Atlan - Die Abenteuer der SOL Nr. 669 Die Namenlose Zone
Untergang der Basis von Arndt Ellmer
Der Angriff au...
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Atlan - Die Abenteuer der SOL Nr. 669 Die Namenlose Zone
Untergang der Basis von Arndt Ellmer
Der Angriff auf die Lichtquelle
Es geschah im April 3808. Die entscheidende Auseinandersetzung zwischen Atlan und seinen Helfern und Anti‐ES ging überraschend aus. Die von den Kosmokraten veranlaßte Verbannung von Anti‐ES wurde gegenstandslos, denn aus Wöbbeking und Anti‐ES entstand ein neues Superwesen, das hinfort auf der Seite des Positiven agiert. Die neue Sachlage gibt Anlaß zum Optimismus, zumal auch in der künstlichen Doppelgalaxis Bars‐2‐Bars endgültig der Friede einkehrt. Für Atlan jedoch ist die Situation alles andere als rosig. Der Besitz der Koordinaten von Varnhagher‐Ghynnst, ohne die er nicht den Auftrag der Kosmokraten erfüllen kann, wird ihm nun durch Chybrain vorenthalten. Ob er es will oder nicht, der Arkonide wird verpflichtet, die Namenlose Zone aufzusuchen. Inzwischen schreibt man den August 3808. Trotz der Vernichtung des Junk‐ Nabels, des letzten Übergangs zwischen Normaluniversum und Namenloser Zone, gibt es mit Hilfe der BRISBEE‐Kinder die Möglichkeit, dennoch in dieses Raumgebiet zu gelangen. Dort – so weiß man inzwischen – verkörpern die Zyrtonier die eigentliche Macht. Und diese negativen Wesen entwickeln nun ihre volle Aktivität, und ihr überraschender Angriff führt zum UNTERGANG DER BASIS …
Die Hauptpersonen des Romans: Atlan ‐ Der Arkonide dringt erneut in die Namenlose Zone ein. Malara und Ohoro ‐ Zwei Lebenspartner im Einsatz. Rico und Pit ‐ Roboter der Basis des Ersten Zählers. Than, Oyz und Droos Atiq ‐ Drei vulnurische Forscher. Solania von Terra ‐ Kommandantin der SZ‐2.
1. Die GESTERN, HEUTE und MORGEN umkreisten die SOL auf ein und derselben Bahn. Sie taten, als handle es sich bei dem Generationenschiff um das Zentrum ihrer Interessen und ihres Lebens. In gewisser Weise war es das auch geworden. Die SOL war das einzige Objekt, das seit längerer Zeit im Junk‐ System operierte, und quasi letzter Begleiter der gelben Normalsonne. Mit dem Eintauchen des Nabels in die Sonne waren die Stationen auf allen drei Planeten explodiert und mit ihnen auch diese Welten. Junk war nur noch ein Trümmersystem, in dem sich die vier Schiffe wie hilflos Suchende bewegten. Der Nabel fehlte, und die beiden uns verbliebenen Möglichkeiten reichten nicht aus, unser Ziel zu erreichen. Die Transportmöglichkeiten der BRISBEE‐Kinder waren begrenzt, und auch mit der Futurboje ließ sich nur ein kleiner Teil des Vulnurer‐Volkes in die Namenlose Zone schaffen. Namenlose Zone! Wie ich diesen Namen verfluchte. Er war mir zum Alptraum geworden. Anti‐ES hatte mich dorthin entführt, und ich hatte viel Zeit verloren. Aber ich hatte Gutes bewirkt. Ich hatte den Grundstein dafür gelegt, daß Anti‐ES positiv geworden war. Manchmal erschien es mir, als seien die Zusammenhänge nicht kosmisch bedeutungsvoll. Dann übermannte mich das Gefühl, kein Beauftragter der Kosmokraten zu sein. Ich hielt mich für einen
Blinden, der umhertappte und nach den Trümmern der eigenen Existenz tastete. Dreizehntausend Jahre Leben. Für nichts? Für eine Enttäuschung nach der anderen? Oder blieb da nicht doch ein winziger Funke Hoffnung. Etwas mehr als nur die Ahnungen, die mich seit der Entdeckung der Schlafenden Mächte bewegten, seit der Erlösung Tomagogs? Ich versuchte, Licht in all die Eindrücke zu bringen, die sich in mir rührten. Namen reihten sich wie eine Kette aneinander. Vulnurer, Zyrvulner, Vullkauger, Zyrtonier. Sie und das Aussehen, das ich mit den Namen verband, ergaben einen dichten Vorhang von Ungewißheiten. Ahnungen eben. Die Richtung, in die sie alle liefen, war eindeutig. Alles zielte in diesen Tagen und Wochen auf die Namenlose Zone, das Schicksalsgebiet so vieler unterschiedlicher Völker. Einst das Gefängnis einer Superintelligenz, jetzt eine Gefahr für alle, die sich hineinwagten in den Raum zwischen den Schockfronten. Chybrain war dort. Er war verschollen. Trotz intensiver Suche hatten wir keine Spur von ihm gefunden, und ich kämpfte mit der düsteren Gedankenbotschaft, die immer wieder bei mir anklopfte. Nein, Chybrain durfte nicht tot sein. Er allein besaß die Koordinaten von Varnhagher‐Ghynnst, meinem Fernziel, das ich in all den Jahren nie aus den Augen verloren hatte. Ich war an Bord der SOL gekommen, um mit diesem Schiff dorthin zu fliegen. Ich wußte nicht einmal, was ich dort sollte. Extrasinn, hilf mir! flehte ich. Unterstütze mich moralisch! Ich tue es die ganze Zeit, ohne daß du es merkst, entgegnete er. Aber es gibt nichts Neues, was ich dir mitteilen könnte. So entmutigend es klingt, ich kann dir keine neuen Hoffnungen machen! Tomagog. Meine Gedanken schweiften wieder zu dem tragischen Ende des Schöpfers und seinem tragischen Leben ab. In der Stunde seines Todes hatte er seine ursprüngliche Gestalt angenommen und
uns offenbart, daß es die Gestalt jener Wesen war, die die böse Macht in der Namenlosen Zone verkörperten. Die Zyrtonier, die nach ihrem Aussehen Roboter und Raumschiffe bauten. Und jetzt, in jüngster Vergangenheit, hatten wir die Auswirkungen von jungen Vulnurern auf einen Zyrtonier miterlebt. Das war der erste, wichtige Anhaltspunkt. Ich ballte die Hände zu Fäusten und stellte mir im Geist vor, daß es ein Faden war, den ich nicht mehr loslassen durfte. Borallu. Vergiß Borallu nicht, Atlan. Er hatte drei Gestalten und hat endgültig seine Ursprungsform angenommen, aus der er nicht mehr hinaus kann! Zum erstenmal hatte sich ein Zyrtonier in einen Vulnurer verwandelt. Borallu war nach Tomagog der zweite Hinweis auf etwas Unglaubliches. Konnte es das überhaupt geben? Worin lag die Verwandtschaft zwischen all diesen Völkern begründet, denen wir in letzter Zeit begegnet waren? Welche Kosmogenese lag meinen Vermutungen zugrunde? Noch immer starrte ich aus zusammengekniffenen Augen auf den Bildschirm, auf dem sich die drei Schiffe der Vulnurer abbildeten. Hintereinander verschwanden sie aus dem Gesichtsfeld der Kamera und machten einem anderen Gegenstand Platz. Er besaß Kugelform mit einer aufgesetzten Bugkuppel, die wie eine dicke Nase aussah. Das Ende bildete ein dünnes Rohr mit Flügelaufsätzen daran, die an eine Schiffsschraube erinnerten und Teile eines Kombinationstriebwerks darstellten. Ich nahm das Bild in mich auf und ließ mir eine Ausschnittsvergrößerung geben. Das war die Futurboje, ein Spezialschiff von hundert Metern Länge und fünfundsechzig Metern Dicke. Sie stellte ein Objekt aus der Vergangenheit der Vulnurer oder ihrer Vorfahren dar. Zwischen ihr und der Lichtquelle gab es eine enge Verbindung. Es gehörte zum Programm der Futurboje, alle jene Wesen zu unterstützen, die in der Lage waren, dem Geschehen in der Namenlosen Zone eine
Wende zu geben. Das Ziel – ich kannte es und sehnte es herbei. Die Vereinigung der Vulnurer mit ihrer Lichtquelle sollte für mich der Ausgangspunkt dafür sein, Chybrain wiederzufinden. Die Futurboje erinnerte mich an eine Rettungsinsel, die lediglich ein paar Kilometer entfernt war. Leicht erreichbar zog sie ihre Bahn über den Bildschirm. Immer bereit für einen Auftrag oder einen Vorstoß in die Namenlose Zone. Wie es der Wunsch aller war, die sich derzeit im Junk‐System aufhielten. Der Kurs lag bereits fest. Es war die Basis des Ersten Zählers, die auf einem unergründlichen Kurs durch den Raum zwischen den Schockfronten steuerte und nur von den Robotern und ein paar wenigen gestrandeten Einzelwesen bevölkert war. Auf der Basis ruhte die Lichtquelle. Fest im Boden verankert, produzierte sie ihre Jenseitsmaterie und stellte sie ab und zu zur Verfügung. Ich war sicher, daß wir sie noch benötigen würden. Atlan, es ist Zeit! Langsam wandte ich mich vom Bildschirm ab. Ich drängte meine Überlegungen zurück und nahm die Wirklichkeit um mich herum wieder wahr. Tyari stand neben mir, ebenso entrückt wie ich. Ich hatte ihren Tod miterlebt und auch den von Ticker. In Visionen hatte ich ihren Untergang verfolgen müssen, und der Gedanke daran, daß sie der Wahrheit entsprechen könnten, ließ mich schaudern. Die Zukunft sah so hoffnungslos aus. Ich legte den Arm um die Taille der geliebten Frau und drückte ihr einen Kuß auf die Wange. Sie wandte den Kopf und lächelte mich an. Aus dem Pilotensessel, aus dem der Kopf des langen Brick aufragt, erkundigte sich eine lachende Stimme: »Ausgeturtelt, Herrschaften? Der Transmitter ist einsatzbereit! Alles wartet auf das Erscheinen des Großmuftis!«
Ich nickte und straffte mich. Breckcrown winkte mir aufmunternd zu. Mit dem Aufflammen des Transmitterbogens im Hintergrund der Halle begann eine neue Offensive gegen den Gegner. Wir hatten keinen Grund, übermäßig lange zu zögern. Die Vulnurer drängten uns, und die Solaner hatten nichts dagegen, da ja die SOL selbst nicht betroffen war. Ich wandte mich um und zog Tyari mit mir. Bjo schloß sich uns an. Aus einem Winkel der Hauptzentrale des Mittelteils löste sich Ticker und flatterte mit kräftigen Flügelschlägen herbei. Er ließ sich auf Tyaris Schultern nieder und zog rauschend die Schwingen ein. Wie ein König thronte er hoch über unseren Köpfen und richtete die Augen erwartungsvoll auf das flammende Feld. Er begriff, worum es ging, und Tyari schürzte ein wenig den Mund. Ihre Mundwinkel zogen sich dabei leicht nach hinten, ein Zeichen, daß sie mit dem Wesen vom Arsenalplaneten telepathisch kommunizierte. »Wir gehen vor wie besprochen«, sagte ich zu Breck, der uns bis zum roten Kreis des Transmitters begleitete. »Mit Hilfe der Futurboje werden wir heil zurückkehren!« Nacheinander betraten die Mitglieder des Atlan‐Teams den Kreis und entmaterialisierten, um übergangslos drüben in der Futurboje zu erscheinen. Ich bildete den Abschluß. Vor mir gingen Tyari und Ticker durch das Feld. Ihr Verschwinden erzeugte einen bitteren Geschmack in meinem Mund. Wieder wurde ich an die Visionen erinnert, deren Ursprung völlig im dunkeln lag. Ich zögerte einen Moment, dann sprang ich vorwärts und legte dabei eine Hast an den Tag, als ginge es darum, etliche tausend Jahre Vergangenheit hinter mir zu lassen. Ich trat aus dem Feld und wurde von den drei Atiqs empfangen. Sie wollten uns begleiten. Atiq‐Than, Atiq‐Oyz und Atiq‐Droos von der MORGEN waren Altertumsforscher. An Bord ihres Schiffes hatten sie ein geheimnisvolles Objekt entdeckt, das von einer kleinen Vulnurergruppe als Heiligtum verehrt wurde. Sie hatten es das Futur genannt. Durch das Futur war man auf die Vullkauger und
die Futurboje gestoßen. Auch auf Vullkaug hatten die Drillinge von der MORGEN eine bedeutende Rolle gespielt. Jetzt nahmen sie als Vertreter ihres Volkes am Vorstoß in die Namenlose Zone teil. »Wir können es kaum erwarten«, teilten sie mir mit, kaum daß sie mich erblickten. Ich hatte Mühe, sie auseinanderzuhalten. Sie merkten es, und der Sprecher sagte: »Ich bin Atiq‐Droos!« »Es wird nichts überstürzt«, warnte ich die Vulnurer. »Noch wissen wir nicht, ob die Basis mit der Lichtquelle noch im bisherigen Sektor zu finden ist.« Ich sah mich in der Leitzentrale der Futurboje um. Die Technik war fremdartig, und sie unterschied sich auch von dem, was wir seit langer Zeit aus den Schiffen der Vulnurer kannten. Wenn das Volk der Bekehrer das Schiff gebaut hatte, dann war es sehr lange her. Die Leitzentrale befand sich in einem zylinderförmigen »Gefäß«, das im vorderen Teil der Kugel aufragte. In ihm waren auch die Vorratslager und die Unterkünfte untergebracht. Die räumliche Kenntnis des Schiffes erstreckte sich für uns lediglich auf diesen Bereich. Weite Teile der Futurboje waren uns nicht zugänglich. Sie bargen geheime Waffen und technische Einrichtungen, über die der Schiffscomputer sich ausschwieg. Ich beobachtete, wie das Transmissionsfeld in sich zusammenfiel. Wir waren vollzählig. Das gesamte Atlan‐Team mit Ausnahme von Vorlan Brick war mit herübergekommen und reihte sich an den Kontrollkonsolen der Futurboje auf. Ein Bildschirm erhellte sich und zeigte die nähere Umgebung des Raumes. Noch immer zogen die Vulnurerschiffe ihre Kreise um die SOL. Der Computer der Futurboje meldete sich. Alle Systeme waren einsatzbereit. Ein letzter Blick zu Tyari, ein Funkspruch zur SOL an Hayes, dann gab ich grünes Licht. Die Futurboje setzte sich in Bewegung. Auf dem Bildschirm sahen wir nur, wie die Schiffe zur Seite wanderten und verschwanden. Am linken, unteren Schirmrand tauchte für wenige Sekunden die Sonne Junk auf. Dann war auch sie
verschwunden. »Ich aktiviere jetzt den Dimensionsspalter«, erklärte der Computer. »Der Übergang birgt keine Gefahren in sich, solange der Dimensionsring stabil bleibt!« »Es wäre besser, wenn wir die Steuereinheit für diese Maschine aufsuchen könnten«, sagte Atiq‐Droos. Der Computer widersprach. Es gab keinen Zutritt in die verbotenen Sektionen. Auch für Vulnurer nicht. Die Futurboje machte Ernst und stellte sich als das dar, wofür ich sie die ganze Zeit schon gehalten hatte. Sie war ein Relikt aus ferner Vergangenheit und trug Kräfte in sich, die über alles hinausgingen, was wir kannten und gegen die Zyrtonier einsetzen konnten. Was bedeutet das im Zusammenhang mit unserem Flug? meldete sich mein Extrasinn. Denke nach! Da gab es nicht viel nachzudenken. Futurboje und Lichtquelle standen nach der Aussage des Computers in engem Zusammenhang. Gemeinsam waren sie eine Bedrohung, die das Ende der Zyrtonier bedeuten konnte. Die Basis mit der Lichtquelle war hoffentlich noch greifbar. Der Gedanke, daß die Zyrtonier sie in der Zwischenzeit vernichtet haben konnten, ließ mich innerlich erbeben. Weiße Nebel auf dem Bildschirm zeigten, daß sich um die Futurboje herum etwas änderte. Der Dimensionsspalter, was auch immer man sich darunter vorstellen mußte, hatte seine Tätigkeit aufgenommen. Die Nebel wurden immer dichter, stellenweise von roten Schlieren durchzogen. Von den Sternen von Bars‐2‐Bars war nichts mehr zu sehen. Dann wurden die Nebel wie ein Vorhang weggezogen. Gleichzeitig sagte der Computer: »Verschiedene Phänomene beim Übergang sind möglich. Es gibt kein Programm, das mir eine bestimmte Wahl vorschreibt!« Die absolute Schwärze der Namenlosen Zone tauchte um uns auf. Wir hatten es geschafft. Der Wechsel war vollzogen.
2. Zyrton überstrahlte den Himmel. Alles, was sich innerhalb der dreifachen Schockfront des Sonnensystems befand, war in das Licht des Sterns getaucht. Viele Zyrtonier bezeichneten ihn als das Zentralgestirn der Namenlosen Zone. Er beleuchtete und wärmte die elf Planeten des Systems, in dem das Volk seine Heimat hatte, das die Namenlose Zone beherrschte und sich anschickte, das Böse auch hinaus in das Universum zu tragen. 314‐Page bewegte sich unruhig, während sich seine Sinnesorgane langsam vom Anblick des strahlenden Sterns abwandten und er seine Aufmerksamkeit wieder seinen Begleitern widmete. 444‐Page, 257‐Page, 643‐Page und 878‐Page bewegten sich neben ihm über den Platz, der von den Gebäuden der Intensiven Ratschläge gesäumt wurde. Das hohe, silbern umglitzerte Tor des Haupteingangs lud zum Verweilen ein. 314‐Page erkannte das auf‐ und abschwellende Violettlicht. Die Halle des Intensivs war unbesetzt, und er machte seine Begleiter darauf aufmerksam. »Laßt uns hineingehen«, sagte er. »Wir werden versuchen, unser Wissen mit unserer Überzeugung zu vergleichen und die Schlüsse zu ziehen, die notwendig sind. Es darf kein Zögern geben!« Wieder richteten sich ihre Sinne hinaus in den Raum des Planetensystems, wo sich die Wohnwelten um ihre Sonne bewegten, Gautan, Persijigg und Munntson, die Planeten fünf, sieben und acht. Wie wachsame Augen bewegten sie sich innerhalb und außerhalb der Bahn des sechsten Planeten, der die bedeutendste Welt der Zyrtonier war und denselben Namen wie die Sonne trug, Zyrton. Außer den Planeten fünf bis acht war es ihnen nicht erlaubt, andere Welten zu betreten. Die Planeten eins bis vier und neun bis elf durften nur von Pagen bis zur Nummer zweiunddreißig
aufgesucht werden. In diese Richtungen war das systemumfassende Transmitternetz blockiert und nur über einen Geheimcode benutzbar. 314‐Page und seine Begleiter erreichten das umglitzerte Tor. Es leuchtete kalt und intensiv und identifizierte sie als Berechtigte. Sie gehörten dem Rat der Pagen an, die aus tausend führenden Mitgliedern der Zyrtonier bestand. 314‐Page murmelte eine zeremonielle Formel in ein Mikrofon, und das Tor löste sich in Nichts auf und gab ihnen den Weg frei. Hinter ihnen wurde es wieder materiell. Es war ein Transmitter, der sie unmittelbar in jenen Teil des Gebäudes abstrahlte, der ihr Ziel war, und dessen Koordinaten in der geflüsterten Formel enthalten waren. Die Halle des Intensivs war von metallenen Säulen eingerahmt, die wie spitze Nadeln bis knapp unter die Decke reichten, mit der sie durch blau leuchtende Energiefäden verbunden waren. 314‐Page identifizierte die Anordnung als Teil eines Großtransmitters, mit dem große Ansammlungen von Zyrtoniern abgestrahlt werden konnten. Die Halle bot sicherlich allen tausend Pagen Platz, und sie mochte zu jenen Sicherheitseinrichtungen gehören, die seit ferner Vergangenheit existierten. Niemand sprach über sie, denn sie symbolisierten den unwahrscheinlichen Notfall, der dann eintreten würde, wenn die Pagen sich vor einem übermächtigen Gegner in Sicherheit bringen mußten. 100‐Page empfing sie. Der weibliche Zyrtonier führte eine Sitzgruppe mit sich, die zu Boden sank und sich verankerte. Die Pagen nahmen Platz, und 100‐Page sah sie erwartungsvoll an. »Die Beschlüsse des Rates sind eindeutig und lassen keine Zweifel zu«, verkündete sie, als sich keiner der Zyrtonier rührte. »Ihr selbst habt sie mit entschieden. Warum also kommt ihr?« 314‐Page bewegte seinen Körper hin und her. Er suchte nach den richtigen Worten. »Atlan«, sagte er nach längerem Schweigen. »Das ist der Name unseres eigentlichen Gegners. Ihn müssen wir so ernst nehmen wie
keinen anderen. Er hat Tomagog erlöst und von ihm einen Teil des Geheimnisses erfahren. Nur die Koordinaten unseres Systems weiß er nicht. Dieser Gegner muß zuerst aus der Welt geschafft werden!« Zustimmendes Gemurmel kam auf. Die Pagen trugen noch einmal, jeder für sich, zusammen, was sich in der jüngsten Vergangenheit zugetragen hatte. Da hatten sie mit Entsetzen festgestellt, daß sich das Ungleichgewicht der Kräfte in der Namenlosen Zone verschoben hatte. Es hatte einen Substanzverlust auf ihrer Seite gegeben. Aufgebaute Fallen für die Vulnurer und die SOL hatten sich als wirkungslos erwiesen. Die Alternativ‐Toten hatten versagt. Ihr Herr, Borallu, war verloren. Palterwahn oder 451‐ Page hatte seine Aufgabe ebenfalls nicht ausgeführt, und sie hatten ihn töten müssen. »Wir fürchten die Vulnurer«, fügte 878‐Page hinzu. »Es steckt eine kosmische Kraft in ihnen, die übermächtig ist!« »All das ist kein Problem«, erwiderte 100‐Page. »Weitere Fallen sind aufgebaut, die nächsten Schritte stehen bevor. Ihr wißt es so gut wie ich. Vergeßt das Wesen Chybrain nicht!« 666‐Page hatte das Wesen aus Jenseitsmaterie gefangen und isoliert. Chybrain wurde als Ableger einer unbekannten Gefahr betrachtet, die sich ihnen noch entzog. Diese Gefahr gab es. Es war mehr ein Gespür, eine Ahnung, daß der Gegner mit ihr noch einen weiteren Trumpf in der Hand hielt. Es war denkbar, daß es weitere Kräfte in der Namenlosen Zone gab, die mit Atlan in Verbindung standen. »Du hast recht«, sagte 314‐Page. »Dennoch wäre es besser, wir wüßten mehr über die Pläne Atlans und seiner Helfer Bescheid. Seit der Junk‐Nabel endgültig erloschen ist …« »Noch ist 18‐Page nicht zurückgekehrt!« wies 100‐Page ihn zurecht. Der Name des hohen Pagen ließ die Zyrtonier ehrfurchtsvoll erschauern. 18‐Page war einer der Geheimnisträger, die die verbotenen Welten besuchen durften. Er war einer der
zweiunddreißig. Niemand kannte das Alter von 18‐Page. Alle nannten ihn den Sucher, weil er ohne Rast immer umherstreifte und nach Auffälligem Ausschau hielt. Es ging das Gerücht, daß 18‐Page bereits vor langer Zeit mit der Aufgabe betraut worden war, die Völker hinter den einzelnen Schockfronten zu überwachen. Davon war heute nicht mehr viel zu hören. 18‐Page suchte nach dem Gegner, der von außerhalb der Namenlosen Zone kam und offensichtlich gerade nach einer Möglichkeit suchte, ohne Hilfe des Junk‐Nabels einen Weg herein zu finden. »Das Relikt«, überlegte 314‐Page. »Es muß zu den Gefahrenquellen gehören, die wir noch nicht ausschalten konnten. Wir müssen es finden, um eine Beziehung zu Atlan nachweisen zu können!« Mit dem Begriff Relikt belegten die Zyrtonier das Objekt, das schon lange durch die Namenlose Zone geisterte und sich bisher jedem Zugriff entzogen hatte. Ortungen hatten sich plötzlich als hinfällig erwiesen, Beobachtungen aus der Ferne hatten im Nahbereich nicht wiederholt werden können. Weder das Aussehen des Relikts noch seine Herkunft war ermittelbar. Damit stuften die Zyrtonier es automatisch als Gegner ein. Um ihr Ziel erreichen zu können, konnten sie sich in ihrem engsten Herrschaftsbereich keine Unwägbarkeiten leisten. Sie hofften auf den Sucher. Vielleicht brachte er neue Erkenntnisse über den Gegner und das Relikt mit. »Sind damit die Bedenken ausgeräumt, die euch hergeführt haben?« erkundigte 100‐Page sich. Die Zyrtonier wußten es nicht. Noch immer empfanden sie das Ungleichgewicht zwischen ihrer Überzeugung und ihrem Wissen und waren sich unschlüssig, ob sie nicht erneut eine Sitzung des Rates beantragen sollten. »Wir warten ab, was 18‐Page bringt«, entschied 314‐Page, obwohl ihm unwohl bei dem Gedanken war. Sie durften sich einfach kein Zögern leisten. Ungeduldig verließen sie das Hauptgebäude der
Intensiven Ratschläge. * Malara glitt am Rand des Wassers entlang und beobachtete, wie Ohoro Löcher in den moosigen Boden bohrte und kleine, kalkähnliche Steine hineinfallen ließ. Darauf bedeckte er sie mit dem Sand und übergoß sie mit einem grünlichen Saft, den er in einer metallenen Dose mit sich führte. Malara entfernte sich vom Ufer und bewegte sich auf den Waldrand zu, der undurchdringlich schien, und wie ein Wall hinter dem Ufersaum aufwuchs. Der Wald war dicht, und die wenigen behauenen Pfade schlängelten sich labyrinthartig hindurch. Ein höchstens drei Meter breiter Einschnitt hob sich als schwarzer Fleck von dem Grün der Blätter und Stämme ab. Dort waren sie hergekommen. Der Einschnitt führte zu einer der Inseln, die von Regierungsgebäuden bedeckt waren. Inseln oder Rodungen wurden sie genannt. Die Brandung des Meeres verstärkte sich jetzt ein wenig, und sie überschwemmte die geschlossenen Löcher und drückte die grüne Flüssigkeit in den Sand hinein. Fast gleichzeitig begann ein organo‐ chemischer Prozeß, der innerhalb kürzester Zeit abgeschlossen war. Etwas wölbte den Sand in den Löchern nach oben. Halbkugeln entstanden, von denen der Sand rasch abrutschte und winzige Ringe um die entstehenden Gebilde zog. Glockenähnliche Pflanzen sprossen aus dem Boden hervor und entfalteten sich rasch nach allen Seiten. Sie streckten ihre Fühler nacheinander aus und strebten eine rasche Vereinigung an. Malara hatte den Waldsaum erreicht und verharrte auf der Stelle. Ohoro folgte ihr jetzt rasch und ließ seinen Körper neben dem ihren zur Ruhe kommen. »Zum Jahrestag«, sagte er. Malara dankte ihm überrascht.
Die beiden waren Lebenspartner und arbeiteten in jeder Beziehung Hand in Hand. Jetzt hatte Ohoro seine Gefährtin überrascht. »Es sind Ourpulys«, erriet sie. Er bestätigte es. »Sieh nur, wie sie kämpfen. Jeder der Knollen trachtet danach, alle anderen zu verschlingen. Dabei dehnen sie sich immer mehr aus und richten ihre Aufmerksamkeit bald auf die weitere Umgebung!« Die Ourpulys verwoben sich zu einem Teppich, der bald den gesamten Strand bedeckte. Das Ufer bildete jetzt eine messerscharfe Abgrenzung zum Wasser hin. Der Teppich begann, sich in Richtung des Waldes auszudehnen. Ourpulys waren gefährliche Pflanzen. Sie unterschieden sich in Aussehen und Verhalten vollkommen von dem, was es sonst in der Flora des Planeten gab. Sie waren in der Lage, die gesamte Vegetation und alle Festländer einschließlich des Meeresbodens für sich zu erobern und jedes andere Pflanzenleben zu ersticken. Dann würde der Planet nicht mehr lebensfähig sein. Die Ourpulys würden in die Atmosphäre hinaufwachsen und sich bald bis an die äußersten Grenzen der Lufthülle ausdehnen. Ohoro kannte die Forschungsberichte. Ourpulys waren anpassungsfähig und bedingt auch im Vakuum lebensfähig. Sie besaßen die genetischen Voraussetzungen, sich über das gesamte Planetensystem auszudehnen und noch weiter hinaus. »Rasch!« rief Malara aus. »Sie haben uns gleich erreicht!« Die Pflanzen dehnten sich sprunghaft aus. Sie überwanden mehrere Meter durch das Ausschleudern biegsamer Stengel, die sofort Wurzeln ausbildeten und sich im lockeren Boden festkrallten. Neue Glocken sprossen in den Himmel. Inzwischen blieben nur noch wenige Meter zwischen dem Waldsaum und den Pflanzen. »Warte noch«, sagte Ohoro. »Du weißt nicht, was geschieht, wenn der Teppich eine bestimmte Ausdehnung erreicht hat!« Malara strebte dem Einschnitt im Wald zu. Sie wußte nicht, was
Ohoro vorhatte. Dann blieb sie wie gebannt stehen. Ein Leuchten glomm über dem Strand auf, wie sie es noch nie gesehen hatte. Die Glocken begannen in bunten Farben zu strahlen. Sie stellten das gesamte Spektrum der Regenbogenfarben dar und verwandelten den eintönigen Strand in ein buntes Lichtermeer. Malara war überrascht. So hatte sie es sich nicht vorgestellt. Wie war Ohoro nur hinter das Geheimnis dieser Pflanzen gekommen? Sie beobachtete ihren Gefährten, der aus einer mitgeführten Tasche einen schweren Strahler hervorzog und ihn auf den leuchtenden Teppich richtete. »Nicht!« rief sie. Sie wollte den Anblick noch eine Weile genießen. Gleichzeitig erkannte sie jedoch die Gefahr, in der sie beide schwebten. Sie warf sich in den Einschnitt hinein, während hinter ihr der Strahler fauchte und die ersten Lücken in die aggressiv vordrängenden Pflanzen riß. Ohoro ging systematisch vor. Er trieb den Saum des Teppichs immer weiter zurück, bis er das Wasser erreicht hatte. Nichts blieb von den Ourpulys übrig als ein Haufen verkohlter Reste, die rasch zerfielen. Ohoro packte den Strahler ein und folgte seiner Gefährtin. »Alles in Ordnung«, meinte er. »Freust du dich?« Sie dankte ihm nochmals, aber mit ihren Gedanken war sie irgendwo anders. »Etwas hat sich ereignet«, stellte sie fest. »Hörst du es?« Über dem Wald dröhnten mehrere Luftfahrzeuge dahin. In der hohen Atmosphäre lag das Singen eines Raumschiffs, das zur Landung ansetzte. Malara bewegte sich schneller, und Ohoro hielt sich neben ihr. Sie durchquerten den Wald und betraten die betonierte Fläche, die den Beginn des Gebäudebereichs markierte. So schnell es ging, suchten sie ihren persönlichen Bereich auf. An der Kommunikationsanlage brannte ein Bereitschaftslicht. Gemeinsam überflogen sie die eingespeicherten Meldungen. Sie
erfüllten sie mit Zufriedenheit und Euphorie. »Er ist zurück, und wir sollen uns beim Flottenkommando melden«, sagte Ohoro erfreut. »Das habe ich nicht erwartet!« Es war ein Beweis des Vertrauens für sie beide. Man wußte um die Harmonie ihrer Zusammenarbeit im Sinn des ganzen Volkes. »Ja«, stellte Malara fest. »18‐Page ist wieder da, der Sucher. Jetzt haben wir diesen Atlan bald besiegt!« 91‐Page Malara und 92‐Page Ohoro verließen die Wohnung über den eingebauten Personentransmitter. * ‐Page hatte das Relikt gefunden. Die Nachricht verbreitete sich rasch über alle Planeten des Zyrton‐ Systems. Der Sucher hatte eine Funkbotschaft abgestrahlt, kaum daß er mit Hilfe des Spezialkodes die Schockfronten durchquert hatte. Die Koordinaten des Relikts waren bekannt, die Zyrtonier konnten gegen das Gebilde vorgehen. In aller Eile schalteten sich die Pagen zu einer Konferenz zusammen und berieten sich. Einige wenige waren nicht erreichbar, aber es stand fest, daß sie die Entscheidung der übrigen Ratsmitglieder billigen würden. Der Beschluß war schnell gefaßt. Eine Teilflotte sollte mobilisiert werden. Sie sollte unter den bekannten Koordinaten nach dem Relikt suchen und es ausschalten. Das Kommando wurde 91‐Page und 92‐Page übertragen. Die beiden Zyrtonier trafen kurz darauf beim Flottenkommando ein und ließen sich instruieren. »Alles, was auch nur entfernt mit dem Gegner zu tun haben kann, muß eliminiert werden«, teilte ihnen 1‐Page persönlich mit. »Vernichtet das Relikt also und alles, was damit zusammenhängt!« Malara und Ohoro bestätigten es und machten sich an die Arbeit. Sie gingen an Bord eines 1800‐Meter‐Schiffes, das wie alle Einheiten
der Körperform der Zyrtonier nachgebildet war. Malara gab das Signal zum Start. * ‐Page Malara empfand, daß die Worte von 1‐Page irgendwie prophetisch klangen. Das Relikt sollten sie vernichten und, alles, was damit zusammenhing. Die Zyrtonierin überlegte, was mit dem Relikt zusammenhängen konnte. Sie stellte sich alles mögliche vor, kam jedoch zu keinem Schluß, weil sie die Gestalt und Funktion des Relikts nicht kannte. Soweit war der Sucher nicht vorgedrungen, und Malara nahm es 18‐Page nicht übel. Der hohe Page durfte seine persönliche Sicherheit nicht vernachlässigen. Es war ihm untersagt, direkt in das Geschehen einzugreifen und seine Existenz aufs Spiel zu setzen. Und auch hier ging es um die Wahrung jenes Geheimnisses, das den Kode für die Benutzung der verbotenen Planeten beinhaltete. Die fünfzig Schiffe zählende Flotte hatte den sechsten und siebten Planeten verlassen und kreuzte bereits die Bahn des zehnten. Er lag ein wenig abseits der Flugroute, von der Ortung kaum zu erkennen. Die Nahortung des Schiffscomputers war bezeichnenderweise blockiert. Ein Signal zeigte ihr an, daß alle Schiffe bis hin zu den kleinen Einheiten mit der Aussendung des gespeicherten und gesicherten Kodes für die dreifache Schockfront begannen. Die Flotte überquerte die Bahn des elften Planeten und drang kurz darauf durch den unüberwindlichen Mantel, der das Zyrton‐System schützte und seinen Standort verbarg. Wenig später drangen die Schiffe in ein übergeordnetes Kontinuum ein und tauchten fast gleichzeitig in der Nähe jener Koordinaten auf, die 18‐Page ihnen übermittelt hatte. »Jetzt wird es sich zeigen, was die Technik unseres Volkes für einen Wert besitzt«, sagte 92‐Page Ohoro unvermittelt. Von den
Besatzungsmitgliedern des Schiffes, die nicht dem Rat der Pagen angehörten, erhielt er laute Zustimmung zu seinen Worten. »Wir werden das Relikt zerstören«, bekräftigte Malara ihre Überzeugung. »Oder ich will von den Ourpulys verdaut werden.« Die Teilflotte der Zyrtonier fächerte sich auf und schloß das vor ihr liegende Raumgebiet halbkugelförmig ein. Noch war nichts zu erkennen, aber nach einiger Zeit tauchten kurze, kaum wahrnehmbare Impulse auf der Ortung auf. Es war, als trieben irgendwo in der Leere Felsbrocken mit metallischen Anteilen, die immer wieder Reflexe hervorriefen. Bestimmt war schon manches Schiff auf solche Impulse gestoßen und hatte ihnen keine Bedeutung beigemessen. Diesmal würde es anders sein. »Setzt alle vorhandenen Mittel gegen das Relikt ein«, befahl Malara ihren Untergebenen. »Versucht, in den Funkverkehr einzudringen, falls es dort etwas gibt, was auf dieser Basis funktioniert!« Die fünfzig Schiffe erwachten zu hektischem Leben, während sie sich den Koordinaten immer weiter näherten. Langsam wurden die Ortungswerte deutlicher, zeichnete sich das Relikt auch in seinem infraroten Erscheinungsbild ab. Malara und Ohoro mußten zugeben, daß sich das Relikt hervorragend tarnte, aber die überlegene Technik der Zyrtonier kam hinter seine Tricks. Die Entfernungswerte wurden genauer, sie betrugen lediglich ein paar Lichtminuten. Und das Objekt selbst stellte sich als ein Gebilde von äußerster Unterschiedlichkeit dar. »Es nennt sich Basis des Ersten Zählers und hat eine Roboterbesatzung«, stellte Ohoro die endgültige Auswertung der Funkimpulse zusammen. »Und da ist noch etwas anderes, aber das braucht uns nicht zu interessieren.« Fast gleichzeitig durchdrang die Teilflotte jenen äußeren Antiortungsschirm, den die Basis abstrahlte, Sie wurde optisch voll sichtbar, und die Zyrtonier erkannten, daß es sich um eine
künstliche Raumstation von großer Komplexität handelte. Eine Seite war mit einer natürlichen Landschaft bedeckt. Man hatte sie aufgepfropft und mehrere Gebäude darin errichtet. Über dem Ganzen spannte sich ein hochenergetischer Schutzschirm, der jeden Angriff mühelos abwehren konnte, wenn man die Maßstäbe des Normalraums anlegte. Den Zyrtoniern würde er keine Schwierigkeiten machen, davon war 91‐Page überzeugt. »Der Sucher hat die richtigen Koordinaten ermittelt«, stellte Malara befriedigt fest. »Angriff vorbereiten!« Ihr Flaggschiff ging noch näher an die Basis heran, und die Ortung spuckte plötzlich wilde Werte aus. Sie liefen durcheinander und ergaben keinen rechten Sinn, und der Hauptbildschirm lieferte eine Ausschnittsvergrößerung eines kuppelähnlichen, strahlenden Gebildes, bei dessen Anblick die beiden Pagen in helle Aufregung gerieten. »Was ist das?« würgte Ohoro hervor. Ein dumpfes Gefühl sagte ihm, daß sie soeben etwas unendlich Wichtiges entdeckt hatten. Malara schrie auf. »Alarm!« stieß sie hervor, und die Schiffssektionen befolgten augenblicklich den Befehl. Zusätzliche Schutzschirme bauten sich innerhalb des Schiffes auf, und auch der gesamte Schiffsrumpf verstärkte seine energetische Abwehr. Die Kuppel auf dem Relikt pulsierte. Sie gab eine Energie von sich, die alle Geräte der Zyrtonierschiffe durcheinanderbrachte. »Das … das«, stammelte 91‐Page Malara. Die Worte von 1‐Page fielen ihr wieder ein. Der erste im Rat hatte nichts davon wissen können, aber er hatte es prophetisch formuliert. Sie sollten das Relikt vernichten und alles, was damit zusammenhing. Die pulsierende Kuppel dort in der Landschaft hing deutlich und stabil mit der Basis zusammen und gehörte doch nicht zu ihr. Sie war ein Fremdkörper an dem robotischen Gebilde, das Weltraumstation und Raumschiff zugleich war und soeben Fahrt aufnahm. Es konnte nicht mehr fliehen. Jetzt, wo sie es entdeckt
hatten, würden sie ihm überall hin folgen. Die Kuppel, in der Leben pulsierte! »Das ist unser eigentlicher Gegner auf dem ganzen Relikt«, sagte Malara. Ohoro stimmte ihr zu. »Wenn wir es vernichten, dann haben wir gewonnen!« 3. Der Interntransmitter der Hauptzentrale leuchtete auf und entließ zwei seltsame Gestalten. Auf den ersten Blick mußte man sie für Roboter halten, denn sie glänzten wie alle beweglichen Maschinen der Basis. Damit war die Ähnlichkeit aber zu Ende. Die beiden Roboter bewegten sich auf zwei biegsamen Beinen vorwärts, und ihre Arme baumelten an den Seiten des hominiden Körpers. Augenblicklich richteten sich die Linsen aller anwesenden Basisroboter auf die Ankömmlinge. Basis‐Rl schaltete sich aus der lautlosen Kommunikation mit dem Hauptcomputer aus, um sich voll auf die beiden Gestalten konzentrieren zu können. Zähler‐Rl folgte ihm bei seinem Tun, während die übrigen Roboter sich nicht rührten und durch nichts zu erkennen gaben, daß sie die Ankunft der beiden Gestalten überhaupt bemerkt hatten. »Der blinde und der lahme Hars«, stellte Basis‐Rl fest, dem Atlan vor langer Zeit den Namen Rico gegeben hatte in Erinnerung an jenen Roboter, der ihn tief im Atlantischen Ozean bewacht und bei gegebenem Anlaß geweckt hatte, als er in seiner Unterwasserkuppel die Jahrtausende überdauerte und vergebens auf Hilfe von Arkon gewartet hatte. »Was wollt ihr?« fragte Zähler‐Rl akustisch. Er hörte auf den Namen Pit und war in der Vergangenheit der erste Roboter des Ersten Zählers gewesen. Alle kannten sie den blinden und den lahmen Hars. Es waren zwei Gestalten, die die Basis bewohnten seit dem Anfang ihrer Existenz.
Niemand konnte sagen, woher sie kamen und ob der Erste Zähler sie aufgenommen hatte. Ihre Daten waren in keiner Positronik gespeichert, und sie trieben sich herum, wo es ihnen paßte. Auch diesmal schien es so, und Basis‐Rl machte eine abwehrende Geste, wie er sie im Umgang mit den Menschen gelernt hatte. »Ihr stört«, knarrte er. »Fremde nähern sich der Basis. Wir brauchen alle unsere Kräfte, um sie zu vertreiben und uns ihrer Ortungsfalle zu entziehen. Verschwindet wieder!« Er deutete auf den Interntransmitter, dessen Feld gefährlich waberte. Die beiden seltsamen Gestalten rührten sich nicht. Sie schienen auf irgend etwas zu lauschen, dann sagte die eine von ihnen: »Wir haben soeben die Anweisung erhalten, das Versteckspiel aufzugeben. Vernehmt also, was wir euch mitzuteilen haben. Wir sind Lichtquelle‐Hars und Jenseitsmaterie‐Hars. Wir sind die direkten Boten der Quelle der Jenseitsmaterie und sind gekommen, um euch zu warnen!« Unruhe entstand unter den Robotern der Basis. Von der Hauptpositronik ging ein Signal aus, das den Robotern mitteilte, daß sie eine wichtige Frage zu stellen hatte. Basis‐Rl interpretierte das Signal richtig und beeilte sich, zu fragen: »Ihr seid Mischwesen, teils Maschine, teils Organik.« Die beiden Gestalten bestätigten es. »Nur so ist es uns möglich, die Botschaft der Lichtquelle zu empfangen, die sich rein mental mitteilt. Es ist ein einseitiger Kontakt, aber wir stellen ihn gern her und führen die Wünsche der Lichtquelle aus, weil wir darin unsere Existenzaufgabe sehen.« Das war es also. Ein wenig kam Licht in das Rätsel um die beiden Wesen, die zusammen mit ein paar anderen organischen Lebewesen auf der Oberfläche der Basis hausten. Die Hauptpositronik speicherte die Erkenntnisse, während sie gleichzeitig die Abwehrmaßnahmen gegen die anfliegenden Fremden verstärkte, die ihrerseits über starke Abschirmeinrichtungen verfügten. Die Positronik erkannte rasch die
Überlegenheit der fremden Systeme und gab Alarm an die Roboter. Gleichzeitig veränderte sie die Steuerimpulse, die an die Triebwerkssektoren gingen. Die Basis änderte den Flugkurs in der Namenlosen Zone. »Wovor will uns die Lichtquelle warnen?« erkundigte sich Zähler‐ Rl. Der Roboter hatte seinen Oberkörper ein wenig nach vorn gebeugt und erweckte den Eindruck, als könnte er jeden Moment umstürzen. Sein eingebauter Gravitator glich die Bewegung jedoch aus. Der Schwerpunkt im Innern des mechanisch‐positronischen Körpers veränderte seine Lage nur unwesentlich. »Der eigentliche Feind ist da«, verkündeten Lichtquelle‐Hars und Jenseitsmaterie‐Hars gemeinsam. »Die Fremden heißen Zyrtonier, und sie sind gekommen, um zu vernichten!« Jetzt mischte sich zum ersten Mal die Hauptpositronik selbst ein. Sie aktivierte alle Lautsprecher und gab Alarm, der überall auf der Basis des Ersten Zählers zu hören war. Er schrillte im Turm, an dem die Gondel hing, und durchdrang alle Räume des Gästehauses. Er drang aus den Luken, die von der Oberfläche hineinführten und rief alle Wesen ins Innere der Basis, die sich noch draußen aufhielten. »Noch ist es nicht sicher, ob sie tatsächlich angreifen«, behauptete Rico, aber der blinde und der lahme Hars widersprachen sofort. »Die Lichtquelle nimmt ein glockenförmiges Gebilde wahr. Es stellt ein Ortungsnetz dar, das sich an die energetische Substanz unseres Schutzschirms heftet wie eine Klette an einen Baum. Die Lichtquelle spürt die Gefahr, die von dieser Energieform ausgeht.« »Eindruck bestätigt«, meldete sich die Hauptpositronik. »Der umfassende Schutzschirm der Basis verliert Energie. Die Leistung der Kraftwerksstationen wird erhöht.« »Es ist gut«, meinte Basis‐Rl. »Bleibt bei uns in der Zentrale. Es ist wichtig, daß ihr uns alle Eindrücke vermittelt, die die Lichtquelle empfängt.« Die Roboter sahen keinen Grund, warum der Gegner angesichts überlegener Mittel die Basis angreifen oder zerstören sollte. Es ging
folglich nicht um das Raumschiff des Ersten Zählers, sondern um den wertvollsten Teil seiner Oberfläche. Nicht zum ersten Mal versuchte jemand, die Lichtquelle aus ihrer Verankerung zu lösen und mit sich zu nehmen. Die Lichtquelle hatte große Angst vor den Zyrtoniern, und die Unruhe, mit der der blinde und der lahme Hars in der Hauptzentrale hin und her gingen, ließ das Schlimmste befürchten. Die Lichtquelle bangte um ihre Existenz. Sie tat es begründet und intensiv. Sie mußte also wissen, daß der Gegner es auf sie abgesehen hatte. »Es gibt Zusammenhänge zwischen der Lichtquelle und den Zyrtoniern«, erkannte Zähler‐Rl zusammen mit den anderen Robotern. »Was habt ihr uns dazu zu sagen?« »Die Lichtquelle hat uns keine Informationen gegeben, und wir können sie mit unseren Fragen nicht erreichen«, lautete die kurze Antwort. Die Basis aktivierte alle Systeme. Aus dem Felsmassiv mit seinen beiden Felsnadeln raste plötzlich ein blau sprühender Energiefinger hinaus und zog einen Bogen unter dem Schutzschirm. Auf der gegenüberliegenden Längsseite der Basis verschwand er wieder im Boden. Mehrmals wiederholte sich der Vorgang, und jedesmal lösten sich von dem Bogen Kaskaden kleiner Energiefinger, die wie winzige Fontänen ein wenig anstiegen und dann dem Boden entgegensanken, wo sie versiegten. Das Signal an die Lichtquelle, das hoffentlich deutlich war und von ihr registriert wurde. Die Roboter benötigten Brocken der Jenseitsmaterie, um sie in die Jenseitsenergieschleuder einfüttern zu können. Vorn am Bug der Basis, gut verdeckt von dem spitzen Auswuchs mit dem Beiboothangar, wurde die Schleuder aktiviert. Sie war die wirkungsvollste Waffe, die die Roboter besaßen. Die Maschinen bedauerten es, daß Atlan und seine Freunde nicht da waren, um Entscheidungen zu treffen und im Sinn der Basis in
das Geschehen einzugreifen. Sie hatten die letzten Versuche, durch den geschlossenen Nabel in die Namenlose Zone einzudringen, teilweise erkannt und interpretiert, aber sie wußten nicht, welche Schlüsse sie daraus ziehen mußten. Sie behalfen sich mit der Erkenntnis, daß sie auf sich allein gestellt waren. Es würde ein harter und langer Kampf werden, wenn es sich bei den Zyrtoniern wirklich um den uralten Feind handelte, vor dem sie sich immer mit Erfolg verborgen hatten, wie es die Programmierung der Basis vorsah. Plötzlich begannen der blinde und der lahme Hars schrill zu schreien. Die Schwingungen ihrer Stimmen beeinflußten die Roboter in ihrer internen Kommunikation, und sie schalteten ihre Außenmikrofone ab, bis die Hauptpositronik sie darauf hinwies, daß das Schreien erstorben war. Die beiden Gestalten wälzten sich am Boden und stießen wimmernde Laute aus. Die Roboter begriffen, daß die Lichtquelle es war, die solche Pein litt. Sie beugten sich über die beiden und versuchten, ihnen zu helfen. »Was ist es?« sagte Zähler‐Rl. »Was will uns die Lichtquelle mitteilen?« »Das Paz‐Klahu!« stöhnten die beiden. »Die Lichtquelle spürt das Paz‐Klahu in der Nähe. Die Zyrtonier haben sich an diese alte Waffe erinnert!« »Was ist das, Paz‐Klahu?« knarrte Basis‐Rl. »Der Tod für die Lichtquelle«, hauchten die beiden Hars. »Flieht! Oder es ist unser aller Untergang!« * Beim zweiten Hinsehen war sich 91‐Page Malara nicht mehr so sicher, daß die pulsierende Kuppel ein Fremdkörper auf der Oberfläche der Basis war. Sie wirkte nur so. Es war ebenso gut
möglich, daß dieses Schiff nur für sie gebaut worden war und sie durch die Namenlose Zone transportierte, um sie dem Zugriff der Zyrtonier zu entziehen. Das würde zu dem passen, was sie aus der Vergangenheit über das Relikt gewußt hatten. »Funkspruch nach Zyrton oder einer der Relaisstationen außerhalb«, ordnete die Kommandantin des Verbands an. »Wir sind dabei, die Abwehr des Gegners zum Zusammenbruch zu bringen. Dreißig Kämpfer in die Nähe des Raumschlauchprojektors!« Ihre Befehle wurden augenblicklich ausgeführt, und Malara beobachtete weiter, wie sich die Auseinandersetzung entwickelte. Noch war sie auf einen stillen Kampf zwischen der Leistungsstärke der beiden unterschiedlichen Systeme beschränkt, aber die Pagin brauchte nur auf die Bewegungen ihres Lebenspartners zu achten, dann wußte sie, wie ungeduldig 92‐Page Ohoro war. »Welchen Namen mag die Pulsierende tragen?« fragte Ohoro plötzlich. Malara wußte es nicht. Bisher hatten sie ihn nicht herausgefunden, obwohl sie den Funkverkehr innerhalb der Basis mühelos abhören konnten. Die fünfzig Schiffe der Zyrtonier hatten inzwischen eine vollkommene Kugel um die Basis gebildet und schirmten sie durch einen übergreifenden Schutzschirm von der Umgebung ab. Niemand konnte ihr jetzt zu Hilfe kommen. Gleichzeitig setzte Malara den Sauger ein, und gebannt verfolgten die Zyrtonier, wie der Schutzschirm der Basis immer schwächer wurde, ständig nachgeladen werden mußte, aber erneut Energie verlor. Irgendwann mußten die Reserven des Gegners erschöpft sein. Die Wesen aus dem Zyrton‐System wußten inzwischen, daß das Schiff mit wenigen Ausnahmen von Robotern bemannt war. Das kam ihnen entgegen. Roboter konnten ihnen nicht nützlich sein, deshalb gab es keinen Gegenvorschlag zu Malaras Entscheidung. Die Schiffe der Zyrtonier würden von dem Relikt nichts übrig lassen als eine diffuse Wolke metallischen Staubs. 91‐Page wurde mit der Zeit ungeduldig. Noch immer war der
Schutzschirm über der Basis nicht zusammengebrochen. Er erhielt laufend Energien, und die Sauger der Schiffe meldeten volle Speicher. Wenn das Ganze nicht zu einem Fehlschlag werden sollte, dann mußten sie jetzt handeln. »Ohoro!« sagte Malara. 92‐Page setzte sich mit der Kontrolleinheit des Raumschlauchprojektors in Verbindung. Die dreißig Kämpfer waren einsatzbereit. »Das Paz‐Klahu ist auf dem Weg zu euch«, sagte Malara. Sekundenlanges Schweigen lag über allen Funkkanälen. Dann brach Jubel los. Alle wußten um das Paz‐Klahu und seine Wirkung. Daß Malara es gegen das Relikt einsetzen wollte, war ein Exempel, dessen Anblick sich kein Zyrtonier entgehen lassen würde. Das 1800 Meter lange Flaggschiff ging noch näher an die Basis des Ersten Zählers heran. Sie änderte erneut den Kurs und beschleunigte, aber der Schiffsverband folgte ihr synchron und verhinderte durch den Aufbau einer winzigen Schockwellenfront in Flugrichtung, daß sie in den Hyperraum floh und sich in Sicherheit brachte. Ein Computersignal lenkte die Aufmerksamkeit auf die dreißig Kämpfer am Raumschlauchprojektor. »Jetzt«, sagte Malara. Wieder hatten die Sauger einen Teil der Schirmenergie der Basis abgezogen. Ein Finger schoß aus dem Flaggschiff auf das Relikt zu und durchdrang den Schirm. Der Finger wuchs und wurde dicker, und dann sahen die Zyrtonier auf den Optikschirmen, wie die dreißig Kämpfer mit atemberaubender Geschwindigkeit durch den Schlauch zur Oberfläche der Basis gezogen wurden. In ihrer Mitte befand sich ein klumpenähnliches Gebilde, das in tiefem Grauschwarz strahlte und im nahen Umkreis alles Licht zu verschlucken schien. Es bewegte sich in einem Antigravfeld zwischen den Kämpfern. Das Paz‐Klahu. Gleichzeitig war die neue Auswertung des Funkverkehrs
abgeschlossen. »Die Pulsierende nennt sich Quelle der Jenseitsmaterie oder Lichtquelle«, sagte einer der Zyrtonier. Er verschluckte sich fast, und durch die Zentrale des Flaggschiffs ging ein ehrfürchtiges Raunen. »Du hast die Worte von 1‐Page wörtlich genommen!« 91‐Page bestätigte es. Deutlich war ihr anzusehen, wie sie sich freute. Sie dachte ein paar Augenblicke an das schöne Geschenk, das Ohoro ihr an einem der zyrtonischen Strände gemacht hatte. Jetzt wollte sie ihrem Lebenspartner auch ein Geschenk machen und gleichzeitig ihrem Volk einen großen Gefallen erweisen. »Ich mußte daran denken, daß 1‐Pages Worte so prophetisch klangen. Als ich die verankerte Pulsierende sah, wurde ich an eine andere Prophezeiung erinnert, die die ferne Vergangenheit unseres Volkes betrifft.« »Ich kenne sie«, erwiderte Ohbro. »Sie handelt davon, daß das Paz‐Klahu eines Tages zum Retter unseres Volkes werden könnte.« »Deshalb haben wir es in zweifacher Ausführung an Bord«, erwiderte Malara. »Ich habe es erst nach dem Start erfahren. Ich bin mir sicher, daß 1‐Page es angeordnet hat. Er weiß mehr, als er uns mitteilte. Doch sieh nur!« Die dreißig Zyrtonier hatten die Oberfläche der Basis erreicht. Über ihnen erlosch der Schlauch, und der Energieschirm des Relikts stabilisierte sich ein wenig. Malara ließ die Sauger abschalten, denn sie waren alle voll und teilweise überladen, und sie ließ die Energien umwandeln und in die Waffensysteme der Schiffe übertragen. »Das Paz‐Klahu ist die einzige Möglichkeit für uns, mit der die Jenseitsmaterie neutralisiert werden kann«, fuhr Malara fort, ohne genau zu wissen, woher sie ihre Überzeugung nahm. Sie hatte auch keine Zeit dazu, sich um so etwas zu kümmern. Hauptsache war, daß die Lichtquelle zerstört wurde. *
Der Transfer funktionierte nicht. Das bedeutete, daß entweder die technischen Anlagen versagten, oder aber … Es dauerte Bruchteile von Sekunden, bis die Roboter wußten, daß die Anlagen keine Störungen aufwiesen. Die Linsen der Maschinen richteten sich erwartungsvoll auf die beiden Wesen, die über ihre organischen Gehirne Botschaften der Lichtquelle empfangen konnten. Lichtquelle‐Hars und Jenseitsmaterie‐Hars schwiegen. »Was ist?« ratterte Basis‐Rl ungeduldig. »Warum meldet sie sich nicht?« Die beiden Hars wußten es nicht. Sie empfingen keine Gedanken von der Lichtquelle, und die Roboter schickten nochmals den Aktivierungsbogen unter dem Schutzschirm der Basis entlang. Er erreichte die gegenüberliegende Seite nicht. Seine Energie wurde abgezogen und floß in einen Schlauch, der sich bildete. Etwas kam auf die Basis zu. Der Schutzschirm konnte es nicht aufhalten. Damit war das Taktieren mit den Antiortungssystemen beendet. Der Gegner suchte den offenen Kampf. »Hinauf auf die Oberfläche!« kommandierte Basis‐Rl. »Wir müssen die Lichtquelle schützen!« Die Jenseitsenergieschleuder fiel aus. Es blieben nur die anderen Verteidigungssysteme der Basis und die vielen Roboter. Überall öffneten sich jetzt Luken und entließen mehrere hundert Maschinen. Die weniger organischen Lebewesen schlossen sich ihnen an. Auf Antigravscheiben und Flugmaschinen schleppten sie alles an, was beweglich war. Gravitationsprojektoren und Strahlkanonen, Schirmprojektoren und Speicherbänke. Aus mehreren Richtungen bewegten sich eilige Prozessionen auf die Lichtquelle zu. Die pulsierende Kuppel war erloschen. Matt und dunkel lag der Dom vor ihnen. Die Lichtquelle hatte sich wieder einmal abgekapselt.
»Wir spüren Traurigkeit und Todesangst«, stellten die beiden Hars fest, als sie die Einfriedung der Kuppel erreicht hatten. »Die Quelle der Jenseitsmaterie hat sich in sich selbst zurückgezogen. Sie ist vor Furcht wie gelähmt und befindet sich in Erwartung ihres Todes. Sie spürt das Paz‐Klahu!« Wie auf Kommando wandten sich der blinde und der lahme Hars in die Richtung, in der der Schlauch existierte. Er erlosch in diesem Augenblick, und die Roboter erkannten dreißig fremdartige Wesen, die sich auf der Oberfläche der Basis bewegten. Zwischen Buschgruppen kamen sie um einen kleinen See herum auf die Lichtquelle zu. In ihrer Mitte schimmerte es dunkel. Die Roboter wußten, daß es das Paz‐Klahu war. Die beiden Hars brachen in ein Wimmern aus. Sie sanken am Rand der Lichtquelle zu Boden. Sie empfanden den Schmerz der Jenseitsmaterie körperlich und geistig. »Es ist aus«, ächzten sie. »Wir stehen am Tod!« Die Roboter handelten. Sie griffen den Gegner mit allen Waffen an, die sie besaßen. Die Basis war nicht mehr zu verteidigen, das wußten sie. Also blieb nur noch die Lichtquelle als wichtigster Bestandteil. Sie durfte nicht zerstört werden. Die Zyrtonier kamen immer näher. Sie waren einwandfrei Insektenabkömmlinge. Erste Glutbahnen rasten auf sie zu, aber sie konnten ihnen nichts anhaben. Ein Schutzschirm hüllte die Gruppe ein, und die Roboter orteten, daß seine Energie von dem Paz‐Klahu ausging. Mit Waffen der Basis war er nicht durchdringbar. Jetzt eröffneten die Zyrtonier das Feuer. Sie schossen auf alles, was sich bewegte. Ganze Reihen von Robotern glühten auf. Dunkle Brandspuren bildeten sich dort, wo Maschinen explodierten. Die organischen Lebewesen zogen sich ein wenig zurück. Sie machten sich mit den Robotern über Funk verständlich, aber sie konnten nicht viel sagen, da der Gegner ihre Gespräche mithörte. Dennoch glaubten die Roboter zu wissen, welchen Plan ein paar der Organischen entwickelten.
»Rückzug«, ordnete Basis‐Rl an, ohne die Anweisung näher zu begründen. Damit machte er den Basisbefehl rückgängig, die Lichtquelle mit allen Mitteln zu schützen. Gleichzeitig führte er mehrere Roboterhorden um die Zyrtonier herum und beschoß sie von hinten. Hinter der Roboterfront eilten mehrere Plattformen mit Gravitationsprojektoren heran. Die Zyrtonier erreichten eine kleine Kuppe. Sie sahen die Lichtquelle vor sich liegen. Ihr Schutzschirm erlosch, und das Paz‐ Klahu setzte sich in Bewegung. In Form einer drohenden Wolke eilte es auf die Lichtquelle zu. Höchstens zwanzig Meter trennten es von dem Gebilde. Da griffen die organischen Bewohner der Basis ein. Sie hatten die Gravitationsprojektoren rundherum in Stellung gebracht. Auf ein kurzes Zeichen aktivierten sie sie. Das Paz‐Klahu befand sich übergangslos im Zentrum einer veränderten Schwerkraft, die es emporwarf und zum Rand der Basis in der Nähe des Felsmassivs beförderte. Das Paz‐Klahu reagierte nicht schnell genug. Es hatte alle seine Energien bereits auf die Lichtquelle konzentriert. Es stand kurz vor der Explosion. Seine Kräfte waren gebunden, und es konnte sie nicht mehr umgruppieren. Die Explosion war eingeleitet. Das Paz‐Klahu explodierte, während die letzten der dreißig Zyrtonier unter dem gnadenlosen Beschuß durch die Roboter starben und ihre Körper sich in den Energien auflösten. Ein Ruck ging durch die Basis des Ersten Zählers. Das Felsmassiv und seine Umgebung wurden durchsichtig und lösten sich in dunklem Nebel auf. Große Fetzen der metallischen Außenhaut der Basis flatterten empor und stießen gegen den Schutzschirm. Sie verglühten teilweise und stürzten auf die Oberfläche zurück. Risse bildeten sich in dem riesigen Schiff. Fast die gesamte rechte Seite der Basis wurde in Mitleidenschaft gezogen. Beinahe ein Viertel des Gebildes wurde durch die Explosion zerstört oder unbrauchbar. Das Interntransmittersystem wurde empfindlich
gestört und war nicht mehr benutzbar. Ein Teil der Landschaft fehlte, und mit ihr auch der innere Teil der Basis, der darunter lag. Das Loch reichte fast bis zum Gästehaus, das etwa in der Mitte lag. Die Lichtquelle war unversehrt, aber auch dort gab es Unruhe. Jenseitsmaterie‐Hars lag mit verrenkten Gliedern am Boden. Hinter seiner Stirn wölbte sich das organische Gehirn und suchte einen Ausweg aus dem mechanischen Gefängnis des zerstörten Körpers. Lichtquelle‐Hars, der blinde Hars, hatte sich über ihn gebeugt. Er versuchte ihm zu helfen, indem er seinen Körper drehte und wendete. Es half nichts. Der lahme Hars starb. Die Roboter registrierten, daß die Zyrtonier vom Ausgang ihres Unternehmens überrascht wurden. Die Schiffe zogen sich ein Stück von der Basis zurück, und die Hauptpositronik stabilisierte den Schutzschirm weiter und konzentrierte sich auf die Raumabwehr. Mehrere der kleineren Zyrtoniereinheiten zerplatzten unter dem konzentrierten Beschuß, dem sie plötzlich ausgesetzt waren. Es gelang der Basis, zu beschleunigen und ein Stück in die Namenlose Zone zu fliehen. Sie schoß weitere Schiffe manövrierunfähig, inzwischen waren es vierzehn Einheiten, die sich aus der Kugel gelöst hatten und sich tief in den Raum zurückzogen, wo sie keine Waffe mehr erreichen konnte. »Eine Verschnaufpause«, stellte Zähler‐Rl fest. Er machte eine Bestandsaufnahme. Knapp die Hälfte der Gravitationsprojektoren war durch den Energierückschlag bei der Explosion des Paz‐Klahu zerstört worden. Mehrere Wesen hatten ihr Leben dabei verloren. Ein zweites Mal war es fraglich, ob das Paz‐Klahu abgewehrt werden konnte. Die Roboter sammelten sich, während die Basis kurzzeitig zum Angriff gegen die fremden Schiffe überging. Das Dunkel der Lichtquelle hellte sich ein wenig auf, und der blinde Hars erwachte für kurze Zeit aus seiner apathischen Trauer. »Sie ruft«, stöhnte er. »Die Lichtquelle ruft um Hilfe. Sie versucht,
alle positiven Kräfte des Universums zu erreichen. Und sie ruft nach ihrem Volk!« »Wer ist dieses Volk?« wollte Basis‐Rl Rico wissen. Der blinde Hars seufzte und sank wieder neben seinem toten Gefährten zusammen. Die Roboter führten eine Bestandsaufnahme durch. Die Basis war schwer beschädigt, aber sie konnte noch vollständig manövrieren und auch ihren Schirm trotz des Verlusts einer Kette von Schirmprojektoren aufrechterhalten. Eine Gruppe von Wartungsrobotern kümmerte sich um die Installierung einer Stabilisationsbrücke. Die Zeit lief den Robotern davon. Der Gegner hatte sich von seiner Überraschung erholt und griff erneut an. Die Ortungsanlagen zeigten, daß in dem riesigen Flaggschiff, das ein paar hundert Meter länger war als die Basis, erneut Anstrengungen unternommen wurden, in den Schutzschirm einzudringen. Es gab keinen Zweifel, daß ihm das gelingen würde. Dann begann der Kampf um die Lichtquelle erneut. Die Roboter drückten die Wahrscheinlichkeitsquoten in Prozenten aus. Es war wenig Hoffnungsvolles, was sie den Lebewesen auf der Basis mitzuteilen hatten. 4. Wir fanden die Basis des Ersten Zählers aufgrund der Energieechos. Sofort war uns klar, daß dort ein Kampf stattfand. Ich stöhnte unterdrückt auf. Ich hatte es geahnt. Es war noch nicht vollzogen, aber meine Ahnung bestätigte sich soeben. »Schnell«, stieß ich hervor. »Beeile dich, Computer. Wir müssen der Basis zu Hilfe kommen. Die Lichtquelle muß erhalten bleiben!« Wir sahen nur die sich verändernden Kontrollen. Die Futurboje ging auf Kurs und verschwand im Hyperraum. In unmittelbarer
Nähe des Schauplatzes der Auseinandersetzung kehrte sie in den Normalraum der Namenlosen Zone zurück. Fünfzig Schiffe waren es, und sie besaßen alle die Form der Zyrtonier. Ich war sicher, daß sich jene Wesen in ihrem Innern aufhielten und es sich keinesfalls um Robotschiffe handelte. Sie griffen die Basis an, und der Kampf dauerte schon längere Zeit. Ein tiefes Loch in der Basis und die Trümmer etlicher Schiffe wiesen darauf hin. Gleichzeitig mit diesen Eindrücken empfing ich einen Hilferuf. Er manifestierte sich in meinem Extrasinn. Atlan! schrie der Logiksektor. Sie wollen die Lichtquelle tatsächlich zerstören. Das Paz‐Klahu hätte sie fast schon neutralisiert. Ein zweites Paz‐Klahu befindet sich auf dem Weg zur Oberfläche der Basis! Die Lichtquelle der Vulnurer. Der Zusammenhang zwischen den Vulnurern und den Vorgängen in der Namenlosen Zone! Hastig gab ich mein Wissen weiter. Die Futurboje reagierte bereits und machte sich bereit zum Angriff auf die Zyrtonierschiffe. »Nein!« rief ich. »Landen! Bei der Lichtquelle!« Der Computer des alten Vulnurerschiffs gab mir keine Antwort. Schneller! drängte der Extrasinn. Wir kommen zu spät. Und mit einer Heftigkeit, die mir starke Kopfschmerzen verursachte, fuhr er fort: Es darf nicht sein. Hinab, Atlan. Zur Oberfläche. Rettet die Lichtquelle!! Auch jetzt reagierte der Computer nicht. Meine Augen begannen zu tränen. Ich wischte salziges Wasser aus den Augenwinkeln. Mit den Zähnen biß ich mir fast die Unterlippe durch. Vor meinen Augen verschwamm das Orterbild und zeigte mir ein zerstörtes, völlig zerfetztes Schiff mitten in einem gelben Raum. Von der Lichtquelle war nichts mehr übrig, oder es gab sie auf diesem Bild nicht. Etwas verschob sich, ich spürte es. Atlan! Jetzt nicht! Du darfst nicht! Ich wehrte mich dagegen, aber ich konnte es nicht. Etwas drängte meine reellen Wahrnehmungen zur Seite und projizierte Bilder in
mein Gehirn, die nicht dieser Wirklichkeit angehörten. Glühendheiß durchfuhr es mich, und ich begriff, daß das, was meine Augen jetzt sahen, mein Geist jetzt miterlebte, nicht in der Namenlosen Zone vor sich ging. Es war anderswo. Bereits zweimal hatte ich etwas Ähnliches erlebt. Eine Vision! Jemand bohrte seine Finger schmerzhaft in meinen Oberarm und schüttelte mich. Ich beachtete es nicht, denn meine Gedanken und mein Bewußtsein entfernten sich immer mehr von der Wirklichkeit. In dieser Stärke und Intensität hatte ich es außerhalb der Namenlosen Zone nicht erlebt. Es überwältigte mich und machte mich zu einem winzigen Bestandteil eines Geschehens. Wie eine winzige Wanze an der Wand sah ich die Zentrale vor mir, die mir so vertraut war. Ich sah eine Frau, und ich begriff plötzlich, worum es ging. Die Frau war Solania von Terra, und das Schiff die SZ‐2. Atlan, wir werden vernichtet! Der Ruf des Extrasinns erreichte mich nicht mehr. Ich war dort, und ich spürte den Schmerz, der durch meinen Körper stach. Auch Solania? War sie die nächste nach Ticker und Tyari? Mußte es so sein? Hatte ein grausames Schicksal mir abermals für die Zukunft die Einsamkeit auferlegt? Endgültig verlor ich jeden Bezug zur Realität meiner Umwelt und auch meines Ichs. Ich wurde zu dem, was ich sah. Zu den Wänden, der Hülle und all den Einrichtungen. Ich war das Schiff und erlebte alles so mit, als wäre ich körperlich dort gewesen. Die Verwirrung »Was ist das 17. Nest?« Palotin blickte von seiner Reagenzbox auf und musterte Egoner stirnrunzelnd. »Nest?« echote er. »Ein Nest ist ein aus Pflanzenfasern, kleinen Ästen und Flaum hergestelltes Gebilde, in dem Vögel ihre Jungen ausbrüten. So steht es im Bordlexikon. Und 17. Nest? Hm, da mußt
du mal in der zoologischen Station nachfragen. Vielleicht haben die dort eine Versuchsreihe mit zwanzig Nestern, und das besagte ist eben das siebzehnte davon.« »Du willst mich nicht verstehen«, knurrte Egoner verdrossen. »Es gibt in der ganzen SOL‐Zelle keine Versuchsreihen mit Nestern. Es sind überhaupt keine Vögel oder Eierbrüter an Bord. Das 17. Nest muß etwas anderes sein!« Palotin wandte sich endgültig von seiner Reagenzbox ab und fuhr sich über die Stirn. Er strich sich das Haar nach hinten und blieb mit zwei Fingerspitzen an der winzigen Wölbung dicht hinter dem Haaransatz hängen. Sie befand sich genau in der Mitte des Kopfes. Eine Wölbung? Palotin kratzte daran, aber es war keine Talgkruste, die sich mit dem Fingernagel lösen ließ. Außerdem erinnerte der Solaner sich, daß er erst am Vorabend ausgiebig geduscht und sich die Haare gewaschen hatte. »Verd …«, stieß er hervor, dann verstummte er. Eine Erkenntnis manifestierte sich in seinem Gehirn und kämpfte gegen etwas an, was er nicht fassen konnte. Für wenige Augenblicke war sein Kopf völlig klar. Natürlich. Er spürte den Spoodie unter seiner Kopfhaut, und das winzige Gebilde verlieh ihm Weitsicht und ein Reaktionsvermögen, wie er es früher nicht besessen hatte. Auch sein Gehirn arbeitete besser als früher, nur spürte Palotin im Moment wenig davon. Er suchte nach einer Erklärung für das 17. Nest. Irgendwie empfand er, daß er einmal gewußt hatte, was das war. Er kam nur nicht dahinter. Der Spoodie half ihm nicht. »Du solltest die Positronik in der Hauptzentrale befragen«, empfahl er Egoner. »Sie wird dir Auskunft geben können!« »Das ist es nicht«, murmelte der Biologe dumpf. Er legte die Hände an die Schläfen und massierte sie. » Ich bilde mir ständig ein, daß ich es früher gewußt habe!« »Du auch?« Palotin schrie es. Das Rasseln der Reagenzbox hörte er erst beim zweiten Anlauf, und er schaltete sie rasch ab und wartete ungeduldig auf die Auswertung. Mit Hilfe der eingebauten
Computerreihe war es kein Problem, die gewünschten Reaktionen durchzuführen und eine komplette Analyse zu machen. »Etwas ist nicht in Ordnung«, fuhr er fort. »Glaubst du, daß es Dinge gibt, die wir einfach vergessen haben?« Egoner gab ihm keine Antwort, und Palotin beschloß, der Frage nachzugehen, sobald er seine Arbeit abgeschlossen hatte. Er beobachtete, wie es in der Reagenzbox sprudelte, wie mehrere Flüssigkeiten in den einzelnen Kammern abgesaugt würden und ein warmer Luftstrom die Pflanzenteile trocknete. Die Vakuumdeckel öffneten sich, und Palotin nahm die Teile heraus und gab sie Egoner zurück, der sie behutsam in einem Plastikkorb verstaute. Er behandelte sie wie rohe Eier. Wenige Sekunden später hatte die Computerreihe ihre Untersuchungen abgeschlossen. Ein gelbes Licht leuchtete auf, und Palotin schloß den Ablaufschlauch an die Box an. Die chemischen Flüssigkeiten gluckerten davon und wurden der Wiederaufbereitung zugeführt. Auf dem Wandbildschirm leuchteten die ersten Ergebnisse auf, und gleichzeitig nahm der angeschlossene Drucker seine Arbeit auf und notierte aufmerksam alle Werte. Als er fertig war, riß Palotin den Papierstreifen ab und warf einen Blick darauf. »Nichts«, sagte er. »Tut mir leid. Die Versuche waren wieder negativ. Deine Pflanzen lassen sich nicht in der gewünschten Weise analysieren.« »Was heißt hier wieder?« Egoner wollte aufbrausen. »Du hast mich vor zwei Tagen dieselben Versuche schon einmal machen lassen«, erwiderte Palotin geharnischt. Er verschloß seine Box und stellte die Energiezufuhr ab. Ein kleiner hüfthoher Laborroboter rollte herbei und brachte die Box in ihren Schrank zurück. »Du spinnst«, behauptete Egoner und tippte sich an die Stirn. »Du weißt nicht mehr, was du redest. Das Geschenk ist doch erst heute morgen an Bord gekommen. Wie kann ich dir da vor zwei Tagen Proben zur Untersuchung gebra …«
Er packte seinen Korb und verließ das Labor des Chemikers. Er schüttelte fortwährend den Kopf, und Palotin sah ihm mit hängenden Schultern nach. Egoner war krank, davon war der Chemiker überzeugt. Der Biologe war wahrscheinlich überarbeitet. Ich werde ihn nachher über Interkom anrufen und ihm eine längere Ruhepause empfehlen, entschied Palotin und widmete sich anderen Aufgaben. Daß sie die Hauptpositronik hatten konsultieren wollen, daran dachten beide Solaner nicht mehr. Erst Stunden später dachte Palotin wieder an Nester, aber er brachte es nicht mehr zusammen, was mit Nestern gewesen war. * Horaffa rannte den Korridor entlang und achtete nicht auf die Blicke, die ihr manche Solaner nachwarfen. Sie eilte durch den Wohnbereich und hatte nichts anderes im Sinn, als schleunigst ihre Kabine zu erreichen. Ihr Armbandkom zirpte und machte sie ununterbrochen darauf aufmerksam, daß man sie von der Zentrale aus erreichen wollte. Horaffa stieß einen Fluch aus. Sie rannte schneller, und die braunen Haare wehten wie eine Flagge hinter ihr her. Endlich sah sie die Korridorkreuzung vor sich und bog nach links ab. Gerade schalteten sich die Beleuchtungskörper auf Nachtlicht um. Der Tag im Schiff war vorbei. In ihrer Hast verlor Horaffa ihr Ziel aus den Augen. Sie rannte an ihrer Wohneinheit vorbei und merkte es erst, als sie den runden Aufenthaltsraum vor sich sah, der teilweise in die Krümmung des Korridors integriert war. Die Pilotin hielt an und lehnte sich an die Wand. Ihr Atem ging rasselnd. In ihren Augen stand Angst, und sie hielt eine Hand vor den Mund, um nicht in lautes Weinen auszubrechen. Bebenwellen
durchliefen ihren Körper. Sie war todkrank. Die Anzeichen waren überdeutlich. Und niemand konnte sie retten. Sie hetzte zurück und fand endlich ihre Tür. Sie öffnete und ließ sich in ihre Wohnung hineinfallen. Sie suchte ein kleines Vibratormesser und stürzte in die Hygienekabine hinein, wo der Spiegel hing. Horaffa tastete zum Haaransatz, wo das Geschwür saß. Sie begann zu zittern, und das Messer entfiel ihr und landete im Waschbecken. »Weg mit dir!« zischte sie. »Raus! Ich kriege dich!« Sie packte das Messer und führte es zur Stirn. Sie versuchte, nicht hinzusehen und doch gleichzeitig die Stelle zu treffen, wo es saß. Spoodie hieß das Geschwür. Sie hatte keine Ahnung, wo sie es her hatte. Sie war auf keinem Planeten gewesen und kannte nur ihren Aufenthalt in der SOL‐Zelle. So weit sie zurückdenken konnte, hatte sie immer in dem Schiff gelebt. Wie lange schon? Ein Stich durchfuhr ihren Körper, schmerzhaft und peinigend. Sie konnte sich nur an die letzten zwei Tage erinnern. Davor war nichts. Es hatte sie da noch nicht gegeben. Horaffa stieß mit dem Messer zu. Blut spritzte aus der Wunde, aber sie spürte, daß sie die richtige Stelle getroffen hatte. Sie warf das Messer fort und preßte mit beiden Händen auf die Wunde. Sie drückte den Spoodie aus der entstandenen Öffnung. Er rutschte über ihre Stirn und fiel neben dem Waschbecken zu Boden. Horaffa schwankte. Sie verlor das Gleichgewicht und ging in die Knie. Sie klammerte sich an den Rand des Waschbeckens und riß es fast aus seiner Verankerung. Sie ließ sich vollständig zu Boden sinken und tupfte mit einem Handtuch das Blut ab, das ihr in einer feinen Spur über das Gesicht rann. Wer bin ich? fragte sie sich. In ihrem Kopf war mit einemmal eine große Leere, und sie hatte Mühe, ihre nächste Umgebung zu erkennen. Sie kroch hinaus in den Wohnraum und stellte entsetzt fest, daß der Spoodie ihr folgte. Eine hellrote Spur hinter sich
herziehend, kroch er auf sie zu. Das winzige, daumennagelgroße Insekt schob sich über die Schwelle und fiel auf den Wohnzimmerboden. Es schien sein Ziel genau zu kennen. Horaffa warf das Handtuch weg und schleppte sich bis zur Tür ihrer Wohnungseinheit. Sie riß sie auf und kroch hinaus auf den Korridor. Sie hörte aufgeregte Stimmen ganz in der Nähe. Sie erkannte andere Männer und Frauen, die herumwankten oder wimmernd am Boden lagen. Zwischen ihnen am Boden bewegten sich winzige Tierchen. »Auch ihr«, stieß Horaffa betroffen hervor. Sie bildete sich ein, daß eine Seuche ausgebrochen war oder eine Invasion einer fremden Intelligenz vor sich ging. Jemand schrie: »Einen Strahler her! Bringt die Dinger um. Verdampft sie!« »Mein Gott«, stammelte Horaffa. »Wenn es so etwas wie dich gibt, dann hilf uns! Wer sind wir, und wo sind wir? Was ist das für ein steriler Korridor, in dem wir liegen? Wer hat uns aus unserer gewohnten Umgebung entführt?« »Wer bin ich?« jammerte ein Mann ganz in ihrer Nähe. »Warum kann es mir keiner sagen? Lebe ich überhaupt?« Die Spoodies krochen noch immer hinter ihren Trägern her, und Horaffa empfand unendlichen Ekel vor diesen Dingern. Sie richtete sich mühsam auf und trat auf die Dinger. Sie stampfte sie mit den Absätzen klein, bis nur noch kristalliner Staub von ihnen übrig war. Fünf oder sechs Spoodies schaffte sie, dann war sie mit ihrer Kraft am Ende. Horaffa stürzte bewußtlos zu Boden. * Etwas stimmte nicht. Solania von Terra beobachtete Fahud Leiber. Der Chefpilot der SZ‐
2 saß in seinem Pilotensessel und bewegte sich unruhig. Viele seiner Bewegungen wirkten fahrig, und es dauerte ewig, bis der Steuercomputer endlich grünes Licht für die bevorstehende Linearetappe gab. Die dreiundsechzigjährige Frau schüttelte ihre grauen Haare und ging langsam zu ihm hinüber. Sie beobachtete ihn eine Weile und sagte schließlich: »Ist etwas mit dir, Fahud? Fühlst du dich nicht wohl?« Der Chefpilot verneinte, aber für Solania kam die Antwort ein wenig zu rasch und zu hastig. Sie glaubte ihm nicht und überlegte, ob sie nicht eine Ablösung für ihn rufen sollte. Laufend trafen Meldungen aus allen Schiffsbereichen ein. Sie beinhalteten ohne Ausnahme widersinniges Verhalten von Solanern. Die Fälle mehrten sich, in denen Männer und Frauen sich mit Gewalt ihrer Spoodies entledigten. Solania erkannte keinen Sinn darin. Die Spoodies waren eben da. Sie persönlich störte das winzige Gebilde unter der Kopfhaut nicht, und in Minuten der Entspannung bildete sie sich manchmal ein, daß der Spoodie eine kräftigende Wirkung auf sie ausübte. Überall waren die Medorobots aktiviert. Sie brachten die Betroffenen in die Medostationen und verarzteten sie. Die Patienten waren apathisch und erinnerten sich nicht einmal an ihren Namen. Vor den Spoodies hatten sie eine heillose Angst, und jeder Versuch, einem von ihnen erneut ein solches Insekt einzupflanzen, scheiterte am Widerstand der Betroffenen. Solania von Terra glaubte, daß die Spoodies ebenso zu dem Schiff gehörten wie alle anderen Einrichtungen. Das Schiff flog eben durch das All, und das, was früher gewesen war, war Geschichte. Es interessierte keinen, und die Kommandantin wußte, daß sich kein einziger Solaner daran erinnerte, was früher gewesen war und ob es ein Früher gegeben hatte. Man hätte schon die Hauptpositronik befragen müssen, aber dazu hatte bisher niemand Lust gehabt.
Natürlich hatte es eine Vergangenheit gegeben, und sie wirkte mit Sicherheit bis in die Jetztzeit hinein. Möglicherweise lag es in der Verantwortung der Kommandantin, hier ein klärendes Wort zu sprechen, das die Gemüter der aufgeregten Solaner besänftigte. Sie mußte sich also informieren. Solania vergaß den Piloten. Sie betrachtete die Bilder, die auf mehreren Bildschirmen zu sehen waren. Sie zeigten das Geschenk oder Ausschnitte davon. Es machte weiter Fortschritte, und die Meldungen aus den biologischen Labors klangen zuversichtlich. Die SZ‐2 war dran und drauf, zur neuen Heimat für das Geschenk zu werden. Die Kommandantin trat an eine der Konsolen und setzte sich mit der Hauptpositronik in Verbindung. »Ich möchte die verwirrten Solaner beruhigen und benötige dazu Daten über die Vergangenheit. Was weißt du über die Bestimmung der SZ‐2?« »Dieses Schiff ist ein Dritteil der SOL und ist als Spoodieschiff eingesetzt. Es transportiert Spoodies vom Feld zu den bewohnten Welten dieser Galaxis. Auch jetzt ist es unterwegs, um eine neue Ladung aufzunehmen. Die Transportbehälter dazu sind in ausreichenden Mengen enthalten. In Kürze wird das Schiff das Nest der 17. kranischen Flotte passieren.« Solania zuckte unter jedem Wort wie unter Peitschenschlägen zusammen. Eine dumpfe Ahnung beschlich sie. Plötzlich wußte sie, was los war in diesem Schiff. Die Verwirrung der Solaner entsprang nicht ihrem eigenen Kopf, sie wurde gesteuert. Die Hauptpositronik des Schiffes war aus unerklärlichen Gründen gestört. Sie brachte die SZ‐2 immer näher an einen Abgrund. Die Kommandantin warf einen langen Blick auf die Bildschirme, die Ausschnitte des Geschenks zeigten. Dann schaltete sie mit einer entschlossenen Handbewegung die Hauptpositronik ab. Das Blütenschiff Der Nährboden war feucht und weich. Die Samen gediehen mit einer Geschwindigkeit, wie Taiphus Gallum es sich
nicht vorgestellt hätte. Alles, was die Königssamen in sich trugen, war voller Überraschungen. Es war kein Wunder, daß Palotin mit seinen Methoden nichts herausgefunden hatte. An die Königssamen mußte man herangehen wie an etwas Lebendiges, das Bewußtsein besaß. Taiphus Gallum sprach mit niemandem über seine Gedanken, die er sich machte. Er hatte Egoner für eine Weile weggeschickt, um allein mit den Samen zu sein und jenen Zeitpunkt zu genießen, an dem sich die ersten Spitzen im Nährboden zeigen würden. Jetzt war dieser Zeitpunkt gekommen, und Gallum verriegelte alle Eingänge zu den ausgedehnten Hydroponikanlagen. Er gab dem Computer eine zeitlich befristete Sperre ein. Damit war sichergestellt, daß niemand ihn stören konnte. Innerhalb weniger Minuten verwandelte sich der dunkelbraune Nährboden. Weiße Punkte bildeten sich in ihm, und sie wurden immer mehr. Wie Sterne legten sie sich über den dunklen Untergrund, und jeder von ihnen stand für eine Pflanze. Gallum begann zu zählen, aber nach einer Weile gab er es auf. Er konnte höchstens überschlagsmäßig feststellen, wie viele es sein würden, und kam zu der Erkenntnis, daß hundert Prozent des Samens aufgegangen waren. Das gab es nirgends in der bekannten Pflanzenwelt, und der Biologe dachte daran, daß es ein wahrhaft lohnendes Geschenk war, das sie erhalten hatten. Schade, daß er sich nicht mehr erinnern konnte, wer es ihnen gemacht hatte und wo das gewesen war. Taiphus beobachtete wieder die Sprößlinge und stellte fest, daß sie gleichmäßig wuchsen und bereits eine Höhe von zwei Zentimetern erreicht hatten. Er konnte es kaum glauben und entfernte sich hastig, um eine Videokamera zu holen. Er fand sie in Form eines beweglichen Roboters und dirigierte ihn an das eine Ende der Anlage, so daß die Kamera die gesamten Pflanzenkulturen erfaßte. Ein gelbes Licht zeigte an, daß der Kameraroboter seine Arbeit aufgenommen hatte. Später dann würde Gallum die Aufnahmen zu
einem Zeitrafferfilm zusammenschneiden. Eine Stunde später hatten die Pflanzen sich bereits fünfzehn Zentimeter aus dem Nährboden erhoben und bildeten erste Blätter und eine Blüte aus. Gallum hüpfte vor Freude hin und her, und er gab dem Computer den Entriegelungsbefehl. Gleichzeitig verlangte er eine Verbindung zur Zentrale, um Solania von dem Erfolg zu berichten, falls sie es versäumt hatte, auf ihre Monitoren zu blicken. Er kam nicht mehr dazu. Mehrere Eingänge öffneten sich, und Dutzende von Solanern stürmten in die Anlagen. Egoner befand sich unter ihnen, und Taiphus Gallum rief ihn zu sich und forderte ihn auf, die Eindringlinge wegzuscheuchen. »Warum denn?« fragte der Biologe gereizt. »Ich habe sie extra zusammengesucht. Oder glaubst du, ich weiß nicht was hier geschehen ist? Wir beginnen sofort mit dem Umtopfen!« »Halt!« brüllte Taiphus. Die ersten Solaner hatten bereits mit der Arbeit begonnen. »Die Pflanzen sind Eigentum der biologischen Abteilung. Niemand berührt sie!« Er wurde regelrecht ausgelacht. Jemand brachte einen fahrbaren Container mit großen Töpfen, und die Solaner topften eine Pflanze nach der anderen um. Rasend schnell ging es, als hätten sie ihr Lebtag nichts anderes getan. Nach wenig mehr als einer halben Stunde hatten sie über fünftausend Töpfe gefüllt. Vom Nährboden in den Anlagen war nicht mehr viel übrig. Ein kleines Feld in der Mitte stand noch mit etwa fünfzehn Pflanzen. »Egoner!« Noch einmal versuchte Gallum es. »Hilf mir, diesem Wahnsinn Einhalt zu gebieten. Was soll mit den Pflanzen geschehen? Sie werden verkümmern!« Egoner hielt einen Topf in der Hand, in dem sich die Blüte immer weiter öffnete und einen betörenden Duft verströmte. Der Biologe lachte seinem Kollegen ins Gesicht. »Du spinnst«, sagte er laut. Damit ließ er Gallum stehen und entfernte sich, während andere Solaner mit Antigravplattformen kamen und die Töpfe mitnahmen.
»Wir verteilen sie gleichmäßig über das ganze Schiff, wie sich das gehört!« hörte Gallum jemanden sagen. Der Biologe suchte nach einem Halt und stützte den Kopf in die Hände. Für ihn war es wie ein böser Traum, und zum ersten Mal stellte er fest, daß in der SOL‐Zelle etwas nicht mehr stimmte. Er raffte sich auf und schritt zum Eingang. Er verließ die Hydroponikanlagen und verschloß sie sorgfältig. Niemand sollte mehr Gelegenheit erhalten, ihm die letzten der Pflanzen zu stehlen. Taiphus Gallum machte sich auf den Weg zur Zentrale. * Alpha‐City war gesperrt. Bewaffnete Solaner riegelten den Wohnbezirk ab. Die rund zweihundert Solaner hatten sich im größten ihrer Aufenthaltsräume versammelt. Sie saßen auf Stühlen oder Tischen oder am Boden und betrachteten die Blume, die aus ihrem Topf ragte. Er stand auf einem Sockel an der Wand, und die weiße Blüte entfaltete sich immer mehr. Der Stengel färbte sich dicht über dem Nährboden gelb und rosa, und die Solaner sahen, wie der blasse Stiel hellrote Adern erhielt, die nach oben führten und in der einzigen Blüte mündeten, die noch immer wuchs und sich ausbreitete. Andächtig schauten die Männer, Frauen und Kinder zu. Kein Wort kam über ihre Lippen, und die Blüte wuchs immer weiter, und nach einer Weile hatte sie auf dem Sockel keinen Platz mehr. Sie nahmen sie herunter und stellten den Topf in die Mitte des Raumes. Die Gesichter der Menschen wurden ruhiger, je weiter sich die Blüte ausbreitete. Manche Solaner begannen zu lächeln, und sie fühlten sich leicht und beschwingt. Ein paar erhoben sich und tanzten auf engem Raum, als seien sie an keine Schwerkraft gebunden. Etwa eine Stunde dauerte dieser Zustand, dann verließen die ersten den Raum und entfernten sich an die Peripherie von
Alpha‐City, Sie lösten die Wächter ab, damit auch diese sich dem Anblick der Pflanzen hingeben konnten. Die Biologen hatten die Samen als Königssamen bezeichnet. Jetzt standen die Blüten im Mittelpunkt der Betrachtung, und die Solaner nannten sie Königsblüten. Wie ein Lauffeuer eilte der neue Name durch die Ebenen des Kugelschiffes. Sam Schelker war einer der ersten, die den Anblick genossen hatten. Wie trunken taumelte er durch die SOL, und in seinem Kopf gingen Dinge vor sich, die er nicht kannte. Aber er nahm sie als Ausdruck seiner Freude. Die Freude stimulierte ihn und trieb ihn an, und er begegnete etlichen Männern und Frauen, denen es ebenso erging. Ein Teil von ihnen war vor kurzem aus den Medostationen entlassen worden, ohne daß die Roboter und Ärzte etwas Bedenkliches an ihnen gefunden hatten. Sie waren geistig und körperlich auf der Höhe und wußten nicht, wohin sie mit ihrem überschäumenden Tatendrang sollten. »Folgt mir in die technische Sektion«, sagte Sam Schelker. »Sie liegt gleich hinter der nächsten Abzweigung. Ich bin Techniker und kenne den Kode für die Tore!« Sie schlossen sich ihm an und unterhielten sich über alles mögliche. Sam fand, daß es keinen Sinn gab, was sie redeten, aber es war ihm egal. Hauptsache war, daß sie ein gemeinsames Ziel hatten. Sam öffnete ein Tor, und die Solaner betraten die Sektion und sahen sich um. Überall ragten hohe Türme auf, lagen Maschinen wie gefräßige Ungeheuer vor ihnen. Die Solaner stöhnten auf. Alles, was sie sahen, kam ihnen bedrohlich vor, und die ersten sprangen vor und stürzten Stühle und Tische um und kämpften mit ihnen, als handele es sich um reale Gegner. Der Techniker wandte sich in den Hintergrund, der Sektion. Dort wußte er die Morgananlage. Sie bestand aus acht miteinander verbundenen Projektoren. Ihre silbernen Blasen ragten vor ihm auf. Sekundenlang betrachtete er sie aus zusammengekniffenen Augen. Plötzlich rannte er in einen Nebenraum und kam mit einem
Handstrahler bewaffnet zurück. »Schießt!« brüllte er. »Macht diesem Zeug den Garaus!« Er legte auf die Blasen an und beschoß sie mit Energiestrahlen, bis nur noch dampfende Klumpen übrig waren. Ein paar Solaner eilten an ihm vorbei. Sie bewaffneten sich ebenfalls und hatten nichts Besseres zu tun, als sämtliche Maschinen der technischen Sektion in Schutt und Asche zu legen. Sam sah ihnen zufrieden zu. Er wußte, daß es keine bessere Lösung gab, sich des Ungeziefers zu erwehren, das die Herrschaft über das Schiff anstrebte. Es mußte ausgerottet werden, und der Techniker suchte in seiner Erinnerung, wo die nächste Sektion war, in der sie suchen mußten. Einer der Männer trat auf sie zu und richtete die Waffe auf ihn. »Du bist doch auch eines dieser gefährlichen Viecher«, hörte er den anderen sagen. Er machte sich nicht einmal Gedanken, wie der Solaner es meinte. Bleierne Müdigkeit erfüllte ihn, und er sah, wie die Waffe ausgelöst wurde. Sein letzter Gedanke galt den Königsblüten, die überall im Schiff lebten. Dann hatte Sam Schelker aufgehört zu existieren. Heimatträume Als Taiphus Gallum die Zentrale der SZ‐2 betrat, schlug die Stimmung wie eine Woge über ihm zusammen und drückte ihn nieder. Er ließ seine Augen wandern. Sie erfaßten Männer und Frauen, die am Boden lagen oder saßen. Ganz wenige Besatzungsmitglieder gingen ihrer Arbeit nach. Zwischen ihnen stand Solania und ermunterte sie. Der Biologe sah den Blumentopf, der mitten in der Zentrale auf dem Boden stand. Er verstrahlte ein helles, rosafarbenes Licht. Es zog seine Augen magisch an, aber Taiphus wandte sich ab und schritt auf die Kommandantin zu, indem er die Augen immer auf die Seite gerichtet hielt. Solania von Terra hörte ihn kommen und wandte sich um. Sie erkannte ihn sofort, und das beruhigte Gallum etwas. »Was hast du angerichtet«, empfing sie ihn. »Warum hast du die
Blüten herausgegeben?« »Ich kann nichts dafür«, entgegnete er. »Sie sind mir gestohlen worden.« Er berichtete, was sich abgespielt hatte. Solania holte tief Luft. »Ich weiß nicht, was ich denken soll«, sagte sie. »Ständig gehen weitere Schadensmeldungen ein. Es hat den Eindruck, als würden ganze Gruppen von Solanern brandschatzend durch das Schiff ziehen. Die Roboter geben sich alle Mühe, aber sie können vieles nicht verhindern!« Taiphus wurde nachdenklich. Er blickte über die Schulter zurück auf die Sitzenden und Liegenden. »Du meinst, es könnte etwas mit den Blüten zu tun haben?« »Nein.« Solania schüttelte den Kopf. »Nicht mit ihnen. Siehst du nicht, wie friedlich die Menschen angesichts der Königsblüten sind? Es muß etwas anderes sein!« Aus dem Pilotensessel erhob sich eine massige Gestalt. Fahud Leiber trat zu den beiden und sah sie aus kleinen Augen an. »Ausfälle in den Kraftwerken«, meldete er. »Wenn es so weitergeht, dann ist das Schiff bald flugunfähig.« »Nichts wie weg von hier«, nickte Solania. »Die Linearetappe war doch längst fällig!« »Ohne die Positronik …«, begann Leiber, doch Solania fiel ihm ins Wort. »Du mußt es schaffen. Wir müssen ohne das verteufelte Ding auskommen!« Fahud Leiber setzte sich in seinen Sessel zurück, und kurz darauf stellten sie fest, daß die SZ‐2 beschleunigte. Die untergeordneten Computer arbeiteten auf Hochtouren. Kurz darauf wechselte das Schiff in den Linearraum über und vollführte eine Etappe von zwölf Lichtjahren. »Wir sind in der Nähe der 17. Flotte«, sagte Gallum eindringlich. Gleichzeitig fragte er sich, woher er die Information hatte. »Es empfiehlt sich, einen Notruf an die SOL abzugeben!«
Solania starrte ihn ungläubig an. »Taiphus!« rief sie. »Was ist mit dir los? Jetzt redest du schon so verrückt wie die Positronik!« »Laß es ihn doch wenigstens versuchen«, hauchte Leiber schwach. Er war in seinem Sessel zusammengesunken. Gallum wartete nicht ab. Er trat an die Funkanlage und aktivierte sie. Er rief mehrere Kodes ab und erwischte endlich den richtigen. Das Nest der 17. Flotte antwortete jedoch nicht, und auch die SOL meldete sich nicht. Taiphus Gallum erkannte seinen Fehler nicht. Er glaubte, daß die Funksprüche automatisch abgestrahlt wurden. Das taten sie normalerweise auch, aber nur dann, wenn die Positronik arbeitete. So funktionierte nur das Funkgerät. Kein einziges Signal verließ das Schiff. Der Biologe gab resignierend auf. Er zuckte mit den Schultern und richtete seine Aufmerksamkeit zum Eingang. Dort entstand Lärm, und durch die sich öffnende Tür stürmten Solaner herein und schossen wahllos um sich. »Bring das Schiff zum Stehen, schnell!« brüllte Gallum den Chefpiloten an. Fahud Leiber war in dem Sessel zusammengesunken und rührte sich nicht. Solania eilte herbei. Sie hatte die Roboter aktiviert, die die Menschen aus der Zentrale zu drängen versuchten. Eine der Maschinen explodierte, bevor sie ihren Schutzschirm einschalten konnte. Taiphus spürte einen brennenden Schmerz in seinem Rücken. Er fuhr herum und sah noch, wie sich Solania über die Kontrollen beugte und die Bremstriebwerke einschaltete. Dann löschte der Tod alle seine Empfindungen aus. *
Palotin blickte hinüber zum anderen Ufer. Die Frau winkte ihm zu, und der Chemiker winkte zurück. Sie deutete auf den Steg, der ganz in der. Nähe über das klare, blaue Wasser führte. Palotin nickte. Er setzte sich in Bewegung und eilte am Ufer entlang, das von dickem, saftigem Moos bedeckt war. Er übequerte den Steg und lief am anderen Ufer zurück, bis er vor der Frau stand. Sie war schön, so schön, wie er sich immer seine Idealfrau vorgestellt hatte. Sie streckte ihm eine Hand entgegen, und er ergriff sie und drückte sie sanft. »Ich bin Palotin«, sagte er. »Nenne mich Elena, die schöne Elene«, lächelte sie und zog ihn zu Boden. »Du bist von draußen?« Sie deutete zum Himmel empor, der wolkenlos und herrlich blau war. Palotin hatte ihn auf Holobildern so gesehen. »Ja, ich bin Raumfahrer«, sagte er. »Willkommen auf Terra«, nickte Elena. »Ich habe auf dich gewartet. Du bist der Mann meiner Träume!« Auch du bist die Frau meiner Träume, wollte Palotin antworten, aber ein Kuß verschloß ihm den Mund. Er umfing die Frau mit seinen Armen und drückte sie an sich. »Ich zeige dir die Erde«, sagte Elena nach einer Weile gegenseitiger Liebkosungen. »Willst du? Willst du Terrania sehen, die Hauptstadt? Oder lieber das Mausoleum auf dem Mond? Es gibt Transmitter, die direkt hinführen.« »Ich möchte die Länder sehen, nicht die Gebäude. Ich möchte im Wald spazieren gehen und sehen, ob er so ist, wie man ihn beschrieben hat. Ich möchte die Ebenen betrachten, in denen das Getreide wächst. Aus dem man nichtsynthetisches Brot bäckt. Und ich möchte von dem Wein trinken, der noch aus Reben kommt!« »Das alles kannst du haben.« Elena erhob sich und faßte ihn bei der Hand. »Du brauchst nur mit mir zu kommen. Halte dich fest!« Palotin fühlte sich emporgehoben. Der Boden wich unter seinen Füßen, und er registrierte es mit einem unterdrückten Schrei. Elena
hielt ihn fest und entführte ihn durch die Lüfte, und sie zeigte ihm alle Schönheiten des Planeten. Und zum Schluß führte sie ihn auch in die Hauptstadt und das Mausoleum, aber sie machten auf den Chemiker keinen solchen Eindruck. Hier kam er sich beengt vor wie in einem Raumschiff. Die Weiten der Planetenoberfläche hingegen hatten ihm ein Gespür für eine neue Dimension der Weite vermittelt, das er nicht so schnell vergessen würde. Sie kehrten an das Ufer des Flusses zurück, und Elena ließ seine Hand los. Palotin grabschte nach ihr, aber ihre Gestalt verwehte im Wind, und mit ihr auch der Steg und das Wasser. Palotin riß die Augen auf und starrte auf das Blatt in seinen Händen. Es war ein Blütenblatt einer der Königsblüten, und er streichelte es und musterte verzückt den großen Blütenkelch. »Danke«, murmelte er. * Gerzel ließ Messer und Gabel sinken und riß die Augen auf. »Was ist mit dir?« fragte er. »Schmeckt es dir nicht? Das ist Fleisch von lebenden Tieren! Kein Synthozeug!« Egoner kniff die Lippen aufeinander. Er ließ sein Besteck auf die Tischplatte fallen und griff sich an den Kopf. »Ich weiß nicht«, sagte er. »Kannst du dir vorstellen, daß es mir hier nicht mehr gefällt?« Gerzel konnte es nicht. Er machte ein Gesicht, als habe sein Gegenüber einen üblen Scherz gemacht. »Ich begreife nicht«, meinte der Hausherr. »Was fehlt dir nur? Terra ist ein paradiesischer Planet!« »Das bestreite ich nicht«, murmelte Egoner. »Aber ich bin nicht hier zu Hause. Meine Heimat ist eine andere, und sie will ich finden!« »Du weißt nicht, wo sie liegt? Das ist merkwürdig! Jeder Mensch weiß für gewöhnlich, wo er geboren ist oder lebt!« »Das weiß ich alles. Aber ich meine die neue Heimat, die weit
entfernt liegt. Vielleicht liegt sie im Kurs des Schiffes, auf dem ich geboren bin. Vielleicht aber auch da, wo ich sie nie finden werde!« Er stand auf und ging zur Tür. »Leb wohl«, meinte er. »Und danke für deine Gastfreundschaft!« Er trat durch die Tür und starrte in die Schwärze des Alls hinaus, das von den glitzendern Sternen einer Galaxis durchbrochen war. Dort irgendwo mußte es sein. Die Perspektive veränderte sich. Es war Egoner, als sehe er durch ein riesiges Teleskop in unerreichbare Fernen. Er sah eine winzige Sonne, die von einem einzigen Planeten umkreist wurde. Er versuchte, Einzelheiten zu erkenen, aber es gelang ihm nicht. War das die Heimat? Er glaubte es plötzlich, und er wußte, daß er von diesem Augenblick an alles daransetzen würde, daß sie die Heimat fanden. Liebevoll streichelte er die Blätter, die aus dem Stiel der Königsblüte wuchsen. * Die plötzliche Ruhe im Schiff machte Solania von Terra nervös. Der Zwiespalt in ihr, den sie in der Hektik der vergangenen Stunden hatte zudecken können, trat wieder deutlicher zu Tage. Sie kämpfte mit sich. Die Verantwortung für das Schiff ließ sie so handeln, wie sie es tat. Andererseits sah sie keinen Sinn darin, und sie war froh, daß sie sich nicht mehr von der Positronik belehren lassen und das seltsame Geschwätz Gallums nicht mehr ertragen mußte. Über seinen Tod war sie allerdings traurig, jeder in den unkontrollierbaren Auseinandersetzungen gestorbene Solaner tat ihr leid. Sie fühlte sich wie nie zuvor für alle diese Menschen verantwortlich, die in dem Schiff lebten, das ohne Sinn und Ziel durch das All flog. »Ich bin krank«, flüsterte sie. »Natürlich hat unser Flug ein Ziel!«
Auf den Bildschirmen und Monitorreihen konnte sie sehen, wie die Solaner überall ruhten. Sie schliefen oder träumten, und die Kommandantin kämpfte selbst gegen die bleierne Müdigkeit, die sie erfaßt hatte. Mit einem Aufputschmittel hielt sie sich wach und bemühte sich ständig, Fahud Leiber aufzuwecken. Der Emotionaut rührte sich nicht. Sein Herz schlug gleichmäßig, und er atmete, aber sein Bewußtsein schien weit weg zu sein. Eine Bewegung auf einem der Bildschirme lenkte sie ab. In ein paar Korridoren trafen Solaner zusammen und unterhielten sich. Sie setzten sich in Bewegung, und ihr Weg ließ keinen Zweifel daran, daß sie die Zentrale aufsuchen wollten. Daß sie unbewaffnet waren, beruhigte die Kommandantin etwas. Dennoch rief sie zusätzliche Roboter herbei, um gegen Angriffe geschützt zu sein. »Was haben sie vor?« flüsterte sie. Fahud Leiber regte sich. Er schlug die Augen auf und drehte den Sessel herum. An der Kommandantin vorbei schaute er die Königsblüte an. »Heimat«, krächzte er. »Ja, ich habe es verstanden. Wir müssen unsere Heimat suchen. Und zwar bald!« »Fahud!« Solania von Terra verlor ihre Fassung. »Was redest du da! Was meinst du mit Heimat?« Sie brauchte Zeit, um zu begreifen, daß er die SZ‐2 nicht mehr als seine Heimat betrachtete, und ihr schwante Übles, als sie die Solaner auf den Bildschirmen beobachtete. Wollten sie dasselbe wie Fahud? Hatten sie alle vergessen, daß dieses Schiff ihre Heimat war? Solania steigerte sich so sehr in den Gedanken hinein, daß sie es regelrecht spüren konnte, daß in ihr etwas zerbrach. Es war, als fiele eine unsichtbare Sperre in sich zusammen. Heimat! Die SZ‐2 war nur ein Teil der Heimat. Taiphus hatte recht gehabt. Es gab die SOL, und es gab vielleicht auch das Nest der 17. Flotte. Solania von Terra erinnerte sich mit einemmal als einzige an die Vergangenheit und an die Königssamen, die sie als Geschenk auf
dem Planeten Firx erhalten hatten. Das ganze Ausmaß der Katastrophe wurde ihr mit einem Schlag bewußt. Gleichzeitig betraten die ersten Solaner die Zentrale, und da wußte die Kommandantin auch, daß es keine Möglichkeit mehr für sie gab, dem Schicksal eine Wendung zu geben. Die Botschaft Palotin streichelte die Blütenblätter der Königsblüte. Sein Verantwortungsgefühl schlug komplett durch, und er erhob sich und ging hinaus vor die Tür, um sich umzusehen. Er fand niemanden, der ihm seine Blüte streitig machen wollte oder kam, um sie zu zerstören. Er kehrte zurück, schloß sich ein und machte sich daran, eine Nährflüssigkeit für die Pflanze herzustellen. Mit Hilfe seines privaten Zimmerlaboratoriums fiel es ihm nicht schwer. Er füllte einen großen Plastikeimer damit und zweigte eine kleinere Portion ab, die er in ein Trinkgefäß leerte. Auf Zehenspitzen schritt er zu dem Blumentopf hinüber, um der Blüte jede Erschütterung zu ersparen. Vorsichtig goß er die Flüssigkeit in den Nährboden und verteilte sie gleichmäßig. Danach speiste er das Rezept in das verzweigte Computernetz ein, das unabhängig von der Hauptpositronik arbeitete und unter anderem den Interkomverkehr aufrechterhielt. Dann setzte sich der Chemiker wieder vor die Pflanze, die mitten in seinem Wohnzimmer stand. Täuschte er sich, oder wuchs der Blütenkelch noch ein wenig mehr nach außen? Überall auf dem Schiff waren die Königsblüten zu riesigen Gebilden herangewachsen. Die Stiele waren nur fünfzehn Zentimeter hoch, aber die Blütenkelche hatten sich ausgebreitet und duchmaßen gut einen halben Meter. Sie ähnelten Parabolantennen herkömmlicher Bauart. Der Stiel, der zunächst kompakt gewesen war, hatte Verästelungen mit bizarren Formen erzeugt. Immer wieder zuckten und vibrierten sie und Palotin rätselte, was es bedeuten mochte. Er schloß die Augen. Intensiv konzentrierte er sich auf die Blüte und die Verästelungen. Er hörte nicht das Gras wachsen, aber er
bildete sich ein, daß von der Pflanze eine unbestimmbare Aura ausging, die ihn umfing und sich weit über die anliegenden Zimmer hinaus ausbreitete. Es kann nicht sein, dachte er. Es gibt keine telepathisch veranlagten Pflanzen. Ich bilde mir das nur ein. Er dachte an seinen Traum zurück. Er hatte einen bitteren Nachgeschmack in ihm hinterlassen. Beim Aufwachen war ihm bewußt geworden, daß er sich gar nicht nach der Erde sehnte, die er nur vom Hörensagen und von Aufzeichnungen her kannte, die SENECA geliefert hatte. Wer aber war SENECA? Palotin kannte niemand dieses Namens. Er redete sich ein, daß der Name in seinem Traum vorgekommen war. Der Chemiker zog die Beine an und stützte den Kopf in die Hände. Seine Sinne richteten sich in die Ferne, und er sog hörbar die Luft ein. »Ja, jetzt sehe ich es«, murmelte er. »Wir fliegen daran vorbei, wenn wir nicht den Kurs ändern. Ich muß sofort die Zentrale verständigen!« Er riß die Augen auf. Die parabolförmige Blüte bewegte sich ein wenig. Ihre Innenfläche hatte auf ihn gezeigt. Jetzt drehte sie sich und richtete sich auf die Wand. Palotin sprang auf. Er riß einen Wandschrank auf und nahm einen Strahler heraus, den er hier versteckt hielt. Es war besser, ihn mitzunehmen und seiner Forderung damit Nachdruck zu verleihen. Das Schiff mußte unter allen Umständen seinen Kurs ändern. * »Es sind die Spoodies«, erklärte Egoner. »Sie beeinträchtigen unser Denkvermögen und gaukeln uns Dinge vor, die nicht wahr sind. Wir wollen die Dinger nicht mehr unter der Kopfhaut haben und
möchten gern wissen, wie sie überhaupt dahin gekommen sind!« Solania von Terra blickte in die Runde. Sie war von einem Pulk aus mindestens hundert Solanern eingekreist, und sie war sich bewußt, daß dies nur ein Teil der Besatzung war, die aus rund dreihundert Solanern und einer großen Schar Buhrlos bestand. Die Kommandantin überlegte, was sie sagen sollte. Nachdem ihre Erinnerung zurückgekehrt war, besaß sie alle Informationen. Sie wußte auch, daß die Spoodies eine Notwendigkeit waren und die Intelligenz ihres Trägers merkbar anhoben. Das Entfernen eines Spoodies kam einer Verdummung gleich, und jene Solaner, die ihn sich mit Gewalt entfernt hatten, waren seither zu nichts zu gebrauchen. »Ich habe keine Ahnung«, log sie. »Aber die Erfahrungen der letzten Tage und Stunden haben gezeigt, daß die Entfernung eines Spoodies mit Gefahren für den Träger verbunden ist. Die Infektionsgefahr durch die Wunde ist zudem groß.« Drohendes Gemurmel erhob sich, und die Menge rückte noch enger zusammen. Sie erdrückte Solania fast, und die Kommandantin hatte Mühe, sich Luft zu verschaffen. »Hebe die Sperren auf«, verlangten die Männer und Frauen. »Wir wollen Zutritt zu den Medostationen. Die Roboter sollen uns die Dinger herausnehmen. Das geht schneller, als wenn wir es selbst tun. Außerdem sind ein paar von uns nicht in der Lage, sich selbst eine Wunde beizubringen!« Am Eingang der Zentrale entstand Bewegung. Laute Rufe erklangen, und Solania hörte etwas von einer Waffe sagen. Eine Gasse bildete sich in der Menge und ließ Palotin durch, der den schußbereiten Strahler vor sich hielt. Die Mündung zeigte auf Solania. Die Kommandantin hob abwehrend die Arme. »Das ist wirklich nicht nötig«, sagte sie. »Ich habe doch gar nicht gesagt, daß ich nicht einverstanden bin. Ich will nur nicht, daß ihr euch unglücklich macht!« Palotin war vor ihr angekommen. Er ließ den Lauf der Waffe
sinken. »Darum geht es gar nicht«, meinte er. »Die Spoodies können warten. Es gibt Wichtigeres zu tun. Der größte Teil von uns hat die Botschaft vernommen. Sie kommt von weither und weist uns den Weg. Wir wollen diesen Weg einschlagen und keinen anderen. Es ist die Bestimmung unseres Schiffes, dorthin zu fliegen!« Es war seltsam. Auch unter den Buhrlos befanden sich Männer und Frauen, die das verlangten. Solania bildete sich ein, daß diese sensiblen Wesen mit ihren empfindlichen Sinnen besonders darauf drängten. Es sind die Königsblüten, erkannte die Kommandantin. Sie üben einen latenthypnotischen Einfluß auf uns aus. Sie benutzen ihre Blütenkelche als Antennen und stehen mit irgend etwas in Verbindung, das in relativer Nähe zu unserem derzeitigen Standort liegt. Sie mußte herausfinden, was das war. Sie mußte vor allem dafür Sorge tragen, daß das Geschenk von Firx verschwand. Der Bann, der über den Solanern lag, mußte gebrochen werden, um seelische Schäden zu vermeiden. Die Männer und Frauen hatten genug Unsinn gemacht. Es stand außer Zweifel, daß ihre Verwirrung mit den Blüten zu tun hatte und vielleicht auch mit der Reaktion der Spoodies auf die Hypnoimpulse. Deshalb also wollten sie ihre Spoodies loswerden. Die Königsblüten erkannten, daß ihnen die insektenähnlichen Gebilde gefährlich werden konnten. Das bedeutete gleichzeitig, daß sie intelligent waren oder zumindest eine Pseudointelligenz besaßen. »Ich bin einverstanden«, sagte sie. »Wenn ihr mir die Koordinaten nennen könnt, werde ich das Schiff auf den richtigen Kurs bringen!« Eine rasche Programmierung, nachdem ich die Hauptpositronik reaktiviert habe, dachte sie. Ein Linearmanöver, das uns direkt zum Nest der 17. Flotte bringt oder ein Hyperraumflug zurück nach Kran. Die Solaner rückten ein wenig von ihr ab. Palotin deutete auf den Bildschirm.
»Ausschnittvergrößerung in Flugrichtung«, sagte er. »Eine kleine Zwergsonne. Nicht zu verfehlen. Es gibt keinen ähnlichen Stern in dieser Gegend!« Die Ortung fand die bezeichnete Sonne innerhalb kürzester Zeit. Sie befand sich rund neunzig Lichtjahre entfernt. Diese Strecke reichte aus, um ein Täuschungsmanöver durchzuführen. »Wir fliegen den Stern sofort an«, nickte sie. »Ich kümmere mich persönlich darum!« Sie wandte sich den Kontrollen zu und musterte sie. Alle Systeme mit Ausnahme der Hauptpositronik arbeiteten. Sie beugte sich darüber. Ihre Hände blieben ruhig, als sie sie auf die Aktivierungsschalter legte. Jemand riß sie herum. Es war Palotin. Er schleuderte sie in die Menge hinein und richtete erneut die Waffe auf sie. »Verräterin!« knirschte er. »Das verrückte Gehirn bleibt aus dem Spiel. Du selbst hast doch gesagt, daß es nicht normal arbeitet!« »Entschuldige«, stieß sie hervor. Sie hatte Mühe, sich zu beherrschen. »Ich habe nicht daran gedacht. Dann werde ich manuell fliegen!« »Fahud wird das übernehmen«, schrillte Palotin. Er gab dem Chefpiloten einen Wink. Leiber vertiefte sich in seine Arbeit. »Und du verläßt besser die Zentrale. Du wirst nicht benötigt!« Er deutete zum Ausgang, und Solania setzte sich schweigend in Bewegung. Die Königsblüten hatten etwas gemerkt. Eine andere Erklärung gab es nicht. Sie spürten zumindest, daß es ihr gelungen war, sich aus dem hypnotischen Bann zu befreien. Deshalb verhielten sich die Solaner feindselig gegen sie. Solania von Terra, die sich früher einmal hinter dem Namen Brooklyn verborgen hatte, suchte die wissenschaftlichen Abteilungen auf. Sie hoffte, sich von dort aus mit der Hauptpositronik in Verbindung zu setzen zu können oder sie von einer Nebenzentrale aus zu aktivieren.
Sie fand einen der Töpfe mit den Königsblüten und nahm ihn mit sich. In einem physikalischen Labor untersuchte sie ihn. Ihr Verdacht bewahrheitete sich. Die parabolähnlichen Blütenkelche sandten n‐dimensionale Hypnoimpulse aus, die das gesamte Schiff und auch seine unmittelbare Umgebung überschwemmten. Jetzt gab es für Solania keine Rücksichten mehr. Das Leben vieler Menschen stand auf dem Spiel. Die Kommandantin rief fünfzig Roboter zu sich und instruierte sie. Sie kehrte in die Zentrale zurück, und die Maschinen hielten die empörten Solaner in Schach. Sie trat zu Fahud Leiber und riß ihn aus seinem Sessel. »Jetzt drehen wir den Spieß um«, fauchte sie und musterte die Ortungsanlagen. Das Linearmanöver war bereits abgeschlossen, das Schiff flog auf die kleine Sonne zu. Starke Impulse trafen ein, die denen glichen, die sie an den Königsblüten gemessen hatte. Das ist es also, dachte sie, Der einzige Planet, der um den sterbenden Zwergstern kreist, sendet die Impulse aus. Offensichtlich gibt es dort ebenfalls Königsblüten und nicht zu wenige. Sie müssen den ganzen Planeten bedecken oder Teile von ihm, wenn man die Sendeleistung berücksichtigt. Die Solaner in der Zentrale schienen die Signale zu spüren. Sie schrien auf und stürmten gegen die Roboter an. Die Maschinen setzten Lähmstrahlen ein, aber immer mehr Menschen drängten durch den Eingang herein. Solania verlor die Roboter aus den Augen, und plötzlich war auch Palotin mit seiner Waffe wieder da. Er preßte ihr den Strahler in den Rücken. »Dieser Planet ist unsere Rettung«, sagte er hart. »Und du wirst die Landung durchführen, denn Fahud ist erschöpft!« Und zur Bestätigung seiner Aussage zerschoß er die Konsole, mit der die Hauptpositronik aktiviert werden konnte. Bruchlandung Wie ein bösartiges rotes Auge tanzte der Zwergstern auf dem Bildschirm. Er stand im Sektor Lquo wie die 17. Flotte auch.
Die Entfernung des Sterns vom Nest betrug rund 107 Lichtjahre. Der Planet entpuppte sich als eine vulkanische Sauerstoffwelt mit reicher Fauna und Flora. Lediglich die Polregionen wiesen Wüstengegend auf, die jeweils von Gebirgszügen kreisrund eingeschlossen war. Solania beobachtete, wie die Männer und Frauen andächtig auf den Schirm starrten. Keinen Augenblick lang schien ihnen bewußt zu sein, daß sie hypnotischen Einflüssen unterlagen. Sie bewegten sich wie in Trance und Verzückung. Lediglich Leiber und Palotin machten den Eindruck, als überblickten sie die Lage. Gemeinsam hielten sie die Kommandantin in Schach. »Wir nennen den Planeten einfach Neue Heimat«, klang Egoners Stimme auf. »Das ist ein brauchbarer Ausdruck!« Niemand hatte etwas dagegen einzuwenden. Der Name pflanzte sich fort, während sich das Schiff dem Planeten weiter näherte und in eine hohe Kreisbahn ging. Neue Heimat war ein Drittel größer als der Planet Mars im Solsystem. Die mittlere Temperatur lag bei 29,5 Grad Celsius. Er drehte sich in 14,9 Stunden einmal um seine Achse. Das Klima war feucht‐warm, in den Polarwüsten trocken‐heiß. Es gab zahlreiche kleinere Ozeane auf Neue Heimat, die jedoch eher wie große Seen aussahen. Die Schwerkraft auf der Oberfläche betrug 0,85 g. Jubel brach aus. Die Teleoptik zeigte, daß es einen talähnlichen Landstrich gab, in dem lauter Königsblüten wuchsen. Die Farben der Pflanzen ließen keinen Zweifel zu. Von dort kamen auch die n‐ dimensionalen Impulse, und sie machten die Solaner trunken vor Freude. Sie waren fest entschlossen, dort ihre Hütten zu bauen und immer in der Nähe der Blüten zu leben. Die Pflanzen dort unten waren größer als die Topfblüten im Schiff. Ihre Kelche besaßen Durchmesser bis zu zehn Metern, die Stiele waren durchschnittlich einen Meter hoch. »Es ist gut«, sagte Palotin und machte Solania Zeichen, ihren Platz zu räumen. »Fahud wird die Landung durchführen!«
Die Kommandantin hielt nach Robotern Ausschau. Sie sah ein paar in der Nähe des Eingangs. Sie waren von der Menge abgedrängt worden. Sie machte sich auf den Weg und arbeitete sich zu ihnen durch. Mit einem von ihnen verließ sie die Zentrale. Solania sah nur einen Ausweg. Sie mußte die Euphorie dämpfen und die Vernunft zurückkehren lassen. »Durchsucht das ganze Schiff«, trug sie den Maschinen auf. »Sammelt die Pflanzen ein und bringt sie zu den Schleusen. Werft sie hinaus. Der Vorgang muß abgeschlossen sein, bevor wir gelandet sind!« Sie hätte früher daran denken müssen, aber es war ja erst kurze Zeit her, daß sie selbst den hypnotischen Bann abgeschüttelt hatte. Ob ihre Anweisung einen Erfolg zeigen würde, war fraglich. Die Sendungen der Blüten auf dem Planeten überlagerten alles andere. Die Roboter zogen aus der Zentrale ab, und Solania suchte eine Kantine in der Nähe auf, um allein zu sein und ihren nächsten Schritt überlegen zu können. Es war ihr unmöglich, an die Hyperfunkanlage heranzukommen und sie in Betrieb zu nehmen. Auch die Hauptpositronik konnte nur noch mit Schwierigkeiten aktiviert werden. Solange jeder ihrer Schritte beobachtet wurde, war nicht daran zu denken, etwas zu unternehmen. Sie mußte warten, bis die SZ‐2 gelandet war und die Solaner das Schiff verlassen hatten. Solania machte sich Vorwürfe. Hätte sie die Hauptpositronik nicht selbst abgeschaltet, wäre alles anders gekommen. Sie hätte rechtzeitig das Nest ansteuern oder den Rückflug nach Kran antreten können. Sie selbst hatte sich die Rettung verbaut. Aber noch immer war sie gewillt, alle Solaner von dem verderblichen Einfluß zu befreien. Sie spürte eine plötzliche Leere im Magen. Sie kam sich vor wie in einem altertümlichen Aufzug. Es verging, aber kurz darauf kehrte es zurück. Die Kommandantin sprang auf und stürmte hinaus. Sie kannte
das, wenn die Andrucksabsorber überlastet waren. Es sah nach einer Gewaltlandung aus. Sie rannte in die Zentrale hinein bis zum Pilotensessel. Auf dem Bildschirm tanzte ein Ausschnitt der Planetenoberfläche. »Bist du verrückt!« herrschte sie Fahud an. Palotin stand dabei und starrte sie mit verzerrtem Gesicht an. »Was ist los?« würgte er. Wieder heulten die Andrucksabsorber tief im Leib des Kugelschiffs auf. »Was stimmt nicht?« Fahud reagierte nicht. Steif hing er in seinem Sessel, den linken Arm vorgestreckt. Er bewegte sich tastend und blieb über dem Knopf für die Antigravitationsfelder hängen. Er wollte sie abschalten. Solania fiel ihm in den Arm. Sie riß Leiber aus dem Sessel und ließ sich hineinsinken. Sie las Geschwindigkeit und Höhe ab und erschrak. Das Schiff war viel zu schnell. Es raste der Planetenoberfläche entgegen und würde beim Aufprall auseinanderplatzen. Zum Glück waren die Schutzschirme aktiviert, sonst wäre die SZ‐2 längst verglüht. Solania griff in die Steuerung ein. Das Grün der Oberfläche kam immer näher, und sie verfluchte den hypnotischen Einfluß, der den Solanern jedes Empfinden für die Realität nahm. Jetzt schien es ihnen zum Verhängnis zu werden. Etwas Glitzerndes tauchte unter ihnen auf. »Schaut auf die Bildschirme!« schrie sie. »Da unten liegen Wracks. Abgestürzte Schiffe. Es erging ihnen wie uns! Ihr habt es also endlich geschafft! Ihr habt eure Heimat vernichtet!« Palotin warf den Strahler weg und grub seine Hände in den Sessel. »Rette uns«, ächzte er. Seine Augen wirkten klarer als bisher. »Der Heimat darf nichts geschehen. Der Planet darf nicht verletzt werden!« Solania zuckte zusammen. Sie begriff, daß ihre geplante Schocktherapie sinnlos war. Die Solaner hatten den Bezug zu ihrem Schiff verloren. Sie dachten nur noch in den Kategorien, die ihnen
die Königsblüten suggerierten. Die SZ‐2 bäumte sich auf. Die Triebwerke brüllten und warfen ihre Energien der Oberfläche entgegen. Die Geschwindigkeit wurde geringer, aber es ging viel zu langsam. Der Boden kam rasend schnell näher. Es gelang der Kommandantin, den Fallwinkel abzuflachen. Zum ersten Mal tauchte auf dem Bildschirm der Horizont auf. Das weite Tal mit den Königsblüten verschwand. Hätte Fahud das Schiff weiter gelenkt, wäre es wie ein Stein mitten im Tal aufgeschlagen und dort zerschellt. Längst hatten sich die Sicherheitsgurte des Sessels geschlossen. Niemand konnte Solania jetzt wegreißen. Schweißperlen bildeten sich auf ihrer Stirn, während sie die Triebwerksenergien dosierte. Das Schiff bockte und sprang hin und her. Das Fehlen der Hauptpositronik wirkte sich negativ aus. Immer deutlicher wurde es, daß die Kommandantin das Schiff nicht heil herunterbringen würde. Zu spät hatte sie eingegriffen. Flüchtig dachte sie an die Roboter. Hatten sie die Pflanzen aus dem Schiff geschafft und auch an die aus den Hydroponikanlagen gedacht? Hingen die Töpfe jetzt draußen zwischen Schiffshülle und Schutzschirm? Sie musterte die Luftreibungswerte, dann schaltete sie den Schirm für zehn Sekunden ab. Das mußte reichen, um alle Töpfe zu entfernen. Der Luftwiderstand würde sie zurückhalten, während das Schiff weiterraste. Die Höhe betrug noch zwei Kilometer. Die Geschwindigkeit noch über zweitausend Meter in der Sekunde. Weit voraus tauchte das Gebirge der Polregion auf. Noch immer brüllten die Triebwerke. Sie spien Feuerlohen aus, um das Schiff doch noch abzufangen. Es nützte nur teilweise etwas. Dicht über den Bergspitzen huschte die Kugel dahin und stürzte endgültig auf die Oberfläche. Sie rammte einen Hügel und zerriß ihn, schürfte über eine Geröllfläche hinweg und machte einen Satz
über eine Felskante hinab auf das Sandmeer. Schwer schlug sie ein, und im gleichen Augenblick gab es im Schiff Explosionen, brach das Schutzschirmsystem zusammen. Der Antrieb verstummte, von der Notautomatik abgeschaltet. Die SZ‐2 pflügte durch den Wüstensand und schob einen riesigen Sandwall vor sich auf. Dann lag das große Schiff still, und die flackernde Beleuchtung regenerierte sich. Die Alarmsirenen jedoch blieben. Solania achtete nicht auf sie. Sie atmete auf; das Schiff war gerettet, wenn es auch beschädigt war. Langsam löste sie die Gurte und erhob sich. Um sie herum lagen die Solaner kreuz und quer. Viele jammerten, weil sie verletzt waren. Im letzten Augenblick noch hatten die Andrucksabsorber ihren Geist aufgegeben. Die ersten erhoben sich, unter ihnen Palotin. Er warf einen Blick auf den Bildschirm, der nur Sand zeigte und einen winzigen Ausschnitt eines klaren Himmels. »Wo sind die Blüten?« krächzte der Chemiker. Solania gab ihm keine Antwort. Sie floh aus der Zentrale und rannte blindlings in das Schiff hinein. * Die Zerstörungen waren schlimmer, als sie angenommen hatte. Kein wichtiges Aggregat funktionierte mehr. Sämtliche Triebwerke waren durchgebrannt, die Generatoren für die Schutzschirme explodiert. In den Triebwerkssektoren des Ringwulsts war buchstäblich kein Blech auf dem anderen geblieben. Noch schlimmer sah es in den übrigen technischen Stationen aus. Der Hyperfunk wies kein einziges, intaktes Element mehr auf, und der Normalfunk war durch die Belastung so überbeansprucht worden, daß alle Aggregate einschließlich der Ersatzteile zu handlichen, fußballgroßen Klumpen deformiert waren. Lediglich im Zentrum des Schiffes arbeiteten noch ein paar Energieanlagen, die das Schiff
mit Strom versorgen konnten.
Solania suchte eine Nebenzentrale auf. Jetzt hatte sie Ruhe und war allein. Sie versuchte, die Hauptpositronik zu aktivieren, aber mehr als ein Knarren und Rauschen kam nicht zustande. Auch die Positronik war schwer beschädigt. Die Kommandantin stellte fest, daß ein großer Teil der Schleusen offenstand. Die Roboter hatten ihren Befehl also ausführen können. Während sie sich auf den Weg zur Zentrale machte, traf sie einen, der es bestätigte. »Niemand verläßt das Schiff«, trug sie ihm auf. »Und ihr wacht auch darüber, daß sich kein Fremder einschleicht! Alles, was noch normal arbeitet, ist zu schützen.« »Das Schiff ist gestrandet«, stellte der Roboter fest. »Es ist nicht mehr flugfähig!« Solania von Terra ließ ihn stehen. Schluchzend ging sie weiter. Von überall her aus dem Schiff kamen Solaner und suchten die Zentrale auf. Auch die Buhrlos trafen ein. Die Zentrale quoll über vor Menschen. Die Kommandantin blieb unter dem Eingang stehen. Auf einen Blick erkannte sie, daß sich alle Solaner hier versammelt hatten. Sie drängten sich in der Mitte zu einem dichten Pulk zusammen. Das Schlimmste war, daß sich der Vorgang schweigend vollzog. Niemand sagte ein Wort, niemand beantwortete die Fragen und Zurufe der Kommandantin. Es war gespenstisch still. Solania sah Palotin am Rand des Pulks und eilte auf ihn zu. Sie packte ihn am Arm, aber der Chemiker starrte aus glasigen Augen an ihr vorbei. Unter ihrer Kopfhaut juckte es. Sie tastete. Der Spoodie rührte sich. Er bewegte sich zur Stirn hin. Die Haut begann zu schmerzen. Solania preßte die Hand dagegen und wartete, bis sich der Symbiont beruhigt hatte. Sie entfernte sich ein wenig von dem Pulk und suchte nach einem tragbaren Funkgerät. Als sie es gefunden hatte, rief sie die Roboter zurück. Die Solaner hatten in der Mitte der Zentrale einen Haufen
gebildet. Sie lagen übereinander, und nur ab und zu drang ein Stöhnen aus dem Pulk. Es konnte nicht mehr lange dauern, bis die ersten erstickt waren. »Auseinander!« schrie sie und blickte verzweifelt zum Eingang. Noch waren keine Roboter zu sehen. Ein helles Seufzen ging durch den Hügel menschlicher Leiber. Etwas glitzerte auf den Rücken der Kombinationen. Die Spoodies! Sie verließen ihre Wirte. Sie krochen davon und fielen zu Boden. So schnell sie konnten, entfernten sie sich von dem Haufen. Sie bildeten lange Ketten, die auf den Ausgang zielten. Die wenigsten von ihnen erreichten ihn. Die Spoodies zerfielen zu Staub, und irgendein Reinigungsroboter rollte herbei und saugte den Staub in sich auf. Solanias Körper verkrampfte sich. Es konnte nicht wahr sein, was sie sah. Es durfte nicht sein. Endgültig begriff sie die Tragweite des ganzen Ereignisses. Die Königssamen von Firx waren aufgegangen und hatten die Solaner in ihren hypnotischen Bann gezogen. Sie hatten sie dorthin gelenkt, wo ihre eigentliche Heimat war. Deshalb hatten die Solaner diesen Planeten als Neue Heimat bezeichnet. Die Bewohner des Planeten Firx hatten bestimmt nicht gewußt, was sie mit ihrem Geschenk anrichteten, und die übrigen Wracks auf dem Planeten der sterbenden Zwergsonne waren von den Blüten im Tal angelockt worden. Was aber war mit den Begleiterscheinungen, den Zerstörungen im Schiff und den Wahnvorstellungen, die zahlreiche Todesopfer gefordert hatten? Die Stabsspezialistin interpretierte es als eine Erscheinung, die durch die Spoodies hervorgerufen worden war. Die Symbionten hatten sich gegen die Hypnoimpulse gewehrt und dabei bei ihren Wirten die unterschiedlichsten Reaktionen hervorgerufen. Ein paar Solaner hatten früher als die anderen erkannt, daß die Spoodies ihnen schadeten. Sie hatten sie sich vom Kopf gerissen, und die Roboter hatten ihnen später neue eingepflanzt.
Und jetzt? Was ging jetzt vor sich? Solania verstand es nicht. Sie wartete fiebernd auf die Roboter. Als die ersten endlich eintrafen, begannen sie sofort mit der Untersuchung der Solaner. »Sie sind tot«, erklärten sie. »Alle sind tot. Ihre Spoodies haben sie verlassen!« Solania erlitt einen Schock. Sie wandte sich schweigend ab und wanderte ziellos durch das Schiff. Erst Stunden später kehrte sie zurück und fand die Kraft, sich mit der Wirklichkeit zu beschäftigen. Von den Spoodies gab es keine Spur mehr, und auch die in den Reservebehältern waren abgestorben. Es mußte sich um eine direkte Folge der großen Hypnoblüten im Tal handeln. »Die Spoodies haben versucht, die Menschen und sich gegen die Impulse zu schützen«, vermutete sie. »Sie haben es getan, bis es keine Aussicht auf Erfolg mehr gegeben hatte. Da aber war es auch für die Menschen zu spät. Sie haben den Sterbeimpuls der Spoodies nicht überlebt!« Wieder regte sich der Symbiont unter ihrer eigenen Kopfhaut. Er drängte nach vorn, wollte dem Impuls seiner Artgenossen folgen. Sie hielt ihn zurück und wartete, bis er sich beruhigt hatte. »Atlan muß es erfahren«, sagte sie zu den Robotern. »Er muß wissen, daß die Spoodies auch Gefahren in sich bergen. Die Symbionten sind nicht gegen alles immun!« Sie suchte sich eine Nebenzentrale und checkte das Schiff von oben bis unten durch. Sie machte sich ein genaues Bild von den Schäden. Die SZ‐2 war unwiderruflich kaputt. Nur hochspezialisierte Technik würde sie in einem lang andauernden Prozeß regenerieren können. Sie war nicht restaurierbar im engeren Sinn des Wortes. Das meiste würde neu gebaut werden müssen. »Erhaltet alle Energiesysteme«, trug sie den Robotern auf. »Das Schiff muß so viel Emissionen aussenden wie möglich, damit es eines Tages entdeckt werden kann!« Tränen traten ihr in die Augen. Sie dachte an ihre Freunde auf
Kran und daran, daß die SZ‐2 als Spoodie‐Schiff kein einziges Beiboot mit sich führte, um alle Kapazitäten für den Transport der Symbionten ausnutzen zu können. Diese Entscheidung war jetzt das Todesurteil für die SOL‐Zelle. Und auch ihr eigenes. Einige Zeit später betrat sie noch einmal die Zentrale, die zu einem Friedhof geworden war. Sie löste einen der Buhrlos aus dem Pulk der Leiber und brachte ihn in einen Nebenraum, wo sie ihn in die Kältebox legte. Umfangreiche Arbeiten waren notwendig, um die Energieversorgung zu sichern. Wenn jemand eines Tages das Schiff entdeckte und den gläsernen Menschen fand, würde sich das herumsprechen. Atlan würde es erfahren und die richtigen Schlüsse ziehen. Solange er an den Hebeln der Macht saß. Denn Atlan war das Orakel von Krandhor. Und Solania die Kommandantin seines Spoodie‐Schiffes. Bis heute, dem 7.10.3813. Gemäß dem Auftrag der Kosmokraten. Solania spürte den Drang in sich, sich zu dem riesigen Haufen menschlicher Leiber dazuzugesellen. Nur mühsam widerstand sie und floh hinaus in die Peripherie des Schiffes, von wo aus das Gebirge zu erkennen war. Unter einer offenen Schleuse blieb sie neben dem Wache haltenden Roboter stehen. Irgendwo lag das Tal, und in seiner Nähe waren die Wracks anderer Schiffe. Dort wollte sie hingehen und die Gedanken an das Totenschiff vergessen. Die SOL würde jetzt nie mehr komplett sein, und die Solaner würden sehr darunter leiden. Gleichzeitig wußte sie, daß sie die SZ‐2 nie vergessen würde. Wenige Tage später machte sie sich auf den Weg. Sie durchquerte die Wüste und warf am Rand eines Dünenkamms einen letzten Blick zurück. Sie sah das Blinken eines Roboters, das ihre Augen blendete. Und sie glaubte das Schiff zu sehen, wie es irgendwann in der Zukunft aussehen würde. Ein vom Wüstensand zerfressenes Ungetüm mit eingerosteten Maschinen und Robotern. Und sie sah sich selbst, wie sie versuchte, zurück zu diesem Friedhof zu
kommen, in dessen Zentrum ein Haufen Knochen ruhte. Sie schaffte es nicht mehr, weil ihr Spoodie ihren Körper verließ und zusammen mit ihr starb. Ihr eigener Körper würde vom Sand zugedeckt und nie gefunden werden. So wollte es das Schicksal, dessen Wege für sie unerforschlich waren. Einen letzten Blick warf Solania auf das Wrack der SZ‐2, dann kletterte sie die Düne hinab und ging weiter. Neue Heimat hatten sie den Planeten genannt, dessen Sonne am Sterben war. Solania gab ihm einen neuen Namen. Solanerfalle nannte sie ihn. 5. Erfüllt von ohnmächtigem Zorn verfolgte 91‐Page, wie das Paz‐ Klahu an einem anderen Ort explodierte. Sie sah, wie Ohoro den Mikrofonring an sich riß und hastig etwas hineinsprach. Er wandte sich ratlos ab. »Die dreißig Kämpfer antworten nicht«, meldete er ihr. »Es bedeutet, daß sie nicht mehr am Leben sind!« Malaras Körper begann zu beben. Die Zyrtonierin verlor für einige Augenblicke die Beherrschung über sich. Als sie wieder bei sich war, stellte sie fest, daß sie einen Teil der Kontrollen an ihrer Schalteinheit zerdrückt hatte. Sie wechselte den Standort und begab sich zu einer Ersatzeinheit. Die Basis des Ersten Zählers war beschädigt. Sie erkannten das Loch deutlich. Dennoch brach der Energieschirm nicht zusammen. Nichts deutete darauf hin, daß das Paz‐Klahu seine vernichtenden Energien entfaltet hatte. Die Lichtquelle existierte noch. Sie war vor längerem schon erloschen und beeinflußte seither die Geräte der Zyrtonierschiffe
nicht mehr. Der Dom hatte seine Form nicht verändert, nur seine Farbe. Die Lichtquelle lebte ohne Zweifel, und die Roboter wehrten sich. Unruhe entstand unter den Schiffen von Zyrton. 91‐Page schickte Funksprüche hinaus und gab den Kommandanten Anweisungen. Dadurch verringerte sie die Schäden, die die Roboter bei ihrem Gegenangriff anrichteten. Es gelang der Basis, insgesamt zwanzig Schiffe zu vernichten oder manövrierunfähig zu schießen. Und noch immer feuerte das Relikt aus allen Waffensystemen, die es besaß. Nur vorn am Bug, an einer ganz bestimmten Stelle, blieb es ruhig, obwohl dort Mechanismen ruhten, die eindeutig Waffencharakter besaßen. Ein Hinterhalt? War das Relikt eine furchtbare Falle, die sie alle mit in den Tod reißen sollte? Malara fürchtete den Tod so wenig wie alle Pagen. Das Schicksal des ganzen Volkes stand über dem Leben des einzelnen Individuums, und die Pagin faßte bereits einen Entschluß, wie sie ihr Ziel doch noch erreichen konnten. Das zweite Paz‐Klahu. Wenn sie es hinunterschaffen konnten, war alles gerettet. Die Opfer galten dann nichts, die sie gebracht hatten und noch bringen würden. »Ohoro!« 92‐Page näherte sich ihr, bis sich ihre Körper berührten. Malara sah, daß Ohoro teilweise ihre Absichten richtig einschätzte und es in seinen Gebärden zum Ausdruck brachte. »Du willst das Schiff verlassen«, stellte er wie selbstverständlich fest. »Wir gehen also hinab auf die Basis. Wir allein?« »Wir werden die Roboter so ablenken, daß wir leichtes Spiel haben«, erwiderte sie. »Und wenn ich die gesamte Teilflotte opfern muß.« Die Basis erzielte immer noch Erfolge und rückte auch einigen größeren Einheiten der Zyrtonierflotte zu Leibe. Die Schiffe griffen jetzt vehement an und versuchten, den Energieschirm durch
gezielten Beschuß zum Erliegen zu bringen. Längst waren die Standorte der Projektoren rings um die Landschaft ausgemacht. Ein Teil davon war zerstört worden, ohne daß der Schirm instabil wurde. Es sah im Gegenteil so aus, als erhalte er wieder mehr Energie aus den Speichern. Malara kümmerte sich nicht darum. Sie führte das 1800 Meter durchmessende Flaggschiff noch näher an das Relikt heran, bis sich die beiden Schutzschirme fast berührten. Aus dieser Entfernung war der Raumschlauchprojektor ohne Schwierigkeiten auch durch den stärksten Schirm zu bringen. Malara teilte vier Gruppen zu je fünfzig Kämpfern ein. Nacheinander verließen sie das Schiff und gelangten durch den Schlauch auf die Oberfläche der Basis. Wütendes Feuer der Roboter empfing sie dort, und sie teilten sich in kleine Gruppen auf, die eilig auseinanderstrebten und sich über die Landschaft verteilten. 91‐Page hatte die Zyrtonier genau instruiert. Sie gingen nach ihrem Plan vor, der den eigentlichen Einsatz verschleiern sollte. Malara und Ohoro verließen die Zentrale ihres Flaggschiffs. Sie trugen Kampfanzüge, und sie wurden von einer weiteren Gruppe aus fünfzig Zyrtoniern begleitet. Durch den Hauptantigravschacht gingen sie den Weg bis zum Raumschlauchprojektor. Das Gerät bestand aus einer Halbkugel, die sich über dem Boden wölbte. Sie besaß eine einzige Öffnung, die direkt über dem Fußboden lag. Dort war der Einstieg in den Projektionstunnel, und die Zyrtonier verschwanden einer nach dem anderen darin. Die beiden Pagen bewegten sich in ihrer Mitte, und am Einstieg nahm Malara das Paz‐ Klahu entgegen. Der Klumpen war etwas kleiner als sein Vorgänger. Seine Kapazität lag unter der des ersten Paz‐Klahu, was die Assimilation von Jenseitsmaterie betraf. Dafür war seine Explosionskraft stärker. Der Sog des Raumschlauchs erfaßte sie und riß sie mit sich. Jetzt gab es für sie kein Zurück mehr. Ohoro schwebte neben seiner Lebenspartnerin. Sie hatten das Paz‐Klahu zwischen sich und
achteten darauf, daß es seine Position nicht veränderte. Das Relikt schoß. Es beschoß den Schlauch, und der geriet vorübergehend in Schwingung. Die Gruppe wurde hin und her bewegt, ohne jedoch dem gefährlichen energetischen Rand des Schlauches zu nahe zu kommen. Von unsichtbaren Kräften gelenkt, sank sie dem Relikt entgegen und durchdrang den Schutzschirm. Tief unter sich sahen die Zyrtonier die Roboter, die sie erwarteten. »Achtung, kritische Phase erreicht«, klang Malaras Stimme auf. »Zentrale handeln. Jetzt!« Flirrende Entladungen begleiteten plötzlich den Schlauch. Er zuckte ein wenig zurück in den Himmel und krümmte sich. Dann streckte sich das Ende wieder aus und griff nach einem anderen Punkt der Landschaft, wo es noch keine Roboter gab. Gleichzeitig beschleunigte sich die Sinkgeschwindigkeit der Zyrtonier. Der Boden schoß ihnen entgegen, und sie wurden erst kurz vor dem Aufprall abgebremst. Sie berührten den Untergrund und verteilten sich. Im selben Augenblick, als der Schlauch erlosch, eilten sie nach allen Seiten davon. Zehn Zyrtonier begleiteten Malara und Ohoro. Sie setzten ihren Weg zum Heck des Relikts fort. Dort gab es Gebüsch und ein paar Bodenwellen, in denen sie sich verbergen konnten. Noch waren keine Roboter in ihrer Nähe, die sie bedrängten, aber es konnte nicht lange dauern. Bis dahin mußten sie sich getrennt und versteckt haben. Malara musterte das Gelände. Immer wieder achtete sie darauf, daß ihr Körper das Paz‐Klahu gut verdeckte. Die Lichtquelle spürte die Anwesenheit der Waffe, das war bekannt. Lediglich ihr Standort mußte geheimgehalten werden, damit die Roboter keine Möglichkeit erhielten, Gravitationsfelder zum Einsatz zu bringen wie beim ersten Mal. 91‐Page gestand sich einen Fehler ein. Sie hatte das Relikt unterschätzt. Sie hatte nicht damit gerechnet, Schwierigkeiten zu haben oder gar Schiffe zu verlieren. Die Basis des Ersten Zählers
verfügte über Energiereserven, die ungewöhnlich waren. Nur die Quelle der Jenseitsmaterie konnte dahinterstecken. »Ausschwärmen!« befahl sie, und die Zyrtonier bewegten sich nach allen Richtungen davon. Malara und Ohoro verschwanden in einer Bodensenke und verbargen sich, dicht an eine Böschung gepreßt. Das Paz‐Klahu hatten sie neben sich an den Boden gesenkt und mit einer Schicht Sand bedeckt. Die Roboter kamen. Zu dritt bildeten sie Kommandos und kämmten das Gelände durch. Es konnte ihnen keine Schwierigkeiten machen, die beiden Pagen mit Hilfe der Infrarotortung zu entdecken. Auch die beste Antiortung produzierte immer ein wenig Wärme und Streustrahlung, die auf einem Gelände wie der Oberfläche des Relikts nicht übersehen werden konnte. Blieb als einziges die Hoffnung, daß die Kampfgruppen der Zyrtonier sich planmäßig zusammenfanden und den Kampf gegen die Maschinen eröffneten. Tatsächlich wurde es über der Landschaft laut. Die zweite Offensive der Zyrtonier begann, und diesmal war Malara sicher, daß sie zum Ziel führte. Und das war nach wie vor die Vernichtung der Lichtquelle. * Die Hauptpositronik der Basis meldete dreißig zerstörte und kampfunfähige Einheiten. Damit war dem Gegner eine empfindliche Schwächung beigebracht. Die Zyrtonier kümmerten sich nicht darum. Sie verstärkten das Feuer auf den Schutzschirm, und sie setzten auch jene Maschine wieder ein, die dem Schirm Energie entzog. »Restenergie noch fünfundzwanzig Prozent«, sagte Rico. Die Roboter hatten sich für kurze Zeit in das Innere der Basis zurückgezogen, um die wichtigsten Reparaturen durchzuführen.
Das Internsystem funktionierte in einigen Teilen wieder, und ein zusätzlicher Transmitter sorgte dafür, daß sie ohne Zeitverlust in die Nähe der Lichtquelle gelangen konnten. Eine Gestalt schleppte sich in die Hauptzentrale. Es war der blinde Hars. Sein Körper war in sich zusammengefallen, die Arme baumelten kraftlos an den Seiten. Aus seinem augenlosen Kopf sah er die Roboter an. »Die Lichtquelle stirbt«, murmelte er undeutlich. »Sie hat sich aufgegeben. Damit ist das Schicksal des Universums besiegelt!« »Was weißt du?« fragte Zähler‐Rl. »Was hat dir die Quelle der Jenseitsmaterie mitgeteilt?« »Ich weiß nichts. Ich weiß nur, daß es keinen Sinn hat, noch etwas zu tun!« Basis‐Rl blieb stumm. Er wies ein paar Roboter über Funk an, den blinden Hars hinauszubringen und in einem leeren Raum einzuschließen. Sie brachten ihn weg, und sein Gejammer hallte lange über den Korridor, bis es schließlich verstummte. Die Roboter kehrten zurück. Basis‐Rl Rico gab neue Befehle an seine Roboter aus. Sie kamen von überall herbei und strebten hinauf an die Oberfläche, wo sie einen Abwehrgürtel rund um die Lichtquelle errichteten. Längst hatte die Hauptpositronik die Ankunft eines zweiten Paz‐Klahu gemeldet. Die Zyrtonier hatten es mitgebracht, und die Insektenwesen entfesselten einen solchen Energiesturm über der Landschaft, daß die Ortungsanlagen der Basis nicht in der Lage waren, die Restenergien des Paz‐Klahu zu lokalisieren. Die Lichtquelle hatte sich wieder völlig verdunkelt. Sie spürte die Gefahr, aber sie gab nicht einmal eine Warnung von sich. Ihr letzter Lebens‐ und Hoffnungsfunke schien erloschen. Zum zweiten Mal konzentrierte sich die Abwehr der Roboter allein auf die Verteidigung der Quelle der Jenseitsmaterie, während die Hauptpositronik weiter auf die Schiffe der Zyrtonier schoß. Dann aber stellte sie den Angriff übergangslos ein. Die
Energiefinger, die hinaus in die Schwärze der Namenlosen Zone rasten, erloschen. An den Rändern der Landschaft bildeten sich bläuliche Schlieren, die sich rasch nach oben ausbreiteten und deutlich die feinen Strukturrisse sichtbar werden ließen, die sich in dem Energieschirm bildeten. Die Roboter erstarrten für Augenblicke. Sie kommunizierten ohne Unterbrechung mit der Hauptpositronik und wußten dadurch, daß die Energiereserven der Basis des Ersten Zählers erschöpft waren. Energie durch Verwertung von Materie aus der Landschaft zu gewinnen, dazu war es zu spät. Blieb als einzige Möglichkeit nur das Warten. Alle Systeme der Basis stellten ihren Betrieb ein. Nichts funktionierte mehr, das von Energie abhängig war. Die Roboter verfügten über autarke, interne Hochleistungsbatterien und blieben als einzige einsatzfähig. Basis‐Rl schickte mehrere Maschinen aus und rief die organischen Wesen zusammen, die den ersten Ansturm der Zyrtonier überstanden hatten. Es war schwierig, sie zwischen den unzähligen kämpfenden Gruppen hindurch bis zur Lichtquelle zu bringen, die vorerst nicht angegriffen wurde. »Sucht nach dem Paz‐Klahu«, trug er ihnen auf. »Es ist hier. Der Gegner hat es versteckt, um es zum günstigsten Zeitpunkt aufzuheben!« Die Roboter durchschauten die Taktik des Gegners. Er wollte die Maschinen dezentralisieren und dann die relativ schutzlose Lichtquelle angreifen und vernichten. Das würden die Roboter nicht zulassen. Hoch über der Landschaft begann es zu knistern. Die bläulichen Risse wurden dunkelgrau und dann schwarz. Sie wurden breiter und breiter, und dann leuchtete der Himmel in allen Farben des sichtbaren Spektrums auf. Für kurze Zeit war er von einem Meer aus bunten Sternen bedeckt, die langsam blasser wurden und immer weiter schrumpften, bis sie von der Schwärze des Hintergrunds
verschluckt wurden. Erste Schüsse trafen die Basis und ließen sie erbeben. Der Kampf trat in seine entscheidende Phase. * »Die Roboter ziehen sich zurück!« Verwunderung lag in Malaras Stimme. Sie hob ihren Körper ein wenig empor und musterte den Kamm der Bodenwelle, hinter der sie lagen. Das Paz‐Klahu rührte sich nicht, und die beiden Pagen hielten die Aggregate ihrer Kampfanzüge desaktiviert, um keinen Anhaltspunkt für die Ortung zu geben. Sie beobachteten eine Weile und stellten fest, daß sich die Maschinen der Basis rund um die Lichtquelle versammelten und dort eine Verteidigungsstellung aufbauten. Sie konnten sich manchmal schneller den veränderten Bedingungen anpassen als organische Wesen. 91‐Page dachte an ihren Auftrag. Sie durften 1‐Page und den Rat der Pagen, dem sie selbst angehörten, nicht enttäuschen. Zyrton konnte sich kein zweites Fiasko leisten, wie Palterwahn es ausgelöst hatte. Das Paz‐Klahu war eine alte Geheimwaffe. Ihr Ursprung lag in ferner Vergangenheit. Irgendwie, fand Malara, existierte ein Zusammenhang zwischen der Zeit, in der das Paz‐Klahu geschaffen worden war, und jener, in der jemand das Relikt erbaut hatte. Zu gern hätte die Pagin sich die Technik im Innern der Basis des Ersten Zählers angesehen. Die technischen Einrichtungen von Steuerzentralen ließen oft Rückschlüsse auf die Herkunft und die Intelligenz der Erbauer zu. In diesem Fall war es kaum möglich, denn sie durften keine Zeit verlieren und auch das Paz‐Klahu nicht unbeaufsichtigt lassen.
Ein Schauer durchfuhr ihren Körper, als sie daran dachte, was geschehen konnte, wenn die Roboter die Waffe gegen die verbliebenen Zyrtonierschiffe einsetzten. »Die Gruppen müssen ihre Aggressivität verstärken«, stimmte Ohoro ihr zu. »Es ist nur schade, daß ich keinen Samen der Ourpulys bei mir trage. Ich würde die Roboter damit vernichten und auch die Lichtquelle dem Tod überantworten. Die Lichtquelle, warum ist sie eigentlich unser Feind? Warum zerstören wir nicht das Relikt und nehmen sie mit uns?« Malara konnte die Frage nicht beantworten, und auch er selbst war ratlos. Irgend etwas war an dem kuppelförmigen Gebilde, das sie warnte oder abstieß. Etwas, das sie nicht bewußt erfassen konnten. Malara spähte noch eine Weile über die Bodenwelle hinaus. »Komm«, sagte sie dann. »Die Luft ist rein. Unsere Artgenossen haben begriffen. Sie nähern sich langsam der Lichtquelle und versuchen, wenigstens ein paar der Roboter von dort abzuziehen!« Die beiden Pagen verließen ihr Versteck. Sie befreiten das Paz‐ Klahu vom Sand und ließen es weiterhin zwischen sich schweben. Es glitt durch die Luft wie ein kleines Schwarzes Loch, das alles Licht verschluckte. Malara war froh, daß sie die Explosion des Ersten Paz‐Klahu nicht aus der Nähe erlebt hatte. Die unkontrollierbaren Kräfte jenseitiger Energien machten ihr Angst, und immer wieder prüfte sie, ob sich an dem Gebilde auch nichts änderte, das die kritische Phase dieser Vernichtungsmasse anzeigte. Sie bewegten sich vorsichtig auf den Turm zu, der in ihrer Nähe in die Höhe ragte. Eine Art Korb hing von seinem obersten Aufsatz hinunter, und Malara fand, daß es sich dabei um ein gutes Versteck handelte. Allerdings schränkte es sie in der Handlungsfreiheit ein. Malara konnte auch keine Öffnung in dem Gebilde entdecken. Von kleinen Buschgruppen geschützt, erreichten sie den Fuß des Turmes und richteten ihre Aufmerksamkeit auf die Lichtquelle.
Rund um die Kuppel wurde gekämpft, und die Roboter deckten die angreifenden Zyrtonier mit wütendem Feuer ein. Ein Schutzschirm lag über dem Bereich und schützte die Maschinen und die Lichtquelle. Malara entdeckte die Risse oben am Himmel als erste. Sie machte Ohoro darauf aufmerksam. Die beiden Pagen jubelten. »Die Sauger!« stieß 91‐Page hervor. »Sie haben endlich Erfolg. Die Energiereserven der Basis gehen zu Ende!« Weit oben am Himmel leuchtete ein winziger Sonnenball auf. Ein weiteres Zyrtonierschiff war vernichtet worden. Es sollte das letzte sein, das das Relikt zerstörte. Malara wechselte die Richtung. Sie schlich auf den Rand der Basis zu, und Ohoro folgte ihr eilig und deckte das Paz‐Klahu gegen Angriffe von hinten ab. Noch immer hatte niemand die beiden Pagen entdeckt. Auch die Orter der Basis konnten das schwache Echo in dem Gewirr der Kämpfe nicht lokalisieren. Der eintretende Energiemangel tat ein übriges. »Wir schleichen uns am Rand der Landschaft an«, instruierte Malara ihren Lebenspartner. »Dort vermutet man uns am wenigsten. Wir nähern uns der Lichtquelle und warten den günstigsten Zeitpunkt ab!« Die Kämpfe auf der Basis waren voll entbrannt. Überall waren Zyrtonier in Kämpfe mit den Robotern verwickelt. Nur organische Wesen konnte Malara keine entdecken. Waren sie alle bei der ersten Offensive getötet worden? Die Pagin blickte sich aufmerksam um. Es kam ihr verdächtig vor, und sie sah ihren Verdacht bestätigt, als es kurz darauf in den Büschen raschelte und sie sich rund zwanzig unterschiedlichen Wesen gegenübersahen, die die schußbereiten Waffen auf sie gerichtet hatten. Eines von ihnen sagte etwas in einer unverständlichen Sprache. Malara hatte ihren Anzug noch nicht aktiviert, und so arbeitete auch
der Translator nicht. 91‐Page zögerte, es zu tun. Jede Bewegung hätte der andere als Feindseligkeit ausgelegt. »Was wollt ihr?« fragte sie in dem Bewußtsein, daß die Frage völlig überflüssig war, falls sie verstanden wurde. Das Paz‐Klahu hing deutlich sichtbar zwischen ihr und Ohoro. Ihr ging es jetzt nur darum, Zeit zu gewinnen. »Wir ihr seht, sind wir keine Kämpfer!« In diesem Augenblick schaltete sich das Paz‐Klahu ein. Die winzige robotische Komponente im Zentrum des Gebildes baute einen Schutzschirm um die beiden Pagen auf und dehnte ihn so rasch aus, daß er den Wesen förmlich entgegensprang und sie ohne Ausnahme erfaßte. Sie sanken umgehend zu Boden und lösten sich auf. Nichts wies darauf hin, daß es sie gegeben hatte. Der Schutzschirm erlosch, und Malara setzte sich hastig in Bewegung. Das Verschwinden der Organischen würde nicht unbemerkt bleiben. Man würde sie suchen und vielleicht Reststrahlungen des Paz‐Klahu finden. »Schneller!« forderte sie Ohoro auf. Sie aktivierte ihren Kampfanzug und schaltete sich in den Funkverkehr mit ihren Schiffen ein. Sie mußte jetzt das Risiko einer Entdeckung eingehen. Der Gegner arbeitete mit Mitteln, mit denen sie nicht gerechnet hatte. Vielleicht kannten die Roboter ihren Standort bereits. »Ein fremdes Schiff nähert sich der Basis«, sagte sie überrascht. »Es besitzt eine uns unbekannte Form. Es kann nicht aus der Namenlosen Zone stammen!« »Atlan«, stieß 92‐Page hervor. »Ist es die SOL?« »Nein.« Das Aussehen jenes Schiffes kannten sie längst. Es war ein anderes, kleines Gebilde, und es mußte die Übergangszone zwischen dem Normalraum und der Namenlosen Zone durchdrungen haben. Malara kannte kein Volk aus dem Normalraum, das dazu die Voraussetzungen besaß. Mit einer Ausnahme vielleicht. Aber das konnte nicht sein. Ein solches Schiff besaß jenes Volk nicht. »Das ist unsere Chance«, machte sie Ohoro begreiflich. »Die
Fremden kommen, um der Basis zu helfen. Dadurch werden die Roboter für kurze Zeit abgelenkt. Diese Zeit müssen wir nützen. Danach darf es keine Lichtquelle mehr geben!« Mit einemmal waren ihr die eigenen Artgenossen im Weg. Sie griff an die Funkanlage ihres Kampfanzugs und gab das Kodesignal für einen Rückzug aus der Nähe der Lichtquelle durch. Die Schiffe ihres Volkes beschossen die Basis weiterhin, die jetzt schutzlos dalag. Das Ächzen und Knirschen, das durch die Landschaft ging, zeigte deutlich, wie es um das Relikt stand. Irgendwo in der Ferne gab es Explosionen unter der Oberfläche, und hinter den beiden Pagen stürzte donnernd der Turm ein. 6. Undeutlich nahm ich Stimmen wahr. Sie drangen an meine Ohren und ließen mich gepeinigt das Gesicht verziehen. Ich glaubte, daß es die Stimmen von Toten waren. Langsam verblaßte das Bild des Wracks vor meinen Augen. Mein Bewußtsein entfernte sich aus den Wänden jenes Schiffes, mit dem ich für einige Zeit verschmolzen war. Aber der Eindruck des Absturzes und der nachfolgenden Ereignisse bis hin zum endgültigen Auseinanderfallen des Schiffsrumpfs prägte sich mir tief im Bewußtsein ein und bewirkte, daß ich eine Zeitlang zwischen Wachen und Träumen schwebte und kein rechtes Verhältnis zur Wirklichkeit fand. Ich öffnete die Augen, doch ich sah nichts. Ich bewegte den Kopf und spürte nichts. Schmerzende Druckstellen am Oberarm störten mich, und ich tastete mit der Hand danach. »Endlich!« hörte ich eine Stimme sagen. Jemand rüttelte mich. »Atlan! Komm zu dir! Was ist los?« Langsam begann ich die Umgebung zu erkennen. Ich saß am Boden einer Zentrale, die mir fremdartig vorkam. Verwirrt blinzelte
ich und starrte das Gesicht an, das sich in mein Blickfeld schob. Tyari. Aber Tyari war doch tot! Nein! meldete sich mein Extrasinn. Du bringst die Wirklichkeiten durcheinander. Sie ist nicht tot. Sie wird aber eines Tages sterben. Du hast wieder eine Vision gehabt! Vision! Das Wort riß mich empor. Schwankend kam ich auf die Füße. Meine Erinnerung kehrte zurück. Ich sah nun, daß ich mich in der Futurboje befand und sich die Mitglieder meines Teams um mich scharten. Jemand sagte etwas im Idiom der Vulnurer, und die Translatoren übersetzten es. Die SZ‐2! durchfuhr es mich. Sie ist zerstört. Sie liegt auf irgendeinem Planeten, auf dem es Königsblüten gibt. Sie ist ein Wrack, und ihre gesamte Besatzung ist gestorben! Etwas legte sich wie ein Nebel um mein Gehirn. Ich spürte, wie der Extrasinn in mir kämpfte, und ich erinnerte mich an den Hilferuf, den er empfangen hatte, kurz bevor ich endgültig der Wirklichkeit entrückt worden war. Chybrain. Rief er um Hilfe? Es war die Lichtquelle! Du mußt das endlich akzeptieren! Sie schwebt in höchster Gefahr. Noch immer ist die Futurboje untätig! Einer der drei Atiq‐Brüder tauchte vor mir auf. Er hielt eine Folie in der Hand, auf die er etwas gezeichnet hatte. »Ich bin Atiq‐Than«, sagte er. »Ich suche nach einer Möglichkeit, der Lichtquelle zu helfen. Wir wissen inzwischen, daß sie von einer Waffe namens Paz‐Klahu bedroht wird. Diese befindet sich auf der Oberfläche der Basis, läßt sich aber nicht genau lokalisieren!« »Warum landet die Futurboje nicht?« rief ich. Ich hatte Mühe, mein Gleichgewicht zu halten, sowohl das äußere wie auch das innere. Ein langer Blick auf den Bildschirm belehrte mich, daß die Futurboje gerade das vorletzte Schiff der Zyrtonier vernichtete und sich dann gegen das größte mit seinen achtzehnhundert Metern Durchmesser wandte. Die Zyrtonier wehrten sich mit allen Mitteln.
Sie versuchten sogar, die kleine Boje zu rammen, aber der Computer flog ein Ausweichmanöver. Ich sah, wie ein kleiner, grüner Ball das Schiff verließ und sich drüben durch den Schutzschirm des Gegners fraß. Fast gleichzeitig kam die Berührung mit dem Zyrtonierschiff. Es glühte auf und explodierte in grellem Violett. Eine Gaswolke bildete sich, die rasch in den Leerraum hinausdriftete. »Computer!« rief ich. »Was war das? Welche Waffen besitzt du? Warum gibst du deine Geheimnisse nicht endlich preis?« »Ich habe es dir bereits einmal erklärt«, sagte der Computer nüchtern. »Mehr habe ich nicht dazu zu sagen. Die Geheimnisse der alten Vulnurer werden nicht in fremde Hände geraten. Es ist zu eurer eigenen Sicherheit, denn noch ist nichts entschieden!« Atlan, die Lichtquelle! Sie steht vor der Vernichtung! »Landen!« schrie ich. »Sofort neben dem Lichtdom landen!« Erst jetzt kam ich dazu, einen Blick auf die Basis des Ersten Zählers zu werfen. Ich erkannte sie fast nicht wieder. Nur ein einziges, zusammenhängendes Trümmerstück schwebte vor uns im Raum. Alles andere taumelte in kleinen und großen Brocken durch den Leerraum und kollidierte teilweise mit den Wracks der Zyrtonierschiffe, die dort herumtrieben. Der Turm, das Felsmassiv, das Gästehaus, alles war verschwunden. Die Lichtquelle ruhte auf dem Sockel, mit dem sie in der Basis verankert war. Darum herum gab es nur ein kleines Stück Erde, auf dem ein paar niedergetretene Büsche lagen. Dort sank die Futurboje hin und verankerte sich mit Hilfe mehrerer Magnettrossen am Untergrund. In die Atiqs kam Leben. Ich bekam mit, wie die Futurboje ihnen nach der Folienzeichnung und akustischen Angaben einen Gegenstand herstellte, der einem Football ähnlich sah. Die drei Vulnurer verließen die Zentrale und machten sich auf den Weg zu einem Transmitter, wo sie den Gegenstand entgegennahmen. Atiq‐Droos packte das Ding sofort und stürmte aus der Futurboje hinaus.
»Es ist höchste Zeit«, sagte Tyari zu mir. »Die Roboter berichten, daß sich das Paz‐Klahu in unmittelbarer Nähe der Lichtquelle befindet. Sie orten es, aber sie haben es noch nicht gefunden!« Die Basis war vernichtet. Also mußten wir wenigstens noch die Lichtquelle retten. Sie war von entscheidender Bedeutung. »Wir gehen ebenfalls hinaus«, hörte ich mich sagen. Verzweifelt suchte ich in meiner Erinnerung, ob die Verhältnisse auf der Basis etwa jenen entsprachen, die zum Tod Tyaris geführt hatten. Ich atmete auf. Das war anderswo gewesen. »Du bleibst besser in der Futurboje«, sagte Joscan Hellmut. »In deinem Zustand weißt du nicht, was du tust!« Ich wehrte mich dagegen. Ich brauchte etwas, um die Vision verdrängen zu können, und war nur zu gern bereit, auf den Extrasinn zu hören, der eindringlich darauf hinwies, daß die Lichtquelle in höchster Gefahr schwebte. Auf den Trümmerstücken der Basis wurde noch immer gekämpft. Dort schlugen sich die Roboter mit den Zyrtoniern herum und erzielten immer wieder einen Erfolg. Rund um die Lichtquelle verteidigten die Roboter sich gegen eine größere Schar der Zeckenwesen, und dort mußte sich das Paz‐Klahu befinden. »Redet nicht, handelt«, sagte ich nur und griff mir den nächstbesten Raumanzug. Ich stieg hinein und bewaffnete mich. Dann glitt ich aus dem Schiff hinaus. Tyari und die anderen folgten mir mit warnenden Kommentaren. Dunkelheit empfing uns, die erst jetzt durch ein paar Lampen erhellt wurde, die die Futurboje einschaltete. Ich sprang auf den Boden des Trümmerstücks hinab und sah etwa dreißig Meter vor mir den Schatten der Lichtquelle aufragen. Sie hatte sich völlig in sich zurückgezogen. Kein Hilferuf kam bei mir an. Nichts deutete darauf hin, daß sie noch lebte. »Atlan!« Die Stimme knarrte in meinem Helmempfänger. Sie gehörte Rico. Der Roboter eilte auf mich zu und informierte uns hastig über die Entwicklung.
»Wir haben einen Fehler gemacht, Atlan«, berichtete er. »Wir haben den blinden Hars eingesperrt. Er ist ums Leben gekommen. Er wäre vielleicht der einzige gewesen, der das Paz‐Klahu hätte unschädlich machen können, wenn es ihm gelungen wäre, die Lichtquelle zur Herausgabe wenigstens eines Brockens Jenseitsmaterie; zu bewegen. Jetzt ist es zu spät dazu. Wir müssen die Lichtquelle aufgeben, aber wir werden lieber unsere Existenz opfern, als daß wir uns zurückziehen!« »Noch ist nicht alles verloren, Rico«, sagte ich. »Wo genau befindet sich das Paz‐Klahu?« Er nannte einen Punkt auf der gegenüberliegenden Seite der Lichtquelle. »Es hat sich in einen unüberwindlichen Schirm gehüllt, der auch zwei Zyrtonier schützt. Alle anderen Insektenwesen kämpfen ohne diesen Schutz und können uns nicht mehr lange standhalten.« Zwei wichtige Zyrtonier. Ich mußte an die Pagen denken, von denen bereits Tomagog berichtet hatte. Handelte es sich um zwei Pagen, dann waren sie von großem Wert für uns. »Hör zu«, sagte ich. »Bedrängt diese beiden nicht länger. Zieht euch ein wenig von der Quelle der Jenseitsmaterie zurück. Die beiden Zyrtonier müssen Gelegenheit haben, das Paz‐Klaho zum Einsatz zu bringen. Wo sind die drei Vulnurer?« Rico berichtete, daß sich die Atiqs bereits in der Nähe des Gebildes aufhielten und offensichtlich auf eine Gelegenheit warteten, ihr Gerät einsetzen zu können. »Überlaßt das Paz‐Klahu ihnen«, wies ich den Roboter an. »Wir kümmern uns um die beiden Zyrtonier!« Rico entfernte sich, und ich wandte mich an meine Gefährten und gab ihnen Anweisungen, wie sie sich zu verhalten hatten. Es war unsere einzige Chance. Wir mußten uns der vermeintlichen Pagen bemächtigen und die Lichtquelle retten. Beides mußte gleichzeitig geschehen.
»Bist du sicher, daß du in Ordnung bist?« erkundigte sich Tyari nochmals. Ich nickte und blickte von einem zum anderen. Sie schwiegen alle, Hellmut, Breiskoll, Federspiel, Uster Brick, Sternfeuer, Nockemann und Blödel, der sich auffällig im Hintergrund hielt. Ich registrierte es zufrieden. Wenn Hage den Roboter richtig behandelte, dann konnte er sich sehr wohl beherrschen. Meistens war Blödel sowieso ein Spiegelbild von Nockemanns Innerstem, und der Galakto‐Genetiker war ruhig und gefaßt. Er wußte, worum es ging. Für Blödeleien war kein Platz. Wir näherten uns vorsichtig der Lichtquelle und bewegten uns in dem Korridor, den die Roboter für uns schufen. Wir stiegen über Haufen verklumpten Metalls, zwischen denen die reglosen Körper von Zyrtoniern und anderer Lebewesen lagen. Der Kampf um die Basis war von einer gnadenlosen Härte. Ich bedauerte zutiefst, daß wir nicht früher eingetroffen waren. Meine Ahnungen, sie hatten mich nicht getrogen. Ich hatte es gespürt, daß sich die Lichtquelle in Gefahr befand. Lautlos umrundeten wir die Einfassung der Quelle der Jenseitsmaterie. Schritt für Schritt tasteten wir uns vorwärts, immer mit der schwachen Anziehungskraft kämpfend, die seit der Zerstörung der Basis hier herrschte und allein von der Lichtquelle ausging. Die Atemluft über der Landschaft hatte sich verflüchtigt, als der Schutzschirm zusammengebrochen war. Alles hätte anders kommen könne, wenn die Futurboje zunächst die Lichtquelle beschützt und dann erst die Schiffe zerstört hätte. Ich rätselte, warum sie nicht auf uns und die Warnungen des Extrasinns gehört hatte. Gab es Dinge in dieser Auseinandersetzung, die sie uns verheimlichte? »Dort!« flüsterte ich. Wir hatten die beiden Zyrtonier vor uns und sahen das dunkle Gebilde, das zwischen ihnen hing. Das Paz‐Klahu. Eine Waffe, um Jenseitsmaterie zu neutralisieren. Eine Kraft, die ganze Raumsektoren in ein Chaos verwandeln
konnte. Irgendwie hatte ich das Gefühl, daß das Paz‐Klahu so etwas wie das Gegenteil der Lichtquelle darstellte. * »Siehst du es? Das Relikt ist verloren!« 91‐Page Malara deutete hinüber zur Mitte der Landschaft. Das Gästehaus stürzte in sich zusammen und verschwand in der Tiefe. Ein zentraler Teil der Basis brach in sich zusammen. Schwere Erschütterungen durchliefen den Boden, und die Basis schwankte gefährlich. Die Atmosphäre unter dem Schirm hatte sich verflüchtigt, und die letzten organischen Wesen ohne Raumanzug waren den Dekompressionstod gestorben. Die beiden Zyrtonier bewegten sich schneller vorwärts. Sie achteten jetzt nicht darauf, daß sich ihnen mehrere Dutzend Roboter in den Weg legten. Sie beeilten sich, daß sie in die Nähe der Lichtquelle kamen. Funksprüche von den Schiffen trafen ein. Sie meldeten, daß das fremde Schiff angriff und die Einheiten nacheinander vernichtete. Malara kochte vor Wut. »Vernichtet die Basis, solange es geht«, rief sie. »Dann greift das fremde Schiff an und haltet es auf. Wir brauchen Zeit, um das Paz‐ Klahu zu deponieren!« Von da an ging alles ziemlich schnell. Die Basis brach auseinander, und die beiden Pagen retteten sich mit Müh und Not auf den Sockel hinüber, der die Lichtquelle trug und auf dem weiterhin gekämpft wurde. Malara und Ohoro beachteten die Artgenossen nicht, die Roboter vernichteten oder von diesen getötet wurden. Erneut baute das Paz‐Klahu einen undurchdringlichen Schutzschirm um sie auf, und sie kamen ungehindert voran. Immer höher wuchs der dunkle Dom der Lichtquelle vor ihnen auf. Die Roboter hatten sie entdeckt. Sie ließen von den übrigen
Zyrtoniern ab und näherten sich ihnen. Bald jedoch bemerkten sie, daß sie keinen Erfolg erringen würden. Also bemühten sie sich, den Zeitpunkt der Vernichtung so lange wie möglich hinauszuzögern. In dieser Phase machte sich ein Nachteil bemerkbar, den keiner der beiden Pagen bedacht hatte. Das Paz‐Klahu baute den Schutzschirm nicht ab, der sie schützte. Das wurde es erst tun, wenn die Roboter sich weit genug zurückgezogen hatten, daß sie Malara und Ohoro nicht mehr töten konnten. Malara fluchte. Sie konnte es kaum glauben. Sie gab dem Gebilde Befehle, aber die integrierte Positronik reagierte nicht. Der Schirm blieb bestehen, und die Pagen mußten hilflos zuzusehen, wie das fremde Schiff an dem Trümmersockel andockte und die Insassen es verließen. Es waren Solaner. »Dieser Atlan hat sie geschickt«, tobte Malara. »Vielleicht ist er selbst dabei. Wie ist es ihm nur gelungen, mit diesem Schiff durch die Schockfront zu kommen?« Etwas Unerwartetes geschah. Die Roboter zogen sich zurück, und kurz darauf baute sich der Schutzschirm ab. Die beiden Pagen erhielten ihre Bewegungsfreiheit zurück. »Hinüber!« zischte 91‐Page ihrem Lebenspartner zu. »Freie Bahn für das Paz‐Klahu!« Sie steuerte das Gebilde auf die Lichtquelle zu, und Ohoro flüsterte in sein Funkgerät: »Ich gebe dir Deckung!« »Ohoro!« sagte Malara unvermittelt. »Sind wir bereit, alles für unser Volk zu geben?« »Ja, Malara«, erwiderte er. »Alles. Wir werden dennoch immer vereint sein! Wohl unserem Volk!« »Wohl unserem Volk«, sagte sie und beobachtete, wie Ohoro losstürmte. Er rannte seitlich an der Lichtquelle vorbei und hielt nach den Gegnern Ausschau. Er entdeckte sie und eröffnete sofort das Feuer. Sie erwiderten es, und er mußte sich ein Stück um die Einfassung zurückziehen. Er schaute sich nach Malara um, die ihren
Insektenkörper grazil und rasch bewegte und das Paz‐Klahu auf direktem Weg zur Lichtquelle führte. Plötzlich schrie Malara auf. Ohoro warf sich herum und geriet in die sich überschneidenden Bahnen mehrerer Strahlenschüsse hinein. Er spürte, wie sein individueller Schutzschirm zusammenbrach und sich die Hitze in seinen Körper fraß. Ohoro versuchte verzweifelt zu ergründen, was mit Malara los war. Es gelang ihm nicht mehr. Tot sank er zu Boden, und die restliche Luft entwich aus seinem aufgeplatzten Kampfanzug. 92‐Page hatte sein Leben für sein Volk geopfert. Malara sah ihn stürzen. Sie wollte ihm helfen, aber sie war wie gelähmt. Sie sah, wie das Paz‐Klahu weiter auf die Lichtquelle zuglitt. Vollende das Werk! hämmerte sie sich ein. Sie verharrte auf der Stelle und blickte den drei Gestalten entgegen. Langsam tastete ihre Hand zum Energiespeicher. »Das … das ist …« stammelte sie. Und dann schrie sie in ihr Funkgerät: »Flieht, wenn ihr könnt! Bringt euch in Sicherheit!« Es gab keinen Zyrtonier, der sie hörte oder dem Befehl nachkommen konnte. Keiner von ihnen wäre so feige gewesen, dem Gegner den Platz kampflos zu überlassen. »Sucher, 18‐Page«, stotterte Malara. »Was hast du angerichtet? Wohin hast du uns geschickt?« Sie betrachtete die drei Gestalten, die sie fast erreicht hatten. Sie musterte die erkennbaren Körperteile hinter den transparenten Helmscheiben. Es gab keinen Zweifel. Die drei Wesen waren Riesenameisen, wie jene aus den verbotenen Märchen. Sie kamen heran und umringten die Pagin stumm. Gleichzeitig spürte Malara in sich eine wohlige Zufriedenheit aufsteigen. Sie begann sich zu fragen, was sie hier suchte und warum sie die Lichtquelle vernichten wollte. Etwas stimmte nicht an diesen Fragen, das begriff sie. Wie hypnotisiert beobachtete sie die
Bewegungen der Vulnurer. Da fiel ihr Blick auf den leblosen Körper Ohoros. Ein Schmerz raste durch ihren Körper, und mit einem letzten Blick erkannte sie, daß das Paz‐Klahu die Lichtquelle bis auf wenige Meter erreicht hatte. Es befand sich bereits im Stadium der Selbstaufladung. Das Ziel war erreicht. 91‐Page Malara hob die Waffe an und löste sie aus. Der Strahl durchbohrte ihren Körper. Malara war auf der Stelle tot. Sie hörte nicht mehr die entsetzten Schreie der Vulnurer, die dem Paz‐Klahu hinterher rannten. Sie wußte, daß es keine Rettung mehr gab. In wenigen Sekunden würde auch das Gebilde explodieren und die Vulnurer mit in den Tod reißen. 7. Die Ereignisse überschlugen sich. Ich sprang vorwärts, doch ich konnte den Selbstmord nicht mehr verhindern. Die drei Atiqs kümmerten sich nicht um den leblosen Körper. Sie eilten dem Paz‐ Klahu hinterher und machten uns über Funk darauf aufmerksam, daß sich die Entscheidung anbahnte. Von der Einfassung der Lichtquelle stieg etwas in die Höhe und bewegte sich auf das Paz‐Klahu zu. Es war der Term, das Objekt, das einem Football glich. Es glänzte hellgrün und schob sich exakt in die Bahn, die das Paz‐Klahu genommen hatte. »Weg hier«, murmelte ich. Wir stießen uns vom Boden ab und schalteten unsere Rückstoßaggregate ein. Wenn das Experiment nicht funktionierte, dann ging es um unser Leben, wenn wir schon das der Lichtquelle nicht retten konnten. Im Scheinwerferlicht der Futurboje konnten wir verfolgen, wie sich die beiden Gegenstände berührten. Das Hellgrün wurde für einen kurzen Augenblick dunkelrot. Der Term blähte sich auf, und das Paz‐Klahu verschwand in ihm. Es tauchte nicht wieder auf.
Statt dessen kam ein Geräuschorkan in unseren Helmlautsprechern auf, der uns fast das Bewußtsein raubt. Ich preßte die Hände an den Helm, dann schaltete ich die Lautsprecher ab. Noch immer war der Lärm zu hören. Er hallte in meinem Kopf nach, ohne daß ich es ändern konnte. Stechender Schmerz durchzuckte mich. Jemand rempelte mich an. Es war Sternfeuer. Ihr Gesicht war verzerrt, und sie deutete an, daß ich meinen Funk wieder einschalten sollte. Ich tat es. »Mein Gott«, hörte ich die Solanerin jammern. »Das ist ja furchtbar!« Offenbar hatte sie eine telepathische Sendung empfangen. »Was ist es?« fragte ich. Sie gab keine Antwort. Sie deutete nach unten, wo sich der grüne Term zu einer länglichen Spindel verformte und langsam eine Gestalt annahm. Ein Vulnurer: Die Energiespindel hatte sich in einen Vulnurer verwandelt! Fast gleichzeitig sah ich wieder die Spindel. Sie kam noch immer nicht zur Ruhe, und diesmal bildete sie die Form einer Zecke aus. Danach löste sie sich sprühend auf und hinterließ lediglich einen ungefährlichen Strahlenschauer, der sich rasch verflüchtigte. Das Paz‐Klahu und der Term waren verschwunden. »Gratuliere«, sagte ich, während ich langsam dem Rand der Lichtquelle entgegensank. »Ihr habt es tatsächlich geschafft!« »Ohne mich hätte es nicht geklappt«, klang die Stimme Atiq‐Droos auf. »Than und Oyz hätten zu lange gezögert.« Ich atmete auf. Die Gefahr war also beseitigt, das Paz‐Klahu unwiderruflich vernichtet. Damit konnten wir wieder hoffen. Wir ließen uns in der Nähe der Lichtquelle nieder, und die übriggebliebenen Roboter versammelten sich um uns. Sie berichteten ausführlich von den Kämpfen und der Zerstörung der Basis. Sie hatten ausgedient. »Was werdet ihr tun?« wollte ich wissen. »Wollt ihr uns in das
Normaluniversum begleiten?« »Die Lichtquelle wird uns in ihrem Sockel eine Bleibe gewähren«, knarrte Rico. Neben ihm stand der Roboter Pit. »Wir werden bei ihr bleiben und sie weiter bewachen.« Ich verzog das Gesicht zu einem Grinsen, das völlig fehl am Platz war. Aber die Worte des Roboters hatten so entschieden geklungen, daß ich lachen mußte. Wie wollte er mit seinen wenigen Getreuen die Lichtquelle verteidigen, wenn es ihm nicht einmal mit Hilfe der Basis des Ersten Zählers gelungen war? »Also gut«, meinte ich. »Wenn die Lichtquelle damit einverstanden ist, werde ich es euch wissen lassen. Oder besitzt ihr eine Möglichkeit, euch mit ihr telepathisch zu verständigen?« Rico verneinte. Er begriff, welche Schwierigkeiten auf sie zukamen. Mehr als Flüchtlinge würden sie im Innern des halbkugelförmigen Unterbaus der Quelle nicht sein. Sie würden weder deren Ängste, noch ihre Freuden verstehen. * Drei Stunden später wurden wir durch ein Rumoren im Untergrund aufgeschreckt. Rings um die Einfassung der Lichtquelle bildeten sich Risse und Spalten. Der Vorgang erinnerte mich stark an jenen, der von den Arltra‐Rangern bewerkstelligt worden war, als sie versucht hatten, die Quelle auszugraben. Das verbliebene Erdreich begann zu bröckeln, und nach einer Weile rutschte es zur Seite ab; weil sich die Lichtquelle bewegte. Sie wuchs in die Höhe und glitt mit ihrer Basishalbkugel aus den Trümmern heraus. In der Halbkugel waren uns unbekannte Aggregate enthalten. Mit ihr war die Quelle immer in der Basis des Ersten Zählers verankert gewesen. Gleichzeitig hellte sich der Dom auf. Die Quelle erwachte zu neuem Leben, und bald darauf pulsierte sie in ihrem gewohnten Rhythmus und schleuderte die Materiebrocken in sich hinauf und
ließ sie an den Rändern wieder herunterfallen. Lichtquelle! dachte ich intensiv. Kannst du mich verstehen? Ich verspürte nichts, aber der Extrasinn rührte sich. Sie bittet dich um ein paar Sekunden Zeit. Dann wird sie dir alle deine Fragen beantworten. Ich wartete. Du bist rechtzeitig gekommen, um mich vor dem Untergang zu bewahren, übermittelte sie über den Logiksektor. Ich danke dir dafür. Die Lichtquelle berichtete nun von der langen Suche, die die Zyrtonier nach dem Relikt veranstaltet hatten. Erst jetzt, im entscheidenden Moment, war ihnen der Erfolg beschieden. Du hast wieder Grund zur Hoffnung, Atlan, fuhr sie fort. Jetzt sind bald alle deine Vermutungen Wahrheit. Ich spüre, daß mit den drei Atiqs drei Vulnurer gekommen sind, die eigentlichen Retter. Und ich weiß, daß sich das kleine Schiff Futurboje nennt. Du hast also die Vulnurer gefunden und meine Forderung damit erfüllt. Ich habe einen neuen Auftrag für dich. Bringe die Vulnurer umgehend in die Namenlose Zone. Ich brauche sie. Das Ungleichgewicht zwischen Gut und Böse ist fast ausgeglichen, und die Bekehrer sind viel mehr als das, was du als Zünglein an der Waage bezeichnen würdest. Denke einmal darüber nach, warum sie sich Bekehrer nennen. Was bekehren sie in Wirklichkeit? Atlan, suche den Emulator Daug‐Enn‐Daug. Bringe ihn mit Borallu zusammen! Ich werde das alles tun, dachte ich. Aber auch ich habe Fragen. Weißt du, wo Chybrain ist? Welche Rolle spielst du eigentlich in dem ganzen Spiel? Chybrains Aufenthalt kenne ich nicht. Ich weiß nicht, was mit ihm geschehen ist. Und über mich kann ich dir nur eines sagen, um dir die Zusammenhänge zu verdeutlichen. Ich bin der eigentliche Emulator der Namenlosen Zone! Ich fuhr ruckartig herum. Hastig berichtete ich den Gefährten von der gedanklichen Kommunikation. Erneut ergaben sich Indizien für das, was ich bereits als gesichert angenommen hatte. Die Lichtquelle ein Emulator der Namenlosen Zone, dazu noch einer, der sich frei
bewegt hatte und von den Zyrtoniern gesucht worden war, um ihn zu vernichten. Die Lichtquelle mußte der Emulator der Zyrtonier sein. Eine andere Erklärung gab es nicht. Und das bewies endgültig, daß die Zyrtonier das eigentliche Herrenvolk in der Namenlosen Zone waren, die Macht im Hintergrund. Und dann war Chybrain … Hier stockten meine Gedanken. Wenn Chybrain in die Hände der Zyrtonier gefallen war – und sein langes Schweigen deutete darauf hin –, dann hatten sie ihn womöglich längst mit einem Paz‐ Klahu oder etwas Ähnlichem eliminiert. Nein! schrien meine Gedanken, und der Extrasinn besänftigte: Mach dich nicht verrückt. Es ist nicht bewiesen. Chybrain lebt, und du wirst die Koordinaten von Varnhagher‐Ghynnst bekommen! »Natürlich!« sagte ich laut. Meine Gedanken schweiften ab. Was ich bisher durch die Hektik der Ereignisse hatte verdrängen können, kehrte mit Vehemenz zurück. Ich mußte an meine Vision denken und an das, was sie aussagte. Zum ersten Mal war ein zeitlicher Bezug hergestellt worden, das Jahr 3813. Fünf Jahre also noch bis zum Untergang der SZ‐2, bis zum Tod Solania von Terras. Eine schreckliche Vision, und ich fragte mich erneut, was die Ursache dafür war, daß ich solche Schauerbilder erlebte, die mich jedesmal innerlich aufwühlten. Ich kämpfte auch jetzt am Rand der Lichtquelle mit meiner Beherrschung. Alles in mir wollte die Erkenntnisse hinausschreien, und doch durfte ich nichts sagen. Ich konnte es nicht verantworten, den Solanern zu sagen, was ihnen bevorstand. Ich mußte das Wissen tief in meinem Innern verbergen. Falls die Vision richtig war, dann hatte ich mein Ziel erreicht, hatte ich die Koordinaten doch noch erhalten. Dann lebte auch Chybrain noch oder hatte sie wenigstens irgendwo für mich deponiert. Spüren die Solaner, was in Zukunft geschieht? fragte ich mich. Sind die Visionen Botschaften oder Hilferufe einer Gruppe von Intelligenzen aus der Jetztzeit? Von Bord der SOL? Ich werde euch jetzt verlassen, verkündete die Lichtquelle. Sie stieg
in die Schwärze der Namenlosen Zone hinauf, und wir sahen, daß sie sich in ein eigenes Tarnsystem hüllte. Ich trug ihr den Wunsch der Roboter vor, und sie holte sie mit einem Traktorstrahl zu sich. Vergiß nicht, Atlan. Daug‐Enn‐Daug muß unbedingt gefunden werden. Er und alle Vulnurer sind Teilableger des Positiven, die überlebt haben und jetzt benötigt werden. Du erkennst richtig, daß die Vulnurer und ich das Gegengewicht zu der Macht der Zyrtonier sind! Ich hoffe nur, daß ich mich solange den Nachstellungen der Zecken entziehen kann, bis du zurückkehrst. Leb wohl! Mir war jetzt vieles klarer als zuvor. Die Umwandlung des Zyrtoniers Borallu in einen positiven Vulnurer war der letzte, deutliche Beweis gewesen, wie eng die beiden Völker miteinander verwandt sein mußten. Vielleicht waren sie einem gemeinsamen Vorfahren entsprungen wie die Menschen und die Affen. Welch eine Vergangenheit mußte dieses Volk haben, welch eine Evolution steckte dahinter! Wir beobachteten, wie die Lichtquelle mit ihrem Sockel beschleunigte und bald in der absoluten Schwärze zwischen den Schockfronten verschwand. Wir lösten uns von dem Trümmerrest der Basis und kehrten zur Schleuse der Futurboje zurück. Die drei Atiqs verschwanden gestikulierend im Antigravschacht. Wir folgten ihnen, und ich nahm mir vor, dem Computer des Schiffes ein paar gezielte Fragen zu stellen. Mich interessierte das Alter des Schiffes, und vor allem wollte ich wissen, wieso es in der Lage war, nach den Ideen der Altertumsforscher in kürzester Zeit eine Waffe zu bauen, mit der man ein Paz‐Klahu eliminieren konnte. Und warum war es den drei Atiqs so leicht gefallen, eine entsprechende Idee zu entwickeln? Oder hatte der Computer die drei getäuscht und ihnen lediglich etwas Ähnliches gegeben, was in seinen Arsenalen bereits vorrätig war? Die Ortung meldete, daß neue Schwärme von Zeckenraumschiffen sich näherten. Man war also auf die Vorgänge aufmerksam geworden und kam, um nachzusehen.
Niemandem stand die Lust nach einer weiteren Auseinandersetzung, deshalb gab ich dem Computer den Auftrag, uns zurückzubringen. Wir verließen den Sektor der Namenlosen Zone. Es gelang der Futurboje, die Verfolger abzuhängen, und wir rüsteten uns für die Rückkehr in das Normaluniversum, um dort weitere Schritte gegen den mächtigen Gegner vorzubereiten. Hinweise hatte uns die Lichtquelle genug geliefert, und ich war überzeugt, daß sie durchaus in der Lage gewesen wäre, alle Zusammenhänge aufzuklären. »Was war mit dir, als wir bei der Basis ankamen?« erkundigte Joscan Hellmut sich. Ich musterte Tyari, Bjo und Sternfeuer. Die drei hatten sich zu jenem Zeitpunkt in meiner unmittelbaren Nähe aufgehalten. Ich war mir sicher, daß sie trotz meiner Mentalstabilisierung jede Einzelheit meiner Vision mitbekommen hatten. Sie wußten bestimmt auch um meine Gedanken, nichts zu sagen. »Ich hatte wieder eine Vision«, sagte ich. »Mehr lohnt es sich nicht zu reden.« Hellmut schwieg, aber ich sah ihm deutlich an, wie unzufrieden er mit der Antwort war. Später vielleicht, wenn alles vorbei war, würde ich es ihm erzählen, daß ich den Untergang der SZ‐2 damals vorausgesehen hatte. Jetzt aber war es unmöglich, auch nur einen einzigen Solaner darüber zu informieren. Die drei Telepathen um mich mochten mit mir einer Meinung sein, denn sie nickten unauffällig. Tyari sah ungemein blaß aus. Vielleicht ahnte sie etwas von ihrem eigenen Tod, den ich in der zweiten Vision erlebt hatte. Ich nahm die Frau, die ich liebte, in den Arm. Meine Gedanken schlugen Purzelbäume in dem Bemühen, wie ich die verbleibende Zeit mit ihr am sinnvollsten nutzen konnte. Sie stand mir so nahe, und allein der Gedanke, daß sie eines Tages in meinem Leben fehlen würde, verursachte einen Gefühlssturm in mir, der mir das Wasser in die Augen trieb. Zwei glitzernde Spuren zogen über meine
Wangen, und ich wischte sie nicht einmal weg, obwohl ich Nockemanns fragenden Blick bemerkte. Warum weint er? mochte der Galakto‐Genetiker denken. Insgeheim wartete ich auf einen sinnlosen Kommentar Blödels, aber der Roboter hatte sich anderen Dingen zugewandt. Er beobachtete die Phänomene, die sich beim Übergang ereigneten. Die Futurboje kehrte in den Normalraum zurück und steuerte die SOL an, um die noch immer die drei Vulnurerschiffe kreisten. Es war tröstlich, unser eigenes Generationenschiff komplett zu sehen. Jetzt verstand ich viel besser, warum viele Solaner eine Trennung der Schiffsteile nur ungern sahen. Zwar bedeutete es jedesmal nur eine Trennung auf Zeit, aber wie leicht konnte daraus eine Ewigkeit werden. In fünf Jahren. Wir erhielten Funkkontakt. Auf einem Bildschirm erschien das Gesicht des High Sideryt. »Wir haben Zuwachs bekommen«, eröffnete er uns. »Auf der MORGEN ist ein Emulator namens Daug‐Enn‐Daug aufgetaucht, der dich dringend zu sprechen wünscht, Atlan!« »Sagtest du Daug‐Enn‐Daug?« Er nickte. Ich fühlte die Blicke aller Anwesenden in meinem Rücken, einschließlich der drei Atiqs. Geräuschvoll holte ich Luft. »Mann!« dröhnte Blödels Stimme auf. »Ein Glück haben wir heute wieder. Was, Chef?« ENDE Auch der nächste Atlan‐Band spielt vornehmlich in der Namenlosen Zone. Atlan bringt mit Hilfe der BRISBEE‐Kinder und der Futurboje eine beachtliche Streitmacht in dieses Raumgebiet – denn er ist entschlossen, eine Wende herbeizuführen.
Mehr darüber berichtet Peter Terrid im Atlan‐Band 670. Der Roman erscheint unter dem Titel: DAS SONNEN‐TABU