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Wolfgang H. Stephan, '36 in Berlin, wohnt seit vielen Jahren als Diplom-Ingenieur, Autor, Illustrator und Maler in Grevenbroich-Wevelinghoven, nachdem er zuvor über ein Jahrzehnt in Meerbusch und im Siegerland lebte. Mittlerweile im Ruhestand, beschäftigte er sich auch mit der Produktion von eigenen Zeichentrickfilmen und Märchenbüchern. Drei seiner Erzählungen wurden von MVS Waury, Düsseldorf, und Huschert Trickfilm, Hilden, verfilmt und liegen dem ORB vor. Bekannt wurde er auch durch Illustrationen für das Rheinische Landestheater in Neuss, und für den Verlag Dr. Schwarze, Wuppertal. Für das Lesebuch „Zwischen Heine und Altbier" (Seitenwind) steuerte W. H. Stephan neben einer längeren Geschichte auch die Titelillustration sowie zahlreiche Textvignetten bei. Im Sammelband „Männer sehen Frauen, Frauen sehen Männer", einem Literatur-Projekt der Gleichstellungsbeauftragten im Kreis Neuss und der Stadt Mönchengladbach, ist er mit zwei Erzählungen und Illustrationen vertreten. Die beiden vorliegenden, inhaltlich verbundenen Erzählungen erscheinen jetzt erstmals in Buchform und illustriert. Sie sind vor allem für die Leser vom Niederrhein und für alle Freunde dieser Region bemerkenswerte Kapitel eines mehrere tausend Seiten umfassenden Gesamtwerks von Novellen, Erzählungen, Fabeln und Gedichten.
Wolfgang H. Stephan
Und mittendurch fließt der Rhein Niederrheinische Erzählungen
scanned & C-readed by SHINO June 2002
Seitenwind
Die vorstehenden Verse wurden der Ausgabe der HafisLesebücherei „Das Nibelungenlied", übersetzt von Karl Simrock, H.Fikentscher Verlag, Leipzig, 1927, entnommen.
Originalausgabe © 2000 Buchverlag Seiten Wind, Grevenbroich Alle Rechte vorbehalten Satz und Layout: Jürgen Schmidt Umschlaggestaltung: Michaela Kura Umschlagabbildung: Wolfgang H. Stephan Illustrationen: Wolfgang H. Stephan Druck und Bindung: Steinmeier, Nördlingen Printed in Germany ISBN 3-9806290-2-3
Für Sigrid
Inhalt: EINST IN NIEVENHEIM DAS NEBELGOLD
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»Er bringet neue Mären her in dieses Land: Die kühnen Nibelungen schlug des Helden Hand, Die reichen Königssöhne Schilbung und Nibelung; Er wirkte große Wunder mit des starken Armes Schwung.« (Nibelungenlied: III. Abenteuer Vers 44 / Übersetzung Karl Simrock. 1827)
EINST IN NIEVENHEIM Heinz Küppers räumte ohne Hast an diesem verregneten Nachmittag die Scheune leer, um noch mehr Platz für die Stroh-, Heu- und Holzernte in diesem Jahr zu schaffen. Seit der Großvater bettlägerig wurde, hatte sich niemand mehr um die alten Gemäuer und Abstellräume im gesamten Hof gekümmert. Es wurde also Zeit, zu entrümpeln, auszusortieren und auch sonst mal nach dem Rechten zu sehen. Gestern hatten sie den Pflug repariert und einige andere Geräte endlich unters Schleppdach geschoben, damit sie nicht ständig im Wetter lagen. Vergammelten. 8
„Da werft ihr bares Geld weg, wenn ihr nicht richtig Ordnung haltet", hatte der Großvater in den letzten Wochen immer wieder richtig aufsässig von seiner Pritsche gerufen. Und es war erstaunlich, was da nun alles ans Tageslicht kam und sogar noch zu gebrauchen war. Eine schmiedeeiserne Torhälfte, zwei Pakete Dachziegel, gut abgetrocknetes Brennholz und ebenso gut abgelagerte Bohlen, die vor sage und schreibe sechs Jahren in Schmitz' Sägemühle zugeschnitten worden waren. Später hatte man sich mit allen möglichen Ausreden um die eigentlich geplante Reparatur des Scheunenbodens gedrückt. Unterm Dach hätte man damals schon mehr Stauraum geschaffen, nicht erst jetzt, wenn, ja wenn ... Zwischen dem Brennholz entdeckte Küppers endlich auch das schon lange vermutete Mardernest und so nebenbei einen alten Wetzstein und eine schartige, verrostete Sichel. Die Bohlen waren mächtig schwer. Er konnte sie gerade noch ohne Hilfe der Frau stapeln, um sich den Weg durch den Obst- und Gurkenkistenabfall offen zu halten. Schließlich stieß er zwischen Fassdauben, eisernen Radreifen, einer zerfallenen Egge noch auf eine halbwegs erhaltene Leiter, mit der er noch vor dem selbstbestimmten Feierabend den umbauwürdigen Dachboden der Scheune inspizieren konnte. Sehr vorsichtig kletterte er hinauf und spürte dabei etliche dreckige Spinnwebsperren, ließ sich aber nicht von seinem Vorhaben abhalten und trat gebeugt auf die Balken und
Sparren, einige der vorhandenen Bretter nutzend, um zu dem einzigen kleinen Fenster zu gelangen.
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Es ließ sich entriegeln und quietschte vor Begeisterung, nach wer weiß wieviel Jahren wieder einmal geöffnet zu werden. Die Haltestange fuhr in den krummen Splint und stellte das Fensterchen so schräg, dass ihm die Moosbrocken von der Außenseite direkt ins Gesicht rutschten. Er hatte schon einen passenden Fluch nach Bauernart zwischen den Zähnen, vergaß ihn aber sogleich, weil sich der Ausblick über die Küppers'sehen Felder und Wälder, über die sanfte Landschaft der alten Rheinschlinge mit ihren Auen und verlandeten Uferböschungen der vergangenen, kaum noch bekannten Flussführung so wohltuend auftat. Gerade zum Feierabend! Er hatte noch nie aus dieser Höhe in diese Richtung über die Äcker gesehen, weil man vom Haupthaus durch Bäume, Hauswände und den alten Schornstein der Siederei gar keine Chance hatte, dahin zu blicken. Froh war er darum, noch vor Anbruch der Dunkelheit hinaufgestiegen zu sein. Obwohl es regnete und so viele andere Arbeiten auf ihn warteten! Aus unerfindlichen Gründen konnte er sich überhaupt nicht von dem kleinen Hain auf dem flachen Hügel unmittelbar vor dem Mühlenforst trennen. Denn obwohl der große Mühlenforster Wald bereits wie eine dunkle Mauer aus dem früheren Flusstal quoll, blieb dieser anziehende Platzlicht und auf irgendeine besondere Weise vom spätnachmittäglichen Licht überstrahlt. Früher hatte er sich immer an diesem Flecken gestört, da er Umwege mit Pflug und Erntekombinierer erforderte. Aber der Großvater hatte die gesamte Familie wieder und wieder angehalten, wenn man auf das Schleifen des Hains auf dem Hügel zu sprechen kam, dem Land hier einen Ruheplatz für Neumondnächte zu gönnen. Die Geister, die Recken, die Seelen der Vergangenheit brauchten hin und wieder einen 10
unberührten Grund, einen Flecken für Tanz und Zweikampf, Turnier und Brautwerbung, hatte er eindringlich gepredigt. Wenn man sich nicht darum scherte, dann ...
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Genaueres hatte der alte Herr nie von sich gegeben, sondern nur noch bedeutungsvoll gemurmelt und die Hände gefaltet. Der Vater hatte sich immer daran gehalten. Solange er lebte. Und er nun, der Sohn Heinz Küppers, hatte bisher kaum Zeit gehabt, über eine Rodung wirklich ernsthaft nachzudenken. Jetzt, heute jedoch hatte er sich entschlossen, schon morgen den Ort näher anzuschauen. Vielleicht gab es etwas Aufregendes zu entdecken. Der Baumbestand des Hains versprach jedenfalls aus der Sicht vom Dachboden der Scheune Sperbernester und vielleicht auch eine Dachskolonie. Das war auch etwas für die Jüngsten der Familie. In der folgenden Nacht schlief Heinz Küppers durchaus unruhig, zumal er ganz gegen seine Gepflogenheit nicht mit seiner Frau über seine Beobachtung und die nahezu ungewöhnlichen Gedanken gesprochen hatte. Nachdem das Frühstück vorüber war, stülpte sich Küppers den Hut über und entschied sich, nicht den Traktor zu nehmen, sondern zu Fuß den eigenen Grund und Boden zu inspizieren. Ewig war es her, dass er das getan hatte, stellte er fest, als sich die gelben Halme am Wegrain unter seinen Stiefeln bogen und brachen. Was so nahe aussah, sich wie ein kleines Gärtchen im Schatten des Hofes in den weiten Feldern ausnahm, war, wenn es der Fuß erreichen wollte, doch sehr weit draußen. Die leichten Wellen der ehemaligen Uferböschungen des Altrheins formten ganz manierliche Steigungen, die den Fußmarsch mühselig werden ließen. Er erinnerte sich dabei genau an die Erzählungen des Lehrers Paul Krings, die den 13
Rhein immer als unruhigen Zeitgenossen seit Menschengedenken und zu allen Zeiten beschrieben hatten. Erst der Deichbau in Grind und Zons und anderswo hatte Abhilfe geschaffen. Sonst würde vielleicht heute wieder zwischen den Höfen Clarius und Knipp, auch am Arthof, Wasser stehen, die Ernte verderben, und würden Sümpfe die Wälder zwischen Broich und Benrath unpassierbar machen. An den Wegrainen stieß Küppers oft an die Feldsteine, die im Laufe von Generationen vom Acker gelesen worden waren, und nach vielen Jahren entdeckte er auch wieder die Hamstergänge und einige Karnickelbauten, die er vom Traktorsitz aus nicht so gut sehen konnte. Es war bestimmt eine halbe Stunde vergangen, bis er zum ersten Mal den Hut lüften musste und stehen blieb, um sich umzusehen. Das Wäldchen lag noch ein Stückchen Weges weit vom Acker, der mal mit Rüben, mal mit Gerste fürs jährliche Grundeinkommen der Familie sorgte, durch einen kleinen Graben getrennt. Der führte, wie Heinz erstaunt feststellte, wieder einmal nach so vielen Jahren Wasser. Nachdem er sich noch schnell umgedreht hatte, ob ihn nicht doch jemand beobachtete, nahm er einen kleinen Anlauf und sprang wie in jungen Jahren über den Graben. Wie hatten sie früher während der Schulzeit den kleinen Bach genannt? Jo... Josefs Traufe oder so ähnlich.
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Mit Bruchholz und ein paar Feldsteinen hatten sie ihn als Schulkinder wie die emsigen Biber gestaut oder Borkenschiffchen darauf segeln lassen. Voller jugendlicher Gedanken war er etwas höher auf den Hügel gestiegen und stand zwischen Unterholz und Hainbuchen und Holunder, den die ständig hungrigen Drosseln überall auszusäen beliebten. Er konnte die altgewordene Wildkirsche und den hochwüchsigen Speierling, jenen so seltenen, säuerlichen Wildapfel, als letzte der alten Bäume seiner Jugendzeit entdecken. Vom Speierling schwärmte der Großvater zuweilen sogar, weil sich ein herber Wein so vortrefflich daraus keltern ließ. Den Rest des Hains füllten Haselsträucher und die allgegenwärtigen Eschen auf. Die in goldenen Polstern des Spätsommers zusammenfallenden Gräser luden den Landwirt ein, sich niederzulassen. Er streckte bereitwillig die Beine in den leichten Tau des frühen Morgens und sah wieder wie gestern abend das seltsame Leuchten um sich. Der ferne Wald dagegen dämmerte noch in großer Dunkelheit. Er sah aus wie schwarze, tief hängende Wolken, die sich auf die Erde gelegt hatten. Bedeutungsvoll und drohend. Die Äcker - bis auf die Rübenfelder - waren abgeerntet. Es gab jetzt mehr Arbeit auf dem Hof, wo die Ställe längst keine Kühe, keine Schweine mehr beherbergten. Stroh und Heu produzierte er für den Verkauf. Heinz Küppers beglückwünschte sich in diesem Moment, eine knappe Stunde nahezu nutzlos für diesen Morgenspaziergang aufgewendet zu haben.
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Hier draußen lag wirklich ein Platz, den er erst wieder kennenzulernen begann, ein Flecken Erde aus der Kindheit und vielleicht nicht nur seiner eigenen, sondern auch der seiner Vorfahren, wenn er die Warnungen des Großvaters richtig deutete. Er löste seinen Blick von der Waldsilhouette und kontrollierte seine Stiefel, die Gras und Sand beiseite geschoben hatten. Und zwischen seinen Absätzen zeigten sich Scherben. Küppers kratzte sie zusammen und ließ den Sand aus den Händen rieseln und legte dann die Brocken aneinander, bis sie einen Teil eines Gefäßes oder Ziegels oder was auch immer ergaben. Wer weiß, wer hier vor geraumer Zeit Hasenläufe oder Gemüse geschmort oder auch Speierlingsmost mit Freunden getrunken hatte? Als er wieder von seinem Puzzle aufblickte, hatte er das untrügliche Gefühl beobachtet zu werden. Ein Rundblick in die Tiefe der Holunder- und Haselhecken gab aber nichts Besonderes her, wenn es auch für einen winzigen Augenblick da drüben blitzte. Äste knackten zwar, jedoch konnten es ja auch Rehe sein, die er aufgescheucht hatte und die sich sonst im Spätherbst und Winter bis an die Hofeinfassung wagten. Nichts wies im unberührten Gras auf Fußspuren hin. Die Tautropfen glitzerten wie ein Sternenhimmel, der auf den Waldboden gefallen war. Doch dann musste sich Küppers bücken, um unter herabhängenden Ästen durchzukriechen und dabei wie ein Indianer die geknickten Zweige und breitgetretenen Brennesselbüsche zu entdecken. Hier musste vor wenigen Minuten ein Wesen durchgegangen sein, vielleicht gebeugt 16
wie er, aber hastiger und unvorsichtiger, weil Entdeckung drohte. Die Spur, die vermeintliche, führte bis zum Graben, dem er den alten Namen Josefs Traufe gegeben hatte. Hier aber in der weitläufigen Übersicht des Ackers verlor sich die Spur. Der oder diejenigen hatten sich wahrscheinlich wieder an den anderen Rand des Hains zurückgezogen.
Heinz Küppers stiefelte grimmig zurück und schalt sich einen Narren, auf die alten Gedanken und Erinnerungen gesetzt zu haben. Übermorgen, am Sonntag, nahm er sich vor, mit der Frau Karin und den Jüngsten Franziska und Frank, einen Sonntagsspaziergang zu machen, um ihnen diesen Platz zu zeigen. Vielleicht ergab sich auch eine Gelegenheit, seinen heutigen Beobachtungen nochmals auf den Grund zu gehen. Drei zusätzliche Augenpaare sahen mehr. Die Tonscherben steckte er sich ein und fing an, sein Tagesprogramm durchzugehen. Er vergaß darüber, sich weiter mit dem Hain zu beschäftigen. Erst am Abend, als er sich neben den kränkelnden Großvater setzte, erstand wieder vor ihm diese romantische Bauminsel in der wirtschaftsorientierten Landschaft der alten Rheinschlinge. Er klopfte dem Greis auf die gefalteten Hände: „Sag mal, Pa, was ich dich schon mal fragen wollte!" Der Alte blickte ihm wach ins Gesicht: „Du, Schlawiner, was willst du mir abluchsen? Meine Taschenuhr? Oder das alte Gesangbuch mit der Widmung von Pater Ambrosius, he?" 17
„Wo denkst du hin! Mich interessiert nur das Wäldchen, das kleine Stück im letzten Rübenacker, dieses Jahr hatten wir aber dort Gerste." „Untersteh' dich, Junge, das anzurühren. Lass es ruhen. Alles andere bringt Unglück!" brummte der Großvater. Karin, die Frau hatte mitbekommen, dass sich in diesem Moment etwas Besonderes anbahnte. Sie war tagsüber mit allen Geschäften im Haus, in der Küche und mit dem oft zänkischen Großvater so eingespannt, dass ihr nie viel Zeit für nebensächliche Ereignisse blieb. Wenn ihr die Kinder noch dies und jenes abforderten, war ihre Geduld häufig auf eine harte Probe gestellt. Jetzt aber nahm sie sich doch die Zeit, sich zu den beiden Streithähnen zu setzen. „Was habt ihr denn?" sorgte sie sich. „Karin, mir ist vorgestern, nein, gestern bei der Scheunenreparatur das kleine Waldstück am Rübenacker aufgefallen, und ich habe es heute morgen bei der Feldbegehung, die schon längst fällig war, nach vielen Jahren wieder einmal selber betreten." „Und? Was Besonderes?" „Ja und nein! Ich wollte erst mal von Pa hören, was es damit auf sich hat. Er hat doch früher immer gewettert, als Vater noch lebte, wenn wir von Rodung und Arrondieren sprachen." Der Großvater hatte aufmerksam zugehört und sich kerzengerade aufgesetzt und seine knorrigen Hände weit vorgestreckt.
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„Pa, du hast immer etwas von Ruheplatz der Natur, Treffpunkt der Geister für Tanz und Schabernack gemurmelt, dass einem dabei jedes Mal himmelangst und bange wurde. Was hat es denn nun wirklich damit auf sich?" Gespannt blickten Karin und Heinz Küppers den alten Herrn an. „Ich weiß es auch nicht besser. Mein Großvater hat schon davon erzählt, als ich ganz klein war. Also im 19. Jahrhundert gab's den Hain schon. Und während des großen Deichbruchs in achtzehnhundert und wer weiß was, soll er die Zuflucht fürs Vieh und die Leute von diesem Hof gewesen sein."
„Das wäre aber doch nichts Außergewöhnliches. Ich habe da ...", und Heinz Küppers holte aus der Hosentasche die aufgelesenen Scherben, „ich habe da diese Bruchstücke aufgehoben. Das sagt doch was anderes?" Pa Küppers kratzte sich den Bart und schwieg. Dann nahm er ein trapezförmiges Stück auf und führte es an die Nase, als wäre es Harz oder Baumrinde. Er nickte mehrmals, bevor er sprach: „Na ja, man hat uns auch davon erzählt. Die Großtante etwa und auch der Pastor. Die haben immer nur von der Zukunft und Vergangenheit berichtet. Ja, ja! Also es ging das Gerede um ein Heerlager und Krieg und eine Burg oder einen befestigten Hof. Ich selber habe auch mal von der Burgerschen Nachbarschaft gehört, dass Blutrache im Spiel gewesen sei. Und dann wiederum soll sich alles während der Napoleonischen Zeit ereignet haben."
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„Mann", schüttelte Heinz den Kopf, „das ist ja ein bisschen viel auf einmal. Ich hatte nur den Eindruck, dass es dort irgendwie anders ist. Ich will nicht unbedingt sagen, dass es dort nicht mit rechten Dingen zugeht." „Du hast recht. Es ist dort hinten im Wäldchen, als ich jung war, auch nie anders zugegangen. Die Landvermesser wollten damals einen Messpunkt einrichten, einen triango, hm, einen triangolo, also einen Punkt für die Peilung, und haben den Plan nach mehrmaligen Anläufen aufgegeben, weil sie den Stein immer wieder an anderer Stelle fanden. Außerdem sollen sie dort die tollsten Winkel oder so gemessen haben."
„Ich habe nur diese Scherben gefunden und das sonderbare Licht in der Umgebung bemerkt, mehr nicht. Karin, für Sonntag habe ich mir vorgenommen, mit dir, Franziska und Frank mal dorthin zu gehen. Vielleicht fällt euch auch was auf!" Der Großvater schnalzte mit der Zunge: „Wenn ich eine große Kanne Kaffee kriege, halte ich es ohne euch bis über Mittag aus. Aber rührt dort nichts an!" Die Kinder Franziska und Frank wunderten sich, dass sie Gummistiefel anziehen sollten, obwohl es Sonntag war. Als sie ihre Eltern anschauten, stellten sie bei ihnen die gleiche Ausrüstung fest und noch zwei Taschen mit Verpflegung und einer Thermoskanne. In den Tagen Anfang September waren die morgendlichen Ausblicke übers Ackerland häufig durch dichte Nebelbänke so eingeschränkt, dass auch leidenschaftliche Wanderer häufig von allzu großen Ausflügen absahen. Nicht so die Familie Küppers, die unter den anspornenden Worten des Vaters Heinz den Hof durch den Gemüsegarten und die ehemalige Schweinekoppel verließ. Auf die verständlichen 20
Fragen der Kinder hatte er immer nur sehr bedeutungsvoll von einer Wanderung in die Geschichte gesprochen und meinte noch, dass etwas Bewegung dem Körper gut täte. Der Frau zuliebe hatte er auf den direkten, aber beschwerlichen Weg zwischen den Feldern und über die Feldsteinhäufchen und durch den Lösstaub verzichtet. Er ging auf den Traktorpfaden voran, bis sie auch auf diesem Weg an den kleinen Graben kamen. Der führte immer noch gut Wasser, und im noch dichter gewordenen Nebel bemerkten sie, dass sich Bisams in seiner Böschung eingerichtet hatten. Dieser Nebel hatte die ganze Weite inzwischen vor ihren Blicken verborgen und begann auch, in die Kleidung einzudringen. Vom Wäldchen, dem Ziel ihrer kleinen Wanderung, war nunmehr fast nichts zu entdecken außer einer gewissen Helligkeit, die es von der übrigen Umgebung abhob. Man war mit vereinten Kräften über den Bach gesprungen, während der Vater seine Jugenderlebnisse zum Besten gab. Aber er konnte nicht verhindern, dass eine greifbare Spannung aufkam. Plötzlich standen sie an der Böschung des kleinen Hains und die Sonne hatte sie erfasst wie auf einer Bühne und warf harte Schatten. „Sonderbar!" war das einzige Wort, das Karin hervorbrachte. Heinz Küppers stapfte hin und her, bis er den Platz seines vorgestrigen Aufenthalts wieder aufgefunden hatte. Er war nur am aufgewühlten Boden zu erkennen, wo er die Tonscherben aufgelesen hatte. Die Graspolster hatten sich wieder aufgerichtet. An jedem Halm hingen Dutzende Tautropfen, die in der Sonne wie Brillanten funkelten.
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Wenn man nicht genau hinsah und seiner Fantasie viel Spielraum ließ, hätte man diese Grashügel für Haarschöpfe halten können, die aus dem Boden lugten. Die Kinder schwärmten aus, während sich Karin und Heinz Küppers niederließen. Sie hatten beide niemals gemeinsam diesen eigenen Grund betreten und fanden es irgendwie amüsant, nach mehr als 17 Ehejahren zu solch ungewöhnlichen Gemeinsamkeiten zurückgefunden zu haben. Sie hörten, wie die Kinder in der Ferne alberten und etwas Besonderes unternahmen, kümmerten sich aber nicht weiter um die Vorgänge außerhalb ihres Gesichtskreises. Die Thermoskanne gab einen wohltuenden Kaffee her, den sie auch dem Großvater hinterlassen hatten. Und das frische Brot und die zwei, drei Brocken Dauerwurst erfüllten in viel höherem Maße den Zweck eines sonntäglichen Mittagessens, als das zu Hause möglich gewesen wäre. Im wärmenden Sonnenschein ebenerdig zu sitzen und das nach Hefe duftende Brot zu genießen, war ein einmaliges und sicherlich unwiederbringliches Vergnügen. Feucht und bespritzt kamen nach einer Weile die Sprösslinge, um sich ihren Teil der Wald- und Wiesenmahlzeit zu holen. Ihnen guckte wirklich der Appetit aus den Augen, und die Schlammspritzer und Wasserflecken waren ihnen offensichtlich egal. Erzählen konnten sie dann auch im Überschwang von der Wiederholung der väterlichen Jugendabenteuer, indem sie Feldsteine und dicke Äste herbeigeholt hatten, um den Bach zu stauen. Den der Vater Josefs Traufe genannt hatte. Die Bisams wären nicht einmal weggetaucht, sondern hätten weiter an Rüben geknabbert und seelenruhig ihr Hinterteil im steigenden Wasser gelassen.
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„Schaden uns die Bisams sehr?" fragte Karin. Heinz schüttelte den Kopf: „Lass sie leben! Wenn sie nicht in deinen Küchengarten kommen, stört mich das nicht. Ich weiß, wie die Hintzens, Burgers und andere reagieren, aber das ist Humbug!" Die herrliche Idylle einer Familie bei der Sonntagsvesper bot sich den alten, bislang unberührten Bäumen wie auch den viel jüngeren Hasel- und Holunderbüschen. Aber die Unruhe der Freiheit griff nun doch nach dem jungen Volk und trieb es zu weiteren Entdeckungen in den Hain. Der Vater hatte wohl nicht umsonst von alten Geheimnissen und einem merkwürdigen Lichtschein geredet. Sie würden, lachten sie beide, den Schleier des Geheimnisses, wenn es eines gäbe, schon lüften. Das war eine gute Gelegenheit für beide Eltern, ein wenig mehr als sonst über den bettlägrigen Großvater zu sprechen. Zu Hause gab es zu wenige Augenblicke, um mehr als die täglichen Notwendigkeiten abzustimmen. Seit zwei Jahren hatte der Seniorchef, wie er sich immer hatte nennen lassen, nicht mehr das Haus verlassen. Dadurch waren eine Menge kleinerer Arbeiten von den Eheleuten zusätzlich zu übernehmen. Aber das Altersheim kam nicht in Frage. Es mangelte sowohl an Geld als auch an der besonderen Kaltschnäuzigkeit, die mit einer solchen Entscheidung verbunden gewesen wäre. Ein undefinierbarer Aufschrei riss die beiden aus ihren Zukunftsgedanken und der Alltagsbewältigung. Er klang wie der Ruf einer Elster oder eines Hähers, hatte aber auch kindliche Untertöne. Die Eltern sprangen auf und gingen hastig in die Richtung, aus der sie den Laut gehört hatten. Nach etlichen Schritten durch die Holunderhecken, deren 23
Beerendolden ihnen zur Abwehr ins Gesicht fuhren, erreichten sie die kleine Lichtung um den Spei-erling, den wilden Apfel. Die Abenteurer Frank und Franziska standen dicht nebeneinander und blickten offenbar ängstlich hinüber zu einer vom Blitz gespaltenen Esche. „Was ist los? Etwa Wespen?" rief Heinz Küppers. „Da!" stammelte Frank nur und deutete auf die Esche. Dort konnte man mit gutem Willen und aufmerksamen Auges in dem bereits welken Laub der geteilten Baumkrone eine gebückte, bärtige Gestalt mit einer Lanze beobachten, aber nur, wenn es einem wie bei Kindern üblich nicht an Fantasie mangelte. „Ach, das ist eine Täuschung. Unfug. Geht mit eurer Mutter zurück, am besten gleich nach Hause. Ich schaue mir das genauer an!" flüsterte Heinz und drängte seine Jüngsten hinter sich. Wäre sein Ältester, Günther, der mit dem örtlichen Fußballverein zu einem Turnier in Rheinhessen unterwegs war, dabei gewesen, hätte er die kleine Bande und die Frau nicht so schnell abgewimmelt. Aber hier war er der einzige Mann, der sich beweisen musste und dem dennoch das Vexierbild im Baum zu schaffen machte. Es mochten noch vierzig oder fünfzig Schritte bis zu jenem eigenartigen Baum sein, weit genug und genug Zeit, um abzuwägen, was zu tun wäre, wenn ...
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Waren die Frau und die Kinder in Sicherheit? Er verharrte. Die Familie hatte seinem Gefühl nach vielleicht den Rübenpfad erreicht. Er ging jetzt also voran und erschrak wie damals, als ihn der Lehrer Krings beim Malen von Kreidezeichen auf der Schultoilette erwischte. Denn aus dem Eschenlaub sprach ihn jemand an. „Keine Täuschung, Heinrich Küppers! Ich bringe das deiner Familie schon seit geraumer Zeit bei. Ihr habt hier keine Rechte. Dein Vater hat es nie geglaubt und dafür auch gebüßt." „Wer sind Sie, der hier wildert? Das ist gegen jedes Jagdrecht und den Nießbrauch." Heinz stemmte die Fäuste in die Hüften und strengte sich an, die Gestalt besser zu identifizieren. Der Mann, der sich dort wohl im Baumwrack verbarg, trug so etwas wie eine Maske und im übrigen eine Art Lederbekleidung. Ähnlich wie ein Indianer oder Trapper. Diese Beobachtungen liefen in Windeseile ab, obwohl er sehr, sehr langsam auf den Baum zuging. Der Baumbesetzer bewegte die Lanze und streckte sie Küppers entgegen. „Keinen Schritt weiter!" grunzte das offenbar menschliche Wesen. „Du stehst schon weit im Bannkreis der Festung." „Was ist denn los? Auf meinem Grund und Boden!" „Papperlapapp! Ich wiederhole: Hier hat keiner Rechte außer den Burgundern. Ihr Franken seid überhaupt nicht willkommen."
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Heinz Küppers rührte sich trotz seines Erstaunens nicht mehr von der Stelle, wenngleich sich Widerspruch und eine Aufwallung, handgreiflich zu werden, in ihm mächtig regten. „Also, mein Lieber", sagte er dann aber abwiegelnd, „nur weil Sonntag ist, bin ich wohlgesonnen und gnädig gestimmt. Ich bin immer noch ein guter Niederrheiner und, wenn es sein muss, auch ein Nordrhein-Westfale. Aber kein Franke!" „Ach, weg mit dem neumodischen Schnickschnack. Alles vergänglich! Nur die alten Regeln zählen wie beim Schach. Ihr Franken seid nur geduldet. Und ich werde eurem König, wenn er wieder hierher kommt und Hof halten will, endgültig den Garaus machen. Das letzte Mal haben mich die Amerikaner gestört. Stell dir vor: Amerikaner! Was hatten die hier zu suchen?" Heinz überlegte immer angestrengter, was hier geschah. Hatte er sein Stichwort verpasst oder eine Regieanweisung irgendeiner Obrigkeit überhört? Er fragte deshalb: „Stopp! Welche Amerikaner und welchen König meinen Sie?" Der Kerl im Baum, bärtig und auf der einen Gesichtshälfte tatsächlich von einer Ledermaske bedeckt, kletterte aus dem Baum von einem Hochsitz. Er war aber wesentlich kleiner als Heinz, mit einem wildlederartigen Umhang, geschultertem Bogen und Pfeilen ausgerüstet, und an den Beinen trug er gewickelte, gebundene Ledergamaschen. Er stützte sich auf seine übermannsgroße Lanze.
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„Die Niederrheiner scheinen vergessliche Leute zu sein. Es ist wie früher! Wird doch das Land schon wieder von wandernden Völkern heimgesucht. Die Illyrer, die ihr Albaner oder Adlersöhne nennt, sind es. Selbst die Langobarden kehren wieder hierher zurück, weil sie den Schatz suchen." „Wie, die Langobarden? Ich verstehe nun gar nichts mehr!" stöhnte der Bauer. „Ja sogar die! Sie kommen zurück als Italiener, wie sie jetzt sagen, nennen sich aber im Geheimen Mafiosi! Mein Gott, ich, der Hagen aus Trögen im Solling, den ihr früher den Mörder aus Tronje genannt habt, muss es doch wissen. Ich habe sie doch alle gehen und kommen und wieder gehen gesehen. Denk nur an den letzten Krieg, an die Amerikaner und die Angeln, und nach dem anderen Krieg an die Franzosen, eure fränkischen Brüder! Erinnerst du dich?" „Hagen?" „Ja, Hagen von Trögen! Ich bin's! Und ich werde dem König Siegebart oder Siegfried, wie sein Deckname lautet, die Suppe versalzen. So wie es mir meine Königin Brünhilde aufgetragen hat! Endlich, endlich soll es Ruhe geben." Er stampfte mit der Lanze auf. Küppers war zwar erstaunt, wenn nicht sogar betroffen, aber doch ein wenig wacher, als es jener Hagen vielleicht erwartete. Gleich hob er den Arm und wollte auf die Uhr schauen, als der Lederstrumpf losbellte. „Du fragst dich jetzt, ob du es glauben kannst, und willst die Armbanduhr kontrollieren, das Datum, nicht wahr?" „Ja, das wollte ich."
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„Ich weiß, ich weiß. Du lebst nach dem Gregorianischen Kalender von 1582, ich für meinen Teil lebe immer noch im Julianischen, halte nix von neumodischem Krempel, wie ich schon sagte. Schau her!" Er stellte die Lanze in eine schräge Lage, die wohl nach Norden wies, und deutete mit seiner Sandale auf den Schatten im Lössboden: „Wir sind kurz über den Meridian hinweg. Ein paar Minuten über die Mittagszeit. Das reicht doch. Schau jetzt auf dein Zeiteisen." Küppers stellte fest: „Tatsächlich sechs Minuten nach zwölf!" „Übrigens", sagte Hagen von Trögen oder Tronje gleich darauf, „du stehst im Hof der Festung dieses Siegfried, und sie liegt nicht in Worms, mein armer Bauer, sondern auf deinem vermeintlichen Grund. Wie heißt denn dein Dorf, dein Ort, in dem du lebst? Na?" „Nievenheim, es gehört zu Dormagen am Rhein!" „Genau! Das Heim der Nibelungen hat er es genannt, der verdammte Franke. Sieh, dein Boden ist sein Boden. Deinem Großvater habe ich das schon einmal genau erklärt, nach dem letzten Krieg. Der hat also bisher tatsächlich geschwiegen! Alle Achtung!" „Nein, er hat uns erzählt, dass wir keinen Baum, keinen Strauch fällen dürfen, dass wir - so hat er es immer sehr geheimnisvoll erklärt - dem Land einen Ruheplatz für die Neumondnächte gönnen und den Geistern der Vergangenheit einen unberührten Grund überlassen sollten." „Geheimnisvoll! Der ist gut, der Alte. Wir sind immer da und achten unsere Rechte und Pflichten. Seit der Römerzeit, seit der Zeit der Awaren und Hunnen, seit euch Franken, der Pest, dem Dreißigjährigen Kriege ist das so und wird so bleiben. So wahr ich Hagen bin!"
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Er war währenddessen immer dichter auf Heinz Küppers zugeschritten, so dass der das blitzende Auge des Kriegers erkennen konnte. Die Ledermaske verdeckte nur das linke Auge wie eine zweite Haut. Endlich konnte Heinz seine Gedanken etwas besser ordnen und fragte durchaus aggressiv: „Was hab' ich damit zu schaffen?" „Da hört aber meine Geduld auf. Er weiß nichts. Und seine Brut heißt auch noch Franziska, Frank und Günther! Mann! Und wie hieß dein Vater, der sich mir ständig widersetzt hat? He?" „Siegfried!" „Und du nichtswürdiger Franke meinst, du hättest nichts damit zu tun? Wartet ihr nicht ständig auf einen besseren Regenten?" Der Bauer begann sich aufzuregen: „Verschwinden Sie in den Solling. Das liegt doch an der Weser, wenn ich die Lektionen meines alten Lehrers Krings nicht völlig vergessen habe. Er hat uns übrigens gelehrt, dass sich Geschichte nicht wiederholt. Also machen Sie sich, wie wir sagen, vom Acker, Schlagetot!" Der Mann der Frühgeschichte fuhr sich über die Ledermaske und lachte hässlich auf. Es klang wie ein Rülpsen. „Ich merke schon, dass dir nur mit einem Denkzettel beizukommen ist. Damit du begreifst, dass du mit beiden Beinen schon im aufsteigenden Rheinwasser stehst." Er drehte die Lanze um und stieß sie mit der metallenen Spitze in den Waldboden zwischen ihnen. Im Nu schoss aus dem Sand eine kleine Fontäne, die die Lichtung unter Wasser setzte, bald auch das Moos tränkte, und in wenigen Augenblicken stand Heinz Küppers schon im Morast. „Lassen Sie den Quatsch!" schimpfte er. „Die Kinder haben vorhin ein kleines Wehr aus Steinen in den Graben gepackt. Ich lass das wieder beseitigen." 30
„Also Schluss, Küppers! Die letzten Worte für heute. Ich werde dem ganzen Theater um Siegfried ein Ende machen. So oder so! Hier in Nievenheim vermutet er mich nicht. Ich erwarte ihn aber! Sag deinem Großvater, dass ich ihm seine Bewegungsfreiheit wiedergebe, wenn er sein Versprechen endlich einlöst und mir hilft. Der Tag des Attila ist der 5. Oktober. Also in drei Tagen!"
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Wie auf der Bühne, natürlich auf einer sehr provinziellen, unterstrich ein Blitz mit einem gleichzeitigen, höllischen Krachen diesen Befehl und schlug in eine weitere Esche ein. Jener Hagen vom Solling, aus Trögen oder Tronje oder so war verschwunden. Heinz konnte nicht sagen wohin, weil er nicht nur durch den Donner bis ins Mark erschrocken, sondern auch geblendet war. Die weißen Lichtflecken wichen überhaupt nicht aus seinem Gesichtskreis. Er entschloss sich, das Fleckchen Erde mit dieser mysteriösen Erleuchtung sofort zu verlassen. Der Graben war wirklich zum Überlaufen gefüllt. In benachbarte Furchen suppte das Wasser bereits, während er mit der nötigen Eile seinem Hof zustrebte. Dort hatte die Frau den Traktor gestartet und wollte gerade auf den Rübenackerweg tuckern. „Sag mal, wo bleibst du denn?" rief sie ihrem Mann durch den Diesellärm zu. Er machte eine äußerst ungehaltene, wegwerfende Bewegung: „Du hast doch nicht etwa Kognak in den Kaffee getan? Ich habe sonst nämlich keine Erklärung dafür, was ich da erlebt habe. Mit Pa muss ich unbedingt etwas klären. Da ist was nicht geheuer!" „Ich wollte dir doch zu Hilfe kommen. Wir fahren nochmals hin. Mit dem Trecker können wir bestimmt die Böschung rauffahren und uns schnell zurückziehen, falls es brenzlig wird." Heinz ließ sich in wenigen Minuten über die üblichen Landwirtschaftswege kutschieren, und von der dem Wald zugewandten Seite fuhren sie in den Hain hinein. Sie orientierten sich an dem überragenden Speierling, blieben aber an alten Baumresten und großen Haufen gebrochenen Unterholzes stecken. Zur eigenen Sicherheit nahm sich Heinz das Radmutterkreuz und das Montageeisen mit und ließ seine Frau auf dem Fahrzeug. Sie stellte sich auf den Sattel des Schleppers, um ihm nachzuschauen. Heinz brauchte gar nicht lange, bis er die geborstenen Eschen erreichte. Und im beginnenden Regen stieß er auch gleich auf seine eigenen Stiefelabdrücke in tiefen Schlammpfützen. Aber an der Stelle der in die Erde getriebenen Lanze erhob sich nur eine hohe Königskerze. Dennoch wies der Waldboden, auf dem sich 33
der geheimnisvolle Hagen vom Solling, von Tronje, bewegt hatte, Schleifspuren und leichte Eindrücke auf. Küppers fand auch anschließend das Ruheplätzchen, wo er und Karin die Brotzeit und die zugehörigen Utensilien zurückgelassen hatten. Die restliche Wurst fehlte aber! Das Brot war angebissen. Ameisen schleppten einige Krümel in die verwunschenen Gänge ihrer Burg, wahrscheinlich bis zur Königin. Königin? Da waren doch noch ein paar Fetzen von der alten Geschichte des Streits zwischen den Königinnen Brunhilde und Kriemhild, so oder so, aus der Schulzeit hängen geblieben. Oder aus dem Fernsehen? Worms und Xanten und der Königspalast von Etzel oder Attila in Passau? O ja! „Mein Gott", stöhnte Heinz an diesem Sonntag, „was für eine Geschichte. Aber das ist doch graue, grausame Vergangenheit!" Er hieb an der Stelle, wo er tags zuvor oder vorgestern die Scherben herausgetreten hatte, das Montageeisen in die Erde. Und zu seiner großen Überraschung entstanden kleine Risse, dann größere und schließlich Spalten, in die man mit einigermaßen Mut auch die Hände hätte stecken können. Aber sein Mut reichte nun doch nicht so weit, zu prüfen, ob dort Gemäuer, Helm und Schild oder Gräber verborgen und eventuell auszugraben waren. Er nahm sich vor, den Großvater auszuhorchen, um an die vielleicht einfache, überraschende Erklärung zu gelangen. Während die Eheleute Küppers über die feuchten Äcker zurückfuhren, berichtete Heinz schnörkellos, wenn das unter diesen Umständen überhaupt möglich war, von allen Beobachtungen. Seine Meinung aber, bis auf den Hinweis auf den Großvater, der nun mal ohne Zweifel Dietrich hieß und den Zusammenhang zwischen Franken, Goten, Burgundern und Hunnen geradezu aufdrängte, diese Meinung hielt er weitgehend zurück. Welche Rolle spielte damals ein Dietrich von Bern? Keine Ahnung!
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Das gemeinsame Abendbrot gab ihm Gelegenheit, dem Mystischen näher zu kommen. Denn sie hatten wegen des ausgefallenen Mittagessens den alten Herrn im Rollstuhl mit an den Tisch geholt. Auch die Kinder nörgelten immer wieder, endlich etwas Genaueres über das vermeintlich verpasste Abenteuer zu erfahren. Franziska drängte ständig: „Was hast du mit dem Fallensteller gemacht?" „Wartet ab!" brummte Heinz, dem noch immer nicht die Drohung der Erscheinung aus dem Kopf gehen wollte. Als man schließlich nach Schinkenbrot und Camembert und dem letzten Rettich für die Kinder das Malzbier und für die Erwachsenen zwei Flaschen Alt geöffnet hatte - weil man während des Essens gern trocken blieb, um den Magen nicht unnötig zu füllen - löste sich Heinzens Zunge. „Sag mal, mein Lieber", begann er einschmeichelnd, „wie war das nach dem Krieg mit den Amerikanern? Was habt ihr mit denen zu tun gehabt?" „Warum willst du denn das wissen? Das weiß ich doch heute nicht mehr! Hast du da drüben Waffen gefunden? Wieso?" Heinz guckte jetzt nur auf seine Hände. „Ich hatte heute eine Unterhaltung mit, äh, also mit Hagen von Trögen oder so ähnlich aus dem Solling, weißt du, einem Goten oder Burgunder, wie er sagt." Sofort herrschte Stille, bis der Junior Frank vorsichtig fragte, weil er die Spannung nicht mehr aushallen konnte: „War das der mit der Lanze im Baum?" „Ja!" lautete der kurze Ausruf.
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„Und er hat gesagt, dass er dich kennt, Pa. Und mehr noch! Dass du schon wüßtest, was du zu tun hast. Dass er dir deine Beine wieder zum Laufen bringt, wie auch immer, wenn du dein Versprechen erfüllst. Was hat das zu bedeuten? Ich steige da nicht durch." Der Großvater setzte das schlanke Altglas ab und räkelte sich in seinem Rollstuhl, ehe er den Mund aufmachte. Heinz hatte aber vor Ungeduld schon wieder das Wort an sich gerissen: „Er hat auch gesagt, dass wir nur auf geborgtem Grund leben. So ungefähr hat sich dieser Hagen ausgedrückt." Pa maulte trotzig: „Ich habe euch doch immer gewarnt, den Hain anzurühren. Den hättet ihr in Ruhe lassen sollen. Der Bestimmung der Geschichte habt auch ihr nichts entgegenzustellen." „Na hör mal", schaltete sich Karin ein, „wir sind doch eine Familie. Wir haben alle ein Recht, die Probleme kennenzulernen und eventuell auch gemeinsam zu bewältigen. Du mit deinen 84 kannst endlich darüber sprechen." Den Kindern konnte man die Neugier und die unbestimmte Furcht im Gesicht ablesen. Und ihr Vater war nicht weniger gespannt, wie es weitergehen sollte, wenn sich der Alte immer noch sperrte. Heinz setzte deshalb nochmals an: „Richtig! Es muss was geschehen, wenn da was Wahres dran ist. Dann gehe ich aufs Katasteramt und lass das genau prüfen." „Ach nein, Junge! So ist das nicht zu verstehen. Das sind viel ältere, versprochene und beschworene Rechte. Die stehen nicht einmal im Kirchenbuch. Wir sind fränkische Siedler seit alters her. Da galten und gelten immer noch das versprochene Wort und der Handschlag!"
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Karin sah ihrem Mann offen ins Gesicht: „Jetzt wird es auch mir ungemütlich. Ist da ein begründeter Verdacht? Ist es Zufall, dass die Kinder Günther, Frank und Franziska heißen, und die Namen Siegfried und Dietrich in der Familie vorkommen? Haben wir irgend etwas mit den Nibelungen zu tun? Eigentlich ist das doch abwegig. Ein verdammtes Hirngespinst!" Heinz und Dietrich Küppers sahen sich an. Dann hielt es der Alte offensichtlich nicht mehr aus: „Ja, es stimmt. Wir leben auf geborgtem Grund. Er ist ein Lehen unseres ersten Königs auf dieser Seite des Rheins." „Pa, etwas war aber noch! Er hat mich aufmerksam gemacht, dass in drei Tagen Attilas Tag ist. Der 5. Oktober!" „Nein", fiel ihm Karin sofort ins Wort, „wir schreiben heute erst den 19. September. Du musst dich verhört haben, Heinz." Küppers stutzte: „Du hältst meine Begegnung also doch für real? Ich habe das bestimmt so verstanden. Er lebt übrigens nach dem julianischen Kalender. Dietrich hat er also zu Mittwoch aufgefordert, sein Versprechen einzulösen. Ich möchte jetzt wissen, was das bedeutet. Jetzt!" Der alte Herr hatte die Hände vors Gesicht gelegt, nicht einen Schluck mehr vom Bier getrunken und die Brille in den Schoß gepackt. Dann sagte er leise: „Wenn ihr so gut wäret und morgen den Dachboden in der alten Scheune mit den vor Jahren geschnittenen Bohlen reparieren könntet? Vielleicht hilft dir Günther, wenn er morgen aus der Schule kommt. Er wird doch heute abend wiederkommen? Ich werde dann am Dienstag die Lage prüfen und alles erklären." Er ließ sich in sein Zimmer schieben und versorgen, ohne dass noch ein Wort gesprochen wurde. Gegen 20.30 Uhr kam der Clubbus und brachte den Ältesten von seinem Fußballturnier in Rheinhessen zurück. Und als er voller Begeisterung mit den Erlebnissen der letzten beiden sportlichen Tage die gedrückte Stimmung verjagte, schien alles wieder ins Lot zu kommen. 37
„Wir haben den Zweiten im Turnier gemacht. Im Endspiel haben wir leider 1:2 gegen die Wormser verloren", sagte Günther, ohne auch nur das Geringste zu ahnen. Aber die hellhörigen Eltern traf das Wort Worms wie ein Hieb mit dem Schwert.
Montagmorgen bereitete Heinz nicht wie geplant die Rübenfahrzeuge für die Ernte vor, sondern hängte die Hebegabel an den Ackerschlepper und legte sich Brett für Brett auf die Bodenbalken der alten Scheune. Mit dem schweren Hammer und dem Beil richtete er Fach für Fach des aufgeräumten Dachbodens wieder her, so dass er schon am Nachmittag scherzhaft mit seiner neugierigen Frau von der neuen Etage in der alten Frankenstallung über Hafer fressende Pferde der Kavallerie des sagenumwobenen Königs flachsen konnte. Ihm war die Arbeit dabei so leicht von der Hand gegangen, dass er gar nicht merkte, wie sich in seinen Erinnerungen die Mär von Siegfried und dem Drachen, von Siegfrieds Mummenschanz mit der Tarnkappe und seiner Verführung durch Brunhilde und die Festtafel König Günthers, des Freundes Siegfrieds, aus vielen Mosaiksteinen so mir nichts, dir nichts zusammensetzte. Dass die Schwester jenes Günther, die schöne Kriemhild, dann Siegfrieds Frau wurde, und wie sich alles zu einem schlimmen Ende hin bewegte, fiel Heinz Küppers auch noch beim Nageln ein. Der schreckliche Untergang der Burgunder war vor ihm aus irgendeinem Gemälde oder Buch oder auch aus einem Hollywoodfilm sehr lebhaft aufgetaucht, obgleich sich die Bohlen auf dem Dachboden so harmlos, so unproblematisch zusammenfügten. Es war richtig unterhaltsam, in diesem alten Gemäuer dem fast vergessenen Sagenschatz nachzueilen. 38
Sohn Günther half ihm tatsächlich nach der Schule, die Leiter auf den neuen Heuboden mit einem festen Handlauf einzurichten und auch den Stallboden noch blitzsauber zu kehren. Und als sie auf dem fischgrätartigen Ziegelpflaster beisammen standen, bat sich Günther als Lohn eine zünftige Scheunenparty für seine Kameraden und Freundinnen aus dem Club aus. „Vielleicht am Wochenende? Papa, ja?" Heinz nickte mehr als nachdenklich und fragte überflüssigerweise auch: „Wen wirst du einladen?" „Och, die kennst du doch alle. Arno, Yildiz, Herbert, Dirk, Achim und Mario!" Die Namen sagten dem Vater aber nichts. „Und die Mädchen?" „Aber Papa! Du weißt doch von Merows kommt die Hilde, und die Bruni aus Delrath, Achims Schwester. Ja und noch einige mehr. Wer halt Lust hat!" Gedankenschwer nickte Heinz: „Macht ruhig! Wenn du was brauchst, frag die Mama." Und zu sich selber raunte er, als wäre er schon untergegangen: „Das, mein Alter, hättest du nicht gedacht: Geschichte wiederholt sich doch. Hilde Merow und Bruni Burger!" Er beschloss wegen dieser bestürzend aufdringlichen Gedanken heute doch keinen Kaffee zu trinken, sondern den alten Lanz herauszuholen, aus den ehemaligen Schweineställen, ihn abzuspritzen und mit Putzwolle und Leinöl abzureiben, bis seine alte grüne Farbe von neuem glänzte. Mit dem roten, jüngeren Ackerschlepper schob er den Methusalem, an den noch das verrostete Mähbalkengeschirr montiert war, auf das Backsteinpflaster in der Scheune. Wenn schon verwunschen, dann sollten auch die eigenen, mit sentimentalen Erinnerungen 39
beladenen Objekte einen Ehrenplatz erhalten!
Sehr einsilbig verlief das übliche, gemeinsame Abendbrot. Auch der wieder anwesende Großvater schwieg dauerhaft. Karin hatte nicht einmal das Radio abgestellt. Erst als sich die Jüngeren zurückzogen, erlaubte sich Karin eine Spitze. „So bringt ihr das Problem nicht aus der Welt. Lasst uns darüber ausführlich reden. Wir sind doch nicht der Spielball irgend eines irrsinnigen Fantasten." Günther, der bisher überhaupt nichts von den Ereignissen der letzten Tage erfahren hatte, riss die Augen weit auf: „Was ist denn hier los? Ich dachte, mein Elternhaus ist wenigstens in Ordnung. Ich glaub' es nicht!" „Du weißt doch gar nicht, worum es geht." „Na, ihr wollt euch doch trennen. Die miese Stimmung sagt doch alles." „Quatsch! Wir haben Ärger mit der - Mensch Dietrich - wie sagen wir's ihm denn! Ärger mit den Folgen der Völkerwanderung!" „Wie bitte? Wollt ihr Kosovaren, Tamilen oder Russland-Deutsche aufnehmen?" „Da sagst du was!" staunte Heinz. „So oder ähnlich hat es dieser Hagen von Tronje, der Waldschrat, auch ausgedrückt." Großvater Dietrich Küppers rollte sich in seinem Rollstuhl ans Küchenfenster und zog damit alle Aufmerksamkeit auf sich.
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„Also gut! Ich werde morgen mit deiner Hilfe, Heinz, aus dem Dachfenster der Scheune prüfen, wie es da drüben heutzutage aussieht. Ich habe ja seit Jahren kein Auge mehr darauf geworfen. Wir finden schon eine Lösung." Günther schlüpfte wenig später in die Bude seiner jüngeren Geschwister und war völlig überrascht, was ihm die beiden erzählten. Es war nicht zu überhören, dass die Eltern, den Großvater eingeschlossen, eine leichte Alkoholvergiftung hatten oder in die Klauen einer neuen Sekte gefallen waren. Aber eine probate Lösung hatten auch die drei jungen Küppers nicht parat.
Die Kaffeekanne war besonders voll geraten, als das morgendliche Frühstück der Eltern nach der Abfahrt der Kinder in die Schule angesagt war. Der Großvater erschien richtig aufgeräumt. Er strahlte heute die Ruhe des Alters aus und schien Brille und Augen bevorzugt poliert zu haben. „Erst einmal zwei Pötte mit Milch und Zucker! Und dann helft ihr mir auf den Scheunenboden. Alles weitere werden wir sehen!" Dass es an diesem Morgen wieder nichts mit dem Erntebeginn werden würde, war Heinz Küppers sicher. Er hatte ja Gott sei Dank noch Zeit bis zum kommenden Montag, dem ersten Anlieferungstermin für die Rüben. Eine Palette in die Hebegabel der Allzweckmaschine gesteckt würde die Förderung des Rollstuhls auf die Tenne schon ermöglichen, malte er sich aus. Behende, ja nahezu jugendlich rollte sich ein paar Minuten später der alte Herr ans Dachfenster in der Scheune. Die über die Knie gelegte Wolldecke rutschte weg, als sich der Mann mit den Händen aufstützend aus dem Rollstuhl drückte.
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Es ging, jawohl! Er hielt sich zwar krampfhaft am verzinkten Rahmen fest, konnte aber stehend aus dem Dachfenster den Kopf stecken und diesen sonderbaren Ausblick, den sein Enkelsohn vor Tagen wieder entdeckt hatte, genießen. Seine alten Augen, weitsichtig und vielleicht sogar mit ein paar Tränen gefüllt, sahen über die Felder und Wälder, über die sanfte Landschaft der trockenen Rheinschlinge mit ihren Auen und Uferböschungen der vergangenen, kaum noch erkennbaren Führung des Flusses. Er ließ seine Gedanken für einige Momente auf den Mühlenforster Wald sinken, weil der wie eine dunkle Mauer aus dem früheren Flussbett aufquoll. Dann aber starrte er grimmig auf den davor liegenden Hain mit dem flachen Hügel. Bewegungslos stand er so viele Minuten. „Also gut! Wenn es sein muss!" Dietrich Küppers drehte sich um und blieb sonderbarerweise stehen. Er sank nicht, wie die heimlichen Beobachter an der Bodenkante, auf der Leiter hockend, erwartet hatten, in den Rollstuhl. Er trippelte eher über die Tenne auf die neue Leitertreppe zu und stieg sie vorsichtig hinab. Die übrige Familie, der Enkelsohn und dessen Frau, hatten sich schnell hinter dem breiten Rücken des Lanz-Traktors verborgen. „Heinz!" rief der Alte über den Hof, weil er den Bauern nicht sah. „Heinrich!" „Heinz! Hilf mir den Lanz starten!" „Hier sind wir ja", riefen sie und steckten ihre Köpfe über das grüne Ungetüm. „Erzähle uns doch erst einmal, was du willst." „Ich muss mit dem verzauberten Drachen, dem Lanz", sagte er allen Ernstes, „in den Hain und sehen, ob die Drachensaat aufgegangen ist. Ich habe schon einen guten Eindruck gehabt, als ich von dort oben aus dem Fenster geblickt habe." „Pa", schüttelte Karin ihren Lockenkopf, „was soll denn das nun? Ich dachte, du hättest endlich eine plausible Erklärung für uns." 42
„Aber nun sieh doch, wie plausibel alles ist!" Er deutete auf seine Beine. „Als ich das letzte Mal auf jenen Hagen getroffen bin, hat er mir meine Bewegungsfreiheit genommen, weil ich mich ihm nicht unterworfen habe. Jetzt habe ich mich aufgerafft. Komm, lass ihn an!" Heinz setzte den Filzhut ab: „Gestern habe ich das Gerät zwar aus Sentimentalität hierher geschoben und wollte noch den alten Pflug und die hölzerne Egge aufbahren, aber Leben kriegt man da nicht mehr rein." Der Alte hob drohend den rechten Zeigefinger: „Wozu habe ich dich in Münster und Bochum alles lernen lassen!" „Ich", maulte Heinz Küppers, „ich wollte viel lieber nach Weihenstephan. Das weißt du!" Aber er prüfte inzwischen schon den Dieseltank und schleppte aus der Werkstatt im Schweinestall eine Batterie herbei und die Starterkabel. Auf den Sitz legte er zwei Kartoffeljutesäcke und bugsierte gemeinsam mit der Frau die Maschine auf den Hof. Unter freien Himmel! Nach mehrmaligem Fummeln und Ankurbeln gelang es ihm, den Motor tatsächlich anzuwerfen und das alte Fahrzeug auf seinen schartigen, grauen Reifen im Hof hin und her zu bewegen. „So! Jetzt überlass den mir. Ich regele sowieso alles. Braucht euch keine Sorgen zu machen."
Großvater Dietrich Küppers hangelte sich noch ein wenig mühevoll auf den Schemel, bevor ihm aber die anderen unter die Arme gegriffen hatten.
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Heinz packte statt dessen in die Schaltung: „Was hast du da draußen vor? Wir fahren dich hin." „Ich muss das allein bewältigen. Du hast es doch selbst gehört. Als das mit den Amerikanern nach dem letzten Krieg passierte, als die die Waldungen nach verborgenen Heckenschützen, Bunkern und Artilleriestellungen durchkämmten, haben die Frankenritter Siegfrieds Palas im Hain vor allen fremden Söldnern und Legionären beschützt. Sie sind unvergänglich, mein Lieber, ob du's nun glaubst oder nicht. Und viele Kreaturen sind ihnen Untertan und treu. Die Kreuzottern haben beispielsweise die Amerikaner angegriffen. Die Eidechsen haben die schlafenden Drachen in Erft und Urft zu Hilfe gerufen, als die Landvermesser da herumwerkelten. Du erinnerst dich, was ich dir davon erzählt habe! Die Bisams haben die unterirdischen Gewölbe beschützt und sie nur aufgerissen, wenn es zu bunt wurde. Es sind ja dann auch etliche Schatzsucher eingebrochen und umgekommen. Und jetzt bin ich eben dran." „Aber was um Gottes willen hast du, haben wir überhaupt damit zu schaffen?" Der Großvater stemmte entrüstet die Fäuste in die Hüften: „Die Küppers sind und waren, wie der Name besagt, die Küfer und Mundschenke bei Hof. Was meinst du, weshalb der Speierlingsbaum dort steht? Und die alte Siederei hier? Wir haben seit Urzeiten den Most gekeltert und einen Apfelgeist ausgeschenkt, wenn die großen Feste stattfanden. Auch wir sind treu!" Dietrich legte die Hand auf Heinrichs Arm, der immer noch den Schaltknauf zurückhielt: „Mein eigener Sohn, dein Vater Siegfried, hat das alles auch nicht geglaubt. Ich kann dich verstehen. Aber auch unsere Feinde sind unsterblich, eben dieser Hagen von Tronje, der verdammte Gote, der mit den Burgundern paktierte und unseren König, in welcher Gestalt er auch immer wiederkehrt, bekämpfen will. Ich fahre jetzt da raus. Wir brauchen doch endlich einen unversehrten, integeren und erhabenen Herrscher!" 44
Er zuckelte aus dem Hof und nahm die altbekannten Wege durch die Korn- und Rübenäcker. Heinz und Karin Küppers waren einigermaßen aufgebracht und liefen aus dem Hoftor und verfolgten argwöhnisch das grüne Gefährt mit dem Alten, das - je weiter es fuhr - immer mehr wie ein kleiner Drachen aussah. Nach ein paar Minuten verschmolz es mit dem Wald und dem Hain im Gegenlicht.
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Karin fand als erste wieder Worte: „Es ist doch wohl kein Zufall. Ihr Küppers seid schon sonderbar. Dein Vater ist damals mit dem Trecker umgekommen, nicht wahr?" Sie deutete in die Ferne. „Ja, ich weiß. Das Ding ist in den Graben gestürzt und hat meinen Vater unter sich begraben. In den Graben, den die Leute dann auch Siegfrieds anstatt Josefs Traufe genannt haben. Man hat nie ganz klären können, wie das passiert ist." Sie wagten nicht, den neuen, bulligen Harvester herauszuholen und hinterher zu fahren. Ein Mann mit 84 Jahren musste doch wissen, was er sich zutrauen durfte, selbst wenn er die gesamte Weltgeschichte durcheinander brachte oder sich mit den Recken aus dem Nibelungenreich oder den Trollen, den Drachen oder den Schatzhütern anlegte. Heinz und Karin hätten nicht sagen können, wie lange sie in der Toreinfahrt des Küppershofes standen und ihren Gedanken nachgingen, so wie sie sich ihnen gerade aufdrängten. Gedanken, die sie jagten, verfolgten, die aufflogen und wie ein lästiger Mückenschwarm zurückkehrten! Sie hatten in ihren sorgenvollen, aber auch irgendwie verträumten Spinnereien schließlich verpasst, wie sich der Großvater wieder aus dem Schatten des Mühlenforster Waldes und des Hains löste und auf den Hof zusteuerte. Plötzlich tauchte der alte Herr, hoch aufgerichtet und mit offenem Hemd auf dem grünen Trecker sitzend, vor ihnen auf und fuhr in den Hof bis in die alte Scheune. Er stieg ohne Mühe vom Fahrschemel und nahm vom Mähbalken einen der Kartoffeljutesäcke. „Es ist heute wirklich der Tag Attilas, der 5. Oktober nach julianischem Brauch und julianischer Zeit. Die Drachensaat, die ich einst mit diesem alten Faktotum, meinem Lanz, eingebracht habe, ist aufgegangen. Das kann ich euch sagen!" „Ja?" hakte Heinz spöttisch ein.
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Der offensichtlich verjüngte Großvater lächelte mitleidig: „Ich weiß, dass ihr mir im Grunde immer noch nicht glaubt. Damals habe ich die Saat in Eile untergepflügt, und heute wächst dort allenthalben Rittersporn und bewacht Palas, Brunnen und Gewölbe. Habt ihr das nicht bemerkt? Denk an die Spalten, die sich dir auf getan haben!" „Wir waren vielleicht zu sehr abgelenkt von dieser Kreatur, einem Zerrbild unserer Fantasie, Hagen Dingsbums. Und Siegfried von Xanten, Pa! Xanten, nicht unser Hain!" Und Karin ächzte: „Ist es jetzt wenigstens vorbei?" Dietrich Küppers lehnte sich an den rappelnden Traktor: „Hört mal, die sind und bleiben unsterblich, besonders dann, wenn man auf dem Boden der Nibelungensiedlung haust. Nicht in Xanten, sondern in Nievenheim! Und übrigens: Ich habe noch mehr Beweise." Er klopfte auf den Jutesack, öffnete ihn und hob ihn an den Zipfeln hoch, um ihn auszuschütten. Auf den gestern gereinigten, fischgrätartigen Ziegelboden. Und da lag nun ein verschlungenes Bündel von Pflanzen und sah aus wie ein Gewebe aus Blättern und Blüten. „Was soll das für ein Beweis sein? Etwa Rittersporn?" Dietrich kniff die Augen zusammen und spitzte die Lippen: „Du hättest am liebsten diesem Gauner Hagen mehr vertraut als mir, deinem Großvater. Das ist es, was er unbedingt von mir haben wollte, damit er sich unerkannt dem neuen König Siegfried nähern kann. Ich werde es ihm aber nicht geben. Es ist die Tarnkappe, das geflochtene Kleid aus Nachtschatten, Augentrost und Erdrauch. Sie hat noch immer ihre wunderbare Kraft. Ich werde's euch beweisen." Er hob ohne Zögern das Bündel wilder, giftiger Kräuter an und breitete es aus, so dass es wie ein Hemd aussah. Und als er es auch noch weiter auseinander legte, konnten die beiden Erstaunten ein engmaschiges Gewebe erkennen. Schneller als sie jedoch reagieren konnten, warf sich der Großvater die sogenannte Tarnkappe über 48
und entzog sich dadurch einfach weiteren Fragen. Wahrscheinlich lag jetzt über dem kleinen Hain im letzten Rübenacker wieder dieser seltsame Lichtschein. Auf jeden Fall glaubten die Küppers, von weit her Waffenlärm wie von Schildern und Schwertern zu vernehmen. Aber was hört man nicht alles, wenn man zutiefst erschrocken ist. Obwohl wenig später der Rollstuhl aus dem Dachgeschoss der Scheune herunterstürzte und auf dem Ziegelpflaster aufschlug, obwohl der alte Lanz-Traktor plötzlich zu zittern aufhörte, obwohl im Haus Türen und Fenster klapperten, erfuhren Heinz und Karin nichts mehr. Überhaupt nichts mehr. Niemand hatte eine triftige Erklärung oder gab Warnungen. Ob Hagen von Tronje oder Trögen am Solling nun noch weiter auf Rache sann, was es mit dem Schatz der Nibelungen auf sich hatte, wo sich denn in der Erft und der Urft die besagten Drachen verborgen hielten, wann der neue Regent kommen sollte und, und, und ... Der Großvater war, wie es schien, mit der Sage eins geworden und hatte dadurch auch die genaue Lage des Palas, des Gewölbes und des Brunnens mitgenommen. Wahrscheinlich lief er jetzt unter der Tarnkappe in Nievenheim und seiner Gemarkung herum und sah nach dem Rechten, damit die Unsterblichen in Ruhe die Neumondnächte genießen und die Recken und Geister der Vergangenheit ihren unberührten Grund trotz aller Straßenbauvorhaben und Auskiesungsanträge behalten und bewahren konnten. Für Tanz und Zweikampf, Turniere und Brautwerbung!
Nicht wahr, Günther und Bruni? 49
»Eh' der reiche König wieder war gekommen, Derweil hatte Hagen den ganzen Schatz genommen. Er ließ ihn bei dem Loche versenken in den Rhein. Er wähnt, er sollt' ihn nutzen; das aber konnte nicht sein.« (Nibelungenlied: XIX. Abenteuer Vers 40 / Übersetzung Karl Simrock, 1827)
DAS NEBELGOLD Günther Küppers, der älteste Spross der Familie Küppers, fuhr seinem Vater Heinz über den Mund, als der seinen Sohn nochmals um den Verbleib auf dem elterlichen Hof im Dorf bat. „Lass mich damit zufrieden! Ich habe mich, wie du weißt, schon längst entschieden. Ich werde Geschichte studieren und mein Geld selber verdienen, weil ihr mir bestimmt nichts gebt, wenn ich mich verweigere!" 51
„Wir wollen doch nur dein Bestes! Die Landwirtschaft, wenn man sie modern betreibt, ernährt uns alle. Und willst du nicht auch mal heiraten? Mit Geschichte zwischen den Zähnen verhungert man!" Günther stand von der Küchenbank auf und trat ans Fenster. Er liebte diesen Blick durchaus, von klein auf, über die Weite der elterlichen Felder. Rüben, Mais. Aber der Großvater, der so eigentümlich und unerklärlich den Hof verlassen hatte, redete immer von einer besonderen Sendung der Küppers'schen Jugend. „Weißt du, Papa, du bist doch noch in den besten Jahren. Du schaffst jede Arbeit selber. Solange ich zur Schule gegangen bin, bis zum Abi, hast du auch alles organisiert. Und wenn du älter wirst, dann hast du noch Frank!" „Aber Günther", versuchte Mutter Karin, den Dampf aus der Diskussion zu nehmen, „wir wollen dir nicht den Weg verbauen. Aber sich mit dem Geschichtsstudium von vornherein auf brotlose Kunst einzulassen, erscheint mir nicht sinnvoll." Heinz drehte sich ebenfalls zum Fenster: „Frank und Franziska sind Gott sei Dank nicht da. Ich wollte dir schon seit langem sagen, dass deiner Mutter und mir die geschichtstriefende, eigene Vergangenheit der Familie bis zum Hals steht. Wir wollten das endlich ablegen. Vergessen. Aus und Schluss!" Günther verschränkte die Arme als deutliches Zeichen, sich allen wie auch immer gearteten Argumenten der Eltern zu verschließen: „Bevor wir alles ad acta legen, solltet ihr mir noch mal die Sache mit meinem Großvater erklären." „Also um deinen Großvater handelt es sich nicht, sondern um meinen", meckerte Heinz. „Ihr habt mir beiläufig erzählt, dass er den Hof verlassen hat, und habt sogar einen Brief vorgelegt, der der Behörde genügt hat. Er wollte immer nach Niedersachsen oder so. Ich weiß, nach Einbeck oder Uslar wegen eines Handels mit einem Herrn von Troegen. Habt ihr so nicht berichtet? Ist er dort je angekommen, gemeldet, 52
im Landratsamt, in der Bürgermeisterei?" Heinz wurde augenblicklich nervös und kniff die Lippen zusammen. „Oder ist etwa was anderes passiert? Er war von einem auf den anderen Tag verschwunden. Weg. Plötzlich konnte er gehen, ohne Rollstuhl. Da stimmt doch irgendwas nicht!" Blass setzte sich nun auch Karin Küppers an den Küchentisch. Sie hatte immer gehofft, dass es nie wieder nach den schier endlosen Laufereien und Befragungen wegen Dietrich Küppers' Verschwinden in der Familie noch einmal zu inquisitorischen Fragen kommen würde. Pa hatte auch sie den Alten liebevoll genannt. „Heinz", flehte sie, „erklär' es ihm genau." Und obwohl er mit Enttäuschung und Wut zu kämpfen hatte, nahm sich Heinz vor, eine einigermaßen plausible Aussage zu machen, die sich weitgehend mit den Kenntnissen Günthers decken sollte. Es gab ja zu viele Facetten des Vorgangs um die Entdeckung der Siegfried-Festung, der Burganlagen und der gesamten Verstrickung der Küppers'schen Familie in diese mythische Geschichte. „Wir Küppers sind nun mal, wie es dir mein Großvater auch erklären würde, wenn er jetzt vorbeikäme, ein Teil des fränkischen Erbes, als Nachfahren der Mundschenken König Siegfrieds. Der Name Küppers leitet sich eben vom Wort Küfer ab, was dir ja schon selber eine gute Erklärung gibt." „Und was hatte Großvater damit zu tun?" „Der hat uns bis zum Letzten, bis zur Selbstaufgabe beschützt vor dem ... also Günther, glaub' uns einfach. Es ist nichts Unrechtes geschehen." Günther stützte sich auf den Tisch: „Und jetzt jagt er wohl den Nibelungen und Hunnen hinterher? Dass ich nicht lache!" 53
Karin gestand: „Junge, du hast in gewisser Weise recht." Auch Heinz Küppers nickte. Und nun setzte sich Günther ebenfalls auf die Bank. Erschrocken. Eine Weile verfolgte er mit dem rechten Zeigefinger die Falten in der Tischdecke, schnippte Krümel weit über den Tisch, bis sie zuweilen mit einem fast unhörbaren Klick auf den Fußboden fielen. „Und was meint ihr, warum ich Geschichte studieren will und sogar muss?" Karin und Heinz sahen sich betroffen an. Sie hatten darüber noch nicht nachgedacht. „Dann muss es wohl so sein!"
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Heinz stand vom Tisch wieder auf und ging in die Dunkelheit, in den Hof. Ihn beschäftigte immer noch eine Beobachtung, die er vor etwa zwei Wochen zum ersten Mal gemacht hatte, als die Sonne endlich höher gekrochen war. Höher als zur Tag- und Nachtgleiche. Ihre Strahlen mussten in einer gewissen Höhe über den Rhein, durch die Urdenbacher Wälder und die Hannepützsche Heide fallen, um dann wie ein Nadelstich durch den Glockenturm der Pankratiuskirche zu Nievenheim auf den Himmel zu wirken. Denn dann entwickelte sich eine strahlende Korona, eine herrliche Spiegelung, die Heinzens Blick magisch angezogen hatte. Der Kranz der ausbrechenden Strahlen führte seine Augen wieder in die nördliche Richtung, als würde Neuss, das vieltausendjährige, erleuchtet. Oder auch ein Ort weiter im Norden. Krefeld, Moers, Xanten ... vielleicht! Er hatte das mehrfach beobachtet und war jedes Mal wie angewurzelt, besser wie verzaubert an dieser Pflasterstelle im Hof stehen geblieben. Eventuell war es doch wahr, was ihm als Gerücht vor Jahren zugetragen wurde. Eigentlich glaubte er sogar, es schon in der Jugend entweder vom Vater oder von besagtem Großvater gehört zu haben. Jetzt konnte er diese Vorfahren nicht mehr befragen. Aber offenbar hatte sich diese Geschichte auf seltsame Weise gehalten, bis die nun flügge gewordene nächste Generation mit einbezogen werden konnte. Wen sollte Heinz zur Klärung noch fragen? Pfarrer Ambrosius war auch nicht mehr unter den Lebenden. Je mehr er nachdachte und die alte Hierarchie des Ortes vom Apotheker über den Küster, den Bürgermeister bis zum Hausarzt deklinierte, um so hoffnungsloser wurde er. Das waren alles jüngere Leute in seinem Alter. Doch! Einer der alten Generation musste noch leben, der Schullehrer Paul Krings. Er war der Lehrer, mit dem Heinz und seine Clique durch alle Winkel der örtlichen Geschichte und ihre Spuren gekrochen waren. Den konnte er fragen, ob er sich noch der Einzelheiten der Sage um den Schatz im Sonnenlicht oder auch im Nebel erinnerte. Vielleicht brachten sie gemeinsam noch einmal Licht in das dunkle Geschehen. Das Pflastermuster, das sich unter Heinz Küppers' Füßen befand, sollte nach Erzählungen von Pa das fränkische Kreuz, das Wappen des letzten Königs der Freien darstellen. Heinz hatte auch diesen 56
Bericht gut behalten, aber nicht in Zusammenhang mit dem Schicksal seiner Familie gebracht. Aber nach den Erlebnissen im letzten Herbst gehörte diese Stelle im eigenen Hof mit zu den Mosaiksteinen seiner Überlegungen zum Verbleib der Königskrone, des Thronsilbers und des Schatzes. Heinz fixierte immer noch die Strahlenkrone über der Pankratiuskirche und maulte ein wenig mit sich selbst: „Geduldig musst du schon sein, mein Alter, anderthalbtausend Jahre Schutt über allem Gold räumst du auch nicht schnell weg!" Er entschloss sich, Günther nichts mehr in den Weg zu legen. Sollte er sich doch seinen Weg in ein gewelltes, akzeptiertes eigenes Leben suchen! Wer wußte schon, ob nicht alles ohnehin vorgezeichnet, bestimmt und festgelegt war in einem großen Buch oder auf einem gemeißelten Stein oder auf geschlagenen Münzen, in Mustern mythischer Pflaster? Obwohl die Sonne längst mehrere Hände breit über dem im Osten liegenden Rheintal, seinen Auen und Wäldern aufgestiegen war, breiteten sich mächtige Nebelschwaden auch über seinen bestellten Feldern aus. Sie umwehten die zusammengeduckten Dächer des Ortes, bis auch der Glockenturm seine Kontur verlor, und der Strahlenkranz nur noch eine Erinnerung an diesen merkwürdigen Morgen blieb. War es also eher ein Schatz im Nebel? Nebelgold?
„Paul Krings!" sagte Heinz ohne Einleitung, als er in die Küche zurückkehrte. „Was heißt das? Eine Lieferung?" sah ihn Karin verdutzt an. „Nein, mein alter Lehrer. Der kann vielleicht Licht in die Sache bringen und das Verhalten von Günther erklären helfen." „Weißt du, wo er wohnt? Der muss doch schon über siebzig sein oder noch älter?" 57
„Lass mal! Ich möchte Günther noch was sagen." Karin drehte sich nochmals um: „Der ist doch schon weg. Du musst ihn mit dem Motorroller gehört haben. Wo warst du?" Heinz setzte sich auf die Küchenbank und stützte den Kopf mit beiden Händen über dem Küchentisch ab. Ohne auf seine Frau zu achten, faselte er unzusammenhängende Worte. „Paul Krings. Zeitungsausschnitt, nein, Stadtarchiv. Geschichtsstudium. Albern, so ein Quatsch!" Er holte sich das Telefonbuch und stöberte nach Spuren seines alten Lehrers Krings. Hatte der Kinder oder Enkel, die man fragen konnte? Wohnte der damals überhaupt in Nievenheim? Oder hinterm Mühlenforst? Krings. Albert, Birgit, Detlev, viermal Hans, oh! Das erschien hoffnungslos. Und einen Krings, Paul, fand er nicht im Dormagener Gesamtverzeichnis, in dem auch alle Nievenheimer Telefonnummern untergebracht waren. Was war zu tun? Eventuell war es sinnvoll, einfach einen der nicht allzu modern klingenden Vornamen mit Familiennamen Krings anzurufen, um den alten Lehrer zu ermitteln. Moderne Namen waren seiner Meinung nach Thomas, Martin, Mario! Etwas altmodisch klangen Max, Rolf, Johannes oder Fritz. „Ich rufe jetzt den Krings, Rolf an!" ermunterte er sich und wählte gleich durch. „Hallo?" meldete sich eine junge Frauenstimme. „Ja, hier spricht Küppers, Heinz! Ich hätte gern eine Auskunft, und zwar, ob ich Rolf Krings sprechen könnte?" „Nein, mein Mann ist auf Arbeit. In der Buchhaltung der Kiesgrube. Kann ich vielleicht helfen? Worum geht's denn?" „Wissen Sie, ich such' eigentlich nur meinen früheren Lehrer. Paul Krings. Und ich habe gedacht, irgend jemand wird mir doch helfen können, Frau Krings." 58
„Ach, das tut mir leid, Herr Küppers. Ich habe zwar von dem Lehrer Krings schon gehört, der ist wohl ein Original gewesen. Wir sind aber nicht mit ihm verwandt. Mein Mann gehört zu den Sämereien-Kringsens aus Godesberg." „Was meinen Sie, äh, wer könnte denn was wissen?" „Rufen sie doch die Heidi Schürges an, die hat Anekdoten der Ortsgeschichte gesammelt. In der Mundart natürlich. Sie hat mich auch mal wegen meiner Familie mütterlicherseits besucht." Schnell hatte Heinz die Telefonnummer gefunden, und Frau Schürges war sofort am Apparat, als hätte sie auf ihn gewartet. „Ja? Hier Schürges!" „Guten Tag! Ich bin Heinz Küppers und hoffe, dass Sie mir mit der Adresse oder irgendeinem Hinweis auf den Lehrer oder Schulmeister, wie man früher manchmal sagte, auf Paul Krings helfen können." „Ach Gott! Der Paul. Waren Sie sein Schüler?" „Ja, Frau Schürges, ich bin einer seiner Schüler aus den Jahren 67 bis 72 oder so!" Die alte Dame, wie Heinz an ihrer Stimme zu erkennen meinte, horchte auf: „Küppers, Heinz? Sind Sie etwa der Sohn von Siegfried? Mit dem bin ich zur Schule gegangen!" „Der bin ich!" „Na, junger Mann, und Sie wollen den alten Krings treffen? Den, der den Gänsen das Fliegen beigebracht hätte, wenn sie es nicht schon könnten? Der die Farbe der Augäpfel aller Könige, Heiligen und Ritter in den Kirchen in zwanzig Meilen Umkreis wußte? Ja, ja! Man brauchte ihn manchmal noch heut'!" „Lebt er denn nicht mehr?" 59
„Doch, doch! Nur nicht mehr direkt im Dorf. Er ist nach Zons verzogen, an die Deichstraße. Das dritte oder vierte Haus vor Cafe Eilert. Sie müssen fragen." „Ach, da dank ich Ihnen aber! Das war wirklich wichtig, Frau Schürges." „Vielleicht", schaltete sich die Alte nochmals ein, „hätte auch ich Ihnen raten können, wenn Sie mir erklären, was Sie wissen wollen." „Es geht um die alten Geschichten der Küppers, Burgers und Merows, nichts Reales, die Märchen halt, aber fragen möchte ich schon." Er hörte am anderen Apparat ein Seufzen: „Ich habe die Enden der feinen Gespinste uralter Berichte nie zusammengebracht. Ob was Wahres dran ist, am Schatz, am Schicksal, an den Gerüchten von Hof und Gefolge, am Niedergang und an der Renaissance habe ich nie herausbekommen. Ich habe deshalb auch nichts aufgeschrieben. Also viel Glück! Wenn Sie mehr wissen, melden Sie sich bitte wieder." Heinz legte den Hörer sehr bedächtig auf, als hätte er Angst, das Gerät zu zerbrechen. Er bemerkte auch, dass Karin stehen geblieben war. Sie wartete offensichtlich auf seinen Bericht. „Sie weiß, wo er wohnt", sagte Heinz völlig abwesend. „Der Günther? Der wollte nach Düsseldorf. Oder nach Duisburg? Ich habe nicht genau zugehört. Wegen seiner Bude in einer Wohngemeinschaft." Heinz wurde leicht rot: „Also eins nach dem anderen! Ich habe mit Frau Heidi Schürges wegen Paul Krings telefoniert. Aber das ist jetzt nicht wichtig. Wie ist das mit Günther? Der studiert in Zukunft in Düsseldorf oder in Duisburg?" 60
Karin atmete tief durch: „Du hast doch auch dein Fach in Münster und in Bochum studiert. Was willst du?" „Ich dachte, er geht nach Tübingen oder Marburg, wegen der Qualität. Ich durfte nicht nach Weihenstephan wegen des Geldes und will uns nicht nachsagen lassen, wir hätten Günther eingeengt, das Leben vermasselt." „Mann, ich kann dir nicht folgen. Gestern wolltest du ihn noch im Hof annageln!" Heinz antwortete seiner Frau nicht mehr. Vor seinen Augen tauchten immer wieder der leuchtende Kranz und das strahlende Licht aus der nördlichen Rheinebene auf, das er heute morgen zum wiederholten Mal erblickt hatte. War es etwa bei der Abfahrt des ältesten Sohnes aufgegangen? Oder nur weil er sich auf diesen verteufelten Pflasterflecken im Hof gestellt hatte, der fränkische Hofzeichen symbolisierte? Assoziationen zu Günther und dem König Gunter drängten sich erneut wie früher auf, so wie es schon bei den Familiennamen der Burgers und Merows mit den Burgundern und den Merowingern geschehen war. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als den Schulmeister sobald wie möglich zu besuchen. Heute kam das nicht mehr in Frage, weil der schwere Traktor unbedingt gewartet werden musste. Aber morgen, nahm er sich vor, würde er den Lehrer Krings aufsuchen. Er fuhr am nächsten Vormittag die Deichstraße auf und ab und stellte den Wagen auf den Deichparkplatz. Heinz war dabei so in Gedanken, dass er nicht darauf achtete, wie er gleich beim Aussteigen in eine Pfütze trat. Ihn beschäftigte, als er die Häuser betrachtete, nicht nur, in welcher Verfassung er seinen Lehrer antreffen würde, sondern natürlich auch, dass Günther nicht nach Hause gekommen war. Er hatte noch nicht einmal angerufen. Wenn es eines der Wohnhäuser in der Nähe von Cafe Eilert sein sollte, das dritte oder vierte davor, konnte es auch bedeuten, dass man sowohl von rechts als auch von links rechnen müsste. Je 61
nachdem von welcher Seite man ausging. Wie immer im Leben. Eins war verklinkert, das andere grau-weiß verputzt, und auf der anderen Seite ein Fachwerkdachstuhl über einem in altrosa gestrichenen Bau und ein dreistöckiges Gebäude, das man gut und gerne als Gründerzeitvilla bezeichnen konnte. Heinz Küppers müsste wohl oder übel die Klingelleisten nach dem Namen absuchen. Na Mahlzeit, dachte er, bei deinem sprichwörtlichen Glück wohnt der im letzten Haus. Also nehme ich mir auch das letzte vor. Er ging deshalb sofort auf das Verklinkerte zu. Vier Stufen hinauf in die kleine Vorhalle bis vor die grüne Haustür, die Klingelknöpfe wie die Knöpfe aus Messing eines Portiers oder eines Karnevalsprinzen fixierend. Und tatsächlich! Das Glück war ihm hold. Der oberste Knopf lag neben dem in Schreibmaschinenschrift verfassten Namen Krings. Zweimal gedrückt, zur Sicherheit, nicht aus Aufdringlichkeit. Und der Türsummer schnarrte. Als Heinz ins Haus trat, hörte er im Flur die Schlüssel an einer Tür rasseln, und jemand trat auf das Podest in der oberen Etage. Langsam und schlurfend und blickte übers Geländer.
Die rauhe Stimme eines Pfeifenrauchers ertönte: „Ja bitte, mein Herr?" Heinz blieb unten stehen und legte den Kopf in den Nacken. Den Hut hatte er schon vorm Haus gezogen: „Herr Krings, ich heiße Küppers. Heiner, wie Sie mich immer als Ihr Schüler gerufen haben." „Küppers? Siegfried oder Dietrich?" „Nein, der Heinrich vom Hof mit der alten Siederei." „Ja der! Na, komm herauf! Das ist ja ein willkommener Gast!" sagte der alte Herr offenbar zu jemandem. 62
Der Lehrer hielt, wie sich zeigte, eine Katze im Arm und ließ dem ehemaligen Schüler den Vortritt in die kleine Wohnung. Und dann stand Heinz Küppers inmitten von Bücherwänden, Regal an Regal. Selbst auf dem Couchtisch und dem Sofa waren kleinere Stapel abgelegt, so dass es eigentlich nur zwei Sitzplätze, einen für Paul Krings und einen im Katzenkörbchen für das Tier gab. „Was willst du trinken, Junge?" „Nee, Herr Krings, lassen Sie uns nüchtern bleiben." „Ist es so tragisch, was dich zu mir treibt? Du hast doch bestimmt Familie. Lebt der Großvater noch, der Dietrich? Der ist ja etwa meine Generation." Heinz knöpfte sich umständlich die Strickjacke auf: „Also, Pa, wie wir den alten Herrn genannt haben, Dietrich Küppers ist, wie soll ich sagen, hat sich für das Frankenreich des Königs geopfert. Ich weiß nicht, wie ich das besser erklären kann, weil ich es selber nicht verstanden habe." „Oh, ich verstehe schon, deshalb bist du gekommen. Diese Sache!" „Wissen Sie, Herr Krings, eine plausible Erklärung? Und übrigens scheint die Scharade noch nicht zu Ende zu sein. Es geht munter weiter. Ich komme eigentlich nur deswegen. Günther, mein Ältester, tritt in die Fußstapfen seines Urgroßvaters." Paul Krings zog die Augenbrauen hoch: „Ich fass' es nicht. Ihr habt ihn Günther genannt? Wie König Gunter, den Schwager Siegfrieds?"
Krings erhob sich und setzte die Katze auf einen Buchstapel auf dem Couchtisch: „Ich genehmige mir nun doch entgegen anderer Gewohnheiten einen Schluck! Willst du nicht auch ein Glas?" Heinrich Küppers kämpfte mit sich: „Was soll's denn sein?" 63
„Gut! Ich will dich nicht verleiten. Ich mach' dir einen Tee, und mir schenke ich ganz stilecht und symbolträchtig einen Rheinhessen ein. Gestern habe ich die Flasche angebrochen. Oder sollten wir einen Chablis aus Burgund kosten? Das passte auch ins Bild. Nein, ich brühe Tee auf und bleibe bei der Bechtheimer Gotteshilfe. Auf dass uns Gott helfe!"
Er rumorte in der Küche, und Heinz Küppers ließ seine Augen durch die Dachwohnung schweifen. Der alte Lehrer lebte wohl allein. Die Frau musste schon verstorben sein. Die Katze war inzwischen an ihm vorbei gestreunt und hatte sich dann zwischen zwei Blumentöpfe am Fenster gequetscht. Kaum ein Fleck im Wohnzimmer war überhaupt frei von Zeugnissen großer Belesenheit und ungebrochener Sammelleidenschaft. Er wagte sich nicht vorzustellen, wie es vielleicht im Schlafzimmer aussehen mochte. Als er gerade in bruchstückhafte Erinnerungen, in die Schulzeit mit Heften, Aufsätzen, aber auch mit Wanderungen und Besuchen in Kirchen, Höfen und Klöstern der näheren und fernen Umgebung eingetaucht war, schleppte der Lehrer den Tee auf einem Tablett herein. Kandiszucker, ein Schälchen mit Plätzchen, Tasse, Löffel und eine bauchige Kanne. Die Weinflasche wurde auch noch aus der Küche geholt, wo sie sich laut klirrend von anderen Flaschen verabschiedete. Und dann saßen sie sich gegenüber, als hätten sie dieses Treffen seit Wochen geplant. „Ich habe mir schon gedacht", schluckte Paul Krings, „dass irgendeiner von euch mal vorbeikommt und mich besucht. Dass es so lange dauert, hätte ich nicht erwartet." „An wen haben Sie gedacht? An meinen Vater Siegfried?" „Nein, nicht nur an die Küppers Familie, sondern auch an die Burgers." „Das ist ja sonderbar!" reckte Heinz den Kopf. „Günther ist ganz 64
dick mit Bruni Burger befreundet. Sonderbar, nicht wahr?" „Ach, so sonderbar ist das gar nicht. Das Leben wiederholt sich. Es gibt Muster, die wiederkehren, Junge. Man sieht sie nicht auf den ersten Blick, auch nicht auf den zweiten. Später wird aber manches deutlich. Und bedenke, Katzen haben auch sieben Leben." „Also ist das, was jetzt abläuft, nötig? Unumgänglich? Ich meine: unausweichlich?" „Nun, Heiner, ganz so ist es nicht. Es kann sich auch etwas verschieben, um ein oder zwei Tage, zwei, drei Wochen, je nachdem wie sich der Mond und der Rhein konjugieren. Die Hindus denken an die Wiedergeburt, und wir reden von Erde zu Erde, von Staub zu Staub. Oder ist es anders? Denk an die Katzen!" Als Krings das Wort Katzen aussprach, erhob sich seine eigene am Fenster und tigerte auf mannigfaltigen Umwegen zu ihrem Herrn auf die Sessellehne und endlich auf die Schulter. Küppers sagte immer noch nichts. „Was will denn der Günther?" „Ich habe ihn nicht so genau gefragt. Er will jedenfalls nichts mit dem Hof zu tun haben. Gerade hat er das Abitur gebaut. Geschichte will er studieren, und wenn wir uns dagegen stellen, dann will er's Studium sogar selber finanzieren."
„Das habe ich mir schon gedacht. Das ist, sei mir nicht böse, euer Schicksal. Einer von euch muss die Rätsel weiter aufzuknoten versuchen, endlich und unausweichlich!" Heinz war ganz unruhig geworden. Die Hitze des Tees hatte ihm zusätzlich zu schaffen gemacht. Er erhob sich und ging an das 65
schmale Fenster, wo die Katze hinausgeschaut hatte. „Ich, nein besser gesagt, mir ist in letzter Zeit aufgefallen, dass ich Visionen oder Wachträume habe, obwohl es vielleicht nur ein Wetterleuchten, eine schlichte Stimmung war." „Ja, erzähle!" „Herr Krings, Sie haben uns Kindern damals die Geschichte, die eigentlich kurze, junge Geschichte der Pankratiuskirche vermittelt, von Vorgängen erzählt, die sich um die älteren Fundamente aus der Frühzeit ranken. Ich habe die Details vergessen. Jedenfalls, um zum Kern der Sache zu kommen, ich habe eine seltsame goldene Lichtkorona seit längerem über dieser Kirche - genau in Verbindung mit ihrem Turm - im Auge. Wenn ich bei uns auf dem Hof stehe und dann noch auf einer besonderen Pflasterstelle, dann sehe ich über Norf, über Neuss oder davor oder auch dahinter, weiter im Norden diese Zeichen. Ach so, noch was! Immer nach Sonnenaufgang über Urdenbach." Paul Krings setzte das Glas ab: „Ja, ja, so ist es! Die Zeit reift. Ihr seid alle im Bannkreis, in die Ausstrahlungen des Schatzes der Nibelungen, des Nebelgoldes, einbezogen." „Klingt das nicht sehr abgehoben? Sehr märchenhaft und unwirklich? Ich kann darüber mit niemandem reden, die halten mich doch alle für verrückt!" „Du musst auch schweigen", rückte sich der Lehrer in seinem Sessel zurecht, „ihr würdet sonst die sonderbarsten Kämpfe und Anfechtungen zu bestehen haben. Die Schatzgräber haben ihre Ohren überall. Unterstütze deinen Sohn. Er sollte den Nibelungenschatz schon für die Franken und die Burgunder sichern. Für die Ewigkeit, mein Freund!" Heinz setzte sich wieder und rührte umständlich in einer zweiten Tasse Tee. Dann lehnte er sich in die mit Büchern und Zeitschriften gefüllte Couch zurück. Er schüttelte dabei unwillkürlich den Kopf, als bekäme er eine Gänsehaut. Aber noch waren seine Fragen nicht beantwortet. Überhaupt nicht! „Mir ist das zu sehr verschwommen", quälte er sich, „man kann 66
doch im Zeitalter von Satellitentechnik und elektronischen Messgeräten nicht mit Gerüchten und verstaubten Sagen umgehen, sie auf unsere Landkarten projizieren und auch noch von schicksalhaften Verknüpfungen der Familien und Stämme sprechen! Das ist bestimmt nicht zeitgemäß. Und doch muss ich sagen, ich habe die Sache mit Hagen von Tronje und die ungewöhnliche Tat meines Großvaters selber erlebt. Wissen Sie?" „Durchaus! Es war ja vorauszusehen. Und schäm' dich nicht, dass es scheinbar nicht mit rechten Dingen zuging und zugeht. Das Geheimnis des Nebelgoldes ist wirklich nicht gelöst. Oder weißt du mehr?" „Nein! Bitte, was raten Sie mir, was wir tun sollten?" Paul Krings holte einen Schuhkarton, in dem alle möglichen Bilder, Zeitungsausschnitte und viele Postkarten und Fotos aufgehoben waren. Er wühlte vorsichtig und fischte die Todesanzeige von Siegfried Küppers heraus. „Ich habe die Geschicke deiner Familie immer verfolgt. Dein Vater hier, Siegfried Küppers, ist auch bei mir im Unterricht gewesen, und er hat nicht auf mich gehört. Auch deine Mutter Gudrun ist so früh, viel zu früh verstorben. Meinst du nicht auch, dass das zum Nachdenken anregen sollte?" „Jawohl, Herr Lehrer", reagierte Heinz etwas bedrängt, „aber jetzt noch etwas anderes! Wie geht's denn Ihnen? Ich habe ganz vergessen, danach zu fragen, weil mich das Nebelgold geblendet hat." „Die Beschwerden des Alters werden nicht geringer, aber sie werden durch die Erkenntnisse neuer und alter Zusammenhänge mehr als ausgeglichen. Mich beschäftigen heute geschichtlich parallele Vorgänge, die es immer noch zu lösen gilt, sagen wir mal allgemein." „Noch andere rätselhafte Schätze?" „Junge, die Welt ist voller Schätze im wörtlichen, wie im 67
übertragenen Sinn. Denk an das Grab von König Alarich bei Cosenza. Leider kann ich nicht mehr so weit reisen. Und dann arbeite ich auch noch an den Geheimnissen von Torcello in der Adria und dem Ursprung Venedigs. Oder denk nur an Toulouse, an das Tolosanische Reich, an King Arthur und seine Tafelrunde. Dem Gral könnten wir beide vielleicht auf die Spur kommen. Hast du einen Wagen?" „0 ja! Der steht unten auf dem Parkplatz!" „Heiner, also natürlich nicht heute. Die Bretagne ist nicht weit. Lancelot gleicht vielen Helden in Revolutionen und Befreiungskriegen. Parceval und Gawan und wen du noch kennst ebenso! Das ist auch eine atemberaubende Geschichte. Aber gut! Du hast eine ureigene Aufgabe. Du und dein Sohn!" „Ich glaubte, dass es nur eine Sage ohne Bedeutung ist. Wir werden Ihnen berichten und Sie auch um Rat fragen, falls nötig. Und irgendwann können Sie dann unsere Akte abschließen", deutete Heinz Küppers auf die Bücherwand, in der etliche, sauber beschriftete Ordner standen. Als sie sich verabschiedeten, fragte Paul Krings noch einmal seinen ehemaligen Schüler: „Sollte ich mal in den Wald von Paimpont oder Broceliande in der Bretagne reisen müssen, würde deine Frau die Katze in Obhut nehmen? Auch wenn sie sieben Leben hat, braucht sie immer etwas Zuneigung." „Selbstverständlich!" „Ach, vergiss nicht die Peilungen, die ihr machen müsst, mit dem fränkischen Sonnenzirkel und dem Uhrenring, das erleichtert alles sehr." Heinz fuhr mit gemischten Gefühlen zum Hof zurück. Ihn bewegten die stärksten Zweifel, ob er nicht doch den Falschen gefragt hatte. War der Lehrer mit seinen vielleicht altersabhängigen Fantastereien völlig abgeirrt? Handelt es sich nicht eher um Spökenkiekerträume? Bei aller Vertrautheit mit den unentdeckten Geheimnissen der Heimat. Plötzlich fühlte Heinz 68
aber genau, dass er nur auf irgendwelche unterschwelligen Ängste überreagiert hatte. Er hatte bestimmt eine besondere Aufgabe. Günther kam auch an diesem Abend nicht nach Hause. Am nächsten Morgen hatte Heinz alles verdrängt, er war ja schließlich ein ganz praktischer Landwirt. Die Feldarbeit musste auch getan werden. Immer noch waren nicht mehr als zehn Worte über seine Lippen gekommen, die seiner Frau einiges erklärt hätten. Er war in seinem Gespinst aus Arbeit und Fantasiegebilden so verfangen, dass er Nachrichten oder Musik auch nicht mehr wahrnahm. Deshalb erschrak Heinz zutiefst, als ihn Karin plötzlich ansprach. „Günther hat angerufen, dass er heute vielleicht wieder nach Hause kommt. Dann können wir alles nochmals besprechen." Heinz antwortete nicht. Er stand aber sofort auf und zog Karin an sich, um ihr einen kräftigen Schmatz auf die Wange zu drücken. Das war die einzige Art einer Regung, mit der er Schuld und Scham und Anerkennung und Zuneigung zu zeigen wagte. Eine Minute später stand er jedoch wieder auf dem alten Hof des Familienbesitzes, wo jeder Stein des Pflasters eine ureigene Geschichte aus vielleicht anderthalb tausend Jahren hatte. Und es blieb nicht aus, dass er geradezu wie unter Zwang wieder auf das legendäre Pflastermuster mit dem fränkischen Kreuz, dem Wappen und der Krone des letzten Königs der Freien, der Franken, schritt. Stehen blieb und sich strikt nach Norden wendete! Die Sonne war vorhin über dem rechtsrheinischen Urdenbach, drüben auf der anderen Rheinseite, aufgegangen und hatte den Mann mit ihrem Strahl über seinem Städtchen in den Glockenturm abgelenkt. Die Korona überzog den Himmel. Und wieder war es ihm, als läge das Nebelgold dort im Norden, dem Zugriff gar nicht so verborgen. Aber dennoch versteckt, wie das Wissen, wie die Jugend und schon gar wie die unbekannte Zukunft, die ja jeden Tag, wenn man sich dessen bewusst wurde, neue Abenteuer, neue Schätze versprach. Arbeit, Arbeit gab es genug. Sie musste getan werden, ehe man überhaupt an Schatzsuche denken durfte. Heinz Küppers nahm den Tag mit seinen Anforderungen an, zumal ihn die Küchen- und Haushaltsgeräusche, die seine Frau im Haupthaus fabrizierte, 69
unmittelbar antrieben. Es war eine Art Wettbewerb. Die Rollen von Frau und Mann hatten sich die Küppers nicht so deutlich zugedacht, nicht auswendig gelernt oder vereinbart. Es ergab sich halt, dass Heinz mit dem schweren körperlichen Kram befasst war. Warum sollte er Karin die Ziegel schleppen, den Mörtel anrühren oder Gerüste bauen lassen?
Der Tag verging, ohne dass er die morgendliche Korona gänzlich vergessen hätte. Er wartete außerdem irgendwie, arbeitend und fleißig auf den heimkehrenden Sohn. Zur Abendbrotzeit knatterte Günther tatsächlich mit seinem Gefährt auf den Hof, so als hätte er es geplant. Günther saß noch nicht richtig am Tisch, da überfiel ihn die Mutter schon mit Fragen: „Hast du denn überhaupt was gegessen? Wo wohnst du? Du hast kaum Wäsche mitgenommen." „Ach, Mama, die Wohngemeinschaft ist ein Heuhaufen, in dem man sicher landet, auch wenn man aus großer Höhe fällt. Und jetzt bin ich ja hier!" „Iss erst mal, aber danach wollen wir reden. Papa wartet darauf." Heinrich war dankbar, jedenfalls auf gewisse Weise, dass ihm Karin die ersten Worte abgenommen hatte. Er wäre bestimmt aufbrausend gewesen. So aber sammelte er seine Gedanken während des Abendbrots und schwieg. Erst als er die obligatorische Bierflasche öffnete und auf drei Gläser verteilte, fand er das richtige Wort: „Prost! Auf ein gemeinsames Abenteuer!" Karin war nicht ganz im Bild: „Welches Abenteuer hast du denn vor?" 70
„Wir finden endgültig den Nibelungenschatz. Er ist unsere Verpflichtung. Günther und ich: Wir werden das ewige Rätsel lösen. Dafür gibt es einen guten Ansatz, nicht wahr?" Günther trank sein Glas in einem Zug aus. „Hast du das auch vor?" fragte Karin ihren Sohn. „Ich habe mich bei Professor Streifenschein fürs Hauptstudium Geschichte eingetragen. Immatrikuliert bin ich noch nicht, das Zeugnis fehlt ja noch. Und ich habe mich auch gleich in der Bibliothek angemeldet und den Fachassistenten für Rheinische Archäologie Dr. Lothar Ludwig gesprochen." „Sag bloß!" „Ja, der ist ebenso an dem Problemkreis fränkischer und burgundischer Antiken interessiert", wurde der junge Mann gesprächiger. „Ich habe ihm ein paar Hinweise auf unsere Familie gegeben, und er hat überhaupt nicht gezögert, über jüngste Recherchen zu berichten. Den Schatz haben schon viele Generationen gesucht. Eine Gruppe hätte das Wissen über viele Jahrhunderte wie ein Erbstück vom Vater an den Sohn weitergegeben und sich ständig um die Auffindung der sagenhaften Besitztümer im Odenwald bemüht. Vom Berg Melibocus hätten andere wiederum - immer die Kaiserstadt Worms im Auge, jedenfalls, wenn es das Wetter erlaubte - alle Spiegelungen und Lichtbrechungen im Rhein und in dessen Vorebene verfolgt und nachgegraben." „Mein Gott, wann war denn das?" unterbrach Heinz seinen dozierenden Sohn. „Oh! Nach Aussage von Dr. Ludwig geschieht das noch heute! Mit modernsten Geräten: Echolot, Metalldetektoren und Luftbildaufnahmen bei Schräglichteinfall. Aber das wäre Mumpitz, denn es gäbe weitere zuverlässigere Quellen. Also mit anderen Worten: Die Vermutungen über die Lage im Rhein bei der Halbinsel Wörth und bei Erfelden nördlich von Worms oder im weiten Feld von Strom und Land des Wonnegaus wären nicht rich71
tig! Wer hätte dort nicht schon beim Blick von den Höhen über den Rheingau ein sonderbares Gefühl empfunden, wie Goethe es mit den wenigen Worten einer gesegneten Landschaft auszudrücken verstand. Aber man kann sich eben doch täuschen! „Junge, du hast ja eine romantische Ader!" staunte die Mutter. „Das sind nicht meine Worte. Dr. Ludwig erklärte mir, dass weder die Loreley noch ein Platz zwischen Nonnenwerth und Grafenwerth im Rhein das Gold verbergen würden. Es soll nach neuesten Spekulationen auch nicht nach Xanten und schon gar nicht nach Passau gebracht worden sein. In Xanten ist es auch nicht den Normannen in die Hände gefallen, nein. Die besegelte, große Barke, die die Burgunder im Jahre 437 mit allen Schätzen ihres Reiches, der Beute aus den Feldzügen gegen Römer, Sachsen und Friesen und mit den Edelsteinen des sagenumwobenen Drachen Fafnir aus dem Maingebirge beladen hatten, wurde wahrscheinlich schon während des Pfingsthochwassers ausgesetzt. Sie ist von dieser Flut sowohl an der Loreley als auch an den tückischen Klippen der sieben Jungfrauen von Oberwesel vorbeigetragen worden." „Stark! Nimm mal einen Schluck!" Heinz hatte einen Weinbrand geholt. „Es kommt mir so vor, als hörte ich meinen alten Lehrer Paul Krings, und als hättest du schon drei Semester altdeutsche Geschichte und Geografie dazu studiert." Karin ergänzte noch: „Hui, Günther, ich halte die Spannung gar nicht aus. Alles hast du in zwei Tagen herausbekommen?" „Nee, natürlich nicht! Vielleicht habe ich mir nicht alles gemerkt, aber ungefähr so wurde es mir erzählt. Man will sogar den Namen des Schiffsführers des Schatzes kennen. Stellt euch das vor! Er hieß wahrscheinlich Thuringard und hat als einziger die Bootsfahrt überlebt, die ihn mit dem rasenden Hochwasser tatsächlich nach Xanten bringen sollte. Aber angekommen sind sie nicht, das Schiff und der Schatz, denn vorher liefen sie auf Grund. In einem der neuen Rheinarme im Norden vermutlich, die schon immer seit Urzeiten bei Hochwasser ausgeschwemmt wurden. Heute heißen 72
diese Gebiete sonderbarerweise Altrhein. Komisch, nicht?" Heinz hielt nun nicht mehr still. Er beugte sich vor und ballte die Hände zu Fäusten: „Und dann ist das Schiff hier zwischen Gohr und Rosellen in dem Altrheinarm angelandet. Am alten SiegfriedHof, du weißt ja!" „Aber Papa, deine Geschichte, die Erlebnisse von Pa sind bisher niemandem bekannt. Wir haben doch Stillschweigen vereinbart. Der Knackpunkt ist der, dass sich auch weiter nördlich der Rhein immer wieder bei Hochwasser ein neues Bett gesucht hat. Mal hier, mal da. Vermutlich sind 437 die reißenden Wasser auch über die heutigen Felder und Haine von Emmerich und Wesel, Gellep und Ilverich geströmt. In Gellep hatte man damals gut befestigte Häfen und Anlegestellen, so dass dieser Mann, der Thuringard, vielleicht dort mit letzter Kraft die Rettung schaffte." „Ja, und dann?" „Nichts! Nichts ist weiter bekannt. Du weißt, dass seit Jahren in Gellep die fränkischen Gräber und Siedlungsreste ausgegraben werden? Man hat auch gut erhaltene Schiffe gefunden, die bei jenem Hochwasser untergegangen sein können. Aber bisher hat man keinen Schatz gefunden." „Und wie erklären die Archäologen das?" „Weiß nicht! Auch ich habe darüber schon nachgedacht, denn eine triftige Mutmaßung wusste auch der Professor nicht. Ich denke, dass der klägliche Rest der Burgunder, der mit List die Kriege überlebt hatte, auch den Schatz nur mit List verbergen konnte, auf dem Boot, meine ich. Denn schwer muss er gewesen sein." „Also nicht in Truhen oder Krügen? Wie früher üblich?" fragte der Vater. „Bestimmt nicht! Man wird alles wie Wein in Ledersäcken, die wasserdicht gepicht wurden, versteckt und aufgeblasen haben, um sie auch bei Schiffbruch über Wasser zu halten. Vielleicht hat man 73
noch Schweinsblasen daran gebunden oder Schilfbündel." „Das ist eine gute Idee!" „Und deshalb haben alle Schatzgräber bisher auch mit den modernen Untersuchungsmitteln im Rhein und den angrenzenden Sumpfgebieten zwischen Worms und Kaub oder Oberwesel nie eine Spur vom Rheingold gefunden. Eher ist das Nebelgold in den nördlichen Rheintälern oder so!" „Wo, meinst du, dürfte sich der Schatz heute befinden?" „In einer alten, verlandeten Niederrheinschlinge! Vielleicht sogar gegenüber von Kaiserswerth. Im Raum Ilverich ist es durchaus möglich!" „Mein Lieber, wo ist denn das?" zog Karin die Augenbrauen zusammen. „Das ist die Gegend der Rheinquerung, die jetzt häufig in den Zeitungen erwähnt wird, für die Autobahn 44. Im Norden von Meerbusch, dem alten Herrensitz." „Mensch!" Heinz hielt es nicht mehr in seinem Stuhl: „Dann ergibt sich eventuell doch ein Zusammenhang mit meiner Vision? Im Norden von Neuss!" „Welche Vision?" gönnte sich Günther nun auch ein Erstaunen. Heinz blickte Karin verstohlen an: „Seit Frühlingsbeginn, also natürlich nur ungefähr, wenn die Sonne über die Urdenbacher Wälder und die Hannepützsche Heide aufgeht, und man auf dem Frankenpflaster in unserm Hof steht, dann bilde ich mir ein, das Gold, die Geschmeide, Edelsteine, die Waffen, die Schilde der Nibelungen mit Goldreifen über die nördlichen Gefilde strahlen zu sehen. Ich bilde mir das wohl ein." 74
„Das ist wirklich eine fantastische Ausgeburt! Du bist morgens immer sehr zerknittert und noch nicht richtig wach", wertete Karin dieses duftige Hirngespinst zur Putzwolle ab. „Nein, Mama, irgendwo findet sich immer ein Körnchen Wahrheit. Wir gucken uns das morgen an. Ich muss erst um zehn Uhr in die Vorlesung." „Euren Kaffee, deine Milch, den Kakao für Frank und Franziska findet ihr da drüben, und alle Käse und Marmeladesorten stehen im Kühlschrank. Bedient euch selber, ich habe so früh keine Zeit. Ich muss in die Waschküche, weil die erste Maschine schon fertig ist", begrüßte Karin ihre aufwachende Familie am nächsten Morgen. Der Schulbus holte Frank und Franziska ab. Der Nebel, der um sechs Uhr noch die alte Siederei im Bereich des Küppers'schen Hofes verbarg, stieg auch bald in Rheinnähe auf. Über dem Wäldchen und den Rübenäckern freilich wurde er statt dessen dichter. In Latschen und Hausschuhen stapften die beiden Hobbyarchäologen das Treppenhaus hinab und befanden sich bald, ungewaschen und überhaupt nicht angemessen für die Morgenkühle gekleidet, auf dem merkwürdigen Pflastermuster. „Paul Krings", begann Heinz seine Einführung in die Methoden der Schatzsuche, „hat mir geraten, für die Ortung oder Peilung die fränkischen Maßschenkel, eine Art Zirkel, und den Sonnenuhrring zu verwenden. Weißt du, wo man die bekommt und wie die funktionieren?" „Ich muss mich umhören. Ob die wirklich wichtig sind, weiß ich auch nicht. Wann beginnt denn dein Lichtzeichen?" „Warte noch, Günther! Dafür brauchen wir Zeit." Die Sonne kroch derweil wieder wie an manchen anderen Tagen über die Wipfel der Waldungen am Rhein, und ihre Strahlen strichen in einer gewissen Höhe über den Fluss. Und wie ein Nadelstich flirrend berührte ein Strahl den Glockenturm der 75
Pankratiuskirche. Beide sahen eine leuchtende Korona hoch über der Kirche, über dem goldenen Hahn, stehen, die weit dahinter, weiter als die Vororte von Neuss und die anderen kleinen Gemeinden reichte. „Du hast recht. Ich verstehe, Papa. Sollten wir nicht gleich darauf zufahren?" „Dann müssten wir eine Planierraupe stehlen", lachte Heinz. Günther kam in diesem Augenblick eine Idee: „Aber sollten wir nicht gerade jetzt eine Peilung machen, mit drei Holzleisten?" „Machen wir! Ich beschaffe den Schlegel. Hol' du die Leisten vom Boden." Wenig später schlugen sie zwei Stangen in das Pflaster, so dass auch am Nachmittag oder irgendwann bei Regen, sogar bei Nacht und Laternenschein die Peilung möglich war. Die dritte Leiste, die Querleiste stabilisierte das sonderbare Gerüst. Danach konzentrierte sich jeder auf seine alltäglichen Aufgaben. Sie hatten aber, wie es früher auf den Pferdemärkten in Haltern oder Dülmen üblich war, noch per Handschlag die Schatzsuche als geheime Familiensache besiegelt.
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Am späten Nachmittag schnappte sich Heinz Küppers seinen Wagen und fuhr durch so sonderbar benannte Orte wie Kuckhof, Gier und Allerheiligen nach Neuss. Er hatte sich gedacht, in den traditionsreichen Juweliergeschäften und Uhrmachereien am ehesten Auskünfte über den ominösen Sonnenuhrring zu erhalten. In drei Geschäften am Büchel und dazwischen begegnete Heinz dem blanken Unverständnis. Man komplimentierte ihn sehr höflich, aber bestimmt aus den Läden. Erst als er wieder am Glockhammer stand und zufällig an sich herabblickte, bemerkte er, dass er wirklich nicht sehr vertrauenerweckend aufgetreten war. Schuhe und grüne Socken waren mit der angetrockneten Erde seiner Felder verdreckt. Kein Wunder, dass man ihm nicht die beste Auskunft geben wollte! Es bot sich für einen nochmaligen Versuch beim letzten Uhrmacher im Viertel an, eine schnelle Reinigung zu unternehmen. Und was war besser geeignet als der Brunnen, das kleine Wasserspiel vor dem Quirinsmünster auf dem Münsterplatz? Während er das Wasser über sein Schuhwerk verteilte, wanderte sein Blick in Etappen bis auf die Spitze des Oktagons über der Vierung des Münsters. Und er nahm - natürlich nicht unerwartet - einen kräftigen Sonnenstrahl wahr, der von der goldenen Kugel der Fahne abgelenkt stracks nach Norden wies. War es doch wahr? Beim Uhrmacher Martensen am Freithof zog Heinz Küppers schon beim Eintreten die Kappe und fragte den Meister nach dem unbekannten Sonnenuhrring. „Wissen Sie", nahm der Uhrmacher die Lupe aus dem Auge, „Sie sind der zweite, der mich in meinem Leben nach diesem Instrument fragt. Können Sie mir sagen, wer Sie darauf aufmerksam gemacht hat?" „Selbstverständlich! Ich bin Heinz Küppers aus Nievenheim, vom Küppers'sehen Gut meine ich, wo sich noch die alte Siederei befindet. Und mein ehemaliger Lehrer Paul Krings hat das Ding empfohlen." „Ach so! Küppers! Ja, ein Dietrich Küppers hat das erste Mal danach gefragt, aber er ist nie wieder gekommen." 78
„Und wofür hat mein Großvater das Gerät haben wollen, Herr Martensen?" Der Mann, der lange, schwarze Stulpen über beiden Armen trug, legte die Lupe aus der Hand und schaute seinem Gegenüber ernst in die Augen: „Ich glaube dasselbe, was auch Sie erreichen wollen. Die Peilung!" Es traten Kundinnen in den Laden, so dass das Gespräch nicht fortgesetzt werden konnte. Bevor sich der Meister den beiden Damen zuwandte, nahm er aus einer bordeauxfarbenen Schatulle einen bronzenen, runden Gegenstand. „Schauen Sie sich es erst einmal an. Ich kümmere mich schnell um die Kundschaft." Heinz hielt das Ringsystem im Handteller. Es wies einen inneren beweglichen in einem äußeren, breiten Ring auf und war von vielen unbekannten Schriftzeichen überzogen. Zusätzlich gab es einen Dorn und eine Bohrung und an einer besonders ziselierten Stelle einen eingelassenen, transparenten Stein. Vielleicht einen Amethyst? Unter der starken Lampe der Werkstatt am Nebentisch funkelte dieser Stein, aber gleichzeitig brach auch ein einziger Lichtfunke über den Dorn und die geschliffene Bohrung und ergoss einen seltsam gezeichneten Lichtfleck auf den Handteller. „Nun", kam der Uhrmacher wieder zu ihm, „haben Sie schon einen Eindruck gewonnen?" Heinz wusste nicht, was er antworten sollte, denn am liebsten hätte er erfahren, was Pa, der Großvater, damit geplant hatte. „Glauben Sie mir, ich weiß sehr gut, was Sie bewegt. Die Geschichte des Niederrheins birgt viele Geheimnisse unseres Lebens. Aber ich persönlich bin nicht am Rheingold und dem Erbe Siegfrieds interessiert. Mich treiben schon die Legionen der Römer durch Stadt und Land. Also nehmen Sie, was schon Dietrich Küppers für seinen Sohn brauchte. Sie sind sein Enkel, ja?" 79
„Und mein Vater hieß Siegfried! Aber mein Sohn heißt Günther so wie der Burgunderkönig!" sagte Heinz mit gewissem Stolz. „Mein Gott! Das klingt zwar wie bei Wagner und wie in der Sankt Gallener Handschrift. Aber es wird doch wahr. Zeigen Sie mir bitte Ihre Hand!" Heinz Küppers hielt die Rechte mit dem Sonnenuhrring über den Tisch. Und wieder bildete sich von selbst der seltsame Lichtfleck auf der Maus des Daumens. „Ja!" nickte Herr Martensen. „Das ist das Abbild des fränkischen Kreuzes, der Krone und des Wappens des Königs der Freien. Damit ist alles klar. Der Sonnenring der Friesen, zu denen ich gehöre, sühnt nach allen Kämpfen und Gefechten, auch nach denen mit Worten, die alte Schuld. Nehmen Sie die Uhr und meine guten Wünsche." „Aber was bin ich Ihnen schuldig?" „Nichts, absolut nichts. Ich tue das für das grenzenlose Europa, sagen wir halt ein bisschen pathetisch. Lassen wir es so stehen." „Danke!" brachte Heinz gerade noch vor lauter Spannung hervor. „Und als Letztes noch ein Hinweis, mein Herr, denn ich erinnere mich des Gesprächs mit Ihrem Großvater noch recht gut. Das Gerät funktioniert nur, wenn Sie dabei auch den Zirkelschlag des fränkischen Ackerschenkels anwenden. Bei allen Maßnahmen. Dann stimmt auch die Peilung!" „Aber wer weiß denn, wie das Ding aussieht?" Der Meister kratzte sich die Hände und blätterte in einer sehr zerlesenen Kladde: „Ich habe das schon mal nachgesehen. Warten Sie. Hier sind meine römischen Aufzeichnungen. Wie war das noch? Ein römischer Doppelschritt, ein passus, maß etwa anderthalb Meter. Und die germanischen Stämme wie die Ubier, die Franken, die Langobarden haben diese Maßeinheit wegen ihrer 80
eigenen, größeren Körpermaße um einen palmus, eine Handbreite, verlängert. Da steht's: 1,48 Meter plus drei Zoll. Also 1,55 Meter! Ganz genau, na bitte!" Heinz Küppers schritt wie unter Zwang in dem Uhrmacherladen zweimal hin und her. Eins! Zwei! Drei! Vier! Vierpassil „Herr Martensen, auch wenn es wie ein verrückter Pennäleraberglaube klingt, wir sind auf unserer Schatzsuche mit Ihrer Hilfe einen Schritt, einen passus weiter! Weiter als je zuvor! Ich habe Ihnen viel zu verdanken." „Nein, mein Herr! Ich bin ja Kopfschütteln und ungläubige Seitenblicke seit Jahren gewohnt. Wenn Sie etwas entdecken sollten, wäre ich Ihnen verbunden, wenn Sie mich einen Blick wegen römischer Handwerkskunst oder ähnlichem darauf werfen ließen. Mehr brauche ich nicht." „Abgemacht, Herr Martensen!" streckte Heinz seine magisch belichtete Rechte hin, und der Uhrmacher schlug nach alter Handwerkermanier ein. Am Abend war der Schatzsucher wieder auf dem Hof. Karin sah ihn vorwurfsvoll an: „Du hättest doch Bescheid sagen können, dass du nach Neuss fährst. Ich komme doch nie aus dem Stall. Wenn wir noch Kühe und Schweine hätten, müsste ich bestimmt auf der Weide schlafen." „Entschuldige bitte! Mich hat schlicht das Rheingoldfieber gepackt. Aber ich verspreche dir, dass wir - Günther und ich - dich einweihen werden, sobald wir Klarheit haben. Du kommst dann immer mit. Und wir brauchen dich nicht nur als Handlangerin, glaub' mir!" „Männer!" seufzte die Frau zu Recht und widmete sich ihren jüngeren Ablegern Franziska und Frank, die mit rauchenden Köpfen über Schulaufgaben brüteten. Sie kartete aber noch nach.
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„Anstatt partiellen Sonnenflecken oder so ähnlich nachzufliegen, wäre es vernünftiger, deine Kraft in Physik und Geschichte für deine Kinder zu stecken. Die Schule ist mächtig anspruchsvoll geworden. Ich schaffe das nicht mehr allein." Heinz brummte etwas Unverständliches und sicherlich nicht ganz Stubenreines. Aber sein Herz galt ja nicht nur den Vorfahren, sondern ganz besonders den jungen Familienmitgliedern. Waren die doch beste Zukunft! Und auch ganz praktische Zukunft, zumal der Hof nun in die wer-weiß-wievielte Generation ging. „Habt ihr Probleme?" Frank blickte etwas verstört auf: „Nicht in Physik, aber Mathe! Die Kreisfunktionen. Sinus und Kosinus. Da kannst du mir bestimmt nicht helfen!" „O nee! War auch nicht meine Stärke, obwohl ich's gerade jetzt gebrauchen könnte. Und du, Franzi, was plagt dich?" Die in zwei höheren Klassen des Gymnasiums angesiedelte Schwester legte ihre Brille wie eine Alte beiseite. „Es plagt mich nichts, aber es beschäftigt mich! Die Literatur und Poesie der unmittelbaren Nachgoethezeit. Was weißt du darüber?" „Ehrlich gesagt, nicht viel!" schämte sich Heinz Küppers. „Aber Papa! Mörike, die Droste, August von Platen und Heinrich Heine. Allgemeinwissen würde unser Lehrer sagen!" „Heine, ach ja! Ich weiß nicht, was soll es bedeuten, dass ich so traurig bin. Ich glaube, die Wellen verschlingen am Ende Schiffer und Kahn." „Prima, Papa!"
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Karin grinste jedoch nicht allzu wohlwollend: „Darin ist euer Vater ganz groß! In Märchen! Naja, jeder an seinem Platz." Günther knatterte mit seinem scheppernden Motorroller in diesen Minuten auf den Hof. Er fing die Fetzen gespannter Stimmung im Elternhaus auf, sobald er in der Küche am großen Tisch saß. Aber er beschloss, das zu übergehen, und sprach darum so gelassen wie möglich. „Seid nicht traurig. Ich habe nichts erreicht. Weder diesem Ding, dem Sonnenring, noch dem fränkischen Zirkel bin ich auch nur ein Jota näher gekommen. Schade!" Heinrich war während dieser wenigen Worte aufgestanden und hatte ein schlichtes Rotweinglas geholt, eine Kerze angezündet und das Licht gelöscht. „Wie?" tönte es aus vier Kehlen. „Etwa Vorweihnacht im Frühling?" ironisierte Karin den Vorgang. Heinz Küppers ließ sich nicht beirren. Er entfaltete sein Taschentuch und ließ den Sonnenuhrring daraus ins Glas fallen. Und ohne dass er ihn noch einmal berühren musste, fiel das Licht der Kerze durchs Glas und die Sonnenuhr und zeichnete auf die mit Krümeln bedeckte Tischplatte das fränkische Kreuz, das Wappen und die bekannte Krone. Alle waren sprachlos. Nur Heinz sagte nach geraumer Zeit, als sich das flackernde Zeichen anscheinend in die Tischplatte einzubrennen begann: „Morgen ist der Tag!" „Wenn's nicht regnet!" meinte Karin lakonisch. Und es regnete nicht! Karin war wie üblich die erste, die aus den Federn flog. Aber kurz nach sieben Uhr jagte sie ihre vierköpfige Brut auch aus den Nestern. Sie richtete sich nie nach der Uhr, sondern gefühlsmäßig nach dem Sonnenstand und inneren 83
Anlässen. Heute, so hatte man ihr angekündigt, würde sie was Außergewöhnliches erleben. Die Sonne kleckerte deswegen bald die ersten orangefarbenen Tupfer über den Osthimmel. „Ich wollte heute an sich zum Frisör, aber wenn ihr mich braucht, wasche ich mir die Haare unter der Dusche und drehe sie mir selber ein. Falls euch die Lockenwickler bei euren Messungen nicht Missweisungen unterjubeln!" „Gut, dass wir zur Schule müssen, hier tanzt wohl gleich der Bär!" grinsten die Jüngsten, aber insgesamt waren ihnen die Angelegenheiten nicht geheuer. Wie vor zwei Tagen sausten die Männer auf den Hof, nahmen auf dem heraldischen Pflasterkarree Aufstellung und begannen, sich auf die Peilung und die Maßnahmen im wahrsten Sinne dieses Wortes einzurichten. „Hallo, guten Morgen!" begrüßten sie gemeinsam die Lichtkorona über der Pankratiuskirche. Sie strichen den Peilwinkel mit einem Zimmermannsbleistift an, markierten mit dem Meißel und Schlegel die Weisung des Strahls nach Norden. Norden, wie Heinz bisher angenommen hatte, weil ihm noch nicht die Idee gekommen war, sich auf einen Kompass einzulassen. Aber es klebte ja einer im Auto, und mit Hilfe des Taschenmessers wechselte der in zwei Minuten seine geografische Position. Wie sich nun sofort herausstellte, als der Kugelkompass aus schwarzem Kunststoff in der Meißelkerbe stand und auf das wahre Nord ausgerichtet wurde, zeigten die Strahlenbündel zwar immer noch auf den Pankrazturm und sicherlich auch bis zum Quirinsmünster, aber eben gemäß Bussolenablesung um etwa 12 bis 14 Grad weiter westlich. Es blieb nach eingehender Inaugenscheinnahme nur noch übrig, auf den Hausboden zu steigen und mit dem Sonnenuhrring den Lichtreflex zu orten und damit einen neuen Winkel einzumessen, um die Hofmessung zu bestätigen. Oder? „Was meinst du? Machen wir das noch schnell vor dem Frühstück, auch wenn mir die Hände etwas zittern, Günther?" 84
„Aber klar! Ich will's jetzt wissen." Sie öffneten nur zwei Minuten später die höchste, nördlich angelegte Dachluke, die nicht größer als die in der Scheune war, und fluchteten von dort den Strahl der Sonnenkorona. Mit zwei Nägelchen und einem roten Bindfaden fixierte Günther schließlich die neue Peilung. Er meinte, er hätte die besseren, die jüngeren Augen. „Und was haben wir nun geschafft, mein weiser Herr?" frotzelte Heinz seinen Ältesten. „Mann, ich denke, wenn wir wie bei einem Segelkurs nun die einzelnen Koordinaten eintragen, dann haben wir eine zutreffende Linie, den Meridian oder Längengrad, auf dem unser Schätzchen zwischen hier und dort vergraben oder begraben ist." „Hier und dort?" runzelte Heinz die Stirn. Günther lächelte gequält: „Dort heißt: Wir müssen noch den Breitengrad bestimmen." „Und wie hast du dir das vorgestellt?" „Ach, ich hätte doch noch ein Semester Geografie belegen sollen." „Wie bitte? Und alles geografisch Wichtige an einem einzigen Tag inhalieren? Wie soll das funktionieren? Soviel Zauberei beherrscht niemand!" „Papa, es war nur ein müder Scherz. Wir können in aller Ruhe frühstücken. Mama bringt die beiden Youngster in die Schule. Den Schulbus haben sie wohl verpasst. Und währenddessen zeichnen wir unsere Maße auf der Kreiswanderkarte ein." Mit Schulzirkel, Geodreieck, einem überdimensionierten Schnippgummi und einer eisernen Elle, die ganz genau und gerade war, zog Günther nach dem Frühstück seine Richtlinie. Quer durch Nievenheim und Norf und Neuss, durch Meerbusch bis nach 85
Gellep, so dass sie wie ein Zeiger auf etwa elf Uhr wies. Wenn man sich vor dem geistigen Auge eine große Uhr über die Karte gezeichnet vorstellte! Er verglich dann noch einmal die Lage des Balkengerüsts auf dem Hof und begann sich zu wundern, weil diese Peilung nicht mit dem Zirkelschlag anhand der Sonnenringuhr korrespondierte. Die neue Linie - aus den Hofmaßen abgeleitet - führte schnurstracks durch den Neusser Hafen über den Rhein bis nach Lohausen und über den deutlich auf der Karte sichtbaren Grundriss der Kaiserpfalz in Kaiserswerth. Zufall? Oder auch nicht! Diese Linie sah wiederum wie ein Zeiger auf der Zwölf aus. Wahrscheinlich lag die Wahrheit, der Schatz genau in der goldenen Mitte. Ja, die goldene Mitte! Ehe den beiden Männer diese Erleuchtung kam, fühlten sie sich wie in einem Landregen verloren stehend. „Warum sollten wir es leichter haben als alle anderen vor uns?" brummte Heinz. „Ich schlage vor, wir nehmen die nächste geschichtsträchtige Erhebung nach St. Quirinus ins Visier und sehen dann weiter!" Heinz war sich in diesem Augenblick nicht des Doppelsinns seiner Aussage bewusst. „Frei nach dem Motto: Wir werden sehen, sprach der Blinde!" spöttelte Günther. „Und wenn wir's dann genauer haben, sozusagen schon die Pfennige des Schatzes zählen könnten, dann sollten wir allen Ernstes zur Wünschelrute wie früher greifen. Das erscheint mir als beste aller Alternativen. Denn wo bekommen wir heute noch Metalldetektoren oder ein Kartierungsflugzeug her? Eigentlich wäre das auch zu auffällig!" „Wir werden ohnehin auffallen, wenn wir quer durch die Felder stapfen." Heinz erwiderte: „Deshalb ist es nur richtig, dass wir deine Mama mit einbeziehen. Das ist dann eher als Familienausflug zu bezeichnen. Noch besser wäre es, wir hätten einen Hund." 86
Günther lächelte: „Wir können uns ja den Pointer von Bruni leihen. Er heißt Titus!" „Mein Junge, uns läuft die Zeit weg, wenn wir heute noch zum Zuge kommen wollen. Jetzt merke dir genau, wo wir zu suchen beginnen müssen." Günther strich sich die Mähne seiner ungekämmten Haare aus der Stirn: „Ganz einfach! Bei Stromkilometer 753 -- wie das Geburtsjahr von Rom - landeinwärts, vielleicht etwas südlich der Kreisstraße 9, der K 9, und der K 16. Ich habe aber keine Vorstellung, wie es dort in natura aussieht." Als Karin von der Schulfahrt heimkam, waren ihre Archäologen immer noch nicht fertig. Günther hockte zwar gewaschen und rasiert und mäßig gekämmt wieder über den Karten und dem Winkelmesser, war aber nur mit Unterhose und T-Shirt bekleidet. Heinz Küppers rumorte immer noch im Bad. „Ich dachte, ihr habt's so eilig?" meckerte sie ungeduldig. Günther blickte erst gar nicht von seinem Plan auf: „Wir müssen uns auch noch Titus holen!" „Wen wollt ihr denn noch einweihen?" Jetzt lachte Günther auf: „Der verrät uns nicht, Brunis Köter!" Heinz kam aus dem Bad: „Ich bin in einer Viertelstunde fertig. Ich muss nur die Wünschelrute von Siegfried suchen. Der hat damit immer nach Wasser und störenden Mauerresten in den Äckern geforscht, damit ihm die Pflugschare nicht beschädigt würden." Karin verschränkte die Arme: „Wenn ihr mich fragt, habe ich das Gefühl, dass wir mit dieser fixen Idee viel Zeit verschwenden. Wolltest du nicht den großen Pflug schweißen, und erinnerst du dich, dass wir beschlossen hatten, den Keller zu entrümpeln und endlich trocken zu legen?" 87
„Ja, ja", schnarrte Heinz, „ihr Frauen seid immer so nüchtern, wenn's ums Ganze geht." Heinz war aber schon auf dem Weg in seine Werkstatt und kroch sogar auf allen Vieren hinter die Kisten, Kästen und Abstellfässer, um die Wünschelrute aufzutreiben. Das dünne Drahtdreieck mit den Markierungen für verschiedene Handhaltungen, gebogen aus Edelstahlschweißdraht mit 1,25 Millimeter Dicke, reagierte auch auf Ruf nicht. Die Kordhose wies schon zahlreiche Rostspuren und Ölflecke auf, ehe er das Instrument nur durch Zufall an einem Haken vor einem verschmierten Senoussi-Zigaretten-Emailschild entdeckte. „Ein Glück, dass ich das Rauchen aufgegeben, dafür aber eine neue Leidenschaft ohne Abhängigkeit gefunden habe", hauchte Heinz erleichtert. „Wir können!" rief er ins Haus. Sie saßen im Wagen und fuhren natürlich bei Burgers vorbei, um sich den Hund zu leihen. Titus kannte den Freund seiner Herrin und war überhaupt nicht furchtsam. Er nahm gleich auf dem freien Rücksitz Platz, als wäre es sein eigenes Auto. Aber die Burgers machten keine gute Miene. Ihnen war die Erklärung, dass die Küppers-Leute Bisamratten austreiben wollten, die am kleinen Fließ im Rübenacker zu viele Höhlen angelegt hätten, zu fadenscheinig. „Macht uns den Titus bloß nicht kaputt, behandelt ihn gut!" „Er kriegt als Lohn einen ganzen Ring rheinische Fleischwurst", lautete der Trost. Karin schnallte sich wieder an: „Wohin fahrt ihr Lügner eigentlich? Doch nicht richtig durch die Äcker und über Weiden?" „Nein, Mama, von Strümp erst mal nach Langst", sprach Günther für Karin in Rätseln. „Und wo liegt Strümp?" 88
„Irgendwo im Niemandsland an der Autobahn nach Krefeld!" „Wie romantisch! Ihr Helden!" setzte Karin der Unterhaltung den I-Punkt auf. Und es war gegen halb elf, als sie den Wagen hinter dem Ortsausgangsschild dicht am Straßenrand abstellten. Titus war kaum an der Leine zu halten, sobald er das Gras am Straßengraben beschnüffelt hatte. Sie konnten ihn jedoch noch nicht loslassen, weil Stacheldraht mit Rindern bestandene Weiden einzäunte. Eine kleine Brücke führte aber in den Ilvericher Bruch. Erst dort ließ Günther den Ungestümen von der Hand. Und der Hund sauste wie ein Hase davon, einem unsichtbaren Niemand nach, jedoch ohne Haken zu schlagen. Der imaginär Gejagte schien geradewegs ins Feuchtgebiet zu fliehen, machte dann aber eine Kehrtwendung, denn augenscheinlich fegte Titus diesem Schemen auch mit einem mehr oder minder gelungenen Bogen hinterher. Er hetzte dem Unsichtbaren mit vermehrter Kraft nach. Letztlich preschte der Hund zwischen zwei Autos über die K9. Direkt in den gegenüber liegenden Acker. Heinz sah das Wettrennen mit sehr gemischten Gefühlen. Der Hund musste unbedingt wieder an die Leine, als illegitime Camouflage für die Anwendung der Wünschelrute. Mit dem 1,55 Meter langen Doppelschritt, wie ihm der Uhrmacher Martensen geraten hatte, wollte er sich nicht abgeben. „Günther! Ruf den Lauser und nimm ihn kurz. Ich prüfe mal den Sonnenuhrring. Am besten mit den spärlichen Sonnenstrahlen, die sich da unter den Pappeln sammeln. Vergleiche du inzwischen deine Peilungen auf der Karte mit den aktuellen, örtlichen Bedingungen."
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Die weiteren Worte von Heinz Küppers gingen im Dieselgeräusch eines Ackerschleppers unter. Karin hob instinktiv ihren rechten Arm und zeigte demonstrativ schräg in den Himmel über Angermund und Lohausen, so dass der Traktorfahrer die kleine Fußgängertruppe mit Hund auf dem Acker für Beobachter von Flugzeugen oder Graureihern halten konnte. Graureiher hielten sich immer im Ilvericher Bruch auf. Der Sonnenring warf zwar einen deutlichen Fleck wie das fränkische Kreuz und die Krone auf die Handfläche, aber im Gras vor Heinzens Füßen ging er verloren. Die Wünschelrute war schon nötig. Heinz schob seine Radfahrerkappe so tief ins Gesicht, dass sogar die Nase im Schatten des Schirms lag. Er winkelte seine Hände sonderbar verstohlen ab, als er die Wünschelrute oder den Wünscheldraht spannte, so als hätte er einen Tetanieanfall. „Wo muss ich nun hinlaufen, zur Straße oder ins Lanker Ackergebiet, sagen wir nach Nordost?" Gebeugt stand der Sohn am Straßenrand, und der Burgersche Hund hatte sich mit seiner Leine zweimal um die Beine seines jungen Freundes gewickelt. Titus hechelte kräftig und fiepte in Richtung Heinrich Küppers. Günther drehte die Kreiskarte hin und her, ehe er laut über die Straße rief. „Wir sind schon richtig. Eigentlich auf dem Punkt! Jedenfalls mit der ersten Messung aus dem Dachfenster. Es fehlt uns nur noch der Breitengrad!" „Ich habe verstanden. Komm Karin, wir gehen einfach mal nach Osten. Vielleicht schlägt sie dabei aus." Heinz und Karin führten sich wie harmlose Spaziergänger auf, auch wenn sie schlicht über fremde Äcker marschierten. Wäre jemand auf diese Weise über seine eigenen Felder getrampelt, hätte er die Schrotflinte des Großvaters aktiviert, dachte Heinz. Die Rute tat nichts. Rein gar nichts! Sie zuckelten deshalb auch bald nach Norden, überquerten anschließend wieder nach Süden gehend die Kreisstraße und schlurften sogar in den Ilvericher 91
Bruch zurück. Nur ein einziges Mal schlug die Drahtrute merklich aus, als sie das kleine Rinnsal des Kringsgrabens übersprangen. Sehr zur Freude von Titus, der ihnen mit einem gewaltigen Satz folgte und Karin, die jetzt seine Leine hielt, ins Gras warf. Daraufhin setzten sich alle, ratlos und ein wenig verzweifelt. Der Hund hechelte und rutschte peu à peu bis an den Bachrand und machte gemäß seinem Instinkt auf einen kleinen Baueingang von Bisams aufmerksam. Sie hatten also doch nicht die Burgers belegen, eigentlich nicht. Aber wohl sich selber! „Wir werden das heute Nacht nochmals machen. Wir können ja nicht am hellichten Tag kilometerweit durch junge Saaten laufen. Das fällt doch auf. Und außerdem teste ich die Wünschelrute zu Hause an bekannten Objekten. Vielleicht spreche ich auch mit Paul Krings in Zons."
Die Familie brach ihre Expedition ab und verfrachtete den Sohn in die Mensa der Uni und auf dem Nachhauseweg den Gasthund bei seiner angestammten Familie. Trotz Wurstring verließen sie die Burgers mit schlechtem Gewissen. Mit Hochspannung bereitete Heinz seinen Wünschelrutentest vor, obwohl auf dem Hof ein Haufen Arbeit auf ihn wartete. Einen großen Zinkeimer füllte er zur Hälfte mit Muttern, Schrauben und anderen Eisenteilen, so dass er ihn kaum noch schleppen konnte. Hinter dem Obstgarten, etwa zwei Meter vor der Mauer hob Heinz ein Erdloch aus, in das er den Eimer versenkte und wieder mit Erde bedeckte. Beim Überschreiten dieser Stelle, aus welcher Richtung auch immer, senkte sich der Drahtwinkel unwiderstehlich gegen die Kraft der abgespreizten Hände. Zur Probe wollte er noch den alten, zugeschütteten Brunnen im Hofwinkel, dann die abgedeckten Grundmauern des Gänsestalls hinterm Küchenbeet und die früher schon ermittelte Wasserader an der Weggabelung zum Mühlenforst ausfindig machen. 92
In allen Fällen, auch bei wiederholten Versuchen, klappte die Gabel deutlich nach oben oder nach unten. Also sagte sich Heinz ermunternd, dass es alle Wühlmäuse und Maulwürfe im Umkreis hören konnten: „Dann muss es auch mit dem Nebelgold klappen!" Er ging sehr zuversichtlich ins Haus und verfolgte den Rest des Tages mit notwendigen Arbeiten. Nach dem Abendbrot - Günther war mit der Bahn und dem Linienbus nach Hause gekommen - entwickelte Heinz seinen ultimativen Plan. „Heute Nacht ist zwar noch nicht Vollmond, aber der zweite Frühlingsvollmond steht bevor. Wir nutzen diese Konstellation plus Wünschelrute und zusätzlich eine nächtliche Peilung mit der friesischen Sonnenuhr. Das muss klappen. Und am besten starten wir hinter dem Weidenwäldchen, um etwas Deckung zu haben. Nur Günther und ich!" „Und wenn euch jemand beobachtet?" forschte Karin. „Uff! Gute Frage! Hast du eine Idee?" „Sagt doch die Wahrheit. Die glaubt euch sowieso niemand!" schlug Karin vor. Heinz und Günther fuhren, sobald es dunkel wurde, los und erreichten das Zielgebiet. Der Himmel war sonderbarerweise nur milchig klar, so dass sich um den eirunden Mond ein Kalo von bemerkenswertem Umfang bildete. Automatisch nahm Heinz die Sonnenringuhr und peilte das schwache Licht und auch Reflexe über den Feldern an. Er war um so mehr erstaunt, dass sich wieder der nun schon bekannte Lichtfleck deutlich sichtbar bildete. Er wies unverkennbar nach rechts. Egal was das Kartenmaterial anzeigte, gingen sie nun mit dem Schrittmaß von ungefähr 1,55 Meter in diese Richtung. Der Boden war kein Acker, aber auch nicht Wiese. Heinz hatte die Wünschelrute gegen die Sonnenuhr getauscht und hielt auf die ermittelten Strahlenspiele zu.
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„Ich glaube, wir bewegen uns auf dem Prallhang der alten Rheinschlinge. Ist Titus nicht auch hier lang geflitzt?" las Günther die Karte, mit der Nase dicht über dem Papier. „Ich habe keine Ahnung", gestand Heinz, „ich werde nur von dem Ding gezogen." Wie ein Schlafwandler spreizte Heinz seine Beine automatisch im Doppelschritt mit der Drahtgabel in die eingeschlagene Richtung und musste plötzlich stehen bleiben. Geräusche rechter Hand irritierten ihn. Als sie dann ein Blöken von Schafen hinreichend erklärte, setzte er seine Suche fort. Günther folgte stolpernd und über die Karte gebeugt. Beide Männer fielen unmittelbar auf die Knie, weil sie eine kleine Geländestufe übersehen hatten. Und in diesem Augenblick sahen sie beinahe in Griffnähe, etwa zehn bis zwölf Körperlängen voraus, einen Lichtschein auf dem Acker. Günther stützte sich noch mit den Händen ab und erschrak zutiefst, als er sich wieder aufrichtete und einige Scherben in den Händen hielt. Leise sagte er: „Wir sind am Ziel! Mach jetzt mit dem Draht weiter!" Heinrich stand ächzend auf und spürte den Schweiß der Spannung aus den Poren rollen. Mit letztem Mut krampfte er sich an die Rute, kontrollierte noch mal die Markierungen für den sogenannten metallenen Erzgang und ließ sich förmlich von der Wünschelrute ziehen. Über den Scherbenacker. „Hast du dir ein paar Brocken eingesteckt? Vielleicht könnten wir die bestimmen lassen. Ich habe mal was von Bandkeramik gehört. Ginge das bei euch am Institut?" „Vater, ich bin erst vier Tage dort und noch nicht immatrikuliert!" Mit den folgenden, abgemessenen Schritten kam Heinz der Lichterscheinung so nahe, dass er sich sogar geblendet fühlte. Und dahinter lagen noch Schemen der Kopfweiden, die den Prallhang an seiner höchsten Stelle begrenzten. Die Wünschelrute zuckte 94
jetzt. Die Handgelenke taten Heinz schon weh. Und Günther versuchte mit der kleinen Taschenlampe die aufgelesenen Scherben zu betrachten. Er stand wie angewurzelt. Dann rief er dem Vater zu: „Also, ich weiß nicht! Da sind noch Zähne und Schuppen eines Reptils zwischen den Keramikscherben. Höchst merkwürdig! Stammen die von einem Drachen?" Aber Heinz Küppers verweilte gehörlos und völlig versunken über dem Ausschlagpunkt der Rute, wo sich der Drahtwinkel besonders kräftig zur Erde gesenkt hatte. „Ich glaube, ich hab' ihn!" Erst beim näheren Hinsehen entpuppte sich die vermeintlich schatzträchtige Ackererde als ein verrotteter Ackerschleppersitz und eine verrostete Pflugschar mit Zugkette. „Verdammt! Das war eine Täuschung!" Er ergriff Sattel und Blech mit dem zerfledderten Leder und schleuderte ihn wie ein Hammerwerfer in die Dunkelheit. Desgleichen folgte der Pflug. Und Heinz ging noch einmal über die Stelle und auch wieder zurück, und abermals schlug die Rute so kräftig aus. Auch das Leuchten - wie ein bläulicher Nebelschleier - hatte nicht aufgehört. „Wir müssen diese Stelle markieren und morgen Nacht mit einem Spaten nachgraben. Wie konnten wir den vergessen!" „Die Aufregung macht's möglich!" Günther ballte die Faust um die Scherben, Zähne und Schuppen und sagte noch: „Die lasse ich nicht hier. Aber größere Steine, um ein Häufchen aufzuschichten, finden wir auf den Wiesen und im Lössboden nicht."
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„Die einzige Idee, die ich jetzt habe, wäre, eines der Verkehrsschilder aus der Erde an der Straße zu ziehen und das Rohr wieder hier in den Boden zu rammen. Das Schild müssten wir natürlich abschrauben. Das Rohr selbst fällt bestimmt nicht auf, zumal morgen, am Samstag, wahrscheinlich niemand aufs Feld fährt", spann Günther seinen Gedanken weiter. Heinz war unsicher: „Denk an die Spaziergänger, Junge, am Wochenende!" „Ein bisschen Risiko muss schon sein, mein Alter! Nur das adelt unser Unternehmen!" Mit dem Schweizer Offiziersmesser lösten sie mühevoll in der Deckung der Kopfweiden das 70-km-Geschwindigkeitsbegrenzungsschild vom verzinkten Rohr, das Günther mit verzweifelten Kräften vom Straßenrand gerüttelt hatte. Dann trieben sie es mit vereinten Kräften an der bewussten Stelle ins Erdreich. Bis morgen! So Gott will! Tschüs!
Der nächste Vormittag verlief für alle Beteiligten in den üblichen Bahnen, was eben so am Samstag die Routine war. Erst gegen zwei Uhr änderte sich die Welt entscheidend, verschob die Gewichte auf der Balance, die während der ganzen Woche eigentlich geherrscht hatte. Mutter Burger und Bruni fuhren im Mercedes-Kombi auf den Küppers-Hof. Sie trugen äußerst ernste Gesichter zur Schau, als wären ihnen nicht nur die Gerste, sondern auch die Erbsen und der Weizen verhagelt. „Ist was mit Titus? Er hat die Bisams nicht angegriffen, sondern nur aufgescheucht, und die haben auch Angst vor ihm gehabt!" vermittelte Karin.
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„Nein, darum geht es nicht! Titus sitzt fidel im Wagenfond draußen. Eigentlich hatte Günther versprochen, am Mittwoch zu uns zu kommen. Er hat sich gedrückt. Und auch vorgestern und gestern hat er sich nicht mehr gemeldet." „Und weshalb wollten Sie ihn sprechen?" „Ich nicht! Ich wusste auch nichts bis heute morgen! Bruni wollte es ihm wohl erst selber sagen. Aber jetzt ist sie schon im dritten Monat, Frau Küppers!" „Was, Bruni ist schwanger? Von Günther?" „Ja, was denken Sie denn! Hier haben wir das Ultraschallbild. Es wird ein Junge." „Dann ist es wohl um Karneval passiert?" seufzte Karin. „Schöne Bescherung!" „Wo ist denn Ihr Junge? Was treibt er denn?" „Der hilft meinem Mann, weil wir arg im Rückstand sind wegen ... ach, egal. Ich rufe sie beide!" Karin Küppers rief über den Hof. Es dauerte etliche Minuten, bis die Männer und die Kinder Frank und Franziska in die Wohnstube kamen. Aber alle spürten sofort, dass etwas nicht stimmte. Es sprach also keiner ein Wort. Schließlich wurde es Heinz zu bunt. „Habt ihr Trauer? Ist jemand verstorben?" Nun platzte Karin aber der Kragen: „Im Gegenteil! Wir werden Großeltern." Und sie zeigte auf Günther: „Und wir stehen alle auf Brunis Seite." Günther war aschfahl geworden und flüsterte: „Warum hast du es mir nicht eher gesagt? Ich liebe dich doch!"
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Bruni Burger, die in der gesamten Geschichte bisher nur zur Assoziation an die Burgundenkönigin Brunhilde Anlass gab, sagte mit sichtbarer Enttäuschung: „Du hast ja in letzter Zeit alles Mögliche andere im Kopf. Lass uns darüber nachher reden. Ich kann doch heute bei euch bleiben?" „Aber ja! Wir freuen uns doch ganz toll. Wunderbar!" frohlockte Heinz. „Wie soll denn der Kleine heißen?" Bruni sah Günther aufmerksam an: „Weiß noch nicht! Wir sollten's besprechen." Und Günther und Heinz setzten sich abrupt hin. Karin nahm neben Bruni Platz und zwinkerte Gisela Burger, der anderen werdenden Großmutter, verschwörerisch zu. „Was ist eigentlich im Hause der Familie deines Freundes los?" muckte Frau Burger auf. Heinz, der die absolute Katastrophe und Konfusion expresszugschnell auf sich zurasen fühlte, versuchte die Situation zu retten: „Auf dieses Glück trinken wir jetzt aber einen. Und außerdem gilt von heute an das Du! Ich bin Heinz, um Gotteswillen nicht der Heinrich. So heiße ich nur für die Bank!" Karin erschrak: „Aber Heinrich!" „Also gut, meine Frau darf mich auch Heinrich rufen. Aber ihr nicht, Kinder!" Gisela Burger beharrte: „Kind, und du bekommst ein Baby von denen! Schrecklich!" Bruni ergriff die Flucht nach vorn: „Nicht von denen! Von Günther! Günther, wo können wir reden?" Günther nahm seine Freundin an der Hand und zog sie in die obere Etage. 98
„Wenn man's genau nimmt, hat Günther ja seinen Schatz gefunden", sagte Heinz sehr zweideutig. „Jetzt kommt die Reihe an mich. Ich muss meinen heute noch unbedingt suchen." Frau Burger begann, den Familienvorstand der Küppers feindselig anzustarren: „Frau Karin, also Karin, also du, wenn es sein muss, dann sollten wir noch über die weiteren Maßnahmen reden. Aber Ihrem Mann, äh, verzeih', deinem Mann vermag ich nicht zu folgen. Seinen Schatz? Ist deine Ehe etwa nicht in Ordnung?" „Gisela! Darf ich doch sagen, nicht wahr? Hör nicht auf ihn. Er hat heute seinen archäologischen Wahn, weißt du, eine Art Hobby." „Schlimm! Die Männer! Meiner rennt immer zum Fußball. Deshalb kommt er auch so prima mit Günther aus. Karin, was machen die beiden eigentlich oben?" wurde die Frau unruhig. „Das gefällt mir gar nicht!" „Da brauchen wir doch jetzt keine Angst mehr zu haben, das ist vorbei. Der Kleine ist schon unterwegs." Schnelle Schritte hörte man im Hausflur. „Wir werden sobald wie möglich heiraten. Bruni kommt mit nach Düsseldorf, und wenn wir den Schatz haben, können wir uns auch Möbel nach unserem Geschmack kaufen und uns meinetwegen eine kleine Maisonettewohnung leisten." Sofort schwoll der Henne Gisela Burger der Kamm: „Seid ihr alle verrückt geworden?" Auch Heinz versuchte zu intervenieren: „Den Schatz können wir aber um König Siegfrieds willen nicht verscherbeln. Außerdem nimmt ihn kein Juwelier in Zahlung. Denn dann hätten wir die Kripo auf dem Hals. Die würden alles wegen Siegfried und Dietrich gegen uns unternehmen und untersuchen." Gisela Burger stand brüsk auf: „Bruni, kommst du mit? Wir überlegen uns das noch mit der Hochzeit. Ohne die Küppers 99
kommen wir auch durch. Wo vier satt werden, bringen wir ein Fünftes leicht durch. Achim würde das auch begrüßen." Aber Bruni lächelte: „Zu meinem lieben Bruder Achim könnte ich dir was sagen, aber ich bleibe hier, ich habe das entschieden!" „Ich glaube, Titus ist der einzige, den ich noch verstehe und der auf mich hört. Ich gehe jetzt lieber!" schimpfte Gisela und trippelte auf den Hof, begleitet von Karin.
Heinz trank den eingegossenen Kognak nun allein. Er besann sich aber eines Besseren, den zweiten und den dritten, die für Bruni und Karin bestimmt waren, nicht auch noch zu sich zu nehmen. Er musste das Nebelgold allein heben. Klarer Kopf war deshalb angesagt. In Nibelungentreue, wie man so sagte, zu seinem Stamm, den Franken, den Freien, und für den kleinen Burschen, der schon auf dem Weg war, die Geschichte fortzusetzen, zu wiederholen. He, wiederholen? Um Gottes willen nicht! Nur neues Leben, neues Glück! Er hielt den Ultraschallbeleg hoch: „Willkommen, Jung-Siegfried!" „Ich muss dann wohl oder übel die Sache selber ausbaden. Heute Nacht. Die letzte Chance, das Geheimnis zu lüften!" führte der Mann sein Selbstgespräch zu Ende. Ins Haus rief er aber: „Wann essen wir Abendbrot?" Niemand antwortete ihm. Deshalb hatte er sich entschlossen, zu allererst den Klappspaten zu suchen und den alten Rucksack, mit dem er während seines Landwirtschaftsstudiums in Bochum durchs Sauerland und durch Nordhessen getourt war. Beide Requisiten waren in leidlichem Zustand, durften aber schon einmal hinter der Haustür auf den Hof und auf das Pflastermuster gucken. Ihre Bewährung stand ihnen nach so langer Ruhe noch bevor. Gehofft hatte Heinz, dass es während des schon am frühen Nachmittag eingeforderten Abendbrots nur mit Belanglosigkeiten und nicht mit einem direkten Schlagabtausch in der Familie 100
zugehen würde. Aber er hatte sich getäuscht. Karin war sichtbar aufgeregt. „Musst du in solch einer angespannten Situation gerade von deiner Schatzgräberei fantasieren?" „Na hör mal! Ein Kind ist doch kein Unglück. Es ist doch ein gutes Vorzeichen, oder?" Bruni blickte ihren zukünftigen Schwiegervater an, als wäre er ein Außerirdischer mit froher Botschaft. Sie sagte aber nichts. Heinz überkam jedoch ein sehr sentimentales Gefühl: „Mein Kind, du bist uns willkommen. Sei unbesorgt. Und ich hoffe, dass Günther alles so ernst nimmt wie unser Familienabenteuer, den Nibelungenschatz. Deine Eltern, besonders deine Mutter, werden sich auch noch freuen. Mach dir keine Sorgen." Karin schüttelte ihren Kopf heftig. „Ihr Männer macht's euch immer sehr einfach." Frank und Franziska hatten die letzten Stunden wie einen schlecht inszenierten Film empfunden. Sie waren aber einverstanden, wieder für eine Weile ein Zimmer zu teilen, weil Franziskas Stube als vorläufiges Quartier für die Schwangere besser geeignet war als die Kammer Günthers. Mit schräger Wand und dem chaotischen Ordnungsprinzip des werdenden Vaters. „Ich werde Onkel!" nickte Frank. „Und ich Tante, was du nie schaffen wirst", konterte Franziska. Als sich die zeitweilig vergrößerte Familie zum abendlichen Palaver versammelte, packte Heinz schon alle möglichen Utensilien zusammen und stellte auch noch eine Stalllaterne mit Petroleum dazu. Feuerzeug, Sonnenuhrring, die alte mechanische Armbanduhr mit phosphorisierenden Zeigern und das von Günther mit schwarzen Filzschreibern besser markierte Kartenmaterial. 101
Zum Schluss verlud er noch seinen einen halben Zentner schweren Werkzeugkasten in den Kofferraum. „Ich muss!" küsste er Karin auf die rechte Wange„Du musst? Du bist unverbesserlich. Anstatt heute hier zu bleiben. Und wenn dir was passiert?" „Was soll mir denn passieren?" fragte er, schon vom Hof rollend.
Als Heinz dann nach Strümp hineinfuhr, verpasste er wegen eines aufgeblendeten Lastwagens, der ihm entgegenkam, die Abfahrt nach Ilverich und Langst. Und bald nach dem Ortsausgang, auf der Xantener Straße, entdeckte er keine Zufahrt mehr, die in die rheinischen Felder führte. Er hielt den Wagen an, gerade an der Stelle, wo ein großes weißes Schild die kommenden Bautätigkeiten zur Rheinquerung von Fischein über Strümp nach Lohausen verkündete. „Mensch", brodelte es in ihm, „es wird wirklich höchste Zeit zu handeln. Wenn alles stimmt und passt, dann, Mann, dann finden die vielleicht schon am Montag den Schatz. Nein! Um der Ehre der fränkischen Tradition willen sollte das Nebelgold doch der Hort der Nibelungen bleiben." Er wendete den Wagen und fand sehr langsam fahrend den gestern gewählten Abstellplatz wieder. Mit dem Rucksack auf dem Rücken entschloss er sich, auf einem kleinen Umweg die markierte Grabung zu suchen. Die im Mondschein gut erkennbare Baumzeile der Kopfweiden konnte ihm dabei als Wegweiser dienen. Die Karte brauchte er deshalb gar nicht. Zwischen den ersten beiden Weiden blieb er erst einmal stehen und zückte den Kompass. Sein Blick ging gemäß der Anzeige des Instruments nach Osten. Dort floss der Rheinstrom der Gegenwart, und vor ihm lag wahrscheinlich eine alte Rheinschlinge mit Prallhang und Gleithang, und dieses gesamte Gebiet war in den fernen Tagen des Jahres 437, so wie es Günther herausbekommen hatte, überflutet worden. 102
Zu seinen Füßen glaubte er das glucksende Rheinwasser zu hören, das sich von den Wormser Auen und an der Lorelei vorbei bis hierher gewälzt hatte. Während er sich langsam um die eigene Achse drehte, sah er wieder den leuchtenden Fleck im Gelände, der nicht Feld, nicht Wiese zu sein schien. Der Mond ruhte darüber. Die moderne Markierung der Grabungsstelle aus VerkehrsschildRohr zeigte immer noch schräg wie die Erdachse nach zwölf Uhr fünf oder so. Gegen den dunkelblauschwarzen Himmel war sie gut zu erkennen. Heinz blieb eine ganze Weile noch zwischen den beiden Weiden stehen, aus Vorsicht, aus Skepsis, aus Furcht. Durchaus! Er wollte sich nicht für den letzten Schritt entscheiden. Sicher war er wohl, dass ihm niemand gefolgt war und dass ihn auch niemand von der fernen Kreisstraße sehen würde. Lautlos, langsam und vorsichtig zu sein, war ohnehin die Forderung des Schatzgräbers im Namen seiner geschichtsbewussten Vorfahren.
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Das gestern in die Erde getriebene Rohr war nicht kalt, wie er erwartet hatte, sondern handwarm. Sonderbar! Aber die Aufgabe musste nun bedenkenlos gelöst werden. Wenn das Boot der Burgunder, der Nachen jenes Schiffers Thuringard, hier gestrandet war, vor über anderthalb tausend Jahren, dann würde er, Heinz Küppers alias Küfer und Mundschenk der Könige der Freien, als einziger, bewusst lebender Statthalter und so weiter und so weiter ... Heinz rüttelte an dem Rohr, das etwa einen Meter tief in der Erde steckte, als würde hier tatsächlich die Erdachse aus dem Planeten dringen und gäbe ihrem Beweger alle Kraft der Welt. Um ihr gegen den augenscheinlichen Verfall noch einmal einen Ruck zu geben! Wie vielleicht damals, als Hagen von Tronje mit dem Speer auf Siegfried eindrang, aber den Untergang der Burgunder nicht mehr aufhalten konnte? Alle diese seltsamen Gedanken lagen ihm auf der Zunge, während sich das Rohr nur millimeterweise aus der Erde ziehen ließ. Plötzlich gab es nach und warf Heinz samt Rucksack auf den Boden. Aber durch diese Nähe mit dem Acker bemerkte Heinz Küppers wenig später, dass mit dem Rohr auch ein Erdaushub erfolgt war. Schwarzer, fettiger Mutterboden, dann feiner Schwemmsand und darin verstreut goldene Münzen, Edelsteine und Golddrahtringe und ein Fibelbruchstück kamen zu Tage, nein zur Nacht! Heinz blieb auf der Erde liegen. Niemand sollte ihn jetzt stören. Selbst dem Mond wünschte er tausend Wolken wie anderen ungebetenen Neugierigen tausend Läuse in den Pelz. Er tastete nach dem Spaten und nach der Spar-Markt-Plastiktüte und raffte alle erreichbaren Kostbarkeiten mit Sand und Erde hinein. Zur gleichen Zeit waren an dem kleinen Abhang, auf dem die Kopfweiden wie Wachtposten standen und deren junge Gerten sich auch für Wünschelruten eigneten, aus vielen kleinen und großen Löchern die Tiere des Rheintals herausgekrochen. Grillen und Maulwürfe krabbelten hervor, obwohl Maulwürfe normalerweise Grillen verzehren. Zwei Füchse kamen auch. Und Füchse nehmen auf Maulwürfe keine Rücksicht. Bisams, Unken, Ratten, die in großer Not auch Unken und Grillen nicht verschmähen, traten in die Nacht. Spitzmäuse und Wühlmäuse 105
erschienen. Und Engerlinge, die erst im Mai nach letzter Metamorphose auftauchen! Sie scharten sich um den liegenden Mann, der sich gleich darauf an die Stirn fasste und eine blutige Hand vor die Augen hielt, soweit er das beim Mondlicht erfassen konnte. Die Füchse, das Paar, setzte sich auf den Klappspaten. Er sah seine Hand noch einmal an. Sie war so blutig wie damals, als er seinen Vater unter dem umgestürzten Traktor hervorholte. Seiner Mutter Gudrun hatte er die Hand nie gezeigt. Sie war bald darauf gestorben. Ob an Krebs, Kummer, dem Schicksal der Freien, wollte er nicht entscheiden. Die Unken raschelten mit der Plastiktüte, und die Bisams hoben ihre Lefzen, so dass er ihre orangeroten Zähne dicht vor Augen hatte wie die Grillen und die Engerlinge. Und die Maul würfe sammelten die übrigen Erdkrumen wieder ein und stopften sie ins Erdloch zurück. Die Ratten packten das verzinkte eiserne Rohr und trugen es davon. Offenbar sollten alle Spuren seiner bemerkenswerten Entdeckung beseitigt werden. Und sobald die tierischen Verbündeten ihre Arbeit augenscheinlich beendet hatten, sanken aus den nahen Schlafbäumen der Krähen einige dieser Schwarzflügel auf den Platz seines Fundes. „Was willst du noch hier?" fragten sie zu seiner Überraschung. „Lass den Reichtum ruhen! Für immer!" „Aber es gibt doch einen guten Grund, den Schatz zu heben. Weil ihn morgen oder übermorgen schon der Bagger beim Ausheben der Brückenzufahrt zerstören könnte!" „Wir haben die Schilder auch gelesen! Aber wir können mit dem Grundwasser jederzeit einen neuen Lagerplatz für die Ewigkeit einspülen. Keine Sorge!" „Ich wollte auch das Unrecht sühnen, und vielleicht ist vieles auch künstlerisch wertvoll, für die Museen und die Forschung", kämpfte Heinz gegen die Einsicht an, aufstehen und einfach weggehen zu müssen, um dem Gespenstischen zu entkommen.
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Mit letzter Überzeugungskraft formulierte er: „Eines Tages ist mein Enkelsohn Siegfried, wenn er denn so heißen sollte, groß genug, dass ihn die alte Geschichte des Nebelgoldes wieder umtreibt. Bedenkt doch das auch!" Die Krähen meinten aber: „Das ist noch lange hin. Und sein Vater Günther wird erst Geschichte studieren, und noch Geografie dazu und Griechisch vielleicht. Und er wird mit Bruni noch mehr Kinder haben, die sie Artus, Viviane und Helena nennen werden. Ach wer weiß, welche Träume die Menschen dann bewegen!" „Er will doch Lehrer werden", fantasierte Heinz. „Schon! Aber denke an deinen Lehrer, Paul Krings, der wusste schon lange, wo der Nibelungen Hort, das Nebelgold zu finden war. Und er hat es ruhen lassen. Wusstest du das nicht?" „Ach!" „Ein paar Erinnerungen ans Nebelgold hast du ja entdeckt, nimm sie mit! Wir aber glauben, dass du dich dabei beeilen musst, denn du hast hier die Ruhe gestört. Sieh, wie der Nebel schon aufsteigt. Dein Heimweg ist weit und wird gefährlich."
Heinz kam endlich auf die Knie, während die Feuchtigkeit aus dem Boden aufstieg. Er raffte sein Werkzeug und die Plastiktüte in den Rucksack und brauchte eine halbe Stunde zu seinem Wagen zurück. Der Spatenstiel schaute aus dem Rucksack, und die Hosenbeine und die Ellenbogen seiner Jackenärmel waren feucht. Am Deutschen Eck in Büderich winkte ihn eine Polizeistreife an die Seite: „Guten Abend! Polizeimeister Friedrichs, Inspektion Neuss. Wir führen eine Verkehrskontrolle durch. Haben Sie etwas 107
getrunken?" „Nein, überhaupt nichts!" antwortete Heinz wahrheitsgemäß. Der Polizist leuchtete in den Wagenfond: „Was haben Sie denn da im Rucksack?" „Taschenlampe, Spaten und ein paar Sachen!" antwortete er wieder wahrheitsgetreu. „Könnten Sie uns das zeigen?" „Bitte sehr!" wich Heinz fast aus, während ihm die Gedanken im Hals wie Mücken auf und ab schwirrten. Die Goldmünzen und Edelsteine flirrten um seine Augen, als er aus dem Wagen stieg und die hintere Tür öffnete. Und während er den Spaten aus dem Rucksack zog, suchte er krampfhaft nach einer Erklärung, falls man ihn sogleich fragte. „Zeigen Sie doch mal die Tüte!" forderte der Ordnungshüter. Heinz entfaltete den verdreckten Beutel und entdeckte zu seinem Erstaunen die darin hockenden großen Unken. Der Polizist verfolgte alles peinlich genau, erschrak aber ebenso wie Heinz und wagte angewidert, nicht hineinzufassen. „Was machen Sie denn damit?" „Oh! Haben Sie schon einmal eine Schneckeninvasion im Küchengarten zu bekämpfen gehabt? Die sind die besten Haustiere! Man muss sie natürlich zähmen", flunkerte der Schatzgräber erleichtert. „Und wo haben sie die gesammelt?" „Die? Im Bruch, im Sumpfgelände bei Nacht. Das geht nur um die Vollmondzeit, und man muss sie immer pärchenweise fangen, sonst wandern sie wieder ab."
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„Na, dann wünsche ich Ihnen und Ihrem Majoran und Bohnenkraut viel Glück und gute Weiterfahrt!" Heinz antwortete wieder treuherzig: „Die sind ein wahrer Schatz! Wünsche auch Ihnen eine gute Nacht!" Er fuhr auf der alten B 9 nach Hause. Aber unterwegs meldeten sich die Kröten noch zu Wort: „Du hast Glück gehabt, Freund, wir haben alle Kostbarkeiten rechtzeitig verschluckt. Der Polizist hätte nichts gefunden, auch wenn er nicht so feige gewesen wäre. Und wir nehmen dein Angebot dankbar an, im Küchengarten auf unsere Lieblingsspeise Jagd zu machen." „Bitte! Noch auf ein Wort! Wusstet ihr vom Schatz im Ilvericher Bruch?" „Aber ja! Seit Generationen haben wir ihn bewacht und gepflegt!" „Wenn jetzt die Bauarbeiten beginnen, ist doch Entdeckung vorauszusehen, Leute!" kämpfte Heinz noch einmal mit sich, eventuell doch an eine Bergung zu denken. Die Unken schüttelten sich so, dass der Wagen zu schaukeln begann: „Du hast den Krähen nicht gut zugehört! Wir haben längst dafür gesorgt, dass der Schatz so verlagert wird, dass er genau unter das Brückenfundament kommt!" „Welch ein Symbol für die Zukunft! Ein Brückenschlag übers Nebelgold!" „Siehst du", rülpste die größte Unke, Jetzt hast du's endlich verstanden!" Und Heinz freute sich, dem kleinen Siegfried die zahmen Unken zu zeigen, wenn sie denn im Küchengarten blieben.
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