BERTE BRATT
Unsere Claudia
Claudia ist ein junges Mädchen wie viele andere: Sie geht zur Schule und erledigt tagsüber ...
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BERTE BRATT
Unsere Claudia
Claudia ist ein junges Mädchen wie viele andere: Sie geht zur Schule und erledigt tagsüber kleine Haushaltspflichten. Am schönsten sind die gemeinsamen Abendstunden mit ihrer berufstätigen Mutter. Dieses harmonische, kleine Glück scheint ihr bedroht. Darf sich aber ein junges Mädchen den Plänen der Mutter widersetzen?
Illustration: Helma Baison Umschlag: Ferry Ahrlé Titel der norwegischen Originalausgabe: Med Nökkel rundt Halsen Übertragung durch Thyra Dohrenburg Alle Rechte vorbehalten für Franz Schneider Verlag, 8 München 13, Frankfurter Ring 150 Schrift: 10/11 Punkt Garamond Druck: J. G. Weiß, München Bestell-Nummer 6646
Das Haus Nummer achtzehn Das Haus ist groß und von hellgelber Farbe. Es liegt in einer Flucht mit vielen anderen großen, hellgelben Häusern. Es hat viele, viele Stockwerke und vier Eingänge, die A, B, C und D heißen. Stehst du draußen auf der Straße und blickst auf das Haus, dann kannst du ins Treppenhaus hineinsehen. Denn die Außenwand des Treppenhauses ist von oben bis unten aus Glas. Du kannst die Treppe sehen, die sich wie ein langer, langer Korkenzieher durch die Stockwerke nach oben schraubt, du kannst die Fahrstühle sehen, die auf und nieder sausen, auf und nieder, Menschen aufnehmen und sie wieder ausspeien. Und du kannst die Glastüren sehen, die zu den Fluren hineinführen. An den Fluren liegen die Türen zu den verschiedenen Wohnungen. Die Türen sind sich alle gleich, sie sind blank und hellbraun poliert. Hinter diesen Türen liegen Zimmer mit breiten, modernen Fenstern, die nach innen zu öffnen sind. Alle Wohnungen haben Zentralheizung, und überall sind Radioantennen eingebaut. Jede
Küche hat ihre Spülbecken aus rostfreiem Stahl, einen elektrischen Herd und Kühlschrank. Alle Wohnungen haben ein Bad, und in jedem Stockwerk gibt es eine Klappe zu einem Müllschacht, in den der Abfall hineingeworfen wird. Das Haus heißt Nummer achtzehn. Und es ist ein ganz modernes Haus. In gewisser Hinsicht ähnelt es einer riesigen Kommode mit vielen Schubläden. Jedes Stockwerk ist so eine Schublade, und jede Schublade ist in vier Fächer eingeteilt – das sind die Wohnungen. Die meisten Wohnungen bestehen aus zwei Zimmern, dem Vorplatz, Küche und Bad. In diesen Räumen verbringen die Menschen ihr Dasein, hier arbeiten sie, und hier essen und schlafen sie, lachen und weinen, treiben Kurzweil und ärgern sich, erzürnen sich und haben sich lieb, hier werden sie geboren, und hier sterben sie. Das Haus erwacht morgens zeitig. Dann rauschen die Wasserleitungen, die Teekessel summen. Und aus den offenen Küchenfenstern hört man das Geräusch von Messern, die auf dem Röstbrot herumkratzen, den Brotscheiben, die die vielbeschäftigte Hausfrau in der Eile auf der Platte oder im Brotröster vergessen hat, und deren verbrannte Kruste sie jetzt abkratzen muß. Alle Menschen in Nummer achtzehn haben es schrecklich eilig. Das Haus hat acht Fahrstühle, und in den Morgenstunden steht keiner von ihnen auch nur einen Augenblick still. Sie sausen auf und nieder, kleine rote Lampen blinken auf, Türen knallen zu. Und aus den Aufgängen A, B, C und D ergießt sich ein Strom von Menschen. Männer mit Aktentaschen unter dem Arm, Schulkinder mit Ranzen oder Taschen, junge Mädchen mit Schultertaschen und ohne Hut auf den Dauerwellen. Das Haus leert sich. Und es wird still. Nur die Hausfrauen bleiben zurück, und nun klirrt es in den Aufwaschbecken, und ringsum in den Schubläden der Kommode brummen die Staubsauger. Aber in vielen Wohnungen ist es ganz still. In vielen Küchen ist das Frühstücksgeschirr eiligst in eine Ecke des Abwaschbeckens gestellt worden, und der Staub darf liegenbleiben, denn es ist niemand da, ihn wegzuwischen. Solltest du an einer dieser Wohnungen klingeln, dann bleibt alles still. Und klingelst du noch einmal, scheint die Glocke einen schrillen, hoffnungslosen Klang zu haben: die Wohnung ist leer.
In diesen Wohnungen wohnen nämlich Frauen, die außer Hause arbeiten, Frauen, die Geld verdienen, entweder weil ihr Mann nicht genügend verdient, oder weil sie keinen Mann haben. Um die Mittagszeit erwacht Nummer achtzehn abermals zum Leben. Dann sausen die Fahrstühle wieder auf und nieder. Die ersten, die nach Hause kommen, sind die Schulkinder. Eilige Mutterhände öffnen die braunen Türen, gellende Kinderstimmen hallen durch die Flure: „Mutti, weißt du, was unser Fräulein heute gesagt hat… Mammi, denk bloß, ich soll morgen zu Astrids Geburtstag kommen… Mama, ich hab’ solchen Hunger, essen wir bald… Mutti, denk nur, ich habe ,sehr gut’ im Aufsatz bekommen!“ Aber dann gibt es Kinder, die läuten gar nicht an der Wohnungstür. Sie gehen zu ihrer Tür, dann schieben sie die Schultasche von der rechten auf die linke Seite hinüber. Die kleine, schmächtige Rechte holt gewohnheitsmäßig den Schlüssel heraus, der an einer Schnur um den Hals hängt. Geübte Kinderhände schließen das Patentschloß auf, öffnen die Tür, schließen von innen wieder ab, hängen den Mantel auf. Schweigsame Kinder gehen zuerst in die Küche, wo ein Zettel von der Mutter liegt: Kannst du das Brot vom Bäcker holen, es ist bestellt. Hier die Liste für den Kaufmann, hol ein, sowie du aus der Schule kommst. Butterbrote stehen zwischen zwei Tellern in der Speisekammer. Die Kinder essen, oder sie nehmen vielleicht erst die Markttasche oder das Netz, legen die leeren Milchflaschen hinein und machen Einkäufe. Dann gehen sie wieder nach oben. Sie stellen das Radio an, oder sie machen Schularbeiten, oder sie kriechen in die Sofaecke mit irgendeinem Buch. Unter den älteren Mädchen sind manche, die heißes Wasser in das Spülbecken einlassen und das Frühstücksgeschirr spülen. Dann sehen sie nach der Uhr, warten, sehen wieder nach, und zuletzt stellen sie sich ans Fenster und starren auf die Straße hinunter. Sie müssen vielleicht lange warten. Aber endlich huscht ein glückliches Lächeln über das Kindergesicht: Da kommt die Mutter! Der Augenblick, wenn sie Mutti auf der Straße ankommen sehen, ist für alle Schlüsselkinder der allerschönste Augenblick des Tages.
Claudia, das Schlüsselkind „Auf Wiedersehen, Elsa!“ „Hallo! Wiedersehen, Claudia!“ Die Fahrstuhltür schlug im vierten Stock hinter Elsa zo, und Claudia drückte auf den Knopf zum sechsten. Hier oben angekommen, ging sie den ganzen Flur entlang bis zur allerletzten der braunen Türen. Diese führte in die Wohnung Nummer sechshundertundvierzehn, und an der Tür stand in schwarzen Buchstaben auf weißem Grund: ANITA KELLER. Anita Keller war Witwe. Sie war fünfunddreißig Jahre alt und hatte eine Stellung in Wederholms Warenhaus, wo sie die Abteilung Kinderkleidung leitete. Anita Keller war Claudias Mutter. Claudia zog den Schlüssel unter dem Mantel hervor und schloß auf. Die Schlüsselschnur behielt sie um den Hals, denn sie wollte gleich Milch holen gehen und andere Wege besorgen. Auf dem Fußboden im Flur lag Post. Ein Brief von Großmama – Claudia sah es sofort, nicht nur am Poststempel, sondern auch an der zierlichen deutschen Schrift. Und dann war da ein Auslandsbrief – ein Brief mit schwedischen Freimarken. Der war von Tante Helga. Claudia war gespannt. Ob Tante Helga wohl schrieb, daß sie komme? Im Januar feierte Großmama ihren siebzigsten Geburtstag. Wenn Tante Helga doch zu diesem Tag käme! Dann würde sie sicher auch Claudia und ihre Mutter besuchen. Es war lange her, seit Claudia Tante Helga gesehen hatte. Sie war Muttis einzige Schwester, und sie war in Schweden verheiratet, und dort hatte Claudia eine Kusine und einen kleinen Vetter, und den hatte sie überhaupt noch nie gesehen. Tante Helga hatte alle Hände voll mit ihrem Haushalt und den Kindern zu tun – es war für eine vielbeschäftigte Hausfrau nicht so leicht, sich frei zu machen und eine lange und teure Reise in die Heimat zu unternehmen. Aber zu Großmamas Siebzigsten kam sie vielleicht doch angereist! Claudia legte beide Briefe auf den Flurschrank, damit Mutti sie gleich sehen konnte, wenn sie kam. Und dann holte Claudia Geld und den Einkaufszettel und machte ihre Besorgungen. Als sie nach Hause kam, wischte sie Staub, wusch das Geschirr vom Morgen auf und schälte Kartoffeln. Das war nun seit Jahren ihr festes Amt – schon seit sie acht Jahre alt war. Und jetzt war sie über
dreizehn. Sie entsann sich noch des Tages, als die Mutter ihr zum ersten Male die Schnur mit dem Schlüssel um den Hals gehängt hatte. „So, jetzt bist du Muttis kleines Schlüsselkind“, hatte die Mutter lächelnd gesagt und Claudia an sich gezogen. „Du darfst den Schlüssel nie verlieren, Claudia! Und wenn du allein zu Hause bist und es klingelt, dann darfst du nur aufmachen, wenn du die Sicherheitskette vorgelegt und durch den Brief schlitz gefragt hast, wer da ist! Versprichst du mir das?“ Das hatte Claudia versprochen und gehalten. Nur fragte sie jetzt nicht mehr durch den Briefschlitz, sondern sie schaute durch das Guckloch in der Tür. Denn jetzt war sie so groß, daß sie hinaufreichte. „Wie du in die Höhe schießt!“ seufzte die Mutter, wenn die Wintersachen vorgeholt wurden und sich herausstellte, daß der Wintermantel vom vorigen Jahr kaum bis zu den Knien ging und Claudias dünne Handgelenke an den Ärmeln ein ganzes Stück herausschauten. „Es wäre schön, wenn du ein bißchen in der Breite zunähmst und nicht immer in der Länge!“ sagte Mutti. „Geh nun hinaus an die Luft, Claudia, damit du Appetit bekommst. Sitz nicht den ganzen Nachmittag über deinen ewigen Büchern.“ Claudia ging durchaus nicht immer. Ja, das war Claudias schwacher Punkt und zugleich ihre Stärke. Ihre Stärke, weil sie so unbedingt die Beste in der Klasse war. Sie machte nicht nur ihre Schulaufgaben, sie arbeitete aus freien Stücken weiter. Denn es war ja alles so spannend. Sollte sie aufhören, Geschichte zu lernen, nur weil die Aufgabe zu Ende war? Sie mußte doch wissen, wie es weiterging. Sollte sie nur die englischen Städte lernen, weil sie die gerade aufhatte, während doch das ganze Erdkundebuch voll war von Beschreibungen fremder Länder und fremder Völker? Sollte sie es damit genug sein lassen, englische Verben zu pauken, während sie im Handumdrehen viel mehr Englisch lernen konnte, wenn sie nur einige Seiten weiterlas? Ja, Claudia lernte unheimlich schnell. Immer war sie den andern in der Klasse voraus, immer war sie diejenige, die eine Antwort wußte, und immer bekam sie die besten Noten. Aber das Lernen war auch ein wunder Punkt bei Claudia, denn sie kam dadurch viel zuwenig an die frische Luft. Sie war dünn und aufgeschossen, und es nützte nicht viel, daß der Arzt ihr Lebertran
und Eisen verschrieb und die Mutter ihr Obst und Sahne kaufte. Claudia war und blieb dünn, und sie war und blieb blutarm. Oft saß Anita Keller abends da und schaute ihr Mädelchen an. Und seufzte unhörbar. Nein, wenn eine Mutter nicht ständig bei ihrem Kind sein konnte – wäre sie nur zu Hause, dann würde sie es schon erreichen, daß das Mädchen an die Luft kam; sie würde es erreichen, daß sie Sport trieb, spazierenging… Aber anderseits war Anita Keller froh, daß sie eine gute Stellung hatte und sich selbst und die Tochter auf anständige Art und Weise durchbringen konnte. Claudias Vater war auf dem Meer geblieben – da war Claudia noch nicht geboren. Und Anita Keller saß da, kaum zweiundzwanzig Jahre alt, mit einem neugeborenen Kind und einer bescheidenen Summe Geldes, und sollte für sich und ihr Kind ein Leben aufbauen. Sie hatte Claudia täglich in die Krippe gebracht und war glücklich gewesen, als sie ihre Stellung im Warenhaus Wederholm wieder bekam, die sie innegehabt hatte, ehe sie heiratete. Sie war damals Verkäuferin in der Abteilung für Kinderkleidung gewesen. Sie war tüchtig und gewissenhaft, und sie wurde mit der Zeit befördert. Bis vor drei Jahren hatte sie sich so weit hochgearbeitet, daß sie Abteilungsleiterin wurde. Da hatte sie es sich gestatten können, diese moderne Wohnung in Nummer achtzehn zu mieten, und sie konnte ihrer einsamen kleinen Tochter das Dasein freundlicher gestalten. Claudia bekam ein reichliches Taschengeld und war hübsch angezogen, und Mutter und Tochter reisten alljährlich in den Sommerferien fort – entweder ins Gebirge oder an die See. Für diese Sommerreise sparten sie das ganze Jahr hindurch. O doch, materiell ging es ihnen gut; es war kein Überfluß, aber sie kamen leidlich zurecht. Doch alle materiellen Vorteile der Welt konnten nichts an der Tatsache ändern, daß Claudia viele Stunden des Tages allein zu Hause war und sich nach ihrer Mutter sehnte, und daß die Mutter mit freundlich zuvorkommendem Lächeln und höflichen Worten Kinderkleider für fremde Kinder verkaufen mußte, während ihr Herz von Sehnsucht nach ihrer Häuslichkeit und der kleinen Tochter erfüllt war. Claudia hob den Kopf und lauschte. Das Zuschlagen der Fahrstuhltür kündete ihr an, daß ihre Mutter nach Hause kam. Sie öffnete die Wohnungstür. Ganz richtige Dort kam Mutti den Gang herunter.
„Hallo Muttil Die Kartoffeln sind gekocht, und der Salat ist fertig, jetzt brauchen wir nur noch die Kalbsschnitzel zu braten – ich traute mich nicht anzufangen, in dieser Zeit weiß ich ja nie, wann du nach Hause kommst – und, Muttchen, da ist ein Brief von Großmama gekommen, und einer von Tante Helga – und, weißt du was, Mutti, Montag haben wir schulfrei, und die ganze Klasse macht einen Ausflug mit Fräulein Röder – ist die nicht wahnsinnig nett… ich will Aufnahmen machen, Evi hat mir ihren Apparat geborgt.“ Anita Keller lächelte, ein müdes kleines Lächeln in einem müden Gesicht. Sie hatte einen scheußlich anstrengenden Tag hinter sich. Nichts war so schlimm wie der Weihnachtsmonat – doch, die beiden großen Ausverkäufe, der im Januar und der im Juli, die waren genauso anstrengend! „Wie bist du tüchtig gewesen, mein Kind – du, ich muß mich nur fünf Minuten hinsetzen, ehe ich in die Küche gehe, meine Beine tun so weh – .“ „Leg dich auf die Couch, Muttel! So – ja, das ist recht – ich deck dich zu, und dann brate ich die Schnitzel – doch, doch, die werden schon zu essen sein, keine Bange… und hier sind deine Briefe – die kannst du inzwischen lesen…“ „Du tüchtiges Mädchen“, sagte die Mutter; sie weigerte sich nicht und legte sich einen Augenblick lang. Ihr Körper tat ihr weh, und die Füße waren geschwollen. Sie hatte den ganzen Tag nicht einen Augenblick verschnaufen können. Nein, wenn man hinter dem Ladentisch eines großen Warenhauses stand, dann merkte man wahrlich nichts von den freundlichen Seiten des ‘weihnachtsfestes. Weihnachten und der Dezembermonat bedeuteten nur vermehrte Arbeit, und für Weihnachtsvorbereitungen blieb nicht die geringste Zeit übrig. Sie seufzte wieder und öffnete ihre Post. Und dann huschte ein glückliches kleines Lächeln über ihr Gesicht. „Claudia, denk dir, Tante Helga kommt im Januar!“ Claudia stellte das Tablett mit den Schnitzeln und der Kartoffelschüssel auf den Tisch. „Wie himmlisch, Mutti! Darauf freue ich mich wahnsinnig.“ „Und ich erst, was denkst du? Ich habe meine einzige Schwester zwei ganze Jahre nicht gesehen!“ „Wenn Tante Helga doch Karin und den Kleinen mitbrächte.“ „Wie stellst du dir das vor? Karin kann doch nicht einfach aus der Schule wegbleiben, um zu einem Geburtstag ins Ausland zu fahren!
Und die Reise ist schon für Tante Helga allein kostspielig genug, sollte ich meinen!“ „Wer paßt auf den Kleinen auf, während sie weg ist?“ „Seine Großmutter natürlich. Genauso wie Großmama auf dich aufpaßte in dem Jahr, als sie bei uns war.“ Claudia nickte. Das war, ehe sie in die Schule kam. Für die Krippe und den Kindergarten war sie zu groß geworden, und Mutter hatte sich keinen Rat gewußt. So hatte Großmama sich denn kurzerhand entschlossen und war für ein Jahr zu ihnen gekommen. „Ach, wenn wir doch Großmamas siebzigsten Geburtstag auch mitfeiern könnten!“ seufzte sie.
„Nun, wer weiß, vielleicht können wir das“, lächelte die Mutter. „Kannst du denn frei bekommen? Und ich?“ „Du könntest es schon, ich habe nicht gerade den Eindruck, du seiest so schlecht in der Schule, daß du nicht einen Tag frei bekommen könntest“, sagte die Mutter. „Aber ich kann nicht. Ich kann dir nun aber verraten, Großmama hat sich entschlossen, den Geburtstag an einem Sonntag zu feiern, eben weil sie so gern möchte, daß wir beide dabei sind. Und zwar am Sonntag, am zehnten Januar. Da können wir dann am Tag vorher, am neunten nachmittags
reisen, kommen abends an und fahren Sonntag nachmittag wieder zurück. Ja, anstrengend wird es sein, und wir müssen versuchen, im Zug zu schlafen, denn es wird vom Schlaf nicht viel die Rede sein können in der Nacht – da müßten wir schon in kleinen Portionen schlafen bei dreimal umsteigen…“ „Wenn du es schaffst, dann schaffe ich es auch“, sagte Claudia zuversichtlich. „Und es kommt doch nur einmal vor, daß eine Großmutter siebzig wird…“ Erst am späten Abend kam Claudia dazu, weiter von dem schulfreien Tag am Montag zu erzählen und von dem reizenden Fräulein Röder, der Klassenlehrerin, die den freien Tag dazu benutzen wollte, mit den Mädels einen Ausflug zu machen. Kein Wunder, daß die ganze Klasse für sie schwärmte! Sie hatten sie von ihrem ersten Schultag an als Klassenlehrerin gehabt. Eine solche Lehrerin gab es in der ganzen Welt nicht noch einmal, davon waren sie überzeugt. „Gott sei Dank, daß du dann endlich mal an die frische Luft hinauskommst“, sagte Mutti. „Es wäre gut, wenn du selber auch mal an die frische Luft kämst“, sagte Claudia. „Ich teile dieses Schicksal mit Millionen von Frauen, mein Kind“, sagte Mutti. „Ich bin froh, daß ich gesund und arbeitsfähig bin und für uns sorgen kann! Und daß ich eine so große, tüchtige Tochter habe, die aufwäscht und kocht und einholen geht! Aber da wir gerade davon reden – wir wollen schnell die Küche machen, Claudia, wir dürfen doch unsere Pflicht nicht versäumen!“
Ein unerwarteter Gast Claudia war beinah in Feststimmung, als sie am nächsten Tag aus der Schule kam. Es war ein Samstag, und da kam Mutti früh nach Hause. Und immer hatte sie dann etwas Gutes in der Tasche mit, und sie hatten einen langen und gemütlichen Nachmittag und Abend vor sich. Vielleicht gingen sie ins Kino, oder vielleicht gab es im Rundfunk etwas besonders Unterhaltsames. Mutti machte es sich dann gemütlich, sie werkelte in der Küche und deckte einen reizenden Abendbrottisch. Die Gabe, es sich gemütlich zu machen, besaßen beide, Mutti und Claudia. Und die wenigen ruhigen Stunden, die sie so für sich allein hatten, genossen sie unbeschreiblich. Im Januar aber wollten sie nach Eulenstedt fahren und Großmama besuchen! Und bald war Weihnachten, und^ Mutti hatte zwei – nein, in diesem Jahre waren es tatsächlich drei – freie Tage. Am ersten Feiertag blieb Mutti sicher den ganzen Tag im Bett, das tat sie immer, jedes Jahr. Aber am zweiten und dritten Weihnachtstag gingen sie dann spazieren, und sie machten alles in Ruhe, und Mutti durfte faulenzen und sich von den anstrengenden Tagen kurz vorm Fest erholen. Mutti würde sich bestimmt riesig über Claudias Geschenk freuen, die Kaffeedecke, die sie gestickt hatte. Es hatte sie Mühe und Geduld gekostet, denn Handarbeit war nicht Claudias starke Seite, das stand fest! Es machte doch tausendmal mehr Spaß, spannende Bücher zu lesen, als dazusitzen und mit einer spitzen Sticknadel zu sticheln und mit Fäden, die sich immer verknoteten – oder mit albernen Stricknadeln zu arbeiten und mit Maschen, die viel zu fest an den Nadeln klebten, und Maschen, die herunterfielen – ja, Claudias Handarbeitszensur war immer der einzige dunkle Punkt in einem sonst so glänzenden Zeugnis. Aber Claudias Busenfreundin Elsa konnte gut Handarbeiten machen, und sie war es auch, die Claudia dazu überredet hatte, die Decke anzufangen, und Elsa hatte ihr geholfen und sie ermuntert – und jetzt lag die Decke fertig gestickt, gewaschen und gebügelt und wohlverpackt in Claudias unterster Kommodenschublade. Claudia summte vor sich hin und pfiff vor lauter guter Laune, während sie ihre Einkäufe machte und hinterher Kartoffeln schälte. Sie mußte sich heute beeilen, denn Mutti kam schon bald.
Sie machte das Küchenfenster auf und schaute hinunter. Soeben bog ein kleines Auto um die Ecke, ein hübscher kleiner, burgunderroter Zweisitzer. Den kannte Claudia. Er gehörte Herrn Brodersen, dem Leiter der Sportabteilung bei Wederholm. Er fuhr Mutti ab und zu nach Hause. Wie schön, daß Mutti nicht auf die überfüllte Straßenbahn zu warten brauchte! Das kleine rote Wägelchen hielt, jetzt stieg Mutti aus – aber was bedeutete denn das? Herr Brodersen stieg auch aus dem Auto und schloß es ab. Jetzt nahm er Muttis schwere Tasche – jetzt schritten sie beide zum Aufgang B. Kam er vielleicht mit? Doch hoffentlich nicht etwa zum Mittagessen! Kurz darauf drehte Mutti den Schlüssel in der Wohnungstür um. „Hallo, Claudia! Ich habe einen Gast mitgebracht – ich bin gespannt, wieviel Kartoffeln du heute wohl gekocht hast!“ Mutti lächelte über das ganze Gesicht, das rotwangig und jung war. „O ja – ich habe reichlich gekocht, ich dachte ja, wir wollten morgen Bratkartoffeln essen…“ „Und nun komme ich an und esse dir die Sonntagskartoffeln weg, Claudia“, lachte Herr Brodersen. „Guten Tag, übrigens, du langes Ende – wenn du so weiter wächst, dann muß ich ab Neujahr Sie zu dir sagen!“ „Das wäre ja schrecklich“, lachte Claudia. „Hast du etwas zum Essen mitgebracht, Mutti, oder…“ Mutti und Claudia wollten eigentlich einen Rest gebratenen Fisch vom Donnerstag aufessen, aber da sie nun einen Gast hatten… „Ja, habe ich! Ausnahmsweise einmal etwas Fertiges, damit es schnell geht. Pack aus, Claudia – und hör mal, schäle doch bitte ein paar Apfelsinen und Bananen, dann mach’ ich schnell einen Obstsalat.“ Muttis Stimme klang so jung und fröhlich, und heute sah sie nicht im geringsten müde aus! Claudia packte aus; Obst, eine Dose Erbsen und ein Päckchen mit roten, saftigen Scheiben Schinken. Das würde aber mal ein Mittagessen geben!… Es war nicht das erste Mal, daß Herr Brodersen bei ihnen war. Er hatte hin und wieder Kaffee bei ihnen getrunken, und einmal hatte er Mutti und Claudia ins Kino eingeladen – und wenn es sich gerade so machte, fuhr er Mutti auch nach Hause. Aber es war das erste Mal, daß Mutti ihn zum Essen mitgebracht
hatte. Claudia wußte eigentlich nicht, ob sie sich freute oder enttäuscht war. Herr Brodersen war riesig nett. Sie mochte ihn sehr gern. Aber anderseits – sie hatte sich so auf diesen Samstagnachmittag allein mit ihrer Mutter gefreut. Ja, sie freute sich ja eigentlich die ganze Woche auf den Samstag. Aber Herr Brodersen brachte immer Behaglichkeit und Kurzweil mit, das war nicht zu leugnen. Er und Mutti tauschten komische Erlebnisse aus ihrem Beruf aus. Mutti erzählte von einer Kundin, die ankam und ein Kindertanzkleid tauschen wollte, das ohne Zweifel getragen war, und Herr Brodersen erzählte von einer alten Dame, die einen Hundekorb für ihren Pekinesen kaufte, lange nach dem richtigen suchte und verlangte, der Korb solle gepolstert und mit rosa Seide überzogen werden – „denn Nippy schwärmt für rosa.“ Claudia lachte, daß sie sich fast verschluckte. „Das muß ich Großmama erzählen“, lachte sie. „Großmama hat auch einen kleinen Hund, aber ich glaube nicht, daß der ein rosaseidenes Bett hat!“ „Wohnt deine Großmutter hier in der Nähe?“ fragte Herr Brodersen. Claudia erzählte, daß ihre Großmutter in Eulenstedt wohne, und daß die Eisenbahnfahrt fast fünf Stunden dauere, und daß man dreimal umsteigen müsse, und diese Reise würden sie am neunten Januar machen, um Großmamas siebzigsten Geburtstag zu feiern. „Das ist ja nicht von Pappe“, meinte Herr Brodersen, „jede Fahrt fünf Stunden, und dann am nächsten Morgen ins Geschäft! Nein, da habe ich einen besseren Vorschlag – hören Sie zu, Frau Keller, wir bestellen Claudia am neunten Januar auf zwei Uhr pünktlich in unsern Laden, und dann hüpfen wir in unsere Kaffeemühle, und ich fahre Sie beide zur Großmama. Wie wäre denn das? Und am nächsten Abend hole ich Sie vor Großmamas Tur wieder ab, und dann geht es auf dem kürzesten Weg nach Hause. Das ist doch ein schöner Vorschlag, das muß ich wirklich selber sagen!“ „Sie sind viel zu liebenswürdig“, sagte Anita Keller. „Aber was wollen Sie nur den ganzen Sonntag in Eulenstedt machen?“ „Verwandtschaftliche Beziehungen pflegen“, lächelte Herr Brodersen. „Ich habe einen Vetter in Eulenstedt, den werde ich besuchen. Ist ohnehin schon so lange her seit dem letzten Male. Dann schlagen wir zwei Fliegen mit einer Klappe!“
„Wie herrlich!“ sagte Claudia. „Denk bloß, dann haben wir auch noch den ganzen Samstagabend bei Großmama!“ „Ich finde fast, ich kann es gar nicht annehmen-“, begann Frau Keller. „Aber was für ein Unsinn!“ sagte Herr Brodersen. „Gönnen Sie mir das Vergnügen nicht? Nicht wahr, Claudia, mein Vorschlag ist doch großartig? Übrigens, weißt du, Claudia, was ich finde? So groß und so lang wie du jetzt bist, muß ich wirklich in allernächster Zukunft schon Sie zu dir sagen, wenn wir nicht eine andere Regelung treffen. Du könntest mich zum Beispiel Onkel Peter nennen und ebenfalls du zu mir sagen, wäre das nicht das einfachste?“ In Herrn Brodersens Stimme lag so viel Wärme und Güte! Claudia sah die Mutter fragend an, und Mutti lächelte. Ihre Augen hatten einen neuen Glanz. „Ja – tausend Dank… Onkel Peter!“ sagte Claudia… Claudia deckte den Tisch ab und stellte das Geschirr in der Küche zusammen. „Laß den Aufwasch nur stehen, Claudia, den machen wir heute abend zusammen“, meinte die Mutter. „Ich mach’ ihn aber gern“, sagte Claudia. „Ich habe richtig Lust dazu! Geh du nur hinein, Mutteichen! Du mußt doch Herrn Bro… Onkel Peter unterhalten.“ „Du meinst also, ich soll dir das allein überlassen?“ „Ja, darf ich es nicht allein machen? Jetzt sei mal ein richtig guter Kamerad, Mutti. Ein andermal machst du es dann allein!“ „Nun gut“, lächelte Mutti, „dann werde ich also ein guter Kamerad sein!“ Plötzlich drückte sie Claudia an sich. „Mein Mädelchen. Du bist ein großartiger Kerl!“ Und abermals stieg diese ungewohnte Röte in Muttis Wangen, und sie ging hinein – zu Onkel Peter. Claudia ließ Wasser in das Abwaschbecken einlaufen. Sie verstand sich selber nicht – begriff nicht, weshalb sie gerade jetzt allein sein mußte. Onkel Peter war wirklich so nett. Er war so vergnügt und munter und gut. Aber er hatte sich in Muttis und Claudias Samstagnachmittag hineingedrängt und ihre Samstagsgewohnheiten durcheinandergebracht. Er hatte in diesen kostbaren Stunden Claudia sozusagen ihre Mutti weggenommen, auf die sie sich die ganze Woche gefreut hatte.
Es war so freundlich von Onkel Peter, daß er sie zu Großmama fahren wollte. Aber – es wäre auch gemütlich gewesen, mit Mutti im Zug hinzufahren. Mit Mutti ganz allein… Es gab auf der ganzen Welt keine zwei Menschen, die es so schön miteinander haben konnten wie Mutti und sie selber, dachte Claudia. Ihre Freundinnen beneideten sie fast, wenn sie davon erzählte, wie frei und offen sie miteinander sprachen. „Ih du meine Güte, das könnte ich doch nie meiner Mutter erzählen!“ sagte Elsa. „Bist du verrückt, das hätte ich doch nicht meiner Mutter zu sagen gewagt“, meinte Evi. Aber Claudia erzählte ihrer Mutter alles und fragte nach allem, und Mutti antwortete immer offen. Es war die reinste Wahrheit, wenn Claudia sagte: „Mutti, du bist meine allerbeste Freundin!“ In Claudia tauchten allerlei Erinnerungen auf, während sie dastand und auf wusch. „Mutti, was meinst du, wenn wir uns einen Plattenspieler anschaffen?“ hatte, sie eines Tages gefragt. „Dann müssen wir sparen“, sagte Mutti. „Ich habe noch eine alte Sparbüchse, die muß ich mal heraussuchen, und da stecken wir unser Spargeld hinein – ich tue das hinein, was ich erübrigen kann, und du das, was du übrig hast – von deinem Taschengeld und deinem Geburtstagsgeld – und dann müssen wir mal sehen. Vielleicht schaffen wir es! Schön wäre es ja, wenn wir einen hätten! Aber du weißt, dann müssen wir auf Kino und Näschereien und dergleichen verzichten!“ „Wir“, sagte Mutti immer. Ja, sie machten alles gemeinsam, Claudia und ihre Mutter. Und sie hatten es geschafft, sich einen Plattenspieler zusammenzusparen. Es hatte solchen Spaß gemacht, zu sehen, wie die Summe in der Sparbüchse von Woche zu Woche anschwoll – so furchtbar viel Spaß hatte es gemacht, weil der eine genauso eifrig und gespannt war wie der andere. „Evis Mutter wird so leicht wütend“, erzählte Claudia. „Eva kann machen, was sie will, immer ist alles verkehrt, und immer wird sie von ihrer Mutter ausgezankt, und manchmal weint ihre Mutter, und manchmal ist sie ganz schlechter Laune – es muß gräßlich sein, so eine Mutter zu haben!“ „Wie alt ist Evis Mutter?“ fragte Mutti.
„Viel alter als du, Mutti, sie ist fast fünfzig“, sagte Claudia. Und dann erklärte Mutti ihr ruhig und sachlich, daß eine Frau in dem Alter gerade an der Grenze zur „älteren Dame“ sei, und daß ihr ganzer Körper und die ganze Seele eine große Wandlung durchmachen – dann werden fast alle Frauen nervös, und sie könnten einem leid tun, sagte Mutti. „Es geht vorüber, siehst du, aber so lange es dauert, sollte Evi nur lieb und geduldig mit ihrer Mutter sein.“ „Weshalb hat ihre Mutter ihr das nicht erklärt?“ fragte Claudia. „Ja, da magst du wohl recht haben“, meinte Mutti, „aber du weißt es nun jedenfalls, dann kannst du wenigstens nett zu mir sein, wenn ich anfange, meine Schrullen zu bekommen!“ „Die kriegst du sicher gar nicht, glaube ich“, sagte Claudia. „Wollen jedenfalls hoffen, daß ich sie verbergen kann“, lachte Mutti. „Du Mutti! Dies Märchen von dem Storch, der die Kinder bringt, das ist doch nur ein Märchen, nicht wahr?“ hatte Claudia gefragt. Sie war damals sechs gewesen. „Natürlich ist es ein Märchen!“ sagte Mutti ruhig. „Ja, aber wie ist es dann wirklich?“ fragte Claudia. Da hatte Mutti so wunderschön gelächelt, wie nur sie es konnte. „Die Wirklichkeit, Claudia“, sagte Mutti – „die ist schöner als das schönste Märchen.“ „Erzähl mir dann die Wirklichkeit, Mutti“, sagte Claudia. Und Mutti erzählte, ruhig und klar und ohne Umschweife, von der großen, weisen Natur, die alles so wunderbar eingerichtet hat, ob es nun eine Blüte ist, die entsteht, ein junges Tier, das geboren wird, oder ein kleines Menschenkind, das zur Welt kommt. „Ach Muttichen“, hatte Claudia gesagt und ihre Arme um Mutters Hals geschlungen. „Jetzt verstehe ich, warum ich dich so furchtbar doli liebhabe! – und du mich“, fügte sie hinzu. Claudia war dann den Rest des ganzen Tages mit glänzenden, glücklichen Augen herumgegangen, und abends, als Mutti gute Nacht gesagt hatte, lagen Claudias Arme wieder um ihren Hals, und sie flüsterte: „Ach, Mutti, ich freue mich so, daß du mir all das Wunderhübsche heute erzählt hast – weißt du, es ist so, wie wenn es das hübscheste Märchen der Welt wäre – und Gott selber hat es gedichtet!“ Ja, die Erinnerungen kamen, während Claudia dastand und ihrer
Arbeit nachging. Sie hatte die beste und klügste Mutter der Welt. Und sie liebte es nicht – nein, sie liebte es nicht, wenn andere ankamen und Mutti in Beschlag nahmen! Sie wollte Mutti für sich allein haben! Die kleine Claudia war ein kluges Mädchen, das stimmte. Aber sie war nicht klug genug, um zu erkennen, daß ein neues, häßliches Gefühl sich heute bei ihr eingeschlichen hatte. Dies böse, garstige Gefühl, das Eifersucht heißt. Onkel Peter konnte an einem andern Tage kommen. Nur nicht gerade ausgerechnet an einem Samstag, dachte Claudia. Onkel Peter war furchtbar nett und freundlich. Sie mochte ihn im Grunde schrecklich gern. Aber sonderbarerweise wurde dadurch alles nur noch schwieriger. Claudia nahm den Verschluß aus dem Becken. Sie stellte das Geschirr weg und hängte die Geschirrtücher auf. Verstohlen wischte sie sich die Augen. Claudia verstand sich selber nicht.
Ein Retter in der Not „Viel Vergnügen, meine Claudia!“ Mutti winkte ihr von der offenen Wohnungstür aus zu, und gleich darauf hörte man ihre schnellen Schritte auf dem Hausgang, und nun schlug die Fahrstuhltür zu. Claudia schaute auf die Uhr. Oh, sie hatte noch viel Zeit. Sie konnte noch Staub wischen und das Frühstücksgeschirr aufwaschen und einholen gehen, bevor sie fort mußte, um sich mit Fräulein Röder und den Klassenkameradinnen zu treffen. „Diejenigen, die am Montag den Ausflug mitmachen möchten, treffen sich um zehn an der Endstation der Linie vierzehn“, hatte Fräulein Röder gesagt. „Seid bitte pünktlich. Wir warten bis fünf nach zehn, dann gehen wir aber los.“ Die Klasse pflegte ziemlich vollzählig zu erscheinen, denn diese Spaziergänge mit Fräulein Röder waren sehr beliebt. Sie erzählte und erklärte immer eine Menge interessanter Dinge, und sie war so geradeheraus und einfach, kein bißchen lehrerinnenhaft! Nun ja, sie war auch noch jung, und sie verstand sich so gut auf diese Dreizehnjährigen. Claudia wischte Staub und trällerte vor sich hin und lächelte. Ihre Laune war wieder ganz hergestellt. Den Sonntag gestern hatten Mutti und sie allein verbracht und es war ein wirklich gemütlicher Tag geworden. Sie hatten einen Spaziergang gemacht und in einem kleinen Gasthaus zu Mittag gegessen, und abends waren sie ins Kino gegangen und hatten den großartigen Farbfilm „Ludwig II. von Bayern“ gesehen. Morgen wollte Claudia sich aus der Schülerbibliothek ein Buch über den schönen und unglücklichen, kranken König leihen – sie mußte unbedingt mehr über ihn erfahren, nachdem sie den Film gesehen hatte! Und heute schien die Sonne, und sie hatten einen schulfreien Tag. Claudia holte den Photoapparat hervor, den Evi ihr geliehen hatte. Sie wollte eine Aufnahme von Fräulein Röder und der ganzen Klasse machen. Und von den Klassenkameradinnen einzeln – und vielleicht ein paar schöne Landschaftsaufnahmen. Daß die Wintersonne aber auch so schön schien, gerade an diesem Montag! Sie stand am Fenster und sah den roten Glanz der Morgensonne auf den Dächern und Kirchtürmen der Stadt. Man hatte aber auch eine wunderbare Aussicht hier oben vom sechsten Stock aus.
Wie es in der Kirchturmspitze funkelte – und wie lustig sie aussahen, die schiefen Dächer der kleinen Häuser in dem alten Stadtteil. Rücken an Rücken standen sie, wie eine Herde geduldig wartenden Viehs. Man mußte doch eigentlich ein wunderhübsches Bild von hier aus machen können, ein Bild von der Stadt in winterlicher Sonne. Claudia öffnete das Fenster. Sie stellte den Photoapparat auf das Fensterbrett. Was hatte Evi doch noch gesagt – bei großer Entfernung, ja, da mußte dieser kleine Zeiger so gestellt werden – und bei starker Sonne – so, ja –, es war leicht, den Apparat einzustellen, er war einfach und klein, aber wie famos waren die Bilder geworden, die Evi ihr gezeigt hatte. Claudia beugte sich vor, um die Gardine wieder hereinzuangeln, die nach draußen geweht war – und da –, da geschah es. Der Apparat rutschte vom Fensterbrett, und ein paar Sekunden später konnte man hören, wie er unten auf dem Asphalt aufschlug. „Ach nein – nein…“ Claudia redete laut mit sich selber, und die Tränen saßen ihr im Halse. Evis Apparat – er kostete mindestens dreißig Mark – und nun lag er dort unten völlig zertrümmert – ganz bestimmt –, woher aber sollte Claudia dreißig Mark nehmen, um einen neuen zu kaufen? Und was würde Evis Mutter sagen – Evi hatte vielleicht gar keine Erlaubnis bekommen, ihn zu verleihen – und ihr Vater? Evi hatte so einen furchtbar strengen Vater! Alle diese Gedanken schwirrten Claudia im Kopf herum, während sie sich eine Jacke überzog und zum Fahrstuhl stürzte, hinunter und auf die Straße hinaus. Dort stand ein Junge und hielt die kläglichen Überreste des Apparates in der Hand. „Ist das deiner?“ fragte er höflich, als Claudia angerast kam, und hielt ihr den verbeulten Apparat unter die Nase. „Ja – ich wollte nur sehen, ob…“ „Da gibt’s nichts mehr zu sehen! Freu dich, daß es hier im Hause einen Müllschacht gibt, dann weißt du ja, wohin damit. Wunsch dir zu Weihnachten einen neuen – “ Lachend lief der Junge weg und Claudia stand da mit den Trümmern des Apparates in den Händen. Erst als sie nach oben gekommen war und wieder aufschließen wollte, entdeckte sie das Schreckliche:
Sie hatte den Schlüssel drinnen vergessen! Die Schnur mit dem Schlüssel daran lag auf dem Küchentisch. Sie hatte in der Eile an nichts weiter gedacht, war nur auf und davon gerast und hatte die Tür hinter sich zugeschlagen! Und Geld hatte sie nicht bei sich und keinen ordentlichen Mantel an, keine Handschuhe und keine Mütze – und nicht einmal ein Taschentuch! Nicht einmal die Möglichkeit, sich des Apparates zu entledigen, denn der Schlüssel zum Müllschacht hing an seinem Haken in der Küche! Was sollte sie tun? Sie wollte bei Elsa klingeln. Elsas Mutter bitten, ihr Geld für die Straßenbahn zu leihen, damit sie in die Stadt zu Wederholm fahren und sich Muttis Schlüssel ausbitten konnte. Claudia trippelte in den vierten Stock hinunter und läutete. Alles blieb still. Sie klingelte ein zweites Mal – ohne Erfolg. Elsa schien schon gegangen zu sein. Ihr Vater war im Büro, und die Mutter machte wohl Besorgungen. Da stand Claudia nun. Eine Stunde später ging eine durchfrorene kleine Gestalt durch den großen Eckeingang von Wederholms, eine kleine – oder genauer ausgedrückt, eine mehr dünne als eigentlich kleine –, aber durchfroren war die Gestalt jedenfalls, und die Nase war rot und lief,
und die Hände waren in den Taschen der abgetragenen alten Jacke vergraben. Unter dem Arm trug die kümmerliche kleine Gestalt die verbeulten Reste eines Photoapparates. Claudia war sich noch nie so elend vorgekommen. Und so sollte sie sich in der Kinderkonfektions-Abteilung zeigen – und vor allem der Mutti, die immer ihre Ehre darein setzte, daß ihre Tochter hübsch und ordentlich angezogen ging. „Weißt du, ich bin dazu verpflichtet, mein eigenes Kind vorbildlich zu kleiden, wenn ich den ganzen Tag dastehe und anderen Müttern beibringen soll, wie sie ihre Kinder anziehen müssen“, lachte Mutti, wenn sie wieder mit einem neuen und hübschen Kleidchen für Claudia nach Hause kam. Und jetzt sollte sie in einer uralten Jacke und ohne Handschuhe und ohne Taschentuch hier erscheinen, wie ein ganz verwahrlostes Gassenmädchen. Claudia schnaufte hörbar und wischte sich mit dem Handrücken heimlich einen Tropfen von der Nase weg. Und dann trat sie ihren Spießrutenlauf durch die große Halle im Erdgeschoß an. Die Kinderabteilung lag im ersten Stock. Sie war gezwungen, durch die Halle zu gehen, um zur Rolltreppe zu kommen. Da steuerte plötzlich ein Herr gerade auf sie zu, mit lächelndem Gesicht. „Nanu, Claudia! Was ist denn mit dir los, Mädchen? Hast du dich etwa ausgesperrt?“ „Konntest du dir das gleich denken, Onkel Peter?“ „Ich bin doch nicht von gestern! Wenn Anita Kellers Tochter in diesem Aufzug in die Stadt kommt, dann gibt es nur eine Erklärung – bitte sehr!“ Ein großes, schneeweißes Taschentuch wurde Claudia in die Hand gedrückt, und nie hatte sie bisher gewußt, daß es so schön und so beruhigend sein konnte, sich die Nase zu putzen. „Und dann brauchst du Fahrgeld nach Hause, nicht wahr? Jaja, das ahnte ich schon. Und was ist das für eine windschiefe Ausgabe von einem Photoapparat, die du da unter dem Arme hast?“ „Das – ach, das ist nichts weiter, Onkel Peter…“ Claudia versuchte, den Apparat vor Onkel Peters scharfen Augen zu verbergen. Und sie sah so unglücklich aus, daß Onkel Peter seinen Arm um ihre Schultern legte.
„Komm eben mal mit zu mir herein“, sagte er. „So früh am Tage ist es in meiner Abteilung ruhig. Du kannst dich doch in dem Aufzug nicht in der Kinderkonfektion zeigen. Und nun beichte mir mal deine Sorgen!“ Onkel Peter hatte eine so offene und herzliche Art, daß Claudia mit ihm ging und sich mit einem Male geborgen fühlte. Hinter dem Verkaufstisch, der ganz aus Glas bestand, mit Angelhaken und Schnitzmessern und Taschenlampen und Trinkbechern, war eine Tür, die in einen winzig kleinen Büroraum führte. Nur ein Schreibtisch und ein Stuhl hatten hier Platz. Onkel Peter drückte Claudia auf den Stuhl hinunter und setzte sich selber auf die Tischkante. „Also heraus mit der Sprache und schau nicht so unglücklich drein! Du hast einen Photoapparat kaputt gemacht und den Schlüssel vergessen und dich selber ausgesperrt?“ „Ja… und – und den Apparat hatte ich nur geliehen – ich wollte heute eine Wanderung machen – und da wollte ich die Klasse photographieren – und dann war heute morgen die Aussicht aus dem Zimmerfenster so schön, da wollte ich nun versuchen, ob ich sie photographieren könnte, und dabei…“ Onkel Peter nickte. „Aha! Nun verstehe ich das übrige. Da machte dann der Apparat einen Sturzflug vom sechsten Stock hinunter? Kein Wunder, daß er so mitgenommen aussieht. Und du hast die erste beste – das heißt, die schlechteste Jacke gegriffen, bist hinuntergerannt, um die Scherben aufzusammeln, und hast dabei den Schlüssel vergessen?“ Claudia nickte. „Arme Claudia – ohne Geld und ohne Taschentuch und ohne Schlüssel –, bist du den ganzen Weg bis hierher zu Fuß gegangen?“ Sie nickte wieder. Plötzlich konnte sie sich nicht mehr auf ihre Stimme verlassen. Sie war so unglücklich über den zerstörten Apparat, und sie war so durchfroren, und es war so abscheulich gewesen, in der häßlichen alten Jacke durch die Straßen zu laufen – und es war so schön, in Onkel Peters warmem Büro aufzutauen, und so schön, daß er so lieb zu ihr war. „Tja, dann müssen wir mal überlegen, was wir für dich tun können. Laß mal den Apparat sehen – ja gewiß, den kenne ich, wir haben ihn sicher oben in der Photoabteilung. Er kostet so um die dreißig Mark herum, meinst du nicht?“ „Ja, das stimmt“, flüsterte Claudia.
„Und jetzt willst du nach oben gehen und Mutti um das Geld bitten?“ „Ja, weißt du, der Vater von Evi – das ist das Mädchen, die ihn mir geborgt hat –, der ist nämlich so streng, und er wird vielleicht böse, und – “ „Das wäre natürlich ärgerlich, Evis wegen. Höre mal zu, Claudia, ich habe einen Vorschlag: ich leihe dir das Geld für einen neuen Apparat. Du bekommst doch Taschengeld, nicht wahr?“ „Ja, gewiß. Fünf Mark die Woche.“ „Da finde ich deine Mutter aber großzügig. Nun wollen wir mal rechnen. Wenn du jetzt vier Mark wöchentlich abbezahlst, dann behältst du eine Mark übrig, du sollst nicht ganz ohne Geld sein. Wenn ich den Apparat hier im Hause kaufe, dann bekommen wir ihn ein wenig billiger, du weißt, ich habe Prozente. Er würde ungefähr fünfundzwanzig fünfzig kosten. Also sechsmal vier Mark und einmal eins fünfzig. Was meinst du dazu?“ Da lächelte Claudia, aber ihre Lippen zitterten. „Ich – ich kann das doch beinahe gar nicht annehmen, Onkel Peter – – “ „Doch, das kannst du wohl. Und im übrigen, Claudia – zwar möchte ich unter keinen Umständen, daß du deiner Mutter etwas verschweigst, ich weiß, daß ihr euch alles erzählt – aber ich finde trotzdem, diese kleine Angelegenheit bleibt besser unter uns, bis du die Sache wieder glattgemacht hast. Das wäre also Ende Januar. Dann erzählen wir es, denn auf die Dauer darfst du keine Geheimnisse vor deiner Mutter haben.“ „Aber, Onkel Peter, es kann gut sein, daß ich schon früher mit dem Abbezahlen fertig bin, ich bekomme nämlich immer zu Weihnachten Geld von Großmama – “ „Um so besser. So, jetzt wartest du hier einen Augenblick, während ich einen Ausflug in die Photoabteilung mache.“ Claudia blieb auf ihrem Stuhl am Schreibtisch sitzen. Jetzt war ihr wieder ganz warm, und sie fühlte sich viel besser. Und Onkel Peter war ein Prachtonkel. Man stelle sich bloß vor, er wußte ganz von selber, wie ungern Claudia ihre Mutter um Geld anging! Vielleicht dachte er sich, daß Mutti große Ausgaben hatte, namentlich jetzt im Dezember. Und er konnte sich vielleicht auch denken, daß die Miete in Nummer achtzehn hoch war, und daß Muttis Gehalt Monat für Monat in verschiedene Briefumschläge für die verschiedenen Ausgaben verteilt und beiseite gelegt wurde. In der
Schreibtischschublade lagen säuberlich in einer Reihe diese Umschläge mit Aufschriften wie „Miete“ – „Strom“ – „Heizung“ – „Fensterputzer“ – „Haushalt“ – aber für einen Posten „zerbrochene Photoapparate“ gab es keinen Briefumschlag. Wie wunderbar, daß sie Mutti diese Sorge ersparen konnte! Onkel Peter erschien wieder in der Tür. „So, Claudia. Übrigens stimmt es nicht ganz mit dem Preis. Der Apparat kostet dreißig Mark mit Tasche. Und die Tasche ist doch heil, nicht wahr? Ohne kostet er fünfundzwanzig, minus fünfzehn Prozent – du bist mir also einundzwanzig fünfundzwanzig schuldig. Siehst du, deine Schulden verringern sich von Minute zu Minute. Und hier hast du ein bißchen zum Knabbern – ich kam an der Süßwarenabteilung vorbei, und da saß Fräulein Mogensen und sah so enttäuscht aus, als ich Miene machte, vorüberzugehen, ohne etwas zu kaufen. Ich mußte mich also erbarmen!“ „Onkel Peter – ich weiß überhaupt nicht, wie ich dir danken soll.“ „Ich werde Bescheid sagen, wenn eine Gelegenheit dazu kommt. Jetzt müssen wir sehen, wie wir dich nach Hause bekommen. Am besten setzen wir dich wohl in ein Taxi. Und ich muß dich außerdem durch den hinteren Ausgang lotsen, damit das Publikum nicht etwa denkt, du bist unser neues Mannequin, das die allerletzte Mode für Teenager vorführt!“ „Aber der Schlüssel, Onkel Peter?“ „Himmel, ja – der Schlüssel! Den habe ich ganz vergessen. Nun gut, ich laufe schnell zu deiner Mutter hinauf und hole ihn, und ich werde ihr klarzumachen suchen, daß du dich in deinem augenblicklichen Aufzug nicht dafür eignest, in Freiheit vorgeführt zu werden. Jedenfalls nicht in Wederholms Warenhaus. Aber von dem Apparat sagen wir also nichts!“ Wieder wartete Claudia, und Onkel Peter kam mit dem Schlüssel zurück und vielen Grüßen von Mutti. „Deine Mutter hatte in der einen Hand eine Windel und in der anderen eine Jungenhose, sie konnte gar nicht abkommen“, lächelte Onkel Peter. „Aber ich soll herzlichst grüßen und bestellen, du seiest ein richtig schusseliges, kleines Schlüsselblümchen!“ Claudia versetzte es einen Stich. Mutti hätte doch Onkel Peter nichts von dem Kosenamen zu erzählen brauchen. Der ging niemandem etwas an, nur Mutti und sie selbst. Kurz darauf saß Claudia in einem Taxi, Schlüssel und Geld fest in
der Hand haltend. „Komm gut nach Haus, Kleines! Du einsames Schlüsselblümchen!“ Es kam wohl daher, daß es im Auto halbdunkel war – aber Claudia kam es so vor, als seien Onkel Peters Augen ganz blank.
Was mag wohl in dem Brief stehen? Die Weihnachtsferien hatten begonnen. Für Claudia bedeutete das mehr Arbeit als Ferien. Denn in diesen letzten Tagen vor dem Fest war Mutti bis spät abends im Geschäft, und Claudia war den ganzen Tag allein. Mutti hatte kaum Zeit und Kraft, alles aufzuschreiben, was Claudia einholen sollte. Und es verstand sich von selbst, daß es Claudias Amt war, auf den Boden zu gehen und den Fuß für den Weihnachtsbaum und den Baumschmuck herunterzuholen, daß es ihr Amt war, den Baum zu schmücken, und ihre Aufgabe, den Weihnachtstisch zu decken. In diesen Tagen mußte Claudia sich auch selber das Mittagessen machen, denn Mutti aß in der Stadt. Claudia saß am Eßtisch und ordnete den Baumschmuck. Sie lächelte. Da war die ulkige, schiefe kleine Fahne, die sie selbst verfertigt hatte, als sie ganz klein war. Da waren die bunten Glanzpapierkörbchen, die sie im Kindergarten geflochten hatte. Da waren die Nüsse und die Zapfen, die sie und Mutti einmal vor vielen Jahren vergoldeten. Claudia schrieb „Kerzen und Engelhaar“ auf ihren Merkzettel. Der lag auf dem Schreibtisch bereit, und jedesmal, wenn Claudia etwas einfiel, das besorgt werden mußte, lief sie hinüber in die Ecke und schrieb es auf. Sie blieb einen Augenblick stehen und blickte auf den Brief, der neben dem Merkzettel lag. Ein steifer, weißer Briefumschlag mit der Adresse „Frau Anita Keller“, in der klaren, deutlichen Handschrift des Direktors geschrieben. Er hatte ihr den Brief heute, am ersten Ferientag, mit nach Hause gegeben. Was in aller Welt mochte der enthalten? Claudia forschte in ihrem Gewissen. Aber sie fand wirklich keine nennenswerten schwachen Stellen. Sie hatte gestern in der Stunde geschwatzt, das stimmte, und Fräulein Röder hatte sie aufgerufen. Aber deswegen bekam man doch keinen feierlichen Brief mit! Einmal in der vorigen Woche war sie zu spät gekommen und ins Klassenbuch eingeschrieben worden. Aber das war doch auch nicht weiter gefährlich! Und mit ihren Zeugnissen und den Leistungen konnte es schon gar nichts sein, denn sie hatte die Klassenarbeiten für die Weihnachtszensur ganz ohne Fehler geschrieben, sie war ja ausgesprochen die Beste in der Klasse.
Claudia stand da und starrte den Brief an und runzelte die Brauen. Dann fuhr sie zusammen. Es hatte geklingelt. Diesmal brauchte sie nicht durch das Guckloch zu schauen. Denn die einzige, die so läutete, war Elsa – einmal kurz und zweimal lang. Es waren die Morsezeichen für ihre Anfangsbuchstaben E. M. „Hallo, Elsa!“ „Störe ich?“ „Nicht die Spur! Nett, daß du kommst! Hast du nichts zu tun mitgebracht?“ „Doch, und ob! Mir fehlen noch die letzten Reihen an den Handschuhen für Muttchen, und ich dachte, die könnte ich bei dir stricken.“ „Natürlich kannst du das! Ich dachte, du hilfst deiner Mutter beim Backen oder so?“ „Das kommt morgen. Und ich darf ganz allein Mandelplätzchen backen. Die kann ich nämlich!“ Claudia schaute nachdenklich vor sich hin. „Sind die schwer?“ „Nicht die Spur! Willst du das Rezept haben?“ „Meinst du, daß ich damit fertig würde?“ „Ich kann dir ja helfen. Möchtest du deine Mutter damit überraschen?“ „Und wie gern – weißt du, wir haben nie selbstgebackenen Kuchen, wir – wir essen immer gekauften, Mutti hat doch nie Zeit…“ „Dann komm, Claudia! Los, wir backen! Hast du Zucker und Butter und Mehl im Haus?“ „Hab’ ich alles – und Eier auch – und Mandeln zufällig auch…“ „Großartig! Her mit einer Schürze!“ „Ja, aber dein Strickzeug?“ „Das schaffe ich noch hinterher. Es fehlt nur ‘n bißchen.“ Ein paar Minuten später standen die beiden Mädchen in der Küche, eifrig mit dem Teig für die Mandelplätzchen beschäftigt. Elsa war geschickt mit den Händen, und schnell. Claudia hätte sie geradezu beneiden können, wenn sie so sah, wie glänzend Elsa im Handarbeiten und Kochen war, und sie sagte es ihr auch. „Ach was, das ist doch nicht der Rede wert. Übrigens kannst du doch auch gut kochen. Deine Mutter ist jedenfalls sehr zufrieden mit dir.“ „Ja, so ganz einfaches Essen, das schnell geht – ich kann
Schnitzel braten und Fische, und Kartoffeln kann ich auch kochen und dergleichen – aber sowie etwas gerührt werden muß und verdünnt und fein zurechtgemacht, dann ist es aus bei mir!“ „Du kannst so vieles andere“, sagte Elsa. „Wenn ich an deine Einser in den Klassenarbeiten denke, werde ich gelb vor Neid. Wie ist einem eigentlich zumute, wenn man nur lauter ,Sehr gut’ und ,Gut’ in seinem Zeugnis hat?“
Claudia lachte. „Ach, weißt du, es ist natürlich schön, weil Mutti immer so froh ist, wenn sie mein Zeugnis ansieht – bis auf Handarbeit allerdings.“ „Du hast ja Glück, daß wir fürs Abitur keine Handarbeit brauchen! So, jetzt muß der Teig ein Weilchen kühl stehen, dann können wir anfangen, ihn auszustechen!“ „Was übrigens die Zeugnisse angeht“, sagte Claudia, als sie wieder ins Zimmer gekommen waren und Elsa ihr Strickzeug zur Hand genommen hatte. „Ich habe heute einen Brief von der Schule mitbekommen.“ „Du? Einen Brief von der Schule? Da schlag einer lang hin! Was in aller Welt hast du denn ausgefressen?“ „Ich weiß es nicht. Elsa, ich habe keine Ahnung!“
„Ich auch nicht. Du kannst sicher ganz unbesorgt sein! Ein Brief von der Schule muß ja nicht immer was Schlimmes bedeuten! Schlimmer ist es mit Evi, der Ärmsten. Die hat nämlich heute auch einen Brief mitbekommen.“ „Arme Evi. Und bei dem strengen Vater!“ „Ja aber, weißt du – natürlich, sie kann einem leid tun, das steht fest – aber, Claudia, du mußt doch zugeben, sie macht nie ihre Schularbeiten – sie ist bestimmt ein glänzender Kamerad, und großartig im Sport, aber in der Schule ist sie nun mal ein Faultier. Ein Wunder ist es nicht, wenn sie die Nachmittage dazu benutzt, neue Rekorde im Turnen und Schlittschuhlaufen und Tennis aufzustellen und…-“ „Was meinst du, was ihr Vater sagen wird?“ „Gesagt hat, meinst du wohl, denn er hat jetzt den Brief sicher schon gelesen. Ja, das kann ich dir genau sagen. Evi hat ganz bestimmt Stubenarrest bekommen und muß büffeln, und er hat bestimmt ihre Schlittschuhe weggeschlossen, das hat er voriges Jahr auch getan, als sie einen Brief nach Hause brachte – uff, damals tat sie mir wirklich leid, aber – “ „Heute nicht mehr?“ „Doch – aber im vergangenen Jahr war es ganz wüst. Sie hatte eine so unwahrscheinliche Angst, als sie den Brief mit nach Hause bekommen hatte, daß sie ihn aufmachte, um nachzusehen, was drin
stand – und dann hat sie ihn nicht wieder ordentlich zukleben können – und der Vater hat es ‘rausgekriegt – und, stell dir vor, da ist er so wütend geworden – so ganz und gar aus der Haut gefahren vor Wut, daß Evi richtige Haue gekriegt hat… und dann die ganzen Weihnachtstage über Stubenarrest.“ „Du – du meinst doch nicht im Ernst, daß er sie verdroschen hat?“ „Doch, das meine ich, denn das hat mir ihre Schwester erzählt. Stubenarrest für ihre Faulheit, und die Dresche für den geöffneten Brief.“ Claudia sann nach und zog die Stirn in Falten. „Ich finde es grausig, wenn ein Vater seine Kinder haut“, sagte sie langsam. „Aber, ehrlich gesagt, wenn er es eines Tages tun muß, dann wegen des verletzten Briefgeheimnisses. Denn das ist doch das Gemeinste, was es gibt.“ „Ja – ja schon –, aber er hätte doch immerhin mit ihr reden können – und ihr erklären können – es so erklären können, daß sie verstand, wie schlimm es war – und dann Strich drunter, anstatt sie erst zu verhauen und dann der ganzen Familie das Weihnachtsfest zu verderben…“ Claudia schwieg eine Weile. Dann sagte sie langsam: „Manchmal bin ich doch richtig froh, daß bei uns nur Mutti und ich da sind. Und daß wir es so gut miteinander haben. Daß keiner da ist, der unser Weihnachtsfest verdirbt.“ „Jetzt mach aber mal ‘n Punkt“, fuhr Elsa auf. „Denkst du etwa, mein Vater verdirbt uns was? Vati ist so lieb und gut wie – “ „Na, so meinte ich es doch gar nicht“, besänftigte Claudia ihre Freundin. „Du hast aber auch Glück, daß du so einen guten Vater hast! Ich meine nur, ich möchte lieber keinen Vater haben als einen, der so streng ist und so leicht wütend wird, daß ich die ganze Zeit Angst vor ihm haben müßte!“ „Es muß doch komisch sein, wenn man seinen Vater nie gekannt hat“, sagte Elsa sinnend. „Ja, es ist auch sonderbar, wenn ich so darüber nachdenke. Aber das kommt nur selten vor. Ich bin ja so daran gewöhnt, mit Mutti allein zu sein.“ „Warst du denn so klein, als dein Vater starb?“ „Ich war noch gar nicht geboren. Papa war Erster Offizier, und er war auf großer Fahrt, und da ging das Schiff unter – und Mutti bekam das Telegramm, während sie dasaß und ein Babyhemdehen nähte… es war einen Monat, bevor ich zur Welt kam…“
„Wie entsetzlich für deine Mutter!“ „Ja, es muß entsetzlich gewesen sein!“ „Aber jetzt sieht deine Mutter doch immer riesig vergnügt und zufrieden aus!“ „Man läuft doch auch nicht so viele Jahre herum und trauert“, sagte Claudia nachdenklich. „Und Mutti und ich, wir haben uns doch beide, sieh mal – “ Claudia unterbrach sich selbst. Es tauchte plötzlich aus der Tiefe ihres Unterbewußtseins etwas auf – eine kleine Unruhe, so etwas wie eine leise Ahnung –, etwas, das sie selbst nicht benennen konnte, das sie mit aller Macht verdrängte, woran sie unter keinen Umständen denken wollte… Sie stand plötzlich auf. „Jetzt hat der Teig mindestens eine Stunde gestanden, Elsa! Wir müssen mit dem Ausstechen anfangen!“ „Aber Claudia!“ Mutti stand in der Tür und schnupperte den guten Kuchenduft ein. Claudia war rot und aufgeregt und glücklich. „Sieh nur, Mutti!“ Mutti sah. Zwei große Schüsseln voller goldener Mandelplätzchen standen auf dem Küchentisch. Und Claudia glühte vor Stolz. „Mein Kind – Mutters großes Mädchen –, gar nicht auszudenken, daß wir in diesem Jahr selbstgebackene Plätzchen haben –, ich bin so stolz auf dich, Kleines…“ „Fragt sich nur, wie lange der Stolz anhält“, lachte Claudia. „Ich habe heute einen Brief von der Schule mitbekommen – er liegt auf dem Schreibtisch…“ „Du einen Brief?“ sagte die Mutter ungläubig, genauso wie Elsa. „Da bin ich aber gespannt, das muß ich sagen. Du bist doch nicht etwa naseweis gewesen oder hast gemogelt oder…“ Plötzlich schoß eine heiße Röte in Claudias Wangen. Gemogelt. Das mußte es sein. Sie hatte einmal in der vorigen Woche Evi ihre Rechenaufgaben zum Abschreiben gegeben – das war natürlich nicht recht, aber Evi tat ihr so leid, natürlich, das mußte es sein, natürlich war es herausgekommen, wie hätte Evi sonst alle Aufgaben richtig haben können! „Du, Claudia, Claudia“, schmunzelte die Mutter. Sie stand am Schreibtisch mit dem offenen Brief in der Hand. „Was soll ich jetzt mit dir machen?“ Muttis Stimme klang nicht die Spur ärgerlich. Eher freudig
überrascht, aber auch etwas besorgt. „Was ist denn, Mutti…“ „Du bist so faul und so naseweis und so unausstehlich, daß man dich zwei Klassen tiefer setzen will“, lachte Mutti. „Schau her, Kleines, du darfst den Brief selbst lesen. Dich geht es ja an.“ Und Claudia las. Das Lehrerkollegium schlage einstimmig vor, daß Claudia Keller versuchsweise in eine höhere Klasse eingestuft wird. Das ausgezeichnete Ergebnis, das Claudia in ihren Weihnachtsarbeiten erreicht habe, bestärke die Lehrer in ihrer Auffassung, die sie schon lange vertreten hätten, daß Claudia ihren Mitschülerinnen weit voraus sei. Die Schularbeit werde auch interessanter für sie werden, wenn sie in eine höhere Klasse komme, die größere Anforderungen an sie stellte. Ob Frau Keller zu dem Vorschlag ihre Meinung äußern und sich gleich nach Neujahr mit dem Direktor in Verbindung setzen wolle? Und der Direktor schloß den Brief damit, seiner Freude Ausdruck zu geben, daß er solche Schülerinnen wie Claudia in der Schule habe, und er gestatte sich, Frau Keller und Claudia ein recht gutes Weihnachten zu wünschen. Claudia stand wie angewurzelt da, das Papier zitterte in ihrer Hand. „Ach Mutti… gehst du darauf ein? Muß ich aus meiner Klasse ‘raus?“ „Möchtest du nicht selber gern, Claudia?“ „Nein, ich möchte gar nicht – alle meine Freundinnen verlassen – und nicht mehr Fräulein Röder als Klassenlehrerin haben – und keine Ausflüge mehr mit der Klasse machen – und mit lauter Mädchen zusammen sein, die älter sind als ich…. ach Mutti, muß ich das denn tun? Darf ich nicht bleiben, wo ich bin?“ „Wenn nun aber der Direktor und die Lehrer meinen, du seiest reif für eine höhere Klasse, Claudia? Möchtest du nicht gern ein Jahr eher mit der Schule fertig sein?“ Claudia biß sich auf die Lippen. „Ich – ich weiß nicht, Muttel. Ich fühle mich so wohl dort, wo ich jetzt bin – und… es kommt so plötzlich…“ „Da hast du ganz recht, Kleines! Wir reden jetzt nicht mehr davon. Jedenfalls wird keine Menschenseele dich zwingen. Wenn du durchaus nicht willst, dann bleibst du, wo du bist! So! Wenn du jetzt deiner alten Mutter etwas Gutes antun willst, dann…“ „Das Fußsalz steht bereit. Muttchen, ich mache das Bad gleich fertig!“
Claudia wußte nur zu gut, was ihre Mutter nach einem solchen Tage dringend nötig hatte: In einen behaglichen Sessel sinken und die Füße in lauwarmes Wasser mit Badesalz stecken. Die armen, müden, geschwollenen Füße waren den ganzen Tag gegangen und gerannt oder im Stehen müde geworden. Claudia zog ihrer Mutter Schuhe und Strümpfe aus, stopfte ihr ein Kissen in den Rücken und drehte die große Lampe aus. Und nun saß Anita Keller, wie Millionen von todmüden Verkäuferinnen an den letzten Abenden vor Weihnachten dasitzen, mit geschlossenen Augen, die Füße in einem lindernden Bad. Unterdes machte Claudia Tee und strich Butterbrote. Kurz darauf ging Mutti ins Bett, und Claudia richtete ihr das Abendbrot auf einem Teebrett an. „Wie habe ich es gut“, sagte Mutti. „So bedient und umsorgt zu werden – zu schön, wenn man so eine große Tochter hat, Claudia! Ein großes Mädchen, das fleißig in der Schule ist und Kuchen bäckt und den Haushalt macht und die müde Mutter pflegt…“ „Und wie gut hab’ ich es erst“, lächelte Claudia. „Wenn ich an den Storch glaubte, Muttel, dann würde ich sagen, er war ein kluges und prächtiges Tier, weil er mich von allen Müttern in der Welt ausgerechnet zu Anita Keller gebracht hat!“
Heiligabend zu dritt Claudia saß über eine Handarbeit gebeugt und schwitzte. Es war nur eine ganze Kleinigkeit, nur zwei Buchstaben sollten in Kreuzstich gestickt werden, aber es mußte anständig gemacht werden. Und es war eilig. Denn morgen war Heiligabend, und da mußte es fertig sein. Claudia steckte die Nadel hinein und zog sie wieder heraus, und unter ihren Fingern entstanden auf dem niedlichen kleinen Lesezeichen die Buchstaben P. B. Mutti war ins Bett gegangen, abgespannt und überanstrengt; und glücklich und dankbar, weil Claudia alle Weihnachtsvorbereitungen so glänzend erledigt hatte. Ja, ihre Wochenfrau, die treue Frau Möller, war gekommen und hatte die ganze Wohnung saubergemacht, aber Claudia hatte die Einkäufe erledigt und das Zimmer geschmückt und tausenderlei getan, und morgen vormittag wollte sie den Baum putzen. Jetzt saß sie allein im Wohnzimmer und stickte und grübelte. „Ich muß unbedingt früh zu Bett gehen, damit ich für morgen abend ein bißchen Kraft aufspeichern kann“, hatte Mutti gesagt. „Es geht doch nicht, daß ich bei Tisch umsinke, gerade vor den Augen unseres Gastes!“ Unseres Gastes… Über Claudias Gesicht lief ein Zucken. Es war das erste Mal, daß sie Heiligabend einen Gast hatten. Abgesehen von Großmama natürlich, die war zu Weihnachten ein paarmal bei ihnen gewesen. Und es war bisher noch nie vorgekommen, daß Mutti ihre Tochter Claudia nicht nach ihrer Ansicht gefragt, sondern ganz aus eigenem Ermessen gehandelt hatte. Weshalb hatte Mutti nicht vorher ein Wort gesagt? Weshalb hatte sie es nicht schon gestern erwähnt? Sie hätte doch sagen können: „Du, Claudia, ich finde, wir sollten Onkel Peter zum Heiligabend einladen, er lebt ganz allein, nachdem seine Schwester gestorben ist.“ Natürlich wäre Claudia einverstanden gewesen. Sie und Mutti waren sich doch immer einig! Aber Mutti hatte nicht ein einziges Wort gesagt, bis heute. Und ihre Stimme war so neu gewesen und der Ausdruck, neu, und Claudias hellhöriges Ohr hatte einen kleinen atemlosen, zitternden Ton hinter den Worten vernommen:
„Wir haben morgen einen Gast, Claudia! Ist das nicht reizend? Ich habe Peter – Peter Brodersen eingeladen – er ist so allein, nachdem er seine Schwester verloren hat… glaubst du nicht, daß es sehr gemütlich werden kann? Was Claudia?“ Wie sehr Mutti doch daran gelegen war, zu betonen, daß es gemütlich werden würde. Gewiß doch! Claudia glaubte, es könne gemütlich werden. Und sie ging schweigend in die Küche und machte für Mutti das Teebrett zurecht, brachte es herein und ging wieder hinaus. „Nanu? Willst du denn nicht mit mir zusammen Tee trinken, Kleines?“ Aber ihre Tochter schüttelte den Kopf. Claudia mußte allein sein. Sie wußte nicht, warum. Sie wußte nicht, daß sie ein Problem zu bewältigen hatte, eins, mit dem sie sich herumschlagen mußte. Sie wußte nur, daß sie allein sein mußte, mußte… „Ich habe keine Zeit, Mutti. Ich muß ein Weihnachtsgeschenk für Onkel Peter machen. Er muß doch auch Pakete bekommen! Ich – ich mache so ein Lesezeichen, wie ich für Tante Helga eins gemacht habe. Hoffentlich mag er das.“ Mutti lächelte. „Wie furchtbar lieb ist das von dir, Claudia“, sagte sie warm. „Das wird Onkel Peter auch sehr zu schätzen wissen!“ Und da saß Claudia nun in der abendlich stillen Stube und versuchte, ein Problem zu durchdenken, das sie nicht verstand. Sie hatte nur eine schwache Ahnung, daß irgendwo in der Zukunft Schwierigkeiten lägen und auf sie warteten. Und die Nadel ging hin und her, und Stich fügte sich an Stich, und schließlich standen die Buchstaben P. B. hübsch und deutlich da in Kornblumenblau auf cremegelbem Grund. Dann packte sie das Nähzeug zusammen und schlich ins Schlafzimmer, wo die Mutter nach einem mühevollen Tag schon tief und fest schlief. Claudia stand da und betrachtete ihre schlafende Mutter. Und ihr fiel ein, was Elsa erst neulich wieder gesagt hatte: „Du Claudia, deine Mutter ist so schön, und sie sieht noch mächtig jung aus!“ Ja, Mutti war jung und schön. Claudia stand still, mucksmäuschenstill. Sie fühlte sich mit einemmal so erwachsen. Es war genauso, als habe sie die Verantwortung, als sei von ihnen beiden sie die Erwachsene – und
als sie die Mutter mit leichten, behutsamen Hände besser zudeckte, geschah es mit derselben Weichheit, wie wenn eine Mutter ihr schlafendes Kind zudeckt. Mutti lächelte im Schlaf. „Nein, Claudia! Du bist wirklich unübertrefflich!“ Onkel Peter blieb in der Tür stehen mit einer vollen Aktentasche in der einen Hand und einen Strauß Blumen in der andern. „So ein Mädchen aber auch! Hast du das alles ganz allein gemacht, mein Kind?“ „Ja – das ist doch weiter keine Kunst…“ „Nein, das habe ich auch nicht gesagt… aber trotzdem bist du sehr tüchtig gewesen. Wie reizend du den Tisch gedeckt hast – und den Baum so schön geputzt! Ich bin euch sehr dankbar, daß ihr mich bei euch sehen möchtet, Claudia! Du kannst mir glauben, ich habe mich gefreut, als deine Mutter mich einlud.“ Mutti war gleich ins Badezimmer gegangen, um sich zu waschen und zurechtzumachen, und Claudia und Onkel Peter waren ein paar Minuten allein. Claudia mußte lächeln. Onkel Peter hatte so etwas Warmes und Herzliches an sich und machte so gar keine Umschweife. Freundlich streckte sie ihm die Hand entgegen. „Es ist nett, daß du Lust hattest, zu kommen, Onkel Peter…“ „Willst du dich mal freundlichst über dies Gemüse erbarmen, Claudia?“ Onkel Peter reichte ihr die Blumen. „Die roten sind für deine Mutter, und die weißen für dich.“ Claudia packte aus. Es waren zwei Rosensträuße, ein roter und ein weißer. „Oh, tausend Dank, Onkel Peter – es ist das erste Mal in meinem Leben, daß ich einen Rosenstrauß bekomme.“ „Aber bestimmt nicht der letzte“, lachte Onkel Peter. „Gib ihnen Wasser, und stell sie irgendwohin. So, vielen Dank!“ Als Claudia wieder aus der Küche hereinkam, in jeder Hand eine Blumenvase, hockte Onkel Peter vor dem Weihnachtsbaum. Er richtete sich gerade wieder auf und klappte die leere Aktentasche zu. Unter dem Baum lagen jetzt vier, fünf Pakete mehr. Nun kam Mutti, jung und frisch, und sorgfältig zurechtgemacht, das Haar frisch gebürstet, und mit glänzenden Augen. Es war noch nie vorgekommen, daß Mutti an einem Weihnachtsabend so frisch ausgesehen hatte und so gut aufgelegt war. „Sieh mal einer an, da haben wir die große Schwester“, lachte Onkel Peter. „Ja, denn du siehst heute aus, als wärest du nicht mehr
als zwanzig, Anita!“ Claudia zuckte zusammen. Du! Sagte Onkel Peter „du“ und Anita zu Mutti? Der Mutter Augen fingen blitzschnell Claudias Blick auf. „Ja, Onkel Peter und ich haben jetzt auch Brüderschaft geschlossen“, meinte Mutti, und ihre Stimme klang so warm und so zuversichtlich, wie Claudia sie so gut an ihr kannte. „Das ist doch viel netter, findest du nicht auch?“ Nett, nett! Alles war so nett! Onkel Peter und Mutti betonten ja geradezu um die Wette, wie außergewöhnlich nett alles sei! Aber sie hatten ja auch recht. Drei heitere, freundliche Menschen an einem friedvollen Heiligabend mit einem schönen Weihnachtsbaum und gutem Essen und einer wunderhübsch geschmückten Stube mit Tannenzweigen und Kerzen: Mußte nicht jeder diesen Abend nett finden? „Ich bin aber froh, daß Mutti nicht meine Schwester ist“, sagte Claudia. „Ich habe eine Mutter viel nötiger als eine Schwester.“ „Beides zusammen wäre wohl am allerbesten“, meinte Onkel Peter, „Übrigens muß deine Mutter dich gut erzogen haben, daß du so selbständig und tüchtig geworden bist“! „Na, mit der Erziehung war es wohl nicht gar so weit her“, lächelte Mutti. „Ich habe sicher ganz vergessen, dir Gardinenpredigten zu halten und dir Haus- und Stubenarrest und dergleichen zu geben, nicht wahr, Claudia?“ „O ja“, lachte Claudia. „Das hast du ganz vergessen! Ich Ärmste bin wirklich schlimm dran, ich habe mich eigentlich selber erziehen müssen.“ „Ja“, sagte Mutti und war mit einemmal ernst. „Da hast du ein wahres Wort gesprochen, Claudia! Euch selber erziehen, das eben müßt ihr ja tun, ihr Schlüsselkinder!“ „Ach Quatsch“, sagte Claudia, und ihre Stimme klang mit einemmal sonderbar scharf. „Natürlich hast du mich erzogen, Mutti, und ich brauche keinem Menschen leid zu tun, weil ich ein Schlüsselkind bin! Mir geht es gut, und ich möchte es ganz und gar nicht anders haben – unter gar keinen Umständen! Und ich will meine Mutti als Mutter haben und nicht als große Schwester, und…“ Claudias Stimme bebte plötzlich, und sie stand jäh vom Tisch auf. „Ich habe den Zucker vergessen“, murmelte sie mit unsicherer Stimme und ging ganz schnell aus dem Zimmer und in die Küche. Dort blieb sie stehen; sie biß sich auf die Lippe und versuchte,
sich selbst zur Ruhe zu zwingen. Was fiel ihr denn ein? Weshalb war sie plötzlich so heftig geworden – ja beinahe unverschämt? Was hatte sie gesagt? „Quatsch“, hatte sie zur Mutti gesagt. Und noch dazu, während Onkel Peter es hörte. Warum mochte sie es nicht, daß Onkel Peter über Muttis jugendliches Aussehen scherzte? Warum war ihr so darum zu tun, daß Onkel Peter wissen sollte, wie gut es ihr ging? „Warum mußte sie es Onkel Peter unbedingt begreiflich machen, daß sie keinerlei Änderung wünschte, daß sie sich wohl fühlte als Schlüsselkind? Claudia biß sich schon wieder auf die Lippe, daß es schmerzte. Es war ihr peinlich, daß sie heftig geworden war. Was mußte Onkel Peter denken? Sie wollte ja nur so furchtbar gern, daß er einsehen sollte, wie gut Mutti und sie zusammenlebten! Claudia richtete sich auf, schluckte und strich sich schnell mit dem Handrücken über die Augen. Dann ging sie wieder hinein, geradewegs auf die Mutter zu und streichelte ihr die Wange. »Verzeih, Mutteichen. Ich habe vorhin ,Quatschc zu dir gesagt, aber ich habe es nicht so gemeint. Es war nur, weil – weil du dir selber Vorwürfe gemacht hast…“ „Und das erlaubt meine strenge Tochter nicht“, lachte Mutti. „Alles in Ordnung, Claudia! Ich verstehe dich so gut! Übrigens magst du sogar recht haben, ich rede sicher hin und wieder Quatsch!“ „Sicher“, lachte Onkel Peter. „Wer täte das nicht? Wolltest du nicht die Zuckerdose holen, Claudia? Wo ist sie? Wer ist hier im Hause augenblicklich der Quatschkopf? ‘raus, hol den Quatschkopf, kleine Zuckerdose – nein, ich meine natürlich…“ So löste sich denn die ganze Angelegenheit in Lachen auf, und alles war gut und nett. Claudia saß mitten im Zimmer auf dem Fußboden, mit einem offenen Paket im Schoß. „Onkel Peter – ich glaube fast, bei dir ist eine Schraube los!“ Claudia holte einen blitzblanken Schlittschuhstiefel aus dem Karton. Ihre Augen glänzten, und ihre Hand strich über das weiche Leder des Stiefels.
„Bei mir nicht“, sagte Onkel Peter. „Aber ich dachte mir, vielleicht bei einem deiner alten Schlittschuhe, die doch sicher zum Schrauben sind!“ „ Du mußt Claudias Ausdrucksweise entschuldigen“, lachte Mutti. „Nimm es so, wie es gemeint ist…“ „Ich fasse es selbstredend als einen herzlichen Dank auf“, lachte Onkel Peter. „Aber wie ist es eigentlich damit, Claudia, du magst doch gern Schlittschuh laufen?“ Claudia nickte, und ihre Augen strahlten. Sie stellte sich recht geschickt an beim Schlittschuhlaufen, aber mit ihren alten Schlittschuhen war es nicht mehr weit her. Tatsächlich war es so, daß sie oft die Absicht gehabt hatte, aufs Eis zu gehen, es aber hatte sein lassen, weil sie sich über die dummen Schlittschuhe ärgerte, die nur zu leicht von ihren Stiefeln abrutschten, weil die Schrauben ausgeleiert waren. Und so blieb sie denn oft lieber in der Sofaecke sitzen mit der Nase in einem Buch.
Sie hatte ihrer Mutti nie etwas von ihrem heißen Wunsch gesagt, denn sie wußte ja, wie furchtbar teuer solche Schlittschuhstiefel waren. Aber nun – nun wollte sie schon gleich morgen auf die Eisbahn gehen! Claudia war von ihren Schlittschuhen so in Anspruch genommen, daß einige Minuten vergingen, ehe sie die merkwürdige Stille im Zimmer wahrnahm. Sie blickte auf. Mutti saß da und hielt ebenfalls ein offenes Päckchen in der Hand. Eine ganz kleine Schachtel. Sie hatte den Deckel abgenommen, und drinnen lag auf einem samtnen Polster ein feiner, alter, goldener Halsschmuck. Im Zimmer war es ganz still. Lange. Onkel Peters Augen ruhten auf Mutti. Und dann sprach Mutti gedämpft, beinahe flüsternd, während sie auf den Schmuck schaute: „Wie ist das schön, Peter. Es ist nur viel zu…“ „Magst du es wirklich? Das freut mich.“ Er legte seine Hand auf Muttis Hand. Und auch er blickte jetzt auf den Schmuck nieder. Nach einer Weile sagte er leise: „Er hat meiner Mutter gehört.“ Claudia packte mit zitternden Händen alle ihre Geschenke zusammen. Die Schlittschuhe – die Bücher – den Faltenrock und die prachtvolle Jacke, die Mutti ihr zum Schlittschuhlaufen geschenkt hatte – die zehn Mark von Großmama, zwei und eine halbe Rate vom Photoapparat – das Strumpftäschchen von Elsa – die Fausthandschuhe von Tante Helga. Sie packte alles zusammen, sie knibberte alle die roten Schleifen auf, mit denen die Pakete zusammengehalten waren, sie strich das benutzte Weihnachtspapier glatt und faltete es säuberlich zusammen. Und die ganze Zeit über zitterten ihre Hände. Mutti blies die Weihnachtskerzen aus, sie waren fast heruntergebrannt. Nun war der Raum nur noch von der kleinen Lampe in der Ecke erhellt. Mutti und Onkel Peter sprachen nicht. Onkel Peter hatte Mutti den Schmuck um den Hals gelegt, und sie hatte seine Hand ergriffen, sie fest gedrückt und ihn dabei angesehen. Claudia warf noch einmal einen Blick auf die beiden, ehe sie mit dem Einwickelpapier in die Küche ging. Und jetzt war sie nicht mehr erregt, nicht mehr nervös, so, wie in den ganzen letzten Tagen. Nun brauchte man nicht mehr gespannt zu sein. Man brauchte vor
nichts mehr Angst zu haben. Da gab es nichts mehr, worüber man sich immer von neuem den Kopf zerbrechen mußte. Jetzt lag alles offen zutage. Jetzt wußte Claudia Bescheid. Und in ihrem Innern breitete sich eine große, dumpfe Stille aus. Eine große, traurige Ruhe. „Mutti, weißt du was, ich bin müde. Hast du etwas dagegen, wenn ich schlafen gehe?“ „Aber liebes Kleines, natürlich nicht – geh du nur schlafen, es ist ja auch wirklich kein Wunder, daß du müde bist, so wie du dich hast anstrengen müssen. Aber willst du nicht noch ein bißchen Obst essen, ehe du ins Bett gehst?“ „Ich nehme mir einen Apfel mit hinüber. Gute Nacht, Onkel Peter – und vielen, vielen Dank für die prachtvollen Schlittschuhe…“ „Gute Nacht, Claudia, und herzlichen Dank für den heutigen Abend! Du hast deiner Mutter und mir wirklich ein wunderbares Weihnachten bereitet.“ Claudia zog ihre Hand jäh wieder zurück. „Gute Nacht, Mutti, und vielen Dank für alles Schöne heute.“ „Gute Nacht, mein kleines Mädelchen. Ich komme noch mal, wenn du im Bett liegst.“ Claudia zog sich mit langsamen Bewegungen aus und ging ins Bett. Sie knipste das Licht aus und starrte mit offenen Augen in die Dunkelheit. Der Apfel blieb unangerührt auf dem Nachttisch liegen. Da ging leise die Tür auf, Claudia machte die Augen fest zu und tat, als ob sie schliefe. Mutti horchte ins Zimmer. Die lur wurde wieder geschlossen. Und Claudia lag weiter hellwach im Dunkeln. Aus dem Nebenzimmer hörte sie gedämpftes Sprechen. Sie fing hin und wieder ein Wort auf. Es kam ihr gar nicht in den Sinn, daß sie eigentlich dalag und horchte. „Du mußt es ihr gleich morgen früh erzählen“, hörte sie Onkel Peter sagen. Claudia lächelte bitter. Es war weiß Gott nicht notwendig, morgen früh irgendwas zu erzählen! Dachte Onkel Peter, sie sei noch zu klein, um so etwas nicht zu merken? Dann wieder leises Reden. Jetzt Muttis Stimme, klarer, deutlicher: „Sie hat eine viel zu große Verantwortung für ihr Alter, Peter. Es war gar nicht zu umgehen, daß sie zu früh erwachsen wurde. Und nun ist es zu spät. Du kannst heute kein sorgloses und unbefangenes Kind mehr aus ihr machen.“
Wieder gedämpfte Unterhaltung. Nun wieder Peters Stimme, warm und voller Güte: „Ich habe dein Mädelchen furchtbar gern, Anita. Das darfst du nicht vergessen! Und ich möchte alles tun, was in meiner Macht steht, um ihr noch ein paar sorglose und fröhliche Kinderjahre zu verschaffen, ehe sie ernstlich erwachsen ist.“ „Kind, schläfst du denn nicht?“ Mutti hatte die Nachttischlampe angeknipst, und in deren mildem Licht sah sie, daß die Tochter auf dem Rücken lag, mit weit offenen Augen. „Ist Onkel Peter schon gegangen?“ „Ja. Ich soll grüßen.“ „Danke.“ Dann schwiegen sie beide. Die Mutter schaute verstohlen auf die Tochter. „Bist du nicht müde, Claudia?“ „Nein.“ Wieder sah Anita Keller ratlos zu ihrer Tochter hinüber. Dann faßte sie einen Entschluß, ging zu ihr und setzte sich auf den Bettrand. „Kleines. Du bist ein kluges Mädchen. Und ich glaube – ich glaube, ich brauche dir nicht erst zu sagen, was ich auf dem Herzen habe.“ „Nein, Mutti. Das brauchst du nicht. Du willst Onkel Peter heiraten. Nicht wahr?“ Zu ihrem eigenen Entsetzen merkte Claudia, daß ihre Stimme bebte vor unterdrücktem Weinen. „Ja, Kleines. Das will ich.“ Claudia wollte etwas sagen, aber sie hatte einen fürchterlichen Kloß im Hals, und sie wußte, wenn sie nur ein Wort sagte, würden die Tränen kommen. Da fing Mutti behutsam zu reden an. „Claudia, mein Kind… Onkel Peter hat mich gern, und ich ihn. Du magst ihn auch, das weiß ich. Und eins mußt du noch wissen: Onkel Peter hat dich auch so gern, und hat keinen größeren Wunsch, als dir das Dasein gut und freundlich zu gestalten.“ Claudia schwieg weiterhin. In ihr wogte es; da waren tausend Dinge, die sie sagen wollte – aber sie konnte nicht. „Bist du – bist du traurig, Claudia – – bist du enttäuscht? Denk doch mal, was es für dich bedeutet, Kind. Du wirst eine Mutter haben wie andere auch. Eine Mutter, die zu Hause ist, die den Haushalt macht, dir die Tür aufmacht, wenn du von der Schule nach
Hause kommst. Du wirst nicht mehr ein einsames kleines Schlüsselkind sein!“ Da warf sich Claudia im Bett herum, richtete sich in halbsitzende Stellung auf. „Schlüsselkind! Immer nennst du mich Schlüsselkind. Aber ich hab’ es gut als Schlüsselkind! Und ich finde es gut für mich, so wie alles ist. Du brauchst mich doch, Mutti – bis jetzt hast du mich gebraucht – du hast mich für deinen Haushalt gebraucht, und das Teebrett abends am Bett und die Fußbäder – und alles, alles war immer so schön – und du warst immer meine beste Kameradin – – und jetzt – jetzt – jetzt brauchst du mich nicht mehr.“ Bei den letzten Worten versagte Claudia die Stimme. Die Ungewißheit der letzten Wochen, die Angst, die Eifersucht – alles quoll jetzt aus ihr hervor, in heißen Tränen quoll es hervor und kullerte ihr über die Wangen. „Meine Claudia – Claudia, mein Kind! Jetzt hör mir mal zu, Claudia. Ich brauche dich jetzt und immer! Verstehst du denn nicht, daß ich in allen diesen Jahren mich danach gesehnt habe, täglich und stündlich, zu Hause zu sein und bei meinem Kind? Claudia, du weißt, daß ich dich so liebhabe, wie eine Mutter ihr Kind überhaupt liebhaben kann. Wenn du nun aber nachdenkst, Kind, dann wirst du erfahren, daß es verschiedene Arten von Liebe in der Welt gibt. Die Mutterliebe und die Liebe des Kindes zur Mutter – und die Liebe einer Ehefrau zu ihrem Mann. Ich habe Onkel Peter lieb, Claudia. Ich habe ihn unsagbar lieb! Aber das Herz einer Frau enthält so viel Liebe, Claudia. Du hast deinen großen, festen Platz in meinem Herzen. Der Platz, den Onkel Peter bekommen hat, der hat viele Jahre leergestanden. Verstehst du das?“ Claudia blickte durch Tränen auf die Mutter. „Leergestanden – aber Mutti, wann hast du denn aufgehört, Papa liebzuhaben?“ Die Mutter zögerte etwas mit der Antwort. „Ich dachte mir schon, daß du diese Frage stellen würdest, Claudia. Siehst du, ich habe deinen Papa sehr liebgehabt. Aber ich war damals noch sehr jung, und er wurde mir so bald wieder genommen. Was man erlebt, wenn man sehr jung ist, das muß später anderen großen Erlebnissen weichen. Wäre dein Papa am Leben geblieben, so hätten wir drei bestimmt gut miteinander gelebt, und ich hätte überhaupt nicht daran gedacht, daß es einen Onkel Peter gibt. Aber Papa ist gestorben, und mein Leben war voller Probleme, die ich allein lösen mußte, und es ereignete sich so vieles, und das Leben ging weiter – wir sind nun einmal so eingerichtet, wir Menschen, daß die Zeit und neue
Erlebnisse unsere alten Wunden heilen. Verstehst du das liebe kleine Claudia?“ Es war so richtig, so richtig, was Mutti sagte! Claudia wußte, daß es richtig war. Ihre ganze Vernunft sagte ihr, daß sie froh und zufrieden sein müsse. Aber da war in Claudias Innerem noch etwas anderes als die Vernunft, ein ganz bestimmtes Gefühl, und das gab Mutti nicht recht und ließ sich nicht unterkriegen. Mutti wird sich nur mit Onkel Peter beschäftigen. Natürlich ist es gut, wenn sie den ganzen Tag zu Hause ist und sich nicht mehr bei Wederholms abrackern muß. Aber wenn ich aus der Schule nach Hause komme, dann ist der halbe Tag vergangen, und dann kommt Onkel Peter auch bald. Und abends sitzt Mutti dann mit Onkel Peter zusammen. Nie mehr brauche ich ihr ein Fußbad zurechtzumachen. Nie mehr werde ich Mutti abends das Teebrett hineinbringen. Jetzt ist es umgekehrt, Mutti wird für mich sorgen, und ich werde nicht für Mutti sorgen. Und wieder kamen die Tränen, jetzt rannen sie stiller, aber sie rannen und rannen, sinnlose Tränen der Enttäuschung. „Claudia, liebstes Kind – mein kleines Mädelchen… wird es dir denn so furchtbar schwer, daran zu denken, daß wir ein normales Leben führen werden? Daß wir eine kleine Familie sein werden anstatt einer berufstätigen Mutter mit Schlüsselkind? Claudia – du hast deine Mutter doch lieb, nicht wahr?“ „Ja doch, ja doch!“ schluchzte Claudia. „Das ist es ja!“ Jetzt klang Anita Kellers Stimme sanft und leise: „Aber Kind, dann mußt du doch besser als irgend jemand Onkel Peter verstehen können. Er hat mich nämlich auch lieb!“ Dann schwiegen sie beide. Claudias Tränen versiegten. Zuletzt kam ein zitterndes kleines Lächeln zum Vorschein. „Sei mir nicht böse, Mutteichen. Du hast gar keine Ahnung, was – was für ‘n Gefühl das ist…“ „Nein – vielleicht nicht…“, sagte Mutti nachdenklich. „Aber Claudia, wenn du es so – so schwierig findest, kannst du dir dann nicht eins vor Augen führen: das einzige, was wirklich eine Rolle spielt, für dich und für mich und für Onkel Peter, das steht felsenfest: Ich hab’ dich lieb, Onkel Peter hat dich lieb, und wir sind beide von dem Wunsch erfüllt, dir das Leben so freundlich wie nur irgend möglich zu gestalten.“ Claudia schwieg wieder. Mutti zog sich aus und ging ins Bett. „Wann werdet ihr heiraten?“ fragte Claudia plötzlich in die
Dunkelheit hinein. „Wir dachten, am ersten Februar.“ „So bald?“ „Ja. Worauf sollen wir warten? Du weißt, ich habe monatliche Kündigung, und für die Wohnung ebenfalls…“ „Wir ziehen weg – von hier weg?“ „Das kannst du dir doch denken, Kleines! Onkel Peter hat eine wirklich schöne Dreizimmerwohnung. Zwei Schlafzimmer und eine große Wohnstube. Du bekommst dein eigenes hübsches Zimmerchen, Claudia. Freust du dich nicht darüber?“ „Ja, gewiß“, sagte Claudia. Wieder eine Pause. Dann fragte Mutti tastend: „Glaubst du nicht, daß du jetzt schlafen kannst? Es ist so spät…“ „Doch. Gute Nadit, Mutteichen.“ „Gute Nacht, mein kleines Mädchen.“
Eifersüchtig, Claudia? Der kleine rote Zweisitzer fraß die Kilometer. Er sauste sicher und gleichmäßig auf den hartgefrorenen Straßen dahin, und der Motor brummte fleißig und zuverlässig. Am Steuer saß Onkel Peter, neben ihm Anita Keller. Hinten hatte der Wagen eine kleine Erhöhung für die Koffer. Hier hatte Onkel Peter mit Hilfe von Schaumgummikissen einen bequemen Sitz zurechtgemacht, und Claudia saß ausgezeichnet. „Ein Jahr geht es noch“, lachte Onkel Peter. „Wenn du aber erst fünf Zentimeter länger geworden bist, dann stößt du mit dem Kopf ans Verdeck. Dann werde ich ein neues Auto kaufen müssen!“ Onkel Peter war genauso munter und natürlich und nett wie immer. Claudia war so unendlich dankbar, daß er keine Rührszene veranstaltet hatte, als sie sich nach dem Heiligabend zum ersten Male wiedersahen. Er hatte ihre Hand fest gedrückt, das war alles. Und als Claudia ihm den Rest ihrer Schulden abbezahlte, hatte er nicht widersprochen. Zwar hatte er ihr ein üppiges Geschenk zu Weihnachten machen können, aber Schulden waren Schulden, und die mußten bezahlt werden. Das hatte Claudia gern an ihm. Überhaupt, es war nicht zu leugnen, daß sie Onkel Peter gut leiden mochte. Und eben deshalb war alles so schwierig! Ware Onkel Peter aufdringlich und prahlerisch gewesen, oder wäre er selbstsüchtig und beanspruchte Mutti ganz für sich allein, hätte er gezeigt, daß er Claudia dahin wünschte, wo der Pfeffer wächst, dann wäre alles gewissermaßen viel einfacher gewesen. Dann hätte Claudia toben und schimpfen und weinen und ihrer Eifersucht frei die Zügel schießen lassen können. Aber so gab es keinen Grund dafür. Man kann nicht toben und mit Menschen schimpfen, die einem nur Gutes erweisen! Und so mußte Claudia denn mit sich allein ringen und mit dieser sinnlosen Eifersucht, die sich ihrer zerquälten kleinen Seele bemächtigt hatte. Sie hatte keinen Menschen, mit dem sie reden konnte. Mutti – das war ausgeschlossen. Onkel Peter – noch unmöglicher. Elsa – nein, nie im Leben! Elsa würde auch nicht das kleinste bißchen verstehen. Vielleicht würde Claudia mit Fräulein Röder sprechen können. Aber mit Fräulein Röder war sie ja nie unter vier Augen allein. Über eins war sie jedenfalls froh: Mutti hatte mit dem Direktor
gesprochen, und es war vereinbart worden, daß Claudia in ihrer alten Klasse bleiben dürfe. Gerade jetzt, dachte Mutti, ist es gut für Claudia, daß sie Fräulein Röder und die guten Freundinnen um sich hat. Außerdem -Claudia war noch immer bleichsüchtig, es hatte keinen Sinn, sie über Gebühr anzustrengen, was in einer höheren Klasse sicher notwendig sein würde. Wart nur, dachte Mutti, bald werde ich selbst ein Auge darauf haben, daß du in die frische Luft hinauskommst! Bald wird deine Mutter sich deiner richtig annehmen können, du kleines vernachlässigtes Schlüsselkind! Damit beschäftigten sich Anita Kellers Gedanken, während sie im Auto saß. Und dieselben Dinge gingen auch Claudia im Kopfe herum. Übrigens war sie seit Weihnachten ziemlich viel in die frische Luft hinausgekommen. Das Wetter war schön gewesen, und Claudia war täglich eine Stunde auf die Eisbahn gegangen. Ihre Freundinnen beneideten sie laut und vernehmlich um ihre feinen Schlittschuhe, und Claudia merkte, sie würde im Schlittschuhlaufen sehr viel weiterkommen, wenn sie jeden Tag eine Stunde übte. Sie war so schlank und leicht und hatte so lange Beine – und dies alles kam ihr zustatten, sobald sie die Geschwindigkeit hinaufsetzen wollte oder wenn sie sich im Kunstlauf versuchte. Wenn Claudia Schlittschuh lief, dann vergaß sie ab und zu, was sie bedrückte: Daß sie bald ihre gemütliche Häuslichkeit auflösen, bald von Nummer achtzehn wegziehen, und die Abteilungsleiterin Anita Keller bald die Frau des Herrn Direktors Brodersen werden sollte. Claudia grauste es vor dem Hochzeitstag. Es nützte nichts, daß sie sich selber gut zuredete, sie müsse vernünftig sein – es grauste ihr ganz unsinnig davor! Aber gegen Mutti und Onkel Peter war Claudia freundlich und höflich, wenn sie auch einsilbig geworden war. „In einer Stunde müßten wir in Eulenstedt sein“, sagte Onkel Peter. Es war schon dunkel geworden, und der Strahl der Scheinwerfer lief vor ihnen her. „Und nun wirst du die strenge Schwiegermama kennenlernen“, lächelte Anita. „Ja, ich bibbere schon davor“, lachte Onkel Peter. „Aber im Grunde kann ich es ja auch verstehen, wenn sie der Meinung ist, ich sei nicht gut genug für dich.“ „Was du für einen Unsinn redest!“ lachte Anita. Claudia lauschte
auf Muttis Stimme. Sie klang so jung, so hell – die ganze Mutti war eine andere geworden, jünger und sorgloser. Und merkwürdigerweise nahm Claudias Eifersucht dadurch nur noch zu. Ein reifer, erwachsener, erfahrener Mensch kann es hin und wieder schwer genug haben, aus sich selber schlau zu werden. Wie viel schwieriger ist es dann für ein unerfahrenes Mädelchen von dreizehn Jahren! „Da wären sie!“ Eine Tür wurde aufgerissen, und durch den winzig kleinen Vorgarten, der weiß und verschneit dalag, lief eine weibliche Gestalt. Sie stieß die Gartenpforte auf, und kaum daß Mutti aus dem Wagen gestiegen war, wurde sie auch schon umarmt.
„Mein Schwesterlein – wie herrlich, dich wiederzusehen – du siehst aus wie eine Achtzehnjährige! Und herzlichen Glückwunsch, Anita! Ich kann dir gar nicht sagen, wie ich mich freue – hallo, Claudiakind, ih du liebe Zeit, wie bist du groß geworden – lauf hinein zu Großmama, sie platzt vor Ungeduld! Und da haben wir den
Peter – so siehst du also aus, lieber Schwager? Ja, ich bin also Helga, daß du’s weißt. Herzlich willkommen! Kommst du gleich mit herein, oder willst du erst den Puppenwagen in die Garage fahren? Hätte ich eine Ahnung gehabt, wie groß der ist, dann hätte ich eine Hundehütte dafür bestellt, war’ ja ohne weiteres gegangen – aber dort drüben im Hotel“ – Tante Helga zeigte mit dem Finger – „ist ein Zimmer für dich bestellt – und eine Garage.“ Onkel Peter lächelte und reichte seiner lebhaften Schwägerin die Hand. „Vielen Dank für all die Fürsorge – das Auto stelle ich eigentlich immer auf meinen Nachttisch, liebe Schwägerin! Also, ich rolle zum Hotel und bringe mich ein bißchen in Ordnung. Darf ich in einer halben Stunde wiederkommen?“ In der offenen Haustür stand Großmama und schloß Claudia in ihre Arme. „Nein, so was, daß ihr wirklich kommen konntet – herzlich willkommen, Claudia… hallo, da haben wir auch unsern unruhigen Strick – leg dich, Anka – “ Damit war Großmamas kleiner Rauhhaardackel gemeint, der sich ebenfalls bemerkbar machen wollte. Mit seinen kleinen, kurzen Pfoten kratzte er an Claudias Mantel und kläffte aufgeregt und neugierig. „Du bist aber dünn geworden, Kind – ißt du nicht ordentlich?“ fragte Großmama. „Oder nimmst du nur in der Höhe zu, und für die Breite reicht es nicht? Du solltest dir an Anka ein Beispiel nehmen 1“ Claudia lächelte. Ja, es war nicht zu bestreiten, bei Anka war es umgekehrt. Sie war über dem Rücken riesig breit geworden, und es wurde ihr gar nicht leicht, sich auf die Hinterläufe zu erheben und mit den Vorderpfoten zu kratzen. Claudia hockte im Hausflur auf der Erde und kraulte Anka hinterm Ohr, als Mutti und Tante Helga hereinkamen. Und hinter sich hörte sie Großmama sagen: „Ich bin so glücklich deinetwegen, Anitachen. Es war das beste Geburtstagsgeschenk, das du mir machen konntest.“ Claudia neigte sich tiefer über den Hund und fuhr fort, ihn zu streicheln und zu kraulen. Alle waren glücklich. Mutti und Onkel Peter und Großmama und Tante Helga, ja, Anka sogar auch. Weshalb konnte sie es denn nicht sein? Claudia fühlte sich einsamer als je zuvor.
Es war Abend. In dem großen Sessel unter der Leselampe saß Großmama, lächelnd und glücklich, die Familie um sich zu haben. Ihr gegenüber im Ecksofa saßen Mutti und Onkel Peter. Claudia und Tante Helga hatten den Abendbrottisch abgedeckt, und Claudia hatte vorgeschlagen, daß sie in aller Heimlichkeit abwaschen sollten, damit Großmama keinen Gedanken daran zu verschwenden brauchte. „Du bist schon ein Mädel, Claudia“, lächelte Tante Helga freundlich. „Ehe meine Tochter, diese Rumtreiberin, auf solche Gedanken käme, müßte schon der Himmel einstürzen!“ „Aber Tante Helga – nennst du Karin eine Rumtreiberin?“ „Das geschieht nur aus Liebe“, lächelte Tante Helga. „Karin ist ein frisches Mädel, Claudia, aber ich kann nicht gerade behaupten, daß sie häuslich wäre. Auf dem Sportplatz ist sie ein Phänomen, aber in der Schule schon weit weniger, und im Hause – nun ja, ich gebe zu, ich bin selber schuld daran, ich habe wohl immer viel zuwenig von ihr gefordert!“ Tante Helga wusch ab, und Claudia trocknete ab. „Hast du Bilder mitgebracht, Tante Helga? Von Karin und dem Kleinen und Onkel Bo…?“ „Bilder? Du liebe Zeit, eine ganze Photoausstellung habe ich bei mir! Du kannst dir doch denken, daß ich meine Familie herumzeigen muß! Komm, wir wollen fix machen, dann kommst du schnell mit ‘rauf, ich zeige dir den ganzen Stapel!“ Tante Helga war in der Mansarde untergebracht. Und dort hinauf nahm sie Claudia mit, nachdem der letzte Teller abgetrocknet und weggestellt war. „Hier, das ist Karin auf Skiern – forsches Mädel, nicht wahr? Sie hat Weihnachten den ersten Preis im Slalomlauf gemacht… hier hast du Onkel Bo und unseren kleinen Bertil – hier Karin auf dem Sprungbrett, das war im letzten Sommer – sie hat auch Preise im Schwimmen gewonnen. Hier Karin mit Nystan – “ Claudia bekam ein neues Bild in die Hand gedrückt, es zeigte Karin mit einer graugestreiften Katze auf dem Arm. „Nystan?“ wiederholte sie fragend. „Ja, ganz recht, so heißt die Katze, Nystan bedeutet ,Knäuel’. Sie war so ein rundes und strubbliges kleines Dingelchen, als wir sie bekamen – sie sah aus wie ein Angoraknäuel, und darum haben wir sie Nystan getauft.“ „So ein kleines Kätzchen zu haben, das muß wirklich schön sein. Oder einen Hund, so wie Anka.“
„O ja. Könnt ihr euch nicht so was zulegen? Das müßtest du doch können?“ „Ja, aber weißt du, da Mutti und ich den ganzen Vormittag weg sind, geht es doch nicht gut – wer soll denn…“ Claudia schwieg plötzlich. „Nun, das wird ja jetzt anders! Von jetzt ab wird deine Mutter den ganzen Tag zu Hause sein. Gott sei Dank! Deine Mutter hat sich in diesen Jahren gehörig abschuften müssen, Claudia.“ „Ja“, sagte Claudia. Tante Helga wollte noch mehr sagen, besann sich aber. Statt dessen holte sie noch mehr Bilder hervor. „Dies hier hat Onkel Bo im letzten Sommer auf Skansen aufgenommen. Du weißt doch, was Skansen ist? Ein großer, wunderschöner Park, der auf einer felsigen Anhöhe liegt – dort gibt es ein Volkskundemuseum und auch so was Ähnliches wie einen kleinen Zoo – und prächtige Restaurants – und sieh nur, wie zahm die Eichhörnchen sind…“ Das Bild stellte Tante Helga und ihre ganze Familie dar, an einem kleinen Tisch in einem Gartenlokal. Claudia machte große Augen. Denn mitten auf dem Tisch, zwischen Tassen und Tellern, saß ein lebendiges Eichhörnchen, und ein zweites saß zutraulich und vergnügt auf Karins Schulter. „Ach du, daß möchte ich aber gern mal sehen!“ entfuhr es Claudia. „Ja, dann komm doch“, lachte Tante Helga. „Es ist eigentlich eine Schande, daß du uns noch nie besucht hast in Stockholm. Du kennst ja deine eigene Verwandtschaft so gut wie gar nicht!“ Claudia seufzte. „Ach, wie gern würde ich kommen, Tante Helga. Es ist bloß…“ „Du meinst die Schule?“ „Nein, aber das Geld. Die lange Reise ist so teuer! Ware sie nicht so teuer, dann hätten Mutti und ich euch schon längst mal besucht. Nein, an die Schule denke ich gar nicht – uff-“ „Was muß ich hören? Sagst du ,uff’ von der Schule? Du, wo du doch in der Schule der Glanz der Familie bist, so daß unsereins sich ganz minderwertig vorkommt, mit einer Tochter, die nur eben – eben mitkommt -!“ „Ja, ich sage ,uff’, weil ich in eine verkehrte Klasse gehe – sie wollten, daß ich eine Klasse überspringe, und dazu hatte ich keine Lust – und jetzt habe ich fast ein schlechtes Gewissen. Und ich gebe
zu, ich hätte es auch vielleicht geschafft, wenn ich eine Klasse höher gekommen wäre, aber-“ Claudia saß und schwatzte und erzählte von Fräulein Röder und den Freundinnen, und daß Mutti sie gar nicht gedrängt habe, aber gerade deswegen habe sie ein schlechtes Gewissen. Tante Helga war so geradeheraus und munter, und es war leicht, mit ihr zu reden. Und – Tante Helga war Mutter. Sie begriff vielleicht von Claudias Nöten mehr, als das Mädchen wußte. Tante Helga hörte aufmerksam zu, und mit einemmal lachte sie vom einen Ohr zum andern. „Claudia, ich habe die großartigste Idee von der Welt! Komm mit mir nach Stockholm, wenn ich in einer Woche nach Hause fahre!“ „Ach…“ sagte Claudia. „Im Ernst! Schwänze ein paar Monate die Schule, es wird dir guttun, du dünnes Gestell! Du bist sicher blutarm, nicht wahr? Ja, dachte ich es mir nicht! Und was tut man mit blutarmen Kindern? Man schickt sie zur Erholung weg! Komm mit nach Stockholm, da werden wir dir schon Fett auf deine Knochen bringen. Und wenn du wieder nach Hause zurückkommst, dann sind die andern in deiner Klasse so viel weitergekommen, daß du dich anstrengen mußt, um sie einzuholen, und dann macht es Spaß, in die Schule zu gehen!“ Claudia saß mit offenem Munde da. Es hörte sich tatsächlich so an, als ob Tante Helga wirklich meinte, was sie sagte. „Tante Helga – du meinst das doch nicht im Ernst…?“ „Doch, du kannst dich drauf verlassen, daß ich das tue, mein Kind! Nie in meinem Leben habe ich es so ernst gemeint! Und eins wirst du bald heraushaben: Was ich mir vornehme – das führe ich auch durch!“
Dem Schneeland entgegen Claudia stand auf dem Achterdeck der Großenbroder ^ Fähre „Deutschland“, ihre Augen waren unverwandt auf den Küstenstreifen gerichtet, der mehr und mehr im Dunst versank. Es war bitterkalt. Aber Claudia trug eine Strickjacke unter dem warmen Dufflecoat und lange Hosen, die Füße staken in wollenen Strümpfen und festen Halbschuhen. Sie spürte die Kälte nicht. Sie stand nur da und war von einem eigentümlichen Gefühl beherrscht, als sie ihr Vaterland so versinken sah, einfach ins Meer eintauchen als grauweißen Streifen. Hinter diesem Streifen – irgendwo weit dahinter – ging ihre Mutter in einer Wohnung umher, die sich in Auflösung befand. Claudia war froh, daß sie das nicht mitzumachen brauchte. Wenn sie einmal nach Deutschland zurückkehrte, würde sie in eine neue, fix und fertige Wohnung kommen. Und die liebe Wohnung in Nummer achtzehn würde sie im Gedächtnis behalten, so wie sie gewesen war mit dem guten alten Möbeln, mit Bildern und Lampen und allen Dingen an ihrem Platz. Nicht mit Flecken an den Wänden von den Bildern, nicht mit Kisten und Holzwolle und Fenstern ohne Gardinen. Arme Mutti, sie mußte nun die ganze Arbeit mit dem Umzug allein machen! Allein? Unsinn. Nichts brauchte sie mehr allein zu machen, denn Mutti hatte Onkel Peter. Wieder lief ein Zucken über Claudias Gesicht. Und wieder mußte sie denken, wie leicht und einfach alles geregelt worden war. Als Tante Helga mit ihrem Vorschlag herausrückte, hatte Großmama sofort gesagt: „Das ist eine ausgezeichnete Idee, Helga – nein, wie nett für Claudia und Karin, daß sie sich endlich einmal richtig kennenlernen!“ Onkel Peter hatte gesagt: „Und wenn du zurückkommst, Claudia, erwarte ich von dir, daß du Meisterin im Kunstlauf geworden bist. In Stockholm hast du die allerbeste Gelegenheit, Wintersport zu treiben!“ – und Mutti hatte sie mit blanken Augen angesehen. „Das ist sicher ein ausgezeichneter Vorschlag und furchtbar lieb von dir, Helga – aber Himmel, wie werde ich dich vermissen, mein Kind! – “ Oh, wie war es schön, das zu hören! Das verlieh Claudia gewissermaßen ein Gefühl von Ruhe, verlieh ihr gleichsam Mut zur
Reise. Mutti hatte durchaus nicht den Wunsch, sie loszuwerden – sie würde sie vermissen! Aber Mutti hatte auch nicht Einspruch dagegen erhoben, daß sie reiste. „Über eins bin ich froh“, hatte Mutti gesagt. „Daß du die ganze Umzieherei nicht mitzumachen brauchst!“ Und dann war da noch etwas, was Mutti nicht gesagt hatte, was überhaupt niemand gesagt hatte: Es ist gut für Claudia, daß sie bei der Hochzeit nicht dabei ist. Claudia sagte es sich mindestens zum fünfzigsten Male selber: Onkel Peter ist so gut. Onkel Peter und Mutti haben sich so gern. Sie sind so glücklich. Aber für mich bedeutet es, daß ich mein altes Zuhause verliere. Ich verliere alles das, was nur Mutti und mir gehört hat. O doch, es war gut, daß sie jetzt wegfuhr, wenn ihr die Sehnsucht nach Mutti auch das Herz abdrückte – und schon jetzt, nach so ein paar Stunden der Trennung! Onkel Peter hatte ihr zum Abschied kräftig die Hand gedrückt. „Laß es dir gut gehen, Claudia. Wir werden furchtbar oft an dich denken. Und wir freuen uns jetzt schon mächtig darauf, wenn du erst wieder zu uns zurückkommst. Wenn sie in Stockholm häßlich zu dir sind, dann schreib, und du kannst mir glauben, deine abscheuliche Tante kriegt es dann mit mir zu tun! Dann wirst du im Eilbrief an uns zurückgeschickt!“ Ja, Onkel Peter scherzte und lachte bis zum allerletzten Augenblick. Aber Mutti flüsterte ihr noch ganz zuletzt ins Ohr: „Claudia, mein Kleines – wenn du Heimweh hast, dann kommst du gleich wieder, verstehst du? Sowie du schreibst, du möchtest am liebsten nach Hause, dann schicken wir dir die Fahrkarte. Und versprich mir eins, Kleines: Wenn du irgendwelche Schwierigkeiten oder Probleme hast, dann schreibst du uns sofort, auf der Stelle. Versprichst du mir das?“ „Ja, Muttel.“ Claudia hatte aber trotz allem ein gutes und zuversichtliches Gefühl. Tante Helga war so freundlich, und es würde sicher schön werden in Stockholm. Aber es tat dennoch gut zu wissen, daß die sichere, liebevolle Mutterhand sie mit festem Griff hielt, quer über Land und Meer und alle Grenzen! „Höre mal, Claudia, wenn du glaubst, ich will dich mit einer Lungenentzündung nach Stockholm bringen, dann irrst du dich! Und
eine Lungenentzündung holst du dir, wenn du noch länger da draußen in der Kälte stehst! Also hinein mit dir ins Warme!“ Claudia lächelte und folgte gehorsam Tante Helga in den gemütlichen Schreibsalon auf der Fähre. Hier war es warm und schön, und Claudia mußte den Mantel ausziehen. „Gleich kannst du hingehen und Schokolade kaufen“, sagte Tante Helga. „Hier auf der Fähre gibt es Schokolade und Zigaretten und Parfüm ohne Zoll, weißt du, und ich will Mitbringsel für meine Familie besorgen. Her mit deiner Fahrkarte, wir bekommen nämlich auf jede Fahrkarte nur eine bestimmte Menge. Das heißt, Schokolade möchtest du wohl für dich selbst kaufen, aber Zigaretten brauchst du doch wohl kaum?“ Nein, die brauchte Claudia nicht. Kurz darauf standen sie draußen in der hellen kleinen Halle, wo die Reisenden vor kleinen Läden Schlange standen, um ihre Einkäufe zu machen. Und Claudia riß die Augen groß auf, als sie die prächtigen Schachteln mit Konfekt zu Gesicht bekam und die Seifen und Parfüms, die nur einen Bruchteil von dem kosteten, was man zu Hause in den Geschäften bezahlen mußte. „Aha, jetzt verstehe ich, wieso du so phantastische Geschenke für uns mithattest!“ lachte sie. „Dies Parfüm da hast du Mutti mitgebracht – und da ist die Seife, die du für Großmama mithattest und das Konfekt auch – und die Schokolade da für mich.“ „Klar!“ sagte Tante Helga. „Geschenke sollte man immer außerhalb der Dreimeilenzone kaufen! Aber den Schal für Großmama, den habe ich wahrhaftig selbst gestrickt, aus schwedischer Wolle, die auf ehrliche Art und Weise in Stockholm erworben wurde!“ „Du kannst wunderbar stricken, Tante Helga“, sagte Claudia in ehrlicher Überzeugung. „Nun ja, so was lernt man, wenn man einen Mann und zwei Kinder hat, die darin wetteifern, Strümpfe und Pullover zu zerreißen“, lachte Tante Helga. „Daß du aber Zeit dafür findest…“, sagte Claudia. „Klar finde ich Zeit dafür! Ich habe doch nur meine Familie und meinen Haushalt, nicht wahr?“ Claudia sann nach. Bald würde Mutti das gleiche sagen. Ob Mutti dann wohl auch zum Stricken kam? Ob sie dann wohl auch diese heitere Ruhe hatte wie Tante Helga? Ob sie dann abends nie mehr so todmüde war?
Laut sagte Claudia von all dem nichts. Sie kehrte zu dem Schal und der Großmutter zurück. „Der Geburtstag war doch furchtbar gemütlich“, sagte sie. „Natürlich war er das! Und du hast wirklich so lieb geholfen! Ich verstehe nicht, daß du sagen kannst, du seiest im Haushalt nicht tüchtig, Claudia!“ „Es ist aber wahr, Tante Helga. Doch, du mußt verstehen, ich kann natürlich Staubwischen und Kartoffeln schälen und Besorgungen machen, aber bis ich so einen Pudding kochen könnte, wie du ihn mir nichts dir nichts zusammengerührt hattest, bis dahin müßte ich…“ „- etwas älter werden“, ergänzte Tante Helga den Satz. „Mein Kind, du bist dreizehneinhalb und ich bin vierzig, das ist ein kleiner Unterschied! Wenn ich siebzig bin, werde ich dich als Köchin bei mir anstellen, ohne mit der Wimper zu zucken!“ „Versprich nicht zuviel“, lachte Claudia und steckte ein Stück billige „Dreimeilen-Schokolade“ in den Mund. Ein paar Stunden später rollte der Zug von der Fähre an Land, und sie waren auf dänischem Boden. Claudia war riesig beeindruckt von dem Zugführer und den Paß- und den Zollbeamten – sie gingen leicht und mühelos von einer Sprache zur andern über und wechselten unaufhörlich zwischen Deutsch, Dänisch und Englisch. Dann rollte der Zug gen Norden, durch die flache dänische Landschaft, und sie kamen mit so viel Verspätung in Kopenhagen an, daß sie um ein Haar den Nachtzug nach Stockholm verpaßt hätten. „Wenn wir nicht zwei Glückspilze sind, dann weiß ich nicht, wer’s sonst wohl wäre“, sagte Tante Helga. Sie hatten nach einer weiteren Fahrt auf einer Fähre mit „Dreimeilen-Schokolade“ ihren Schlafwagen in Malmö bekommen – und hier stellte sich heraus, daß sie ihr Abteil für sich allein hatten. Es war ein Abteil mit drei Kojen übereinander, aber die obere war nicht belegt. „Jetzt wird aber geschlafen!“ sagte Tante Helga. „Du bist ganz gelb im Gesicht und hast blaue Ringe unter den Augen…“ „Das paßt ja gut“, lächelte Claudia, „dann sehe ich aus wie die schwedische Flagge!“ „Ich möchte aber lieber, daß du aussiehst wie die dänische – mit weißer Haut und roten Rosen auf den Backen!“ sagte Tante Helga. „Kriech in die Falle, das Waschen schenken wir uns, wir stecken dich morgen früh zu Hause gleich in die Badewanne. Und wenn du
in einer Viertelstunde nicht schläfst, dann melde dich, ich werde dich dann schon zum Schlafen bringen!“ Claudia schlief nicht nach einer Viertelstunde. Auch nach einer halben nicht. Dazu war dies alles viel zu neu und seltsam – viel zu aufregend, als daß sie hätte schlafen können! Zwei Seereisen, und dazu stundenlang mit der Bahn an demselben Tag – und jetzt in einer Koje in einem schwedischen Zug zu liegen und zu wissen, daß man in wenigen Stunden lauter Verwandte begrüßen würde, die man fast nicht kannte –, welches normale dreizehnjährige Mädchen hätte unter solchen Umständen wohl schlafen können? Tante Helga knipste die Bettlampe an. Sie stieg aus der Koje und goß Wasser in ein Glas. Claudia sah mit weit offenen Augen zu. Wie praktisch das alles eingerichtet war! Der große Spiegel war die Tür zu einem Wandschränkchens und in dem Schränkchen standen Karaffe und Gläser. „Hier, Claudia! Du nimmst jetzt diese kleine Tablette. Nein, keine Angst, sie ist gar nicht stark oder gar gefährlieh. Es ist einfach nur etwas zum Einschlafen, das macht dich nicht schlaftrunken, und du schläfst fest, nach ein paar Stunden verliert das leichte Schlafmittel dann seine Wirkung, und du schläfst natürlich. Verstanden?“ „Ja gewiß, Tante Helga.“ Claudia schluckte folgsam die Tablette. Sie war müde – so unsagbar müde – und wollte so furchtbar gern schlafen. Sie legte sich in die Kissen zurück. Was wohl Mutti jetzt machte? Sie war wohl auch schlafen gegangen – und vielleicht hatte sie einen wehmütigen Blick auf Claudias leeres Bett geworfen… morgen würde sie anfangen mit Packen und Räumen… alle Bilder würden von der Wand genommen werden – Mutti würde – alle Bücher… in den Kühlschrank legen… aber, daß Onkel Peter wirklich – einen ganzen Flügel – auf das Autoverdeck laden würde – was sagte er doch gleich… ich habe ihn außerhalb der Dreimeilen-Zone gekauft… da sind Flügel billiger… tatsächlich, war das nicht Anka, die dastand und alle Zigaretten fraß, die Tante Helga… für Onkel Bo – gekauft – hatte… und jetzt kam Karin und wollte Claudias Schlittschuhe kaufen… du kannst dir auf der Malmöfähre neue kaufen… im Schokoladenkiosk… Dann schlief Claudia tief und fest.
Und Claudia machte große Augen… Der Himmel hatte im Osten einen zarten rosa Schimmer. Er funkelte im Wasser auf, er funkelte auf den Gebäuden und Brücken, die sich im Wasser spiegelten. Es war, als wolle die Sonne verkünden, daß heute Sonntag war. Claudia stand am Gangfenster, noch ein wenig benommen von dem tiefen Nachtschlaf. Sie stand da und sah eine fremde Stadt auftauchen. Eine große, schöne Stadt mit fremden Menschen, fremden Sitten und Gebräuchen, und mit einer fremden Sprache. „Nun, Claudia? Findest du die Aussicht nicht schön?“ „Doch, Tante Helga! Es ist so ganz anders als bei uns zu Hause. Dort sehen wir nur die Rückseite der großen Mietskasernen, wenn wir mit dem Zug ankommen, und dann tauchen wir in eine endlose lange Halle ein – aber hier ist alles so frei und offen, es ist beinahe so, als sage einem die Stadt,Guten Tag’ und ,Willkommen bei uns’.“ Tante Helga lachte. „Du hast das ganz richtig ausgedrückt. Schau das große Bauwerk dort, Claudia, das ist unser Stadthaus – das Rathaus, verstehst du? Darauf sind wir riesig stolz. Ich freue mich darauf, es dir zu zeigen. Oh, wir haben viel Schönes in Stockholm, das kannst du mir glauben!“ Der Zug hatte jetzt die Fahrt verlangsamt, und nun fuhr er in einen offenen Bahnsteig mit Überdachung ein. „So – da wären wir – hast du das Netz und deine Schultertasche? Fein, Claudia! Willst du diese Illustrierten mitnehmen? Gut, dann lassen wir sie liegen – nein, halt mal, ich bringe sie Karin mit… so, dann hätten wir wohl alles!“ Der Zug hielt. Tante Helga war schon an der Tür. „Da sind sie! Hallo, Karin…“ und dann hörte man eine laute Mädchenstimme, und Claudia verstand nichts weiter als „Mama“. Denn alles andere wurde auf schwedisch gesagt, und das hätte für Claudia ebensogut chinesisch sein können. Ein kräftiges, rotwangiges Mädchen hing an Tante Helgas Hals. Und ein großer, blonder Mann stand daneben und streichelte Tante Helga die Wange. Tante Helga machte sich behutsam frei. „So, Karin – da hättest du nun deine Kusine in natura! Claudia, erkennst du Karin wieder?“ Claudia lächelte ein wenig schüchtern. „Nein – es ist ja so furchtbar lange her, seit wir uns gesehen haben –, es ist doch eine Ewigkeit her, seit ihr in Deutschland ward… aber du kannst doch hoffentlich noch deutsch sprechen, Karin?“
„Da magst du wohl fragen, Claudia!“ lachte Tante Helga. „Gewiß, sie kann es, wenn sie nur will! Schlimmer ist es schon mit Onkel Bo.“ „Was heißt das?“ widersprach Onkel Bo. „Ich spreche ganz ausgezeichnet deutsch – eine vereinfachte Deutsch, meine eigene Erfindung, ohne Rücksicht auf der die das. Herzlichst willkommen, Claudia, wie hat der Reise gewesen?“ „Bo, Bo“, lachte Tante Helga. „Es heißt die Reise und ist gewesen.“ Es blitzte schalkhaft und munter in Onkel Bos Augen. „Sagt mal, wollen wir den Vormittag hier auf dem Bahnsteig verbringen und sprachliche Probleme erörtern? Nicht wahr, Claudia, du verstehst mich schon, auch wenn meine Grammatik ab und zu ein bißchen zu wünschen übrigläßt?“ „Aber ja“, versicherte Claudia. Sie hielt immer noch Onkel Bos breite Hand gefaßt. „Vielen Dank, daß ich zu euch kommen durfte.“ „Warte mit dem Danken, du weißt nicht, was dir blüht!“ sagte Onkel Bo. „Linksverkehr und verdrehte Essenszeiten und fünfzehn Grad Kälte und eine verzogene Katze und ein brüllendes Kind…“ „- und ein tyrannischer Onkel“, sagte Tante Helga. „Gut, dann wollen wir gehen. Was macht Bertillein?“ „Elend und verhungert, natürlich“, sagte Onkel Bo. „Du kannst dir doch denken, daß Oma keine Lust gehabt hat, für ihn zu sorgen.“ „Du bist greulich“, lachte Tante Helga. „Ich hätte dich auf deinen schrecklichen Onkel vorbereiten müssen, Claudia!“ Aber Claudia lachte über das ganze Gesicht. Onkel Bo gefiel ihr mächtig. Sie durchschritten die große Bahnhofshalle, die beiden Erwachsenen voraus, Claudia und Karin hinterdrein. Sie gingen nebeneinanderher und nahmen sich sozusagen gegenseitig unter die Lupe. Die beiden Mädchen wußten nicht so recht, was sie sagen sollten. Karin war die erste, die das Schweigen brach. „Dies hier ist die Vasagata“, sagte sie und zeigte durch die Pendeltür nach draußen. „Und wenn du die ein Stück links hinuntergehst, dann kommst du in die Kungsgata.“ „Ach ja, von der habe ich schon gehört – Kungsgata, das heißt die Königstraße, nicht wahr?“ sagte Claudia lebhaft. Sie mußten vor dem Ausgang stehenbleiben und warten, bis ein Taxi kam. „Kannst du gut Ski laufen?“ fragte Karin. „Nein“, sagte Claudia. „Aber ich laufe für mein Leben gern
Schlittschuh“, fügte sie hinzu. „Hast du Preise gemacht?“ „Nein – gar nicht. Ich laufe nur so…“ „Ich treibe nur Konkurrenzsport“, sagte Karin. „Warum tust du das nicht auch?“ „Dazu habe ich keine Zeit“, sagte Claudia. Karin sah die Kusine erstaunt an. Das ging über ihren Verstand, ein dreizehnjähriges Mädchen, das keine Zeit zum Sport hatte? Das Taxi kam, und sie wurden mit Koffern und Netz und Taschen und Mänteln darin verstaut. Claudias Augen wanderten von rechts nach links, von links nach rechts. Von der breiten Vasagata war der Wagen in eine ganz schmale Straße eingebogen, von dort in eine neue, ebenso schmale. „Eine komische Stadt, nicht wahr?“ sagte Tante Helga. „Mit diesen schmalen Straßendärmen mitten im Zentrum! Aber wart nur ab, es wird besser!“ Die Straße öffnete sich wieder, wurde breiter. Jetzt fuhren sie an einem großen Park entlang. Die Bäume bogen sich unter der schweren Last des Schnees, und zu beiden Seiten des Bürgersteigs lagen hohe, zusammengefegte Schneeberge. Und wie kalt es war! „Ja, du platzt mitten in einen echt schwedischen Winter hinein“, sagte Onkel Bo. „Aber du sollst mal sehen, was du für einen Appetit bekommst in der kalten Winterluft!“ Dann hielt das Taxi vor einem großen Miethaus, und sie waren da. Claudia stand allein in Karins Zimmer und packte aus. Karin hatte schon die Nase in ihrer Mutter Koffer gesteckt, um zu sehen, was sie vom Ausland mitgebracht hatte. Und Brüderchen, der kleine Bertil, strampelte herum und klammerte sich an die Mutter an und war sehr niedlich. Dieses Brüderchen war anderthalb Jahre alt. Es hatte laut gekreischt vor Wonne, als es die Mutter wiedersah, und jetzt hing es an ihrem Rock wie eine kleine Klette. Claudia hatte Karins Großmutter guten Tag gesagt. Sie war eine milde und freundliche Frau, aber sie konnte kein Wort Deutsch, man konnte sich also nur schwer verständigen. Im allgemeinen fühlte sich Claudia recht beklommen, allein schon durch die fremde Sprache, die ihr um die Ohren schwirrte, während alle von der Wiedersehensfreude ganz in Anspruch genommen waren. So hatte sie sich denn darangemacht, den Koffer auszupacken. Oma hatte eine Couch in Karins Zimmer stellen lassen und hier Claudias Bett aufgeschlagen. Sie hatte einen kleinen Tisch neben die
Couch gestellt und ihn mit einem Blumensträußchen in einer Vase geschmückt. Wie aufmerksam von Oma – wenn Claudia sich doch nur ordentlich bedanken könnte! Aber Claudia war zu schüchtern dazu und kam sich hilflos vor. Sie packte ihre Sachen aus und legte sie in die Kommodenschublade, die Karin ihr in aller Eile gezeigt hatte. Und dann nahm sie Muttis Bild heraus und stellte es auf das Tischchen neben die Blumen. Sie blieb davor stehen und sah es sich an. Muttis gute, klare Augen sahen sie aus dem Bild an, und es war, als wollte sie sagen: „Immer Kopf hoch, Claudia! Du weißt, ich bin immer bei dir!“ Um Claudias Mund zuckte es. Und wer weiß, was geschehen wäre, wenn Tante Helga nicht in diesem Augenblick in der Tür erschienen wäre. „Armes Kind, stehst du hier ganz allein und verlassen – du mußt mich entschuldigen, Claudia, meine gräßliche Familie hatte mich ganz mit Beschlag belegt. Laß jetzt den Koffer erst mal stehen, wir wollen frühstücken – hat Karin dir gezeigt, wo das Badezimmer ist? Du willst dich sicher ein wenig zurechtmachen – nein, dachte ich es mir nicht, sie hat ihre Gedanken überall woanders – hier, mein Kind, sind Handtücher und Seife – ich hol’ dir gleich ein Zahnputzglas – mach dich fertig, und dann trinken wir Kaffee.“ Claudia sah sich im Badezimmer um. Es war klein, aber praktisch und blitzend sauber. Und hier gab es auch so eine schlaue Vorrichtung mit einem Spiegel, der einen ganzen Schrank verdeckte. Genau wie im Schlafwagenabteil. Und an den Borden drinnen im Schrank waren kleine Schildchen angebracht, und was auf denen stand, das konnte Claudia verstehen – denn diese Worter sind fast in allen Sprachen gleich: „Papa“ – das war das oberste Bord, und hier lagen Rasiersachen und eine Herrenhaarbürste, und da lag ein Schächtelchen für gebrauchte Rasierklingen, und dann stand da ein grüner Becher mit einer großen Zahnbürste. Das nächste Bord hieß „Mama“, und hier gab es kleine hellrosa Flaschen und Büchsen und Schachteln, und eine rosa Zahnbürste in einem rosa Becher. „Karin“ gehörte das nächste Bord. Hier stand eine Flasche mit Sonnenöl, hier lag Heftpflaster, ein Kamm, der noch voller Haare war, und eine Zahnbürste, an der noch Reste von Zahnpasta klebten.
Zahnpastaflecke saßen auch auf dem hellblauen Becher. Mitten zwischen den Toilettensachen stand außerdem eine fettige Schachtel mit Skiwachs. Claudia lernte vor diesem Schrank die Familie kennen. Das unterste Bord war leer. Und hier hinein legte Claudia ihre Sachen, und es war ihr gar nicht bewußt, daß sie ganz besonders sorgsam dabei verfuhr und alles sehr sauber und ordentlich auf seinen Platz stellte. Karins Bord gefiel ihr nicht. Sie machte die Spiegeltür wieder zu, verließ das Badezimmer und drehte das Licht aus. An dem einen Ende eines großen Zimmers war der Frühstückstisch gedeckt. Die Wand hinter dem Tisch war von lauter Schränken und Schubfächern eingenommen, und als Tante Helga einen der Schränke öffnete, konnte Claudia geradewegs in die Küche sehen. „Ja, ist das nicht praktisch?“ fragte Tante Helga. „Die Schränke können von beiden Seiten geöffnet werden, siehst du. Wir stellen die abgewaschenen Teller von der Küchenseite aus in den Schrank und nehmen sie auf der Stubenseite heraus. Solche pfiffigen Sachen machen wir in Schweden!“ Claudia machte große Augen. Jetzt kam Oma. „Tante Helga, was heißt auf schwedisch .vielen Dank für die Blumen’?“ „Tack sa mycket för blommorna“, sagte Tante Helga langsam und deutlich, und Claudia wiederholte es ein paarmal, bevor sie wagte, die Augen auf Oma zu richten und es laut zu sagen. Oma lächelte und sagte etwas, was Claudia nicht verstand. Dann wiederholte sie es. Claudia hörte genau zu: „Tycker Claudia om blommor?“ Claudia strengte sich an, um den Sinn herauszubekommen. Blommor – das waren Blumen – Claudia – weshalb sagte Oma Claudia und nicht du? – tycker om – tycker om – nein, das verstand sie nicht. Aber der Tonfall war fragend gewesen – wer weiß, vielleicht hatte Oma gefragt, ob Claudia Blumen gern mochte? „Ja“, sagte Claudia und nickte. Und dann kam ihr noch etwas in den Sinn: „Mycket“, fügte sie hinzu. „Richtig“, sagte Tante Helga. „Wie hast du das herausbekommen?“ „Nun ja, du hast mir doch beigebracht, ,tack sa mycket’ zu sagen,
und da dachte ich dann, ,mycket’ bedeute ,sehr’…“ „Du bist nicht so dumm, wie du aussiehst“, lachte Onkel Bo. „Nein, das wäre ja auch schrecklich“, sagte Claudia trocken. „Um eine Antwort scheinst du auch nicht verlegen zu sein“, sagte Onkel Bo. „So, nun wollen wir mal sehen, ob du es fertigbringst, schwedisches Essen zu essen, Claudia. Milch oder Kakao?“ Claudia aß und sperrte dabei die Ohren weit auf. Sie versuchte, einzelne Wörter der schwedischen Unterhaltung zu unterscheiden, versuchte zu kombinieren. Über eins wunderte sie sich: Wenn Karin mit den Eltern sprach, sagte sie unaufhörlich Mama und Papa, und wenn Onkel Bo zu seiner Mutter etwas sagte, dann hieß es auch die ganze Zeit „Mama“. Hatten sie denn kein Wort für „du“ in der schwedischen Sprache? Schließlich mußte sie Tante Helga fragen. „Da rührst du an einen schwachen Punkt bei uns“, lachte Tante Helga. „Wir sind in dieser Beziehung fürchterliche Leute, mußt du wissen. Das wurde mir eines Tages klar, als Karin noch klein war und plötzlich zu mir sagte: ,Mama, weiß Mama noch, daß Mama mir versprochen hat, daß Mama mir erzählen wollte, wie es war, als Mama klein war’?“ Und Onkel Bo erklärte diese merkwürdige schwedische Sitte, immer den Namen zu gebrauchen und am liebsten den Titel, wenn man zu jemandem spricht, und daß man tatsächlich niemals Sie sagte. „Darum schließen wir auch immer so schnell Brüderschaft“, fügte er hinzu. „Wenn man sich duzt, kann man nämlich die Anredeform gebrauchen, auch wenn man sie dann noch oft genug durch den Namen ersetzt oder mit – ja, wie soll ich es nennen – mit der Verwandtschaftsbezeichnung und in der dritten Person. Man sagt selten du, wenn man etwas anderes dafür setzen kann – Mama oder Papa oder Tante oder Großmutter oder so ähnlich. Aber Gleichaltrige reden sich mit du an.“ Claudia war noch nicht zufrieden mit seiner Erklärung. „Ja aber, Onkel Bo – wenn man nun mit einem Menschen sprechen muß, dessen Namen oder Titel man nicht weiß?“ „Ja, da gibt es dann oft große Schwierigkeiten“, sagte Onkel Bo. „Da sagt man ,der Herr’ oder ,die Dame’, ein Kellner sagt, ,wird noch etwas zu trinken gewünscht’; fragst du einen Fremden nach dem Wege, dann sagst du nicht ,wissen Sie, wo die Kungsgata ist’, sondern sagst: ,Ist es bekannt, wo die Kungsgata ist?’ – und kann man den Titel dessen, mit dem man spricht, auch nur annähernd
erraten, dann benutzt man ihn.“ „Ja“, sagte Tante Helga, „wie der Mann, der auf Reisen war und unbedingt einen Mitreisenden nach etwas fragen mußte, und da fing er folgendermaßen an: ,Kann Herr Dampfermitpassagier mir sagen’…“ Claudia hörte zu, mit Augen, so groß wie Zinnteller. „Du meine Güte, wie seid ihr höflich!“ sagte sie verwundert. „Ihr seid ja untereinander genauso höflich, wie wir es nur bei Fürstlichkeiten und so sind. Mutti hat mal eine Prinzessin bedienen müssen, und da mußte sie die ganze Zeit sagen .Wünschen Hoheit’… und ,darf ich Hoheit noch etwas zeigen -’ und hinterher sagte sie, es sei schrecklich mühsam gewesen, die ganze Zeit dran zu denken.“ „Hier ist diese Form ganz in die alltägliche Rede eingegangen“, erklärte Onkel Bo. „Aber nimm es nicht so tragisch, Claudia. Solange du deutsch sprichst, ist es ganz in Ordnung, wenn du zu uns ,du’ sagst und .Sie’ zu Fremden. Laß dir also bloß nicht durch die schwedische Höflichkeit deinen Nachtschlaf stören!“ Bertil krabbelte umher, und Oma fragte nach der Reise, und Tante Helga erzählte. Claudia verstand zwar nicht all die Worte, aber sie verstand, daß Tante Helga von Großmamas Geburtstag sprach. Claudia schwieg, und ihre Augen gingen von einem zum andern. Es war für sie neu und seltsam, an einem so großen Tisch zu sitzen, mit sechs Menschen, die zusammengehörten und einander kannten und eine Familie bildeten – ja, denn jetzt gehörte sie ja auch selbst zu dieser Familie, jedenfalls für einige Monate. Karin war mit dem Essen fertig. Sie nahm ihre Untertasse und goß Milch hinein. Niemand achtete auf dies seltsame Gebaren, niemand unterbrach aus diesem Grunde die Unterhaltung. Karin bückte sich und stellte die Untertasse neben ihren Stuhl, und dann schlug sie mit dem Messer ein paarmal leicht und klingend gegen den Rand der Schale. Im selben Augenblick bewegte sich irgend etwas in einem großen Ohrensessel am andern Ende des Zimmers. Über die Armlehne hüpfte etwas Weiches, Hellgraues und flitzte durch das Zimmer und auf die Schale zu. „Oh“, rief Claudia, „das ist ja Nystan!“ Da lächelte Karin zum ersten Male Claudia richtig zu. „Hast du schon von Nystan gehört?“ fragte sie, und ihre Stimme klang erfreut. „Aber gewiß. Tante Helga hat mir Bilder von ihr gezeigt. Wie ist
sie hübsch!“ „Ja, nicht wahr?“ sagte Karin stolz. „Ich versorge sie, denn es ist meine Katze. Und du kannst mir glauben, die ist klug! Hast du keine Katze?“ „Nein, leider nicht – aber vielleicht krieg’ ich mal eine“, fügte Claudia hinzu. „Nystan macht so viel Spaß, kann ich dir sagen. Magst du Tiere gern?“ „Ja, furchtbar gern. Ich habe immer so viel Spaß mit dem Hund von Großmama. An den kannst du dich doch sicher noch erinnern.“ „Ach, den kenne ich noch ganz genau!“ sagte Karin. „Ich habe ihn ja damals gesehen, vor langer Zeit, als wir bei Großmama zu Besuch waren.“ Zwischen den beiden Kusinen lockerte sich etwas, Sie hatten etwas gefunden, worüber sie sprechen konnten. Und Karin plapperte in ziemlich gutem Deutsch drauflos. Tante Helga hatte darauf geachtet, daß Karin ihr Deutsch nicht vergaß. Von klein auf hatte Karin sich an die Sprache ihrer Mutter gewöhnen müssen – mit dem Ergebnis, daß sie, obwohl sie in der Schule keine Leuchte war, in Deutsch jedenfalls die Beste der Klasse wurde. Sie waren mit dem Frühstück fertig. Und Claudia lernte, was man als erstes lernen muß, wenn man sich in skandinavischen Ländern aufhält – am Ende der Mahlzeit „danke fürs Essen“ zu sagen. „Was ist das für eine hübsche Sitte“, sagte Claudia. „Daß man ,danke fürs Essen’ sagt, genauso, wie wenn man guten Morgen oder gute Nacht sagt – das ist eigentlich doch sehr nett.“ „Ja, und Tante Helgas Essen ist in der Regel so, daß es den Dank auch wert ist“, sagte Onkel Bo. Er lächelte seiner Frau zu und strich ihr übers Haar. „Skönt att ha dig hemma, Helgalilla“, sagte er. Komischerweise verstand Claudia, was er sagte. Sie verstand nicht die Worte, aber sie ahnte deren Inhalt, sie las ihn aus Onkel Bos Augen ab. „Schön, daß du wieder da bist, Helgachen.“ Wie sahen sie alle miteinander so fröhlich aus! Und wie hübsch war Tante Helgas Gesicht, als sie jetzt alle mit ihrem Blick umfing – den Mann und die Kinder und die Schwiegermutter und Claudia –, alle diese Menschen, für die sie verantwortlich war, für die sie sorgte und die zu ihr gehörten. Mit einem Male fiel Claudia ein, was Mutti in der Weihnachtsnacht zu ihr gesagt hatte: „Im Herzen einer Frau ist Platz für viel Liebe, Claudia.“
Ja, so war es bei Tante Helga! Ihr Herz hatte Platz für Onkel Bo und die Kinder und die Schwiegermutter, und in dem Augenblick, da Claudia mit zur Familie gehörte, husch, weitete sich das Herz aus, und es war auch für sie noch Platz da. „Miau“, sagte Nystan und sprang auf Tante Helgas Schoß, während sie sich die Milchtropfen aus dem Bart wischte. Und Tante Helgas gute, starke Hand strich Nystan über den Rücken. Auch für die kleine Katze war in Tante Helgas Herzen Platz. Da kam Claudia ein seltsamer Gedanke. Sie begriff mit einem Male: So viel Liebe kann eine Frau geben. Sollte sie, Claudia, sich dann vernachlässigt und enttäuscht fühlen, weil ihre eigene Mutter auch so reich an Liebe war? Warum sollte Mutti nicht auch Onkel Peter liebhaben dürfen wie Tante Helga den Onkel Bo? „So, Kinder“, sagte Tante Helga, schob Nystan behutsam von ihrem Schoß auf einen Stuhl hinüber und stand auf. „Jetzt müssen wir anfangen, uns nützlich zu machen. Ich muß in die Küche. Oma sagt, sie will heute vormittag stricken – ich schlage vor, Bo, daß du mit den Mädels einen Spaziergang machst, ihr könnt doch Claudia ein bißchen Stockholm zeigen.“ „Ich gehe zum Skilaufen“, sagte Karin. „Ulla kommt gleich und holt mich ab.“ „Heute?“ fragte Tante Helga erstaunt. „Aber Karin, heute müßtest du doch…“ Claudia versicherte indessen schleunigst, daß es ihr furchtbar peinlich wäre, wenn Karin bei diesem wunderbaren Wetter ihr Skilaufen aufgeben würde – und für sie gebe es doch genug, was sie sich vornehmen könne –, sie wolle an Mutti schreiben, und sie wolle auspacken, und außerdem – und während sie noch sprach, klingelte es an der Wohnungstür. Ulla kam. Sie war ein kräftiges, braungebranntes Mädchen im selben Alter wie Karin und Claudia. Karin zog sie mit sich in ihr Zimmer, und gleich darauf polterten die beiden in ihren Skistiefeln die Treppe hinunter. „Ja, das Mädel“, sagte Tante Helga. Es schien, als schäme sie sich ein wenig, weil Karin die Kusine gleich am ersten Tag im Stich ließ. Claudia lächelte. „Aber Tante Helga, ich bleibe doch jetzt eine ganze Zeit bei euch – und da muß Karin doch natürlich tun, was sie
gewohnt ist –, ich meine, sie darf doch meinetwegen nicht gezwungen sein, etwas daran zu ändern. Wenn ich nur einige Tage hierbliebe, dann wäre es etwas anderes, aber so ist es doch klar, daß ich mich nach euch richten muß, und nicht umgekehrt!“ „Ich habe es ja gesagt“, meinte Onkel Bo. „Du hast wirklich Verstand in deinem kleinen Hirn.“ „Kann ich es schriftlich haben?“ fragte Claudia. „Ich möchte es dann meiner Handarbeitslehrerin schicken. Sie behauptet nämlich genau das Gegenteil, wenn ich am Strumpf verkehrt abnehme oder beim Schneidern die Falten verkehrt herum kniffe.“ „Es ist nur gut, daß du auch deine schwachen Seiten hast“, sagte Onkel Bo. „Möchtest du mit mir Spazierengehen, Claudia?“ „Furchtbar gern, Onkel Bo – ich will nur eben…“ Claudia ging daran, das benutzte Geschirr vom Tisch abzuräumen. Sie tat es so selbstverständlich, wie sie es zu Hause viele Jahre lang nach jeder Mahlzeit getan hatte. „Nein, Kindchen“, sagte Tante Helga, „damit ist es nun für eine Weile vorbei. Hier ist das meine Sache. Und nun seht zu, daß ihr wegkommt, ihr beiden. Oma und ich haben eine Menge miteinander zu reden, und ich will Oma packen helfen. Wenn du gescheit bist, Bo, dann lädst du Claudia irgendwo zum Lunch ein, ich bin euch dann los! Karin kommt erst zum Mittagessen nach Haus – und Oma und ich haben den ganzen Tag Ruhe!“ „Wie gnädige Frau befehlen“, lächelte Onkel Bo. „Dann komm, Claudia, du siehst, man jagt uns erbarmungslos in die große, kalte Welt hinaus. Aber wir werden uns schon die Zeit zu vertreiben wissen, wir denken uns alles mögliche aus, was wir machen können, und dann könnt ihr drei zu Hause sitzen und uns gestohlen bleiben!“ Wieder machte Claudia große Augen.
Der erste Brief nach Hause Stockholm, 20. Januar Mein allerliebstes Muttilein! Heute will ich versuchen, dir einen richtigen Brief zu schreiben. Sonntag war es nur ein kleiner Gruß, ich schrieb ihn aus dem Restaurant „Die Gondel“. Du weißt also, daß ich den ganzen Vormittag mit Onkel Bo aus war. Wir gingen zu Fuß in die Stadt, und die Kälte hat nicht schlecht in der Nase gepickt. Aber die Sonne schien. Onkel Bo fragte mich, ob ich auf was Bestimmtes Lust hätte, und da sagte ich, ich würde so gern das Stadthaus sehen, vom Zug sah es so wunderschön aus. Von nahem ist es aber noch schöner. Es liegt am Wasser – alles liegt hier am Wasser, überall sind Kais und Brücken und Schiffe! Wir kamen zuerst in eine riesige Halle, die war backsteinrot mit weißen Säulen und weißen Treppen. Und weißt Du, wie die Halle heißt? Tatsächlich, sie heißt „die blaue Halle“, obgleich nicht das kleinste blaue Fleckchen drin zu sehen ist. Onkel Bo erzählte mir, die Halle hätte nach den Plänen blau werden sollen. Aber während das Stadthaus gebaut wurde, ist der Entwurf geändert worden, und so kam es dann, daß das einzige Blaue, was noch übrig ist, der Name ist!
Wir haben die prächtigen Säle angesehen, wo der Reichstag seine Sitzungen abhält, und die Säle mit französischen Gobelins, wie man sie kaum für möglich halten sollte. Ich mußte ganz nah herangehen und mir ansehen, wie sie gewebt waren. Das war aber eine Handarbeit, na, ich danke! Am meisten im ganzen Stadthaus staunt man über den goldenen Saal. Der ist so riesig groß, daß man für achthundert Menschen darin decken kann. Ja, denn manchmal, bei besonders feierlichen Gelegenheiten, wird er als Speisesaal benutzt. Denk Dir, Mami, der ganze Saal, alle Wände, alles überhaupt besteht aus Goldmosaik. Die riesigen Flächen sind aus winzigen, goldenen Stückchen zusammengesetzt, und auf der einen Querwand ist ein einziges großes Mosaikbild. Es stellt die „Mälarkönigin“ dar, und das ist die Stadt Stockholm. Du weißt, Stockholm liegt am Mälarsee, und der hat tausend kleine Arme und Buchten, die sich ganz in die Stadt hineinschieben, und das ist der Grund, warum man so furchtbar viele Brücken bauen mußte. Als wir das Stadthaus besichtigt hatten, gingen wir weiter, über eine der großen Brücken, und ich kann Dir sagen, die war herrlich, denn die führt haargenau auf das königliche Schloß zu. „Wir gingen einfach durchs Schloßtor und quer über den riesigen Schloßhof. Als wir ‘rauskamen, gingen wir durch alte, schmale, enge Gassen, es war genauso, als wären wir plötzlich um viele Jahrhunderte zurückversetzt worden. Alles sah ganz mittelalterlich aus. Die Pflastersteine waren rund und knubbelig wie kleine Rundstücke, und die Häuser ganz windschief vor Alter, und die Läden paßten genau hierher, denn es waren meistens Antiquitätengeschäfte, die in den Fenstern uralte schöne Dinge ausgestellt hatten. In einem dieser alten Häuser liegt ein wahnsinnig berühmtes Restaurant, das heißt „Gyllene freden“, und das bedeutet „Der Goldene Frieden“. Onkel Bo sagte, es sei sonst nicht seine Gewohnheit, dreizehnjährige Mädchen in ein Restaurant zu führen und schon gar nicht abends, aber er wolle nun doch mal die ganze Familie – minus Brüderchen und Nystan – einen Abend mit in den „Goldenen Frieden“ nehmen, denn man kann nun mal nicht in Stockholm gewesen sein, ohne das gesehen zu haben. Ich freue mich schon drauf. Als ich mich sozusagen an das Mittelalter gewöhnt hatte und schon allmählich anfing, mich auf einen Ritter in voller Rüstung oder ein Burgfräulein mit hoher, spitzer Haube gefaßt zu machen –
ja, da waren wir mit einem Schlage wieder in der Gegenwart. Und was für einer Gegenwart. Alles war mit einem Male frei und offen. Vor uns lag etwas Rundes und Komisches, Straßen, die gewissermaßen in zwei Stockwerken übereinander gebaut sind, und mit einem Rondell, aus dem ich überhaupt nicht herausfinden konnte. Es heißt Slussen, das bedeutet „die Schleuse“. Hinter Slussen erhebt sich plötzlich eine hohe Felswand, und an der entlang sind ganz, ganz hohe Häuser gebaut. Weißt Du, wie man da ‘raufkommt? Man nimmt einen Fahrstuhl. Ja, stell Dir vor, von Slussen geht ein Fahrstuhl, der ganz für sich in der Gegend steht, in die blaue Luft hinauf. Der heißt Katarinahissen. Und in den sind wir eingestiegen, und dann sauste er wie eine Rakete mit uns nach oben. Jetzt standen wir auf einer hohen Brücke, und hier oben war ein kräftiger Wind. Wir hatten eine großartige Aussicht. Onkel Bo zog mich mit durch eine Tür und eine Treppe hinunter, und nun standen wir auf einmal im Vorraum eines Restaurants. Von da gingen wir weiter ins Restaurant hinein, das war lang und schmal und hatte auf beiden Längsseiten Fenster. Es ist ungefähr wie ein Schiff eingerichtet. Weißt Du, wo dies Restaurant liegt? Ja, denk Dir, es hängt unter der Brücke, die vom Katarinahiss zu den Hochhäusern führt. Als ich mir vorstellte, daß unter uns gähnende Leere war anstelle von Grundmauern und Keller und so weiter, wurde ich fast seekrank. Aber dann sagte ich zu mir selber, wenn die „Gondel“ – so heißt nämlich das Restaurant – bis jetzt hängengeblieben ist, und noch dazu in den allerschlimmsten Herbst- und Winterstürmen, dann wird sie wohl nicht ausgerechnet in dem Augenblick ‘runterpurzeln, wo Claudia Keller ‘reinkommt. Hier haben Onkel Bo und ich gefrühstückt. Und dann wurde mir allmählich klar, wieso der Onkel gesagt hatte, man müsse sich an die Essensgebräuche in Schweden gewöhnen. Ach Mutti, ich werde bestimmt aus meinen Sachen herausgewachsen sein, ehe nur eine Woche vergangen ist. Zum Frühstück ißt man zunächst mal Brot und Butter und verschiedene kalte Gerichte, vor allen Dingen Hering, der auf hundert verschiedene Arten serviert wird. Dieser Hering heißt Strömmihg und wird rundherum um Stockholm gefangen. Er schmeckt ganz wunderbar. All das Kalte, plus Brot und Butter nennt man hier „smörgas“ – smör bedeutet Butter, und gas bedeutet Gans, aber weshalb ein Butterbrot oder eine kalte Platte „Buttergans“ heißt – das geht über meinen Verstand! Nach der „Buttergans“ bekommt
man einen warmen Gang, und dann einen Nachtisch. Ich war so satt, daß ich bloß noch watschelte, als wir aus der Gondel weggingen. Hinterher fragte Onkel Bo, ob ich Lust hätte, die schwedischen Königsgräber zu sehen. Und das hatte ich selbstredend. Die sind in einem Bauwerk, das heißt Riddareholmskyrkan, und wenn ich Onkel Bo richtig verstanden habe, dann bedeutet das soviel wie RitterinselKirche. In der Kirche gibt es keine Bänke, da ist nur ein einziger großer Raum mit einem Altar, und überall sind Nischen mit Sarkophagen, und an allen Wanden sind Tafeln mit den Namen der verstorbenen Inhaber des Serafim-Ordens, das scheint ein wahnsinnig hoher Orden zu sein. Nur die, die so einen Orden bekommen haben, werden in der Riddareholmskyrkan beigesetzt. In einer großen Nische stehen die Sarkophage der schwedischen Könige. Alle sind aus rotem schwedischem Marmor, außer einem: Mitten in der großen Nische, ganz für sich, steht ein Sarkophag aus schneeweißem Marmor, so, als liege hier einer, dem man eine besondere Ehre erweisen wolle. Weißt Du, wer hier liegt? „Desideria“ ist in den Marmor eingehauen. Da liegt Désirée, die Seidenhändlerstochter aus Marseille! Muttilein, ich muß aufhören. Tante Helga ruft zum Essen. Grüß Onkel Peter herzlich. Einen großen „kram“ – das bedeutet Umarmung – und „manga pussar“ (das bedeutet viele Küßchen – Du siehst, das Wichtigste kann ich schon auf Schwedisch). Deine Claudia PS. Nach dem Essen: Ich muß Dir noch was erzählen. Als wir beim Essen saßen, hörte ich, wie die Küchentür aufgemacht wurde. Ich drehte mich um – und da hüpfte Nystan gerade von der Türklinke herunter. Karin erklärte mir, daß Nystan, wenn er durch eine Tür will, auf die Türklinke hinaufhüpft und sie mit seinem eigenen Gewicht herunterdrückt – die Tür geht auf, und husch, ist Nystan durch. Das hat er sich ganz von allein ausgedacht. Wußtest Du, daß Katzen so klug sind? Ich wünschte, wir hätten auch so ein Kätzchen!
Die Talente sind verschieden „Kommst du mit auf die Eisbahn, Claudia?“ Karin stand in der Tür, rotwangig und voller Unternehmungslust, im Sportanzug, die Schlittschuhe um den Hals gehängt. „Furchtbar gern.“ „Dann beeil dich, und zieh dich an.“ Claudia warf sich in aller Eile das hübsche Eislaufkostüm über und holte die schimmernden Schlittschuhstiefel hervor. „Du lieber Himmel, wie siehst du schick aus! Mama, Mama“, rief Karin – sie zerrte Claudia mit zu Tante Helga ins Zimmer. „Sieh bloß, was Claudia für ein schickes Schlittschuhkostüm anhat. Es steht dir einfach märchenhaft.“ Karins Begeisterung war groß und echt, und in ihrer Stimme war auch nicht ein Schimmer von Mißgunst zu spüren, obwohl sie selber abgetragene, blankgescheuerte lange Hosen trug und nicht die Spur elegant aussah. „Ja, man kann es dir ansehen, daß deine Mutter Fachmann in Kinderkleidung ist, Claudia“, lächelte Tante Helga. „Du wirst auf der Eisbahn Aufsehen erregen.“ „Da fällt mir etwas ein!“ rief Karin. „Ich habe die Rate für meine Schlittschuhe zu bezahlen vergessen.“ „Rate – hast du Schlittschuhe auf Ratenzahlung gekauft?“ fragte Claudia erstaunt. „Sozusagen“, lachte Karin. „Echte Kunstlaufschlittschuhe, noch vornehmer als deine!“ „Aber – “ sagte Claudia, und ihre Augen fielen auf Karins Schlittschuhe. Zwar waren es Stiefelschlittschuhe, aber mit niedrigen Stiefeln, sogenannte Bandy-Schlittschuhe, genau solche wie Claudias. „Ja, ich habe sie noch nicht“, sagte Karin. „Ich zahle jede Woche von meinem Taschengeld was ein.“ Tante Helga lachte. „Nun lauft jetzt, Kinder, so lange es noch hell ist und die Sonne scheint. Dann kannst du Claudia unterwegs von unserm Abzahlungssystem erzählen.“ „Ja, es war nämlich so“, begann Karin, als sie die verschneite Straße entlangliefen, „es fing damit an, daß ich Papa quälte, er solle ein Auto kaufen. Das könne er sich nicht leisten, sagte er. Und dann sagte ich, er könnte es auf Abzahlung kaufen, das tun doch so viele.
Und weißt du, was Papa sagte? ,Da hast du recht’, sagte er. ,Das werde ich auch tun!’ Und die Zeit verging, und kein Auto kam, und dann fragte ich Papa, wie es denn nun wäre. ,0 ja, ich zahle ab’, sagte er. ,Wann kommt denn aber das Auto?’ fragte ich. ,Wenn ich alle Raten bezahlt habe’, sagte Papa. Ich fand das eine komische Art und Weise, auf Abzahlung zu kaufen, und da erklärte Papa mir, er habe mit sich selber ein Abzahlungsgeschäft abgeschlossen. Jeden Monat lege er die Summe zurück, die er für ein Auto abzahlen müßte. Aber dann kam ein Monat, da schaffte er es nicht, er hatte zu große Ausgaben gehabt. ,Da kannst du sehen’, sagte er. ,Hätte ich das Auto auf die Weise gekauft, wie du meintest, dann hätte ich diesen Monat nicht bezahlen können, dann hätte ich einen Mahnbrief bekommen und vielleicht sogar das Auto wieder zurückgeben müssen. Es hat sich einfach herausgestellt, daß wir uns kein Auto leisten können!’ Und Papa sagt, es ist besser, wenn man es sich selber eingestehen muß, als dem Autohändler. Und jetzt wenden wir zu Hause immer dies Abzahlungssystem an. Du kannst natürlich sagen, es ist dasselbe, wie Geld in eine Sparbüchse zu tun, aber es macht viel mehr Spaß, es Abzahlung zu nennen. Meine Schlittschuhe sind wahnsinnig teuer. In der Schlittschuh-Tauschzentrale kann ich ein Paar gebrauchte für hundert Kronen bekommen – und auf die zahle ich jetzt ab – in meine eigene Sparbüchse also, verstehst du?“ Claudia lachte. „Und wenn du mal eine Woche die Rate nicht zusammenkriegst?“ „Ja, dann tue ich so, als hätte ich mit dem Mann im Geschäft gesprochen und als hätte er mir Aufschub gegeben, und dann muß ich eben sehen, daß ich in der nächsten Woche doppelt soviel in die Büchse tun kann. Und wenn ich es ganz und gar nicht schaffe, dann muß ich mir eben selber sagen, daß ich etwas gekauft habe, was für mich zu teuer ist. Aber dann bin ich immerhin davor bewahrt, es wieder hintragen zu müssen, denn ich habe es ja noch nicht!“ Claudia lachte. „Dein Vater ist mächtig klug“, sagte sie. Und ihr fiel Onkel Peter ein, der von Fahrrädern und teuren Sportausrüstungen erzählt hatte, die auf Ratenzahlung gekauft wurden, und was für ein Jammer es dann war, wenn die Kunden die Monatsraten nicht zusammen hatten. „Natürlich ist er klug“, sagte Karin. „Übrigens habe ich den Verdacht, daß er insgeheim mit einer neuen Abzahlung angefangen hat. Ich glaube, er versucht es noch mal mit einem Auto.“ Der große Sportplatz mit seinem schimmernden Eis lag jetzt vor
ihnen. Viele Kinder und junge Leute tummelten sich fröhlich darauf. Es gab eine Garderobe, in der Claudia ihren Mantel aufhängen konnte, den sie über ihr Eislaufkostüm gezogen hatte. Und gleich darauf glitten sie auf die spiegelblanke Fläche hinaus, und Claudia merkte, daß sie in ihrem feinen Kostüm Aufsehen erregte. Aber noch mehr Aufsehen erregte Karin, nicht ihres Anzugs wegen, sondern durch ihr hervorragendes Laufen. Sie war geschmeidig wie eine Katze und flink wie ein Eichhörnchen. Sie sauste im Schnellauf über das Eis, sie machte rückwärts Achten und Pirouetten, und sie versuchte auch den berühmten „Striper“ von Sonja Henie. „Hallo, Karin!“ Ihre Freundin Ulla glitt auf Karin zu. Ulla hatte richtige LanglaufSchlittschuhe, lang und gerade und messerscharf. Claudia verstand nicht, was gesprochen wurde, aber es war wohl von einem Um-die-Wette-Laufen die Rede. Denn Karin und Ulla stellten sich auf, ein Junge hatte die Stoppuhr in der Hand, gab ein Zeichen – und dann sausten sie Seite an Seite um die Bahn, in schwindelerregender Fahrt. Nach einer halben Minute schon lag Ulla etwas weiter vorn, dann holte Karin sie ein, Ulla war wieder vornweg, der Abstand wurde größer – und Ulla schoß als erste durchs Ziel. Was Karin wohl dazu sagen würde – bei ihrem sportlichen Ehrgeiz? Atemlos und rotbäckig kamen sie nebeneinanderher auf die Stelle zu, wo Claudia stand. Karin streckte Ulla die Hand hin. „Prima, Ulla!“ sagte sie begeistert. Und dies Wort verstand Claudia. „Du warst aber auch blendend, Karin“, sagte sie und lächelte ihre Kusine an. „Und du mußt ja bedenken, Ulla hat richtige LanglaufSchlittschuhe, das hat viel zu sagen.“ „Ja, aber Ulla hätte auch gewonnen, wenn sie BandySchlittschuhe gehabt hätte“, sagte Karin. „Ulla ist eine fabelhafte Schnelläuferin.“ Gute Verliererin, schoß es Claudia durch den Kopf. Ja wahrhaftig, Karin hatte den rechten Sportgeist! Jungen und Mädchen scharten sich um Karin, und Claudia in ihrem feinen Kostüm stand ein wenig allein im Hintergrund. Sie fror. Es war in gewisser Weise peinlich, hier, wo es so viele tüchtige Läufer gab, ihre kleinen Eislaufkünste vorzuführen – und doppelt peinlich, weil sie so fein angezogen war, daß alle auf sie aufmerksam
werden mußten. So stand sie denn da, dünn und verfroren und mit roter Nase und getraute sich nicht aufs Eis hinaus und verstand nicht, was um sie herum geredet und geplappert wurde. Ein Mädchen sagte etwas zu ihr, und sie antwortete verlegen: „Jag förstar inte svenska.“ Die andere sah sie einen Augenblick forschend an, dann wandte sie sich wieder ab und ging ihres Wegs. Claudia sah zu Karin hinüber, die mitten in einer Schar von Freundinnen stand. Jetzt trat sie aus dem Knäuel heraus und zeigte den andern, wie sie eine rückwärtige Acht machte. Es wurde durcheinander gerufen und gelacht und geredet, und Karin schien ihre Kusine völlig vergessen zu haben. Nein, so kann ich nicht herumstehen, dachte Claudia. Sie fror ganz entsetzlich. Alle waren jetzt von Karin in Anspruch genommen. Claudia lief vorsichtig auf die andere Seite der Bahn hinüber, wagte sich ein Stück vor -und jetzt kam die Freude über sie, die Freude am Sport um des Sports willen, jenseits aller Konkurrenz. Es war schön, zu spüren, wie die feinen Schlittschuhe federleicht über das blanke Eis glitten, es war schön, zu spüren, wie die Wärme wieder in den Leib zurückkehrte. Claudia wurde mutiger. Sie probierte alle die Figuren, die sie auf der Eisbahn daheim geübt hatte. Es ging gut. Nun, allerdings war sie noch eine Anfängerin, sie konnte sich mit Karin oder Ulla nicht messen, aber sie würde es schon noch lernen! Jetzt schauten ihr viele nach. Es kam nicht alle Tage vor, daß ein dreizehnjähriges Mädchen in einem so eleganten Eislaufkostüm auftrat - Ausländerin war sie auch, das war ja beinahe eine Sensation! Wahrlich, jetzt kam es darauf an, dem Kostüm keine Schande zu machen – und der Nation! Claudia, denk daran, daß du eine Landsmännin von Ria und Paul Falk bist, dachte sie, und dann wurde sie mutiger, lief schneller – oh, es war herrlich, sie sauste richtig –, jetzt machte sie eine scharfe Wendung, wollte die Geschwindigkeit zu einem langen, freien Rückwärtsbogen ausnutzen und -da geschah es! Plötzlich saß sie da. Pardauz auf ihren vier Buchstaben - o Himmel, wie tat es weh… entsetzlich weh –, Claudia schrie leise auf. Und nun hörte sie etwas Furchtbares – das Gelächter –, das Gelächter über diese Ausländerin, die ankam und sich was auf ihr vornehmes Eislaufkostüm zugute tat und die feinen Schlittschuhe, und die dann aufs Hinterteil knallte wie ein Baby – und obendrein
noch heulte! Es war vielleicht gar nicht so erbarmungslos gemeint, wie Claudia es auffaßte. Vielleicht lachte man nur gutmütig über einen Kameraden, der plötzlich eine komische Figur machte. Aber die Röte schoß Claudia flammend ins Gesicht, und sie wischte sich mit den Strickhandschuhen die Tränen ab und stemmte sich wieder hoch – und es tat so fürchterlich weh –, gelb und blau mußte sie geworden sein! Wenn sie sich wenigstens ein Handgelenk oder einen Knöchel verstaucht hätte, dann wären die anderen herbeigestürzt und hätten ihr beigestanden, dann wäre es interessant gewesen – aber mit heilen Gliedmaßen davonzuhumpeln, bloß mit einem schmerzenden Hinterteil – oh, es war so unerträglich lächerlich! Claudia biß sich auf die Lippen und stolperte in die Garderobe, wo sie in aller Eile Schuhe und Mantel anzog. Sie war so schrecklich unglücklich! Sie wollte nach Hause. Wenn sie wenigstens den Weg wüßte – sie mußte aber auf Karin warten… Sie schaute durch die Tür. Da kam Karin mit ein paar Gefährtinnen. „Da haben wir ja Klein-Ria!“ sagte eine laute Mädchenstimme, und dann erscholl ein lautes Gelächter. Claudia hatte die Worte verstanden. Ihre Wangen brannten vor Scham. Karin lachte auch. Aber sie lachte in einer gutmütigneckenden Art. „Wollen wir nach Hause gehen, Claudia?“ fragte sie. „Möchtest du etwa mit der Straßenbahn fahren? Ach nein, ist ja wahr, dir ist es sicher im Augenblick lieber, wenn du läufst, anstatt zu sitzen, nicht?“ Es kostete Claudia unendlich viel Selbstbeherrschung, die Tränen zurückzuhalten. Und sie war einsilbig auf dem Nachhauseweg. Karin schnatterte von Ulla und ihrem Schnellauf, und davon, daß sie für morgen einen Haufen Schularbeiten zu machen habe, huff, jetzt müsse sie den ganzen Abend lernen und schaffen würde sie es trotzdem nicht – und dann waren sie auch schon zu Hause. Sie gingen durch den Hausflur, und plötzlich merkte Claudia, daß ihre Hand eine gewohnte Bewegung zum Hals hinauf machte. Da mußte sie lächeln. Der Schlüssel - es war der Schlüssel, nach dem ihre Hand suchte. Die Hand griff mechanisch zu, sie tat, was sie jahrelang beim Nachhausekommen gewohnt war. Sie war ja längst kein Schlüsselkind mehr.
Karin klingelte dreimal laut hintereinander, und da stand Tante Helga in der Küchenschürze, und aus der Küchentür im Hintergrund duftete es nach gutem Essen. Nystan kam angelaufen und sprang Karin auf die Schulter, und jetzt ging die Stubentür auf, und Onkel Bo kam heraus, mit der Stummelpfeife im Mund, die Brille in die Stirn hinaufgeschoben, und mit der Zeitung in der Hand; er fragte gleich, ob alle ihre Gliedmaßen heil wären. Vom Schlafzimmer drinnen hörte man Brüderchens Geplausch. Er war ins Bett gesteckt worden, aber er war noch wach, und jetzt hielt er seinem Teddybär eine lange und unverständliche Rede. Leben und Wärme und glückliche Geschäftigkeit nahmen Karin und Claudia in Empfang. Es schoß Claudia durch den Sinn, wie anders es war als zu Hause. Dort harrte ihrer nur eine leere und stille Wohnung. Eine leere, tote Wohnung. Und wenn Mutti nach Hause kam – ja, es war so gemütlich, es war so schön, Mutti zu Hause zu haben –, aber da war nichts von der heiteren Unruhe, wie eine wirkliche Familie sie hervorbringt, mit Vater und Mutter und mehreren Kindern und obendrein noch einer Miezekatze! „Macht schnell und zieht euch um“, sagte Tante Helga. „Wir wollen in fünf Minuten essen!“ „Nun, hat es Spaß gemacht auf der Eisbahn?“ fragte Onkel Bo bei Tisch. „Riesig!“ sagte Karin. „Ulla hat mich im Schnellauf gründlich geschlagen.“ „Und du, Claudia?“ fragte Onkel Bo. „Claudia, ja“, lachte Karin. „Claudia hat sich auf ihr Hinterteil gesetzt, so daß das Eis Risse bekommen hat, von nun an heißt sie bei uns nur noch Klein-Ria oder Jung-Falk.“ Claudia preßte die Zähne in die Lippen. Ihr Kinn zitterte. Tante Helga warf ihr einen raschen Blick zu. „Ach ja, das will ich’gern glauben!“ sagte sie. „Wie oft bist du denn gefallen, Karin?“ „Mindestens neuntausendachthundertundvierundfünfzigmal“, sagte Karin. „Das läßt sich doch gar nicht vermeiden!“ Jetzt tropfte eine Träne gerade auf Claudias Teller. „Hör mal, Claudia“, sagte Onkel Bo in seinem unbeschreiblichen Deutsch und mit seiner guten, ruhigen Stimme. „Du doch nicht etwa dasitzen und dich grämen, bloß weil auf Eis gesetzt?“
„Nein – deswegen nicht… aber – sie – haben mich so ausgelacht!“ „Natürlich haben sie, was sollten sie denn sonst tun? Du hast sicher komisch ausgesehen! Sie haben es längst wieder vergessen, nur du kaust darauf herum. Morgen kommt ein anderer und macht eine komische Figur. Glaubst du mir?“ „Ich gehe nicht mehr auf die Eisbahn.“ „Unfug“, sagte Onkel Bo. „Du gehst jetzt erst recht hin, und je eher, desto besser. Wenn jemand über dich lacht, dann lach mit, lach am lautesten von allen. Liebe Claudia, je eher du es lernst, über dein eigenes Mißgeschick zu lachen, desto besser! Lach es dir von der Seele. Wenn man fragt, ob du mit Sonja Henie verwandt bist, dann sag, sie sei deine Urgroßmutter! Geh auf die Neckereien ein, mach dich über dich selber lustig, lache über dich, Kind!“ Claudia lauschte. Es hörte sich so einfach und unschwierig an, was Onkel Bo sagte. Dergleichen hatte ihr noch keiner jemals gesagt. Aber sie hatte auch noch nie irgendwelchen Leuten von ihren Schnitzern erzählt. Sie war immer allein damit fertig geworden. Und sie hätte auch diesmal nichts davon erwähnt, wenn Karin nicht damit herausgeplatzt wäre, so wie sie gewöhnlich mit allem herausplatzt. Da war so unendlich vieles, was Claudia für sich behalten hatte. Sie konnte über alles mit Mutti sprechen, und sie tat es auch soweit – aber gleichzeitig wollte sie Mutti gern die kleinen Ärgernisse ersparen, und sie wollte es so gern erreichen, daß die Stunden, die sie zusammen hatten, nur harmonisch waren. Es war wirklich nicht Mangel an Vertrauen, wenn Claudia versuchte, mit ihren Schwierigkeiten allein fertig zu werden. Es war nur Rücksichtnahme. Hier aber wurde über alles mit der größten Offenheit und Unbefangenheit gesprochen, und hier hatten Onkel Bo und Tante Helga jederzeit einen guten Rat zur Hand. Da lächelte Claudia etwas unsicher. „Du sagst, ich solle die und die Antwort geben, Onkel Bo“, sagte sie. „Aber du vergißt, daß ich nicht Schwedisch kann.“ „Ach was,du hast schon eine ganzeMenge gelernt“, sagte Onkel Bo. „Aber Karin kann dir in deinen Kopf hineinhämmern, was du auf der Eisbahn sagen sollst.“ „In den Kopf hineinhämmern!“ sagte Karin. „Ich werde wohl genug damit zu tun haben, in meinen eigenen Kopf hineinzuhämmern – mit dem langen Schwanz von Rechenaufgaben, die ich zu morgen aufhabe, uff, ich wünschte wirklich, die Zahlen
wären nie erfunden!“ „Vielleicht kann ich dir ein bißchen helfen als Gegendienst für den Sprachunterricht“, meinte Claudia. „Zahlen haben ja zum Glück in allen Sprachen dieselbe Bedeutung!“
„Claudia“, sagte Karin kurz darauf. Sie saßen nebeneinander in ihrem Zimmer, über ein Rechenheft geneigt. „Dies ist zu schön, um wahr zu sein. Ich verstehe es ja plötzlich! Schau her – was jetzt hier ‘rauskommt, das muß durch sechs geteilt werden, nicht wahr?“ „Ja, natürlich, das ist ganz klar – und was du dann ‘rausbekommst, das…“ „Das leg’ ich dazu – warte mal – ja natürlich – diese Zahl dort – und dann haben wir es…“ Abermals las Karin die Rechenaufgabe durch, die mit „Ein Kaufmann verkauft sechs Pakete Margarine zu einem Gesamtpreis von…“ begann. Sie schrieb eifrig, Claudia sah ihr zu und nickte hin und wieder. „Nein, halt, Karin – das ist ein Rechenfehler –, fünfundvierzig durch sechs…“ „Fünfundvierzig durch sechs – ach ja, natürlich – das macht ja sieben – Rest drei – und null herunter… dreißig durch sechs – das geht genau auf – fünf – hurra, da haben wir’s, es macht einsfünfundsiebzig.“
So fuhren sie fort zu arbeiten, bis Karin alle ihre Aufgaben fertig hatte. „Was hast du sonst noch auf?“ fragte Claudia. „Englisch“, seufzte Karin. „Los, her damit!“ „Kannst du mir dabei auch helfen?“ „Wenn du Hilfe brauchen kannst, ja!“ Es war schon spät, darum kürzte Claudia das Verfahren ab. Sie las den kleinen Abschnitt durch, den Karin aufhatte, und übersetzte ihn hinterher. Und dann mußte Karin auch lesen, und Claudia verbesserte ihre Aussprache. „Himmel, was bist du tüchtig“, seufzte Karin. „Bist du immer die Beste in der Klasse gewesen?“ „Ach ja… in der Regel…“ „Machst du denn nie einen einzigen Fehler in der Schule?“ Claudia überlegte. „Ach nein – nein, wohl kaum“, gab sie zu. „Dann ist es klar, daß du sie auf dem Sportplatz machen mußt“, sagte Karin philosophisch. „Irgendwo müssen alle Menschen mal Dummheiten machen. Ich tu’s in der Schule. Weißt du – “, sie senkte ihre Stimme, und jetzt wurde sie wahrhaftig rot – „weißt du was? In der vorigen Woche bin ich in die Ecke gestellt worden wie ein kleines Kind aus der untersten Klasse!“ „Aber Karin“, sagte Claudia. „Na ja, aber ich hatte es wohl auch nicht anders verdient“, gestand Karin. „Aber du kannst dir wohl denken, wie peinlich das war.“ Claudia überlegte. In die Ecke gestellt zu werden – ach, du Schreck –, sie wäre vor Scham umgekommen. Nein, da war es denn doch viel besser, sich auf der Eisbahn gelb und blau zu schlagen. Das hatte sie nämlich getan. Als sie an diesem Abend im Badezimmer war und sich davon überzeugt hatte, daß die Tür abgeschlossen war, drehte sie sich um und beschaute sich selber im Spiegel. Gelb, blau und violett war sie, das war nicht zu leugnen, der reinste Regenbogen! Sie warf sich eiligst das Nachthemd über, und während sie es am Halse zuband, merkte sie, daß sie dastand und lachte.
Fröhliche Verschwörung „Nein, Karin, nun versuch mal, die beiden Verben auseinanderzuhalten: Go – went – gone… das heißt ,gehenc. Get – got – got das heißt ,bekommen’. Ist es denn so schwer, sich das zu merken?“ „Ja. Es ist doch auch zu blöd, daß go plötzlich in der Vergangenheit was mit ,w’ hat – wer kann sich denn so was merken?“ „Du mußt die Vergangenheit von go in was anderes umändern, zum Beispiel wandern oder wanken – ich gehe, ich wankte, ich bin gegangen“, schlug Claudia vor. „Dann vergißt du es nicht.“ Karin brach in Lachen aus. „Warum hat uns der Lehrer nie auf einen so schlauen Gedanken gebracht?“ sagte sie. „Jetzt vergess’ ich es bestimmt nie wieder!“ Hinter ihnen ging die Tür. Es war Onkel Bo. Er kam ins Zimmer, machte die Tür leise wieder hinter sich zu und legte den Finger auf die Lippen. „Hört mal, Mädels“, sagte er. „Morgen kommt ihr und holt mich vom Büro ab, ja? Weißt du den Weg, Claudia? Karin kommt gleich von der Schule, und du, Claudia, nimmst die Straßenbahn, wirst du das fertigbringen?“ „Ach, sicher“, nickte Claudia und sah fragend von einem zum andern. „Wie himmlisch!“ rief Karin. „Dann gehen wir und kaufen Geschenke für Mama ein!“ „Ja, das wollen wir“, sagte Onkel Bo. „Und dann müssen wir mal besprechen, was wir sonst noch aufstellen wollen. Was für Überraschungen können wir denn sonst für Mama erfinden?“ Jetzt ging Claudia ‘ein Licht auf. Tante Helga hatte ja in drei Tagen Geburtstag. „Papa und ich haben zu Mamas Geburtstag immer Heimlichkeiten zusammen“, sagte Karin. „Ich wünschte, ich könnte ihr eine Geburtstagstorte backen, es würde mir einen riesigen Spaß machen, wenn ich das allein könnte. Aber Mama ist ja immer zu Hause, und da…“ „Könntet ihr damit fertig werden, wenn Mama mal für ein paar Stunden wegginge?“ „Ja, natürlich“, meinte Karin, „‘s gibt doch schließlich
Kochbücher im Haus. Und ich habe so oft zugesehen, wenn Mama einen Kuchen rührte.“ „Da müssen wir mal zusehen, wie wir das einrichten“, sagte Onkel Bo. „Ich nehme Mama übermorgen mit ins Kino, und wenn wir aus dem Hause sind, dann fangt ihr an, nicht? Und dann besorgen wir vor allem vierzig kleine Lichte…“ „O je, wie wollen wir die denn aufbauen?“ lachte Karin. „Genügt es nicht, wenn wir vier nehmen?“ „Jaja, meinetwegen dann“, meinte Onkel Bo. „Ein Licht für jedes Jahrzehnt, und ein großes Lebenslicht in der Mitte.“ „Und dann stehen wir am Geburtstag um sechs Uhr auf und verzieren sie“, sagte Karin eifrig. „Das werdet ihr müssen! Und dann denkt mal darüber nach, was wir morgen kaufen sollen.“ Am nächsten Vormittag half Claudia Tante Helga, wie sie es jetzt immer tat. Tante Helga hatte sich allmählich damit abgefunden, daß Claudia ihr im Haus ein wenig zur Hand ging. „Ich kann doch nicht den ganzen Tag schmöckern“, sagte Claudia und das sah Tante Helga ein. Und sie konnte nicht umhin, zuzugeben, daß es wunderbar war, jemanden zu haben, der Staub wischte und Blumen begoß, ganz davon zu schweigen, daß Claudia das Zimmer der Mädels musterhaft in Ordnung hielt. Sie machte sogar auch Karins Bett. Karin war angewiesen, das selber zu tun, aber sie beschränkte sich darauf, die Decke über das zerknautschte Laken und die zerdrückten Kissen und das Knäuel zu werfen, das einen Pyjama vorstellen sollte, ehe sie mit lang heraushängender Zunge in die Schule rannte, immer fünf Minuten zu spät. Ja, Karin war eine Liederliese, aber sie hatte die klarsten Begriffe der Welt von Ehrlichkeit und Redlichkeit. Zum Teil waren sie ihr in ihrem Elternhaus beigebracht worden, zum Teil auf dem Sportplatz. Sie war eine fröhliche Siegerin und eine gute Verliererin, und sie war durch und durch fair. Und da mochte es denn wahrlich hingehen, daß sie unordentlich war und ab und zu ein wenig rücksichtslos, dachte Claudia, während sie Karins Laken glättete, die Kissen aufschüttelte und ihren Pyjama sauber zusammenlegte. Dann stellte sie sich vor Muttis Bild und betrachtete es. Vor einer Woche hatte sie zum erstenmal auf einen Brief „Frau Anita Brodersen“ geschrieben. An Muttis Hochzeitstag hatte Onkel Bo eine Flasche Wein aufgemacht, und sogar jedes Mädel hatte einen
Schluck abbekommen. „Heute wollen wir auf das Glück deiner Mutti und deines Onkels Peter trinken“, hatte Onkel Bo gesagt. „Ich weiß, daß niemand ihr mehr Glück wünscht als du, Claudia. Alles Gute für deine liebe Mutter 1“ Und Claudia hatte das Glas an ihren zuckenden Mund gesetzt und sich krampfhaft an den einen Gedanken angeklammert: Ich wünsche Mutti alles Gute – Mutti hat es verdient, daß es ihr gut geht –, Mutti hat es verdient, ein schönes Zuhause zu haben… Claudia wußte nicht, daß gerade das Zuhause hier bei Tante Helga und Onkel Bo allmählich die Bitterkeit aus ihrem Herzen vertrieb. Es war ihr nicht bewußt, bis sie anfing zu begreifen, was ein wirkliches Zuhause ist. Ein Zuhause mit einem Vater, eine Häuslichkeit mit einer Hausfrau, die daheim ist und nicht jeden Morgen weglaufen muß, um Geld zu verdienen. Claudia sah auf die Uhr. Jetzt mußte sie sich aber wirklich beeilen. „Tante Helga! Ich habe Karin versprochen, daß ich sie von der Schule abhole. Ich lauf los!“ „Tu das, mein Kind. Geh vorsichtig, denk an den Linksverkehr!“ Tante Helga stellte keine weiteren Fragen. Sie lächelte nur fein vor sich hin. Sie kannte das, wenn Karin und ihr Vater ein paar Tage vor dem Geburtstag plötzlich auf einige Stunden verschwanden, und sie hatte es längst durchschaut, daß Claudia in diesem Jahr an der Verschwörung teilnahm. Tante Helga wusch und scheuerte und kochte und machte alles für diese vier Menschen, die sie so innig liebhatte – ja, denn ihre kleine Nichte hatte sich wahrlich auch einen Platz in ihrem Herzen erobert, die auch! Tante Helga sang leise vor sich hin, während sie am Küchentisch stand und Mohrrüben schabte. Sang aus bloßer Freude, daß sie Menschen hatte, die sie liebte. Sang, weil die Sonne einen schrägen Strahl zum Küchenfenster hereinschickte, und weil ein paar Spatzen draußen schilpten und in den Brosamen pickten, die sie auf den Küchenbalkon gestreut hatte. Sie sang einfach aus Freude am Dasein! Nystan strich an ihrem Schienbein entlang. Da wischte sich Tante Helga die Hände ab und holte ein Stück Fisch aus der Speisekammer. Das legte sie auf einen sauberen Teller, den sie Nystan hinstellte, und nahm den alten weg. Nystan schmiegte sich an
ihre Hand und ihren Arm, und Tante Helga strich ihm über den Kopf. Denn die kleine graue Katze gehörte auch mit dazu – sie gehörte in dies Haus, zu all dem, was zu Tante Helga gehörte, zu all dem, was ihr Glück ausmachte. Wahrend der Bahnfahrt dachte Claudia angestrengt darüber nach, was sie für Tante Helga kaufen sollte. Vielleicht eine dieser ausgezeichneten Kleiderbürsten aus Schaumgummi – oder ein großes, schönes Stück Badeseife? Als sie zum Stureplan kam, stolperte sie sozusagen über Karin. „Ich wäre fast nicht gekommen“, vertraute Karin ihr an. „Ich sollte eigentlich nachsitzen, aber ich habe unserer Lehrerin gesagt, Papa warte auf mich, und da sagte sie, o. k. sie wolle mich strafen und nicht Papa, und ich solle dann lieber morgen früher kommen. Also mußt du mich morgen um sechs Uhr aus dem Bett holen, und wenn du mich mit glühenden Nadeln picken mußt.“ „Was hast du denn wieder angestellt?“ lachte Claudia. „Vergessen, einen Aufsatz zu machen“, sagte Karin. „Ich dachte, wir sollten ihn erst übermorgen abliefern, und dabei war er schon heute fällig!“ „Du bist aber auch ein Schussel“, lächelte Claudia. Plötzlich wandte Karin sich voll zu ihr um, und ihre Stimme klang wütend: „Sei doch bloß nicht so’n fürchterlicher Tugendbolzen! Uff, immer kriegt man zu hören, wie hervorragend du bist und wie unausstehlich man selber ist.“ Dieser Ausbruch war so plötzlich gekommen, daß Claudia ganz sprachlos war. „Ich – ich hatte aber nicht die Absicht, häßlich zu sein, Karin – ich habe doch nur ein bißchen gelacht – und das kannst du doch sonst vertragen –, machst dir doch sonst auch nichts daraus, über dich selber zu lachen…“ Karins aufwallender Zorn verflog ebenso schnell wieder, wie er gekommen war. „Ich meinte es auch nicht böse, Claudia. Ich weiß wirklich nicht, was mir plötzlich eingefallen ist!“ Das wußte Claudia auch nicht. Und es sollte lange dauern, bis es ihr klar wurde… „Na, ihr kleinen Trödelliesen“, sagte Onkel Bo. „Schön, daß ihr endlich da seid. Also, laßt uns gehen!“ Sie landeten in der N. K. – Stockholms großem, berühmten Warenhaus, Nordiska Kompaniet. Es war viel größer als
Wederholms zu Hause, und auch prächtiger. Hier kaufte Onkel Bo zunächst einmal pelzgefütterte Handschuhe für seine Frau. Dann holte Karin ihr Portemonnaie heraus und sagte, sie wolle gern Perlonstrümpfe für Mama kaufen. „Kannst du dir das denn leisten?“ lächelte Onkel Bo. „Habe zwei Schlittschuhraten unterschlagen“. „Nun gut, das ist deine Sache“, sagte Onkel Bo. „Also gehen wir jetzt zu den Strümpfen!“ Hinterher gingen sie in eine furchtbar lustige Abteilung mit lauter praktischen kleinen Dingen – reizenden Handarbeitsbeuteln und Nähetuis, allen möglichen pfiffigen Kleiderbügeln, Plastiktüten für jeden erdenklichen Zweck, und hunderterlei andern Sachen. Hier fand Claudia eine kleine flache Kleiderbürste aus Schaumgummi. „Eine großartige Idee“, sagte Onkel Bo. „Genau das Richtige für die arme Tante Helga, die immer voll von grauen Katzenhaaren ist.“ „Ich wollte eigentlich ein Stück Seife kaufen, aber…“ „Da bringst du mich auf was – das war es ja, was Bertil schenken sollte!“ Wieder eine neue Abteilung – eine große, fast prunkvolle Parfümabteilung. Wie herrlich es hier duftete. An einem Ladentisch stand ein hübsches junges Mädchen in einer rosa Schürze und von lauter rosa Flaschen und Schachteln und Büchsen und Dosen umgeben – ihr gerade gegenüber ein anderer Tisch war ganz in Hellblau gehalten, und das ebenso hübsche junge Mädchen trug eine hellblaue seidene Schürze. „Du, es ist so fein hier – “, flüsterte Claudia. Onkel Bo blieb an dem rosa Tisch stehen und kaufte Seife. Das Stück war in ein durchsichtiges Zellophankästchen ganz entzückend verpackt. „Jetzt fehlt uns nur noch etwas für Nystan“, sagte Karin. Da mußte Claudia lachen. „Schenkt denn Nystan auch was?“ fragte sie. „Das ist doch klar. Er kriegt ja auch zum Geburtstag was geschenkt.“ Claudia lächelte vor sich hin. Ware sie zehn Jahre älter gewesen, dann hätte sie ausdrücken können, was sie fühlte. Jetzt konnte sie das nicht. Jetzt hatte sie nur ein gutes und inniges Gefühl, weil selbst eine Miezekatze Geschenke bekam, und sie empfand unklar, daß Menschen, die so dachten, gute Menschen sein mußten. Wäre Claudia älter gewesen, dann hätte sie gesagt, solche Menschen mußten einen großen Überschuß in sich haben an Glück und Güte.
„Ja, Nystan“, sagte Onkel Bo. „Habt ihr einen Vorschlag?“ „Einen Kasten Schokolade“, meinte Karin. „Ja, das könnte dir so passen“, grunzte ihr Vater. „Du weißt, wie es geht, wenn wir Mama Schokolade schenken. Hast du nicht eine Idee, Claudia?“ „Dooch – “, sagte Claudia zögernd. „Das Sahnekännchen, das Tante Helga zu ihrem Vormittagskaffee immer gebrauchte, ging ja vorgestern kaputt – vielleicht könnte Nystan ihr ein neues schenken?“ „Claudia, du bist ein Tausendsasa!“ rief Onkel Bo. „Kommt, wir gehen in die Porzellanabteilung.“ Sie fanden ein hübsches Kännchen, und dann lud Onkel Bo seine beiden kleinen Damen zu einer Tasse Schokolade ein. „Das hast du für deine Idee mit dem Kännchen verdient, Claudia“, schmunzelte er. „Bekomme ich vielleicht auch eine Tasse, selbst wenn ich keine Idee gehabt habe?“ fragte Karin. Claudia aber war so fröhlich und guter Dinge, daß sie den winzig kleinen Unterton von Bitterkeit in Karins Stimme nicht wahrnahm. Sie fuhren mit dem Fahrstuhl bis zum obersten Stock. Hier war ein Restaurant, an dessen Wand sich ein langes, rotes Ledersofa hinzog, mit lauter kleinen Tischen in einer Reihe davor. Und hier bekamen sie Torte und Schokolade mit Schlagrahm. „Dies ist Tradition, mußt du wissen“, sagte Onkel Bo. „Wenn Karin und ich Einkäufe gemacht haben, für Tante Helga zum Geburtstag oder für Weihnachten, dann landen wir immer hier oben und trinken Schokolade.“ Claudia war plötzlich stumm geworden. Sie dachte daran, wie es gewesen war, wenn Mutti Geburtstag hatte. Da ging Claudia allein in die Stadt, kaufte allein ein für ihre Sparpfennige, mußte allein den Geburtstagstisch schmücken, und wenn Mutti nach Hause kam, war sie oft so müde, daß sie sich gar nicht so recht über all das freuen konnte, was Claudia mit viel Liebe und Mühe für sie aufgebaut hatte. Muttis Geburtstag fiel nämlich ausgerechnet in die Zeit des großen Sommerschlußverkaufs im August. „Nun Claudia?“ fragte Onkel Bo. „Du bist ja so in Gedanken?“ Claudia lächelte. „Nein, nein. Ich mußte nur gerade so daran denken, wie schön es ist, wenn – wenn viele in einer Familie sind.“ Bertil war ins Bett gebracht worden, und Onkel Bo und Tante
Helga waren in einen Film gegangen. In der Küche herrschte aufgeregtes Treiben. Karin las aus dem großen Kochbuch vor und übersetzte, und die beiden Mädels maßen und wogen ab und schlugen Schaum und rührten, daß der Schweiß an ihnen niederrann. Endlich hatten sie die Torte im Ofen, und nun galt es, die Küche wieder in Ordnung zu bringen. Und das allein war schon eine Aufgabe. Sie hatten Mehl auf dem Fußboden verstreut und Eiweiß über den Küchentisch gespritzt, und es war ganz unbeschreiblich, wie viele Löffel und Schneeschläger und Holzkellen und Tassen sie in Gebrauch genommen hatten, um diese Torte zusammenzurühren. Als Onkel Bo und Tante Helga nach Hause zurückkehrten, liefen ihnen zwei muntere Mädchen entgegen mit Mehl an Kleidern und Händen und glühenden Wangen. Und Tante Helga war der Takt in Person. Sie tat, als sähe sie weder Mehl noch die Küchenrosen und als merke sie nichts von dem verräterischen Duft, der die -Wohnung durchzog. Aber es fiel ihr auf, daß ihre kleine Nichte gesprächig war und fröhlich und munter, und sie sah den leuchtenden, geheimnisvollen Blick in ihren Augen. Tante Helga mußte insgeheim lächeln. Ach ja, die kleine Claudia würde sicher genauso ein fröhliches Kind werden wie andere Mädchen – und vor allen Dingen würde Claudia eines Tages einsehen, daß es, wenn es auch schön ist, eine gute Mutter zu haben, noch schöner ist, Vater und Mutter zu besitzen. Der Wecker rasselte an Claudias Ohr. Sie tastete mit der Hand danach und stellte ihn schleunigst ab. Dann knipste sie das Licht an, streckte die Beine aus dem Bett und ging zu Karin hinüber, um sie wachzurütteln. Es hatte seinen guten Grund, daß der Wecker auf Claudias Nachttisch stand und nicht bei Karin. Wenn nämlich Karin schlief, dann schlief sie und ließ sich von einer solchen Nichtigkeit wie einem rasselnden Wecker in keiner Weise und unter gar keiner Bedingung stören. „Karin! Es ist halb sechs. Du mußt hoch!“ Karin grunzte und kroch tiefer unter die Decke. Da ergriff Claudia entschlossen das Deckbett und zog daran. „Karin! Wir wollen in die Küche und die Torte verzieren! Und dann den Geburtstagstisch aufbauen!“ Da sperrte Karin die Augen auf, und beide fuhren schnellstens in ihre Kleider. Um der Wahrheit die Ehre zu geben – mit dem Waschen nahmen sie es heute nicht so genau. Es war wichtiger, so
schnell wie möglich in die Küche zu kommen! Kurz darauf stand Claudia draußen und schlug den Schlagrahm, den sie gestern im hintersten Winkel des Eisschranks versteckt hatten, und Karin kramte im Leinenschrank nach der hübschesten Decke; Onkel Bo kam und kochte eigenhändig Kaffee und schnitt einen Topfkuchen auf und machte das Kaffeetablett für Tante Helga zurecht. Und Onkel Bo zauberte Blumen herbei – ein kleines Veilchensträußchen für das Kaffeetablett und einen großen Strauß Chrysanthemen für den Geburtstagstisch. Onkel Bo trug das Kaffeetablett eigenhändig zu seiner Frau hinein. Denn an diesem Tag – und am Muttertag – sollte Tante Helga verwöhnt und bedient werden, das war etwas, woran Onkel Bo festhielt.
Die Torte stand jetzt fertig verziert mit Schlagrahmschnörkeln und roten Früchten. Mit einigem guten Willen und viel Phantasie konnte man das Datum entziffern, das Karin mit Fleiß und unendlich viel Mühe quer über die Torte gespritzt hatte. Möglich, daß ein ausgelernter Konditor dies und jenes an dem Werk auszusetzen gehabt hätte. Aber die beiden kleinen Konditormeister Claudia und Karin glühten vor Stolz, und mit unendlicher Vorsicht trug Karin die Torte hinein und stellte sie in die Mitte des Tisches, und mit ebensoviel Vorsicht pflanzte Claudia die Lichte darauf. Endlich kam das Geburtstagskind und wurde mit Umarmungen und Küssen und Glückwünschen empfangen, und die Familie stand und hing und saß um sie herum, während sie Pakete aufmachte und Freudenrufe ausstieß und sich nach allen Seiten bedankte.
„Wie praktisch!“ rief Tante Helga, als sie die Bürste von Claudia auspackte, „so was kann ich zu gut gebrauchen!“ Eine kleine Karte fiel aus der bunten Seidenpapierhülle. Tante Helga nahm sie auf und las: „Mein Dank ist so groß, das Geschenk ist so klein! Bei Dir, Tante Helga, ist herrlich zu sein! Dein Herz ist so groß und hat Raum für uns vier. Hab Dank, daß auch ich einen Platz habJ bei Dir!“ „Du bist wirklich ein Allerweltsmädchen, Claudia“, sagte Tante Helga. „Ganz reizend hast du das gemacht – viel zu reizend –, was für hübsche Verse du machen kannst!“ „Jaja, du sollst mal sehen, eines Tages fängt Claudia an zu malen wie Rembrandt, oder sie spielt wie Beethoven“, sagte Karin, und ihre Stimme hatte einen scharfen Klang. „Du solltest mit Tante Anita tauschen, Mama – für dich wäre es viel schöner, wenn Claudia deine Tochter wäre!“ Nach Karins Worten entstand eine winzig kleine Pause. Onkel Bo brach als erster das Schweigen. „Nein, denk mal, ich glaube, wir haben uns immerhin so an dich gewöhnt, daß wir ungern tauschen möchten“, lächelte er. „Jeder hat die Seinen am liebsten, weißt du, ich denke also, wir lassen es, wie es ist. Aber jetzt möchte ich frühstücken – was meint ihr?“ Alles war wieder eitel Sonnenschein und Freude, und keiner widmete der kleinen Wolke, die Karins Worte für einen kurzen Augenblick vor die Sonne gezogen hatten, noch einen Gedanken.
Luftschlösser um ein Preisrätsel … und Du kannst glauben, alles war so festlich, Mutti. Das Einkaufen mit Onkel Bo zusammen, die Torte backen und den Geburtstagstisch decken. Das Allerneueste war, daß wir alles gemeinsam gemacht haben. Daß wir sozusagen mit Onkel Bo zusammen ein Geheimnis hatten. Du, Mutti, wenn Onkel Peter Geburtstag hat, dann backen Du und ich zusammen eine Torte und kaufen Geschenke, ja? Und wenn wir bis dahin doch auch eine Miezekatze hätten, dann müßten wir was kaufen, damit sie Onkel Peter auch ein Geschenk machen könnte! Der übrige Tag war auch himmlisch. Onkel Bo sagte beim Morgenkaffee, heute solle Tante Helga nicht kochen müssen, er lade uns alle miteinander zum Mittagessen ein. Du kannst Dir denken, daß wir in großer Spannung waren. Karin und ich zogen die Sonntagskleider an, Oma kam und paßte auf Bertil auf, und wir zogen alle vier zur Gamla Stan – ach so, ich vergesse ganz, daß Du ja kein Schwedisch kannst! Man stelle sich bloß vor, was für eine unwissende Mutter ich habe. Also, „Gamla Stan“ heißt auf deutsch „Die alte Stadt“. Und nun ahnte ich schon, wohin wir gingen: in den „Goldenen Frieden“. Dort kamen wir in ein Kellergewölbe mit einem Büfett und mit Holztischen und Holzstühlen. Und von da gingen wir durch einen Gewölbebogen noch ein paar Stufen weiter hinunter und kamen in einen langgestreckten Kellerraum mit festen Bänken an den beiden Längswänden, und kleinen Tischen davor. Wir bekamen einen riesig gemütlichen Ecktisch, und ich saß so, daß ich den ganzen Raum überblicken konnte – und es lohnte sich auch wahrhaftig. In fast der gleichen Länge des Raumes war ein Smörgastisch gedeckt, nein Muttilein, Du hättest Deinen eigenen Augen nicht getraut! Ich starrte und starrte und versuchte, mir alles zu merken, was es da gab, denn ich wollte Dir doch davon erzählen. Aber ich fürchte, ich habe mindestens dreiviertel vergessen. Da gab es kalte Gans und Hühnerpastete und Hering in mindestens zehn verschiedenen Arten, und Fliegenpilze, die aus Eiern und Tomaten gemacht waren, und dann waren da Schinken und Rollwurst und unzählige Sorten Wurst und Leberpastete, und klitzerkleine Frikadellen und kalter Hecht in Gelee (Tante Helga erklärte mir, was es alles war, denn ich hatte ja keine Ahnung, ich sah nur, daß es so
fein aussah). Und dann waren da kalte Roastbeefs und Krabben und Hummern und Taschenkrebse und allerhand Komisches in Mayonnaise, und dann Salate in allen Regenbogenfarben. Und dunkles Brot und weißes Brot und Knäckebrot und Brezeln und Pumpernickel und alle Käsesorten, die Du Dir nur wünschen kannst. Und dann sagte Onkel Bo, jetzt sollten wir nur ‘reinhauen, soviel wir Lust hätten. Ich fragte, wie wir es denn machen wollten, uns alles zu merken, was wir aßen, wegen der Bezahlung. Aber da erfuhr ich, daß es gleich viel kostet, ob wir Butterbrote mit zwanzig verschiedenen Arten Aufschnitt äßen oder nur ein kleines Stückchen Hering. Wir aßen und aßen, besonders ich, bis Tante Helga sagte, ich solle aufhören, denn ich dürfte nicht vergessen, daß das eigentliche Essen doch noch käme!! Ja, denk Dir, nach diesem Smörgas bekamen wir etwas ganz Wunderbares, es hieß Jägerfilet. Und hinterher eine herrliche Fruchtcreme. Ich bin noch nie in meinem ganzen Leben so nudelsatt gewesen. Ich komme nach Hause gekullert wie eine Kugel! Die Kellnerinnen trugen reizende Nationaltrachten, und alle Tische waren besetzt, und beste Stimmung überall und ein Gesumm ohnegleichen! Onkel Bo erzählte, der „Goldene Frieden“ sei eigentlich der Sammelpunkt bekannter Künstler – früher jedenfalls. Da konnte man es erleben, daß der eine oder andere von den Gästen sich auf die Treppe am Ende des langen Raumes setzte und eines der Lieder von dem berühmten Dichter Bellman sang oder sonst was typisch Schwedisches – und sich selber fröhlich auf der Laute begleitete. Ich kann es gut verstehen, wenn Onkel Bo sagt, man darf nicht von Stockholm wegfahren, ohne den „Goldenen Frieden“ erlebt zu haben. Dies schreibe ich frühmorgens. Karin hat ihren monatlichen schulfreien Tag, und wir wollen auf die Eisbahn, aber Onkel Bo hat verlangt, daß Karin erst ihre Schulaufgaben für morgen fertigmacht. Ich freue mich auf die Eisbahn. Ich bin jetzt ziemlich sicher auf den Schlittschuhen, nach meinem ersten Pech. Zum Glück kann ich jetzt selbst darüber lachen. Als eins von den Mädels mich später fragte, ob ich denn auf meinem zerbeulten Hintern sitzen und liegen könne, gab ich zur Antwort, nein, natürlich nicht, ich hinge nachts an einer Wäscheleine. Da lachte sie, und ich auch, und wir alle miteinander, und sie lachten auch, weil ich so falsch Schwedisch
spreche, aber das macht nichts, sie mögen ruhig lachen. Ein andermal kann ich über sie lachen! Da klingelt es. Es wird Ulla sein, und nun gehen wir wohl. Also tausend liebe Grüße, auch an Onkel Peter natürlich, von Deiner Claudia Claudia legte den Kugelschreiber aus der Hand. Es stimmte, Ulla war gekommen. „Ich bin sofort fertig“, sagte Karin. Sie warf einen schnellen Blick aus dem Fenster. „Du liebe Zeit, es schneit ja!“ „Nur ein bißchen“, meinte Ulla. „Es hört sicher bald wieder auf.“ Aber ehe Karin noch fertig war und ihre Bücher zuklappen konnte, schneite es so dicht, wie es an einem Februartag in Stockholm nur schneien kann. „Also nichts mit Schlittschuhlaufen heute“, seufzte Karin. Ulla hörte nicht zu. Sie hatte auf Karins Nachttisch eine illustrierte Zeitschrift gefunden. „Hast du das Preisausschreiben gesehen, Karin? Junge, das sind ja phantastische Preise! Erster Preis eine Flugreise nach Paris für zwei Personen – vierzehn Tage Aufenthalt – und dann eine Flugreise nach Kopenhagen – und eine nach Oslo – eine Autobusfahrt nach Lappland – nein, Karin, im Ernst, hast du dir das schon angesehen?“ „Nein“, sagte Karin, „ich hab’ kein Talent für solche Preisausschreiben – wenn’s ein sportlicher ‘Wettbewerb wäre, dann wäre ich dabei! Was soll man denn da alles raten?“ Ulla war schon in die Aufgabe vertieft. Die war ziemlich knifflig. Es sah so aus, als brauchte man hier allerlei geographische wie auch geschichtliche Kenntnisse. „Nein, so was von Frage – “ murmelte Ulla mit gerunzelter Stirn. „Hört doch bloß mal: Ein Franzose und eine Engländerin wohnen in einer deutschen Stadt. Stellen Sie die Buchstaben in seinem Namen um, dann finden Sie den ihren. Stellen Sie sie noch einmal um, und Sie haben den Namen der Stadt.“ „Das würde ich doch nie ‘rauskriegen“, sagte Karin, „und wenn ich studierte, bis ich neunzig bin.“ Claudia bat Karin, es ihr zu übersetzen. Sie war nicht ganz sicher, ob sie den Text verstanden hatte. Und dann grübelte sie darüber nach, daß es in ihren Gehirnfugen knackte, während Ulla die Aufgabe weiterlas. „Ich hab’s!“ rief Claudia. „Das muß so sein: Er heißt Jean – sie
heißt Jane – die Stadt heißt Jena!“ „Ich muß schon sagen, Grips hast du!“ rief Ulla. „Das fehlte ja nun noch, daß Claudia die Städte in ihrem eigenen Land nicht kennte“, murmelte Karin. „Laß doch mal hören, wie gut du die schwedischen kannst!“ lachte Ulla. „Aber guck mal, Claudia – hier ist die gleiche Aufgabe noch mal, diesmal ist die Frau Nordländerin und der Mann Israelit und die Stadt liegt in Afrika.“ „O je“, sagte Claudia. Diese Nuß war nicht so einfach zu knacken. Sie überlegte sich biblische Männernamen, und sie holte den Atlas herbei und forschte in Afrika, aber es dauerte lange, bis ihr eine Erleuchtung kam. „Kann der Frauenname Nora sein?“ fragte sie. „Daraus kann man dann nämlich Aron bilden – und in Nordafrika gibt es eine Stadt, die heißt Oran!“ Diesmal konnte Karin Claudias Pfiffigkeit im Denken nicht verringern. Nun saßen Ulla und Claudia über die Zeitschrift gebeugt, und Ulla las Schlüsselwort und Erklärungen so langsam vor, daß Claudia folgen konnte. „Steppe“, sagte Ulla. „Das ist doch auch ein Schlüsselwort. Steppe – wie heißt die ungarische Steppe – Pußta?“ „Es könnte auch die sibirische sein“, meinte Claudia. „Tundra!“ „Tundra – ja, halt mal – doch – da haben wir ein T – wir müssen die Anfangsbuchstaben herauskriegen, schau – hier kann ein T herpassen – famos, Claudia. Du mußt die Lösung auch einschicken!“ „Nein, das geht nicht, wir lösen sie ja zusammen“, sagte Claudia. „Ich könnte sie doch unmöglich allein finden, so wenig Schwedisch, wie ich kann.“ „Wir schicken sie zusammen ein“, meinte Ulla. „Und dann fliegen wir nach Paris!“ fügte sie lachend hinzu. Claudia und Ulla waren für alles andere blind und taub. Es machte gewaltigen Spaß! „Geburtsort einer schwedischen Königin“, sagte Ulla. „Nun mal los, Karin.das ist was für dich! Wenn Claudia die deutschen Städte kann, dann kannst du wohl die schwedischen Königinnen?“ „Usch, laß mich in Frieden mit der blöden Aufgabe“, fauchte Karin. Sie war stark davon in Anspruch genommen, neue Senkel in ihre Schlittschuhstiefel einzuziehen. „Paßt hier ein M her?“ fragte Claudia. „Wieso meinst du?“
„Ja – ich denke an Marseille – Königin Desideria, weißt du – Désirée Clary aus Marseille…“ „Ein Punkt für Claudia!“ lachte Ulla. „Aber das nächste muß ich doch wohl ‘rauskriegen: Lesen Sie einen nordischen Mädchennamen rückwärts und finden Sie den Namen eines Landes.“ Ulla schrieb reihenweise Namen auf und begann von hinten zu lesen und lachte sich schier kaputt über die Ergebnisse. Ave, Asie, Dirgni, Allu, Nirak… „Halt“, rief Claudia, „gibt es bei euch nicht einen Namen, der nur Kari heißt, ohne n – dann käme nämlich nicht Nirak, sondern Irak heraus, und dann hätten wir ein I…“ „Hurra!“ schrie Ulla. „Es stimmt – es stimmt!“ Nachdem sie ein paar Stunden so überlegt und herumgerätselt hatten, war die Aufgabe gelöst. Die letzte Stadt sollte wieder eine deutsche sein. „Zentrum für Lebkuchen und Spielzeug“, las Ulla vor, und da schoß Claudia sofort mit „Nürnberg“ heraus. Und von sämtlichen Anfangsbuchstaben sollte man den Namen eines „Fjällmassivs in Skandinavien“ bilden – und Ulla buchstabierte siegesstolz „Jotunheimen“. „Siehst du – Jena, Oran, Tundra, Uganda, Nil, Haparanda, Euphrat – ja, das muß doch der Euphrat sein, da steht ja ,fließt durch Nummer acht’ und acht ist der Irak – also: Euphrat – Irak, Marseille, Edinburgh, Nürnberg.“ „Sagt mal, wollt ihr den ganzen Tag dasitzen und Stubenhocker spielen?“ fragte Karin mißmutig. „Hat Claudia immer noch nicht ihr ganzes Wissen an den Mann gebracht?“ „Aber Karin!“ rief Ulla. „Was fällt dir denn ein?“ Da nahm Karin sich zusammen und rang sich ein Lächeln ab. „Ach, gar nichts“, sagte sie. „Es ist nur so langweilig, drinnen zu sitzen. Jetzt schneit es nicht mehr so dicht. Wollen wir nicht gehen? Schlittschuhlaufen hat keinen Zweck bei diesem Wetter, aber wir könnten ja mit den Skiern ‘rausgehen!“ Claudia wollte daheimbleiben. Sie war nicht weit genug im Skilaufen und würde die beiden andern nur hemmen. Statt dessen holte sie für Tante Helga ein. Sie ging und lächelte vor sich hin. Wenn nun Ulla und sie einen der Preise gewännen? Man stelle sich bloß mal vor – eine Flugreise – ja, wenn auch nicht gerade nach Paris, dann aber vielleicht nach Kopenhagen oder Oslo… das würde doch wahnsinnigen Spaß machen! Vielleicht würde Ulla sich auch als eine angenehme
Reisegefährtin entpuppen. Claudia kannte sie kaum. Karin hatte sie auf der Eisbahn kennengelernt. Sie gingen nicht in dieselbe Schule, und sie wußten nur sehr wenig voneinander. Es war eine ausgesprochene Sportkameradschaft und nichts weiter. Wie es wohl wäre, mit Ulla nach Kopenhagen zu fliegen? Da mußte Claudia über sich selber lachen. Ging sie nicht tatsächlich herum und nahm den Preis schon auf Vorschuß? Sie schüttelte ihren Wunschtraum ab und wiederholte vor sich selbst, was sie im Geschäft sagen mußte: „Ein Pfund grüne Erbsen, zwanzig Eier und ein halbes Pfund Speck.“ Ja, denn morgen war Donnerstag, und donnerstags ißt ganz Schweden grüne Erbsensuppe und winzig kleine Pfannkuchen mit Eingemachtem.
Mit dem Eichhörnchen auf der Schulter Tante Helga kam aus der Mangelstube herunter. In der Küche fand sie die beiden Mädchen – Karin eifrig damit beschäftigt, ihre Skistiefel mit Fett einzuschmieren und Claudia mit den Händen in der Waschschüssel. „Wie seid ihr fleißig!“ sagte Tante Helga. „Ich dachte übrigens, du seiest mit Bertil draußen, Claudia.“ „Das war ich auch“, lachte Claudia. Sie nahm die Hände aus dem Seifenschaum. „Aber dann gab es leider eine Katastrophe, und jetzt hab’ ich ihm andere Höschen angezogen und die schmutzigen gleich gewaschen.“ „Mein Sohn macht mir aber auch wirklich nur Schande!“ lachte die Tante. „Du unterstehst dich und sagst auch nur ein einziges herabsetzendes Wort über Brüderchen!“ widersprach Claudia lächelnd. „Er ist der süßeste kleine Kerl, der jemals in einer Sportkarre gesessen hat. Wenn Mutti mich mal überkriegen sollte, dann komme ich nach Schweden zurück und suche mir bei dir eine Stellung als Kindermädchen.“ „Ich finde, das bist du doch schon“, sagte Tante Helga. „Du bist eine kleine Perle, Claudia!“ „Hier werden wohl feine Zeugnisse verteilt“, murmelte Karin ein wenig verdrossen und stellte einen Stiefel ziemlich hart auf. „Ja, nicht wahr?“ sagte Tante Helga. „Claudia kann es im Skilaufen und Schlittschuhlaufen nicht entfernt mit dir aufnehmen, aber du stehst dafür im Kinderhüten hinter ihr zurück.“ „Ja, und in Schulzeugnissen und Preisausschreiben und Hosenwaschen und Vorzüglichkeit ebenfalls“, murmelte Karin. Sie nahm ihre Stiefel und verschwand in ihrem Zimmer. Claudia blickte ihr gedankenverloren nach, sagte aber nichts. Sie spülte.das Kinderzeug, wrang es aus und hängte es auf den Wäschetrockner. Was in aller Welt fiel bloß der Karin ein? „Wollen wir nicht gehen und Onkel Bo abholen?“ fragte Claudia. Es war schon zur Gewohnheit geworden, daß sie und Karin ihm samstags auf seinem Nachhauseweg vom Büro entgegengingen. Es hatte den Anschein, als wolle Karin eine abweisende Antwort geben, aber sie besann sich. „Meinetwegen“, sagte sie nur. So trabten sie denn durch die scharfe Märzsonne, die verkündete,
daß der Frühling nun nicht mehr weit sei, wenn auch hier und dort noch immer Schnee lag. Wie schweigsam Karin war. Claudia verstand es nicht. Sie hatte die Kusine doch nicht beleidigt? Sie forschte in ihrem Gedächtnis. Nein, im Gegenteil – sie hatte ihr getreulich bei ihren Schulaufgaben geholfen, sowohl im Rechnen wie in Englisch, und Karin war tatsächlich in der letzten Zeit in der Schule besser mitgekommen. Warum war Karin nur so unfreundlich. Claudia wollte so gern etwas Nettes sagen, um Karins Stimmung aufzubessern! Aber wovon sollte sie reden? Vom Sport – von Tieren – ja, von Tieren, natürlich! „Du Karin, weißt du, worauf ich mich freue? Auf Skansen; als wir in Eulenstedt waren, zeigte deine Mutter mir ein Bild von dir mit einem Eichhörnchen auf der Schulter, und sie erzählte mir so viel von Skansen.“ Tatsächlich. Jetzt hellte sich Karins Gesicht auf. „Da gibt es auch einen jungen Eisbärenl“ sagte sie. „Der ist so süß, sieht aus wie ein lebendiger Teddy. Wir können ja Papa mal fragen, ob wir morgen hingehen können.“ „Du hast aber auch ein unerhörtes Glück, Karin“, sagte Claudia, „daß du so einen famosen und guten Vater hast.“ „Ja, den habe ich!“ sagte Karin, und in ihrer Stimme lag fast ein Triumph. „Aber hast du nicht auch einen – jetzt?“ fügte sie hinzu. Claudia schüttelte den Kopf. „Mein Vater ist ja tot“, sagte sie. „Aber natürlich habe ich Onkel Peter. Doch, doch, er ist riesig nett und gut…“ Plötzlich lächelte Claudia und erzählte Karin die Geschichte vom letzten Dezember, von dem vergessenen Schlüssel und dem zerstörten Photoapparat, und wie hilfsbereit Onkel Peter gewesen war. „Das war aber riesig anständig von ihm“, sagte Karin. „Glaubst du, daß du Onkel Peter nun immer Onkel nennst? Da er doch jetzt dein Stiefvater geworden ist?“ „Wenn ich an ihn denke, nenne ich ihn immer Onkel Peter“, antwortete Claudia. „Und wenn ich ,Vater’ denke, dann denke ich an meinen richtigen Vater – wenn ich ihn auch nie gesehen habe…“ „Dann kannst du ihn doch eigentlich gar nicht vermissen?“ sagte Karin. „Nein, vermißt habe ich ihn nie“, gestand Claudia. Dann lächelte sie. Dort, ein Stück vor ihnen, kam Onkel Bo gegangen. „Bis jetzt“, fügte Claudia hinzu.
„Es ist wahrhaftig ein Segen, daß man eine Oma hat“, sagte Claudia. Wieder hatte die Oma sich erboten, Bertil zu warten, während der Rest der Familie nach Skansen ging. „Es ist viel zu anstrengend für so einen kleinen Kerl“, sagte die Oma. „Und ihr seid freier, wenn ihr nicht immer auf den Bengel Rücksicht zu nehmen braucht. Brüderchen und ich werden es uns schon gemütlich machen!“ Nun gingen sie also durch den Zählapparat auf Skansen und rollten mit der Rolltreppe nach oben – und kurz darauf stand Claudia auf einem der Aussichtspunkte, sich gegen die niedrige Mauer lehnend. Vor ihr lag die Stadt Stockholm – Stockholm in der Frühlingssonne, Stockholm mit blitzenden Gewässern und Brücken und modernen Hochbauten, mit Parks und freien Plätzen – und mit den kleinen engen Straßen, die die Vergangenheit noch krampfhaft festhalten.
Es funkelte im Kirchturm und blinkte auf den weißgestrichenen Schiffen im Hafen. So wunderschön hatte Claudia die Stadt Stockholm noch nicht gesehen. „Wart nur, bis wir etwas mehr Frühling haben“, sagte Onkel Bo. „Wenn der erste feine grüne Schleier über den Parks liegt, dann – ja dann!“
Claudia lächelte. Wenn der grüne Schleier über den Parks liegt – ja, ob sie aber um die Zeit noch in Stockholm sein wird? Ihre Gedanken wanderten immer häufiger in die Heimat. Es tat nicht mehr so weh, wenn sie daran dachte, daß sie nie wieder in die Nummer achtzehn zurückkehren würde. Während die Wochen vergingen, wuchs ihre Spannung auf das neue Zuhause immer mehr. Und sie sehnte sich nach ihrer Mutti, vielleicht auch ein kleines bißchen nach Onkel Peter. Aber schrecklich nach Mutti. „Was sinnst du vor dich hin, Claudia?“ „Nichts – ach gar nichts – “ „Komm, wir gehen zu den Eisbären!“ rief Karin in entschiedenem Ton. „Du mit deinen Tieren“, lachte Onkel Bo. „Ich finde, wir sollten Claudia jetzt erst einmal die kulturhistorischen Sammlungen zeigen! Nicht die Nase rümpfen, Karin, sie sind hochinteressant – und dann verschnaufen wir ein bißchen und trinken Schokolade, und dann mögt ihr zu den Tieren gehen, so lange ihr wollt.“ „Meinetwegen“, sagte Karin. Claudia machte große Augen. Wie groß doch dieser Park war! Und so ulkig, daß er auf einer Anhöhe lag, man ging hügelan und hügelab, ganz anders als in den Parks, in denen sie bisher gewesen war. Auf einem großen offenen Platz lag eine ganze Reihe kleiner Verkaufsbuden, mit Karten und Freimarken und allen möglichen Andenken. Und dann kamen sie zu einer alten Stabkirche, und vor dieser – „Komm mal her, Claudia“, lachte der Onkel, und Claudia ging nichtsahnerid zu ihm. Bevor sie aber begriffen hatte, was er wollte, stand sie an einen Pfahl gelehnt und mit einem eisernen Ring um den Hals. „Jetzt stehst du am Schandpfahl, Claudia“, lachte Onkel Bo. Und während Claudia, ebenfalls lachend, sich bemühte, den Eisenring loszumachen, war Onkel Bo wie ein Blitz zur Hand und machte eine Aufnahme von ihr. Endlich war Claudia wieder frei und stand da und betrachtete den Schandpfahl. „Ist es möglich, daß er ganz im Ernst benutzt worden ist?“ fragte sie erschauernd. „Und daß die Leute ihn obendrein noch vor der Kirche aufgestellt haben! Erst gingen sie in die Kirche und hörten
von Frieden und Erbarmen und Vergebung predigen, und dann kamen sie ‘raus und lachten den Ärmsten aus, der hier angekettet stand.“ „Und bespien ihn vielleicht obendrein noch“, sagte Onkel Bo. „Nein, du hast recht, es ist unbegreiflich.“ „Und das nennst du Kulturgeschichte“, sagte Claudia. „Ich nenne es Unkultur!“ „Du magst recht haben“, sagte Tante Helga. „Aber jetzt wollen wir uns die Kultur ansehen!“ Sie waren in alten schwedischen Bauernhäusern, sie sahen primitive, mittelalterliche Stuben und Küchen, sie sahen die kurzen, breiten Alkovenbetten, in denen man unmöglich liegen konnte, sondern sitzend schlafen mußte – Betten, die mit schweren, hausgewebten Vorhängen so dicht zugehängt waren, daß Claudia meinte, es müsse ganz unmöglich gewesen sein, dahinter Luft zu bekommen. „Luft?“ sagte Onkel Bo. „Danach hatten sie auch damals sicher kein Verlangen. Mit den Vorhängen mochte es vielleicht noch hingehen, aber stell dir vor, sie konnten nicht einmal die Fenster aufmachen – und dabei der Rauch von der offenen Feuerstelle!“ Claudia sah sich um, ihre Augen wanderten von einem Gebrauchsgegenstand zum andern. Die Kochgeräte, das Mangelholz an der Wand, die schwere Feuerzange, der Rocken und der Webstuhl… und dann schweiften ihre Gedanken zu Tante Helgas moderne Küche ab, mit elektrischem Herd und elektrischem Kühlschrank, mit Küchenmotor und eingebautem Bügelbrett; sie dachte an die elektrische Waschküche, die zum Hause gehörte… ja, man stelle sich vor, ein Mensch von Anno dazumal, eine Frau, die in diesem Bauernhaus gelebt hatte, kehrte plötzlich auf die Erde zurück und würde in eine moderne Küche gesteckt – die würde wohl große Augen machen. „Möcht’ mal wissen, ob unsere Wohnungen in einigen hundert Jahren ausgestellt werden“, sagte Claudia plötzlich. „Und ob die Urenkel der Enkel unserer Urenkel sonntags hier herumgehen und über das lächeln, was wir heute praktisch und modern finden.“ „Und dann sagen sie ,Nein, nun brat mir einer ‘n Storch, das soll ein Küchenmotor sein?’ – und ,nein, seht bloß, damals bereiteten sie das Essen zu, indem sie es stundenlang kochten’; das war zu der Zeit, bevor man es nur eine Sekunde bestrahlte“, sagte Onkel Bo. „Und dann schauen sie sich unsere Autos an und nennen sie
reizende, idyllische altmodische Fuhrwerke“, sagte Tante Helga. „Und über unsere Flugzeuge schütteln sie den Kopf und sagen, ja, damals hatte man noch viel Zeit, man stelle sich das vor, die fanden es ganz in Ordnung, daß man für eine Reise von Frankfurt nach Rio gute vierzehn Stunden brauchte – und dann fragen sie sich gegenseitig, wo sie in diesem Sommer hinfahren, und der eine fährt dann auf den Mars und der andere zum – zum – ja, welcher Planet ist uns am nächsten?“ sagte Onkel Bo. „Die Venus“, sagte Claudia. „Du weißt doch, Merkur, Venus, Erde, Mars, Saturn.“ „Du mit deinem Patenthirn“, sagte Onkel Bo. „Ich glaube, ich ernenne dich zum Lexikon der Familie!“ „Wozu wird Claudia eigentlich nicht ernannt?“ fragte Karin schnippisch. „Zum Sportstern“, sagte Onkel Bo. „Und zum Koch.“ „Dann gibt es also wirklich etwas, das Claudia nicht kann?“ murmelte Karin – worauf niemand antwortete… Prachtvolle Pfauen lustwandelten geruhsam auf den Wegen dahin, ohne sich durch das Publikum stören zu lassen. Wohlgenährte Gänse kamen angewatschelt und steckten vorwitzig die Schnäbel in die Taschen der Leute, Enten hüpften auf die Bänke hinauf, ja, ganz bis auf den Schoß und die Knie der dort Sitzenden, und erbettelten sich Leckerbissen. Claudia lachte, daß es gluckerte. Sie saß auf einer Bank und hielt eine Tüte mit altem Brot in der Hand. Langsam kamen die Tiere heran; eine große Gans zwickte und zwackte sie am Ärmel, zwei Kaninchen kamen angehoppelt und starrten erwartungsvoll die Brottüte an – und da –, mit einemmal zuckte Claudia zusammen. Etwas Lebendiges, Weiches, Warmes streifte ihre Wange, zwei kräftige kleine Pfoten klammerten sich an ihrer Schulter fest – weiches Fell und kleine Krallen –, ein zottiger Besen kitzelte sie im Nacken. Das Eichhörnchen! Das heißersehnte Eichhörnchen saß auf ihrer Schulter, und jetzt kam es schnell wie ein Blitz über ihre Brust gehuscht und blieb auf ihrem Knie sitzen, wo es zum Angriff auf die Brottüte überging. Claudia jauchzte vor Wonne. Da kam wahrhaftig ein zweites. Ach nein – etwas so Lustiges und Possierliches hatte sie noch nie erlebt –, ihr Herz klopfte vor Freude. Und mit einemmal fühlte sie, wie ihr die Tränen in die Augen stiegen – und zwar mit solcher Plötzlichkeit,
daß sie sie nicht zurückzuhalten vermochte. „Aber Claudia, mein Kind…“ sagte Tante Helga. Claudia lächelte durch die Tränen. „Ich weiß gar nicht, was mit mir los ist, Tante Helga – dies ist das Süßeste, was ich je erlebt habe… es ist nur so traurig, daß Mutti das nicht mit mir zusammen erleben kann –, ich kriege bloß plötzlich solch eine schreckliche, solch eine ganz schreckliche Sehnsucht nach Mutti…“ „Das nächste Mal bringst du sie mit hierher“, sagte Onkel Bo, und seine sichere, ruhige Stimme brachte Claudias Tränen zum Stillstand. „Stell dir das mal vor, wenn du zwischen deiner Mutti und Onkel Peter hier umherspazierst, und du bist dann schon mit allem bekannt und kannst ihnen alles zeigen und ihnen von alter schwedischer Bauernkultur erzählen…“ „… und Onkel Peter an den Schandpfahl stellen!“ lachte Claudia. Ihr Herz klopfte. Ja, wenn das einmal Ernst werden könnte! Wenn sie wirklich hierher zurückkehren könnte – mit Mutti und Onkel Peter –, wenn sie hier mit ihren Eltern zusammen herumgehen könnte, so wie Karin – so ganz selbstverständlich, nicht als Gast, nicht als Nichte, sondern als Tochter… Claudia lächelte. Sie hatte selber keine Ahnung, daß sie „Eltern“ gedacht hatte und nicht nur „Mutti“. Endlich wurde Karin für ihre Geduld belohnt. Sie zogen zum „Bärenhügel“ und sahen braune und schwarze Bären und standen Schlange, um den jungen Eisbären zu sehen, wie er in einem großen, grünen Wasserbecken mit einem Ball spielte. Sie gingen zu den Elchen und Renen, und zuletzt waren sie bei den Luchsen und allen Vögeln. Onkel Bo erzählte, wenn die Vögel in den riesengroßen Käfigen gefüttert würden, säße es oben auf den Käfigen immer voll von wilden Vögeln. Die hatten herausbekommen, daß hier kostenlos gefüttert wurde, und sie kamen in hellen Scharen. Keiner aber brachte es übers Herz, diese Tiere zu enttäuschen, und es war unvorstellbar, was dadurch auf Skansen an Tiernahrung verbraucht wurde. Wenn man den Vögeln die Käfige öffnete und ihnen die Freiheit schenkte, so kamen sie immer wieder zurück. Und die Tiere vermehrten sich unwahrscheinlich – was sie in Gefangenschaft nur tun, wenn sie sich wohl fühlen.
Jetzt glänzten Karins Augen, und sie sprach froh und heiter wie sonst. Sie streichelten kleine Ponys, sie blieben stehen und sahen sich die drei großen gelben Wölfe in der geräumigen Wolfsgrotte an. „Findest du sie unheimlich?“ fragte Claudia. Karin schüttelte den Kopf. „Nein“, antwortete sie, „sie tun mir leid.“ „Weil sie im Käfig sind?“ „Ich meine nicht gerade diese drei Wölfe hier, sondern überhaupt Wölfe. Sie sind so nahe mit dem Schäferhund verwandt, das kann man doch sofort sehen. Und den Schäferhund loben wir wegen seiner Klugheit und Treue, aber die Wölfe nennen wir nur feige und gefährlich. Ist doch klar, daß sie gefährlich sind, wenn sie Hunger haben. Das sind schließlich alle. Und die Wölfe sind doch Raubtiere. Es ist so eingerichtet, daß sie töten müssen, um fressen zu können.
Und sie sind bestimmt nicht feiger als Hunde! Hunde sind oft feige… es sind sicher immer nur die Ausnahmen, die mutig sind!“ „Wenn du von Tieren sprichst, Karin, dann redest du wie ein Wasserfall“, lächelte Onkel Bo. „An dem, was du da sagst, ist übrigens allerhand dran. Ich las neulich erst von einem Mann, der sich einen zahmen Wolf anstelle eines Hundes hielt, und der war sogar klug und treu.“ „Ich würde auch gern einen haben“, meinte Karin. Sie sahen noch einen Vielfraß und einen Otter – und daß sie den Otter zu Gesicht bekämen, das sei ein glücklicher Zufall, meinte Onkel Bo, denn er halte sich für gewöhnlich in einer der kleinen Grotten gut versteckt. Allmählich war es spät geworden, und trotz der Schokolade und dem Kuchen, die sie am Vormittag vertilgt hatten, hatten sie Verlangen nach einer ordentlichen Mahlzeit. „Dann müssen wir die Nasen heimwärts wenden“, sagte Onkel Bo. „Wenn ihr nämlich denkt, ich könnte es mir leisten, euch alle drei nebst meiner Wenigkeit zu einem teuren Sonntagsessen auf Skansen einzuladen, dann habt ihr falsch gedacht!“ „Wir möchten es nicht einmal“, sagte Tante Helga. „Denn Oma wartet mit einem schönen Mittagessen auf uns – laßt uns nur schnell nach Hause gehen –, es gibt heute Lammfrikassee und Apfeltorte, daß ihr es wißt!“ „Und Omas Apfeltorte!“ sagte Karin mit strahlenden Augen und leckte sich die Lippen.
„Das ist nicht in Ordnung, Ulla!“ Claudia wurde aus Karin nicht klug. Hin und wieder war sie wirklich reizend und gemütlich, sie waren lustig und kamen gut miteinander aus, und daß Claudias Hilfe ihr bei den Schulaufgaben von Nutzen war, das stand fest. Aber zu andern Zeiten, namentlich wenn Claudia von Tante Helga gelobt wurde oder wenn Bertil die kleinen Ärmchen um ihren Hals schlang und sagte „Kaudi is lieb“, verfinsterte sich Karins Gesicht, sie wandte sich schroff ab, manchmal machte sie auch eine spöttische und unfreundliche Bemerkung. Es war gerade so, als passe es ihr nicht, daß Brüderchen zärtlich mit Claudia war. Aber was konnte man denn anderes erwarten? Claudia war doch sein „Kindermädchen“ und tat nichts lieber, als ihn zu betreuen und mit ihm spazierenzugehen. Sie konnte so geduldig mit Bertil auf dem Schoße dasitzen und ihn füttern, sie zog ihn um und fuhr ihn in der Sportkarre aus, und sie amüsierte sich königlich, wenn er deutsche Worte plapperte. „Der Bengel lernt ja gar nicht seine Muttersprache“, sagte Tante Helga lachend. „Aber gerade das tut er ja“, widersprach Claudia. „Es ist die Vatersprache, die zu kurz kommt!“ Aber Bertil plapperte das wenige, was er konnte, mal deutsch und mal schwedisch ohne große Sprachprobleme. Und Claudia verstand immer, was er wollte. Karins Laune wechselte andauernd, leider war sie oftmals ganz auf dem Nullpunkt, obwohl es in der Schule voranging, und obwohl alle zu Hause gleichmäßig sanft und freundlich waren. Claudia gab sich alle mögliche Mühe, um zu Karin nett zu sein, und dennoch… dennoch – Karin gab immer häufiger scharfe und spöttische Antworten. Claudia runzelte die Brauen und war niedergeschlagen. Karin hatte sich in einen Sessel gekuschelt mit einer illustrierten Zeitschrift in den Händen. Claudia saß am Schreibpult und schrieb an Mutti. Da stieß Karin plötzlich einen kleinen Schrei aus. „Du Claudia – ich gratuliere! Ihr habt – aber was in aller Welt-“ Claudia blickte auf. „Was ist denn los, Karin?“ „Was los ist? Die größte Gemeinheit, die mir in meinem Leben vorgekommen ist, die ist los. Hör dir das an, Claudia… das Ergebnis
des Preisausschreibens ist ‘raus – den ersten und zweiten Preis überspringen wir. Aber dann kommt es: dritter Preis, Flugreise Stockholm-Oslo und zurück, mit einer Woche Aufenthalt in Norwegen, wurde von der dreizehnjährigen Ulla Lundberg gewonnen – da steht ja kein einziges Wort von Claudia Keller. Das ist doch aber hanebüchen – was Gemeineres habe ich noch nicht erlebt –, und die behauptet, sie hätte Sportgeist!“ Karin war blaß vor Zorn, im Namen der Kusine. Diese Karin – sie konnte launisch und schwierig sein, das hatte Claudia immer wieder mal zu spüren bekommen, aber ihr Sinn für ehrliches Spiel und „guten Sportgeist“, der war unfehlbar, und sie nahm immer ganz Partei für denjenigen, der übervorteilt worden war. „Du – du willst doch nicht etwa behaupten, daß Ulla die Lösung für sich allein eingeschickt hat – sieh doch noch mal nach –, steht nicht vielleicht in dem Text darunter etwas?“ fragte Claudia. Ihre Stimme klang ungläubig. Es kam ihr ganz undenkbar vor, daß ein Mensch sich mit Hilfe fremder Leistungen Ehren zuschanzte. Karin las den ganzen Text genau durch. „Nicht ein Wort“, sagte sie. „Ulla wird gelobt, weil sie die Aufgabe bewältigt hat, obwohl sie erst dreizehn ist – da steht nicht einmal, daß sie Hilfe gehabt hat! Donnerwetter, Claudia, du hättest die Lösung auf deine eigene Faust einschicken sollen!“ „Das wäre doch nicht fair gewesen“, sagte Claudia. „Ich hätte es doch nie allein geschafft. So viel Schwedisch kann ich doch gar nicht!“ „Es ist jedenfalls viel unfairer von Ulla – denn du hast ja mindestens neun Zehntel der ganzen Aufgabe ‘rausgekriegt –, das muß ich doch schließlich wissen, ich saß doch dabei und habe alles mitangehört. Na, Ulla kann sich auf was gefaßt machen, wenn ich sie sehe! Ich treffe mich morgen mit ihr in der Schwimmhalle, da werde ich ihr aber einen eiskalten Strahl in ihre falsche Fratze spritzen!“ „Immer mit der Ruhe, Karin“, sagte Claudia. „Wir müssen doch erst mal hören, was Ulla dazu sagt! Vielleicht ist es die Schuld der Redaktion – vielleicht ist mein Name aus Versehen weggefallen…“ „… und vielleicht fällt Weihnachten im nächsten Jahr auf Silvester“, sagte Karin. „O nein, du, ich durchschaue das! Ulla will die ganze Ehre für sich einheimsen. Du, komm doch mit zum Schwimmen, vielleicht trainiert sie heute dort. Wir müssen sie so bald wie möglich zu fassen kriegen und ihr eine ordentliche Abreibung verabfolgen!“ Etwas widerstrebend ging Claudia darauf
ein, Ulla aufzusuchen. Sie und Karin machten sich auf zur Schwimmhalle, aber abgesehen davon, daß sie ein erfrischendes Bad in dem großen, prächtigen Bassin nahmen, brachte der Nachmittag keinerlei Ergebnis. „Karin, eins muß du mir versprechen“, sagte Claudia. „Du darfst deinen Eltern nichts erzählen – noch nicht.“ „Das brauch’ ich gar nicht, die werden schon noch selber dahinterkommen“, meinte Karin. „Mama hat die Zeitschrift bestimmt schon gelesen.“ Es stellte sich heraus, daß Karin nicht unrecht hatte. Onkel Bo und Tante Helga waren gleicherweise empört über eine solche Lumperei. Sie wußten längst, daß Ulla die richtige Lösung nur Claudia zu verdanken hatte, und Karin hatte auch erzählt, daß Ulla gesagt hatte, sie werde die Lösung in beider Namen einsenden. „Wartet bis morgen“, sagte Onkel Bo. „Dann seht ihr ja Ulla, sagst du. Gib ihr Gelegenheit, die Sache zu erklären.“ „Ja, es wird ein Vergnügen sein, diese Erklärung zu hören“, fauchte Karin. Aber Ulla zeigte sich auch am nächsten Tag nicht in der Badeanstalt, obgleich sie mit Karin verabredet hatte, daß sie gemeinsam trainieren wollten. „Hat Ulla kein Telefon?“ fragte Onkel Bo abends. „Doch“, entgegnete Karin. „Ich läute sofort an!“ Sie ging zum Apparat, und Claudia mußte lächeln. Ihr fiel plötzlich ein, was sie gesagt hatte, als sie Tante Helga das erste Mal hatte telefonieren sehen: „Ihr habt den gründlichsten Linksverkehr, den man sich denken kann, sogar die Nummernscheibe am Telefon geht links ‘rum!“ Am andern Ende der Leitung war das Klingelzeichen zu hören – alle hielten den Atem an. Jetzt wurde der Hörer abgenommen. Und Karin sagte: „Guten Tag, Ulla. Hier ist Karin.“ Es folgte ein unverständliches Gemurmel. Dann ein Klicken. Der Hörer war aufgelegt worden. Karin schäumte vor Wut. „So eine freche Lügnerin! Denkt euch, erst antwortet sie ,Lundberg bitte’, und ich kenne doch Ullas Stimme - und hinterher sagt sie ,falsch verbunden’ und legt mir nichts dir nichts wieder auf. Was sollen wir machen, Papa?“ „Zunächst einmal, meine ich, sollten wir gar nichts machen, Karin. Du bist mir etwas zu empört. Ich kann dich wirklich sehr gut begreifen, aber ich glaube nicht, daß du dich im Augenblick für eine
sachliche und ernste Unterhaltung eignest. Dagegen meine ich, daß Claudia und ich Ulla aufsuchen sollten. Denn was sie getan hat, ist nicht mehr und nicht weniger als ein gemeiner Diebstahl.“ „Diebstahl, ja!“ sagte Karin. „Sie klaut Claudias Kopfzerbrechen bei dieser Aufgabe, und sie klaut die Ehre, die eigentlich Claudia zukommt, und den Preis klaut sie auch!“ „Das wissen wir noch nicht“, sagte Onkel Bo. „Vielleicht hat sie die Absicht, den Preis mit Claudia zu teilen. Weißt du, wann Ulla daheim zu sein pflegt, Karin?“ „Am sichersten, glaube ich, so um drei, halb vier“, meinte Karin. Am nächsten Tag Viertel nach drei läutete Onkel Bo an der Tür einer Wohnung in einer großen Mietskaserne, die am Stadtrand lag. Die Flure waren lang und die Türen alle braun, und da erinnerte sich Claudia lebhaft an Nummer achtzehn. Es dauerte etwas, bis geöffnet wurde. Blitzschnell streckte Onkel Bo die Hand aus und hielt die Tür fest. „Guten Tag, Ulla, ich hätte dich gern einmal gesprochen.“ Ullas Augen irrten hin und her. Sie stand auf dem Vorplatz, unsicher, wollte etwas sagen, bekam aber keinen Ton heraus. Sie hatte eine Küchenschürze vorgebunden und ihre Hände waren naß. Plötzlich ertönte aus der Küche ein zischendes Geräusch. „O weh, es kocht über – “, wie der Wind war Ulla in der Küche, und unterdes zog Onkel Bo Claudia in die Wohnung hinein und schloß hinter ihnen die Tür. Jetzt kam Ulla wieder. „Du bist wohl allein zu Haus?“ fragte Onkel Bo. Ulla feuchtete die Lippen an. „Ja“, sagte sie nur. „Dann finde ich, du solltest uns hereinbitten“, sagte Onkel Bo. „Wir reden dann besser miteinander, meinst du nicht?“ Wortlos öffnete Ulla die Tür zum Wohnzimmer. Sie murmelte eine Entschuldigung, weil es hier nicht besonders aufgeräumt aussah. „Ich wollte gerade Ordnung machen“, sagte sie. Claudia war sonderbar berührt.Dawar etwas an der Luft in dieser Wohnung, etwas an der Atmosphäre, in der ein Mädchen allein herumging und Ordnung machte, das Claudia rührte, etwas, das ihr so bekannt vorkam und das sie jetzt mit ganz neuen Augen sah. Dann begann Onkel Bo zu sprechen. Er fragte Ulla geradeheraus, welche Bewandtnis es mit diesem Preisausschreiben habe. „Ja – gewiß doch“; Ulla gab unumwunden zu, daß Claudia ihr
geholfen habe. „Aber…“ „Aber?“ wiederholte Onkel Bo. Ulla warf den Kopf zurück. „Es wird einem bei solchen Aufgaben doch so oft geholfen – da ist doch nichts Unehrliches dabei?“ „Nicht die Spur“, erwiderte Onkel Bo. „Aber wie war es doch gleich, Ulla – Karin meinte sich zu erinnern, daß du diese Aufgabe nie hättest allein lösen können, und daß du die Lösung sowohl in deinem als auch in Claudias Namen einschicken wolltest?“ „Ich wußte doch nicht, daß Claudia etwas daran lag – ich dachte, sie hätte nur so ein bißchen aus Spaß geholfen…“ „Höre mir mal zu, Ulla“, sagte Onkel Bo, und seine Stimme war sehr ernst. „So geht es nun nicht! Du hast Karin und Claudia in den letzten Tagen geflissentlich gemieden. Weshalb? Du hast den Hörer aufgelegt, als Karin dich gestern anläutete. Weshalb? Du hast ein schlechtes Gewissen, Ulla, und mit Recht. Was du getan hast, nenne ich Diebstahl. Du hast Claudias Arbeit gestohlen und sie als die deine ausgegeben, und du hast sogar Ehren damit eingeheimst. Als Claudia sagte, es sei unfair, für sich allein teilzunehmen, da sagtest du, ihr wolltet es zusammen tun. Aber was ist unfairer? Du hättest Claudia gleich sagen müssen, du wolltest ihren Anteil an der Lösung verwenden, und sie hätte dann dagegen deinen verwenden und für sich einschicken können. Aber das hast du nicht getan. Karin ist Zeuge. Jetzt möchte ich gern wissen, was du zu tun gedenkst! Bitte, du mußt dich jetzt äußern.“ Ullas Augen irrten wieder hin und her. Onkel Bo war ganz ruhig. Er wandte den Blick nicht von Ulla. Und Claudia fand es so gut, daß der Onkel an ihrer Statt sprach, sie fühlte sich so geborgen, weil er für sie handelte und ihr gegen diese schreiende Ungerechtigkeit Beistand leistete. Plötzlich schlug Ulla die Hände vors Gesicht und brach in Tränen aus. Sie suchte in der Schürzentasche nach dem Taschentuch, fand keins und wischte sich das Gesicht mit dem Schürzenzipfel ab. Onkel Bo und Claudia warteten. Claudias Augen schweiften in der Stube umher. Sie kam ihr so bekannt vor. Ein kleiner Schreibtisch stand drüben in einer Ecke, so unverkennbar der Schreibtisch einer Frau. Da stand ein Nähtisch, er war ein wenig offen, irgend etwas hatte sich zwischen Deckel und Kasten geklemmt, so daß der Deckel nicht zuschloß. Ein Stopfkorb stand da, voller Strümpfe. In diesem Zimmer gab es nichts, was von einem Familienvater zeugte. Alles zeugte nur von Frauen – von Frauen, die
zu viel zu tun hatten, von Frauen – nein, von einer Frau – die gezwungen war, ihr Haus zu vernachlässigen, einer werktätigen Frau –, einer angestrengten Berufsfrau. Claudias Blick schweifte weiter. Er blieb an einem kleinen Gegenstand haften, einem Gegenstand, der einen Strom des Begreifens in ihr aufwallen, einem Gegenstand, der ihr Gemüt im Nu völlig weich werden ließ, einem Gegenstand, der zu ihr zu sprechen schien, wie er dort auf dem Rand des Schreibtisches lag. „Ich habe einmal dein Leben bestimmt“, sagte der Gegenstand. „Ich war ein Teil deines Lebens. Ich habe dir sogar einen Namen gegeben. Ich gebe diesen Namen allen Kindern, die von mir abhängig sind. Du brauchst mich jetzt nicht mehr! Du hast dein Schäfchen im trocknen! Aber Ulla braucht mich. Ulla kann mich nicht entbehren. Ich bin eine Macht, wie ich hier liege. Ein kleines Stück Metall. Ein kleines, gefeiltes Stück Metall. Ein Stück kaltes Metall, das warme Mutterhände ersetzt, warme, liebevolle Mutterhände, die ein Verlangen danach haben, ihren Kindern die Tür zu öffnen. Du bedarfst meiner nicht mehr, Claudia. Du hast etwas, das viel besser ist. Du hast die warmen Mutterhände. Ulla hat nur mich – einen Schlüssel an einer Schnur.“ Claudia stand leise auf. Sie ging zu Onkel Bo hinüber. „Onkel“, sagte sie; sie sprach schwedisch, und niemals hatten die fremden Laute sich ihrem Munde so willig gefügt. „Onkel Bo, ich möchte dich um etwas bitten. Ich möchte gern mit Ulla allein sein. Würdest du so lieb sein und gehen?“ Onkel Bo schaute sie an. Dann stand er auf. „Wie du willst, Claudia“, sagte er und ging zur Wohnungstür. Claudia geleitete ihn hinaus. „Hast du Geld für die Bahn?“ „Jaja.“ „Gut. Dann fahre ich nach Haus! Auf Wiedersehen so lange.“ „Auf Wiedersehen, Onkel Bo. Ich komme bald nach. Du bist der großartigste Onkel der Welt. Vielen tausend Dank!“ Die Wohnungstür schlug hinter Onkel Bo zu. Claudia ging wieder ins Zimmer zurück, ging zu dem Sessel, auf dem Ulla saß, und setzte sich auf die Armlehne. Es war gar nicht schwer, schwedisch zu sprechen, die Wörter, die sie brauchte, stellten sich ganz von selber ein. „Ulla, höre zu“, sagte sie. Ihre Stimme klang ganz sanft und gut.
„Weine nicht mehr. Ich bin nicht böse. Alles wird wieder gut.“ „Ach du – du verstehst ja nicht…“ schluchzte Ulla. Da reichte Claudia ihr das eigene, saubere Taschentuch, wie Onkel Peter es einmal in Wederholms Warenhaus getan hatte. „Doch, Ulla, ich verstehe. Du und deine Mutter, ihr lebt allein, nicht wahr?“ „Ja -?“ Es war ein fragendes kleines „Ja“. „Deine Mutter ist sicher furchtbar müde, wenn sie abends nach Hause kommt?“ „Ja“, flüsterte Ulla. „Meine Mutter ist Verkäuferin“, fügte sie hinzu. Claudia nickte. „Dann hat sie schlimme Füße, wenn sie nach Hause kommt, nicht wahr, und die tun sehr weh?“ fragte sie. „Und vorgestern sah sie in der Zeitschrift, daß du den dritten Preis gewonnen hast, und da hat sie sich furchtbar gefreut, nicht wahr – und dann hat sie gesagt: ,Denk nur, Ulla, jetzt kannst du deine Mutter zu einer Flugreise einladen.’ – War es nicht so?“ Ulla nickte. Sie richtete die verweinten Augen mit einem fragenden Ausdruck auf Claudia. „Und du wolltest diese Reise so schrecklich gern mit deiner Mutter zusammen machen – und es hat dich gewurmt, daß du gezwungen sein solltest, den Preis mit mir zu teilen – und da sagtest du ,ja’ zu deiner Mutter, und du würdest diese Reise nach Norwegen sehr gern mit ihr zusammen machen…“ „Ja, Claudia, aber…“ „Und so hast du vielleicht auch in deinem tiefsten Innern gedacht, als du die Lösung einschicktest. Das hast d*t gedacht, wußtest aber vielleicht selber gar nicht, was du dachtest.“ „Ja – genauso war es, Claudia – aber wer hat dir denn das alles erzählt?“ Da lächelte Claudia. Sie streckte die Hand nach dem Schlüssel auf dem Schreibtisch aus, sie ließ ihn vor Ullas Gesicht baumeln. „Der da“, sagte Claudia. Ulla hatte die rotverweinten Augen gebadet. Jetzt saß sie Claudia gegenüber und richtete den Blick auf sie. „Bist du auch wirklich nicht böse?“ fragte sie. „Nein, Ulla, keine Spur.“ „Aber die Oslo-Reise mit dem Flugzeug…“ „Die gehört mir. Das stimmt. Aber ich schenke sie dir! Ich schenke sie dir, damit du sie deiner Mutter schenken kannst.“
„Ja, aber Claudia…“ „Ich tu’ es furchtbar gern, Ulla. Ich finde es wirklich wunderschön, daß du diese Reise mit deiner Mutter machen kannst.“ „Ja, aber du selber…?“ Da lächelte Claudia, es war ein großes und glückliches Lächeln. „Mit mir hat’s keine Not“, sagte sie. „Ich kann ein andermal so eine Reise machen. Mit meiner eigenen Mutter. Und mit Onkel Peter.“ Es entstand eine kleine Pause. „Was wirst du zu Karin sagen?“ „Du hättest zugegeben, daß es häßlich von dir war, und sonst sage ich nur, daß wir uns wieder versöhnt hätten und alles o. k. wäre. Denn das ist es doch, Ulla, nicht?“ Da lächelte Ulla mit zitternden Lippen, ganz wenig. „Du bist wunderbar, Claudia“, sagte sie. „Nein“, sagte Claudia. „Ich bin nur ein – ein… ehemaliges Schlüsselkind!“ „Ich muß aber jetzt gehen“, sagte Claudia. „Sie machen sich sonst noch Sorgen meinetwegen.“ „Und ich muß die Wohnung in Ordnung bringen“, sagte Ulla. „Der Staub liegt hier drinnen fingerdick, und ich habe noch einen Berg schmutziges Geschirr in der Küche stehen.“ „Eins mußt du noch tun“, sagte Claudia. „Mach ein lauwarmes Fußbad für deine Mutter zurecht. Nichts ist so gut, wenn man mit schmerzenden Füßen nach Hause kommt.“ „Das werde ich aber bestimmt tun“, sagte Ulla. Claudia zog den Mantel an und öffnete die Wohnungstür. Sie war schon draußen und wollte die Tür eben hinter sich zuschlagen, da steckte sie noch einmal den Kopf durch den Türspalt und lächelte. „Mit Fußsalz darin!“ sagte sie. Und dann fiel die Tur hinter ihr ins Schloß.
Claudia geht ein Licht auf Claudia klappte das Englischbuch zu. Sie war mit der „Schulaufgabe“ des Tages fertig – der Schulaufgabe, die sie sich selber aufgab und die sie gewissenhaft jeden Tag machte. Sie hatte sich bis jetzt sehr gut auf eigene Faust weitergebracht. Nur in Mathematik – da könnte sie einen Lehrer ganz gut brauchen. Uiid wie lange war es her, seit sie einen Aufsatz geschrieben hatte! Sie würde sicher tüchtig nachholen müssen, wenn sie erst wieder in der Schule war! Wie weit sie wohl in der Klasse gekommen waren? Übermorgen war Sonntag. Da würde vielleicht die ganze Klasse einen Ausflug mit Fräulein Röder machen! Daheim war jetzt Frühling. Vielleicht blühten schon die weißen Buschwindröschen. In den Gärten war der Rasen blau von Krokus, und die Obstbäume hatten bereits Knospen. Claudia blickte aus dem Fenster. Es tropfte und rieselte von den Dächern. Immer noch lagen an vielen Stellen Schneeklumpen, und die Luft war scharf und kalt. April – April mit Regen und Sonne und mit heftigen Frühlingsstürmen. April in Schweden. April im Norden. Daheim war Frühling… Was sie wohl am kommenden Sonntag unternehmen würden? Am vorigen Sonntag war Claudia mit Onkel und Tante und Karin in Uppsala gewesen. Sie hatten sich den Dom angesehen und in einer ulkigen kleinen Studentenkneipe etwas gegessen. Und Onkel Bo hatte vom studentischen Leben und den studentischen Sitten in dieser alten, traditionsreichen Stadt erzählt. Onkel Bo und Tante Helga waren unvergleichlich. Sie hatten es sich wirklich angelegen sein lassen, daß Claudia in Stockholm und Umgebung zu sehen bekam, was zu sehen sich verlohnte. Claudia sah auf die Uhr. Jetzt würde Tante Helga wohl gleich in die Stadt gehen, und Claudia sollte Brüderchen ausfahren. Sie zog ihm den kleinen, blauen Mantel an, die Gamaschenhosen, stülpte ihm die Strickmütze über und die Fäustlinge auf die Hände. Sie zog sich selbst auch warm an. Diese Frühlingsluft sei gefährlich, sagte Tante Helga. Bertil plapperte und schwatzte deutsch und schwedisch durcheinander, und Claudia rollte die Sportkarre in den Park. Hier
durfte Brüderchen auf seinen dicken Beinchen herumstrampeln, hier fütterten sie die Enten und hatten riesig viel Kurzweil. Claudia gab auf Bertil acht, aber ihre Gedanken waren anderswo. Ihre Gedanken waren daheim bei Mutti. Claudia sehnte sich nach ihrer Mutter – so gut sie es auch hier bei Tante Helga und Onkel Bo hatte. Sie dachte auch an Karin. Karin war jeden Nachmittag fort, sie trainierte in der Turnhalle. Sobald das Wetter etwas wärmer wurde, wollte sie anfangen, draußen zu trainieren, für die Sportveranstaltungen im Sommer in der Leichtathletik. Karin hatte eine neue Freundin, mit der sie früh und spät zusammen war. Die hieß Hillevi und war Juniorenmeisterin im Hochsprung und Diskuswerfen. Außerdem sammelte sie Filmbilder, und Karin tat desgleichen. Die ganze Wand über Karins Bett hing voll von Filmhelden und platinblonden Filmschönheiten. Claudia hatte sich so völlig in ihren eigenen Gedanken verloren, daß sie nicht gemerkt hatte, wie der Himmel sich überzog. Es kam ihr erst zum Bewußtsein, als ihr ein Regentropfen auf die Nase fiel. Ach du liebe Zeit – Brüderchen wurde jetzt patschnaß. In größter Eile schnallte sie ihn in der Sportkarre fest, und dann ging es in vollem Galopp nach Hause. Bertil war unmutig, er weinte vor sich hin und fror. Tante Helga war noch nicht zurückgekommen. Claudia lächelte, als sie die Wohnungstür aufschloß. An den Vormittagen, wenn sie mit Bertil draußen war, hatte sie den Schlüssel mit. Aber sie trug ihn nicht mehr um den Hals. Er lag wohlverwahrt in ihrer Tasche, und die Tasche hatte einen Reißverschluß. Claudia zog Bertil die nassen Kleider aus, hängte sie zum Trocknen auf und zog ihm von oben bis unten neue Sachen an. Sie gab ihm einen Zwieback, an dem er knabbern konnte, und dann herrschte wieder eitel Ruhe und Frieden. Sie war gerade damit beschäftigt, Nystan etwas Milch einzufüllen, als Tante Helga kam. „Du, Claudia“, lachte die Tante, „ich glaube wirklich, ich unterschlage dich deinen Eltern. Ich kann dich überhaupt nicht mehr entbehren!“ Claudia lächelte. „Fein, daß du das sagst, Tante Helga, aber einmal muß ich ja nach Hause zu Mutti.“ „Das wirst du wohl müssen“, seufzte Tante Helga. „Hallo, da
haben wir ja Karin schon!“ Es hatte zweimal geschellt, und Tante Helga ging, um zu öffnen. „Nun, mein Herz, wie ist es in der Schule gegangen?“ fragte sie. „Gut“, sagte Karin. „Ich bin zum Glück nicht drangekommen“, fügte sie hinzu. „Mama, ich fahre morgen zum Wochenende weg. Hillevi fährt zu ihrer Großmutter nach Sigtuna und hat mich eingeladen, mitzukommen. Gleich morgen von der Schule, und Sonntag abend kommen wir wieder.“ „Das ist aber reizend für dich, mein Kind“, sagte Tante Helga. „Ach Claudia, ich hab’ vergessen, Zucker mitzubringen – würdest du so freundlich sein und mir schnell noch welchen holen – gleich hier unten an der Ecke? Du wärst ein Engel, Claudia.“ „Das kann ich doch auch tun“, sagte Karin, aber ihre Stimme klang nur hart vor Trotz. „Da hast du allerdings recht“, meinte Tante Helga. „Es ist mir ganz zur Gewohnheit geworden, Claudia um alles zu bitten.“ „Das merke ich“, sagte Karin, machte kehrtum und verschwand in ihrem Zimmer. Claudia nahm schweigend das Einkaufsnetz vom Haken und ging. Es machte immer solche Freude, Tante Helga kleine Gefälligkeiten zu erweisen – warum konnte Karin es nicht leiden, daß sie, Claudia, es tat? Karin hatte doch die Schule und die Aufgaben und all ihren Sport, sie hatte ja doch keine Zeit, der Mutter zu helfen. Claudia seufzte. Am Samstag vormittag machte Tante Helga die Wohnung sauber. „Weißt du was, Claudia“, sagte sie, „wir nutzen die Gelegenheit aus, während Karin fort ist, und machen bei euch drinnen gründlich sauber. Wollen wir? Hilfst du mir dabei?“ „Und ob ich dir helfe“, sagte Claudia, und dann nahmen sie mit Staubsauger und Besen und Lappen die Reinigung des Zimmers in Angriff. Claudia nahm alle Bücher aus dem Bord und saugte sie ab, eins nach dem andern. Zuhinterst auf dem Bord kam ein Buch zum Vorschein, das sie noch nie gesehen hatte. Ein kleines Buch in braunem Ledereinband, mit dem Wort „Dagbok“, also „Tagebuch“, in goldenen Lettern auf dem Deckel. Claudia lächelte ein wenig. Sie hatte keine Ahnung, daß Karin ein Tagebuch führte. Sie legte es beiseite und begann in den Ecken des Bords zu saugen. Da fiel ihr ein, was sie einmal, als sie noch klein war und Mutti
damit überraschen wollte, daß sie überall staubsaugte, für einen großen Kohl gemacht hatte. Sie mußte lachen, und Tante Helga, die eben mit dem Scheuereimer zur Tür hereinkam, fragte, worüber sie lache. Claudia erzählte. Sie hatte den Schlauch in das verkehrte Ende des Staubsaugers gesteckt, so daß die Luft ausblies anstatt angesogen zu werden. Und sie war über alles hinweggefahren, was auf Muttis Schreibtisch an Briefpapier und andern Kleinigkeiten herumlag und hatte nicht begreifen können, wieso der Staub nur aufgewirbelt und nicht eingesogen wurde! Tante Helga lachte, und Claudia lachte, und der Staubsauger brummte, und so hörten sie beide nicht, daß die Tür ging. Sie merkten es erst, als sie Karins Stimme hinter sich vernahmen. Karin hatte heute einen Schlüssel mitbekommen, da es ungewiß war, wann sie nach Hause kommen würde. „Was zum Kuckuck tut ihr bei meinen Sachen?“ Claudia drehte sich um. „Nanu, Karin, bist du denn nicht in Sigtuna?“ „Das hattet ihr euch wohl so gedacht, ja! Und deshalb kramt ihr in allen meinen Sachen. Worüber lacht ihr denn so?“ Karins Augen irrten im Zimmer umher. Sie erspähte den kleinen Lederband. „Was hast du mit meinem Tagebuch vor, Claudia? Lacht ihr etwa darüber? Mein Tagebuch geht dich nichts an, daß du es weißt! Und ihr könnt gefälligst meine Sachen in Ruhe lassen!“ „Keine Menschenseele hat dein Tagebuch angerührt, Karin“, sagte Tante Helga ruhig. „Wir machen hier sauber, und wir haben anderes zu tun, als in deinen Sachen zu schnüffeln. Wir…“ „Wir und wir – immer sagst du, ,wir’ von dir und Claudia – ihr tut euch bloß gegen mich zusammen – aber es ist ja gut, daß ich das weiß! Ich hatte meine Zahnbürste vergessen, darum bin ich noch mal nach Hause gekommen –, aber ich geh’ schon wieder, dann könnt ihr weiter die Köpfe zusammenstecken und lachen – lacht ruhig über mich. Ich bin keine Leuchte in der Schule und kein Tugendbolzen, ich bin nicht unentbehrlich wie Claudia – mich brauchst du nicht mehr, Mama!“ Die Tür knallte hinter Karin zu. Da legte Tante Helga den Lappen aus der Hand und ging ihrer Tochter nach. Claudia blieb mitten im Zimmer stehen. Das Weinen saß ihr im Halse. Oh, wie war das ungerecht – wie niederträchtig von Karin – und was für ein Quatsch alles, was sie sagte –, sie mußte doch wissen, wie unsagbar lieb Tante Helga sie hatte. Tante Helga hatte
doch in ihrem Herzen Platz für alle, und Karin konnte es doch wohl ertragen, daß Claudia auch ein Plätzchen dort innehatte – sie hatte Karin auch nicht eine Handbreit Platz weggenommen… „Mich brauchst du nicht mehr – “ In diesen Worten kam ihr irgend etwas so bekannt vor. Wann hatte sie die doch zuletzt gehört? Mit einem Male wurde Claudia glühend rot. Sie selbst war es ja gewesen, die sie ausgesprochen hatte! Es war in der Weihnachtsnacht gewesen, als sie erfuhr, daß Mutti und Onkel Peter heiraten wollten. „Du brauchst mich nicht mehr, Mutti“, hatte sie damals gesagt. Oh, wie sie sich schämte – wie sie sich schämte! Wie hatte sie nur so dumm und so blind sein können! Tante Helga kam wieder ins Zimmer zurück. Sie war ganz ruhig und gelassen. „Arme Karin“, sagte sie. „Es ist nicht schön, wenn man es sich selber so schwer macht.“ „War sie noch böse; Tante Helga?“ „Aber nein. Sie war überhaupt nicht böse, Claudia. Nur unglücklich. Aber ich denke doch, daß ich sie getröstet habe. Sie war jedenfalls wieder ganz ruhig und vergnügt, als sie jetzt ging. Ich glaube, es ist ihr klar, daß – daß – “ Tante Helga stockte plötzlich. Das war noch nie vorgekommen. Da mußte Claudia lächeln. „Daß du sie lieber hast als mich“, lachte sie. „Und das willst du nicht laut sagen, Tante Helga?“ „Es kam mir plötzlich so lieblos vor“, lächelte Tante Helga. „Denkst du, ich sei so furchtbar dumm?“ fragte Claudia. „Das begreif ich doch, daß eine Mutter ihre eigenen Kinder am liebsten hat!“ Es war Abend. Claudia lag allein in ihrem und Karins gemeinsamen Schlafzimmer. Um sie herum war alles sauber und frisch und ordentlich. Das Fenster stand angelehnt, und die kühle Abendluft strich herein. Aber Claudia konnte nicht einschlafen. Sie war allein, und sie genoß es, allein zu sein. Sie hatte ein Bedürfnis danach. Sie mußte nachdenken – alles das durchdenken, was ihr an diesem Tage klargeworden war. Karin war eifersüchtig. Schlecht und recht eifersüchtig! Aber da war noch etwas anderes, und das war viel, viel schlimmer: Es war ja
genau das gleiche, was auch mit ihr los gewesen war. Eifersucht war es gewesen, was sie damals im Winter gepeinigt hatte. Eifersucht auf Onkel Peter – diesen guten, freundlichen Onkel, der nur ihr Bestes wollte. Ja, so schlecht und selbstsüchtig war sie gewesen, daß sie sich gefreut haben würde, wenn Mutti gesagt hätte: „Claudia, ich heirate doch nicht, wir werden weiterhin so leben wie bisher.“ Es wäre so logisch, so richtig gewesen, wenn sie damals Mutti gesagt hätte: „Mutti, eines Tages werde ich vielleicht heiraten. Eines Tages werde ich dich verlassen müssen. Ich freue mich, daß du dann nicht allein sein wirst.“ Und dann hätte sie mit einer aufrichtigen Freude Onkel Peter willkommen heißen müssen! Vielleicht würde es in wenigen Jahren – vielleicht schon in sechs bis sieben Jahren – so weit sein, daß Claudia sich selbständig machte. Hätte Mutti auf ihr Glück verzichten sollen, um noch diese wenigen Jahre mit Claudia allein zu verbringen, weil es ihrem verwöhnten Fräulein Tochter so paßte? O pfui, pfui, wie abscheulich und schlecht war sie gewesen! Liebe, gute Mutti. Mutti, die immer müde war, Mutti, die fast nie in ihrer eigenen Wohnung sein konnte. Mutti, die jung war und hübsch, und die nie einen guten Mann gehabt hatte, der ihr die Steine aus dem Wege räumte, für sie dachte und handelte – so wie es Onkel Bo für Tante Helga tat. Jetzt wußte Claudia auf einmal, was sie damals hätte tun müssen. Sie hätte zu Onkel Peter sagen müssen: „Ich bin so froh, daß du dich meiner Mutter annehmen willst – wir wollen es ihr miteinander schön machen, das können wir beide am allerbesten, weil wir sie liebhaben!“ Aber es war nicht zu spät! Ach, Gott sei Dank, es war noch nicht zu spät. Daheim saß Mutti und sehnte sich nach ihr. Der Teil von Muttis großem, warmem Herzen, der Onkel Peter gehörte – der war glücklich, denn sie hatte Onkel Peter um sich. Aber der Teil, der Claudia gehörte, der hatte Sehnsucht, der brannte vor Sehnsucht!… Mit einem Satz war Claudia aus dem Bett. Sie machte geräuschlos das Fenster zu und hüllte sich in ihren warmen Bademantel. Dann knipste sie die Lampe auf Karins Schreibpult an. Und zum erstenmal in ihrem dreizehnjährigen Leben verbrachte Claudia Keller die Nachtstunden damit, einen Brief zu schreiben. Die Worte flossen ihr nur so aus der Feder – sie schrieb so rasch, so rasch – es hatte Eile – oh, wie sehr es Eile hatte…
Mutti, meine allerliebste Mutti, ich möchte nach Hause! Liebste Mutti, ich habe solche Sehnsucht nach Dir, und ich sehne mich auch nach Onkel Peter. Und ich möchte so gern wieder in die Schule. Glaubst Du nicht, daß ich versetzt werde, auch wenn ich so lange gefehlt habe? Onkel Peter sagte, als ich wegfuhr, ich brauchte nur zu schreiben, wann ich nach Hause wollte, dann würdet Ihr mir die Fahrkarte schicken. Seid doch so lieb und tut das jetzt, ich möchte so gern Ostern nach Hause! Alle hier sind lieb zu mir, Mutti, das hat gar nichts damit zu tun. Und Nystan und Bertillein werde ich bestimmt sehr vermissen. Karin auch, aber nicht so sehr wie Bertil, denn den habe ich jetzt drei Monate täglich versorgt. Ich freue mich schrecklich darauf, nach Hause zu kommen, und ich weiß, alles wird so schön, aber trotzdem – Du und Onkel Peter, Ihr habt einander, und ich muß daran denken, wie schön es doch wäre, wenn ich Bertil in den Koffer packen und mitnehmen könnte. Ich könnte fast neidisch sein auf Karin, daß sie ein Brüderchen hat! Aber eine Muschi können wir uns doch anschaffen, Mutti? Du verstehst, ich muß irgendwas haben, das ich umsorgen kann, irgend jemanden, auf den ich aufpassen darf! Früher habe ich Dich umsorgt, hier umsorge ich Bertil – aber zu Hause habe ich nichts zum Umsorgen! Meine Mutti, ich müßte Dir eine Menge erzählen. Eine Menge Dinge, die ich früher nicht verstanden habe. Aber das ist zu lang zum Schreiben. Ich möchte Dir nur eins sagen: Ich freue mich so, daß wir Onkel Peter haben. -Denn ich weiß es jetzt, ein Heim ist kein richtiges Heim ohne einen Familienvater. Ich habe ja gesehen, wie Onkel Bo alles regelt und erledigt, was schwierig ist. Er gibt uns Ratschläge und hilft uns, ob es nun ein Nagel ist, der eingeschlagen werden muß, oder ob ein Geburtstag gefeiert werden soll oder einem ein Preis gestohlen wird, den man gewonnen hat – Du weißt, die Geschichte mit Ulla. Onkel Bo weiß immer Rat, und hätten wir nicht Onkel Peter, würde ich mich sicher oftmals hilflos fühlen. Meine liebe Mutti, schreib bald, schreib schnell, schreib sofort – denn ich habe solches Heimweh, daß ich das Gefühl habe, ich kann es gar nicht mehr aushalten – am liebsten würde ich mir Flügel anschnallen und geradewegs zu Euch nach Hause fliegen! Es ist jetzt ein Uhr nachts. Ich stelle den Wecker auf sechs. Und dann schleiche ich mich aus dem Haus und nehme die Straßenbahn zur Zentralstation und werfe den Brief da ein, dann geht er mit dem
ersten Zug mit. Tausend innige Grüße an Dich und Onkel Peter, Dir eine große Umärmelung, meine liebe, liebe Mutti, von Deiner sehnsüchtigen Claudia Es klingelte an der Tür, und Claudia öffnete. „Eingeschriebener Eilbrief an Fräulein Claudia Keller“, sagte der Postbote, der draußen stand. „Das bin ich“, sagte Claudia und quittierte mit zitternder Hand. Ein langer, dicker Umschlag wurde ihr ausgehändigt, mit rotem Expreßzettel in der einen Ecke und blauer Luftpostmarke in der andern, und außerdem mit dem rot-weißen Einschreibstreifen. Sie riß den Brief auf. Zwei engbeschriebene Blätter – eins mit Muttis Schrift, eins mit Onkel Peters. Und dann ein langes, schmales Heft mit drei blauen Buchstaben: S.A.S. Was, um Himmels willen, war denn das? Sie blätterte in dem Heft. Da stand etwas auf Englisch geschrieben, und was gedruckt war, das war auch englisch. Ganz unten stand ihr eigener Name: Miss Claudia Keller. Und was stand da noch… Complete route this ticket… valid until… und da, mit Durchschlag geschrieben: , From Stockholm To Copenhagen To Hamburg… Da ging Claudia ein Licht auf. Es war eine Flugkarte! Sie durfte nach Hause fliegen!! Das Herz schlug ihr so sehr, daß sie meinte, es hören zu können, und sie las Onkel Peters Brief zuerst: Liebe Claudia, Du bist mir schon ein Mädchen! Nun laß uns nicht länger warten! Wir vermissen Dich grenzenlos, und wir können unter keinen Umständen mehr warten, bis der trödelige Zug mühsam viele Schienenkilometer hinter sich gebracht hat. Erhebe Dich in die Lüfte, Claudia, hier ist die Flugkarte! Du wendest Dich an das S.A.S.-Büro in Stockholm, Adresse ist Flygpaviljongen, Nybroplan, und gibst Bescheid, wann Du fliegen möchtest, dann wird das Datum in die Karte eingetragen, und Dir wird die genaue Abfahrtszeit angegeben. Dann telegrafierst Du sofort an uns. Es geht ein Flugzeug täglich um 13.50 von Stockholm ab, außer sonntags. Du bist in Kopenhagen um 15.30, dort hast du eine halbe Stunde Aufenthalt. Um 16 Uhr geht ein Flugzeug weiter nach Hamburg, und dort rollst
Du um 17.10 auf dem Flugplatz ein… dort wird Mutti Dich erwarten. Und wenn Du ganz vernünftig bist, dann fährst Du Samstag, dann kann ich auch da sein, mit der Kaffeemühle, und dann fahren wir im Wagen nach Hause – kommst Du an einem andern Tag, so müßt ihr den Zug nehmen. Recht gute Reise, Du kannst Dich auf den Flug freuen, es ist die schönste Form des Reisens überhaupt. Willkommen daheim! Dein Onkel Peter Dann nahm Claudia Muttis Brief vor. Meine allerliebste Claudia! Eine solche Freude habe ich nicht gehabt, so weit ich zurückdenken kann. Ich zähle die Tage und Stunden, bis ich mein kleines Mädchen wieder bei mir habe. Und dann muß ich Dir etwas erzählen, Claudia. Etwas, von dem ich weiß, daß es Dich freut. Ich war mir nicht so ganz sicher, wie Du es aufnehmen würdest, aber nach Deinem Brief jetzt weiß ich es. Liebe kleine Claudia, Du bekommst etwas, das Du hegen und pflegen und umsorgen kannst. Nicht nur ein Kätzchen – das sollst Du auch haben, wenn Du nicht lieber einen Hund haben möchtest – aber etwas anderes – etwas viel, viel Schöneres!… Es kommt nicht vor Weihnachten, aber dann bekommst Du es auch ganz bestimmt. Du wirst einen kleinen Bruder bekommen, Claudia. Oder vielleicht wird es eine kleine Schwester. Und ich kann Dir nicht sagen, wie schön es für mich ist, wenn ich daran denke, daß das Kindchen, das uns geschenkt wird, nicht nur von einem stolzen Vater und einer glücklichen Mutter in Empfang genommen wird, sondern auch von einer glücklichen, liebevollen und tüchtigen großen Schwester! Claudia, weißt Du noch – damals, vor langer, langer Zeit, als Du mich batest, ich möchte Dir erzählen, wie es in Wirklichkeit sei? Das tat ich, und ich werde nie vergessen, was Du damals sagtest. Du legtest die Arme um meinen Hals und sagtest: „Das ist das schönste Märchen der Welt, und Gott selber hat es gedichtet.“ Das schönste Märchen der Welt, das erlebe ich jetzt zum zweitenmal, Claudia. Und ich freue mich so, daß ich in dieser Zeit mein kleines Mädchen um mich haben werde!
Ich werde jetzt die ganze Zeit am Fenster stehen und nach dem Telegrafenboten Ausschau halten. Laß mich nicht zu lange warten! Willkommen daheim, mein Kind – willkommen daheim bei Deiner glücklichen Mutti Claudia saß ganz still mit Muttis Brief in der Hand. Die Tränen kullerten ihr über die Wangen, unaufhörlich. Und so fand Tante Helga sie. „Liebe Claudia… was ist denn – ist etwas Schlimmes geschehen…“ Da schluckte Claudia, und das Lächeln schimmerte durch die Tränen, wie die Sonne im April durch die Regenwolken bricht: „Nein, Tante Helga. Es ist etwas Schönes. Und ich freue mich so – ich freue mich so schrecklich!“ Am selben Abend läutete es an der Tür von Herrn Peter Brodersen. „Anita, das Telegramm!“ Mutti machte es auf: Ankunft Hamburg nächsten Samstag 17.10. Ich freue mich so, Claudia Mutti lachte. „Meine Tochter ist im Telegrammstil noch nicht bewandert“, sagte sie. „Sie weiß noch nicht, daß man nur die notwendigsten Worter telegrafiert und die weniger wichtigen wegläßt. Daß sie sich freut...“ „Weniger wichtig?“ unterbrach sie ihr Mann. „Nennst du das weniger wichtig? Es ist doch das Wichtigste von allem!“
Heimwärts Claudia drehte sich oben auf der Treppe um und winkte noch einmal zurück. Hinter einer Glasscheibe konnte sie sie sehen – Onkel Bo und Tante Helga und Karin, ja, sogar Brüderchen war mitgekommen. Alle hatten sie Claudia zum Flugplatz Bromma begleitet, alle hatten ihr geholfen, Onkel Bo hatte den schweren Koffer getragen, bis ein höflicher und dienstbeflissener Flugplatzangestellter in Uniform ihn an sich genommen hatte. Jetzt war ihr Gepäck im Bauch des großen Vogels, der sie gen Süden bringen sollte, verschwunden. Claudia selbst war die schmale, steile Treppe nach oben gestiegen, die in den Passagierraum führte. Dort oben stand ein lächelndes junges Mädchen in blauer Uniform und nahm Claudia den Mantel ab. Und nun hatte Claudia sich also umgedreht und noch einmal gewinkt, ehe sie im Innern des silbernen Vogels untertauchte. Sie hatte einen Fensterplatz und schaute hinaus – tatsächlich, da standen sie noch immer –, Claudia winkte und winkte hinter der kleinen Fensterscheibe, und jetzt hatte Karin sie entdeckt und winkte wieder, lächelnd und lieb und vergnügt. Ja, jetzt war alles gut. Tante Helga hatte das abscheuliche Eifersuchtsgespenst aus Karins Bewußtsein vertrieben. Karin war wieder zur Vernunft gekommen. Und da stand sie fröhlich und glücklich zwischen den Eltern, und Bertil saß auf Onkel Bos Arm und winkte ebenfalls. Die Motoren begannen zu brummen. Über der Tür zum Führerraum leuchtete ein Schild vor Claudia auf: „Fasten seat belt.“ Claudia suchte nach dem Gurt, aber da kam schon die Stewardeß und war ihr behilflich. Claudia schaute sich um. Nein, wie riesig groß doch so ein Flugzeug war! Und so hübsch mit den bequemen Sesseln, mit Rot bezogen – und alles Holz war hellbraun auf Hochglanz poliert – es machte den Eindruck, als sitze man in einem großen, eleganten Autobus. Das Flugzeug war fast voll besetzt. Hier saßen Herren und lasen die Zeitung, dort saßen ein paar Mütter mit kleinen Kindern – und drüben auf der andern Seite des Mittelganges saß eine alte Dame, um die die Stewardeß sich besonders kümmerte.
Jetzt fuhren sie über die Startbahn, wendeten, ließen das große, weiße Gebäude hinter sich – fuhren und fuhren… was hatte doch Onkel Bo gesagt – ein Flugzeug muß immer gegen den Wind aufsteigen, genau wie ein Vogel. Jetzt blieb es am Ende einer langen, unendlich langen Bahn stehen. Und jetzt brausten die Motoren auf, eine siegesstolze Melodie, die davon berichtete, welche Kraft ihnen innewohnte, wie sicher und gleichmäßig sie alle diese Menschen in die blaue Frühlingsluft hinaufheben und sicher in den Hafen bringen würden. Vorwärts – schneller – schneller – jetzt jagten sie an dem weißen Gebäude vorüber – und jetzt – jetzt hob sich der schwere Vogel – höher – höher – nein, um Gottes willen, jetzt lag die Erde ganz schief vor ihr –, ganz schief. Claudia kniff die Augen zusammen. Dann mußte sie lachen. Das Flugzeug machte ja nur eine Kurve! Jetzt richtete es sich wieder gerade, stieg noch mehr – jetzt ging es in Fluglage – die leuchtenden Buchstaben verlöschten, jetzt durften die Passagiere die Sicherheitsgurte wieder abschnallen. Claudia preßte die Nase an der Scheibe flach. Unter ihr lag glitzerndes Wasser, das war der Mälarsee – erst jetzt konnte sie so richtig alle Ufer und Buchten sehen –, ach, wie schön er war! Aber bald blieb der Mälar zurück, jetzt kamen sie über Äcker und Wiesen, die Erde dort unten sah aus wie ein Schachbrett, so hübsch und regelmäßig waren die Vierecke der Felder. Dort unten – ach, dort unten –, da lief wie ein schmales weißes Band eine Straße dahin, und winzig kleines Gewürm bewegte sich darauf vorwärts. Gleich darauf sah Claudia, wie in einem dünnen, glänzenden Faden die Sonne auffunkelte. Es dauerte einen Augenblick, bis sie erkannte, daß es ein Schienenstrang war. Vielleicht war es derselbe, auf dem sie entlanggefahren war, als sie nach Stockholm reiste? O, wie weit lag das zurück im Grunde! Ihr war jetzt leichter ums Herz. Sie war so von Glück erfüllt, so von Freude und Dankbarkeit beseelt! Irgend jemand tippte ihr auf den Arm. Eine der beiden Stewardessen stand mit einem Tablett in der Hand. Ein Kissen wurde Claudia auf den Schoß gelegt, und auf dies wurde das Tablett mit himmelblauem Bakelit-Service gestellt. Die Stewardeß fragte etwas, das Claudia nicht verstand. Vielleicht war die Stewardeß Dänin? Claudia sagte: „Wie bitte?“ und sofort ging das junge Mädchen zu fließendem Deutsch über. Ob Claudia Tee oder Kaffee haben wolle? Claudia bat um Tee, und nun ließ sie sich die köstlichen Butterbrote munden. Wie wunderhübsch alles war – die
durchsichtige Gabel und das Messer aus irgendeinem Kunststoff, und das Messer war sogar scharf –, das Besteck war in eine kleine Zellophanhülle eingepackt. Salz und Pfeffer in kleinen Stanniolpackungen – es war doch wohl kein Diebstahl, wenn sie die in die Tasche steckte? Sie wollte sie Mutti zeigen. Und die Brote schmeckten himmlisch, und auf einem Teller daneben lagen eine Apfelsine, ein Apfel und eine Banane und ein Stück Hefegebäck. Du liebe Zeit, das war ja ein ganzes Lunch. Claudia sah auf die Uhr. Bald zwei. In gut drei Stunden war sie da, war bei Mutti – und bei Onkel Peter. Sie freute sich so, daß sie meinte, alle Mitreisenden müßten es ihr ansehen! Hin und wieder kam eine Stimme durch den Lautsprecher. Es war der Flugzeugführer, der Bescheid gab, wo sie sich befanden, in welcher Höhe sie flogen, wie die Wetteraussichten waren, und wann sie voraussichtlich landen würden. Alles wurde in drei Sprachen durchgegeben – auf dänisch, auf englisch und auf deutsch. Von jetzt ab werde ich immer fliegen, dachte Claudia. Und dann mußte sie über sich selber lachen. Wer sollte wohl ihre Flugkarte bezahlen? Ja, aber vielleicht konnte sie Stewardeß werden? Das mußte doch etwas sein! Sie konnte jetzt deutsch und schwedisch sprechen, im Englischen war sie gut – und Französisch zu lernen, das würde sie wohl gewiß noch schaffen – wenn andere das konnten, so konnte sie es auch. Claudia verlor sich völlig in Zukunftsträumen, oder richtiger, sie flog zu den Träumen hinauf, denn ihre Zukunft stellte sie sich im Augenblick oben in der Bläue des Himmels vor. Und Claudia machte sich nicht die Ungelegenheit, an unangenehme Dinge zu denken wie Unwetter und luftkranke Fluggäste, denen man helfen, die man beruhigen mußte, oder an unangenehme Fluggäste, die unerfüllbare Forderungen stellten. Nein, alles war in Claudias Vorstellung licht und schön und himmelblau. Sie wurde in die Wirklichkeit zurückgerissen durch die Stimme des Flugzeugführers, der sagte, sie kämen nun gleich über den öresund und landeten in zehn Minuten in Kopenhagen, und die Fluggäste möchten so freundlich sein, die Gurte festzuschnallen. Es funkelte und glitzerte in blauem Wasser unter ihnen. Dann waren sie über der flachen Küste. Die Bebauung wurde dichter, sie wurde ganz dicht, sie wurde zu einer Stadt – einer großen Stadt. Unzählige hohe Türme ragten zum Frühlingshimmel empor, es
schimmerte von vielen Parks zart hellgrün auf – das war Kopenhagen, und es lag da wie ein einziges, strahlendes Lächeln. Einen Augenblick später schon rollte das Flugzeug in Kastrup über das riesige Rollfeld. Claudia wußte, daß sie hier in ein anderes Flugzeug umsteigen mußte. Das war selbst für einen unerfahrenen Fluggast leicht. Alle Auskünfte wurden in drei Sprachen ausgerufen, überall waren Plakate und Routennummern angebracht, man brauchte nur die Augen aufzusperren und die Gedanken ein klein wenig zusammennehmen. Drinnen in der riesigen Transithalle war allerhand zu sehen. Claudia schlenderte umher. Hier gab es kleine Läden mit Karten und Andenken. Claudia fragte auf schwedisch, ob man schwedisches Geld annehme, und das tat man. So schrieb Claudia denn eine Karte an Onkel Bo und Tante Helga und Karin – eine drollige Karte mit einem dänischen Briefträger darauf in seiner roten Jacke, eine große Tasche umgehängt: diese Tasche war aufzuklappen, und heraus fiel ein langer Streifen mit lauter kleinen Ansichten von Kopenhagen. In einer Ecke der Halle gab es einen Verkaufsstand mit Porzellan – dem schönen und weltberühmten Kopenhagener Porzellan. Ach, wie gern würde sie etwas für Mutti mitnehmen – aber es war alles sicher unerschwinglich teuer. Es dauerte ein Weilchen, ehe sie zu fragen wagte. Die kleinen blauen Aschenbecher dort? Claudia merkte es selber gar nicht, daß sie unwillkürlich deutsch sprach, aber das machte nichts. Hier schienen alle Menschen alle Sprachen zu können. „Zwei Kronen“, sagte die Verkäuferin. „In deutschem Geld eins dreißig.“ Claudia traute ihren Ohren nicht. Nur eine Mark und dreißig? Sie holte eilends ihr Portemonnaie heraus. Vorn lag das schwedische Geld, das sie noch übrig hatte, im hintersten Fach lag ein Zehnmarkschein. Als die Fluggäste für das Hamburger Flugzeug aufgerufen wurden, ging Claudia glücklich durch die Sperre, in der Tasche zwei Aschenbecher aus echt Kopenhagener Porzellan. Eine Stunde später saß sie wieder mit der Nase an die Scheibe gepreßt. Im Hutnetz über ihr lag ein großes, flaches Paket, und ihre Taschen waren noch voller als vorhen Denn es hatte sich herausgestellt, daß man auch hier im Flugzeug zollfreie Schokolade
und Zigaretten kaufen konnte. Claudia hatte also alles, was sie noch an schwedischem Geld übrig hatte, zusammengekratzt, und es hatte für ein Kästchen Konfekt für Mutti und zwei Zwanzigerpackungen englischer Zigaretten für Onkel Peter gelangt. Ja – jetzt waren sie über deutschem Boden –, ganz sicher. Sie mußten in wenigen Minuten in Hamburg landen. Dort unten – irgendwo dort unten stand Mutti – nur wenige Minuten noch, Muttilein, dann komme ich… sie fühlte, wie Muttis Gedanken ihr durch den Äther entgegenflogen – sie wußte, daß Mutti dort unten stand und die Minuten zählte… „Hallo – wir fliegen jetzt über Hamburg ein – bitte, schnallen Sie sich fest, machen Sie die Zigaretten aus.“ Ohne den Blick vom Fenster zu wenden, schnallte Claudia sich an. Unter ihnen tauchten Laubenkolonien auf – weite Gebiete mit Laubenkolonien – das Flugzeug senkte sich immer tiefer – immer tiefer – aber um Gottes willen – hier konnte es doch nicht landen – Claudia begann förmlich Herzklopfen zu bekommen. Aber dann mußte sie lächeln. Der Flieger wußte vermutlich besser Bescheid als eine kleine, zum erstenmal fliegende Claudia Keller! Jetzt tauchte der Anfang einer langen Asphaltbahn auf – sie sausten darüber hinweg – ein leichtes Aufschlagen – und Claudia stand wieder auf heimatlichem Boden. Sie stand vorn in der Gruppe der Fluggäste, die in die Paßkontrolle geführt wurden. Über die ganze Front des Gebäudes lief eine breite Terrasse. Claudia blickte nach oben. Hier drängten sich die Menschen – Kopf an Kopf – aber dort – dort – genau über dem Eingang zur Paßkontrolle, nur ein paar Meter über dem Platz, wo sie stand –, da sah sie Mutti. Claudia winkte mit dem Taschentuch hinauf – und dort stand auch Onkel Peter und winkte mit einem Blumenstrauß! Oh, wie war sie ungeduldig! Eins, zwei, drei war sie in der Paßkontrolle fertig, aber nun mußte sie auf ihren Koffer warten, bis der ganze Karren mit dem Gepäck vom Flugzeug herüberkam. Dort, endlich… Claudia erkannte ihren eigenen Koffer, sie trippelte vor Ungeduld. Denn dort, jenseits der Schranke stand Mutti – und Claudia durfte nicht zu ihr hinausgehen, und Mutti durfte nicht hereinkommen – sie mußten erst die Zollkontrolle abwarten! „Das ist meiner“, sagte Claudia laut und zeigte auf ihren Koffer. Und der Zöllner lächelte und fragte, ob sie im Ausland etwas gekauft habe.
„Ja“, sagte Claudia und zählte schleunigst alles auf. „Einen Kragen und zwei Paar Strümpfe, und die Schuhe, die ich anhabe…“ „Tee oder Kaffee?“ fragte der Zöllner. „Nein, nein“, konnte Claudia wahrheitsgemäß antworten. Ihr Koffer wurde mit einem Kreuz versehen, und sie stürzte durch die Öffnung in der Schranke und sank Mutti in die Arme. Kurz darauf rollte die kleine burgunderrote Kaffeemühle durch den wirbelnden Hamburger Verkehr… weiter, weiter, hinaus auf die asphaltierte Landstraße – und Claudia plapperte und erzählte in ihrer eigenen Sprache, und sie war in ihrem eigenen Land –, und während sich der Frühlingsabend weich und milde auf die drei glücklichen Menschen herabsenkte, gelangten sie wohlbehalten nach Hause.
Ein Jahr später Die Fahrstuhltür knallte zu, daß es hallte. *S Anita Brodersen hob den Kopf und lauschte. Sie lächelte. Denn sie kannte die schnellen, frohen Schritte und das Trippeln von Hundepfoten daneben. Und sie stand schon auf dem Vorplatz bereit, als es dreimal kurz läutete. „Mutti! Schau! Ich habe Maiglöckchen gefunden! Und, denk dir, Terry ist auf Igeljagd gegangen, er benahm sich so urkomisch, als er sich an der Schnauze gepickt hatte -Mutti, ist Onkel Peter schon da?“ Strubbelig, rotbackig und atemlos stand Claudia auf dem Vorplatz und schlüpfte aus der Jacke. Der kleine rote irische Terrier war außer Rand und Band vor Freude. „So, Terry, ruhig jetzt – nein, du darfst doch mit diesen Pfoten nicht ins Zimmer –, wart mal, du kleines Untier, wir wischen sie dir erst sauber – “ Claudia war schon im Badezimmer und holte Terrys Lappen, und der Hund ließ es sich brav gefallen, daß die Pfoten erst saubergeputzt wurden. „So – jetzt kannst du ‘reingehen –, Mutti, ich bin hungrig wie ein Wolf, kriegen wir heute was Gutes?“ „Rinderbrust mit Meerrettichsoße!“ „Huuh, fein! Wenn nur Onkel Peter bald hier wäre. Ist Schwesterchen wach?“ Ehe Mutti noch etwas antworten konnte, ließ sich ein kleines Stimmchen aus dem Schlafzimmer vernehmen. „Hörst du? Sie antwortet. Darf ich sie wickeln, Mutti?“ „Das darfst du gern. Ich muß sowieso den Tisch decken. Ihr Breichen steht fertig im Wasserbad.“ „Großartig!“ Im Schlafzimmer war der Vorhang wegen der scharfen Maisonne heruntergezogen. Claudia schob ihn so weit hoch, daß sie sehen konnte. In dem kleinen Gitterbettchen bewegte sich etwas. Zwei winzig kleine Händchen fuchtelten in der Luft, zwei kleine Beinchen zappelten unter einem leichten weißen Deckbett. Claudia hob das Kleine hoch, so vorsichtig und doch sicher wie eine Große. „Na, du kleiner Hampelmann!“ Mit raschen, gewandten Händen legte Claudia die kleine Schwester auf den Wickeltisch, nahm ihr die Windel ab, wusch sie, puderte sie und zog ihr frische Wäsche an – kleine Tücher, die an dem elektrischen Heizofen angewärmt worden waren. Währenddessen plauderte sie immerfort mit ihr.
„Grr, grr“, machte das Schwesterchen. „Ja, das ist deine Antwort auf alles“, lachte Claudia. „Könntest du nicht mal was anderes sagen?“ „Bla, blaa“, babbelte die Kleine. „Siehst du, das war schon besser! Meinst du damit Mama oder Papa? Oder soll es etwa Claudia heißen?“ „Daa – “, sagte Schwesterchen. Jetzt kam Mutti ins Zimmer und brachte den Brei. Claudia setzte sich auf einen niedrigen, bequemen Stuhl, mit dem Baby auf dem Schoß. „So, jetzt mußt du lieb sein und essen, damit du groß und stark wirst“, sagte Claudia, und die Mutter mußte lächeln, als sie sah, wie geschickt Claudia sich anstellte, um den Löffel in den kleinen Mund zu stecken und das kleine Kinn und die Nasenspitze abzuwischen. „Du darfst aber nicht trödeln“, sagte Claudia. „Wir wollen doch fertig sein, wenn Onkel Peter kommt. Wenn Papa kommt, meine ich. Du mußt jetzt lernen, Papa zu sagen, hast du verstanden?“ Anita Brodersen lächelte wieder ganz fein und ging in die Küche zurück. Claudias letzte Worte klangen ihr fortgesetzt in den Ohren. Ja, Claudia hatte ihren Stiefvater wirklich gern, und alles war gut. Onkel Peter war es gewesen, der Claudia den kleinen Hund geschenkt hatte, den sie liebte. Durch den Hund war Claudia gezwungen, früh und spät draußen an der frischen Luft herumzulaufen. Onkel Peter war es auch, der Claudia dazu angeregt hatte, Sport zu treiben. Und Onkel Peter war es, der Claudia praktische Ratschläge gab, dort wo Frauenweisheit nicht ausreichte. Claudia ging mit allen ihren Problemen vertrauensvoll zu Onkel Peter. Aber zu einem hatte Claudia sich noch nicht durchringen können: Der Stiefvater war und blieb für sie „Onkel Peter“. Und weder er noch Mutti hatten Claudia gegenüber jemals angedeutet, daß sie Vater sagen solle. Sollte es sein, so mußte es von allein kommen. Da ging die Wohnungstür. „Hast du gehört, Schwesterchen? Wer kommt denn jetzt? Nun mußt du aber schnell noch den letzten Löffel essen, dann bist du fertig, wenn Papa kommt!“ Claudia wischte der Kleinen wieder das Mäulchen ab – und jetzt ging die Tur auf, und Onkel Peter trat ein. „Hallo, ihr zwei! Seid ihr fertig mit Essen?“ „Wir fertig?“ lachte Claudia. „Schwesterchen ist nudelsatt, und die große Schwester ist halbtot vor Hunger!“
„Ba ba“, machte das Kleine. „Hast du das gehört, Onkel Peter? Sie kann beinahe Papa sagen!“ „Gescheites Kind“, sagte Onkel Peter. „Schlägt ihrem Vater nach. Das ist schön, Schwesterchen, du kannst dich üben im Papasagen, aber wenn du ein bißchen größer bist, dann sollst du Vater sagen!“ „Findest du, daß das besser klingt?“ fragte Claudia. „Es gibt mir jedenfalls das Gefühl, daß ich Vater bin“, sagte Onkel Peter. „Papa, das ist so eine Kindersprache, irgendwie gar kein rechter Begriff. Aber Vater genannt zu werden – das gibt einem ein gleichsam stolzes Gefühl – ein Gefühl von Verantwortung – es ist so, als sei es eine Bezeichnung, die man sich verdienen muß.“ Claudia hatte das Schwesterchen ins Bett gelegt. Dann trafen sich ihre und Onkel Peters Augen. „Onk…“ sie stockte, lächelte ein wenig, und eine feine Röte stieg in ihre Wangen. „Wenn man sich diese Bezeichnung verdient hat, dann darf man auch nicht darum betrogen werden“, sagte sie leise. „Und wenn einer sie verdient hat, dann bist du es – Vater!“ Peter Brodersen wandte sich ganz zu Claudia um. „Was meinst du, Claudia?“ Claudia lächelte, und dann hatte sie einen Kloß im Hals und konnte nicht sprechen. Sie schmiegte sich an den Stiefvater, und ein wenig scheu, ein wenig verlegen lehnte sie ihren Kopf gegen seine Schulter. Sein Arm umfing sie, und der war stark und fest, der behütete und beschützte, und er arbeitete und schaffte so gern für Frau und Kinder. Da hörten sie Muttis fröhlichen, singenden Ruf: „Peter! Claudia! Wo bleibt ihr denn?“ Mutti stellte die große, dampfende Schüssel auf den Tisch, und dann ging die Tür auf. „Na, was macht ihr denn hier?“ fragte Mutti. „Steht ihr vor Schwesterchen in Bewunderung versunken?“ „Auch das“, sagte Claudia. „Aber jetzt kommen wir. Wir freuen uns wahnsinnig aufs Essen.“ In der Tür drehte sie sich um, und ihre Augen glänzten. „Nicht wahr – Vati?“