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Roy Palmer 1.
Die „Novara“ begann am späten Nachmittag eines Donnerstags im April 1591 aus dem Ruder zu laufen und zu sinken, etwa so, als griffen die Klauen von Tiefseeungeheuern nach ihrem Rumpf, um sie mit Mann und Maus in die Schwärze und Erbarmungslosigkeit gähnender, alles zermalmender Schlünde zu zerren. Der Beginn des Unglücks fiel zeitlich fast haargenau mit der Entdeckung einer ebenso rätselhaften wie unheimlichen Erscheinung zusammen. Dabei handelte es sich jedoch keineswegs - wie es anfangs den Anschein haben mochte - um einen Zufall. Der Ausguck im Großmars der wuchtig gebauten, etwas schwer zu manövrierenden Dreimast-Galeone aus Genua hatte im Westen, dort, wo die Korallenriffe der Insel Martinique liegen mußten, im Wasser einen Trichter von beängstigenden Ausmaßen gesichtet, einen Strudel, der nach Meinung von Kapitän Fosco Sampiero nur durch das Aufeinandertreffen widriger Meeresströmungen entstanden sein konnte. Die „Novara“ segelte mit Backstagsbrise aus Nordosten auf westlichem Kurs, über Backbordbug liegend also, auf den Dominica-Kanal zu, der Martinique von der weiter nördlich liegenden Insel Dominica trennte. Das Ziel des Schiffs war Neuspanien, wo der größte Teil der Besatzung abmustern und an Land gehen würde, um eine neue, vielverheißende Existenz aufzubauen und auf die Suche nach Bodenschätzen zu gehen. Weder Sampiero noch seine Offiziere teilten die allzu optimistischen Vorstellungen und Zukunftspläne dieser Menschen, doch es lag ihnen fern, die Emigranten ihrer Träume zu berauben. Die „Novara“ war ein Auswanderschiff mit einer Art „Zufallsbesatzung“, einem bunt zusammengewürfelten Haufen von Männern, die die Bezahlung für die Überfahrt dadurch ableisteten, daß sie den schweren Decksdienst versahen. Sampiero hatte vor dem Auslaufen aus Genua ein
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ganz klares Abkommen mit ihnen getroffen, doch nicht in allen Punkten war diese Vereinbarung von der Mannschaft respektiert worden. Es gärte an Bord der „Novara“, doch wie stark, wurde Sampiero und den anderen Achterdecksleuten erst vollends bewußt, als es bereits zu spät für entsprechende Gegenmaßnahmen war. Sampiero und der Steuermann richteten zu diesem Zeitpunkt ihr Augenmerk zum einen auf die vor ihnen liegende Passage und zum anderen auf den Sog, den sie auf jeden Fall in einem weiten Bogen zu umsteuern gedachten. Sampiero, ein großer und kräftiger Mann mit schütterem dunkelblondem Haar, dachte voll Unbehagen daran, was geschehen mochte, wenn ein Segelschiff in solch einen Strudel geriet. Erst der Ruf des Rudergängers alarmierte den Kapitän und den Steuermann und dann auch den Ersten und den Zweiten Offizier sowie den Bootsmann. „Signor Capitano!“ schrie der Mann. „Das Ruder gehorcht nicht mehr! Hier - sehen Sie doch!“ Heftig bewegte er den Kolderstock hin und her, der zu einem nutzlosen Knüppel in seinen derben Händen geworden zu sein schien. Fosco Sampiero und die Offiziere fuhren entsetzt zu ihm herum. * Der Profos an Bord eines Schiffes ist nicht nur der Zuchtmeister, der die Mannschaft notfalls mit dem Stock oder mit der Neunschwänzigen zur Ordnung ruft. Er ist auch der Vertrauensmann des Kapitäns und aller Achterdecksleute, der die Bordgesetze strengstens zu wahren hat, und der Crew die Einhaltung der Disziplin vorbildlich vorexerzieren sollte. Roi Lodovisi, der Profos der „Novara“, hatte auf der Überfahrt von Genua zur Karibik all dies nur vorgetäuscht, in Wirklichkeit war er ein geborener Intrigant und Aufwiegler, der nur den einen Zweck verfolgte: die „Novara“ an sich zu reißen.
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Kapitän Sampiero hatte Lodovisi jedoch eines Nachts dabei ertappt, wie dieser zu den Männern des Vordecks gesprochen hatte. Ganz überraschend war der Kapitän vorm Großmast aufgetaucht, und das wichtigste von dem, was der Profos gesagt hatte, hatte er mitgehört, obwohl Lodovisi das Gespräch sofort auf ein anderes Thema gebracht hatte. Seitdem hatte Sampiero, der kaum ein Wort über die Angelegenheit verloren hatte, stets ein waches Auge auf seinen Profos gehabt—und Lodovisi hatte gewußt, daß er die Galeone auch durch einen kühnen Handstreich nicht in seinen Besitz bringen würde. Sampiero war gewarnt. Da Lodovisi überdies sicher war, daß ihn der Kapitän in Nombre de Dios, ihrem Zielhafen, ohne Heuer davonjagen würde, hatte er beschlossen, sich für die Enthüllung seiner geheimen Pläne zu rächen und die „Novara“ zu versenken. Acht Kerle hatte er auf seine Seite ziehen können, nicht genug für eine Meuterei, aber immerhin eine ausreichende Zahl für das Unternehmen, das jetzt seinen Lauf nahm. Corrado Prevost und Mario Zorzo waren die übelsten Galgenstricke aus dieser Gruppe, und auch sie hatten wie der Profos allergrößtes Interesse daran, zum einen niemals in Nombre de Dios anzukommen und zum anderen dem Kapitän und seinen Getreuen einen mörderischen Streich zu spielen. Emilio Venturi, der Erste Offizier, hatte Prevost und Zorzo vor einer Woche in einer lauen, scheinbar friedlichen Nacht dabei erwischt, wie sie ins Achterkastell eingedrungen waren. Allein das war für alle Decksleute ein strafbares Vergehen. Aber mehr noch, Prevost und Zorzo hatten sich bereits vor der Tür zur Kammer der Offiziersfrauen Tosca Venturi und Ivana Gori — der Frau des Zweiten — befunden. Zweifellos hatten sie in die Kammer eindringen wollen. Obwohl sie es anschließend mit einer Menge Ausreden bestritten hatten, war es auch Sampiero
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klar, daß der Sachverhalt nur eine Deutung zuließ. Er hatte Bordgericht über die beiden gehalten und beschlossen, sie auspeitschen zu lassen. Diese Strafe wurde jedoch bis Nombre de Dios aufgespart, wo das zwischenzeitliche Verhalten von Prevost und Zorzo an Bord der „Novara“ endgültig entscheiden sollte, wie viele Hiebe sie erhielten. Danach sollten sie den spanischen Befehlshabern mit dem Hinweis, es handle sich um „gefährliche Individuen“, übergeben werden, und die Spanier würden sicherlich nicht zögern, sie gleich wieder mit dem nächsten Schiff zurück nach Europa zu schicken. So gesehen, hatte Kapitän Fosco Sampiero noch ein sehr menschliches Urteil gefällt. Doch Prevost und Zorzo hatten es ihm auf schlechte Weise gedankt: Corrado Prevost hatte sich mit zwei anderen Verschwörern hinunter in den Frachtraum begeben, wo Fässer mit weißem Pinot aus Ligurien und rotem Chianti aus der Toskana, Kisten mit Werkzeug und anderes Ladegut für Neuspanien festgezurrt waren. Hier hatten sie mit Brustleier, Handsäge, Dechsel, Schlegel und Kalfateisen mehrere Lecks in die Bordwände getrieben, ohne dabei allzu viel Geräusch zu verursachen. Zorzo war unterdessen mit zwei Helfern in die unteren Decks des Achterschiffs vorgedrungen. Sie hatten die Ruderanlage beschädigt, indem sie den großen Balken, der die Pinne mit dem Kolderstock verband, durchgesägt hatten. Lodovisi und die übrigen zwei Mitglieder der Bande hatten derweil an Oberdeck ihren Dienst versehen und aufgepaßt, daß niemand ihre Kumpane bei der Sabotage störte. Lodovisi hatte sich eine Reihe von Ablenkungsmanövern einfallen lassen, die er bei drohender Gefahr vom Achterdeck anwenden wollte, doch keins davon brauchte er zum Einsatz zu bringen. Sampiero und seine Offiziere waren viel zu sehr mit der Beobachtung der Passage und des Strudels beschäftigt. Erst der Ruf des Rudergängers schreckte sie auf. Lodovisi verkniff sich ein schadenfrohes Grinsen. Er tat vielmehr auch so, als sei er
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erschrocken. Deutlich genug schallten die Worte des Rudergängers über das Hauptdeck. Die „Novara“ lief aus dem Ruder und trieb vor dem Nordostwind genau auf den Sog und die Korallenriffe vor Martinique zu. So hatte Roi Lodovisi es gewollt, so hatte er es berechnet, und aus diesem Grund hatte er seine Kerle in den Schiffsbauch hinuntergeschickt, als der Ausguck zuerst die Insel und dann den Trichter entdeckt hatte. Es funktioniert hervorragend, dachte Lodovisi, während alles auf dem Hauptdeck zusammenlief, aber für uns wird es jetzt höchste Zeit, den elenden Kahn zu verlassen. Er blickte zu Sampiero und sah, wie dieser den Steuermann, den Bootsmann und den Zimmermann losschickte, damit sie nach dem Rechten sahen. Hoffentlich halten sich Prevost, Zorzo und die anderen genau an die Anweisungen, dachte Lodovisi. Sie dürfen auf keinen Fall den Kopf verlieren und zu früh abhauen, sonst werden die Lecks vorzeitig entdeckt und vielleicht noch gestopft. Er betete zur Hölle, daß dies nicht geschehen möge. * Ihre Schritte trommelten die Stufen der Niedergänge hinunter. Sie erreichten das Schott, das den Weg zum Gebälk der Ruderanlage versperrte, und Vittorio Medola, der Bootsmann, riß es auf. In diesem Augenblick, in dem sie vor dem Schott verharrten, glaubte Raoul Cavenago, der Steuermann, merkwürdige Geräusche hinter seinem Rücken zu vernehmen. „Mein Gott“, sagte er. „Hört ihr das nicht? Da ist etwas — im Frachtraum. Das ...“ „Wasser“, unterbrach ihn Alfredo Teson, der Zimmermann. „Ja, ich höre es auch. Jesus, das rauscht ja gewaltig. Wir müssen sofort nachsehen, was da los ist und wo das Leck ... Hölle, wie kann denn da bloß ein Leck entstehen, zumal ich heute früh auf
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meiner üblichen Kontrollrunde alles überprüft habe?“ „Jetzt keine unnötigen Fragen stellen, Alfredo“, sagte Medola gepreßt. „Lauf in den Laderaum, es ist keine Zeit zu verlieren. Raoul, du kehrst sofort zu unserem Kapitän zurück und meldest ihm, daß wir ein Leck haben, dann kehrst du mit vier, fünf Mann wieder zurück, damit wir die Schäden beheben können.“ Teson war bereits verschwunden, seine Schritte pochten durch den Schiffsgang davon und auf dem nächsten Niedergang noch tiefer in den Schiffsleib hinunter. Cavenago zögerte noch. Er sagte: „Wollen wir nicht erst feststellen, was an dem Ruder kaputt ist?“ „Ja, das ist vielleicht besser“, entgegnete Medola und tastete sich im Dunkeln voran. Er wollte eine Öllampe anzünden, die er sich an den Gürtel gehängt hatte, aber noch in der Finsternis fanden seine Hände den großen Balken, der zum unteren Ende des Kolderstocks führte. Betroffen registrierte er, daß dieser Balken sauber durchgesägt worden war. Er bemerkte eine Gestalt hinter sich und nahm an, daß es sich um den Steuermann handelte. Er wollte etwas zu Cavenago sagen, doch plötzlich packte eine Hand seinen Mund und hielt ihn zu. Etwas fuhr ihm erstaunlich weich, jedoch heiß wie Feuer von hinten zwischen die Rippen. Verrat, dachte er, Meuterei, und dann sagte er sich: Sie haben dich gestochen, verflucht, sie haben dir meuchlings ein Messer in den Leib gejagt, und jetzt greifen sie sich auch Cavenago, das arme Schwein, und er ist viel zu überrascht, um schreien zu können. Danach ist Teson dran, der nichts ahnt, und keiner kann mehr ‘rauf zum Kapitän und ihm Meldung erstatten von dieser Verschwörung, dieser hundsgemeinen Sauerei… Er sank in den Knien zusammen und wollte sich am zerstörten Balken festhalten. Doch seine Hände glitten ab. Er fühlte alle Kraft aus seinem Körper entweichen. Das Feuer tobte wie ein Sturm durch seinen Leib und fraß sich in seinen Geist. Wie aus weiter Ferne hörte er noch
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den keuchenden Laut des Entsetzens, den Raoul Cavenago ausstieß, als Zorzo und dessen beide Kumpane aus dem Dunkel des Schiffsraums auf ihn zusprangen. Zorzo stach mit dem Messer zu, wie er es bei Medola getan hatte, dann ließ er rasch von dem Steuermann ab und eilte auf leisen Sohlen Alfredo Teson nach, der mittlerweile den Frachtraum erreicht hatte und erschüttert feststellte, daß ihm das eintretende Seewasser bereits bis zu den Fußknöcheln stand. * Die Bucht hatte gewaltige Ausmaße. Sie grub sich tief in die westliche Küste der Insel Martinique. Im Süden der Bai befand sich ein winziges Eiland, etwa gerade so groß wie alle Decks der „Isabella VIII.“ zusammen. Nicht weit davon entfernt ankerte knapp zwei Kabellängen vorm Ufer die Galeone der Seewölfe. Ganz sanft fiel der weiße Sandstrand, über den spielerisch die Meeresbrandung leckte, ins Wasser ab. Philip Hasard Killigrew hatte sich mit dem Schiff nicht näher ans Land heranwagen können, ohne Gefahr zu laufen, mit dem Kiel auf Grund zu geraten. Die Bucht, der Strand und die Palmen, das Eiland und das ankernde Schiff formten ein Bild der Harmonie und Beschaulichkeit, das von der kleinen Jolle, die sich jetzt auf das Ufer zubewegte, nicht gestört werden konnte, im Gegenteil, sie trug zur Vollkommenheit des Gemäldes bei. Das Boot stoppte im weichen, weißen Sand und entließ acht Gestalten, die sich wie bunte Flecke auf den Grüngürtel zubewegten. Angeführt wurde der Trupp von Hasard. Er hatte diesmal Old O’Flynn, dessen Sohn, Shane, Carberry, Sam Roskill, Luke Morgan und Bill, den Moses, mitgenommen, um das Land zu erkunden. Old Donegal Daniel O’Flynn blickte sich immer wieder mißtrauisch nach allen Seiten um, schien aber nichts zu entdecken, was seinen Argwohn nährte. Hier gab es keinen tückischen Treibsand, keine Kannibalen und Kopfjäger, keine
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Raubtiere und keine Moskitos oder ähnliche Plagegeister. So gesehen, konnte man die Insel als das Paradies schlechthin betrachten. Old O’Flynn trat zu seinem Kapitän und sagte: „Bist du sicher, daß es stimmt, was aus seinen Aufzeichnungen und den Karten hervorgeht?“ „Natürlich“, erwiderte der Seewolf. „Ich weiß, daß ich mich darauf verlassen kann. Außerdem ist dies ja nicht die erste Insel der Kleinen Antillen, die wir betreten.“ „Also, was den vulkanischen Ursprung betrifft, hast du ganz bestimmt recht“, meinte Big Old Shane. „Als wir die Insel anliefen, haben wir im Süden deutlich genug die schwarze Erde gesehen. Und schaut euch die Berge im Norden an! Die haben tatsächlich alle Ähnlichkeit mit feuerspeienden Kratern. He, Donegal, es könnte jeden Moment losgehen mit dem Zauber, was denkst du?“ „Ich denke, daß keiner von uns den Teufel an die Wand malen sollte“, antwortete der Alte. „Dazu haben wir nämlich keinen Grund — bei all dem Verdruß, den wir in der letzten Zeit wieder erlebt haben.“ „Verdruß, Verdruß“, sagte sein Sohn. „Wir haben jetzt aber auch ein paar hübsche Kisten voll Silber an Bord.“ „Das wiegt die Entbehrungen nicht auf.“ „Na, na“, sagte Carberry. „Nun übertreib aber nicht, Donegal. Wir sind auf dem ganzen verdammten Weg um Afrika rum und an der Küste der Neuen Welt hoch bis hierher nicht abgesoffen, sind nicht am Skorbut oder an der Lustseuche oder an was weiß ich sonst noch krepiert und können deswegen froh sein. Wir haben dich wegen deiner dunklen Sprüche auch nicht über Bord geworfen, und darum solltest du ebenfalls glücklich sein, du Stint, denn irgendwann landen wir jetzt auf der Schlangen-Insel, die nicht mehr fern ist, und ruhen dort ein wenig unsere müden Knochen aus.“ „Soll ich vor Begeisterung in die Luft hopsen?“ fragte der Alte grantig. „Mann, ich kann keine Inseln mehr sehen, ob sie nun Martinique oder sonst wie heißen.
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Eine sieht wie die andere aus, und überall gibt’s Ärger.“ „Hier lebt kein Mensch“, sagte Shane. „Hasard hat es uns doch erklärt: Weil es hier so viele Vulkanausbrüche gibt, haben auch die Spanier und Portugiesen davon abgesehen, die Insel zu besiedeln und hier nach Gold und Silber zu suchen.“ Old O’Flynn warf ihm einen schiefen Blick zu. „Wenn dieser verfluchte Flecken Erde wirklich unbewohnt ist, will ich den ganzen Sand fressen, der auf dem Strand hier rum liegt.“ Shane grinste. „Darauf komme ich noch zurück, mein guter, verlaß dich drauf.“ „Wir können nicht die ganze Insel auskundschaften“, sagte Hasard. „Deshalb wird aller Wahrscheinlichkeit nach die Frage ungeklärt bleiben, ob hier Eingeborene leben oder nicht. Uns soll es egal sein, solange sie uns nicht behelligen. Wir suchen eine Süßwasserquelle, weil ein Wasserfaß mal wieder faulig geworden ist und der Kutscher ein zweites entdeckt hat, das leider ausgelaufen ist—und wir schießen ein wenig Wild, falls sich die Möglichkeit dazu bietet. Dann verschwinden wir wieder, und zwar spätestens morgen früh.“ „Aye, Sir“, sagte Carberry. „übrigens scheint es mit dem einen Punkt, den du an Bord erwähntest, seine Richtigkeit zu haben: Die Westseite aller Inseln über dem Winde ist die beste zum Landen, denn im Osten lauern die tückischen Korallenriffe, und dort ist auch die Küste steiler und zerklüfteter. Das dürfte hier ja wohl nicht anders sein als weiter im Norden und weiter im Süden.“ Der Seewolf blieb neben dem mannsdicken Stamm einer Kokospalme stehen. „Genau, und aus diesem Grund habe ich ja auch gegen den Wind kreuzen wollen, um von dieser Seite her die Insel anzugehen. Im übrigen ist hier die Vegetation weniger üppig, es gibt keinen richtigen Dschungel wie im Osten, wo mit dem Nordost-Passat der meiste Niederschlag fällt.“ „Na, dem Himmel sei Dank“, sagte Old O’Flynn. „Wenigstens ein Lichtblick. Wir brauchen uns nicht durch Lianen und
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Mangroven zu hauen. Das haben wir ja auch wirklich oft genug geübt.“ „Luke“, sagte Sam Roskill. „Wenn du hier eine Festung bauen solltest, wo würdest du sie errichten?“ „Dämliche Frage“, brummte Luke Morgan. „Aber, na ja, mal sehen.“ Er hob den Kopf und rieb sich das Kinn. Nach einigem überlegen wies er zu den Bergen, die sich hinter dem nördlichen Ufer der Bucht erhoben. „Da oben würde ich sie errichten. Von dort aus hat man bestimmt einen großartigen Überblick über die ganze Insel.“ „Ja, das glaube ich auch“, pflichtete der Seewolf ihm bei. „Aber ich schätze, dort wird nie etwas Derartiges entstehen. Seit Kolumbus die Insel im Jahre 1502 entdeckt hat, haben Seefahrer nur selten und höchst unwillig ihren Fuß auf diese Strände gesetzt. Um jetzt jedoch auf meine Unterlagen zurückzukommen: Sicher scheint zu sein, daß es hier ausgezeichnete Quellen gibt, Wasser in Hülle und Fülle.“ Der Profos grinste. „Also los, auf was warten wir noch? Bringen wir’s hinter uns. Ich glaube, ich höre die Quellen schon gluckern, Sir.“ „Ich höre was anderes“, sagte jetzt Bill. „Sir, ich bitte um Entschuldigung, aber – aber ich bin mir nicht sicher. Ich glaube, da war so etwas wie – menschliche Schreie.“ „Bin mir nicht sicher, ich glaube“, äffte Carberry ihn nach. „Bill, du triefäugige Seegurke, wie oft soll ich dir noch sagen – drück dich gefälligst klar und deutlich aus!“ Hasard ging nicht auf die Worte seines Profos’ ein, er sah vielmehr Bill eindringlich an. Bill verfügte über ein wirklich ausgezeichnetes Gehör, das war jedem Mann an Bord der „Isabella“ bekannt. „Aus welcher Richtung hörtest du die Schreie?“ fragte Hasard. Bill deutete zum Inneren der Insel. „Aus Osten – nein, aus Nordosten, glaube ich.“ Carberry blickte immer grimmiger drein. „Glaube ich! Nun hör sich das einer an!“ „Der Wind trägt die Laute zu uns herüber“, sagte der Seewolf. Er lauschte selbst
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danach, vermochte jedoch außer einigen Geräuschen, die aus dem Dschungel im Zentrum der Insel herüberwehten und bestimmt von Tieren stammten, nichts herauszuhören. „Suchen wir zuerst die Quelle“, sagte er deshalb. „Anschließend steigen wir auf einen der Berge und halten Umschau. Vielleicht sehen wir dann ja, was die Ursache für die Schreie war. Können das keine Affen oder Vögel gewesen sein, Bill?“ „Durchaus. Ich bin wirklich nicht sicher. Tut mir leid, Sir.“ „Schon gut, Bill.“ „Das nächste Mal hältst du am besten gleich deine Luke, du Dorsch“, sagte der Profos. Old O’Flynn warf Big Old Shane einen Seitenblick zu und sagte leise: „Ich ahne es nicht nur, ich weiß jetzt, daß ich den Sand nicht fressen werde.“ Hasard drang als erster in das Gebüsch unter den Palmen ein, und seine sieben Begleiter folgten ihm rasch, um den Anschluß nicht zu verlieren. Ben Brighton, der Erste Offizier und Bootsmann der „Isabella“, und die anderen Männer, die an Bord der Galeone zurückgeblieben waren, sahen ihren Kameraden mit gemischten Gefühlen nach. War der Friede dieser Insel nicht trügerisch und unheilverkündend? Keiner von ihnen vermochte sich auch nur auszumalen, was sich zu dieser Zeit vor dem Ostufer von Martinique bei den Korallenriffen abspielte. Einen genauen Überblick über die Geschehnisse zu beiden Seiten der Insel hatte in diesem Moment praktisch nur ein Mann. Dieser Mann hieß Regis La Menthe. Weder der Seewolf noch sonst jemand von der „Isabella“ war diesem La Menthe je zuvor begegnet, und auch umgekehrt hatte La Menthe nicht die geringste Ahnung, wer die Männer sein mochten, die vom Strand der Westbucht her ins Innere der Insel vordrangen.
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Dennoch sollte es zwischen ihnen zu einer Begegnung kommen, zu einem sehr unerfreulichen Treffen allerdings. 2. Regis La Menthe saß hoch oben auf einem kleinen Plateau in den Bergen, an deren Hängen Sam Roskill und Luke Morgan sich ein Kastell hätten vorstellen können. Oder, besser gesagt, er thronte auf einem hölzernen Gestühl, das einer seiner schwarzen Diener ihm hatte nachtragen müssen, als sie zusammen hier heraufgestiegen waren. Einer der Neger hielt jetzt einen aus Schilf matten geflochtenen Sonnenschirm über La Menthes kahles Haupt, während der andere seinem Gebieter mit einem großen Federbusch Kühlung zufächelte. Der vierte Mann in der seltsamen Versammlung war wiederum ein Weißer, und zwar ein gedrungener, bullig wirkender Mann mit groben Zügen und einem verkniffenen Gesichtsausdruck. Er stand nicht weit abseits und hielt eine geladene Muskete in den Fäusten, mit der er sofort auf die Sklaven schießen würde, falls diese auch nur ansatzweise etwas wie einen Fluchtversuch oder eine Rebellion wagten. Zusätzlich hatte er zwei Pistolen und ein Entermesser in seinem breiten Leibgurt stecken. La Menthe, der aus der französischen Hafenstadt Dieppe stammte, beobachtete interessiert durch sein mit Messing und Perlmutt besetztes und mit Gravuren verziertes Spektiv, was draußen auf See und am Strand der Westbucht geschah. Als an Bord der „Novara“ die Schreie ertönten und mit dem Nordost-Passat bis zu den Inselbergen getragen wurden, hob auch der vierte Mann wie witternd seinen wuchtigen Kopf. „Ja, Duplessis“, sagte La Menthe. „Es sind Menschen, die da um Hilfe rufen und sich womöglich gegenseitig über den Haufen rennen, denn sie sind in Gefahr. Sie treiben geradewegs auf den Strudel zu, der sich wieder einmal vor dem großen Riff gebildet hat. Ich sage dir, es sind Narren.
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Aber sie sind auch Störenfriede, mit denen wir nichts zu tun haben wollen, und daher ist es gut, wenn sie wie die Ratten ertrinken.“ „Gut“; wiederholte Duplessis und nickte dazu. „Ein großes Schiff ?“ „Zwei Schiffe, mein Freund“, erwiderte La Menthe. Er lächelte ein wenig. „Zwei Galeonen, jede mit drei Masten, und beide fast gleich groß —und doch scheint das eine Schiff mit dem anderen nichts zu tun zu haben. Das zweite, Duplessis, liegt bereits in unserer schönen Westbucht vor Anker. Es hat acht Gestalten ausgespuckt, die jetzt im Gebüsch herumkriechen und irgendetwas zu suchen scheinen.“ „Wasser“, sagte Duplessis. „Und Nahrung. Was sonst? Der Teufel soll sie holen.“ „Er wird sie holen, wenn sie zu neugierig sind“, sagte La Menthe. Er war ein sehniger, kräftiger Mann, aus dessen harten Zügen die Mentalität eines unerbittlichen Herrschers sprach. „Wie gut, daß ich auf meinen gewohnten Spaziergang nicht verzichtet habe. Es tut sich heute viel. Viel zuviel für meine Begriffe. Es wird noch Ärger geben.“ Duplessis blickte aus schmalen Augen mal nach Osten, mal nach Westen, aber ohne die Zuhilfenahme des Spektivs konnte er die fremden Schiffe nicht erkennen. La Menthe reichte ihm in einer gönnerhaften Geste das Rohr. „Hier, wirf selbst mal einen Blick hindurch. Gib mir solange die Muskete.“ Er lehnte sich in seinem Gestühl zurück und streckte die Beine weit von sich, nahm die Muskete aus der Hand seines Landsmannes entgegen und verfolgte fast amüsiert, wie dieser angestrengt hindurchspähte. „Der Henker mag wissen, warum dieses eine Schiff auf den Sog zuläuft“, brummte Duplessis. „Ist der Kapitän des Wahnsinns, daß er die Gefahr nicht erkennt?“ „Das ist auch mir ein Rätsel“, erklärte La Menthe. „Aber ich habe das untrügliche Gefühl, wir erfahren noch, was der Grund dafür ist, daß er geradewegs in sein Verderben segelt.“ „Und was tun wir?“ wollte Duplessis wissen.
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„Wir warten ganz einfach ab.“ „Sie werden alle ertrinken.“ „Und wir rühren keinen Finger für sie“, sagte Regis La Menthe. „Und die anderen Kerle?“ „Das Schicksal spielt sie uns in die Hände“, antwortete La Menthe. „Ich denke, wir könnten ihre Galeone gut gebrauchen. Es scheint ein prächtiges Schiff zu sein, groß, robust und gut armiert.“ *
Panik war an Bord der ”Novara“ ausgebrochen, denn alle, vom Kapitän bis zum letzten Decksmann, wußten jetzt, was die Stunde geschlagen hatte. Steuerlos trieb die Galeone vor dem Wind, dazu verdammt, in dem tückischen Strudel zu enden. „Geit auf die Segel!“ schrie Fosco Sampiero vom Achterdeck aus. „Weg mit dem Zeug, verdammt noch mal!“ Die Männer auf dem Hauptdeck hasteten eher ziellos auf und ab und gerieten sich gegenseitig ins Gehege. Roi Lodovisi tat so, als habe er selbst den Kopf verloren. Er brüllte unsinnige Befehle und schlug und trat nach den Männern, die sich in seiner. unmittelbaren Nähe befanden. So vergrößerte er das Durcheinander noch, statt es einzudämmen und für Disziplin zu sorgen - wie es seine Pflicht gewesen wäre. Sampiero stieg selbst auf die Kuhl hinunter. Er wollte hart durchgreifen und notfalls mit der neunschwänzigen Katze für Ordnung sorgen. Doch ein gellender Schrei, der jetzt aus dem Achterkastell drang und sich in die Rufe der entsetzten Männer mischte, hielt ihn zurück. Er hatte die Stimme erkannt, sie gehörte seiner Frau Bianca! Fosco Sampiero fuhr auf dem Absatz herum, riß die Tür zum Achterkastell auf und stürmte in den Gang. Er prallte fast mit Tosca Venturi und Ivana Gori zusammen, die ihre Kammern verlassen hatten und verstört um sich blickten. Der Lärm an Deck hatte sie aus ihrer Nachmittagsruhe gerissen, aus dem Schlummer, -mit dem
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sie die Zeit totzuschlagen suchten, da sie die meiste Zeit des Tages auf Sampieros Anordnung hin unter Deck zu verbringen hatten. Bianca Sampiero stand am Ende des Ganges vor der offenen Kapitänskammer und schrie erneut auf. Ihr Mann schob sich an den anderen beiden Frauen vorbei und lief zu ihr. Verdammt, dachte er, du hast dich breitschlagen lassen, die Frauen mitzunehmen, nur für diese eine Reise, gewiß, aber es war doch ein Fehler, und der Teufel hat dich geritten, als du ihren Bitten nachgegeben hast. „Mein Gott, Bianca!“ rief er. „Was ist? So beruhige dich doch. Wir ...“ Er unterbrach sich, denn jetzt sah er endlich die Gestalt, die auf der rechten Seite des Ganges kauerte und sich an der Wand aufzurichten versuchte: „Medola!“ schrie der Kapitän. „Gerechter Himmel! Sind Sie verletzt?“ „Nicht der Rede — wert, Signor Capitano“, sagte der Bootsmann mühsam. „Er hat mich gestochen, der Hund — aber — aber ich weiß, wer’s war. Zorzo — Mario Zorzo — der Satansbraten. Möge der Herr mir verzeihen, daß ich — in die Falle gegangen bin. Das Ruder — es ist zersägt, Capitano.“ „Wo sind Cavenago und Teson?“ „Noch — unten.“ „Ihr Frauen kümmert euch um ihn!“ rief Sampiero. Dann hatte er auch schon seine Radschloßpistole gezückt und lief zum nächsten Niedergang. „Aufpassen“, flüsterte Vittorio Medola noch. „Das Wasser — im Frachtraum ist ein Leck. Oder — mehrere Lecks. Ich ...“ „Was sagt er?“ fragte Tosca Venturi, die nähergetreten war und angestrengt versuchte, etwas von den Zusammenhängen zu begreifen. „Ich verstehe ihn nicht mehr“, entgegnete die Frau des Kapitäns. Sie beugte sich über den Bootsmann, um ihn anzusprechen, sah aber, daß dieser inzwischen ohnmächtig geworden war.
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„Helft mir“, sagte sie zu den Frauen der Offiziere. „Wir tragen ihn in meine Kammer und verbinden seine Wunde.“ Tosca Venturi stöhnte entsetzt auf, als sie sich bückte und die große Blutlache bemerkte, die sich unter Medolas Körper gebildet hatte. Sampiero hatte den Ruderraum erreicht und fiel fast über die verkrümmte, reglose Gestalt Raoul Cavenagos. Er prallte mit der Schulter gegen das offene Schott, fing sich, kniete sich hin und untersuchte seinen Steuermann. Er tastete nach dem Pulsschlag und beugte sich tief über ihn, um nach dem Pochen des Herzens zu horchen, doch Cavenago gab keine Lebenszeichen mehr von sich. Erschüttert richtete der Kapitän sich wieder auf. Medola hatte die fast unglaubliche Leistung vollbracht, noch bis zur Kapitänskammer zu kriechen, aber vielleicht lag auch er schon im Sterben. Cavenago war tot. Und Teson, der Schiffszimmermann? Er wandte sich um und eilte weiter. Mit der Sicherheit eines Mannes, der sein Schiff bis in den letzten Winkel hinein besser kannte als sein eigenes Zuhause, fand er den Niedergang zum Frachtraum und hastete die Stufen hinunter. Das Rauschen des Wassers empfing ihn. Trotz der Dunkelheit, die hier unten herrschte, sah er die sprudelnde Bewegung, die etwa in der Mitte des Raumes auf beiden Schiffsseiten war. Wasser schoß herein, flutendes Seewasser, das Sampiero fast bis zu den Knien reichte. Die Fässer voll Wein und die Kisten mit dem Werkzeug begannen zu schwimmen und an ihren Brooktauen zu zerren. Sampiero war sich jetzt des vollen Ausmaßes der Tragödie bewußt. Er war wie vor den Kopf geschlagen, aber er wußte jetzt, wie er sich zu verhalten hatte, Zweifel waren nicht mehr vorhanden. Alfredo Tesons Körper lag im Wasser, mit dem Bauch und dem Gesicht nach unten, und um ihn herum hatte sich ein dunkler Fleck ausgebreitet. Sampiero brauchte seinen Zimmermann nicht mehr zu berühren, um dessen Tod festzustellen.
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Sampiero lief mit der gezückten Pistole nach vorn — nur dorthin konnten Zorzo und dessen Spießgesellen entwischt sein. Sampiero wußte genau, was jetzt zwangsläufig kam. Er ahnte auch, daß Zorzo mit Prevost und diese beiden wiederum mit Lodovisi unter einer Decke steckten. Sein ganzes Bestreben gipfelte im Augenblick darin, die Pistole nicht naß werden zu lassen. Er konnte nicht versuchen, die Lecks abzudichten und die Ruderanlage notdürftig instand setzen zu lassen. Die Zeit dazu reichte nicht mehr aus. Nur ein Phantast hätte daran geglaubt, das Unabwendbare noch verhindern zu können. Nur eine Möglichkeit gab es noch: Die „Novara“ mußte auf die Riffe gelenkt werden, ehe sie vom Strudel erfaßt wurde. Sampiero verließ den Laderaum, hetzte zum Vordeck hinauf. Er hörte hinter sich das Rauschen und Gurgeln des Seewassers und über sich das Schreien der Männer — und vor sich erkannte er plötzlich die Umrisse einer menschlichen Gestalt. Die Gestalt eilte vor ihm den Niedergang hinauf, der zum Logis führte. Ob es sich nun um Zorzo, um Prevost oder um einen der anderen Kerle handelte, die mit zu dem Komplott gehörten, das hier geschmiedet worden war, konnte Sampiero nicht feststellen. Er blieb aber stehen, hob die Pistole mit beiden Händen und schrie: „Halt! Stehenbleiben!“ Der Mann rannte weiter, obwohl er die Stimme seines Kapitäns erkannt haben mußte und es auf jeden Fall ratsam gewesen wäre, die Order zu befolgen. Er rannte und hoffte, seine Flucht würde gelingen, doch Sampiero drückte ohne jede weitere Warnung ab. Der Schuß brach donnernd. Im Aufblitzen des Mündungsfeuers sah der Kapitän den Mann zusammenbrechen. Er lief zu ihm, beugte sich über ihn und stellte fest, daß es sich tatsächlich um einen von Zorzos Kumpanen handelte. Er sah auch, daß er einen Sterbenden vor sich hatte.
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„Erleichtere dein Gewissen“, sagte Sampiero eindringlich, während er seine Radschloßpistole wegsteckte und dem Mann die geladene Waffe aus dem Gürtel zog. „Sag mir, wer Medola, Cavenago und Teson niedergestochen hat. Es war Zorzo, nicht wahr?“ „Fahr - zur Hölle”, keuchte der Mann. „Du hast dich mit Meuchelmördern eingelassen“, sagte der Kapitän. „Und dieser Kahn säuft ab - endlich.“ „Aber auch für dich ist es das Ende.“ „Egal - die anderen werden meinen Tod rächen.“ „Das sehe ich“, zischte Sampiero. „Du warst der letzte, der die Flucht ergriff. Sie haben dich einfach zurückgelassen, statt dich mitzuschleppen. Es kümmert sie einen Dreck, was mit dir wird.“ Der Mann riß die Augen weit auf. „Ist das die Wahrheit?“ „Sie springen von Bord, und keiner kann sie mehr aufhalten. Dein Tod hat keinen Sinn, du Narr“, sagte der Kapitän. „Zorzo“, wisperte der Sterbende. „Er hat Medola und Cavenago mit dem Messer niedergestochen. Aber Teson - das war Prevost. Und jetzt -sind sie auf der Galionsplattform, weil - Lodovisi - es so befohlen hat ...“ Der Mann sprach nicht mehr weiter, er verdrehte die Augen und sank auf die Stufen des Niederganges zurück. Sampiero erhob sich, war mit wenigen Sätzen oben beim Mannschaftslogis und stürmte auf das Schott zu, das nach vorn auf die Galionsplattform führte. Er stieß es auf und sah gerade noch Roi Lodovisi, der ihm sein höhnisch grinsendes Gesicht halb zugewandt hielt. Sampiero riß die Waffe hoch und zielte auf ihn. Er schrie: „Zurück, Profos, oder du bist des Todes!“ Aber im selben Augenblick stieß sich Lodovisi bereits vom Rand der Plattform ab. Sampiero schoß, ohne zu zögern. Die Kugel raste im Krachen der Pistole auf den Leib des Profos’ zu, doch durch seine rasche Vorwärtsbewegung entzog sich Lodovisi dem Tod, und das Geschoß strich
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um gut eine Handspanne an seinem Rücken vorbei. Mit einem Fluch schleuderte der Kapitän die Pistole fort. Er sprang vor, beugte sich über die Umrandung und sah die Kerle neben der Bordwand der „Novara“: Lodovisi, der jetzt eingetaucht war und gerade wieder -hochschoß, Zorzo, Prevost und fünf andere, die alle mit zu jener Bande gehörten, die in der bewußten Nacht mit Lodovisi zusammengehockt und dunkle Pläne gewälzt hatte. Narr, schimpfte Sampiero sich selbst, wie einfältig und nachgiebig bist du doch gewesen! Du hättest Lodovisi hinrichten und die anderen Hunde sofort auspeitschen lassen sollen! „Signor Capitano!“ schrie über ihm Domenico Gori, der Zweite Offizier. „Signor Venturi ist mit ein paar Helfern ins Achterdeck hinunter, um das Ruder zu richten!“ Sampiero fuhr zu ihm herum. Gori hatte die Kuhl überquert und die Back geentert, um nach dem Strudel Ausschau zu halten. Dabei hatte er überraschend seinen Kapitän entdeckt, den er überall, nur nicht auf der Galionsplattform vermutet hätte. Er stand an der Balustrade und blickte fragend und fast hilflos zu Fosco Sampiero. Er war ein noch sehr junger Offizier mit relativ wenig See-Erfahrung. „Venturi soll versuchen, das Ruder hart Backbord zu legen!“ rief Sampiero zurück. „Lieber brumme ich mit dem Höllenkahn auf das Korallenriff, als daß ich wie ein Narr mitten in den Trichter fahre! Gori, wir sind einer Verschwörung und Meuterei anheimgefallen! Hölle, wirf mir eine Muskete zu, damit ich auf diese Dreckskerle feuern kann!“ Gori wies entsetzt voraus. „Signor Capitano, sehen Sie doch!“ Sampiero richtete seinen Blick über den Bugspriet und die Blinde der „Novara“ hinweg und konnte sich nur Mit Mühe eines erschrockenen Ausrufes enthalten. Zum Greifen nah schien der mörderisch kreisende Sog der Galeone jetzt zu sein. Keine drei Kabellängen trennten ihn von dem Schiff. Obwohl Sampiero das Tuch
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hatte wegnehmen lassen, lief die Galeone immer noch Fahrt, genug, um in die zupackende Strömung des Strudels zu geraten. „Das Ruder hart Backbord legen!“ schrie Sampiero. Dann lief er zurück ins Vorschiff und von dort aus hinaus auf die Kuhl. Vergessen war sein Vorhaben, wenigstens Lodovisi, Zorzo oder Prevost noch auf die Höllenreise zu schicken, verdrängt der Haß, den er gegen die Übeltäter verspürte. Jetzt galt es nur noch, die nackte Haut zu retten. Sampiero bahnte sich einen Weg zwischen den aufgeregt durcheinanderrufenden Männern hindurch. Er wollte zu Emilio Venturi und den anderen stoßen und ihnen beim Herumdrücken der Ruderpinne helfen. Er spürte, wie die Panik auch ihn mit eisigkalten Klauen packte und nicht mehr losließ. 3. Hinter den Palmen der Westbucht erstreckte sich im Inselinneren ein breiter Streifen Savanne, der mit Dornengebüschen und niedrigen Kakteen durchsetzt war. Hasard und seine sieben Männer mußten diese Landschaft erst durchqueren und in die üppiger bewachsenen Hügel aufsteigen, um auf Wasser zu stoßen. Ihr Marsch nahm jedoch nicht sehr viel Zeit in Anspruch, da sie gut vorangelangten, und so entdeckten sie, noch ehe die Dämmerung einsetzte, eine Quelle, die zwischen flachen Steinen hervorsprudelte und sich zu einem Rinnsal entwickelte. Der Fund der Quelle fiel mit einem Geräusch zusammen, das von Nordosten zu ihnen herüberdrang und wie ein gedämpfter Peitschenschlag klang. „Ein Schuß, Sir“, sagte Bill. „Und wieder diese Schreie. Diesmal habe ich mich ganz bestimmt nicht getäuscht. Ich wäre bereit, meinen Kopf dafür hinzuhalten, daß es ein Pistolenschuß war.“ „Schon gut, Bill“, sagte der Seewolf. „Ich habe ihn auch gehört, und jetzt höre ich
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auch die Schreie. Verdammt, da scheint sich jemand in der Klemme zu befinden.“ „Im Busch schlagen sich die Wilden gegenseitig die Köpfe ein“, brummte Old O’Flynn. „Und ich werde keinen Sand essen.“ „Du wiederholst dich“, sagte Shane. „Aber erstens ist es fraglich, ob die Eingeborenen - wenn es welche gibt - Schußwaffen besitzen, und zweitens könnten das Geschrei und das Schießen auch von See her kommen. Womit also noch lange nicht bewiesen wäre, daß die Insel bewohnt ist.“ „Du weißt immer alles besser, wie?“ „Ich glaube schon.“ „Aufhören, ihr beiden“, sagte der Seewolf. „Hört zu. Ich will jetzt endlich wissen, was hier gespielt wird. Wir trennen uns. Shane, Ed und Dan gehen mit mir. Wir steigen in die Berge nördlich der Bucht auf und halten mit dem Kieker Ausschau nach Nordosten, dann werden wir ja rauskriegen, was los ist. Ihr anderen bleibt hier. Wenn wir bei Dunkelwerden nicht zurück sind, gehen zwei von euch zur Bucht und alarmieren Ben Brighton. Die beiden anderen bleiben hier und behalten die Quelle als Orientierungsmarke im Auge. Wenn wir nicht pünktlich zurückkehren, soll Ben gefechtsklar machen und einen Trupp von sechs bis acht Männern an Land schicken, der nach uns sucht. Klar?“ „Klar, Sir“, antwortete Old O’Flynn stellvertretend für alle anderen. „Ihr solltet aber zusätzlich zu euren Waffen auf jeden Fall noch ein paar Höllenflaschen mitnehmen, ehe ihr euch in die verfluchten Berge rauf wagt.“ „Hast du denn welche, Donegal?“ „Sicher.“ Der Alte grinste und griff in den Wams. „Ich hab mir gleich vier von den Dingern geben lassen, als wir von Bord unserer alten Lady gingen. Ferris hat ja wieder einen ganzen Vorrat gebastelt, und auch er fand, es wäre eine gute Idee, die Flaschen nicht so nutzlos rumliegen zu lassen. Wer weiß, vielleicht können wir sie noch gut gebrauchen.“ Hasard mußte lachen. „Ihr Himmelhunde, euch juckt es wohl in den Fingern, was?
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Na los, gib schon her, Donegal, zwei davon nehme ich mit.“ Der Alte war plötzlich ernst geworden. „Nimm sie lieber alle vier. Im übrigen wäre ich froh, wenn’s beim Jucken in den Fingern bleibt. Du verstehst schon, was ich meine, Sir.“ „Gewiß. Aber du solltest dir keine übermäßigen Sorgen bereiten. Vereinbaren wir ein Zeichen: Wenn wir beim Anbruch der Dunkelheit einen Schuß abfeuern, bedeutet das, wir sind wohlauf und befinden uns auf dem Rückweg, so daß ihr uns nicht zu suchen braucht. Geben wir zwei Schüsse ab, heißt es, daß wir Hilfe brauchen.“ „Aye, Sir“, sagte Sam Roskill. „Und was immer auch geschieht, wir hauen euch heraus, verlaß dich drauf.“ Sie wechselten noch ein paar eher belanglose Worte, dann gingen Hasard, der Profos, Big Old Shane und Dan O’Flynn davon. Sie achteten darauf, nicht in den tiefgrünen, undurchdringlich wirkenden Busch zu geraten, der sich über den Hügelkuppen erhob, und setzten sich als Ziel den größten Berg im Norden, der bald schon sehr nah vor ihnen lag. Das Geschrei drang immer noch mit dem Wind aus Nordosten an ihre Ohren, und es drängte sie zur Eile. Sie begannen zu laufen und hasteten einen langgezogenen Hang hinauf, an dessen oberem Ende Hasard den Rand eines Plateaus zu erkennen meinte. * Der Sog griff nach Roi Lodovisis Beinen. Mächte der Finsternis schienen ihn zu regieren und hatten offenbar entschieden, daß der Profos seiner Strafe für das, was er getan hatte, nicht entging. Das Wasser war angenehm kühl, doch Lodovisi spürte, wie er am ganzen Leib zu schwitzen begann. Er schwamm mit energischen, weit ausholenden Zügen und kämpfte gegen die Strömung an, die ihn in ihr gierig schlürfendes, beängstigend kreisendes Zentrum reißen wollte. Er rang mit ihr um sein Leben und war kurz davor,
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zu schreien, denn er sah Zorzo, Prevost und die anderen mehr und mehr Abstand gewinnen. Sie waren schon mehr als eine halbe Kabellänge von der Bordwand der „Novara“ entfernt und flohen zum Riff, ohne sich auch nur noch einmal umzusehen. Lodovisi war nicht sicher, ob sie wirklich nicht bemerkt hatten, in welchen Schwierigkeiten er sich befand — oder ob sie nur so taten, als sei es ihnen nicht aufgefallen. Er verfluchte sie, er biß sich vor Wut auf die Unterlippe, und er kämpfte verzweifelt weiter. Jeder ist sich selbst der Nächste —hatte er ihnen diesen Leitsatz bei ihren geheimen Zusammenkünften an Bord der Galeone nicht immer wieder vorgebetet? Er hatte es geschafft und die „Novara“ der Vernichtung preisgegeben, weil er sie niemals mehr in seinen Besitz bringen konnte. Aber: Wenn er jetzt selbst ein Opfer seiner Meuterei wurde, welchen Wert hatte das dann gehabt? Er hatte das deutliche Gefühl, auf der Stelle zu schwimmen. Nicht mehr lange, denn bald ließen seine Kräfte nach. Dann siegte der Strudel, der die „Novara“ bereits in seinen Bannkreis gezogen hatte. Lodovisi blickte sich nach der Galeone um. Er hatte sich nach seinem Sprung von der Galionsplattform an Steuerbord befunden, aber jetzt schwenkte das Schiff herum und richtete den Bugspriet nach Süden, so daß sich das Heck mehr und mehr ihm, dem Profos, näherte. Sampiero, Venturi und den anderen unten im Achterdeck war es gelungen, tatsächlich das ramponierte Ruder herumzudrücken, und der Kapitän versuchte nun, an Backbord des Trichters vorbeizugehen, weil er auf dieser Seite mehr Chancen hatte, gleichzeitig auch der Falle des Riffs zu entgehen und vorsichtig nach Süden abzulaufen. An Steuerbord des Soges, also näher zur Küste der Insel hin, standen die Chancen, nicht auf die nahen Korallenbarrieren zu laufen, eins zu hundert.
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Lodovisi rechnete damit, daß die Männer, die er verraten und im Stich gelassen hatte, auf ihn schießen würden, vielleicht sogar mit einem der Bordgeschütze, doch dies trat nicht ein. Man schenkte ihm nicht mehr die geringste Beachtung, alle Aufmerksamkeit, alles Schreien, Fluchen und Beten bezog sich auf den Todesstrudel. Plötzlich schwang die „Novara“ ganz mit dem Heck herum und vollführte eine gleichsam groteske Bewegung im Wasser – viel zu schnell für ein so schwerfälliges Schiff. Lodovisi, der jetzt angestrengt mit den Beinen strampelte, sah als erster, was geschah: Die Strömung zog die Galeone in die mörderische Umlaufbahn. Das Manöver mit der Ruderpinne hätte vielleicht noch etwas genutzt, wenn der Dreimaster nicht auch in seinem Frachtraum beschädigt worden wäre, so aber hatte die „Novara“ bereits derart viel Wasser gezogen und lag so tief in den Fluten, daß auch die kühnste Aktion des besten Kapitäns ihr nicht mehr aus dem Wirbel herausgeholfen hätte. Während sie sich drehte und etwas nach Steuerbord krängte, schienen sich die Wassermassen im Inneren des Rumpfes nach vorn zu verlagern. Jedenfalls wurde sie kopflastig und tauchte tief mit dem Bug nach unten, während das Heck sich so weit aus der See hob, daß schon fast die Unterkante des Ruderblattes zu sehen war. Ein einziger Schrei, von vielen Kehlen ausgestoßen, gellte zu Lodovisi herüber. Die „Novara“ befand sich jetzt zwischen ihm und dem „Auge“ des Riesenstrudels. Ganz unvermittelt geschah etwas, mit dem er niemals gerechnet hätte. Er gewann mehr Vortrieb, gelangte jetzt besser voran und konnte mehr Distanz zwischen sich und das Schiff legen. Er begriff, daß die „Novara“ dem Sog etwas von seiner äußeren Kraft genommen hatte, zumindest in diesem Moment. Und so verhalf sie dem Mann, der ihren drohenden Untergang bewirkt hatte, zur Rettung. Dies war der größte Aberwitz des schrecklichen Ereignisses.
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Roi Lodovisi fühlte ungeheuren Triumph in sich aufsteigen. Er beruhigte sich, schwamm wieder mit langen und kräftigen Zügen und dachte: Verreckt, ihr Ratten, ersauft, ihr habt es nicht besser verdient! * Hasard, Carberry, Shane und Dan O’Flynn standen auf dem Plateau und blickten abwechselnd durch die beiden Spektive, die sie bei sich trugen. Der Berg war wirklich der ideale Aussichtsplatz, als den sie ihn eingeschätzt hatten. Von hier oben konnte man nahezu die ganze Insel überschauen. Am östlichen Ufer ragte eine Landzunge ins Meer, die große Ähnlichkeit mit einer zum Zupacken bereiten Hand hatte. Jenseits dieses bizarren Auswuchses, den eine Laune der Natur geschaffen zu haben schien, war durch die Optik klar die dreimastige Galeone zu erkennen, die sich im Kreis bewegte und ihr Vorschiff mehr und mehr in die Fluten senkte. „Allmächtiger“, sagte Hasard, „Das kann doch nicht wahr sein. Wie konnte das geschehen? Es erscheint mir unwahrscheinlich, daß der Kapitän und seine Mannschaft den Strudel nicht rechtzeitig genug bemerkt haben.“ Shane, der gerade durch das zweite Rohr spähte, meinte: „Das Schiff ist leck, und vielleicht hat es Ruderbruch erlitten. Anders kann ich es mir nicht vorstellen.“ „Bei der ruhigen See?“ fragte Dan. „Mann, das gibt’s doch nicht.“ „Da stimmt was nicht“, sagte Carberry. „Die Sache stinkt, und zwar ganz gewaltig. Ich wette, da ist irgendeine Riesensauerei mit im Spiel.“ „Egal“, sagte der Seewolf. „Wir müssen sofort etwas unternehmen. Zu retten ist das Schiff nicht mehr, aber ich sehe, daß einige Männer bereits ins Wasser gesprungen sind und auf die Landzunge zu schwimmen. Gleich verlassen auch die anderen das Schiff, eine andere Möglichkeit haben sie nicht mehr. Wir müssen Ben Bescheid geben, daß er mit der ‚Isabella’ um das Südkap herumsegelt und versucht, die
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Schiffbrüchigen aufzufischen. Vielleicht sind Leute dabei, die kaum schwimmen können und es bis zum Ufer nicht schaffen.“ „Ob das wohl ein Spanier ist?“ murmelte Carberry, der eben von Shane das Spektiv übernommen hatte. „Oder ein Portugiese?“ „Das erfahren wir schon noch“, sagte Hasard. „Ganz gleich, woher das Schiff stammt, es ist unsere verdammte Pflicht, der Besatzung zu helfen, wo wir noch helfen können. Los, Dan, du läufst zu deinem Vater, zu Sam, Luke und zu Bill und gibst ihnen einen kurzen Bericht von dem, was wir gesehen haben. Dann läufst du weiter zur Ankerbucht der ‚Isabella’, meinetwegen mit Bill zusammen, und sagst Ben Bescheid, daß er und die anderen sofort auslaufen sollen. Haltet euch nicht damit auf, erst zum Schiff hinüberzupullen. Wir acht begeben uns auf dem Landweg zu der östlichen Landzunge und sehen, ob wir von dort aus etwas tun können.“ „Aye, Sir, bin schon unterwegs“, sagte Dan. Er drehte sich um und verließ das Plateau. Er lief zu den Buschgruppen hinunter, die sie beim Aufstieg passiert hatten, stolperte in seiner Hast ein wenig, hatte aber keine Mühe, das Gleichgewicht zu halten und ohne Aufenthalt weiterzuhetzen. Plötzlich registrierte er jedoch rechts von sich, hinter einem dichten Dornengerank, eine Bewegung. Er lief zu schnell, um noch rechtzeitig abstoppen zu können, hetzte an dem Gestrüpp vorbei, griff dabei jedoch instinktiv zur Pistole. Etwas schoß hinter dem Busch hervor und entpuppte sich als menschliche Gestalt. Der Fremde packte mit zwei sehr großen Händen Dans rechten Fußknöchel. Dan ging zu Boden und glaubte das Knacken in seinem sich verdrehenden Bein zu hören, das sofort heftigen Schmerz auslöste. Er überrollte sich zweimal zwischen den Büschen, blieb stöhnend auf dem Rücken liegen und wollte nun endlich seine Pistole zücken, doch der Fremde war über ihm und rammte ihm die Faust gegen die Kinnlade - gleich zweimal, so daß Dan
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nicht mehr die geringste Chance gegen ihn hatte. Bevor ihm die Sinne schwanden, sah Dan noch das Gesicht des Angreifers über sich. Es war breit und hatte derbe Züge, die zu keinerlei Ausdruck fähig zu sein schienen und weder Haß noch Schadenfreude noch Genugtuung spiegelten. Nur in den kleinen, tiefliegenden grauen Augen schien ein mordlustiges Funkeln zu sein. In Dans Kopf dröhnte und wirbelte es so stark, daß er für einen Augenblick glaubte, draußen in dem tödlichen Strudel zu treiben. Dann deckte tiefe Finsternis jede Wahrnehmung zu. 4. Die Schiffsbewegung nahm Kapitän Fosco Sampiero mit. Er taumelte durch den Ruderraum nach vorn und prallte hart gegen die Querwand. Hinter ihm fluchten Venturi und die anderen, die mit an der Ruderpinne gearbeitet hatten. Es polterte über ihnen im Achterkastell. Mit einemmal ertönte grell und stark verzerrt die Stimme des Zweiten Offiziers: „Kommt zurück nach oben! Es hat alles keinen Zweck mehr, wir sind im Strudel! Wir sinken, Santa Madonna, wir sinken! Rette sich, wer kann!“ Seine letzten Worte gingen in dem Schreien der Frauen unter. Bianca Sampiero, Tosca Venturi und Ivana Gori hatten in der Kapitänskammer den Bootsmann Vittorio Medola in die Koje Sampieros gelegt. Sie hatten begonnen, die Wunde in seinem Rücken zu behandeln, so gut sie konnten, bevor der Feldscher erschien, nach dem die Frau des Kapitäns hatte rufen lassen. Aber der Feldscher zeigte sich nicht, und die „Novara“ wurde von wilden Schlägen durchgerüttelt, die sie bis in die äußersten Verbände erzittern ließen. Wie durch eine unsichtbare Macht wurde Medola aus der Koje gehoben. Er landete auf dem Boden und rollte quer durch den Raum, hin und wieder zurück, als sich die „Novara“ ächzend zur anderen Seite neigte. Er
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hinterließ eine blutige Spur auf den Planken, seine Arme und Beine bewegten sich wie die Gliedmaßen einer Marionette. „Santa Maria!“ schrie Ivana Gori. „Er ist tot. Tot, tot!“ „Sei still!“ rief Bianca Sampiero. Sie griff nach ihrer Hand und zerrte sie mit sich auf den Gang hinaus. Sie wollte um Hilfe rufen und nach ihrem Mann sehen, denn sie brauchte jetzt dessen Rat und Beistand, da auch sie die Fassung zu verlieren drohte. Tosca Venturi war ausgerutscht und hingefallen. Sie stieß auf dem Boden mit Medolas schlaffer Gestalt zusammen und schrie entsetzt auf. Fosco Sampiero stürmte mit seinen Helfern nach oben, entdeckte seinen Zweiten Offizier im Mittelgang der Hütte und ging sofort direkt auf ihn los. Gori gebärdete sich wie ein Verrückter, er hatte die Nerven verloren. Sampiero packte ihn bei den Rockaufschlägen und schüttelte ihn hin und her. „Sind Sie wahnsinnig, hier so herumzuschreien?“ fuhr er ihn an. „Sie machen alles nur noch schlimmer, Sie Hornochse!“ „Lassen Sie meinen Mann los!“ schrie Ivana Gori. Sie versuchte, sich von Bianca Sampiero loszureißen, doch es gelang ihr nicht. Die „Novara“ trieb im Strudel und neigte ihren Bug immer weiter nach unten. Auf dem Hauptdeck glitten die Männer aus. Sie mußten sich an den Nagelbänken und an Tauen und Wanten festhalten, um nicht nach vorn und über die Back weg in den tödlichen Trichter gerissen zu werden. „Ich will nicht sterben!“ brüllte. Gori. „Ich will weg, laßt mich!“ „Domenico!“ schrie seine Frau. Sampiero schlug dem Mann zweimal ins Gesicht, dann ließ er ihn los. Gori schlug mit dem Rücken gegen die schiefe Gangwand und sank daran zu Boden. Sampiero gab seiner Frau, dem Ersten und allen anderen zu verstehen, sie sollten ihm folgen, dann stürzte er auf die Kuhl hinaus, hielt sich am wild schwankenden Schott fest und blickte über das stark abschüssige
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Deck in das gähnende schwarze Maul des Strudels. Das darf nicht wahr sein, dachte er schockiert, es ist alles nicht wahr, du träumst nur, so etwas gibt es einfach nicht. „Beiboote abfieren!“ schrie er. „Wir verlassen das Schiff!“ Einige Decksleute hatten schon damit begonnen, die beiden Jollen der „Novara“ von ihren Zurrings zu befreien. Sampiero lief zu ihnen und half ihnen dabei. Es war ein wahnwitziges Unternehmen, die Boote zu Wasser bringen zu wollen, ohne daß sie kenterten oder sich von ihren Leinen losrissen, aber es war noch fataler, einfach ins Wasser zu springen, denn das wäre gleichbedeutend mit Selbstmord gewesen. Nichts konnte dem Höllenstrudel entgehen. * „Moment mal“, sagte Big Old Shane verdutzt. „Dan ist weg, verdammt noch mal.“ Carberry stieß einen unwilligen, verächtlichen Laut aus. „Natürlich ist er weg, du Barsch, Hasard hat ihn doch selbst fortgeschickt.“ Er blickte weiterhin durch das Spektiv. „Das meine ich nicht“, sagte der graubärtige Riese. „Eben habe ich ihn noch zwischen den Büschen gesehen, aber jetzt ist er untergetaucht, als habe er sich in Luft aufgelöst.“ Der Seewolf ließ das Fernrohr sinken. „Er ist hingefallen, willst du sagen?“ „Genau das.“ „Mann“, sagte der Profos. „Er wird doch wohl nicht so dämlich sein und sich die Gräten brechen, was?“ „Ich sehe mal nach. Vielleicht hat er sich an einem Stein gestoßen.“ Shane setzte sich besorgt in Bewegung und eilte den Hang hinunter. Hasard blickte ihm nach. Carberry, der der Sache immer noch keine Bedeutung beimaß, spähte unverwandt zu der fremden Galeone hinüber, deren Untergang jetzt unmittelbar bevorstand. Ungefähr auf halber Strecke zu dem Punkt, an dem er Dan zuletzt gesehen hatte, blieb Big Old Shane abrupt stehen. Eine Gestalt
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richtete sich zwischen den Büschen auf, aber sie war nicht mit Dan O’Flynn identisch. Es handelte sich um einen Bullen von Kerl, der eine Muskete im Anschlag hielt und damit auf Shanes Brust zielte. „Hölle und Teufel“, sagte der Schmied von Arwenack. „Jetzt haben wir den Salat.“ Er wollte in Deckung gehen und selbst seine Muskete hochreißen, aber da erklang hinter seinem Rücken eine scharfe Stimme. „Keine Bewegung, oder ihr seid alle des Todes!“ Hasard, der schon die Hand auf den Kolben seiner doppelläufigen Reiterpistole gesenkt hatte, wandte den Kopf. Carberry ließ das Spektiv sinken und drehte sich ebenfalls verblüfft um. Die Stimme hatte Französisch gesprochen, aber sie verstanden alle genug von dieser Sprache, um den Inhalt des Satzes deuten zu können. Eine Fehlinterpretation war ausgeschlossen, außerdem war das Benehmen des Mannes, der hinter ihnen zwischen den Felsen am nördlichen Rand des Plateaus aufgetaucht war, so offensichtlich und eindeutig, daß es keinen Zweifel über seine Absichten geben konnte. Der Mann - er trug eine schwarze Hose, hohe Stulpenstiefel und ein weiteres, bauschiges Hemd aus weißem Stoff - hielt in jeder Hand eine Pistole. Er war hager und hatte eine Glatze. Sein Gesicht mit der leicht gekrümmten Nase und den harten, stechenden Augen verriet äußerste Entschlossenheit. Carberrys Miene wurde düster, seine Augenbrauen zogen sich zusammen, und seine Stirn war plötzlich gefurcht. Er nahm eine leicht geduckte Haltung ein und ließ die Arme baumeln. Der Seewolf wußte, wie er dieses Verhalten seines Profos’ zu deuten hatte. Carberry würde, wenn es nötig war, auf den Fremden losstürmen und ihn überrennen, selbst auf die Gefahr hin, sich die eine oder alle beiden Kugeln aus den Pistolen einzufangen. Der Narbenmann stand bereit zum Sprung. Er konnte sehr
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schnell sein, schneller, als man es wegen seiner wuchtigen Statur von ihm erwartete. „Vorsicht, Ed“, sagte Hasard. „Unternimm nichts, wenn ich dir nicht den Befehl dazu gebe.“ „Sehr gut!“ rief der Franzose auf englisch. Seine Lippen verzogen sich zu einem spöttischen Lächeln. „Ich habe jedes Wort verstanden. Ich bin nicht nur der englischen Sprache mächtig, ich kann auch Spanisch und Portugiesisch. Genügt das? Es ist klug von euch, wenn ihr euch ergebt und die Waffen wegwerft, denn im Falle eures Widerstandes würde Duplessis, mein treuer Helfer, als ersten euren Kameraden töten, den er soeben niedergeschlagen hat, und dann den Großen mit dem Bart. Mir würde es keine Schwierigkeiten bereiten, euch zwei mit gezielten Schüssen niederzustrecken. Also?“ „Was willst du von uns?“ fragte der Seewolf so ruhig wie möglich. „Wer bist du? Gibt es ein Gesetz, das uns das Betreten dieser Insel verbietet?“ „Mein Name ist Regis La Menthe, meine Herren“, antwortete der Glatzkopf mit geradezu unnachahmlicher Überheblichkeit. „Ich bin der Herrscher von Martinique, der einzige Gebieter über die Geschicke der Insel und ihrer Bewohner. Noch nie hat es ein Mensch gewagt, ungestraft in mein Reich einzudringen.“ „Wir haben nichts verbrochen“, sagte der Seewolf. „Wir sind hier vor Anker gegangen, um etwas Frischwasser zu fassen. Wir können das Wasser bezahlen, wenn du willst, La Menthe.“ „Werft die Waffen weg!“ „Mir reicht’s“, sagte der Profos. „Sir, mir reicht’s wirklich, und ich bitte dich darum, diesem aufgeblasenen Stint das Maul einschlagen zu dürfen.“ „Du vergißt Dan.“ „O Hölle, so ein verdammter Mist.“ „La Menthe“, sagte der Seewolf. „Wir sind nur bis auf dieses Plateau vorgedrungen, um nach der Ursache der Schreie und des Schusses zu forschen, die wir gehört haben. Das kannst du uns nicht verübeln. Draußen sinkt eine Galeone, deren
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Besatzung sich in Lebensgefahr befindet, wie bestimmt auch du beobachtet hast, und wir sollten uns wie zivilisierte Menschen benehmen und gemeinsam versuchen, etwas für die armen Teufel zu tun.“ Der Franzose lachte kurz auf. „Aha, ein Menschenfreund bist du, Engländer? Wie heißt du denn? Deinen Namen muß ich wissen, ich werde ihn mir bis an das Ende meiner Tage merken, denn es gibt weiß Gott nicht viele Wohltäter wie dich auf dieser verrückten Welt.“ „Mein Name ist Philip Hasard Killigrew.“ „Killigrew – etwa aus der alten Seeräubersippe von Falmouth?“ „So ungefähr.“ Wieder lachte La Menthe, es klang höhnisch und verschlagen. „Mon Dieu, ausgerechnet ein dreckiger kleiner Pirat will sich zum Retter von Schiffbrüchigen aufschwingen! Ich stamme aus Dieppe, mein Freund, und habe genug von euch Killigrews gehört, um zu wissen, aus welchem Holz eure ganze Bande geschnitzt ist. Das ist doch nur eine faule Ausrede, Killigrew, du suchst nach einem Trick, um mich aufs Kreuz zu legen, nicht wahr?“ „Ich schwöre dir bei meiner Ehre, daß das nicht der Fall ist.“ „Ehre? Wo sitzt bei dir die Ehre?“ „Das brauchen wir uns nicht gefallen zu lassen, Sir“, sagte Shane wütend. „Die Partie steht drei gegen zwei, und ich traue es mir zu, diesen Bullen hier umzublasen, ehe er Dan was antun kann. Auf was warten wir?“ La Menthe hob seine beiden Pistolen noch etwas an und sagte laut: „Duplessis, auf meinen Ruf hin zertrittst du dem jungen Kerl das Gesicht, verstanden?“ „Ja“, antwortete Duplessis. „Ich trete ihm mit meinem Stiefel das ganze Hirn aus dem Schädel, und dann töte ich den Bärtigen. Was hat er gesagt?“ „Das braucht dich nicht zu interessieren“, entgegnete sein Herr. „Diese englischen Bastarde geben ohnehin nur Gewäsch von sich. Killigrew, weg mit den Waffen, oder es geschieht ein Unglück! Dies ist meine letzte Aufforderung!“
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„Du begehst einen großen Fehler“, sagte der Seewolf. „Erkläre mir, was du von uns willst, und wir können darüber verhandeln.“ „Sieh da, sieh da!“ rief der Franzose hämisch. „Jetzt packt den großen Kaperfahrer doch die Angst, nicht wahr? Ich habe es schon immer gesagt, bei euch englischen Hundesöhnen ist es mit dem Schneid nicht so weit her, wie ihr es uns immer erzählen wollt. Verhandeln willst du? Nicht mit mir. Duplessis!“ „Halt“, sagte Hasard. „Wir gehorchen. Männer, laßt die Waffen fallen. Los, das ist ein Befehl!“ Carberry und Shane gehorchten widerstrebend. Die Musketen landeten mit klapperndem Laut auf dem Gestein. Hasard zog langsam seine Doppelläufige, ließ sie seinen Fingern entgleiten und blickte dabei La Menthe an. „Zufrieden? Wir wollen eben doch nicht den Heldentod sterben.“ „Fort auch mit den Degen, Säbeln und Messern!“ herrschte La Menthe ihn und seine Männer an. Es hatte keinen Zweck, den Franzosen irgendwie täuschen zu wollen, er hatte seine wachen Augen überall. Als schließlich alle Waffen der Seewölfe auf den Felsen lagen, winkte La Menthe seine beiden Sklaven aus dem Versteck hervor, in das sie sich vorher auf sein Geheiß hin hatten zurückziehen müssen. Sobald La Menthe durch sein Spektiv verfolgt hatte, daß die unerwünschten Besucher der Insel sich im Anmarsch auf das Plateau befanden, hatte er sich einen einfachen, aber wirksamen Plan zurechtgelegt, durch den er die vier überrumpeln konnte. Als Hasard, Shane, Carberry und Dan auf dem Aussichtsplatz gestanden und nach der fremden Galeone Ausschau gehalten hatten, hatte der Glatzkopf vom Versteck in den Felsen aus Duplessis hinunter in die Büsche geschickt, weil er ahnte, daß der Seewolf einen Mann als Melder zurück zur Bucht senden würde. Duplessis hatte einen weiten, zeitraubenden Bogen geschlagen, um von den Männern der „Isabella“ nicht
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entdeckt zu werden. Der Aufwand hatte sich gelohnt. La Menthe wies auf seine Gefangenen. „Durchsucht sie“, sagte er zu den Schwarzen. Hasard, Carberry und Shane mußten es sich gefallen lassen, von den Sklaven abgetastet zu werden. Einer der beiden förderte aus Carberrys Stiefel ein kleines Messer zutage und wies es untertänigst seinem Herrn und Gebieter vor. „Gut“, sagte La Menthe. „Und nun zu den Flaschen, die du an deinem Gürtel festgebunden hat, Killigrew. Was sind das für merkwürdige Dinger? Erzähl mir bloß nicht, daß du darin Wasserproben entnehmen wolltest. Ich sehe von hier aus, daß sie bereits gefüllt sind. Womit?“ „Mit Pulver, Blei, Eisen und Glas“, erwiderte der Seewolf. Warum sollte er es dem Franzosen verheimlichen? La Menthe würde ja ohnehin herausfinden, daß es sich um Flaschenbomben handelte, die man vermittels ihrer durch den Korken führenden Lunte zur Explosion bringen konnte. Viel Scharfsinn gehörte nicht dazu. 5. Das erste Beiboot der „Novara“ schlug quer und kenterte an der Bordwand, kaum, daß es abgefiert war und das Wasser berührt hatte. Nur ein Wunder hätte die Jolle wieder in ihre ursprüngliche Lage zurückbringen können, aber Wunder gab es nicht auf der Welt, schon gar nicht für den unglücklichen Kapitän Fosco Sampiero und seine Mannschaft. „Es hat keinen Zweck!“ schrie Domenico Gori, der inzwischen wieder auf den Beinen war und das Achterkastell verlassen hatte. „Wir müssen alle sterben! Wir saufen ab, wir sind verloren!“ Sampiero, Venturi, der Rudergänger, der Feldscher und die anderen Männer, die sich auf dem Hauptdeck am zweiten Boot versammelt hatten, konnten jetzt nicht dafür sorgen, daß er den Mund hielt. Sie hatten genug zu tun mit dem Hochhieven der Jolle, die an über die Rahnocken und durch Taljen laufenden Tauen hing.
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Aber sie fluchten darüber, daß Gori ihre Verzweiflung durch sein Geschrei noch anheizte und wachsen ließ, und alle hatten sie den Wunsch, dem durchgedrehten Zweiten den Hals zuzudrücken. Bianca Sampiero stürzte auf ihren Mann zu -und rief im Rauschen und Tosen der Fluten: „Warte, Fosco! Laß schon einige Leute in das Boot klettern! Dadurch wird es beschwert und kann nicht so leicht kentern wie das andere!“ Der Kapitän zögerte nicht, diesen Vorschlag seiner Frau anzunehmen. „Los!“ brüllte er. „Die Frauen als erste in das Boot – auch du, Bianca! Nein, keine Widerrede, verstanden? Das ist ein Befehl!“ Bianca Sampiero hatte alles, nur nicht dies beabsichtigt, doch sie wußte, daß sie sich dem Willen ihres Mannes beugen mußte. Sie half Tosca Venturi und Ivana Gori, die jetzt bei ihr waren, auf die Duchten der Jolle, dann kletterte sie selbst hinterher. Sampiero und seine Helfer hatten das Boot wieder ganz auf die Kuhl abgefiert. Sampiero drehte sich auf dem wild schwankenden Deck zu seinem Zweiten Offizier um und winkte ihm zu. „Gori! Hierher! Sie gehen mit von Bord, los, beeilen Sie sich, verdammt noch mal!“ Gori eilte auf die Jolle zu, glitt aus, schlitterte ein Stück über die Planken und stieß dabei einen Laut des Entsetzens aus. Die Kuhlgräting stoppte ihn. Er rappelte. sich wieder auf, stolperte zur Jolle und ließ sich über das Dollbord sinken. Es war eine Schande für einen Schiffsoffizier, mit den Frauen zu fliehen, statt bis zur letzten Minute an der Seite seines Kapitäns auszuharren, doch Gori schien in seinem derzeitigen Zustand weder so ehrenhaft zu empfinden noch überhaupt urteilsfähig zu sein. Sampiero suchte noch drei Decksleute aus, die mit an Bord der Jolle gehen sollten, denn Gori und die drei Frauen allein konnten sie nicht voranbringen, es waren dazu ein paar erfahrene Rudergasten erforderlich. Mit vereinten Kräften hievten der Kapitän und seine Männer das Boot wieder hoch,
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schwenkten es außenbords und fierten es ab. Allein das war bei der gefährlichen Schräglage der Galeone ein höchst waghalsiges Unternehmen. Die Jolle wurde hecklastig, und die vier Männer und die drei Frauen mußten sich an den Duchten festklammern, um nicht herauszufallen. Sampiero, Venturi, der Rudergänger und die anderen schrien sich gegenseitig Worte zu, die im Brüllen des Strudels fast untergingen. Immerhin brachten sie es fertig, durch rascheres Wegschricken des, einen Bootstaues die Lage der Jolle wieder halbwegs zu stabilisieren, und so setzte sie endlich sicher im Wasser auf. Zwar tanzte sie wie eine Nußschale, aber es erwies sich doch als richtig, daß die Belastung durch eine siebenköpfige Besatzung ein Umschlagen verhinderte. Die Rudergasten griffen nach den Riemen. Gori hatte sich so weit gefangen, daß er wieder einen klaren Gedanken fassen konnte. Er zerrte den Bootshaken unter den Duchten hervor und drückte die Jolle mit aller Macht von der Bordwand der „Novara“ fort. Die „Novara“ bewegte sich nicht mehr kreisend und taumelnd, sie hatte im Zentrum des Trichters einen ruhenden Pol gefunden und neigte sich fast gemächlich noch tiefer mit dem Bug dem Grund der See entgegen. Der Strudel zerrte an ihrem Rumpf, doch er vermochte ihn nicht mehr zu drehen, dazu war die Last des Schiffes mitsamt seiner Ladung zu gewaltig. „Aufs Achterdeck!“ schrie Sampiero seinen Männern zu. „Von dort aus werdet ihr springen!“ „Signor Capitano!“ rief Emilio Venturi. „Sie kommen doch mit uns, oder?“ Fosco Sampiero antwortete darauf nicht, er arbeitete sich auf der Kuhl, die sich jetzt wie der glatte Hang eines Berges vor ihnen erhob, nach achtern. Es war keine Zeit mehr gewesen, die Manntaue zu spannen, die bei Sturm der Mannschaft einen gewissen Halt an Oberdeck geben. Mühsam mußten sich der Kapitän und seine abgekämpfte, zu Tode entsetzte Gefolgschaft hocharbeiten, am Schanzkleid entlang und dann über den
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Niedergang bis zur Nagelbank auf dem Achterdeck, die ihnen vorläufig ausreichenden Halt bot. Kein Strudel der Weltmeere konnte ein so großes Schiff wie die „Novara“ binnen weniger Augenblicke in die Tiefe ziehen. Dagegen sprachen die Trägheit der Masse und die Behäbigkeit, mit der der Dreimaster zwangsläufig seine Abwärtsfahrt vollführen mußte. Nein, schnell ging das nicht, sondern es vollzog sich fast wie ein Zeremoniell, bei dem die „Novara“ ächzend wie ein verwundeter Gigant nunmehr in nahezu senkrechte Haltung abkippte und das verzierte Heck mit der Galerie und den Bleiglasfenstern der Kapitänskammer hoch aus der See hob. Zoll um Zoll sank sie. In ihrem Frachtraum tanzten die Weinfässer und die Werkzeugkisten im schwappenden Wasser. Bald würden sie unter die Deckenbalken gepreßt werden. Sampiero und seine Männer waren ganz bis zur Heckreling hinaufgeklommen und kletterten jetzt darüber weg. Damit begaben sie sich auf den Heckspiegel und befanden sich praktisch zwischen der großen Achterlaterne und der Galerie, die rund ums Plattgatt lief, auf der achteren Außenhaut ihres Schiffes. Von hier aus vermochten sie zu sehen, wie sich die Jolle in zähem, beständigem Kampf von der Galeone entfernte. Emsig arbeiteten die vier Männer an den Riemen, aber auch die Frauen hatten mit zugegriffen und ruderten so gut mit, wie sie es konnten. Bianca Sampiero saß auf der Heckducht und hielt die Ruderpinne. Immer wieder drehte sie sich zu ihrem Mann und dessen letzten Getreuen um, die wie kleine, hilflose Kreaturen auf dem mächtigen Heckspiegel der „Novara“ aussahen. „Fosco!” schrie Bianca, so laut sie konnte. „Wir schaffen es! Folgt uns, wir werfen euch Taue zu, an denen ihr euch festhalten könnt! Hörst du mich?“ Sampiero winkte ihr zu, dann sagte er zu seinen Männern: „Ihr springt jetzt. Es ist die letzte Chance, nehmt sie wahr. Versucht, die Insel zu erreichen und
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Lodovisi zu stellen, der dies alles angezettelt hat. Zorzo und Prevost haben Cavenago, Medola und Teson niedergestochen, sie verdienen dafür den Tod. Über Lodovisi sollte man Gericht halten, ich habe es versäumt, und deshalb trage ich die eigentliche Schuld an diesem Unglück.“ „Lodovisi wußte, daß Sie ihn noch bestrafen würden, weil er aufwieglerische Reden geführt hatte, Signor Capitano!“ rief Emilio Venturi. „Sie hätten auf jeden Fall damit gewartet, bis wir Nombre de Dios erreichten. Deshalb wollte er vorher von Bord, wollte sich aber auch an Ihnen rächen. Dieser Hund, dieser Mörder!“ Sampiero richtete sich halb auf und schrie seinen Leuten zu: „Springt! Auf was wartet ihr, ihr elenden Narren?“ „Signore!“ rief der Rudergänger. „Sie müssen uns begleiten, das sind Sie uns schuldig!“ „Ja! Ich komme ja auch! Springt!“ Sie krochen zum Rand des Spiegels, erhoben sich, stießen sich kräftig mit den Beinen ab und flogen dem Wasser entgegen, das inzwischen die „Novara“ bis hinauf zur Querwand des Achterkastells geschluckt hatte. Wieder drang ein Stöhnen aus der Tiefe des Schiffsleibs, ein urwüchsiger, dumpfer Laut, in dem sich alle Qual zu vereinen schien, die die Männer empfanden. Venturi blickte seinen Kapitän an.. „Capitano, ich weiß, daß Sie mit diesem Schiff in Gottes tiefen Keller sinken wollen, ich sehe es Ihnen an! Aber das lasse ich nicht zu!“ „Venturi, Sie haben mir keine Anweisungen zu geben!“ „Das tue ich auch nicht.“ „Verschwinden Sie endlich! Hauen Sie ab!“ „Nein! Ich bleibe!“ „Venturi, ich kann Sie zwingen, diesen Teufelskahn zu verlassen, das wissen Sie ganz genau!“ „Sie werden es nicht tun!“ Ja, das stimmte: Niemals würde Sampiero es über sich bringen, Hand an seinen Ersten Offizier zu legen, auf den er immer
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große Stücke gehalten hatte. So gesehen, befand er sich jetzt in einer Zwangslage, denn er konnte es nicht verantworten, den Mann mit sich sterben zu lassen. „Capitano, hören Sie mich an!“ schrie Venturi. „Sie begehen ein Verbrechen an Ihrer Frau, wenn Sie hierbleiben! Und es ist auch ungerecht der Mannschaft gegenüber, die Ihre Führung weiterhin braucht! Capitano — unterlassen Sie diesen unsinnigen Mannesbeweis!“ Sampiero wandte sich wütend zu ihm um. „Sie beleidigen mich! Gehen Sie von Bord, ehe ich mich vergesse! Sie sind ein Trottel, ein Einfaltspinsel und ein unfähiger Anfänger, den ich an Bord meines Schiffes nur geduldet habe, weil ich Mitleid mit ihm hatte!“ Venturi lachte freudlos auf. „Beschimpfen Sie mich ruhig, es stört mich nicht. Deswegen bleibe ich trotzdem.“ „Fosco!“ ertönte ganz schwach aus dem Tosen des Wassers die Stimme von Bianca Sampiero. „Mein Gott, so kommt doch endlich!“ „Emilio!“ schrie nun auch Tosca Venturi. Sampiero kroch auf Venturi zu, um ihn nun doch zu packen und ins Wasser zu stoßen. Etwas kochte in seinem Inneren über. Er begriff den Starrsinn seines Ersten nicht und vergaß darüber seine eigene Verbohrtheit. Sampiero hatte Venturi, der vor ihm auswich, fast erreicht, da wurden sie beide durch etwas völlig Unerwartetes abgelenkt. Aus der Tür der Kapitänskammer, die sich jetzt in waagerechter Lage befand, kroch eine Gestalt hervor, die sich an den Taljen der Heckbalustrade festklammerte, und sich -augenscheinlich unter größter Anstrengungen - daran hochzog. Sie schaffte es, stellte sich mit den Füßen auf die Achterwand der Hütte und schob dem Kapitän und seinem Ersten ein bleiches Gesicht mit weit aufgerissenen Augen entgegen, das beim ersten Hinsehen wie das Antlitz -eines Geistes anmutete. Der Mann war Vittorio Medola. *
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Old O’Flynn, Sam Roskill, Luke Morgan und Bill rissen augenblicklich ihre Musketen und Tromblons hoch, als es im Dickicht raschelte. Trotz des diffusen Dämmerlichtes, das jetzt einzusetzen begann, konnten sie alle vier deutlich die Bewegung verfolgen, die keine zehn Yards von ihnen entfernt war und von einem größeren Lebewesen herzurühren schien. „Achtung!“ zischte Old O’Flynn. „Ich gebe einen Schuß ab, und zwar dicht über den Rücken von dem Kameraden hinweg. Ist er ein Mensch, gibt er sich wohl zu erkennen, ist es ein Tier, wird es bocken und die Flucht ergreifen, und dann strecken wir es nieder.“ „Nur zu“, raunte Sam Roskill. „Wir sind bereit.“ Der Alte kniff ein Auge zu und zielte ruhig über den Lauf seiner Muskete, doch jetzt tönte ein Ruf aus dem Gebüsch: „HeFreunde, seid ihr das? Hasard? Shane?“ „Matt Davies, hol’s der Henker“, knurrte Old O’Flynn. „Dich reitet ja wohl der Teufel, wie? Um ein Haar hätte ich dir das ganze Stroh aus deinem verfluchten Schädel geblasen.“ Luke Morgan stieß heftig die Atemluft aus, dann sagte er: „Mann, Matt, das war wirklich knapp. Kannst du nicht eher Bescheid geben, wer du bist?“ „Ich hab euch doch auch eben erst entdeckt“, verteidigte sich der Mann mit der Eisenhakenprothese. „Kann ich mich jetzt zeigen, oder habt ihr die Schießeisen immer noch auf mich gerichtet?“ „Vorwärts“, sagte der Alte und ließ die Muskete sinken. „Was ist denn bloß los? Bist du allein?“ „Nein. Bob Grey ist bei mir.“ „Na, Mahlzeit“, brummte Sam Roskill. „Auf euch haben wir gerade gewartet. Was wollt ihr? Habt ihr Heimweh nach uns gehabt?“ Matt Davies trat aus dem Dickicht hervor und grinste breit. „Da irrst du dich aber gewaltig, Sam. Von mir aus hätten wir an Bord der Old Lady bleiben können, aber Ben bestand darauf, daß wir mal nach euch Ausschau halten. Na ja, wir haben eure Stimmen gehört und ...“
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Er wurde durch Bob Grey unterbrochen, der jetzt hinter ihm war und rief: „Vorsicht, nicht schießen, Leute! Ich bin’s, euer guter alter Bob! Ich bin kein Wildschwein und auch kein Hirsch, überzeugt euch bitte davon, bevor ihr abdrückt!“ „Du Rüsseltier“, sagte Luke wütend. „Schrei hier doch nicht so ‘rum. Willst du uns die Wilden auf den Hals locken?“ „Wieso?“ fragte Matt verdutzt. „Ist die Insel also doch bewohnt?“ „Augenblick mal“, sagte Sam. „Werfen wir nicht alles durcheinander, ja?“ Old O’Flynn empfing Bob Grey mit einem zornigen Blick. „Sag mal, du denkst wohl, wir haben alle Schlick auf den Augen. Ich kann eine Mißgeburt wie dich auch in zehn, zwanzig Jahren auf eine Meile Abstand noch von einem Gorilla oder Orang-Utan unterscheiden, und das ist gar nicht mal so einfach.“ Bob wollte darauf eine passende Antwort geben, aber Matt hielt ihn am Arm fest und sah Old O’Flynn an. „Lassen wir das lieber. Darf man erfahren, was hier läuft? Schön, ich seh ja, daß ihr die Quelle gefunden habt. Fein. Aber warum seid ihr vier hier und nicht oben auf dem Plateau?“ „Plateau? Was für ein Plateau?“ wollte Luke wissen. „Na, jetzt hör aber auf“, sagte Bob empört. „Wollt ihr uns für dumm verkaufen? Das laß ich mir von dir nicht gefallen, Mister Morgan.“ „Vorerst wissen wir gar nichts“, sagte Old O’Flynn giftig. „Wir tappen hier im Ungewissen, und ich habe das langsam satt. Habt ihr in der Bucht die Schreie und den Pistolenschuß gehört?“ „Keine Spur“, erwiderte Matt. „Was hat das jetzt wieder zu bedeuten?“ „Das wissen wir nicht“, erwiderte der Alte. „Aber wenn ihr nichts gehört habt, warum scheucht euch Ben Brighton dann an Land?“ „Weil ihr schon zu lange weg seid und er sich fragt, warum ihr auf dem Plateau herumkriecht, während hier unten doch wohl eher eine Quelle zu finden ist.“ Matt räusperte sich. „Gary Andrews hat vom
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Vormars aus oben, auf dem Plateau an den nördlichen Berghängen der Bucht, mit dem Kieker die Bewegung von menschlichen Gestalten wahrgenommen, und da haben wir angenommen, das wäret ihr. In Ordnung?“ „Ich denke schon“, sagte Old O’Flynn. „Hasard, Carberry, Shane und mein Sohn sind in die Berge aufgestiegen, um zu sehen, was es mit diesem Geschrei auf sich hat. Wir sind hiergeblieben und sollen auf die vier warten. Einverstanden, Mister Davies?“ Matt schüttelte den Kopf. „Nein, Sir. Da stimmt nämlich was nicht. Gary hat auf dem Plateau ganz deutlich insgesamt acht Männer unterscheiden können, und wir dachten, das wäret ihr. Jetzt seid ihr vier aber hier, und ihr seid vorher auch nicht mit Hasard zusammen ‘raufgeklettert, oder?“ „Nein“, sagte der Alte verdutzt. „Und Gary hat ganz bestimmt auch keinen Tang auf den Augen“, meinte Bob Grey. „Wenn er sagt, er hat acht Leute gesehen, dann waren es acht. Bloß hat er nicht unterscheiden können, wer das war.“ „Auf jeden Fall sind es vier zuviel“, sagte Old O’Flynn mit umwerfender Logik. „Aber falls es sich um einen Überfall gehandelt hat, hätte Hasard zwei Schüsse in die Luft abgegeben -wie vereinbart.“ „Und wenn er dazu keine Gelegenheit hatte?“ fragte Bill. „Was dann?“ „Die Angelegenheit ist höllisch kompliziert, verdammt noch mal“, sagte Luke Morgan. „Und faul.“ „Oberfaul, es stinkt bis hierher“, sagte Matt Davies. „Wir können hier nicht herumstehen. Wir müssen etwas tun.“ 6. Sampiero und Venturi waren bei dem schwerverletzten Bootsmann Medola angelangt und halfen ihm über die Reling der Heckgalerie. Sie griffen ihm unter die Arme und führten ihn über den Spiegel des sinkenden Schiffes, bemüht, die Balance zu halten. Plötzlich war es für den Kapitän der „Novara“ keine Frage mehr, ob er bis
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zum bitteren Ende an Bord blieb oder nicht: Sie mußten Medola retten, und Emilio Venturi allein vermochte dies nicht zu schaffen. Für einen Moment standen sie hart am Rand der Backbordseite und hatten hinter sich das Ruderblatt, das sich jetzt knarrend nach Steuerbord bewegte. Sampiero paßte den günstigsten Zeitpunkt ab, dann schrie er: „Jetzt!“ Sie sprangen gleichzeitig und nahmen den Bootsmann in ihrer Mitte mit, tauchten mit den Füßen zuerst ein, schoßen wieder hoch und schwimmen auf die Jolle zu. Geistesgegenwärtig hatte sich Bianca Sampiero im Bootsheck aufgerichtet und eins der aufgeschossenen Taue zur Hand genommen, die unter den Duchten lagen. Sie warf es aus. Das Ende schwebte durch die Luft auf ihren Mann, auf Venturi und Medola zu, landete jedoch drei oder vier Yards vor ihnen in den Fluten. Während die drei Rudergasten und die beiden anderen Frauen weiterpullten, packte Gori schleunigst das in der Jolle liegende Tauende und belegte es um die Ducht vor der Heckbank. Er wollte die Fehler von zuvor revidieren und neuen Mut und Einsatzbereitschaft beweisen. Der Sog riß an den Leibern der drei Männer im Wasser und wollte sie zurück zur „Novara“ ziehen, die jetzt schneller in die Tiefe abglitt. „Laßt mich los! Laßt mich zurück!“ rief Medola, aber Sampiero und Venturi hörten nicht auf ihn. Sie kämpften verbissen gegen die Macht des Wassers, stemmten sich gegen die tödliche Drift, gaben nicht auf. Doch die knappe Distanz, die sie von dem Tau trennte, schien sich nicht zu verringern. „Haltet mit dem Pullen ein!“ schrie Bianca Sampiero plötzlich. Domenico Gori, der aus aufgerissenen Augen zu ihr hin überblickte, glaubte anfangs, die Panik habe auch ihr den Geist verblendet, doch dann merkte er, wie ernst es ihr war. Er drehte sich zu den Rudergasten um und brüllte: „Aufhören!
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Habt ihr nicht gehört? Das ist ein Befehl, zum Teufel!“ Die drei Decksleute der „Novara“ waren nicht weit davon entfernt, höhnisch aufzulachen und die Order ihres Zweiten Offiziers zu ignorieren, hatte er doch vorher ein so klares Bild von seiner Furcht und Schwäche geliefert. Doch sie gehörten nicht zum Schlag eines Zorzo oder Prevost, sie spürten ein tiefes Gefühl der Verbundenheit mit ihrem Kapitän, der sich ihnen gegenüber immer loyal verhalten -hatte - und so gehorchten sie. Auch die Frauen hielten inne. Die Jolle stoppte, sobald sich die Blätter der Riemen aus dem Wasser hoben. Dann trieb sie zurück zur „Novara“, und auch das straff im Wasser liegende Tau bewegte sich in derselben Richtung. Sampiero streckte die Hand danach aus, packte das Tau, zog Medola und Venturi in einer gewaltigen Anstrengung mit sich und sah zu seiner Freude, daß auch sein Erster Offizier das Tau packte und sich mit aller Kraft daran festklammerte. Alle beide hielten sie sich mit einer Hand fest, mit der anderen zerrten sie Medola mit sich, der wieder das Bewußtsein verloren hatte. Ivana Gori hatte Medola für tot gehalten, als sie ihn so reglos in der Kapitänskammer hatte liegen sehen, doch jetzt erhielt sie einen Begriff davon, wie zäh Männer dieses Schlages waren. Noch war Medolas Stunde nicht gekommen, noch brannte sein Lebenslicht, wenn auch nur schwach und flackernd. „Pullt an!“ rief Gori. Die Riemen tauchten wieder ein. Ein Ruck lief durch die Jolle, langsam, aber beständig schob sie sich aus dem Bannkreis des rauschenden Trichters. Sampiero, Venturi und Medola unternahmen jetzt keinen Versuch, sich näher an das Boot heranzubringen. Sie wußten, daß es zwecklos war. Sie schöpften ein wenig Atem und Kraft, ließen sich schleppen und hangelten erst wieder ein Stück voran, als das energische Zerren an ihren Beinen nachließ. Bianca und der Zweite begannen, das Tau Hand über Hand durchzuholen, und rasch
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schrumpfte der Abstand zwischen ihnen und den drei keuchenden Männern. Von allen Seiten strebten die Schiffbrüchigen auf die Jolle zu: der Rudergänger, der Feldscher und noch gut ein halbes Dutzend von denen, die auf Sampieros Befehl hin vom Achterdeck gesprungen waren. Sie alle hielten sich schließlich an den Dollborden fest, wandten die Köpfe und sahen schweigend zu, wie die „Novara“ in den Fluten verschwand. Nur für kurze Zeit schwamm ihr verziertes Heck mit dem Ruderblatt noch wie ein wunderbares Reliefbildnis im Mittelpunkt des Wirbels, dann floß das Seewasser darüber zusammen. Das Ruder entzog sich als letztes den Blicken der Männer und Frauen. Das Kreisen des Strudels ließ etwas nach. Nie schien es die „Novara“ wirklich gegeben zu haben, sie war fort wie ein Spuk, ein Trugbild unerklärlicher dunkler Mächte. Sampiero und Venturi halfen, den besinnungslosen Bootsmann in die Jolle zu befördern, dann schaute sich der Kapitän in der Runde um. „Wo sind die anderen?“ fragte er mit seltsam brüchiger Stimme. „Ich sehe hier bei weitem nicht alle Besatzungsmitglieder. Wo sind sie?“ Der Rudergänger hob die rechte Hand und wies stumm über das Boot weg auf den Strudel, der nicht nur die „Novara“, sondern auch mehr als zehn Männer des Vordecks mit in die Tiefe gerissen hatte — abgesehen von Raoul Cavenago und Alfredo Teson, die ihr Grab im Inneren des Schiffes gefunden hatten. * Lange Schatten krochen von Osten her in das Tal der Insel Martinique und flossen dort, wo an einem Bachlauf die Siedlung stand, ineinander. Ein gewundener Pfad führte vom Aussichtsberg in die üppig bewachsene Senke hinunter. Auf seinem untersten Drittel schritten die acht Männer, voran die Seewölfe, dann La Menthe und
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Duplessis und zuletzt die beiden Negersklaven, die das Holzgestühl, das Spektiv und einige andere Utensilien ihres Herrn trugen. Dan war zu sich gekommen, als La Menthe dem Seewolf gerade die Höllenflaschen abgenommen hatte. Dan hatte mächtige Schmerzen in seinem Kinn und im ganzen Kopf, und er zog das Bein ein wenig nach, das von Duplessis gepackt und umgedreht worden war. Aber all das störte ihn nicht so sehr wie die Tatsache, daß er sich hatte überrumpeln und niederschlagen lassen. Er hörte nicht auf, sich innerlich mit Selbstvorwürfen zu überhäufen — und wartete nur auf eine Gelegenheit, den Franzosen den heimtückischen Überfall zurückzuzahlen. Eine passende Chance wollte sich aber nicht bieten. Der Glatzkopf und sein bulliger Helfer hatten sich die Gurte mit den Waffen ihrer Gefangenen vollgestopft. Sie hielten jeder zwei Pistolen in den Fäusten, mit denen sie Hasard, Shane, den Profos und Dan zweifellos ohne den geringsten Skrupel über den Haufen schießen würden, falls diese zu fliehen versuchten. Die Siedlung bestand aus fünf langgestreckten, solide wirkenden Steinhäusern, die alle am nördlichen Ufer des Baches standen und von einer mannshohen weißen Mauer umgeben waren. Die Mauer bildete geometrisch genau ein Rechteck. Das ganze Anwesen sah sehr gepflegt aus. „Siehst du, Killigrew“, sagte Regis La Menthe. „Das ist meine friedliche kleine Musterkolonie. Dort lebe ich mit Duplessis, fünf anderen Landsleuten und zwölf schwarzen Dienern, von denen die Hälfte Frauen sind. Es mangelt uns an nichts, und manch einer würde uns um dieses Paradies beneiden. Wir haben Wasser in Mengen, können jagen, sooft wir Lust haben, und bauen Zuckerrohr, Tabak, Kaffee, Melasse und Ingwer an. Wir ernten Bananen und brennen Rum, und meine ganz besondere Leidenschaft ist die Zucht von Orchideen. Gefällt dir das?“ „Ja. Danke für den Vortrag.“
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„Wir haben Handfeuerwaffen und ein kleines Geschütz, und auch an Pulver und Kugeln fehlt es nicht.“ „Eine Festung, die uneinnehmbar ist, nicht wahr?“ sagte Hasard. La Menthe lachte. „Oh, ich bin überzeugt, daß du sie entdeckt und zu stürmen versucht hättest. Ein Pirat wie du läßt sich eine solche Gelegenheit doch nicht entgehen.“ „Du täuschst dich immer noch in uns, aber ich sehe ein, daß es keinen Zweck hat, dich vom Gegenteil überzeugen zu wollen.“ Hasard ließ seinen Blick wandern und nahm alle Details der Landschaft in sich auf. Wo bot sich eine Möglichkeit zur Flucht? Wann konnte er zuschlagen und die Franzosen überwältigen? Wenn sie erst innerhalb der Mauer waren, war es zu spät dazu, dann würde man sie einsperren. La Menthe gab sich ausgesprochen redselig, er schien seine Englischkenntnisse an den Mann bringen zu wollen. „Ihr werdet euch fragen, was uns hierher verschlagen hat“, sagte er. „Nun, auch das will ich euch verraten. Vor etwas mehr als zwei Jahren lief ich mit meinem Schiff, einem Sklavenfänger, auf eins der Riffe vor der Ostküste, und damit war unsere Reise, die uns eigentlich nach Portobello hatte führen sollen, zu Ende. Ich hatte hundert Sklaven aus Senegal an Bord und wollte sie in Neuspanien verkaufen, doch mit diesem Plan war es vorbei. Wir konnten noch froh sein, daß wir uns in dem Sturm, der über die See tobte, ans Ufer retteten. Das Schiff zerbrach am Korallenriff, doch uns sieben Franzosen wollte der Teufel nicht haben. Wir trieben die überlebenden Sklaven zusammen, schlugen uns durch den Dschungel und fanden schließlich dieses Tal. Wir beschlossen, uns hier niederzulassen, und das haben wir seit jenem Tag nicht bereut.“ „Und was soll jetzt aus uns werden?“ fragte der Seewolf. „Sollen wir euch auch als Leibeigene dienen?“ „Vielleicht.“ „Unsere Kameraden werden bald nach uns suchen.“
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„Das kann ich mir denken“, sagte der Franzose. „Es sind viele Männer, La Menthe, sehr viele.“ „Stört mich das?“ Der Glatzkopf ließ wieder sein unangenehmes Lachen vernehmen. „Nein, nicht im geringsten. Natürlich finden sie uns, aber sie werden es nicht wagen, euer Leben aufs Spiel zu setzen.“ „Aber sie werden auf meinen Befehl hören.“ „Du würdest zum Angriff blasen und selbst den Märtyrer spielen? Ich glaube nicht, daß du dich von mir erschießen lassen würdest. Schon gar nicht würdest du zulassen, daß ich vor deinen Augen deine drei Spießgesellen hier langsam zu Tode quäle.“ „Was bezweckst du mit’ alledem?“ fragte Hasard, ohne sich nach ihm umzudrehen. „Ich will, daß du mir einen kleinen Gefallen tust“, antwortete La Menthe. „Dein Schiff gefällt mir. Du wirst es mir durch eine Schenkungsurkunde vermachen. Ich setze den Text auf, und du unterschreibst einfach. Das ist alles.“ „Mit meinem Schiff wirst du keine Freude haben.“ „O doch. Ich will damit kleine Abstecher in die Umgebung von Martinique unternehmen, zum Beispiel nach Dominica hinauf, wo ich dich und deine Mannschaft von Schnapphähnen und Schlagetots auch aussetzen werde.“ „Und dann? Willst du dich der Freibeuterei verschreiben, die du doch so sehr verabscheust, Sklavenjäger?“ „Ich könnte mir vorstellen, daß ich vorbeisegelnden Spaniern und Portugiesen ein wenig von dem Reichtum abnehme, den sie unverdienterweise zusammenraffen und nach Spanien verschiffen“, erwiderte La Menthe höhnisch lächelnd. „Wer weiß, vielleicht kehre ich eines Tages als reicher Mann in meine Heimat zurück.“ „Du bist ein Narr, Sklavenjäger“, sagte Hasard. La Menthes Züge verzerrten sich. „Wenn du mich noch einmal so nennst, dann ziehe
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ich dir den Knauf deiner eigenen Pistole über den Schädel, du Hund.“ „Wie soll ich dich denn sonst bezeichnen? Als Leuteschinder? Als Galgenstrick? Als hirnrissigen Prügelknecht, der ein Dutzend armer Neger quält?“ „Hör auf!“ schrie La Menthe. „Was sagt der Hund, was sagt er?“ fragte Duplessis, der hinter seinem Herrn hermarschierte. Dan, Shane und Carberry, die hinter Hasard schritten, begriffen jetzt, was ihr Kapitän plante, und mit einemmal waren ihre Sinne bis zum äußersten geschärft. Dan humpelte ein wenig stärker und gab ein unterdrücktes Stöhnen von sich, womit er dem Seewolf signalisierte, daß er zur Aktion bereit war. Weiterer Absprachen, die ohnehin von dem Franzosen unterbunden worden wären, bedurfte es nicht. Hasard und seine Männer waren hervorragend aufeinander eingespielt. Hundert Abenteuer hatten sie so fest zusammengeschmiedet wie keine andere Schiffsmannschaft. „La Menthe“, sagte Hasard voll Verachtung. „Du beschimpfst uns, weil du uns für Seeräuber hältst, aber du vergißt dabei, was für eine niedere Kreatur du selbst bist. Es gibt nichts Erbärmlicheres auf dieser Welt als einen Sklaventreiber, das weiß doch jedes Kind.“ „Sei still!“ fuhr der Glatzkopf ihn an. „Warte, dich bringe ich zum Schweigen, dir stopfe ich das Maul!“ Er überholte mit zwei schnellen Schritten Big Old Shane, strebte dann an Carberry und Dan O’Flynn vorbei und hob die erbeutete Reiterpistole, um sie auf den Kopf des Seewolfs niedersausen zu lassen. Dan brach plötzlich in den Knien zusammen und ließ sich auf die rechte Körperseite sinken. Er stöhnte noch einmal und tat so, als wolle er sich das schmerzende Bein halten. In Wirklichkeit aber griff er nach einem der faustgroßen Steine, die am Rand des Pfades lagen. Wie auf ein vorher vereinbartes Zeichen hin schnellte Carberry unvermittelt vor - zu schnell für Duplessis, der zwar feuern wollte, jedoch durch die erstaunliche
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Gewandtheit des Profos’ irritiert war. Nur einen Atemzug lang - dieser Zeitraum genügte Carberry, dem Glatzkopf einen heftigen Schlag in den Rücken zu geben. Hasard sprang zur Seite, hielt sein linkes Bein aber so, daß La Menthe darüber stolperte. Der Franzose schlug der Länge nach hin, überrollte sich und verlor die Doppelläufige aus der Hand. Dan hatte den Stein in der Faust, fuhr auf dem Boden herum und schleuderte ihn nach Duplessis. Big Old Shane duckte sich gedankenschnell und drehte sich dabei um, um den Bullen angreifen zu können. Gut gezielt prallte der Stein gegen Duplessis’ Stirn, und der begann zu wanken wie ein Betrunkener. Er ging aber nicht zu Boden, sondern riß seine beiden Pistolen hoch und feuerte die rechte auf Dan ab. Der Schuß krachte, der Stein polterte zu Boden. Dan wälzte sich seitlich ins Dickicht und entging der Kugel um Haaresbreite. Shane wich ebenfalls aus, weil Duplessis fluchend mit der anderen Pistole fuchtelte und Anstalten traf, damit genau auf seine breite Brust abzudrücken. „Weg!“ rief der Seewolf. „Abhauen! Los, beeilt euch!“ Carberry hatte zwar vorgehabt, sich mit dem ganzen Gewicht seines Körpers auf La Menthe zu werfen, doch dieser hatte sich inzwischen halb aufgerichtet und zielte mit seiner zweiten Pistole auf den Narbenmann. Rechtzeitig hatte Hasard erkannt, daß sie auch zu viert keine reelle Chance hatten, die Franzosen zu überwältigen, ganz ohne Waffen war es ein hoffnungsloses Unterfangen. Aber fliehen konnten sie – und das taten sie jetzt, indem sie sich zu Dan hinüber ins Gebüsch warfen, sich schnell wieder aufrappelten und davonliefen. La Menthe feuerte, aber die Kugel lag zu hoch und pfiff über die Köpfe der vier weg. La Menthe sprang auf, fluchte auf mörderischste Weise in seiner Muttersprache und hob die Doppelläufige, die er wieder an sich gebracht hatte, aber die Gestalten, die jetzt im Dickicht
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verschwunden waren, boten ihm kein Ziel mehr. Duplessis stand zornbebend da und wollte sich mit der einen Hand die schmerzende Stirn reiben, doch jäh traf ihn von hinten ein Stoß. Er flog gegen seinen Willen auf seinen Herrn zu, konnte ihm nicht mehr ausweichen, prallte mit ihm zusammen und ging mit ihm zu Boden. Einer der beiden schwarzen Männer hatte die Gelegenheit ergriffen und Duplessis mit seinem nackten Fuß kräftig gegen das Rückgrat getreten. Jetzt wandte er sich nach rechts und tauchte im Gebüsch unter, und sein Stammesbruder folgte dem Beispiel. La Menthe befreite sich von der Last des Bullen Duplessis, erhob sich und sandte den Negern eine Kugel nach, doch auch diese traf nicht. Aus Richtung der Häuser erklangen helle, fragende Rufe. Sie wurden von La Menthes und Duplessis’ französischen Landsleuten ausgestoßen, die beim Aufpeitschen der Pistolenschüsse die Häuser verlassen hatten und sich jetzt erschrocken nach allen Seiten umsahen. „Drei Mann zu mir herauf!“ schrie La Menthe mit überkippender Stimme. „Die beiden anderen bleiben unten und passen auf die verfluchte schwarze Brut auf! Der Aufstand ist ausgebrochen, Martinique ist in Gefahr! Aber wir werden sie alle töten, diese Hunde, töten, töten!“ 7. Roi Lodovisi, Corrado Prevost, Mario Zorzo und die fünf anderen Meuterer der „Novara“ hatten auf einem aus dem Wasser ragenden Teil der Korallenbänke eine kurze Verschnaufpause eingelegt, dann waren sie weitergeschwommen. Sie befanden sich jetzt auf der Landzunge und blickten zurück zu der Untergangsstelle der Galeone. „Zur Hölle!“ stieß Lodovisi aus. „Sie sind nicht alle ersoffen. Seht doch das Boot! Sie sitzen darin und klammern sich daran fest, und gleich pullen sie zu uns herüber.“
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„Wir bereiten ihnen einen gebührenden Empfang“, sagte Zorzo. „Unsere Schußwaffen sind zwar durch das Wasser unbrauchbar geworden, aber wir haben noch unsere Messer und Schiffshauer, mit denen wir sie erledigen können. He, täusche ich mich, oder sind da wirklich auch die Weiber mit in der Jolle?“ „Du irrst dich nicht“, entgegnete Prevost grinsend. „Die Frauenzimmer lassen wir natürlich am Leben, und dann bereiten wir uns den Spaß mit ihnen, den wir uns schon lange gönnen wollten.“ „Sie sind in der Überzahl“, sagte der Profos der „Novara“. „Und auch sie haben noch Degen, Säbel und Messer. Ich kann von hier aus den Capitano diesen scheinheiligen Hundesohn -, Venturi und Gori erkennen. Insgesamt sind sie mehr als ein Dutzend Männer.“ Zorzos Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen. „Verdammt, soll das heißen, daß du vor denen kneifen willst?“ Lodovisi drehte sich langsam zu ihm um. Er war ein über sechs Fuß großer Mann mit schwarzem Vollbart, dunklen Augen und einer grobknochigen, kräftigen Statur, der Zorzo, den Kleineren, Schlankeren, um eine halbe Kopfeslänge überragte. Lodovisi sah sein Gegenüber drohend an und sagte: „Diese Frage nimmst du am besten zurück, Mario. Ich kneife nicht, wenn gekämpft wird, ich habe nur etwas gegen Dinge, die von vornherein aussichtslos sind. Also?“ „Gut, gut, es war nicht so gemeint“, erwiderte Zorzo. Es hatte keinen Zweck, sich jetzt mit dem Profos herumzustreiten. Es war ratsam, sich einlenkend und diplomatisch zu verhalten. Gewisse „Kleinigkeiten“ konnten später immer noch geklärt werden - zum Beispiel, ob Lodovisi allein der Anführer der Bande bleiben sollte. „Wir ziehen uns in den Busch zurück und versuchen, ihnen einen Hinterhalt zu legen“, sagte Roi Lodovisi. „Es ist gleich dunkel, und gerade dann dürfte es uns nicht schwerfallen. Vorwärts, wir wollen hier abhauen, ehe sie näher heran sind und uns hier sichten.“
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Er wandte sich ab, schritt voran und führte seine nunmehr siebenköpfige Meute über ein schmales Stück Strand zu den zerklüfteten Felsen, die dem an der ganzen östlichen Küste entlang verlaufenden dichten Grüngürtel vorgelagert waren. Die Männer verschwanden in einem schmalen Einschnitt, der als Hohlweg allmählich aufwärts in das Gebiet der schwarzen, morastigen Erde führte, auf der Baumfarne, Schlinggewächse, blütenbildende Büsche und Bromeliazeen wucherten. Sie schlugen sich mit ihren Entermessern einen Weg und suchten nach einem höher gelegenen Punkt, von dem aus sie die Ankunft der Schiffbrüchigen der „Novara“ beobachten konnten. Die Schleier der Abenddämmerung fielen rasch. Als das Beiboot der Galeone die Landzunge erreichte, herrschte fast kein Büchsenlicht mehr. Die Felsen und der Dschungel wurden für Sampiero und seine Begleiter zu einem grauen, unwirklichen Gebilde, das sich einer Mauer gleich vor ihnen erhob. Sampiero und Venturi waren im Wasser geblieben, als die anderen Männer an Bord der Jolle geklettert waren. Sie hatten das Boot, das jetzt erheblichen Tiefgang hatte, mit größter Behutsamkeit an den Riffbarrieren vorbeigeführt. Erst dann, im Wasser zwischen den Korallenfelsen und dem Ufer, waren auch sie an Bord geklettert. Sechzehn Männer und drei Frauen waren schon fast zu viele Leute für ein Boot dieser Größe. Es lag beinah bis zum Dollbord im Wasser und bewegte sich nur noch träge wie eine dicke Schildkröte voran. Doch gelang es den Männern, ihr Fahrzeug sicher bis ans Land zu bringen. Erschöpft stiegen sie jetzt aus, halfen auch den Frauen an Land und befestigten die Jolle so zwischen ein paar flachen Uferfelsen, daß sie nicht abtreiben konnte. Fosco Sampiero blickte sich aufmerksam nach allen Seiten um. „Lodovisi und seine Kumpane dürften sich ins Innere der Insel zurückgezogen haben“, sagte er. „Gori, Sie haben doch noch
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gesehen, wie sie vom Riff zu dieser Landzunge geschwommen sind, nicht wahr?“ „Si, Signor Capitano, ja, das stimmt“, beeilte sich Gori zu versichern. „Wahrscheinlich verstecken sie sich jetzt irgendwo.“ Er wies zu der düsteren Masse aus Stein und Busch hinauf, in deren oberem Bereich sich die achtköpfige Bande derzeit tatsächlich vorankämpfte. „Erst bei Morgengrauen können wir daran denken, sie zu verfolgen und zu stellen“, sagte der Kapitän. „Während der Nacht wäre es heller Wahnsinn, sich in das Dickicht zu wagen. Wir stellen Wachen auf und schlagen zwischen den Felsen ein Notlager auf, aber wir werden kein Feuer anzünden, denn wir wissen ja noch nicht, ob die Insel Martinique vielleicht bewohnt ist.“ Plötzlich peitschten im Nordwesten ein paar Pistolenschüsse, die trotz des aus Nordosten wehenden Passats deutlich zu vernehmen waren. Sampiero blickte zu seinen Männern. Emilio Venturi, der Erste Offizier, der sich gerade um den Bootsmann Medola gekümmert hatte, schaute auf und sagte: „Diese letzte Frage dürfte hiermit wohl beantwortet sein, Signor Capitano.“ Lodovisi, Zorzo, Prevost und die fünf anderen Meuterer blieben zum selben Zeitpunkt mitten im Dschungel stehen, sahen sich untereinander an und überlegten, was die drei Pistolenschüsse wohl zu bedeuten hatten und wie sie sich verhalten sollten. Der ehemalige Profos der „Novara“ grinste plötzlich. „Hört zu“, sagte er leise. „Wo geschossen wird, sind Menschen, und diese Menschen haben wahrscheinlich nicht nur eine Handvoll Pistolen und Munition — vielleicht verfügen sie über ein ganzes Arsenal. Wir brauchen nur ein paar Schießeisen an uns zu bringen, dann können wir Sampiero und dem übrigen Gesindel einen Tanz liefern, der es in sich hat. Mit ein paar Pistolen und Musketen sind wir ihnen klar überlegen. Wir knallen
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sie ab wie die Hasen und schnappen uns ihre Weiber. Ha, das wird ein Spaß!“ „Roi“, sagte Corrado Prevost. „Wir müssen aber erst mal an die Waffen heran, und das ist gar nicht so einfach. Vielleicht sind es Spanier, die da geschossen haben. Ich könnte mir vorstellen, daß sie hier eine Festung oder so was Ähnliches haben. Angenommen, sie haben auf ein paar nackte Wilde gefeuert, die ihnen an den Hals wollten, dann werden sie auch uns einen heißen Empfang bereiten, sobald wir auftauchen.“ Lodovisi schüttelte den Kopf. „Die lieben Spanier und Portugiesen haben sich hier nie niedergelassen. Das weiß ich von Venturi, und der hat’s von Sampiero gehört. Keiner hat an dieser Insel Interesse, weil es hier zu viele Vulkane gibt.“ „Aber offenbar gibt’s doch Leute, die die Vulkane nicht fürchten“, erklärte Prevost. „Wer denn wohl?“ „Piraten“, sagte Zorzo. „Und mit denen sollen wir uns ‘rumschlagen?“ sagte ein anderer. Lodovisi grinste immer noch. „Wer Angst hat, kann im Dschungel bleiben. Ich pirsche mich jedenfalls dorthin, wo die Schüsse gefallen sind, und sehe nach, was sich tun läßt. Die Waffen sind verdammt wichtig für uns, und ich bin bereit, dafür einiges zu riskieren. Kapiert?“ Er wartete keine Antwort ab, sondern drehte sich um und stapfte weiter, wobei er mit seinem Entermesser nach links und rechts hieb, um Farne und Lianen zu beseitigen. Zorzo, Prevost und die anderen schlossen sich ihm wieder ohne großes Zögern an. Sie sahen ein, daß er recht hatte. Musketen und Pistolen waren für sie so wichtig wie Trinkwasser und Nahrung. Da es bald stockfinster sein würde, hatten sie auch einige Aussichten, mit ihrem Unternehmen Erfolg zu haben. Die Nacht war ihr Verbündeter. 8. Es zahlte sich jetzt aus, daß Hasard das ganze Tal sehr aufmerksam überblickt
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hatte, als sie auf dem Pfad nach unten gewandert waren. Er hatte sich einen Weg durch das Gebüsch und die weiten Grasflächen zurechtgelegt, die die Hänge bedeckten, und in diese Richtung führte er jetzt seine kleine Gruppe. Es gab also noch diese andere Möglichkeit, zurück zu dem Plateau und dann zur Westbucht zu gelangen. Die Hänge waren an einer Stelle nicht so steil, daß man sie nicht erklimmen konnte. Hasard hastete geduckt dorthin, und trotz der zunehmenden Dunkelheit verlor er die Orientierung nicht. Carberry und Shane waren dicht hinter ihm, und auch Dan hielt sich tapfer, trotz seines immer noch schmerzenden Beines. Ihre Befreiungsaktion hatte besser funktioniert, als sie selbst zu glauben gewagt hatten. Sie hatten Erfolg gehabt. Doch das konnte Hasard nicht zu falschen Hoffnungen verleiten. Er hatte La Menthe noch schreien hören und jedes Wort verstanden: Der Kahlkopf trommelte einen Teil seiner Hausstreitmacht zusammen und nahm die Verfolgung auf. Es würde eine gnadenlose Hatz durch die Inselsavanne werden. Dabei war der „Herrscher von Martinique“ gleich zweifach im Vorteil. Er hatte Feuerwaffen, und er kannte sich vorzüglich aus, so daß er jede Möglichkeit der. Abkürzung im Gelände nutzen konnte, um seinen entflohenen Gefangen den Weg zur „Isabella“ abzuschneiden. Die Steigung nahm zu, und bald mußten die vier Männer sich auf alle viere niederlassen, um nicht auszurutschen. Gesträuch und hohes Uvagras deckten ihre Gestalten zu, und die fallenden Schatten der Nacht taten ein weiteres, doch unter sich vernahmen die Seewölfe jetzt die halblauten Rufe, mit denen sich die Verfolger untereinander verständigten. „Hasard!“ zischte Big Old Shane. „Warum legen wir diesen Bastarden keinen Hinterhalt?“ „Das hat keinen Zweck“, gab der Seewolf zurück. „Sie würden uns ja doch zu früh bemerken und einfach ins Gebüsch feuern. Dann sind wir endgültig geliefert.“
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„Aber wir können unsere Messer nach ihnen werfen“, raunte der Profos. „Glaubst du wirklich, ich würde diesen La Menthe oder diesen Duplessis verfehlen? Der Teufel soll mich holen, wenn ich’s täte.“ „Sie haben auch die Höllenflaschen“, flüsterte Hasard. „Es hat keinen Zweck, unsere einzige Chance ist die Flucht zur ,Isabella’.“ „Vielleicht haben Donegal und die anderen bei der Quelle die Schüsse gehört“, sagte Shane. „Es waren drei Schüsse, sie müssen also auf jeden Fall Unrat wittern, denn nur ein einziger hätte bedeutet, daß alles in Ordnung ist. Vermutlich haben auch Ben und die Kameraden auf der ‚Isabella’ die Knallerei gehört - Mann, sie müssen doch was unternehmen!“ „Hoffen wir’s“, zischte der Seewolf. „Still jetzt, sonst verraten wir La Menthe noch, wo wir sind.“ Die Männer schwiegen und setzten den Aufstieg fort, so schnell sie konnten. Dan fiel jetzt doch etwas zurück, aber Carberry bemerkte es, drehte sich um und streckte die Hand nach ihm aus. Grinsend nahm Dan die Hilfe an. Mit dem Profos zankte er sich gern mal herum, aber in der Not hielten sie zusammen wie Pech und Schwefel. * Regis La Menthe hatte ungeduldig auf die drei Männer gewartet, die von dem Anwesen zu ihm und Duplessis heraufgestiegen waren, dann hatte er die kleine Gruppe ausschwärmen lassen und streifte jetzt mit ihr durch das Buschwerk. Er konnte nicht wissen, wohin sich Hasard und seine drei Männer genau wenden würden, doch er konnte es sich in etwa ausrechnen, denn er nahm an, daß dem Seewolf die Beschaffenheit des Geländes nicht entgangen war. Ja, er war ein schlauer Hund, dieser Killigrew! Etwas schlauer noch, als La Menthe ihn eingeschätzt hatte, und genau das war der Fehler des Glatzkopfs gewesen. Er hatte es versäumt, die vier Gefangenen gleich auf dem Plateau zu fesseln. Hätte er es getan,
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hätten sie ihm einen derart üblen Streich nicht spielen können. La Menthes Männer hatten die Anweisung, auf jede im Gebüsch auftauchende Gestalt sofort zu schießen, ganz gleich, ob es sich um die Männer der „Isabella“ oder um die entflohenen Senegalesen handelte. Daß auch die zwei Sklaven die einmalige Gelegenheit zur Flucht ergriffen hatten, brachte La Menthes Wut zum Überschäumen. Er hatte immer damit gerechnet, daß der eine oder andere Schwarze eines Tages versuchen würde, sich gegen ihn aufzulehnen, und deshalb hatte er sie stets streng unter Bewachung gehalten. Doch jetzt, da es tatsächlich geschehen war, war er vor Zorn außer sich. Nur eine Strafe konnte es für die „dreckigen schwarzen Hunde“ geben, wie er sie nannte: den Tod. Er schloß zu Duplessis auf und stieg mit ihm zusammen den Hang hoch. „Wir kriegen sie“, sagte er schwer atmend. „Spätestens auf dem Plateau haben wir sie vor uns wie auf einem Präsentierteller. Dorthin flüchten sie, wohin sollten sie sonst laufen, ohne sich zu verirren?“ „Wir töten sie mit ihren eigenen Waffen“, sagte der bullige Mann. „Ja, und vielleicht jage ich sie mit einer dieser Flaschenbomben in die Luft, die ich mir an den Gürtel gebunden habe. Hast du Feuerstein und Feuerstahl dabei, Duplessis?“ „Ja.“ „Sehr gut“, sagte der Glatzkopf. „Eine hübsche, laute Explosion hört sich gut an und wird auch die anderen Hurensöhne von Bord der Galeone anlocken. Sobald sie an Land sind, blasen wir auch ihnen das Lebenslicht aus.“ Seine Rechnung mußte aufgehen, nur in einem Punkt hatte er sich getäuscht: die anderen „Hurensöhne“ befanden sich bereits auf der Insel und schickten sich an, unter der Führung von Old O’Flynn und Ferris Tucker, dem rothaarigen Schiffszimmermann der „Isabella“, das Aussichtsplateau zu stürmen. *
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Old Donegal Daniel O’Flynn hatte ganz richtig gehandelt, wenn seine Entscheidung auch nicht mit den Befehlen des Seewolfes konform ging. Statt die Nacht abzuwarten, hatte er Matt Davies und Bob Grey zurück zur Ankerbucht der „Isabella“ geschickt, damit sie Ben Brighton und die anderen alarmierten und entsprechend unterrichteten. Ben Brighton hatte daraufhin auch nicht zu handeln gezaudert. Er hatte Verstärkung an Land geschickt: Ferris Tucker, Bob, Matt, Batuti, den schwarzen Herkules aus Gambia, Stenmark und Jeff Bowie. Diese sechs waren im Trab zu Old O’Flynn, Luke, Sam und Bill geeilt, dann hatte sich der ganze zehnköpfige Trupp zu den Bergen nördlich der Bucht in Bewegung gesetzt. An Bord der „Isabella“ befanden sich somit nur noch Ben Brighton, der Kutscher, Smoky, Blacky, Pete Ballie, Gary Andrews, Al Conroy, Will Thorne und die Söhne des Seewolfs – acht Männer und zwei Jungen also, die aber doch immer noch eine zahlenmäßig ausreichende Crew abgaben für den Fall, daß die „Isabella“ auslaufen und in einen möglichen Kampf eingreifen mußte. Was immer auf dem Plateau geschehen sein mochte, Ben hatte sowieso gefechtsklar machen lassen und beobachtete die Berge im Norden, von denen aus Old O’Flynn und Ferris Tucker ein Zeichen geben wollten, falls sie Unterstützung durch die Schiffsgeschütze brauchten. Mit wem Hasard, Shane, Ed und Dan auf dem Plateau zusammengetroffen waren und was sich dort ereignet hatte, war für den zehnköpfigen Einsatztrupp immer noch ein Rätsel, als die Felsenplattform nun erreicht war. Sie blickten sich nach allen Seiten um, entdeckten aber keinen Menschen. Der Seewolf und die anderen Kameraden waren verschwunden. „Verdammt und zugenäht“, sagte der alte O’Flynn. „Das geht doch nicht mit rechten Dingen zu. Hölle, wenn es bloß nicht schon so dunkel wäre.“
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„Sprich nicht so laut“, zischte der rothaarige Riese. „Es könnten Heckenschützen in den Felsen sitzen.“ „Wenn, dann hätten sie schon längst auf uns gefeuert“, sagte der Alte knurrig. „Beim Henker, wo sollen wir jetzt nach unseren Männern suchen? Und warum gibt Hasard uns kein Zeichen?“ „Hier bin ich!“ ertönte plötzlich von rechts her ein schwacher Ruf, der ihre Köpfe herumrucken ließ. „Achtung, sie sind hinter uns her!“ „In Deckung!“ raunte Old O’Flynn seinen Begleitern zu. „Hinlegen, ehe sie uns einheizen!“ Er ging selbst als erster zu Boden, hielt angestrengt Ausschau in die Richtung, aus der die Stimme des Seewolfs ertönt war, und sagte: „Kannst du uns überhaupt sehen, Sir?“ „Ja, soweit alles in Ordnung, Donegal. Aber die Hunde sind uns dicht auf den Fersen.“ „Denen bereiten wir eine nette Begrüßung!“ stieß Ferris Tucker grimmig aus. „Was sind denn das für Bastarde und Höllenhunde, daß sie sich einbilden, sie könnten sich ernsthaft mit uns anlegen?“ Hasards Gestalt erschien in der Dunkelheit. Hinter ihm tauchten die Konturen von Carberry, Shane und Dan O’Flynn aus dem letzten verblassenden Schimmer der Dämmerung auf. Hasard ließ sich neben Old O’Flynn und Ferris nieder und sagte: „Ein paar halbverrückte Franzosen, die die Insel unter ihrer Fuchtel haben. Wir dürfen sie aber nicht unterschätzen. Sie haben unsere Waffen und auch die vier Höllenflaschen.“ „Dreck!“ stieß Ferris hervor. „Wie die zu handhaben sind, haben sie bestimmt schon begriffen.“ „Damit ist zu rechnen“, meinte Carberry. „Was ist, Sir, bleiben wir hier liegen? Das ist ein schlechter Platz für einen Empfang dieser Hurensöhne, wir sollten uns lieber weiter unten in die Büsche schlagen.“ Hasard gab das Zeichen zum langsamen Rückzug. Die Männer schoben sich vorsichtig den Hang hinunter, vierzehn Gestalten, die jetzt keinen Laut mehr von
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sich gaben und nur auf das Erscheinen des Gegners warteten. Hasard und Shane schlugen einen Bogen nach links, um das Plateau gegebenenfalls von Südwesten her mit Feuer bestreichen zu können. Ferris und der Profos hatten sich nach rechts gewandt. Alle anderen duckten sich jetzt in die Büsche am südlichen Hang. Der Seewolf hatte den Radschloß-Drehling in den Händen. Shane hatte den Schnapphahn-Revolverstutzen, der ebenfalls zu den besten Waffen gehörte, die es an Bord der „Isabella“ gab. Ferris hatte beide Mehrschüsser mitgebracht, wie er es auch nicht versäumt hatte, noch einige seiner selbstgebauten Flaschenbomben mitzunehmen. Stenmark brauchte ein bißchen zuviel Zeit, um sich in das Gesträuch zu legen, er war jedenfalls der letzte, der sich zu Boden sinken ließ und den Kopf einzog. Genau diese Bewegung nahm Regis La Menthe, der in diesem Augenblick als erster der Verfolger am Rand des Plateaus erschien, noch wahr. Sofort brachte er die Muskete, die er sich von Duplessis hatte aushändigen lassen, in Anschlag und drückte auf die Gestalt des Schweden ab. Der Mündungsblitz stach als gelber Schlitz in die Nacht. Stenmark warf sich platt auf den Bauch und fluchte, aber er konnte noch von Glück sprechen, denn die Kugel sirrte knapp über seinen Rücken weg und verlor sich irgendwo weiter abwärts in der Nacht. Neben La Menthe erschienen Duplessis und die drei anderen Franzosen, aber ehe auch sie schießen konnten, eröffnete Hasard mit dem Drehling das Gegenfeuer. Carberry und Ferris Tucker ließen von der gegenüberliegenden Seite des Hanges her ihre Musketen sprechen, und dann griffen auch Old O’Flynn und die anderen ein. Ein Stakkato von Schüssen hallte durch die Nacht, das Echo kehrte rollend von den Bergwänden zurück. „Zurück!“ schrie La Menthe. „Wir sind in eine Falle gegangen! Zurück !“ Links neben ihm brach einer seiner Männer mit einem röchelnden Laut
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zusammen. Er kippte vornüber und rollte den Hang hinunter, zu Matt Davies und Batuti ins Gebüsch, die dem Leichnam auswichen. La Menthe, Duplessis und die beiden anderen Franzosen zogen sich schleunigst hinter ein paar Felsenquader zurück. Zwei Pistolenschüsse knallten, aber die Kugeln gingen wirkungslos ins Dunkel. „La Menthe!“ rief der Seewolf in die nun eintretende kurze Feuerpause. „Gib es auf, es hat keinen Zweck! Streich die Flagge! Wir wollen hier kein Massaker veranstalten! Wir gewähren dir freien Abzug, wenn du aufhörst, den wilden Mann zu spielen!“ „Zum Teufel mit dir, Killigrew, du Bastard!“ tönte es von den Felsblöcken zurück. „Versuch doch, mich zu holen! Du wirst schon sehen, was du davon hast!“ „Daran ist mir nicht gelegen!“ „Willst du wieder kneifen?“ „Laß uns einen Waffenstillstand schließen! Das ist nur in deinem Interesse!“ Regis La Menthe gab keine Erwiderung. Er wandte sich hinter dem großen Stein, der ihm und Duplessis als Deckung diente, an seinen bulligen Stellvertreter und raunte ihm zu: „Zünde die Lunte dieser Flasche an, Duplessis. Wir setzen sie diesen Dreckskerlen genau zwischen die Beine, und du wirst staunen, was für eine Wirkung das hat.“ Er hielt ihm die eine Flaschenbombe hin, die er von seinem Gurt losgebunden hatte. Duplessis kramte schleunigst den Feuerstein und das Stückchen Stahl aus seiner Hosentasche und schlug sie mit geübter Bewegung aneinander. Funken sprühten und sprangen auf die Lunte der Flasche über, doch beim ersten Versuch wollte es nicht gelingen, die Zündschnur in Brand zu setzen. „La Menthe!“ schrie der Seewolf noch einmal. „Verrecke“, zischte der Glatzkopf voll Haß. „Ich weiß jetzt, wo du dich versteckst, Bastard, und werde dich als ersten ins Jenseits befördern.“ Noch einmal hieb Duplessis Stein und Stahl gegeneinander, und diesmal hatte er
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Erfolg: Knisternd begann die Lunte zu glimmen. La Menthe betrachtete mit einem eigenartigen Ausdruck der Faszination die glühende Zündschnur und versuchte auszurechnen, wie lange es dauern mochte, bis sich die Glut durch den Korken ins Innere der Flasche gefressen hatte. Und wie rasch ging dann die Pulverladung hoch? Er gelangte zu dem Schluß, daß er die Flasche schleudern mußte, wenn die Lunte bis knapp über dem Korken abgebrannt war. Wie gebannt blickte er auf das knisternde, funkenverstreuende Ende und wog die Flasche in der Hand, als müsse er ihr Gewicht schätzen. Schnell hatte sich die Zündschnur um gut ein Drittel ihrer Gesamtlänge verkürzt. „Jetzt“, flüsterte La Menthe. „Jetzt ist es soweit.“ Hasard wollte seinen Appell an den Franzosen wiederholen, obwohl er ahnte, daß dies wenig Zweck haben würde. Er kam aber nicht mehr dazu, dem Gegner auch nur ein Wort zuzurufen. Plötzlich flog ein dunkler Gegenstand hinter den Quadern hoch, der von einem glimmenden roten Pünktchen begleitet wurde — und alle Männer der „Isabella“ wußten nur zu gut, was das zu bedeuten hatte. „Weg!“ rief Hasard Big Old Shane zu. „Zur Seite — das gilt uns!“ Sie rollten sich seitlich ins struppige Buschwerk, der Seewolf nach links und der graubärtige Riese nach rechts. Sie hörten die Flasche dumpf zu Boden poltern, blieben liegen und deckten ihre Köpfe schützend mit den Händen ab. Die Flasche kollerte noch ein Stück den Hang hinunter, dann flog sie mit einem ohrenbetäubenden Knall auseinander. Ein Feuerball stand für einen Augenblick wie eine Faust in der Nacht, zerfaserte dann in alle Himmelsrichtungen, verlor sich und wich einer weißlichen Wolke Pulverrauch, die über den Büschen schwebte. Hasard und Shane waren unversehrt. Wütend legten sie mit dem Drehling und dem Stutzen an und sandten eine Salve zum Plateau hinauf. Old O’Flynn, Ferris,
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der Profos und die anderen feuerten ebenfalls –mit dem Ergebnis, daß einer der Franzosen, der allzu verwegen seinen Kopf hinter den Felsbrocken hervorgestreckt hatte, zusammenzuckte und mit einem Wehlaut zurücksank. „Das wirst du mir büßen, Killigrew!“ brüllte La Menthe. Hasard ging nicht mehr darauf ein, er wußte, daß es keinen Zweck hatte. „Ferris!“ rief er. „Batuti!“ Ferris Tucker war längst mit seinen Höllenflaschen bereit, und Batuti hatte einige der pulvergefüllten Brandpfeile, die er im Köcher mitgebracht hatte, neben sich gelegt. Bill, der Moses, assistierte ihm und zündete den ersten ölgetränkten Lappen an der Spitze des einen Pfeiles mit dem ausgehöhlten Schaft an, während der Schiffszimmermann der „Isabella“ seinerseits die Lunte einer Höllenflasche zum Glimmen brachte. Er verstand sich besser darauf als La Menthe, schließlich war er der Erfinder dieser merkwürdigen, aber sehr wirkungsvollen Waffe. Beide – Ferris und der Gambia-Mann – wußten, daß sie Hasards Zuruf als Befehl zu werten hatten, ihre Spezialwaffen einzusetzen. So wirbelte eine Höllenflasche durch die Dunkelheit und stach ein lodernder Pfeil himmelan, ehe La Menthe die zweite der vier erbeuteten Flaschen einsetzen konnte. Ferris’ Flasche segelte zwischen die Quader und zerplatzte in einer dröhnenden Detonation, bevor sie auf dem harten Untergrund zerspringen konnte. Batutis Pfeil stach von oben nahezu senkrecht auf das Plateau und explodierte ebenfalls. La Menthe brachte sich durch einen Satz zurück und rettete dadurch sein Leben. Duplessis hingegen verhielt sich weniger geistesgegenwärtig. Er hatte mit dem Feuerstein und dem Stahl unbedingt die Lunte der zweiten Höllenflasche zünden wollen. Derart vertieft war er in sein Werk gewesen, daß er zu keiner instinktiven Reaktion mehr gelangte. Sein schwerer Körper wurde durch die Luft gewirbelt, als habe ihn eine unsichtbare Gigantenhand hochgehoben.
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Etwa fünf Yards weit flog Duplessis, dann krachte er zu Boden und blieb liegen. Die beiden anderen Franzosen waren durch die Explosion des Pulverpfeils verletzt. Stöhnend erhoben sie sich aus ihrer Deckung. Sie dachten jetzt nicht mehr an Widerstand, sondern nur noch an Flucht, und trafen keine Anstalten mehr, auf die Seewölfe zu schießen. Für Hasard und seine Männer boten sie ein recht deutliches Ziel in der Nacht, doch der Seewolf gab den Befehl, keinen Schuß auf sie abzugeben. La Menthe starrte wie in Trance auf die Flaschenbombe in seiner Hand. Die Lunte brannte doch, Duplessis hatte es noch geschafft, sie zum Glühen zu bringen - das merkte der Glatzkopf erst jetzt. Entsetzt und verwirrt zugleich warf er sie fort, aber nicht weit genug, um seinen Feinden damit zuzusetzen. Die Flasche fiel auf das Plateau, zerbrach jedoch nicht, denn sie war aus sehr starkem, dickwandigem Glas gefertigt. Sie rollte auf die beiden verletzten Franzosen zu, und ihre Lunte brannte weiter. „He!“ schrie La Menthe. „Paßt auf! Lauft weg! Die Flasche!“ Blutüberströmt taumelten die Männer auf ihren Anführer zu. Sie waren hart angeschlagen und schienen kaum noch etwas von ihrer Umgebung wahrzunehmen. Der eine sank plötzlich auf die Knie. Der andere blieb unschlüssig stehen und gab einen röchelnden Laut von sich. Die Flasche rollte dem ersten gegen das linke Knie, dann ging sie hoch. Erschüttert verfolgten Hasard und seine Männer die Wirkung dieser vierten Explosion. Der Donnerhall verebbte. Sie richteten sich auf, um das Plateau zu stürmen und La Menthe, den einzigen Überlebenden, zu schnappen, doch jetzt konnten sie seine Schritte vernehmen, die davonhasteten. La Menthe ergriff die Flucht. Er wollte zurück ins Tal laufen, sein Anwesen erreichen und sich dort, innerhalb der weißen Mauern, verbarrikadieren. Hasard stürmte den Hang hinauf.
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Er wollte La Menthe, der das Leben seiner Gefährten so leichtfertig aufs Spiel gesetzt und seine Leute buchstäblich verheizt hatte, nicht so billig davonkommen lassen. Er wollte ihn um jeden Preis fassen. Big Old Shane zielte mit dem Revolverstutzen in den Nachthimmel und gab drei Schüsse ab. Das war das Zeichen für Ben Brighton, daß er mit der „Isabella“ nicht ankerauf zu gehen und in den Kampf einzugreifen brauchte. Ben hatte beim Dröhnen der ersten Flaschenbomben-Explosion den Anker lichten lassen, doch jetzt atmete er auf und rief Smoky, Blacky, Al Conroy und Will Thorne, die auf der Back am Gangspill standen, zu: „Fallen Anker, wir werden offenbar doch nicht gebraucht!“ „Na, so ein Glück“, sagte Blacky. „Viel hätten wir ja ohnehin nicht unternehmen können, denn wer kann in der Dunkelheit schon Freund und Feind unterscheiden und auf die richtige Stelle feuern?“ Der Kutscher, der neben den Zwillingen am Schanzkleid der Kuhl stand, sagte: „Ich würde was drum geben, wenn ich erfahren könnte, was überhaupt los ist. Himmel, in was für ein Schlangennest sind wir hier nur getreten?“ „Giftige Schlangen sind’s bestimmt“, meinte Philip junior. „Sonst hätten Dad und die anderen wohl nicht so kräftig hingelangt.“ „Gebe der Himmel, daß keiner der Unseren verletzt ist“, sagte der Kutscher, und dann schlug er das Zeichen des Kreuzes, denn es war ihm sehr ernst mit diesem Wunsch. 9. Lodovisi, Zorzo, Prevost und die fünf anderen ehemaligen Decksleute der „Novara“ hatten eine lichtere Region des Dschungels erreicht, von der aus sie das Aufblitzen der Explosionen in den Bergen sehen konnten. Das Grollen war so deutlich zu hören, als wären die Ladungen in ihrer unmittelbaren Nähe hochgegangen. „Ich werd’ nicht wieder“, sagte Zorzo. „Da müssen ja ganze Pulverfässer in die Luft
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geflogen sein. Wer ist denn so verrückt, das zu tun?“ „Keine Ahnung“, erwiderte Roi Lodovisi. „Aber eins steht fest. Zwei gegnerische Gruppen schlagen sich da drüben die Köpfe ein.“ „Und wir wollen uns in diesen Teufelskreis wagen?“ fragte Prevost. „Das gefällt mir nicht. Das geht nicht gut für uns aus, sage ich.“ Einer seiner Kumpane, der sich etwas weiter vorgearbeitet hatte, sagte plötzlich: „Kommt mal her - hier herüber! Ich sehe ein paar Lichter. Da muß ein Dorf oder so was Ähnliches sein.“ Sie wandten sich um und eilten ihm nach. Wenige Augenblicke später konnten auch sie die glitzernden Punkte sehen, die unzweifelhaft die Beleuchtung mehrerer Häuser darstellten. Die Bauten schienen in einer Senke oder einem Tal zu stehen. Sie lagen auf jeden Fall unterhalb des Platzes, wo der Urwald sich öffnete und Lodovisi und seine Kerle jetzt standen. Lodovisi lächelte mit einemmal. „Sehr gut“, sagte er. „Jetzt wissen wir, wo unser Ziel liegt. Wie heißt es doch so schön? Wenn zwei sich streiten, freut sich der dritte.“ „Und jeder ist sich selbst der Nächste“, warf Mario Zorzo ein. „Ja, das natürlich auch. Dort unten finden wir mit Sicherheit alles, was wir brauchen“, sagte Lodovisi. „Waffen, Pulver, Kugeln - alles. Wenn wir Glück haben, gibt es nur ein paar Wachen, die wir leicht überwältigen können. Los; beeilen wir uns.“ Sie begannen den Abstieg ins Tal. Sie ahnten nicht, daß jemand anders bereits im Begriff war, ihnen ein wichtiges Stück Arbeit abzunehmen. * Die beiden Franzosen, die als Posten bei den Steinhäusern zurückgeblieben waren, sahen sich besorgt an. Sie fragten sich, was oben in den Bergen an der Westbucht wohl vorgehen mochte und welche Art Kampf La Menthe gegen die, die den Frieden der
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Insel Martinique gestört hatten, führen mußte. Sie standen nicht weit vom Sklavenhaus entfernt und hielten ihre Musketen im Anschlag. Ihre Anweisungen waren klar. Sie sollten sich nicht vom Fleck rühren, eventuelle Angriffe von außen abwehren, vor allem aber darauf achten, daß die Senegalesen - vier Männer und sechs Frauen - nicht die allgemeine Unruhe ausnutzten und einen Ausbruchsversuch unternahmen. Im Sklavenhaus wurden hin und wieder Rufe laut, manchmal waren polternde Laute zu vernehmen. „Verdammter Mist“, sagte der eine Posten. „Jetzt werden sie doch aufsässig. Wir hätten sie besser gleich angekettet.“ „Das ließe sich nachholen“, erwiderte der zweite Mann. „Wir riegeln die Tür auf, du hältst sie in Schach, und ich fessle sie mit den Ketten an die Mauer. Dann haben wir unsere Ruhe.“ „Warte“, sagte der erste. „Ich habe ein Geräusch gehört.“ „Ja, natürlich. Sie werden immer wilder und haben die Peitsche verdient.“ „Nein, das ist es nicht.“ „Doch. Und soll ich dir was sagen? Es sind die Weiber, die ihre Kerle aufhetzen. Sie wissen, daß wir nur noch zu zweit sind, und wittern ihre Chance. Sie ...“ „Nein“, unterbrach ihn der andere. „Das Geräusch klang von La Menthes Haus her. So ein Kratzen oder Schaben - als ob jemand an der Hintertür herumhantiert.“ „Jetzt phantasierst du. Das schwarze Pack kann nicht ausgebrochen sein. Noch ist die Tür zu, und die Fenster sind alle vergittert. Wo sollen sie denn wohl ‘rausschlüpfen, wenn nicht aus der Tür?“ Der andere ließ sich nicht beirren. „Ich will nicht sagen, daß es einer der Neger ist, der da im Dunkeln herumschleicht. La Menthe hat uns vorhin zugerufen, der Aufstand sei ausgebrochen. Irgendjemand ist auf der Insel gelandet und bedroht uns, oder wie stellst du dir das sonst vor? Ich meine, irgend so ein Bastard könnte doch zu uns heruntergeschlichen sein, ohne daß La Menthe es bemerkt hat, und es dürfte ihm
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nicht schwergefallen sein, über die Mauer zu klettern.“ „Sei still“, zischte sein Kamerad. „Ich wage mir das gar nicht auszumalen.“ „Hast du die Hosen schon voll?“ „Unsinn.“ „Ich sehe jetzt mal nach, was da los ist“, sagte der erste Mann. „Halt du mir den Rücken frei.“ Er drehte sich halb um und ging auf das große Haus von Regis La Menthe zu, in dessen Innenräumen genau wie in den anderen Bauten Öllampen brannten, die die Posten bei Anbruch der Dunkelheit entfacht hatten. Er schickte sich an, das Haus zu umrunden, und sein Landsmann folgte ihm, wobei er aufmerksam nach allen Seiten sicherte. Der erste Posten war an der Südseite des Gebäudes und schob sich mit vorgehaltener Waffe auf die hintere Ecke zu. Der zweite hielt sich auf drei bis vier Schritte Distanz hinter ihm, wandte aber jäh den Kopf, weil er zu seiner Linken dort, wo das Wohnhaus von La Menthes französischer „Garde“ stand - eine Bewegung registriert zu haben glaubte. Etwas flog auf ihn zu. Es war ein Stein, aber das bemerkte er zu spät. Der Stein traf mit geradezu unheimlicher Präzision seine Schläfe, und er sank zusammen, noch ehe er seine Muskete hochbringen und den Zeigefinger um den Abzug krümmen konnte. Der erste Posten fuhr herum, aber von der Rückseite des La-Menthe-Gebäudes schnellte jetzt ein Schatten auf ihn zu und warf sich auf ihn. Vom Nebenhaus näherte sich die schwarze Gestalt, die den Stein geworfen hatte, und hieb dem Franzosen einen zweiten Gesteinsbrocken auf den Kopf, bevor dieser den anderen Angreifer abzuschütteln vermochte. Der Franzose gab einen würgenden Laut von sich, ließ die Muskete los und streckte Arme und Beine von sich. Er war ohnmächtig geworden. Der Mann mit dem Stein wollte wieder und wieder auf ihn einschlagen, doch sein Freund hielt ihn zurück.
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„Wir wollen sie nicht töten, Bruder“, raunte er. „Wir wollen nicht so barbarisch sein wie sie.“ Der andere nickte, wenn auch widerwillig. Er half seinem Stammesbruder, die beiden Bewußtlosen zu dem Sklavenhaus zu schleppen. Dann nahmen sie dem einen den großen Schlüsselbund ab, suchten den passenden Schlüssel hervor und entriegelten die Tür. Sie drückten sie auf und flüsterten den Insassen des einzigen Raumes ein paar beruhigende Worte zu. Das Licht der Öllampe, die unter dem einen Deckenbalken baumelte, fiel auf ihre halbnackten Gestalten, so daß die zehn überraschten Senegalesen keine Schwierigkeiten hatten, sie sofort als die beiden Sklaven zu identifizieren, die La Menthe und Duplessis auf dem Bergpfad entlaufen waren. Die Flucht war den beiden schwarzen Männern gelungen, und jetzt waren sie ins Lager ihrer Bezwinger zurückgekehrt, um ihre Brüder und Schwestern zu befreien. 10. Lodovisi, Zorzo, Prevost und die übrigen Meuterer der „Novara“ trafen wenige Minuten später am Bachlauf ein und schlichen daran entlang auf die Einfriedung des Lagers zu. Sie pirschten eine Weile um die Mauer herum, wagten aber nicht, darüber hinwegzuklettern, weil sie damit rechneten, daß die Wachtposten, die nach ihren Vorstellungen im Inneren Patrouille gingen, sofort auf sie schießen würden. So erreichten sie, immer noch uneinig, was zu tun war, das Tor des Anwesens. Zu ihrer großen Überraschung stand es nur angelehnt und ließ sich leicht aufschieben. Es bewegte sich in gut geölten Angeln und gab kein verräterisches Knarren oder Quietschen von sich. „Vorsicht“, warnte Prevost. „Das könnte eine Falle sein.“ „Glaube ich nicht“, sagte Zorzo ebenso leise. „Drinnen ist alles ruhig. Möglich, daß alle Mann ausgerückt sind, um sich in
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den Bergen gegen den Feind zu wehren, egal, wer’s ist.“ „In den Bergen wird nicht mehr geschossen“, flüsterte Lodovisi. „Es ist verdächtig still. Der Kampf scheint entschieden zu sein. Wer gewonnen hat, soll uns nicht kratzen. Wir müssen nur damit rechnen, daß die, denen das hier gehört, bald zurückkehren. Also los, beeilen wir uns.“ Entschlossen schlüpfte er durch den Spalt des Tores ins Innere des Lagers. Sein erster mißtrauischer Blick galt den Häusern, in denen die Lichter brannten, die sie von der Anhöhe aus gesichtet hatten. Offenbar befand sich kein Mensch in diesen Bauten, und auch auf dem großen freien Platz davor und dazwischen bewegten sich keine Gestalten. Lodovisi sah nach rechts und sah ein Geschütz, das er sofort als ein Falkonett einstufte, als einen Dreipfünder also. Daß La Menthe und dessen Kumpane es seinerzeit aus dem Wrack ihres Schiffes geborgen und zur Insel geschafft hatten, konnte er nicht wissen, aber es hätte ihn auch weniger interessiert als die Tatsache, daß neben dem Falkonett Kugeln lagen und ein Pulverfäßchen bereitstand. Außerdem gab es ein kleines Kupferbecken, in dem Holzkohle zum Anzünden der Lunte glomm. Die Mündung des Geschützes ragte in eine schmale, hohe Schießscharte der Mauer, blickte somit also ins Freie, um etwaigen Angreifern einen Eisengruß entbieten zu können. Die beiden Wachtposten hatten das Holzkohlenfeuer angezündet, als La Menthe Alarm geschrien und drei Männer aus dem Lager abgezogen hatte. Das gehörte zu den Routinemaßnahmen, die ergriffen wurden, wenn Gefahr im Verzug war. „Zorzo“, raunte Lodovisi. „Hier steht ein wunderbares kleines Spielzeug, das dir gefallen wird, und ich rate dir, gleich daran Wache zu halten, damit wir den Rücken frei haben.“ „Ist das ein Befehl?“ „Natürlich ist er das.“
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„Ich mag es nicht, wenn du mich wie einen Hund herumkommandierst, Lodovisi“, zischte Mario Zorzo. „Du bist jetzt nicht mehr der Profos, merk dir das.“ „Streitet jetzt nicht“, flüsterte Prevost. „Es ist nicht der richtige Augenblick dafür. Wir können später noch diskutieren, wer das Sagen hat.“ „Also gut, einverstanden“, sagte Zorzo. Er drängte sich an Lodovisi vorbei, der ihn mit einem mißbilligenden Blick bedachte, und nahm Aufstellung an der Kanone. Lodovisi, Prevost und die fünf anderen schlichen vom Tor aus über den Platz und näherten sich dem Sklavenhaus, dessen Tür halb offen stand. Sie sicherten nach links und nach rechts, vermochten aber nach wie vor niemanden zu entdecken, der ihnen in die Quere geraten konnte. Groß war ihr Erstaunen allerdings, als sie in dem großen Raum des Sklavenhauses eine Bewegung sahen. Sie wichen zur Seite, pirschten bis zum Türrahmen vor und blickten sich grinsend an. Aus dem Haus drang das aufgeregte Tuscheln von Stimmen — von Frauenstimmen. *
Die beiden französischen Wachtposten waren von den Senegalesen an die Wand neben der Tür gekettet worden. Sie waren nach wie vor ohnmächtig. Lodovisi und seine Bande konnten sie von ihrem derzeitigen Standort aus nicht sehen. Die sechs schwarzen Männer hatten sich zu dem Haus hinüberbegeben, in dem ihres Wissens die Waffenkammer untergebracht war, und die sechs Frauen hatten die Anweisung erhalten, so lange auf sie zu warten, bis sie mit Musketen und Pistolen zurückkehrten und sie abholten. Dann wollten sie gemeinsam in den Dschungel flüchten und mit Hilfe der Werkzeuge, die sie ebenfalls aus dem Lager mitnehmen wollten, Bäume fällen und während der Nacht noch ein großes Floß zimmern, das sie hinaus auf die See und fort von Martinique bringen sollte, das für sie die Insel des Schreckens war. Die Frauen
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sahen erwartungsvoll zur Tür, als sich dort jetzt etwas regte, aber im nächsten Augenblick schrien sie entsetzt auf, denn es waren nicht ihre Stammesbrüder, die sich hereinschoben, sondern weiße Männer in zerfetzter, durchnäßter Kleidung, die Entermesser in den Fäusten hielten und einen furchterregenden Anblick boten. Prevost schritt mit gemeinem Grinsen auf die Frauen zu. Sie wichen vor ihm zurück. Er sah ihre vollen, wippenden Brüste, ihre weichen Hüften und die kaum bekleideten Schenkel, und er hatte in diesem Moment nur dieses eine Bild vor Augen, das ihn fast um die Beherrschung und um den Verstand brachte. „Nicht so ängstlich“, sagte er. „Gerechter Himmel, ihr braucht euch doch vor einem gestandenen Mannsbild nicht zu erschrecken. He, Lodovisi, sieh dir das an, wer hätte gedacht, daß wir hier so üppiges Weibervolk vorfinden würden? Das ist was für unsereinen, sage ich, und zwar sofort. Los, ihr schwarzen Huren, laßt euch mal richtig anfassen und ziert euch nicht so. Ihr kennt das doch bestimmt und könnt es kaum erwarten, mal wieder von einem weißen Mann so richtig vorgenommen zu werden.“ „Hör auf“, sagte Lodovisi. „Wir müssen uns erst die Waffen besorgen.“ „Mann, das hat doch Zeit. Wer stört uns hier denn schon?“ Wieder schrien die schwarzen Frauen auf. „Zurück!“ rief Lodovisi. „Verdammt, laß das jetzt sein, es hat ja doch keinen Zweck!“ Prevost fuhr wütend zu ihm herum. „Willst du mich jetzt auch kommandieren? Zum Teufel, Mario hat recht, du riskierst uns gegenüber eine viel zu dicke Lippe. Ich ...“ „Schweig!“ fuhr Lodovisi ihn an und hob drohend sein Entermesser. Prevost war verblüfft und erzürnt zugleich. Aber ehe er noch etwas Passendes erwidern konnte, krachten draußen zwei Schüsse und einer seiner Kumpane, der noch draußen vor der Tür des Sklavenhauses stand, brach mit einem Wehlaut zusammen, fiel auf die Seite und blieb verkrümmt liegen.
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„Sie haben sich im Nebenhaus versteckt und feuern auf uns!“ schrie einer der vier, die jetzt noch hinter Lodovisis breitem Rücken standen. „Es war doch eine Falle! O Hölle, sie bringen uns alle um!“ „Zorzo!“ brüllte Roi Lodovisi. „Schwenk die verfluchte Kanone herum und schieß diese Schweinebande zusammen!“ Mario Zorzo hatte das Geschehen genau verfolgen können, und er sah auch ganz deutlich, in welchem Hauseingang die Gestalten kauerten, die den einen Mann von der Tür des Sklavenhauses weggeschossen hatten. Ein Falkonett ist knapp halb so schwer wie eine Demi-Culverine und kann von einem einzelnen Mann mit Leichtigkeit zurückgerollt und herumgedrückt werden. Zorzo zerrte den Dreipfünder herum, zielte mit dem Rohr auf das Waffen- und Munitionsdepot und schob die Lunte in das Holzkohlebecken, um sie anzuzünden. Wieder feuerten die Senegalesen wutentbrannt auf die Eindringlinge, und wieder fiel ein Mann, der sich nicht rechtzeitig genug in Sicherheit bringen konnte. Lodovisi, Prevost und die drei anderen zogen sich ins Sklavenhaus zurück, um die Frauen als Geiseln zu nehmen. Es war ihre einzige Chance, sich gegen die Sklaven, die eben erst ihre Freiheit erlangt hatten und sie jetzt nicht wieder verlieren wollten, zu verteidigen, es sei denn, Zorzo gelang es, die jetzt langsam vorrückenden schwarzen Gestalten durch einen gezielten Kanonenschuß zu vernichten. * Hasard wußte, daß er Regis La Menthe dicht auf den Fersen war, er konnte das Atmen des Franzosen in der Nacht hören. Dieses Geräusch ging allerdings unter, als sie dem Lager nahe waren und die Musketenschüsse aufzupeitschen begannen. Hasard nahm eine schwache Bewegung in der Dunkelheit wahr und erkannte, daß La Menthe zur Vorderseite der Mauer lief, also dorthin, wo sich das Tor befinden mußte.
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Wie von Sinnen brach La Menthe durch das offene Tor in sein Anwesen ein und sah Zorzo, der gerade im Begriff war, die Lunte auf das Bodenstück des Falkonetts zu senken. „Du Kanaille!“ schrie er ihn an. „Du willst mir alles zerstören? Wer bist du? Wer hat dich geschickt? Ich töte dich!“ Seine Schußwaffen hatte er auf dem Plateau leergefeuert und inzwischen nicht mehr nachladen können. Deshalb zückte er das Messer, das in seinem Gurt steckte, und stürzte sich damit auf den Italiener, der entsetzt zu ihm herumfuhr und eine abwehrende Haltung einnahm. Hasard überbrückte mit den letzten Schritten den Abstand, der noch zwischen ihm und dem Tor lag. Die Senegalesen hatten die Tür des Sklavenhauses erreicht und warfen sich dagegen. Die Tür flog auf, und jetzt sahen sie sich einer haarsträubenden Situation gegenüber: Lodovisi, Prevost und die drei anderen Meuterer der „Novara“ hatten sich fünf der sechs Frauen gepackt und hielten sie als Schutz vor sich fest. Wie gelähmt standen die schwarzen Männer, die ausnahmslos Musketen in den Fäusten hielten, plötzlich da. Die sechste Frau sprang jedoch plötzlich Lodovisi von hinten an und drückte ihm die Fingerspitzen in die Augen. Der ExProfos brüllte auf, ließ seine Geisel los, und diese warf sich todesmutig auf Prevost. Im Nu war ein Handgemenge entbrannt, in dessen Verlauf einer der schwarzen Männer Prevost niederschoß, indem er ihm die Mündung seiner Muskete gegen die Körperseite hielt und abdrückte. La Menthe hatte Zorzo zwei Messerstiche beigebracht, doch Zorzo legte ihm eine Hand an die Gurgel, drückte zu und versuchte gleichzeitig, den Gegner zurückzudrängen. Mit der anderen Hand hielt er immer noch die glimmende Lunte. Sie gingen zu Boden und wälzten sich keuchend. Die Zündschnur geriet der Lunte der einen Flaschenbombe, die La Menthe nach wie vor an seinem Gurt trug, bedrohlich nahe.
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Der Seewolf war unter dem Torbogen, erfaßte die Lage mit einem Blick und stürzte zu den beiden Männern, um sie voneinander zu trennen. Er prallte jedoch zurück, denn der Glatzkopf hackte wie wahnsinnig mit dem Messer auf ihn ein und verletzte seinen linken Arm. Die Wunde brannte wie Feuer. Hasard fluchte, fing sich wieder und wollte erneut eingreifen. doch jetzt sah er, daß die Lunte der Flaschenbombe an La Menthes Gürtel zu glimmen begonnen hatte. Es war keine sehr lange Lunte. „La Menthe!“ stieß Hasard entsetzt hervor. „Die Bombe! Um Himmels willen, lösch die Lunte!“ La Menthe hörte nicht auf ihn. Er war wie besessen von dem Gedanken, den Italiener zu töten. In seinem an Wahn grenzenden Haß hielt er Zorzo für Hasards Verbündeten und glaubte an ein großanlegtes Komplott, an eine Invasion auf Martinique, an deren Ende die Zerstörung all dessen stand, was er, der Herrscher, aufgebaut und eifersüchtig gehütet hatte. Lodovisi floh aus dem Sklavenhaus, in dem die Senegalesen inzwischen auch seine anderen Kumpane überwältigt hatten. Er hastete zum Waffendepot, riß in aller Hast zwei Musketen an sich und kehrte auf den großen freien Platz zurück. Hasard lief auf ihn zu. „Halt! Stehenbleiben!“ schrie er, dann legte er mit dem Radschloß-Drehling auf den bärtigen Mann an. „Laß die Waffen fallen!“ Lodovisi ließ die eine Muskete sinken, weil sie ihn nur behinderte. Mit der anderen zielte er auf Hasard und drückte ab. Der Seewolf ließ sich fallen und überrollte sich auf dem staubigen Boden. Knapp ging die für ihn bestimmte Kugel an ihm vorbei, dann schoß auch er. Roi Lodovisi taumelte rückwärts, die leergeschossene Muskete entglitt seinen schlaff werdenden Händen. Er hatte ein häßliches Loch in der Stirn, seine Züge waren zu einer fragenden, verständnislosen Grimasse verzerrt.
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Die schwarzen Männer verließen das Sklavenhaus. Einige wollten mit ihren Beutewaffen auf den Seewolf anlegen, doch die, die auf dem Bergpfad vor La Menthe und Duplessis geflohen waren, hielten sie zurück. Sie erkannten den Mann, der ihnen mit seinen Kameraden zusammen zur Befreiung verholfen hatte, wieder. La Menthe schrie etwas, das Hasard nicht verstand, dann explodierte die Flaschenbombe und zündete auch die Ladung der zweiten Flasche an seinem Gurt. Hoch stiegen Feuer und Rauch vor der weißen Mauer auf, die Heftigkeit der Detonation ließ den Boden erzittern. Das Falkonett kippte um, im Donner der doppelten Sprengung glaubte Hasard die beiden Männer noch einmal aufschreien zu hören. Er preßte sich flach auf den Boden und ließ die Druckwelle über sich wegstreichen. Danach richtete er sich auf, drehte sich um und sah im Schein der Lampen, die die Senegalesen jetzt herantrugen, einen dunklen Fleck an der weißen Mauer. La Menthe und Mario Zorzo waren wie vom Erdboden ausgelöscht, von ihren sterblichen Überresten war nichts mehr zu sehen. Im Tor erschienen die Gestalten von Dan, Shane, Carberry, Sam, Luke, Ferris Tucker und Old O’Flynn. Sie waren ihrem Kapitän vom Plateau aus nachgeeilt, um ihn bei seinem Vorhaben, La Menthe zu stoppen, zu unterstützen. „Es gibt nichts mehr zu tun“, sagte der Seewolf. „Wo sind die anderen — Bill, Bob, Matt, Batuti, Stenmark und Jeff?“ „Zurück zur ‚Isabella’ „, erklärte Ferris Tucker, der sich verdutzt umschaute. „Sie sollen Ben Brighton berichten, was vorgefallen ist.“ „Gut“, sagte Hasard. „Und wir lassen uns von den Schwarzen jetzt zum Ostufer führen. Ich schätze, sie kennen den Weg, der dorthin führt. Wenn mich nicht alles täuscht, wartet dort noch eine Aufgabe auf uns.“
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Fosco Sampiero stand dem Seewolf auf der Landzunge des östlichen Ufers gegenüber, als der nahezu volle Mond sein weißliches Licht über die Insel Martinique ausgoß. Die anderen Überlebenden des Untergangs der „Novara“ umringten sie, und auch die Seewölfe und die Senegalesen hatten sich mit zu der Runde gesellt, die beinah andächtig dem von Hasard auf spanisch geführten Bericht über die blutigen Vorfälle gelauscht hatte. Sampiero streckte die Hand aus. Hasard ergriff sie und drückte sie fest. „Ich danke Ihnen von Herzen, Signor Killigrew“, sagte der Mann aus Genua. „Sie haben uns vor einem großen Unheil bewahrt. Dieser La Menthe hätte uns zweifellos überfallen, wie er auch Sie und Ihre Männer getötet hätte.“ „Ja. Er war von seiner Selbstherrlichkeit verblendet und schreckte vor keiner Grausamkeit zurück. Sein Tod hat Martinique von einer Geißel befreit.“ „Und Sie haben uns die Arbeit abgenommen, die Meuterer zu bestrafen“, sagte Sampiero. „Sie haben sich selbst ihr Grab geschaufelt.“ „Werden Sie noch eine Weile bei uns bleiben, Signor Killigrew?“ wollte Bianca Sampiero wissen. „Nein. Wir gehen im Morgengrauen wieder in See. Wir werden noch heute nacht die Wasserfässer füllen und an Bord mannen.“ „Ich denke, wir werden auf dieser Insel leben können, bis ein Schiff aufkreuzt, das uns aufnimmt und zurück in die Heimat bringt“, sagte der Kapitän der „Novara“. „Und wir werden auch mit diesen Männern und Frauen aus Afrika auskommen, das verspreche ich Ihnen. Aber wie steht es mit der Vulkantätigkeit auf Martinique?“ „Die Krater sind vorläufig erloschen. Das haben unsere schwarzen Freunde uns erzählt“, erklärte Hasard lächelnd. „Sie sprechen recht gut französisch. Sie werden sich mit ihnen unterhalten können.“
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„Martinique ist also doch nicht so gefährlich, wie man allgemein annimmt“, sagte Emilio Venturi, der Erste Offizier. „Aber vielleicht sind wir gut beraten, wenn wir es nicht weitererzählen, sondern als unser Geheimnis hüten.“ „Ja. So bleibt ein Paradies bestehen“, erwiderte der Seewolf. „Denn diese Insel kann ein Paradies sein, dessen bin ich sicher. Es hängt von Ihnen ab, Senores.“ Carberry trat einen Schritt vor und fragte: „Was ist mit dem verletzten Mann, den Sie mit an Land gebracht haben, Capitan? Sollten wir ihn nicht lieber von unserem Feldscher, dem Kutscher, untersuchen lassen?“ „Danke, aber das ist nicht nötig. Vittorio Medola ist bereits von unserem Feldscher versorgt worden. Er wird überleben, das wissen wir jetzt.“ „Das beruhigt mich“, sagte der Profos. „Ganz ehrlich. Von den Quertreibern
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abgesehen, die Ihr schönes Schiff versenkt haben, Capitan, scheinen Sie eine anständige Mannschaft unter sich zu haben.“ „Eines Tages wird sie wieder ein Schiff steuern“, sagte der Seewolf. „Davon bin ich überzeugt.“ „Fein“, ließ sich jetzt Old O’Flynn vernehmen. „Wir alle sind mit einem blauen Auge davongekommen, und die Zukunft wird dafür sorgen, daß Sie, Senor Sampiero, und Ihre Leute die Wunden der Vergangenheit vergessen. Aber wissen Sie, über was ich ganz besonders froh bin?“ „Nein“, antwortete der Italiener überrascht. „Wirklich nicht. Über was denn?“ „Daß ich nicht den Sand zu fressen brauche, der am Ufer der Westbucht liegt“, erwiderte der Alte. Er sah zu Big Old Shane, und der Schmied von Arwenack begann dröhnend zu lachen...
ENDE