar. Man hat entweder *Ö > (vgl. no " a u f ' III 97j, < *nö, lit. nuö) oder *ö > <ä> oder (vgl. dāt III 89 l2 , dat III 131J2 "geben" < *dö-t-, lit. dūoti), bzw. *ö > <ü> nach Labial (vgl. püton "trinken" III 416 < *pö-t~). • Eine Tendenz zur Diphthongierung der Langvokale *ī (> <ei> oder <ej>) und *ü (> oder ) läßt sich im Samländischen beobachten, vgl. geiwans "lebendig" (Akk.Pl. I 9 5 ), geywans (II 9 5 ), geJwans (III 127|5 I6) gegenüber gijwans (III 437) aus *gīva- (vgl. lit. gyvas) oder sounon "Sohn" (Akk.Sg. II 7 I2 ), soünon (III 4122), saünan (III 12323) aus *sünu- (vgl. lit. sūnūs). • Die Endung des Nominativ Singular der thematischen Flexion *-as wurde zu <-is> im Pomeranischen, zu <-s> im Samländischen, vgl. 26 27

Vgl. Mažiulis (1995: 60; PKEŽ IV 7 7 - 7 8 [1997]). Vgl. die Kritik von Derksen (2005: 51-67).

E I N F Ü H R U N G IN DIE BALTISCHE DIALEKTOLOGIE

•

25

deywis "Gott" (EV 1) gegenüber deiws (III 378, usw., einmal deiwas III 9914). Das Neutrum wurde im Pomeranischen besser erhalten als im Samländischen, vgl. Nt. wundan "Wasser" (EV 59) gegenüber Mask. vnds (III 597), vndan (Akk.Sg. III 6117), vndans (Akk.Pl. III 1 1924).

Es ist wahrscheinlich, daß es im Bereich der Morphologie weitere Unterschiede zwischen dem Pomeranischen und dem Samländischen gab. Bedingt durch unsere dürftige Kenntnis des Pomeranischen läßt sich diese Vermutung jedoch schwer nachweisen. 4. Das

Ostbaltische

Das Ostbaltische besteht aus zwei Hauptzweigen, dem Litauischen und dem Lettischen. Andere ostbaltische Sprachen, wie z.B. das Kurische in der Kurischen Nehrung oder das Zemgalische in Lettland, sind um das 16. Jahrhundert spurlos verschwunden. Ihre Struktur läßt sich nur anhand eines sehr dürftigen Materials, hauptsächlich Onomastik und Substraterscheinungen, ungenau rekonstruieren. Wahrscheinlich war das Kurische, das einst an den Küsten der Ostsee im heutigen Litauen und Lettland gesprochen wurde, durch folgende Züge gekennzeichnet 28 : •

•

• •

•

Die idg. Palatale (*k, *g) wurden im Kurischen zu Sibilanten (*v, *z), wie im Lettischen, nicht zu Zischlauten (*£, *z), wie im Litauischen, vgl. den Ortsnamen Talsen, Teise gegenüber lit. Telšiai. Die baltischen Velare wurden in der Stellung vor *e oder *i zu c und dz palatalisiert, wie im Lettischen, vgl. den Ortsnamen Sintere (1253), Zyntere (1338) wie lett. dzihtare gegenüber lit. Gintarä. Der Diphthong *ei wurde im Kurischen gegenüber lit., lett. ie erhalten, vgl. den Ortsnamen Leypiaseme (: lit. liepa, lett. liepa "Linde"). Bewahrung von *an, *en, *in, *un gegenüber lett. uo, ie, ī, ū, vgl. die Ortsnamen Baianden (cf. lett. baluödis "Taube"), Stembre (1386, cf. lett. stiebrs "Stengel"), Grindos (1261, cf. lett. grida "Diele(nbrett)"), Krunkle (1422, cf. lett. krükle "Zwergholunder, Sambucus ebulus"). Entwicklung von */ und *u zu *e und *o, vgl. das kurische Lehnwort im Lettischen klešs "schief, nach innen gebogen" < ostbalt. *klis-a-

2H

Būga (RR III 156-251 [1924]), Salys (1985: 61-80).

KAPITEL II

26

•

•

(cf. lit. klišas "krummbeinig") oder die lettische Dublette lett. dial. (< kur.) soga "Grundeis, Treibeis" gegenüber suga "dss." um Mitau (< zemg.), beides aus liv. soga "Schnee mit Wasser gemischt". Ausweitung der Deklination auf *-ē auf Kosten der Deklination auf *-ā. In den lettischen Dialekten von Kurland hat man z.B. meite "Jungfrau" (: lett. meita), vārne "Krähe" (: lett. vārna), usw29. Der kurische Wortschatz wird noch durch die zahlreichen Lehnwörter kurischer Herkunft in der lettischen Sprache widergespiegelt, z.B. lett. dzintars "Bernstein" (vgl. lit. gintaras), męnca "Dorsch" (vgl. lit. menkas "klein, unbedeutend"), ducele "Fahrrad" (< *du- "zwei" + kur. *cela- "Rad" = pr. kelan EV 295 gegenüber lit. rātas, lett. rats "Rad") 30 .

Das Kurische darf nicht verwechselt werden mit dem Nehrungskurischen, einem lettischen Dialekt, der später in derselben Gegend bis zum Zweiten Weltkrieg gesprochen wurde und von verschiedenen Autoren, z.B. Kwauka und Pietsch (1977), Pietsch (1991) und El Mogharbel (1993), beschrieben wurde. Dem Zemgalischen, das in Zentrallettland zwischen dem Kurischen (im Westen) und dem Latgalischen (im Osten) bis zum 16. Jahrhundert gesprochen wurde, kann man insbesondere folgenden Zug zuschreiben31: •

Im Unterschied zum Kurischen, aber im Einklang mit dem Lettischen wurden die Gruppen *an, *en, *in, *un zu uo, ie, F, ü, vgl. die Ortsnamen Mytowe, deutsch Mitau, heute Jelgava (1305 < * Mintauja, lit. Mintauja) oder Slok (< *Slanka, lett. Slūoka, lit. slankä "Schnepfe").

Außer diesen nur unvollkommen dokumentierten Sprachen besteht das Ostbaltische aus zwei Sprachen, dem Litauischen und dem Lettischen. Ihre Trennung ist alt. Traditionsgemäß schlägt man als Trennungsdatum spätestens das 7. Jahrhundert vor. Beide Sprachen werden durch eine ganze Reihe von Unterschieden getrennt 32 . Zunächst im Bereich der Phonologie:

M

Būga (RR III 218 [1924]). Weitere Beispiele bei EndzelTns (DI II 506-507 [1913-1914]). 31 Dazu grundsätzlich Būga (RR III 251-267, insbes. 2 5 6 - 2 5 7 [1924]), Zinkevičius (RS 1151 [1999]). 32 Vgl. z.B. Salys (1985: 43^14). 10

E I N F Ü H R U N G IN DIE B A L T I S C H E D I A L E K T O L O G I E

27

•

Das Litauische bewahrt einen freien Akzent, das Lettische hingegen hat wahrscheinlich unter dem Einfluß der benachbarten ostseefinnischen Sprachen den Akzent systematisch auf die erste Silbe verlagert. Eine Spur der ursprünglichen Freiheit der Akzentstelle läßt sich im Lettischen noch in dem sogenannten Brechton ( A ) finden, der die Zurückziehung einer ursprünglichen Endbetonung auf eine stoßtonige Anfangssilbe widerspiegelt, z.B. lett. peda "Fuß" gegenüber lit. pėda (Akzenttyp 3, Akk.Sg. pėdą). • Die gemeinbaltischen Velare *k und *g wurden im Litauischen erhalten, im Lettischen vor *e und *i zu Affrikaten *c [ts] und *dz [dz] palatalisiert, vgl. lett. ticėt "glauben" (< *tikēti, cf. lit. tikėti), dzert "trinken" (< *gērti, cf. lit. gerti). • Die Gruppen *an, *en, *in, *un blieben im Litauischen meist erhalten, im Lettischen wurden sie zu uo, ie, ī, ū, vgl. lit. rankä / lett. rüoka "Hand", lit. penki I lett. pieci "fünf', lit. pinti / lett. pit "flechten", lit. jungas / lett.jügs "Joch". Im Bereich der Morphologie: •

•

Das Litauische bildet den Modus Imperativ mittels einer Partikel *-k(i) deiktischer Herkunft, vgl. lit. zinö-k "weiß!", žino-kite "wissen Sie!" (: žinoti "wissen"). Das Lettische verwendet dafür alte Optativformen, vgl. lett. zinä "weiß!", ziniet "wissen Sie!" (: zinät "wissen"). Das Lettische hat einen neuen Modus, den sogenannten "Debitiv" (lett. vajadzības izteiksme), durch Präfigierung einer Partikel ja- an die Indikativform mit dativischem Subjekt entwickelt: lett. viņam jāzina "er muß wissen" (wohl ursprünglich: "ihm [ist] was zu wissen").

Lexikalische Unterschiede zwischen dem Litauischen und dem Lettischen sind sehr zahlreich. Wie aus den folgenden Beispielen ersichtlich wird, gehören die betreffenden Lexeme oft zum Grundwortschatz: •

•

•

"Wort": lit. žodis, aber lett. vārds. Lett. vārds "Wort, Name" entspricht lit. vardas "Name", das in der Bedeutung "Wort" durch žodis (vgl. lit. žadas "Rede", žadėti "versprechen") verdrängt wurde. "Blume": lit. gėlė, aber lett. puķe. Lit. gėlė ist wohl mit lit. geltas "gelb" verwandt (idg. Farbwurzel *ghel-7 vgl. IEW 430). Lett. puķe ist aus dem Livischenpuk'k' "Blume" entlehnt. "Schwein": lit. kiaulė, aber lett. cūka. Lett. cūka ist wohl aus der russischen Dialektform cuxa entlehnt, die wohl auf einem Lockruf cux,

KAPITEL II

28

čux beruht. Für lit. kiaulė gibt es keine Etymologie (vgl. Smoczynski SEJL 281 [2007]). • "König": lit. karalius, aber lett. kęninš. Beide Formen sind aus verschiedenen Wegen Lehnwörter, lit. karalius aus dem Ostslavischen *korol' (vgl. russ. koröl'), lett. kęninš (und apr. konagis EV 405) aus dem Deutschen (vgl. mnd. koninc). • "Witwe": lit. našlė, aber lett. atraitne. Lit. našlė gehört wohl als Ableitung eines Adjektivs *naš-las "tot 33 " zur idg. Wurzel *nek- "verschwinden, verloren gehen" (LIV 451-452, IEW 762, vgl. aind. näsyati "verschwindet", lat. nex "Mord"). Lett. atraitne ist wohl zur Wurzel von lett. dial. ries t "abfallen, sich trennen" zu stellen. • "Woche": lit. savaitė, aber lett. nedēla. Lit. savaitė ist wohl ein Lehnwort aus dem Altpreussischen sawayte (EV 16), das selbst über keine überzeugende Etymologie verfügt 34 . Im Altlitauischen war das slavische Lehnwort nedėlia (vgl. russ. nedelja) weit verbreitet. Letzterem entspricht auch lett. nede(a. • die vier Himmelsrichtungen: "Norden" (lit. šiaurė, aber lett. zieme(i), "Osten" (lit. rytai, aber lett. austrumi), "Süden" (lit. pietūs, aber lett. dienvidi), "Westen" (lit. vakarai, aber lett. rietumi). • "teuer": lit. brangus, aber lett. dārgs. Lit. brangūs ist etymologisch ungeklärt; der Vergleich mit dt. prangen "glänzen" ist sehr unsicher35. Lett. dārgs ist trotz lautlicher Schwierigkeiten wahrscheinlich als ein slavisches Lehnwort anzusehen (vgl. russ. dorogoi). • "frei": lit. laisvas, aber lett. brīvs. Lit. laisvas ist eine Ableitung von leisti "lassen" (*laid-svas). Lett. brīvs ist mnd. Lehnwort (vgl. mnd. m "frei"). • "schwarz": lit. jüodas, aber lett. męlns. Lett. męlns ist mit lit. mėlynas "blau" verwandt. Ferner denkt man an gr. fie^aę "schwarz", aind. malina- "unrein, schwarz", usw. Lit. jüodas hat bisher keine überzeugende Etymologie gefunden. Pedersen (1933b: 69) vergleicht das Wort mit air. adaig "Nacht" (< *jad-akī). • "können": lit. galėti, aber lett. varēt. Lit. galėti ist etymologisch dunkel; Fraenkel (LEW 1131 [1962]) und Smoczynski (SEJL 154 [2007]) erwähnen russ. göly'i "nackt" und göljaty'i "hoch, mager". Lett. varēt ist mit vara "die Macht, die Gewalt", apr. warrin "Gewalt, Macht" (III 7920, USW.) in Verbindung zu bringen. Ein Vergleich mit mhd. wer " So Skardžius (RR I 75 [1943]); vgl. auch Būga (RR II 299 [1922]). Nach Smoczynski (SEJL 537 [2007]) könnte pr. sawayte Lehnwort aus poln. sobota sein. 35 Vgl. Fraenkel (LEW I 54 [1962]), Smoczynski (SEJL 69 [2007]). 34

E I N F Ü H R U N G IN DIE B A L T I S C H E D I A L E K T O L O G I E

•

•

•

29

"Besitzrecht, Gewalt" (ME IV 475 [1929-1932]) ist möglich, doch nicht sehr einleuchtend. "denken": lit. galvöti, aber lett. duomät. Lit. galvoti ist Denominativum von galvä "Kopf'. Lett. duomät ist aus sl. *dumati (vgl. russ. dümat') entlehnt. "sprechen": lit. kalbėti, aber lett. runät. Lit. kalbėti (und kalbä "Sprache") hat bisher keine überzeugende Etymologie gefunden. Smoczynski (SEJL 248 [2007]) vergleicht lit. skelbti "ankündigen, melden" (mit *s- mobile?). Lett. runät ist Denominativum von runa "das Gespräch, die Rede". Dieses ist mit aeng. rynan "brüllen", ahd. rūnēn "raunen", lat. rümor "Geräusch, Gerücht" verwandt (ME III 560 [1927-1929]). "wollen": lit. norėti, aber lett. gribēt. Lit. norėti wird oft mit gr. voopef evepyei (Hesych) verglichen. Dieser Vergleich ist lautlich unmöglich. Smoczynski (SEJL 537 [2007]) setzt eine Wurzel *neh7- an und vergleicht heth. näh- / nahh- "sich fürchten", luw. nahhuua- "sich kümmern" (vgl. auch Kloekhorst 2008: 592). Lett. gribēt ist als Stativbildung von greībt "greifen" (vgl. lit. griebti, got. greipan "greifen") zu deuten.

Es kommt oft vor, daß das Litauische und das Lettische dasselbe Wort aufweisen, aber mit unterschiedlichen Bedeutungen. Beispiele: •

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lit. baudä heißt "Strafe, Geldstrafe" (lett. süods), während lett. bauda "Vergnügen" heißt (lit. malonumas). Zugrunde liegt die idg. Wurzel *bheudh- "wach werden, aufmerksam werden" (LIV 82-83, IEW 150— 152). Grundbedeutung hier etwa "Anregung". lit. debesis "Wolke" (lett. mäkuönis) gegenüber lett. debess "Himmel" (lit. dangūs). Zugrunde liegt idg. *nebh-e/os- "Wolke" (mit *«- > *dwie in lit. devyni "neun"). Die Bedeutung des lettischen Wortes wurde durch das Slavische beeinflußt (vgl. russ. nėbo "Himmel"). lit. druska "Salz" (lett. sāls) gegenüber lett. druska "Stückchen, Krume" (lit. trupinys). Hier liegt Neuerung seitens des Litauischen vor. lit. düona "Brot" (lett. mäize) gegenüber lett. duöna "Brotkruste" (lit. kriaukšlys). Zugrunde liegt eine Bezeichung des "Getreides" (vgl. aind. dhänah "Getreide", Fem.PL). Lett. mäize ist mit miezis "Gerste" verwandt. lit. mokytojas "Lehrer" (lett. skuöluötäjs) gegenüber lett. mācītājs "Pfarrer" (Wt. pastorius, kūnigas). Die lettische Innovation ist seit dem

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18. Jahrhundert bezeugt. Früher war das Wort mäcitäjs nur in der breiteren Bedeutung "Lehrer" bezeugt36. lit. mokslas "Wissenschaft" (lett. zinātne) gegenüber lett. māksla "Kunst" (lit. mēnas). Eine Nachahmung des Deutschen {Kunst aus können) erklärt die semantische Entwicklung des lettischen Wortes (māksla aus mācēt "können, vermögen"). lit. naudä "Verdienst" (lett. labüms) gegenüber lett. naüda "Geld" (lit. pinigas). Die lettische Bedeutungsentwicklung hat eine Parallele in aisl. nautr "wertvolles Stück, Eigentüm", naut "Stück Vieh". Karulis (1992:1 620) zieht noch als Parallele lat. pecus /pecünia heran. Ferner läßt sich das Wort mit got. niutan "erlangen, erreichen" (Lc 20, 35), ganiutan "ergreifen" (L 5, 9 ; Mc 12, 13) vergleichen. Idg. *neud"nutzen" (LIV 456, IEW 768). lit. nösis "Nase" (lett. dęgūns) gegenüber lett. nāss "Nasenloch" (lit. šnervė). Die Herkunft der lettischen Innovation dęgūns "Nase" ist unsicher. Sie hat das alte Wort nāss auf eine engere Bedeutung "Nasenloch" beschränkt. lit. uolā "Felsen" (lett. klints) gegenüber lett. uöla "Ei" (lit. kiaušinis). Grundbedeutung etwa: "runder Kieselstein" (vgl. aisl. valr "rund") mit weiterer Divergenz beider Sprachen. lit. valanda "Uhr" (lett. stunda) gegenüber lett. valuöda "Sprache" (lit. kalbä). Die ursprüngliche Bedeutung steht auf der Seite des Lettischen, vgl. poln. wolac "rufen" 37 . Die semantische Beziehung mit dem Litauischen bleibt aber unerklärt, wie selbst Būga (RR II 664 [1918]) zugibt. Karulis (1992: II 478) nimmt an, daß lit. valanda zu einer anderen Wurzel *uelH- "(sich) wälzen, wallen" gehört (LIV 677, IEW 1140-1143, vgl. lit. velti "walken, wälzen", ahd. wallan "wallen, wogen") und ursprünglich die Zeit als zirkulär bezeichnete. Denkbar wäre auch idg. *uel- "drehen, rollen" (LIV 675, IEW 1140-1142, vgl. lat. uoluö "drehen, rollen"?). Oder ist lit. valanda ursprünglich die "gesagte, bestimmte Zeit" (wie etwa poln. rok "Jahr" zu rzec "sprechen")? lit. vėdaras "eine Art gefüllte Wurst" (lett. putraimu desa) gegenüber lett. vędęrs "Bauch" (lit. pilvas). Es handelt sich um eine uralte Bezeichnung des "Bauchs", vgl. apr. weders "Bauch" (EV 122), aind. 36

Vgl. Karulis (1992: 1 556). Anders Zinkevičius (RS III 26 [1974]), der lett. valuöda "Sprache" als "Zeitverlust > Plauderei" deutet. Es ist zu bemerken, daß das litauische Wort valanda "Uhr" ursprünglich eine breitere Bedeutung "Weile, Zeitlang " gehabt haben muß (vgl. Skardžius RR IV 317 [1935b]). 37

E I N F Ü H R U N G IN DIE BALTISCHE DIALEKTOLOGIE

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udäram "Bauch". Lit. pilvas stellt wohl eine Ableitung eines Adjektivs *pilūs "voll" (< *plhj-u-, vgl. aind. purü-) neben pilnas (< *plhrno-, vgl. aind. pūrņā-) dar, vgl. Smoczynski (SEJL 460 [2007]). • lit. žambas "Kante" (lett. stūris, kakts) gegenüber lett. zūobs "Zahn" (lit. dantis). Synchron ist lit. žambas mit dem Verb žerhbti "schneiden" zu verbinden (vgl. aksl. zębę "zerreißen", aind. jambhäyati "zerm a l m e n " ) und gehört zu einer idg. Wurzel *gembh~. Die Nominalableitung *gombh-o- (ursprünglich "Schneider") ist in den idg. Sprachen als Bezeichnung des "(Reiß)zahnes" weit verbreitet (vgl. aind. jämbha-, alb. dhemb, aksl. zęb-b, toch. A. kam, B kerne)™. Das lit. Wort žambas kann die ursprüngliche Bedeutung erhalten haben oder ist als Metapher anzusehen (wie gr. yop,(poę "(hölzerner) Pflock, Nagel" neben yoĮKpioę "Backenzahn", ahd. kamb "Kamm" < *"bezähnt, was Zähne hat"). Es ist zu bemerken, daß das Litauische in dantis "Zahn" die älteste Bezeichnung des Zahnes (idg. *hId-ont-) bewahrt hat. • lit. smagūs "angenehm" (lett. liksms) gegenüber lett. smags "schwer" (lit. sunkūs). Der Vergleich mit gr. fioyeco "sich abmühen, mit Mühe bestehen, erdulden, erleiden" zeigt, daß die ursprüngliche Bedeutung auf der Seite des Lettischen steht. Für das Litauische ist mit einer Entwicklung "schwer" > "stark" > "gesund, froh" > "angenehm" zu rechnen, deren Etappen in den litauischen Dialekten noch bezeugt sind. • lit. esti "fressen" (lett. kuöst) gegenüber lett. ėst "essen" (lit. välgyti). Zugrunde liegt idg. *h/ed- "essen" (LIV 230-231, IEW 287-289). Hier ist das Lettische altertümlicher als das Litauische. • lit. nökti "(aus)reifen" (lett. briest) gegenüber lett. nākt "kommen" (lit. ateiti). Das Lettische hat die ursprüngliche Bedeutung erhalten. Im Litauischen gibt es noch pranokti "vorausgehen, überholen"; zur Bedeutung "(aus)reifen" vgl. lit. dial. prieiti "reif werden" 39 . Äußere Verknüpfungen (etwa mit ahd. näh "nahe") sind als unsicher zu betrachten. • lit. žagti "beschmutzen" (lett. ķezit) gegenüber lett. zagt "stehlen" (lit. vögti). Ohne klare Etymologie. Das Litauische erhält wohl die ursprüngliche Bedeutung.

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Zu dieser Sippe vgl. besonders Mumm (1999: 295-312). " Vgl. Fraenkel (LEW I 506-507 [1962]).

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KAPITEL II

Es wird meist angenommen, daß das Lettische innerhalb des Ostbaltischen eine modernere Entwicklungsstufe darstellt. Im Bereich des Wortschatzes kommt es oft vor, daß das Litauische altertümliche Bezeichnungen bewahrt, während das Lettische neuert, insbesondere durch Entlehnung. Beispiele: •

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"Tochter": lit. duktė, aber lett. meita. Lit. duktė "Tochter" (vgl. apr. duckti III 674, usw.) setzt die uridg. Bezeichnung der Tochter (< idg. *dhugh,tēr, vgl. aind. duhitä, avest. dugddā, gr. 0uydirļp) fort, während lett. meita aus ahd. meid entlehnt ist. "Preis": lit. käina, aber lett. cena. Lit. käina ist ererbt (< idg. *k"oiH-nā, vgl. avest. kaēnā "Strafe", gr. Ttoivf) "Strafe, Lösegeld", aksl. cena "Preis"), während lett. cena aus russ. cenä entlehnt ist. "Mensch": lit. žmogus, aber lett. cilvąks. Lit. žmogus ist trotz phonetischer und morphologischer Unsicherheiten mit der idg. Bezeichnung des Menschen *(dh)ģllm-0n, die noch in alit. žmuo unmittelbar widergespiegelt war, verwandt. Lett. cilvąks ist aus dem Ostslavischen entlehnt (vgl. russ. čelovėk). "Haus": lit. namas, aber lett. māja. Lit. namas ist trotz der Schwierigkeit des Anlauts wohl mit idg. *domo- in Verbindung zu stellen, während lett. māja aus dem Estnischen maja entlehnt ist. "Schwester": lit. sesuo, lett. māsa. Lit. sesuo ist die alte Bezeichnung der Schwester *suesör (lat. soror, aind. sväsä, usw.), während lett. māsa mit lit. moša "Schwester des Mannes", apr. moazo "Muhme" (ohne weitere Verknüpfungen) verwandt ist. "Sohn": lit. sūnūs, lett. dėjs. Lit. sūnus ist ererbt (vgl. u.a. aind. sūnu-, aksl. sym>, got. sunus). Lett. dęls gehört zu lett. dial. dėt "saugen" (< idg. *dhehl(i)-); das Suffix erinnert an gr. Ofj^uę "weiblich". "Ente": lit. äntis, aber lett. pīle. Die litauische Bezeichnung, die eine Entsprechung im Altpreussischen hat (antis EV 720), ist aus dem Indogermanischen ererbt, vgl. lat. anas "Ente", sl. *ęty "Ente" (russ. ütka, skr. ütva), aind. āti- "ein Wasservogel" (< idg. *h7enh7t-, *h,nh,t-Y°. Das lettische Wort, das eine Entsprechung im Estnischen p/7 hat, beruht nach Endzellns (ME III 232 [1927-1929]) auf einem Lockruf für Enten und Gänse, den er dem Niederdeutschen zuschreibt41. "Getreide": lit. javai (Mask. PI.), aber lett. labība. Lit. javai ist ein uraltes Wort, idg. *ieu-o- (vgl. aind. yäva- "Getreide, Korn, Gerste",

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Dazu s. Rix (1991: 186-198 = 2 0 0 1 : 9 3 - 1 0 5 ) . Vgl. auch Būga (RR II 300 [1922]).

E I N F Ü H R U N G IN DIE B A L T I S C H E D I A L E K T O L O G I E

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gr. ^eid "Spelt", (pUGi^ooq "spelthervorbringend"). Lett. labība ist eine Ableitung von labs "gut" (also "das Gut"). • "Gold": lit. auksas, aber lett. zęlts. Lit. auksas (sowie apr. ausis EV 523) ist uralt (vgl. lat. aurum), während lett. zęlts mit russ. zöloto, skr. zläto, got. gulP "Gold", usw., ursprünglich eine Farbbezeichnung war (vgl. lit. žalias, lett. zaļš "grün", ahd. gelo "gelb"). • "Fichte": lit. pušis, lett. priede. Lit. pušis ist mit apr. peuse (EV 597) ein uraltes Wort (< idg. *peuk- / *puk-, vgl. gr. h8tjkt1, ahd. fiuhtd). Lett. priede ist dunkel; nach ME III 392 [1927-1929] könnte es als Metathese von *piedre gedeutet und mit gr. 7iI5i3co "durchsintern lassen, hervorquellen" etymologisch verknüpft werden. • "rot": lit. raudonas, lett. sarkans. Lit. raudonas gehört zu raudas "rot, rötlich" (< idg. *hlroudh-o-, vgl. lat. rūfus, got. rauPs, usw.); lett. sarkans ist unerklärt. • "jetzt": lit. dabar, aber lett. tagad. Lit. dabar ist wahrscheinlich auf ein altes neutrales heteroklitisches Nomen *dab-ar- zurückzuführen und gehört weiter zur Sippe von dabä "Natur, Art und Weise, Charakter" (= sl. *doba "Zeitpunkt, rechte Zeit"). Spuren eines *r-Stammes liegen noch in *dhob-r-o- vor (lat. faber "Verfertiger, Künstler, Schmied", aksl. dobr-b "gut"). Die Grundbedeutung der Wurzel könnte etwa "passen, eignen" gewesen sein. Lett. tagad ist ein Kompositum aus dem Demonstrativstamm *to- + *god- "Zeit", vgl. sl. *togda "dann" (< *to-goda). • "und": lit. ir, aber lett. im. Lit. ir ist mit der Fragepartikel ar (vgl. lett. ar(i) "auch") verwandt; Schwundstufe weist auch gr. apa, ap, pa "denn, also, eben, gerade" auf. Lett. im ist aus mhd. und entlehnt. • "arbeiten": lit. dirbti, aber lett. strādāt. Lit. dirbti (mit därbas "Arbeit") geht auf eine Wurzel *derb(h)- zurück, die im Germanischen eine ungenaue Entsprechung haben könnte (vgl. *der~p- > aeng. deorf "Arbeit, Mühsal, Gefahr", deorfan "sich anstrengen, arbeiten, in Gefahr sein"), vgl. Smoczyriski (SEJL 114 [2007]). Die Verknüpfung mit aind. drbhāntī "Büschel formend" (Part.Fem.), die im LIV 121 [2001] vorgeschlagen wird, ist unsicher. Lett. strādāt ist aus russ. strādāt' "leiden, sich abmühen, arbeiten" entlehnt. Dieser Eindruck der höheren Altertümlichkeit des Litauischen muß natürlich relativiert werden. Neben unleugbaren Innovationen weist das Lettische auch bemerkenswerte Archaismen auf, die unmittelbar auf das Indogermanische zurückzuführen sind und keine Spur im Litauischen hinterlassen haben, insbesondere im Bereich des Wortschatzes. Aus

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K A P I T E L II

einem Aufsatz von Ademollo-Gagliano (1998: 347-357) seien folgende Beispiele angeführt: •

"Unkraut": lett. dial. aires, aber lit. svidrė. Lett. dial. aires stammt aus idg. *h2ei-ro- und hat in aind. klass. erakä- "eine Art Kraut" sowie gr. alpa "Unkraut" genaue Entsprechungen. Lit. svidrė ist wohl mit lit. svidüs "glänzend" (?) verwandt. • "Blut": lett. asins, aber lit. kraujas. Lett. asins ist ein uraltes Wort: idg. *hleshJ-r/n- "Blut" (vgl. aind. äsrk, heth. ešhar, gr. elap, lat. asser). Lit. kraüjas (sowie apr. crauyo EV 160, usw.) setzt idg. *kreuh2-io"blutiges Fleisch" (Nt.) fort (vgl. aksl. kr-bVb "Blut", aind. kravyäm "Fleisch"). • "Mündung eines Flußes": lett. grīva, aber lit. žiotys (Fem.Pl.). Lett. grīva ist uralt (< idg. *gvriHuā, vgl. aind. grīvā "dss."). Lit. žiotys ist mit lit. ziöti "offen sein, gähnen" (vgl. lat. hiāre) verwandt. • "Kuh": lett. gūovs, aber lit. karvė. Lett. güovs ist die alte Bezeichnung der "Kuh" und des "Ochsen" (< idg. *guou-s, vgl. aind. gäu-, gr. ßouc;, lat. bös "Ochse, Kuh"). Lit. karvė ist eine Neuerung, die eine Parallele im Altpreussischen (apr. curwis "Ochse") und im Slavischen (z.B. skr. krāva "Kuh") hat. Ursprünglich ist es wohl zu idg. *ker(h2)uo- "Hornvieh" (lat. ceruus "Hirsch") zu stellen. • "früh": lett. agrs (Adj.), agri (Adv.), aber lit. ankstas (Adj.), anksti (Adv.). Lett. agrs stammt aus idg. *h2eg-ro-, vgl. aind. agram "Gipfel, Anfang", avest. agram "Anfang" (aber heth. hegur "Felsenheiligtum" ist wohl ein Lehnwort aus dem Sumerischen, vgl. Kloekhorst 2008: 339). Lit. ankstas "frühzeitig", anksti "früh" (vgl. apr. angstainai "früh morgens") wird gewöhnlich als Erbwort betrachtet und u.a. mit aind. ähjasä "stracks, direkt" verglichen. In Petit (2005a: 141-156) habe ich ankstas "frühzeitig" auf eine Vorform *ansta- mit k-Einschub zurückgeführt und diese Form *ansta- aus *ant-sta- zu einem Verb *ant-stä- "beginnen" (niederlit. ant-stöti) hergeleitet. • "saugen": lett. dial. dėt, aber lit. žįsti. Lett. dial. dėt geht auf idg. *dhehj(i)- zurück (vgl. aind. dhäyati "saugen"); lett. dęls "Sohn" ist bildungsmäßig mit gr. 0fįX,uę "weiblich" zu vergleichen. Lit. žįsti (< *žind~) ist seinerseits dunkel und auf keinen Fall zu gr. veoyiXA,6ę "sehr jung" (< *yi0A,oę?) zu stellen. Manchmal bewahrt das Lettische Wörter, deren Entsprechungen im Altlitauischen noch bezeugt waren, in der heutigen litauischen Sprache

E I N F Ü H R U N G IN DIE BALTISCHE DIALEKTOLOGIE

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aber verschwunden sind oder ihre Bedeutung verändert haben. Hierfür zwei Beispiele: •

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"Leber": lett. aknas (Fem.Pl.), aber lit. kepenys. Lett. aknas (vgl. apr. lagno für *iagno EV 125) ist ein uraltes Wort *jaknās (< idg. *(H)iokv-n-, vgl. lat. iecur, aind. yäkrt, gr. rjrcap), das auch im Altlitauischen jeknos belegt war. Im heutigen Litauisch hat sich die wohl auf der Küchenterminologie beruhende Innovation kepenys "Leber" durchgesetzt (zu lit. kepti "kochen", Parallelbildung in russ. pėčen' "Leber" z u p e č ' "kochen"). Die heutige Bezeichnung ist seit dem 17. Jahrhundert zuerst in Ostpreussen bezeugt. "Kind": lett. bērns, lit. vaikas. Lett. bērns ist eine alte Bezeichnung des von der Mutter getragenen Kindes (< idg. *bher-nom "was getragen wird" mit demselben Suffix wie gr. TŠKVOV, vgl. got. barn). Alit. bernas hatte noch dieselbe Bedeutung "Kind". Heute wird bernas nur noch in der Bedeutung "Bauernknecht" verwendet. "Kind" heißt lit. vaikas (wohl zu viekas "Stärke"?).

Diese Beispiele zeigen wohl deutlich genug, daß das Lettische, das allzuoft von den Indogermanisten vernachlässigt wird, Besseres verdient, als für eine Nebenlinie des Ostbaltischen gehalten zu werden. 5. Die litauischen

Dialekte

Die letzte Etappe des Stammbaums, die ich nun darstellen möchte, sind die verschiedenen Dialekte der beiden ostbaltischen Sprachen. Die Kenntnis der dialektologischen Situation in Litauen und Lettland ist für die Indogermanisten von größter Bedeutung, denn schon die ältesten litauischen und lettischen Denkmäler sind durch dialektale Züge so stark ausgeprägt, daß es einfach unmöglich ist, vom Litauischen oder vom Lettischen überhaupt zu sprechen, ohne ihre Dialekte zu berücksichtigen. Und diese sind so verschieden, daß man zunächst nach Kriterien suchen muß, die eine Unterscheidung der Hauptgruppen ermöglichen. Innerhalb der litauischen Sprache sind zwei Hauptdialekte zu trennen, das Hochlitauische (jetzt meist im zentralen und östlichen Teil Litauens) und das Niederlitauische (jetzt hauptsächlich im westlichen Teil Litauens) 42 . Der Klarheit halber ziehe ich die hier angeführten Be42

Aus der litauischen dialektologischen Literatur seien insbesondere die Standardwerke von Zinkevičius (1966,1994) genannt. Ich folge hier der nun allgemein akzeptierten

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KAPITEL II

Zeichnungen (Hochlitauisch und Nieder litauisch) den in der deutschsprachigen Sekundärliteratur gelegentlich verwendeten Termina aukschtaitisch und schemaitisch (žemaitisch) vor, die aus dem Litauischen aukštaičių und žemaičių tarmės übersetzt sind. Die litauischen Bezeichnungen sind deutlich von den Adjektiven aukštas "hoch" und žemas "nieder" abgeleitet, so daß eine Übersetzung möglich ist. Die Unterscheidung dieser zwei Hauptdialekte ist alt. Sie geht mindestens auf einen Brief vom Großfürsten Litauens Vytautas am 11. März 1420 zurück, wo die Hochlitauer Auxstote, die Niederlitauer Szomoyth genannt und ihre Benennungen explizit mit den litauischen Adjektiven für "hoch" und "niedrig" verbunden werden. In geographischer Hinsicht treffen diese Bezeichnungen nicht ganz zu: Das Zentrum des niederlitauischen Gebiets liegt ja um die Stadt Telšiai, die höher als die hochlitauischen Gebiete gelegen ist. Die Grenze zwischen beiden Dialektgruppen verläuft etwa vom Norden zwischen Klykoliai und Žagarė südlich in der Richtung nach Raseiniai, dann nach Westen um Eržvilkas, Tauragė, etwas südlich von Šilutė bis zur Ostseeküste. Unterschiede zwischen dem Hochlitauischen und dem Niederlitauischen können in allen Bereichen gefunden werden. Zunächst im Bereich der Phonologie: •

Die wichtigste Trennunglinie wird durch das sogenannte "Affrikatengesetz" gezeichnet43. Dieses besagt in der klassischen Formulierung, daß gemeinlitauische Gruppen *-tja- (< idg. *-tio~) bzw. *-dja- (< idg. *-d hochlit. jaučiams / niederlit. /cw^tmv, Dat.Pl. *medjamus (von mēdis "Baum") > hochlit. medžiams / niederlit. mėdems, cf. auch *svetjas "Gast" (< idg. *sue-tios) > hochlit. svečias / niederlit. svėtes. Die Benennung "Affrikatengesetz" darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, daß es sich um eine Erscheinung handelt, die den Vokalismus betrifft und sich folgenderweise formulieren läßt: Im Niederlitauischen wird eine Sequenz *-ja- zu *-je-, dann zu *-e- mit regelmäßigem Schwund von *-j- vor *e. Unter solchen Bedingungen ergibt eine Sequenz *-tja- zunächst *-tje-, dann *-te-, wobei die Ent-

Klassifikation der Dialekte von Girdenis und Zinkevičius (1967: 139-147); s. auch Zinkevičius (RS 1 365-380 [1969]). 41 Zum Affrikatengesetz vgl. insbesondere Grinaveckis (1963: 74-97).

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wicklung von Affrikaten nicht mehr möglich war. Dies bedeutet nicht, daß das Niederlitauische keine Affrikate besitzt44: Man hat dort z.B. im Genitiv Plural der *-iio-Stämmejäucu (von jäutis "Ochse" / hochlit .jäutis, Gen.Pl .jaučių), bzw. mēdzu (von mēdis "Baum" / hochlit. medis, Gen.Pl. medžių) aus *jautjön, *medjön gegenüber Dat.Pl.jäutems, bzw. mēdems aus *jautjamus, *medjamus. In vielen morphologischen Klassen verursachte das Affrikatengesetz im Niederlitauischen Konsonantenwechsel, die im Stammausgang zum Teil toleriert wurden (z.B. Gen.Pl. jauč-u / Dat.Pl. jäut-ems), zum Teil örtlich durch die Beseitigung aller Affrikate korrigiert wurden, insbesondere in den sogenannten "küstenniederlitauischen" Dialekten (lit. pajūrio žemaičiai), z.B. in Plungė: Gen.Pl. jäut-u nach dem Dat.Pl. jäut-ems. Es wird angenommen, daß die Entwicklung von Affrikaten im Hochlitauischen (vielleicht auch unabhängig im Niederlitauischen) zwischen den 13. und 15. Jahrhunderten eintrat, denn sie betrifft auch Lehnwörter wie russ. kutjä > lit. kūčios "Weihnachtsabend", die nicht früher als im 13. Jahrhundert entlehnt werden konnten. Die niederlitauische Entwicklung von *-ja- > *-je- > *-e- muß demnach auf ein früheres Datum (etwa 12. Jhr.?) zurückverschoben werden. • Im Bereich des Vokalismus trennen sich das Hochlitauische und das Niederlitauische hauptsächlich durch die Entwicklung des Langvokals *ö und des Diphthongs *ei45. Im Gemeinlitauischen wurden beide Phoneme parallel als *ö und *ē korreliert (mit Monophthongierung im zweiten Fall). Im Hochlitauischen wurden sie später zu uo und ie diphthongiert, wie im Lettischen, während sie im Niederlitauischen verschiedene Entwicklungen erlitten: *ū und *ī (im Südosten: Raseiniai), *ou und *ei (im Nordwesten: Telšiai), *ö und *ē (im Westen: Klaipėda). Paradebeispiele sind *dönä "Brot" (< idg. *dhoHneh„ vgl. aind. dhānāh "Getreide", toch. B. täno "Korn") und *pēinas "Milch" (Hochstufe zu *peiH- "anschwellen", vgl. aind. päyas"Milch"). Sie ergeben hochlit. düona und pienas / niederlit. du na und pi'ns (Südosten), douna und pęins (Nordwesten), dö'na u n d p e n s (Westen). Nach dem ersten Beispiel werden die niederlitauischen Dialekte traditionsgemäß dūnininkai (Südosten), dounininkai (Nordwesten) und donininkai (Westen) genannt. Um diese Entwicklungen zu erklären, haben viele Wissenschaftler seit Kazimieras Jaunius angenommen, daß die dönininkai-Dialekte (mit *ö und *ē) den ursprüngli44 45

Zinkevičius (1994: 88-89). Vgl. Kazlauskas (RR II 152-158 [1969]).

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K A P I T E L II

chen Zustand widerspiegeln, während die anderen Dialekte eine Schließung zu *ü und *f oder Diphtongierungen zu *ou und *ei, bzw. im Hochlitauischen zu uo und ie aufweisen. Nebenbei sei bemerkt, daß die dounininkai-Zom dem ehemaligen kurischen Territorium entspricht. Es könnte sich somit um eine Substraterscheinung handeln. Die Kurzvokale *u und */ werden bei den meisten Niederlitauern als *o und *e ausgesprochen, z.B. bo.va "er war" (buvo), lę.ktę "lassen" (likti), außer wenn sie aus ursprünglichen Langvokalen *ü und *f im Auslaut stammen. Diese Entwicklung ist älter als die Kürzung auslautender stoßtoniger Langvokale (Leskiensches Gesetz); dieses ist somit als eine unabhängige Erscheinung im Hochlitauischen und im Niederlitauischen zu werten. Man hat z.B. im Nom.Sg. sunos "Sohn" (aus *sünüs) gegenüber Akk.Pl. sunus (aus *sünüs). Im Hochlitauischen sind die Formen abgesehen von der Betonung homonym (Nom.Sg. sūnūs und Akk.Pl. sūnus). Die Öffnung von *u, *i zu *o, *e könnte mit dem kurischen Substrat in Verbindung gestellt werden. Monophthongierung von *ai zu *ä, z.B. vaks "Kind" (vaikas).

Im Bereich der Morphologie sind folgende Züge zu nennen: •

Die Adjektive auf *-us, die im Hochlitauischen sehr produktiv sind, sind im Niederlitauischen außerhalb des Nominativ Singular zu *-(i) y'a-Adjektiven geworden, vgl. z.B. Akk.Sg. Mask. plati (< *plat-īn < *-ijan) / hochlit. platų (: platūs "breit"). Das Niederlitauische stimmt bei dieser Erscheinung mit dem Lettischen überein, vgl. lit. gilūs "tief' / lett. dziļš (< * gi Ijas). • Für das Pronomen der dritten Person verwenden die meisten niederlitauischen Dialekte den Stamm *ana- (> Mask. ons, Fem. änä) im ganzen Paradigma (vgl. noch z.B. Dat.Sg. Mask. anäm). Die litauische Schriftsprache, wie die meisten hochlitauischen Dialekte, verwendet dagegen einen anderen Stamm *ji- (lit. jis, Fem. ji < idg. *is, vgl. lat. is, got. is). Die östlichen Dialekte des hochlitauischen Gebiets weisen ein Mischparadigma auf, mit *ana- im Nominativ, mit */'/'- in den anderen Kasus (Nom.Sg. anäs, Gen.Sg.jö). Dieses Paradigma erinnert an das Slavische (aksl. Nom.Sg. om>, Gen.Sg. jego). Zinkevičius (1989: 6) nimmt hier slavischen Einfluß an. • Die halbthematische Flexion ist mit der thematischen zusammengefallen, z.B. sukū, Pl.l. sūkame "drehen" / tikiū, Pl.l. tikime "glauben" > niederlit. soku, teku, Pl.l. šokam, tękam. Dies läßt sich wahrschein-

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lieh durch die im Niederlitauischen eingetretene Homonymie der dritten Personen sok, tek aus *suka, bzw. *tik-i (hochlit. süka, tiki) erklären. Daß die dritte Person in einer morphologischen Entwicklung als Scharnierform fungieren kann, ist typologisch wohlbekannt. Der sogenannte Frequentativ (oder Gewohnheitsimperfekt), der im Hochlitauischen synthetisch mit dem Suffix *-davo gebildet wird (z.B. rašydavo "er pflegte zu schreiben"), wird im Niederlitauischen periphrastisch mit dem Hilfsverb liuobėti (ursprünglich "lieben") + Infinitiv oder Indikativ Futurum ausgedrückt 46 , z.B. in Papilė: loubo döute "ich pflegte zu geben" (hochlit. duodavau) oder in Kuršėnai: lü.bu kürsu ügni "ich pflegte Feuer anzumachen" (hochlit. kurdavau ugnį).

Unterschiede liegen auch im Bereich der Syntax vor. Als Beispiel sei die Konstruktion der Präposition päs "bei" + Genitiv (hochlit. + Akk.) genannt. Schließlich sind lexikalische Unterschiede sehr zahlreich. Es kommt oft vor, daß das Niederlitauische eher mit dem Lettischen als mit dem Hochlitauischen übereinstimmt. Beispiele47: •

•

•

hochlit. akmuö "Stein" / niederlit. kālis. Die Neuerung liegt auf der Seite des Niederlitauischen. Niederlit. kūlis wird gewöhnlich mit der Wurzel von lit. skelti "spalten" verknüpft; man denkt auch an poln. skala "Stein, Fels". In semantischer Hinsicht ("spalten" > "Fels") läßt sich z.B. lat. saxum "Fels, Stein" / seeäre "schneiden" vergleichen (vgl. Fraenkel LEW I 307 [1962]). Hochlit. akmuö ist wie lett. akmens ererbt (< idg. *h^ek-mön, vgl. aind. äsmä "Stein", gr. aKjicov "Amboß"). hochlit. äntis "Ente" / niederlit. pylė. Die hochlitauische Bezeichnung ist ererbt (vgl. lat. anas "Ente", usw. < idg. *h2enh2t~). Niederlit. pylė stimmt mit lett. pīle überein, s. oben. hochlit. käimas " D o r f ' / niederlit. sodä. Hochlit. käimas " D o r f ' ist trotz allem Anschein wohl nicht zu got. haims "Dorf' zu stellen, sondern könnte als eine Ableitung der Wurzel *kvieh1- "ausruhen" (LIV 393-394, IEW 638, vgl. lat. quiescö) mit sekundärer Vollstufe I wie im Slavischen (aksl. pokoiti "beruhigen") gedeutet werden. Grundform also *kvoihrmo- (so Fraenkel LEW I 251 [1962], Smoczynski 46 47

Vgl. Vitkauskas (1961: 157-166), Zinkevičius (1966: 357-359, 1994: 104). Vgl. LKTC (2004: 203).

40

•

•

•

•

• •

K A P I T E L II

SEJL 284 [2007]). Niederlit. sodä ist von sėdėti "sitzen" mit Ablautentgleisung abgeleitet. hochlit. üodas "Moskito" / niederlit. kuisis. Hochlit. üodas gehört mit lett. uöds zu lit. esti "fressen", lett. ėst "essen", s. oben. Niederlit. kuisis ist wohl als kurisches Wort mit apr. tussis (EV 783, wohl als * c ussis zu lesen) zu verknüpfen; Herkunft unsicher. hochlit. vieversys "Lerche" / niederlit. cyrulis. Hochlit. vieversys hat eine Entsprechung im Altpreussischen (apr. werwirsis "Lerche" EV 733); es handelt sich wahrscheinlich um ein Schallwort. Niederlit. cyrulis (vgl. lett. cīrulis) ist ebenfalls wohl ursprünglich Schallwort. hochlit. kuosa "Dohle, Turmkrähe" / niederlit. kovārnis. Hochlit. küosa stimmt mit alett. kuosa (Mancels) überein; apr. kote "Dohle" (EV 724: *kose7) steht ferner. Ohne Etymologie (Schallwort?). Niederlit. kovārnis erinnert an skr. kävrän "Rabe", vgl. lit. varnas "Rabe", värna "Krähe". Zugrunde liegt ein Kompositum *kova-varni~. Das erste Teil ist lit. kövas "Dohle", das mit sl. *kava "Dohle" (apoln. kawa, tsch. kavka) verwandt ist. Lit. kövas ist auch die Bezeichnung des Monats "März". In dieser Bedeutung stellt es sich zu kovöti "kämpfen" (vgl. lat. Martius), wurde aber mit kövas "Dohle" volksetymologisch in Verbindung gestellt. hochlit. arüodas "Speicher" / niederlit. miegä. Hochlit. aruodas ist wahrscheinlich wie lett. aruöds "Fach in Klete, Kornkasten" als ein altes Kompositum anzusehen. Im ersten Glied steht *arüs "Getreide" (vgl. lat. aruum, gr. äpoupa "Ackerland"); das zweite Element -das ist wohl postverbal zu lit. dėti "stellen, legen". Niederlit. miegä gehört zu lit. miegti, mygti "drücken, pressen, quetschen". Dazu auch lit. miegas "Schlaf' (< "die Augen zudrücken", vgl. aksl. pomėžiti "die Augen schließen"). hochlit. kėblinti "langsam gehen, sich schleppen" / niederlit. ciöbrinti. Ohne Etymologie. hochlit. dangstyti "decken" / niederlit. danguoti. Verschiedene Suffixbildungen. Zugrunde liegt lit. dengti "decken".

Es kommt nicht selten vor, daß dieselben Wörter verschiedene Bedeutungen im Hoch- und Niederlitauischen haben. Beispiele: •

hochlit. brėkšti "anbrechen (Tag)" / niederlit. "untergehen (Sonne)". Ursprünglich war das Verb ambivalent. Es gehört wohl zur Sippe von aksl. (po)brezg-b "Morgendämmerung". Ferner lassen sich aind.

E I N F Ü H R U N G IN DIE BALTISCHE DIALEKTOLOGIE

•

• •

41

bhrāšate "flammt, leuchtet" und got. bairhts "hell, glänzend" vergleichen. hochlit. gröbai "Rippe" / niederlit. "Darm". Das Wort gehört mit Ablautentgleisung zu lit. grebti "rechen, harken, unter Anwendung von Gewalt ergreifen, sich gewaltsam aneignen, rauben"48. Man denkt insbesondere an lett. dial. grābs "Wurst" (ME 1 643 [1923-1925]). hochlit. kriokti "heulen, brüllen" / niederlit. "weinen". Wohl ursprünglich Schallwort. hochlit. smagūs "gemütlich, angenehm" / niederlit. "schwer". Das Niederlitauische "schwer" bewahrt hier die ursprüngliche Bedeutung (vgl. lett. smags "schwer"), s. oben S. 31.

Die Trennung der hoch- und niederlitauischen Dialekte ist alt. Antanas Salys datierte sie in die Mitte des 15. Jahrhunderts und begründete seine Meinung mit dem sogenannten Affrikatengesetz, dessen ersten Spuren nicht früher als im 15. Jahrhundert in deutschsprachigen Urkunden bezeugt sind. Diese Hypothese muß aber abgelehnt werden, denn, wie wir gesehen haben, ist das Affrikatengesetz wahrscheinlich eine unabhängige Erscheinung im Hoch- und Niederlitauischen und somit bildet sie keine feste Trennungslinie zwischen beiden Gruppen. Nach Girdenis (KD I 204-210 [1971]) ist ein früheres Datum wahrscheinlicher, etwa zwischen dem 13. und dem 15. Jahrhundert. Im hochlitauischen Gebiet sind Dialektgrenzen schwieriger zu bestimmen. Traditionsgemäß werden drei Hauptzonen unterschieden: eine westliche, eine südliche und eine östliche. Der wichtigste Unterschied zwischen diesen drei Zonen ist folgender 44 : •

In der westlichen Zone, zu der auch die Schriftsprache gehört, blieben die Sequenzen an, am, en, em und die ursprünglich nasal ausgesprochenen, heute zu einfachen Langvokalen gewordenen Vokale q [a:], ę [e:] erhalten (z.B. ranka "Hand", menkas "minderwertig", žąsis "Gans", tęsia "ausdehnen" 3. Pers.). In der südlichen Zone sind nur an, am, en, em erhalten geblieben, die Vokale q, ę hingegen zu ų [u:], / [i:] geworden (z.B. ranka, menkas, aber žūsis, tysia). In der östlichen Zone sind an, am, en, em, bzw. q [a:], ę [e:] zu un, um, in, im, bzw. ų [u:], /' [i:] geworden (z.B. runkā, minkas, žūsis, tysia). Diese Entwicklung war schon vor dem Anfang des 13. Jahrhunderts vollzogen, wie 4X 49

Vgl. Fraenkel (LEW 1 165-166 [1962]). Zinkevičius (RS 1 3 1 4 - 3 1 9 [1972], 1994: 24- 25).

42

KAPITEL II

aus Personennamen wie Višimuntb und Kintenii (* Visimuntas und Kintenis = Višimantas und Kentēnis) in einer russischen Chronik aus dem Jahr 1219 hervorgeht50. Tabelle 1. Die altlitauischen Texte Autor

Text

Anonym

Datum

Dialekt

Ausgabe

• 3 Gebete: Teve mvsu, um 1503 Swyeyka maria, (Tractatus Czykyv yngi dzewa Sacerdotalis) thyawa

Südlicher HL-Dialekt (mit Dzükierung)

Lebedys (1972: 1 2 1 - 5 4 )

Martynas Mažvydas (um 15101563)

• Catechismusa prasty szadei • Giesme S. Ambraszeijaus bey S. Augustina •Forma Chrikstima

1547

Südlicher NL-Dialekt (+ HL. Färbung)

Michelini (2000)

Anonym

• Wulfenbütteler Postilla

1573

Gemischt: Südlicher NL-Dialekt (+ HL. Färbung)

Karaciejus (1995) Gelumbeckaitė (2008)

Baltramiejus Vilentas (um 15251587)

• Evangelias tolas

bei epis-

1579

Westlicher HL-Dialekt (+ NLFärbung)

Ford (1970)

Jonas Bretkūnas (1536-1602)

• Giesmes

Duchaunas

1589

Westlicher HL-Dialekt (Ostpreussen) (+ apr. Einfluß)

Michelini (2005) Scholz, Range (1991a, 1996) Aleknavičienė (2005)

Mittlerer HL-Dialekt (Kėdainiai)

Jakštienė, Palionis (1995) Palionis (2000)

Mittlerer HL-Dialekt (Kėdainiai)

Jablonskis (1939)

1549

1559

• Biblija

1590

• Postilla

1591

Mikalojus Daukša (zwischen 1527 und 1538-1613)

•

1595

Merkelis Petkevičius (um 1550-

• Polski z litewskim

5,1

Kathechismas

•Postilla

Catholicka

1599

1598 katechizm

Nach Zinkevičius (RS 1 100 [1989]) könnte die Entwicklung sogar um die 9. -10. Jahrhunderte erfolgt sein.

E I N F Ü H R U N G IN DIE BALTISCHE DIALEKTOLOGIE

43

Tabelle 1. Kont. Autor

Text

Datum

Jokūbas Morkūnas (um 1550nach 1611) Simonas Vaišnoras (um 15451600) Anonym

• Pos tilla Lietuwiszka

1600

Westlicher HL-Dialekt (Ostpreussen)

• Žemczuga Theologischka

1600

Westlicher HL-Dialekt (Ostpreussen)

Michelini (1997)

•

1605

Östlicher HL-Dialekt (mit an, en > un, in) Östlicher HL-Dialekt (mit an, en > un, in)

Sittig (1929)

Kathechismas

Dialekt

Ausgabe

Konstantynas Sirvydas (zwischen 1578 und 1581-1631)

• Dictionarium trium linguarum • Punktai Sakymų

Jonas Jaknavičius (1589-1668)

•Ewangelie y Litewskie

Anonym

• Kniga Nobaznistes kriksčion iszkos

1653

Mittlerer HL-Dialekt (Kėdainiai)

Pociūtė (2004)

Danielius Kleinas (1609-1666)

• Grammatica Lituana • Compendium LitvanicoGermanicum

1653 1654

Westlicher HL-Dialekt (Ostpreussen)

Kruopas (1957)

Samuelis Chylinskis (um 16341668) Philipp Ruhig

•Biblia

1664

Mittlerer HL-Dialekt (Kėdainiai)

• Betrachtung der littauischen Sprache

1747

Westlicher HL-Dialekt (Ostpreussen)

Anonym

• Ziwatas Pona yr Diewa Musu Jezusa Christusa

1759

Nordlicher NL-Dialekt (Kretinga)

Kristijonas Donelaitis (1714-1780)

• Metai

um 17651775

Westlicher HL-Dialekt (Ostpreussen)

Kudzinowski (1958,1984) Kavaliūnaitė (2008) Jurgutis, Vilnonytė (1986) Girdenis, Skirmantas (1998) Korsakas (1977)

Ludwig Rhesa (1776-1840)

• Dainos oder Litthauische Volkslieder

Polskie

1620(1),

1642 (3) 1629 (1 .Teil), 1644 (2.Teil) 1647 Östlicher HL-Dialekt (mit an, en > un, in)

(1675-1749)

(hrsg. 1818) 1825

Westlicher HL-Dialekt (Ostpreussen)

Pakalka (1997), (1979) Specht(1929)

Lučinskienė (2005)

Jurginis, Kmitas (1958)

44

KAPITEL II

Tabelle 1. Kont. Autor

Text

Datum

Dialekt

Ausgabe

Simonas Stanevičius (1799-1848)

• Darnas

1829

Westlicher NL-Dialekt

Lebedys(1954)

Simonas Daukantas (1793-1864)

• Darbai senųjų lietuvių ir Žemaičių

1822

NL-Dialekt

Korsakas (1976)

Antanas Baranauskas (1835-1902)

•Anykščių

1858-1859

Östlicher HL-Dialekt

Mikšytė (1995)

Zemaycziu

šilelis

Eine andere Erscheinung, die bei der Unterscheidung der hochlitauischen Dialekte eine wichtige Rolle spielt, ist die sogenannte "Dzükierung" (lit. dzūkāvimas), d.h. die Palatalisierung der Dentale *t und *d zu Affrikaten *c und *dz in der Stellung vor e und i. Diese Entwicklung ist charakteristisch für die südlichen hochlitauischen Dialekte (z.B. in Druskininkai, an der südlichen Grenze zu Polen: cik "nur" < tik, dzig'el'Ts "groß" < didelis). Es ist anzumerken, daß die Nachbarsprachen, das Polnische und das Weißrussische, ähnliche Entwicklungen aufweisen (z.B. poln. dzieh, weißruss. dzenb "Tag") 51 . Die Unterscheidung all dieser Dialekte trat vor dem Anfang des Schriftums ein, so daß die ersten Texte schon im 16. Jahrhundert dialektal ausgeprägt waren. Jeder altlitauische Text muß also in erster Linie dialektologisch analysiert werden, bevor man seine Relevanz für die Frühgeschichte der litauischen Sprache bewerten kann. In der Tabelle 1 werden einige der wichtigsten altlitauischen Texte mit ihrer dialektalen Zugehörigkeit aufgelistet. 6. Die lettischen

Dialekte

Auch im lettischen Gebiet sind dialektale Unterschiede ziemlich stark. Traditionsgemäß werden zwei Hauptdialekte getrennt52: • •

das Niederlettische (lejzemnieku dialekts), das das Livische (lībiskais dialekts) und das Mittellettische (vidus dialekts) umfaßt. das Hochlettische (augšzemnieku dialekts).

^ Zur "Dzukierung" in den litauischen Dialekten s. grundsätzlich Zinkevičius (RS 1 338 346 [1987]). 52 Vgl. Gäters (1977: 12-13). S. auch Salys (1985: 48).

E I N F Ü H R U N G IN DIE BALTISCHE DIALEKTOLOGIE

45

Die Unterscheidung beider Hauptzweige ist alt. Sie wurde durch die Tatsache verstärkt, daß bis zum Ende des 18. Jahrhunderts das hochlettische Gebiet von Polen (sog. Inflanty Polskie), die anderen Teile Lettlands von deutschen Besiedlern besetzt wurden, was insbesondere im Wortschatz unterschiedliche Auswirkungen hatte. Das Hochlettische, das im Ost-Vidzeme und in Latgalen gesprochen wird, wird gewöhnlich in zwei Dialektgruppen zergliedert, indem man die sogenannten "selischen" Dialekte (sēliskās izloksnes) und die sogenannten "unselischen" oder "latgalischen" Dialekte (nesēliskās jeb latgaliskās izloksnes) unterscheidet. Es wird auch eine andere Verteilung vorgeschlagen, zwischen den sogenannten "tiefen" östlichen Dialekten (dziļās jeb austrumu izloksnes) und den sogenannten "untiefen" westlichen Dialekten (nedziļās jeb rietumu izloksnes). Von den anderen lettischen Dialekten weicht das Hochlettische durch zahlreiche Züge ab53. Im Bereich der Phonologie: • • • • • •

Das Hochlettische hat den Unterschied zwischen dem Dehnton und dem Fallton zugunsten des Falltons eingebüßt. Die offenen Vokale ę und f werden zu a und ā : z.B. vęcs "alt" > vacs, dels "Sohn" > däls. Der geschlossene Vokal ē wird zu offenem ē oder gar zu einem Diphthong ie: z.B. mēle "Zunge" > mēle [masle] oder miele. Der Vokal a wird zu o vor velarem Vokal: z.B. maza "klein" Fem. > moza. Der Langvokal ā wird zu ö, wie im Litauischen, oder zu uo: z.B. äda "Haut" > öda (vgl. lit. öda) oder uoda. Die Langvokale ī und ü werden zu ei und yu, eu, ou diphthongiert: z.B. vīrs "Mann" > veirs, lūpa "Lippe" > lyupa, leupa, loupa.

Im Bereich der Morphologie: •

Die Ordinalia folgen der unbestimmen Flexion (in den anderen Dialekten folgen sie der bestimmten Flexion): z.B. uotrs "zweiter" (schriftlett. üotrais). Es ist trotzdem zu bemerken, daß die hochlettischen Dialekte regelmäßig die bestimmte Flexion für die Ordinalzahl "erster" (pirmais, pyrmäis) verwenden. Dieser Unterschied stellt m.E. eine altertümliche Erscheinung dar: Das Altpreussische weist eine ähnliche Verteilung auf (vgl. III 275: stas pirmois pallaips "das erste

" Vgl. Gātcrs (1977: 19-20), Smoczynski (1988: 880-881).

46

KAPITEL II

Gebot" gegenüber s tas antars pallaips "das zweite Gebot", stas tirts pallaips "das dritte Gebot")54. • Das Hochlettische bewahrt z.T. die alte Präteritalbildung auf *-ē, die die anderen Dialekte zugunsten der Bildung auf *-ā verloren haben: z.B. vedęm "wir führten" (lett. vedäm). • Im Futurum der Verben, die auf Sibilante oder Dentale auslauten, wird im Unterschied zu den anderen Dialekten kein Vokal ī eingeschoben: z.B. essam "wir werden essen" < *ēd-s-am (schriftlett. ed-is-im). Innerhalb des Hochlettischen verläuft, wie gesagt, eine Trennungslinie zwischen dem Seiischen und dem Latgalischen. Beide Gruppen werden hauptsächlich durch den folgenden Zug unterschieden: Der steigende Stoßton des Seiischen entspricht dem Brechton des Latgalischen. Eine andere Klassifikation stützt sich insbesondere auf der Behandlung von ie und wo, die in den sogenannten "tiefen" Dialekten monophthongiert, in den sogenannten "untiefen" Dialekten nicht monophthongiert werden (z.B. sieva / sīva "Frau", ruoka / rüka "Hand") 55 . Beide Trennungslinien kreuzen sich. Neben dem Hochlettischen sind zwei andere Dialektgruppen innerhalb der lettischen Sprache zu nennen, das Livische (lībiskais dialekts) und das Mittellettische (vidus dialekts). Beide Gruppen werden oft aufgrund ihrer Nähe in einer größeren Einheit, dem Niederlettischen (lejzemnieku dialekts), zusammengefaßt. Das Livische, das im Norden und Nordwesten Kurlands und im Nordwesten Livlands an der Ostseeküste gesprochen wird, wird auch "tahmisch" (aus tām "bisher" statt līdz tam oder līdz šim) genannt. Es hat sich als lettischer Dialekt auf dem Substrat der livischen Sprache, einer ostseefinnischen Sprache, die einst an der Ostseeküste gesprochen wurde und heute so gut wie völlig verschwunden ist, entwickelt. Es wird durch folgende Züge gekennzeichnet 56 : • •

Die kurzen Endsilbenvokale fallen mit Ersatzdehnung, z.B. zēm "Erde" < zeme, däb "Natur" < daba. Die Sequenzen au und av werden zu ow und ov: z.B. loüks "Feld" < lauks.

54 55 56

Vgl. Parenti (1995: 83-84). Vgl. Rudzīte (1964: 259-260). Vgl. Gäters (1977: 17-19).

E I N F Ü H R U N G IN DIE B A L T I S C H E D I A L E K T O L O G I E

• • • •

47

Verlust des Genus Femininum zugunsten des Maskulinum, wahrscheinlich unter ostseefinnischem Einfluß. Verlust der *u-Stämme zugunsten der *ja-Stämme. Verallgemeinerung der 3. Person des Verbs für alle Personen: z.B. es zin "ich weiß" (lett. es zinu), mes grib "wir wollen". Verlust des Supinums (Bildung auf -tu).

Das Mittellettische, das in Mittellettland gesprochen wird, hat sich auf zemgalischem, bzw. kurischem Substrat entwickelt. Es wird durch folgende Züge gekennzeichnet: •

• •

In einigen mittellettischen Mundarten ist ein dreifaches Intonationssystem (Schleifton ['], Stoßton [~] und Brechton [A]) erhalten geblieben, insbesondere in der Gegend um Valmiera, deren Dialekt als Grundlage der lettischen Schriftsprache gewählt wurde. Verlust der Präterita auf *-ē zugunsten der Präterita auf *-ā; dies auch in der Schriftsprache. Bei den präverbierten Reflexivverben tritt die Partikel immer ans Ende der Form (P-V-R), wie in der Schriftsprache (z.B. sa-tikä-s "sie trafen sich" gegenüber hochlett. sa-sa-tyka [P-R-V] wie im Litauischen su-si-tiko).

Innerhalb des Mittellettischen nehmen die sogenannten kurischen Mundarten eine Sonderstellung ein, indem sie Eigentümlichkeiten aufweisen, die sie von allen anderen Mundarten entfernen. Beispiele: •

• •

Der Vokal u bleibt in diesen Dialekten vor b und v erhalten, während er in den anderen mittellettischen Dialekten zu i wird, z.B. dubęns "Boden" (sonst, auch schriftsprachlich dibęns). Die /-Stämme werden in der Regel zu e-Stämmen, z.B. zuve "Fisch" (lett. zivs). Die Präteritalbildung auf *-ē ist erhalten geblieben.

In der altlettischen Literatur ist die dialektale Buntheit nicht so groß wie im Altlitauischen. Die meisten lettischen Texte aus dem 16. und 17. Jahrhundert sind in einer Sprachform verfaßt worden, die hautpsächlich auf dem mittellettischen Dialekt beruht. Dies läßt sich z.T. durch die Tatsache erklären, daß die Sprache eines der wichtigsten altlettischen Autoren, Georg Mancel (1593-1654), der sich dieses Dialekts bediente, lange Zeit zum Vorbild wurde. Es gibt aber auch mindestens seit dem 17. Jahrhundert eine Produktion im hochlettischen Dialekt, z.B. durch

48

KAPITEL II

Autoren wie Georg Elger (1585-1672). In der Tabelle 2 werden einige der wichtigsten altlettischen Texte aufgelistet (s. Ozols 1965: 572-620). Zum Schluß sei noch kurz auf einige Probleme eingegangen, die sich bei einer genealogischen Beschreibung der baltischen Dialekte stellen. In dieser Untersuchung habe ich aus pädagogischen Gründen die baltischen Dialekte im Rahmen des Stammbaummodells dargestellt. Diese Perspektive ist durchaus berechtigt und ermöglicht tatsächlich eine Einreihung der beschriebenen Fakten in festgesetzte Sprachgrenzen. Sie läßt aber vieles unberücksichtigt. Wir haben oft beobachtet, daß die Trennungslinie zwischen dem Westbaltischen und dem Ostbaltischen ungenau erscheint, da es viele Fälle gibt, bei denen das Litauische eher mit dem Altpreussischen als mit dem Lettischen übereinstimmt, oder umgekehrt. Ähnliche Probleme bestehen auch in der Beschreibung der einzelnen litauischen oder lettischen Dialekte. Das Stammbaummodell erweist sich also als unfähig, diese Übereinstimmungen zu erklären, die den im Prinzip als undurchdringlich aufgefaßten Trennungslinien widersprechen. Dabei können Substraterscheinungen eine große Rolle gespielt haben. Es ist bekannt, daß die südwestlichen Dialekte der litauischen Sprache sich auf altpreussischem Substrat entwickelt haben. Dafür sprechen nicht nur sprachliche Indizien, sondern auch archäologische Funde57. Darauf hat z.B. unlängst Saulius Ambrazas (2004: 63) bezüglich der Wortbildung hingewiesen. Die niederlitauischen Dialekte sowie teilweise das Lettische sind bekanntlich auf kurischem Substrat entstanden, was ihre gegenseitigen Übereinstimmungen gegenüber dem Hochlitauischen erklären kann. Der Einfluß des Jatwingischen auf die südostlichen Dialekte des hochlitauischen Gebiets ist ebenfalls nicht abzustreiten. Das Problem ist, daß diese Substraterscheinungen durch die Begrenztheit unseres Wissens nicht immer genau identifiziert und bewertet werden können. Aus einer breiteren Perspektive fallt auf, daß das Altpreussische oft mehr mit dem Slavischen oder dem Germanischen als mit dem Ostbaltischen übereinstimmt. Es liegt nahe, daß die baltischen Einzelsprachen durch verschiedene Kontakte mit den Nachbarsprachen ihre heutige Gestalt bekommen haben. Bekanntlich hat sich das Lettische auf

" Vgl. Gimbutienė (1958).

EINFÜHRUNG IN DIE BALTISCHE DIALEKTOLOGIE

49

Tabelle 2. Die altlettischen Texte Autor

Text

Datum

Anonym

• Teweß muß (Pater Noster)

1507 (in einem katholischen Kalender)

Ertmann Tolgsdorff

• Cathechismvs

Johannes Rivius

•Der kleine

Anonym

• Evangelia vnd Episteln

1587

Anonym

• Vndeudsehe Psalmen vnd geistliche Lieder oder Gesenge

1587

• Euangelia vnd Episteln

1587 1638 1638 1654

Anonym Georg Mancel (1593-1654) Georg Elgcr (1585-1672)

Johann Georg Rehchusen Christopher Fürecker (1615-1685) Heinrich Adolphi (1622-1686) Ernst Glück (1652-1705) Gotthard Friedrich Stender oder Stender der Alte (1714-1796)

Alexander Johann Stender oder Stender der Junge (1744-1819) Heinrich der Blinde (1783-1828)

Catholicorum

Cateehismus

• Lettus • Phraseologia Lettica • Langgewünschte Lettische

1585 (Vilnius) 1586 (Königsberg)

Postill

•Geistliche Catholische Gesänge •Evangelia toto anno • Cateehismus • Dictionarivm Polono-Latino -Lottauicum • Manvdvctio ad lingvam lettonicam facilis et certa

1621

1672 1672 1683 1644

• Lettisches und Teutsches Wörterbuch

vor 1685

•Erster Versuch Einer kurtz-verfasseten Anleitung Zur Lettischen Sprache 'Bībele

1685

• Svehti Stahsti • Neue vollständigere Lettische Grammatik •Jaukas Pasakkas in Stahsti •Jaunas Siņģes •Augstas Gudrības Grahmata no Pasaules un Dabbas •Jauna ABC un Lassischanas Mahziha • Maza Bībele

1756 1761

• Lustespehīe no Semmneeka kas par Muischneeku tappe pahrwehrsts

1790

• Ta neredsiga Indriķa

1806

Dseesmas

1685-1691

1766 1774 1774, 2 1776 1782 1790

50

K A P I T E L II

ostseefinnischem Territorium entwickelt. Übereinstimmungen mit dem Estnischen und dem Finnischen, insbesondere mit dem Livischen, sind sehr zahlreich und nicht nur auf den Wortschatz beschränkt. Das Litauische und das Altpreussische wurden weniger durch dieses Substrat berührt, doch zeugen solche Erscheinungen wie der sogenannte "Modus Relatīvus" (Gebrauch von Partizipialformen in evidentialer Funktion), der sowohl im Ostseefinnischen und im ganzen Ostbaltischen auftritt, von früheren engen Kontakten. Es ist durchaus berechtigt, in einem gewissen Sinne von einem "Baltikumsprachbund" zu reden. Ein zweites Moment, das in der Gestaltung der baltischen Sprachen eine Rolle spielte, ist die geographische Ausbreitung der sprachlichen Innovationen. Die Wellentheorie von Johannes Schmidt kann auch durch baltisches Material illustriert werden. Sie beruht auf zwei wichtigen Grundsätzen: Erstens, daß die Innovationen in einem bestimmten Punkt entstehen und sich von dort an ohne Rücksicht auf die Sprachgrenzen ausbreiten. Zweitens, daß, je mehr sie sich von ihrem Zentrum entfernen, sie um so schwächer werden. Ein schönes Beispiel dieser Grundsätze läßt sich in der Entwicklung des baltischen Akzents finden. Im allgemeinen begnügt man sich mit der zwar richtigen, doch ungenauen Angabe, daß das Litauische und das Altpreussische noch einen freien Akzent haben, während das Lettische den Akzent auf die erste Silbe verlagerte. Dabei ist jedoch auffällig, daß ein großer Teil der litauischen Dialekte eine Zurückziehung des Akzents auf die erste Silbe aufweist. Nur ist zu bemerken, daß die Zurückziehung des Akzents nicht überall systematisch ist, sondern in einigen Dialekten von der Quantität der letzten Silbe abhängt. Man beobachet, daß die Dialekte, die in der Nähe der lettischen Grenze gesprochen werden, meist eine vollständige Zurückziehung des Akzents aufweisen, während, je ferner man gelangt, die Zurückziehung desto schwächer auftritt. Somit läßt sich in diesem besonderen Fall ein Dialektkontinuum feststellen, das nur aus politisch-historischen Gründen zur Entstehung von unabhängigen Nationalsprachen führte. Dieses Beschreibungsmodell könnte auch auf die Vorgeschichte des Baltischen angewendet werden. Z.B. hinsichtlich der Kentum/SatemFrage steht fest, daß die Satemisierung im Baltischen durch eine nicht geringe Anzahl an Gegenbeispielen widersprochen wird (Dubletten wie lit. akmuö "Stein" / ašmuo "Schärfe, Schneide"). Nun ist zu beoabachten, daß das Baltische sich gerade an der Grenze zwischen dem Kentum- und dem Satem-Gebiet befindet, was die Tatsache erklären könnte, daß es sowohl an der Kentum- als auch an der Satem-Innovation beteiligt war. In der Dialektologie spricht z.B. Hock (1986: 440) von "Kernzonen" (focal areas), wo die Innovation am stärksten auftritt, von "Reliktzonen" (relic

E I N F Ü H R U N G I N DIE B A L T I S C H E D I A L E K T O L O G I E

51

areas), wo sie nicht bezeugt ist, und von "Zwischenzonen" (transition areas), wo sie nur zum Teil realisiert wird. In der Indogermania erweist sich das Baltische in vielerlei Hinsicht trotz seiner geographischen Randposition als eine Zwischenzone, und gerade deswegen sind die baltischen Sprachen für die Indogermanisten so wichtig.

KAPITEL II

DAS BALTISCHE AKZENT- UND INTONATIONSSYSTEM Bekanntlich gehört das Baltische zu den indogermanischen Sprachen, deren phonologisches System durch Intonationskontraste gekennzeichnet ist. Schon lange wurde die Frage gestellt, ob diese Intonationen aus dem Indogermanischen ererbt sind oder einzelsprachliche Neuerungen darstellen. Im folgenden werde ich versuchen, zu diesem Problem Stellung zu nehmen. Es sei aber eine Bemerkung vorausgeschickt, die m.E. in dieser Frage eine zentrale Rolle spielt. Sobald von Intonationen die Rede ist, werden Intonation und Akzent oft miteinander verwechselt. In dieser Untersuchung gehe ich von folgenden Definitionen aus. Unter Akzent verstehe ich die Hervorhebung einer Silbe innerhalb der Wortgrenzen. Der Terminologie des Slavisten und Akzentologen Paul Garde (1968) folgend unterscheide ich hier vier Hauptbegriffe, mit denen ich stets operieren werde: Akzenteinheit, Akzentbereich, Akzentdominanz und Akzentstärke. •

•

•

Die Akzenteinheit (unite accentuable nach Paul Garde 1968: 12) ist die phonologische Einheit, die durch einen Akzent getroffen werden kann. Sie ist sozusagen die Zielscheibe des Akzents. In den indogermanischen Sprachen ist es durchgehend die Silbe, die diese Rolle spielt, und dies gilt auch für die baltischen Sprachen. Der Akzentbereich (unite accentuelle nach Paul Garde 1968: 12) ist der Raum, innerhalb dessen sich die Positionsregeln des Akzents abspielen. Er wird durch Grenzen definiert, über die der Akzent nicht hinauskommen darf. In den indogermanischen Sprachen ist der Akzentbereich meist das Wort: Soviele Wörter, soviele Akzente - abgesehen von den klitischen Formen, denen eine besondere Stelle im Sprachsystem zukommt. Dies gilt auch für die baltischen Sprachen. Die Akzentdominanz (dominance accentuelle nach Paul Garde 1980: 120) ist die Eigenschaft der Morpheme, die Position des Akzents zu bestimmen. Ein dominantes Morphem braucht nicht unbedingt betont zu sein, es ist aber bei der Bestimmung der Akzentstelle ausschlagge-

DAS BALTISCHE A K Z E N T - U N D INTONATIONSSYSTEM

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bend. Im Altindischen setzt z.B. das Suffix -tā einen vorhergehenden Akzent voraus, obwohl es selbst unbetont bleibt, z.B. aind. purusätä "menschliche Natur" (: pürusa- "Mensch"). Ähnlich verhält sich im Litauischen das Suffix -iškas. Es setzt immer voraus, daß die vorhergehende Silbe betont wird, aber wird selbst nie betont, z.B. dangiškas "himmlisch" (: dangūs "Himmel") 1 . Die Akzentstärke (force accentuelle nach Paul Garde 1980: 120) ist die Fähigkeit der Morpheme, den Akzent zu tragen. Morpheme können demzufolge stark oder schwach sein. Im Litauischen ist z.B. der Themavokal -a- (< idg. *-o~) oft ein schwaches Morphem: In der Regel bleibt er unbetont sowohl im Nominalsystem (vgl. Nom.Sg. dievas "Gott", Akk.Sg. dievą) als auch im Verbalsystem (vgl. 3.Pers. veda "er führt / sie führen", PI. 1. vedame).

Unter Intonation verstehe ich die Hervorhebung eines Vokalfragments innerhalb einer Silbe. Als Regel gilt, daß jeder Langvokal oder Diphthong aus zwei Fragmenten besteht, bzw. in zwei Fragmente zerlegt werden kann. Der Langvokal /ü/ z.B. kann in Hinsicht auf seine intonatorische Struktur als /ü+ü/, der Diphthong /au/ als /ä+ü/ analysiert werden. Jedes Vokalfragment ist eine Mora. Gegenüber Langvokalen und Diphthongen, die eine zweimorige Struktur innehaben, sind Kurzvokale einmorig. Diese Zerlegung der Silben in Silbenfragmente oder Moren ist charakteristisch für die Sprachen, die über ein Intonationssystem verfügen, zumindest in der indogermanischen Sprachfamilie, und dies gilt insbesondere für die baltischen Sprachen. Wenn das erste Fragment einer morigen Struktur hervorgehoben wird, spricht man von Anfangsintonation oder von fallender Intonation (z.B. /'ü+ü/ oder / ä+ü/). Wird das zweite Fragment hervorgehoben, so spricht man von Endintonation oder von steigender Intonation (z.B. /ü+'ü/ oder /ä+ ü/). Daraus folgt, daß nur Langvokale und Diphthonge kontrastive Intonationen aufweisen können. Kurzvokale sind nicht intonationsfähig. Dies widerspricht einer in der Lituanistik seit langem vorherrschenden Tradition, die mit einer "kurzvokalischen" Intonation (lit. trumpinė priegaidė) rechnet. Ein Aufsatz von Girdenis und Žulys (1967: 113-116 = Girdenis KD I 161-165) hat gezeigt, daß hier von Intonation keineswegs die Rede sein darf. Diphthonge können wie Langvokale intoniert werden. Das Baltische behandelt als Diphthong jede Sequenz /Kurzvokal +Sonant/, wobei zu den Sonanten nicht nur *i und *u, sondern auch */, *r, *m und *n 1

Vgl. Petit (2004c: 216 und 218).

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KAPITEL II

gehören. Eine tautosyllabische Sequenz /an/ ist als Diphthong anzusehen, denn ihre beiden Teile sind intonierbar, z.B. lit. an (in äntis "Ente") und ah (in antis "Busen, Brust"), genauso wie z.B. lit. äi (in laisvė "Freiheit") und af (in laisvas "frei"). Im folgenden werde ich das baltische Intonationssystem hauptsächlich einer morigen Analyse unterziehen. Ich möchte aber gleich betonen, daß das Morensystem m.E. eine einzelsprachliche Neuerung darstellt und nicht ins Indogermanische transponiert werden darf. Beide Begriffe - Intonation und Akzent - sind nicht gleichbedeutend. Der Akzent ist eine Eigenschaft des Wortes: Jedes Wort hat einen Akzent. Die Intonation ist eine Eigenschaft der Silbe, insofern die Silbe durch einen Vokal definiert wird: Jeder Langvokal oder Diphthong hat eine Intonation, auch wenn er den Akzent nicht trägt. Nimmt man die Unabhängigkeit des Akzents und der Intonation nicht in Betracht, kann man das baltische System überhaupt nicht verstehen. Es ist der Haupteinwand, der gegen die Theorien von Jerzy Kurylowicz (z.B. 1956: 163 fg.) erhoben werden kann. Das Verhältnis des Akzents und der Intonation ist jedoch nicht einseitig, sondern komplex. In der lettischen Schriftsprache ist jeder Langvokal oder Diphthong mit einer Intonation versehen, ungeachtet, ob er betont wird oder nicht. Trotzdem wird seit langem eine Tendenz zur Neutralisierung der Intonationen in unbetonten Silben beobachtet. Ende des 19. Jahrhunderts wies Endzelīns (Dl 1118 [1899]) auf die Tatsache hin, daß in der lettischen Sprache, die einen Anfangsilbenakzent besitzt, die Aussprache von sēju "ich sähte" (mit Dehnton) und sėju "ich band" (mit Fallton) verschieden ist, aber dieser Unterschied in apsēju "ich besähte" und apsēju "ich band um" zugunsten des Falltons neutralisiert wird. Eine Untersuchung von Derksen (2001: 81-87) hat jedoch gezeigt, daß in den mittellettischen Dialekten, die die Basis der lettischen Schriftsprache bilden, unbetonte Silben den Fallton und den Dehnton zwar zusammenfallen lassen, aber der dritte Ton des Lettischen, der Brechton, noch distinkt erhalten bleibt2. In der heutigen litauischen Sprache sind Akzent und Intonation in der Weise korreliert, daß Intonationen nur in betonten Silben eine distinktive Rolle zukommt. Unbetonte Silben haben keine Intonationen, was bedeutet, daß sie alle gleich eine Default-Intonation, d.h. eine steigende Intonation, bekommen 3 . Es gibt aber Indizien, die dafür sprechen, daß es in der Vorgeschichte des Litauischen Intonationen auch in unbetonten Silben

2 3

Zu dieser Frage s. auch Seržants (2003: 83-122). Vgl. Laigonaitė (1958: 83-84), Petit (1999a: 30-31).

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gab. Wie sich das Altpreussische bezüglich dieser Frage verhält, läßt sich wegen des dürftigen Materials, das uns zur Verfügung steht, nicht mit Sicherheit entscheiden. Für das Gemeinbaltische nehme ich an, daß jeder Langvokal oder Diphthong unabhängig von der Akzentstelle intoniert wurde. 1. Das baltische

Intonationssystem

Wenn vom baltischen Intonationssystem die Rede ist, nimmt man gewöhnlich das litauische Material als Ausgangspunkt der Untersuchung. Aber gleichzeitig wird behauptet, daß das Litauische gegenüber den anderen baltischen Sprachen sowie dem Slavischen eine völlige Umstellung der intonatorischen Strukturen erfuhr: Was im Litauischen als eine fallende Intonation realisiert wird, erscheint in den anderen Sprachen als eine steigende Intonation - und umgekehrt. In dieser Untersuchung werde ich demzufolge als Ausgangspunkt nicht das Litauische nehmen, sondern das Lettische. 1.1. Das lettische

Intonationssystem

Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts herrschte in der Lettonistik die Auffassung, daß das Lettische über zwei Intonationen (oder "Silbenakzente", wie sie damals genannt wurden) verfügt. Diese Auffassung wird z.B. in der Grammatik von Bielenstein (1863-1864) vertreten, der "gestoßene" und "gedehnte" Silbenakzente unterscheidet. Es ist das Verdienst von Endzellns in einem wichtigen Aufsatz aus dem Jahr 1899 (DI I 117-132 [1899]), aufgrund der Verhältnisse der mittellettischen Mundart von Valmiera (Wolmar) gezeigt zu haben, daß die lettische Sprache ein dreifaches Intonationssystem besitzt. Endzellns unterscheidet folgende Intonationen: •

einen Fallton oder fallende Intonation (lett. krītošā intonācija). Diese Intonation wird durch die Hervorhebung der ersten Mora charakterisiert: /'vv/. Sie wird durch den Gravis < " > bezeichnet. Beispiel: lett. prāts "Geist". • einen Dehnton oder gestreckte Intonation (lett. stieptā intonācija). Diese Intonation wird durch die Hervorhebung der zweiten Mora charakterisiert: /v'v/. Sie wird durch die Tilde < > bezeichnet. Beispiel: lett. māte "Mutter".

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K A P I T E L II

einen Stoßton oder Brechton, oder gebrochene Intonation (lett. lauztā intonācija). Diese Intonation wird durch eine glottale Unterbrechung charakterisiert, die mehr oder weniger an den dänischen Stod erinnert: /v'/. Sie wird durch den Zirkumflex < A > bezeichnet. Beispiel: lett. pläns "dünn". Im folgenden werde ich die Bezeichnung "Brechton" verwenden.

Es ist hier wichtig, auf Schreibkonventionen hinzuweisen, die das Verständnis der lettischen Intonationen erschweren können. Das Hauptproblem, mit dem die lettische Orthographie konfrontiert wurde, bestand darin, daß man bei jedem Wort drei Informationen anzugeben hatte, die Akzentstelle, die Vokalquantität und die Silbenintonation. Im Lettischen ist der Akzent mit wenigen Ausnahmen auf die Anfangssilbe festgelegt, so daß es nicht nötig ist, die Akzentstelle zu bezeichnen. In der lettischen Orthographie wird der Akzent nie geschrieben. Was nun die Vokalquantität und die Silbenintonation betrifft, so sind mehrere Schreibungen im Gebrauch. Lettische Wörter können auf dreifache Weise geschrieben werden. In der lettischen Schriftsprache, wie sie in der Schule gelehrt und in der Presse, in der Literatur usw., verwendet wird, wird die Vokalquantität durch den Längestrich bezeichnet. Die Intonationen, die in der gesprochenen Sprache fast keine Relevanz mehr haben, werden dann nicht bezeichnet. Demnach schreibt man prāts "Geist", vārds "Wort, Name", māte "Mutter", vārna "Krähe", plāns "dünn" (vgl. auch dēt "Eier legen", pīle "Gans", būt "sein") einfach mit Längestrich. Diphthonge werden ohne diakritische Zeichen geschrieben, z.B. lett. dievs "Gott", draugs "Freund", balss "Stimme", liepa "Linde", kauls "Knochen", kalts "Meißel", viens "ein", raugs "Hefe", kalns "Berg", sargs "Wächter", usw. Es ist zu bemerken, daß der Diphthong /uo/ in der lettischen Schriftsprache geschrieben wird, z.B. roka "Hand", dona "Brotlaib", ods "Moskito". Diese Schreibweise ist heute in Lettland zur Norm geworden. Man findet sie z.B. in dem einsprachigen lettischen Wörterbuch Latviešu valodas vārdnīca (1984). In der sprachwissenschaftlichen Literatur ist eine andere Schreibweise üblich, die auf die Tradition des Großen Lettisch-Deutschen Wörterbuchs von Karlis Mühlenbachs und Jānis EndzelTns {Latviešu valodas vārdnīca, Lettisch-deutsches Wörterbuch, ME, 1923-1932, IV Bände, Riga) zurückgeht. Dort werden Intonationen regelmäßig geschrieben, und zwar anhand der drei diakritischen Zeichen, die oben dargelegt wurden: Gravis für den Fallton Q , Tilde für den Dehnton ( ), Zirkumflex für den

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Brechton ( A ). Diese Schreibweise ist ökonomisch in dem Sinne, daß die Notierung der Silbenintonationen die Angabe der Vokalquantität überflüssig macht, da nur Langvokale intoniert werden können. Man schreibt also nur die Intonation, die auch die Information gibt, daß der Vokal lang ist, z.B. präts "Geist", māte "Mutter", vārna "Krähe", pläns "dünn" (vgl. auch dėt "Eier legen", pīle "Gans", büt "sein"). Bei den Diphthongen werden Intonationen auf dem ersten (Fallton), bzw. zweiten (Dehnton, Brechton) Teil des Diphthongs geschrieben, z.B. lett. dievs "Gott", dräugs "Freund", bälss "Stimme" (Fallton), liepa "Linde", kaüls "Knochen", kalts "Meißel" (Dehnton), viens "ein", raügs "Hefe", kalns "Berg", sargs "Wächter" (Brechton). Es gibt einen einzigen Kontext, wo Intonation und Quantität gleichzeitig bezeichnet werden. Liegt eine Sequenz /Kurzvokal+Sonant/ vor, so kann man von Diphthong reden: Beide Teile können die Intonation tragen: z.B. kann eine Sequenz /ir/ entweder eine Anfangsintonation /ir/ oder eine Endintonation /ir/, bzw. /ir/ haben, vgl. z.B. sirgt "krank sein", stirna "Reh", tvirts "fest". Liegt aber eine Sequenz /Langvokal+Sonant/ vor, so kann man nicht von Diphthong reden: Nur der Langvokal kann intoniert werden (z.B. /ār/, /Ir/ oder /ār/). Im Falle des Dehntons und des Brechtons wird dann nur die Intonation geschrieben (z.B. vārna "Krähe", ārpus "außerhalb"). Solche Sequenzen können nicht mit echten Diphthongen verwechselt werden, weil bei echten Diphthongen der Dehnton und der Brechton nur auf dem zweiten Teil stehen können (z.B. stirna "Reh", tvirts "fest"): Steht in einer Sequenz /Vokal+Sonant/ ein Dehnton oder ein Brechton auf dem ersten Teil (z.B. vārna "Krähe", ārpus "außerhalb"), so besteht kein Zweifel, daß wir hier mit einer Sequenz /Langvokal+Sonant/, nicht mit einem Diphthong zu tun haben. Allein schon die Position der Intonation gibt also die Information, daß der Vokal lang ist; die Angabe der Vokalquantität ist hier überflüssig. Im Falle des Schleiftons hingegen ist die Sache schwieriger. Bekommt eine Sequenz /Vokal+Sonant/ den Fallton, so kann man nicht allein aufgrund der Position der Intonation wissen, ob es sich um einen Diphthong /Kurzvokal+Sonant/ oder um eine Sequenz /Langvokal +Sonant/ handelt, denn in beiden Fällen steht der Fallton am Anfang. In diesem Fall muß man unbedingt beide Kontexte graphisch unterscheiden. Man schreibt den Diphthong /Kurzvokal+Sonant/ z.B. als (z.B. balss "Stimme"), die Sequenz /Langvokal+Sonant/ z.B. als <ār> (z.B. vārds "Wort, Name"). Dies ist der einzige Kontext, wo das Wörterbuch von Mühlenbachs und Endzelīns den Längestrich und ein Intonationszeichen kombiniert.

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Es sind noch drei Einzelheiten zu erwähnen. Das Wörterbuch von Mühlenbachs und Endzelīns verwendet regelmäßig die Schreibung für den Diphthong /uo/. Wo die lettische Schriftsprache roka "Hand", dona "Brotlaib" oder ods "Moskito" hat, findet man bei Mühlenbachs und Endzelīns ritoka "Hand", duöna "Brotlaib", uöds "Moskito". Weiter ist zu bemerken, daß die Notierung der Silbenintonationen bei Mühlenbachs und Endzelīns meist sowohl in Anfangssilben als auch in Suffixsilben regelmäßig ist (vgl. z.B. laimīgs "glücklich" ME II 409, dzivuöt "leben" ME I 560). Aber, wenn die Suffixsilbe einen Diphthong enthält, unterbleibt dessen Intonation oft (z.B. kaimiņš "Nachbar" ME II 133, anstatt zu erwartendem *kaīmiņš). Schließlich gibt es in ME Formen, die aus alten Texten oder aus Dialekten stammen. In den alten Texten wurden Intonationen überhaupt nicht geschrieben und die Länge wurde einfach durch den Längestrich bezeichnet. Das Wörterbuch von Mühlenbachs und Endzelīns verzeichnet diese Formen meist ohne Intonation, wenn sie in der modernen Sprache nicht mehr existieren (z.B. dievuoklis "der Götze, Abgott" ME I 487, gaut "bekommen" ME I 612, dāsns "freigebig" ME I 449); es gibt manchmal Kompromißschreibungen (z.B. dīgāt "bewegen" ME I 477). Das Wörterbuch von Mühlenbachs und Endzelīns verzeichnet auch Dialektformen. Viele von ihnen stammen aus Dialekten, die ihr Intonationssystem reduziert haben. In solchen Fällen gibt das Wörterbuch eine wichtige Information über die Natur der Intonation, indem nach dem Lexem die Ziffer 2 hochgestellt wird. Es bedeutet, daß die Intonation hier zweideutig ist. Z.B. wird neben bęrzs "die Birke" auf eine mundartliche Nebenform bęrzs2 (ME I 292) mit sekundärem Brechton verwiesen, vgl. auch dieveris2 neben schriftsprachlichem dieveris "der Schwager" (ME I 484). Diese Information erweist sich als äußerst wichtig für die historische Bewertung der lettischen Intonationen, denn es handelt sich ja nicht um Metatonie, d.h. um einen vom historischen Standpunkt relevanten Intonationswechsel, sondern nur um sekundären Zusammenfall auf der Basis einer einzigen Intonation. Eine dritte Schreibweise wird in den wissenschaftlichen Arbeiten verwendet, die sich um phonetische Genauigkeit kümmern, vor allem in dem Kollektivwerk Latviešu valodas pareizrakstības un pareizrunas vārdnīca "Wörterbuch der Schreibung und Aussprache der lettischen Sprache" (Rīga, 1995). Hier werden alle Informationen über die konkrete Aussprache der Lexeme gegeben, d.h. die Intonationen und die Vokallängen, abgesehen von der Akzentstelle, die im Lettischen fast immer dieselbe ist. Man schreibt also z.B. /prāc/ "Geist", /vārc/ "Wort,

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Name", /mate/ "Mutter", /varna/ "Krähe", /plāns/ "dünn". Es ist anzumerken, daß dieses Wörterbuch eine der wenigen Quellen ist, die uns regelmäßig über die Intonationen der Suffixsilben informiert, denn diese Information fehlt oft bei Mühlenbachs und Endzellns. Die Intonation der Suffixsilbe von kaimiņš "Nachbar" verdanke ich eben diesem Wörterbuch (1995: 343); ME hat nur kaimiņš. All diese Quellen ermöglichen also den Ansatz eines dreifachen Intonationssystems für das Lettische. Die Intonationen haben einen phonologischen Status und bilden Minimalpaare, wie z.B. rīt "verschlingen" (rīt /rīt/ mit Dehnton) gegenüber rīt "morgen" (rīt /rīt/ mit Brechton) oder stāvs "Stock(werk)" (stāvs /stāvs/ mit Fallton) gegenüber stāvs "Wuchs" (stāvs /stīvs/ mit Dehnton) 4 . Sie sind aber in der heutigen Sprache nur noch selten zu hören. Darüber hinaus beruht dieses dreifache System auf einer sehr kleinen Gruppe von mittellettischen Dialekten. Die neue Klassifizierung der lettischen Dialekte, die von Andronov (1996) gerade aufgrund der Intonationsverhältnisse vorgeschlagen wurde, hat gezeigt, daß das Gebiet, auf dem die Unterscheidung von drei Intonationen erhalten bleibt, ziemlich schmal ist (s. die Karte S. 206-207). In den meisten Dialekten wurde die Zahl der Intonationen stark reduziert, wie aus der folgenden Tabelle ersichtlich wird5:

Tabelle 1. Die Intonationen in den lettischen Dialekten Mittellcttisch (auch schriftsprachlich)

Niederlettisch (West)

Hochlettisch (Ost)

"Freund"

dräugs

draügs

draugs

"Gefäß"

traüks

traüks

trauks

"Hefe"

raügs

raügs

raügs

Im westlichen Teil der niederlettischen Dialektgruppe fällt der Fallton oft mit dem Brechton zusammen; der Dehnton bleibt erhalten. Man hat somit dort ein zweifaches System (Brechton / Dehnton). Im Ostlettischen fällt der Dehnton in der Regel mit dem Fallton zusammen; der Brechton bleibt erhalten oder wird zu einer steigenden Intonation. Es gibt schließlich Dialekte, die den Brechton verloren haben und nur noch den Fallton und Dehnton unterscheiden. 4 5

Weitere Beispiele: Grīsle (1970: 155-161). Vgl. Gäters (1977: 24-25). S. auch Daugaviete (2004: 81-85).

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Der Brechton nimmt eine merkwürdige Stellung im lettischen Intonationssystem ein. Es fallt auf, daß er einer morigen Analyse nicht unterzogen werden kann. Er besteht nämlich nicht in der Hervorhebung eines Vokalfragments, sondern in dem Zusatz eines phonologischen Merkmals zu einem Langvokal, dessen morige Struktur dabei keine Rolle spielt. Eine interessante Tatsache ist, daß das Livische, eine ostseefinnische Sprache, die einst an den lettischen Küsten der Ostsee gesprochen wurde, ebenfalls einen Brechton besaß. In der Ostseefinnistik wird dieser Brechton "Stoßton" genannt (so z.B. Winkler 2000). Phonetisch ist er unserem lettischen Brechton sehr ähnlich. Nun hat Winkler (2000: z.B. 354) gezeigt, daß der livische Stoßton in vielen Fällen als Ersatz eines verschwundenen Lautes anzusehen ist, vgl. z.B. ra'i "Stuhl" (< *rahi), va 7 "Licht" (< *valo). Nimmt man an, daß der livische Stoßton durch den Einfluß des Lettischen zu erklären ist, so kann der Gedanke aufkommen, daß auch der lettische Brechton, dem der livische Stoßton entspricht, ursprünglich dem Verlust eines Lautes zuzuschreiben ist. 1.2. Das litauische

Intonationssystem

Die litauische Schriftsprache verfügt bekanntlich über ein zweifaches Intonationssystem 6 . In den ältesten grammatischen Beschreibungen wurde den Intonationen wenig Aufmerksamkeit geschenkt, ihre Existenz ist jedoch seit jeher nicht zu leugnen. Der erste Versuch, sie zu kodifizieren, findet sich in der anonymen Grammatik Universitas linguarum Litvaniae, die 1737 in Vilnius erschien. In dieser kurzen Grammatik, deren Sprache den damals weit verbreiteten zentrallitauischen Dialekt von Kėdainiai widerspiegelt, wird die Antiqua zur Notierung des Stoßtons verwendet (z.B. buti "sein" = lit. būti, pantis "Fessel" = lit. pantis)', der Schleifton wird durch den Zirkumflex (z.B. pönas "Herr" = lit. pönas) oder in den Diphthongen durch den Gravis auf dem ersten Teil (z.B. dantis "Zähne" = lit. dantys) bezeichnet; die Vokalkürze wird durch den Gravis bezeichnet (z.B. mäno "mein" = lit. mäno). Diese Schreibkonventionen werden anfangs des Büchleins dargelegt und erklärt (1737: 4)7: •

Accentus circumflexus notat syllabam longam pronunciandam duplicando vocalem vg. Pönas.

quasi

h Vgl. Skardžius (RR V 359 [1936], 477^181 [1968]); vgl. auch Būga (RR III 2 0 - 2 5 [1924]) und neuerdings Olander (2009: 102 fg.). 7 Vgl. die Ausgabe von Eigminas (1981). Zur Betonung in der "Universitas" vgl. noch die ausführliche Behandlung von Rozwadowski (1897: 233-270).

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•

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"Der Zirkumflex notiert eine lange Silbe, die sozusagen mit einer Verdoppelung des Vokals ausgesprochen werden muß, vgl. Portas." (vgl. lit. pönas) Litera antiqua inter cursiva posita notat syllabam longam quidam, sed diversae longitudinis ä circumflexa, & cum attenuatione quadam vocis efferendam : vg. siena sciana. Wienas jeden. "Ein Buchstabe, der in Antiqua zwischen in Kursivschrift geschriebenen Buchstaben steht, notiert eine lange Silbe, die aber von einer anderen Quantität als eine zirkumflektierte ist und mit einer gewissen Dämpfung der Stimme ausgesprochen werden muß, vgl. siena 'Wand, Grenze'. Wienas 'ein'", (vgl. lit. siena, vienas)

Die erste wissenschaftliche Beschreibung der litauischen Intonationen verdanken wir Friedrich Kurschat, der im zweiten Teil seiner Beiträge zur Kunde der littauischen Sprache (1849) zum ersten Mal eine "geschliffene Betonung" (oder "Schleifton") und eine "gestossene Betonung" (oder "Stoßton") unterschied. Erst 1876 werden von demselben Kurschat in seiner Grammatik der littauischen Sprache zum ersten Mal die diakritischen Zeichen verwendet, die sich von da an in der sprachwissenschaftlichen Literatur eingebürgert haben: den Gravis < " > für die Betonung der Kurzvokale, die Tilde < > für den Schleifton, den Akut für den Stoßton < ' >. Somit ergeben sich für die heutige Schriftsprache folgende Intonationen: •

•

der Schleifton oder steigende Intonation (lit. tvirtagalė priegaidė "Intonation mit starkem Ende"). Der Schleifton wird durch die Hervorhebung der zweiten Mora charakterisiert: /v'v/. Er wird durch die Tilde < > bezeichnet. Beispiele: lit. stötas "Wuchs, Figur", kümas "Taufpate", aukštas "Stock(werk)", kartis "Knebel". der Stoßton oder fallende Intonation (lit. tvirtapradė priegaidė "Intonation mit starkem Anfang"). Der Stoßton wird durch die Hervorhebung der ersten Mora charakterisiert: /'vv/. Er wird meist durch den Akut < ' > bezeichnet. Beispiele: lit. stöti "stehen", kūnas "Körper", aukštas "hoch", kārtis "sich erhängen". Der Gravis < ' > bezeichnet die Akzentstelle, wenn der Akzent auf Kurzvokale fällt, z.B. lit. visas "all", degti "brennen", bütas "Wohnung".

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Wie im Lettischen haben wir im Litauischen mit Schreibkonventionen zu rechnen, die für jedes Lexem die drei wichtigen Informationen (die Akzentstelle, die Vokalquantität, die Silbenintonation) verschieden behandeln. Diese Schreibkonventionen werden durch zwei Faktoren bestimmt. Erstens besitzt das Litauische im Gegensatz zum Lettischen einen freien Akzent, woraus folgt, daß die Bezeichnung der Akzentstelle eine größere Rolle spielt als im Lettischen. Zweitens ist das Vokalsystem des Litauischen graphisch anders strukturiert als das des Lettischen. Langvokale werden in der Regel graphisch anders bezeichnet als nur /Kurzvokale + Längestrich/. Der Längestrich wird nur bei dem Vokal u verwendet. Beim Vokal i werden beide Korrelate unterschiedlich geschrieben: i /i/, vs. y /i:/. Bei den anderen Vokalen werden verschiedene Grapheme verwendet: Kurzvokale a /a/ und e /ę/, Langvokale o /o:/ und ė /ę:/. Es gibt im Litauischen kein kurzes *o; letzteres tritt nur in rezenten Lehnwörtern auf (wie lit. opera " O p e r f u t b o l a s "Fußball"). Die Kurzvokale e und a können manchmal unter dem Akzent gedehnt werden; dann bekommen sie den Schleifton 8 . Diese Dehnung tritt regelmäßig nur in offener Silbe ein, vgl. z.B. dega "er brennt / sie brennen" (neben degti "brennen" mit Kurzvokal in geschlossener Silbe), plaka "er schlägt / sie schlagen" (neben pläkti "schlagen"). Es gibt aber Gegenbeispiele wie mäno "mein" (ohne Dehnung in offener Silbe) oder naktį "Nacht", Akk. Sg. (mit Dehnung in geschlossener Silbe). Die Vokale / und u erfahren keine Dehnung. Somit erklärt sich der Unterschied zwischen Ind. 3. Pers. dega, Inf. degti "brennen", plaka, Inf. pläkti "schlagen" (mit Dehnung in der dritten Person) und lipa, Inf. lipti "steigen", suka, Inf. sūkti "drehen" (ohne Dehnung in der dritten Person). Es ist zu bemerken, daß kurzes e /ę/ und langes ė /ę:/ miteinander nicht korreliert werden, denn der Kurzvokal e /ę/ ist offen, der Langvokal ė /ę:/ ist geschlossen. Im alltäglichen Gebrauch, in der Presse, in der Literatur usw., werden weder die Akzentstelle noch die Intonationen bezeichnet. Die Vokalquantität wird hingegen immer bezeichnet, sei es durch den Längestrich (z.B. butas "Wohnung" / būti "sein"), durch den über dem Vokal geschriebenen Punkt (z.B. degti "brennen" / dėti "stellen, legen") oder durch unterschiedliche Grapheme (z.B. migti "einschlafen" / mygti "drücken", gražus "schön" / grožis "Schönheit"). Sehr selten wird die Akzentstelle und/oder die Intonation bezeichnet, um die Unterscheidung homonymer Formen zu ermöglichen, z.B. gēros (Nom.Pl.Fem.) / gerös

s

Zu dieser Frage s. insbesondere van Wijk (1942: 156 fg.).

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(Gen.Sg.Fem.) von geras "gut". Das graphische System ist also unökonomisch, da es wichtige Informationen (die Akzentstelle, die Intonation der betonten Silbe) vernachlässigt. Für Ausländer, die sich die Sprache zu erlernen und litauische Texte richtig zu lesen bemühen, ist dies eine der größten Schwierigkeiten überhaupt. In der sprachwissenschaftlichen Literatur herrscht seit etwa dem Anfang des 20. Jahrhunderts ein anderes graphisches System, das nach der Notierung aller wichtiger Informationen strebt. Nur ist anzumerken, daß Akzentstelle und Intonation nie getrennt bezeichnet werden, weil Intonationen nur in betonten Silben auftreten; auf der anderen Seite gibt es betonte Silben, die keine Intonationen haben, weil sie kurz sind. Man hat also zwei Funktionen der Betonungszeichen zu trennen. Der Akut oder die Tilde geben zwei Informationen: Akzentstelle und Intonation des betonten Vokals. Andernorts (2004c) habe ich solche Zeichen marques accentuelles-intonatives genannt, weil sie eben beide Funktionen haben. Dem Gravis ist hingegen nur eine Funktion zuzuschreiben, denn er informiert nur über die Akzentstelle; er ist eine reine marque accentuelle. Aufgrund dieser Schreibkonventionen findet man in der wissenschaftlichen Literatur z.B. būtas "Wohnung", degti "brennen", migti "einschlafen" (Notierung der Akzentstelle bei Kurzvokalen durch den Gravis), stöti "stehen", kūnas "Körper", būti "sein", dėti "stellen, legen", mygti "drücken", aukstas "hoch", kārtis "sich erhängen" (gleichzeitige Notierung der Akzentstelle und der Intonation durch den Akut), stötas "Wuchs, Figur", grožis "Schönheit", kūmas "Taufpate", aukštas "Stock(werk)", kartis "Knebel" (gleichzeitige Notierung der Akzentstelle und der Intonation durch die Tilde). In älteren Arbeiten (ungefähr bis 1920), z.B. noch im Balto-Slavischen Wörterbuch von Trautmann (BSW 1923), findet man gelegentlich Formen wie büti für būti, d.h. eine ökonomische Schreibweise, die wie im Lettischen die Vokallänge vernachlässigt, sobald sie durch die Intonation vorausgesetzt wird. Diese Schreibweise gilt heute als veraltet. Bei den Diphthongen, deren erster Teil i oder u ist, wird der Stoßton nicht durch den Akut, sondern durch den Gravis bezeichnet. Gegenüber gerti "trinken" und kärti "hängen" (Stoßton = Akut) hat man girti "loben" und gūrti (Stoßton = Gravis, anstatt * girti und *gürti). Dieses Besonderheit läßt sich vielleicht dadurch erklären, daß der Stoßton eine gewisse phonetische, doch nicht phonologische Dehnung des ersten Teils des Diphthongs voraussetzt (z.B. gerti "trinken" = *ge rti). Die Vokale i oder u sind durch diese Dehnung nicht betroffen; sie bleiben kurz und erhalten demnach

KAPITEL II

64

den Marker der Kurzvokale, d.h. den Gravis (z.B. girti "loben" = *girti). Vom typologisehen Standpunkt aus ist es nicht überraschend, daß geschlossene Vokale kürzer sind als offene Vokale. 1.3. Die lettischen Intonationen und die litauischen

Akzentparadigmen

Zwischen dem lettischen und dem litauischen Intonationssystem bestehen erhebliche Unterschiede. Diese Unterschiede betreffen in erster Linie die Zahl der Intonationen (drei im Lettischen, zwei im Litauischen): Die litauische Schriftsprache hat keinen Brechton. Es besteht also eine grundsätzliche Diskrepanz zwischen den beiden ostbaltischen Sprachen und es ist die Hauptaufgabe der Sprachhistoriker, diese Diskrepanz zu erklären. Trotzdem können Entsprechungen zwischen beiden Systemen gefunden werden. Die Regeln, die diesen Entsprechungen zugrundeliegen, wurden 1899 von Jānis Endzelīns (DI I, 117-132 [1899]) festgestellt und haben bis heute ihre Gültigkeit nicht verloren 9 : • • •

Dem lettischen Fallton entspricht der litauische (steigende) Schleifton. Dem lettischen Dehnton entspricht der litauische (fallende) Stoßton in ursprünglich betonter Silbe. Dem lettischen Brechton entspricht der litauische (fallende) Stoßton in ursprünglich unbetonter Silbe.

Diese Regeln kann man folgenderweise tabellarisch darstellen: Tabelle 2. Entsprechungen zwischen dem Lettischen und dem Litauischen Lettisch

Litauisch

Fallton, fallende Intonation (krītošā) Gravis < ' > Dehnton, gestreckte Intonation Tilde < ~ >

Schicifton, steigende Intonation Tilde < ~ >

(tvirtagalė)

(stiepta)

Stoßton, fallende Intonation Akut < ' >

(tvirtapradė)

Brechton (lauztā) Zirkumflex < A > auf ursprünglich unbetonter Silbe

Stoßton, fallende Intonation Akut < ' >

(tvirtapradė)

auf ursprünglich betonter Silbe

Das System von Endzelīns wird heute von der Mehrheit der Baltisten akzeptiert. Nur Poljakov (z.B. 1996, 1997) betrachtet das litauische Intonationssystem als ursprünglicher als das lettische.

DAS BALTISCHE A K Z E N T - U N D INTONATIONSSYSTEM

65

Beispiele 10 : Tabelle

Entsprechungen zwischen dem Lettischen und dem Litauischen (Beispiele) Lettisch

1° Fallton, fallende

prāts / präts roka /rüoka

Bedeutung

Litauisch

[prāc]

"Geist"

pro tas 2

1° Schleifton,

[rüoka]

"Hand"

ranka 2

steigende

Intonation

dievs / dievs

[dieus]

"Gott"

dievas 4

Intonation

(krītošā)

draugs / draugs balss / balss

[drāuks]

"Freund"

draugas 4

(tvirtagalė)

[bāls:]

"Stimme"

balsas 4

vārds /vārds

[vārc]

"Wort, Name" vardas 4

2° Dehnton,

māte / māte

[māte]

"Mutter"

motė 1

2° Stoßton,

steigende

dona /duona

[duöna]

"Brotlaib"

duona 1

fallende

Intonation

liepa / liepa kauls / kauls

[liepa]

"Linde"

liepa 1

Intonation

[kaüls]

"Knochen"

kaulas 1

(tvirtapradė)

kalts / kalts

[kaīc]

"Meißel"

kaltas 1

vārna /vārna

[vārna]

"Krähe"

vārna 1

plāns / plāns ods / uöds

[plāns]

"dünn"

plonas 3

[uoc]

"Moskito"

üodas 3

viens / viens

[viens]

"ein"

vienas 3

raugs / raügs kalns / kalns

[raüks]

"Hefe"

raugas 3

[kalns]

"Berg"

kalnas 3

sargs / sargs

[sargs]

"Wächter"

sargas 3

(stieptā)

3° Brechton (lauztā)

10

Weitere Beispiele s. Skardžius (RR V 5 1 - 5 2 [1935a]).

KAPITEL II

66

Um diese Entsprechungen zu verstehen, muß man einen kleinen Umweg durch die Akzentparadigmen des Litauischen machen. Ich bin bereits früher (1999a: 31-39) auf diese Frage eingegangen und brauche hier meine Beweisführung nicht zu wiederholen. Da aber der Vergleich der lettischen und litauischen Intonationssysteme ohne Kenntnisse der Akzentbewegungen in den Paradigmen nahezu unmöglich ist, werde ich hier kurz an die Hauptprinzipien erinnern. Wie schon gesagt, ist im Litauischen der Akzent frei und mobil. Diese Beweglichkeit ist aber nicht arbiträr, sondern folgt gewissen Mustern, die insbesondere im Nominalsystem für jeden Kasus die Akzentstelle voraussagbar machen. Bei der Festlegung des Akzents müssen zwei Kriterien berücksichtigt werden: die natürliche Betonungstendenz und die Intonation der Stammsilbe. Die natürliche Betonungstendenz (tendance accentuelle in meiner Terminologie) bezieht sich auf die Stelle, auf die der Akzent normalerweise fällt, wenn keine anderen Faktoren sie verhindern. Wörter zerfallen in dieser Hinsicht in zwei Kategorien, die anfangsbetonten Wörter und die endbetonten Wörter. Die Betonungstendenz tritt größtenteils aus dem Verhältnis der Akzentstärke der Morpheme zueinander im Wort hervor, und zwar nach der folgenden Hierarchie: •

Ein starker Stamm ist stärker als eine starke Endung, die stärker ist als ein schwacher Stamm, der stärker ist als eine schwache Endung".

Folgt man diesen Prinzipien, so ergeben sich folgende Möglichkeiten (S = Stamm, E = Endung, Großschreibung = stark, Kleinschreibung = schwach): [S+E] [S+e] [s+E] [s+e]

> > > >

['S+E] [S+e] [s+'E] fs+e]

Tendenz: Akzent Tendenz: Akzent Tendenz: Akzent Tendenz: Akzent (Default-Akzent)

auf auf auf auf

dem Stamm dem Stamm der Endung dem Stamm

Ein Wort ist natürlich anfangsbetont, wenn es einen starken Stamm [S] hat. Es ist natürlich endbetont, wenn es einen schwachen Stamm [s] hat. Wichtig ist dabei zu bemerken, daß die Betonungstendenz mit der tat11

Vgl. Stundžia (1995: 7), Petit (1999a: 37).

DAS BALTISCHE A K Z E N T - U N D INTONATIONSSYSTEM

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sächlichen Akzentstelle nicht immer identisch ist. Es kommt vor, daß die Betonungstendenz einen Akzent auf der Endung voraussetzt, weil der Stamm schwach [s] ist, aber, wenn die Endung selbst schwach [e] ist, der Stamm einen Default-Akzent ['s+e] bekommt. Wenn der Stamm stark [S] ist, bekommt er tatsächlich immer den Akzent, was aus den oben beschriebenen Hierarchieregeln hervortritt: ['S+E] oder [ S+e]. Eine schwache Endung wird nie betont. Daraus folgt, daß die frühere Klassifizierung der Stämme, die mit mobilen und immobilen Paradigmen rechnete, im Grunde richtig war, aber die Prinzipien verkannte, worauf diese Beweglichkeit, bzw. Unbeweglichkeit beruht. Wenn der Stamm schwach ist ([s+'E] oder [ s+e]), spreche ich von einem Typ 1; wenn er stark ist (['S+E] oder ['S+e]), von einem Typ 2. In der älteren Terminologie wird der Typ 1 "mobil", der Typ 2 "immobil" genannt12. Die Frage, worauf die Stärke der jeweiligen Morpheme historisch beruht, d.h. warum ein Morphem stark, ein anderes schwach ist, ist schwierig. Es handelt sich zum Teil um indogermanisches Erbe, zum Teil um innerlitauische Neuerungen. Die Tatsache z.B., daß die Endung des Akk.Sg. immer schwach ist, während die des Gen.Sg. meist stark ist (außer bei den Thematika), z.B. Akk.Sg. šunį, Gen.Sg. šuns < šunės (: šuo "Hund"), Akk.Sg. žiemą, Gen.Sg. žiemos (: žiema "Winter"), erklärt sich durch die Verallgemeinerung des Mobilitätsmusters, das in den athematischen Bildungen (vgl. gr. Akk.Sg. icuva, Gen.Sg. Kuvoę) seinen Ursprung hat und auf andere Flexionen übertragen wurde13. Eine wichtige Rolle spielt auch die Intonation der Stammsilbe {structure intonative du radicaī). Einsilbige Stämme können stoßtonig oder schleiftonig sein; Kurzvokale verhalten sich wie schleiftonige Langvokale. Stoßtonige Stämme bezeichne ich als Typ A, schleiftonige Stämme als Typ B. Dieser Faktor spielt in den Mobilitätstypen eine große Rolle, weil schleiftonige Stämme durch das Saussuresche Gesetz getroffen werden (Saussure 1922: 526 [1896]). Das Saussuresche Gesetz besagt, daß der Akzent von einer schleiftonigen Silbe auf die folgende stoßtonige Silbe angezogen wird: /'ä+a/ > /ä+'a/ (a = Vokal). Dieses Gesetz, das synchron als Attraktionsgesetz aufzufassen ist, hatte insbesondere in der Nominalflexion große Auswirkungen, denn viele Endungen waren ursprünglich stoßtonig und zogen von schleiftonigen Stammsilben den 12 Die hier vorgebrachte Terminologie geht von der Endung aus: Als Typ 1 bezeichne ich den Typ, bei dem die Endung von Natur aus betont wird, als Typ 2 den Typ, bei dem der Stamm von Natur aus betont wird. 13 Vgl. auch Būga (RR III 43 [1924]), Kazlauskas (1968a: 37-49), Pedersen (1933).

KAPITEL II

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Akzent auf sich. Die Sache wird noch dadurch erschwert, daß stoßtonige Vokale im Auslaut später gekürzt worden sind; das ist das sogenannte Leskiensche Gesetz (Leskien 1881). Als Beispiel können wir die Bezeichnung der "Hand" (rankä) nehmen. Das Wort gehört hinsichtlich seiner Betonungstendenz zum Typ 2, wie z.B. noch aus dem Genitiv Plural, dessen Endung stark ist, ersichtlich wird: rankų ['S+E]. Im Nominativ Singular ist die Endung ursprünglich stoßtonig *-ā (< idg. *-eh2, vgl. noch in der zusammengesetzten Form des Adjektivs geröji "die gute" < *gerä-); man hat von *r'ankā auszugehen. Dann wirkte das Saussuresche Gesetz: *r'ankā > *rank'ā und später noch das Leskiensche Gesetz: *rank'ā > *rahk'ä > lit. rankä. Ein großer Teil der Akzentbewegungen, die die litauischen Flexionen charakterisieren, kann durch das Saussuresche Gesetz erklärt werden. Betrachten wir nun zugleich beide Kriterien, so ergeben sich vier Möglichkeiten, die die Grundlage für die Klassifizierung der litauischen Akzentparadigmen bilden: Tabelle 4. Die litauischen Akzenttypen Betonungstendenz

Typ i Betonungstendenz: auf der Endung [s+'E] oder ['s+e]

Typ 2 Betonungstendenz: auf dem Stamm ['S+E], ['S+e]

Typ A Stoßtonige Stammsilbe

Typ AI Stoßtonige Stammsilbe + Betonungstendenz: auf der Endung [s+'E] oder ['s+e]

Typ A2 Stoßtonige Stammsilbe + Betonungstendenz: auf dem Stamm [ S+E], [ S+e]

Typ B Schleiftonige Stammsilbe

Typ B1 Schleiftonige Stammsilbe + Betonungstendenz: auf der Endung [s+'E] oder ['s+e]

Typ B2 Schleiftonige Stammsilbe + Betonungstendenz: auf dem Stamm [ S+E], ['S+e]

StammSilbenintonation

Diese Klassifizierung stimmt mit der herkömmlichen Klassifizierung in vier Akzenttypen (1, 2, 3, 4), die in der wissenschaftlichen Literatur und in den litauischen Wörterbüchern verwendet wird, überein. Nur hat sie m.E. den Vorteil, daß sie die Prinzipien, die dieser Klassifizierung zugrunde liegen, explizit feststellt und isoliert. Zwischen beiden Systemen lassen sich folgende Entsprechungen finden:

DAS BALTISCHE A K Z E N T - U N D INTONATIONSSYSTEM

69

Tabelle 5. Klassifizierung der Akzenttypen Traditionelle Akzentparadigmen

hier vorgebrachte Klassifizierung

Akzenttyp 1

Typ A2

Akzenttyp 2

Typ B2

Akzenttyp 3

Typ AI

Akzenttyp 4

Typ B1

In der Tabelle 6 werden die vier Akzenttypen am Beispiel der a-Stämme illustriert14: Tabelle 6. Die Akzenttypen bei den *-a-Stämmen värna "Krähe"

rankä "Hand"

galvä "Kopf'

žiema "Winter"

A2 ( = 1 )

B2 (= 2)

AI (=3)

B1 ( = 4 )

Stoßton

Schleifton

Stoßton

Schleifton

Stamm

S

S

s

s

SgNom.

[' S+E sg ] värna

[' S+E sg ] > [S+'E s g ] rankä

[s+'E s g ] galvä

[s+'E s g ] žiema

E sg

Akk.

['S+e] varną

['S+e] ranką

['s+e] galvą

['s+e] žiemą

e

Gen.

['S+E] värnos

['S+E] rankos

[s+'E] galvös

[s+'E] ziemās

E

Instr.

[1 S+e sg ] värna

['S+e s g ] > [S+'e s g ] rankä

[' s+e sg ] gälva

[' s+e sg ] > [s+'e sg ] žiema

e sg

Dat.

['S+e] vārnai

['S+e] rankai

['s+e] gälvai

['s+e] žiemai

e

Lok.

['S+E] värnoje

['S+E] rankoje

[s+'E] galvoje

[s+'E] ^ žiemoje

E

Vok.

['S+e] värna

['S+e] ranka

['s+e] gälva

[s+e] žiēma

e

PI. Nom.

['S+e] värnos

[S+e] rahkos

['s+e] gälvos

[s+e] žiemos

e

Akk.

[' S+e sg ] vārnas

[' S+e sg ] > [S+'e s g ] rankäs

[' s+e sg ] gälvas

[' s+e sg ] > [s+'e sg ] žiemas

e sg

Gen.

[S+E] varnų

['S+E] rankų

[s+'E] galvų

[s+'E] žiemų

E

Intonation

14

Vgl. eine frühere Version bei Petit (1999a: 34).

KAPITEL II

70 Tabelle 6. Kont.

rs+E]

['S+E] rankomis

[s+'E] galvomis

[s+'E] ^ žiemomis

E

varnomis Dat.

[S+E] varnoms

[S+E] rankoms

[s+'E] galvoms

[s+'E] žiemoms

E

Lok.

[•S+E] värnose

['S+E] rankose

[s+'E] galvose

[s+'E] žiemose

E

Vok.

[ S+e] värnos

['S+e] rankos

[s+e] galvos

['s+e] žiemos

e

lnstr.

(Zeichenerklärung: S = Stamm, E = Endung, Großschreibung = stark, Kleinschreibung = schwach, s g = Saussuresches Gesetz)

Aus dieser Analyse folgt, daß die ursprüngliche Betonungstendenz, die allein eine historische Bedeutung hat, sich nicht unbedingt durch die Form des Nominativ Singular zu erkennen gibt (rankä ist ursprünglich stammbetont, obwohl der Nominativ Singular endbetont ist). Aus pädagogischen Gründen kann der Genitiv Plural als das zuverlässigste Indiz der ursprünglichen Betonungstendenz betrachtet werden, insofern seine Endung immer stark ist und deswegen den Akzent nicht automatisch auf die Stammsilbe verlagert. Kehren wir nun zum Vergleich mit dem Lettischen zurück, wie er in der Tabelle 3 erscheint. Es hat sich herausgestellt, daß den drei Intonationen des Lettischen nur zwei Intonationen des Litauischen entsprechen. Dem lettischen Fallton entspricht der litauische Schleifton, gleichgültig, ob die Stammsilbe ursprünglich betont oder unbetont war: Entsprechungen lassen sich sowohl im Akzenttyp 2 (z.B. lett. präts = lit. prötas "Geist" 2, Gen.Pl.protų) als auch im Akzenttyp 4 (z.B. lett. dräugs = lit. draugas "Freund" 4, Gen.Pl. draugų) des Litauischen finden. Dem lettischen Dehnton entspricht der litauische Stoßton, wenn die Stammsilbe ursprünglich betont war, d.h. ausschließlich bei Wörtern, die dem Akzenttyp 1 angehören (z.B. lett. kaüls = lit. käulas "Knochen" 1, Gen. PI. kaulų). Dem lettischen Brechton entspricht der litauische Stoßton, wenn die Stammsilbe ursprünglich unbetont war, d.h. ausschließlich bei Wörtern, die dem Akzenttyp 3 angehören (z.B. lett. raügs = lit. räugas "Hefe" 3, Gen.Pl. raugų). Das lettische System ist also unausgeglichen, denn das Kriterium der ursprünglichen Betontheit spielt nur bei den stoßtonigen Stämmen eine Rolle (betont > lett. Dehnton, unbetont > lett. Brechton), nicht bei den schleiftonigen Stämmen (betont oder unbetont > lett. Fallton).

DAS BALTISCHE A K Z E N T - U N D INTONATIONSSYSTEM

71

Beiläufig sei angemerkt, daß man gemäß diesen Entsprechungsregeln Intonationswechsel in den lettischen Paradigmen erwarten würde, wo das Litauische bei stoßtonigen Stämmen einen Wechsel der Akzentstelle aufweist. Dem lit. galvä, Akk.Sg. galvą " K o p f ' würde regelmäßig im Lettischen galva, Akk.Sg. * galvu entsprechen. Dies hätte zu weitgehenden Metatonien innerhalb der Paradigmen geführt. Statt dessen hat das Lettische die Intonation des Nominativ Singular verallgemeinert, so z.B. galva, Akk.Sg. galvu15. 1.4. Die niederlitauischen

Intonationen

Die niederlitauischen Dialekte nehmen eine Zwischenstellung zwischen dem Hochlitauischen und dem Lettischen ein. Hinsichtlich des Akzentund Intonationssystems werden sie durch zwei Erscheinungen gekennzeichnet, die sie eher mit dem Lettischen als mit dem Hochlitauischen verbinden 16 . Erstens weisen die meisten niederlitauischen Dialekte wie das Lettische eine Zurückziehung oder Retraktion des Akzents (lit. kirčio atitraukimas) auf die Anfangssilbe auf. Diese Zurückziehung ist aber nicht in allen Dialekten absolut, sondern sie kennt verschiedene Stufen. In der dialektologischen Literatur werden eine absolute und eine beschränkte Zurückziehung des Akzents (lit. visuotinis, bzw. sąlyginis kirčio atitraukimas) unterschieden. Ihre Verteilung ist geographisch geregelt: Je näher den hochlitauischen Dialekten (d.h. im Südosten), desto schwächer die Zurückziehung des Akzents; je ferner von den hochlitauischen Dialekten, je näher dem Lettischen (d.h. im Nordwesten), desto stärker die Zurückziehung des Akzents. Man hat hier mit einem typischen Fall der geographischen Ausdehnung einer Neuerung zu tun, die sich von einem Zentrum aus verbreitet und desto schwächer wird, je ferner sie gelangt. Es ist bemerkenswert, daß im Unterschied zu denjenigen hochlitauischen Dialekten, die eine ähnliche Zurückziehung des Akzents aufweisen, die niederlitauische Retraktion durch eine gewisse Zerteilung des Akzents charakterisiert wird, da die Endsilbe noch zum Teil betont wird. Zinkevičius (1994: 97) spricht explizit von einer Zerteilung des Akzents auf beiden Silben und schreibt z.B. niederlit. šaka (hochlit. šaka "Zweig"), Gen.Sg. šākūos (hochlit. šakos). Er weist aber daraufhin, daß die erste Silbe stärker betont wird als die zweite und diese nur einen Nebenakzent hat. In einigen niederlitauischen Dialekten wird der Akzent nur von 15 16

So auch Olander (2009: 119). Dazu s. z.B. Būga (RR III 29 [1924]).

72

KAPITEL II

kurzvokalischen Endungen auf langvokalische Stammsilben verlagert, z.B. in Raseiniai plī'ta (hochlit. plytä "Backstein") mit Zurückziehung des Akzents, aber šaka (hochlit. šaka "Zweig"), Gen.Sg. šakūos (hochlit. šakos) ohne Zurückziehung des Akzents. Anfang des 20. Jahrhunderts schlug Kazimieras Jaunius (DD 122-123) aufbauend auf der Beobachtung seiner Heimatsmundart (Kvėdarna) vor, daß die Zurückziehung des Akzents zunächst dissimilatorisch in der Position vor einem anfangsbetonten Wort eintrat, um eine Folge zweier betonter Silben nacheinander zu vermeiden, z.B. vienä ropė "eine Rübe" > viena rėpė. Diese Bemerkung scheint durch neuere Analysen bestätigt worden zu sein. Girdenis wies darauf hin, daß die Sprecher der niederlitauischen Mundart von Tauragė vi'nä di'nä "ein Tag" (ohne Zurückziehung), aber vī'na vä'rpa "eine Glocke" (mit Zurückziehung) sagen17. Daß die Zurückziehung des Akzents dem kurischen Substrat zu verdanken ist, ist möglich, aber schwer nachzuweisen. Als Datum für diese Erscheinung schlägt man die Zeitspanne zwischen dem 13. und dem 16. Jahrhundert vor18. Die niederlitauische Zurückziehung des Akzents hat in vielen Bereichen große Auswirkungen gehabt, insbesondere in der Gestaltung der Intonationsmuster. Etwas schematisierend kann man sagen, daß die niederlitauischen Intonationen grundsätzlich auf der Unterscheidung eines Schleiftons und eines Stoßtons beruhen. Jede Intonation weist aber Varianten auf, je nachdem, ob die Stammsilbe ursprünglich betont oder unbetont war oder ob die folgende Silbe einen Langvokal enthielt oder nicht. Charakteristisch für diese Dialekte ist also eine Vielfalt an Intonationen, die sich weder mit dem lettischen noch mit dem hochlitauischen System decken. Als Beispiel kann man den Dialekt von Kretinga nehmen. Die Intonationsverhältnisse in diesem Dialekt wurden von Aleksandravičius (1957: 97-107) beschrieben. Der Dialekt von Kretinga gehört zu den nördlichen niederlitauischen Dialekten der sogenannten dounininkai-Gruppe; er wird durch eine absolute Zurückziehung des Akzents gekennzeichnet. In Kretinga sind vier Intonationen vorhanden: •

Schleifton (tvirtagalėpriegaidė), durch die Tilde < ~ > bezeichnet. Im Unterschied zum Litauischen ist der Schleifton in Kretinga fallend und gedehnt; deshalb wird er auch oft Dehnton {tęstinė priegaidė) 17 IK

Vgl. Grinavcckis (1973: 47). Vgl. Grinaveckis (1985: 114-121); s. auch Grinaveckis (1961: 125, 1977: 356).

DAS BALTISCHE A K Z E N T - U N D INTONATIONSSYSTEM

•

•

•

73

genannt. Beispiele: lä 'uks (hochlit. laükas "Feld"), ko 'mps (hochlit. kampas "Ecke"), jö 'uks (hochlit.juökas "Scherz"). Brechton (laužtinė priegaidė), durch den Zirkumflex < A > bezeichnet. Wie im Lettischen ist der Brechton in Kretinga durch eine glottale Unterbrechung (lūžimas) charakterisiert 19 . Beispiele: ri'ts (hochlit. rytas "Morgen"), kä uls (hochlit. käulas "Knochen"). Mittelton (vidurinė priegaidė), durch das Zeichen < s > (hochgestellt) bezeichnet. Die mittlere Intonation ist fallend, aber kürzer als der Schleifton. Beispiele: plVtä (hochlit. plytä "Backstein"), do'ngos (hochlit. dangūs "Himmel"). Stoßton (tvirtapradė priegaidė), durch den Akut < ' > bezeichnet. Der Stoßton ist in Kretinga steigend. Er wird oft stumtinė priegaidė genannt. Beispiele: gī'va (hochlit. gyvä "lebendig", Fem.), šę'rdęs (hochlit. širdis "Herz").

Der Vergleich mit dem Hochlitauischen ermöglicht folgende Entsprechungen festzustellen: Tabelle 7. Die Intonationen im niederlitauischen Dialekt von Kretinga Niederlitauischer Dialekt von Kretinga

Hochlitauisch

Schleifton, fallende Intonation {tvirtagalė oder tęstinė priegaidė) Tilde / ~ / : z.B. la 'uks

Schleifton, steigende Intonation {tvirtagalė priegaidė) Tilde / ~ / : z.B. laükas 4 in betonter Silbe

Brechton, gebrochene Intonation {laužtinė priegaidė) Zirkumflex / A / : z.B. kä 'uls Mittelton, mittlere, fallende Intonation {vidurinė priegaidė) h! hochgestellt: z.B. do'ngos

Stoßton, fallende Intonation {tvirtapradė priegaidė) Akut / ' / : z.B. käulas 1 in betonter Silbe

Stoßton, steigende Intonation {stumtinė oder tvirtapradė priegaidė) Akut / ' / : z.B. šę'rdęs

Stoßton, fallende Intonation {tvirtapradė priegaidė) Akut / ' / : z.B. širdis 3 in unbetonter Silbe

Schleifton, steigende Intonation {tvirtagalė priegaidė) Tilde / ~ / : z.B. dangus 4 in unbetonter Silbe

Im Dialekt von Kretinga gibt es also nicht nur einen Schleifton und einen Stoßton wie im Litauischen, sondern auch zwei andere, dem Hochlitauischen fremde Intonationen, den Brechton und den Mittelton. Es ist bemerkenswert, daß Intonationen wie im Urlettischen nach der ursprüng19

Vgl. Aleksandravičius (1957: 104).

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KAPITEL II

liehen Betontheit, bzw. Unbetontheit der Stammsilbe bestimmt werden: Ursprünglich schleiftonige Stämme erhalten in betonter Silbe den Schleifton, in unbetonter Silbe den Mittelton; ursprünglich stoßtonige Stämme erhalten in betonter Silbe den Brechton, in unbetonter Silbe den Stoßton. Ich vernachlässige hier einige Komplikationen, die durch die Quantität der Endsilbe verursacht werden: Ist der Auslaut lang, so hat die vorletzte Silbe den Stoßton (stumtinė), auch wenn sie ursprünglich schleiftonig war, z.B. lä'ukai {hochlit. laukai "Felder" 4, Nom.Pl.). Ist der Auslaut kurz, so hat die vorletzte Silbe den Mittelton {vidurinė), z.B. la'uküs (hochlit. laukus "Felder", Akk.Pl.). Das Intonationssystem von Kretinga erinnert an das lettische. Die Existenz eines Brechtons im Bereich des ursprünglichen Stoßtons ist insbesondere eine auffällige Gemeinsamkeit zwischen beiden Systemen. Doch sind mehrere Unterschiede vorhanden. Der lettische Brechton ist offensichtlich ursprünglich in unbetonter Silbe, der niederlitauische Brechton hingegen in betonter Silbe entstanden. Daraus folgt, daß das Niederlitauische keinen Brechton hat, wo das Lettische einen Brechton hat, und umgekehrt, vgl. z.B. lett. kaüls "Knochen" (mit Dehnton) / niederlit. kä 'uls (mit Brechton) oder lett. sirds "Herz" (mit Brechton) / niederlit. šę rdes (mit Stoßton). Ein weiterer Unterschied besteht darin, daß das Kriterium der Betontheit, bzw. Unbetontheit der Stammsilbe zwar dieselbe Relevanz im Lettischen und im Niederlitauischen hat, aber chronologisch als unabhängig in beiden Sprachen anzusehen ist. Für das Lettische spielt die ursprüngliche Betonungstendenz, für das Niederlitauische die tatsächliche Akzentstelle eine Rolle. Nehmen wir als Beispiel die Bezeichnung des "Morgens". Im Litauischen gehört das Wort rytas zum Akzenttyp 3. Man hat demnach von einer Form *rft'as mit Endbetonung (vgl. den Gen.Pl. rytų) auszugehen. Später, als die Prinzipien der Akzentstärke festgelegt wurden und die Endung -as aufgrund des Nieminenschen Gesetzes (Nieminen 1922: 125-170 20 ) als schwach betrachtet wurde, wurde der Akzent von der Endsilbe auf die Stammsilbe verlagert, woraus *rīt'as > *r'ītas (> lit. rytas). Es ist wahrscheinlich, daß das Nieminensche Gesetz im Urlettischen nicht wirkte und demnach die Vorform *rft'as unmittelbar zu rits wurde. Somit erklärt sich in diesem Wort der Brechton, der eine ursprünglich unbetonte Stammsilbe voraussetzt. Im Niederlitauischen hat man von der gemeinlitauischen Form *r'ftas nach dem Nieminenschen Gesetz auszugehen,

20 Dieses Gesetz läßt sich als Akzentzurückziehung von kurzem *a einer Endsilbe definieren. Vgl. Olander (2009: 105).

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woraus *r'ītas > niederlit. rī'ts. Der niederlitauische Brechton setzt eine ursprünglich betonte Stammsilbe voraus. Wenn obige Analyse das Richtige trifft, so folgt daraus, daß die Zurückziehung des Akzents, und somit die Gestaltung der Intonationsmuster, im Niederlitauischen später zustandekam als im Lettischen. Dies betrifft nicht nur die Verteilung des Brechtons und des Stoßtons, sondern auch die des Schleiftons und des Mitteltons. Die niederlitauische Form lauks "Feld" hat einen Schleifton (tęstinė), der einen ursprünglichen Schleifton in betonter Silbe fortsetzt. Nun aber gehört das Wort laükas im Litauischen zum Akzenttyp 4 (vgl. Gen.Pl. laukiį), mit ursprünglicher Endbetonungstendenz. Dementsprechend hat man mit einer Entwicklung von *laük'as zu * Y aükas (> lit. laükas) zu rechnen. Die niederlitauische Form lä'uks beruht auf */'aükas, nach dem Nieminenschen Gesetz: Aus *laük'as würde man in Kretinga *la 'uks mit Mittelton (vgl. la 'uküs / hochlit. laukus, Akk.Pl.) erwarten. Bevor ich zum Altpreussischen übergehe, noch eine Bemerkung zum Brechton. Es ist auffällig, daß zwei geographisch nahe Dialekte, das Niederlitauische und das Lettische, eine glottale Unterbrechung aufweisen und daß dieser Brechton in beiden Sprachen die Stelle des alten Stoßtons einnimmt. Eine glottale Unterbrechung ist eine Erscheinung, die in den Sprachen Europas sonst selten ist. Diese Übereinstimmung kann m.E. kaum dem Zufall zugeschrieben werden. Es ist aber genauso auffällig, daß der Brechton unter ganz anderen, ja sogar umgekehrten Bedingungen in beiden Sprachvarianten auftritt. Es wird meist angenommen, daß der lettische Brechton eine Neuerung ist, die sich aus dem alten Stoßton in unbetonter Silbe entwickelte. Wie ist aber der niederlitauische Brechton damit zu verbinden? Anders gesagt, wie könnte ein Brechton im Lettischen in unbetonter Silbe, im Niederlitauischen in betonter Silbe unabhängig entstanden sein? 1.5. Das altpreussische Akzent- und

Intonationssystem

Die Überlieferung der altpreussischen Denkmäler erschwert die Rekonstruktion der Akzent- und Intonationsverhältnisse in dieser Sprache. Im Elbinger Vokabular werden weder die Akzentstelle noch die Silbenintonationen bezeichnet. Palmaitis (1990: 111-113) vermutet, daß die Schreibungen <ea> und betonte schleiftonige Silben, die Schreibungen <e> (<ee>) und unbetonte oder stoßtonige Silben bezeichnen. Beispiele:

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Betonte schleiftonige Stammsilben: seamis "Winterkorn, Wintergetreide" (EV 257) aus *z'eīmīs (vgl. lit. dial. žiēmis "Winterwind" 2 neben žiemys 4), moasis "blosebalk, Blasebalg" (EV 516) aus *m' aīsds (vgl. lit. maišas "Sack" 4). Unbetonte oder stoßtonige Stammsilben: semo "Winter" (EV 15) aus *zeīm' ā (vgl. lit. žiema "Winter" 4 ),grosis "Reif' (EV 5 8) aus *gröd' ds (vgl. lit. grüodas "gefrorene Erde" 3).

Die Beispiele sind aber zum Teil widersprüchlich und diese Vermutung kann als schwach begründet betrachtet werden. Die Hypothese, daß diphthongierte Schreibungen <ea> und schleiftonige Vokale widerspiegeln, ist an sich nicht neu. Sie geht mindestens auf Berneker zurück. Unlängst wurde sie noch von Larsson (2003: 87-105) verteidigt. Larsson fuhrt solche Formen wie z.B. soalis "Gras" (EV 293) aus *zali- (vgl. salin III 105l3, lit. žolę, Akk.Sg.) an. Diese Analyse wurde aber bald von Derksen (2005: 51-67) in Zweifel gezogen. Das Problem ist, daß selbst in dem schmalen Material des Elbinger Vokabulars Gegenbeispiele sich unschwer finden lassen, bei denen die Schreibung einen stoßtonigen Vokal bezeichnet, z.B. moazo "Tante" (EV 178) aus *m'āsā (vgl. lit. moša "Schwester des Vaters" 1, lett. māsa), woasis "Esche" (EV 627) aus *as'īs (vgl. lit. üosis 1, Endbetonung wegen lett. uösis). Es wird seit Fortunatov (1880: 153,1895: 278-279) angenommen, daß im dritten altpreussischen Katechismus (1561) der Längestrich nicht nur die Vokalquantität, sondern auch die Akzentstelle und z.T. die Intonationsverhältnisse bezeichnet. Die Frage stellt sich, wie diese drei Informationen zu kombinieren sind. Daß dasselbe Zeichen zugleich die Vokalquantität und die Akzentstelle bezeichnen kann, ist nur dann verständlich, wenn man annimmt, daß die Langvokale in unbetonter Stellung gekürzt wurden und nur unter dem Akzent als lang erhalten blieben. Der Gebrauch desselben Zeichens zur Bezeichnung der Intonationen ist merkwürdiger, doch nicht unmöglich, wenn man annimmt, daß im Altpreussischen wie im Hochlitauischen nur unter dem Akzent Intonationen vorhanden sind. Es ist wichtig zu prüfen, ob dann auch die Akzentstelle bezeichnet wird. Im folgenden werde ich Vokale und Diphthonge separat untersuchen, da die Notierung der Intonationen anscheinend nur bei Diphthongen erfolgt. Bei den Vokalen wird im dritten Katechismus der Längestrich nicht immer dort geschrieben, wo man ihn als Bezeichnung der Vokallänge erwarten würde. Es kommt oft vor, daß die Schreibung ohne Längestrich sowohl für Kurz- als auch für Langvokale verwendet wird. Beispiele:

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: tawischas "nächst" (< *taw-isja-, III 35 ]7 l8) / taws "Vater" (< *täws, III 498, usw., vgl. täws III 4920, usw.). <e>: bhe "und" (< *be, III 17,,, usw.) / segge "er tut" (< *segē, III 61 ]6, usw., vgl. seggē III 89 n ). : issprestun "verstehen" (< *is-pres-tun, III 11313) / ist "essen" (< *īst, III 5312, vgl. ist III 416, USW.). : tusnan "still" (< *tus-na-, III 9116) / dusin "Seele" (< *dūsīn, III 89 n 12, vgl. düsin III 413).

Oft wird dasselbe Wort mit oder ohne Längestrich geschrieben. Beispiele: •

<ä>, vs. : däst "gibt" (III 534, usw.) / dast (III 49 2l , usw.); etwerpsnä "Vergebung" (III 75 ]9 , usw.) / etwerpsnä (III 71,2.13, usw.); podäton "gegeben" (III 7715) / podaton (III 772); prābutskan "Ewigkeit" (III 43 n , usw.) /prabutskan (III 4325). • <ē>, vs. <e>: druwe "glauben" (III 615, usw.) / druwe "glaubt" (III 61,,, usw.);perstallē "vorstehe" (III 877, usw.) /perstalle (III 8725). • <ī>, vs. : dīgi "auch" (III 6518, usw.) / digi "auch" (III 65 lg , usw.); ernertīuns "erzürnt" (III 694) / ernertiuns (III 69,); ist "essen" (III 416, usw.) / ist (III 5312, usw.); madlīt "bitten" (III 11715, usw.) / madlit (III 47 i 2 , usw.); pīdimai "wir tragen" (III 35 ]4 ) / pidimai (III 3 3 n ) ; pominīsnan "Gedächtnis" (III 7513) / pominisnan (III 756). • <ü>, vs. : drüwien "Glaube" (III 45, 8 ) / druwien (III 4514, usw.); düsin "Seele" (III 413) / dusin (III 89,, ]2); gallü "Haupt" (III 10322) / gallu (III 10323); poklūsmai "gehorsam" (III 9313 ,4) / poklusmai (III 315 6); popeckūt "behüten" (III 3313, usw.) /popeckut (III 55 |8 ). • <ö>, vs. : perönin "gemein" (III 714, usw.) /peronin (III 997 8). Die Doppelschreibung der Konsonanten ist ebenfalls als Bezeichnung der Vokalkürze schwankend. Ihr Unterbleiben legt nicht unbedingt die Vermutung nahe, daß der Vokal lang ist, vgl. z.B. seggē "tun" (III 8913, usw.) / segē "tun" (III 99, 2 ); turrīlai "haben" (III 10312, usw.) / turīlai (III 99 n ), usw. Es ist zu bemerken, daß die Doppelschreibung und der Längestrich fast nie zusammen belegt sind. Es besteht also Grund zur Annahme, daß sie widersprüchliche Informationen geben, was mit der herkömmlichen Analyse übereinstimmt, derzufolge die Doppelschreibung die Kürze, der Längestrich die Länge des Vokals bezeichnen. Es gibt im ganzen altpreussischen Corpus nur wenige Ausnahmen, insbesondere lassīnnuns "gelegt" (III 10329) und bīllīt "sprechen" (III 794). In beiden Fällen handelt es sich wahrscheinlich um Druckfehler, vgl. lasinna (III

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1137) und billīt "sprechen" (III 67, 6 ) ohne Längestrich 21 . Dazu kommt, daß die Doppelschreibung fast nie bei etymologisch langen Vokalen auftritt. Im Enchiridion sind m.W. nur drei Ausnahmen zu erwähnen: •

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saddinna "sie stellt" (III 97,,), ensaddinnons "eingesetzt" (III 1 1926) gegenüber lit. sodina (< *sād-ina als sekundäre o-Stufe der idg. Wurzel *sed- "sitzen"). Es ist zu bemerken, daß die Wurzel *sed- im Baltischen aufgrund des Winterschen Gesetzes sonst immer einen Langvokal hat (lit. sesti < *sēd-). Smoczynski (LAV 312 [2005]) behauptet, der Kurzvokal in saddinna [sädina] sei ein Archaismus (idg. *söd~). Bevor man diese Form in das Urindogermanische transponiert und als Argument gegen das Wintersche Gesetz verwendet, muß die Möglichkeit in Betracht gezogen werden, daß es sich um eine Neuerung des Altpreussischen handelt, mit Kürzung des Stammvokals in unbetonter Silbe (*säd- > säd-). Die Frage stellt sich aber, welche Silbe dann den Akzent trägt (*säd-'ina wie im Litauischen sodinai). widdai "er sah" (III 113,) gegenüber lit. išvysti "erblicken" (< *vīdaus idg. *uid- mit Winterschem Gesetz). Hier operiert Smoczynski (LAV 403 [2005]) mit einem Langvokal *[vi:da:ja:] trotz der Doppelschreibung. Ich nehme es als möglich an, daß der Akzent auf dem Suffix *-'ā- lag und der Stammvokal in unbetonter Position verkürzt wurde (*vīd-'ā-jā > *vid-'ā-jā > widdai). Genauso wie für saddinna wäre es voreilig, widdai als ein Argument gegen das Wintersche Gesetz anzusehen. signassen "Segen" (für *signassnen, III 107 7 ). Man hat wohl von *signā-snan auszugehen (vgl. ebsignäsnan III 1193). Eine Endbetonung des Suffixes *-snä (und somit eine Unbetontheit der zweiten Silbe) wäre nicht ganz unwahrscheinlich, vgl. apr. etwerpsnä "Vergebung" (III 7519, usw.), ispresnä "Vernunft" (III 45 9 , usw.) und lit. dulksna "feiner Regen" 4, liepsna "Flamme" 4. Man hätte dann eine Entwicklung von *signäsn'än zu *signasn'än (> signass(n)en) zu postulieren. Wie wäre aber die Form ebsignäsnan zu deuten? Die meisten Ableitungen auf *-snā setzen eher eine betonte vorletzte Silbe voraus. Vgl. einen ähnlichen Fall in menissnan "Gedächtnis" (I 13 n ) im ersten Katechismus.

Im ersten Katechismus (1545) sind folgende Ausnahmen vorhanden: 21

Vgl. Smoczynski (LAV 61, Fußnote 103, und 219 [2005]).

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audasseisin "geschehe" (I 916) gegenüber audāst sien "es geschieht" (III 494, usw.). Smoczynski (LAV 31 [2005]) rekonstruiert eine Futurform mit Langvokal *[auda:si]+[sin]. Ich ziehe vor, in audasseisin mit Stang und anderen Autoren eine ursprüngliche Form des Optativ Futurs (wie z.B. boüsei "er sei") zu sehen, etwa *dö-s-oi- (Transponat = gr. öföooi). Das ändert aber nichts an dem Problem der Vokallänge. Ob der Akzent auf dem Optativsuffix lag und der Stammvokal demnach in unbetonter Silbe verkürzt wurde (*dā-s-'ei- > * das' ei-), ist unsicher. betten eden "Abendmahl" Gen.Sg. (I 13 n ) gegenüber bītas īdin (III 758). Der erste Katechismus hat noch bietis eden (I 132), der zweite bitansydi (für * bitas ydin, II 13]3) und bytisydi (II 132). Alles spricht also für eine Rekonstruktion * bītas mit Langvokal. Die Doppelschreibung bei betten ist schwer zu erklären. Die Form ist wahrscheinlich als *bettes zu lesen (die Endung -en ist als Antizipation von eden zu deuten). Darf man mit Mažiulis (PKEŽ I 147 [1988]) eine Kürzung von *bīt- zu *bīt- in unbetonter Stellung annehmen? Nach Mažiulis könnte die Form *bettes in dem Quasi-Kompositum *bettes eden "Abendmahl" proklitisch sein. menissnan "Gedächtnis" (I 13 n ) gegenüber pominīsnan (III 7513). Zweideutig sind menisnan (I 154, II 1310 ,,) und minisnan (II 153). Man hat wahrscheinlich von *minī-snā- (< *minē-) mit Langvokal auszugehen. Die Doppelschreibung könnte wie in signassen "Segen" (*signassnen, III 1077, < *signä-snanl) gedeutet werden. pallapsittwey "begehren" (I 1 2 , 75) gegenüber pallaipsitwei (III 356). Zweideutige Schreibung in pallapsitwey (II 72, 1 5 , III 3517). Schreibfehler?

Abgesehen von diesen wenigen Ausnahmen gilt als Regel, daß Doppelschreibung und Vokallänge einander ausschließen. Ich halte also die traditionelle Analyse, derzufolge die Doppelschreibung die Kürze des vorhergehenden Vokals bezeichnet, für wahrscheinlich. Somit lehne ich die Theorie von Kortlandt (1974: 299-306), der die Doppelschreibung als Zeichen eines folgenden Akzents deutet, entschieden ab. Die Doppelschreibung als Bezeichnung der Vokalkürze ist eine Schreibkonvention, die aus dem Deutschen entlehnt wurde. Nun zur Funktion des Längestrichs. Traditionsgemäß wird behauptet, daß der Längestrich bei den Vokalen die Vokallänge und/oder die Akzentstelle bezeichnet. Es wird auch allgemein anerkannt, daß der Längestrich als Abbreviaturzeichen verwendet werden kann. Ich werde hier diese

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letzte Funktion außer acht lassen, denn sie betrifft nicht das Akzent- und Intonationssystem. Hierfür nur ein paar Beispiele: sīdons "sitzend" (III 434), sīdans (III 127 n ) aus *sindans (vgl. syndens II 92), vielleicht auch potaukīsnan "Verheißung" (III 952) aus *potaukinsnan (vgl. potaukinsnas III 12 l n ) , rettēnikan "Heiland" (III 13120) aus *rettennikan (?) und trēnien "Drohen" (III 9522) aus *trennien (?). Der Akk.Sg.Mask. sausā "trocken" (III 11917) ist wohl als *sausan zu lesen. Die Frage, die sich nun stellt, ist, ob der Längestrich die Vokallänge, die Akzentstelle oder beide zusammen bezeichnet. Im Rahmen dieser Untersuchung kann ich natürlich nicht alle Belege im einzelnen untersuchen. Ich möchte nur auf zwei Indizien hinweisen. Nehmen wir zunächst als Arbeitshypothese an, daß der Längestrich die Akzentstelle bezeichnet, so ist zu erwarten, daß er nur einmal in einem Wort auftreten kann, denn jedes Wort hat nur einen Akzent. Dies ist tatsächlich, was man in der absoluten Mehrheit der Formen beobachtet. Hierbei sind für jeden Vokal repräsentative Belege aufgelistet: • • • • •

<ä>: z.B. dätwei (III 3315), maitäsnan "Nahrung" (III 3312, 53 n ), tennä "sie" (III 1214, usw.). <ē>: z.B. trēnien "Drohen" (III 9522), klausēmai "hören" (III 2915), warge "ist leid" (III 696). : z.B. bītai "abends" (III 7722), kirditwei "hören" (III 6715), laukit "suchen" (III 6921). <ü> : z.B. būton "sein" (III 87 p usw.), enlaikümai "anhalten" (III 376), etwinüt "entschuldigen" (III 353). <ö> : z.B. peröni "Gemeinde" (III 10324, usw.), tickrömai "gerecht" (III 63x).

Es gilt also als Regel, daß jedes Wort nur einen einzigen Längestrich hat, was natürlich die Vermutung nahe legt, daß dieser die Akzentstelle bezeichnet. Es gibt jedoch eine kleine Anzahl an Gegenbeispielen, d.h. an Wörtern, die zwei Längestriche haben. Solche Wörter zerfallen in zwei Kategorien. Zunächst gibt es zusammengesetzte Wörter, die wahrscheinlich durch die zugrundeliegenden Formen beeinflußt wurden. Belege: •

dīnkausegīsnan "Danksagung" (III 9114). Als Lehnübersetzung aus dem Polnischen dzięk czynienie beruht das Wort auf dem Verb dīnkaut "danken" (III 4115) und dem Abstraktum *segīsnan "das Tun" (segisna III 79 ļ6 ]V seggīsnans Akk.Pl. III 69 l4 , vgl. auch labbasegīsnan "Wohltat" III 85 n |4, 1333 4). Smoczynski (LAV 88 [2005]) nimmt überzeu-

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gend an, daß es sich um zwei Wörter (*dīnkau seģīsnan) handelt. Die Form *dīnkau sei der Genitiv Plural *dīnkan (vgl. grīkan "der Sünden" III 773, usw.) eines Substantivs, der sonst in dīnckun "Dank" (Akk.Sg. in III 13115 < poln. dzięka) belegt ist. • prēipīrstans "Ringe" (III 107,,). Mažiulis (PKEŽ III 351 [1996]) rekonstruiert *prēipīrstans und nimmt an, daß die Schreibung mit zwei Längestrichen dem Einfluß des Simplex *pīrsta- "Finger" (vgl. pirsten EV 115) zuzuschreiben ist. • sallübaiwlrins "Ehemänner" (III 934). Aus *salüba- "Ehe" (sallüban III 31 l7 ) und *wīra- "Mann" (wijrs III 872). Bemerkenswert ist die Zusammensetzung sallubai busennis "Ehestand" (III 1015), salaubai boüsennien (III 1032). Beide Teile sind getrennt geschrieben. • stürintickröms "eifrig" (III 37 n ). Wohl als *stürnitickröms zu lesen. Aus *stürni- "ernstlich" (vgl. stürnawingisku "ernstlich" III 115]X 19, stürnawiskan "Ernst" III 117,) und *tickröms "gerecht" (vgl. tickrömai III 638). In all diesen Formen haben beide Teile den Längestrich wahrscheinlich aus ihrem Grundwort genommen. Ob diese Erscheinung nur graphisch oder zum Teil phonetisch ist (etwa mit einem Hauptakzent und einem Nebenakzent), läßt sich nicht entscheiden. Eine zweite Kategorie bilden Simplizia, die zwei Längestriche haben: •

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bīllīt "sprechen" (III 794). Allein schon aufgrund der Geminierung von 11, die auf einen Kurzvokal deutet, ist die Schreibung bīll- verdächtig. Wahrscheinlich ist sie als Druckfehler zu betrachten 22 . Die richtige Form liegt in billīt (III 6716, usw.) vor. ni āūgus "nicht geizig" (III 876). Evidenter Druckfehler. Mažiulis (PKEŽ III 183 [1996]) korrigiert ni āūgus zu *ni äugus und weiter zu *ni ängus (vgl. lit. engti "arm sein"). entēnsīts "gefaßt, einbezogen" (III 599). Es könnte ein Fehler vorliegen. Rekonstruiert man *entensīts, so läßt sich entensītei (III 9717) vergleichen. lāustīngiskan "Demut" (III 973). Wohl als Druckfehler zu deuten 23 . Vgl. lāustingins "demütig" Akk.Pl. (III 975). preibillīsnā "Verheißung" (III 617 8). Die Form wurde von Endzelīns (1943: 235) zu *preibillJsna korrigiert, vgl. Nom.PI. preibillīsnai (III

22 23

So auch Smoczyriski (LAV 61 [2005]). Vgl. Trautmann (1910: 370) und Mažiulis (PKEŽ III 53 [1996]).

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616) und weiter billīsna "Spruch" (III 8517), billijsnans (III 734). Eine Schreibung -snä liegt in etwerpsnä "Vergebung" (III 7519, usw.) und ispresnä "Vernunft" (III 459, usw.) vor. seggīūns "getan" (III 679). Wohl ein Fehler für seggīuns (vgl. III 676, usw.). Oder Kontamination von * seggīuns und *seggīūs mit Abbreviatur? teikūsnā "Geschöpf' (III 3917). Die Form ist mit der Präposition esse belegt, die im Enchiridion den Dativ oder den Akkusativ regiert: Sias Pirmonnis Dellijks essestan Teikūsnā "Der Erste Artickel / Von der Schoepffung". Man könnte eine Akkusativform *teikūsnan (vgl. vorhergehendes esse-stan) mit Abbreviatur <ä> = /an/ lesen, so z.T. Smoczynski (LAV 361 [2005]).

All diese Ausnahmen sind also wohl als sekundär zu deuten. In der Regel kann ein Wort nur einen Längestrich haben. Es muß sich demnach um einen Marker der Akzentstelle handeln, denn, würde der Längestrich nur die Vokallänge bezeichnen, so wäre zu erwarten, daß er mehrmals in einem Wort auftreten kann. Für die Annahme, daß der Längestrich die Akzentstelle bezeichnet, spricht auch die Tatsache, daß er oft dort auftritt, wo in den ostbaltischen Entsprechungen der Akzent liegt. Die Beispiele sind zu zahlreich, um hier alle aufgelistet zu werden. Deshalb hier nur ein paar Beispiele: •

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<ä>: - biätwei "fürchten" (III 27 ]0 , usw.) / lit. bijöti (aber lett. bijāties mit Brechton). - bräti "Bruder" (III 6710) / lit. brolis 1, lett. brālis. - mensā "Fleisch" (III 10119) / lit. mėsa 4. -pienāktā "fünfte" Fem. (III 5319) / lit. penkta 4. <ī>: - bīskops "Bischof' (III 87,), bīskopins (III 8523) / lit. byskupas 1 (vgl. die ursprüngliche Anfangsbetonung in poln. biskup). - engraudīs "erbarme" (III 67 2l ), engraudlsnas "Barmherzigkeit" Gen.Sg. (III 1156, USW.), engraudiwings "barmherzig" (III 131ļ4) / lit. dial. graudyti "betrüben, traurig machen". - ermīrit "erdichten" (III 6922), pomīrit "dünken, bedenken" (III 95 ]5, usw.) / poln. mierzyč "messen, proben" (< sl. *meriti), vgl. das slavische Lehnwort in lit. dial. mieryti "messen, proben". - gīdan "Schande" (III 55 2l ), nigīdings "schamlos" (III 69 3 ) / lit. geda 1, gėdingas 1 (eine Variante gėdingas 1 ist in der litauischen Schriftsprache belegt).

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-grikan "Sünde" (III 7915_16, usw.), grikenix "Sünder" (III 67,8, usw.), grīkimai "wir sündigen" (III 559, usw.) / poln. grzech "Sünde", vgl. alit. griēkas 2 oder 4 (vgl. LKŽ III 593). - īdis "Essen" (III 7514) / lit. edis 2. - ist "essen" (III 41 6 , usw.) / lit. ėsti "fressen" (aber lett. ēst mit Brechton). - kaimīnan "Nachbar" (III 6915, usw.) / lit. kaimynas 1. - kirditwei "hören" (III 67 ]5 ) / lit. girdėti. - laukit "suchen" (III 6921) / lit. dial. laukėti "suchen" (LKŽ VII 179). - līgint "richten" (III 436, usw.) / lit. lyginti "ausgleichen". - mīlinan "Flecke" (III 10312) / lit. mėlynas "blau" 1 oder 3. -polīgu "desgleichen" (III 11921) / lit. palygus "ziemlich gleich" 1 (LKŽ IX 262). - polīkins "verliehen" (III 13117) / lit. dial. lykyti "hinterlassen". - s wir ins "Tiere" Akk.Pl. (III 1072) / lit. žvėris, Akk.Pl. Es liegt ursprüngliche Endbetonung vor (lit. žvėris 3, lett. zvęrs). - switan "Welt" (III 5914, usw.), switewiskan "weltlich" (III 8915) / sl. *svett (poln. swiat), vgl. alit. und lit. dial. svietas 1 oder svietas 2 (LKŽ XIV 346). - turritwei "haben" (III 277, usw.) / lit. turėti. - wJrans "Männern" Dat.Pl. (III 9312_13) / lit. vyras 1. • <ū>: - būton "sein" (III 87,, usw.) / lit. buti (aber lett. büt mit Brechton). - drūktai "fest" (III 51 lg ), drücktai (III 65 ]2 ), drücktawingiskan "gestreng" (III 119 n ) / lit. drūtas 1, niederlit. drūktas 1 (aber lett. drükts mit Brechton). - iūrin "Meer" (III 107,, usw.) / lit .jūra 1, lett. jūra. - mūti "Mutter" (III 673, usw.) / lit. motė, lett. māte. - schlüsitwei "dienen" (III 41, 6 ), schlūsi (III 6721), schlüsimai (III 315, usw.), schlūsnikan "Diener" (III 11719, usw.) / poln. služyč "dienen". - supūni "Frau" (III 674, usw.) / apoln. župani (vgl. lit. dial. žiuponė). - tūsimtons "tausend" (III 37 ]8 ) / lit. tūkstantis. Die Beleglage scheint also die Annahme zu bestätigen, daß der Längestrich die Akzentstelle bezeichnet. Es gibt jedoch einige Gegenbeispiele: •

semmē "Erde" (III 105 ]7 ) / lit. žemė 2. Die altpreussische Form semmē ist wahrscheinlich endbetont. Im Litauischen hingegen ist

84

•

KAPITEL II

Stammbetonung alt, vgl. schon alit. įėmė (DP 179 v usw. [1599])24. Kortlandt (1974: 302) schlägt vor, im Altpreussischen habe sich ein Akzentgesetz vollzogen, demzufolge der Akzent von einer kurzen Silbe auf die folgende Silbe verlagert wurde ("a stressed short vowel lost the ietus to the following syllable"). Dieses Gesetz könnte eventuell die altpreussische Form semmē erklären 25 . weddedin "brachte sie" (TĪT 10117) / lit. vedė "führte". Die altpreussische Form könnte auch durch das Kortlandtsche Gesetz gedeutet werden. Oder hat das folgende Enklitikon -din den Akzent auf die vorhergehende Silbe angezogen?

Schließlich gibt es auch Wörter, die im Altpreussischen anfangsbetont werden, im Litauischen aber zum Typ 3 (mit ursprünglicher Endbetonungstendenz) gehören und im Lettischen einen Brechton aufweisen. Beispiele: • •

skīstai "keusch" (III 33,), skīstieskan "Reinigkeit" (III 63]tJ 20) / lit. skystas "flüssig" 3, lett. šķists. tūlan "viel" (III 558 9, usw.) / lit. tūlas 3.

Geht man für den Akzenttyp 3 von ursprünglicher Endbetonung aus, so würde man auch Endbetonung im Altpreussischen und somit z.B. eine Form *skistäi = lit. skystai (Adv.) anstatt skīstai erwarten. Obwohl diese Ausnahmen selten sind, können sie nicht so leicht von der Hand gewiesen werden. In einigen Fällen kann die Endbetonung sekundär sein, vgl. den Gen.Pl. mit Anfangsbetonung tūlų bei Daukša (DP 19252, usw. [1599])26. Zusammenfassend steht folgendes fest. Bei den Vokalen bezeichnet der Längestrich sowohl die Vokallänge als auch die Akzentstelle. Für die erstere Annahme spricht die Tatsache, daß der Längestrich mit der Geminierung der folgenden Konsonanten inkompatibel ist. Für die letztere Annahme spricht insbesondere die Tatsache, daß der Längestrich nie zweimal in demselben Wort auftritt. Es ist daher anzunehmen, daß der Längestrich gleichzeitig beide Funktionen besitzt, was durch den Umstand erklärt werden könnte, daß das Altpreussische im letzten Stadium seiner 24

Vgl. Skardžius (RR V 141 [1935a]). Dieses Gesetz wurde unlängst von Young (1999) angefochten. Vgl. auch die Antwort von Kortlandt (1999b: 193-197) und die Bemerkungen von Schmalstieg (2000b: 2 1 - 2 7 ) und Olander (2009: 124). Bezüglich pr. semmē weist Kazlauskas (RR II 257 [1968b]) auf die Tatsache hin, daß einige litauische Dialekte Endbetonung (žemė 4) aufweisen. 26 Vgl. Skardžius (RR V 178 [1935a]). 25

DAS BALTISCHE A K Z E N T - U N D INTONATIONSSYSTEM

85

Existenz einen stark dynamischen Akzent entwickelt hatte, mit dem die Vokalquantität korreliert wurde. Ich nehme an, daß die Langvokale nur unter dem Akzent lang erhalten blieben. Dies bedeutet aber nicht unbedingt, daß Kurzvokale unter dem Akzent gedehnt wurden. Ich komme nun zu den Diphthongen. Bei den Diphthongen könnte man dem Längestrich von vornherein dieselben Funktionen zuschreiben. Hinsichtlich der Quantität ist aber zu bemerken, daß die modernen baltischen Sprachen keine Langdiphthonge tolerieren: Entweder werden diese verkürzt (durch die baltische Variante des Osthoffschen Gesetzes) oder, wenn sie späterer Herkunft sind, werden sie nicht mehr als Diphthonge behandelt, sondern als Sequenzen von /Langvokal +Konsonant/. Das zeigt deutlich das Litauische. In solchen Formen wie lit. tölti "sich entfernen" (sekundär von tolus "fern" abgeleitet) stecken keine Langdiphthonge, sondern Gruppen des Typs /V+K/, wo nur der Langvokal intonierbar ist. Im Lettischen enthalten Formen wie vīrs /vīrs/ "Mann", die durch die Synkope der Endung (< *vīras = lit. vyras) hervorgerufen wurden, keine Diphthonge, sondern Gruppen des Typs /V+K/: Auch hier ist der Sonant nicht intonationsfähig. Wahrscheinlich verhielt sich das Altpreussische in dieser Hinsicht wie die anderen baltischen Sprachen. Man muß demnach synkopierte Formen wie mīls "lieb" (III 61 u) aus *mīlas (vgl. mīlan "lieb" Akk.Sg. III 79 i2 , USW.) oder peisāi "schreiben" (III 7321) aus *peisāja als Gruppen des Typs [V+K], nicht als Langdiphthonge betrachten 27 . Die Schreibkonventionen müssen hier mit Genauigkeit interpretiert werden. Der Vergleich mit dem Ostbaltischen läßt nämlich vier Situationen unterscheiden: Tabelle 8. Die Intonationsbereiche im Baltischen 1

[er/K]

2

[ēr/K] > [ēr/K]

3

[ē/rV/K] > [ēr/K]

4

[ē/rV/K] > [ē/rK]

Zeichenerklärung: K = Konsonant; V = Vokal; / = Intonationsgrenze

27 Vgl. noch gurins " a r m " (III 67 IS , usw. <*gurīnas), kelsāi "lauten" (III 61 6 < *kelsāja), postai "ward, wurde" (III 75 2 < *postajā), rāms "sittig, ruhig" (III 87, <*rāmas), seimīns "Gesinde" (III 83 4 <*seimlnas), waldüns "Erbe" (III 13121 < *waldünas).

86

KAPITEL

II

Die ersten zwei Kontexte bilden sozusagen den Kernbereich der Intonationen. Davon wird etwas später ausführlich die Rede sein. Der Kontext 3 beschreibt die Bildung von Diphthongen aus ursprünglich heterosyllabisehen Gruppen /Kurzvokal+Sonant/. Solche Gruppen entwickeln sich nach dem Zeugnis des Lettischen hinsichtlich der Intonabilität zu Diphthongen, vgl. z.B. lett. *pilis "Schloß" > lett. pils (der sekundäre Diphthong [il] bekommt hier den Schleifton), vgl. auch lit. kelinės > kelnės "Hosen" oder lit. dvejetas > lit. dial. dvėitas "Zweiheit, Zweizahl" 28 . Es besteht Grund zur Annahme, daß auch im Altpreussischen solche Gruppen zu Diphthongen wurden. Dies kann man aus Formen wie täns "er" (III 37,,, usw.) oderpicküls "Teufel" (III 5519) vermuten: täns und picküls gehen auf *tänas, bzw. *pikülas (vgl. tannä Nom.Fem.Sg., III 12110, usw., bzw.pickullan Akk.Sg., III 614, lit. dial.pikülas) zurück. Der Längestrich kann auf zweierlei Weise interpretiert werden. Entweder ist der Vokal (unter dem Akzent?) gedehnt worden - so Mažiulis (PKEŽ III 279 [1996]) - oder diese sekundär entstandenen Gruppen /Vokal+Sonant/ sind zu kurzvokalischen intonationsfähigen Diphthongen geworden. Gegen die erstere Annahme spricht die Tatsache, daß in dem Akkusativ pickullan der betonte Vokal kurz blieb, wie die Geminierung des folgenden Konsonanten zeigt. Ich nehme also an, daß picküls als [pik/ül/s] mit einem gemischten Diphthong [ul] zu interpretieren ist. Es handelt sich jedenfalls kaum um einen Langdiphthong. Der Kontext 4 beschreibt die Behandlung von ursprünglich heterosyllabischen Gruppen /Langvokal+Sonant/. Nach dem Zeugnis des Lettischen sind solche Gruppen nicht zu Diphthongen geworden. Z.B. ist lett. vīrs [vīrs] "Mann" als Gruppe /Langvokal+Sonant/ parallel zu /Langvokal+Konsonant/ zu interpretieren, nicht als Langdiphthong: Allein schon die Tatsache, daß der Stoßton nicht auf dem Sonant Irl fällt, zeigt, daß dieser außerhalb des Intonationsbereichs steht. Im Altpreussischen haben wir Formen wie mīls "lieb" (III 6714), die wie die entsprechenden lettischen Formen als Gruppen /Langvokal+Sonant/, nicht als Langdiphthonge interpretiert werden dürfen. Somit scheidet die Vermutung aus, daß das Altpreussische Langdiphthonge gekannt hat. Es bleibt also nur das Problem der Kurzdiphthonge und ihrer Bezeichnung im Altpreussischen. Fortunatov (1880: 153, 1895: 278-279) hat längst auf die Tatsache hingewiesen, daß Diphthonge im Enchiridion den Längestrich auf ihren ersten oder auf ihren zweiten Teil bekommen kön-

2S

Vgl. Smoczynski (2001b:

155-162).

DAS BALTISCHE A K Z E N T - U N D INTONATIONSSYSTEM

87

nen und die Stellung des Längestrichs die Natur der Intonation des Diphthongs zu erkennen gibt. Paradebeispiel: •

pogaüt "empfangen" (III 537) als *[-gau-ti-] zu deuten, mit steigender Intonation wie im Lettischen (dial. gaüt). āusins "Ohren" (III 414) als *[au-s-i-] zu deuten, mit fallender Intonation wie im Lettischen (äuss).

•

Somit lassen sich folgende Entsprechungen feststellen 29 :

Tabelle

9. E n t s p r e c h u n g e n z w i s c h e n d e n b a l t i s c h e n S p r a c h e n Litauisch

Lettisch

Altpreussisch

Fallton,

Schleifton,

Schleifton,

fallende Intonation (krītošā)

steigende

fallende Intonation

Gravis < ' >

Intonation (tvirtagalė)

Längestrich

auf d e m ersten Teil

Tilde < ~ >

a u f d e m ersten Teil

des Diphthongs

auf d e m zweiten Teil

des Diphthongs

des Diphthongs Dehnton,

Stoßton,

Stoßton,

gestreckte

fallende

steigende Intonation

Intonation (stieptā)

Intonation (tvirtapradė)

Längestrich

Tilde < ~ >

Akut < ' >

a u f d e m zweiten Teil

auf d e m zweiten Teil

auf d e m ersten Teil

des Diphthongs

des Diphthongs

des Diphthongs

in u r s p r ü n g l i c h b e t o n t e r

( A k z e n t t y p 1)

Silbe Brechton, gebrochene

Stoßton, fallende

Stoßton, steigende

Intonation (lauztā)

Intonation (tvirtapradė)

Intonation

A

Akut < ' >

Längestrich

auf d e m zweiten Teil

auf d e m ersten Teil des

auf d e m zweiten Teil

des Diphthongs

Diphthongs

des Diphthongs

in u r s p r ü n g l i c h u n b e t o n t e r

( A k z e n t t y p 3)

Zirkumflex <

>

Silbe

Diese Theorie, die mittlerweile klassisch geworden ist, wirft zwei Fragen auf: •

Bezeichnet der Längestrich tatsächlich die Intonationen?

Vgl. Derksen (1998: 48).

88

•

K A P I T E L II

Angenommen, daß dies der Fall ist, bezeichnet er gleichzeitig auch die Akzentstelle? Oder anders gesagt: Bezeichnet der Längestrich die Intonationen unter dem Akzent?

Um diese Fragen zu beantworten, muß man das Material einer genauen Analyse unterziehen. Hierfür gebe ich repräsentative Belege des Längestrichs auf Diphthongen im altpreussischen Enchiridion: • •

•

• •

• • • • • • • • • • • •

: z.B. aīnan "ein" (III 12720), dāiti "gebet" (III 912, usw.), erläiku "erhält" (III 4517), kelsāi "lauten" (III 616). <ei>: z.B. geJwan "Leben" (III 12722, 12920, aber geiwan III 12112), seīti "seid!" (III 898, 9123), bei "war" (III 1074), enwackeimai "anrufen" (III 29 s ). : z.B. äusins "Ohren" (III 41 4 ), daūsin "Seele" (III 577, 8118), kaulins "Beine" Akk.Pl. (III 10119), pertrauki "verschloß" (III 10114), pogaüt "empfangen" (III 537). : z.B. boüt "sein" (III 4116), poüton "trinken" (III 7524, usw.), soüns "Sohn" (III 674, usw.). : z.B. länkinan "gefeiert" (III 29 x ), perbända "versucht" (III 55 ļ6 ), ränkan "Hand" Akk.Sg. (III 8310, usw.), skellänts "schuldig" (III 65]8, USW.). <en>: z.B. mēntimai "lügen" (III 294), sacramēnts "Sakrament" (III 7313, usw.). : z.B. dīnkaut "danken" (III 4115, usw.), newints "neunter" (III 355), seimīns "Gesinde" (III 834), senrīnka "sammelt" (III 4516). : z.B. künti "pflegt" (III 10319), waldüns "Erbe" (III 13121). : z.B. rāms "sittig, ruhig" (III 872). <em>: z.B. tēmpran "teuer", Akk.Sg. (III 4318, usw.). : z.B. dessīmts "zehnter" (III 3516), īmt "nehmen" (III 9914). : z.B. etkümps "wiederum" (III 55,,, usw.), kümpinna "hindert" (ITI5114). : stürintickröms "eifrig" (III 3713). <ar>: z.B. ainawärst "einmal" (III 6926), kārtai "bitter" (III 93, 0 ), märtin "Braut" (III 107l9, usw.), pagär "neben" (III 276). <er>: z.B. gerbt "sprechen" (III 121,4), kērdan "Zeit" (III 978, usw.), powierpt "verlassen" (III 107l7, usw.). : z.B. gīrbin "Zahl" (III 121 5 ),powJrps "frei" (III 95]8). : stürnawingisku "ernstlich" (III 115l8 l9), stürnawiskan "Ernst" (III 1173).

DAS BALTISCHE AKZENT-

UND

INTONATIONSSYSTEM

89

•

: ālgas "Lohn", Gen.Sg. (III 8718, 893), wäldnikans "Könige" (III

• • •

9115). <el>: sendraugiweldnikai "Miterben" (III 93g). : mīls "lieb" (III 6714).

: picküls "Teufel" (III 5519), tülninai "du mehrst" (III 131]6_I7, usw.).

Es fällt sofort auf, daß die Diphthonge in zwei Kategorien zerfallen. Diphthonge, die mit <-i> oder <-u> auslauten, können auf beiden Seiten den Längestrich bekommen, woraus Minimalpaare entstehen, zum Beispiel: • • •

<āi> / : polāikt "bleiben" (III 115S) / aīnan "ein" (III 12720). <ēi> / <el>: ēit "gehen" (III 29 l 8 ) / gelwans "lebendig" (III 127' 15 16/ V° • <āu> / : äusins "Ohren" (III 414) /pogaüt "empfangen" (III 537).

Hingegen können die "gemischten" Diphthonge, die mit <-n>, <-m>, <-r> oder <-l> auslauten, den Längestrich nur auf ihrem ersten Teil bekommen. Beispiele: • • • •

• • • • •

<än>: ränkan "Hand" Akk.Sg. (III 831(), usw.), ränkans Akk.Pl. (III 79 ļ9 , USW.). Kein Beleg von *. <ēn>: mēntimai "lügen" (III 294), epmēntimai "belügen" (III 332ü-35,). Kein Beleg von *<en>. : newints "neunter" (III 355), senrīnka "sammelt" (III 4516). Kein Beleg von *. <ün>: künti "pflegt" (III 103]9), pokünst "behüten" (III 79 ļs , usw.), pokünti (III 41 n ), nipoküntuns "verwahrlost" (III 67x). Kein Beleg von *. <ām>: rāms "sittig, ruhig" (III 872). Kein Beleg von *. <ēm>: tēmpran "teuer", Akk.Sg. (III 431X, usw.). Kein Beleg von *<em>. : dessīmts "zehnter" (III 35 ļ6 ), dessīmton (III 87 lg , 11119), Imt "nehmen" (III 99 l4 ). Kein Beleg von *. <üm>: etkümps "wiederum" (III 5 5 n , usw.), kümpinna "hindert" (III 5114). Kein Beleg von *. <öm>: stürintickröms "eifrig" (III 3713). Kein Beleg von *. 30

E s ist h i e r g l e i c h g ü l t i g , d a ß d e r D i p h t h o n g a u f a l t e s *ei o d e r a u f */ z u r ü c k g e h t .

KAPITEL II

90

• • • • • • • •

<är>: mārtin "Braut" (III 107ig, usw.). Kein Beleg von *<ar>. <ēr>: etwierpt "vergeben" (III 55 n , usw.), powierpt "verlassen" (III 107 |7 , USW.). Kein Beleg von *<er>. <īr>: kīrdimai "wir hören" (III 1139, usw.), prēipīrstans "Ringe" (III 107 n ). Kein Beleg von *. <ür>: stümawingisku "ernstlich" (III 115]8 19), stürnawiskan "Ernst" (III 1173). Kein Beleg von *. <āl>: älgas "Lohn", Gen.Sg. (III 8718, 893), wäldnikans "Könige" (III 9115). Kein Beleg von *. <ēl>: sendraugiweldnikai "Miterben" (III 938). Kein Beleg von *<eī>. : mīls "lieb" (III 6714). Kein Beleg von *. <ül>: tülninai "du mehrst" (III 13116 17, usw.). Kein Beleg von *
.

Offensichtlich war die Stellung des Längestrichs bei den gemischten Diphthongen (sei es aus typographischen Gründen, sei es aus anderen Gründen) auf den ersten Teil des Diphthongs beschränkt 31 . In diesem Fall haben wir also im Prinzip wenig recht, von einer kontrastiven Bezeichnung der Intonationen zu reden. Das bedeutet aber nicht, daß selbst hier keine Information über die intonatorische Struktur des Worts gegeben wird. Denn für fast jedes dieser Wörter ist eine fallende Intonation wahrscheinlich. Ihr entspricht im Lettischen eine fallende Intonation, im Litauischen eine steigende Intonation. Beispiele: •

•

<än>: - fallende Intonation in apr. ränkan "Hand" Akk.Sg. (III ränkans Akk.Pl. (III 7919, usw.) / fallende Intonation in steigende Intonation in lit. rankä, Akk.Sg. ranką. <ēn>: - fallende Intonation in apr. mēntimai "lügen" (III 294), "belügen" (III 3320—35,) / steigende Intonation in lit. minti sich erinnern".

31

8310, usw.), lett. rüoka,

epmēntimai "gedenken,

V g l . O l a n d e r ( 2 0 0 9 : 122). T y p o g r a p h i s c h e G r ü n d e sind d e n k b a r . D a s b e d e u t e t nicht,

daß eine K o m b i n i e r u n g des Längestrichs z.B. mit < n > typographisch u n m ö g l i c h war, vgl. d e n D r u c k f e h l e r snndintwti

" s t r a f e n " ( f ü r *sündintwei,

III 3 9 , ) . V i e l l e i c h t e r s c h i e n sie

jedoch im R a h m e n der damals herrschenden Schreibkonventionen abwegig, die entweder auf d e m Muster des D e u t s c h e n ( w o r a u s z.B. die G e m i n i e r u n g der K o n s o n a n t e n als Z e i c h e n f ü r V o k a l k ü r z e ) oder des Lateinischen ( w o r a u s z.B. der G e b r a u c h des Längestrichs als Zeichen für Vokallänge) beruhten.

DAS BALTISCHE AKZENT- U N D INTONATIONSSYSTEM

•

91

<īn>: - fallende Intonation in apr. newmts "neunter" (III 355) / steigende Intonation in lit. devintas (lett. devītais mit sekundärem Brechton nach astuötais "achter"). - fallende Intonation in apr. senrīnka "sammelt" (III 4516) / steigende Intonation in lit. rinkti "sammeln". • <ün>: - fallende Intonation in apr. künti "pflegt" (III 103l9), pokünst "behüten" (III 7915, \isw.),pokūnti (III 41,,), nipoküntuns "verwahrlost" (III 678) / steigende Intonation in lit. dial. kunta "sich absondern, sich abscheiden" (Inf. kusti). • <ēm>: - fallende Intonation in apr. tēmpran "teuer", Akk.Sg. (III 43,8, usw.) / steigende Intonation in lit. tempti "ziehen, strecken". • : - fallende Intonation in apr. dessīmts "zehnter" (III 35,6), dessīmton (III 8718, 11119) / steigende Intonation in lit. dešimtas "zehnter". - fallende Intonation in apr. Tmt "nehmen" (III 99 l4 ) ~ steigende Intonation in lit. imti "nehmen". • <üm>: - fallende Intonation in apr. etkümps "wiederum" (III 55,,, usw.), kümpinna "hindert" (III 51 |4 ) / fallende Intonation in lett. kümpt "krumm werden, verwachsen, verschrumpfen", steigende Intonation in lit. atkumpti "sich beugen". • <är>: - fallende Intonation in apr. märtin "Braut" Akk.Sg. (III 107l9, usw.) / fallende Intonation in lett. marša "Frau des Bruders", steigende Intonation in lit. marti "Braut", Akk.Sg. marčią. • <ēr>: - fallende Intonation in apr. etwierpt "vergeben" (III 5 5 n , usw.), powierpt "verlassen" (III 107,7, usw.) / steigende Intonation in lit. dial. atvērpti "(etwas Hartes) abschneiden, abhauen, wegreißen". • : - fallende Intonation in apr. kīrdimai "wir hören" (III 1139, usw.) / steigende Intonation in lit. girdi "er hört". - fallende Intonation in apr. (prēi)pīrstans "Ringe" Akk.Pl. (III 107,,) / fallende Intonation in lett. pirksts "Finger", steigende Intonation in lit. pirštas "Finger".

92

•

•

K A P I T E L II

<āl>: - fallende Intonation in apr. ālgas "Lohn", Gen.Sg. (III 8718, 893) / fallende Intonation in lett. älga "Lohn", steigende Intonation in lit. algä "Lohn", Akk.Sg. algą. - fallende Intonation in apr. wäldnikans "Könige" Akk.Pl. (III 9115) / fallende Intonation in lett. valdīt "regieren", steigende Intonation in lit. valdyti "regieren", 3. Pers. valdo. <ēl>: - fallende Intonation in apr. sendraugiweldnikai "Miterben" (III 938) / fallende Intonation in lett. valdīt "regieren" (Metatonie in lit. veldėti "erben", 3. Pers. veidi).

Bei den Diphthongen, die mit /-i/ oder /-u/ auslauten, ist der Intonationskontrast hingegen besonders deutlich, wie aus folgenden etymologischen Entsprechungen ersichtlich wird. Beispiele für die fallende Intonation (= fallende Intonation im Lettischen, steigende Intonation im Litauischen): •

<äi>: - fallende Intonation in apr. laiku "halten" (III 37 lg , usw.), läikumai (III 2914), erläiku "erhält" (III 4517), etläikusin "enthält sich" (III 99 ]3 ), isläika "erhält" (III 415 6), isläiku (III 131 ļ6), poläikumai (III 5 523 24), auläikings "massig" (III 872) / steigende Intonation in lit. laikyti "halten", 3. Pers. laiko. Unsicher: lett. dial. läicit2 "hüten, aufsparen" (ME II 401), fallende Intonation in apr. poläikt "bleiben" (III 1155) / fallende Intonation in lett. 3. Pers. liek {likt "stellen, legen"), steigende Intonation in lit. 3. Pers. lieka {likti "lassen"). - fallende Intonation in apr. swäigstan "Schein" (III 35 13 ), erschwäigstinai "erleuchtet" (III 45 ] 6 1 7 ), erschwäistiuns (III 45 |3 ), poswäigstinai "erleuchte" (III 13314) / steigende Intonation in lit. šviesti "glänzen". - fallende Intonation in apr. käimaluke "sucht heim" (III 3715) / fallende Intonation in lett. ciems " D o r f ' , steigende Intonation in lit. kiemas " H o f ' (aber käimas "Dorf' mit Akut). - fallende Intonation in apr.prakäisnan "Schweiß" Akk.Sg. (III 10514) / fallende Intonation in lett. kaitēt "brennen", steigende Intonation in lit. kaisti "heiß machen, erhitzen" {vgl. prakaitas "Schweiß"). - fallende Intonation in apr. quäits "Wille" (III 515) / steigende Intonation in lit. kviesti "einladen".

DAS BALTISCHE AKZENT- U N D INTONATIONSSYSTEM

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•

93

<ēi>: - fallende Intonation in apr. ēisei "gehst" (III 81,), ēit (III 29 ļ8 ), ēilai (III 121 T), perēit "kommen" (III 45,,, usw.), perēimai (III 63, 8 ) / steigende Intonation in lit. eiti "gehen" (lett. iėt mit sekundärem Brechton). - fallende Intonation in apr. gēide "warten" (III 85g), giēidi (III 838) / fallende Intonation in lett. gaidīt "warten, harren, erwarten", steigende Intonation in lit. geisti "wünschen, begehren, verlangen". - fallende Intonation in apr. prėi "zu" (III 3 3 n ) , prēigimnis "Art" (III 115 2l ), prēipīrstans "Ringe" Akk.Pl. (III 107,,), prėisiks "Feind" (III 7920) / steigende Intonation in lit. prie "an". - fallende Intonation in apr. kniēipe "schöpft" (III 1077) / steigende Intonation in lit. kneipti "ausklauben, -stochern, herumklauben, -basteln, -stochern". - fallende Intonation in apr. perrēist "verbinden" (III 892) / fallende Intonation in lett. raisīt "binden", steigende Intonation in lit. raišyti "binden", 3. Pers. raišo (LKZ XI 66). - fallende Intonation in apr. weisin "Frucht" (III 1098) ~ steigende Intonation in lit. vaisius "Frucht". <äu>: - fallende Intonation in apr. āusins "Ohren" (III 414) / fallende Intonation in lett. äuss "Ohr", steigende Intonation in lit. ausis "Ohr", Akk. Sg. ausį. - fallende Intonation in apr. driäudai "fuhren sie an" (III 11122) / fallende Intonation in lett. draudēt "drohen", steigende Intonation in lit. drausti "verbieten".

Beispiele für die steigende Intonation (= gestreckte oder gebrochene Intonation des Lettischen, fallende Intonation des Litauischen): •

•

: - steigende Intonation in apr. aīnan "ein" (III 12720) / gebrochene Intonation in lett. viens "ein", fallende Intonation in lit. vienas "ein" 3 (der Anlaut v- ist unerklärt). : - steigende Intonation in apr. kaulins "Beine" Akk.Pl. (III 101,9) / gestreckte Intonation in lett. kaüls "Knochen", fallende Intonation in lit. käulas "Knochen" 1. - steigende Intonation in apr. pertrauki "verschloß" (III 101,4) / fallende Intonation in lit. traukti "ziehen" (eine fallende Intonation liegt in lett. träukt "schlagen, hastig anfallen, eilen" vor, aber es gibt eine Variante traükt, vgl. ME IV 224).

94

K A P I T E L II

- steigende Intonation in apr.pogaüt "empfangen" (III 537) / gestreckte Intonation in lett. dial. gaüt "bekommen", fallende Intonation in lit. gäuti "bekommen". - steigende Intonation in apr. rickaüsnan "Regierung" (III 5315) / fallende Intonation in lit. dial. rykäuti "regieren, herrschen" (neben rykauti, LKŽ XI 600). In einigen Fällen gehen Diphthonge auf alte Langvokale zurück. Auch hier ist die Konvergenz der drei baltischen Sprachen auffällig. Alle Beispiele haben im Altpreußischen eine steigende Intonation (= gestreckte oder gebrochene Intonation des Lettischen, fallende Intonation des Litauischen): •

•

<eī> < /!/: - steigende Intonation in apr. gelwans "lebendig" Akk.Pl. (III 1271516), geiwan "Leben" (III 12722, 12920, ein Druckfehler liegt vor in geiwan III 12112) neben giwan (III 9117, usw.) / gebrochene Intonation in lett. dzivs "lebendig", fallende Intonation in lit. gyvas "lebendig" 3. - steigende Intonation in etneJwings "gnädig" (III 5120), nieteīstis "Ungnade" (für *nietneīstis, III 1 1524) neben etnīstis "Gnade" (III 11116, usw.) / fallende Intonation in lit. dial. nytis "Faden" (Grundbedeutung etwa: "drehen"). Die etymologische Deutung ist aber unsicher. ,
DAS BALTISCHE A K Z E N T - U N D INTONATIONSSYSTEM

95

naumans "uns" Dat. (III 576, usw.) / gestreckte Intonation in lett.jüsu "ihr", müsu "unser", fallende Intonation in lit. jūsų "ihr", müsu "unser". Gegenbeispiele, die diesen Entsprechungsregeln widersprechen, sind selten: - fallende Intonation in apr. laiskas "Büchlein" (III 111,, usw.) / fallende Intonation in lit. laiskas "Brief' 3. Es gibt aber im Litauischen eine schleiftonige Variante laiškas 4 (s. LKZ VII 71), die alt sein könnte (die Endbetonung in laisjküs in DP 90, 7 [1599] ist mit dem Akzenttyp 4, nicht mit dem Akzenttyp 3 kompatibel). - fallende Intonation in apr. aulāut "sterben" (III 63 ]6) / gestreckte Intonation in lett. ļauties "aufhören", fallende Intonation in lit. liäutis "aufhören". Die Diskrepanz ist unerklärt. - steigende Intonation in apr. seīti "seid!" (III 898, 9123) / steigende Intonation im lit. Permissiv teesie "möge er sein". Die altpreussische Form ist dunkel; die Lösung von Van Wijk (1929: 161-162) ist unwahrscheinlich 32 . - steigende Intonation in apr. poüton "trinken" (III 7524, usw.), poüis "Trinken" (III 75, 5 ) nebenpūton (III 416) / steigende Intonation in lit. puotä "Trink-, Zechgelage, (Fest)gelage, Gastmahl", Akk.Sg. puotą. Eine Metatonie könnte in der litauischen Ableitung vorliegen33. Es gibt auch einige Fälle, wo die Stellung des Längestrichs bei demselben Wort schwankt 34 . In all diesen Fällen kann man Druckfehler vermuten, weil nur ein einziger Beleg von allen anderen abweicht. Beispiele: - < e ī > in gelwans "lebendig" Akk.Pl. (III 127, 516 ), geiwan "Leben" (III 12722, 12920) / <ēi> in geiwan (III 12112). - <ēi> in stēise "des" Gen.Sg. (III 63 s ), stēison "der" Gen.Pl. (III 7512, usw.), stēismu "dem" Dat.Sg. (III 1157, usw.) / <eī> in steīsmu (III 117^).

32 33 34

Vgl. Petit (2004a: 205). So D e r k s e n (1996: 135) aus e t y m o l o g i s c h e n G r ü n d e n . E s ist a u ß e r d e m z u b e t o n e n , d a ß d a s U n t e r b l e i b e n d e s L ä n g e s t r i c h s s e h r h ä u f i g ist.

B e i s p i e l e : aīnan

" e i n " A k k . S g . ( I I I 1 2 7 2 0 ) / ainan

/ kai ( I I I 2 9 p u s w . ) ; gerbt

97 8 , usw.) / kerdan (III 83 9 ); kērmeneniskan 5 1 ļ 7 ); isspresnān

/ mukinsnan

( I I I 4 5 4 , u s w . ) ; kāi " d a ß " ( I I I 1 2 3 ( J , u s w . )

" s p r e c h e n " ( I I I 1 2 1 1 4 ) / gerbt

( I I I 7 9 l 0 , u s w . ) ; kērdan

" Z e i t " (III

"leiblich" (III 77 4 5, usw.) / kermeneniskan

" V e r n u n f t " ( I I I 9 3 6 ) / isspresnan

( I I I 1 0 1 3 ) ; mukīnsnan

(III

" L e h r e " (III 8520)

(III 8 7 n , usw.); skellānts "schuldig" (III 651S, usw.) / skellants (III 67 ļ9 ).

96

K A P I T E L II

- in aupallai "findet" (III 7920_2]) / in auschautins "Schulden" (III 5 320 21). - in pogaūt "empfangen" (III 537) / <äu> in pogāunai (III 65,,). Abgesehen von diesen Ausnahmen ist die Stellung des Längestrichs keineswegs arbiträr, sondern sie folgt bestimmten Entsprechungsregeln. Von Zufall kann hier kaum die Rede sein. Man kann demnach die Theorie von Smoczynski (2000a: 150, Fußnote 225; vgl. ebenfalls LAV 330-331 [2005]) verwerfen, der jede Spur von Intonationen im altpreussischen Enchiridion ablehnt und von folgenden Grundsätzen ausgeht: •

•

Ist ein Diphthong primär, dann befindet sich der Strich fast ausnahmslos über dem ersten von zwei Vokalbuchstaben. Beispiel: perēit "kommen" (III 45,,, usw.). Geht hingegen ein Diphthong auf einen älteren Langvokal zurück, dann befindet sich der Strich über dem zweiten Vokalbuchstaben. Beispiel: geTwans "lebendig" (III 127,s ,6).

Mit diesen Grundsätzen muß Smoczynski m.E. eine größere Zahl an Gegenbeispielen (aīnan "ein", kaülins "Beine", pertrauki "verschloß", pogaüt "empfangen", rickaüsnan "Regierung") beseitigen als die herkömmliche Analyse. Deshalb halte ich diese Theorie für unökonomisch. Der Grund der vorgeschlagenen Verteilung bleibt ebenfalls unklar. Warum würde der Längestrich auf dem ersten Teil der alten Diphthonge, auf dem zweiten Teil der neuen Diphthonge stehen? Es bleibt nun zu untersuchen, ob der Längestrich bei Diphthongen nicht nur die intonatorische Struktur, sondern auch die Akzentstelle bezeichnet. In vielen Fällen steht tatsächlich fest, daß die Silbe, die einen mit einem Längestrich versehenen Diphthong aufweist, mit der betonten Silbe im Ostbaltischen übereinstimmt. Beispiele: •

•

<äi>: - Stammbetonung in apr. läiku "halten" (III 37,x, usw.), läikumai (III 29, 4 ), erläiku "erhält" (III 45, 7 ), etläikusin "enthält sich" (III 99, 3 ), isläika "erhält" (III 415 6), islaiku (III 131,6), poläikumai (III 5 5 23 24), auläikings "massig" (III 872) / Stammbetonung in lit. 3. Pers. laiko, PI. 1. laikome. <ēi>: - Stammbetonung in apr. ēit (III 2918), perēit "kommen" (III 45 u , usw.) / Stammbetonung in alit. eiti "er geht" (vgl. DP eiti 36444, eiti 370,, usw. [1599]).

DAS B A L T I S C H E A K Z E N T - U N D I N T O N A T I O N S S Y S T E M

97

- Stammbetonung in apr. gēide "warten" (III 859), giēidi (III 83x) / Stammbetonung in lit. 3. Pers. geidžia "er wünscht, begehrt, verlangt". - Stammbetonung in apr. weisin "Frucht" (III 109x) / Stammbetonung in lit. vaisius "Frucht" 2. : - Stammbetonung in apr. aīnan "ein" (III 12720) / Stammbetonung in lit. vieną Akk.Sg. Es liegt ursprüngliche Endbetonung vor in lett. viens (mit Brechton) und in lit. vienas 3. <āu>: - Stammbetonung in apr. driäudai "fuhren sie an" (III 11122) / Stammbetonung in lit. draudžia "er verbietet, sie verbieten". : - Stammbetonung in apr. kaulins "Beine" Akk.Pl. (III 10119) / Stammbetonung in lett. kaüls "Knochen" und in lit. käulas "Knochen" 1. - Stammbetonung in apr. pertraüki "verschloß" (III 10114) / Stammbetonung in lit. traukė "er zog" (aber pertraukė). - Verbbetonung in apr. pogaüt "empfangen" (III 537) / Verbbetonung in lit. pagäuti "bekommen" (das Beispiel ist aber wegen des Saussureschen Gesetzes im Litauischen nicht beweiskräftig). <än>: - Stammbetonung in apr. ränkan "Hand" Akk.Sg. (III 8310, usw.) / Stammbetonung in lit. rankä 2, Akk.Sg. ranką. <īn>: - Suffixbetonung in apr. newints "neunter" (III 355) / Ursprüngliche Endbetonung in lit. devintas 4 (vgl. Gen.Pl. devintų). Die Suffixbetonung der apr. Form könnte durch die Synkope der Endung verursacht worden sein. : - Zweitsilbenbetonung in apr. dessīmts "zehnter" (III 3516), dessīmton (III 87 ļ8 , 11119) / Endbetonung in lit. dešimtis "zehn" (neben dešimt). Die Zweitsilbenbetonung könnte in der apr. Form durch die Synkope der Endung verursacht worden sein. <är>: - Stammbetonung in apr. märtin "Braut" Akk.Sg. (III 10719, usw.) / Stammbetonung in lit. marčią Akk.Sg. gegenüber marti 4 (ursprüngliche Endbetonung). <ēr>: - Verbbetonung in apr. etwierpt "vergeben" (III 55,,, usw,),powiērpt "verlassen" (III 10717, usw.) / Verbbetonung in lit. dial. atvērpti

KAPITEL II

98

•

"(etwas Hartes) abschneiden, abhauen, wegreißen" (keine Verlagerung des Akzents auf das Präverb). : - S t a m m b e t o n u n g in apr. kīrdimai "wir hören" (III 113g, usw.) / Stammbetonung in lit. girdime "wir hören".

Es gibt ein paar Gegenbeispiele. Einige von ihnen können durch die Tatsache erklärt werden, daß das Saussuresche Gesetz trotz Bonfante (1932: 76) dem Altpreussischen fremd gewesen zu sein scheint 35 . Beispiele: •

•

Stammbetonung in apr. (prēi)pīrstans "Ringe" Akk.Pl. (III 107,,) / Endbetonung im Akkusativ Plural lit. pirštus (wegen des Saussureschen Gesetzes). Es liegt ursprüngliche Stammbetonung vor {pirštas 2), so daß die Annahme naheliegt, daß das Altpreussische hier etwas Altes fortsetzt. Stammbetonung in apr. ränkans Akk.Pl. (III 79, 9 , usw.) / Endbetonung im Akkusativ Plural lit. rankäs (wegen des Saussureschen Gesetzes). Es liegt auch hier ursprüngliche Stammbetonung vor {rankä 2, Gen.Pl. rankų), vgl. z.B. den Instr.Pl. räkomis bei Daukša (DP 23722, usw. [1599])36.

Echte Diskrepanzfälle sind äußerst selten und können eine Erklärung finden: •

•

Stammbetonung in apr. äusins "Ohren" Akk.Pl. (III 414) / Endbetonung im Akkusativ Plural lit. ausis (wegen des Saussureschen Gesetzes). Es liegt ursprüngliche Endbetonung vor {ausis 4), vgl. schon den Gen.Pl. ausiü bei Daukša (DP 27645, usw. [1599]) 37 . Wenn es sich etymologisch um ein Wurzelnomen handelt, erwartet man eher Stammbetonung. Stammbetonung inperēimai (III 63, 8 ) / Endbetonung in alit. eime "wir gehen" (vgl. eime DP 1022 [1599]). Die Stammbetonung in der zweiten Person des Singulars ēisei "du gehst" (III 81,) könnte regelmäßig sein, die altlitauischen Entsprechungen sind aber schwierig (Stammbetonung zumindest beim Verbum "sein" in ėssi DP 189, 4 , usw.

35

A n d e r s M i l e w s k i ( 1 9 6 6 : 1 2 5 ) , d e r B e i s p i e l e w i e a p r . widdewu

vidhävä heranzieht. 36

Vgl. Skardžius ( R R V 122 [1935a]).

37

Vgl. S k a r d ž i u s ( R R V 153 [1935a]).

" W i t w e " neben aind.

DAS B A L T I S C H E A K Z E N T - U N D I N T O N A T I O N S S Y S T E M

•

•

99

[1599]). Man könnte vermuten, daß das Altpreussische bei den Athematica die Stammbetonung verallgemeinert und somit die Akzentmobilität beseitigt hat. Stammbetonung in apr. älgas "Lohn", Gen.Sg. (III 87 lg , 893) / Endbetonung in lit. algä "Lohn" 4, Gen.Sg. algös. Im Altlitauischen war die Betonungstendenz schwankend, vgl. Gen.Sg. algös (DP 912, 32034, usw., 13x [1599]) oder älgos (DP 54223 [1599]); der Lokativ Singular älgoie (DP 38444 [1599]) mit doppeltem Akzent zeugt auch von derselben Schwankung. Das Wort könnte ursprünglich zum Typ 2 gehört haben38. Verbbetonung in apr. senrīnka "sammelt" (III 4516) / Präverbbetonung in lit. sürenka "er sammelt" (Inf. surinkti "sammeln"). Die Verlagerung des Akzents auf das Präverb ist im Litauischen alt (vgl. sūręka DP 33131 [1599]). Es fällt jedoch auf, daß das Altpreussische die Schwundstufe des Präteritums (vgl. lit. surinko) auf das Präsens ausgedehnt hat (apr. senrīnka). Es ist möglich, daß es dabei auch die Stammbetonung verallgemeinert hat.

Wenn obige Analyse das Richtige trifft, so folgt daraus, daß die Bezeichnung der Intonationen im altpreussischen Enchiridion nur in betonter Stellung erfolgt. Bei den Diphthongen besitzt der Längestrich also zwei Funktionen (Intonation und Akzentstelle). Wenn man bedenkt, daß der Längestrich bei den Vokalen auch zwei Funktionen besitzt (Länge und Akzentstelle), erscheint die Frage legitim, ob dem Längestrich eine einheitliche Funktion beigemessen werden kann. Es könnte nun der Gedanke aufkommen, daß die Hauptfunktion des Längestrichs die Bezeichnung der Hervorhebung einer Silbe im Wort war. Bei den Vokalen wurden betonte Langvokale schärfer hervorgehoben als betonte Kurzvokale, die dementsprechend unbezeichnet blieben (unbetonte Langvokale waren hingegen verkürzt). Bei den Diphthongen wurden betonte Einheiten ebenfalls schärfer hervorgehoben als unbetonte Einheiten und die Intonationskontraste waren - wie im Hochlitauischen - deutlicher in betonter Stellung als in unbetonter Stellung. Zum Schluß noch eine Bemerkung. Schreibt man dem Längestrich die Funktion der Akzentstellenbezeichnung zu, so beobachtet man Akzentbewegungen, die den Schluß nahelegen, daß das Altpreussische noch einen freien und mobilen Akzent hatte. Davon zeugen die folgenden Beispiele: 38

S o M i l e w s k i (1966: 122).

100

K A P I T E L II

•

Stammbetonung in brati "Bruder" (III 67 10 ) / Suffixbetonung in bratrīkai "Brüder" (III 895). • Stammbetonung in lāiku "halten" (III 37IX, usw.), lāikumai (III 2914), erläiku "erhält" (III 45 ]7 ), poläikumai (III 5 5 23 24) / Suffixbetonung in laiküt "leisten" (III 10710), laiküts (III 172l), erlaiküt "erhalten" (III 5518, 918), erlaiküuns (III 45 ļ 4 ), polaikūt "behalten" (III 3514). • Stammbetonung in giwu "du lebst" (III 8514) / Suffixbetonung in giwit "leben" (III 4321). • Stammbetonung in kīrdimai "wir hören" (III 113 9 , usw.) / Suffixbetonung in kirditwei "hören" (III 6715). • Stammbetonung in mīls "lieb" (III 67 14 ), mīlan (III 7912, usw.) / Suffixbetonung in milē "lieben" (III 3717). Es wäre jedoch gewagt, mit Milewski (1966: 119-126) Akzentparadigmen im Altpreussischen zu rekonstruieren 39 . Dafür ist das altpreussische Material einfach zu dürftig. 2. Die indogermanischen Grundlagen des baltischen und Intonationssystems

Akzent-

Die bisherigen Betrachtungen legen den Schluß nahe, daß das baltische Akzent- und Intonationssystem etwas Altes ist, insofern es in allen baltischen Sprachen vertreten ist. Es bestehen jedoch Unterschiede, die die Rekonstruktion des urbaltischen Stadiums erschweren. Es wird meist behauptet, daß das Urbaltische ein Intonationssystem mit zwei Intonationen, die durch die Cover-Symbole "Schleifton" (Tilde / /) und "Stoßton" (Akut / ' /) bezeichnet werden, besaß und diese Intonationen ursprünglich von dem Akzent unabhängig waren, wie im Lettischen und durch das Saussuresche Gesetz im Litauischen noch ersichtlich wird. Die Beschränkung der Intonationen auf betonte Silben im Litauischen und im Altpreussischen muß als Neuerung gelten. Hinsichtlich der Natur der Intonationen wird meist angenommen, daß die baltischen Intonationen durch eine Morenstruktur charakterisiert wurden: Der Schleifton sei ursprünglich fallend, der Stoßton steigend gewesen, wie dies im Lettischen und im Altpreussischen noch der Fall ist; die hochlitauischen Verhältnisse (steigender Schleifton, fallender Stoßton) resultieren aus einer Umstellung der ursprünglichen Sachlage. Der lettische Brechton wird traditionell als eine Neuerung aufgefaßt. Also zusammenfassend (s. Olander 2009: 124):

Vgl. die D i s k u s s i o n bei S c h m a l s t i e g ( 1 9 7 6 :

125-128).

DAS BALTISCHE A K Z E N T - U N D INTONATIONSSYSTEM Tabelle

101

10. D i e R e k o n s t r u k t i o n d e s u r b a l t i s c h e n I n t o n a t i o n s s y s t e m s

Urbaltisch

Lettisch

Schleifton (fallend)

Fallton (fallend)

Schleifton (fallend)

Schleifton

Tilde/

Gravis / ' /

Längestrich

(steigend)

auf d e m ersten Teil

T i l d e / ~/

/

Altpreussisch

Litauisch

der Diphthonge Stoßton (steigend)

Dehnton

Stoßton (steigend)

Stoßton (fallend)

Akut / ' /

(gestreckt)

Längestrich

Akut / ' /

T i l d e / ~/

auf d e m zweiten Teil

oder Brechton

der Diphthonge

(gebrochen) Zirkumflex / A /

Dieses urbaltische Intonationssystem wird von vielen Autoren als ein indogermanisches Erbe betrachtet. Zunächst legt der Vergleich mit dem Slavischen die Vermutung nahe, daß es sich schon um eine balto-slavische Erscheinung handelt. Im Slavischen haben wir es mit einem ähnlichen Intonationssystem zu tun; die Entsprechungen mit dem Baltischen sind zu auffällig, um dem Zufall zugeschrieben werden zu können40. Es genügt hier, auf die klassische Entsprechung hinzuweisen: •

•

steigender Schleifton in lit. varnas "Rabe" = fallender Schleifton im Slavischen *vornt, vgl. russ. vöron, vgl. noch die Intonation des skr. vrän und den Kurzvokal des tsch. vran. fallender Stoßton in lit. varna "Krähe" = steigender Stoßton im Slavischen *vornā, vgl. russ. voröna, vgl. noch die Intonation des skr. vräna und den Langvokal des tsch. vräna.

Weiter ist auch auf das altgriechische Intonationssystem hingewiesen werden. Seit Bezzenberger (1883: 66) wird der Intonationskontrast zwischen Nom.Sg. algä "Lohn" (< *-a, ursprünglicher Stoßton), Gen.Sg. algös (< *-as, Schleifton) im Litauischen mit einem scheinbar ähnlichen Kontrast im Altgriechischen ctÄcpf) (Akut), Gen.Sg. dtaprję (Tilde) verglichen41. Unlängst (2004c) habe ich z.T. im Gefolge von Jerzy Kurytowicz (1935) diesen Vergleich in Zweifel gestellt. Das altgriechische

40

A u s f ü h r l i c h e r s. i n s b e s o n d e r e S t a n g ( 1 9 5 7 ) , K o r t l a n d t ( 1 9 7 5 ) . S . a u c h

Kortlandt

( 1 9 8 8 : 2 9 9 - 3 1 1 ) , V e r m e e r ( 1 9 9 2 : 1 1 5 - 1 3 6 ) u n d O l a n d e r (2009: 128 fg.). 41

S o a u c h B ū g a ( R R III 4 5 [ 1 9 2 4 ] ) . N e u e r d i n g s h a t O l a n d e r ( 2 0 0 9 : 6 5 f g . ) e i n e l a r y n -

galistischc D e u t u n g der griechischen Intonationen vorgeschlagen, die wie die traditionnelle A u f f a s s u n g (auch w e n n anders formuliert) den Vergleich des Litauischen und des G r i e c h i s c h e n f ü r berechtigt hält. Vgl. m e i n e Kritik bei Petit ( 2 0 0 4 c : 2 2 4 - 2 2 5 ) .

102

KAPITEL II

Intonationssystem ist m.E. eine innergriechische Neuerung, die nichts mit den balto-slavischen Intonationsverhältnissen zu tun hat. Die Entsprechung mit dem Slavischen bleibt aber immer noch gültig. Es ist eine der auffälligsten Übereinstimmungen zwischen dem Baltischen und dem Slavischen überhaupt. Die Frage stellt sich nun, woraus dieses urbaltische Intonationssystem stammt. Zur Beantwortung dieser Frage sind zwei Analysen vorgeschlagen worden. Die herkömmliche Analyse wird z.B. in den klassischen Arbeiten von Stang (1957: 14, 1966: 128-129) wiederholt. Die zweite Analyse, die zum ersten Mal von Vaillant (1936: 114-115) formuliert wurde, verteidigt nun seit mehr als dreißig Jahren Kortlandt (1975: 20-24, 1977: 319-330, 1985, 1988a: 299-311, 1997: 26-27) sowie sein Schüler, Derksen (1991: 60-61, 1996: 19-24) 42 . Beide Analysen können folgenderweise tabellarisch dargelegt werden: Tabelle

11. D i e H e r k u n f t d e s u r b a l t i s c h e n I n t o n a t i o n s s y s t e m s Kortlandt

Stang

Vokale

Stang

Kortlandt

( l ) i d g . [ēK]

balt. [ēK]

balt. [ēK]

balt. [eīK]

(Kurzvokal)

(ohne

(ohne

(Schleifton) (Schleifton) (Kurzdiphthong)

Intonation)

Intonation)

( 2 ) idg. [ e H K ]

balt. [eK]

balt. [eK]

balt. [ėiK]

balt. [ėiK]

(6) idg. [ ē H i C ]

>[ēK]

(Stoßton)

(Stoßton)

(Stoßton)

(Stoßton)

> [ēiC]

balt. [eīK]

Diphthonge (5) idg. [eįC]

(Langvokal

oder idg. [ ē i H C ]

durch Laryngal)

> [ēiC] (Langdiphthong durch Laryngal)

( 3 ) idg. [ ē K ]

balt. [eK]

balt. [ e K ]

balt. [ėiK]

balt. [eīK]

( 7 ) idg. [ ē i C ]

(Langvokal durch

(Stoßton)

(Schleifton)

(Stoßton)

(?)

(Langdiphthong

D e h n s t u f e aus idg.

(Schleifton) durch Dehnstufe

Zeit)

aus idg. Zeit)

(4) balt. [ēC]

balt. [ e K ]

balt. [ e K ]

balt. [ėiK]

b a l t . [eTK]

(8) balt. [ēiC]

(Langvokal durch

(Schleifton)

(Schleifton)

(?)

(?)

(Langdiphthong

(Stoßton)

(Schleifton) durch Dehnstufe

Dehnstufe aus balt. Zeit)

aus balt. Zeit)

Das traditionelle System setzt eine verschiedene Behandlung für die Vokale und für die Diphthonge voraus. Nach Stang setzt der Stoßton bei den Vokalen die aus dem Indogermanischen ererbten Langvokale, der Schleifton die innerbaltischen Langvokale sekundärer Herkunft fort. Bei 42

Vgl. eine Z u s a m m e n f a s s u n g bei O l a n d e r (2009: 36 fg.).

DAS B A L T I S C H E A K Z E N T - U N D I N T O N A T I O N S S Y S T E M

103

den Diphthongen setzt der Schleifton ursprüngliche Kurzdiphthonge, der Stoßton Langdiphthonge fort. Die Trennungslinie ist somit chronologisch bei den Vokalen, quantitativ bei den Diphthongen. Das System von Kortlandt ist insofern einfacher, als es dieselbe Behandlung für die Vokale und für die Diphthonge voraussetzt. Nach Kortlandt setzt der Stoßton immer einen tautosyllabischen Laryngal fort, gleichgültig, ob er in der Struktur eines Vokals oder eines Diphthongs auftritt. Darüber hinaus identifiziert Kortlandt noch einen Kontext, der zur Entwicklung eines Stoßtons führen konnte, das Wintersche Gesetz, das später noch zur Sprache kommen wird43. In beiden Fällen, so Kortlandt, sei der Stoßton auf das Vorhandensein einer ursprünglichen Glottalisierung zurückzuführen, die entweder die Natur der indogermanischen Laryngale oder eine Eigenschaft der indogermanischen stimmhaften Konsonanten widerspiegelt, dies alles im Rahmen der sogenannten "Glottaltheorie". Schließlich nimmt Kortlandt an, und dies ist ein sehr wichtiger Punkt, daß der lettische Brechton diese Glottalisierung unmittelbar reflektiert. Diese Theorie hat den Vorteil, daß sie das Vorhandensein eines Brechtons im Lettischen als etwas Altertümliches deutet, während man sonst mit einer unbegründeten Neuerung zu operieren hat. Darüber hinaus ermöglicht diese Theorie auf die angebliche "Umstellung" der Intonationen im Litauischen zu verzichten, indem sie das Morenprinzip als sekundär betrachtet. Es wäre aber methodologisch anfechtbar, wenn man diese Theorie einfach deswegen, weil sie "ökonomischer" oder "einfacher" erscheint, d.h. aus rein theoretischen Gründen annehmen würde. Zuerst muß man das Material prüfen. Wie man sieht, beruhen beide Systeme auf völlig verschiedenen Grundsätzen, auch wenn sie in den meisten Fällen durchaus kompatibel erscheinen. Der Hauptpunkt, wo beide Systeme divergieren, ist die Behandlung der indogermanischen vokalischen Dehnstufen im Baltischen. Nach Stang werden ursprünglich morphologische Dehnstufen im Baltischen stoßtonig, nach Kortlandt schleiftonig. Aufgrund dieser Divergenz könnte die Debatte nun zu einer rein etymologischen Frage werden. Und dies ist tatsächlich, was geschieht: Die Anhänger beider Systeme werfen einander neue Etymologien an den Kopf, die die Frage entscheiden sollen, welche Intonation aus indogermanischen Dehnstufen zu erwarten ist. Im folgenden möchte ich auf dieses Problem etwas ausfürhlicher eingehen. Im Zentrum der Untersuchung steht die Frage, inwieweit indogermanische Dehnstufen im Baltischen noch reflektiert werden, und gegebenenfalls, welche Intonation sie aufweisen. 43

Vgl. Kortlandt (1977: 319, 1988b: 387-396).

104

-

KAPITEL

II

(1) Phonetische Lang vokale:

Phonetische Langvokale können drei Quellen haben. Entweder sind sie aus Ersatzdehnung nach dem Verlust der Laryngale (la) entstanden oder aus Ersatzdehnung nach dem Verlust eines labialen Sonanten gemäß dem sogenannten Stangschen Gesetz (lb) oder aus der Kontraktion zweier Vokale (lc). Wie verhält sich nun das Baltische in diesen drei Kontexten? •

(la) Langvokale aus Ersatzdehnung nach dem Verlust der Laryngale in tautosyllabischer Position (Paradebeispiel etwa idg. *dhehr "legen" > *dhē-).

Hier besteht kein Zweifel, daß solche Langvokale im Baltischen regelmäßig als akutiert (stoßtonig) reflektiert werden. Daher haben wir im Litauischen den Akut / ' / , im Lettischen den Stoßton / / oder den Brechton / A /; im altpreussischen Enchiridion erwarten wir gegebenenfalls einen Längestrich auf dem zweiten Teil der Diphthonge (insbesondere der sekundär aus Langvokalen entstandene Diphthonge) /VW. Hierfür ein paar Beispiele44: [1] *eh, :

• lit. deti "legen", lett. dėt "(Eier) legen" < idg. *dhehr (gr. TTOLĻ|IL).

[2] *eh2:

• lett. dęls "Sohn" < idg. *dhehrlo- (gr. Gfjkuę). • lit. menuo "Monat" < ± idg. *mehrnös (gr. Įidę, Gen.Sg. (jx|v6ę < *mehj-ns-). • lit. rėžti "zerbrechen" < idg. *urehjģ- (gr. pf|yvuļai). • lit. sėti, lett. sēt "sähen" < idg. *sehl- (lat. sēuī neben serā < *si-shs-e/o-). • lit. göti "schnell gehen", lett. gāju "ich ging" < idg. *gueh2- (gr. eßr|v). • lit.jöti, lett.jät "reiten" < idg. *ieh2- (aind. yati). • lett. kārs "lüstern, gierig", kämet "hungern" < idg. *keh(lat. cārus "lieb", aind. kārna- "Begehren, Verlangen"). • lit. nöras "Wille" < idg. *neh?- (luw. nahhuwai- "sich kümmern"). • lit. stoti, lett. stät "stehen" < idg. *steh,~ (aksl. stati, gr. IGtTļjLU).

[3] *ehi :

44

• lit. düoti, lett. duöt "geben" < idg. *dehf (gr.

ÖIÖCÜIII).

Z u r E n t w i c k l u n g d e r i n d o g e r m a n i s c h e n L a r y n g a l e i m B a l t i s c h e n s. i n s b e s o n d e r e

Smoczynski (2006).

DAS BALTISCHE A K Z E N T - U N D INTONATIONSSYSTEM

[4] *oht :

[5] *oh2:

105

• lit. jüosti "umgürten", lett. juösta "Gürtel" < idg. *ieh rv(gr. ^cavvuļii, avest. yästa-). • lit. plüostas "Fähre" < idg. *pleh(gr. ion. 7uM>(ö "schwimmen"). Die Variante plaustas ist vielleicht sekündar nach pläuti "spülen, schwenken, auswaschen, schlämmen" (< *pleu-, aind. pldvate "schwimmt"). • lett. znuöts "Schwiegersohn" < idg. *gnehfto- (gr. yvcoioę falls nicht aus *ģņh^-to-, vgl. lat. nötus). • lit. bruožas "Strich, Linie, Skizze" < idg. *bhrohlg(h)-o(lit. brėžti "kratzen, ritzen, reißen, entwerfen, skizzieren, zeichnen" < idg. *bhreh$''>-). • lett. buözties "sich sträubig machen" < idg. *bhohlgh(ahd. bägan "sich zanken, streiten" < idg. *bhehlgh-). • lit. pluoštas "Bastfasern, Handvoll, Armvoll, Bündel, Büschel, Streifen, Zeugstück" < idg. *ploh,k-to- (lit. plėšti "reißen, zerren" < idg. *plehlk-). • lit. ruožas "Streifen, Strich, Bezirk, Umgegend" < idg. *urohlg-o- (lit. rėžti "schneiden" < idg. *urehIg-, gr. piļyvu|ii). • lit. klüonas "Tenne, Getreidedarre, Scheune, um die Scheune herumgelegene, eingezäunte Wiese" < idg. *klohno- (lit. klöti "hinbreiten, ausbreiten, überdecken, den Weg bahnen, ebnen" < *kleh7-). • lit. šuokoti "schnell gehen" < idg. *koh2k- (lit. šokti "springen, tanzen", lett. säkt "anfangen, beginnen" < idg. *keh,k-). • lit. stuomuo, Akk.Sg. stuomenį "Körperwuchs, Statur" < Kontamination von idg. *stoh2-mo- (gr. *GT(0)ui0ę in ūTcbļJi^' 8oKię ^DAivrļ "Stützbalken" Hesych) und idg. *steh,-me/on- (gr. oxfļjj,cov "der Aufzug an dem aufrecht stehenden Webstuhl, Kette") 45 .

45 Die Argumentation von Smoczynski (LAV 353, Fußnote 823 [2005]) gegen diesen meinen Ansatz (Petit 2000b) halte ich für verfehlt. Erstens zeigt die dialektologische Verbreitung von stomuo und stuomuo deutlich, daß stomuö eine Neuerung (nach dem Verb stöti) ist, auch wenn es bereits altlitauisch ist. Zweitens muß die Semantik unbedingt berücksichtigt werden. Sie zeigt, daß stuomuo ältere, technische Bedeutungen (insb. "Aufzug an dem aufrecht stehenden Webstuhl") aufweist, die in gr. arrmcov, usw. eine Parallele haben. Drittens kann die Variante stüomas nicht als Neuerung erklärt werden. Darauf beruht meine (von Smoczynski ignorierte) Hypothese, daß im Litauischen Parallelbildungen *stoh-mo- > *stüomas und *steh-me/on~ > * stomuö in ihren alten technischen Bedeutungen ererbt wurden und diese Formen später zu stuomuo kontaminiert wurden. Die

KAPITEL II

106

[6] *oh3 [7] *iH:

[8] *uH

• lett. znuöts "Schwiegersohn" < idg. *gnohfto- (falls nicht idg. *gnehfto-, s. oben). • lett. bīties "sich fürchten" < idg. *bhiH- (aind. bhītd-). • lit. gyvas, lett. dzīvs "lebendig", apr. giwan, geiwan "Leben" Akk.Sg.Nt. < idg. *gvih:i-ųo- (aind. jīvā-, lat. uīuus). • lett. grīva "Flußmündung" < idg. *gvriH-ueh, (skr. grīva "Mähne", aind. grīva "Hinterhals, Nacken"). • lit. pyti "Milch bekommen" < idg. *piH- (aind. päyate "strotzen [von Milch]"). • lit. šyvas "grau" < idg. *kihl-uo- (aind. syävä- "schwarzbraun"). • lit. buti, lett. büt, apr. boüt "sein" < idg. *bhuH- (aind. äbhüt, gr. 8(puv). • lit. dūmai, lett. dümi "Rauch" < idg. *dhuh2-mo- (aind. dhümä-, XdX.fümus, *h2 wegen heth. tuhhae- "rauchen", vgl. Kloekhorst 2008: 889). • lett. jutis "die Stelle, wo sich der Weg teilt, der Scheideweg" < idg. *iuH-ti- (aind. yüü- "Verbindung"). • lit. pūti, lett. püt "faulen, modern" < idg. *puH- (lat. püteö, gr. 7TU0O)). • lit. sūnus, Akk.Sg. sūnų, apr. soūns "Sohn" < idg. *suHnu- (aind. sūnu-).

In all diesen Beispielen haben wir regelmäßig den Stoßton als Fortsetzung einer ursprünglichen Gruppe /VHK/ > /VK/. Dasselbe gilt auch für Diphthonge, die in der Stellung vor ursprünglichen Laryngalen als akutiert reflektiert werden. Es könnte angenommen werden, daß der Laryngal in diesen Kontexten /VRHK7 zunächst vokalisiert wurde und später mit Ersatzdehnung geschwunden ist, also /VRHK/ > /VRsK/ > /VRK/. Nebenbei sei bemerkt, daß das Baltische typologisch die Laryngale in ziemlich ähnlicher Weise wie das Armenische behandelt zu haben scheint, und zwar folgenderweise: •

*#KHK- (Anlaut) > *#KdK- (Vokalisierung) : z.B. lett. stats "ein Pfahl, Pfosten" (< idg. *sth2-tom, gr. oraxoę), wie arm. bay "Wort" (< *badi- < idg. *bhh2-ti-, gr. (panę).

mundartliche Form stomuo "Wuchs, Figur" setzt m.E. nicht die alte Form fort, sondern ist eine Neubildung nach dem Verb stöti.

*steh2-me/on-

DAS B A L T I S C H E A K Z E N T - U N D I N T O N A T I O N S S Y S T E M

•

•

107

*- VKHK- (Inlaut nach Verschlußlaut) > * - VK0K- (Laryngal schwund) : z.B. lit. duktė "Tochter" (< *dhugtēr < idg. *dhugh2tēr, gr. Ouydxrip) wie arm. dowstr "Tochter" (< *dhugtēr < idg. *dhugh0tēr). *-VRHK- (Inlaut nach Sonant) > *-VRdK- (Vokalisierung) > *-VRK(späterer Schwund mit Ersatzdehnung im Baltischen, aber nicht im Armenischen): z.B. lit. ärklas, lett. arkls "Pflug" (< *ärtlo- < *ardtlo< idg. *h2erhftlom, wohl dissimiliert aus *h,erh^-trom), vs. arm. arawr "Pflug" (< *ard9ro- < idg. *h2erh1-trom, gr. äpoxpov).

Der einzige Unterschied zum Armenischen scheint derjenige gewesen zu sein, daß im Baltischen Sequenzen wie *-VRdK- einen Schritt weitergegangen sind, indem sie den Schwund des Laryngals mit Ersatzdehnung (*-VRK~) erlitten haben. Weiterhin muß angenommen werden, daß die daraus entstandenden Sequenzen *-VRK- gemäß der baltischen Variante des Osthoffschen Gesetzes sekundär gekürzt wurden, was zu Kurzdiphthongen (*-VRK-) führte, die in den heutigen baltischen Sprachen nur mehr durch ihren Stoßton ihre ursprüngliche Natur verraten. Beispiele: • lit. gerti, lett. dzert "trinken" < *gēr-ti- < idg. *gųerhf (Vollstufe I sekundär, vgl. gr. eßpcov "(auf)essen, verzehren" < idg. *gureĶ-). • lit. gervė, lett. dzērve "Kranich" < *gēr-u- < idg. *gerh2-u(gr. yepavoę "Kranich"). • lit. šerti "füttern" < *šēr-ti-< idg. *kerh3- (gr. KopewuIii "sättigen, sich sättigen, satt, überdrüssig werden"). [10] *elH: • lit. delnas, lett. dęlna "Handfläche" < *dēl-n- < idg. *delH-n- (skr. dlän "innere Handfläche"). • lit. gelti "stechen, schmerzen" < *gēl-ti- < idg. *g-elH(ahd. quelan "leiden, sich quälen"). • lit. velti, lett. velt "walken, wälzen" < *vēl-ti- < idg. *uelH- (ahd. wallan "wallen, wogen"). [11] *emH: • lit. semti "schöpfen" < *sēm-ti- < idg. *semH- (gr. apr|, a|ir| "Wassereimer" < *smH-eh2). • lit. temti "finster sein" < *tēm-ti- < idg. *temH- (aind. tämisräh "dunkle Nacht", lat. tenebrae). • lit. vemti "sich erbrechen" < *vēm-ti- < idg. *uemhI(aind. vämiti, gr. epeco). [12] *enH: • lit.jėntė, lett. dial. iētaļa "Ehefrau des Mannesbruders" < *jēn-ter- < idg. *Hįenh2-ter- (gr. eivaiepeę, aind. yata).

[9] *erH :

108

K A P I T E L II

• lit. dial. tęvas, lett. tiėvs "dünn, schmal, schlank" < *tēn-va- < idg. *tenh7-u- (aind. tanü-, gr. xavu- < *t°nh2u-). • lit. žentas "Schwiegersohn" < *žēn-t- < idg. *genhj-t- (lat. gener). [13] *eiH : • lit. diegti, lett. diegt "stechen" < *dēig- < idg. *dheiHgvOat .figö). • lit. mielas "sanft, lieb" < *mēi-l- < idg. *meiH-lo- (aksl. milb, lat. mīt is "sanft"). • lit. giedu (giedoti) "singen" < *gēid- < idg. *geįH-d(aind. gītā- "gesungen"). [14] *eųH : • lit. džiauti, lett. žaūt "trocknen" < *dēu- < idg. *dheuH(aind. dhünöti "schütteln"). • lit. griauti, lett. graut "niederreißen, zerstören" < *grēu< idg. *ghreuhr (Neowurzel nach der Schwundstufe h *g ruhl- < *g?'rhlu- von *glļrehļu-, vgl. gr. ęaxpr|f|ę "heftig anstürmend", lat. ingruö "hereinbrechen, anstürmen"). • lit.jäunas "jung" < *jēu-n- < idg. *h2įeų-Hn- (aind. yüvä, lat. iuuenis "jung"). [15] *orH : • lit. bārti, lett. bārt "schelten" < *bär-ti- < idg. *bhorH(aind. bhrņati "drohen, schimpfen"). • lit. žarnos, lett. zarnas "Gedärme" < *žār-n- < *ghorH-n(gr. %op5rļ "Darm", aind. hira- "Band", hira "Ader"). [16] *olH : • lit. kälnas, lett. kalns "Berg" < *käl-n- < idg. *kolH- (lat. Collis "Hügel" < *kol(H)-ni- mit dem Saussureschen Effekt). • lit. kälti "schlagen, schmieden" < *käl-ti- < idg. *kolh2(gr. K^dco "brechen, abbrechen" < *klh2~). • lit. mälti, lett. malt "mahlen" < *māl-ti- < idg. *molh2(luw. mālhūta "brach"). [17] *omH : kein Beispiel. [ 18] *onH: kein Beispiel. [ 19] *oiH: kein Beispiel. [20] *ouH : kein Beispiel. [21] *rH: • lit. girtas "betrunken" < *gīr-ta- < idg. *gvrhf (gr. ßporröq). • lit. girnos, lett. dzirnas "(Hand/Tret)mühle, Quirne" < *gīr-nā- < idg. *gvrh(got. qairnus, vgl. *gvrh2-u"schwer", gr. ßapng).

DAS BALTISCHE A K Z E N T - U N D INTONATIONSSYSTEM

109

• lit. girti, lett. dzirtiės "rühmen, loben" < *gīr-ti- < idg. *gurH- (aind. gürtä- "willkommen, angenehm", lat. gratus "willkommen"). [22] *IH: • lit. ilgas "lang" < *(d)īlga- < idg. *dlh,gk- (aksl. dhg-b, aind. dīrgha-). • lit. pilnas, lett. pilns "voll" < *pīl-na- < idg. *plhl-no(aind. pūrņa-, air. län). • lit. vilnos, lett. vilna "Wolle" < *vīl-nā- < idg. *h2ulh1neh2 (aind. ūrņā, lat. läna). [23] *mH : kein Beispiel. [24] *nH : • lit. pažinti, lett. pazīt "kennen" < *žīn-ti- < idg. *ģņh3(aksl. znati, gr. eyvtov). Der innerbaltische Befund spricht also eindeutig für einen stoßtonigen Reflex der indogermanischen Sequenzen /VRHK/ > /VRaK/ > /VRK/, mit späterer Kürzung /VRK/. Dasselbe gilt auch für Sequenzen /VHRK/, wo der Laryngal dem Sonant vorausging - auch wenn solche Sequenzen den Vokalisierungsregeln des Indogermanischen widersprechen (man würde */VHRK/ erwarten). Hierfür ein paar Beispiele: [25] *eHi:

• lit. dieveris, lett. dieveris "Mannesbruder" < *däiveri< idg. *deh2iu-er- (skr. djēvēr, gr. hom. Safļp, aber aind. devär-). [26] *oHi: • lit. piemuö, Akk.Sg. piemenį "Hirt" < *päi-men- < idg. *poHi-men- (gr. 7īot(ifļv). • lit. pieva, lett. piēva "Wiese" < *pāi-vā- < idg. *poHiueh2 (gr. h o m . 7toir|). [27] *eHu : • lit. saulė, lett. saüle "Sonne" < *sāulijā < idg. *seh1ų-l-iį(gr. hom. f|eA,ioę). • lit. käulas, lett. kaüls "Knochen" < *käula- < idg. *keh2u-lo- (gr. KotD^oę "Schaft, Stengel, Stiel, Federkiel", lat. caulis "Stengel").

Auch in dem Kontext /VHRK/ erhalten wir also regelmäßig einen Stoßton: /VHRK/ > /VRK/, mit späterer Kürzung /VRKL Zusammenfassend steht also fest, daß Sequenzen mit Laryngalen in tautosyllabischer Position im Baltischen regelmäßig als stoßtonig reflektiert werden. Die Gegenbeispiele sind selten. Ein großer Teil davon kann als sekundär gedeutet werden. In diesem Kontext spielt der Begriff der

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K A P I T E L II

"Metatonie" eine große Rolle. Als Metatonie können zwei Erscheinungen verstanden werden: (1) Erstens die Tatsache, daß Ableitungen derselben Wurzel verschiedene Intonationen aufweisen, z.B. lit. stöti "aufstehen" (Stoßton), vs. stötas "Wuchs, Statur" (Schleifton). Das ist die synchrone Auffassung der Metatonie, die z.B. in einem berühmten Aufsatz von Kazimieras Būga (1923-1924) vertreten wird, vgl. auch Stang (1966: 144). In der Richtung {Stoßton > Schleifton} spricht man nach F. de Saussure (1894) von "metatonie douce", in der Richtung {Schleifton > Stoßton} von "metatonie rude". (2) Zweitens die Tatsache, daß ein Wort eine Intonation aufweist, die seiner Etymologie widerspricht, z.B. lit.puotä, Akk.Sg. puotą "Trinkgelage, Festgelage, Hochzeit" (Schleifton) statt des erwarteten Stoßtons aus idg. *pohfteh2. Das ist die diachrone Auffassung der Metatonie, die z.B. in dem Buch von Rick Derksen (1996) explizit vertreten wird (z.B. 1996: 1: we speak of metatony if we find a reflex of the BaltoSlavic circumflex intonation where we would have expected a reflex of the acute intonation or vice versa). In der Frage der Metatonie gebe ich entschieden der ersten Auffassung den Vorzug. Ich halte die Metatonie meist für eine derivationelle Erscheinung, die im Rahmen der Wortbildung zu deuten ist. Die traditionelle Analyse der "metatonie douce", die mit Akzentzurückziehungen rechnet, um sekundär schleiftonige Formen entstehen zu lassen (z.B. lit. püodas " T o p f ' —• *puod'ijus > puodžius "Töpfer"), betrachte ich im Prinzip als richtig. Andere Faktoren sind aber denkbar. Vielleicht haben Intonationswechsel im Baltischen zum Teil auch dazu gedient, ererbte Ablautwechsel zu beseitigen. Abgesehen von Metatonieerscheinungen sind auch andere Gegenbeispiele zu nennen. Einige Formen können ihren unerwarteten Schleifton einer im Baltischen oft zu beobachtenden Tendenz verdanken, Wörter, die zum Akzentparadigma 3 (Stoßton + Endbetonung) gehören, in das Akzentparadigma 4 (Schleifton + Endbetonung) zu überführen. Dafür nur zwei Beispiele: [28]

• lit. dėle, Akk.Sg. dėlę "Blutegel" mit Schleifton (AP 4), vgl. auch pirmdėle "Kuh, die zum ersten Mal gekalbt hat". Aus idg. *dhehrlo- "Säugling" erwartet man einen Stoßton. Das Wort muß ursprünglich zum Akzentparadigma 3 (mit

DAS BALTISCHE AKZENT- U N D INTONATIONSSYSTEM

[29]

111

Stoßton) gehört haben, wofür das lettische Gegenstück dęls "Sohn" (mit Brechton) eindeutig spricht. • lit. puotä, Akk.Sg. puotą "Trinkgelage, Festgelage, Hochzeit" (AP 4). Aus idg. *poh3-teh2 (vgl. apr. püton "trinken" < *pä-t-un < idg. *pehftum) erwartet man einen Stoßton, der in diesem Fall noch dialektal belegt ist (lit. dial. püota API); auch im Altpreussischen finden wir eine Spur des Stoßtons (apr. poüt "trinken").

Abgesehen von diesen zwei klar identifizierbaren Kategorien sind echte Gegenbeispiele äußerst selten. Um nur noch ein weiteres Beispiel zu nennen, kann man die lettische Bezeichnung des "Salzes" (lett. sals) anführen. Das Wort weist wie lit. sölymas "Salzbrühe" die ursprüngliche Vollstufe des Salzworts (< *säl~) auf, das sonst in der Schwundstufe belegt ist, z.B. aksl. solb "Salz" (< *säl-). Auszugehen ist von einem ablautenden Stamm *seh2-l- (> bsl. *säl- > lit. söl-, lett. säl-), vs. *sh2-l(> bsl. *säl- > sl. *sol-). Das Problem ist, daß von einem vollstufigen Stamm *seh2-l- (mit tautosyllabischem Laryngal) ein Stoßton im Baltischen zu erwarten ist, der tatsächlich in lit. söl-ymas belegt sein kann, dem aber der Fallton von lett. sals (< *sal-is) widerspricht. Kortlandt erklärt den unerwarteten Schleifton durch eine Dehnstufe *sēh2-l- mit der Annahme, Dehnstufen bekommen im Baltischen immer einen Schleifton, auch wenn sie laryngalhaltige Stämme berühren. Dieser Ansatz widerspricht dem Eichnerschen Gesetz (Eichner 1973), demzufolge die Laryngalfärbung in morphologischen Dehnstufen nicht eintritt (vgl. heth. mehur "Zeit" < idg. *mēh2-ur). Es scheint mir einfacher zu sein, eine sekundäre Intonationsentgleisung anzunehmen, auch wenn ich selbst zugebe, daß ihre Quelle dunkel bleibt. Sieht man von diesen Gegenbeispielen ab, scheint die Regel allgemeingültig zu sein, daß tautosyllabische Laryngale im Baltischen als stoßtonig reflektiert werden. (lb) aus Ersatzdehnung nach dem Verlust eines Sonants gemäß dem sogenannten Stangschen Gesetz (Paradebeispiel etwa idg. Akk.Sg. *dįeųm "Himmelsgott, Tag" > *diēm). An zweiter Stelle kommen Langvokale in Betracht, die aus dem Stangschen Gesetz resultieren. Im Baltischen findet man dafür, soweit ich sehe, nur ein einziges Beispiel: die indogermanische Bezeichung des "Rindes", idg. *gvou-s, Akk. *guou-m > *gvom-m > *gvöm (aind. gäm, gr. dor. ß(DV, umbr. bum "bouem"). Das Wort wird nur noch im Lettischen

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KAPITEL II

reflektiert: lett. güovs "die Kuh". Lett. güovs ist als z-Stamm zu deuten, also *guov-is (vgl. Akk.Sg. güovi < *-i-n, Gen.Pl. güovju < *-j-un). Auszugehen ist von einem schleiftonigen Stamm *guov-, der aus *guöuin antevokalischer Position stammen muß. Nun läßt sich der Langvokal auf zweierlei Weise deuten, je nachdem, wie man den Langdiphthong in den indo-arischen Entsprechungen (aind. gäuh, aavest. javest. gāuš "Rind, Kuh") erklärt. Entweder ist der langvokalische Stamm in diesen Formen alt, wobei man geneigt sein könnte, einen Laryngal anzusetzen, etwa *g"oHu-s. Aus dieser Perspektive wäre der Kurzvokal in gr. ßoi^ durch das Osthoffsche Gesetz zu erklären. Dieser Ansatz ist aber unbegründet, denn selbst im Indo-arischen haben wir Spuren eines kurzvokalischen Stammes: z.B. aind. gävä, javest. gauua (Instr.Sg.), aind. göbhih, javest. gaobīš (Instr.Pl.); beide Formen setzen einen Stamm *gveu- neben *g-'ou- (und *-g"u- in Komposition, vgl. aind. sugüh RV I 125,2 neben sugävah RV I 116, 25 und sugävyam RV I 162, 22 und VIII 12,33) voraus. In anderen Sprachen hat man in der Regel auch einen Kurzvokal: vgl. aksl. govędo "Rindvieh", arm. kov "Kuh". Der Langvokal von air. bö "Kuh" ist vielleicht aus *gvöu- in antekonsonantischer Position entstanden (vgl. air. böchaill und büachaill "Kuhhirt", cf. gr. ßouKo^oq); der altertümliche Genitiv böu (später bau, bäo, bö) kann idg. *gvöu-os reflektieren. Wo man einen Langvokal findet, muß dieser aus dem Akkusativ *gl-'öm stammen, so im Germanischen (z.B. asächs. kö, ahd. chuo "Kuh") oder im Lateinischen (lat. bös, Lehnwort aus einem sabellischen Dialekt <— Akk.Sg. *böm < *g'Jöm); bemerkenswert ist, daß andere Kasus im Lateinischen den Kurzvokal bewahren (lat. Gen.Sg. böuis). Der Befund der indogermanischen Sprachen spricht also eindeutig für den Ansatz eines laryngallosen Stammes *g-e/ou-\ ein Langvokal ist nur im Akkusativ *guöm etymologisch zu erwarten, so daß der Langdiphthong der indoarischen Nominativformen (aind. gäuh, aavest. javest. gāuš) besser als analogisch zum Akkusativ erklärt werden kann. Was nun den Langvokal von lett. gūov- betrifft, so steht fest, daß auch er ursprünglich aus dem Akkusativ gemäß dem Stangschen Gesetz stammen muß46. Man könnte z.B. annehmen, daß das Baltische zugleich einen Akkusativ Singular *gön (<*g"öm) und einen Genitiv Singular *gaves (<*g-e/ou-es) ererbt hatte. Später wurden die Allomorphe so nivelliert, daß der Genitiv * gavēs nach *gön zu *göves umgestaltet wurde; zu diesem Genitiv wurde ein neuer Akkusativ *göv-m > *guov-in neugebildet, der schließlich eine Übertragung in die /-Flexion (Akk.Sg. *guov-in —> Nom.Sg. *guov-is > 46

So Larsson (2003: 242-243).

DAS B A L T I S C H E A K Z E N T - U N D I N T O N A T I O N S S Y S T E M

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lett. güovs) als Folge hatte. Es ist daher wohl anzunehmen, daß ein durch das Stangsche Gesetz entstandener Langvokal im Lettischen als schleiftonig (güovs) reflektiert wird. Freilich bleibt noch zu beweisen, daß der lettische Fallton in diesem Beispiel nicht sekundär ist, wie dies z.B. in lett. sāls "Salz" der Fall sein könnte. •

(1 c) aus der Kontraktion zweier Vokale (Paradebeispiel etwa idg. *nehfsti "er ist nicht" > * nesti).

An dritter Stelle sind Langvokale zu nennen, die aus der Kontraktion zweier Vokale resultieren. Ein interessantes Beispiel liefert die negative Form des Verbums "sein": idg. *ne-hlesti "er ist nicht" > *nēsti. Die Kontraktion ist vielleicht bereits indogermanisch, wie durch aind. nasti "er ist nicht" und aksl. nest-b "id." suggeriert wird. Im Altlitauischen ist die negative Form nģsti noch oft belegt, vgl. z.B. in der Postilla von M. Daukša (1599): nėst' (DP 435,), nėst (DP 69,3), nest' (DP 19123), usw. Die Intonationen sind aber in den altlitauischen Texten nie angegeben, so daß man nicht feststellen kann, ob hier Schleifton oder Stoßton vorliegt. Die erste litauische Grammatik, die über Intonationen berichtet, die Universitas lingvarum Litvaniae (1737), gibt die negative Form * nėst i nicht an. In den heutigen Dialekten wurde die Form *nėsti meist durch nėra ersetzt, genauso wie der Positiv ėsti in den meisten Funktionen durch yrä ersetzt wurde; der Langvokal von nėra stammt jedoch aus der alten Form *nėsti. Es ist zu bemerken, daß einige litauische Dialekte (z.B. Pašvitinys) eine Form nėsa verwenden, die wohl eine Neubildung von *nėsti nach dem Positiv *esa (dieses sekundär thematisiert aus *esti) darstellt; es ist möglich, daß der Schleifton von nesa auch für * nesti einen ursprünglichen Schleifton voraussetzt. Die Annahme scheint also nicht ganz unwahrscheinlich zu sein, daß die Form *nėsti ursprünglich schleiftonig war (so z.B. Zinkevičius 1966: 127). Doch könnte die Verbindung von *ne- und *-esti zu *nėsti eine junge Erscheinung sein, die nicht unbedingt eine indogermanische Vorform fortsetzt. In diesem Fall wäre der Schleifton kaum überraschend, aber an und für sich wenig beweiskräftig für die Behandlung der vom Indogermanischen ererbten Langvokale. - (2) Morphologische Langvokale: Nach der traditionellen Auffassung (s. z.B. Stang 1966) werden morphologische Langvokale indogermanischen Alters im Baltischen als akutiert (stoßtonig) reflektiert; Kortlandt hingegen nimmt an, sie werden durch

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KAPITEL II

schleiftonige Langvokale vertreten. Was sagt nun dazu der innerbaltische Befund? •

(2a) Dehnung im Nominativ (Sg., bzw. Koll.) bei nominalen Bildungen mit sonantischem Auslaut, z.B. idg. *ph2-tēr "Vater" > ainā.pitā, gr. 7uaTfįp; idg. *ued-ör "Gewässer" > heth. ü-i-ta-a-ar /widär/, vgl. gr. üÖcop.

Zunächst kommt die sogenannte "Nominativdehnung" zur Sprache. Diese Dehnung ist charakteristisch für zwei Nominalklassen: (1) Hysterokinetische Bildungen. Dazu gehören ausschließlich geschlechtige Nomina. • Ablautmuster: Nominativ W(o)-S(e), starker Stamm W(e)-S(e), schwacher Stamm W(0)-S(0)-E(e), Lokativ W(o)-S(e) • Beispiele: gr. 7iaxf|p, Gen.Sg. rcorrpoę "Vater" (< *-tēr, Gen.Sg. *-tr-os), heth. utnē, Gen.Sg. KUR-^os1 "Land" (< *-ēi, Gen.Sg. *-/os), gr. TTuO^iļv, Gen.Sg. 7n)0Įxevoę (für *7XD01iv6ę) "Boden" (< *-mēn, Gen.Sg. *-mn-os). (2) Amphikinetische Bildungen. Dazu gehören sowohl geschlechtige als auch ungeschlechtige Nomina, insbesondere Kollektiva. • Ablautmuster: Nominativ W(e)-S(ö), starker Stamm W(e)-S(o), schwacher Stamm W(0)-S(o)-E(e), Lokativ W(0)-S(e)-E(e) • Beispiele: aind. rājā, Gen.Sg. rājnah "König" (< *-ön, Gen.Sg. *-ne/os), aind. sväsä, Dat.Sg. sväsre "Schwester" (< *-ör, Gen.Sg. *-re/os, Dat.Sg. *-r-ei), heth. widär, gr. üöcop, umbr. utur, aind. Gen.Sg. udnäh "Wasser" (< *-ör, Gen.Sg. *-n-e/os). Soweit ich sehe, werden die Nominativformen sowohl der hysterokinetischen als auch der amphikinetischen Bildungen im Baltischen durch schleiftonige Langvokale reflektiert. Das gilt insbesondere für die Verwandtschaftsnamen auf *-tēr, denen im Baltischen Nomina auf *-tē entsprechen. In einem Fall ist ein Schleifton unmittelbar belegt: [30]

• idg. *dhugh?-tēr "Tochter" (aind. duhitā, gr. Onydxrip) > lit. duktė, Gen.Sg. dukters (altlit. auch -teres).

Dieses Beispiel könnte aber eventuell entkräftet werden, wenn man annähme, daß das Suffix von lit. duktė durch das Suffix der weiblichen Nomina auf *-ē beeinflußt worden sei. Der Schleifton in der Bildung auf

1

,

(

DAS BALTISCHE A K Z E N T - U N D INTONATIONSSYSTEM

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*-ē (z.B. lit. žole "Gras") reflektiert eine Kontraktion von *-iiä zu *-e. Es ist bemerkenswert, daß das Baltische nur noch weibliche Verwandtschaftsnamen auf *-tē bewahrt (außer lit. duktė nur noch motė "Mutter"), was gerade durch den Einfluß der weiblichen Bildung auf -ė zu erklären ist. Andere hysterokinetische Bildungen sind im Baltischen nicht deutlich vertreten. Pranas Skardžius hat vermutet (1943: 206), in einigen litauischen Nomina auf -mė könnten vielleicht noch Spuren von Bildungen auf *-mēn vorliegen; es ist auffällig, daß das Suffix -mė manchmal mit -muö alterniert, vgl. z.B. lit. almė / almuö "Eiter", oder mit einer nasalhaltigen Bildung etymologisch verbunden ist, vgl. z.B. lit. smulkme / smulkmena "Kleinigkeit". Daß das Baltische einst Bildungen auf *-mēn hatte, zeigt insbesondere das baltische Lehnwort im Finnischen paimen "Hirt" aus balt. *pāimēn (= gr. Ttoīpiļv "Hirt") 47 . Die litauische Entsprechung piemuö, die in den Handbüchern als Beweis für eine angeblich ältere Nebenform *pöimön betrachtet wird, kann sehr gut analogisch zu den produktiven amphikinetischen Bildungen auf -muo sein. Diese Analogie läßt sich natürlich dadurch erklären, daß eine Form f p i e m ė "Hirt" in einem Sprachsystem, in dem die Endung *-ē mit dem weiblichen Geschlecht regelmäßig korreliert wird, völlig abwegig gewesen wäre. Wie dem auch sei, in all diesen Formen ist ein Schleifton tatsächlich belegt. Die Beweiskraft solcher Beispiele ist aber nicht über jeden Verdacht erhaben, denn eine Analogie der weiblichen Bildung auf *-ē bleibt immer denkbar. Unter den amphikinetischen Bildungen hat das Baltische fast nur noch die maskulinen «-Stämme bewahrt. Paradebeispiel ist die Bezeichnung des "Steins" 48 : [31]

• idg. *h2ek-mön "Stein" (aind. äsmä, gr. äKp,tov) > lit. akmuö, Gen.Sg. akmens (älter -enes).

I Das hohe Alter dieser Bildung wird durch weitere Beispiele bewiesen: [32]

47 48

• idg. *(dh)gllmön "Mensch" (got. guma, lat. homö) > alit. žmuo, lit. dial. žmuoj (Lazūnai mit ungeklärter Endung auf -j, vgl apr. smoy EV 187), Gen.Sg. alit. žmunes.

Vgl. auch Schaffner (2001: 91). Andere Beispiele bei Skardžius (1943: 294).

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[33]

K A P I T E L II

• idg. *kuon "Hund" (aind. šva, gr. KUCOV) > lit. šuo, Gen. Sg. šuns (älter šunes = aind. sünah, gr. įcuvoę).

Neben diesen «-Stämmen gibt es auch eine isoliert dastehende r-Bildung: [34]

• idg. *suesör "Schwester" (aind. sväsä, lat. soror) > lit. sesuö, Gen.Sg. sesers.

Schließlich ist auch eine Form zu nennen, die wahrscheinlich eine alte amphikinetische Kollektivbildung fortsetzt, die Bezeichnung des "Wassers": [35]

• idg. *uedör "Wasser" (heth. widär, gr. uöcop, umbr. utur) > lit. vanduö, Gen.Sg. vandens.

Zu diesem Beispiel habe ich mich anderswo ausführlich geäußert (Petit 2004a: 71-100). Es ist wohl anzunehmen, daß der Nominativ vanduö eine Kreuzung der alten neutralen Kollektivbildung *uedör mit der o-Stufe des alten Singulars *uodr darstellt. Diese Entwicklung erinnert an die des Gotischen, wo der Nominativ wato "Wasser" auf eine ähnliche Vorform *uodör (oder schon *uodön mit Beseitigung der Heteroklisie) zurückgeht. In all diesen Formen ist ein Schleifton regelmäßig. Wer hier den Schleifton als sekundär betrachten möchte, wird zum Ansatz gezwungen, er sei analogisch zu šuo "Hund" - dies unter der Annahme, daß in einsilbigen Wörtern ein Stoßton zu einem Schleifton wird. In meinem Aufsatz zum litauischen Futur (Petit 2002) habe ich diese Ansicht abgelehnt und auf ihre Schwächen hingewiesen. In diesem Fall erscheint eine Analogie von šuo ziemlich unwahrscheinlich: Abgesehen von der Tatsache, daß ein Einfluß des "Hunds" auf alle anderen Wörter dieses Typs, inklusiv den "Menschen" und die "Schwester", semantisch nicht sehr ansprechend erscheint, ist es auch von der morphologischen Seite her verdächtig, daß ein ganz isoliert dastehendes, unregelmäßiges Wort wie der "Hund" irgendeinen Einfluß auf eine produktive Kategorie hätte ausüben können, ganz zu schweigen von der "Schwester", die morphologisch zu weit davon entfernt war. Ich halte es deswegen für wahrscheinlicher, daß der Schleifton in all diesen Nominalbildungen phonetischer Natur ist. Somit läßt sich feststellen, daß indogermanische Nominativdehnung im Baltischen durch schleiftonige Langvokale reflektiert wird.

DAS BALTISCHE A K Z E N T - U N D INTONATIONSSYSTEM

•

117

(2b) Dehnung in akrostatischen Nominalbildungen, z.B. *Hiēkur/n- "Leber" > gr. f)7tap, avest. yäkard ; *ģērh2-s- "Alter" > gr. yfjpaę.

Jetzt kommen wir zu den akrostatischen Nominalbildungen. Akrostatika sind im Baltischen nicht anzutreffen. Bemerkenswert ist, daß das Baltische in den Fällen, wo man eine solche Bildung postulieren könnte, immer den schwachen, d.h. kurzvokalischen Stamm verallgemeinert hat, was z.B. durch die Bezeichnung der "Leber" illustriert werden kann. Das indogermanische Leberwort war ursprünglich akrostatisch: Nom.-Akk. Sg. *Hiēkv-r, Gen.Sg. *Hieku-n-. Die Dehnstufe liegt noch in gr. r)7iap, avest. yäkard vor. Im Baltischen ist nur noch die Vollstufe des schwachen Stammes belegt, wie dies z.B. im Altindischen (aind. yäkrt) der Fall ist: lit.dial.jeknos "Leber" (Fem.Pl.), lett. aknas "id.", apr. lagno (für *jagno EV 125). In Petit (2004a: 100-118) habe ich vorgeschlagen, den e-stufigen Stamm *jek- als Fortsetzung einer alten amphikinetischen Kollektivildung (etwa *Hieku-ör), den o-stufigen Stamm *jak- als sekundäre Singulativbildung zu diesem Kollektivum (etwa *HiöklJ-n- statt *HiēklJ-r/n-) zu interpretieren. Die Dehnstufe ist hier spurlos verschwunden. Das einzige Beispiel, das hier angeführt werden könnte, ist: [36]

• idg. *ģhuēr- "Wildtier" (gr. 9fļp) > lit. žvėris, Akk.Sg. žvėrį (mit Stoßton), lett. zvęrs (mit Brechton), apr. swirins "Tiere" Akk.Pl. (III 1072).

Das Wort ist im Baltischen eindeutig stoßtonig. Die Frage ist nun, ob der Langvokal eine morphologische Dehnstufe darstellt oder anders - d.h. laryngalistisch - zu interpretieren ist. Hier öffnen sich also zwei Deutungsmöglichkeiten. Traditionsgemäß wird der Langvokal von lit. žvėris, der über genaue Entsprechungen im Slavischen (aksl. zvėrb) und Griechischen (gr. 0f|p) verfugt, als morphologische Dehnstufe interpretiert, im Gegensatz zu lat.fērus "wild",/era "wildes Tier" mit Kurzvokal. Auszugehen wäre von einem ablautenden (akrostatischen ?) Stamm *ģJ'uēr- / *ģhuer-. Eine Schwundstufe *ghur- könnte nach Puhvel (1998: 607-608) noch in lat. furor "Wut" und heth. kūrur "Krieg" vorliegen49. Eine Vollstufe I wurde von Young (2002: 109-115) auch für das Baltische (lit. žiaurūs "grausam" AP 4 < etwa *gheur-) postuliert. Somit ließe sich im Baltischen zumindest ein Beispiel für einen stoßtonigen Reflex einer 49

Anders Kloekhorst (2008: 497), der für heth. kurur eine Form *ghuhlr-ur-

ansetzt.

118

K A P I T E L III

ursprünglich morphologischen Dehnstufe finden. Diesem Ansatz stehen zwei Probleme im Wege. Erstens ist es methodologisch anfechtbar, nur anhand eines abgeleiteten Adjektivs (lat. fėrus) ein ablautendes Nomen zu rekonstruieren. Daß wir es hier auch im Baltischen mit einem Wurzelnomen zu tun haben, ist angesichts der litauischen Mundartformen (z.B. lit. dial. Nom.Pl. žvėr-ės) klar, aber nichts spricht für die Annahme, daß dieses Wurzelnomen einmal abgelautet hat. Zweitens hängt die ganze Analyse in der Luft, solange keine zugrundeliegende Verbalwurzel gefunden wird. Schindler (1972: 37-38) vermutete, daß das Tierwort ursprünglich zur Wurzel von aind. hvärate "krumm gehen, wanken" gehörte. Ich ziehe es vor, aind. hvärate mit lit. pa-žvilti "sich neigen" zu verbinden und somit eine Wurzel *ghuel- zu rekonstruieren. Das Tierwort steht also isoliert da. Eine andere Möglichkeit, die z.B. von Kortlandt (sowie Smoczynski SEJL 795 [2007], Kloekhorst 2008: 497) verteidigt wird, geht von der Annahme aus, daß der Langvokal von lit. žvėris laryngalistisch zu erklären ist, also etwa *ghueh]r-, und der Kurzvokal von lat. fėrus eine jüngere Kürzung darstellt, wie etwa in lat. uir neben lit. vyras "Mann"; ob das sogenannte Dybo-Gesetz diese Kürzung erklären könnte, bleibt unklar. Freilich muß zugestanden werden, daß auch diese Etymologie keine Anknüpfung an eine Verbalwurzel ermöglicht. Letzten Endes ist dieses Beispiel als nicht beweiskräftig zu betrachten. •

(2c) Dehnung bei (possessivischen) Vrddhi-Bildungen, z.B. idg. *suekurös "Schwiegersohn" (< "zum Schwiegervater gehörig") > ahd. swagur (vs. idg. *suekuros "Schwiegervater" > ahd. swehur)\ dazu wohl auch Motionsbildungen wie aind. narī "Frau" < *"zum Mann gehörig" (vs. när- "Mann").

Die Vrddhi ist ein urindogermanisches Derivationsmittel, das bestimmten Regeln folgt und nicht mit irgendwelcher Dehnung identifiziert werden darf. Unter Vrddhi versteht man eine Nominalbildung, die durch folgende Züge charakterisiert wurde (vgl. Darms 1978:1): (1) Aufstufung, d.h. Übergang zur höheren Stufe (0 —> *e, *e —> *ē); (2) Thematisierung (+ *e/o); (3) Zugehörigkeitsbildung; (4) Akzentverlagerung. Z.B. aind. paršu- "Rippe" —» pärsvä- "Rippengegend, Seite"; idg. *diu- "Himmel, Gott" (aind. Gen.Sg. diväh) —» *deiuos "Gott" (aind. deväh, lit. dievas). Die Frage, ob das Baltische Spuren ererbter Vrddhi-Bildungen erhalten hat, ist nicht leicht zu beantworten, da das Material meist strittig ist. Im Indoarischen können Femininbildungen Vrddhi aufweisen. Dies läßt sich semantisch wohl dadurch begründen, daß das Femininum als

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zum Maskulinum gehörig aufgefaßt wurde. Paradebeispiel ist aind. narī, aavest. nāirī "Frau" < *"zum Mann gehörig" (gegenüber aind. när-, aavest. nar- "Mann"). Für das Baltische hat man folgende Beispiele in die Debatte geworfen: [37]

[38]

[39]

• lit. varnas "Rabe" (Mask.), vs. värna "Krähe" (Fem.); das Lettische hat värna "Krähe" (= lit. värna) und nur indirekte Spuren von einem Maskulinum *vārns "Rabe" (= lit. varnas) im Ortsnamen Vārnukalnv, die altpreußischen Formen (apr. warnis "Rabe" EV 721, cf. warnins III 854, vs. warne "Krähe" EV 722) sind nicht beweiskräftig. • lit. vilkas " W o l f ' (Mask.), vs. vilkė "Wölfin" (Fem.); das Lettische und das Altpreussische weisen hier keine Metatonie auf (lett. vilks, Fem. vilcene; apr. nur wilkis " W o l f ' EV 657). • lit. zuikis "Hase" (Mask.), vs. zūikė "Häsin" (Fem.); keine Entsprechung in den anderen baltischen Sprachen. Das Wort ist aus dem Ostslavischen (vgl. weißruss. zäjka) vielleicht durch kurische Vermittlung entlehnt.

Ferner ist auf eine Reihe von Wörtern hinzuweisen, bei denen sich ein ähnlicher Unterschied zwischen einem schleiftonigen Maskulinum und einem stoßtonigen Femininum beobachten läßt. Die wichtigsten Beispiele sind (vgl. Petit 2004a: 177): [40] [41] [42] [43] [44] [45] [46]

• lit. antinas "Enterich" (Mask.), vs. äntis "Ente" (Fem.). • lit. gervinąs "männlicher Kranich" (Mask.), vs. gervė "Kranich" (Fem.). • lit. kurkinas "Truthahn" (Mask.), vs. kurkė "Truthenne" (Fem.). • lit. stirninas "Rehbock" (Mask.), vs. stirna "weibliches Reh" (Fem.). • lit. Šarkinas "männliche Elster" (Mask.), vs. šarka "Elster" (Fem.). • lit. širšinas "Hornisse" (Mask.), vs. širšė "Wespe" (Fem.). • lit. žiurkinas "männliche Ratte" (Mask.), vs. žiurkė "Ratte" (Fem.).

Unter all diesen Wörtern verfügt nur das erste (lit. varnas "Rabe" / värna "Krähe") über eine gewisse Altertümlichkeit. Es besitzt eine Entsprechung

120

KAPITEL III

im Slavischen, wo sich ein ähnlicher prosodischer Kontrast in skr. vrän / vräna, russ. vöron / voröna finden läßt. Aufgrund der Auffassung, daß der Schleifton ursprünglich auf einen Kurzdiphthong, der Stoßton auf einen Langdiphthong deutet, wurde oft behauptet, daß solche Beispiele eine Spur urindogermanischer Bildungen darstellen: In lit. varnas hätte man einen ursprünglichen Kurzdiphthong (etwa idg. *uörno-), in varna einen ursprünglichen Langdiphthong (etwa idg. *uörnä). Dadurch könnte man den Intonationsgegensatz (Schleifton/Stoßton) auf einen älteren Quantitätsgegensatz (kurz/lang) zurückprojizieren, was mit dem Ansatz einer Vrddhi-Bildung durchaus kompatibel wäre, also *uörno—• *uörnä wie etwa aind. när- "Mann" —• warf "Frau" 50 . Diese Annahme ist m.E. zu verwerfen, und zwar aus den folgenden Gründen. Zum einen ist die Mehrheit der oben aufgelisteten Beispiele formal unmöglich als ererbte Vrddhi-Bildungen zu betrachten. Der Typ von lit. antinas "Enterich" (Mask.), vs. äntis "Ente" (Fem.) ist sicher sekundär. Lit. zuikis "Hase" (Mask.), vs. zuikė "Häsin" (Fem.) ist ein Lehnwort. In lit. vilkas " W o l f ' (Mask.), vs. vilkė "Wölfin" (Fem.) kann von einer indogermanischen Vrddhi-Bildung nicht die Rede sein, denn von einem Maskulinum *ulk-os (> lit. vilkas) würde eine alte Vrddhi eine e-Stufe *uelk1-'- (oder *ulek1'-), keineswegs eine gedehnte Schwundstufe *ulklJ- (> lit. vilkė) erwarten lassen, vgl. idg. *h!dnt- "Zahn" (> got. tunPus "Zahn") —> *hldent-o- "Zahnartiges" (> aisl. tindr "Spitze, Hacke", ahd. zinna "Zinne"). Selbst lit. varnas "Rabe" / värna "Krähe", das altertümlich zu sein scheint, muß sekundär sein: Aus *uörno—> *uörnä hätte man lit. varnas / *ūrna erwartet (*urna aus *uorna < *vtiorna wie etwa lit. pulti "angreifen" aus *püolti, cf. püolu "ich greife an"). Es bliebe dann nur der Notbehelf, die Vrddhi-Bildung an sich als ererbt, alle ihre Beispiele jedoch als sekundär zu betrachten. Eine zweite Schwierigkeit, die mit dem Ansatz von Vrddhi-Bildungen verbunden ist, ist die Tatsache, daß alle bisher vorgebrachten Beispiele einen Diphthong enthalten (lit. värna, vilkė, zuikė, selbst im sekundären Typ antinas / äntis), so daß hier die angebliche Dehnung nicht unmittelbar, sondern lediglich durch einen prosodischen Kontrast auftritt. Man würde sich ähnliche Beispiele mit einfachen Vokalen wünschen, wo sich die Dehnung deutlicher beobachten ließe (etwa *e —• *e). Da es aber solche Beispiele nicht gibt, muß die Annahme einer Vrddhi-Dehnung als unbegründet angesehen werden. In Petit (2004a: 175-191) habe ich im Anschluß an einen älteren Vorschlag von Kortlandt (1985: 121, vgl. auch Derksen M1

So Pedcrsen (1933a: 55) sowie unlängst noch Smoczynski (SEJL 723).

DAS BALTISCHE AKZENT- U N D INTONATIONSSYSTEM

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2008: 528), eine andere Analyse vorgeschlagen. Ich nehme an, daß der Ausgangspunkt des prosodischen Kontrasts in lit. varnas "Rabe" / värna "Krähe" zu suchen ist. Etymologisch ist von einer Set-Wurzel *uerH"brennen" auszugehen (vgl. lit. virti "kochen"). Der auslautende Laryngal ist noch in der Ableitung *uorH-nä "Vogel mit verbranntem, i.e. schwarzem Gefieder" > lit. värna "Krähe" unmittelbar durch den Stoßton bezeugt. Hingegen ist das Maskulinum aus einem Adjektiv *uorH-u"verbrannt" (vgl. heth. warnu- "brennen" verglichen mit tepu- "klein" —> tepnu- "verkleinern, vermindern") abzuleiten, mit Schwund des Laryngals in ante vokalischer Stellung. Dieses Adjektiv *uorH-u- > *varu- wurde später als Substantiv thematisiert (*var-u > * varvas), wobei man als Parallele lit. *pilus "voll" (< idg. *plH-u-, aind. purü-) —> lit. pilvas "Bauch" anführen könnte (vgl. auch lit. purüs "locker" —• purvas "lockerer Boden, Schlamm"). Schließlich ist anzunehmen, daß die verschiedenen Suffixe in dem Paar * varvas / *vārnā (vgl. lat. coruus / cornJx) zu * varnas / *vārnā nivelliert wurden, woraus lit. varnas "Rabe" / värna "Krähe". In den anderen Beispielen wurde die Metatonie einfach sekundär nach diesem Modell gebildet. Von Vrddhi-Bildungen darf hier m.E. keineswegs die Rede sein. Abgesehen von den Motionsbildungen, die also m.E. anders erklärt werden können, gibt es wenige Beispiele, die eventuell auf sonstige Vrddhi-Bildungen idg. Alters zurückgeführt werden könnten, und keines von ihnen ist über jeden Zweifel erhaben. Ein Fall ist hier als exemplarisch zu nennen: [47]

• lett. düore "ein von Natur hohler Waldbaum, in welchen Bienen hausen können, ein Loch, eine Höhlung, Vertiefung" (mit Fallton) < idg. *dör-iiä "aus Holz bestehend" anscheinend Dehnstufe zu *dör-u "Holz" (gr. 8öpu, aind. dāru).

Vom starken Stamm der akrostatischen Nominalbildung *dor-u- (gr. ööpu, aind. dāru "Holz", javest. däuru, apers. däruv) wäre eine dehnstufige Vrddhi-Bildung mit possessivischer Bedeutung *dör-o- ("aus Holz bestehend") abgeleitet worden, mit späterer Substantivierung zu *dör-iiä > *dör-e (zur Substantivierung vgl. lit. šventas "heilig" —> šventė "das Fest"). Die Etymologie scheint somit perfekt in Ordnung zu sein. Nur ist folgendes zu bemerken. Zum einen ist eine äußere Evidenz für eine dehnstufige Stammbildung *dör- nirgends vorhanden. In aind. dāru liegt trotz Trautmann (BSW 53 [1923]) keine alte Dehnstufe, sondern eine durch

122

K A P I T E L III

das Brugmannsche Gesetz gedehnte o-Stufe (= gr. ööpu). Die Intonation von skr. zdräv und die Betonung von russ. zdoröv (beide "gesund") scheinen zwar eine Vorform *sudöruo- "aus gutem Holz" vorauszusetzen (so Trautmann BSW 53 [1923]); ich ziehe es aber vor, sl. *sudörvo- aus *hlsu-dhorH-uo- (vgl. aind. dhruvä- "feststehend, dauernd, beständig", dhäräyati "festhalten") herzuleiten. Zweitens folgt die postulierte Vrddhi *dör-o- nicht den erwarteten Bildungsmustern: das Suffix *-u- müsste erhalten worden sein (etwa *dör-u-o-, nicht *dör-o~). In indogermanischer Zeit scheint es Regel gewesen zu sein, Vrddhi-Bildungen von schwachen, nicht von starken Stämmen abzuleiten, z.B. *deiuos "Gott" vom schwachen Stamm *diu-, nicht vom starken Stamm *dįeų- (wovon eine Dehnstufe *dļēu- zu erwarten wäre). Und es ist tatsächlich, was belegt ist: Aus dem schwachen Stamm *dru- (noch erhalten in aksl. drbva "Holz", Kollektiv, vgl. noch lit. sūdrus "fest, kompakt" < *h!su-dru- "aus gutem Holz bestehend" = aind. sudrū-) lautet die Vrddhi-Bildung im Baltischen regelmäßig entweder *deru-o- (cf. apr. Ortsnamen Derwayn, lit. dervä "Kienholz, Kienspan, Pech, Teer", vgl. slav. *dervo- > aksl. drėvo, russ. dėrevo "Baum", aeng. teoru "Teer", kymr. derwen "Eiche") oder *dreu-o- (in der Ableitung *dreu-iiä "Waldbienenstock" > lit. drevė, lett. dreve "Höhlung im Baumstamme, Waldbienenstock", vgl. got. triu "Holz, Baum" < *dreu-o~). Abgesehen von der semantischen Nähe, die tatsächlich auf der Hand zu liegen scheint, kann lett. düore formal kaum hierhergehören. Ich glaube, daß düore vielmehr eine Ableitung der Wurzel von lett. durt "stechen, stossen" (in der Bedeutung "aushöhlen") ist, was m.E. durch phraseologische Junkturen bewiesen wird, vgl. den folgenden Satz bei A. Bielenstein (1907-1918: 191): • ME I 520: egli, priedi, duori durt "eine Tanne, Fichte, zum Bienenstock aushöhlen" Formal ist das Verhältnis von duor- zu dur- mit dem von puol- (lit. püolu "ich greife an") zu pul- (lit. pülti "angreifen") zu vergleichen. Es könnte allerdings sehr gut sekundär sein und muß nicht unbedingt auf eine Vorform *dör- zurückgeführt werden; eine abweichende Vorform *dūrwird durch das Slavische (russ. dial. udyrit' "durchlöchern") vorausgesetzt. Wie dem auch sei, ist lett. düore sicherlich keine alte Vrddhi-Bildung. •

(2d) Dehnung in abgeleiteten Nominalbildungen, z.B. idg. *gvēlH-ā"Qual, Schmerz" > ahd. quäla (vs. quelan < *gvelH-); idg. *löp-ä-

DAS BALTISCHE A K Z E N T - U N D INTONATIONSSYSTEM

123

"Hülle, Mantel, Gewand" > gr. Mmri (vs. X,87too "schälen, abschälen" < *lep~). Außer den Vrddhi, die sich m.E. im Baltischen nicht mehr finden lassen, gibt es im Indogermanischen eine ganze Reihe von Dehnungen in abgeleiteten Nominalbildungen, die die für die Vrddhi typischen Züge nicht aufweisen. Als Paradebeispiel kann etwa idg. *gvēl(H)-ā "Leid", belegt durch ahd. quäla "Qual" (und vielleicht lit. gėla, aksl. žalb, s.u.), anscheinend eine Dehnstufe zur Wz. *gvelH- (ahd. quelan "quälen"), gelten51. Ein weiteres Beispiel ist noch idg. *löp-ä- "Hülle, Mantel, Gewand", belegt durch gr. X,cb7ur| "dss.", anscheinend eine Dehnstufe zu *lep- (gr. XETKÜ "schälen, abschälen") 52 . Solche Formen sind insofern schwierig, als sie weder in semantischer noch in formaler Hinsicht eine homogene Klasse bilden. Es ist übrigens durchaus möglich, daß ein Teil dieser Formen sekundär aus einer der zuvor beschriebenen Kategorien entstanden ist. Z.B. ist gr. taū7īr| vielleicht nichts anders als eine Umbildung eines ursprünglichen dehnstufigen Wurzelnomens aufzufassen und ein solches scheint tatsächlich bei Hesych belegt zu sein (?UB\I/Zur Umbildung vgl. (in (puya8e "in die Flucht") —> (puyf) "die Flucht". Exemplarisch dafür sei hier die Fortsetzung von idg. *guēl(H)-ā "Leid" im Baltischen kurz diskutiert. [48]

• idg. *gvēlH-ā- "Qual, Schmerz" > ahd. quäla (vs. quelan < *gvėlH-), lit. gėla, Akk. gėlą "Schmerz" (mit Schleifton).

Nach Kortlandt (1985: 117, 1988a: 301) sei lit. gėla "Schmerz" (sowie aksl. žalb, russ. žal' "Qual") ursprünglich ein Wurzelnomen mit Dehnstufe im Nominativ Singular; eine ähnliche These haben andere Wissenschaftler, insbesondere Derksen (1996: 63, 143), vertreten. Weitere Beispiele sind nach Kortlandt etwa lit. žo/č "Gras" (Akk. žolę) oder lit. mėsa "Fleisch" (Akk. mėsą). Was nun lit. gėla "Schmerz" betrifft, so könnte der Vergleich mit ahd. quäla, aksl. žalb, russ. žal' anscheinend die Vermutung nahe legen, daß hier eine alte indogermanische Dehnstufe vorliegt. Es ist aber durchaus möglich, daß solche Formen als innersprachliche Neuerungen zu betrachten sind, was durch eindeutige Indizien suggeriert wird. Erstens sind unter derartigen Dehnungen auch Dehnungen mit gedehnten Schwundstufen zu rechnen, also *iR —• *JR, was erst nach der Voka-

51 52

Dazu s. Schaffner (2001: 400). Zu dieser Bildung s. besonders Vine (1998: 685-702).

124

K A P I T E L III

lisierung der Sonanten, d.h. nachindogermanisch denkbar ist, z.B. lit. gyrä "Großtun, Prahlerei" (zu girti "rühmen, loben"), gyrä "Trinkgelage" (zu gerti "trinken", girtas "betrunken"). Zweitens trat diese Dehnung unbedingt nach der Wandlung von idg. *ö zu* ä im Baltischen ein, denn sonst könnte man nicht verstehen, warum sie einen Langvokal *ā, nicht *ö ergibt. Davon zeugen reichlich belegte gedehnte Formen mit *ä, wie z.B. lit. kovä "Streit" (zu käuti "schlagen"), lomä "Grube, Höhle, Vertiefung" (zu limti "brechen, teilen"), tvorä "Umzäunung, Zaun" (zu tverti "umzäunen"), usw. Der Vergleich von lit. löpas mit. gr. ?ub7īr| "Hülle, Mantel, Gewand" ist besonders trügerisch, insofern dieses eine Vorform *lāp-as, jenes eine Vorform *löp-ä voraussetzt; *lāp-as ist nichts anderes als eine innerbaltische Dehnstufe zu *läp- (< idg. *löp~). Man könnte freilich argumentieren, daß langes *ā in einer jüngeren Phase älteres *ö ersetzt hat, was nicht ganz unwahrscheinlich wäre, vgl. lit. lüoma "Teil, Streifen (Landes), Schicht, Art, Gattung, Stand", lett. luöma "Schicht, Reihe, Mal, Zeit" verglichen mit lit. lomä "Grube, Höhle, Vertiefung", lett. lāma "Senkung auf dem Felde, Feld, Pfützen, Sumpf, Grube". Es ist jedoch viel wahrscheinlicher, daß solche Bildungen innerbaltischen Datums sind. Unlängst hat Larsson (2004) vorgeschlagen, daß hier Dehnung und Metatonie (Schleifton) beide zusammen aus einer Akzentzurückziehung in ursprünglich endbetonten Formen hervorgehen. Die Einzelheiten ihrer Theorie müssen freilich noch weiterdiskutiert werden, insbesondere die Frage, wie man sich die Dehnung vorstellt (handelt es sich um Ersatzdehnung?). Wie dem auch sei, steht fest, daß wir hier mit baltischen Dehnungsprozessen zu tun haben. In der Frage nach der Fortsetzung der indogermanischen Dehnstufen im Baltischen spielen sie keine Rolle. Andere Formen, die ähnliche Dehnungen fortsetzen könnten, sind noch problematischer. Beispiele sind folgende: • Mit Schleifton: [49] • lit. juökas "Scherz" (mit Schleifton) < wenn aus idg. *iök-os anscheinend Dehnstufe zu *iök-o- "Scherz" (lat. iocus). [50] • lit. kuölas "Pfahl" (mit Schleifton) < wenn aus idg. *köl-os anscheinend Dehnstufe zu *köl-o- "Pfahl" (aksl. koh). Hierher gehört lit. kälti "schmieden, hämmern" (< *kolH~). Vgl. Smoczynski (SEJL 325 [2007]) und Derksen (2008: 231).

DAS BALTISCHE AKZENT- U N D INTONATIONSSYSTEM

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• Mit Stoßton: [51] • lit. süolas "(Sitz)bank" (mit Stoßton) < idg. *söl-o"Bank" anscheinend Dehnstufe zur Wz. *sel- (aeng. sealma "Bett", vielleicht lat. solium "Sitz"). Aus semantischen Gründen ist die Verbindung mit got. saljan "sich aufhalten, einkehren", ahd. sal "Wohnung, Saal", aksl. selo "Acker, Dorf', lat. solum "Grund, Boden", soleö "gewohnt sein, zu tun pflegen" unsicher. [52] • lett. suölis "Schritt" (mit Brechton), lit. Instr.Pl. šuoliais "im gestreckten Galopp" < wenn aus idg. *sköl- anscheinend Dehnstufe zu *skel- (ahd. scelo "Schälhengst"); so ME III 1137. Das Beispiel [49] ist dunkel; eine morphologische Dehnstufe ist in semantisch identischen Formen kaum zu erwarten. Dazu kommt, daß das Lettische ein dehntoniges Gegenstück (lett.juöks) aufweist. Es wurde oft vermutet, daß die baltischen Formen aus dem Deutschen (westdt. jök "Spaß, Jux" in der Studentensprache < lat. iocus) entlehnt wurden. Dies bleibt möglich. Smoczynski (SEJL 239 [2005]) läßt das Wort vorsichtig ohne Etymologie. Ähnliche Probleme enstehen auch beim Beispiel [50] mit Schleifton und beim Beispiel [51 ] mit Stoßton, verbunden mit semantischen, bzw. etymologischen Schwierigkeiten. Zum Beispiel ist bei [51] der Vergleich mit lat. solium unbegründet, denn dieses ist wohl mit sedeö "sitzen" verwandt (mit der sogenannten "sabinischen" Entwicklung von *-d- zu *-/-). Das Beispiel [52] ist ebenfalls zu verwerfen. Ahd. skelo, schel "Zuchthengst" gehört laut Kluge-Seebold (EWD 792) zum Verbum beschälen "decken", hochdt. dial. die Schellen "Hoden" (vgl. auch kymr. caill "Hoden"); eine Verbindung mit lett. suölis "Schritt" ist aus semantischen Gründen unwahrscheinlich. Die baltischen Formen stehen ganz isoliert da. In keinem dieser Fälle ist also mit urindogermanischer Dehnstufe zu rechnen. •

(2e) Dehnung in akrostatischen Verbalbildungen (sogenannten "Narten-Bildungen"), z.B. idg. *dēk-ti > aind. dāsti "wartet auf, verehrt, huldigt, bringt dar" (cf. Part, dašat- < *dēk-ņt-); idg. *uēk-ti > heth. wekzi, wekkanzi "wünschen, verlangen".

Die Rekonstruktion akrostatischer Bildungen beruht vor allem auf indoarischem sowie anatolischem Material, z.B. aind. dasti "aufwarten, verehren, huldigen, darbringen" (< idg. *dēk-ti), Ptz. dāšat- (< idg. *dēk-ņt-);

126

K A P I T E L III

aavest. stāumī"preisen" (< idg. *stēu-mi), Part, stauuat- (< idg. *steu-ņt-); heth. wekzi "wünschen, verlangen" (< idg. *uēk-ti)\ 3.PI. wekkanzi "wünschen, verlangen" (<— idg. *uek-nti). Vereinzelte Spuren davon lassen sich jedoch auch in anderen indogermanischen Sprachen finden. Um die Frage zu beantworten, ob das Baltische akrostatische Verbalbildungen erhalten hat, muß man die Tatsache zur Kenntnis nehmen, daß das Merkmal "akrostatisch" durch zweierlei Indizien angesetzt werden kann: (1) durch eine unmittelbar belegte Dehnstufe (z.B. aavest. stāumī "preisen" < idg. *stēu-mi), wo sonst normale Vollstufe herrscht; (2) durch eine Vollstufe, wo sonst normale Schwundstufe zu erwarten ist (z.B. aavest. stauuat- < idg. *steu-ņt-). Eine akrostatische Bildung wird auch durch einen festen Stammakzent gekennzeichnet, was in Sprachen mit freiem Akzent noch eine Rolle spielen kann. Wie verhält sich nun zu dieser Frage das Baltische? Im folgenden werde ich das Sprachmaterial des Lexikons der indogermanischen Verben (LIV 2001) unter diesem Gesichtspunkt prüfen. Nebenbei sei bemerkt, daß ich dort hauptsächlich diejenigen akrostatischen Bildungen berücksichtigt habe, bei denen eine Dehnstufe tatsächlich belegt ist. Eine weitere Bedingung ist natürlich, daß sie eine Spur im Baltischen hinterlassen haben. Es muß auch gesagt werden, daß das LIV dem Baltischen akrostatische Bildungen zuschreibt, die entweder durch äußere Evidenz oder lediglich durch den baltischen Befund selbst vorausgesetzt werden. Das Material ist also von ungleicher Bedeutung. Folgt man dem LIV, so erhält man folgende Liste möglicher akrostatischer Bildungen im Baltischen. Mit Vokalen: [53] • LIV 67 (cf. IEW 116): lit. begu "laufen" (mit Stoßton) < wenn aus idg. *bhēg-- akrostatische Dehnstufe zu *bheg-(gr. (peßofiai "fliehen, flüchten"). [54] • LIV 161 (cf. IEW 382): lit. žėbiū (3. Pers. žibia mit Schleifton) "langsam essen, kauen" < wenn aus idg. *ģēbhakrostatische Dehnstufe zu *gebh- (vgl. o-Stufe *göbh- in aruss. zobb "Futter, Nahrung"). [55] • LIV 230-231 (cf. IEW 287-289): lit. edu "fressen" (mit Stoßton) < wenn aus idg. *htid- akrostatische Dehnstufe (heth. ēdmi "essen") zu *hled- (aind. ädmi "essen", lat. edö).

DAS BALTISCHE AKZENT- U N D INTONATIONSSYSTEM

[56]

[57]

[58]

[59]

127

• LIV 507 (cf. IEW 865): lit. (ap)-repiu "umgeben, umfassen" < wenn aus idg. *(hl)rēp- akrostatische Dehnstufe zu *(hl)rep- (gr. 8p87ixo|iai "rupfen, abreißen"). • LIV 513-515 (cf. IEW 884-887): lit. sedu "sich setzen" (mit Stoßton) < wenn aus idg. *sēd- akrostatische Dehnstufe (vgl. lat. sēdēs "Sitz"?) zu *sed- (lat. sedeö). • LIV 638-639 (cf. IEW 1058-1059): lett. tesu "behauen", Inf. tēst (mit Fallton) < idg. *tetk- (gr. TEKTCOV "Handwerker, Zimmermann") zu idg. *tētk- akrostatische Dehnstufe (aind. tasti, 3P1. täksati "zimmern, schaffen, verfertigen"). • LIV 651 (cf. IEW 1072): lit. treškiu "quetschen, pressen", Inf. trekšti (mit Stoßton) < wenn aus idg. *trēsk- akrostatische Dehnstufe zu *tresk- (got. Priskan "dreschen").

Mit Diphthongen: [60] • LIV 279 (cf. IEW 722-723): lit. mėliu "melken" (mit Stoßton) < wenn aus idg. *h2mēlģ- akrostatische Dehnstufe (aind. marsti "wischt ab, reinigt") zu *h2melg- (gr. djie^ya) "melken", aeng. melcan). [61] • LIV 522 (cf. IEW 893): lit. siekiu "erreichen" (mit Stoßton) < wenn aus idg. *sēik- akrostatische Dehnstufe zu *seik- (vgl. Schwundstufe in gr. kavco "kommen, hingelangen"). [62] • LIV 285 (cf. IEW 914-915): lit. siäutu "stürmen, toben" (mit Stoßton), alit. 3. Pers. siausti < wenn aus idg. *h2sēutakrostatische Dehnstufe zu *h2sēut- (aeng. sēodan "sieden, kochen", lit. siaučiū, 3. Pers. siaučia "mit Schwung werfen, worfeln, toben"). [63] • LIV 568-569 (cf. IEW 967): lett. smeju "lachen, verspotten", Inf. smiet (mit Brechton im Infinitiv) < wenn aus idg. *sm§i- akrostatische Dehnstufe (aksl. smėję sę "lachen", Inf. smijati sę) zu *smei- (aind. smäyate "lächeln"). [64] • LIV 641 (cf. IEW 1085): lit. čiaupiu "fest zusammenpressen" (mit Stoßton) < wenn aus idg. *tēup- akrostatische Dehnstufe zu *teup- (germ. *Peub-a- "Dieb" < "sich versteckend, sich niederkauend"). [65] • LIV 677-678 (cf. IEW 1137): alit. pawelmi "wünschen, verlangen" (Intonation unbekannt) < wenn aus idg. *uēlhr akrostatische Dehnstufe (vgl. lat. Konj. uelim) zu *uelhr (lat. uolö).

128

KAPITEL III

Läßt man unbedeutende Formen außer acht, z.B. alit. pawelmi, dessen Intonation unbekannt ist, so stellt man fest, daß fast alle im LIV aufgelisteten Beispiele akrostatischer Verbalbildungen durch einen Stoßton charakterisiert werden, sowohl bei den Vokalen (Beispiele [53], [55-59]) als auch bei den Diphthongen (Beispiele [60-65]). Als einziges Gegenbeispiel gilt lit. žebia "langsam essen, kauen" (Beispiel [54], mit Schleifton); dazu kann noch lit. (ap)-repiu "umgeben, umfassen" (Beispiel [56]) hinzugefügt werden, das im Litauischen zuweilen eine schleiftonige Variante (ap)-rėpiū, 3. Pers. (ap)-rėpia aufweist. Sieht man von diesen Ausnahmen ab, so könnte angenommen werden, daß das Baltische indogermanische morphologische Dehnstufen in der Regel als stoßtonig reflektiert, was entschieden für das Stangsche System und gegen das Kortlandtsche sprechen würde. Nun scheint mir diese Schlußfolgerung etwas voreilig, solange man das Material nicht richtig geprüft hat. Es fällt zunächst auf, daß einige der im LIV als akrostatisch angesetzten Verbalbildungen nur durch den Befund des Baltischen unterstützt werden - d.h. wenn das Baltische einen stoßtonigen Langvokal oder - noch schlimmer - (bei den Diphthongen) einen bloßen Stoßton gegenüber Kurzvokalen oder Diphthongen in anderen indogermanischen Sprachen aufweist. Dies ist eine sehr schwache Basis, wenn man all die Metatonien und Ablautsentgleisungen bedenkt, die für das Baltische so charakteristisch sind. Es ist bekannt, daß die sogenannte "metatonie rude" eine der Hauptquellen für etymologisch unerwartete Stoßtöne gerade im Bereich des Verbums ist. Vorgeschichtliche akrostatische Bildungen darauf zu rekonstruieren, scheint mir recht gewagt zu sein. Z.B. sind die *jo-Verben im Baltischen manchmal metatonisch. In einem Fall wie lit. läukiu "warten" (mit Stoßton) gegenüber gr. ?iei)GGC0 "ansehen, beobachten" (< idg. *leųk-įo) wäre der Ansatz eines akrostatischen Verbums unbegründet 53 . Dasselbe gilt dann wahrscheinlich auch für Fälle wie lit. siekiu "erreichen" (Beispiel [61]) oder lit. čiaupiu "fest zusammenpressen" (Beispiel [65]), beide mit Stoßton. Bei Stativverben sind sowohl Vokaldehnung als auch "metatonie rude" nicht selten belegt, z.B. čiaužėti "beim Kriechen sein" gegenüber čiaūžti "kriechen", usw54. Dies könnte lit. sidutu "stürmen, toben", Inf. siautėti

53 Eventuell könnte lit. spaudžiu "drücken" (mit Stoßton) gegenüber spaudä, Akk.Sg. spaudų "Druck, Presse" in ähnlicher Weise gedeutet werden. Andere Erklärungen sind aber auch denkbar (insbesondere unter Berücksichtigung des Winterschen Gesetzes). 54 Weitere Beispiele s. Derksen (1996: 354).

DAS BALTISCHE AKZENT- U N D INTONATIONSSYSTEM

129

oder siautėti (Beispiel [62]) gegenüber lit. siaučiū (3. Pers. siaučia "mit Schwung werfen, worfeln, toben") erklären. Zweitens ist auf die Tatsache hinzuweisen, daß das LIV manchmal akrostatische Präsentia aufgrund baltischer Formen ansetzt, die einen Langvokal eben nicht im Präsens, sondern nur im Präteritum und Infinitiv haben. Methodologisch ist dies recht anfechtbar. Z.B. in einem Fall wie lett. smeju "lachen, verspotten", Prät. smeju, Inf. smiet mit Brechton im Präteritum und Infinitiv (Beispiel [63]) ist ein akrostatisches Präsens *smėį- gerade durch die baltischen Formen widerlegt. Wenn das Slavische einen Langvokal im Präsens hat (aksl. smėję sę "lachen", Inf. smijati sę), ist dies nur ein Beweis dafür, daß die Dehnung unabhängig im Baltischen und im Slavischen entstanden ist. Für das Slavische läßt sich annehmen, daß die Dehnung im Präsens analogisch zu einer laryngalhaltigen Wurzel wie zėję "gähnen", Inf. zijati zu erklären ist. In zėję, zijati hat man von einer Wurzel *ghehri- (LIV 173-174, IEW 419^120) auszugehen, die den Langvokal im Präsens problemlos erklärt; der Infinitiv zijati stammt aus *ģhhļi- + V. Es kann dann leicht angenommen werden, daß die laryngallose Wurzel *smei- "lächeln, lachen" diesem Modell sekundär folgte, also: • •

nach zijati (< *ghhii- + *-ä~) sekundär smijati sę (< *smi- + *-ä~)

zėję (< *gheh/į-e/o-) —• X = smėję sę (anstatt *smeję sę = lett. smeju < *smeį-e/o-)

Dasselbe Modell erklärt auch aksl. lijati "vergießen, verschütten" (< *liH+ *-ā-) -> X = įėję (anstatt *leję = lett. leju < *leįH-e/o-). Der Langvokal im Präsens smėję sę ist also sekundär und keineswegs auf ein akrostatisches Präsens zurückzuführen. Dasselbe gilt auch für die lettischen Formen, die einen Langvokal aufweisen: lett. Prät. smėju, Inf. smiėt. Ich nehme an, daß sie einfach analogisch zu ursprünglich laryngalhaltigen Formen sind, und diesmal hat das Präsens (nicht der Infinitiv wie im Slavischen) als Scharnierform fungiert: •

nach leju (< *leįH-e/o-)

->

•

sekundär smeju (< *smeį-e/o-)

—•

liet (< *leįH-ti) "vergießen, verschütten" smiėt (anstatt * smiet < *smeį-ti-)

130

KAPITEL III

(Dasselbe im Präteritum: smėju nach lėju). Es ist bemerkenswert, daß auch das Verbum "gehen", lett. iet, im Infinitiv stoßtonig (brechtonig) ist. Darauf aufbauend ein akrostatisches Präsens anzusetzen, wäre absurd. Wenn das so ist, darf hier natürlich von akrostatischen Präsentia keinesfalls die Rede sein. Ein anderer Faktor, der eine Rolle gespielt haben kann, ist die Tatsache, daß das Baltische langvokalische Präterita entwickelt hat. Angesichts der engen Verbindung, die im Baltischen zwischen dem Präteritum und dem Infinitiv besteht, ist es nicht verwunderlich, daß Infinitivformen Langvokale aufweisen können, ohne die Rekonstruktion akrostatischer Präsentia nötig zu machen. Das kann einen Fall wie lett. tesu "behauen" (mit Kurzvokal) gegenüber Inf. tėst (mit falltonigem Langvokal) erklären (Beispiel [58]). Die langvokalischen Präterita werden bald zur Sprache kommen. Schließlich erhebt sich die Frage nach dem Winterschen Gesetz55. Ich werde diese Frage so objektiv wie möglich darzustellen versuchen, obwohl ich seit eh und je Anhänger dieses Gesetzes bin. Seitdem Werner Winter (1978) Dehnung von Vokalen vor ursprünglichen Media im Baltischen und Slavischen angesetzt hat, wurde das Gesetz heftig debattiert. Schematisch gesehen kann man drei Stellungnahmen unterscheiden: [1] völlige Ablehnung des Gesetzes (z.B. in Deutschland Wolfgang P. Schmid und Klaus Strunk); [2] völlige Annahme des Gesetzes (z.B. in den Niederlanden Frederik Kortlandt und Rick Derksen, in Frankreich Charles de Lamberterie); [3] teilweise Annahme des Gesetzes, d.h. Reformulierung unter beschränkten Umständen (z.B. Shintani 1985 [nur in unbetonten Silben], Matasovic 1995 [nur in geschlossenen Silben]). Jede Stellungnahme hat sich zugegebenermaßen mit Problemen auseinanderzusetzen. Bei völliger Ablehnung des Gesetzes muß man langvokalische Formen wie lit. begu (gegenüber gr. (peßo^ai), lit. edu (gegenüber aind. ädmi), lit. sėdu (gegenüber lat. sedeö), lit. mėlžu (gegenüber ae. melcan) als morphologische Dehnstufen interpretieren, was recht unbequem ist, da die Evidenz für akrostatische Bildungen manchmal auf das Balto-Slavische beschränkt wäre, d.h. völlig zirkulär wäre. Freilich hat man in einigen Fällen auch anderswo Spuren akrostatischer Bildungen finden wollen, so z.B. bei *hled- "essen" (vgl. heth. ēdmi "essen") und *sed- "sitzen" (vgl. indirekt lat. sēdēs "Sitz"?). Aber die Mehrheit der Beispiele des Winterschen Gesetzes lassen sich schwer, das muß man zugeben, auf 55 Die umfangsreiehste Untersuchung über das Wintersche Gesetz ist Dybo (2002: 295-515). S. auch neuerdings Olander (2009: 150-151).

DAS BALTISCHE A K Z E N T - U N D INTONATIONSSYSTEM

131

morphologische Dehnstufen zurückfuhren. Der Langvokal von lit. ūdra, aksl. vydra "Otter" gegenüber gr. üSpa usw. ist besonders auffallig; eine morphologische Dehnstufe kommt hier kaum in Frage. Ich habe unlängst (2004d) zu zeigen versucht, daß das Wintersche Gesetz wie jedes Lautgesetz eine morphologische Grenze überschreiten konnte, z.B. in lit. sūdrus "fest, kompakt", verglichen mit aind. sudrii- "aus gutem Holze bestehend" (< idg. *h}su-dru-). Von morphologischer Dehnstufe kann hier kaum die Rede sein. Bei völliger Annahme des Gesetzes hat man sich bekanntlich mit einer beträchtlichen Anzahl von Gegenbeispielen auseinanderzusetzen, unter denen das bekannteste wohl sl. voda "Wasser" aus idg. *uöd- ist. Um diese Gegenbeispiele zu beseitigen, hat die Forschung recht komplizierte Lösungen erdacht. Und schließlich hat es nicht an Versuchen gefehlt, das Gesetz zu reformulieren. Jeder Versuch stoßt aber an Gegenbeispielen. Bekanntlich hat das LIV die Reformulierung von Matasovič adoptiert, aber Derksen (2002) hat auf ihre Schwächen hingewiesen. Die Reformulierung von Shintani (1985) wurde von Kortlandt (1988b) scharf angefochten. Der letzte Reformulierungsversuch stammt von Dybo (2002). Wie sieht nun die Situation aus? Ich bin nicht imstande, einen Kompromißversuch zu unternehmen, und lasse die Frage lieber offen. Ich denke aber, daß sowohl die Anhänger als auch die Gegner des Winterschen Gesetzes über einen Punkt einig sein müßten: Beispiele für morphologische Dehnstufen im Baltischen seien unter Vorbehalt näherer Prüfung lieber außerhalb der Stellung vor Media zu suchen. Abgesehen von lit. bėgu, edu, sedu, mėlžu, die wegen der Debatte um das Wintersche Gesetz zweideutig bleiben, lassen sich im Baltischen keine unstrittigen akrostatischen Präsentia finden. •

•

(2f) Dehnung in Präteritalbildungen, z.B. idg. *lēģ- "sammeln, lesen" > lat. lēgī (vs. legö)\ idg. *nēm- "nehmen" > got. nemun (vs. nam < *nöm-e, niman < *nem-). (2g) Dehnung in sigmatischen Aoristbildungen, z.B. idg. *uēģh-s"bringen, fahren" > lat. uēxī(vs. uehö), aksl. vėst (vs. vesti).

Zur Sprache kommt nun die Frage der Dehnung in Präteritalbildungen. Es ist bekannt, daß das Baltische die Dehnung als Merkmal vieler Präteritalbildungen benutzt hat. Die Frage ist nun, inwieweit dieses produktive Dehnungsmuster etwas Ererbtes darstellt und welche Intonation

132

KAPITEL III

zu erwarten ist. Dazu kommt, daß die Existenz gedehnter Präterita im Indogermanischen selbst als unsicher gelten muß. Die einzige Klasse, bei der eine Dehnung einigermaßen gesichert zu sein scheint, ist die der sigmatischen Aoristbildungen (2g), vgl. z.B. aind. äbhär "er trug" < *bhēr-s-t (Aorist von bhärati "tragen" < *bher-e/o-), lat. uēxī"ich fuhr" < *uēģh-s(Perfectum von uehö "ich fahre" < *ueģh-e/o-), aksl. vesb "ich führte" < *uēdh-s-om (Aorist von vedę "ich führe" < *uedh-e/o~). Das Baltische hat aber keine Spur der sigmatischen Aoristbildung erhalten. Wenn Kortlandt die für die sigmatischen Aoriste charakteristische Dehnung in der Metatonie der dritten Person der sigmatischen Futurbildung des Litauischen (lit. duös "er wird geben" gegenüber düosiu "ich werde geben") reflektiert sehen will, so ist dies eine unbegründete Annahme, die nur als die Übertragung einer innerlitauischen Metatonie auf indogermanische Spekulationen angesehen werden kann, vgl. Petit (2002: 262-263). Es ist m.E. wichtig, vom Baltischen selbst auszugehen. In meiner Habilitationsschrift (2004a: 300-344) habe ich den Versuch unternommen, den Bereich der Dehnstufen in den baltischen Präteritalbildungen zunächst einmal vom Inneren her zu beschreiben. Es kann gezeigt werden, daß die Dehnung nur unter strengen formalen Bedingungen auftritt. Sie läßt sich in folgenden Strukturen beobachten (mit einem Sternchen die dehnstufigen Bildungen):

Tabelle 12. Ablautvcrhältnisse im baltischen Verbalsystem Reine thematische Bildungen (-«-) (1) Stammvokal e (2) Stammvokal a

(3) Stammvokal eR

(4) Stammvokal /

(5) Stammvokal x e, a, i)

K2 # R

Beispiel

K, = R

Beispiel

(1) K,eK 2 a -»K,eK2ē (2) K,aK 2 a

dega, degė "brennen"

(la)K,eR2a K,iR 2 e

gēna, ginė "treiben"

-> K,aK2ē

käsa, kasė "graben"

(2a) K,aR 2 a ->• K,aR 2 ē

bāra, barė "schelten"

(3) K,eRK 2 a K,iRK 2 ā

perka, pirko "kaufen"

(3a) K,eR 2 a - > K,iR 2 ā

dēla, dilo "sich abnutzen"

(4) K,iK 2 a K,iK 2 ā

kiša, kišo "stecken"

(4a) K,iR 2 a K,īR 2 ē

mina, mynė ' "stampfen"

(5) K,xK 2 a —> K,xK n ā

süka, suko "drehen"

DAS BALTISCHE A K Z E N T - U N D INTONATIONSSYSTEM

133

Tabelle 12. Kont. Thematische Bildungen (-ia-)

d) Stammvokal e (2) Stammvokal a

(3) Stammvokal /

(4) Stammvokal u

(4) Stammvokal x

(6) K,eK 2 ia K,ēK 2 ē (7) K,aK 2 ia -»K,äK2e (8) K,iK 2 ia -»K,īK2ē ?

Beispiel

K = R

Beispiel

slepia, slėpė * "verbergen" vagia, vogė * "stehlen" kein Beispiel

(6a) K,eR 2 ia -»• K,ēR 2 ē (7a) K,aR 2 ia -»• K,āR 2 ē (8a) K,iR,ia —> K J R , č (9a) K,uR 2 ia -»K,ūR,ē

beria, bėrė * "ausschütten'' karia, korė * "hängen" diria, dyrė * "zerreißen" kuria, kūrė * "zünden, schaffen"

(9) K,uK 2 ia -»• K,ūK 2 ē

tupia, tupė * "landen"

(10)K,xK 2 ia - » K,xK„ē

klausia, klausė "stecken"

Wie aus der Tabelle ersichtlich, ist die Dehnung nur mit dem ē-Prāteritum verbunden, was natürlich in der Frage nach der Herkunft dieser Bildung eine Rolle spielt. Daß die Dehnung fast nur bei /a-Präsentia vorhanden ist, ist ebenfalls auffällig und bedarf einer Erklärung. Es ist nicht überraschend, daß die Dehnung nur in Stämmen auftritt, die einen ablautfähigen Vokal haben (z.B. e [6], [6a], a [7], [7a], i [4a], [8a], u [9], [9a]); Langvokale sind selbstverständlich nicht dehnungsfähig. Darüber hinaus ist die Dehnung nur bei gewissen Stammstrukturen belegt, z.B. bei Stämmen der Struktur /K,eK 2 ia/ (vgl. [6]) oder /K,eR 2 ia/ (vgl. [6a]), aber nie bei Stämmen der Struktur /K 1 eRK 2 ia/ (z.B. lit. verkia "er weint" —> verkė "er weinte"). Man hat also bei der Entstehung der Dehnung mit verschiedenen bestimmenden Faktoren zu rechnen: • • • •

der Stammvokal muß ablautfahig sein. der Stammkonsonant muß gewissen Mustern folgen. nur ē-Prāterita sind dehnungsfähig. die Präsensbildungen spielen schließlich auch eine Rolle (meist iaPräsentia).

Es wurde längst angenommen, daß die baltische Präteritaldehnung vom Indogermanischen ererbt ist. Zum Beispiel hat man das Paar lit. beria "er schüttet aus" (< *bher~), Prät. bėrė "er schüttete aus" (< *bhēr-) mit dem germanischen starken Verb got. bairan "tragen" (< *bher-), Prät. PI. berum "wir trugen" (< *bhēr-) oder lit. ima, dial. ėma "er nimmt" (< *hlm-, *hlem~), Prät. ėmė "er nahm" (< */z/ēm-) mit dem lateinischen

134

KAPITEL III

emö {< *hļēm-), Perf. ēmī "ich las" (< *hlēm-) vergleichen wollen, unter der Annahme, hier lägen uralte dehnungsmarkierte Präteritalbildungen vor. Spuren von langvokalischen Präterita wurden ebenfalls in anderen indogermanischen Sprachen postuliert. Im Lateinischen haben wir z.B. legö "ich lese" / Perfectum lēgī "ich las" (andere Beispiele bei Meiser 2003: 153-158). Im Germanischen ist das Dehnungspräteritum nur in einigen Klassen (IV und V) der starken Verba und dazu noch nur in deren Plural belegt, vgl. got. niman "nehmen" / Prät. nam "ich nahm", PI. nemum "wir nahmen" (Klasse IV) oder giban "geben" / Prät. gab "ich gab'X PI. gebum "wir gaben". Im Albanischen sind ablautende Präterita ziemlich produktiv, z.B. hedh "werfen" / Prät. hodha, dredh "drehen" / Prät. drodha, vjerr "anhängen" / Prät. vora (vgl. Camaj 1984: 170-171). Unter der Annahme, daß der albanische Vokal o auf langes *ē zurückgeht (vgl. alb. dose "Sau, Muttertier" < *dhē-tiā), wird oft vermutet, hier lägen dehnstufige Präterita vor. Man könnte z.B. dem Präsens dredh "drehen" (< *dhregh-) ein dehnstufiges Präteritum drodha (< *dhrēģh~) gegenüberstellen. Ich nehme vielmehr an, daß die langvokalischen Präterita, die in den indogermanischen Sprachen historisch belegt sind, überall Neuerungen darstellen. Das lateinische Paar legö / lēgī wurde wohl sekundär nach emö / ēmī "kaufen" oder edö / ēdi "essen" gebildet, die laut Benveniste (1949) und Meiser (2003: 152) als regelmäßige Fortsetzungen schwundstufiger reduplizierter Perfekta betrachtet werden können (em- / ēm- < *hIeme/o - / *h]e-h]m-, bzw. ed- / ēd- < *hjed- / *hle-hld-). Dieselbe Erklärung könnte auch für die möglichen Kontinuanten dieser Dehnungsbildung im Keltischen gelten, vgl. air. täich "er floh" (< *tökv- statt *te-tku-)56. Für das Germanische läßt sich annehmen, daß das langvokalische Perfekt sich sekundär an der Stelle eines zu erwartenden schwundstufigen Perfekts entwickelte, wo dieses lautlich unmöglich war; es muß sekundär sein. Ausgangspunkt kann das Verb itan "essen" sein, von dem ein langvokalisches Präteritum *ēt-, wohl aus *hIe-h]d-, tatsächlich belegt ist (vgl. got. fret Lk 15, 30, aisl. ät, aeng. oēt, ahd. äz). Für das Albanische sind verschiedene Erklärungen denkbar. Es ist zu bemerken, daß ablautende Präterita auch in der Klasse der a-Verben (wie z.B. alb. dal "ausgehen" / Prät. dola oder marr "nehmen" / Prät. mora) belegt sind; es ist möglich, daß von dort an die o-Stufe (etwa dol- < *dheh2l- neben dal < *dhh2l-) als charakteristisch für ablautende Präteritalbildungen empfunden wurde und sich sekundär auf e-stufige Verben verbreitete. 56

S. Meiser (2003: 153, Fußnote 5).

DAS B A L T I S C H E A K Z E N T - U N D I N T O N A T I O N S S Y S T E M

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Für das Baltische sind zwei Deutungen möglich. Entweder sind dehnstufige Bildungen im Baltischen genauso wie in den anderen Sprachen sekundär aus schwundstufigen reduplizierten Perfekta entstanden oder sie sind eine innerbaltische Neuerung. Die erste Analyse vertritt z.B. Meiser (2003: 152, Fußnote 3). Meiser sieht das lit. Prät. emė "er nahm" (< *hļēm-) als Fortsetzung des reduplizierten Perfekts *h1e-hlm- (wie lat. ēmī) an. Der Schleifton wäre aber schwer zu erklären, denn der tautosyllabische Laryngal würde vielmehr einen Stoßton erwarten lassen. Darüber hinaus muß auf die Tatsache hingewiesen werden, daß die Intonation der litauischen Form hier überhaupt keine Beweiskraft hat, insofern die Intonation des Präteritums sich offensichtlich nach der des Infinitivs gerichtet hat. Es gilt als Regel, daß das langvokalische Präteritum stoßtonig ist, wenn der dazu gehörende Infinitiv stoßtonig ist, schleiftonig, wenn der Infinitiv schleiftonig ist. Beispiele: •

•

mit Stoßton: lit. mynė / minti "stampfen", gerė / gerti "trinken", korė / kärti "hängen", dyrė / dirti "zerreißen", kūrė / kurti "zünden, schaffen" mit Schleifton: lit. bėrė / berti "ausschütten", slėpė / slėpti "verbergen", vogė / vögti "stehlen", tūpė / tūpti "landen".

Unter diesen Bedingungen sagen diese Präterita nur so viel aus, daß sie die dem Infinitiv zugrunde liegende Intonation bestätigen. Und diese kann sehr wohl laryngalen Ursprungs sein: Man findet einen Stoßton bei Set-Wurzeln (z.B. lit. gerti "trinken" < idg. *g-erhf "verschlingen"), einen Schleifton bei Anit-Wurzeln (z.B. lit. berti "ausschütten" < idg. *bher~). Somit erscheint keine Schlußfolgerung über die Intonation der dehnstufigen Präterita im Baltischen möglich. Dazu kommt, daß diese ganze Klasse der dehnstufigen Präterita sehr gut eine Neuerung des Baltischen sein kann. Meine Auffassung zu ihrer Genese habe ich in meiner Habilitationsschrift (2004a) ausführlich dargestellt. Ich nehme an, daß das baltische ē-Prāteritum den indogermanischen sigmatischen Aorist ersetzt hat. In Set-Wurzeln hat man also von antekonsonantischen Strukturen des Typs */KeRH-s-/ (z.B. etwa *guerh3-s-, Transponat) auszugehen, in denen der Laryngalverlust Ersatzdehnung als Folge hatte, also */KeRH-s-/ > */Kēr-s-/ (z.B. *g-erh3-s- > balt. *gēr-s~). Später wurde das sigmatische Suffix durch *-ē- ersetzt, wobei die ursprünglich in antekonsonantischer Position entstandene Ersatzdehnung bewahrt wurde, also */Kēr-s-/ —>• */Kēr-ē-/ (z.B. balt. *gēr-s- —> *gēr-ē). Im Infinitiv hingegen wurde der baltische

136

K A P I T E L III

ersatzdehnungsbedingte Langvokal in einer späteren Phase durch das Osthoffsche Gesetz gekürzt: */KeRH-ti-/ > */Kēr-ti-/ > */Kēr-ti-/ (lit. gerti mit Stoßton). Auf diese Weise entstand ein sekundärer Ablautkontrast zwischen einem kurzvokalischen Infinitiv {gerti) und einem langvokalischen Präteritum {gere). Schließlich wurde die Dehnung auf schleiftonige Stämme analogisch verbreitet: Nach gerti / gėrė wurde sekundär zu berti ein Präteritum bėrė geschaffen. Die dehnstufige Präteritalbildung ist somit m.E. bloß als innerbaltische Neuerung zu deuten. •

(2g) Dehnung in Iterativbildungen, z.B. idg. *kēl-ā- > lat. cēlā "ich verberge" (vs. occülö < *kel-e/o-); idg. *nöm-ä- > gr. vü)|iaoo "verteilen, handhaben, beobachten" (vs. ve(xoo "aus-, zuteilen" < *nem-e/o~).

Wir kommen schließlich zu den Iterativbildungen, die in anderen indogermanischen Sprachen manchmal morphologische Dehnungen aufweisen. Im Griechischen findet man z.B. ipco7id(o "drehen" (x 521) neben TPE7IO), TPOOX&W "rennen, laufen" (X 1 6 3 , C, 3 1 8 ) neben xpexco oder VGOII&Ü) "verteilen, handhaben, beobachten" (Hom.+) neben ve|_ico "aus-, zuteilen", usw. Solche Verbalbildungen lassen sich von dehnstufigen Nominalbildungen des Typs gr. Äxü7i:r| "Hülle, Mantel, Gewand" (s. [2d]) manchmal schwer trennen, von denen sie sehr gut denominative Ableitungen darstellen können. Eine weitere Schwierigkeit ist mit der Tatsache verbunden, daß die Dehnstufe entweder als o-Stufe (z.B. gr. vcoĮido)) oder als e-Stufe (z.B. lat. cēlo) erscheint. Es muß sich also wohl um unterschiedliche Dehnungsbildungen handeln, die nur der Einfachheit halber als homogene Klasse betrachtet werden. Das Slavische hat bekanntlich solchen dehnstufigen Iterativverben eine große Produktivität verliehen, z.B. aksl. bbrati "nehmen" / -birati {< *bīr- / *bīr~), skočiti "springen" / skakati (< *skok- / *skök-). Gedehnte Schwundstufen wie -birati verraten die rezente Produktivität der Dehnung. Die Annahme, daß das Baltische dehnstufige Iterativbildungen aus der Grundsprache ererbt hat, ist alt. Sie beruht insbesondere auf scheinbar exakte Wortgleichungen wie z.B. gr. Äj|K(xv xö Ttpoę cbSfļv öpxeioöai "tanzen" (Hesych) / lett. lękat "wiederholt springen, hüpfen" (ME II 456, mit Stoßton). Darauf aufbauend hat man eine indogermanische Iterativbildung *lēk-ā-ti "wiederholt springen" zur Wz. *lek- "springen" (mhd. lecken "mit den Fußen ausschlagen", lit. lēkia "er fliegt") ansetzen wollen. Aus dieser Perspektive würde eine alte morphologische Dehnstufe eindeutig Stoßton aufweisen.

DAS BALTISCHE A K Z E N T - U N D INTONATIONSSYSTEM

137

Bevor man dieser Evidenz volle Gültigkeit anerkannt, muß zuerst auf die Tatsache hingewiesen werden, daß lett. lękat nicht ganz isoliert dasteht, sondern einer nicht ganz unproduktiven Klasse sogar angehört. Andere Beispiele sind im Lettischen etwa57: [66] [67] [68] [69]

lett. klęgat "schreien", Intensiv von *kleg- (lit. klegeti "laut lachen, schnarren"). lett. mętat "wiederholt werfen", Intensiv von mest "werfen". lett. nęsat "wiederholt tragen", Intensiv von nest "tragen". lett. gübäties "sich krümmen", Intensiv von gubt "sich krümmen, beugen".

Und im Litauischen 58 : [70] [71 ] [72] [73] [74] [75]

lit. brydoti "hineingewatet dastehen", Intensiv von bristi "waten". lit. dryboti "dick und voll hangen", Intensiv von dribti "fallen". lit. kyboti "hängen", Intensiv von kibti "dss.". lit. styroti "steif und lümmelhaft dastehen", Intensiv von stirti "erstarren". lit. tvyloti "schweigend dasitzen oder dastehen", Intensiv von tvilti "still werden". lit. gludoti "angeschmiegt stehen oder liegen", Intensiv von glüsti "anschmiegen".

In all diesen Formen ist ein Stoßton vorhanden. Dies könnte zum Schluß führen, daß morphologische Dehnstufen im Baltischen durch stoßtonige Langvokale reflektiert werden. Diese Schlußfolgerung wäre aber m.E. voreilig. Gewisse Indizien legen hingegen die Vermutung nahe, daß die Dehnung hier sekundär ist. Dafür spricht eindeutig die Tatsache, daß darunter auch gedehnte Schwundstufen hierhergehören, vgl. z.B. lit. styroti zu stirti (< *strH-) oder gludoti zu glüsti (< *glud- Schwundstufe zu *glaud-, lit. glausti "anschmiegen"), lett. gübäties zu gubt (< *gubSchwundstufe zu *gaub-, lit. gaübti "von oben her ganz zudecken"). Die Beantwortung der Frage wird dadurch erschwert, daß in einigen Fällen die Dehnung nominalen Ursprungs sein kann, wie z.B. in lit. tvyla "stiller

57 58

Derksen (1996: 304-306). Derksen (1996: 296-297).

138

KAPITEL III

Mensch" / tvyloti "still bleiben", nüoma "Miete" / nüomoti "mieten". Oder sind lit. tvyla und nüoma postverbale Bildungen? Eine weit verbreitete Meinung (s. Skardžius 1943: 511) ist, daß Bildungen auf *-āti zum Teil von Präterita auf *-ā abgeleitet werden, z.B. kilöti "aufheben" aus dem Präteritum kilo von kilti "sich erheben" 59 . In der Frage der Dehnungsbildungen spielt diese Analyse keine Rolle, denn den ä-Präterita ist die Dehnung bekanntlich fremd. Es ist zu bemerken, daß die ä-Bildung nicht unbedingt Dehnung des Stammvokals voraussetzt (vgl. lit. kilöti "aufheben" neben kelti). Die Dehnung scheint semantisch auf Verbalbildungen mit intensiver Bedeutung beschränkt zu sein. Stang (1966: 324) bezeichnet diese Klasse als "Verba durativa, ein Verharren in derselben Lage bezeichnend". Einige Wissenschaftler, z.B. Schmalstieg (2000a: 124), sprechen hier von "ikonischer" Dehnung (oder vrddhi psychologique nach de Saussure) unter der Annahme, daß die Vokallänge das Verharren in derselben Lage nachahmt. Daß Ikonizität hier tatsächlich eine Rolle gespielt hat, ist wohl nicht abzuleugnen, aber der Stoßton wird dadurch nicht erklärt - insbesondere, wenn man bedenkt, daß die semantisch vergleichbaren Bildungen auf -soti zuweilen schleiftonig sind: Man vergleiche z.B. lit. dryboti "dick und voll hangen" (Ind. 3. dryboja) und drybsoti "ausgestreckt daliegen" (Ind. 3. drybso)60. Zugegebenermaßen bleibt die ganze Frage besonders dunkel. Mit vollem Recht bleibt hier Derksen (1996: 338-339) vorsichtig bei einem skeptischen Urteil. Ich kann hier keine endgültige Lösung vorschlagen. Es ist aber klar, daß diese Dehnung, die m.E. ausschließlich im Rahmen der sogennanten "mėtatonie rude" zu interpretieren ist, nicht ohne Bedenken auf das Indogermanische transponiert werden darf. Ihre Beweiskraft für den Reflex der indogermanischen Dehnstufen im Baltischen ist zumindest fraglich. Die bisherigen Betrachtungen legen folgenden Schluß nahe: Daß Laryngaldehnungen eindeutig durch stoßtonige Langvokale im Baltischen reflektiert werden, darüber sind alle Wissenschaftler einig. Daß phonetische Langvokale - sei es durch das Stangsche Gesetz (z.B. *gvöm) oder durch altertümliche Kontraktionen (z.B. *nēsti) - schleiftonig werden, ist eine Vermutung, die über einen gewissen Wahrscheinlichkeitsgrad ver-

59 Cf. aksl. bbrati "nehmen" <- Präteritum *bbra = lit. biro "er wurde ausgeschüttet" (?). Diese Deutung halte ich für unbegründet. 60 Derksen (1996: 338).

DAS B A L T I S C H E A K Z E N T - U N D I N T O N A T I O N S S Y S T E M

139

fügt, aber nicht ganz unumstritten bleibt. Was nun die morphologischen Dehnstufen betrifft, so bleibt die Debatte beim heutigen Wissenstand noch völlig offen. Dehnstufige Endungen wie in lit. akmuö "Stein", vanduo "Wasser" oder dukte "Tochter" scheinen für die Meinung von Kortlandt zu sprechen, daß morphologische Langvokale im Baltischen schleiftonig werden. Weitere Evidenz gibt es leider nicht, denn all die bisher vorgebrachten Beispiele sind m.E. entweder zweideutig oder ganz zu verwerfen. Diese Schlußfolgerung mag dem Leser enttäuschend klingen. Ziel dieser Untersuchung war es aber vielmehr, von falschen Gleichungen reinen Tisch zu machen, als neues Material vorzubringen, denn ich bin fest davon überzeugt, daß diese wissenschaftliche Debatte erst dann vorankommen kann, nachdem man das hierhergehörende Material zuerst einmal nach seinem wahren Wert beurteilt hat, und dieser ist wirklich sehr gering.

KAPITEL III

DAS BALTISCHE NEUTRUM Die Frage des Neutrums im Baltischen ist keine Neuigkeit, sondern wurde bereits mehrmals und aus verschiedenen Perspektiven behandelt. Der Grund für diese intensive Beschäftigung der Wissenschaftler mit dem baltischen Neutrum liegt zum Teil darin, daß der Verlust des Neutrums im Baltischen eine historische Erscheinung ist, deren Etappen wir noch größtenteils beobachten können. Das Baltische liefert wichtige Angaben zu der Frage, über welche Stufen eine Sprache das Neutrum verliert, und allein schon diese Tatsache verleiht dem baltischen Material einen großen Wert. Darüber hinaus steht die baltische Entwicklung isoliert da, denn keine der benachbarten Sprachen, weder das Deutsche noch das Polnische oder das Russische, weist etwas Ähnliches auf. Zwar gibt es andere indogermanische Sprachen, die das Neutrum verloren haben, insbesondere die romanischen und die modernen keltischen Sprachen sowie das Tocharische, aber sie sind in geographischer und zum Teil typologischer Hinsicht vom Baltischen entfernt. Der Verlust des Neutrums im Baltischen ist also eine Entwicklung, die durch innere Kräfte verursacht wurde und sich aus eigenem Antrieb vollzog. Manche Wissenschaftler begnügen sich hinsichtlich der Genusfrage im Baltischen mit der Annahme, daß das Altpreussische das Neutrum in allen Wortklassen bei den Substantiven, Adjektiven und Pronomina noch erhielt, das Litauische das Neutrum bei den Substantiven verlor, bei den Adjektiven und Pronomina hingegen erhielt, das Lettische das Neutrum in allen Kategorien verlor1. Diese Auffassung scheint die weit verbreitete Meinung zu bestätigen, daß der Verlust des Neutrums zuerst bei den Substantiven, dann bei den Adjektiven, schließlich bei den Pronomina erfolgt. Sprachtypologische Untersuchungen, z.B. von Priestly (1983), haben eine komplexe Hierarchie zwischen Substantiv, Adjektiv und Pronomen ans Licht gebracht, derzufolge eine Sprache, die das Neutrum bei den Substantiven besitzt, es auch bei den Adjektiven und Pronomina besitzt und eine Sprache, die das Neutrum bei den Pronomina verloren hat, es auch bei den Substantiven und Adjektiven verloren hat. Das Vorhandensein des Neutrums bei den Substantiven setzt das 1

So z.B. Murata (1986: 273).

DAS B A L T I S C H E N E U T R U M

141

Vorhandensein des Neutrums bei den hierarchisch niedrigeren Wortklassen, Adjektiven und Pronomina, voraus. Der Verlust des Neutrums bei den Pronomina setzt den Verlust des Neutrums bei den hierarchisch höheren Wortklassen, Adjektiven und Substantiven, voraus. Diese Hierarchie wird besonders deutlich durch das Baltische illustriert. Diese Ansicht ist durchaus begründet, aber sie erweist sich bei einer genaueren Betrachtung als unbefriedigend. Die Morphologie des baltischen Neutrums wird durch die Tatsache verdunkelt, daß das Westbaltische und das Ostbaltische bei den Thematika widersprüchliche neutrale Endungen (-an, -a, -ai, -as) aufweisen. Zweitens ist das Vorhandensein neutraler Adjektive in der litauischen Sprache, die keine neutralen Substantive erhalten hat, unverständlich, denn man kann sich schwer vorstellen, welche Funktion diesen neutralen Adjektiven zukommen kann, wenn sie nicht von neutralen Substantiven abhängen. Und drittens steht fest, daß die neutralen Formen im Baltischen mit den Adverbien in Konkurrenz stehen, bzw. selbst eine Tendenz zur Adverbialisierung aufweisen. Aus all diesen Gründen erscheint mir eine neue Beurteilung des Problems des baltischen Neutrums berechtigt. Ausgangspunkt dieser Untersuchung wird eine Beschreibung der neutralen Formen in den baltischen Einzelsprachen sein.

1. Das altpreussische

Neutrum

Bekanntlich bewahrt das Altpreussische das Neutrum sowohl bei den Substantiven als auch bei den Adjektiven und Pronomina. Das Neutrum weist in den altpreussischen Denkmälern verschiedene Endungen auf, deren Verteilung nicht immer klar ist. Es ist äußerst wichtig, die mundartlichen Unterschiede, die das Elbinger Vokabular von den Katechismen trennen, und die vielen Interferenzerscheinungen mit dem Deutschen zu berücksichtigen. Darüber hinaus muß man Substantive, Adjektive und Pronomina separat behandeln, denn es ist zu erwarten, daß jede Klasse morphologische Eigentümlichkeiten aufweist. 1.1. Substantive Das Neutrum bei den altpreussischen Substantiven habe ich vor einigen Jahren (2000: 29-43) zum Gegenstand einer eigenen Studie gemacht. Im folgenden werde ich die Ergebnisse dieser Untersuchung zusammenfas-

142

KAPITEL III

sen und etwas erweitern. Im Elbinger Vokabular findet man folgende Endungen im Nominalsystem 2 : Tabelle 1. Die nominalen Endungen im Elbinger Vokabular Endung -s

z.B. Pyculs "Hölle" (EV 10), Passons "Stiefsohn" (EV 181), Artoys "Ackermann" (EV 236)

Endung -x

z.B. Cawx "Teufel" (EV 11), Wosux "Bock" (EV 675), Genix "Specht" (EV 742)

Endung -z

Noploz "Rolle, Mangel" (EV 396)

Endung -is

z.B. Deywis "Gott" (EV 1), Snaygis "Schnee" (EV 55), Dantis "Zahn" (EV 92), Rugis "Roggen" (EV 258), Assis "Achse" (EV 298), Rikis "Herr" (EV 404), Ausis "Gold" (EV 523), Suckis "Fisch" (EV 560), Sagnis "Wurzel" (EV 629), braydis "Elch" (EV 650), Clokis "Bär" (EV 655), Wilkis " W o l f ' (EV 657), Sunis " H u n d " (EV 703), Antis "Ente" (EV 720), Warnis "Rabe" (EV 721), Gay mis " D o r f ' (EV 797), Pintis " W e g " (EV 799)

Endung

Rawys "Grab" (EV 31), Pintys "Zunder" (EV 372)

-ys Endung -ūš

z.B. Dangus "Himmel" (EV 3), Bordus "Bart" (EV 101), "Scheren" (EV 469), Bebrus "Biber" (EV 668)

Endung -os

z.B. Lauxnos "Gestirne" (EV 4), Dragios " H e f e n " (EV 386), "Scheren" (EV 558), Crausios "Birne" (EV 618)

Endung -es

z.B. Aketes "Egge" (EV 255), Artwes "Schiffreise" (EV 413), Medies "Jäger" (EV 696)

Endung -a

Rapa "Engel" (EV 2), Malüakelä "Wildpferd" (EV 654)

Endung -o

z.B. Semo "Winter" (EV 15), Panno "Feuer" (EV 33), Agio "Regen" (EV 47), Austo " M u n d " (EV 89), Jrmo " A r m " (EV 109), Lagno "Leber" (EV 125), Menso "Fleisch" (EV 154), Crauyo "Blut" (EV 160), Swestro "Schwester" (EV 174), Mergo "Jungfrau" (EV 192), Warto "Tür" (EV 210), Slayo "Schlitten" (EV 307), Meddo "Honig" (EV 391), Sticlo "Glas" (EV 401), Lagno "Hosen" (EV 481), Tauto "Land" (EV 793) Dolu "Galle" (EV 135), Alu " M e t " (EV 392)

Endung -u Endung -e

"Mühlrad" (EV 321),

Scrundus Scrundos

Paustocaiča

Endung -/

z.B. Saule "Sonne" (EV 7), Same "Erde" (EV 24), Ape "Fluß" (EV 62), Mothe "Mutter" (EV 170), Brote "Bruder" (EV 173), Kurpe "Schuh" (EV 500), Addle "Tanne" (EV 596), Berse "Birke" (EV 600), Lipe "Linde" (EV 601), Lape "Fuchs" (EV 658), Gerwe "Kranich" (EV 715), Bitte "Biene" (EV 787) z.B. Sari "Glut" (EV 43), Plauti "Lunge" (EV 126), Dusi "Seele" (EV 153), Ludini "Wirtin" (EV 186)

Endung -y

z.B. Mary " H a f f ' (EV 65), Nozy "Nase" (EV 85), Sansy "Gans" (EV 719)

2

Vgl. Kaukienė (1995: 17).

DAS BALTISCHE N E U T R U M

143

Tabelle 1. Kont. Endung -ay

Luriay "Meer" (EV 66), Straunay "Lenden" (EV 136), Broakay Bekleidung der Oberschenkel" (EV 480)

"Bruch,

Endung -ey

Peadey "Socken" (EV 482)

Endung -oy

Yccroy " W a d e " (EV 142), Smoy " M a n n " (EV 187), Clattoy "Klette" (EV 292)

Endung -an

z.B. Mettan "Jahr" (EV 12), Wundan "Wasser" (EV 59), Assaran "See" (EV 60), Caulan "Bein" (EV 155), Button "Haus" (EV 193), Kelan "Rad" (EV 295), Slayan "Schlittenkufe" (EV 309), Maldian "Fohlen, Füllen" (EV 438), Dalptan "Meißel" (EV 536), Piuclan "Sichel" (EV 547), Median "Wald" (EV 586), Eristian " L a m m " (EV 681), Dadan "Milch" (EV 687), Swetan "Welt" (EV 792), Mestan "Stadt" (EV 796)

Endung -en

Pirsten "Finger" (EV 115), Welgen "Schnupfen" (EV 157), Semen " S a m e " (EV 256), Abstotten "Deckel" (EV 395), Wargien "Kupfer" (EV 525)

Endung -0

z.B. Menig " M o n d " (EV 8), Seyr "Herz" (EV 124), Silkasdrub' "Seidenschleier" (EV 484), Sperglawanag "Sperber" (EV 714)

Da die Wörter isoliert im Text auftreten (und wahrscheinlich alle im Nominativ Singular, bzw. Plural stehen), kann ihr Geschlecht nicht an Kongruenzerscheinungen erkannt werden. Dafür sind externe Anhaltspunkte, d.h. ostbaltische oder indogermanische Entsprechungen notwendig. Das ostbaltische Material ist aber nicht immer aufschlußreich, denn die neutralen Substantive sind im Ostbaltischen zum männlichen oder weiblichen Geschlecht übergegangen, so daß ihr ursprüngliches Geschlecht sich nicht eindeutig feststellen läßt. Die indogermanischen Vergleichungen sind ebenfalls mit Vorsicht zu benutzen. Eine andere Methode könnte von der Tatsache ausgehen, daß es im Elbinger Vokabular Endungen gibt, die keine Entsprechungen im Ostbaltischen haben (z.B. -an) und deshalb wahrscheinlich zu einem dritten Genus gehörten. Folgende Entsprechungen können festgestellt werden: •

Der altpreussischen Endung -is entsprechen im Ostbaltischen Bildungen auf *-as (z.B. deywis "Gott" EV 1 = lit. dievas), auf *-ijas > *-īs (z.B. braydis "Elch" EV 650 = lit. briedis, Gen.Sg. -džio) und a u f * - « (z.B. dantis "Zahn" EV 92 = lit. dantis, Gen.Sg. -ies). Dazu gehören auch die Endungen -s (z.B. pyculs "Hölle" EV 10 = lit. dial. pikülas) und -x (< *-k-s) nach Velar (z.B. cawx "Teufel" EV 11 = lit. kaükas "Kobold") sowie die seltene Endung -ys (z.B. rawys "Grab" EV 31 = lit. dial. rāvas,pintys "Zunder" EV 372 = lit. dial. pintis, Gen.Sg. -ies)

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•

KAPITEL III

und z.T. die Endung -es (z.B. medies "Jäger" EV 696 < *medis < *medijas = lit. dial. (< apr.) medijas BB ĮMož 109 [1579-1590]). Es handelt sich meist um Wörter männlichen Geschlechts außer der /-Bildung, die meist Feminina enthält (z.B. antis "Ente" EV 720 = lit. äntis, Gen.Sg. änties, Fem.). Der altpreussischen Endung -us entspricht eine maskuline Bildung auf -us im Ostbaltischen (z.B. dangus "Himmel" EV 3 = lit. dangūs, Mask.). In einigen Fällen könnte -us eine Variante von pluralischem -os weiblichen Geschlechts sein, vgl. scrundus "Scheren" (EV 469) neben scrundos "Scheren" (EV 558). Den altpreussischen Endungen -os und -es liegen wahrscheinlich Pluralbildungen ursprünglich femininer *ä- bzw. *e-Stämme zugrunde, vgl. lauxnos "Gestirne" EV 4 (< idg. *louksnäs, Nom.Pl., vgl. lat. lūna, pränest. losna), aketes "Egge" EV 255 (< *akētēs, Fem.Pl., vgl. eine andere Bildung in lit. akėčios, Fem.Pl.). Der altpreussischen Endung -o liegt die feminine Bildung auf *-ā zugrunde, vgl. semo "Winter" (EV 15) = lit. žiema (Fem.). Die Endung -a tritt nur in drei Wörtern auf. Das erste ist dunkel (rapa "Engel" EV 2)3. In den zwei anderen (malüakelä "Mühlrad" EV 321, paustocaiča "Wildpferd" EV 654) liegt wahrscheinlich eine Abbreviatur von *-an vor (= *malunakelan, *paustocaiean). Der altpreussischen Endung -e entspricht im Ostbaltischen die feminine Bildung auf *-ē-, vgl. saule "Sonne" (EV 7) = lit. saulė (Fem.). Der altpreussischen Endung -i entspricht eine feminine Bildung auf *-/, Gen.Sg. *-jäs, vgl. dusi "Seele" (EV 153) < *dūsī, Gen.Sg. *düsjäs (vgl. lit. dūšia, die ursprüngliche Verteilung liegt noch in lit. marti "Braut", Gen.Sg. marčios vor). Hierzu gehört wahrscheinlich auch die altpreussische Endung -y, vgl. mary " H a f f (EV 65) < *marī (cf. lit. marios Fem.Pl.). Eine Endung -i weisen auch Substantive auf, die wahrscheinlich im Nominativ Plural Maskulinum stehen, vgl. plauti "Lunge" (EV 126) < *plaut-jai = lit. plaučiai, lett. plauši (Nom.Pl.). Der altpreussischen Endung -oy liegt wahrscheinlich der Nominativ Plural thematischer Bildungen (*-ai) zugrunde, vgl. yecroy "Wade" (EV 142) = lit. ikrai (Nom.Pl.Mask.). Die Endung von smoy "Mann" (EV 187) ist dunkel (vgl. alit. žmuo "Mensch" < *-mön, dial. zmuöj). Wie die Endungen -ay und -ey zu deuten sind, bleibt unsicher. Es könnte sich z.T. um feminine Dualformen (*-äi), vgl. luriay "Meer" (EV 66) und lit.y'üra (Fem.), straunay "Lenden" (*strannay, EV 136) 3

Versuch einer Deutung bei Karaliūnas (2001: 99-101).

DAS B A L T I S C H E N E U T R U M

145

und lit. strėnos (Fem.PI.), broakay "Bruch, Bekleidung der Oberschenkel" (EV 480) und mnd. brök (Fem.), peadey "Socken" (EV 482) und lit. pėda "Fuß" (Fem.). Es gibt aber Formen, die in diesem System keinen Platz finden und durch den Vergleich mit anderen Sprachen als Neutra gedeutet werden können. Dem Neutrum Singular können folgende Endungen zugeordnet werden: •

•

Endung -an, seltener -en. Diese Endung weisen mehr als 60 Substantive auf. Beispiele: assaran "der See" (EV 60), median "Wald" (EV 586\pirsten "Finger" (EV 115), wargien "Kupfer" (EV 525). Endung -u oder -o. Dazu gehören 4 Lexeme im Elbinger Vokabular (2 mit -u, 2 mit -o): alu "Met" (EV 392), dolu "Galle" (*golu, EV 135), meddo "Honig" (EV 391), panno "Feuer" (EV 33). Daß die Endung -o in den letztgenannten Substantiven als *-u zu deuten ist (und nicht etwa als *-ä), legt der Vergleich von panno "Feuer" (EV 33) mit der Zusammensetzungpanustaclan "Feuereisen" (EV 370) nahe.

Darüber hinaus gibt es Formen, deren Endung dunkel ist, die aber der Vergleich mit anderen Sprachen als Neutra erkennen läßt. Es handelt sich um seyr "Herz" (EV 124) verglichen mit idg. *kēr (vgl. gr. hom. Krjp, heth. ki-ir, Nt.) und semen "Same" (EV 256) verglichen mit idg. *sehI-mn (vgl. aksl. sėmę, lat. sēmen, Nt.). Beide Formen werfen etymologische Probleme auf. Bei seyr liegt das Problem bekanntlich darin, daß das Baltische sonst keine Spur der dehnstufigen Bildung *kēr erhalten hat, sondern nur die Schwundstufe (*krd- > lit. sirdis "Herz", vgl. lat. cor, Gen.Sg. cordis, gr. KapSia, usw.) und die Vollstufe (*kerd- > lit. šerdis "Mittel eines Baums", vgl. got. hairto, usw.) aufweist (vgl. Petit 2004a: 39-47). Das Unterbleiben eines auslautenden Dentals in *kēr und die Bewahrung des Sonanten *-r nach Langvokal im Auslaut sind ebenfalls merkwürdig und bisher unerklärt. Trotz all dieser Schwierigkeiten ist das neutrale Geschlecht möglich. Bei semen liegt das Problem darin, daß aus *seht-mn eine Form * semin zu erwarten wäre. Ob hier eine (maskuline?) Bildung *sehj-mēn vorliegen kann, die sich zu alit. sėmuo wie z.B. das baltische Lehnwort im Finnischen paimen "Hirt" (< balt. *pāimēn < idg. *poHi-mēn, gr. 7ioipļv) zu lit. piemuö verhalten würde, ist unsicher. Vielleicht könnte angenommen werden, daß das zu erwartende *semin den Thematika sekundär angegliedert und zu *sem-en mit derselben Endung wie z.B. pirst-en umgebildet wurde.

146

KAPITEL III

Abgesehen von diesen zwei isolierten Formen sind nur die Endungen -an, -en und -u, -o eindeutig als neutralen Geschlechts zu betrachten. Von einem historischen Standpunkt aus liegt die Vermutung nahe, daß es sich um die thematischen Neutra (-an < idg. *-om, vgl. idg. *uerģ-om "Werk"), bzw. um die Neutra auf *-u (< idg. *-u, vgl. idg. *dor-u "Holz") handelt. Dies geht aus folgenden etymologischen Verknüpfungen hervor. Zunächst sind drei neutrale Suffixalbildungen als ererbt zu betrachten: •

Das altpreussische Deminutivsuffix -ian, das insbesondere Bezeichnungen für Jungtiere bildet 4 . Paradebeispiel ist maldian "Fohlen" (EV 438), das von * malda- "jung" abgeleitet ist (vgl. maldai "jungen" III 972, Nom.Pl.Mask.). Das Suffix -ian tritt öfter in einer erweiterten Form -ist-ian auf, vgl. eristian "Lamm" (EV 681), gertistian "Kühlein" (EV 765), camstian (*camistian) "Schaf' (EV 678), prastian (*parstian < *parsistian) "Ferkel" (EV 686), swintian (*swinistian) "Schwein" (EV 682), werstian (< *wersistian) "Kalb" (EV 674), wolistian (*wosistian) "Zicklein" (EV 677). Etymologisch läßt sich die Bildung auf -ian mit der griechischen Deminutivbildung von ;taiölov "Kleinkind" (: rcaię) vergleichen. Die erweiterte Bildung auf -istian überlebt noch in einigen vereinzelten litauischen Dialekten (mit dem üblichen Übergang in die Klasse der Maskulina): erisčias "Lamm" (apr. eristian). • Das altpreussische Suffix der Nomina instrumenti -clan, vgl. piuclan "Sichel" (EV 547), spertlan (*sperclan!) "Zehballen" (EV 150), unsicher kraclan "Brust" (EV 118, vielmehr mit einem Stamm krak- und einem Suffix -lan, vgl. alit. kreklas "Brust", lett. krekls "Hemd"). Das Suffix -clan geht auf idg. *-tlom zurück (vgl. lat. pöculum "Trinkbecher" < idg. *peh3-tlom), eine Nebenform von *-trom (vgl. gr. apoipov, lat. arätrum "Pflug"). Im Ostbaltischen ging dieses Suffix zum männlichen Geschlecht über, z.B. lit. ärklas, lett. arkls "Pflug" (< *h2erhftlo-), lit. pjūklas "Säge" (apr. piuclan). • Das altpreussische Suffix der Nomina instrumenti -tan (sekundär auch -s-tan), vgl. anctan "Butter" (EV 689), baytan (*saytan) "Sieb" (EV 346), largasaytan "Steigleder" (EV 446), dalptan "Meißel" (EV 536), staytan (*scaytan) "Schild" (EV 421), unsicher meltan "Mehl" (EV 335), saltan "Speck" (EV 376). Die Variante -stan tritt inperstlanstan "Fensterladen" (EV 215), spanstan "Mühlenspindel" (EV 322) und twaxtan "Badequast" (EV 553) auf. Das Suffix -tan ist auch im Ost4

Vgl. Endzelīns (1944: 77-78, §93), Euler (1985: 86-87).

DAS BALTISCHE N E U T R U M

147

baltischen belegt 5 , wo es einen regelmäßigen Übergang zum männlichen Geschlecht erfuhr, z.B. lit. kaltas, lett. kalts "Meißel", vgl. auch lit. sietas, lett. siets "Sieb" (apr. *saytan "Sieb" EV 346), lit. saitas, sietas "Band" (apr. largasaytan "Steigleder" EV 446), lit. skietas, lett. šķiets "Weberkamm" (apr. *scaytan "Schild" EV 421), lit. miltai, lett. mihi "Mehl" Mask.Pl. (apr. meltan "Mehl" EV 335). Die Variante -stan wird noch unmittelbar durch lit. verpstas "Spindel" vertreten. Etymologische Entsprechungen liegen auch im Slavischen vor, vgl. russ. sito "Sieb" Nt. (< sl. *sīto), tsch. dläto, poln. dluto "Meißel" Nt. (< sl. *dol(b)t-o), usw. Zur Herkunft der Bildung auf -tan im Altpreussischen gibt es zwei Auffassungen: Einige Wissenschaftler vergleichen sie mit der sonst bekannten Bildung der Nomina instrumenti auf *-trom, *-tlom und erklären den Schwund des Sonanten (*-trom, *-tlom > *-tom > apr. -tan) durch eine Dissimilation, wenn der Stamm bereits ein r oder / enthielt (so z.B. *dalp-tlan > apr. dalp-tan "Meißel" oder *kal-tlan > lit. käl-tas, lett. kal-ts "Meißel"). Dies ist die Meinung von Seldeslachts und Swiggers (1995: 23-33). Andere Wissenschaftler, wie z.B. Jēgers (1970: 81-86), halten sich an die bereits von Meillet formulierte Hypothese, daß das Suffix -tan auf die Substantivierung ursprünglicher Verbaladjektive auf *-to- zurückzuführen und somit mit Bildungen wie gr. 7ioxöv "Getränk" oder puxov "Trinkbecher" unmittelbar zu vergleichen ist. Wie dem auch sei, es handelt sich zweifellos um eine neutrale Bildung. Außer diesen drei Bildungen verfügen viele altpreussische Lexeme auf -an, -en, bzw. -u, -o über gute Etymologien, die die Altertümlichkeit des neutralen Geschlechts bestätigen. Beispiele mit -an, -en: •

assaran "der See" (EV 60) < urbalt. *ezer-an, vgl. dks\. jezero, russ. özero, poln.jezioro (Nt.). Weitere Verknüpfungen bleiben unsicher. buttan "Haus" (EV 193) < idg. *bhutom. Der Kurzvokal könnte analogisch zu *büti "sein" nach dem Modell von * stāti: *stātan "aufrecht stehender Gegenstand" (> lit. stātas "Mühlstein") sein. Das Altindische hat den ererbten Langvokal bhütäm "Existenz" erhalten. In gr. (püxöv "Pflanze" (Nt.) liegt ebenfalls ein sekundärer Kurzvokal vor (etwa zu ecpüv nach £GTT|V : oiaioę). dadan "Milch" (EV 687), ructandadan "Sauermilch" (EV 690) < idg. *dedhhI-om (vgl. aind. dädhi "saure Milch" Nt.).

•

•

5

Vgl. Skardžius (RR I 320 [1943]).

148

• •

KAPITEL III

lunkan "Bast" (EV 644) < balt. *lunk-an, vgl. tsch. lyko, poln. iyko, russ. lyko "Bast" (Nt.). pirsten "Finger" (EV 115) < balt. *prst(H)-an, vgl. aind. prsthäm "Rücken, Rückseite, Oberfläche, Gipfel" (Nt.) < idg. *pr-st(h2)-ö-m. Das Slavische hat ein Maskulinum (aksl. prtstb "Finger", Mask.), aber Wurzelbetonung (vgl. auch lit. pirštas 2) läßt auch für das Slavische ein altes Neutrum ansetzen, da alte barytone Neutra im Slavischen zu Maskulina wurden 6 .

Unklar: •

parle an (*pannean) "Moosbruch" (EV 288) < idg. *pon-iom, vgl. got. fani "Kot", ahd .feni "Fenn, Sumpf' (Nt.) < germ. *fanja". Smoczyriski (2000a: 191-192) nimmt an, daß apr. panean eine Entlehnung aus dem Mnd. venne (+ apr. Endung -an) ist. Das Lettische hat eine feminine Entsprechung {pana "Pfütze" ME III 78, vgl. auch 76-77 < *panjā). Als Reliktform ist noch auf lit. paniabūdė "an feuchten Stellen wachsender Waldpilz" hinzuweisen (vgl. Būga RR II 80 [1920-1922]). • pedan "Pflugschar" (EV 245) < balt. *pēd-an < idg. *ped-o-m, vgl. gr. 7ÜS5OV "Fußboden" (Nt.)? Semantisch fraglich.

Beispiele mit -u, -o: • •

meddo "Honig" (EV 391) < idg. *medhu, vgl. aind. mädhu, gr. ĮIGGD (Nt.). alu "Met" (EV 392) < Lehnwort aus dem Germanischen *alu (vgl. aisl. gl, aeng. ealu "Bier" Nt.).

Unklar: •

dolu (*golu) "Galle" (EV 135) < wohl idg. *ģ'ol-u. Morphologisch denkt man an eine akrostatische neutrale Bildung, wie z.B. gr. ööpu "Holz", yovu "Knie", JIWV "Herde", gr. myk. po-ku- "Vieh", usw. Zugrunde liegt wohl die Wurzel von gr. xo^iļ "Galle", %6Xo<; "bittrer Haß, Zorn" (< *ghol-ä, *ghol-os), ahd. galla "Galle" (< *ghol-nä), lat. fei, f ellis "Galle, Gift" (< *ghel-n-).

6

Vgl. Illich-Svitych (1979: 40), Derksen (2008: 428^429).

DAS BALTISCHE N E U T R U M

•

149

panno "Feuer" (EV 33) wird gewöhnlich mit der idg. Bezeichnung des Feuers (Sg. Nom.-Akk. *peh,-ur, Gen. *ph2-uen-s und Koll. Nom.-Akk. *peh2-uör, Gen. *ph-un-es) verglichen, doch ist die Etymologie lautlich problematisch. Unlängst (Petit, im Druck a) habe ich vorgeschlagen, den Stamm *pan- von *pänü als analogische Bildung zu ererbtem *pün- (< *ph?-un-) nach dem Gegenwort *vand/ *und- "Wasser" zu analysieren. Die Endung -u sei die Umbildung einer Endung *-ü, die aus der alten Form *pū (< *pūr, vgl. gr. 7ri3p) stammt und sekundär nach dem Muster der Neutra auf *-u gekürzt wurde.

Der thematische Typ war offensichtlich die einzige produktive neutrale Bildung im Altpreussischen. Darin wurden nicht nur anderen Bildungen zugehörige Neutra wie z.B. wundan "Wasser" EV 59 (< ursprüngliches Heteroklitikon *ud-ör, *ud-n~) eingegliedert, sondern auch viele neutrale Lehnwörter, zum Beispiel: • • • • •

creslan "Lehnstuhl" (EV 217) < sl. * krēslo (vgl. poln. krzeslo "Stuhl" Nt.). instran "Schmer" (EV 133) < mnd. inster "Eingeweide eines Tieres" (Nt.)7. mestan "Stadt" (EV 796) < westsl. *mesto (vgl. poln. miasto "Stadt" Nt.). piwamaltan "Malz" (EV 384) < westsl. *molto (vgl. poln. mlöto "Malz" Nt.) oder germ. *malta". prassan "Hirse" (EV 266) < poln. proso "Hirse" (Nt.).

Die Frage stellt sich nun, ob neben dem Neutrum Singular auch das Neutrum Plural im Elbinger Vokabular vertreten ist. Indogermanistisch gesehen würde man neutrale Formen auf *-ä (< *-eh2) oder *-ä (< *-h2) erwarten, die aber von den Feminina auf *-ā nicht eindeutig zu trennen wären. Eine Untersuchung von Mathiassen über die Kategorie der Pluralia tantum im Altpreussischen (1998: 97-102) hat als neutrale Pluralformen folgende Wörter aufgelistet 8 : •

Das zuverlässigste Beispiel ist wohl slayo "Schlitten" (EV 307) mit kollektiver Bedeutung neben dem Neutrum Singular slayan "Schlit-

7 8

Vgl. Smoczynski (2000a: 193). Vgl. auch Detgjarev (1994: 36-37).

KAPITEL III

150

•

•

•

tenkufe" (EV 309). Indogermanisches Transponat etwa: Sg. *kloiom, Koll.-Pl. *kloiā (Wz. *klei- "sich anlehnen" LIV 332-333, IEW 601602). Semantisch denkt man an Parallelfälle wie aksl. kolo "Rad" Nt.Sg. (singulative Bezeichnung eines Teils des Wagens) und kola, kolesa "Wagen, Fuhrwerk, Fahrzeug" Nt.Pl. (kollektive Bezeichnung des ganzen Wagens), vgl. auch lit. rātas "Rad" / rātai "Wagen, Fuhrwerk, Fahrzeug". warto "Tür" (EV 210), lapiwarto "Tor" (E 212). Die Hypothese von einem Neutrum Plural beruht auf dem Vergleich mit dem Slavischen *uortä (> aksl. vrata, poln. wrota Nt.Pl.). Im Ostbaltischen ist das Wort Plurale tantum geblieben, es ist aber zum Maskulinum übergegangen: lit. vartai, lett. vārti "Tor" (Mask.Pl.). lagno "Hosen" (EV 481). Die Bezeichnung der Hosen ist in vielen Sprachen Plurale tantum, vgl. z.B. lit. kelnės, lett. bikses, poln. spodnie, russ. brjüki. unsicher: spoayno "Schaum des gärenden Bieres" (EV 387), kirno "Strauch" (EV 637), layso "Letten" (EV 27), sixdo "Sand" (EV 26), sloyo (*loyo) "Talg" (EV 379).

Zur Liste von Mathiassen könnte man noch hinzufügen: • •

•

menso "Fleisch" (EV 154 und 374) < *mēms-ā9. Das Slavische hat ein Neutrum Singular *męso (> russ. mjäso, poln. mięso). austo "Mund" (EV 89)'°. Im Slavischen hat man ein Neutrum Plural *usta (aksl. usta, skr. üsta "Mund" Nt.Pl.). Die ostbaltische Entsprechung schwankt zwischen dem Maskulinum und dem Femininum, was auch auf ein ursprüngliches Neutrum hinweisen könnte (lit. üostas / dial. uostä "Hafen", lett. uösts / uösta "Flußmündung"). stich "Glas" (E 401) < * stiklā. Vgl. sl. *stbklo "Glas" Nt.Sg. (z.B. russ. steklö), ähnliches Lehnwort im Litauischen stiklas "Glas" Mask. Sg-

Ein weiterer Fall könnte in mary " H a f f ' (EV 65) vorliegen. Ich halte es für möglich, daß diese Form ein Neutrum Plural *marī(< *mori-h2) fortsetzt, das dem Singular *mori (> lat. mare, got. marei, air. muir) gegenüberstand. Später wurde diese Pluralform durch Hinzufügen einer volleren Endung verdeutlicht, woraus *mori-eh2 > *moriiā (vgl. lat. 9 1,1

Vgl. Endzellns (1942: 123). Vgl. S. Ambrazas (1995: 180).

DAS BALTISCHE N E U T R U M

151

maria), das im Ostbaltischen gerade aufgrund dieser Endung zur Klasse der *ä-Stämme überging und als Relikt seines pluralischen Ursprungs zu *moriiās (> lit. märios Fem.Pl.) pluralisiert wurde. Im Slavischen wurde aus dem Plural eine neue neutrale Singularform zurückgebildet: aksl. morje "Meer" (Transponat *moriom *moriā PI.). Im Altpreussischen wurde die alte Form *mari wohl deshalb bewahrt, weil sie als Femininum Singular des Typs *-/, Gen.Sg. *-jās interpretiert wurde. Es steht also fest, daß das Neutrum im Elbinger Vokabular bei den Substantiven völlig erhalten wurde. In den späteren altpreussischen Denkmälern ist die Stellung des Neutrums aber schwach geworden. Man kann von einem zunehmenden Übergang der ursprünglichen Neutra zu Maskulina oder Feminina reden. In dem altpreussischen Vokabular von Simon Grunau (1525-1526) findet man vereinzelte Formen, die als Neutra gedeutet werden könnten. Sie sind aber unbrauchbar, denn sie weisen eine einheitliche Endung -e auf, die nicht auf die Neutra beschränkt ist. Man hat z.B. botte "Haus" (GrG 26 / buttan EV 193), metthe "Jahr" (GrG 57 / mettan EV 12), ancte "Butter" (GrG 61 / anctan EV 689) und das Lehnwort lichte "Licht" (GrG 25 < dt. Licht). Dieselbe Endung ist aber auch bei echten Maskulina (z.B. kayme "Dorf' GrG 5 / caymis EV 797) und Feminina (z.B. korpe "Schuh" GrG 81 / kurpe EV 500) anzutreffen. Es ist zu bemerken, daß slavische Lehnwörter neutralen Geschlechts ihre slavische Endung -o mehr oder weniger bei Grunau erhalten haben: pewo "Bier" (GrG 11 < poln. piwo), maista "Stadt" (GrG 3 < poln. miasto). Wäre die Endung -e charakteristisch für die Neutra gewesen, so hätten auch diese Lehnwörter sie wahrscheinlich bekommen 11 . In den altpreussischen Katechismen ist mit einer Vereinfachung der neutralen Flexionstypen zu rechnen. Die ersten zwei Katechismen weisen sehr wenige neutrale Substantive auf. Die einzige eindeutige Form ist pecku "Vieh", das einmal in den ersten zwei Katechismen im Akkusativ steht (I 77, II 77, vgl. auch III 418, III 53 n , wohl auch III 853). Das neutrale Geschlecht ist hier evident und wird außerdem durch externe Vergleichungen bestätigt (< idg. *pek-u, vgl. aind. päsu, lat. pecu, got. faihu, ahd.fihu "Vieh", Nt.). Wahrscheinlich ist testamentan "Testament" (I 1318 = testamenten II 13lg), das im Nominativ steht, auch ein neutrales Substantiv. In I 73 steht buttan "Haus" (= butten II 73) im Akkusativ, so daß wir nicht feststellen können, ob es noch Neutrum ist oder zum

" Petit (2000a: 32). S. auch eine allgemeine Darstellung bei Euler (1987-1988 : 121122) und Vykypėl (1999: 116).

152

K A P I T E L III

Maskulinum geworden ist. Dasselbe gilt für swetan "Welt" (I 111, = swytan II 1112) und vielleicht auch sacramentan "Sakrament" (I 13, = sacramenten II 13,). Im Enchiridion wird bei den Neutra fast nur die thematische Flexion bewahrt. Die Form pecku "Vieh", die noch dreimal im Akkusativ (III 418, 53,3 und 853) auftritt, hat neben sich in III 35,8 und III 37 4 einen sekundär thematischen Akkusativ peckan (männlichen Geschlechts?). Außer dieser Form gehören alle neutralen Formen zur thematischen Flexion. Sie werden durch zwei Züge charakterisiert, die dem Elbinger Vokabular fremd waren. Alle neutralen Substantive sind Abstrakta, sie bezeichnen nie lebendige Wesen; es handelt sich meist um substantivierte Adjektive abstrakter Bedeutung: •

Eindeutig neutral ist gJwan "Leben" (Nom.Sg. gijwan in III 7519 und giwan in III 79,7, Akk.Sg. giwan in III 91,7, gijwan in III 457, 4524, 639, 654, 117,,, geJwan in III 12722, 12920, geiwan III 121,2, Gen.Sg. gJwas in III 41, 0 , 93x 9, geijwas in III 63,), Substantivierung von *gīvas "lebendig" (vgl. gijwans Akk.Pl. in III 437, geiwans I 95, geywans in II 95, geiwans in III 127,5_,6). In Konkurrenz steht eine Abstraktbildung giwei (III 75,, 22) aus *gīvē (vgl. lett. dzive "Leben" Fem.).

Die weiteren Beispiele sind unsicher: •

•

•

•

mijlan "Liebe" (Akk.Sg. in III 115,8) Substantivierung von *mīlas "lieb" (vgl. mijls Nom.Sg. in III 49x, 113,,, usw.). In Konkurrenz steht eine Abstraktbildung mijlin (Akk.Sg. in III 1252 < *mīl-ē-). wargan "Übel" (Akk.Sg. wargan in III 31 n , 41,,, 51v 577, 676, 79,4, 79,6, 8928 und 113,4) Substantivierung von *vargas "böse" (vgl. wargs in III 7920 und 8120, usw.). nitickran "Unrecht" (Akk.Sg. in III 81 Substantivierung von *nitikras "unrecht" (vgl. tickars "recht" III 479, usw., Akk.Sg. Mask. tickran III 1 1930, usw.). labban "Gut" (Akk.Sg. labban in III 33,0, 33,2, 39, und 83,6, Gen.Sg. labbas in III 54,4 und 57x), Substantivierung von *labas "gut" (vgl. labs in III 5120, Akk.Sg.Mask. labban in III 53,4, usw.). Aber im Plural ist das Wort eindeutig männlichen Geschlechts: labbans Akk.Pl. (III 418, 1177).

Die Beleglage ist zum Teil widersprüchlich (vgl. den Akk.Pl. labbans in III 418 und 117?). Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, daß das

DAS BALTISCHE N E U T R U M

153

Neutrum nur noch im Nominativ Singular vom Maskulinum zu trennen war und sonst mit ihm völlig zusammengefallen war. Die Flexion der betreffenden Wörter ist bis auf den Nominativ mit der der Maskulina identisch: Tabelle 2. Die Flexion der thematischen Neutra im Enchiridion Endungen

Beispiele

Nominativ Sg.

-an

į Mask. -s

gijwan III 75,,, 79 ļ 7

Akkusativ Sg.

-an

= Mask. -an

z.B. labbern III 33 10 , 33 12 , 39 (i ; gJwan, gijwan, geiwan, geiwan III 45 7 , 63 9 , 65 4 , usw.

Genitiv Sg.

-as

= Mask. -as

z.B. labbas III 54 ļ4 , 57 s ; glwas, geijwas III 41 ]0, 63,, 93 8 9

Akkusativ PI.

-ans

= Mask. -ans

labbans III 41„, 117 7 , 13122

Viele der Formen, die wir aufgrund des Elbinger Vokabulars als Neutra identifiziert haben, treten im Enchiridion als Maskulina auf. Zum Beispiel ist das Wasserwort, das im EV neutral war (wundan EV 59), im Enchiridion deutlich als Maskulinum belegt (Nom.Sg. unds III 597, 598, 6114, usw., Akk.Sg. undan III 6117, 12915 16, Gen.Sg. undas III 6312_13, 1039, Akk.Pl. undans III 1 1924). Vgl. auch das Neutrum seyr "Herz" (EV 124) und das Maskulinum Akk.Sg. sijran (III 6523), sīran (III 9514), Gen.Sg. sīras (III 9510), Dat.Sg. sīru (III 11519), Akk.Pl. sirans (III 7719). Ein ähnlicher Synkretismus ist auch im Plural bezeugt, wo die alten Formen auf *-ä mit dem Femininum Singular der *ä-Stämme zusammenfielen. Neben den wohl als Neutra zu deutenden Formen warto "Tür" (EV 210) und austo "Mund" (E 89) hat man im Enchiridion eindeutige Akkusativformen weiblichen Geschlechts, wartin (III 119,) und äustin (III 892). Noch deutlicher findet man neben dem Neutrum menso "Fleisch" (EV 154 und 374) im Enchiridion einen Nominativ mensä (III 10119) und einen Akkusativ Femininum Singular mensan (III 10115). Der Übergang zum weiblichen Geschlecht tritt ebenfalls im Lettischen auf (vgl. lett. miesa "Körper" Fem.Sg.). Es stellt sich also heraus, daß das Neutrum bei den Substantiven im Enchiridion schon begonnen hatte, an Boden zu verlieren und wie im Ostbaltischen zum Maskulinum oder Femininum überzugehen.

154

K A P I T E L III

1.2. Adjektive Hier braucht man nicht nur die Bildungen, zu denen die betreffenden Formen gehören, zu erkennen, sondern man muß auch den Kontext, in dem diese Formen verwendet werden, beachten. Schematisch gesehen können folgende Kontexte unterschieden werden: • • • •

der der der der

attributive Kontext (etwa dt. eine gute Arbeit). prädikative Kontext (etwa dt. die Arbeit ist gut). unpersönliche Kontext (etwa dt. es ist gut zu arbeiten). adverbiale Kontext (etwa dt. er arbeitet gut).

Für das Altpreussische läßt sich diese Unterscheidung nicht immer leicht feststellen. Im Elbinger Vokabular stehen die Lexeme meist kontextlos. Darüber hinaus muß immer mit der Möglichkeit einer Interferenz mit dem Deutschen gerechnet werden. Bekanntlich wird im Deutschen nur der attributive Kontext markiert, alle andere Kontexte sind unmarkiert. Im Elbinger Vokabular ist nur eine kleine Anzahl von Adjektiven belegt und sie stehen offensichtlich meist im Neutrum Singular. Die einzige Ausnahme ist gaylis "weiß" (EV 459). Alle anderen Adjektivformen sind kontextlos im Neutrum Singular angeführt. Sie gehören zur thematischen Bildung: •

kirsnan "schwarz" (EV 460), sywan "grau" (EV 461), golimban "blau" (EV 462), wormyan "rot" (EV 463),gelatynan "gelb" (EV 464), cucan (wohl als *cücan = *cuncan zu deuten) "braun" (EV 465), maysotan "bunt" (EV 466), roaban "gestreift" (EV 467), saligan "grün" (EV 468).

Es gibt auch neutrale Substantive, die auf die Substantivierung neutraler Adjektive zurückgehen. Im Elbinger Vokabular sind es meist Bezeichnungen von Milchsorten: •

•

ructandadan / suwermilch "Sauermilch" (EV 690) aus *ructan dadan "sauere + Milch" (Adj.+Subst.) mit dem neutralen Adjektiv *rügta"sauer" (vgl. lett. rügts "sauer") und dem neutralen Substantiv dadan "Milch". aswinan / kobilmilch "Stutenmilch" (EV 694) aus *aswinan dadan "Stuten- + Milch" (Adj.+Subst.) mit dem neutralen Adjektiv *asvinan "Stuten-" (Ableitung von *asv-ä "Stute", vgl. alit. ašva "Stute").

DAS BALTISCHE N E U T R U M

•

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poadamynan / sußemilch "süße Milch" (EV 695) aus *podamynan dadan "trinkbare + Milch" (Adj.+Subst.) mit dem neutralen Adjektiv *pödam-inan "trinkbar" (Ableitung vom Verbaladjektiv *pödama"getrunken, trinkbar", zur Wz. *pö- "trinken", apr. püton).

Die Endung -an dieser Substantive spiegelt unmittelbar die Endung der neutralen thematischen Adjektive, die ihnen zugrundeliegen, wider. Der Kontext ist eindeutig attributiv. Im Vokabular von Simon Grunau sind ein paar Adjektive belegt. Eine einzige Form steht deutlich im Maskulinum: labbis / gutt "gut" (GrG 59). Sonst weisen die Adjektive unklare Endungen -a oder-/ auf, die es gewagt wäre, mit Mažiulis (PKP II 54, Fußnote 40 [1981]) als neutral zu deuten: salta "kalt" (GrG 47), debica "groß" (GrG 48) und licuti "klein" (GrG 49). Die Formen werden ohne Kontext angeführt. In den Katechismen sind neutrale Adjektive häufiger bezeugt. Zwei Endungen lassen sich ermitteln: •

•

Endung -an oder -on, unsicher -en (thematische Neutra). Beispiele: labban "gut" (z.B. III 8914) vom Adjektiv labs "gut" oder peisäton "geschrieben" (z.B. III 10521) vom Partizip *peisät(a)s "geschrieben" 12 . Endungen -u oder -i (Nullendung in den Neutra auf *-u und *-i). Beispiele: polīgu in stesmu polīgu "desgleichen" (z.B. III 11921) von einem Adjektiv *polīgus "gleich" oder arwi "wahr" (z.B. III, 4117) vom Adjektiv arwis "wahr".

Die Nullendung tritt nur in der zweiten Klasse auf. Das einzige Beispiel eines Neutrums auf *-u ist das als Adverb verwendete Neutrum polīgu "desgleichen" in der Redewendung stesmu polīgu "desgleichen" (III 11921) mit Varianten steison polijgu / des gleichen (III 5318), stasma polleygo / desselbigen gleychen (I 1312), stcesmu poleygo / desselbigen gleychen (II 1312). Zugrunde liegt ein Adjektiv *polīgus, das sich mit lit. lygus "gleich", palygus vergleichen läßt13. Es gibt im Enchiridion nur ein einziges neutrales Adjektiv auf*-/. Apr. arwi "wahr" tritt in zwei Kontexten auf, entweder prädikativ:

12 Unsicher enterpen "nützlich" (III 75 | 4 , cf. enterpo III 61,): Neutrales Adjektiv? Oder en "im" + terpan "Nützen"? 11 Anders Vanags (1992: 88).

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K A P I T E L III

(1) III 4117 (Varianten in III 4326, 4524, 5721, 6310): Sta ast perarwisku arwi. / Das ist gewißlich war. "Das ist gewißlich wahr." oder adverbial: (2) III 1 134 5: Perarwi as gerdawi iümans. / Warlieh ich sage euch. "Wahrlich, ich sage euch." in Konkurrenz mit der eindeutig adverbialen Form perarwisku / gewißlich (z.B. III 4117) oder perarwiskai / gewißlich (z.B. III 4326). Ein zweites Neutrum auf *-i könnte im Adverb kittawidin / anders "anders" (III 1 1 525) vorliegen, das auf einem Adjektiv *kittawīdis (?) beruhen könnte. Die Endung ist aber -in, nicht -/, und wir erwarten hier vielmehr eine thematische Bildung (Endung -an) wie z.B. im Adverb ainawldai / gleich "gleich" (III 65,), ainawydan (III 4323). Vielleicht könnte man annehmen, daß dem Adverb kittawidin eine Form *kitavīdi aus *kitavīdai (vgl. ainawijdi III 101 lg, ainaweydi III 10319 <*-ai) zugrunde liegt und daß diese Form irrtümlich einen auslautenden Nasal bekam. Der Gebrauch ist jedenfalls adverbial. Im Enchiridion sind die neutralen thematischen Adjektive stets mit einer nasalhaltigen Endung -an versehen. Als Musterbeispiel kann man das Adjektiv labs "gut" anführen, dessen neutrale Form labban lautet. Diese Form ist oft prädikativ-unpersönlich bezeugt: (3) III 91 ]8 (Varianten in III 89 l4 , 1019, 1074 5): Sta ast labban. / Solches ist gut. "Das ist gut." Beispiele mit Verbal adj ektiven sind ebenfalls häufig (insbesondere in prädikativen Kontexten): (4) III 6321 (Variante in III 7319): Qu e i stallā sta peisaton? / Wo stehet das geschrieben? "Wo steht das geschrieben?"

DAS BALTISCHE N E U T R U M

157

(5) z.B. III 278: Ka ast sta billīton? / Was ist das? "Was ist das (gesagt)?" Die thematischen Neutra sind in allen Kontexten bezeugt. In attributiver Funktion sind sie zwar selten, aber das hängt von der Seltenheit der neutralen Substantive selbst ab. Ein paar Beispiele lassen sich jedoch finden. Das Neutrum glwan "Leben" regiert mehrmals neutrale attributive Adjektive: (6) III 654: en ainesmu nawnan gijwan / Inn einem newen leben "in einem neuen Leben" (nawnan "neu") (7) III 9116: ainan packiwingiskan bhe tusnan giwan / ein gerüglich vnd stilles leben "ein ruhiges und stilles Leben" (packiwingiskan "ruhig", tusnan "still") Das Neutrum labban "das Gute" regiert das Attribut dēigiskan "mild" in III 8316: (8) III 83](S: esse twaian deigiskan labban / von deiner milden Güte "von deiner milden Güte" Schließlich scheint eine attributive bestimmte Adjektivform im Neutrum einmal im Zweiten Katechismus bezeugt zu sein: (9)II13 1 7 1 8 : Stce neuwenen Testamenten / Das newe Testament "Das Neue Testament" (neuwenen < *nawan-jan)

KAPITEL III

158

Im ersten Katechismus ist die entsprechende Adjektivform unklar: (10)I13 l g : Sta nawans testamentan / Das newe Testa=ment "Das Neue Testament" (nawans Maskulinum?) Im Enchiridion ist die ganze Wendung zum männlichen Geschlecht übergegangen: (11) III 7510: Stas nauns Testaments / Das newe Testament "Das Neue Testament" Neutrale Adjektive sind öfter in prädikativer Funktion bezeugt. Beispiele sind zu zahlreich, um hier alle angeführt zu werden. Ich verweise hier nur auf den bereits erwähnten Kontext: (12) III 9118 (Varianten in III 8914, 1019, 1074 5): Sta ast labban. / Solches ist gut. "Das ist gut." Es ist bemerkenswert, daß neutrale Adjektive nicht nur mit neutralen Pronomina, sondern auch mit männlichen oder weiblichen Lexemen prädikativisch kongruieren. Beispiele sind ziemlich zahlreich14. Mit einem Subjekt im Maskulinum Singular: (13)111 8917: Erains boüseipoklusman steisei Aucktimmi=skan. / Jederman sey vnterthan der Obrigkeyt. "Jedermann sei der Obrigkeit Untertan." (männliches Subjekt erains "jedermann" + neutrales Adjektiv poklusman "untertan")

14

Ich lasse hier einige unsichere Fälle außer acht: III 73 u (ensadinton I eingesetzt "eingesetzt", das Subjekt ist kērmens bhe krawia / Leib vnd Blut "Leib und Blut"), III 75 17 (däton bheprolieiton / gegeben Vnnd vergossen "gegeben und vergossen", das Subjekt ist wohl krawia / Blut "Blut"?), vgl. auch III 77, , und 77 15 .

DAS B A L T I S C H E N E U T R U M

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Mit einem Subjekt im Femininum Singular: (14) III 10324 25: Stai peroni Christo ast poklusman. / Die Gemeine Christo ist vnterthan. "Die Gemeinde ist Christus Untertan." (weibliches Subjekt peroni "die Gemeinde" + neutrales Adjektiv poklusman "untertan") Mit einem Subjekt im Maskulinum Plural: (15) III 972 (vgl. auch III91 4 ): Jous Maldai seiti poklusman steimans vrai=sins. / Jr Jungen seyt den Alten vnterthan. "Ihr, Jungen, seid den Alten untertan." (männliches pl. Subjekt jous maldai "ihr, Jungen" + neutrales Adjektiv poklusman "untertan") Dieselbe Eigentümlichkeit tritt auch oft mit Partizipialformen auf. Beispiele: (16) III 8920 21: Stai ast esse Deiwan Enteikuton. / Die ist vonn Gott ge=ordnet. "Sie (die Obrigkeit) ist von Gott geordnet." (weibliches Subjekt stai "sie" + neutrales Partizip enteikuton "geordnet") (17) III 10320: Stai gannai bousei pomeston swaain wijrin. / Die Weiber sein vnterthan jren Mennern. "Die Weiber seien ihren Männern untertan." (weibliches pl. Subjekt gannai "Weiber" + neutrales Partizip pomeston "untertan") (18) III 6513: Stai grī=kai ast prastan etwierpton pirsdau Deiwan En=dangon. / Die sünde seien dadurch vergeben für Gott im Himel. "Die Sünden seien dadurch vor Gott im Himmel vergeben." (männliches pl. Subjekt grikai "Sünden" + neutrales Partizip etwierpton "vergeben")

160

K A P I T E L III

Mažiulis (PKP II 180, Fußnote 452 [1981]) nimmt an, daß solche Inkongruenzfälle als Archaismen zu deuten und mit dem litauischen Typ svečias malonu "ein Gast [Mask.] ist angenehm [Nt.]" zu vergleichen sind, vgl. auch \at. jemina turpe "das Weib [Fem.] ist schändlich [Nt.]". Ich bin hingegen der Meinung, daß es sich hier bloß um Interferenzerscheinungen mit dem Deutschen handelt. Bekanntlich sind im Deutschen prädikative Adjektive unmarkiert. Der Übersetzer konnte diese Unmarkiertheit durch den Gebrauch von neutralen Adjektivformen im Altpreussischen wiedergeben. Dafür spricht die Tatsache, daß in eben diesen Kontexten anstatt dieser neutralen Formen adverbiale Formen mehrmals auftreten. Beispiele: (19) III 9123: Seit i pomettJwingi wissai smünenisku entei=küsnan. / Seyd vnterthan aller menschlicher Orde=nung. "Seid aller menschlichen Ordnung Untertan." (männliches pl. Subjekt + Adverb pomettJwingi < -ai "untertan") (20) III 10526: Seifi weijsewingi bhe tülninaiti wans. / Seid fruchtbar vh mehret euch. "Seid fruchtbar und mehret euch." (männliches pl. Subjekt + Adverb weijsewingi < -ai "fruchtbar") (21) III 93 1214 (Variante in III 9323): Stai Gennai boūsei poklūsmingi swaisei WJ=rans / kāigi stesmu Rikijan /kai Sara Abraham po=klūsmai bhe. / Die Weiber seyen vnterthan jren Mennern / als dem HErrn / Wie Sara Abraham gehorsam war. "Die Weiber seien ihren Männern und dem Herrn untertan, wie Sara Abraham gehorsam war." (weibliches pl. Subjekt gennai "Weiber" + Adverb poklūsmingi < -ai "untertan", weibliches Subjekt Sara "Sara" + Adverb poklüsmai "gehorsam") Auch mit neutralem Subjekt:

161

DAS BALTISCHE N E U T R U M

(22) III 9324: Beggi sta ast preistalliwingi. / Denn es ist billich. "Denn es schickt sich." (neutrales Pronomen sta "es" + Adverb preistalliwingi dig, geeignet")

< -ai "anstän-

In all diesen Fällen liegt offensichtlich eine Interferenz mit dem Deutschen vor. Im Deutschen wird dieselbe Form prädikativ (die Arbeit ist gut) und adverbial (er arbeitet gut) verwendet. Der Übersetzer hat diese Unterschiedslosigkeit auf das Altpreussische zugunsten der adverbialen Form transponiert. Es ist anzunehmen, daß der Gebrauch der neutralen Adjektivformen in denselben Kontexten ähnlich erklärt werden kann. Ob das Altpreussische den litauischen Typ svečias malonu besaß, bleibt unsicher. Im Altpreussischen findet man ebenfalls einen unpersönlichen Gebrauch der neutralen Adjektivformen. Beispiele: (23) III 953 (Variante in III 29 ]8 ): Kai tebbei labban ēit / bhe ilga giwasi nosem=mien. / Das dirs wo/=geh e vnd lange lebest auff Erden. "Daß es Dir wohl ergehe und Du lang auf der Erde lebest." (24) III 10 V I 0 : Sta ast ni labban, kai stas smunents ains ast. / Es ist nicht gut / das der Mensch allein sey. "Es ist nicht gut, daß der Mensch allein sei." Anzumerken ist das leere Subjekt sta, das dt. es nachahmt. Mit Partizipialformen: (25) III 1052] 2215: Beggi titet stalli peisāton: Deiws teikü stan smunentin. / Denn also stehet geschrie=ben: Gott Schuff den Menschen. "Denn es steht so geschrieben: Gott schuf den Menschen."

15

Andere Beispiele: III 111 K ; weiter III 1 1 3 27 , 1 1 525 ; unsicher III 9 3 r Ein Fehler liegt wahrscheinlich in III 125y vor (Maskulinum posinnāts / bekant "es ist bekannt, daß").

162

KAPITEL III

Schließlich ist ein adverbialer Gebrauch der neutralen Adjektivformen im Enchiridion gut bezeugt16. In dieser Funktion stehen die neutralen Formen in Konkurrenz mit der markierten Adverbialbildung auf *-ai. Außer der isolierten Adverbialform tülan / viel "viel" (III 55g_9) kann man folgendes Beispiel anfuhren: (26) III 495 6: Quei stas wirds Deiwas / kaltziwingiskai bhe skij=stan mukints wirst. / Wo das Wort Gottes lauter vnnd rein gelert wirdt. "Wo das Wort Gottes lauter und rein gelehrt wird." Bemerkenswert ist, daß die Formen kaltziwingiskai "lauter" (Adverb auf *-ai) und skij=stan "rein" (Neutrum auf *-an) in derselben Funktion nebeneinander stehen. Daneben ist auch eine Form skīstai bezeugt, vgl. skīstai / keusch "keusch" (III 33,). Ähnlich verhält sich die Formpoquelbton "kniend, auf den Knien" (III 797, vgl. auch III 817), die als Adverb fungiert und neben dem Adverb stänintei "stehend" steht. Weitere Beispiele sind die Adverbien kērmeneniskan / leiblich "leiblich, in körperlicher Weise" (III 77 n ), poklusmingiskan / gehorsamlich "gehorsamlich" (III 133,), ginnewlngiskan / freundtlich "freundlich, in freundlicher Weise" (III 113,0); vgl. nochperarwi / warlich "wahrlich" (III 1134) und stesmupollgu "desgleichen" (z.B. III 1192]). Es ist keineswegs sicher, daß dieser adverbiale Gebrauch der neutralen Formen altertümlich ist und mit demselben Gebrauch z.B. im Griechischen (vgl. gr. ļiucpov, oAiyov "wenig", ;roA,i3 "viel, sehr", su "gut") und Lateinischen (vgl. lat. multum "viel", facile uiuere "leicht leben") zu vergleichen ist. Hier liegt m.E. vielmehr noch einmal eine Interferenz mit dem Deutschen vor. Es stellt sich also heraus, daß, obwohl die neutralen Adjektivformen im Altpreussischen noch häufig verwendet wurden, ihr Gebrauch oft durch Interferenzerscheinungen mit dem Deutschen stark modifiziert wurde. In morphologischer Hinsicht steht fest, daß die thematischen Neutra in allen Funktionen durch eine Endung -an charakterisiert wurden, die mit der Endung der neutralen thematischen Substantive identisch ist. Einige Wissenschaftler haben die Vermutung geäußert, daß es neben dieser Endung -an auch bei den Adjektiven eine nasallose Endung *-a im Enchiridion gab. In einigen Stellen des Enchiridions weist ein Partizip

16 Zu den Adverbien auf *-an vgl. Trautmann (1910: 249-250), der sie als Archaismen deutet, und Shopay (1967: 296-301 = 1970: 157-163), die eine zurückhaltende Stellung nimmt.

DAS BALTISCHE N E U T R U M

163

Präteritum Passiv in prädikativer Funktion eine Endung -t auf, die Mažiulis (PKP II 216, Fußnote 696 [1981]) aus einem Neutrum Singular auf *-tä herleitet. Beispiel: (27) III11516_17: Stessepaggan paskolle bhe madli as wans wissans, quai ious schal empijrint estei. / Derhalben so Vermane vnnd Bitte ich euch Alle, die jhr alhie versamlet seid. "Deshalb ermahne und bitte ich euch alle, die ihr hier versammelt seid." Die Partizipialform empijrint wird von Mažiulis (PKEŽ II 255 [1993]) als Neutrum Singular *empērinta (zu einem Verb *empērin-tvei "versammeln") gedeutet, was zwei Voraussetzungen notwendig macht, zum einen die Annahme, daß die neutralen Adjektive neben einer Endung -an auch eine Endung -a (wie im Litauischen) haben konnten, und zweitens die Möglichkeit einer Inkongruenz mit dem Subjekt, das hier im Maskulinum Plural steht. Mažiulis interpretiert diese Inkongruenz als einen Archaismus und vergleicht sie mit dem litauischen Typ svečias malonu. Diese Erscheinung ist nicht isoliert. Sie tritt noch anderswo auf, vgl. isrankīt / erloset "erlöst" (Subjekt im Maskulinum Plural, III 113 }1 ),perklantīt bhe išmaitint / verdampt vnd verlorn "verdammt und verloren" (Subjekt im Maskulinum Plural, III 1 1322 23) sowie erlaiküt / erhalten "erhalten" (Subjekt im Maskulinum Singular, III 11713). All diese Formen haben eine Endung -t, die auf eine neutrale Endung *-tä zurückgehen könnte. Andere Wissenschaftler, insbesondere Trautmann (1910: 326) und Schmalstieg (1974: 189), denken hingegen, daß Formen wie empijrint Infinitivformen seien, was weniger wahrscheinlich ist. Ich bin der Meinung, daß hier noch einmal eine Interferenz mit dem Deutschen vorliegt. Mit Smoczynski (2000b: 158) nehme ich an, daß die Endung -t in den Formen empijrint, isrankīt, perklantīt, išmaitint und erlaiküt die deutsche Endung -t (vgl. versamle-t, erlSse-t, verdamp-t) nachahmt. Im deutschen Original waren die prädikativen Partizipialformen unmarkiert, weshalb der Übersetzer wahrscheinlich zögerte, wie er diese Formen flektieren mußte. Ratlos verzichtete er auf jede Markierung und ließ die altpreussischen Formen mit einer Endung, die die deutsche Endung einfach nachahmte, dastehen. In erlaiküt "erhalten" (III 11713) hat er vielleicht die Partizipialform mit einem Infinitiv verwechselt. Das

164

KAPITEL III

Vorhandensein einer neutralen Endung -a bei den altpreussischen Adjektiven ist wahrscheinlich abzulehnen. 1.3. Pronomina Es gibt in den altpreussischen Katechismen insgesamt acht Pronominalstämme, die neutrale Formen aufweisen: • • • • • • • •

Demonstrativpronomen und Artikel sta- "dieses, das". Interrogativ- und Relativpronomen ka- "was, das". Indefinitpronomen wissa- "all". qualifikatives Demonstrativpronomen stawida- "solch". qualitatives Interrogativ- und Relativpronomen kawTda- "welch". Identitätspronomen sta- subba- "dasselbe". Indefinitpronomen aina- "ein". Dualpronomen abbaia- "beides".

Folgende Endungen sind bezeugt: Tabelle 3. Die Endungen der neutralen Pronomina im

Enchiridion

Endung -a

Endung -an

sta-

sta

stan

ka-

ka

kan

wissa-

wissa

stawlda-

wissan stawJdan

kawida-

kawtdan

sta-

stan

subba-

subban

aina-

ainan

abbaia-

abbaten

Die Verteilung dieser Varianten ist schwierig. Smoczynski (1992a: 71-76, 1994: 235-236) denkt, daß eine sporadische Entnasalisierung im Altpreussischen stattfand. Demnach seien Formen wie sta oder ka nichts anderes als entnasalisierte Varianten von stan und kan. Vor einigen Jahren (2001c) habe ich diese These widerlegt, indem ich zu zeigen versucht habe, daß die Verteilung der Endungen -a und -an keineswegs arbiträr ist, sondern bestimmten Regeln folgt. Meine Beweisführung werde ich hier kurz zusammenfassen. Sieht man von den präpositionalen Kontexten ab, wo nur die Formen auf -an bezeugt sind (z.B. ēnstan / dar-

DAS BALTISCHE N E U T R U M

165

ein "darin" III 99, p usw.)17, steht fest, daß die Verteilung von -a oder -an durch zwei Faktoren bestimmt wird, die sich folgenderweise darstellen lassen (vgl. Petit 2001c: 179): •

•

(1) Kriterium der syntaktischen Funktion: Die Formen auf -a sind meist als Satzsubjekte verwendet (Nominativ), die Formen auf -an als Satzobjekte (Akkusativ)18. (2) Kriterium der Wortstellung: Um die Funktionen des Subjekts und des Objekts zu identifizieren, hat sich der Übersetzer oft eines Prinzips bedient, das ich "SVO-Regel" (regle SVO) genannt habe. Dieses Prinzip besagt, daß nach dem Muster des Deutschen, wo die unmarkierte Wortstellung [Subjekt+Verb+Objekt] (SVO) ist, ein Pronomen als Subjekt identifiziert werden kann, wenn es vor dem Verb steht, als Objekt, wenn es nach dem Verb steht.

Das erste Kriterium liefert eine passende Erklärung für fast alle Belege im altpreussischen Enchiridion; das zweite Kriterium erklärt die wenigen Ausnahmen. Im folgenden werde ich diese These durch ein paar Beispiele veranschaulichen. Bei sta und stan liegt die Trennungslinie regelmäßig zwischen den Funktionen des Subjekts und des Objekts. Demnach findet man sta als Subjekt (Nominativ), stan als Objekt (Akkusativ). Ein Beispiel von s ta als Subjekt: (28) III 4117: Sta ast perarwisku arwi. / Das ist gewißlich war. "Das ist gewißlich wahr." und von stan als Objekt: (29) III 615: Wissamans quai stan druwe / Allen die es gleuben "allen, die es glauben"

17 18

240).

Weitere Belege: Petit (2001c: 179, Fußnote 15). So schon Euler (1988: 28): ".sta...(aber Akk. stan\)".

Ähnlich Valeckienė (1984:

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K A P I T E L III

Es gibt nur zwei Ausnahmen. Sta ist Objekt (Akkusativ) in zwei Stellen: (30) III 75 |6 : Sta waidinna noümans schal wirdai. / Das zeygen vns diese wort. "Das zeigen uns folgende Worte." (31) III 497 g: Sta galbse mans mijis Taws endangon. / Das hilff vns lieber Vatter im Himmel. "Das helfe uns der liebe Vater im Himmel!" In beiden Ausnahmen ist die Form sta Objekt. Es fallt aber auf, daß die Wortstellung des deutschen Originals markiert ist [Objekt+Verb+Subjekt] (OVS). Es liegt also die Vermutung nahe, daß der Übersetzer dem SVOPrinzip gemäß irrtümlich das vor dem Verb stehende Objektpronomen als Subjekt interpretiert hat. Eine ähnliche Verteilung gilt auch für die anderen Pronomina. Bei ka und kan ist im Prinzip die Trennungslinie diesselbe. Man hat also ka als Subjekt (Nominativ): (32) III 912: Däiti stesmu Keiserin / ka steisei Keiserin ast. / Gebet dem Keyser / was des Keysers ist. "Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist." (33) z.B. III 278: Ka ast sta billīton? / Was ist das? "Was ist das (gesagt)?" kan als Objekt (Akkusativ): (34) III 77?: T ans turr i kan s tai billē. / Der hat was sie sagen. "Er hat, was sie sagen."

DAS BALTISCHE N E U T R U M

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(35) III 1073^: B he Deiws endeirä wissan kan tans bei teiküuns. / Vnd Gott sähe alles was Er gemacht hatte. "Und Gott sah alles, was er gemacht hatte." Auch hier lassen sich einige Ausnahmen durch die SVO-Regel erklären. Man hat oft ka als Objekt (Akkusativ). Beispiele: (36) III 377: B he segge ka tennei skelläntei ast. / Vnd thun was sie schuldig sind. "und tun, was sie müssen." (37) III 378 9: Ka billa tenti Deiws esse wis=sans schins Pallaipsans? / Was sagt nun Gott von die=sen Gebotten allen? "Was sagt nun Gott von all diesen Geboten?" Um die relative Häufigkeit dieser Ausnahmen zu verstehen, muß man bedenken, daß das Interrogativ- und Relativpronomen im Altpreussischen, wie im Deutschen, die Eigentümlichkeit aufwies, daß es immer am Anfang des Syntagmas stand. Unter diesen Bedingungen war die SVORegel fast unwirksam. Dieselbe Verteilung gilt auch für wissa- "all". Man hat wissa als Subjekt (Nominativ): (38) III 696: Sta wissa warge mien. / Das alles ist mir leydt. "Das alles ist mir leid." wissan als Objekt, z.B.: (39) 111 79 1719 : Beggi as polaipinna mien / maian kermenen bhe Dousin / b he wissan en twaians ränkans. / Denn ich befehle Mich / mein Leib vnnd Seele / vnnd alles inn deine Hende. "Denn ich vertraue mich, meinen Leib und Seele, und alles in deine Hände."

K A P I T E L III

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Ausnahmen sind selten und lassen sich durch die SVO-Regel erklären. Man hat zweimal wissan als Subjekt (Nominativ), aber beide Male steht das Pronomen nach dem Verb: (40) III 1213: Bhe semmai ēilai / wissan ka stesmu esse Adam engemmons ast. / Vnd vntergehe / alles was jm von Adam angeborn ist. "Und alles gehe unter, was ihm von Adam angeboren ist." (41) III 1074 5: Sta bei wissan sparts labban. / Es war alles sehr Gut. "Es war alles sehr gut." Die Verteilung der Varianten auf -a und -an ist somit nicht arbiträr. Ich bin der Meinung, daß die ursprüngliche neutrale Endung bei den Pronomina -a war, während die nasalhaltige Endung -an von dem Übersetzer aufgrund der Analogie der Maskulina sekundär als Kennzeichen der Objektfunktion empfunden und verallgemeinert wurde. Dabei ist auffällig, daß der Übersetzer eine Unterscheidung zwischen dem Nominativ und dem Akkusativ bei den pronominalen Neutra geschaffen hat - eine Entwicklung, die im Rahmen der indogermanischen Sprachwissenschaft typologisch abwegig erscheint, im Kontext der Übersetzungstechnik Abel Wills aber durchaus verständlich ist. 1.4. Fazit Faßt man die Ergebnisse dieser Untersuchung zusammen, so steht fest, daß die altpreussischen Neutra durch folgende Endungen charakterisiert wurden:

• •

Endung -an oder -u (-/') : Substantive und Adjektive. Endung -a : Pronomina (Endung -an sekundär).

Obwohl das Altpreussische das Neutrum bei allen Wortklassen und in allen Kontexten immer noch verwendet, lassen sich die ersten Anzeichen seines Verlusts schon beobachten. Bei den Substantiven haben wir gesehen, daß die Neutra des Elbinger Vokabulars oft zu Maskulina im Enchiridion werden und selbst die bewahrten Neutra teilweise mit den Maskulina (insbesondere im Plural) verwechselt werden. Bei den

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Adjektiven gefährden die vielen Interferenzen mit dem Deutschen das Fortleben des Neutrums als lebendiges Geschlecht. Und schließlich widerspricht bei den Pronomina die Unterscheidung eines Nominativs auf -a und eines Akkusativs auf -an der wahren Natur des Neutrums. 2. Das Neutrum im Litauischen Im Litauischen und Lettischen sind weitere Stufen des Verlusts des Neutrums belegt. 2.1. Substantive Bekanntlich hat das Litauische das Neutrum bei den Substantiven eingebüßt. Alle ererbten Neutra sind zu Maskulina oder Feminina geworden. Dies gilt insbesondere für die thematischen Neutra, die meist zur produktiven Klasse der Maskulina auf -as im Litauischen übergingen. Beispiele: • • • • •

lit. ežeras "der See" (vgl. apr. assaran, aksl. jezero, Nt.). lit. būtas "Wohnung" (vgl. apr. buttan, Nt.). lit. lunkas "Bast" (vgl. apr. lunkan, aksl. lyko, Nt.). lit. metas "Zeit, PI. Jahr" (vgl. apr. mettan, Nt.). lit. sienas "Heu" (vgl. aksl. seno, Nt.).

Slavische Lehnwörter neutralen Geschlechts sind im Litauischen ebenfalls zu Maskulina auf -as geworden. Beispiele19: • • • • • •

lit. lit. lit. lit. lit. lit.

bliüdas "Gefäß" (< *bljudo, vgl. aksl. bljudo, Nt.). miestas "Stadt" (< poln. miasto, vgl. apr. mestan, Nt.). muilas "Seife" (< sl. *mylo, vgl. russ. mylo, Nt.). muitas "Zoll" (< sl. *myto, vgl. aksl. myto, Nt.). vynas "Wein" (< sl. *vyno, vgl. aksl. vino, Nt.). dial. čiūdas "Wunder" (< sl. *čudo, vgl. aksl. čudo, Nt.).

In den anderen Bildungen ist auch der Übergang zu den Maskulina regelmäßig: -

Neutra auf *-u > lit. Mask. auf -us: •lit. alūs "Bier" (vgl. apr. alu, Nt.). Vgl. K. Būga (RR III 46 [1924]).

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-

-

KAPITEL III

• lit. medūs "Honig" (vgl. apr. meddo, Nt.). Neutra auf *-e/os- (sigmatische Neutra) > lit. Mask. auf -as oder -esis: • lit. mēnas "Kunst" (< idg. *men-e/os-, vgl. gr. Įievoc;, -onę Nt.). •lit. veidas "Gesicht" (< idg. *ueid-e/os-, vgl. gr. ei8oę, -ouęNt.). •lit. debesis "Wolke" (< idg. *nebh-e/os-, vgl. aksl. nebo, Gen.Sg. nebese "Himmel", gr. vecpoę, -ouę "Nebel", Nt.). Neutra auf *-mn > lit. Mask. auf -muo, -mens: •lit. sėmenys PL, alit. Sg. sėmuo "Same" (< idg. *seh]-mn, vgl. apr. semen, aksl. sėmę, lat. sēmen, Nt.).

Es ist unmöglich, allein aufgrund des litauischen Materials die Endung der thematischen Neutra zu rekonstruieren, denn gleichgültig, ob man von *-än oder von *-ä ausgeht, liegt der Übergang zu den Maskulina auf -as nahe, solange die Feminina durch langes *-ä charakterisiert werden. Es wurde aber schon längst auf die Tatsache hingewiesen, daß ehemalige Neutra in den litauischen Dialekten zwischen dem Maskulinum und dem Femininum schwanken: Neben schriftlit. būtas "Wohnung" (Mask.) gibt es in einigen Dialekten eine weibliche Variante butä (Fem.). Es handelt sich ursprünglich um ein Neutrum (vgl. apr. buttan). Diese Schwankungen hat insbesondere Stundžia untersucht 20 . Man könnte zuerst denken, daß diese Schwankungen für eine Rekonstruktion der neutralen Endung als *-ä sprechen. Es wäre nämlich denkbar, daß die thematischen Neutra auf *-ä zunächst mit den Maskulina auf *-äs zusammenfielen, als die Feminina noch eine langvokalische Endung *-ä hatten, die zu weit von der kurzvokalischen neutralen Endung entfernt war, und später mit denselben Feminina zusammenfielen, als die feminine Endung dem Leskienschen Gesetz gemäß zu *-ä verkürzt wurde. Die Schwankung zwischen z.B. būtas und butä würde somit einen chronologischen Unterschied widerspiegeln, nämlich zwischen vor dem Leskienschen Gesetz zu Maskulina gewordenen Neutra (*butä > būtas) und nach dem Leskienschen Gesetz zu Feminina gewordenen Neutra (*butä > butä). Dies würde voraussetzen, daß der Verlust der Neutra ein langwieriger Prozeß war, der verschiedene Etappen in den verschiedenen Dialekten durchmachte 21 . 2,1 Stundžia (1978: 112-119, 1994: 13-30). Vgl. noch Skardžius (RR I 43 [1943]), Kazlauskas (1968a: 125). 21 Dieselbe Analyse könnte den Unterschied erklären zwischen den älteren Lehnwörtern neutralen Geschlechts aus dem Ostslavischen, die regelmäßig zu Maskulina im Litauischen wurden (vgl. lit. muilas "Seife" < ostsl. *mylo, Nt.), und den jüngeren Lehnwörtern neutralen Geschlechts aus dem Polnischen, die oft zu Feminina wurden (vgl. alit. peklä "Hölle" < poln. pieklo Nt., alit. provä "Recht" < poln. prawo Nt.). Als die älteren (ostslavischen) Lehnwörter ins Litauische integriert wurden, war die feminine Endung

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Diese Hypothese würde eher für eine neutrale Endung *-ä sprechen, denn, ginge man von *-än aus, so wäre kein Berührungspunkt zwischen den Neutra und den Feminina vorhanden gewesen. Eine andere Erklärung ist aber möglich. Schwankungen wie lit. būtas / butä erinnern an die Dubletten, die in den romanischen Sprachen oft bezeugt sind, wie z.B. fr. le grain "Korn" / la graine "Same". Solche Dubletten lassen sich als verschiedene Reflekte der lateinischen Neutra Singular und Plural erklären: fr. le grain setzt den lateinischen Singular gränum fort, fr. la graine setzt den lateinischen Plural gräna fort. Nimmt man eine vergleichbare Erklärung für das Litauische an, so kann man aus dem Neutrum Singular (auf *-ä oder *-än) das Maskulinum būtas, aus dem Neutrum Plural (auf *-ā < idg. *-eh2) das Femininum butä herleiten. In einem Fall wie lit. būtas / butä "Haus, Wohnung" wäre das Fortleben einer pluralischen Form mit einer ursprünglich kollektiven Bedeutung nicht besonders überraschend, vgl. lit. namas "Haus" (Sg.) und namai "Haus, Hausgemeinschaft" (PI.), gr. oucoę und o k i a , fr. maison und maisonnėe. Aus dieser Perspektive würden die Schwankungen zwischen dem Maskulinum und dem Femininum nichts über die ursprüngliche Endung des thematischen Neutrum Singulars aussagen. 2.2. Adjektive Eine Besonderheit des Litauischen ist das Fortleben von neutralen Adjektiven in einer Sprache, in der es keine neutralen Substantive mehr gibt. Das Litauische ist m.W. die einzige indogermanische Sprache, die sich so verhält. Die Frage stellt sich, welche Funktionen diesen neutralen Adjektiven zukommen. Im Litauischen werden bei den Adjektiven nicht nur männliche und weibliche Formen wie bei den Substantiven unterschieden, sondern es gibt auch eigentümliche Formen, die anscheinend zu einem dritten Genus gehören. Z.B. gibt es neben den Maskulina gēras "guter", gražūs "schöner" und den Feminina gerä "gute", graži "schöne" eine dritte Form gera, gražū. Nur die primären thematischen Adjektive (wie lit. ger-as "gut", žāl-ias "grün") und die u-Adjektive (wie lit. graž-ūs "schön") besitzen noch langes *-ā, was erklärt, warum diese Lehnwörter (mit einer Endung *-ä aus sl. -ö) eher zu den Maskulina als zu den Feminina übergingen. Als die jüngeren (polnischen) Lehnwörter ins Litauische integriert wurden, war die feminine Endung schon kurzes *-ä, was den Übergang der neutralen Lehnwörter zu den Feminina begünstigte. Das Leskiensche Gesetz läßt sich somit zwischen den ostslavischen Lehnwörtern und den polnischen Lehnwörtern, d.h. ungefähr im 13. Jahrhundert, feststellen. Dazu s. Būga (RR III 46 [1924]).

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KAPITEL III

eine solche Form. Die Adjektive auf -is (< balt. *-ijas, z.B. medinis "hölzern", mažutis "ganz klein", apygeris "ziemlich gut "Juodnugaris "einen schwarzen Rücken habend") haben sie nicht22. In der litauischen Terminologie werden diese Adjektivformen einem dritten Genus zugeordnet, das entweder niekatröji giminė "neutrales Geschlecht" (nach dem poln. rodzaj nijaki < lat. genus neutrum) oder bevardė giminė "namenloses Geschlecht" genannt wird. Im folgenden werde ich sie der Einfachheit halber "Neutra" nennen, obwohl ihr grammatischer Status noch fraglich bleibt. Diese Formen weisen im Litauischen Endungen auf, die synchron von den maskulinen Endungen folgenderweise abgeleitet werden können: • {Neutrum} = {Maskulinum} - {-5} (vgl. z.B. Nt. gera / Mask. gera-s, Nt. gražu / Mask. gražū-s). Bei den thematischen Adjektiven (gera) muß man von *-ä ausgehen. Eine ursprüngliche Endung *-än hätte einen Nasalvokal *-q /ä/ ergeben, der in den meisten Dialekten zu /a:/ entnasalisiert worden wäre, aber noch ein eigenes Schriftzeichen <-ą> besitzen würde. In den ostlitauischen Dialekten wäre dieser Nasalvokal regelmäßig zu *-u geworden; die neutralen Adjektive haben dort jedoch eine Endung -a. Zum Beispiel kann man aus dem Dictionarium trium linguarum von Sirvydas (1642) den Akkusativ Femininum Singular runku "Hand" (< *rankq, DTL 3 482, 486 [1642]) mit einer Endung -u (< *-q) und die neutrale Adjektivform giera "gut" (< *gera, DTL 3 207 [1642]) mit einer Endung -a (< *-ä) gegenüberstellen. In Tabelle 4 werden die wichtigsten Kontexte angeführt, in denen die neutralen Adjektive im Litauischen auftreten können. Die neutralen Adjektive werden im Litauischen nie attributiv verwendet, was keineswegs überraschend erscheint, wenn man bedenkt, daß diese Sprache keine neutralen Substantive besitzt23. Weiter ist zu bemerken, daß die neutralen Adjektive in prädikativer Funktion mit allerlei Substantiven kongruieren können. Der Typ svečias malonu "ein Gast [Mask.] ist angenehm [Nt.]" ist im Litauischen altertümlich; eine entspre-

22 Vgl. Valeckienė in LKG (1965: 1 525, § 924) sowie Valeekienė (1984: 97-108). Zu dieser Frage s. noch Petit (2001 b: 285-310). 23 Vgl. Valeckienė in LKG III (235, § 398).

DAS BALTISCHE NEUTRUM

173

Tabelle 4. Die Syntax der neutralen Adjektive im Litauischen Kontexte

Beispiele

Prädikativunpersönlich • (1) subjektlose Sätze

(42) Šiandien šalta. "Heute ist es kalt [Nt.].

• (2) mit Subjekt im Dativ

(3) mit Infinitiv

(43) Man šalta. "Mir ist kalt [Nt.]."

(44) (Man) malonu miegoti "Es ist (mir) angenehm [Nt.] zu schlafen.

• (4) mit Nebensatz

(45) (Man) malonu, kad atėjai. "Es ist (mir) angenehm [Nt.], daß du gekommen bist."

• (5) mit Agens im Genitiv

(46a) Jö miegama. "Er schläft." (*"Von ihm wird geschlafen [Nt.].") vgl. (46b) Sniego gilu. "Der Schnee ist tief." (""'Durch den Schnee ist tief [Nt.].")

Prädikativ-persönlich • (1) + neutrales Pronomen • (2) + Substantiv (egal welchen Geschlechts)

Substantivierung • (1) Subjekt • (2) Subjekt +Prädikat

(47) Visa taiyrä aišku. "All das [Nt.] ist klar [Nt.]." (48) Svečias malonu. "Ein Gast [Mask.] ist angenehm [Nt.] (ist etwas Angenehmes)." vgl. (49) Ilgi sijonai negražu "Lange Röcke [Mask.PI.] sind nicht schön [Nt.]." (50) Gera eina toli, blöga dar toliau. "Das Gute [Nt.] geht fern, das Böse [Nt.] ferner." (51) Raudona - gražu "Das Rote [Nt.] ist schön [Nt.]."

(3) Objekt

(52) Esu jau ir šilta ir šalta matęs. "Ich habe schon Warmes [Nt.] und Kaltes [Nt.] gesehen, ich wurde schon mit allen Wassern gewaschen."

(4) andere Kasus

(53) Negalėjau atskirti gera nuö pikta. "Ich konnte das Gute [Nt.] nicht von dem Bösen [Nt.] unterscheiden."

174

KAPITEL III

chende Konstruktion läßt sich in anderen indogermanischen Sprachen finden, vgl. z.B. XdX.ßmina turpe "das Weib [Fem.] ist schändlich [Nt.]", gr. KOXÖV eipfļvrļ "Schön [Nt.] ist der Frieden [Fem.]", usw. Schließlich fällt auf, daß die Substantivierung neutraler Adjektive Substantive produziert, die oft undeklinierbar sind. Dieselbe Form (z.B. gera) kann in der Funktion eines Nominativs (z.B. gera eina toli "das Gute geht fern") oder z.B. eines Genitivs (z.B. negalejau atskirti gēra "ich konnte das Gute nicht unterscheiden", Genitiv mit negiertem Verbum) unterschiedslos auftreten. In einer Sprache, die wie das Litauische eine flexivische Sprache ist, ist diese Unflektiertheit besonders auffällig. Sie läßt sich m.E. als Anzeichen einer Neigung dieser Adjektivformen zur Adverbialisierung deuten (vgl. Petit 2001b). Es ist hier wichtig zu betonen, daß das Litauische nur die ersten Stufen dieser Adverbialisierung erfahren hat, denn die neutralen Adjektive werden nie in der Funktion verwendet, die die Hauptfunktion der Adverbien bildet, d.h. als Verbalergänzungen. Dort findet man nur die speziell adverbiale Bildung auf *-ai, z.B. : (54) Litauisch: Jie linksmai praleido laiką. "Sie verbrachten die Zeit fröhlich [Adv.]". Umgekehrt treten Adverbien auf -ai fast nie in den Funktionen auf, die den neutralen Adjektiven zukommen. Die einzige Ausnahme ist das Adverb gerai" gut", daß mit gēra in Konkurrenz stehen kann, vgl. lit. tai yrä gerai oder taiyrä gēra "das ist gut", man čia gerai oder man čia gēra "hier ist mir gut". Ich werde auf diese Tatsache später zurückkommen, denn sie spielt besonders im Lettischen eine große Rolle. 2.3. Pronomina Das Litauische besitzt eine kleine Gruppe von Pronomina, die neutrale Formen aufweisen. Eine ausführliche Beschreibung dieser Formen wurde von Valeckienė in einer wichtigen Monographie (1984) sowie in mehreren Aufsätzen (1974, 1977, 1978) unternommen. Neutrale Formen sind bei folgenden Pronomina belegt: • • • •

Demonstrativpronomen ta- "dieses" (mit Varianten šita-, ana-, ita-). Identitätspronomen ta- pati- "dasselbe". Interrogativ- und Relativpronomen ka- "was". Indefinitpronomen ka- nors / kažka- "etwas".

DAS BALTISCHE N E U T R U M

• • • • •

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Verneinungspronomen nieka- "nichts". Indefinitpronomen viska- "all" (Pronomen). Indefinitpronomen visa- "all" (Adjektiv). Einheitspronomen viena- "ein". Indefinitpronomen kita- "ander".

Folgende Endungen sind bezeugt (in Klammern dialektale oder alte Formen): Tabelle 5. Die neutralen Pronomina im Litauischen Endung -ai ta-

tai (alit. tatai)

šita-

(šitai,

ta- pati-

(taī pät)

kaka- nors,

šitatai)

Endung -a

(tas) (šita) (tä pati)

tas pats

(ka)

käs

kažka-

käs nörs,

nieka-

kažkas

niekas viskas

viskavisa-

Endung -as

(vislab)

visa

viena-

viena

kita-

kita

(kitkas)

Die Verteilung der verschiedenen Endungen folgt bestimmten Regeln, die folgenderweise formuliert werden können: •

•

•

Die Demonstrativpronomina weisen eine Endung -ai auf: lit. taī "es, das, dies", šitai "das hier" (gegenüber Mask. täs "dieser", tä "diese" und šitas "dieser hier", šitā "diese hier"), vgl. auch die alten oder mundartlichen Nebenformen tatai, šitatai, antaī, itaī. Das Interrogativ- und Relativpronomen und die mit ihm verwandten Indefinitipronomina weisen eine Endung -as auf, die mit der männlichen Endung identisch ist: lit. käs "was" (= käs "wer"), käs nörs "etwas" (= käs nörs "jemand"), kažkas "etwas (unbestimmt)" (= kažkas "jemand"), niekas "nichts" (= niekas "niemand"), viskas "alles", vgl. auch kitkas "etwas anderes". Alle anderen Pronomina weisen eine Endung -a auf: lit. visa "all" (gegenüber visas Mask. und visä Fem.), viena "eine Sache, eines" (gegenüber vienas Mask. und viena Fem.), kita "anderes" (gegenüber kitas Mask. und kitä Fem.).

176

KAPITEL III

Diese Verteilung weist in der litauischen Schriftsprache relativ wenige Ausnahmen auf. Auffällig ist das Identitätspronomen ta- pati- "dasselbe", das formal mit dem Demonstrativpronomen ta- verwandt ist, aber im Neutrum eine sigmatische Endung -as aufweist: täs päts "dasselbe" (gegenüber täs päts, Mask. und tä pati, Fem.). Man würde eine Form taī pät erwarten, die nur dialektal auftritt und deswegen als sekundär betrachtet werden kann. Die Wahl der einen oder anderen Endung hängt in erster Linie von semantischen Faktoren ab. Die Endung -ai ist auf die Demonstratīva beschränkt, die Endung -as auf den Interrogativ-Relativstamm ka-. Die Endung -a tritt in den anderen Pronominalformen auf, die entweder unmittelbar auf Adjektiven beruhen oder mit dem System der Adjektive gewisse Berührungspunkte haben: visa "all" (vgl. visas), viena "eines" (vgl. vienas), kita "anderes" (vgl. kitas). Sie läßt sich natürlich mit der Endung -a der neutralen thematischen Adjektive (z.B. lit. gera "gut") vergleichen. Die Frage stellt sich nun, worin der Grund dieser seltsamen Verteilung der Endungen zu suchen ist. Auf diese Frage kann nur eine diachrone Untersuchung antworten. Über die Herkunft der neutralen Endung -ai der litauischen Demonstratīva wurde sehr viel geschrieben24. Ende des 19. Jahrhunderts schlug Johannes Schmidt (1889: 228-231) vor, in -ai eine ursprüngliche Kollektivendung *-ä mit einer Partikel *-i zu erblicken. Dieser Hypothese haben seither viele Wissenschaftler zugestimmt, z.B. in Deutschland Brugmann (Grd. III 616) oder in Frankreich Gauthiot (1909: 356). Sie wurde aber in der wichtigen Monographie von Nieminen (1922) heftig angefochten und kann heute als aufgegeben gelten. Für die meisten Baltisten besteht das Hauptproblem darin, wie die Koexistenz der beiden Formen taī et tatai im Altlitauischen zu erklären ist. Zu dieser Frage gehen die Meinungen auseinander. Es liegt zunächst nahe, daß in taī und tatai dieselbe emphatische Partikel -ai steckt wie in den Formen tasai, jisai, die emphatische Varianten von täs "dieser da",y« "er" darstellen25. Aus dieser Perspektive nahm z.B. Meillet (1897-1898: 135) an, daß tatai aus *tat-ai herzuleiten sei, wobei die Form *tat das indogermanische Pronomen *tot (oder *tod, vgl. aind. tat, gr. xo < *töd) fortsetze und

24 Vgl. z.B. Nieminen (1922: 10-13), Valeckienė (1977: 55-75, 1978: 69-81). S. auch Rosinas (1981: 18-24). 25 Erster Versuch in diese Richtung bei Leskien (1903: 90-91).

i

į

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177

durch eine emphatische Partikel *-ai verstärkt worden sei26. Die kürzere Variante taī sei später nach dem Schwund des Auslautskonsonanten entstanden, aus *ta (< *tat) und derselben emphatischen Partikel *-ai > *taai > taī. Man kann aber schwer verstehen, wie diese im Altlitauischen gleichwertigen Formen zwei chronologisch verschiedene Etappen derselben Entwicklung darstellen könnten (erste Stufe *tat-aī, zweite Stufe *taai). Darüber hinaus ist der Ansatz eines auslautenden Dentals im Baltischen wenn nicht unmöglich, so doch durch die Fakten nicht gestützt; die Analyse von tatai als *tat-ai bleibt sehr fraglich. Etwas anders deutet Otrębski (GJL III 150, §346 [1956]) tafals *ta-aī(parallel zu tas-aī) und tatai als eine verdoppelte Variante desselben Stammes *ta-ta-aī. Die vollständigste und m.E. beste Erklärung hat Nieminen (1922) geliefert. Nieminen stellt zunächst fest (1922: 32-35), daß die häufigste Form im Altlitauischen tatai war. Später machte dieser Form die kürzere Variante taī Konkurrenz und schließlich ersetzte taī die ältere Form. Um diese Entwicklung zu veranschaulichen, kann man folgende Zahlen geben: • • •

Mažvydas (Mitte des 16. Jahrhunderts) hat nur tatai (26x). Das Enchiridion von Vilentas (1579) hat tatai (85x) und tai (6x). In den Punkty Kazari von Sirvydas (1629-1644) findet man fast ausschließlich tai (325x), nur ein einziges Mal tatai (6632).

Alles spricht also für die Annahme, daß eine neuere Form (taī) eine ältere Form (tatai) stufenweise ersetzt hat. Aufbauend auf dieser Feststellung nimmt Nieminen an, daß tatai die einzige alte Form ist. Seine Analyse geht von der Hypothese aus, daß tatai als *tä (< idg. *tod) + eine Partikel *taī segmentiert werden kann: *ta-taī *"das so" = "eben das". Diese Partikel *taī könnte nach Nieminen entweder "so, auf diese Weise" (*ta-taī *"das so" = "eben das" 27 ) oder "da, dort" (*ta-tai *"das dort", vgl. fr. cela < *ce + lä) bedeutet haben. Für die Endung und die lokative Bedeutung denkt man an apr. schai / alhie "hier" (III 11517). Eine Partikel *taī wird in der heutigen litauischen Schriftsprache noch verwendet. Sie tritt insbesondere in den korrelativen Strukturen mit jei "wenn" (hypothetisch) oder "wenn" (temporal) auf, z.B.:

26 Ähnlich auch Stang (1966: 114), der auf lit. tačiaū "jedoch" (< *tat-jau, mit jaü "schon") hinweist. 27 Als Parallelfall erwähnt Nieminen (1922: 45) finn. se niin "eben das" aus se "das" + niin "so".

178

KAPITEL III

(55) Litauisch: Jė i duos, tai imsiu. "Wenn er geben wird, (dann) werde ich nehmen. 28 " oder mit der enklitischen Partikel -gi in taigi "na, nun also". Man findet sie auch in dem Adverb tiktai "nur" neben tik "nur" 29 . Es liegt also nahe, daß tatai als * ta-tai analysiert werden kann. Es ist durchaus möglich, daß in den ältesten Sprachstufen beide Komponenten noch als unabhängig empfunden wurden. In der Bibel von Chylinski (1664) wird tatai manchmal getrennt geschrieben (ta tey) und steht einem Maskulinum tas tey gegenüber 30 . In der heutigen Schriftsprache lautet das Maskulinum nicht *tas-tai, sondern tas-ai "dieser da". Nieminen (1922: 46) erklärt den Unterschied zwischen ta-tai und tas-ai durch phonotaktische Faktoren, insbesondere durch das Streben, Hiatus zu vermeiden. Im Femininum hat man demselben Prinzip gemäß ji-nai "sie" (emphatische Variante von ji) mit einer anderen Partikel *-naī neben einem Maskulinum jis-aī"e r" (emphatische Variante von jis) mit einer Partikel *-ai. Das Verhältnis vom Neutrum ta-tai zum Maskulinum tas-ai erschien aber seltsam, so daß eine Tendenz zustandekam, den Unterschied zu beseitigen. Demnach wurde die Form tatai sekundär als *tat-aī (wie Mask. tas-ai) analysiert. Daraus entstand als Rückbildung eine Form tat, die im Altlitauischen ziemlich häufig belegt ist. Es handelt sich hier kaum um indogermanisches Erbe (etwa < *tot, *tod), sondern mit Nieminen (1922: 47) um eine analogische Bildung nach dem Verhältnis: • •

Maskulinum tas-ai : täs Neutrum tatai, als *tat-aī segmentiert: x (x = tat)

28

Beispiel aus D Ž ( 4 2000: 827). Valeckienė (1978: 77). 30 In der Postilla Catholicka von Daukša (DP 1599) findet man einmal eine Lokativform tame lai (DP 93,,, [1599]): tame taipriliginimę "in eben dieser Parabel". Diese Form scheint die Existenz eines Pronomens *täs taī "dieser da" voraussetzen, dessen Neutrum *ta taī(> tatai) wäre. Jedoch erblickt Nieminen (1922: 45) mit Recht hier eher einen Einfluß des Polnischen. Im Polnischen kann das neutrale Pronomen to (= lit. tat) als emphatische Partikel verwendet werden ("in eben dieser Parabel" = poln. w tej toprzypowiescie). Das Pronomen tatai kann in demselben Kontext verwendet werden, z.B. DP 13427 [1599]: tame tatäi Sakramente "in eben diesem Sakrament" (= poln. w tym to Säkrämencie). Vgl. noch DP 7422 [1599] (szito tätai įmdgaus). 29

DAS BALTISCHE N E U T R U M

179

Das Verhältnis von tasai und tataī hatte im Altlitauischen eine weitere Folge: Der Sibilant -s- wurde als Zeichen des männlichen Geschlechts, der Dental -t- als Zeichen des neutralen Geschlechts empfunden. Daraus entstanden in einigen litauischen Dialekten Nebenformen wie toktaī"solches" gegenüber toksai "solcher" (emphatische Variante von töks), koktaī "welches" gegenüber koksai "welcher" (emphatische Variante von köks). Später wurde aus Formen wie toktaī gegenüber dem Simplex töks eine Endung -taī abstrahiert, die sich in anderen Neubildungen einbürgerte (z.B. tiektai gegenüber tiek "so viel", kiektaī gegenüber kiek "wieviel", antai" zum Beispiel" gegenüber anäs "dieser da"), usw31. Angenommen, daß tataī die einzige alte Form ist, stellt sich die Frage, woher die kürzere Variante taī stammt. In den heutigen Dialekten ist die Verteilung beider Varianten folgende: Man hat taī im Hochlitauischen (und demnach in der Schriftsprache), während tataī nur noch in einigen niederlitauischen Dialekten (und noch nicht überall) auftritt. Nieminen (1922: 47-50) schlägt drei Deutungsmöglichkeiten der Form taī vor. Es könnte sich bloß um die Lokativpartikel taī "da" handeln, die sekundär als Pronomen verwendet werden würde, wie z.B. im Englischen there "da" in there is gegenüber dt. es gibt. Oder taī könnte analogisch gegenüber dem Maskulinum täs nach dem Muster des Demonstrativpronomens šitas / šitai entstanden sein. Die neutrale Form šitai (< Neutrum *ši + Partikel *-taī), die einem Maskulinum *šis-aī entsprechen würde, hätte ursprünglich nichts mit dem Maskulinum šitas (< Agglutination von šis und täs) zu tun, dessen Neutrum wohl ursprünglich šita lauten mußte. Später wären beide Formen šitas (< šis + täs) und šitai (< *ši + Partikel *-taī) in Verbindung gebracht worden, wobei ein Verhältnis Mask. -as / Nt. -ai entstanden wäre, das schließlich eine Form taī gegenüber täs geschaffen hätte. Diese Erklärung kommt mir etwas gesucht vor. Die letzte Möglichkeit, die Nieminen erwähnt, ist, daß taf eine Vereinfachung von tataī in der gesprochenen Sprache ist. Man denkt an fr. ęa neben celan. Es steht jedenfalls fest, daß die Endung -ai ursprünglich eine emphatische Partikel ist und somit als sekundär betrachtet werden muß. Geht man von *ta-taī aus, so ergibt sich, daß die einzige alte Endung der neutralen Pronomina *-a lautet - wie im Altpreussischen.

31

Dialektformen bei Valeckienė (1978: 78-79). Ein Grund dieser Vereinfachung könnte in der Tatsache liegen, daß die Form tataī > taī dem Maskulinum täs angenähert wurde, um die ältere neutrale Form *tä, die mit dem Femininum homonym war, zu ersetzen. Ein Streben nach Isosyllabismus ist durchaus denkbar. 32

KAPITEL III

180

Die ursprüngliche Vorform *ta könnte außerdem in einigen litauischen Dialekten noch fortleben. Außer dem Neutrum šita, das im Ostlitauischen belegt ist, führt Valeckienė (1978: 81 f.) aus den niederlitauischen Dialekten eine emphatische Partikel ta an, die, wenn sie kein Lehnwort aus dem Polnischen to ist, alt sein könnte. Dieselben Dialekte haben noch tägi "na, nun also" (neben schriftlit. taigi) oder tajä "auch" (neben schriftlit. taīp pät, täs päts). Dazu gehört vielleicht auch die Konjunktion tačiau "trotzdem", die in der heutigen Sprache üblich ist; eine Vorform *tat-jau (mit jaü "schon") ist aber vorzuziehen. Valeckienė (1978: 82) gibt selbst zu, daß diese Partikel ta nirgends als neutrales Pronomen ("es, das, dies") bezeugt ist. Dies hängt wahrscheinlich von dem Streben ab, diese Form von dem Femininum tä "diese" zu unterscheiden. Es ist übrigens durchaus möglich, daß der Ersatz von neutralem *ta durch tatai oder taī gerade durch die Gefahr der Homonymie mit dem Femininum tä wenn nicht unmittelbar verursacht, doch zumindest stark begünstigt wurde. Daß die älteste Endung der neutralen Pronomina einfach *-a ist, zeigen die anderen Pronomina. Die Endung -a ist regelmäßig bei visa "alles", viena "eines", kita "anderes" 33 . In dem Stamm ka- hingegen ist die Endung stets -as: lit. käs "was" (: käs "wer"), käs nörs "etwas" (: käs nörs "jemand"), kažkas "etwas (unbestimmt)" (: kažkas "jemand"), niekas "nichts" (: niekas "niemand"), viskas "alles", vgl. noch kitkas "etwas anderes". Diese Endung ist mit der des Nominativ Maskulinum Singular identisch. Warum die neutralen Pronomina, die auf dem Stamm ka- beruhen, und nur diese, diese Endung aus den Maskulina entlehnt haben, ist schwer verständlich. Ursprünglich war die Endung wohl *-a, wie überall sonst, was die Rekonstruktion einer neutralen Form *ka (= apr. ka) nahelegt. Warum diese Form zu käs umgebildet wurde, bleibt unklar. Nieminen (1922: 50) versucht, die ursprüngliche Form *ka noch in einem Hapax legomenon nieka "nichts" wiederzufinden, das einmal in der Postilla von Daukša (1599) auftritt: (56) DP 2 0 8 J 1 5 9 9 ] : .. .ner' niėka kito, tiektai... ".. .es ist nichts anderes als..." Nach Valeckienė (1978: 84) ist niėka einfach ein Fehler für niekas "nichts", das bei Daukša oft in demselben Kontext auftritt: . ..nėst niekas kito, tiektäi...(DP 69 |3 [1599]), ...nę ęst niekas kito, tiektai...{D? 834 " Vgl. Rosinas (1984: 46-60).

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[1599]), .. .niekas kito ner' tiektäy...(DJ* 5952 [1599]). Diese Form ist aber noch in einigen litauischen Dialekten belegt. Sie begegnet noch einmal im 18. Jahrhundert bei Philip Ruhig: (57) Ruhig (1747: 57): Kä büwo czonay? "Was war da?" Die Existenz einer neutralen Form *ka kann also kaum in Zweifel gestellt werden 34 . Es handelt sich aber nicht unbedingt um etwas Altertümliches. Man könnte ebensogut eine Neubildung nach dem Muster von visas (Mask.) : visa (Nt.) ->• käs (Mask.) : x (x = *kä) ansetzen. Die Frage bleibt jedenfalls offen, warum das Neutrum vom Stamm *ka-, und nur dieses, die männliche Endung -as aufgenommen hat. Einer der auffälligsten Züge des Stammes *ka- ist, daß das grammatische Geschlecht hier anders ausgedrückt wird als bei den anderen Pronomina. Bei den anderen Pronomina werden ein Maskulinum (z.B. täs "dieser"), ein Femininum (z.B. tä "diese") und ein Neutrum (z.B. taī "dieses") unterschieden. Bei dem Stamm ka- ist im Litauischen, wie in den anderen indogermanischen Sprachen, nur eine Unterscheidung zwischen lebhaften und unlebhaften Wesen gesichert. Dieselbe Form käs "wer" kann sich auf einen Mann oder auf eine Frau beziehen, woraus sich ergibt, daß die Endung -as in käs nicht spezifisch männlich ist. Diese Nicht-Unterscheidung ist indogermanisches Erbe, vgl. gr. xię (für lebhafte Wesen) und xi (für leblose Wesen), lat. quis und quid, aksl. kbto und čbto, russ. kto und čto, dt. wer und was, eng. who und what, usw. Eine Unterscheidung von Maskulinum und Femininum ist eine Seltenheit, vgl. aind. käh (Mask.), kā (Fem.), käd oder kim (Nt.) oder got. has (Mask.), ho (Fem.), ha (Nt.). Es gibt indogermanische Sprachen, die so weit gekommen sind, daß sie die Unterscheidung von Lebhaftem und Leblosem sogar eingebüßt haben. In erster Linie ist hier das Tocharische zu nennen, das nur eine einzige Form besitzt: kus (toch.A), kse (toch.B)35. Dieselbe Erscheinung ist wohl auch im Litauischen eingetreten: Die ursprünglich lebhafte Form käs wurde auf leblose Bezugwörter verallgemeinert. Grund dieser Entwicklung könnte der Umstand sein, daß die alte neutrale Form *ka äußerlich einem Femininum ähnlich lautete, was bei einem Interrogativpronomen abwegig war. Es fällt auf, daß die Endung -a bei den

34 35

Vgl. Bammesberger (1985: 279). Vgl. Pinault( 1989: 117-118).

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Neutra nur dann bewahrt wurde, wenn keine Verwechslung mit den Feminina vorhanden war (z.B. aus akzentologischen Gründen: visa "alles" neben visä Fem.). Dies erklärt, warum, keine einsilbige Form diese Endung -a erhalten hat. Bei *ka war also eine Neuerung notwendig; eine Entlehnung der Endung *-ai aus den Demonstratīva war aus semantischen Gründen nicht gerade bequem. Man kann sich also keinen anderen Ausweg vorstellen als eben die Verallgemeinerung der Form käs für allerlei Bezugwörter. Dies ist ein typischer Fall für morphologische Neuerungen, die sich aus Systemzwang vollziehen. Weitere Entwicklungen sind aber noch denkbar und tatsächlich sind einige zum Teil in den litauischen Dialekten oder gar in der Schriftsprache eingetreten. In mehreren litauischen Dialekten wurde nach dem Modell von käs "was" eine Form täs "es, das, dies" (anstatt schriftlit. tat) geschaffen. Nieminen (1922: 50) schreibt, daß der niederlitauische Historiker Simonas Daukantas (1793-1864) stets tas als neutrales Pronomen ("es, das, dies") verwendet und die Form taj (schriftlit. tat) nur noch in der Redewendung taj yra "das ist, das heißt" bewahrt. Wir werden später sehen, daß auch das Lettische diese Form tas verallgemeinerte. Eine weitere Entwicklung könnte durch die anderen Kasus verursacht worden sein. Bekanntlich sind bis auf den Nominativ alle Kasus im Maskulinum und im Neutrum gleich, vgl. z.B. Gen.Sg. kö, Dat.Sg. kam, usw. Dabei könnte die Akkusativform eine große Rolle gespielt haben. Ursprünglich wurde im Neutrum dieselbe Form für den Nominativ und für den Akkusativ verwendet (wie z.B. gr. xi oder lat. quid). Aber wahrscheinlich hat sich sehr früh eine Tendenz entwickelt, den Akkusativ durch eine eigene Form ką (< *kan) zu charakterisieren, woraus ein Nominativ käs rückgebildet werden konnte. In diese Richtung weist der Umstand hin, daß selbst in der litauischen Schriftsprache ein Akkusativ ką neutralen Geschlechts nicht ungewöhnlich ist (vgl. z.B. apie ką... "worüber?"). Dies scheint ebenfalls die Verallgemeinerung der Form käs begünstigt zu haben. Es bleibt noch eine letzte Schwierigkeit zu lösen. Das Identitätspronomen täs päts "dasselbe" weist in der litauischen Schriftsprache eine Endung -as auf, obwohl es vom Demonstrativum täs, Nt. taī, abgeleitet wird. Wie ist diese Eigentümlichkeit zu erklären? Mit täs päts "dasselbe" muß man m.E. auch die litauische Redewendung šis täs "etwas" (wortwörtlich "dieses hier - dieses da") vergleichen. In beiden Fällen erwartet man wie sonst überall eine Form taī. Diese Form wurde aber durch täs ersetzt. Es scheint mir, daß diese Entwicklung durch den Einfluß der

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anderen Form zu erklären ist, die mit dem Stamm ta- verbunden wird, einerseits päts "selbst" (< *patis), andererseits šis "dieses". Es fällt auf, daß nur die thematischen Pronomina im Litauischen eine neutrale Form aufweisen: Die Pronomina šis "dieser", jis "er" oder töks "solch" (< *tokis) haben kein Neutrum. Auch bei den Adjektiven besitzen Formen auf -is (< *-ijas) kein Neutrum. Es liegt nahe, daß diese Bildungen sowohl bei den Adjektiven als auch bei den Pronomina das Neutrum früher verloren haben als die anderen Bildungen. Demnach hat es wohl eine Zeit gegeben, wo man *šis tä und *tä päts gesagt hat (anstatt *ši tä und *tä pät), und man kann vermuten, daß die asigmatische Form durch die sigmatische Form beeinflußt wurde, woraus šis täs und täs päts. 2.4. Fazit Die bisherigen Betrachtungen haben gezeigt, daß das baltische Neutrum im Litauischen tiefe Veränderungen erlitt. Nicht nur sind die neutralen Substantive spurlos verschwunden, sondern auch die neutralen Adjektive und Pronomina wurden stark modifiziert. Die einzige thematische Endung des Neutrums ist im Litauischen -a sowohl bei den Adjektiven {gera) als auch bei den Pronomina (visa), abgesehen von den Demonstratīva, wo sie durch eine Partikel -ai deiktischer Herkunft ersetzt wurde (tat), und von dem Stamm ka-, wo jede Unterscheidung verloren ging (käs). Der Hauptunterschied mit dem Altpreussischen liegt natürlich darin, daß das Litauische keine Spur einer Endung -an besitzt. Wie dies zu erklären ist, ist nun gerade die Hauptfrage, um die es hier geht. 3. Das Neutrum im Lettischen Das Lettische ist m.W. die einzige indogermanische Sprache, die das Neutrum in allen Wortklassen verloren hat, selbst bei den Pronomina. Der Vergleich mit dem Litauischen wird zeigen, über welche Stufen diese radikale Entwicklung verlief. 3.1. Substantive Wie das Litauische, hat das Lettische das Neutrum bei den Substantiven verloren. Die Mehrheit der thematischen Neutra sind im Lettischen wie im Litauischen zu Maskulina auf *-as > lett. geworden. Hierzu ein paar Beispiele, bei denen die Entsprechung mit dem Litauischen angegeben wird:

184

• • • • •

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lett. ęzęrs "der See" = lit. ežeras (vgl. apr. assaran, aksl. jezero, Nt.). lett. lūks "Bast" (meist PI. lüki) = lit. lünkas (vgl. apr. lunkan, aksl. lyko, Nt.). lett. mežs "Wald" = lit. dial. medžias (vgl. apr. median). lett. siens "Heu" = lit. sienas (vgl. aksl. seno, Nt.). lett. varš "Kupfer" = lit. väris (vgl. apr. wargien).

Dieselbe Entwicklung betrifft auch Lehnwörter neutralen Geschlechts aus dem Slavischen. Beispiele: • •

lett. kręsls "Stuhl" = lit. krėslas (< sl. * krēslo, vgl. poln. krzeslo, Nt.). lett. stikls "Glas" = lit. stiklas (< sl. *stbklo, vgl. aksl. stbklo, russ. steklö, Nt.).

Auch in den anderen Bildungen ist der Übergang in die Maskulina regelmäßig: -

Neutra auf *-u > lett. Mask. auf -us: • lett. alus "Bier" = lit. alūs (vgl. apr. alu, Nt.). • lett. mędus "Honig" = lit. medüs (vgl. apr. meddo, Nt.). Neutra auf *-e/os- (sigmatische Neutra) > lett. Mask. auf *-esis > -ess: • lett. debess "Himmel" = lit. debesis "Wolke" (< idg. *nebh-e/os-, vgl. aksl. nebo, Gen.Sg. nebese "Himmel", gr. vš(poę, -ouę "Nebel", Nt.). Die Bedeutung des lettischen Wortes wurde durch das Slavische beeinflußt.

Wie im Litauischen kommt es im Lettischen oft vor, daß ehemalige Neutra zwischen dem männlichen und dem weiblichen Geschlecht schwanken 36 . Z.B. findet man neben schriftlett. spārns "Flügel" (Mask.) eine weibliche Variante im Lettus von Mancels (1638a) spārna (Spahrna Flügel, 62, vgl. Fennell 1988: 87)37. Wahrscheinlich war das Wort ursprünglich neutralen Geschlechts, vgl. aind. parņām "Flügel, Feder", avest. parsna- "Flügel, Feder" (Nt.). Gegenüber dem apr. Neutrum staytan (wohl *scaytan) "Schild" (EV 421) hat das Lettische nicht nur ein Maskulinum šķiets "Schild" (= lit. skietas), sondern auch ein Femininum

Mehr Beispiele: Stundžia (1994: 16-17). Es ist aber zu bemerken, daß derselbe Mancels in der Phraseologia Lettica (1638b) eine männliche Form Spahrns / der Flügel (XX11I, 348) anführt, vgl. Fennell (1989: 111). 17

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šķieta (selten)38. Solche Schwankungen trennen manchmal das Lettische vom Litauischen. Dem litauischen Maskulinum üostas "Hafen" (dial. uostä, Fem.) entspricht im Lettischen ein Femininum uösta "Hafen" (dial. uösts, Mask.). Zugrunde liegt ein Neutrum (Plural) *öust-ä (vgl. apr. austo "Mund" EV 89, aksl. usta, Nt. PL). Dem lit. milas "(grobes) Tuch" (Mask.) und dem lett. mila "grobes Bauerngewand" ME II 626 (Fem.) steht das apr. Neutrum milan "Gewand" (EV 455) gegenüber. Wie schon gesagt, sagen diese Schwankungen nichts darüber aus, wie die ursprüngliche Endung der thematischen Neutra zu rekonstruieren ist. 3.2. Adjektive Bei den Adjektiven hat das Lettische das Neutrum völlig verloren. Während das Litauische ein dreifaches Adjektivsystem bewahrt (Mask. gēras "gut", Fem. gerä, Nt. gera), besitzt das Lettische ein zweifaches System (Mask. labs "gut", Fem. laba). In den Funktionen, die im Litauischen den Neutra zukommen, verwendet das Lettische entweder männliche Formen oder Adverbialformen. Es gibt im Lettischen nur noch eine einzige Spur der ursprünglich neutralen Adjektive in einer kleinen Reihe von Adverbien, die durch eine Endung -u oder Null gekennzeichnet werden. Ich habe vor einigen Jahren (2001a: 85-92) diese Adverbien beschrieben und werde hier diese Analyse kurz zusammenfassen 39 . Im Lettischen werden die Adverbien meist durch eine Endung -i (< *-ai) gebildet, vgl. z.B. lett. labi "gut" = lit. /aftaf "sehr". Daneben gibt es eine kleine Gruppe von Adverbien, die eine Endung -u oder Null aufweisen. Diese Endung setzt den Akkusativ Neutrum Singular von Adjektiven auf -us oder -as, bzw. -is (Endung *-u > lett. -u, bzw. *-a oder *-/' > lett. -0) fort. Diese Adverbien sind nicht zahlreich und gehören fast alle zu denselben Bedeutungsfeldern:

-

Endung-u : • lett. aügstu "hoch" (ME 1217-218, Variante aügsti).

38

Das Germanische hat ein Neutrum (ahd. seit, Nt.), das Slavische ein Maskulinum (aruss. ščit-b, Mask.). Das neutrale Geschlecht muß hier alt sein. Es ist zu bemerken, daß ursprüngliche Neutra mit Wurzelbetonung (AP 2) im Slavischen zu Maskulina wurden, vgl. Illich-Svitych (1979: 40). Zu den lettischen Adverbien auf -u oder Null vgl. noch Endzellns (DI IV, 4 5 8 - 4 5 9 [1938]), Sokols [Hrsg.] (MLLVG 1959:1 707, §906-907), Kabelka (1987: 200, §285).

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• lett. blaku "nebenan, nebeneinander, zur Seite" (ME I 308, Variante blakām). • lett. klusu "still, leise, sachte" (ME II 238, Variante klusi). • lett. lęnu "langsam, sachte, leise" (ME II 460, Variante lęni). • lett. sębu "spät" (ME III 810, Variante sębi). • lett. tālu "weit, fern" (ME IV 146, Variante tä\i). • lett. tuvu "nahe" (ME IV 276-277, Variante tuvi). • lett. vęlu "spät" (ME IV 559, Variante vęli). • lett. zęmu "niedrig" (ME IV 710, Variante zęmi). Die Steigerungsstufen dieser Adverbien hat ebenfalls eine Endung -u (z.B. lett. tālāku "weiter, ferner", vistäläku "am weitesten, am fernsten", Variante vistālāk). - Endung -0 : • lett. aplam "verkehrt, töricht, schlecht; sehr gross, sehr häufig, sehr viel" (ME I 99, Variante aplami). • lett. klāt "nahe, hinzu, zugegen" (ME II 218-219, Variante klātu). • lett. maz "wenig" (ME II 570-571). • lett. nuöst "weg, hinweg, fort" (ME II 857-858, Variante nuöstu). Unsicher: • lett. drīz "geschwind, schnell, bald" (ME I 501, Variante drīzi). • lett. līdz "gleich, ebenso wie" (ME II 477, Varianten līdza "gleich, zusammen" ME II 479, līdzi "gleich, eben" ME II 480-481). • lett. pęrn "vor einem Jahre, im vorigem Jahre" (ME III 209). • lett. sen "lange her, seit lange" (ME III 816). Die Steigerungsstufe der Adverbien auf -i hat manchmal eine Endung -0 (z.B. lett. rętak "seltener", visrętak "am seltensten" aus ręti "selten", Varianten rętaki und visrętaki)40. Um den Gebrauch der lettischen Adverbien auf -u oder -0 zu erhellen, muß man annehmen, daß in der Vorgeschichte dieser Sprache die neutralen Adjektivformen nicht nur als Adjektive, sondern auch als Adverbien verwendet werden konnten. Schon im Litauischen bestehen zwischen beiden Kategorien Berührungspunkte. Das litauische Adverb geraf "gut" kann auf den Bereich der neutralen Adjektivform übergreifen, vgl. z.B. lit. taī yra gerat oder taī yra gera "das ist gut", man čiā gerai oder man čia gera "hier ist mir gut". Das Lettische hat diese Möglichkeit, die im 40

Vgl. Bērziņa-Baltiņa (1994: 166, §316).

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Litauischen nur beschränkt auftritt, verallgemeinert oder - besser gesagt - die Unterscheidung beider Kategorien völlig aufgegeben. In den syntaktischen Strukturen, wo das Litauische neutrale Adjektivformen verwendet, hat das Lettische entweder männliche Formen (Endung -5) oder Adverbien (Endung -/). Die Verteilung beider Verwendungsweisen ist problematisch, denn sie treten oft in denselben Kontexten auf. Im folgenden werde ich versuchen, anhand eines Vergleichs mit dem Litauischen den Grund dieser Verteilung festzustellen. Für das Litauische habe ich oben drei Hauptkontexte unterschieden: • prädikativ-unpersönlich (z.B. lit. man šalta "mir ist kalt [Nt.]"). •prädikativ-persönlich (z.B. lit. visa taī yra aišku "all das [Nt.] ist klar [Nt.]"). • substantiviert (z.B. lit. gera eīna toli, blöga dar toliau "das Gute [Nt.] geht fern, das Böse [Nt.] ferner"). Wie drückt das Lettische solche Kontexte aus? Im prädikativ-unpersönlichen Kontext verwendet das Lettische meist die Adverbialform auf -/ (oder auf -u, bzw. -0). Hierbei führe ich ein paar Beispiele an, wobei das Lettische mit dem Litauischen verglichen wird41: (58a) Lettisch: Man ir auksti. (Adv. aüksti) "Mir ist kalt."

(58b) Litauisch: Man (yrä) šalta. (Nt. šalta)

Weitere Beispiele: (59a) Lettisch: Man ir skumji. (Adv. skumji) "Ich bin traurig (Mir ist traurig)."

(59b) Litauisch: Man liūdna. (Nt. liūdna)

(60a) Lettisch: (60b) Litauisch: Man šeit ir labi. Man čia gera. (Adv. labi) (Nt. gera) "Ich fühle mich hier gut (Mir ist hier gut)."

4i Beispiele aus der Umgangssprache (ich verwende hier die im Lettischen gewöhnliche Rechtschreibung). Andere Beispiele bei Sokols [Hrsg.] (MLLVG II 480).

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Das Lettische hat hier eine Möglichkeit verallgemeinert, die im Litauischen auf das Adverb gerat" gut" beschränkt wird. Es ist zu bemerken, daß die niederlitauischen Dialekte sich in dieser Hinsicht wie das Lettische verhalten. Es gibt aber im Lettischen vergleichbare Kontexte, in denen man hingegen die männliche Form des Adjektivs verwendet. Beispiele: (61a) Lettisch: Seit ir ļoti karsts. (Mask. karsts) "Hier ist sehr heiß"

(61b) Litauisch: Čia labai karšta. (Nt. karšta)

(62a) Lettisch: Šodien ir slidens. (Mask. slidęns) "Heute ist [der Boden] schlüpfrig."

(62b) Litauisch: Šiandien slidü. (Nt. slidu)

Beide Möglichkeiten - Adverb oder Maskulinum - scheinen gleichwertig zu sein; die Grammatiken sind zu diesem Punkt stumm. Scholz (1985: 276-277) weist aber auf die Tatsache hin, daß die Adverbialform bevorzugt wird, wenn von körperlichen oder psychologischen Zuständen einer Person die Rede ist, während die männliche Form bevorzugt wird, wenn von äußerlichen Umständen die Rede ist. Demnach hätte man: (63a) Lettisch: Man ir auksti. (Adv. aüksti) "Mir ist kalt."

(63b) Lettisch: Ārā ir auksts. (Mask. auksts) "Draußen ist kalt."

Soweit ich sehe, ist der Grund dieser seltsamen Verteilung bisher dunkel geblieben. Ich könnte mir folgende Erklärung vorstellen. Wie gesagt, ist die Verallgemeinerung der Adverbialformen im Litauischen auf die Adverbien gerai "gut" und blogai "schlecht" beschränkt. Nun beschreiben diese Adverbien, zumindest in unpersönlichen Kontexten, meist innere Zustände einer Person. Ein Satz wie Mir ist gut /schlecht ist normal, während ein Satz Heute ist gut / schlecht nicht so häufig Verwendung finden kann, außer wenn darunter Heute ist [mir] gut / schlecht verstanden wird. Ich nehme an, daß das Übergreifen der Adverbialformen auf *-ai > lett. -i in das Gebiet des Neutrums zunächst bei den Adverbien "gut" und "schlecht" stattfand, woraus z.B. lett. man ir labi "mir ist gut" (lit. man gerat), man ir slikti "mir ist schlecht" (lit. man blogai"gut").

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Da diese Kontexte aber ausschließlich innere Zustände beschreiben, wurde der Gebrauch der Adverbien auch auf die Beschreibung innerer Zustände beschränkt, woraus z.B. lett. man ir auksti "mir ist kalt", usw. Die Adjektive, die einen äußerlichen Zustand beschreiben, erfuhren diese Neuerung nicht. Später wurde das Neutrum in diesen Kontexten durch das Maskulinum ersetzt, woraus z.B. lett. šodien ir auksts "heute ist kalt". Wenn das unpersönliche Prädikat mit einem Infinitiv oder einem Nebensatz steht, sind auch beide Möglichkeiten bezeugt. Man findet oft die Adverbialform, z.B.: (64a) Lettisch: (64b) Litauisch: Man ir patīkami to dzirdēt. Man malonu tai girdėti. (Adv. patīkami) (Nt. malonu) "Es ist mir angenehm, das zu hören." Die männliche Form ist aber auch möglich: (65a) Lettisch: Smēķēt aizliegts. (Mask. aizliegts) "Rauchen verboten."

(65b) Litauisch: Rūkyti draudžiama. (N t. draūdžiama)

Mit einem Nebensatz haben wir die Adverbialform: (66a) Lettisch: (66b) Litauisch: Labai malonu, käd sutikau jūs. Ļoti jauki, ka jūs satiku. (Nt. malonu) (Ad jauki) "Es ist sehr angenehm, daß ich Sie getroffen habe." oder die männliche Form: (67a) Lettisch : (67b) Litauisch : Saprotams, Suprantama, ka esmu apmierināts. käd esū patenkintas. (Mask. saprūotams) (Nt. suprantama). "Es ist verständlich, daß ich froh bin." Die Verteilung der beiden Möglichkeiten scheint dieselbe zu sein (innere / äußere Zustände).

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Im prädikativ-persönlichen Kontext hat man im Lettischen entweder die Adverbialform oder die männliche Form des Adjektivs, diesmal offensichtlich ohne Unterschied. Beispiele mit der männlichen Form: (68a) Lettisch : Tas ir skaidrs. (Mask. skaidrs) "Es ist klar."

(68b) Litauisch : Taiyrä aišku. (Nt. aišku)

(69a) Lettisch : Tas nav iespējams. (Mask. iespējams) "Es ist unglaublich."

(69b) Litauisch : Tai neįmanoma. (Nt. neįmanoma)

(70a) Lettisch : Viss ir absurds. (Mask. absurds) "Alles ist absurd."

(70b) Litauisch : Viskas yrä absurdiška. (Nt. absurdiška)

Beispiele mit der Adverbialform: (71a) Lettisch : Tas bija ļoti patīkami. (Adv. patīkami) "Es war sehr angenehm."

(71b) Litauisch : Taī buvo labai malonu. (Nt. malonu)

(72a) Lettisch : Tas ir labi. (Adv. labi) "Es ist gut."

(72b) Litauisch : Tai yra gera /gerai. (Nt. gera oder Adv. gerai)

Die Verteilung der beiden Möglichkeiten läßt sich hier schwer feststellen. Nach Scholz (1985: 277) gibt es keine Regel. Die Unterscheidung innerer und äußerer Zustände scheint hier kaum zutreffend zu sein. Schließlich ist auch auf die Substantivierung neutraler Adjektivformen hinzuweisen. Diese Möglichkeit ist im Lettischen mit den neutralen Adjektiven selbst verloren gegangen. Jedoch sind männliche substantivierte Adjektivformen zu treffen, die wohl die alten Neutra fortsetzen. Beispiele:

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(73a) Lettisch : no melna iztaisīt baltu (männliche Formen: Gen. melna "das Schwarze' + Akk. baltu "das Weiße") aus Schwarzem Weißes machen'

(74a) Lettisch : ne silts, ne auksts (männliche Formen: Nom. silts "das Heiße" + Nom. aüksts "das Kalte") "weder Heißes noch Kaltes"

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(73b) Litauisch : jüoda paversti bälta (undeklinierbare Neutra jüoda "das Schwarze" als Akk. + bälta "das Weiße" als Instr.) "das Schwarze ins Weiße verwandeln" (74b) Litauisch : nei šilta, nei šalta (undeklinierbare Neutra šilta "das Heiße" als Nom. + šālta "das Kalte" als Nom.)

Im Unterschied zum Litauischen, wo diese substantivierten Adjektive oft unflektiert bleiben, besitzen sie im Lettischen eine vollständige Flexion männlichen Geschlechts (Nom. -s, Akk. -u, Gen. -a, Dat. -am). Die litauische Konstruktion käs naūja l käs naüjo "was Neues?", die wahrscheinlich auch auf der Substantivierung neutraler Adjektive beruht und unterschiedslos unflektiert oder flektiert (im Genitiv) werden kann, tritt im Lettischen mit einer männlichen Form im Nominativ auf: lett. kas jauns "was Neues ?". Dies zeigt, daß das Lettische ursprünglich dieselbe Unflektiertheit besaß wie das Litauische: Lett. kas jauns setzt eine neutrale Vorform *kas jauna (= lit. käs naüja) voraus, in der das Adjektiv unflektiert blieb. Eine flektierte Genitivform *kas jaunā (= lit. käs naüjo) hätte im Lettischen *kas jauna ergeben. 3.3. Pronomina Bei den Pronomina erfuhr das Lettische eine radikale Entwicklung: Alle neutralen Formen sind zum männlichen Geschlecht übergegangen (Endung -as in einsilbigen Formen, -s in mehrsilbigen Formen). Man kann unter diesem Gesichtspunkt litauische und lettische Entsprechungen vergleichen:

192

KAPITEL III

Tabelle 6. Die neutralen Pronomina im Litauischen und Lettischen Litauisch

Lettisch

t a ī " d i e s " , Nt.

tas "dies" (= tas "dieser")

täs "dieser", Mask.) las pats "dasselbe", Nt. (= tas päts "derselbe", Mask.) käs "was", Nt. (= käs "wer", Mask.) käs nors "etwas", Nt. (= käs nörs "jemand", Mask.) kažkas "etwas", Nt. (= kažkas "jemand", Mask.) niekas "nichts", Nt. (= niekas "niemand", Mask.) viskas "alles", Nt. (Pronomen) (< *visa käs)

tas pats "dasselbe" (= tas pats "derselbe") kas "was" (= kas "wer") kaut kas, käds "etwas" (= kaut kas, käds "jemand") nez(in) kas "etwas" (= nez (in) kas "jemand") nekas, neviens, nekāds "nichts" (= nekas, neviens, nekāds "niemand") viss "alles" (= viss "all, jeder")

visa "all(es)", Nt. (Adjektiv) (^ visas "all, jeder", Mask.) viena "eines", Nt. ( f i vienas "ein", Mask.)

viens "eines" (= viens "ein")

kitkas "etwas anderes", Nt. (Pronomen) (< *kita käs)

cits kas "etwas anderes" (Pronomen) (< * kitas kas) cits "anderes" (= cits "anderer")

kita "anderes", Nt. (Adjektiv) (ž kitas "anderer", Mask.)

Die Beseitigung der neutralen Pronomina ist im Lettischen vollständig. Die Endung -a wurde überall durch -as oder -s ersetzt, selbst in den komplexen Formen cits kas "etwas anderes" (< * kitas kas) gegenüber lit. kitkas "dss." (< *kita käs). Um die Folgen dieser Entwicklung zu veranschaulichen, kann man denselben Satz ("es ist etwas anderes") im Litauischen und im Lettischen vergleichen. In lit. taiyrä käs kita sind drei neutrale Formen vorhanden (lit. taī "es", käs "etwas", kita "anderes"). In lett. tas ir kas cits haben alle Formen die männliche Endung -as oder (lett. tas "es", kas "etwas", cits "anderes") 42 .

42

Eine Kuriosität: In einigen altlettischen Texten haben Demonstratīva neutrale Formen. In dem Dictionarium Polono-Latino-Lottavicum von Elger (1683) findet man: Ono (pron.), Illud, Winio (336), To, Hoc, Szyto (545), Tož, ldem, To pat (546). In dem Slownik polsko lacinsko lotewski von Kurmin (1858, latgalische Mundart) findet man: To, Hoc, Taj, To (218). Liegt hier eine Interferenz mit dem Polnischen vor? Oder mit dem Litauischen (taj bei Kurmin)? Seit den ältesten Texten ist nur die männliche Form tas regelmäßig; vgl. Mancels (1638b): taß nhegir ruhktz /es ist nicht bitter "es ist nicht bitter". Vgl. Fennell (1989: 1 19).

193

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Das Lettische hat die letzte Etappe einer Entwicklung erreicht, deren Zwischenstufen in den litauischen Dialekten noch deutlich beobachtet werden können 43 . In den litauischen, insbesondere niederlitauischen, Dialekten findet man einerseits den Typ taiyrä gera "es ist gut" (Pronomen + Adjektiv im Neutrum), wie in der litauischen Schriftsprache, und darauf aufbauend den Typ täs yrä gera (männliches Pronomen + Adjektiv im Neutrum) 44 und täs yrä gēras (Pronomen + Adjektiv im Maskulinum) 45 , der dem lett. tas ir skaidrs entspricht, andererseits den Typ taiyrä gerat "es ist gut" (Pronomen + Adverb), wie in der litauischen Schriftsprache, und darauf aufbauend den Typ täs yra gerai (männliches Pronomen + Adverb) 46 , der dem lett. tas ir labi entspricht. Man kann also zwei Entwicklungswege skizzieren: taī yrä gera , bzw. taī yrä

täs yrä gera

täs yrä

gerai

täs yra

gerai

gēras

lett. tas ir skaidrs

lett. tas ir labi

Die Vermutung liegt nahe, daß der Ausgangspunkt der ganzen Entwicklung das Demonstrativpronomen, nicht das Adjektiv, gewesen ist: Es gibt einen Typ täs yrä gēra, aber keinen Typ * taiyrä gēras. Die Neuerung, die zum lettischen System geführt hat, läßt sich m.E. in erster Linie im Rahmen der korrelativen Strukturen verstehen, die in den baltischen Sprachen besonders häufig sind: In diesen Strukturen wurde das Demonstrativpronomen (*tä, vgl. lit. tai) mit dem Relativstamm ka- verbunden, dessen neutrale Form käs lautete. Eine Beeinflußung des Demonstrativpronomens durch das Relativpronomen ist durchaus möglich. Nehmen wir als Beispiel einen litauischen Satz47:

43

Vgl. Valeckienė (1984: 52-53). Beispiel: tas yr svarbu "es ist wichtig" (südliche niederlitauische Mundart von Girdiškė). 45 Beispiel: tas yr negers "es ist nicht gut" (westliche niederlitauische Mundart von Saugos). 46 Beispiel: tas y brangiai "es ist teuer" (nördliche niederlitauische Mundart von Skuodas). 47 Vgl. Jablonskis (RR 1491 [1911]). 44

194

K A P I T E L III

(75a) Litauisch: Käs raudona, tai gražu. "Was rot ist, (das) ist schön." Dieser Satz wurde in einigen litauischen Dialekten (z.B. in der östlichen hochlitauischen Mundart von Mielagėnai) in der Weise umgebildet, daß die Pronomina dieselbe Endung bekommen: (75b) Litauisch (dial.): Käs raudona, täs gražu. "Was rot ist, (das) ist schön." Es bleibt nun anzunehmen, daß in einer späteren Phase die Kongruenz mit dem Adjektiv regularisiert wurde, so daß jede Spur des neutralen Geschlechts verloren ging: *Käs raudonas, täs gražus. So kann man sich die Herkunft des lettischen Systems vorstellen. Es stellt sich also heraus, daß das Lettische das Neutrum völlig beseitigte. Nur unmittelbare Spuren (insbesondere die Adverbien mit Nullendung) zeigen, daß die Endung der thematischen Neutra sowohl bei den Adjektiven als auch bei den Pronomina hier auch ursprünglich *-ä war, wie im Litauischen. In diesem Zusammenhang bleibt das Altpreussische mit seiner Adjektivalendung -an völlig isoliert.

4. Das Neutrum in den ostseefinnischen aus dem Baltischen

Lehnwörtern

Unsere letzte Quelle zum baltischen Neutrum stellen die baltischen Lehnwörter im Ostseefinnischen dar. Bekanntlich haben die ostseefinnischen Sprachen, insbesondere das Finnische und das Estnische, viele Wörter aus dem Baltischen entlehnt. Es läßt sich schwer feststellen, aus welcher Sprache diese Entlehnungen stammen. Sabaliauskas (1963: 111112) nimmt an, daß sie auf das Urbaltische zurückgehen, das er für das zweite Jahrtausend vor Christus ansetzt. Ein so frühes Datum ist jedoch schwer nachweisbar. Nieminen (1934: 56-57) denkt an das Kurische. Es ist allerdings keineswegs ausgeschlossen, daß es mehrere Entlehnungsschichten gab.

DAS BALTISCHE N E U T R U M

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Būga (RR III 592 [1924]) nimmt an, daß einige dieser Lehnwörter zur Zeit der Entlehnung noch neutralen Geschlechts waren und ihre Endung im Finnischen bewahrt haben48. Ich erinnere daran, daß die ostseefinnischen Sprachen kein grammatisches Geschlecht haben. Die deutlichsten Beispiele finden sich bei den Neutra auf *-u- und auf *-mņ-: • finn. metu, estn. mödu "Honig" (< balt. Nt. *medu, vgl. apr. meddo "Honig" EV 391). • finn. panu "Feuer" (< balt. Nt. *panu, vgl. apr. panno "Feuer" EV 33). • finn. pelu "Streu" (< balt. Nt. *pelu (?), vgl. das Kollektiven *pelu-h7 noch unmittelbar in alit. pelüs "Spreu", Fem.Pl., unmittelbar auch sl. *pelva > skr. jņljeva, vgl. Derksen 2008: 395). • finn. olut (Gen.Sg. oluen), estn. ölut, diu "Bier" (< balt. Nt. *alu, vgl. apr. alu "Met" EV 392). • finn. Siemen "Same" (< balt. Nt. *sēmņ, vgl. apr. semen "Same" EV 256). Das ostseefinnische Material ist aber aus drei Gründen problematisch. Die baltische Herkunft dieser Lehnwörter ist nicht immer unbestreitbar. Z.B. könnte finn. olut "Bier" germanischen Ursprungs sein (vgl. germ. *alu > aisl. gl, aeng. ealu "Bier", Nt.)49. Der auslautende Dental des finnischen Wortes ist jedenfalls eine Schwierigkeit. Ein Vergleich mit dem Ossetischen oeluton "eine Biersorte 50 " wäre gewagt. Zweitens kann man nicht immer sicher sein, daß die baltischen Lehnwörter im Ostseefinnischen zur Zeit der Entlehnung noch Neutra waren. In einigen Fällen ist ein Übergang zum männlichen Geschlecht schon vor der Entlehnung denkbar. Es gibt z.B. keinen Unterschied im Finnischen zwischen Siemen "Same" und paimen "Hirt". Das letztgenannte Wort ist sicher ursprünglich ein Maskulinum. Darauf aufbauend könnte man eine männliche Bildung *sehl-mēn ansetzen, die parallel zu balt. *pāimēn (< idg. *poHįmēn, gr. 7coijj.f|v) —>finn.paimen "Hirt" wäre. Es ist schließlich durchaus möglich, daß die Endungen der finnischen Wörter nicht umittelbar die der baltischen Prototypen widerspiegeln, sondern im Finnischen selbst geschaffen wurden. Finn. metu "Honig", panu "Feuer", pelu "Spreu" (und olut "Bier") haben dieselbe Endung wie andere baltischen Lehnwörter, die ursprünglich keine Neutra waren und z.T. zu anderen 48

Zu den baltischen Lehnwörtern im Ostseefinnischen vgl. Zinkevičius (1984: I 166— 179). Man findet sie aufgelistet bei Sabaliauskas (1963: 114-131, 1966: 62-68). Vgl. auch Murata (1986: 277-281). 49 So z.B. Pokorny (IEW 34). 50 Vgl. Abajev (1958-1973: I 129).

KAPITEL III

196

Bildungen gehörten, z.B. raisu "wild, heftig" (vgl. lit. drąsūs "kühn"?), finn. havu, havo "Zapfenbaumnadel" (vgl. lit. žabas "Holzstück"), finn. rahtu "Stückchen" (vgl. lit. rastas "Schriftstück"), finn. vaikku "Kraft, Energie" (vgl. lit. dial. viekas "Stärke"). Es wäre m.E. unvorsichtig, jedes baltische Lehnwort mit einer Endung -u als neutralen Ursprungs zu betrachten. Derselbe Einwand kann auch hinsichtlich der thematischen Neutra erhoben werden. In den ostseefinnischen Sprachen haben die aus baltischen Maskulina entlehnten Wörter in der Regel eine Endung -as (oder -äs mit Vokalharmonie). Beispiele: • finn. hammas "Zahn" (vgl. lit. žambas "Balkenkante", Bedeutung wie in lett. zūobs "Zahn"). • finn. ratas "Rad" (vgl. lit. rātas "Rad"). • finn. taivas "Himmel" (vgl. lit. dievas "Gott"). Die aus baltischen Feminina entlehnten Lehnwörter haben im Ostseefinnischen meist eine Endung -a oder -o (-ä oder -ö mit Vokalharmonie) 51 . Beispiele: • • • • •

finn. finn. finn. finn. finn.

halla "Kälte" (vgl. lit. šalna "Frost"). härmä "Reif' (vgl. lit. šarmā "Reif'). seinä "Wand" (vgl. lit. siena "Wand"). heimo "Familie" (vgl. lit. šeima "Familie"). salo "Insel" (vgl. lit. salā "Insel").

Es wurde längst beobachtet, daß baltische Neutra unter den ostseefinnischen Lehnwörtern oft eine asigmatische Endung -a aufweisen und somit von den baltischen Maskulina noch getrennt werden können. Beispiele: • finn. kela "Spule" (vgl. apr. kelan "Rad", Nt.). • finn. lunka "brüchige Rinde eines jungen Baums" (vgl. lit. lūnkas "Bast", Mask., apr. lunkan "Bast", Nt.). • finn. heinä "Heu" (vgl. lit. šienas "Heu", Mask. < balt. Nt.? vgl. aksl. seno "Heu", Nt.). • finn. silta "Brücke" (vgl. lit. tiltas "Brücke", Mask. < balt. Nt.? vgl. aind. tīrthām "Furt, Badeplatz, Zugang", Nt.?). • finn. vaha "Wachs" (vgl. lit. vaškas "Wachs", Mask. < balt. Nt.? vgl. ahd. wahs "Wachs", Nt.). M

Zur Verteilung der Endungen -a und -o vgl. Nieminen (1934: 5-66).

DAS BALTISCHE N E U T R U M

197

• finn. metsä "Wald" (vgl. apr. median "Wald", Nt.). Mehrere Baltisten, insbesondere Būga (RR III 592, Fußnote 2 [1924]), Kazlauskas (1968a: 123-124) und Mažiulis (1970: 84-85 52 ) haben die Vermutung geäußert, daß das Neutrum in der baltischen Sprache, aus der diese Lehnwörter stammen, zur Zeit der Entlehnung noch lebendig war und die Endung der thematischen Neutra dort *-ä war. Eine Endung *-än sei ausgeschlossen, weil sie in den ostseefinnischen Lehnwörtern hätte bewahrt werden müssen, wie z.B. aus Beispielen wie morsian "Braut" (< balt. Akk. *martjän? vgl. lit. Akk. marčią von marti "Schwiegertochter"), finn. paimen "Hirt" (< balt. *pāimēn, vgl. lit. piemuo), finn. siemen "Same" (< balt. *sēmņ oder *sēmēnl vgl. apr. semen) ersichtlich wird. Die germanischen Lehnwörter würden diese Analyse bestätigen, denn auch hier beobachtet man, daß germanische Maskulina eine Endung -as im Finnischen aufweisen (z.B. finn. kuningas "König" < germ. *kuningaz, vgl. ahd. kuning, Mask.), während ehemalige Neutra eine Endung -a im Finnischen haben (z.B. finn.jukka "Joch" < germ. *juka", vgl. got. juk, Nt.)53. Diese ganze Theorie ist aber schwach begründet, denn die Endung -a tritt auch in anderen baltischen Lehnwörtern auf, ohne unbedingt ehemalige Neutra fortzusetzen, z.B. finn. härkä "Ochse" (vgl. lit. žirgas "Pferd", Mask., apr. sirgis "Hengst" EV 430, Mask.), finn. kaula "Hals" (vgl. lit. kaklas "Hals" < Mask., vgl. gr. KUK^oę "Zirkel") 54 . Unsicher bleibt das ursprüngliche Geschlecht der finnischen Lehnwörter aus dem Baltischen kauha "Schöpflöffel" (vgl. lit. kaušas "Schöpflöffel", Mask.), finn. luhta "sumpfige Wiese" (vgl. lit. lukštas "Blume, die in Sümpfen blüht", Mask.), finn. tarha "umzäunter Ort" (vgl. lit. daržas "Garten", Mask.), ünn.jääräjaara "Widder" (vgl. lit. eras "Lamm", Mask.). Dazu gehören sogar Adjektivformen wie finn. laiha "mager" (vgl. lit. liesas), finn. rieska "frisch, süß" (vgl. lit. prėskas "geschmacklos"), finn. tyhjä "leer" (vgl. lit. tuščias)55.

52

Vgl. schon Thomsen (1890: 1 1 2 = 1931: 192). Murata (1986: 279). 54 Anders Kazlauskas (1968a: 123), der ein ehemaliges Neutrum ansetzt und aind. cakräm (Nt.) heranzieht. Im Altindischen ist cakrä- regelmäßig neutral (s. Mayrhof e r E W A I a I 521 [1986]); ein Maskulinum cakräh ist nur einmal belegt. Avest. caxra" R a d " ist männlichen oder sächlichen Geschlechts; Bartholomae (AirWb 576 [ 1904]) setzt ein Maskulinum nur wegen der Entsprechung mit dem Griechischen an. 55 Eine derartige Schwankung läßt sich auch in den ostseefinnischen Lehnwörtern aus dem Slavischen beobachten: Man hat eine Endung -a nicht nur in finn. ikkuna "Fenster" 53

KAPITEL III

198

Darüber hinaus gibt es, wie Posti (1977: 264) richtig bemerkte, selbst innerhalb der ostseefinnischen Familie Schwankungen. Das Finnische hat rastas "Drossel", das Wepsische rastä, beides aus dem Baltischen (vgl. lit. strazdas "Drossel", Mask.). Oder umgekehrt hat das Finnische kausta "Widerrist", das Wepsische kaustaz, skaustaz, koustaz, beides aus dem Baltischen (vgl. lett. skausts "Widerrist", Mask.). Das ostseefinnische Lehngut aus dem Baltischen bleibt m.E. in der Frage des baltischen Neutrums unbrauchbar.

5. Fazit Das innerbaltische Material zeigt eine typologische Buntheit hinsichtlich der Frage des Neutrums. Die Stellung des Altpreussischen gegenüber den anderen baltischen Sprachen ist besonders problematisch. Diese Schlußfolgerung geht insbesondere aus der Betrachtung der neutralen Endungen in den Einzelsprachen hervor. In den thematischen Bildungen können zwei Endungen isoliert werden: *-ä und *-än. Die Endungen -ai in den litauischen Demonstratīva (lit. tat "es") und -as im InterrogativRelativstamm *ka- im Ostbaltischen (lit. käs, lett. kas "was") sind Neuerungen, die eine ältere Endung *-ä verdrängt haben. Alt sind nur *-ä und *-än. Die Frage bleibt aber, wie diese Endungen ursprünglich verteilt wurden und woher sie stammen. Aus den obigen Analysen ergibt sich folgende Verteilung: Tabelle 7. Die neutralen Endungen in den baltischen Sprachen Substantive

Adjektive

Pronomina

Altpreussisch

-an

-an (sehr fraglich -a ?)

-a (sekundär-an)

Litauisch

0

-a

-a (sekundär-ai und -as)

Lettisch

0

-(a)s

-as

Bei den Substantiven läßt sich die thematische Endung nur durch das altpreussische Material ermitteln. Man findet regelmäßig *-än. Das Zeugnis des ostseefinnischen Lehnguts ist strittig. Bei den Pronomina ist (< sl. Neutrum *oki,no, Nt.), sondern auch in finn. tuska " K u m m e r " (< sl. Femininum *t-bska, Fem.) und in finn. hurtta "Windhund" (< sl. Maskulinum *x-brtb, Mask.).

DAS BALTISCHE N E U T R U M

199

die thematische Endung ursprünglich *-ä. Diese Endung ist im Altpreussischen (apr. wissa "alles") sowie im Litauischen (lit. visa "alles") noch bezeugt; sie wurde aber in allen Sprachen durch andere Endungen verdrängt, entweder nur teilweise (*-an im Altpreussischen, *-ai und *-as im Litauischen) oder völlig (*-(a)s im Lettischen). Der Grund für diese besondere Schwäche der Endung *-ä ist wahrscheinlich z.T. in dem Einfluß des Maskulinums (z.B. im Altpreussischen Akk. *-an), z.T. in der Gefahr der Homonymie mit dem Femininum nach der Kürzung von auslautendem *-ä (im Litauischen) zu suchen. Man kann ein einheitliches urbaltisches System mit -an bei den Substantiven und -a bei den Pronomina rekonstruieren. Das Problem liegt bei den Adjektiven. Sie haben im Altpreussischen die Substantivendung -an (apr. labban "gut"), im Litauischen die Pronominalendung -a (lit. gēra "gut"). Im Urlettischen war die Adjektivendung wahrscheinlich auch *-a, wie aus der Nullendung einiger Adverbien noch ersichtlich wird (lett. aplam "verkehrt"). Für diesen Unterschied kann man sich drei Erklärungen vorstellen: •

• •

Beide Endungen *-an und *-a sind bei den Adjektiven als alt zu betrachten; ihre ursprüngliche Verteilung ist aber dunkel (etwa *-an im attributiven Gebrauch, *-a im prädikativen Gebrauch?). Die Endung *-a ist bei den Adjektiven einzig alt, die Endung *-an ist eine Neuerung. Die Endung *-an ist bei den Adjektiven einzig alt, die Endung *-a ist eine Neuerung.

Die Endung *-an kann zwangslos auf eine indogermanische Endung *-ö-m zurückgeführt werden. Dieselbe Endung ist in anderen idg. Sprachen weit verbreitet, bei den Substantiven (z.B. idg. *iugom "Joch" > gr. ^uyöv, lat. iugum, aind. yugäm, heth. iükän "Joch", vgl. noch gall. v£(ir|Tov "Heiligtum, Tempel") sowie bei den Adjektiven (gr. dyaOöv, lat. bonum "gut", aind. priyäm "teuer", heth. dannattan "leer"). Die Endung *-a ist schwieriger. Sie wird oft als die Vertretung von idg. *-öd (*-öt) betrachtet. Diese Endung ist ebenfalls in anderen idg. Sprachen weit verbreitet, hauptsächlich bei den Pronomina (aind. tat, gr. xö < *töd, vgl. noch in aXkod-andq "von anderswoher, fremd", lat. istud, got. Pata < *tod-öm, aeng. Pcet)56. Dagegen wurde von einigen Wissenschaftlern

56 Herleitung von balt. *-a aus idg. *-odvgl. Trautmann (1910: 244), Nieminen (1922: 2, Fußnote 2), Endzelīns (1944: 100), Stang (1966: 242). Vgl. auch Būga (RR III 592,

200

KAPITEL III

eingewandt, daß es in den baltischen Sprachen keine Spur eines auslautenden Konsonanten gibt und es realistischer ist, eine baltische Vorform mit vokalischer Endung *-a (< idg. *-o) anzusetzen. Sommer (1914: 345-346 57 ) denkt, daß die nasallose Endung *-a eine Umbildung der ererbten Endung *-an (< *-om) nach dem Muster der u-Adjektive ist, wo das Neutrum synchron aus dem Maskulinum (- s) hergeleitet werden konnte. Z.B. nach dem Muster von lit. gražus (Mask.) / gražu (Nt.) "schön" wäre ein ähnliches Verhältnis zwischen gēras (Mask.) / x (x = gera, Nt.) "gut" geschaffen worden. Im Prinzip steht dieser Annahme nichts im Wege, zumal die u-Adjektive im Baltischen, insbesondere im Litauischen, sehr produktiv sind und mit den thematischen Adjektiven manchmal in Konkurrenz stehen (z.B. lit. stipras / stiprūs "stark"). Das Problem ist, daß diese Analyse die Endung *-a bei den Pronomina nicht erklärt, denn bekanntlich gibt es bei den Pronomina keinen w-Stamm. Agrell (1926: 1-64, insbesondere 24-36) schlägt vor, daß die baltische Endung *-a altertümlich ist und unmittelbar auf das Indogermanische zurückgeführt werden kann. Anzusetzen sei eine neutrale thematische Endung *-ö (ohne Nasal), die parallel zu der nasallosen Endung der anderen Bildungen sei (Nt. *-u bei den «-Adjektiven, Nt. *-i bei den /-Adjektiven). Diese Hypothese fußt zum Teil auf einem berühmten Aufsatz von Meillet zum sekundären Charakter des auslautenden Nasals bei den Neutra (1916: 177-178). Meillet spricht hinsichtlich der Endung *-o-m von einer "nasale inorganique" 58 . Darauf aufbauend versucht Agrell, andere Spuren einer neutralen thematischen Endung *-o (nicht *-o-m) in den indogermanischen Einzelsprachen zu erkennen. Er weist zuerst auf das bekannte Problem der thematischen Neutra im Slavischen hin und nimmt an, daß die slavische Endung *-o, die sowohl bei den Substantiven (aksl. jezero "der See") als auch bei den Adjektiven (aksl. dobro "gut", Nt.) und bei den Pronomina (aksl. to "es", Nt.) auftritt, auf idg. *-ö zurückzuführen ist; Agrell schließt sich der Meinung verschiedener Wissenschaftler an, wonach auslautender *-ö-K im Slavischen zu *-*> wird (vgl. z.B. *-o-s, *-o-m > aksl. -t), während nur ein vokalischer Auslaut *-ö als *-o bewahrt wird. Somit sei nach Agrell ein Ansatz *-öd

Fußnote 2 [1924]). 57 Vgl. auch Szober (1927: 570). ™ Meillet war der Meinung, daß dieser Nasal bereits indogermanischen Alters war: "au lieu d'apparaitre seulement dans teile ou teile langue, cette nasale a ete des l 'indoeuropeen". Agrell nimmt hingegen an, daß es sich um eine einzelsprachliche Neuerung handelt, was mir zweifelhaft erscheint.

DAS BALTISCHE N E U T R U M

201

bei den thematischen Neutra unmöglich. Agrell führt noch hethitische, tocharische und germanische Daten an, die seiner Meinung nach für den Ansatz einer Endung *-ö sprechen. Er beruft sich insbesondere auf das damals unlängst entdeckte Hethitische, wo eine Schwankung zwischen -an und -a im Neutrum festzustellen sei59. Unter diesem Gesichtspunkt wäre der auslautende Nasal in *-o-m als Neuerung zu deuten. Für das Altpreussische nimmt Agrell (1926: 27) an, daß die alte Endung überall -a (< idg. *-o) ist und -an zunächst als eine sekundäre Akkusativendung nach dem Muster der Maskulina und Feminina entstanden ist. Daraus sei ein Mischparadigma Nom.Sg. *-a, Akk.Sg. *-an entstanden, das nach dem Modell der anderen Neutra (z.B. Nom. *semen, Akk. *semen) zu Nom.Sg. *-an, Akk.Sg. *-an regularisiert worden sei. Die Theorie von Agrell wurde seit den sechsiger Jahren von einigen litauischen Sprachwissenschaftlern, insbesondere Kazlauskas (1968a: 123), Mažiulis (1970: 84) und Valeckienė (1978: 70, 1984: 199-200), wieder ins Leben gerufen 60 . Ich halte sie für unbegründet. Abgesehen von dem Problem der slavischen Auslautgesetze, auf das hier nicht eingegangen wird, steht fest, daß die von Agrell angeführten Argumente für eine nasallose Endung kaum stichhaltig sind oder gar beim heutigen Wissensstand abgelehnt werden müssen. Es ist methodologisch fraglich, mit Kazlauskas (1968a: 123) und Valeckienė (1984: 199) zu behaupten, daß, weil die Existenz eines auslautenden Dentals in der Endung -a "nicht bewiesen ist" (neįrodomas), sie verworfen werden muß. Der Umstand, daß es kein Argument f ü r * gibt, darf nicht automatisch als ein Argument gegen x interpretiert werden. Der Verlust des auslautenden Dentals kann so früh eingetreten sein, daß keine Spur von ihm erhalten blieb. Für das Baltische spricht nichts gegen den Ansatz einer Endung *-öd (oder *-öt). Und weitere Argumente sprechen sogar dafür. Das Baltische weist, wie gesagt, eine Endung *-an bei den neutralen Substantiven, eine Endung *-a bei den neutralen Pronomina auf. Diese Verteilung entspricht ganz genau der Beleglage der anderen indogermanischen Sprachen: Dort hat man *-o-m bei den Substantiven, *-o-
202

KAPITEL III

anderen idg. Sprachen einzuordnen, zumal diese Einordnung unproblematisch erscheint, als ihm eine Altertümlichkeit zuzuschreiben, die in den anderen Sprachen nur zweifelhaft bezeugt ist. Die Frage bleibt jedoch zugegebenermaßen offen, wie die Endung der neutralen thematischen Adjektive anzusetzen ist. In den indogermanischen Sprachen gilt als Regel, daß sie dieselbe Endung haben wie die Substantive: Man hat im Griechischen ayaOov wie £uyöv, im Lateinischen bonum wie iugum, im Altindischen priyäm wie yugäm. Es gibt nur eine kleine Reihe von Adjektiven, die aufgrund ihrer Bedeutung eine Pronominalendung bekommen, z.B. im Griechischen aXXo, im Lateinischen aliud, im Altindischen anyäd "anderes" 61 . Schwankungen sind selten zu treffen, vgl. gr. xoaonxov (Hom.+) und XOGOUXO (Herod.+) "solches"; im Lateinischen findet man ipsum "selbst" (Nt.), aber eine Variante ipsud (wohl nach istud?) ist auch in der späteren Literatur belegt (Egeria, 4. Jh. n. Chr.). Die Verteilung der neutralen thematischen Endungen muß demnach ursprünglich folgende gewesen sein: *-om bei den Substantiven und Adjektiven, *-od bei den Pronomina. Dies entspricht gerade der Verteilung, die wir im Altpreussischen finden: Subst.+Adj. -an, Pron. -a. In diesem Zusammenhang spiegelt das Altpreussische den ursprünglichen Zustand noch wider. Demnach muß mit einer Neuerung seitens des Ostbaltischen gerechnet werden: Offensichtlich hat das Ostbaltische die Pronominalendung auf die Adjektive ausgedehnt. Warum? Im Slavischen wurde die Verallgemeinerung der Endung *-o durch das Streben verursacht, das Neutrum von dem Maskulinum trotz der Entwicklung von und *-om zu sl. *-•& getrennt zu erhalten; Illych-Svitych (1979) hat aber gezeigt, daß diese Entwicklung nur die alten Oxytona betrifft, da die alten bary tonen Neutra im Slavischen zu Maskulina wurden. Das Baltische war durch diese Homonymie nicht bedroht; die Ausdehnung der Endung *-a muß einen anderen Grund haben. Ich bin der Meinung, daß der Grund dieser Entwicklung in der Syntax der baltischen Neutra liegt. Sieht man vom deutschen Einfluß ab, stimmt das altpreussische System durchaus mit dem der anderen indogermanischen Sprachen überein. Neutrale Adjektive kongruieren mit neutralen Substantiven oder Pronomina entweder in attributiver oder in prädikativer Funktion. Darüber hinaus treten sie in unpersönlichen Konstruktionen sowie substantiviert

61

Dazu s. Oettinger (2006: 1327-1335).

DAS B A L T I S C H E N E U T R U M

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auf. Das Altpreussische verhält sich in dieser Hinsicht nicht anders als das Vedische, das Altgriechische oder das Lateinische. Im Ostbaltischen aber ist die Stellung der neutralen Adjektive merkwürdig. Zuerst fällt auf, daß im Unterschied zum Westbaltischen (vgl. apr. *ructan dadan "sauere Milch") die neutralen Adjektive im Ostbaltischen nie attributiv verwendet werden. Eine zweite Merkwürdigkeit ist, daß die substantivierten neutralen Adjektive im Litauischen oft undeklinierbar sind. Es handelt sich um eine typologische Kuriosität, die in einer höchst flexivischen Sprache wie dem Litauischen überrascht. Ich glaube, daß diese Erscheinung im breiteren Kontext einer Neigung der neutralen Formen zur Adverbialisierung zu interpretieren ist. Ein weiteres und damit eng verbundenes Problem ist, daß die neutralen Formen mit den Adverbien gewisse Berührungspunkte haben. Diese Nähe drückt sich insbesondere im Lettischen aus, wo die Unterscheidung der adjektivalen und adverbialen Kontexte verloren ging: Die Adverbien neigen dazu, in das Gebiet der neutralen Adjektive überzugreifen (vgl. lett. tas ir labi), und umgekehrt können die wenigen erhaltenen neutralen Adjektivformen als Adverbien fortleben (vgl. lett. aplam "verkehrt", tälu "weit"). Die Ausdehnung der Endung -a auf die Adjektive im Ostbaltischen hängt m.E. mit dem Verlust der neutralen Substantive und der Umarbeitung des ganzen Geschlechtssystems zusammen. Das grammatische Geschlecht besteht bekanntlich aus zwei Aspekten. Darauf hat Ranko Matasovič in seinem Buch zum Genus im Indogermanischen (2004: 19) mit Recht hingewiesen. Das Geschlecht ist zuerst eine inhärente und stabile Eigenschaft der Substantive. Es ist aber zugleich auch ein Kongruenzprinzip, was eine gewisse Variabilität voraussetzt. Dies ist insbesondere bei den Adjektiven der Fall. Beide Aspekte sind meist miteinander kohärent und es besteht zwischen ihnen kein Widerspruch. Der Verlust der neutralen Substantive im Ostbaltischen hat m.E. zur Trennung dieser beiden Aspekte gefuhrt. Das Ostbaltische hat das Neutrum als inhärente Eigenschaft der Lexeme (bei den Substantiven) verloren und nur als Kongruenzerscheinung (bei den Adjektiven und Pronomina) erhalten. Aber selbst der zweite Aspekt, die Kongruenz, wurde im Ostbaltischen beim Neutrum stark reduziert, denn mit neutralen Substantiven war keine Kongruenz mehr möglich, insofern diese verloren gegangen waren. Das Gebiet des Neutrums wurde also im Ostbaltischen auf ein sehr kleines Territorium beschränkt, wo das Neutrum weder eine inhärente Eigenschaft der Lexeme noch eine vollständig verbreitete Kongruenzmöglichkeit mehr war, sondern nur im Bereich der Pronominalfunktionen verwendet werden konnte. Ich halte es für wahrscheinlich, daß die Endung -an deswegen aus den Adjektiven

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K A P I T E L III

verdrängt und durch -a ersetzt wurde, weil sie zu sehr mit den neutralen Substantiven verbunden war: -an wurde im Baltischen als Ausdruck des inhärenten Neutrums, -a als Ausdruck des externen Neutrums empfunden. Als das inhärente Neutrum verloren ging, ging die dafür charakteristische Endung -an auch verloren. Übrig blieb nur die für das externe Neutrum charakteristische Endung -a, die deswegen auf die Adjektive ausgedehnt wurde. Dabei handelt es sich nicht nur um einen Einfluß der neutralen Pronomina auf die neutralen Adjektive, denn diese Neuerung trat auch in Kontexten ein, wo die neutralen Adjektive unabhängig von neutralen Pronomina verwendet wurden. Von einem Genus Neutrum im Ostbaltischen zu sprechen ist unter diesen Bedingungen weder völlig berechtigt noch völlig falsch. Das Neutrum wurde im Ostbaltischen auf einen der beiden Aspekte, die es im Indogermanischen charakterisierten, reduziert und blieb somit im Sprachsystem unstabil, bis die vielen Berührungspunkte, die es mit den Adverbien hatte, schließlich zu seinem völligen Verlust zugunsten der Adverbien führte.

KAPITEL IV

DIE HALBTHEMATISCHE FLEXION IM BALTISCHEN Ziel dieser Untersuchung ist es, die Struktur des baltischen Verbalsystems summarisch darzustellen und einige Probleme zu behandeln, die unter einem indogermanistischen Gesichtspunkt von Belang sein könnten. Obwohl die baltischen Sprachen gemeinhin als altertümlich gelten, scheint ihr Verbalsystem durch seinen innovativen Charakter gekennzeichnet zu sein. Zwischen dem Indogermanischen und den heutigen baltischen Sprachen traten so viele Umwandlungen ein, daß es oft schwerfällt, die ursprüngliche Lage wiederzuerkennen. Eine der Hauptfragen, die sich stellt, ist, inwieweit das Baltische mit dem klassischen Brugmannschen System, das meist aufgrund des Altgriechischen und des Indoarischen rekonstruiert wurde, überhaupt zu versöhnen ist. In der baltistischen Literatur herrschte ungefähr bis nach dem Zweiten Weltkrieg die Auffassung, daß viele der aus dem Indogermanischen ererbten Verbalstrukturen im Baltischen verloren gingen. Als Beispiele konnte man in der Kategorie des Modus den Verlust des Konjunktivs oder den Ersatz des Imperativs durch den Optativ nennen. In der Kategorie der Zeit fielen das Perfekt und der Aorist in eine einzige Form, das Präteritum, zusammen. Schließlich ist es ein typischer Zug der baltischen Sprachen, daß die Unterscheidung des Singulars und des Plurals in der dritten Person verloren ging. Die Stammbildungen scheinen auch stark reduziert worden zu sein: Das Baltische hat zum Beispiel keine Spur der thematischen und der sigmatischen Aoriste des Indogermanischen erhalten. Ungefähr seit den fünfziger Jahren des 20. Jahrhunderts äußerte sich eine andere Auffassung, derzufolge das einfache Verbalsystem des Baltischen eine ältere Stufe als die äußerst reichen Verbalsysteme der klassischen Sprachen widerspiegelt und somit zur Modifizierung des Brugmannschen Systems beitragen kann. Diese Auffassung wird z.B. in den Arbeiten des litauischen Sprachwissenschaftlers Jonas Kazlauskas vertreten. Es ist hier nicht mein Ziel, auf diese Frage ausführlich einzugehen. Im folgenden möchte ich nur einige Punkte diskutieren, die etwas Licht auf die Vorgeschichte des baltischen Verbums bringen können, insbesondere die Frage der Stellung der sogenannten "halbthematischen" Flexion im Verbalsystem.

206

K A P I T E L III

1. Das baltische

Verbalsystem

1.1. Litauisch Das litauische Verbum wird nach drei Hauptprinzipien geregelt: (1) Prinzip der Dreiteilung. Das litauische Verbalsystem ist in drei Stämme gegliedert, von denen sich alle Formen regelmäßig ableiten lassen, den Präsensstamm (Präs.), den Präteritalstamm (Prät.) und den Infinitivstamm (Inf.). Diese Dreiteilung spielt insbesondere in der Frage der Derivationsregeln und der Ablauterscheinungen eine zentrale Rolle. Es ist aber zu bemerken, daß bei vielen Verben eine enge Solidarität zwischen dem Präteritalstamm und dem Infinitivstamm besteht, so daß man oft mit einem zweifachen System (Präsens / Nicht-Präsens) operieren darf. (2) Prinzip des vokalischen Stammauslauts. Als Hauptkriterium für die Klassifikation der litauischen Verben gilt im Präsens und im Präteritum der Stammauslaut der dritten Person. Dieser ist ausnahmslos vokalisch, so daß man von vokalischen Stammklassen reden darf. Dieses Kriterium erweist sich für die Klassifikation der Infinitivstämme als unbrauchbar. (3) Prinzip der beschränkten Unabhängigkeit. Jeder Stamm ist nur unter beschränkten Bedingungen unabhängig von den anderen. Gewisse Derivationsregeln können festgestellt werden, die aufgrund der Präsensstämme die Präteritalstämme voraussehen lassen. Jeder dieser Züge, die das litauische Verbalsystem deutlich kennzeichnen, stellt eine Abweichung vom idg. Verbalsystem dar. Gleichgültig, wie man sich die uridg. Grundsprache vorstellt, steht fest, daß im Indogermanischen jeder Verbalstamm autonom war und nicht in erster Linie nach einer Triade [Präsens] / [Präteritum] / [Infinitiv] organisiert wurde. In den ältesten idg. Sprachen kann zum Beispiel das sigmatische Futurum ablautmäßig isoliert dastehen, vgl. aind. veksyäti "er wird eintreten" (< idg. *ueik-s-) neben dem Präsens visäti (< idg. *uik-) und dem Perfekt vivėša (< idg. *-uoik-) oder gr. eA,8uaop,ai "ich werde gehen" (< idg. *h;leudh-s-) neben dem Perfekt ei?ir|^ou0a, klass. eA,i1^uöa (< idg. *hlloudh-, *h,ludh-) und dem Aorist rj^uOov (< idg. *h1ludh~). Im Litauischen, und im Baltischen überhaupt, ist das Futurum immer vom Infinitivstamm abgeleitet, dessen Ablautstufe es reproduziert: Man hat z.B. lit. liksiu "ich werde lassen" (*lik u -) aus dem Infinitivstamm likti (Transponat *likv-ti-) neben dem Präsens lieka (< *leikv-, *loik1'-). Für die Rekonstruktion des indogermanischen Ablauts ist somit das baltische Futurum wertlos.

DIE H A L B T H E M A T I S C H E FLEXION IM BALTISCHEN

207

Um die Dreiteilung des litauischen Verbalsystems zu illustrieren, nehmen wir als Beispiel das Verb gäuti "bekommen": Präsens

Präsens (gdun-a) [Stamm: gaun-

Partizip Präsens Aktiv (gäun-qs "bekommend, der bekommt") Partizip Präsens Passiv (gäun-a-mas "der bekommen wird")

Nicht-Präsens

Präteritum (gäv-o) [Stamm: gav-

Partizip Präteritum Aktiv (gav-ęs "der bekommen hat") Verbalsubstantiv (gav-imas "das Bekommen")

Infinitiv (gäu-ti) [Stamm: gau-

Indikativ Futurum (gaü-s "er wird bekommen") Gewohnheitsimperfekt (gäu-davo "ich pflegte zu bekommen") Konditional (gäu-tu "er würde bekommen") Imperativ (gdu-k "bekomme!") Partizip Präteritum Passiv (gäu-las "der bekommen wurde") Umstandspartizip (gäu-damas "beim Bekommen")

In manchen Verben läßt sich eine Zweiteilung der Temporalstämme beobachten, die aus der Nähe, bzw. Identität des Präteritalstammes und des Infinitivstammes hervorgeht, vgl. z.B. lit. "kaufen":

I

Präsens perk-a "er kauft/sie kaufen" (Stamm: perk-) Präteritum pirk-o "er kaufte/sie kauften" Infinitivpirk-ti "kaufen" (Stamm: pirkJ)

Das Slavische weist ein ähnliches System auf, in dem meist ein Präsensstamm und ein Präteritum-Infinitivstamm getrennt werden, vgl. z.B. aksl. "lesen":

Weitere Beispiele bei Andronov (2000: 41).

208

d

K A P I T E L III

Präsens čbtę "ich lese' Aorist cis-b "ich las" Infinitiv čisti "lesen"

(Stamm : cht-) (Stamm cit-).

Es liegt hier eine merkwürdige Übereinstimmung zwischen dem Slavischen und dem Baltischen und zugleich eine Abweichung vom Modell der anderen indogermanischen Sprachen vor. In den klassischen Sprachen z. B. ist der Infinitiv nie selbständig, sondern wird regelmäßig von den jeweiligen Indikativstämmen abgeleitet (vgl. z.B. gr. ylyveaöai wie yiyvo|iai, ysveoGai wie £y8VO|iT]V, usw.). Die Unabhängigkeit des Infinitivs ist zweifellos eine der auffalligsten dem slavischen und dem baltischen Zweig gemeinsamen Neuerungen. Das Prinzip des vokalischen Stammauslauts ist ebenfalls als Neuerung zu werten. Es ist anzumerken (und dies ist gerade die Hauptfrage dieser Untersuchung), daß die Unterscheidung thematischer und athematischer Bildungen im heutigen Litauischen sich als ungeeignet erweist. Allein schon aus diesem Grunde muß der Begriff der "halbthematischen" Bildungen, der bisher eine so große Rolle in der historischen Grammatik des Litauischen gespielt hat, in Frage gestellt werden. Wer sich bemüht, das litauische Verbalsystem zu verstehen, muß sich zuerst von seinem Bild des indogermanischen Verbalsystems befreien. Nach dem Prinzip des vokalischen Stammauslauts lassen sich für das heutige Litauische folgende Präsens- und Präteritalstämme unterscheiden: •

•

•

•

a- Stämme: z.B. lit. perka "er kauft/sie kaufen", PI. 1. perkame (Präs. Stammperka-) /-Stämme: z.B. lit. mini "er erwähnt/sie erwähnen", Pl.l. minime (Präs. Stamm min-i-) o-Stämme: z.B. lit. säko "er sagt/sie sagen", PI. 1. sakome (Präs. Stamm sak-o-) z.B. lit .pirko "er kaufte/sie kauften", PI. 1.pirkome (Prät. Stamm pirko-)
Es ist anzumerken, daß a- und /-Stämme nur Präsentia bilden, während ė-Stamme nur Präterita bilden; ^-Stämme können sowohl Präsentia als

DIE H A L B T H E M A T I S C H E FLEXION IM BALTISCHEN

209

auch Präterita bilden. Es ergeben sich also für das Präsens drei Stammklassen ( a i - und o-), für das Präteritum zwei (o- und ė-). Sobald man die Stammklasse eines beliebigen Verbums identifiziert hat, kann man es regelmäßig konjugieren. Man erhält folgende Tabelle: Tabelle 1. Die litauischen Verbalklassen «-Stamm

/-Stamm

o-Stamm

č-Stamm

Präsens

Präsens

Präsens / Präteritum

Präteritum

Sg.l.

-u

perk-ü

min-i-ü

sak-a-ü / pirk-a-ü

sak-ia-ü

Sg.2.

-i

perk-i

min-i

sak-a-ī / pirk-a-i

sak-e-i

3.

-0

perk-a

min-i

sak-o / pifk-o

sāk-ė

Pl.l.

-me

perk-a-me

min-i-me

sak-o-me / pifk-o-me

sak-ė-me

PI.2.

-te

perk-a-te

min-i-te

säk-o-te / pirk-o-te

sak-ė-te

Man braucht also nur den vokalischen Auslaut der dritten Person zu kennen, um daraus das ganze Paradigma des Präsens und des Präteritums zu schließen, denn die Endungen sind überall dieselben: Sg.l. -u, Sg.2. -/, 3. -0, Pl.l. -me, P1.2. -te. Die dritte Person gilt also als repräsentativ für die ganze Stammklasse. Die erste Person des Singulars kann diese Rolle nicht spielen, da sie die Stammklasse nicht immer voraussehen läßt: Aus miniu "ich erwähne" und geriü "ich trinke" z.B. kann man die dritte Person mini, aber gēria nicht erschließen. Es ist nicht ohne Belang, daß die dritte Person, die eine so zentrale Rolle bei der Erschließung des Paradigmas spielt, gegenüber den anderen Personen morphologisch durch eine Nullendung markiert wird: An und für sich ist sie mit der Stammklasse selbst identisch. Dieses System, das sich in synchroner Sicht als regelmäßig etabliert hat, wirft aber verschiedene Probleme auf, die nur unter einem diachronen Gesichstpunkt gelöst werden können. Es muß deshalb wahrscheinlich als sekundär aufgefaßt werden. Der Stammvokal ist verschiedenen phonetischen Wechseln ausgesetzt, die synchron größtenteils nicht mehr verständlich sind. Zwei Klassen werden durch einen Langvokal charakterisiert, die o-Klasse und die ė-Klasse. Anstatt dieses Langvokals hat man in den ersten zwei Personen des Singulars, also vor vokalischer Endung, einen Kurzvokal: -a- statt

210

K A P I T E L III

-o- (z.B. in sakaü, -ai), -e- oder -ia- statt -ė- (z.B. in sakiaü, -eī). Dieser Wechsel könnte diachron durch eine Kürzung der zugrundeliegenden Langvokale und *ē erklärt werden, die vor Konsonant zu o und ė wurden, vor Sonant hingegen die Osthoffsche Kürzung erfahren haben (z.B. in der ersten Person *-āu und *-ēu > *-au und *-eu, *-āi und *-ēi > *-ai und -ei). Schließlich hat man in der ersten Person der ė-Klasse mit einer Entwicklung von *-eu zu *-iau zu rechnen. Nimmt man diese Lautwandel in Betracht, so kann man für jede dieser Stammklassen jeweils einen einzigen Stammvokal, entweder *ā oder *ē, ansetzen. Bei den kurzvokalischen a- und /-Stammklassen fällt auf, daß der charakteristische Stammvokal vor Konsonant oder in absoluter Endung deutlich zu erkennen ist (vgl. perk-a, min-i, Pl.l. perk-a-me, min-i-me), vor Vokal hingegen entweder vollkommen fehlt (vgl. Sg.l. perk-ü, Sg.2. perk-i ohne -a-, Sg.2. min-i ohne -/-) oder zum Sonant *-j- wurde (vgl. Sg. 1. min-iü). Für die /-Klasse kann dieses Fehlen phonetisch erklärt werden, wenn man den Sonant *-j- (in Sg.l. min-iü) als antevokalisches Allophon von -/- und dessen Verlust vor der Endung -/ (in Sg.2. min-i < *min-ji) als lautgesetzlich auffaßt. Aus dieser Perspektive könnte man mit einem Stamm *mini- (+ Kons.) und seinem Allophon *minj- (+ Vok.) rechnen. Für die a-Klasse hingegen ist eine derartige Analyse unmöglich, denn den Formen perk-ü und perk-i können trotz Andronov (2000: 38) keine Vorformen *perka-+-u, bzw. *perka-+-i zugrundeliegen: Andronov postuliert eine Regel, derzufolge die Kurzvokale -a- und -/- vor vokalischen Endungen verschwinden ("short [stem vowels] disappear before vocalic endings"), woraus *perka-u >perkü, *perka-i >perki. Aber selbst im Rahmen einer synchronen Beschreibung ist diese Regel unbegründet, denn gerade die Form miniü zeigt, daß dieser Verlust nicht eingetreten ist. Es bestünde dann ein einziger Ausweg, wenn man annehmen würde, daß im Gegensatz zu den anderen Stammklassen, die einen durchgehenden Stammvokal aufweisen, die a-Klasse durch einen wechselnden Stammvokal charakterisiert wird, und zwar nicht in derselben Weise wie der indogermanische Themavokal (Alternanz *o / *e), sondern nach einer Alternanz *a (3, PI. 1., P1.2.) / Null (Sg. 1., Sg.2.). Diese Eigentümlichkeit zeigt deutlich, daß die Bildung des litauischen Stammvokalsystems eine Neuerung ist, die sich unvollkommen entwikkelte: Die a-Klasse ist nicht völlig parallel zu den anderen. Ein zweites Problem ist die Tatsache, daß die Verbalbildungen des Litauischen nicht nur durch ihren Stammauslautvokal, sondern auch durch vorhergehende Suffixe oder Morpheme definiert werden. Diese Morpheme treten entweder aus externer Derivation (Suffixen) oder aus

DIE H A L B T H E M A T I S C H E FLEXION IM BALTISCHEN

211

interner Flexion (Ablaut), eventuell aus beiden zugleich, hervor. Beispielweise ist das litauische Präsens gauna (: gauti "bekommen") nicht nur als Vertreter der a-Klasse aufzufassen. Ebenso wichtig ist seine Zugehörigkeit zur Klasse der mit -n- suffigierten Präsentia {gäu-n-a gegenüber Inf. gäu-ti). Das litauische Präsens perka (: pirkti "kaufen") ist nicht auf die Klasse der a-Stämme reduzierbar, sondern weist noch dazu das Merkmal [+ e-Ablautstufe] {perka gegenüber Inf. pirkti) auf. Das Präsens verda (: virti "kochen") wird gegenüber dem Infinitiv virti "kochen" durch drei Merkmale charakterisiert: [a-Stamm], [
Sg.2. -si

3. -t(i)

PI. 1. -me

P1.2. -te

buti "sein"

essmi (MŽ 20 l o [1547]) ėsmi (DP 19412 [1599])

essi (MŽ 23 s [1547]) essi (DP 18914 [1599])

esti (MŽ 31 ļ2 [1547]) ėsti (DP 205 % [1599])

esme (MŽ 62 18 [1547]) esmė (DP31„ [1599])

este (MŽ 18817 [1566]) estė (DP 136 I0 [1599])

eiti "gehen"

eimi (MŽ 225 4 [1566]) ėimi (DP 447 15 [1599])

eisi (MŽ 432, [1570]) eisi (DP 215 | 7 [1599])

eiti (MŽ 1 7 6 n [1566]) eiti (DP 364 44 [1599])

eimė (DP 1022 [1599])

eiste (DP 620, 0 [1599])

2 Zur athematischen Klasse im Litauischen s. besonders Specht (1935: 82-109), Stang ( 1 9 4 2 : 9 9 - 1 0 4 , 1962: 161-170, 1966: 309-319), Otrębski (GJL III 186-188,11308-310), Sabaliauskas (1957: 77-114), Kazlauskas (1968a: 304-316), Zinkevičius (1980-1981: II 99-107), Palionis (1995: 57), Schmalstieg (2000a: 69-110). Zu ihren dialektalen Überresten s. Zinkevičius (1966: 344-352). 1 S. Zinkevičius (1980-1981: II 100).

KAPITEL III

212 Tabelle 2. Kont. Sg. 1. -mi

Sg.2. -si

3. -t(i)

Pl.l. -me

PI.2. -te

duoti "geben"

dümi (MŽ 433, [1570]) dümi (DP 411Q [1599])

düsi (MŽ 432,1 [1570]) düsi (DP 332 6 [1599])

düsti (MŽ 306 6 [1570]) ' düsti (DP 365 l 4 [1599])

düme (MŽ 162, 6 [1566]) düme (DP 242 4 , [1599])

düste (DP 4257(i [1599])

dėti "stellen"

de m i (DTL 1 54 [1620]) demtni (KG 117, [1653])

pradest (MŽ 499,, [1570]) dėsti (DP 474, ( [1599])

demę (DP 10, [1599])

ėsti "essen"

emi (DTL 1 47 [1620]) emi (KG 11 Vs [1653])

ėst (DP 113,, [1599])

ėmę (DP 488, 7 [1599])

likti "lassen"

paliekmi (DP 142,, [1599])

liėkt' (DP 291 4 | [1599])

pavelti "wünschen"

pawelmi (BB Ezech. 4 | S [1590])

pawelt (BP 1 296 ( [1591])

miegoti "schlafen"

mieg m i (MŽ510, [1570])

miegsi (DP 79, 0 [1599])

miegt' (DP 368 | 4 [1599])

giedoti "singen"

giėst' (DP 321^ [1599]) "

raudoti "weinen"

apräust' (DP 410, 9 [1599])

gelbėti "helfen"

—

gelbsi (MŽ 272 7 [1570])

gelbt (MŽ 184ų [1566])

miegmė (DP 2 9 8 p [1599]) '

miegstė (DP 1492 [1599])

—

—

Das Litauische hat die "athematische" Klasse nur stufenweise verloren. Im Altlitauischen war diese Klasse recht lebendig und sogar produktiv. Bis zum 18. Jahrhundert wurden neue Formen gebildet, wie z.B. peržengt "er tritt hervor" (3.Pers. *ženg-ti) im Neuen Testament von Chyliriski

DIE H A L B T H E M A T I S C H E FLEXION IM BALTISCHEN

213

(ChB 192 [1664b]) gegenüber der einzigen alten Form žengia, die schon in den Schriften von Mažvydas belegt ist (Sg. 1. įengiu MŽ 2973 [1570]). Im 18. Jahrhundert findet man eindeutige Neubildungen wie stovmi "ich stehe" (heute stoviu), girdmi "ich höre", lydmi "ich begleite", merdmi "ich liege im Sterben" (heute girdžiu, lydžiu, mėrdžiu). Im heutigen Litauischen sind Präsentia auf -mi, -ti fast völlig verschwunden, abgesehen von einigen isolierten Überresten, z.B. in festen Verbindungen (z.B. man niežti "es juckt mich") 4 . Die alte Form ēsti "er ist/sie sind" findet in der heutigen Schriftsprache mit einer sekundären Bedeutung ("er ist/sie sind gewöhnlich") noch Verwendung. Die früheren Vertreter der "athematischen" Klasse sind regelmäßig in die a-Klasse übergegangen (vgl. z.B. alit. esmi "ich bin", heute esū und alit. eiti "er geht/sie gehen", heute eina). Einige Formen überleben noch in verschiedenen modernen Dialekten (z.B. esmi "ich bin" oder eimi "ich gehe" im litauischen Dialekt von Lazünai, Belarus). Andere Dialekte weisen Mischformen mit Endungen Sg.l. -mu, Sg.2. -mi, 3. -ma auf, die durch eine Kreuzung von -mi und den Endungen der a-Klasse -u, -i, -a entstanden sind (z.B. Sg. 1. esmū "ich bin", eimü "ich gehe", 3. düoma "er gibt") 5 . Bekanntlich hat das lettische Verbum "sein" zum Teil eine ähnliche Entwicklung durchgemacht: lett. Sg.l. ęsmu "ich bin", aber noch athematisch Sg.2. esi und thematisch Pl.l. ęsam, PI.2. ęsat (Suppletivbildung in der dritten Person: ir). Betrachtet man nun die Verben der "athematischen" Klasse, wie sie im Altlitauischen belegt sind, so fällt auf, daß sie sich von allen anderen Verben durch drei Züge unterscheiden: •

•

Ihr Stammauslaut ist nicht unbedingt vokalisch, sondern kann konsonantisch sein (vgl. alit. PI. 1. es-me, ei-me, duo-me, de-me, ė-me, miegme, gegenüber perka-me, mini-me, pirko-me, sāko-me, sakė-me). In vielen Fällen ist der Übergang dieser Stämme zur a-Klasse einfach als Entwicklung eines vokalischen Stammauslauts zu verstehen, vgl. z.B. alit. es-me, heute esa-me "wir sind". Die Endungen der "athematischen" Klasse sind zum Teil dieselben wie bei den anderen Verben (vgl. Pl.l. -me, PI.2. -te), zum Teil aber verschieden (vgl. Sg.l. -mi / -u, Sg.2. -si / -i, 3. -ti / -o). Es ist anzumerken, daß die 2. Person des Plurals der "athematischen Klasse" im Altlitauischen neben -te auch eine Endung -ste hatte, die zweifellos 4 5

Vgl. Hiersche( 1980: 221). Vgl. van Wijk (1936-1937: 95-98).

214

KAPITEL III

auf analogischem Weg nach dem Modell von duome "wir geben" (< *duod-me) : duoste (< *duod-te) entstanden ist, woraus eime "wir gehen" (< *ei-me) : X (X = eiste). Hinsichtlich der Betonung sind die Verben in der dritten Person sowie im Plural regelmäßig anfangsbetont (vgl. z.B. 3.perka, PIA.perkame, ?\2. perkate). Das Modell ist: 3. Pers., PI. 1.-2. [xx(x)]. Für den Singular gilt folgende Regel: Endbetonung bei schleiftonigen Stämmen [xx] (vgl. Sg.l .perkü, Sg.2. perki), Anfangsbetonung bei stoßtonigen Stämmen [xx] (vgl. z.B. Sg.l. dirbu "ich arbeite", Sg.2. dirbi). Nimmt man das Saussuresche Gesetz in Betracht, darf man für den ganzen Indikativ eine allgemeine Anfangsbetonung ansetzen (Sg.l.-2. [xx]), die der Vergleich mit den gehörigen Partizipien jedoch z.T. als Neuerung verrät (alte Endbetonung noch in perkąs "kaufend"). In der "athematischen" Klasse folgte der Akzent anderen Verteilungsregeln: Das Material von Daukša (15996) zeigt, daß Endbetonung im ganzen Plural regelmäßig war (PI. 1.-2. [xx]), während die dritte Person anfangsbetont war (3. [xx]); vgl. z.B. in der dritten Person ėsti (DP 20536 [1599], vgl. ėsti DP 4925 [1599], usw., ėst' DP 9215 [1599], usw., ėst' DP 10433 [1599], usw., ėst DP 4718 [1599]), aber im Plural esmė (DP 3119 [1599], usw., essmė DP 55 s [1599], usw., ęsmė DP 9632 [1599], ęssmė DP 9638 [1599]), estė (DP 136,0 [1599], usw., ęstė DP 324 [1599], usw.). Dies kann ein Archaismus sein, vgl. skr. cak.jėst, aber jesmö, jestė. Gegenbeispiele sind spärlich vertreten (vgl. z.B. esme DP 56845 [1599]) und wohl als Neuerungen zu deuten, wofür auch Belege mit zwei Akzenten sprechen (z.B. ėste DP 18913 [1599]). Für die ersten zwei Personen des Singulars sind die Meinungen geteilt. Einige Wissenschaftler, z.B. Specht (1920-1922: II 31), halten die Anfangsbetonung für alt (vgl. aind. äsmi, asi) und berufen sich auf Formen wie z.B. ėsmi (DP 19412, 25623 [1599], vgl. ėssmi DP 447 6 [1599], ėssmi DP 3812ü [1599], usw.) und ėssi (DP 189 14 ,237 26 [1599], usw., vgl. ėssi DP 272,, [1599], usw.). Andere Wissenschaftler, z.B. Skardžius in seinem Buch über die Akzentologie von Daukša (RR V 229 [1935a]), halten die Endbetonung (esmi, esi) für regelmäßig (mit -mi und -si aus *-mie, *-sie) und betrachten die gelegentliche Anfangsbetonung (ēsmi, ėsi) als analogisch nach der dritten Person (ėsti). Es ist ohnehin klar, daß sich die Akzentmobilität bei den Verben der "athematischen" Klasse anders als bei allen übrigen Verben ausdrückt.

•

6

Vgl. Senn (1934-1935: 86-122).

DIE H A L B T H E M A T I S C H E FLEXION IM BALTISCHEN

215

Diese Eigentümlichkeiten der "athematischen" Klasse zeigen deutlich genug, daß das Prinzip des vokalischen Stammauslauts, das sich im Verbalsystem des heutigen Litauischen als zentral erweist, eine Neuerung ist und eine ältere Struktur verdeckt, die noch zu definieren bleibt. Das dritte Prinzip, das ich oben "Prinzip der beschränkten Unabhängigkeit" genannt habe, werde ich nur kurz berühren, da es schon Gegenstand zweier wichtiger Aufsätze von Wolfgang P. Schmid (19661967: 286-296 und 1967-1968: 116-122) war und ich selbst es im letzten Kapitel meiner Habilitationsschrift (2004a: 289-361) diskutiert habe. Schmid hat gezeigt, daß das Verhältnis der Präsens- und der Präteritalstämme im Litauischen nicht arbiträr ist, sondern gewissen Regeln folgt, die nach dem Präsens das Präteritum voraussehen lassen. Das Ergebnis dieser Untersuchungen kann in folgender Tabelle dargestellt werden (das Sternchen * bezeichnet Ablauterscheinungen). Tabelle 3. Präsens- und Präteritalstämme im Litauischen Präsens /-Klasse

Infinitiv

Präteritum

minėti "erwähnen"

min-ej-o

Suffix -ėj+ o-Klasse

sakyti "sagen" bijöti "fürchten"

sak-ė

ė-Klasse

bij-öj-o

Suffix -oj+ o-Klasse

o-Klasse, Unterklasse 1 o-Klasse, Unterklasse 2

sak-o

a-Klasse, Unterklasse (a/ė) a-Klasse, Unterklasse (o/o) a-Klasse, Unterklasse (a/o) a-Klasse, Unterklasse (a/ė)

vēd-a

vesti "führen"

vėd-ė

ė-Klasse

sitk-a

sükti "drehen"

suk-o

o-Klasse

pefk-a

pirkti "kaufen"

pifk-o

o-Klasse

gem-a

gimti

gim-ė

ė-Klasse

myn-e

ė-Klasse

lauk-ė

ė-Klasse

bij-o

1

2

3*

4*

cr-Klasse, Unterklasse 5* (a/ė) a-Klasse, Unterklasse 6 (i-a/ė)

"geboren werden' minti "stampfen" lduk-i-a

läukti "warten"

KAPITEL III

216 Tabelle 3. Kont. a-Klasse, Unterklasse 7* {i-a/ė)

ger-i-a

gerti "trinken"

gėr-ė

ė-Klasse

«-Klasse, Unterklasse 8 (.st-a/o)

nyk-st-a

nykti "verschwinden"

nyk-o

o-Klasse

a-Klasse, Unterklasse 9 (w-Infix-a/o)

krint-a

kristi "fallen"

krit-o

o-Klasse

a-Klasse, Unterklasse 10* [n-a/ė)

käu-n-a

käuti "hauen"

köv-e

ė-Klasse

a-Klasse, Unterklasse 11 (j-a/o)

badäu-j-a

badauti "verhungern"

badav-o

o-Klasse

Die /- und o-Klasse sind unproblematisch. Jedes /-Präsens hat neben sich ein Präteritum auf -ėj-o (mini, minėjo). Den meisten o-Präsentia steht ein e-Präteritum gegenüber (sako, sakė)', es handelt sich meist um KausativaIterativa. Nur einige o-Präsentia haben neben sich ein Präteritum auf -ojo: Außer bijöti "fürchten" kann man auch žinoti "wissen" (žino, žinojo) als Beispiel anführen. Im Gegensatz zu den anderen Klassen ist die a-Klasse komplex. Aber auch hier sind Derivationsregeln feststellbar. Schmid hat gezeigt, daß die Wahl der Präteritalbildung nicht zufällig ist, sondern durch zwei Faktoren, die Struktur des Stammes und eventuell das Präsenssuffix, bestimmt wird. Bei den Unterklassen 1 bis 5 handelt es sich um suffixlose Präsensbildungen. Der Hauptfaktor ist hier die Struktur des Stammes. Schematisch kann man folgende Muster aufstellen (V = jeder Vokal außer e, R = Sonant): • • • • •

Unterklasse Unterklasse Unterklasse Unterklasse Unterklasse

1: 2: 3: 4: 5:

[KeK-a] [KVK-a] [KeRK-a] [KeR-a] [KiR-a]

->

->

[KeK-ė] [KVK-o] [KiRK-o] [KiR-ė] [KTR-ė]

Bei den suffigierten Präsensbildungen liegen die Dinge einfacher. Die /a-Präsentia haben fast immer neben sich ein e-Präteritum (Unterklasse 6: laukia, laukė); wenn die Struktur des Stammes es erlaubt (Vokal e, a, i, u + K oder R), tritt noch dazu Ablaut (Dehnstufe) im Präteritum ein

DIE H A L B T H E M A T I S C H E F L E X I O N IM B A L T I S C H E N

217

(Unterklasse 7: geria, gėrė). Es gibt sehr wenige Ausnahmen (leisti "erlauben", z'a-Präsens: leidžia, o-Präteritum: leido). Bei den übrigen suffigierten Präsensbildungen lassen sich folgende Regeln formulieren. Die sta-Bildungen (Unterklasse 8: nyksta, nyko) und die Präsentia mit Nasalinfix (Unterklasse 9: krinta, krito), die semantisch nah sind (Inchoativa-Intransitiva), sowie die meisten Denominativa (Unterklasse 10: badauja, badavo), weisen ein o-Präteritum auf. Nur ausnahmsweise spielt dabei Ablaut eine Rolle, vgl. bristi "waten" (Präsens brenda, Präteritum brido), skristi "fliegen" (Präsens skrenda, Präteritum skrido). Bei den na-Verben ist e-Präteritum mit Dehnstufe regelmäßig (käuna, kovė)-, Ausnahmen sind selten, vgl. gäuti "bekommen" mit o-Präteritum und deswegen ohne Dehnstufe (gäuna, gävo), auti "Schuhe anziehen" mit ė-Prateritum und troztdem ohne Dehnstufe (auna, avė). Unregelmäßige Verben sind relativ selten. Zunächst gibt es eine Reihe von Verben, die im Präsens zur a-Klasse gehören und kein Suffix aufweisen, im Präteritum aber suffigiert werden, vgl. z.B. teka "er rennt / sie rennen", Prät. tekejo (Inf. tekėti) oder miega "er schläft / sie schlafen", Prät. miegojo (Inf. miegöti). In der baltistischen Literatur werden derartige Verben gewöhnlich "gemischte Verben" (lit. mišriojo tipo veiksmažodžiai) genannt. Ich verweise hier auf die Dissertation von Jakulis (2004), der den Typ tēka / tekejo / teketi ausführlich behandelt hat. Schließlich sind echte unregelmäßige Verben zu verzeichnen, die in das oben beschriebene System nicht eingeordnet werden können: • • • • • • • • •

būti "sein": yrä, būvo. eiti "gehen": eīna, ej o. duoti "geben": duoda, davė. ärti "pflügen": aria, arė (vgl. Unterklasse 7: kärti "hängen", kāria, korė). šluoti "kehren": šluoja, šlavė (vgl. Unterklasse 11: meluoti "lügen", meluoja, melavo). gesti "verlöschen": gęsta, geso (mit Nasalinfix + -sta im Präsens). imti "nehmen": ima, ėmė. virti "kochen" : verda, virė. pūlti "anfallen": puola, puolė.

KAPITEL III

218

1.2. Lettisch Im Vergleich zum Litauischen wird das lettische Verbalsystem durch zwei Hauptfaktoren charakterisiert. In der lettischen Schriftsprache sind die e-Präterita zugunsten der ä-Präterita völlig verschwunden. Gegenüber lit. vėsti "führen", Prät. vedė, hat das Lettische vest, Prät. veda (< *veda), vgl. auch lett. mest "werfen", Prät. meta (< *metā) gegenüber lit. mesti, Prät. mėtė. Die ehemaligen ē-Prāterita unterscheiden sich nicht mehr von den ehemaligen ä-Präterita wie lett. bėgt "laufen", Prät. bėga (= lit. begti, Prät. bėgo) oder lett. pirkt "kaufen", Prät. pirka (= lit. pirkti, Prät. pirko). Es gibt jedoch Indizien, daß der Verlust der ē-Prāterita im Lettischen eine junge Erscheinung ist. In den altlettischen Texten ist das e-Präteritum noch häufig belegt 7 . In einigen modernen Dialekten finden e-Präterita gelegentlich noch Verwendung; Anfang des 20. Jahrhunderts hat Jānis Endzelīns eine Liste derartiger Überreste aufgestellt (DI II 98-120 [1909]), z.B. lett. dial. mete, męt 'a, mat ä "er warf/sie warfen" (= lit. mėtė, aber schriftlett. meta), lett. dial. vede "er führte/sie führten" (= lit. vedė, aber schriftlett. vedaf. In der Schriftsprache selbst sind Spuren der alten e-Präterita noch unmittelbar zu finden. Bei einigen Verben verursacht das Präteritalsuffix *-ä eine Palatalisierung des vorhergehenden Konsonants. Es ist anzunehmen, daß das Suffix früher ein Vordervokal *-ē war. Das Verb nākt "kommen" z.B. hat im Präteritum eine Form nāca, die unbedingt eine Vorform *nac-e voraussetzt. Wenn der Stammvokal *e ist, wird dieser Vokal im Präteritum manchmal geschlossen ausgesprochen, was nur dann möglich ist, wenn die folgende Silbe früher einen Vordervokal enthielt, im gegebenen Fall *- -0) und zweimorige Langvokale werden zu Kurzvokalen (*-v = 7 8

Vgl. Ozols (1965: 185-186). S. auch Rudzīte (1964: 1 3 6 - 1 3 7 , 3 6 7 - 3 7 0 ) .

DIE H A L B T H E M A T I S C H E FLEXION IM BALTISCHEN

219

*-xx > -x). Eine Ausnahme bildet der Kurzvokal *-u, der regelmäßig erhalten bleibt. Diese Auslautgesetze haben im Verbalsystem große Auswirkungen gehabt. Nehmen wir als Beispiel die dritte Person der a- und /-Klassen, z.B. *mina "er stampft/sie stampfen" (= lit. mina, Pl.l. miname, Inf. minti) und *mini "er erwähnt/sie erwähnen" (= lit. mini, PI. 1. minime, Inf. minėti). Nach dem Verlust der auslautenden Kurzvokale im Urlettischen fielen beide Bildungen zusammen und tatsächlich findet man nebeneinander min (< *mina) zu mīt "stampfen" (= lit. minti) und min (< *mini) zu minėt "erwähnen" (= lit. mineti). Diese Homonymie wurde auf die anderen Personen übertragen und führte letztlich zur Verallgemeinerung der a-Klasse: lett. minu "ich stampfe" und "ich erwähne", minam "wir stampfen" und "wir erwähnen". Vgl. auch lit. turiu, 3. tūri, Pl.l. tūrime (Inf. turėti "haben") und lett. turu, 3. tur, Pl.l. turam (Inf. turėt "halten"); lit. stöviu, 3. stövi, Pl.l. stövime (Inf. stovėti "stehen") und lett. stāvu, 3. stāv, Pl.l. stāvam (Inf. stāvēt "stehen"). Diese Entwicklung hatte zur Folge, daß die Verben der /-Klasse (ursprünglich Inf. *-ēti , Ind. *-/, vgl. lit. minėti, mini "erwähnen") und die sogenannten "gemischten" Verben (ursprünglich Inf. *-ēti, Ind. *-a, vgl. lit. teketi, tēka "rennen") im Lettischen nicht mehr getrennt werden können, es sei denn, daß ein palatalisierender Kontext vorliegt, der die alte Endung *-/ noch verraten kann: Dem Litauischen tiki "er glaubt/sie glauben" (Inf. tikėti) entspricht lett. tic mit Palatalisierung (Inf. ticēt), dem Litauischen tēka "er rennt/sie rennen" (lit. teketi) entspricht lett. tęk ohne Palatalisierung (Inf. tecēt). Eine andere Entwicklung, die ebenfalls charakteristisch für das Lettische ist, beruht auf der Tatsache, daß die erste Person des Singulars der /-Klasse (*minju, vgl. lit. miniu) mit der ersten Person des Singulars der /a-Flexion identisch war (vgl. z.B. lit. miniu und geriu "ich trinke"), was im Lettischen den Übergang vieler /-Verben zur /a-Klasse als Folge hatte. Neben lit. sėdžiu, 3. sėdi, PI. 1. sėdime (Inf. sėdėti "sitzen") hat man im Lettischen durchgehend /a-Flexion: sēžu (< *sēdju), 3. sēž (< *sēdja), PI. 1. sēžam (< *sēdjame), Inf. sēdēt. Neben lit. guliū, 3. gūli, PI. 1. gūlime (Inf. gulėti "liegen") hat das Lettische guļu (< *gulju), 3. guļ (< *gulja), PI. 1. guļam (< *guljame), Inf. gulēt. Auf diese Weise wurde das lettische Verbalsystem durch den Verlust des ^-Präteritums und der /-Klasse auf zwei Stammklassen reduziert: eine a-Klasse (oder kurzvokalische Klasse) und eine ä-Klasse (oder langvokalische Klasse)9. Die dritte Person kann nur indirekt als repräsentativ für

9

So auch Andronov (2000: 36).

220

KAPITEL III

die Stammklasse gelten, vorausgesetzt, daß man annimmt, daß die a-Klasse durch die Nullendung der dritten Person, die ä-Klasse durch die kurzvokalische Endung -a charakterisiert wird. Im Präsens hat man aoder ä-Stämme (vgl. lett. pērk "er kauft/sie kaufen", saka "er sagt/sie sagen" = lit. perka, sāko), im Präteritum nur ö-Stämme (vgl. lett. pirka "er kaufte/sie kauften" = lit. pirko). Man erhält folgende Tabelle: Tabelle 4. Die lettischen Verbalklasscn Kurzvokalische

Stammklassen

Langvokalische

Stammklassen

a-Stamm

«-Stamm (< /-Stamm)

ö-Stamm

ö-Stamm (< ē-Stamm)

Präsens

Präsens

Präsens / Präteritum

Präteritum

Sg.l.

-u

perk-u

min-u

sak-u

/pirk-u

vęd-u

Sg.2

-0

pērc

min-i

sak-i

/pirk-i

ved-i

3.

-0 /-a

pērk

min

sak-a

/pirk-a

vęd-a

Pl.l.

-a-m /-ā-m

pērk-a-m

min-a-m

sak-ā-m / pirk-ā-m

vęd-a-m

P1.2.

-a-t /-ä-t

pērk-a-l

min-a-l

sak-ā-1 / pirk-ā-t

vęd-ū-i

In den langvokalischen Stämmen ist die Endung der zweiten Person des Singulars immer ein Vokal -/', der die Eigenschaft aufweist, keine Palatalisierung zu bewirken (z.B. sak-i "du sagtest"). Das Unterbleiben der Palatalisierung läßt sich durch die Herkunft dieses Vokals -i erklären, der ursprünglich kein Vordervokal war, sondern auf einen Diphthong *-ai (vgl. lit. -ai) zurückgeht. In der kurzvokalischen Klasse war die Endung ursprünglich ein echter Vordervokal *-/ (vgl. lit. -/). Bevor sie im Auslaut fiel, hat sie den vorhergehenden Konsonant palatalisiert. Diese Entwicklung ist z.B. in der Form pērc "du kaufst" bezeugt, die aus *pērc-i (< * pērk-i = lit. perki) entstanden ist. Man erwartet eine Nullendung (mit Palatalisierung) in der kurzvokalischen Flexion, eine Endung -i (ohne Palatalisierung) in der langvokalischen Flexion. Dies ist aber nicht immer der Fall. Es gibt eine beträchtliche Anzahl an kurzvokalischen Stämmen, die in der zweiten Person des Singulars die Endung -i aufweisen 10 : Es sind die .vta-Bildungen (z.B. Sg.2. kļūst-i zu 10

Vgl. Forssman (2001: 162).

DIE H A L B T H E M A T I S C H E FLEXION IM BALTISCHEN

221

kļūt "werden"), die ursprünglichen Nasalinfixbildungen, wenn der letzte Konsonant t, d oder p ist (z.B. Sg.2. krit-i < *krint-i zu krist "fallen", rüod-i < * randi zu rast "finden", tūop-i < *tampi zu tapt "werden"), die Verben mit mehrsilbigem Infinitiv (*-ē-t, *-ā-t, z.B. Sg.2. min-i zu minėt "erwähnen") und schließlich das Verb "sein" (Sg.2. es-i zu būt "sein"). Diese merkwürdige Verteilung läßt sich wahrscheinlich zum Teil dadurch erklären, daß die Entwicklung von auslautendem *-/' zu Null dort beschleunigt wurde, wo die Präsensform der Gefahr ausgesetzt war, mit der Präteritalform zusammenzufallen, wenn einmal diese die Entwicklung von *-ai zu *-/' erfahren hatte. Der frühe Übergang der Präsensform *vedi zu ved "du führst" könnte demnach durch das Streben erklärt werden, die Homonymie mit der Präteritalform vedi (aus *ved-ai) präventiv zu vermeiden. Oder anders gesagt: Präsensformen wie Sg.2. kįust-i, krit-i, rüodi, tuop-i, min-i und es-i können die Bewahrung ihrer Endung der Tatsache verdanken, daß ihre Präterita in der zweiten Person des Singulars anders markiert waren (Sg.2. Prät. kļuvi, kriti, radi, tapi, minēji, biji). Daß die Vermeidung der Homonymie dabei eine zentrale Rolle gespielt hat, zeigt übrigens die Tatsache, daß eine vergleichbare Homonymie in der ersten Person des Singulars im Präsens (-u) und im Präteritum (*-au > -u) zustandekam und in der Regel nicht toleriert wurde. Wo das Litauische z.B. ein Präsens Sg.l. baru und ein Präteritum Sg.l. bariaü, dial. baraü (: bärti "schimpfen") unterscheidet, hätte das Lettische beide Formen zu *baru zusammenfallen lassen müssen. Der ganze Typ ist deswegen zu den /'«-Stämmen mit Dehnstufe im Präteritum übergegangen: Präsens Sg.l. baru (< * bariu) oder baru (mit Depalatalisierung), Prät. SgA.bäru (< *bär-au), Inf. bärtu. Es gibt jedoch Gegenbeispiele, in denen Präsens- und Präteritalformen in der ersten Person des Singulars homonymisch geworden sind, z.B. aügu "ich wachse" und "ich wuchs", ritu "ich gleite" und "ich glitt", sdku "ich beginne" und "ich begann". In der zweiten Person des Singulars scheint eine derartige Homonymie nie vorzukommen. Im Grunde genommen ist das lettische Verbalsystem mit dem litauischen durchaus vergleichbar. Nur scheint es weitere Entwicklungsstufen durchgemacht zu haben. Das Prinzip des vokalischen Stammauslauts, dessen Wichtigkeit für das Litauische ich betont habe, spielt im Lettischen nur eine beschränkte Rolle. Dort ist eine Reduktion auf zwei Hauptklassen (a- und ä-) festzustellen.

11

Vgl. Petit (2004a: 306).

222

KAPITEL III

1.3. Altpreussisch Im Gegensatz zu den litauischen und lettischen Verbalsystemen, die ein ziemlich einheitliches Bild geben und zwanglos auf eine gemeinsame Vorstufe zurückgeführt werden können, weist das altpreussische Verbalsystem eine ganze Reihe von Abweichungen auf. Darüber hinaus wird durch die Schwierigkeiten der Schreibung und die Unvollkommenheiten der philologischen Überlieferung nur schwerlich eine genaue Analyse der Verbalformen ermöglicht. Es ist daher nicht überraschend, daß das altpreussische Verbum immer noch eine strittige Frage ist und mehrere Rekonstruktionen vorgeschlagen worden sind, die entweder auf einer internen Analyse oder auf dem Vergleich mit den anderen baltischen Sprachen beruhen. Heutzutage stehen verschiedene Ansätze miteinander in Konkurrenz. Seit Stang (1942, 1966) sprachen sich viele Wissenschaftler über das altpreussische Verbalsystem aus, z.B. Schmalstieg (2000a), Mažiulis (z.B. 2004: 74-81), Kortlandt (1987: 104111), Kaukienė (1998), Ostrowski (1998) und Smoczynski (LAV 2005), u.a. Bevor ich die Hauptpunkte der Diskussion ins Feld bringe, sei hier an die klassische Rekonstruktion erinnert. Stang (1966: 309 fg.) rekonstruiert für das Westbaltische genauso wie für das Ostbaltische ein dreifaches System mit Präsensstamm, Präteritalstamm und Infinitivstamm. Für die Präsensstämme lassen sich nach Stang athematische, halbthematische und thematische Verba unterscheiden. Bei jedem Typ gibt Stang auch altpreussische Beispiele: Tabelle 5. Die altpreussischen Präsensstämme Klasse

Unterklasse

Beispiele

Athematische Verba

—

apr. asmai "ich bin", waisei "du weisst", dāst "er gibt": vgl. Stang (1966: 313-314)

Halbthematische Verba

/'-Klasse

apr. turri "er hat" (turīt "haben"), "wir hören" (kirdīt "hören"): vgl. Stang (1966: 320)

a-Klasse

apr. läiku "er hält", lāikumai "wir halten" (laikūt "haben"): vgl. Stang (1966: 323-324)

Thematische Verba

a-Klasse

kīrdimai

apr. senrīnka "er versammelt", gunnimai "wir treiben" (guntwey "treiben"): vgl. Stang (1966: 320)

DIE H A L B T H E M A T I S C H E FLEXION IM BALTISCHEN

223

Tabelle 5. Kont. Klasse

Unterklasse

Thematische Verba

Nasalinfix o-Klasse apr. polinka "er bleibt", polijnku "ich bleibe" (poläikt "bleiben"): vgl. Stang (1966: 344-345) .vto-Klasse apr. wirst "er wird", poprestemmai "wir fühlen" (isprestun "verstehen"): vgl. Stang (1966: 345) wa-Klasse apr. postänai "er wird", postānimai "wir

ja-Klasse

Beispiele

fühlen" {postāt "werden"), pogaunai "er empfängt" (pogaüt "empfangen"): vgl. Stang (1966: 350) apr. gēide "sie warten", ettrāi "sie antworten", peisai "er schreibt", milē "er liebt", rikawie "er regiert": vgl. Stang (1966: 356, 363, 365)

Für die Präteritalstämme unterscheidet Stang, wie im Litauischen, zwischen ä- und ē-Prāterita. Beispiele:

Tabelle 6. Die altpreussischen Präteritalstämme Klasse

Beispiele

ä-Präterita

apr. kūra "er baute", prowela "er verriet", llmauts "er brach": vgl. Stang (1966: 375) apr. wedde "er brachte", ismigē "er entschlief', pertrauki "er verschloß", ymmitz, ymmits "er nahm": vgl. Stang (1966: 375)


Diese klassische Rekonstruktion, die bei früheren Autoren, z.B. Bezzenberger (1907: 65-127, insb. 84-127 [1994]) und Zabrocki (1947: 305-380), schon im Keime war, beruht auf dem Vergleich mit dem Ostbaltischen und kann hauptsächlich als ein Versuch angesehen werden, das altpreussische Material in den Rahmen des ostbaltischen Verbalsystems einzufügen. Stang gibt jedoch selbst zu, daß es einige Abweichungen seitens des Altpreussischen gibt. Z.B. hat das Altpreussische die ä-Klasse mit Infinitiv auf *-/- (vgl. lit. sako, sakyti, lett. saka, sacit "sagen") völlig eingebüßt und ihre Vertreter in die Klasse der Verben, die das Suffix *-ā- durchgehend aufweisen (vgl. lit. bijo, bijöti "fürchten"),

KAPITEL III

224

transferiert 12 . Gegenüber dem Litauischen laiko, laikyti "halten", wo ein Wechsel von *ä und *ī vorliegt, hat das Altpreussische nicht nur läiku "er halte" z.B. III 87x (< *laik-ä = lit. laiko) und läikumai "wir halten" z.B. III 29 i4 (< *laik-ä-me = lit. laikome), sondern auch einen Infinitiv laiküt "halten, leisten" III 107 w,polaiküt "behalten" III 3514, usw. (< *laik-ä-tiį lit. laikyti) und ein Partizip laiküts "gehalten" III 172l (< *laik-ä-tas į lit. laikytas), vgl. auch das Partizip maysotan "gemenget" EV 466 (< *mais-ä-tas ^ lit. maišytas) und die Abstraktbildung perbandäsnan "Versuchung" III 5514, vgl. II 116 (< *-band-ä-snä-), die einen Infinitiv *band-ä-t lit. bandyti "versuchen, probieren, erproben") voraussetzt. Der Infinitiv klausiton "erhören" (III 5720) kann demnach trotz Smoczynski (LAV 199 [2005]) nicht unmittelbar mit lit. klausyti verglichen werden. Nach Stang setzt er eine Bildung *klaus-ē-ti- fort, was auch Probleme aufwirft 13 . Die Stangsche Rekonstruktion wurde von vielen Autoren wiederholt und kann heute als klassisch gelten. Auch Schmalstieg (2000a: 69, vgl. 1974: 309 382) postuliert für das gesamte Baltische eine Unterscheidung von athematischen, halbthematischen (/- und ä-) und thematischen (e/ound je/o-) Präsensbildungen. Als Beispiele führt er folgende altpreussische Formen an: • • • •

• • •

athematische Klasse: asmai "ich bin", däst "er gibt" (S. 72, 76). halbthematische /-Klasse: turri "er hat", budē "sie wachen" (S. 110, 113). halbthematische «-Klasse mit durchgehendem Vokal *ä (lit. bijöti): posinna "bekennen", maitā "er ernährt" (S. 118, 121-123). halbthematische «-Klasse mit Wechsel *« / */ (lit. sakyti): klausiton, Pl.l. klausāmai, das nach Schmalstieg vielleicht als * klausāma (?) zu lesen ist (S. 130). thematische «-Klasse: perweddä "er verführe" (S. 138). thematische «-Klasse mit Nasalinfix: polīnka "er bleibt" (S. 153). thematische ,s7«-Klasse: poprestemmai "wir fühlen" (S. 164).

12

Vgl. Schmid (1963: 5). " Vgl. Stang (1966: 323, Fußn. 1), der auf klausēmai "wir hören" (III 29 15 ) hinweist, vgl. auch Schmid (1963: 14). Angesichts der sonst regelmäßigen Entwicklung von *ē zu */ist aber die Analyse von klausēmai als *klaus-ē- nicht unproblematisch. Die Vermutung von Smoczynski (LAV 195-196 [2005]), daß hier eine //a-Bildung (*klaus-ē- < *klausija-) vorliegt, werde ich weiter unten diskutieren.

DIE H A L B T H E M A T I S C H E FLEXION IM BALTISCHEN

• •

225

thematische «a-Klasse: postānai "er wird" (S. 169). thematische /a-Klasse: gēide "warten" (S. 181).

Vytautas Mažiulis verteidigte mehrmals ähnliche Auffassungen, z.B. noch unlängst in seinem kurzen Abriß der altpreussischen historischen Grammatik (2004: 74-81). Er unterscheidet, wie Stang und Schmalstieg, im Präsenssystem athematische Bildungen (z.B. asmai "ich bin"), ä-Bildungen (z.B. läiku "er hält"), /-Bildungen (z.B. turri "er hat") und a-Bildungen (z.B. imma "er nimmt") mit mehreren Unterklassen: sta-Bildungen (z.B. poprestemmai "wir verstehen"), nasalinfigierten Bildungen (z.B. polīnka "er bleibt"), «a-Bildungen (z.B. pogäunai), ja-Bildungen (z.B. gēide "sie warten"), awja-Bildungen (z.B. rickawie "er regiert"), na-Bildungen (z.B. crixtia "er tauft"), ēja-Bildungen (z.B. milē "er liebt") und öz'a-Bildungen (z.B. maitā "er ernährt"). Für den Präteritalstamm operieren fast alle Autoren, wie im Litauischen, mit zwei Bildungen, den ä- und e-Präterita (z.B. kūra "er baute", wedde "er brachte"). In einem wichtigen Beitrag zum altpreussischen Verbum hat Audronė Kaukienė (1998: 15-37) versucht, die altpreussischen Entsprechungen der im Ostbaltischen gut bezeugten "gemischten" Verben zu erhellen. Unter gemischten Verben werden Verben verstanden, die im Präsens suffixlos sind, im Infinitiv (und z.T. im Präteritum) ein Suffix aufweisen, vgl. z.B. lit. teka, tekėti "rennen", žino, žinoti "wissen", säko, sakyti "sagen". Die Frage ihrer Vertretung im Altpreussischen wurde danach in der Dissertation von Jakulis (2004) ausführlich behandelt. Kaukienė schlägt zunächst vor, die übliche Terminologie (lit. mišriojo tipo veiksmažodžiai "gemischte Verben") aufzugeben und zwischen "durchgehenden" und "wechselnden" Suffixen {pastoviosios / kintamosios priesagos) zu unterscheiden. Zu den wechselnden Suffixen gehören nach Kaukienė 0 / -ē(z.B. lit. teka, tekėti "rennen"), -i- / -ē- (z.B. lit. tūri, turēti "haben") und -ā- / -/- (z.B. lit. sako, sakyti "sagen"). Sie rekonstruiert für das Altpreussische folgendes System (Beispiele: billJt "sprechen", turrltwei "haben") 14 :

14

Vgl. auch Kaukienė (2004: 193 fg.).

226

KAPITEL III

Tabelle 7. Die altpreussischen Verbalklassen nach Kaukienė Typl

Typ 2

Inf. i

z.B. Inf.: billīt"sprechen" (III 67 16 , 81 4 , 107 n ) , billit (III 83 6 ), bīllīt (III 79 4 ), billtwei (III 6 7 n ) , bi/litwei (III 71„, 131 10 ), billitwei (III 83 20 )

Präs. e oder a

Ind. Präs.: 3.Pers. billa "spricht" (III I03 4 ), billā (III 37 8 , 37,,, 107,) 3.Pers. bille "spricht" (III 59,,, 89,), billē (III 53,, 61 9 , 63„ 63 24 , 77 7 , 1 1 1 6 ), billi (III 69,, 71, 6 ) S g . l . billi (III 107 23 , 125 12 , 12516) Sg.2. billi (III 125,) P l . l . billemai "wir sagen" (III 131 ,,)

Prät. ēoder

Ind. Prät.: 3.Pers. billa "sprach" (III 101,, 1 0 1 n , 105,, 1056), byla (II 11,,), bela (I 119), billāts (III 75 4 , 75„ 10 5 25 26, 1 132), belats (I 136, 13„), bilats (II 13,,), bylaczt (II13 7 ) billē "sprach" (III 93 14 ) S g . l . billai (III 105,)

Inf. ē (>'•) i Präs.

Prät.

ā

z.B. Inf.: turīt "haben" (III 27 10 ), turrit (III 99„), turrltwei (III 27 7 ), turrettwey (I 5 3 4 ), turyetwey (II 5, 4) Ind. Präs.: 3.Pers. turri "hat" (z.B. III 5 7 r , usw.), turei (III 63 ļ 6 , 81 2 , 87,, 87 ? , 8720, 95 2 , 105 s , 105,,, 107 l2 , 109,, 1094), lurrei (III 10512), ture (III 65 15 ) Sg.l. turri (III 57 1S ) Sg.2. tur (I 5V 56, 5,, 5, 2 , 5„, 5 I 7 , 5 „ , 5 2 ,, 7 2 , 7„ II 5V 56, 5,, 5, 2 , 5,3, 5 | 7 , 5„, 5 2 l , 7 2 , 7 S ), turri (III 27 6 , 27, 3 , 29 8 , 29„, 31 g , 31, 7 , 33,, 33,,, 35, 7 , 6 7 n , 79 2 , 105 v 105, 4 ), turei (III 81 2 , 89,, 105,, 105, 7 ) P l . l . turrimai (III 27,, 35 2 , 39 2 3, 39 7 , 4 7 „ 47, 2 , 65 3 , 1 1 1,7, 12321, 131 9 ) PI.2. turriti (III 9lb, 95 23 )

'CO?

Ind. Prät.: kein Beispiel

Kaukienė läßt die Frage der Herkunft dieser Bildungen offen. Bezüglich des ersten Typs lehnt sie (1998: 20) die herkömmliche Analyse der altpreussischen Indikativendungen -ä und -ē als *-āia- und *-ēia- ab und betrachtet die Suffixe -ā und -ē als primär. Bezüglich des zweiten Typs lehnt sie (1998: insb. 21) die Entsprechung mit lit. tureti (mit Inf. *ē, Präs. */) ab und spricht sich für die These aus, daß die Infinitive auf *-ī-t ausschließlich auf *-ī-ti zurückzuführen sind. Diese Annahmen wurden von Mažiulis (1999: 185-186) und Palmaitis (1999: 187-191) angefochten. Für den Präsenstamm geht Kaukienė anscheinend, wie die meisten

DIE H A L B T H E M A T I S C H E F L E X I O N IM B A L T I S C H E N

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Autoren, im zweiten Typ von kurzem */ aus, ohne sich die Frage zu stellen, wie die Schreibung -ei, die im Präsens nicht so selten vorkommt (turei 6x, turrei lOx), zu erklären ist. Bei einer kurzvokalischen Endung würde man ja keine diphthongierte Schreibung erwarten. Aus dieser Untersuchung sowie aus der Dissertation von Jakulis (2004) scheint sich zu ergeben, daß das Altpreussische den gemischten Typ lit. teka, tekėti nicht kannte. Jakulis (2004: 110-117) diskutiert alle möglichen Vertreter des Typs teka, teketi im Altpreussischen, insbesondere die Partizipien stenuns "der gelitten hat" I 7 | 6 (neben lit. stėna, stenėti "wehklagen") und grīmons "der gesungen hat" III 7924 (neben lit. grama, gramėti "lärmen"), und kommt zum Schluß, daß der Typ teka, tekėti in den altpreussischen Denkmälern nicht eindeutig vertreten ist. All diesen Untersuchungen gemeinsam ist die Annahme, daß das Altpreussische in erster Linie durch den Vergleich des Ostbaltischen erklärt werden kann. Diese Annahme ist methodologisch fraglich. Denn welchen Beitrag kann das Altpreussische zur Rekonstruktion des Urbaltischen überhaupt liefern, wenn von vornherein dekretiert wird, daß es sich dem Ostbaltischen zwangsweise anpassen muß? Aufbauend auf dieser Feststellung sind verschiedene Versuche gemacht worden, das altpreussische Verbalsystem einer internen Analyse zu unterziehen, ohne auf die externe Vergleichung zu viel Gewicht zu legen. Dieses Verfahren wurde von vielen Autoren vertreten, insbesondere von van Wijk (1918: 133-150), Kortlandt (1987: 104-111), Schmid (1963), und vor allem unlängst Smoczynski (z.B. LAV [2005]) und seinem Schüler Ostrowski (1994). Van Wijk (1918: 133-150) unternahm als erster den Versuch, die altpreussischen Verbalformen ohne Rücksicht auf die ostbaltischen Sprachen zu klassifizieren. Als Ausgangspunkt nahm er die erste Person des Plurals, die überall durch eine leicht zu erkennende Endung -mai gekennzeichnet ist. Aus dieser Perspektive ergeben sich für das altpreussische Enchiridion folgende Stammklassen (vgl. van Wijk 1918: 135): •

• •

"Formen mit einem einsilbigen Präsensstamm": z.B. as-mai "sind" (III 55 s , 556, 6324), et-skī-mai "auferstehen" (III 6 3 p e r - ē i - m a i "kommen" (III 6318). Die Form wirst-mai "würden" (III 5522), sekundär von der 3.Pers. wirst gebildet. "Formen auf -amai, -umai, -āmai, -ūmai mit a, u (ā, ū) aus urbaltischem ä": z.B. lāiku-mai "halten" (III 2914, 316, vgl. enlaikümai III 376, polāikumai III 5 5 23 24), waitiä-mai "reden" (III 35,). Van Wijk

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•

•

K A P I T E L III

schließt dieser Klasse Verben an, die eine Endung -ēmai aufweisen, z.B. billē-mai "sagen" (III 13115), druwe-mai "glauben" (III 51,), seggē-mai "tun" (III 3113 14, 65 ļ9). Es handle sich um eine analogische Endung, die von der 3. Person (z.B. billē) gebildet worden sei. "Formen auf -ammai, -emmai": z.B. giwa-mmai "leben" (III 33,, 497), giwe-mmai (III 512), klante-mmai "fluchen" (III 293, vgl. perklantemmai III 35,), paike-mmai "trügen" (III 29 4 ),popreste-mmai "fühlen" (III 6522), perwecka-mmai "verachten" (III 2913 14, 314), werte-mmai "fluchen" (III 292 3). "Formen auf -/maz": z.B. [a.] aus der /-Klasse: kīrdi-mai "hören" (III 1139, 113l7), mēnti-mai "lügen" (III 294), turri-mai "haben" (z.B. III 279, usw.), [b.] aus dery'a-Klasse: girri-mai "loben" (III 295), etwerpimai "vergeben" (III 5321, vgl. atwerpi-may I 113^,, etwerpy-may II 114), [c.] aus der a-Klasse: galbi-mai "helfen" (III 31 |4 , 33,,), augaunimai "gewinnen" (III 5523, vgl. pogauni-mai III 11112), immi-mai "nehmen" (III 3310, 83 l6 ), pīdi-mai "bringen" (III 35 ]4 , vgl. pidimai III 3 3 n ) , postäni-mai "werden" (III 113 2ļ ), posinni-mai "bekennen" (III 29 5 , vgl. ersinni-mai III 65 18 |9 ), [d.] aus der mo-Klasse: bebinni-mai "spotten" (III 293) brewinni-mai "fördern" (III 3114), mukinni-mai "lehren" (III 2915), preistattinni-mai "stellen vor" (III 11115), tickinni-mai "machen" (III 352, vgl. teckinni-mai III 375), [e.] aus der aw/a-Klasse: dinkaui-mai "dienen" (III 296, vgl. aber dīnkaumai III 85 ļ2 ), [f.] aus der //'a-Klasse: madli-mai "bitten" (III 492, 4917, 519 10, 536, 552, 556, 55 l7 , 575, 895, 109 n , 1 1927, 133,), schlüsi-mai "dienen" (III 315, vgl. per schlüsi-mai III 55 ]0 ), massi-mai "mögen" (III 9117, 1 2 3 24 25), grīki-mai "sündigen" (III 559). Unsicher: gunni-mai "treiben" (III 292), waidi-mai "wissen" (III 6522).

Diese Liste zeigt, daß es im Altpreussischen mindestens drei Stammklassen, die o-Klasse (z.B. as-mai), die ö-Klasse (z.B. waitiä-mai) und die a-Klasse (z.B. giwa-mmai), gibt. Was die Endung -imai betrifft, gibt van Wijk selbst zu, daß sie wahrscheinlich mehrere "sowohl von preussischem wie von indogermanischem Standpunkte voneinander zu trennende Verbalklassen" deckt. Van Wijk denkt, daß der Ausgangspunkt dieser Endung zum Teil die /'-Klasse (z.B. turri-mai), zum Teil eine ältere Klasse mit Ablaut -ai- /-/- (vgl. z.B. pogäun-ai "empfängt" III 6 5 , , / pogauni-mai "empfangen" III 11112, vgl. auch pīdai "trägt" III 8925 / pīdi-mai "bringen" III 3514) ist. Der Vergleich mit der altindischen 9. Klasse (aind. -nāmi, -nīmah), vgl. van Wijk (1918: 140), ist aber heute

DIE H A L B T H E M A T I S C H E FLEXION IM BALTISCHEN

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nicht mehr zu verteidigen, denn der Vokal /"setzt im Altindischen bekanntlich einen Laryngal fort15. In seinem grundlegenden Buch über das baltische Verbum (1963) übernimmt Wolfgang P. Schmid auch grundsätzlich die Klassifizierung von van Wijk, er lehnt aber den Vergleich mit dem Altindischen völlig ab (S. 6-7). Den Kern seines Beitrags bildet das dritte Kapitel über die preussischen Verba auf -īt (S. 16-33). Schmid geht von der Feststellung aus, daß es mehrere «^-Bildungen im Altpreussischen gab, wie aus folgenden Formenreihen ersichtlich wird: • • • •

seggīt "tun" (z.B. III 39 4 ), Pl.l. seggēmai (III 31 n_14, 65 l9 ), P1.2. seggītei (III 9514 ), seggēti (III 9315). druwit "glauben" (III 4510, 479, 6512), Pl.l. druwemai (III 51,), P1.2. druwetei (III 10520). turit "haben, sollen" (III 2710), PI. 1. turrimai (z.B. III 279), PI.2. turriti (III 916, 9523). giwit "leben" (III 43 2] , die Stelle ist aber sicher korrupt), PI. 1. giwemmai (III 512).

Die Hauptthese von Schmid ist, daß die Verben seggīt "tun" und druwit "glauben" ursprünglich zu zwei verschiedenen Untertypen gehörten, was nach Schmid (1963: 16) durch den Unterschied ihrer 3.Personen nahegelegt wird: 3.Pers. segge (6x), vs. seggē (lx), segē (lx) gegenüber druwe (3x), druwe (3x), also ursprünglich segge, vs. druwe. Danach stellt Schmid (1963: 20) für das Enchiridion zwei Regeln auf: " i wird im unbetonten Auslaut zu -/ und bleibt betont als ē erhalten", "ā bleibt im unbetonten Auslaut als -e erhalten und wird betont zu f'. Als Beispiele nennt er (S. 21) auf der einen Seite müti "Mutter" (III 673) aus *m'āte (= lit. motė) gegenüber semmē "Erde" (III 105 l7 ) aus *zem'e (= lit. dial. lerne), auf der anderen Seite segge "er tut" (z.B. III 6116) aus *s'egēt gegenüber ist "essen" (III 416) aus *'ēsti (= lit. ėsti). Mit diesen Ergebnissen versucht Schmid (1963: 25) das Paradigma von seggīt "tun" folgenderweise zu rekonstruieren: Sg.l. Sg.2. 3. PI. 1. PI.2. IS

segge (III 37 ]8 ) < *seggi < *segiä *segge(i) < *segē-P. segge (z.B. III 377) < * seggē < *sēgēt, *segēit seggēmai (III 31 ]3 14, 6519) < *segēiamai seggēti (III 93 ļ5 ) < *segēiatei

Kritik bei Kortlandt (1987: 110).

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KAPITEL III

Auffällig und erklärungsbedürftig ist der Unterschied zwischen Sg.l. -iä und 3.Pers. -ē-, Nach Schmid sind die Formen des Plurals nach der ējaFlexion umgebildet. Dieser merkwürdigen Flexion stellt Schmid die Flexion des Typs druwit "glauben" gegenüber, die er aus einer vollthematischen ē/a-Bildung herleitet. Schließlich verbindet Schmid den Typ turīt "haben, sollen", Pl.l. turrimai, mit dem lit. Typ turime, turėti und den Typ giwTt "leben", Pl.l. giwemmai, oder *perklantīt "verdammen" (vgl. perklantīt "verdammt" III 1 1322), Pl.l. perklantemmai (III 35,) mit dem lit. Typ tekame, teketi]6. Diese Analysen legen nach Schmid den Schluß nahe, daß das Altpreussische mit dem Litauischen übereinstimmt, abgesehen von der Flexion des Typs seggīt "tun", die isoliert dasteht. Um diesen letzten Typ zu erklären, müsse man (so Schmid 1963: 83) eine altertümliche Flexion Sg. *-ēi-, PI. *-di- (< idg. *-ehli- / *-hli~) rekonstruieren, die im Hethitischen eine Entsprechung habe (heth. halzäi, PI.3. halziianzi "ruft, rufen"). Nach Schmid habe das Baltische, wie das Germanische, das Slavische, das Lateinische und das Keltische, einen seltsamen Ablautwechsel mit Sg. 1. *-io-, Sg.2.-3. *- apr. *segiä > *seggi > segge III 3718 nach Schmid) umgebildet worden? Anders als bei Schmid wurden die Hauptannahmen von van Wijk ebenfalls von Frederik Kortlandt (1987: 104-111, vgl. auch 1999a: 17-21) im Grunde akzeptiert. Wie van Wijk ordnet Kortlandt die Verbalformen nach ihrer ersten Person des Plurals ein und unterscheidet athematische Formen (z.B. as-mai), Formen auf -amai, -ūmai (z.B. waitiä-mai "reden"), Formen auf -ē(i)mai (z.B. billē-mai "sagen"), Formen in -au(i)mai (z.B. dīnkau-mai, dinkaui-mai "danken"), thematische Formen auf -ammai, -emmai (z.B. giwa-mmai, giwe-mmai "leben") und Formen auf -imai. Zur letzten Kategorie gehören die Optative (z.B. turrīli-mai "müssten"), das Präterito-Präsens waidi-mai "wissen", die Verben auf -īt (z.B. kīrdi-mai "hören"), entlehnte Verben (z.B. grīki-mai "sündigen"), einfache Verben (z.B. immi-mai "nehmen"), Nasalpräsentia (z.B. pogauni-mai "empfangen") und Formen auf -innimai (z.B. bebinni-mai "spotten"). In vielen Formen erblickt Kortlandt (1987: 106)

16 Es ist zu beachten, daß das Verb *perklcmtit in der Dissertation von Jakulis (2004) nicht berücksichtigt wird.

DIE H A L B T H E M A T I S C H E F L E X I O N IM B A L T I S C H E N

231

wie van Wijk (1918: 136) synkopierte thematische Bildungen, z.B. -ē(i) mai aus *-ējamai, -au(i)mai aus *-aujamai und sogar -imai in den jaVerben aus *-jamai. Was die Form waidimai betrifft, denkt Kortlandt, einer Auffassung von Endzellns (1944: 162) folgend, an eine Umbildung nach der ursprünglichen 3.Person des Plurals auf *-int. Was den Typ turit betrifft, stimmt Kortlandt nur teilweise mit Schmid überein, indem er eine Flexion Sg.l. *tur(e)iä, Sg.2. *turei(s)ei, Sg.3. *turei, Pl.l. *turima, PI.2. * turite, PI. 3. *turi ansetzt. Es ist das Verdienst von Wojciech Smoczynski, seit mehr als zwanzig Jahren eine interne Analyse des altpreussischen Materials unternommen und demzufolge radikale Modifizierungen der traditionellen Auffassungen vorgeschlagen zu haben. Ich habe mich den Hypothesen von Smoczynski gegenüber zuweilen skeptisch ausgesprochen. Mit seinem allgemeinen Grundsatz, daß das Altpreussische hauptsächlich durch das Altpreussische erklärt werden muß, bin ich aber völlig einverstanden. Der von Smoczynski längst verteidigte Vorzug einer graphematischen Analyse ist auch für mich durchaus akzeptabel. Die Frage ist nur, innerhalb welcher Grenzen sich die interne Analyse der altpreussischen Denkmäler abspielt. Auf jeden Fall verdient das System von Smoczynski, ernsthaft erörtert zu werden. Eine klare Darstellung von Smoczynskis Hauptthesen findet sich in einem Aufsatz seines Schülers, Ostrowski (1994). Im ersten Teil seines Aufsatzes faßt Ostrowski (1994: 163-169) die graphematischen und phonetischen Voraussetzungen zusammen, die sich zum Verständnis des Systems von Smoczynski als unumgänglich erweisen. Es sind folgende Prämissen (vgl. auch Smoczynski 1990: 183,188; LAV 416-428 [2005]): -

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Graphie und Zeichen für suprasegmentale Einheiten: •[1] Der Längestrich bezeichnet im Enchiridion nicht Intonationsunterschiede, sondern nur Vokallänge, bzw. kann als Abbreviaturzeichen verwendet werden (z.B. <ä> für /ai/). • [2] Die Akzentstelle wird auf zweierlei Weise ausgedrückt, durch die sogenannte "Postgemination", d. h. durch die Verdoppelung der Konsonanten nach betontem Vokal (z.B. turri = [t'uri]) und durch die sogenannte "Ambigemination", d.h. durch die Verdoppelung der Konsonanten auf beiden Seiten des betonten Vokals (z.B. saddinna "er stellt" = [sad'ina]). Phonetik: • [3] Die Schwankungen zwischen und <e>, zum Teil auch , spiegeln einen reduzierten Murmelvokal [a] wider.

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K A P I T E L III

• [4] In der Sprache des Enchiridions besteht bekanntlich eine Tendenz, die langen hohen Vokale zu diphthongieren (z.B. /u:/ > au, ou in * būtum "sein" > z.B. baūton III 1055, boūton III 3514). Smoczynski nimmt an, daß auch Kurzvokale Iii und /u/ zur Diphthongierung neigen, was er durch das Beispiel vonpolāikt "bleiben" (III 1155) neben lit. palikti veranschaulicht. • [5] Verengung von /e:/ zu /i:/, z.B. *turēti > turīt "haben, sollen" (III 27 ) • [6] Verengung von /eNC/ zu /iNC/, z.B. *sanrenka > senrīnka "er sammelt" (III 45 ]6 ). Es ist die sogenannte "swints-Regel", vgl. Smoczynski (2000a: 13-25). • [7] Schreibungen wie sind immer als zweisilbig zu lesen [i.ja]. Es ist die sogenannte "Mar/a-Regel", vgl. Marian "Maria" z.B. III 4124 (cf. Smoczynski LAV 118-120 [2005]). Nach Smoczynski wird das Graphem nie als Zeichen für Konsonantenpalatalität verwendet. • [8] Apokope und Reduktion der auslautenden Vokale, z.B. giwa "er lebt" (z.B. III 4324) aus *gīvāja (vgl. Smoczynski LAV 157 [2005]). Morphologie: • [9] Bei den thematischen Pluralbildungen dient die syntaktisch selbständige Form der dritten Person als Ableitungsbasis, vgl. wJrstmai "werden" <- wirst, giwammai "leben" <- giwa neben giwemmai giwe, billēmai "sagen" billē, quoitämai "wollen" <- quoitä, lāikumai "halten" <— lāiku, immaiti "nehmen" immai, vgl. Smoczynski (LAV 416 [2005]). •[10] Verlust des ē-Prāteritums: Formen wie billē "er sprach" (III 9314) sind als apokopierte Formen (*bilijā) zu interpretieren, vgl. Smoczynski (LAV 59 [2005]).

Aufgrund dieser Prämissen weicht Smoczynski von der Tradition radikal ab und unterzieht die altpreussischen Verbalbildungen einer geradezu revolutionären Umarbeitung. Nach Ostrowski (1994: 169-175), der die Meinung seines Lehrers ausdrückt, lassen sich die Präsensstämme in zwei Hauptklassen zergliedern, die athematischen und die thematischen Verba. Die Klasse der "halbthematischen" Verba existiert nach Ostrowski und Smoczynski im Altpreussischen einfach nicht. Die Formen, die man bisher so interpretiert hat, sind nach Smoczynski konsequent anders zu deuten. Smoczynski betrachtet sie als apokopierte thematische Formen. Es ergibt sich folgende Klassifizierung (vgl. Smoczynski LAV 436-462 [2005]). Zunächst die Präsensstämme:

DIE H A L B T H E M A T I S C H E FLEXION IM B A L T I S C H E N

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Primäre Präsensstämme: •athematische Bildungen: z.B. ast "ist, sind" z.B. III 17,? (< *as-ti), döst "gibt" z.B. III 534 (< *dād-ti), ēit "geht" z.B. III 29, 8 (< *ei-ti). •thematische Bildungen: reine a-Stämme: z.B. ertreppa "sie übertreppen" III 392, girrimai "wir loben" III 295 (nach Smoczynski LAV 436-437 [2005] nicht ja-Stamm trotz lit. giria, sondern a-Stamm), imma "ich nehme" III 107,5, immimai "wir nehmen" III 33, , 83,6 (vgl. lit. ima, imame), senrīnka "sammelt" III 45, 6 (vgl. ostlit. surenka). nasalinfigierte a-Stämme: polīnka "sie bleibt" III 97,2, polijnku "sie bleiben" III 376, Partizip syndens "sitzend" II 92 (vgl. aksl. sędę). sta-Stämme: poprestemmai "wie fühlen" III 6522, wirst "wird" z.B. III 47 -r /

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««-Stämme: pogaunimai "wir empfangen" III 111,2, postänimai "wir werden" III 1132,. unsicher, ja-Stämme: ? nach Smoczynski (LAV 440 [2005]) vielleicht dais "gib!" III 692X (<- dai < *däjä), etträi "sie antworten" III 9920 (< *et-trąįa < *et-taria, vgl. lit. atitaria), sehr fraglich lemlai "bricht" III 51,4 (wenn korrupt für * lemai < * lemia mit Metathese, vgl. lit. lēmia). Sekundäre Präsensstämme: •ija-Stämme (Inf. -īt), vgl. lit. -ija (
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K A P I T E L III

perweddä "er verführe" III 5520 (< *vedäja), Sg.2. wedais "führe!" I 11 5 , weddeis III 55 ]4 , Inf. *vedät (Nebenform west III 91 17 <*vest-). giwa "lebt, lebe" z.B. III 4324 (< *giväja), PI. 1. giwammai "wir leben" z.B. III 33, (*-giwa), Inf. *givät. • M/'ö-Stämme (Inf. -üt) mit ū aus ā nach Labial oder Velar. Beispiele: lāiku "sie halten" z.B. III 3718 (< * laikā < * laikāja), Pl.l. enlaikümai III 376 (<— laiku), Inf. laiküt III 10710. •/«fl-Stämme (Inf. -int), vgl. lit. -inti. Beispiele: mukinna "lehrt, unterrichtet" z.B. III 499, Pl.l. mukinnimai III 2915, Inf. mukint z.B. III 656, ismukint III 17 |6 . swintina "heiligt" z.B. III 4517, Inf. swintint III 299. •inäja-Stämme (Inf. -inät), Intensivum zu ina- (Inf. -int), vgl. lit. -inoti. Beispiele: dilinai "wirkt" III 613 (< *dīlināja), Inf. *dīlināt. PI.2. mukinaiti "lehrt!" III 59 l4 («- mukinai < *mukinäja), Inf. *mukinät (Nebenform mukint z.B. III 656, ismukint III 1716). • /«//ö-Stämme (Inf. -inīt), Intensivum zu ina- (Inf. -int), vgl. lit. -inėti. Beispiele: P1.2. poauginneiti "zieht auf!" III 9319 20 (<-poauginii < *poauginīja), Inf. *poauginīt. • ijäja-Stämme (Inf. -ijät). Beispiele: PI.2. draudieiti "wehret!" III 1133 (<— draudijai < *draudijäja), Inf. *draudijät. • auja-StämmQ (Inf. -aut), vgl. lit. -auti. Beispiele: Pl.l. dīnkaumai "wir danken" III 8512, dinkauimai "wir danken" III 296 (<— dinkavi < *dinkauja), Inf. dmkaut III 4115.

Smoczynski (LAV 462-466 [2005]) rekonstruiert folgende Präteritalstämme: -

Primäre Präteritalstämme: •Suffix *-ä-\ z.B. kūra "baute" III 10115 (< *kūra < *kürä), prowela "sie verrieten" I 134 = II 134 (< *provilā < *provilä). •Suffix *-ē~: Reste des Präteritums könnten nach Smoczynski (LAV 463 [2005]) eventuell noch in ismigē "entschlief^' III 10113 (< *ismigei mit Diphthongierung < *ismigī< *ismigī< *ismigē), pertrauki "verschloss" III 10114 (< *pertraukei mit Diphthongierung < *pertraukī < *pertrauki < *pertrauke) und wedde "brachte" III 10117 (< *vedei mit Diphthongierung < *vedī < *vedī < *vedē), u.a., vorliegen.

DIE H A L B T H E M A T I S C H E FLEXION IM B A L T I S C H E N

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Smoczynski gibt aber einer alternativen Deutung den Vorzug, indem er z.B.pertrauki aus *pertraukii < *pertraukijā oder wedde aus *vedii < *vedijā herleitet. Sekundäre Präteritalstämme: •Suffix *-ijä~: z.B. bei "war" III 1073, bei III 1074, be III 9314 (< *bei < *bii < *biiä, vgl. lett. bija), billē "hieß" III 9314 (< *bilei < *bilii < * biliia). • Suffix *-äjä~: z.B. billai "sprach" III 1059 (< * bilai < *bilāiā, vgl. lit. bylöjo), endeirā "er sah" III 107, (< *endeirai < *endeiräiä), widdai "er sah" III 113, (< *vidai < *vidāiā). • Suffix *-ūjā- (< *-ājā- nach Labial oder Velar): z.B. teikü "schuf' III 10522, teiku z.B. III 10523 (< *teikui < *teikūiā < *teikāiā). •Suffix *-inājā-: z.B. lasinna "legte" III 1137 (< *lazina < *lazinä < *lazinäiä). •Suffix *-auä-: z.B. dinkowats "dankte" I 135, dinkowatz "dankte" I 13,4 (< *dinkauä-).

Folgt man der Rekonstruktion von Smoczynski, so ergibt sich, daß das altpreussische Verbalsystem mehrere Vereinfachungen erfahren zu haben scheint: Verlust der /-Bildungen, Entwicklung verschiedener suffigierter Bildungen (wie ija-, äja-, usw.), Verlust des e-Präteritums. Gegen dieses System können aber ernste Einwände erhoben werden. Erstens sind die Voraussetzungen, auf denen es gebaut wird, m.E. nicht unbestreitbar. Hierbei möchte ich auf die Punkte hinweisen, bei denen ich Smoczynski nicht zustimme: •

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Ich halte mich nach wie vor an die traditionelle Auffassung, daß der Längestrich im Enchiridion Intonationsunterschiede, bzw. die Akzentstelle bezeichnen kann (vgl. Derksen 1998). Daß er darüber hinaus als Abbreviaturzeichen verwendet werden konnte, halte ich für möglich. Ich bin aber der Meinung, daß man mit Vermutungen, die die Lektüremöglichkeiten unkontrolliert vermehren können, vorsichtig operieren muß. Die sogenannte "Postgemination" und die sogenannte "Ambigemination" halte ich angesichts der damaligen deutschen Schreibkonventionen für unwahrscheinlich. Ich bleibe bei der traditionellen Auffassung, daß die Gemination wie im Deutschen die Kürze des vorangehenden Vokals bezeichnet (z.B. turri = [türi]).

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•

K A P I T E L III

Daß die Schwankungen zwischen , <e> und einen reduzierten Murmelvokal [a] widerspiegeln, halte ich für unbewiesen. Diese Schwankungen scheinen oft bestimmten Regeln zu folgen, wie ich hinsichtlich der altpreussischen Optative auf -ai oder -ei zu zeigen versucht habe (2004a: 206-214). Die Neigung der Kurzvokale /i/ und /u/ zur Diphthongierung lehne ich entschieden ab. Apr. polāikt (III 115s) ist m.E. nicht auf eine gleiche Linie wie lit. palikti "bleiben" zu stellen, sondern setzt m.E. ein altertümliches Perfekt fort (*loik u -), das auch in alit. liekmi vertreten ist (vgl. van Wijk 1933: 135 136). Die "vnw/.v-Regel" lehne ich ab. Das Paradebeispiel apr. swints "heilig" (z.B. III 39 ļ0 ) ist nicht unmittelbar ererbt (vgl. lit. šventas), sondern wurde mit dem Polnischen šwięty kontaminiert (so Mažiulis PKEŽ IV 179 [1997]). Die "M/r/a-Regel" halte ich in einigen Fällen für möglich, vgl. schon kalabian "Schwert" (EV 424) aus *kalabījan (vgl. lit. kalavijas). Das bedeutet jedoch nicht, daß das Graphem nie als Zeichen für Konsonantenpalatalität verwendet wird. Daß das Altpreussische das e-Präteritum völlig eingebüßt hat, bleibt für mich eine unbegründete Annahme. Ich ziehe es vor, Formen wie wedde "er brachte" nach der traditionellen Auffassung immer noch als Vertreter dieser Bildung anzusehen.

Die Punkte, bei denen ich mit Smoczynski einverstanden bin, sind die folgenden: •

Die Verengung von /e:/ zu /i:/, z.B. *turēti > turīt "haben, sollen" ist eine Besonderheit des Enchiridions, die allgemein akzeptiert wird. Ob diese Entwicklung absolut oder bedingt war (z.B. durch die Betontheit, bzw. Unbetontheit des Vokals), lasse ich unentschieden. • Eine Apokope, bzw. Reduktion der auslautenden Vokale halte ich für sehr wahrscheinlich, obwohl Smoczynski selbst einräumt, daß sie nicht ausnahmslos ist (vgl. z.B. bei den thematischen Bildungen polJnka neben wirst). Vielleicht könnte man sich die Sache so vorstellen, daß Apokope zunächst bei mehrsilbigen Stämmen zustandekam und später auf einsilbige Stämme ausgedehnt wurde, woraus Dubletten entstanden, die letzlich bei denselben Kategorien anscheinend regellos als freie Varianten verwendet werden durften. Die Frage bedarf m.E. einer gründlicheren Prüfung.

DIE H A L B T H E M A T I S C H E F L E X I O N IM B A L T I S C H E N

•

237

Daß die dritte Person als Ableitungsbasis dienen konnte, ist ein Vorschlag, den ich für sehr gelungen halte. Man muß sich ja die Übersetzungstechnik des Enchiridions als die ungenaue Wiederherstellung einer unvollkommen beherrschten Sprache vorstellen und dies paßt besonders gut zur Annahme, daß der Übersetzer sich durch die Formulierung einfacher Derivationsregeln geholfen hat. Bekanntlich wird eine schwache Sprachkompetenz oft durch das Streben kompensiert, produktive Modelle zu identifizieren, an denen man sich festhält.

Die Klassifizierung der Verbalstämme bei Smoczynski wirft m.E. mindestens zwei Probleme auf. Zuerst ist zu bemerken, daß sie von der Hauptannahme ausgeht, daß das Altpreussische sein Modussystem radikal vereinfacht hat, indem es Indikativformen in den Funktionen des Optativs und des Imperativs verwendet. Diese These erlaubt Smoczynski, in die Verbalklassen des Indikativs auch Formen einzugliedern, die bisher als Imperativformen interpretiert und aus alten Optativformen mit einem Suffix *-ai- (< idg. *-oi-) hergeleitet wurden. Zum Beispiel lehnt Smoczynski die traditionelle Analyse von wedais "führe!" (I 115) aus idg. *uedh-oi(hļ)-s (vgl. gr. (pspoię) ab und nimmt an, diese Form wedais beruhe sekundär auf einer dritten Person des Indikativs *vedai, die auf eine Bildung *ved-äja zurückzuführen sei; die Ableitung *-ā-ti- existiere noch in perweddä "er verführe" (III 5520). Ich halte diese Hypothese für unbegründet. Erstens vervielfacht sie unnötigerweise die Verbalbildungen. Es fällt z.B. auf, daß beinahe alle von Smoczynski (LAV 459^160 [2005]) angesetzten *inīja- und *ijäja-Stämme ausschließlich durch Imperativformen belegt wären: z.B. PI.2. poauginneiti "zieht auf!" (III 9319_20, nach Smoczynski <- *poauginiļ < *poauginīja), PI.2. draudieiti "wehret!" (III 1133, nach Smoczynski <- *draudijai < *draudijäja). Ich bin nach wie vor der Auffassung, daß Formen wie poauginneiti und draudieiti alte Optativbildungen auf *-ai- (sekundär *-ei-) fortsetzen und als *-augin-aiti und *draudj-ai-ti zu interpretieren sind. Nebenbei sei bemerkt, daß ich die Graphie in draudieiti als Notierung eines palatalisierten Konsonants (< *-dj-, vgl. lit. draūdžia) betrachte, was entschieden gegen Smoczynskis beschränkte Formulierung der "Maria-Regel" spricht. Außerdem gibt es zumindest zwei Verben, die Smoczynskis These widersprechen. Beim Verbum "sein" hat man eine Imperativform seīti "seid!" (z.B. III 898). Hier von einer indikativischen Ableitungsbasis auf *-ä-ti(3.Pers. *s-āja > *sai -»• *sai-tP.) auszugehen, ist insofern unmöglich, als vielmehr eine suppletivische Bildung *buv-ä-ti- (vgl. lit. dial. buvöti) zu erwarten wäre. Daß seiti eine hybride Bildung sei (aus dt. sei + apr. Pluralendung -ti), wie Smoczynski annimmt (LAV 329 [2005]), kann ich

238

K A P I T E L III

nicht glauben. Beim Verbum "gehen" hat man eine Imperativform Sg.2. jeis (111 1\22), pergeis (1 9 ļ 5 ), P\.2. jeiti (III 5 9 H i e r kann trotz Smoczynski (LAV 185 [2005]) keine Futurbildung *ei-si vorliegen, denn unerklärt blieben sowohl die Pluralbildungy'ezYž als auch der durchgehend palatalisierte Anlaut /-. Ich halte die traditionelle Deutung für wahrscheinlicher, derzufolge von thematisierten Optativbildungen mit schwundstufigem Stamm auszugehen ist: apr. *s-ai- und *j-ai(< *hls-oi(hl)-, bzw. *hji-oi(h anstatt idg. *hls-iehļ-m, bzw. *h/i-iehl-m > aind. syäm, bzw. iyäm). Die Schreibung -ei- halte ich für regelmäßig beim Verbum "gehen" (*-j-ai- > *-(j)-ei~), für analogisch beim Verbum "sein" (*s-ei- anstatt *s-ai- nach *-j-ei-). Nimmt man die Existenz einer spezifischen Imperativbildung im Altpreussischen an, so folgt, daß viele Formen in der Klassifizierung von Smoczynski ausscheiden, was die Beweiskraft des ganzen Systems vermindert. Das System von Smoczynski ist unökonomisch in dem Sinne, daß er für viele Verben mit Dubletten rechnet, z.B. *im-ā-ti- (nach Smoczynski LAV 171-172 [2005] durch ebimmai III 658 belegt) vs. *im-ti "nehmen" (~mt III 9914), *ēd-ā-ti- (durch īdeiti III 15Ą,jdaiti III 87 n belegt) vs. *ēs-ti "essen" (z.B. ist III 7317), usw. Dieses Verfahren ist methodologisch sehr gefährlich, insofern es so weit führen könnte, jede unerklärte Schreibung durch die Rekonstruktion einer abweichenden Nebenform loszuwerden. Man muß Smoczynski Recht geben, daß die größte Schwierigkeit, die die altpreussischen Verbalformen aufwerfen, in den Endungen auf -ā, -ē, bzw. -ai, -ei liegt, die nicht selten in Indikativformen auftreten. Dies ist richtig. Aber man braucht nicht unbedingt zu postulieren, daß jede derartige Form automatisch auf eine Bildung auf *-āja, *-ēja zurückzuführen ist. Es ist wohl anzunehmen, daß, sobald die Endungen -ai, -ei, bzw. -ä, -ē (aus *-āja, *-ēja) im Auslaut gelegentlich zu -a, -e gekürzt worden waren, sie mit rein thematischen Endungen -a, -e verwechselt werden konnten, was als Folge eine gewisse Equivalenz zwischen diesen Endungen hatte, die umgekehrt zum Gebrauch von -ai, -ei, bzw. -ā, -ē bei den ursprünglich rein thematischen Bildungen führen konnte. Worauf letzlich die Koexistenz der Bildungen auf *-äia- und auf *-ēia- beruht, läßt sich aber anhand des dürftigen altpreussischen Materials nicht entscheiden. Eine derartige Koexistenz ist auch zuweilen in den anderen baltischen Sprachen bezeugt (vgl. lett. güodät, -äju und guodėt, -eju "schonen, ehren, in Ehren halten" ME I 688). Zum Schluß noch zwei Einzelheiten, die z.T. für das System von Smoczynski sprechen könnten. Eine wohlbekannte Besonderheit des altpreussischen Verbalsystems stellen die zahlreichen Neutralisierungsfälle bei den Kategorien der Person und der Zeit dar. Im Enchiridion

DIE H A L B T H E M A T I S C H E FLEXION IM BALTISCHEN

239

wird die dritte Person nicht selten auch für die ersten zwei Personen des Singulars verwendet, z.B. n '. Tabelle 8. Neutralisierung bei der Kategorie der Person im Altpreussischen 3.Person

Sg.l.

Sg.2.

Plural

Sta turri sien titet audāt = Es soll also geschehen (III 57 22 )

As turri auschaudiwings boüt = Ich soll gewiß sein

Ton niturri gallintwei = Du solt nicht Tödten (III31 8 )

Pl.l. tur rimai = wir sollen (III 27,) P1.2. turriti - müsset j r

(III 57 15 )

(III 91 6 ) Kas stwi druwe = Wer da gleubet (1I161 10 )

As druwe en Deiwan = Jch Gleube an Gott (III 39, 8 )

Druwe tu en Deiwan? = Gleubstu inn Gott? (III 127j)

Pl.l. druwemai = wir glauben (11151,) PI.2. druwetei =jr... gleubet

Nostan billi tans = Darauf] spreche er (I"7I16)

Ja as emprijkin billi = Ja /Jch Wider sag (III 125 ļ2 )

Ni emprīkinb(i)lli tou? = Widersagstu? (III 125,)

Pl.l. billēmai = wir sagen

Käidi stans grīkans posinna = Das man... die Sünde bekenne (III 65,)

As... posinna mien = Jch... bekenne mich (III 67, s )

(HI 1052o)

(III 131, 5 ) PI. 1. posinnimai = wir beten (III 29 s ) PI.2. ersinnati - jhr erkennet (III 89 6 )

Zwischen Präsens und Präteritum auch gibt es Schwankungen, wie aus folgenden Beispielen ersichtlich wird. Tabelle 9. Neutralisierung bei der Kategorie der Zeit im Altpreussischen Präsens, 3.Person

Präteritum, 3.Person

Infinitiv

Tīt billa Swints Pauli So Spricht S. Paulus (HI 103 4 )

B he Deiws Rikijs billa = Vnd Gott der Herr sprach (III 101,)

bilht = sprechen (Z.B.III 67 J

*imma als Sg.l. As imma tin = Jch neme dich (III 107,,)

lmma tans stan geitin = Nam er das Brodt (III 75 )

17

īmt = nemen

(III 9914)

Belege: Smoczynski (LAV 414 [2005]). Die Endung -se, -si, sei, die in der zweiten Person des Singulars bei einigen Thematika auftritt (z.B. druwese "du glaubst" III 71, 2 , 71, 7 ), läßt sich vielleicht als Reflexivpartikel analysieren (so z.T. Smoczynski 1998: 159168; LAV 414 [2005]).

240

K A P I T E L III

Beide Erscheinungen sind merkwürdig. Sie können nicht durch eine Interferenz mit dem Deutschen interpretiert werden, zumal sie ausschließlich bei den Thematika, nie bei den Athematika auftreten. Ich halte es für wahrscheinlich, daß sie durch die Synkope der Auslautsvokale verursacht worden sind. Durch diese Synkope fielen die Personen des Singulars mit der dritten Person (z.B. -ā, -ē < *-āj, bzw. -ēj < *-āiā, bzw. *-ēiā in der ersten Person, *-äii, bzw. *-ēii in der zweiten Person, *-äia, bzw. *-ēia in der dritten Person, vgl. lit. -oju, -oji, -oja, bzw. -ėju, -ėji, -ėja) sowie die Formen des Präsens mit denen des Präteritums (-ā, -ē < *-āj, bzw. -ēj < *-āia, bzw. *-ēia im Präsens, vgl. lit. -oja, bzw. -ėja, und *-āiā, bzw. *-ēiā im Präteritum, vgl. lit. -ojo, bzw. -ėjo) zusammen. Eine letzte Bemerkung zu den Endungen der ersten Person des Plurals -mai. Es fällt auf, daß die Doppelschreibung des Nasals -m- nur bei den rein thematischen Bildungen bezeugt ist (z.B. giwa-mmai, giwe-mmai, klante-mmai,paike-mmai,popreste-mmai,perwecka-mmai, werte-mmai), wo der Stammvokal kurz ist. Bei den langvokalischen Bildungen auf *-āund *-ē- tritt Doppelschreibung nie ein (z.B. lāiku-mai, waitiä-mai, billēmai, druwē-mai, seggē-mai). Dies scheint die Annahme zu bestätigen, daß die Doppelschreibung die Kürze des vorangehenden Vokals bezeichnet. Unter diesem Gesichtspunkt fällt jedoch auf, daß Doppelschreibung kein einziges Mal bei den etymologischen /'-Verben belegt ist, deren Entsprechungen im Litauischen einen Kurzvokal i erwarten lassen (z.B. lit. turime): Man findet nur einfaches -m-, vgl. z.B. kīrdi-mai, mēnti-mai, turri-mai. Allein schon diese Tatsache erweckt den Verdacht, daß die altpreussische Bildung mit der litauischen nicht unmittelbar zu vergleichen ist und somit z.B. apr. turri-mai nicht lit. türime entspricht. Die durchgehende Einfachschreibung des Konsonants m legt m.E. die Möglichkeit nahe, daß der Stammvokal / lang war, was auch durch eine Form wie turei bestätigt wird. Und dies könnte z.T. für die Rekonstruktion von Smoczynski sprechen, der z.B. turri aus *turii < *turija herleitet. Man kann in diese Richtung noch weitergehen. Ein wichtiger Faktor bei der Entwicklung der /-Stämme im Altpreussischen liegt m. E. in der Tatsache, daß der Infinitiv auf *-ēti lautlich zu *-īt wurde. Dies hat Smoczynski (LAV z.B. 376 [2005]) richtig hervorgehoben. Nun gibt es in den baltischen Sprachen ein weit verbreitetes Modell, demzufolge einem Infinitiv auf *-V-ti ein Indikativ auf *-V-ja gegenübersteht. Im Litauischen ist dieses Modell meist bei den Denominativa belegt, vgl. lit. galvöti "denken", 3.Pers. galvoja (: galva "Kopf'), senėti "alt werden", 3.Pers. seneja (: senas "alt"), dalyti "teilen", 3.Pers. dalija aus *dalyja (: dalis "Teil"), usw. Die Deverbativa folgen

DIE H A L B T H E M A T I S C H E F L E X I O N IM B A L T I S C H E N

241

anderen Modellen, die eine ältere Sprachstufe widerspiegeln, vgl. lit. turėti "haben", 3.Pers. turi (: tverti "ergreifen"), sakyti "sagen", 3.Pers. säko (: sekti "erzählen"). Die Vermutung ist nicht ganz unwahrscheinlich, daß das Altpreussische zur Verallgemeinerung des Modells der Denominativa neigte. Im Falle der Iterativa-Kausativa auf *-īti, 3.Pers. *-ā könnte diese Entwicklung durch zwei Etappen gegangen sein: Erstens wurde der Stammvokal ausgeglichen (3.Pers. *-ā —• Inf. *-āti anstatt *-īti). Dann wurde nach dem Modell der Denominativa das Präsens umgebildet (Inf. *-āti -> 3.Pers. *-ā-ja). Später traten die verschiedenen Apokopen und Reduktionen ein, die das Altpreussische kennzeichnen. Daraus entstand z.B. 3.Pers. lāiku (< *laikā < *laikāja), Pl.l. enlaikümai (<- laiku), Inf. laikūt (< *laikāti anstatt *laikīti = lit. laikyti). Im Falle der Deverbativa auf *-ēti, 3.Pers. *-/' wurde das Verhältnis beider Formen nach dem produktiven Modell der Denominativa (*-ēti -> 3.Pers. *-ē-ja anstatt *-/) regularisiert. Nach der Entwicklung von *-ē- zu *-F- ergab dieses Modell ein Verhältnis *-īti, 3.Pers. *-ī-ja. Dann traten die lautlichen Veränderungen des Altpreussischen ein, woraus also *turīja > turei, turri, *turīj(a)mai > turrimai. Es ist zu bemerken, daß die ersten zwei Katechismen jeweils zehnmal eine Form tur in der Funktion einer zweiten Person des Singulars "du sollst" aufweisen, z.B. thou rty tur gallintwey (I 515) = ton ni tur gallintwey (II 515), vgl. auch 1 53, 56, 59, 5 I2 , 517, 519, 521, 72, 7S, II 53, 56, 59, 512, 517, 519, 521, 72, 75. Ich halte es für möglich, daß es sich um eine Reliktform der ursprünglichen Flexion (= lit. turi) handelt. Es ist m.E. signifikant, daß diese Form nur in den Zehn Geboten auftritt, d.h. in einem Text, der wegen seiner formelhaften Natur altertümlicher als die anderen altpreussischen Texte sein könnte. Die anderen Formen, insbesondere die des Enchiridions, können einer jüngeren Entwicklungstufe zugeschrieben werden. Abgesehen von diesen Überresten würde sich also die altpreussische Sprache hinsichtlich der Vertretung der sogennanten "halbthematischen" Bildungen als besonders innovativ erweisen.

2. Die indogermanischen

Grundlagen des baltischen

Verbalsystems

Es hat sich herausgestellt, daß dem System der vokalischen Stammklassen, das im Litauischen vorherrscht und auch für das Urlettische anzusetzen ist, obwohl es dort relativ verdunkelt erscheint, durch das Altpreussische nicht widersprochen wird. Somit kann es mit einem ziemlich hohen Wahrscheinlichkeitsgrad dem Urbaltischen zugeschrieben

242

K A P I T E L III

werden. Es stellt sich nun die Frage, wie dieses System zustandekam und auf welchen indogermanischen Grundlagen es beruht. 2.1. Athematische

Klasse

Die traditionelle Klassifizierung der baltischen Verbalstämme bei Stang geht von der Annahme aus, daß die m/-Klasse und die a-Klasse die athematische bzw. die thematische Klasse des Indogermanischen fortsetzen. Was die w/-Klasse betrifft, unterliegt diese Annahme keinem Zweifel. Dies wird z.B. durch folgende Gleichungen bewiesen 18 : •

•

•

• •

•

•

alit. esmi, est(i), apr. asmai, ast "sein": vgl. aind. äsmi, ästi, gr. si|ii, caxi, heth. ešmi, ešzi, got. im, ist, usw. (idg. *hļes-mi, *h!es-ti, LIV 241-242, IEW 340-341). alit. eimi, eit(i), apr. ēit "gehen": vgl. aind. ėmi, ėti, gr. eųn, eiGi, lat. (halbthematisiert) eö, it (idg. *hlei-mi, *hlei-ti, LIV 232-233, IEW 293-296). alit. ėmi, ėst(i), apr. Inf. ist "essen": vgl. oksX.jambJast-b, aind. ädmi, ätti, heth. ēdmi, adanzi, lat. (halbthematisiert) edö, ēst, Spuren in gr. hom. söpevai (Inf.), air. 3. Pers. ithid, usw. (idg. *hļed-mi, *hjed-ti, LIV 230 231, IEW 287-289, mit der Winterschen Dehnung im Baltischen und Slavischen). alit. pawelmi, pawelt "wünschen, erlauben": vgl. lat. (halbthematisiert) uolö, uult (idg. *uelhrmi, *uelhrti, LIV 677-678, IEW 1137). alit. demi, dest(i) "stellen, legen": vgl. aind. dädhämi, dadhmäh, gr. iiOrļļai, xlOepev (idg. *dhe-dhehrmi, Pl.l. *dhe-dhhrme, LIV 136-138, IEW 235-239). alit. duomi, duost(i), apr. dāst "geben": vgl. aksl. damb, dasty, aind. dädämi, dadmäh, gr. öiSoopi, 515opev (idg. *de-dehfmi, Pl.l. *de-dhf me, LIV 105-106, IEW 223-225). alit. apraust "wehklagen": vgl. aind. röditi, PI.3. rudänti (idg. *reudH-mi, *reųdH-ti, P1.3. *rudH-enti, LIV 508, IEW 867).

Es ist bekannt, daß die athematische Klasse im Baltischen über gewisse Produktivität verfügte und Formen anderer Herkunft dort griert wurden, wie z.B. alte Perfecto-Präsentia (z.B. apr. waisei weißt" III 6924, Pl.l. waidimai "wir wissen" III 6522, PI.2. waiditi wißt" III 10519 < *vaid-mi, usw. <- idg. Perf. *uoid-h2e).

18

S. P e t i t ( 2 0 0 4 a :

134-158).

eine inte"du "ihr

DIE H A L B T H E M A T I S C H E FLEXION IM BALTISCHEN

2.2. Thematische

243

Klasse

Die a-Klasse wird gemeinhin auf die thematische Flexion des Indogermanischen zurückgeführt, was durch die Analyse ihrer Endungen nahegelegt wird, vgl. z.B. lit. Sg.l. ved-ü (< *-üo < idg. *-oh2 = gr. -co, lat. -ö, avest. -ä, usw.), PI. 1. vēd-ame (< *-a-mē < idg. *-o-me- = gr. -01J.8V, lat. -imus, aind. -ämah, usw.). Gegenüber der idg. Flexion wird die thematische Klasse des Baltischen durch drei Besonderheiten charakterisiert. Der Themavokal *-o- wurde generalisiert, woraus z.B. P1.2. ved-ate (< *-a-tēž idg. *-e-te = gr. -exe, lat. -itis, aind. -atha, usw.). Eine ähnliche Nivellierung des Themavokals, aber in umgekehrter Richtung, trat im Slavischen ein (z.B. aksl. heremb < *-e-m- į idg. *-o-me-). Diese Nivellierung spielte im Baltischen eine große Rolle bei der Herausbildung des vokalischen Stammklassensystems, denn sie näherte die thematische Flexion allen anderen vokalischen Flexionen an, die durch einen durchgehenden Stammvokal markiert wurden. Die Unterscheidung der primären und sekundären Endungen ging im Baltischen verloren. Ich nehme an, daß das Urbaltische die ursprünglich primären Endungen verallgemeinert hatte, und schließe mich der Meinung von Jasanoff (2003: 60, Fußnote 64) an, daß diese Endungen eine abweichende Entwicklung je nach der Silbenzahl der in Frage stehenden Verben erfuhren: Einsilbige Stämme haben die vollen primären Endungen (und einsilbig sind alle athematischen Verben), daraus z.B. *ei-ti "er geht"; mehrsilbige Stämme haben synkopierte Endungen (und mehrsilbig sind wegen des Themavokals alle thematischen Verben), daraus z.B. *ved-at(i) > *ved-a-t > *ved-a "er führt". Auf diese Frage wird später noch eingegangen werden, denn sie spielt m.E. in der Genese der sogenannten "halbthematischen" Flexionen eine zentrale Rolle. Die 2. Person des Singulars weist eine seltsame Endung *-/' (aus *-/ lit. -i) und noch in der Reflexivform belegt ist (lit. sukiesi "du drehst dich"), könnte sekundär sein, etwa nach der ersten Person (-w < *-wo)19. Andere Deutungen: Mathiassen (1975: 199-205), Hilmarsson (1978: 20-26), Kortlandt (1979: 58).

244

KAPITEL IV

2.3. Halbthematische

Klassen

Das Problem liegt bei den ä- und /'-Präsensklassen sowie bei den ä- und ē-Prāteritalklassen. Identifiziert man die Endungen Sg.l. -w, Sg.2. -/, 3. -a, Pl.l. -a-me, PI.2. -a-te vom historischen Standpunkt aus als thematisch, so fällt auf, daß die /-, ä- und ē-Klassen im Litauischen die "thematischen" Endungen nur im Singular deutlich aufweisen: lit. Sg. 1. -au (< *-ä-u), -iu (< *-j-u) und -iau (< *-ē-u), Sg.2. -ai (< *-ā-i), -i (< *-j-i) und -ei (< *-ē-i). In der dritten Person sowie im ganzen Plural fehlt der Themavokal -a- vollkomen: 3. -o (< *~ä-t), -i (< *-/-/) und -ė (< *-ē-t)\ Pl.l. -ome (< *-ā-me~), -ime (< *-i-me-) und -ėme (< *-ē-me)\ PI.2. -ote (< *-ā-te), -ite (< *-i-te) und -ėte (< *-ē-te). Die Frage stellt sich nun, ob diese Flexionstypen mit Stang (1966: 319) "halbthematisch" genannt und mit den sogenannten "halbthematischen" Flexionen der anderen idg. Sprachen verglichen werden dürfen. Der Begriff der "halbthematischen" Flexion beruht vor allem auf dem Slavischen, dem Italischen und dem Germanischen, wo er eine Mischung von thematischen und athematischen Endungen bezeichnet. Bereits Meillet (z.B. 1908: 110-111) betrachtete die Alternanz von thematischen und athematischen Formen in der *je-Bildung als ererbt20. Das Problem ist, daß dieser Begriff verschiedene Konfigurationen gleich behandelt, die schwerlich auf einen gemeinsamen Nenner gebracht werden können. Im folgenden werde ich die "halbthematischen" Flexionen der idg. Einzelsprachen so, wie sie von Meillet (und danach Stang und anderen) angesetzt werden, kurz besprechen. Im Slavischen flektieren die /-Verben halbthematisch: Die 1. Pers. Sg. ist thematisch (aksl. Sg.l. viždę "ich sehe" < *vTd-j-ę), die übrigen Personen sind athematisch (aksl. Sg.2. vidiši "du siehst" < *vīd-ī-si-, usw.). Im Lateinischen werden halbthematische Flexionen oft für folgende Typen angesetzt: •

•

*/-Verben (III. Konjugation): z.B. lat. "nehmen", Sg.l. capiö, capiunt < *kap-i-o- (thematisch), Sg.2. capis, Sg.3. capit, Pl.l. mus, PI.2. capitis < *kap-i- (athematisch). *i-Verben (IV. Konjugation): z.B. lat. "kommen", Sg.l. ueniö, ueniunt < *glJem-i-o- (thematisch), Sg.2. uenīs, Sg.3. uenit, uenīmus, PI.2. uenītis < *g~em-ī- (athematisch).

PI.3. capiPI.3. Pl.l.

211 In derselben Richtung schreibt z.B. Stang (1942: 26): "Diese Sonderstellung geht eventuell auf ieur. Zeit zurück".

DIE H A L B T H E M A T I S C H E FLEXION IM BALTISCHEN

•

245

isolierte Verben: - l a t . "gehen": Sg.l. eö, PI.3. eunt (thematisch), Sg.2. Ts, Sg.3. it, Pl.l. Tmus, PI.2. ītis (athematisch). - lat. "essen": Sg.l. edö, Pl.l. edimus, PI.3. edunt (thematisch), Sg.2. ēs, Sg.3. ēst, PI.2. ēstis (athematisch). lat. "tragen": Sg.l. ferö, Pl.l. ferimus, PI.3. ferunt (thematisch), Sg.2 .fers, Sg.3. fert, PI.2. fertis (athematisch). lat. "wollen": Sg.l. uolö, Pl.l. uolumus, PI.3. uolunt (thematisch), Sg.3. uult, PI.2. uultis (athematisch). Sg.2. suppletiv uīs.

Eine halbthematische Flexion wird von Meillet (1908: 111) u.a. auch für die erste schwache Konjugation des Germanischen angesetzt. Paradebeispiele sind got. sokja "suchen" und hafja "heben" verglichen mit ihren lateinischen Entsprechungen (A = athematisch, T = thematisch). Tabelle 10. Die /-Verben im Gotischen und Lateinischen

Sg.l. Sg.2. Sg.3. Pl.l. PI.2. PI.3.

Gotisch

Lateinisch

sokja, hafja sokeis, hafjis sokeip, hajjip sokjam, hajjam

sägiö, capiö sāgīs, capis sägit, capit säglmus, eapimus

sokeiĮhajjip sokjand, haßand

sägltis, capitis sāgiunt, capiunt

< * -

i-ö (T)

< *- ī-si (A) < * -Ui (A) < * .i-o-m- (T got.) < *- i-m- (A lat.) < * - i-te- (A) < * .i-o-nti

(T)

Es ist auffällig, daß die Grenze zwischen thematischen und halbthematischen Formen je nach den Sprachen, manchmal sogar je nach den Verben anders verläuft. Folgt man der Rekonstruktion von Meillet, so erhält man folgende Modelle: Tabelle 11. Verteilung der thematischen und athematischen Formen

S lavisch

/-Verben

Litauisch

/-Verben,

Lateinisch

Germanisch

o-Verben

T

A

Sg.l

Sg.2, 3, Pl.l 3

Sg.l

Sg.2, 3, PI. 1 - 3

*/-Verbcn "gehen" "essen" "tragen" "wollen"

Sg.l, PI.3 S g . l , P1.3 Sg.l, Pl.l, 3 Sg.l, Pl.l, 3 Sg.l,Pl.l,3

Sg.2, Sg.2, Sg.2, Sg.2, Sg.2,

*/-Verben

Sg.l, PI.3

Sg.2, 3, PI. 1 - 2

3, 3, 3, 3, 3,

Pl.l, 2 Pl.l, 2 PI.2 PI.2 PI.2

246

K A P I T E L IV

Die verschiedene Verteilung der thematischen und athematischen Formen zeigt deutlich, daß die lateinischen und germanischen Parallelen nicht unmittelbar mit den baltischen und slavischen Typen zu vergleichen sind. Darüber hinaus ist es durchaus denkbar, daß Formen wie lat. capis und uenīs oder got. hafjis und sokeis auf synkopierte thematische Formen zurückgehen (etwa *-(i)ie-si). Im Griechischen und Altindischen sind die entsprechenden Verba durchgehend thematisch. Im Lateinischen hat man auch mit einer Tendenz zur Beseitigung der Endung *-mi (Sg. 1.) zu rechnen; diese Endung, die nur noch in sum bewahrt wurde, wurde sonst regelmäßig durch die thematische Endung *-ö ersetzt (z.B. *hIed-mi —• *ed-ö, lat. edö). Auch die dritte Person des Plurals (auf *-onti anstatt idg. *-enti, vgl. lat. sunt) könnte den Übergang zur thematischen Flexion begünstigt haben. Im Lateinischen könnte es sich also einfach z.T. um ursprünglich athematische Formen mit weiterem Eindringen thematischer Endungen, z.T. um ursprünglich thematische Formen, bei denen die phonetische Entwicklung zum Schwund des als Themavokal identifizierbaren Vokals führte, handeln. Der Ansatz einer ursprünglichen halbthematischen Flexion ist deshalb sehr unsicher. Zur Erhellung der baltischen und slavischen Fakten tragen das Lateinische und Germanische kaum bei. Nur zwischen dem Slavischen und dem Litauischen scheint eine direkte Entsprechung vorzuliegen. Um die Frage zu beantworten, ob die baltischen "halbthematischen" Flexionen aus dem Indogermanischen ererbt sind, möchte ich zuerst auf zwei Punkte hinweisen. Es fallt zunächst auf, daß die langvokalischen Klassen weder der Leskienschen Kürzung in der dritten Person noch der Saussureschen Attraktion des Akzents in der dritten Person und im Plural ausgesetzt werden. Man hat z.B. lit. säko, pirko, vedė, nicht *sakä, *pirkä, * vedė (< *s' akā, *p' irkā, *v'edē), sakome, pirkome, vedėme, nicht * sakome, *pirköme, *vedėme (< *s'akāme, *p'irkāme, *v'edēme). Diese Langvokale waren also ursprünglich schleiftonig, was bei ihrer etymologischen Deutung natürlich Schwierigkeit bereitet. Nun könnte der Gedanke aufkommen, ob etwa dieser Schleifton nicht auf eine alte Kontraktion des langen Stammvokals (*-ä-, *- *s'akāme, *p' irkāme, *v'edēme > sākome, pirkome, vedėme auszugehen. Dies war die Meinung von Sandbach (1930: 71). Aus dieser Perspektive wären die *ä- und *ē-Stammklassen als durchgehend thematisch anzusehen. Der Begriff von "halbthematischen" Bildungen wäre somit aufzugeben. Diese Annahme ist aber zu verwerfen,

DIE H A L B T H E M A T I S C H E F L E X I O N IM B A L T I S C H E N

247

denn ihr wird durch die /-Klasse widersprochen, wo von Kontraktion keine Rede sein kann: Von *mini-ame z.B. würde man *miniame, nicht minime erwarten. Ein solches Ergebnis *miniame wäre übrigens durchaus akzeptabel gewesen und hätte leicht zum Übergang der /-Klasse in die /a-Klasse geführt. Mit der Annahme eines versteckten Themavokals in der dritten Person und im Plural der halbthematischen Klassen ist also nichts auszumachen. Der Schleifton der langvokalischen Suffixe *-ä- und *-ē- könnte anders erklärt werden, und zwar einfach auf analogischem Weg. Formen wie % saköme, *pirköme, *vedeme wären im baltischen Verbalsystem insofern abwegig gewesen, als die Akzentstelle in der ersten Person des Plurals aufgrund der akzentuellen Rezessivität des Pluralmarkers *-me regelmäßig auf die Anfangstellung beschränkt wird (vgl. vedame). Die Mittelsilbe und die Endsilbe können im Plural die Betonung nie bekommen (abgesehen von den athematischen Formen, die einem anderen System gehören). Die Anfangsbetonung in sakome, pirkome, vedėme könnte demnach nach dem Modell der thematischen Bildung vedame auf analogischem Weg entstanden sein. In der dritten Person hätte die Leskiensche Kürzung einen innerparadigmatischen Ablautwechsel verursacht (3. Pers. *sakä, *pirkä, *vede neben sakome, pirkome, vedėme), was im baltischen Verbum unmöglich ist. Auch hier kann das Modell der thematischen Bildung zur Beseitigung einer problematischen Entwicklung beigetragen haben, woraus z.B. sako, pirko, vedė anstatt *sakä, *pirkä, * vedė gegenüber sakome, pirkome, vedėme nach dem Modell von veda gegenüber vedame. Synchron ist der Begriff "halbthematisch" im Baltischen ungenau. Auch wenn die sogenannten "halbthematischen" Flexionen keinen Themavokal -a- aufweisen, können sie jedoch nicht als völlig athematisch angesehen werden. In der dritten Person haben sie regelmäßig die Nullendung (3. Pers. -0 < *-t) wie die Formen der ursprünglich thematischen Flexion, während die athematische Flexion eine volle Endung -ti (z.B. alit. esti) aufweist. Wenn wir mit Jasanoff (2003: 60, Fußnote 64) annehmen, daß die "langen" Endungen in einsilbigen Stämmen, die "kurzen" Endungen in mehrsilbigen Stämmen verallgemeinert wurden, erscheint dieser Unterschied durchaus verständlich: In der dritten Person wird eine ursprünglich athematische mehrsilbige Form wie z.B. *sak-ä-ti lautgesetzlich zu *sak-ä-t, dann zu *sak-ä (lit. säk-o) mit Nullendung, wobei die Flexion nicht mehr als athematisch erkannt werden konnte, sondern synchron als parallel zur ursprünglich thematischen Flexion aufgefaßt werden mußte. Die

248

KAPITEL IV

lautliche Trennung von *-ti und *-i(i) > *-t > *-0 hatte zur Folge eine Neuverteilung der Flexionen nicht mehr nach dem Kriterium /athematisch/ vs. /thematisch/, sondern nach dem Kriterium /einsilbig/ vs. /mehrsilbig/, d.h. in der dritten Person /Endung *-ti/ vs. /Nullendung/. Gerade in dieser Entwicklung steckt m.E. der Kern der Genese der angeblichen "halbthematischen" Bildungen des Baltischen. Wenn man in diese Richtung weitergeht, kann man auch die Formen der ersten Person des Singulars in diesem Rahmen erklären. In der dritten Person hatten die ursprünglich athematischen einsilbigen Bildungen eine Endung *-ti (z.B. *ei-ti "er geht/sie gehen"), die ursprünglich thematischen Klassen eine Endung *-t(i) > *-t > -0 (z.B. *veda-t(i) > *veda-t > *veda "er führt/sie führen"). In der ersten Person des Singulars hatten dieselben Bildungen jeweils eine Endung *-mi oder eine Endung *-ö. Folgende Entsprechungen lassen sich also feststellen: Tabelle 12. Verteilung der Endungen

< athematische Klasse (einsilbige Stämme) < thematische Klasse (= mehrsilbige Stämme)

3. Person

1. Person des Singulars

*-ti (z.B.

*-mi (z.B. *ei-rni

*ei-ti

"er geht/sie gehen")

"ich gehe")

*-t(i) > *-t > -0 (z.B. *veda-t(i) > *veda-t > *veda

*-ö > *-t'io > -u (z.B. *vedö > *veduo > *vedu

"er führt/sie führen")

"ich führe")

Welche Entwicklung ist aber bei den ursprünglich athematischen mehrsilbigen Bildungen zu erwarten? In der dritten Person ist mit einer lautgesetzlichen Nullendung zu rechnen, d.h. z.B. *sak-ā-t(i) > *sak-ā-t > *sak-ā "er sagt/sie sagen". In der ersten Person des Singulars würde man eine ähnliche Entwicklung erwarten, etwa *sak-ā-m(i) > *sak-ä-m "ich sage". Dies hätte aber neben *-mi und *-ö eine dritte Endung *-m geschaffen, die das Gleichgewicht eines grundsätzlich zweigliedrigen Allomorphensystems (vgl. 3. Pers. *-ti, vs. 0) bedroht hätte. Es erscheint also durchaus denkbar, daß diese Endung *-m einfach beseitigt und durch die Endung *-ö > *-üo > *-u ersetzt wurde, z.B. in *sak-ä-m -»• *sak-ä-üo > *sakāu > lit. sakaü "ich sage". Diese Analyse würde das Eindringen einer "thematischen" Endung in ursprünglich "athematische" Bildungen verständlich machen. Es hat in diesem Zusammenhang keinen Sinn, den Begriff der "halbthematischen" Flexion im historischen Sinne weiter zu verwenden: Halb thematisch sind diese Bildungen deshalb nicht, weil sie

DIE H A L B T H E M A T I S C H E FLEXION IM BALTISCHEN

249

einem System angehören, in dem die Trennungslinie nicht mehr zwischen "athematisch" und "thematisch", sondern zwischen "einsilbig" und "mehrsilbig" verläuft. Ich nehme an, daß das Slavische eine ähnliche Neuverteilung etabliert hat, und wäre geneigt, auf dieselbe Weise den Unterschied z.B. zwischen aksl. Sg.l. viždę "ich sehe" (< *vīd-j-Ģ) und Sg.2. vidiši "du siehst" (< *vīd-ī-si-, usw.) zu erklären. Diese Frage bedürfte aber m.E. einer ausführlicheren Untersuchung. Neben der Frage der Endungen hat sich die historische Deutung der sogenannten "halbthematischen" Bildungen (*-/'-, *-ā- und *-ē~) mit zwei Hauptproblemen auseinanderzusetzen, und zwar mit einem etymologischen Problem und mit einem Verteilungsproblem. Das etymologische Problem ist die Frage, woher diese Suffixe stammen. Als Nebenfrage: Waren diese Suffixe ursprünglich thematisch oder athematisch? Das zweite Problem ist die Verteilung dieser Suffixe, insbesondere die Frage, wie die Heteroklisie, die zwischen Inf. *-ē-ti und Ind. *-/sowie zwischen Inf. *-ī-ti und Ind. *-ä- belegt ist, erklärt werden kann. Dies wird Gegenstand der folgenden Sektionen sein. 2.4.

Präteritalbildungen

Ich beginne mit den Präteritalbildungen. Die Literatur über ihre Herkunft ist unübersehbar 21 . In einer der ersten Arbeiten zu diesem Thema operierte Wiedemann (1891: 196) mit zwei urindogermanischen Bildungen *-ā- und *-
Dazu s. Stang (1966: 383-391), Schmalstieg (2000a: 276-283).

250

KAPITEL IV

dedzu (trans. < *deg-ē-)22. Darauf aufbauend haben z.B. Stang (1966 : 376) und Kölln (1969: 63) vermutet, daß das ä-Präteritum ursprünglich auf die intransitiven, das ē-Prāteritum auf die transitiven Bildungen beschränkt war. Und tatsächlich ist es so, daß die meisten ä-Präterita intransitiv, die meisten e-Präterita transitiv sind. Diese Feststellung führte Klingenschmitt (1982: 3-5) und Rasmussen (1986) zur Annahme, daß das intransitive ^-Präteritum eine ursprüngliche Medialbildung, das transitive e-Präteritum eine ursprüngliche Aktivbildung fortsetze. Abgesehen von den Gegenbeispielen, die sich unschwer finden lassen (z.B. lit. rädo "er fand", gimė "er wurde geboren"), ist diese Theorie m.E. durch den Umstand gefährdet, daß der synthetische Ausdruck der Diathesen im Baltischen sonst spurlos verschwunden ist. Ich denke, daß der Grund, weshalb die meisten ä-Präterita intransitiv, die meisten e-Präterita transitiv sind, vielmehr in den Bildungen, die sie ersetzt haben, zu suchen ist. Heutzutage kann man folgende konkurrierende Erklärungen der Herkunft der baltischen Präterita finden: - ä-Präteritum: (1) Alte Präteritalbildung. Vgl. aksl. bbra-xy (: beret-b "er trägt"), lat. eram "ich war", o s k . f u f a n s "sie waren", usw. So Stang (1966: 383). Ob diese Präteritalbildung auf eine ursprüngliche Optativbildung zurückzuführen ist, wie Benveniste meinte, bleibt jedoch sehr fraglich. (2) Alte Medialbildung Sg.l. *-ä-m (vgl. z.B. gr. -|J.r|v, dor. -|^äv) mit späterer Verallgemeinerung des Formans *-ä-. Dadurch würde sich die oft intransitive Bedeutung der ä-Präterita erklären. So Klingenschmitt (1982: 3-5). (3) Sekundäre Dehnung der Endung der ersten Person des Singulars der thematischen Aoriste (*-om > balt. *-am —• *-äm oder unmittelbar *-au, woraus später 3.Pers. *-ā nach dem Präteritum). - e-Präteritum: (1) Alte Konjunktivbildung, vgl. lat. amēmus. So Pedersen (1909: II 354). (2) Stativbildung (*-eh r ), vgl. gr. Bļiavrļv (Aorist zu ļiotivoļiai "verrückt sein"). So mit Vorsicht Stang (1966: 386-387). (3) Kontraktion von *-iiā > *ē. So Michelini (1977: 254-255), noch unlängst Villanueva Svensson (2005: 239-252). (4) Analogie des Verbums "sein": Sg.3. Präsens *esti "er ist" (< idg. *h1esti) : Imperfekt *ēst "er war" (< idg. *e-hles-t, vgl. aksl. bė "er 22

Vgl. Kazlauskas (1968a: 362-365).

DIE H A L B T H E M A T I S C H E F L E X I O N IM B A L T I S C H E N

251

war" < *best, mit Anlaut *b- aus dem Infinitiv byti), wonach z.B. Sg.3. Präsens *degeti "er brennt" (< idg. *dhegyheti) : X (X = *degēt "er brannte" > lit. degė). So Klingenschmitt (1982: 3-5) und z.T. Rasmussen (1999: 207-208 [1986]). (5) Sekundäre Dehnung des idg. Themavokals *-e- nach dem Modell des *-ä-Präteritums, wo einer ersten Person des Singulars -am (< *-ä-m mit der Osthoffschen Kürzung) eine dritte Person -ā (< *-ät) gegenübersteht. Die Analogie von Sg.l. *-am, 3.Pers. *-ā(t) hätte ein Verhältnis Sg.l. *-em, 3.Pers. *-ē(t) anstatt *-am, 3.Pers. *-e(t) (< *-om, *-et) ergeben. So Schmalstieg (2000a: 288). - beide Bildungen: (1) Rasmussen (1999: 206-215 [1986]) nimmt an, daß der Themavokal im Indogermanischen immer *-e- im Aktiv, immer *-o- im Medium gewesen sei (ähnliche Auffassung auch bei Jasanoff 1978: 47). Im Urbaltischen seien beide Bildungen noch unterschieden worden, also Präteritum Aktiv *vežet (< idg. Imperfekt Aktiv *(e)-uegh-et), vs. Präteritum Medium *vežot (< idg. Imperfekt Medium *(e)-uegh-oto)\ diese Formen seien später nach dem Modell ursprünglicher Aoristkonjunktive wieder thematisiert worden: Aktiv *veže+e > balt. *-ē, und analogisch Medium *veža+a (anstatt e) > balt. *-a. Es ist hier nicht mein Ziel, all diese Theorien zu diskutieren. Gegen beinahe alle können ernste Einwände erhoben werden. Entweder beruhen sie auf schwach begründeten indogermanistischen Ansätzen oder sie setzen wenig überzeugende analogische Prozesse voraus. Versucht man die Herkunft der baltischen Präteritalbildungen zu erhellen, so muß man zunächst einen Umweg über die Ablautfrage machen. Die Ablautverhältnisse im baltischen Präteritum legen die Vermutung nahe, daß das ä-Präteritum den thematischen Aorist (Typ idg. *e-uido-m), das ē-Prāteritum den sigmatischen Aorist des Idg. (Typ idg. *e-deiks-m) fortsetzen. Die Frage ist nun, wie man sich die Genese der beiden Präteritalsuffixe vorstellt. Meine Auffassung zu dieser Frage geht von der Idee aus, daß der Beweggrund im sigmatischen Aorist zu suchen ist. Es ist bekannt, daß der sigmatische Aorist aufgrund seiner athematischen Flexion bereits in der Grundsprache Schwierigkeiten bereitete, insbesondere in der zweiten und der dritten Personen des Singulars, wo die Endungen *-s-s, *-s-t unstabil waren und in vielen Sprachen durch die Gefahr der Homonymie bedroht wurden. Bekanntlich hat das Griechische dieses Problem durch die

252

K A P I T E L IV

Entwicklung eines Übergangsvokals -a- vermieden (Sg.2. -aaę anstatt *-s-s nach der ersten Person -oa < *-s-m). In der dritten Person war aber dieser Vokal -a- wenig hilfreich, denn eine dritte Person *-aa (anstatt *-s-t) wäre mit der ersten Person -oa zusammengefallen; das Modell des Perfekts bot hier einen Ausweg (-oe gegenüber Sg. 1. -oa nach oi5a, ol5s). Das Slavische weist eine merkwürdige Entwicklung auf. Bei den vokalischen Stämmen wurde die Homonymie der zweiten und der dritten Person toleriert (z.B. aksl. moliti "beten", Aorist Sg.2.-3. moli < *-s-s, bzw. *-st); die 1. Person des Singulars und des Plurals wurden thematisiert (Sg.l. rnolixb <*-s-om, Pl.l. molixomb < *-s-omos); die 2. Person (moliste < *-s-te) und die 3. Person (molišę < *-s-ņt) des Plurals blieben athematisch. Bei den primären konsonantischen Stämmen hingegen wurde die Homonymie nicht toleriert und die problematischen Formen wurden einfach durch Formen des thematischen Imperfekts ersetzt. Somit entstand ein heteroklitisches Paradigma, z.B. vesti "führen": Aorist Sg.l. vėsb (< *ųėdh-s-om), Pl.l. vėsomb (< *uēdh-s-omos), PI.2. veste (<*uēdhs-te), PI.3. vėsę (< *uēdh-s-ņt), aber Sg.2.-3. vede (< *uedh-es, bzw. *ued''-et). Daneben gab es auch Verben, die im Aorist durchgehend thematisch waren, z.B. aksl. sėsti "sich setzen" : Aorist Sg.l. sėdb (<*sėd-om), Sg.2.-3. sėde (<*sēd-es, bzw. *sėd-et), Pl.l. sėdomb (< *sėd-omos), PI.2. sėdete (< *sēd-ete), PI.3. sėdę (< *sēd-ont). Die slavische Konfiguration kann m.E. als Ausgangspunkt für die Erklärung der baltischen Formen genommen werden. Nehmen wir an, daß das Baltische die beiden Bildungen ererbt hat, wie sie im Slavischen belegt sind. Der sigmatische Aorist war, wie gesagt, in den zweiten und dritten Personen des Singulars heteroklitisch. Somit wäre für das Baltische folgendes Paradigma zu rekonstruieren: Sg.l. *uēdh-s-om > *vēsan Sg.2. *uedh-es > *vedes Sg.3. *uedh-et> *vedet Pl.l. *uėdf'-s-ome > * vėsume PI.2. *uėdh-s-te > *vėste PI.3. *ųėdh-s-nt> * vėsint Ich nehme an, daß die zwei thematischen Formen zunächst eine analogische Dehnung erfuhren, etwa wie sie von Klingenschmitt postuliert wurde:

DIE H A L B T H E M A T I S C H E F L E X I O N IM B A L T I S C H E N

253

Sg.2. *vedes -* Sg.2. *vedes Sg.3. *vedet -> Sg.3. *vedēt vielleicht nach dem Modell des Imperfekt des Verbs "sein": Sg.2. *ēs {< *e-h,es-s) Sg.2. *ēst (< *e-h,es-t) Diese Analogie beruhte auf dem Verhältnis von Präs. *esti: Impf. *ēst = Präs. *vedeti: Impf, x (x = *vedēt). Es ist zu bemerken, daß diese Neuerung zunächst nur in denjenigen thematischen Formen eintrat, die in die sigmatische Flexion eingedrungen waren, d.h. in den Formen der ersten und zweiten Personen des Singulars, die durch den Themavokal *-e- charakterisiert waren. Dies erklärt, warum eben dieser Themavokal *-e- und nicht *-o- als Ausgangsbasis für die analogische Ausdehnung gewählt wurde. Aus *uedh-ēt entstand also z.B. lit. vedė. Als letzte Etappe haben wir mit der Verallgemeinerung des Stamms *vedē- zu rechnen. Der thematische Aorist (Typ sl. sedb < *sēd-om) ging einen anderen Weg. Ich nehme an, daß er in ähnlicher Weise wie das thematische Präsens zunächst den Themavokal *-a- verallgemeinerte (diese Verallgemeinerung konnte in den Vorstufen des ē-Prāteritums nicht erfolgen, weil innerhalb dieses Paradigmas keine Form mit Themavokal *-o- vorhanden war). Somit entstand folgendes Paradigma: Sg.l. Sg.2. Sg.3. Pl.l. P1.2. PI.3.

* sėdom > *sēdan * sēdes * sēdas * sēdēt * sēdat *sēdome > *sēdame * sēdēt e —• * sėdate *sēdont > * sėdant

Dieses Paradigma war aber in der dritten Person sowie im Plural mit dem thematischen Präsens identisch. Als letzte Etappe nehme ich also eine analogische Dehnung des Themavokals *-a- zu *-ä- nach dem Modell der anderen Präteritalbildung *-ē- und die Anpassung an das synchron produktive Endungssystem (Sg.l. -u, Sg.2. -/, usw.) an. Somit entstand die Flexion (mit Verlust der PI 3.): Sg. 1. Sg.2.

*sēdan *sēdas

—• *sēdān —• * sēdās

—• *sēdā-uo > lit. sėdau *sēdā-i > lit. sėdai

254

Sg.3. Pl.l. PI.2.

KAPITEL IV

* sēdat -> * sēdāt > lit. sėdo * sėdame —> *sēdāme > lit. sėdome * sėdate -* *sēdāte > lit. sėdote

Diese Hypothesen haben m.E. den Vorteil, daß sie die beiden Präteritalbildungen des Baltischen als einzelsprachliche Neuerungen betrachten und nicht unkontrolliert nach allen möglichen Komparanda innerhalb der Indogermania greifen. Für die Frage der "halbthematischen" Flexionen im Baltischen scheiden also die Präterita aus, angenommen, daß sie auf verschiedenen thematischen Formen beruhen. 2.5. Halbthematische

Präsensklassen

Was nun die sogenannten "halbthematischen" Präsenstämme betrifft, so sind wir in einer besonders ungünstigen Lage. Es handelt sich bekanntlich um die ä-Bildungen (mit Inf. *-ī-ti) und um die /-Bildungen (mit Inf. *-ēti). Es wird meist angenommen, daß das a-Präsens (lit. sako "er sagt") eine aus dem Indogermanischen ererbte Iterativbildung auf *-ä- fortsetzt, die insbesondere im Germanischen und im Griechischen belegt ist23. Diese Entsprechung ist besonders auffällig hinsichtlich der Bedeutung (Iterativität); die Ablautverhältnisse sind jedoch schwierig. Eine *o-Stufe tritt oft im Germanischen, spärlicher im Griechischen auf, vgl. z.B. ahd. greißn "greifen" (< germ. *graip-ä-) neben ahd. grīfan (< *germ. *greipe/o-); gr. hom. 7ioido|iai "fliegen, flattern" (z.B. 7ĪOT(XTO in B 315) neben 7T8TOpoti, ipoxdo) "laufen" (z.B. ipo^ocovia mit Diektasis in o 451) neben xpexco. Derartige Iterativverben sind oft dehnstufig entweder mit o-Stufe (vgl. gr. ^coxdoIiai "fleigen", ipco^do) "laufen", vcopd© "verteilen, handhaben, beobachten", axpoxpaoo "(sich) hin und her wenden, sich aufhalten") oder mit e-Stufe (vgl. lat. cēlāre "verstecken" neben ahd. helan). Ein weiterer Untertyp scheint durch eine Schwundstufe charakterisiert zu sein, vgl. lat. dicäre "weihen" (< *dīk-ā-) neben dīcere "sagen" (< *deike/o-), ahd. korön "kosten, proben" (< *ģus-ā-) neben kiosan (< *geuse/o-). Neben dem Ablautproblem gibt es noch ein etymologisches Problem. Einige Iterativbildungen, die in anderen indogermanischen Sprachen bezeugt sind, haben manchmal baltische Entsprechungen, die eben nicht der halbthematischen *ä-Bildung, sondern der suffixalen *äjaBildung angehören, als wären sie Denominativa. Paradebeispiel ist die dehnstufige Iterativbildung gr. ArjKdv xö Ttpoę d)5fļv opxeiGÖai (Hesych), " Für das Germanische vgl. z.B. Meid (1967: 241-242).

DIE H A L B T H E M A T I S C H E F L E X I O N IM B A L T I S C H E N

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die eine Entsprechung in lett. lękat, -äju "wiederholt springen, hüpfen" (ME II 456) hat. Dazu gehört auch wohl lett. mętat "fortgesetzt werfen, hin- und herwerfen" (ME II 621), Präs. mętaju. Weiter ist daraufhinzuweisen, daß es im Baltischen halbthematische Präsentia auf *-ä- gibt, die nicht mit heteroklitischen Infinitivbildungen auf *-/"- (lit. säko, sakyti), sondern mit Infinitivbildungen auf *-ä- (lit. bijo, bijoti "fürchten", žino, žinoti "wissen") verbunden werden. Solange das Verteilungsprinzip all dieser Iterativbildungen, bei denen ein Suffix *-ä- eine Rolle spielt, nicht erleuchtet wird, kann die Herkunft der baltischen ä-Präsensbildung nicht genau festgestellt werden. Ein weiteres Problem ist der Flexionstyp dieser Bildungen. Im Griechischen sind die Iterativverben auf *-ä- wie die übrigen ä- Verben meist mit dem thematischen *-je/o-Suffix (also *-ä-ie/o-) flektiert, vgl. z.B. 7toic5vxai (B 462 < *7ioxä-yovxai), aber in den äolischen Dialekten sind alle ä-Verben athematisch flektiert (vgl. z.B. apaoGai Sappho 27a, 22 Diehl). Im Germanischen schwanken die ä-Bildungen zwischen dem athematischen Flexionstyp (ahd. salböm "ich salbe", vgl. auch asächs. makon "ich mache" < *-ä-mi, usw.) und dem thematischen Flexionstyp mit Suffix *-ie/o- (aeng. PI. 1.-3. maciad "machen"). Für das Gotische nimmt Krause (1968: 242) an, daß die Flexion bis auf die erste Person des Singulars athematisch ist: Sg.2. salbos "du salbst" (< *-ä-si), Sg.3. salbop "er/sie salbt" (< *-ä-ti), usw., aber Sg.l. salbo "ich salbe" (< *-ä-iö). Krähe ( 2 1967: 136) ist hingegen der Meinung, daß die Flexion durchgehend thematisch mit Suffix *-ie/o- war, und leitet z.B. Sg.2. salbos von *-ä-ie-si her. Es ist jedoch zu bemerken, daß das Gotische nur wenige eindeutige Flexionsformen der Iterativa liefert, darunter keine Form der ersten Person des Singulars: Man findet nur Sg.3. mitop "sie überlegt" (Kl 13, 5) P1.2. mitop "ihr denkt" (Mt 9, 4; Ph 4, 8) und P1.3. mitond"sie denken" (R 8, 5). Sonst hat man nur Präterital- oder Partizipialformen, vgl. tuarbon "wandeln" (harboda Jn 7, 1; Jn 8, 59; Jn 10, 23; harbonds Mc 1, 16; 2, 14; harbondin Mc 11, 27; Mt 9, 27) und miton "bedenken" (mitoda Kl 13, 11; mitodedun Mc 2, 8; mitodedup Mc 9, 33; mitonds K2 1,17; mitondans Ph 2, 4). Somit ist die Beleglage der ersten Person des Singulars zweideutig; denn, selbst wenn die erste Person des Singulars bei den Denominativa -o war (vgl. z.B. galeiko "ich werde vergleichen" Mt 7, 24), können wir nicht sicher sein, daß die Iterativa genau dieselbe Form hatten. Im Litauischen werden ja die Denominativa (lit. galv-öju "ich denke") und die Iterativa (lit. sak-aü "ich sage") anders flektiert. Das lateinische Material ist schwierig. Man hat den Eindruck, daß ursprünglich athematische und thematische Formen (z.B. Sg.3. *-ä-ti und *-ä-ie-ti

256

KAPITEL IV

> lat. -at) in einen einzigen Flexionstyp zusammengefallen sind; in der ersten Person des Singulars ist die thematische Form *-ä-iö (vgl. umbr. stahu) allein erhalten24. Im Slavischen lassen sich zwei Bildungen trennen. Imperfektiva auf *-ā- haben durchgehend den Vokal *-ā- und werden thematisch mit Suffix *-ie/o- flektiert, vgl. aksl. sbpasati "retten", Sg.3. sbpasajetb (z.B. Suprasi. 159, 28 < *-ā-ie-ti). Imperfektiva auf *-āwerden im Präsens mit dem Suffix *-ie/o- ohne Vokal *-ä- flektiert, z.B. aksl. trbzati "zerreißen", Sg.3. trbžetb (z.B. Suprasi. 520, 2 < *-ie-ti). Ein einziges Verb wird athematisch flektiert: imėti "haben", Sg.l. imamb (z.B. Suprasi. 224, 20 < *-ā-mi), Sg.3. imatb (Mt 8, 20 < *-ä-ti). Die externen Entsprechungen sagen also nichts Genaues über den Flexionstyp der baltischen Iterativa aus. Ich halte es für wahrscheinlich, daß der baltische Typ ursprünglich athematisch war (also Sg.l. *-ä-mi, 2. *-ā-si, 3. *-ā-ti, usw.) und nur im Singular thematisiert wurde (Sg.l. *-ä-m(i) > *-ä-ö > lit. -au, Sg.2. *-ä-s(i) -» *-ä-i > lit. -ai). Bekanntlich wird die *m/-Flexion im Baltischen auf einsilbige Stämme beschränkt. Die übrigen Formen blieben athematisch (Pl.l. *-ä-me, 2. *-ä-te) oder ihre Endung wurde synkopiert (Sg.3. *-ā-t(i) -> *-ä-o), wobei die dritte Person wie in den meisten Stammklassen durch eine Nullendung gekennzeichnet wurde. Von halbthematischer Flexion kann hier kaum die Rede sein. Ursprünglich war die Flexion wohl athematisch. Aus welchem Grund sich diese Iterativbildung auf *-ä- mit der IterativKausativbildung auf *-f- verband, bleibt unklar. Es wird angenommen, daß diese Iterativ-Kausativbildung auf*-/"- die wohlbekannte idg. Bildung auf *-eie/o- fortsetzt. Diese Hypothese wird sowohl durch die Bedeutung als auch durch die Ablautverhältnisse nahegelegt. Im Baltischen ist eine «-Stufe regelmäßig sowohl bei den Kausativa (z.B. lit. drikti "sich verwirren" : draik-yti "verwirren", virs-ti "sich umdrehen" : vart-yti "umdrehen") als auch bei den Iterativa (z.B. lit. sek-ti "erzählen" : sak-yti "sagen"). In anderen Sprachen findet man ebenfalls eine *o-Stufe, vgl. z.B. lat. moneö "warnen" < *mon-ėįe/o- "denken lassen" Kaus. (vgl. lit. Iter. man-yti "denken"), aind. vart-äyati "drehen" (vgl. lit. Iter. vart-yti "umdrehen", sl. *vort-iti > poln. prze-wröcic "umdrehen") 25 . Slavische Komparanda lassen sich unschwer finden und diese haben auch weitgehend o-Stufe, vgl. lit. ganyti "weiden" = aksl. goniti "treiben", lit. mainyti "wechseln" = aksl. mėniti "wechseln", lit. maišyti "mischen" = aksl.

24 25

Lcumann (1977: I 320). Vgl. Petit (1999a: 96-97).

DIE H A L B T H E M A T I S C H E FLEXION IM BALTISCHEN

257

mėsiti "mischen", lit. prašyti "bitten" = aksl. prositi "bitten" 26 . Die Gleichung von idg. *-eie/o- und balt. *-ī- unterliegt also keinem Zweifel. Man muß aber zugeben, daß sie lautlich problematisch erscheint. Jasanoff (1978: 103, vgl. auch 2003: 140) nimmt hier einen Einfluß der denominativen Partizipien auf *-ī-to- an (lat. mellitus "aus Honig bestehend", lit. akytas "mit Augen versehen"); diese Hypothese ist möglich. Das Hauptproblem ist, warum beide Bildungen in ein heteroklitisches System kombiniert wurden. Es ist hier nicht mein Ziel, diese äußerst schwierige Frage zu beantworten. Ich möchte nur an die bereits von Stang (1966: 327-328) bemerkte Tatsache erinnern, daß ein Teil der Verben auf -yti im Ostlitauischen kein ä-Präsens, sondern ein y'a-Präsens aufweist, vgl. z.B. rödyti "zeigen" : ostlit. rödzia (neben schriftlit. rodo), mokyti "lehren" : ostlit. mökia (neben schriftlit. möko). Stang (1966 : 328) macht diesbezüglich die interessante Bemerkung, daß es in denselben Dialekten Verben gibt, die ein ä-Präsens haben, vgl. z.B. vartyti "umdrehen" : ostlit. varto = schriftlit. varto, matyti "sehen" : ostlit. māto = schriftlit. māto. Es fällt auf, daß die Trennungslinie zwischen beiden Typen im Ostlitauischen meist mit der Unterscheidung kausativer und iterativer Bildungen übereinstimmt: Kausativa haben im Ostlitauischen ein y'a-Präsens, Iterativa ein ä-Präsens. Diese Verteilung ist wahrscheinlich als alt anzusehen. Daraus zieht Stang (1966: 329) den wichtigen Schluß, "daß das ä-Präsens in den Verben auf -īti- zuerst bei den Iterativen Eingang gefunden und sich von hier aus zu den Kausativen verbreitet hat". Stang nimmt also an, die Kausativa haben ursprünglich eine Flexion Inf. -īti-, Präs. -ia gehabt (vgl. aksl. saditi "setzen" : Sg.l. saždę, 2. sadiši). Erst später haben sie sich durch den Einfluß der Iterativa mit der ä-Bildung gekreuzt. Die Frage bleibt offen, warum die ä-Bildung in die Flexion der Verben auf *-īti eingedrungen ist, oder genauer gesagt, welches Problem sie zu lösen gedient hat. Gleichgültig, wie man den ursprünglichen Flexionstyp Inf. -īti-, Präs. -ia erklärt, steht fest, daß er im Präsens mit dem üblichen /ö-Flexionstyp identisch war. Nun bildet dery'a-Flexionstyp in der Regel transitive Verben (vgl. Petit 1999a: 89). Es ist klar, daß die Iterativa, die im Unterschied zu Kausativa oft intransitiv waren, diese Flexion schwer bewahren konnten. Die Entlehnung der ä-Bildung wäre aus dieser Perspektive als Lösung dieses Problems zu deuten. Dies würde erklären, warum der /ö-Flexionstyp länger bei den von Natur aus transitiven

2

" Vgl. Stang (1966: 325).

KAPITEL IV

258

Kausativa erhalten blieb als bei den Iterativa. Später wurden alle Flexionen vereinheitlicht und die Heteroklisie verallgemeinert. Bei der anderen Heteroklisie (Präs. /-, Inf. *-ē-ti, z.B. lit. tūri, Inf. tureti "haben") besteht das Hauptproblem darin, wie die */-Bildung etymologisch zu deuten ist. Alle Wissenschaftler sind wohl darüber einig, daß das *ē-Suffix, das im Infinitiv und Präteritum auftritt, auf das wohlbekannte Stativsuffix *-ehj- zurückgeht. Dies geht aus einer Reihe von Gleichungen hervor, wie z.B. lit. mineti "denken" = aksl. mbnėti, gr. Aorist 8|iavr|v "verrückt sein", lit. pavydėti "eifersüchtig sein" = aksl. vidēti, lat. vidēre "sehen", lit. sėdėti "sitzen" = aksl. sėdėti, lat. sedēre "sitzen". Die Präsensbildung auf -i- bleibt hingegen dunkel. Sie hat im Slavischen eine Entsprechung (vgl. z.B. lit. sėdžiu, sėdi = aksl. sėždę, sėdiši, sėditt), mit dem wichtigen Unterschied, daß der Vokal im Slavischen lang (sl. -/'- < */ oder *ei), im Baltischen kurz (lit. -/'- < *-ī~) ist. Die baltische Heteroklisie */- / *-ē- wird oft mit einem angeblich ähnlichen Verhältnis im Griechischen zwischen Präs. |iaivo|iai (< *|iav-yo|aai) und Aorist eļidvrļv (< *|iav-r|-) verglichen, vgl. auch gr. x^ipco, Aor. £Xapr|v "sich erfreuen" 27 . Diese Gleichung ist aber trügerisch. Die griechische Präsensbildung, die über Entsprechungen in anderen idg. Sprachen verfügt (vgl. aind. mänyate "er denkt", air. do-moinethar "erinnert sich"), ist durchgehend thematisch mit Suffix *-ie/o-, während die baltische Bildung halbthematisch ist. Auf diese Schwierigkeit hat mit Recht Jasanoff (1978: 20) hingewiesen. Da der Ansatz einer bereits grundsprachlichen "halbthematischen" Flexion als unbegründet betrachtet werden muß, muß die Frage gestellt werden, ob hier nicht etwa ein ursprünglich athematischer Typ (mit Ablaut *-ei- / *-/-) vorliegt. Dafür hat z.B. unlängst Schrijver (2003) plädiert. Einen der wichtigsten Beiträge zu dieser Frage hat Jasanoff (1978: 94-117, vgl. 2003: 158 fg.) geliefert. Für das Slavische nimmt Jasanoff an, daß der Langvokal zum Teil sekundär nach dem Modell der Bildungen auf *-ī-ti- (z.B. aksl. nositi "tragen", Sg.2. nosiši) ist. Für das Baltische setzt er eine ursprünglich athematische Bildung an, die erst sekundär einen /-Vokal entwickelt hätte. Als Parallelfall zieht er das litauische Futurum heran, das bekanntlich halbthematisch flektiert wird (Sg.l. duosiu "ich werde geben" < *dö-s-iö, Sg.2. düosi, Pl.l. düosime, PI.2. duosite < *dö-s-i-), aber in der dritten Person noch seine ursprüngliche athematische Flexion erhalten hat (duös < *dö-s-f). Ausgangspunkt der

27

Vgl. Stang (1966: 322).

DIE H A L B T H E M A T I S C H E F L E X I O N IM B A L T I S C H E N

259

Ausdehnung des Vokals *-i- sei - so Jasanoff (1978: 106) - die dritte Person des Plurals gewesen, wo die Vokalisierung des Nasals zum Auftritt eines Vokals *-/- führte: P1.3. *dö-s-nt > *duosint. Was nun die baltische Präsensbildung auf *-/- betrifft, so geht Jasanoff (1978: 109 fg.) von einem medialen Paradigma aus, das im Germanischen Spuren hinterließ: •

balt. Sg.l. *min-ai, Sg.2. *min-tai, Sg.3. *min-ai (= germ. *munai, *mundai, *munai mit *munai als Umbildung einer Medialendung *-or), Pl.l. *min-m-, PI.2. *min-t-, PI.3. *min-in-tai (= germ. *munm-, *mund-, *munundai).

Aus der dritten Person des Plurals sei der Vokal -/- auf die anderen Personen des Plurals ausgedehnt worden; daraus Pl.l. *min-i-m-, P1.2. *min-i-t- <- PI.3. *min-in-tai. Schließlich sei aus dem Plural das Formans -i- verallgemeinert, was im Singular nach dem Modell von Sg.3. *uede, Sg.2. *uedei ein ähnliches Verhältnis Sg.3. *mini, Sg. 2. *mini+i> *minī zur Folge gehabt habe. Somit hätte das balto-slavische Paradigma folgendermaßen gelautet (Jasanoff 1978: 112): Sg.l. *miniö Sg.2. *minī Sg.3. *mini

P\.\.*minime PI.2. *minite PI.3. *mininti

Im Slavischen sei die langvokalische Variante der zweiten Person des Singulars als *minī+sī recharakterisiert und verallgemeinert worden. Im Baltischen sei die kurzvokalische Variante verallgemeinert worden. Es ist hier nicht mein Ziel, in einer ausführlichen Diskussion auf die These Jasanoffs einzugehen. Mit ihrer Grundlinie, daß der Vokal -/- in der Präsensbildung des Typs lit. mini eine Neuerung ist, stimme ich überein. Zugegebenermaßen bleiben einige Punkte dieser Theorie für mich fraglich und entziehen sich m.E. jeder Beweismöglichkeit, insbesondere die Bewahrung einer dritten Person des Plurals sowie medialer Formen im Baltischen. Zum Schluß möchte ich ausdrücklich betonen, daß die angebliche "halbthematische" Flexion des Baltischen m.E. aus einer optischen Täuschung resultiert. In jedem Fall ist von einer ursprünglich durchgehenden athematischen Flexion auszugehen. Anders gesagt, die halbthe-

260

K A P I T E L IV

matische Flexion reflektiert nichts anderes als eine Mittelstufe bei der Beseitigung der athematischen Flexion und muß somit unbedingt als jung angesehen werden. Einen halbthematischen Flexionstyp hat es im Indogermanischen wohl nie gegeben. Das baltische Verbalsystem ist in dieser Hinsicht ebensogut wie in vielen anderen Fragen mit dem System der klassischen Sprachen durchaus kompatibel, vorausgesetzt, daß man die komplexen Umwandlungen, die es erfahren hat, unvoreingenommen berücksichtigt.

KAPITEL V

DIE KLITIKA IM BALTISCHEN Hauptthema dieser Untersuchung ist eine Frage, die mit dem Problem der Wortstellung und der Verteilung der sprachlichen Elemente im Satz eng verbunden ist, die Frage der Klitika und ihrer Positionsregeln in den baltischen Sprachen. Die Erforschung der schwachbetonten Wörter im Baltischen ist keine Neuigkeit. Über dieses Thema kann man schon eine Monographie von Hermann (1926) sowie mehrere Aufsätze, z.B. von Kazlauskas (1966: 143-149) und Stolz (1989: 13-27) über die Stellung der Reflexivpartikel oder von Mathiassen (1996: 23-29) über die Klasse der Klitika im Baltischen, lesen. Die Anregung, mich erneut mit diesem Thema auseinanderzusetzen, wurde mir durch drei bisher ungelöst gebliebene Fragen gegeben, die mir unlängst beiläufig auffielen. Da ist zuerst die Tatsache, daß die klitischen Formen des Altpreussischen nie gründlich erforscht wurden. Matthiassen (1996: 24) selbst schreibt dazu: O u r analysis will b e limited to Latvian and Lithuanian, i.e. East Baltie, since O l d Prussian material s e e m s too scanty and precarious with respect to clitics.

Offensichtlich gibt es hier eine Lücke, die ich im folgenden so weit wie möglich auszufüllen versuchen werde. Zweitens wurden die Positionsregeln der baltischen Klitika m.W. nie ernsthaft mit entsprechenden Erscheinungen in den anderen idg. Sprachen verglichen. Ich denke in erster Linie an das slavische, insbesondere an das polnische Material, das schon längst z.B. von Decaux (1955) beschrieben, aber mit dem baltischen Material nie richtig konfrontiert wurde. Drittens ist die Frage der Positionsregeln der Klitika im Baltischen mit einer weiteren Frage verbunden, die m.W. in der baltistischen Literatur kaum besprochen wurde, der Frage der sogenannten "Tmesis" oder Trennung der Präverbien und der Verben. Die unlängst erschienene Monographie von Boley (2004) gibt mir Anlaß, diese Frage unter einem baltistischen Gesichtspunkt zu behandeln.

262

KAPITEL IV

1. Identifizierung der Klitika Die erste Aufgabe, vor der wir nun stehen, ist die Feststellung von Kriterien, die eine Identifizierung der klitischen Formen ermöglichen können. Um solche Kriterien zu finden, muß man zunächst die Klitika definieren. Bekanntlich sind Klitika unbetonte Wörter, die sich an die vorhergehenden bzw. folgenden betonten Wörter anlehnen, wobei sich zwei Untertypen (Enklitika vs. Proklitika) unterscheiden lassen, und zwar je nach der Richtung dieser Anlehnung: bei den Enklitika nach links an das vorhergehende Wort, bei den Proklitika nach rechts an das folgende. Wichtig ist dabei die Natur dieser Anlehnung, denn sie bietet zuverlässige Kriterien zur Identifizierung klitischer Formen. Man könnte zunächst an ein akzentologisches Kriterium denken. Wörter, die keinen Akzent tragen, lassen sich als Klitika identifizieren. Aus dieser Perspektive könnte man in den heutigen baltischen Sprachen diejenige Wörter als Klitika betrachten, die die Sprecher ohne Akzent aussprechen, und dafür könnte man sich entweder Informanten oder linguistischer, insbesondere phonetisch-akustischer Beschreibungen bedienen. So einfach ist es aber nicht. Phonetische Experimente über die Natur der schwachbetonten Wörter im Litauischen und im Lettischen gibt es fast nicht. Es ist m.E. signifikant, daß das Buch von Girdenis (1981), das als Einführung in die Phonologie konzipiert wurde, kein einziges Wort über die Klitika sagt1. In dem rezenten Werk von Pakerys (1995) über die litauische Akzentologie wird den klitischen Formen nur ein sehr knappes Kapitel (13 Zeilen) gewidmet. Darüber hinaus scheint Pakerys in dieser kurzen Darstellung die kontextbedingt unbetonten Wörter mit den wirklich klitischen Formen zu verwechseln und beispielweise die Negation ne- (z.B. lit. ne visi "nicht alle") und die Präpositionen, wenn ihnen ein Substantiv unmittelbar folgt (z.B. lit.pöpietų "nach dem Mittagessen" = *popietų), obwohl sie sonst regelmäßig betont werden (pö), unterschiedslos als Proklitika zu betrachten. Nach Pakerys können unabhängige Wörter ihren Akzent verlieren und zu Proklitika oder Enklitika übergehen. Er führt sogar das Personalpronomen äs "ich" (z.B. lit. äs einu "ich gehe") als Beispiel eines Proklitikon (*aš-einū) an. Daneben nennt er wirklich klitische Formen, d.h. Formen, die nie betont werden, z.B. die litauische emphatische Partikel gi (z.B. lit. kadä gi "wann denn?"). Fast alle Beschreibungen des heutigen Litauischen

1

Auch in der akademischen Grammatik des Litauischen (LKG I [1965]) wird über die Klitika nichts gesagt.

DIE KLITIKA IM BALTISCHEN

263

begehen denselben Irrtum 2 . Auch in der lettischen linguistischen Tradition 3 werden Wörter, die von Natur aus nicht betont werden, und Wörter, die unter bestimmten Bedingungen ihren Akzent verlieren können (z.B. die Partikel jau "schon" in lett. nākšu jau "ich werde gleich kommen" = *'nākšu-jau oder die Präposition uz "zu" in lett. iesim uz upi "wir werden zum Fluß gehen" = *'iesim uz-'upi), unterschiedslos zu den Klitika gezählt. Es ist aber klar, daß wir hier mit zwei verschiedenen Klassen von Klitika zu tun haben. Wir müssen nämlich zwischen echten Klitika und unechten Klitika unterscheiden, d.h. zwischen Formen, die nie betont werden (Klitika von Natur aus), und Formen, die regelmäßig betont werden, aber unter bestimmten Bedingungen unbetont erscheinen können (Klitika von Position her). Beiläufig sei bemerkt, daß wir mit demselben Problem im Altgriechischen konfrontiert werden, wo zwischen echten Klitika (z.B. Prokl. EK "aus", Enki. |ioi "mir") und unechten Klitika (wie z.B. Tcepi + Subst. = Prokl. *7ispi) ebenfalls zu unterscheiden ist. Ein weiteres Problem ist, daß dieses Kriterium der Akzentlosigkeit sich nur in lebendigen Sprachen beobachten läßt und für die Identifizierung klitischer Formen in älteren Sprachstufen kaum anwendbar ist, da in den alten Texten der Wortakzent fast nie angegeben wurde. Wir haben fast keine Information zur altpreussischen und altlettischen Betonung. Die altlitauische Betonung ist uns nur durch folgende akzentuierte Texte bekannt: • • •

den Katechismas (1595) und die Postilla von Mikalojus Daukša (1599), s. Skardžius (1935a) den anonymischen Katechismus (aus dem Jahr 1605), s. Zinkevičius (1975) das Gedicht Metai von Kristijonas Donelaitis (um 1765-1775), s. Buch (1960: 212-218).

Aber diese Texte zeigen eine so weitgehende Inkonsequenz bei der Notierung des Akzents, daß kein sicherer Schluß aus ihnen gezogen werden kann. In der Postilla von Daukša (1599) ist z.B. die Fragepartikel argu, die wir als eine Sequenz / Prokl. ar- + Enkl. -gu / zu deuten geneigt sind, entweder mit Anfangsbetonung ārgu (DP l l p 13215 [1599]), ärgu

2 3

Vgl. z.B. LG (1997: 54), DLKG ( 4 2005 : 38). Vgl. M L L V G ( I 71 [1959]).

264

KAPITEL IV

(DP 48141 [1599]) oder mit Endbetonung argu (DP 42425, 42528 [1599]) bezeugt. Wir werden also gezwungen, nach anderen Indizien zu suchen. Ein weiteres Kriterium könnte durch die Schreibung geliefert werden. Bekanntlich gilt die Univerbierung oft als Zeichen der Abhängigkeit der Klitika: Die Verbindung der klitischen Formen und der vollbetonten Wörter, an die sie sich anlehnen, kann als so eng empfunden werden, daß graphische Einheiten daraus resultieren. Im folgenden werde ich versuchen, die Relevanz dieses Kriteriums zu bewerten - zunächst anhand des altpreussischen Materials. 1.1. Die Klitika im

Altpreussischen

In den altpreussischen Texten wird jedes Wort selbständig geschrieben. Trotzdem findet man viele Fälle, wo zwei Wörter eine graphische Einheit bilden, was die Vermutung nahelegt, daß zumindest eines dieser Wörter ein Klitikon ist. Hierfür zwei Beispiele. Die Satznegation wird gewöhnlich im Altpreussischen mit dem Verb, das sie modifiziert, zusammengeschrieben, z.B. Tou niturri "Du sollst nicht" (z.B. III 276, 318, 3117, 335, 33 ]5 , 3517, usw.), Stas niswintina "er heiligt nicht" (III 4910), niswintinai "nicht heiligen" (III 51 ]5), niquoitä "sie wollen nicht" (III 5115 l6), usw. Es besteht also Grund zur Annahme, daß die Negation ni- im Altpreussischen proklitikisch war, was durch die Parallele des Litauischen (z.B. nesäko "er sagt nicht" / säko "er sagt") und des Lettischen (z.B. nesaka "er sagt nicht" / saka "er sagt") bestätigt wird. Weiter beobachtet man, daß das Altpreussische eine emphatische Partikel -gi (manchmal -ggi nach Kurzvokal geschrieben) besitzt, die mit verschiedenen Wörtern zusammengeschrieben erscheint. Die Vermutung liegt nahe, daß es sich um ein Enklitikon handelt. Diese Partikel tritt in verschiedenen Formen auf: heggi "denn" 4 , dīgi "auch" (*dī-gi, z.B. III 6518, 7112, 916, dijgi III 397, 4312, 493, 496, usw., digi III 6518, 91 s , 107]9, dēigi III 516, deigi III 7915, 9521, deygi II 13]2, usw.), ergi "bis" (*er-gi, III 37 |5 , vgl. apr. er "bis"), käigi "wie" (*kai-gi, III 6114, 7523, usw., kaigi III 739, 7720, kūgi III 515, USW., vgl. apr. käi "wie"), neggi "noch, und nicht" (*ne-gi, III 314, 3310, 459, 856, 10914, vgl. lit. negi, lett. nedz), niqueigi "nimmermehr" (*nikvei-gi, III 10717, vgl. niquei "nirgends" III 65,,) und surgi "um" (*sur-gi, III 101 n ). Es ist zu bemerken, daß diese Partikel *-gi nie isoliert bezeugt ist, abgesehen von einer einzigen Stelle (III 1153:

4

Vgl. z.B. LG (1997: 54), 4 DLKG (2005: 38).

DIE KLITIKA IM BALTISCHEN

265

kaigij gi mes = wie Wir auch), die sicher korrupt ist (kaigij gi wahrscheinlich als *kaigij dijgi zu lesen)5. Bedient man sich dieses Prinzipes, so kann der Versuch unternommen werden, die altpreussischen Klitika durch ihre Tendenz zur Univerbierung mit dem Wort, an das sie sich anlehnen, zu identifizieren. Als Proklitika können demnach folgende Wörter identifiziert werden: • •

•

•

Die Satznegation wird meist mit dem folgenden Wort zusammengeschrieben, vgl. niturri, niswintina, usw. Die Nominalpräfixe werden meist mit dem folgenden Wort zusammengeschrieben, vgl. z.B. etwerpsennien "Vergebung" (*et-werpsennien, III 713 4), noseilis "Geist" (*no-seilis, z.B. III 816), usw. Die Präverbien werden meist mit dem folgenden Wort zusammengeschrieben, vgl. z.B. aūpallai "finde" (*aū-pallai, III 7920 2] ), ebsentliuns "bezeichnet" (*eb-sentliuns, z.B. III 1091() ,,), ensadinton "eingesetzt" (*en-sadinton, III 7318), endeirä "sah" (*en-deirä, III 1073), etwerpe "vergebe" (*et-werpe, III 71 ]8), ismigē "entschlief' (*is-migē, III 101,3), perklantemmai "verraten" (*per-klantemmai, III 35,), perrēist "verbinden" (*per-reist, III 892), pokünst "behüten" (*po-kūnst, III 79, 5 ), sengidaut "erlangen" (*sen-gidaut, III 121,2), senrists "verbunden" (*sen-rists, III 599). Die Präpositionen werden oft mit dem folgenden Wort zusammengeschrieben, z.B. andangon "im/zum Himmel" (*an-dangon, I 9,, vgl. endangon III 553, 576, 5716, 9523, usw.), enstesmu "darin" (*en-stesmu, III 17l5), enwissai nautei "in allen Noten" (*en-wissai, III 294 5), essestan Jumprawan "von der Jungfrau" (*esse-stan, III 4312), nosemien "im Land" (*no-semien, III 29,9, vgl. III 516, nosemmien III 45 l 6 ),perwans "für euch" (*per-wans, I 139), postesmu nadruwisnan "nach der Hoffnung" (*po-stesmu, III 639 ļ()), pobītas īdin "nach dem Abendmahl" (*po-bītas, III 758), prastans Predickerins "vor die Pfarrer" (*pra-stans, III 1713), preytickray "zur rechten (Seite)" (*prei-tickray, 19 2 ),preistesmu "daneben" (*prei-stesmu, III 1719), senstesmu "damit" (*sen-stesmu, III 12120), usw.

Gemäß demselben Prinzip können als Enklitika folgende Wörter gedeutet werden:

5

So Mažiulis (PKEŽ II 70 [1993]).

266

KAPITEL IV

• •

Die Partikel -gi in beggi, dīgi, ergi, käigi, neggi und niqueigi. Wahrscheinlich die Partikel -ga in anga "ob" (III 673, 674, 67fi, 677), vgl. alit. an-gu "oder" und nesan-ga "denn". • Das zweite Glied der bestimmten Adjektive, das ursprünglich wohl ein enklitisches Pronomen war, vgl. pirmannien "der erste" Akk.Sg. (*pirman-jan, III 1017, cf. auch III 1033, vgl. lit .pirmąjį), vgl. auch walnennien "das beste" (*walnan-jan, III 354), stae neuwenen Testamenten "das Neue Testament" (*nawan-jan, II 13 1718 ), pirmoi "die erste" (*pirmā-jī oder *pirmä-jä, III 4714, cf. lit. pirmoji, dial. pirmojo), dengnennissis "der himmlische" (*dengnenis-is, III 79 n ). • Das anaphorische Pronomen -din (Akk.Sg.), -dins (Akk.Pl.) in proweladin "verriet ihn" (*prowela-din, I 134, Passiv im deutschen Original: er verraten wardt), weddedin "brachte sie" (*weddē-din, III 101 ļ7),pērdin "für ihn" (*pēr-din, III 125J, prēidin "zu ihm" (*prēidin, III 11515), wirstidien "man wird" (*wīrst-dien, III 10120), prēidins "zu ihnen" (*prēi-dins, III 10526), nodins "auf sie" (*no-dins, III 1 1 3 7 8 ), Crixtididiens "tauft sie!" (*crixtidi-diens, II 1113.14), poglabüdins "streichelte sie" (*poglabü-dins, III 1137), ebsgnädins "segnete sie" (*ebsgnä-dins, III 1138). Die Form -di in turridi "man soll" (*turri-di, III 6517, vgl. turedi III 6515), kāidi "daß man" (*käi-di, III 659, 6510, 1 1514, aber getrennt in kai dei III 9112) ist als Nachahmung des Deutschen man entweder als Neutrum Singular *di (*dit, vgl. avest. -dit) oder als Maskulinum Plural aus *djai (mit der thematischen Endung) oder aus *dei (*-dei-(esj, vgl. air. ė "sie") oder gar als Neutrum Plural *dī(< *dih2, vgl. avest. dt) zu deuten 6 . • Vielleicht steckt in der Endung -ts, die in limatz "er brach es" (*limats, I 136), daits "er gab es" (*dai-ts, I 136), dinkauts "dankt" (III 753, 758, usw.), limauts "brachs" (III 753), billäts "sprach" (III 754, 759, usw.), immats "nahm" (III 75 j), usw. auftritt, ein enklitisches anaphorisches Pronomen -ts. Diese Deutung ist aber unsicher 7 . • Die Reflexivpartikel -sin, seltener -si wird oft mit dem vorausgehenden Verb zusammengeschrieben: audasseisin "geschehe!" (*audassei-sin, I 9 ļ6 ), Audäsin "geschehe!" (wohl *audäst-sin, III 51 5 ), maitätunsin "sich nähren" (*maitätun-sin, III 8721), dätunsi "sich

6 Neutrum Singular nach Endzelins (1943: 82); Maskulinum Plural *djai nach Stang (1966: 234) oder *dei nach van Wijk (1918: 120); Neutrum Plural nach Mažiulis (PKEŽ I 202-203 [1988]). S. auch Euler (1992: 129). 7 Euler (1992: 130) schlägt vor, in der Endung -ts die Entwicklung von *-dis zu erkennen.

DIE KLITIKA IM BALTISCHEN

267

geben" (*datun-si, III 6518), etlaikusin "enthält sich" (*etlaiku-sin, III 99I3).

•

Ob die Personalpronomina enklitische Varianten hatten, bleibt unsicher. Aus der Form iquoitu "wenn du willst" (*ik-quoi-tu, III 79g) könnte man vermuten, daß das Pronomen der zweiten Person *tu enklitisch war. Doch haben wir hier wahrscheinlicher mit einer Nachahmung des Deutschen (wilstu) zu tun; darüber hinaus ist die Univerbierung nicht konsequent durchgeführt (vgl. iquoi tu in III 819, quoi tu III 9918, 1293, USW.).

Diese Analyse stößt auf zweierlei Schwierigkeiten. Viele der oben aufgelisteten Wörter sind manchmal auch selbstständig geschrieben, so daß ein Zweifel an ihrer klitischen Natur legitim erscheinen könnte. Beispiele bei den vermutlichen Proklitika: •

•

•

•

Satznegation: z.B. Thou ni tur "Du sollst nicht" (I 53, 512, 5 ]9 , 521, vgl. III 356, 855, usw.), ny wedais führe nicht!" (I 115, cf. ni weddeis III 55J4), ni immimai "nehmen nicht" (III 33 ļ0 ), ni segge "er tut nicht" (III 6116, 77,, usw.), ni druwe "glaubt nicht" (III 77,6 ,7), ni kurteiti "irret euch nicht" (III 8723), ni astai "seid nicht" (III 9310), ni dät "nicht geben" (III 10914). Selbst die Nominalpräfixe können getrennt geschrieben werden, vgl. z.B. att werpsannan "Vergebung" (I 14,), at skisenna "Auferstehung" (I 99 l0), ni isarwis "ungetreu" (III 675, vgl. 6722, 69 n ). Auch bei den Präverbien ist die Trennung bezeugt: att skiwuns "auferstanden" (I 7,9), is rankeis "erlöse" (I 1 \€),prei laiküt "vorhalten" (III 3914 15), emprīki stalle "widerstreben" (III 8923). Präpositionen: an Deiuan "an Gott" (I 79), en stan dangon "in den Himmel" (III 57,, 12), esse Deiwan "von Gott" (III 1015), no mans "über uns" (III 636),po stesmu geiten "unter dem Brot" (III 13Xb),prei semmien "zur Erde" (III 105 ļ7 ), prei mans "zu uns" (III 8316), sen māim "mit mir" (III 79,9, vgl. sen maim III 81,9).

Beispiele bei den vermutlichen Enklitika: •

Anaphorisches Pronomen -din (Akk.Sg.), -dins (Akk.Pl.): bebillē din "und hieß ihn" (III 93,4), stwi wlrsti dien wijrinan billīuns "man wird sie Männin heißen" (III 10119 20), crixtity dins "taufen sie" (I 1112), turriti dins...mijls "habt sie lieb!" (III 897 8), vgl. kirs a din "über ihn" (III 89,8), kai dei "daß man" (III 91,2).

268

•

•

K A P I T E L IV

Reflexivpartikel: audāst sien "geschieht" (III 494, 4919, 5112, usw.), ni das t sien "läßt sich nicht" (III 8724), endāst sien "begibt sich" (III 12316 |7), wartinna sin "wendet sich" (III 10125). Personalpronomina: meist getrennt geschrieben, z.B. waisse tu "weißt du?" (III 71 p trotz dt. weyssestu), turri tu "du sollst" (III 105ļ4, trotz dt. soltü), druwe tu "glaubst du?" (III 127?, 127,9, trotz dt. gleubstu), as imma tin "ich nehme dich" (III 107]5).

Oft ist mit dem Einfluß des Deutschen zu rechnen, und zwar nach dem Übersetzungsprinzip "ein deutsches Wort = ein preussisches Wort". Wenn einem deutschen Wort zwei preussische Wörter entsprechen, werden diese oft zusammengeschrieben. Beispiele: •

• •

Bei den Präpositionen: z.B. enstesmu = darinn (III 17]S), pērstan = darfür (III 41 lb),prastan = dadurch (III 6513), preis tan = da rzu (III 79 l0 ), senstesmu = damit (III 12120); vgl. auch die Postpositionpaggan "wegen" in stessepaggan = darumb (III 39?, 1075, 1 153 4 ), = derhalben (III115J. Beim Reflexivpronomen: z.B. audasseisin = geschee (I 916). Vgl. auch schindeinan = hewtte "heute" (I 11, 2), stansubban = dasselbig (III 2914), und insbesondere die Juxtaposita Sallübanlimtwei = Ehebrechen (III 3117), Buttastaws = Haußvater (III 739 10).

Oder, wenn zwei deutschen Wörtern ein preussisches Wort entspricht, werden dessen Teile getrennt geschrieben: • • • • •

Bei der Satznegation: z.B. ni turri (statt *niturri) - hat nicht (III 855), ni immimai = nicht nemen (III 3310), usw. Bei den Präverbien: z.B. prei ist bhe prei poutwei (statt *preiīst bhe preipoutwei) = zu Essen vnnd zu Trincken (III 73 ). Bei den Präpositionen: z.B. no mans (statt *nomans) = vber uns (III 636), prei semmien (statt *preisemmieri) = zur Erden (III 105]7), usw. Beim anaphorischen Pronomen -din, -dins: z.B. crixtity dins (statt *crixtitydins) = teüffen sie (I 11 ļ2), usw. Beim Reflexivpronomen: z.B. endāst sien = begibt sich (III 12316 17), wartinna sin = wendet sich (III 10125).

Es gibt aber zahlreiche Diskrepanzfälle, in denen einem deutschen Wort zwei preussische Wörter entsprechen, z.B. is rankeis / erlose (I 1 \6),prei

DIE KLITIKA IM B A L T I S C H E N

269

laikūt / fūrhalten (III 39 ļ4 _,5), oder umgekehrt in denen zwei deutschen Wörtern ein preussisches Wort entspricht, z.B. ēnmans / an uns (III 35 n ), niswintinai / nicht heiligen (III 5115), stanssuhans / den selben (III 376), preiwaitiat / zu sprechen (III 99,, ļ2), weddedin / bracht sie (III 101 |7 ), maitätunsin / sich neeren (III 8721), stessepaggan / seinet wegen (III 1118), labban seggītt / wolthun (III 55 n ,2). Die Trennung der Nominalpräfixe (z.B. at skisenna / aufferstehung I 9() |0, ni isarwis / vngetrew III 675) ist besonders auffällig, denn sie hat keine Entsprechung im Deutschen. Andere Faktoren können mitgewirkt haben. Man erkennt z.B. eine Neigung in den altpreussischen Texten, die Univerbierung zu vermeiden, wenn das zweite Glied schon zusammengesetzt ist, so z.B. en prabuskai / in ewiger (III 43 2| ), prei issprestun / zuuerstehen (III 11313). Doch auch hier gibt es Gegenbeispiele, z.B. enpräbutskan / ewiglich (III 513), emperbandäsnan / in Versuchung (III 55 ļ4 ) oder nostansubban / hierauf/{III 125,). Manchmal scheint die Univerbierung geradezu arbiträr zu sein. In preidīnkaut bhe prei girtwei (III 4115, dt. zu dancken und zu loben) wird das Präverb einmal mit dem Verb zusammengeschrieben, einmal davon getrennt. Die Adjektive ni isarwis "ungetreu" und niseilewingis "unfleissig" werden nebeneinander verwendet (III 675). Vgl. auch na semmey key endengan (19, 7 , dt. auff Erden als im Himmel). Schließlich ist auch in einigen Fällen zweifellos mit typographischen Irrtümern zu rechnen, wie z.B. in bebillē "und hieß" (III 9314), das wahrscheinlich als *b(h)e billē zu lesen ist, oder noch deutlicher in der künstlichen Bildung grünt powirpingin "grundlos" (III 109,, 12), in der die beiden Teile der deutschen Zusammensetzung grund-los ins Altpreussische transponiert (> grünt- + powirpingin "frei"), aber getrennt geschrieben werden. Anderswo weist dasselbe Wort Univerbierung auf, vgl. gruntpowirpun / grundlose (III 1 1928). Dies bedeutet nicht, daß das altpreussische Material wertlos ist. Bei einigen der oben diskutierten Formen stellt Univerbierung die Mehrheit der Fälle oder gar die Regel dar, was sicher kein Zufall ist. Wenn obige Analyse das Richtige trifft, kann man für das Altpreussische folgende Formen unter den Klitika klassifizieren: Proklitika: • • • •

Die Die Die Die

Satznegation ni-. Nominalpräfixe. Präverbien. Präpositionen.

KAPITEL IV

270

Enklitika: • • • •

Die Partikeln -gi und -ga. Das zweite Element der bestimmten Adjektive. Das anaphorische Pronomen -din. Die Reflexivpartikel -sin oder -si.

Es fällt auf, daß fast alle Klitika, die wir bisher identifizieren konnten, Einsilbler sind. Es ist bemerkenswert, daß nur einsilbige Präpositionen Univerbierung mit dem folgenden Substantiv aufweisen können; mehrsilbige Präpositionen werden fast ausnahmslos getrennt geschrieben. Dadurch erklärt sich der Unterschied zwischen z.B. prei- "neben", das als Präposition manchmal Univerbierung aufweist (z.B. preytickray I 92, preistesmuIII 17 ļ9 ,prēisienIII 57,,, usw.), undprīki"vor, gegen", kirscha "über" oderpirsdau "vor", die als Präpositionen fast nie univerbiert werden8. Die einzigen mir bekannten Gegenbeispiele sind kirschewans "über euch" (*kirsche-wans, III 133,5, dt. vber euch) und insbesondere die Präposition esse "von", die mehrmals Univerbierung aufweist (assastan I 7,4, essestan III 39,7, 49,,, 872,). Abgesehen von diesen Ausnahmen scheint die Einsilbigkeit bei den Klitika die Regel gewesen zu sein. Man könnte vermuten, daß die Univerbierung im Altpreussischen nur bei echten Proklitika völlig erfolgte und solche nur Einsilbler sein konnten. Dies erinnert an das Altgriechische, wo nur einsilbige Präpositionen von Natur aus proklitisch sind (EK, ev, eię), während Mehrsilbler entweder betont werden oder sekundär zur Proklise übergehen, die durch den Gravis notiert wird (z.B. öiä, 7tepi, erci, omo, usw.). Eine zweite Bemerkung geht von der wohlbekannten Tatsache aus, daß Klitika gerade aufgrund ihrer Unbetontheit oft unregelmäßige 8 Vgl. prīki "vor, gegen": preiken twaien tawischen (I 5 2 2 ) , p r i j k i twaian tawischan (III 33 ļ 6 ), prīki stawidans pallaipsans (III 39 4 ), prijki wissan wargan (III 41,,), prīki maian waispattin (III 69 4 5),prīkan Deiwas pallaipsans (III 69 ļ 7 prīki stessemu Klausiweniki (III 71 5 ),prīki stan Auktimmiskan (III 8 9 2 ) , prīki Deiwan (III 91 ]9), krīki tennans (III 93 | 0 ), prīkin tennans (III 95 2 | 22),priki stansubban (III 9 9 n ) , prīki stans malnijkikans (III 113 n "über": kirscha wissan powijstin (III 27 9 ]0, 27 ] 6 -29,, 2 9 u l2 , 12). Dasselbe bei kirscha 31 ,_2, 31, 0 _,,, 33, 8 l9 , 359_10, 37, 2), krscha wissan powijstin (III 33 ? 8 ), kirscha iousan Dusin (III 89,,), kirsa din (III 89, 8 ), kerscha sien (III 89 23 24), kirscha suckans (III 107,), kirscha stans Pippalins (III 107, 2), kirscha wissans swirins (III 107 2 ), kirscha stans (III 109,), kērschan schan twaian schlüsnikin (III 117 l8 ), kirschan stan twaian schlüsnikan (III 117, g ,9). Dasselbe bei pirsdau "vor": pirsdau Deiwan (III 63 20 , 65 13 , 65, 7 , 671(t_l9, 10520, 107 2l , 117 2 ), pirsdau stesmu Klausijwingin (III 65 2 0 ),pirsdau Joūmas (III 67 20 ), pirsdau Joūmans (III 69, 0 ), pirsdan Deiwan (III 71 5 ), pirsdau grīkan (III 7915_16), pirsdau wissan powijstin (III 91, 2 ), pirsdau stesmu (III 95 24 ), pirschdau wissan sküdan bhe wargan (III 79 | 3 ), pirschdau stan stallan (III 83fi 7), pirschdau ackins (III 9 5 p i r s c h a u Kīrkin (III 99, 5 ,7).

DIE KLITIKA IM BALTISCHEN

271

lautliche Entwicklungen aufweisen. Dies könnte auch im Altpreussischen der Fall sein. Z.B. hat die Partikel -gi eine Variante -g, wo der auslautende Vokal gefallen ist, vgl. dīgi "auch" (oft) und deyg (113 12 ), de i (III 11116). Die Senkung der Negation *ne- (vgl. noch neggi "noch") zu ni- könnte auch durch ihren proklitischen Charakter verursacht worden sein. Die Entwicklung von *audäst-sin zu audäsin (III 515) oder von *wīrst-di zu wirsti (III 101J9) läßt sich auch wahrscheinlich durch die Enklise der Reflexivpartikel, bzw. des Pronomens *-di erklären. Es muß an dieser Stelle auch auf die Bemerkung Trautmanns (1910: 270) hingewiesen werden, daß das Pronomen der zweiten Person *tu nur dann diphthongiert (toü) wird, wenn es dem Verb vorausgeht. Wenn es dem Verb nachgesetzt wird, wird es nie diphthongiert geschrieben: Man hat nur tu9. Nimmt man an, daß die Diphthongierung etwas mit dem Akzent zu tun hat, so könnte man die nachgesetzten Formen der zweiten Person als Enklitika deuten. Schließlich sei noch auf Sandhierscheinungen hingewiesen, die die klitische Abhängigkeit zu bestätigen scheinen, z.B. die Entwicklung von *-n-P- zu *-m-P-, vgl. z.B. emperbandāsnan "in Versuchung" (*en-perbandäsnan, III 5514) oder empolijgu griku "in gleicher Sünde" (*en-polijgu, III 1152). Es gibt aber auch hier Gegenbeispiele, sowohl mit Univerbierung (z.B. enbändan III 2714) als auch ohne Univerbierung (z.B. en prabuskai III 4321). Schließlich möchte ich an die Tatsache erinnern, daß das Längezeichen im dritten Katechismus die Akzentstelle anzugeben scheint (vgl. semmē "Erde" III 10517 = *zem'ē)10. Wenn das so ist, kann man aus Beispielen wie ēnmans (III 3513, dt. an uns, III 6314_15, dt. Inn vns),prēimans (III 493, dt. bey vnns), ēnsien (III 65g_9, dt. in sich), ēnmien (III 7920, 8120, dt. an mir),prēmien (III 1133, dt. zu mir),pömien (III 131,3), prēidin (III 115]S, dt. zu Jhm),prēidins (III 10526, dt. zu jnen) vermuten, daß in einer Sequenz / Proklitikon + Enklitikon / das Proklitikon den Akzent bekam, wie im Slavischen". Bekanntlich hatte das Altgriechische beide Möglichkeiten: [ P+E], z.B. S I T I Ę , oder [P+'E], z.B. EK G O U . 1.2. Die Klitika im

Ostbaltischen

Für das Litauische, das ich hier als Beispiel nehme, verweise ich auf die Monographie von Hermann (1926), der die enklitischen Formen sorgfältig aufgelistet und deren Positionsregeln analysiert hat. Aus diesem Buch ergeben sich für das Altlitauische folgende Enklitika: 9

Dazu s. Hermann (1926: 9). So explizit Mažiulis (PKEŽ IV 59 [1997]). 11 Vaillant (1948: 376). 10

272

•

KAPITEL IV

Die Personalpronomina der ersten Person alit. mi "mir" und ti "dir" (Dat., manchmal auch als Akk. gebraucht)12, zum Beispiel: (1) BB Apok Joh 3 I8 [1590]: Duomiet protą. "Ich gebe dir den Rat." (*duomie-t(i))

Hermann (1926: 95-99) erwähnt auch eine spätere Variante ma, zum Beispiel: (2) Juška LD 1698 [1880]: Dūk ma mėsos! "Gib mir Fleisch!" Sie ist wahrscheinlich als Verkürzung der betonten Dativform man zu deuten, aber zweifellos war sie enklitisch gebraucht, wohl unter dem Einfluß der älteren enklitischen Form mi. •

•

Die Reflexivpartikel -sin, z.B. alit. laikosi "verhält sich" (*laiko-si, MŽ 97 ]4 [1559]). Im Altlitauischen gab es eine Variante -se, z.B. bijose "fürchtet sich" (*bijo-si, MŽ 3487 [1570]); sie setzt nicht unbedingt den alten Akkusativ fort (vgl. Hermann 1926: 83-87). Eine Reihe von emphatischen, bzw. interrogativen Partikeln, die mit -g- anlauten, vor allem -gi, -gu, seltener -ga, -ge'4. Die Partikel -gi (oft zu -g reduziert) war im Altlitauischen weit verbreitet, sowohl in freiem Gebrauch 15 als auch speziell nach Pronomina 16 , nach Konjunktionen (wie jog(i) "daß", vgl. auch kurgi "wo denn" 17 ) oder nach Präpositionen, bzw. Präverbien18. Die Partikel -gu trat meist in Fragesätzen auf, entweder allein19 oder mit einer anderen Fragepartikel wie argu im

12 Hermann (1926: 16-46 für mi, 4 6 - 5 0 für //). S. auch Zinkevičius (1980-1981: I 55), Judeikicnė (1997: 201-205). 15 Hermann (1926 : 83-95). 14 Hermann (1926: 103-333), Stang (1976: 127-131). Zur Partikel -gu s. besonders Lühr (1995: 119-130). 15 Z.B. MŽ 2 6 p [1547]: schitugi budu "auf eben diese Weise" (*schitu-gi, vgl. 34,,, 37 lh ). Z.B. KN 1 102, [1653]: tu gi "du also". 17 Z.B. M Ž 36 5 6 [1547]: ßinadamij iagi ijr iuss turit Pana Dangui "wissend, daß ihr auch einen Herrn im Himmel habt". 18 Z.B. MŽ 31 2] [1547]: Nogi Dewa ijngi statitas ijra. "Sie sind von Gott eingesetzt." (*no-gi Dewa, *in-gi-statytos), MZ 13110 [1559]: Prieg wandens est ßodis schwentas. "Neben dem Wasser ist das heilige Wort." (*prie-gi wandens). 19 Z.B. PK 45,t> [1598]: Ilgaygu gießkosite? "Werdet ihr lange suchen?" (*ilgai-gu).

DIE KLITIKA IM BALTISCHEN

• •

273

zweiten Glied einer Frage20. Mit der Partikel -ga waren im Altlitauischen fast nur nesanga "denn" und betaiga "aber" üblich21. Die seltene Variante -ge ist hauptsächlich bei Bretkūnas belegt, z.B. eikige! "gehe!" (*eiki-ge, BB 1 Kön 112 [1590]). Andere emphatische bzw. interrogative Partikeln wie -te22, -do, -da23. Vgl. Hermann (1926: 385-387 und 349-352). Die Partikel -b, die am Ende der Konjunktion jėib "wenn" (hypothetisch) auftritt, zum Beispiel: (3) MŽ 25 6X 9 [1570]: Jeib Christus ne keles / Swiets butu prapules / "Wenn Christus nicht erstanden wäre, würde die Welt verloren gegangen sein."

Hermann (1926: 345-348) betrachtete sie als eine Nebenform der sonst bezeugten emphatischen Partikel be (oder ba, bo), die oft eine typisch enklitische Position einnimmt (vgl. lit. arba "oder" schon MZ 63 ]7 [1547] < *ar-ba, juobä "desto mehr" < *juo-ba), aber manchmal auch am Satzanfang bezeugt ist24. Stang (1970: 153-159 [1958]) hat hingegen gezeigt, daß die Konjunktion jėib nichts mit der Partikel ba, be, bo (welche aus dem Slavischen entlehnt ist, vgl. poln. bo "denn") zu tun hat, sondern aus der Anhängung der dritten Person *bi des Optativs des Verbums "sein" an die Konjunktion jei stammt (*jėi-bi > jėib). Nur so kann man die Tatsache erklären, daß die Konjunktion jėib oft ein Partizip regiert, wie in dem oben gegebenen Beispiel (MZ 2568 9 [1570]): ieib Christus ne keles "wenn Christus nicht erstanden wäre" (*jei-b(i) "wenn wäre" + Christus "Christus" + ne "nicht" = keles "erstanden" = kėlęs, Part.Prät.Akt. von kelti "erstehen") 25 .

20 Z.B. MT 258b 6 [1600]: Mirschtaguįmogaus duschia argujra nesmertelna? "Ist des Menschen Seele sterblich oder ist sie unsterblich?" (*mirsehta-gu, *ar-gu). 21 Z.B. W P 13b3, 32 [1573]: Nesanga tu ira karaliste dangaus. "Denn derer ist das Himmelreich." (*nesan-ga), MŽ 463 7 [1570]: Betaiga Diewas musu dangui esti. "Aber unser Gott ist im Himmel." (*be-tai-ga). 22 Z.B. AK 49 20 [1605]: Erte daug ira Mariu? "Gibt es viele Marias?" (*ar-te). 23 Z.B. ChB 1 Kön 12ļļS [1664]: Kas do dala turyme Dowidiep? "Was für einen Teil haben wir an David?". 24 Z.B. MŽ 1 1, [1547]: Be gieresny su sehwenta burtinikie gaidi walgiti. "Denn es ist besser mit einer heiligen Wahrsagerin einen Hahn zu essen." o d e r M Ž 3521 [1547]: Ba tatai esti teisu. "Denn das ist gerecht.". 25 Zu dieser periphrastischen Konstruktion vgl. Christus esti keles früher in demselben Text (MŽ 256, [1570]).

274

•

K A P I T E L IV

Daß das Adverb jaü "schon" einen enklitischen Gebrauch aufweisen kann, ist nach Hermann (1926: 352-360) möglich. Man hat z.B. bei Mažvydas: (4) MŽ 66 |g [1547]: Schirdi iau mana atnaugink. "Erneuere nun mein Herz."

Aber dasselbe Adverb kann auch am Satzanfang stehen, zum Beispiel: (5) MŽ 64, [1547] : Jau vßmirssk mana silpnibe. "Vergiß schon meine Schwäche." Summarisch zählt Hermann für das Altlitauische unter den Enklitika drei Wortklassen: • • •

Die Personalpronomina der ersten und zweiten Person alit. mi "mir" und ti "dir" und die parallele Reflexivpartikel -si. Die emphatischen, bzw. interrogativen Partikeln -gi, -gu, -ga, -ge. Andere Partikeln wie -te, -ba, -bo, -be oder -do, -da. Die Partikel -b in der Konjunktion jėib "wenn" (< *-bi, Optativ des Verbums "sein").

Es fällt auf, daß Hermann in seiner Untersuchung viele Formen außer acht läßt, die aus der Sicht der historischen Grammatik oder selbst der Beschreibung der modernen baltischen Sprachen als Klitika betrachtet werden könnten. Er berücksichtigt ausschließlich die Enklitika und sagt nichts über die Proklitika. Und selbst bei den Enklitika läßt er z.B. das Kennzeichen der bestimmten Flexion der Adjektive (Typ lit. geräs-is "der gute") unberücksichtigt, obwohl es nach allgemeiner Auffassung als ein an die Adjektivform angehängtes Enklitikon betrachtet wird. Die Postpositionen, die die vier lokalen Kasus Inessiv / Illativ / Adessiv / Allativ bilden, werden ebenfalls außer acht gelassen, obwohl es sich ursprünglich offensichtlich um Enklitika handelte, die sich zu untrennbaren Endungen entwicklet haben, z.B. Inessiv miške "im Wald" (< Lok. + *-ēn), Illativ miškan "in den Wald" (< Akk. + *-na), Adessiv miškiep(i) "neben dem Wald" (< Lok. + *pie), Allativ miškop(i) "zum Wald"

DIE KLITIKA IM BALTISCHEN

275

(< Gen. + *pie)u\ In der heutigen litauischen Sprache wird nur noch der Inessiv, teilweise auch der Illativ verwendet. In einem wichtigen Aufsatz über die Klitika im Baltischen stellte Terje Mathiassen (1996: 24) für die heutigen ostbaltischen Sprachen folgende Liste auf. Zunächst die Proklitika: •

• •

Die Fragepartikeln vai im Lettischen und ar im Litauischen. In den modernen lexikographischen Arbeiten werden beide Formen mit einem Akzent versehen (lett. väi, ME IV 432, lit. ar, DL 4 2000: 39), aber in den linguistischen Werken werden sie oft als proklitisch angegeben. Zum Gebrauch vgl. lett. Vai tu viņu pazīsti? "Kennst du ihn?" (ME IV 432), lit. Ar tiesä? "Ist es die Wahrheit?" (DL 4 2000: 39). Die Satznegation ne- "nicht" des Litauischen und des Lettischen. Beispiel: lit. nesako, lett. nesaka "er sagt nicht". Die Affixe te-, be-, tebe- und nebe- des Litauischen. Es handelt sich z.T. um modale, z.T. um aspektuelle Affixe. Die Partikel te- drückt eine gewisse Beschränkung der Handlung aus (Grundbedeutung etwa "nur" oder "nur noch"), z.B. Jis tiek težino. "Er weiß nur so viel." (DL 4 2000: 836), oder sie regiert den sogenannten "Permissiv", z.B. Težinai! "Möge er wissen!" (DL 4 2000: 836), heute oft durch den Indikativ ersetzt (Težino!). Die Partikel be- drückt eine Handlung aus, die (zu) lange dauert (Grundbedeutung etwa "noch, ständig"), zum Beispiel: (6) Miežinis (1894: 29): Bevargsti žmogus ant svieto. "Der Mensch leidet ständig in der Welt."

Mit dem Partizip drückt sie den Anfang der Handlung aus (im sogennantenpradetinis laikas), z.B. Buvau beeinąs. "Ich hatte begonnen zu gehen." (DL 4 2000: 76). Die Partikel tebe-, die aus te- und be- zusammengesetzt ist, drückt den Fortbestand der Handlung aus (Grundbedeutung etwa "immer noch"), z.B. Tebedirba. "Er arbeitet noch." (DL 420 00: 83 6). Die Partikel nebe- (aus ne- und be-) bedeutet "nicht mehr", z.B. Nebedirba. "Er arbeitet nicht mehr." (DL 4 2000 : 417). Dann die Enklitika:

Zu den baltischen lokalen Kasus s. ausfuhrlich Zinkevičius (1980-1981: 253-265). S. auch Petit (2007a).

276

• •

K A P I T E L IV

Die deiktische Partikel -gi im Litauischen. Die Reflexivpartikel -s(i) im Litauischen und Lettischen.

Schließlich erwähnt Mathiassen auch zwei Enklitika, die in der modernen Sprache entweder verschwunden oder nicht mehr analysierbar sind: • •

Die unbetonten Personalpronomina mi und ti des Altlitauischen. Das pronominale Element der bestimmten Form der Adjektive -is.

Bei dieser Klassifikation fällt auf, daß weder die Präverbien, bzw. Präfixe noch die Präpositionen als Proklitika analysiert werden. Die Endungen der lokalen Kasus werden ebenfalls nicht berücksichtigt. Die Frage stellt sich nun, nach welchen Kriterien welche Elemente als Klitika betrachtet werden können. Im folgenden werde ich festzustellen versuchen, ob die Kriterien, die ich für das Altpreussische verwendet habe, auch für das Ostbaltische gelten können. Das Kriterium der graphischen Univerbierung erweist sich im Ostbaltischen als relativ problematisch, sowohl aufgrund der in den alten Texten herrschenden orthographischen Schwankungen als auch aufgrund der im Laufe des 19. Jahrhunderts verhältnismäßig arbiträr erfolgten Normalisierung. Darüber hinaus muß man immer mit dem Einfluß anderer Sprachen (Polnisch, Deutsch, Latein) auf die Entwicklung der Schreibkonventionen der baltischen Sprachen rechnen. Einige Beobachtungen sind trotzdem möglich. Hinsichtlich der Univerbierung sind dreierlei Formen zu unterscheiden: • • •

Formen, die immer Univerbierung aufweisen. Formen, die nie Univerbierung aufweisen. Formen, die manchmal Univerbierung aufweisen, manchmal nicht.

Im heutigen Litauischen und Lettischen ist die Verteilung klar. Immer univerbiert werden bei den Proklitika die Satznegation ne- und im Litauischen die Affixe te-, be-, tebe- und nebe- sowie die Nominalpräfixe (z.B. lit. pasaulis "Welt" < *pa-saul- "Raum unter der Sonne") und die Präverbien (z.B. lit. padirbti "erarbeiten" oder "ein bißchen arbeiten" < *pa-dirbti), bei den Enklitika die Reflexivpartikel -s(i) (z.B. lit. bijosi "er fürchtet sich" < *bijo-si) und das Kennzeichen der bestimmten Flexion -is (z.B. lit. gerasis "der gute" < *geras-is, Gen.Sg. gerojo < *gero-jo). Die Endungen der lokalen Kasus, die ursprünglich wohl

DIE KLITIKA IM BALTISCHEN

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Enklitika waren, sind seit dem Anfang des Schrifttums nicht mehr als selbständige Elemente anzusehen. Nie univerbiert werden bei den Proklitika die Fragepartikeln vai des Lettischen, ar des Litauischen sowie die Präpositionen (z.B. lit. pö pietų "nach dem Mittagessen" = *po pietų). Im heutigen Litauischen ist die Partikel -gi meist selbständig geschrieben, z.B. Seniaü gi čia buvo miškai "Früher gab es hier Wälder." (DL 420 00: 173), Käs gi tu per vienas? "Was für ein Mensch bist du?" (DL 420 00: 288). Sie wird jedoch in der Fragepartikel argi und in verschiedenen Konjunktionen (z.B. lit. taigi "also", irgi "auch", kadangi "weil") univerbiert. Die Partikel -gu ist heute nur noch in Konjunktionen bezeugt; Univerbierung ist die Regel (vgl. lit. jeigu neben jei "wenn", hypothetisch). Im Altlitauischen war die Grenze zwischen den univerbierten und den nicht-univerbierten Formen zum Teil anders festgesetzt als heute. Um diesen Punkt zu illustrieren, werde ich als Beispiel die Postilla von Daukša (1599) nehmen. Dieser Text ist einer der wenigen akzentuierten altlitauischen Texten. Sein Betonungssystem wurde von Pranas Skardžius (1935a) sorgfältig beschrieben. Bei Daukša lassen sich viele Schwankungen beobachten. Die Frage stellt sich, ob diese Schwankungen eine Bedeutung haben; ich glaube, daß sie nicht völlig willkürlich sind. Bei den Proklitika erhält man folgendes Bild. Die Satznegation newird bei Daukša (1599) bald getrennt, bald mit dem folgenden Verb zusammengeschrieben, vgl. z.B. die Dubletten ne esmi "ich bin nicht" (DP 259 ]5 , 293 n , 314 35 » 3 1 6 6 [ 1 5 9 9 D u n d n e s m i ( D p 1132
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Schwankungen bezeugt, jedoch mit unterschiedlichen Tendenzen. Die Partikel te- wird meist getrennt geschrieben, z.B. te padarai "möge er machen !" (DP 25127 [1599]), usw28. Nicht so häufig wird sie mit dem Verb zusammengeschrieben, z.B. tęklausai "möge er hören !" (DP 8 326, 9816 [1599]). Bei der Partikel be- herrscht hingegen weitgehend Univerbierung, z.B. besėdis "sitzend" (DP 6622 [1599]), bereikia "es ist notwendig" (DP 8120 [1599]). Gegenbeispiele sind selten (z.B. bę welia "er will" DP 48233 [ 1599]). Bei den Präfixen, Präverbien und Präpositionen beobachtet man folgendes Verhalten, das der heutigen Verteilung genau entspricht: Präfixe und Präverbien werden ausnahmslos univerbiert, Präpositionen hingegen ausnahmslos selbständig geschrieben (z.B. passaka "Erzählung" DP 49640 [1599], pasäke "er sagte" DP 38612 [1599], usw., gegenüberpo wissäpasauli "durch die ganze Welt" DP 15g [1599], usw.). Schließlich wird die Fragepartikel ar nie mit dem folgenden Wort univerbiert (z.B. ar DP 924 [1599], usw.), abgesehen natürlich von der Stellung vor einem Enklitikon (z.B. ärba "oder" DP 30 |8 [1599], usw., ärgu "dss." DP 112 [1599]). Bei Daukša herrscht also hinsichtlich der Univerbierung der Proklitika eine ziemlich klare Verteilung: Die Präpositionen und die Fragepartikel ar werden nie univerbiert, te- wird selten univerbiert, ne- wird nur zum Teil univerbiert, be- wird meist univerbiert, Präfixe und Präverbien werden immer univerbiert. Diese Hierarchie, die bei Daukša noch widergespiegelt wird, wurde in der modernen Sprache (außer der Präpositionen) zugunsten einer überall regelmäßigen Univerbierung bei den Proklitika beseitigt. Ihre Relevanz zumindest für frühere Phasen der litauischen Sprachgeschichte kann aber nicht geleugnet werden, denn sie wird durch die Kombinationsmöglichkeiten der Proklitika bestätigt, die noch heute ihre Gültigkeit nicht verloren haben. Als Regel gilt, daß, je stärker die Tendenz zur Univerbierung im Altlitauischen war, desto näher dem Verb das Element hervortritt. Man hat demnach z.B. lit. Nebepalieka. "Er läßt nicht mehr.", alit. Te ne praleidi "Möge er nicht verbringen!" (DP 56632 [1599]) mit einer Hierarchie [-] -> [+]: ne-be-pa-, te-ne-. In dieser Hinsicht ist auf die Theorie von Mathiassen (1996: 24) hinzuweisen, der zeigt, daß die Kombinationsregeln der Proklitika im Litauischen in erster Linie durch ihren Grammatikalisierungsgrad und die relative Chronologie ihrer Univerbierung bestimmt werden. Mathiassen definiert diese Faktoren folgenderweise:

28

Cf. Skardžius (RR V 245, §130 [1935a]).

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• •

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Grammatikalisierungsgrad: "the closer to the root (host word), the greater is the degree of the grammaticalization of the prefix." Relative Chronologie: "the position of a prefix in the string refleets the relative chronology of its attachment to the host element."

Diese Theorie findet im Altlitauischen eine klare Bestätigung. Man kann vermuten, daß die Univerbierung bei den Proklitika chronologisch in folgender Ordnung erfolgte: (1) Erste Stufe: Präfixe und Präverbien. (2) Zweite Stufe: Partikel be-, (3) Dritte Stufe: Satznegation ne-, (4) Vierte Stufe: Partikel te-. (5) Univerbierung trat bei den Präpositionen und der Fragepartikel nicht ein. Bei den Enklitika ergibt die Postilla von Daukša (1599) folgendes Bild: Immer univerbiert werden das zweite Glied der bestimmten Adjektive (z.B. giėrasis "der gute" < *geras-is, DP 49628 [1599], Gen.Pl. gėrūiu < *gerų-jų, DP 34830 [1599], usw.), die Endungen der lokalen Kasus (z.B. Inessiv miėstę in der Stadt" DP 39534 [1599], Allativ miestan' "in die Stadt" DP 18114 [1599], Adessiv Diewiep "bei Gott" DP 1 1723 24 [1599], Illativ diewöp "zu Gott" DP 17 826 27 [1599]) und die Reflexivpartikel (z.B. biios "er fürchtet sich" < *bijo-si, DP 1424 [1599], düstis "er gibt sich" < *duosti-s, DP 42 ]5 [1599], usw.). Für die Personalpronomina mi und ti sowie die Partikel gi ist die Sache kompliziert29. Die Pronomina mi und ti werden bei Daukša stets mit dem vorhergehenden Wort zusammengeschrieben und regelmäßig zu -m und -t verkürzt30, z.B. Parödikim! "Zeige mir!" (*parodīki-mi, DP 6434 [1599]), Teikiüt. "Ich rate dir." (*teikiuo-ti, DP 17033, 2485I [1599]). Die Univerbierung muß alt sein, denn sie trat vor dem Leskienschen Gesetz, d.h. vor der Kürzung auslautender stoßtoniger Vokale ein (vgl. alit. teikiu-1 DP 17033, 24851 [1599] neben teykiu DP 5 3 24, 5 3 36 [1599]). Hermann (1926: 65-66) weist aber auf die Tatsache hin, daß die Univerbierung von mi und ti nicht in allen altlitauischen Texten regelmäßig war. In der Bibelübersetzung von Chyliriski (1664) werden mi und ti oft von dem vorhergehenden Wort getrennt geschrieben. Hermann (1926: 66-68)

29 Die anderen Partikeln {-gu, -ga und -ge) werden seit dem 16. Jahrhundert bis heute immer univerbiert. 30 Belege nach Hermann (1926: 44 und 49), vgl. auch Kudzinowski (1977: 324).

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macht diesbezüglich die interessante Bemerkung, daß die verkürzten Formen -m und -t, die im 16. Jahrhundert weit verbreitet waren (Typ duokim "gib mir"), im 17. Jahrhundert durch vollere Formen mi und ti (Typ duok(i) mi) stufenweise ersetzt wurden, wahrscheinlich der Durchsichtigkeit halber (Hermann spricht von "Streben nach Klarheit"); die selbständige Schreibung könnte mit dieser Entwicklung verbunden sein. Was die Partikel gi betrifft, so scheint Univerbierung bei Daukša die Regel gewesen zu sein. Beispiele: käsgi "wer denn" (*kas-gi, DP 28023, 36115 [1599], usw.), cziagi "gerade hier" (*czia-gi, DP 51020 [1599]), dabärgi "gerade jetzt" (*dabar-gi, DP 213 ]5 [1599]), ioģi "daß" (*jo-gi, einmal in DP 5464X [1599]). Sehr oft wird die Partikel zu -g verkürzt, was von ihrer Enklise zeugt, z.B. käsg "wer denn" (DP 28921 [1599], usw.), cziaģ "gerade hier" (DP 4784 [1599], usw.), dabärg "gerade jetzt" (DP 6938 [1599], usw.), iog "daß" (DP 112 [1599], usw.), vgl. auch estiģ "er ist also" (*esti-gi DP 34328 [1599]), szitūģ "dieser", Instr.Sg. (*šituo-gi, DP 14828 [1599]). In der ganzen altlitauischen Literatur war Univerbierung die Regel (so z.B. bei Mažvydas, in der Wolfenbütteler Postilla, bei Bretkūnas, usw.). Erst in der Kniga Nobažnistės (1653) findet man vereinzelte Belege für eine graphische Trennung von gi, z.B. irgi "und auch" (KN I 749 [1653]). Diese Schreibweise taucht erst im 19. Jahrhundert bei verschiedenen Autoren wie Valančius, Žemaitė, Maironis, Vaižgantas, usw., wieder auf 3 1 ; sie ist heute zur Regel geworden. Der Wandel der alten Schreibkonvention (Univerbierung) zur neuen (Trennung) trat vermutlich im 19. Jahrhundert endgültig ein. Bei den Enklitika erhält man also folgendes Bild: Univerbierung war im Altlitauischen bei allen betreffenden Wörtern die Regel. Im Laufe seiner Sprachgeschichte hat das Litauische eine Selektion operiert, indem es nur die Enklitika, die am stärksten grammatikalisiert, d.h. morphologisch untrennbar oder schon dunkel geworden waren (das Kennzeichen der bestimmten Flexion, die Endungen der lokalen Kasus und die Reflexivpartikel), univerbiert erhielt, während es umgekehrt die Enklitika, die strukturell von ihrem Bezugswort noch trennbar waren und bei denen eine morphologische Analyse noch zwingend erschien (die Pronomina mi und ti sowie die Partikel gi), wieder selbständig geschrieben hat. Das Lettische trägt weniger zur Rekonstruktion der baltischen Klitika bei32. Seit den ältesten Texten sind keine lebendige Enklitika bezeugt, 31 32

Beispiele bei Hermann (1926: 139-159). Hennann (1926: 259-260), vgl. Endzelīns (1922: 541).

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abgesehen natürlich von altererbten Formen wie das zweite Glied der bestimmten Flexion (das allerdings zu einer völligen Verschmelzung mit dem Adjektivstamm gekommen ist), die wenigen Relikte der lokalen Kasus und die Reflexivpartikel Eine Spur der Partikel -gi liegt jedoch noch in der lettischen Konjunktion nedz "und nicht" (ME II 711) vor, die aus *ne-gi stammt (vgl. lit. negi, apr. neggi). In lett. dial. a n g "auch" (ME I 141) könnte die Partikel -gu stecken (*arī-gu neben lett. ari "auch", vgl. lit. argu). Für die Proklitika gelten genau dieselben Regeln wie im Litauischen, d.h. Univerbierung herrscht überall, bei den Präfixen, bei den Präverbien, bei der Negation, sowie bei dem Affix jā- des Debitivs; man hat hingegen keine Univerbierung bei den Präpositionen 33 . Es ist jedoch zu bemerken, daß das Altlettische ähnliche Schwankungen wie das Altlitauische kannte. Ich verweise hier auf das Buch von Anna Bergmane und Aina Blinkena (1986), in dem ein Kapitel der Frage der "Zusammenschreibung bzw. selbständiger Schreibung der Wörter" (Vārdu koprakste un savruprakste, S. 98-103) gewidmet wird. Im Altlettischen war die Negation ne- manchmal mit dem folgenden Verb zusammengeschrieben, manchmal aber als ein selbständiges Wort geschrieben: Die erste Schreibweise ist im katholischen Katechismus aus dem Jahr 1585 (z.B. nebues "wird nicht sein" 250, negrib "will nicht", nepallaide "ließ nicht" 304) bezeugt, die zweite im Enchiridion aus dem Jahr 1586 (z.B. nhe buus "wird sein", nhe darryth "nicht machen", nhe grib "will nicht") sowie im Gesangbuch aus dem Jahr 1587; sie ist auch in den Schriften von Georg Mancels (Lettus 1638a, Phraseologia Lettica 1638a) sehr oft zu treffen, z.B. nhe gir "ist nicht" (Le 127, PhL VII 271), nhe grib "will nicht" (PhL XIV 316), jedoch nicht immer, vgl. nheghribbeht "nicht wollen" (Le 213). Ähnliche Schwankungen lassen sich bei dem Präfix jā- des Debitivs beobachten, das im Altlettischen beide Schreibweisen kennt und sich sonst wie ein Proklitikon verhält. In der heutigen Orthographie wird es mit dem Verb zusammengeschrieben (z.B. viņam jāzina "er muß wissen") 34 . 1.3. Die baltischen Klitika und ihre Herkunft Vergleicht man nun die Klitika der drei baltischen Sprachen, so ergibt sich folgende Klassifikation:

33 34

Zahlreiche Beispiele bei Nitiņa (1978). Bergmane, Blinkena (1986: 100-101).

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•

•

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Enklitika: (1) Das zweite Glied der bestimmten Flexion *-is (apr., lit., lett.). (2) Die Postpositionen *-ēn, *-na und *pie, die die Endungen der lokalen Kasus bilden (alit., z.T. auch lit., relikthaft im Lettischen und Altpreussischen). (3) Die Pronomina mi und ti (alit.). (4) Die Reflexivpartikel sin (apr.), s(i) (apr., lit., lett.). (5) Das anaphorische Pronomen din (apr.). (6) Die Partikeln -gi, -gu, -ga, -ge (apr. lit., lett.) sowie andere gleichbedeutende Partikeln te, do, da, bo, ba (lit.). (7) Der Optativ *bi des Verbs "sein" als Hilfswort im litauischen Konditional, vgl. alit. jeib (alit.). Proklitika: (1) Die Präfixe. (2) Die Präverbien. (3) Die Negation *ne- (apr. ni-, lit., lett. ne-). (4) Die Affixe *te- und *be- (im Litauischen). (5) Die Fragepartikeln (lit. ar, lett. vai). (6) Daß die Präpositionen im Urbaltischen proklitisch waren, wird durch das Altpreussische nahegelegt.

Diese Klitika sind meist altertümliche Formen, die ihren klitischen Charakter unmittelbar vom Indogermanischen ererbt haben. Bei den Enklitika herrscht weitgehend indogermanisches Erbe. Die Pronomina mi und ti des Altlitauischen und die Reflexivpartikel s(i) sind auf alte Genitiv-Dativformen *moį, *toi und *soi zurückzuführen, die in anderen indogermanischen Sprachen auch als Enklitika bezeugt sind35. Das Altpreussische bewahrt in der Reflexivpartikel -sin wahrscheinlich eine alte Akkusativform *sē-n, die in der Reflexivpartikel des Slavischen (aksl. sę, poln. się, russ. -sja) eine Entsprechung findet; vergleichbar sind bei den ersten zwei Personen aksl. mę "mich" (<*mē-n) und tę "dich" (< *tē-n), die auch im Altpreussischen (mien z.B. III 277 und tien z.B. III 792, tin III 10715) Entsprechungen haben, ohne daß man aus rein formalen Gründen genau bestimmen kann, daß sie dort enklitisch waren. Dem anaphorischen Pronomen -din (Sg.), -dins (PI.) des Altpreussischen " Vgl. aksl. mi "mir", ti "dir" und si "sich"; aavcst. mdi, javest. mē "mir", aavest. toi, j avest. tē "dir", aavcst. höi, javest. hē, šē "ihm"; apers. -maiy "mir", -taiy "dir", -šaiy "ihm"; aind. me "mir", te "dir", präkr. se "ihm"; gr. ikh "mir", ooi "dir" (< *tuoi statt toi < *toi, das im Dorischen weiterlebt, im Ionisch-Attischen aber zu einer Partikel wurde) und oi "ihm". Vgl. Stang (1966: 253).

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entspricht im Iranischen das Enklitikon javest. dim "ihn" (Akk.Mask. Sg.), dit (Akk.Nt.Sg.), dīš (Akk.Mask.Pl.), dī (Akk.Nt.Pl.), apers. -dim (Akk.Mask.Sg.), -dīš (Akk.Mask.Pl.) 36 . Die Partikeln -gi, -gu, -ga, -ge haben in den anderen indogermanischen Sprachen verschiedene Entsprechungen entweder mit velarer Media (*-gV) oder mit velarer Media aspirata (*-gAf/)37, vgl. sl. -go (z.B. skr. nego "sondern, als [nach Kompar.]"), -že (z.B. aksl. iže "wer", niže "und nicht"), aind. -gha (z.B. aind. trtiye ghā sävane "zumindest bei dem dritten Somatrankopfer" RV I 1618)38, -ha (z.B. aind. yö ha "wer"), gr. ye (z.B. gr. eycoye "ich"), ya (dor., böot. für ys). Daneben setzen das Altindische -hi (z.B. kärhi "wann?", tärhi "dann", nahi "doch nicht") und das Avestische -zf (z.B. avest. jeiöi zī "wenn") 39 , vielleicht auch das Griechische -%i (z.B. oüxi "nicht", valxi "ja"), eine Variante *-ghi mit palataler Media aspirata voraus, die ich unlängst (2005b: 208-209) vorschlug, im niederlitauischen Präverb anč- " a u f ' (statt ant-) aus *ant-ži (<*h2ent-ģhi, zur Bildung vgl. gr. ayxi "nah" < *dvT-%i nach der Deutung von Ciaire Le Feuvre, mündlich) wiederzufinden. Das zweite Element der bestimmten Flexion *-is setzt meiner Ansicht nach (vgl. Petit 2009) das Relativpronomen *(H)ios des Indogermanischen in enklitischem Gebrauch fort. Die Enklise des Relativpronomens ist auch im Keltischen bezeugt, vgl. air. berte "welche tragen" (< *bheronti-io), gall. gobedbi dugiiontiio ucuetin "mit den Schmieden, die den Gott Ucuetis bearbeiten (oder ehren?)" (< *dhugll-įonti-įo). Nur die enklitischen Postpositionen *-ēn, *-nā und *pie, denen die lokalen Kasus zugrunde liegen, stellen wahrscheinlich eine Neuerung des Baltischen dar. Man hat an einen Einfluß der benachbarten ostseefinnischen Sprachen gedacht, die auch über postpositive Lokalkasus verfugen. Die Annahme, daß die baltischen Postpositionen zumindest z.T. auch etwas Altes fortsetzen können, kann aber nicht so leicht von der Hand zurückgewiesen werden, denn Postpositionen treten auch in anderen indogermanischen Sprachen ein (z.B. im Sabellischen, im Tocharischen, z.T. auch im Indoiranischen, z.B. javest. zastaiia "in der Hand" < *-ai + *ä); sie sind m.E. als Grammatikalisierung einer syntaktischen Mög-

16

Vgl. Benveniste (1933). Trautmann (BSW 7 3 - 7 4 [1923]), Fraenkel (LEW I 126 [1962]), Hermann (1926: 323-327). 38 MacDonell (1916: 227). 39 Martinez und De Vaan (2001: 98). 17

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KAPITEL IV

lichkeit zu deuten, die auch in der sogenannten Anastrophe des homerischen Griechisch (z.B. Beajv CK "von den Göttern" E 64) bezeugt ist40. Ob das Verb im Urbaltischen enklitisch war oder es zumindest in gewissen Kontexten sein konnte, ist eine schwierige Frage. Das Zeugnis des Altindischen und z.T. des Altgriechischen (vgl. gr. eiļii "ich bin", (prļļai "ich sage") gibt ziemlich sichere Anzeichen, daß dies im Indogermanischen der Fall war. Die Frage ist aber, ob das Baltische diesen ursprünglichen Zustand überhaupt bewahrt hat. Das einzige Argument, das man ins Feld führen könnte, ist, daß das Hilfswort *bi, das dem baltischen Konditional zugrunde liegt, höchstwahrscheinlich enklitisch war. Dies geht aus seinem Gebrauch im Altlitauischen wie auch aus dem Vergleich mit seiner slavischen Entsprechung *by (aksl. byxb, by, usw.) deutlich hervor41. Es besteht jedoch kein Grund zur Annahme, daß außer dieser einzigen Form das Verb "sein" im Baltischen enklitisch war, wie dies im Slavischen noch zum Teil der Fall ist (z.B. poln. bylem "ich war" < *byl + *em). Ich möchte ausdrücklich betonen, daß die Zurückziehung des Akzents auf Präverbien wie z.B. in lit. päveda "er führt" (< *p'aveda, neben pavesti "führen" *pa-v'esti42) keineswegs von einer verbalen Enklise zeugt; sie spiegelt m.E. einfach ein ursprünglich endbetontes Paradigma mit späterer rezessiver Betonung wider (*pa-ved'a > *p'aveda, vgl. die ursprüngliche Endbetonung noch im Partizip vedąs "führend"). Eine verbale Enklise scheint es im Baltischen nie gegeben zu haben. Die Proklitika stellen meist indogermanisches Erbe dar. Proklise der Präfixe und Präverbien tritt in allen indogermanischen Sprachen auf, manchmal unter beschränkten Bedingungen, wie im Altindischen (Proklise der Präverbien in Nebensätzen, Betontheit in Hauptsätzen) 43 . Ob die Präpositionen im Indogermanischen proklitisch waren, ist unsicher. Dafür spricht z.T. das Altgriechische (vgl. gr. cv "in", £K "von" neben Quasi-Proklitika wie öiä "durch", 7icpi "um", etc.), dem widerspricht aber das Altindische (vgl. aind. präti "gegen",päri "um"). Die Negation *ne- war im Urindogermanischen wahrscheinlich proklitisch44. Davon zeugen z.B. das Slavische (mit Univerbierung in tsch. nebyl, ohne Univerbierung in aksl. ne hyh, russ. ne byl oder poln. nie byi

411 41 42 43 44

Vgl. Petit (2007a). Zu den slavischen Formen vgl. Decaux (1955: 118-124). Dazu ausführlich Andronovas (1995: 93-100). MacDoncll (1916: 468-469). Fraenkel (LEW I 4 8 8 - 4 8 9 [1962]).

DIE KLITIKA IM BALTISCHEN

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"er war nicht") 45 , das Lateinische (z.B. nesciö "ich weiß nicht"), wohl auch das Germanische (z.B. aeng. nyllan "nicht wollen" < *ne willan); im Altindischen ist die Negation betont (aind. na). Die Partikeln te- und be- des Litauischen sind etymologisch dunkel. Nach Fraenkel (LEW I 41 [1962]) könnte be- mit der altpreussischen Konjunktion bhe "und" (vgl. lit. bei "und" < *be- + *i(d) ?) und ferner mit dem indoiranischen Adverb aavest. bä "wahrlich" (vgl. javest. bäöa, aind. bat, badā, bala "fürwahr") verwandt sein46. Die Partikel te- bleibt ohne Etymologie. Man kann sie mit dem litauischen Ausrufungswort te "ei! schau!" vergleichen. Hermann (1926: 385) denkt ferner an gr. irį "da! hier! nimm!" 47 . Es könnte sich ursprünglich um eine deiktische Partikel handeln; ein Vergleich mit dem Demonstrativstamm *to- (lit. tas) ist möglich. Schließlich kann man sich die Frage stellen, ob die Fragepartikeln lit. ar, lett. vai wirklich als echte Proklitika zu analysieren sind. Etymologisch ist lit. ar (ar) mit der lettischen Präposition ar "mit" und ferner mit der griechischen Partikel äp(a) "denn, also, denn auch, auch eben, gerade" (vgl. besonders gr. apa "nonne?") verwandt48. Die Fragepartikel vai (vai) des Lettischen ist eine Entlehnung aus dem Livischen voi. Nichts spricht für eine ursprüngliche Proklise dieser Formen.

2. Die Positionsregeln der Klitika Bisher haben wir die baltischen Klitika aus einer rein formalen Sicht betrachtet. Die Identifizierung der Klitika war die erste Etappe, ohne die es keinen Sinn hätte, überhaupt von Klitika zu sprechen. Wir können nun die Positionsregeln, denen die Klitika folgen, zu definieren versuchen. Wenn von der Stellung der Klitika gleichgültig in welcher indogermanischer Sprache die Rede ist, gilt es zunächst zwischen Enklitika und Proklitika zu unterscheiden, denn beide Klassen gehorchen ganz anderen Prinzipien. 2.1. Die Positionsregeln

der Enklitika

Für die Enklitika gilt als allgemeiner Grundsatz das sogenannte Wackernagelsche Gesetz. Dieses Gesetz, das Ende des 19. Jahrhunderts von 45

Vgl. Vaillant (1948: S. auch Lühr (1995: 47 S. auch Frisk (GEW 4 * Vgl. Fraenkel (LEW 46

355-357). 125). II 890 [1970]). I 15 [1962]).

KAPITEL IV

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Jakob Wackernagel in einem klassisch gewordenen Aufsatz (1892: 333436) dargelegt wurde, besagt, daß den enklitischen Wörtern die zweite Stelle im indogermanischen Satz zukommt. In diesem Aufsatz ließ Wackernagel das baltische Material aus dem Spiel, was bei dem damaligen Stand der Forschung durchaus verständlich war. Es war Erich Berneker, der als erster in seinem Buch über die Wortfolge in den slavischen Sprachen (1900: 60-94) neben dem Slavischen auch das Litauische ins Feld führte. Man muß jedoch bis auf die materialreiche Monographie von Eduard Hermann (1926) warten, um diese Frage ausführlich behandelt zu finden. Hermanns Schlußfolgerungen (1926: 408-^10) sind aber ziemlich enttäuschend. Er begnügt sich mit äußerst kurzen Bemerkungen: • •

Das Altlitauische hat die ererbte Zweitstellungsregel zum Teil bewahrt, zum größten Teil aber aufgegeben. Es weist eine Tendenz auf, enklitische Formen zu vollbetonten Wörtern zu verändern und somit zur Spitzenstellung gelangen zu lassen. Als Beispiel führt er die enklitische Partikel gi an, die die erste Stelle im Satz einnehmen kann, insbesondere bei Juozas Tumas-Vaižgantas (1869-1933), zum Beispiel: (7) Juozas Tumas-Vaižgantas (Pragiedruliai 215): Žmonių buvo daug, gi darbo maža. "Der Menschen waren viel, aber der Arbeit wenig" 49

Diese Schlußfolgerung ist unbegründet, denn die Anfangspartikel gi hat wahrscheinlich nichts mit dem Enklitikon gi zu tun, sondern ist mit Fraenkel (LEW I 126 [1962]) als die Verkürzung einer Verbalform girdi "hörst du, höre" zu deuten50. Die Frage des Wackernagelschen Gesetzes im Baltischen bleibt also selbst nach Hermanns Buch eine wenig erforschte Frage. Man hat oft den Eindruck, als ob die Wissenschaftler sich mit der ungenauen Annahme begnügten, daß das Baltische die Zweitstellung der Enklitika stufenweise aufgab, obwohl gerade das Wichtige ist, wie diese Entwicklung verlief. Ältere Wissenschaftler, z.B. Berneker (1900), waren sogar radikaler, indem sie geneigt waren, die klitischen Formen, die nicht die zweite Stelle im Satz einnahmen, als nicht enklitisch zu betrachten. Diesbezüglich

4

" Vgl. Hermann (1926: 2 7 2 - 2 7 4 und 320-323). Dies bedeutet nicht, daß Enklitika ihren klitischen Charakter nicht verlieren können. Dafür gibt es Beispiele (vgl. zum Südslavischen Decaux 1955: 19). 50

DIE KLITIKA IM B A L T I S C H E N

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ist die Kritik von Etienne Decaux (1955: 16-17) durchaus begründet. Die Frage bedarf also m. E. einer weiteren Untersuchung. Ausgangspunkt meiner Analyse ist eine Theorie, die in dem schon erwähnten Buch von Etienne Decaux über die polnischen Enklitika (1955: 20-21) formuliert wurde und der Aufmerksamkeit der meisten Indogermanisten entgangen zu sein scheint. Nach Decaux (1955: 16) ist der Begriff der "Zweitstellung" in seiner klassischen Formulierung insofern trügerisch, als er dazu fuhren könnte, die zweite Stelle lediglich als die Stelle nach dem ersten Wort im Satz stricto sensu zu betrachten. Nun aber können in einem Satz mehrere Enklitika nach dem ersten Wort stehen und dieses kann noch dazu mit Proklitika verbunden werden. Nehmen wir als Beispiel den folgenden polnischen Satz: (8) Polnisch: I w nocy byšmy się go bali. "Und in der Nacht hätten wir uns vor ihm gefürchtet." In diesem Satz ist an und für sich das zweite Wort die Präposition w "in"; die enklitischen Formen byšmy "wir wären" + się "sich" + go "ihn" treten erst in vierter, bzw. fünfter und sechster Stellung ein. Dies bedeutet aber nicht, daß das Wackernagelsche Gesetz hier nicht wirkt, denn i "und" und w "in" sind hinsichtlich der Betonung neutral, wenn nicht direkt proklitisch, und das erste betonte Wort ist das Substantiv noc "die Nacht": Für das Enklitikon byšmy "wir wären" kann man also von Zweitstellung reden, wenn damit die Stellung nach der ersten betonten Einheit verstanden wird. Die Enklitika się "sich" und go "ihn" treten auch strukturell in zweiter Stellung ein, weil sie vor sich eine einzige betonte Einheit haben, nämlich noc "die Nacht"; sonst gibt es nur Proklitika und Enklitika [/ w 'nocy byšmy się go 'bali]. Das Wackernagelsche Gesetz kann also genauer formuliert werden: Enklitika stehen nach der ersten betonten Einheit und dürfen nicht mehr als eine betonte Einheit vor sich haben. Diese Auffassung könnte leicht auf die anderen indogermanischen Sprachen übertragen werden. Decaux (1955: 20-21) macht dann einen zweiten Schritt. Er denkt, daß die Stellung der Enklitika im Slavischen nicht nur von ihrer linken Seite, d.h. von der Zahl der vor ihnen stehenden betonten Einheiten abhängt; sie hängt auch von ihrer rechten Seite ab, und zwar in der Weise, daß die letzte betonte Einheit, an die Enklitika sich anlehnen können, das Hauptverb ist: Keine betonte Einheit kann zwischen dem Verb und den

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KAPITEL IV

Enklitika stehen. Diese Beschränkung wird ausdrücklich von Decaux hervorgehoben (1955: 20): Le dernier m o t sur lequel puisse s ' a p p u y e r l ' e n c l i t i q u e est le v e r b e de la phrase.

Die linke Grenze der Klitika wurde schon längst anerkannt, sie bildet ja den Kern des Wackernagelschen Gesetzes. Die rechte Grenze wurde dagegen oft ignoriert. Ein Beispiel kann diese Modifizierung des Wackernagelschen Gesetzes im Slavischen illustrieren. Der deutsche Satz sie gaben ihm dreißig Rubeln kann ins Polnische folgenderweise übersetzt werden: (9a) Dali mu trzydziešci rubli. / ' Verb+Enkl.+' Zahlw.+' Subst. / (9b) Trzydziešci rubli mu dali. / Zahlw.+ 'Subst.+Enkl.+ 'Verb / (9c) Trzydziešci rubli dali mu. / Zahlw.+ Subst.+'Verb+Enkl. / Eine weitere Übersetzung ist möglich, doch sie ist selten und markiert: (9d) Trzydziešci mu rubli dali. / 'Zahlw.+Enkl.+ 'Subst.+ Verb / Nur drei Übersetzungen sind unmöglich: (9e) * Mu dali trzydziešci rubli. / Enkl.+' Verb+'Zahlw.+' Subst. / (9f) * Mu trzydziešci rubli dali. / Enki.+'Zahlw.+'Subst.+'Verb / (9g) * Dali trzydziešci rubli mu. / ' Verb+'Zahlw.+' Subst.+Enkl. / Die letzte Übersetzung, in der zwischen dem Verb dali "sie gaben" und dem Enklitikon mu "ihm" noch betonte Einheiten auftreten, klingt im Polnischen ungrammatisch. Nur in höchst markierten, poetischen Kontexten kann sie eventuell Verwendung finden. Es fällt auf, daß unter den bezeugten Möglichkeiten nur vier im Rahmen des Wackernagelschen Gesetzes erklärt werden können. Die Übersetzungen (9e) und (9f), bei denen das Enklitikon am Anfang des Satzes steht, widersprechen dem Gesetz und sind gerade aus diesem Grund unmöglich. Bei den Übersetzungen (9a) und (9d) steht das Enklitikon in der zweiten Stelle nach einer einzigen betonten Einheit, also

DIE KLITIKA IM B A L T I S C H E N

289

ganz im Einklang mit dem Wackernagelschen Gesetz. Es gibt aber noch andere Möglichkeiten (9b und 9c), bzw. Unmöglichkeiten (9g), die offentsichtlich nicht aus der Durchführung des Wackernagelschen Gesetzes hervorgehen, sondern einer anderen Erklärung bedürfen. Bei (9b) könnte man einfach annehmen, daß die Gruppe trzydziešci rubli "dreißig Rubeln" als eine untrennbare syntaktische Einheit aufgefaßt wurde und das Enklitikon demnach nur nach der ganzen Gruppe eintreten konnte; dies könnte auch die Seltenheit der Variante (9d) erklären, bei der das Enklitikon in die Gruppe trzydziešci rubli eingeschoben wird. Die Variante (9c) zeigt aber, daß das Enklitikon im Polnischen nach mehreren betonten Einheiten im Satz stehen kann, was dem Wackernagelschen Gesetz widerspricht. Aber die Variante (9g) zeigt, daß diese Möglichkeit auf die Stellung unmittelbar nach dem Verb beschränkt ist, denn sie ist ausgeschlossen, wenn das Verb von dem Enklitikon durch ein anderes betontes Wort getrennt wird. Der Vergleich von (9c) und (9g) veranschaulicht deutlich die Hauptrolle des Verbs bei den Positionsregeln der Enklitika. Man könnte sogar sagen, daß das Polnische das Wackernagelsche Gesetz gemäß der Stellung des Verbs völlig reorganisiert hat. Es hat von den alten Beschränkungen des Gesetzes nur das Verbot der Anfangsstellung erhalten, sonst kann sich das Enklitikon in einem größeren Raum frei bewegen, der sich zwischen der Zweitstellung und der Stellung nach dem Verb befindet. Faßt man also die These von Etienne Decaux zusammen, so ergeben sich folgende Positionsregeln für die Enklitika: • •

Im Indogermanischen mußten Enklitika die zweite Stelle nach der ersten betonten Einheit und nur diese Stelle einnehmen. Im Slavischen können sich Enklitika von der Stelle nach der ersten betonten Einheit bis zur ersten Stelle nach dem Verb bewegen.

Zwischen dem Indogermanischen und dem Slavischen erfolgte also eine völlige Umwandlung des Wackernagelschen Gesetzes. Diese Umwandlung läßt sich hauptsächlich als eine Ausdehnung des Bereichs der Enklitika nach rechts beschreiben, eine Ausdehnung, deren Grenze die Verbalform bildet, was man so formalisieren kann (die Klammern bezeichnen den Bereich der Enklitika): •

idg. [#X(-)] -

sl. [#X(—-Verb-)]

KAPITEL IV

290

Eine weitere Stufe, die ebenfalls im Slavischen bezeugt ist, ist die Festsetzung der Enklitika in der Stellung nach dem Verb, d.h. die Verallgemeinerung der Varianten (a) oder (c). Diese Entwicklung tritt besonders mit der Reflexivpartikel auf, zum Beispiel im Russischen, wo diese Partikel ohne Bewegungsmöglichkeit systematisch an das Verb angehängt wird: Man hat z.B. russ. ön umyväjetsja "er wäscht sich" (nicht **ön-sja umyväjet), während das Polnische noch on myję się oder on się myję sagen kann. Für das Russische gilt also die Formel: •

idg. [#X(-)] ^

sl. [#X(—Verb-)] ^

russ. [(Verb-)]

Es ist jedoch anzumerken, daß diese Reduktion auf die Stellung nach dem Verb nicht alle Enklitika gleichermaßen betrifft, denn es gibt im Russischen auch Satzenklitika, die noch die zweite Stelle nach der ersten betonten Einheit des Satzes einnehmen, sei diese das Verb oder nicht, z.B. die Fragepartikel Ii (vgl. russ. Sūm Ii mnė slyšitsja? "Ist es ein Lärm, den ich höre ?" bei Turgenjev). Man hat also im Russischen zwischen Verbalenklitika (-sja) und Satzenklitika (Ii) zu unterscheiden. Die Frage, die sich nun stellt, ist, ob diese Entwicklung, die das Slavische deutlich kennzeichnet, sich auch im Baltischen beobachten läßt. Für das Baltische hat man zunächst zu prüfen, inwieweit die Enklitika noch die alte Wackernagelsche Stellung einnehmen. Beim ersten Anblick scheint es im Baltischen immer noch der Fall zu sein. Hermann (1926) hat gezeigt, daß die beiden Aspekte des Wackernagelschen Gesetzes, d.h. das Verbot der Anfangsstellung und die Zweitstellung, im Altlitauischen noch weitgehend bewahrt wurden. Das kann man sowohl in Hauptsätzen als auch in Nebensätzen, insbesondere nach Konjunktionen, deutlich illustrieren. Zunächst ein paar Beispiele mit der Partikel -gi aus der Postilla von Daukša (1599)51: -

nach einem selbständigen Wort: (10) DP 3334 [1599]: ļinogi gęrai Tewas iusu daguieiis. "Ihr himmlischer Vater weiß sehr wohl." (# Zino-gi)

51

Hermann (1926: 133-135).

DIE KLITIKA IM B A L T I S C H E N

291

(11) DP 39527 [1599]: Szitoiiģ yra Bajnicjia Wießpaties. "Solche ist die Kirche des Herren." (# Sitoji-gi) -

nach einem Proklitikon: (12) DP 374 [1599]: Teģ nuläid kerßta / "Möge er die Rache aufgeben!" (# Te-gi)

-

nach einer Konjunktion: (13) DP 28023 [1599]: Käsgi yra tatäi artintis Wießpatiesp / kadaģ Diewas yrä wissür : "Was heißt denn an Gott herantreten, da Gott überall ist?" (# kadan-gi) (14) DP 1 [1599]: Passakikite / iog in Wießpats priwälo : "Sagt, daß der Herr sie braucht." (#jo-gi)

Dasselbe bei den Pronomina mi und ti: -

nach einem selbständigen Wort: (15) DP 6434 [1599]: Parödikim / lieg / kur tatäi paraßita. "Zeige mir fürwahr, wo das geschrieben ist." (# parodīki-mi)

-

nach einem Proklitikon: (16) DP 60222 [1599]: Temi tämpi apė įodt /pagäl įodi täwa : "Es geschehe mir nach dem Wort, nach Deinem Wort!" (# te-mi)

zu vergleichen mit gleichbedeutendem te tampi man kurz davor (DP 60222 [1599]).

K A P I T E L IV

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-

nach einer Konjunktion: (17) DP 154]0 [1599]: Kuriüsmi clawei nepraįudįeu ne wieno zj zw. "Von denjenigen, die Du mir gabst, habe ich keinen verloren." (# kuriuos-mi = poln. ktores mi dal /nie stračilem z nich žadnego)

Stang (1970: 153-159 [1958]) hat gezeigt, daß auch das Hilfswort *bi, das dem litauischen Konditional zugrundeliegt, ursprünglich denselben Positionsregeln folgte. Die Zweitstellung ist zweifellos ein Archaismus, der vom Indogermanischen ererbt wurde. Man muß jedoch auch mit der Möglichkeit rechnen, daß die Wortordnung der litauischen Texte durch ihr deutsches oder besonders polnisches Original beeinflußt wurde. Bei Daukša gibt das Pronomen mi "mir" die homonymische Form des Polnischen mi wieder: Beide Formen nehmen oft dieselbe Position im Satz ein. Dasselbe gilt auch für die Partikel -gi, die oft die polnische Partikel -c nachahmt (vgl. z.B. DP 39527). Es ist jedoch anzumerken, daß es bei der Zweitstellung schon seit den ältesten litauischen Texten eine beträchtliche Anzahl an Gegenbeispielen gibt. Zunächst gibt es Enklitika, die schon zu Beginn der altlitauischen Literatur mit ihrem Bezugswort feste Verbindungen bilden und von ihnen nicht getrennt werden können. Dazu gehören die Postpositionen der lokalen Kasus (*-ēn, *-na und *pie) sowie das zweite Element der bestimmten Flexion: Sie werden systematisch ans Ende ihres Bezugswortes angehängt, ob dieses die erste Stelle im Satz einnimmt oder nicht. Beispiele bei Daukša (1599): (18) DP 181J4 [1599]: Jr atėię miestan' Jerusalem / "Und angekommen in die Stadt Jerusalem..." (19) DP 4962x [1599]: kaip giėrasis "wie der Gute"

DIE KLITIKA IM BALTISCHEN

293

Die Reflexivpartikel -si verhält sich anders als die Pronomina mi und tP2. In vielen Fällen steht das mit einer Reflexivpartikel versehene Verb am Anfang des Satzes. Dieser Fall ist sehr häufig mit einer Imperativform 53 , zum Beispiel: (20) DP 53324 [1599]: Mökikites nüg manės / "Lernt von mir!" (# mokīkitē-si = poln. Ucžčie sie odemnie). In solchen Fällen kann man nicht entscheiden, ob die Reflexivpartikel ihre Zweitstellung dem Wackernagelschen Gesetz oder ihrer engen Beziehung zum Verb verdankt. In der ganzen altlitauischen Literatur gibt es aber sehr wenige Beispiele, wo die Reflexivpartikel die zweite Stelle im Satz einnimmt und dabei vom Verb getrennt wird. Die Liste dieser Beispiele ist nicht lang. Man hat den Eindruck, daß es sich um phraseologische Überreste handelt, die schon im Altlitauischen eine Seltenheit geworden waren. In einigen Fällen könnte der Einfluß des Polnischen eine Rolle gespielt haben. Beispiele54: (21) KN I 1172 [1653]: Ne jin kursidestisi. "Sie wissen nicht, wohin (sie) sich legen." In der Verbindung kursidestisi steckt die Kontamination einer alten Konstruktion *kur-si desti "wohin sie sich legen", wo die Reflexivpartikel die zweite Stelle nach der Konjunktion kur "wo(hin)" einnimmt, und ihrer modernisierten Variante *kur desti-si, wo die Reflexivpartikel dem Verb folgt. (22) MP III 62a53 [1600]: O kas si destis "und was sich ereignet" Hier liegt ebenfalls eine Kontamination von *kas-si desti (Rel.+-^/ +Verb) und der üblicheren Konstruktion *kas desti-si (Rel.+Verb+-s/) vor. 52 Zur Stellung der Reflexivpartikel im Litauischen s. besonders Kazlauskas (RR II 127-133 [1966]). 53 Hermann (1926: 91-92), vgl. schon Berneker (1900: 91). 54 Hermann (1926: 90), Zinkevičius (1980-1981: II 139).

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K A P I T E L IV

(23) KN II 159,5 [1653]: neturedamäs wietos änt įiames delsi raugiančiu jmoniu "keinen Platz auf Erden wegen der sich drängenden Menschen habend" mit Zurückziehung der Reflexivpartikel, die zum Partizip raugiančiu "(sich) drängend" gehört, ans Ende der Präposition del "wegen". Die Seltenheit dieser Konstruktion zeigt, daß schon vor dem Beginn der altlitauischen Literatur die Reflexivpartikel eine feste Verbindung mit dem Verb bildete und sich von ihm nicht mehr trennen konnte. Wenn das Verb nicht am Anfang des Satzes steht, was in einer SVO-Sprache (oder früher SOV-Sprache) wie dem Litauischen sehr oft auftritt, nimmt die Reflexivpartikel eine andere Stelle als die zweite im Satz ein, zum Beispiel:

'

t

<

(24) DP 27314 [1599]: Ijģ czionäi wel' mokėmės / "Und hieraus auch lernen wir." (*mokemē-s(i))

'

oder: (25) DP 4831S [1599]: kur mökiames pirm' "wo wir zuerst lernen" (*m okiamē-s (i)).

i

Wie in den slavischen Sprachen scheint sich also die Reflexivpartikel zu einem verbalen Morphem entwickelt zu haben und somit von dem Verb untrennbar geworden zu sein. Die einzige Beweglichkeit, die wir noch bei der Reflexivpartikel beobachten, verläuft zwischen dem Präverb und dem Verb, z.B. passidut "sich geben" (*pa-si-duoti, DP 483g [1599]) gegenüber dütis (*duoti-s(i), z.B. DP 4224ļ [1599]). Diese Beweglichkeit, die auch bei den Pronomina mi und ti sowie bei der Partikel gi anzutreffen ist, geht aus der Trennbarkeit der Präverbien, d.h. aus der Tmesis hervor. Im Altpreussischen lassen sich die Spuren des Wackernagelschen Gesetzes hinsichtlich der Enklitika nur schwer beobachten, denn bekanntlich sind die altpreussischen Sprachdenkmäler eine wortwörtliche Übersetzung aus dem Deutschen, was besonders in der Wortfolge große Auswirkungen hat. Fast jedes altpreussische Wort steht in der Stelle, wo im Original das entsprechende deutsche Wort steht. Trotzdem kann man

DIE KLITIKA IM BALTISCHEN

295

sich aus gewissen Indizien, z.B. aus den wenigen Diskrepanzfällen, die Positionsregeln der Enklitika im Altpreussischen noch vorstellen. Ich lasse natürlich das zweite Element der bestimmten Flexion aus dem Spiel, denn wie im Litauischen tritt es immer am Ende des Adjektives ohne Rücksicht auf dessen Position im Satz auf. Die Partikel -gi nimmt im Altpreussischen normalerweise die zweite Stelle im Satz ein, aber fast immer wird sie mit Proklitika verbunden, mit denen sie feste Verbindungen bildet (Zweitstellung immer bei beggi "denn", oft bei dīgi "auch"). Bei ergi "bis" nimmt -gi die zweite Stelle nach der Präposition er-55, bei kāigi "wie" nach der Konjunktion käi "wie" ein56. In einigen Fällen ist die Verbindung so stark, daß das Wort in irgendwelcher Position stehen kann, so z.B. dīgi "auch 57 " oder neggi "noch, und nicht"58. Das Altpreussische scheint also die Unabhängigkeit der Partikel -gi meist eingebüßt zu haben. Abgesehen von -gi sind alle altpreussischen Enklitika Pronominalformen. Als Regel gilt, daß diese Pronomina sich ans Ende des Verbs anlehnen und von ihm nicht getrennt werden dürfen. Dies ist fast ausnahmslos der Fall bei der Reflexivpartikel -sin oder -si. Beispiele mit postverbaler Position : audasseisin "geschehe!" (I 9 16 ), Audäsin "geschehe!" (III 51 maitätunsin "sich nähren" (III 872]), dätunsi "sich geben" (III 65 lg ), audāst sien "geschieht" (III 494, 49 ]q , 5112, usw.), ni dast sien "läßt sich nicht" (III 8724), endāst sien "begibt sich" (III 123l7), wartinnasin "wendet sich" (III 1 Ol25), etläikusin "enthält sich" (III 99 |3 ). Es ist zu bemerken, daß in keinem dieser Beispiele das Verb die erste Stelle im Satz einnimmt. In einigen Fällen steht die Reflexivpartikel in einer anderen Stelle im Satz, offensichtlich aufgrund einer Interferenz mit dem Deutschen. Dazu zwei Beispiele (vgl. auch III 55 ļ2 , 113l0): (26) III 65 1718 : Pirsdau Deiwan turridi wissans Grīkans sien skellānts dātunsi / = dt. Für Gott sol man aller Sünden sich schuldig geben /

55 III 3715_16: ergi en tlrtin bhe ketwirtin streipstan = dt. bis ins Dritte vnd Vierde gelied. Dasselbe gilt auch bei surgi tennen "um ihn" (III 101 M ). 56 Z.B. III 61 ļ4 ļ5 : kāigi massi vnds stawijdan debeīkan astin seggīt? = dt. wie kan Wasser solche grosse ding thun? 57 In III 71 12 : druwese tu dīgi = dt. gleubest du auch? 5S In III 85 5 7: tans ni turripodingan en stessei spartisku steiseisei russas /neggi podingausnan no ainontsi kaulan = dt. er hat nicht lust an der stercke des Rosses noch gefallen an jemandes Beinen (vgl. auch III 31 4 , 33 ļ(ļ , 45 ų , 10914, ähnlich auch niqueigi "nimmermehr" in III 107 |7 ).

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K A P I T E L IV

(27) III 87 ļ9 21: Stas Rikijs ast polaipinnons / kai stai quai stan Ebangelion wie / Tūrei sien essestan Ebangelion maitätunsin = dt. Der HERR hat befohlen / Das / die das Euangelium /sollen sich vom Euangelio neeren

pogerdapredigen

Das Reflexivpronomen sien steht in diesen Stellen fern von dem Verb, das es modifiziert (dätunsi "sich geben", bzw. maitätunsin "sich nähren"), was sicher durch das Modell des deutschen Satzes hervorgerufen wurde. Die Konstruktion mußte jedoch dem preussischen Dolmetscher seltsam erscheinen, da er das Reflexivpronomen am Ende der Verbalform noch einmal wiederholte (dätun-si, bzw. maitätun-sin). Die einzige regelmäßige Konstruktion im Altpreussischen war also die postverbale. In dieser Hinsicht steht das Altpreussische, wie auch das Ostbaltische, der letzten Etappe der slavischen Entwicklung nahe, derzufolge die Reflexivpartikel am Ende des Verbs steht und davon nicht mehr getrennt werden kann. Das anaphorische Pronomen -din (Akk.Sg.), -dins (Akk.Pl.) steht in den meisten Fällen ebenfalls am Ende des Verbs, dessen Objekt es darstellt, z.B. in proweladin "verriet ihn" (I 134, ohne Vorbild im deutschen Original, wo ein Passiv steht: er verraten wardt), weddedin "brachte sie" (III 10117), Crixtididiens "tauft sie !" (II 11,3 |4), poglabüdins "streichelte sie" (III 1137), ebsgnädins "segnete sie" (III 113X), bebillē din "und hieß ihn" (III 93]4), stwi wlrsti dien wijrinan billīuns "man wird sie Männin heißen" (III 101l9 2Ü), crixtity dins "taufen sie" (I 1112), turriti dins...mijls "habt sie lieb!" (III 89x). Manchmal hat man es mit einer Nachahmung des deutschen man als Subjekt zu tun, wie in turridi "man soll" (III 6517), turedi (III 65 ]5 ) und wirst i "man wird" (III 10119). Es gibt aber vereinzelte Fälle, wo das anaphorische Pronomen -di in zweiter Stelle nach einer Konjunktion ohne Rücksicht auf die Stellung des Verbs steht: käidi "daß man" z.B. in III 65y (Verb: posinna), in III 65 n (Verb: pogäunai), in III 1151S (Verb: perpldai) und kai dei in III 91 p (Verb: segge). Diese Stellen sind aber nicht aufschlußreich, denn sie folgen sklavisch der deutschen Konstruktion (nach der Gleichung apr. -di: dt. man). Schließlich hängt das anaphorische Pronomen -din, -dins manchmal von einer Präposition ab, mit der es eng verbunden wird: kirsa din "über ihn" (III 89]H),pērdin "für ihn" (III 1254), prēidin "zu ihm" (III 115 ]5 ),prēidins "zu ihnen" (III 10526), nodins "auf sie" (III 1 137 8). Sonst scheint das anaphorische Pronomen genauso wie die Reflexivpartikel meist vom Verb untrennbar geworden zu sein.

DIE KLITIKA IM BALTISCHEN

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Somit läßt sich im Altpreussischen wie in den anderen baltischen Sprachen eine allgemeine Tendenz zur Fixierung der Enklitika am Ende der Verbalform feststellen. Abgesehen von vereinzelten Überresten, die zum Teil im Rahmen einer Interferenz mit dem Polnischen oder dem Deutschen erklärt werden können, scheint es im Baltischen zur Regel geworden zu sein, daß die Enklitika nach dem Verb stehen, und dies gilt insbesondere für die pronominalen Enklitika, die im verbalen Nexus eine Rolle spielen (Personalpronomina mi und ti, Reflexivpronomen, anaphorisches Pronomen). Die Satzpartikel -gi des Litauischen zeigt aber, daß auch im Baltischen das Wackernagelsche Gesetz einst wirkte. Charakteristisch für das Baltische ist also das gleichzeitige Bestehen von zwei Modellen unterschiedlichen Alters, dem klassischen Wackernagelschen Modell, das nur noch bei den Satzpartikeln wie -gi überlebt, und dem späteren verborientierten Modell, das alle pronominalen Enklitika berührte. Das Baltische hat aber keine Spur von einem Zwischenmodell, wie es von Etienne Decaux für das Polnische postuliert wurde, erhalten. In dieser Hinsicht steht das Baltische dem Russischen näher als dem Polnischen. 2.2. Die Positionsregeln

der Proklitika

Bei der Behandlung der Proklitika weisen die baltischen Sprachen einige Eigentümlichkeiten auf. In den indogermanischen Sprachen können die Proklitika drei Positionsregeln folgen. Entweder stehen sie ganz am Anfang des Satzes, während ihr Bezugswort anderswo, insbesondere am Ende des Satzes steht (Modell 1). Oder sie stehen nicht in der ersten Stelle im Satz und können von ihrem Bezugswort durch andere Wörter, insbesondere durch Enklitika getrennt werden (Modell 2). Oder sie stehen unmittelbar vor ihrem Bezugswort, von dem sie nicht getrennt werden können (Modell 3). Die ersten zwei Modelle bilden, was in der wissenschaftlichen Literatur gemeinhin als Tmesis (nach dem gr. TįirjGię "Trennung") genannt wird. Im homerischen Griechisch und im Altindischen sind alle drei Modelle bezeugt 59 : -

Modell 1: (28) E 466: ootö 8 ' a(i(pco K £ p o e x e v o v x e .

"Er schnitt ihm die beiden Sehnen ab." (&7iö... K e p a e ) 59

Beispiele bei Chantraine (GH 11 9 2 - 9 3 [1953]) und Boley (2004: 29 und 54).

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KAPITEL IV

(29) RV 5 832a: Vi vrksān hanty utä hanti raksäso. "Er fällt die Bäume und schlägt die Dämonen nieder." (vi... hanti) -

Modell 2: (30) n 82: (pRov 5' änö VOGTOV etaoviai. "daß sie uns der gewünschten Heimkunft nicht berauben" (djrö.. .CA(ovxai) (31) RV 1 924: gāvo nä vrajäm vi usā āvar tämah "wie Kühe ihren Stall öffnet die Morgenröte die Finsternis" (vi... āvar)

-

Modell 3: (32) H 362: d v x i K p i ) 5 ' d7iö(pri(ii

"ich rufe es laut aus" (d7ī0(prļļj,i) (33) RV 5 1 l 4b : Agnim näro vi bharante grhė-grhė. "Die Männer tragen Agni von Haus zu Haus herum." (vi bharante) Welche Modelle sind im Baltischen bezeugt? Werden die Proklitika unterschiedlich je nach ihrer Klasse behandelt? Schließlich, welche Elemente könnten durch Tmesis eingeschoben werden? Um die erste Frage zu beantworten, muß man sich zuerst daran erinnern, daß die drei hier skizzierten Modelle chronologisch nicht gleichwertig sind. Es besteht Grund zur Annahme, daß das erste Modell eine frühere Stufe darstellt, während die zwei anderen, insbesondere das dritte, demzufolge das Proklitikon unmittelbar vor seinem Bezugswort steht, jüngere Tendenzen widerspiegeln. Es ist nicht überraschend, daß das erste Modell nicht so gut bezeugt ist wie die anderen und fast nur in den ältesten Texten der ältesten indogermanischen Sprachen zu treffen ist.

DIE KLITIKA IM BALTISCHEN

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Das Baltische hat jedoch Überreste dieses altertümlichen Modells erhalten, und zwar in einer der wichtigsten Quellen für die Rekonstruktion der baltischen Syntax, den lettischen Volksliedern. Schon Endzelīns hatte in seiner Lettischen Grammatik (1923: §489) auf die Tatsache hingewiesen, daß in den lettischen Volksliedern (dainas), und zwar nur bei Reflexivverben, Präverbien manchmal isoliert dastehen und die erste Stelle im Satz einnehmen, während die dazu gehörenden Verben ans Satzende gestellt werden. Ozols (1993: 86) und insbesondere Rudzīte (1990: 411^421) bieten reiches Material. Die Beispiele zerfallen in zwei Gruppen: -

#Präv.+Refl.+X+Verb: (34) BW 632, (aus Bērzaune): Nosa skaņi gavilēju. "Ich stieß einen lauten Jubelruf aus." (no-sa... gavilēju60)

-

#Präv.+Refl.+X+Verb+Refl. als Kontamination von #Präv.+Refl.+X+Verb und #Präv.+X+Verb+Refl.: (35) BW 49612 (aus Vecpiebalga): Apsa pati domājies. "Du selbst bedachtest dich." (ap-sa... domäjie-s61) (36) BW 2053 (aus Sēlpils): Iz-sa gauži raudājos. "Ich weinte mich bitter aus." (iz-sa... raudäjo-s)

Nach Rudzīte (1990: 411) sind derartige Konstruktionen meist in den Volksliedern bezeugt, die aus den hochlettischen oder selischen Dialekten stammen. Sie entsprechen der Wortfolge, die wir oben als Modell 1 definiert haben. Die Beschränkung auf Reflexivverben ist auch als Archaismus zu werten: Am Anfang des Satzes steht eine Sequenz / Prokl. + Enkl. /, was mit dem Wackernagelschen Gesetz im Einklang ist. Zwischen der Anfangsgruppe und dem Verb können verschiedene Wörter eingescho60 61

Vgl. auch BW 224,,, 18891,, 28329, (aus Ērgli). Cf. M E (III 842). Vgl. auch B W 4690, (aus Liezere), BW 9172, 12 (aus Sinole).

300

KAPITEL IV

ben werden: Adverbien (z.B. nosa skani gavilēju BW 632,), Adjektive (z.B. apsapati domājies BW 4961 2 ), Pronomina (z.B. iesa man domājās BW 1085, 5,), Substantive im Akkusativ (z.B. apsa miltus putināja BW 79812), im Genitiv (z.B. iesa vīra gribējās BW 10997, 12) oder gar im Vokativ (z.B. atsa, vārti, veraties BW 18601,). Die Bewahrung dieses Archaismus läßt sich m.E. in erster Linie durch die Tatsache erklären, daß diese Konstruktion im Rahmen der sogenannten "Ringkomposition", die in den lettischen Volksliedern eine wichtige Rolle spielt und aus der indogermanischen Dichtersprache ererbt wurde, stylistisch motiviert war. Es ist möglich, daß die litauischen Partikeln te- und be- ursprünglich ebenfalls dem ersten Modell folgten. Im heutigen Litauisch werden teund be- regelmäßig am Verb präfigiert, z.B. lit. težino, bevargsti, usw. Es gibt aber zumindest für te- vereinzelte Spuren eines anderen Gebrauchs, demzufolge diese Partikel auch isoliert am Anfang des Satzes stehen kann. Das Große Wörterbuch der litauischen Sprache (LKZ XV 1046) führt Beispiele insbesondere aus Schriftstellern der 19. und 20. Jahrhunderte an, zum Beispiel: (37) Salomėja Nėris (1904-1945, Dichterin) : Te metai žeidžia, tė metai gydo! "Es verletzen die Zeiten, es heilen die Zeiten!" Es könnte sich bloß um poetische Lizenz handeln. Es ist jedoch zu bemerken, daß im Falle der Partikel te- die Anfangstellung noch heute möglich ist, wenn ein Enklitikon folgt, vgl. z.B. lit. tegu Dievas lenkia! "Gott bewahre!" (vgl. Dievas telehkia!). Dies erinnert uns an die lettische Konstruktion, die wir vor kurzem beschrieben haben und die ebenfalls auf die Position vor einem Enklitikon beschränkt war. Abgesehen von diesen Überresten des ersten Modells62 haben die baltischen Sprachen nur noch die Modelle 2 und 3 erhalten. Als Regel gilt, daß ein Proklitikon meist unmittelbar vor seinem Bezugswort steht (Modell 3). Dies gilt in allen drei baltischen Sprachen für alle Arten von Proklitika, d.h. für die Präfixe, die Präverbien, die Negation und die Präpositionen. Es gibt aber eine beträchtliche Anzahl an Kontexten, in denen ein Proklitikon von seinem Bezugswort durch ein anderes Wort getrennt wird. Die Tmesis, d.h. eine Sequenz [Prokl.+X+Bezugswort] kann theoretisch im Baltischen in folgenden Fällen auftreten:

62

Ob die Fragepartikeln (lit. ar, lett. vai), die immer am Anfang des Satzes stehen, Proklitika sind bzw. ursprünglich waren, läßt sich nicht mit Sicherheit entscheiden.

DIE KLITIKA IM BALTISCHEN

• • •

301

Zwischen Präfix und Nominalform in der bestimmten Flexion der Adjektive. Zwischen Präverb (oder Äquivalenten: Negation, Partikeln te- und be-) und Verb. Zwischen Präposition und Objekt.

Im folgenden werden wir kurz prüfen, inwieweit die Modelle 2 und 3 in jedem dieser drei Fälle bezeugt ist. Zwischen Präfix und Nominalform herrscht in den baltischen Sprachen weitgehend das dritte Modell, ob die Nominalform ein Substantiv ist oder ein Adjektiv, vgl. z.B. lit. pagalba "Hilfe" (*pa-galba), paprastas "einfach" (*pa-prastas), lett. pasaka "die Fabel, das Märchen" (< *pa-sakä), padevīgs "ergeben, untertänig" (*pa-devigs), apr. pomatre "Stiefmutter" (*pa-mātrē, EV 180), powirps "frei" (*pa-vīrps, III 9518). Eine Spur des zweiten Modells, d.h. der Tmesis von Präfix und Nominalform, liegt aber in der bestimmten Flexion der Adjektive vor. Im Prinzip wird das enklitische Pronomen *-(j)is, das der bestimmten Flexion zugrunde liegt und m.E. das ursprüngliche Relativpronomen des Indogermanischen fortsetzt, ans Ende der Adjektivform angehängt, gleichgültig, ob diese präfigiert ist oder nicht, vgl. z.B. im Altlitauischen schon bei Mažvydas: gerassis "der gute" (*geras-is, MŽ 1996 [1566], 342 |6 [1570], lit. gerasis) und padotygy "gegeben, unfrei" Nom.Mask.Pl. (*pa-duotie-ji, MŽ 32,, [1547], Mt.paduotieji), nekaltuiju "unschuldig" Gen.Mask. PI. (*ne-kaltų-jų, MŽ 537,, [1570], lit. nekaltųjų). Es gibt aber im Altlitauischen vereinzelte Fälle, in denen das Enklitikon auf die Stelle nach dem Nominalpräfix zurückgezogen wird. Paradebeispiel 63 ist der Genitiv Singular päioprästä "einfach", der einmal in dem Katechismus von Petkevičius (PK 9816 [1598]) belegt ist und als *pa-jo-prasto gedeutet werden kann. Zugrunde liegt das Adjektiv paprastas "einfach" (mit Präfix pa-) in der bestimmten Form Gen.Sg. *pa-prasto + *(j)o: Das Pronomen wird zwischen dem Präfix und dem Nomen eingeschoben. Im heutigen Litauisch ist diese Zurückziehung des Pronomens unmöglich; man hat nur die Endstellung (*pa-prasto + *(j)o > paprastojo). Schon im Altlitauischen war dieses Phänomen selten. In einigen Fällen ist Doppelmarkierung bezeugt, was sicher eine Kontamination der ererbten Tmesis und der innovativen Endstellung darstellt. Ein schönes Beispiel findet man in der Knyga Nobažnystės (KN I 258 ļ6 [1653]): Gen.Mask.Sg.

63 Mehr Beispiele bei Otrębski (GJL III 120-121 [1956]) und Zinkevičius (1980-1981: II 31; RS I 2002: 172 [1957]). Vgl. auch Petit (2009: 315).

302

KAPITEL IV

neiokaltoiä "unschuldig" (*ne-jo-kalto-jo, mit Doppelmarkierung, gegenüber lit. nekaltojo, mit Endstellung). Zugrunde liegt die bestimmte Form des Adjektivs nekaltas "unschuldig" (mit Präfix ne- "nicht, un-")64. Die moderne Sprache hat die Zurückziehung des Pronomens völlig eingebüßt, die ebenfalls im Altpreussischen und Lettischen keine Spur hinterließ. Zwischen Präverb und Verb liegen die Dinge anders65. Im Litauischen ist die Tmesis unter bestimmten Bedingungen noch möglich. Im Lettischen ist sie zugunsten der Endstellung meist beseitigt worden und bleibt nur dialektal erhalten. Im Altpreussischen ist Endstellung die Regel. Im Litauischen ist die Tmesis (Modell 2) nur noch mit der Reflexivpartikel möglich. Neben süka "er dreht" und päsuka "er dreht ein wenig" hat man im heutigen Litauisch mit der Reflexivpartikel sükasi "er dreht sich" (*suka-si, mit Endstellung der Reflexivpartikel), aber pasisuka (*pa-si-suka, mit Zwischenstellung der Reflexivpartikel), nesisuka "er dreht sich nicht" (*ne-si-suka), tesisuka "möge er sich drehen!" (*te-sisuka), usw. Die Zwischenstellung der Reflexivpartikel zwischen Präverb und Verb ist in den altlitauischen Texten ebenfalls gut belegt, obwohl man dort auch viele Gegenbeispiele findet, wo die Reflexivpartikel am Ende der präverbierten Form steht. Diese Gegenbeispiele können zum Teil durch den Einfluß des Slavischen erklärt werden. Bei Daukša (1599) findet man z.B. nebeneinander passidüt "sich geben" (*pa-si-duoti, DP 4838 [1599]) und padütis (*pa-duoti-s, DP 49815, 50822, 61014 [1599]), nessidūmę "wie geben uns nicht" (*ne-si-duome, DP 44427 [1599]) und ne düdames (*ne-duodamē-s, DP 13518 [1599]). Bei Mažvydas hat man nebeneinander nessibiosiu "ich werde mich nicht fürchten" (ne-si-bijäsiu, MŽ 5086 [1570]) und nebiatesy "sich nicht fürchten" (*ne-bijāti-si, MŽ 323 [1547]), tesilinxmin "mögen sie sich erfreuen!" (*te-si-linksmina, MŽ 5126 [1570]) und te linxsminase (*te-linksmina-si, MZ 53512 [1570]), vgl. auch tebijose "mögen sie sich fürchten !" (*te-bijä-si, MZ 5363). In den heutigen Dialekten sind beide Möglichkeiten verschiedentlich bezeugt. Doppelmarkierung tritt manchmal in alten Texten (z.B. passimegstasi "gefallt"< *pa-si-mēgsta-si, MZ458 7 [ 1570],nebenpassimegst< *pa-simēgsta, MZ 24119 [1566]) und in einigen modernen Dialekten (z.B. Klaipėda: issimiegöties "sich ausschlafen" < *is-si-miegötie-s) auf. In

64

Vgl. Zinkevičius (1980-1981: II 31). S. auch Fraenkel (1947: 15), Stang (1966: 270) und Koch (1992: 59-60). 65 Stolz (1989: 13-27).

DIE KLITIKA IM BALTISCHEN

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einigen Dialekten haben beide Varianten unterschiedliche Bedeutungen entwickelt: In Kretinga hat das Verb at-si-rästi eine reflexive Bedeutung ("sich wiederbefinden"), das Verb at-rästie-s eine mediale Bedeutung ("etwas für sich wiederfinden") 66 . Die Schriftsprache hat nur die Formen mit Zwischenstellung der Reflexivpartikel (pasisuka). Die lettischen Dialekte weisen ein buntes Bild auf57. Einige Dialekte, insbesondere im hochlettischen Gebiet, erhalten die Zwischenstellung. Andere Dialekte haben die Endstellung verallgemeinert, darunter auch die Schriftsprache. Schließlich ist auch Doppelmarkierung sporadisch belegt. Somit hat man mit drei Möglichkeiten zu rechnen: • •

•

Endstellung [Präv.+Verb+Refl.]: überall weit verbreitet außer im Hochlettischen. Zwischenstellung [Präv.+Refl.+Verb]: vorherrschend im Hochlettischen (z.B. pisaceļ "erhebt sich" < *pie-sa-ceļ neben schriftlett. pieceļas), selten im Mittellettischen Süd-Kurlands (z.B. in Rucava apsijuku "ich stutzte" < *ap-si-juku neben schriftlett. ap-jukuo-s) Zwischenstellung + Endstellung [Präv.+Refl.+Verb+Refl.]: gelegentlich im Hochlettischen (z.B. in Sēlpils apsoprecęjas "verheiratete sich" < *ap-sa-precējā-s neben schriftlett. ap-precējās).

In der lettischen Schriftsprache hat sich die Endstellung als die einzige Möglichkeit eingebürgert, vgl. z.B. lett. rāptie-s "klettern" / uz-rāptie-s "hinaufklettern" (Endstellung in beiden Fällen) und lit. röpsti-s "klettern" (Endstellung) / ui-si-röpsti "hinaufklettern" (Zwischenstellung), lett. sekmētie-s "gelingen" / nesekmēties "nicht gelingen" (Endstellung) und lit. sėkti-s "gelingen" (Endstellung) / ne-si-sekti "nicht gelingen" (Zwischenstellung) 68 . Im Altpreussischen ist nur Endstellung belegt, selbst bei präverbierten Verben: z.B. audasseisin "geschehe!" (*au-dassei-sin, I 9 ]6 ), audäsin "geschehe!" (*au-däst-sin, III 515), audāst sien "geschieht" (*au-dästsien, III 494, 49 l9 , 5112, usw.), endāst sien "begibt sich" (*en-däst-sien, III 123]7), ni dast sien "läßt sich nicht" (*ni-däst-sien, III 8724), etlāikusin "enthält sich" (*et-läiku-sin, III 9913). Es könnte deutscher Einfluß vorliegen.

66 67 68

Vgl. Petit (1999a: 9 9 - 1 0 0 mit Lit.). Vgl. Gäters (1977: 137), Stolz (1989: 16-17). Vgl. Stolz (1989: 16).

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K A P I T E L IV

Bekanntlich haben auch die slavischen Sprachen meist die Endstellung verallgemeinert, vgl. z.B. russ. so-biräth-sja, poln. z-bierač się "sich versammeln" [Präv.+Verb+Refl.]. Die Tmesis von Präverb und Verb war im Altlitauischen noch mit den enklitischen Pronomina mi "mir" und ti "dir" sowie mit der Partikel gi möglich. Bei Daukša (1599) finden wir z.B. pamirödik "zeige mir!" (*pa-mi-rodīki, DP 8413 [1599]), patirödisiu "ich werde dir zeigen" (*pa-ti-rodīsiu, DP 25029 [1599]),pagiklausik' "höre!" (*pa-gi-klausīki, DP 282 20 [1599]), sugidėk' "lege zusammen" (*su-gi-deki, DP 4297 [1599]), negi nerimaßcziükime saw' "und beruhigen wir uns nicht" (*ne-gi-nerimasčiuokime, DP 59720 [1599]), tęgiparod"möge er zeigen!" (*te-gi-parodi, DP 20447 [1599]). Auch hier gibt es seit den ältesten Texten Gegenbeispiele, in denen die Enklitika am Ende der ganzen präverbierten Form stehen, z.B. bei Daukša (1599): parödikim "zeige mir!" (*pa-rodīki-mi, DP 6434 [ 1599]), priiaiskim' "erlaube mir" (*pri-laiskimi, DP 512x [1599]), parödisiüi "ich werde dir zeigen" (*pa-rodīsiuo-ti, DP 200 2| [1599]), te palaimimi "Der Herr segne dich!" (*te-pa-laimini-ti, DP 25822 [1599]),parödikig "zeige!" (*pa-rodīki-gi, DP 37018_19 [1599]), te parödaig "möge er zeigen!" (*te-pa-rodai-gi, DP 205 16 [1599]). Zwischenstellung ist in diesem Fall den anderen baltischen Sprachen fast völlig unbekannt. Vielleicht liegt eine Spur davon in apr. neggi pogadint "noch verderben" (*ne-gi-po-gadinti? in III 109 1415 ) vor. Ich finde es aber wahrscheinlicher, daß neggi hier als eine Konjunktion fungiert, die sich verselbständigt hat und vom Verb unabhängig geworden ist. Die heutigen Schriftsprachen, Litauisch und Lettisch, haben die Zwischenstellung eingebüßt: Die Pronomina mi und ti des Altlitauischen sind heute verschwunden, die Partikel gi wurde zu einer reinen Satzpartikel, die anderen Positionsregeln folgt. Tmesis zwischen Präposition und Nomen ist im Baltischen, insbesondere im Altlitauischen, sehr oft belegt. Zwischen beiden Teilen einer präpositionalen Gruppe kann ein Enklitikon eingeschoben werden und somit eine Sequenz [Präp.+Enkl.+Subst.] bilden. Diese Möglichkeit war aber schon altlitauisch auf ein einziges Enklitikon, die Partikel -gi, beschränkt. Dadurch entstanden mit den Präpositionen *in "in" und *nuo "aus" die festen Verbindungen *in-gi und *nuo-gi, die sich im Altlitauischen so eingebürgert haben, daß sie in einigen Texten (z.B. Mažvydas, Daukša) die alten Formen *in und *nuo sogar ersetzten. Bei Daukša (1599) findet man ausschließlich ing und nuog, z.B. inģ Baįnicjia "in die Kirche" (*in-gi-bažnyčiq, DP 502l [1599]), nüg nudemiu "von den Sünden" (*nuo-gi-nuodēmiu, DP 763 [1599]). Mit anderen Präpositionen ist der

DIE KLITIKA IM B A L T I S C H E N

305

Einschub der Partikel gi auch gut belegt, vgl. iszg "von" z.B. in ißg motinos "von der Mutter" (*iš-gi-motinos, DP 3730 [1599]), prieg "an, neben" z.B. in prieģ mirimui "vor dem Tod" (*prie-gi-mirimui, DP 219 [1599]), vgl. auch antgi in ant gij koßna ubaga "vor jedem Armen" (:*ant-gi-kožna, MZ 389 ? [1570]), pergi in per gi tawa Christau muka "durch dein Leid, Christus" (*per-gi-tava, MŽ 44818 [1570]). Im heutigen Litauischen sind diese Formen wieder durch die einfachen Formen ersetzt worden (lit. / "in", nuö "von", iš "von, aus", prie "an, vor", usw.); mundartliche Spuren der alten zusammengesetzten Formen existieren aber noch heute (z.B. lit. dial. priegtäm "außerdem" < *prie-gi-tam, vgl. schon priegtam z.B. MŽ 4317 [1570]). Das Altpreussische liefert zwei Beispiele: -

apr. ergi "bis": (38) III 3715 16: ergi en tirtin bhe ketwirtin streipstan dt. bis ins Dritte vnd Vierde gelied (*er-gi- + Nominalgruppe)

gegenüber er "bis": (39) III 1233 4: er en präbutskan dt. biß inn Ewigkeit (*er- + Nomen) - apr. surgi "um": (40) III 101 n : surgi tennen dt. um ihn (*sur-gi- + Pronomen) Im Lettischen ist diese Konstruktion m.W. nicht belegt. Bekanntlich ist die Tmesis bereits urindogermanisch. Charakteristisch für das Baltische ist aber die Vielfalt der Kontexte, in denen sie noch zu treffen ist. Bezeugt ist sie nicht nur zwischen Präverb und Verb (\\X.pa-sisuka) oder zwischen Präposition und Nomen (alit. inģ Baįnicjia), wie

306

KAPITEL IV

dies z.B. im homerischen Griechisch und im Altindischen der Fall war69, sondern auch zwischen Präfix und Adjektiv (alit. pa-io-prasta), was m.W. nirgends woanders im indogermanischen Sprachgebiet möglich ist. Fast alle Proklitika können im Baltischen mehr oder weniger Tmesiserscheinungen aufweisen. Was nun die Natur der eingeschobenen Elemente betrifft, so scheint das Baltische hingegen eine radikale Beschränkung gekannt zu haben. Als Regel gilt für die baltische Tmesis, daß nur der Einschub von enklitischen Formen möglich ist. Eine weitere Beschränkung ist, daß nur ein einziges Wort eingeschoben werden kann. Beide Beschränkungen sind merkwürdig. Dies war im Indogermanischen nicht der Fall. Boley (2004: 23-69) hat gezeigt, daß zwischen Präverb und Verb im homerischen Griechisch verschiedene Elemente eingeschoben werden konnten: Partikeln70, Adverbien 71 , das Subjekt des Satzes72, das Objekt im Akkusativ73, oder gar mehrere Elemente74. Im Baltischen kann nur ein einziges Enklitikon zwischen einem Proklitikon und seinem Bezugswort stehen. Die einzige Ausnahme ist die altertümliche Konstruktion mit Anfangstellung, die in den lettischen Volksliedern auftritt. Wir haben gesehen, daß die Wahl der eingeschobenen Elemente dort größer ist, aber es fallt auf, daß diese Konstruktion nur bei Reflexivverben auftritt, was strukturell auch eine Sequenz [Prokl.+Enkl.] bildet (vgl. lett. No-sa...gavilēju). Die baltische Beschränkung in ihren beiden Aspekten (nur ein Enklitikon, ein einziges Wort) kann m.E. durch die Tatsache erklärt werden, daß das Urbaltische in einer frühen Phase seiner Entwicklung das erste Modell der Tmesis (Modell 1), d.h. die Anfangsstellung, verallgemeinert hatte und deswegen die am Anfang des Satzes stehenden Proklitika regelmäßig im Kontakt mit den in zweiter Stelle stehenden Enklitika standen. Die Struktur [Prokl.+Enkl.+X], die die baltische Tmesis charakterisiert, ist m.E. in erster Linie am Satzanfang verständlich. Es ist anzunehmen, daß in einer späteren Phase das erste Modell durch ein zweites Modell (Modell 2) ersetzt wurde, demzufolge das Proklitikon von seinem Bezugswort nur durch ein einziges Wort getrennt M Vgl. gr. ek x' ovopaCļe "er nannte ihn" (A 361), 8k ye (ivrļGirļpcov "von den Freiern" (n 447), aind. ä smā rdtham "auf dem Wagen" (RV 1 51 12 ), prä nü vocā "ich will nun preisen" (RV 6 59,), vgl. auch lat. ob uös sacrö "ich flehe euch an" (Festus 206, 6 ), got. fram-uh guda "von Gott" (Jn 7, 17). Vgl. Petit (2005b: 209 mit Lit.). 7(1 Z.B. Q 522: KUT' ä p ' e^eu oder K 390: wtö 5' expe^e yula. 71 Z.B. o 339: 8i<x ļie^īcrti xā(iTļoiv. 72 Z.B. S 114: Kata yava KaXimxei. 71 Z.B. A 413: kaxä SötKpu %eouoa. 74 Z.B. M 13: Kaxä ij£v Tpcocov öävov ö a a o i äpiotoi.

DIE KLITIKA IM B A L T I S C H E N

307

werden konnte. Noch später wurde in einigen Kontexten die Tmesis beseitigt (Modell 3). Diese Entwicklung könnte man folgenderweise schematisieren: - Indogermanisch: (Regel 1: Anfangsstellung der Proklitika, woraus Kontakt mit Enklitika) [#Prokl ,+Enkl ,+X n +Bezugswort] Urbaltisch: (Regel 2: Nur ein einziges eingeschobenes Wort) [X"+Prokl.+Enkl.+Bezugswort+X n ] Baltisch: (Regel 3: Beseitigung der Tmesis) [Xn+Prokl ,+Bezugswort+Enkl ,+Xn] Schließlich gilt zu bemerken, daß der Übergang von der zweiten Stufe zur dritten, d.h. die Beseitigung der Tmesis, nicht in allen Kontexten gleichzeitig verlief. In der Beziehung [Präfix+Adjektiv] (vgl. alit. pa-ioprasta) ist Tmesis schon im Altlitauischen ein Relikt. In der Beziehung [Präverb+Verb] (vgl. lit. pa-si-suka) ist Tmesis im heutigen Litauisch immer noch in vollem Gebrauch. In der Beziehung [Präposition+Nomen] (vgl. alit. inģ Baįnicjia) war Tmesis im Altlitauischen sehr verbreitet. Heute ist sie verschwunden. Man hat also mit drei chronologischen Stufen zu rechnen: Die Beseitigung der Tmesis ist früher bei Präfixen eingetreten als bei den Präpositionen, und bei den Präpositionen früher als bei den Präverbien. Diese Hierarchie hängt vom Grammatikalisierungsgrad der betreffenden Kategorien ab: Präfixe sind mehr grammatikalisiert als Präpositionen, die mehr grammatikalisiert als Präverbien sind. Es ist außerdem anzunehmen, daß dieser Unterschied auch formale Auswirkungen gehabt hat und den Kontrast zwischen langvokalischen stroßtonigen Präfixen (lit. pö- in pokalbis "Gespräch"), langvokalischen schleiftonigen Präpositionen (lit. pö in pö pietų "nach dem Mittagessen") und kurzvokalischen Präverbien (lit. pa- in pakalbėti "sich unterhalten") erläutern kann. Dies ist aber eine andere Geschichte, auf die ich andernorts zurückkommen werde.

LITERATUR Abkürzungen AirWb AK BB BP BSW BW ChB DK DLKG DP DTL 1 DTL 1 DŽ 4 EV EWAIa EWD GH GJL GrA, GrF, GrG

= = = = = = = = = = = = = = = = = = =

Grd IEW KG KN LAV Lc LEW LG LIV LKG LKIG LKTC

= = = = = = = = = = = =

LKŽ ME MLLVG MT MŽ PhL PK PKEŽ PKP

= = = = = = = = =

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INDEX V E R B O R U M I.

BALTISCH

327

Altisländisch

Litauisch

327

Altenglisch

350

Lettisch

334

Neuenglisch

351

350

Altpreussisch

338

Altsächsisch

351

II.

INDOGERMANISCH

342

Althochdeutsch

351

III.

ANATOLISCH

344

Mittelhochdeutsch

351

Hethitisch

344

Neuhochdeutsch

351

Luwisch

345

Mittelniederdeutsch

351

TOCHARISCH

345

ITALISCH

351

tocharisch A

345

Latein

351

Tocharisch B

345

Pränestinisch

352

IV.

V.

XI.

INDO-IRANISCH

345

oskisch

352

Altindisch

345

Umbrisch

352

Avestisch

346

Französisch

352

Altpersisch

346

KELTISCH

352

GRIECHISCH

346

Gallisch

352

Mykenisch

346

Altirisch

352

Alphabetisches Griechisch

346

Mittelirisch

353

VII. A R M E N I S C H

348

Kymrisch

353

VIII. A L B A N I S C H

348

IX.

SLAVISCH

348

Altkirchenslavisch

348

Serbokroatisch

349

Russisch

349

Weissrussisch

349

Tschechisch

349

Polnisch

350

VI.

X.

I.

GERMANISCH

350

Gotisch

350

BALTISCH Litauisch

akėčios 144 akytas 2 5 7 akmuö 17, 39, 50, 115, 139 alga 92, 99, 101 almė, almuö 115 alus 169, 184 amžius 2 0 anas 38, 174, 179

XII.

XIII. K L E I N E I N D O G E R M A NISCHE SPRACHEN Messapisch

353

XIV. N I C H T - I N D O G E R M A NISCHE S P R A C H E N Finnisch

353

Estnisch

353

353 353

Karelisch

353

Livisch

353

Vepsisch

353

anč-

(dial.) 2 8 3

angų (alt) 266 ankstas, anksti 34 antai 175, 179 antgi (alt) 305 antinas 119, 120 antis 32, 39, 54, 119, 120, 144 antis 54 antstoli

(dial.) 3 4

apygeris 172 apraust (alt) 2 4 2

328

INDEX VERBORUM (ap)-rėpia 127, 128 ar 33, 263, 275, 277, 278, 282, 285,300 arba 273, 2 7 8 argu (alt) 2 6 3 - 2 6 4 , 2 7 2 , 2 7 8 , 281 arklas 107, 146 arti 217 aruodas 40 aš 2 6 2 ašmuo 50 tf.vva (alt) 154 atitarti 233 atkumpti 91 atvērpti (dial.) 91, 97 auksas 33 aukštas 61 aukštas 61 ausis 93, 98 auti 217 ąžuolas 8 badauti 216, 217 balsas 65 baltas 19 bandyti 224 barti 108, 132, 221 bauda 29 be- 273, 275, 276, 2 7 7 - 2 7 8 , 285, 300 bėgti 126, 130, 2 1 8 /?ef 285 bernas 35 berti 133, 135-136 betaiga (alt) 273 bijöti(s) 82,215,216,223,224, 255, 276 M ö / / 235 byskupas 82 bliūdas 169 Wogof 188 brangus 28 brėkšti 40 ftrėz/z' 105 brydoti 137 briedis 9, 143 bristi 1 3 7 , 2 1 7 h rol is 82 bruožas 105 /wrė 7 Aw/av 169, 170, 171 6ū/i 60, 83, 94, 98, 2 1 1 , 2 1 3 , 2 1 4 , 2 1 7 , 2 4 2 , 243 buvoti (dial.) 2 3 7 cyrulis 4 0

čiaupti 127, 128 čiaužė t i 128 čiaūžti 128 čiobrinti (dial.) 4 0 čiūdas (dial.) 169 -da 273, 2 7 4 daba (dial.) 33 dabar 33 dagys 17 daiktas 10 dalis 2 4 0 dalyti 2 3 3 , 2 4 0 dangiškas 53 dangstyti 40 danguoti (dial.) 4 0 dangūs 20, 53, 144 dantis 31, 60, 143 darbas 33 daryti 18 daržas 197 daug 12-13 debesis 29, 170, 184 deglių 1 7 ' 6 2 ' , 3 2 ' 218, 251 J e / v ė 12 Jė/e r 110 delnas 107 dengti 20, 4 0 derėti 18 derva 122 dešimt 15,97 dešimtas 91 deti 40, 104, 212, 213, 2 4 2 devyni 15, 2 9 devintas 91, 97 didelė 6 diegti 10, 108 dievas 12, 13, 65, 118, 143, 196 dieveris 109 dirbti 33, 2 1 4 dirt i 135 -do 273, 2 7 4 draikyti 256 drąsūs 196 draugas 65, 70 drausti 9, 93, 97, 2 3 7 drevė 122 dryboti 137, 138 drybsoti 138 dribt i 137 drikti 2 5 6 druktas (dial.) 83 druska 29 drūtas 83 duktė 32, 107, 114-115, 139

337 I N D E X V E R B O R U M Diilgas 21 dulksna 78 dūmai 106 düona 29, 37, 65 düoti 24, 104, 132, 2 1 2 , 2 1 3 , 214, 217, 242, 258, 2 5 9 dūšia (dial.) 144 dvasia 9 4 dvėitas (dial.) 86 dvejetas 86 džiaugtis 12-13 džiauti 108 ėdis 83 eglė 13 eiti 12, 93, 96, 9 8 , 2 1 1 , 2 1 3 , 214, 217, 242, 2 4 8 elnias 11 engti 81 ėras 197 ėrisčias

(dial.)

146

ėsti 18, 20, 24, 31, 40, 83, 126, 130, 212, 229, 2 4 2 ežeras 169, 184 futbolas 62 '-ga 212, 273, 274, 283 galėti 28 galva 29, 69-70, 71, 2 4 0 galvoti 29, 240, 255 ganyti 2 5 6 garbanos 17 gaubti 137 gauti 94, 97, 207, 211, 217 -ge 272, 273, 274, 283 gėda 82 gėdingas 82 gelsti 93, 97 gėla 122-123 gelbėti 212 gėlė 21 geltas 27 gelti 107 genys 9 gerai 174, 186, 188 geras 171, 172, 174, 176, 185, 199, 2 0 0 gerti 15, 27, 63, 107, 124, 135136, 209, 216, 217, 2 1 9 gervė 107, 119 gervinąs 119 gesti 217 -gi 178, 2 6 2 , 2 7 2 , 2 7 4 , 2 7 6 , 277, 280, 283, 2 8 6 , 2 9 0 - 2 9 1 , 292, 294, 295, 297, 3 0 4 giedoti 108,212

giedras 19 gilus 8, 38 gimti 10,215,250 Gintara 25 gintaras 26 ginti 9, 132 ginti 9 gyra 124 girdėti 83, 91, 98, 213, 2 8 6 giriä 11 girnos 108 girtas 108, 124 girti 63, 64, 109, 124, 233 gyvas 24, 94, 106 glausti 137 glūdoti 137 glüst i 137 goti 104 gramėti 227 graudy ti (dial.) 82 gražūs 171, 172, 2 0 0 grėbti 41 greībti 12 griauti 108 griebti 12, 29 gr iekas (alt) 83 grobai 41 gruodas 76 -gu 263, 272, 283 gw/ė7i 2 1 9 gi/r//' 63 /l'ra/ 144 ilgas 21, 109 imti 91, 133, 135, 217, 233 m g (alt) 3 0 4 /r 33 irgi 211 išvysti 78 itas (dial.) 174, 175 yazJ 177, 180, 2 7 4 jäunas I08 jäura 9 javai 3 2 jei 1 7 7 , 2 7 3 , 2 7 7 ye/6 (alt) 273, 282 jeigu 277 M « o i (alt, dial.) 35, 117 jėntė 107 jis 38, 176, 178 jog 272, 2 8 0 joti 104 jungas 27 juoba 273 juodas 28

330

INDEX VERBORUM juodnugaris 172 juokas 124-125 juosti 105 jūra 9, 83, 144 kadangi 277 kai 177 kaimas 39, 92 kaimynas 83 käina 32 kairys 6 kaisti 92 kaklas 17, 197 käkti 8 kalavijas 236 kalbėti 29 kalnas 17, 65, 108 kaltas 65, 147 kalti 108, 124 kampas 73 karalius 28 karti 63, 135, 2 1 7 kartis 63 karvė 34 käs 174-183, 192-194 kaukas 143 kaulas 11, 65, 70, 93, 97, 109 kaušas 197 kauti 1 2 4 , 2 1 6 kažkas 174, 175, 180 kėblinti 40 keisti 12 kėlias 11, 15 kelnės 86, 150 Jte//i 17, 138 kepenys 35 kepti 35 kiaūlė 2 7 - 2 8 kiautas 12,16 Ay&o/i 137 137 kiek 179 kiemas 9 2 /aev/; 12 kiloti 138 kilti 138 Ä/.S7; 12 */7<w 8, 175, 176, 180, 192 kitkas 175, 180 klausyti 224 klegėti 137 klišas 2 6 kloti 105 kluonas 105 kneipti 93

koja

19 179 fcovä 40, 124 kovārnis 40 fcovas 4 0 kovoti 4 0 kraujas 34 kreklas (alt) 146 krėslas 184 kriokti 41 kristi 216, 2 1 7 krosnis 19 (dial.) 4 0 (dial.) 3 9 kūmas 61 kūnas 61 kuolas 124 kuosa 4 0 fcz/rgz (alt) 2 7 2 119 kurkinas 119 kurpė 2 4 kurti 135 fa«// (dial.) 91 kviesti 92 labai 185 /a/w.v 10 laikas 16 /fl/Ay/z 7, 92, 96, 224, 233, 241 laisvas 28, 54 laisvė 54 laiskas 95 laükas 7 3 - 7 4 , 75 laukėti (dial.) 83 läukti 128,215,216 lavonas 18 leisti 28, 2 1 7 /e&z'a 136 lemti 233 12 liaudis 12 liautis 18,95 /z'epa 25, 65 liepsna 78 liesas 197 lietūs 16 lyginti 83 (ygws 155 lykyti (dial.) 83 likti 1 6 , 9 2 , 2 0 6 , 2 1 2 , 2 3 2 , 2 3 6 įimti 124 12 /z/jfz 62 lyti 16

INDEX VERBORUM lobis 10 löbti 10 lokys 9 loma 124 löpas 124 lukštas 197 lunkas 169, 184, 196 luomą 124 mainyti 256 maišas 76 maišyti 224, 2 5 6 malti 19, 108 manas 14 manyti 2 5 6 mano 60 marios 144, 151 marti 91, 97, 144, 197 matyti 2 5 7 mažas 9 mažutis 172 medijas (alt, dial.) 144 medinis 172 medis 7, 11 medūs 170, 184 medžias (dial.) 11, 184 mėlynas 28, 83 meluoti 217 melžti 127, 130 menas 170 menkas 26 mėnuo 104 merga 9 mėsa 82, 123 mesti 2 1 8 metas 169 mi (alt) 272, 274, 276, 2 7 9 - 2 8 0 , 282, 2 9 1 - 2 9 2 , 294, 297, 3 0 4 miega 4 0 miegas 4 0 miegoti 212, 213, 217 miegti, mygti 4 0 mielas 108 mieryti (dial.) 82 miestas 169 migti 63 milas 185 miltai 147 minėti 2 0 8 - 2 1 0 , 213, 215, 216, 218, 219, 247, 258, 2 5 9 Mintauja 26 minti 1 3 5 , 2 1 5 , 2 1 9 minti 90, 2 1 9 mirti 18 mokyti 257

331

mokytojas 29 mokslas 30 mölis 19 moša 32, 76 motė 24, 65, 83, 115, 2 2 9 muilas 169, 170 muitas 169 mūsų 14, 95 naga 19 namas 32, 171 našlė 2 8 nauda 30 ne- 113, 2 6 2 , 2 6 4 , 2 7 5 , 2 7 6 , 277, 278, 302 nefte- 275, 276, 278 nedėlia (alt) 28 negi 264, 281 neiokaltoia (alt) 3 0 1 - 3 0 2 « ė r a 113 nesanga (alt) 266, 273 «äs// (alt) 113 niekas 175, 180 niežti 213 rajfc/i 216, 217 nytis 94 nökti 31 nöras 104 norėti 29 nosis 30 nuo 305 nuog (alt) 3 0 4 nüoma 138 nuomoti 138 öda 16 opera 62 padirbti 276 pagalba 301 pagiklausik (alt) 3 0 4 paioprasta (alt) 301, 306 pakalbėti 307 palygus 83, 155 pamirödik (alt) 3 0 4 paniabūdė 148 pantis 60 paprastas 301 pas 39 pasaulis 276 patirödisiu (alt) 3 0 4 päts 18, 174, 176, 182-183, 192 pavydėti 258 pawelmi (alt) 127, 128, 2 1 2 , 242 pažinti 20, 109 pažvilti 118

332

INDEX VERBORUM

pėda 27, 145 peilis pekla

9 (alt)

170

pēlūs (alt) 195 penki 27 pergi (alt) 305 piemuo 109, 115, 145, 197 pienas 15, 3 7 piešti 19 pietūs 28 pieva 109 pikūlas 86, 143 pylė(dial.) 39 pilnas 31, 109 pilvas 31, 121 pinti 2 7 pintis 143 pirkti 132, 2 0 7 , 2 0 8 - 2 1 0 , 2 1 1 , 213, 214, 215, 218, 220, 246, 247 pirmdėlė 110 pirštas 91, 98, 148 pyti 15 pjūklas 146 plakti 62 plaučiai 144 plaustas 105 plauti 105 plėšti 105 plienas 9 plyta 72 plonas 65 plūostas 105 pluoštas 105 po 262, 277, 3 0 7 pokalbis 307 ponas 60 prakaitas 92 pranokti 31 prašyti 257 prėskas 197 prie 93 prieg (alt) 305 priegtām (dial.) 305 prieiti 31 protas 65, 70 provä (alt) 170 pulti 17, 120, 122, 2 1 7 puodas 24 puodžius 110 puota 15, 95, 110, 111 purus 121 purvas 121 pušis 33

pūti 106 raišyti 93 rakštas 20 rakti 2 0 ranka 27, 65, 68, 69-70, 90, 97, 98, 172 rasti 17, 2 5 0 rašyti 19 raštas 196 rātas 26, 150, 196 raudas 33 raudonas 33 raudoti 212 raugas 65, 70 rāvas (dial.) 143 rėžti 104, 105 rykauti, rykauti 94 rinkti 90, 99, 2 3 3 rišti 10 rytas, rytai 28, 74 rodyti 257 rudas 16 ruduo 16 ruožas 105 saitas 147 sakyti 2 0 8 - 2 1 0 , 2 1 3 , 2 1 5 , 2 1 6 , 220, 223, 225, 241, 246, 247, 248, 254, 255, 2 5 6 sala 196 sargas 65 saulė 6, 109, 144 savaitė 28 savas 14 sėdėti 40, 127, 130, 219, 2 5 8 sekti 241, 2 5 6 sėmenys, (alt) sėmuo 145, 170 semti 107 senas 2 4 0 senėti 2 4 0 sėsti 1 5 , 7 8 , 2 5 3 , 2 5 4 sesuo 32, 116 sėti 104 -si 272, 274, 276, 2 9 3 - 2 9 4 siaučia 127, 129 siäuta 127, 128 siekti 127, 128 siena 19, 196 sietas 147 sietas 147 sieti 19 skelbti 2 9 skelti 39 skietas 147 skystas 84

INDEX VERBORUM skristi 217 slanka 26 slėpti 135 smagūs 31, 41 smėlis 19 smulkmė 115 smulkmena 115 soda (dial.) 3 9 - 4 0 sodinti 78 sölymas 111 spauda 128 spausti 128 stabas 17 statas 147 stenėti 2 2 7 stiklas 150, 184 stiprūs 200 stirna 119 stirninas 119 styroti 137 stirti 137 stotas 110 stoti 104, 110 stovėti 213, 2 1 9 strazdas 198 strėnos 145 stuomuo 105 sūdrūs 122, 131 sugidek (alt) 3 0 4 sūkti 62, 215, 243 sūnūs 24, 32, 94 suolas 125 surinkti 99, 233 svečias 11 sveikas 16 svidrė 34 svidūs 34 sviestas 16 svietas, svietas (alt., dial.) 83 šaka 71, 72 šalna 196 šarka 119 Šarkinas 119 šarma 196 šeima 196 šerdis 145 šerti 107 šiaurė 28 šienas 169, 184, 196 širdis 145 širšė 119 širšinas 119 šitai 175, 179 šitas 174, 175, 179, 180

333

šyvas 106 šluoti 2 1 7 šokti 105 šuo 67, 116 šūokoti 105 šuoliais 125 šventas 121, 2 3 6 šventė 121 šviesti 92 tačiau 177, 180 tai 174-183, 192-194, 198 taigi 178, 180, 2 7 7 tapti 2 0 täs 174-183, 192-194, 285 tatai (alt) 175-183 tauta 2 0 tavas 14 te- 2 7 5 , 2 7 6 , 2 7 7 - 2 7 8 , 2 8 5 , 2 9 1 , 300 -te 273, 2 7 4 tebe- 2 7 5 teesie 95 teisė 6 tekėti 217, 219, 225, 227, 2 3 0 Telšiai 25 tempti 91 temti 107 tėvas 8 tęvas (dial.) 108 ti (alt) 272, 274, 276, 2 7 9 - 2 8 0 , 282, 2 9 1 - 2 9 2 , 294, 297, 3 0 4 tiek 179 tik 178 tikėti 27, 2 1 9 tikras 8 tiktai 178 tikti 8 tiltas 196 töks 178, 183 tolti 85 tolūs 8, 85 traukti 8, 93, 97 trečias 15 trėkšti 127 tūkstantis 83 tūlas 84, 94 tūpti 135 turėti 1 0 , 2 3 , 8 3 , 2 1 9 , 2 2 5 , 2 2 6 , 230, 240, 241, 2 5 8 tūščias 197 tverti 10, 124, 241 tvyla 137 tvyloti 137, 138 tvilti 137

334

INDEX VERBORUM tvorä 124 ūdra 131 üodas 18,40,65 uolä 30 üosis 76 uostas, (dial.) uosta 185 vaikas 35 vaisius 93, 9 7 vakaras, vakarai 17, 28 valanda 30 valdyti 92 valgyti 2 0 vanduo 116, 139 vardas 27, 65 v a r a , varias (dial.) 10, 11, 184 värna 40, 65, 6 9 - 7 0 , 101, 119121

varnas 40, 101, 19-121 vartai 150 vartyti 256, 257 vaškas 196 vėdaras 30 veidas 170 veldėti 92 velti 30, 107 vem// 107 verpstas 147 ves// 84, 2 1 5 , 2 1 8 , 2 4 3 , 2 4 6 , 247, 248, 253 vidūs 11 viekas (dial.) 35, 196 vienas 14, 65, 93, 97, 175, 176,

180 viešpats 18 vieversys 40 vi/gyti 2 0 vilkas 119, 120 vilkė 6, 119, 120 vilnos 109 vynas 169 vyras 83, 85, 118 virsti 2 5 6 virti 10, 121, 211, 2 1 7 visas 175, 176, 180, 182, 199 viskas 175, 180 višta 19 vogti 135 zūikė 119, 120 zuikis 119, 120 žabas 196 žadas 21 žadėti 21 žagti 31 žalias 33, 171

žambas 31, 196 žarnos 108 žibia 126, 128 žembti 31 žemė 7, 24, 83-84, 2 2 9 ženklas 13 žengti 212-213 žentas 108 žergti 8 žiaurūs 117 žiema 67, 6 9 - 7 0 , 76, 144 žiemis, žiemys (dial.) 76 žiesti 19 žinoti 13, 20, 216, 225, 255 žioti 3 4 žiotys 3 4 žirgas 8, 197 žįsti 34 žiuponė (dial.) 83 žiurkė 119 žiurkinas 119 žizdras 19 žmogus 32 žmuo (alt.) 32, 115, 144 žmuoj (dial.) 115, 144 žodis 21 žolė 24, 76, 123 žvaigždė 20 žvėris 83, 117-118 Lettisch

äda 16 aires (dial.) 34 akmens 17, 39 aknas 35, 117 agrs, agri 34 älga 92 alus 184 aplam 186, 199, 203 apsijuku (dial.) 303 apsoprecęjas (dial.) 303 ar 33 ari 281 arig 281 arkls 107, 146 ārpus 57 aruöds 4 0 asins 34 astuötais 91 atraitne 28 aügstu 185 aügt 221 äuss 87, 93 austrumi 28

343 I N D E X V E R B O R U M bälss 65 balts 19 baluödis 25 bārt 108, 221 bauda 2 9 bėgt 2 1 8 bērns 35 bęrzs 58 bijāties 82 bikses 150 bīties 106 blaku 185 brālis 82 briedis 9 brīvs 28 buözties 105 būt 83, 94, 106, 213, 221 cęlš 15 cena 32 ciems 92 cilvęks 32 cīrulis 4 0 cits 8, 192 cūka 2 7 dadzis 17 daikts 10 dārgs 28 darīt 18 dāsns (alt) 58 debess 20, 29, 185 degt 1 8 , 2 1 8 , 2 4 9 dęgūns 30 dęlna 107 dęls 32, 34, 104 desmit 15 dėt 104 dėt (dial.) 32, 34 deviņi 15 devītais 91 dibęns 4 7 diegt 108 dienvidi 28 dieveris 58, 109 dievs 12, 13, 65 dievuoklis (alt) 58 dīgāt (alt) 58 draudēt 9, 93 draugs 59, 65, 70 dreve 122 drīz 186 drūkts 83 druska 29 ducele 2 6 dūmi 106

duomāt 29 duona 29, 65 düore 121-122 duot 104 durt 122 dūša 94 dzenis 9 dzert 15, 27, 107 dzērve 107 dzēsna 23 dziļš 8, 38 dzimt 10 Dzihtare 25 dzintars 26 dzirnas 108 dzirdes 109 dzira 11 dzīve 152 dzīvs 94, 106 dzivuot 58 egle 13 ėst 18, 20, 31, 40, 83 ęzęrs 184 gaidi t 93 gāju 104 galva 71 gaut (alt, dial.) 58, 87, 9 4 grābs 41 greībt 29 gribēt 29 grida 25 grīva 34, 106 graut 108 gübäties 137 gubt 137 gulėt 2 1 9 güodät 238 güodet 238 güovs 34, 112-113 iet 12, 93, 130 ietaļa 107 ilgs 21 jā- 281 jāt 104 jau 263 jūgs 27 juöks 124-125 juosta 105 jūra 9, 83 jutis 106 kaimiņš 58, 5 9 kaitēt 92 kāja 19 kakls 17

336

INDEX VERBORUM kakt 8 kalns 17, 65, 108 kalts 65, 147 kämet 104 kārs 104 kas 192-194, 198 kaüls 11, 65, 70, 74, 93, 97, 109 klāt 186 klęgat 137 klešs 25 klusu 186 kļūt 2 2 0 krāsns 19 krāt 19 krękls 146, 184 krist 221 krūkle 25 kumpt 91 kuosa (alt) 4 0 ķēniņš 2 8 labība 32-33 labi 185, 188 labs 10, 33, 185 lacis 9 lāicīt2 92 laiks 16 laimīgs 58 lāma 124 lękdt 1 3 6 , 2 5 5 lęnu 186 līdz 186 liepa 25, 65 lietus 16 likt 16, 92 lit 16 lūks 184 luöma 124 ļaudis 12 ļauties 95 mācēt 30 mācītājs 29 maize 29 māja 32 māksla 30 māls 19 malt 108 mans 14 mārša 91 māsa 32, 76 māte 55, 65, 83 maz 186 mazs 9 mędus 184 meita 26, 32

męlns 28 męnca 26 mērga 9 mest 137,218 mętat 137,255 mežs 11, 184 miesa 153 miezis 29 mila 185 milti 147 minēt 221 mirt 18 mīt 219 mūsu 14, 94 nākt 31, 218 nāss 30 naūda 30 ne- 264, 281 nedēļa 28 nedz 264, 281 nęsat 137 nest 137 nuöst 186 padevīgs 301 pana 148 pasaka 301 pats 18, 192 pazīt 20, 109 pęda 27 peilis 9 pļrn 186 pieci 27 piens 15 piēva 109 pīle 32, 39 pilns 109 pils 86 pirksts 91 pirkt 218, 2 2 0 pisaceļ (dial.) 303 pīt 27 plāns 56, 65 plauši 144 pliens (dial.) 9 prāts 55, 65, 70 priede 33 puķe 27 put 106 raisīt 93 rakstīt 19 rast 17, 221 rats 26 raugs 59, 65, 70 riest (dial.) 28

345 INDEX V E R B O R U M rietumi 28 rist 1 0 , 2 2 1 rīt 59 rit 59 rīts 14 rudens 16 rūgts 154 runa 29 runāt 29 rūoka 27, 65, 90 -sa- 2 9 9 - 3 0 0 , 306 sacīt 220, 2 2 3 sākt 221 sāls 111 sargs 65 sarkans 33 saule 6, 109 savs 14 sębu 186 sēdēt 2 1 9 sen 186 sēst 15 sēt 54, 104 siena 19 siens 184 siet 19 siets 147 sirds 74 sirgt 57 skausts 198 Slūoka 2 6 smags 31,41 smiet 127, 129-130 smilts 19 soķū, suga (dial.) 26 spārns 184 stāt 104 stats 106 stāvēt 2 1 9 stāvs 59 stāvs 59 stiebrs 25 stikls 184 stirna 57 strādāt 33

sudlis 125 sveiks 16 sviests 16 šķiets 147, 184 šķists 84 tagad 33 tāls 8 tālu 186, 2 0 3 tapt 20, 221

tas 192-194, 198 tauta 2 0 tavs 14 tecēt 2 1 9 tēst 127, 130 tęvs 8 ticēt 27, 2 1 9 tievs 108 t ikrs 8 tikt 8 trauks 59 traukt 8, 93 trešais 15 turēt 7, 10, 2 1 9 tuvu 186 tvirts 51 un 33 uöds 1 8 , 4 0 , 6 5 uöla 30 uösis 76 uosts, uosta 185 üotrais 45 uözuols 8 uz 263 väi 275, 277, 282, 285, 3 0 0 vakars 17 valdīt 92 valuöda 30 vara 28 vārds 27, 65 varēt 28 vārna 26, 65, 119 Varnukalni 119 varš 10, 184 vārti 150 vędęrs 30 velt 107 vęlu 186 vest 218, 220 viens 14, 65, 93, 97 vilcene 119 vilks 119 vilna 109 vīrs 85 vista 19 zagt 31 zaļš 33 zarnas 108 zęlts 33 zeme 1 zęmu 186 ziemeļi 28 zināt 2 0 zirgs 8

338

INDEX VERBORUM znuöts 105, 106 züobs 31, 196 zvaigzne 20 zvęrs 83, 117-118 žaut 108 Altpreussisch

abbaia164 addle 13 aglo 16 ainawidai 156 ains, aīnan 14, 89, 93, 96, 97, 164 aketes 144 algas 90, 92, 99 alu 145, 148, 169, 184, 195 am sis 20 an, en 265, 267, 268, 269, 271 anctan 16, 146, 151 anga 2 6 6 angst ainai 34 ansonis 8 antis 32, 144 arwis 155-156 as sānis 16 assaran 145, 147, 169, 184 aswinan 154 audāst sien 79, 2 6 6 āūgus 81 aulāut 18, 95 aupallai 17, 96, 265 āuschautins 96 āusins 87, 89, 93, 98 ausis 33 austo 150, 153, 185 baytan 146, 147 bebinnimai 230 beggi 265, 295 bei 235 bhe 77, 285 biätwei 82 billīsna 82 billīt 7 7 - 7 8 , 81, 82, 2 2 5 - 2 2 6 , 228, 230, 232, 233, 235, 239, 266 bīskops 82 bītas 17, 79 brāti, brote 24, 82, 100 braydis 9, 143 broakay 145 budē 2 2 4 būton, boūton 79, 83, 94, 2 2 2 , 224, 225, 227, 228, 232, 233, 237, 2 4 2

buttan 147, 151, 169 buttastaws 268 camstian 146 caulan 11 cawx 143 caymis 151 clokis 9 crauyo, krawia 34, 158 creslan 149 crixtia 2 2 5 cucan 154 curwis 34 dadan 15, 147, 154 dalptan 146, 147 dangus 20, 144 dantis 143 dāt 22, 24, 77, 88, 2 2 2 , 2 2 4 , 233, 242, 2 6 6 debica 155 deicktas 10 deiws, deywis 12, 13, 25, 143 dengnennissis 266 Derwayn 122 dessīmts 89, 91, 97 dīgi 77, 2 6 4 , 265, 271, 295 dilinai 2 3 4 -din 84, 266, 267, 268, 2 8 2 - 2 8 3 , 296 dīnkausegīsnan 80 dīnkaut 80, 228, 230, 234, 235,

266 dīnckun 81 dolu 145, 148 draudieiti, driāudai 9, 93, 97, 234, 2 3 7 drūktai 83 drüwien 77 druwīt 77, 228, 2 2 9 , 2 3 0 , 2 3 3 , 239 duckt i 32 dusi, dūsin 77, 94, 144 ebsentliuns 13, 2 6 5 ebsignāsnan 78 ēit 89, 93, 233, 238, 2 4 2 empijrint 163 endeirā 235, 2 6 5 engraudīs 82 ensaddinnons 78 ensadinton 78, 158, 265 entēnsīts 81 enterpen 155 er 2 6 4 , 295, 305 ergi 264, 265, 295, 3 0 5 eristian 146

INDEX VERBORUM erlaiküt 88, 92, 96, 100, 163 ermīrit 82 erschwäigstinai 92 ersinnat 20, 228, 2 3 9 er trepp a 2 3 3 esse 82, 265, 267, 2 7 0 etkümps 89, 91 etneiwings 94 etnīstis 9 4 etskīmai 227 ettraz 233 etwerpe 265 etwerpsnä 77, 78, 82 etwerpsennien 265 etwierpt 90, 91, 97, 228, 233 Gailgarben 17 -gtf 2 6 6 ga//w 77 garian 11 gqy/w 19, 154 geasnis 23 g e ü f e 93, 97, 223, 225 g e f w w w 24, 89, 94, 95, 96, 106, 152 gelatynan 154 gewx 9 gerbt 88 gertistian 146 gerto 19 -gi 2 6 4 - 2 6 5 , 266, 271 gīdan 82 gili in 8 gimsenin 10 ginnewmgiskan 162 girrimai 228, 233 giwan 94, 152, 153, 157 giwei 152 giwit 100, 2 2 8 , 2 2 9 , 2 3 0 , 2 3 2 , 234, 2 4 0 golimban 154 grabis 17 grīkan 24, 83 grlkenix 83 grīkimai 83, 228, 2 3 0 grīmons 227 grosis 76 gruntpowirpun 269 guntwey 222, 2 2 8 gurins 85 īdis 83 ik 22 ilga 21 īmt 91, 2 2 3 , 2 2 5 , 228, 230, 232, 233, 238, 239, 2 6 6

339

instran 149 ioūs 94 iquoitu 267 išmaitint 163 ismigē 223, 234, 2 6 5 ispresnā 78, 82 isrankīt 163 issprestun 77, 223 īst 23, 24, 77, 229, 238, 2 4 2 iūrin 9, 83 ka- 164-168, 180 kaāubri 17, 18 kackint 8 kāi 264, 295 kāigi 264, 265, 295 kails 16, 2 2 kāimaluke 92 kaimīnan 83 kalabian 236 kaltzīwingiskai 162 kaūlins 93, 96, 97 kawida164 kelan 26, 196 kelsāi 85, 88 kērdan 16 kērmeneniskan 162 keuto 12, 16 kirdītwei 83, 90, 91, 98, 100, 222, 228, 230, 2 4 0 kimo 150 kirsche 270 kirsnan 154 kittan 8 kittawidin 156 klantīt 228, 2 4 0 klausiton 224 kniēipe 93 kote 4 0 konagis 28 kraclan 146 kümpinna 89, 91 kūra 223, 225, 2 3 4 kurpe 24, 151 labban 152, 153, 156, 157, 199 labbasegīsnan 80 labs 10, 22, 152, 155, 156 lagno 35, 117, 150 laikūt 7, 92, 96, 100, 222, 224, 225, 227, 232, 234, 241 laiskas 95 lapiwarto 150 largasaytan 146, 147 lasinna 77, 2 3 5 laukīt 83

340

INDEX VERBORUM laustingins 81 lāustīngiskan 81 lauxnos 20, 144 laydis 19 layso 150 lemlai 233 lickte 151 Heut i 155 Ilgint 83 limatz, līmauts 2 2 3 , 2 6 6 lunkan 148, 169, 184, 196 luriay 144 madlīt 77, 2 2 8 mais 14 maista 151 maitā 225, 2 3 3 maitātunsin 233, 266 maldai 146 maldian 146 malüakelä 144 Marian 232 mārtin 90, 91, 97 mary 144, 150-151 massais 9 maysotan 154, 2 2 4 meddo 145, 148, 170, 184, 195 median 11, 145, 184, 197 medies 144 meltan 146, 147 menissnan 78, 79 mensä, menso 82, 150, 153 mēntimai 89, 90, 228, 2 4 0 mergo 9 mestan 149, 169 mettan 151, 169 mien 2 8 2 mijlan 152 mijlin 152 milan 185 milē 100, 152, 223, 2 2 5 mīlinan 83 mīls 85, 86, 90, 100, 152 moasis 76 moazo 32, 76 mothe, mūti 24, 83, 2 2 9 mukint 228, 2 3 4 mukīnsnan 95 nage 19 neggi 2 6 4 , 2 6 5 , 2 7 1 , 2 8 1 , 2 9 5 , 304 neuwenen 157, 2 6 6 newTnts 1 4 , 8 9 , 9 1 , 9 7 ni- 264, 265, 267, 268, 269, 271 nieteīstis 94

nigldings 82 niquei 2 6 4 niqueigi 264, 265, 295 nitickran 152 « o 24, 265, 266, 267, 268 noseilis 265 noüson 14, 9 4 paggan 268 pallaipsTtwei 79 panean 148 panno 145, 149, 195 panustaclan 145 paustocaiča 144 peadey 145 pecku 151, 152 pedan 148 peile 9 peisäton 19, 85, 155, 156, 223 penningans 22 per 265, 266, 2 6 8 perarwiskai 156 perbandāsnan 2 2 4 , 271 perēit 93, 96, 98, 227, 2 3 8 perklantīt 163, 228, 230, 2 6 5 perānin 77 perrēist 93, 265 perstlanstan 146 pertraūki 8, 93, 9 6 , 97, 2 2 3 , 234, 2 3 5 perweddä 224, 233, 237 peuse 12, 33 p e w o 151 piekūls 86, 143 pienektā 82 pintis 15 pintys 143 pirmannien 266 pirsdau 270 pirsten 81, 145, 148 77, 2 2 8 piuclan 146 piwamaltan 149 plauti 144 playnis 9 po 265, 2 6 7 , 271 poadamynan 155 poauginneiti 234, 237 podalis 24 pogaw* 87, 89, 94, 96, 97, 223, 225, 230, 233 poklūsmai 160 poklusmingiskan 162 pokūnst 89, 91, 265

INDEX VERBORUM polāikt 89, 9 2 , 9 6 , 2 2 3 , 2 3 2 , 236 polīgu 155,271 polīnka 223, 224, 225, 233, 2 3 6 pomatre 301 pominīsnan 77, 79 pomīrit 82 popeckūt 11 poprestemmai 223, 224, 225, 228, 233, 2 4 0 poquelbton 162 posinnat 20, 224, 228, 2 3 9 postāt, postai 20, 85, 223, 225, 228, 2 3 3 poswäigstinai 92 potaukīsnan 80 poūis 95 powierpt 90, 97 powJrps 301 pra 265, 268, 2 6 9 prābutskan 11 prakāisnan 92 prassan 149 prastian 146 prēi 9 3 , 2 6 5 , 2 6 6 , 2 6 7 , 2 6 8 , 269, 270, 271 preibillīsnā 81 prēigimnis 93 prēipīrstans 81, 90, 91, 93, 98 prēisiks 93 preytickray 265 prīki 2 7 0 prowela 223, 234, 2 6 6 pūton, poūton 15, 2 2 , 2 4 , 95, 111, 155 quäits 92 quoi 22, 2 3 2 rāms 85, 89 rānkan 89, 90, 97, 98 ra/?a 144 rawys 143 retēnikan 80 rickaūsnan 94, 9 6 rickawie 223, 2 2 5 r/Ä/s 22 roaban 154 ructandadan 147, 154 sacramentan 152 saddinna 78, 231 saligan 154 sallūbaiwīrins 81 sallūban 81 sallübanlimtwei salta 155

81, 268

341

saltan 146 same 1 saule 6, 144 sawayte 28 Sawliskresil 24 •scAai 177 schindeinan 268 schlüsitwei 83, 228 schlūsnikan 83 scrundos, scrundus 144 seamis 76 sebbei 14 « g g f / 18, 77, 82, 228, 229, 2 3 0 segisna 80 seimīns 85 seine/? 23, 145, 170, 195, 197 semmē 24, 83, 229, 271 semo 76, 144 sen 265, 267, 268 sendraugiweldnikai 80, 92 sengidaut 265 senrīnka 89, 91, 99, 2 2 2 , 2 3 2 , 233 senrists 10, 2 6 5 seydis 19 seyr, sīran 23, 145, 153 signassen 78 -sin 2 6 6 - 2 6 7 , 2 6 8 , 2 8 2 , 2 9 5 , 296, 3 0 3 sindats, syndens 15, 80, 233 sirgis 8, 197 sixdo 19, 150 skellänts 95 skīstai 84, 162 skīstieskan 84 slayan, slayo 149-150 sloyo 150 smoy 115, 144 soalis, sälin 24, 76 soūns 24, 94 spans tan 146 spertlan 146 spoayno 150 sta- 14, 95, 164-168 stabis 17, 19 stabni 19 stänintei 162 stawida164 staytan 146, 147, 184 stenuns 227 sticlo 150 straunay 144 stürintickröms 81, 89 stürnawiskan 81, 90

342

INDEX VERBORUM subs 18, 164 supüni 83 surgi 264, 305 swäigstan 20, 92 swais 14 swetan 152 swintian 146 swintint 234 swints 236 swtrins 83, 117 swJtan 83 swltewiskan 83 sywan 154 tālis 8 tāns 86 tauto 20 tawischas 11 täws 11 tebbei 14 teikūsnā 82 teic kut 8, 235 tēmpran 89, 91 testamentan 151 thewis 22 tickars 8 tickrömai 81 den 268, 2 8 2 tīrts 15 towis 8 trēnien 80 tu 268, 271 tūlan 84, 94, 162 tūlninai 90 turīt, turrettwey, turritwey 10, 23, 24, 77, 83, 222, 224, 225, 226, 228, 229, 230, 231, 232, 233, 235, 236, 239, 240, 241 tūsimtons 83 tusnan 11 tussis 18, 4 0 twais 14 twaxtan 146 unds s. wundan waispattin 18 waist 20, 222, 228, 233, 2 4 2 waitiämai 227, 228, 2 3 0 wäldnikans 90, 9 2 waldüns 85 walnennien 266 wargan 152 wargien 10, 145, 184 wargs 152 warnis 119 warne 119

war r in 28 warto 150, 153 wedais 2 3 6 wedde 84, 2 2 3 , 2 2 5 , 2 3 4 , 2 3 5 ,

266 weders 30 weisin 93, 97 werstian 146 werwirsis 40 widdai 78, 235 widdewü 98 wilkis 119 winsus 17 wijrs, wtrans 83 wirst 20, 2 2 3 , 2 2 7 , 2 3 2 , 2 3 3 , 236, 266, 271 wissa- 164, 167-168, 199 woasis 76 wolistian 146 wormyan 154 wosee 23 wundan 149, 153 wurs 9 yccroy 144 II.

INDOGERMANISCH

*bhegv126 *bheh1ģh105 *bhelH- 19 *bher- 132, 133, 135 *bher-nom 35 *bheudh29 *bhhfti106 *bhiH- 106 *bhorH108 *bhrehlģ(h>- 105 *bhuH- 106, 147 *dedhhrom 147 *dehj.u-er109 *deh - 104, 2 4 2 *deik- 251, 2 5 4 *deiuo12, 118, 122 *dēk-ti 125 *delH-n107 *derb- 33 *dieu- 111, 118, 122 *dlHgho- 21, 109 *domo- 32 *dor-u 121-122, 146 *dregh134 *d h eg Ųh - 18 *dhehr 104, 134, 2 4 2 *dhehl(i)32, 34

INDEX V E R B O R U M *dheh/-lo32, 104, 110 *dheh2-l134 *dheig[10, 19 *dheiHgv108 *dher- 18

*dheugh- 12-13

*dheuH108 *(dh)gl'm-ön 32, 115 *dhob-r-o33 *dhoH-neh2 37 *dhreģh134 *dhreu- 9 *dhugh2ter32, 107, 114-115 *dhuh2-mo106 *ģebh- 126 *ģembh- 31 *ģenh,-t108 *ģērh2-s117 *ģnehf 13, 20, 105, 106, 109 h *ģomb -o31 *geiH-d108 *gerbh- 17 *gerh2-u107 *ļel21 * ļ o l - u 148 *^ehri129 *ģhorH-n108 *ģhuel118 *ģhuēr117-118

*gHruhr 108

*gveh2*gvelH*gvem*g»erhf

104 107, 122-124 10, 2 4 4 15, 107, 135

*g"ihfUO- 106 *gvou- 34, 111-112 *gvreh3107, 108

*gv[H- 109 *gv°rh2- 108

*gy°riHuā 34, 106 *gvhei- 19 *gvhen- 9 *Hiekv-r/n35, 117 *Hienhfter107 *Hio- 283 *hldent-o120 *hld-ont31, 120 *hJed- 31, 126, 134, 242, 2 4 6 *h,ei- 16, 238, 2 4 2 *h/em133, 134 *hlesh2-r/n34 *h,es- 7, 2 3 8 , 2 4 2 , 2 4 3 , 2 5 0 , 253 *hļeuH-r9

*hlleudh12, 2 0 6 *h/oi-no14 *(hIjrep127 *hjroudh-o33 *h,su- 16, 122 *hlsu-dru122, 131 *h,uH-r9 *h2eg-ro34 *h2ei-ro34 *h2ek-mön 17, 39, 115 *h2engŲ- 16 *h2enh2t- 32, 39 *h2ent- 283 *h2erh3-trom 107, 146 *hAeu-Hn108 *h2melģ127 *h2seut127 *h2ulhrneh2 109 *is 38 *ieh2- 104 *}ehxs- 105 *ieu-o- 32 *iugom 199 *iuH-ti106 *keh2k105 *kel- 136 *kēr 23, 145 *kerhf 107 106 *kleį-~ 150 *kuön 116 *keh2- 104 *kehp244 *keh2ul11, 109 *kelH- 17 *ker(h3)uo34 *keuH-to12 *kleh2- 105 *kolH- 108 *kolh2- 108 *kreųh2-įo34 *kvekvlo17 *kHehf 39 *kvoiH-nā 32 *leģ- 131 *leh2k- 9 *leiH- 16, 129 *leikv- 16, 206, 236 *lek- 136 *lep- 123 *leuH18 *leuk-iā 128 *louksnā 144 *medh-io7, 11

343

344

INDEX VERBORUM *medtu 148 *meg- 9 *meh/-nös 104 *meiH-lo108 *men-e/os170 *mer- 18 *moi 2 8 2 *molhf 108 *mori 150-151 *ne- 113 *nebh-e/os29, 170, 184 *neh,- 29, 104 *nek- 28 *nem- 131, 136 *neud- 30 *ped-o-m 148 *peh3- 13, 15, 110, I I I , 155 *pehJH17 *pehLir 149 *peįH-° 15, 37, 106 *peįk- 19 *pek-u 151 *pel- 17 *pent-oh2-s 15 *peuk12, 33 *ph2~tēr 114 *pleh,k105 *plehf 105 *pleu105 *plhrno31, 109 *plhru31, 121 *poHi-men109, 145, 195 *poHi-ueh2 109 *pon-iom 148 *potis 18 *pö-tlom 13, 146 *pr-st(h2)-ö-m 148 * p u H - 106 *reudH242 *sebhei 14 *sed- 78, 127, 2 5 2 *sehr 104 *sehrmn 23, 145, 170, 195 *seh2l111 *seh2ul- 6, 109 *seik- 127 *sel- 125 *semH107 *smeį- 127, 129-130 *(s)melh219 *soi 2 8 2 *steh2- 104 *steh2-me/on105 *stēu-mi 126

*sth2-tom 106 *stoh2-mo105 *suH-nu106 *sye- 14, 18

*sųėkuro- 118 *suēkuro118 *suesör 32, 116 *tebhei 14 *temH107 *tenh2-u108 *tetk- 127, 134 *teup127 *teutä 2 0 *to- 176, 2 8 5 *tod 176 *toi 2 8 2 *tresk- 127 *tuerH10 *ued-ör 114, 116 *uedh- 131, 132, 237, 252, 253 131, 132 *ueįd- 251 *ueįd-e/os170

*ueįk- 206 *ueįk-

16 125-126 *uel- 30 *uelH- 30, 107, 2 4 2 *uelhr 127 *ųemhl107 * uerg-om 146 *ųerH10,121 *uodr 131 * uoįd- 20, 2 4 2

*Ļēk-ti

*ųrehg- 104, 105 *ųreik- 10 III.

ANATOLISCH Hethitisch

apāt 201 dannattan 199 ēdmi 130, 2 4 2 ešhar 34 ešmi 2 4 2 halzāi 2 3 0 hegur 34 iükan 1 9 9 , 2 0 1 kir 145 kūrur 117 mālhūta 108 mehur 111 näh- /nahh29 pat 18

INDEX V E R B O R U M tepnu121 tepu- 1 2 1 tuhhae106 utnē 114 warnu- 10, 121 wekzi 125, 126 widär 114, 116 Luwisch nahhuuaIV.

29, 104

TOCHARISCH Tocharisch A kam 31 kus 181 Tocharisch B kerne 31 kjse 181 täno 3 7 cake 6

V.

INDO-IRANISCH Altindisch ägram 34 änjasä 34 ädmi 126, 130 anäkti 16 äbhüt 106 āsmā 17, 39, 115 äs rk 34 ästi 214, 2 4 2 āti- 32 udäram 31 udnäh 114 ūrņā 109 ėti 2 4 2 erakā- 34 käh 181 kārna- 104 kusäti 18 kravy am 34 gäcchati 10 giri- 11 gītd- 108 gürtä109 gäu- 34, 111-112 grīvā 34, 106 -gha 2 8 3 cakrä- 17, 197 jämbha31 jambhäyati 31

jivä106 tat 176, 199, 201 tanü- 108 tämisräh 107 tästi 127 tīrthām 196 te 283 dädäti 2 4 2 dädhäti 242 dädhi 15, 147 dāru 121-122 dāsti 125 dīrgha- 21, 109 duhita 32, 114 duhė 13 drbhāntī 33 deva118 devär109 dhäyati 34 dhānah 29, 37 dhäräyati 18, 122 dhünöti 108 dhümä106 dhruvä- 9, 122 na 2 8 5 när- 118-119, 120 näsyati 28 nārī 118-119, 120 nasti 113 päti- 18 pänthäh 15 päyah 15 päyate 106 parnäm 184 paršu118 pašu 151 pāršva118 pita 114 purū- 31, 121 pürusa53 purusatā 53 pūrņā31, 109 prslhäm 148 priyäm 199, 202 plävate 105 bat, badā, balā 2 8 5 bhärati 132 bhīta- 106 bhütäm 147 bhrnati 108 bhrāšate 41 mädhu 148 mädhya11 mänyate 258

345

346

INDEX VERBORUM märya- 9 malinä28 mähant13 mahäyati 13 marsti 127 me 2 8 2 yäkrt 35 yäva- 32 yätä 107 yäti 104 yugäm 199,201,202 yüvä 108 yüti- 106 rājā 114 röditi 2 4 2 läbhate 10 lunāti 18 vämiti 107 vartäyati 256 vi- 2 9 8 vidhävä 98 visäti 2 0 6 syävä106 švā 116 sugäva112 sugü- 112 sudrü- 122, 131 sūnu- 32, 106 smäyate 127 sväsä 32, 114, 116 -ha 283 -hi 283 hira-, hirā 108 hvärate 118 Avestisch agram 34 uruusiieiti 10 kaēnā- 32 xsvid- 16 gāuš 112 caxra197 tauua 14 toi, tē 2 8 2 dāuru 121 -di- 266, 283 dugddä 32 panta 15 parsna184 bä 2 8 5

bäöa 285 mana 14 möi, mē 282 « « r - 120 nāirī 120

nijāmaiieinti 10 yūkara 117 yästa- 105 raoxsnä20 stāumī 126 zastaiia 283 -zf 2 8 3 hauua14 Aö/, Aē 2 8 2 Altpersisch -taiy 2 8 2 dāruv 121 -dim 283 -maiy 2 8 2 -šaiy 2 8 2 VI.

GRIECHISCH Mykenisch de-re-u-ko 13 po-ku148 Alphabetisches griechisch d y a ö o v 199, 2 0 2 cryxi 283 a l p a 34 axIitov 1 7 , 3 9 , 1 1 5 aAAo 2 0 2 cxXXoöaxcog 199 dX(piļ 101 ocij-EXY« 127 aļXTļ, aļj.Tļ 107 ano 270, 2 9 7 - 2 9 8 a p a 33, 285 a Q a a 0 a i 255 CXQOTQOV 107 apcvupa 40 a ^ ^ T j ę 16 ßaiva) 10 ßapijg 108 ßoUKoXog 112 ßoüg 34, 111-112 ßprotog 108 ye 283 y e p a v o ę 107 y f į ę a ę 117 yi'yvofiai 2 0 8 yiyvwoxo) 13 y^eŪKoę 13 yvcoToę 105 yoĮUpioę 31 yo^cpog 31 y o v u 148 8arļQ 109

INDEX VERBORUM 8 i d 270, 2 8 4 SI'öwiu 1 0 4 , 2 4 2 S o q u 121-122, 148 5 p d v 18

fiE\aę HEvoę jaEooę Hiicpov

347 28 170 11 162

eßrjv 104

įioyeu) 31

eßecov

ĮIOI 263, 2 8 2 VE^co 136 veoyiXXog 34 vecpoę 170, 184 vco|aaco 136, 2 5 4 vwpel 2 9 oi 282 o i ö a 252 o i x i a 171 o t x o ę 171 ö A i y o v 162 JiaiÖLov 146 Tialę 146 JiaxrjQ 114 7iaxoę 15 JtEÖov 148 JtEpL 263, 270, 2 8 4 7tETO(j.ai 2 5 4 Treuxri 12, 33 7ii5ua) 33 7iX(üco (ion.) 105 Jtolt| (Horn.) 109 7ioi(j,r)v 1 0 9 , 1 1 5 , 1 4 5 7ĪOVVT1 32

15, 107

Eyvcov 109 EycoyE 283 EÖ^evou 2 4 2 s i a Q 34 e l ö o g 170 ei(a.L 242, 2 8 4 ei(xt 2 4 2 e i v d t e ę e ę (Horn.) 107

eig 270 ex 263, 270, 2 8 4 exeivo 201 e ixeü) 107 Ev 270, 2 8 4 Eoę 14 E7ii 2 7 0 EQETCTOĮJ.ai 127 ei) 162 e
hiKię 9 XäyvQov

10

Xejta) 123 X.E'uaoa) 128

XuKav 136,254 Xwjit] 123-124,

136

A,ojxp 123 |iouvoĮj.ai 250, 2 5 8 HČyaę 9 ĮJ.E0U 148 9 (ieię 104

noXv 162 7covxoę 15 Tioaię 18 7īoxao[xai 254, 2 5 5 7ioxov 147 7i\)0(xr)v 114 7ti39o) 106 7ĪŪĢ 149 7ī(OVCO (äol.) 15 7ccoxdoĮj.aL 2 5 4 nüv 148 QTļyvup,i 104 ģ m o v 147 o e i p a 10 a o i 282 a o p o ę 10 <xraxoę 106 axfļļj,ū)v 105 CTxpoxpdö) 254 ax(OĮj,i£ 105 xavu- 108 XEXXCOV 127 xexvov 35 xei3)((O 13 xfļ 2 8 5 Ti0rļ(i.i 104, 2 4 2

348

INDEX VERBORUM Tig 181, 182 TO 176, 199 toi 282 tojīoģ 20 togoütov 202

Tpenw 136 Tpe%to 136,254 Tpoxao) 136, 254 TpcoTtao) 136 TPCOXAW 136,254 ÜÖQOC 131 VBWQ 114, 116 <pai8poę 19 (paA,ioę 19 cpaTię 106 cpeßo^ai 126, 130 cpTļļj.I 284 cpuyaöe 123 cpuyf) 123 (pwn'^oog 33 (puTov 147 XÖLQCÜ 258 -Z» 283 XoA/RĮ 148 XOXOG 148 XOP5RĻ 108 VII.

ARMENISCH arawr 107 bay 106 dowstr 107 kov 1 1 2 hown 15 Jowr 9

VIII. A L B A N I S C H dal 134 dose 134 dredh 134 dhēmb 31 hedh 134 marr 134 preģim 10 vjerr 134 IX.

SLAVISCH Altkirchenslavisch -birati 136 bljudo 169 byti 251, 284 bbrati 1 3 6 , 2 4 3 , 2 5 0

be 250 vesti 131, 132, 252 večerb 17 vidėti 244, 249, 250, 258 v/wo 169 voda 131 vrata 150 vydra 131 -go 283 govędo 112 goniti 256 gora 11 damb 242 devętb 15 desętb 15 dhgb 21, 109 dobr-b 33, 200 dr-bva 122 drėvo 122 žalb 123 zverb 117 zemlja 7 zijati 129 znati 13, 109 zębę 31 zęb-b 31 iže 283 imėti 256 kolo 150 kolb 124 krbvb 34 kuo 1 8 1 lijati 16, 129 lyko 169, 184 mežda 11 m i 282 mil-b 108 moi 14 moliti 252 morje 151 myto 169 mbneti 258, 259 mėniti 256 mes it i 257 mę 2 8 2 nas-b 14 ne- 284 nebo 170, 184 niže 283 nositi 258 nesfb 113 on-b 38 (po)brėzgb 40 pokoiti 39

357 I N D E X V E R B O R U M pomėžiti 40 prositi 257 prbstb 148 pbsati 19 pgtb 15 saditi 2 5 7 svoi 14 sebė 14 selo 125 si 2 8 2 skakati 136 skočiti 136 smijati sę 129-130 solb 111 stati 104 stbklo 184 sbpasati 256 synb 32 sėdėti 252, 2 5 8 sėmę 145, 170 seno 169, 184, 196 sę 2 8 2 s^t/p 15, 233 tvoi 14 tebė 14 ti 2 8 2 trbzati 2 5 6 f? 2 8 2 usta 150, 185 c/'sY/ 2 0 8 čudo 169 cėlb 16 cėna 3 2 jamb 242 / e ž e r o 147, 169, 184, 2 0 0 Serbokroatisch vrän 101, 120 vräna 101, 120 djevēr 109 dlan 107 dläto 147 zdrav 122 zläto 33 griva 106 fest 2 1 4 kavrän 40 krava 34 nėgo 283 pljėva 195 put 15 usta 150 īitva 32

Russisch brjüki 150 vöron 101, 120 voröna 101, 120 gölyi 28 göljatyi 28 dėrevo 122 dorogö'i 28 dümat' 29 žal' 123 zvezdä 20 zdoröv 122 zobb (alt) 126 zöloto 33 kor öl' 28 kut'ja 37 kto 1 8 1 lyko 148 mylo 169 mjäso 150 ne 113, 284 nėbo 29 nedelja 28 noga 19 özero \41 Ösen ' 16 pėčen' 35 peč' 35 pila 9 put' 15 slto 147 steklö 150, 184 strādāt' 33 -sja 2 8 2 udyrit' (dial.) 122 ütka 32 cena 3 2 čekai ' 8 čelovėk 32 čeredd 16 ščitb (alt) 185 Weissrussisch v/'özy 17 zājka 119 Tschechisch dläto 147 kav'ka 4 0 /y£o 148 ne- 2 8 4 /?ow/ 15 vran 101 vräna 101

350

INDEX VERBORUM Polnisch

biskup 82 bo 273 bylem 2 8 4 -c 292 dluto 147 dzięk czynienie

80-81

dzięka 81 grzech 24, 83 gwiazda 20 jezioro 147 jodta 13 kawa (alt) 4 0 krzesto 149, 184

tyko 148 miasto 149, 151 m i 292 mierzyč 82 mięso 150 miöto 149 nie 2 8 4 pąč (alt) 15 pieklo 170 piwo 151 prawo 170 proso 149 przewröcic 256 rok 30 rzec 30 się 282, 287 skata 39 služyč 83 sobota 28 spodnie 150 swiat 83 swięty 236 to 178 wolac 30 wrota 150 zbierač się 3 0 4 ziemia 1 župani (alt) 83 X.

gulļj 33 guma 115 haß a 245, 2 4 6 hails 16 haims 39 hairda 16 hairto 145 hjarbon 255 hjas 1 8 1 is 38 ist 2 4 2 itan 134 juk 197 marei 150 marka 11 miton 255 niman 131, 134 niutan 30 qairnus 108 qiman 10 rauļ>s 33 salbon 255 saljan 125 so'kja 245, 2 4 6 suņus 32 pata 199 piuda 20 priskan 127 triu 122 tunpus 120 wato 116 Altisländisch

faila 17 fleinn 9 hūd 12, 16 mprk 11 naut 30 nautr 30 ęl 148, 195 tindr 120 ūr 9 valr 3 0

GERMANISCH Altenglisch Gotisch

asans 16 bairhts 41 barn 35 faihu 151 fani 148 galeikon 255 giban 134 greipan 29

deorf 33 deorfan 33 ealu 148, 195 flän 9 gaila 148 hyll 17 hyd 12, 16 maciad 255 melcan 127, 130

359 I N D E X V E R B O R U M nyllan 285 rynan 29 sealma 125 sēodan 127 teoru 122 Įjcet 199 widu 11

Neuhochdeutsch beschälen 125 entdecken 17 können 30 Kunst 30 Licht 151 man 266, 2 9 6 prangen 28 Schellen (dial.) 125 sei 237 wer 181

Neuenglisch there 179 who, what 181 Altsächsisch kö 112 makon 255 Althochdeutsch bägan 105 chuo 112 feni 148 fihu 151 ßla 9 fiuhta 12, 33 galla 148 gelo 33 greifön 254 grīfan 2 5 4 heil 16 helan 2 5 4 hiufo 18 hūt 12, 16 kamb 31 kiosan 2 5 4 korön 2 5 4 kuning 197 meid 32 näh 31 quäla 122-123 quelan 107, 122-123 rūnēn 29 sal 125 salböm 255 s cel o 125 scīt 185 swagur 118 swehur 118 wahs 196 wallan 30, 107 zinna 120 Mittelhochdeutsch lecken 136 und 33 wer 28

Mittelniederdeutsch brök 145 inster 149 jök 125 koninc 28 Sachen 18 venne 148 vrī 28 XI.

ITALISCH Latein aciēs 6 anas 32, 39 arātrum 146 aruum 4 0 asser 34 auis 19 aurum 33 bonum 199, 202 bös 34, 112 capiö 2 4 4 - 2 4 5 , 246 cärus 104 caulis 11, 109 cēlā 136, 2 5 4 ceruus 34 collis 17, 108 cor 145 corrilx 121 coruus 121 cutis 16 dicäre 2 5 4 dīcere 2 5 4 edö 126, 134, 242, 245, 2 4 6 emö 134, 135 eö 242, 245 f aber 33 fei, fellis 148 ferus 117, 118 f era 117 ferö 245 ßgö 10, 108

352

INDEX VERBORUM fingö 19 Jumus 106 furor 117 gener 108 grānum 171 grātus 109 hiāre 34 homö 115 iecur 35 ingruā 108 iocus 124-125 ipse 202 is 38 istud 1 9 9 , 2 0 1 iugum 199,201,202 iuuenis 108 lacer 9 lāna 109 legö 131, 134 lüna 20, 144 mare 150-151 Martius 40 māteriēs 6 medius 11 mellitus 257 meus 14 mītis 108 moneö 2 5 6 morior 18 multum 162 nesciö 285 nex 28 nötus 105 occulö 136 pecu 151 pecünia 30 pecus 30 pöculum 13, 146 pons 15 pötus 15 püteö 106 quiescö 39 quis 181, 182 rwa 10 rüfus 33 rümor 29 sägiö 2 4 5 saxum 39 secäre 39 sedeö 125, 127, 130, 2 5 8 sēdēs 127, 130 sēmen 145, 170 serö 104 sibī 14

soleö 125 solium 125 solum 125 soror 32, 116 tenebrae 107 tibi 14 unguö 16 ūrīna 9 uehö 131, 132 ueniö 10, 244, 245 uideö 2 5 8 uir 118 uīuus 106 uolö 127, 242, 2 4 5 uoluö 3 0 uoräre 15 Pränestinisch losna 144 Oskisch fufans 250 Umbrisch bum 111 stahu 2 5 6 utur 114, 116 Französisch ęa 179 cela 177, 179 grain 171 graine 171 maison 171 maisonnėe 171 XII.

KELTISCH Gallisch dugiiontiio 283 veįj.t1tov 199 Altirisch adaig 2 8 berte 283 bö 1 1 2 böchaill, büachaill domoinethar 258 imb 16 ithid 2 4 2 län 109 muir 150 taich 134 tuath 2 0

112

INDEX VERBORUM Mittelirisch

cuaille

11

Kymrisch

caill 125 derwen 122 XIII. K L E I N E I N D O G E R M A N I S C H E SPRACHEN Messapisch

ßpevöov

9

XIV. N I C H T - I N D O G E R M A N I S C H E SPRACHEN Finnisch

halla 196 hammas 196 havu, havo 196 härkä 197 härmä 196 heimo 196 heinä 196 hurtta 198 ikkuna 197 jäärä, jaara 197 jukka 197 kauha 197 kaula 197 kausta 198 kela 196 kuningas 197 laiha 197 luhta 197 lunka 196 metsä 197 metu 195 morsian 197 niin III olut 195 paimen

115, 145, 195, 197

353

panu 195 pelu 195 purfe 1 rahtu 196 raisu 196 rastas 198 ratas 196 rieska 197 salo 196 se 177 seinä 196 se niin 177 Siemen 195, 197 silta 196 taivas 196 takiainen 17 tarha 197 tuska 198 tyhjä 197 vaha 196 vaikku 196 Estnisch

maja 32 mödu 195 olut, ölu 195 pīl 32 takijas 17 Karelisch

kerda

16

Livisch

puk'k' 27 ra'i 60 soga 2 6 va'1 60 voi 2 8 5 Vepsisch

kaustaz, skaustaz, rasta 198

koustaz

198

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