Berte Bratt
Denk an unsere Liebe (Ich glaub an dich und deine Liebe)
Ihre Arbeit im Krankenhaus und das Schicksal ihre...
20 downloads
681 Views
680KB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
Berte Bratt
Denk an unsere Liebe (Ich glaub an dich und deine Liebe)
Ihre Arbeit im Krankenhaus und das Schicksal ihrer Patienten liegt Toni so am Herzen, daß sie kaum Zeit für ihren Mann hat. Sie wird zwischen Ehe und Beruf hin und hergerissen, so daß sie zuletzt weder aus noch ein weiß. Es ist unvermeidbar, daß es zu einer ernsten Krise kommt. Jetzt erst fängt Toni an über ihre Probleme nachzudenken. Hoffentlich ist es nicht zu spät.......
Mit freundlicher Genehmigung Franz Schneider Verlag, München. Copyright © für diese Ausgabe: Mundus Verlag, Essen. Die Verwertung der Texte und Bilder, auch auszugsweise, ist ohne Zustimmung des Verlags urheberrechtswidrig und strafbar. Dies gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Verfilmung und die Verarbeitung mit elektronischen Systemen sowie das Kopieren, Scannen und Digitalisieren und die Verwendung in digitalen Datenbanken oder Informationssystemen jeder Art. Redaktion & Gesamtherstellung: Millium Media Management Printed in Germany
Zum vierten Male schaute Eivind Löngard auf die Uhr, machte kehrt und schlenderte wieder zum Kolonialwarenladen an der Ecke zurück. Wenn er sich dann noch einmal umdrehte, würde er sie sicher erblicken. Er zwang sich, langsam zu gehen, und drehte sich nicht um, bevor er die Ecke erreicht hatte. Dann ging er wieder zurück, in demselben langsamen Tempo, reckte den Hals und schaute. Noch immer nichts zu sehen! Mit resignierter Miene zündete er sich noch eine Zigarette an und sah zum fünften Male auf die Uhr. Jetzt war es zwölf Minuten über die Zeit. Eivind war hungrig, und dann hatte er einen Tisch im „Grandhotel“ bestellt. Daß Toni auch heute wieder nicht pünktlich sein konnte! Nun ja, er wußte wohl, daß sie nicht Herr über ihre Zeit war. Toni hatte in diesen Monaten, seit er sich mit ihr verlobte, seine Geduld schwer auf die Probe gestellt. Er wußte, wie es gehen würde. In einer Sekunde oder in einigen Minuten würde sie kommen, unglücklich aussehen, um Entschuldigung bitten und erklären, daß es nicht ihre Schuld sei. Sie konnte einfach nicht abbrechen, wenn ein armer, alter Knabe oder eine besorgte Hausfrau eine Aussprache verlangte. Sie mußte zuhören und interessiert sein. Im Grunde verstand Eivind das ja gut. Und er war auch stolz auf sein tüchtiges Mädel, das eine so verantwortungsvolle Arbeit hatte und seine Stellung so gut ausfüllte. Eivind wußte, der Chefarzt war mehr als zufrieden mit ihr. Er war es auch, der den Posten eines Kurators im Krankenhaus
durchgesetzt hatte. Es kostete ihn viel Arbeit und viel Diplomatie, und es war gar nicht leicht gewesen, einen Menschen zu finden, der diesen Posten übernehmen konnte. Aber unter den wenigen Bewerbern hatte der Chefarzt gleich Toni Bang ausersehen: Dreißig Jahre alt, ausgebildete Psychologin; sie hatte viel auf sozialem Gebiet gearbeitet, war im Ausland gewesen und hatte das Wirken eines Kurators studiert. Toni wurde zu einer persönlichen Vorstellung gebeten. Und der Chefarzt mochte sie, ihre brandroten Locken, die muntre kleine Stupsnase, die ulkigen Sommersprossen und die wachen, klugen blauen Augen. Der Chefarzt hatte gelächelt. Toni sah wirklich jung aus für ihre dreißig Jahre. So wurde sie angestellt. Bürozeit von zehn bis drei. Sie sollte nur mit allen Problemen zum Chefarzt kommen! Das Ganze war ein Experiment; man mußte zusammenarbeiten. Als Eivind seine Toni kennenlernte und sie als „der neue Kurator im Krankenhaus“ vorgestellt wurde, war er ebenso wenig orientiert wie die meisten andern. „Was ist eigentlich ein Kurator?“ hatte er gefragt, mit einem kleinen entschuldigenden Lächeln wegen seiner Unwissenheit. Und Toni hatte erklärt und erzählt, warm und eifrig, mit ihrer klaren, vernünftigen Stimme. „Verstehen Sie“, sagte sie, „eine Menge Menschen, die im Krankenhaus liegen, sind seelisch ebenso sehr krank wie körperlich. Viele von ihnen haben einen gewaltigen Respekt vor den Ärzten und Schwestern, sie wagen einfach nicht, mit ihnen zu sprechen. Außerdem, wissen Sie, in einem so großen Krankenhaus haben die Arzte und Schwestern keine Gelegenheit, sich um jeden einzelnen Patienten auch seelisch zu kümmern, sie haben genug zu tun, den kranken Körper zu pflegen und zu heilen. Der Kurator, sehen Sie, nimmt sich der seelischen Belange an. Da liegt vielleicht eine Hausfrau und grämt sich und schläft nicht, weil sie sich um die Kinder daheim ängstigt. Dort liegt ein junger Seemann, der ganz allein ist in der Stadt, der würde so gern den Eltern daheim schreiben und erzählen, wo er liegt, und daß sie sich nicht ängstigen sollen. Aber es graut ihm vorm Briefeschreiben, das ist eine zu große und ungewohnte Sache für ihn. – Da liegt ein Familienvater und grübelt und sorgt sich, wie es weitergehen soll, wenn er so lange krank ist – dort hat ein Sterbender das Bedürfnis, noch seinen letzten Willen zu offenbaren… Ja, Sie verstehen, es gibt tausend Probleme, mit denen
die Patienten sich herumschlagen. Oft ist ihnen schon geholfen, wenn sie sich mit einem Menschen nur aussprechen können. – Ein andermal kann man mit einem vernünftigen Rat helfen oder kann eine Verbindung mit dem Zuhause aufnehmen, einen Kontakt schaffen – nun ja, verstehen Sie jetzt so ungefähr?“ Ja, Eivind verstand. Und schon das erstemal, als er Toni traf, war er beeindruckt von ihrer Stärke, ihrer Arbeitsfreude und dem warmen menschlichen Verstehen, das aus ihren blauen Augen leuchtete. Er hatte es gern, wenn sie von ihrer Arbeit erzählte, und er stellte bei sich fest, daß er selbst Interesse für die vielen menschlichen Schicksale zu fühlen begann. So kam es, wie es kommen mußte. Er gewann Toni ehrlich und aufrichtig lieb, und vor zwei Monaten, heute vor zwei Monaten, ja, da hatten sie sich verlobt. Die Wiederkehr dieses Tages wollten sie heute feiern. Und nun stand der Tisch im „Grandhotel“ gedeckt, mit Blumen und blanken Gläsern, und er ging hier auf und ab und wartete auf Toni. Jaja. Er selbst war es, der gewählt hatte. Er konnte Toni einfach nicht entbehren und mußte sich deshalb damit abfinden, sie mit dem Krankenhaus zu teilen. Rasche, galoppierende Schrittchen hinter ihm. Er schaute sich um. Da kam sie, erhitzt und atemlos, mit dem Hut in der Hand. Die roten Locken standen in einem einzigen Gewirr um ihren Kopf. „Sei nicht böse, Eivind. Ich konnte nicht davonrennen, versteh! Es war ein Unglücksfall, ein Beinbruch, nicht so gefährlich, aber der Patient war verzweifelt, allein in der Stadt, hätte morgen verreisen sollen, hatte die Fahrkarte schon in der Tasche. Und nun mußte ich telegrafieren und telefonieren und das Geld für die Fahrkarte erstatten lassen. Und er war so schrecklich niedergeschlagen. Er sollte wegfahren, um eine gute Stellung anzutreten, die er soeben erhalten hatte. – Fieber bekam er vor lauter Aufregung.“ Toni hing fest an seinem Arm, plauderte und erzählte, aufgeräumt und voll Eifer, und noch ganz erhitzt. Eivind sah auf das glühende Gesichtchen hinunter – er verstand. „Ich kann mir das sehr gut vorstellen. Aber nun kannst du die Gedanken daran sausen lassen, nicht wahr? Bist du nicht hungrig? Freust du dich nicht auf das Essen?“ „Du kannst dir denken, daß ich heißhungrig bin. Du, Eivind, ich habe nicht vergessen, was für ein Tag heute ist…“ Ihre Stimme war warm und leise. Eivind drückte ihren Arm fester
an sich. Dann saßen sie einander gegenüber an dem hübsch gedeckten Tisch, sie sahen einander in die Augen, tranken sich zu und fühlten, wie lieb sie einander hatten. „Sollen wir hier den Kaffee trinken, oder…“ „Nein, wir gehen lieber heim zu dir. Wollen wir?“ „Ja, laß uns gehen.“ Eivinds Junggesellenwohnung war nicht groß, aber modern und behaglich. Toni machte Kaffee in der kleinen Küche, und Eivind zündete ein Feuer im Kamin an und brachte eine Flasche Likör herbei. Dann lehnte sie in seinem Arm im Sofa, und die Dämmerung senkte sich über den Raum. Aus dem Radio kam gedämpfte Musik, und Frieden erfüllte das kleine Heim und ihre Herzen. „Du, Tonilein, du bist nicht umsonst berufsmäßige Menschenkennerin. Weißt du, was ich finde?“ Sie schaute zu Boden, nahm seine Hand und spielte mit den Fingern. „Nein. Das mußt du sagen.“ „Muß ich?“ „Unbedingt. Wohl bin ich ein berufsmäßiger Menschenkenner, aber du bist doch von uns beiden der Mann, und da…“ „Jaja. Wie du willst. Um es kurz zu machen: Ich finde, daß wir ebensogut morgen das Aufgebot bestellen können. Worauf warten wir eigentlich? Auf eine Wohnung? Da können wir warten, bis wir grau und schimmelig sind und im Rollstuhl zur Kirche oder zum Standesbeamten fahren. Wir können doch hier wohnen, findest du nicht?“ „Klar, können wir das.“ „Und eine Geldfrage ist es ja auch nicht. Wir können es uns leisten, zu heiraten. Wir brauchen nur einige Kleinigkeiten zu kaufen, etwas mehr Geschirr vielleicht, und wenn möglich noch einige Handtücher und Bettwäsche…“ „Zu allererst müssen wir eine Hausgehilfin herbeizaubern.“ „Ja, das müssen wir vielleicht.“ „Nicht vielleicht. Absolut! Unser Heim soll nicht darunter leiden, daß die Frau einen Beruf hat. Ich möchte eine tüchtige Haushilfe haben, wir können ihr ja einen ordentlichen Lohn bezahlen. Es soll dir erspart sein, ungestopfte Socken in deiner Schublade zu finden, und du sollst nicht auf das Mittagessen warten müssen. Diese
Probleme wollen wir gleich im Keim ersticken. Einverstanden?“ „Gewiß. Du sprichst wie ein Buch.“ „Noch dazu wie ein gutes Buch. Ein Lehrbuch für eheliches Glück. Im Grunde wirst du mich gar nicht vermissen, Eivind. Du gehst um neun Uhr in die Bank und kommst um halb fünf heim. Ich gehe um halb zehn und bin um halb vier zu Hause. Ich bin also daheim, wenn du gehst, und bin daheim, wenn du kommst.“ „Hm“, machte Eivind. Toni wurde rot. „Ja, ich weiß, was du sagen willst. Aber ich werde flink sein, Eivind, und versuchen, meine Bürozeit wirklich einzuhalten, wenn wir verheiratet sind.“ Ihre Stimme war so warm und ihr Blick so ehrlich, voller Hingebung. „Wir werden das schon hinkriegen, Kleines.“ Er küßte sie, und sie schmiegte sich an ihn. „Ich habe dich so lieb, Eivind.“ „Und ich dich, Tonilein.“ Sie küßten sich wieder. Die Musik im Radio war weich und einschmeichelnd, und das Kaminfeuer gab dem Raum eine wunderbare Gemütlichkeit. „Die Hauptsache ist in Ordnung“, flüsterte Toni. „Wir haben uns lieb. Da ist es doch klar, daß wir mit allen Schwierigkeiten fertig werden.“ „Ja“, flüsterte Eivind zurück. „Es gibt keine Schwierigkeit, die zwei Menschen nicht gemeinsam überwinden können – wenn sie sich lieb haben.“ Im Gepäcknetz über ihren Köpfen lag Tonis Brautbouquet. Sie hatte sich ein weißes Kleid und eine große Hochzeit energisch verbeten. In aller Stille ließen sie sich auf dem Standesamt trauen. Aber auf dem Brautbouquet hatte Eivind bestanden. Es begleitete Toni auf der Trauung im Standesamt, dann bei dem kleinen Frühstück nachher, später im Auto nach Oslo, und nun lag es im Gepäcknetz des Flugzeuges, das sie nach Stockholm führen sollte. Eine lange Hochzeitsreise würde es nicht werden. Toni hatte eine Woche Urlaub bekommen, und Eivind hatte eine Woche seines Urlaubs auf Vorschuß genommen, und nun war die Frage die, was sie in dieser kostbaren Woche unternehmen sollten. Kopenhagen? Oder eine Rundtour in Norwegen? Einen raschen Besuch in London? Oder…? „Du“, hatte Toni gesagt, „weißt du, ich möchte am liebsten nach Stockholm.“
„In die Stadt, die du so gut von früher kennst?“ wunderte sich Eivind. „Gerade deshalb. Ich würde mich freuen, dir alle Plätze zeigen zu dürfen, die ich selbst so gern habe. Als ich früher da war, fehlte etwas – ich hatte niemand, der sich mit mir freuen konnte. Und nun…“ „Stockholm soll es sein“, bestimmte Eivind. „Kein anderer Fleck auf der Erde als ausgerechnet Stockholm. Natürlich Stockholm.“ In Stockholm war Toni als Krankenhauskurator ausgebildet worden. Dort hatte sie Freunde gefunden und freundliche Kollegen. Sie freute sich wie verrückt, die Stadt als freier Mensch zu besichtigen, ohne Pflichten und Arbeit. Jetzt stand ihr der ganze Tag zur Verfügung, jetzt konnte und wollte sie sich nur freuen und amüsieren und nicht von Eivinds Seite weichen. Es war strahlende Sonne, und das Flugzeug bewegte sich so sicher wie ein zwölf zylindriges Auto auf einer Autobahn. Eivind hatte keine Zeit, die Aussicht zu genießen. Seine Augen hingen an dem kleinen, rotlockigen Schopf, er konnte sich nicht satt sehen an dem netten munteren Profil, an der kecken Stupsnase, die ihre Sommersprossen mit so selbstverständlicher Heiterkeit trug, und an den feingezeichneten Brauen über den blauen Augen. Der Mund war sicher zu groß, wenn man nach den hergebrachten Schönheitsregeln gehen wollte, aber er war weich und rot und frisch, und er lächelte oft und zeigte blendendweiße Zähne. Eivind konnte nicht anders, er mußte einfach in die roten Locken hineingreifen. Toni wandte sich um und lächelte ihm zu. „Na?“ „Na? Nichts. Ich bin bloß verliebt, sonst gar nichts.“ „Ein Glück, daß ich eine Pudelfrisur habe“, lachte Toni, „so wie du mich behandelst.“ Die Pudelfrisur war wie für sie geschaffen, die kurzen natürlichen Locken kamen voll zu ihrem Recht und gaben ihr ein Aussehen, das mehr an einen lebensfrischen Backfisch denken ließ als an eine ernsthaft arbeitende, dreißigjährige berufstätige Frau. Aber trotzdem: wenn die Arbeit sie ganz erfüllte, wenn sie Probleme zu durchdenken hatte, wenn sie an einem Krankenbett saß und aufmerksam auf die Erzählungen von den Schwierigkeiten des Patienten lauschte, dann wurde ihr Gesicht erwachsen und ernst, und ihre klaren Augen gaben dem Patienten Zutrauen. Ihre Stimme klang dann gedämpft und ruhig, und ihr Blick war voller Verständnis. Die Augen der Patienten leuchteten auf, wenn sie den
Krankensaal betrat. Toni hatte den erstaunten Ausdruck gesehen, als man ihnen erklärte, wenn sie etwas auf dem Herzen hätten, dann könnten sie diese Dame um Hilfe bitten. „Woran denkst du, Toni?“ Sie fuhr zusammen. „Ach – ich dachte nur ans Krankenhaus…“ „Du Unverbesserliche“, seufzte Eivind. „Könntest du Glicht ein bißchen an deinen Mann denken, jedenfalls solange wir auf Hochzeitsreise sind?“ Sie nahm seine Hand. „Ach du! Ich denke doch immer an dich. Du bist immer in meinem Unterbewußtsein. Genauso ist es doch bei dir, wenn du mit Schecks wirtschaftest und mit vielfacher Buchführung und all dem anderen Kram da unten in eurer Bank. – Aber es kommt wohl sicher vor, daß deine Gedanken auch einmal deine Arbeit streifen, selbst wenn ich neben dir sitze?“ Eivind sah sie grübelnd an und dachte nach. „Nein, weißt du, im Grunde nicht. Wenn ich mein Pult für den Tag abschließe, so schließe ich auch alle Gedanken an die Arbeit mit ab und lasse sie bis zum nächsten Tag dort liegen. Wenn ich frei bin, dann bin ich frei – und beschäftige mich mit angenehmeren Dingen, zum Beispiel mit dir.“ Toni überdachte das mit gerunzelten Brauen. „Ja, das könnte ich vielleicht auch tun, wenn ich Stenotypistin oder Kontoristin wäre oder so etwas. Aber es ist so seltsam und etwas ganz anderes, wenn man mit Menschen und ihren Schicksalen direkt in Berührung steht.“ Die Stewardeß kam und servierte Kaffee. Etwas später verkündeten Leuchtbuchstaben an der Wand, daß die Gurte festzuspannen seien – und dann rollten sie über den Flughafen Bromma. Während der Fahrt in die Stadt plauderte und berichtete Toni. Sie blickte rechts und links, zeigte und erklärte. Ihre Augen leuchteten und glänzten. Eivind genoß eine reizende Toni, ihre klare, glückselige Stimme, und er freute sich über ihre Freude. Er lachte und amüsierte sich, als sie einsprang und half, wenn er einige Schwierigkeiten mit der ungewohnten Sprache hatte. Er lächelte über ihre glückliche Geschäftigkeit. „Busy bee“, sagte er und drückte sie an sich. Sie standen im Fahrstuhl im Hotel.
„Was sagst du? Fleißige Biene?“ „Du bist ja mächtig fleißig und voller Initiative. Ein so kleines eifriges Ding da wie dich nennt man busy bee in Amerika.“ Toni sah schuldbewußt zu ihm auf. „Habe ich allzuviel Initiative?“ fragte sie ängstlich. „Du mußt mich zurückhalten, wenn ich übertreibe.“ „Unsinn“, lachte Eivind. „Ich will dich kein bißchen anders haben. Ich liebe dich genau so, wie du bist!“ Es folgten ein paar Tage in ungestörtem Idyll. Sie waren auf Autotouren, sie gingen ins Theater, sie frühstückten und aßen zu Mittag in zünftigen, verborgenen Kneipen, die Toni kannte. Toni wußte Bescheid mit den verschiedenen Spezialitäten der schwedischen Küche, und sie war so reizend in der Rolle des Reisemarschalls, daß Eivind tagtäglich noch verliebter wurde. „Du“, sagte Toni am Morgen ihres dritten Tages in Stockholm, „ich fühle mich nach der gestrigen Autotour wie ein dreckiger Staubbesen. Kannst du mal eine Stunde allein bleiben, während ich weggehe und mir das Haar waschen lasse?“ „Ja, denk mal, ich glaube beinahe, das kann ich“, neckte Eivind. „Oder willst du vielleicht einen Zettel um meinen Hals hängen mit Namen und Adresse?“ Er sagte das lachend und küßte sie dabei. Aber Tonis Ohr war geübt, jede feinste Nuance im Tonfall einer Stimme zu erkennen, und sie wußte auf einmal, daß hinter dem Lächeln und den neckenden Worten etwas lag – etwas, worauf sie achtgeben mußte – etwas, das eines Tages deutlicher hervortreten konnte – ohne ein versöhnendes Lächeln oder einen mildernden Kuß. „Sollen wir uns zum Essen an irgendeiner Stelle treffen? Und wo?“ Eivind schlug N. K.’s Dachrestaurant vor. Dann küßte Toni ihren Mann und ging zum Friseur. Eivind machte sich in Gemütsruhe fertig und bummelte allein in die Stadt. Er schlenderte ohne Ziel und Absicht dahin, genoß nur die Sonne und die Schönheiten, sah in die Schaufenster und ließ die Minuten verrinnen in friedlicher Trägheit. Und dann fiel sein Blick auf ein Theaterplakat. Donnerwetter! „Ein Sommernachtstraum“ im Freilufttheater auf Skansen! Shakespeare in Freiluft, ein Sommernachtstraum in der Mittsommerzeit! Mit Hilfe des Plakats und einer Zeitung fand er heraus, wo er Eintrittskarten bekommen konnte, und besorgte sie sofort. Besser
gleich die Gelegenheit nützen bei einem so schönen Wetter wie heute. Morgen würde es vielleicht schon regnen. So stand er mit den Karten in der Tasche und entdeckte, daß er in fünf Minuten in N. K.’s Dachrestaurant sein sollte – und er hatte keine Ahnung, wo er sich befand. Er gab den Gedanken keinen Raum, er machte sich nicht klar, warum er auf Tod und Leben pünktlich sein wollte – obwohl Toni die erste sein würde, eine Verspätung zu verstehen und zu verzeihen. Er wollte sich einfach nicht die Demütigung eingestehen, sich in der Stadt verlaufen zu haben. Er winkte einem Taxi und sagte kurz und bündig „N. K.“ – und er sprach es so aus, wie Toni es getan hatte, es klang so komisch, mit Betonung auf dem N: „N – Ennka“. Der Chauffeur sah ihn fragend an. „Verzeihung, sagte der Herr N. K?“ „Ja, N. K. – Nordische Kompagnie.“ Der Chauffeur warf wieder einen verwunderten Blick auf ihn, zuckte mit den Schultern, knallte die Autotür zu und fuhr fünfzig Meter. Und dann hielt er vor N. K.’s. Da mußte Eivind lachen. Und trotz aller Vorsätze, seinen Reinfall für sich zu behalten, unterlag er doch der Versuchung, Toni von der fünfzig Meter langen Taxifahrt zu erzählen. Und Toni lachte herzlich, legte ihre Hand über die seine und versicherte, sie würde ihn nie mehr allein gehen lassen, in dieser bösen, großen, gefährlichen Stadt, wo noch dazu Linksverkehr herrschte. Toni war munter und übermütig und in glänzender Laune, und dieses eine Mal achtete sie nicht auf seinen Gesichtsausdruck. Vielleicht war da auch nicht viel zu beachten. Eivind lächelte und war freundlich, aber er lächelte mehr mit dem Mund als mit den Augen, und in den Mundwinkeln war das Lächeln etwas steif. Toni saß über das Menü gebeugt und hatte rasch gewählt. „Schwedenplatte und nachher Nieren mit Speck“, schlug sie vor, mit ihrer vernünftigen, energischen Stimme. Nieren mit Speck war Eivinds Lieblingsspeise. Und immer noch nicht war er sich klar darüber, warum er so handelte, wie er es jetzt tat. „Laß mich das Menü sehen“, sagte er freundlich und würdevoll.
Er studierte es, nahm sich gut Zeit dazu und wählte zum Schluß „Beefsteak Lindström“. „Aber Eivind, mein Lieber, Beef Lindström ist nur ein feinerer Name für gewöhnliche Fleischklöße! Nimm lieber Nieren mit Speck, das machen sie hier sehr delikat.“ „Ich weiß doch gut, was Beef Lindström ist“, sagte Eivind überlegen, obwohl sich alle seine Geschmacksorgane vor Enttäuschung zusammenzogen. Er hatte sich ein rohes Beefsteak vorgestellt, mit viel Zwiebeln und vielleicht einem Spiegelei. Aber den neuen Mißgriff eingestehen? Nie! Selbst wenn Beef Lindström sich als Fischmehlklöße, in Tran gebacken, entpuppen sollte. Er aß seine enttäuschenden Frikadellen zum Duft von Nieren mit Speck, der von Tonis Teller kam, während seine Nerven kleine Wirbel schlugen. Beim Nachtisch beruhigten sie sich, und das Leben sah wieder licht aus. „Ich habe eine gute alte Bekannte beim Friseur getroffen“, sagte Toni, „die Doktorin Brachfeldt. Ihr Mann war Oberarzt in meiner Krankenhauszeit, jetzt ist er Chefarzt in einem neuen Krankenhaus außerhalb der Stadt und…“ „Seine Frau vielleicht Assistenzarzt?“ „Seine Frau? Daß ich nicht lache! Die würde in Ohnmacht fallen, wenn sie eine Nierenschale sähe.“ „Ich glaubte, du sagtest, sie sei Doktor?“ „Nein, ich habe Doktorin Brachfeldt gesagt, das bedeutet die Frau eines Doktors, verstehst du?“ „Ach so. Das habe ich nicht verstanden. Ich war mir nicht klar darüber, daß du Schwedisch mit mir redest.“ Toni lauschte auf seinen Tonfall, lauschte und verstand. Dann lachte sie. „Da siehst du, daß ich noch nicht erwachsen bin. Muß unbedingt beweisen, daß ich die feineren Nuancen der Sprache kenne.“ „Wie meinst du das?“ „Du, Eivind, wie alt warst du, als du in Amerika warst? Achtzehn? Ich möchte wetten, das erste, was du tatest, war, deiner Mutter eine Karte zu schreiben mit MRS. Ingeborg Löngard darauf. Hast du das nicht getan?“ Er sah verblüfft auf und wurde rot.
„Hat Mutter dir das erzählt?“ Toni lachte laut. „Nein. Aber das würde jeder normale Achtzehnjährige tun. Und dasselbe tue ich, wenn ich schwedische Ausdrücke in meine geistreiche Konversation mit dir einflechte. Aber laß die Doktorin vorderhand sein und erzähle mir, was du am Vormittag angefangen hast.“ „Ich habe Theaterkarten besorgt für ,Ein Sommernachtstraum’.“ „Wie herrlich! Für morgen? Oder Samstag?“ „Nein, für heute. Es wird im Freilufttheater gegeben, und du weißt, das Wetter…“ Toni schwieg einen Augenblick. „Ach, Eivind, es tut mir so leid, aber, weißt du, es ist heute leider ganz unmöglich – die Dokt – ich meine Frau Brachfeldt, hat uns zum Essen gebeten, und da könnte ich gleichzeitig das neue Krankenhaus sehen. Es soll ja ein wahres Wunder an moderner Technik und an Komfort sein – das würde dich sicher auch interessieren…“ Eivind biß sich auf die Lippen. „Eivind, hättest du mich nur erst gefragt.“ „Oder hättest du mich gefragt, ob es mir passen würde, für heute eine Einladung anzunehmen.“ Diesmal brauchte man nicht ausgebildeter Psychologe oder Kurator zu sein, um zu erkennen, was in seiner Stimme lag. Toni legte ihre Hand über die seine. „Es tut mir so leid, Eivind. Ich hatte keine Gelegenheit, dich zu fragen. Frau Brachfeldt hat sofort zu Hause angerufen, um Bescheid zu geben, daß wir kommen, und ich habe mit ihr verabredet, daß wir sie um fünf auf dem Stureplan treffen. Sie kommt mit dem Auto und nimmt uns mit. Und du verstehst doch, es ist für mich von riesengroßem Interesse, so ein hypermodernes Krankenhaus zu sehen – würdest du nicht die Gelegenheit ergriffen haben, wenn du an meiner Stelle gewesen wärest?“ Er nahm ein paar lange, nachdenkliche Züge aus seiner Zigarette. „Ach ja. Das würde ich wohl“, kam es mit langsamer Stimme, und die hatte nun einen seltsam farblosen Klang. „Ich werde versuchen, es zu verstehen, Toni. Ja, also, du bist ja so geschickt im Arrangieren und Ordnen, kannst du mir vielleicht sagen, wie ich die teuren Karten wieder loswerden soll?“ „Pah“, sagte Toni froh, „das werden wir schon schaffen. Wir tauschen sie einfach für morgen um.“
„Hoffentlich taucht morgen nicht ein neues Krankenhaus auf, das absolut besichtigt werden muß.“ „Pfui, du Spötter!“ „Und niemand garantiert, daß morgen dasselbe schöne Wetter ist.“ Sie waren aufgestanden, Toni nahm ihre Handtasche und Handschuhe. Sie warf einen Blick über die sonnentrunkene Stadt. „Ach, ja doch“, sagte sie vertrauensvoll und schob ihren Arm unter den Eivinds. „Das Wetter hält sich schon! Es ist keine Wolke am Himmel.“ Dann gingen sie Seite an Seite in die Stadt, unter dem wolkenlosen Himmel. Und keiner von ihnen war sich darüber klar, daß sich an ihrem Glückshimmel die erste kleine, graue Wolke gezeigt hatte. Eine ganz kleine, graue Wolke. Die Frau des Chefarztes Brachfeldt war eine muntere, dunkelhaarige, braunäugige, kleine Dame von siebenunddreißig Jahren. Sie war schick und schlank in ihrem Schneiderkostüm, plauderte lebhaft und in einem putzigen, schlagfertigen Jargon. „Herr Löngard soll an meiner Seite sitzen“, bestimmte sie rasch und ohne Umschweife. „Hier sieht man gut, und Sie sind zum erstenmal hier. Ihre Frau muß sich darein finden, hinten zu sitzen.“ Und Toni kroch ohne Widerspruch auf den „Schwiegermuttersitz“ in dem stromlinienförmigen offenen Zweisitzer, den Frau Brachfeldt mit geübter Hand durch den Verkehr steuerte. Ohne die Augen vom Weg zu nehmen, plauderte sie munter von den Einkäufen, die sie am Vormittag gemacht hatte, und bedauerte, daß sie keine Zeit gehabt habe, die Gauguin-Ausstellung zu besichtigen, welche nur noch zwei Tage geöffnet war. „Gauguin?“ sagte Eivind. „Hörst du, Toni? Gauguin-Ausstellung, die müssen wir sehen.“ „Sie haben Glück“, lächelte Frau Brachfeldt, „daß Sie mit Ihrem Ehepartner in Kunstausstellungen gehen können. Die ersten vier Jahre meiner Ehe versuchte ich heldenmütig, meinen Mann auf die Kunstausstellungen mitzubekommen, aber später habe ich das aufgegeben. Wenn Skelette oder Mikroskope ausgestellt sind oder Tabellen mit vergrößerten Bazillen, da stürzt mein Mann hin, aber wenn es etwas ist, das nichts mit dem Krankenhaus zu tun hat, dann ist jeder Versuch, ihn zu überreden, umsonst. – Nein, pfui, ich rede
so häßlich von meinem guten Mann, er ist im Grunde ein Prachtkerl, und alle weiblichen Patienten sind in ihn verliebt, was ich gut verstehen kann. Wir haben drei Koffer voll gestickter Sofakissen.“ Eivind lachte. Er genoß die Autofahrt und das muntere Geplauder der kleinen Frau. Er vergaß ganz die Bitterkeit vom Vormittag. Frau Brachfeldt hatte nicht übertrieben. Der große stattliche Mann, der auf der Treppe vor der schönen, modernen Villa stand und die Gäste empfing, sah zweifellos sympathisch aus. „Das ist aber eine angenehme Überraschung“, sagte er und ergriff Tonis beide Hände. „Sie können mir glauben, ich bin gespannt zu hören, wie es Ihnen ergangen ist. Ja, Sie haben also eine feste Anstellung, und verheiratet haben Sie sich auch – willkommen, Herr Löngard, sehr nett, Sie zu treffen – Sie sind also der Glückliche und haben Toni Bang erobert!“ „Zurück in die Stadt müssen Sie den Zug oder ein Taxi nehmen“, sagte Frau Brachfeldt, als sie sich auf der Terrasse, mit Aussicht auf den schönen Garten, niedergelassen hatten. – „Ich will die Cocktails nicht entbehren und als einzige ganz nüchtern dasitzen, bloß wegen des blöden Autofahrens.“ „Moment mal“, lachte Toni, „ja, entschuldigen Sie, daß ich mich da einmische, aber wenn es so ist, daß ich einen Blick ins Krankenhaus werfen soll, ist es vielleicht besser, wir machen das noch vor dem ersten Cocktail. Oder…“ „Ach, großer Gott, jetzt fängt das Krankenhausgeschwafel schon an“, seufzte Frau Brachfeldt mit komisch gespielter Verzweiflung. Aber unter den gesenkten, seidenschwarzen Wimpern blinzelte sie neckend und verliebt ihrem Mann zu. „Da ist wohl nichts zu machen, Hugo?“ „Für Frau Toni und mich absolut nichts“, lächelte der Chefarzt. „Du brauchst natürlich nicht mitzukommen, und Herr Löngard ist in der angenehmen Lage, wählen zu können.“ „Herr Löngard“, kam es bittend von Frau Brachfeldt, „bringen Sie es übers Herz, eine arme einsame Frau zu verlassen, bloß mit einem Cocktailbecher als Trost? Haben Sie ein glühendes Interesse an dem Krankenhaus?“ „Na ja – ich habe natürlich Interesse für alles, was meine Frau angeht…“ „Sie sind auf dem Holzweg“, stellte Frau Brachfeldt fest. „Hören Sie auf mich, ich habe Erfahrung. Es ist nicht der richtige Schlüssel zu einer glücklichen Ehe, die gegenseitigen Interessen zu teilen,
sondern sie zu respektieren. Ich verabscheue Krankenhausluft, Injektionsspritzen und weiße Kittel und liebe es, mit Pinsel und Palette umzugehen. Mein Mann erkennt nicht den Unterschied zwischen einem van Gogh und einer kolorierten Postkarte. Aber ich respektiere seine Arbeit, und er achtet mein Kunstinteresse, und besonders respektiert er mein Kochen. So treffen wir uns nach dem Tagewerk und schalten vollständig ab, er mit Rücksicht auf mich, ich mit Rücksicht auf ihn. Das ist gesund für uns beide, und so haben wir es schrecklich gemütlich zusammen, und ich garantiere, daß es keine harmonischere Ehe gibt als unsere.“ Die andern drei lauschten. Der Chefarzt lächelte zustimmend, Eivind und Toni aufmerksam und erstaunt. Es klang so vernünftig, was sie da sagte, diese hübsche und muntere kleine Frau mit dem warmen Glanz in den Augen. „Gut“, sagte Eivind Löngard, „dann probieren wir Ihre Theorie, gnädige Frau, und überlassen das Krankenhaus unseren beiden besseren Hälften.“ Zum Krankenhaus war es einige Minuten zu gehen. Es war ein großer, schöner Bau, von einem kleinen Naturpark umgeben. Sie gingen beim Haupteingang hinein, und im gleichen Augenblick war Toni eingefangen von der „Krankenhausluft“, dieser undefinierbaren Mischung von Reingescheuertsein, von Äther und frischgebügelten weißen Kitteln, von antiseptischer Seife und Desinfektion, diesem schwachen Duft, der trotz gründlichem Lüften und erstklassigem Ventilationssystem immer an den Wänden, den Möbeln und Menschen in einem Krankenhaus hängenbleibt. Es ist mehr eine Ahnung als ein Geruch, ein undefinierbares Etwas, das auf den medizinisch Interessierten wirkt wie Sägemehlgeruch auf ein Zirkuspferd oder Schminkegeruch und Garderobenstaub auf einen alten Schauspieler. Toni bekam einen weißen Kittel geliehen, und dann begann die Wanderung durch dieses moderne Krankenhausparadies, mit all den Erleichterungen und Hilfsmitteln, die moderne Erfindungen für kranke Menschen zur Verfügung stellen. Es gab Türen, die auf die Seite glitten durch einen leichten Druck auf einen Knopf. Hier gab es nicht einen einzigen großen Saal, die größten Zimmer waren vierbettig, und die meisten Zimmer für zwei Patienten. Es gab Betten zum Herunter- oder Aufklappen, Betten mit Schlaraffiamatratzen und solche, die wie Bahren auf lautlosen Gummirädern geschoben werden konnten. In den Gängen war in jeder Abteilung ein
Briefkasten, in den die Patienten ihre Post einwerfen konnten. Es gab gemütliche, raffiniert ausgestattete Aufenthaltsräume, mit Büchern und Radio und mit den schönsten Blumen. „Ja“, lächelte der Chefarzt zu Tonis bewundernden Ausrufen. „Für Sie, die Sie sozusagen ein Seelenarzt sind, ist es wohl von besonderem Interesse, zu sehen, was wir für das geistige Wohlbefinden der Patienten tun. Daß sie sich hier wohl fühlen, ist sicher nicht das unwesentlichste. Sie liegen da und freuen sich darauf, in die Aufenthaltsräume zu kommen. Und ich glaube wirklich, diese Erwartung hilft ihnen rascher auf die Beine. Und dann spielt sicher auch die Geräuschlosigkeit eine große Rolle, dafür ist nämlich erstklassig gesorgt, und die nervösen Seelen bleiben von allen irritierenden Geräuschen verschont. In den Krankenzimmern können wir nicht gut Blumen vor den Fenstern haben, wir können ja den Schwestern nicht auch noch Gärtnerarbeit aufbürden, aber dafür haben wir die Blumenkästen außerhalb. Und sind die vielleicht nicht schön?“ Toni machte immer größere Augen. Sie entdeckte, daß die Krankenzimmer ein individuelles Gepräge hatten, nicht das ewige trostlose „Krankenhausweiß“, sondern sie waren in munteren Farben gemalt, Rosa, Grün oder Gelb. Der Aufenthalts räum für Kinderpatienten entlockte ihr einen Schrei des Entzückens. Große Tafeln an den Wänden, Kästen mit farbigen Kreiden, kleine Tische und Haufen von abwaschbaren Bilderbüchern. Und an den Wänden wirklich schöne, künstlerisch gemalte Bilder mit Märchenmotiven. „Ich habe nie etwas Ähnliches gesehen“, seufzte sie ganz hingerissen. „Ich auch nicht“, sagte der Chefarzt trocken. „Ich muß mich immer noch selbst in den Arm kneifen, damit ich weiß, daß wirklich ich der Glückspilz bin, der die Stellung hier bekommen hat. Ich kann mich abends fast nicht losreißen – fragen Sie nur meine Frau!“ Toni bekam das Ärztebüro und die Operationssäle zu sehen, sie bewunderte moderne Licht- und Heizanlagen, aber was den stärksten Eindruck auf sie machte, waren alle die durchdachten Kleinigkeiten, die den Krankenhausaufenthalt so behaglich wie möglich für die Patienten machen sollten. „Hier haben wir den Speisenaufzug“, sagte der Chefarzt und öffnete eine Tür, die lautlos funktionierte, wie alle Türen in diesem Wunderhaus. „Hier kommt das Essen herauf, auf elektrisch erwärmten Trägern, und auch die Tabletts für die Patienten haben
eine Wärmeplatte.“ „Herr Chefarzt, wenn Sie mir jetzt erzählen, daß die Patienten täglich Hühnchen und Champignons und Austern und Ananas bekommen, werde ich mich nicht wundern“, lachte Toni. „Ach nein“, lächelte der Chefarzt zurück. „Sie bekommen gebratenen Hering und andere Alltagskost, aber erstklassig zubereitet und hübsch serviert. Sie sollten übrigens die Diätküche sehen, das ist wirklich das Feinste, was wir hier im Hause haben, und ich behaupte, unser gesegnetes Fräulein Broberg hat mehr Heilungen auf dem Gewissen als die gesamte Ärzteschaft des Hauses, Unterzeichneter inklusive.“ „Fräulein Broberg?“ wiederholte Toni fragend. „Die Leiterin der Diätküche“, erklärte der Chefarzt. „Eigentlich sollten Sie einen ganzen Vormittag mit ihr beisammen sein, sie ist eine ebenso gute Psychologin wie Köchin, sie verrichtet Kuratorarbeit, ohne es selbst zu wissen.“ „Nein, jetzt werde ich aber unerträglich neugierig“, lachte Toni. „Ganz im Ernst“, sagte der Chefarzt, als sie zusammen das Krankenhaus verließen und zur Villa zurückgingen, „wäre es für Sie unmöglich, morgen oder übermorgen noch auf einen Sprung hierher zu kommen?“ „Wir reisen Sonntag zurück“, sagte Toni, „übermorgen ist also unser letzter Tag hier…“ „Also, dann morgen. Da meine Frau Ihren Mann überredet hat, in die Kunstausstellung zu gehen, kann ich da nicht Sie überreden, in die Diätküche zu gehen?“ Tonis Gewissen rührte sich. Was würde Eivind sagen? Die kostbaren Flitterwochentage damit verplempern, Diätküchen anzusehen? Aber andererseits konnte sie eine Menge brauchbarer Ideen mit sich heimnehmen, wenn sie ein paar Stunden opferte. Und daheim hatte Chefarzt Stendal mehrere Male von der Möglichkeit gesprochen, eine eigene, moderne Diätküche einzurichten, nein, sie konnte und durfte diese Gelegenheit nicht ungenutzt lassen. „Es ist wirklich gut, daß ihr jetzt kommt“, empfing sie Frau Brachfeldt, „es ist noch etwas im Shaker drin. Ingrid steht schon nervös an der Speisezimmertür, die Koteletts sind wohl nahe am Anbrennen.“ Bei den Vorgerichten machte Toni ihrer Begeisterung Luft. Und Eivind, der in guter Laune war, teils wegen der Cocktails und teils dank seiner charmanten Wirtin, hörte mit Geduld zu und auch mit
einem gewissen Interesse. „Ja, heute hast du in Krankenhaus geschwelgt“, lächelte Eivind, „und morgen wirst du in Kunst schwelgen. Frau - ah, die Doktorin und ich haben verabredet, daß wir zur Gauguin-Ausstellung gehen wollen, und du mußt dich bitte sehr darauf freuen.“ „Ich – ich – ja, aber…“ Toni blickte hilflos auf den Chefarzt. Er lächelte sein gutes, gewinnendes Lächeln und kam zu Hilfe. Er erklärte Eivind mit seiner ruhigen, gedämpften Arztstimme, welche Bedeutung es für Toni haben würde, für ihre Arbeit, ja, recht und schlecht, für ihre Stellung, wenn – und als er zwei Minuten geredet hatte, konnte Eivind nichts anderes tun, als scherzhaft seiner eifrigen kleinen Frau zuzutrinken und ihr viel Vergnügen für die Küchenstudien zu wünschen. Der Rest des Abends verging mit Geplauder, Musik und zum Schluß einer Stunde Bridge im gemütlichen Rauchzimmer. Im Taxi, auf der Rückfahrt zur Stadt, redeten sie nicht viel. Eivind hatte den Arm um Toni gelegt und sah verliebt in das frische Gesicht und in die Wolke roter Locken. Toni starrte vor sich hin, ihre Augen waren nachdenklich, ein kleines Lächeln zitterte um ihre Mundwinkel. Er drückte sie an sich. „Woran denkst du, Toni?“ flüsterte er mit dem Mund in ihrem Haar. Seine Stimme war verschleiert, und sein Herz klopfte vor Glück. Sie war sein, seine eigene, kleine Frau, dieses warme, lebendige, hübsche kleine Wesen in seinen Armen. „Ich denke daran“, sagte Toni, und ihre Stimme war ruhig und klar, „ich denke daran, daß so eine Wärmeplatte in einem Tablett wirklich ein Ei des Kolumbus ist und daß sie wohl kaum so schrecklich teuer sein kann, wenn man en gros einkauft.“ Da nahm Eivind seinen Arm zurück. Toni beugte sich nach vorn, stützte das Kinn in die Hand und dachte nach. Eivind sagte nichts mehr. Schweigsam erreichten sie das Hotel und gingen still zu Bett. Toni strich ihrem Mann leicht über Stirn und Kopf. Er lag mit den Händen im Nacken und starrte vor sich hin. „Woran denkst du, Liebster?“ „An elektrische Wärmeplatten“, sagte Eivind hitzig, drehte Toni den Rücken zu, zog die Decke über den Kopf und schlief ein. Jedenfalls tat er so. Eivind war am nächsten Morgen angelegentlich mit seiner
Zeitung beschäftigt und hatte wenig Zeit zum Reden. Toni ließ ihm seine Ruhe, sie sah ihm verstohlen zu und dachte sich das Ihre. Sie fühlte sich unsicher, wollte gern etwas Freundliches zu ihm sagen, wollte ihn in gute Laune versetzen, wußte aber nicht, wie sie die Sache anpacken sollte. Deshalb schwieg sie, sah auf die Uhr und war froh, als es Zeit war, zum Zug zu gehen. Sie wartete und sah fragend auf Eivind. Würde er sie nicht zum Bahnhof begleiten? Aber er wünschte ihr nur viel Vergnügen und sagte ganz obenhin, er würde einige Besorgungen machen, ehe er zum Rendezvous mit Frau Brachfeldt ginge. Und so mußte Toni allein zum Zug gehen. Die Mißstimmung hing ihr noch eine Weile nach. Aber die Laune stieg, je weiter sie sich vom Hotel entfernte. Sie freute sich, das vielbesprochene Fräulein Broberg zu treffen und eine Menge neuer Eindrücke einzusaugen, neue Ideen, die sie dem Chefarzt Stendal vortragen würde. Ihre Gedanken machten einen Sprung, heim in „ihr“ Krankenhaus, und mit einemmal fühlte sie eine große und lebendige Freude bei dem Gedanken daran, daß sie in zwei Tagen wieder dort wirken konnte. Ob man sie wohl vermißt hatte? Wie ging es wohl Frau Gregersen, die Tag und Nacht an ihre Kinder dachte? Arme Frau Gregersen, es graute ihr so vor der Operation, weil sie Angst hatte, von ihren Kindern wegzusterben… Und das kleine Fräulein Hagen von Nummer 23? Arme Kleine, ihr Gesicht war entstellt worden, und sie hatte Angst, ihren Verlobten wiederzusehen. Fräulein Hagen, die lang und breit von der Aussteuer erzählt hatte, die sie sich genäht – ein Dutzend von diesem und jenem – und die im Herbst heiraten wollte, und dann – war sie mit dem Rad gestürzt und hatte sich die eine Wange ganz aufgeschnitten und die halbe Nase. Und wie ging es wohl dem alten Opa im Saal der medizinischen Abteilung? Der alte Opa, der nie Besuch bekam, aber immer von seinen einzigartigen Enkelkindern sprach. Nun ja, die Familie hatte wohl genug zu tun, daheim auf dem Hof, nun, da er im Krankenhaus war. Toni hatte Verbindung mit der Familie aufgenommen und hoffte nur, daß Opa inzwischen von diesen goldigen Enkelkindern Besuch bekommen hatte. Toni war ganz in ihre Gedanken versunken, und die kurze
Strecke mit der Lokalbahn war rasch zurückgelegt – ehe sie sich umsah, war sie angekommen und spazierte zum Krankenhaus hinauf. Die Sonne blitzte in den Fensterreihen, und die Blumen leuchteten ihr in allen Farben entgegen. So sollte ein Krankenhaus aussehen! Der Chefarzt empfing sie herzlich und führte sie direkt in die „Unterwelt“, wo es strahlend hell war und freundlich, wie überall im Hause. Vor einer weißlackierten Tür hielt er an. „Lotta Broberg“, las Toni auf einem diskreten kleinen Schild. Und Lotta Broberg offenbarte sich als eine kräftige, frische, rotwangige Frau, gut um die Dreißig herum. Ja, der Chefarzt hatte schon von Frau Löngard erzählt, und Fräulein Broberg wollte mehr als gern dem norwegischen Gast ihr Königreich zeigen. Und so erlebte Toni einen höchst lehrreichen Tag. Der Raum, in dem Fräulein Broberg sie empfing, war ein praktisch eingerichtetes kleines Büro, weiß vom Fußboden bis zur Decke. Ein geräumiger Schreibtisch mit zwei Telefonen, ein paar gute Stühle und ein Bücherregal voller Bücher. Toni blickte verstohlen auf die Titel. Das waren durchaus nicht nur Kochbücher. Es waren Bücher über innere Medizin, Ernährungslehre. Eine Abhandlung über die verschiedenen Vitamine, ein Buch über Diabetikerdiät, Bücher über Säuglingskost, über Milchspeisen, Fisch, Gemüse und noch vieles mehr. Fräulein Broberg folgte Tonis Blick und lachte. „Ja, Lesen gehört dazu“, sagte sie mit ihrem amüsanten singenden Dialekt. „Erst Theorie – und eine Masse Theorie – und dann Praxis. Kommen Sie, ich zeige Ihnen die Küche.“ Eine Reihe junger Mädchen, von Kopf bis Fuß weiß gekleidet, arbeiteten in der riesengroßen hellen Küche. Von den weiß emaillierten Küchenherden duftete das gute Essen. Auf einem langen Tisch wurde gehackt und geschnitten, auf einem andern Tisch stand ein ganzer Aufmarsch von kleinen Schalen mit leckerem Nachtisch, verziert mit gespritzter Creme und geriebener Schokolade. „Himmel“, sagte Toni, „das sieht ja nicht aus wie eine Krankenhausküche, sondern wie die Küche in einer erstklassigen Konditorei.“ „Ja“, lächelte Fräulein Broberg, „das Essen muß hübsch aussehen, das ist schon das halbe Geheimnis, womit man die Leute
dazu bekommt, es zu essen. Dieses ist der Nachtisch für unsere zuckerkranken Patienten. Pudding mit Süßstoff, statt mit Zucker, und verziert mit Diabetikerschokolade. Hier haben wir langsam mit dem Essen für die Nierenpatienten begonnen. Das ist immer ein kleines Kunststück, es ohne Salz und Gewürze wohlschmeckend zu machen. Aber wenn man genügend schmackhaftes Gemüse herbeischaffen kann, geht es trotzdem.“ Toni bewunderte die riesengroßen Suppenkessel, die modernen Dampfkochtöpfe, und als Fräulein Broberg die Tür zum Kühlraum öffnete, fiel der Gast in plötzliche Ekstase. Der Kühlraum war voll der leckersten Sachen: fertig gerupfte Hühner und Küken, Tomaten, eine Menge von Eiern, Sahneflaschen und unzählige andere ausgesuchte Delikatessen. „Himmel“, sagte sie, „in diesem Krankenhaus möchte ich gern liegen.“ „Ja, aber da müssen Sie sich eine Krankheit anschaffen, die strenge Diät erfordert“, sagte Fräulein Broberg. „Bedenken Sie, daß diese Delikatessen für die Patienten sind, die kein gewöhnliches Essen vertragen. Und ich versichere Ihnen, daß Sie auf Hühnerbrust und Sahne verzichten und lieber Salzhering und Erbsen essen würden, sofern Sie es vertragen.“ „Haben Sie wirklich Bedarf für all den Kleinkram da?“ fragte Toni und wies auf eine Reihe niedlicher kleiner Töpfe und Pfannen, richtige kleine Puppensachen. Die stachen so merkwürdig ab von den Hundertlitersuppenkesseln und dem großen Kartoffelkessel. „O doch, jeden Tag“, versicherte Fräulein Broberg. „Das ist für die Wunschdiät – all diese Sachen.“ „Wunschdiät?“ „Ja, das haben wir nämlich auch. Wenn es unmöglich ist, einen Patienten zum Essen zu bewegen, so wird ihm erlaubt, sich das eine oder andere Lieblingsgericht zu wünschen, und das bereite ich dann gerne selber und bringe es auch selbst, und damit ist meist die Sache im Lot. Damit ist dann der Appetit wieder geweckt, meine ich. Freilich kann man auch viele sonderbare Wünsche hören. Ein Bauer von Norrland, der eine schwere Operation hatte und eine Woche ganz leichte Kost haben mußte und den Appetit vollständig verloren hatte, wollte nicht glauben, als er anfangen sollte, wieder normal zu essen, daß man in einem Krankenhaus Essen bestellen könne wie in einem Café. Als wir ihn endlich davon überzeugt hatten, sagte er mit Inbrunst:
„Ach, wenn ich einen großen Teller gute, althergebrachte Heringssuppe bekommen könnte, mit viel Thymian darauf, so wie wir sie bei uns essen, da würde ich sie wahrhaftig aufessen, jawohl, das würde ich!“ Und tatsächlich bekam er Heringssuppe. Ja, Sie können verstehen, mein Ehrgeiz war geweckt, ich gelobte mir selbst, er sollte eine Heringssuppe bekommen, die er nie im Leben vergessen würde. Und obwohl ich sehr beschäftigt war, nahm ich mir Zeit, zuzusehen, wie er diese Suppe probierte. Kein Zweifel, der Weg zum Herzen des Mannes geht durch den Magen. Er nahm erst einen Löffel, sehr vorsichtig – dann ganz schnell noch einen, kaute und genoß es, und endlich hatte er so viel Atem, daß er seine Bewunderung und Überraschung ausdrücken konnte. Es war das erstemal, daß er sein Lieblingsgericht aß, ohne nachher die Gräten aus dem Mund klauben zu müssen.“ Toni verstand ausgezeichnet, daß ein großer Teller eines Leibgerichts sowohl gegen das Heimweh helfen, wie auch für die Heilung gut sein kann. „Sie müssen einen guten Einblick in die Verfassung der Patienten bekommen, ich hätte beinahe gesagt, in ihr Seelenleben“, versuchte Toni sich vorzutasten. „Ja, darauf können Sie sich verlassen. Die Patienten blicken oft auf Ärzte und Schwestern wie auf etwas Fernes und Gefährliches. Sie fühlen sich oft klein und unterlegen und hilflos, wenn sie so daliegen als Bett Nummer soundso, und lateinische Krankheitsbezeichnungen über ihren Köpfen schweben. Aber wenn dann ein ganz alltäglicher Mensch kommt und von etwas so Irdischem wie Essen redet, da fühlen sie sich mehr auf der Höhe der Situation. Und der Weg vom Essen zu den übrigen Problemen des Alltags ist nicht lang. Und viele von ihnen brauchen jemand zum Aussprechen. Ach ja, ich höre dies und das, das wissen Sie ja, Sie sind ja selber Krankenhauskurator. Finden Sie es nicht interessant?“ „Ich liebe meine Arbeit“, entfuhr es Toni. „Und ich die meine“, sagte Fräulein Broberg. „Daß ich auch in Ihr Fach hineinpfusche, dafür kann ich nichts, das kommt wirklich bloß von meiner Kost und dem Zutrauen, die sie den Patienten einflößt.“ Das Telefon läutete, und Fräulein Broberg nahm einen Bescheid entgegen.
„Jetzt können Sie mich zu einem Patienten für Wunschdiät begleiten, Frau Löngard. Hier ist ein weißer Kittel, bitte!“ Sie nahmen einen Fahrstuhl zur medizinischen Station hinauf und betraten ein Einzelzimmer, in dem eine ältere Dame lag. „Guten Morgen, Frau Jönsson. Ich bin Fräulein Broberg, die Leiterin der Diätküche hier. Ich hörte, daß Sie schlechten Appetit haben, und da dachte ich, wir könnten mal etwas extra Gutes für Sie kochen, wenn Sie uns sagen, was Sie gern mögen.“ Die Patientin drehte ein wenig den Kopf. „Das ist nett von Ihnen, Fräulein – aber ich kann nicht – ich mag wirklich nichts – der Gedanke an Essen – machen Sie sich keine Umstände…“ „Das ist aber schade. Und ich glaubte, ich könnte Sie zu Mittag mit einem delikaten Stückchen Hühnerfleisch verlocken…“ Frau Jönsson drehte den Kopf noch eine Kleinigkeit mehr. „Hühnerfleisch! Nein, heutzutage kann man ja keine Hühner mehr zubereiten. Nein, in meiner Jugend, ankonnten wir kochen! Etwas Langweiligeres als ein Stück Hühnerfleisch in weißer Soße gibt es nicht, aber etwas Besseres als Hühner mit Sorgfalt zubereitet, gibt es auch nicht.“ Frau Jönsson sah ganz verträumt aus. Fräulein Broberg lauschte andächtig. „Ich sehe schon, daß Sie eine erfahrene Hausfrau sind“, versuchte sie. Da lächelte Frau Jönsson. „Ja, das kann man wohl sagen. Ich habe den Haushalt geführt und gekocht volle fünfzig Jahre. Fragen Sie nur meine Söhne. Und was Hühnerfleisch betrifft…“ „Könnten Sie mir nicht ein gutes Rezept geben, Frau Jönsson? Das heißt, wenn es kein Familiengeheimnis ist…“ Jetzt richtete sich Frau Jönsson im Bett auf, und ihre Wangen färbte ein schwaches Rot. „Kennen Sie Hühnerpastete mit Spargelspitzen und Champignons? Das ist ein Gericht! Es war meines seligen Mannes Leibspeise. Heutzutage bekommt man so etwas nicht.“ „Sie nehmen Blätterteig dazu?“ fragte Fräulein Broberg und setzte sich betulich zurecht, ganz aufmerksame Schülerin der erfahrenen Hausfrau. „Natürlich nehme ich Blätterteig. Der soll leicht und luftig sein, wissen Sie, und hoch, in delikaten Flocken, nicht wahr? Und das Hühnerfleisch in kleinen Würfeln, gemischt mit gehackten Champignons und eine erstklassige holländische Soße, der
Hühnerbrühe und etwas Sahne zugesetzt ist, aber ja keine Milch.“ „Nein, natürlich nicht“, stimmte Fräulein Broberg zu. „Und ein rohes Eigelb ganz zum Schluß“, fuhr Frau Jönsson fort. Ihre Augen hatten einen eifrigen Ausdruck angenommen. „Ach ja, zu meiner Zeit, da konnten wir kochen. Aber in so einem Krankenhaus, wo man für mehrere hundert Menschen kocht, muß das Essen ja unpersönlich werden, die reine Fabrikware…“ „Ja, so ist es ja immer mit den großen Küchen“, stimmte Fräulein Broberg zu. „Aber nun will ich Sie nicht länger plagen, Frau Jönsson, tausend Dank für das Rezept, und recht gute Besserung, Frau Jönsson.“ „Wenn Sie einmal das Rezept für meinen Apfelkuchen haben wollen…“, sagte Frau Jönsson. „Schrecklich gern, das können Sie sich denken.“ Toni kicherte, als sie wieder den Korridor betraten. Und unten in der Küche kam Fräulein Broberg sofort in Fahrt. Fertigen Blätterteig habe sie immer im Kühlraum, erklärte sie, und fertiggekochtes Hühnerfleisch auch. Ihre flinken Finger arbeiteten rasch. Und nach einer halben Stunde stand die Hühnerpastete da, so delikat, daß Toni das Wasser im Mund zusammenlief. „Ich muß mit hinaufgehen“, bettelte sie. Und so wanderte sie wieder hinter Fräulein Broberg her, die das appetitliche Tablett mit dem blanken Geschirr und der glänzend sauberen Serviette trug. „Also jetzt, Frau Jönsson“, sagte Fräulein Broberg, „nun bin ich aber wirklich gespannt. Jetzt müssen Sie kosten und mir eine richtige fachmännische Kritik geben.“ Frau Jönsson setzte sich im Bett auf und blickte mit großen Augen auf das Tablett. „Die sieht richtig fein aus“, sagte sie mit Hausfrauenstimme. „Eine Idee zu hell vielleicht – ach nein, im Grunde doch nicht – lassen Sie mich kosten…“ Sie kostete. Sie kostete lange und gründlich. Kostete so lange, bis kein bißchen mehr übrig war. „Sie können es ja“, sagte sie anerkennend. „Das war ja ganz ausgezeichnet. Aber ein andermal müssen Sie die Champignons nicht ganz so fein hacken. Sonst war es ganz so, wie ich es selber gemacht hätte.“ Sie sagte es im vollen Ernst, und Fräulein Broberg war sich klar darüber, daß es das höchste Lob bedeutete. „Die haben Sie für Zeit und Ewigkeit gewonnen“, lachte Toni
hinterher. „Morgen wird sie essen, was Sie ihr auch bringen, bloß um zu sehen, ob Sie es wirklich können. Und Sie werden jeden Tag ein neues Rezept probieren müssen.“ „Darüber bin ich mir ganz klar“, lächelte Fräulein Broberg. „Es kommt nur darauf an, das Interesse der Patienten zu wecken, den Punkt zu finden, wo sie reden können und wollen, und dann beherrsche ich die Situation.“ Toni aß zeitig zu Mittag mit Fräulein Broberg. Das war ein sehr vielseitiges Essen. Sie mußte von allem kosten. Fleischbrühe mit delikaten kleinen Klößen von der Diabetikerdiät, pochierte Eier von der Magengeschwürliste, gekochtes Kalbfleisch und Blumenkohl von den Nierenpatienten, und zum Schluß schwelgte sie in einem wunderbaren Fruchtsalat der Gallenleidenden. Dann kam ein höllenstarker Kaffee. Wenn er überhaupt zu einer Diät gehörte, mußte es die Hebammendiät sein, lächelte Fräulein Broberg. Toni nahm herzlich Abschied von Fräulein Broberg und rannte zum Zug, denn es war spät geworden, und sie sollte ja mit Eivind zum Freilufttheater nach Skansen. Eivind! Lieber Himmel, sie hatte den ganzen Tag nicht an Eivind gedacht! Sie war mit Leib und Seele in diesem Krankenhaus, den Patienten und Fräulein Broberg aufgegangen. Im Zug machte sie sich eine Menge Notizen, und ehe sie es wußte, war sie wieder im Hauptbahnhof Stockholm angekommen. Sie fand Eivind im Hotelzimmer. Er war aufgeräumt und guter Laune. Er hatte den ganzen Vormittag auf der Kunstausstellung zugebracht, hatte zu Mittag gegessen und mit Frau Brachfeldt Tee getrunken. Er war mitteilsam, und während Toni sich wusch und umkleidete, erklärte er ihr lang und breit Gauguins Technik. „Man vergißt die Linien“, erklärte er. „Diese Südseebilder wirken wie Farbenexplosionen, die einem entgegenschlagen…“ Unfaßbar, daß ein Fleischgericht so gut schmecken kann, ganz ohne Salz, dachte Toni. „Das merkwürdigste Bild war aber doch eines in lauter braunen Nuancen“, sagte Eivind. Wenn Fräulein Broberg nur eine Norwegenreise machen wollte! dachte Toni. Und Chefarzt Stendal mit ihr persönlich sprechen könnte! „Frau Brachfeldt versteht wirklich etwas von Kunst“, sagte Eivind nach einer längeren Ausführung über das braune Bild. Was für eine verantwortungsvolle Arbeit, dachte Toni und fuhr
laut fort: „Du kannst dir nicht vorstellen, Eivind, wieviel eine Leiterin einer solchen Diätküche können muß. Sie bekommt Bescheid, daß das Tagesmenü eines Patienten soundso viel Fett enthalten darf, soundso viel Eiweiß und Kohlehydrate, weder mehr noch weniger, und dann ist es ihre Aufgabe, das Menü so zu komponieren, daß es medizinisch richtig ist, gut schmeckt, abwechslungsreich ist und appetitanregend aussieht. Das ist nicht nur Kochen, siehst du, das ist eine Wissenschaft.“ Eivind war gut gelaunt und lachte. „Dies ist deutlich ein Treffen zwischen Kunst und Wissenschaft“, sagte er und küßte Toni. „Wenn du fertig bist, gehen wir. Wir sollten ja eigentlich etwas Zeit haben vor der Vorstellung und einen Spaziergang auf Skansen machen.“ Es war ein warmer und schöner Sommerabend, und sie genossen ihn wirklich und aufrichtig. Sie freuten sich, die Tiere auf Skansen zu sehen und freuten sich über die Theatervorstellung, und zuletzt genossen sie das herrliche Abendessen in der behaglichen Umgebung von „Högloftet“. Sie hatten beide eine Weile geschwiegen, jetzt lächelte Toni. „Weißt du, woran ich denke, Eivind?“ „Entweder an farcierte Küken oder an Fleischbrühe mit Eiernockerln“, lachte Eivind. „Nein, diesmal nicht. Ich denke an Frau Brachfeldts Philosophie. Wie eine Ehe vollkommen harmonisch sein kann, selbst wenn die Ehepartner verschiedene Interessen haben. Wie gesund das für beide ist, abschalten zu können in der gegenseitigen Gesellschaft. Daß man Fach Fach sein lassen soll und bloß Mensch sein und nichts anderes, wenn man mit dem zusammen ist, den man am liebsten hat.“ Eivind fand ihre Hand unter dem Tisch. „Toni, Kleines, ich habe dich sehr lieb“, flüsterte er. Und ihre Hand gab den Druck zurück. Der Mond war aufgegangen. Arm in Arm gingen sie zurück zur Stadt, bis Toni müde wurde und sie ein Taxi auftrieben. Und im Auto saß sie fest an ihn geschmiegt. „Und morgen geht’s also heimwärts“, sagte Eivind. „Bist du zufrieden mit deiner Hochzeitsreise?“ „Und ob! Es war wunderbar“, flüsterte Toni. Diesen Abend schlief sie in Eivinds Arm. Er lag und schaute sie an. Wie sie so dalag, ruhig und gleichmäßig atmete. Mit ihren roten
Bäckchen und den zerzausten Locken sah sie aus wie ein kleines Mädchen. Jetzt war sie kein Kurator, keine tüchtige berufstätige Frau. Sie war nur seine Frau. Und so liebte er sie. Toni schloß die Tür zu Nummer 15 leise hinter sich und blieb nachdenklich im Korridor stehen, die Hände tief in den Taschen ihres weißen Kittels vergraben. Sie hatte Furchen auf der Stirn und biß sich auf die Unterlippe. Die Stationsschwester ging durch den Korridor und blieb stehen, als sie Toni sah. „Na, Frau Löngard? Sie sehen ja so nachdenklich aus?“ Toni blickte auf. „Ja, ich habe beinahe eine Stunde bei Frau Torverud gesessen.“ „Ach, die Arme. Ja, das ist schlimm.“ „Wissen Sie, wieviel der Chefarzt ihr gesagt hat?“ „Ich glaube, nichts. Wollen Sie nicht selbst mit ihm sprechen?“ Toni blieb noch einige Sekunden stehen, dann hob sie den Kopf und warf die Haare zurück. „Ja. Ich laufe hinunter und sehe, ob er im Sprechzimmer ist.“ Sie ging langsam die Treppe hinunter und dachte nach. Frau Torverud war ein prachtvoller Mensch. So ruhig, so ausbalanciert, so klug. Eine kräftige, frische Bauersfrau war sie, ein Arbeitseisen und eine gute Mutter für die vier Kinder. Ja – die Kinder. Die Gedanken kreisten nur um die Kinder. „Sie verstehen“, hatte sie eben gesagt, „ich finde, ich habe eine große Verantwortung. Und nun liege ich hier und bekomme nicht mal zu wissen, was mir fehlt. Ich gestehe ehrlich, daß ich bange bin, Frau Löngard. Nicht bange vor der Krankheit, aber vor der Ungewißheit. Bitte, sagen Sie mir die Wahrheit! Wenn es ganz schlimm mit mir ist, muß ich es wissen. Wenn meine Kinder die Mutter verlieren sollen, so ist da viel zu ordnen. Die Zeit ist kostbar.“ Toni hatte dagesessen und in das ruhige harmonische Gesicht geschaut, ruhig, trotz der Angst, die es verriet. „Gibt es etwas, womit ich Ihnen helfen kann?“ hatte sie gefragt. „Kann ich für Sie an Ihre Kinder schreiben, oder…“ „Wenn Sie mir einen klaren Bescheid verschaffen könnten, so daß ich wüßte, woran ich bin“, sagte Frau Torverud. „Glauben Sie mir, ich habe keine Angst vor dem Tod. Da müssen wir nun einmal hindurch. Aber ich denke an die, die weiterleben.“
„Haben Sie das dem Chefarzt gesagt?“ fragte Toni. „Der Chefarzt“, wiederholte Frau Torverud, „ich kann ja nie mit ihm sprechen. Wie könnte ich das, wenn er einmal am Tag hierherkommt mit einem ganzen Schwanz von Schwestern und Assistenten. Das ist es ja gerade, daß ich nie reden und nie einen richtigen Bescheid bekommen kann. Deshalb ist es so gut, daß Sie gekommen sind. Sie müssen ja ein reiner Segen sein für die Patienten.“ „Ich werde mit dem Chefarzt sprechen“, hatte Toni gesagt. Nun wollte sie es tun. Es war nicht leicht, er war ein älterer, erfahrener Arzt, sie eine verhältnismäßig junge und unerfahrene Frau in einer neuen Stellung. Ihre ganze Arbeit war im Grunde ein Experiment. Aber wenn eine Kranke so entschlossen darum bat, ihr die Wahrheit zu sagen, dann mußte sie das dem Chefarzt mitteilen. Sie mußte ihn aufsuchen. Der Chefarzt war in seinem Sprechzimmer und empfing sie freundlich. „Nun, Frau Löngard? Welche Seele wollen Sie mir heute unterbreiten?“ „Ich möchte nur fragen, wieviel Frau Torverud von Nummer 15 weiß. Wieviel darf ich ihr sagen?“ „Tja“, sagte der Chefarzt, „ich habe vermieden, ihr zu sagen, wie schlimm es ist. Ich sagte, der Wahrheit entsprechend, sie habe ein Magengeschwür gehabt, und dies sei nun operiert, aber…“ „Es ist Magenkrebs, nicht wahr?“ „Gewiß. Und die Operation verlief ja gut, sie ist ein starker Mensch.“ „Ja“, sagte Toni, „sie ist ein starker Mensch, seelisch stark.“ Und sie wiederholte das Gespräch mit Frau Torverud. Der Chefarzt überlegte. „Ja, was Sie mir da sagen, beweist, daß Frau Torverud ein Mensch ist, der allem klar ins Auge schaut. In solchen Fällen ist es manchmal besser, den Patienten nicht im ungewissen zu lassen. Er stellt sich sonst alles noch schlimmer vor, als es in Wirklichkeit ist. Schließlich weiß niemand, wann er sterben muß. Und Krebskranke, wie Frau Torverud, bei denen eine Operation gut verlaufen ist, können noch viele Jahre lang ganz ohne Beschwerden leben. – Was würden Sie denn an meiner Stelle tun, Frau Löngard?“ Toni dachte nach. Sie fühlte die Verantwortung so schwer auf sich lasten, daß ihr schauderte. „Ich glaube“, kam es langsam, „Frau Torverud gehört zu den
seltenen Menschen, die es ertragen, die Wahrheit zu hören. Ich meine, ein seelisch starker und gesunder Mensch hat einen Anspruch darauf, die Wahrheit über sich selbst zu erfahren. Es kommt mir so vor, als ob, ja, als ob Frau Torverud zu gut dafür wäre, dazuliegen und zum Narren gehalten zu werden. Ich finde, sie ist zu gut dazu, mit Trostworten abgespeist zu werden, wie man sie gegenüber einem Kind gebraucht. Sie glaubt uns unsere Ausreden nicht. – Ich meine, man sollte ihr die Wahrheit sagen.“ Der Chefarzt dachte nach. „Natürlich“, sagte er langsam, „natürlich habe ich Fälle gehabt, wo ich die Wahrheit gesagt habe. Vielleicht am ehesten, wo sie eine traurige Gewißheit war. Aber – in diesem Fall weiß ich es faktisch nicht. Es kann schlecht gehen, aber es kann auch gut gehen. Wenn wir ihr sagen, sie habe Magenkrebs, und es ist möglich, daß eines Tages die Krankheit erneut ausbricht, so wird sie in ewiger Angst leben.“ „Tut sie das nicht auch jetzt schon?“ wandte Toni ein. „Sie haben recht. Diese Angst können wir ihr nicht fortnehmen. – Sie meinen, es bedeutet für Frau Torverud eine Beruhigung, wenn sie weiß, wie es um sie steht, und wenn sie ihr Leben danach einrichten kann?“ „Ja“, sagte Toni. Der Chefarzt richtete den Blick auf sie. „Gut, Frau Löngard“, sagte er. „Wir wollen es in diesem Fall tun. Gerade weil wir mit gutem Gewissen sagen können, daß die Krankheit auch einen guten Verlauf nehmen kann. Aber man muß ihr auch über die andere Möglichkeit klaren Wein einschenken. Wollen Sie es ihr sagen?“ Toni biß sich auf die Lippen. Es graute ihr, sie fror bei dem Gedanken. Aber trotzdem. Waren es nicht gerade solche Aufgaben, die sie übernommen hatte? Sie hatte im vorhinein gewußt, daß ein Krankenhauskurator sich nicht nur durchs Leben lächeln kann. Hatte sie nicht selbst diese Arbeit gewählt? Kurator zu sein, war gewiß nicht dasselbe, wie an den Krankenbetten salbungsvollen Trost zu spenden. „Ja“, sagte Toni, „ich will es tun.“ Der Chefarzt holte sein Journal und nahm Frau Torveruds Fall mit Toni genau durch. Zu ihrer Ausbildung hatte auch ein gründlicher Kurs in Krankheitslehre gehört, und so folgte sie genau mit. „So“, sagte der Chefarzt, „gehen Sie heute noch einmal zu Frau Torverud. Sie hat Vertrauen zu Ihnen. Jetzt können Sie es halten, wie
Sie wollen. Wenn sich erweist, daß Sie recht haben in diesem Fall, werde ich in Zukunft mit noch größerem Respekt auf Sie hören.“ Toni erhob sich. Der Chefarzt reichte ihr die Hand. „Sie müssen mich verständigen, wie es ging.“ „Selbstverständlich, Herr Chefarzt.“ Und so ging Toni wieder hinauf auf Nummer 15. Frau Torverud lag mit geschlossenen Augen. Aber sie schlief nicht. Sie schlug die Augen auf, als Toni kam. Die Mitpatientin in dem andern Bett schlief fest und sicher. Toni setzte sich ans Bett. „Ich habe mit dem Chefarzt gesprochen“, sagte sie, und es glückte ihr, die Stimme ruhig und fest zu machen. „Jetzt brauchen Sie mich nur zu fragen, dann werde ich auf alles antworten, was Sie wissen wollen.“ Aus Tonis Stimmklang konnte Frau Torverud gar nichts erraten. So fragte sie leise: „Was fehlt mir denn?“ „Im Augenblick sind Sie bloß müde und mitgenommen nach der Operation“, sagte Toni. „Aber Sie wurden wegen Magenkrebs operiert.“ Sie sagte es mit Willen geradeheraus, ohne vorsichtige Einleitungsworte zu gebrauchen. „Krebs“, wiederholte Frau Torverud still. „Krebs“, sagte sie noch einmal. Tonis Herz schlug rascher. Gott – machte sie es doch falsch? Hätte sie es lieber nicht sagen sollen? Dann wandte Frau Torverud den Kopf gegen Toni und fragte leise und ruhig: „Und wie sind jetzt die Aussichten? Konnte alles wegoperiert werden?“ „Ja“, sagte Toni. „Alles.“ „Aber Krebs kann wiederkommen.“ „Das kann er“, sagte Toni. „Aber es bestehen auch gute Chancen, daß er nicht wiederkommt. In einigen Tagen werden Sie mit der Röntgenbehandlung beginnen. Die bekommen Sie gerade deshalb, um zu verhindern, daß er wiederkommt.“ „Aber ganz sicher kann ich nie sein.“ „Nein, nicht hundertprozentig. Aber es gibt eine Menge Beispiele, daß Krebs nicht wiedergekommen ist. Sie haben Chancen,
siebzig und achtzig Jahre zu werden. Aber…“ „Ja. Ich verstehe“, sagte Frau Torverud. Ein Ausdruck unendlichen Friedens glitt über ihr Gesicht. Sie starrte vor sich hin, und nach einem langen Schweigen fing sie zu sprechen an, leise und sehr deutlich. „Es ist gut, daß ich es nun weiß. Nun weiß ich jedenfalls, daß ich ordnen muß, was zu ordnen ist, so daß ich, wann immer, ruhig sterben kann. Und wenn ich trotzdem am Leben bleibe, so will ich mich über jeden einzigen Tag freuen. Ich werde ihn wie ein Geschenk entgegennehmen.“ Sie schwieg wieder. Dann lächelte sie und wandte ihren Kopf gegen Toni. „Hat man seine Pflicht hier im Leben getan, kann man auch ruhig sterben. Ich will nicht prahlen. Ich versuche, nüchtern zu denken, und da weiß ich, ich habe meine Pflicht getan.“ Sie sah vor sich hin. Die Augen starrten in eine Ferne, die Toni nicht kannte. „Als ich noch Kind war, wurde ich ein Bücherwurm genannt. Ich war tüchtig auf der Schule und später auf der Mittelschule in der Stadt. Ich würde noch weiter gegangen sein, aber da war Hans Jörgen, mein Mann, der Bauernsohn vom Nachbardorf. Ich war knapp neunzehn, als mein ältester Sohn geboren wurde. Im selben Jahr starb der Schwiegervater, und Hans Jörgen übernahm den Hof, zweiundzwanzig Jahre war er alt. Wissen Sie, was ein schwer zu bewirtschaftender Westlandhof bedeutet? Ein Hof, wo das Heu auf dem Rücken getragen werden muß, ein Hof, wo man die Kleinkinder anbinden muß, damit sie nicht über steile Abhänge hinunterfallen? Da war ich Bäuerin seit meinem neunzehnten Jahr. Meine Schwiegermutter wurde bald darauf krank und mußte gepflegt werden. Das mußte ich neben der Hofarbeit, der Kinderpflege und dem Haushalt noch besorgen. Ach ja, ich konnte meine Kräfte gebrauchen. Aber ich habe einen guten Mann. Wir haben schwer geschuftet, aber wir haben zusammen geschuftet. Und ich war glücklich. Glücklich war ich, mein ganzes Leben lang.“ Es war, als ob Frau Torverud laut dachte. Sie hielt eine große Rückschau über ihr Leben. „In den letzten Jahren ist es viel leichter gewesen. Aber sie brauchen mich noch. Die drei Jüngsten brauchen mich, vor allem Liv. Liv ist fünfzehn, und ein fünfzehnjähriges Mädel braucht die Mutter. Aber nun muß Liv lernen, erwachsen zu sein. Sie muß
lernen, das Schürzenband der Mutter loszulassen. Sie muß es lernen, solange sie mich noch hat.“ Wieder schwieg Frau Torverud. Die Stimme wurde matter. „Jetzt bin ich dreiundvierzig. Aber ich finde, gewissermaßen habe ich doch lange genug gelebt. Ich habe doch das vollbracht, was ich sollte, so daß es jetzt andere bloß fortzusetzen brauchen. Ich würde wohl noch gerne länger gelebt haben. Aber darf ich das nicht, so will ich glücklich sein über all das Gute, das ich gehabt habe.“ Sie flüsterte die letzten Worte. Und dann wurde es still. - Nach einer Weile erhob sich Toni. „Frau Torverud, wünschen Sie, daß ich etwas für Sie tue?“ Das stille ruhige Gesicht wandte sich gegen Toni. „Nein, danke. Jetzt nicht. Mir geht es so gut. Und nun sollen Sie gehen – gehen Sie jetzt nach Hause? Wohnen Sie im Krankenhaus?“ „Nein, ich nehme die Straßenbahn heim.“ „Heim zu Ihrem Mann. Ja, denn Sie sind ja Frau. Haben Sie einen guten Mann?“ „Ja“, sagte Toni mit einem warmen Blick, „das habe ich.“ „Das habe ich auch“, sagte Frau Torverud. „Wollen Sie mir helfen, ihm einen Brief zu schreiben? Morgen?“ „Gern auch heute, Frau Torverud.“ „Nein. Heute nicht. Diesen Brief will ich erst überlegen. Einen solchen Brief schreibt man nur einmal in seinem Leben. Und wenn ich ihn noch dazu diktieren muß, nein, nun sollen Sie heimgehen. Jetzt muß ich allein sein.“ Toni reichte ihr die Hand. „Ich weiß nicht, was ich Ihnen sagen soll, Frau Torverud.“ „Sagen Sie nichts. Das braucht es nicht. Dank dafür, daß Sie ehrlich zu mir waren. Und Dank, daß Sie mir zugehört haben. Jetzt möchte ich allein sein. Ganz allein.“ Toni kam es vor, als ob sie bei einer Andacht gewesen wäre. Sie ging in ihr Büro zurück, schloß den Schreibtisch ab und den Kartothekschrank, zog sich an und ging. Die Straßenbahn war voll. Sie scheute das Gedränge und die Unruhe um sich und zog es vor, zu Fuß heimzugehen. Sie war voller Frieden, beinahe voller Feierlichkeit, nachdem sie Frau Torverud angehört hatte. Die stille Stimme klang noch in ihr nach, sie folgte ihr, und sie kam sich klein und beinahe demütig vor gegenüber diesem einfachen, starken, wie aus einem Guß geformten Menschen. Solche Stunden bildeten die großen Meilensteine in ihrer
Arbeit. * „Na, da bist du ja endlich. Ich bin fast verschmachtet vor Hunger. Hast du Liebesbriefe für einen Seemann geschrieben oder einem weinenden Kind Märchen erzählt?“ Eivind hatte seinen neckenden Ton – war sanft und freundlich und half ihr den Mantel abzulegen. Toni brauchte Zeit, sich zu sammeln. Die Augen, die sie auf Eivind richtete, waren blank und ernst, dunkler als sonst, und mit einem fernen Ausdruck. „Pst, pst, komm auf die Erde zurück, mein Schatz. Berit jongliert mit geräucherter Zunge und Rübenpüree in der Küche, und ich habe Karten zum Walt-Disney-Film in der Tasche. Was kannst du dir noch wünschen? Außerdem schimpfe ich nicht im geringsten, obwohl du Fünfviertelstunden zu spät zu Mittag kommst. Hast du vielleicht keinen braven Mann?“ „Ja“, sagte Toni und erwiderte seinen Kuß. Aber ihre Gedanken waren unendlich weit weg. „Was kannst du dir noch wünschen?“ hatte Eivind gesagt. Und es durchfuhr sie: Frieden, Schweigen, Stille, Einsamkeit. Gerade jetzt. Gerade heute. Eine Stunde Alleinsein! Nicht genötigt sein, zu sprechen. Das Band nicht zerreißen müssen, das sie mit den Erlebnissen des Tages verknüpfte. Nicht gezwungen sein, die stille Andachtsstimmung zu zerstören! „Nun, mein Philosoph! Vergiß nicht Frau Brachfeldts Philosophie! Abschalten, wenn ich bitten darf! Keine Krankenhausgedanken mehr!“ Toni riß sich gewaltig zusammen und lächelte Eivind zu; und sie versicherte ihm, sie sei hungrig und freue sich auf das Essen. Und es sei gut, ein Mittagsschläfchen zu halten, und Walt Disney sei das Lustigste, das sie kenne. Aber am Abend, als sie im Kino saß und Eivind neben ihr vor Lachen schrie und zwischendurch bewundernde Ausrufe von sich gab, da mußte Toni plötzlich die Augen schließen. Die muntere Musik und das Gelächter des Publikums glitten aus ihrem Bewußtsein. Sie saß in einem stillen Krankenzimmer, an einem weißen Bett und fühlte, wie ein großer, kühler Frieden sich über sie senkte. Und aus der bleichen, blauen Stille kam eine Stimme und sagte:
„Mir geht es gut. Nun möchte ich allein sein. Ganz allein.“ Die Worte klangen ihr in den Ohren wieder. „Allein. Ganz allein.“ Dann rutschte Micky Maus eine Wendeltreppe rückwärts hinunter, und die Leute ringsum brüllten vor Lachen. Toni erwachte. Sie blinzelte in die Sonnenstreifen, die sich durch die Gardinenfalten stahlen. Dann gähnte sie, reckte sich und wurde sich bewußt, daß es Sonntag war. Sie wandte den Kopf nach Eivind. Er schlief. Es mußte noch früh sein. Sie hielt den Wecker in die Sonnenbahn und stellte fest, daß es halb acht Uhr war. Aus alter Gewohnheit erwachte sie pünktlich, obwohl sie sich vorgenommen hatte, heute lange zu schlafen. Sie kroch wieder unter die Daunen, aber der Schlaf wollte nicht kommen. Die Gedanken hakten sich fest, dort, wo sie am Abend zuvor losgelassen hatten, und die Gedankenmühle mahlte weiter. Frau Torverud sollte morgen heimfahren. Toni dachte an den Brief, den sie nach Frau Torveruds Diktat geschrieben hatte. Jedes Wort war wohlüberlegt. Nachdem sie eine ganze Nacht alles durchdachte, hatte Frau Torverud sich entschlossen, nicht die Wahrheit zu sagen: jedenfalls nicht die ganze Wahrheit! Sie hatte gesagt, sie sei glücklich, weil die Operation gut verlaufen war. Daß man erst wisse, wie schön das Leben ist, wenn man glaubt, es zu verlieren. Sie fragte, ob Klein Jörgen nicht vergäße, seinen Lebertran zu nehmen, ob die Bleß gekalbt habe; sie plauderte richtig gemütlich und alltäglich mit ihrer Familie. Jetzt war Frau Torverud schon lange auf gewesen, war im Krankenhausgarten spazierengegangen und hatte sich richtig frisch gefühlt. Ruhig und lächelnd bewegte sie sich, aß gut und schlief ruhig. Und Toni dachte an den einsamen, bitteren, grantigen Mann in dem Einzelzimmer auf der medizinischen Station, der sie angebellt hatte: „Was, zum Teufel, ist das denn für ein Gerenne in dieser Anstalt! Ist es nicht genug, daß schon der Pastor kommt und eine Seele retten will, nein – da kommt, Gott bewahre, auch noch eine Göre und will auch Seelen retten! Ich werde nach Ihnen schicken, wenn ich Sie sehen will, meine Liebe. Vorderhand will ich in Frieden gelassen werden.“ Sie war so verblüfft, daß sie sich ohne ein Wort zurückgezogen
hatte. Aber trotzdem: es war etwas an dem Mann, das sie anzog. Er stellte etwas ganz Neues vor. In der Regel waren die Patienten glücklich und dankbar, wenn sie kam. Fast immer hatten sie etwas auf dem Herzen. Aber dieser Bulle! Toni fühlte, daß sie ihn nochmals aufsuchen mußte, wenn aus keinem anderen Grunde, so aus reiner Neugierde. Jetzt hatte sie eine unbezwingbare Lust darauf, ein Lächeln auf diesem verbitterten Gesicht hervorzulocken. Eivind rührte sich im Schlaf. Der hatte es gut, er konnte schlafen, bis der Wecker rasselte. Aber heute rasselte er überhaupt nicht, heute war Ruhetag. Toni wälzte sich unruhig im Bett. Sie war müde. Wer doch noch eine Stunde schlafen könnte! Sie war sich nicht klar darüber, daß sie auf dem besten Wege war, sich zu überanstrengen. Sie wußte nicht, daß ihre Wangen in den beiden letzten Monaten schmäler geworden waren. Und sie verstand nicht, wie sie das mitnahm, die Sorgen und Kümmernisse von Hunderten von Menschen auf ihren Schultern zu tragen. Nein. Sie konnte nicht schlafen. Sie wurde nur müde vom Liegen. Plötzlich bekam sie Lust auf eine Tasse Kaffee. Eine Tasse warmen, schwarzen, extra starken Kaffee. Sie stand leise auf und zog ihren Morgenrock an. Heute kam Berit nicht, es war ihr freier Tag. Die Küche war so behaglich und rein gescheuert und frisch, es war angenehm, da zu hantieren. Sie wollte Eivind das Frühstück ans Bett bringen. Toni summte leise, während sie den Kaffee ziehen ließ und Eier kochte. Es war lustig, in der Küche zu schaffen, wo alles so blank und rein aussah. Im Grunde hatte sie nie Zeit, sich über die hübschen Sachen zu freuen, die sie besaß. Toni wurde immer besserer Stimmung, während sie in der Küche herumpusselte. Dann trug sie das Tablett hinein, setzte es vorsichtig auf den Tisch und sich selbst auf Eivinds Bettkante. Sie machte sich an die Arbeit, ihn zu wecken, erst mal versuchsweise mit einem Kuß auf die Stirn. „Grrr“, grunzte Eivind. Eine andere Reaktion stellte sie nicht fest. Sie küßte seine Augen. Da lag er still und hielt den Atem an, gab aber kein Zeichen, wirklich wach zu sein. Aber als sie seinen Mund küßte, bestand kein Zweifel mehr, daß er aufgewacht war. „Guten Morgen, mein Junge.“
„Ich bin nicht wach“, verkündete Eivind. „Du mußt mich weiterwecken.“ Toni lachte und weckte ihn sehr lange und sehr intensiv. „Jetzt bin ich wach“, sagte Eivind, „und nun ist sicher der Kaffee kalt geworden.“ Sie waren beide in guter und friedlicher Sonntagsstimmung. Der Tag fing so harmonisch an und blieb auch weiterhin harmonisch. Eivind half ihr nach dem Frühstück beim Aufwaschen und Staubwischen. Er setzte das Schlafzimmer instand, während sie einen Pudding zum Nachtisch bereitete. Dann machten sie zusammen einen langen Spaziergang im Sonnenschein. Toni bekam Farbe in ihre Wangen, und Eivind plauderte munter drauflos. „Du“, sagte Eivind und schob seinen Arm unter ihren, „ich muß dir ein Geständnis machen.“ „Sieh mal an! Schon jetzt!“ seufzte Toni. „Ja. Du mußt versuchen, es ruhig aufzunehmen. Ich bin nämlich verliebt.“ Toni drehte rasch ihren Kopf und starrte verblüfft ihren Mann an. Was meinte er damit? Eivind lachte laut über ihr erschrecktes Gesicht. Er drückte ihren Arm noch fester. „Ja, recht und schlecht verliebt. Noch dazu in eine verheiratete Dame. Sie hat rotes Haar und eine Stupsnase. Habe ich nicht einen sonderbaren Geschmack? Außerdem ist sie eine emanzipierte Berufsfrau. Aber sie ist auch eine wirkliche Frau – im Grunde.“ Toni lachte. „Ach, Eivind, du bist ein schrecklicher Quatschkopf.“ „Sei froh, daß du einen Mann hast, der Unsinn redet. Übermut ist ein Zeichen von Lebensüberschuß, der macht das Leben lebenswert. Siehst du, da bekommst du eine vernünftige, einfache und wertvolle Lebensphilosophie ganz kostenlos von mir zum Geschenk!“ „Das schlimmste ist, daß du recht hast.“ Toni dachte nach, kleine feine Falten erschienen auf ihrer glatten Stirn und auf ihrer sommersprossigen Nase. „Du ahnst nicht, wie drollig du aussiehst, wenn deine Sommersprossen mit den Runzeln zusammenstoßen. Ich kann es nicht lassen, diese freche, winzige Nase zu küssen.“ „Das wirst du hübsch sein lassen, bis wir heimkommen.“ „Also beeilen wir uns heimzukommen.“
Eivind nahm sie fest beim Arm. Auf dem Heimweg flüsterte er viele kleine, dumme, verliebte Worte in ihr Ohr, und Toni dachte, wenn er recht hat mit dem, was er über Lebensüberschuß sagte – und das hatte er wirklich –, so muß er selbst einen Fond von dem haben, was das Leben lebenswert macht. Sie hatten nach dem flotten Spaziergang Appetit bekommen, und Toni beeilte sich mit dem Essen. Eivind war nicht aus der Küche zu halten. Er schaute verliebt auf Tonis flinke Hände, sie schnitten und hackten und mischten, und er genoß den Anblick seiner schlanken Frau, die von der Küche zum Zimmer und zur Speisekammer lief. Er hatte so selten Gelegenheit, seiner Frau bei der Hausarbeit zuzusehen. Meist kam sie erschöpft nach Hause und war glücklich, ein wohlgeordnetes Haus und gutes Essen vorzufinden. Niemand konnte sagen, daß der Haushalt unter ihrer Abwesenheit litt. Berit war eine Perle, und Eivind hatte bestimmt keinen Grund, sich zu beklagen. Aber es war doch etwas anderes, seine eigene Frau zu sehen, wie sie in ihrem Heim wirkte und arbeitete. „Du“, sagte Eivind, als er sich zum dritten Male von dem Rohkostsalat nahm, „du hast deinen Platz im Leben verfehlt.“ „Was du nicht sagst! Weil ich dich geheiratet habe?“ „Nein – im Gegenteil, hätte ich beinahe gesagt. Weil du dich nicht hundertprozentig mit mir verheiratet hast.“ „Habe ich nicht? Geh, hör auf!“ „Na, na, beruhige dich. Wenn du mir die Worte so im Munde verdrehst, dann… Du mußt zugeben, daß du mindestens fünfzig Prozent mit dem Krankenhaus verheiratet bist und nur die anderen fünfzig Prozent mit mir. – Aber es war eigentlich nicht das, was ich sagen wollte. Mit dieser Tatsache habe ich mich gewissermaßen abgefunden. Nein, ich wollte sagen, daß du Köchin sein müßtest. Das ist als Kompliment gemeint…“ „Ja, das verstehe ich schon. Und ich bin tief gerührt. Jetzt kommt der Nachtisch, da darfst du nicht noch mehr vom Salat essen. Spare etwas von deinem Appetit auf.“ Das war ein vernünftiger Rat, denn der Karamelpudding war erstklassig. „Na“, sagte Toni nach dem Essen, „jetzt brauchst du ein Mittagsschläfchen.“ „Du auch.“ „,Nein, ich habe noch etwas zu tun. Geh nur und lege dich hin, dann werde ich dich mit einer Tasse Kaffee aufwecken, wie du sie noch nie erlebt hast.“
Eivind ließ sich überreden. Er legte sich lang auf das Sofa und genoß es ganz unverschämt, sich gut einpacken zu lassen und einen „Gutenachtkuß“ von Toni zu bekommen. Und er genoß den fernen Lärm aus der Küche. Das Geräusch des Sahneschlägers, das Geräusch des Zusammenkratzens, der Ofentür, die zugeschlagen wurde, lauter Dinge, die davon erzählten, daß Toni frischgebackene Kuchen zum Kaffee servieren würde. Eivind schlief nicht. Er lag mit geschlossenen Augen und dachte nach. Er machte sich klar, wie unendlich lieb er seine Frau hatte, er genoß bewußt jeden Augenblick dieses Tages. Er genoß es, wie sie da herumpusselte in ihrer geblümten Schürze, wie sie in der Küche arbeitete; er genoß ihre Stimme, wenn sie ihm bei Tisch etwas anbot, und wenn sie vom Essen sprach oder von den Blumen am Fenster, oder von seinen Kragen, die Berit etwas zu sehr gestärkt hatte. Er würde es nie direkt zu Toni sagen, aber in seinem Innersten wünschte er brennend, daß sie ihre Krankenhausstellung bald aufgeben, Berit kündigen und ganz in ihrer Hausfrauenaufgabe aufgehen möge. Ja, wäre sie nur eine Stenotypistin gewesen, dann hätte er sie darum bitten, es verlangen können. Da wäre das Problem so einfach zu lösen gewesen. Aber er hatte kein Recht, einen klugen und wertvollen Menschen von seiner Lebensaufgabe loszureißen. „Zum Kuckuck!“ murmelte Eivind. Und dann gab er sich eine kleine Weile seinem Lieblingsgedankenspiel hin. Er malte sich aus, wie es wäre, Toni ständig daheim zu haben, nicht darauf gespannt zu sein, ob sie zu Hause war, wenn er selbst aus der Bank kam. Sie nicht in diesem intelligenten und wissenden Ton über Fälle im Krankenhaus reden zu hören. Nun ja. Intelligent und wissend, ihre Stimme war nicht nur intelligent, die war auch voller Wärme und Mitgefühl und Verständnis. Ab und zu konnte er fast die Patienten beneiden, die Gegenstand all ihrer Wärme waren, all des klugen Interesses, während er selbst mit einer Art von freundlicher Kameradschaft und im übrigen mit der Fürsorge einer tüchtigen Hausgehilfin abgespeist wurde. Nein, er hatte ja selbst gewählt. Er hatte es vorher gewußt. Aber es war trotzdem nicht so leicht. Oft war es vorgekommen, daß er mit Toni über Dinge reden wollte, die ihn interessierten: Politik, Sport, Kunst, Reisen, aber er beherrschte sich und schwieg. Denn er merkte Toni an, daß ihre
Gedanken weit weg waren. Er wußte, daß der eine oder andere Fall aus dem Krankenhaus sie beschäftigte. Eivind war einsam, er gestand es sich widerstrebend ein. Einsam und – bescheiden. Denn für einen Tag wie diesen war er unendlich, geradezu unvernünftig dankbar. Und er dachte mit etwas Bitterkeit an andere Ehemänner, für die ein solcher Tag eine Selbstverständlichkeit war und nicht eine kostbare Gabe, die man mit demütiger Dankbarkeit entgegennahm. Toni liebte ihn. Er wußte, daß sie ihn liebte. Aber angenommen, Toni hätte die Wahl zwischen ihm und ihrer Arbeit. Natürlich sollte er sich sicher fühlen, daß sie, ohne eine Sekunde zu zaudern, ihn wählen würde. Aber – Eivind fühlte sich nicht sicher. Und gerade diese Unsicherheit, diese verletzte Eitelkeit, machte die Sehnsucht nach Toni noch stärker, machte das Begehren unverhältnismäßig stark. Er wollte sie ganz haben, alle ihre Gedanken, wollte das Zentrum ihres Daseins sein, der Mann in ihrem Leben, das natürliche Ziel ihrer Wünsche und Sehnsüchte… Gewiß war sie tüchtig in ihrer Arbeit. Soviel wußte doch Eivind! Aber bezahlte sie es nicht zu teuer? Oder richtiger gesagt – bezahlte er es nicht zu teuer? Soweit war Eivind in seinen Betrachtungen gekommen, als ihn der Duft von frischgemachtem Kaffee und frischgebackenem Kuchen erreichte. Und da stand Toni in der Tür, mit roten Wangen, vergnügt lächelnd, und platzte beinahe vor Stolz über den wohlgeglückten Kuchen. „Du bist eine tüchtige Frau, ja, das bist du“, lächelte Eivind und langte nach dem dritten Stück Kuchen. „Was sollen wir heute abend machen? Ins Kino gehn? Ins Grandhotel hineinschauen? Wozu hast du Lust?“ Toni kam zum Diwan und kroch in Eivinds Armbeuge. „Zu Hause bleiben! Den Kamin anzünden, eine Flasche Likör holen, nette Musik im Radio anhören und die Welt ihren schiefen Gang gehen lassen.“ „Großartig bist du!“ Er beugte sich über sie und streichelte das warme Gesichtchen, dann nahm er ihre Hände und küßte die Finger. „Schau nicht meine Hände an, Eivind, die sehen scheußlich aus, es kommt von all den Wurzeln, die ich zum Rohkostsalat gerieben habe.“
„Ich finde, deine Hände sind nie so schön gewesen wie eben jetzt“, murmelte Eivind und küßte sie wieder und wieder. Toni strich mit ihrem Gesicht gegen sein Haar und küßte seinen schmalen braunen Nacken. Herrgott, wie lieb sie doch ihren Mann hatte! Und wie sie es genoß, ihn für sich allein zu haben, einen ganzen langen, herrlichen Tag! Dann klingelte es an der Tür. „Teufel auch!“ sagte Eivind. Sie sahen einander bestürzt an. „Wir lassen es einfach klingeln“, sagte Eivind. „Dazu habe ich nicht die Nerven“, sagte Toni. Draußen stand eine schlanke, große, dunkelgekleidete Frau und streckte die Hand aus. „Guten Tag, Frau Löngard – störe ich vielleicht?“ „Ja, aber, meine Liebe – das ist ja Frau Torverud!“ „Ja, mein Mann ist heute vormittag gekommen, mich abzuholen, ich darf heute heimfahren. Ich bin ja jetzt lange aufgewesen, wissen Sie. Aber ich konnte nicht aus der Stadt abreisen, ohne Ihnen Lebewohl zu sagen. Ich habe Ihre Adresse im Krankenhaus bekommen.“ „Liebe Frau Torverud, kommen Sie herein. Ich bin so froh darüber, daß Sie so gut aussehen.“ Eivind sah fragend drein, als Toni vorstellte. „Mein Mann weiß ja nie etwas von meinen Patienten“, erklärte Toni. „Das heißt, er weiß eine ganze Menge, aber selbstverständlich nenne ich nie Namen. Ich habe ja Schweigepflicht. Nehmen Sie Platz, Frau Torverud. Kaffee dürfen Sie wohl noch nicht trinken, aber Kuchen dürfen Sie essen, und ich werde eine Tasse Tee für Sie machen.“ „Laß mich das besorgen“, sagte Eivind, „Frau Torverud will sicher mit dir reden, und Tee kann ich ja machen.“ Von der Küche aus hörte Eivind Frau Torveruds Stimme, und man kann nicht sagen, daß er „gegen seinen Willen“ horchte, denn er tat es in hohem Grade mit Willen. „Da war etwas, was ich Ihnen sagen mußte“, sagte Frau Torverud. „Es gibt keinen Menschen auf der Welt, der mir so geholfen hat wie Sie. Vielleicht ist es Ihre Fähigkeit, sich in die Schicksale anderer Menschen hineinzudenken. Sie wußten sofort, daß Sie mir die Wahrheit sagen mußten. In einem anderen Fall wissen Sie wahrscheinlich, daß man sie verschweigen muß. Und sie können zuhören. Sie erlauben uns Patienten, unseren ganzen
Seelenballast auszupacken, und das haben wir ab und zu nötig. Sie sind ein Segen für die Patienten, Frau Löngard, und ich wollte nicht abreisen, ohne Ihnen das gesagt zu haben.“ Eivind stand mit der Teekanne in der Hand und lauschte. Ein neues und unbekanntes Gefühl stieg in ihm auf. Eine resignierende Bitterkeit, weil er verstand, daß er sein ganzes Leben lang Toni mit dem Krankenhaus würde teilen müssen. Und ein grenzenloser Stolz auf diese kleine Frau, ein Stolz darauf, so einen Schatz zu besitzen, jemand, der so geschätzt, geliebt und geachtet war. „Ja, Sie haben allen Grund, auf Ihre Frau stolz zu sein, Herr Löngard“, sagte Frau Torverud, als er mit dem Tee hereinkam, gerade als ob sie seine Gedanken gelesen hätte. „Wissen Sie, wie das ist, wenn die Probleme sich auftürmen, wenn alles unüberwindlich scheint, wenn man nervös wird und bitter und dumm und keinen zum Aussprechen hat? Die Ärzte sind ja eine Art von Halbgöttern, die sich nicht herablassen, mit einer armen Nummer von Patient zu reden. Die Schwestern haben keine Zeit, der Krankenhauspastor kommt, tut seine Pflicht und ist berufsmäßig tröstend, aber nicht alle können sich ihm anvertrauen, und da geht die Tür auf, und herein kommt ein Mädel, im weißen Kittel, die sieht so aus, daß man in gute Stimmung kommt, wenn sie sich bloß zeigt. Da ist keine strenge Schwesternhaube und keine berufsmäßige Arztmiene. Da steht ein roter Schopf in die Luft, und die Augen leuchten vor guter Laune, und dann setzt sich dieses Mädel ans Bett und sagt: ,Hören Sie mal, ich will nicht zudringlich sein, aber wenn Sie Rat oder Hilfe brauchen, dann seien Sie so gut, nach mir zu schicken. Ich heiße Frau Löngard und bin hier Kurator’, sagt sie. ,Das bedeutet, daß Sie mich nach allem fragen können, was Sie die Ärzte und Schwestern und den Priester nicht fragen können. Wollen Sie lieber, daß ich verschwinde, oder wollen Sie einen kleinen Schwatz mit mir haben?’ Ja, so ist Ihre Frau, Herr Löngard. Sie sollten sie nur bei ihrer Arbeit sehen! Sie können glauben, die Patienten leben auf, wenn sie kommt. Und sie ist eine, die sich nie schont. Ja, nun habe ich wohl einen ganzen Vortrag gehalten, aber Sie verstehen, als ich den schlimmsten Tag meines Lebens durchmachte, da war es Ihre Frau, die mir hindurchhalf, weil - ja, weil sie verstand. Und das vergißt man nicht. Wenn irgendein Mensch auf seinen richtigen Platz hier im Leben gekommen ist, so sind Sie es, Frau Löngard. Und Gott segne Sie für alles, was Sie an mir getan haben.“
Toni war bewegt und rot und verlegen. Eivind starrte sie unverwandt an. Er wußte, daß sie tüchtig war, wußte von anderer Seite, daß sie im Krankenhaus beliebt war. Aber dies - dies war trotzdem etwas Neues… Frau Torverud blieb eine halbe Stunde sitzen. Dann drückte sie Tonis beide Hände zum Abschied. Und dann fiel die Türe hinter ihr zu. Toni lächelte in sich hinein, fern und abgewandt, während sie den Kaffeetisch abräumte. Als alles in Ordnung war, kam sie und setzte sich, nicht in Eivinds Armbeuge auf den Diwan, sondern in einen Stuhl vor dem Kamin. Sie saß vornübergebeugt, das Kinn in die Hände gestützt, und der Schein des Kaminfeuers spielte in ihren roten Locken. Sie bat Eivind nicht, das Radio anzudrehen, den Likör, von dem sie gesprochen, hatte sie vergessen. Ihre Gedanken waren weit weg. Eivind schaute sie an. Sie war jetzt weder das muntere Mädchen noch die süße, kleine, Jungverheiratete Hausfrau. Sie war eine erwachsene Frau mit einer Lebensaufgabe, eine erwachsene, reife Frau mit einem warmen Herzen und einer wachen Intelligenz. Und Eivind wußte mit schmerzhafter Gewißheit, daß er sie nie, nie ganz besitzen würde, sondern nur die Wahl hatte, sie so zu besitzen, wie sie jetzt war, oder sie gar nicht zu haben. Also gab es überhaupt keine Wahl. Toni entbehren, das konnte er nicht. Und der Schmerz verband sich mit dem Stolz auf sie. Dieses Menschenkind, das so viel Gutes tat, so große Dinge ausrichtete, einer Unzahl von unglücklichen, kranken, mutlosen Menschen half, Männern und Frauen, dieses kleine Menschenkind gehörte ihm! Sie trug seinen Namen, war Hausfrau in seinem Heim, war sein Kamerad, seine Geliebte… Er erhob sich, ging leise zu ihr hin und strich ihr über die Haare. Dann legte er ein neues Scheit in den Kamin. Er blieb in halb kniender Stellung sitzen und gebrauchte den Blasebalg, bis es richtig in den Scheiten prasselte. Er erhob sich nicht sofort wieder, sondern beugte den Kopf und stützte die Stirn gegen Tonis Knie. Und als ihre Hand die seine fand, küßte er sie zärtlich. Das Telefon auf Tonis Schreibtisch klingelte. „Guten Morgen, Frau Löngard. Hier ist Schwester Margrete, zweite Chirurgische. Können sie einen Sprung auf Nummer 11 kommen? Zweibettzimmer. Frau Rolfsen.“
„Jawohl, Schwester Margrete. Diagnose?“ „Blinddarmentzündung. Soll nachmittags operiert werden. Ich weiß wirklich nicht, was plötzlich über die Frau gekommen ist. Am Morgen war sie noch ganz ruhig, aber jetzt hat sie einen Weinkrampf und jammert immerzu: ,Ist denn niemand da, der mir helfen kann?’ Aufrichtig gesagt, wir haben so wahnsinnig zu tun auf unserer Station, daß ich dachte…“ „Ich komme sofort, Schwester.“ Toni lief durch den Krankenhausgarten, hinauf auf die Station und hinein in Nummer 11. Im Bett beim Fenster lag eine vierzig- bis fünfzigjährige Frau und heulte laut. Toni lauschte und hörte dieselben Worte: „Ist denn niemand da, der mir helfen kann?“ Toni ging rasch zum Bett, nahm eine heiße, zitternde Hand in die ihre und sprach mit ihrer ruhigen, freundlichen Stimme: „Wir können Ihnen sicher helfen. Sagen Sie bloß, was Ihnen fehlt, dann helfen wir Ihnen.“ „Schwester“ – es gab viele Patienten, die Toni so nannten –, „muß diese Operation sein?“ „Das muß sie schon, wenn der Doktor das findet. Aber meine Liebe, wegen so einem kleinen Blinddarm brauchen Sie doch nicht nervös zu werden.“ „Operationen sind doch immer gefährlich“, jammerte die Patientin. Sie drehte das Gesicht zu Toni, ein schreckensbleiches Gesicht. Die Patientin schwitzte und lag unruhig im Bett. „Liebe Frau Rolfsen, ich selbst bin auch am Blinddarm operiert, das war wirklich nichts. Fühlen Sie sich denn so schlecht?“ „Nein, ich – denke bloß dran, daß ich in einigen Stunden auf dem Operationstisch liege, und dann schneiden sie mich auf, und ich weiß nicht, was sie finden, und vielleicht ist es eine Entzündung in der Bauchhöhle.“ Toni tat etwas, was sie im allgemeinen nicht tat. Sie warf einen Blick auf die Fiebertabelle über dem Bett. Sie betrachtete das sonst als eine Indiskretion. Die Fieberkurve war für Ärzte und Schwestern, nicht für den Pastor, den Kurator oder die Besucher. Das war ihre Auffassung, aber ausnahmsweise mußte sie dieses Prinzip durchbrechen. Alles sah ganz normal aus, alles deutete darauf hin, daß es sich um einen ganz gewöhnlichen, uninteressanten Blinddarm handelte.
„Vielleicht haben Sie heute nacht schlecht geschlafen?“ sagte Toni. „Wenn man übermüdet ist, wird man so leicht nervös. Es ist kein Grund vorhanden, warum diese winzige Operation nicht gut verlaufen sollte. Morgen um diese Zeit komme ich Sie besuchen, da liegen Sie sicher lächelnd da und plaudern mit mir. Und ich denke, in einer Woche sind Sie schon wieder daheim.“ „Glauben Sie nicht, daß ich weiß, was alles passieren kann? Ich kannte eine Dame, die an einem Blutpfropfen gestorben ist, gleich nach einer ganz kleinen Operation. - Und ein Vetter von Frau Grönberg“, hier folgte ein Kopfnicken in Richtung auf das andere Bett, „mußte mit einer Sonde vierzehn Tage lang liegen – und eine Freundin von Frau Grönberg bekam Fieber, gleich nach der Operation, und da war es in das Bauchfell gegangen, und der Doktor mußte die Wunde wieder aufschneiden. – Und eine Dame, von der Frau Grönberg gehört hat, hatte eine Vergiftung bei der Betäubung, nein, sie wurde gelähmt – also kommen Sie mir nur ja nicht mit dem Märchen, eine Operation wäre ungefährlich…“ Jetzt war Toni im Bilde. Diese törichte Mitpatientin hatte also Schuld an allem. Sie kannte diesen Typ – es waren jene, die mit Vorliebe schwangere Frauen von Steißgeburten und Kindbettfieber unterhielten und tagelang Wehen mit allen Einzelheiten ausmalten und Operationspatienten haarsträubende Geschichten von grauenerregenden Operationen erzählten, natürlich mehr oder minder entstellt. Sie haßte diesen Typ aus einem guten, aufrechten Herzen, und nun, da sie eine Repräsentantin dieses Typs in Reichweite hatte, war sie so wütend, daß sie eines Kurators erste und wichtigste Pflicht vergaß: Ruhe, Freundlichkeit und Diskretion. Sie wandte sich gegen Frau Grönbergs Bett, und das Temperament der Rothaarigen ging vollständig mit ihr durch. „Ach so, Sie sind das also, die solche blödsinnigen Räubergeschichten erzählt? Sie reden von Vergiftungen! Aber Sie – Sie sind es, die die arme Patientin vergiftet mit all dem bösartigen Gerede. Hier versuchen wir, die Patienten nett zu behandeln und ihnen die Ruhe zu geben, die sie brauchen, und dann kommen Sie daher und verderben uns alles mit Ihrem Weibertratsch und Quatsch. Sie wissen ganz gut, daß eine Blinddarmoperation eine Bagatelle ist, aber Sie langweilen sich natürlich und sind nicht imstande, sich die Zeit anders zu vertreiben als damit, andere Menschen zu Tode zu erschrecken. Man sollte Ihnen einen Maulkorb umbinden, das ist genau das, was Sie brauchen.“
Toni holte Luft. Es war eine herrliche Erleichterung, so vom Leder zu ziehen. Dann wandte sie sich wieder an Frau Rolfsen. „Hören Sie zu, Frau Rolfsen. Eine Blinddarmoperation ist die harmloseste und leichteste Operation, die man sich denken kann. Was Frau Grönberg erzählt hat, waren entstellte Geschichten, die einmal unter tausend vorkommen. Wenn Frau Grönberg fortfährt, Ihnen solchen Quatsch zu erzählen, dann stecken Sie die Finger in die Ohren, und hören Sie nicht zu. – Wollen Sie inzwischen etwas zu lesen haben? Ich werde ein unterhaltendes und leicht zu lesendes Buch aus der Bibliothek für Sie aussuchen. Und wenn Sie irgend etwas anderes wollen, so sagen Sie mir Bescheid. Sagen Sie einfach der Schwester, Sie möchten Frau Löngard sprechen, dann komme ich sofort. Also, viel Glück, Frau Rolfsen! Ich gucke morgen herein, dann werden wir herzlich darüber lachen, daß Sie heute solche Angst hatten!“ Als Toni aus dem Krankenzimmer herauskam, begann sie nachzudenken. Sie blieb mit gerunzelten Brauen, die Hände in den Taschen vergraben, stehen. Himmel, was hatte sie bloß zu dem Frauenzimmer da drin gesagt? Es war sicher, milde ausgedrückt, undiszipliniert gewesen. Und wenn dieser Abschaum sich nun bei der Oberschwester und dem Chefarzt über sie beklagte? – Toni wußte sehr gut, wie schwierig ihre Stellung war. Sie sollte immer freundlich sein, immer aufmerksam zuhören, sie sollte guten Rat und tröstliche Worte geben, aber gleichzeitig mußte sie um jeden Preis vermeiden, in die Domäne von Ärzten, Schwestern oder des Krankenhauspfarrers einzudringen. Bisher hatte sie glücklich alle Klippen umschifft, aber wenn Frau Grönberg nun klatschte? Gut. Möge es seinen Gang nehmen. Toni schüttelte die Haarmähne und fühlte einen herrlichen Trotz in sich. Hatte sie nicht mit jedem Wort recht gehabt? Oh, sie würde sich schon zu verteidigen wissen, wenn jemand ihr etwas vorwarf. Sie ging die Treppe hinunter und hielt vor der Drehtür zur medizinischen Station einen Augenblick an. Ihre Gedanken schweiften zu Nummer 32 da drinnen, dem Einzelzimmer mit dem bärbeißigen Mann, der sie beschuldigt hatte, seine Seele retten zu wollen. Toni war heute zu einem kleinen Streit herrlich aufgelegt. Sie war voller Trotz, wie nie zuvor, und gleichzeitig war es ein gewisser Sportgeist, der sie zu einem erneuten Versuch bei dem grantigen Mann anspornte. Wie hieß er doch gleich? Wolter, Ingenieur Wolter.
Magengeschwür. Ja, der Arme, da konnte man schon in schlechte Laune geraten, wenn man flach liegen mußte und bloß Milch und einen dürren Keks im Tag bekam. Dieser Zornteufel!! Toni ging rasch den Korridor entlang und klopfte an die Tür von Nummer 32. Eine mürrische Stimme brüllte höchst ungnädig: „Herein!“ „Guten Morgen“, sagte Toni. „Zum Kuckuck – da ist ja diese rothaarige Hexe wieder! Meiner Seele geht es ganz gut, danke, die hat es nicht nötig, gerettet zu werden.“ „Gut“, sagte Toni. „Im übrigen fühle ich mich nicht kompetent, Seelen zu retten, weder Ihre noch andere. Ich wollte Sie nur auf die Dienste aufmerksam machen, die das Krankenhaus den Patienten bietet, aber wenn Sie keinen Gebrauch davon machen wollen – Sie müssen schon ein einzigartiger Mensch sein, wenn Sie hier auf dem Krankenbett liegen und gar keinen Wunsch haben.“ „Wer hat gesagt, daß ich keinen Wunsch habe? Ich wünsche mir ein blutiges Beefsteak und ein Kilo Kartoffeln.“ „… und eine Portion Irish-Stew und ein Glas Bier, ja, sehn Sie, das verstehe ich. Und wenn ich diesen Wunsch erfüllte, würden Sie einen Rückfall bekommen und ich meine Entlassung. Aber wenn Sie Wünsche in Richtung auf Lesestoff haben, oder Telefonbescheide und dergleichen, so melde ich mich zu Diensten.“ „Oder eine kühle Hand auf die Stirn vielleicht?“ Jetzt war der Tonfall spottend, aber nicht unbeherrscht. „Meine Hände sind in der Regel warm“, sagte Toni. „Außerdem ist das mit kühlen Händen altmodisch und wenig rationell. Ein Eisbeutel ist wirksamer.“ „Auf den Mund sind Sie jedenfalls nicht gefallen“, grunzte Ingenieur Wolter. Jetzt war der Tonfall etwas friedlicher. „Also, Sie wollen nicht, wie Ihr Kollege, der Krankenhauspastor, mich davon überzeugen, daß ich ein großer Sünder bin?“ „Ihre Sünden gehen mich nichts an“, sagte Toni. „Außerdem müßte ich Ihr ganzes Leben gekannt haben, um mich darüber aussprechen zu können. Also lasse ich das lieber sein.“ Jetzt richtete Ingenieur Wolter ein Paar ehrlich erstaunte Augen auf Toni. „Na hören Sie mal, Sie haben ja tatsächlich ein bißchen Vernunft!“ „Sie schmeicheln“, sagte Toni, „kann ich das schriftlich bekommen?“
„Setzen Sie sich“, sagte Ingenieur Wolter, „und ordnen Sie Ihre Haare, die sehen ja aus wie ein Krähennest.“ „Ist das nicht erfrischend für Sie, nachdem Sie so lange Zeit nur nette und ordentliche Schwestern gesehen haben?“ lachte Toni. Sie setzte sich und fuhr mit den Fingern durch das Haar. „Ich mache Sie darauf aufmerksam, daß Sie mich selbst gebeten haben, Platz zu nehmen, ich bin also nicht zudringlich. Was wünschen Sie sich also noch, außer Beefsteak und Irish-Stew?“ „Zuerst will ich wissen, was Sie eigentlich in dieser Anstalt treiben. Sagten Sie, daß Sie Kurator sind?“ „Das sagte ich, und das sage ich auch jetzt noch.“ „Also doch eine Art Seelenarzt?“ „Von mir aus gern, wenn Sie es so nennen wollen. Ich versuche, nach bescheidenen Kräften ein Bindeglied zu sein zwischen der Krankenhauswelt und der übrigen Welt, rede mit den Patienten, versuche, ihnen bei ihren Problemen zu helfen…“ „Aha! Und dazu fühlen Sie sich kompetent?“ „Im allgemeinen sind die Probleme nur klein. Im übrigen bin ich ausgebildete Psychologin. Und Sie haben mir ja Vernunft zugebilligt. Sollte es da nicht gehen?“ „Und Sie meinen, die Ärzte und Schwestern können diese Probleme ohne Ihre Hilfe nicht lösen?“ „Die Arzte kriegen von diesen Problemen gar nichts zu hören, weil neunzig Prozent der Patienten einen heillosen Schreck vor Ärzten haben und vor dem Doktor zu gehorsamen Schulkindern werden. Und die Schwestern haben keine Zeit.“ „Soso. Sie sind also so eine Art seelischer Mülleimer, in den die Patienten ihren Seelenballast ausleeren.“ „Ich danke für den geschmackvollen Vergleich“, lachte Toni. „Aber hören Sie mal zu! Stellen Sie sich vor, Sie befinden sich in einem Hotel und nicht in einem Krankenhaus. Was würden Sie da verlangen?“ „Einen Stenografen.“ „Verflixt!“ sagte Toni. „Stenografieren kann ich nicht. Aber ich schreibe mächtig schnell. Können Sie mich brauchen?“ „Ach nein. Das muß warten, bis ich aufstehe. Aber, Dank für das Angebot. – Hören Sie da draußen die Schritte? Das ist Schwester Karete. Sie bringt mir mein luxuriöses zweites Frühstück, ein Glas Milch und einen, sage und schreibe, einen Milchkeks. Dann lächelt sie berufsmäßig freundlich und sagt: ,Na, wie geht es uns heute?’ Ich
höre an der Stimme, daß sie das an jedem einzelnen Krankenbett sagt. Eines Tages werde ich ihr wohl das Milchglas an den Kopf werfen und sagen, daß sie doch, zum Kuckuck, selbst wissen muß, wie es ihr geht, und daß ich mir verbitte, mit ihr zusammen in der Mehrzahl angeredet zu werden – und im übrigen ist es ihr ja rasend gleichgültig, wie es mir geht. Der Teufel hole diese berufsmäßige Freundlichkeit!“ Die Tür ging auf, und Schwester Karete kam herein. Auf dem Tablett trug sie ein Glas Milch und ein Tellerchen mit einem Milchkeks. „Guten Morgen, Herr Ingenieur. Wie geht es uns heute?“ Toni wandte sich rasch zum Fenster und mußte mit allen Kräften einen Lachkrampf unterdrücken. „Tausend Dank, Schwester Karete“, säuselte Ingenieur Wolter mit Engelsstimme. „Wir haben eine Temperatur von siebenunddreißig fünf, wir haben verhältnismäßig gut geschlafen, wir sind rasiert worden, und wir hatten… Ach, Verzeihung, ich vergaß, daß das Fünkchen noch da ist, den Rest von dem, was wir heute gemacht haben, müssen wir in einem gemütlichen Tête-à-tête besprechen, nicht wahr, Schwester Karete?“ Schwester Karete blieb einen Augenblick mit offenem Mund stehen, völlig außer Fassung. Sie sah zu Toni hinüber und bemerkte nur einen Rücken mit schwach zuckenden Schultern. Dann murmelte sie etwas und verschwand. Toni wandte sich zu dem Patienten um und lachte schallend. „Sie sind wirklich ein schrecklicher Mensch.“ „Nicht wahr? Jetzt aber muß ich Ruhe haben für meine kulinarischen Genüsse. Ich bin immer ein Feinschmecker gewesen und vertrage keine Störungen, wenn ich speise. Also auf Wiedersehen, kleiner Mülleimer!“ „Das ist der originellste Kosename, den ich je gehört habe“, kicherte Toni. „Geht es Ihnen jetzt besser?“ „Großartig. Ich platze vor Gesundheit, sehn Sie das nicht? Aber jetzt raus! Und retten Sie rasch noch ein paar Seelen. Bis Mittag könnten Sie noch leicht drei bis vier Stück schaffen.“ „Mit der Ihren also fünf“, sagte Toni seelenruhig. „Sehn Sie, jetzt sind Sie wirklich in besserer Laune. Sagen Sie es nur, wenn ich etwas für Sie tun kann. Also auf Wiedersehen und guten Appetit! Sie Menschenfresser, Sie!“ Sie öffnete die Tür. Da rief Ingenieur Wolter ihr nach:
„Fünkchen! Kommen Sie noch mal her!“ „Nun?“ „Hören Sie zu! Gehen Sie jetzt zu dem einen oder anderen Arzt, um über mich Bericht zu erstatten? Erzählen Sie, daß Sie mit heftigen Redensarten und berufsmäßiger Lebensfrische den ollen Griesgram von Nummer 32 aufgetaut haben? Oder gebrauchen Sie Ihren Bericht zur Unterhaltung am häuslichen Abendbrottisch?“ Toni fühlte Zorn in sich aufsteigen. Ihr Gesicht flammte, als sie antwortete. „Erstens habe ich Schweigepflicht. Und zweitens würde es mir nicht einmal im Traum einfallen, Begebenheiten aus dem Krankenhaus als Unterhaltung in meinem Privatleben zu verwenden. Und drittens – ja, drittens, ist es so verdammt gemein von Ihnen, so etwas zu sagen, daß mir heute zum zweiten Male eine Ohrfeige locker sitzt.“ „Zum zweiten Male? Wann war denn das erste Mal?“ „Das steht nicht zur Debatte! Ich erzähle einem Patienten niemals von einem andern. Aber Sie sprechen von berufsmäßiger Lebensfrische. Jetzt will ich Ihnen etwas sagen, mein Guter. Meine größte Schwierigkeit in dieser Tätigkeit ist es gerade, nicht berufsmäßig zu werden. Ich will in jedem einzelnen Fall etwas von mir selbst geben. Ich will nicht wie Schwester Karete werden und automatisch an jedem Krankenbett fragen: ,Wie geht es uns denn heute?’ Ich habe heute nicht Nummer 32 besucht, sondern einen taktlosen Burschen mit Namen Wolter, ich habe versucht, ihn ein bißchen in bessere Stimmung zu bringen. Und ich lege keinen Bericht ab und gehe nicht ans nächste Krankenbett und sage dort genau dieselben Worte, die ich Ihnen gesagt habe. Natürlich ist dies mein Beruf, aber ich freue mich an meiner Arbeit, und ich habe jedenfalls bis jetzt wirklich für jeden Fall etwas von mir selbst gegeben. Damit Sie es wissen!“ Toni warf die Tür hinter sich zu. Sie kochte vor Wut. Sie biß die Zähne zusammen und ging rasch die Treppen hinunter in ihr kleines Büro. Was für ein Vormittag! Zuerst diese Geschichte mit Frau Rolfsen und dann Ingenieur Wolter. Was würde wohl jetzt noch kommen? Toni sank ermattet an ihrem Schreibtisch nieder und wartete, was das Schicksal weiter bringen würde. Sie brauchte nicht lange zu warten. Knapp fünf Minuten waren vergangen, da klopfte es kräftig und energisch an ihre Tür, und
herein trat die von allen am meisten gefürchtete Schwester, nämlich die Oberschwester von der zweiten Chirurgischen. „Sagen Sie mal, Frau Löngard“, fing sie ohne jede Einleitung an, „was haben Sie denn auf Nummer 11 angestellt?“ „So“, sagte Toni. „Jetzt geht’s los. Was gibt’s denn eigentlich?“ „Fragen Sie Doktor Lambert“, sagte die Oberschwester. „Er hat gerade zwei Spritzen gegeben, die Patientin hatte einen Weinkrampf nach Ihrem Besuch. Nun will ich wissen, was da vorgefallen ist.“ „Das begreife ich nicht“, sagte Toni, „ich habe so beruhigend auf sie eingesprochen, wie ich nur konnte. Frau Rolfsen war wirklich ruhig, als ich ging.“ „Frau Rolfsen, ja. Aber was haben Sie mit Frau Grönberg gemacht?“ „Ach, die? Ja, die habe ich ausgezankt.“ „Und das sagen Sie mit gutem Gewissen? Ich will Ihnen etwas anderes sagen, Frau Löngard. Ich möchte mir ein für allemal verbeten haben, daß Sie mit Ihrer sogenannten Kuratorwirkung die Patienten in einen solchen Zustand versetzen. Es muß Grenzen geben für die Freiheiten, die Sie sich herausnehmen.“ „Sagen Sie mir eins, Oberschwester“ – Toni beherrschte sich nur mit Mühe. „Was würden Sie an meiner Stelle getan haben? Die Stationsschwester bat mich, zu Frau Rolfsen zu kommen, weil sie ganz außer sich war vor Nervosität. Es stellte sich heraus, daß Frau Grönberg sie mit Greuelschilderungen von Operationen vollgepumpt hatte. Ich wurde rasend, das gebe ich zu, und ich zankte diese dumme Ziege aus, das gestehe ich ebenfalls. Ich räume auch ein, es war unkorrekt von mir – aber bedauern kann ich es nicht.“ „Nicht einmal dann, wenn Sie bedenken, welche Extraarbeit Sie uns damit verschafft haben?“ „Das tut mir leid, Oberschwester, aber ich behaupte weiterhin, daß Frau Grönberg eine Zurechtweisung verdiente.“ Die Oberschwester musterte sie streng von Kopf bis Fuß. „Ja, Frau Löngard, ich bin genötigt, dies dem Chefarzt zu melden. Ich war ja die ganze Zeit gegen diesen verrückten Einfall. Ich habe zwanzig Jahre in der Krankenpflege gearbeitet, und wir sind sehr gut ohne Kurator ausgekommen oder wie man das nennt, was Sie betreiben.“ „Bitte, sprechen Sie sich nur aus!“ Toni kochte jetzt vor Wut. „Wenn Sie sich überhaupt kompetent fühlen, über mich Gericht zu halten. In diesem Fall müßten Sie die Sache von beiden Seiten hören.
Aber, Sie irren sich, wenn Sie glauben, daß ich eine furchtsame Lehrschwester bin, die Sie auszanken können. Zugegeben, ich war unbeherrscht gegen diese Klatschbase. Aber sie hat es wirklich verdient, und wenn Sie mir etwas in dieser Sache zu sagen haben, dann sagen Sie es!“ Die Oberschwester wurde brennendrot, machte eine Kehrtwendung und knallte die Türe hinter sich zu. Toni sank erschöpft in einen Stuhl. Ein schöner Salat! Jetzt war sie bei der allmächtigen Schwester Emilie in Ungnade gefallen. Das konnte heiter werden! Mahlzeit! Toni dachte über diesen Weinkrampf nach. Doktor Lambert hatte zwei Spritzen gegeben, hm. Doktor Lambert war der jüngste Arzt. Vielleicht hatte diese Dame den Krampf nur simuliert, und der junge, unerfahrene Arzt hatte die Komödie nicht durchschaut? Es war wohl falsch, so zu denken, Toni war ja kein Arzt. „Nein“, rechtfertigte sie sich im stillen, „aber ich verstehe mich doch ein wenig auf Menschen.“ Es verging eine halbe Stunde, da wurde sie zum Chefarzt gerufen. „Jetzt kracht’s“, dachte Toni. Aber sie war weder ängstlich noch nervös, dazu war noch zu viel rechtschaffene Wut in ihr. So traf sie kampfbereit im Büro des Chefarztes ein. Aber der Chefarzt sah gar nicht besonders gefährlich aus. Er runzelte zwar ziemlich mürrisch die Brauen, als sie hereinkam, aber Toni ahnte ein ganz kleines Lachfältchen in dem einen Augenwinkel. „Na, Frau Löngard“, es klang verhältnismäßig ruhig. „Lassen Sie mich nun aus Ihrem eigenen Munde diese fatale Geschichte hören, die Sie da angestellt haben. Auf der zweiten Chirurgischen brennt es immer noch.“ „Zum Kuckuck mit diesen Weibsbildern“, sagte Toni. „Wie, bitte?“ „Verzeihung, das war eine Randbemerkung.“ „Wen meinen Sie? Frau Rolfsen, Frau Grönberg, oder die Oberschwester?“ Die Stimme des Chefarztes war ganz trocken und sachlich. Und trotzdem schien es Toni, als sei er nicht so schrecklich böse. Ja, sie ahnte hinter der kühlen, korrekten Miene beinahe ein Lächeln oder die Andeutung zu einem Lächeln. „Dieses Mal meinte ich Frau Grönberg.“ Und Toni berichtete nüchtern und sachlich über das, was Frau
Grönberg an Greuelgeschichten zusammengebraut hatte und daß ihr der Gaul etwas durchgegangen sei. „Donnerwetter“, sagte der Chefarzt, „Sie haben sie nicht geschont, die Alte!“ „Nein“, sagte Toni, „ich weiß, das ist unzulässig, und ich weiß, daß mich der Zorn hingerissen hat. Und das schlimmste ist, daß ich es nicht bereue. Aber natürlich hatte ich nicht damit gerechnet, daß sie einen Weinkrampf bekommen würde.“ „Hm“, meinte der Chefarzt. Er schaute Toni an, dann räusperte er sich. „Sie haben Schweigepflicht, Frau Löngard, das wissen Sie doch?“ „Ja, dagegen habe ich noch nie gesündigt.“ „Nein, ich erinnere Sie nur daran. Ich muß nämlich zur Erleichterung Ihres Gewissens gestehen, daß dieser Weinkrampf sehr nahe mit Krokodilstränen verwandt war.“ „Gott sei Dank“, sagte Toni, „sie hätte diese Spritzen also nicht gebraucht?“ „Sie hätte Haue gebraucht!“ sagte der Chefarzt. „Und Sie auch! In Zukunft müssen Sie Ihr Temperament im Zügel halten, Frau Löngard. Und wie Sie sich mit der Oberschwester abfinden werden, ja, das ist Ihre Sache. Sie war nicht gut auf Sie zu sprechen.“ „Und ist es wohl auch jetzt nicht?“ „Gut zu sprechen? Wohl kaum. Aber vielleicht hat sie ihre Auffassung ein wenig geändert, seit ich mit ihr gesprochen habe. Aber das nächstemal hole ich für Sie die Kastanien nicht mehr aus dem Feuer, Sie kleiner Rappelkopf. Doktor Lambert ist auch nicht gerade entzückt von Ihnen, scheint mir.“ „Nein, das ist verständlich. Klar, daß ich der Sündenbock sein muß, wenn er – na, es ist wohl nicht wert, mich darüber weiter auszulassen.“ „Hinaus mit Ihnen“, markierte der Chefarzt. „Gehen Sie in Ihr Büro, stellen Sie sich in einen Winkel, und denken Sie über Ihre Sünden nach.“ Toni ging. Wenn sie auch nicht sehen konnte, was hinter der geschlossenen Tür im Büro des Chefarztes vorging, so ahnte sie es doch. Der Chefarzt lehnte sich im Stuhl zurück und ließ dem zurückgedrängten Lachen freien Lauf. Toni war todmüde nach dem ereignisreichen Vormittag, und gleichzeitig war sie aufgedreht.
Es verlangte sie, mit jemand zu reden, ungezwungen zu reden, ohne Rücksicht auf Vorsicht. Es verlangte sie nach Eivind. „Du kommst spät“, sagte Eivind. Er hatte über eine halbe Stunde mit dem Essen gewartet. Klang ein Vorwurf aus seinen Worten? „Ja, ich weiß es. Aber du ahnst nicht, was für einen Tag ich hatte. Das mußt du hören.“ Es folgte ein Bericht, hemmungslos und nicht ganz frei von Kraftworten. Aber Eivind war durchaus nicht so interessiert, wie sie erwartet hatte. Er sah fast ein wenig zerstreut aus. Außerdem war er hungrig und aß eifrig, während sie erzählte. „Ja, du weißt, jede Arbeit hat ihre Unannehmlichkeiten“, hörte sie zum Schluß seine ruhige Stimme. „Du kannst nicht erwarten, daß deine Krankenhausarbeit ein Tanz auf Rosen sein soll.“ Toni sah ihn an, enttäuscht und verwundert. War das alles, was er ihr zu sagen hatte? „Heute muß ich ein Mittagsschläfchen halten“, sagte Toni, „ich bin ganz erschossen.“ Sie schlief gut, während Eivind vor dem Kamin saß und meditierte. Ein bitterer Zug war um seinen Mund. Heute hatte er sich mehr denn je darauf gefreut, heimzukommen. Heute hatte er eine so wunderbare Neuigkeit für Toni – und dann hatte sie ihn einfach nicht zu Wort kommen lassen. -Er hatte sich auf dem Heimweg überlegt, wie er es ihr erzählen sollte, verschiedene Pointen hatte er sich zurechtgelegt. Und dann – war er nicht dazu gekommen, auch nur ein Wort zu sagen vor lauter Krankenhauspalaver. Nicht einmal den Blumenstrauß bemerkte sie, den er auf den Fenstertisch gestellt hatte. Sie hatte nur erzählt und erzählt – und was war das Ganze im Grunde eigentlich? Nichts als eine lächerliche Geschichte von intriganten Weibern! Und nicht eine Sekunde war es ihr eingefallen, daß auch er vielleicht etwas Interessanteres zu berichten hätte. Laut gähnend kam Toni zum Kaffee herein. „Ich fühle mich so, als ob ich vierundzwanzig Stunden in einer Tour schlafen könnte“, verkündete sie und sank in einen Stuhl. Eivind reichte ihr die Kaffeetasse, und sie trank schweigend. „Du, Toni“, brach es endlich aus ihm heraus, „auch ich habe dir etwas zu erzählen.“ „So, du auch? Na, dann schieß los, aber gib mir erst eine Zigarette.“ Er reichte ihr das Zigarettenkästchen, gab ihr Feuer, ließ sich Zeit
dabei und wartete. „Du wolltest mir etwas erzählen, sagtest du?“ Die Zigarette schmeckte ihr offenbar nicht, denn sie drückte sie nach einigen Zügen wieder aus. „Ja, ich wurde heute zum Bankchef gerufen.“ „Hoppla! Du zum Bankdirektor und ich zum Chefarzt. Hast du auch einen Anpfiff bekommen?“ „Das kann man nicht gerade sagen. Gestern war Direktionssitzung. Ich habe dir nie davon erzählt, aber ich war diesen letzten Monat sehr gespannt auf diese Sitzung. Ich wollte dich nicht enttäuschen, weißt du…“ „Aber mein Lieber…“, murmelte Toni. Sie saß zurückgelehnt im Stuhle, und ihre Augen waren so schwer. Himmel, wie war sie müde! Eivind sprach langsam, seine Stimme war leise und gleichmäßig. „Nein, ich hoffte ja, dir eine angenehme Überraschung bereiten zu können, versteh! Und heute also – der Direktor nahm sich so viel Zeit, daß ich ganz verwundert war, er hat es sonst immer so eilig…“ Wie fern sich Eivinds Stimme anhörte! Und wie gut und weich dieser Sessel war. Ob die Oberschwester wohl noch immer rasend war? – Und wie mag es Ingenieur Wolter gehen? Er war doch im Grunde schauderhaft taktlos gewesen. Sollte sie eigentlich nochmals zu ihm gehen? „… und dann sagte mir der Direktor das, worauf ich seit langer Zeit so gespannt war. Halt dich fest, Toni. – Ich bin befördert worden. Hundert Kronen mehr Gehalt im Monat, und vom nächsten Monat an bist du Frau Abteilungsleiter Löngard.“ Eivind schwieg und warf einen beifallheischenden, lächelnden Blick auf Toni. Sie saß und rührte sich nicht, antwortete nicht. Er beugte sich näher zu ihr hin. Toni schlief. Die kühle Winterluft tat Eivind gut. Heiß und hitzig hatte er sich den Mantel umgeworfen, den Hut ergriffen und war ausgegangen. Er hielt es nicht mehr aus. Er mußte gehen, gehen, Luft schnappen. Vielleicht war er kindisch, vielleicht war er empfindlich, aber die Spannung der letzten Zeit und die heutige Freude und dann die grenzenlose Enttäuschung über Tonis mangelhaftes Interesse – all dies war zuviel für ihn gewesen. Er hatte sich wie ein Kind gefreut, Blumen mit heimgebracht, und im Eisschrank stand eine halbe Flasche Champagner, damit wollten sie diesen Tag feiern.
Und dann schlief sie ein! Schlief, während er von dem erzählte, was ihm so viel bedeutete. Es war der Prüfstein für seine Tüchtigkeit, es war wirklich etwas ganz Außergewöhnliches, daß ein derart junger Mann so eine Vertrauensstellung bekam. Er hatte sich auf Tonis Glückwünsche gefreut, sich gefreut zu hören, daß sie stolz auf ihn war – und dann – schlief sie! Aber die frische Luft machte ihn ruhiger, der rasche Gang bewirkte, daß er sich physisch wohler fühlte, und das half auch etwas, die Stimmung zu verbessern. Er ging ohne Ziel und Absicht, und erst als er hinunter in die Stadt gekommen war, entdeckte er, daß er vor der Bank stand. Da mußte er trotz allem lächeln. Sein Instinkt hatte ihn dahin geführt, wo seine Gedanken waren. Er war auf einmal ganz angetan von dieser Bank. Sie war nicht mehr eine gewöhnliche Arbeitsstätte, an der man für das tägliche Brot schuftete, sie war eine volkswirtschaftlich wichtige Einrichtung, die Einsicht, Kenntnisse und gesundes Urteilsvermögen von dem verlangte, der hier arbeitete. Und er, Eivind Löngard, gehörte zu denen, die eine Vertrauensstellung in der Bank hatten, in diesem monumentalen, grauen Gebäude, mit den schwarzen Marmorschränken, mit den großen Gewölben und den Sicherheitskellern. Er war nicht mehr ein Rädchen, er war ein Rad in dem wichtigen Getriebe, er hatte eine große und bedeutende Verantwortung. Aber er war allein mit der Freude, allein mit dem Stolz, allein mit dem Glück, das deshalb kein Glück mehr war. Ein Schneeschauer trieb ihn weiter, und plötzlich hatte er das Verlangen nach Menschen, nach Musik, nach Leben um sich. Er lenkte seine Schritte zum „Grandhotel“. Er studierte die Weinkarte und zeigte nicht die sparsame Ader bei der Auswahl. Heute wollte er etwas Gutes trinken. Es war nicht der rechte Tag zum Sparen. „Hallo, Löngard, bist du allein hier?“ „Tag, Tag, Carlsen, du bist es? Nimm Platz.“ Carlsen war Kassierer in der Bank und ein Kollege, von dem Gemütlichkeit ausging. Eivind war froh, ihn zu treffen. Er fühlte sich allein so richtig elend. Die halbe Flasche wurde abbestellt und eine ganze gebracht. Sie probierten den Wein, tranken sich zu. Carlsen gratulierte. Der Wein war gut, und die Stimmung stieg. „Wo steckt denn deine bessere Hälfte, Löngard? Verreist? Oder
ist sie ganz erschlagen von der Beförderung?“ „Beinahe das letztere“, sagte Eivind. Der Wein bewirkte, daß er die Welt und ihre Geschicke versöhnlich ansah, und er vermochte dies mit einem Lächeln zu sagen: „Nein, weißt du, meine Frau ist heute besetzt.“ „Ja, so ist es, so ist es mit einem Mann, der eine berufstätige Frau hat. Na, das war wohl ein Hochgefühl, so eine Neuigkeit beim Mittagessen servieren zu können, das kann ich mir denken.“ „Ja, darauf kannst du Gift nehmen!“ Keine Macht der Welt hätte Eivind dazu gebracht, die Wahrheit zu sagen. Die war zu demütigend. „Aber das ist wirklich jammerschade, daß sie heute nicht mit dir zusammen sein kann. Es ist wohl das Krankenhaus, das sie so mit Beschlag belegt.“ „Ja“, sagte Eivind und nahm einen Schluck Wein. „Aber Löngard, jetzt, wo du befördert bist, kann sie wohl ihren Posten aufgeben. Jetzt verdienst du doch wirklich genug, so daß deine Frau keine Stellung mehr braucht!“ Weil Carlsen in seiner Treuherzigkeit dem Worte verlieh, was in Eivinds Innerem hoffnungslos murrte, setzte er sich hitzig in Verteidigungsstellung. „Posten! Meine Frau hat nicht irgendeinen ,Posten’, und es dreht sich dabei keineswegs ums Geld.“ „Beruhige dich“, sagte Carlsen, „ich meine bloß, es müßte angenehmer für euch beide sein, wenn sie zu Hause ist, Strümpfe stopft und Lieblingsspeisen kocht…“ „Meine Lieblingsspeisen bekomme ich trotzdem“, und immer noch war seine Stimme hitzig. „Und ungestopfte Strümpfe kommen in unserem Haushalt überhaupt nicht vor! Meine Frau kann einfach im Krankenhaus nicht entbehrt werden, will ich dir sagen. Sie hat eine lange Ausbildung hinter sich, und es war eine große Ehre für sie, diese Arbeit zu bekommen, oder diese Aufgabe, wenn du willst. Es würde mir nie einfallen zu verlangen, daß sie diese wichtige Arbeit aufgibt, eine Arbeit, die so gut für sie paßt, bloß um eine Ehemannseitelkeit zu befriedigen. Außerdem will ich dir eins sagen, Carlsen, die Ehen, in denen die Frau berufstätig ist, haben die besten Chancen, glücklich zu sein. Da wird man einander nicht überdrüssig, da trifft man sich nach beendetem Arbeitstag auf kameradschaftlicher Basis – glaub nur ja nicht, daß ich als Märtyrer herumlaufe.“
Das letzte kam mit solchem Nachdruck, daß Carlsen Mißtrauen hätte fassen müssen, wäre der Wein nicht so gut und Carlsen nicht eine so gutgläubige Seele gewesen. -Jetzt bewunderte er Eivind und versank in stilles Philosophieren über diese glückliche Ehe. Über dasselbe Thema philosophierte auch Eivind auf dem Heimweg, aber diese Philosophie war unleugbar mit allerhand Bitterkeit getränkt. Toni hätte nur hören sollen, was er Carlsen geantwortet hatte! Natürlich. Verständnis und Nachsicht fordert jede Ehe. Das war sonnenklar. Aber – vielleicht sah Eivind ganz ungewöhnlich klar an diesem Abend – waren Verständnis und Nachsicht nicht sehr einseitig in seiner Ehe? Hatte er nicht nach bestem Vermögen versucht, Tonis Interessen zu teilen, hörte er ihr nicht immer zu, wenn sie redete? Aber hörte sie auf ihn? Und je mehr er nachdachte, desto mehr wuchs die Bitterkeit. Und alles war doppelt bitter, weil er Toni liebte. Er liebte das frische, nette, herzenswarme Mädchen, in das er sich vor einem Jahr verliebt hatte. Er pflegte und bewahrte jedes einzige kleine Andenken an gute Stunden, an Zärtlichkeit, Wärme und Verständnis. Er mußte sich aber selbst gestehen, daß diese Stunden immer seltener und seltener wurden. Immer war Toni müde. Immer war sie überarbeitet. Eivind war nicht so dumm, daß er nicht merkte, welche Anstrengung es sie kostete, mit ihm einen Abend auszugehen oder bloß eine halbe Stunde abzuschalten und sich für die sogenannte häusliche Gemütlichkeit zu opfern. Die Atmosphäre der Gemeinsamkeit, der Kameradschaft, des vollen Vertrauens zwischen zwei Menschen, die einander liebten – die fehlte. Bis zu dieser Erkenntnis war Eivind gekommen, als er seine Wohnungstür erreichte und aufschloß. Es war dunkel im Zimmer. Im Schlafzimmer brannte eine Nachtlampe. Toni lag im Bett und las. Er blickte auf das graue Heft, das sie in der Hand hielt. „Individualpsychologie bei Tuberkulosepatienten“ stand mit nüchternen schwarzen Buchstaben auf dem grauen Umschlag. Und plötzlich zogen sich Eivinds Nerven zusammen. Er haßte das sachliche graue Heft und wünschte, daß Toni einen albernen Frauenroman gelesen hätte, mit einem küssenden Paar auf dem Umschlag. Toni schaute von dem Heft auf. „Hallo, Eivind, bist du ausgewesen? Denk mal, ich habe gar nicht
gemerkt, daß du gingst. Ich bin einfach im Stuhl eingeschlafen.“ „Ja, das hab’ ich gesehen“, antwortete Eivind kurz. „Du bist ein prächtiger Ehemann“, lachte Toni, „das war nett von dir, mich nicht zu wecken. Ich hatte wirklich den Schlaf nötig.“ „Ja, es sah so aus.“ „Mein armer Junge, ich vernachlässige dich wohl schandbar.“ „Ach, denke nicht daran. Ich komme schon zurecht. Und ich wußte ja von vornherein, daß deine Arbeit Nummer 1 ist und ich Nummer 2.“ „Ach, du Quatschkopf! – Nein, Eivind, im Ernst, du ahnst nicht, wie interessant dies ist. Morgen soll ich auf die Infektionsstation. Ich bin riesig gespannt, wie das ablaufen wird. Die Psyche der Tuberkulosekranken ist eine Angelegenheit für sich, weißt du. Die schwingen zwischen dem wildesten Galgenhumor und dem strahlendsten Optimismus. Wir haben auch Fälle, wo die Patienten in ihrem eigenen Unglück wie begraben sind, aber die sind merkwürdigerweise selten. Ach, wie gern ich mal eine Zeitlang in einem Tuberkulosesanatorium…“ „Ins Sanatorium wirst du eher kommen, als du ahnst, wenn du fortfährst, in diesem Tempo zu arbeiten“, sagte Eivind hitzig. „Ach, ängstige dich nicht um mich! Ich habe eine gußeiserne Gesundheit und auf der Welt den besten…“ „Schlaf“ – unterbrach Eivind. „Ja, glücklicherweise. Ich muß nur diesen Abschnitt fertig lesen, dann werde ich das Licht ausmachen.“ „Lies nur“, sagte Eivind. Er zog seinen Pyjama an und kroch unter die Daunendecke. „Mich geniert das nicht.“ Er wandte ihr den Rücken zu und schloß die Augen. Er hörte, wie Toni die Seiten regelmäßig umblätterte, wie sie das Kissen besser zurechtrückte und wieder ein Blatt wendete. Dann wurde endlich das Licht ausgemacht. Eine warme Hand strich ihm über das Kinn. „Gute Nacht, mein Guter.“ Aber Eivind tat, als ob er schliefe. Beim Frühstück am nächsten Morgen erzählte Eivind trocken und geschäftsmäßig von seiner Beförderung. So trocken und geschäftsmäßig, daß Toni im Grunde die Bedeutung der Beförderung nicht erfaßte. „Ach, Eivind, wie fein! Du bist aber wirklich ein tüchtiger Junge! Wir fangen tatsächlich an, erwachsen zu werden, wir zwei, du und
ich. Herr Abteilungsleiter und Frau Kurator! Mein Lieber, war es deshalb, daß du gestern Blumen heimgebracht hast? Denk mal an, ich habe es nicht vor gestern abend entdeckt. Du bist zu nett, Eivind.“ Er erwiderte den Kuß, den sie ihm gab, ziemlich kühl. Er verstand selbst nicht, was es war, das in ihm brannte. Er machte es sich nicht klar, daß es dieses „Herr Abteilungsleiter und Frau Kurator“ war. Warum konnte Toni nicht ein bißchen stolz sein, nur ein wenig stolz darauf, daß sie Frau Abteilungsleiter war? Was in Eivind an diesem Vormittag vorging, wußte Toni nicht, und er selbst begriff es auch kaum. Es war, als ob ein Reifeprozeß in ihm vorginge, ja, mehr als das. Eine Mischung aus verletztem Stolz, Enttäuschung, Liebe, hoffnungslosen Wünschen, Minderwertigkeitsgefühlen und Eitelkeit hatte in ihm gelegen und gegärt, und jetzt mußte bald die Explosion kommen. Aber Toni stand an diesem Vormittag in ihrem Büro vor einem mächtigen Blumenstrauß und las mit steigender Verwunderung die Karte, die dabeilag. „Lieber Seelenarzt Fünkchen! Wenn unsere Freundin Karete den Auftrag begreift, den ich ihr in Hinsicht Blumenhandlung usw. gebe, so werden Sie morgen von mir einen Gruß bekommen, als Abbitte für mein sicher ungehobeltes Benehmen von heute. Wenn Sie es vermögen, mir zu verzeihen, seien Sie bitte so nett, es zu beweisen, indem Sie bei mir hereinschauen. Ich werde mich artig aufführen, in den mir möglichen Grenzen. Und da Sie ja ein berufsmäßiger seelischer Mülleimer sind, könnte es sein, daß auch ich etwas Müll für Sie habe. Ihr reuevoller…“ Toni drehte die Karte um. Harald Wolter, Ingenieur M.N.I.V Sie las die Karte nochmals und lachte. Er war doch wirklich ein zu komischer Kauz, dieser Ingenieur Wolter! Und Schwester Karete schien ihn verstanden zu haben – oder vielleicht war die Dame im Blumengeschäft besonders verständnisvoll, denn der Strauß war wirklich ein Traum. Am liebsten wäre sie gleich zu Wolter gelaufen, aber schicklicherweise mußte sie wohl eine Weile warten. Außerdem hatte sie andere Besuche zu machen. Zu allererst wollte sie nach Frau Rolfsen sehen, die gestern operiert worden war. Und dann war da das junge Mädchen mit Knochenmarksentzündung, außerdem
mußte sie heute in einen der Kindersäle. Und zwischen eins und zwei sollte sie in ihrem Büro sein, falls einer der aufgestandenen Patienten sie zu sprechen wünschte. Toni zog sich einen reinen, weißen Kittel an und fuhr mit dem Kamm durch die Haare. Dann begab sie sich in strahlender Stimmung an die Arbeit. Erst gegen halb eins kam sie zu Wolter. „Guten Morgen, Fünkchen! Wie viele Seelen haben Sie heute verarztet?“ „Ein paar Dutzend. Ich pflege immer mindestens zwölf am Vormittag zu retten, sonst schmeckt mir das Mittagessen nicht. – Tausend Dank für die Blumen, Herr Wolter, sie sind wunderschön.“ „Und Sie haben mir also vergeben?“ „Ach, Gott, wenn es nicht schlimmere Sachen zu verzeihen gäbe, dann wäre es nicht gefährlich. Übrigens weiß ich sehr gut, was Ihnen fehlt. Sie sind ein so ausgeprägter Individualist, daß Sie es nicht vertragen können, bloß eine Nummer in einer Reihe zu sein. Habe ich nicht recht?“ „Aha, Sie wollen also doch Moral predigen und mich reformieren. Der Teufel soll Weibern trauen! Aber setzen Sie sich trotzdem, und erklären Sie mir, was Sie mit dem Unsinn meinen, den Sie da verzapfen.“ „Zuerst: Warum liegen Sie in einem Einzelzimmer?“ „Weil es mir da erspart bleibt, so verdammt zeitig geweckt zu werden, und weil ich das Licht am Abend länger brennen lassen kann.“ „Ja, denn es kann ja nicht wegen des Essens sein.“ „Nein, das kann man wohl sagen. Ich würde ein Monatsgehalt für die einfachste Mahlzeit geben, die im Saal serviert wird.“ „Es ist also etwas in Ihnen, das dagegen protestiert, wie alle anderen behandelt zu werden, nicht wahr? Sie wissen, daß in den großen Sälen alles wie nach der Schnur gehen muß, und das wollen Sie nicht. Aber es ist nun die Frage, wäre das so viel schlimmer für Sie als für alle anderen?“ „Ja, zum Teufel, weil ich nun mal diese Einstellung habe. Ich will das Recht haben, Mensch zu sein, ich will nicht zu einem gehorsamen kleinen Schuljungen degradiert werden, der vor einem Haufen Frauenzimmern kriecht, bloß weil sie eine weiße Haube aufhaben – oder in den Hosen zittern vor einem Mann, weil er zufällig ein medizinisches Staatsexamen hinter sich hat. Ich will das Recht haben, ich selbst zu sein, und nicht eine unmündige Kreatur in
einem Saal.“ Toni brach in Lachen aus. „Ich hab’s ja gesagt! Sie sind ein so ausgeprägter Individualist, daß Sie es nicht vertragen, bloß eine Nummer in einer Reihe zu sein. Auch nicht in der Reihe von Menschen, mit denen ich zu tun habe. Nicht wahr, Sie wollen, daß die Ärzte sich zuerst um Ingenieur Wolter kümmern und danach erst um alle anderen Patienten? Sie wollen, daß ich mit den anderen Patienten nur so allgemein plaudere, aber individuell mit Ihnen. Ist es nicht so?“ „Ja, zum Kuckuck, gewiß; so ist es. Ich hasse die berufsmäßige Teilnahme, die berufsmäßige Seelenpflege, die berufsmäßige Freundlichkeit. Ich mag Sie gern, weil Sie so herrlich wenig berufsmäßig sind. Jedenfalls wirken Sie so. Und wenn Sie trotz allem doch berufsmäßig sind, hier, bei mir, dann sind Sie es so verteufelt geschickt, daß es unheimlich ist.“ „Vielen Dank. Ich sollte Ihre individuellen Schwachheiten natürlich nicht unterstützen, aber – ich pfeife darauf, es ist ja nicht meine Sache, Sie zu reformieren. Also – ich bin wirklich mehr Privatmensch als Kurator hier bei Ihnen. Sind Sie nun zufrieden?“ „Ja, vorderhand. Aber hören Sie zu, Fünkchen! Sie sagten gestern etwas, worüber ich nachgedacht habe. Sie sagten, daß Sie immer etwas von sich selbst in Ihrer Arbeit geben. Ich glaube Ihnen. Sie schöpfen aus sich selbst. Sie sind gräßlich verschwenderisch. Wie viele Patienten besuchen Sie im Tag? Zehn? Zwanzig? Dreißig? Begreifen Sie nicht, daß Sie verbraucht sein werden, ehe ein Jahr um ist? Sie hören jeden Tag neue Tragödien, Sie nehmen alles in sich auf, Sie tragen die Sorgen anderer Menschen mit. Das können Sie auf die Dauer nicht aushalten. In der Regel hat man genug mit seinen eigenen.“ „Vorläufig halte ich es schon aus.“ „Das begreife ich nicht. Können Sie zum Beispiel am Abend ganz abschalten? Können Sie als Privatmensch mit andern Menschen zusammen froh sein? Diese verdammte Krankenhausatmosphäre fängt einen ja derart ein, daß ich es nicht fassen kann, wie ihr, die ihr den ganzen Tag hier herumwerkelt, überhaupt jemals wieder Privatmenschen sein könnt.“ Toni sah Wolter an und sagte nichts. Es traf, was er sagte. War sie oder er – der berufsmäßige Psychologe? Sie mußte lächeln, als sie an das Wort „berufsmäßig“ dachte. „Ja, aber, Herr Wolter, wenn ich das könnte, wenn ich abschalten
könnte und anderer Leute Sorgen nicht zu mir hereinließe, dann wäre ich ja –,berufsmäßig’!“ „Ja, eben. Und in dem Augenblick, da Sie berufsmäßig werden, sind sie null und nix wert als Kurator. Da liegt der Hase im Pfeffer, sehen Sie. Entweder, Sie verbrauchen sich völlig und werden altes Eisen vor der Zeit. Oder, Sie werden abgestumpft und gehn in dieser Tretmühle, bis Sie pensioniert werden mit Abschiedsfest, Blumen und Silberpokal, nachdem Sie fünfzig Jahre lang das Seelenleben der Patienten schneller aus dem einen Ohr hinaus- als in das andere hineingehen ließen.“ „Gott bewahre! Sie wollen doch nicht, daß ich hier hängenbleibe, bis ich einundachtzig bin!“ „Sind Sie wirklich schon einunddreißig? Ihr Aussehen widerspricht dem. Aber ernstlich, Fünkchen, hab’ ich nicht recht?“ Toni antwortete nicht sofort. Sie dachte nach. „Ich weiß nicht“, kam es zum Schluß, „ich muß mir das erst durch den Kopf gehen lassen. Sie haben mir jedenfalls etwas zum Denken gegeben. Aber hören Sie, es war nicht beabsichtigt, daß Sie statt meiner Kurator sein sollten. Sie haben eine wunderbare Gabe, die Situation auf den Kopf zu stellen. Um vernünftig zu reden, Sie sagten gestern, Sie möchten einen Stenografen haben. Wenn diese Briefe so wichtig sind, dann verwenden Sie mich – falls sie nicht so vertraulich sind, daß ich sie nicht kennen darf.“ „Quatsch! Sie haben ja Schweigepflicht. Nein, das ist es nicht. Aber man spannt doch kein Vollblutpferd vor einen Düngerwagen.“ „Ob sich Ihre Briefe mit einem Düngerwagen vergleichen lassen, kann ich natürlich nicht beurteilen. Aber ich bin kein Vollblutpferd.“ Toni zog Block und Bleistift aus der Tasche, und nachdem er einige Augenblicke überlegt hatte, diktierte Ingenieur Wolter ein paar kurze, sachliche Geschäftsbriefe. Und mit einem Male verstand Toni den „Individualisten“. Er war der Leiter einer großen Firma, ein Mann, der gewohnt war, Beschlüsse zu fassen und die Konsequenzen zu tragen. Kein Wunder, daß so ein Mann „Individualist“ wurde und sich selbst genug. „Jetzt schreibe ich sie auf meiner Maschine im Büro unten ganz rasch ab“, sagte Toni, „und dann bekommen Sie sie heute gegen drei Uhr zur Unterschrift.“ „Sagen Sie mal, wie lange Arbeitszeit haben Sie eigentlich in dieser Anstalt?“ „Offiziell bis drei, aber in der Regel bleibe ich bis vier.“
„Und kommen heim zu einem kalten Mittag?“ „Ach nein“, lachte Toni. „Mein Mann kommt gewöhnlich nicht vor halb fünf heim, also…“ „Mann sagten Sie? Haben Sie denn einen Mann?“ „Ja, das habe ich allerdings.“ „Zum Teufel“, sagte Ingenieur Wolter. „Ich kann nicht“, sagte Toni. Sie sagte es zum vierten Male im Laufe von drei Minuten. Sie sagte es mit einer todmüden Stimme, einer Stimme, müde vom vielen Erklären. Und trotzdem versuchte sie es noch einmal. Sie stand da im Morgenrock, das neue Abendkleid lag fertig ausgebreitet über dem Bett. Die feinen kleinen Goldsandalen hatte sie schon an. Das Blaufuchscape lag auf einem Stuhl vor dem Kamin, mit dem Futter nach außen, so daß es angewärmt wurde, bis sie nachher die Treppe zum Taxi hinunterlief. Eivind war in Hemdsärmeln, er war fertig, brauchte nur noch den Smoking anzuziehen und dann ein Taxi anzurufen. „Ich kann nicht, Eivind. Ich kann nicht. Verstehst du nicht, er ist ganz allein in der Stadt. Er liegt und kämpft mit dem Tod, sein Sohn ist noch nicht gekommen, verstehst du nicht, man kann einen Menschen nicht allein sterben lassen.“ „Toni, hör mal zu. Du bist nicht der einzige Mensch, der bei ihm sein kann. Es gibt doch Schwestern in diesem großen Krankenhaus. Die lassen ihn schon nicht allein liegen.“ „Herrgott, Eivind, wenn du da lägst und sterben solltest, und es gäbe einen Menschen, mit dem du reden könntest und wolltest, was würdest du wohl sagen, wenn du Bescheid bekämst, daß dieser eine Mensch nicht kommen könne, weil er auf eine Gesellschaft ging?“ „Ich würde kein Wort verlieren, wenn es nicht gerade diese Gesellschaft wäre. Der Chef gibt sie mir zu Ehren, und ich weiß, daß du ihn als Tischherrn haben sollst. Verstehst du denn nicht, daß dies nicht geht, Toni? Das ist eine Beleidigung für den Direktor. Diese Gesellschaft ist kein Vergnügen, sie ist eine sonnenklare Pflicht gegenüber deinem Mann.“ „Eivind, du sollst nicht sterben.“ Toni nahm den Morgenrock ab und zog ihr Werktagskleid an. „Aber Toni, Toni! Ich bitte dich darum. Begreifst du denn gar nicht, wie viel es für mich bedeutet.“ „Ach Eivind…“ Plötzlich mußte sie ein paar Tränen verschlucken. Sie schloß die Augen und dachte einen Augenblick nach. Sie sah den alten Mann vor sich, bei dem sie am Vormittag
gesessen hatte. Er hatte reden müssen, er fühlte, daß der Tod nahte, und unaufhörlich hatte er geflüstert: „Wenn nur Johann noch kommt, wenn nur Johann noch kommt… Ich muß mit Johann reden… Ich kann nicht sterben, ehe ich mit Johann gesprochen habe…“ Toni war anfangs zu ihm gerufen worden, weil er dringend einen Brief an seinen Johann zu schreiben hatte, und seither hatte sie den alten Mann jeden Tag besucht. Gestern war sein Zustand bedenklich geworden. Heute war es sicher, daß er nicht viele Tage, vielleicht kaum noch Stunden zu leben hatte. Die Angst in seinen Augen verfolgte Toni. Sie hatte an seinem Bett gesessen, seine Hand gehalten und auf sein angestrengtes Geflüster gelauscht. „Ich muß mit Johann reden…“ „Er hat einen langen Weg, weißt du, zwei Tagesreisen“, hatte Toni gesagt. „Ich, ich weiß es, ich weiß es. Und vielleicht ist er auf See. Aber ich muß mit Johann reden…“ „Könntest du nicht mit mir reden?“ hatte Toni gefragt. Und da hatte der Alte sie lange angeblickt. „Ja, Schwester. Wenn Johann nicht rechtzeitig kommt, dann muß ich mit dir reden. Und du mußt es Johann sagen. Versprichst du mir das?“ „Das verspreche ich dir.“ Dann hatte der Alte zur Beruhigung eine Spritze bekommen, und Toni war heimgegangen. Und nun, drei, vier Stunden später, zehn Minuten bevor sie mit Eivind in diese Gesellschaft gehen sollte, die so viel für ihn bedeutete, da erhielt sie telefonischen Bescheid vom Krankenhaus. Mit dem Patienten stand es zusehends viel schlechter, und er würde wohl kaum die Nacht überleben. Und er lag da und rief nach ihr. „Ich kann nicht, Eivind.“ Die Tränen strömten nun über ihr Gesicht, während sie die soliden Straßenschuhe und den Ulster anzog. Dann telefonierte sie nach einem Taxi. „Bestelle zwei“, sagte Eivind, und seine Stimme war hart wie Metall. „Ich will jedenfalls nicht zu spät zum Chef kommen.“ Kurz darauf standen die beiden Wagen vor der Tür. Er zog hitzig seinen Mantel an, ergriff den für die Frau des Direktors bestimmten Blumenstrauß und stieg in das eine Taxi, Toni stieg in das andere. Und so fuhr jeder seinen eigenen Weg. Eine Stunde später kam Toni zurück. Sie hatte es geschafft, sie
war noch rechtzeitig gekommen. Der alte sterbende Freund hatte ihr noch alles zugeflüstert, was sie dem Sohn sagen sollte – und dann hatte er sein Leben ausgeatmet, mit Tonis Hand in der seinen. Die feierliche Stimmung von dem stillen Totenbett klang noch in Toni nach. Sie fühlte noch den Druck der verarbeiteten Hand, sie hörte die geflüsterten Worte im Ohr. Es war nicht das erstemal, daß sie einen Menschen hatte sterben sehen. Aber es war das schönste Totenbett, das sie erlebt hatte. Das Taxi hielt. Sie war daheim. Und mit einem Ruck wandten sich ihre Gedanken den Pflichten gegenüber Eivind zu. Großer Gott – sie mußte ja in die Gesellschaft! Mußte liebenswürdig und lächelnd und geistreich sein, alle mußten einen guten Eindruck von der Gattin des jungen Abteilungsleiters bekommen. Sie mußte um Entschuldigung bitten, weil sie zu spät kam, und dafür doppelt gefallen. Toni fühlte beinahe Übelkeit bei dem Gedanken. Sie zog sich das knisternde dunkelgrüne Moirekleid an, legte die antike Goldkette um ihren Hals, die sie am Hochzeitstag von ihrer Schwiegermutter bekommen hatte. Sie blickte in den Spiegel. Wie blaß sie war! Ihre Sommersprossen waren nicht mehr drollig und munter, die verlangten Farbe in den Wangen und ein strahlendes Lächeln. Keines von beiden konnte sie im Augenblick bieten. Jetzt war sie blaß und müde, mit Ringen unter den Augen. Die Sommersprossen ergossen sich über ihr Gesicht wie kleine braune Inseln. Sie wußte gut, daß sie nicht hübsch war, aber sie wußte auch, daß die Leute ihr Gesicht gern hatten, weil es immer munter war und lächelte. Sommersprossen, rotes Haar und Stupsnase erfordern absolut gute Laune. Sie telefonierte nach einem Taxi. Und im Taxi saß sie mit geschlossenen Augen und versuchte sich zu sammeln. Was sollte sie sagen – wovon sollte sie reden? Die Gesellschaft war gerade beim Nachtisch angekommen, als sie eintraf. Toni ärgerte sich. Warum hatte sie nicht noch etwas gewartet, dann hätte sie still und beinahe unbemerkt beim Kaffee erscheinen können. Nun verursachte sie großen Aufruhr, mit extra Aufdecken und Servieren, und die andern Gäste mußten warten, während sie nervös und eilig sich durch das gute Menü aß, ohne zu wissen, was sie zu sich nahm. Um sie herum wurde geredet. Zu ihrer Rechten sprach man von Politik, zur Linken von Kunst. Die Frau des Direktors tauschte mit
der Frau des Depotchefs Meinungen aus über die neue Nerzjacke einer bekannten Schauspielerin. Es surrte um Toni herum, und sie entdeckte zu ihrem Erschrecken, daß alles, was geredet wurde, ganz neu für sie war. Marshallplan und Kunstausstellung und Pelzwerk, alles floß in ihrem müden Kopf zu einer unordentlichen Masse zusammen. Sie entdeckte auch, daß sich der Direktor mächtig anstrengte, um ein Gespräch mit ihr in Gang zu bringen. Auf einmal erfaßte sie, daß Eivind sprach. Es war seine Stimme, die sie hörte, und sie sprach ganz allein. Er sagte etwas, worauf alle hörten. Die Stimme war so sicher, so angenehm, er sprach von etwas, worüber er Bescheid wußte… „Ich kann mit Ihnen nicht ganz einig sein, gnädige Frau“, hörte Toni ihn sagen. „Vandalismus möchte ich es jedenfalls nicht nennen, wenn zum Beispiel Stokowsky Bachs Orgelkompositionen für Orchester eingerichtet hat. Wir müssen daran denken, daß das Orchester zu Bachs Zeiten gar nicht existiert hat, das heißt, kein Orchester von dem Umfang, wie wir sie heute haben.“ „Ja, aber Orgelmusik ist doch etwas anderes als ein Orchester“, wandte eine Reedersfrau ein; sie war es, welche das Gespräch auf Musik gebracht hatte. „Ja, für Bach war die Orgel das beste Instrument, das volltönendste, das, was sich am besten für seine Kontrapunktik eignete. Aber ich glaube doch, wenn er ein großes Orchester zur Verfügung gehabt hätte, würde er das mit Freude benützt haben, ebenso wie er ganz sicher für Klavier komponiert haben würde, statt für Cembalo, wenn es schon erfunden gewesen wäre.“ Toni hörte mit offenem Mund zu. War das ihr Eivind? Ihr gleichmäßiger, ruhiger Ehemann? Warum sprach er nie mit ihr über so etwas? Sie wußte wohl, er liebte Musik sehr. Er hörte sich auch alle guten Konzerte im Radio an, aber nun sprach er in jenem bestimmten Ton, den man hat, wenn man auf vertrautem Boden steht und seiner Sache sicher ist. Und Toni erinnerte sich plötzlich, daß Eivind dieselbe Stimme gehabt hatte, als er mit Frau Brachfeldt von Malereien sprach. Wieso mußte sie in Gesellschaft gehen, um diese neuen Seiten ihres Mannes zu entdecken? Ihr müdes Gehirn konnte das Problem nicht lösen, und sie verstand nicht, daß sie selbst die Schuld trug, wenn Eivind seine Interessen nicht mit ihr teilte. Sie erhoben sich vom Tisch und nahmen den Kaffee im
Rauchzimmer. Toni fand einen ruhigen Winkel, sie versuchte, sich zu entspannen und zu sammeln. „Ich muß mit Johann reden – mit Johann reden…“ Was hatte Ingenieur Wolter gesagt? „Können Sie sich als Privatmensch mit anderen Menschen freuen?“ Ingenieur Wolter hatte recht. Sie war ganz eingefangen von der Krankenhausatmosphäre. Alle ihre Kräfte wurden davon verzehrt. Als Privat- und Gesellschaftsmensch war sie nicht mehr brauchbar. Mit einemmal richtete sie sich auf. Das durfte nicht geschehen. Sie mußte sich zusammennehmen. Sie war doch in ihrer Studienzeit immer „die muntre Toni Bang“ gewesen! Der Eulenspiegel unter den Kameraden, ein Sportsmädel, immer aufgelegt zu Spaß und Narretei. Was war aus ihrer Munterkeit und Lebenslust geworden? War das alles in anderer Leute Sorgen und Krankheiten untergegangen? „Sitzen Sie hier allein, Frau Löngard? Sie Ärmste, Sie sind müde? Sie waren ja auch heute abend im Krankenhaus, wie Ihr Mann erzählte.“ Es war die Gastgeberin, die sich zu Toni setzte und versuchte, ein Gespräch anzuknüpfen. „Ja, es hat mir so schrecklich leid getan – aber was soll man machen, wenn man an ein Sterbebett gerufen wird.“ „Nein, natürlich, meine Liebe. Aber, ich sagte es schon zu Ihrem Mann, es muß ihm ja vorkommen, als ob er mit einer Ärztin verheiratet wäre! – Was für einen schönen Halsschmuck Sie haben, Frau Löngard! Darf ich ihn näher ansehen? Ich interessiere mich so für alte Goldschmiedearbeiten.“ Es glückte der Gastgeberin, Toni in einen Kreis von Damen hineinzuziehen. Sie redeten von Kleidern, Schmuck, Kochrezepten und Kindererziehung. Und von gesunden Kindern ging das Gespräch über auf kranke Kinder und von kranken Kindern zum Krankenhaus. Toni hörte mit halbem Ohr zu. „Ja, darüber müssen Sie doch mitreden können, Frau Löngard, Sie haben doch sicher viel mit Kindern zu tun! Ach, die Armen, es ist ja arg, sie verstehen nicht, warum sie von Vater und Mutter genommen und in einem großen fremden Saal ins Bett gesteckt werden…“ „Für viele ist es direkt eine Erziehung, in einen Krankenhaussaal zu kommen“, sagte Toni. „Neurotische und appetitlose Kinder zum
Beispiel lernen essen, wenn sie die anderen sehen, verwöhnte Kinder werden umgänglich, diszipliniert, und das Heimweh ist nicht so groß, wie man glaubt.“ „Und sie bekommen ja Besuch von ihren Müttern jeden Tag, das ist ein Trost“, meinte eine Dame. „Na, leider, Mütterbesuche sind nicht immer gut“, sagte Toni. „Unvernünftige Mütter bejammern die Kleinen so, daß sie vor Mitleid mit sich selbst zu heulen anfangen. Das Fieber steigt, und das Allgemeinbefinden wird oft verschlechtert nach solchen Besuchen.“ „Nein, was sagen Sie da, Frau Löngard…“ „Das ist eine Tatsache.“ Toni sprach mit Eifer, sie war tags zuvor im Kindersaal gewesen, und eine der Stationsschwestern hatte ihre Not geklagt. „Nicht zu reden von der Arbeit, die die Schwestern nach diesen Besuchen haben. Die Betten müssen förmlich durchwühlt werden nach unerlaubt mitgebrachten Geschenken und Näschereien.“ „Ja, was soll denn das heißen? Ist dem armen Würmchen nicht die kleine Abwechslung gegönnt, die so ein Mitbringsel bedeutet? Man kann doch nicht mit leeren Händen zu seinem Kind kommen?“ „So würden Sie nicht reden, wenn Sie einmal ein zuckerkrankes Kind im Koma gesehen hätten, nach unerlaubt mitgebrachter Schokolade“, ereiferte sich Toni. Nun war ihre Stimme hitzig. Sie war müde und abgekämpft, nervös – und sie vergaß, ihre Worte abzuwägen. „Tatsache ist, daß die Besuche oft mancherlei Komplikationen mit sich bringen“, fuhr sie fort. „Nach der Meinung vieler Einsichtiger sollten Elternbesuche auf der Kinderstation überhaupt verboten werden.“ Tonis Ton war entschieden zu sachlich. Ein Chor von Protesten erhob sich, Proteste, denen entgegenzutreten Toni zu müde war. Sie hörte die gewandte konventionelle Stimme der Gastgeberin, die mit unveränderter Freundlichkeit zu vermitteln versuchte und das Ganze als einen Spaß abtun wollte. Und mit einemmal sah sie Eivinds Augen. Eivinds Augen mit einem enttäuschten, betrübten und zugleich verärgerten Ausdruck. Er hatte sich darauf gefreut, daß die ganze Gesellschaft von seiner süßen, amüsanten, schlagfertigen Frau bezaubert sein sollte. Statt dessen war die Gesellschaft schockiert über die blasse, müde und belehrende Berufsfrau, die die Mütter unter ihnen beleidigte und die von kranken Kindern mit jener nüchternen
Sachlichkeit sprach, wie nur die kinderlose Frau sie hat. Toni sah seine Augen und wußte auf einmal, daß sie sich unmöglich gemacht hatte. Sie wußte, daß sie ungeeignet war für das Gesellschaftsleben, fühlte, sie war tatsächlich kein Privatmensch mehr. Ihr Herz war im Krankenhaus, bei den Patienten. Sie gehörte ins Krankenhaus. Da war sie daheim. Da blühte ihr Lächeln auf, da empfingen die Patienten sie mit Dankbarkeit, da hatte sie Verwendung für alle ihre besten menschlichen Eigenschaften. Und trotzdem. Sie hatte doch Eivind lieb. Hatte ihn schrecklich lieb. Aber es war, als ob diese Liebe ihre Lebenskraft verloren hätte. Toni war müde. Die Liebe selbst war müde. Toni graute es vor der Auseinandersetzung, die sie nach diesem Abend erwartete. Aber Eivind war schweigsam. Kein Wort auf der Heimfahrt im Taxi und kein Wort, als sie sich entkleideten und zu Bett gingen. Nur ein kurzes „Gute Nacht“. Dann drehte er das Licht ab, und alles wurde still. Es war eine schlimme Zeit, die nun folgte. Eivinds Stummheit konnte ja nicht ewig dauern. Aber das, wovon sie sprachen, waren unpersönliche und gleichgültige Dinge. Toni freute sich nicht mehr darauf, heimzukommen. Sie wurde nicht mehr von einem frohen, verliebten Mann im Vorraum begrüßt. Sie wurde nicht mit liebevollen, munter neckenden Worten empfangen. Eivind war höflich und zwischendurch freundlich, auf eine unpersönliche Art. Und ab und zu kamen kleine bissige Bemerkungen. Die Kluft zwischen ihnen wurde tiefer und tiefer. „Wollen wir Spazierengehen, Toni? Es ist so schönes Sonntagswetter. “ „Ich kann nicht, Eivind. Ich muß um elf mit dem Schärenboot fort. Aber vielleicht hast du Lust mitzukommen?“ „Was in aller Welt sollst du auf dem Schärenboot?“ „Ich muß nach Holmefjord fahren. Weißt du, ich habe eine Patientin, der ich helfen muß. Und vor allem muß ich mit ihrer Familie reden. Weißt du, wenn sie heimkommt, hängt es von dem Mann und den Kindern ab, ob sie sich gesund erhalten kann…“ „Ich verstehe“, sagte Eivind, und seine Stimme war eiskalt. „Selbstverständlich bedeutet ein Ehemann nichts im Vergleich zu einer Patientin von Holmefjord.“ Das schmerzte Toni. Verstand Eivind denn nicht, was diese Fahrt
zu bedeuten hatte? Vielleicht konnte sie ein Menschenleben retten, wenn sie mit dieser Familie sprach. Hatte sie das Recht, sich dem zu entziehen, um einen Sonntagsspaziergang mit ihrem Mann zu machen? „Ich fürchte, das Essen ist kalt geworden, Toni. Entschuldige, daß ich gegessen habe. Es ist über fünf.“ „Ich konnte nicht früher kommen, Eivind. Ich komme von einem schrecklich traurigen Krankenbett…“ „Ach so. Einem Sterbebett?“ „Wenn es nur das wäre, hätte ich beinahe gesagt. Nein, es handelt sich um einen jungen Mann, der vielleicht noch viele, viele Jahre leben wird.“ „Da hätte vielleicht diese wichtige Unterredung bis morgen warten können?“ „Das konnte sie nicht. Der Mann brauchte mich heute. Du, Eivind, das ist ein bildschöner Mann von fünfundzwanzig Jahren.“ „Ja, da kann ich verstehen, daß du bleiben mußtest“, sagte Eivind. Toni blickte ihn an – die Antwort konnte ein Spaß gewesen sein. Eivinds Gesicht war verbissen und ernst. „Jeder würde es nötig haben, sich in so einem Fall auszusprechen“, sagte Toni. „Sie war noch erfüllt von dem Unglück des jungen Mannes. Kannst du verstehen, was das für einen jungen Mann bedeutet – er ist noch dazu Schauspieler und man hatte ihm eine große Zukunft beim Film prophezeit –, und heute hat er erfahren, daß er Akromegalie hat, wenn du weißt, was das bedeutet? Nein, du weißt es nicht. Eine Krankheit, die ihren unabwendbaren Gang nimmt. Das Gesicht wächst und wächst und wird lang und plump und unnatürlich groß, die Hände und Füße werden unförmige Pranken. Leider unheilbar. Und unglücklicherweise weiß dieser Mann Bescheid um diese Krankheit, er weiß, wie sie sich entwickelt…“ „… aber, wenn er mit dir bloß eine Stunde sprechen kann, so bekommt er gleich wieder Lebensmut und erwartet voll Spannung und Interesse, daß sein Gesicht riesengroß werden wird?“ „Eivind!“ Tonis Stimme zitterte, „jetzt bist du roh!“ Eivind drehte sich auf dem Absatz um und ging hinaus. Toni mußte all ihre Selbstbeherrschung aufbieten, um die Tränen zurückzuhalten. Der Eindruck von dem Krankenlager des unglücklichen jungen Mannes haftete in ihr, und Eivinds vollständiger Mangel an Verständnis empörte sie so, daß sie hätte
heulen können. Eivind blieb eine Stunde weg. Toni saß in sich zusammengesunken vor dem Kamin, müde, mutlos, einsam. Dann ging die Tür, und Eivind kam still herein. Er ging zu ihrem Stuhl, blieb einen Augenblick dahinter stehen – dann fühlte Toni seine Hand auf ihrem Kopf. „Toni, ich möchte dich um Verzeihung bitten – du hast recht – ich war roh. Du mußt dir vorstellen, wie enttäuscht ich war. Versuche, mich zu verstehen. Man sagt manchmal mehr, als man meint.“ Seine Hand glitt auf ihre Schulter hinunter, und sie preßte ihr Gesicht dagegen. Eine heiße Welle stieg in ihr hoch, als sie die warme, breite, starke Hand an ihrem Kinn fühlte. Herrgott, hatte sie denn ganz vergessen, wie behutsam diese Hände liebkosen konnten? Hatte sie vergessen, daß sie immer bereit waren, den Weg für sie zu ebnen und sie zu tragen und zu beschützen? Aber Toni gehörte nicht zu denen, die sich tragen und beschützen lassen. Sie hatte kein Recht darauf. Hatte kein Recht, alle jene zu vergessen, die sie brauchten. Hatte kein Recht, egoistisch zu sein. Eivind wurde nach diesem Tag freundlicher, rücksichtsvoller. Aber oft war er verschlossen und stumm, selbst wenn man ihn einen guten Ehemann nennen mußte. Er hörte freundlich zu, wenn Toni erzählte, und wenn sie ihn um einen Dienst bat, sagte er niemals nein. Aber er erzählte wenig von sich und dem Seinen, und Toni fragte nicht. Und so lebten sie Seite an Seite in ihrem kleinen Heim, Seite an Seite, aber jeder für sich. Da geschah es eines Tages, daß Toni nicht nur pünktlich zum Essen kam, sondern sogar vor ihrer Zeit. Und Eivind wurde zu seiner Verwunderung von einem sanften, blauäugigen, rotwangigen Frauchen empfangen, das ihm half, den Mantel abzulegen, und fast zersprang vor munterer Gesprächigkeit. „Nie im Leben errätst du, von wem ich einen Brief bekommen habe“, sagte Toni, und die Betonung verlangte gewissermaßen, daß er raten solle. „Deiner Stimme nach muß er vom König sein“, lächelte Eivind. „Noch viel netter. Von Fräulein Broberg. Und denk dir, sie kommt hierher!“ „Broberg?“ Eivind mußte nachdenken. „Ach, deine Küchendame
aus Schweden?“ „Küchendame!! Skandinaviens führende Kraft, was die Diätküche betrifft. Ich flog zum Chefarzt und erzählte es ihm, und er war mit einemmal Feuer und Flamme. Er wird Fräulein Broberg bitten, einen Vortrag im Krankenhaus zu halten, für die Ärzte und Schwestern und für einen Teil des Küchenpersonals und den Verwalter…“ „Und mit dem Kurator auf dem Ehrenplatz“, neckte Eivind. „Ach, du Quatschkopf! Aber du kannst mir glauben, das war lustig zu sehen, wie interessiert der Chefarzt war. Ich habe ihm ja von Fräulein Broberg erzählt, gleich, als wir aus Schweden kamen. Diät ist ja eines seiner Steckenpferde. Jedenfalls soll Fräulein Broberg Vortrag halten, und einen Abend müssen wir sie einladen, Eivind, und uns etwas extra Nettes für sie ausdenken.“ „… wenn du Zeit hast“, warf Eivind ein. Aber Toni war so eifrig und aufgedreht, daß sie den Spott nicht merkte. „Und ich habe ihr schon geschrieben und angefragt, ob sie bereit ist, diesen Vortrag zu halten. – Ich bin so gespannt, daß ich beinahe nichts essen kann.“ „Ich auch“, sagte Eivind mit Grabesernst. „Ich würde es als die größte Enttäuschung meines Lebens ansehen, wenn meine Frau diesen Diätvortrag nicht in Gesellschaft sämtlicher Ärzte des Krankenhauses hören könnte. Aber, apropos Diät. Was hältst du von einem kleinen Mittagessen? Es riecht fast nach Wunschdiät aus der Küche!“ Als Fräulein Broberg kam, hatte Toni einige geschäftige Tage. Sie wurde ganz selbstverständlich Fräulein Brobergs Fremdenführerin, solange sie sich in der Stadt aufhielt. Einen Tag waren sie auf Autotour, einen anderen in Museen, einmal nahm sich Toni eine Stunde frei, mitten am Vormittag, und ging mit Fräulein Broberg in die Stadt und machte Einkäufe. Glücklich berichtete sie Eivind darüber, und er dachte mit nicht geringer Bitterkeit, daß sie sich ganz gut vom Krankenhaus losreißen konnte, wenn es um jemand ging, der ihr wichtig war. Dann kam der Abend, an dem Fräulein Broberg ihren Vortrag halten sollte. Toni hatte alles organisiert und arrangiert, und nun war der große Unterrichtssaal gestopft voll. Toni nickte nach rechts und links, sie kannte alle und war mit den meisten gut Freund. Der Chefarzt setzte sich neben sie, und Toni gestand sich, daß sie darauf ein wenig stolz war.
Dann sprach Fräulein Broberg. Ihr Vortrag war sachlich, vernünftig und ernst und gleichzeitig gespickt mit einer Menge munterer Kleinigkeiten, so daß die Ärzte und das Küchenpersonal um die Wette lachen mußten. Es breitete sich eine richtig nette, animierte Stimmung aus, und Fräulein Broberg vermochte das Interesse vom ersten bis zum letzten Augenblick zu fesseln. Die Schwestern zogen sich zurück, ebenso einige der jüngeren Arzte. Zum Schluß saß nur ein gemütlicher kleiner Kreis zusammen: die Vortragende, der Chefarzt, der Oberarzt, ein paar Assistenten und Toni. Es endete beim Oberarzt, mit einem Mitternachtskaffee und viel Scherz über vernünftige Diät und unvernünftiges Kaffeetrinken. Und mitten in einer Vitamindiskussion zwischen Fräulein Broberg und dem Chefarzt, wo A-, B-, C- und D-Vitamine förmlich die Klingen kreuzten, kam der Gastgeber grabesernst mit einer Likörflasche und fragte, ob es ein wenig X-Vitamin sein sollte? Und es gab nicht nur ein Glas dieses wunderwirkenden Vitamins für die Gäste, ehe sie in gehobener Stimmung aufbrachen. Toni konnte sich nicht erinnern, wann sie zuletzt in so strahlender Laune gewesen war. Diesmal war es ihr geglückt, abzuschalten. Sie hatte tatsächlich den ganzen Abend nicht an ihre Arbeit gedacht. Sie hatte diese amüsante und muntere Gesellschaft genossen, es genossen, mit Menschen zusammen zu sein, die ihre Interessen teilten, intelligente und nette Menschen, die außerhalb der Arbeitszeit neue und überraschende Seiten zeigten. Toni fühlte sich heimisch und sicher unter ihnen. Sie waren alle aneinander gebunden, eingefangen von der eigenartigen, merkwürdigen Atmosphäre des Krankenhauses. Aber zu Hause lag Eivind in seinem Bett und konnte nicht schlafen. Ein sonderbarer Vortrag, der so lange dauerte! Und wenn es nicht der Vortrag war, der Toni abhielt, was war es dann? Er sah sie vor sich, so wie sie sicher heute war – guter Laune, interessiert, mit blanken Augen und dem wachen, intelligenten Blick. Nicht die müde und ferne Toni, die er von den letzten Monaten her kannte, sondern das rasche, lebhafte, kluge Mädchen, in das er sich damals verliebt hatte. Jetzt waren es andere, die sich in ihrem Glanz sonnten – ja, Toni konnte glänzen, wenn sie in guter Stimmung und richtig aufgedreht war. Eivind wußte es jetzt, wußte es mit einer grenzenlos bitteren Sicherheit. Er war nur etwas Alltägliches für Toni, gehörte in
dieselbe Klasse wie der Lehnstuhl und die Hausschuhe. Wenn sie zu ihm heimkam, war sie todmüde, besaß nicht den Lebensüberschuß, der dazu gehörte, um dem Alltag Helle und Glanz zu verleihen. Sie lebte in ihrer Welt und er in der seinen. Und ihre Lebenslinien liefen keineswegs parallel. Sie hatten sich in einem kurzen, wunderbaren Augenblick gekreuzt. Nun gingen Toni und Eivind wieder jeder in seiner Richtung. Sie entfernten sich voneinander mit jedem Tag, der verging. Und Eivind wagte nicht, an den Tag zu denken, an dem sie so weit auseinandergekommen sein würden, daß sie einander nie mehr finden konnten. Es blieb ein wahres Glück, daß eine von Tonis Patientinnen zufällig ein Datum erwähnte. „Ich bin so froh, daß ich morgen heimgehen kann“, sagte die Patientin, eine junge Frau, „da bin ich am Zehnten zu Hause, und da hat mein Mann Geburtstag.“ Den Zehnten! Geburtstag!! Himmel, am Zehnten, also übermorgen – hatte doch auch Eivind Geburtstag! Tatsächlich hätte sie das vergessen, wenn dieses Datum nicht zufällig erwähnt worden wäre. Was sollte sie ihm schenken? Sie erinnerte sich an seinen vorjährigen Geburtstag. Da war sie noch ganz neu im Krankenhaus, hatte noch nicht viel Geld erspart, aber sie hatte etwas gekauft, von dem sie wußte, daß Eivind es sich wünschte, nämlich ein paar gute Schallplatten. Er war ja so musikalisch, und sie erinnerte sich gut an jenen Abend, als sie zusammen in seinem Heim gegessen hatten, das jetzt ihr gemeinsames Heim war. Sie hatten Krebse gegessen und Weißwein getrunken und die Platten gespielt. Es war Chopins chromatische Etüde und eine Rhapsodie von Brahms. Und sie hatten fantasiert und für die Zukunft geplant und waren ganz erfüllt von ihrem Glück und wachen Träumen. „Warte nur“, hatte Toni gesagt, „wenn ich reich bin, werde ich mich nicht damit begnügen, dir ein paar Schallplatten zu schenken, da sollst du einen Flügel bekommen.“ „Das wäre so was“, hatte Eivind gesagt, „da müßtest du gleichzeitig ein Haus bauen, um ihn unterzubringen. Nein, hättest du gesagt ein Pianino, dann…“ Ein Pianino! Furchtbar leichtsinnig würde es sein, schrecklich leichtsinnig.
Aber sie hatte das Geld. Und zur Zeit waren einige Pianinos in der größten Musikinstrumentenfirma der Stadt ausgestellt. Wie würde er sich freuen! Er sollte eine wirklich große Freude haben. Sie brauchten sie beide. Konnten sie nicht ihre Liebe wiederfinden – bei Musik und Krebsen und Weißwein…? Toni faßte einen Entschluß. Eine halbe Stunde vor Büroschluß schlich sie sich in die Stadt. Und sie hatte Glück, das Geschäft hatte noch ein einziges, ganz kleines Pianino übrig, ein nettes Ding, in polierter Birke und mit einem schönen, wenn auch etwas schwachen Klang. Natürlich war es teuer. Aber für die Freuden dieses Lebens mußte man eben etwas bezahlen, philosophierte Toni. Sie verabredete mit dem Geschäftsinhaber, wann es geliefert werden sollte. Und dann wanderte sie weiter, kaufte Weißwein und bestellte fertiggekochte Krebse und beim Konditor eine Torte mit Marzipanüberzug – die hatten sie auch voriges Jahr gegessen. Eivind erwähnte seinen Geburtstag nicht mit einem Wort. Toni schielte auf ihn, als er am Abend zuvor mit seinem Buch dasaß. Er sah hinein, aber er vergaß, die Seiten zu wenden. Plötzlich war etwas an ihm, das Toni rührte. Etwas Stilles, Resignierendes, Einsames. Ihr armer Junge! Sie hatte ihn vernachlässigt, ja, sie wußte, daß sie das getan hatte. Lieber, guter, treuer Eivind! Aber morgen würde er froh sein… Er war es auch. Er errötete vor Freude, als er mit einem munteren: „Ich gratuliere zum heutigen Tag, Liebster“, geweckt wurde. Und er strahlte, als er zum Frühstückstisch kam und ihn mit Blumen und lustigen kleinen Flaggen geschmückt fand. „Dein Geschenk bekommst du später“, sagte Toni, „wenn du aus dem Büro kommst.“ „Ich finde, ich habe schon mein Geschenk bekommen“, sagte Eivind. Er küßte Toni, und seine Stimme war warm und jungenhaft froh – beinahe wie früher. Als er von der Bank heimkam, hing Toni aus dem Fenster und winkte ihm zu, und er wurde nicht im Vorraum, sondern schon auf der Treppe empfangen. Und Toni nahm ihn bei der Hand und zog ihn ins Zimmer, eifrig
und rotwangig wie ein kleines Mädchen. „Sieh dich um, Eivind!“ Das Zimmer war nicht groß, man brauchte gewiß nicht zu suchen, um das nette kleine Pianino zu entdecken. Toni hatte es frei aufgestellt, so daß das Tageslicht von links einfiel. „Toni – Tonilein! Ich glaube, du bist vollkommen verrückt!“ „Freust du dich darüber, Eivind?“ „Und das fragst du? Mädel – mein Mädel…“ Er küßte die lustigen, kecken Löckchen. „Daß du daran gedacht hast, dich erinnert hast, Toni, liebes Kerlchen, du hast dich ruiniert für mich…“ „Unsinn“, lachte Toni. „Ein bißchen Freude mußt du doch auch davon haben, daß deine Frau Geld verdient! Versuche es Eivind, du kannst doch spielen…“ Eivind warf einen raschen Blick auf sie. Und ein böser Gedanke fuhr durch seinen Kopf. Etwas Freude mußte er doch auch davon haben, daß seine Frau Geld verdiente. Ja, wenn man diesen Gedanken weiter verfolgen wollte, so mußte man sagen, daß er gewissermaßen einen Schwarzmarktpreis für dieses Pianino bezahlt hatte und mehr als das… Aber er schüttelte den Gedanken ab. Er setzte sich an das Pianino und schlug einige Akkorde an. Dann wandte er sich zu Toni. „Ein wunderbarer Klang, Toni, so weich und schön.“ Er spielte einen kleinen Walzer von Chopin und einen nordischen Tanz von Grieg. Dann kam Berit und bat zu Tisch. „So, jetzt bin ich richtig geburtstagssatt“, lachte Eivind, nachdem er sich seine beiden Lieblingsgerichte einverleibt hatte, Schneehühner und Ananascreme. „Und nun bin ich absolut gezwungen, einen Mittagsschlaf zu halten.“ „Da halte ich mit“, sagte Toni. „Der Diwan ist breit genug für zwei, wenn man sich dünn macht“, meinte Eivind. Sie machten sich dünn. Es war, als ob sie beide befreit aufatmeten. Sie fanden die gute, alte Vertraulichkeit wieder, sie scherzten miteinander, wechselten kleine, heitere Worte. Es gab keine Aussprache zwischen ihnen, sie glitten einfach in das frühere Glück zurück – wie vor einem Jahr. Am Abend aßen sie Krebse und tranken Weißwein und nachher einen starken Kaffee, und Eivind bekam die Marzipantorte mit vierunddreißig Kerzen. „Spiele mir etwas vor“, sagte Toni.
Eivind strich ihr über die Wange, erhob sich und ging zum Pianino. Er spielte ein wenig mit den Tasten, dann schloß er die Augen eine Sekunde lang und begann, Brahms Rhapsodie zu spielen, dieselbe, die sie vor einem Jahr auf einer Schallplatte gespielt hatten. Nachher wurde es still. Nach einer langen Pause sagte Toni flüsternd: „Eivind, ich verstehe vielleicht nicht so viel von Musik. Aber ich finde – ich finde, du spielst ebenso gut wie Solomon auf der Schallplatte…“ „Ach, du!“ „Nein, natürlich habe ich unrecht. Mir scheint, Eivind, du spielst, als ob du mir etwas sagen wolltest, ohne an meine Vernunft oder Logik oder Auffassungsgabe zu appellieren. Du sagst es direkt zu meinem – Unterbewußtsein…“ „… können wir es nicht Herz nennen?“ „Ja, genau das, du sagst mir etwas…“ Er stand an ihrer Seite und drückte ihren Kopf an sich. „Was denn?“ „Du sagst etwas von Mut, oder Befreiung – nein, Hoffnung.“ „Richtig, Toni! Du hast es verstanden.“ „Ich weiß bloß nicht, bist du es oder Brahms, der das so fabelhaft ausgedrückt hat?“ „Beide“, schlug Eivind mit einem Lächeln vor. Sie zehrten lange von diesem Geburtstag. Dieser Tag hatte ihnen so viel Gutes gebracht, daß er sie für lange Zeit stärkte. Und das war nötig. Eivind mußte viele einsame Stunden an seinem Pianino erleben. Immer und immer wieder geschahen Dinge, die er nachgerade so gut kannte. „Ich konnte nicht früher kommen, Eivind, weißt du, es war ein Basedowpatient, der…“ „Eivind, es tut mir so leid, aber ich kann heute abend nicht mit dir ausgehen. Ich muß in diesen Vortrag des Mentalhygienischen Vereins gehen…“ „Sei nicht böse, Eivind, aber diesen Mann muß ich treffen, und er ist bloß am Abend daheim – und ich muß mit ihm reden, ehe seine Frau aus dem Krankenhaus heimkommt, sonst…“ „Aber Eivind! - Wenn du dagelegen hättest mit einer tödlichen Krankheit, würdest du es da nicht schrecklich finden, wenn der Mensch, dem du vertraust, sagt: Ja, entschuldigen Sie, jetzt wird mein Essen kalt?’ Eivind, du bist jung und frisch und gesund. – Du
kannst mich einige Stunden entbehren, aber dieser Mann liegt im Sterben…“ Immer häufiger gebrauchte Toni dieses Argument: „Du hast gut reden, du bist frisch und brauchst mich nicht so wie der und jener…“ Und war Toni wirklich einen Abend zu Hause und saß sie nicht müde und stumm in ihrem Lehnstuhl, sondern versuchte süß und unterhaltend zu sein, so endeten ihre Gespräche doch immer mit Krankenhausgeschichten. Sie überwucherten Tonis Dasein und drohten auch Eivinds Leben zu überwuchern. Fremde und merkwürdige Worte wie Zerebralfunktionen, vasoneurotische Störungen, manisch-depressive Zustände, schizophrene Perioden und andere unfaßbare Dinge brachen disharmonisch und störend in Eivinds einfache und praktische Gedankengänge ein. Sie brachten eine unausstehliche Atmosphäre von antiseptischer Sachlichkeit mit sich. Also tröstete sich Eivind mit dem Pianino, aber selbst dieser Trost hatte einen bitteren Beigeschmack. „Etwas Freude mußt du doch davon haben, daß deine Frau Geld verdient.“ – Diesen Satz wurde er nicht los. Der grub sich tiefer und tiefer in ihn ein und nahm unnatürliche Dimensionen an. Teufel auch, daß dieses reizende kleine Instrument ausgerechnet von dem verdammten Krankenhausgeld gekauft war! Und dann geschah es, daß Toni sich leise erhob, sich hinter ihn stellte und ihm über die Haare strich – gerade dann, wenn er aufstehen, tief Atem holen und ihr seine Meinung sagen wollte; daß er es nun satt habe, mit einem Kurator verheiratet zu sein, daß er nun endlich eine lebendige, warme, anschmiegsame Frau haben wolle… Aber da war sie plötzlich, jung und warm und anschmiegsam, und Eivind gestand sich ein, daß er sie trotz allem liebte, schmerzlich und demütig liebte, durch ihre unsichtbare Krankenhausaura hindurch liebte. * Dann wurde sie zu einer Gesellschaft beim Chefarzt eingeladen. „Sie verstehen, Frau Löngard“, hatte der Chefarzt gesagt, „meine junge Nichte ist in die Stadt gekommen. Also muß ich alle jüngeren Menschen, die ich kenne, zusammentrommeln, damit das junge Ding mit jemand hier bekannt werden kann. Bringen Sie Ihren Mann mit, und kommen Sie Samstag um acht, seien Sie so nett.“
„Vielen Dank. Und Anzug?“ „Wir müssen wohl Smoking sagen, denn wir wollen es doch so festlich wie möglich für das Mädchen machen.“ So stand also Toni wieder vor dem Spiegel und zog ihr grünes Moirekleid an. Wieder nahm sie die kleinen Goldsandalen aus der Schachtel, wieder hing der Blaufuchs vor dem Kamin zum Anwärmen. „Um uns an die Tradition zu halten, müßtest du nun eigentlich zu einem Patienten gerufen werden“, sagte Eivind. Er sah nicht aus, als ob er in Gesellschaftslaune wäre, als er vor dem Spiegel mit seinen Hemdknöpfen kämpfte. Dazu waren die bitteren Erinnerungen an die Gesellschaft beim Bankdirektor allzu frisch. „Nein, ich hoffe doch, daß mir das erspart bleibt“, sagte Toni. Sie polierte sorgfältig ihre Nägel und war ungeheuer gefangengenommen von dieser wichtigen Arbeit. „Das bleibt dir sicher erspart“, sagte Eivind. „Kein Patient wird es wagen, sich zum Sterben hinzulegen, wenn der Kurator beim Chefarzt eingeladen ist.“ „Zum Teufel!“ fügte er hinzu, aber das galt wohl seinem Kragenknopf, der in diesem Augenblick aus seiner Hand sprang. Und im gemeinsamen Suchen nach dem Kragenknopf, diesem Kragenknopf, den man zwei Minuten, bevor man ein Taxi anruft, verliert, und der immer so weit als möglich unters Bett oder die Kommode rollt, und der immer der letzte und einzige ist – vergaßen sie beide, dieses Thema weiter zu verfolgen. Sie nahmen sich gut aus, Toni und Eivind, als sie in das große, schöne, niedrige Zimmer des Chefarztes kamen. Toni war beinahe schön an diesem Abend. Sie hatte sich Zeit zu einem ausgiebigen Mittagsschlaf, einem heißen Bad und einer kalten Dusche genommen. Ihr Haar war frisch gewaschen, glänzend, weich und gelockt. Die Wangen hatten eine Idee Rouge und Puder, und der Mund war kühn rotgemalt. Das frische Rot stand im raffinierten Gegensatz zu dem einfachen, gutgearbeiteten, dunkelgrünen Kleid. Ihre Haltung war rank und sicher, als sie die Gastgeber begrüßte. Und Eivind ging hinter ihr, breitschultrig und hübsch in seinem nachtblauen Smoking. Der Chefarzt war munter und jovial, sagte einige freundliche Worte zu Eivind und stellte ihn seiner Frau vor. Dann drehte er sich auf die andere Seite und ergriff ein junges Mädchen bei der Hand.
„Ich möchte Sie gleich mit Ihrer Tischdame bekanntmachen, Herr Löngard“, sagte der Chefarzt. Eivind wandte sich höflich zu dem jungen Mädchen. Sie konnte zwanzig – zweiundzwanzig Jahre sein. Sie war schmal und biegsam, es war eine eigene Anmut über ihr. Sie hatte ein Kindergesicht, ihr Haar war hell, beinahe platinblond, und sie trug es in einer ganz einfachen Frisur, in leichten Wellen. Das schmale, kleine Gesicht mit den großen, klaren Augen hatte eine natürliche matte Röte, und die Augenwimpern warfen Schatten auf das feine Oval der Wangen. In einer blaßrosa Wolke stand das junge Mädchen vor Eivind. „Dies“, sagte der Chefarzt, „ist meine Nichte. Das ist Wenn Eivind später daran dachte, konnte er sich im Grunde nicht erinnern, worüber Siv und er bei Tisch gesprochen hatten. Aber er erinnerte sich an ihre Stimme, sie war leise und melodisch, und ihr ganzes Wesen atmete Ruhe und eine milde, wohltuende Kühle. Sie hatte erzählt, daß sie in die Stadt gekommen sei, um die Industrieschule zu besuchen, und im Laufe des Gesprächs hatte sie ein bestimmtes „Ja“ geantwortet, als Eivind sie fragte, ob sie Musik liebe. Sie war vor Scheu errötet, als der Chefarzt einen Trinkspruch auf sie gehalten und sie in der Stadt willkommen geheißen hatte. Sie war etwas ungeschickt mit den verschiedenen Messern und Gabeln; beim Chefarzt wurden die Gesellschaften im guten alten Stil gegeben, mit vielen und guten Gängen und umständlichem Servieren. Und Eivind half ihr diskret und bekam errötend ein kleines Dankeslächeln unter den langen braunen Wimpern heraus. „Siv“, sagte Eivind, „ein putziger Name, aber er ist schön, und er kleidet Sie.“ „Es ist bloß so hoffnungslos mit dem Schreiben“, lächelte Siv, „alle glauben nämlich, es ist ein Druckfehler für Liv.“ „Wenn man Sie kennt, ist man sich klar darüber, daß es kein Druckfehler ist“, tröstete Eivind. „Sie könnten tatsächlich nicht anders heißen als Siv. Da waren Ihre Eltern sehr voraussehend.“ Siv lächelte und antwortete nicht. Aber ihr Gesicht hatte mit einemmal einen erwachseneren und lächelnd bewußten Ausdruck angenommen. „Ha“, sagte Eivind, „ich lese Ihre Gedanken. Sie denken daran, daß Sie dies schon fünfundzwanzigmal gehört haben.“ „Neunundzwanzig“, sagte Siv, und plötzlich lächelte sie ihm ungehemmt und offen zu. „Ich kann nichts dafür, aber alle, die
meinen Namen hören, sagen genau dasselbe.“ „Verzeihung“, sagte Eivind, „ich werde es nie mehr sagen.“ Aber dieses Lächeln zauberte in den Ton zwischen ihnen einen undefinierbaren, kleinen Beiklang von Vertraulichkeit. „Siv“ ist ein selten gebrauchter norwegischer Name. Das Wort bedeutet „Binse“. – Liv ist ein ganz gewöhnlicher Frauenname. Eivind beugte sich vor und versuchte über den Tisch Tonis Augen einzufangen. Sie saß in einer eifrigen Diskussion, das Eis auf ihrem Teller war zerschmolzen, während sie irgend etwas mit Leidenschaft gegenüber ihrem Tischnachbarn verteidigte. Das Haar und der rote Mund leuchteten und glitzerten, je nachdem sie sich nach rechts oder links wandte. Der Herr auf ihrer anderen Seite – beide Tischherren Tonis waren Assistenzärzte am Krankenhaus – nahm auch eifrig an dem Gespräch teil, während seine Tischdame einsam und verlassen dasaß. Endlich fing Eivind ihren Blick für einen Moment ein, er lächelte und hob sein Glas. „Prosit!“ rief er ihr über den Tisch zu. Toni nickte und erwiderte sein Zutrinken kurz und freundlich. Dann wandte sie sich wieder dem einen der Ärzte zu und nahm das Gespräch erneut auf. Nach Tisch saß Toni in einem Kreis von Herren. Man hörte ihre klare, sichere Stimme heraus, und man merkte, sie sprachen über Dinge, die sie gut verstand. Eivind fing das eine und andere Wort auf. Er hatte das Gefühl, daß die meisten mit „mental“, „psycho“ oder „neuro“ anfingen. „Wie hübsch Ihre Frau ist“, sagte Siv. Ihre Augen hingen bewundernd an Toni. Eivind lachte. „Wenn meine Frau das gehört hätte, würde sie laut gelacht haben“, sagte er. „Sie macht sich über ihre Stupsnase und die Sommersprossen immer selbst lustig.“ Siv blickte wieder auf Toni. „Aber sie ist doch hübsch. Sie hat so schöne Farben. Und Sie finden sie doch sicher auch hübsch.“ „Ja“, sagte Eivind. Er mußte Siv recht geben. Toni hatte schöne Farben. Besonders jetzt, wo sie vor Eifer glühte und sich rasch von einem zum andern wandte. Ihre Augen glitzerten, der rote Mund, der im Grunde zu groß war, öffnete sich beim Lächeln und zeigte blendendweiße Zähne. Und auf einmal erinnerte sich Eivind daran, wie Toni auf der
Gesellschaft des Bankdirektors ausgesehen hatte. Müde, blaß, mit einem angestrengten Gesicht, das liebenswürdig zu lächeln versuchte, während die Gedanken weit weg waren. Wie sie da mit konventioneller Höflichkeit empfangen worden war, während sie hier von Kameradschaft und Bewunderung umgeben wurde. Eivind warf einen Blick auf Sivs helle, weidenbiegsame Kühlheit. Und mit einemmal kam es ihm vor, als ob Tonis starke Farben gar nicht mehr so schön wären. Sie waren zu grell, zu stark, und Tonis ranke, schlanke Figur war plötzlich zu kräftig, zu breitschultrig. Ihre Intensität in den Farben, in der Stimme, im Tonfall wurde ihm plötzlich zu viel. Er wandte sich ganz Siv zu, seine Augen fanden Ruhe auf ihrer stillen Sanftheit und ihren zarten Pastellfarben. „Sie gehen also auf die Industrieschule“, sagte Eivind. „Und sonst?“ Siv lächelte. „Ja, ich hoffe doch, ein wenig auszugehen, wenn ich schon in die Stadt gekommen bin, einige Theatervorstellungen zu sehen und gute Konzerte zu hören.“ „Spielen Sie selbst auch?“ „Ja, so zum Hausgebrauch. Ich habe mit meiner Mutter ziemlich viel vierhändig gespielt. Das macht viel Spaß.“ „Ja“, sagte Eivind mit Überzeugung, „das macht viel Spaß.“ „Was macht denn so viel Spaß, Eivind?“ „Ach, du bist das, Toni? Hast du dich endlich losgerissen? Ich sagte gerade, es ist so amüsant, vierhändig zu spielen, Fräulein Stendal spielt nämlich auch.“ „Ach, tun Sie das? Wie nett! Sie müssen zu uns kommen und mit meinem Mann spielen, wenn an seinem Puppenklavier Platz genug ist für zwei. Das wäre furchtbar nett, nicht wahr, Eivind?“ „Ja, sehr! Wollen Sie, Fräulein Stendal?“ „Wenn ich nur genügend kann für Sie, dann…“ „Gott bewahre, Sie sind sicher viel tüchtiger als ich. Wann kommen Sie?“ Siv lachte. „Nun, wenn Sie mich anrufen.“ „Wir rufen Sie an, ehe Sie es ahnen“, sagte Toni. „Glauben Sie mir, ich gönne meinem Mann einen Menschen, mit dem er seine Musikinteressen teilen kann. Er hat nämlich eine schreckliche Frau, die bloß vom Krankenhaus reden kann. Wollen wir nicht gleich einen Tag ausmachen? Paßt Ihnen Mittwoch? Könnten Sie nicht zum Musizieren und einer Tasse Tee kommen? Den Tee besorge ich, die Musik mein Mann.“
„Das ist sehr liebenswürdig von Ihnen, Frau Löngard, und natürlich habe ich mächtig große Lust, zu Ihnen zu kommen.“ „Nun also, dann ist das abgemacht. Um sechs Uhr. Ist dir’s recht, Eivind?“ „Absolut, ich gehe gleich morgen auf den Speicher und hole meine alten vierhändigen Noten herunter.“ „Hören Sie, Frau Löngard, haben Sie uns denn ganz verlassen? Doktor Meerfeld möchte Sie als Partner im Bridge haben“, unterbrach eine eifrige Stimme. „Bridge“, sagte der Chefarzt und kam auf die Gruppe Eivind, Siv und Toni zu. „Nein, hört zu, meine jungen Freunde, Bridge ist für ältere, gesetzte Leute wie mich. Das Speisezimmer ist ausgeräumt, und wer tanzen will, kann tanzen. Siv, du legst die Platten zurecht zum Wechseln. Nicht wahr, Frau Löngard?“ „Natürlich, Herr Chefarzt. Aber da reserviere ich Sie für mich zur Damenwahl.“ „Hört, hört“, lachte der Chefarzt, „das macht mich alten Mann ganz eingebildet. Meerfeld, es gibt kein Bridge für Sie, höchstens einen Tanz mit Frau Löngard. Haben Sie übrigens Herrn Löngard schon begrüßt?“ „Im Grunde nicht ordentlich“, gestand Meerfeld – er war Oberarzt auf der chirurgischen Station. „Und ich muß zugeben, daß ich auf Frau Löngards Mann ziemlich neugierig bin.“ Niemand konnte etwas anderes behaupten, als daß Eivind sich beherrschte. Es war bloß Toni, die das winzige Verziehen in seinem Gesicht sah. Frau Löngards Mann! Wenn man vierunddreißig Jahre alt war und Abteilungsleiter! Siv war in das Speisezimmer gegangen, um den Plattenwechsler zu ordnen. Dr. Meerfeld legte Beschlag auf Toni, in starker Konkurrenz mit den anderen jungen Ärzten. Der Chefarzt sah lächelnd auf das Kleeblatt. „Ja, Sie legen Ehre ein mit Ihrer kleinen Frau, Herr Löngard“, sagte er lächelnd. „Ich gratuliere mir selbst, daß ich damals ihre Anstellung erreicht habe. Verstehen Sie eigentlich, wieviel sie am Krankenhaus leistet? Klug und taktvoll, wach und energisch und – unglaublich selbstaufopfernd.“ „Ich fürchte nur, sie reibt sich auf“, sagte Eivind. „Ja, sehen Sie, das ist nun Ihre Aufgabe, aufzupassen, daß sie das nicht tut“, der Chefarzt lächelte gutmütig. „Sie müssen wirklich
unsertwegen sehr nett mit ihr umgehen.“ Eine heiße Welle schoß Eivind in die Wangen. Nett mit ihr umgehen unsertwegen! Sollten nicht lieber alle diese verdammten Burschen, die da herumliefen und Ärzte spielten, nett mit ihr umgehen – seinetwegen? Und dann – Frau Löngards Mann! Der Mann von der Hebamme – der Postmarie ihr Mann – der Mann von der Lehrerin…! Und man war doch der Abteilungsleiter Eivind Löngard! Lachen ertönte aus dem Speisezimmer. Da tanzte Toni vorbei mit Meerfeld. Den Kopf zurückgeworfen, die roten Locken standen in einem lustigen Gebraus, ihre Augen glitzerten verschmitzt den Doktor an – ja, die ganze Toni glitzerte. Sie konnte schon, wenn sie wollte! Jetzt war sie unter ihresgleichen. Nur wenn sie mit Eivind unter seinen Bekannten war, war sie müde und zerstreut und hatte diese überlegene, sachliche Stimme einer berufstätigen Frau an einem Krankenhaus. Er sah ihr zu, wie sie mit Dr. Meerfeld tanzte. Jetzt lachte sie wieder, und es kam Eivind vor, als ob Dr. Meerfeld sie ein wenig fester an sich drücke. Es knisterte in dem grünen Moiré, und ein kleiner Fuß in einer Goldsandale kam im eleganten Tangoschritt unter dem langen Kleid zum Vorschein. Selbst diese kleine glänzende Sandale wirkte herausfordernd in ihrer unverschämten Sicherheit. Dann glitt Siv in das Zimmer in ihrer blaßrosa Anmut, und Eivind fand Ruhe und Frieden an ihrer Seite, und als sie tanzten, lag sie leicht und schmiegsam in seinem Arm. Siv… Sie war wie ihr Name. Dieser ganze kleine Mensch war wie ein schmiegsamer, wogender Rhythmus. Und Siv erfüllte das Leben mit Gemütlichkeit. Sie glitt still und selbstverständlich in Tonis und Eivinds Heim hinein, in die Atmosphäre, das Milieu. Sie war weit von dem entfernt, was man eine „Dame von Welt“ nennen konnte, im Gegenteil – sie war ganz einfach ein reizendes, wohlerzogenes junges Mädchen, mit einer gesunden Intelligenz und einem gewissen Kunstverstand. Sie hatte keine besondere Ausbildung. Als einzige Tochter war sie zu Hause gewesen und hatte zusammen mit der Mutter den Haushalt geführt. Sie hatte Klavier gespielt, einen Krankenkurs, Kochkurs und Webekurs mitgemacht. Jetzt stand also die Industrieschule auf dem Programm, und später wollte sie durch Auslandsreisen ihre
Sprachkenntnisse vervollkommnen. Toni hatte besonders gute Kuchen besorgt und den Teetisch hübsch gedeckt. Das Gespräch ging gemütlich hin und her, aber sobald der Tee getrunken war, setzten sich Siv und Eivind ans „Puppenklavier“. Und dann waren sie der Welt entrückt. Toni räumte den Tisch ab und setzte sich dann mit der letzten Nummer der Mentalhygienischen Zeitschrift hin. Und damit war auch sie der Welt entrückt. Ehe Eivind Siv heimbrachte, bot Toni nochmals Tee an, mit selbstgebackenem Haferkeks. „Wie bekommen Sie denn Ihre Kekse so mürb, Frau Löngard?“ fragte Siv. „Wieviel Butter brauchen Sie dazu?“ „Danke für das Kompliment“, lachte Toni. „Ich muß leider gestehen, daß mein Wissen über Haferkeks gleich Null ist. Ich habe es nie weiter als zu einem Kastenkuchen gebracht. Aber ich habe eine Hausgehilfin, die alles kann.“ „Zu Hause war das Backen immer meine Aufgabe“, sagte Siv. „Backen?“ sagte Eivind, und seine Augen leuchteten. „Können Sie…?“ „Apfelkuchen auf deutsche Art“, setzte Toni lachend fort. „Das war nämlich mit das erste, wonach mich mein Mann fragte. Und ich mußte ihn leider enttäuschen. Aber er hat sich trotzdem mit mir verheiratet.“ Siv lachte. „Ich muß ihn bei Gelegenheit versuchen“, sagte sie. „Eßbar soll er jedenfalls werden.“ Als Siv das nächste Mal kam, hatte sie ein großes Paket mit. „Darf ich mir erlauben, zum Tee etwas beizusteuern?“ fragte sie mit ihrem sanften Lächeln. „Es ist nur ein bißchen Selbstgebackenes…“ Eivind drückte seine volle Anerkennung aus für den prächtigen Apfelkuchen. So war er richtig, genau so, wie er ihn in Deutschland bekommen hatte. Er versah sich mit einem unverschämt großen Stück des herrlichen Kuchens. „Sie können es ja!“ rief er begeistert nach dem ersten Bissen. „Vollkommen richtig. Sie sind ja ein Phänomen.“ Siv lachte.
„Es war nichts dabei. Ich hatte bloß rasendes Glück, denn es zeigte sich, daß meine Tante ein deutsches Kochbuch hat, und da wählte ich aus zwischen Apfelkuchen 1,2, 3, 4 und 5. Dieser hier ist Nummer 3.“ „Phänomenal!“ sagte Eivind mit dem Mund voller Kuchen. „Ist er nicht wunderbar, Toni?“ „Ganz großartig! Ich bekomme Minderwertigkeitskomplexe“, sagte Toni. „Ich kann Ihnen das Rezept geben“, bot Siv an. „Glauben Sie vielleicht, das genügt für meine Unbegabtheit?“ lachte Toni. „Das einzige, was helfen könnte, wäre eine Demonstration.“ „Mit Freuden!“ willigte Siv ein. „Ich hoffe nur, daß es mir nochmals glückt.“ Sie aßen, bis nicht ein Krümel mehr übrig war, und Tonis fertiggekaufte Kuchen blieben unberührt in der Küche liegen. Es folgten viele gemütliche Stunden mit Siv. Ihr gefiel es offenbar bei Toni und Eivind, und sie mochten beide das freundliche, bescheidene junge Mädchen gern. Es gab viel Spaß beim Backen, als Siv die Lehrmeisterin und Toni die ungeschickte Schülerin war. Eivind stand in der Tür und war neugierig. In der Küche war knapp Platz für zwei und absolut nicht für einen männlichen Topfgucker. Er schaute auf Sivs flinke, geübte Hände und auf ihre schlanke Figur in der weißen Schürze. Und er blickte auf seine Frau. Sie hatte einen ihrer Krankenhauskittel angezogen, stand, mit den Händen in den Taschen, dabei und folgte Sivs Tun mit den Augen. So sieht sie aus, wenn sie in ihrer eigentlichen Welt ist, dachte Eivind. Dies ist ihr Arbeitsanzug. So sehen sie ihre Patienten, mit dem freundlich interessierten Ausdruck und dem makellosen weißen Kittel. Was hatte Frau Torverud gesagt? „Ein junges Ding, sie sieht so aus, daß man in gute Laune kommt, wenn sie sich nur zeigt.“ Mit einemmal haßte Eivind den weißen Kittel. Eine weiße Schürze wie bei Siv, das war logisch und richtig. Das war das Symbol ihrer einfachen, weiblichen Häuslichkeit. Aber bei Toni war der Kittel ihre Berufsuniform. Zum ersten Male wurde sich Eivind voll bewußt, daß er ihren Beruf haßte. Dann kam der Kuchen in den Ofen, und Toni zog den Kittel aus. „Also, Kinder“, sagte sie lächelnd, „jetzt könnt ihr spielen oder was ihr sonst wollt, ich habe einen Haufen Karteikarten auszufüllen,
ja, ich mußte die Arbeit mit heimnehmen, sonst wäre ich die ganze Nacht im Büro geblieben. Spielt alles, was ihr wollt. Ihr ahnt nicht, wie gut ich zum Takt der Ossianouvertüre schreiben kann.“ Es kam der Abend, da Toni versprochen hatte, mit Eivind in ein Konzert zu gehen. Statt dessen mußte sie sich von einem auswärtigen Journalisten interviewen lassen, der über die Kuratorwirksamkeit in einem großen Krankenhaus schreiben wollte. Da rief Toni Siv an. „Liebe Siv, du mußt die Situation für mich retten. Willst du heute abend mit Eivind ins Konzert gehen? Ich kann einfach nicht, versteh…“ Sie war erleichtert und glücklich, als Siv zusagte. Und es kam der Tag, da sie gegen Mittag anrief: „Meine gute Siv, rette meinen betrübten Mann. Du wolltest doch heute nachmittag kommen? Nicht wahr? Kannst du nicht gleich hingehen und mit ihm zu Mittag essen? Ich schaffe es einfach nicht, zu Mittag heimzukommen, verstehst du. Berit wäscht auf, ehe sie geht, und Tee könnt ihr euch selbst machen.“ Siv war immer bereit, immer willig, immer unveränderlich freundlich. Siv war geradezu ein Fund. Aber es kam auch vor, daß Siv einen Abend anderweitig verabredet war und Eivind allein dasaß. „Ich muß in den Mentalhygienischen Verein, Eivind.“ – „Ich muß in eine Konferenz mit dem Chefarzt, Eivind.“ – „Ich muß zu einer Damengesellschaft bei der Oberschwester, es geht nicht an, sie zu beleidigen.“ – „Weißt du, Eivind, es ist rührend, eine dankbare Patientin hat mich zum Kaffee gebeten, nein, ich kann sie nicht verletzen, gerade in diesem Falle – lieber Eivind, du kommst schon zurecht, du hast ja das Klavier zum Trost…“ Toni hatte Eivind nicht angesehen, während sie sprach. Sie saßen am Mittagstisch, sie aß schnell, mußte sich beeilen, fertigzuwerden. Und es war Berits freier Tag, da mußte sie selbst abwaschen, bevor sie ging. Plötzlich klirrte Eivinds Gabel hart gegen den Teller. Toni blickte auf, Eivind war dunkelrot im Gesicht. „Klavier, Klavier! Glaubst du, alles ist in Ordnung, weil ich das Klavier habe? Zum Donnerwetter, ich habe mich doch nicht mit dem Klavier verheiratet! Wenn du glaubst, du kannst einfach von deinen Pflichten fortrennen und mit einem Klavier bezahlen, dann irrst du
dich. Ich bin kein kleiner Junge, dem man zum Trost ein kostbares Spielzeug in die Hand drückt und sagt: ,Sei nun brav, mein Junge, Mami geht aus!’ Ich habe es satt, ein braver Junge zu sein, verstehst du das? Hier sollen Leben gerettet werden, hier studiert man Mentalhygiene, hier trinkt man Kaffee, hier schreibt man Karteikarten, nur eine einzige kleine Tatsache vergißt du: daß du verheiratet bist. Sicher bist du eine ausgezeichnete Kollegin und, zum Teufel, ein ebenso ausgezeichneter Kurator und eine hervorragende Berufsfrau – aber eine richtige Hausfrau bist du nicht, und Ehefrau bist du – leider Gottes – auch nicht. Ich will nicht mehr, Toni. Ich bin es müde, in deinem Leben Nummer 2 oder 3 oder 10 zu sein. Es war ein Mißgriff und ein Leichtsinn, daß wir uns geheiratet haben, und je eher wir Schluß damit machen, desto besser.“ So puterrot und erregt, wie Eivind war, so leichenblaß und still war Toni. Ihre Augen wurden ganz groß, als sie ihn anstarrte, seine heftigen Worte sanken in sie ein und machten sie innerlich kalt. Sie schluckte ein paarmal, sammelte sich, dann sprach sie. „Vielleicht hast du in vielem, was du sagst, recht, Eivind, und ich verstehe, daß wir uns aussprechen müssen. Aber erst mußt du ruhiger werden. Wir sind zwei erwachsene Menschen, Eivind, und im Grunde haben wir einander lieb.“ „Ja, es wäre viel einfacher, wenn das nicht so wäre.“ „Bitte, laß mich ausreden, Eivind. Versuche, ruhig zu sein. Ich gehe heute nachmittag aus, aber ich mache es so kurz wie möglich. Denke darüber nach, was du mir eigentlich sagen willst, und ich verspreche dir, es ruhig aufzunehmen und dir ruhig zu antworten.“ Tonis gleichmäßige gedämpfte Stimme blieb nicht ohne Wirkung auf Eivind. „Du willst also sagen, daß du nun ganz unangefochten in den verdammten Kaffeeklatsch gehst?“ Sein Ton war beißend, aber die Stimme nun gedämpft. „Ich gehe – aus zwei Gründen. Erstens müssen wir beide uns etwas sammeln. Zweitens sehe ich diese kleine Kaffeegesellschaft als eine Pflicht an, eine rein menschliche oder, Wenn du willst, berufsmäßige Pflicht. Ich komme bald wieder. Dann treffen wir uns in Ruhe und sprechen uns aus. Einverstanden, Eivind?“ Bei dieser letzten Frage war ihr Ton beinahe warm. „Gut“ – Eivind zuckte die Achseln, „ich bin es gewöhnt, daß du bestimmst. Jedenfalls ist es gut, daß wir uns aussprechen wollen.“
Es war kein leichter Nachmittag für Toni, als sie bei der alten Dame, die kürzlich aus dem Krankenhaus entlassen war, Kaffee trank. Sie fand, daß sie Frau Löngard so viel schuldete. Sobald es sich machen ließ, ohne die Gastgeberin zu verletzen, brach Toni auf. Auf dem Heimweg arbeitete ihr Gehirn mit Hochdruck. Sie wußte, es war die schwierigste Aussprache ihres Lebens, die ihr nun bevorstand, und sie wußte, sie konnte dieser Schwierigkeit nicht entgehen. „Nun?“ sagte Eivind. Er war jetzt ganz ruhig, saß in seinem Lehnstuhl mit der Pfeife und einer Zeitung, die er weglegte, als Toni hereinkam. „Nette Gesellschaft?“ „Das ist wohl zuviel gesagt.“ Toni setzte sich und wärmte die Hände am Kamin. Eine Weile schwiegen sie. „Eine Zigarette, Toni?“ „Danke, ja.“ Eivinds Hände waren nicht ganz ruhig, als er ihr Feuer gab. Dann richtete Toni sich auf. „Eivind, nun müssen wir da durch. Wir müssen uns aussprechen, mag es biegen oder brechen.“ „Ja, Toni.“ Er starrte in die Flammen, dann wandte er sich ihr mit einer entschlossenen Bewegung zu. „Ja, mag es biegen oder brechen. Aber ich fürchte, es bricht.“ „So laß es wenigstens auf eine anständige Weise brechen.“ „Ich bitte um Entschuldigung, weil ich unbeherrscht war, Toni. Ich hätte nicht alles sagen sollen, was ich beim Mittagstisch dir vorgeworfen habe.“ „In Ordnung, Eivind.“ „Verstehst du, Toni – als ich dich heiratete, wußte ich, ich heirate eine berufstätige Frau. Ich wußte, du würdest dein Arbeitsfeld haben, wie ich das meine. Und ich glaubte, wenn wir zu Mittag heimkämen, würden wir uns als gute Kameraden treffen, und die Nachmittage und Abende würden uns gehören. Ich hoffte, ich würde einen guten Weggefährten finden, jemand, der meine Interessen teilte, jemand, der für mich da sein würde in meiner Freizeit. Ich ahnte nicht, daß deine Arbeit dein ganzes Dasein überwuchern würde. Lange habe ich versucht, das zu verstehen, ja, im Grunde verstehe ich es auch noch. Es liegt eben in der Natur deiner Arbeit, daß sie dich ganz verschluckt, und du bringst es nicht fertig, das Leben zweier Menschen zu leben, ein Doppelleben. Du kannst nicht Ehefrau und Kurator zugleich sein, Toni! Du lebst und atmest für deine Patienten,
gib es nur zu – was sehe ich aber von meiner Frau? Ein todmüdes und abgekämpftes Wesen, das sein Essen hinunterschluckt und ins Bett fällt. Wenn du daheim bist, redest du vom Krankenhaus, wenn du überhaupt noch Kraft zum Reden hast. Aber in der Regel bist du überhaupt nicht daheim, und zu allem Unglück kommt noch hinzu, daß du dich mit einem häuslichen Mann, einem hundertprozentigen Hausvater verheiratet hast. Und nun habe ich etwas zu viele einsame Abende erlebt, Toni.“ Toni saß unbeweglich und hörte zu. Als Eivind endlich schwieg, wartete sie ein wenig, ehe sie antwortete. Dann sagte sie still, zart, aber ganz ruhig und beherrscht: „Laß mich zuerst eins feststellen, Eivind. Ich habe dich lieb, und das war immer so, schon vom ersten Augenblick an. Aber ich gebe zu, daß ich auch meine Arbeit liebe. Eivind, glaub es oder glaub es nicht, oft habe ich gewünscht, bei dir zu Hause sein zu dürfen, statt herumzulaufen und anderen Menschen zu helfen. Und hätte ich nur eine andere Arbeit gehabt! Wäre ich Sekretärin oder Stenotypistin oder irgend etwas anderes, so würde ich, ohne mit der Wimper zu zucken, meine Arbeit aufgeben und bloß noch Hausfrau und Ehefrau sein. Aber – ach, Eivind, ob du das wohl verstehst? Und wie soll ich es nur sagen, damit es nicht wie Prahlerei klingt?“ „Ich kann es für dich sagen“, nun klang Eivinds Stimme ganz ruhig, beinahe warm, „du hast eine Aufgabe, du bist der geborene Kurator, die Patienten brauchen dich. Und du fühlst, du hast kein Recht, da zu versagen. Stimmt es?“ „Ja, Eivind, so ist es. Und wenn ein alter, einsamer Mensch jemand braucht, mit dem er sich aussprechen und den er um Rat fragen kann, wenn ich so viel tun kann nur durch Zuhören, da ist es doch furchtbar schwer, davonzulaufen. Ich weiß, daß du wartest, aber du bist jung und gesund, Eivind, du hast das Leben vor dir, während viele Patienten…“ „Einen Augenblick, Toni! Haben wir eigentlich das Leben vor uns? Wie lange glaubst du, soll dieser Zustand dauern? Ein Jahr? Fünf Jahre? Zehn Jahre? Noch länger? Nein, meine Liebe, wir haben das Leben nicht mehr vor uns. Wir sind beide über dreißig, wir stehen in der Mitte des Lebens, Toni, und jetzt ist es an der Zeit, es zu leben. Aber es zeigt sich, daß wir es nicht zusammen leben können. Darum müssen wir versuchen, ob wir es jeder für uns leben können.“ Toni schluckte. Sie biß sich auf die Lippe, zwang die Tränen
zurück. Sie sprach nicht, bevor sie sicher war, Herr über ihre Stimme zu sein. „Willst du damit sagen, daß du dich scheiden lassen willst, Eivind?“ „Ich sehe keinen anderen Ausweg, Toni.“ „Gar keinen?“ „Keinen, den du annehmen kannst.“ „Du meinst ein bedingungsloses Entweder-Oder? Entweder Hausfrau oder Kurator?“ „Ich will dich gar nicht vor diese Wahl stellen. Erstens weiß ich, was du wählen würdest, zweitens will ich nicht riskieren, daß du dich für mich opferst. Wenn du freiwillig deine Arbeit aufgeben könntest, um bloß Hausfrau und Ehefrau zu sein, wenn es dein eigener Wunsch wäre, meine ich – dann wäre es etwas anderes. Aber ein Opfer will ich nicht annehmen. Ich will nicht mit ansehen, wie du herumgehst und krank bist vor Sehnsucht nach dem Krankenhaus. Und ich weiß auch, daß du deine Arbeit einfach nicht einschränken kannst. Ich weiß es und sehe es ein. Ich bin mir ganz klar darüber, welche große Aufgabe du hast und wie gut du sie löst. Ich werfe dir nichts vor, Toni. Ich versuche zu verstehen. – Und gerade weil ich verstehe, sehe ich bloß diesen Ausweg: wir können miteinander nicht mehr verheiratet sein.“ Es entstand eine lange, lange Pause. Es war inzwischen finster geworden, keiner von ihnen dachte daran, Licht zu machen. Nur der Schein des Kaminfeuers hob einen hellen Fleck aus dem Dunkel des Zimmers, und das flackernde Licht zitterte in Tonis Haar und über Eivinds ernstes Gesicht. Toni wiederholte in Gedanken alles, was er gesagt hatte. Es gab nicht einen Punkt, den sie ihm widerlegen konnte. Er hatte recht. Er war enttäuscht und hatte Grund, es zu sein! Auch sie war enttäuscht. Warum eigentlich? Es dämmerte ihr: sie war enttäuscht, weil sie bei ihrem Mann nie einen Widerhall für das fand, was sie interessierte. Er konnte von Kunst reden, von Geschäften, Sport, Musik, Politik, oh, er konnte von so vielem reden – aber das, was ihr ganzes Dasein erfüllte, das hatte sie allein. Das konnte sie mit ihm nicht teilen. „Ich sehe keinen anderen Ausweg…“ Ja, Eivind hatte recht. Es gab keinen anderen Ausweg. Es ging nicht länger. Sie verdarben einander die Nerven und die gute Laune. Jeder ging seinen Weg allein, ihre Gedanken fanden sich nicht mehr. Das Problem war nicht neu für Toni. Lange, lange hatte es im
Unterbewußtsein gebrodelt, und im Grunde hatte sie immer gewußt, daß diese Auseinandersetzung einmal kommen mußte. „Eivind, wie denkst du dir das – ich meine wann…“ „Um es nüchtern und brutal zu sagen, Toni, ich schlage vor, es so rasch wie möglich zu tun. Du verstehst wohl, daß es uns nach dieser Aussprache unmöglich sein wird, weiter zusammenzuwohnen. Ich möchte alles so schnell und so diskret wie möglich hinter uns bringen. Ich habe natürlich noch einige praktische Dinge zu ordnen, aber im Laufe einer Woche werde ich wohl ausziehen können…“ „Du ausziehen? Aber, Eivind, daran ist doch kein Gedanke. Die Wohnung gehört ja dir – ebenso die Möbel – ja, glaubst du, ich will dich hier heraustreiben? Ich bin es, die ausziehen wird, das ist doch selbstverständlich. Ich bin auch sicher, ich kann es einrichten, im Krankenhaus zu wohnen. Nicht wahr, Eivind, das würde so das beste sein?“ „Wie du willst.“ Eine kleine Pause. Dann sagte Toni ruhig – ja, es war sogar ein kleines Lächeln in ihren Mundwinkeln: „Laß uns alle Feierlichkeit vermeiden, Eivind. Wir wollen nicht in Erinnerungen an die glücklichen Zeiten schwelgen. Da wird es nur um so schwieriger. Laß uns nüchtern sein… ja, lieber etwas hart, wenn es nötig ist. Keine großen Abschiedsszenen. Bist du einverstanden?“ „Du sprichst mir ganz aus dem Herzen, Toni.“ „Und deshalb glaube ich, daß ich heute nacht hier auf dem Diwan schlafen werde. Jetzt bin ich sehr müde, und wenn du so gut sein willst…“ „Selbstverständlich. Ich nehme nur noch ein Buch zu mir herein. Soll ich deine Betten herausbringen?“ Laß uns vermeiden, in Erinnerungen zu schwelgen, hatte Toni praktisch und vernünftig gesagt. Ja, gewiß würden sie das vermeiden. Sie würden einander nur ein ruhiges, vergnügtes Gesicht zeigen. Man war doch modern, man war nüchtern, man wußte, was Selbstbeherrschung war. Aber in welchem Grade Toni beherrscht war, nachdem sie auf dem Diwan unter die Daunendecke gekrochen, das zu konstatieren, hatte Eivind keine Gelegenheit. Das Kissen war so weich, und die Daunendecke konnte Toni ganz über den Kopf ziehen. Und die Tür zwischen den Zimmern war geschlossen. Es war nicht gerade angenehm für Toni, zum Krankenhausverwalter zu gehen und zu fragen, ob sie ein Zimmer im
Krankenhaus haben könne. Alle wußten ja, daß sie verheiratet war, und wenn sie nun ausziehen wollte, konnte das nur eines bedeuten. Darum sagte sie es auch geradeheraus. Der Verwalter war diskret. Er versprach zu tun, was er konnte, und schon am gleichen Tag berichtete er ihr, sie könne ein Zimmer im Schwesternflügel beziehen. Toni war froh, daß es so rasch ging. Sie packte ihre Kleider und einige persönliche Sachen, und dann zog sie um. Eivind machte es so leicht wie möglich für sie, indem er an diesem Tag in der Stadt blieb. Jetzt konnte sie sich hundertprozentig ihrer Arbeit opfern. Sie nützte diese Möglichkeit auch bis zum Äußersten aus. Sie übernahm alles, war unermüdlich in ihrer Hilfsbereitschaft und Geduld. Sie wurde mitten in der Nacht geweckt, weil ein Patient in Fieberfantasien nach ihr rief. Toni stand auf, kleidete sich an und kam. Sie erhielt den Auftrag, mit Ehepartnern und Kindern zu sprechen, ganze Familientragödien wurden vor ihr aufgerollt, sie hörte zu, versuchte sich über die Probleme klarzuwerden und sich eine Lösung auszudenken. Sie kam zum Chefarzt mit ihrem wöchentlichen Bericht. Von diesem Gespräch mit dem Chefarzt hatten beide Partner Nutzen. Selbstverständlich wurden Toni oft Dinge anvertraut, die sie nicht weitererzählte, selbst nicht dem Chefarzt. Aber oft konnte sie nach ihren Gesprächen mit den Patienten den psychischen Hintergrund einer Krankheit klarlegen, und oft waren ihre Aufschlüsse von großem Nutzen. „Frau Löngard“, sagte der Chefarzt, als sie gehen wollte, „jetzt glaube ich, Sie brauchen selbst einen Arzt. Haben Sie sich die letzte Woche im Spiegel beschaut?“ Toni mußte lächeln. „So wenig wie möglich, Herr Chefarzt, ich möchte mir die gute Laune nicht verderben.“ „Aha, Ihre gute Laune. Sind Sie sicher, daß Sie in letzter Zeit so viel gute Laune zu verderben hatten?“ Toni antwortete nicht – ganz einfach darum, weil sie nicht konnte. Sie bekam einen richtig ekelhaften und hartnäckigen Kloß in den Hals, und es kostete sie unglaubliche Mühe, den zu schlucken. „Setzen Sie sich hin, Kleine. Und heulen Sie los, wenn Ihnen das helfen kann. Das Seelische liegt mir nicht, und ich möchte nicht um alles in der Welt indiskret sein. Aber ich verstehe mich ein wenig auf das Physische, und ich brauche keine Hämoglobinproben von Ihnen zu nehmen, um Ihnen zu sagen, daß Sie blutarm sind. Und ich
brauche kein Kreuzverhör mit Ihnen anzustellen, um zu wissen, daß Sie schlaflos sind. Wenn Sie Ihre schwere Arbeit schaffen wollen und gleichzeitig den Sturm abfangen, der Sie jetzt persönlich erfaßt hat, müssen Sie essen und schlafen. Verstehen Sie das? Wenn Sie ein leichtes Schlafmittel brauchen, können Sie es bekommen, damit Sie ein paar Nächte mal ordentlich ausschlafen können. Und Sie müssen essen. Versprechen Sie mir das?“ Da war so vieles, was Toni hätte sagen wollen. Sie wollte sagen, daß sie ganz gewiß aß und ganz gewiß schlief, und der Chefarzt nicht besorgt sein solle. Aber es war, als ob ihr Gehirn streikte, in einer großen, leeren Müdigkeit. Und als der Chefarzt wiederholte: „Nun, versprechen Sie es mir?“ antwortete ihm nur ein müdes Stimmchen: „Ich will es versuchen.“ Versuchen, ja. Am Tage war das Dasein noch erträglich. Da hielt die Arbeit sie in Atem. In ihrem Büro empfing sie ihre Patienten, die schon aufstehen durften, und sehr oft auch die Familien der Patienten. Auf den Stationen ging sie von Zimmer zu Zimmer und belud sich mit den Kümmernissen und Schwierigkeiten anderer Menschen. Aber am Abend, wenn sie in ihr kleines Zimmer heraufgekommen war, da stürzten die Gedanken auf sie ein, alle Gedanken, die die Arbeit während des Tages verjagt hatte. Was tat Eivind jetzt? Hatte er Sehnsucht? Oder hatte er sein Junggesellenleben wieder aufgenommen? War er vergnügt mit Freundinnen und Freunden, ging er in Gesellschaft ohne das Anhängsel einer müden und langweiligen Frau? Ein freier und junger Mann von vierunddreißig, ein Mann, der eine gute Stellung hatte, ein einnehmendes Wesen, Kunstverstand und gesellschaftliche Talente. So ein Mann war immer gesucht. Nein, Eivind langweilte sich bestimmt nicht. Die Gedanken bohrten und bohrten in ihr. War das alles wirklich nur ihre Schuld? Dachte Eivind nie daran, wie allein sie war mit ihrer Arbeit? Wenn einen etwas so ausfüllte, so, daß man davon reden mußte, war es da nicht das Nächstliegende auf der Welt, mit seinem Ehepartner darüber zu sprechen? Warum hatte Eivind nicht versucht, sich ein wenig in ihr Wirken hineinzuversetzen? Warum konnte er nicht sehen, wie interessant das war? Gab es denn etwas Interessanteres zu studieren als Menschenschicksale? Warum mußte sie immer das scheußliche Gefühl haben, daß sie ihn plagte, wenn sie ihm etwas von ihrer Arbeit erzählte?
Toni warf sich hin und her in dem weißen Krankenhausbett. Dann stand sie schließlich auf und nahm zwei von den Schlaftabletten, die der Chefarzt ihr gegeben hatte. Und dann glückte es ihr endlich, in einen tiefen, bleischweren Schlaf zu fallen. Der Wecker riß sie am nächsten Morgen hoch. Sie mußte sich mit Mühe aus der Bewußtlosigkeit herausarbeiten. Sie kleidete sich an, kam todmüde zum Frühstückstisch und schleppte sich in ihr Büro. Ihr gesunder junger Organismus, gar nicht an Schlafmittel gewöhnt, reagierte viel stärker, als der Chefarzt geglaubt hatte. Sie fühlte sich wie erschlagen am ganzen Körper und sehnte sich nur ins Bett zurück. Es wurde elf Uhr. Da war die Arztvisite auf der medizinischen Station zu Ende, und Toni konnte ihre Runde beginnen. Danach ging sie auf die chirurgische Station. Sie ging von Zimmer zu Zimmer. Sie merkte, wie ihr freundliches Lächeln steif und aufgeklebt auf ihrem Mund saß, und sie wartete nur darauf, daß der Vormittag vorbei sein sollte. „Daliegt eine Frischoperierte auf Nummer 16, Frau Löngard, es lohnt sich nicht, daß Sie hineingehen“, sagte die Stationsschwester, die durch den Korridor ging. „Ach, das ist Fräulein Hallgren? Die mit den Mandeln? Ich war gestern bei ihr. Sie war so gräßlich nervös.“ „Ja, das stimmt. Nichts als Einbildung, diese Nervosität. Gerade, als ob ein paar Mandeln etwas wären, um darüber nervös zu sein. Aber sie ist etwas schachmatt nach der Operation, also…“ „Nein, natürlich. Danke, daß Sie es mir gesagt haben, Schwester Beate. Ich kann ja später kommen, wenn sie etwas von mir will.“ Dann ging Toni in ihr Büro, in die erste Etage hinunter und trug die Ergebnisse des Tages in die Kartothek ein. Ihre Gedanken machten einen kleinen Abstecher in die Bank – jetzt wurde bald geschlossen, ob wohl Eivind in der Stadt speisen würde oder ob Berit daheim etwas Gutes für ihn gekocht hatte? Toni legte sich am Nachmittag zu Bett. Ihr Körper und ihr Kopf schmerzten vor Müdigkeit. Es dauerte eine Weile, ehe sie einschlief, aber zum Ausgleich schlief sie dann gut und fest. Abends gegen acht Uhr klopfte es an ihre Tür. „Ich soll fragen, ob Sie so gut sein wollen, in die Chirurgische hinunterzukommen. Alles steht köpf da unten, es wurden zwei Unglücksfälle auf einmal eingeliefert. Und mitten in all dem Trubel klingelt und klingelt Nummer 16 und will absolut mit Ihnen reden.“ „Selbstverständlich komme ich“, sagte Toni. Sie zog ihren Kittel
an und tappte schlaftrunken die Treppe hinunter. Alle bösen Geister schienen auf der Chirurgischen entfesselt zu sein. Der Operationssaal mußte blitzschnell bereitgemacht werden. Ein Mann war von der Straßenbahn überfahren worden und mußte eine Blutübertragung bekommen, bevor man sich mit seinen Verwundungen befassen konnte. Dann eiliges Umstellen von Betten und Umsiedeln anderer Patienten, um für einen anderen Verletzten Platz zu machen. Aus dem großen Saal klingelten zwei Patienten um die Wette, und die Nachtschwester flog umher wie mit der Peitsche im Nacken. Und auf der Nummerntafel leuchtete Nummer 16. Toni gähnte und ging zu Fräulein Hallgren hinein. „Nun, Fräulein Hallgren, wie geht es denn? Kann ich Ihnen mit etwas helfen?“ Es zeigte sich, daß Fräulein Hallgren nervös und abgekämpft war, nach einer unangenehmen, aber ziemlich ungefährlichen Operation. Es tat ihr weh, mit ihrem wunden Hals zu sprechen, sie konnte aber doch Toni zuflüstern, daß sie so furchtbar gern ihrem – hm – guten Freund Bescheid geben wollte, daß die Operation gut verlaufen sei. Und – sie hatte ihre Familie nicht bitten können, diesen Bescheid zu geben, weil die nichts von dem Freund wußte und… es folgte nun eine lange, geflüsterte und ziemlich unverständliche Erklärung. Aber, ob Toni so gut sein wollte, anzurufen – und Toni notierte die Nummer und versprach, sofort zu telefonieren. „War sonst noch etwas, Fräulein Hallgren?“ „Nein – ich – doch ja, ich muß mit der Nachtschwester sprechen.“ Herrgott, die arme Nachtschwester, dachte Toni, die hat doch mehr als genug zu tun. „Ist es nicht etwas, das ich vielleicht für Sie tun kann? Die Nachtschwester ist so wahnsinnig im Trab heute abend.“ „Ja, ich kann es mir denken, denn sie hat vergessen, mir meine Schlaftabletten zu geben.“ „Sie Ärmste, haben Sie die Tabletten nicht bekommen? Aber Sie müssen versuchen, die Nachtschwester zu entschuldigen. Sie ahnen nicht, was sie heute abend auszustehen hat. Alles ist rein verhext. Welche Art von Tabletten haben Sie bisher bekommen?“ „Gestern und vorgestern habe ich Luminal bekommen.“ „Da kann ich Ihnen aushelfen.“ Toni hatte noch die Schachtel mit Luminal in der Tasche, die der Chefarzt ihr gestern verordnet hatte. „Sehn Sie, hier. – Ich werde Ihnen Wasser geben – so, nun werden
Sie bestimmt schlafen. Und nun werde ich telefonieren und gleich Bescheid geben.“ Toni schüttelte den Kopf, als sie aus dem Krankenzimmer kam. Allerhand Komisches, was man mitunter machen sollte! Was für ein albernes Mädel! Wenn sie nur bloß rasch einschliefe, damit sie der Nachtschwester nicht das Leben sauer machte! Dann telefonierte Toni mit dem geheimnisvollen Freund, der zu glauben schien, daß seine Geliebte die größte Operation der Weltgeschichte durchgemacht hatte. Und dann ging sie in ihr Zimmer zurück, kleidete sich aus und warf sich ins Bett, um den Rest ihrer Luminalbetäubung auszuschlafen. Dr. Lambert stand mit gerunzelten Brauen vor Fräulein Hallgrens Bett. Er zählte ihren Puls und blickte aufmerksam in das feuchte, leichenblasse Gesicht. „Aber, ich begreife nicht, daß Sie die Blutung nicht bemerkt haben, Fräulein Hallgren.“ „Ich habe geschlafen“, flüsterte Fräulein Hallgren mühsam. „Konnten Sie denn schlafen mit den Schmerzen?“ „Mit Tabletten…“, flüsterte Fräulein Hallgren. Dr. Lambert wandte sich heftig um zu der Stationsschwester, die hinter ihm stand. „Hat die Patientin Schlaftabletten bekommen?“ „Nein, Herr Doktor.“ „Doch“, flüsterte Fräulein Hallgren. „Die Patientin muß sich irren, Herr Doktor.“ „Ich hatte verordnet und Bescheid gegeben, daß sie keine Schlafmittel haben sollte. Wußte die Nachtschwester davon?“ „Ganz sicher, Herr Doktor.“ „Es war nicht die Nachtschwester“, flüsterte Fräulein Hallgren, die sich verletzt fühlte in all ihrem Elend, weil die Stationsschwester sie eines Irrtums beschuldigte, und das Beleidigtsein gab ihr Kräfte zu sprechen, „die andere Frau -Frau – nun die, die nette rothaarige Dame.“ Eine dunkle Röte färbte Dr. Lamberts Wangen. „Meinen Sie Frau Löngard?“ „Ja, Frau Löngard.“ „So, dann habe ich dieser netten Dame ein paar Worte zu sagen!“ brauste Dr. Lambert auf, aber im nächsten Augenblick fing er sich wieder und war wieder der ruhige Arzt.
Er gab Schwester Beate einen kurzen Bescheid und eilte mit entschlossenen Schritten zum Chefarzt. Von all dem wußte Toni nichts. Sie ahnte kein Unheil, als sie zum Chefarzt ins Büro gerufen wurde. Der Chefarzt wanderte in seinem Zimmer hin und her, die Hände auf dem Rücken, und sein Gesicht war rot und erhitzt. „Setzen Sie sich, Frau Löngard. Was, zum Teufel, ist das für eine Geschichte, die Sie da angestellt haben? Wer hat Ihnen Erlaubnis gegeben, auf eigne Hand Schlafmittel auszuteilen? Ist es Ihre Absicht, unseren Patienten das Leben zu nehmen?“ „Herr Chefarzt – meinen Sie Fräulein Hallgren?“ „Ja, zum Kuckuck. Gewiß meine ich Fräulein Hallgren. Sie haben hoffentlich nicht noch mehreren Patienten Schlafmittel gegeben?“ „Nein – aber, aber sie sagte, daß die Nachtschwester es vergessen hätte – und daß sie bisher Luminal bekommen hat – und ich hatte gerade die Schachtel, die Sie mir gaben, in der Tasche, und die Nachtschwester hatte so wahnsinnig viel zu tun…“ „… daß Sie fanden, Sie konnten eigenhändig einer Tonsillektomie-Patientin ein Schlafmittel geben! Wissen Sie, was Sie angestellt haben? Die Patientin schläft ein, bekommt eine unglückselige Nachblutung, merkt es nicht, schluckt eine Menge Blut, der Himmel weiß wieviel – jetzt mußte sie wieder auf den Operationsstuhl zur Unterbindung; nun beten Sie zu Gott, daß sie nicht eine Lungenentzündung bekommt, von all dem Blut, das sie geschluckt hat. Wie konnten Sie nur etwas so Wahnsinniges tun, Frau Löngard?“ „Ich – ich wollte bloß der Nachtschwester eine Arbeit ersparen – es fiel mir nicht ein, daß…“ „Sie sind grenzenlos leichtsinnig gewesen, ja, das waren Sie! Und nun haben Sie zu Doktor Lambert zu gehen und ihm eine vorbehaltlose Entschuldigung vorzubringen. Und ich muß Ihnen leider sagen, wenn etwas Derartiges noch ein einziges Mal vorkommt, sind Sie hier fertig. Was sich für Sie ergibt, wenn es eine Lungenentzündung wird, weiß ich nicht. Wir können nur das Beste hoffen, und Sie müssen das als ein ganz außergewöhnlich wohlverdientes Lehrgeld betrachten. Ein für allemal, Frau Löngard: Halten Sie sich an Ihren eigenen Wirkungskreis, und lassen Sie die Finger von dem Gebiet der Arzte und Schwestern. Ist Ihnen das klar?“
„Ich – ich…“ Toni brachte nicht mehr hervor. Sie war so übermüdet, so überanstrengt, so grundunglücklich. Und dazu kam noch die Scham, Scham darüber, wie ein ungehorsames Schulkind ausgescholten zu werden. Sie fühlte sich auf einmal ganz klein – und dann stürzten die Tränen aus ihren Augen. In der Regel wurde der Chefarzt nicht weich durch Frauentränen, dazu hatte er zu viele gesehen. Aber es war etwas an Tonis kleiner zusammengesunkener Gestalt, das ihn rührte. Sie war immer so fesch gewesen, so überlegen, so munter, immer der Lage gewachsen. Deshalb wirkte sie jetzt, wo sie wie ein Häufchen Elend zusammengefallen war, doppelt bedauernswert. „Na, nehmen Sie es nur etwas ruhiger,“ brummte der Chefarzt, „es ist ja eine hundsgemeine Geschichte für Sie, Frau Löngard, aber wir müssen hoffen, daß es gutgeht. Weinen nützt jedenfalls nichts. Und – entschuldigen Sie, daß ich es sage, das Ganze wäre nie geschehen, wenn Sie – hm – wenn Sie ganz Sie selber gewesen wären. Sie sind vermutlich ziemlich schlaflos?“ „Nein“, flüsterte Toni mit eingerosteter Stimme. „Ich habe wirklich gut geschlafen gestern nacht – und gestern nachmittag. – Ich schlief so, daß ich gar nicht wußte, wo ich war, als ich geweckt und zu Fräulein Hallgren hinuntergerufen wurde.“ „Ach so. Sie hatten Schlaftabletten genommen, Sie auch.“ „Ja, zwei Stück. Von denen, die Sie mir gaben.“ „Aha. Die haben also so stark gewirkt. Jaja, da sind wohl sogenannte mildernde Umstände vorhanden, aber die Geschichte ist trotzdem fatal. Trocknen Sie Ihre Augen, und gehn Sie zu Dr. Lambert, damit Sie das Ganze überstanden haben. Dann können Sie erleichtert aufatmen. - Wir wollen es jedenfalls hoffen!“ Ausgerechnet Dr. Lambert! Es hatte zwischen ihm und Toni ein ziemlich kühles Verhältnis bestanden seit dieser Geschichte mit Frau Grönberg, die sie ausgescholten und die nachher Dr. Lambert mit einem simulierten Weinkrampf zum besten gehalten hatte. „Muß ich unbedingt…?“ Toni bat, verzagt wie ein kleines Mädchen, das der Strafe entgehen möchte. „Ja, Sie müssen. Fräulein Hallgren ist Dr. Lamberts Patientin. Er hat die Verantwortung, wenn etwas schiefgeht. Denn Sie sind sich wohl darüber im klaren, daß diese Skandalgeschichte von einem Kurator, der einen Patienten vergiftet, keinesfalls außerhalb des Krankenhauses bekanntwerden darf?“
„Ja“, flüsterte Toni. „Gut. Also gehen Sie zu Dr. Lambert, und tun Sie es, je eher, desto besser. Und nun keine Tränen mehr, Kleines.“ Das half so unglaublich gut, dieses „Kleines“, das der Chefarzt zum Schluß anheftete. Toni streckte dem Chefarzt zögernd die Hand hin. „Ich… ich weiß nicht, was ich sagen soll.“ „Ich auch nicht, aufrichtig gesagt. Also lassen wir es sein, etwas zu sagen, denke ich.“ Es war ein Gang nach Kanossa für Toni, und es war furchtbar demütigend für sie, vor Dr. Lambert so klein dazustehen, ausgerechnet vor ihm, dem jüngsten Arzt! Er war auch ziemlich bissig. Und als Toni leise ihre Entschuldigung vorgebracht und erklärt hatte, wie es zu dem Mißgriff gekommen war, brach es aus Lambert heraus: „Wissen Sie, daß dies meine erste selbständige Operation war, Frau Löngard? Wissen Sie, daß es Ihre Schuld ist, wenn meine erste Operation mit einem Todesfall endet?“ „Meinen Sie… glauben Sie…?“ „Ich meine, daß die Patientin alle Symptome einer beginnenden Lungenentzündung hat, nachdem ein Teil des Blutes in ihre Luftröhre eingedrungen ist. Und ich bin es, auf den die Verantwortung fällt, verstehen Sie das?“ „Was… was tun Sie jetzt mir ihr?“ „Penicillin alle vier Stunden. Viel Nachtruhe wird das ja nicht.“ „Ach, Dr. Lambert, erlauben Sie mir, zu wachen. Ich werde Sie auf die Sekunde genau wecken, wenn Sie die Spritzen selbst geben wollen. Erlauben Sie es mir, bitte. Ich möchte so gern ein klein wenig von dem Schaden gutmachen, den ich verursacht habe.“ Toni bettelte und flehte, und zum Schluß ging Lambert darauf ein, vorausgesetzt, daß der Chefarzt und die Oberschwester es zuließen. Es klappte, nicht zum geringsten deswegen, weil die Schwestern vor Arbeit zersprangen und es sehr schwierig war, plötzlich eine zusätzliche Nachtwache herbeizuschaffen. Toni litt mehr in diesen zwei Nächten, die sie an Fräulein Hallgrens Bett saß, als sie jemals zuvor gelitten hatte. Die schrecklichen Gewissensbisse, und die Einsamkeit! Die furchtbare Einsamkeit, und als es ihr zum Bewußtsein kam, wie grenzenlos sie sich nach einer Schulter sehnte, an der sie sich ausweinen konnte – richtiger gesagt nach Eivinds Schulter, sonst keiner in der Welt –, da wurde die Sehnsucht noch größer.
Am andern Morgen war die Gefahr vorüber. Das Penicillin hatte Wunder gewirkt. Fräulein Hallgren war unverkennbar auf dem Wege der Besserung. Es war ein Sonntag. Und Toni ging hinauf in ihr Zimmer und fiel ins Bett. Sie schlief bis in den Nachmittag hinein. Da fühlte sie sich ausgeruht, aber steif in den Gliedern. Es war hohe Zeit, daß sie sich etwas Bewegung machte. Sie ging unter die Dusche und kleidete sich an. Dann schaute sie in die Küche hinein – die Oberköchin war ihre verschworene Freundin –, und so bekam sie etwas Aufgewärmtes zugeschanzt, aß es in Eile und ging dann aus. Die Luft war klar, kühl und still. Und es war Sonntagnachmittagsstimmung, wenig Menschen auf den Straßen. Etwas Ausgestorbenes lag über der Stadt an einem solchen Sonntagnachmittag. Die Straßen waren einsam, und Toni war einsam. Sie ging an Häusern mit erleuchteten Fenstern vorbei, an einigen hatten sie vergessen, die Vorhänge zuzuziehen, und so bekam sie kleine Einblicke in Heime mit lebenden Menschen, mit Familienleben. In einem Zimmer saß eine Familie rund um den Kaffeetisch, in einem anderen saß ein Mann und las, während die Frau strickte und der Schein der Leselampe das Zimmer heimelig machte. Toni sehnte sich so, daß sie hätte aufheulen können. Und ehe sie es wußte, ging sie rasch und atemlos in Richtung auf ihr und Eivinds Heim. Sie klammerte sich nur an den einzigen Gedanken: Sie hatte doch beim Packen den blauen Morgenrock vergessen – sie brauchte ihn, und da war doch nichts Auffallendes, daß sie kam und ihn holte – nicht die Spur! Sie waren ja keine Feinde, sie und Eivind! Er würde sie sicher nett empfangen. Vielleicht würde er sie bitten, eine Tasse Kaffee zu kochen – er würde sagen: „Nein, wie nett, dich zu sehen, Toni, ich habe dich so vermißt.“ – Vielleicht würde er – vielleicht würde er… Und bei dem Gedanken an all das, was er vielleicht würde, schwindelte es Toni. Ihr Herz saß ganz oben im Hals, als sie im Wohnzimmer Licht sah. Er war also jedenfalls zu Hause. Und die Sorgen und die Scham und der Schmerz der letzten Tage stürzten über ihr zusammen. Jetzt, gerade jetzt, gerade heute mußte
sie eine Schulter haben, an der sie sich ausweinen konnte – eine Hand, die ihr übers Haar strich, sie mußte, mußte sich an Eivind schmiegen, wenn auch nur für eine Minute. Dann klingelte sie an der wohlbekannten Tür, und sie hörte Eivinds Schritte. Die Türe wurde geöffnet. Toni wollte etwas sagen – etwas Einfaches und Natürliches. Etwas leicht Munteres, etwas halb Ironisches… aber plötzlich konnte sie nicht. Sie stand nur im Halbdunkel des Ganges und blickte Eivind an. „Ach Toni, bist du das? Komm herein, du siehst müde aus, finde ich. Laß mich deinen Mantel abnehmen.“ Mit freundlicher Hilfsbereitschaft nahm er ihren Mantel und hängte ihn an den Haken und nahm ihren Hut entgegen, den sie ihm reichte. Dann öffnete er die Tür zum Wohnzimmer. „Hast du noch eine Tasse Kaffee, Siv? Wir haben Besuch bekommen.“ Aus dem Halbdunkel des Zimmers erhob sich eine schlanke Gestalt – Siv, in einem einfachen graublauen Kleid, das sie großartig kleidete. Sie hatte eine neue Frisur, das Haar war aufgerollt und machte sie erwachsener. Die spröde Jungmädchenaura war fort. Sie war von einer schmiegsamen Weiblichkeit und harmonisch in ihren Bewegungen. „Nein, was für eine Überraschung, Toni! Setz dich nieder. Ach, schiebe den Aschenbecher zur Seite, Eivind. Ich mache etwas mehr Kaffee, nicht wahr?“ „Mache meinetwegen keine Umstände“, sagte Toni, und sie hörte selbst, daß ihre Stimme flach und tot war. „Das wäre ja noch schöner!“ „Siv, du mußt sicher auch noch etwas Kuchen mit hereinbringen. Ich habe hier unverschämt reinen Tisch gemacht. Haben wir noch etwas vom Sandkuchen übrig?“ „Das glaubst du doch selbst nicht? Du mit deinem Kuchenappetit? Aber ich habe noch etwas anderes für euch. Leg noch ein Scheit in den Kamin, Eivind, dann komme ich sofort mit dem Kaffee.“ Siv verschwand lächelnd mit der Kaffeekanne in der Hand, und Eivind richtete den Blick auf Toni. „Nett, dich zu sehen, Toni. Wie geht es dir?“ „Danke, gut. Recht anstrengend, aber…“ „Du siehst müde aus.“
„Ach, das geht bald wieder vorüber. War bloß ein bißchen zu viel in den letzten Tagen. Ich bin eigentlich nur auf einen Sprung hierher gekommen, um meinen Morgenrock zu holen, Eivind, ich habe ihn beim Packen vergessen…“ „Holst du ihn dir selbst? Es sind noch andere Sachen von dir im Schrank, vielleicht ist da noch mehr, was du brauchst.“ Toni stand auf und ging ins Schlafzimmer. Sie blieb in der Türe stehen und mußte plötzlich krampfartig schlucken. Der Raum war verändert. Ihr Bett war fort. Eivinds Bett stand längs der Wand, wie in seinen Junggesellentagen, und der Raum sah so verlassen aus, trug männliches, junggesellenhaftes Gepräge. Die Kleinigkeiten, die einem Zimmer die weibliche Note gaben oder das Aussehen eines ehelichen Schlafraums, waren fort. Es war, als ob dieses nüchterne Zimmer Toni entgegenschrie, sie wäre hier überflüssig. Eivind hätte sie aus seinem Dasein gestrichen. Und in der Küche pusselte Siv ganz selbstverständlich herum. Siv mit dem blanken hellen Haar und der schmiegsamen Weiblichkeit. – Siv, die häuslich und musikalisch war, und überhaupt all das, was sie selbst nicht war. – Zum ersten Male ging es Toni auf, daß Siv gefährlich sein konnte. Gefährlich? Was dachte sie sich eigentlich? Konnte sie erwarten, daß Eivind ein Eremitenleben führen sollte? Klar, daß er den Drang nach netter weiblicher Gesellschaft hatte – und konnte er eine idealere Kameradin finden als Siv? Hatte Toni sie ihm nicht sozusagen in die Arme gelegt? Sie hatte in dieser Zeit oft an Eivind gedacht. Ja, im Grunde dachte sie immer an ihn. So sehr sie auch beschäftigt war, der Gedanke an ihn lebte immer im Hintergrund an einer Stelle ihres Bewußtseins. Sie sah ihn in Gedanken in der Bank, in dem hübschen geräumigen Büro des Abteilungsleiters, das sie kurz besichtigt hatte. Sie sah ihn daheim oder am Klavier oder mit einem seiner Bücher. Aber nie hatte sie sich ihn als aufwartenden Kavalier gegenüber einer anderen Frau vorgestellt. Als sie wieder ins Zimmer kam, hatte Siv Kaffee gemacht und eine Platte mit delikaten, kleinen Wecken hingestellt. „Sie sind leider von gestern“, sagte Siv, „ich habe sie nur aufgebacken.“ „Ich finde, sie schmecken köstlich“, sagte Eivind. „Gestern waren sie beinahe zu frisch.“ „Ich danke, wenn du in der Küche stehst und sie direkt aus dem
Ofen ißt!“ Jedes kleine vertrauliche Wort zwischen ihnen schmerzte Toni. Diese kleinen Alltagsbemerkungen, dieser gemütliche, neckische Ton, der tägliches Beisammensein und gute Kameradschaft verriet – wenn nicht mehr –, brannte in ihr. Es kostete sie unendlich viel, ein höfliches Gespräch in Gang zu halten. Und sobald der Kaffee getrunken war, stand sie auf, unter dem Vorwand, eine Arbeit warte auf sie. Beide begleiteten sie hinaus. Siv machte keine Miene, ebenfalls zu gehen – und Toni konnte also keinen Augenblick allein mit Eivind sprechen. Übrigens, warum sollte sie allein mit ihm sprechen? Wovon sollten sie sprechen? Ja, im Grunde hatten sie wohl zusammen zu reden. Es war ja zwischen ihnen noch nichts gesetzlich geordnet. Sie mußten nun endlich einen formellen Scheidungsantrag einreichen. Dieser Zustand war ja weder Fisch noch Fleisch. Toni ging die dunkle Treppe hinunter, und die Einsamkeit war quälender als je zuvor. Als sie die Straße betrat, hörte sie aus der Wohnung Musik. Sie blieb stehen und lauschte… Sie spielten die Ouvertüre zu „Figaros Hochzeit“. Jetzt spielten sie ganz fließend, und sie erinnerte sich noch, wie sie vor einiger Zeit bemüht waren, das Tempo zu beschleunigen. Es lag gewiß viel Arbeit hinter diesem Können! Viele behagliche Nachmittage und Abende, mit Übungen und Geplauder und Kaffee und Sivs unvergleichlichen Kuchen. Sivs Kuchen, in ihrer, Tonis Küche gebacken, serviert auf ihrer Kuchenplatte – und Siv saß in ihrem Stuhl, mit ihrem Mann… Die barmherzige Dunkelheit der Straße verbarg Tonis hilfloses Weinen. „Dieses Mal haben wir es fein geschafft, Siv!“ Eivind guckte Siv vergnügt an. „Jetzt geht die Ouvertüre genau, wie sie gehen soll! Du, jetzt nehmen wir ,Die Zauberflöte’. Kannst du noch, oder warten wir bis morgen?“ Siv schwieg einen Augenblick, ehe sie antwortete. Siv war ja schließlich eine Frau, und hinter ihrem freundlichen, ruhigen Wesen wohnte ein sicherer Fraueninstinkt. Und Siv hatte etwas gespürt – ein kleines, disharmonisches Zittern in Eivinds sehr herzlicher Stimme. Eine kleine Dissonanz, die vor Tonis Besuch nicht dagewesen war. Sivs sicheres musikalisches Ohr faßte sie auf und
ahnte den Grund. „Morgen habe ich leider zu tun, aber wenn du Mittwoch spielen willst, wäre das sehr nett.“ „Gut. Aber als Strafe für dein Ausbleiben morgen, sollst du mir einen Apfelkuchen backen!“ „Apfelkuchen kommt!“ versprach Siv. Toni hatte Herzklopfen, als sie Montag früh auf die chirurgische Station kam. Was würden sie ihr sagen und von ihr sagen? Kannten nun alle diese furchtbare Geschichte? Der erste, den sie traf, war Doktor Lambert. Und er kam ihr lächelnd entgegen mit ausgestreckten Händen: „Gratuliere, Frau Löngard… Unser gemeinsames Schmerzenskind platzt vor Gesundheit und muß sich unbedingt bei Ihnen bedanken… der Himmel mag wissen wofür… sie hat im Laufe von zehn Minuten viermal nach Ihnen gefragt. Ich komme gerade von ihr.“ „Und Sie?“ fragte Toni. Ihre Stimme klang müde, aber etwas von der alten Schelmerei war doch darin. „Fangen Sie so langsam an, mir zu verzeihen?“ „Das können Sie doch verstehen! Ich bin so unbändig froh, daß ich unmöglich auf jemand böse sein kann. Und Sie sind wirklich eine tüchtige Nachtschwester gewesen, jawohl. Aber schaun Sie herein zu unserem Problemkind, und gucken Sie sie an.“ Auf Nummer 16 lag Fräulein Hallgren, noch etwas bleich und matt, aber mit einem strahlenden Lächeln und einem riesigen Rosenstrauß auf dem Nachttisch. „Ach, wie schön, daß Sie kommen, Frau Löngard… ich habe mich noch gar nicht bedanken können, weil Sie meinen… äh… Verlobten angerufen haben… Sehn Sie nur diese herrlichen Blumen an… und Sie ahnen ja nicht, wie entzückend er schreibt…“ Fräulein Hallgren war überglücklich. Was hatte wohl eine Blutung zu bedeuten oder eine Lungenentzündung, mehrere Penicillinspritzen und ein aufgeregter Arzt, wenn ein Brief und ein Blumenstrauß es klarmachen, daß „mein – äh – Bekannter“ oder „mein – äh Verlobter“ bald „mein Verlobter“ werden würde, ohne ein vorsichtiges Räuspern zwischen den Worten! Toni hörte sich geduldig noch einige enthusiastische Geständnisse an. Dann riß sie sich los. Da kam die Hilfsschwester angelaufen. „Ach, Frau Löngard, wir haben einen Neuen auf Nummer 13…
er muß unbedingt mit Ihnen sprechen, sagt er. Können Sie…“ „Ein Neuer, der mit mir sprechen muß?“ fragte Toni. Dann klopfte sie bei Nummer 13 an und ging hinein. Im Bett lag Ingenieur Wolter. „Ja, was in aller Welt…“, fing Toni an. „Kann man wohl sagen, Fünkchen, das kann man wohl sagen.“ „Ja, aber Sie sind doch schon längst entlassen worden?“ „Mein Magensack war anderer Meinung, Kleines, der streikt mal wieder. Und nun wollen diese verflixten Metzger hier mich aufschneiden und den greulichen Gram herauspolken. Mit anderen Worten, ich soll morgen operiert werden, und der Tag vor einer Operation ist ekelhaft lang, und langweilig hindurchzukommen. Ich dachte mir, daß Sie im Grunde dafür angestellt sind, den Leuten hier durch solche Tage zu helfen. Wie geht es Ihnen?“ „Danke, fein!“ „Kreuzteufel, wie Sie lügen können! Es geht Ihnen dreckig, Fünkchen, das kann ein erfahrener Menschenkenner wie ich mit einem halben Auge sehen. Setzen Sie sich hin, und seien Sie ehrlich. Was ist los mit Ihnen?“ „Warum sollte denn etwas mit mir los sein?“ „Weil Sie so dünn und blaß geworden sind, daß Sie nur noch aus Sommersprossen bestehen! Und Ihre Augen sehen aus wie zwei schwarze Brunnen, statt wie zwei Weiher mit springenden Forellen. Entschuldigen Sie den Vergleich, ich bin ein leidenschaftlicher Angler, wissen Sie, das beeinflußt meine poetische Ader. Schießen Sie los, Fünkchen, ich werde mir Schweigepflicht auferlegen. Haben Sie sich mit Ihrem Mann gezankt?“ „O nein. Daran bin ich verhindert.“ „Ach so? Ist er vielleicht von Ihnen fortgegangen?“ „Nein, im Gegenteil, ich von ihm.“ „Sieh mal an, da haben wir das Unglück! Sie hätten auf mich hören sollen! Dann hätten Sie und Ihr Mann es wie zwei Turteltauben gehabt. Und was ist sonst mit Ihnen los?“ Toni mußte lächeln. „Wer hat etwas gesagt von ,sich mit anderer Leute Sorgen zu belasten’? Wollen Sie sich auf Tod und Leben mit meinen belasten?“ „Ja, denken Sie mal, das will ich. Sie wissen besser als andere, wie nötig die Menschen manchmal einen Kurator haben, oder was man nun so eine seelische Mülltonne heißt. Jetzt kann ich ja im Namen vieler dankbarer Patienten etwas Vergeltung üben für all die
Anteilnahme, die Sie beweisen. Also diese Ihre verflixte Wirksamkeit hat fürs erste Ihre Ehe zerrüttet. Und was plagt Sie noch?“ „Wenn Sie darauf bestehen, es zu hören – ich habe einen Mißgriff begangen, hier im Krankenhaus, und es ist ein wahres Wunder, daß ich nicht hinausgeflogen bin.“ „Schlimmer und schlimmer. Also beichten Sie.“ Mit einem Male fühlte Toni eine große, warme Geborgenheit, eine unendliche Erleichterung, einem Menschen gegenüberzusitzen, der sich anbot, ihr zuzuhören und zu helfen. Das hatte sie nie zuvor erlebt. Aktiv und selbständig, wie ihre Natur war, war sie immer die Gebende, die Helfende. Zum ersten Male gab es jemand, der ihr eine sichere und starke Hand reichte und ihr eine Stütze anbot. Ein Mensch mit Augen, in denen Klugheit leuchtete, mit so viel warmem Verständnis unter dem rauhen Wesen. Und dann erzählte Toni die ganze Geschichte von Fräulein Hallgren und den Schlaftabletten. Ingenieur Wolter hörte sie ruhig an. Und als sie zu der Moralpredigt des Chefarztes kam, nickte Wolter verständnisvoll. „Gott bewahre, Fünkchen“, sagte er. „Wäre ich an der Stelle des Chefarztes gewesen, hätte ich Sie übergelegt. So was von leichtsinnigem jungem Ding! Wie ist es denn mit der Patientin gegangen?“ Toni berichtete weiter, und Wolter atmete erleichtert auf. „Ja. Kann ich verstehen, daß diese Geschichte Sie mitgenommen hat“, nickte er. „Aber die ist glücklicherweise vorbei. Und nun will ich fragen, und Sie werden bitte antworten. Arbeiten Sie immer noch so wahnsinnig?“ „Wahnsinnig? Was meinen Sie?“ „Ach, spielen Sie doch keine Komödie. Sie wissen gut, was ich meine. Schreiben Sie immer noch anderer Leute Briefe, rennen Sie für andere Menschen Besorgungen machen und lassen Sie sich Tag und Nacht herbeizitieren? Brauchen Sie immer noch ganze Tage, um kleine Probleme für hysterische Frauenzimmer zu lösen, die Langeweilekomplexe haben, weil sie im Krankenhaus liegen? Oder sind Sie vernünftig geworden und überlassen Sie die albernen Nörgeltanten sich selbst, so daß Sie sich um so besser denen widmen können, die Sie wirklich brauchen?“ „Was – meinen Sie?“ Toni stammelte erschreckt. Es war etwas an dem, was Wolter auf diese brutale Weise sagte. Es war ein Blitz
der Erkenntnis, der in sie einschlug. „Was ich meine? Ich meine, wenn man die Aufgabe hat, anderer Menschen Kümmernisse zu tragen, da muß man eine saubere Auswahl treffen. Rennen Sie nicht zu allen und für alle. Zum Beispiel war es idiotisch von Ihnen, damals zu mir zu kommen. Ich hatte Sie nicht nötig und würde Sie nicht vermißt haben, wenn Sie nicht gekommen wären. Die Zeit, die Sie auf mich vergeudeten, hätten Sie auf vernünftigere Weise für jemand anderen verwenden können, der Sie wirklich nötig hatte. Sicher war es verdammt nett, mit Ihnen zu plaudern, und als ich gestern abend hierherkam, freute ich mich darauf, Sie zu treffen. Aber ich bin nicht seelisch krank, Fünkchen, und es gibt noch viele, viele andere, die Sie ebenfalls aus Ihrem Wirkungsbereich ausschalten können. Und noch eins: Nehmen Sie nicht alles auf sich! Auch in Ihrer Stellung muß man organisieren können. Das ist eine Kunst für sich. Sehen Sie mich an – hier liege ich, ruhig wie ein Stein, obwohl ich der Leiter eines großen Unternehmens bin. Ich kann nämlich organisieren. Ich stelle die Räder ein und schmiere sie ab und zu ein wenig, und dann laufen sie von selber. Das müssen Sie lernen, Fünkchen! So, wie Sie jetzt arbeiten – protestieren Sie nicht, ich sehe es Ihnen an – reiben Sie sich in zwei Monaten auf. Halten Sie Ihre Bürozeit ein, und rühren Sie sich nicht außerhalb Ihrer Bürozeit, ausgenommen, wenn sie an ein Sterbebett gerufen werden. Setzen Sie sich in Verbindung mit der Familie des Patienten, wenn dies nötig ist, setzen Sie in Gang, das, was getan werden muß – aber tun Sie es nicht selbst. Verstehen Sie nicht, daß Sie Ihre Kräfte auftanken müssen? Sie zehren und brauchen von Ihrem Kapital, ohne daß neues zufließt. Sie müssen lesen. Lesen Sie überhaupt etwas?“ „Meist Fachliteratur“, sagte Toni leise. „Dachte ich es mir doch! Lesen Sie ordentliche Literatur, und lesen Sie Zeitungen. Ich möchte darauf wetten, daß Sie nicht einmal wissen, was in der Welt vorgeht. Gehn Sie ins Kino, reisen Sie, wenn Sie Gelegenheit dazu haben. Gehn Sie bummeln, zum Teufel. Machen Sie zunächst einmal eine ganz große Umorganisation in Ihrer Arbeitsmethode. Lassen Sie den Menschen nicht von der Arbeit verschlingen. Und wenn Sie trotz meiner glänzenden Redegabe immer noch nicht überzeugt sind, habe ich noch eine Rosine im Kuchen, nämlich: Sie müssen abschalten. Wenn Sie erstklassige Arbeit auf dem unendlich schwierigen Gebiet Ihres Wirkungsfeldes leisten wollen, müssen Sie ausgeruht und klardenkend sein. Habe ich
recht, oder habe ich nicht recht?“ Toni schwieg. Ingenieur Wolter auch. Toni stand auf, ging zum Fenster hin, blieb mit der Stirn an den Fensterrahmen gelehnt stehen. Zum Schluß sagte sie mit einer leisen, etwas belegten Stimme: „Ich glaube fast, Sie haben recht.“ Ingenieur Wolter schwieg eine Weile. Dann sagte er – und seine Stimme war verändert – sie war leise und sanft und warm: „Kommen Sie her, Fünkchen.“ Sie wandte sich langsam und ging zum Bett. Er streckte die Hand aus und nahm die ihre, strich sie behutsam. „Arme Kleine.“ Die zwei Worte waren zuviel für Toni. Gerade diese beiden Worte. Zum dritten Male im Laufe von drei Tagen stürzten ihr Tränen aus den Augen. „Soso – Kleines.“ Sein Arm hob sich, seine Hand legte sich um ihren Nacken und zog sie zum Bett herunter. „So, Kleines, hier haben Sie eine Schulter, an der Sie sich ausweinen können, wenn es auch nur eine armselige Patientenschulter ist. Weinen Sie sich aus, aber machen Sie es rasch, denn ehe Sie es ahnen, kommt eine Schwester mit einer Spritze, oder einem Medizinfläschchen oder noch Schlimmerem.“ Da mußte Toni lachen, in all ihrem Elend. Das Weinen hörte auf, und sie trocknete ihre Augen. „Waschen Sie Ihr Gesicht“, befahl Wolter. „Gott sei Dank ist das ein modernes Krankenhaus mit Waschbecken in den Zimmern. Da rechts liegt ein reines Handtuch.“ Toni gehorchte. „Und denken Sie daran, daß ich mir selber die strengste Schweigepflicht auferlegt habe. Sie sollen es nicht bereuen, daß Sie offenherzig gewesen sind, oder richtiger, daß Sie mir erlaubt haben, offenherzig für Sie zu sein. In ein paar Tagen, wenn diese lächerliche Geschichte bei mir vorbei ist, müssen Sie kommen und mich besuchen. Morgen um diese Zeit liege ich wohl hier und spucke nach der Narkose. Aber übermorgen müssen Sie bei mir hereinschauen. Jetzt höre ich berufsmäßige Schritte auf dem Gang. Es ist besser, wenn Sie nun verschwinden. Aber, hören Sie, Fünkchen, haben Sie etwas zum Lesen? Nein, das dachte ich mir. Nehmen Sie das Buch auf dem Nachttisch, es ist fantastisch gut. Ich lese heute doch nicht mehr. Ich muß ja
anstandshalber meine guten und schlechten Taten sammeln und eine Art von geistigem Testament machen vor der Operation. Wenn ich sterbe, können Sie das Buch als freundliche Erinnerung behalten. Aber ich nehme an, daß ich in einer Woche wieder springlebendig bin. Viel Glück, Fünkchen!“ Und dann stand Toni außerhalb seiner Tür, mit dem Buch in der Hand. Sie sah es an. „Kallocain“, stand darauf. Jetzt erinnerte sie sich, Eivind mit dem Buch in der Hand gesehen zu haben. Sie selbst hatte keine Zeit gehabt, es zu lesen und auch keine Zeit zuzuhören, als Eivind davon erzählte. Und an diesem Tag beendete sie ihre Arbeit genau um drei Uhr. Nachmittags machte sie einen Spaziergang, nahm dann ein Bad und ging zeitig zu Bett. Und obwohl sie dann noch bis um zwei Uhr las, fühlte sie sich frisch und ausgeruht, als sie am Morgen erwachte. Das erste, was sie tat, war, nach Ingenieur Wolter zu fragen. Er war um acht Uhr früh operiert worden, und alles war gut abgelaufen. Toni fühlte sich beinahe glücklich. Und als Ingenieur Wolter aus der Narkose erwachte, stand ein schöner Blumenstrauß auf seinem Tisch. Es dauerte noch ein paar Stunden, ehe er seine Hände zu bewegen und seine Augen zu gebrauchen vermochte. Aber er brachte es schließlich fertig, die paar Worte zu lesen, die mit einer flotten, deutlichen Steilschrift auf der Karte standen, die mit dem Strauß kam: „Danke! – Fünkchen.“ Es blieb nicht bei dem einen Buch. Toni wurde vom Lesehunger überfallen. Sie kaufte Bücher, sie lieh sich Bücher aus. Sie wurde ein Stammgast in der öffentlichen Bibliothek. Außerdem stand ihr die Krankenhausbibliothek zur Verfügung. Sie verschlang die Literatur mit ihrem ganzen aufgesparten Hunger. Und es wurde ihr erschreckend klar, wie zurückgeblieben sie war. Autoren wie Hemingway und Steinbeck waren unbekanntes Land für sie. Sie las im Laufe der Zeit norwegische und deutsche Bücher, Romane, Novellen und Reiseschilderungen, und es dämmerte ihr, wie Eivind allein gewesen und sich schrecklich einsam mit seinen Büchern gefühlt haben mußte, weil er nie mit ihr darüber sprechen konnte. Nun erlebte sie dasselbe. Wie gern hätte sie sich mit jemand über all das, was sie las, ausgesprochen.
Endlich, jetzt, wo es zu spät war, begann sie Eivinds Wellenlänge zu finden. Jetzt, wo er sie nicht mehr brauchte. Jetzt, wo er Siv hatte… Dann kaufte sie sich einen kleinen Radioapparat und hörte sich systematisch alle guten Konzerte an. Sie war ja nicht unmusikalisch, im Gegenteil, sie liebte Musik, nur war sie völlig unwissend. Sie hörte Vorträge über Musik mit Demonstrationen, sie hörte Orchesterkonzerte und Kammermusik, aber am liebsten Klavierkonzerte. Und nun, da ihre Ohren aufgeschlossen und willig waren, nun, da sie alles andere abschaltete und sie sich bewußt dem Zuhören und Verstehen hingab, bedeutete die Musik ihr unendlich viel. Sie war nur so allein… so unendlich allein mit dem allem. Wenn sie den Abend bei einem guten Buch oder einem Radiokonzert verbracht hatte, fühlte sie sich am nächsten Morgen positiv aufgeladen für ihre Arbeit. Und nun versuchte sie, streng zu rationalisieren. Sie nahm sich stets Zeit für die Patienten, die sie wirklich brauchten. Sie hörte sie geduldig an, half ihnen handeln und denken, und sehr oft setzte sie sich mit den Familien in Verbindung und half taktvoll und freundlich bei den Problemen, mit denen sich die Patienten quälten und nicht fertig zu werden vermochten. Aber zu allererst versuchte sie, die Patienten zu bewegen, selbst zu handeln und zu denken. Sie freute sich jeden Tag auf ihren kurzen Besuch bei Ingenieur Wolter. Er erholte sich rasch, und sie hatte viele erfreuliche Unterhaltungen mit ihm. Sie räumte lächelnd ein, daß die Rollen nun vertauscht waren und er der Kurator war, mit all seiner nüchternen gesunden Lebensweisheit, und sie diejenige, die Hilfe brauchte. Aber an allen anderen Krankenbetten war sie der vollkommene Kurator, und sie fühlte selbst, daß sie jetzt bessere Arbeit leistete als je zuvor. Wie viele Probleme gab es doch im Grunde! Alle Menschen hatten sich mit etwas abzurackern. Unter einer glatten und lächelnden Oberfläche verbarg sich oft viel Schweres und sogar Böses. Glatt und lächelnd. Sie dachte an Eivinds ruhiges Wesen und freundliches Lächeln. Er hatte doch immer – oder fast immer – vergnügt ausgesehen. Aber was verbarg sich wohl unter seinem ruhigen Äußeren? Was
verbarg sich da an Verletztheit, Entbehrung und Einsamkeit? Wie nahm er es wohl auf, wenn seine Frau Erfolg hatte, bewundert und gefeiert wurde – wie damals auf der Gesellschaft beim Chefarzt –, während er, der tüchtige junge Abteilungsleiter, zurückgesetzt wurde als „Frau Löngards Mann“? Es stand mit einemmal klar vor Toni, wie falsch sie manches angestellt hatte. Sie, die ausgebildete Psychologin, hatte ihre erste und sonnenklare Pflicht versäumt: Ihrem Mann gegenüber ein wenig Kurator und Psychologin zu sein. Und nun war es zu spät…! „Du bist doch eine treulose Seele, Siv“, lächelte Eivind, als er nach Verabredung Siv an der Straßenbahn traf. „Nein – es ist doch erst vier Tage her, daß wir zusammen waren. Es ist schlimm, wie anspruchsvoll du geworden bist. Übrigens, vielen Dank für neulich. Ich freue mich schrecklich auf das Konzert.“ „Ich auch.“ Sie nahmen sich gut aus, Siv und Eivind, als sie in den Konzertsaal kamen. Er dunkel, sie ganz hell – groß und schlank beide. Sie fanden ihre Plätze, wechselten ein paar geflüsterte Worte, und dann erschien der berühmte Pianist auf dem Podium. Er gab einen Beethovenabend. Er trug seinen berühmten Namen zu Recht. Die Sonaten bekamen Fülle und Wohlklang und Wärme und Leben unter seinen Händen. Als er den ersten Teil mit der Pathétique schloß, war es, als ging ein freieres Atmen durch den Saal. Der Herr vor Eivind bog sich zur Seite, und da fiel Eivinds Blick auf einen roten Lockenkopf, einige Reihen vor ihm. Seine Augen hingen wie festgebannt an diesen roten Locken. Es gab nur einen Menschen auf der Welt, der diesen schmalen Nacken und diese feine Kopfform hatte – jetzt drehte sie sich ein wenig – da sah er ein wohlbekanntes Profil mit Stupsnase. Mit wem war sie wohl zusammen? An ihrer einen Seite saßen zwei junge Mädchen und flüsterten. Auf der andern Seite ein älteres Ehepaar. Toni selbst saß schweigsam, mit gesenktem Kopf. Vielleicht studierte sie das Programm? Jedenfalls war sie allein. Toni allein im Konzert? Toni allein, um Beethoven anzuhören?
Sie, die nie Zeit gehabt hatte, mit ihm zu gehen! Sie, die ihre Karteikarten geschrieben oder Fachliteratur gelesen hatte, während er spielte! Toni, kleine Toni! Da wandte sie sich gerade wieder um. Wie bleich sie war! Wie alt sie geworden war. Es ging ihr nicht gut. Ihr Rücken sah so schmal und einsam aus, wie sie so dasaß. Dann flüsterte Siv etwas, und er wandte sich ihr zu. Er wußte selbst nicht warum, aber er wollte um jeden Preis vermeiden, daß Siv auf Toni aufmerksam wurde. Eivind war nicht genügend Psychologe, um den Grund zu wissen: er wollte Toni das demütigende Mitleid Sivs ersparen. „Beeile dich, dann bekommen wir die erste Straßenbahn“, sagte Siv nach dem Konzert. „Bei der nächsten gibt es den wohlbekannten Run.“ Es war eine Selbstverständlichkeit, daß sie wie gewöhnlich bei ihm zu Hause noch Kaffee tranken. Und dann saß Eivind in seinem bequemen Stuhl vor dem Kamin, während Siv in der Küche wirtschaftete. Bald würde sie das Tablett mit dem duftenden Kaffee bringen und das eine oder andere Leckerchen dazu. Siv sorgte immer dafür, daß die Kuchenbüchse gefüllt war. Toni im Konzert. Toni allein im Konzert. Bald würde Siv mit ihrer weichen süßen Stimme fragen: „Magst du diese Kuchen, Eivind?“ Und dann würde sie still sitzen und schweigen, oder sie würde von dem fabelhaften Pianisten reden – sie würde einfache und richtige und freundliche Sachen sagen, ruhig und behaglich. Sie würde keine brennende, eifrige Stimme haben, würde nicht von einem tragischen Menschenschicksal erzählen, würde nicht mit einem vollen Herzen das Sterbelager eines einsamen, armen Alten schildern. Siv war kein Mensch mit Überschuß, sie ging nicht ihren Mitmenschen auf die Nerven. Sie war gleichmäßig und ruhig und angenehm und ansprechend. Sonst nichts. Siv war ein stilles Gewässer, während Toni ein heftiger sprudelnder Bach gewesen war. Frühlingsfrisch und aggressiv, voll von Leben, voll von Unternehmungslust. Eivind stand plötzlich auf, ging zum Klavier, schlug einige Takte
der Appassionata an. Da erschien Siv in der Tür, und Eivind stand auf. „Nein, spiele nur weiter, Eivind.“ „Ach nein, nicht nach dieser Appassionata-Wiedergabe, wie wir sie heute abend gehört haben.“ „Ja, du, wie der gespielt hat, Eivind!“ „Ja, er spielte wunderbar.“ Siv plauderte, trank Kaffee, versorgte Eivind aufmerksam. Dann erkundigte sie sich ein wenig nach seiner Arbeit in der Bank. Er antwortete kurz, aber freundlich. Dann wandte er sich ihr lächelnd zu. „Du bist ein süßes Mädchen, Siv. Was würde ich ohne dich getan haben?“ „Ach du! Da würdest du eine andere gehabt haben, die dir Kaffee gemacht hätte.“ „Und die Apfeltorte gebacken und vierhändig gespielt?“ „Ach, ja doch. Apfeltorte und Klavierspielen ist nichts so Außergewöhnliches bei jungen Damen.“ Sivs Stimme war gleichmütig und freundlich wie immer. Aber nun hatte sie einen kleinen Beiklang von Munterkeit. Der Schein des Kaminfeuers fiel auf ihr leuchtendes Haar und die schmalen, wohlgeformten Hände, die eben eine Tasse und die Kuchenplatte wegräumten. Und der Schein spielte auf ihrem Kleid, sie hatte ein molliges, warmes Angorakleid an, in einer flammend roten Farbe. Toni hatte nie ein rotes Kleid gehabt. Das konnte sie auch nicht bei ihrer Haarfarbe. „Du, Siv, du siehst verdammt süß aus heute abend.“ „Nett von dir, das zu sagen.“ Sie stand auf, um das Kaffeetablett hinauszutragen. Da stand er an ihrer Seite, nahm sie zart bei den Schultern und drehte sie zu sich herum. „Siv, du…“ Sie sah ihm in die Augen, und ihr Blick war grundehrlich. „Siv! Du hast so einen schönen Namen. Und so einen schönen Blick. Es gibt kein Falsch an dir, Siv.“ Ihr Körper war biegsam wie eine Weide, wie damals, als sie zusammen getanzt hatten. Und Eivind zog sie an sich. Er spürte den Duft ihres Haares. Sein Gesicht näherte sich dem ihren. Sie hatte die Augen geschlossen, nun schlug sie sie plötzlich voll auf und sah in die
seinen, unverwandt, forschend. Dann zog sie sich sanft aus seinen Armen. „Nein, Eivind, betrüge dich nicht selbst.“ „Was meinst du, Siv?“ „Du wolltest mich jetzt küssen, nicht wahr, Eivind? Aber wo sind deine Gedanken? Die sind nicht bei mir. Deine Gedanken sind da, wo dein Herz ist, wo sie immer gewesen sind und immer sein werden… bei Toni.“ Eivind schwieg. Er biß sich auf die Lippen. „Stimmt es, Eivind?“ Sivs Stimme war weich und behutsam. „Wo… woher weißt du das, Siv?“ „Man hat doch seinen Instinkt und auch seine Erfahrungen, Eivind. Ich bin doch kein kleines Kind mehr, verstehst du – ich habe das schon früher erlebt – und deshalb konnte ich auch diese ganz kleine Reserviertheit bei dir bemerken. Ach, Eivind, warum sollen wir davon reden? Mein Lieber, du hast es nicht gut, und ich wünschte nur, du könntest glücklich sein. Aber dazu kann ich dir nicht verhelfen, Eivind. Ich kann dir helfen, eine einsame Abendstunde totzuschlagen, ich kann deine Musikfreuden mit dir teilen, aber… Eivind, willst du so gut sein und meinen Mantel holen?“ Eivind blickte auf Sivs schmale Gestalt und begegnete den ruhigen, ehrlichen Augen. Er nahm ihre Hand behutsam in die seine, beugte sich darüber und küßte sie. Dann holte er ihren Mantel. Toni saß in der Straßenbahn, den Schoß voller Pakete. Es war Gehaltstag, und sie hatte Einkäufe gemacht – etwas an Kleidern, Toilettensachen und ein paar neue Bücher. Und gleichzeitig hatte sie ein paar Kleinigkeiten für einige ihrer Patienten besorgt. Sie freute sich darauf, am Abend ein neues Buch anzufangen, wenn sie Frieden und Ruhe auf ihrer Bude hatte. Es war so schön, zu lesen. Nicht nur, weil sie es nötig hatte, ihre Kenntnisse zu erweitern, sondern auch, weil das Lesen ihre Gedanken fesselte. Solange sie unter den Patienten war, hatte sie keine Zeit für ihre eigenen Probleme, aber sowie die Arbeitszeit vorbei war, waren sie da und überwältigten sie. Und da tauchte sie in einem Buch unter, las und las, stundenlang, las, bis sie todmüde war und in ihr Bett fiel. Jetzt saß sie in der Elektrischen und warf zufällig einen Blick auf die Straße. Es gab ihr einen Stich. Da war ein schmaler, dunkler
Nacken, über einem grauen Mantel, ein Profil, das sie besser kannte als irgendein anderes in der Welt… und dann war die Straßenbahn vorbei. Großer Gott, wie konnte man einen solchen Schock bekommen, wie konnte man geradezu Herzklopfen bekommen, nur weil man seinen Mann einen Augenblick gesehen hatte. Seinen früheren Mann noch dazu! Dieses Glücksgefühl, dieses sinnlose Herzklopfen… ach, sie kannte es, sie hatte es schon früher erlebt. Sie konnte sich noch gut daran erinnern aus ihrer ersten Zeit mit Eivind. Es war da, wenn sie ihn treffen sollte, wenn sie im letzten Augenblick zum Treffpunkt gestürzt kam – wie hatte ihr Herz gehüpft, wenn sie die geraden, breiten Schultern sah. Vielleicht stand er mit dem Rücken zu ihr, und da weilten ihre Augen verliebt auf seinem Nacken, ach, kein Mann in der Welt hatte so einen hübschen Nacken! Als Toni heimkam, vergaß sie, die Bücher auszupacken. Ihre Gedanken hatten sich verirrt in die Zeit – die glückliche Zeit, ehe sie verheiratet war, und wollten nicht loslassen. Sie kroch in die Sofaecke, streckte nach alter Gewohnheit die Hand aus nach einem Buch – aber es blieb ungeöffnet an ihrer Seite liegen. Warum hatte sie wohl heute genau dasselbe erlebt, diesen Stoß von schmerzlichem Glück, als sie diesen Nacken und diese Schultern sah? Als sie mit Eivind zusammengewohnt hatte, war ihr Herz ruhig gewesen, da hatte es nicht jedesmal, wenn sie ihn sah, einen Sprung getan. Sie dachte an die Zeit, als sie miteinander bekannt wurden. Es war in einer Gesellschaft, und Eivind hatte sie heimbegleitet. Sie waren in der Frühlingsnacht einen langen Umweg gegangen, hatten geredet und geredet, jeder hatte von sich erzählt, und sie begegneten sich – nicht so sehr in gemeinsamem Interesse als im gegenseitigen Interesse für den Lebenskreis des anderen. Und Sympathie schwang zwischen ihnen. Sie trafen sich wieder, machten zusammen Spaziergänge, waren jung und warmblütig, und die Liebe wuchs zwischen ihnen. Dann verlobten sie sich. Guter Gott, wie glücklich waren sie gewesen! Toni erinnerte sich an den Hochzeitstag. Und die Hochzeitsreise. Da kam eine kleine schwarze Wolke über ihre hellen Erinnerungen. Diese Tage in Stockholm – warum war es schmerzlich, an sie zu denken? Und die Zeit nachher? Ja, sie wußte doch so betrüblich gut den Grund, warum es kam, wie es kam. Der Grund war ihre Arbeit, die Arbeit, die ihre Kräfte völlig verschlang, ihre gute Laune, schließlich sie selbst, so daß sie ihren Mann
vernachlässigte. Aber – war es nur das? Toni schloß die Augen. Sie rief sich das Glücksgefühl zurück, das sie durchströmte, als sie ihn nur einen Augenblick auf der Straße erspäht hatte. Die zitternde Liebe, das bewußte Glück, bloß weil Eivind da war – wo war das geblieben? Ein starkes, grelles Licht flammte an einer Stelle in Tonis Gehirn auf. Was war es, das sie ihrem Mann gegenüber verschuldet hatte? Sie hatte sich von der Arbeit aufsaugen lassen, das war es – aber das war noch das Geringste. Sie hatte etwas viel, viel Schlimmeres getan: In ihrem sicheren Glauben an Eivinds Treue und eine solide Ehe hatte sie die Liebe hinwelken lassen, hatte sie mit Alltagsarbeit erstickt, untergehen lassen in kühler Sachlichkeit, hatte die Liebe durch etwas ersetzt, wovon sie glaubte, daß es eine haltbare und nette Kameradschaft wäre – aber hatte sie sich nur verheiratet, um einen Kameraden zu haben? Und Eivind! Er mit seiner warmen, beschützenden Natur, er mit seiner Sehnsucht… ja, nach Liebe… Was hatte sie getan! Ja – wenn das die Wahrheit war, daß die Arbeit sie kalt und gleichgültig machte, daß sie sie als Frau verdarb, dann – dann – war es trotzdem zu teuer bezahlt, was sie an den Krankenbetten ausrichten konnte. Großer Gott, wie sollte sie dieser Sache auf den Grund kommen, wer sollte dieses Problem für sie lösen, wo fand sie die Hilfe, die sie so nötig hatte? Es gab nur einen Menschen, der ihr helfen konnte. Und diesen einen Menschen hatte sie selbst weggeschickt. Und nun saß sie hier, mit unlösbaren Problemen bis zum Hals und dazu einer verantwortungsvollen Arbeit, die Kräfte verlangte, die sie nicht mehr hatte. Und mitten in Tonis Qual, mitten in ihren Problemen, ihren Selbstvorwürfen, ihrer Ratlosigkeit und den unbeantworteten Fragen, war nur eine Gewißheit: Die Liebe zu Eivind war nicht tot. Im Gegenteil. Sie flammte höher und höher, sie brannte in ihr, noch wärmer, noch intensiver als damals in der Verlobungszeit. Jetzt war es nicht nur der charmante Kavalier, der ihr Herz höher schlagen ließ. Jetzt kannte sie ihn als Ehemann, als Beschützer, als Kamerad, als Freund und Geliebten – als Menschen. Und nun – nun, da es ihr bewußt geworden war, jetzt, da die Liebe wärmer und intensiver als je zuvor strahlte, da es sich zeigte, daß die Liebe aller Mißhandlung der letzten Jahre widerstanden hatte – jetzt war es zu spät. Denn jetzt hatte er Siv – Siv, die ihm all jene Zärtlichkeit und
Wärme gab, die sie ihm selbst vorenthalten hatte. Und die sie ihm hätte geben können – unabhängig von der Arbeit. Ein Zitat aus einem Ibsendrama. „Die Bibel redet von einer geheimnisvollen Sünde, für die es keine Vergebung gibt. Ich habe früher nie verstehen können, was darunter gemeint war. Jetzt verstehe ich es. Die große, unverzeihliche Sünde – das ist die Sünde, die man begeht, wenn man das Liebesleben mordet in einem Menschen.“ Ja, das war es, was sie getan hatte. Ohne es zu wollen, ohne es selbst zu verstehen, hatte sie das Liebesleben in einem Menschen getötet – sie hatte es in einem grenzenlosen Egoismus getötet. Daß dieser Egoismus auch das Krankenhaus, die Patienten und ihre Arbeit umfaßte, machte ihn gewiß nicht geringer. Toni ging zu Bett. Sie wußte, sie würde nicht schlafen. Die Notwendigkeit einer Auseinandersetzung mit sich selbst war so dringend, daß sie sie nicht wegschieben konnte. Und Toni kämpfte sich durch diese Nacht. Sie holte tausend kleine Erinnerungen aus ihrer Ehe hervor. Sie erinnerte sich an Eivinds Stimmklang bei den verschiedenen Gelegenheiten – und wenn sie sich seine Worte nun wiederholte, bekamen sie einen ganz anderen Wert, eine ganz andere Tiefe und Bedeutung. Jetzt, wenn sie in ihrer Erinnerung aufklangen, sprachen sie ihr von Sehnsucht und Enttäuschung, von Resignation, von Geduld – und zum Schluß von Bitterkeit. Doch was nützte das alles? Es war zu spät. Es war zu spät. Jetzt hatte Eivind sich getröstet. Aber Toni mußte ihm das sagen. Auf die eine oder andere Weise mußte sie ihm sagen, daß sie ihn verstand, sie mußte – ja, sie mußte ihn um Verzeihung bitten für die Sünde, die sie gegen ihn begangen hatte. Es wurde eine lange, böse Nacht für Toni. Aber diese Stunden wurden trotzdem die bedeutungsvollsten in ihrem Leben. Denn diese langen, schlaflosen Stunden machten den Kurator Toni Löngard erst zur Frau und zu einem Menschen. Ich muß ihm das sagen, dachte Toni. Sie dachte dies fortwährend, der Gedanke lag und rumorte in ihr. Sie mußte, mußte – sie mußte Eivind sagen, daß sie ihn verstand, mußte ihm erklären, welche Selbstvorwürfe sie sich machte – vielleicht war es ein unbewußter Drang, sich vor ihm als Frau zu rehabilitieren. Aber sie konnte ja nicht zu ihm gehen. Sie wollte nicht noch
einmal riskieren, in eine Kaffeestunde mit Siv hineinzuplatzen. Siv – schöne, helle Siv in dem flammend roten Kleid. Sie sah sie vor sich, an der Seite von Eivind in dem Beethovenkonzert. Ihm schreiben? Sie versuchte. Sie schrieb eine Seite und verwarf sie. Nein, das konnte man nicht zu Papier bringen. Das mußte gesagt werden, von Angesicht zu Angesicht, Auge in Auge. Und während diese Gedanken sie quälten, tat sie ihre tägliche Arbeit, und der Chefarzt warf manchen besorgten Blick auf sie. Es war etwas Routiniertes, Berufsmäßiges über ihre Tätigkeit gekommen, die Stimme hatte etwas von ihrer Wärme, die Augen etwas von dem strahlenden Glanz verloren, der den Patienten Vertrauen einflößt. Zum Teufel, so geht das nicht weiter, dachte der Chefarzt. Das Mädel braucht selbst Liebe, wenn es anderen Menschen Liebe geben soll. Und vielleicht hatte damit der Chefarzt den Nagel auf den Kopf getroffen. Toni kam vom Friseur. Sie sah auf die Uhr. Ein Viertel über drei. Ja, sie sollte wohl die Straßenbahn nehmen – aber es war so schönes Wetter, sie konnte auch zu Fuß gehen, nur ein paar Haltestellen, nur an der Bank vorbei. Unsinn. Er war schon lange aus der Bank fortgegangen. Er saß sicher in der Straßenbahn, auf dem Heimweg. Und wenn sie ihn traf, kam er wahrscheinlich mit Siv zusammen. Wenn sie ihn traf… Sie mußten ja miteinander sprechen. Wenn nicht wegen anderem, so mußte Eivind doch ein Interesse daran haben, die Trennung gesetzmäßig zu ordnen. Dachte er denn nicht daran, sich mit Siv zu verheiraten? Wenn Toni sich zwang, so weit zu denken, stach es wie mit Messern in ihr. Ach, sie mußte ihm erklären… mußte ihm sagen… Die Uhr war zwanzig Minuten über drei. Wie dumm sie war! Selbstverständlich war er längst gegangen. Da sah sie ihn. Ein grauer, doppelreihiger Mantel. Eine braune Mappe. Ein grauer Filzhut. Er kam geradewegs auf sie zu. Großer Gott, wenn nur das Herz jetzt ruhig sein wollte! Es fühlte sich an, als ob es ihr die Brust sprengte. Ach Eivind, Eivind! „Ach, du bist es, Toni? Wie nett, dich zu sehen. Wie geht es dir denn?“ „Ja, danke – danke – ich muß wohl sagen, gut. Und du? Wie… ich meine, hast du viel zu tun?“ „Ja, wir haben viel zu tun in der Bank. – Wo wolltest du
hingehen?“ „Eigentlich wollte ich sehen heimzukommen…“ „Eigentlich?“ Eivind lächelte. „Das bedeutet, daß du auch für andere Vorschläge zugänglich bist?“ Es zuckte ein wenig um Tonis Mundwinkel. „Hast du vielleicht einen?“ „Ja – ich weiß nicht, ob es sich schickt, seine sozusagen getrennt lebende Frau zum Essen einzuladen? Berit hat heute frei, und deshalb werde ich in der Stadt essen.“ „Ich werde dich begleiten, Eivind.“ „Das ist nett, Toni. Kann ich etwas für dich tragen? Das ist ja ein Mordspaket, was du da schleppst. Ist es eine kurze Einleitung zur Beleuchtung des mental-neurotisch-psychologischen Seelenzustandes der Nierenpatienten?“ Sein Tonfall war gutmütig neckend. „Nein, es ist die große Munch-Biografie.“ „Hallo, wem willst du denn so ein feines Geschenk machen?“ „Mir selber. Ja, es ist schrecklich leichtsinnig, aber ich hatte solche Lust darauf.“ „Du? Liest du so etwas? Hast du denn Zeit dazu?“ „Doch. Ich nehme mir einfach die Zeit. Ich muß das.“ Eivind starrte mit offener Verwunderung in das kleine, ernsthafte Gesicht. Er sagte nichts, steckte nur das Buchpaket in seine Mappe. „Wo sollen wir essen, Toni? Im ,Grand’?“ „Sehr gern.“ Sie studierten zusammen die Speisekarte. „Hasenbraten, Toni. Was sagst du dazu?“ „Ganz wunderbar, du! Das haben wir damals gegessen, als… “ Toni brach ab. Eivind nickte. „Und nachher gab es Birnenkompott. Vielleicht haben sie es heute auch, selbst wenn es nicht auf der Karte steht.“ Sie zündeten eine Zigarette an, während sie auf das Essen warteten, und sie rauchten schweigend. „Du, Toni, es ist so nett, neben dir zu sitzen, und so verdammt behaglich.“ „Das finde ich auch.“ Dann schwiegen sie wieder, und der Kellner brachte den Hasenbraten. Toni sagte „nein, danke!“ zu einer zweiten Portion. „Aber du mußt doch essen, Mädchen. Du bist schrecklich dünn
geworden.“ „Ach, sag du es nicht auch noch. Alle quengeln, weil ich so dünn geworden bin, und außerdem sehe ich so alt und häßlich aus.“ Es war etwas in ihrem Tonfall, das Eivind eine unbändige Lust eingab, sie dicht an sich zu ziehen und das magere Gesicht zu küssen und die kleinen Fältchen, die die Sorgen der letzten Monate in ihre Augenwinkel eingegraben hatten. „Iß noch ein wenig, Toni, um mir Freude zu machen.“ Sie lächelte, und ihre Augen wurden mit einem Male blank. „Also gut. Gib mir noch ein kleines Stück.“ „Schmeckt es vielleicht nicht gut?“ „Wunderbar.“ Wieder schwiegen sie. „Du, Eivind, ich wollte eigentlich ernsthaft mit dir reden.“ „Wegen der Scheidung vermutlich?“ „Ja, so wie es jetzt ist, geht es ja nicht auf die Dauer.“ „Nein, darin hast du recht. Aber gerade hier…“ „Nein, hier nicht. – Aber, wann hast du Zeit?“ „Wann du willst. Hast du heute nachmittag viel zu tun?“ „Keine Spur. Und du?“ „Nichts Besonderes.“ „Du… könntest dir wohl nicht denken, mich zum Kaffee einzuladen? Daheim?… Ich meine… bei dir daheim?“ „Schrecklich gern, Toni. Ich habe auch einen Schluck Likör, aber leider sind keine Kuchen im Haus.“ Es war, als ob ein großes Licht in Toni angezündet würde. Er hatte keine Kuchen im Haus… keine Kuchen im Haus!! War denn niemand, der kam und aufpaßte, daß die Kuchenbüchse gefüllt war? Keine Kuchen im Haus… es war das Beste, was er ihr überhaupt sagen konnte. „Wir nehmen ein Taxi“, sagte Eivind. „Heute ist nicht der Tag zum Sparen.“ Und dann war es Toni, die in die Küche ging und Kaffee machte, während Eivind den Kamin anzündete. Er mußte in den Keller, um Holz zu holen. Als er heraufkam, stand Toni da und blätterte in einem Buch, das auf dem Lesetisch lag. „Du hast die ,Straße der Ölsardinen’ gelesen, Eivind?“ „Mehrere Male. Es ist glänzend. Findest du nicht?“ „So, du liebst es also auch?“
„Und ob ich das tue. Ach, lieber Gott, dieser Frankie, der vor Verzweiflung auf dem Kopf in der Holzwolle steht und alle Mädchen von Dora…“ „Und Doc mit seiner Kirchenmusik…“ „Und das Fröschefangen, du!“ „Wie lustig, daß du dafür Sinn hast – diese derbe Art von Steinbeck! Hast du mehr von ihm gelesen?“ „Praktisch gesprochen, alles.“ Eivind starrte sie wieder an. Es war etwas ganz Neues über Toni gekommen. Etwas Ruhigeres, Gedämpfteres – und etwas Wärmeres. „Du hast dich verändert, Toni! Sag mal, wie geht es mit deiner Arbeit? Viel zu tun?“ „Ja, eigentlich so viel, daß ich einen ganzen Teil ausschalten mußte. Auch mit der Arbeit an den Nachmittagen und Sonntagen ist jetzt Schluß.“ „Im Ernst?“ „Ja, das mußte endlich sein, verstehst du! – Und, Eivind, weil wir davon sprechen; ich will dir gern sagen, daß ich dich jetzt verstehe – und erst jetzt, wo ich ganz klar sehe, begreife ich, wie sehr ich deine Geduld in Anspruch genommen habe.“ „Aber, Toni…“ „Nein, laß mich ausreden, Eivind. Denn es ist etwas, das ich dir sagen muß, und du mußt mich nicht unterbrechen. Jetzt habe ich Gelegenheit, es zu sagen, und ich habe keine Ruhe, ehe ich es nicht losgeworden bin. – Ich verstehe nun, wie arg es für dich gewesen ist, mit allem so allein zu sein. - Wenn dich etwas fesselte und interessierte, fandest du keinen Widerhall bei mir, es war, als ob man zu einer Wand hinspräche. Du hattest deine Musik und deine anderen Interessen, und ich parierte mit Krankenhauspalaver. – Nein, Eivind, laß mich ausreden, bitte! Jetzt verstehe ich dich, denn jetzt habe ich auch keinen, mit dem ich über das sprechen kann, was ich lese, oder im Radio höre, oder denke… Und da merke ich, daß das meiner Arbeit nicht gut bekommt. Es ist da etwas Steriles, wenn du willst. Ich habe mich die ganze Zeit verausgabt, ohne für Ergänzung zu sorgen, wenn du verstehst, wie ich es meine. Und trotzdem, Eivind… das war nicht das schlimmste. Aber daß ich dich zu einer Alltagsgewohnheit gemacht habe, obwohl ich dich doch einmal liebte, das ist meine Todsünde. Wenn ich mein Heim versäumt hätte, falls wir Berit nicht gehabt hätten, wenn ich deine Strümpfe nicht gestopft hätte und die Küche mit Aufwasch vollgestopft gewesen
wäre, das wären Kleinigkeiten gewesen im Vergleich zu meiner großen Sünde – daß ich meine Liebe in der Arbeit erstickt habe. Ich glaubte, alles wäre gut und in Ordnung, weil eine tüchtige Hausgehilfin dafür sorgte, daß wir es äußerlich gut hatten. Ich dachte nicht daran, daß man das Allerwichtigste selbst geben muß und kein bezahlter Stellvertreter das tun kann. Darum verstehe ich jetzt, was du durchgemacht hast – o Eivind, ich weiß selbst, daß ich kläglich versagt habe, aber es war wohl nötig, dies zu erleben. Denn ich habe nun zu mir selbst durchgefunden, ich glaube, ich bin erst jetzt erwachsen geworden – ich habe es schrecklich teuer bezahlen müssen, aber…“ Toni schluckte, aber sie fuhr fort zu reden, rasch und hektisch: „Das mußte ich dir sagen. Ich mußte… ja, ich mußte dich einfach deswegen um Verzeihung bitten. Du warst großartig gegen mich, Eivind, und du sollst wissen, daß, wenn wir jeder seinen Weg gehen müssen, die Schuld nur bei mir liegt. Und du sollst wissen, daß ich an dich mit Dankbarkeit und Bewunderung denke… Du brauchst auf diese lange Rede nicht zu antworten. Das mußte bloß mal heraus, verstehst du? Und nun sind wir damit fertig, jetzt können wir das Praktische besprechen. Du willst die Trennung gern in gesetzliche Formen bringen, und du brauchst nur zu sagen, wann wir das mit dem Schiedsgericht ordnen sollen, denn das muß ja sein. Ich möchte so gern etwas von dem Schlimmen gutmachen, was ich dir angetan habe – und nun wollen wir mit alledem rasch fertig werden, damit du neu anfangen und wirklich glücklich werden kannst.“ Eivinds Blick ruhte auf Toni. Sie war nervös, ihre Stimme hatte eine bebende Wärme, die er früher nie so darin gespürt hatte. Sie hielt die Hände fest gefaltet, so, als ob es dann leichter sei, sich zu konzentrieren und zu beherrschen. Ihre Lippen zitterten, aber sie brachte es trotzdem fertig, sich in der Gewalt zu haben. „Toni…“, sagte Eivind, und seine Stimme war leise, „eilt es denn so furchtbar mit der Scheidung?“ „Nicht meinetwegen, aber…“ „Ja, glaubst du vielleicht, daß es mir eilt?“ „Ich glaubte doch… wirst du nicht…“, sie wandte sich zu ihm, und ihre Augen fanden die seinen. Und dann waren alle Worte überflüssig. Er breitete die Arme aus, und Toni warf sich hinein. Sie weinte,
drückte sich an ihn, preßte ihren Kopf gegen seine Schultern. Sein Mund fand ihr Gesicht, ein warmes, fieberheißes Gesicht, naß von Tränen. „Toni! Tonilein!“ „Eivind!“ „Ich habe mich so gesehnt, Tonilein.“ „Und ich, Eivind, ich brauche dich, ich brauche dich so schrecklich, ich kann ohne dich nicht leben.“ „Und ich erst, Toni. Herrgott, ich bin so weit gekommen, daß ich geradezu Sehnsucht habe nach etwas Krankenhausgespräch und nach mental-hygienischen Zeitschriften.“ „Nein, Eivind, damit soll jetzt Schluß sein.“ „Du denkst doch nicht daran, dein Krankenhaus im Stich zu lassen?“ „Wenn ich nicht beides fertigbringe, Ehe und Krankenhaus, so gebe ich das Krankenhaus auf.“ „Aber sicher kannst du beides fertigbringen, Toni. Du hast kein Recht, die große Aufgabe im Stich zu lassen, die du dort hast. Und weißt du, mein Liebes, du bist ein so lebendiger Mensch, im Grunde ein solcher Überschußmensch, daß du beides fertigbringen kannst. Sei ehrlich – nicht wahr, du kannst?“ Toni schaute ihn an. Ein warmer Glanz war in ihren Augen. „Ja, Eivind, nun weiß ich, daß ich es kann.“ „Und du sollst nie bange davor sein, mit mir über deine Arbeit zu sprechen. Ich interessiere mich dafür, solange sie nicht dem ganzes Leben ausfüllt.“ „Das brauchst du nie mehr zu befürchten.“ Sie schwiegen beide. Lange. Es war eine gute, reiche, schenkende Stille zwischen ihnen. Es währte lange, ehe Toni lächelnd fragte: „Woran denkst du, Eivind?“ Eivind wurde rot, und sein Gesicht sah mit einem Male jungenhaft geniert aus. „An etwas sehr Sentimentales, Tonilein.“ „Soll ich raten?“ „Ja!“ „Denkst du daran, daß etwas eintreffen könnte – eine Wendung – die mich dazu bringen würde, mit meiner Arbeit Schluß zu machen?“ „Ja, jedenfalls für eine Zeit. Bis?“ „… bis es groß genug ist, in den Kindergarten zu kommen,
meinst du?“ „Toni…“ „Eivind…“ „Toni, möchtest du gern, daß es dazu kommt?“ Tonis Augen ruhten fest auf ihm, und ihr Gesicht war von Ernst geprägt, als sie antwortete – und nie war ihre Stimme so weich, so warm und so ganz erfüllt von Liebe gewesen: „Ja, Eivind, ich wünsche es. Das wäre die Erfüllung.“