Terra Astra 617
Unternehmen Sonnenkinder von Ernst Vlcek 2. Roman des Zyklus
Die Evolutionspolizei
Die Hauptpersonen...
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Terra Astra 617
Unternehmen Sonnenkinder von Ernst Vlcek 2. Roman des Zyklus
Die Evolutionspolizei
Die Hauptpersonen des Romans: Anconte - König von Lavan IV Prinz Enzln - Ancontes Sohn. Gilbert Fenton - Von ihm hängt das Schicksal eines Volkes ab. 2
Peraciodes - Ein Evolutionspolizist Marsai und Jehoun - Zwei stolze Barbaren.
1. Bei Sonnenuntergang lief das „Unternehmen Sonnenkinder“ an. Fünfzig Männer hielten sich zu dieser Stunde in der Dschungelstation unweit der Hauptstadt Lavantin auf. Zwei von ihnen waren Techniker, sechs Wissenschaftler, der Rest Günstlinge aus dem königlichen Hofstaat. Selbst als der Countdown bereits lief, wußte außer den sechs verantwortlichen Wissenschaftlern keiner der Anwesenden, worum es bei dem „Unternehmen Sonnenkinder“ eigentlich ging. Die Techniker waren nur ausführendes Organ. Sie hatten den Kurs des Raumschiffs zu überwachen und, wenn nötig, ihn durch Fernsteuerung zu korrigieren. Um Mitternacht, wenn sich das Raumschiff an einem bestimmten Punkt innerhalb der Sonnenatmosphäre befand, sollte es zur Explosion gebracht werden. Die Höflinge wußten konkret nicht einmal so viel. Zwar hatte König Anconte ihnen gegenüber angedeutet, daß dieses Projekt „eine neue Ära auf Lavan IV“ einleiten werde, doch konnte man das auf alle möglichen Arten interpretieren. In der Dschungelstation herrschte eine spannungsgeladene Atmosphäre, die ihren Höhepunkt erreichte, als das königliche Fluggefährt eintraf. Das Kuppeldach der Station öffnete sich, die von veredelten Schmarotzerpflanzen überwucherte Sänfte schwebte nieder und landete auf dem erhöhten Podest in der Mitte. Als König Anconte in Begleitung seines ältesten Sohnes der Sänfte entstieg, ging ein ehrfürchtiges Raunen durch die Reihen der Günstlinge. Sie fielen auf die Knie und senkten demütig das Haupt. Nur die Wissenschaftler und Techniker kümmerten sich nicht um den hohen Gast und widmeten weiterhin den Kontrollgeräten ihre uneingeschränkte Aufmerksamkeit. König Anconte schwang seinen schillernden Umhang mit einer einstudierten Bewegung über die Schulter und winkte seinen Schmeichlern gönnerhaft zu, was zugleich als Zeichen für die Beendigung ihrer Ehrenbezeigung galt. Nachdem er sich von Prinz Enzin vom Podest helfen 3
ließ, sagte der Herrscher von Lavan IV: „Es ist mir eine besondere Freude, die größte .Entscheidung in der Geschichte unseres Volkes im Kreise meiner engsten Vertrauten treffen zu können.“ Nach dieser Äußerung des Königs entspannten sich die Höflinge. Sie scharten sich um ' den Monarchen und überschütteten ihn mit Fragen, Glückwünschen und Schmeicheleien. König Anconte ließ dies alles mit einem geduldigen Lächeln über sich ergehen, doch plötzlich verdüsterte sich sein Gesichtsausdruck schlagartig. Die Höflinge wichen erschrocken zurück und blickten zornig auf den Mann, der zweifellos den Ärger des Königs erregte. Es handelte sich um einen der Wissenschaftler, der mit dem Rücken zum Raum stand und sich mit den Kontrollinstrumenten beschäftigte. Der König schritt würdevoll durch die für ihn gebahnte Gasse und blieb knapp hinter dem Wissenschaftler stehen. „Professor Mushang“, sagte er mit scharfer Stimme, „wie ich sehe, sind Sie so in Ihre Arbeit vertieft, daß Sie nicht einmal das Erscheinen Ihres Königs bemerkt haben.“ Der Wissenschaftler wandte sich langsam und wie beiläufig um. Er war von mittlerem Alter und durchschnittlichem Äußeren. Nichts an ihm ließ erkennen, daß er der bedeutendste Erbforscher von Lavan IV war. Er zuckte mit keiner Wimper, als er dem stechenden Blick des Königs begegnete. „Ich habe die Landung der Sänfte bemerkt, doch erforderte eine entscheidende Phase unseres Unternehmens meine ungeteilte Aufmerksamkeit.“ „Wenn es mir auch rätselhaft bleiben wird, welche entscheidende Phase während des Fluges Ihr Einschreiten nötig gemacht haben kann, so weiß ich Ihren Arbeitseifer doch zu schätzen, Professor“, erwiderte der König ironisch. „Und ich bin auch überzeugt, daß Sie ' nicht nur so eifrig sind, weil Sie bei einem Mißlingen des Unternehmens eine Bestrafung zu erwarten haben.“ „So ist es“, bestätigte der Wissenschaftler ebenso ironisch, „ich gehe in meiner Arbeit auf, weil ich meinen König liebe.“ Für einen Moment funkelten die Augen des Königs gefährlich. Aber er reagierte seine Wut ab, indem er den Umhang aus den Fasern der fleischfressenden Pflanzen mit einer heftigen Bewegung zurückwarf. „In welchem Stadium befindet sich das Unternehmen?“ erkundigte er sich mit erzwungener Ruhe. Professor Mushang wurde ganz Wissenschaftler, als er antwortete: „das erste Robotschiff ist bereits in die Korona der Sonne eingetaucht. Es befindet 4
sich auf dem vorberechneten Kurs, so daß die nächste Korrektur erst in einer Stunde fällig wird. Die Sonnenstörungen sind stärker als erwartet. Aber wir haben für alle Eventualitäten vorgesorgt. Nachdem der normale Funkverkehr ausfiel, kontrollieren wir das Schiff nun über Hyperfrequenz. Wir werden in der Lage sein, die Bombe, wie es mein König befahl, um Mitternacht zu zünden.“ „Sehr gut, Professor“, lobte König Anconte. „Und wie steht es mit dem zweiten Raumschiff?“ „Es wird zur Mittagsstunde des folgenden Tages die günstigste Position in der Sonne erreichen und gezündet werden. Alles nach Plan.“ König Anconte wandte sich an die Höflinge. „Sie haben aus berufenem Mund gehört, daß das Unternehmen Sonnenkinder exakt abläuft. Nun hat Professor Mushang vielleicht die Güte und erklärt Ihnen Sinn und Zweck dieses Projekts.“ Der Wissenschaftler begann: „Beide Robotschiffe enthalten Bomben, bei deren Explosion kaum meßbare Strahlungen frei werden. Nach außen hin zeigt sich der Strahlungsausbruch nur in einer kurzzeitig überhöhten Sonnenaktivität. Nachhaltigere Wirkungen werden von keinen Meßgeräten feststellbar sein. Und doch, die bei der Explosion freiwerdende Strahlung wird das Leben hier auf dieser Welt beeinflussen. Allerdings dauert diese Strahlung nur für wenige Sekunden an, so daß die Auswirkungen nur auf der der Sonne zugekehrten Seite zu bemerken sind. Wenn wir Mitternacht haben, explodiert die Bombe, und kurz darauf wird sich alles Leben auf der anderen Seite des Planeten unter den Strahlenschauern verändern. Menschen und Tiere sind davon ebenso betroffen wie die Pflanzen. Wenn die zweite Bombe gezündet wird, haben wir Mittag und geraten in den Bereich der Strahlen. Damit wäre der gesamte Planet erfaßt und alles Leben den Strahlenschauern ausgesetzt - ausgenommen jene Lebewesen, die sich in dieser Station oder unter der schützenden Kuppel der Hauptstadt Lavatin aufhalten.“ Der Wissenschaftler machte eine Pause und wollte fortfahren: „Der Zweck der beiden Bombenexplosionen ...“ „Danke, Professor, die restlichen Erklärungen überlassen Sie mir“, unterbrach ihn der König. Er begab sich wieder zu seinen Höflingen und durchschritt mit ihnen den Kuppelbau. Dabei erklärte er im Plauderton: „Unsere Welt ist ein Paradies, wenn auch ein wildes, tödliches Paradies. Wären nicht die Raubtiere und die Fleischfresserpflanzen, dann könnte Lavan IV der elfte der grünen Planeten sein. Und dann gibt es natürlich auch noch jene meiner Untertanen, die in der Wildnis leben. Aber diese aufsässigen Barbaren 5
möchte ich nicht in einem Atemzug mit der Flora und Fauna nennen, denn sie wurden von ihrer Umwelt geformt. Freilich - wenn man sie plötzlich in eine paradiesische Umwelt versetzen würde, wären sie nicht schlagartig friedlich und treu. Vielmehr würde es einer generationenlangen Umgewöhnungszeit bedürfen.“ Die Höflinge lachten pflichtschuldig. Der König fuhr fort: „Der langen Rede kurzer Sinn - die durch die Explosion der beiden Bomben in der Sonnenatmosphäre freiwerdende Strahlung soll die Tier- und Pflanzenwelt befrieden. Lavan IV soll sich in ein Paradies verwandeln. Aber da ein Paradies mit darin lebenden Teufeln nur eine halbe Sache ist, wurde die Strahlungsintensität so hochgesetzt, daß auch die Barbaren in den Verwandlungsprozeß miteinbezogen werden.“ Rufe der Überraschung und des Staunens wurden laut. Der König sprach weiter. „Nun werden sich manche von Ihnen fragen, warum ich über den so segensreichen Prozeß der Veredelung meines Volkes einen Mantel des Schweigens gebreitet habe. Ja, warum ich überhaupt nur meine engsten Vertrauten, meine wirklich Getreuen, in den Plan einweihte. Der Grund dafür liegt auf der Hand. Leider existiert in unserem riesigen Sternenimperium ein veraltetes Gesetz, wonach jeder künstliche Eingriff in die Entwicklung eines Volkes bei schwerster Bestrafung verboten ist. Und das, selbst wenn dieser Eingriff eine Verbesserung des Zivilisationsstatuts zur Folge hat! Ich spreche es nur ungern aus - aber nach dem Galaktischen Gesetz sind wir zu dieser Stunde auf dem besten Wege, ein Evolutionsverbrechen zu begehen. Es ist eine Schande, daß es nicht gestattet ist, auf humane und unblutige Weise ein barbarisches, aufständisches Volk zu befrieden. Wohl dürfte ich mit Waffengewalt meine Untertanen in die Schranken weisen, aber die Galaktische Gesetzgebung untersagt mir das Recht, mein Volk mit modernen wissenschaftlichen Mitteln auf den rechten Weg zu bringen. Das wird als Evolutionsverbrechen geahndet.“ Er blickte sich prüfend um. Und dann stellte er die Schicksalsfrage: „Wer von meinen Getreuen fühlt sich außerstande, sein Gewissen mit einem sogenannten Evolutionsverbrechen zu belasten? Er möge vortreten, damit ich ihn vor einem Gewissenskonflikt bewahre.“ Wie nicht anders zu erwarten, meldete sich keiner der Höflinge, denn der König hatte eine strenge Auswahl seiner Mitwisser getroffen. ; Wenn sich dennoch einer unter ihnen befand, der Zweifel über die praktizierte Methode der „humanen Befriedung“ hatte, so legte ihm sein 6
Selbsterhaltungstrieb Zurückhaltung auf. Denn keiner von ihnen hatte irgendwelche Illusionen darüber, wie König Anconte einen Zweifler vor Gewissenskonflikte bewahren würde. „Findet sich keiner, der meine Entscheidung anficht?“ erkundigte sich der Herrscher von Lavan IV und blickte forschend in die Runde. „Doch, ich fechte Ihre Entscheidung an“, meldete sich Professor Mushang. König Anconte lächelte wissend, als hätte er mit der Auflehnung des Wissenschaftlers gerechnet. „Sie sind ein asoziales Element innerhalb unserer Gesellschaftsordnung, Professor“, sagte er. „Es kommt auch nicht von ungefähr, daß alle Ihre Anverwandten wegen politischer Vergehen in Kerkern schmachten.“ „Mein König weicht vom Thema ab!“ fuhr Professor Mushang auf. „Ich habe Sie schon immer vor den Folgen dieses Experimentes gewarnt. Die Strahlung könnte eine Katastrophe ungeheuren Ausmaßes auslösen...“ „Die Verantwortung für das Volk von Lavan IV trage ich, nicht Sie“, unterbrach ihn der König wütend. „Sie dagegen sind für das Schicksal Ihrer Familienangehörigen verantwortlich. Das sollten Sie während Ihrer Arbeit nie vergessen.“ Der Wissenschaftler sank bei diesen Worten sichtlich in sich zusammen. Aber er wagte dennoch einen letzten Einwand. „Was nützt Ihnen eine Befriedung der Barbaren, mein König, wenn diese dabei körperliche oder geistige Schäden davontragen. Sie wären dann der Herrscher über ein Volk von Idioten!“ „Wenn die Menschen eines Planeten geschädigt werden, Professor, dann sind Sie der Schuldige“, zischte der König. „Dann haben Sie dieses Unternehmen sabotiert - ich werde das zu honorieren wissen.“ Professor Mushang zwang sich ein gequältes Lächeln ab und wandte sich ohne ein weiteres Wort seinen Instrumenten zu. Das „Unternehmen Sonnenkinder“ wurde planmäßig beendet. Um Mitternacht wurde die Bombe auf dem ersten Robotschiff gezündet. Als die Sonne fast senkrecht über der Dschungelstation stand, wurde die Bombe auf dem zweiten Robotschiff zur Explosion gebracht. König Anconte gratulierte Professor Mushang für die präzise Durchführung des Unternehmens. Der Wissenschaftler wies das Lob zurück und fügte bedeutungsschwer hinzu: „Die Situation ist noch nicht geklärt. Erstens können wir noch nicht feststellen, wie sich die Strahlung auf das Leben unseres Planeten auswirkt. Zweitens ist die Gefahr einer Entdeckung durch die Evolutionspolizei noch nicht gebannt. Sie und ich, mein König, wir wissen, daß die Strahlung gemessen werden kann.“ Der König lächelte. „Nur Sie wissen aber, in 7
welchem Wellenbereich die verräterische Strahlung zu suchen ist. Damit Sie nicht in Versuchung kommen, Ihr Wissen der Evolutionspolizei mitzuteilen, werde ich Sie von der Umwelt isolieren.“ Der König hatte kaum ausgesprochen, als zwei Roboter erschienen und den Wissenschaftler abführten. Sie brachten ihn in das sicherste Gefängnis der Hauptstadt Lavantin und schlössen ihn in eine Einzelzelle. Dort erfuhr er, daß das „Unternehmen Sonnenkinder“ mißglückt war. Jene Strahlung, die aus den Bewohnern des vierten Planeten gefügige Untertanen für König Anconte hätte machen sollen, ließ diese Menschen degenerieren. Die Informationen, die Professor Mushang erhielt, waren jedoch spärlich, so daß er sich kein Bild über das Ausmaß des angerichteten Schadens machen konnte. Aber wie groß auch die Katastrophe sein mochte - er fühlte sich dafür verantwortlich. Drei Selbstmordversuche, die er kurz hintereinander unternahm, wurden von den wachsamen Robotern vereitelt. Danach versuchte er, aus seinem Kerker auszubrechen. Auch das wußten die Roboter zu verhindern. Trotzdem gab er nicht auf. Er wußte, wenn er lange genug ausharrte, würde sich eines Tages eine Fluchtmöglichkeit bieten. Und dann wollte er sich mit der Evolutionspolizei in Verbindung setzen und alle Einzelheiten über König Ancontes Verbrechen verraten. Manchmal sagte sich der Wissenschaftler, daß der Monarch genug bestraft sei, indem er nun über ein Volk von Degenerierten regierte, das immer mehr in die Primitivität zurückfiel. Doch damit war die Angelegenheit nicht abgetan. Es gab noch eine andere Seite des Problems. Man mußte an die hundert Millionen Bewohner von Lavan IV denken, die ein solches Schicksal nicht verdient hatten. Professor Mushang war der einzige, der die Art der Strahlung kannte, die bei diesen bedauernswerten Menschen den Rückfall in die Primitivität verursacht hatte. Und er war deshalb als einziger in der Lage, den Status quo ante wiederherzustellen. Um den geschädigten'„Sonnenkindern“ zu helfen und um die auf sich geladene Schuld zu sühnen - darum wollte er die Freiheit erlangen. Doch er mußte sechsundzwanzig Jahre warten, bis er eine Fluchtmöglichkeit nützen konnte. Sechsundzwanzig Jahre auf Lavan IV - das waren fast dreißig Jahre irdischer Zeitrechnung... 2. 8
Sugar Grove war ein kleines Dorf in West-Virginia, fünfzig Kilometer von Green Bank entfernt, das lediglich durch das nahegelegene 600-FußRadioteleskop innerhalb der Fachwelt einige Berühmtheit erlangt hatte. Mehr war über Sugar Grove nicht zu sagen, dachte Gilbert Fenton bei seinem Eintreffen. Und er ärgerte sich jetzt bereits, daß er seinen Platz in Jodrell Bank für sechs Wochen aufgegeben hatte. Er konnte selbst nicht sagen, warum er der Bitte seines Vorgesetzten entsprochen hatte und ihn in dieses abgelegene Gebiet der USA begleitete. Natürlich spielte bei seinem Entschluß eine gewisse Panikstimmung mit. Er hatte in den letzten Wochen so viele phantastische und aufwühlende Erlebnisse gehabt, daß er der Meinung war, eine Ortsveränderung könne nur dazu beitragen, etwas Ordnung in seine Gedanken zu bringen. Nachdem man ihm sein Quartier in einem der langgezogenen Unterkunftsgebäude zugewiesen hatte, wollte ihn sein Vorgesetzter zu einer „Diskussion mit amerikanischen Kollegen“ mitnehmen. Aber Fenton täuschte Müdigkeit vor und blieb auf seinem Zimmer. Er wollte nachdenken. Zwar blieben ihm noch volle sechs Wochen dafür, doch drängte es ihn geradezu, sich mit seinen vielen Problemen zu beschäftigen und vielleicht bereits jetzt schon zu mancher Lösung zu kommen. Da stand an erster Stelle Dominique. Sie war ein überaus anziehendes Geschöpf, und deshalb konnte es nicht ausbleiben, daß aus der anfänglich freundschaftlichen Zuneigung eine Romanze geworden war. Nun mußte er sich klar darüber werden, ob er sie liebte und, was viel wichtiger war, ob sie ihn liebte. Er hatte eine diesbezügliche Aussprache mit ihr hinausgeschoben, weil er erst einmal etwas Abstand gewinnen wollte. Dies war einer der Gründe, warum er sich der „Delegation britannischer Radioastronomen“ angeschlossen hatte. Die Arbeit an dem Riesenteleskop reizte ihn überhaupt nicht.Es war auch zu lächerlich, den Radiosignalen von der Sonne, den Sternen und der Sternensysteme zu lauschen und sie zu deuten, wo er wußte, daß die Galaxis belebt war von unzähligen raumfahrenden Völkern. Wie konnte ihn die Verteilung des neutralen Wasserstoffs in der Milchstraße noch interessieren? Welche Bedeutung konnte die 10-Zentimeter- und die 21Zentimeter-Wellenlänge für ihn noch haben? Was konnten die Radarechos bei der Untersuchung der Sonne und der Planeten ihm denn noch sagen? Er wußte, daß in dem riesigen Sternenimperium unzählige exakte 9
Sternenkarten der Galaxis existierten. Er kannte bessere Methoden, um Messungen der Sonnenatmosphäre vorzunehmen - man führte sie ganz einfach im Schütze eines Raumschiffs in der Sonnenatmosphäre selbst durch. Gilbert Fenton mußte zwangsläufig mit seinem Betätigungsfeld unzufrieden sein, denn er war an Bord eines Raumschiffs des Sternenimperiums gewesen. Vielleicht war es überheblich von ihm, wenn er die Mondlandung von Apollo 11 ein wenig belächelte. Aber zur gleichen Zeit, als die irdische Menschheit die Eroberung des Mondes durch die amerkianischen Astronauten mit Spannung verfolgte, hatte er die Grenzen des Sonnensystems verlassen ... Seit diesem Erlebnis war er unzufrieden mit seinem irdischen Alltag gewesen. Er fragte sich gelegentlich, ob er die Abenteuer so fern der Erde auch tatsächlich erlebt hatte, oder ob alles nur ein Traum gewesen war. Aber dann sah er Dominique, und er wußte, daß das Sternenimperium mit seinen unzähligen raumfahrenden Völkern tatsächlich existierte. Dominique war der lebende Beweis dafür, daß er nicht geträumt hatte. Sie war ein „Halbblut“, hervorgegangen aus. der Verbindung zwischen einen gestrandeten Raumfahrer und einer Terranerin. Ihre Vergangenheit war so phantastisch wie ihre Abstammung. Außerirdische Mächte hatten sie für ihre Invasionspläne mißbraucht, doch indem das Mädchen die Pläne an die Galaktische Evolutionspolizei verriet, rettete sie die Erde. Er war ebenfalls nicht ganz unbeteiligt an dem Erfolg der Evolutionspolizei gewesen. Doch hatte es ihm nichts weiter als Erinnerungen eingebracht. Er war immer noch der kleine, unbedeutende Assistent am Radioteleskop von Jodrell Bank. Es klopfte an seine Tür. Gilbert Fenton sagte: „Herein!“ Die Tür schwang auf. Ein Mann in Fentons Alter stand im Türrahmen. „Sind Sie Mister Fenton?“ fragte er. „Ja, der bin ich.“ „Dann können Sie sich auch ausweisen?“ Während der Fremde diese Frage stellte, trat er ein und schloß die Tür hinter sich. Dann blickte er sich suchend im Raum um und steuerte auf den leeren Stuhl an Fentons Schreibtisch zu. „Machen Sie es sich nur gemütlich“, meinte Fenton. „Danke“, sagte der Fremde höflich, der den Spott in Fentons Stimme nicht zu bemerken schien. Nachdem er sich gesetzt hatte, wiederholte er: „Können Sie sich ausweisen?“ „Leider nicht“, sagte Fenton, der sich vornahm, für eine Weile gute Miene zum bösen Spiel zu machen. „Mein Paß wurde von der Anstaltsleitung 10
zurückbehalten, um eine Kennkarte anzufertigen, wie man mir sagte.“ Der Fremde schien ein wenig ratlos, als habe ihn der Umstand, daß Fenton sich nicht ausweisen konnte, aus dem Konzept gebracht. Fenton überbrückte das Schweigen, indem er sagte: „Ist es denn unbedingt erforderlich, daß ich mich ausweise? Vielleicht kann ich Ihnen auch so helfen.“ Der Fremde blieb unbeeindruckt. Er überlegte noch einige Sekunden lang, ließ aber Fenton dabei nicht aus den Augen. Dann hatte er sich zu einem Entschluß durchgerungen. „So kompliziert sich die Angelegenheit leider“, sagte er und hielt plötzlich einen schweren Armeerevolver in der Hand, dessen Mündung auf Fenton wies. „Ich muß Sie bitten, mir zu folgen.“ Fenton sprang unwillkürlich auf die Beine. „Das ist wohl die Höhe...“ entfuhr es ihm. Er räusperte sich und versuchte, mit einem Lächeln Ruhe vorzutäuschen. „Werde ich für einen Spion gehalten? Oder was liegt denn gegen mich vor, das einen bewaffneten Eingriff in meine persönliche Freiheit rechtfertigt? Oder handelt es sich um eine Entführung?“ „So kann man es nennen“, erwiderte der Fremde und erhob sich ebenfalls. „Dann frage ich mich, wie Sie mich unbemerkt aus diesem Gelände herausbringen wollen“, sagte Fenton. „Das lassen Sie meine Sorge sein“, erwiderte der Fremde. „aber ich möchte Ihnen einen Rat geben: Versuchen Sie nicht, zu fliehen oder Zeichen zu geben. Ich werde nicht zögern, beim geringsten Verdacht zu schießen.“ „Daran zweifle ich nicht“, sagte Fenton unbehaglich, nachdem er dem Blick der kalten Augen begegnet war. „Sie gehen vor“, sagte der Fremde. „Sprechen Sie nicht. Kein Wort! Ich werde Ihnen zu gegebener Zeit Verhaltensmaßregeln geben.“ Fenton überlegte sich die Chancen, die er gegen seinen Entführer hätte. Aber er entschloß sich dann, nichts zu unternehmen und die Entwicklung der weiteren Geschehnisse abzuwarten. Sie kamen ins Freie. Die Sonne war bereits hinter den Hügeln verschwunden. Es dämmerte. „Gehen Sie zu der blauen Limousine, und setzen Sie sich auf den Beifahrersitz“, befahl der Fremde. Fenton gehorchte. Er hatte sich kaum zurechtgesetzt, als der andere geschmeidig wie eine Katze auf den Fahrersitz glitt. Gleich darauf startete er den Wagen. Er lenkte nur mit einer Hand, währsnd er mit der anderen den Revolver hielt. Sie näherten sich in gemäßigtem Tempo der Schranke an der Ausfahrt. Die Schranke war geschlossen. „Was werden Sie am Tor sagen?“ fragte Fenton. „Sie jedenfalls haben zu schweigen“, erklärte der 11
Fremde. Fenton glaubte, Nervosität an seinem Entführer zu erkennen. Vielleicht konnte er diesen Umstand für sich nutzen. Der Fremde bremste den Wagen knapp vor der Schranke ab. Während er die bewaffnete Hand aus dem Blickfeld des herankommenden Torpostens brachte, zischte er Fenton zu: „Es schmerzt nicht.“ Es klang beinahe wie eine Entschuldigung, aber Fenton wußte, daß es keineswegs so gemeint sein konnte. Er sah, wie sich die Waffenmündung aus dem Versteck auf ihn richtete, und ohne eine Detonation zu hören oder einen Entladungsblitz zu sehen, spürte er plötzlich einen Stich im Herzen. In diesem Augenblick war der Posten heran. Fenton bemerkte noch, daß er nur einen flüchtigen Blick auf die beiden Kennkarten warf, die ihm der Fremde hinhielt, dann entfernte er sich wieder, um die Schranke zu öffnen. Fenton verlor das Bewußtsein, Als er wieder zu sich kam, fand er sich in einem nach irdischen Maßstäben fremdartig eingerichteten Raum. Aber für ihn war es eine fast vertraute Umgebung, denn er befand sich nicht zum erstenmal hier. Es war die Privatkabine von Raumschiffskommandant Peraciodes, dem Evolutionspolizisten aus dem Sternenimperium. Fenton fühlte sich noch immer benommen. Deshalb dauerte es eine Weile, bis er sich in dem Stuhl, in dem er saß, aufrichten konnte. Er brachte sogar ein sarkastisches Lächeln zustande, als er den Evolutionspolizisten erblickte. Nur seine Stimme war noch etwas schwach, als er sagte: „Ich muß schon sagen, Kommandant, Sie haben eine recht eigenwillige Art, um sich ein Wiedersehen mit Ihren Freunden zu verschaffen.“ Peraciodes blieb kühl. „Soll ich mich entschuldigen?“ fragte er. Fenton winkte großzügig ab. „Sie brauchen mir nur zu versichern, daß der Schuß aus der Lähmpistole keine schädliche Wirkung bei mir hinterläßt.“ Zum erstenmal verschwand der tierische Ernst aus den Gesichtszügen des Evolutionspolizisten. Aber das Lächeln, das er zeigte, war nur angedeutet. „Ich werde“ doch Leute, die ich für mich verpflichten will, nicht zu Schaden kommen lassen.“ Fenton pfiff durch die Zähne. Er erinnerte sich noch genau daran, wie er Peraciodes ersucht hatte, für ihn arbeiten zu dürfen und ... abgelehnt worden war. Es freute ihn nun um so mehr, daß Peraciodes von selbst zu ihm kam. Aber das zeigte er nicht, sondern gab sich abwartend und gelassen. „Wollen Sie denn nicht wissen, was ich von Ihnen möchte?“ fragte Peraciodes. „Doch“, erwiderte Fenton nur. Peraciodes nahm von seinem Arbeitstisch, auf dem zum größten Teil fest montierte technische Geräte standen, einen dünnen, 12
grauen Umschlag, hielt ihn hoch und blickte Fenton vielsagend an. „Das sind Kopien der Indizien, die ich gegen einen Verbrecher übelster Art in der Hand habe“, erklärte er. „An Ihnen liegt es nun, ob ich den einzigen erbringbaren Beweis für die Schuld des Verbrechers bekomme. Es ist die einzige Möglichkeit, um ihn vor dem Galaktischen Gerichtshof zu überführen.“ „Wie kann ich diesen Beweis beschaffen?“ „Ganz einfach“, sagte Peraciodes leichthin. „Sie brauchen nur Ihre Arbeit am Radioteleskop von Sugar Grove weiterzuführen. Aber an einem bestimmten Tag, zu einer bestimmten Stunde, beobachten Sie einen bestimmten Teil des Himmels auf einer bestimmten Wellenlänge. Das Ergebnis dieser Beobachtung händigen Sie dann mir aus. Das ist alles, was Sie zu tun haben. Sie begehen dadurch kein Unrecht gegen Ihr Volk, aber Sie machen es mir möglich, daß ich einem anderen Volk zu seinem Recht verhelfen kann.“ „Hört sich recht einfach an“, sagte Fenton vorsichtig. „Es ist auch einfach“, bestätigte Peraciodes. „Helfen Sie mir, Mr. Fenton?“ Fenton breitete die Arme in einer übertriebenen Geste aus. „Aber natürlich, Perac, ich tue alles für Sie, ohne die geringsten Bedenken zu verspüren und ohne eine einzige Frage zu stellen!“ rief er aus. „Welche Bedenken sollten Sie auch haben?“ Peraciodes wunderte sich. „Sie wissen, daß ich einer Institution angehöre, die für das Völkerrecht kämpft.“ „Ich weiß natürlich, daß die Ziele der Evolutionspolizei über jeden Zweifel erhaben sind“, entgegnete Fenton. „Aber wäre es nicht fair, mich ein wenig mehr einzuweihen? Schließlich verlangen Sie etwas von mir und könnten mich zumindest mit einigen Informationen belohnen.“ Peraciodes nickte gedankenversunken. Schließlich sagte er: „Natürlich, Sie haben recht. Es ist nicht zuviel verlangt, wenn Sie wissen wollen, worum es geht. Und hier auf Terra können Sie mit Ihrem Wissen auch keinen Schaden anrichten.“ „Sie sagen das, als würde ich unter anderen Umständen augenblicklich zur Gegenseite überlaufen und Sie verraten“, erboste sich Fenton. Der Evolutionspolizist schüttelte den Kopf. „So war es nicht gemeint. Verzeihen Sie, wenn ich mich falsch ausgedrückt habe. Aber kommen wir zur Sache: Zirka dreißig Lichtjahre von der Erde entfernt befindet sich eine Sonne namens Lavan. Der vierte Planet dieser Sonne ist eine Dschungelwelt und wird von Menschen bewohnt. Es ist ein zum größten Teil barbarisches Volk, das nur durch Kampf gegen die Flora und Fauna des Planeten seine Existenz behaupten kann. Es liegt auf der Hand', daß sich ein solches Volk nicht 13
leicht regieren läßt. Der Herrscher von Lavan IV ersann deshalb einen Plan, um das Leben auf seiner Welt zu befrieden. Mit Hilfe eines Wissenschaftlerteams brachte er in der Sonnenatmosphäre Bomben unter, bei deren Zündung eine Strahlung frei wurde, die bei Tieren, Pflanzen und Menschen eine geistige Veränderung bewirken sollte ...“ „Sagten Sie Pflanzen?“ unterbrach Fenton verwirrt. Peraciodes nickte. „Ja, auf Lavan IV besitzen gewisse Arten von fleischfressenden Pflanzen einen geringen Intelligenzgrad. Nun, das Experiment wurde gestartet, und es schien alles nach Plan zu laufen, denn allem Leben widerfuhr eine psychische Verwandlung. Doch zeigte sich später, daß weder die Barbaren, noch die Raubtiere und Raubpflanzen, .befriedigt' wurden. Eher das Gegenteil war der Fall, die Menschen fielen weiter in die Primitivität zurück, vernichteten ihre Städte und alle Errungenschaften der Zivilisation, die Tiere und Pflanzen zeichneten sich durch noch größere Wildheit aus. Das .Unternehmen Sonnenkinder' war ein Schuß nach hinten. Das geschah vor dreißig Jahren irdischer Zeitrechnung.“ Fenton dachte eine Weile über das Gehörte nach, dann fragte er: „Wollen Sie sagen, daß dem Herrscher von dieser Dschungelwelt damals kein Verbrechen nachgewiesen werden konnte?“ Peraciodes nickte bestätigend. „So war es. Es wurde zwar eine erhöhte Aktivität an der Sonne Lavan bemerkt, doch war das kein Beweis für das Vorliegen eines Evolutionsverbrechens. In der ganzen Galaxis munkelte man darüber, daß König Anconte seine Hände bei der Katastrophe im Spiel gehabt habe. Doch unsere Untersuchungen verliefen alle im Sande. Jetzt allerdings scheint es, daß wir gegen ihn vorgehen können. Einer der Wissenschaftler, der am Projekt Sonnenkinder beteiligt gewesen war, konnte aus dem Gefängnis fliehen. Er setzte sich mit uns in Verbindung und erklärte sich bereit, vor Gericht gegen König Anconte auszusagen. Der Termin der Verhandlung wurde festgesetzt - da wurde der Wissenschaftler ermordet. Aber bevor er starb, verriet er uns noch ein wichtiges Detail, des König Anconte das Genick brechen könnte. Während der künstlich herbeigeführten Eruption auf der Sonne Lavan trat für wenige Sekunden eine starke Strahlung auf, die die eigentliche Ursache für die Degeneration der Lavaner ist. Allerdings ist diese Strahlung nur in einem bestimmten Wellenbereich meßbar. Wenn man die genaue Wellenlänge nicht kennt, ist es unmöglich, die Strahlung festzustellen.“ „Ich beginne zu verstehen“, 14
sagte Fenton. „Die Sonne Lavan ist dreißig Lichtjahre von der Erde entfernt, das Evolutionsverbrechen geschah vor dreißig irdischen Jahren... Demnach wird die Strahlung in Kürze die Erde erreichen und von hier aus meßbar sein. Ist es das, was Sie von mir wollen?“ „Ich bewundere Ihren Scharfsinn, Mr. Fenton“, sagte Peraciodes ohne Spott. „Etwas verstehe ich trotzdem nicht“, meinte Fenton. „Die Erde befindet sich zwar in einer denkbar günstigen Entfernung. Aber ist das Grund genug, sich in einer so wichtigen Entscheidung an ein unterentwickeltes Volk zu wenden? Ich meine, das Sternenimperium müßte doch modernere und präzisere Instrumente für die Messung der Strahlung besitzen. Warum kommen Sie ausgerechnet zu den Terranern?“ Peraciodes erklärte: „Den ersten Grund haben Sie selbst bereits genannt. Die Erde befindet sich in einer denkbar günstigen Entfernung. Der zweite Grund ist der, daß wir innerhalb der kurzen Zeit bis zur Verhandlung kein entsprechendes Meßgerät in der erforderlichen Position installieren können. Sie sehen also, auch unsere Möglichkeiten sind nicht unbegrenzt. Der dritte Grund, warum ich zu Ihnen komme, ist wohl der schwerwiegendste. Die Strahlung wird mit zunehmender Entfernung immer schwächer und wird in Bälde nicht mehr meßbar sein.“ Diesen Worten folgte ein nachdenkliches Schweigen. Schließlich fragte Fenton: „Wann muß ich einsatzbereit sein?“ „Übermorgen um sechzehn Uhr einundzwanzig Ortszeit müssen Sie den Reflektor auf die bezeichnete Stelle des Himmels richten“, antwortete Peraciodes. „Sollte dieser erste Versuch mißlingen, haben Sie ungefähr dreizehn Stunden später erneut Gelegenheit für eine Messung. Aber danach nicht mehr.“ „Ich glaube, das wird sich machen lassen“, meinte Fenton. Peraciodes betrachtete ihn prüfend. „Befürchten Sie Schwierigkeiten? Ich könnte Ihnen Unterstützung gewähren. Mir ist kein Einsatz zu aufwendig, denn es hängt viel vom Gelingen des Unternehmens ab.“ Fenton winkte ab. „Ich schaffe es bestimmt.“ Freilich erwähnte er nichts von den Schwierigkeiten, die er zu erwarten hatte. Er sagte nicht, daß er als kleiner Assistent wohl nie Gelegenheit erhalten würde, den Reflektor mit einem eigenen Programm in Beschlag zu nehmen. Es steckte volle Absicht dahinter, daß er seine bevorstehende Aufgabe bagatellisierte. „Ich wünsche Ihnen viel Glück, Mr. Fenton“, sagte Peraciodes, während er um den Tisch herum kam und Fenton die Hand bot. Fenton ergriff sie und erwiderte den festen Druck. „Wann soll ich mich mit Ihnen in Verbindung setzen?“ 15
wollte er wissen. „Ich werde mich mit Ihnen in Verbindung setzen“, erklärte Peraciodes. „Ein oder zwei Stunden nach dem zweiten Strahlungsschauer schicke ich meinen Verbindungsmann zu Ihnen. Er wird Sie zu mir führen.“ Fenton schüttelte sich in übertriebenem Unbehagen. „Aber geben Sie ihm dann nicht die Lähmpistole mit.“ „Das wird sich leider nicht vermeiden lassen, Mr. Fenton“, entgegnete Peraciodes. Er hielt plötzlich einen als Armeepistole getarnten Strahler in der Hand. „Es ist nicht gut, wenn Sie die Position meines Schiffes kennen. Deshalb muß ich Sie auch jetzt narkostisieren.“ Und für so einen gefühlskalten Kerl arbeite ich freiwillig, dachte Fenton noch, dann wußte er nichts mehr von sich. 3. Das Radioteleskop von Sugar Grove besaß die imposante Höhe von 200 Metern, mit einem Spiegeldurchmesser von 180 Metern. 20 000 Tonnen stahl, 600 Tonnen Aluminium und 50000 Kubikmeter Beton waren dafür verbaut worden. Der Reflektor war auf zwei schaukelartige Eisenkonstruktionen gesetzt, wodurch jeder Höhenwinkel von 0 bis 90 Grad eingestellt werden konnte; zur Drehung um die vollen 360 Grad war die ganze Konstruktion auf Wagen gesetzt worden, die auf Eisenbahnschienen im Kreis liefen. Diese und mehr Details erfuhr Fenton während einer Exkursion, die der Leiter von Sugar Grove veranstaltete. Fentons Vorgesetzter war überwältigt - oder tat zumindest so -und brachte dies in bombastischen Worten zum Audruck. „Großartig, Fenton, finden Sie nicht auch?“ „Sicher, Sir.“ „Welches Auflösungsvermögen! Welche Lichtstärke!“ „Sicher, Sir.“ „Wir haben hier schier unbegrenzte Möglichkeiten. Die sechs Wochen werden wie im Flug vergehen. Hoffentlich können wir unser Arbeitspensum erfüllen.“ Das Arbeitspensum, von dem sein Vorgesetzter sprach, beinhaltete einzig und allein die Messung des neutralen Wasserstoffs auf der 21-Zentimeter-Linie. Spürte man den in der Galaxis vorhandenen neutralen Wasserstoff auf, konnte man Ausdehnung und Form der Milchstraße rekonstruieren. Eine langweilige Angelegenheit, fand Fenton, der sich bereits mit seinem privaten Arbeitspensum auseinandersetzte. „Wir werden jeden Arm unserer Heimatgalaxis registrieren!“ Die Führung durch die Anlagen nahm den ganzen Vormittag in Anspruch. Wenn es während dieser ermüdenden 16
drei Stunden überhaupt etwas gegeben hatte, das Fentons Aufmerksamkeit erregt hatte, dann war es der eigentliche Arbeitsvorgang. Der Radioastronom war in Sugar Grove praktisch zum Nichtstun verdammt. Er stellte nur ein Arbeitsprogramm zusammen, übergab es einer Bedienungsmannschaft, die es wiederum auf Lochkarten programmierte. Diese wurden dann in das elektronische Kommandogerät eingegeben, das das Interial-Führungssystem steuerte. Fenton wäre es zwar lieber gewesen, wenn er die Bewegungen und Einstellungen de,s Instruments hätte selbst übernehmen können. Aber er glaubte auch so, gute Chancen zur Durchführung seines Planes zu haben. Während des ausgezeichneten Lunchs in der Kantine, unternahm er bei seinem Chef den ersten Vorstoß. „Mister Laudermilk, haben Sie bereits einen Beobachtungstermin für sich gefordert?“ erkundigte er sich. Mr. Eimer Laudermilk, mehr durch Beziehungen als durch seine wissenschaftliche Leistung in Jodrell Bank groß geworden, bedachte Fenton mit einem giftigen Blick, der wohl heißen sollte: Müssen Sie mir das Essen unbedingt vergällen. „Ich interessiere mich deshalb dafür“, fuhr Fenton unbeirrt fort, „weil ich bereits die von Ihnen verlangte Zusammenstellung für die Beobachtungsarbeit der ersten Woche fertig habe.“ „So schnell?“ Mr. Laudermilk wunderte sich. „Nun, Fenton, das ist hervorragende Arbeit. Ich werde aber heute und morgen keine Zeit mehr haben, Ihre Unterlagen zu prüfen, denn ich habe bereits einige wichtige Verabredungen mit namhaften amerikanischen Kollegen getroffen. Sie verstehen - der Gedankenaustausch-. ..“ „Natürlich, Mister Laudermilk, ich verstehe“, meinte Fenton. „Aber ich hatte gar nicht die Absicht, Ihre kostbare Zeit in Anspruch zu nehmen, sondern dachte mir, daß ich inzwischen mit der Bedienungsmannschaft die Festsetzung der Beobachtungstermine in die Wege leiten könnte. Damit brauchen Sie sich doch nicht zu belasten, Mister Laudermilk.“ „Das ist eine ausgezeichnete Idee, Fenton...“ Nachdem sich Fenton mit einer Entschuldigung von den anderen zurückgezogen hatte, mischte er sich unter die Bedienungsmannschaft, die sich in einem anderen Teil der Kantine aufhielt. Er gesellte sich an der Theke zu drei jungen Männern, die seinen Gruß etwas überrascht, aber freundlich zurückgaben. Er kam bald mit ihnen ins Gespräch und erfuhr, daß zwar der Mann, der offiziell die Beobachtungstermine erteilte und koordinierte „kalt und unnahbar wie ein Fisch“, sei, daß sein Stellvertreter aber ebensoviel zu bestimmen habe und 17
in gewissen Fällen „mit sich reden“, lasse. Der Stellvertreter hieß Jack Angel. Der Engel war ein salopp gekleideter junger Mann, unter dessen weißem Arbeitsmantel abgetragene Jeans und zerschlissene Schuhe hervorsahen. Seine Haare waren struppig, knallrot und hatten eine beachtliche Länge. Fenton erblickte den Mann vor der Kantine in einem Gespräch mit einem auffallend hübschen Mädchen und wußte augenblicklich, daß das „sein Mann“ war. Er wartete, bis sich das Mädchen verabschiedete, dann ging er auf den Mann zu. „Dürfte ich Sie einen Augenblick sprechen, Mister Angel?“ fragte er. Jack Angel lächelte freundlich: „Aber sicher, Sir. Für unsere Gäste aus England haben wir immer Zeit.“ Fenton stellte sich vor, während er den angenehmen Händedruck des jungen Mannes erwiderte. Dann kam er auf sein Anliegen zu sprechen. Ob es wohl möglich wäre, für morgen zwischen fünfzehn und achtzehn Uhr einen einstündigen Beobachtungstermin für ihn freizuhalten? „Hm, vielleicht kann ich Sie einschieben, Mister Fenton“, meinte Jack Angel nach einer Weile. „Am liebsten wäre mir von sechzehn bis siebzehn Uhr“, sagte Fenton schnell. „Wann kann ich Ihnen die Unterlagen bringen?“ „Nun, ich habe noch nicht gesagt, daß zu diesem Zeitpunkt der Reflektor frei ist...“ „Vielleicht können Sie mich ein-schieben“, sagte Fenton und fügte hinzu: „Es steht viel für mich auf dem Spiel. Wenn ich die Messungen auf der Vier-Meter-Wellenlänge nicht zu diesem Termin machen kann, dann ...“ „Was suchen Sie denn auf Vier-Meter?“ fragte Jack Angel verwundert. „Ich bringe Ihnen heute abend die Unterlagen“, sagte Fenton und verabschiedete sich. „Wenn es spät werden sollte, so bin ich bis einundzwanzig uhr in der Kantine zu erreichen“, rief ihm der Assistent nach. Fenton lieh sich einen Jeep mit Fahrer und nützte den Nachmittag, um die nähere Umgebung zu erkunden. Dem Jeepfahrer mußte es wohl so scheinen, daß sein Fahrgast lediglich den etwas ausgefallenen Wunsch hatte, die Landschaft zu genießen. Doch Fenton ging es in Wirklichkeit darum, nach den Spuren eines gelandeten Raumschiffs zu forschen. Als sie bereits über fünf Stunden durch das hügelige Land fuhren und Fentons Suche ergebnislos blieb, empfand er auch keine Enttäuschung. Im Gegenteil, er hatte nichts anderes erwartet - das Fehlen jeglicher Landespuren erhärtete nur seinen Verdacht. Er hatte nämlich festgestellt, daß von seiner Entführung bis zu seiner Rückkehr fünf Stunden vergangen waren. Wenn er davon eine Stunde für den Aufenthalt bei Peracoides 18
abzog, blieben immer noch vier Stunden für den Hin- und Rücktransport Zwei Stunden für eine Fahrt zu einem Versteck waren aber eine lange Zeit, in der man gut fünfzig Kilometer zurücklegen konnte. Fenton sagte sich nicht ohne Grund, daß es Peracoides nicht nötig hatte, sein Raumschiff so weit von seinem Ziel entfernt zu landen. Immerhin besaß er ausreichende Möglichkeiten für eine Tarnung. Dieser Umstand allein ließ Fenton vermuten, daß der Evolutionspolizist mit seinem Raumschiff in einer Umlaufbahn um die Erde geblieben war und nur ein Beiboot geschickt hatte, um ihn, Fenton, zu sich zu holen. Seine letzten Nachforschungen gaben ihm die Bestätigung dafür. Es war nicht gesagt, daß diesem Umstand eine besondere Bedeutung beizumessen war, aber Fenton wußte immer gern, wie die Dinge lagen. Als sie zur Beobachtungsstation zurückkamen, entließ Fenton den Fahrer und begab sich zur Kontrollstation. Dort meldete er ein Ferngespräch nach Manchester an. Es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis die Verbindung mit seinem Freund Cliff Ramson zustande kam. Aber sein Ärger verflüchtigte sich schnell, als er Cliff s Stimme hörte. Nachdem sich Fenton zu erkennen gegeben hatte, wußte Cliff vor Überraschung nichts Besseres zu sagen als: „Das haut mich um. Bist du es wirklich und wahrhaftig, Gil! Wie geht es dir? Behandelt man dich auch gut?“ „Nur um darüber mit dir zu sprechen, würde ich allerdings nicht mein sauer verdientes Geld für ein Ferngespräch opfern“, erklärte Fenton nüchtern. „Vielmehr möchte ich dir mitteilen, daß ich mit unserem gemeinsamen Freund zusammengekommen bin, der das wohl phantastischste Gefährt der Gegenwart steuert. Wenn du mir folgen kannst, brauchst du aber seinen Namen nicht zu nennen.“ Es hörte sich an, als würde Cliff rasselnd Atem holen. Gleich darauf kam wieder seine Stimme. „Klar weiß ich, wen du meinst. Was wollte er?“ „Darüber berichte ich dir bei nächster Gelegenheit. Nur soviel: Er braucht meine Hilfe. Und es könnte sein, daß seine Gegenleistung aus einem wertvollen Geschenk besteht. Ich werde veranlassen, daß es an dich geschickt wird. Wenn du es erhältst, bringe es schleunigst an einem Ort, der nur dir bekannt ist, in Sicherheit, damit es sich unser Freund nicht zurückholen kann. Bist du mir gefolgt?“ „Ehrlich gestanden - ich verstehe kein Wort von diesem Kauderwelsch.“ „Das brauchst du auch nicht. Ich möchte nur, daß du tust, was ich verlange. Die Sache ist nämlich die, daß unser Freund das Geschenk nicht freiwillig machen wird...“ „Ich beginne zu verstehen. Aber 19
kannst du mir nicht wenigstens andeutungsweise verraten, was ich in Empfang nehmen soll?“ „Darüber bin ich mir selbst noch nicht klar. Aber ich stelle mir vor, daß es sich um Material mit einem Gewicht von einigen Tonnen handeln wird.“ „Prima“, rief Cliff heuchlerisch, „dann werde ich den ganzen Kram nehmen und im Laufschritt in unser Pfadfinderversteck bringen.“ „Hauptsache, du trägst es mit Humor“, meinte Fenton schmunzelnd. „Nach dem nun alles geregelt ist, werde ich das Gespräch beenden.“ „Einen Moment noch, Gil“, sagte Cliff rasch. „Möchtest du Dominique nicht wenigstens guten Tag sagen?“ „Doch ...“ Fenton sprach nicht weiter, sondern drückte mit der Linken auf die Hörergabel. Dadurch blieb ihm die Möglichkeit, sich später darauf herauszureden, die Verbindung sei durch höhere Gewalt unterbrochen worden. Eine Weile blieb er nachdenklich an seinem Platz stehen. Was war er nur für ein außergewöhnlicher Feigling! Er spann verwegene Pläne, wie er Peraciodes übers Ohr hauen konnte und hatte im gleichen Augenblick Angst davor, mit seinem Mädchen einige Worte zu wechseln. „Dominique ist nicht mein Mädchen“, murmelte er vor sich hin, ging in sein Quartier, holte die von Peraciodes bereitgestellten Unterlagen und überbrachte sie Jack Angel. Die Vorbereitungen waren getroffen. Jack Angel hatte die Unterlagen auf Lochstreifen programmiert und dem Kommandogerät eingegeben. Es war zehn vor vier Uhr nachmittags, In genau zehn Minuten würde das Interial-Führungssystem den riesigen Reflektor von 180 Metern Durchmesser in die von Fenton gewünschte Position steuern. Inzwischen war die Bedienungsmannschaft bereits dabei, die erforderlichen Empfangsgeräte im Fokus des Reflektors unterzubringen. „Aufgeregt?“ erkundigte sich Jack Angel ohne Spott. Fenton zuckte zusammen. „Sieht man mir das an?“ Angel sagte irgend etwas darauf, was Fenton aber nicht verstand. Er hörte überhaupt nicht hin, seine Gedanken kreisten ständig darum, was für Folgen eine frühzeitige Entdeckung mit sich bringen würde. Was, wenn man dahinterkam, daß er das Programm Mr. Laudermilks vertauscht hatte? Würde er noch eine zweite Chance bekommen, seinen Auftrag für Peraciodes auszuführen? Oder würden all seine hochtrabenden Pläne dadurch zunichte gemacht? „Ihr Programm, Mister Fenton.“ Angels Stimme kam von weit her, aber Fenton verstand jedes einzelne Wort. Ihr Programm, Mr. Fenton! Plötzlich fiel alle Spannung von ihm ab. Er brachte sogar ein Lächeln zustande. Während der 20
folgenden Stunde, in der Fentons Programm ablief, war er zwar zur Untätigkeit verdammt, aber er vertrieb sich diese Zeit in recht angenehmer Gesellschaft in der Kantine. Sie hieß Pamela und war die Tochter des Direktors. Darüber hinaus bezeichnete sie sich noch als Jack Angels Verlobte. „Aber glauben Sie ja nicht, daß Jack durch Projektion in Sugar Grove beschäftigt wird“, fügte sie hinzu. „Daddy ist von Jacks abenteuerlichem Aussehen nicht gerade begeistert, aber für ihn zählen bei einem Mann vor allem die Charaktereigenschaften und Fähigkeiten. In dieser Reihenfolge.“ Da Pamelas Lieblingsthema Jack war, fiel es Fenton nicht schwer, sie über ihn auszuhorchen. Und dabei kristallisierte sich immer mehr heraus, daß sein erster Eindruck von Jack stimmte. Zwar war Pamela überaus subjektiv, aber wenn man die schier göttlichen Eigenschaften von der Summe abzog, so blieb Jack ein verläßlicher, ideenreicher und unkonventioneller junger Mann. Falls es nötig war, konnte Fenton immer auf ihn zurückgreifen. Fenton verabschiedete sich von Pamela und begab sich in die Auswertungsstelle. Es war Viertel nach fünf, als er dort ankam, und er erschien gerade rechtzeitig, um die lesbaren Resultate der einstündigen Beobachtung entgegenzunehmen. Jack Angel schien ein wenig enttäuscht, daß Fenton ihm keinen Einblick in die Beobachtungsergebnisse gewährte. Aber äußerlich ging er mit einem Schulterzucken darüber hinweg. Fenton erkundigte sich: „Wie steht es mit den Lochstreifen, Jack? Werden die in einem Archiv aufbewahrt?“ Angel blitzte ihn an. „Das ist in der Regel nun mal so.“ „Können Sie diesmal nicht eine Ausnahme machen?“ „Ich wüßte nicht, warum.“ „Na, sagen wir, um mir einen riesengroßen Gefallen zu tun.“ „Sie haben vielleicht Humor, Mister Fenton!“ seufzte Angel. „Was glauben Sie, was es mich kostet, wenn man dahinterkommt, daß es für eine Stunde des Beobachtungsprogramms keine Unterlagen gibt?“ „Zumindest Ihre Stellung“, antwortete Fenton lakonisch. „Und trotzdem wagen Sie es, von mir zu verlangen, daß ich Ihnen die Lochstreifen aushändige?“ Fenton sagte ernst. „Ich möchte nur Ihr Leben schützen, Jack.“ Das verblüffte selbst Angel, der nicht so schnell aus der Ruhe zu bringen war. „Wiederholen Sie das“, verlangte er. Fenton gab seiner Stimme einen gefährlichen Unterton, als er sagte: „Ich möchte auch das Leben Ihrer Verlobten schützen, Jack.“ „Damit kommen Sie bei mir nicht an“, zischte Angel. Aber sein Gesicht war blaß geworden, seine 21
Hände spielten nervös mit der Lochstreifenspule. Diesen Augenblick nutzte Fenton. Er griff nach der Spule und entwand sie ohne Mühe Angels kraftlosen Fingern. „Sie könnten jetzt Alam schlagen“, sagte Fenton, bevor der andere noch reagieren konnte. „Aber es wäre nicht uninteressant für Sie, mich vorher anzuhören. Daß Sie sich in Lebensgefahr befinden, das vergessen Sie am besten wieder. Es war nur ein billiger Bluff von mir, um an die Spule zu kommen.“ Angel knirschte vor unterdrückter Wut mit den Zähnen. Er tat Fenton leid, deshalb fuhr er schnell fort: „Es stimmt, ich habe Sie für meine Zwecke mißbraucht, Jack. Aber es geschah nicht in böser Absicht. Wenn Sie einen Beweis dafür haben wollen, daß Ihnen meine volle Sympathie gehört, dann besuchen Sie mich in meinem Quartier. Nehmen Sie Pamela mit. Ich werde Ihnen beiden alles über die Hintergründe meiner Beobachtungsarbeit erzählen. Aber kommen Sie, bevor Sie Meldung beim Direktor erstatten.“ Angel entspannte sich etwas, aber er blieb mißtrauisch, und seine Augen funkelten zornig. »Warum geben Sie mir die versprochenen Erklärungen nicht sofort?“ fragte er lauernd. Fenton lächelte, obwohl er sich in seiner Rolle nicht wohl fühlte. „Warum auch nicht? Folgen Sie mir.“ Er berichtete Pamela und Jack alles über seinen Auftrag, so wie er es von Peraciodes gehört hatte. 4. Fünfzehn Stunden, nachdem Fenton die Beobachtungen durchgeführt hatte, erschien wieder Peraciodes' Mittelsmann auf dem Gelände von Sugar Grove. Fenton hielt sich gerade in der Kantine auf und war mit Jack Angel in eine angeregte Diskussion vertieft. Fenton stieß Angel an. „Sehen Sie dort diesen Mann. Es ist einer von den Sternenmenschen.“ Angel blickte ungeniert zum Eingang und grinste. „Ich habe mir die Besucher aus dem All immer anders vorgestellt“, meinte er belustigt. „Ihre Enttäuschung wird noch größer werden, wenn Sie hören, daß er ein einwandfreies Englisch spricht“, sagte Fenton und erhob sich. Dann fügte er bedauernd hinzu: „Aber leider werden Sie keine Gelegenheit haben, ihn anzuhören. Leben Sie also wohl, Jack.“ „He!“ rief Angel empört. „Da machen Sie mir den Kopf voll mit Dingen, die da zwischen Himmel und Erde passieren sollen, und nun lassen Sie mich mit meinen Zweifeln ganz einfach sitzen.“ „Keine Bange, Jack“, sagte Fenton ernst. „Ich glaube fest, daß Sie in dieser 22
Angelegenheit noch einiges erleben werden. In diesem Zusammenhang muß ich Ihnen gestehen, daß ich Ihre Freundschaft erneut mißbraucht habe. Ich mußte Sie leider in diese Angelegenheit hineinziehen, doch hoffe ich, daß Sie zum gegebenen Zeitpunkt genug Humor aufbringen, um mir zu verzeihen.“ Damit kehrte Fenton dem rothaarigen jungen Mann den Rücken zu und schritt zum Ausgang, wo ihn Peraciodes' Mittelsmann bereits erwartete. „Haben Sie die Unterlagen?“ Fenton nickte. „Dann geben Sie sie mir.“ Fenton lächelte unschuldig. „Das ist nicht zu machen. Ich händige sie nur Peraciodes persönlich aus.“ Der Mittelsmann des Evolutionspolizisten schien damit gerechnet zu haben und für diesen Fall auch entsprechende Weisungen zu besitzen. Denn ohne einen weiteren Einwand lotste er Fenton zu der bereitstehenden Limousine. Schweigend fuhren sie los. Am Tor wiesen sie sich beide aus und durften passieren. Während sie sich in rascher Fahrt von Sugar Grove entfernten, erkundigte sich Fenton gutgelaunt: „Sagen Sie, ist Ihre Erkennungskarte eigentlich eine Fälschung, oder haben Sie sie einem Bediensteten gestohlen?“ Peraciodes' Agent verzog keine Miene; er konzentrierte sich voll und ganz auf die vor ihnen liegende Landstraße. Plötzlich bremste er scharf, warf einen Blick in den Rückspiegel und bog in einen Waldweg ein. Nach hundert Metern, die sie durch das Unterholz zurückgelegt hatten, brachte der Fahrer die Limousine auf einer von dichtem Gebüsch umgebenen Lichtung zum Stillstand. Sein eisiger Blick traf Fenton, und er fragte barsch: „Wer war der junge Mann, mit dem Sie sich so angeregt unterhielten?“ Fenton machte eine bagatellisierende Handbewegung. „Ach, nur einer von der Bedienungsmannschaft.“ „Wenn Sie doppeltes Spiel treiben, Mr. Fenton“, zischte der Evolutionsagent, „dann wird Major Peraciodes sich Ihnen von seiner schlechtesten Seite zeigen. Geben Sie mir jetzt die Unterlagen.“ Die Fenton bereits hinlänglich bekannte Waffe erschien wie hingezaubert in der Hand des Agenten. „Nun werden Sie nicht gleich nervös, Mann“, beschwor Fenton ihn. „Es besteht kein Grund, daß Sie ...“ „Die Unterlagen!“ „Lassen Sie mich doch erst einmal erklären ...“, begann Fenton. Aber der andere unterbrach ihn. „Wollen Sie mir die Unterlagen freiwillig geben?“ Fenton machte eine hilflose Gebärde. „Ich habe sie doch gar nicht. „Dann, Mr. Fenton, bleibt mir leider keine andere Wahl“, sagte der Agent und hob die Waffe. Fenton protestierte: „Sie werden doch nicht so einfallslos sein und schon wieder auf mich 23
schießen.“ Der Agent war so „einfallslos“, Diese Erkenntnis nahm Fenton mit in die Bewußtlosigkeit. Die Umgebung war die gleiche wie bei der letzten Zusammenkunft zwischen Fenton und Peraciodes. Nur Peraciodes selbst hatte sich verändert. Kaum hatte Fenton die Augen aufgemacht, als der Evolutionspolizist mit wütender Stimme lospolterte: „Sie verstehen'es, mich auf eine ganz unkonventionelle Art in Rage zu bringen, Mr. Fenton. Ich habe eigentlich geglaubt, daß Sie mit mir zusammenarbeiten wollen. Aber Ihr Verhalten läßt mich eher zu der Ansicht kommen, daß Sie auf der Seite des Gegners stehen. Was haben Sie mit den Beobachtungsaufzeichnungen gemacht?“ Fenton streckte sich, dann blitzte er Peraciodes zornig an und sagte: „Nur ruhig, Perac. Wenn jemand Grund hat, empört zu sein, dann ich. Denn Sie scheinen mich als Prügelknaben zu betrachten, den man nach Belieben ins Land der Träume schicken kann. Ich brauche nur ein unrechtes Wort zu sagen, und schon wird mir ein Strahler unter die Nase gehalten.“ „Auf dieses Ablenkungsmanöver gehe ich nicht ein“, erwiderte Peraciodes kalt. „Wenn Sie mir die Unterlagen ausgehändigt haben, dann können wir immer noch über eventuelle Verstöße gegen die guten Sitten reden.“ Fenton seufzte. „Also gut, unterhalten wir uns über das Ergebnis meiner Beobachtung. Ich habe getreu Ihren Anweisungen gehandelt und zum angegebenen Zeitpunkt besagten Stern auf der Vier-Meter-Welle beobachtet, und ich glaube, ich kann zufrieden mit meiner Arbeit sein. Nachdem ich den Lochstreifen auswertete, erhielt ich ein Diagramm, das für die Zeit von 16 Uhr 21 und dreizehn Sekunden bis 16 Uhr 21 und neunzehn Sekunden eine starke Strahlung im Vier-Meter-Wellenbereich aufweist. Ich wage es, zu behaupten, daß dieses Dokument einzigartig ist - unwahrscheinlich, daß eine zweite Beobachtungsstation zur gleichen Zeit diesen Sektor des Himniels auf derselben Wellenlänge untersucht. Doch scheint alle meine Arbeit umsonst zu sein.“ Peraciodes beugte sich angriffslustig vor und fragte gefährlich leise: „Wieso, Mister Fenton?“ „Weil alle Unterlagen, Lochstreifen und ausgewertete Daten, verschwunden sind“, antwortete Fenton mit niedergeschlagenem Blick. „Sie meinen, ganz einfach so - als hätten sie sich in Luft aufgelöst?“ „Ich weiß selbst keine Erklärung, aber...“ „Mr. Fenton“, unterbrach Peraciodes schneidend, „ich weiß nicht, welches Spiel Sie treiben. Aber dafür weiß ich eines ganz bestimmt: Wenn Sie mir in den Rücken gefallen sind, wenn Sie die Unterlagen an König Anconte 24
verkauft haben, dann mache ich Ihnen das Leben zur Hölle.“ „Könnten Sie nicht für einige Minuten Ihr krankhaftes Mißtrauen vergessen und versuchen, meinen Worten Glauben zu schenken?“ bat Fenton. „Nein“, fuhr Peraciodes ihn an. „Ich bin überzeugt, daß Sie mich anlügen.“ „Wenn ich lüge, dann müßte ich die Unterlagen besitzen“, sagte Fenton lakonisch und fügte hinzu: „Hat Ihr Agent sie bei mir gefunden?“ Peraciodes lächelte verbittert. „Sie sind natürlich viel zu schlau, Mister Fenton, um die Unterlagen bei sich zu tragen. Aber so schlau sind Sie nun auch wieder nicht, um mich hinters Licht zu führen.“ Fenton erschrak für einen Augenblick, weil er dachte, daß Peraciodes ihn durchschaut hatte. Aber er beruhigte sich schnell wieder, denn er sagte sich richtig, daß Peraciodes ihm nichts anhaben konnte, selbst wenn er hinter seine Machenschaften gekommen war. „Sie werden blaß?“ stellte Peraciodes zufrieden fest. „Dann scheine ich also doch auf dem richtigen Weg zu sein, wenn ich Ihre beiden Verbündeten einem eingehenden Verhör unterziehe.“ Fenton lachte lautlos in sich hinein, äußerlich gab er sich verwundert. „Meine beiden Verbündeten?“ „Stellen Sie sich nicht dumm“, sagte Peraciodes. „Oder glauben Sie, meinem Agenten entging es, welch intensiven Kontakt Sie mit diesem Jack Angel und seiner Freundin gepflegt haben?“ Jetzt konnte Fenton nicht mehr an sich halten und begann schallend zu lachen. In diesem Augenblick ertönte eine zornige Mädchenstimme: „Das Lachen wir Ihnen noch vergehen, wenn Jack Ihnen einmal allein begegnet.“ Fenton drehte sich um und verstummte. In der offenen Kabinentür standen Pamela und Angel in Begleitung zweier bewaffneter Raumfahrer. Das Gesicht des Mädchens war gerötet, ihre Augen versprühten zornige Blicke. Jack Angel wirkte dagegen gefaßter, wenn auch ein wenig irritiert, und seine rote Haarmähne erschien Fenton noch zerzauster als sonst. Angel streckte die Hand nach Pamela aus, um sie zu beruhigen, und sagte: „Betrachten wir das Ganze doch als außergewöhnliches Abenteuer. Wer weiß, wann wir wieder Gelegenheit haben, Sternenmen-schen kennenzulernen. Ich müßte Mr. Fenton sogar dankbar dafür sein, daß er mir den Beweis für deren Existenz erbracht hat.“ „Wir sollen ihm auch noch dankbar dafür sein, daß wir auf brutalste Weise entführt und anschließend von diesen Kerlen wie seltene Insekten untersucht und begafft wurden?“ rief Pamela empört. Peraciodes machte eine Handbewegung, durch die er sich Aufmerksamkeit verschaffte. Als 25
alle zu ihm blickten, sagte er, indem er sich an das Mädchen wandte: „Wir mußten Sie beide leider durchsuchen, ebenso Ihre Unterkünfte. Daß beides, Durchsuchung Ihrer Quartiere und Leibesvisitation, erfolglos blieb, ist um so bedauerlicher. Es tut mir leid, daß Sie die unangenehme Überprüfung über sich ergehen lassen mußten. Ich bin davon überzeugt, daß Sie völlig ahnungslos in die Sache hineingezogen wurden. Ich werde'Sie beide zurückbringen lassen.“ Als Fenton erkannte, daß Jack Angel darüber Enttäuschung zeigte, ermahnte er Peraciodes: „Sie müßten Pamela und Jack für die bereiteten Unannehmlichkeiten entschädigen!“ Peraciodes nickte. „Wenn es in meiner Macht liegt...“ „Wir befinden uns doch im Weltraum ...“, begann Fenton. „Woher wissen Sie das?“ rief Peraciodes überrascht aus. „Ich habe eins und eins zusammengezählt“, meinte Fenton lächelnd. „Da wir uns also in einer Umlaufbahn um die Erde befinden, könnten Sie Pamela und Jack einen Blick auf ihren Mutterplaneten gewähren. Ich glaube, eine bessere Entschädigung würden Sie gar nicht finden. Und Sie brauchen ihnen auch die Erinnerung“ an dieses Erlebnis nicht zu nehmen, Perac, denn Sie wissen aus Erfahrung, daß kein Mensch der Erde ihre Erzählung glauben würde.“ Peraciodes sagte nichts darauf. Aber er gab den Wachtposten einen Wink, was zeigte, daß er Fentons Vorschlag annahm. Fenton vermerkte es dankbar, daß Jack Angel ihm beim Verlassen der Kabine freundschaftlich zuzwinkerte. Und so seltsam es klang, Fenton fühlte sich dadurch für die bevorstehenden Verhandlungen mit Peracio-des gestärkt. „Und jetzt zu Ihnen“, knurrte Peraciodes, nachdem der letzte Wachtposten die Kabinentür von außen geschlossen hatte. „Jetzt können Sie zeigen, daß Ihnen das Schicksal der Lavaner am Herzen liegt. Sagen Sie mir, wo die Unterlagen sind.“ „Es ist eine Tatsache, daß ich die Unterlagen nicht mehr besitze“, erklärte Fenton ernst, fügte jedoch schnell hinzu: „Doch besitze ich trotzdem alle erforderlichen Daten. Sie sind unauslöschlich hier gespeichert.“ Bei den letzten Worten tippte er sich an die Stirn. „Dadurch ist den Lavanern nicht geholfen“, erwiderte Peraciodes. „Vielleicht doch“, sagte Fenton. „Wenn Sie mich nämlich mitnehmen und vor dem Galaktischen Gerichtshof aussagen lassen, dann kann ich König Anconte des Evolutionsverbrechens überführen.“ „Das haben Sie sich vorzüglich ausgedacht“, sagte Peraciodes in plötzlicher Erkenntnis. „Natürlich, Sie haben alle Unterlagen vernichtet, damit ich auf Sie als 26
Zeugen angewiesen bin! Ich hätte sofort dahinterkommen müssen, daß Sie es auf eine Fahrt zu anderen Planeten anlegen würden. Aber, Mr. Fenton, selbst wenn ich dazu bereit wäre, Sie sind als Zeuge nutzlos. Und wissenSie auch, warum? Weil Sie kein Bürger des Imperiums sind, sondern einem unterentwickelten Volk angehören. Ihre Stimme hat vor einem Galaktischen Gerichtshof keine Gültigkeit!“ Diese Eröffnung war für Fenton nur schlecht zu verdauen. Er hatte seinen Plan so geschickt eingefädelt, doch so kurz vor dem Ziel sah er sich um die Früchte seiner Bemühungen gebracht. Seine Sinne waren wie umnebelt, er hörte Peraciodes' Stimme wie aus weiter Ferne. „Ihre Stimme hat vor einem Galaktischen Gerichtshof keine Gültigkeit! Es sei denn...“ Fenton wurde sofort hellhörig. Er schüttelte die Benommenheit ab und fragte. „Welche Möglichkeit hätten wir?“ „Ich könnte Sie vereidigen“, meinte Peraciodes unbehaglich. „Als Evolutionsagent genießen Sie alle Rechte eines Bürgers des Imperiums.“ Für einen Augenblick war Fenton sprachlos. Dann platzte er heraus: „Worauf warten Sie! Unternehmen Sie die nötigen Schritte, um mich als Evolutionsagent zu verpflichten.“ „Ich zögere noch“, sagte Peraciodes nachdenklich. „Aber schließlich -warum sollte ich Sie nicht vorübergehend anstellen? Wenn der Prozeß gewonnen ist, dann ...“ Fenton fiel ihm ins Wort. „Nein, Perac, so einfach ist das nicht, wie Sie sich das denken. Ich möchte schon eine gewisse Sicherheit haben, damit Sie mich nicht bei nächster Gelegenheit hinauswerfen können.“ „Welche Sicherheit?“ erkundigte sich Peraciodes ahnungsvoll. Fenton sah die Gelegenheit, jene „Geschenke“, auf deren Eintreffen er seinen Freund Cliff Ramson vorbereitet hatte, nicht durch sanfte Erpressung, sondern auf legalem Weg von Peraciodes zu bekommen. Er stellte seine Forderung: „Ich verlange, daß Sie mir auf der Erde .eine Station mit der gleichen Ausstattung einrichten, wie sie die Evolutionsagenten auf anderen unterentwickelten Planeten besitzen. Und zwar sollen die Anlagen an eine Adresse in meinem Heimatort Manchester geliefert werden.“ „Und mehr Forderungen stellen Sie nicht?“ seufzte Peraciodes. „Nein“, sagte Fenton. Er wußte, daß er gewonnen hatte.
5. 27
„Du wirst alt, Vater“, sagte Prinz Enzin und hielt dem auf seiner Schulter liegenden Blattegel lässig den linken Zeigefinger hin. Augenblicklich rollte sich ein Teil des blattförmigen Egels um den Finger und saugte sich daran fest. „Aber ich bin immer noch dein König“, schrie König Anconte von der anderen Seite durch den Raum. „Hüte also deine Zunge!“ „Jawohl, mein König“, sagte Prinz Enzin und befreite mit einem Ruck den Finger von den Saugnäpfen. „Würdest du dennoch die Güte haben, diese Dokumente zu signieren?“ König Anconte saß zusammengekauert auf seinem Thron. Ihn trennten nicht nur zwanzig Meter von seinem Sohn, sondern auch eine Reihe von Sicherheits- und Warnanlagen. Dabei handelte es sich um eine der vielen Vorsichtsmaßnahmen, die der Monarch von Lavan IV zu seinem Schutz getroffen hatte. Er traute niemandem, nicht einmal seinem eigenen Fleisch und Blut oder seiner Gemahlin, deshalb unterließ er jeden direkten Kontakt zu den ihn umgebenden Menschen. Das war schon seit zehn Jahren so. Manche der Höflinge meinten, der König müsse abgelöst werden, weil er durch sein hohes Alter bereits recht eigenartig und wunderlich geworden sei. Andere drückten sich nicht so vorsichtig aus und sagten offen, Anconte sei geisteskrank und gehöre deshalb beseitigt. Prinz Enzin entgingen solche Äußerungen natürlich nicht, denn seine Schmeichler, die Anconte bereits unter der Erde sahen und bei seinem Nachfolger einen Stein im Brett haben wollten, hielten sich ihm gegenüber mit ihren Äußerungen nicht zurück. Doch Prinz Enzin überging diese Dinge mit einem Lächeln. Es wäre für ihn natürlich nicht schwer gewesen, „seinem“ zähen König den Abgang von der Lebensbühne zu erleichtern. Er hatte die Möglichkeiten dazu, obwohl Anconte der Meinung war, sich nach allen Seiten hin abgesichert zu haben. Was nützten die veralteten Energieschirme, die automatischen und selbstzielenden Strahlenwaffen, die aus den Schießscharten der Wände ragten, die Ortungsgeräte, die auf die Annäherung jeglicher Art von Lebewesen reagierten? Enzins Hobby war es, ausgefallene Arten von Tieren und Pflanzen zu züchten, zu dressieren und untereinander zu kreuzen. Das Ergebnis waren besonders reaktionsschnelle, besonders giftige, besonders intelligente Mutationen, denen man in den meisten Fällen ihre Tödlichkeit nicht, ansah. Es war zwar auch ihm unmöglich, auf unauffällige Art und Weise den Schutzschild des Königs zu durchbrechen. Doch hatte er das gar nicht nötig. Denn seit Jahr und Tag saß Anconte unter einem Baldachin, der in 28
Wirklichkeit ein in künstlichem Tiefschlaf befindlicher Riesenblattegel war. Wann immer Enzin nur wollte, konnte er den Blattegel mittels eines Funksignals aus seinem Schlaf wecken ... Aber das war gar nicht nötig. Er, Enzin, war in Wirklichkeit der wahre Herrscher von Lavan IV, seit Anconte sich in seinen Thronsessel zurückgezogen und, aus Angst um sein Leben, den Kontakt zu allen Menschen abgebrochen hatte. Nur seine Frau und sein ältester Sohn wurden zu ihm vorgelassen - allerdings waren sie durch die Barriere von ihm getrennt. „Um welche Dokumente handelt es sich, die ich unterschreiben soll?“ erkundigte sich Anconte mürrisch. Enzin legte das dicke Bündel Folien in den Zugstrahl, der die einzige Verbindung zwischen ihm und dem König darstellte. Während die Folien langsam durch die Luft zum König hinglitten, wurden sie durch verschiedenartige Strahlungsschauer vollkommen keimfrei gemacht. „Worum handelt es sich?“ wiederholte König Anconte. „Um belangloses Zeug“, erwiderte Enzin. „Ich werde dennoch alles gründlich studieren.“ Das kannst du ruhig, dachte Prinz Enzin. Denn wie er schon gesagt hatte, handelte es sich nur um „belangloses Zeug“. Er beschäftigte einen eigenen Mann nur dafür, Phantasiegesetze und -Verordnungen zu entwerfen, um sie König Anconte vorsetzen zu können. Das diente lediglich dazu, daß er nicht mißtrauisch wurde. Die wirklichen Entscheidungen traf natürlich Prinz Enzin eigenmächtig. „Du kannst gehen“, sagte König Anconte. „Komme morgen wieder, dann werde ich dir mitteilen, wie ich mich zu diesen Vorschlägen stelle.“ „Jawohl, mein König.“ Prinz Enzin verneigte sich andeutungsweise und verließ hastig den Thronsaal. Es galt, bis morgen mittag eine Menge von Vorbereitungen zu treffen. Denn dann würde ein gefährlicher Mann auf Lavan IV eintreffen, der gebührend empfangen werden muß. Vom Thronsaal aus ging Prinz Enzin geradewegs zu seinen im Keller liegenden Arbeitsräumen. Allerdings handelte es sich nicht um jene Räumlichkeiten, von denen aus er die Geschicke des Planeten lenkte, sondern um das Laboratorium, wo er die Mutationen züchtete. Er hatte keine besonderen Vorsichtsmaßnahmen getroffen, um das Laboratorium vor dem Zutritt Unbefugter zu schützen. Das war gar nicht nötig, denn die Insassen schützten sich selbst. Wer sich hierher verirrte oder wer kam, um zu spionieren, für den gab es keine Rückkehr mehr. Nur Enzin, der die Sprache der Pflanzen beherrschte, konnte hier ein- und ausgehen. Als er ins Laboratorium kam, schritt er die lange Reihe von Pflanzenkulturen ab, auf 29
der Suche nach einem geeigneten Exemplar für sein nächstes Vorhaben. Dabei gab er säuselnde Laute von sich, machte mit den Händen seltsame Bewegungen, und die Schlinggewächse und die berauschend schönen Blütengewächse schienen sich im Takt zu wiegen. „Schon gut, ihr Braven“, murmelte Prinz Enzin, als er zu einem hochstämmigen Busch kam, auf dessen Zweigen Dutzende von glasklaren Blütenkelchen zu zittern begannen und klirrende Geräusche erzeugten. „Ihr seid ungeduldigoder hungrig?“ Prinz Enzin griff sich an die Schulter, auf der der Blattegel ausgebreitet lag. Als seine Hand den Blutsauger berührte, wölbten sich die Ränder des flachen Körpers blitzschnell und schlossen sich um die Hand. „Ihr seid hungrig?“ Die Blütenkelche des Strauches klirrten ungeduldig. Enzin nahm die Hand, auf der sich der Egel festgesaugt hatte, von der Schulter und hielt sie dem Strauch entgegen. Die Äste reckten sich wie Hälse, die Blüten klappten auf wie hungrige Mäuler und schnappten. Innerhalb einer einzigen Minute war der Blattegel von Enzins Hand verschwunden. Der Prinz schritt weiter. Vor der Gardinenliane blieb er stehen. Während er das giftgrüne, blütenlose Schlinggewächs mit seinen Millionen haarfeinen Trieben betrachtete, kam ihm eine Idee. Die Gardinenliane wäre ein idealer Fensterschmuck für das Zimmer des Staatsanwaltes im Gerichtsgebäude... Aber - was sollte sich dahinter verbergen? Darüber war sich Prinz Enzin noch nicht ganz klargeworfen. Er wußte auch noch nicht recht, ob der Zeuge, der in dem in zwei Wochen beginnenden Prozeß gegen die königliche Familie aussagen würde, sterben sollte oder nicht. Ihn zu töten, wäre weiter keine Schwierigkeit. Aber immerhin handelte es sichum einen Terraner! Um einen Bewohner des zehnten der Grünen Planeten. Vielleicht wäre es gut, ihn lebend zu fangen. Kurzentschlossen ging Prinz Enzin zum Bildsprechgerät und ließ sich mit Major Gerlow verbinden. Als das brutale Gesicht des Kommandanten der 8. Dschungellegion auf dem Bildschirm erschien, sagte Prinz Enzin: „Major, ich möchte, daß Sie mit einem Trupp von dreißig Mann die Station Sonnenkinder besetzen und dort auf weitere Anweisungen warten.“ In Major Gerlows Gesicht verzog sich kein Muskel, als er zu bedenken gab, daß die Station einem Ansturm des Dschungels nicht gewachsen wäre. Er fügte hinzu: „Den letzten Meldungen zufolge ist dieser Vorposten zwar noch unbeschädigt, aber wahrscheinlich wurde er von der Flora nur 30
deshalb verschont, weil er unbemannt ist. Ein einziger Mann darin könnte den Dschungel in Aufruhr bringen.“ „Sie sagen mir nichts Neues, Major“, entgegnete Prinz Enzin kühl. „Ich möchte auch keinen Dauerposten dort stationieren, sondern möchte lediglich, daß die Stellung für eine Woche gehalten wird. Das dürfte doch nicht schwerfallen.“ „Natürlich nicht.“ „Dann erwarte ich, daß Sie die Station Sonnenkinder noch heute besetzen. Ich lasse Ihnen eine Liste mit den Ausrüstungsgegenständen überbringen, die Sie unbedingt mit nehmen müssen.“ Prinz Enzin unterbrach die Verbindung. Dann machte er sich an die tägliche Fütterung seiner Lieblinge. Aber er war mit den Gedanken bereits ganz woanders. Er verteilte die Insekten und Kleintiere wahllos an die fleischfressenden Pflanzen, verabreichte unkonzentriert die Injektionen mit den Nähr- und Mutationsflüssigkeiten. Er beschäftigte sich nur mit dem eben entworfenen Plan und ließ ihn reifen. Er fand, daß es eine ausgezeichnete Idee war, den Terraner in die Dschungelstation zu entführen. Später, nach ein paar Tagen, konnte er ihn dann in ein sicheres Versteck bringen lassen - im königlichen Palast von Lavantin gab es deren genügend. Jedenfalls wollte er den Terraner lebend haben. Als Prinz Enzin mit der Fütterung fertig war, bereitete er sich für seinen Besuch bei dem Befehlshaber über die in Lavantin stationierten Evolutionspolizisten vor. Leutnant Hunnedon hatte ihm bis jetzt vorzügliche Dienste geleistet, doch fand Prinz Enzin, daß er ihm nur noch ein einziges Mal von Nutzen zu sein brauchte. Dann hatte er ausgedient. Ein Verräter vom Schlage Hunnedons wurde von einem gewissen Zeitpunkt an gefährlich, besonders dann, wenn er zuviel über seinen Auftraggeber wußte. Prinz Enzin machte sich keine große Gedanken über die Art, wie er sich Hunnedons entledigen würde. Er ging zu einem Stück Aas, aus dem ein Gewächs mit schillernden Blüten sproß, und schnitt eine Wurzel des Schmarotzers ab. Nachdem er mittels einer Pinzette die Wurzel in einem handlichen Metallbehälter untergebracht hatte, betrat er den Materietransmitter, der ihn direkt in Hunnedons Büro brachte. Der Evolutionspolizist erwartete ihn bereits. Er lächelte beim Anblick des Prinzen unterwürfig und rieb sich die Hände wie in Erwartung eines erfolgreichen Geschäftsabschlusses. Er war klein und dick und hatte eine unangenehme Körperausdünstung. Ebenso unangenehm wie seine Erscheinung, war auch sein Charakter. Das Büro war verschmutzt und mit technischen Geräten und unnützen Einrichtungsgegenständen überladen. 31
Prinz Enzin achtete nicht auf die Ehrenbezeigungen des Evolutionsagenten und blickte sich in dem stickigen Raum um. Als seine Blicke auf die offen herumstehenden Geräte fiel, sagte er tadelnd. „Sie sind zu leichtsinnig, Hunne-don. Was, wenn zufällig einmal einer von unserer Abwehr seine Nase in Ihre Angelegenheiten steckt? Ein Blick in diesen Raum würde genügen, um Sie als Evolutionspolizist zu entlarven.“ Hunnedon grinste. „In diesem Fall würde ich mit Ihrer Unterstützung rechnen, Prinz Enzin.“ „Das ist es ja gerade, was mich ärgert. Sie verlassen sich zu sehr auf mich. Dabei wissen Sie, daß ich Ihnen offiziell nicht helfen würde. Aber lassen wir das. Haben Sie die von mir gewünschten Informationen?“ Hunnedon nickte eifrig. „Wir haben Glück, Prinz. Wir haben außerordentliches Glück. Erst vor wenigen Minuten setzte sich Major Peraciodes mit mir in Verbindung. Er meinte, ich solle Maßnahmen zum Schutz des Terraners treffen, ha, ha. Wenn der wüßte!“ „Weiter!“ verlangte Prinz Enzin barsch. Hunnedon zuckte eingeschüchtert zusammen. Dann kicherte er unsicher, und während er weitersprach, öffnete er die Lade eines Hochschrankes. „Ich habe alles beisammen. Sämtliche Unterlagen. Den genauen Zeitpunkt der Landung. Die Mannschaftsstärke und die Bewaffnung des Schiffes. Die genaue Personenbeschreibung des Terraners und auch ein Foto von ihm. Peraciodes hat nichts vergessen. Ich auch nicht. Habe von allen Kopien hergestellt.“ Nachdem er eine Weile in der Lade herumgekramt hatte, förderte er nun einen fleckigen Umschlag mit Eselsohren zutage. „Hier ist es!“ rief er. „Geben Sie her“, forderte Prinz Enzin, nahm den Umschlag mit spitzen Fingern entgegen und ging die kopierten Unterlagen durch. Der Terraner hieß Gilbert Fenton und war früher schon einmal erfolgreich für die Evolutionspolizei tätig gewesen. Nun hatten sie ihn vereidigt, damit er vor dem Galaktischen Gerichtshof aussagen konnte. Darüber hinaus war ihm mittels Hynoschuler die gebräuchlichste Sprache des Imperiums, Interlingua, beigebracht worden. Und Peraciodes hatte ihn, ebenfalls unter Hypnose, die Grundzüge des Galaktischen Rechts gelehrt. Daraus ging hervor, daß dieser Gilbert Fenton gut gerüstet zur Verhandlung erscheinen würde. Das hieß, er wäre für die Verhandlung gut gerüstet, wenn Prinz Enzin ihm nicht' ein anderes Schicksal zugedacht hätte. Die weiteren Angaben überflog Prinz Enzin nur, denn er brannte darauf, das Foto des Terraners zu sehen. Er war neugierig, wie ein Bewohner des sagenhaften Grünen Planeten Erde aussah. Als er dann das Foto in der Hand hielt und 32
es betrachtete, war er einigermaßen enttäuscht. Nichts an dem Gesicht, das ihm dreidimensional entgegenblickte, sprach von Erhabenheit und Glückseligkeit. _Und Prinz Enzin mußte feststellen, daß sich die Auserwählten, die auf einer grünen, friedlichen Welt geboren wurden, durch keine grundlegenden Äußerlichkeiten von den anderen Menschen unterschieden. Wahrscheinlich lag es daran, daß die Terraner keinen Kontakt zum Imperium hatten. Als unterentwickeltes Volk wußten sie nichts von dem legendären Ruf, den sie in der Milchstraße genossen, und natürlich hatten sie keine Ahnung, daß nur zehn von den Tausenden von bewohnten Welten so ideale Lebensbedingungen wie Terra boten. Bei der Betrachtung des Fotos spürte Prinz Enzin Neid, und er steckte das Bild schnell in den Umschlag zurück. Vielleicht konnte der Terraner noch anderweitig für ihn von Nutzen sein. Aber im Augenblick galt es, sich der vordringlichsten Aufgabe, nämlich, ihn unschädlich zu machen, zu widmen. Hunnedon sagte gerade: „... bin ich überzeugt, daß Sie meine Hilfsbereitschaft entsprechend belohnen werden. Dies ist nämlich das letztemal, daß ich Ihnen dienen konnte, Prinz. Denn Peraciodes teilte mir mit, daß ich von Lavan IV abberufen werde.“ „Das trifft sich gut“, sagte Prinz Enzin, „denn ich wollte Ihre Hilfeleistung ohnedies zum letztenmal in Anspruch nehmen.“ Hunnedon zeigte Unsicherheit. „Sind Sie mit meinen Leistungen nicht zufrieden, Prinz?“ „Doch, doch“, beruhigte Prinz Enzin ihn, „aber ich dachte mir, daß es für unser beider Sicherheit besser wäre, unsere Beziehungen rechtzeitig abzubrechen. Sie verstehen?“ „Natürlich verstehe ich“, sagte Hunnedon erleichtert. „Dann nehmen Sie das für Ihre Dienste. Mit diesen Worten überreichte Prinz Enzin dem Evolutionsagenten die kleine Schatulle. Hunnedon griff mit gierigen Fingern danach. Als er sie jedoch in Händen hielt, zögerte er, sie zu öffnen. Aber die Entscheidung wurde ihm abgenommen - der Deckel der Schatulle ging von selbst auf. Im gleichen Augenblick sprang etwas heraus und traf Hunnedon an der Brust. Er gab einen überraschten Ausruf von sich und blickte an sich herunter. Wo das unbekannte Ding mit seiner Bluse in Berührung gekommen war, zeigte sich ein fransiges Loch. Hunnedons Augen weiteten sich plötzlich, und aus seinem Mund brach ein langgezogener Schmerzensschrei. Seine Hände krallten sich in die Bluse und rissen sie vorn auf. Darunter wurde eine große Wunde sichtbar, in der gerade der Rest eines wurmartigen 33
Gebildes verschwand. „Was... was haben Sie mit mir getan?“ röchelte Hunnedon, während er nach einem Halt suchte. „Aus Ihnen wird ein Strauch mit schillernden Blüten sprießen“, erklärte Prinz Enzin kalt. „Das ist ein besseres Los, als Sie verdient haben -Verräter!“ Ohne seinem Opfer noch einen weiteren Blick zu schenken, deponierte Prinz Enzin im Transmitter eine Zeitbombe und kehrte durch das flimmernde Feld in sein Laboratorium zurück. 6. Lavan IV war eine Welt mit einer langsam zerbröckelnden Zivilisation. Der einzig noch betriebsbereite Raumhafen befand sich am Rande der größten und einzigen Stadt, die sich voll und ganz gegen den vorrückenden Dschungel behaupten konnte. Aber auch das gelang nur durch großen technischen Aufwand, und man fragte sich unwillkürlich, ob sich der Einsatz überhaupt lohnte. Lavantin, die Hautpstadt von Lavan IV, und deren 500 000 Bewohner mußten durch eine mächtige Energieglocke vor den wuchernden Pflanzen und den Raubtieren geschützt werden. Als Peraciodes' Raumschiff niederging, mußte ein Sektor in dem Energieschirm freigegeben werden. Sofort stürzten sich mit dem gelandeten Raumschiff Vertreter von Flora und Fauna durch die freiwerdende Öffnung. Plötzlich verdunkelte sich die Atmosphäre des Raumhafens durch dichte Insektenschwärme. Vögel, mit Schmarotzerblumen im Gefieder, stürzten sich kreischend auf das Bodenpersonal. Meterdicke Schlingarme züngelten wie Schlangen über den Boden und versprühten benebelnden Blutenstaub. Zwei mächtige Raubkatzen, die vom Wipfel hoher Bäume das Raumschiff angesprungen hatten, über und über mit pflanzlichen Parasiten bedeckt, durchstreiften brüllend das Raumhafengelände. Das Raumschiff der Evolutionspolizisten hatte kaum aufgesetzt, da rollten Panzerfahrzeuge auf das Landefeld und nahmen die Dschungelbestien mittels Flammenwerfer und Energiegeschützen unter Feuer. Kurz danach kehrten Ruhe und Ordnung wieder zurück. Gilbert Fenton hatte die Geschehnisse außerhalb des Raumschiffs von der Kommandozentrale aus über Bildschirm beobachtet. Als alles vorbei war, sagte er zu dem neben ihm stehenden Peraciodes: „Ein eindrucksvoller Empfang.“ „Es wird noch heißer zugehen“, meinte 34
Peraciodes spöttisch, „wenn sich erst herumgesprochen hat, welch wertvollen Zeugen ich an Bord habe.“ „Wollen Sie mir Angst einjagen?“ erkundigte sich Fenton gereizt. „Das wäre jetzt nicht mehr angebracht, nachdem Ihre Aussage das einzige ist, was ich gegen König Anconte in die Waagschale werfen kann“, erwiderte Peraciodes. „Nein, Mr. Fenton, ich will Sie keineswegs einschüchtern. Aber vielleicht erkennen Sie jetzt, daß es für Sie besser gewesen wäre, die Unterlagen nicht zu vernichten.“ Fenton antwortete darauf nichts. Aber er sagte sich, daß Peraciodes gar nicht so unrecht hatte. Doch gab es jetzt für ihn kein Zurück mehr. „Wir können aussteigen“, sagte Peraciodes, nachdem sich der Funker mit der Bodenstation in Verbindung gesetzt hatte. „Leider können wir uns nicht der Gleiter bedienen, da innerhalb Lavantins allgemeines Flugverbot besteht. Wir müssen uns mit den hiesigen Bodenfahrzeugen begnügen, obwohl das natürlich einige Gefahren mit sich bringt.“ Sie verließen das Raumschiff in Begleitung von einem Dutzend bewaffneter Evolutionspolizisten. Aber Fenton fühlte sich trotzdem nicht sicher, als sie ins Freie traten. Peraciodes hatte zwar auch ihm eine Waffe zugestanden, doch Fenton war mit dem Strahler noch nicht so vertraut und scheute im Ernstfall dessen Anwendung. Er war froh, als sie die dreißig Meter entfernt geparkten Panzerfahrzeuge erreichten und zusammen mit einigen Agenten Platz genommen hatten. „Wie sieht die allgemeine Lage in Lavantin aus?“ erkundigte sich Peraciodes bei den Agenten, nachdem sich das Panzerfahrzeug «in Bewegung gesetzt hatte. „Verhältnismäßig ruhig“, antwortete einer der Agenten. „Wir haben von Anfang an mit Schwierigkeiten gerechnet, denn es war vorauszusehen, daß der König, und vor allem Prinz Enzin, alles unternehmen würden, um sich eine gute Ausgangsposition für den bevorstehenden Prozeß zu schaffen. Aber bisher haben wir noch keine Anhaltspunkte dafür gefunden, daß der Monarch einen entscheidenden Schlag plant.“ „Was ist mit Hunnedon?“ wollte Peraciodes wissen. „Der Gebäudekomplex, in dem er seine Station eingerichtet hat, fiel einer Explosion zum Opfer“, sagte der Agent. Peraciodes nahm diese Nachricht recht gefaßt auf. „Warten wir das Ende des Prozesses ab, dann können wir uns Gedanken über eine Neuformierung unseres Geheimdiensts auf Lavan IV machen“, sagte er nur, 35
„Das Ableben eines Ihrer Agenten scheint Sie absolut nicht zu beeindrucken“, warf Fenton ein. Peraciodes zuckte die Schultern. „Es besteht Grund zu der Annahme, daß Hunnedon doppeltes Spiel getrieben hat. Wenn das stimmt, dann besitzen unsere Gegner alle Informationen über Sie, Mr. Fenton. Das verringert unsere Chance beträchtlich, Ihr Leben bis zum Zeitpunkt der Verhandlung zu schützen.“ Fenton schwieg. Bis zum Eintreffen beim Gebäude des Galaktischen Gerichtshofs wurde kein Wort mehr gewechselt. Erst als der Panzerwagen hielt, ermahnte Peraciodes Fenton im Befehlston sich dem Staatsanwalt gegenüber diszipliniert zu verhalten. „Aber natürlich, der Schnellsiedekurs in Interlingua hat aus mir einen Experten der Imperiumssprache gemacht“, sagte Fenton giftig. „Aber eines müssen Sie mir noch schnell sagen, damit mir keine peinliche Verwechslung passiert. Heißt nun Grinus ,edler Herr' oder Vagabund?“ „Grinus heißt Tagdieb. Sie müssen den Staatsanwalt natürlich mit Grenus anreden!“ Es befanden sich etwa zwanzig Personen in dem Raum, als Fenton in Peraciodes' Begleitung eintrat. Drei von ihnen waren allem Anschein nach höhergestellte Persönlichkeiten, denn sie zeichneten sich durch ihre schwarzen Talare und ihre an terranische Sturzhelme erinnernden Kopfbedeckungen als etwas Besonderes aus. Außerdem saßen sie als einzige hinter einem etwas erhöhten Pult. Wie Fenton gleich darauf erfuhr, handelte es sich bei dem in der Mitte Sitzenden um den Staatsanwalt Gregentil, die anderen beiden waren Protokollführer. Über die Funktionen der übrigen Anwesenden wurde Fenton nicht aufgeklärt. Nachdem Fenton sich einer Reihe prüfender Blicke unterziehen mußte, lenkte Staatsanwalt Gregentil die Aufmerksamkeit auf sich, indem er die Leute auf die Zuschauersitze verwies und die Vorverhandlung für eröffnet erklärte. Fenton hatte ein seltsames Gefühl in der Magengegend, als er gleich zu Anfang zur Aussage vor den Staatsanwalt gebeten wurde. Peraciodes klopfte ihm noch zuvor aufmunternd auf die Schulter. Staatsanwalt Gregentil begann die Befragung mit unbewegter Stimme. Es herrschte ein gespanntes Schweigen im Raum, und Fenton hatte das Gefühl, als warteten die Zuhörer begierig auf seine Worte. Er wußte, wie begehrt im Imperium Informationen über die sagenhafte Welt Erde waren. Staatsanwalt Gregentil fragte: „Sie heißen mit vollem Namen Gilbert Alfred Fenton, wobei die beiden ersten Namen Ihre sogenannten Taufnamen sind. Sie 36
wurden am achten Tage des Monats Januar im Jahre eintausendneunhundert-dreiunddreißig terranischer Zeitrechnung auf Terra geboren. Stimmen diese Angaben?“ „Jawohl, Grenus, diese Angaben stimmen.“ „Sie sind demnach ein Bürger Terras oder besser gesagt, Bürger eines terranischen Staates.“ „Das stimmt nur zum Teil, Grenus“, sagte Fenton. „Dann bitte ich Sie, mich zu berichtigen. Protokollführer, halten Sie die folgenden Änderungen fest.“ Fenton räusperte sich, bevor er erklärte: „Ich bin zwar immer noch ein Bürger des terranischen Staates Großbritannien, doch nur was den planetarischen Bereich betrifft. Durch meinen Beitritt zur Evolutionspolizei gehöre ich gleichzeitig dem Sternenimperium ah.“ Der Staatsanwalt stellte noch eine Reihe weiterer Fragen, die Fentons Vorleben betrafen. Doch schienen sie nur dazu zu dienen, die persönliche Neugierde Gregentils und der übrigen Anwesenden zu stillen. Schließlich traf der Staatsanwalt die Feststellung: „Sie, Gilbert Alfred Fenton, haben das Recht, vor einem ordentlichen Galaktischen Gericht auszusagen.“ Danach verkündete er, daß die eigentliche Vorverhandlung beginnen könne. Er setzte gerade zur ersten Frage an, als die Bildsprechanlage an der Eingangstür zu summen begann. Vier Wachtposten entsicherten ihre Waffen und gingen in Kampfstellung. Ihr Anführer warf Staatsanwalt Gregentil einen fragenden Blick zu und stellte die Verbindung zu dem ungebetenen Anrufer erst her, nachdem er ein zustimmendes Nicken erhalten hatte. Auf dem Bildschirm erschien ein Mann in Uniform des Ordnungs-diensts. Er wirkte erregt und sprach mit kaum verständlicher, sich überschlagender Stimme. „Die Energieanlage wurde angezapft. Wir sind den getarnten Leitungen nachgegangen , und haben festgestellt, daß sie gerade in diesen Raum führen“, sprudelte es über seine Lippen. „Schnell, öffnet!“ „Warum kommt diese Meldung erst im letzten Augenblick!“ fauchte der Wachhabende im Gerichtssaal und blickte gleichzeitig fragend zum Staatsanwalt. Gregentil machte ein verkniffenes Gesicht. „Das sind Störversuche, die ich mir nicht bieten lasse!“ rief er. „Ich werde ein Disziplinarverfahren einberufen, die diese Zustände überprüfen soll. Und wehe denen, die ich als Saboteure entlarve. Ich werde sie alle zur Rechenschaft ziehen.“ Fenton blickte irritiert zu Peraciodes und sah, daß der Evolutionspolizist eine Waffe in der Hand hielt und sich im Gerichtssaal umsah. Und Fenton wußte, daß diese Situation ernster war, als 37
der Staatsanwalt vermutete. „Soll ich den Ordnungsdienst einlassen, Grenus?“ erkundigte sich der Wachhabende beim Staatsanwalt. „Wir müssen schnell «handeln!“ kam die drängende Stimme aus dem Lautsprecher. „Wir müssen herausfinden, wohin die Energieleitung führte. Schnell, vielleicht können wir die Gefahr noch bannen!“ „Nicht öffnen!“ rief Peraciodes in diesem Augenblick. „Das ist eine plumpe Falle.“ Er war mit einigen langen Schritten beim Bildsprechgerät und forderte den Mann des Ordnungsdiensts auf: „Legitimieren Sie sich, dann wird automatisch die Sperre gelöst.“ Der Mann vom Ordnungsdienst machte ein verzweifeltes Gesicht. „Die Zeit drängt, und Sie verlangen ...“ „Unterbrechen Sie die Energiezufuhr!“ verlangte Peraciodes. Das verblüffte den Mann, der vor der Tür stand und Einlaß begehrte. Auf dem Bildschirm war deutlich zu sehen, wie es in seinen Augen erschrocken blitzte, gleich darauf aber verzog sich sein Gesicht zu einem hämischen Grinsen. „Macht auf“, forderte er. „Wenn ihr es nicht freiwillig tut, dann kommen wir auch so durch.“ Peraciodes schaltete ohne zu zögern das Bildsprechgerät ab. „Wie lautet die Nummer des Postenkommandos?“ wandte er sich an den Wachtposten. „Wir müssen Verstärkung herbeirufen.“ Aber dazu kam es nicht mehr. Plötzlich schrien einige im Gerichtssaal auf. Als Peraciodes herumwirbelte, um nach dem Grund der Aufregung zu sehen, erkannte er, daß er einen grundlegenden Fehler begangen hatte. In dem Glauben, die Gefahr drohe vom Eingang her, hatte er sich auf die vermeintlichen Angreifer konzentriert. Doch war dies nur ein Ablenkungsmanöver gewesen. Der Angriff kam aus der entgegengesetzten Richtung, vom Fenster, dem Peraciodes im entscheidenden Moment den Rücken zugekehrt hatte. Zu keiner Bewegung fähig, blickte er in die Waffenmündungen, die zwei in Farnumhänge vermummte Gestalten auf ihn richteten.Ein dritter Maskierter bedrohte Fenton und drängte ihn rückwärts zu den Gardinen, welche eine ganze Fensterwand bedeckten. „Damit kommen Sie nicht durch“, erboste sich der Staatsanwalt. „Sie werden dieses Gebäude nicht lebend verlassen.“ Die Vermummten kicherten. Der erste von ihnen, der Gilbert Fenton in Schach hielt, hatte die Gardinenwand bereits erreicht. Er gab Fenton plötzlich einen Stoß vor die Brust, so daß dieser stolperte, gegen die Gardinen fiel und zwischen den haarfeinen Fäden verschwand. Das bestätigte Peraciodes' Befürchtung. Hinter dem Vorhang war ein Transmitter 38
angebracht worden. Wie sonst auch hätten die Vermummten so lautlos und unerwartet den Gerichtssaal betreten können! Es war naiv, anzunehmen, Fentons Entführer noch innerhalb des Gerichtsgebäudes zu fassen. Ihnen genügte ein einziger Schritt, um sich viele Kilometer zu entfernen ... Peraciodes hatte diese Überlegungen kaum zu Ende gedacht, da verschwanden auch die anderen beiden Vermummten durch die Gardinenwand. Ohne lange zu überlegen, rannte der Evolutionspolizist auf die Stelle zu, an er die hauchfeinen Fäden noch im Luftzug schwankten. Er wußte, daß die Entführer den Transmitter kurzschließen würden, doch errechnete er sich noch eine Chance, um passieren zu können. „Tun Sie das nicht!“ warnte einer der Wachtposten. Doch kam die Warnung bereits zu spät. Selbst wenn Peracoides seinen Entschluß noch im letzten Augenblick hätte ändern wollen, wäre ihm das nicht mehr möglich gewesen. Er stieß gegen den Vorhang und blieb darin kleben. Die Millionen von Fäden erwachten zu selbständigem Leben und schlangen sich um seinen Körper. Er wäre verloren gewesen, wenn der Wachhabende den Vorhang nicht rechtzeitig als Gardinenliane identifiziert und mit einigen gezielten Schüssen die Fäden vom querlaufenden Stamm der Pflanze getrennt hätte. Peraciodes, halb besinnungslos und immer noch von den sterbenden Fäden umschlungen, war kaum zu Boden gefallen, als der Transmitter mit einer grellen Blitzladung explodierte. Staatsanwalt Gregentil starrte benommen auf die verkohlte Wand mit den zerrissenen Drähten und geschmolzenen Metallteilen, durch die vor wenigen Minuten sein wichtigster Zeuge entführt worden war. 7. Gilbert Fenton war viel zu überrascht, um an Gegenwehr zu denken, als ihn der Vermummte zu der Gardinenwand drängte und durch einen harten Schlag zu Fall brachte. Fenton fing den Sturz mit den Händen ab und kam gleich darauf wieder auf die Beine. Seine Hand griff sofort zur Waffe. Aber mitten in der Bewegung stockte er. Seine Umgebung hatte sich verändert! Er befand sich nicht mehr in dem Gerichtssaal, sondern in einer großen Halle mit einem Kuppeldach. Mehr als zwei Dutzend Soldaten in grünen Uniformen umstanden ihn; einige richteten ihre Waffen auf ihn. Der Mann, der ihn hierhergebracht hatte, befreite sich von seinem 39
Farnumhang und nahm Haltung vor einem Soldaten an, der allem Anschein nach der Befehlshaber war. „Befehl ausgeführt, Major“, meldete er. Major Gerlow nickte anerkennend und befahl: „Nehmt ihm die Waffe ab, und bringt ihn in den Verhör-raum.“ Dann wandte er sich abrupt ab und schritt in kerzengerader Haltung davon. Fenton gewahrte hinter sich eine Bewegung und sah, daß die anderen beiden Vermummten durch ein flimmerndes Feld gesprungen kamen. Einer von ihnen stolperte und blieb flach ausgestreckt auf dem Boden liegen. Der andere setzte sich ihm auf den Rücken, und dann lachten beide schallend. „Die haben Gesichter gemacht!“ riefen sie zwischendurch. Fenton spürte einen Druck an seiner hüfte und bemerkte, wie ihm einer der Soldaten die Waffe abnahm. „Die brauchst du nicht mehr“, sagte er. Ein zweiter Soldat packte Fenton hart bei den Schultern und drehte ihn mit dem Gesicht zu sich herum. Dann ergriff er ein kleines, tragbares Gerät, das wie ein Geigerzähler aussah, und tastete damit Fentons Körper ab. „Es geschieht dir nichts“, meinte der Soldat spöttisch. „Wir durchsuchen dich nur nach anderen Waffen.“ „Aber Vorsicht, ich bin kitzlig“, sagte Fenton, der sich inzwischen gefaßt hatte. Die beiden Vermummten, die sich auf dem Boden gewälzt hatten, erhoben sich nun und wurden von einer Schar Soldaten umringt, die über die Geschehnisse im Gerichtssaal informiert werden sollten. „Er hat keine weitere Waffe“, sagte der Soldat, der Fenton durchleuchtet hatte, und stellte sein Gerät weg. Dann betrachtete er Fenton mit unverhohlener Neugierde und fragte: „Bist du tatsächlich ein Terraner?“ „Das scheint sich schnell herumgesprochen zu haben“, erwiderte Fenton. . „Was hast du eigentlich ausgefressen?“ erkundigte sich der Soldat. „Ich weiß zuviel über ein Evolutionsverbrechen eures Königs“, antwortete Fenton. Die beiden Soldaten wechselten einen raschen Blick miteinander, schwiegen aber. Fenton fuhr fort: „Vielleicht wißt ihr, daß vor mehr als zweieinhalb Jahrzehnten...“ „Halte den Mund“, fuhr der eine Soldat ihn an. „Das kannst du Major Gerlow berichten, wenn du das Bedürfnis hast. Wir bringen dich jetzt zu ihm.“ Die beiden Soldaten nahmen ihn in die Mitte und führten ihn quer durch die Halle zu einer Tür in der gerundeten Wand. Sie öffneten und stießen Fenton in den dahinterliegenden Raum. Hinter ihm schlossen sie ab. Der Raum war ungefähr vier mal fünf Meter groß und hatte vollkommen kahle Metallwände. Nur in der Mitte stand eine weiße Liege, die so kalt und unfreundlich wirkte wie ein Operationstisch. Rund um das 40
erhöhte Kopfende standen eine Reihe von Instrumentenpulten und andere Vorrichtungen, die wie Marterinstrumente des Mittelalters aussahen; von der Decke hingen einige Scheinwerfer. Fenton fröstelte. Er zuckte zusammen, als er hinter sich ein Geräusch vernahm. Als er sich umdrehte, sah er, wie der Befehlshaber durch die Tür trat. „Ich bin Major Gerlow“, stellte sich der breitschultrige, brutal wirkende Mann in Uniform vor. Er deutete auf die Liege. „Machen Sie es sich bequem.“ „Wie macht man das?“ fragte Fenton unbehaglich, während er die kalte Kunststofffläche vorsichtig betastete. „Machen Sie schon“, forderte Major Gerlow ungeduldig. „Oder soll ich meinen Worten Nachdruck verleihen?“ Fenton begegnete den kalten Augen des Majors und kam zu der Überzeugung, daß es wohl besser war, dem Befehl zu gehorchen. Er legte sich auf die Liege, wobei er den Kopf so drehte, daß er den Major nicht aus den Augen verlor. Der Befehlshaber der Dschungelstation lachte humorlos auf. „Ihrem Verhalten nach zu schließen, scheinen Sie irgendeine Teufelei von mir zu erwarten“, sagte er, während er zu der Liege kam und sich hinter dem Instrumentenpult aufstellte. „Und ehrlich gestanden, ich würde Ihre Erwartungen gern erfüllen. Aber leider gab mir Prinz Enzin den ausdrücklichen Befehl, Ihnen kein einziges Härchen zu krümmen. Aber das verbietet mir nicht, mich mit Ihnen ein wenig zu unterhalten.“ Die letzten Worte waren kaum ausgesprochen, da schössen Stahlklammern aus den Schlitzen in der Liege und schlossen sich um Fentons Arme, Beine, Stirn und Körper. Er war vollkommen bewegungsunfähig. „Ich möchte Ihnen einiges aus meinem Leben erzählen, Terraner“, ließ sich Major Gerlow wieder vernehmen. „Vielleicht kann ich Sie dadurch ein wenig aus Ihrem süßen Schlaf rütteln, in den Sie Ihr bequemes Leben gewiegt hat. Oder wollen Sie behaupten, daß Sie in der Wirklichkeit stehen? Nein, Terraner, die Erde und die anderen Paradiese sind nicht die Wirklichkeit. Sie müßten auf Lavan IV geboren und aufgewachsen sein, um zu wissen, was Realität ist. Wir stehen mitten darin, wir müssen um jeden Atemzug kämpfen, für jede Stunde unseres Lebens Opfer bringen.“ Major Gerlow schwieg um Atem zu holen, und fuhr dann fort: „Vor einigen hundert Planetenumläufen siedelten sich unsere Ahnen auf Lavan IV an. Sie mußten jedes Stück Boden dem Dschungel in hartem Kampf abringen. Viele von ihnen starben, bevor sich ihr Traum von einer sicheren Existenz verwirklichte. Aber einige von ihnen schafften es. Sie bauten Städte und 41
schirmten sie vor dem wilden Dschungel ab, sie setzten den Grundstein für jene Zivilisation, wie sie noch vor sechsundzwanzig Jahren existierte. Diese Pioniere waren harte Männer, die das Unwahrscheinliche vollbrachten, auf der feindlichsten Welt des Universums eine menschliche Zivilisation aufzubauen. Allerdings war diese Zivilisation nur von kurzem Bestand. Heute wissen wir, daß wir dem Dschungel auf die Dauer nicht trotzen können. Die Pflanzen und Tiere dieser Welt sind zu grausam und intelligent für uns. Wir Menschen sind ihnen nicht gewachsen. Von den hundert Städten, von den unzähligen Zeugnissen unserer Kultur, steht nur noch Lavantin. Aber auch diese Stadt wird früher oder später dem Dschungel weichen. Es ist also unsinnig, an der Tradition festhalten zu wollen und um jeden Preis die menschliche Zivilisation auf dieser Welt zu verteidigen. Lavan IV ist für uns verloren.“ Major Gerlow machte eine Pause und blickte prüfend auf Fenton hinunter. Schließlich sagte er voller Abscheu: „Und dann kommen Fremde wie Sie und versuchen mit aller Gewalt die Entwicklung aufzuhalten, die nicht aufzuhalten ist. Warum sind Sie nicht auf Ihrer grünen Welt geblieben und haben weiter Ihren süßen Traum geträumt? Warum mußten Sie herkommen und sich in die internen Angelegenheiten von Lavan IV einmischen? Konnten Sie nicht den Existenskampf den Einheimischen und der Flora und Fauna überlassen?» Fenton, der nicht verstand, was der Major eigentlich bezweckte, sagte: „Ich bin nicht gekommen, um mich in interne Angelegenheiten einzumischen, sondern weil auf Lavan IV ein Evolutionsverbrechen geschah, das nach Sühne verlangt.“ Major Gerlow stieß die Luft heftig aus. „Sie kamen also mit dem starken Wunsch, zu helfen, ja? Ich möchte Ihnen die gute Absicht nicht einmal abstreiten. Aber haben Sie sich schon überlegt, wie Sie helfen können?“ „Durch meine Aussage vor Gericht wird der Schuldige an dem Evolutionsverbrechen bestraft werden“, sagte Fenton. „Und wie ist damit den Bewohnern von Lavan IV geholfen?“ wollte Major Gerlow wissen. „Ich weiß es nicht“, gestand Fenton. „Aber das ist Sache der Evolutionspolizei.“ Major Gerlow nickte heftig. „Natürlich, Sie begnügen sich damit, Ihrer Pflicht vor dem Gesetz nachzukommen, aber die Folgen interressieren Sie nicht. Es ist nur gut, daß Sie nie vor Gericht erscheinen werden.“ Fenton, der unter den Stahlfesseln litt und den diese sinnlose Auseinandersetzung zermürbte, seufzte erschöpft. „Warum quälen Sie mich eigentlich mit ihren 42
Vorwürfen? Sie haben auch nur nach den Befehlen Ihres Königs gehandelt, als Sie mich entführten. Sind Sie sich der Folgen Ihrer Handlung eigentlich bewußt?“ „Es ist wirklich zwecklos, Ihnen die echten Probleme erklären zu wollen. Sie müßten ein Lavaner sein, die Tiere und Pflanzen und Menschen der Wildnis kennen, um zu verstehen, woran es auf Lavan IV tatsächlich krankt. Es wird doch das beste sein, wenn Prinz Enzin Sie beseitigt. Ich werde darauf dringen, daß er es bald möglichst tut.“ Fenton wollte etwas sagen, aber eine Lautsprecherstimme, die von irgendwo aus dem Raum kam, verhinderte es. „Soeben ist Prinz Enzin eingetroffen!“ „Befreien Sie den Mann augenblicklich, Major Gerlow.“ Kaum vernahm Fenton die befehlsgewohnte, aber nicht unangenehme Stimme, da versanken die Stahlklammern wieder in der Liege. Er konnte freier atmen und sich bewegen! Erleichtert richtete er sich auf und rieb sich die Handgelenke und Fußknöchel. Dann erst-blickte er zu dem Mann, der in der Tür zum Verhörraum stand. Obwohl er älter als Fenton sein mußte, wirkte er jugendlich und sah außerordentlich gut aus. Der Terraner wußte, daß es sich um keinen Geringeren als Prinz Enzin handelte. Fenton und der Prinz maßen sich einige Sekunden lang mit Blicken, dann lächelte der Prinz plötzlich zuvorkommend und sagte: „Ich heiße Sie in diesem bescheidenen Unterschlupf willkommen, Mister Fenton und bedauere es außerordentlich, daß ich Ihnen keinen besseren Empfang bereiten konnte. Ich möchte mich für das Verhalten von Major Gerlow entschuldigen. Wie kann ich das nur gutmachen?“ „Indem sie nicht auf Major Gerlow hören“, sagte Fenton. „Wie, bitte?“ Dem Major einen Seitenblick zuwerfend, erklärte Fenton: „Major Gerlow hat mir versprochen, alles zu unternehmen, um mir einen raschen Tod zu bescheren.“ „Tatsächlich?“'sagte Prinz Enzin mit gefährlich leiser Stimme. „Nun, in dieser Beziehung werde ich nicht auf ihn hören, denn ich glaube, daß Sie mir lebend viel nützlicher sind. Doch kommen Sie besser nicht auf die Idee, meine Gutmütigkeit zu unterschätzen und mich um Ihre Freilassung zu bitten. Sie wissen wohl, warum Sie hier sind?“ „Das war nicht schwer zu erraten“, antwortete Fenton. „Sie sind ein gefährlicher Mann“, fuhr der Prinz fort. „Aber, wie ich schon erwähnte, können Sie mir vielleicht nützlich sein.“ „Glauben Sie, daß ich mich von Ihnen kaufen lasse, Prinz?“ fragte Fenton. „Nein, ganz und gar nicht, im Augenblick habe ich genug von Verrätern. Ich habe es vielmehr so gemeint, daß Sie 43
vielleicht gegen Ihren Willen für mich arbeiten könnten. Kommen Sie mit mir, Mister Fenton, dann werde ich Ihnen meinen Plan näher erklären.“ Fenton rutschte von der Liege und folgte Prinz Enzin in die Kuppelhalle. In deren Mitte stand jetzt ein Ding, das wie eine überwucherte Gartenlaube aussah. Fenton brauchte nur etwas Phantasie, um zu wissen, daß es sich um das Fluggefährt des Prinzen handelte. „Das ist meine Sänfte“, erklärte Prinz Enzin, während er mit Fenton näher schritt. „Trotz des eigenwilligen Äußeren handelt es sich im Grunde genommen um einen Schweber.“ „Dennoch - recht faszinierend“, bekannte Fenton ehrlich. Die Pflanzen befanden sich in ständiger Bewegung, Blüten öffneten sich und schnappten nach Insekten, die von den Blättern und Schlingarmen herangefächelt wurden. „Die Pflanzen sind mein Hobby“, erklärte Prinz Enzin. Als er vor einer der dichten Blumenwände angekommen war, stieß er ein Zischen aus; die Blüten wichen wie auf Kommando zur Seite und gaben einen Eingang frei. Prinz Enzin überließ Fenton mit einer Armbewegung den Vortritt. Als er das Innere betrat, entdeckte er zu seinem Staunen, daß auch hier die Pflanzen dominierten. „Ich habe die Sänfte einmal meinem Vater als Geburtstagsgeschenk gebaut“, erzählte Prinz Enzin. „Doch da er sich jetzt aus dem öffentlichen Leben zurückgezogen hat und sie nicht mehr braucht, habe ich sie an mich genommen. Natürlich habe ich einige Veränderungen vorgenommen, aber das nur nebenbei Wie gefällt Ihnen die Sänfte, Mister Fenton?“ „Ich finde keine Worte, um meine Eindrücke wiederzugeben“, sagte Fenton fasziniert. „Es ist wie in einem Traum, in dem Blüten und Blumen zu selbständigem Leben erwacht sind, Licht spenden, Duft versprühen und die Menschen erfreuen und ihnen dienen wollen. Es scheint mir, als sei dieses Gefährt die Versinnbildlichung der Möglichkeiten, die der Mensch auf Lavan IV geboten bekommt. Wenn die Menschen auf dieser Welt ihre Möglichkeiten nur nützten - sie müßten ein beneidenswertes Leben führen.“ Prinz Enzin lachte „Sie sind ein Träumer, Mr. Fenton. Was Sie hier sehen, ist tatsächlich die Verwirklichung eines Traumes. Aber die Veredelung der Pflanzen läßt sich nur in kleinstem Maßstab durchführen, keineswegs aber auf den ganzen Pflanzen übertragen.“ „Ich kenne die Verhältnisse auf Lavan IV noch zu wenig, um mir ein Urteil erlauben zu können“, sagte Fenton. „Aber ich finde es doch bedauerlich, daß nur wenige über Flora und Fauna herrschen, während Millionen deren Schrecken zu spüren bekommen.“ Prinz Enzins Stimme 44
wurde eisig. „Damit wollen Sie wohl auf die Ereignisse vor sechsundzwanzig Jahren anspielen? Ich will vor Ihnen gar nicht leugnen, daß damals ein Evolutionsverbrechen begangen wurde. Zwar hatte ich nichts damit zu tun, denn ich war damals noch zu jung. Aber dennoch bin ich dagegen, diese Geschichte wieder aufzurollen.“ „Was haben Sie denn zu befürchten?“ wollte Fenton wissen. „Man könnte nur Ihren Vater zur Rechenschaft ziehen. Das würden Sie doch bestimmt begrüßen. Oder irre ich in der Annahme, daß Sie für einen Machtwechsel sind?“ „Sie malen meinen Charakter ziemlich schwarz“, sagte Prinz Enzin schmunzelnd. „Nur kann ich Ihnen nicht grollen, denn Sie haben recht. Aber zu Ihrer Information will ich Ihnen sagen, daß ich etwas gegen einen Machtwechsel habe, wie er durch die Intervention der Evolutionspolizei vor sich ginge. Wenn das Evolutionsverbrechen bewiesen wird, geht man als nächstes daran, den Zustand vor der Veränderung auf Lavan IV wiederherzustellen. Ich aber will erreichen, daß die Unschuld meines Vaters bewiesen wird. Denn dadurch erhalte ich die Möglichkeit, diese Welt nach meinen Wünschen zu verändern. Ich werde dann nicht den Fehler meines Vaters begehen und mich durch wissenschaftliche Methoden strafbar machen, sondern werde jenes Mittel anwenden, das einem Herrscher zur Aufrechterhaltung der Ordnung zugebilligt wird: Gewalt. Damit werde ich die Barbaren in die Knie zwingen und den Dschungel in eine friedliche Parklandschaft verwandeln.“ Fenton hatte den Worten mit zunehmendem Unbehagen gelauscht. Jetzt sagte er: „Sie meinen jedes Wort so, wie Sie es sagen.“ „Stimmt“, bestätigte Prinz Enzin. „Und ich werde mich auch Ihrer gegen Ihren Willen bedienen, so wie ich es gesagt habe.“ „Wie wollen Sie das tun?“ fragte Fenton. „Sie wissen besser als ich, daß eine Beeinflussung durch Drogen oder Hypnose dem Gericht nicht verborgen bliebe.“ „Ich sagte Ihnen bereits, daß Pflanzen mein Hobby sind“, erinnerte Prinz Enzin. „Ich habe ein Präparat hergestellt, das keine Spuren im menschlichen Körper hinterläßt und doch hundertprozentig wirksam ist. Ich werde Sie damit so beeinflussen, daß Sie vor Gericht die Unschuld des Königs unanfechtbar beweisen.“ Fenton wich einen Schritt zurück. „Eher werde ich den Tod wählen ...“ Plötzlich spürte er einen schmerzhaften Stich im Rücken. Er wirbelte herum und faßte gleichzeitig nach dem Ding, das ihn gestochen hatte. Dabei bekam er eine fingerdicke Liane zu fassen, die mit Dornen bespickt war. Er sah noch, wie eine 45
milchige Flüssigkeit aus den Dornen quoll, und er dachte, daß das Gift auch in seine Rückenwunde und in die Wunden an seiner Handfläche gedrungen sein mußte. Dann hatte sich die Lähmung über das gesamte Nervensystem ausgebreitet. Fenton spürte nicht mehr, wie sein Körper auf dem moosbespannten Boden der Sänfte aufschlug. 8. Er war noch etwas benommen. Aber er hörte die lauten Befehle und die eiligen Schritte, die von Soldatenstiefeln herrührten. Dazwischen erklangen die Detonationen von Energieentladungen.. Er ging zum Ausgang der Sänfte, wischte mit einer fahrigen Handbewegung die Pflanzen beiseite und trat in die Kuppelhalle hinaus. Was er sah, bestätigte seine Vermutungen. Hier wurde gekämpft. Aber die Angreifer waren weder die Evolutionspolizisten noch die Barbaren der Wildnis, sondern - Pflanzen! An einigen Stellen war das Kuppeldach durchbrochen worden, und helles Tageslicht drang herein. Die Luft war stickig, und überall breitete sich das Pflanzengrün aus. Er erblickte drei meterdicke Schlingarme, die durch das größte Loch in der Kuppel hereinragten. Einer der Schlingarme wurde durch einen gezielten Strahlenschuß direkt an seinem Ursprung abgetrennt. Doch das abgetrennte Stück starb nicht gleich ab, sondern wirbelte in wilden Schlangenbewegungen durch die Kuppel. Aus der Schnittfläche wuchsen so schnell, daß man es mit dem Auge verfolgen konnte, lauter kleine Triebe, an deren Enden sich Knospen bildeten, die zu schmatzenden Blüten wurden. Der Kampf wurde immer wilder und einseitiger. Die Soldaten schössen blindwütig nach den Blütenmäulern mit den messerscharfen Zähnen. Doch schneller, als sie sie vernichten konnten, wuchsen die Blüten nach. „Zieht euch durch den Transmitter zurück!“ bellte eine Stimme. Fenton erkannte in dem Sprecher Major Gerlow, der an der Tür zum Verhörraum lehnte. Die blutige Linke hing leblos von seiner Seite, während er mit der Rechten eine Strahlenwaffe hielt und fast pausenlos gegen die Öffnung im Kuppeldach feuerte. „Zurück zum Transmitter!“ Die ersten beiden Soldaten verschwanden bereits durch das flimmernde Feld. Ein dritter Soldat stolperte über eine abgetrennte Schlingpflanze, und bevor er sich wieder aufraffen konnte, entfaltete sich ein mannsgroßes Blatt, das im Zickzackkurs durch die Luft gesegelt war, 46
und wickelte sich um das Opfer. „Zum Transmitter!“ schrie Major Gerlow und setzte sich, mit dem Rücken zur Wand, ebenfalls in Bewegung. Wo war Prinz Enzin? fragte sich Fenton. Er ließ seinen Blick über das Chaos in der Kuppelhalle gleiten, doch konnte er ihn nirgends erblicken. Der Himmel über der Kuppel verdüsterte sich. Fenton blickte unwillkürlich hinaus und sah, wie sich ein gelblicher Nebelschleier heruntersenkte. „Blutenstaub!“ schrie jemand in höchster Panik. Das genügte, um die restlichen noch tapfer ausharrenden Soldaten konfus werden zu lassen. Sie verließen fluchtartig ihre Verstecke und drängten in Richtung Transmitter. Fenton nahm die Geschehnisse staunend, aber wie ein unbeteiligter Zuschauer auf. Er vermerkte nur unbewußt, daß die Pflanzen sich noch nicht gegen ihn gerichtet hatten. Entweder war er noch nicht bemerkt worden, oder aber die veredelten Pflanzen der Sänfte boten ihm Schutz. „Was machen Sie denn noch da? Verschwinden Sie schleunigst durch den Transmitter!“ Fenton brauchte eine ganze Weile, bis er erkannte, daß diese Aufforderung von Major Gerlow kam und ihm galt. „Ich suche Prinz Enzin“, sagte Fenton irritiert. Was wollte er eigentlich von dem Prinzen? Rache? Nein, er wollte ihn retten. „Der liegt wahrscheinlich irgendwo unter den Trümmern. Tot!“ rief Major Gerlow. „Alle werden sie sterben ...“ Fenton verließ den Schutz der Sänfte und stolperte über die herumliegenden Pflanzenstümpfe und Bruchstücke des Kuppeldaches. „Verschwinden Sie! Der Blutenstaub wird sich gleich gesenkt haben!“ Blutenstaub? Warum sollte er sich davor fürchten? Er roch bereits den berauschenden Duft, der von den niederschwebenden gelben Flocken ausging. Fenton blickte wie in Trance zu Boden. Da ragte ein Arm, der in ein schillerndes Tuch gewickelt war, aus den Trümmern hervor. Als er mit all seiner Kraft das Trümmerstück weggehoben hatte, sah Fenton Prinz Enzin vor sich liegen. Seine Augen waren geschlossen, Blut rann aus einer Stirn wunde. Aber er schien noch zu atmen. Fenton wollte sich gerade über den Verletzten beugen, als eine Liane aus einem Versteck hervorschoß. Die Zähne ihrer Blüte rieben säuselnd gegeneinander, dann öffnete sich der Blütenrachen. Fenton bewunderte noch die Schönheit der Blüte und erschrak gleichzeitig vor ihrer Gefährlichkeit. Doch im nächsten Augenblick war sie weder schön noch gefährlich, sondern ein verkohltes, stinkendes Etwas, durch einen präzisen Schuß vernichtet. Major Gerlow kam mit verbissenem Gesicht heran. „Warum haben Sie die Pflanze getötet 47
und nicht mich?“ wollte Fenton wissen. Ohne eine Antwort abzuwarten, verlangte er: „Helfen Sie mir, Prinz Enzin fortzutragen.“ Major Gerlow sah ihn prüfend an. „Eine Gegenfrage“, sagte er. „Warum wollen Sie Prinz Enzin retten, statt ihn hier liegenzulassen?“ Eine interessante Frage, dachte Fenton. Aber er wollte die Antwort darauf nicht bei sich suchen - er fürchtete die Antwort. Er zuckte nur die Schultern, bückte sich und hob die Beine des bewußtlosen Prinzen an. Major Gerlow umfaßte mit seiner heilen Hand den Oberkörper des Verletzten, stemmte ihn mit Hilfe des Knies empor. Auf diese Weise transportierten sie Prinz Enzin gemeinsam in Richtung des Transmitters. Auf halbem Weg stöhnte Major Gerlow: „Wir schaffen es nicht.“ „Dann suchen wir das Innere der Sänfte auf“, schlug Fenton vor. „Dort dürften wir einstweilen sicher sein.“ Sie erreichten die Sänfte mit letzter Kraft und ließen sich durch die Pflanzenwand fallen. Fenton lag mit geschlossenen Augen auf dem Boden und atmete schwer. Vor seinen Augen erschienen Farben, ein wild durcheinanderwirbelnder Reigen, das ganze Spektrum ... Umrisse kristallisierten sich heraus, nahmen Form und Gestalt an. „Ich sehe“, murmelte Fenton erschöpft, „eine wunderschöne Blume, die Frieden und Geborgenheit verheißt ...“ „Hören Sie auf zu phantasieren!“ herrschte ihn Major Gerlow an. „Ich phantasiere nicht“, versicherte Fenton. „Ich befinde mich tatsächlich vor der Blume, und ich werde mich erheben und hingehen, um dort Schutz vor allen Gefahren zu suchen.“ Er wollte sich erheben, aber ein schweres Gewicht lag plötzlich auf seinem Rücken und drückte ihn zu Boden. Er biß die Zähne zusammen und setzte alle Kraft ein, um das Gewicht abzuwerfen. „Natürlich phantasieren Sie“, sagte Major Gerlow. „Das ist die Wirkung des Blütenstaubs! Er berauscht und vermittelt die Illusion, daß die Blüten Schutz bieten. Dadurch sollen Opfer angelockt werden.“ „Ich glaube es nicht.“ Von draußen drang ein furchterregendes Getöse zu ihnen herein. „Jetzt beginnen die Pflanzen ihr Vernichtungswerk“, erklärte Major Gerlow. „Fühlen Sie sich immer noch berauscht?“ „Nein“, gestand Fenton. „Mir wird furchtbar übel.“ „Das ist in Ordnung“, sagte Major Gerlow und ließ Fenton frei. „Wenn die Wirkung des Blutenstaubs abklingt, tritt automatisch ein Unwohlsein auf. Ich werde Sie jetzt sich selbst überlassen und die Sänfte zu starten versuchen. Hoffentlich gelingt es mir.“ Fenton lag ruhig da und bemühte sich, nicht der Müdigkeit nachzugeben und einzuschlafen. Nach einer Weile fühlte er 48
sich emporgehoben. „Wir fliegen“, frohlockte Major Gerlow. Sein Triumph hielt nicht lange an. Nachdem die Sänfte nicht mehr als zehn Kilometer zurückgelegt hatte, trudelte sie ohne ersichtlichen Grund ab und stürzte in den dichten, giftgrünen Dschungelteppich. In der Pilotenkanzel wand sich Major Gerlow auf dem Boden. Eine der über dem Bedienungspult wachenden Pflanzen hatte ihn als Fremdkörper identifiziert und mit einem elektrischen Schlag zu Boden gestreckt. In hundert Meter Höhe bildeten die Kronen der Baumriesen mit ihrem verzweigten Geäst und dem üppigen Blattwerk ein dichtes, fast undurchdringliches Dach. Dieses „Dschungeldach“ verhinderte erstens das Eindringen der oft heftigen Winde und ließ kaum Sonnenlicht durch. Zweitens konnten Hitze und Luftfeuchtigkeit nicht entweichen, so daß sich eine schwere, gashaltige Atmosphäre bildete, die das Wachstum der tropischen Schmarotzerpflanzen begünstigte. Über den Baumriesen war das Reich der Vögel, die in dem dichten Geäst nisteten. In diese Region verirrte sich kaum einer der tierischen Räuber, denn diese scheuten das Licht ebenso wie die Fleischfresserpflanzen; darüber hinaus fanden sie in den Luftbewohnern erbitterte Kämpfer, die ihre Brut todesmutig verteidigten. Es war ein ungeschriebenes Gesetz, daß sich die tierischen und pflanzlichen Räuber nicht über eine Höhe von achtzig Meter hinaufwagten. Aber auch innerhalb dieser 80-Meter-Höhe gab es zwei Regionen. Die untere Region gehörte den Reptilien, den Sumpfbewohnern und jenen Wesen, die Pflanze und Tier zugleich waren. Natürlich waren auch die Fleischfresserpflanzen in ihren unzähligen Arten in der unteren Region zu finden, aber man konnte sie gleichermaßen in der oberen Region antreffen. Sie stellten die unumschränkten Herrscher des Dschungels dar, und so kam es wohl, daß sich die größeren Arten der Säugetiere nur in der höheren Region entwickelten. Sie, die geschmeidigen Raubkatzen, von denen einige eine Länge von mehr als zehn Metern erreichten, waren in dem Gebiet zu Hause, das etwa dreißig Meter über der eigentlichen Oberfläche lag. Sie lebten in den Höhlen der dicken Baumstämme oder gingen Symbiosen mit pflanzenfressenden Schmarotzerpflanzen ein, um sich auf diese Weise vor ihren Feinden zu schützen. Zu der letzteren Art gehörte der Gemuch, der wohl der intelligenteste und gefährlichste Vertreter der Säugetiere war und auch der größte. Der Gemuch wurde bis zu zwölf Meter lang und maß mit dem dichten Pelz der 49
auf ihm hausenden Schmarotzerpflanzen etwa fünfzehn Meter. Er war ein geschickter Kletterer, doch zeigte er seine Schnelligkeit nur dann, wenn der Hunger ihn trieb. Sonst war er eher faul und ließ die Beute zu sich kommen, anstatt ihr nachzujagen. Oft passierte es, daß er in Notzeiten die Schmarotzerpflanzen an seinem Körper ganz einfach auffraß und dann längere Zeit in einem Versteck wartete, bis neue Blüten auf ihm sprossen und ihm die nötige Tarnung verliehen. Die Faulheit des Gemuch war auf Lavan IV sprichwörtlich, aber in demselben Maße wurden seine Schläue, sein Mut, sein Draufgängertum und - seine Vorsicht gepriesen. Doch vergaß er alle Vorsicht, wenn er einer Beute gewahr wurde, die ein besonderer Leckerbissen zu sein versprach ... Der Gemuch, der auf einem dicken Horizontalast lag und sich von den Blättern des auf ihm wachsenden Lianenschlingers Luft zufächeln ließ, war noch ein ziemlich junges Exemplar. Aber er war gewissermaßen bereits ein Gourmet. Durch einige Raubzüge in die Baumwipfel hinauf war er auf den Geschmack von Vogeleiern gekommen. Doch war ihm bei seinem letzten Raubzug der Appetit durch eine Unzahl von Schnabelhieben ordentlich verdorben worden. Durch die Erfahrung bereichert, daß die süßesten Leckereien einen bitteren Nachgeschmack haben konnten, hatte er sich vorgenommen, für längere Zeit den Verlockungen nicht nachzugeben. Aber als dann eines Tages ein riesiges Nest aus den Baumkronen herunterfiel - direkt an seinen Nüstern vorbei -, da durchrieselte ein wohliger Schauer seinen mächtigen Körper. Wenn er es schon nicht wagen konnte, sich nach oben zu begeben, so glaubte er, daß es das Risiko wert wäre, sich an eine Beute heranzumachen, die von oben herunterfiel... Der Gemuch starrte in die Tiefe, wo das Nest unberührt lag. Der Umstand, daß sich keiner der Fleischfresser an das riesige Ding heranwagte, gemahnte ihn zur Vorsicht. Vorerst verhielt er sich regungslos und beobachtete nur. Aber dann gewahrte er eine Bewegung in dem Nest, seine Nüstern fingen einen berauschenden Geruch ein, und da machte er sich an den Abstieg. Er kletterte langsam an dem Stamm hinab, um nicht eine der Riesenlianen auf sich aufmerksam zu machen, wurde aber immer schneller, je näher er dem Nest kam. Noch drei Körperlängen, dann hatte er sein Ziel erreicht. Er schob sich unaufhaltsam näher. Als er nur noch eine Körperlänge von seiner Beute entfernt war, sicherte er noch einmal nach allen Seiten hin ab. Er entdeckte nirgends Anzeigen von Gefahr, setzte zum Sprung an und 50
schnellte sich mit ganzer Kraft von dem Baumstamm ab. Er erreichte sein Ziel nicht lebend. Denn aus dem „Nest“ ergoß sich ein blendender, heißer Lichtstrahl und traf den Gemuch voll. „Das wäre beinahe schiefgegangen“, sagte Prinz Enzin und zog sich vom Eingang der Sänfte zurück. Als er wieder bei den anderen beiden war, steckte er die Waffe zurück in die Halterung. „Jetzt haben Sie die Aufmerksamkeit aller Räuber in diesem Umkreis auf uns gelenkt, Prinz“, schalt Major Gerlow. „Wir müssen sehen, daß wir schleunigst von hier wegkommen.“ „Sie sind dumm, Major“, sagte Prinz Enzin nur. „Hätten Sie sich lieber von dem Gemuch auffressen lassen? Natürlich müssen wir jetzt die relativ sichere Sänfte verlassen. Aber da wir keine Möglichkeit besitzen, uns mit Lavantin in Verbindung zu setzen, hätten wir ohnedies nicht ewig hier ausharren können.“ Darauf wußte Major Gerlow nichts zu sagen. Fenton räusperte sich und fragte: „Haben wir überhaupt eine Chance, Lavantin lebend zu erreichen?“ Prinz Enzin, der nur leichte Abschürfungen erlitten hatte und bald aus der Bewußtlosigkeit erwacht war, lachte über Fentons Besorgnis. „In meiner Begleitung haben Sie die besten Chancen für eine Rückkehr, Mister Fenton“, versicherte er. „Ich kann mich mit den meisten Arten der Fleischfresserpflanzen verständigen und sie beeinflussen. Wir werden schon durchkommen.“ Major Gerlow erblaßte. „Wollen Sie damit sagen, daß wir uns durchs Unterholz schlagen sollen, Prinz? Ich muß Sie davor warnen, denn die Gefahren hier unten sind groß. Wir sollten uns auf jeden Fall in die obere Region begeben.“ „Ich stelle es Ihnen frei, Major, sich auf eigene Faust durchzuschlagen, wenn Sie meinen Fähigkeiten nicht vertrauen“, sagte Prinz Enzin. Major Gerlow leckte sich die Lippen und sagte mit rauher Stimme: „Abgesehen davon, daß wir zu dritt bessere Chancen haben, unterstelle ich mich selbstverständlich Ihren Anordnungen, Prinz.“ „Das ist sehr weise, Major.“ Prinz Enzin wandte sich an Fenton: „Besitzen Sie keine Waffe?“ Fenton schüttelte den Kopf. „Ihre Leute nahmen sie mir ab.“ „Dann halten Sie sich immer dicht hinter mir. Major Gerlow, Sie bilden den Abschluß und übernehmen die Rückendeckung. Aber machen Sie von der Waffe nur Gebrauch, wenn es unbedingt nötig ist.“ „Ich weiß, was ich zu tun habe, schließlich versehe ich bereits seit zwanzig Jahren Dienst in der Dschungellegion“, erwiderte Major Gerlow gereizt. „Um so besser.“ Prinz Enzin ging zum Ausgang, blickte kurz durch einen Spalt im 51
Pflanzenvorhang und verließ dann die Sänfte. Fenton folgte dichtauf. Er blickte sich besorgt in der dämmerigen Umgebung um, aber der Dschungel war still und friedlich. „Welch , berauschender Anblick ...“, begann Fenton. „Kein Wort mehr“, wurde er von Prinz Enzjn unterbrochen. „Unterlassen Sie das Sprechen und womöglich auch das Denken. Es ist nicht bewiesen, daß manche Pflanzenarten telepathisch-veranlagt sind, aber jedenfalls spüren sie es, ob Menschen in ihrer Nähe sind.“ Fenton schwieg betreten. Er nahm sich vor, sich voll und ganz an die Anordnungen Prinz Enzins zu halten. Er war bemüht, dem Prinzen uneingeschränkt zu gehorchen. In jeder Beziehung. Er wußte, der Prinz war unschuldig, ebenso konnte man König Anconte nicht für das Schicksal der Lavaner verantwortlich machen. Die verhängnisvolle Sonnenstrahlung vor sechsundzwanzig Jahren, durch welche die Lavaner degenerierten, war ein Naturereignis gewesen. Warum dachte er ausgerechnet in diesem Augenblick an die Unschuld des Königs? Er sollte doch an nichts denken! Er versuchte es, doch es war ihm unmöglich, seine Gedanken vollkommen auszuschalten. „Es tut mir leid, Prinz...“, entschuldigte sich Fenton. Er verstummte, als plötzlich eine schnabelähnliche Blüte aus der Dunkelheit auf ihn zuschoß. Der Schnabel der Blüte öffnete sich blitzartig. Fenton starrte gebannt in die Öffnung, in der es pulsierte und aus der ein süßlicher Duft strömte. Er war nur wenige Zentimeter von dem Rachen entfernt, konnte sich aber nicht aus dem Gefahrenbereich entfernen. Wie erstarrt stand er da - und hörte von irgendwoher ein unverständliches Säuseln, das artikuliert und doch sinnlos klang. Aber es übte auf die Schnabelblüte eine außerordentliche Wirkung aus. Die Blüte schloß sich und zog sich mit wiegenden Bewegungen in ihr Versteck zurück. „Noch einmal“, zischte Prinz Enzin, „und ich überlasse Sie dem Dschungel.“ Sie marschierten bis Einbruch der Nacht. Dann schlugen sie in einer geräumigen Baumhöhle ihr Lager auf. Es stank darin fürchterlich nach Fäulnis, und Fenton rutschte auf einer schleimigen Masse aus und versank bis zu den Knöcheln darin. Als er sich bückte, um zu sehen, worauf er getreten war, sah er, daß der gesamte Boden der Baumhöhle mit Pilzen bewachsen war. „Ich halte es hier nicht aus“, stöhnte er. „Ich ersticke.“ „Dann lagern Sie im Freien“, schlug Prinz Enzin lakonisch vor, der sich gerade zum Schlafen niederlegte. Fenton blickte zu Major Gerlow hinüber, der sich ebenfalls gerade auf den Pilzen 52
ausstreckte. „Gibt es keine andere Möglichkeit, die Nacht zu verbringen?“ erkundigte sich Fenton. ' Major Gerlow erklärte mit geduldiger Stimme: „Wir kommen nur tagsüber vorwärts. In der Nacht würden wir uns verirren. Außerdem müssen wir auch schlafen. Es ist ein Glück, daß wir diese Baumhöhle mit den Pilzen gefunden haben. Sie entwickeln Gase, welche die Pflanzen und Tiere abschrecken, für den Menschen aber unschädlich sind.“ „Damit dürften Sie Ihr Sprechbedürfnis wohl gestillt haben, Major“, ließ sich Prinz Enzin spöttisch vernehmen. „Aber jetzt seien Sie still. Ich möchte schlafen.“ Am nächsten Morgen rieben sie sich kräftig mit dem Pilzfleisch ein und brachen zeitig auf. Sie legten eine weite Strecke ohne bemerkenswerte Hindernisse zurück. Obwohl sie so rasch vorangekommen waren, machte Prinz Enzin bereits früh am Nachmittag halt. Nachdem er sich mit Major Gerlow abgesprochen hatte, kamen sie zu dem Entschluß, eine Lichtung aufzusuchen und dort einen Unterschlupf für die Nacht zu graben. Während Major Gerlow und Fenton mit Hilfe zweier abgestorbener Äste, die hart wie Stahl waren, eine Grube aushoben, machte sich Prinz Enzin auf die Suche nach eßbaren Pflanzen. Nachdem sie bereits tiefer als einen Meter gegraben hatten und Fenton der Erschöpfung nahe war, meinte Major Gerlow, daß diese Stelle nicht für einen Unterschlupf geeignet sei. „Sehen Sie die Höhlengänge?“ wandte er sich an Fenton. „Die stammen von Aaswurzeln. Wenn wir uns hier zum Schlafen niederlegen, sprießen am nächsten Morgen Blütenstauden aus unseren Körpern.“ Major Gerlow wählte eine andere Stelle aus. Dort stießen sie bereits nach einem halben Meter auf knorriges Wurzelwerk. „Hier sind wir richtig“, meinte der Major. Als Prinz Enzin von seiner Nahrungssuche zurückkam, gestattete er Fenton, sich auszuruhen und half Gerlow, eine Höhle zwischen den Wurzeln auszuheben. Fenton versuchte einige Beeren, doch sein Magen rebellierte gegen die ungewohnte Nahrung. „Nur noch diese Nacht“, sagte Prinz Enzin nahe an seinem Ohr, „dann sind wir wieder in Lavantin. Was werden Sie vor Gericht aussagen, Mister Fenton?“ „Daß Prinz Enzin und König An-conte kein Evolutionsverbrechen begangen haben“, murmelte Fenton. „Ich weiß. Niemand wird daran zweifeln, daß Sie dies aus freiem Willen bekennen. Denn niemand wird beweisen können, daß Sie einen zwingenden Befehl von mir Folge leisten.“ „Ich werde nicht gezwungen“, stammelte Fenton unter Fieberschauern. „So ist es richtig“, lobte Prinz Enzin. „Jetzt schlafen Sie. Morgen werden Sie sich 53
besser fühlen.“ Fenton wußte nicht mehr, was mit ihm geschah. Er wußte nicht, ob er schlief und Alpträume hatte, oder ob er wach war und wirklich von riesenhaften Blüten und monströsen Raubtieren verfolgt wurde, die alle mit geifernden Mäulern nach ihm schnappten. Er fühlte sich auch nicht besser, als er am nächsten Morgen erwachte. Ihm war heiß und kalt zugleich. Schweiß brach aus seinen Poren, und er hörte seltsame Geräusche, die er bereits in seinen Alpträumen vernommen hatte. Stimmen? Er sah ein Oval vor sich, in dem sich fremde Gesichtszüge zu bilden begannen. Ein Fremder! Seltsamerweise kam keine Panik in ihm auf. Nahe ihm befand sich ein wunderhübsches Mädchengesicht. Es war ihm so vertraut, als kenne er es schon lange, obwohl er es eigentlich zum erstenmal sah. Er wollte sprechen, deshalb bewegte er die Lippen. Aber es dauerte lange, bis er Worte formen und aussprechen konnte die er auch selbst hörte. „Dominique, Dominique! Wo sind Prinz ... Enzin und Major Gerlow?“ Das Mädchen schüttelte nur leicht den Kopf. Eine Verneinung. Es war nicht Dominique. Sie sagte: „Die beiden anderen Männer sind nach Lavantin zurückgekehrt. Du bleibst bei uns.“ Da wußte Fenton schlagartig, daß er ein Gefangener.der Barbaren war. 9. Nach Fentons Verschwinden setzte Peraciodes alle Hebel in Bewegung. Seine Möglichkeiten auf Lavan IV waren allerdings begrenzt, deshalb forderte er bei seiner Dienststelle 'zwei weitere Raumschiffe zur Unterstützung an, die ihm auch prompt zugesichert wurden. In der Zwischenzeit versuchte er mit den wenigen ihm zur Verfügung stehenden Männern, die Nachforschungen voranzutreiben. Vom Galaktischen Gerichtshof erwirkte er Vollmachten für seine Männer, so daß sie das gesamte Stadtgebiet, einschließlich den königlichen Palast, absuchen konnten. Ständig patrouillierten Beiboote über dem Dschungel. Bei dieser Gelegenheit wurde auch die Zerstörung der Dschungelstation beobachtet. Peraciodes erreichte diese Nachricht gerade, als er sich auf dem Weg zu einer Audienz bei König Anconte befand. Er ordnete sofort an, daß sämtliche Empfangstransmitter überwacht wurden. Als Peraciodes dann im Thronsaal dem König von Lavan IV gegenüberstand, hielt er sich in keiner 54
Weise an das Protokoll, sondern sprach unverblümt aus, was er von den Intrigen des Königs hielt. „Durch diese Entführung haben Sie einen Stein ins Rollen gebracht, der leicht eine Lawine mit sich reißen kann“, erklärte Peraciodes. Durch die Energiebarriere konnte er erkennen, daß der alte Mann auf dem Thron sichtlich in sich zusammengesunken war. „Ich weiß von all dem nichts“, gestand König Anconte in verblüffender Offenheit. „Ich fühle schon seit langem, daß mir die Macht immer mehr aus den Händen gleitet. Aber ich war immer zu stolz, um es wenigstens vor mir selbst einzugestehen. Ich weiß nicht, was mich dazu treibt, Ihnen gegenüber offen zu sein, Major. Ich weiß es nicht. Doch werten Sie meine Ehrlichkeit nicht als Schwäche. Ich erkenne, daß mein ältester Sohn mich hintergangen hat. Trotzdem werde ich mich nicht an Sie um Hilfe wenden. Ich werde diese Angelegenheit innerhalb der Familie bereinigen. Und was Ihren wichtigen Zeugen betrifft, kann ich nicht sagen, daß mir etwas an seinem Schicksal liegt. Sie verstehen, Major? Sie können gehen.“ Peraciodes war keineswegs enttäuscht. Er hatte nicht erwartet, daß der König nach all den Jahren plötzlich ein Schuldbekenntnis ablegen würde. Es bestand kein Grund für ihn, das zu tun. Und doch hatte er Peraciodes geholfen, denn er hatte ihn darauf hingewiesen, daß Prinz Enzin der eigentliche Drahtzieher war. Nachdem die Audienz beendet war, wurde Peraciodes gemeldet, daß man zwei Soldaten in Gewahrsam genommen hatte, die durch einen Transmitter von der zerstörten Dschungelstation zurückgekommen waren. Drei Stunden später wußte Peraciodes, daß Gilbert Fenton in jener Dschungelstation gefangen gewesen war. Aber weder er, noch Prinz En-zin und der Kommandant dier 8. Dschungelstation kehrten nach Lavantin zurück. Mit drei Beibooten flog Peraciodes zu der Dschungelstation. Er und seine Männer durchsuchten die Trümmer unter Einsatz ihres Lebens, doch konnten sie von den drei Männern keine Spuren entdecken. Da die königliche Sänfte auch nicht aufzufinden war, nahm Peraciodes an, daß den Männern die Flucht geglückt war. Als die Sänfte jedoch nirgends gesichtet worden war und auch nach Stunden zermürbenden Wartens nicht in Lavantih eintraf, schien es wahrscheinlich, daß sie irgendwo im Dschungel hatte notlanden müssen. Peraciodes setzte daraufhin alle Beiboote und Schweber ein, deren ei sich bedienen konnte, und ließ dauernd Patrouillen fliegen. Obwohl die Suchmannschaften mit Infrageräten ausgerüstet waren und auch des Nachts ihre Aufklärungsflüge 55
nicht zu unterbrechen brauchten, blieb die Suche nach den Vermißten vorerst erfolglos. Erst am zweiten Morgen meldete die Besatzung eines Beiboots, daß sie auf einer. Lichtung, nur sechs Kilometer von der Stadtmauer entfernt, Anzeichen von menschlichem Leben entdeckt hätte.Als Peraciodes mit den restlichen Schwebern bei der angegebenen Stelle eintraf, bot sich ihm aus der Luftperspektive eine seltsame Szene, die ihn zum sofortigen Einschreiten veranlaßte. In einem Erdloch hatten'sich zwei Menschen verschanzt und verteidigten sich gegen eine Schar von Barbaren. Bei den Verteidigern handelte es sich um einen Soldaten und einem Mann im Prunkgewand. Major Ger-low und Prinz Enzin! Aber wo befand sich Fenton? Peraciodes ließ auf die Angreifer Gasgranaten werfen und landete dann neben dem Schützenloch. Prinz Enzin erhob sich beim Anblick des Evolutionspolizisten und warf die Waffe fort. Mit einer Feierlichkeit, die in dieser Situation lächerlich klang, sagte er: „Nehmen Sie meinen aufrichtigen Dank entgegen, Sie kommen als Retter in höchster Not.“ „Wo ist Gilbert Fenton, der Terraner?“ erkundigte sich Peraciodes. Major Gerlow machte eine fahrige Bewegung in Richtung der Barbaren, die sich nun schleunigst in den Dschungel zurückzogen. „Die Wilden haben ihn entführt“, sagte er müde. „Und wenn Sie meine Meinung hören möchten, so hatten sie es nur auf den Terraner abgesehen. Das Gefecht lieferten sie uns nur, um uns aufzuhalten und den Terraner in Sicherheit bringen zu können.“ Peraciodes gab seinen Leuten den Befehl, die Barbaren zu verfolgen. „Das ist zwecklos“, ließ sich Prinz Enzin hören. ' „Die Wilden haben schon einen zu großen Vorsprung.“ Peraciodes verlor die Fassung. „Eine bessere Lösung des Problems konnten Sie sich wohl gar nicht wünschen, Prinz“, sagte er wütend. Prinz Enzin baute sich vor inm auf. „Hüten Sie Ihre Zunge! Wenn Sie als Evolutionspolizist auch eine gewisse Immunität genießen, so sind Sie nicht unverwundbar. Ich hätte Lust, Sie für diese taktlose Bemerkung zur Rechenschaft zu ziehen.“ „Wären Sie auch so überheblich, wenn sich Gilbert Fenton in Sicherheit befände?“ erkundigte sich Peraciodes. Zu seiner größten Verwunderung sagte Prinz Enzin: „Ich bedauere aufrichtig, daß er sich nicht in Sicherheit befindet. Ich setze meine ganze Hoffnung darauf, daß er doch noch zur Verhandlung erscheinen wird.“ Peraciodes war viel zu irritiert, um etwas darauf sagen zu können. Er fragte sich im stillen, ob Prinz Enzin ein Mittel gefunden hatte, um Fenton zu beeinflussen. Oder gab er sich nur so frech 56
und selbstsicher, weil er wußte, daß Gilbert Fenton bei den Barbaren verloren war? Was würde mit ihm geschehen? In diesem Augenblick dachte Peraciodes gar nicht an den Ausgang des Prozesses. Er beschäftigte sich mit dem Schicksal Gilbert Fentons - er empfand echtes Mitleid mit dem eigenwilligen, aber doch sympathischen Terraner. 10. „Ich verlange, daß ihr mich augenblicklich nach Lavantin zurückbringt“, sagte Fenton mit Nachdruck. Das Mädchen blickte ihn so verwundert an, als hätte es sein Interlingua nicht verstanden. „Höre mir genau zu“, fuhr Fenton fort. „In wenigen Tagen findet eine Gerichtsverhandlung statt, bei der jene überführt werden sollen, die schuld an eurem Schicksal sind. Ich bin ein wichtiger Zeuge, ja, ich bin sogar der einzige Mensch, der beweisen kann, daß ihr Opfer eines Evolutionsverbrechens geworden seid. Ich bin von weither gekommen, um euch zu helfen, doch kann ich das nur, wenn ihr mich nach Lavantin bringt.“ Das Mädchen blickte ihn weiterhin verständnislos an. In ihrem Gesicht zeichnete sich sogar einige Verzweiflung ab, so als bemühte sie sich, hinter den Sinn seiner Worte zu kommen. yAber es schien ihr doch nicht gelungen zu sein, denn sie zuckte bedauernd die Schultern und sagte: „Ich weiß nicht, was Sie meinen. Aber vielleicht versteht Marsai Sie besser. Er ist klüger als wir alle, deshalb haben wir ihn zum Anführer gewählt. Sprechen Sie mit ihm.“ Fenton seufzte. Seit er aufgewacht war, hatte er dem Mädchen die Situation zu erklären versucht, doch waren alle seine Bemühungen vergeblich gewesen. „Bringe mich zu diesem Marsai“, verlangte er schließlich. Als das Mädchen nickte und sich erhob, hielt er es am Arm zurück und fragte: „Wie gefällt dir dieses Leben? Bist du glücklich?“ „Ich bin sehr glücklich“, sagte sie. Er sah ihr in die Augen und wußte, daß sie aus tiefster Überzeugung sprach. „Aber das Leben in der Wildnis muß doch sehr gefährlich sein“, meinte er. „Hast du keine Angst vor den Fleischfresserpflanzen und den Raubtieren?“ Sie sah ihn wieder mit jenem Blick an, der grenzenlose Verwunderung ausdrückte. „Angst? Gefährlich?“ wiederholte sie. „Warum sollte ich mich vor der Wildnis fürchten? Sie ist meine Heimat. - Darf ich jetzt Marsai holen?“ „Ja“, sagte er, „hole Marsai.“ Lautlos und geschmeidig wie eine Katze glitt 57
das Mädchen aus der primitiven Hütte. Ich weiß noch nicht einmal, wie das Mädchen heißt, dachte Fenton. Er hatte bisher im Schneidersitz dagesessen, jetzt erhob er sich gedankenverloren und trat vor die Hütte. Er befand sich im tiefsten Dschungel! Diese Tatsache traf ihn wie ein Schock. Er blickte um sich, doch außer dieser einen improvisierten Hütte gab es keine Anzeichen für die Anwesenheit von Menschen.Beunruhigt suchte er wieder das Innere der Hütte auf. Was würde mit ihm geschehen, wenn das Mädchen nicht mehr zurückkam? War es nicht möglich, daß ihn die Barbaren hier aussetzen wollten? War es die Bestrafung dafür, daß er in ihr Reich eingedrungen war? Sie waren Wilde, ein Volk von Degenerierten, die immer weiter in die Primitivität zurückfielen. Sie würden nicht erkennen können, daß er ihnen helfen wollte. Er war ihr Feind. Er war ihr Feind, weil er aus der Zivilisation kam. Fenton glaubte plötzlich ein Geräusch zu hören, und unmittelbar danach erschien vor dem Eingang ein Schatten - und ein großer, gebräunter Mann trat ein. Er war nur mit einer Art Lendenschurz bekleidet. „Haben Sie mich erschreckt“, rief Fenton. Der Mann setzte sich Fenton gegenüber auf den Boden und stützte die Hände.auf seine Knie. „Ich bin Marsai“, sagte er, nachdem er sich fast feierlich zurechtgesetzt hatte. „Byla berichtete, daß Sie zu ihr in seltsamen Worten gesprochen hätten, hinter deren Sinn sie nicht kommt. Deshalb holte sie mich.“ Sie heißt also Byla, dachte Fenton. „Es tut mir leid, wenn ich das arme Mädchen verwirrt habe“, sagte er. »Aber andererseits konnte ich nicht vermuten, daß sie nicht einmal einfache Redewendungen versteht.“ „Wir halten nicht viel von Worten, sondern lassen Taten sprechen“, erklärte Marsai unfreundlich. „Ich habe dem Mädchen zu erklären versucht, daß ich nach Lavan IV gekommen bin, um euch zu helfen.“ Fenton sprach langsam und bemühte sich um eine gute Aussprache. Er wartete, bis Marsai zu seinen Worten nickte, dann fuhr er fort: „Ihr habt mich aus den Händen eurer und meiner Feinde gerettet, dafür bin ich euch dankbar. Ihr habt mir das Leben gerettet. Auch dafür bin ich euch zu Dank verpflichtet. Auch ich möchte euch helfen. Doch das kann ich nur, wenn ihr mich in die Stadt zurückbringt.“ „Wie wollen Sie uns helfen?“ fragte Marsai. Fenton versuchte, dem Barbaren in einfachen Worten zu erklären, daß die Feinde von Lavan IV und den darauf lebenden Menschen vor Gericht gestellt 58
werden sollten. „Und ich muß bei der Gerichtsverhandlung anwesend sein. Denn ich kann als einziger eure Feinde entlarven“, endete Fenton. „Das weiß ich“, sagte Marsai. Fenton atmete erleichtert auf. „Dann müssen Sie auch wissen, wie wichtig es ist, daß ich rechtzeitig nach Lavantin zurückkomme.“ Marsai nickte. „Wir bringen Sie noch rechtzeitig nach Lavantin“, versicherte er. „Aber bevor wir das tun, müssen wir dem Befehl Jehouns nachkommen. Er hat verlangt, daß Sie zu ihm kommen.“ „Wer ist Jehoun?“ „Jehoun ist der Beschützer der Wildnis und der Beschützer der Dschungelgeschöpfe.“ „Was will er von mir?“ „Er hat den Wunsch geäußert, Sie zu sprechen.“ „Was hat er mir zu sagen?“ „Das wird er selbst sagen.“ Mit diesen Worten erhob sich Mar-sai, verneigte sich und verließ die Hütte. „Einen Augenblick noch!“ rief ihm Fenton nach und folgte dem Barbaren ins Freie. „Wollen Sie mich hier ohne Schutz zurücklassen?“ „Sie befinden sich nicht in Gefahr.“ Mit diesen Worten verschwand Marsai, der stolze Barbar, im Dschungel. Fenton zog sich in die Hütte zurück. Er fuhr hoch und stellte erleichtert fest, daß das Mädchen Byla die Geräusche verursacht hatte. „Ich habe Sie geweckt“, stellte sie betroffen fest. „Keineswegs“, beruhigte er sie, „ich habe nur ein wenig vor mich hin gedöst. Wie spät ist es?“ Byla stellte zwei Schüsseln vor ihn hin. Bei der Frage sah sie verständnislos auf. „Wie spät ist es?“ wiederholte sie und richtete sich auf. „Ich werde Marsai holen...“ „Nein, nicht nötig“, beeilte sich Fenton zu sagen. „Ich werde meine Frage anders formulieren, so daß du sie verstehst. Ich möchte nur wissen, ob die Sonne schon tief steht. Das kannst doch auch du mir beantworten?“ Sie lachte. „Die Sonne steht noch tief, sie ist eben erst aufgegangen.“ „Dann habe ich doch länger geschlafen, die ganze Nacht durch“, bemerkte Fenton. Er lächelte dem Mädchen zu und beugte sich über die beiden Schüsseln. „Hm“, machte er dabei, „habe ich einen Mordshunger ... Nicht erschrecken“, fügte er schnell hinzu, als er sah, wie sich Bylas Augen entsetzt weiteten. „Ich meinte nur, daß ich einen großen Hunger habe. Ist das alles für mich?“ Sie nickte. „Willst du mir Gesellschaft leisten?“ bat er sie. „Wir könnten uns dabei ein wenig unterhalten. Das trägt bestimmt zum beiderseitigen Verständnis bei.“ Sie schien ihn wieder nicht richtig verstanden zu haben, das zeigt die Unsicherheit, mit der sie sich erhob. Ein wenig zögernd ging sie rückwärts zum Ausgang, dort drehte sie sich abrupt um und lief davon. Er blickte lange in die Richtung, wohin das Mädchen 59
verschwunden war, und griff dann gedankenverloren in eine der beiden Schüsseln. Wieder mußte er daran denken, welch abscheuliches Verbrechen an diesen Menschen begangen worden war. Er wußte nur wenig über jene Lavaner, die in der Wildnis lebten. Aber bestimmt hatten sie vor der Katastrophe mehr Zugehörigkeit zur Zivilisation gehabt. Jetzt jedoch waren sie Geschöpfe der Wildnis, die zwar noch Interlingua beherrschten, sich aber mit den Menschen der Zivilisation nicht mehr verständigen konnten. Fenton scheute sich davor, sie Wilde oder Barbaren zu nennen, denn diese Bezeichnungen trafen nicht recht zu. Man stellte sich darunter eine kämpferische, blutrünstige Horde vor. Doch das waren die Lavaner der Wildnis ganz bestimmt nicht. Im Gegenteil, Fenton glaubte auf Grund der bisherigen Eindrücke sagen zu können, daß er noch keinem friedlicheren und friedliebenderen Volk begegnet war. Vorsicht, Gil! sagte er sich. Du schließt aus dem Charakter von einem einzigen Menschen auf ein Volk von hundert Millionen. Wie kannst du nur so sicher sein, daß alle so sind wie Byla? Ja, wirklich, wie konnte er das? Es war entschieden zu früh, sich ein Urteil zu bilden. Und schließlich obwohl er erkannt hatte, daß Byla ein unkompliziertes Wesen besaß, war es ihm noch nicht gelungen, sich mit ihr zu verständigen. Als er wieder nach einer Frucht greifen wollte, mußte er feststellen, daß beide Schüsseln leer waren. Das brachte ihn in die Gegenwart zurück und verhinderte, daß er sich weiter mit Byla beschäftigte. Er trat vor die Hütte und atmete die würzige Luft ein. Würzige Luft? Er holte prüfend Atem. Tatsächlich, die Luft war angenehm kühl und durchsetzt mit einer Vielzahl undefinierbarer, berauschender Düfte. Er erinnerte sich mit Schaudern an die dunstige Atmosphäre, die er geatmet hatte, als er sich in Begleitung Prinz Enzin und Major Gerlows durch den Dschungel gekämpft hatte. Und hatten die Lianen, Sträucher und Riesenblumen damals nicht viel gefährlicher gewirkt als jetzt? Er hatte das Gefühl, sich in einem paradiesischen Garten zu befinden, und der Wunsch wurde in ihm geweckt, den verschlungenen Pfaden zu folgen... Er befreite sich von diesen verhängnisvollen Gedanken und kehrte in sein Gefängnis zurück. Er durfte nicht vergessen, daß er ein Gefangener war. Der Dschungel war die natürliche Barriere, die ihm den Weg in die Freiheit versperrte. Eines mußte er sich immer vor Augen halten: Wenn die Barbaren so friedlich waren, wie sie ihm weismachen wollten, warum hielten sie ihn dann gewaltsam zurück? Er erwartete Byla 60
bereits, als sie mit zwei Schüsseln aus dem Dschungel trat. Er blickte unwillkürlich zum Himmel und stellte fest, daß die Sonne ihren höchsten Punkt erreicht hatte. War es Zufall, daß sie ihm jetzt das Essen brachte, oder eine unbewußte - oder bewußte - Beibehaltung einer alten Tradition? Wie dem auch war, Fenton erschien dieser Punkt nicht wichtig genug, um ihn weiter zu verfolgen. Er hatte sich eine andere Aufgabe gestellt. Als Byla die beiden Schüsseln vor ihn hinstellte, machte er ein betont mürrisches Gesicht. An dem besorgten Blick, den sie ihm zuwarf, konnte er feststellen, daß ihr sein Befinden nicht gleichgültig war. Sie ließ sich vor ihm auf den Boden und fragte: „Haben die Beeren nicht geschmeckt?“ „Doch“, sagte er einsilbig. Sie schob die eine Schüssel näher zu ihm. „Diese Beeren sind reifer. Ich habe sie selbst gepflückt.“ „Ich habe keinen Hunger. Nimm sie wieder mit.“ Ihre Lider begannen zu flattern, als sie leise fragte: „Hat Byla etwas falsch gemacht?“ „Nein, Byla, hat alles goldrichtig gemacht“, erwiderte er und legte sich im Geiste bereits einige komplizierte Redewendungen zurecht. „Mir liegt nur etwas im Magen, wofür du nicht kannst, Mädchen. Ich komme nämlich hier vor Langeweile um, und es zermürbt mich regelrecht, daß ich hier tatenlos sitze, während der Verhandlungstermin immer näher rückt. Verstehst du, es gilt, ein Evolutionsverbrechen zu sühnen! Aber es ist nicht nur wichtig, daß dem Gesetz Genüge getan wird. Es geht vornehmlich darum, euch den verlorenen Zivilisationsstatus zurückzugeben. Ihr sollt wieder in die menschliche Gemeinschaft eingegliedert werden, ihr sollt euren Platz im Sternenimperium wieder einnehmen. Wenn mich euer Beschützer unbedingt sprechen will, dann wird es langsam Zeit, daß wir uns auf den Weg zu Jehoun machen. Verstehst du, Mädchen?“ Bylä schien dem Weinen nahe. Ohne ein Wort erhob sie sich und rannte in den Dschungel. Sie tat ihm richtig leid, doch da sie so hartnäckig bei ihm ausharren wollte, hatte er sie zu diesem fluchtartigen Aufbruch zwingen müssen. Denn er wollte ihr folgen, um endlich eine Entscheidung herbeizuführen. Kaum war sie in dem dichten Gestrüpp verschwunden, sprang er auf die Beine und folgte ihr. Es war“ zwar ein gewissen Risiko damit verbunden, sich waffenlos in den Dschungel zu wagen, doch verringerte es sich, wenn er sich Byla an die Fersen heftete und ihrer Route folgte. Die ersten vierzig oder fünfzig Meter 61
ging alles gut. Doch plötzlich hatte er sie aus den Augen verloren. Er blieb stehen, um auf ihre Schritte zu lauschen, doch außer den Dschungelgeräuschen war nichts zu hören. Irgendwo schrie ein Tier markerschütternd, und als sei dies für alle Ungeheuer des Dschungels das Zeichen für den Einsatz, brach gleich darauf das Gebrüll von allen Seiten los. Der Dschungel, der eben noch ein Ort des Friedens und der Ruhe gewesen war, verwandelte sich mit einem Schlag in eine Hölle. Die malerischen Blüten gerieten in Aufruhr und reckten sich gierig Fenton entgegen. Schlingpflanzen, die wie leblos von den Bäumen gehangen hatten, fingen an, mit wilden Bewegungen die Luft zu peitschen. Oben, in den Ästen, begannen sich die Säugetiere zu regen, und überall im Unterholz raschelte es. Unheimlich schnell wurde die reine, klare Atmosphäre stickig und dunstig und war verhüllt vom Summen der unzähligen Insekten. In Fentons Nähe erscholl ein heiseres Brüllen. Es kam aus dem dichten Geäst über ihm. Als er erschrocken hinaufblickte, sah er einen langen Schatten, der eben in die Tiefe sprang und nur wenige Meter vor ihm auf dem Boden landete. Es war ein ausgewachsener Ge-much von dreizehn Meter Länge, der keine einzige Schmarotzerpflanze an sich hatte. Fenton sah den mächtigen Schädel, der sich ihm entgegenstreckte. Das glatte Fell schimmerte weich und samtig, und bei jedem Schritt, mit dem die Bestie sich Fenton näherte, zeichneten sich die dicken Muskelstränge ab. Fenton wich automatisch zurück, obwohl er wußte, daß er keine Chance hatte. Plötzlich stieß er mit dem Rücken gegen ein Hindernis. Im selben Augenblick zischte etwas durch die Luft - und eine mit Saugnäpfen bewehrte Liane schlang sich um seinen Brustkorb. 11. „Byla!“ schrie Fenton in höchster Verzweiflung. Der Gemuch fauchte ärgerlich, er duckte sich und scharrte mit den Vorderpranken im Moos. Dann sprang er. Fenton glaubte, von dem Gewicht der Bestie erdrückt zu werden, als sie auf ihm landete. Er sah die gespreizten Krallen der erhobenen Pranke vor sich und dachte, daß sie sein Gesicht zerschmettern würde. Doch der Gemuch hatte es gar nicht auf ihn abgesehen, sondern auf die Schlingpflanze. Mit einem kräftigen Hieb trennte er die Schlingpflanze ab. schnappte mit dem Maul nach dem zuckenden Rest und zermalmte ihn 62
zwischen den Kiefern. Fenton starrte ungläubig auf das Raubtier, das sich vor ihm niederließ und sich von der klebrigen Substanz der Schlingpflanze zu reinigen begann. Einmal begegnete er dem Blick der großen, grünen Augen und meinte, vollkommene Interesselosigkeit darin zu lesen. Vorsichtig setzte er sich in Bewegung, machte einen Bogen um den Gemuch und begann dann zu laufen. Er hörte noch das Geräusch hinter sich und spürte gleich darauf einen heftigen Stoß im Rücken. Er verlor das Gleichgewicht und fiel der Länge nach auf den Boden. Über ihm erschien der Gemuch und knurrte ihn drohend an. Fenton wagte sich nicht zu bewegen und blieb regungslos auf dem Boden liegen. Von irgendwoher kam schallendes Gelächtec, das aber von einer herrischen Stimme unterbrochen wurde. „Was hat das zu bedeuten, Byla?“ „Ich.. .“ „Rufe sofort Sirso zurück und kümmere dich um die Sicherheit deines Schützlings. Was ist nur in dich gefahren, daß du das Leben des Fremdlings so leichtfertig aufs Spiel setzt?“ Byla antwortete trotzig: „Er hat mir weh getan.“ „Wenn du dich noch einmal so gehenläßt“, sagte der Mann streng, „dann melde ich dich Jehoun, Närrin!“ Die Stimmen, die Fenton als Bylas und Marsais erkannt hatte, waren kaum verstummt, da beruhigte sich auch der Dschungel. In der folgenden Stille vernahm Fenton nur das Keuchen der Bestie über ihm. „Sirso!“ Der Gemuch setzte sich augenblicklich in Bewegung, stieg über Fenton hinweg, ohne ihn auch nur zu streifen, und verschwand im Dschungel. Erst jetzt wagte es Fenton, sich aus seiner ungemütlichen Lage zu befreien. Er erhob sich und blickte forschend um sich. Das Summen der Insekten war nicht mehr zu hören, die Kleintiere hatten sich in ihre Verstecke zurückgezogen, und die Pflanzen waren wieder zur Bewegungslosigkeit erstarrt. Der Dschungel war wieder ein friedliches Idyll. Fenton war voll des Staunens und der Bewunderung. Er wußte, daß er hier einem Geheimnis auf der Spur war. Er hätte nach diesen schrecklichen Erlebnissen am besten in die Hütte, zurückkehren sollen, aber seine Neugierde war geweckt worden. Er wollte dieses Geheimnis unbedingt ergründen, das sich ihm angedeutet hatte. Er tauschte nach allen Richtungen. Er tat es angestrengt und lange, und nach einer schier endlosen Zeit der Anspannung wurde seine Geduld belohnt. Aus der mutmaßlichen Richtung, in die Byla verschwunden war, vernahm er Geräusche, die nicht zum Dschungel zu gehören schienen. Er setzte sich in Bewegung, seine nächste Umgebung nicht aus den Augen lassend, und 63
stellte bald fest, daß die Geräusche zunehmend an Lautstärke gewannen. Er konnte bald darauf das Rauschen von Wasser und menschliche Stimmen unterscheiden. Er beschleunigte seine Schritte. Wenn sich seine Ahnungen bestätigten ... Als er an eine Lichtung kam, bot sich ihm ein Bild, das alle seine Erwartungen übertraf. Hier-hatte einmal eine große Stadt gestanden. Von den Monumenten der Zivilisation war nicht mehr viel zu sehen, denn der Dschungel hatte die Bauwerke überwuchert und zum Einsturz gebracht. An den wenigen noch stehenden Mauern rankten sich .Klettergewächse empor, aus den Schutthalden sproß neues Leben: das pflanzliche Leben von Lavan IV in seiner ganzen Vielfalt. Wo früher einmal Menschen gelebt hatten, war jetzt ein Tummelplatz der Tiere. Es gab immer noch Menschen hier, doch schienen sie sich dessen überhaupt nicht bewußt zu sein, daß sie auf der Trümmerstätte der Kultur ihrer Vorfahren standen. Und doch, eine gewisse Bedeutung schienen diese Ruinen zu besitzen, wenn auch nur die, daß hier die Dschungelgesetze keine Gültigkeit besaßen. Fenton sah, daß die Menschen und Raubtiere und die Fleischfresserpflanzen in friedlicher Eintracht nebeneinanderlebten. An die Ruinenstadt grenzte ein großer See, auf dem einige primitive Boote trieben. In seichten Ufern des Sees wateten Frauen, die mit flinken Bewegungen das Treibgut einsammelten und in Körben auf ihren Rücken verstauten. Fenton trat aus dem Dschungel heraus und schritt auf die Ruinenstadt zu. Er kam an Menschen vorbei, die in ihrer Tätigkeit sofort innehielten, als sie seiner gewahr wurden. Ein Gemuch, dessen Weg er kreuzte, wich ihm scheu aus. Ein Schwarm von Vögeln erhob sich vom Boden und flüchtete vor ihm in die Lüfte. Er fühlte sich als Eindringling, der ein Idyll zerstörte. Aber dennoch ging er unbeirrbar weiter, denn er wollte in Erfahrung . bringen, welche Macht imstande war, solch ein Paradies zu schaffen. Er lächelte den Menschen zu, an denen er vorbeikam, doch wichen sie seinem Blick aus und sahen ihm hinter gesenkten Lidern mißtrauisch nach. Als er auf einer hohen Schutthalde stand, konnte er einen Teil der vor ihm liegenden Ruinenstadt überblicken. Nicht weit entfernt entdeckte er einen freien Platz, auf dem reges Treiben herrschte. Er konnte nicht erkennen, was sich dort abspielte, aber da sich die Menschen an diesem Punkt konzentrierten, nahm er an, daß er dort einen der Anführer finden würde. Vielleicht sogar Jehoun, den ihm Marsai als Beschützer der Lavaner genannte hatte. Bevor Fenton sich wieder in Bewegung setzte, 64
drehte er sich um und stellte fest, daß alle Barbaren ihre Arbeit niedergelegt hatten und ihm in einem Sicherheitsabstand gefolgt waren. Selbst die Boote, die sich weit draußen auf dem See befunden hatten, kehrten zum Ufer zurück. Es scheint fast, als hätten sie Angst vor mir, dachte Fenton. Er ging die Halde hinunter, durchschritt einen halb verschütteten Torbogen und schritt eine unebene Straße zwischen zwei verfallenen Mauern entlang. Zweimal blieb er stehen, um sich umzusehen. Jedesmal verhielten auch seine stummen Verfolger den Schritt. Vor ihm flüchteten die Tiere, und die Pflanzen zogen sich in die Schatten der Ruinen zurück. Als er den Platz erreichte, stellte er fest, daß er verlassen war. Keine Menschenseele war mehr zu sehen. Alle waren sie vor ihm geflüchtet Warum? Wußten die Barbaren denn nicht, daß er ihnen helfen wollte? Wußten sie nicht, daß er nur deshalb nach Lavan IV gekommen war? Verzweifelt und deprimiert stand er auf der Mitte des Platzes. Er ballte die Fäuste und rief: „Warum weicht ihr mir aus?“ Er wartete, bis das Echo verklungen war, dann rief er wieder: „Ich möchte versuchen, euch zu helfen. Aber ich kann nur erfolgreich sein, wenn ihr mir eure Sorgen und Nöte mitteilt. Ich muß wissen, wie ihr euch eure Zukunft vorstellt, damit ich vor Gericht in eurem Sinne verhandeln kann.“ Er wartete auf eine Reaktion. Aber in den Ruinen blieb es still. Er wollte gerade einen neuen Anlauf nehmen, da bemerkte er in einem Torbogen am Rande des Platzes eine Bewegung. Er näherte sich der Stelle und entdeckte einen alten Mann mit runzligem Gesicht, der nicht wie die anderen Barbaren einen Lendenschurz trug, sondern eines der kostbaren Gewänder, wie sie die Stadtbewohner bevorzugten. „Sind Sie bereit, mit mir zu sprechen?“ erkundigte sich Fenton vorsichtig, als er vor dem Alten stand. Dieser sagte mit einem leisen Lächeln: „Ich habe diesen Augenblick herbeigewünscht. Mein Name ist Je-houn. Das Volk der Wildnis erwartet Wunderdinge von mir. Ich hoffe, daß ich helfen kann.“ Fenton saß mit Jehoun in der Mitte des Platzes, vor ihnen brannte ein kleines Lagerfeuer, in dem, auf einer Metallstange aufgespießt, Früchte schmorten. Die Barbaren, die sich bisher in den Ruinen verborgengehalten hatten, wagten sich aus ihren Verstecken und bildeten einen weiten Kreis. Aber sie blieben außer Hörweite. „Marsai sagte mir, daß Sie mich sprechen wollen“, brach Fenton das Schweigen, nur um etwas zu sagen. „Warum warteten Sie so lange, obwohl Sie sich offensichtlich ständig hier befanden?“ „Ich wollte, daß Sie zu mir 65
kommen, Mister Fenton“, erklärte Jehoun. Es kam für Fenton überraschend, daß der Alte die terranische Anrede benutzte. „Ich bin gekommen“, entgegnete er. „Doch hätte unser Zusammentreffen auch unter weniger zeitraubenderen Umständen erfolgen können. Sie werden wissen, Jehoun, daß in Bälde eine für Ihr Volk wichtige Verhandlung vor dem Galaktischen Gerichtshof stattfinden soll, bei der ich als Zeuge geladen bin.“ Jehoun nickte, während er den Spieß aus dem Feuer holte. „Ich werde dafür sorgen, daß Sie rechtzeitig in Lavantin eintreffen“, versprach er. „Sie haben recht, Mister Fenton, wenn Sie sagen, daß diese Verhandlung wichtig für unser Volk ist. Allerdings scheinen Sie nicht zu ahnen, was wirklich für uns vom Ausgang dieses Prozesses abhängt. Und Sie machen sich eine falsche Vorstellung davon, was gut ist für uns und was nicht.“ „Wenn der Gerechtigkeit Genüge getan ist, so wird auch Ihrem Volk geholfen“, sagte Fenton. Jehoun sah ihn prüfend an. „Glauben Sie?“ Fenton war etwas irritiert von dieser Frage. Aber bevor er noch um eine Erklärung bitten konnte, fuhr der Alte fort: „Ich kenne die terranische Mentalität nicht, Mister Fenston. Aber da Sie aus einem Rechtsstaat kommen, denken Sie zweifellos in ähnlichen Bahnen wie Mitglieder anderer Rechtsstaaten. Darf ich Ihnen unterstellen, daß Sie annähernd die Auffassung von Recht und Gerechtigkeit haben wie etwa die Evolutions,Polizisten?“ „J-ja. Grundsätzlich, ja“, stimmte Fenton zögernd zu. „Sehen Sie, hier scheiden sich die Geister.“ Jehoun umwickelte eine der gebratenen Früchte mit einem feuchten Blatt und überreichte sie Fenton. „Essen Sie ruhig, ich werde Ihnen inzwischen erklären, wie wir uns eine Lösung vorstellen. Sie kennen die Vorgeschichte, die zu der Situation auf Lavan IV geführt hat. Demnach hat König Anconte durch sein Evolutionsverbrechen den Untergang der Zivilisation herbeigeführt. Die Strahlung, die bei der Zündung der Bomben frei wurde, ließ das Leben auf diesem Planeten degenerieren. Dafür scheint es unzählige Beweise zu geben, denn das Volk der Wildnis kehrte jeglicher Kultur und Zivilisation den Rücken. Die Pflanzen und Tiere, die schon immer von besonderer Wildheit waren, mutierten durch die Strahlung dahingehend, daß sie noch wilder, gefährlicher, bestialischer wurden. Die degenerierten Menschen verließen die Städte und gaben sie dem vordringenden Dschungel und damit dem Verfall preis. Wir, die Barbaren von Lavan, erregten durch unser Schicksal das Mitleid des ganzen Imperiums. Alle sahen und sehen 66
sie in uns ein Volk von Idioten. So sehen die Außenstehenden die Tatsachen. Aber wäre es nicht möglich, daß die Realität verzerrt gesehen wird? Niemand hat bisher den Versuch unternommen, uns, die Betroffenen, nach unserer Meinung zu fragen. Zugegeben, wir würden die Wahrheit nicht hinausposaunen, denn damit würden wir uns nur selbst schaden. Aber Ihnen, Mister Fenton, will ich sie nicht verheimlichen. Denn Sie sind der Einzige, der uns helfen könnte. Allerdings sollten Sie sich vorerst darüber bewußt werden, daß Gerechtigkeit, wie sie das Gesetz kennt, uns nicht von Nutzen ist. Unser Problem muß mit Menschlichkeit gelöst werden.“ Jehoun hatte seine Frucht von der verbrannten Schale befreit, löste jetzt von dem Fruchtfleisch dicke Fasern und schob sie in den Mund. Fenton tat es ihm gleich; beim Kauen stellte er fest, daß die Fasern eine milde Flüssigkeit freigaben, die überaus anregend wirkte. „Ich beginne zu ahnen, worauf Sie hinauswollen“, sagte Fenton und rief sich die letzten Ereignisse ins Gedächtnis. Er hatte gesehen, wie der Dschungel friedlich dagelegen hatte und sich urplötzlich, wie durch einen Zauber, in eine Hölle verwandelte. Er hatte mit eigenen Augen gesehen, wie zahm ein Gemuch werden konnte, wie harmlos eine Supercarnivora sein konnte, wie zutraulich Vögel und Kleintiere wurden. Ähnliches hatte auch Prinz Enzin geschafft, aber er hatte dabei einen anderen Weg beschritten. Indem er die „Sprache der Pflanzen“ erlernte, zwang er sie zur Harmlosigkeit, doch mißbrauchte er sie gleichzeitig für seine gewalttätigen Zwecke. Bei den Barbaren war es anders; unter ihnen wurden die Tiere zu friedlichen Geschöpfen, die gefährlichen Pflanzen zur Zierde. In seine Gedanken hinein drang Jehouns Stimme. „Bestätigt es Ihre Ahnung, wenn ich sage, daß durch König Ancontes Strahlung das Leben nicht degenerierte? Die Strahlung bewirkte sogar das genaue Gegenteil, die Pflanzen und Tiere und auch wir Barbaren - wurden intelligenter. Nur darf man in diesem Zusammenhang den Begriff Intelligenz nicht auf herkömmliche Weise auslegen. Wir sind nun kein -Volk von Genies, unsere Gehirne haben keine überzüchtete Kapazität; aus unseren Reihen werden nie überragende Philosophen, nie Geistesgrößen irgendwelcher Art hervorgehen. Jene Regionen unserer Gehirne scheinen durch den Mutationsprozeß sogar tatsächlich degeneriert zu sein. Doch dafür wurden andere gereizt und konnten sich entfalten. Wir besitzen in gewisser Beziehung übernatürliche Fähigkeiten. Diese erlauben uns, die niedrigeren Lebewesen unserer Welt 67
voll und ganz und ohne Gewaltanwendung zu beherrschen.“ Fenton nickte verstehend. „Ähnliches habe ich mir gedacht.“ „Wir unterscheiden uns also von den Menschen der Zivilisation“, erklärte Jehoun weiter. „Die Pflanzen und Tiere, die ebenfalls die Fähigkeiten der übersinnlichen Wahrnehmung besitzen, sind uns gegenüber positiv eingestellt. Doch wenn sie die metaphysische Ausstrahlung der Menschen aus der Zivilisation empfangen, werden sie zu noch größerer Wildheit gereizt. Erkennen Sie jetzt, warum sich die Zivilisation auf Lavan IV nie durchsetzen wird?“ Fenton nickte wieder. „Ich habe die Zusammenhänge erkannt“, sagte, er. „Aber mir ist nicht klar, wieso Sie die Rechtsprechung des Galaktischen Gerichtshofs ablehnen. Wenn König Anconte verurteilt wird, dann ist dies doch auch für das Volk der Wildnis von Nutzen.“ „Eben nicht“, erwiderte Jehoun. „Nehmen wir an, König Anconte und seine Helfer würden des Evolutionsverbrechens für schuldig erkannt. Soweit würde uns kein Schaden erwachsen. Doch gibt sich der Galaktische Gerichtshof nicht mit der Verurteilung der Schuldigen zufrieden. Man würde versuchen, den angerichteten Schaden gutzumachen. Und das ist genau das, was wir nicht wünschen. Es würden Bemühungen unternommen werden, den Zustand, der vor der vermeintlichen Katastrophe geherrscht hat, wiederherzustellen. Man würde den Planeten erneut zivilisieren ... Können Sie sich vorstellen, was das für uns bedeuten würde?“ „Ja, ich kann es mir vorstellen“, meinte Fenton mit einem Blick zu den Menschen, die sie im Kreis umstanden. „In der Meinung, zu helfen, würde man erneut ein Verbrechen an Ihrem Volk begehen. Aber welchen Ausweg gibt es aus diesem Dilemma?“ „Das Schicksal unseres Volkes hängt von Ihnen ab, Mister Fenton.“ 12. Byla brachte Fenton nach Lavantin zurück. Als sie eines der Stadtmauertore erreichten, bedankte sich Fenton bei dem Barbarenmädchen für die Fürsorge, die sie ihm während seines Aufenthalts bei ihrem Volk hatte angedeihen lassen. Doch Byla schien seine Worte nicht gehört zu haben. „Können Sie das letzte Stück allein gehen?“ fragte sie und blickte demonstrativ von ihm fort. „Ich möchte nicht, daß man mich von der Stadt aus sieht.“ Er wollte sich schon von ihr abwenden, 68
doch etwas in ihm sagte, daß dies falsch sei. So legte er ihr die Hände auf die Schultern und blickte ihr ins Gesicht. „Byla“, sagte er sanft, „was ist los mit dir? Bist du noch auf mich wütend, weil ich dich mit geschraubten Redewendungen genarrt habe? Nein, lauf nicht davon! Ich möchte, daß du in Freundschaft von mir gehst.“ Als sie zu ihm aufsah, waren ihre Augen feucht. Und plötzlich lag sie in seinen Armen und schluchzte. Da erkannte er, welcher Narr er gewesen war. Das Mädchen liebte ihn. „Na, na“, murmelte er mit belegter Stimme, „wer wird denn gleich weinen.“ Er ärgerte sich über sich selbst. Wenn er die Situation früher erkannt hätte, hätte er Gelegenheit gehabt, Byla zu erklären, wie aussichtslos eine Verbindung zwischen ihnen war. Doch was konnte er jetzt für sie tun? Er mußte sich beeilen, um in die Stadt zu kommen. „Ach, Byla“, sagte er verzweifelt und fuhr ihr übers Haar. „Sprich nicht mehr“, flüsterte sie und hob ihr Gesicht. „Ich weiß, daß es ein Abschied für immer ist. Ich war eine Närrin, daß ...“ Ihre Stimme drohte zu ersticken, da zog Fenton das Mädchen zu sich heran und küßte es. Die Umarmung dauerte nur kurz, denn ein heiseres Brüllen ließ die beiden Menschen auseinanderfahren. Ein ausgewachsener Gemuch brach in riesigen Sprüngen aus dem Dickicht! „Sirso!“ rief Byla herrisch. „Zurück! Zurück!“ Doch die sonst so zahme Raubkatze reagierte nicht auf die Befehle. Sie duckte sich zum Sprung. „Zurück, Sirso!“ Der Gemuch sprang. Fenton sah den schweren Körper durch die Luft fliegen, genau auf sich zu, und schloß in diesen Sekunden bereits mit dem Leben ab. Er konnte seine Blicke nicht von den kalt funkelnden Augen lösen, die in blanker Mordlust auf ihn gerichtet waren. Doch plötzlich veränderten diese Augen ihren Ausdruck, es war, als würden sie brechen. Alles Feuer, alle Glut wich aus ihnen, sie wurden leblos. Fenton konnte sich über die Veränderung, die mit dem Gemuch mitten im Flug vor sich gegangen war, noch keine Gedanken machen, denn gleich darauf landete der schwere Körper auf ihm. Aber der Gemuch rührte sich nicht mehr. Fenton befreite sich von dem Gewicht des toten Tieres und erhob sich auf die noch zittrigen Beine. Als er zu Byla blickte, erkannte er augenblicklich die Zusammenhänge. Sie kniete neben dem hingestreckten Gemuch und strich wie abwesend über sein weiches, samtiges Fell. „Byla, ich kann dir nicht sagen, wie leid...“, begann er. Sie unterbrach ihn mit tonloser Stimme. „Gehe jetzt in die Stadt“, sagte sie nur. 69
„Kann ich nichts...“ „Nein. Ich möchte allein sein.“ Einige Sekunden lang stand er noch zögernd da, dann wandte er sich ab und ging auf das nahe Tor zu. Einmal drehte er sich noch nach dem Mädchen um, das ihre Zuneigung zu einem Fremden so teuer hatte bezahlen müssen. War es Eifersucht gewesen, die den sonst so zahmen Gemuch zu einer reißenden Bestie werden ließ? Obwohl es phantastisch klang, schien es doch so gewesen zu sein. Der Gemuch mußte in ihm instinktiv einen Rivalen gesehen haben, deshalb hatte er sich auf ihn gestürzt. Byla war keine andere Wahl geblieben, als das treue Tier zu töten. Fenton war noch immer ganz benommen, als er von den Torposten eingelassen wurde. Er beantwortete keine einzige der Fragen, sondern verlangte nach Major Gerlow. Seine Hartnäckigkeit wurde schließlich belohnt. Man brachte ihn zu einem Bildsprechgerät, von dem eine Verbindung mit dem Kommandanten der 8. Dschungellegion hergestellt worden war. Die erstaunten Fragen Major Gerlows ignorierend, kam Fenton sofort auf sein Anliegen zu sprechen. „Sie haben doch immer Andeutungen darüber gemacht, daß Ihnen eine gerechte Lösung der Barbarenfrage am Herzen liegt. Jetzt können Sie beweisen, wie ernst es Ihnen damit ist, Major. Ich selbst habe die Barbaren kennengelernt und weiß, daß sie ein Volk sind, das sich weder unterordnen noch in ein Schema einordnen läßt. Ich bin bereit, mich für sie einzusetzen, doch benötige ich eine Audienz bei König Anconte. Könnten Sie das für mich erreichen?“ Major Gerlow zögerte lange, doch dann versicherte er: „Ich werde alles in meiner Macht Stehende unternehmen. Bleiben Sie aber inzwischen beim Stadttor. Ich werde eine Abteilung meiner Leute zu Ihrem Schutz hinbeordern.“ Fenton wußte, daß sein Leben nichts wert war, wenn es ihm nicht gelang, König Anconte zu bluffen. Außer ihm und dem König, der durch die Barriere von den anderen getrennt war, befanden sich noch Prinz Enzin, Major Gerlow und sechs Soldaten im Thronsaal. „Sie sind also der Terraner, der den Versuch wagen will, mich vom Thron zu stürzen.“ Anconte kicherte. „Es war jedenfalls nicht sehr weise von Ihnen, sich mir auf Gnade oder Ungnade auszuliefern. Sie wissen doch, daß ein einziger Wink von mir genügt, und Sie werden nie vor einem Galaktischen Gerichtshof gegen mich aussagen können.“ „Darüber bin ich mir klar, König Anconte“, sagte Fenton. „Doch ich bin gekommen, weil ich mit Ihrer Gnade rechne. Es besteht nämlich die Möglichkeit zu einer Einigung, ohne daß ich vor 70
Gericht gegen Sie aussage. Ich könnte sogar für Sie sprechen.“ König Anconte war einen Augenblick lang sprachlos. Dann begann er schallend zu lachen. Als er sich beruhigt hatte, rief er aus: „Er, ein Wicht von einer unterentwickelten Welt, kommt mit einem Kompromißvorschlag zu den Riesen. Es ist beinahe köstlich - aber nur beinahe, denn ich finde es eher beleidigend.“ Prinz Enzin trat vor und sagte: „Laß ihn doch seinen Vorschlag unterbreiten, mein König. Es wäre vielleicht doch ganz amüsant zu hören, wie weit er zu gehen wagt.“ König Anconte warf seinem ältesten Sohn einen giftigen Blick zu, unterließ es aber, ihn zurechtzuweisen. Statt dessen wandte er sich an Fenton. „Unterbreiten Sie Ihren Vorschlag, Terraner. Fassen Sie es als eine Art Erfüllung eines letzten Wunsches auf, bevor ich Sie in die Todeszelle bringen lasse.“ „Danke“, sagte Fenton lakonisch. „Ich werde mich kurz fassen. Ich habe die letzten Tage bei den sogenannten Barbaren dieser Welt verbracht. Dabei habe ich sie als friedliebendes und geistig hochstehendes Volk kennengelernt. Es bedurfte nicht lange, um zu dem Entschluß zu kommen, diesem Volk zur Freiheit zu verhelfen. Allerdings ist diese Freiheit nur durch eine Reihe von unpopulären Maßnahmen zu erwirken. Eine dieser unpopulären Maßnahmen wäre, daß ich vor dem Galaktischen Gerichtshof nichts gegen Sie aussage, König Anconte. Aber das würde ich nur dann tun, wenn Sie die Königswürde ablegen und auf alle Machtansprüche auf diesem Planeten verzichten.“ Zu Fentons Überraschung blieb König Anconte ruhig. „Der Wicht verlangt, daß ich abdanke“, murmelte er verstört. „Er droht mir! Er will mich erpressen!“ Prinz Enzin hob die Hand, um die Aufmerksamkeit seines Vaters auf sich zu lenken. Dann sagte er mit einem spöttischen Seitenblick zu Fenton: „Sei nicht erzürnt über diesen plumpen Erpressungsversuch des Terraners, mein König. Ich kann verstehen, daß du ihn am liebsten dem Henker übergeben möchtest. Doch höre auf mich und lasse ihn frei. Laß ihn den Zeugenstand betreten und seine Aussage machen.“ „Bist du übergeschnappt?“ erkundigte sich der König verblüfft. „Ganz und gar nicht“, erwiderte Prinz Enzin. „Ich habe nur vorgesorgt und - sozusagen - die stärkste Waffe der Evolutionspolizei entschärft. Der Terraner, der einzige Zeuge der Anklage, ist nämlich nicht fähig, gegen dich auszusagen.“ König Anconte beugte sich interessiert vor und schaute seinen ältesten Sohn erwartungsvoll an. „Hast du etwas mit ihm angestellt?“ erkundigte er sich. „Jawohl“, bestätigte Prinz Enzin. „Ich 71
habe eines meiner erprobten Mittel bei ihm angewandt und ihn dahingehend beeinflußt, daß er vor Gericht nicht anders kann, als sich für deine Unschuld auszusprechen.“ „Warum polemisiert er dann hier gegen mich?“ erkundigte sich der König mißtrauisch. Prinz Enzin lächelte selbstgefällig. „Er kann sich überall und jederzeit frei äußern - bis zu Verhandlungsbeginn. Ab diesem Tag beginnt mein Mittel zu wirken. Und ausschlaggebend ist, daß niemand beweisen kann, daß der Terraner beeinflußt wurde.“ „Und das soll ich dir glauben?“ fragte der König. „Warum nicht“, erwiderte Prinz Enzin. „Selbst wenn du an meiner Treue zweifelst, so steht für mich als Thronfolger doch auch genügend auf dem Spiel.“ Der König lehnte sich zufrieden seufzend zurück. „Da hast du recht“, stimmte er zu. „Wenn du auch nicht um meinetwillen gehandelt hast, für dich hast du es sicher getan. Aber vielleicht triumphieren wir zu früh. Erkundigen wir uns bei dem Terraner, wie er sich zu diesen neuen Aspekten stellt.“ Er wandte sich an Fenton. „Sind Sie immer noch der Meinung, mich erpressen zu können?“ „Erpressung war nie meine Intention, König Anconte“, behauptete Fenton kühn. „Aber ich habe nach wie vor die Absicht, für die Freiheit der in der Wildnis lebenden Menschen zu kämpfen. Es mag sein, daß Prinz Enzin Gewalt über mich hat, obwohl ich es nicht merke. Aber das wird bei der Verhandlung nicht ausschlaggebend sein. Denn auch ohne mich anzuhören, hat das Gericht den Beweis Ihrer Schuld an der Katastrophe. Oder haben Sie geglaubt, die Evolutionspolizei wäre so leichtsinnig, sich die von mir gemachten Beobachtungen nicht auch schriftlich zu sichern?“ Es folgte Schweigen, in das König Anconte schließlich sagte: „Das habe ich geahnt. Ich habe mir gedacht, daß die Evolutionspolizei...“ „Glaube ihm nicht!“ fiel Prinz Enzin seinem Vater ins Wort. „Er versucht, durch diese leicht durchschaubare Lüge doch nur seine Haut zu retten.“ Unbeirrt sagte König Anconte. „Ich glaube, ich werde mich den Forderungen beugen müssen und meine Abdankung in Erwägung ziehen. Das ist kein ruhmreicher Ausweg, aber immer noch ehrenhafter als die Bloßstellung bei einem Prozeß.“ Prinz. Enzin war bis dicht an die Barriere gestürmt. „Willst du dich allein durch die Drohungen des Terraners in die Knie zwingen lassen“, schleuderte er seinem Vater entgegen. Er hatte in die Tasche gegriffen und hielt einen Impulsstrahler in der geballten Faust. „Hat dich das Alter so feige werden lassen, daß du Lavan IV kampflos aufgibst? Bist 72
du ein Feigling? Sag mir das!“ König Anconte blieb ruhig auf seinem Thron sitzen. „Ich habe Lavan IV schon lange aufgegeben“, sagte er ohne besondere Betonung. „Schon seit dem Tage, als das Experiment mißglückte. Lavan IV ist nicht zu halten. Es müßte viel Blut fließen, um diese Welt wieder zu beherrschen. Und das will ich vermeiden. Ich nahm mir immer vor, mich bei einer günstigen Gelegenheit zurückzuziehen. Jetzt wird sie mir geboten - und ich ergreife sie. Auch wenn sie von dem lächerlichen Wicht einer unterentwickelten Welt kommt. Doch sage mir eines, Terraner. Welche Sicherheit habe ich, daß die deponierten Beweise nicht doch gegen mich verwendet werden?“ „Nur ich kann den Umschlag, in dem sich die Unterlagen befinden, vor Prozeßbeginn öffnen“, erklärte Fenton. „Und da ich kein Interesse daran habe, daß Lavan IV unter eine neue Herrschaft gerät, wenn Sie auf Ihre Machtansprüche verzichten, werde ich den Umschlag vorzeitig vernichten.“ „Sie wollen also, daß Lavan IV zu einer unterentwickelten Welt degradiert wird?“ erkundigte sich König Anconte. „Lavan IV soll den Lavanern gehören“, antwortete Fenton. „Und damit meine ich jene hundert Millionen,.die in der Wildnis leben.“ „Genug!“ brüllte Prinz Enzin mit verzerrtem Gesicht. „Macht Schluß mit dem Palaver. Ihr werdet nicht so leichtfertig um das Schicksal dieses Planeten feilschen, denn er gehört mir. Und jetzt frage ich dich zum letztenmal, Vater, ob du wirklich so feige bist und abdanken willst. Überlege dir die Antwort gut, denn dein Leben hangt davon ab.“ „Du bist unvorsichtig in deinen Äußerungen“, rief König Anconte mit mildem Vorwurf. „Besinne dich! Würdest du mich wirklich töten, wenn du Gelegenheit hättest?“ „Ich habe schon seit zehn Jahren Gelegenheit dazu“, rief Prinz Enzin. „Aber ich wollte sie nie nützen, weil ich mir dachte, daß du keinen Schaden anrichten kannst. Doch jetzt bist du im Begriff, eine Torheit zu begehen, und ich werde dich unschädlich machen, wenn du dich nicht anders entschließt.“ „Welche Ratte habe ich zum Sohn!“ rief König Anconte. Mit fester Stimme fügte er hinzu: „Ich habe mich unwiderruflich entschlossen, Lavan IV den Lavanern zu überlassen.“ „Dann stirb!“ zischte Prinz Enzin und drückte den Knopf des Impulsgebers. Dadurch sollte ein Funkbefehl ausgelöst werden, der den riesenhaften als Baldachin getarnten Blattegel über König Aneontes Thron aus dem Tiefschlaf wecken sollte. Doch statt dessen geschah etwas anderes - der Blattegel löste sich auf, zerfiel zu Staub und schwebte als solcher zu Boden. „Ich habe dein Spiel 73
durchschaut und Vorsorge getroffen“, sagte König Anconte. Dann bellte er einen Befehl: „Major Gerlow, nehmen Sie Prinz Enzin wegen Hochverrats fest.“ Doch bevor Major Gerlow dem Befehl nachkommen konnte, wirbelte Prinz Enzin herum, durchquerte mit einigen Sätzen den Thronsaal und verschwand durch den Ausgang. „Ich habe auf dem Korridor weitere Wachen postiert, mein mißratener Sohn wird Ihnen genau in den Schuß laufen“, erklärte der König und seufzte. „Sie, Terraner, können jetzt gehen. Stehen Sie zu Ihrem Wort, wie ich zu meinem stehe. Aber werden Sie nur nicht zu überheblich, weil Sie einem König Ihren Willen aufgezwungen haben. Zum Teil entsprang dieser Entschluß meiner eigenen Initiative, denn ich wollte schon lange das begangene Unrecht gutmachen. Zum Teil haben Sie Ihren Erfolg auch Major Gerlow zu verdanken. Er hat mit seinen Ratschlägen gute Vorarbeit geleistet. Leben Sie wohl, Terraner.“ Für Gilbert Fenton gab es noch ein unangenehmes Nachspiel: Er trat den Rückflug zur Erde als Peraciodes Gefangener an. Gleich nachdem die Anklage gegen König Anconte geplatzt war, wurde Fenton unehrenhaft aus der Evolutionspolizei entlassen und unter Arrest gestellt. Peraciodes steckte ihn an Bord des Raumschiffs in eine Zelle, ohne sich seine Verteidigung anzuhören. Erst als das Raumschiff in eine Umlaufbahn um die Erde ging, wurde Fenton von Peraciodes besucht. Fenton erhob sich nicht von seiner Liegestatt, als der Evolutionspolizist in seine Zelle trat. Er stützte sich nur auf und sagte: „Sieh an, der Kommandant hat den Schmollwinkel verlassen.“ „Ich habe Sie anders eingeschätzt, Mister Fenton“, meinte Peraciodes betrübt. „Ich hätte nie geahnt, daß Sie eigentlich ein ganz dummer Junge sind.“ Fenton lächelte. „Es ist eine Wohltat zu erkennen, daß sich auch Sternenmenschen zu Unbeherrschtheiten hinreißen lassen, wenn sie sich nicht zu helfen wissen.“ Peraciodes lehnte sich an die Wand und blickte Fenton prüfend an. „Warum haben Sie das getan, Mr. Fenton?“ fragte er. „Sie haben mich in Teufels Küche gebracht.“ „Sie meinen, weil ich den Prozeß auffliegen ließ?“ Fenton zuckte leichthin die Schultern. „Ich hatte plötzlich das Bedürfnis, einen Evolutionspolizisten mal so richtig einzutunken.“ „Sie haben meine Beförderung verhindert“, sagte Peraciodes. Fenton hatte eine sarkastische Bemerkung auf den Lippen, aber dann dachte er, daß es zu weit gehen würde, Peraciodes noch mehr zu reizen. Deshalb schwieg er. 74
„Ich glaube nicht, daß Sie sich von König Anconte bestechen ließen“, sinnierte Peraciodes. „Bei all Ihren Fehlern - so charakterschwach sind Sie nicht. Aber warum haben Sie ihm den Rückzug so leicht gemacht?“ „Daß sich Anconte so leicht aus der Affäre ziehen konnte, war eigentlich nur eine Nebenwirkung“, sagte Fenton. „Mir ging es vor allem darum, den Lavanern die uneingeschränkte Freiheit zu geben.“ „Dann haben Sie versagt“, entgegnete Peraciodes. „Denn nachdem König Anconte freigesprochen wurde und anschließend den Planeten freigegeben hat, konnten wir nichts mehr für die Lavaner tun. Lavan IV wird zur unterentwickelten Welt erklärt und ist für das Imperium tabu. Es gibt kein Gesetz, das uns erlaubt, uns weiterhin um die Geschicke der Lavaner zu kümmern. Ja, das Gesetz verbietet es uns sogar.“ Fenton grinste. „Genau das wollte ich.“ „Das wollten Sie?“ „Und auch die Lavaner selbst wollten es“, fügte Fenton hinzu. Dann erklärte er: „Sehen Sie, Perac, wenn Anconte schuldig gesprochen worden wäre, dann wäre Lavan IV dem Imperium zugefallen. Dadurch wäre aber auch das Delikt eines Evolutionsverbrechens gegeben gewesen. Nach dem Gesetz hätte der Versuch unternommen werden müssen, den Zustand, der vor dem Verbrechen auf Lavan IV geherrscht hat, wiederherzustellen. Wäre das möglich gewesen?“ „Selbstverständlich, denn wir kennen die Strahlung, die König Anconte angewendet hat, um die Lavaner zu versklaven. An einer Gegenstrahlung wurde bereits gearbeitet.“ Fenton erzählte Peraciodes seine Erlebnisse bei den Lavanern der Wildnis und schilderte eindringlich deren neugewonnene Lebensgewohnheiten. Die Fähigkeiten, sich die Tierund Pflanzenwelt Untertan zu machen, setzte er dem staunenden Evolutionspolizisten mit besonderer Sorgfalt auseinander. Als Fenton geendet hatte, meinte Peraciodes: „Ich glaube, menschlich gesehen, haben Sie richtig gehandelt. Aber als Evolutionsagent haben Sie kläglich versagt. Ihnen mangelt es in erster Linie an Disziplin. Deshalb ist Ihre Entlassung auf jeden Fall begründet.“ „Schade, daß Sie mich nicht wieder einstellen“, meinte Fenton. „Dabei haben Sie mir zu Hause auf der Erde eine vollkommene Station eingerichtet.“ „Die werden wir selbstverständlich wieder demontieren“, erklärte Peraciodes. Fenton meinte schmunzelnd: „Das dürfte Ihnen allerdings nicht gelingen. Denn mein Freund Clifford Ramson hat inzwischen sämtliche Anlagen an einen verborgenen Ort gebracht.“ Peraciodes wurde ein wenig blaß. „Wenn Sie tatsächlich die 75
Frechheit besessen haben ... Das ist unglaublich! Wie soll ich nun den Verlust des sündteuren Materials meinen Vorgesetzten erklären?“ „Sagen Sie ganz einfach, Sie hätten einen Agenten angeheuert, der zwar nicht gerade mustergültige Disziplin besitzt, dies aber mit einem ungeheuren Tatendrang wettmacht“, schlug Fenton vor. „Wäre ich Ihnen doch nie begegnet“, stöhnte Peraciodes. Ende
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