CURD GORM
UNTERNEHMEN MAULWURF Ein Abenteuer-Roman aus der Welt der Zukunft
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CURD GORM
UNTERNEHMEN MAULWURF Ein Abenteuer-Roman aus der Welt der Zukunft
1. Kapitel „Jungs, das werden Schlagzeilen! Wenn sich nicht morgen früh die Leser im ganzen Empire überschlagen, fresse ich einen Besen.“ Billy Wilder vom Londoner „Sunday Star“ schnalzte genießerisch mit der Zunge und sah sich grinsend im Kreise seiner wartenden Kolleginnen und Kollegen anderer britischer Zeitungen um. Ein Fernsehkameramann winkte von seinem hohen Podest herunter. „He, Billy, wer ist dieser Professor Haddok eigentlich. Nie was von ihm gehört.“ Der Zeitungsmann tippte sich über so viel Naivität unmißverständlich an die Stirn. „Ganz große Nummer, Mensch. Leiter der Versuchsabteilung in den Elektronic-Werken!“ ELEKTRONIC-WERKE. Diese Buchstaben drängten mehrere Meter hoch vom Dach des Hochhauses in den Himmel und schienen fast die Wolken zu berühren. Hinter den Worten verbarg sich das Zentrum der europäischen wissenschaftlichen 3
Forschung, vor dem nur ganz selten einmal der Schleier des tiefsten Geheimnisses gelüftet wurde. Heute war einer dieser seltenen Tage: Die Elektronic-Werke hatten zu einer Pressekonferenz eingeladen. „Professor Haddok macht mit Ergebnissen jahrelang geheim betriebener Forschungen bekannt.“ So hatte es in den Einladungsschreiben gestanden. „Woran hat Haddok eigentlich gearbeitet?“ Wieder war es Billy Wilder vom „Sunday Star“, der auf diese Frage eine Antwort wußte. „Irgendetwas mit Fernlenkung und Fernsteuerung.“ Weiterer Auskünfte wurde der Reporter enthoben. In diesem Moment war es nämlich genau neun Uhr, und die schweren Stahltore des Werkes, vor denen sich die Reporter bis eben noch gedrängt hatten, öffneten sich. Die sonst untereinander so netten Kollegen schienen sich jetzt nicht mehr zu kennen. Jeder schob sich ungestüm nach vorn, jeder wollte als erster durch die Tore in den großen Innenhof des Werkes. „Aber, meine Herren!“ Direktor Richards lächelte ein wenig fassungslos der hereinstürmenden Meute entgegen. Es half nichts – er wurde umringt und sofort mit Fragen bestürmt. Richards zupfte an seiner schwarzen Krawatte und trat ein paar Schritte zurück. „Meine Herren! Ich kann Ihnen hier gar nichts sagen. Folgen Sie mir. Jeder von Ihnen bekommt einen guten Platz angewiesen, von dem aus jeder Versuch Professor Haddoks genau beobachtet und verfolgt werden kann. Für die Fotografen haben wir Extraplätze reserviert.“ Direktor Richards führte seine Gäste, die ihm in langer Reihe folgten und neugierige Blicke in die Hallen rechts und links am Wege warfen, quer durch das Werksgelände. Hinter der Halle IV warteten zwei Omnibusse, auf die er einladend wies. „Bitte, wir haben für Fahrgelegenheit gesorgt. Der Weg ist etwas weit.“ 4
Bei den Elektronic-Werken waren die Journalisten Überraschungen gewöhnt. Man war auch auf Geheimhaltung vorbereitet. Daß die Fenster der Omnibusse mit schwarzer Lackfarbe dicht übermalt waren und nicht einen einzigen Blick nach draußen gestatteten, ließ die Reporter kalt. Ohne weitere Fragen stiegen sie ein und überließen es den Fahrern, den richtigen Weg zu finden. Mehrere Kilometer außerhalb des eigentlichen Werksgeländes lag das Ziel der Fahrt. Die Busse hielten vor einer hohen Mauer, und jeder der Journalisten mußte sich ausweisen. Ein Mann der Werkspolizei verglich genau das Bild mit dem Inhaber und hakte dann den Namen auf einer Liste ab. Zu Fuß passierten die Journalisten ein schweres Stahltor. Ein paar Meter weiter wurden sie vorsichtig durch einen mit Hochspannung gesicherten Zaun geführt. Dann sahen sie das Versuchslaboratorium Professor Haddoks. Schmucklos stand ein wuchtiger Betonklotz inmitten der trostlosen Landschaft. Keine Menschenseele war zu sehen. Rechts und links vom Laboratorium ragten zwei Stahlmasten von über 50 Meter Höhe in den Himmel. Armdicke elektrische Kabel zogen sich vom Laborgebäude bis in die Spitzen der Masten. „Was habe ich gesagt?“ Billy Wilder triumphierte. „Irgendeine elektrische Geschichte hat der Professor ausgegraben.“ Er wies auf die vor dem Versuchslaboratorium stehenden Elektromotoren. Was allerdings die zwei modernen Sportwagen, ein landwirtschaftlicher Trecker und das viersitzige Sportflugzeug hier sollten, wußte er auch nicht. „Sie werden es früh genug erfahren. Darf ich mit dem Hausherrn, Professor Haddok, bekannt machen?“ Richards ging auf einen etwas gebückt gehenden Mann Mitte der Fünfzig zu, der jetzt aus dem Labor trat. Neben ihm ging eine junge Frau. 5
„Herrjeh, die hat mir ein Engel in seiner besten Laune geschickt!“ Billy Wilder starrte völlig geistesabwesend auf die Frau. Blutrot leuchteten die Lippen, in ihren grünen Augen leuchtete irisierend ein flackerndes, verheißendes Feuer. „Professor Haddok und seine wissenschaftliche Assistentin, Miß Sheila Norman.“ Direktor Richards drehte sich um. „Und das hier ist die sensationshungrige Meute, Professor, die Neuigkeiten von Ihnen erfahren will. – Ich glaube, wir zeigen den Herren der Presse erst einmal die praktischen Versuche und werden dann auf Fragen antworten.“ Sheila Norman war ein paar Schritte vorgetreten und zog so das Interesse auf sich. „Meine Herren von der Presse!“ Ihre Stimme war nicht laut, hatte aber jenen einschmeichelnden und faszinierenden Klang, der die Sprecherin immer und überall zum Mittelpunkt machte. Auch hier versagte die Stimme ihre Wirkung nicht. – Alle wendeten sich ihr zu. „Meine Herren! Die Elektronic-Werke wollen Sie heute mit den Ergebnissen von Professor Haddoks Versuchen bekannt machen. Ich möchte im Auftrage des Professors hier gleich zu Anfang betonen, daß es sich bei seinen Erfindungen um Dinge mit rein kaufmännischen Auswirkungen handelt. Sie haben wissenschaftlichen Charakter und nichts mit Rüstung oder neuen Waffen zu tun.“ „Kein Wunder, bei neuen Waffen hätte man uns bestimmt nicht eingeladen!“ Sheila Norman ließ sich durch diesen Einwurf eines Journalisten nicht aus dem Konzept bringen. „Ziel der Versuche von Professor Haddok war die Loslösung der elektrischen Energie von ihrem Träger. Oder mit anderen Worten“ – sie zögerte einen Moment – „die drahtlose Übertragung elektrischer Energie!“ Die Journalisten waren Überraschungen gewöhnt und nicht 6
so leicht aus der Ruhe zu bringen. Diese in simplen Worten gemachte Eröffnung verschlug aber auch ihnen die Sprache. Billy Wilder faßte sich zuerst wieder. „Das ist, wenn ich richtig verstanden habe, die Erfüllung eines seit Jahrzehnten geträumten Wunsches?“ Sheila Norman nickte. „Es ist der erfüllte Traum aller Elektriker und Hochfrequenztechniker, meine Herren! Die Erfindung Professor Haddoks dürfte gleiches Gewicht und gleichen Wert haben wie die Entdeckung des elektrischen Stromes überhaupt, wie die Erfindung der Dampfmaschine oder des Automobils.“ „Kann man sagen, daß ein neues Zeitalter der Elektrotechnik angebrochen ist?“ Die Frage kam von einem Rundfunkreporter. „Man kann es ohne Übertreibung sagen.“ Direktor Richards nickte. „Bedenken Sie die Auswirkungen der Erfindung. Professor Haddok überträgt drahtlos elektrische Energie. Man wird in Zukunft irgendwo einen Elektromotor aufstellen und einschalten. Er läuft, ohne daß er an ein Kabel angeschlossen ist!“ Billy Wilder hatte sich ganz nach vorn geschoben. „Sagen Sie, Miß Norman, auf welche Entfernung kann elektrische Energie drahtlos übertragen werden?“ „Das werden Ihnen die Versuche zeigen. Lassen Sie sich überraschen.“ Haddok war hinzugetreten und hatte die Frage beantwortet. Direktor Richards hatte die leichte Verstimmung des Professors bemerkt und erinnerte die Journalisten an die Verabredung, daß erst die Versuche gemacht werden sollten. Mit ein paar Worten beschwichtigte er die Journalisten und gab dann Sheila ein Zeichen. Während Professor Haddok zurück ins Laboratorium ging, erklärte sie: „Der Professor wird jetzt die Energiestrahler aufladen“, dabei wies sie auf die beiden Stahlmasten. „Anschließend 7
wird durch Rotlicht auf dem Dach des Hauses der Beginn der Versuche angezeigt. Zuerst wird ein Elektromotor Strom bekommen, anschließend ein anderer Motor in einem Traktor.“ Auf dem Dach des Versuchslaboratoriums glühte ein Scheinwerfer in grellrotem Licht auf. Gleichzeitig tönte aus dem Innern des Gebäudes tiefes Brummen. „Die Generatoren laden die Energiestrahler auf.“ Sheila Norman beobachtete die Sendemasten. Angespannt sah sie nach oben und deutete auf die schlanken Antennenspitzen. „Jetzt, meine Herren! Beachten Sie die elektrischen Entladungen an der Spitze der Antennen. Die Energie macht sich frei!“ Billy Wilder und seine Kollegen drängten sich um die schlanke Assistentin des Professors und starrten gebannt zu den Masten hinauf. Die Entladungen wurden immer größer. Meterlange Funkenbündel sprühten nach allen Seiten. Das Brummgeräusch aus dem Laboratorium war immer stärker geworden und schwoll zu orkanartigem Dröhnen an. Von den Antennen schlugen jetzt knatternd die Entladungen bis zur Erde. Die Masten wurden von einem Licht blauvioletter Färbung umspielt. Die sonst so wißbegierigen Journalisten hatten das Fragen vergessen. Wie ein entfesseltes Hölleninferno dröhnten und donnerten jetzt die Generatoren, zischten und sprühten die Funken von den Antennenmasten. Geballte Energie voll unheimlicher und gefährlicher Wucht wurde gebändigt. Die plötzlich eintretende Stille wirkte verblüffend. Mit einem Schlag waren alle Geräusche verstummt. Im gleichen Moment erlosch auch der Scheinwerfer auf dem Dach. „Ich schalte jetzt den ersten Elektromotor ein!“ Sheila Norman trat ohne Zögern zu einem hohen Podest aus Kunststoff, auf dem ein gewöhnlicher Elektromotor montiert war. Frei und offen lagen die Anschlußklemmen, zu denen 8
sonst die Stromleitungen führten. Statt dessen aber führte von den Klemmen eine kaum fünfzig Zentimeter hohe schlanke Antenne in die Luft. Ruhig, als sei alles wie sonst, als seien Kabel angeschlossen und würde der Strom vom nächsten Elektrizitätswerk geliefert, lief der Motor an. Er kam auf Touren, drehte sich schneller und schneller und lief schließlich mit der errechneten Geschwindigkeit und Umdrehungszahl. Die Erstarrung bei den Journalisten löste sich. Alles drängte auf den Motor zu. Die Fotografen fotografierten wie wild. Die Berichterstatter redeten auf die Frau ein. Aber sie wehrte alle Fragen mit einer Handbewegung ab. Statt dessen ging sie auf den Traktor zu, in den man einen schweren Elektromotor eingebaut hatte. An der Kühlerhaube des Fahrzeugs ragte wieder eine kurze Antenne steil nach oben. Wieder schaltete die Assistentin von Professor Haddok den Motor ein. Leise, kaum hörbar, begann der Traktor zu rollen, fuhr Bogen und Kurven und wurde schließlich von Sheila Norman genau vor den Journalisten angehalten. Sheila Norman wies auf das Dach des Versuchslaboratoriums, wo jetzt wieder der Scheinwerfer aufleuchtete. „Professor Haddok lädt die Energiestrahler neu auf!“ Im gleichen Augenblick setzte auch wieder der Lärm der Generatoren ein. Aber während beim ersten Versuch der Ton dumpf und dröhnend war, klang es diesmal schrill und kreischend. Die Assistentin blieb einen Moment wie erstarrt stehen. Dann wollte sie den Mund zum Schrei aufreißen. Die Journalisten und Direktor Richards starrten fassungslos auf die Frau. Plötzlich schien Sheila Norman wieder klar denken zu können. „Hinlegen! Alles ganz flach auf den Boden legen. Nehmen Sie Deckung! – Los! Schnell! – Auch Sie, Direktor!“ Sie warf einen Blick zum Laboratorium. „Irgend etwas stimmt nicht mit den Generatoren.“ 9
In dieser Sekunde sahen die auf der Erde Liegenden, wie sich das Versuchslaboratorium in seiner ganzen Masse anhob, in sich verdrehte und krachend zusammenstürzte. „Haddok ist drin, helft dem Professor!“ Erstickt klang der Schrei Sheila Normans. Doch ehe einer der Männer einen klaren Gedanken fassen konnte, brachen züngelnd und lodernd Flammen aus dem Gebäude, hüllten den ganzen Komplex in dichte, schwarze Rauchwolken und sperrten jeden Zutritt. Von fernher tönten die Signale der Werksfeuerwehr. Und während sich die Journalisten, Sheila Norman und Direktor Richards vor der immer stärker werdenden Brandhitze zurückzogen, begannen die Feuerwehrleute mit ihrer Arbeit. Schweigend verließen die Journalisten die Elektronic-Werke. Direktor Richards hatte ihnen zugesagt, so schnell wie möglich über das Schicksal Professor Haddoks und über die Ursache der Katastrophe Bescheid zu geben. Direktor Richards hielt sein Versprechen. Am nächsten Morgen brachten alle Zeitungen in großer Aufmachung ausführliche Berichte über die Vorgänge in den Elektronic-Werken. Billy Wilder schrieb im „Sunday Star“: „Nach stundenlanger Arbeit drangen die ersten Rettungsmannschaften in das völlig verwüstete und ausgebrannte Versuchslaboratorium ein. Vor der Hauptschalttafel, von der aus Professor Haddok seine aufsehenerregenden Versuche geleitet hatte, fand man seine völlig verkohlte Leiche. Nur die Tatsache, daß sich allein Professor Haddok während der Katastrophe im Gebäude aufhielt und der bei der Leiche gefundene schwere Siegelring aus Gold und die in Wissenschaftlerkreisen wohlbekannte Taschenuhr mit der Gravierung „Als Anerkennung für hervorragende Leistungen“ einwandfrei als Eigentum des Professors erkannt wurden, machte eine Identifizierung möglich. 10
Mit Professor Haddok verlor die Welt einen Wissenschaftler, der berufen war, bahnbrechend Neuland zu entdecken und der Menschheit neue Wunder zu erschließen.“ * Mit schwer in die Hände gestütztem Kopf las Direktor Richards die Berichte der Morgenzeitungen. Er las Zeile für Zeile, als könne er aus den Berichten der Augenzeugen die Ursache für den Tod des Professors herausfinden. Schließlich ließ er sich mit der Personalabteilung verbinden. Es dauerte nur einen kleinen Augenblick, dann meldete sich eine Sekretärin und fragte nach den Wünschen. „Wo macht Miß Norman heute Dienst?“ Die Sekretärin in der Personalabteilung sagte sachlich und ohne Erregung: „Miß Norman hat bereits am gestrigen Abend ihren Jahresurlaub angetreten. Sie fühlte sich durch die Katastrophe stark angegriffen und wollte sich erholen. Wir sahen keinen Grund, ihr den Urlaub zu verweigern.“ Direktor Richards wollte schon dankend den Hörer wieder auflegen, als ihm noch eine Frage einfiel: „Hat sie sich ordnungsgemäß abgemeldet?“ „Sicher, Herr Direktor. Miß Norman äußerte brieflich die Bitte um Urlaub. Wir haben ihr sofort telegrafisch unseren zustimmenden Bescheid gegeben.“ „Miß Norman ist in Urlaub. Nun, wir können warten. Schicken Sie mir bitte jemand zum Diktat herauf.“ 2. Kapitel Der Bankwächter McMillian sah etwas gelangweilt auf die große Uhr in der gespenstisch leeren Schalterhalle der Westminster Bank. 11
„Noch drei Stunden, und ich werde abgelöst.“ Gemächlich schritt McMillian durch die Halle, rüttelte an der vergitterten und verriegelten Eingangstür und wandte sich dann hinüber zur engen und steilen Wendeltreppe, die hinunter in die unterirdischen Tresorräume der Bank führte. Laut hallend schlug eine Kirchturmuhr die dritte Morgenstunde, als der Wächter die elektrischen Tiefstrahler auf der Wendeltreppe einschaltete und abwärtsstieg. Kalt und feindlich sperrte ihm die mehr als zwei Meter dicke Stahltür den Weg. Nur ein winziges Guckloch aus kugelsicherem Glas erlaubte McMillian einen Blick hinter die Tür, dorthin, wo in verschiedenen engen Gängen abzweigend die eigentlichen Tresorkammern lagen. Mehr aus Gewohnheit als aus Pflichtgefühl heraus tat McMillian den in der Dienstvorschrift der Westminster Bank vorgeschriebenen Blick durch das Guckloch. „Verdammt!“ Was er sah, verschlug ihm für einen Moment die Sprache und ließ sein Herz schneller schlagen. Der sonst so helle und saubere Tresorraum war nicht wiederzuerkennen. Dichte Staub- und Dreckwolken wälzten sich träge vor dem Guckloch hin und her. Und jetzt hörte McMillian auch ein Geräusch, wie er es in seinem Leben bisher noch nie vernommen hatte. Es war, als rumorten die bösen Geister der Unterwelt zu seinen Füßen, als kreischten über seinem Kopf mit schrillem Gelächter und satanisch grinsend Kobolde. McMillian hatte Angst, hundsgemeine Angst. Und obwohl er am liebsten irgendwohin geflüchtet wäre, blieb er stehen. Wie festgewachsen blieb er an der Stahltür zum Tresor stehen und starrte durch das Guckloch. Immer stärker war der Staub geworden, immer lauter drangen die Geräusche an sein Ohr. Erst als McMillian unter seinen Füßen ein Beben spürte, ein 12
leichtes Zittern, kehrte die Kraft zur Überlegung zurück. Noch einen Blick warf er durch das Glas, dann rannte er die Treppe zur Schalterhalle hinauf. Noch nie waren ihm die Stufen so hoch erschienen und noch nie die Treppe so steil. Er bemerkte gar nicht, daß das Beben schon auf den ganzen Bankbau übergegriffen hatte, und daß sich die Mauern verschoben. Knirschend drehte sich die Wendeltreppe langsam in sich selbst. Während er mit fliegenden Pulsen und keuchenden Lungen nach oben eilte, verfluchte er seinen Entschluß, in der Schalterhalle zu telefonieren. „Ich hätte am Tresor sofort den Alarmknopf drücken sollen!“ Hell und grell von den Tiefstrahlern beleuchtet tauchte McMillian am Ende der Treppe auf und blieb einen Moment stehen. Er kniff die Augen zu, um sich an die ihn umgebende Dunkelheit zu gewöhnen. Als er die Augen schloß, hob ein statuenhaft in der Mitte der dunklen Halle stehendes Schemen ruhig und ohne Hast den Arm, richtete seine Waffe auf McMillian und löste aus. Ohne einen Schrei, ohne überhaupt noch einmal die Augen zu öffnen, brach der Bankwächter zusammen. * In Scotland Yard war der Teufel los! Die Beamten standen vor einem Rätsel. Sie sahen sich wieder und wieder die Fotos von der Westminster Bank an oder was davon übrig geblieben war. „So etwas ist undenkbar!“ Chefinspektor Bullers, Leiter des Sonderdezernats im Yard, musterte spöttisch den jungen Inspektor, der eben kopfschüttelnd die Bilder zurückgab. „Undenkbar schon, Craison, da haben Sie recht. Aber trotz13
dem Tatsache. Damit müssen wir uns abfinden.“ Er nahm die Bilder nochmals zur Hand. Nichts war von der Bank stehengeblieben. Keine Mauer hatte standgehalten, kein Stein war liegengeblieben. Selbst der Stahltresor war demoliert. Wie man mit einem Büchsenöffner eine Sardinendose aufschlitzt, so waren die Stahlwände geöffnet. Es sah aus, als wäre mit einer überdimensionalen Säge gearbeitet worden. Als man das sah, wußte man, daß die Bank beraubt worden war. Beraubt von skrupellosen Gangstern, die um ihrer Beute willen ein ganzes Haus zerstörten und auch vor einem Mord nicht zurückschreckten. Ein Beamter trat ein und legte einen Stapel Karteikarten vor Chefinspektor Bullers hin. „Hier sind die Karten der Tresorspezialisten.“ Bullers dankte und blätterte in den Karten. Die Gilde der internationalen Geldschrankknacker dürfte hier kaum ihre Hand im Spiel gehabt haben. Diese Burschen arbeiteten anders. Die Leute in der Westminster Bank waren Außenseiter gewesen, die mehr wußten und mehr konnten, als nur Mauern durchstemmen und Tresore aufschweißen. Wenige Stunden später wurden in der Park Street zwei Banken ausgeraubt. Wieder lagen am nächsten Morgen Bilder auf dem Tisch des Chefinspektors. Sie unterschieden sich in nichts von den Aufnahmen der Westminster Bank. In der Park Street hatten einmal zwei Bankgebäude gestanden. „Gangster terrorisieren britische Banken!“ „Polizei steht vor einem ungelösten Rätsel!“ Das waren einige Überschriften der Londoner Morgenblätter, die Bullers auf seinem Schreibtisch vorfand und mit mehr als gemischten Gefühlen las. „Chefinspektor Bullers weiß nicht weiter!“ Diese Überschrift war schon mehr dazu angetan, den Chefin14
spektor aus seiner sonst so sprichwörtlichen Ruhe zu bringen und ihm das Blut ins Gesicht zu treiben. Er saß allein in seinem Dienstzimmer und starrte auf die Zeitungen. Er sah keinen Ausweg aus diesem Labyrinth ungelöster Rätsel. Alle Erfahrungen jahrzehntelanger Dienstzeit versagten. Schrill schlug die Glocke des Telefons an. „Nun, wie sieht es aus?“ Bullers hatte an der Stimme erkannt, daß der Gerichtsmediziner am Apparat war. Spannung schwang in der Stimme des Chefinspektors mit. „Sie hatten recht, Bullers! Alle sechs Toten aus der vergangenen Nacht haben die gleichen Verfärbungen der Haut über dem Herzen, wie McMillian von der Westminster Bank!“ „Also Mord mit einer unbekannten Waffe, Doc?“ „Das ist mit Sicherheit anzunehmen!“ Über die Art der Waffe und die wirkliche Todesursache hatte man noch nichts erfahren können. Für die Ärzte stand als Todesursache „Herzschlag“ in den Papieren. Ohne ein weiteres Wort hatte Chefinspektor Bullers das Gespräch beendet. Keine fünf Minuten später saßen die Beamten des Dezernats bei ihm im Zimmer und sahen gespannt auf ihren Chef. Er sah einen nach dem anderen an. „Die Täter haben Mittel und Wege gefunden, die auf ganz außergewöhnliche technische Kenntnisse schließen lassen. Leider hat keiner der Bankwächter einen Überfall überlebt und uns Hinweise geben können. Die Polizei kam bisher immer zu spät.“ Bullers hob die Stimme. „Das wird anders werden! Ab sofort ordne ich eine generelle Überwachung des gesamten Bankenviertels an. Die Streifen werden verstärkt, in den Banken werden Leute unseres Dezernats postiert!“ Während Chefinspektor Bullers seinen Beamten Anweisungen und Ratschläge gab, während man sich die Köpfe heiß redete und Vorschläge machte, während die Zeitungen in ihren 15
Mittagsausgaben neue Berichte über die Beraubungen veröffentlichten und mit scharfen Angriffen gegen die Polizei nicht sparten, griff in einem anderen Dienstzimmer von Scotland Yard ein untergeordneter Beamter zu einer Akte. Mit einem roten Schreibstift fügte er den Protokollen in der Mappe die Worte zu: „Als Ursache der Explosion und des Brandes wurde ein technisches Versagen neuer Maschinen ermittelt. Menschliche Schuld am Tode Professor Haddoks konnte nicht festgestellt werden. Die Ermittlungen in dieser Angelegenheit werden eingestellt!“ Dann nahm der Beamte einen breiten Gummistempel und drückte quer über das Aktenzeichen und die Worte „Unglück in den Elektronic-Werken“ den Vermerk: „Archiv – Erledigt!“ * Chefinspektor Bullers überdachte auf der Fahrt nach Hause noch einmal alle seine Anordnungen. Er hatte alles veranlaßt, was in der Macht der Polizei stand. Alle Banken waren gewarnt worden und hatten auch Hinweise bekommen, daß die Bande mit neuen Mitteln arbeitete, gegen die die bisher verwendeten Alarm- und Signalanlagen nicht mehr schützten. Der erste Erfolg dieser gutgemeinten Ratschläge waren mehrere Kündigungen von Wachleuten gewesen, und mehrere Bankdirektoren hatten in wenig schmeichelhaften Worten ihrer Meinung über die Fähigkeiten von Scotland Yard im allgemeinen, und der von Chefinspektor Bullers im besonderen, Ausdruck gegeben. Es hatte keinen Sinn, in alle Öffentlichkeit hinauszuposaunen, daß die erste Runde in diesem Krieg zwischen Polizei und den Gangstern ohne Frage an die Gangster gefallen war. Er hatte getan, was er konnte! 16
Ein wütendes Hupkonzert ließ Bullers den Kopf nach hinten wenden. Mit gerunzelter Stirn bemerkte er einen hellgrau lackierten Austin, dessen Fahrer rücksichtslos die vor ihm fahrenden Wagen beiseite drängte und sich nach vorn schob. „P 2341.“ Bullers Fahrer nannte die Kennummer des Austins. „Wollen Sie Anzeige erstatten, Chef?“ Inzwischen war der fremde Wagen aber schon an Bullers Fahrzeug vorbei, hatte die Spitze der Kolonne erreicht und ging dann auf höhere Geschwindigkeit. Nach ein paar Sekunden war er schon nicht mehr zu sehen. Bullers antwortete nicht auf die Frage seines Fahrers. Er dachte darüber nach, wo er den Austin heute schon einmal gesehen hatte. Der Dienstwagen hatte inzwischen das Stadtbild verlassen und war auf dem Wege nach Romford. Bullers schwärmte für ländliche Stille, für seinen kleinen Garten und noch mehr für einen nur ein paar hundert Meter von seinem kleinen Haus entfernten Teich, an dem man ihn am Wochenende angeln sehen konnte. Sein kleines Haus zwischen London und Romford, abseits der großen Straße war ein Ort, wo er für einige Stunden die Dienstgeschäfte vergaß und nur noch Mensch war. „Chef, ein Wagen vor uns hat Panne, und der Fahrer bittet um Hilfe.“ Zweihundert Meter voraus stand quer zur Fahrbahn ein Wagen und versperrte die Durchfahrt. Der Fahrer stand winkend davor. „Sieh an, unser Austin! Fahren Sie langsamer.“ Der Fahrer folgte der Anordnung und ließ den Wagen nur im Schrittempo weiterrollen. Es war eigentümlich und fiel Bullers erst jetzt auf. Schon seit Minuten hatten sie auf der sonst so belebten Straße kein einziges Fahrzeug gesehen. Sie waren allein mit dem Wagen vor ihnen. Ein ungutes Gefühl beschlich ihn. „Verflucht!“ 17
Bullers brauchte nicht nach der Ursache des Erschreckens seines Fahrers zu fragen. Hinter ihrem Wagen war aus einem Seitenweg plötzlich ein schwerer Lastwagen aufgetaucht, der sich ihnen langsam näherte. Ob der Fahrer des Polizeiwagens wollte oder nicht, er mußte nun noch weiter an den quergestellten Austin heranfahren. Zehn Meter davor hielt er. Etwa im gleichen Abstand hinter ihnen blieb auch der Lastkraftwagen stehen. Kein anderes Fahrzeug war in Sicht. Weder aus Richtung London, noch von der entgegengesetzten Seite her. Bullers wurde es etwas warm. Diese Situation hier hatte etwas Schwülgefährliches an sich. Vom Austin kam lässig und betont langsam der Fahrer herübergeschlendert. Bullers hatte ihn noch nie gesehen, würde sein Gesicht in Zukunft aber überall wiedererkennen! „Ich habe leider Motorschaden, Sir. Können Sie mir mit Werkzeug aushelfen? Oder noch besser, können Sie mich bis zur nächsten Ortschaft abschleppen?“ Ungeniert lehnte sich der Fahrer des Austin in Bullers Wagen hinein und musterte eingehend den Polizeichef. „Es tut mir leid!“ Bullers gab seiner Stimme einen gewollt festen Klang. „Ich bin auf Dienstfahrt und habe keine Zeit zur Hilfe.“ Er wies auf den Lastwagen. „Vielleicht finden Sie dort Werkzeug!“ „So ein Pech, Sir.“ Der Unbekannte lachte los. „Auch diese Herren dort haben Pech mit ihrem Wagen und können nicht weiter!“ Bullers verlor jetzt langsam die Geduld. Krampfhaft überlegte er, um einen Ausweg aus dieser Falle zu finden. „Nun, wie ist es? Können Sie mir helfen?“ „Nein! Ich betone nochmals, daß ich auf eiliger Dienstfahrt bin. Sicher wird in Kürze ein anderes Fahrzeug kommen.“ 18
„Dann entschuldigen Sie die Störung.“ Verblüfft starrten Bullers und sein Fahrer auf den Unbekannten, der nun plötzlich zurücktrat und den Weg freigab. „Wenn Sie sich ganz scharf links halten, werden Sie an meinem Wagen vorbeikommen!“ Weitere gute Ratschläge wartete Bullers Fahrer nicht ab. Er steuerte den Wagen geschickt um das Hindernis herum und ging sofort auf hohe Geschwindigkeit. Was sollte das alles nur? Bullers dachte angestrengt nach. Warum hatte man ihm die Autofalle gestellt, und daß es eine regelrechte Falle gewesen war, daran zweifelte der Chefinspektor nicht, wenn man ihn dann doch wieder laufen ließ? – Oder war die Panne des Austin doch echt gewesen, hatte der Fahrer wirklich Hilfe nötig gehabt? Aber warum war dann hinter ihnen der Lastkraftwagen aufgetaucht und hatte den Rückweg abgeschnitten? Viele Fragen, auf die er keine Antworten wußte. Er wurde noch verblüffter, als er vor der Abzweigung der Straße zu seinem Grundstück von der Straße nach Romford wieder den Weg versperrt fand. Diesmal aber durch ein Schild „Bauarbeiten“. Deshalb war ihnen also kein Fahrzeug entgegengekommen. Unschwer erkannte er, daß es sich um kein offizielles Schild handelte. Die Hintermänner der Autofalle hatten sich keine allzugroße Mühe gegeben. Wenn er nur die Hintergründe wüßte. Wenn er nur einen Sinn in das alles bringen könnte! Am nächsten Morgen konnte er es. * Kaum hatte er sein Dienstzimmer im Yard betreten und sich dabei einige Gedanken über das seltsame Verhalten seiner Kol19
legen gemacht, die ihn so eigenartig ansahen und kaum seine Grüße erwiderten, läutete schon das Telefon auf seinem Schreibtisch. „Sie sind wohl wahnsinnig gewesen, Bullers, das war die irrsinnigste Anordnung eines Polizeibeamten, die seit Bestehen von Scotland Yard je gegeben wurde!“ Bullers brauchte nicht zu fragen, wer am anderen Ende der Leitung war. Scotland Yards allgewaltiger Sir Malcolm, Chef der Polizei. „Darf ich fragen, Sir …“ „Sie dürfen nicht, Bullers! Kommen Sie sofort in mein Zimmer. Zehn Minuten habe ich Zeit für Sie. In diesen Minuten können Sie mir eine plausible Erklärung über Ihr Verhalten vorbringen. Anschließend habe ich Konferenz beim Innenminister. Thema Nummer eins der Konferenz sind Sie, Bullers. Eine etwas fragwürdige Ehre!“ „Jawohl, Sir. Ich komme!“ Noch immer hatte Bullers keine Ahnung. Erst nachdem ihn Malcolm zum Eintreten aufgefordert hatte und ihm ohne jeden Kommentar einen Stapel Zeitungen zuwarf, wußte er Bescheid. In der letzten Nacht waren wieder zwei Banken ausgeplündert worden! Neun Bankwächter hatten den Tod dabei gefunden! Bullers hob den Kopf. „Aber Sir, ich habe doch ausdrücklich angeordnet …“ Malcolm schnitt ihm das Wort ab. „Eben, lesen Sie weiter!“ Bullers las: „… vollkommen unverständlich ist das Verhalten von Chefinspektor Bullers, der genau über die Gefährlichkeit und die Raffinesse der seit einigen Nächten in London arbeitenden Bande Bescheid wußte. Trotzdem zog er jeden Polizeischutz der Banken kurze Zeit vor dem Überfall zurück! Warum tat Chefinspektor Bullers das? Es ist völlig unbegreiflich, daß er noch nachmittags energisch für verstärkte Streifen eintrat und eindringliche Warnungen für 20
die Wachmannschaften der Banken erließ, wenige Stunden später aber anderen Sinnes wurde und seine Befehle zurückzog.“ Bullers Kopf lief rot an. Er rang nach Luft. Die Zeilen des Berichtes tanzten vor seinen Augen einen wirren Reigen. Es war ihm unfaßbar, wie die Zeitungen solche offensichtlichen Lügen verbreiten konnten. Und noch unfaßbarer war, daß Sir Malcolm diesen Berichten Glauben schenkte. „Dummes Geschwätz eines sensationslüsternen Schreiberlings, den ich gehörig zur Rechenschaft ziehen werde!“ „Seit wann lügen Sie, Bullers? Seit wann haben Sie die Stirn, mir nicht die Wahrheit zu sagen?“ Malcolm sah seinen Chefinspektor voll an. „Menschenskind, Bullers, seit wieviel Jahren sind Sie im Yard?“ „23 Jahre, Sir.“ „23 Jahre. Eine lange Zeit, und man müßte meinen, daß Sie Erfahrungen gesammelt hätten!“ „Gewiß, Sir. Und diese Erfahrungen sagten mir, daß verstärkte Polizeistreifen im Bankenviertel die einzige und beste Lösung zum Schutz wären. Die verstärkten Streifen habe ich nachmittags eingesetzt!“ „Und abends“, Malcolm sah auf einen Notizzettel, „genau um 22.15 Uhr, wieder eingezogen!“ „Niemals habe ich meine Anordnungen widerrufen!“ Bullers geriet in Harnisch und schlug mit der Faust auf den Tisch, was Malcolm mit einem Zucken seiner Augen beantwortete. „Meine Anordnungen zum verstärkten Schutz der Banken sind nicht aufgehoben worden! Um 22.15 Uhr war ich in meinem Hause bei Romford. Ich habe den ganzen Abend nicht telefoniert und auch keinem Beamten einen Auftrag gegeben!“ „Sie waren nicht in Romford, Bullers.“ Wieder sah Malcolm seine Notizen durch. „Kurz vor 22 Uhr tauchten Sie im Yard auf und gaben die entsprechenden Anordnungen. Dann gingen Sie allein in Richtung Fleet Street und gaben genau um 22.15 21
Uhr dem Leiter der dortigen Polizeistreifen den Befehl, sofort alle Patrouillen einzuziehen.“ Bullers wußte nicht mehr weiter. Die Gedanken fuhren Karussell. Müde lehnte er sich zurück. „Sir, ich wiederhole nochmals: Ich traf gegen 20 Uhr in meinem Haus ein und habe die Wohnung bis heute morgen nicht mehr verlassen!“ Malcolm war nun doch etwas von der Eindringlichkeit seines Beamten beeindruckt. „Haben Sie Zeugen dafür?“ „Meine Haushälterin hat gegen 21 Uhr den Tee gebracht. Etwa eine halbe Stunde später habe ich mit Oberst Nottenham, meinem Nachbarn, über die Aussichten beim Rennen am nächsten Sonntag gesprochen.“ Er machte eine Pause und rang erschöpft nach Luft. „Genügt das, Sir?“ „Wir werden selbstverständlich Ihre Aussagen nachprüfen müssen, Bullers!“ „Selbstverständlich, Sir! Ich hatte es nicht anders erwartet.“ Für Bullers stand fest, daß ein Doppelgänger ihn unwahrscheinlich genau kopiert hatte und in seiner Maske die entsprechenden Befehle und Anordnungen gegeben hatte. Er mußte den Doppelgänger finden – vorerst aber sollte der Schutz der Banken neu und noch besser organisiert werden. Kaum in seinem Zimmer angekommen, begann Bullers mit der Prüfung der Protokolle über die Überfälle der letzten Nacht. Sie waren genauso dürftig wie die anderen. Es klopfte. „Ein persönlich an Sie gerichtetes Schreiben.“ Der Bote legte einen Brief auf den Schreibtisch, ließ sich den Empfang bestätigen und ging wieder. Unschlüssig drehte Bullers das Schreiben in der Hand. Was würde es ihm für neue Überraschungen bringen? Kein Absender – seine Anschrift war nur undeutlich hingekritzelt. 22
Vorsichtig öffnete er den Umschlag und zog eine Karte heraus. „Besuchen Sie mich so schnell wie möglich im Updown Krankenhaus. Zimmer 34 in der zweiten Etage.“ Unterschrieben war diese Mitteilung nicht. Chefinspektor Bullers wunderte sich langsam nicht mehr. Er war auf alle Überraschungen vorbereitet. Obwohl diese Bitte eines Unbekannten vermutlich nichts mit den Bankenüberfällen zu tun haben würde, und obwohl sich die dringend gemachte Einladung zum Besuch im Krankenhaus vielleicht nur als übler Scherz herausstellen würde, handelte er sofort. „Meinen Wagen, bitte!“ Kurze Zeit später war er unterwegs. Den Wagen ließ er zwei Querstraßen vor dem Updown Krankenhaus stehen und befahl dem Fahrer zu warten. Zu Fuß ging er das letzte Stück des Weges. „Wir haben jetzt keine Besuchszeit, Sir!“ Die rotblonde Schwester in der Anmeldung beugte sich weit aus dem kleinen Fenster heraus und machte mit den Händen abwehrende Bewegungen. Bullers lächelte im Vorbeigehen. „Ich weiß!“ Er hielt es aber nicht für nötig, weitere Auskünfte zu geben. Er verzichtete auch auf den Fahrstuhl und stieg langsam die Treppe nach oben bis in die zweite Etage. Der Gang war menschenleer. Nach kurzem Zögern drückte er die Klinke der Tür nieder und trat ein. In dem im Zimmer herrschenden Halbdunkel konnte Bullers nur undeutlich ein Bett erkennen. Eine am Kopf verbundene Gestalt richtete sich langsam auf. „Gott sei Dank, Chef, daß Sie sofort gekommen sind!“ „Craison? Zum Kuckuck, wie kommen Sie hierher?“ Bullers trat mit zwei schnellen Schritten an das Bett. „Wann hat es Sie erwischt, Inspektor?“ „Eins nach dem anderen, Chef. Setzen Sie sich erst einmal.“ 23
Er wies einladend auf den Bettrand. „Auf Besuch bin ich nicht eingerichtet.“ Bullers hatte keine Ahnung, wieso Craison ins Krankenhaus gekommen war und wo er seine Verletzungen erlitten hatte. Craison horchte lauschend zur Tür. „Los, Craison, schießen Sie los! Ich habe wenig Zeit, denn die Banküberfälle …“ „Eben, Chef, eben! Darum bat ich Sie hierher. Ich glaube, ich kann Ihnen einige Hinweise geben!“ Der Chefinspektor setzte sich kerzengerade auf und hatte plötzlich sehr viel Zeit. „Hinweise? Sie? Was wissen Sie, Craison?“ Der verletzte Inspektor versuchte, sich im Bett etwas aufzurichten, legte sich dann aber stöhnend wieder zurück. „Ich weiß gar nichts, vermute aber sehr viel.“ „Vermutungen habe ich selber. Zu viele sogar.“ „Aber auch die richtigen, Chef? Haben Sie schon einmal was vom Maulwurf gehört?“ „Craison, wollen Sie mich verulken?“ „Nein, Chef. Hören Sie einmal zu!“ Und dann erzählte Inspektor Craison seinem Vorgesetzten eine lange Geschichte. Als Bullers das Krankenhaus verließ, glaubte er, daß es nicht mehr allzulange dauern würde, bis man wußte, wo die Gangster zu finden waren. 3. Kapitel Craison hätte sich vor Wut und Enttäuschung alle Haare einzeln ausrupfen können. Als er vor zwei Wochen aus dem Updown Krankenhaus verschwand und gleichzeitig mit seinen korrekten Maßanzügen auch dis bisherige Identität ablegte und dafür die zwar zerlumpte, aber haargenau in seine neue Umgebung passende Kleidung eintauschte, war er voller Tatendrang gewesen. 24
Aber genau seit jener Nacht war nicht ein einziger Überfall mehr erfolgt. London atmete schon wieder auf und würde bald alle Schrecken vergessen haben. Jetzt saß er schon wieder geschlagene zwei Stunden an seinem ersten und einzigen Bier in der „Jolly Tavern“. Zwei Stunden, in denen er sich für alle nur möglichen Objekte anbot, in denen er zungenfertig sein Können und seine Fähigkeiten angepriesen hatte. Allzusehr brauchte er nicht aufzuschneiden. In den zwei Wochen seines neuen Lebens hatte er sich schon einen recht guten Namen gemacht. Immerhin kamen in diesen Tagen schon Beteiligungen an sieben Einbrüchen, vier Autodiebstählen und einer Kinokassenberaubung auf sein Konto. „Na, Ebbe in der Brieftasche?“ Craison sah aus den Augenwinkeln zu dem Frager auf. Nick Patterson, der Wirt der Jolly Tavern, stand hinter ihm. Sein Herz begann aus einer unbestimmten Vorahnung heraus schneller zu schlagen. Aber er beherrschte sich. „Spaß an einer finanziellen Aufbesserung?“ „Wenn’s was einbringt, schon.“ „Das richtet sich nach dir selbst, mein Junge!“ Nick Patterson setzte sich zu Craison und beugte sich dicht an ihn heran. „Collins braucht einen Lastkraftwagen. Muß aber mindestens ein Dreitonner sein.“ Craison nickte nur. Er brauchte keine Fragen zu stellen. Wenn Collins, einer der Anführer in Londons Unterwelt, etwas brauchte, dann mußte man das ganz einfach stehlen. „Was springt für mich ab?“ Nick Patterson kratzte sich am Hinterkopf und sah grinsend sein Gegenüber an. „Zwanzig Pfund?“ Craison hatte genug Erfahrungen gesammelt und wußte um die Einschätzung solcher Arbeiten. „Du bist verrückt. Ich besorge den Kasten nicht unter 50!“ 25
„Holla, unser Kleiner bekommt Starallüren. Collins bietet als äußerstes 25 Pfund. Das ist aber das letzte Wort!“ „Nur weil ich völlig blank bin, sage ich ja. Wann braucht Collins den Wagen?“ „Heute Nacht. Genau um 23 Uhr mußt du mit dem Wagen am Nelson Square sein. Schaffst du das?“ „Sicher! Jetzt aber schnell noch ein Bier.“ Während Craison an seinem ersten Bier ein paar Stunden lang gesessen hatte, schüttete er jetzt das Getränk in einem Zug hinunter. Er hatte wirklich Durst bekommen. Außerdem wurde es auch langsam Zeit, um sich nach einem passenden Dreitonner für Collins umzusehen. Craison kannte keine Gewissensbisse bei seinem jetzigen Vorhaben. Unbewußt spürte er, daß dieser Auftrag ihn näher an die Hintermänner der Banküberfälle heranbringen würde. Auch beim letzten Überfall hatte ein Lastkraftwagen eine Rolle gespielt. Unwillkürlich beschleunigte Craison seine Schritte durch die dunklen Straßen. Dann hatte er den passenden Wagen gefunden und wartete auf eine günstige Gelegenheit. Es ging alles ganz leicht. Leise ließ er den Wagen anrollen, und dann fuhr er durch das nächtliche London. * Craison fühlte sich völlig sicher. Er schaltete das Rundfunkgerät des Wagens ein und zündete sich eine Zigarette an. Langsam bog er zum Nelson Square ein. Obwohl er eine Überraschung erwartet hatte, zuckte er zusammen, als plötzlich aus dem Schatten eines Hauses eine nur undeutlich erkennbare Gestalt auf das Trittbrett des Wagens sprang. 26
„Lichter aus, du Idiot! Jetzt links halten! Langsamer! Siehst du die Toreinfahrt?“ Craison nickte und richtete sich nach den Anweisungen des Mannes auf dem Trittbrett. In der dunklen Toreinfahrt flammte das dünne Licht einer Taschenlampe auf und wies ihm den Weg. Der Wagen bog ein, und sofort schlossen sich schwere Stahltore. Er zog die Bremse an und sah sich um. In diesem Moment leuchteten taghell Lampen auf, und Craison sah, daß er im hinteren Teil einer großen Garage war. Kein Mensch kümmerte sich um ihn. Craison war es nur recht. Er trat ein paar Schritte zur Seite und zündete sich eine neue Zigarette an. Vier oder fünf Mann machten sich am Wagen zu schaffen, montierten die Nummernschilder ab und wechselten sie gegen andere aus. Flinke Hände rissen die Plane des Wagens ab und winkten zur Decke der Garagenhalle, wo sich surrend ein Kran in Bewegung setzte. Vorsichtig manövrierte der unsichtbare Kranführer seine Last genau über die Ladefläche des Wagens und ließ sie herab. Craison starrte sich die Augen aus dem Kopf, um die Last des Krans genau erkennen zu können. Nervös trat er einen Schritt vor und drückte die Zigarette zwischen den Fingerspitzen aus. Jetzt wuchteten die Männer schwere Batteriekästen auf den Lastkraftwagen und schlossen sie mit armdicken Gummikabeln an das seltsame Gerät an. Andere stellten einen Antennenmast auf und kurbelten ihn ein paarmal zur Probe auf und nieder. „Verdammt, was machst du hier noch?“ Ein stiernackiger Kerl mit weit in den Nacken zurückgeschobenem Hut baute sich vor Craison auf. „Ich warte auf meine 25!“ 27
Der Stiernackige sah sich um, und Craison folgte dem Blick. Vor dem Gerät auf dem Wagen stand eine junge Frau. Mit geschickten Handgriffen schaltete sie im Innern des Gerätes haarfeine Drähte zusammen, prüfte mit einer aufzuckenden und wieder verlöschenden Glimmlampe die Anschlüsse und regulierte an den vielen Skalenscheiben und Drucktasten. Das eben noch tote und leblose Gerät bekam jetzt Energie und begann zu arbeiten. Die Kontrollampen glühten. In der ganzen Halle war ein aus dem Gerät kommendes durchdringendes Summen zu hören. „Warte einen Moment. Übrigens, ich bin Collins!“ Der Stiernackige ließ Craison stehen und wendete sich der Frau zu. Der Inspektor nahm sofort die Gelegenheit wahr und trat noch näher an den Wagen heran. Die junge Frau ließ sich bei ihrer Arbeit nicht stören. Craison wunderte sich, wie diese gar nicht in die Umgebung passende Frau hierher gekommen sein mochte. Sie trug ein weit ausgeschnittenes Abendkleid, ihr Haar war modisch frisiert, und ihre zierlichen Füße steckten in hochhackigen, fersenfreien Pantoletten. Ihre gepflegten Hände hatten wohl noch nie schwerere Arbeit verrichtet. Und noch etwas fiel Craison auf. Die Augen der Frau schienen durch alle hindurchzusehen. Es war, als ob dort auf dem Lastkraftwagen eine lebende Tote stand. Als ob ein Mensch Bewegungen ausführte, von denen er selbst nichts wußte und spürte! Irgendwie kam ihm die Frau bekannt vor. Irgendwo hatte Craison ihr Bild schon einmal gesehen. Aber wo? Und in welchem Zusammenhang? Weitere Überlegungen konnte er nicht mehr anstellen. Mit einem kleinen Aufschrei sackte die Frau plötzlich zusammen. Hilflos lag sie auf der schmutzigen Ladefläche des Wagens. Sie hatte die Augen geschlossen und stöhnte leise. 28
Collins sprang auf den Wagen und schüttelte unsanft die Daliegende. „Stehen Sie auf. Machen Sie weiter!“ Hilflos sah sich der Stiernackige um. Er hatte nichts mehr von seiner Selbstsicherheit an sich. Craison stieg gleichfalls auf den Wagen und beugte sich über die Frau. „Haben Sie Schmerzen?“ Die Frau nickte nur, ließ aber die Augen geschlossen. Sie stöhnte und preßte die Hände auf die rechte Seite des Leibes. „Seit wann haben Sie die Schmerzen? Schon länger?“ Craison glaubte die Krankheit erkannt zu haben. „Seit ein paar Tagen. Heute morgen wurde es sehr schlimm. Aber er schickte mich trotzdem her.“ „Wer schickte Sie her? Von wo kommen Sie?“ Craison konnte nicht weiterfragen. Collins hatte seine Fassung wiedergewonnen und riß ihn zurück. „Das geht dich nichts an, Junge! Hörst du. Du tätest gut daran, wenn du alles schnell vergessen würdest. Ganz schnell sogar!“ Craison zuckte nur mit den Schultern. „Und was ist mit ihr? Wenn sie nicht schnellstens zum Arzt kommt, könnte es zu spät sein!“ „Meinst du?“ Collins wurde blaß. „Blinddarm! Wenn es gut geht, ist es nur eine Reizung. Vielleicht muß sie operiert werden.“ „Sie kann nicht weiterarbeiten?“ Wie gebannt hingen Collins Augen an Craisons Lippen. Für ihn hing sehr viel von der Antwort ab. „Ausgeschlossen! Du siehst doch, daß sie sich nicht mehr auf den Beinen halten kann.“ Collins wurde immer nervöser. Schließlich schien er einen Entschluß gefaßt zu haben. Er sah auf die Uhr. „Es ist jetzt 23.40 Uhr. Um genau 24 Uhr muß der Wagen mit dem betriebsfertigen Gerät in der Fleet Street sein!“ 29
Craisons Herz machte einen Sprung. Fleet Street! Er hatte tatsächlich die richtige Spur gefunden. Seine Ahnungen hatten ihn nicht betrogen. „Wer kennt so ein Gerät?“ Collins wies auf den seltsamen Apparat auf dem Lastkraftwagen und sah sich bei den Männern um. Als sich keiner meldete, verließ ihn die Zuversicht. „Verdammt noch mal! Der Wagen muß in 20 Minuten in der Fleet Street sein!“ Er schrie fast. Wieder sah er einen nach dem anderen an. „100 Pfund für den, der das verfluchte Gerät bedienen kann!“ Craison überlegte. Hier bot sich ihm eine Chance, wie sie wohl nie wiederkommen würde. Sollte er es wagen und versuchen? Würde man nicht zu sehr auf ihn aufmerksam werden? Egal, es mußte versucht werden. „Ich war mal Funker – im Krieg – U-Boot-Funker.“ „Mensch, ran. Aber schnell!“ Collins kramte in seiner Brieftasche und hielt Craison zwei weitere 50-Pfund-Noten hin. „Noch 25 mehr – für den Wagen!“ „Hier, Junge, nun aber schnell!“ Craison ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. „Collins, ich muß wissen, was das Gerät für einen Zweck zu erfüllen hat. Es ist kein normales Funkgerät, wie ich sehe. Wenn ich einen Fehler beim Schalten mache, dann fliegt uns unter ungünstigen Umständen der ganze Laden hier in die Luft. Haben wir Glück, nun, dann ist nur das Gerät für alle Zeit hinüber.“ Collins kämpfte einen schweren Kampf mit sich selbst. Craison half etwas nach. „Nur noch zwölf Minuten, Collins. Es eilt!“ „Gut, hör zu.“ Collins beugte sich vor und flüsterte es ihm ins Ohr. „Genau weiß ich es auch nicht. Bin schließlich kein Techniker. Ich weiß nur, daß mit dem Gerät keine Funkzeichen gegeben werden, sondern elektrischer Strom gesendet wird – oder so etwas Ähnliches.“ 30
Hatte sich Craison von der Auskunft eine Hilfe erhofft, so sah er sich enttäuscht. Im Gegenteil, die seltsamen Andeutungen hatten ihn nur noch mehr verwirrt und ihm die letzte Sicherheit genommen. Fieberhaft begann er nachzudenken. Das Gerät sollte elektrischen Strom senden. Da hatte er doch erst kürzlich etwas darüber gelesen. Über neue Versuche, die allerdings mit einer Katastrophe endeten. Er hatte gar nicht mehr auf die junge Frau zu seinen Füßen geachtet. Erst als sie an seinen Hosenbeinen zerrte, blickte er zu ihr. „Batterien mit Kondensatoren koppeln“, flüsterte sie. „Dann den Plusschalter einstellen und die Energiestrahler vorwärmen!“ Craison gab sich alle Mühe, den Anordnungen zu folgen. Jedesmal, wenn er einen Draht anschloß, wenn er einen Schalter einrasten ließ und Stecker stöpselte, sah er auf die Frau. Nickte sie, dann hatte er es richtig gemacht. Schüttelte sie den Kopf, versuchte er es mit einer anderen Verbindung. Sie sprach weiter. „Am Treffpunkt genau um 0.10 Uhr die Antenne ausfahren und die Energiestrahlen freigeben.“ „Wie freigeben?“ „Die Kontakte in der Reihenfolge Beta, Gamma und Delta freigeben. – Genau auf Welle 13.24 Meter senden. Genau auf 13.24 Meter …“ Die Frau war wieder ohnmächtig geworden. Craison warf einen Blick auf die Uhr. Es war 23.50 Uhr. 4. Kapitel Die Minuten dehnten sich zu Ewigkeiten. Craison vermeinte den Schlag seines Herzens zu hören. Die Wartezeit schien kein Ende zu nehmen. 31
Noch sechs Minuten. Craison hatte plötzlich einen wahnwitzigen Gedanken. Wenn er das Gerät nun nicht zur vereinbarten Minute einschalten würde oder auf einer anderen Frequenz sendete, was würde dann geschehen? Noch fünf Minuten. Er spürte, wie ihm der Schweiß von der Stirn rann und ätzend und brennend in die Augen lief. Mit einer fahrigen Bewegung wischte er sich das Gesicht ab. Kein Mensch war in der Fleet Street zu sehen. Kein Mensch, den er warnen konnte, der etwas tun konnte. Was sollte er unternehmen, wie sollte er sich jetzt entscheiden? Craison hätte gern allen Ruhm dafür gegeben, wenn er jetzt, in diesem Augenblick, Bullers an seiner Seite gehabt hätte. Wenn er dem Rat des erfahrenen Kollegen hätte folgen können und nicht ganz allein auf sich gestellt gewesen wäre. Noch vier Minuten. Starr sah er auf den Sekundenzeiger seiner Uhr, der monoton und eintönig über das Zifferblatt glitt. Kamen ihm sonst oft die Sekunden lang vor, so schien es jetzt, als flöge der Zeiger nur so dahin. Und noch immer wußte er nicht, wie er sich verhalten sollte. Menschenleben hingen jetzt von seinem Tun ab. Das Leben der im Innern der Bank gegenüber wachenden Männer lag in seiner Hand. Craison, du hast eine schwere Bürde auf dich genommen! Noch drei Minuten. Craison gab das Überlegen auf. Es hatte keinen Zweck, schon jetzt Entschlüsse zu fassen, die er vielleicht doch nicht ausführen konnte. Er mußte es dem Augenblick überlassen, wie er sein Handeln einrichten mußte. Noch zwei Minuten. Jetzt war Craison ganz ruhig geworden. Noch einmal hob er 32
die Plane etwas an und sah hinaus. Menschenleer war die Straße. Nur in der Ferne hörte man den Lärm der Autos und sah den hellen Lichterschein der grellen Reklamen am Himmel. Noch eine Minute. „Genau auf Welle 13.24 Meter einstellen …“ Craison ließ die Zeiger der Meßinstrumente auf den Skalen spielen. Noch zehn Sekunden! Noch neun – acht – sieben – sechs – fünf – Vier – drei – zwei – eins. – Jetzt! Mit einem Griff schob er die Plane zurück und kurbelte den Antennenmast hoch. Gleichzeitig drehte er den Energieschalter an. Sofort hörte er das Summen des Apparates. Noch immer lag die Fleet Street wie vorher auch. Nichts hatte sich verändert. Oder etwa doch? Der schwere Lastkraftwagen schien ganz leicht zu schaukeln, schien ganz sachte von einer Seite auf die andere zu schwanken. Noch fingen die Federn aber die Stöße ab. Dann aber schwoll ein Dröhnen und Röhren aus der Erde, das klang, all zöge ein fernes Ungewitter, weit hinten am Horizont, zusammen. Craison liefen eisige Schauer über den Rücken. Er spürte Angst. Er war Gewalten ausgesetzt, die ihn beherrschten und nicht mehr losließen. Die ihn fesselten und in ihren Bann schlugen, ohne daß er auch nur einen einzigen Finger zu seiner Rettung bewegen konnte. Dann geschah es! Kaum zwanzig Meter vor dem Wagen wölbte sich die Straßendecke. Dicke Teerbrocken wurden durch die Luft geschleudert und weggewirbelt. Es war, als sei ein gigantischer Maulwurf bei der Arbeit. Ein Krater tat sich in der Erde auf. Polternd stürzten die Erd33
schollen nach unten. Und in diesem Inferno des Lärms tauchte eine seltsame Maschine auf. Bahnte sich schlingernd und schwankend einen Weg hinauf auf die Straße. Der „Maulwurf“. Zigarrenförmig war der Leib des „Maulwurfs“, aus schuppigen Stahlplatten zusammengefügt. Knirschend schob es sich auf Raupenketten voran. An der Spitze drehte sich, immer langsamer werdend, ein riesiger Bohrer mit weit vorspringender Spitze. Jetzt blieb der „Maulwurf“ still liegen. Es schien, als sammele er Kraft für den nächsten Sturm. Immer heller und greller war der Summton aus Craisons Gerät geworden. Am Raupenfahrzeug wurde eine kurze Antenne ausgefahren. Mit einem Blick kontrollierte Craison die Einstellung der Sendefrequenz. Sie hatte sich, wohl durch das Schwanken des Lastkraftwagens, um zwei Grad verschoben. Hastig korrigierte er den Fehler. In der Maschine aus der „Unterwelt“ öffnete sich eine kleine Luke und der Kopf eines Mannes schob sich heraus. „Collins, Sie senden noch genau zehn Minuten weiter. Anschließend sprengen Sie den Wagen. Wie üblich!“ Collins war schon aus dem Wagen herausgeklettert und lief auf den „Maulwurf“ zu. „Zurück, Collins. Keine Diskussionen. Sie kennen meine Befehle.“ „Warum kommt Sheila nicht?“ „Miß Sheila ist krank, Sir!“ „Was? Und das sagen Sie mir erst jetzt? Wo ist sie?“ „Im Stützpunkt 2, Sir. Sie hat was mit dem Blinddarm. So sagt Craison jedenfalls.“ Der Unbekannte in der Maschine holte tief Luft. Offenbar verstand er von Collins Gerede nur die Hälfte. „Wer ist denn schon wieder Craison?“ 34
„Der Mann am Sender. Ein neuer!“ Um den aufsteigenden Zorn des Unbekannten zu besänftigen, fügte er hinzu: „Zuverlässig, Sir. Er hat auch den Wagen besorgt!“ Craison war jetzt auch vom Wagen heruntergestiegen und schlenderte langsam auf die Maschine zu. Der Unbekannte rief ihn an. „Sind Sie Craison?“ Nur Frechheit kann mich jetzt retten, dachte Craison. Und unbewußt tat er das, was in dieser Situation getan werden mußte. Er bewegte sich ungezwungen, sprach frei und ohne Hemmungen. „Sie haben den Sender bedient?“ „Ja, Sir. Es blieb keine andere Wahl. Von den anderen im Stützpunkt 2 hatte ja keiner eine Ahnung vom Funken, geschweige denn von Hochfrequenztechnik.“ „Haben Sie nach einem Arzt geschickt?“ Der Gangster war verblüfft, als er ohne Widerrede antwortete. „Ja, natürlich. Ich habe Martin losgeschickt.“ „Gut!“ Craison sah wieder zu dem Unbekannten auf, gleichzeitig sah er auf seine Uhr. „Sir, die zehn Minuten Sendezeit sind gleich um.“ „Verdammt. Sie haben recht.“ Einen Moment zögerte er. „Wir blasen heute nacht ab!“ Der Unbekannte winkte Craison zu. „Kommen Sie rein. Ich glaube, ich kann Sie gebrauchen. Köpfe, in denen noch Verstand sitzt, sind selten!“ Ehe sich die Luke wieder schloß, schrie er noch Collins zu: „Sprengen Sie jetzt den Lastkraftwagen und verschwinden Sie!“ Dann rasselte dröhnend die Lukenöffnung zu. Craison fand keine Zeit mehr sich umzusehen. „Setzen Sie sich hierher.“ Der Unbekannte wies auf einen schmalen Sitz neben Sich. „Schnallen Sie sich fest! Die Fahrt ist unruhig!“ Nach dem ersten Schrecken sah sich Craison neugierig um. 35
Der Mann neben ihm hatte nichts vom Typ eines brutalen Gangsters an sich. Im Gegenteil, seine Sprechweise und Handlungen zeugten von einer Kultiviertheit hohen Grades. Nur in seinen Augen war ein ungewisses Etwas, eine tödliche Kälte, die den Charakter des Mannes kennzeichnete. Ruhig und gelassen saß der Mann hinter der Steuertafel und bediente die Maschine. Aufmerksam beobachtete er ein kompaßähnliches Gerät, dessen pendelnder Zeiger ihm den Weg wies. Neben ihm lag ein Plan mit vielen Linien, Strichen, Kreisen und Zahlenangaben. Craison konnte unschwer erkennen, daß es sich hier um einen Plan des unterirdischen Kanalisations- und Versorgungsnetzes der Stadt London handelte. So etwas wie eine gewisse Hochachtung kam Craison an. Gewiß, der Mann neben ihm war ein Gangster war ein Mörder der übelsten Sorte, der ohne Gewissensbisse über Leichen ging und etliche Menschenleben skrupellos ausgelöscht hatte. Gleichzeitig aber beherrschte dieser Mensch neue technische Gebiete, in die bisher vor ihm niemand eingedrungen war. Craison war wohl der erste Mensch, der hinter den Schleier des Geheimnisses um die Maschine sehen konnte. Der Gangster lehnte sich etwas bequemer zurück. Er hatte die schwierigste Wegstrecke hinter sich gebracht. „Nun, irgendwelche Fragen, Craison?“ „Warum haben Sie das Unternehmen heute nacht aufgegeben?“ Der Gangster schien gerade auf diese Frage gewartet zu haben. „Miß Sheila ist wichtiger als Beute. Aber das werden Sie kaum verstehen.“ O doch! Craison verstand sehr gut. Der Mann brauchte eine verläßliche Hilfe. Und diese Hilfe war für ihn die junge Frau mit dem Namen Sheila. Wie ein Blitz durchzuckte Craison plötzlich die Erkenntnis. 36
Sheila – Shells Norman. So hieß die Assistentin eines Professor Haddok, der bei elektronischen Versuchen in den ElektronicWerken ums Leben gekommen war. Bei Versuchen, die eine verteufelte Ähnlichkeit mit den Dingen hatten, die jetzt der Unheimliche neben ihm beherrschte. Sollte etwa die Katastrophe in den Werken nicht zufällig gewesen sein? Hatte der Unheimliche den Professor ermordet, um sich in den Besitz der Erfindung zu setzen? Zuzutrauen war es ihm! Es gab eigentlich keine andere Möglichkeit. Craison nahm sich vor, nach Erledigung des Unheimlichen auch den Fall in den Elektronic-Werken noch einmal genau zu überprüfen. * Im kleinen Büro der Garage am Nelson Square, kurz „Stützpunkt II“ genannt, beugte sich ein Arzt über Sheila. Mit sicherem Blick hatte er die richtige Diagnose gestellt. „Blinddarmentzündung! Es wird allerhöchste Zeit, daß die Frau in ein Hospital kommt.“ Der Arzt kümmerte sich nicht um die um ihn herumstehenden Männer und wunderte sich auch nicht über den Anruf mitten in der Nacht, der ihn zu einer bildhübschen jungen Frau rief, die mitten auf dem von Dreck und Öl verschmierten Fußboden einer Garage lag. Er hatte eine Schußverletzung erwartet, Messerstecherei oder Verätzungen durch Säure. Das waren seine Spezialitäten – und die Gauner von Londons Unterwelt wußten das. „Sie muß ins Krankenhaus. – Wo ist Collins? Ich muß wissen, ob die Frau ohne Gefahr für euch hier weg kann.“ Die Männer zuckten mit den Schultern. „Herrgott, Jungens. Hier kann es um Leben und Tod gehen. Die Frau muß sofort operiert werden.“ 37
Der Arzt und die Männer wurden einer Entscheidung enthoben. Draußen vor der Garage stürzten krachend Mauern ein. Der „Maulwurf“ war aufgetaucht und stand in der Garage. Die Luke öffnete sieh, und Craison kletterte heraus. Die Männer wichen zurück. „Faß mit an!“ herrschte Craison den Arzt an. „Aber …“ „Faß an, sag ich dir! Schnell!“ Achselzuckend gehorchte der Arzt und trug die Frau ein paar Schritte hinüber, wo sie von dem Gangster in Empfang genommen wurde. Hinter ihr kletterte Craison in die Maschine, die sich sofort wieder in Bewegung setzte und in der Erde verschwand. Gerade noch, ehe jeder Laut der Außenwelt von der Stahlluke verschlossen wurde, hörte Craison das ihm so wohlvertraute Geräusch der Polizeisirenen. Endlich war die Polizei munter geworden und machte Jagd auf sie! Er, der Unheimliche und Sheila Norman würden entkommen, das war sicher. Aber die anderen Gauner konnten ihrem Schicksal nicht mehr entgehen.
5. Kapitel Craison ging die bestimmt nicht geheuchelte unerschütterliche Ruhe des Gangsters langsam auf die Nerven. Wohl schon zwei Stunden lang waren sie unterwegs. Das rumorende Gepolter der unterirdischen Fahrt hatte sich nach einiger Zeit gelegt. Jetzt hörte man nur noch das leise aber stetige Summen der Antriebselektromotoren. Nicht ein einziges Wort hatte der Mann am Steuerpult ge38
sprochen. Nachdem sie, Sheila hereingetragen hatten und der Gangster nach einer kurzen Untersuchung eine simple Reizung festgestellt hatte, war nicht mehr gesprochen worden. Sheila hatte eine schmerzstillende Spritze bekommen, nach der sie sofort in einen ruhigen Schlaf gefallen war. In der Maschine war nur wenig Platz für Craison. Die beiden Sitze waren von dem Unheimlichen und der Frau belegt. Der Inspektor kauerte zwischen Eisenstreben, sinnverwirrenden Apparaten und armdicken Kabelschlangen. Er versuchte, sich etwas zu bewegen, um wenigstens wieder den Blutkreislauf in den Adern anzuregen. Dabei sah der „Unheimliche“ auf. „Kommen Sie näher heran, Craison. Setzen Sie sich hinter mich. Wir haben noch gut eine Stunde Zeit bis zum Ziel.“ Craison folgte der Aufforderung. „In Ordnung, Sir. Was soll ich in Zukunft bei Ihnen tun?“ „Meine Befehle ausführen! Nur meine Befehle bedingungslos und ohne Widerrede ausführen!“ Die Stimme des Mannes klang hart und zu allem entschlossen. Craison spürte auch ohne Drohung mit irgendwelchen abschreckenden Mitteln, daß der Mann es ernst meinte, und daß er mit aller Strenge und Härte auf Ausführung seiner Befehle bestehen würde. „Das bedarf keines besonderen Befehls. Sie sind der Boß und befehlen.“ „Ich dürfte jetzt schon einer der reichsten Menschen auf der ganzen Erde sein. Und in kurzer Zeit wird es keinen mehr geben, der auch nur einen einzigen Penny mehr hat als ich!“ Triumph schwang in der Stimme mit. Maßlose Eitelkeit, für die es keine Grenzen gibt. Etwas schien den Mann zu hemmen, weiterzusprechen. Mißtrauisch sah er Craison an, konnte aber in dessen Gesicht weder Neugier noch Sensationslust sehen. 39
Der Inspektor hatte sich gut in der Gewalt und wußte sein Gesicht zu beherrschen. „Craison, Sie sind der dritte, der das Innere der Maschine zu sehen bekam.“ Er wendete sich einen Moment ab und kontrollierte die Skaleneinstellungen. „Die Maschine ist etwa 20 Meter lang und hat einen Durchmesser von knapp drei Metern!“ Er bemerkte den Blick von Craison. „Der meiste Raum wird von den Maschinen eingenommen. Für Menschen ist nicht viel Platz.“ Er lachte. „Nun, es ist kein Vergnügungsfahrzeug, sondern es dient ganz bestimmten Zwecken!“ „Der Beraubung von Banken, phantastisch!“ Der Gangster nickte geschmeichelt. „Nicht nur dafür, junger Freund, ist die Maschine gebaut. Nicht nur! Ich habe noch ganz andere Dinge vor. Die Banken, oder besser, ihr Geld, sind erst der Anfang. Sie müssen mir den finanziellen Rückhalt geben!“ „Wer Geld hat, der kann die Welt beherrschen! Für Geld werden die Menschen zu willenlosen Kreaturen, mit denen man machen kann, was man will. Geld und Gold sind der Schlüssel zur Macht. Und Macht will ich haben. Mächtiger und immer mächtiger will ich werden. Meine Macht soll sich ausdehnen über den ganzen Erdball!“ Craison ging auf die überspannten Tiraden nicht ein. Er wollte mehr über die Maschine erfahren. „Es gibt für uns keine Hindernisse?“ Bewußt wendete er das Wörtchen „uns“ an. „Nein, für mich gibt es keine Hindernisse auf der Welt mehr! Ich fahre auf der Straße, quer über die Äcker, durch Wände und Häuser hindurch. Stärkster Stahlpanzer ist mir nicht gewachsen. Ich fahre unter der Erde und unter dem Wasser!“ Unter dem Wasser! Jetzt wußte auch Craison, warum das Fahrgeräusch so leise geworden war. Die Maschine hatte nicht mehr den Widerstand des Erdreichs zu überwinden. 40
Er fragte weiter. „Und wenn wir angegriffen werden?“ „Wer wagt es, mich anzugreifen? Meine Waffen sind denen der Gegner überlegen. Es kostete mich nur eine einzige Fingerbewegung und ganze Kompanien würden dahingemäht werden!“ Der Inspektor verzichtete auf weitere Fragen und wartete schweigend auf das Ende der Fahrt. Etwa eine Stunde später verlangsamte die Maschine ihre Geschwindigkeit. Der Mann neben ihm betätigte einige Schalter, und über seinem Platz glühte eine Bildröhre auf. Craison sah in die Wunderwelt der See. Ein starker Scheinwerfer warf seinen gebündelten Lichtstrahl voraus. Fische glotzten neugierig in das Licht, prallten gegen das Sicherheitsglas des Scheinwerfers und stoben erschreckt beiseite. Bizarr geformte Gewächse rankten und wucherten über den ebenen Boden der See. Langsam, nur noch Meter für Meter vorwärtskommend, rollte der „Maulwurf“ weiter. Das Wasser verlor seine Dunkelheit und bekam eine hellere Färbung. Sie mußten schon dicht unter der Oberfläche sein. Der grelle Scheinwerfer erlosch. Statt dessen zuckte nun ein violetter Lichtstrahl in rhythmischem Impuls durch das Wasser. Angespannt verfolgte der „Unheimliche“ die Zeigerausschläge auf seinen Instrumenten. „Fernsteuerung des Unterwassertores durch Impulsstrahl“, erklärte er, ohne aber auch nur einen Blick zur Seite zu wenden. Craison starrte gebannt auf die Bildröhre und überhörte die weiteren Worte des Mannes vor ihm. Erst als er sagte: „Ich steuere Stützpunkt I an. Übrigens, ich begrüße Sie in Frankreich!“ sagte er: „In Frankreich?“ „So nennt man dieses Land. Craison. Für mich ist es Stützpunkt I. Ländergrenzen existieren für mich nicht mehr!“ 41
Craison wußte jetzt, warum der „Unheimliche“ nach seinen Banküberfällen immer so spurlos verschwinden konnte. Der Yard hatte in London gesucht, hatte seine Ermittlungen auf England ausgedehnt, aber nie den Schlupfwinkel im Ausland gesucht. Flughäfen und Schiffslinien waren so genau kontrolliert worden, daß niemand auf diesen Gedanken gekommen war. * Jetzt, nachdem die Anspannung der letzten Stunden vorüber war, seine Nerven und sein Körper zur Ruhe kamen, spürte Craison eine Schwäche. Er hätte auf der Stelle umfallen und sich zum Schlaf hinlegen können. „Kommen Sie mit!“ Der „Chef“ führte Craison durch mehrere Gänge und blieb schließlich vor einer Tür stehen. „Hier werden Sie wohnen!“ Die weiteren Worte hörte der Inspektor kaum noch. Angezogen und verdreckt wie er war, warf er sich auf das Bett. Er kümmerte sich nicht um das mokante Lächeln des „Chefs“, der breitbeinig in der Tür stand. Ehe er einschlief, hörte er noch, wie sich kreischend der Schlüssel von außen im Schloß seiner Tür drehte. Macht nichts! Nur schlafen. Tief und lange schlafen! * „Sieh da, Sie sind bei der Morgentoilette.“ Unhörbar war der „Chef“ eingetreten und hatte ungeniert den Gummivorhang vor dem Duschraum zurückgezogen. „Ich habe Ihnen eine angenehmere Kleidung mitgebracht!“ Er wies auf das Bett, wo mehrere weiße Oberhemden und ein neuer Anzug lagen. 42
Er setzte sich und sah zu, wie sich Craison umzog. Genießerisch rauchte er eine Zigarette und sah dem Qualm nach, der sich spielerisch kräuselnd zur Decke zog und dort in den Entlüftungsschacht gesaugt wurde. Craison folgte dem Blick. „Wo sind wir überhaupt?“ „In einem ehemaligen U-Boot-Bunker des Atlantikwalls!“ Selbstgefällig setzte er hinzu: „Selbstverständlich habe ich zahlreiche Umbauten vornehmen lassen und alles für meine Zwecke hergerichtet.“ „Zu viele Mitwisser, Chef, sind nicht immer gut. Hundert Arbeiter können von den Bauarbeiten hier berichten, und auf uns aufmerksam machen.“ „Machen Sie sich da keine Sorgen, Craison!“ Der „Chef“ kicherte amüsiert. „Es gab hundert Bleiblöcke, junger Freund. Für jeden einen! Die See hat noch keinen losgelassen!“ Craison hätte aufspringen mögen, um dem Kerl die Faust ins Gesicht zu schlagen. Er hätte ihm die Schmerzen und Leiden zufügen mögen, die dieser Satan anderen antat. Das Grauen war im Gefolge dieser Bestie in Menschengestalt. Der Tod war sein ständiger Begleiter. Aber er beherrschte sich. * Obwohl es schon 12 Uhr mittags war, frühstückte Craison noch ausgiebig. Der „Chef“ ließ ihm Zeit und störte ihn nicht. Erst nach dem letzten Schluck Tee erhob er sich und wies Craison an, ihm zu folgen. Die weiten Gänge des früheren Bunkers strahlten im Licht der Leuchtstoffröhren. Auf dem Betonfußboden hallten die Schritte der beiden Männer dumpf wider. Sie waren jetzt in einem anderen Teil des weitläufigen Bun43
kergeländes angekommen. Anstatt der kalkigen Helle der Leuchtstoffröhren strahlte ein indirekt leuchtendes Licht von den Wänden. Hinter einer Gangbiegung versperrte ein Eisengitter den Weg. Aber anstatt mit einem Schlüssel aufzusperren, richtete der „Chef“ ein Gerät in der Größe einer Taschenlampe auf das Schloß. Der Craison schon bekannte violette Strahl zuckte auf, und lautlos hob sich das Gitter vor ihnen in die Höhe. Der „Unheimliche“ reichte Craison den Strahler. „Hier, der Schlüssel ist für Sie bestimmt. Mit ihm können Sie alle Türen öffnen. Für ein paar Tore habe ich mir allerdings einen Spezialschlüssel vorbehalten.“ Wieder öffnete der „Chef“ mit einem Strahler eine Tür und nötigte Craison zum Eintreten. „Sheila, darf ich Ihnen meinen neuen Mitarbeiter vorstellen?“ Der „Chef“ weidete sich kichernd an Craisons sprachlosem Staunen. Wie hatte es Sheila geschafft, so schnell wieder gesund zu sein? Craison konnte es sich nur so erklären, daß der Chef ihr erneut eine Spritze gegeben hatte. Zusammen gingen sie hinüber in einen großen Raum, der das Aussehen einer Werkhalle hatte. Modernste Werkzeugmaschinen arbeiteten vollautomatisch. In der Mitte des Raumes stand ein zweiter „Maulwurf“. Drei willenlose Helfer bauten gerade die Steuerinstrumente ein. „Ich hoffe, daß diese Maschine die Vollkommenheit selbst wird. Wenn Sheilas Berechnungen stimmen und Sie genug Geschick haben, Craison, werden wir schon übermorgen starten können!“ Mehr sagte der „Chef“ nicht. Übermorgen! Das bedeutete, daß in 48 Stunden ein neuer Banküberfall stattfinden würde. In 48 Stunden mußte Craison seine Aufgabe lösen. 48 Stunden können sehr viel Zeit sein, sie können aber auch wie Sekunden vergehen. 44
In einem nüchtern eingerichteten Büro wies der „Chef“ ihnen Arbeiten an. Sheila führte Berechnungen aus und übermittelte die Ergebnisse komplizierten Elektronengehirnen, die die Einzelergebnisse dann zusammenzogen und auswerteten. Diese Ergebnisse hütete der „Chef“ wie seinen Augapfel. Entweder vernichtete er sie sofort, oder er schloß sie in ein Safe ein, für das er allein die Zahlenkombination wußte. Zu gern hätte Craison einmal einen Blick in den Safe geworfen. Er war aber mit anderen Aufgaben beschäftigt. Er schaltete Steuer- und Impulsgeräte zusammen und mußte sich alle Mühe geben, um die komplizierten Anordnungen auch richtig auszuführen. Der „Unheimliche“ hatte ihn zu seinem Mitarbeiter gemacht, weil er von ihm überdurchschnittliche Kenntnisse erwartete. Er durfte ihn nicht enttäuschen. 48 Stunden lang mußte er das Spiel noch mitspielen! Schon zum wiederholten Male war Craison aufgefallen, daß Sheila ihn aufmerksam und prüfend ansah. Doch jedesmal, wenn er diesen Blick bemerkte und ebenfalls fragend zu ihr schaute, senkte sie den Kopf und beugte sich mit doppeltem Eifer über ihre Berechnungen. Der „Unheimliche“ schenkte ihnen keinen Blick. Stumm und verbissen saß er über einer winzigen Apparatur und schaltete haarfeine Drähte mit winzigen Spulen und Kondensatoren zusammen. Jedesmal anschließend machte er eine Prüfung, aber der Zeigerausschlag am Meßinstrument schien seine Erwartungen nicht zu erfüllen. * Auch am nächsten Morgen saßen sie wieder im Laboratorium. Es war ein immer wiederkehrender Arbeitsrhythmus, der durch nichts unterbrochen wurde. 45
Frühmorgens war Craison schreckhaft zusammengezuckt. Mitten im tiefsten Schlaf ertönte aus einem in der Wand angebrachten Lautsprecher die Stimme des „Chefs“ und weckte ihn. Als er die Augen öffnete, sah er in das verhaßte Gesicht. Ein Teil der Mauer neben dem Bett war zurückgeglitten und hatte eine Bildröhre freigegeben. Ohne sich um das Bild zu kümmern, hatte Craison seinen Raum durchsucht, fand aber weder Lautsprecher, noch Bildröhren oder gar Fernsehaufnahmekameras. Erst als der „Chef“ amüsiert lachte und ihn anrief: „Haben Sie gefunden, was Sie suchen?“ gab er es auf. Lässig antwortete er und deutete auf den Bildschirm. „Sie können mich auch sehen?“ „Natürlich, Craison. Sie wissen doch, daß mir nichts verborgen bleibt!“ Craison war sich nun darüber klar, daß in jedem Zimmer Fernsehaufnahmekameras und Mikrophone angebracht waren, die dem „Unheimlichen“ jede Bewegung und jeden Laut übermittelten. Alle Fäden liefen beim „Chef“ zusammen, er allein leitete alles! * Sheila hatte eine neue Berechnung fertiggestellt und sie dem Elektronenhirn übergeben. „Zurück!“ Der „Chef“ schrie schrill und mit sich überschlagender Stimme. „Zurück!“ Gleichzeitig sprang er auf, drängte Sheila beiseite und riß den Streifen mit den Ergebnissen des Gehirns an sich. „Es ist erreicht. Jetzt gehört die Welt mir, mir ganz allein. Der ganze Erdball liegt mir zu Füßen!“ Er wischte sich den Schweiß ab. Es wurde ihm wohl klar, 46
daß er sich eben eine Blöße gegeben hatte. Sofort wurde er wieder ruhiger. Nach den neuen Formeln schaltete er das letzte Gerät zusammen und maß es durch. Es funktionierte wie erwartet. „Nachmittags wollen wir es praktisch erproben. Craison, machen Sie sich fertig für einen kleinen Ausflug!“ Er wendete sich Sheila zu. „Sie schlafen jetzt etwas. Sie müssen nachher frisch sein!“ Vorsichtig nahm der „Chef“ das zerbrechliche Gebilde aus Röhren, Drähten und Instrumenten vom Tisch und trug es vor sich her. Kaum hatte er den Raum verlassen, als sich wie auf Verabredung die Blicke von Sheila und Craison wieder trafen. Es war das erstemal, daß sie allein zusammen waren, das erstemal, daß Sheila frei und offen reden konnte. Craison legte seinen Schraubenzieher beiseite und schaltete den Lötkolben aus. Er lächelte zu ihr hinüber, stand dann auf und näherte sich ihrem Arbeitsplatz. „Ich glaube, Sie zu kennen, Miß Sheila.“ Völlig unkonventionell setzte er sich zu ihr auf die Kante des Schreibtisches und bot ihr eine Zigarette an. Dankend nahm sie an und ließ sich Feuer geben. „Das beruht auf Gegenseitigkeit. Wenn ich mich nicht täusche, habe ich Sie auch schon einmal gesehen.“ Beide sahen sich an und überließen sich ihren Gedanken. Jeder hatte etwas zu sagen, zögerte aber aus Angst, ein falsches Wort zu sagen. Sie fühlten ihre Verbundenheit, hatten aber noch keine Gewißheit. Craison sah zur Tür. „Sind Sie schon lange hier?“ „Nur etwa eine Woche länger als Sie!“ „Also vom ersten Tage an!“ „Der erste Tag.“ Beide wußten, daß damit die erste Bankberaubung in London gemeint war. 47
„Ja, vom ersten Tag an. Vielleicht sogar noch etwas länger!“ Obwohl sie unbestimmt sprach, wußte Craison, daß die Frau mit diesen Worten ihre Tätigkeit in den Elektronic-Werken meinte. Sheila hatte einen Entschluß gefaßt. Aber ehe sie ein Wort sagte, stand sie auf, öffnete die Tür und sah hinaus in den Gang. Der „Chef“ war nicht zu sehen! „Craison, mein voller Name ist Sheila Norman.“ Sie machte eine erwartungsvolle Pause. Craison grinste etwas amüsiert und verbeugte sich ironisch. „Sie gestatten, meine Dame, Craison – Will Craison!“ „Lassen Sie die Scherze!“ Sheila Norman war ernsthaft aufgebracht und böse. „Wir müssen die günstige Gelegenheit nützen und endlich Klarheit zwischen uns beiden schaffen. – Wie gesagt, ich bin Sheila Norman. Erste Assistentin des verunglückten Professors Haddok in den Elektronic-Werken. Sagt Ihnen das etwas?“ „Ich ahnte es, Sheila.“ Er kümmerte sich nicht um das Erstaunen der Frau und fragte weiter: „Wie kommen Sie hierher? Wie konnten Sie sich zu einer Mitarbeit bei diesem Mann entscheiden?“ „Man ist manchmal in seiner eigenen Entschlußkraft etwas gehemmt!“ Craison wußte, was mit diesen Worten gemeint war. „Er hat Sie entführt?“ „Vermutlich! Genau weiß ich es auch nicht. Am Abend nach der Katastrophe klingelte bei mir in der Wohnung das Telefon. Es meldete sich Direktor Richards von den Elektronic-Werken, der sich erst einmal wegen der späten Störung entschuldigte, mich aber dann bat, sofort noch einmal ins Werk zu kommen!“ „Was gab er für einen Grund an?“ „Keinen. Aber es leuchtete mir ein, daß man mich nach dem Unfall noch einmal sprechen wollte. Heute weiß ich, daß es ein fingierter Anruf war, der mich aus dem Haus locken sollte.“ 48
Craison hörte aufmerksam zu. „Richards oder der Mann, der sich für ihn ausgab, sagte, daß mich ein Werkswagen abholen würde. Ich hatte keinerlei Zweifel. Ich stieg ein paar Minuten später in den angekommenen Wagen. Seitdem weiß ich nichts mehr. Ich verlor das Bewußtsein und wachte erst hier wieder auf.“ Der Yardinspektor überlegte. Die Erzählung von Sheila Norman klang echt und wahr. Aber ob es wirklich die reine Wahrheit war, das wußte er nicht. Ebensogut konnte dieses Gespräch eine Falle sein, in der er sich verraten sollte. Sheila merkte den Zweifel ihres Gegenübers und ahnte, was ihn zum Schweiz gen bewog. Aber auch sie hatte jetzt Angst vor ihrem eigenen Mut bekommen. Wenn Craison nicht der war, für den sie ihn hielt, sondern tatsächlich eine der Kreaturen des „Chefs“, dann hatte sie sich in tödliche Gefahr begeben. Dann würde er nicht zögern, und sie gnadenlos beseitigen. Craison sah das Zucken in den Mundwinkeln der jungen Frau. Beruhigend legte er ihr seine Hand auf den Kopf. „Nicht weinen, Sheila. Das ganze Abenteuer wird Ihnen bald nur noch wie ein böser Traum vorkommen.“ Seine Worte klangen hoffnungsvoll und zuversichtlich. Und obwohl Sheila Norman noch immer keine Bestätigung dafür hatte, daß Craison tatsächlich auf ihrer Seite stand und den „Chef“ bekämpfte, sah sie mit neuem Mut in die Zukunft. * Gerade hatte Craison seinen unbequemen Sitz auf der Schreibtischkante verlassen und sich grübelnd zurück an die Arbeit begeben, als sich auch schon die Tür öffnete und der „Chef“ eintrat. Er sah auf die Uhr. „Kommen Sie, Craison!“ Ohne ein weiteres Wort wendete sich der „Chef“ um und ging voraus. Craison 49
folgte ihm, warf aber vorher Sheila noch einen aufmunternden Blick zu. Im Zimmer des „Chefs“ nahm sich Craison unaufgefordert einen Platz und wartete ab. „Wie lange war ich eben wohl beim Einbau des NP 3 Gerätes nicht im Raum?“ „Etwa eine halbe Stunde.“ Verwundert fragte sich Craison, was der „Chef“ mit ihm vorhatte. „Nun, wir wollen hören, was diese halbe Stunde Interessantes gebracht hat.“ Unheimliche Ahnungen überkamen den Yardbeamten, als der „Chef“ in aller Ruhe aufstand, zur Tür trat und das Schloß fest verriegelte. Dann setzte er sich wieder, schlug die Beine übereinander und meinte: „Nur zur Vorsicht! Auch dies ist nur zur Vorsicht!“ Dabei griff er in die Schreibtischschublade und richtete dann einen Revolver auf Craison. „Wir wollen es nicht spannender machen, als es so schon ist!“ Der „Chef“ stand auf und trat zu einem Wandschränkchen, ließ dabei aber Craison nicht aus den Augen und hielt ständig die Waffe auf ihn gerichtet. Was Craison sah, verschlug ihm den Atem. In den Schrank war ein Tonbandgerät eingebaut. Die Spulen drehten sich – das Gerät stand auf Aufnahme. „Sie haben uns überprüft?“ „Natürlich, Craison. Hätten Sie etwas anderes in meiner Situation getan?“ Dabei beobachtete er Craison scharf. Der aber saß nach wie vor ruhig in seinem Sessel. Meisterhaft beherrschte er sich. Craison hatte keine Chance mehr. Wenn er seine wahre Identität auch nicht zugegeben hatte, so würde sein Verhalten auf die Schilderung Sheila Normans doch gewisse Rückschlüsse über seine Einstellung möglich machen. Er hatte ihren Aufenthalt hier einen „bösen Traum“ genannt. 50
Diese drei Worte würden genügen, um den „Unheimlichen“ mißtrauisch zu machen. Eine Flucht aus dem Raum war nicht möglich. Die Tür war versperrt, und der Gangster hatte den Schlüssel abgezogen. Bei einem Kampf hätten seine Fäuste gegen die Waffe wenig Aussichten gehabt. Der „Chef“ würde schießen. Das stand fest! „Nun, Craison! Sie sind erstaunt? Haben Sie mir nichts zu sagen? Sind Sie einer von den kleinen Neugierigen, die sich einbilden, es mit mir aufnehmen zu können? Craison! Ich erwarte Ihre Antwort!“ „Lassen Sie endlich das Tonband ablaufen. Dann wissen Sie alles, was Sie wissen möchten!“ Craison hatte es satt. Er hatte verloren! Nur einen kleinen Augenblick dachte er an sich selbst. Viel länger verweilten seine Gedanken bei Sheila Norman, der er vor ein paar Minuten noch Mut und Hoffnung zugesprochen hatte. Und jetzt brauchte er Mut und Hoffnung selbst so nötig! „Ich wiederhole, Sir. Lassen Sie das Band ablaufen.“ „Ich höre es lieber aus Ihrem Munde, was Sie mir zu sagen haben.“ Craison hatte plötzlich ein untrügliches Gefühl für diese Situation. Wenn dies alles hier nur Theater war, wenn der Gangster nur bluffte und ihn zu einem Geständnis bringen wollte, ohne daß er auch nur den geringsten Beweis in den Händen hielt? Der Yardmann setzte alles auf eine Karte. „Zum dritten Male, Sir. Hören Sie sich endlich das Band an und lassen Sie mich in Frieden. Sie wissen genau, wer ich bin! Ich habe nichts zu verheimlichen!“ Gespannt beobachtete Craison die Reaktion bei seinem Gegenüber. Und tatsächlich, der schien überzeugt zu sein. Er stand auf und schaltete das Tonbandgerät aus. Schweigen herrschte zwischen den beiden Männern. Erwartete Craison nun einen Hinweis, daß es sich tatsächlich nur um 51
einen Bluff gehandelt hatte, dann sah er sich getäuscht. Der Mann ging ohne ein weiteres Wort zu anderen Dingen über. „Kennen Sie sich in Paris aus?“ Craison hütete sich, diese Frage wahrheitsgemäß zu beantworten. Obwohl er bereits mehrmals die französische Hauptstadt besucht hatte und sich zumindest im Zentrum einigermaßen auskannte, schüttelte er den Kopf. „Nein, Sir. Leider nicht!“ „Hier, studieren Sie diesen Plan!“ Er bekam eine große Karte zugereicht, wie er sie schon einmal auf der Fahrt durch das unterirdische London gesehen hatte. Genau und exakt waren auf dem Plan alle Versorgungsleitungen der Stadt an der Seine eingezeichnet. „Sehen Sie sich den Plan genau an.“ Der „Chef“ kreuzte zwei Stellen an. „Hierher müssen Sie mit geschlossenen Augen finden können.“ Craison nickte, sagte aber nichts. „Wir werden außerhalb des Flughafens an die Erdoberfläche kommen. Von dort aus werde ich nach Paris fahren, ein paar Kleinigkeiten erledigen und wieder zurückkommen. Anschließend werden wir Jelmoli einen Besuch abstatten.“ Der Plan in Craisons Händen zitterte. Der Gangster wollte Jelmoli ausrauben! Den berühmtesten Juwelier Europas, bei dem gekrönte und ungekrönte Fürsten aus- und eingingen. In den Safes von Jelmoli lagen die feurigsten Edelsteine der ganzen Welt – allerdings auch von den besten und zuverlässigsten Wachleuten der ganzen Welt niemals aus den Augen gelassen. Für den „Chef“ war das Gespräch beendet. Der Yardmann ging zurück in sein Zimmer und warf sich auf das Bett. Als ein paar Stunden später der Lautsprecher seinen Namen rief und ihn zur Maschine befahl, kannte Craison sich tatsächlich in und unter Paris genau aus. Er war bereit! 52
Der „Chef“ saß schon in der Maschine und winkte ihm ungeduldig zu. „Fertig? – Gut!“ Er wendete sich zu Sheila Norman, die gerade noch einige Apparate überprüfte. „Es ist jetzt 16.35 Uhr!“ Er sah auf die Uhr. „Um 17.45 Uhr schalten Sie die Energiestrahler auf doppelte Leistung. Zur gleichen Zeit empfangen wir mit dem NP 3-Gerät.“ Ohne ein weiteres Wort ließ er die Motoren anlaufen und winkte Craison neben sich auf den Sitz. Die Luke schloß sich, und leise rumpelnd ging es dem Unterwassertor zu. Der violette Strahl machte den Weg frei, und die Maschine glitt hinaus in die offene See. „Neigen Sie jetzt den Kopf der Maschine und setzen Sie den Vertikalbohrer in Tätigkeit!“ Der „Chef“ zeigte Craison die Bedienungsgriffe und überließ ihm dann die Führung der Maschine. „Auf welche Tiefe soll ich gehen?“ „20 Meter werden genügen.“ Der Inspektor führte den Befehl aus, die Maschine neigte sich nach vorn, und mit unheimlichem Jaulen begann der Bohrer an der Spitze zu rotieren. Die in mattem Licht scheinenden Skalen und Zeiger der Meßinstrumente wiesen den Weg. Angespannt beobachtete Craison die Geräte. Direkt vor ihm war das morgens eingebaute NP 3-Gerät. Der „Chef“ bemerkte die forschenden Blicke Craisons und klopfte zufrieden mit den Fingerknöcheln gegen das Gerät. „Es macht mich unabhängig. Lastkraftwagen, wie in London, sind nicht mehr nötig. Es hat nur noch einen Fehler. Je nach Entfernung der Maschine vom Stützpunkt I muß die Stärke der Sendeleistung reguliert werden. Bei zu geringer Energie bleiben die Motoren stehen, bei zu großer können sie durchbrennen!“ „Wie aber weiß Sheila über unsere Entfernung vom Stützpunkt Bescheid?“ „Das sagt ihr auch das neue Gerät! Es sendet einen Peilstrahl 53
aus, der im Stützpunkt empfangen wird. Je nach Tonhöhe kann die Entfernung schnell errechnet werden.“ Craison mußte still zugeben, daß der „Unheimliche“ seine Maschine inzwischen zur Perfektion weiterentwickelt hatte. Praktisch war er unangreifbar, und es gab keinen Menschen, der ihm hätte unter die Erdoberfläche folgen können. Hinzu kamen noch die geheimen Waffen, von denen Craison bisher allerdings nur den tödlichen Strahl kennengelernt hatte. Was der „Unheimliche“ sonst noch für Überraschungen zu bieten hatte, konnte er nur ahnen. Es wurde langsam allerhöchste Zeit, daß der „Unheimliche“ endlich unschädlich gemacht wurde. * Die wärmende Nachmittagssonne flutete in die Maschine und blendete Craison. „Sie haben zwei Stunden Zeit, Craison. Bin ich bis dahin nicht zurück, dann schalten Sie dieses Gerät hier ein.“ Der „Chef“ zeigte auf einen kleinen Funkempfänger. „Das Gerät empfängt einen von mir gesendeten Peilstrahl, dem Sie dann nur nachzufahren brauchen.“ Der „Chef“ stieg aus, wendete sich aber nochmals um. „Wenn ich nicht pünktlich komme, bin ich in Gefahr!“ „In Ordnung, Chef. Sie können sich auf mich verlassen!“ Der „Chef“ ging und bahnte sich durch das dichte Unterholz einen Weg in Richtung zum Flughafen Orly. Mit dem Fernseher sah Craison ihm nach. „Er macht es geschickt“, murmelte er vor sich hin. Er sah, wie der Gangster sich auf einem kleinen Seitenweg dem Abfertigungsgebäude des Flughafens näherte, sich dort in die Menschenmenge mischte und dann ruhig und gelassen, so, als sei er einer der zahlreichen Besucher, die wieder zurück nach Paris wollten, eine Taxe herbeiwinkte. Sheila Norman – Scotland Yard! 54
Craison überlegte fieberhaft, wie er diese günstige Gelegenheit nutzen konnte. Für rund zwei Stunden war er Herr seiner eigenen Entschlüsse und brauchte keine Schwierigkeiten des „Unheimlichen“ zu fürchten. Wenn er jetzt mit dem Yard in Verbindung treten konnte und Chefinspektor Bullers Mitteilung über seine Ermittlungen machen würde, dann könnte man in London eine Großaktion einleiten. Gestern hatte der „Chef“ eine Aktion für übermorgen angekündigt. Das wäre also morgen! Wenn der Yard Bescheid wüßte, würde man den „Maulwurf“ schon gebührend empfangen. Der Yard wußte die richtigen Mittel und Wege, um über diesen Satan Herr zu werden! Eventuell könnte er die Maschine jetzt auch der französischen Polizei ausliefern. So schnell ihm dieser Gedanke gekommen war, genauso schnell verwarf er ihn auch wieder. Was nützte die Maschine, wenn der Gangster in Freiheit blieb. Das verbrecherisch mißbrauchte Wissen und Können des Mannes mußte unterbunden und getilgt werden. Schon seit ein paar Minuten war Craison das summende Geräusch des NP 3-Gerätes aufgefallen. Der Ton war immer stärker und durchdringender geworden. Sheila Norman verstärkte die Energiezufuhr. In das bisher so gleichmäßige Geräusch drangen jetzt Unterbrechungen. Der Ton wurde tiefer und dumpfer, dann schwoll er wieder bis zur kreischenden Höhe an. Craison stutzte. Es schien ihm so, als läge im Auf- und Abschwellen des Tones irgendein Sinn. Es klang beinahe wie Morserhythmus. Er zählte mit. Tatsächlich. Sheila Norman versuchte, über die Energiestrahler mit ihm in Verbindung zu treten. „Hier Sheila – hier Sheila – Hören Sie mich? – Antworten Sie über NP 3-Gerät durch Ein- und Ausschalten!“ 55
Craison hatte begriffen. Er benutzte das NP 3-Gerät zum Funken, indem er den ständig zum Stützpunkt I gesendeten Peilton unterbrach, wieder einschaltete, unterbrach – und dadurch kurze und lange Zeichen sendete. „Hier Craison – hier Craison. – Verstanden? – Ich höre Sie gut. – Was gibt es?“ Sofort kam die Antwort. „Gott sei Dank! – Wo ist der Chef?“ Craison gab wahrheitsgemäß Antwort. Schnell warf er noch einen Blick in die Umgebung. Es drohte keine Gefahr. Sheila fragte an: „Erinnern Sie sich an unser Gespräch? – Ich sagte, daß ich Sie zu kennen glaube!“ „Woher?“ Einen Augenblick setzten die gefunkten Summtöne aus. Dann entzifferte Craison: „Wir haben einen gemeinsamen Bekannten!“ „Wen?“ „Sir Malcolm im Yard!“ Craison verschlug es die Sprache. Er vergaß jede Antwort. Wenn Sheila Normans Behauptung stimmte, dann hatte sie von Anfang an über ihn Bescheid gewußt. Dann hatte sie schon am ersten Abend, als sie wegen ihrer Schmerzen in London nicht den Sender bedienen konnte, ihn als Polizeibeamten erkannt. Er hatte sich zu einem Entschluß durchgerungen. Er mußte es wagen. „Stimmt, Sheila. Ich kenne ihn auch!“ „Sicherlich dienstlich?“ „Nur dienstlich!“ „Ich nur privat. Er ist mein Onkel!“ Hätten die beiden provisorischen Funkgeräte Lachen wiedergeben können, dann hätte es jetzt in dem kleinen Wäldchen neben dem Flugplatz und im Bunker am Atlantik vor Gelächter widergehallt. Craison faßte sich als erster wieder und gab korrekt bekannt: „Miß Sheila, Sie sprechen mit Inspektor Craison!“ 56
„Gott sei Dank! Jetzt wird alles noch gut werden. Ich hatte schon alle Hoffnung aufgegeben und mich damit abgefunden, daß Sie doch eine der Kreaturen des Chefs waren.“ Sie machte eine Pause. „Was können wir tun?“ „Vorerst nichts! Wir müssen den „Unheimlichen“ selbst haben. – Können Sie von Stützpunkt I mit London in Verbindung treten?“ „Ich will es versuchen. Wen soll ich rufen?“ „Den Yard. Rufen Sie Chefinspektor Bullers. Nehmen Sie Welle 33.2 und unterzeichnen Sie mit 202.“ „Ihr Codezeichen, Craison?“ Mehr durch Zufall als beabsichtigt ließ Craison während dieses Gesprächs die Fernsehaufnahmekamera wieder einen Kreis beschreiben und beobachtete dabei den Bildschirm. Was er sah, ließ ihm den Atem stocken. Keinen Kilometer mehr entfernt sah er den „Chef“ auf das Versteck der Maschine zulaufen. Und hinter ihm, allerdings noch weit entfernt, sah er mehrere Polizeiwagen. Das schwere Gelände verschaffte dem laufenden Flüchtling allerdings Vorteile. Die Fahrzeuge kamen nur langsam nach. Ohne einen Blick von der Bildröhre zu wenden funkte er: „Der Chef kommt. Wird verfolgt. Rufen Sie London! Rufen Sie London! Viel Glück!“ Dann änderte er die Schaltung des Gerätes wieder in Normalstellung um. Craison verfolgte gespannt das Rennen. Es war für den Gangster ein Lauf auf Leben und Tod. Man hörte das Brechen der Zweige, als der Flüchtende in das Unterholz eindrang. Anstatt weiterzulaufen, hatte der „Chef“ hinter einem Baum Deckung genommen und visierte über einen kurzen Lauf die Verfolger an. Dann löste er aus. Nichts, kein Laut, war zu hören. Nur dort, wo eben noch die ersten Polizisten gestanden hatten, kräuselte sich jetzt ein dunkles Wölkchen hoch. Verbrannt und versengt 57
von geballter Energie war ihr Leben ausgelöscht worden. Noch einmal visierte der „Unheimliche“, schoß, und tötete drei weitere Menschen. Jetzt erst hatten die Verfolger die Gefährlichkeit ihres Wildes begriffen. Sie rissen die Waffen hoch, aber ein Ruf ihres anführenden Offiziers ließ sie in Deckung gehen. Schweratmend torkelte der „Unheimliche“ auf die Maschine zu, ließ sich durch die Luke gleiten und sank auf dem Sitz nieder. Keine Sekunde später rasselte die Öffnung zu. „Los! Richtung Stadtzentrum!“ „Sie wollen trotzdem angreifen?“ Der „Unheimliche“ nickte. „In der Maschine sind wir sicher!“ Während der Gangster durch den Fernseher die Umgebung beobachtete und mehrere Polizeiwagen in der Ferne sah, hatte Craison einen Entschluß gefaßt. Unbemerkt ließ er einen schweren Schraubenschlüssel in das Getriebe des Bohrers rutschen. Die Maschine rollte an. „Nach unten, Craison! Nach unten!“ Zur stillen Freude Craisons machte der „Maulwurf“ keinerlei Anstalten, seinen Steuerbewegungen zu folgen und sich in die Erde zu wühlen. „Der Bohrer versagt, Chef!“ „Verdammt! Lassen Sie mich versuchen!“ Er drängte Craison vom Steuerpult weg und bediente selbst die Schaltknöpfe. Aber auch seine Bemühungen waren vergeblich. Aus dem Maschinenraum dröhnte Knirschen und Kreischen, dann stand der Bohrermotor völlig still. Die Mannschaften der Polizeiwagen waren hinter ihren Fahrzeugen in Deckung gegangen und eröffneten aus Gewehren und Pistolen das Feuer. Craison sah auf der Bildröhre das Aufblitzen der Mündungsfeuer, konnte wegen des Motorenlärms aber keinen Laut hören. „Wir müssen oberirdisch durchbrechen!“ 58
Laut heulten die Motoren auf. Ohne sich um die Hindernisse durch Bäume und die vor der Maschine stehenden Polizeifahrzeuge zu kümmern, fuhr der „Unheimliche“ weiter. Entsetzt sprangen die Polizisten in letzter Sekunde beiseite. Wie eine Zigarrenkiste wurde ihr Mannschaftswagen von der Maschine zusammengedrückt und zerquetscht. Ein flacher, zerbeulter Blechhaufen blieb übrig. Dröhnend und rasselnd verschwand das Ungeheuer, eingenebelt in eine Staubwolke, in Richtung Paris! * Bei Jelmoli herrschte die gedämpfte, vornehme Stille und Zurückhaltung, die nun einmal solchen Geschäften eigen ist. Untadelig und korrekt, kein Stäubchen auf den schwarzen Anzügen, standen die Verkäufer dienstbeflissen hinter den weiten Kristallglastheken. Funkelnd und blitzend lagen auf schwarzem Samt die kostbaren Steine. „Non, cherie, ich bin enttäuscht. Du hattest mir für die Oper ein Diadem versprochen.“ Das grazile Persönchen machte einen Schmollmund und kuschelte sich bittend und bettelnd an ihren Begleiter, der bisher etwas gelangweilt dem Aussuchen zugeschaut hatte. Die Frau warf dem Verkäufer einen unmißverständlichen Blick zu. Er öffnete einen Tresor und breitete eine Kollektion wertvollster Diademe aus. Selbst der Mann war begeistert. Auf der Straße schwoll der Lärm an, wurde immer lauter und durchdringender. Irritiert sah der Verkäufer auf. Er starrte durch die Fensterscheiben nach draußen. Dann ging alles blitzschnell. In dieser Sekunde barsten die großen Scheiben der Schaufenster. Quer über die Auslagen rollte der „Maulwurf“ in den Raum und blieb stehen. 59
Die Frau war mit einem schrillen Aufschrei in Ohnmacht gefallen, ihr Begleiter starrte entsetzt auf das Ungetüm. Die Menschenmenge auf der Straße wagte sich nicht näher. In kaum zwei Minuten hatten Craison und der „Unheimliche“ alles Wertvolle an sich gerafft, die Tresore aufgerissen und ausgeplündert. „Ihre Brieftasche, Monsieur!“ Craison entriß dem verblüfften Mann die lederne Geldtasche, die dieser immer noch in der Hand hielt. Der „Chef“ sah die junge Frau, die mit verrenkten Gliedern auf dem weichen Teppich lag und kaum atmete. Sie war aus ihrer Ohnmacht erwacht. „Fertig, Sir!“ Craison kletterte schon wieder in die Maschine. Der „Chef“ winkte ungeduldig ab. Er lächelte galant, beugte sich zu der Frau und half ihr auf. Trotz des Trubels um ihn herum geleitete er sie ritterlich bis zu einem Stuhl. „Ich hoffe, Sie wiederzusehen, Madame!“ Mit einem ironischen Lachen wandte er sich um und verschwand in der Luke. Aufheulend liefen die Motoren an. Inzwischen hatte die Polizei sämtliche verfügbaren Wagen ausgeschickt. So schnell als möglich hatten sie Maschinengewehre in Stellung gebracht. Der „Chef“ kümmerte sich nicht um dieses Massenaufgebot. Ruhig verstaute er seine Beute in einem kleinen Köfferchen und legte es unter den Sitz. „Zum Stützpunkt I zurück, Craison!“ In diesem Augenblick begann das Hämmern der Maschinengewehre. Es klang nur wie ein zaghaftes Pochen und zeigte keine Wirkungen. Unbehelligt rollte die Maschine weiter. Am Fernseher beobachtete er die Umgebung und gab die Richtung an. Die Straßen waren menschenleer, nur in den Fenstern sah er verstörte Gesichter. Erst außerhalb der Stadt wurde es gefährlich. 60
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Die Polizei hatte um Hilfe bei den Truppen gebeten. Drei schwere Panzerwagen waren aufgefahren und versperrten die Straße. Drohend waren ihre Geschütze auf die anrollende Maschine gerichtet. Der Gangster lächelte ganz ruhig. Man sah ihm an, daß er keine Angst verspürte. Im Gegenteil, er freute sich auf die Auseinandersetzung! Mit Grauen dachte Craison an die tödlichen Strahlen! Der „Unheimliche“ hielt seine Maschine an und verblüffte dadurch die Truppen. Noch war er außer Schußweite. „Warum halten wir, Chef?“ „Ich brauche alle Energie für den Strahler! Die Motoren fressen zuviel Strom.“ Er ließ einige Schalter einrasten, schwenkte die Fernsehkamera in die Runde und visierte den ersten Panzerwagen an. „So, von mir aus kann es losgehen! Sie werden bei mir einen Empfang haben, von dem man in ganz Paris sprechen wird!“ Mit dröhnendem Kettengerassel rollten die Panzerwagen langsam näher. Craison sah auf der Bildröhre, wie die Geschütztürme der Panzer genau auf den „Maulwurf“ gerichtet waren. Er vermeinte, die Richtkanoniere zu sehen und die Stimme des Panzerkommandanten zu hören. „Feuer!“ Rot züngelte es aus den Geschützen, orgelnd kamen die Geschosse herangesaust und schlugen ein. Ein harter Schlag erschütterte die Maschine des „Unheimlichen“, ließ sie wanken und schwanken. Wieder ein Einschlag, noch einer und noch einer. Der „Unheimliche“ raffte sich wieder hoch, klammerte sich an einer Verstrebung fest und preßte seine Augen an die Visiereinrichtung. „Jetzt komme ich!“ Mit satanischem Grinsen tastete er nach dem rotleuchtenden Auslöseknopf, korrigierte noch einmal die Einstellung, und drückte ab. 62
Eine Wolke grünlichen Lichtes hüllte den ersten Panzerwagen ein; in der Luft knisterte es, es roch durchdringend nach Ozon. Die Wolke verdichtete sich, wogte gespenstisch auf und ab und hob sich langsam. Der Panzer war verschwunden! War nicht mehr da! Wo eben noch ein tonnenschweres Ungetüm gestanden hatte, war jetzt nur noch ein rotglühender Fleck, von dem brennende Schwaden aufstiegen. Die geballte Energie hatte den Panzer aufgelöst. Erschüttert hatte Craison dem Drama hilflos zugesehen. Hatte er bisher die Kräfte und Machtmittel des „Chefs“ nur geahnt, so waren sie ihm jetzt in Wirklichkeit vorgeführt worden. Es stimmte, dem Gangster war kein Gegner gewachsen. Das Feuer aus den beiden übrig gebliebenen Panzerwagen hatte sich noch verstärkt. Pausenlos schlugen die Granaten ein und warfen die Maschine hin und her. Mit aller Kraft klammerte sich Craison fest, um nicht zu Boden geschleudert zu werden. Wieder ein Einschlag. Craison hatte nicht schnell genug reagiert, pendelte einen Moment hilflos und suchte nach Halt, dann schlug sein Kopf mit voller Wucht gegen das Visiergerät. Aufstöhnend sank er zusammen. Ohne sich um den verletzten Craison zu kümmern, dem ein dünner Blutstreifen aus dem Mundwinkel rann, und dem die Armaturen des Visiergerätes das ganze Gesicht zerkratzt hatten, schaltete der „Chef“ den Strahler aus. Mit einem zweiten Griff ließ er die Motoren anlaufen, lenkte die Maschine in schnellem, überraschendem Bogen hinaus aufs freie Feld und flüchtete. * Craison schreckte aus tiefem Schlaf auf. Die durchdringende Stimme des „Chefs“ weckte ihn. Es war kurz nach drei Uhr. Er schüttelte den Schlaf ab, nahm eine kochendheiße Dusche und frottierte sich, bis seine Haut krebsrot leuchtete und ein 63
wohliges Gefühl des Behagens seinen Körper durchströmte. Ein wenig hastiger als sonst beendete er das Frühstück und warf die erst halb gerauchte Zigarette in den Aschenbecher. Mit festen Schritten ging er in die Halle nach den Maschinen. Im grellen Licht der Scheinwerfer standen die beiden Ungetüme startbereit Mit einladender Bewegung wies der „Unheimliche“ auf die erst in der letzten Nacht fertiggestellte Maschine. „Ihr Fahrzeug, Craison! Sie und Miß Norman werden es fahren.“ Craison mußte sich zusammennehmen. Der „Chef“ wollte sie allein lassen. Das war die Gelegenheit, auf die er gewartet hatte. Er nickte. „In Ordnung, Chef. Was sollen wir tun?“ „Meine Anweisungen ausführen! Ich fahre voraus und gebe rechtzeitig Anordnungen. Klar?“ Sheila Norman tauchte in diesem Augenblick auf. Sie trug die gleiche Kleidung, in der sie Craison kennengelernt hatte. Fragend sah sie auf den „Unheimlichen“, wurde dann aber schnell aufgeklärt. Schweigsam kletterte sie in die Maschine. Craison stieg ihr nach. Langsam setzte sich der „Maulwurf“ des „Chefs“ in Bewegung und verschwand hinter der ersten Gangbiegung. Über Funk bekamen sie die erste Anweisung von ihm. „Sie fahren genau zehn Minuten nach mir durch das Unterwassertor!“ Sheila bestätigte den Empfang des Spruches. Dann wendete sie sich Craison zu. Der sah grübelnd aus der noch immer geöffneten Luke hinaus in den Werkstattraum. War ihm zuerst die Anordnung des „Chefs“ und die Übergabe der zweiten Maschine als ungeheurer Glückszufall erschienen, hatte er jetzt plötzlich Zweifel bekommen. Er glaubte nicht mehr daran, daß der „Chef“ ihm und Sheila Norman bedingungslos vertraute. Craison hatte einen Entschluß gefaßt. Er sprang aus der Maschine und hastete quer durch die Halle zu einem Wandschrank. Die drei Kreaturen schenkten ihm erst keinen Blick. Doch dann wurden sie aufmerksam. 64
Ein heller Ruf Sheilas machte Craison aufmerksam. Aber er hatte sein Ziel schon erreicht. Hastig räumte er den Schrank aus und fand endlich das Gesuchte. Aber da waren schon die drei Männer heran und sprangen ihn an wie wilde Hunde. Ungezielt schlug Craison um sich. Traf hier auf eine Nase, schlug dort mit aller Wucht in die verzerrte Fratze eines Mannes und trat sich den Weg frei. Keuchend schüttelte er den letzten ab und bahnte sich den Weg zurück. „Luke zu. Weg hier!“ Sheila Norman hatte verstanden. Summend sprangen die Motoren an. Buchstäblich in letzter Sekunde konnten sich die zusammengeschlagenen Kreaturen in Sicherheit bringen. Ein paar Minuten später schloß sich das Unterwassertor hinter der Maschine. Sie waren unter Wasser – sie waren auf der Fahrt nach London. Sheila stellte das Funkgerät genau auf die angegebene Welle ein. Nichts rührte sich, kein Laut drang zu ihnen. Minutenlang blieben sie bewegungslos stehen. Dann kam endlich die Kursangabe. „Mit voller Maschinenleistung fahren. Immer genau auf Kurs bleiben!“ Im Lautsprecher war es wieder still. Der „Chef“ hatte sein Gerät abgeschaltet. Länger als zwei Stunden fuhren sie schon und hatten etwa die Hälfte des Weges hinter sich gebracht. Craison und Sheila hatten in dieser Zeit über viele Dinge gesprochen. Sie hatten nach Mitteln gesucht, durch die sie mit dem Yard in Verbindung treten konnten. Sie hatten die phantastischsten Pläne entworfen – und dann doch ihre Nutzlosigkeit einsehen müssen. Aber sie waren sich menschlich nähergekommen in diesen zwei Stunden. Sie fühlten jetzt, daß sie zueinander gehörten und daß ihr Schicksalsweg in Zukunft ein gemeinsamer Weg sein würde. 65
In diesem Augenblick geschah es. Es passierte, als niemand von ihnen daran dachte. Die Motoren setzten aus. Das ständige Summen, das schon zur Selbstverständlichkeit geworden war und das ihnen gar nicht mehr auffiel, hörte auf. Die plötzlich eintretende Stille wirkte erschreckend. Alle Meßinstrumente zeigten die richtigen Werte an, der „Maulwurf“ war einsatzbereit – nur er rollte nicht! „Die Energie ist ausgeblieben!“ Sheila sprach zuerst den Gedanken aus. „Der ‚Chef’ hat die Energie für uns ausgeschaltet!“ Das krächzende Lachen, das plötzlich aus dem Lautsprecher dröhnte, ließ die beiden Menschen erschauern. „Jawohl, das hat er getan!“ Craison griff zum Funkgerät. „Machen Sie keine Scherze, Chef. Was soll der Unsinn?“ Er gab seiner Stimme einen gewollt festen Klang. Wieder kam dieses eklige, nervenaufpeitschende Lachen. „Ihr wolltet mich hintergehen. – Noch nie hat das einer geschafft. Noch nie! Alle haben sterben müssen! Auch ihr werdet sterben!“ „Ohne Energie seid ihr hilflos. Die Luft wird noch für ein paar Stunden reichen, Dann ist es aus. Endgültig aus, und ich habe meine Sicherheit wieder. Niemand wird dann wissen, wo der Chef ist, was der Chef kann, und was er vorhat! Nur Tote können für immer schweigen.“ Noch einmal versuchte Craison zu verhandeln. Sheila Norman hatte ihn umklammert, und ihre Tränen fielen auf seine Wange. „Sie mögen recht haben, Chef. Aber mit uns verlieren Sie auch die Maschine.“ Die letzte Hoffnung wurde zerstört. „Sie irren, Craison. Auf meiner Rückfahrt brauche ich nur den Energiestrahl wieder freizugeben. Ich nehme die Maschine in Schlepp. Keine Sorge, ich habe mir alles reiflich überlegt!“ Einen Moment blieb es still, dann klang es noch einmal sar66
kastisch durch den Lautsprecher. „Leben Sie wohl. Oder besser, sterben Sie wohl. Für mich wird es Zeit!“ Dann knackte es, die Verbindung war unterbrochen. Sheila schluchzte auf und beugte den Kopf. Zärtlich streichelte ihr Craison über die Haare. „Nur Mut, Sheila. Nur Mut! Wir werden leben!“ Behutsam lehnte er die Frau zurück. Mit schnellen Griffen hatte er aus einem Versteck zwei Tauchretter hervorgezogen. Triumphierend hielt er sie hoch. „Daran hat der ‚Unheimliche’ nicht gedacht! Aber ich!“ „Tauchretter? Das war es also, was du noch geholt hast?“ Sie spürten schon, wie die nach Aussetzen der Maschinerie nicht mehr erneuerte Luft an Sauerstoffgehalt verlor und sich ein schmerzender Reif um die Stirnen legte. Schnell erklärte Craison die Bedienung der Geräte und seinen Plan. „Wir müssen die Luke öffnen und warten, bis das Wasser ganz eingedrungen ist. Erst dann können wir den „Maulwurf“ verlassen. Wollten wir eher hinaus, würde uns der Druck des hereinschießenden Wassers zerquetschen.“ Da kein Strom zur Verfügung stand, mußte das Handrad der Luke gedreht werden. Nur Millimeter für Millimeter konnte Craison mit seiner Kraft den irrsinnigen Wasserdruck überwinden. Angstvoll starrte Sheila auf die Luke. Craison gab erschöpft auf. Der Schweiß war ihm ausgebrochen, seine Knie zitterten vor Anstrengung. Behutsam wischte Sheila ihm das Gesicht mit einem Tuch ab. Sie sagte nichts, aber in ihren Augen las er das unbedingte Vertrauen. Noch einmal versuchte er es. Wieder stemmte er sich in die Speichen des Handrades. Die Adern an den Schläfen drohten ihm vor Anstrengung zu platzen, die Hände schmerzten von dem harten Griff. Mit aller Kraft hängte er sich in die Speichen. Der Widerstand ließ nach, es ging leichter, viel leichter. Die Luke öffnete 67
sich um drei, vier Zentimeter. Ein Schwall Wasser stürzte herein, traf mit aller Kraft auf Craison und riß ihn zu Boden. Immer stärker wurde der Wasserdruck, immer mächtiger. Die Luke wurde aus ihrer Führung gerissen. Mit festem Griff schob Craison die Frau an die Lukenöffnung und zwang sie hindurch. Er selbst folgte nach. Wir werden zu schnell nach oben getragen. Unsere Körper halten den Druckunterschied nicht aus. Das waren die letzten Gedanken, die er hatte. Es wurde ihm schwarz vor den Augen, und dann spürte er nichts mehr. * Die „Ile de Brest“ war seit ein paar Stunden auf dem Weg nach Southampton. Monoton quirlten die Schrauben das Wasser. Bis an die Lademarke lag das Schiff, und der Rudergänger hatte Mühe, den vollbeladenen Dampfer nicht quer zur See laufen zu lassen. Das Wetter war diesig und böig, die Sicht betrug kaum zwei Meilen. Die Wellen hatten weiße Schaumkronen, die sich brausend und donnernd vor dem Bug der „Ile de Brest“ teilten. Der Temperaturunterschied zwischen Brückenhäuschen und draußen ließ immer wieder die Scheiben beschlagen. Der zweite Wachoffizier war das leidige Fensterputzen satt und trat kurz entschlossen hinaus. Fluchend wischte er die Gläser des Fernglases sauber. Dann machte er einen weiten Blick in die Runde. Schon wollte er das Glas wieder absetzen, als ihm zwischen den auf- und absteigenden Wellenbergen etwas auffiel. Dort schwamm etwas, was dort nicht hingehörte. Nur immer für Sekunden tauchte es auf, dann wurde es wieder hinab in ein Wellental gerissen. Dort war es wieder. Im Glas tauchten ganz kurz zwei in der See treibende Menschen auf. 68
„Alarm! Menschen in Seenot! Alarm!“ Das grelle Schrillen der Alarmglocken riß die Besatzung der „Ile de Brest“ aus der Eintönigkeit ihrer Arbeit. Selbst die Freiwache kam an Deck. „Volle Kraft zurück!“ Die Maschinen drehten die Schrauben in entgegengesetzter Richtung. Das Schiff verlor Fahrt. „Ich brauche Freiwillige für die Pinasse!“ Der Offizier sah sich kurz um und wählte dann drei Leute aus. Es war ein seemännisches Kunststück, die kleine Pinasse zu Wasser zu lassen, sie von der hochaufragenden Bordwand freizuhalten und dann auf den richtigen Kurs zu gehen. Von der Wasserfläche aus war von den treibenden Menschen in Seenot nichts mehr zu sehen. Die Wogen verdeckten jede Sicht. * Eine Stunde später schlug Craison die Augen auf. Verständnislos sah er den vor ihm stehenden Seeoffizier an, der ihm gerade wieder hochprozentigen Brandy einflößen wollte. Die „Ile de Brest“ war nur ein kleines Schiff und hatte keinen Arzt an Bord. Und der in Krankenpflege ausgebildete Offizier hatte als Universalheilmittel Alkohol vorgeschlagen. Eine Methode, die auch Erfolg hatte. „Wo ist Sheila?“ Beruhigend drückte der Offizier Craison zurück in die Kissen. „Die Frau ist auch gerettet. Ihr geht es gut, den Umständen nach gut!“ „Ich muß …“ Craison richtete sich wieder auf und wickelte sich aus der Decke. Der Offizier hielt ihn fest. „Sie müssen gar nichts. Nur ruhen und sich vom Schreck erholen. Wie alles passiert ist, können Sie später beim Kapitän zu Protokoll geben.“ 69
Craison schüttelte energisch den Kopf. Er sah die Flasche in den Händen des Offiziers, nahm sie ihm aus der Hand und tat einen langen Schluck. „So, das ist gut. Nun hören Sie einen Moment zu. Ich bin Inspektor Will Craison von Scotland Yard. Ich muß sofort den Kapitän sprechen!“ Achselzuckend fügte sich der Offizier. Er half sogar Craison in die bereitgelegten trockenen Kleider und grinste, als die Hose kaum über die Knie ging, dafür aber die Ärmel der Jacke um mehr als zehn Zentimeter zu lang waren. „Wie spät ist es?“ Der Offizier wies auf die Uhr am Kopfende der Koje. „Gerade zwölf Uhr!“ „Verdammt! Jetzt eilt es!“ Hastig drängte Craison den Offizier zur Tür hinaus. Zum Glück dauerte das Gespräch dort nur ein paar Minuten. Der Kapitän der „Ile de Brest“ verstand zwar nur die Hälfte, oder noch weniger, brachte aber Craison sofort weiter zur Funkkabine. „202 an 23 – 202 an 23. – Hier Craison. – Hier Craison. – Bitte kommen.“ Sekunden später bestätigte der Yard in London den Anruf. „Hier Craison. – Ziel des Bankengangsters ist die Bank von England. – Überfall kann jeden Augenblick erfolgen. – Vorsicht vor Strahlwaffen. – Ich wiederhole. – Bankengangster greift Bank von England an. – Ende!“ Einen Augenblick blieb es still. Dann kam die Antwort. „Bullers hier. – Erst einmal besten Dank, Craison. – Der Yard wird alles in die Wege leiten. – Wo sind Sie?“ Craison gab die Position der „Ile de Brest“. In etwa einer halben Stunde würde ihn ein Hubschrauber erreicht haben. * 70
Bis zu diesem Augenblick saß er am Bett Sheila Normans. Sie lag mit geschlossenen Augen da und schlief. Sie hatte den Schock überwunden. Zärtlich sah Craison dieses Bild der Schönheit, und ein warmes Gefühl des Verstehens und der Liebe zu dieser Frau überkam ihn. Leicht neigte er sich über sie und hauchte einen leisen Kuß auf ihre immer noch blassen Lippen. Sie spürte wohl die Berührung, und an der Grenze zwischen Wirklichkeit und Traumwelt verklärte ein Lächeln ihr Gesicht. Craison warf Sheila noch einen lieben Blick zu und ging dann. Das letzte Abenteuer im Kampf gegen den „Unheimlichen“ konnte beginnen. Kaum einen Meter über dem Deck der „Ile de Brest“ schwebte mit röhrendem Motor der Hubschrauber. Kräftige Seemannsfäuste hoben Craison an und halfen ihm in die Plexiglaswand. Der Motor heulte auf, die Rotoren drehten sich schneller und schneller und zogen den Hubschrauber nach oben. Die „Ile de Brest“ schien nach unten wegzusinken, wurde immer kleiner und war bald nur noch eine winzige Nußschale auf den Wellen. Der Hubschrauber ging auf Kurs London. Die City der Millionenstadt war geräumt. Öde und verlassen lagen die Straßen. Mit Lautsprecherwagen hatte die Polizei immer wieder zum Räumen der Büros aufgefordert. Polizeibeamte waren von Haus zu Haus gegangen. Sie hatten strikte Befehle und führten sie aus. Es gab keine Entschuldigungen und keine Hinderungsgründe. Jedes Haus mußte verlassen werden, jedes Haus wurde geräumt, notfalls mit Gewalt. Der Verkehr war durcheinandergeraten. Ohne Kommentar hatten Polizeioffiziere die Omnibusse vor dem Sperrbezirk angehalten, die Fahrgäste zum Aussteigen aufgefordert und die Busse zum Abtransport der Menschen aus den Büros eingesetzt. In den Banken wurden alle Bargeldreserven zusammenge71
rafft, in einfache Säcke verpackt und versiegelt. Schwerbewaffnete Posten mit schußbereiten Waffen fuhren die Gelder in den Yard. Dort warf man die Säcke in einen gesicherten Kellerraum. Bullers, der diese Aktion leitete, war sich klar darüber, daß er die Maschine nicht aufhalten konnte. Er hatte nur die eine Hoffnung, sie beim Durchbrechen der Erdoberfläche zu stellen und überraschend zu zerstören. Hubschrauber hingen bewegungslos am Himmel über dem Bankviertel. Andere Hubschrauber flogen in den Straßen, kaum ein paar Meter hoch, Patrouille. Und in großer Höhe jagten Düsenbomber der Luftwaffe. Wenn die Maschine gesichtet wurde, sollten sie den Befehl zum Angriff bekommen. Rücksichtslos sollten sie die Maschine zerstören. Rings um das Bankviertel war ein dichter Kordon gezogen. Einheiten der Armee waren in Panzern herangerollt und hatten jede einzelne Straße hermetisch abgeriegelt. Angestrengt starrten die Richtkanoniere durch ihre Visiere. London war an der Grenze einer Panik. Gerüchte jagten von einem Stadtteil zum anderen. Wahrheit wurde mit Erdichtetem vermischt. Das Arbeitszimmer von Chefinspektor Bullers in Scotland Yard glich einem Generalstabsquartier. Die Schreibtischplatte versank unter Papieren, Meldungen und Notizen. Nachrichten aus Fernschreibern wurden Bullers zugeworfen, endlos lange Bänder mit Hellschreibermitteilungen ringelten sich zum Fußboden. Unaufhörlich klingelten die Telefone. Bullers lehnte sich zurück, war aber gleich wieder aktiv, als die Tür aufgerissen wurde und Craison hereinstürzte. Wortlos drückten sich beide Männer die Hände. Sie sprachen nicht viel miteinander, aber sie wußten, daß sich der Einsatz gelohnt hatte. Sie waren endlich dem „Unheimlichen“ auf den Fersen. Die Falle war für ihn gebaut. 72
* Tom Skinny, einer von den vielen Richtschützen in den Panzern, glaubte zu träumen. Ihm, gerade ihm kam der „Maulwurf“ vor das Rohr. Mit schrillem Ruf alarmierte er die übrige Besatzung des Panzers. Noch war erst die Straßendecke vor Tom Skinnys Panzer wenige Zentimeter hoch gewölbt, als auch schon der Funker seine Meldung tastete. Gleichzeitig mit der Polizeifunkstelle nahmen auch die anderen Panzer den Ruf auf, hörten ihn die Besatzungen in den Flugzeugen und Hubschraubern. Tom Skinny drehte am Rad der Feineinstellung. Genau auf die Wölbung der Straße war jetzt das Geschützrohr gerichtet. Und obwohl dem Soldaten das Herz bis zum Halse schlug, obwohl ihn gerade in dieser Sekunde alle Zeitungsberichte einfielen, blieb er ruhig. Mit angehaltenem Atem starrte er durch sein Visiergerät. Jetzt – jetzt war es soweit! Aus dem Krater kroch taumelnd und schwankend der „Maulwurf“ heraus. Eine Sekunde zögerte Tom Skinny. Eine Sekunde nur, in der er vom Anblick des Ungetüms überwältigt wurde, in der ihn die Angst erfaßte. Aber diese Sekunde genügte. Der blendende Energiestrahl schoß aus dem „Maulwurf“ heraus, traf den Panzer. Das letzte, was Tom Skinny in seinem Leben noch sah, war ein überirdisch heller Lichtschein. Dann zerfiel der Panzer, wurde aufgelöst, und mit ihm alle Mann der Besatzung. Aus den Nebenstraßen rollten andere Panzer an. Sofort wurde das Feuer eröffnet. Eingekreist von allen Seiten drehte sich der „Maulwurf“ wild im Kreise. Der „Unheimliche“ verschoß ungezielt und sinnlos seine Energiestrahlen. 73
Heulend schossen zwei Düsenbomber aus der Höhe der Wolken herunter. Sie streiften fast die Dächer der Häuser und zogen dann steil wieder nach oben. Im Abdrehen warfen sie ihre Bomben. Berstend stürzten die umstehenden Häuser ein. Füllten die Straßen mit Schutt und Mauertrümmern. Beißender Qualm stieg auf und verhüllte die Sicht. Wieder griffen die Panzer an und überschütteten das Ungetüm mit einem Geschoßhagel. Eine zweite Jägerwelle griff an und warf ihre Bomben. Den „Unheimlichen“ schien Panik zu erfassen. Mit aufheulenden Motoren ließ er den „Maulwurf“ mitten durch eine Mauer in ein Haus einbrechen. Jetzt gab es keine Rücksicht mehr. Eine einzige Bombe genügte, um das Haus in Trümmer zu legen. Nichts rührte sich mehr in dem Haus. Die Stille des Todes und des Verderbens breitete sich aus. Minutenlang blieben die Panzer vor dem Trümmerhaufen stehen. Dann rollten sie an, mahlten sich durch den Schutt. Sie fanden nichts mehr. Alles war von der Gewalt der Bombe ausgelöscht worden. Der „Maulwurf“ war verschwunden. Zerstört und ausgelöscht wie der Panzer mit Tom Skinny. * Craison wollte gerade zum Fernsprecher greifen, als die Glocke des zweiten Apparates auf dem Schreibtisch anschlug. „Inspektor Craison.“ „Sieh an, mein junger Freund hat wieder Rang und Würden. Gratuliere, Inspektor!“ Craison zuckte zusammen und hielt sich am Stuhl fest. „Chef, der „Unheimliche“ ruft an!“ „Jawohl, der ‚Unheimliche’! Übrigens, wie sind Sie aus der 74
Maschine herausgekommen? Alle Achtung, Craison. Ich hätte Sie doch gleich umbringen sollen. Nun, man macht solche Fehler auch nur einmal.“ Bullers hatte schon Auftrag gegeben, daß der Fernsprecher, von dem aus der „Unheimliche“ sprach, ausfindig gemacht werden sollte. „Hören Sie zu, Craison! Lassen Sie alle Scherze, um meiner habhaft zu werden. Ich verstehe jetzt keinen Spaß mehr!“ „Wir auch nicht!“ Bullers hatte sich in das Gespräch eingeschaltet. „Jetzt hören Sie einmal zu. Ihr Spiel ist aus! Verloren! Noch fühlen Sie sich vielleicht frei und glauben, uns entkommen zu können. Sie dürften selbst wissen, daß wir über alles informiert sind. Also geben Sie das Spiel auf. Ergeben Sie sich!“ Wieder klang das schrille Lachen auf. „Sie haben keine Bedingungen zu stellen. Die Polizei nicht! Aber ich, jawohl ich, der ‚Unheimliche’!“ Bullers wollte schon wieder unterbrechen, als ihm Craison leise zuflüsterte: „Lassen Sie ihn ausreden. Desto mehr Zeit haben wir zum Anpeilen seines jetzigen Standortes.“ „Ich stelle die Bedingung, mich frei und ungehindert aus England entfernen zu können. Ich stelle die Bedingung, daß sofort meine Verfolgung eingestellt wird, und daß alle gegen mich eingeleiteten Verfahren wegen irgendwelcher strafbarer Handlungen niedergeschlagen werden!“ Bullers lachte sarkastisch. „Sie fordern viel. Und was haben Sie zu bieten?“ „Ich gebe das Versprechen, daß ich England nicht mehr betreten werde!“ „Der Yard pfeift etwas auf Ihre Versprechungen!“ Bullers verlor jetzt die Beherrschung. „Wir verzichten auf Ihre Zusagen. Wir werden Sie jagen und fassen. Und, das verspreche ich Ihnen, wir werden Sie am höchsten Galgen, den wir finden können, aufhängen!“ 75
Der „Unheimliche“ blieb ganz ruhig. Mit einer leisen Drohung in der Stimme sagte er: „Das werden Sie nicht tun! Sie werden meine Bedingungen annehmen und jedes Wort genau erfüllen!“ „Das werden wir nicht tun!“ „Sie werden es tun! Wenn Sie auch nur um einen einzigen Buchstaben von meinen Bedingungen abgehen, dann …“, der „Unheimliche“ machte eine genußvolle Pause, „dann werde ich leider meine beiden Geiseln töten müssen!“ „Geiseln?“ „Allerdings, Sie überschlauer Polizist! Ich habe weiter und schneller gedacht. In meiner Maschine befinden sich zwei Kinder!“ „Sie Unmensch. Sie verdienen keine Gnade. Herrgott; wenn ich Sie zwischen die Finger bekomme. Ich werde Ihnen jeden Knochen einzeln brechen und dabei sogar noch meinen Spaß haben!“ „Überschlagen Sie sich nicht. Hören Sie lieber genau zu. In meiner Gewalt sind: Chris Watkins, 13 Jahre alt und Margret O’Brien, neun Jahre alt. Beide aus der Stevens Street Nummer 6. Erkundigen Sie sich. Die Kinder sind bei mir!“ Bullers wußte für einen Moment nicht weiter, und der Gangster spürte das ganz genau und zog seine Vorteile daraus. Bullers konnte im Telefonhörer das unbefangene Plappern von Kindern hören. „Hier, sprechen Sie selbst mit den Kindern!“ Zitternd preßte Bullers den Hörer ans Ohr. Was sollte er den Kindern sagen? Er durfte ihnen keine Angst einjagen. Im Gegenteil, er mußte ihnen Mut zusprechen. Er konnte es nicht. Er konnte die Kinder nicht mit in die Konflikte hineinziehen. Der „Unheimliche“ hatte wieder alle Trümpfe in der Hand! 76
* Craison hängte ein und raste hinaus aufs Rollfeld. Der Pilot des Polizeihubschraubers schüttelte nur den Kopf, als Craison ihn zum Start aufforderte. „Keine Genehmigung, Sir. So schnell geht das nicht – erst Formulare ausfüllen und dann fliegen!“ Er grinste. „Herrgott, ich weiß, wo der „Unheimliche“ ist. Los jetzt, fliegen Sie. Ich übernehme die Verantwortung!“ „Tut mir leid, Sir. Sie übernehmen die Verantwortung und ich werde entlassen.“ Der Pilot sah Craison an. Plötzlich schien er den Inspektor zu erkennen. „Sie sind Craison? Der Craison, den Burns von diesem französischen Kahn abgeholt hat?“ „Ja, zum Kuckuck. Der bin ich!“ Der Pilot sah zum Abfertigungsgebäude, wo ein paar Polizisten und Zivilangestellte neugierig dem Wortwechsel lauschten. „Los, Inspektor! Zwingen Sie mich mit der Waffe in der Hand. Zwingen Sie mich zum Start!“ Craison begriff. Er stieß den Piloten zurück, riß die Waffe aus der Tasche und richtete sie auf ihn. So laut, daß es die Umstehenden hören konnten, schrie er: „Sie starten, oder ich schieße!“ Craison brauchte nicht nachzuhelfen. Mit einem flinken Satz saß der Pilot in der Maschine. Der Inspektor schwang sich neben ihn auf den Sitz. Ehe die Umstehenden alles begriffen hatten und eingreifen konnten, war der Hubschrauber schon in der Luft. „Wohin, Inspektor?“ Craison ließ sich zur Bank von England fliegen. Er winkte ab, als der Pilot die Maschine so niedrig wie möglich fliegen wollte. „Im Gegenteil! Höher!“ 77
Weit beugte sich Craison aus der Maschine. Unter ihm lag das Trümmerfeld, das einmal die Bank von England gewesen war. Die Staubwolken des Einsturzes hatten sich wieder gelegt. Angestrengt beobachtete er die Umgebung. „Noch höher!“ Der Pilot war bemüht, die Maschine so ruhig wie möglich zu halten. Es war nicht ganz leicht, denn von der Seeseite her hatte sich ein böiger Wind aufgemacht und trieb zerfetzte Wolken vor sich her. Auch Craison hatte die Wetterverschlechterung bemerkt. „Verflucht. Das hat mir noch gefehlt. Außerdem wird es langsam dunkel!“ Die Maschine hatte eine Höhe von rund 300 Meter erreicht. Craison bekam einen weiten Blick in die Umgebung. Dort! Weit hinten war es! „Weiter nach rechts! Schnell!“ Craison dirigierte den Piloten. „Dort hinten! Sehen Sie es?“ Der Pilot sah voraus. Fragend sah er Craison an. „Sie meinen die Verfärbung im Erdboden?“ „Ja, Menschenskind! Das muß die Fluchtstrecke des „Unheimlichen“ sein! Ich habe mir überlegt, daß er so schnell wie möglich nach dem Überfall flüchten wird und dabei nicht allzu tief hinuntergehen würde. Er hat mir den Gefallen getan. Überall dort, wo er gefahren ist, hat es einen kleinen Erdrutsch gegeben. Vom Erdboden aus sieht man es nicht. Aber von hier oben aus! Los, folgen Sie der Spur!“ Brummend zog der Hubschrauber der deutlich von oben erkennbaren Spur entlang. Schnurgerade führte die Verfärbung sie aus dem Weichbild der Stadt hinaus. Dann war die Spur verschwunden. Spurlos, wie weggewischt. „Fliegen Sie Kreise. Ganz weite Kreise!“ Der Pilot gehorchte der Anweisung. Immer weiter wurde der 78
Radius seines Fluges. Weit mehr als zehn Kilometer im Umkreis war nichts mehr zu sehen. Dann hatte Craison wieder Glück. Der Pilot entdeckte die Fortsetzung der Spur. Kaum noch in der immer mehr einsetzenden Dunkelheit zu erkennen. Gingen sie tiefer, verschwamm die Verfärbung, wurde eins mit den Feldern und Wiesen. Hielten sie ihre Höhe, machte es die Dunkelheit unmöglich, genau den Verlauf der Spur zu erkennen. Craison hatte einen Entschluß gefaßt. Noch einmal ließ er die Maschine hochsteigen. So hoch wie möglich, daß er eben gerade noch die Spur erkennen konnte. Sie führte immer weiter geradeaus. Der „Unheimliche“ kannte auf seiner unterirdischen Fahrt keine Hindernisse. Hier, außerhalb der Stadt, brauchte er nicht auf Rohrleitungen Rücksicht zu nehmen. Damit rechnete Craison, und darauf verließ er sich. „Landen Sie!“ Der Pilot gehorchte. Langsam sank die Maschine dem Erdboden zu und blieb zitternd einen Meter über dem Grund stehen. Craison schwang sich heraus, winkte noch einmal dem Piloten zu und machte sich dann zu Fuß auf den Weg. Beruhigt fühlte er die Waffe in seiner Tasche. Diesmal würde er keine Sekunde zögern. Diesmal würde er schießen, sowie er den „Unheimlichen“ zu sehen bekommen würde. Längst war das Summen des Hubschraubers verstummt. Eine unwirkliche Stille lag über der öden Landschaft. Craison hatte noch von der Maschine aus gesehen, daß die Küste nur ein paar Kilometer weit entfernt war. Dunkle Wolken zogen am Himmel hin. Schwerer Regen fiel. Von der Gewalt eines aufkommenden Sturmes wurden die Bäume weit zur Erde geneigt. * 79
Nach einer halben Stunde stand er am Wasser. Steil fiel die Küste mehr als 20 Meter tief ab. Dort unten sah Craison in der Dunkelheit die weißen Kronen der Wellen, die sich schäumend gegen die Küste warfen und zersprühten. Tief schob er die Hände in die Taschen. Links oder rechts-? Nach welcher Seite sollte er sich wenden? Es war Glückssache, wenn er die richtige Richtung finden würde. Dunkel hob sich der Umriß eines im Wasser stehenden Leuchtturmes ab. Craison erinnerte sich. Es mußte der Leuchtturm auf der „Rock-Spitze“ sein, der schon seit Jahren außer Betrieb war, und jetzt während der Sommermonate als Aussichtsturm benutzt wurde. Unbewußt nahm er die Richtung nach dort auf. Er ging zurück von der Uferkante. Je näher er der „Rock-Spitze“ kam, um so langsamer ging er. Jetzt war er schon bis auf wenige hundert Meter an dem Leuchtturm heran. Craisons Herz schlug schneller. Hatten ihn seine Augen betrogen, oder stimmte es wirklich? Er glaubte, den „Maulwurf“ gesehen zu haben. Er traute sich nicht, weiterzugehen. Still blieb er stehen und wartete. Da – tatsächlich! Still stand die Maschine des „Unheimlichen“ unten am Fuß des Leuchtturmes. Craison ließ sich zu Boden gleiten. Ihn kümmerte nicht der Dreck, er spürte nicht mehr die Kälte und den Regen. Meter für Meter arbeitete er sich tastend näher. Schlangengleich glitt er über den Boden. Seine Finger krallten sich in das Erdreich. Lauschend hob er für einen Augenblick den Kopf. Aus der Maschine vernahm er leises Weinen. Die Kinder! Chris und Margret. Täuschte er sich? Er vergaß seine Vorsicht und richtete sich halb auf. Jetzt konnte er besser sehen. Nur ganz kurz leuchtete hinter einem 80
der Leuchtturmfenster eine Lampe auf. Es war ein dünner Lichtschein, der kaum ein paar Meter weit reichte. Dann sah Craison einen Schatten, der vom Licht undeutlich gegen das Fenster gezeichnet wurde. Der „Unheimliche“ war im Leuchtturm! Craison erhob sich, schnellte mit zwei Sätzen auf die Maschine zu und duckte sich wieder in ihren Schatten. Das Licht am Fenster blieb. Craison konnte sehen, wie sich der „Unheimliche“ dort oben bewegte. Er ließ die Luke zurückrollen und schob sich in die Maschine. Mit angstvoll aufgerissenen Augen sahen ihn die beiden Kinder an. Einen Augenblick nur waren sie still, waren überwältigt von seinem plötzlichen Auftauchen. Dann aber schrie Margret O’Brien los. Sie schrie so laut sie konnte. Craison zuckte zusammen. Er hatte nicht daran gedacht, daß er in seiner jetzigen Verfassung eher einem Landstreicher glich als einem Polizeibeamten. Es war klar, daß er die Kinder noch mehr erschreckt hatte. „Margret – Margret sei ruhig. Ich bin doch der Onkel Will von der Polizei!“ Beschwörend sprach er auf die Kinder ein. Margret verschluckte ihren letzten Schrei. Dann verzog sie wieder das Gesicht. „Du hast keine Uniform an. Geh weg. Ich will nach Hause!“ Und schon begann sie wieder zu weinen. Craison wandte sich dem älteren Jungen zu. „Chris, du bist doch beinahe schon erwachsen. Erklär’ Margret mal, daß es auch geheime Polizisten gibt. So einer bin ich!“ Der Junge nickte eifrig. „Die gibt es, Margret!“ Es wurde allerhöchste Zeit, daß Craison endlich die Kinder überzeugen konnte. Jeden Augenblick konnte der „Unheimliche“ zurückkommen. „Ich bringe euch nach Hause!“ Dieses Zauberwort versöhnte auch das Mädchen sofort. Willig ließen sich die Kinder aus der Maschine helfen und nahmen vertrauensvoll Craisons Hände. 81
„Leise, daß wir nicht gehört werden!“ Durch den Regen führte Craison den Jungen und das Mädchen zu einer etwa einhundert Meter entfernten Buschgruppe. „Hier müßt ihr einen Augenblick auf mich warten. Ich komme gleich. Aber bleibt sitzen. Rührt euch nicht von der Stelle, sonst werdet ihr wieder in die Maschine gesperrt!“ Ängstlich duckten sich die Kinder. „Ich friere! Ich friere so. Es regnet!“ Das Mädchen schluchzte leise vor sich hin. Craison zog seine schon völlig durchnäßte Jacke aus und legte sie den eng aneinandergekauert dasitzenden Kindern über. Er war schon ein paar Schritte gegangen, als er sich an die Waffe erinnerte. Schnell kehrte er um und holte sie. Am Fuß des Leuchtturmes sah er sich noch einmal um. Die Kinder saßen still und sahen ihm nach. Plötzlich wurde sich Craison bewußt, daß er in der Hand immer noch seine Waffe hielt. Es mußte gewagt werden! Er horchte in den Raum. Nur ganz schwach drang ein Laut an seine Ohren. Dann sprang er auf und schoß! Im blitzenden Aufleuchten der Mündungsflamme sah er den „Unheimlichen“ stehen! Keine zwei Meter vor sich! Das grelle Licht blendete sie beide und ließ sie sofort wieder in schwarze Finsternis versinken. Wieder schoß Craison, und noch einmal. Diesmal hatte er getroffen! Der Unheimliche wankte, hielt sich schwankend an einem Tisch fest und stürzte dann aufstöhnend zusammen. Craison sprang vor. Licht! Zuerst einmal Licht. Mit einem schnellen Griff hatte er die Stablampe ergriffen und sie eingeschaltet. Er warf einen Blick auf den „Unheimlichen“, der nun nichts Unheimliches mehr an sich hatte. Starr waren die Augen zur Decke gerichtet. Aus – vorbei! Craison stellte die Lampe auf den Tisch. Wie unter Zwang bückte er sich nach dem Geld, das in Bündeln verstreut überall im Raum herumlag. 82
Ein kratzendes Geräusch ließ ihn herumfahren. Zu spät! Mit einem wahren Panthersprung warf sich der „Unheimliche“ auf ihn. Er hatte nur simuliert, hatte sich tot gestellt und den Inspektor in Sicherheit gewiegt. Wie Krallen schlossen sich die Finger des Mörders um Craisons Hals. Immer mehr verstärkte sich der Druck seiner Finger. Craison fühlte die Schmerzen, jeder Atemzug wurde ihm zur Qual. Die Luft schien aus flüssiger, rotglühender Lava zu bestehen. Noch einmal riß er alle Kräfte zusammen, bäumte sich hoch und bekam seine Arme frei. Mit beiden Händen griff er dem „Unheimlichen“ in die Haare, riß und zerrte. Der „Unheimliche“ hatte seinen Griff gelockert. Mit neuem Mut riß Craison – und spürte plötzlich, wie sich die Haare lösten! Und mit den Haaren zog er das ganze Gesicht des Unheimlichen ab. Wie eine zweite Haut schälte er eine Maske vom Kopf. Eine Haut aus hauchdünnem Plastikstoff. Der Unheimliche schrie, aber seine Hände hatten losgelassen. Er versuchte dein Gesicht zu verdecken. Er wollte seine Maske festhalten. Noch ein Ruck, und Craison hielt die Maske in seinen Händen. Angewidert warf er sie zur Seite. Mit Gewalt riß er die Hände vom wahren Gesicht des „Unheimlichen“ weg. „Sie sind …?“ „Ich bin Professor Haddok!“ In Craison stürzte eine Welt zusammen. Der früher allseits geachtete Professor war zum skrupellosen Meuchelmörder geworden, zu einem Tier in Menschengestalt, das nur der Befriedigung seiner eigenen Wünsche und Machtgelüste lebte. „Haben Sie selbst die Katastrophe in den Elektronic-Werken herbeigeführt?“ Haddok nickte selig. „Ich selbst! Es war herrlich! Alles flog in die Luft und brannte aus. Alles – nur ich nicht!“ Erst jetzt 83
schien ihm wieder klar zu werden, daß sein unheimliches Spiel vorbei war. „Sie sind schuld, Sie, Craison. Ich habe es schon in London geahnt, aber nicht glauben wollen. Ich hätte Sie töten sollen!“ „Wie den Menschen, der in Ihrem Laboratorium verbrannte?“ „Ach der.“ Haddok machte eine wegwerfende Handbewegung. „Was ist ein herumlungernder Landstreicher, wenn es um große Dinge geht? Wenn die Macht auf dem Spiel steht. Wenn es um die Beherrschung der Welt geht!“ „Sie haben ihn umgebracht. Einen unschuldigen Menschen nichtsahnend getötet!“ „Es war leicht. Er hat nichts gespürt. Nach einer halben Flasche Whisky wußte er schon nicht einmal mehr seinen Namen. Ich habe ihm den Schädel eingeschlagen. Ganz schnell!“ „Kommen Sie; es wird Zeit!“ „Wohin?“ Der „Unheimliche“ stand gehorsam auf. Wachsam verfolgte Craison jede seiner Bewegungen. Die Waffe in seiner Hand redete eine unmißverständliche Sprache. „Vorwärts! Vor mir her!“ Schritt für Schritt tastete sich der „Unheimliche“ die Stufen nach unten. Sein Kopf pendelte wie haltlos hin und her. Immer wieder blieb er stehen und rang erschöpft nach Luft. „Weiter! Sie haben später Zeit zum Ausruhen!“ In engen Windungen ging die Treppe wieder nach unten. Und obwohl Craison alles vorausbedacht hatte, obwohl er auf jede Bewegung achtete und in jeder Sekunde einen Angriff erwartete, ließ er sich überrumpeln. Der „Unheimliche“ machte einen schnellen Satz und war aus Craisons Blickfeld verschwunden. Er brauchte ja auch nur ein paar Stufen auf der Wendeltreppe voraus zu sein, um von Craison nicht mehr getroffen werden zu können. Craison fluchte laut vor sich hin. Ein höhnisches Gelächter war die Antwort. So schnell es ging folgte er dem Flüchtenden. 84
Er stolperte, schlug gegen die rauhen Steinwände des Leuchtturmes und schrammte sich die Haut von den Händen. Dann war er unten und prallte gegen die Tür. Mit aller Wucht warf er sich dagegen. Aber die Tür öffnete sich nicht. Haddok hatte den Riegel vorgelegt! Die Kinder! Chris und Margret! Die beiden durften nicht wieder dem „Unheimlichen“ in die Hände fallen! Craison hastete wieder die Stufen hinauf. Er gönnte sich keine Ruhe. Er kannte nur ein Ziel: die Plattform des Leuchtturms. Im Turmzimmer sah er sich um. Die Falltür in der Decke mußte hinaus auf die Plattform führen. Aber wie dort herankommen? Er zerrte den Tisch unter die Falltür. Und während er hinaufstieg, betete er, daß sich die Tür öffnen ließ, daß es keine neuen Hindernisse gab. Die Falltür ging auf! Mit einem Klimmzug zog sich Craison nach oben. Der pfeifende Wind wollte ihn zu Boden drücken. Bis zum Geländer tastete sich Craison vor. Dort unten war Professor Haddok. Wie eine Spielzeugpuppe sah er aus dieser Höhe aus. Der Professor stutzte einen Moment, dann lief er auf die Maschine zu. Craison hob die Waffe und schoß. Drei-, viermal peitschten die Schüsse auf und legten eine Grenze zwischen die Maschine und Professor Haddok. So schnell es ging, wechselte Craison das Magazin aus. Haddok hatte die kurze Pause genutzt und sich umgedreht. Er legte seinen Kopf in den Nacken und schrie irgend etwas Unverständliches zu Craison hinauf. Dann lief er mit schnellen Sätzen auf die Maschine zu. Noch einmal bellte Craisons Waffe auf. Vorbei! Die Luke der Maschine rollte zu. Der Inspektor hörte, wie die Maschine aufjaulte. Dann sah er, wie sich der „Maulwurf“ in Bewegung setzte. Voller Wut 85
richtete er seine scheinbar nutzlos gewordene Waffe auf die Maschine. Ohne zu zielen drückte er ab. Nichts geschah – wie sollte es auch? Oder doch? Was war das? Das Geräusch der Motoren erstarb! Und jetzt konnte es auch Craison erkennen. Es war Zufall gewesen, reiner Zufall, daß er mit seinem letzten Schuß die Antenne getroffen hatte. Die Antenne für die Energieübertragung aus dem Stützpunkt I. Gebrochen pendelte das zarte Gebilde hin und her. Die Maschine bekam keinen Strom mehr. War hilflos geworden. Schon wollte Craison nach unten eilen, als er sah, wie die Maschine ins Rutschen kam. Der feine Sand am Küstenabhang konnte die schwere Maschine nicht halten. Erst langsam, dann aber schneller und immer schneller glitt der „Maulwurf“ auf den Abhang zu. Einen Moment hing das Ungetüm pendelnd über der Klippe. Dann neigte es sich und stürzte ab. Krachend schlug es auf den gischtübersprühten Felsen mehr als 20 Meter weiter unten auf. Die Platten wurden zusammengedrückt, die Verstrebungen barsten. Donnernd deckten die Wogen das Grab des Professors Haddok zu. Craison wandte sich schaudernd ab. * In seinem kleinen Häuschen In Romford stand Bullers vor einer festlich gedeckten Tafel und wartete. Er und Sir Malcolm vertrieben sich die Wartezeit mit ein paar handfesten Getränken und fanden sich dabei gar nicht langweilig. „Da kommen die beiden!“ Bullers wies aus dem Fenster, und als Sheila und Craison näherkamen, schmunzelte er. „Ich glaube, wir können gratulieren!“ „Wieso? Woher wollen Sie das wissen?“ Sir Malcolm schüt86
telte den Kopf. „Nennen Sie es kriminalistisches Genie. Lippenstift im Gesicht eines Mannes sind untrügliche Kennzeichen dafür, daß es ihn erwischt hat.“ Dann füllte er zwei Gläser und trat den Eintretenden entgegen. – Ende –
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