MARTIN SELBER
… U N D DAS EIS BLEIBT STUMM
ROMAN UM D I E FRANKLIN-EXPEDITION 1845 – 1850
DAS NEUE BERLIN
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MARTIN SELBER
… U N D DAS EIS BLEIBT STUMM
ROMAN UM D I E FRANKLIN-EXPEDITION 1845 – 1850
DAS NEUE BERLIN
eber dem Hafen von Greenwich lag strahlender Sonnenschein, und eine frische Nordostbrise versprach bestes Segelwetter. Am Kai drängten sich Kopf an Kopf erwartungsfrohe Menschen, Musik klang über das Wasser, und aller Augen hingen an den beiden Seglern, die im Schmuck all ihrer Fähnchen und Wimpel auf die Ausfahrt warteten wie edle Pferde auf das Rennen. * Eben war ein Boot vom Land abgestoßen und
hielt auf die Schiffe zu. Am Heck wehte die Flagge der britischen Admiralität. „Sieh, Mabel!“ rief ein älterer Herr im Gedränge und wies mit der Hand hinunter. „Die Herren von der Admiralität, und dort der alte Mr. Barrow!“ Die Frau, der dieser Ruf galt, beugte sich über das Geländer, um die Männer in den ordengeschmückten Uniformen voneinander zu unterscheiden. Der alte Barrow, der langjährige Sekretär der britischen Admiralität, stand aufrecht mitten im Boot und blickte stolz den beiden Schiffen entgegen. Sein Werk war es, was hier unternommen wurde, sein Lieblingswunsch sollte jetzt in Erfüllung gehen: diese Segler würden dem englischen Handel den kürzesten Weg nach China frei machen. Oben schrillten die Bootspfeifen, die Mannschaft stand still; dann klirrten Degen und Orden das Fallreep hinauf. Der Kommandant, Kapitän Fitzjames, kam den Herren entgegen, legte salutierend die Hand an den Hut und wurde herzlich begrüßt. Die Augen der Matrosen aber ruhten auf der hochgewachsenen Erscheinung des Admirals Sir John Franklin. Ihm waren sie anvertraut, er sollte die kleine Flotte führen, einem ungewissen Schicksal entgegen. Es konnte Ruhm – aber auch elenden Tod bringen.
Der Admiral war in strahlender Laune. Die Herren gingen in die Messe hinunter, nahmen ihre Hüte ab und setzten sich um den großen Tisch. Der alte Barrow blieb stehen, blickte eine Weile gedankenvoll in den Raum, dann begann er: „Sir John Franklin! Ehe Sie uns in weniger als einer Stunde verlassen, will ich Ihnen nochmals die Befehle der Admiralität bekanntgeben. Sie werden vor allen Anwesenden meine Ausführungen bestätigen und Ihr Einverständnis erklären.“ Der Angeredete nickte stumm. Nach kurzem Räuspern fuhr der Sekretär fort: „Sie werden im Auftrag Ihrer Majestät der Königin Victoria von England für die britische Krone die Nordwest - Durchfahrt zum Stillen Ozean, das heißt den Seeweg nördlich um Amerika finden. Was diese Route für uns bedeutet, wissen Sie als alter Fachmann so gut wie ich: sie bedeutet den kürzesten Weg zu den Reichtümern Chinas und Indiens. Lassen Sie sich auf Ihrer Fahrt leiten von dem erhabenen Gedanken, daß nach Ihnen noch Hunderte von stolzen Schiffen fahren werden, die die Flagge Ihrer Majestät führen und die dann, mit den Schätzen Asiens beladen, unserem Volke Wohlstand bringen werden.“ Es war einen Augenblick still in der Kajüte.
Sonnten sich die Männer in dem Gedanken, hier, in diesen Minuten Geschichte zu machen, oder mußte alles, was dieser Fahrt folgen würde, nochmals durchdacht werden? Der alte Barrow reckte sich, dann wandte er sich um und deutete auf die große Karte, die fast eine ganze Wand der Messe einnahm. „Um die genaue Route noch einmal zu nennen: Sie fahren durch die Davis-Straße westlich Grönland, überqueren die Baffin-Bai und fahren in den Lancaster-Sund ein. Hier liegt nach allen bisherigen Berechnungen der Anfang der gesuchten Nordwest-Passage. Westlich der Barrow-Straße, das heißt hier, wo auf der Karte noch alles weiß ist, werden Sie auf dem 74. Grad nördlicher Breite Ihren Weg zur Bering-Straße suchen. Parry hat bereits viermal die Barrow-Straße eisfrei gefunden. Es ist also anzunehmen, daß auch die übrigen Strekken des 900 Meilen langen Weges zur BeringStraße eisfrei sein werden. Sie laufen dann im Stillen Ozean die Sandwich-Inseln an und senden schließlich von Panama aus einen Kurier über Westindien nach England voraus. Zur Heimreise ist weiter nichts zu sagen. Sie nehmen die übliche Route um Kap Hoorn. – Sollten Sie auf 74 Grad nördlicher Breite nicht durchkommen, so besteht vielleicht die Möglichkeit, weiter nördlich eisfreies Meer zu fin-
den. Im Falle einer Überwinterung in den Breitengraden des hohen Nordens lege ich Ihnen dringend nahe, eine geschützte Bucht anzulaufen.“ Der Sekretär schwieg und setzte sich. Nun stand John Franklin auf. Seinem strahlenden Gesicht sah noch niemand das Alter an; einige der anwesenden Admirale mußten jetzt daran denken, wie er vor einigen Monaten auf den Vorschlag, sich mit seinen sechzig Jahren lieber zu schonen, entrüstet geantwortet hatte: „Aber ich bin ja noch gar nicht sechzig, erst neunundfünfzig!“ Er war noch immer der tollkühne Draufgänger wie in seinen Jugendjahren. „Meine Herren!“ begann er. „Ich habe die Befehle der Admiralität vernommen und werde sie ausführen, wie ich es als Seeoffizier gewohnt bin. Zur Route habe ich noch eine Frage: Bin ich an die genaue Einhaltung des vorgeschriebenen Kurses gebunden oder darf ich eigenen Gedanken und Plänen Raum geben?“ Der alte Barrow lächelte. „Ich verstehe“, sagte er leise und blickte die anderen bedeutungsvoll an. „Ihr alter Plan – direkt über den Pol; aber schlagen Sie sich das aus dem Kopf, Sir Franklin. Sie kennen Ihren Kurs. Gehen Sie möglichst keinen Schritt vom Wege, wenn wir
auch der besseren Einsicht des Kommandanten an Ort und Stelle nicht vorgreifen wollen. Ihre Aufgabe ist die Festlegung der NordwestPassage durch den Lancaster-Sund auf der Spur unseres William Edward Parry.“ Franklin verneigte sich lächelnd. „Wie Sie befehlen“, sagte er kurz. „Ich werde Parrys Weg einschlagen.“ „Und denken Sie an die Überwinterung in einer geschützten Bucht.“ „Ich werde daran denken!“ „Fahren Sie – mit Gott!“ Die Männer erhoben sich, einer nach dem anderen trat heran und reichte Sir Franklin die Hand, dann gingen sie hinauf. Als letzter stand ihm nun John Ross gegenüber. Ross, Polarfahrer wie Franklin, wußte, wie schwer es werden konnte. Er hatte selbst mehrere Winter im Eise zugebracht, war als erster im Lancaster-Sund westwärts gefahren, auch auf der Suche nach jener geheimnisvollen Durchfahrt, die nun schon seit fast dreihundertfünfzig Jahren die Forscher anzog wie ein Magnet. Ross wußte, wie es dort oben zuging, er kannte die Polarnacht, kannte das Donnern des pressenden Eises, wußte, daß diese Fahrt nach dem lokkenden Ostasien kein Vergnügen werden würde. Er hielt die Hand des Freundes fester als die Admirale vor ihm.
„John“, sagte er, „ehe ich Abschied nehme, möchte ich noch etwas für dich tun.“ Franklin senkte den Kopf, seine Stirn furchte sich, dann antwortete er: „Ich verstehe dich, du denkst an ein Mißlingen der Expedition. – Ja, sei offen: Du rechnest mit notwendiger Hilfe, mit Entsatz.“ Ross nickte. „Du mußt damit rechnen“, fuhr Franklin fort, „nach deinen Erfahrungen…“ „Ich kenne das Eis!“ „Ich weiß, und darum bin ich dir auch nicht böse, jeder andere hätte mich mit solchen Andeutungen beleidigt. Für mich gibt es einfach kein Mißlingen. Ich leite die bestausgerüstete Expedition, die England jemals in die Welt geschickt hat. Ich werde sie bis zum letzten einsetzen, wie ich mich selbst nicht schonen werde. Du kennst mich.“ „Ja – die anderen kennen dich auch, darum hat kein Offizier der Admiralität nur ein einziges Wort über Hilfsmaßnahmen verloren, die möglich und notwendig sind.“ „Ich hätte es mir auch schärfstens verbeten!“ „Es ist keine Schande für einen Kapitän, Rettungsboote bei sich zu führen.“ „Ich bin kein Kapitän im gewöhnlichen Sinne. Ich bin ein Kapitän, der weiß, daß er entweder sein Ziel erreicht oder – untergeht.“
„Und deine Besatzung? Die einhundertdreiunddreißig Söhne, Brüder, Väter, Freunde?“ „Bitte“, sagte Franklin ungehalten. „Wann kann ich einen Entsatz für dich vorbereiten? - Bis wann muß eine Nachricht von dir eingetroffen sein?“ Franklin sah dem Freunde starr in die Augen. Er sah, was dort verborgen glomm. Es war die heimliche Angst eines Menschen, der selbst endlos lange, bange Monate und Jahre mit seinem Schiff im Eise festgesessen hatte, der in dieser Situation alles dafür gegeben hätte, daß ihm ein Freund zu Hilfe geeilt wäre. Franklins Züge milderten sich, als er antwortete: „Bis zum übernächsten Frühjahr.“ „Das wäre also April-Mai achtzehnhundertsiebenundvierzig – Hm! Du rechnest lange, John. Aber nimm eine Gewißheit mit: ich werde dir Hilfe schicken, wenn bis zu diesem Termin keine Kunde von dir in England eingetroffen ist.“ „Danke!“ antwortete Franklin; „aber nun geh, du alter Rabe, geh hinauf und sei ein wenig fröhlich wie die anderen und habe etwas Zuversicht und Siegeswillen, wie ich. Hätte ich’s nötig, noch mal da hinaufzufahren, der ich mich mein halbes Leben lang dort herumgetrieben habe? Weiß Gott nicht. Mich reizt eben
die Gefahr!“ „Und der ausgesetzte Preis von zwanzigtausend Pfund Sterling!“ „Der allerdings auch“, erwiderte der Admiral lachend, schlug dem Freunde leicht auf die Schulter und schob ihn die Treppe hinauf. Oben standen die Herren der Admiralität und hatten über dem bunten Bild, das sich ihnen bot, die Fehlenden ganz vergessen. Überall in den Rahen hockten Matrosen, bereit, die Segel zu setzen. Froher Gesang schwebte über die Schiffe hin. Und draußen auf dem Wasser wiegte sich Boot an Boot, Blumen wurden geworfen, man schrie Heil- und Segenswünsche zu den Schiffen herüber, und drüben am Kai wurden Hunderte bunter Tücher geschwenkt. Eben nahte ein Ruderboot. „Lady Franklin“, meldete ein Bootsmann. „So spät noch Sehnsucht?“ scherzte der alte Barrow, als er sich über die gepflegte Hand der Frau beugte. „Mylady wird mit dem Lotsen zurückfahren“, sagte John Ross, „und ich auch.“ „Nein, nein, bitte nicht“, erwiderte Franklin, „vielen Dank für den guten Willen; aber es ist nicht nötig. Die Lady bringt mir Glück auf den Weg, aber du…“ „Ich bringe dir Hilfe!“ kam es leise, aber ein-
dringlich zurück. „Schon gut, schon gut“, sagte Franklin, dann wurde er wieder von den Herren der Admiralität umringt. Sie gaben ihm noch einmal die Hand und stiegen das Fallreep hinunter. Als letzter folgte John Ross. Wenige Meter erst hatte sich das Boot mit den Offizieren vom Schiff entfernt, da tönten schon die Kommandos, da schrillten die Pfeifen, und nun fielen die Segel herab und füllten sich mit der frischen Brise. Als hätte ein Schwan plötzlich sein Gefieder ausgebreitet, so leuchtete das schmucke Schiff, drehte sich langsam und kam Meter um Meter in Fahrt. „God save the Queen“ spielten sie am Ufer. Alles stand entblößten Hauptes und sah ergriffen auf die Schiffe, auf denen nun mehr als hundert frische Kehlen der Heimat das letzte Lebewohl zuriefen. „Erebus“, das Flaggschiff, nahm die Spitze und senkte zum Gruß seine Flagge, als die Fregatten im Hintergrund ihr Farewell herüberböllerten. „Terror“, das zweite Schiff der Expedition, folgte in respektvollem Abstand. Den Abschluß bildete ein Hilfsschiff der Marine, das von Grönland aus mit der letzten Post zurückkehren sollte. Am Ufer schrie und winkte man. Es wurden Namen gerufen, laut und inbrünstig: Charles, John, Oliver, Henry,
William, James, Percy; dazwischen klangen Gebet und Schluchzen: „O my Philipp, my Philipp!“ Tränen flossen ins große Wasser, und in Mutter- und Kinderaugen stand stummes Leid, das nicht wagte, laut zu werden. „Da fährt er hin, Mabel“, sagte der ältere Herr im Gedränge und hielt die Frau an den Schultern, „unser Ben, unser lieber, lieber Ben.“ „Erebus und Terror, Unterwelt und Schrekken, wie kann man Schiffen nur solch häßliche Namen geben?“ „Unsinn!“ schrie ein junger Stutzer dazwischen. „Es sind die Schiffe, mit denen James Ross, der Neffe von John Ross, am Südpol so erfolgreich war. Erebus und Terror sind ruhmreiche Namen!“ „Wenn auch“, murmelte die Frau, „es klingt nicht gut. Dort fährt Ben, mein Ben; er fährt, aber die Sorge um ihn bleibt.“ „Er wird Ihnen bald Perlen und goldene Götzen aus Hongkong schicken!“ rief der andere lachend und bahnte sich einen Weg durch die lärmende Menge. „Gold“, sagte der Herr und hielt die Frau noch fester gepackt, „alle reden sie nur von Gold, von kaltem totem Metall, als ob warme lebende Herzen nicht wertvoller wären.“ Unter den rollenden Salutschüssen der
Kriegsschiffe verloren sie die Segler aus den Augen. An Deck der „Erebus“ stand Sir John Franklin mit seiner Gemahlin. „Du fährst neuem Triumph entgegen“, sagte sie und hatte einen bitteren Zug um den Mund, „ich aber bleibe zu Hause und warte, warte wie immer. Es ist so schrecklich, jemand in der Kälte zu wissen, während man selbst warm sitzt.“ „Die Kälte gehört zum kleinsten Teil unserer Reise“, antwortete der Admiral, „denk nur an die herrliche Fahrt durch den Stillen Ozean und die letzte Strecke über den Atlantik.“ „Bist du so sicher, die Nordwest-Durchfahrt zu finden? Glaubst du wirklich, daß diese Passage existiert?“ „Wenn die Natur eine gewisse Symmetrie beim Aufbau der Welt beobachtet hat, muß im Norden so gut eine Straße in den Stillen Ozean gehen wie im Süden, besonders wenn Gott in seinem Schöpfungsplan ein bißchen Rücksicht auf die Bedürfnisse des europäischen Handels genommen hat.“ „Das sind alles Hoffnungen, unbewiesene Behauptungen.“ „Wenn die Passage von vornherein feststände, wäre es eine Schande, daß bisher noch kei-
ner hindurchgefahren ist. Unter diesen Umständen würde mich die Fahrt auch nicht reizen.“ „Daß ihr Männer immer Gefahren suchen müßt.“ „Du weißt ja, wen du geheiratet hast.“ „Ja damals – da war ich stolz auf dich. Man nannte dich überall einen tollkühnen Draufgänger. Das war so recht das, was mir als Mädchen immer vorschwebte. Aber heute sieh, John, wir haben eine erwachsene Tochter, wir sind beide alt geworden, du solltest dein Glück daheim suchen.“ „Es wäre mein Tod, wenn ich dieses Kommando einem anderen hätte überlassen müssen. Und ich will noch nicht sterben, ich bin auch noch nicht alt. Wenn ich alt bin, werde ich sterben. Du weißt so gut wie ich, daß die Gefahr mein Leben ist. Der Kitzel des Ungewissen, die Frage, ob es gelingt oder nicht, das ist es, was mich wachhält, und das Gelingen selbst schafft mir Befriedigung, nicht der Ruhm oder die Ehrungen bei der Rückkehr.“ „Und ich? – Ich glaubte immer, eines Tages würde dich der ewige Wettlauf mit dem Tode mürbe gemacht haben, du würdest eines Tages mit einer gewissen Abgeklärtheit zurückkommen, bei mir bleiben und dann nur noch von Erinnerungen zehren.“
„Du solltest mich in den Jahren unserer Ehe besser kennengelernt haben.“ Lady Franklin zupfte an ihrem Kleide. „Und – und wenn du nun zurückkommst“, sagte sie leise, „wirst du dann daheim bleiben?“ „Ja“, antwortete er, „das habe ich mir vorgenommen. Der Preis von zwanzigtausend Pfund Sterling, der für die Bezwingung der Nordwest-Passage ausgeschrieben ist, bedeutet ein Vermögen. Wir werden ein herrliches Leben führen und Sophie Ansehen und Einfluß verschaffen.“ Seine Frau sah ihn lächelnd an. „Und dann werden wir miteinander reisen“, schwärmte sie, „nach Edinburgh, in die Berge, und in London werden wir Gesellschaften geben.“ „Alles, was du willst!“ „Darauf werde ich mich freuen, John, das wird mir während der langen Zeit, wo ich von dir nichts höre, immer zur Seite stehen. Ich werde warten, und du wirst reich und angesehen zurückkehren, um mit mir einen ungetrübten Lebensabend zu verbringen. Es wird schön werden.“ Der Bootsmann trat herzu und salutierte. „Bitte?“ Franklin hob den Kopf. „Sir, der Kapitän läßt sagen, in einer Minute geht der Lotse von Bord.“
„Dann ist es also soweit“, seufzte Lady Franklin. Der Admiral schob seinen Arm unter den ihren und führte sie zum Achterdeck. Das Lotsenboot wurde im Schlepp mitgeführt, die Matrosen ließen soeben das Fallreep hinab. „Grüß Sophie und alle Bekannten von mir und schicke Post nach Panama.“ „Vergiß mich nicht!“ „Ich denke immer an dich!“ „John!“ Der Lotse kam vorbei, grüßte und stieg hinunter, die Seeleute sahen fragend auf den Admiral und die Lady. „Leb wohl, my dear“, sagte Franklin endlich und sah ihr in die Augen. „Gute Heimkehr, John.“ Mehr brachte sie nicht heraus, er aber küßte sie auf den Mund. Das Boot fuhr schnell davon. Sir John Franklin stand unbeweglich an der Reling und sah in der Ferne über dem Wasser ein blauseidenes Tüchlein wehen. Heimat, Familie, Freunde und häusliches Glück, alles war nun zusammengeschrumpft in einen Punkt, ein wehendes blauseidenes Tüchlein. Aber Sir John Franklin hatte es so haben wollen und hatte der Abendruhe seines Lebens ade gesagt, um noch einmal dem geheimnisvollen Ruf des Nordens zu folgen. Weit drüben, hinter der noch unent-
deckten Nordwest-Passage, lockte die BeringStraße mit dem herrlichen Stillen Ozean und… der Preis von zwanzigtausend Pfund Sterling. Als Sir John Franklin sich umwandte, war sein Gesicht ernst. Er kannte keine Heimat mehr, keine Lady Franklin und kein blauseidenes Tüchlein. Er war jetzt der Admiral und kannte nur noch seine Aufgabe. Mit festem Schritt ging er in die Kajüte.
„EREBUS“
Im Mannschaftslogis beschäftigte sich die Freiwache. Ein kräftig gebauter, mit vielen Narben bedeckter Matrose saß auf dem Tisch und spann ein handfestes Seemannsgarn. „Well, wie wir so um den Berg herumgehen, da seh’ ich doch auf einmal, was soll ich euch sagen, da seh’ ich doch…“ „Na, was schon?“ brummte ein alter Matrose mit einem mächtigen Schnauzbart, „vermutlich einen Eisbären, was?“ „Halt’s Maul, Robin, wenn Blanky erzählt“, antwortete der Mann auf dem Tisch und knallte die Faust gegen die Bretter, daß alle anderen herüberblickten. „Also wir sahen potzwunderliche fremde Dinger, als wären’s Klabautermänner.“ „Seehunde?“ sagte ein fünfzehnjähriges
Kerlchen aus einer Ecke und machte große Augen. „Maul halten, sag’ ich! – Wenn doch die Schiffsjungen nicht so naseweis sein wollten! Merk dir’s, mein lieber Ben: Wie ich noch als Schiffsjunge unterm alten Nelson gefahren bin, da gab’s Ohrfeigen, daß die Backzähne flogen.“ Ben grinste. „Nu mach schon weiter! – Was war’s dann, waren es Seehunde oder was?“ Diese Worte kamen unter einer großen roten Pudelmütze hervor. „Ja, mein lieber James, das möchtest du wissen, was?“ sagte Blanky und spuckte einen Strahl Tabaksaft auf den Boden. „Aber es waren keine Klabautermänner und keine Seehunde, es waren Eskimos, wirklich und wahrhaftig Eskimos!“ „Na, und?“ brummelte der Alte aus seiner Koje herab. „He, Robin, du verwittertes Seeroß!“ brüllte Blanky hinauf. „Was heißt – na und? Willst du vielleicht behaupten, du hättest schon Eskimos gesehn?“ „Red schon weiter“, sagte ein hagerer blonder Matrose, „was habt ihr mit den Kerls gemacht?“ „Ja, Philipp, was sollten wir machen?“ fuhr
Blanky fort und schneuzte sich umständlich in ein großes rotes Sacktuch. „Wir haben die Sache dem Käpt’n gemeldet, und wie er dann so mit uns auf die Eskimos losgeht, laufen die weg, als wär’ die Seeschlange hinter ihnen her!“ „Seeschlange?“ rief der Schiffsjunge Ben mit großen Augen, „gibt es die denn überhaupt?“ „Das erzähl’ ich dir ‘n andermal“, entgegnete Blanky, „jetzt halt’s Maul und hör zu.“ In der Ecke begann jemand fürchterlich zu husten. „Teufel noch eins!“ fluchte ein vierschrötiger Kerl namens Treet. „Harry Wood, du hustest dir noch die Seele aus’m Leibe.“ „Hihi“, kicherte der alte Robin oben in der Koje, „ich hab’ schon viele so krepieren sehn!“ „Ja!“ schrie Treet. „Teufel noch eins! Der Kerl gehört in ein Hospital und nicht an Bord!“ Alles lachte. Blanky sprang auf. „Ruhe!“ brüllte er in das Durcheinander von Schreien, Husten und dem Knarren der Kojen. „Bin ich unter ehrlichen Fahrensleuten Ihrer Britischen Majestät oder unter Waschweibern?“ Es wurde plötzlich still, das Wort des Logisältesten wirkte Wunder.
Blanky setzte sich wieder, schob sich sorgfältig ein neues Stück Tabak in die Backe und erzählte nach einigen Minuten weiter: „Also die Eskimos reißen aus, und wie wir noch so stehen und in die Gegend gucken, kommen doch auf’n mal so an die dreißig pelzvermummte Kerle auf uns zu, machen ein höllisches Geschrei und drohen mit Messern und Lanzen. Und vornweg schoben sie ‘nen Schlitten, darauf hatt’n sie ‘nen alten Mann gebunden, der sollte wohl als Rammsporn gegen uns gebraucht werden!“ „Du spinnst aber’n ganz verdammtes Seemannsgarn, mein lieber Freund“, grinste James unter seiner Pudelmütze hervor und schlug sich mit der flachen Hand aufs Knie. „Was“, rief Blanky und sprang auf, „Seemannsgarn? Ich verpfände dir meinen leibhaftigen Vater, wenn ein Wort gelogen ist, wirklich und wahrhaftig!“ „Du hast ja gar keinen Vater!“ „He, mein lieber James, das sag’ ich dir, wenn ich dir meinen Vater zeige, schmeißt du deinen über Bord!“ Die Kojen zitterten von dem Gelächter; aus der Ecke drang wieder unterdrücktes Husten. „Mister Blanky“, meldete sich Ben vorsichtig. „Sie wollten doch weiter von den Eskimos erzählen.“
Der Matrose nickte: „Da könnt ihr wieder sehen, der Kleinste ist der Vernünftigste! Schämt euch und haltet’s Maul!“ Draußen ertönten die Kommandos des Steuermanns. Man hörte eilige Füße über das Deck laufen, dann war es wieder still. „Well, die Eskimos kamen also auf uns zu. Der Kapitän befahl, wir sollten zurückbleiben, dann legte er seine Flinte und das Messer in den Schnee und ging alleine vor.“ „Donnerwetter“, brummte der alte Robin. „Ja und dann, dann hat er sie angerufen…“ „Good day, messieurs, how do you do?“ „God bless me, Philipp, halt’s Maul! Seit wann sollen wohl die Eskimos Englisch verstehen? Tima! hat er gerufen, aja Tima, dann mußten auch wir die Flinten wegwerfen und auch aja Tima rufen!“ „Was heißt denn das, Mister Blanky?“ wagte der Schiffsjunge Ben einzuwerfen und mußte einen strengen Blick einstecken. „Das heißt soviel wie – nun – eben soviel wie: Seid gegrüßt.“ „Hm!“ machte der alte Robin, „und dann…“ „Dann haben auch sie ihre Waffen weggeworfen und sind stehengeblieben. Und Kapitän Ross hat die Hände hochgehoben, ist zu ihnen hingegangen und hat sie umarmt.“ „Was hat er?“
„Umarmt hat er sie, so als ob Ben seine Braut umfaßt.“ „Aber“ – der Schiffsjunge wurde rot wie ein Schulmädchen – „ich habe doch gar keine Braut.“ „Nu freß ich ‘n rohen Truthahn in zehn Minuten, wenn das kein waschechtes Seemannsgarn ist“, grölte James und schielte unter den herabgezogenen Brauen grinsend auf Blanky. „Was hast du bloß mit deinem Seemannsgarn, du ausgestopfter Haifisch? Bist wohl dein lebelang bloß unter Halunken und Aufschneidern gefahren, was?“ „Das kannst du mir nicht erzählen, daß ein Kapitän Ihrer Majestät die Hände hochhebt und wildfremde Eskimos umhalst.“ „Der nächste Brecher soll mich über Bord holen, wenn das nicht wirklich und wahrhaftig so gewesen ist!“ schrie Blanky und bekam einen roten Kopf. „Kapitän John Ross ist kein gewöhnlicher Kapitän. Er ist mit uns von 1829 bis 1833 im Eis gewesen. Der ist nicht stolz, das ist ‘n Kerl!“ „Ja, ja, Kapitän Ross“, sagte der hagere Philipp gedankenvoll, „der ist auch dem Preis für die Nordwest-Passage nachgelaufen. Es haben sich schon allerhand Dumme dafür gefunden.“ „Zwanzigtausend Pfund Sterling!“ krächzte der alte Robin oben in der Koje. „Ein ganzer
Berg Geld ist das.“ Die Männer nickten vor sich hin. Es war eine unvorstellbare Summe; kaum glaubhaft, daß es so viel Geld überhaupt geben konnte. „Wie ist denn das mit den zwanzigtausend Pfund?“ flüsterte Ben, und seine Augen waren noch größer als sonst. Blanky legte sich rücklings auf den Tisch und starrte in die leise baumelnde Lampe. „Das ist eine lange Geschichte. Die englischen Kaufleute brauchen für ihren Handel einen möglichst kurzen Weg nach Ostasien, China und Indien. Diese Länder sind weit, und die Fracht wird höllisch teuer, wenn sie zu lange unterwegs ist. Früher, da ist man mal über Land nach Indien gereist, hat Seide, Gewürze und allerhand kostbare Dinge herübergeholt. Aber wie ‘s so geht, dann kamen die Türken und haben keinen mehr durchgelassen. Das Abendland schrie nach den Kostbarkeiten der fernen Länder, und die Spanier, die damals zusammen mit den Portugiesen die See beherrschten, haben dann die Schiffahrtsrouten entdeckt. Die eine, bin sie schon bald ein dutzendmal gesegelt, die geht um Afrika herum durch den Indischen Ozean, und die andere ist noch weiter.
Sie geht um die halbe Erde, über den Atlantik, ums Kap Hoorn, dann über den Pazifik. Es ist nicht gerade ein Spaziergang. Dabei läßt sich nicht viel verdienen. Und so geht’s seit einigen Hundert Jahren. Die Kaufleute brauchen neue, nähere Wege. Nun ist es eine alte Weisheit: die kürzesten Wege nach Ostasien gehen direkt über den Nordpol.“ „Über den Nordpol?“ staunte der Schiffsjunge und sah die anderen ungläubig an. „Well, mein lieber Ben, so ist es wirklich und wahrhaftig“, sagte Blanky und richtete sich
hoch. „Und warum fährt man nun nicht einfach über den Nordpol hinaus?“ „Hehe, man wollte schon, aber man kann nicht; denn im Norden ist das Eis. Wie ein großer Riegel liegt es vor der Durchfahrt, und wie es am Pol aussieht, das weiß niemand.“ „Ein großer Magnetberg soll dort sein, der die Kompaßnadel an sich zieht“, raunte der alte Robin hinter seinem Walroßbart hervor. „Das ist großer Unsinn“, schalt Blanky. „Die Kompaßnadel zeigt gar nicht nach dem Nordpol; das müßtest du wissen, wenn du nicht solch ein Fischgehirn hättest. Die Kompaßnadel zeigt nach dem magnetischen Pol, und der liegt auf der Halbinsel Boothia Felix. Das ist wirklich und wahrhaftig wahr; ich bin selbst dabei gewesen, wie Kapitän John Ross diesen Punkt entdeckt hat.“ Wieder schoß ein Strahl braunen Tabaksaftes auf den Boden, gerade, als wollte der Matrose seine Verachtung gegenüber den anderen ausdrücken, die nicht dabeigewesen waren. „Ihr könnt euch nicht vorstellen“, fuhr er nach einer Weile fort, „wie das ist, wenn die Kompaßnadel plötzlich nach unten, genau nach unten zeigt. Das ist ein komisches Gefühl, sage ich euch. Da steht ihr nun auf einem Fleck im weißen Nichts und wißt genau: in
diesem Augenblick zeigen sämtliche Kompaßnadeln in der ganzen Welt auf euch, auf Ihrer Majestät Vollmatrosen Blanky. – God bless sie, ich will verdammt sein, wenn’s nicht wirklich und wahrhaftig so war.“ Die anderen staunten. „Am Nordpol soll ja wohl gar kein Eis sein“, ließ sich James unter seiner Pudelmütze hervor vernehmen. „Das Eis ist wie eine Barriere, sagt man. Das kann ich mir wohl denken.“ „Aber irgendwas muß doch da oben sein, am Nordpol“, sagte Philipp und hob den blonden Schopf. „Teufel noch eins“, lachte Treet und entblößte gelbe Zähne, die ihm wie Walroßhauer im Munde standen. „Vielleicht ‘ne Insel mit hübschen Seejungfrauen, haha!“ „Laß sein, was will, uns kann’s kaltlassen“, sagte Blanky und fuhr fort: „Also über den Nordpol geht’s vorläufig nicht; denn östlich Grönland kommt man in festes Eis, das wissen die in London auch. Aber alle Welt rechnet mit einer nördlichen Durchfahrt um Amerika herum. Die Sache ist dringend; man sucht die Straße seit mehr als dreihundert Jahren. Mit dem Eis muß man Glück haben. Parry ist ziemlich weit da oben umhergesegelt.“ „Und der Preis?“ fragte der Junge, „die
zwanzigtausend Pfund?“ „Well, Ben“, Blanky gähnte, „damit die ganze Sache einen größeren Anreiz hat, mußte das liebe Geld mit ins Spiel. Die Admiralität hat achtzehnhundertachtzehn demjenigen, der als erster die Nordwest-Passage durchfährt, zwanzigtausend Pfund Sterling versprochen.“ „Hm“, sagte Ben, „da wäre es also möglich, daß wir den Preis bekommen.“ „Wir? Warum wir?“ „Na ja, wir alle werden doch als erste durch die Straße fahren.“ „Ach – und da meinst du – daß wir – den Preis…?“ „Na ja?“ „Hahahaha!“ Blanky sprang auf und schlug sich auf die Schenkel. „God bless me, das ist der größte Spaß, den ich auf allen drei Ozeanen erlebt habe. Hahaha, wir, wir kriegen den Preis! Na dann farewell, christliche Seefahrt, ich kauf mir für meinen Teil ein Schloß und werde Lord. Lord Blanky, hahaha!“ „Aber – aber…“ Ben stand hinter dem Tisch und starrte ratlos auf die komischen Gesten des Matrosen. „Sie sagten doch…“ „Also, Boy, hör zu.“ Blanky setzte sich wieder auf die Holzplatte und faßte den Jungen bei den Händen. „Bist du wirklich ein solcher Unschuldsengel? Oder hältst du uns zum Nar-
ren? Menschenskind, mein lieber Ben: Sir Franklin wird den Preis bekommen, nicht wir! Sir Franklin durchfährt als erster die Passage, nicht wir! Wir sind bloß Mitfahrer bei der ganzen Geschichte. Verstehst du?“ „Ach so“, sagte Ben leise und entzog dem Matrosen seine Hände. Einen Augenblick war es still im Logis. Dann, als hätte er die Sache nochmals durchdacht, sagte der Junge: „Aber richtig ist das nicht, meine ich. Nicht wahr, Mister Blanky, das ist doch ungerecht!“ Seine Augen waren eine einzige große Frage. Der Matrose antwortete nicht; aber James kroch aus der Koje, rückte seine Pudelmütze zurecht und sagte eindringlich: „Merk dir, Ben, in dieser Welt wird mit ungleichen Karten gespielt. Was für den einen recht ist, ist es für den anderen noch lange nicht. Dagegen kann man nichts machen, nur das hier!“ Mit diesen Worten zog er eine Flasche aus der Koje und zeigte sie dem Jungen. „Saufen, guten starken Rum, und dann vergessen, vergessen!“ Wieder war es still im Raum, dann tönte von oben der Klang einer Schiffsglocke herab. Blanky ergriff eine Kanne und drückte sie Ben in die Hand. „Acht Glasen, hol uns Kaffee!“ Der Junge huschte hinaus. „Und dir sag’ ich eins“, fuhr Blanky zu James gewandt fort, „wenn du Unruhe stiftest und
dem Jungen Raupen in den Kopf setzt, dann sollst du mich kennenlernen, verstehst du?“ Die Männer schwiegen. Die Sonne lachte. Im Kanal herrschte fröhliches Treiben. Schiffe aller Nationen zogen vorbei, grüßten mit Wimpeln und Flaggen die drei Segler, die mit gutem Wind in Kiellinie dahinzogen, und wenn die Kapitäne die Schiffsnamen erkannten, nickten sie bedeutungsvoll. „Erebus“ und „Terror“ waren bekannt bei allen seefahrenden Völkern als die Schiffe James Ross’, die damals den Südpolkontinent angesteuert hatten und nun unter Sir John Franklin die NordwestPassage finden sollten. In manchem Logbuch war an diesem Tage die Eintragung zu lesen: „Passierten ,Erebus’ und ,Terror’ mit einem Transportschiff auf dem Wege nach Grönland.“ Auf der Brücke der „Terror“ stand Kapitän Crozier im Gespräch mit seinem wachhabenden Offizier, Leutnant Irving. „Ich hätte gewünscht, wir wären einem anderen Admiral unterstellt worden als gerade Sir Franklin“, sagte er. Der Leutnant sah ihn erstaunt an. „Sir“, entfuhr es seinen Lippen. „Sie sind gewiß der einzige, der so denkt. Wir setzen
unser ganzes Vertrauen in Sir Franklin, er besitzt Polarerfahrung, hat unter Nelson gekämpft, einen Schiffbruch überstanden, er ist beliebt bei sämtlichen Mitgliedern unserer Expedition.“ „Das ist alles richtig“, sagte Crozier, „Sie haben zweifellos recht, Mister Irving. Und trotz alledem… ich kenne Sir Franklin länger als Sie. Der Admiral ist ein tollkühner Draufgänger. Er ist es immer noch, trotz seiner sechzig Lebensjahre. Das mag für einen einzelnen gut sein, nicht für den Leiter einer Expedition von einhundertdreiunddreißig Menschen.“ „Auch eine solche Sache verlangt Wagemut. Zuviel Vorsicht kann mitunter schaden. Ich erinnere Sie nur an das erste Unternehmen von Sir John Ross. Sie wissen ja, daß er sich im Lancaster-Sund, dem Beginn der NordwestPassage, durch Luftspiegelungen, die er für Berge hielt, täuschen ließ und umkehrte. Aus Vorsicht brachte er sich um den sicheren Erfolg. Ein Draufgänger wäre weitergefahren, einen Durchlaß zwischen den Bergen zu finden. Ironie des Schicksals, vielleicht hätte man schon damals die Straße festlegen können.“ „Ich sagte bereits“, fuhr Crozier fort, „daß bei einer kleinen Expedition mit wenigen Gleichgesinnten Tollkühnheit am Platz sein kann. Je mehr Menschen aber mitfahren, um so mehr
Umsicht ist nötig. Hier sind es immerhin einhundertdreiunddreißig. Sir Franklin kennt Verantwortung nur gegenüber seiner Aufgabe, nicht aber für die Menschenleben, die in seine Hand gegeben sind. Schließlich ist es nicht allein die Admiralität, der wir unterstellt sind, sondern in weitem Maße auch die Vernunft und die Achtung vor dem Leben. Sir Franklin aber würde keine Minute zögern, alle anderen zu opfern, wenn nur er selbst sein Ziel erreicht.“ Der Leutnant sah ihn fragend an. „Glauben Sie, Sir?“ entgegnete er nach kurzem Überlegen. „Darf ich Ihnen eine Frage stellen? – Würde Sir Franklin auch sich selber opfern, wenn er wüßte, daß ein anderer seiner Expedition das gesteckte Ziel erreichte?“ Kapitän Crozier blickte ins Weite, als müßte er alle Erlebnisse mit seinem Admiral zusammenfassen, um hierauf antworten zu können. Endlich sagte er: „Ich glaube – ja!“ „Ich auch“, sagte Irving. „Sir Franklin stellt die Aufgabe über alles, über das Leben seiner Leute und über sein eigenes. Ist das im Grunde genommen nicht höchstes Mannestum?“ „Gewiß!“ antwortete Crozier, „ich verkenne das keineswegs. Sie geben dem Kommandanten, der sterbend mit seinem letzten Mann die
feindliche Festung eroberte, die Krone. Das entspricht ganz unserer alten, durch Jahrhunderte hindurch gewachsenen und geheiligten Anschauung über Treue, Mut und Opfersinn. Aber die Zeit ist fortgeschritten. Wir haben schon vieles, was uns hemmte, verworfen. Wir haben den Aberglauben, das Dogma, die Furcht vor dem Unerklärbaren abgetan und haben dabei erkannt, daß der Mensch das Maß aller Dinge ist. Der Mensch, das ist zugleich das Ziel, dem wir entgegengehen. Eines Tages wird man Sir John Franklin fragen, ob er in seinem Leben den Ehrgeiz oder die Menschen höher geachtet hat.“ „Ich glaube, Sir, Sie sehen die Dinge zu problematisch.“ „Nehmen wir doch einmal den äußersten Fall, Mister Irving. Nehmen wir an, der Admiral müßte seine Aufgabe als unerfüllbar erkennen in einem Augenblick, da die Expedition sich in höchster Gefahr befindet. Was würde er tun? – Würde er blitzartig auf die neue Situation reagieren, sofort an die Rettung von Schiffen und Mannschaft denken und für dieses Ziel, das ihm weder Ehre noch Preise bringt, notfalls auch sein Leben einsetzen?“ Der Leutnant zögerte mit der Antwort. „Nun, Mister Irving? Was meinen Sie?“ „Ich weiß nicht“, kam es endlich leise zurück.
„Die Größe eines Menschen hängt von seinem Verhältnis zu den anderen ab“, sagte Crozier, und seine Worte standen wie ein Urteil in der klaren Luft. Den Leutnant fröstelte; er hatte an eine stürmische Siegesfahrt unter diesem kühnen, strahlenden Admiral geglaubt, und nun wollte sein Kapitän ein gewagtes Unternehmen mit höchst unsicherem Ausgang daraus machen? Weshalb? Nur weil Sir Franklin die Expedition leitete? Nach einer Weile sagte Irving unvermittelt: „Sie glauben also an ein Mißlingen des Unternehmens?“ „Nein“, antwortete Crozier, „das wäre Verrat, und ein Verräter bin ich nicht; aber ich trage als Kapitän die Verantwortung für Schiff und Mannschaft, und ich bin es dem Leben meiner Leute schuldig, an alles, auch an die letzte Konsequenz, zu denken.“ „Ihrer Majestät Marine hat nicht viele Offiziere, die so denken, Sir, die meisten halten die Mannschaft für hergelaufenes Gesindel.“ „Ich weiß.“ „Ich würde an Ihrer Stelle zuversichtlicher sein. Wir haben auf drei Jahre Lebensmittel, dabei aber so reichlich, daß wir bequem vier Jahre damit auskommen. Unsere Schiffe haben Dampfmaschinen eingebaut, wir kommen bei
jedem Wind vorwärts. Gegen den Druck des Eises sind neue Versteifungen in den Schiffskörpern angebracht worden, wir haben eine ausgewählte Mannschaft, erfahrene Offiziere, es wäre töricht, schwarzzusehen.“ Kapitän Crozier wandte sich um. „Sie haben recht, Mister Irving, wir wollen nicht pessimistisch sein; aber wir wollen wachen, hören Sie? Wir wollen darauf achten, daß alles getan wird, was der Sicherheit unserer Leute dient.“ * Am Heck der „Terror“ lehnten drei Matrosen und sahen in das wirbelnde Kielwasser hinab: der Ire O’Neill, der Engländer Catcher und der Deutsche Jupp Steig. Die Unterhaltung lief nicht ganz glatt; denn ihre Zungen mußten in verschiedener Sprache gleiche Begriffe formen; doch verstehen sich Menschen unterschiedlicher Nationalität in gleichen Verhältnissen meist recht gut. „Ich hab’ mir also von meiner letzten Heuer ein kleines Büdchen in der Nähe von Deutz gekauft. Das heißt, ganz bezahlen konnte ich es noch nicht; aber wenn ich wieder daheim bin, hab’ ich das Geld beisammen.“ Jupp Steig legte sein Kinn auf die Hände und starrte wieder ins Wasser; aber er sah keine Wellen und keinen Schaum, er sah sein „Büdchen“. Im
kleinen Garten, wo jetzt die Rosen anfingen zu blühen, stand wohl gerade die Gret und dachte an ihren Jupp, der irgendwo übers Meer fuhr. Und das Hänschen steht daneben, dachte er. „Was ist Büdchen?“ fragte O’Neill und wandte sein pockennarbiges Gesicht dem anderen zu. „Das ist ein kleines Häuschen mit einem Garten.“ „Wozu braucht ein Seemann ein Haus?“ fragte Catcher und spuckte ins Wasser. Jupp sah ihn entrüstet an. „Nuu“, sagte er, „meinst du, ich will auf meine alten Tage noch als Matrose fahren? Ist es nicht großartig, wenn man nach jeder Reise wieder heim kann? Meine Gret ist ein lecker Mädchen, und der Junge, das Hänschen – ich hab’ eben meinen Spaß dran.“ „Verheiratet bist du auch?“ fragte O’Neill und wischte sich die Nase. Er grinste breit, daß die langen Zähne zum Vorschein kamen, und fuhr fort: „Nicht schön für ‘nen Matrosen! Wohin man kommt, sind Mädchen, Frauen; schwarze, weiße, gelbe; eine schöner als die andere, und du mußt an die Frau denken – no, friend.“ „Wohin gehst du aber, wenn du nicht auf See bist?“ fragte Jupp. „Hoho!“ lachte Catcher, „dumme Frage – ich
suche mir eine anständige Kneipe, wo man guten Brandy schenkt. - Ist sowieso ein Luderleben, was wir führen.“ Jupp hob ablehnend die Hände. „Für solche Sachen bin ich nicht zu haben. Warum fahr’ ich dann auf See, wenn ich die Heuer gleich wieder wegschmeiße; denn dazu sind doch all die Kneipen bloß da. – Ich will was haben von meiner Arbeit, ich will was sehen von meinem Geld.“ „Dann bist du kein richtiger Seemann!“ sagte der Ire. „Ich lebe von heute auf morgen und bin glücklich.“ „Ich auf meine Art auch!“ „Wie bist du eigentlich gerade auf die ,Terror’ gekommen?“ wollte Catcher wissen. „Warum fährst du auf einem Englishman?“ Jupp strich sich seufzend durchs Haar und drückte seine Mütze fester. „Bei uns“, sagte er, „hat jedes Ländchen seine Schiffe, ein wirkliches Deutschland gibt es nicht, und auf den kleinen Kähnen läßt sich nix verdienen. – Die Reise mit dem Admiral Franklin wird gut bezahlt, da hab’ ich mich halt gemeldet, und einen guten Schiffszimmermann konnten sie gerade gebrauchen.“ „Sieh nur zu, daß du nicht einfrierst da oben; dann ist es aus mit Verdienen und Haus und Frau“, sagte O’Neill. „Für mich spielt es keine
Rolle, ob ich zurückkomme, ich habe niemand; aber du…“ „Ha – einfrieren mit Admiral Franklin? Daß ich nicht lache! Der Kommandant weiß schon, was er will, er ist noch jedesmal zurückgekommen.“ „Ja“, warf Catcher ein, „Franklin! – Wenn wir den nicht hätten!“ Wieder war es still. Die Matrosen blickten ins Wasser. Eine Schar Möwen umschwebte bald hoch, bald tief das Schiff und wartete auf Lekkerbissen für den ewig hungrigen Kropf. Aber die Seeleute hatten kein Auge für ihre Flugkünste; sie waren mit den Gedanken bei der Expedition, beim Admiral und in der Heimat. „Wenn wir zurück sind, wird man uns mit anderen Augen ansehen“, sagte O’Neill. „Der ist mit Franklin gefahren, wird man sagen.“ Jupp lachte auf. „Davon habe ich nix, dafür kann ich mir nix kaufen. Es ist eine schöne Erinnerung für später. Man kann was erzählen, aber sonst…“ „Du bist eben kein Brite“, sagte Catcher, und in seiner Stimme klang der Stolz. „Für uns bedeutet es das Höchste, unter einem berühmten Kommandanten gefahren zu sein. Sir John Franklin aber ist ein berühmter Kommandant; er hat unser Vertrauen, und wir sind stolz, daß wir unter ihm fahren dürfen.“
Der Ire nickte zustimmend. „Wir machen eine Fahrt, wie sie die Matrosen von Old Kolumbus gemacht haben. Man wird noch in fünfhundert Jahren von uns sprechen.“ * „Sagen Sie, Sergeant, was halten Sie vom eisfreien Polarmeer?“ Sir John Franklin lehnte sich weit im Sessel zurück, legte seine Fingerspitzen aneinander und sah Robert O. Sergeant, den Ersten Steuermann der „Erebus“, fest an. „Sie gelten als ausgezeichneter Geograph. Sir James Ross und Kapitän Fitzjames haben mir wahre Wunderdinge von Ihnen erzählt.“ „Ich weiß nicht, Sir“, erwiderte der Steuermann, „wie weit dieses Urteil zutrifft. – Ich für meine Person halte es für wenig wahrscheinlich, daß das Polarmeer eisfrei ist. Es gibt nichts, was diese Annahme bestätigt.“ „Sagen Sie das nicht, Sergeant. Gelehrte von Ruf halten es für sehr wahrscheinlich. Sie meinen, es gelte nur die Barriere der Gefrierzone zu durchstoßen, dann käme man ins offene Fahrwasser.“ „Ich weiß, Sie stützen sich hier auf die Theorie des Mister Engel, wonach Meerwasser nicht gefriere, das Packeis vielmehr von den Gletschern und Flüssen der Polarländer herrühre.“
„Die Sache hat zweifellos etwas für sich“, sagte Franklin, „es wäre demnach nur ein Eisgürtel zu überwinden, um wieder ins freie Fahrwasser zu kommen.“ „Beweisen kann das niemand“, entgegnete Robert O. Sergeant lächelnd. „Kein Mensch hat bisher diesen Gürtel durchbrochen und das eisfreie Polarmeer gesehen.“ „Weiß ich, weiß ich! – Der Admiralität sind meine Pläne bekannt, aber sie werden nicht gebilligt. Man hat sich in Parrys Reiseweg verliebt und möchte, daß die Durchfahrt um jeden Preis an dieser Stelle gefunden wird.“ „Ich halte das nicht für verkehrt“, entgegnete der Steuermann. „Die Meeresströmungen in jener Gegend deuten darauf hin, daß die Barrow-Straße eine Verbindung nach Westen ist, an die sich aller Wahrscheinlichkeit nach das Polarmeer nördlich der Bering-Straße anschließt.“ Der Admiral winkte ungeduldig ab. „Alles zugegeben, Sergeant, aber die direkte Nordroute ist weit kürzer. Ließe man mir freie Hand, ich würde mich den Teufel um Lancaster-Sund und Barrow-Straße kümmern. Ich würde längs der Westküste Grönlands hinauf durch den Smith-Sund gehen und dann am Pol vorbei direkt nach der Bering-Straße segeln.“ Sergeant stand erschrocken auf.
„Sir“, sagte er, „das dürfen Sie nicht!“ „Ich weiß!“ „Sie würden die Schiffe aufs äußerste gefährden.“ „Mein Gott, ja, die Schiffe! – Was liegt an den Schiffen, wenn ich nur die Durchfahrt finde.“ Der Steuermann starrte auf das Gesicht des Admirals, als wollte er es durchdringen und die Gedanken des Mannes zu ergründen suchen. „Sir“, sagte er endlich, „können Sie eigentlich ein Schiff lieben? – Sir, Sie müssen mich nicht falsch verstehen. Ich meine, richtig lieben, so wie ein Seemann, ein einfacher Matrose das Schiff liebt. Es ist ihm Heimat, er wird es nur im Falle der äußersten Not aufgeben. Können Sie ein Schiff so lieben, Sir?“ Franklin lächelte. „Warum nicht“, antwortete er und sah an die Kajütdecke, „aber es wäre töricht. Ich kann die Schiffe nicht über meine Aufgabe stellen, dazu ist sie zu groß, verstehen Sie? – Seit beinahe dreihundertfünfzig Jahren suchen die besten Männer aller Nationen die nördliche Verbindung zwischen beiden Ozeanen. Ich werde sie finden, Mister Sergeant. Meinen Sie, daß ich mich da um ein oder zwei verlorene Schiffe kümmern kann? – Meine Befehle muß ich
natürlich dabei beachten; so darf ich zum Beispiel nur in einer geschützten Bucht überwintern.“ „Ich verstehe“, sagte der Steuermann nach einer Weile. Die Männer schwiegen. Sergeant fühlte sich unbehaglich und suchte nach einer Wendung des Gesprächs. Endlich konnte er fortfahren: „Ich hoffe eine große wissenschaftliche Ausbeute von dieser Fahrt mit nach Hause zu bringen.“ „Ach“, sagte Franklin, „tragen Sie sich mit bestimmten Plänen?“ „Ich werde Tagebücher über Temperatur, Windstärke, Wasserwärme, Eisdrift und Luftdruck führen.“ „Zweifellos sehr interessant!“ „Unsere Expedition wird auch erheblich zur Erforschung der Meeresströmungen im Polargebiet beitragen. Ich denke dabei an die Drift unserer Messingzylinder.“ „Messingzylinder?“ „Jawohl, wir sollen sie unterwegs mit Nachrichten versehen ins Wasser werfen. Es wird aufschlußreich sein, wo man sie findet.“ „Gewiß“, sagte der Admiral und erhob sich. „Es ist gut, Mister Sergeant, Sie können gehen!“ Der Steuermann salutierte und verließ die
Kajüte. Sir John Franklin aber stand im Raum und horchte in die Stille hinein, durch die nur das Knarren der Blöcke drang, wenn die Segel sich strafften oder in eine andere Richtung gedrängt wurden. Endlich wandte er sich um, ging groß und gerade zu seinem Schreibtisch und umfaßte die obere Hälfte des Globus mit beiden Händen.
„Boreas“, murmelte er, „noch einmal sage ich dir den Kampf an, du Eiswüste da oben. Aber diesmal geht es bis aufs Messer, hörst du, ohne Gnade! – Es wird meine letzte Fahrt sein,
so oder so! Und ich werde dich besiegen, ich, Sir John Franklin.“ Und indem er den Erdball rotieren ließ, sagte er, gegen das Licht gewandt: „Vorwärts, nur noch vorwärts, und wenn hinter mir alle Brücken brechen. Messingzylinder brauchen wir nicht!“ Lächelnd setzte er hinzu: „Ihre Meeresströmungen werden noch ein wenig auf die Erforschung warten müssen, Mister Sergeant!“ Dann nahm er aus einem kostbaren Behältnis eine Zigarre, schnitt sorgfältig die Spitze ab und zündete sie an. Seine Gedanken ballten sich und zerflatterten - wie die blauen Rauchkringel in der Kajüte.
LONDON
In einem vornehmen Hause saßen mehrere Herren um einen großen runden Tisch. Der Rauch köstlichen Krautes lag in der Luft; der Raum, den er mit seinem Duft erfüllte, war prunkvoll, geradezu überladen mit Teppichen, kunstreichen Möbeln und kostbaren Gemälden. „Admiral Franklin ist also fort“, sagte ein alter Patrizier der Runde. „Es wird eine Weile dauern, ehe wir Nachricht von drüben bekommen. Aber – sei diese nun gut oder
schlecht, ich denke, wir brauchen die Zeit nicht unnütz verstreichen zu lassen.“ „Sie waren noch nie ein Phantast, Mister Wellmann, ich nehme also an, daß Sie mit praktischen Vorschlägen kommen werden“, antwortete sein Gegenüber, ein eleganter Stutzer, mit anzüglichem Augenzwinkern. „Mister Phelps kennt mich“, fuhr Wellmann fort. „Die Sache hat Hand und Fuß. Hören Sie bitte zu. – Findet Admiral Franklin die Nordwest-Durchfahrt und ist sie einigermaßen passabel, so werden die Aktien der BritischOstindischen Kompanie und die der BritischChinesischen Gesellschaft sprunghaft in die Höhe gehen. Man wird eisfeste Schiffe bauen und sie regelmäßig durch die Straße nach Ostindien schicken. Das bedeutet eine gewaltige Verkürzung des Seeweges…“ „Moment“, unterbrach ein älterer Kaufmann an Wellmanns Seite. „Sie rechnen mit Eventualitäten, mein Lieber, die wenig für sich haben. Ich bin ein guter Bekannter von Sir John Ross, der bekanntlich ein Koryphäe auf dem Gebiet der Polarforschung ist. Er hat mir versichert, daß die Nordwest-Passage niemals die Bedeutung einer ernsthaften Handelsstraße haben kann, da die Eisverhältnisse von Jahr zu Jahr anders liegen und ein besonders geschultes Personal verlangen. Auch müßte immer mit
größeren Verlusten gerechnet werden.“ Wellmann wehrte unwillig ab. „Das mag alles stimmen“, sagte er, „spielt aber für uns gar keine Rolle. Was Sie da sagen, wissen oder vielmehr vermuten nur die Fachleute. Das sind ein paar Gelehrte und einige Herren von der Admiralität. Die Öffentlichkeit hat doch keine Ahnung, wie die Dinge liegen, und die Geschäftswelt glaubt felsenfest an die neue Straße nach China und Indien. Was nun zutreffend ist, wird Sir Franklin feststellen.“ „Aber was wollen Sie damit anfangen?“ rief Phelps über den Tisch. „Das ist doch keine Basis für ein Geschäft!“ „Der beste Börsenpartner ist der Bluff“, sagte Wellmann lächelnd. „Wenn die Öffentlichkeit glaubt, daß die Aktien der Ostasiengesellschaft steigen müssen, dann steigen sie auch, verstehen Sie? – Es kommt nur darauf an, diesen Glauben plausibel zu machen.“ „Und was schlagen Sie vor?“ rief Mister Phelps, und seine Augen quollen vor Erwartung fast aus den Höhlen. „Heraus mit der Sprache“, fiel der Kaufmann an Wellmanns Seite ein. Alles starrte herüber Wellmann lehnte sich zurück, faßte die schwere Tischplatte mit beiden Händen und weidete sich an der Begierde seiner Gäste..
„Ich schlage folgendes vor“, sagte er dann bedeutungsvoll. „Wir kaufen vorsichtig alles auf, was wir an Aktien der Ostindischen Kompanie bekommen können. Dann lassen wir in der Presse fortlaufend Aufsätze über die Bedeutung der Franklin-Expedition erscheinen, in denen die Nordwest-Passage als Britanniens Straße der Zukunft gewürdigt wird, lassen Fachleute sprechen…“ „Und wenn sie uns nicht den Gefallen tun?“ rief einer erregt; aber Wellmann ließ sich nicht beirren. „Geld kann alles“, sagte er überzeugt, „und die Wissenschaft ist immer knapp bei Kasse.Die Öffentlichkeit wird uns willig Glauben schenken, meine Herren. Noch nie war eine Expedition so gut ausgerüstet wie die Sir John Franklins. Sie werden sehen, die Aktien werden knapp, steigen, erreichen eine schwindelnde Höhe, und sobald die Hausse in vollem Gang ist, wird unauffällig alles abgestoßen.“ „Großartig!“ rief Phelps. Sein Gesicht glühte vor Aufregung. „Das ist unser Geschäft, meine Herren.“ Wellmann sah sich triumphierend um. „Die
Sache ist so gut wie sicher. Und wenn wir unseren Gewinn hereinhaben, was spielt es da noch für eine Rolle, ob die FranklinExpedition zurückkommt oder nicht?“ Die anderen lachten anerkennend. Der Coup wurde gelandet. *
Ich führ’ ein freies Leben, Ahoi, auf weiter See. Wenn sich die Segel heben, Sing’ ich in Luv und Lee. Ich sing’ ein Lied den Stürmen, Potz Wetter, Höll und Tod. Wenn sich die Wolken türmen, Da hat es keine Not. Farewell, farewell, Mein liebes Heimatland, Farewell, farewell, Mein liebes Kind! Ich fahre in die Ferne, Ahoi, auf weiter See. Was fragen Mond und Sterne Nach meinem Abschiedsweh. Vergessen und vergangen Ist alles achteraus, Mußt, Mädel, dich nicht bangen,
Ich komm’ schon mal nach Haus. Farewell, farewell, Mein liebes Heimatland, Farewell, farewell, Mein liebes Kind! Und sollte ich einst bleiben, Ahoi, auf weiter See, Wird dir ein andrer schreiben Mein allerletzt’ Ade: Dem Meere galt mein Sehnen, Mein’ Heimat war an Bord. Dann weine keine Tränen, Bleib’ ich auch ewig fort. Farewell, farewell, Mein liebes Heimatland, Farewell, farewell, Mein liebes Kind!
„EREBUS“
Auf der Back saßen die Matrosen der „Erebus“ und sangen. Jeder hatte etwas zu tun: Einige spleißten Tauenden zusammen, andere knüpften ein Fischnetz, an Steuerbord wurden Fässer geteert, und am großen Gangspill saßen einige Männer der Freiwache und sahen interessiert zu, wie ein bärtiger Matrose mit viel Geschick das Modell eines Segelschiffs in eine Flasche brachte. Am Steuerhaus klimperte
jemand auf einer alten Laute. Soeben noch hatte er den Gesang der anderen begleitet, nun starrte er in das weite Blau des Himmels und dachte über eine halbvergessene Melodie nach. Die Schiffe hatten gute Fahrt gemacht. Längst lag der Kanal hinter ihnen. Südirland war bei gutem Wind passiert worden. Nun dehnte sich ringsum die weite Fläche des Atlantischen Ozeans. „Paß auf, Percy, gleich brichst du die Mastspitzen ab.“ Der Bärtige schüttelte stumm den Kopf und schob Zoll um Zoll sein Modell tiefer in die Flasche. „Percy hat schon mehr Schiffe gemacht als du Gedanken im Kopf hast“, antwortete statt seiner ein Matrose, den ein mächtiges Augenpflaster zierte. Der erste lachte. „Ich glaube, John Black, mit dir nehm’ ich’s an Gedanken noch auf. Was meinst du, Ewald?“ Der Angesprochene grinste unwillig. Er hatte keine Zeit, da er mit seinem Klappmesser in einer halbgeleerten Fleischbüchse umherstocherte. „Ewald frißt!“ schrie John Black. „Wie immer! – Aber, Freund King, auf deine Gedanken pfeif ich! Hier, das wird auf See gebraucht.“ Damit sprang er auf und ließ seine Muskeln spielen.
„Wieviel stemmst du?“ fragte ein Matrose namens Curry. Alle blickten auf. „Weiß der Teufel“, knurrte John Black, „aber als junger Bursche habe ich in Hampshire in meines Vaters Schmiede einen großen Amboß bis auf den Dachboden geschleppt. Und auf der ,Coromandel’ haben sie mich mal in Eisen gelegt. Pah! Ich hab’ ihnen Eisen samt Schrauben und Planken ‘rausgerissen. Fragt Treet, der war dabei!“ Er wandte sich nach Steuerbord, wo die Fässer geteert wurden. „He, Treet!“ schrie er. „Stimmt’s, daß ich auf der ,Coromandel’ die Eisen ‘rausgerissen habe?“ „Ja, so war’s, ich hab’s gesehen“, gab Treet zurück. „Eisen?“ fragte King mißtrauisch. „Was hattest du denn ausgefressen?“ „Hab’ in der Wut den Koch erschlagen“, antwortete John Black und grinste. „Bin seelensgut wie’n Kind; aber wenn man mich reizt…“ „Und was hast du dafür gekriegt?“ „Paar Jahre Zuchthaus – halb so schlimm.“ „Mensch!“ rief Curry und klopfte dreimal an die Schiffsplanken. „So was darfst du an Bord nicht sagen.“ „Quatsch!“ „Oho, wir sind mal im Persischen Golf auf
der Suche nach Frischwasser gewesen, da hat auch einer davon erzählt, und noch am gleichen Tage ist ein Boot umgeschlagen, und die Haie haben drei Mann geholt.“ „Ach“, sagte King und machte große Augen, „werd’s mir merken!“ „Waschweiber!“ John Black stellte sich breitbeinig hin und rückte sein Pflaster zurecht. „Weil ihr so empfindlich seid, erzähle ich euch noch die Sache mit meinem Auge!“ „Die haben wir schon dreimal gehört“, knurrte Ewald, ohne von seiner Fleischbüchse aufzusehen. „Du Fresser bist still“, antwortete John Black. „Der hat einen Magen wie eine Kuh. Seine ganze Seekiste ist voll Fresserei. Hast wohl Angst, Admiral Franklin läßt dich unterwegs verhungern, was?“ Ewald aß ruhig weiter, ohne sich um den Schreier zu kümmern. „Ich fuhr damals auf der ,Royal Town“‘, begann John Black. „Wir waren zwischen Singapur und Hongkong; da entdecke ich plötzlich, daß meine wertvolle Perle, die ich von einem Malaienkuli eingetauscht hatte, verschwunden ist. Wer hat sie? Natürlich Edward, ein Spitzbube von Format. Also Diebstahl. Ich melde die Sache dem Bootsmann und bringe zwei Zeugen. Was soll ich euch sagen, da bringt der
Schuft auch zwei Zeugen, die behaupten, Edward hätte die Perle gekauft, ich hätte sie ihm geklaut, und er hätte sie sich nur wiedergenommen.“ „Tolle Sache!“ krähte King dazwischen. „Laß mich aussprechen“, knurrte John Black, holte tief Luft und erzählte weiter: „Was will der Bootsmann machen? Er sagt, wenn wir uns bis zum nächsten Morgen nicht geeinigt haben, geht die Sache vor den Kapitän. Ho, denk’ ich, so wohlfeil soll die Sache nicht abgehn. Bekommt Edward beim Alten recht, hab’ ich das Nachsehen. Also gehe ich am Abend hin und knalle ihm eine unters Kinn. Er fliegt in die Ecke. Als er wieder hochkommt, hat er das Messer in der Faust. Kommst du von der Seite, denk’ ich, das kann ich besser, zieh’ meinen Malaiendolch aus der Jacke, und schneller, als eine Ratte piep sagen kann, hatte ich das Messer im Auge und er meinen Dolch im Wanst; hat keinen Mucks mehr getan.“ „Und die Perle?“ fragte Curry atemlos. „Ja, die hat sich der Kapitän genommen. Ich habe drei Wochen flach gelegen und gedacht, mir brennt’s inwendig den Schädel aus.“ „Mensch“, flüsterte King, „bei dir muß man sich ja vorsehen.“ „Ich sagte schon“, antwortete John Black,
„ich bin seelensgut wie ein Kind.“ Die anderen grinsten. Percy, der Bastler, hob schweigend seine Flasche hoch. Im Inneren stand aufrecht mit geblähten Segeln das Schiffsmodell, es war die „Erebus“. Mit peinlicher Genauigkeit hatte der Matrose den Segler nachgebildet; es fehlte kein Bullauge, sogar der schmale Schornstein für die Dampfmaschine war aufgesetzt worden. Die Matrosen schwiegen voller Bewunderung. „Was kriegst du in London für so eine Flasche?“ fragte Curry. Percy hob stumm die Schultern. „Wenn man’s nicht gesehen hätte, man wüßte nicht, wie das Schiff da hineinkommt“, staunte King und reichte die Flasche dem Bastler zurück. John Black steckte die Hände in die Taschen und ging an die Backbordreling. Erst stand er eine Weile und guckte in die Wellen, dann spuckte er aus, drehte sich um und rief: „He, Sunny, hör auf mit dem Klimpern und sing noch eins.“ „Ich suche eine alte Melodie und kann sie nicht finden“, rief der mit der Laute zurück. „Außerdem dürfen wir nicht zu laut sein, John, wir sind auf dem Flaggschiff - und weißt du,
ob’s dem Admiral recht ist?“ „Sir Franklin? – Ha, der ist kein Spielverderber.“ Schon klang es über das Wasser: „Rule Britannia, rule the waves.” Im Steuerhaus stand der deutsche Matrose Karl Bauer und sah nach vorn. Er hielt das Ruder fest in den Händen und wandte kein Auge vom Kurs, wie es seine Pflicht war; aber die Gedanken gingen inzwischen andere Wege. „Rule Britannia…“, flüsterte er, „herrsche, Britannia, herrsche! – Ein herausforderndes und verdammtes Lied, habt euch die Herrschaft doch nur mit Gewalt angeeignet. Meint ihr, ich würde in eurer Marine dienen, wenn bei uns nicht Fürstenlaune und Despotenwillkür die Seefahrt niederhielten?“ Er wischte sich seufzend über das Gesicht. „Halten Sie das Ruder fest und schlafen Sie nicht ein“, tönte hinter ihm die Stimme des kontrollierenden Offiziers, des Maates Jean Des Voeux. „Jawohl, Sir“, antwortete Karl. Der Offizier sah nach dem Kompaß und prüfte das Barometer. „Es wird schlecht Wetter geben“, sagte er, „der Luftdruck nimmt rasch ab, und es wird kühler; passen Sie gut auf.“
Jean Des Voeux ging hinaus, und Karl war wieder mit seinen Gedanken allein. Warum reiste er eigentlich unter englischer Flagge? Warum stand er am Steuer eines englischen Schiffes? Doch nur, weil in der großen Flotte Englands Bedarf an Matrosen war, die eine weite Fahrt wagten, während die wenigen deutschen Schiffe kaum zählten. Frei ist man nirgends, dachte er. Aber hier richtet sich alles nach einem Interesse von allgemeiner Bedeutung, nach dem englischen Handel, während es bei uns nach der Laune von drei Dutzend Fürsten geht. Darum lieber hier fahren als zu Hause sitzen. Ben, der Schiffsjunge, huschte herein. „Charly“, flüsterte er, „darf ich hierbleiben? – Zeigst du mir etwas?“ „Daß dich keiner sieht“, antwortete Karl. „Der Mann am Steuer hat sich nur um seinen Kurs zu kümmern.“ „Ach, Charly, ich will doch Steuermann werden, erklär mir den Kompaß!“ „Du hast Glück, daß der Wachhabende eben hier war; aber paß auf; falls jemand kommt, mußt du verschwinden.“ „Ja, Charly! Wie ist das mit dem Kompaß?“ „Sieh hin, die Hauptrichtungen sind rot bezeichnet: Nord, Ost, Süd, West. Dazwischen liegen Nordost, Nordwest, die blauen Buch-
staben. Die schwarze kleine Schrift gibt die Nebenrichtungen an, die wieder dazwischenliegen. Die Kompaßnadel zeigt immer nach Norden.“ „Mister Blanky hat neulich gesagt, die Nadel zeigt nicht nach Norden, sie zeigt nach dem magnetischen Pol auf einer Insel.“ „Richtig, wenn du genau hinsiehst, dann merkst du, daß die Nadel nach links abweicht und nicht genau nach Norden zeigt.“ „Wo sie hinzeigt, hat Mister Blanky gestanden.“ „Ja, Blanky ist mit Sir John Ross auf der ,Victory’ gefahren. Du kannst viel von ihm lernen, er ist ein erfahrener Matrose. Aber hör, Ben, eins muß ich dir sagen; vor Treet und John Black hüte dich, von ihnen halte dich fern, das sind Raufbolde, die nichts als Unheil im Kopfe haben.“ „Aber du bist mein Freund, ja?“ fragte Ben treuherzig. „Komm nur immer zu mir, wenn du etwas hast“, antwortete Karl, „aber sage den anderen nichts davon, die haben dafür nur Spott übrig.“ „Und, Charly, nicht wahr, Knoten zeigst du mir auch noch, wenn du Freiwache hast?“ „Ich zeig’ dir’s; aber nun geh, ehe jemand kommt.“ „Ich gehe, Charly, und thank you für den
Kompaß!“ Flink wie ein Wiesel war er draußen. * In der Messe saß Admiral Franklin mit den dienstfreien Offizieren der „Erebus“ beim Spiel. Kapitän Fitzjames hielt die Bank; er hatte schon wacker zahlen müssen und machte ein süßsaures Gesicht. Der Arzt Dr. Stanley war Hauptgewinner. Eben strich er wieder einige Münzen ein. Seine Handbewegung war infolge des andauernden Glücks schon etwas unsicher. „Doktor, Sie sind ein wahrer Glücksvogel: wir zahlen, unser Kapitän zahlt, Sie aber gewinnen!“ rief Sir Franklin in bester Laune. „Geben Sie her, Mister Fitzjames, ich werde Sie von der Bank erlösen, sonst kommen Sie aus der Pechsträhne nicht mehr heraus.“ Kapitän Fitzjames atmete auf, er wollte sich nicht die Blöße geben, die Bank anzubieten; doch sah man ihm an, daß er sich über seine Verluste ärgerte. „Die Einsätze!“ rief Sir Franklin und mischte die Karten. Die Offiziere zahlten. Der Kapitän legte ein Schillingstück auf den Tisch. „Ein Silberstück, Mister Fitzjames?“ rief der Admiral ironisch. „Haben Sie so wenig Ver-
trauen in Ihr Glück? - Ich habe es nicht gern, wenn meine Offiziere zaghaft sind. Wer wagt, gewinnt!“ Gehorsam wechselte der Kapitän den Schilling gegen ein Goldstück aus. Franklin verteilte die Karten, deckte auf, das Spiel begann. Mister Fitzjames verlor sein Goldstück schneller, als er es hingelegt hatte. „Sie sind viel zu vorsichtig“, sagte der Admiral und schob dem Doktor den Gewinn zu. „Glückspilz!“ raunte er schmunzelnd. Als der Kapitän das nächste Goldstück lassen mußte, bekam er den Rat, seinen Stuhl umzudrehen. Er stand auf und tat es – ohne Erfolg. Endlich gebot Franklin Schluß. „Meine Herren!“ sagte er abschließend. „Ein Glücksspiel zu gegebener Zeit ist etwas Wunderbares. Die Masken fallen, und wer es versteht, vermag blitzschnell den Charakter seiner Partner zu erkennen; denn wenn die Einsätze hoch sind, vergißt der Mensch, seinen Gesichtsausdruck zu beherrschen. Ich muß sagen, ich bin zufrieden mit meinen Offizieren. Leutnant Gore, alle Achtung! Sie haben dem Spott und unseren Reden zum Trotz nur mit Kupfergeld gespielt; ein eiserner Charakter. Sollte ich einen gefährlichen Auftrag haben, werden Sie ganz bestimmt damit bedacht. Leutnant Wilks, Sie sind Gewohnheitsspieler, stimmt’s?“
Der Offizier verbeugte sich leicht. „Sehen Sie“, fuhr Franklin fort, „ich bemerkte dies gleich. Ihre Kunst, so gelassen zu verlieren, ist bewundernswert. Wer das kann, muß allerhand gewohnt oder phlegmatisch sein. Das letztere kommt für Sie nicht in Frage. Wissen Sie, solche Menschen haben etwas Widernatürliches, ich kann sie nicht ausstehen. Und Sie, Doktor Stanley, nehmen Sie mir das offene Wort nicht übel, Sie sind ein harmloses, naives Glückskind, solche Menschen habe ich gern. Hoffentlich laden Sie uns in Hongkong zu einer Runde Champagner ein. Das Geld dazu haben Sie ja.“ „Hongkong?“ fragte Kapitän Fitzjames erstaunt. „Gewiß“, antwortete Franklin. „Liegt direkt am Wege. Man kann auch von London über Wien nach Paris reisen, wenn man genügend Unternehmungsgeist hat. Steuermann Sergeant, wir kennen uns schon, Sie haben bei allem eigene Ideen. Sie sind ein Steckenpferdreiter. Interessant, wie Sie mal mit einer, mal mit zwei oder drei Kupfermünzen ins Spiel gingen, ein andermal eine Silbermünze oder zwei riskierten, um auf Ihre Art das Glück zu zwingen. Oh, ich beobachte scharf, mit Ihnen wird auszukommen sein. Schade, daß Reverend Smith dem Spiele abhold ist; aber was will
man tun, wenn die Geistlichkeit nichts vom Gebetbuch des Teufels wissen will. Dem Zweiten Steuermann und den Maaten wollen Sie bitte bestellen, daß ich mich in ihrer dienstfreien Zeit noch um sie kümmern werde. Ich bin für jeden von Ihnen zu sprechen, denken Sie daran, wenn Sie etwas auf dem Herzen haben. Jedenfalls danke ich Ihnen für die interessante Unterhaltung. Guten Abend, meine Herren.“ Die Offiziere salutierten und gingen hinaus. Kapitän Fitzjames stand abwartend neben der Tür. „Nun?“ fragte der Admiral. „Sir“, antwortete Fitzjames, „ich erwartete von Ihnen mein Urteil, so gut wie die Leutnants.“ „Ist es Ihnen angenehm, vor Ihren Untergebenen getadelt zu werden?“ „Ich bin mir nicht bewußt, etwas Tadelnswertes getan zu haben.“ „Ich vermisse bei Ihnen Selbständigkeit“, antwortete der Admiral. „Haben Sie keinen eigenen Willen, Mister Fitzjames? Sind Sie immer und überall auf einen Befehl angewiesen?“ „Sir, wie soll ich das verstehen?“ „Ich hätte mich gefreut, wenn Sie mir zum Trotz weiter mit Silber gespielt hätten.“
„Aber Sie sagten doch…“ „Ganz recht, das sind kleine Scherze, um jemand auf den Zahn zu fühlen. – Sie nehmen mir doch meine Offenheit nicht etwa übel?“ Ehe Fitzjames antworten konnte, wurde das Schiff plötzlich zur Seite gedrückt. In der Messe fiel ein Glas um, rollte über den Tischrand und zersplitterte am Boden. „Übernehmen Sie das Kommando, Kapitän Fitzjames“, befahl Franklin, „es gibt Sturm.“ Mit hastigem Gruß verließ der Gast den Raum. Der Admiral fühlte das Rollen und Stampfen des Schiffes, es war ihm zumute wie einem Reiter, dessen Pferd tanzt und auskeilt. Irgendwo wurde „Alle Mann an Deck!“ gepfiffen. Franklin hörte das Trampeln vieler Füße. Fünfzig Matrosen eilten an ihre Plätze. Jetzt mochten sie gerade in die Wanten entern, um die Segel zu bergen. Alles würde wie ein Uhrwerk ablaufen. Sir John Franklin kam sich in diesem Augenblick ziemlich unwichtig vor. Er war in der Stimmung, seine Kajüte aufzusuchen und sich hinzulegen, um seinen Gedanken nachzuhängen. Er atmete tief, dann trat er an den Tisch, zündete sorgfältig drei Lichte an, goß sich ein Glas Wein ein und trank es in hastigen Zügen leer. Dann ging er hinauf. Oben heulte der Sturm. Der Himmel hatte sich bezogen, am Horizont flammten Blitze in
rascher Folge. In den Rahen hingen die Matrosen und holten die Leinwand ein. Sie achteten nicht der großen Tropfen, die als Vorboten starker Regenschauer das Schiff trafen. Auf der Brücke stand Kapitän Fitzjames unter den Offizieren und erteilte mit ruhiger Stimme seine Befehle. Im Steuerhaus hingen drei Matrosen am Steuerruder, einer hätte es bei diesem Toben nicht halten können. Niemand schien jetzt unbeschäftigt; wer nicht in den Wanten hing, beeilte sich, Luken und Bullaugen zu schließen. Es dunkelte schnell. Der Admiral hielt sich im Hintergrund. Wie oft schon war er im Sturm gefahren. Er kannte das Lied, das der Wind in den Masten pfiff; er hatte schon Schlimmeres erlebt. Er sah sich um viele Jahre zurückversetzt, als er im Taifun in der Südsee schiffbrüchig wurde. Damals war er noch jung, hatte geglaubt, das Leben wäre zu Ende; aber es ging weiter. Es führte ihn in die Seeschlacht bei Trafalgar, wo der Sturm aus Feuer und Eisen bestand, und auch damals war es nicht das Ende. Achtzehnhundertachtzehn lag er wieder im Sturm, der zwischen Eisschollen und Bergen raste und sie in eine wirbelnde Todesmühle verwandelte. Er aber wurde in der Mühle nicht zermahlen. Östlich Grönland war er unter Kapitän Buchan in
diese Hölle geraten und… überstand auch das. Achtzehnhunderteinundzwanzig schwamm er vor der Nordküste Kanadas in zwei zerbrechlichen Kanus im Eismeer, und der Sturm tobte. Hoch gingen die Wellen – und wieder waren Eisschollen bereit, das Zerstörungswerk des Windes zu vollenden; aber das Leben war auch diesmal noch nicht vorbei. Franklin hatte sich das Bangen abgewöhnt: er wähnte sich gefeit gegen alle Gefahren. Hunger und Durst, Sturm und Eis, Wasser und Krankheiten mußten ihn verschonen, er rang sich hindurch. Kühner wurde sein Mut, größer sein Glaube an sich selbst und hochfliegender seine Pläne. Jetzt lachte er dieses jämmerlichen Sturms, der hier im Atlantik drohen wollte. Ob auch der Himmel schwarz verhangen war, die Blitze wie feurige Schlangen durch die Wolken fuhren und der Donner brüllte, Sir John Franklin kümmerte sich nicht darum; er starrte in die tosenden Wogen und spürte kaum den Schaum, der ihm ins Gesicht flog. Was wollte das Wetter, he? Sir Franklins Leben war nicht zu Ende, es lief weiter in unbekannte Fernen. Er mußte erst noch seinen letzten großen Triumph feiern, ehe der Tod seinen Hieb führen durfte. Und er lachte in den Sturm, lachte laut und gellend, als ritte er auf einem wilden Wunderpferd durch Sturm und Gischt
und Wasser. Da lief ein Schrei über das Schiff. Aus einer tiefliegenden Wolke trat, begleitet von Blitz und Donner, eine glänzende Feuerkugel. Sie schwebte langsam auf die „Erebus“ herab, berührte die Spitze des Vormastes und glitt, wie von Geisterhand gehalten, langsam herunter. Auf dem Schiff hielten alle vor Entsetzen den Atem an. Ein Kugelblitz, dachte Sir Franklin, es ist weiter nichts als ein Kugelblitz! Er ärgerte sich, daß niemand etwas sagte, keiner der Männer rief oder winkte. Sie erstarrten vor der schönen, aber unheimlichen Erscheinung. Das glänzende Gebilde löste sich etwa zwei Meter überm Deck vom Mast, schwebte langsam an der Brücke vorbei und stand neben dem Großmast still. Da ließ plötzlich Treet mit schriller Stimme hören: „Teufel noch eins, go to hell!“ – In diesem Augenblick zerplatzte die Kugel mit kanonenschußartigem Knall. Drei Mann stürzten von dem Druck auf Deck. „Habt ihr sie gesehen, die Unglückskugel?“ schrie Curry aus dem Dunkel heraus mit angstvollem Kreischen. Da sprang der Admiral mitten aufs Deck und rief mit festem Ton: „Keine Angst, das war ein ganz gewöhnlicher Kugelblitz!“ Nun erst löste sich die Starre von den Leuten
wie ein Alp. Curry aber klopfte siebenundzwanzigmal auf die Planken.
„TERROR“
Vom zweiten Schiff aus war die Erscheinung nur undeutlich beobachtet worden. Kapitän Crozier hatte mit Beginn des Sturms achtern eine Laterne anbringen lassen zur Orientierung für das nachfolgende Transportschiff. Nun war seine Hauptsorge, nicht von der „Erebus“ abzukommen. „Sehen Sie dort, ein Kugelblitz!“ rief er plötzlich seinem Steuermann Warwel zu. „Er muß in der Gegend des Flaggschiffs niedergehen.“ Die Männer starrten angestrengt nach vorn, da kam aus dem Kielraum die Meldung „Wassereinbruch im Vorschiff“. Im gleichen Augenblick war die „Erebus“ samt Kugelblitz vergessen. Kapitän Crozier eilte hinab. Im vorderen Kielraum war schon ein Teil der Mannschaft damit beschäftigt, den Riß zu verstopfen. „Die Kalfaterung ist undicht geworden“, meldete Maat Evans, „ein fingerdicker Wasserstrahl schoß dort herein.“ Damit zeigte er nach vorn, wo mehrere splitternackte Matrosen fieberhaft im Wasser arbeiteten. Während sie noch dort standen, hörten sie durch das Brau-
sen des Sturms einen Kanonenschuß. Die Offiziere sahen sich an. „Was bedeutet das?“ fragte Crozier. „Vielleicht ein Notsignal?“ rief jemand zurück. Der Kapitän stieg, so schnell er konnte, wieder zur Brücke hinauf. Der Rudergänger wies nach vorn. „Der Knall kam von der ,Erebus’“, schrie er, „aber sonst ist dort alles ruhig.“ Crozier sah durch sein Glas. Das achtere Positionslicht brannte wie immer, sonst war nichts zu erkennen. Achteraus folgte in einigem Abstand der Transporter. Unten im Schiff bekam man das Leck langsam dicht. „Schweinerei“, brummte ein schwarzhaariger Seemann, dem unschwer der Franzose anzusehen war. „Das ganze Schiff ist überholt, versteift und kalfatert worden, und hier ist ein Riß. Was soll erst werden, wenn wir im Eise sitzen?“ „Warte ab“, antwortete Jupp. „Was ein guter Schiffszimmermann ist, der hat die Geschichte bald wieder klar.“ „Auf freier See?“ fragte ein anderer namens Greating. „Warum nicht?“ gab Jupp zurück. „Wenn wir wegen jedes kleinen Risses in den Hafen müßten, das wär’n Ding! Ich habe nicht umsonst das Handwerk gelernt.“
Von oben kam Leutnant Irving herab. „Los, Jungens, haltet euch ‘ran, der Kapitän hat eine Extraration Rum versprochen, sowie alles wieder dicht ist.“ „Ein Hurra für Kapitän Crozier!“ schrie Jules, der Franzose, und klatschte einem anderen auf den Rücken, daß er schmerzlich das Gesicht verzog. „Mensch“, sagte der, „du hast keinen schlechten Schlag, mit dir möchte ich mal boxen, mein Lieber.“ „Kannst du haben, Earlsson“, erwiderte Jules lachend, „bei nächster Gelegenheit tragen wir’s an Deck aus.“ „Und ich“, brüllte es aus einem Winkel, „bin der Unparteiische bei diesem Gang, verstehe mich auf derlei Dinge!“ „Fein“, rief Greating, „Sonderspektakulum, Großkampf Jules, Paris, gegen Earlsson, Liverpool. Unparteiischer: Vollmatrose Adams, Wales!“ „So“, sagte Jupp dazwischen, „das wäre geschafft, Herr Leutnant. Wir lassen dem Herrn Kapitän melden, das Schiff ist wieder dicht.“ „Schön, Leute“, sagte Irving, „und wenn das Boxvergnügen stattfindet, sagt mir Bescheid, ich komme gern zuschauen.“ „Jawoll, Herr Leutnant!“ brüllten die Matrosen, dann aber sprangen sie an die Pumpen,
um das Wasser aus dem Schiff zu bekommen. „Ho, jo, ho, Was ist der Seemann froh, Wenn die Brise steif von achtern weht. Ho, jo, ho!“So sangen sie an den Pumpen der Steuerbordseite, und von Backbord kam die Antwort: „Ho, jo, he, Den Anker aus der See, Und die volle Leinwand in den Wind, Ho, jo, he!“ LONDON
Über der Stadt lag wieder einmal Nebel. Er war nicht so dick und gelb, wie man es im November gewohnt war; aber der Wetterumschwung der letzten Tage machte sich, wie immer, durch dicken, feuchten Dunst bemerkbar. An der Themse stand eine Frau, einen kleinen Jungen an der Hand. Sie trug einen abgeschabten Mantel; der Kleine steckte in einer Joppe aus wettergebleichtem Matrosenzeug. Sie sah zu den Schiffen hinunter, deren Mäste mit dem Gewirr von Rahen und Tauen wie ein gespenstischer, kahlgebrannter Wald aus dem Nebel ragten. „Wann kommt der Vater zurück?“ fragte der Junge und sah seine Mutter an. „Ich weiß nicht, Harry“, bekam er zur Ant-
wort, „übers Jahr vielleicht, oder auch erst in zwei, drei Jahren.“ „Muß er denn so weit fahren?“ „Um die halbe Erde.“ „Das muß fein sein. Wenn ich groß bin, fahre ich auf einem schönen Schiff, auf einem großen Dampfer.“ „Ja, mein Kind!“ „Wenn der Vater zurückkommt, bin ich dann schon groß?“ „Ich weiß nicht.“ „Warum weißt du das nicht?“ „Das richtet sich ganz danach, was der Vater für Wetter hat. Wenn es Stürme gibt, kommt das Schiff nicht so gut vorwärts. Und wenn sie am Nordpol gar einfrieren, dauert es noch länger.“ Der Kleine riß die Augen auf. „Einfrieren?“ fragte er, „was ist denn das?“ „Oben am Nordpol ist es sehr kalt“, sagte die Mutter, „dort gibt es Berge ganz aus Eis, und das Meer friert zu, und wenn ein Schiff darin steckt, kann es nicht mehr weiter.“ „Aber wenn die Sonne scheint, taut das Eis auf, ja?“ „Am Nordpol scheint im Winter keine Sonne, da ist es immer dunkel.“ „Tag und Nacht?“ „Den ganzen Winter. – Sieh, dort kommt eine
Barkasse.“ Sie zeigte auf den Fluß hinunter; aber Harrys Gedanken waren ganz woanders. „Müssen sie da immer Lampen brennen?“ fragte er. „Wenn sie nicht schlafen, immer.“ „Haben sie denn genug Öl mit?“ „Admiral Franklin wird schon für alles gesorgt haben.“ „Ist der Admiral Franklin gut?“ „Wir wollen hoffen, daß er gut ist!“ „Dann wird er auch unseren lieben Vater mit nach Hause bringen.“
Ehe die Mutter eine Antwort fand, kam die Straße herauf eine alte Frau, die sich in ein großes Umschlagetuch gehüllt hatte. „Ach, die Frau Greating mit dem kleinen Harry!“ rief sie schon von weitem. „Hat es Sie auch an den Hafen getrieben bei diesem Wetter?“ „Ja!“ antwortete die andere. „Was mögen sie wohl draußen wieder ausgestanden haben, wo der Sturm hier schon fast die Dächer abgerissen hat.“ „Mir läßt es drinnen keine Ruhe“, seufzte die Alte. „Ich weiß, daß in Sturmnächten die Schiffe im Hafen ächzen und stöhnen, als bangten sie um andere, die auf See sind. Schiffe leben, hat mein Conny immer gesagt; wenn Sturm ist, spürt man es. Sie zittern, bäumen sich auf unter jedem Wellenschlag und stöhnen aus Furcht vor der grünen Wassertiefe. Oh, ich glaube das.“ Nun sahen sie zusammen in die ziehende Flut der Themse. „Wir Seemannsfrauen führen das erbärmlichste Leben unter der Sonne“, sagte Frau Greating nach einer Weile. „Wir sind zum Warten verdammt, solange wir atmen. Erst bangen wir, daß der Vater zurückkommt, dann sorgen wir uns um den Mann, und schließlich zieht es den Sohn auch wieder aufs Wasser. Wir ster-
ben überm Warten dahin.“ „Das kommt, weil sie die Menschen so wenig achten“, sagte die Alte, und die Furchen in ihrem Gesicht schienen sich noch tiefer einzugraben als bisher. „Mein Conny sagt immer, die Frachten sind den Kaufherren wichtiger als die Menschen. Sie versichern die Ware so hoch es geht, und bekommen jeden Verlust ersetzt. Die Menschen aber, die die See verschlingt, die kümmern sie nicht, sie geben nicht einmal den Witwen und Waisen etwas, wenn die Männer ertrunken sind. Wir Seemannsfrauen leben wirklich schlechter als das Vieh! – Aber sollen die Männer daheimbleiben? Wovon sollen wir und sie leben, wenn sie nicht die Schiffe übers Meer steuern? – Es ist Seemannslos, sein Leben daranzusetzen. Wir Frauen können nur warten und – hoffen.“ „Ein Schiffer lebt in tausend Gefahren, deshalb sollte man ihn ehren wie einen Lord. Man müßte ihn und die Seinen hochhalten; denn er setzt sein Leben aufs Spiel. Aber wir wohnen in den Slums, durch die Kleidung pfeift, der Sturm, und wir wissen nicht, wann die Männer wiederkommen, ob in zwei oder drei Jahren – oder überhaupt nicht mehr.“ „Aber schlimmer als wir sind die draußen dran“, seufzte die Alte und wischte sich die Augen. „Und wenn die See die Männer ver-
schlingt, was wird aus den Witwen und Waisen?“ Die junge Frau faßte ihr Kind fester. „Nein, lieber kämpfen und ringen, als immer und immer dieses Warten. Und dann der Nebel, die Feuchtigkeit, das trostlose Grau, und immer warten und warten…“ Sie ging langsam davon. Die Alte hob die Schultern und starrte weiter auf das ziehende Wasser, aber ihre Augen blieben trocken, zuviel salzige Flut war schon aus ihnen getropft. Nur im Herzen, da brannte das bittere Weh. Und sie spürte die Ohnmacht der Menschen.
SÜDGRÖNLAND
1. Juli 1845. Im Frühlicht des Tages hob sich ein Fels aus dem Meere. „Land, Land“, schallte es über Deck, und als hätte jemand ein Zauberwort gesprochen, so quollen die Männer aus dem Bauch der „Erebus“ hervor, liefen zum Vorschiff und jubelten vor Freude. Auch auf der „Terror“ wurde es lebendig. Der Weg eines Schiffes ist auf das genaueste errechnet. Man weiß, daß man nach soundso viel Tagen an einen bestimmten Ort kommen wird. Trotzdem herrscht eitel Freude, wenn der erste Berg auftaucht und zeigt, daß alles richtig war, was man vorausgesagt hat.
„Was ist das für ein Berg, Mister Blanky?“ fragte Ben aufgeregt, und seine Augen sogen sich fest an einer zerklüfteten Felskuppe, in deren Spalten Schnee schimmerte. Blanky reckte sich stolz und erklärte: „Das ist Kap Farvel, die Südspitze Grönlands. Nun sind wir bald im Eis. Da seht nur!“ Er zeigte nach Backbord hinüber. Aller Augen folgten seiner ausgestreckten Hand und sahen im leichtbewegten Wasser weiße Punkte weitab vorbeitreiben. „Das sind schon Eisberge“, fuhr Blanky fort. „Laßt uns nur erst in der Davis-Straße sein; da kommen sie haushoch dahergeschwommen.“ „Und wenn wir dagegenfahren?“ flüsterte Ben. „Ha, Wickelkind!“ schrie James. „So was fährt unter britischer Flagge! Ein Wunder, daß du nicht deine Amme mitgebracht hast!“ „Wenn der Junge eine Frage hat, soll er fragen“, erwiderte Blanky. „Er kennt das Eis noch nicht!“ „Dann laß ihn mal in der Davis-Straße kielholen, Blanky!“ brüllte John Black. Er grinste, als verspräche er sich einen Heidenspaß davon. Blanky sah sich um. Sein Gesicht war böse. Sie sollten den Jungen in Ruhe lassen. Er hob die Brauen und sagte: „Halt’s Maul, John
Black! Wirst’s wohl noch nicht erlebt haben, daß sie einen unterm Schiff durchgezogen haben.“ „Was?“ schrie der andere. „Du kennst mich nicht, Freund Blanky. Hier!“ Dabei riß er sich das Hemd von der Schulter, daß eine lange, rote Narbe zum Vorschein kam. „Was ist denn das, he? – Hab’ ich’s euch nicht erzählt, wie ich das Ding hier bekommen habe?“ Die anderen rückten näher. „Wir liegen im Hafen von Durban, der Kapitän ist ein Satan von Geizkragen, und wir haben den Hunger in den Eingeweiden. Da bin ich mit zwei anderen ins Magazin eingebrochen und hab’ geholt, was wir brauchten.“ „Dein Register langt wahrhaftig für zehn“, brummte Blanky. „Wer dich hängt, tut ein christliches Werk.“ John Black ließ sich nicht beirren. Sein gesundes Auge flackerte, als er fortfuhr: „Wie man uns faßt, ist das Schiff in hellem Aufruhr. Der Alte verdammt uns zum Kielholen und jeden, der dagegen muckt, ebenfalls. Wir kriegen nacheinander ein Tau um den Leib, dann werden wir unter dem Schiff durchgezogen. Ich bin zum Glück der letzte, die anderen sind draufgegangen. Ganz zerfetzt wurden sie an Backbord aufgehievt.“ „Haie?“ fragte Curry und vergaß vor Erre-
gung, den Mund zu schließen; aber John Black schüttelte den Kopf. „Korallen“, antwortete er. „Wir waren lange in den Tropen ‘rumgesegelt, da siedelt sich das Zeug am Schiffsbauch an und bildet spitze Zacken. Daran sind die armen Kerle hängengeblieben.“ Er spuckte aus, sah sich triumphierend im Kreise um und fuhr fort: „Nun komm’ ich an die Reihe. Ho, denk’ ich, bist du darum ein halbes Leben auf See, daß du hier verreckst wie’n abgeschuppter Fisch? Halt dich weg vom Schiffsbauch! – Anfangs geht alles gut. Die an Backbord ziehen, ich stoß’ mich mit Händen und Füßen vom Schiff ab, komm’ auch gut ‘runter, aber wie ich um den Kiel ‘rumgehe, krieg’ ich das Drehen und reiß’ mir die Schulter auf. Ho, denk’ ich, noch lebst du, und stoß’ mich weit nach draußen ab, da bin ich auch schon oben. Ha, der Teufel läßt doch seine Kumpane nicht im Stich!“ „Das will ich meinen!“ grölte James und lachte wie besessen. „Aber“, Ben starrte den Sprecher groß an, „aber da waren die andern doch tot?“ John Black grinste, rückte an seiner Augenbinde und meinte: „Bist ein zimperlicher Kerl, Ben. Mußt dich mal mit ‘ner Spillspake durchbleuen lassen oder im Sturm über Bord ge-
hen.“ „Laß den Jungen zufrieden“, knurrte Blanky. „Könnte dir so passen, ihn in deine Klauen zu kriegen.“ „Er hat Angst um sein Schäfchen“, sagte Treet boshaft; James aber ließ ein meckerndes Lachen hören. „Er hat wohl Protektion?“ fragte John Black. „Wieviel Silberfüchse hat der Herr Papa denn springen lassen?“ Es wurde totenstill auf dem Vorschiff; die Matrosen wichen vor den Streitenden zurück. Was würde es geben? Konnte sich Blanky diesen Schimpf gefallen lassen? Der Vollmatrose stand unbewegt. Aus seinem Gesicht war alles Blut gewichen. Schließlich spuckte er dem Einäugigen ins Gesicht, drehte sich um und ging mit wiegenden Schritten über das Deck nach achtern. John Black wischte sich mit der Hand über die Wange und wurde blaurot vor Zorn. Angespuckt hatte er ihn wie einen Hund! „Zwischen uns ist noch nicht das letzte Wort gesprochen!“ rief er dem anderen haßerfüllt nach. Aus seinem Auge blitzte der Satan. Ben sah ihm mit einigem Grauen nach, als er sich endlich in Gesellschaft von James und Treet davonmachte. Was sollte das geben, wenn er, Ben, in den Mittelpunkt eines Streites geriet?
Das Leben an Bord mußte zur Hölle werden, wenn sie aus Bosheit nur darauf lauerten, ihn überall zu knuffen und zu plagen. Und Ben durfte nichts sagen, sonst würde es heißen, er verpfeife die Matrosen beim Logisältesten. Was war also zu tun? Der Junge sah sich hilflos um. Da bemerkte er seinen Freund Karl, der an der Steuerbordreling lehnte und stumm das Spiel der Wellen betrachtete. Er mußte die Auseinandersetzung gehört haben. Lautlos schlich sich Ben an seine Seite. „Charly“, flüsterte er, „hast du die Geschichte gehört?“ Der andere nickte. „Was soll ich tun?“ drängte der Kleine. „Sieh dich vor“, raunte Karl, ohne die Augen vom Wasser zu heben, „die Kerle werden’s drauf ankommen lassen. Sie haben sich schon zusammengefunden. Gleiche Brüder, gleiche Kappen, sagt man bei uns.“ „Wenn sie mich aber knuffen und schlagen?“ „Duck dich weg; aber bring sie nicht an; bei keinem, hörst du? - Zu mir kannst du natürlich mit allem kommen.“ „Charly, warum sind die Menschen so schlecht?“ „Sie sind nicht alle schlecht. Aber das Leben ist hart und macht sie nicht besser. Wir leben erbärmlich, Junge. Die Kaufleute verdienen an
unserem Schweiß und halten uns dabei so knapp und klein, daß schwache Charaktere eben unter die Räder kommen. Ihre unersättliche Gier bringt andere in Not und macht sie ebenfalls gemein. Wir müssen unser Leben schwer erkaufen, in Wind und Wetter, bei jedem Sturm, immer wieder heißt es draufzahlen, würfeln, entweder – oder. Wir haben einen harten Beruf, Ben.“ „Und warum fährst du zur See, wenn es so schlecht ist?“ „Ich bin am Wasser groß geworden. Wenn man Salzluft riecht, zieht es einen hinaus: das Meer, die unendliche Weite, die geblähten Segel, ein Schiff auf großer Fahrt. Und dann hatte ich meine Träume. Ich wollte einmal Kapitän werden, vielleicht sogar auf einem eigenen Schiff fahren, wollte fremde Länder sehen. Na ja, es ist eben alles Phantasie gewesen. Jetzt bin ich Kuli, fahre für die Tasche fremder Herren, die ich nicht kenne, denen ich höchst gleichgültig bin, und muß in Eis und Schnee hinein, wohin ich nie wollte. Es ist, als hingen wir an einer unsichtbaren Kette.“ Karl Bauer wandte sich ab und stieg ins Logis hinunter. Unten herrschte eine unerträglich dumpfe Luft. Einige Matrosen schnarchten in ihren Kojen; nur aus der Ecke klang ununterbrochen Husten.
Wood, der arme Kerl, dachte er, wäre auch besser in Old England geblieben mit seiner kranken Lunge; aber was hilft’s, wenn sie daheim nach Brot schreien. Er setzte sich auf sein Lager und stützte seinen Kopf gedankenverloren auf die Fäuste. Dann zog er eine alte Segeltuchtasche hervor und hielt gleich darauf einen Stapel Briefe in der Hand. In tiefes Sinnen versunken, nahm er den ersten, öffnete den Umschlag und las mit müdem Lächeln: Mein lieber Karl! Es ist schon spät, die Eltern schlafen. Nun kann ich an Dich denken. Wo magst Du jetzt sein? – Bringst Du wieder ein Schiff hinaus in Sturm und Nacht, oder fährst Du einem fremden Segler, der in den Hafen begehrt, im kleinen Boot entgegen? – Du hast es gewiß schwer; aber ich bin so froh, daß Du nicht auf hoher See zu fahren brauchst. Wir könnten uns dann auf Jahre hinaus nicht sehen. Die Eltern wissen noch nichts von uns beiden; ich werde auch vorläufig noch kein Wort sagen. Ich denke immer, der Vater wird es nicht erlauben, daß ich Dein werde. Aber gedulde Dich, es wird schon alles gut ausgehen. Glaube nur an mich! Der Matrose sah auf. „Glaube nur an mich“, murmelte er und sein Blick fiel auf die Unter-
schrift: „Immer Deine Maria!“ „Immer“, sagte Karl laut. „Wie lange dauert wohl ,immer’?“ „Ha?“ brummte einer oben in der Koje und warf sich schnaufend herum. Karl schob die Briefe in die Tasche zurück und setzte sich darauf. Niemand sollte um sein Geheimnis wissen. Auf der Brücke standen Admiral Franklin und Kapitän Fitzjames. „Sehen Sie dort drüben?“ fragte Sir John Franklin. „Das erste Eis!“ „In der Tat, Sir“, antwortete der Kapitän. „Es ist für mich jedesmal ein erhebendes Gefühl, wenn wieder das erste Eis angeschwommen kommt. Wer sich wie ich ein Leben lang in der Arktis herumgetrieben hat, kann sich einer gewissen Liebe zu diesen Ländern nicht erwehren.“ „Das glaube ich.“ „Die Geheimnisse des Nordens locken. Es ist wie ein Ruf, der aus unbekannter Ferne dringt und immer wieder den Einsatz ganzer Männer, die völlige Hingabe an das große Ziel verlangt. Das Nordland hat seine Schönheiten, Kapitän: die wunderlichen Eisformen, das Polarlicht, Gletscher und Felsen, dazu die reine, klare Luft – es ist köstlich!“ „Aber der Norden ist keines Menschen
Freund, Sir. Er ist furchtbar für den, der ihm hilflos ausgeliefert ist.“ „Das gehört dazu und gibt uns reiche Erfahrungen. Ich denke an meine erste Reise in Nordkanada, sie war schön und furchtbar zugleich.“ „Sie wären beinahe durch Hunger umgekommen, nicht wahr?“ „Kennen Sie die Einzelheiten?“ „Nur die groben Umrisse Ihrer Fahrt“, entgegnete der Kapitän. Sir Franklin kniff die Augen zusammen und sah über das Meer. „Wir waren damals, im Jahre achtzehnhundertneunzehn, achtundzwanzig Menschen und zogen mit vier Kanus zu den Kupferindianern und ihrem Häuptling Akaitcho. An einem kleinen See schlugen wir unser Winterlager auf. Hier begannen schon die Widerwärtigkeiten. Wir waren wegen unserer Nahrung von den Wilden abhängig. Das wußte Akaitcho und begann, uns schamlos zu erpressen. Doppelt und dreifach mußten wir alles bezahlen. Endlich konnten wir nach dem Polarmeer aufbrechen. Wir sind dann später in zwei Kanus wochenlang ostwärts gesegelt; aber das Wetter war äußerst ungünstig, dazu kam das Eis – es war kein Vergnügen. Ich konnte die Coronation-Bucht entdecken, das war das einzige Positive der ganzen Fahrt. Wir
mußten umkehren. Es war ein Rückmarsch mit Schrecken. Wir aßen eine Zeitlang nur gekochtes Moos, das wir aus dem Schnee scharrten. Einer nach dem anderen brach zusammen. Ein Kanadier, Michel mit Namen, wurde sogar zum Kannibalen. Er schnitt von den Leichen das Fleisch ab und ermordete meinen treuesten Offizier, den Leutnant Hood. Er mußte erschossen werden. Unser Winterlager vom Vorjahr fanden wir leer. Dies hätte uns den Rest gegeben, wenn nicht der Zweite Offizier mit einer Vorausabteilung auf Häuptling Akaitcho gestoßen wäre. Er verstand es, dem gerissenen Indianer Lebensmittel zu entlocken, und er erschien in unserem Lager als rettender Engel. Wir wären sonst alle umgekommen.“ „Furchtbar!“ sagte Kapitän Fitzjames und sah den Admiral entsetzt an. Der nickte. „Furchtbar, aber lehrreich“, fuhr er fort. „Unsere Erfahrungen kamen allen Polarfahrern zugute. Wir entdeckten bei den Indianern das heute unentbehrliche Fleischmehl Pemmikan. Wir erprobten am eigenen Körper, was ein Mensch leisten kann, wenn ihn die nackte Not dazu treibt. Wir wissen jetzt, wie man sich im eisigen Frost des Polarwinters warm und gesund erhält. Mannigfach haben wir aus diesen furchtbaren Episoden gelernt.“ „Episoden? – Dramen meinten Sie!“
„Für mich sind es Episoden.“ „Ja, S i e kamen wieder, Sir, aber für die anderen, die bleiben mußten, waren es Tragödien. Auch die Angehörigen dieser Leute werden wohl kaum Episoden darin erblicken.“ „Opfer müssen gebracht werden.“ „Gewiß, Sir!“ „Alle Erfahrungen muß man teuer erkaufen.“ Eine Weile war es still. Der Admiral sah nach dem Kap hinüber, wie es langsam, fast majestätisch an Steuerbord entlangglitt. Der Kurs führte geradewegs auf die Davis-Straße. Kapitän Fitzjames aber schritt erregt auf und ab. Seine Gedanken beschäftigten sich mit Franklins Erzählung. Wieviel Entbehrungen hatten diese Leute auf sich nehmen müssen, wieviel Scheußlichkeiten hatten sich ereignet. Dabei waren es nur wenig Menschen gewesen, eine Handvoll sozusagen. Was würde geschehen, wenn einhundertdreiunddreißig Männer auf einem solchen Rückmarsch… Nein! Das konnte, das durfte nicht eintreten. Der Admiral besaß Erfahrung, er hatte am eigenen Leibe verspürt, was es heißt, hilflos der Arktis preisgegeben zu sein. – Aber es konnten unvorhergesehene Dinge eintreten: Eispressungen, Wirbelstürme, Havarie. Hatte der Admiral auch dafür vorgesorgt, hatte er sich auf einen Fußmarsch, einen besseren, sichereren Fuß-
marsch als damals, vorbereitet? Niemals war auch nur ein Wort über diesen Fall verloren worden. Er blickte den Admiral an. Was dachte er, was ging hinter der Stirn dieses großen und geehrten Mannes vor? Rechnete er mit allen Möglichkeiten? Endlich konnte Fitzjames nicht länger schweigen. „Sie waren damals achtundzwanzig Mann, Sir“, sagte er, und seine Stimme klang ein wenig heiser. „Sie sind knapp mit dem Leben davongekommen. Wie hätte es geendet, wenn Sie über hundert Mann gewesen wären?“ „So viele Menschen können in der Arktis nicht zu Fuß vorwärts kommen“, sagte Franklin hart, als wollte er die Gedanken des Kapitäns von vornherein abschneiden. „Nicht?“ fragte Fitzjames tonlos. „Nein!“ – Auf diese Antwort gab es zwar keinen Widerspruch, aber eine schicksalsvolle Frage. Der Kapitän stellte sie. „Was soll aber werden, wenn wir die Schiffe aufgeben müssen?“ „Wir brauchen sie nicht aufzugeben.“ „Sir, jedes Unternehmen kann scheitern. Es ist keine Schande, ein Unglück einzukalkulieren.“ „Unser Unternehmen scheitert nicht, Kapitän! – Muß ich Sie immer wieder daran erinnern,
ein wenig mehr an Ihr Glück zu glauben? – Sie fahren unter Sir John Franklin, Fitzjames. Haben Sie kein Vertrauen zu diesem Namen?“ „Ich habe es, Sir, sonst hätte ich dieses Kommando nicht übernommen.“ „Ich gehe aufs Ganze!“ Der Admiral sah seinem Gegenüber fest ins Gesicht. „Wer mit mir fährt, muß vom gleichen Geiste beseelt sein. Ich stelle jedem meiner Offiziere frei, von den Walfisch-Inseln aus mit dem Transporter zurückzufahren.“ „Davon kann keine Rede sein, Sir.“ „Folgen Sie mir blind?“ „Jawohl, Herr Admiral!“ „Jedem Befehl?“ „Jedem, Sir!“ Franklin gab keine Antwort, er drehte sich um und verließ die Brücke. Der Kapitän der „Erebus“ war allein. Zitterten ihm nicht die Hände? Fühlte er nicht ein Frösteln über den Rücken laufen? War dieser Admiral ein Dämon? Fitzjames schalt sich einen Narren; aber er mußte sich am Geländer der Brücke festhalten. Welch ein Mensch, dieser Sir John Franklin. Welche Macht und Selbstsicherheit ging von ihm aus! Wo waren denn alle Einwände geblieben? Hatte er nicht hundert Fragen oder gar Vorwürfe bereit gehabt? Wollte er nicht
nach Schlitten fragen, nach den nächsten Jagdund Wohnplätzen der Eskimos, nach Rettungsmöglichkeiten und vielem anderen mehr? – Nichts hatte er gefragt. Jawohl hatte er gesagt und… er hatte sogar Haltung angenommen vor dem Admiral, was sonst an Bord neben der Mannschaft nur die Maate zu tun brauchten. „Wir verehren ihn“, flüsterte er vor sich hin; aber das Wort genügte nicht zur Rechtfertigung; sein Gewissen benötigte etwas Größeres, Stärkeres. „Wir glauben an ihn, wir… wir lieben ihn“, stammelte er. „Er ist… was ist er eigentlich?“ Und irgendein unbetäubter Gedanke schrie dazwischen: Ein Götze! – Aber da war wieder das Offiziersbewußtsein und entgegnete: Nein! er ist der Admiral, der Führer der Expedition, er wird die Nordwest-Passage finden. Er hat befohlen, an ihn zu glauben, ihm bedingungslos zu folgen… wir gehorchen! Der Offizier in Kapitän Fitzjames behielt die Oberhand.
LONDON
Die Lombard Street hinunter rollte eine vornehme Kalesche, von zwei edlen englischen Vollblutschimmeln gezogen. Der Herr, der im
Rücksitz des Wagens lehnte, blickte teilnahmslos in das bunte Gewimmel der Londoner Geschäftsstraße. Vor der „Bank von England“ wurde er aufmerksam, rief dem Kutscher einige Worte zu und beugte sich aus dem Wagen. „Hallo, Mister Phelps!“ Der Wagen hielt. Der Angeredete, wie immer stutzerhaft elegant gekleidet, fuhr herum. „Oh, Mister Wellmann, good morning! So früh schon unterwegs?“ rief er freudig und reichte dem anderen die Hand. „Kommen Sie, steigen Sie ein, etwas Zeit werden Sie doch für mich haben.“ Dieser Einladung konnte Mister Phelps nicht widerstehen. „Mir ist zwar jede Minute kostbar“, sagte er lächelnd, „aber bei Ihnen will ich gern eine Ausnahme machen.“ Er stieg in den Wagen. Die Fahrt ging weiter. „Haben Sie die neuesten Berichte?“ fragte Wellmann. „Ostasien steigt unaufhaltsam.“ „Haben Sie in der ,Times’ den Aufsatz über die Neukonstruktion eisfester Schiffe für die Nordwest-Passage gelesen?“ „Großartig!“ rief Phelps begeistert. „Ist etwas an der Sache?“ „Kein Gedanke! Die Geschichte ist einer
meiner besten Einfälle, mein Lieber. Irgendso ein armer Teufel von verkrachtem Ingenieur hat die Sache ausgetüftelt, natürlich Phantasie. Die ganze Geschichte hat mich ein paar lumpige Pfund Sterling gekostet. Aber die Sache hat gezündet, als sie die ,Times’ so geschickt herausbrachte. Bluff regiert die Welt.“ „Habe schon von Ihnen gelernt, Mister Wellmann. Ich bin auf dem besten Wege zum Millionär.“ „Sie machen mich neugierig!“ Phelps lachte und blinzelte dem anderen vielsagend zu. „Haben Sie schon von der ,TransPassage-Company’ gehört?“ „Gewiß, eine neue Gesellschaft, wie man mir sagte.“ „Meine Gesellschaft, Mister Wellmann. Ein Riesenprojekt nach Ihrem Rezept. Handelsgesellschaft für Transporte durch die NordwestPassage sozusagen. Die Aktien gehen weg wie Sandwiches.“ „Donnerwetter! Alle Achtung vor Ihrem Geschäftsgeist, Mister Phelps. Ich fange an, Respekt zu bekommen!“ „Einige unserer Geschäftspartner sind schon beteiligt. Ein ganz großer Coup, kann ich Ihnen sagen.“ „Da muß Ihnen mein Schiffsartikel in der ,Times’ doch recht gelegen gekommen sein. –
Übrigens, arbeiten Sie mit einem Geldinstitut zusammen?“ „Ja, mit der Bank von Burns und Canter.“ „Alles kleine Sparer, Arbeiter, Seeleute, Gewerbetreibende… Pennygeschäfte, mein Lieber.“ „Was tut’s? Zwölf Penny geben einen Schilling, zwanzig Schilling ein Pfund. – Die Sache steht auf festem Grund, das Geld fließt wie das Öl aus der Mühle.“ „Sie sind ein Witzbold, mein Lieber. Eine Seifenblase auf festem Grund. Ich hätte Sie nicht für so tüchtig gehalten.“ „Man lernt nie aus“, erwiderte Phelps boshaft. „Ich habe von einem gewissen Mister Wellmann manches gelernt.“ „Kann man zum Dank in dieses Geschäft einsteigen?“ „Gern, je fester die Company mit den angesehenen Londoner Unternehmern zusammenwächst, desto größer ist das Vertrauen der Öffentlichkeit, und das brauchen wir doch.“ „Bis die Seifenblase platzt.“ „Das lassen Sie nur meine Sorge sein, Mister Wellmann, ich bin firm in. derlei Dingen. Kommt Sir John Franklin ans Ziel, um so besser, dann steht die Gesellschaft. Wenn nicht – mein Gott, wer kann etwas gegen das Schicksal tun? Oder meinen Sie, man wird dann aus-
gerechnet einen Mister Phelps aus London dafür verantwortlich machen?“ „Ich glaube kaum!“ „Wir wollen doch alle das Beste für Leben und Wohlstand des englischen Volkes. Wenn einmal etwas mißlingt, wer kann dafür?“ „Gut, mein Lieber, abgemacht! – Ich steige bei Ihnen ins Geschäft ein. – Haben Sie Zeit? Kommen Sie mit nach Lambeth?“ „Ich muß noch zu einer dringenden Verabredung in die Bank. Vielleicht morgen, Mister Wellmann?“ „Schön, sagen wir halb elf.“ „Abgemacht! – Lassen Sie bitte an der Ecke halten.“ Mister Phelps verschwand in einem Bankhaus in der Seitenstraße. Einige Leute standen dort vor dem Fenster und lasen eine Reklametafel. „Sparen Sie bei der Bank von Burns und Canter!“ stand dort. „Ihr Geld liegt bei uns sicherer als zu Hause im Strumpf. Vier Prozent Zinsen sichern wir Ihnen zu. Lassen Sie das Ihre wachsen.“ Nicht nur Mister Phelps verschwand in der Tür dieses Hauses. Es kamen auch einfache Frauen, Krämer und Handwerker. Diese aber mußten vor der großen Barriere im Kassenraum stehenbleiben und hier ihr Scherflein abgeben, während Mister Phelps in ein elegan-
tes Zimmer gebeten wurde. Zweierlei Menschen gibt es auf der Welt: Die einen packen hart an, zwingen das Eisen in die Form, brechen die Kohle aus dem Schacht, mähen das Getreide – und zahlen. Die anderen lassen sich von zwei englischen Vollblutschimmeln ziehen, sitzen in Sesseln, rauchen feine Importen – und kassieren. Die einen fahren in zerbrechlichen Schiffen über das Meer, ziehen dem Eis entgegen und frieren. Die anderen sitzen im Salon, lesen Börsenberichte, reiben sich die Hände und machen Geschäfte. Die einen wie die anderen werden nackt geboren, und wenn sie aus dem Leben gehen, bleibt nichts als ein Häuflein Knochen. Beide zählen sie zur Gattung des homo sapiens und haben gleiches Blut in den Adern. Und doch sind es zweierlei Menschen. Warum? Wer kann es sagen? Der Geschäftsgeist macht es, hätte Mister Wellmann geantwortet und dann weiter seinen Truthahn zerlegt. Es ist Seemannslos, hätte wohl die alte Mutter des Matrosen Conny erwidert und wäre an jedem stürmischen Tag in den Hafen gelaufen, um die Schiffe stöhnen zu hören. Wir hängen an einer unsichtbaren Kette, hätte der Matrose Karl Bauer gesagt. Alle anderen ließe die Frage kalt. James würde schielend die
Rumflasche an den Hals setzen, Ewald würde fressen, Percy würde basteln und Jupp von seinem „Büdchen“ träumen. Und die Aktien stiegen.
„TERROR“
Heute wurde geboxt. Die Matrosen hatten vor dem Kreuzmast mit Tauen ein Feld abgesteckt; ringsum saßen die Männer auf Tonnen und Kisten. Sogar in den Wanten und auf den Rahen hatten sich Neugierige niedergelassen. Heute war das große Ereignis: der Boxkampf Jules, Paris, kontra Earlsson, Liverpool. Der Schiedsrichter Adams stolzierte mit wichtiger Miene im Ring auf und ab; die Spannung der Zuschauer wuchs von Minute zu Minute. „Was ist nur los?“ rief Jupp von der Kreuzmarsrahe herab. „Wollen die nicht, oder was ist?“ „Wart die Zeit ab, German“, antwortete einer aus den Großwanten. „Der Franzose muß sich erst parfümieren und schminken.“ Die Matrosen lachten. „Und der Englishman wäscht sich noch die Füße, was?“ „Sie kommen!“ brüllte es von irgendwoher. Eine improvisierte Kapelle setzte unter den Klängen einer englischen Konzertina unzähli-
ge Blechdosen, Kisten und Klappern in Bewegung. Dann krochen die beiden Kämpen in den Ring. Adams hob die Hand, es wurde still in der Runde. Nun klang es fast feierlich aus dem Munde des Schiedsrichters: „Es treten sich gegenüber Monsieur Jules aus Paris und Mister Earlsson aus Liverpool. Sie kämpfen mit den Fäusten bis zur Niederlage oder dem Gnadengesuch eines Partners. Als Preise wurden bisher ausgesetzt: eine Rolle Kautabak, zwölf Schilling, eine Flasche Brandy und ein Hund.“ Die Männer grölten Beifall. „Gebt euch die Hand!“ Die beiden traten einander gegenüber, streckten sich die mächtigen Pranken hin, die, mit Segeltuchballen umwunden, eher Bärentatzen als Menschenhänden glichen und lachten sich an. Eine wilde Freude toste in ihnen. Das war einmal etwas anderes als das ewige Einerlei des Schiffsalltags. Die Sonne glänzte auf ihren braunen Oberkörpern. Jetzt wirkte der Franzose fast zierlich neben der geballten Kraft des Briten. Aus dem Hintergrund kamen die Offiziere heran. „Eins, zwei, drei!“ zählte Adams, dann standen sich die beiden abschätzend gegenüber, die Fäuste deckend vors Gesicht gehalten. Earlsson griff sofort an, aber seine wuchtigen Schläge gingen ins Leere. Der Franzose hatte
sich flink und wendig vor den ersten beiden Hieben weggeduckt; dann sprang er wie ein Wiesel zur Seite. „Hoho!“ brüllten die Matrosen. „Gib’s ihm, Earlsson.“ Aber es dauerte eine Weile, ehe er dem anderen einen Hieb versetzen konnte. Es wurde nur ein Streifschlag; doch jetzt hatte sich Jules gefunden, und blitzschnell traf er den Engländer mehrmals an den Kopf. Es wurde gepfiffen. Die vordersten Männer rissen fast die Taue um, so drängten sie zur Mitte. Die Kämpfer umkreisten sich wie zwei Tiger, jeder nach einer Blöße des anderen spähend. Dann aber verbissen sie sich plötzlich ineinander, und die Schläge hagelten so dicht, daß Adams seine Ruhe verlor. Da brachen die Zuschauer in einen Höllenlärm aus. Alles sprang auf, so daß die hinten Stehenden kaum noch den Boxring sahen. „Earlsson!“ grölten sie, und „Vorwärts, Jules!“, denn auch der Franzose hatte seine Freunde. Als sich der Trubel gelegt hatte und der Unparteiische die Lage klären wollte, stand Earlsson plötzlich kerzengrade in der Mitte und hielt lächelnd beide Arme hoch. Was sollte das heißen? Wollte er um Gnade bitten? Blutete er nicht am rechten Auge? Es wurde unheimlich still.
„Ich gebe auf!“ sagte der Brite und lächelte noch immer. „Ich bin nicht etwa zu feige, bis zur Entscheidung zu kämpfen; aber jetzt würde aus Zeitvertreib Ernst werden. Und ich möchte, daß Jules mein Freund wird. Ich hab’ selten einen gesehen, der so gut boxt.“ Der Franzose stand nur einen Schritt von ihm entfernt. Noch immer hielt er die Arme leicht angewinkelt und schob den Kopf vor mit ungläubig lauerndem Blick. War es möglich? Jetzt, wo es hart auf hart gehen mußte, wo es Blut und Haß geben würde, war Schluß? Der Brite gab auf und bot ihm Freundschaft an? Seine Haltung lockerte sich. Er boxte nicht schlecht, der große Matrose aus Liverpool. Warum sollte man solch einen offenen, ehrlichen Jungen nicht zum Freund nehmen? Jules schlug in die dargebotene Hand ein. Man brachte ihm die Preise. Die Zuschauer waren geteilter Meinung über den Ausgang des Kampfes. Manche brachten ihren Ärger offen zum Ausdruck. Sie hatten erwartet, einen Zerschlagenen am Boden zu sehen und einem wirklichen Sieger zuzujubeln. Und jetzt? Andere aber freuten sich über die Kampfesweise der beiden. Und als Jules nun gar die Preise teilte und nur den Hund für sich allein behielt, fand man sich zu ehrlichem Beifall
bereit. Wieder andere traten in den Ring, nahmen den beiden die Segeltuchpolster ab, um selber zu boxen; aber die große Spannung war vorbei. „Was sagen Sie dazu?“ fragte wenig später Leutnant Irving den Kapitän, als sie zusammen mit dem Ersten Offizier, Sir George Back, zur Brücke gingen. „Ich freue mich“, antwortete Crozier. „Es zeugt von Charakter, wenn die Leute so handeln. Auch wirkt es beispielgebend auf die anderen. Wieder ein Beweis mehr, meine Herren, daß unsere Mannschaft keine wilde Herde ist, sondern aus lebenden, denkenden Einzelwesen mit Charakter und Verstand besteht. Wer diese Männer richtig anfaßt, wird sie sich zu Freunden machen.“ „Und der nötige Respekt, Sir?“ fragte Back. „Sie verwechseln Respekt mit Furcht, Leutnant. Es gibt Kommandanten, die ihre Leute mit eiserner Strenge zusammenhalten. Die Mannschaft pariert aus Angst vor Strafe. Aber diese Angst kann sich eines Tages verwandeln: es kommt zum Widerstand, zur Verschwörung, schließlich zur Meuterei. Und das will ich Ihnen sagen, an Meuterei ist immer der Kapitän schuld.“ „Sir, ich erinnere Sie an die ,Bounty’.“ „Die Besatzung der ,Bounty’ meuterte, weil
sie zu hart und rücksichtslos behandelt wurde. Kapitän und Offiziere begingen gleich nach der Abreise von England grobe Ungerechtigkeiten und häuften dadurch ein furchtbares Pulver im Schiff an. Es bedurfte nur eines Funkens, um den Haß offen ausbrechen zu lassen.“ „Aber es gibt auch Halunken unter den Seeleuten, Sir.“ „Gewiß, man muß Augen im Kopf und ein Herz haben, wenn man die Mannschaft anheuert. Sehen Sie sich unsere Kerls an. Sie sind echt, alle miteinander, ob es nun der selbstsüchtige Shavel, der fromme Raoul oder der phlegmatische Richards ist.“ „Kennen Sie jeden einzelnen?“ fragte Leutnant Irving. Crozier lächelte. „Das ist eine meiner vorzüglichsten Eigenschaften“, sagte er. „Passen Sie auf.“ Er winkte einem Trupp Matrosen zu, der seitab stand. „Na, Barry, was lesen Sie jetzt? Brauchen Sie bald wieder Lektüre?“ „Ich beschäftige mich mit Charles Dickens“, antwortete der Seemann. „Er schreibt sehr amüsant.“ „Kennen Sie: ,A Christmas Carol’?“ „Gewiß, Sir, gerade das habe ich jetzt gelesen.“
„Wenn Sie etwas Neues brauchen, kommen Sie nur zu mir, Barry.“ „Jawohl, Sir!“ Sie gingen weiter. „He, Zimmermann! – Was macht das Büdchen?“ rief Crozier plötzlich. „Ach, Herr Kapitän, ich hab’ ja nun schon lange nix von daheim gehört“, antwortete Jupp treuherzig. „Aber meine Gret, die hält ihre Sachen zusammen. Und wenn ich meine Heuer nach Deutz bringe, kann ich den Rest bezahlen.“ Die Offiziere lachten. „Dort drüben steht Conny“, fuhr der Kapitän nach einer Weile fort, „er ist ein unverbesserlicher Träumer und liebt alles Geheimnisvolle. Ehe wir abfuhren, kam seine Mutter, ein ärmliches altes Weibchen, an Bord und verlangte, ich solle versprechen, ihren Conny gesund wieder mit heimzubringen.“ „Und was haben Sie geantwortet, Sir?“ Leutnant Back fragte es mit einer gewissen Neugier. „Ich habe ihr den Gefallen getan“, bekam er zur Antwort. „Aber das geht doch wohl ein wenig zu weit, Sir. Wenn nun alle Angehörigen der Besatzung mit einem solchen Anliegen kämen?“ „Hätten sie nicht ein Recht dazu? Bin ich
nicht für das Wohl und Wehe eines jeden verantwortlich? – Die anderen haben es nur nicht gewagt, dieses Versprechen von mir zu verlangen, weil sie mich entweder nicht kannten oder gehemmt waren. Wer weiß? – Die alte Mutter aber war unkompliziert genug, an Bord zu kommen und vor mich hinzutreten. Für mich war sie nicht die Mutter des Matrosen Conny, für mich war es die Mutterliebe, die die Besatzung begleitet. Darum habe ich mein Versprechen auch für alle meine Männer abgegeben. Solch eine Mutter vermag viel, sie kann Gewissen wachrütteln, Pläne umstoßen und Entscheidungen erzwingen. Es müßte vor jedem Feldherrn, am Tage vor der Schlacht, eine solche Mutter erscheinen. Mütter haben ungeahnte Kräfte. Sie wissen es nur nicht.“ „Ich verstehe Sie nicht, Sir.“ „Haben Sie keine Mutter mehr, Leutnant?“ „Doch, Sir!“ „Wäre Ihre Mutter nicht zu allem fähig, wenn es um ihr Kind, ihren Sohn ginge?“ „Ich glaube, ja!“ „Sehen Sie! – Aber die Mütter haben nur das Wohl ihres eigenen Kindes im Auge, nicht das der Kinder der anderen Mütter. Das ist es, woran ihre Stärke zerbricht.“ Die Männer sahen aufs Meer hinaus. Ein philosophierender Kapitän, dachte Leut-
nant Back. Ob er der Richtige war für eine Fahrt in Eis, Nebel und Ungewißheit? Und doch mußte sich der Leutnant eingestehen, daß noch kein Kapitän ihm so gefallen hatte wie Crozier. Auf der „Terror“ schien ein anderer Wind zu wehen als anderswo. Hier spürte man die Freiheit bis zum letzten Leichtmatrosen. „Und ehe wir ins Eis kommen“, fuhr der Kapitän fort, „prägen Sie sich meinen Grundsatz ein: Auf der ,Terror’ kommt erst die Mannschaft – dann der Kapitän.“ „Und die Aufgabe, das Unternehmen an sich?“ „Das ist die Richtschnur allen Handelns: Das Erreichen des großen Zieles, meine Herren! Aber das Ziel ist um der Menschen willen da. Und ein Opfer ist nur dann sinnvoll, wenn den Menschen daraus ein Nutzen erwächst. Es ist verkehrt, um jeden Preis ein Ziel zu stürmen, wenn damit nur der Eigenliebe, dem Ehrgeiz oder gar der Selbstsucht gedient wird. Über dem Befehl steht mein Gewissen. Nennen Sie das nun Gott, Verantwortung, Menschlichkeit oder wie Sie wollen.“
DAVIS-STRASSE
Die Windverhältnisse wurden schlecht. Die Schiffe kreuzten westlich Grönland nach Nor-
den auf. Endlich kam der Befehl, die Dampfmaschinen anzulassen. Vor dem Kessel der „Erebus“ stapelte sich die Kohle; der erste Heizer, Sunny, war heute Hauptperson. Die Matrosen empfingen von ihm allerlei Anweisungen, die auch willig befolgt wurden. Als das Feuer brannte, traten die Männer beiseite und starrten schwitzend in die Flammen. Von oben kletterte Blanky herab. „Wird’s bald Dampf geben?“ „Denke schon“, erwiderte Sunny. „Habe nicht viel Vertrauen zu diesen Apparaten“, sagte der Vollmatrose. „Auf der ,Victory’ mußten wir uns genug damit herumärgern. Als wir dann die ganze Maschine über Bord hatten, freuten wir uns wie die Kinder.“ „Über Bord?“ „Wir haben das Ding einfach ausgeladen. Kapitän Ross war ein einsichtsvoller Mann. Wozu sich mit etwas plagen, was doch nichts taugt!“ „Hoho!“ rief der Maschinist aus dem Hintergrund. „Auf der ,Victory’ mag die Maschine schlecht gewesen sein; aber auf der ,Erebus’ werdet ihr eure Freude dran haben.“ „Nur zu, Bootsmann Storm! Mich soll es freuen; aber ehe ich’s nicht mit meinen Augen sehe, glaube ich nicht daran, ist alles neumodischer Kram. Ich verlasse mich lieber auf einen
anständigen Wind und eine gute Leinwand.“ „Es wird bald keine Leinwand mehr geben“, sagte der Bootsmann nachdenklich. „Ein halbes Hundert Jahre weiter fahren nur noch Dampfer.“ „Dann farewell, christliche Seefahrt“, brummte Blanky. „God bless me, auf solch einem verdammten Kohlenpott mag der Satan fahren. Alles stinkt nach Ruß und Teer und Schmiere. Und dann die Asche! – Leute, könnt ihr euch ein Schiff Ihrer Britischen Majestät vorstellen, auf dem Asche umherfliegt?“ Die Matrosen lachten; aber im Hintergrund machte sich John Black davon. „Großschnäuziger Hund“, knurrte er, „dir wird deine Weisheit schon noch vergehen“, und er faßte verstohlen nach seinem Messer. Eine Stunde war vergangen. Am Topp erschien ein Flaggensignal: „Maschinen anlassen.“ Da lief ein Zittern durch den Schiffskörper. Am Heck begann das Wasser zu wirbeln, und gleich danach richtete sich die „Terror“ gegen den Wind. Die Mannschaft barg die großen Segel. Die Matrosen lehnten an der Reling. „Ihr könnt sagen, was ihr wollt“, begann der hagere Philipp nach einer Weile, „so eine Dampfmaschine ist etwas Feines. Seht, wir gehen gegen den Wind an!“
„Aber die Maschinen haben ihre Mucken“, entgegnete King. „Wenn man sie braucht, kriegt man sie manchmal nicht in Gang.“ Das Gespräch verstummte wieder. Berge zogen vorüber. Ihre bizarren Gipfel waren von solcher Schönheit, daß sich die Matrosen nicht sattsehen konnten. „Es gibt viel Eis in diesem Jahr, Teufel auch“, meinte Blanky nachdenklich. „Wenn nur der Lancaster-Sund nicht vollgestopft ist!“ Curry klopfte dreimal an die Planken. „Man malt den Teufel nicht an die Wand, er kommt sonst“, raunte er. „Oder, wenn es einem herausfährt, muß man an Holz klopfen. Dreimal, das bannt!“ „Hasenfuß!“ gab Blanky zurück. „Man soll über diese Dinge nicht lachen!“ krächzte der alte Robin. „Quatsch!“ Der Alte wiegte den Kopf. „Es gibt Sachen, die unser Menschenverstand nicht begreifen kann“, sagte er geheimnisvoll. „Mein Bruder ist mal auf der ,Golden Bridge’ gefahren, da hat einer immerfort den Klabautermann im Munde geführt.“ Curry wollte auf die Planken klopfen, aber Blanky stieß ihn in die Rippen und rief: „Sei kein Kind! Ich glaube, du wirst wegen eines ausgedienten Seegespenstes noch bum-
mern wollen.“ „Seegespenst?“ fragte King. „Was sonst? Ein altes, ausgedientes Seegespenst, wirklich und wahrhaftig!“ „Versündige dich nicht“, flüsterte Curry und duckte sich furchtsam an der Reling nieder. „Halt’s Maul!“ wetterte der Logisälteste. „Ich denke, Robin, das alte Seeroß, wollte uns ein handfestes Seemannsgarn spinnen.“ Der Angeredete grinste unsicher, als wüßte er nicht, ob es ratsam sei, die Geschichte zu erzählen. Als ihn aber alle begierig ansahen, mußte er doch damit herausrücken. Er klappte den Mund mehrmals auf und zu, schnaufte hörbar durch seinen Walroßbart und begann endlich mit krächzender Stimme: „Das war also auf der ,Golden Bridge’, mein Bruder hat’s selbst erlebt. Da hat einer immer vom Klabautermann erzählt. Er hat gespottet und gehöhnt und hat gemeint, wenn der Klabautermann an Bord käme, sollten sie ihm eine Pütze Wasser übern Buckel schütten. Dann hatte er mal Freiwache. Es war Nacht, alle lagen in der Koje. Auf einmal klopfte es außenbords ans Bullauge.“ „Höh“, sagte King und vergaß den Mund wieder zu schließen. „Sie sind alle aufgewacht“, fuhr Robin fort. „Es hat noch ein paarmal geklopft. Keiner hat
ein Wort gesagt, bloß alles hat gezittert. Dann aber faßte sich einer ein Herz und rief: ,Nevile, dein Klabautermann kommt; hol deine Pütze!’ – Der Spötter ist auch richtig an Deck gegangen und wollte sehen, was da außenbords klopft. – Ja, darauf haben sie bloß einen Schrei gehört, und von dem Kerl hat niemand auch nur ein Haar wiedergefunden.“ „Seht ihr!“ keuchte Curry, und King nickte. Blanky aber lachte dröhnend. Über das Deck tönte ein langgezogener Klagelaut. Die Männer fuhren herum. „Das klang wie Ben“, sagte Blanky. „Los, da ist etwas geschehen!“ Die Matrosen liefen nach achtern. Hinter dem Oberlichtkasten zum Laderaum lag der Moses, wie der Schiffsjunge genannt wurde, und krallte sich wimmernd in die Planken. Über ihm aber stand breitbeinig John Black und schlug mit einem knotigen Tauende, wohin er auch traf. „Halt!“ schrie Blanky. „Bist du des Teufels? Noch einen Schlag, und ich hau’ dich zusammen!“ Der Matrose warf das Tauende weg, wischte sich die Hände an der Hose ab und trat zur Seite. In seinem Gesicht stand abgrundtiefe Bosheit. „Was soll das? Weshalb schlägst du den Jun-
gen? God bless nie, ist es nicht genug, daß ihr ihn knufft und reizt?“ „Geht dich das was an?“ gab John Black zurück. „Und ob!“ schrie Blanky, dessen Adern am Hals hervortraten. „Ich habe für den Jungen zu sorgen. Auf der Stelle will ich wissen, warum du ihn schlägst?“ Die Matrosen hatten einen festen Ring gebildet. Ben aber hockte mit zuckenden Schultern neben dem Oberlicht. John Black vergrub die Hände in den Taschen. „Ein Fahrensmann braucht sich nicht von einem grünen Jungen an der Nase herumführen zu lassen.“ „Was heißt das?“ „Soll ich hier befragt werden wie’n Galgenstrick? Auf der ,Erebus’ sind wohl Schiffsjungen mehr wert als ehrliche Seeleute, was?“ „Du bist so ehrlich, daß du für deine Ehrbarkeit an der nächsten Rahe aufgeknüpft werden müßtest!“ „Hört ihr?“ fragte Black mit einem bedeutsamen Blick zu den anderen hinüber. „Er beleidigt mich, er beleidigt einen Matrosen Ihrer Britischen Majestät. – Er beleidigt mich schon dauernd!“ „Halt’s Maul!“ brüllte Blanky. „Wenn du nicht Disziplin halten willst, wie es sich für
einen Seemann gehört, bringe ich dich zum Maat!“ „Anschwärzen will er uns! Bei den Offizieren anbringen will er uns. Bist mir ein rechter Spitzel. Was kriegst du denn fürs Aushorchen und Weitertragen, he?“ In Blanky stieg der Zorn hoch. Einen solchen Schimpf hatte ihm noch niemand angetan, solange er auf See fuhr. Er vergaß urplötzlich alles ringsum, sah vor sich nur das höhnisch verzerrte Gesicht des Einäugigen. Seine Gedanken drängten zu dem Entschluß: Dieses Gesicht werde ich jetzt zerschlagen, in eine blutige Masse verwandeln. Er hob die geballte Faust – und fühlte sich fast gleichzeitig von hinten eisern festgehalten. Blanky drehte den Kopf und sah Karl, den Deutschen. „Ruhe!“ raunte der. „Er will, daß du unvorsichtig wirst. Bleib ruhig, Blanky!“ Der Griff lockerte sich, Karl trat vor, sah sein Gegenüber an und sagte: „John Black, ich habe noch keine zehn Worte mit dir gesprochen; aber jetzt ist es angebracht, dich auf Verschiedenes aufmerksam zu machen. Du kannst beschimpfen, wen du willst; aber unseren Blanky laß in Ruhe! Für den stehen wir alle ein!“ Die Matrosen murmelten ihre Zustimmung. John Black sah spöttisch von einem zum an-
deren, wandte sich endlich ab und wollte verschwinden. Da rief Blanky: „Halt! Unsere Sache ist noch nicht vorbei! Ich will wissen, warum du den Jungen geprügelt hast. - Antworte!“ „Ein Schiffsjunge, der alten Matrosen Seewasser zum Saufen bringt, mag sich zum Satan scheren!“ rief der andere über die Schulter, drängte sich durch die Gaffer und verschwand. Blanky wandte sich an Ben. „Seewasser hast du ihm gebracht?“ „Er wollte Wasser zum Waschen, eine ganze Pütze voll“, wimmerte der Junge. „Und dann, als ich es brachte, da hat er gekostet und – und mir alles ins Gesicht gespuckt, und - und dann kam das Tau!“ „Schwindelst du auch nicht, verdammter Bengel?“ „Nein, Mister Blanky, nein – er wollte Waschwasser.“ Die Männer gingen auseinander, Blanky und Karl sahen sich in die Augen. „Ich danke dir, Charly“, sagte der Brite, „ich hätte ihn wirklich und wahrhaftig kaputtgeschlagen. Mein Vater murmelte immer, wenn ihn einer reizte: Zorn, komm morgen! Manchmal kann ich das auch; aber heute… wenn du mich mal brauchst, ich mach’s gern wieder gut.“
„Ich komme allein durch die Welt“, antwortete Karl; „aber ein anderer braucht dich – hier, der Ben! Erinnere dich an Kap Farvel – der Junge ist gewissen Leuten ein Dorn im Auge. Sie treten auf ihm herum, wo sie können. Und heute, die Geschichte mit dem Wasser, ein Vorwand, um ihm zu schaden.“ „Hm!-Ben!“ „Mister Blanky?“ „Mach, daß du in die Kombüse kommst, der Smutje braucht Hilfe.“ „Jawohl, Mister Blanky!“ Der Junge sauste davon.
LONDON
Die Schiffe zogen ihren vorgeschriebenen Weg. In den Kapitänskajüten wurde der Kurs in die Karten eingezeichnet. Man notierte Standortmeldungen und führte gewissenhaft die Logbücher, das Allerheiligste eines Seefahrzeuges. Aber nicht nur an Bord, auch im Büro der Britischen Admiralität zu London machte man sich Gedanken über Kurs, Wetter und Eisdrift; aber hier waren es nur Mutmaßungen, die den Berichten der Walfänger entnommen waren. Erst das Transportschiff konnte genaue Nachrichten über den Verlauf der Expedition zurückbringen. Von Zeit zu Zeit
sprach John Ross vor, fragte nach Neuigkeiten und verplauderte ein Stündchen mit den verantwortlichen Herren der Admiralität. Diesmal saß er dem alten Barrow gegenüber. Die Herren rauchten, gössen sich hin und wieder etwas Porter ein und sprachen von Franklin und der Nordwest-Passage. „Grönlandfahrer melden ein Anwachsen des Packeisgürtels“, sagte Barrow nicht ohne Besorgnis. „Es ist ein ungünstiges Jahr.“
John Ross legte sich im Sessel zurück, blickte nachdenklich in die blauen Rauchkringel und antwortete endlich: „Das hätte man unbedingt vorher einkalkulieren müssen.“ „Meinen Sie, die Expedition ist zum unrichtigen Zeitpunkt ausgelaufen?“
„Das will ich nicht sagen, Sir. In der Arktis tappt man immer zu einem erheblichen Teil im dunkeln. Das kommt daher, daß dort oben keine Stationen sind, die regelmäßig Aufzeichnungen über Wetter und Eisverhältnisse machen. Man ist als Kommandant einer Expedition viel Zu sehr auf Vermutungen und allerlei unnütze Versuche angewiesen. Viele Unternehmen scheiterten an Zufällen. Es wäre gewiß eine dankbare Aufgabe der Admiralität, im Polargebiet ständige Posten einzurichten.“ Barrow beugte sich interessiert vor. „Für den Fall, daß die Nordwest-Passage in Zukunft regelmäßig befahren werden sollte, will ich gern auf Ihren Vorschlag zurückkommen. Aber jetzt interessiert mich, was Sie in Franklins Expedition hätten einkalkulieren wollen.“ „Sie mußten unbedingt Maßnahmen für ein eventuelles Mißlingen des Unternehmens besprechen.“ Barrow lächelte. „Es ist doch merkwürdig“, antwortete er, „wie wenig sich die Menschen im Laufe der Zeit verändern. Sie sind der vorsichtige Berechner geblieben wie Franklin der tollkühne Draufgänger. Sie haben durch Ihre Vorsicht damals die große Chance im Lancaster-Sund verpaßt, Sir Ross; ein Franklin wäre weitergefahren und hätte die Passage erzwungen.“
„Ein Franklin wäre aber mit Mann und Maus umgekommen, wenn er statt meiner vier Jahre im Eis festgesessen hätte.“ „Sie mögen recht haben. Jedes Ding hat eben zwei Seiten. Würde es einem Wundermann gelingen, Sie und Ihren Freund Franklin zu einem neuen, größeren Ganzen zu verschmelzen, er würde uns den idealen Polarführer bescheren.“ Die beiden Männer lachten. Ross mußte daran denken, was für eiserne Nerven und wieviel Zuversicht es gekostet hatte, vier lange Polarwinter hilflos im Eise zu liegen. Und wieder drängten ihn die Gedanken dahin, was geschehen würde, wenn einhundertunddreißig Männer unter John Franklin… „Man wird Sie zur Verantwortung ziehen, Sir Barrow, wenn durch irgendeinen Zufall das Unternehmen mißlingt und von der Admiralität keine Vorkehrungen zum Entsatz getroffen wurden“, sagte er endlich und sah den alten Geographen fest an. Der aber schüttelte den Kopf. „Sir Franklin weiß, was er tut“, antwortete er. „Außerdem ist das Risiko nicht allzu groß. Der erste Teil der Passage ist bereits erforscht. Für den Rest des Weges ist die Expedition vortrefflich ausgerüstet. Mein Gott, eine solche Schar auserwählter Männer kann doch jedes
Ziel erreichen.“ Ross wiegte zweifelnd den Kopf. „Da ist noch etwas, Sir Barrow. In London beginnen gewisse Kreise eine fieberhafte Tätigkeit für die Popularisierung der Nordwest-Passage. Es vergeht kein Tag, ohne daß irgendeine Zeitung etwas über Britanniens Straße der Zukunft, eisfeste Schiffe und die absolute Siegesgewißheit der Franklin-Expedition schreibt. Dazu werden Aktien neuer Handelsgesellschaften, die alle mehr oder weniger auf der Nutzbarmachung der nordwestlichen Durchfahrt basieren, in schwindelerregender Menge auf den Markt geworfen. Ich frage Sie, Sir Barrow, ist es recht, daß die Expedition zu schmutzigen Börsengeschäften mißbraucht wird?“ „Wir können nichts daran ändern, Sir Ross.“ „Die Admiralität sollte dagegen einschreiten, daß die Schiffe Ihrer Britischen Majestät mit Rennpferden auf eine Stufe gestellt werden.“ „Wir können den Kaufleuten nicht vorschreiben, auf welche Art sie ihre Geschäfte machen sollen. Das würde gegen die Grundsätze der Freiheit verstoßen.“ „Wenn aber die Börsenspekulanten kein Einsehen haben, daß es unsittlich ist, aus Schweiß und Blut unserer Seeleute Kapital zu schlagen, so muß ihnen das Handwerk gelegt werden.“ „Bei Geld hört die Sittlichkeit auf.“
„Mein Gott, Sir Barrow, Sie sprechen gerade so, als wären Sie an den Gewinnen beteiligt.“ „Ich mache mir nicht viel aus Spekulationen; aber in der Verwandtschaft sind wohl einige an der geschäftlichen Seite des Unternehmens interessiert. Wir können doch froh sein, daß die Franklin-Expedition sogar in der Wirtschaft einiges Gewicht bekommt.“ „Sie sagen Wirtschaft, Sir Barrow. Vielleicht denken Sie auch an gesunde Handelsbeziehungen und ehrliche Geschäfte, die durch die Expedition in Gang kommen könnten. Es ist aber knietiefer Schmutz, in dem diese Herren nach Gold wühlen. Schwindelunternehmen tragen die Haut wackerer Seeleute zu Markte. Betrüger schlagen Kapital aus den Entbehrungen und Strapazen von über hundert Menschen. Wenn das Kartenhaus zusammenbrechen sollte, wird man mit Fingern auf die Admiralität zeigen und die Expedition als Börsencoup hinstellen.“ „Wieso Kartenhaus? Wieso zusammenbrechen? – Ihre Schwarzseherei nimmt allmählich extreme Formen an, Sir Ross!“ „Wollte Gott, es wäre so! Aber ich kenne die Arktis, Sir – ich kann mir ein Urteil über die Nordwest-Passage erlauben. Eine vernünftige Handelsstraße wird vorläufig nicht daraus.“ „Das weiß ich.“
„Wie kann man dann aber eine TransPassage-Company überhaupt registrieren? Der Schwindel liegt doch offen zutage!“ „Verzeihung, Sie vergessen, daß nicht die Admiralität den Handel, sondern der Handel die Admiralität finanziert. Wes Brot ich esse, des Lied ich singe, Sir Ross. Die Expedition wäre ohne den Handel nie gestartet. Ja, sie fährt überhaupt im Auftrage des Handels. Sie soll einen neuen Weg finden, die Befehle liegen klar. Wollen wir uns über die weiteren Umstände und Folgen schlaflose Nächte machen? Was mit Handel und Geschäft zu tun hat, kann nicht immer sauber sein, Sir Ross. Das wußten schon die alten Ägypter. Großbritannien wäre niemals die Weltmacht geworden, wenn stets alles mit weißen Handschuhen, mit der Bibel und einem Jungmädchenherzen vor sich gegangen wäre.“ John Ross sagte nichts mehr. Er wußte nur zu gut, daß der alte Barrow recht hatte; aber er nahm sich vor, selbst etwas über die Nordwest-Passage in die Zeitung zu bringen. Etwas, das der Wahrheit entsprach und die Seifenblase von der „Straße der Zukunft“ und den billigen Frachten zum Platzen bringen sollte. Armer John Ross! – Es ist leichter vier Jahre im Eise festzusitzen, als in einer Zeitung etwas zu veröffentlichen, was von obenher nicht er-
wünscht ist. John Ross hatte vor dem Eise nicht kapituliert. Vor der Presse aber mußte er die Segel streichen.
„EREBUS“
Karl Bauer stand am Ruder. Er starrte ins Fahrwasser vorn weit vor dem Bug und spähte mit wachen Augen nach dem verräterischen Blinken des Unterwassereises. Dann und wann drehte er mit der Sicherheit des geübten Rudergängers das Steuer ein wenig zur Seite, je nachdem, ob in Backbord oder Steuerbord die Eisriesen zu nahe herankamen. Seitab stand Sergeant, der Erste Steuermann, wie immer tadellos angezogen und rasiert, und beschäftigte sich mit dem Kurs. Gelegentlich sah er zu Karl Bauer hinüber, wenn dieser besonders geschickt ausgewichen war. Endlich trat er hinter ihn. „Hören Sie“, sagte er eindringlich, „ich beobachte Sie seit der Abfahrt von England. Es macht mir Freude, Ihnen zuzusehen. Sie können etwas. Einen solchen Rudergänger habe ich noch nicht gehabt.“ „Ich habe schon viele Schiffe gesteuert, Sir“, antwortete Karl, ohne den Blick vom Kurs zu wenden. „Das glaube ich“, sagte Sergeant, „ich glau-
be sogar noch mehr.“ Karl Bauer antwortete nicht. „Ich glaube, daß Sie gar kein Matrose sind“, fuhr der Steuermann fort und musterte den anderen mit gespannte Aufmerksamkeit. „Ich bin Seemann!“ „Gewiß, aber kein Matrose!“ „Was sollte ich sonst sein?“ „Sie können mehr. Ich möchte behaupten, daß Sie wenigstens das Steuermannsexamen abgelegt haben.“ „Nein!“ „Oder – oder ein anderes?“ „Ich möchte nicht darüber sprechen.“ „Also doch!“ Sergeant setzte sich nieder. „Es ist vielleicht unrecht von mir, in Sie zu dringen“, fuhr er fort. „Sie sind ein Einzelgänger, haben kaum Freunde. Ich sehe es doch. Auch sind Sie immer ernst und gedrückt. Können Sie nicht für einige Zeit vergessen, daß ich Ihr Vorgesetzter bin? Sprechen Sie einmal frei. Sie haben ein Examen, nicht wahr?“ „Ja!“ „Und welches?“ „Das Lotsenexamen.“ „Interessant, Lotse also! Und wo?“ „In der Wesermündung.“ „Wesermündung?“ wiederholte Sergeant leise und sann vor sich hin. „Das ist eine Lebens-
stellung, mein Freund, eine bessere Sache als Rudergast auf einem Expeditionssegler. Haben Sie ein Schiff falsch gesteuert, daß Sie nunmehr hier als Matrose fahren, oder Havarie gehabt?“ „Nein, ich bin von selbst gegangen.“ „Abenteuerlustig scheinen Sie aber nicht zu sein.“ „Durchaus nicht.“ Die Männer schwiegen. Das Schiff zitterte leise unter den Kolbenstößen der Dampfmaschine und gehorchte willig dem Mann am Ruder, der noch immer, eine tiefe Falte zwischen den Brauen, voraus ins Wasser starrte. „In solchem Falle steht meist eine Frau im Hintergrund“, sagte der Steuermann nach einer Weile und sah, wie es im Gesicht des anderen zuckte. „Vielleicht haben Sie recht“, bekam er zur Antwort. „Die Frauen sind es nicht wert, daß man ihretwegen eine Lebensstellung opfert.“ „Diese Frau war es wert.“ In diesem Augenblick trat ein Seemann durch die Tür, nahm Haltung an und meldete: „Matrose Jim Clearing als Ablösung des Rudergastes!“ Sergeant nickte dem abtretenden Deutschen einen Gruß zu und beugte sich wieder über
seine Karten. Karl Bauer verließ das Steuerhaus, ging mit unsicherem Schritt nach Backbord und stützte sich schwer auf die Reling. Unten wirbelte und kochte das Wasser. Eisstücke kreiselten hoch, wurden vom Sog erfaßt und nach achtern gezogen. Aber Karl sah das alles nicht, er sah keine Wellen und kein Eis. Vor ihm erschien ein festlich erleuchteter Salon. Er selber aber, in glänzender Uniform, trat ein, mischte sich unter die Gäste, hörte wundervolle Musik und atmete den Duft von blühenden Rosen. Dann sah er eine Frau. Sie saß am Tisch voll herber Anmut, die sie unter den anderen auszeichnete. Schwarzes Haar umrahmte ein wohlgebildetes, kluges Gesicht, und ihre Augen verrieten Verstand und Gefühl. Solch einem Bilde begegnet man nicht oft. Er blieb stehen, bis sich ihre Blicke trafen. War es ein Erschrecken? Kannte sie ihn? Er saß in ihrer Nähe. Sooft er sie ansah, mußte er feststellen, daß auch ihre Augen ihn suchten. Im Garten lag das Silberlicht des Mondes. Immer noch tönte sanft und unwirklich die geheimnisvolle Musik und mischte sich in die klagenden Rufe eines fernen Käuzchens. „Maria“, flüsterte er.
Da fühlte er sich roh angestoßen. Er riß die Augen auf und starrte in Treets grinsendes Gesicht. „Teufel noch eins!“ schrie der Matrose und bleckte die gelben Zähne. „Willst ins Wasser springen, German?“ „Was gibt’s?“ fragte Karl unwillig. Der andere lachte. „Träumst du, oder was ist? – ‘s ist kalt da unten, hast wohl Lust zu baden?“ Damit machte er sich davon. Karl Bauer strich sich über den Kopf, als müsse er die Wirklichkeit erst wieder in sich aufnehmen. In der Koje suchte er die alte Segeltuchtasche, nahm die Briefe heraus und las: Mein herzlieber Karl! Else hat mir Deinen Brief gegeben und mir eine große Freude damit bereitet. Immer, wenn ich Deine lieben Zeilen lese, ist es mir, als wärest Du hier, hieltest meine Hand fest und sprächst von unserer Liebe. Du machst mich so glücklich, Karl, daß ich nimmer weiß, was ich allein auf der Welt anfangen soll. Denkst Du noch an den Hafenball, wo wir uns zum ersten Male gesehen? Der Mond schien wie heute und… Ach, Karl, ich mag nicht weiter darüber sinnen. Die Sehnsucht ist gar so stark. Du schreibst, wir wollen uns ein Häuschen an der Weser bauen, damit ich Dich mit
den Schiffen ein- und auslaufen sehe. Gewiß, das wird herrlich! Wenn es nur erst die Eltern wüßten. Mein Vater ist durch seine Ratsherrenpflichten sehr in Anspruch genommen und will mit seiner einzigen Tochter hoch hinaus. Aber ich liebe nur Dich! Im kommenden Monat soll ich auf das Landgut meiner Tante ins Oldenburgische. Die Mutter meint, die Luft würde mir gut tun. – Ob Du mich wohl dort besuchen kannst? Du darfst aber keinen Seemannsrock tragen. Das würde auffallen. Schreib nur Bescheid. Was Du tust, ist mir recht. Bleib mir immer gesund, Karl. Ich bete für Dich, daß Du nicht so oft Nebel über dem Fluß hast. Es muß bei schlechter Sicht recht gefährlich sein. Und nun leb wohl bis zum nächsten Mal. Ich bin immer bei Dir, das weißt Du, mein lieber, lieb er Karl. Ich küsse Dich! Deine Maria Der Matrose legte sich in die Koje. Seine Augen blickten unsagbar traurig, und sein Gesicht zeigte eine Leere, wie man sie nur bei ganz verzweifelten Menschen findet. In der Tür erschien der blonde Philipp. „Kommt herauf, Leute! Seht euch die Sonne an“, sagte er, „es ist wunderbar!“ „Um Mitternacht die Sonne ansehen?“ fragte
der alte Robin kopfschüttelnd. „Eine närrische Gegend.“ Aber er kletterte herab, rüttelte auch Karl, von dem er glaubte, er schliefe, und sagte: „Komm, Charly! Philipp will uns die Mitternachtssonne zeigen.“ Der Deutsche erhob sich mechanisch und folgte dem anderen. Oben war es hell; eine leichte Brise wehte kalt über das Wasser, und eine Sonne, wie sie sie nie zuvor gesehen hatten, glühte im Norden. Um den Feuerball spannte sich ein gleichmäßiger Ring, und auf einer leuchtenden Waagerechten zeigten sich zwei kleinere Nebensonnen. Das geheimnisvolle Gebilde aus Glanz und Farbe spiegelte sich in den bizarren Eistürmchen ringsum, daß es eine Pracht war. Die Matrosen standen wortlos. Karl Bauer aber sah in das Licht, bis er die Augen schmerzvoll schließen mußte.
„TERROR“
Im Logis saß die Freiwache um den großen Tisch und vertrieb sich die Zeit mit Würfeln. „Der Wurf gilt nicht, die Sechs liegt an der Kante.“ Der Sprecher, ein großer, pockennarbiger Matrose, griff mit rascher Hand über die Platte
und brachte die Würfel zurück in den Becher. „Nu, nu, Dick“, ereiferte sich der, den es anging. „Bei mir siehst du Fehler, bei dir nicht.“ „Still, William!“ rief Shavel. „Dick weiß schon, was er sagt.“ William Green, Matrose Ihrer Britischen Majestät und passionierter Dudelsackpfeifer, nahm murrend den Becher und warf nochmals. „Das sieht schon anders aus!“ rief Shavel wieder. „Elf Augen!“ Er nahm eine zerkratzte Tafel und notierte den Wurf. „Richards ist an der Reihe!“ Wortlos wurde der Becher aufgenommen. Die Würfel polterten hinein, dann rollten sie, fast ein wenig zaghaft, wieder heraus. Shavel schüttelte lächelnd den Kopf. „Richards läßt sich Zeit“, sagte er. „Zwölf Augen nur. Deine Ruhe möchte ich haben!“ Den nächsten Wurf tat Dick. Erst nestelte er umständlich an seinem blauen Halstuch und blinzelte Richards verstohlen an, als wollte er sagen: Paß auf, wie man das macht. – Endlich spuckte er in die Hand, nahm den Becher und warf… neun Augen. Die Runde lachte. „Wenn du so viel geschafft hättest wie ich mit meiner Ruhe, wollte ich ja nichts sagen“, meinte Richards grinsend, „aber so…“ Nun kam Shavel an die Reihe. Der Becher
kreiste, krachte auf den Tisch, die Würfel rollten. Dazwischen klang von irgendwoher ein aufreizendes Schnarchen. Auf der „Terror“ war es wie auf allen Schiffen Ihrer Britischen Majestät. Männer von überallher hatten sich zusammengefunden, um unter dem Union Jack zu fahren. Im Logis sah es ebenso bunt aus, wie seine Bewohner verschiedenartig waren. An der Decke baumelten die Lampen und halfen dem spärlichen Tageslicht, im Raume etwas Helligkeit zu verbreiten. Ein großer Ofen stand an der Kopfseite, links und rechts erhoben sich die Kojen bis unter die Decke. Ganz oben lag der Matrose Barry und las. Er teilte sein Lager mit vielen Büchern, die sowohl ihm als auch dem Kapitän gehörten. Ihn störte es wenig, ob unten am Tisch gelacht und gewürfelt wurde. Wenn er las, war er nicht auf der „Terror“. Nein, er schweifte umher, begleitete kühne Männer auf Reisen durch Dschungel und Felswüste oder lauschte einem Gelehrten, der ihm ein schwieriges Naturgesetz erklären wollte. Bei den Kameraden galt er als wunderlich. Eines Tages hatte man ihn gefragt, weshalb er eigentlich in seine Bücher so vernarrt sei, und erstaunt vernommen, daß er sich bilden wolle, um vielleicht einmal Steuermann oder Kapitän zu werden. Damals hatte das Logis unter dem
Gelächter der Matrosen gezittert. Aber Barry kümmerte sich nicht darum; er hatte weiterhin in jeder freien Minute ein Buch unter der Nase. Zuweilen geschah es, daß es Streitfragen gab, in denen man sich nicht einigen konnte. Bei solchen Gelegenheiten mischte sich Barry ein und bewies, daß es so und nicht anders sein konnte. Die Matrosen staunten. „Er ist zwar ein bißchen wunderlich, aber doch im ganzen schlauer als wir“, sagte der pockennarbige Dick in solch einem Falle. Und was der sagte, hatte im Logis der „Terror“ Gewicht. Jetzt hatte Dick achtzehn Augen geworfen. Die Tischplatte dröhnte vom Beifall der Spieler. „Pscht!“ sagte einer und nestelte an seinem Halstuch, „nicht so laut; Raoul schläft doch.“ „Der soll sich seinen Rosenkranz um die Ohren wickeln“, antwortete Richards. Er brachte jedes Wort so schwerfällig heraus, als müsse es erst gekaut und verdaut werden. Alles lachte. „Spottet nicht!“ rief William Green mit komischem Ernst. „Wir werden’s alle noch begreifen, hat er gesagt, wenn es uns an den Kragen geht. Er hat gebetet; aber uns holt der Teufel.“ „Immer zu“, fuhr Richards fort, „da unten ist
es schön warm, wärmer als hier.“ Die Matrosen sahen sich nach dem Ofen um, und Dick setzte hinzu: „‘s wird Zeit, daß ihr was aufschippt; sonst frieren wir an.“ Green winkte ab. „Tut nicht so frostig, Kerle! Seid ihr am Äquator groß geworden?“ „Ist ganz schön kühl“, sagte Richards und dehnte sich. „Du stammst wohl vom Nordpol, was?“ „Ich bin von der schottischen Westküste, da bläst es kalt übern Ozean.“ „Eine öde Gegend, was?“ „Öde? – Schön, sag’ ich dir, herrlich! Wenn abends die Sonne im Meer versinkt und alle Felsen glühen, die Mücken in der Luft singen und in den Hütten die Lampen angezündet werden, dann ist es am schönsten.“ Sinnend fuhr er fort: „Die Menschen sitzen am Ufer, einer bläst auf dem Dudelsack, irgendwo wird gesungen. Könnt ihr euch vorstellen, wie schön das ist?“ Und indem er seine Augen wie suchend ins Weite gehen ließ, summte er die Melodie einer Ekossaise. „Bei uns daheim wird jetzt Gras gemäht“, sagte Dick. „Ich bin von der englischen Ostküste. Mein Bruder hat den Hof gekriegt. Wir waren aber fünf Kinder. Vier mußten gehen.“ „Alles Seeleute?“ fragte Richards. Dick schüttelte den Kopf.
„Thomas ist Bergmann in Hüll, Eric arbeitet auf der Liverpooler Werft, und Mabel, unsere Schwester, dient in Chelsea in einem Gasthaus. Wir hätten daheim alle Platz gehabt, aber der Bruder…“ „Ich kenne das“, sagte Shavel und winkte ab. „Die Sorgen habe ich ja nun nicht gehabt“, quetschte Richards hervor, „ich habe ja man keine Leute; weiß überhaupt nichts davon. Bin im Waisenhaus in Southampton aufgewachsen. Da haben sie uns ja man die Knochen weichgeprügelt, und ich bin mit elf Jahren nachts aus dem Fenster gesprungen und getürmt. Ein Chinese, der im Hafen lag, hat mich mitgenommen; aber da hat mir das Fressen nicht behagt, und ich bin in Lissabon auf einen Italiener umgestiegen, der Kurs nach Südamerika hatte.“ Richards holte tief Luft. Bei seinem sprichwörtlichen Phlegma war es eine Leistung für ihn, so viele Sätze auf einmal im Zusammenhang herauszubringen. Aber die anderen kannten seine Geschichte noch nicht und drängten, er solle weitersprechen. „Wenn ihr’s ja man durchaus wollt“, fuhr er fort, „will ich ja man noch ein bißchen zum besten geben. Also der Makkaronimann fuhr nach Pernambuco. Dort haben sie mich ‘rausgeschmissen, weil ich kein Wort Italienisch konnte und den Signores allerhand Streiche
gespielt hatte. Da saß ich nun fünf Jahre in Pernambuco. Erst war ich Hafenboy, dann Stiefelputzer, Straßenkehrer, Schmuggler, Zeitungsträger, Zuhälter, Bettler, bis mich dann ein Yankee nach Afrika mitnahm. Es war ein Insektenjäger, ein ganz wunderlicher Kerl, der die Nigger mit Glasperlen und Trödelkram übers Ohr gehauen hat. Ich hab’ ja man immer gedacht, ich müßte mal ein bißchen Glück haben. Aber wo nichts ist, kommt auch nichts hin, und was ein armes Luder ist, muß auf dem Globus ‘rumrutschen, bis er alt ist wie Methusalem und ihn die Haie fressen.“ „Oder die Eisbären“, ergänzte Dick, und die anderen nickten. Shavel kratzte sich auf dem gelichteten Scheitel. „So hat jeder seine Geschichte. Mich zum Beispiel können die Menschen nirgendwo leiden. Ich muß überall wieder gehen.“ „Das hat schon seinen Grund“, entgegnete Dick, und seine pockennarbige Stirn zeigte eine tiefe Falte. „Du denkst zuviel an dich selber. Wenn’s ans Essen geht, siehst du nur, daß du das größte Stück erwischst und auch die beste Brühe. Das merken die anderen natürlich.“ Shavel zog die Mundwinkel herab. „Wenn andere die Happen kriegen, werde ich nicht satt, mein Lieber. Die Menschen sind ja wohl
von Natur aus alle ein bißchen eigennützig.“ „Unter ehrlichen Fahrensleuten sollte es so etwas nicht geben, Shavel. – Du hast die wärmste Koje, die beste Wache, den größten Eßpott. Bloß die größte Nummer beim Alten, die hast du nicht. Der sieht nämlich ins Herz, und da ist bei dir manches faul.“ Inzwischen war Richards, der sich durch das Interesse an seinem Lebenslauf geschmeichelt fühlte, noch eine Episode eingefallen. „Da war ich mal auf der ,Patria’, einem schmucken Viermaster“, begann er. „Wir hatten ‘nen Offizier, wenn der einen nicht leiden konnte, dann quälte er ihn, wo es ging. Der war mit allerhand Lords und anderen großen Herren verwandt, und als er hörte, daß ich ein Waisenkind war und niemand hatte und nicht wußte, woher ich kam, hat er mich ja man immer aufs Korn genommen. ,Wer weiß, aus was für ‘nem verbot’nen Abenteuer du hervorgegangen bist’, hat er immer gesagt, und Paria hat er mich genannt und Helot. Einmal mußte ich sechs Stunden im Mars stehen.“ „Den Kerl hätt ich in’n Teich geschmissen“, sagte Shavel und machte ein böses Gesicht. „Heute soll er ja man wohl bei der Admiralität sein“, ergänzte Richards. „Mit den Offizieren haben wir’s auf der ,Terror’ gut getroffen“, warf Dick ein. „Der Kapi-
tän ist ein feiner Mann, auch die anderen, Sir Back, Leutnant Irving, Steuermann Warwel, Maat Hornby und Thomas.“ „Aber der Leutnant Hodgson gefällt mir nicht“, sagte William Green. „Der hat einen falschen Blick und tut sehr stolz.“ „Und der Doktor MacDonald?“ fragte Richards. „Ha, der Doktor“, lachte Dick. „Der grinst jedesmal, wenn er mich sieht. Als er noch Student war, bin ich mal mit ihm in einer Kneipe zusammengekommen; wir hatten ein nettes Abenteuer miteinander. Jetzt treffen wir uns auf der ,Terror’ wieder, ich als Kuli und er als Offizierarzt. Er scheint noch wie früher ganz in Ordnung zu sein.“ „Mit unseren Offizieren haben wir’s gut getroffen“, bekräftigte Green und griff nach seiner Konzertina. „Und was haltet ihr vom Admiral?“ fragte Barry von oben aus der Koje. Er hatte den letzten Satz gehört; legte nun das Buch beiseite und ließ die Beine herunterbaumeln. „Franklin?“ fragte Shavel. „Über Sir Franklin gibt es nichts zu sagen; einen besseren Kommandanten gibt’s in England nicht…“ „Er kennt hier oben jede Meile“, sagte Dick. „Es ist gerade, als ob wir ständig einen Lotsen an Bord hätten. - Damned, wenn wir erst drü-
ben im Stillen Ozean schwimmen, das wird ein Fest.“ Barry sprang mit gewaltigem Sprung aus der Koje herab. „Er ist ein Fachmann durch und durch. Es muß phantastisch sein, sich mit ihm zu unterhalten.“
„Würdest du das machen? – Als Matrose mit einem Admiral über allerhand Sachen reden,
als wärst du ebenso ein Fachmann wie er?“ „So nicht: Ich möchte ihn nur nach vielem fragen, was ich nicht weiß. Als Lord auf die Welt kommen, ist keine Kunst, genauso wenig, wie sich in ein ererbtes Schloß hineinsetzen. Auf den Kopf kommt es an, auf den Willen und den Fleiß. Wäre nicht mancher von euch gern auf eine anständige Schule gegangen, um was Rechtes zu lernen?“ „Das schon“, flüsterte Richards, und auch die anderen nickten. „So, William, nun spiel uns eins auf!“ rief Barry und klatschte in die Hände. „Wir wollen wieder lustig sein.“ „Wonderful!“ schrie Dick, griff in die Koje und brachte eine Flasche Brandy zum Vorschein. Und William Green spielte einen Matrosentanz. Die anderen faßten sich je zwei und zwei an den Armen und sprangen im Logis herum, daß es donnerte. Da aber regte sich der Schläfer in seiner Koje, blinzelte aus verschlafenen Augen und schüttelte den Kopf ob solch gottlosen Treibens.
„EREBUS“
Auch im Logis des Flaggschiffs war an Schlafen nicht zu denken. Die Matrosen wälz-
ten sich unruhig in ihren Kojen; denn Harry Wood hustete. Er hatte schon immer gehustet, seit sie England verlassen hatten, aber in dieser Nacht wurde sein Husten unerträglich. Erst warfen sich die Männer von einer Seite auf die andere; dann verstopften sie sich die Ohren; endlich begannen einige zu fluchen. „Man sollte den Kerl über Bord werfen, damit wir endlich Ruhe bekommen“, brummte Treet. „Seit Greenwich hab’ ich noch keine Freiwache durchgeschlafen, Teufel noch eins!“ „Er kann nichts dafür; aber es ist verdammt lästig.“ Der blonde Philipp rieb sich die Augen und starrte in die blakende Lampe. „Schwindsüchtige haben an Bord nichts zu suchen. Treet hat recht“, sagte James und zog sich die Pudelmütze über die Ohren, die seit Wochen nicht einen Augenblick von seinem Schädel gekommen war. „Er hat sie angeleimt“, sagte Ben immer, wenn er seinen boshaften Tag hatte; er hütete sich aber, solche Dinge laut zu sagen, denn James, der Säufer, hatte eine verdammt harte Pranke, und wenn seine schiefen Augen so tückisch und klein wurden wie jetzt, da er mit beiden Beinen zugleich aus der Koje sprang, war Gefahr im Verzüge. Es wurde lebendig im Logis. Verschlafene
Gesichter blickten in den Raum hinab, als harrten sie eines besonderen Schauspiels. James aber kümmerte sich nicht darum, ging breitbeinig in die Ecke, packte den Kranken an der Brust und schrie: „Wann wird es endlich wieder still bei uns sein, was? Willst du nicht zum Doktor gehn, wie? Willst uns wohl immer wieder aus’m Schlaf bellen, was? Antworte, sage ich!“ Wood bäumte sich unter dem harten Griff seines Gegners, aber er wehrte sich nicht. „Laß mich“, keuchte er, von Hustenanfällen gewürgt, „laß mich doch – mich holt’s ja doch bald – eine Weile noch!“ „Willst wohl verrecken wie’n Hund, was? Warum bist du nicht in England geblieben, was?“ „Es ging uns doch so elend, James – Frau krank, drei Kinder daheim, und kein Geld – ach. Laß mich doch! Ich muß Heuer bringen, versteh doch! Sie wollen leben…“ „Konntest du nicht auf einem Südfahrer anheuern, auf einem, der ins Mittelmeer fährt? Mußt du uns hier das Leben schwer machen?“ „Bei Franklin gab es gutes Handgeld“, stöhnte der Kranke. „Jetzt können sie zu Hause leben, versteh doch!“ „Ich verstehe es schon!“ schrie James außer sich. „Du denkst wohl, du kannst hier auf un-
sere Kosten reisen, was? Soll’n wir vielleicht bis Kap Hoorn unter deiner Husterei leiden? Ich schmeiß’ dich über Bord, wenn du nicht aufhörst!“ Er stieß Wood in die Koje zurück, in der er sich wimmernd wälzte. Seine geröteten Augen blickten den finsteren Matrosen ängstlich an. Hier gab es kein Mitleid und keine Hilfe, das wußte der Kranke, und deshalb schwieg er. „Laß ihn in Ruh“‘, sagte Blanky in die Stille hinein. „Er wird morgen ins Lazarett gehen, ich werde Doktor Stanley Bescheid sagen.“ „Nein… nein…“, jammerte Wood, aber die anderen Matrosen stimmten Blanky zu. James kroch maulend in die Koje. „Warum willst du nicht ins Lazarett?“ fragte einer. „Wirst gepflegt, kannst den ganzen Tag liegen und dösen - hier gehst du doch kaputt!“ Der Kranke richtete sich mühsam auf. „Ich gehe sowieso kaputt“, keuchte er. „Das weiß ich länger, als wir auf See sind. Es gibt für mich keinen Ausweg. Ich überstehe die Reise nicht. Aber ich kann nicht eher ins Lazarett, bis das Hilfsschiff weg ist, sonst schicken sie mich nach England zurück. Versteht doch!“ „Sollen sie dich nach Hause schicken, damit wir dich los sind und schlafen können!“ grölte James. Der Kranke winkte matt mit der Hand ab, zog
seine Decke höher und sagte: „Lange dauert’s ja nicht mehr. Habt nur noch ein kleines Weilchen Geduld. Was wäre, wenn sie mich nach England zurückschickten? Ich müßte womöglich noch das Handgeld zurückzahlen, wovon sie in Wales jetzt leben. Kameraden, laßt mich an Bord verrecken, dann bin ich als Matrose Ihrer Britischen Majestät umgekommen. Vielleicht wird für die Meinen gesorgt.“ „An Bord?“ schrie King mit unnatürlich hoher Stimme und faßte mit der Rechten in seinen Bart. „Willst du uns Unglück bringen? – Curry hat gesagt, eine Leiche auf dem Schiff…“ „Halt’s Maul!“ donnerte Blanky dazwischen. „Ihr mit euren Waschweibergeschichten! Sucht lieber nach einem Ausweg aus dieser verdammten Kiste!“ „Der Kerl muß von Bord!“ rief Treet, und James setzte hinzu: „Das ist auch meine Meinung!“ Die anderen schwiegen. Sie kannten das Leben. Sie ahnten, wie es in Wales bei Wood daheim aussehen mochte. Sie konnten sich denken, daß es einen harten Kampf gekostet haben mußte, ehe sich der Kranke entschlossen hatte, mit Franklin ins Eis zu segeln. Wood wußte, daß er die Seinen nicht wieder-
sehen würde, und ging doch noch einmal hinaus, um der Familie das Handgeld und vielleicht sogar eine kleine Rente zu verschaffen. Mit welcher Angst, entdeckt und als untauglich erklärt zu werden, mochte Wood die Untersuchung passiert haben! Aber er hatte rote Wangen und sah stark aus, deshalb hatte man seine Meldung angenommen. Unter Sir Franklin segelten nur Freiwillige. „Wie bist du denn zu der Krankheit gekommen?“ fragte Philipp teilnahmsvoll. „Mir hat der Sturm auf der ,Dublin’ eine Rahe gegen das linke Bein geschleudert. Es sah aus, als würde es nie wieder heilen. Man hat mich also mit einer kleinen Rente entlassen. Als es dann doch wieder in Ordnung kam, hatte ich mir durch das viele Liegen in der dunklen, feuchten Kammer die Schwindsucht geholt. Es ist ein Jammer. Verratet mich nicht, Kameraden. Ihr seid doch alle ehrliche Fahrensleute und wißt, wie’s einem gehen kann. Verratet mich nicht, ehe das Hilfsschiff weg ist!“ „Das Maul halten sollst du, ins Lazarett sollst du gehen!“ schrie Treet und spuckte aus. „Teufel noch eins, willst uns wohl auch die Schwindsucht auf den Hals hetzen?“ „Wood bleibt hier!“ sagte Blanky, „denkt an eure Leute daheim und haltet noch eine Weile
aus…“ „Den Teufel werden wir“, grunzte James von oben. „Meine Geduld ist zu Ende – ich will schlafen! Wer hustet, gehört nicht auf See!“ „Sei vernünftig, James! Wenn ich sage, Wood bleibt hier, dann bleibt er!“ „Und wenn wir eine Meldung machen, dann geht er“, antwortete Treet von oben. Blanky schneuzte sich umständlich. „Was der Logisälteste sagt, interessiert euch Haifischgehirne wohl nicht? In der Marine Ihrer Britischen Majestät wird bis heute noch gehorcht, verstanden? Nehmt euch in acht!“ „Spielt sich auf, als wenn er ‘n Admiral wäre!“ rief James und brach in ein meckerndes Lachen aus, aber man hörte, daß es nicht echt war. „Ich habe in meinem Leben noch keinen angeschwärzt“, sagte Blanky. Er schien ganz ruhig zu sein, aber in seinen Augenwinkeln lauerte der Zorn. Er mußte alle Kraft aufbieten, um nicht urplötzlich auszubrechen. Er krallte die Fäuste in seine Decke und sprach leise, aber fest weiter: „Wer andere anschwärzt, ist der größte Halunke unter der Sonne. Wir machen alles untereinander aus. Wenn aber einer versuchen sollte, Stänkerei in mein Logis zu tragen – und es sind welche hier, die das wirklich und
wahrhaftig wollen –, dann muß Blanky etwas unfreundlich werden. – Was ist eigentlich los? – God bless me, was stänkert ihr dauernd herum? – Na los, James! Steh Rede und Antwort, Treet!“ James zog wortlos seine Brandyflasche aus der Koje und wollte eben verachtungsvoll einige Schlucke nehmen, als ihm Blanky plötzlich die Flasche entriß und sie in die Ecke schleuderte. Alles dauerte nur Sekunden. – Dann standen sich die Gegner Auge in Auge gegenüber. Blanky hatte rückwärts einen eisernen Schürhaken ergriffen, indes James böse schielend nach seinem Messer tastete. „Ich will meine Flasche!“ brüllte er. „Was hast du mit meiner Flasche zu schaffen?“ Blanky schwieg still, er sah nur abwartend zu Treet hinüber, der mit baumelnden Beinen lauernd in der Koje saß. Würde er eingreifen? „Meine Flasche!“ schrie James wieder, und Blanky spürte an seinem Atem, daß er übermäßig viel getrunken haben mußte. Und das war auf den Schiffen verboten. „Matrose James Pitt“, antwortete Blanky laut und gellend, „ich befehle dir, dich sofort in deine Koje zu legen – du bist betrunken!“ Der andere war überrascht, er schien mehr erwartet zu haben. So steckte er nur die Hände in die Hosentaschen, zog die Mundwinkel her-
ab und sagte: „Du hast mir meine Flasche geklaut und kaputtgeschmissen. Ich müßte eigentlich jetzt dich kaputtmachen, wenn ich nicht…“ Er fühlte sich plötzlich von hinten eisern umklammert. Mit angepreßten Armen mußte er aus Philipps Mund die Worte hören: „Wenn Blanky dir etwas befiehlt, dann hast du das zu tun. Verstanden? Er ist unser Ältester, und du bist ein betrunkenes Schwein!“ Ehe er einen Protestlaut hervorbringen konnte, flog er mit lautem Krach in seine Koje. Die Männer lachten. „Gib’s ihm!“ schrie einer. „Er macht mehr Spektakel, als wenn drei Kerls husten.“ Der hagere blonde Philipp aber stand breitbeinig im Logis und schüttelte seine muskulösen Arme. „Wenn du noch mal ‘rauskommst, schmeiße ich dich an die Wand“, sagte er zu James. Der aber wußte, daß ihm der Alkohol die Glieder lähmte, knirschte mit den Zähnen und warf sich auf die andere Seite. Allmählich wurde es still. Nur Wood hustete wieder.
WESTGRÖNLAND
Die Winden quietschten. Die Schiffe lagen mit gerefften Segeln vor der Küste und übernahmen von ihrem Hilfsschiff Kohlen und
Lebensmittel. Vom Norden wehte es kühl. Gleichmäßig trieb das Eis die Davis-Straße hinunter, dem Atlantik zu; aber obgleich mitunter seltsam geformte Blöcke angeschwommen kamen, blickte niemand mehr hin. Man hatte sich schon lange an die weißkalten Gebilde gewöhnt und sah nur dann nach ihnen aus, wenn man im Mars oder im Steuerhaus saß und auf die Ausweichmanöver der Schiffe achten mußte. Heute kümmerte sich niemand um Eis und Wasser, heute galt es anzupacken, um das an Bord kommende Ladegut schnell und sicher im Schiffsrumpf zu verstauen. Zur „Erebus“ hatte man ein Tau gespannt, so daß Säcke und Tonnen wie an einer Seilbahn befördert wurden, indes der Verkehr zwischen dem Transporter und der „Terror“ durch Boote aufrechterhalten wurde. Sir Franklin lehnte am Brückenhaus und sah hin und wieder prüfend nach dem Wetter. Er dachte, was lange nicht geschehen war, an London. Hier mußte nun die letzte Verbindung nach Hause unterbrochen werden. Man würde noch einmal Briefe schreiben, würde noch einmal an alles denken, das gemütliche Heim, die Frau, die Tochter, das wehende, blauseidene Tüchlein und die letzten Worte. Dann aber würde man unwiderruflich eine Tür zuschla-
gen, würde alles Zurückliegende vergessen, den Befehl geben, gegen die Eisbarriere anzurennen und eine andere Tür aufzubrechen: die Tür nach dem Stillen Ozean, die NordwestPassage! Ehre und Ruhm, ein unvergleichlicher Triumph über das Unvermögen der vergangenen Jahrhunderte! Neuland galt es zu betreten, weiße Flecke auf der Karte mit Strichen und Zahlen zu versehen und der jungfräulichen Arktis den Schleier ihrer Geheimnisse zu rauben. Herrliche Aussichten für einen Sir John Franklin. Welch lächerlich geringer Preis war da die abgerissene Verbindung mit Old England, war die rückwärts zugeschlagene Tür. Sie würde gründlich geschlossen werden, das hatte sich der Admiral vorgenommen. Keiner durfte einen Spalt offen finden, durch den geheime Wünsche und Sehnsüchte nach der verlassenen Heimat gehen konnten. Vorn lag das Ziel. Alle Kraft sollte sich darauf konzentrieren, das Tor, das mit zwanzigtausend Pfund Sterling beschlagene Tor, gewaltsam aufzubrechen. Nur dort hinaus durften die Gedanken und Hoffnungen; zurück oder seitab – niemals. Die Admiralität hatte gut vorgesorgt. Der Bauch des Hilfsschiffes schien unerschöpflich, immer neue Kisten, Säcke und Tonnen tauchten daraus empor, wurden von kräftigen Ma-
trosenfäusten gepackt und fortgeschafft. Wir werden uns trotzdem noch mit Frischfleisch versorgen, dachte der Admiral und zog eine Seekarte aus der Tasche, um die Vogelfelsen der Melville-Bai zu suchen. Eine Jagd auf Seevögel würde auch für die Mannschaft eine willkommene Abwechslung sein. Wieder sah Franklin übers Wasser. Am Transportseil stand Karl Bauer, löste das ankommende Ladegut von der Trosse und schob es den anderen zu, die es zur Winde schafften. Jedesmal, wenn eine kurze Pause eintrat, sah Bauer hinauf und musterte den Admiral oben am Brückenhaus. Der große Einzelgänger, dachte er. Man sieht ihn fast immer allein. Er trifft allein seine Entscheidungen, arbeitet allein alle Pläne aus, er ist eigentlich das Hirn des ganzen Unternehmens. Er trägt eine gewaltige Verantwortung, ich möchte nicht in seiner Haut stecken. – Was dann, wenn einem solchen Admiral etwas zustößt, wenn das Hirn des Unternehmens ausfällt? In diesem Augenblick wurde von außenbords ein Seil hochgeworfen und eine Stimme rief: „Jeck, paß doch op!“ Deutsche Laute? – Karl beugte sich hinunter. Da schwamm ein Boot der „Terror“, die Matrosen drückten mit den Riemen gegen die
Bordwand. Einer stand aufrecht, er hatte wohl eben das Seil geworfen und die ermunternden Worte nachgeschickt. Ein Offizier stieg von unten herauf, es war der Bottlersmaat des Schwesterschiffes, der mit den Proviantlisten zum Vergleichen kam. Karl grüßte und wandte sich dann wieder hinab: „Wo ist denn der Landsmann?“ rief er auf deutsch hinunter. Der im Boot stehende Matrose blickte auf. In seinem Gesicht zeigte sich Überraschung. „Han ech räch jehört?“ antwortete er. ,,’ne deutsche Jong?“ „Ja“, rief Karl zurück, „ein ganz echter! Wer bis du denn?“ „Ech bin Jupp Steig un wohn inn de Näh von Dütz - un du?“ „Ich heiß’ Karl Bauer, bin Rudergast auf der ,Erebus’.“ „Un wo biste zu Haus?“ Karl sah ins Weite. „Überall und nirgends, eben in Deutschland drüben.“ „Haste nich ‘ne Frau?“ „Keine Menschenseele.“ „Dat is nix! – Ming Frau heißt Jret, is en lekker Mädche, un ‘ne kleene Jong hem mer ooch, et Hänsche.“ Karl starrte hinunter und sah in den treuherzigen Augen des Matrosen das Glück, das nur
eine Familie schenken kann. So etwas hatte Karl in vielen Träumen erhofft und ersehnt; aber nie selbst erfahren. Er wäre sonst nicht hier, er wäre sonst Lotse auf der Weser geblieben und… „Maria“, flüsterte er. Dann wandte er sich wortlos um, und als er sah, daß der Seiltransport stillag, ging er schnell ins Logis hinunter. Jupp wunderte sich nicht darüber. Er hatte die Augen, das Gesicht des anderen gesehen und richtig vermutet, daß in dessen Innern ein Weh aufgebrochen sein mußte, irgendeine traurige Erinnerung an versäumtes Glück. Jupp senkte den Kopf und hoffte, den Landsmann bald wieder zu treffen, um ihm zu helfen. Im Logis war es leer. Karl wühlte noch im Stehen die Tasche hervor, und sein Gesicht zeigte tiefe Bitternis, als er endlich einen Brief in Händen hielt. Einen Brief mit der gleichen Schrift wie alle anderen geschrieben: „Mein allerliebster Karl!“ las er laut. Als hätte ihn der Klang seiner Stimme erschreckt, legte er den Kopf auf die Arme und schloß minutenlang die Augen. Das Papier zitterte in seiner Hand. Dann las er weiter: Gestern bin ich nun vom Lande wieder zurückgekommen, und es will mir in Bremen gar nicht mehr recht gefallen. Das kleine Dorf ist für mich Heimat geworden, seitdem du dort
warst. Ach, Karl, ich habe mit Dir die schönsten Stunden meines Lebens verbracht, schönere kann es für mich erst geben, wenn wir für immer vereint sind. Die Tante war begeistert von Dir, sie glaubt noch felsenfest an das Märchen vom stadtmüden Ingenieur und die rein zufällige Bekanntschaft. Die Gute weiß nicht, wie schändlich sie hintergangen wurde. All Deine Blumen sind nun schon verblüht. Nur ein Röschen habe ich mir gepreßt. Es riecht noch ein wenig nach Glück und liegt in dem kleinen Gedichtbändchen, das Du mir geschenkt hast. Ich liebe jetzt diesen Rackert; ich liebe überhaupt alles, was mit Dir zusammenhängt, was mich an Dich erinnert und schöne gemeinsame Stunden zurückruft. Höre nur, was er hier schreibt. Es ist wie für mich, wie für uns zwei gedacht: Liebster, deine Worte stehlen Aus dem Busen mir das Herz, O wie kann ich dir verhehlen Meine Wonne, meinen Schmerz1. Liebster, deine Töne ziehen Aus mir selber mich empor. Laß uns von der Erde fliehen zu der sel’gen Geister Chor! Liebster, deine Saiten tragen Durch die Himmel mich im Tanz – Laß um dich den Arm mich schlagen,
Daß ich nicht versink’ im Glanz! Liebster, deine Lieder ranken Mir ein Strahlenkranz ums Haupt. O wie kann ich dir es danken, Wie du mich so reich umlaubt. Ist das nicht schön? – Kann man diese Worte nicht immer und immer wieder lesen? – Ich habe mir lauter Rosensträuße ins Zimmer gestellt, sie leuchten und duften, daß es eine Pracht ist, und mein Herz ist übervoll von reinem Glück. Ich küsse Dich, Deine einzige Maria Der Mann in der Kajüte sah Rosen, voll erblühte, Knospen und Blätter. Er stand mit geschlossenen Augen und lauschte auf eine süße Stimme. Draußen aber zog das Eis vorbei. * In der großen Messe hatte Sir John Franklin seine Offiziere zusammengerufen. Sie saßen nach der Rangordnung an beiden Seiten des Messetisches. Der Admiral stand am Kopf der Tafel und sah einen nach dem anderen an, als wollte er die letzte Musterung halten, ob es für ihn auch wirklich die richtigen Männer wären. Schließlich begann er: „Meine Herren! Es ist im allgemeinen üblich, daß vor Beginn einer Schlacht der Kommandeur seine Offiziere zusammenruft, um zum
letzten Mal Punkt für Punkt des Operationsplans durchzugehen und ihnen seine Anweisungen zu geben. Auch wir stehen am Vorabend einer großen Schlacht. Uns hat sich zwar kein Heer, keine feindliche Flotte entgegengestellt, uns bedroht ein größerer, ein weit furchtbarerer Gegner: die Arktis! – Wir werden sie besiegen! Ich sage das so gewiß, als ob wir sie schon besiegt hätten; und ich bin von der Richtigkeit meiner Worte überzeugt. Das gleiche verlange ich auch von jedem von Ihnen, meine Herren. Jeder einzelne, bis zum jüngsten Maat, und weiter bis zum Schiffsjungen muß vom Gelingen unseres Unternehmens überzeugt sein. Sollte einer der Herren etwas anderes glauben, so stelle ich ihm anheim, morgen mit dem Transporter nach Greenwich zurückzureisen.“ Es war totenstill in der Messe. Wieder blickte der Admiral von einem zum anderen; aber weder fiel ein Wort, noch verriet eine Gebärde, daß einer der Offiziere gegenteiliger Meinung wäre. „Ich sehe“, fuhr Franklin fort, „daß ich mich in Ihnen nicht getäuscht habe. Jetzt, da wir noch außerhalb jeder Gefahr sind, ist es auch nicht schwer, zu allen Befehlen bedingungslos ja zu sagen und Sieg um jeden Preis zu fordern. Es werden aber andere Stunden kommen,
Stunden, in denen das Schiff in der Umklammerung des Eises liegt, da es knirscht und prasselt, da der Sturm die Schollen berghoch über das Deck wirft. In diesen Stunden wird man leicht verzagt und läßt sich auf Wenn und Aber ein. Das darf es bei uns nicht geben, meine Herren! Wir müssen uns zwingen, die Durchfahrt zu finden.“ Die Männer sahen ihn an. Wie meinte er das – sich zwingen? Franklin musterte die Mienen der Offiziere; aber noch beherrschten alle ihren Gesichtsausdruck. Also sprach er weiter: „Wenn ich über einen breiten Fluß oder einen Meeresarm schwimmen will und lasse einen Freund im Boot folgen, so winkt mir, wenn ich nicht mehr weiter kann, Rettung. Es steht also nicht die unbedingte Notwendigkeit hinter mir, mein Ziel zu erreichen. Schwimme ich aber allein, so muß ich hinüber auf Biegen oder Brechen. Unter dieser Bedingung werde ich es auch schaffen; denn jeder Mensch liebt sein Leben, und ehe er sich sinken läßt, rafft er die letzte Kraft zusammen. Das ist der Grund, weshalb ich nicht will, daß wir uns auf Rettung und Hilfe stützen. Für uns gibt es kein Zurück, sondern nur noch ein Vorwärts!“ Sir Franklin atmete tief. Jetzt kam der Punkt, auf den seine Rede hinzielte. Die Expedition würde und mußte etwas tun, was keinem Po-
larfahrer vorher eingefallen war. Sie mußte sich auf Gedeih und Verderb ihrer Aufgabe unterwerfen. „Meine Herren!“ Die Stimme des Admirals wurde hart. „Wenn bis zum Frühjahr achtzehnhundertsiebenundvierzig keine Nachricht von der Expedition in London eingetroffen ist, startet Sir John Ross ein Unternehmen zu unserer Rettung. Das, meine Herren, ist der Freund, der uns im Boot folgt, das ist der Hoffnungsanker, an den wir uns klammern, wenn wir zaghaft, weich und müde werden, das ist die Rettungsaussicht, wenn unserem Entschluß der Mut und unseren Gliedern die Kraft verlorengeht. Wir müssen diesen Anker fahrenlassen, wenn wir durch die NordwestPassage segeln wollen. Wir müssen, jawohl, wir müssen John Ross’ Angebot ausschlagen. Und das können wir nur, wenn wir unsere Spuren verwischen. Wir müssen unsichtbar werden, niemand darf wissen, wo wir sind, bis wir in beispiellosem Triumph durch die Bering-Straße gesegelt kommen. Haben Sie mich verstanden?“ Es war still in der Messe. „Nicht ganz, Sir“, antwortete Kapitän Crozier für alle. „Nicht?“ Franklin blickte finster. „Nein, Sir! Wozu dieses rätselhafte Versteck-
spiel? Haben wir es nötig, uns vor jemandem zu verbergen?“ „Wer spricht davon?“ erwiderte Franklin unwillig. „Ich habe Ihnen schon klargelegt, daß ein Mann, hinter dem das eiserne Muß steht, der größten Tat fähig ist.“ „Wissen Sie, ob all unser Tun ausreicht, um ans Ziel zu gelangen?“ „Das weiß ich! – Das sollten Sie auch wissen, Kapitän Crozier. Wir werden in den nächsten Tagen Seevögel schießen und das Fleisch einsalzen. Wir werden für fünf Jahre Proviant haben. Während dieser Zeit wollen wir uns von Etappe zu Etappe, von Winterlager zu Winterlager durch das Eis arbeiten und unser Ziel erreichen.“ „Was würde es aber schaden, wenn Sir John Ross uns folgte? Er kann uns in manchem ergänzen, kann die Weltöffentlichkeit, die um uns bangt, beruhigen, unsere Kranken wegschaffen, kann…“ „Nein!“ Crozier verstummte. Was war in den Admiral gefahren, ein solches Nein herauszuschreien? Es hörte niemand schwer in der Messe. „Ich lasse mir die Mannschaft nicht durch derartige Aussichten verweichlichen! – Ich dulde es nicht, daß Sie mit solchen Möglichkeiten liebäugeln!“
„Es ist meine Pflicht als Kommandant eines Schiffes, alles zu durchdenken!“ „Und ich gebe Ihnen den Befehl, alle Rettungsmöglichkeiten außer acht zu lassen. Ich verbiete hiermit auf das strikteste, unterwegs irgendwelche Nachrichten zu hinterlassen oder abzusenden.“
„Ihr Befehl, Sir, widerspricht den ausdrücklichen Anordnungen der Admiralität, nach denen wir die mitgenommenen Messingzylinder mit Nachrichten über Kurs und Fahrtverlauf in Landmarken unterbringen oder ins Wasser werfen sollen.“ „Unterwegs bin ich alleiniger Befehlshaber, Kapitän Crozier. Ich verbitte mir, mich an irgendwelche Sonderaufträge der Lords in London zu erinnern. Unser Ziel ist die Bezwingung der Nordwest-Passage, ich werde es er-
reichen. Alle Einzelheiten wollen Sie gefälligst mir überlassen.“ „Sehr wohl, Sir!“ Franklin war ärgerlich. Was fiel diesem Kapitän Crozier eigentlich ein, seine Pläne zu durchkreuzen? Solche Offiziere konnte er nicht brauchen. Er brauchte Draufgänger, nicht Rechner, die alle Augenblicke mit Einwänden und Widersprüchen kamen. Solche Leute verwirrten nur das Offizierskorps und die Mannschaft. Ein Blick in die Gesichter der anderen zeigte ihm, daß der Streit nicht ohne Wirkung geblieben war; bei verschiedenen Männern
schienen sich Zweifel einzustellen; andere trommelten unschlüssig mit den Fingern. Es galt, unverzüglich das Heft wieder in die Hand zu bekommen. Franklin richtete sich deshalb ruckartig auf und sagte mit scharfer Stimme:
„Ich wiederhole nochmals mein Verbot, irgendwelche Nachrichten von unterwegs abgehen zu lassen. Um allen Möglichkeiten vorzugreifen, befehle ich, unverzüglich alle mitgenommenen Messingzylinder mit Wasser zu füllen und zu versenken!“ Kapitän Crozier erhob sich. „Sir“, sagte er fest und ruhig, „ich appelliere an Ihre Einsicht. Es können unvorhergesehene Dinge eintreten. Wir können Havarie bekommen, ein Schiff kann ausfallen, es kann Eispressungen geben, ein Brand kann ausbrechen, was weiß ich? Wir können doch nicht tollkühn handeln.“ „Haben Sie Angst?“ Den Offizieren schien das Blut stillzustehen, aber Crozier antwortete ruhig: „Unter anderen Umständen würde man einen Gentleman für diese Frage auf Pistolen fordern, Sir! – Ich habe keine Angst, ich bin mit meinem Schiff nicht zum ersten Male im Eise; aber ich weiß, was ich meinem Kommando und meiner Mannschaft schuldig bin. Die Leute haben Vertrauen zu mir, das darf ich nicht mißbrauchen. Ich weiß, daß ich notfalls mein Leben an die Auffindung der NordwestPassage zu setzen habe; dazu zwingen mich mein Eid und meine Ehre. Niemals aber kann mich jemand zwingen, leichtsinnig zu werden,
auch Sie nicht, Sir Franklin!“ „Was ich von Ihnen verlange, ist nicht Leichtsinn, sondern ein hartes Entweder-Oder, Kapitän. Wenn Sie sich nicht entscheiden wollen oder können – ich stelle Ihnen anheim, morgen mit dem Transporter zurückzureisen.“ „Ich bin der Kommandant der ,Terror’, Sir. Von meiner Kapitänspflicht kann mich Ihre Majestät entbinden, oder die Lords der Admiralität können mich abberufen. Ich habe den Befehl, unter Admiral Franklin die nordwestliche Durchfahrt zu passieren, nicht von Grönland nach Hause zu fahren.“ „Weshalb widersetzen Sie sich dann meinen Anordnungen?“ „Weil ich weiß, daß diese Anordnungen schaden können. Ich bin für das Wohlergehen meiner Mannschaft verantwortlich und kann es nicht dulden, daß die einfachsten Sicherheitsmaßnahmen unterbunden werden sollen. Wenn man uns sucht, muß man wissen, wo wir stekken. Mit gleichem Recht könnte ich die Schwimmgürtel über Bord werfen und die Rettungsboote vernichten lassen, um die Mannschaft zu zwingen, bei einer Havarie das Schiff noch an Land zu bringen.“ „Bleiben Sie bitte sachlich, Kapitän Crozier. Sie haben gehört, daß ich die Durchfahrt erzwingen will. Ich muß sie erzwingen; denn es
ist unsere Aufgabe, den Stillen Ozean zu erreichen!“ „Sie können nicht mit dem Kopf durch die Wand, Sir, denn von Ihren Entscheidungen hängen einhundertdreißig Menschen ab, für die Sie verantwortlich sind!“ „Mein Gott, Crozier, wollen Sie mir vielleicht vorrechnen, wieviel Menschen ich bei meinem Unternehmen opfern darf?“ „Jawohl! Keinen einzigen dürfen Sie opfern. Sie haben nicht das Recht, auf eine solche Weise Menschenleben einzusetzen! Ich protestiere im Namen der Menschlichkeit!“ „Das können Sie auf der Admiralität tun, wenn wir wieder in London sind.“ „Unter diesen Umständen kommen wir nie mehr nach London!“ Sir Franklin bekam einen roten Kopf. „Mister Crozier“, sagte er scharf, „mäßigen Sie sich - Sie wissen nicht mehr, was Sie sagen!“ Dann wandte er sich kurz den anderen zu. „Sie haben meine Befehle gehört, richten Sie sich danach. Ich danke Ihnen, meine Herren!“ Damit wandte er sich ab und ging hinaus. * Die Mannschaft der „Erebus“ hatte Briefe geschrieben, hoffnungsvolle Briefe, die von Zuversicht und Siegeswillen sprachen, besinnli-
che, die heimliche Sorge zeigten um die Lieben daheim, und auch einige in traurigem, sehnsuchtsvollem Ton. Ben, der Schiffsjunge, hatte verweinte Augen, als er seinen Umschlag bei Blanky abgab. Der Logisälteste schickte ihn mit einem belanglosen Auftrag weg, damit es die anderen nicht merkten und Grund zum Hänseln fanden. Ewald klagte, daß seine Proviantkiste bald leer sei. Philipp mahnte, sie sollten zu Hause sparsam sein, damit sie zu etwas kämen; Wood schrieb sein letztes Lebewohl, und dort, wo er die Kinder erwähnte, hatten salzige Tropfen die Tinte auslaufen lassen. Sunny, der immer fröhliche Heizer, war mit einem rußbefleckten Umschlag, der die neusten Schnurren und Witze enthielt, bei Blanky erschienen. Sie sollten sich totlachen daheim, wie sie es immer taten, wenn solch ein schwarzer Brief angekommen war. Percy, der schweigsame Bastler, war mit drei Zeilen ausgekommen, während der alte Robin einem ganzen Schwärm von Kindern Grüße sandte. King und Curry konnten nicht schreiben, einige wollten nicht. Karl Bauer aber hatte nur einen Satz geschrieben: „Ich gehe mit Admiral Franklin ins Eis.“ Auch auf der „Terror“ schrieb jeder, der eine Feder halten konnte und irgendwo auf der Welt eine Menschenseele wußte, die sich dar-
über freuen würde. Einige sandten ganze Tagebücher in die Ferne, die zuversichtlich und hoffnungsvoll den Verlauf der Fahrt erzählten und die Wunder am Rande des Polargebietes schilderten. Die Offiziere schrieben ebenfalls. Einer mahnte seinen Geschäftspartner, während seiner Abwesenheit umsichtig an der Börse zu spekulieren. Dr. Stanley, der Arzt der „Erebus“, korrespondierte mit Studienfreunden, die Fähnriche schrieben Liebesbriefe, und Kapitän Crozier sandte einen ernsten, aber starken Brief an seine Frau. Von den Vorfällen in Franklins Messe erwähnte er kein Wort. Kapitän Fitzjames hatte viele Seiten vollgeschrieben. Der Admiral hatte dem Papier die Worte anvertraut – „Ängstigt Euch nicht, wenn es auch länger dauern sollte, als vorgesehen. Die nächste Poststation ist vielleicht Hongkong, China.“ Zuversicht, Siegeswille, Mut und Entschlossenheit sprachen aus dem Brief Sir Franklins; hätte er jedoch die Postsäcke geöffnet und ein wenig in den Briefen gelesen, so wäre ihm die Wahrheit der Worte Kapitän Croziers bestätigt worden. Ihm waren einhundertdreiunddreißig Menschenleben anvertraut worden. Und jedes umschloß eine eigene Welt mit Frau und Kind, Heim und Habe. Die fühlten und dachten,
kannten Leid und Freude und liebten das Dasein, wenn es auch noch so kärglich war. Wußte das der Admiral, als er fröhlich lachend auf der Brücke der „Erebus“ stand und dem scheidenden Transporter Abschiedsgrüße durch das Sprachrohr zurief? Sah er, mit welchen Mienen seine Männer winkten, riefen, pfiffen und sangen? Sah er, daß es in manchem Auge heimlich feucht blinkte? Er sah es nicht. Es schien ihm eines Mannes unwürdig, zu weinen. Er sah nur die zufallende Tür, sah fern und unwirklich ein blauseidnes Tüchlein wehen und ringsumher Wasser und Eis. Er war einsam in seiner Aufgabe, ob er nun zehn oder hundert Mann um sich hatte. Die anderen aber sahen die Segel südwärts versinken, sahen das letzte Stück England in der blaßvioletten Weite des ewigen Meeres aufgehen. Wie ein Fünkchen noch stand das Schiff am Horizont, wurde kleiner und unscheinbarer, sank endlich in sich zusammen und verschwand. In den Lüften kreisten die Seevögel mit schrillen Rufen, weit draußen aber stand die Fontäne eines Walfisches. Die Männer fühlten sich verlassen. Ob es auch ihrer hundert waren, sie empfanden trotz aller Schönheit die beklemmende Einöde der Arktis, und manch einer spürte zum ersten Mal, wie die Polarangst nach ihm griff und
Bedenken mancher Art aufsteigen ließ. Aber ihnen wurde nicht lange Zeit gelassen. Oben auf der Brücke stand Sir Franklin, der Held des Unternehmens, vor dem all die kleinen Heldentaten der anderen verblaßten, weil er einen Namen trug, den die Öffentlichkeit kannte. Wer von der Expedition sprach, gab ihr seinen Namen. Dieser Sir Franklin sah nicht, wie sie alle nach Süden blickten. Er sah nach Norden, und zwischen seinen Augen stand scharf und drohend eine Falte, die bei ihm der Ausdruck äußerster Energie war. Er sah nach Norden und gab ruhig und sicher den Befehl, der sich sofort bis in die letzten Zellen der Schiffe verbreitete. Fähnchen stiegen hoch und verkündeten die Worte den Männern der „Erebus“ und der „Terror“: „Schiffe marsch! – Kurs Nordwest-Passage.“ Wieder schrillten die Bootspfeifen, wieder dröhnten die Decks vom Getrampel der Matrosenfüße, die Leinwand entfaltete sich, und die Schiffe stießen mit dem Bug nach Norden.
„TERROR“
In der Kapitänskajüte hatte Crozier seine Offiziere versammelt. Er ging ohne Umschweife sofort auf die Dinge ein, die ihm am Herzen lagen: die Folgen des einschneidenden Befehls
Sir Franklins. „Sie haben selbst gehört, welchen Befehl uns der Kommandant erteilte“, begann er. „Sie wissen auch, welche Argumente ich dem Befehl entgegenstellte und was der Herr Admiral erwiderte. Ich kann mir also jedes überflüssige Wort sparen. Auf der ,Erebus’ wurden gestern sämtliche Nachrichtenzylinder befehlsgemäß versenkt, auf der ,Terror’ bisher nur die Hälfte. Was mit dem Rest geschehen soll, werden wir jetzt festlegen. Sie kennen Sir Franklins strikte Anweisung, Sie wissen auch, daß Offiziere Ihrer Britischen Majestät Befehle unverzüglich auszuführen haben. Trotzdem habe ich bisher nur die Hälfte der Messingzylinder vernichten lassen. Weshalb? - Nun, meine Herren, ich will Ihnen hier eine Frage vorlegen, die jeder von Ihnen als Offizier und Mensch, lediglich nach seiner eigenen Meinung und seinem Empfinden, beurteilen soll. Darf ein Offizier einen Befehl verweigern, wenn dieser sich mit seinem menschlichen Empfinden, mit seiner Verantwortung für Leben und Sicherheit der Untergebenen nicht vereinbaren läßt?“ Grell und fordernd stand die Frage im Raum, wie ein Blitz vor blaudunkler Wolkenwand. Die Offiziere fühlten sich vor eine Entscheidung gestellt, vor der es kein Verstecken, keine Neutralität gab. Hier mußte jeder ein deutli-
ches Ja oder ein Nein sprechen. Steuermann Warwel meldete sich zuerst. „Sir“, sagte er langsam und nachdenklich, „der Admiral hat uns einen Befehl erteilt, dessen unbedingte Ausführung er erwartet. Er gibt uns nur eine Verantwortung, und zwar die, seinen Befehl auszuführen. Die Folgen trägt er als Urheber seines Befehls selbst. Wir können deshalb unbedenklich auch die übrigen Zylinder versenken.“ „Vom Standpunkt des Offiziers seinem Befehlshaber gegenüber haben Sie vollkommen recht, Mister Warwel. Wir sind aber auch für unsere Mannschaft verantwortlich. Deshalb möchte ich in diesem Falle den Rat aller meiner Offiziere hören, als Menschen, ohne Rangunterschiede.“ „Weshalb wollen Sie sich eine Verantwortung aufbürden, die Sie gar nicht zu tragen brauchen?“ fragte Leutnant Hodgson, der Zweite Offizier, und erhielt dafür manch dankbaren Blick. Es war eine verdammte Zwickmühle, in die man hier hineinmanövriert wurde. „Ich sagte bereits“, fuhr der Kapitän fort, „daß wir auch als Menschen entscheiden müssen. Ihre menschliche Verantwortung kann Ihnen kein Admiral und kein König abnehmen, die tragen Sie ganz allein und haben Sie
einmal vor Ihrem Herrgott zu vertreten. Stellen Sie sich vor, es kämen einige von unseren Leuten durch diesen Befehl zu Schaden. Meinen Sie, Ihr Gewissen spricht Sie frei, wenn Sie den Tod der Männer hätten verhindern können?“ Leutnant Hodgson lächelte. Crozier war es, als ob sogar ein leichter Spott in der Stimme schwänge. „Wir wollen die Nordwest-Passage stürmen, Sir! Wir werden sie stürmen, das glauben wir alle. Wollen wir da Zeit und Gedanken verschwenden, um allerlei mögliche und unmögliche Dinge zu durchdenken?“ Der Kapitän legte die Hände auf den Tisch. „Wir sind dazu verpflichtet, Leutnant“, antwortete er. „Wir müssen wissen, daß wir nicht ins Uferlose hinausschwimmen; wir müssen wissen, daß auch im äußersten Fall für Sicherheit gesorgt ist. Hier liegt der Fehler in der Rechnung des Admirals. Hinter uns soll als stete Drohung das Gespenst des bleichen Knochenmannes stehen, das uns vorwärts peitscht unter ständiger Todesangst. – Nein! Nur im Gefühl völliger Sicherheit werden wir die Passage durchsegeln. Denken Sie, ein Seiltänzer könnte auch nur einen Schritt tun, wenn er ständig den Abgrund unter sich im Auge hätte? Man muß bei dieser Expedition weiterhin alle Sicherungsmöglichkeiten beachten.“
„Ihre Worte haben etwas für sich, Sir“, sagte Leutnant Irving. „Es ergibt sich aber die Frage, wer die Verantwortung für die Befehlsverweigerung tragen würde. Wir sind Offiziere und haben eine Laufbahn vor uns, die wir nicht durch Widersetzlichkeit verderben wollen.“ Kapitän Crozier winkte ab. „Sie verstehen mich nicht“, erwiderte er. „Es handelt sich hier um Ihre Entscheidung als Mensch: Verlangt es die Sicherheit unseres Schiffes beziehungsweise unserer Mannschaft, entgegen dem Befehl des Admirals Standortmeldungen von unterwegs zu geben oder nicht? Das will ich hören, weil ich zwar als Kapitän, nicht aber als Mensch über diese Dinge selbst entscheiden kann. Die Verantwortung dafür trage ich allein!“ „Was Sie tun wollen, dürfen Sie nicht, Sir!“ sagte Leutnant Hodgson. Crozier stützte sich mit beiden Händen auf den Tisch. „Was bedeutet einem Kommandanten mehr: das Schiff mit der Besatzung oder der Admiral?“ Hodgson antwortete nicht. Es herrschte tiefes Schweigen. Der Kapitän hatte die Situation in ihrer ganzen Schwere erkannt. Man war auf See. Jedes Schiff stellte eine Insel, eine Schicksalsgemeinschaft dar. Der Kapitän aber wußte besser als ein Admiral, was für diese
winzige Insel gut und was schlecht war. Sir Franklin durfte nicht in das innere Gefüge dieser Insel eingreifen und Dinge befehlen, die sich in den Augen des Kapitäns als unsinnig erwiesen. Konnte der Admiral überhaupt diese Verantwortung auf sich nehmen? – Er fragte nicht danach. Man kannte und liebte ihn als tollkühnen Draufgänger, als stolzen Stürmer, vor dem die Hindernisse zergingen wie Eis in der Sonne. Aber ihm blind vertrauen, das konnte Kapitän Crozier nicht. Es wäre einem Gang mit verbundenen Augen gleichgekommen. Crozier hatte helle Augen und einen scharfen Verstand und war nicht erst seit gestern Führer eines Schiffes. „Der Admiral möchte sich in der Lage des Schwimmers sehen, der, ohne den Freund hinter sich zu wissen, ans Ufer muß, um nicht zu ertrinken. – Alle Achtung vor einem Menschen, der sich auf diese Weise zu höchsten Leistungen zwingt, solange er nur sich selber vor diese harte Notwendigkeit stellt. Der Admiral aber vergißt, daß er nicht allein durch die Passage will, sondern mit eishundertdreiunddreißig Menschen. – Da gelten andere Gesetze. Meine Herren, wir wollen die Straße suchen, die kürzere Handelsstraße nach Fernost. Und wir werden diese Straße finden. Wenn wir nun dafür gewisse Sicherheiten ver-
langen, so ist das nur unser gutes Recht.“ „Ich stehe zum Kapitän!“ rief Steuermann Warwel und erhob sich. „Ich gleichfalls!“ Leutnant Sir Back sprang auf. Der Arzt Alexander MacDonald und Leutnant Irving stellten sich wortlos an seine Seite. Dann erhoben sich die Fähnriche; nur Leutnant Hodgson blieb sitzen. Crozier blickte sich in der Runde um, dann sah er auf Hodgson, der seinen Blick fest erwiderte. „Und Sie, Leutnant?“ fragte er. „Sie können mir als mein Vorgesetzter befehlen, was ich zu tun und zu lassen habe“, antwortete der andere, „als Mensch habe ich keine Entscheidung zu fällen. Ich bin nur Offizier, Sir!“ „Ich danke Ihnen“, sagte Crozier zu den anderen. „Es freut mich, daß Sie in Ihrer persönlichen Meinung mir beipflichten. Ich befehle nunmehr als Kommandant der ,Terror’, die noch an Bord befindlichen Messingzylinder für Nachrichtenabgabe von unterwegs bereitzuhalten.“ Die Offiziere verließen die Kajüte.
NORDWESTGRÖNLAND
In den Gewässern der Melville-Bai hallten
Schüsse. Die Mannschaften der Expeditionsschiffe jagten Seevögel. „Erebus“ und „Terror“ waren nahe dem felsigen Ufer vor Anker gegangen. Die Boote fuhren das Gestade entlang, und die Matrosen schossen mit Schrot in die dichten Scharen der Seevögel, die zu Tausenden auf den Felsen saßen. Andere wieder fischten nach den getroffenen Tieren, die auf dem Wasser schwammen. Das Felsgestade lag graudüster im Sonnenlicht; in den Spalten der Gletscher aber schimmerte es in geheimnisvollem Grün. Eisiges Grönland: Kontinent, von polarer Kälte umzogen und selbst im Sommer von allem gemieden, was den warmen Hauch des Lebens liebt. Harte Gesellen nur können hier ihr Dasein fristen: Robben, Eisbären, Polarfüchse und die unverwüstlichen Seevögel. Ihnen galt der Besuch der Menschen in diesen ersten Julitagen des Jahres 1845. Die Matrosen lachten; sie tobten ausgelassen in den Booten umher, und wenn einer einen besonders guten Schuß tat, jubelten ihm die anderen Beifall. Die Vögel, aufgescheucht aus der Ruhe ihrer felsigen Wohnungen, kreisten mit schrillem Geschrei in den Lüften, ließen sich auch hier und dort nieder, um beim nächsten Schuß abermals aufzufliegen. Der Vogel aber, den ein oder zwei der kleinen grauen Kügelchen trafen, der vergaß Fliegen und
Schreien und stürzte pfeilgeschwind vom luftigen Sitz herab ins grünkalte Wasser. Blankys Boot hatte sich am weitesten nach Norden gewagt; die Matrosen ruderten mit raschen Stößen um eine Felsennase herum, nach neuen Wundern Ausschau haltend. Es galt, lohnende Ziele für die Büchsen zu erkunden. In der Bucht hinter dem Felsen lag eine flache Eisplatte; an ihrem Rand aber stand, edel und schön, ein mächtiger Eisbär. „Ho!“ rief Blanky. Die Matrosen vergaßen das Rudern, drehten die Köpfe zum Bug und sprangen erstaunt auf. „Los, den müssen wir kriegen!“ rief Ewald. „Das gibt einen Braten!“ „Hast du schon wieder Hunger?“ fragte der Heizer Sunny neben ihm und grinste bedeutungsvoll. „Erst mußt du ihn haben, dann kannst du ihn fressen.“ „Fahrt nicht so dicht ‘ran“, brummelte King durch seinen Bart. „Ich hab’ mir sagen lassen, die Biester sind gefährlich!“ „In London war mal ein Bär gefangen!“ krähte Ben mit seiner Kinderstimme dazwischen. Aber Ben wurde beiseite gedrückt. Dann stand einer breitbeinig auf der Ruderbank und hielt die Büchse erregt in den zitternden Händen: John Black. Sein Auge schien sich am Ziel festzusaugen, er schätzte die Ent-
fernung; aber noch war es zu weit zum Schießen. „Laßt mich nur machen“, raunte er zähneknirschend. „Ich hole ihn, soweit das Pulver trägt. Ist nicht der erste Blattschuß, rudert weiter!“ „Wer führt hier das Kommando, du oder Blanky?“ fragte Treet, der auch gern geschossen hätte. Einige andere murmelten Beifall. „Ich tue den ersten Schuß“, gab John Black zurück, „du den zweiten; aber einer wird genügen. Paß auf!“ „Setzen!“ schrie Blanky von achtern. „Setzen und Maul halten, wir jagen ihn! – John Black tut den ersten, Treet den zweiten Schuß!“ Blanky war ein guter Schütze; er nutzte jedoch die Gelegenheit, mit den beiden Streithähnen in ein besseres Einvernehmen zu kommen. Sie machten ihm an Bord viel zu schaffen; und mehr als einmal hatte er schon erwogen, der Sache mit einer Strafmeldung ein Ende zu machen. Doch hier gab es vielleicht eine bessere Gelegenheit, die Einigkeit wiederherzustellen. Klatschend setzten die Ruder ein. Die beiden Schützen spähten nach vorn, der Eisbär richtete sich einen Augenblick auf, saß witternd auf den Hintertatzen, dann machte er einen eleganten Sprung ins Wasser und tauchte unter.
„Teufel noch eins!“ fluchte Treet, setzte die Büchse an die Schulter und feuerte dem Tier blindlings nach. Die Kugel schlug weit vor dem Bären ins Wasser. Gerade wollte John Black den Schützen verwünschen, als die Ruderer einen Überraschungsschrei ausstießen, der Angst und Entsetzen verriet. Wenige Ellen hinter dem Boot war ein ungefüger, mit mächtigen Hauern bewehrter Kopf aufgetaucht, er prustete und sah die Männer mit bösen Augen an. „Ein Walroß! – Rudern! – Rudern!“ Abschreckend häßlich blickte das Ungeheuer auf die Männer im Boot, die in wildem Durcheinander mit den Rudern ins Wasser schlugen. Treet aber kniff die Augen zusammen, riß das Gewehr hoch und schoß abermals. Ein furchtbares Gebrüll war die Antwort. Das Wasser begann zu kochen, das Boot schwankte gefährlich. Die Männer vergaßen das Rudern und hielten sich mit beiden Händen an der Bordwand fest. Da aber kam von unten ein harter Stoß, die Matrosen purzelten durcheinander, das Boot hob sich und rutschte nach kurzem gefährlichem Schweben seitlich ins Wasser zurück. Der furchtbare Kopf tauchte zwischen den Rudern auf, schnaufte und schrie. Die Hauer drohten wie Säbel. Treet hatte seine Büchse verloren, die Männer lagen
übereinander, da krachte wieder ein Schuß. Blanky hatte nicht die Nerven verloren. Er stand aufrecht vor der Ruderbank und hielt das rauchende Gewehr. Das Tier hielt still, als überlege es, verdrehte endlich die Augen so stark, daß sein Blick noch abschreckender wurde, und sank dann wie ein Stein ins Wasser. Es wurde totenstill. Nun ging es über Treet her; weshalb er geschossen habe, ob er nicht wisse, wie gefährlich ein Walroß werden könne, wenn man es reize. Sie schalten und verhöhnten sich gegenseitig; als Blanky kurzerhand befahl umzukehren, entstand neuer Streit. Im Boot herrschte wilde Erregung, als die Männer zurückkamen.
„EREBUS“
Mittags war für die „Terror“ ein Flaggensignal hochgegangen: „Admiral an Kommandeur: Erwarte Besuch Kapitän Croziers.“ Die Schiffe schaukelten in der leichten Dünung, noch immer zogen Boote auf dem Wasser einher, mit reicher Beute beladen. Gegen zwei Uhr mittags wurde Francis R. M. Crozier beim Admiral gemeldet. Er mußte, was noch niemals geschehen war, einige Minuten warten. Franklin stand an seinem Schreibtisch und
spielte mit einem silbernen Brieföffner; die Wartezeit schien ihm selber peinlicher als dem Kapitän zu sein; denn er hatte nichts, wirklich nichts zu tun. Eingehend betrachtete er das eingravierte Wappen: einen aufwärts gerichteten Delphinkopf zwischen zwei Lorbeerzweigen – alle Franklins führten dieses Zeichen im Siegel. Endlich drehte er sich um und ließ den Erwarteten eintreten. „Kapitän Crozier, wie befohlen, zur Stelle!“ Der Kommandant der „Terror“ hielt den Hut in der Hand und wartete auf eine Entgegnung. Franklin antwortete nicht, bot ihm auch keinen Stuhl an, ging vielmehr langsam auf den großen Globus zu und drehte die Gebiete des arktischen Nordamerikas nach vorn. „In den nächsten Tagen nehmen wir Kurs auf den Lancaster-Sund“, begann er unvermittelt und ohne seinen Gast einer Anrede zu würdigen. „Ich gedenke genau die Mitte zwischen Kap Warrender und Kap Castlereagh zu halten, vorausgesetzt, daß die Eisverhältnisse es gestatten. Wie mir Sergeant, der Erste Steuermann, mitteilte, sieht es mit dem Eise nicht gerade glänzend aus. Ich hoffe, vor Einbruch des Winters an Nord-Somerset vorüber zu sein und südlich des Kap Walker im Baring-Kanal zu überwintern. Sowohl dort als auch im Peel-
Sund dürften geschützte Buchten zu finden sein.“ Crozier stand noch immer am gleichen Fleck. Wozu erzählt er mir das, dachte er und wurde weder aus der Situation noch aus dem Verhalten des Admirals klug. Sir Franklin, als könne er Gedanken lesen, fuhr fort: „Ich sage Ihnen das für den Fall, daß die Schiffe auseinanderkommen – und damit Sie Ihren Nachfolger rechtzeitig informieren können.“ Nachfolger? Der Kapitän sah den Admiral an. Nichts in seinem Gesicht verriet die Spannung, die das beiläufig erwähnte Wort hervorgerufen hatte. Crozier sagte kein Wort, so sehr Franklin darauf wartete. Ja, dieser schien den weiteren Verlauf des Gesprächs nur von seiner Antwort abhängig gemacht zu haben. Nach einem kurzen Schweigen fuhr Franklin fort, ohne seinen Ärger verbergen zu können: „Ich nehme an, daß Sie, Kapitän, noch in dieser Stunde Ihr Kommando niederlegen werden; darum sprach ich von Ihrem Nachfolger. Sie haben entgegen meinem ausdrücklichen Befehl die Hälfte der Nachrichtenzylinder an Bord behalten und Ihre Offiziere veranlaßt, Sie und die von Ihnen getroffenen Maßnahmen zu decken.“
„Ich wußte nicht, daß Sie auf meinem Schiff einen Spion halten, Sir.“ „Es gibt Offiziere, die sich ihr Pflichtbewußtsein nicht durch schöne Reden trüben lassen.“ Crozier sah dem Admiral in die Augen: „Gut“, sagte er, „man hat mich verraten; ich stehe dafür ein und erwarte Ihre Befehle, Sir.“ Der Admiral stand stumm; dann trat er an das Bullauge und sah hinaus auf das klarkalte Wasser. Ein Eisenschädel, dieser Crozier, der richtige Mann für die Polarfahrt! Hier jedoch ging es um den Willen des Befehlshabers, um die Einhaltung aller seiner Anordnungen, hier ging es um das „Nie zurück“ Sir John Franklins. „Ich kenne Ihre Gründe“, sagte der Admiral nach einer Weile, ohne sich umzusehen. „Wenn Sie der Befehlshaber wären, müßte ich sie respektieren. Sie kennen auch meine Gründe, Kapitän. Ich weiß, daß Sie anderer Ansicht sind. Das ist Ihre Sache – ich kann und will Ihnen meine Meinung nicht aufzwingen; aber ich kann verlangen, daß meine Befehle ausgeführt werden.“ „Jawohl, Sir.“ Franklin drehte sich um, ging am Schreibtisch vorbei und nahm den Brieföffner wieder zur Hand. „Ich könnte Sie Ihrer Stellung als Komman-
deur entheben“, sagte er nachdrücklich. „Die Admiralität würde in diesem Falle meine Anordnung billigen. Ich sage Ihnen aber ganz offen, Kapitän: ich habe keinen zuverlässigen Offizier für Ihr Kommando. Sie sind ein erfahrener Mann, Sie können etwas, und ich bedaure außerordentlich, daß wir nicht Freunde sind. Außerdem betrachte ich es als keinen günstigen Anfang für eine Expedition, wenn der nach dem Admiral dienstälteste Offizier seines Kommandos enthoben wird. Gehen Sie also auf Ihr Schiff, Kapitän Crozier, und führen Sie meinen Befehl aus!“ Crozier verneigte sich stumm. Er ging aber nicht, sondern wagte einen leisen Einwurf. Franklin glaubte seinen Freund Ross zu hören: „Sir, genügt Ihnen nicht mein Ehrenwort, keinen der Zylinder ohne Ihren ausdrücklichen Befehl zu benutzen?“ „Nein!“ antwortete der Admiral. „Die Tür hinter mir muß geschlossen sein, unwiderruflich geschlossen, sonst…“ „Sir!“ Crozier stieß es hervor wie einer, den der Schrecken gepackt hat. „Sir“, und weiter ganz behutsam, wie man ein krankes Kind fragt, „sind Sie etwa Ihrer Sache nicht ganz, nicht hundertprozentig sicher?“ Franklin setzte sich. Was keinem gelungen war, Crozier hatte an die Stelle seines Wesens
geklopft, die Widerhall gab. Zum ersten Male spürte der Admiral, daß jemand unter der Maske seiner Offiziersuniform den Menschen in ihm erkannt hatte. „Mein Gott, Crozier“, sagte er, „natürlich bin ich meiner Sache sicher, natürlich weiß ich, daß wir im Triumph durch die Bering-Straße segeln werden; aber schließlich sind wir doch nur Menschen, und ich will, daß es kein Zurück gibt.“ Und als hätte er gemerkt, daß er, der Admiral, dem Untergebenen gegenüber einen unpassenden Ton angeschlagen hatte, stand er jäh auf und sagte: „Ich dulde keine Widerrede. Kapitän Crozier, gehen Sie auf Ihren Posten, lassen Sie unverzüglich sämtliche Nachrichtenzylinder versenken und verbieten Sie, irgendwelche Lebenszeichen unterwegs zu hinterlassen. Nur unter diesen Umständen werden Sie das Kommando behalten. Haben Sie mich verstanden?“ „Zu Befehl, Sir!“ „Ihren Zweiten Offizier nehmen Sie bitte mit an Bord!“ Damit öffnete Franklin die Tür zum Nebenraum. Auf der Schwelle stand Leutnant Hodgson; er war sehr bleich, als er sich seinem Kapitän gegenüber sah. Die beiden Offiziere stiegen ins Boot, ohne sich anzusehen. Sie sprachen kein Wort miteinander.
Als die beiden gegangen waren, saß der Admiral lange Zeit bewegungslos im Sessel. Was war das für ein Mensch, dieser Kapitän Crozier? Wie hatte Franklin, der große Stürmer, der Wagemut, einen solchen Kommandeur in sein Geschwader nehmen können? Mußte nicht jeder Augenblick in seiner Nähe zur Qual werden, wenn man in seinem Gesicht Mahnungen über Mahnungen las? – Wo waren die Vorsätze geblieben? Wollte er, Franklin, diesen Befehls Verweigerer nicht bis in den Grund demütigen, ihn die Drohung einer schimpflichen Absetzung spüren lassen? Und was hatte er statt dessen getan? – Er hatte ihm einen Blick in sein Inneres ermöglicht, noch dazu in einen Winkel, den er vor Gott und der Welt hätte mit Ketten verschließen mögen. „Kapitän Crozier“, sagte er laut, „schade, daß wir nicht Freunde werden können.“ Auf Deck lärmten die Matrosen. Die Jagdbeute mußte vor der Weiterreise noch eingesalzen und verpackt werden. Überall an Deck standen Männer, das Messer in der Faust; blutbespritzte Federn flogen umher, ganze Wolken aus Daunen schwebten mit dem Winde davon. Um die Schiffe aber kreisten mit schrillen Schreien Sturmvögel und Möwen und zankten sich um die Eingeweide, die über Bord geworfen wurden. Blanky stand breitbei-
nig vor einem hölzernen Tisch, er beaufsichtigte einen Trupp rauchender und schwatzender Männer, die rupften und schlachteten, als gälte es das ewige Leben. Große Fässer warteten auf die eingesalzenen Rümpfe; eine große Bütte aber nahm die Leckerbissen auf: Herzen und Vogellebern. „Erzähl weiter, Blanky“, mahnte der blonde Philipp und schob seine Stummelpfeife in den anderen Mundwinkel, ohne dabei seine Arbeit zu unterbrechen. „William Baffin hat also diese Länder hier entdeckt, sagst du?“ „Es ist im Jahre sechzehnhundertsechzehn gewesen“, sagte der Angeredete und nahm das Gespräch wieder auf. „Schon gottverdammt lange her! Sie fuhren damals noch mit großen Fregatten, wie man sie heute nur noch in den Hafenkneipen hängen sieht. William Baffin hat die Baffin-Bai entdeckt, den Smith-Sund weiter nördlich, das Ellesmere-Land und so manches andere. Muß ein toller Kerl gewesen sein. Man hat ihm das alles nicht geglaubt, bis unser John Ross dann achtzehnhundertachtzehn durch das Eis der Melville-Bai durchgestoßen ist und das Nordwasser wieder erreicht hat. Da hat dann auch wirklich und wahrhaftig alles gestimmt, was Baffin berichtet hatte. Der Smith-Sund war deutlich zu sehen. Im Vertrauen gesagt, das ist der gerade Weg zum
Nordpol.“ „Gibt’s da oben im Norden noch Menschen?“ fragte Ben. Er kannte nichts Schöneres, als einen der weitgereisten Matrosen erzählen zu hören. „Ich komme nun auf Kapitän Ross“, sagte Blanky, „mit dem ich vier Jahre lang im Eis gelegen habe. Ross hat dort oben am SmithSund einen unbekannten Eskimostamm entdeckt. Die wußten nichts von der übrigen Welt, dachten, sie wären die einzigen Menschen, machten sich alles aus Knochen, Sehnen und Fellen. Eisen holten sie sich von einem großen Meteorstein, der da irgendwo in Grönland liegt. Klingt wie ein Märchen, ist aber wirklich und wahrhaftig wahr. Und damit sie von dem vielen Fisch und Fleisch nicht krank werden, fressen sie Seetang, den sie sich aus dem Wasser holen.“ „Pfui Teufel“, sagte Ewald und schüttelte sich. „Schiff in Sicht!“ schrie plötzlich der Matrose vom Krähennest herunter, und die Männer vergaßen Arbeit und Erzählung. Sie legten die Messer hin und liefen an die Steuerbordreling, Das war tatsächlich ein Ereignis: Ein Schiff hier unter sechsundsiebzig Grad nördlicher Breite. Da kam es, schräg voraus, ein Walfänger sicherlich. Es lag mit voller Leinwand gut
im Wind und hielt genau auf die Expeditionsschiffe zu. Bootsmann Storm kam durch den Einstieg hoch und trieb die Männer wieder an die Arbeit. Es würde noch eine Weile dauern, bis das Schiff auf Rufnähe heran war; aber alle Gespräche waren nun wie abgeschnitten; man dachte an die kommenden Stunden und Minuten und achtete kaum noch auf die eigene Beschäftigung. Die wenigen Leute, die beim Einsalzen fehlen durften, lagen in den Kojen und schnarchten. Auch Karl Bauer, der später wieder zur Wachablösung mußte, schlief. Er hatte nicht den gesunden Schlaf der Kameraden, sondern wälzte sich von einer Seite auf die andere. Er hatte wieder einen seiner Briefe gelesen. Es war kein zärtlicher, schwärmerischer Brief mehr gewesen; er ging ihm noch jetzt im Kopf herum: Mein lieber Karl! Ich schreibe Dir schnell einige Zeilen. Ich bin in großer Sorge, man hat Deinen letzten Brief bei mir entdeckt, und meine Eltern haben ihn gelesen. Es steht sehr schlecht um uns, mein Liebster. Ich habe fürchterliche Stunden hinter mir. Das Schmerzlichste für mich waren die Vorwürfe, die ich von meinen über alles geliebten Eltern zu hören bekam. Mit Undank
hätte ich all ihre Güte und Vorsorge gelohnt. Mir wäre die Verbindung mit dem Sohn eines wohlhabenden und geachteten Ratsherrn zugedacht, und – verzeihe mir, Liebster – ich zerstörte mit einem hergelaufenen Seemann seine Ehre. Kannst Du begreifen, was es für mich bedeutet, all das zu hören? Meine Eltern haben sich auf keinen meiner Einwände eingelassen, sie verbieten mir, allein aus dem Hause zu gehen. Diesen Brief hier übergebe ich heimlich meiner Freundin, die hier sitzt und ihre Tränen mit den meinen mischt. Laß ihr bitte bald Deine Antwort zukommen; ich weiß nicht, was ich tun soll. Und, liebster Karl, sei vorsichtig mit allem, was Du beginnst; mein Vater ist unberechenbar in seinem Zorn. Laß mich nicht zu lange warten. Es grüßt und küßt Dich tausendmal Deine Maria Der Segler war auf Rufweite heran. Es handelte sich, wie die Männer richtig vermutet hatten, um einen Walfänger, der längs der grönländischen Küste nach Beute suchte. Die Kapitäne tauschten die üblichen Fragen nach Namen, woher und wohin aus; es gab allerhand Neuigkeiten von beiden Seiten zu berichten, Grüße zu bestellen und Glückwünsche auf den Weg.
„Wie lange werden wir nichts von Ihnen hören?“ schallte es durchs Sprachrohr herüber. „Es kann lange dauern, die nächsten Poststationen liegen weit“, ließ Franklin antworten. „Haben Sie auch genügend Proviant?“ „Wir sind eben dabei, die letzte Jagdbeute einzusalzen. Fünf Jahre halten wir es aus.“ Eine Weile war es still. In den Rahen und längs der Reling hockten die Matrosen. Keiner sagte etwas; man wollte sich von der Unterhaltung nichts entgehen lassen. „Das Jahr scheint für Ihr Unternehmen nicht besonders günstig zu werden“, kam es nach einer Pause wieder von drüben. „Woraus schließen Sie das? – Haben Sie bestimmte Anzeichen bemerkt?“ „Die Bewegung der Wale läßt auf schlechte Eisverhältnisse schließen; Sie werden viel zu tun bekommen.“ „Das soll uns nicht abschrecken; diesmal wird die Nordwest-Passage aufgebrochen!“ „Wir wünschen viel Glück dazu.“ So ging es noch eine ganze Weile weiter. Sie tauschten Barometerstände, Temperatur- und Windbeobachtungen aus. Franklin erhielt Bescheid über die nördlichen Gewässer; man hörte, daß es unmöglich sei, in diesem Jahre den Smith-Sund, die gerade Straße zum Pol, überhaupt zu erreichen. Nördlich der Wolsten-
holme-Insel liege das Packeis wie eine unbezwingbare Mauer. Diese Nachricht wurde auch auf der „Terror“ empfangen. Kapitän Crozier und Leutnant Irving sahen sich an und hatten sich sofort verstanden. Die Meldung des Walfängers mußte Franklin endgültig von seinem abenteuerlichen Plan abbringen, durch den Smith-Sund direkt über den Nordpol segeln zu wollen. Sie wußten, daß ihn die Sage vom eisfreien Polarmeer lockte; er würde sicher jede Gelegenheit benutzen, um sich selber davon zu überzeugen. Die letzte Nachricht mußte ihm jedoch klarmachen, daß nur der LancasterSund zur Weiterfahrt in Frage kam. Bald war alles Wissenswerte ausgetauscht, der Walfänger setzte Segel und zog unter Winken und Salutschüssen aus Flinten und Pistolen nach Süden davon. Die Männer gingen wieder an ihre Arbeit. Bald sah man an Deck das gewohnte Bild von Blut und Federn. „Bei der Wolstenholme-Insel steht das Eis wie eine Mauer“, sagte Blanky zu den Männern an seinem Tisch. „Das ist gar nicht weit von hier. Wenn sich das Packeis erst einmal zu einer Barriere zusammenschiebt, hat der Schiffer ausgespielt, da hilft kein Beten und Fluchen.
Wehe dem Schiff, das sich nicht vom Eise frei manövriert, es friert hoffnungslos ein. Dann kommen die Pressungen, die sind fürchterlicher als ein Taifun auf hoher See. Es kracht, als würde der ganze Kahn wie eine Laus zerquetscht. Dann geht’s ‘rauf und ‘runter; plötzlich steht die ganze Kiste schief oder kippt womöglich um. Aber, was brauche ich euch das zu erzählen, ihr werdet es bald am eigenen Leibe erfahren, so wahr ich hier stehe.“
„Wenn aber dann im Frühjahr die Sonne wieder scheint“, fragte Ben, „dann taut doch das Eis auf und das Schiff kommt frei, ja?“ „Wenn man großes Glück hat, dann kommt man frei“, sagte Blanky, „aber meist hat man Pech. Ich sage ja, ich habe vier Jahre lang mit Kapitän Ross im Eis festgelegen. Mein lieber Ben, vier Jahre.“ „Und wenn wir nun auch…“ „Halt’s Maul! – Wir fahren mit dem Admiral Franklin, naseweiser Stockfisch, der kennt sich aus und wird so überwintern, daß wir im Frühjahr wieder frei sind – hast du mich verstanden?“ Neben dem Steuerhaus hockte John Black. Ruhig kaute er seine Tabakblätter, als ginge ihn das alles nichts an. Sein Auge ruhte unverwandt auf den Matrosen, Blanky beobachtete er besonders scharf.
„EREBUS“
Es wurde seit Wochen schon nicht mehr Nacht. Die Sonne kreiste über dem Horizont, im Süden stand sie hoch und glänzend wie überall auf der Welt, im Norden lag sie tief, und ihr Licht schien träger zu sein. Auf den Schiffen lief der Dienst gleichmäßig wie immer. Es hatte ein großes „Rein Schiff“ gege-
ben: Blut und verfilzte Federn waren mit großen Sturzseen von Deck gewaschen worden. Jetzt bauschten sich wieder die Segel, die Blöcke knarrten, und an den Planken hörte man das Rauschen der Bugwellen, ab und zu auch verräterisches Knirschen, wenn eine Scholle die Bordwand entlangglitt. Das Wetter blieb gleichmäßig. Trotzdem war es im Logis unruhiger denn je. Der kranke Wood hustete und keuchte; die anderen warfen sich in ihren Kojen hin und her, nur John Black saß vor dem Ofen und stocherte im Feuer. Heute wollte er es Blanky heimzahlen. Er wußte, daß um die Mitte der Freiwache der diensthabende Offizier durch alle Räume des Schiffes zu gehen hatte. Heute brauchte John Black keinen Schlaf. Er hatte schon manchmal darauf verzichten müssen: er kannte den Steinboden des Gefängnisses und das schwappende ölige Wasser im Kielraum! Für John Black gab es keine Freunde, er hatte noch nie zu seinesgleichen gestanden; schon als Schiffsjunge hatte er willig den Horcher für Kapitän und Unternehmer gespielt und jedes Wort hinterbracht. John Black wußte, daß man Spitzel gut bezahlt. Heute würde er Blanky zu Fall bringen; die Offiziere würden aufmerksam werden auf den einäugigen Matrosen, der
so scharf beobachtete und sich alles merkte, was er sah und hörte. Es kam jemand die Stiege herunter. John Black erkannte den Dritten Offizier, Leutnant Fairholme. Er erhob sich. „Was gibt es?“ fragte der Leutnant. „Freiwache?“ „Jawohl“, antwortete John Black. „Warum schlafen Sie nicht?“ Der Matrose zeigte mit dem Kopf zur Seite: „Da ist einer krank, Sir, in der Koje.“ „Krank?“ „Ja, er hustet sich die Seele aus dem Leib.“ Leutnant Fairholme ging durch das Logis und trat an die Koje. Wood sah ihn aus großen Augen an. „Komm heraus!“ befahl der Offizier. Der Matrose erhob sich, seine eingefallenen Wangen waren rotfleckig, und noch ehe er fest auf den Füßen stand, würgte ihn der Husten wieder wie ein Krampf. Die Männer fluchten im Schlaf. „Bring ihn ins Krankenlogis“, befahl Fairholme. John Black faßte den Kranken am Arm und führte ihn hinaus. Der Stein kam ins Rollen. Der Hilfsarzt der „Erebus“, Harry D. S. Goodsir, sah dem Matrosen in die Augen,
fühlte den Puls und ging dann, um den Schiffsarzt zu wecken. Wood lehnte sich an den Tisch; in seinen Augen lag Angst und Abwehr. John Black stand scheinbar teilnahmslos vor einem Schränkchen und betrachtete die Instrumente, während der Wachhabende sich Fragen notierte. „Seit wann sind Sie krank?“ „Ich weiß nicht, Sir.“ „Schon längere Zeit?“ „Jawohl, Sir.“ „Goddam! – Warum sind Sie nicht eher ins Lazarett gegangen?“ Jetzt war John Blacks Stichwort gefallen. Langsam trat er näher. „Sir“, sagte er eindringlich, „Wood ist schon lange krank, sehr lange. Keine Freiwache können wir durchschlafen, weil er so hustet. Aber keiner darf was sagen: Blanky, unser Logisältester, hat’s verboten.“ „Er lügt!“ rief der Kranke. Leutnant Fairholme sah von einem zum anderen. Dr. Stanley trat ein, gefolgt von seinem Gehilfen. Er sagte kein Wort, klopfte und horchte den Patienten ab, richtete sich endlich auf und fragte den Kranken: „Husten?“
„Ja, Sir.“ „Manchmal Blut?“ „Ja, Sir.“ „Zum Teufel, Mann, wie kommen Sie mit dieser Schwindsucht zur Expedition?“ Keine Antwort. „Das ist doch eine alte Geschichte, die haben Sie schon gehabt, ehe Sie anmusterten.“ „Jawohl, Sir.“ „Sie haben den untersuchenden Arzt getäuscht.“ „Ich habe Familie, Doktor. Ich brauchte das Handgeld.“ „Danach habe ich Sie nicht gefragt.“ Dr. Stanley ging mit großen Schritten im Raum auf und ab. „Das ist eine verteufelte Situation; warum sind Sie nicht eher gekommen?“ „Sie hätten mich nach Hause geschickt, Doktor.“ „Natürlich, Sie gehen hier oben vor die Hunde. - Wieso ist mir das nicht eher gemeldet worden? Der Mann kann die Krankheit vor den anderen nicht verborgen haben.“ Leutnant Fairholme sah John Black an. Auf einen Wink trat der Matrose einen Schritt näher. „Wir haben es alle gewußt, Sir, er hustet seit der Abfahrt; aber der Logisälteste hat verbo-
ten, darüber zu sprechen.“ „Wer ist das?“ „Blanky, Sir.“ „Holen Sie ihn her!“ Kaum war John Black aus der Tür, richtete sich Wood auf. „Doktor“, keuchte er, „Blanky kann nichts dafür, ich habe die Männer gebeten, den Mund zu halten, bis das Transportschiff abgefahren war. Sonst hätte man mich heimgeschickt und das Handgeld zurückverlangt, von dem sie zu Hause leben. Ich wäre in England draufgegangen, genauso wie hier. Mir kann doch keiner helfen.“ Dr. Stanley setzte sich. Statt seiner ergriff der Leutnant das Wort: „Mann“, sagte er, „das ist Wahnsinn. Du bringst hier das ganze Logis in Gefahr, hängst uns die Schwindsucht an den Hals, anstatt ins Marinehospiz zu gehen. Du bist wert, in Eisen gelegt zu werden.“ Es klopfte. Blanky trat ein, gefolgt von John Black. Er knöpfte sich noch im Gehen die Jakke zu, fuhr mit der Hand durch die widerspenstigen Haare und sah verschlafen aus. „Sie sind der Logisälteste Blanky?“ fragte der Arzt. „Jawohl, Sir.“ „Dieser Mann gehört zu Ihren Leuten?“ „Jawohl, Sir.“
„Er ist krank, und Sie melden es nicht. Sie gebieten Ihren Leuten, darüber zu schweigen. Dieser Mann ist todkrank. Wollen Sie sich gefälligst verantworten!“ Blanky sah den Arzt an, dann John Black – und wußte alles. „Ja“, sagte er, „ich muß dafür geradestehen. Wood ist ein armer Teufel. Sie werden seine Geschichte kennen, Sir. Ihn melden, hieß, ihn und seine Familie dem Hunger ausliefern. Wirklich und wahrhaftig, Sir, ich konnte es nicht, mag man mich dafür strafen.“ „Sie melden sich beim Ersten zum Rapport!“ befahl der Arzt. Der Hilfsarzt Harry D. S. Goodsir führte den Kranken hinaus. Dessen letzter Blick traf Blanky; Dankbarkeit lag darin und Sorge. Der Logisälteste grüßte und ging. Oben schlug es vier Glasen, die Wachablösung trampelte durch die Gänge. Blanky würdigte John Black, der, das Messer im Stiefel, ihm auf den Fersen folgte, keines Wortes. Diesen Matrosen sah er nicht mehr, das war ein Verräter, der nur Verwirrung stiften und Menschen gegeneinanderhetzen konnte. Er setzte die Mütze auf und rückte sie gerade. John Black lehnte grinsend neben dem Ofen. „Viel Glück beim Ersten!“ rief er. Blanky ging hinaus, ohne ihn anzusehen.
Wachoffizier Des Voeux stand mit seinen Männern vor dem Ersten Offizier, Leutnant Gore. Sie standen nebeneinander aufgereiht, Blanky und James, Robin und John Black, Ben, Treet und all die anderen. Der Blick des Offiziers ging über die Männer hin. „Einer von euch ist ins Krankenlogis eingeliefert worden“, sagte er. „Ihr habt gewußt, daß er krank ist, und geschwiegen. Ich müßte euch alle vierundzwanzig Stunden im Mars stehen lassen.“ Blanky trat vor. „Die Männer haben auf meinen Befehl geschwiegen, Sir“, sagte er. „Ich allein trage die Verantwortung.“ „Sie sind nicht gefragt!“ tobte der Offizier. „Sie sind ein alter Polarfuchs, ich weiß, aber Sie haben allem Anschein nach im Eise die Subordination verlernt.“ Vor diesem Donnerwetter schien sich selbst der Wind zu verkriechen. Wer von den Leuten der „Erebus“ nichts mit der Sache zu tun hatte, hielt sich fern. Die Männer standen starr, nur John Black konnte das Grinsen nicht unterdrücken. Auf diesen Augenblick hatte er sich schon lange gefreut. „Ich befehle“, rief der Leutnant, „die Wache des Maats Des Voeux bekommt drei Strafwa-
chen! Matrose Blanky wird seines Amtes als Logisältester enthoben. An seine Stelle tritt der Matrose Jim Clearing aus der Wache des Bootsmanns Storm. Verstanden?“ Die Männer verschwanden in gewohnter Schnelligkeit im Einstieg. Nun standen sie sich im Logis gegenüber. „Freunde“, sagte Blanky, „wir sind wirklich und wahrhaftig in ein schwieriges Fahrwasser hineingesteuert – und es ist meine Schuld. Was kann ich für euch tun?“ „Rede nicht“, rief einer, „wir haben alle gewußt, worum es ging! Wenn’s nur Wood, dem armen Teufel, was genützt hat!“ Philipp legte Blanky die Hand auf die Schulter: „Mach dir nichts draus“, sagte er. „Wenn er dich auch abgesetzt hat, für uns bleibst du doch Blanky, unser Boß!“ „Jawohl!“ riefen einige dazwischen. John Black lachte laut und dröhnend: „Was seid ihr für Waschweiber! Wollt dem Großmaul wohl noch schöntun, wo sie ihn endlich mal geduckt haben. Drei Strafwachen verdanken wir ihm.“ „Teufel noch eins, John Black hat recht!“ krächzte Treet und bleckte seine gelben Zähne. Nun war das Logis in zwei Parteien geschieden. John Black, James und Treet auf der ei-
nen, Blanky mit dem Rest der Wache auf der anderen Seite. „Ich bin ja nicht mehr der Älteste“, sagte Blanky, „ich bin nun Logisgast wie jeder andere.“ „Bist wohl noch stolz, he?“ Black schielte nach seinem Messer. „Halt’s Maul!“ brüllte Blanky. „Wißt ihr, wem wir die drei Strafwachen zu verdanken haben? – Diesem hier, John Black. Er hat im Lazarett alles verpfiffen!“ Und ehe es einer erwarten konnte, schlug er seinem Gegenüber die Faust mit solcher Gewalt ins Gesicht, daß der andere mit einem dumpfen Ächzen hintenüber sank. Im gleichen Augenblick stürzten sich Blankys Freunde auf die anderen Gegner, und das Logis war im Nu ein wildes Durcheinander sich wälzender und prügelnder Matrosen. Der Tisch krachte; die Blechkanne, die halbgefüllt auf dem Ofen stand, flog in den Raum. Der schrille Ton einer Schiffspfeife brachte die Männer zur Besinnung. Im Eingang stand Maat Des Voeux neben Jim Clearing, dem neuen Logisältesten. „Männer“, sagte der Maat, „sind wir dem Ersten nicht übel genug hochgekommen, sind drei Strafwachen noch nicht genug?“ „Der Hund!“ brüllte es in der Ecke. Dort
lehnte, noch ein wenig benommen, John Black. In der Faust, mit der er sich das Blut von der Wange wischte, hielt er das Messer. Sein gesundes Auge suchte Blanky. Im Getümmel hatte er das Pflaster verloren, sein Anblick war furchterregend. „John Black!“ rief ihm Philipp zu. „Wenn du jetzt nicht Ruhe gibst, gehst du über Bord!“ „Alle Mann an Deck!“ Der Offizier stand, rot im Gesicht, in der Tür, als die Männer an ihm vorbeistürzten. Die Respektlosigkeit dieses Logis würde er brechen. „Enter auf!“ Die Matrosen griffen in die Wanten des Fockmastes und kletterten, so schnell sie vermochten, hinauf. „Auf Marsrahe!“ Sie stießen und drängten sich, kletterten an der Rahe bis zu den Spitzen und standen still. „Auf Bramrahe!“ Ein neues Kommando, die Männer kletterten wieder an die Stange heran, enterten auf zur Bramrahe, drängten sich, standen. Von oben fiel etwas herab, stieß gegen Pardunen und Brassen, überschlug sich und fiel dem Maat vor die Füße. Ein Messer. Des Voeux hob es auf und warf es ins Meer. Auf die Männer mußte er achthaben. Der Haß war so stark, daß sie sich schon beim Aufentern
bekämpften. Aber in den Wanten braucht man Hände und Füße, da ist nicht gut stechen.
LONDON
Der junge Mann hatte lässig seine Karte abgegeben, und der Diener war mit dem silbernen Tablett hinausgegangen. Jetzt stand der Gast im Besuchszimmer und musterte die Einrichtung. Man sah, daß hier ein Seemann wohnte. Eine Seejungfrau, wahrscheinlich Bugfigur eines abgewrackten Seglers, dehnte in einer Ecke ihre schuppigen Glieder, ein verräucherter Globus stand mitten auf dem Tisch, ringsum auf Schränkchen und Konsolen lagen Flaschen mit kunstvollen Segelschiffen, Schildkrötenschalen, Stoßzähne von Sägefischen, und unter der Decke hing das Modell einer Brigg. Vor dem großen Kamin mochte manches Seemannsgarn gesponnen worden sein. Aber der Besucher war nicht gekommen, um zu plaudern oder Geschichten zu lauschen. Er hatte Zahlen im Kopf, Zahlen, wie sie auf dem Sextanten standen, den er jetzt zur Hand nahm. Merkwürdiges Gerät. Er bewegte die Messingteile, warf auch einen Blick durch das kleine Fernrohr. Damit mußte man sich also auf See abplagen, wenn der Kurs errechnet wurde.
Was geschah aber, wenn die Sonne nicht durch die Wolken drang? Dann trieb man, der Teufel weiß wo, umher, trotz Sextanten und Logleine. Ein unruhiges Leben auf See! Da wohnte man in London bequemer – und konnte sogar noch Kapital aus der Seefahrt schlagen… In der Tür stand der Diener. „Mister Phelps? – Sir Ross läßt bitten.“ Der Besucher setzte den Sextanten auf seinen Platz, nahm seine zierliche Ledermappe und betrat das Arbeitszimmer des alten Kapitäns. „Mister Phelps“, hörte er den Diener sagen. Er verneigte sich kurz und grüßte. Der Seemann hatte klare Augen, sie schienen den Besucher zu durchdringen, wie sie Nebel und Nacht durchdrungen hatten. So also sehen die Praktiker aus, denen man die Börsengewinne verdankt, zuckte es Phelps durch den Kopf; aber schon hatte er sich gefaßt. Er setzte sich, öffnete die Mappe und begann: „Sir Ross, ich komme im Auftrage der ,Trans-Passage-Company’, einer Gesellschaft zur Nutzbarmachung der Nordwest-Passage für den Handel nach China. Ich habe Ihnen ein Angebot zu machen.“ Ross setzte sich, legte die Hände aufs Knie und sagte: „So!“ – Es klang wie die Einleitung zu einer
großen Rede, als hätte jemand im Schleusentor das Schütz geöffnet, so daß nun das Wasser brausend hervorschießen und man den Atem vor dem Schwall anhalten mußte, so wie es Phelps jetzt tat; aber es folgte nur eine kleine, fast behutsame Frage: „Junger Mann, waren Sie schon einmal an der Nordwest-Passage?“ Phelps blickte verwundert. Welch merkwürdige Frage. „Nein“, sagte er, „wie sollte ich…“ „So“, sagte der alte Kapitän wieder, „Sie also nicht. – Wer von Ihren Kompagnons hat die Durchfahrt denn gesehen?“ „Niemand, kein einziger.“ „Und Sie haben bisher keine Fachleute zu Rate gezogen?“ „Drum eben bin ich hier, Sir Ross, ich möchte…“ „Sie haben demnach, ohne vorher Fachleute zu fragen, eine Gesellschaft zur Nutzbarmachung der Nordwest-Passage für den Handel gegründet?“ Es war einen Augenblick still im Raum. Zu ärgerlich, diese Frage. Daß die Praktiker sich auch so wenig in Geldangelegenheiten hineindenken konnten. „Würden Sie auch eine Gesellschaft zur Ausbeutung von Diamantenfeldern auf einer un-
bekannten Insel gründen?“ Mister Phelps würde, wenn sich daraus Kapital schlagen ließe, sogar eine Mondgesellschaft gegründet haben; aber das durfte er diesem Kapitän nicht sagen. „Sir Ross“, erwiderte er, „der von Ihnen angeführte Vergleich ist nicht zutreffend. In der Nordwest-Passage operiert Sir John Franklin, ein Fachmann vom Scheitel bis zur Sohle, die Erfolge werden nicht auf sich warten lassen.“ „Sir Franklin besteht einen Kampf auf Leben und Tod“, sagte John Ross, „Sie kennen die Passage nicht und gründen eine Gesellschaft. Ich kenne sie und gründe keine. Ist das nicht sehr merkwürdig?“ „Sie sind kein Finanzmann, Sir Ross“, sagte der junge Mann lächelnd. „Das Vertrauen zu Sir Franklin gibt der Handelswelt die Sicherheit, an großen Plänen zu arbeiten. Eines Tages werden Handelsschiffe über die Arktis nach China fahren. Der englische Geist wird diese unglaubliche Tat vollbringen. Sir Franklin legt den Grundstein, er bricht die Straße auf, andere werden ihm folgen und sie nutzbar machen. Die ,Trans-Passage-Company’ bildet dafür das wirtschaftliche Rückgrat.“
„Wenn Ihre Begeisterung dem Glauben an die Sache entspringt, kann ich Ihnen meine Anerkennung nicht versagen“, entgegnete Sir Ross. „Ich fühle mich aber verpflichtet, von vornherein Ihren Glauben zu erschüttern. Ich kenne die Arktis, junger Mann, die Seefahrt ist ein Hasardspiel dort oben. Wir kennen noch nicht die Gesetze, von denen Eisdrift und Temperatur abhängen. Es gibt milde Perioden, die eine Seefahrt für mehrere Sommer gestatten. Leider aber wechseln sie mit kalten Zeiten ab, die durch schlechte Eisverhältnisse, Stürme
und Strömungen jede Reisetätigkeit für Jahre verhindern. Die augenblicklichen Nachrichten sind wieder einmal beängstigend. Sir Franklin hat für einige Jahre Proviant. In dieser Zeit ist ein Schiff längst nach China hin und Wieder zurück gesegelt mit weniger Risiko und geringeren Kosten. Ihre Träume sind leider noch eine Utopie, junger Mann.“ Phelps hatte sich seine Mission leichter vorgestellt. Das, was ihm Ross hier erzählte, wußte er seit langem. Darauf kam es ihm auch gar nicht an. Sir Ross sollte ihm helfen, sollte seine Gesellschaft unterstützen. Er sollte hoffnungsfrohe Worte sprechen und ebensolche Zeilen schreiben; so etwas wirkte sich auf den Stand der Aktien aus. „Es ist ein Wettlauf“, sagte er nach einer Weile, „dort im Norden wie hier. Wer früher startet, wer den längeren Atem hat, wird siegen. Auch wir haben hier als erste eine Sache begonnen; es werden Konkurrenten kommen, die sich am Wettlauf beteiligen wollen. Wir werden dann den längeren Atem haben.“ „So“, sagte Ross wieder. „Und wozu brauchen Sie mich? Was für ein Angebot wollen Sie mir machen?“ Die Frage klang fast unwillig. „Sie sollen uns helfen“, erwiderte Phelps, froh, daß er nun endlich zum Kern der Sache
kommen konnte. „Sie sind der britischen Öffentlichkeit ein Begriff. Jedes Wort, jeder Satz aus Ihrer Feder wird unserer Gesellschaft nützen.“ „Ich verstehe“, sagte Sir Ross mit unheimlicher Ruhe. „Ich soll wider besseres Wissen Ihre Transaktionen unterstützen. Ich soll lügen!“ Phelps zog rasch einen Block aus der Mappe. „Ich habe hier einen Blankoscheck, Sir. Befehlen Sie, welche Summe ich einsetzen soll.“ Er sah den Kapitän lächelnd an. Der Seemann sprang auf. „Herr!“ schrie er hochroten Gesichts. „Dort oben stehen über hundert Menschen in Nacht und Eis. Ich bin einer der wenigen Männer in der englischen Öffentlichkeit, die die Lage der Polarfahrer genau kennen, und ich soll mich zu Geschäften mit ihrem Leben mißbrauchen lassen?“ „Sir Ross“, sagte Phelps. Er war sehr bleich geworden. „Sie meinen wohl, ich durchschaue nicht Ihre schmutzigen Börsengeschäfte!“ tobte der Kapitän. „Ich bin kein Jobber, verstehen Sie, mein Herr?“ Er stand vor dem Tisch und zitterte am ganzen Leibe. Leise öffnete der Diener die Tür. „Haben Sie gerufen, Sir?“ John Ross erwachte wie aus einem Krampf.
„Mister Phelps wünscht zu gehen“, sagte er eisig, kehrte seinem Gast ohne ein Wort den Rücken und ging hinaus. Der junge Mann schob kleinlaut den Scheck in seine Mappe. Er hatte zum ersten Male die Grenze der Macht des Geldes kennengelernt.
„EREBUS“
Die Schiffe bahnten sich mit gutem Wind den Weg durch das gefürchtete Eis der MelvilleBai. Die „Terror“ folgte der „Erebus“ mit einigen Kabellängen Abstand. Karl Bauer stand am Ruder des Flaggschiffs, ruhig wie immer. Seine Zuverlässigkeit war bereits dem Kapitän bekannt. Sergeant, der Erste Steuermann, hatte soeben die Lage des Schiffes bestimmt. Er zeichnete den Standort in die Seekarte ein und sah jetzt nach vorn, wo ein größeres Schollenfeld aufgetaucht war. Karl Bauer brachte das Schiff geschickt daran vorbei. „Meisterhaft“, sagte der Steuermann. „Ich muß es Ihnen verraten, Bauer: der Erste hat Sie als Bootsmann vorgeschlagen.“ „Wozu?“ fragte der Matrose. „Ich bin mit meiner Aufgabe zufrieden.“ „Sie haben eine Karriere vor sich. Es geht nicht an, daß ein Mann mit dem Lotsenexamen als einfacher Matrose fährt.“
„Ich fahre, um zu vergessen.“ Sergeant trat neben ihn, warf einen Blick auf den Kompaß und sah Bauer ins Gesicht. „Sie dürfen nicht so einsam bleiben, hören Sie? Ich halte Ihre Flucht aus der Heimat für eine Torheit. Sie dürfen mir das nicht übelnehmen. Ich kenne Sie als einen Mann von Charakter. Ihre Zuverlässigkeit ist bekannt. Ich meine, Sie könnten auch eine Enttäuschung überwinden.“ Karl Bauer wandte den Blick nicht vom Kurs. „Haben Sie schon einmal richtig geliebt“, fragte er, „mit allen Fasern Ihres Seins? Haben Sie alles aufgegeben um einer Frau willen? Haben Sie deren Gedanken zu Ihren eigenen, deren Worte zu Offenbarungen und deren Wünsche zu Befehlen gemacht? Haben Sie schon einmal jede Ihrer Handlungen in den Dienst dieser Frau gestellt, so daß Sie selbst nur noch ein Halbes waren?“ „Kann man das überhaupt?“ fragte Sergeant und zog die Stirn in Falten. Er hatte das Leben niemals ernst genommen. Nun ja, man liebt, man erlebt Enttäuschungen, man überwindet sie. Aber so etwas… nein, das kannte Sergeant nicht. „Ich habe es gekonnt“, sagte Karl Bauer, und sein Ton bewies, daß es keine Lüge war. „Ich hätte auf alles, selbst auf mein Leben verzich-
tet, um dieser Frau willen. Aber sie – ach – es ist zwecklos.“ „Können wir nicht Freunde sein, Bauer?“ fragte der Steuermann. „Sprechen Sie nur. Es ist nicht Neugier, die mich treibt, in Sie zu dringen, es ist Teilnahme an Ihrem Schicksal.“ Jetzt wandte Karl den Blick vom Wasser, er sah in ehrliche, offene Augen: Ein Freund! Wie gut, in dieser Lage einen Freund zu haben! Er griff in seine Bluse und holte einen Brief heraus. Der zerfranste Rand bewies, daß er übermäßig rasch geöffnet worden war. „Da“, sagte er, „lesen Sie. Sie sind der erste Mensch, dem ich einen meiner Briefe gebe.“ Sergeant zog das blaßblaue Papier aus dem Umschlag, lehnte sich gegen das Seitenfenster und begann, mühselig die deutsche Schrift entziffernd, zu lesen: Bremen, den 12. Sept. 1844 Mein lieber Karl! Könntest Du mich sehen, Du würdest mich kaum wiedererkennen. All die durchwachten Nächte, der Gram, die Tränen haben mich müde und blaß gemacht, und noch ist kein Ende abzusehen. Der Vater drängt auf Heirat, ich soll dem Sohn des Bremer Ratsherrn Droege angetraut werden. Es soll rasch gehen, die Väter haben sich schon besprochen. Wie mir unser alter Diener erzählte, ist Wert und
Gegenwert genau ausgewogen, verglichen und unter Feilschen festgesetzt worden. Es war so ganz anders, als ich es mir erträumt hatte. Gestern hat er uns besucht. Ein feiner junger Mann mit untadeligen Manieren, aber nicht mit Dir zu vergleichen. Seine Komplimente und Höflichkeiten waren leer und abgeschmackt. Hätte ich ihn Dein letzter Brief, Else hat ihn mir in der Kirche zugesteckt, ist so wild und unheimlich, daß ich mir keinen Keim darauf machen kann. Begreife doch, in welchem Zwiespalt ich lebe: Werde ich nicht von der Kindespflicht und der Liebe zu Dir wie von zwei Mühlsteinen gequetscht und gemahlen, daß mir das Herz bricht vor Gram? O hilf mir doch mit Deinem Rat; aber sei um des Himmels willen vorsichtig. Es grüßt Dich Deine Maria Sergeant sah auf. Er hatte nicht jedes Wort entziffern können; aber den Sinn, die Leidenschaft des Briefes genau erfaßt. Er sah das Mädchen greifbar vor sich. Ein herrliches Wesen mußte es sein. „Und diese Frau haben Sie verlassen?“ fragte er. Es war wie eine Anklage. Karl Bauer starrte ihm ins Gesicht. „Schiff in Sicht!“ wurde draußen gerufen.
Der Rudergast fuhr herum, als hätte er zu Unrecht den Kopf gewandt. Der Steuermann legte den Brief auf den Kompaß und eilte hinaus. Im Norden lief ein Segelschiff, wieder ein Walfänger, auf entgegengesetztem Kurs. Er war zu weit entfernt, um mit ihm Nachrichten auszutauschen. Zur gleichen Zeit ließ sich der Schiffsarzt Dr. Stanley beim Admiral melden. „Sir, wir haben einen schwindsüchtigen Menschen an Bord; lange wird er nicht mehr durchhalten können. Ist es möglich, den Mann dem fremden Segler zu übergeben?“ „Wie weit ist das Schiff ab?“ „Etwa acht Seemeilen, Sir.“ „Dann geht es nicht“, sagte Franklin. „Wegen eines kranken Matrosen können wir die Fahrt nicht so lange unterbrechen.“ „Er wird sterben, Sir.“ „Dann stirbt er drüben so gut wie hier. Wer weiß, wie lange wir noch offenes Eis vorfinden! Mitunter entscheiden Stunden in der arktischen Seefahrt.“ Damit war das Schicksal des Matrosen Wood entschieden. Kapitän Danner vom Walfänger „Prinz von Wales“ vermerkte in seinem Logbuch: 26. 1. 1845. ~ 1 Uhr 30 Minuten AtlanticTime, 5 Uhr 30 Minuten Greenwich-Time,
begegneten unter 14 Grad 42 Minuten nördlicher Breite, 12 Grad 40 Minuten westlicher Länge den Expeditionsschiffen „Erebus“ und „Terror“ unter Admiral Sir John Franklin. Die Schiffe hatten Kurs auf den Lancaster-Sund. Auch von der „Terror“ aus sah man dem fremden Schiff nach. Sicher würde es vor der Bering-Straße die letzte Begegnung sein; denn es war nicht anzunehmen, daß auch im Lancaster-Sund noch Walfänger kreuzten. Kapitän Crozier stand mit seinem Ersten Offizier, Leutnant Back, auf der Brücke. „Nun beginnt die Fahrt ohne Zeugen“, sagte er. „Wenn der dort zu Hause ankommt, wird er berichten, daß man uns am sechsundzwanzigsten Juli noch einmal in der Davis-Straße gesehen hat mit dem Kurs auf den LancasterSund. Aus! – Und dann werden sie warten, warten! Es gibt nichts Scheußlicheres als warten müssen.“ „Der Admiral will, daß sie warten“, erwiderte Sir Back. Dann war es wieder still. Beide Männer wußten, was vorgefallen war. Crozier hatte heimlich Standortmeldungen abgeben wollen, und Leutnant Hodgson war zum Verräter geworden. Sein Verrat hatte eigentlich weder dem Kapitän geschadet noch ihm selbst etwas genützt, da der Admiral Denunzianten nicht zu belohnen pflegte.
„Sir“, sagte Back nach einer Weile, „wenn wir in Greenwich wären, würde Leutnant Hodgson seinen Abschied nehmen müssen.“ „Wieso?“ „Er ist zum Einzelgänger geworden. Sein Verrat lastet auf allen Offizieren des Schiffes. Man hält sich von ihm fern. Er steht vor einer Wand aus Eis.“ „Das ist nicht gut“, erwiderte Crozier. „Ich will, daß mein Schiff eine Einheit bildet. Wohin soll es führen, wenn wir zwei Parteien an Bord haben?“ „Wir können nicht mit einem Mann zusammenarbeiten, der bewiesen hat, daß er gegen den Kapitän steht. Ich soll Ihnen das im Auftrage der Offiziere sagen, Sir.“ „Wenn ich mit ihm zusammenarbeite, den die ganze Sache in erster Linie angeht, kann ich das auch von den Offizieren verlangen“, sagte Crozier. „Gewiß!“ Sir Back stützte sich mit beiden Händen auf das Geländer und sah ins Weite. „Sie können uns das befehlen, Sir, aber die Sympathien und die Gedanken der Offiziere gehen eigene Wege. Wir hassen Hodgson!“ „Eines Tages wird der Leutnant wissen, was er angerichtet hat. Diese Erkenntnis wird seine Strafe sein.“ „Und die Einsamkeit“, warf Back ein. „Die
Arktis ist ein schlimmes Land, schlimm schon unter Gefährten, die einander treugesinnt zur Seite stehen; furchtbar muß sie dem Einsamen sein.“ „Leutnant Back“ – Crozier stand dicht vor ihm –, „wenn ich Sie bitte, ihn nicht einsam werden zu lassen, würden Sie meine Bitte erfüllen und in diesem Sinne auch auf die übrigen Offiziere einwirken?“ „Ich weiß nicht, ob ich das kann, Sir.“ „Oh, man kann viel, sehr viel. Man kann sogar wider besseres Wissen die Stimme der Vernunft schweigen lassen. Ich habe vor Sir Franklin auch schweigen müssen, habe ,zu Befehl’ gesagt und gewußt, daß es gegen die Vernunft war.“ „Sie hätten den Admiral von Ihren Gründen überzeugen müssen, so wie Sie uns überzeugt haben.“ Crozier schüttelte den Kopf. „Ich hatte nur zu wählen zwischen der Ausführung des Befehls oder der Abgabe des Kommandos“, sagte er. „Ich fragte Sie, Leutnant Back, was hätte es genützt, das Kommando abzugeben? Nichts. Mein Nachfolger hätte bei der Übernahme seiner Funktion sofort den Befehl des Admirals ausgeführt. Ich hätte tatenlos allem Kommenden entgegensehen müssen. Und ich will nicht mit gebundenen Hän-
den durchs Eis gehen. Vergessen Sie nicht, daß ich nach dem Admiral der dienstälteste Offizier bin. Das bedeutet Verantwortung, das heißt, dem Admiral ständig den Rücken zu decken. Ich schweige jetzt, ich führe jetzt widerspruchslos jeden Befehl aus; aber alle Offiziere kennen meinen persönlichen Standpunkt. Geht alles gut, so will ich in der Bering-Straße vor Sir John Franklin hintreten, den Hut ziehen und sagen: ,Sir, Sie haben gesiegt, Sie waren stärker, als ich hoffen durfte; meine Hochachtung.’ Ich wünschte, daß es so kommt, Leutnant, ich wünschte es, so wahr ich hier stehe. Wenn aber etwas dazwischentritt, was der Himmel verhüten möge, wenn es zu einer Katastrophe kommt, so werde ich ihm anders gegenübertreten, dann werde ich Kläger sein, und dann werde ich ihn zwingen, alles zur Rettung der Expedition zu tun. Dann habe ich ein Recht darauf, Leutnant Back. Bis zu einem dieser beiden Augenblicke werde ich schweigen. Und alle anderen, die meine persönliche Meinung kennen, bitte ich, ebenso zu schweigen, sich aber bereitzuhalten, damit sie nicht erschreckt und überrascht sind, wenn die Stunde Taten, übermenschliche Taten von ihnen fordert.“ Neben dem Fockmast lehnte Leutnant Hodgson und spähte zur Brücke hinüber. Er wartete
nun schon seit geraumer Zeit darauf, daß Back weggehen möge; aber der Erste führte ein erregtes Gespräch mit dem Kapitän, und Hodgson wollte keine Zeugen haben. Er wollte Crozier bitten, dem Admiral seine Versetzung auf die „Erebus“ anzutragen. Was sollte er noch hier? Er hatte auf der „Terror“ ausgespielt; die Offiziere schnitten ihn; neuerdings zeigte auch die Mannschaft gegen ihn bewußte Gleichgültigkeit. Einer der Maate mußte geplaudert haben. Wenn aber erst die Mannschaft Gründe hat, gegen einen Offizier zu stehen, wird dessen Leben zur Hölle. Leutnant Hodgson war ehrgeizig; er hatte sich beim Admiral hervortun wollen – nichts hatte er erreicht. Man hielt ihn an Bord für einen Zuträger Sir John Franklins. Schon eine harmlose Frage – „Können Sie mir Ihren Streichriemen leihen?“ – wurde ausweichend oder gar ablehnend beantwortet. Die kleinen Gefälligkeiten, die nichtssagenden Kleinigkeiten des täglichen Gesprächs, die das Leben in einer Gemeinschaft ausmachen, waren ihm plötzlich versagt; er wurde zwar höflich, aber kühl behandelt. Die Mahlzeiten in der Offiziersmesse waren eine Qual. Leutnant Hodgson saß wie immer zur Linken des Kapitäns; aber nur dieser richtete von Zeit zu Zeit das Wort an ihn, sonst niemand. Das mußte ein
Ende nehmen, und Hodgson spähte schon seit Tagen nach einer Gelegenheit, den Kapitän zu sprechen. Aber heute wurde wieder nichts daraus. Ein Matrose trat aus dem Steuerhaus und meldete: „Das Barometer fällt sehr rasch, Sir; es sieht nach Sturm aus.“ „Ich komme!“ sagte Crozier und kehrte der Brücke den Rücken.
LANCASTER-SUND
Seit Tagen kämpften sich die Schiffe nach Westen vorwärts. Wenige Stunden hatten genügt, das scheinbar so lockere Eis zu riesigen Feldern zusammenzuschließen. Soweit das Auge schauen konnte, türmten sich die Schollen, vom Sturm in immerwährender Bewegung gehalten, übereinander. Es knirschte an den Schiffswänden, es krachte, wenn eine besonders schwere Pressung einsetzte, als wäre die Hölle los, und dann schoben sich die Schollen neben den Schiffen hoch, bis sie mit dem Deck auf gleicher Höhe standen, die Reling wurde eingedrückt, größere und kleinere Eisstücke rutschten über die Planken, Wasser spritzte, und alle Taue und Blöcke waren bald mit spiegelblankem Eis überzogen. Die Wolken jagten am Himmel daher, die spärliche Leinwand
knatterte, die Rahen bogen sich, es war eine unheimliche Mühle aus Wasser, Eis und Sturm. Die Arktis entbot den Seefahrern ihren Willkomm. Die Männer kamen tagelang nicht aus den Kleidern. Freiwache gab es kaum noch, und wenn, dann raubten die neuen, ungewohnten Geräusche den Schlaf. Bei jeder Pressung sprangen die Männer auf und eilten an Deck. Nur die alten Polarfahrer behielten ihre Ruhe; Blanky zeigte sogar hin und wieder ein Lächeln, als freue ihn die ängstliche Hast der anderen. Er war schlimmere Dinge gewohnt. Aber der Lancaster-Sund konnte es noch besser. Es war während der dritten Wache, als eine unerwartet heftige Pressung einsetzte. Die „Erebus“ wurde gehoben, neigte sich zur Seite, und alle hatten das Gefühl, als säßen sie auf dem Trockenen. Die Bootspfeifen schrillten: „Alle Mann an Deck!“ Schlaftrunken taumelten die Männer aus den Kojen. Andere, die während des Krachens und Knirschens vor Schreck erstarrt waren, wurden wieder lebendig. Die Besatzung eilte hinauf. Es sah böse aus. Die „Erebus“ saß eingeklemmt zwischen zwei ungeheuren Schollenbergen, die sich gegeneinander bewegt hatten. Der Druck schien unter der Wasserlinie am heftigsten gewesen zu sein, so daß das Schiff
hochgehoben worden war. Tief unter dem Heck sah man das Wasser, der Kiel schien in der Luft zu hängen. Dabei prasselten von der Steuerbordseite fortwährend große und kleine Eisbrocken auf das Schiff und rutschten über das schräge Deck, so daß die Männer, die aus den Luken nach oben drängten, ein regelrechtes Bombardement über sich ergehen lassen mußten. An der Backbordreling stauten sich die Geschosse; ihre Last bildete eine neue Gefahr. Sie drückten das Schiff langsam tiefer. „Alle Mann an Steuerbord!“ Die Männer sprangen unter die Eiswand, von der Brücke kommandierte der Admiral. Es war also Ernst: man schlug die erste Schlacht. „Alle Mann an Backbord!“ Es knirschte an den Bordwänden, die Gewichtsverlagerung sollte das Schiff in schaukelnde Bewegung versetzen. Irgendwo ging mit dumpfem Knall ein Bullauge in Splitter. „Alle Mann an Steuerbord!“ Die „Erebus“ veränderte ihre Lage und rutschte einige Fuß tiefer. Die Eiswand wuchs beängstigend über die Männer hinaus. Wie zum Hohn zeigte sich achteraus freies Wasser, in das jetzt, von Eis bedeckt, die „Terror“ hineinmanövrierte. Der Admiral übersah die gefährliche Lage. Die geringste seitliche Verschiebung der Eis-
massen mußte wahre Zentnerlasten auf das Deck herabstürzen lassen. Das konnte für Schiff und Mannschaft sehr gefährlich werden. Das Schiff mußte Fahrt bekommen, am besten nach achtern. Er befahl, ruhig wie immer, die letzte Leinwand wegzunehmen. Alles, was Arme und Beine regen konnte, mußte mit Bootsriemen und Staken gegen die übereinanderliegenden Schollen drücken.
Ruckweise, Fuß um Fuß bewegte sich das Schiff. Dabei tobte der Sturm, die See kochte, und das Eis regte sich wie ein lebendes Wesen. Da setzte wieder der Druck des Eises ein. Der
Admiral sah, wie sich die Schollen hoben. In seinen Schrei mischte sich bereits das Krachen des stürzenden Eises. Die Männer liefen um ihr Leben. Das Vorschiff bebte unter einem Eishagel, das Schiff ächzte – doch im gleichen Augenblick spürte Franklin, daß die „Erebus“ wieder im Wasser lag. Nun schnell das Eis von Deck! Er ließ die Matrosen von einer Seite auf die andere laufen, das Schiff begann sich zu wiegen, ganz leise erst, dann immer stärker, gewaltiger, und das Eis ging Brocken auf Brocken über Bord. Mit Ruderstangen wurde nachgeholfen. Das Eis auf der See war wieder in eine brodelnde, auf- und niederwogende Masse verwandelt. Die „Terror“ lag dicht achteraus. Da gab es am Vorschiff, wo die dicksten Schollen lagen, einen Auflauf. Franklin konnte von der Brücke aus nicht erkennen, was eigentlich vorgefallen war. Hatte ein Matrose Schaden genommen? Sie rückten dort behutsam an den Schollen, drängten sich in dichten Haufen. – Der Admiral schickte Jones, den Zweiten Steuermann, nach vorn um Aufklärung. Inzwischen ging das Schiff wieder auf Kurs; am Großmast waren Sturmsegel gesetzt worden. Jones kam zurück, er war bleich.
„Ein Unglück, Sir!“ rief er hinauf. „Leutnant Fairholme und zwei Matrosen sind vom Preßeis erdrückt worden.“ Franklin zog die Brauen zusammen, er fühlte, daß es ihn im Halse würgte; aber es war Zorn, Zorn auf den Gegner, der Menschen forderte, kaum daß man ihm begegnet war. „Boreas“, knirschte er, „Eiswüste!“ Er war versucht, mit der Faust hinaufzudrohen; aber dann fiel ihm ein, daß man ihn sehen konnte. Er ging hinunter und klopfte an die Tür des Geistlichen. „Mister Smith“, sagte er bitter, „Sie bekommen zu tun; oben liegen drei Tote, Leutnant Fairholme ist dabei.“ Dann wandte er sich ab, ohne auf Reverend Smiths erschrecktes Gesicht zu achten. Sie hüllten die Toten in eine Segelplane und legten sie hinter dem Steuerhaus nieder. Keiner sagte ein Wort; die Beklemmung war allgemein. Ben, der gesehen hatte, wie sie heraufgebracht wurden, war es übel geworden. Er trat an die Reling und weinte. Blanky, der ihn beobachtet hatte, trat zu ihm, zog ihn an der Schulter herum und sagte mit ernster Miene: „So, Ben, jetzt hast du Gelegenheit fest zu werden. Wir beide wollen nachher dem Doktor helfen, wenn er die Männer untersucht. Du wirst ihren Tascheninhalt an dich nehmen und
dem Kapitän bringen, verstanden?“ „Nein, bitte, Sir“, heulte der Junge. „Halt’s Maul!“ Der Matrose gab sich, so barsch er konnte. „Jeder muß mal sterben“, polterte er. „Das sind hier oben noch nicht die letzten. Damit du nicht jedesmal wieder das große Heulen kriegst, wirst du dir heute die drei so gut ansehen, daß du dich daran gewöhnst, verstanden?“ „Nein, ich kann nicht…“ Jetzt wurde Blanky böse. „Widersprechen gibt’s bei mir nicht“, schimpfte er, „das solltest du langsam wissen; und wenn du nicht willst, ich finde auch für dich ein Ende Tau, um dich gefügig zu machen! – Komm jetzt!“ Der Schiffsjunge folgte, ohne zu zögern. Den Männern blieb zum Nachdenken nicht viel Zeit. Die Schiffe manövrierten so, daß sie möglichst dicht beieinander blieben während der Fahrt durch das gefürchtete Eis des Lancaster-Sundes. Bald waren die Schollen locker im Wasser verteilt, bald schoben sie sich zu großen Feldern und zerklüfteten Massen zusammen, hin und wieder aber stauten sie sich um tückische Eisberge, die sich von den arktischen Gletschern gelöst hatten. Die Eispressungen sorgten für ständige Anspannung. Fast immer führte der Admiral das Kommando. Der fürchterliche Sturm er-
schwerte das Leben; es war wie im arktischen Winter, nur daß es nach wie vor nicht dunkelte, wenn sich auch die Sonne hinter den Wolken verbarg. Der Wind sang hier ein anderes Lied, wenn er durch die Takelung strich, als man es von den südlichen Gewässern her kannte. Hier oben war es wie das Brüllen eines Ungeheuers, das seiner Beute sicher ist. Was hätte es hier geholfen, im Falle eines Schiffbruchs in die Boote zu steigen? Hier gab es nur ein EntwederOder. Darin hatte der Admiral zweifellos recht. Das Eis verdarb ihm schon zu Beginn der Fahrt die Rechnung. Es war unmöglich, sich so weit südlich zu halten, daß man, wie vorgesehen, bei der Leopold-Insel überwintern konnte. Die Männer wurden wider ihren Willen dicht unter der Küste des nördlich liegenden Landes und seiner vorgelagerten Inseln gehalten. Hier war eine einigermaßen schiffbare Rinne geblieben; im Süden türmten sich Schollen und Eisberge zu phantastischen, unbezwinglichen Gebilden. Am 29. September 1845 sichtete der Ausguck der „Erebus“ unter 74 Grad, 43 Minuten und 28 Sekunden nördlicher Breite und 91 Grad, 39 Minuten und 15 Sekunden westlicher Länge die Beechey-Insel.
BEECHEY-INSEL
Die Schiffe lagen unweit voneinander in einer Bucht. Noch war das Wasser bis zum Ufer nicht zugefroren; die Boote gelangten leicht zwischen den Schollen zur Insel und wieder zurück. Das Eiland sah aus wie alle anderen hier oben. Nackter brauner Fels reckte sich aus dem Wasser, Uferklippen wechselten mit steinigem oder kiesigem Strand, oben aber dehnten sich Hügelreihen, auf denen der kurze arktische Sommer eine verhältnismäßig üppige Vegetation hervorgebracht hatte. Hier bauten die Männer Steinhütten, legten Stapelplätze an und stellten die astronomischen und meteorologischen Geräte auf; denn der Winter sollte nicht verschlafen werden; man wollte ihn für die wissenschaftliche Arbeit der Expedition nutzen. Der Admiral war noch nicht von Bord gegangen. Meist saß er über Karten und nautische Tabellen gebeugt und rechnete. Kam er zuweilen an Deck, so erkundigte er sich eingehend nach allen Wintervorbereitungen, nach der Verfassung der Leute und den Jagdaussichten an Land. Kapitän Fitzjames, der keinen Augenblick verstreichen ließ, dem Admiral seine Erfahrung und seinen Eifer zu beweisen, war sein ständiger Begleiter.
„Sehen Sie, Kapitän“, scherzte Franklin, als sie über das Wasser nach der Insel blickten „so wird man unsterblich. Man reist in ferne Länder, entdeckt Meeresstraßen, Inseln und Kaps und gibt ihnen Namen. Namen von Freunden, Gönnern und Vorgesetzten und macht sie unsterblich. So, wie wir hier an der BeecheyInsel liegen, werden andere eines Tages eine Fitzjames-Insel anlaufen.“ „So trifft man in der Wildnis schließlich lauter Bekannte“, entgegnete der Kapitän lächelnd. Sir Franklin stützte sich mit beiden Händen auf die Reling. „Frederick William Beechey ist tatsächlich ein guter alter Bekannter von mir. Achtzehnhundertachtzehn bin ich mit ihm nach Spitzbergen gegangen, achtzehnhundertneunzehn war er als Leutnant mit Parry hier oben. Achtzehnhundertfünfundzwanzig war er Kapitän eines Proviantschiffes, das meine damalige Expedition unterstützen sollte. Er ist ein alter Polarfuchs, wie wir zu sagen pflegen. Hier treffe ich ihn, das heißt, seinen unsterblichen Namen, ganz unverhofft wieder.“ „Mitunter trifft einer wohl gar sich selbst.“ „Haben Sie keine Lust zu einem Landausflug, Kapitän?“ sagte der Admiral. „Ich werde mir die Vorbereitungen auf der Insel ansehen.“
Als das Boot ablegen wollte, erschien Dr. Stanley an der Reling und meldete, daß der mit Schwindsucht eingelieferte Matrose gestorben sei. Franklin runzelte die Stirn. „Ein netter Anfang“, raunte er Fitzjames zu, „das Winterlager beginnt mit einer Beerdigung.“ Die Offiziere sahen sich an, keiner sprach ein Wort. Auf das Kommando des Bootsmanns warfen die Matrosen die Leinen los und begannen zu rudern. Sie waren ernst; ihre Gedanken weilten bei Wood und den anderen Toten der Expedition. Wer würde der nächste sein? Als die beiden Offiziere ausstiegen, stand, die Hand am Hute, Kapitän Crozier am Ufer. „Willkommen auf der Beechey-Insel, Sir“, sagte er lächelnd. „Wir sind dabei, es uns gemütlich zu machen.“ „Tausend Dank“, erwiderte Franklin und gab ihm die Hand. Die Begegnung verriet durch nichts, daß beide Männer sich schon als Gegner gegenübergestanden hatten. Der Admiral sah über das Treiben hin, die Matrosen rollten Fässer über den steinigen Strand; weiter entfernt beaufsichtigte Sir George Back, der Erste Offizier der „Terror“, den Bau einer Reihe von Steinhütten. Er grüßte herüber, als er Sir Franklin
erblickte. Als die Männer auf der Insel erfuhren, daß Wood gestorben war, bildeten sich Gruppen, die das Ereignis besprachen. Blanky nahm die Mütze ab und setzte sich still auf eine Tonne. „Zwecklos, Blanky“, sagte der alte Robin, „daß du dir Gedanken machst.“ „Ich weiß“, antwortete der Matrose, „keiner hätte ihm helfen können. Er wäre auf dem Transporter genauso gestorben wie hier.“ „Kriegt hier wenigstens noch ein schönes Grab mit Kreuz und Hügel.“ „Davon hat er was Rechtes“, erwiderte Philipp und nahm seine Stummelpfeife aus dem Mund. „Die warten daheim so oder so vergebens.“ „Deswegen keine Traurigkeit“, sagte Robin. „Sterben muß ein jeder mal. Bloß auf diese Art ist’s für einen Seemann nicht das angenehmste.“ „So ein Genießer. – Will auch noch angenehm sterben.“ „Seht mal dort ‘rüber“, sagte Blanky und blinzelte zu einer Felsnase, unter der Treet und John Black beisammen standen. „Sie haben schon wieder was miteinander und stecken die Köpfe zusammen wie die Marktweiber. Wird was Rechtes dabei ‘rauskommen.“ „Wir halten die Augen offen“, entgegnete
Philipp. „Halt sie mal offen, wenn du im Dunkeln ein Messer in den Rücken kriegst.“ „Du wirst eben im Dunkeln nicht ‘rausgehen.“ „Ich bin kein Feigling und erst recht nicht wegen John Black oder so einem.“ „Das hat nichts mit Feigheit zu tun“, sagte der alte Robin. „Die gehen aufs Ganze und tun, was sie wollen, ganz gleich, wer am Wege liegenbleibt. Das sag’ ich dir, Blanky, die Sache wird sich bald entscheiden. John Black gibt keine Ruhe, ehe er nicht in Eisen liegt.“ „Warum sollte er in Eisen kommen? Bärenkräfte hat der Kerl und kann arbeiten, solche Leute werden gebraucht.“ „Aber keine Stänker“, sagte Philipp. „Blanky, wenn das so weitergeht, muß ich’s dem Wachoffizier melden. Seit wann gibt es so was: Mord und Totschlag auf den Schiffen Ihrer Britischen Majestät?“ Blanky erhob sich und setzte seine Mütze auf. „Laßt uns weitermachen“, sagte er, „ehe wir den Offizieren auffallen.“ Sie nahmen ihre Tonnen und rollten sie zum Stapelplatz. Sir Franklin ging zu den Bauleuten hinüber. Hier entstanden schwere Steinhütten; Schiffszimmermann Jupp Steig und der Matrose
Reid, der den Titel „Grönlandführer“ trug, waren die Baufachleute und nahmen ihre Aufgabe ernst. Das erste Häuschen war fertig, ein Spaßvogel hatte ein Schild daran befestigt: „Asylum for seamen.“ Der Admiral blieb lachend stehen. „Das müßte Kapitän Elliot sehen“, sagte er. „Sein Londoner Seemannsasyl hat eine Zweigstelle im hohen Norden erhalten. Wie man sieht, mit allem Komfort.“ „Eine Seemannsherberge für überwinternde Expeditionen“, entgegnete Kapitän Fitzjames, „das müßte man der Admiralität empfehlen. Wenn auch solche Herbergen keine Luxushäuser sind – ich kenne das Londoner ,Sailors Home’ für Ostindienfahrer –, hier wäre man glücklich, so etwas zu haben.“ „Polarfahrer sind im allgemeinen keine Träumer“, sagte Franklin, „aber auch ich lasse gern einmal meine Gedanken in die Zukunft gehen: Polarstationen, winterfest, mit ständigen Wetterwarten, durch Stafetten miteinander verbunden, regelmäßige Schiffsverbindungen – wer weiß?“ Das war ein Gespräch nach Croziers Geschmack. „Vielleicht bauen wir einmal Schiffe, die das Eis zerbrechen, gepanzerte Fahrzeuge mit starken Maschinen“, sagte er.
Die Männer sahen sich an und lächelten, als hätten sie sich auf verbotenen Gedankenpfaden ertappt. „Zurück zur Wirklichkeit“, sagte der Admiral. „Wir werden hier im Frühjahr, ehe das Eis auftaut, Werkstätten bauen und Beobachtungsposten einrichten, damit unsere Wissenschaftler nicht umsonst mitfahren. Vielleicht läßt sich ein Gärtchen anlegen, daß wir ein paar Küchenkräuter gewinnen.“ „Und oben auf den Hügel kommt das Grab“, sagte Fitzjames. * Der Winter kam rasch. Die Stürme tobten über das rauhe Land, auf See schoben sich die Schollen zusammen, es krachte wie von Kanonenschlägen. Drinnen in der Bucht aber lagen die Schiffe still unter ihrer Schneedecke. Die Boote brauchte man nicht mehr, um an Land zu gelangen, holperiges Eis hielt das Wasser gebannt. Die Ablösung für die Männer in den Steinhütten, die zu Beobachtungen an Land waren, zog mit kleinen Schlitten los. Die Tage waren nur noch ein kurzes Dämmern, dafür die Nacht schier endlos lang, mitunter kristallklar, daß man meinte, die Sterne mit Händen greifen zu können. Alles, was an Land war, trug Waffen. Es waren Eisbären gesehen worden, da hieß es die
Augen offenhalten; denn Frischfleisch war eine notwendige Abwechslung neben der Schiffskost. In einer der Hütten wohnte Blanky mit seinen Wachtgenossen. John Black war auf Philipps Drängen einer anderen Backschaft zugeteilt worden, so daß endlich die Feindseligkeiten innerhalb der Gruppe gemildert waren. Nach wie vor wurde Blanky stillschweigend als der Vorgesetzte geachtet. Er hatte Polarerfahrung wie keiner von ihnen und vertrieb den Männern manche Stunde mit einem handfesten Seemannsgarn oder mit lustigen Schnurren. Solche Nächte konnten mitunter, recht gemütlich werden. Mochte draußen der Sturm über das Land peitschen und im Rauchfang heulen, in den Hütten glühten die Öfen, und die Lampen gaben traulichen Schein und erinnerten an die Abende daheim. Sie saßen um den großen Tisch herum und pokerten. Philipp paffte aus seiner Stummelpfeife dichte Wolken an die Decke, und Blanky ließ von Zeit zu Zeit bedächtig einen Schluck Rum durch die Kehle rinnen. „Ein Bärenschinken wär mir jetzt recht“, sagte er und schnupperte mit spitzem Mund, als genösse er den leckeren Bratenduft. „Ich kann euch sagen, wenn man wochen- und monatelang nichts als Rauchfleisch, Zwieback und
Pemmikan gegessen hat, und es läuft einem dann ganz unerwartet ein Eisbär über den Weg – der schmeckt schon, ehe er geschossen wird. Und wenn man ihn dann nicht kriegt, ist das schlimmer, als wenn man in der Londoner Lotteriekollektion am Hauptgewinn vorbeigerutscht ist. Wirklich und wahrhaftig.“ „Da kannte ich mal einen“, sagte Robin, indem er bedächtig seine Karten musterte, „ein armes Luder war’s, der hatte doch mit seinem Losschein, den er sich treu und brav vom Maul abgespart hatte, einen Treffer gemacht. Er dachte, so zwanzig bis dreißig Pfund täten mir gerade fehlen, ging zur Kollektion und – ob ihr’s glaubt oder nicht, kriegte tausend Pfund Sterling in glatten sauberen Noten aufgezählt.“ „Donnerschlag! – Und weiter?“ „Dem haben die Knie gezittert“, sagte Robin, wischte die Nase mit dem Ärmel und spielte eine Karte aus. „Jedem Bekannten, den er traf, hat er’s ganz leise erzählt, daß er tausend Pfund gewonnen hat. Schließlich ist er in großer Gesellschaft in eine Kneipe geraten, dort haben sie gefressen und gezecht, als gälte es das ewige Leben. Und dann hat der Kerl angefangen, allen Freunden in der Runde Scheine zu verteilen, bis ein Polizist gekommen ist und ihn verhaftet hat.“ „Verhaftet? Warum?“
„Er dachte, das Geld wäre gestohlen. Der glückliche Gewinner hat drei Tage gebrummt, weil er Ärgernis erregt hätte, und von seinen tausend Pfund sind ganze anderthalb hundert übriggeblieben.“ Die Tür wurde aufgerissen, der Wind fuhr herein und mit ihm eine bepelzte Gestalt, die sich als ein Matrose der „Terror“ entpuppte. „Good day“, sagte er, schüttelte den Schnee aus dem Pelz und nahm die Kappe ab. „Ich heiße O’Neill – ist hier Blanky, der Polfahrer?“ „Hier“, sagte der Gesuchte und rückte auf seiner Bank ein Stück weiter. „Setz dich, trink einen Schluck. Was gibts?“ O’Neill, der Ire, setzte sich, ließ wortlos den Schnaps durch die Kehle rinnen und schnaufte wie ein Seehund, wenn er auftaucht, sah auch beinahe so aus mit seinem vereisten Bart und dem glatt zurückliegenden Haar. „Also, du bist Blanky“, sagte er. „Hab’ schon von dir gehört; auf der ,Terror’ ist auch so ein Polarfuchs, der Reid.“ Er nahm noch einen Schluck. „Ich soll dir was bestellen. Du sollst in der nächsten Viertelstunde zum Proviantschuppen kommen.“ „Wer sagt das?“ „Es muß einer von euren Maaten gewesen sein.“
„Wer denn? Des Voeux oder Crouch?“ Der Ire hob die Schultern. „Ich kenne eure Maate nicht so genau“, sagte er, „hab’ den Befehl gekriegt, weiter nichts.“ „Was kann da los sein?“ überlegte Philipp. „Ich werd’s erfahren.“ Blanky nahm die Karten und mischte. „Das Spiel wird noch zu Ende gemacht, und du, O’Neill, wärm dich ein bißchen auf.“ Das Spiel ging weiter, endlich erhob sich Blanky und kroch in den Pelz. „Ihr könnt inzwischen Tee kochen“, sagte er. „Wenn ich zurück bin, werde ich ihn brauchen.“ Er drehte sich um, zog die Pelzkappe über die Ohren, nahm das Gewehr von der Wand und folgte dem Iren, der draußen auf dem schmalen Pfad zehn Schritte vor ihm herstapfte. „Weiß nicht“, sagte Philipp in der Hütte, „was soll Blanky um diese Zeit im Proviantschuppen? Seltsam!“ Im Hintergrund erhob sich Ben, bleich wie ein Laken, mit aufgerissenen Augen. „Wenn das eine Falle ist, wenn John Black es wäre…“ Die Männer sahen sich an. Verteufelt, der Moses konnte recht haben. John Black… Draußen krachte ein Schuß. Da kam Leben in die Hütte. Blanky lag im Schnee und spähte über seinen Gewehrlauf hinweg in die Finsternis. Was war
das? – Jemand hatte geschossen. Der Ire vor ihm war, ohne einen Ton von sich zu geben, zusammengesunken. Hatte ihn jemand für einen Eisbären gehalten? Fünfzig Schritt vor ihm regte sich etwas Dunkles. Das mußte der Schütze sein. Blanky hob den Lauf und schoß in die Luft. „Damit der blöde Kerl merkt, daß hier Menschen sind“, murmelte er. Aber drüben blitzte es auf, dicht neben Blanky stäubte der Schnee. Er wälzte sich geschwind zur Seite, zielte, schoß und ließ sich in eine kleine Senke rollen. Da wurde es lebendig. Von vorn kamen sie mit Fackeln, auch im Hintergrund regte es sich. Als Blanky den Kopf hob, sah er eine Gestalt in großen Sprüngen zum Strand hinuntereilen. Das ist ein Verrückter, dachte er, einer, dem die Nerven durchgehen. Er sprang auf, eilte gebückt, so schnell er konnte, in gleicher Richtung, um den Flüchtenden zwischen sich und den Fackeln zu halten. Die Männer machten großen Lärm. Endlich blieb der andere stehen und sah zurück. Blanky kniete nieder, zielte auf die Beine des Mannes und drückte ab. John Black saß vor dem Admiral, der, umgeben von seinen Offizieren, Gericht hielt. „Sind Sie mit der Expedition gefahren, um
Mordanschläge auf Ihre Kameraden zu verüben?“ fragte Sir Franklin. Der Matrose hob die Schultern. „Antworten Sie!“ „Blanky hat mich beleidigt“, sagte Black; er fühlte sich unbehaglich. „Er hat mich geschlagen, das brauch’ ich mir nicht gefallen zu lassen.“ „Sie geben also zu, daß Sie den Matrosen Blanky erschießen wollten.“ „Ja, Sir!“ „Sie haben einen anderen, den Matrosen O’Neill, tödlich verwundet. Wissen Sie das?“ „Ja, Sir!“ „Blanky hat in Notwehr gehandelt. Er hätte Sie ungestraft erschießen dürfen; hat Sie aber absichtlich nur verwundet, das wissen Sie auch?“ John Black preßte die Lippen zusammen. „Sie sollen antworten, wenn ich Sie frage!“ „Jawohl, Sir!“ „Bekennen Sie sich schuldig?“ „Ja, Sir!“ „Sie werden dem ordentlichen Kriegsgericht in London übergeben. Bis dahin kommen Sie in Eisen! – Abführen!“
LONDON
Als der kleine Harry Greating an diesem Novembermorgen die Augen aufschlug, stand die Mutter am Bett und lachte. „Steh auf, Harry“, sagte sie, „der Vater hat geschrieben!“ Der Vater hatte geschrieben. Ein großer dikker Brief war es mit vielen Stempeln, und darinnen stand mit ungelenken Schriftzügen ein Bericht von der Fahrt über das weite, wilde Meer, von Eisbergen und Schollen, von guten und bösen Tagen. Hoffnung, viel Hoffnung und Trost sprachen aus seinen Zeilen. Die Mutter war fröhlich wie lange nicht mehr, obgleich inzwischen viel geschehen sein konnte. Denn als der Vater das alles schrieb, war Sommer, und sie lagen bei Grönland. Jetzt aber war graukalter Winter, und sie steckten irgendwo oben in Sturm, Eis und Finsternis, Aber so ein Lebenszeichen ist wie ein Händedruck des Liebsten, den man ferne weiß; es ist wie ein zartes Streicheln, wie ein warmes, wohltuendes Wort. Und hat man sich Monate hindurch fern und einsam gefühlt, dann ist es nun anders, ganz anders. Man sieht ihn vor sich, den wettergebräunten Seemann, sieht, wie er lächelt, und weiß plötzlich wieder um tausend Kleinigkeiten, die so lange vergessen waren; der Geruch seiner Kleider, die Narbe an der Hand, die Gewohnheit, beim Erzählen
immer mit dem Fingerknöchel unter die Nasenspitze zu fahren! Glückliche Stunden. Auch Bens Eltern hatten ihren Brief bekommen. „Sieh nur“, sagte die Mutter, „er hat Heimweh, hier sind Tränen auf die Schrift gefallen.“ Die ausgelaufenen Stellen bekamen auf einmal Geschwister, große und kleine, weil auch den Augen der Mutter Tränen entquollen. Der Mann saß daneben, hatte ihr stumm die Hand auf die Schulter gelegt und konnte nicht trösten, weil es auch ihm in der Kehle würgte. Er war selber zur See gefahren und wußte, wie’s einem zumute ist, wenn man als Schiffsjunge zum ersten Male so einen Brief schreibt. Auch Lady Franklin hatte Post bekommen, einen Brief und ein Tagebuch. Der Admiral schrieb begeistert von seinem Unternehmen. Es war das Richtige für ihn, ein solches Kommando erhalten zu haben, nachdem er sich auf seinem letzten Posten unter mißgünstigen Vorgesetzten nicht wohlgefühlt hatte. Jetzt war Gelegenheit, Triumphe zu feiern und Lorbeeren zu ernten, und wenn er auch schon sechzig Jahre alt wurde. Lady Franklin las Zeile um Zeile. Wer lange miteinander verheiratet ist, weiß sich zwischen den Zeilen Dinge mitzuteilen, die einem Fremden nicht zum Bewußtsein kommen. „Ängstigt Euch nicht, wenn es auch lange
dauert; die nächste Poststation ist vielleicht Hongkong, China.“ Sie legte den Brief beiseite und vertiefte sich in das Tagebuch. Die meiste Post war in die Arbeiterviertel nach Islington, Finsbury, Whitechapel und Hackney gegangen. Diese Briefe sprachen nicht von Triumph und Lorbeeren; aber sie waren trotzdem zuversichtlich, was Reise und Wiedersehen betraf. So sprachen auch die Briefe derer, die schon nicht mehr unter den Lebenden weilten. Hier hielt wohl manche Frau in der Arbeit inne, als der Brief kam, sie setzte vielleicht das jüngste Kind auf den Boden und las dann ebenso schwerfällig, wie der Brief geschrieben war. Sie barg ihn in ihrer Schürze und nahm die unterbrochene Arbeit wieder auf. Aber die Gedanken waren weit weg.
BEECHEY-INSEL
Die Polarnacht war hereingebrochen. Die Finsternis wurde nur durch den Mondschein gemildert; häufig war der Himmel bedeckt, oder es tobte der Sturm. Die Männer in den Hütten und im Logis starrten in brennende Lichtlein und dachten an .die Heimat. Es war Weihnachten. Reverend
Smith ging von einer Backschaft zur anderen und sprach einige Worte zu den Männern. Manchmal sangen sie auch ein Lied. Danach blieben nur noch die Kerzen, die langsam herabbrannten. Zu Hause hatten sie den Mistelzweig über die Tür gesteckt; Mädchen und Burschen, die sich unter ihm trafen, durften sich küssen. Es hing manche Erinnerung an diesem Abend. Man hatte Plumpudding gehabt – nun, den gab es auch heute; aber der gebratene Truthahn wurde hier durch Pökelfleisch ersetzt. Es hatte eine Extraration Rum gegeben. Auch John Black, der unten im Prison lag und sich frierend auf seinem Lager wälzte, hatte etwas davon erhalten. Im Logis der „Terror“ wurde musiziert. Die Blechbüchsenmusik lärmte, und mancher Song aus rauhen Seemannskehlen ließ die vereisten Bullaugen zittern. Jules ließ seinen Hund tanzen; der beste Schütze des Schiffes, James Thompson, zeigte eine Kunstschützennummer, die ihm viel Applaus brachte. Thompson schoß mit verbundenen Augen nach einem Teller, den ein Matrose vor eine ausgespannte Decke hielt. Nach jedem Schuß splitterte es, bis kaum ein Scherbchen blieb. Alles kannte den Schwindel, und gerade darum war es so spaßig; denn Thompson schoß mit der bloßen Pulverladung ohne Kugel, und hinter der Dek-
ke hockte ein Mann, der bei jedem Schuß mit einem Hammer gegen den Teller schlug. Catcher konnte zaubern. Er drückte eine Wasserflasche so stark, daß sich ein hineingeworfener Pfeifenstiel langsam aus ihr herausschob; dann ließ er Geldstücke verschwinden und zog sie den Zuschauern aus der Nase oder aus dem Ohr heraus. Das Logis dröhnte vom Beifallsgetrampel der Matrosen. Jeder überlegte, ob er nicht auch etwas zu diesem wilden Fest der Lichter beizutragen hatte. Nach einer Weile klopfte es, und Dick trat ein. Aber wie sah er aus! Um das pockennarbige Gesicht hatte er sein blaues Halstuch geschlungen und über einer bauschigen, kunstvoll ausgestopften Bluse trug er eine Segeltuchschürze. So markierte er meisterlich eines jener Londoner Marktweiber, das mit schallender Stimme Kunden lockt, neugierige Kinder verjagt und den flinken Dieb mit beispiellos geöltem Mundwerk abkanzelt. Den Matrosen liefen vor Lachen die Tränen über die Wangen. In der Offiziersmesse ging es stiller zu. Es wurde Wein getrunken und holländischer Tabak geraucht, die Offiziersstewards eilten hin und her und mühten sich, den Herren die Wünsche von den Augen abzulesen. Kapitän Crozier klopfte ans Glas.
„Meine Herren“, sagte er, „es ist zu Weihnachten wohl so üblich, Rückschau zu halten, Erinnerungen nachzugehen und sich Rechenschaft abzulegen, ob alles so verlaufen ist, wie man es gewünscht und vorbereitet hat. Sicher haben wir das alle heute schon getan. Ich möchte Sie jetzt darum bitten, auch ein wenig Vorschau zu halten und zu überlegen, ob jeder für die große Stunde gerüstet ist. Wir haben schon einiges erlebt, Stürme und Packeis und andere Widrigkeiten; aber das ist doch alles erst der Anfang; die große Bewährungsprobe steht uns noch bevor. Was geschieht, wenn ein Schiff verlorengeht? Was werden wir tun, wenn Krankheiten ausbrechen? Sie wissen, daß ich alles für das Wohlergehen der Besatzung tun möchte, was menschenmöglich ist. Sollte also jemand bei seiner Vorschau auf einen Mangel stoßen, so bitte ich ihn, sich frei darüber zu äußern, damit wir ihm abhelfen. Es ist uns verboten, Nachrichten abzusenden oder irgendwo zu hinterlassen; so wollen wir uns desto mehr für die Wohlfahrt der uns anvertrauten Männer einsetzen. Ich bitte Sie, dieses Glas mit mir zu leeren auf unseren Admiral, Sir John Franklin, und das Gelingen der Expedition.“ Die Offiziere erhoben sich, die Gläser klangen, man trank und setzte sich wieder.
Der Erste Offizier, Sir Back, war stehengeblieben, um die Worte des Kapitäns zu bekräftigen. Ehe er jedoch begann, öffnete sich die Tür. Herein trat eine pelzvermummte Ordonnanz von der „Erebus“ und blieb salutierend an der Schwelle stehen. „Was gibt es?“ fragte Crozier. Der Mann trat näher. „Kapitän Fitzjames bittet den Herrn Kapitän, davon Kenntnis zu nehmen, daß drei Matrosen der „Erebus“ verschwunden sind“, meldete er. „Seit wann verschwunden?“ „Sie sind vor Stunden schon zum Proviantlager aufgebrochen, um einen Auftrag auszuführen, müssen aber im Schneesturm die Richtung verloren haben.“ „Wurden sie schon gesucht?“ „Jawohl, Sir, an Land wie im Schiff – sie sind gar nicht im Proviantlager angekommen.“ „Und hier an Bord der ,Terror’?“ „Keine Spur, Sir!“
„Es muß etwas geschehen, meine Herren“, sagte Crozier. „Lassen Sie Suchgruppen mit Fackeln und Hunden längs der Küste und über Land gehen, ehe es zu spät ist.“ Manches Glas blieb ungeleert in dieser Nacht. Über die Schiffe heulte der Sturm, trieb den Männern, die sich mit aller Kraft im Schein ihrer Fackeln durch die Finsternis arbeiteten, Millionen von Eisnadeln ins Gesicht. Mitunter wurden die Flammen kurzweg ausgeblasen. Man schrie, gab Schüsse ab und horchte in alle Richtungen; aber nur der Sturm antwortete und das heisere Bellen der Hunde. Eine Gruppe hatte im Windschatten eines Felsens Schutz gesucht, unter ihnen der Kapi-
tän; er steckte tief im Pelz, niemand erkannte ihn. Sie mußten laut reden, um sich verständlich zu machen, ab und zu stob der Schnee in großen Wolken hernieder. Er war so fein, daß er durch die Kleidung drang. „Wißt ihr“, sagte der Matrose William Green, „mitunter habe ich einen Alptraum: Hundert Männer ziehen in einem solchen Sturm und in solcher Finsternis über das Eis nach Süden. Da ist keine Hütte und kein Schiff, kein wärmendes Feuer, vielleicht nicht einmal ein Glas Rum – da ist nur Sturm und Nacht und Hoffnungslosigkeit.“ Crozier stand auf. Vor kurzer Zeit noch hatte er in der geheizten Messe gestanden, das Glas in der Hand, ringsum Licht… „Wenn man träumt, träumt man Gutes“, sagte er barsch. „Die Wirklichkeit ist schwer genug. – Kommt, wir suchen weiter.“ Die Männer sprangen auf. Der Kapitän hatte zwischen ihnen gesessen! Aber ehe sie antworten konnten, wandte er sich ab und stapfte, die Fackel seitwärts im Schutz des Körpers haltend, weiter durch den Schnee. An den Schiffen trafen die Trupps wieder zusammen. Einer der letzten wurde von Blanky geführt. „Nun?“ fragte man ihn.
„Nichts“, antwortete er, „und Jim Clearing ist dabei.“ Nach drei Tagen schrieb Kapitän Fitzjames ins Logbuch: „Drei Matrosen der ,Erebus’ sind in der Weihnachtsnacht verschollen.“ Er blickte in die Lampe, fuhr sich über die Augen und ward einen Augenblick mutlos. Zum ersten Male kam ihm der Gedanke, daß diese Expedition unter einem Unstern stehe. Auch auf der „Terror“ war eine neue Eintragung ins Logbuch gekommen: „27. Dezember 1845, Oberheizer John Torrington stirbt an einer bösartigen spanischen Grippe.“ * Das neue Jahr war gekommen, stürmisch und wild. Man hatte vom Jahreswechsel kaum Notiz genommen. Die Männer wußten, daß sich von nun an die Sonne wieder zur nördlichen Seite der Erde kehren werde, und hofften, es möge bald tagen. Für Zerstreuung war gesorgt. Auf der „Erebus“ gab man eine Bordzeitung heraus, an der alle lebhaft Anteil nahmen. Blanky fertigte ein Hundegeschirr, um mit steigender Sonne bis zum Freiwerden der Schiffe Schlittenfahrten zu unternehmen. Auf der „Terror“ hatte sich das Sportfieber
des vergangenen Sommers gelegt, hier wurde jetzt Theater gespielt und gelesen. Ergötzliche, zum Teil selbst erdachte Szenen wurden aufgeführt, darunter eine blutrünstige Ritteroper, zu der die Rüstungen aus dem Blech der Konservendosen gefertigt wurden. Catcher, der über eine hohe Kopfstimme verfügte, sang eine Frauenpartie. Aus einer alten Signalflagge hatte man ihm ein phantasievolles Kostüm geschneidert. Die Kunde von dieser Ritteroper drang bis zur „Erebus“, daher erschienen eines Tages die Künstler zu einem Gastspiel auf dem Flaggschiff, dem auch der Admiral mit allen dienstfreien Offizieren beiwohnte. Das größte Logis war festlich hergerichtet worden, und bald dröhnte es von Beifall und Gelächter, als der Ritter Bloody Bill seine Widersacher auf die Bretter warf, dann röchelnd am Giftkelch verendete und die Geliebte ihm in gleicher Weise nachfolgte. Übrig blieb ein rostiger Baß, der einen haarsträubenden Klagegesang krächzte. Die Rudergänger hatten jetzt am meisten Zeit, da die Schiffe stillagen und man sich weder um Kurs, noch Drift, noch Magnetnadel zu kümmern brauchte. Die offene See schien verschwunden zu sein. Karl Bauer hatte das Gefühl, als ob sich Steuermann Sergeant seit ihrer letzten Aussprache
im Steuerhaus reserviert verhielte. Vielleicht hätte er jenen Brief nie lesen sollen. Wie konnte er sich ein Urteil erlauben, ohne die Antworten, ohne die Briefe zu kennen, die Karl nach Bremen gesandt hatte, in denen er seine geliebte Maria bat, anflehte, beschwor, mit ihm wegzugehen – irgendwohin. Wie hatte doch Steuermann Sergeant gefragt? – „Und diese Frau haben Sie verlassen?“ – Karl war ihm bisher die Antwort schuldig geblieben und glaubte nun, in den Augen des Vorgesetzten Vorwurf und Anschuldigung zu lesen. Karl Bauer fragte nicht mehr nach Wertschätzung und Ansehen, er hatte mit allem abgeschlossen, was ihm ehedem etwas gegolten hatte. Aber der Vorwurf in den Augen des Steuermanns traf ihn doch. Neben dem Schiffsjungen Ben war Sergeant der einzige Mensch an Bord, mit dem ihn etwas verband. Er war ihm sympathisch, weil er ein teilnehmendes Herz zeigte, weil er, ohne aufdringlich zu wirken, in seinem Rudergänger den Menschen suchte. Eines Tages ergab sich eine Gelegenheit, die Sache zur Sprache zu bringen. Karl hatte, als er in gewohnter Sorgfalt die Steueranlage und die nautischen Instrumente überprüfte, einen Fehler entdeckt und ging hinab, es zu melden. Er traf Steuermann Sergeant allein in seiner
Kajüte, beschäftigt, einen Stapel Briefe durchzusehen. Karl Bauer kannte die Stimmung, in der man in alten Briefen zu stöbern pflegt; er wollte still ins Mannschaftslogis zurückgehen. Sergeant hielt ihn jedoch zurück und bot ihm Platz an. „Ich bin daheim, Sie sehen es“, sagte der Steuermann. Der Matrose nickte stumm. „Wir haben beide die gleiche Vorliebe für Briefe“, fuhr Sergeant fort. „Ich habe sie lieber als Bücher, weil man hinter dem Brief den liebenden Menschen weiß.“ „Ja“, sagte Bauer und sah vor sich hin. „Und Sie – Sie könnten noch daheim sein“, in Sergeants Stimme klang ein leiser Vorwurf. „Sie brauchten sich dann keine süßen Stunden durch Briefe zurückzurufen.“ „Sie wären auch nicht geblieben, Sir“, sagte Karl bitter. „Ich gab Ihnen nur einen Brief zu lesen. Es war nicht der letzte, den ich erhielt. – Sir, ich hätte alles getan, alles, solange diese Frau zu mir hielt. Ich wäre mit ihr gegangen, wohin sie wollte, weil ich sie liebte. Aber sie hat mich nicht geliebt, jedenfalls nicht so, wie sie mich hätte lieben sollen. Ihre Vorurteile, ihre Bindung an die Bremer Ratsherrenfamilie war stärker als ihr Herz; sie hat mich zerbrechen lassen, um sich das gewohnte Leben zu
erhalten. Das, Sir, ist es, was in mir allen Glauben zerstört hat, was mich aus der Heimat trieb, mir meine Arbeit vergällte, mein Leben, mein Examen sinnlos machte.“ „Sie fällen ein hartes Urteil“, sagte der Steuermann. „Haben Sie auch das Recht dazu?“ „Hören Sie.“ Karl zog einen Brief hervor. „Karl! – Ist das eine Anrede für einen geliebten Menschen – Karl! - Als ob man sagt: Pferd, oder Hund, oder Kerl! – So, wie in Deutschland die Gutsbesitzer ihre Tagelöhner anknurren: Müller! – Kilian! – Schmidt! Es hat Briefe gegeben, die begannen: Mein herzlieber Karl! – Jetzt heißt es Karl! Und es geht weiter: Ich habe mich zu der Erkenntnis durchgerungen, daß Du mich vergessen mußt. Auch ich werde Dich vergessen, weil ich die Notwendigkeit einsehe. – Sir, ist das der Brief eines liebenden Weibes, das ich tausendmal geküßt habe, mit dem ich manche Stunde vereint war? Wir hatten uns Treue geschworen bis zum Tode. Und nun: Du mußt mich vergessen – so wie man eine welk gewordene Blume wegwirft. Aber hören Sie bitte weiter: Ich mußte begreifen, daß es meine Pflicht als liebende Tochter ist, meinen Eltern, denen ich Dasein und alles Gute verdanke, gehorsam zu sein. Ich werde Jörn Droege heiraten, und ich bitte Dich, mich mit weiteren Briefen zu
verschonen, die ich doch nicht beantworten würde. Ich danke Dir für alles, was Du für mich getan hast. – Maria.“ Karl Bauer stützte die Ellenbogen auf die Knie und ließ den Kopf hängen. Den Brief hielt er in der Hand wie einen Fetzen. „Sind Sie so ohne Falsch, daß Sie diesen Brief für bare Münze nahmen?“ fragte Sergeant. Karl sah auf, ohne zu antworten. „Sie müssen doch fühlen, daß dieser Brief nicht aus dem gleichen Herzen kommt wie die anderen vorher.“ „Sehen Sie selbst, es ist ihre Schrift.“ „Ihr großer deutscher Dichter Friedrich Schiller hat in seinem Schauspiel ,Kabale und Liebe’ die Geschichte eines solchen Briefes geschildert. – Ein Mädchen wird gezwungen, einen Brief zu schreiben, mit dem sie sich eindeutig von ihrem Liebsten lossagt. Sie tut dies unter Tränen, ihr will das Herz brechen, aber sie schreibt. Und der Liebste, rasend vor Eifersucht, vergißt alle Schwüre, verliert jedes Vertrauen und hält den Inhalt für echt. Aus seiner Liebe wird Haß, sie sterben beide durch das Gift, das er gemischt hat.“ „Sie glauben…?“
„Karl Bauer, Freund, was wissen Sie von den Qualen, die dieses Menschenkind ausgestanden haben mag, ehe sie zur Feder griff, wie man dieser Frau zugesetzt hat von allen Seiten, ehe sie dieses Blatt, das sie im Herzen vielleicht verfluchte, beschrieb.“ „Es ist keine Träne darauf gefallen.“ „Vielleicht waren ihre Augen ausgetrocknet vom vielen Weinen, vielleicht hat man ihr so lange ein neues Blatt vorgelegt, bis es trocken blieb.“ „Und ihre Hand hat nicht gezittert.“ „Karl Bauer – ob sie gezittert hat oder nicht – ich muß Sie fragen: Haben Sie alles getan, haben Sie Leben und Freiheit eingesetzt, um das Mädchen zu sehen, zu sprechen und aus ihrem eigenen Munde zu hören, ob ihr Herz aus diesem Briefe sprach oder nicht?“ „Ich…“ „Sind Sie nicht mit dem Mut des Löwen und der Verschlagenheit eines Fuchses zu ihr gedrungen, um sie in die Arme zu schließen und sie unbeeinflußt sprechen zu lassen: Ich liebe dich – oder: Ich liebe dich nicht?!“ „Nein.“ „Sie haben also dem Schein geglaubt, Sie haben Ihr Urteil gefällt, ohne den Verurteilten zu Wort kommen zu lassen. Das ist Inquisition, höllische Marter.“
„Das – das ist nicht möglich.“ „Richtet nicht, auf daß ihr nicht gerichtet werdet, sagt die Heilige Schrift.“ Karl Bauer war blaß geworden. „Was hätt’ ich aber tun sollen?“ hauchte er. „Sicherlich hat sie auf Ihre Hilfe gewartet, der Brief, den ich zu lesen bekam, war doch ein einziger Notschrei. Hätten Sie sie herausgeholt aus der feindlichen Umgebung, sie irgendwo verborgen, daß sie gerettet war, noch ehe dieser letzte, verleumderische Brief geschrieben werden konnte! Haben Sie niemals versucht, mit ihr in Verbindung zu kommen? Auch nachher nicht mehr?“ „Ich habe geschrieben.“ „Schreiben ist gut, aber Taten sind tausendmal besser. Nur der darf sich auf sein Schreiben verlassen, der weiß, daß es die Wirkung der Tat hat. – Ich bin überzeugt, daß ihr Vater alle Briefe gelesen hat, aber sonst niemand.“ „Sir, das wäre entsetzlich!“ „Weiß dort niemand, wohin Sie gegangen sind?“ „Ich habe eine Zeile von den Walfisch-Inseln nach Bremen geschickt: ,Gehe mit Admiral Franklin ins Eis.’“ Robert O. Sergeant stand auf, versenkte die Hände in den Taschen und sah in das Licht der
Lampe. Seine Worte waren hart und eindringlich wie der Spruch des ewigen Richters: „Ferdinand tötete Luise durch Gift, Karl tötete Maria durch einen Brief; denn den hat man ihr zu lesen gegeben, so sicher, wie das Wasser bergab fließt.“ Karl Bauer stürzte wortlos hinaus. * Draußen war klare Nacht. Ein Nordlicht stand über der weißen Landschaft, der Widerschein färbte Schnee und Eis. Die Lichtbänder wanden sich wie Schlangen vom Himmel herab, zwischen den Bögen aber leuchtete es in unnatürlich kräftigem Blau. Hatten eben noch Dutzende von Matrosen dem Schauspiel zugesehen, eilte jetzt alles, was laufen konnte, über das holprige Eis zu den Wasserlöchern, wo im Scheine von Fakkeln gefischt wurde. Gellende Hilferufe klangen» herüber, ein – zwei Menschen kamen gelaufen, ein Schuß krachte, die Fackeln flakkerten leicht. „Ein Bär! – Ein Bär! – Er hat einen fortgeholt!“ Denen, die da liefen, saß das Grauen im Nacken; wo hatten sie ihre Gewehre? „Wo ist er hin?“ schrien die, die ihnen entgegenkamen. Keiner konnte es sagen, ein großmächtiger Eisbär hatte plötzlich mitten zwischen den
Männern gestanden, mit kräftigem Tatzenhieb einen von ihnen niedergestreckt, und ehe sich die übrigen von ihrem Schrecken erholen konnten, schleppte er seine Beute fort. Sie leuchteten den Boden ab. Neben den gefangenen Fischen sah man eine blutigrote Lache im Schnee und eine Fährte, die zum Lande führte. Auch hier folgte ein Blutstropfen dem anderen. Sie hielten ihre Gewehre schußbereit in den Händen, als sie vorsichtig der Bärenfährte folgten. Die Fackeln knisterten, oben gleißte das Nordlicht, die Augen der Männer glühten vor Haß: die Bestie muß sterben! Stunden vergingen. Die Fährte verlor sich zwischen unwegsamem Gewirr von Eisbrokken und tief verschneiten Felsen. Plötzlich bezog sich der Himmel, so daß die Männer gezwungen waren umzukehren. Ein Schneesturm mußte ihnen verderblich werden. „Laßt nur“, tröstete Reid, der Grönlandführer von der „Terror“, „der Bursche kommt wieder. Hier gab es zu wohlfeile Nahrung.“ „Aber dann…“ raunten die Männer und umspannten ihre Büchsen mit festem Griff.
BREMEN
In einem wohlausgestatteten Zimmer eines
Bürgerhauses saß eine junge Frau und stickte. Der trübe Wintertag blickte mißmutig durch die schweren Fenstervorhänge, sie hatte deshalb die Lampe angezündet und sich in ihrem Schein niedergelassen. Es war ganz still im Raum; das ruhige Ticken der hohen schmalen Standuhr und das leise Geräusch, wenn der Dompfaff in seinem Käfig von Stange zu Stange hüpfte, nahm sie kaum wahr. Sie setzte aufmerksam Stich an Stich, und wenn eine Weile vergangen war, hob sich ihre Brust zu einem schweren Atemzug. Es gibt junge Menschen, denen frühes Leid unnatürliche Reife verleiht. Ihnen fehlt der Glanz der Augen, die Lippen pressen sich fest aufeinander und machen das Gesicht streng und abweisend. Maria Droege war ein solches Menschenkind. Sie lebte ihr eigenes Leben. Dem Gatten schon im ersten Jahr ihrer Ehe fremd geworden, den Eltern nur noch durch pflichtgemäße Höflichkeit verbunden, war sie am liebsten allein. Leise wurde die Tür geöffnet; das Hausmädchen trat ein. „Gnädige Frau“, sagte sie, „es ist Post für Sie gekommen.“ „Von meinen Eltern?“ Die Frage klang gelangweilt; was hatten die ihr schon mitzuteilen… „Nein“, antwortete das Mädchen, „ich glau-
be, aus dem Ausland.“ „Ausland?“ – Ein Brief lag auf dem Tisch, ein grauer, schmuckloser Umschlag mit englischem Vordruck und mehreren fremden Stempeln. Die Frau sah nur die Schrift. Karl, dachte sie, und das Blut wich aus ihrem Gesicht. Sie rührte den Brief nicht an, auch dann nicht, als das Mädchen sie verlassen hatte. „Karl hat geschrieben“, flüsterte sie und wußte nicht, ob sie sich freuen oder traurig sein sollte. Sie hatte sich in den vergangenen Monaten so oft an die Zeit ihres höchsten Glücks erinnert, daß sie mitunter Wachträume erlebte, in denen sie den Verlorenen ans Herz preßte. Maria Droege lebte von diesen Träumen, seitdem jede Verbindung mit dem Geliebten abgerissen war. Man hatte sie bis zu ihrer Eheschließung nicht aus dem Hause gelassen, hatte ihr sogar den Verkehr mit ihrer Freundin verboten, als man diese als Postträgerin ertappte. Sie konnte daher nichts mehr von Karl erfahren. Erst hatte sie geglaubt, er müßte kommen, müßte mit Gewalt das Gefängnis aufbrechen, zu dem ihr das Elternhaus geworden war. Dann aber hatte sie sich sein empfindsames Wesen vorgestellt, seine stille, feine Art, die so wenig zu einem Seemann passen wollte. Karl tat nichts Gewaltsames, ging keine unerlaubten
Wege – leider nicht! Und dann hatte sie den Brief schreiben müssen, jenen Brief, der in ihr alles ausgelöscht hatte – sogar die kindliche Liebe zu ihren Eltern. Was hatte sie nicht getan, um das abzuwenden! Sie erklärte sich sogar einverstanden, diesen Jörn zu heiraten – widerspruchslos, wenn dem Geliebten erspart blieb, das zu lesen. Aber der Vater war unerbittlich, der Verführer seiner Tochter sollte wissen, daß alle seine Ansprüche erloschen waren; und das würde er nur begreifen, wenn sie es ihm selbst schrieb. Damals hatte Maria davon geträumt, daß sie ein Kind bekäme; das wäre die Rettung ihrer Liebe und des Geliebten gewesen. Dann hätte Jörn auf sie verzichtet, und dem Vater hätte all sein Zorn nichts genützt. Aber es blieb ein Traum, und kein Himmel tat sich auf, zu erfüllen, was unmöglich war. Der furchtbare Brief war abgegangen, nichts hatte sich darauf ereignet, gar nichts. Maria hörte kein Wort über Karl, im Kreise der Familie wurde er ohnehin mit keiner Silbe erwähnt. Einige Zeit danach las sie im Stadtjournal, daß der Weserlotse Karl Bauer seinen Posten in unverantwortlicher Weise verlassen habe und spurlos verschwunden sei. Die Viermast-
bark „Dundalk“ habe darum einige Stunden auf die Einfahrt warten müssen, da die Station unbesetzt war. – Das bedeutete, er hatte sie und die Heimat verlassen. Aus Maria wurde die herbe, wortkarge Madame Droege, die keinem zugetan war, auch ihrem Gatten nicht. Bald ging er seine eigenen Wege, da er bei ihr nur auf kalte Höflichkeit stieß. Wie sollte Maria ihren Gefängniswärter, denn als das mußte ihr der Gemahl erscheinen, auch anders behandeln? Das Priesterwort, das sie binden sollte, erschien ihr von Anfang an als nichtig. Es sprach heuchlerisch von Liebe, von Herzen, die Gott vereint; und all die gutgenährten Gesichter der Ratsherren, Verwandten und einflußreichen Gäste hatten dazu wohlgefällig genickt. Die Damen hielten das Taschentuch vor die Augen. Waren diese Tränen echt? Vielleicht hatte man sie einst ebenso herzlos verschachert, daß sie nun aus Mitgefühl weinten. Aber eine Bindung war das für Maria nicht, und gegen die Bindung aus Fleisch und Blut, gegen ein Kind, wehrte sie sich mit allen Fasern ihres Herzens, und wirklich stieß ihre Kälte den Gatten bald ab. Weg mit diesen Gedanken! Es gab Stunden, in denen sie ruhig war. Sie besaß noch das Bändchen Rückertscher Gedichte, die gepreß-
ten Blumen darin. Gewiß, die Erinnerung verblaßte mit der Zeit, aber was hatte sie sonst? Nun lag hier dieser Brief, der erste, der seit so langer Zeit den Weg zu ihr gefunden. Er kam sicher weither, von einem englischen Schiff, wie es schien. – Sie saß davor, ihr zitterten die Hände, als stünde der Liebste plötzlich vor ihr, und sie könnte ihm keinen Willkommenskuß bieten, aus Furcht, sein Scheinbild zu zerstören. Behutsam hob sie den Brief auf, drehte ihn, suchte an seinem Äußeren, an Farbe oder Geruch zu erkennen, was der Inhalt sein mochte. Er würde bitter sein, gewiß – das war nicht anders zu erwarten, aber sie würde doch wissen, wo Karl war, wie es ihm ging, sie würde ihm antworten können, ihm alles, alles anvertrauen. Jetzt war es nicht mehr schwer, heimlich einen Brief abzusenden. Sie öffnete. Ein leeres Blatt? Nein – auf der Rückseite zwei Zeilen: Ich gehe mit Admiral Franklin ins Eis. - Karl. Kann ein Messer, das einem ins Herz gestoßen wird, so schmerzen? Was war das für eine Sprache? Das war doch Haß, blindwütiger Haß. Ihren Vater hätte der treffen dürfen – aber sie? Was hatte sie getan, um diesen Haß zu verdienen? – Aber vielleicht irrte sie sich, vielleicht war es nicht Haß, sondern Verzweif-
lung. Dann aber mußte der Satz heißen: „Ich gehe… in den Tod!!“ War es möglich, daß Karl den Tod suchte? – Den hätte er auch hier finden können; wozu floh er dann erst ans Ende der Welt? Maria konnte seit langem wieder weinen. Grausamer Mann! – Ein Trostwort hätte Balsam bedeutet, ein Gruß höchste Seligkeit. – Aber er tröstete nicht - er verdammte - er verachtete sie. Sie stürzte nieder, wo sie gesessen hatte.
BEECHEY-INSEL
Im Februar kam die Sonne wieder. Die Männer standen auf den Hügeln und blickten zu dem hellen Streifen im Süden, der täglich breiter und kräftiger wurde. Steuermann Sergeant, der Geograph, hatte ihnen gesagt, heute oder morgen müsse das so lange vermißte Tagesgestirn über den Horizont blicken. Er hatte recht: weit im Süden tauchte ein glühender Fleck aus der Tiefe und übergoß die Gesichter der Männer mit einer Flut roten Lichts. Die Matrosen jubelten, warfen die Arme hoch, sahen sich an und lachten. Sie war wieder da, die liebe, warme, strahlende Sonne. Die winterlichen Gesellen in ihren Pelzen und Kappen, die Wangen bärtig, das Haar struppig, gebärdeten
sich wie toll. Sie hüpften umher, schlugen sich auf die Schenkel, fielen sich um den Hals. Welch freudige Stunde.
Jetzt wird sie täglich höher steigen; runder, voller werden, das Land wird erwachen und das Eis aufbrechen. Nach wenigen Minuten erlosch das Licht so rasch, wie es gekommen war. Zurück blieb der gewohnte helle Mittagsstreifen über dem Horizont. Die Matrosen waren ernüchtert, sie sahen sich einen Augenblick an, Verlegenheit im Blick, als schämten sie sich ihrer wilden
Freude. Dann stapften sie einer nach dem anderen durch den Schnee zurück ins Winterquartier. Im März rief der Admiral die Kapitäne, Navigationsoffiziere und Steuerleute zusammen, um mit ihnen die weitere Route zu besprechen. Auch die Offiziere hatten bärtige Gesichter, sie nahmen die Kappen ab, öffneten die Pelze und setzten sich rund um den Messetisch der „Erebus“. Der Admiral stand im Gespräch mit Steuermann Sergeant vor der großen Wandkarte. „Wann kann nach Ihrer Meinung die Weiterfahrt frühestens beginnen?“ erkundigte er sich, nachdem ihm der Geograph die neuesten Ergebnisse seiner Eismessungen mitgeteilt hatte. „Ich will nicht als Prophet gelten“, antwortete Robert O. Sergeant, „ich muß aber annehmen, daß es spät werden wird. Es sei denn, wir bekämen einen recht warmen Sommer.“ „Ich werde notfalls einen Kanal zum offenen Wasser sprengen lassen.“ „Wenn wir offenes Wasser bekommen, halte ich diese Maßnahme für gut. Bis jetzt ist das Meereis allerdings noch ein unüberwindliches Chaos aus Schollen, Spalten und Schneewehen.“ „Wir wollen die Meinung der anderen hören“, sagte der Admiral und trat zum Tisch.
Die Anwesenden sahen ihn an. „Ich bitte um die Meldung der Kommandanten.“ Kapitän Fitzjames erhob sich. „An Bord Ihrer Majestät Schiff ,Erebus’ alles wohlauf, an Land schoß die Mannschaft einen Eisbären. Die Kontrolle des Kielraumes und der Versteifungen ergab keinen Schaden. Die Maschine ist in gutem Zustand.“ Francis R. M. Crozier stand auf. „An Bord der ,Terror’ ist alles gesund, allerdings bekam ich heute früh eine besorgniserregende Nachricht des Schiffskochs, wonach er in den letzten Tagen etwa zwanzig verdorbene Konserven festgestellt hat. Sie sind ungenießbar, der Koch führt das auf schlechte Verarbeitung zurück.“ „Sind auf der ,Erebus’ ähnliche Erfahrungen gemacht worden?“ Kapitän Fitzjames schickte eine Ordonnanz, den Koch zu holen. „Unsere Konserven stammen aus der Fabrik von Goldner. Es sind uns bisher keine Mängel bekanntgeworden. Sollten sich diese Klagen aber mehren, so müßten wir zusätzlich Fleisch beschaffen.“ „Ich schlage vor, zwei Jagdlager einzurichten, um ein größeres Gebiet unter Kontrolle zu haben“, sagte Fitzjames. „Mit dem Frühjahr
werden Moschusochsen zu schießen sein, auch Bären und Robben. Unsere Fachleute sind mit der Jagd vertraut.“ Die Tür öffnete sich, der Schiffskoch der „Erebus“ blieb grüßend stehen. Franklin winkte ihm, näher zu kommen. „Sind Sie mit den Goldnerschen Konserven zufrieden?“ fragte er. Der Mann blickte unsicher auf die Offiziere. „Ja“, gab er stockend zur Antwort, „im allgemeinen sind sie wohl gut, aber ab und zu ist auch mal eine schlechte darunter.“ Die Offiziere sahen sich an. „Wieviel schlechte Konserven haben Sie bisher entdeckt?“ „Nun, anderthalb Dutzend Büchsen werden’s wohl sein den ganzen Winter lang.“ „Und das haben Sie nicht gemeldet?“ „Ich dachte…“ „Sie werden in Zukunft täglich den Ausfall melden - oder noch besser, Sie kontrollieren die erreichbaren Bestände, ob aufgeblähte Büchsen darunter sind, verstanden?“ „Jawohl, Sir!“ Der Koch verschwand. „Vierzig Konservendosen sind kein Verlust“, sagte Franklin nach einer Weile. „Ich fürchte aber, wenn wir die Lagerräume kontrollieren, finden wir eine weit größere Zahl; das würde
unsere Aktionskraft erheblich mindern. Lassen Sie also alles nachsehen, damit wir über den Umfang des Schadens genau informiert sind.“ Er wandte sich der Karte zu. „Bald werden wir vor der Frage stehen, wie die Fahrt der Expedition weitergehen soll. Die Instruktionen lauten: westwärts. Ich habe folgenden Plan gefaßt: Wir setzen unseren alten Kurs fort. Sollten wir die Einfahrt des Wellington-Kanals eisfrei finden, so denke ich, können wir unbedenklich nordwärts segeln, um das freie Polarmeer zu erreichen.“ „Zu entdecken“, warf Sergeant ein. Der Admiral lächelte. „Ich vergaß, daß die Existenz des eisfreien Polarmeeres eine noch nicht bewiesene Hypothese ist. Wir werden also, vorausgesetzt, daß der Wellington-Kanal eisfrei ist, jenes Geheimnis entschleiern. Meinetwegen können die Herren über Für und Wider Wetten abschließen. Ich persönlich glaube an das freie Polarmeer. Ich habe nun einmal seit jeher mit ihm gerechnet und halte es für wahrscheinlich, daß dort oben der kürzeste Weg nach China offen vor uns liegen wird.“ „Legen wir hier irgendwelche Depots an?“ fragte Kapitän Fitzjames. „Nein“, erwiderte Franklin, „hierher kommen
wir nicht mehr. Wir lassen alles Entbehrliche in den Hütten zurück; vielleicht erhält die Beechey-Insel einmal eine Station. Auf eines weise ich Sie allerdings nochmals hin: Ich verbiete strikt, irgendwelche Nachrichten zu hinterlassen. Die Gründe kennen Sie.“ Und er sah ernst auf Kapitän Crozier, der seinen Blick erwiderte, als ginge gerade ihn dieser Befehl nichts an. Als Kapitän Crozier mit Leutnant Irving und den Steuerleuten Marwel und MacBeen zur „Terror“ zurückging, klang ihnen die Anweisung des Admirals noch in den Ohren. Crozier ging schweigend voraus; vergebens wartete Irving auf eine Äußerung. Hatte sich der Kapitän zur Ansicht Sir Franklins bekannt? – Hier auf der Beechey-Insel war die Möglichkeit gegeben, ohne Gefahr eine Nachricht zu hinterlassen, wenn man es für notwendig hielt. Endlich vermochte der Leutnant nicht länger zu schweigen. „Das Versteckspiel soll weitergehen, Sir“, raunte er Crozier zu. „Sie können meiner Mithilfe gewiß sein, wenn Sie in dieser Hinsicht etwas planen.“ „Ich habe mein Wort gegeben“, antwortete der Kapitän; „ich werde es auch halten.“ „Aber es widerspricht Ihrer eigenen Ansicht, Sir. Sie schweigen trotz besseren Wissens.“ „Mein Weg steht fest, Leutnant, ich habe die
Augen offen und werde handeln, wenn es an der Zeit ist.“ „Vielleicht ist jetzt, beim Verlassen des Winterlagers, die beste Gelegenheit.“ „Ich kenne Ihre Gedanken“, sagte der Kapitän. „Ihnen sind die Hände nicht so wie mir gebunden. Sie können etwas tun, wenn Sie’s verantworten. Ich rate Ihnen dabei aber, vorher alles genau zu überlegen, Sie gefährden vielleicht Ihre Stellung, Ihre Karriere, was weiß ich!“ Leutnant Irving wußte nicht, ob er das, was ihm auf der Zunge lag, sagen durfte. Er wagte es dennoch: „Sir, wo ist Ihr Kampfgeist, Ihre Entschlossenheit? Sie sind anders geworden, zurückhaltend, abwägend.“ „Sie mögen recht haben, Leutnant. Ich muß mich aber für größere Dinge bereithalten – vielleicht ist mein Schweigen nur die Ruhe vor dem Sturm. Sie werden es eines Tages wissen, Leutnant. Inzwischen tun Sie, was Sie für richtig halten.“ Die Tage wurden länger, die Matrosen dachten an daheim; sie hofften, daß alles wohlauf und in Alt-England alles ruhig sei. – Aber Britannien hatte Sorgen. Die Kartoffelfäule, eine Degenerationserscheinung der Kartoffelpflanze, durch ständige Knollenvermehrung verursacht, die bereits seit zwei Jahren Mißernten
hervorgerufen hatte, führte zu Teuerung und Hungersnot. Besonders Irland, dessen Bevölkerung fast ausschließlich von der Kartoffel lebte, war sehr beunruhigt. Man verlangte energische Maßnahmen der Regierung, um die Not zu lindern. Aber die Lords hatten durch ihre Korngesetze und Zölle bisher gute Einnahmen erzielt und wollten um keinen Preis davon lassen. So tobten Anfang 1846 heftige Kämpfe in London um die Aufhebung der Korngesetze. In Irland wurde insgeheim eine starke Bauernverschwörung vorbereitet, und die Chartisten, die totgesagte englische Arbeiterbewegung, begannen sich wieder zu rühren. „Wir wollen satt sein!“ schrie das Volk, und den Geldleuten zitterten die Hände, wenn sie bei den Banketten das Besteck führten. Manch einer von Franklins Leuten, der seine Angehörigen daheim gesund und munter wähnte, wußte nicht, daß dort der Hungertod seine reiche Ernte hielt. Der Hungertod! – Ein Gespenst, das in diesen Tagen auch dem Admiral erschien, als man ihm melden mußte, daß viele Konserven, der eiserne Bestand der Expedition, verdorben waren. Hastig ordnete er nunmehr die Einrichtung der Jagdlager an verschiedenen Punkten der Insel an. Es sollte Frischfleisch beschafft werden, um die Verluste zu ergänzen.
Nun streiften die Männer auf Schneeschuhen durch die Hügel, bauten in der Nähe ihrer Zelte Bärenfallen und lauerten an den Eisspalten auf Robben. Sie hatten zwar Erfolg; aber die Ausbeute war viel geringer, als Sir Franklin gehofft hatte. Das Frühjahr kam, brausend und ungestüm wie stets im Norden. Von den Hügeln rann das Tauwasser, nachts gefroren diese Schmelzbäche zu spiegelblanken Eisrinnen; überall lugte der nackte Fels hervor, an manchen Stellen auch erdige Streifen, mit Moos und braunen Flechten bestanden. In wenigen Tagen sprießte das erste Grün, winzige, kaum spannengroße Birken belaubten sich, und über Nacht waren Vögel in den Lüften, wilde Gesellen, die schreiend an den Felsen entlangstrichen. Vom Meere her hörte man den Donner des brechenden Eises, das Schollengewirr geriet zeitweise in Bewegung. Doch die Bucht lag noch in winterlicher Starre, auch die Messungen ergaben keine Abnahme der Eisdecke. Der Admiral mußte seine Pläne von Woche zu Woche verschieben. Längst waren die Schiffe für den Einsatz klar, die Matrosen hatten die Ladung verstaut, zum Teil auch verkeilt und befestigt, um ein Verrutschen während des Seeganges oder durch Eispressung zu verhindern. Hier und da wurde
der Anstrich erneuert, an Deck flatterten allerlei Wäschestücke, auch in den Logis hatte es Großreinemachen gegeben; denn die Kommandanten wollten den Winter innen wie außen vertreiben. Aber der unwirtliche Alte hielt sich noch, mochten auch die Menschen planen und vorbereiten. In diesen Tagen führte man auch John Black aus der Tiefe des Schiffes herauf. Wild sah er aus, das Gesicht verschwand fast in seinem struppigen Haar und Bart. Die leere Augenhöhle, nicht mehr durch das Pflaster verdeckt, gab seinem Anblick etwas Widernatürliches. Ein Bild des Jammers. Mehrere Matrosen standen vor ihm, Mitleid im Herzen, wortlos griffen sie zu, um ihm bei der Reinigung zu helfen. Treet holte aus Blacks Kiste Wäsche herauf. Während er ihm das Hemd überzog, drückte er ihm einen Beutel Tabak in die Hand. „Eine Feile könnte ich brauchen“, raunte der Gefangene. „Wozu?“ flüsterte Treet. „Kannst hier nicht fliehen.“ „Ist besser“, preßte Black zwischen den Zähnen hervor, „wenn der Kahn absäuft oder so.“ Die Männer wechselten einen Blick; niemand, auch nicht der Wachhabende hatte etwas bemerkt.
Eine halbe Stunde durfte der Gefangene an Deck bleiben. Er saß auf einer Tonne und rieb sich die Gelenke, an denen so lange die Ketten gesessen hatten. Dann kam Treet mit einem bunten Schnupftuch und bat die Wache, es Black geben zu dürfen. „Ein Schnupftuch? – Meinetwegen.“ John Black fühlte einen länglichen, harten Gegenstand, als er das Tuch in die Tasche schob. Über die Bucht rollten Sprengschüsse, Fontänen peitschten hoch, Eisbrocken wirbelten umher; langsam riß ein Kanal vom Meere her zu den Schiffen auf. Es war Juli geworden. Der Admiral verlor die Geduld. Warum, zum Teufel, lachte draußen herrliches freies Fahrwasser und die Bucht blieb unbeweglich? – Die wenigen Sommermonate waren bald vorbei. Es war zwar recht nett, an Land in kleinen Gärtchen alles Kraut zu ziehen, was die Arktis hervorzubringen vermag; aber er war nicht von England ausgesandt, um dieses karge Land hier zu kultivieren, sondern um die NordwestPassage aufzufinden. Sir Franklin befahl, einen Kanal anzulegen. Vierundzwanzig Stunden lang tönten die Sprengschüsse, zogen die Männer draußen die Eisbrocken beiseite und schlugen vorspringende Spitzen und Schollen ab. Endlich war es
soweit. Beiderseits der Fahrrinne standen die Mannschaften, im Seilzug bewegten sich die Schiffe durch den Kanal, die Sonne schien, die Matrosen sangen, in den Topps wehte der Union Jack, es war ein festlicher Tag. „Los, Jungs!“ riefen die Bootsleute. „Haltet euch ‘ran, der Admiral hat eine Extraration Rum versprochen, wenn wir die Schiffe im offenen Fahrwasser haben.“ „Hoch Sir Franklin!“ kam es von den Matrosen zurück; die Seile strafften sich, die Schiffe drehten sich gehorsam und folgten dem Zickzack des Fahrweges. Nach drei Stunden wurden Segel gesetzt. Blanky und seine Freunde waren vor der Abfahrt noch einmal oben an den Gräbern gewesen. Wood, der arme Junge, bekam eine Handvoll Blumen. Er hatte gewußt, daß er in der Arktis bleiben würde. Die beiden anderen, John Torrington und O’Neill, einer tückischen Krankheit und der mörderischen Kugel erlegen, hatten ihr Schicksal nicht ahnen können. Nun bekamen sie hier die letzten Grüße der Kameraden. Dann standen die Männer an der Reling, das Schiff wiegte sich auf den Wellen, die Blöcke knarrten, „Westward ho!“, der alte Seefahrerruf, klang über das Deck, man sang, man freute sich. Herrgott, das Leben auf See war schön.
Die „Terror“ folgte achteraus, dort war die Besatzung ebenso vergnügt und zukunftsfroh wie auf dem Flaggschiff. Auf dem Vorderdeck saßen Schulter an Schulter Jules und Earlsson auf einer Taurolle; der phlegmatische Richards lehnte ihnen gegenüber an der Reling und kaute Tabak. „Möcht’ ja man wissen, welchen Kurs der Admiral nimmt“, quetschte er zwischen den Lippen hervor, „ob er weiter westwärts hält oder nach Norden geht.“ „Kann uns egal sein“, antwortete der Franzose. „Wir können ja man nichts dran machen“, sagte Richards wieder; „aber ich hab’ so ‘nen blöden Traum gehabt. Das Land im Norden war wie ein großer Sack – und wir sind da ‘reingelaufen.“ „Quatsch!“ erwiderte Earlsson. „Im Norden ist kein Land, im Norden ist Eis.“ „Da war’s eben ein Sack aus Eis.“ Jules wies nach dem Kajütniedergang. „Sie holen schon wieder den Doktor.“ „Ist wer krank?“ „Leutnant Hodgson.“ „Schlimm?“ „Muß wohl, der Arzt ist recht besorgt.“ „Da!“ rief Richards und wies nach der „Erebus“ hinüber. „Was hab’ ich gesagt?“
Die Matrosen sprangen auf. Achteraus flatterte ein Flaggensignal: „Wellington-Kanal eisfrei, Kurs Nord.“ „Er wagt es“, sagte Kapitän Crozier zu Sir George Back. „Er geht nach Norden.“ „Das kann einen schönen Tanz geben.“ „Es ist taktisch unklug. Die Direktive lautet: Forcierung der Nordwest-Passage in westlicher Richtung des Lancaster-Sundes! Jetzt gehen wir, ohne eine Nachricht zu hinterlassen, nordwärts. Die kleinste Havarie kann zur Katastrophe führen.“ „Kann, Herr Kapitän. – Aber wohl kaum bei diesem Wetter.“ „Das Wetter ist ein unguter Geselle und läßt sich leider nicht zum Verbündeten machen.“ Ein Matrose trat herzu und salutierte. „Herr Kapitän wird gebeten, ins Krankenlogis zu kommen. Herrn Leutnant Hodgson geht es nicht gut.“ Der Seemann trat ab, die Offiziere wechselten einen stummen Blick; dann ging der Kapitän in die Kajüte. Zur gleichen Zeit begann der bekannte Arktisreisende Dr. John Rae mit der kartographischen Aufnahme der Länder nordwestlich der Hudson-Bai. Er war ein zuverlässiger Forscher, machte sich alle Hilfsmittel zugänglich, die in diesen Gegenden die Reisetätigkeit er-
leichterten, verstand sich mit den Eskimos und stellte die erste Autorität für den Norden des amerikanischen Festlandes dar. Seine Erfahrungen waren später im Zusammenhang mit der Franklin-Expedition, die weit nördlich von ihm operierte, sehr wichtig.
WELLINGTON-KANAL
Die Tage vergingen im gewohnten Gleichmaß seemännischen Lebens. An Backbord erblickte man die Gletscher und Berge der großen Cornwallis-Insel. Immer weiter nordwärts kreuzten die Schiffe. Das Fahrwasser war verhältnismäßig offen, selten zeigten sich größere Eisfelder, die meist leicht umfahren werden konnten. Die Mannschaften waren über die Kursänderung geteilter Meinung. Manche, die in alter Begeisterung für Sir John Franklin den Nordkurs als einen Beweis kühner Führung begrüßten, standen anderen gegenüber, die zur Besonnenheit rieten und die Einfahrt in den Wellington-Kanal für ein gewagtes Experiment ansahen. Vorläufig behielten die Parteigänger des Admirals recht und eiferten gegen ihre zaghafteren Kameraden. Während man auf der „Erebus“ wettete, hatte man an Bord der „Terror“
Sorgen. Leutnant Hodgson war binnen weniger Tage unter großen Schmerzen gestorben. Bei der Sektion, die auf Anordnung Kapitän Croziers vorgenommen wurde und Darmverschlingung als Todesursache ergab, hatte sich der Arzt Dr. Alexander MacDonald mit dem Skalpell verletzt und lag mit hohem Fieber auf Leben und Tod. Eine ernste Situation. Hatte schon der Verlust eines Offiziers zu größerer Arbeit und Verantwortung für die übrigen geführt, so bedeutete der Ausfall des Schiffsarztes eine Gefahr, da der Stellvertreter John S. Peddie noch recht jung und unselbständig war. Aber noch etwas begann sich in der Folge abzuzeichnen. Die Seeleute waren abergläubisch. Selbstverständlich waren die Meinungsverschiedenheiten zwischen Admiral und Kapitän bis in die Mannschaftslogis durchgesikkert. Man wußte auch um Leutnant Hodgsons Rolle und sah nun sein plötzliches Ableben als Omen, als eine Vorentscheidung des Schicksals an, das sich hier zugunsten Kapitän Croziers entschied. Es schien zu bedeuten, daß nicht alles glattgehen, daß Dinge eintreten würden, die Schiffe und Mannschaften in Gefahr bringen mußten. So betrachtet, war freilich der Nordkurs ein gewagtes Unternehmen.
Als die Schiffe den 77. Breitengrad erreicht hatten, kamen sie nicht weiter. Im Norden lag ein vergletschertes, unbekanntes Land, der Meeresarm bog nach Westen ab. Sir Franklin war ungehalten über die Störung, nahm sich aber die Zeit, die Küste in groben Zügen zu vermessen und unter den Namen Sophie-Land in die Karte einzuzeichnen. Dann fuhren sie nach Westen. Immer näher rückten die Eisfelder zusammen, das Land im Norden wich zurück; hier hätte eine Durchfahrt sein können; aber es türmten sich Schollen- und Eisberge übereinander, so hoch übereinander, daß man sich besser fernhielt. Nach Süden öffnete sich eine schmale Durchfahrt; aber Süden bedeutete zurück; das gab es auf keinen Fall, Die Schiffe lagen mit gerefften Segeln. Der Admiral hatte einen Erkundungstrupp nach Nordwesten ausgesandt, der unter Führung von Leutnant Le Vescomte, dem jetzigen Zweiten Offizier der „Erebus“, feststellen sollte, ob hinter der gewaltigen Eisbarriere offenes Meer zu finden sei. Als die Männer mit dem Bescheid zurückkamen, daß, soweit das Auge reiche, unwegsames, zerklüftetes Meereis liege, wußte Franklin, daß er sich eine Niederlage einzugestehen hatte.
Die Mannschaft war unzufrieden. Wenn man den Sommer nicht besser nutzte, als alle Meeresstraßen auf ihre Befahrbarkeit zu untersuchen, so würde man den zweiten Winter wieder auf der Beechey-Insel verbringen müssen. Die dem Nordkurs Abgeneigten triumphierten: man saß fest! O unselige Hoffnung auf das eisfreie Polarmeer. Es war ein Phantom, ein Hirngespinst von Menschen, die selbst nie in der Arktis gewesen waren. Man hatte ein solches Meer für möglich gehalten; selbst Sir Franklin war diesem Märchen zum Opfer gefallen. Nun blieb nur die schmale Durchfahrt nach Süden, wenn man nicht auf dem gleichen Wege zurückfahren wollte, den man gekommen war. Man fand einen schmalen, aber gut schiffbaren Kanal westlich der CornwallisInsel, ein Gewässer, dessen Existenz unbekannt war. Das Fahrwasser war eisfrei; aber der Gedanke, eine Niederlage erlitten zu haben, dämpfte die Freude darüber. Dazu kam der Tod Dr. MacDonalds. Er hatte die schwere Blutvergiftung trotz aller Pflege nicht überstanden, eines Vormittags wurde sein Leichnam mit militärischen Ehren bestattet, indes weiße, bauschige Wolken hoch am Himmel vorüberzogen. Man segelte in der Hoffnung, irgendwo wie-
der die Barrow-Straße zu erreichen, von wo aus der ursprüngliche Weg westwärts fortgesetzt werden mußte. Die laute Begeisterung war geschwunden: ja, die Offiziere mußten manchmal Leute wegen Gerüchtemacherei in Strafe nehmen. Am hartnäckigsten hielt sich das Gerücht: die Admiralität benötigte Angaben über die menschliche Ausdauer in der Arktis. Dabei hatte die Mannschaft zur Zeit kaum besondere Anstrengungen zu erdulden; es segelte sich gut, die Fahrtrinne war meist frei und das Wetter für längere Zeit erträglich. Die See war wie aus Glas, nur von großen und kleinen Eisbergen übersät; aber sie trieben friedlich dahin. Auch das Land an der Westküste der Cornwallis-Insel war nicht uninteressant. Unter der belebenden Wärme der Sonnenstrahlen machte sich ein bescheidener Pflanzenwuchs bemerkbar. Doch überall fehlten die Bäume, wenn man nicht die kaum spannenlangen Birken und Erlen als solche bezeichnen wollte. Der Umstand jedoch, daß der Admiral, dem man blind folgte, sich geirrt hatte, wirkte stärker als alle Vernunft. Diejenigen, die daran erinnerten, daß kein Mensch unfehlbar sei, waren in der Minderzahl und drangen nicht durch mit ihrer Meinung. Der Mißmut begünstigte die Unruhestifter. Treet, der seit John
Blacks Festnahme zurückhaltend geworden war, spürte Morgenluft. Er begann - noch ohne eigentliches Ziel –, hier und da zu sticheln; einige der schlimmsten Behauptungen hatten ihn zum Urheber. Er ahnte als einziger, daß unten im Prison John Black an seinen Ketten feilte. Was dabei herauskommen sollte, wußte er noch nicht; aber Black würde es wissen. Black war immer die Seele des üblen Dreigespanns gewesen. James, der dritte, war, seit er nicht mehr über genügend Alkohol verfügte, ein mürrischer, verschlossener Kauz geworden, mit dem man nicht viel anfangen konnte. Das wußte Treet, er war wachsam für zwei, spann seine Intrigen und wühlte unter den Männern des Logis. John Black aber, der Gerissenste von allen, feilte so sorgsam und an einer so verborgenen Stelle seiner Fessel, daß niemand auch nur das Geringste davon bemerkte. Die Schiffe fuhren weiter mit Kurs nach Süden. LONDON
Großes Souper im Hause Mister Wellmanns in London! Die Gaslampen warfen eine ungeheure Lichtfülle in den Raum, Damen und Herren in großer Toilette tanzten, aßen und tranken, spielten. Aber es war eine gezwungene Fröhlichkeit, dem Tanz auf einem Vulkan
vergleichbar. Der Tafel Mister Wellmanns war nichts von der Not des Landes anzumerken. Reich getrüffeltes Wild, Pasteten, feine Salate, Roastbeef, Langusten, Kaviar – der Hausherr ließ sich das Fest etwas kosten. Die Gäste sollten spüren, welch unbegrenzte Mittel hier zur Verfügung standen. Sie sollten Vertrauen zu ihm haben in dieser für die Finanzen recht unsicheren Zeit. Das britische Geld war knapp geworden, man mußte um die Gunst der kleinen Sparer genauso wie um die der großen Geldgeber buhlen, mußte ihnen Sicherheit vorgaukeln – das gelang nicht durch Geiz. In einem Zimmer abseits des bunten Treibens ging der wesentlichste Teil des Gelages vor sich. Eine Handvoll Männer, die Drahtzieher des Ganzen, Gebieter über tausend willige Marionetten, saß beim Spiel. Sie spielten oberflächlich, mit nicht allzu hohen Einsätzen, um die Aufmerksamkeit, die Konzentration für das Wesentliche nicht zu verlieren; denn zwischen dem Spiel wurde verhandelt, Kapital verlagert, wurden Geschäfte abgeschlossen und tausend Schicksale gelenkt. Die Diener arbeiteten wie Maschinen, die aus all den Gesprächen nur die an sie gerichteten Bestellungen hörten, den Gästen die Wünsche
von den Augen ablasen, sie geräuschlos erfüllten und durch keine Regung des Gesichts verrieten, daß sie selbst Menschen mit eigenem Geist waren. Einer der Herren gab einen vertraulichen Bericht: „Die Lage ist schwierig. Flüssige Mittel sind so gut wie nicht vorhanden, die Spekulationen haben alles Umlaufkapital festgelegt. Der Staat wird die Geschäftswelt noch in diesem Monat mit neuen Abgaben belasten, da die durch den Druck der Volksmassen bedingte Aufhebung der Kornzölle die derzeitige Regierung vor ungeheure Schwierigkeiten stellt. Es ist eine Zersetzung der alten Parteien eingetreten. Großbritannien kann kaum noch nach alter Tradition und Schablone geführt werden. Dem Handel steht wahrscheinlich eine Krisis bevor. Die Lage des Landes ist also wenig günstig.“ „Und wie sieht es in Irland aus? – Haben Sie genaue Informationen?“ „Unbesorgt, Sir. Die Hauptstadt bleibt ruhig. Die wenigen Radaubrüder, die da in Hackney randalieren, sind keine Gefahr.“ „Aber die Empörung der Hungergebiete kann übergreifen. Ein Volksaufstand in der jetzigen Situation wäre eine Katastrophe.“
„Die Hungerkatastrophe infolge der Kartoffelfäule forderte schon fast eine Million Tote. Der Bauernaufstand ist eine ernste Gefahr; unsere Truppen müssen mit äußerster Härte gegen die Verschwörer vorgehen, um überhaupt Herr der Situation zu bleiben.“ „Wer ist über die Londoner Lage informiert?“ Ein wohlbeleibter kleiner Mann, an dessen goldener Uhrkette mehrere brillantenbesetzte Medaillen klirrten, nahm das Wort, ohne die Augen von den Karten zu heben.
„Sie sehen zu schwarz.“ „Keinesfalls, Mister Wellmann.“ Der Gastgeber warf die Karten auf den Tisch und erhob sich. „Allen Ernstes, meine Herren, ich muß Ihnen den Vorwurf machen, daß Sie über Ihren Aktiva und Passiva alles andere vergessen oder zumindest zu gering achten. Ich habe mit Rothschild gesprochen. Es geht hier um mehr als einige kleine Augenblicksgeschäfte. Die Unruhe, die zur Zeit Irland erfaßt hat, kann trotz der strengsten Gegenmaßnahmen unseres Militärs zur ernsten Gefahr werden, wenn wir sie nicht in andere Bahnen lenken.“ „Sehr gut, aber lenken Sie bitte, wenn Sie wissen, wohin.“ „Ich weiß, wohin.“ Das Spiel fand keine Beachtung mehr; selbst die Dienet unterbrachen für einen Augenblick ihre Tätigkeit. „Ich habe nicht umsonst die Herren Reeder heute hierher gebeten. Wir müssen den irischen Topf, in dem die Hefe den Teig hochtreibt, abschöpfen, das heißt: Die vor Hunger verzweifelten und zu allem entschlossenen Menschen sind nach Amerika zu schaffen. – Schicken Sie alle Ihre Frachtschiffe in die irischen Häfen! Es muß schnell gehen, meine Herren. – Sie wissen, der Topf beginnt bereits
überzulaufen.“ „Und wer soll die Kosten tragen?“ Ein hagerer Gast am Spieltisch rief es; sein grauer Bakkenbart zitterte. „Sir“, Mister Wellmann lächelte ironisch, „Sie scheinen die Gefahr zu verkennen. – Wir alle, die britischen Geschäftsleute, werden die Kosten aufbringen und damit unsere Existenz sichern.“ „Aber – das muß doch klug eingefädelt werden!“ „Sehr richtig!“ Der Hausherr verneigte sich gegen seine Gäste. „Ich hoffe, Gentlemen, daß ich Ihrer aller Vertrauen besitze. Sollten Sie mich dieser Aufgabe für würdig befinden, so will ich die Angelegenheit zu aller Zufriedenheit ausführen.“ Er wird ein Geschäft daraus machen, der alte Fuchs, dachte Mister Phelps. Ich werde sehen, daß ich dabei nicht zu kurz komme. Er erhob sich spontan, klatschte Beifall und sagte: „Bravo! – Darf ich als erster meine Stimme für Sie abgeben, Mister Wellmann?“ Der Gastgeber sonnte sich in seinem neuen Ruhm. Die Geschäftswelt vertraute ihm; denn wer in solchen Zeiten ein glänzendes Fest geben konnte, mußte auf festem Boden stehen. Draußen tanzten die Paare, es funkelte und gleißte in allen Farben, Kavaliere flüsterten
Komplimente, schöne Frauen fühlten sich als Mittelpunkt; aber das alles war Spielerei ohne Bedeutung. Das große Spiel wurde in jenem kleinen Salon gespielt, in dem Mister Phelps gerade seinen Partner, einen mit der Admiralität vertrauten Geschäftsmann, beiläufig fragte: „Sagen Sie, ist eigentlich schon Nachricht von Sir Franklin eingetroffen?“ Der andere erwiderte, ein wenig ärgerlich fast: „Ich bitte Sie, wen interessiert jetzt Franklin? – Der neue, Stern heißt Wellmann.“ Phelps senkte lächelnd den Kopf. Franklin stand nicht mehr im Mittelpunkt des Interesses. Das war günstig für die etwaige Liquidation der „Trans-Passage-Company“. Er konnte beginnen, sich aus der Affäre zu ziehen, nachdem er seinen Gewinn eingestrichen hatte.
BARROW-STRASSE
Der Südkurs lastete auf den Schiffen wie ein Fluch. Man war wieder auf die Barrow-Straße, die man westlich der Beechey-Insel verlassen hatte, gestoßen. Hier hätte es weiter nach Westen gehen müssen; aber man geriet in dieser Richtung schon nach wenigen Seemeilen an einen gefährlich aussehenden Packeisrand, der wie ein Riegel das Fahrwasser versperrte. An
diesem Rand tastete man sich nun in südwestlicher Richtung entlang, um irgendwo einen Durchschlupf zu finden. Diese Fahrt zerrte an den Nerven; man konnte nicht die volle Geschwindigkeit der Schiffe ausnutzen, mußte allen vorspringenden Eisfeldern und Eisbergen ausweichen und fuhr mehrere Male in vermeintliche Fahrrinnen hinein, die sich dann mitunter erst nach Stunden als Sackgasse in der Eisbarriere zu erkennen gaben. Dazu wurde das Wetter schlechter. Steuermann Sergeant äußerte dem Admiral gegenüber die Befürchtung, daß mit einem baldigen Einbruch des Winters zu rechnen sei. Franklin war verzweifelt. Was sollte werden, wenn das Meereis sich wieder schloß und man noch nicht so weit westlich war, um Land, eine Bucht, eine geschützte Stelle erreichen zu können? Man würde umkehren müssen, zur Beechey-Insel zurück oder zum Kap Walker segeln; aber das hieße alles aufgeben, das hieße, der Mannschaft den Rest der Zuversicht nehmen. Nun kam Sturm. Es wurden schwere Stunden; das Wasser schien zu kochen, selbst die Eisbarriere wurde zerbrochen und zerschmettert, und Sir Franklin hoffte, die Schiffe würden auf diese Weise einen Weg frei gesprengt erhalten.
Es war unmöglich, Leinwand oben zu behalten; man drehte bei. Die Matrosen an Deck waren durchnäßt und steif gefroren; sie konnten sich trotz vieler Kannen heißen Tees, die während des Sturmes getrunken wurden, kaum auf den Beinen halten. Die „Terror“ kam in schwere Bedrängnis; der Eisbrei rund um das Schiff war in ständiger Bewegung; jeder Brecher warf kantige Schollen über das Deck, schmerzhafte Geschosse, vor denen sich die Männer ängstlich duckten. Als wieder eine Woge über das Deck geschlagen war, tönte durch das Brausen der Ruf: „Mann über Bord.“ Leewärts sahen die Matrosen einen Menschen die Arme aus dem Wasser recken. Ein Rettungsring wurde geworfen, das Schiff wendete. A. MacBeen, der Zweite Steuermann, machte mit einigen Leuten das Boot fertig, sie ließen es zu Wasser und schnellten sich an den Seilen hinunter. Ehe sie abstießen, folgte ihnen John S. Peddie, der jetzige Schiffsarzt, mit seinem Arzneikasten. Die Matrosen ruderten aus Leibeskräften. Wild peitschte der Gischt um das zerbrechliche Fahrzeug. Irgendwo kämpfte der Unglückliche – es war Catcher, der Sänger – zwischen Schollen und Eisbrei um sein Leben. Das Schiff sollte dem Boot Schutz vor Wind
und Wellen bieten, es ließ sich aber kaum regieren in diesem Aufruhr der Elemente. Ständig mußte man auf der Hut sein, um nicht gegen einen Eisberg geschleudert zu werden. Das Rettungsboot verschwand zwischen Schollen und Brechern, immer wieder sah man es hoch auf dem Kamm der Wogen auftauchen, dann schoß es wieder hinab in stetem Wechsel. Jetzt schien es einen Zusammenstoß gegeben zu haben; vom Schiff aus sahen die Männer, daß das Boot in den Wellen kreiselte. War es steuerlos? Kapitän Crozier befahl ein verzweifeltes Manöver. Die „Terror“ wendete abermals, nahm Kurs auf das Boot. Dort hingen schon zwei Männer außenbords an den Leinen. Der Steuersitz war frei, eine größere Scholle hatte den Platz MacBeens eingenommen; die Matrosen mühten sich verzweifelt, sie zu entfernen. „Aufgepaßt!“ schallte es über Deck, das Schiff rauschte heran, wendete wieder, das Boot lag in Lee neben der Bordwand. Sie hatten Catcher nicht retten können. Auch Steuermann und Arzt, die nebeneinander auf der Ruderbank im Spiegel des Boots gehockt hatten, waren aus dem Eisbrei nicht wieder aufgetaucht. Das Schiff war ohne Arzt, vier Offiziere hatte man schon verloren, und die Nordwest-Passage schien fester verschlossen denn
je.
„EREBUS“
Admiral Sir John Franklin betrat die Kapitänskajüte. „Haben Sie den Standort?“ fragte er Fitzjames, der über die Karte gebeugt am Tisch saß. „Jawohl, Sir, wir stehen auf 72 Grad 48 Minuten, 42 Sekunden nördlich und 103 Grad 31 Minuten, 14 Sekunden westlich.“ „Danach liegen wir also vor der Westküste des Prinz-von-Wales-Landes.“ „Jawohl, Sir, viel zu weit südlich nach meiner Meinung.“ „Führt nach Westen immer noch keine Fahrstraße?“ „Alles vereist, Sir.“ „Es muß etwas geschehen, Kapitän. Sie wissen, ich habe Befehl, für den Winter eine geschützte Bucht anzulaufen.“ „Ich weiß.“ „Wenn wir noch weiter südlich gehen, haben wir im Westen das Victoria-Land. Ich weiß nicht, wie weit sich das nach Norden zu erstreckt. Vielleicht würde es uns jetzt schon den Weg versperren, wenn wir das Eis durchdrängen.“ „Sir, nach Westen kommen wir nicht durch,
das Eis ist wie eine Mauer.“ „Gut, Kapitän, wir wollen einen Entschluß fassen. Wir sind jetzt von der Barrow-Straße aus immer den Rand des Eises entlanggesegelt. Setzen wir den Fall, es gibt hier keine Durchfahrt nach Westen, so bleiben zwei Möglichkeiten: der äußerste Norden oder der Weg am kanadischen Festland entlang.“ „Der Nordweg ist uns verschlossen, Sir.“ „Es bleibt also die Südroute. Der Weg längs des Festlandes ist mir streckenweise bekannt. Ich habe die Nordküste Kanadas in fast sechsunddreißig Längengraden kartographisch aufgenommen.“ „Was befehlen Sie also?“ „Kurs Südsüdost, Durchfahrt Victoria-Straße westlich von King-Williams-Land. Lassen Sie das Kapitän. Crozier signalisieren.“ „Jawohl, Sir.“ Also wieder nach Süden, immer und immer Süden. „Westward-ho“, sollte es heißen, dort ging es zur Bering-Straße, zum Stillen Ozean; aber hier? – Wollte man nach Kanada hineinsegeln? Die Mannschaft wurde gleichgültig. Die Matrosen führten zwar alle Befehle aus; aber die Begeisterung, die Siegesgewißheit waren verraucht. Der September kam. Nachts bildete sich
Neueis auf dem Meere. Der Admiral mußte einsehen, daß unter diesen Umständen an eine Weiterfahrt bald nicht mehr zu denken war. Wo aber sollte er hier überwintern? – VictoriaLand mit seinen Buchten würde man wohl kaum noch erreichen. Das auf der Karte eingezeichnete King-Williams-Land aber war Sir Franklin aus eigener Anschauung nicht bekannt. Er wußte auch nicht, ob dort die Möglichkeit bestand, die Schiffe vor den Pressungen der Winterstürme zu bergen. Man mußte es aber versuchen. Es ging weiter südwärts. Eines Tages meldete sich Blanky beim Kapitän zum Rapport. „Was wollen Sie?“ wurde er gefragt. „Sir – ich bin Ihro Britischer Majestät Vollmatrose Blanky, gefahren unter Sir Ross – Sir, ich muß melden, wir segeln falsch.“ „Wie bitte?“ „Sir, ich habe es dem Wachhabenden gemeldet; er hat mich ausgelacht. Aber wirklich und wahrhaftig, wir segeln falsch.“ „Wieso, zum Kuckuck, segeln wir falsch?“ „Wir sind nach Westen nicht durchgekommen – gut, nicht zu ändern; aber nun heißt es, wir wollen westlich King-Williams-Land um Victoria-Land herum in die Coronation-Bai. Verzeihung, Herr Kapitän; aber das geht nicht.“
Kapitän Fitzjames sah erstaunt auf den bärtigen Matrosen, der etwas von Navigation verstehen wollte. Fast unwillig antwortete er: „Wollen Sie schlauer sein als Admiral und Kapitäne? - Kümmern Sie sich um Ihre Aufgabe, Mann, und überlassen Sie die Navigation den Offizieren!“ „Verzeihung, Sir, ich habe mit Sir Ross vier Jahre lang im Eise festgesessen. Sir Ross war auf King-Williams-Land; er hat uns viel von den Verhältnissen hier erzählt und kennt die Gewässer. Das Meer westlich King-WilliamsLand ist immer zugefroren, sagte er, weil hier alles Eis vom Norden her angetrieben wird und zusammenfriert. Ich glaube das, Herr Kapitän. Wenn man die Karte ansieht, begreift man, warum. Wir schwimmen doch schon wochenlang in dieser Drift, haben ständig guten Rückenwind, und alles Eis zieht mit uns. Das muß sich in der Victoria-Straße stauen.“ „Hm!“ „Sir Ross sagte uns, King-Williams-Land umsegelt man nur im Osten. Drum meine ich, wir haben falschen Kurs.“ „Danke, Sie können gehen.“ Als Sir Franklin davon erfuhr, machte er Fitzjames Vorhaltungen, daß er sich als Führer des Schiffes von den Mutmaßungen eines Matrosen beeinflussen ließe.
„Die Victoria-Straße nicht zu benutzen, das hieße einen unverzeihlichen Umweg nach Osten zu machen. Zum Westen wollen wir, verstehen Sie? Westen.“ „Ich weiß, Sir.“ „Na also.“ „Sehen Sie sich die Karte an, Sir, die Angaben des Mannes über Drift, Windverhältnisse und so weiter sind bestechend in ihrer Folgerichtigkeit. Er hat seine Gedanken von Sir Ross…“ „Möglich! – Ich will nichts gegen Sir Ross sagen; aber Sie wissen selbst, daß er immer abwägend und zurückhaltend war, wo vielleicht Kühnheit am Platze gewesen wäre. Gewiß, er ist von der Halbinsel Boothia Felix, wo
er den magnetischen Pol entdeckte, nach KingWilliams-Land gekommen und hat den Sund dort eisfrei gefunden. Er ist aber nicht von dort nach Victoria-Land gegangen.“ „Aber seine Berechnungen über die Eisdrift…“ „Wir brauchen jetzt keine Berechnungen, sondern eine Bucht zum Überwintern. Es kommt jetzt auf Schnelligkeit an; wir müssen den Wettlauf mit dem Neueis gewinnen. Ich befehle, den Kurs auf die Victoria-Straße weiter einzuhalten.“ „Jawohl, Sir!“ Drei Tage später, am 12. September 1846, fror die „Terror“ fünf Meilen nordnordwestlich von Kap Victory, der Nordspitze von King-Williams-Land, hoffnungslos ein. Die „Erebus“ blieb auf Sichtweite weiter südlich in der Nähe der Westküste von King-WilliamsLand im Eise stecken. Die Männer standen an Deck, vergruben mißmutig die Hände in den Taschen und starrten über das unbewegliche, zerklüftete Eis. „Sir Ross hat es gesagt“, seufzte Blaoky. „King-Williams-Land passiert man nur von Osten!“
LONDON
November 1846. Der alte John Ross suchte wieder einmal die Admiralität auf. Er konnte unangemeldet kommen und gehen, man ließ sich durch seine Anwesenheit wenig stören. Er war kein Lord, er hatte kein wichtiges Amt inne, man war ihm also keine besonderen Ehrungen schuldig. Man unterhielt sich von allerlei wichtigen Ereignissen in der britischen Seefahrt; aber die Herren spürten bald, daß Sir Ross etwas auf dem Herzen hatte. „Sie sind heute mit einem Anliegen hergekommen, nicht wahr, Sir Ross?“ redete ihn einer der Admirale an. „Sie haben recht“, sagte der alte Seemann. „Ich habe ein Anliegen; es betrifft John Franklin.“ „Franklin?“ „Seit fast eineinhalb Jahren ist er draußen. Die Walfänger sind ohne Nachricht zurückgekommen; Franklin überwintert irgendwo.“ „Gewiß.“ „Er hat einen geraden Weg vorgezeichnet bekommen, er hätte im Herbst in der BeringStraße sein müssen; aber überall hört man von schlechten Eisverhältnissen, von gewaltigen Packeisgürteln und schlechtem Wetter.“ „Das ist schlimm, wir wissen es, aber wir
sind dagegen machtlos.“ „Ich würde vorschlagen, im Frühjahr ein Entsatzschiff abzuschicken.“ „Sie sind grundlos besorgt, Sir Ross.“ „Diesem Schiff, Gentlemen, könnte man einen eigenen Forschungsauftrag geben. Sollte Franklin im Laufe des nächsten Jahres zurückkommen oder Nachricht geben, nun, so wird die Entsatzexpedition eben ihre eigene Aufgabe in der Arktis erfüllen. Bleibt Franklin aber fort, was Gott verhindern wolle, so kommt ihm das Entsatzschiff zur Ergänzung seiner Vorräte und Ausrüstung gerade recht.“ „Wer sollte die Kosten tragen, Sir Ross? – An einer Expedition mit so unspezifischen Aufgaben wird niemand interessiert sein.“ „Die Öffentlichkeit will etwas über Franklins Expedition erfahren. Das ist die eine Aufgabe; Hilfe für die Männer dort oben, eine Menschenpflicht übrigens, ist die zweite. Ich sprach außerdem von Forschungsaufgaben, die sich im einzelnen leicht festlegen lassen.“ „Sie sprechen von Hilfe, Sir, Franklin ist gut ausgerüstet, er hat selbst geschrieben, man möge sich nicht ängstigen, wenn es lange dauert. Er kennt die Schwierigkeiten.“ „Ich kenne sie auch! Halten Sie mich deshalb nicht für einen Schwarzseher; aber wir müssen den Fall einkalkulieren, daß eines der Schiffe
einen Schaden erlitten hat. Wie willkommen wäre ihm da unsere Hilfe.“ „Ich muß Ihnen recht geben, Sir; aber – im Vertrauen -ich wüßte gar nicht, wie ich den Vorschlag einbringen sollte. Sie kennen die angespannte Finanzlage des Staates -eine verzwickte Situation! Außerdem ist noch etwas im Gange, über das ich, verzeihen Sie, leider nicht sprechen darf. – Doch gesetzt den Fall, wir würden uns für Ihren Vorschlag entscheiden – im Augenblick wenigstens kann noch nichts geschehen. Sosehr uns das Wohlergehen dieser Männer am Herzen liegt: wir haben zur Zeit kein Geld, zusätzlich etwas für ihre Sicherheit zu tun.“ „Das leidige Geld also!“ „Die Öffentlichkeit in dieser Angelegenheit zu beunruhigen, halte ich dabei entschieden für zu früh, Sir Ross. Denken Sie – wenn wir so wenig Vertrauen zu Sir Franklin hätten! Er hat immer wieder verlangt, daß man ihm Zeit läßt, und wir verlieren hier schon im zweiten Winter die Nerven.“ „Ich kann mir nicht helfen“, John Ross sah zu Boden, „mitunter habe ich böse Ahnungen. Ich sehe die Schiffe immer irgendwo im Eise festliegen. Mein Gott, man wird ein bißchen wunderlich, wenn man das am eigenen Leibe erfahren hat.“
„Gewiß, Sir; aber wir können nichts tun. Die politischen Ereignisse binden uns die Hände. Wir dürfen die Hoffnung nicht aufgeben. Sehen Sie, solange die Admiralität, die die Expedition ausgesandt hat, unbesorgt ist, liegt kein Grund vor, sich zu ängstigen. Auch Sie müssen Vertrauen in Franklins guten Stern haben.“ „Ja, ja – hoffentlich ist es diesmal kein Unstern, meine Herren. Ich will nicht schwarzsehen, nein – ich will nicht; aber…“ Er winkte ab, erhob sich und ging mit einem flüchtigen Kopfnicken hinaus. Die Männer im Raum sagten kein Wort, so als hätte der alte Ross ihnen eine drückende Last aufgebürdet. Endlich erhob sich einer der jüngeren Admirale. „Verfluchte alte Eule“, sagte er und öffnete das Fenster, daß der feuchtkalte Novemberwind herein und zwischen die Papiere fuhr.
„EREBUS“
„Das ist ‘ne ganz verdammte Kiste!“ – Ewald, der ewig hungrige Matrose der „Erebus“, hieb mit der Faust auf den Tisch, daß die Blechgeschirre klappernd hochsprangen. „Wie kann der Admiral einfach in den dicksten Mist hineinsegeln!“
„Halt’s Maul!“ – Blanky schielte zur Tür und steckte dann seinen Kopf dicht zwischen die anderen. „Seid bloß still, sag’ ich euch, und quatscht nicht vor den Männern. Ich habe euch das gesagt, weil ich mal mit ‘n paar Vernünftigen über die Geschichte reden will.“ Karl hatte schweigend den Worten des erfahrenen Polarmatrosen gelauscht; jetzt richtete er sich vom Tisch hoch und stand auf. „Ich gehe zum Steuermann“, sagte er. „Mister Sergeant wird mir die Wahrheit sagen.“ „Nicht, Mensch!“ Blanky hielt ihn am Arm. „Du weißt, wie man gegen Schwarzseher vorgeht.“ „Das ist keine Schwarzseherei“, sagte Karl und machte sich frei. „Das ist eine wichtige Frage, die Antwort verlangt. Außerdem stehe ich gut mit dem Steuermann; der verrät mich nicht.“ Die anderen sahen ihm besorgt nach. Robert O. Sergeant saß in seiner Kajüte. „Tag, Bauer“, sagte er, ehe der Rudergänger grüßen konnte. „Setzen Sie sich! – Was Neues?“ „Ja.“ „Und?“ „Eine verzwickte Geschichte, Sir; Sie sind doch Geograph?“ „Worum geht es?“
„Wir sind eingefroren.“ „Das soll in der Arktis vorkommen.“ „Gewiß; aber an einer eigenartigen Stelle dieses Gebiets. Haben Sie heute das Besteck genommen?“ „Nein, nicht nötig, wir liegen ja fest.“ „Mister Sergeant, wir liegen nicht fest, wir driften südwärts – ganz wenig, viel zuwenig.“ „Was soll das heißen?“ „Blanky – Sie kennen Blanky, Sir, ein alter Fahrensmann – der ist mit John Ross hier in der Ecke gewesen; der nimmt jeden Tag Besteck und lotet das Eis. Er hat die ganze Umgebung abgestreift und meint, wir stecken in einer Falle.“ „Kapitän Fitzjames hat mir von ihm erzählt. Drei Tage vor dem Einfrieren hat er vor dem Kurs gewarnt; aber na ja, der Befehl lautete anders – nun sind wir eben eingefroren.“ „Kennen Sie die Gründe, weshalb er den Kurs als falsch bezeichnete? Das Eis, das von Norden unaufhörlich heranströmt, staut sich zwischen Victoria- und King-Williams-Land wie in einem Trichter. Jeder Eisberg, jede Scholle, die herantreibt, versperrt uns den Weg zurück.“ „Wir wollen nicht nordwärts, wir wollen nach Südwest.“ „Vielleicht in zehn oder fünfzehn Jahren,
wenn die Schiffe nicht inzwischen zerdrückt sind, Sir.“ „Karl Bauer, Sie reden Unsinn.“ „Unsere Drift geht so langsam vor sich, daß wir etwa so lange brauchen dürften.“ „Wir haben Winter. Im Sommer geraten die Eismassen in Bewegung und fließen südwärts.“ „Es wäre das erste Mal. So weit man nach Süden kommt, sieht man nur altes, zerklüftetes Meereis, das seit Jahren kaum seine Lage verändert hat. Durch den Hals des Trichters fließt sehr wenig hinaus.“ Robert O. Sergeant wurde bleich. Er zog aus einem Fach die Seekarte und blickte angestrengt darauf, mit dem Finger die Küstenlinien nachzeichnend. Dann nahm er einen Zirkel, griff verschiedene Entfernungen ab, notierte Zahlen, rechnete; endlich faßte er sich mit der linken in die Haare und sah Karl Bauer mit verzerrtem Gesichte an. Er schüttelte den Kopf und sah wieder auf die Karte. Es war ein unverzeihlicher Fehler gewesen, Blankys Rat in den Wind zu schlagen. Man hätte sicher bis zur Mündung des Großen Fischflusses eisfreies Wasser gefunden und dort bequem überwintern können, wenn man dieses verdammte King-Williams-Land hätte steuerbord liegenlassen ; aber so…
„Schweigen Sie gegenüber jedermann!“ sagte er. „Und wenn Blanky fragt, geben Sie ihm zur Antwort, ich würde mich darum kümmern; ich würde alles nachprüfen, messen und beobachten.“ „Es ist also ernst?“ „Mein Gott, ja! – Aber deswegen werden wir nicht den Mut verlieren.“ „Nein, Mister Sergeant.“ „Sie wollen doch auch wieder nach Hause, Karl, nicht wahr?“ „Ich muß nach Hause, ich – habe doch etwas gutzumachen!“ Robert O. Sergeant legte ihm die Hand auf die Schulter und zwang sich zu einem Lächeln. Als Bauer gegangen war, sank der Steuermann auf seine Koje wie ein Baum, den der Blitz gefällt hat. Blanky, die Victoria-Straße, die Eisdrift…! Die Gedanken wirbelten wild durcheinander und gipfelten in der schmerzvollen Erkenntnis: wenn das so ist, dann liegen wir hier am Endpunkt der Expedition, dann sind hundert Männer der Arktis preisgegeben, Tausende von Meilen von den nächsten Ansiedlungen entfernt! Er schloß die Augen, weil ihm schwindelte. Karl Bauer rannte im Finstern fast einen Mann um. Es war Curry, der Abergläubische. Der hielt ihn, als er erkannte, wer da gekom-
men war, krampfhaft fest und flüsterte erregt: „Es spukt an Bord, Charly, es spukt!“ „Quatsch!“ „Hab’s schon dreimal gesehen, German; kann nicht schlafen, die Toten gehen um.“ „Ach Unsinn!“ „Es schleicht etwas umher. Ich weiß nicht, woher es kommt und wohin es geht. Es taucht aus dem Unterdeck auf und…da!!“ Er packte Karl und wies mit ausgestrecktem Arm vor sich. Am Steuerhaus stand eine Gestalt. Im Dunkeln konnte man undeutlich die Umrisse eines großen Mannes erkennen. Karl hockte sich nieder, um den anderen, der lautlos näherschlich, besser zu sehen. Wahrscheinlich hatte der die beiden Matrosen noch nicht bemerkt. Karl Bauer tastete sich auf den Planken zur Seite, ein hölzerner Gegenstand geriet ihm in die Hand; er konnte durch die Fellhandschuhe einen Keil fühlen. Der andere war jetzt ganz in der Nähe. „Halt“, rief der Rudergast, „bleib stehen, Kerl!“ Aber der andere mußte ein schlechtes Gewissen haben; er drehte sich rasch um und lief geräuschlos über das Deck. Karl warf ihm den Holzkeil nach und schien getroffen zu haben; denn aus dem Dunkel antwortete ein unterdrückter Schreckensruf. Black, zuckte es ihm durch den Kopf; das
klang wie Black; aber der lag doch angekettet unten im Prison. Curry klapperten die Zähne. „Du Frosch“, sagte der Rudergast, ,,hast du gemerkt, daß das ein Geist aus Fleisch und Blut war?“ „Komisch. – Was schleicht der im Dunkeln hier umher? – Das muß ich King erzählen.“ Und ich Blanky, dachte Karl, als er zum Logis hinabkletterte. Eintragung ins Logbuch der „Erebus“: 18. Januar 1847. Zwei Matrosen sind an den Folgen von Frostschäden gestorben. Der Matrose John Black, wegen Mordes in Eisen, hat seine Ketten durchgefeilt und versucht zu stehlen. Er wurde wieder gefesselt und erhielt Strafverschärfung. Vollmatrose Blanky wird wieder als Ältester für das achtere Mannschaftslogis eingesetzt. Sonst alles wohlauf. Es war ein Hundeleben. Das Eis hatte im Verlauf von Monaten die Schiffe nur wenig nach Süden getrieben. Die Winterstürme brachten böse Pressungen, so daß die „Terror“ ganz schief lag. Die Männer konnten nicht einmal ordentlich am Tisch sitzen und sich die Zeit mit Kartenspiel und Würfeln vertreiben. Der Winter war entsetzlich kalt. Als die Sonne im Februar wieder zum Vorschein kam, war es wie eine Erlösung. Wieder hatte man eine Rei-
he verdorbener Konserven gefunden. Das verschärfte die Lage. Bisher hatte man noch keine Sparmaßnahmen getroffen; man hoffte, daß das Salzfleisch und diejenigen Lebensmittel, die kaum oder nur schwer verderben konnten, noch lange reichen würden. In den letzten Märztagen 1847 meldete sich Steuermann Robert O. Sergeant beim Admiral. Er legte ihm eine Anzahl Tabellen und Karten vor. „Haben Sie Beobachtungen angestellt, mein lieber Sergeant?“ fragte Sir Franklin, ohne daß ihm des Geographen ernstes Gesicht aufgefallen wäre. „Sir“, bekam er zur Antwort, „ich bringe Ihnen das Ergebnis meiner wissenschaftlichen Winterarbeit und damit den unwiderlegbaren Beweis, daß wir hier nicht mehr loskommen.“ „Zeigen Sie!“ „Sir, hier ist die Messung der Eisstärke. Wir finden mehrere Schollenschichten übereinander. Hier führe ich den Beweis, daß das Eis nördlich von uns ständig anwächst; Drift und Wind treiben Sommer und Winter Schollen und Eisberge heran. Südlich von uns liegt mächtig zerklüftetes, altes Meereis. Durch diese Region müssen wir noch hindurch. Unsere Drift nach Süden war sehr gering und muß wegen der Stauung noch geringer werden. Ich behaupte, es wird fünfzehn Jahre dau-
ern, bis wir vom Eis freikommen.“ Sir Franklin blickte wortlos auf die Karte. Er war viel zu sehr Fachmann, um sich irgendwelchen Illusionen hinzugeben. Er sah, daß Sergeants Berechnungen stimmten, daß es vorbei war mit dem Sturm auf die NordwestPassage, wenn nicht ein Wunder geschah. Doch Wunder waren selten. „Haben Sie die Möglichkeit erwogen, nach Norden einen Kanal zu sprengen?“ „Sir, sehen Sie: die Entfernung – dann die Stärke des Eises! Wir müßten nur Pulver geladen haben, um das zu schaffen.“ „Und wenn wir die Granaten ebenfalls dazu verwenden?“ „Aussichtslos, Sir – rechnen Sie selbst.“ „Hm! Verständigen Sie bitte Kapitän Crozier; ich möchte, daß meine Kommandanten die Lage kennen.“ „Und – was soll geschehen, Sir?“ „Nichts! – Wir können nur hoffen.“ „Hoffen? Worauf hoffen? Auf ein Wunder? Daß zufällig Schiffe vorbeikommen in diesem vergessenen Weltwinkel? Oder daß ein Eskimostamm erscheint, um uns mitzunehmen? Sir, es geht hier nicht mehr um die NordwestPassage, um richtigen oder falschen Kurs, es geht um die Frage: Rettung oder Untergang, Leben oder Tod.“
„Gehen Sie, Steuermann!“ „Zu Befehl, Sir.“ Die „Terror“ lag weit ab. Im Laufe des Winters hatte sich ein Patrouillenweg gebildet; die Männer besuchten sich gegenseitig. Man brauchte von Schiff zu Schiff etwa eine halbe Stunde. Heute war Steuermann Sergeant mit seinem Hund den Weg hinübergeeilt, war über das schiefe, vereiste Deck geklettert und hatte vor Kapitän Crozier seine Karten und Tabellen ausgebreitet. Es wurde eine ernste Unterhaltung, viel ausführlicher als die mit dem Admiral. Als der Kapitän Klarheit hatte, stand er auf und ließ Leutnant Back und Leutnant Irving rufen. „Meine Herren“, sagte er ernst. „Jetzt ist unsere Stunde gekommen. Steuermann Sergeant bringt den Beweis, daß unsere Schiffe nicht mehr freikommen. Die Franklin-Expedition ist zu Ende.“ „Und was tut der Admiral?“ „Er wartet ab.“ „Wie lange will er warten?“ „Bis es zu spät ist.“ „Es muß etwas geschehen“, sagte Kapitän Crozier. „Ich werde auf der ,Terror’ alles zum Entsatz der Mannschaften vorbereiten. Einen entsprechenden Brief sende ich an den Admiral und an Mister Fitzjames.“
„Haben Sie irgendwelche Befehle, Herr Kapitän?“ fragte Leutnant Back. „Jawohl! – Wer einen Hund besitzt, übergibt ihn Reid, dem Grönlandführer, zur Ausbildung. Die Mannschaft wird ab sofort das Gebiet rings um die Schiffe erkunden und mit Schlitten bereisen. Aus den Ersatzsegeln werden Zelte gefertigt; der Maschinist soll Patentkocher bauen. Mit dem Admiral werde ich die Absendung einer Expedition nach Boothia Felix vereinbaren. Alles andere besprechen wir noch, Mister Sergeant. Haben Sie die Freundlichkeit, die Briefe Sir Franklin und Kapitän Fitzjames zu übergeben?“ Die Matrosen machten sich außerhalb des Schiffes Bewegung. Sie liefen um die Wette, balgten sich; die älteren sahen schmunzelnd zu; man hatte nach dem langen Winter das Bedürfnis, die lichten Stunden im Freien zu verbringen. Heute hatte man auch Dick mit heraufgebracht. Er war trübselig geworden während der langen Wintermonate, lag fast den ganzen Tag in seiner Koje und starrte gegen die Decke. Er hatte sich völlig vernachlässigt, aß kaum noch, hielt sich nicht mehr sauber und reagierte nicht auf die Scherze der Kameraden. Nun stand er im Schnee und döste vor sich hin, sein blaues Halstuch war vor Schmutz
kaum noch zu erkennen. Plötzlich wurden alle durch einen Schrei aufgeschreckt. Dick stand mit weit offenen Augen und starrte über das Eis. „Dort, dort, seht doch nur!“ Er wies mit ausgestrecktem Arm in die weiße Wildnis. „Dort steht Mabel. – Sie ist mir nachgefahren. Sie hat ein Kind auf dem Arm. Mabel, ist das mein Kind? – O Gott, ich kenne es gar nicht. Es wird frieren, das Kleine –, komm Mabel, ich will es nehmen, es ist doch so kalt, Mabel!“ Sie hielten ihn fest, über seine Wangen rollten große Tränen, sie sahen, wie er litt – um die eingebildeten Wesen, die er in Eis und Schnee erblickte. – Und wie vorwurfsvoll er die Kameraden ansah, weil sie ihn nicht gehen ließen! Eintragung ins Logbuch der „Terror“: 28. März 1847. Maat Thomas ist infolge einer Verletzung, die er bei einem Sturz erlitt, gestorben. Der Matrose Dick Irincoval hat den Verstand verloren und ist ins Krankenlogis eingeliefert worden. Hilfsarzt Harry D. S. Goodsir von der „Erebus“ ist endgültig zum Schiffsarzt der „Terror“ ernannt. Sonst alles wohlauf.
LONDON
Sir John Ross hatte Besuch. Lady Franklin war gekommen, um sich mit jemand, der die Verhältnisse genau kannte, über die Lage der Expedition zu unterhalten. Sie war trotz des zuversichtlichen Schreibens ihres Mannes beunruhigt. Mit einer Überwinterung hatten alle gerechnet. Nun aber war der zweite Winter vorbei, kein Walfänger hatte Nachricht gebracht, auch an der Bering-Straße war von Franklin keine Spur zu finden. „Ich denke, Lady, es ist noch zu früh, um ängstlich zu sein. Ich habe allerdings schon zu Beginn des Winters die Admiralität gebeten, eine Entsatzexpedition vorzubereiten.“ „Und?“ „Es ist kein Geld da.“ „Kein Geld – als ob bei so etwas Geld eine Rolle spielte! Ich würde bedenkenlos mein gesamtes Vermögen geben, wenn ich damit das Leben so vieler wackerer Männer retten könnte.“ „Sie würden das tun, Lady, ich auch; aber wir sind nicht maßgebend in England.“ „Die englische Öffentlichkeit ist schon in Unruhe, und die Admiralität hat auf die öffentliche Meinung Rücksicht zu nehmen. – Wollen
Sie nicht noch einmal hingehen, Sir Ross?“ „Ich muß Sie leider enttäuschen, Lady. Ich bin gestern dort gewesen, ohne Erfolg.“ „Und was haben Sie vorgetragen?“ „Ich habe alle Möglichkeiten in Erwägung gezogen. Es war nicht alles so zweckmäßig vorbereitet, wie es bei Abfahrt der Expedition den Anschein hatte. Die Walfänger bestätigen es uns: In die Arktis muß man mit kleinen Schiffen und erfahrenen Leuten gehen; außerdem hat der Fabrikant Goldner, dessen Konserven für die Ausrüstung gekauft wurden, in letzter Zeit häufig Reklamationen über verdorbenen Inhalt bekommen. Ich habe nun bei der Admiralität die Vermutung ausgesprochen, daß John Franklin entdeckt hat, wie wenig Mannschaft und Schiffe für das große Unternehmen geeignet sind und daß außerdem die Goldnersche Proviantlieferung zum Teil verdorben ist. Deshalb glaube ich, er kann in die Baffin-Bai zurückgesegelt und dort eingefroren sein.“ „Und was hat man geantwortet?“ „Man hat mich als Nörgler, als Schwarzseher abgetan und zur Einsicht bringen wollen, daß jetzt, da das irische Elend einen beispiellosen Grad erreicht hat und die Regierung zehn Millionen Pfund Sterling aufbringen mußte, kein Geld zu beschaffen sei, ehe das Scheitern der
Expedition nicht wirklich bekanntgeworden ist.“ „Das heißt, wenn es bereits zu spät ist, will die Admiralität das Geld beschaffen, um ihren guten Ruf zu retten.“ „Außerdem sprach man von der Intervention in Portugal, die den Kriegsetat belaste. Ich glaube, wir werden unter diesen Umständen die Admiralität kaum bewegen, eine Entsatzexpedition für John Franklin auszurüsten.“ „Ich sehe ein, es ist zwecklos; aber eins versichere ich Ihnen: wenn es noch lange dauert und wieder Monate hingehen, ohne daß etwas geschieht, so beginne ich einen Kampf, der die Welt aufhorchen lassen wird. Sie sollen mir schon munter werden, die Herren der Admiralität. Ich hoffe, Sir Ross, daß ich Ihrer Mithilfe sicher bin.“ „Jederzeit, Mylady.“ „Wir tragen keine unbekannten Namen, Sir; wir sind auch nicht ohne Einfluß, und mit uns sind Hunderte, die einen Liebsten im Eis wissen, und Tausende, die redlich denken.“ „Ich bewundere Sie, Mylady.“ „Geben Sie mir Ihre Hand, Sir Ross; wir wollen alles tun, was getan werden kann.“
IM EIS
Bisher ahnten nur wenige Matrosen auf den Schiffen, in welch verzweifelter Lage man sich befand. Die Offiziere schwiegen, eine Empörung unter den Männern hätte ihr Schicksal besiegelt. Blanky war zum Admiral befohlen worden; er hatte ihn unentschlossen gefunden, so daß er sich sogar zu einem Vorwurf hinreißen ließ, auf den Sir Franklin nichts erwiderte. Blanky mußte versprechen, Stillschweigen zu bewahren; auch die anderen Eingeweihten wurden dazu verpflichtet. Auf Croziers Brief hatte der Admiral ausweichend geantwortet, als wolle oder könne er keine Konsequenz daraus ziehen. Kapitän Fitzjames befand sich erstmalig in einem argen Zwiespalt. Er kannte Crozier zu gut, um seine Mahnungen einfach in den Wind zu schlagen. Früher wäre er mutvoll und entschlossen genug gewesen, um einer solchen Situation entsprechend zu handeln; nun hatte er sich jedoch längst daran gewöhnt, die Befehle des Admirals bedingungslos auszuführen. Der Admiral aber entschloß sich zu nichts; er hatte lediglich Kapitän Crozier nicht verboten, seine Maßnahmen zu treffen; aber sonst alle Vorschläge ignoriert. Nun schien Kapitän Fitzjames ebenso wie sein Admiral auf das Wunder zu warten, das eine Änderung der Lage herbeiführen
sollte. Franklin aber war keinesfalls gleichgültig oder über die Lage im unklaren: er war entschlußlos vor Entsetzen. Er hatte einfach Furcht, irgendwelche Maßnahmen zum Verlassen der Schiffe zu treffen oder weitreichende Erkundungsexpeditionen auszuschicken. Er wußte, daß der Untergang unabwendlich war. Man saß in einem Winkel, der bei allen Suchexpeditionen unbeachtet bleiben mußte. Lange schon lief man auf einem anderen als dem in London festgelegten Kurs. Der LancasterSund, die Barrow-Straße und deren eventuelle Fortsetzung bis zur Bering-Straße würden abgesucht werden, sicherlich auch die Nordküste Alaskas, wohl auch die Umgebung des SmithSunds, weil man Franklins Pläne in London kannte; aber dieser gottverfluchte Winkel zwischen der Halbinsel Boothia Felix und der Nordküste Kanadas würde unbeachtet liegenbleiben; denn was sollte die Expedition hier? Und niemand würde erfahren, wohin er sich gewandt hatte, da alle Spuren so gewissenhaft verwischt worden waren und nirgends Nachrichten lagen. Jeder sah das Ergebnis der Tollkühnheit Sir Franklins. Crozier hatte recht gehabt vom ersten Augenblick an – und dann dieser Blanky –. Alle waren umsichtiger gewesen als der Admiral.
Wenn Franklin bei seinem Grübeln an diesen Punkt kam, packte ihn der Zorn. Er verwünschte dieses Land, fluchte seinem Schicksal und zerschmetterte und zertrat seinen Globus, als er einen besonders schlechten Tag hatte. Welchen Zweck hatte es, etwas zu unternehmen, wenn doch alles verloren war? Wozu nutzlose Anstrengungen, Strapazen, Tragödien, die zu nichts führten? Franklin wußte, wie es auf solchen Märschen zugeht. Wenn schon eine Handvoll Männer alle Stufen von Hunger und Kälte bis zu Mord und Kannibalismus durchmachte, was würde bei hundert Menschen alles bevorstehen. Sie hätten nicht einmal die nötige Menge Proviant fortbewegen können. Zweckslos, irgend etwas zu tun, zwecklos, allerlei Vorbereitungen zu treffen; man konnte nur bleiben, warten und hoffen, daß vielleicht jemand in London doch auf die abwegige Idee kommen möge, das Gebiet vor der Mündung des Großen Fischflusses abzusuchen. Der Gedanke war absurd; aber was blieb ihm in dieser Lage übrig? Schließlich konnten sie, wenn sie regelmäßig jagten und fischten, noch jahrelang auf den Schiffen aushalten. Hier hatten sie Brennstoff für Öfen und Lampen, hatten Behausung und Kleidung, Konserven, Gewürze, Munition - was man zum Leben
brauchte. „Nur herankommen lassen!“ Welch eine Devise für einen Mann, der jeder Gefahr entschlossen begegnet war, der immer einen Ausweg gesucht und gefunden hatte! Sir Franklin hatte vergessen, was Francis R. M. Croziers Wahlspruch war: Nichts ist verloren, solange wir tätig sind. – Hier zu warten, die Hände im Schoß, das Ende näher und näher rücken zu sehen, mußte zum Wahnsinn führen. Die Männer der „Terror“ spürten nichts von Resignation; sie durchstreiften mit ihren Gewehren die Umgebung: eisiges Meer und kahles, totes Land. Zwar brachten sie keine Beute heim; aber sie hatten Zerstreuung. Am weitesten war Reid mit seinem Hundegespann gekommen; er hatte Kap Victory passiert und ostwärts einen eisfreien Meeresarm getroffen, dessen Existenz bewies, daß Blanky recht gehabt hatte. Die Segelmacher hatten fleißig gearbeitet. Zelte waren entstanden, Zugleinen und Hundegeschirre; auch die ersten beiden Patentkocher konnten ausprobiert werden. Kapitän Crozier wollte seine Leute an das Umherstreifen auf dem Lande gewöhnen. Seeleute sind bekanntlich schlecht zu Fuß; man mußte sie also an Strapazen gewöhnen, wenn sie einen längeren Marsch durchhalten sollten.
Auf der „Erebus“ tat man nichts dergleichen. Die Mannschaft vertrieb sich die Zeit wie gewöhnlich, wartete darauf, daß das Eis aufbrechen und die Fahrt weitergehen würde. Man machte „Rein Schiff“, besserte Wäschestücke aus und begrub auch einmal einen Toten, den eine Krankheit zu Fall gebracht hatte. Die Tage wurden länger, die Sonne wärmte, und es bildeten sich Pfützen und kleine Seen auf dem Meereseis. Aber der Schein trog, denn jede Lotung der Löcher ergab, daß die Eisstärke mit dem Winter noch gewachsen war. Der Rand des offenen Meeres zog sich immer weiter zurück, die Schiffe drifteten langsam südwärts, und Robert O. Sergeant hämmerte es Kapitän und Admiral immer wieder in unbarmherzig harten Worten ein: „Wir haben auf Jahre hinaus keine Aussicht auf Entsatz. Allein ein ungewöhnlich warmer Sommer mit langanhaltenden Winden aus anderer Richtung als Norden könnte uns helfen; aber das wäre etwas so Außerordentliches, daß wir nicht darauf zu hoffen brauchen.“ Auch auf der „Erebus“ bereitete sich einer zum Marsch vor. Der Rudergänger Karl Bauer, der genau wußte, daß man nicht mehr vom Eise freikommen würde, nähte sich Fellstiefel und andere Kleidungsstücke, die etwas bequemer und beweglicher waren als die schwe-
re Pelzkleidung, die man an Bord trug. Er wäre lieber heute als morgen losgelaufen; denn er fühlte sich von einer Schuld bedrückt, die ihre Sühne verlangte. Robert O. Sergeant hatte ihm die Augen geöffnet. Karl war weggelaufen, obgleich in Bremen jemand auf ihn wartete und hoffte. Viele Monate waren seither vergangen; Maria würde vielleicht vergessen haben. Aber um jeden Preis mußte er zurück, mußte sie sehen, sprechen! Törichte Gedanken, irrsinniges Unterfangen in dieser Einöde, in Eis und Schnee, fern von allem Verkehr und jeder menschlichen Behausung. Karl hatte Sehnsucht nach allem, was verlassen zurückgeblieben war. Wenn aber Sehnsüchte übermächtig stark werden, so verlangen sie Erfüllung – zumindest aber eine Tätigkeit, die zu dieser Erfüllung führen kann. Darum arbeitete Karl Bauer an seiner Reiseausrüstung und hoffte von Tag zu Tag, daß auch an die anderen ein Befehl dieser Art ergehen würde. Indessen gingen seine Gedanken zurück, er lebte innerlich ganz in der Vergangenheit, und det Gedanke, von daheim weggegangen zu sein, bereitete ihm immer wieder neuen Schmerz. Es gibt Tage, die liegen wie Gewitterwolken auf der Seele. Sie drücken mit der Last ihrer
Schuld und wiegen schwerer als Felsensteine. Es ist, als hätte die Sonne an diesem Tage weniger hell geschienen und leuchtete seither geringer bis in alle Ewigkeit, wenn nicht die Sühne, große schwere Sühne alles hinwegwischte, was da verfinstert und droht. Auch Nadelstiche können Teil einer Sühne sein. Stich um Stich am Rande einer Pelzkappe, Naht um Naht - und all die bitteren Gedanken, die mit vernäht werden. Ach, möchten sie doch mit aufgerechnet werden bei der Tilgung der Schuld. Eintragung ins Logbuch der „Erebus“: 16. April 1847: Keine Aussicht auf Entsatz auf Jahre hinaus. Der Heizer Sunny starb an Verbrennungen. Es war Mai geworden. Die Sonne stand über dem Horizont; auf King-Williams-Land kam der Frühling, die Pfützen auf dem Meereseis waren zu beachtlichen Tümpeln geworden; aber die Stärke der Eisdecke nahm nicht ab, und die Drift nach Süden war langsamer denn je. Jones, der Zweite Steuermann der „Erebus“, der infolge seines empfindsamen Gemütes besonders unter der Ausweglosigkeit litt, hatte entsetzten Gesichts gemeldet, einige Querhölzer der Versteifungen im Schiffskörper wären gebrochen. Man müßte damit rechnen, daß bei einer Pressung auch die Wandung
etwas abbekommen habe. Nichts geschah. Es war, als hätte man weder einen Admiral, der die Expedition leitete, noch einen Kapitän. Kapitän Crozier, der seit langem darauf wartete, Sir Franklin möge sein Schweigen brechen, beschloß endlich, ihn zum Handeln zu zwingen. Er ließ sich von Reid mit dem Hundegespann zur „Erebus“ fahren und beim Admiral melden. Franklin saß am Tisch und las, als Crozier eintrat. „Sir – wir warten auf Sie, auf Ihre Befehle, die eine Änderung herbeiführen.“ „Ich habe keine solchen Befehle.“ „Haben Sie die Absicht, hier liegenzubleiben?“ „Vorläufig ja.“ „Was verstehen Sie unter ,vorläufig’?“ „Ich weiß es noch nicht – wir werden sehen. Unsere Lebensmittel reichen noch eine gute Weile – außerdem, will ich jagen lassen.“ „Hier gibt es nichts zu jagen, Sir. Meine Leute streifen umher, seitdem die Sonne über dem Horizont steht. Diese Illusion muß ich Ihnen rauben. Was den Proviant betrifft, so bitte ich Sie, gleichfalls etwas weniger zuversichtlich zu sein. Immer mehr verdorbene Konserven werden ausgelesen; mitunter fressen sie nicht einmal mehr die Hunde. Und noch eins, Sir, es
sind keine Äpfel mehr da, auch das Dörrobst geht zur Neige. Wenn wir nicht bald Frischfleisch bekommen, müssen wir in nicht allzu langer Zeit mit Skorbut rechnen. Sie kennen diese Krankheit gut genug, um zu wissen, was das bedeutet.“ „Man wird sich in England aufmachen, uns zu suchen, Kapitän.“ „Man wird uns suchen? – Wenig Aussicht, uns zu finden, wenn man nicht weiß, wo wir sind. Ich erinnere Sie an Ihr eigenes Gleichnis, Sir: Der Schwimmer überquert den Meeresarm allein, um sich zu zwingen, das andere Ufer zu erreichen. Jetzt hat er aber Pech, das ist keine Schande. Er ist in ein Feld tückischer Tangpflanzen geraten, die sich ihm um Arme und Beine legen und ihn festhalten. Und nun hofft er auf den Freund und Retter, der mit dem Boot kommen soll? Törichte Hoffnung.“ „Wissen Sie einen Ausweg, Kapitän?“ „Ich bin nicht der Admiral und trage nicht die Verantwortung für den Kurs und die Maßnahmen unterwegs, sonst lägen wir jetzt nicht hier.“ „Sie sind bitter, Mister Crozier.“ „Noch nicht bitter genug, Sir. Sie wissen, daß Sie allein die Schuld am Scheitern der Expedition tragen. Alle wohlgemeinten Ratschläge haben Sie verworfen; jetzt, wo wir ohne Aus-
sicht auf Entsatz im Eise liegen, verhalten Sie sich reserviert und lassen alles laufen, wie es will.“ „Sie geben mir allein die Schuld, Kapitän, ohne dabei zu bedenken, daß die Expedition vom ersten Tage an unter einem Unstern stand. Was kann ich dafür, daß gerade mit dem Jahre achtzehnhundertfunfundvierzig eine Periode harter Nordwinter mit ungünstigen Eisverhältnissen einsetzte? Wer will mir zur Last legen, daß der Weg nach Westen vom Eis verriegelt war? Wollen Sie mich für die verdorbenen Konserven verantwortlich machen oder für die Menschen, die wir durch Sturm, Eisdruck und Krankheiten verloren? – Sie machen es sich sehr bequem, Kapitän!“ „Sir, Sie trifft nur eine große Schuld: Sie haben leichtfertig das Vertrauen der Leute mißbraucht und von vornherein mit der Gefahr gespielt. Die Männer sind Ihnen begeistert gefolgt, weil sie wußten: Sir Franklin ist einer unserer besten, erfahrensten Polarführer; er wird alles tun, diese Expedition zu einem guten Ende zu bringen. Was aber haben Sie getan? Wie ein Hasardspieler haben Sie alles auf eine Karte gesetzt – und den ganzen Einsatz verloren. Sir – ich zittere vor dem Augenblick, da die Mannschaft die Wahrheit erfährt. Die Meuterei auf der ,Bounty’ war sicher ein Kin-
derspiel gegen das, was vor uns liegt.“ „Noch haben wir Zucht und Ordnung auf den Schiffen.“ „Weil die Leute noch nicht wissen, wie sie getäuscht wurden. Ich fordere Sie auf, jetzt – in dieser Minute - mit den Vorbereitungen zum Abmarsch zu beginnen.“ „Das ist unmöglich.“ „Sir – ein solches Wort aus Ihrem Munde?“ „Nehmen Sie ein Blatt Papier und einen Bleistift, Kapitän Crozier; schreiben Sie auf: Fünfhundert Meilen Weg – vielleicht auch das Doppelte – unpassierbares Gelände, Meeresarme, Berge und Schnee und Eis. Rechnen Sie aus, wie lange ein Fußgänger dazu braucht und wieviel Nahrung und Brennstoff er für die ganze Zeit benötigt. Das Ergebnis multiplizieren Sie mit hundert. Viel Vergnügen bei der Arbeit! Nehmen Sie einen Spiegel zur Hand, damit Sie Ihr Gesicht sehen können, wenn Sie die Gewichtssumme mit dem Leistungsvermögen eines mittelkräftigen Mannes verglichen haben.“ „Die Rechnung liegt bereits fertig ausgeführt auf meinem Tisch. Ich habe keinen Spiegel benutzt, es hätte sich nicht gelohnt. Daß unsere Lage sehr ernst ist, weiß ich, auch ohne daß ich das ausrechnen muß.“ „Und Sie sind nicht zu dem Ergebnis
,unmöglich’ gekommen?“ „Wenn ich für Leben und Wohlergehen einer ganzen Schiffsbesatzung verantwortlich bin, so gibt es den Begriff ,unmöglich’ für mich überhaupt nicht.“ „Machen Sie mir einen Vorschlag!“ „Zwei Dinge sind nötig, Sir. In der Gegend des Kap Walker muß an deutlich sichtbarer Stelle eine Nachricht hinterlegt werden; denn dort dürfte man uns am ehesten suchen. Zum anderen muß die Mannschaft über Land nach Kanada.“ „Das schaffe ich nicht und das schaffen Sie auch nicht.“ „Wir können Vorausdepots anlegen und von Etappe zu Etappe mit den Männern nach Süden marschieren.“ „Zwecklos.“ „Unterwegs können wir notfalls einmal überwintern.“ „Gott erhalte Ihnen Ihre Illusion.“ „Wenn wir die Männer in ständiger Aktivität halten, bleiben sie leistungsstark und hoffnungsvoll. Damit läßt sich viel erreichen.“ „Es gibt nichts Schlimmeres als einen Hungermarsch durch vereistes Gebiet. Für hundert Menschen ist er ganz unmöglich.“ „Und doch ist dieses Schicksal leichter zu ertragen, als hier tatenlos auf den Tod zu war-
ten.“ „Ich halte es für besser, auf den Schiffen zu warten.“ „Sir, ich warne Sie. – Sie sind ein stolzer Einzelgänger, der auf die Hilfe der anderen verzichten will und lieber zugrunde geht, als sich helfen zu lassen. Überspannen Sie den Bogen nicht!“ „Ich sehe keine Möglichkeit, der Mannschaft in dieser Situation zu helfen.“ „Dann fordere ich Sie auf, das Kommando abzugeben.“ „Was fällt Ihnen ein, Kapitän? – Ich befehle Ihnen, sofort an Bord Ihres Schiffes zu gehen und dort zu bleiben, bis ich Ihnen andere Anweisung geben werde.“ „Sir! – Sie werden, was Sie tun, vor Ihrem Gewissen und der Mannschaft verantworten müssen.“ „Das lassen Sie meine Sorge sein, Kapitän.“ „Ich gehe, Sir –, ich werde notfalls meine Mannschaft allein über Land führen – auch gegen Ihren Befehl. Es steht Ihnen dann frei, das Kriegsgericht in London anzurufen.“ „Ich habe das Recht, hier Standgericht zu halten, Kapitän! Gehorsamsverweigerer können im Ernstfall sofort abgeurteilt werden.“ „Leben Sie wohl, Sir!“ Francis R. M. Crozier verließ den Raum, der
Admiral stand hinter dem Schreibtisch; ihm zitterten die Hände. Unter anderen Umständen hätte er diesen Kapitän sofort verhaften lassen; aber seine Entschlußkraft war gelähmt. Wie stand das Offizierskorps zu ihm, wie die Mannschaft? Eine verteufelte Situation. Irgend etwas mußte geschehen. In der Tür stand Graham Gore, der Erste Offizier der „Erebus“. „Sir“, sagte er mit leiser Stimme, „Mister Jones, der Zweite Steuermann, hat sich soeben in seiner Kabine erschossen.“ „Erschossen?“ Franklin setzte sich. „Jawohl, Sir.“ „Erschossen“, wiederholte der Admiral noch einmal. „Weshalb, sagen Sie…“ „Er äußerte sich Leutnant Wilks gegenüber, er wüßte, daß das Schiff nie wieder flott würde. Es ist eine Reihe Spanten gebrochen.“ „Das ist doch kein Grund, sich zu erschießen!“ „Manch einem erscheint das als letzter Ausweg, Sir.“ Der Admiral starrte ihn an wie einen Geist. „Setzen Sie sich, Leutnant Gore“, sagte er endlich. Die Offiziere sahen sich an. Ob er zu mir stehen wird? dachte Franklin. „Sie übernehmen ab sofort das Kommando
der ,Terror’, Leutnant“, sagte der Admiral endlich, „ich gebe Ihnen Kapitän Croziers Absetzung schriftlich mit.“ „Nein, Sir“, antwortete Gore, „das tue ich nicht. Das tut keiner Ihrer Offiziere.“ „Sie wollen meinen Befehl nicht ausführen?“ „Ich möchte Sie veranlassen, Ihren Befehl zu widerrufen.“ „Leutnant Gore!“ „Sir, es spricht niemand mit Ihnen darüber; aber die Offiziere wissen alle, wie es um uns steht. Kapitän Crozier bereitet drüben alles zum Abmarsch vor. Wir wissen, daß seine Meinung der Ihren entgegensteht.“ „Darum eben soll er seines Kommandos enthoben werden. Ich brauche keine Untergebenen, die fortwährend widersprechen.“ „Man kann das mahnende Gewissen nicht zum Schweigen bringen. Am Widerspruch schärft sich die eigene Meinung.“ „Sie wollen meinen Befehl nicht ausführen?“ „Nein, Sir. – Ich weiß, daß auch kein anderer Offizier dieses Kommando übernimmt.“ „Haben Sie schon mit dieser Möglichkeit gerechnet?“ „Ja, Sir.“ Admiral Franklin atmete tief, dann sagte er: „Ich bin geschlagen. – Wenn mich meine Offiziere verlassen, muß ich wohl im Unrecht
sein.“ „Sir…“ Franklin ging im Räume auf und ab; endlich drehte er sich um, seine Stimme war heftig: „Wozu will man mich eigentlich treiben? – Soll ich gegen meine eigene Überzeugung handeln? Hier gibt es keinen Ausweg, Mister Gore. Wenn man uns nicht findet, sind wir verloren!“ „Wir wollen marschieren, Sir.“ „Marschieren – unmöglich, sage ich! Aber ich weiß, ich werde überstimmt. Meine Kommandogewalt ist hinfällig, sobald ich keine Autorität mehr besitze. Soll ich mir etwa auch eine Kugel in den Kopf schießen wie Steuermann Jones? – Wird mir wohl bald nichts anderes übrigbleiben.“ „Sir!“ „Aber gut – wenn man es will, ich bin kein Stein! – Ich ziehe meinen Befehl zurück, Leutnant Gore. Aber Sie sollen mir beweisen, daß Sie ein Kerl sind. Sie werden ein Dokument zur Barrow-Straße bringen, verstanden?“ „Jawohl, Sir.“ „Sie nehmen ein Boot auf Schlittenkufen bis zum Eisrand mit und fahren dann durch den Peel-Sund zum Kap Walker. Malen Sie dort ein Signal an die Felswand und legen Sie das Dokument nieder.“
„Jawohl, Sir!“ „Wählen Sie sechs Mann und einen zweiten Offizier aus und lassen Sie die Kufen anfertigen. – Übermorgen reisen Sie ab.“ Der Leutnant ging. Sir Franklin saß am Tisch und hielt das Gesicht in den Händen verborgen. „Ich bin geschlagen“, stöhnte er und grübelte nach über Lage und Rettung; aber es gab keinen Ausweg. Alle seine Gedanken kreisten um die Fragen: Beruhte das Scheitern der Expedition auf Zufall oder auf Naturgesetzen? Welcher Ungeist mißgönnte ihm die Krone der Arktis? Warum konnte er nicht ihr Bezwinger werden? Keine Antwort, weltweit keine Antwort. Jeder Blick, jede Begegnung mit einem anderen Menschen hieß Vorwurf, bitterer Vorwurf, weil dem großen Admiral das Glück nicht mehr treu war. Es dauerte lange, bis Sir Franklin wieder klar denken konnte. Er zog einen Bogen aus der Lade, tauchte die Feder ein und schrieb: „28. Mai 1847.“ Er schrieb gedankenlos das falsche Datum, denn es war erst der 22. Mai. Was bedeutet eine falsche Ziffer in dieser Situation? – Nichts. Die Feder kratzte, sonst war es ganz still in der Kajüte. Er schrieb weiter: Ihrer Majestät Schiffe „Erebus“ und „Terror“ überwinterten im Eis 70° 5’ nördlicher Breite,
98° 23’ westlicher Länge. Den Winter 1846/47… (schon wieder ein Fehler) verbrachten sie auf der Beechey-lnsel auf 74° 43’ 28“ nördlicher Breite, 91° 39’ 15“ westlicher Länge. Sie verfolgten den Wellington-Kanal bis zum 77. Breitengrad und fuhren längs der Westküste der Cornwallis-Insel zurück. Sir John Franklin Kommandant der Expedition. Alles wohl. Dieses Dokument sollte mit seinen beiden Fehlern für alle Zeiten der Nachwelt übermitteln, daß sich Sir Franklins Gedanken bei der Niederschrift in arger Verwirrung befanden. Am 24. Mai 1847 verließen Leutnant Gore und Maat Des Voeux mit sechs Matrosen die „Erebus“. Sie wurden von vielen anderen begleitet, die ihnen halfen, das Beiboot auf seinen Kufen voranzubringen. Sie hatten einen kleinen Mast und Segel über die Ruderbänke gelegt, einige Fässer und Kisten mit Proviant lagen im Boot, Gewehre und Munition, dazu die nautischen Geräte, Sextant, Kompaß, Karten, Logleine und Fernglas. Die kleine Expedition startete. Sir Franklin sah ihr mit finsterer Miene nach. Leutnant Gore lief auf Schneeschuhen voraus und erkundete den Weg. Endlich, nach vielen Stunden, blinkte in der Ferne, zwischen den Schollen, freies Wasser.
Die Begleiter waren nach und nach zurückgeblieben. Nun standen die acht Männer am Rande des Wassers, dessen Anblick sie so lange entbehrt hatten. Es war ein schmaler Kanal, der sich in ostwestlicher Richtung dahinzog. Hier brachten sie das Boot zu Wasser und machten sich zur Fahrt fertig. Leutnant Gore nahm aus der Zinnbüchse das Dokument, um dessentwillen sie nach Norden aufgebrochen waren und las es durch. Ehe sie das Segel setzten, schrieb er einen Zusatz darunter: Ein Trupp von 2 Offizieren und 6 Mann verließen die Schiffe Montag, den 24. Mai 1847. Gm. Gore, Leutnant, Chas. J. Des Voeux,
Maat. Bald zogen sie das Segel auf; das Schifflein drehte sich und folgte dem Kanal in östlicher Richtung. Die Männer saßen auf den Ruderbänken und genossen die Fahrt wie ein Vergnügen. Des Voeux hielt das Ruder. Graham Gore beschäftigte sich mit der Karte. Im Süden sahen sie Kap Victory, die Nordspitze des verwünschten King-Williams-Landes, an dessen Westküste die Expeditionsschiffe gescheitert waren. Hier fuhr nun ein kleines Häuflein einem Hoffnungsfünkchen entgegen.
DEUTSCHLAND
Irgendwo in der Nähe von Deutz saß an diesem schönen Abend die junge Frau des Matrosen Jupp Steig vor der Tür. Sie hielt ihren Buben umfaßt und sah in die Ferne. Die blaugrauen Wolken hoben sich im seltsamen Farbenspiel vom Rosaschimmer des Abendhimmels ab, der Wind bewegte die Blätter der Birken; aber die Gedanken des jungen Weibes waren bitter. Immer wieder saß sie allein vor dem Häuschen, das des Mannes starke Fäuste errichtet hatten, und wartete. Immer wieder mußte sie des Kindes Fragen nach dem Vater mit den gleichen Worten befriedigen, mußte
die mitleidigen Blicke der Nachbarn ertragen und die Gläubiger auf irgendeinen fernen Zeitpunkt vertrösten. So klein das „Büdche“ war, es steckten Gelder darin, die nicht aus der Tasche des Schiffszimmermanns Jupp Steig geflossen waren. Er konnte wohl mit Beil und Richtscheit umgehen – wie flink und fröhlich war die Arbeit vorangegangen – , aber Holz, Nägel, Scheiben und Schindeln mußten bezahlt werden auf Heller und Pfennig. Da kam zur Sorge um den Mann noch die Angst vor denen, die auf ihre Rechte pochten. Länger als ein Jahr war es her, seitdem Grete Post bekommen hatte. Die Männer der Nordlandexpedition schwiegen. Die Briefe aber, die man nach London an die Admiralität sandte, wurden mit der ewig gleichlautenden Antwort bedacht: „Nachricht von H. M. S. ,Erebus’ und ,Terror’ ist noch nicht eingetroffen. Es liegt kein Grund zur Besorgnis vor.“ Ist Schweigen, lähmendes, kaltes Schweigen kein Grund zur Sorge? Was ist es dann? Die englischen Herren schrieben es nicht. Und Grete wartete doch so sehnlich auf eine Nachricht. Auch Maria Droege in Bremen hatte zweimal die nichtssagende Botschaft aus London erhalten. Der Bruch mit ihrem Gatten war inzwischen vollständig geworden. Der Mann schien
sich damit abzufinden, hatte ja schon vorher Zerstreuung gesucht und gefunden und kannte jetzt nur den einen Gedanken: Kein Aufsehen, keinen Skandal! - Er war Kaufmann und angesehener Bürger und mußte nach außen den Schein einer guten Ehe wahren. Auch Maria Droege wahrte den Schein. Sie verlangte nur, auf unbestimmte Zeit nach England reisen zu dürfen. Jörn Droege willigte ein. Ein Grund für eine Reise ließ sich finden. Er hatte dann in Bremen die Hände frei, das konnte jetzt, da sich die politische Situation zuspitzte, nur vorteilhaft sein.
EXPEDITION GORE
Das Boot war nach einigen Tagen in ein Schollenfeld geraten, das sich weder um Segelmanöver noch um die Ruderbewegungen der Männer kümmerte und, sowie Kap Victory passiert war, südlich in die Fahrrinne zwischen King-Williams-Land und Boothia Felix hineindriftete. Die Besatzung mußte hilflos zusehen, wie sie Meile um Meile vom Kurs abkam. Graham Gore nahm das Besteck. „Es ist nichts zu machen“, sagte er, „so erreichen wir niemals den Peel-Sund, von Kap Walker ganz zu schweigen. Die Eismasse nimmt uns weiter mit, wir gehen nach Süden.“
„Es ist ja eigentlich für uns die beste Richtung“, sagte ein Matrose mit bösem Lächeln, „Süden, Kanada –, vielleicht treffen wir Eskimos – Menschen.“ Die anderen sahen auf die Offiziere. Des Voeux blickte finster; aber Gore erwiderte ruhig: „Im Augenblick der Gefahr erkennt man die Charaktere. Wir sind ausgesandt, Nachricht über ,Erebus’ und ,Terror’ zum Kap Walker zu bringen, damit die Suchschiffe uns finden. Ob wir heil zurückkommen, wissen wir nicht. Das ist auch nicht wichtig; wenn nur die Kameraden gerettet werden!“ „Einer steht für den anderen ein“, sagte Des Voeux, „und alle zusammen für die Expedition.“ „Freilich wäre es leicht für uns, angesichts der drohenden Gefahr, in der sich die Schiffe befinden, den Auftrag fallenzulassen, mit dieser Eisdrift südwärts zu gehen und über Kanada die Heimreise zu versuchen. Wir sind wenig Leute, gut verproviantiert und bewaffnet, wir haben Aussicht durchzukommen. Also bitte!“ Gore blickte ihnen reihum ins Gesicht. Die Männer hielten den Atem an. „Das ist der Augenblick, da sich jeder entscheiden muß: Behält das Gewissen die Oberhand oder die Angst um sich selbst! – Wer sich jetzt für seine Pflicht entscheidet, ent-
scheidet sich vielleicht für den Tod; aber ich habe es euch von vornherein gesagt: wer mit zur Barrow-Straße fährt, tut dies freiwillig für alle anderen Kameraden.“ Der Matrose, der vorher für die Südrichtung gesprochen hatte, stand auf und hielt sich am Mast fest. „Man soll die Menschen nicht versuchen, Sir“, sagte er, „aber wir wollen uns bemühen, aus dem Eis herauszukommen.“ „Gut“, antwortete Gore, „ich danke euch allen! – Wir kämpfen uns frei!“ Sie wendeten nach Norden, gingen hart an den Wind und faßten die Ruder; sie fuhren gewaltsam durch Schollen und Eisbrocken. Am Bug stauten sich die Massen, das Boot drückte mit aller Macht dagegen. Als die Riemen nicht mehr ins Wasser griffen, stakten die Matrosen das Boot weiter, bis sie wieder eine schmale Rinne fanden. Als sie aber einen Eisberg passierten, brach von seiner gegenüberliegenden Seite ein großes Stück ab und verschwand aufspritzend im Wasser. Der weiße Koloß, in seinem Gleichgewicht gestört, wälzte sich wie ein angeschossener Wal zur Seite. Das Wasser kochte; urplötzlich erhielt das Boot von unten einen Stoß, daß die Spanten krachten. Die Männer griffen an Ruderbänke und Bootswand; dann wurde das Boot zwischen die Schollen gewor-
fen und blieb in einer Spalte liegen. „Paßt auf, Männer!“ „Das Boot ist leck!“ „‘raus, ‘raus, wir versaufen wie die Ratten!“ Sie sprangen aufs Eis, die Spalte klaffte auseinander, von unten gurgelte das Wasser herein, und das Boot stand steil zwischen den Eisrändern. Einige, die kaltes Blut behalten hatten, warfen, so rasch sie konnten, Teile der Ladung aus dem Boot. Aber es dauerte keine Minute, bis das Fahrzeug kenterte und versank. Als sich die Wasserfläche über dem Boot schloß, sahen sich die Männer an. Was nun? „Rasch“, rief Gore, „daß wir festes Land erreichen!“ Sie nahmen die geretteten Gegenstände auf und eilten, so schnell es die unebene Oberfläche des Schollengewirrs erlaubte, dem Lande zu, das von Westen herüberdunkelte. Springend überquerten sie die Spalten, warfen sich das Gepäck zu oder hangelten an Eisrändern entlang. Eine breite Wasserfläche konnte südwärts umgangen werden; endlich, nach stundenlanger harter Arbeit, trat Leutnant Gore auf das Felsufer und winkte die anderen heran, die sich sofort erschöpft zu Boden warfen. Graham Gore und Des Voeux musterten das gerettete Gut. Sie fanden Schiffszwieback und
Fleisch, ein Säckchen Dörrobst und Pemmikan, Munition, zwei Gewehre - weiter nichts. Es würde für die acht Männer bei sparsamstem Verbrauch vielleicht bis zu den Schiffen reichen; aber man mußte nun, da Karte, Kompaß und Sextant verlorengegangen waren, längs der Küste marschieren, um die Richtung nicht zu verlieren. Wie würde der Weg sein? Wie das Wetter? Nach einer Stunde brachen sie auf. Am 8. Juni 1847 erreichte die kleine Schar nach großen Strapazen Kap Victory und fand einen Steinhaufen, den wahrscheinlich Sir James Ross im Jahre 1831 dort hatte errichten lassen. Er war leer. Leutnant Gore legte die Zinnbüchse mit dem Dokument hinein, um sie nicht ungenutzt zurücktragen zu müssen. Gegen Abend erreichten sie einen Kanal, der sich mit zerrissenen Rändern quer durch Eis und Felsklippen zog. Hier schien eine starke Strömung zu herrschen. Leutnant Gore trat an den Rand, um die Tiefe des Kanals zu schätzen. Ein Schreckensruf ließ ihn herumfahren. Hinter ihm hatte sich das Eis gelöst, die Spalte, die ihn von den anderen trennte, vergrößerte sich von einem Augenblick zum anderen. Graham Gore durfte keine Zeit verlieren und lief über das schaukelnde Eiland. Er setzte
eben zum Sprung an, als die Scholle in kreiselnde Bewegung geriet und sich rasch vom festen Eise entfernte. Die Männer riefen und winkten. Gore schätzte den Abstand mit den Augen: er war viel zu weit. Sein Gefährt stieß gegen eine andere Scholle, der Leutnant sprang, das Eis platzte auseinander, er warf die Arme hoch und verschwand im eisigen Wasser. Das letzte, was die Männer von ihm sahen, war sein erschrecktes Gesicht mit dem lautlos aufgerissenen Munde. Gore kam nicht wieder zum Vorschein. Hatte er einen Herzschlag erlitten – oder war er von der Strömung unter die Eisdecke getrieben worden?
„EREBUS“
Am 11. Juni 1847 langte Maat Des Voeux mit den gänzlich erschöpften Männern bei der „Erebus“ an und meldete sich in der Admiralskajüte. „Sir, wir mußten umkehren. Leutnant Gore ist tot - ertrunken. Das Boot ging verloren. Wir sind zu Tode erschöpft.“ „Gore tot?“ „Jawohl, Sir. – Er hat das Dokument am Kap Victory niedergelegt. Er ist von einer Scholle ins Wasser gestürzt.“
„Wie weit waren Sie gekommen mit dem Boot?“ „Wir trieben östlich King-Williams-Land in einem Eisfeld nach Süden.“ „Nach Süden?“ „Wir versuchten freizukommen, dabei hat uns ein kalbender Eisberg zum Kentern gebracht.“ „Danke, Des Voeux. – Essen Sie und legen Sie sich hin.“ „Jawohl, Sir.“ – Der Maat wankte hinaus. Es gibt Menschen, die keinen Boden mehr unter sich fühlen, wenn ihnen die Tatsachen die letzten Hoffnungen und Illusionen zerschlagen haben. Sie meinen, über Abgründen zu schweben, und sie erwarten nichts als den Sturz, das Ende. Da sitzt ein Admiral vor seinem Schreibtisch in einem vereisten Schiff am Ende der Welt. Er ist siegesgewiß hinausgefahren, mit Jubel, Salut und Musik verabschiedet; hat mit eiserner Energie seine Befehle durchgesetzt und geglaubt, ein Abenteuer zu bestehen, das ihm als gewohntem Draufgänger eine letzte Krone aufsetzen würde. Die Tatsachen haben den Schleier seiner Träume weggezogen – unbarmherzig, wie man einen Vorhang öffnet, der eine erschütternde Szene freigibt. Nun liegt die Bühne vor allen
Blicken offen da, Schiffe stecken im Eis, hundert Menschen liegen hilflos in der grausamen Wildnis – hundert Menschen – und sie glauben an einen Mann – an Sir John Franklin, den Admiral! – Er aber sieht und weiß, daß dieser Glaube erschüttert – ach was, zerschmettert werden muß. Wann das sein wird? Er weiß es nicht; aber es wird bald sein, bald – vielleicht schon morgen. – Wie wird er vor ihnen bestehen?! Sie werden ihn fragen: Was hast du für unsere Sicherheit getan? – Wo sind Nachrichten hinterlegt, wann wird man uns suchen? – Hast du genau den vorgeschriebenen Kurs eingehalten? – Hast du in deinen Plänen den jetzt eingetretenen Fall bedacht? – Wo sind die Schlitten und Hunde? – Welchen Weg können wir einschlagen? – Wo sind die nächsten Jagdplätze der Eskimos? – Wie jagt man Polarfüchse, Robben, Moschusochsen, Bären? – Wo treffen wir auf die Stationen der HudsonBay-Company? – Wo, Sir Franklin? – Wo, Herr Admiral? – Wo? – Wo?! Beginnt so der Irrsinn? – Da sind doch lauter Gesichter im Raum, bärtige Matrosengesichter, wetterfest, gebräunt, mit klaren, scharfen Augen, – sie sehen auf den Admiral, sie klagen an: Sir John Franklin! – Sie haben uns ins Verderben geführt! – Sie haben Hunderten von Frauen, Müttern und Kindern die Männer,
Söhne und Väter genommen! – Sir John Franklin, bekennen Sie sich schuldig? „Ja“, flüsterte der Admiral mit weit aufgerissenen Augen. „Ja!“ schrie er, und die Wände schrien es zurück. - Er wischte sich über die fiebernde Stirn. Warum hatte er eigentlich gerufen? Richtig, da hatten Männer gestanden und Klage geführt, und vorhin war der Maat dagewesen und hatte Gores Tod gemeldet und damit die Hoffnung zerrissen, jemals von hier aus Nachricht zur Barrow-Straße senden zu können. Und der Marsch über Land nach Süden war Irrsinn! Wie gut hat es der tote Leutnant Gore! Ihn drückt keine Verantwortung, er ruht still und friedlich im Meere. Beneidenswerter Mensch. Beneidenswert auch du – Steuermann Jones, auch du bist freiwillig abgetreten. Sir Franklin lächelte. Keine Verantwortung mehr, keine Unehre! Aus der Admiralskajüte tönte ein scharfer Knall – so, als ob ein Knabe mit seiner Peitsche geklatscht hätte. Der Offizierssteward, der durch den Gang kam, stutzte. War das ein Schuß? – Er klopfte an die Tür; als niemand antwortete, trat er ein, ihm schlug das Herz bis zum Hals. Neben dem Tisch lag der Admiral, die gebrochenen Augen weit offen. Die Pistole auf dem
Teppich sprach eine deutliche Sprache. Dem Steward schossen tausend Gedanken durch den Kopf. Sir Franklin hat sich das Leben genommen! Was nun? – Bedeutete der Tod des Admirals nicht das Ende der gesamten Expedition? Mein Gott, wenn das alle anderen erfuhren! Er zog den Schlüssel aus der Tür, schlüpfte hinaus und schloß ab. Auf dem Gang blieb er tiefatmend stehen. Nichts rührte sich, also hatte es keiner gehört. Nach einigem Zögern klopfte er bei Kapitän Fitzjames. „Herein! – Was gibt’s?“ „Sir – ein entsetzliches Unglück. Sir Franklin hat sich erschossen!“ „Großer Gott!“ Der Kapitän eilte hinaus; der Steward schloß hastig die Tür auf. Fitzjames kniete vor Franklin, dessen Gesicht schon eine wächserne Farbe annahm. „Rasch, holen Sie Doktor Stanley und Leutnant Le Vescomte! – Aber schweigen Sie gegenüber den anderen!“ Was konnte der Arzt tun? Nichts. Der Admiral war tot. Er hatte die Flucht aus dem Leben der Verantwortung vorgezogen. Kurze Zeit später standen alle Offiziere in der Kajüte. Der Steward eilte zu Kapitän Crozier, um die Schreckensbotschaft zu melden.
Der Mannschaft der „Erebus“ teilte man mit, Sir Franklin habe einen Schlaganfall erlitten, es stehe ernst um ihn. Lähmendes Entsetzen lag im Raume. Reverend Smith hatte ein stilles Gebet gesprochen, die anderen standen entblößten Hauptes dabei, ohne die Worte des Geistlichen zu begreifen. Kapitän Crozier kam mit dem Schlittengespann. Ernst, aber durchaus ruhig betrat er die Admiralskajüte, vor der sich die Matrosen drängten. Als er kam, wich die Ratlosigkeit. Jedermann spürte: Hier stand der neue Befehlshaber, und der wußte, was er wollte. „Meine Herren“, sagte er mit fester Stimme, nachdem er Fitzjames stumm die Hand gedrückt hatte, „leisten Sie sich in dieser Stunde den heiligen Schwur, daß die Mannschaft niemals erfährt, woran Sir Franklin gestorben ist. Andernfalls wäre alles verloren. – Leutnant Le Vescomte“, wandte er sich an den jetzigen Ersten Offizier der „Erebus“, „ich brauche zwei absolut zuverlässige und verschwiegene Matrosen.“ „Blanky“, sagte Kapitän Fitzjames. „Bauer“, sagte Robert O. Sergeant. Es dauerte nur wenige Augenblicke, bis beide Männer im Raum standen. Der Admiral war inzwischen auf eine Bank gelegt worden.
Crozier sprach die Seeleute an: „Hören Sie zu! – Sir Franklin ist nicht an einem Schlaganfall gestorben. Sir Franklin hat sich erschossen.“ Entsetztes Schweigen. „Sir Franklin hat sich erschossen, weil er keinen Ausweg sah, weil er glaubte, daß es keine Rettung gibt, daß wir alle verloren sind. Aber dürfen wir das glauben? Ist wirklich kein Ausweg mehr? Auf uns wartet der Tod, wenn wir uns selbst aufgeben! – Aber das werden wir nicht tun, hören Sie! Deshalb dürfen die anderen nicht wissen, wie der Admiral starb. Es darf keine Panik unter der Mannschaft geben, das wäre furchtbar. Wir müssen das schwere Geheimnis stumm tragen.“ „Nun denn“, sagte Blanky und sah den Rudergänger an. Sie nickten sich stumm zu. Der Admiral wurde mit militärischen Ehren begraben. Blanky und Karl Bauer hatten den Leichnam in eine Segelplane genäht, so daß niemand außer den Offizieren und wenigen Eingeweihten etwas über Sir Franklins wahre Todesursache erfuhr. Man bestattete ihn im Eise wie die anderen Männer, die seit dem Einfrieren der Schiffe gestorben waren. Kapitän Crozier, als dienstältester Offizier jetzt der verantwortliche Führer der Expedition, begann sofort, den Abmarsch der Männer
umsichtig vorzubereiten. Die Besatzung der „Erebus“ nahm die gleichen Tätigkeiten auf, wie sie seine eigene Mannschaft schon seit Monaten ausführte. Die Schiffszimmerleute bekamen den Auftrag, große Schlitten zu bauen, mit denen sich Boote transportieren ließen. Da die Beiboote der Expeditionsschiffe sich als zu schwer erwiesen, wurden auch dafür Neubauten vorgesehen. Reid aber, der Grönlandführer, erhielt die Weisung, gemeinsam mit dem Schützen James Thompson mit Hundeschlitten nach Kanada zu fahren. Diese Vorausgruppe sollte versuchen, mit Menschen in Verbindung zu kommen, möglichst auch eine Station der Hudson-Bay-Company zu erreichen. Vielleicht, so hoffte Kapitän Crozier, würde dann der Mannschaft vom Festland aus eine Such- und Rettungsgruppe entgegengesandt werden. An der Küste des King-Williams-Landes würde man inzwischen ein Depot von Brennstoff, Munition und Verpflegung errichten, das beim Verlassen der Schiffe als erster Stützpunkt dienen sollte. Die Offiziere erkannten, daß Croziers Pläne die einzige Rettungsmöglichkeit bargen. Man ging an die Arbeit in der Hoffnung, bald aufbrechen zu können. Eine Schiffsbesatzung besteht aber nicht nur
aus Offizieren; das sollten die Führer der Expedition bald zu spüren bekommen. Als die Nachricht vom Tode des Admirals der Mannschaft der „Erebus“ bekannt wurde, wirkte das Entsetzen anfangs wie eine Lähmung. Hatten viele die lange Überwinterung bisher gleichgültig hingenommen, alle Befehle ausgeführt, ohne zu bedenken, wie sich alles weiterentwickeln würde, so begannen sich die meisten nun mit der Zukunft zu beschäftigen. Ängstliche Naturen wie Curry und King sahen ihr schreckliches Ende voraus und ergingen sich in immer neuen Klagen. Treet schürte die düstere Stimmung, wo er konnte. James brachte er auf seine Seite, indem er ihm erzählte, daß es bald an der Zeit wäre, dem Bottlersmaat die Schlüssel abzunehmen und sich dadurch Schnaps zu verschaffen. Auf der „Erebus“ kam es zu den ersten Streitigkeiten. Bootsmann Storm beschwerte sich bei Leutnant Wilks über die Trägheit der Leute. Wohl führten sie noch alle Befehle aus; aber sie verhehlten nicht ihre Unlust. Beim Ersten Offizier Le Vescomte meldete sich sogar eine Abordnung, die allen Ernstes forderte, man möge ihnen sagen, was zur Rettung der Besatzung getan worden sei und wer für ihre Sicherheit garantiere. Le Vescomte warf die Leute kurzerhand hinaus.
Damit wurde es aber nicht besser. Kapitän Fitzjames hatte jetzt keinen mehr, nach dessen Weisungen er sich richten konnte. War er früher auch ein umsichtiger und mutvoller Kapitän – jetzt, da er jahrelang von Franklin abhängig gewesen, gewöhnte er sich nur zögernd an seine volle Verantwortung. Die Männer entdeckten sehr bald, daß dem Schiff im Augenblick die feste Hand fehlte. Sofort lockerte sich die Disziplin. Blanky allein hielt in seinem Logis Ruhe und Ordnung. Treet und James hatte er einer anderen Backschaft zuteilen lassen und dafür Ewald, den ewig hungrigen, und Percy, den schweigsamen Bastler, hereinbekommen. Sie waren ihrer zwölf, allesamt bewaffnet und mit Munition versehen. Blanky, der Polfahrer, wußte, wie hart das Leben in der Arktis war und daß diese Situation wache Augen und rasche Hände erforderte. Die anderen indessen wurden dreister, bald kam es zur ersten Befehlsverweigerung, so daß Kapitän Fitzjames Francis Crozier benachrichtigte, er möge seine Leute für alle Fälle bereithalten. Am nächsten Tage drohte eine Meuterei auszubrechen. Der Koch hatte wieder einige Konserven geöffnet, die nicht mehr ganz einwandfrei zu sein schienen. Er entschloß sich nach eingehender Prüfung schließlich doch dazu, sie
zu verwenden, und kochte sein Essen. Mittags begann es. Treet hatte wie alle anderen mißtrauisch an der Schüssel gerochen. „Teufel noch eins“, schrie er und spuckte hinein, „das Zeug mögen die Herren selber fressen, ich laß mich nicht vergiften!“ Damit goß er den Inhalt in den Bottich zurück. Das war wie der zündende Funke im Pulverfaß. Die Männer brüllten durcheinander, warfen die Schemel um, kippten nacheinander ihr Essen zurück und schleppten schließlich den Bottich miteinander zur Kombüse, wo sie den Koch mit harten Worten und Faustschlägen bedrängten. Sie verlangten Ersatz für die Mahlzeit, den der Koch nicht geben konnte. Nun wälzte sich der Haufe in die Laderäume hinunter. Die Männer brachen Kisten und Fässer auf, stopften sich voll mit Rosinen, Fleisch und Biskuits, die für die Offiziersmesse bestimmt waren. Als der Koch atemlos dem Kapitän davon berichtet hatte, befahl Fitzjames, die Laderäume zu verlassen, andernfalls würde er Gewalt anwenden. Der Zorn der plündernden Matrosen wuchs ins Maßlose. Sie setzten sich zwischen die Kisten, bewaffneten sich mit Brettstücken und Messern und erklärten, den Platz entweder freiwillig oder gar nicht zu räumen und vorläufig würden sie bleiben.
Fitzjames sammelte den Rest der Mannschaft um sich, die Offiziere verteilten Waffen, und es hatte den Anschein, als sollte es zum Kampf kommen. Reverend Smith, der Schiffsgeistliche, bat den Kapitän, kein Blut zu vergießen, und erbot sich, mit den Männern im Laderaum zu verhandeln. Nach geraumer Zeit erschienen tatsächlich einige Matrosen an Deck; aber sie näherten sich zaghaft und sahen bekümmert vor sich nieder. Einer stellte sich vor den Kapitän und sagte stockend: „Reverend Smith ist erschlagen worden. Wir hier haben keinen Anteil an dieser Tat, wir hatten nur Hunger. Das haben wir nicht gewollt, wahrhaftig nicht, Herr Kapitän.“ „Vorwärts!“ schrie Fitzjames, und die Mannschaft drang in den Laderaum. Sie fanden neben dem Leichnam des Geistlichen einen Matrosen, der stumm am Boden hockte und sich willig binden ließ. Eintragung im Logbuch der ,Erebus’: 15. Juli 1847: Reverend Smith, der sich unerschrocken für die Ordnung im Schiffe eingesetzt hat, wurde nach dem Lunch von einem aufrührerischen Matrosen erschlagen. Der Schuldige wurde auf meinen Befehl vor versammelter Mannschaft erschossen.
James Fitzjames, Kapitän und Commander. Alle diese Vorfälle behinderten die Vorbereitungen zur Rettung der Expedition. Kapitän Crozier beschloß daher, offen mit der Mannschaft zu reden, ihr zu sagen, worauf es in dieser Situation ankäme. Er versammelte die Besatzung der „Erebus“ an Deck und stellte sich mitten unter sie. Mißtrauen las er in den Gesichtern, auch Falsch und Verschlagenheit; aber es gab andere, die entschlossen und zuversichtlich blickten. Selbst Blanky, den er vom Tode des Admirals her kannte und der über die Lage besser Bescheid wußte als mancher Offizier, konnte die Hoffnung in seinen Zügen nicht verbergen. Crozier nickte ihm zu und begann: „Männer, ich bin zu euch gekommen, um mit euch über alles zu sprechen, was für uns not tut. Ihr wißt, wir sind vom Eis eingeschlossen; es besteht keine Aussicht wieder freizukommen. Wir müssen durch einen Gewaltmarsch über die Eis- und Schneefelder und die Meeresstraße zwischen King-Williams-Land und dem Festland hinweg menschliche Ansiedlungen in Nordkanada zu erreichen suchen. – Ich weiß, daß ihr unzufrieden seid. Das Essen ist schlecht, das Warten hier geradezu unerträglich. Unser Marsch nach Süden kann aber nur gelingen, wenn wir gut vorbereitet sind. War-
um lasse ich euch jeden Tag so viel laufen? Um euch an Fußmärsche zu gewöhnen! Weshalb lasse ich die Hundegespanne fortwährend an Land fahren? Damit wir später Depots vorfinden, in denen Vorräte bereitliegen. Ich sehe aber ein, daß es so wie bisher nicht weitergeht. Wir werden jetzt mit aller Kraft an die Arbeit gehen. Es müssen neue Boote gebaut werden; die alten sind zu schwer. Die Boote brauchen Zugschlitten. Ihr selbst braucht Marschkleidung. Nehmt euch zusammen, Männer! Wir alle tragen das gleiche Los – ab heute gibt es keinen Unterschied mehr im Essen! Die Offiziere essen mit den Mannschaften; ich befehle das“, setzte er hinzu, als er die erstaunten Blicke der Offiziere sah. „Ich verlange aber“, fuhr er fort, „daß ihr Disziplin haltet. Wer die Rettung der Expedition gefährdet, wird sich vor allen verantworten müssen. Jeder kann mit seinen Sorgen und Wünschen zu mir kommen; ich bin für alle da. – Und, Männer, laßt den Mut nicht sinken: ich marschiere voraus, ich bringe euch heim, wenn ihr mir folgt.“ „Ein Hoch für Kapitän Crozier!“ schrie Blanky, und „Hoch, hoch!“ antworteten die Männer. Die Kapitäne gaben sich die Hand. Am 12. August verließen die Matrosen Reid
und James Thompson mit einem Hundegespann die „Terror“. Sie hatten den Auftrag, eine Station der Hudson-Bay-Company zu erreichen. Der Schlitten war übervoll beladen mit Verpflegung, Brennstoff und Hundefutter; die Männer liefen auf Schneeschuhen nebenher. Sie fuhren am Rand des Meereises entlang, wo es einigermaßen gangbar war. Ihre Abreise sah einer Flucht ähnlich, sie mußten sich beeilen, vor Einbruch des Winters ihr Ziel zu erreichen. Inzwischen wurde auf jedem Schiff ein Boot gebaut. Es waren kleine Kunstwerke, achtundzwanzig Fuß lang, mit Mast und Segel und sechs Paar Riemen. Die Außenplanken waren wegen des Gewichts aus dünnen geklinkerten Kiefernbrettern gefertigt. Rund um das Schanzdeck war eine Wetterdecke mit vierundzwanzig Stützen befestigt. Die Boote sollten alle Vorräte aufnehmen. Jedes Boot bekam einen dreiundzwanzig Fuß langen Schlitten aus eisenbeschlagenen Kufen mit eichenen Querbalken und – verlaschten Stützkeilen. Aus Walleinen wurden die Schlepptaue geflochten. Die Decks glichen einer Werft: Späne flogen, Hammerschläge klangen, und das Geräusch der Sägen ergab eine eigene Musik in der weißen Einöde. Die fertigen Schlitten wogen mit den Booten
je sechshundertundfünfzig englische Pfund – viel zu schwer für den Mannschaftszug bei der großen Entfernung; aber es war nicht möglich, leichter zu bauen.
LONDON
Der Sekretär der britischen Admiralität schob ein Schreiben beiseite und wandte sich an die versammelten Offiziere: „Sir John Ross mahnt schon wieder“, sagte er. „Sie glauben nicht, wie oft er bei uns war, seitdem Sir Franklin fort ist.“ Admiral Beechey, der sich gerade mit Sir James Ross, dem Neffen Sir Johns, unterhielt, sah auf. „Ich muß sagen, daß unser lieber John Ross – Ihr verehrter Oheim – nur allzu recht hat, meine Herren. Wir haben September; der dritte Polarwinter bricht an, seitdem die Expedition fort ist, und noch immer haben wir keine Nachricht. Es wäre ein Zeichen von Gleichgültigkeit, wollte man noch immer warten.“ Der Sekretär nickte. „Es liegt ein Schreiben des Doktor King vor, der achtzehnhundertdreiunddreißig den Großen Fischfluß hinuntergefahren ist. Er spricht davon, eine Hilfsexpedition diesen Fluß entlang zu senden, da die Schiffe wahrscheinlich
in der Nähe seiner Mündung eingefroren seien.“ „Meine Herren!“ – Sir James Ross war aufgestanden – „Das halte ich für verfehlt. Wer die Arktis kennt, weiß, welch endloses Land das ist. Weil Herr Doktor King am Fischfluß bekannt ist und sich in dieses Gewässer verliebt hat, nimmt er an, daß ausgerechnet dort die Expedition liegt. Was nun, wenn fünf andere Doktoren gleichfalls Briefe schreiben und Franklin in den von ihnen entdeckten Gebieten vermuten. Das Schreiben ist es nicht wert, daß sich die Admiralität den Text für die Antwort überlegt.“ „Man müßte doch wohl die Begründung des Doktor King hören; vielleicht lassen wir sonst Möglichkeiten außer Betracht, die zur Rettung Sir Franklins führen könnten“, sagte Beechey. „Die Expedition sucht die Nordwest-Passage in der Verlängerung des Lancaster-Sundes, das heißt, daß sich die Männer niemals am Großen Fischfluß aufhalten können.“ „Doktor King ist immerhin ein Fachmann, Sir Ross.“ „Zugegeben, Mister Beechey; aber ich glaube, daß sich Sir Franklin sicher längst in der Nähe der Bering-Straße befindet. Wenn überhaupt, müßten wir ihn dort suchen. Ich hoffe jedoch immer noch, daß in einem Land, wo
Eskimos leben können, wo Pelzjäger und Robbenfänger sich ernähren, wo unser lieber Rae sich erhalten kann, auch Sir Franklin den Bedarf für seine Männer beschafft.“ „Ich stimme trotz allem dafür, Doktor King anzuhören.“ Der Sekretär nahm das Wort. „Ich schlage vor, die Berichte der Walfänger abzuwarten. Bringen sie keinen Bescheid, so werde ich sofort eine Sitzung einberufen, auf der all diese Fragen besprochen werden sollen.“ Und dabei blieb es.
KING-WILLIAMS-LAND. „TERROR“
Noch ehe Boote und Schlitten, noch ehe Kleidung, Kocher und Zelte fertig wurden, brach der dritte Winter herein. Man hatte sich noch nicht in Marsch setzen können, und nun in der vorgerückten Jahreszeit aufzubrechen, wäre unverantwortlich gewesen. Kapitän Crozier tat alles, um die Mannschaft aufzuheitern und bei Kräften zu halten. Man aß viel frischen Fisch, der in Eislöchern gefangen wurde. Die Konserven hatte der Expeditionsarzt Doktor Stanley treffend als langsam wirkendes Gift bezeichnet. Man verwendete sie nur sehr sparsam und erst nach sorgfältiger Auswahl. Kohle zum Heizen war genug vorhanden; denn man brauchte sie nicht mehr für die Kesselhei-
zung aufzusparen: die Maschinen würden nie mehr laufen! Daher standen mit Einbruch des Winters überall im Zwischendeck Öfen, die den Aufenthalt in den Schiffen erträglich machen sollten. Eines Morgens ertönte der dumpfe Laut einer leichten Explosion, gleich darauf erscholl der Ruf: „Feuer im Schiff!“ Die Männer gerieten in Bewegung. Von den Eislöchern her kamen sie mit Wassereimern gelaufen. Aus dem Niedergang zum achteren Logis quoll schwarzer Rauch. Die Männer preßten sich Tücher vor den Mund und verschwanden unter Deck. Nach einigen Minuten trugen sie zwei Matrosen herauf; ihre Kleider dampften. Was war geschehen? Ein Matrose hatte das Feuer im Logis nicht in Gang bekommen und mit einem starken Guß Schmieröl nachgeholfen. Nach einiger Zeit hatte die schwelende Glut plötzlich Luft erhalten; der Deckel des Ofens sprang hoch, und die Stichflammen entzündeten alles Brennbare in der näheren Umgebung. Dabei war auch die Kleidung der beiden Männer in Brand geraten. Nun schleppte alles, was laufen konnte, Wasser. Nach einer halben Stunde gelang es, das Feuer zu löschen. Inzwischen kämpften sich Reid und Thompson todesmutig nach Süden. Sie waren an der
Westküste des King-Williams-Landes entlanggefahren, hatten Kap Herschel erreicht und standen nach schier unmenschlichen Anstrengungen schließlich an einem breiten Meeresarm, der sie vom nordamerikanischen Festland trennte. In der Strömung schwammen große und kleine Schollen nach Westen. Die Männer blickten auf das Wasser, fuhren sich mit dem Pelzärmel über das Gesicht und sahen sich sorgenvoll an. Da hinüber gab es keinen Weg. Sie hielten eine Weile, dann fuhren sie langsam nach Osten weiter. Sie hatten damit gerechnet, daß um diese Jahreszeit sich das Meereis schon geschlossen haben würde; die starke Strömung aber hielt das Wasser wohl länger offen. Wenn die Männer nicht bald eine Übergangsstelle fanden, mußte sich die Situation bedrohlich auswirken. Die Hunde brauchten ihr tägliches Futter; jede Mahlzeit riß ein empfindliches Loch in die Vorräte. Sie lagerten am Rande des Wassers. Das kleine, graubraune Zelt klebte wie eine Schildkrötenschale zwischen den Schollen. Das ewige Warten war aufreibend. Thompson führte gewissenhaft Tagebuch: 22. September. Die Nächte sind schon erschreckend lang, wir fürchten die ersten Schneestürme.
24. September. Heute früh war das Meer mit Eis bedeckt; aber es trug nicht. 25. September. Eistreiben aus Nordost. Zwei Nebensonnen standen am Himmel, das ist gewöhnlich ein Vorzeichen schlechten Wetters. 29. September. Seit zwei Tagen tobt der Sturm, ich schoß eine Robbe, die Hunde sind recht schwach bei der kargen Ration. 1. Oktober. Wir verbrannten die letzte Kerze. Morgen soll es weitergehen, wir müssen südwärts. 3. Oktober. Das Meereis ist schlecht, wir kommen nur langsam vorwärts. Reid hat seinen Liebling Peer erschossen, er lahmte und hatte entzündete Augen. Die anderen wollten erst nicht an das Hundefleisch heran, aber der Hunger… 6. Oktober. Wir haben am Rande des Wassers viele Tage verloren, jetzt mangelt es an Proviant. Ich verfehlte einen Eisbären, sein Fleisch hätte uns retten können. 8. Oktober. Ich habe mir die Zehen des rechten Fußes erfroren, das Gehen fällt mir schwer. Der Brennstoff reicht noch für vier Tage, dann können wir den Kocher wegwerfen. 9. Oktober. Wir erreichten den Großen Fischfluß. Das Eis ist gut, die Kälte fast unerträglich. Habe starke Schmerzen im Fuß. 10. Oktober. Wieder zwei Hunde erschossen.
Ich kann kaum noch gehen. 12. Oktober. Reid amputierte mir zwei Zehen. Er ist recht besorgt und hilft den Hunden ziehen. Ich sitze im Schlitten. 14.Oktober. Ein trostloses Land. Ich habe Fieber. 15.Oktober. Reid schoß einen alten Moschusochsen. Die armen Hunde fraßen, bis sie umfielen. Wir kauen rohes Fleisch. Mein Fuß ist unförmig geschwollen. 17. Oktober. Fieber. Wir fahren drei Meilen. Hier endeten die Tagebuchaufzeichnungen des Matrosen Thompson. Am 20. Oktober stand Reid mit vier Hunden und dem fast leeren Schlitten neben einem Schneegrab. Er sprach ein stilles Gebet, dann wandte er sich nach Süden und stapfte neben dem Gespann her. Die entsetzlich mageren Hunde brachten den Schlitten kaum noch von der Stelle. Bald – bald mußte die Ansiedlung kommen. Reid lief peinlich genau nach dem Kompaß, hatte das Flußtal verlassen und legte trotz der Entkräftung und des hügeligen Geländes jeden Tag eine ziemlich große Strecke zurück. Die Dunkelheit nahm zu. Er konnte in dem Dämmerschein noch einen Schneehasen schießen, trank das warme Blut und überließ das Fleisch den Hunden, die es im Handumdrehen
zerrissen. Nach zwei Tagen mußte er den Schlitten stehenlassen und schleppte sich mit zwei Hunden weiter. Ohne Zelt, ohne Brennstoff, einige Pfund Pemmikan im Beutel, erlag er am nächsten Tage einem Schneesturm, der ihn samt den Tieren begrub. Niemand erfuhr in Kanada, daß dort oben bei King-Williams-Land hundert Menschen im Eise der Rettung harrten.
LONDON, DEZEMBER 1847
Die Walfänger aus der Arktis waren zurückgekommen; aber niemand brachte einen Bericht über Franklin. Auch die Agenten der Hudson-Bay-Company hatten nichts von ihm und seinen Männern erfahren. Die Expedition
schien von der Erdoberfläche verschwunden zu sein. Die englische Öffentlichkeit – obgleich durch die politischen Ereignisse in Spannung gehalten – war über das Ausbleiben jeglicher Nachricht in Unruhe; Lady Franklin und Sir John Ross hatten mit unmißverständlicher Schärfe die Admiralität aufgefordert, endlich etwas für die tapferen Polfahrer zu unternehmen, die dort oben mit ihrem Leben für Ehre und Ansehen der englischen Nation eintraten. Endlich raffte sich die Admiralität auf. Es war zwar ein ungünstiger Augenblick; denn gerade kam ein neues Parlament zustande, während die irische Hungersnot und die Abwanderung nach Nordamerika weiterhin anhielten. Es wurde eine denkwürdige Sitzung. – Die Hauptfrage, die kaum richtig beantwortet werden konnte, lautete: Wo sollen wir Franklin suchen? – Die Walfänger, die mitunter bis in den Lancaster-Sund und die Barrow-Straße vordrangen und auch in der westlichen Hemisphäre nördlich der Bering-Straße operierten, hatten weder Landmarken noch angeschwemmte Nachrichtenzylinder gefunden, die Standort und Fahrtroute der Schiffe verrieten. So tappte man völlig im dunkeln. Der einzig richtige Vorschlag des Doktor
King, eine Suchgruppe in den Meereswinkel vor der Mündung des Großen Fischflusses zu schicken, wurde als völlig undiskutabel zurückgewiesen: die Nordküste Kanadas kannte niemand so eingehend wie Sir Franklin. Er war bekannt bei Eskimos und Indianern und wäre längst mit den Agenten der Hudson-BayCompany in Verbindung getreten. Außerdem lag die Mündung des Fischflusses viel zu weit östlich und damit abseits der Fahrtroute. Wenn die Männer wirklich irgendwo an der Nordküste Amerikas lagen, dann nur weiter im Westen – etwa am Kupferminenfluß, und diese Küste war Franklins eigene Entdeckung. Die Schiffe mußten anderswo liegen. Sicher waren sie in einer der zahlreichen Wasserstraßen zwischen den Parry-Inseln eingefroren, unter Umständen steckten sie im Eise nördlich der Bering-Straße, und Franklin war direkt durch den Smith- oder Jones-Sund über den Pol gegangen. Wer ihn kannte, kannte auch seine abenteuerlichen Pläne. Nördlich der Bering-Straße sollte es auch irgendwo noch Land geben; im Jahre 1762 wollte ein Russe namens Andrejew die sagenhafte Insel Titigen gesehen haben. Man konnte wirklich genausogut eine feine Nadel in einem Eisbärfell suchen. Die Herren der Admiralität berieten Stunde um Stunde und kamen endlich zu dem Ent-
schluß, mit dem kommenden Jahre drei Hilfsexpeditionen abzusenden. Eine sollte durch die Davis-Straße in den Lancaster-Sund einlaufen, die zweite durch die Bering-Straße nach Norden gehen, die dritte endlich über Land etwa an der Mündung des Kupferminenflusses die Küste des Festlandes zu erreichen suchen. Man wußte schon jetzt, daß diese Unternehmen weit mehr Geld verschlingen würden als Franklins Expedition selbst; aber der Druck der öffentlichen Meinung war zu stark geworden, als daß man es hätte wagen dürfen, nichts zu unternehmen. Schon Ende 1847 erklärte sich der englische Reisende Rae begeistert bereit, in Begleitung des Dr. Sir John Richardson am Rettungswerke teilzunehmen. Er mußte allerdings seine Forschungsarbeit in Boothia Felix unterbrechen; aber er tat dies freudig, da auch die Hudson-Bay-Company das Vorhaben unterstützte, ja sogar Mittel zur Finanzierung beisteuerte, um zu beweisen, daß sie keinerlei Groll gegen die Forschungsreisen anderer Engländer im arktischen Amerika hegte. Im Februar 1848 schrieb Dr. Richard King, als er von den geplanten Rettungsexpeditionen der Admiralität und den Suchgebieten hörte, erneut einen Brief, in dem er den Weg längs des Großen Fischflusses als die geradeste und
beste Zugangsstraße nach den Gebieten westlich der Insel North-Somerset bezeichnete. Dort müßte Franklin sich mit seinen Leuten aufhalten. Man könnte zwar auf dem beschriebenen Wege keine Lebensmittel entgegenschicken, da der Zugang schwierig sei; aber durch landeskundige Führer könnte man die Männer in Gegenden bringen, die durch ihren Wildreichtum genug Lebensmöglichkeit böten. Die Admiralität lehnte sein Anerbieten ab mit der Begründung: „Wir wissen aus Erfahrung, daß Forschungsreisende für die von ihnen einstmals begangenen Wege sehr eingenommen sind. Wir erinnern uns, daß Sie, Herr Dr. King, bereits in früheren Jahren eine eigene Entdeckungsreise den Großen Fischfluß hinab planten, aber nicht die Mittel dafür aufbringen konnten. Außerdem halten wir es für sicherer, North-Somerset und die Gebiete westlich davon von der Barrow-Straße aus zu erforschen. Im übrigen verweisen wir auf den Beschluß der Admiralität vom Dezember des Vorjahres, in dem die Suchziele für die geplanten Expeditionen endgültig festgelegt worden sind.“
KING-WILLIAMS-LAND, IM MÄRZ 1848
Der Hauptteil des Winters war gut überstan-
den. Einige Male hatte man etwas Frischfleisch bekommen; die gute Heizung in den Schiffen und die umsichtigen Maßnahmen Kapitän Croziers hatten Verluste vermieden; lediglich Dick, der nun schon lange im Krankenlogis lag, war seiner Nervenkrankheit erlegen. Man hoffte, daß Reid und Thompson irgendwo im Süden auf Menschen gestoßen waren und daß mit dem Frühjahr Hilfe aus Kanada kommen würde. Noch während des Winters waren alle Vorbereitungen zur Abreise beendet worden. Jedes Schiff trug an Deck einen Schlitten mit dem hochbeladenen Boot. Der Ladebaum brauchte nur außenbords zu schwenken und die Fahrzeuge auf das Eis zu setzen. Blanky hatte seinen Hundeschlitten bereit; sein Gespann war gut bei Kräften. Man brauchte nun nicht mehr zu sparen, da viele Lebensmittel zurückbleiben mußten. Eine fürchterliche Eispressung hatte das Schicksal der „Erebus“ während des Winters endgültig besiegelt; mehrere Spanten waren gebrochen und die Bordwand eingedrückt; trotzdem hielt sich das Schiff im dicken Eise, als ob nichts geschehen wäre. Auch Percy hatte einen kleinen, schnellen Schlitten gebaut, ein schnittiges Fahrzeug, das mit seinen acht Hunden eine erstaunliche Geschwindigkeit entwickelte. Er wollte mit Hilfe
dieses Gefährts die Verbindung zwischen den Männern während des Marsches aufrechterhalten. Jeder hatte seine Pläne. Karl Bauer war ungewöhnlich zweckmäßig ausgerüstet. Seine Kleidung war leicht und beweglich und trotzdem sehr warm. Sie enthielt überall Taschen für Lebensmittel und kleine Flaschen, um Getränke durch die Körperwärme flüssig zu erhalten. Am Handgelenk hatte er sich einen Kompaß befestigt; Munition trug er griffbereit, wie sie gebraucht wurde. Jeden Morgen machte er einen raschen, weiten Lauf, badete in Schneewehen, um sich abzuhärten und an Strapazen zu gewöhnen. Er wollte und mußte zurück: jemand wartete auf ihn, jemand brauchte ihn und seine Liebe. Ach, Liebe! Er mußte ein Wesen haben, dem er gut sein konnte, daher nahm er sich des Schiffsjungen Ben an. Der Bursche war inzwischen hoch aufgeschossen, hager und schlaksig geworden, und seine Oberlippe war von dichtem, weichem Flaum bedeckt. Er weinte nicht mehr, zu seinem sich entwickelnden Baß hätte das auch kaum noch gepaßt. Ein Punkt war noch ungeklärt. Die Kapitäne berieten über John Black. „Was soll mit ihm werden?“ fragte Fitzjames. „Er ist zum Eisen verurteilt. Was erfordert nun
die veränderte Situation? Führt man ihn in Fesseln mit oder läßt man ihn auf Bewährung frei?“ „Eins steht fest“, sagte Kapitän Crozier, „wir können ihn nicht mehr standrechtlich verurteilen. Er kann nichts dafür, daß wir in diese ausweglose Lage geraten sind.“ „Der Mann bedeutet aber eine Gefahr, wenn er in Freiheit ist. Er wird den Haß gegen seine Gegner kaum überwunden haben – eher noch genährt während der Gefangenschaft.“ „Er mag sich bewähren. Zur Vorsicht gibt man ihm keinerlei Waffen. Er soll sich in der Mitte des Trupps aufhalten und den Schlitten schieben helfen. – Was will er mehr? – Er kann sich so seine Freiheit erkaufen.“ „Ein Mann wie John Black kauft nicht, er nimmt sich die Freiheit“, sagte Fitzjames. „Mir wäre wohler, wenn der Admiral damals ein standrechtliches Urteil gefällt hätte.“ „Wir müssen uns mit den Tatsachen abfinden.“ „Er geht also mit?“ „Ja. – Ich will es versuchen.“
EUROPA, MÄRZ 1848
Europa wurde von den Ereignissen geschüttelt. Überall rüttelte das Volk an den Ketten.
Die Revolution ging durch die Länder. Paris, Wien, Dresden, Berlin wurden Schauplätze des Geschehens. Auch England, das sonst so sorglich über das „europäische Gleichgewicht“ gewacht hatte, erzitterte in seinen Grundfesten. Lord Palmerston, der führende Politiker, sah sich unter dem Druck des Volkes genötigt, die Brotpreise zu senken und zahlreiche Waren zu verbilligen. Trotzdem kam es in Limerick und Tipperary zu blutigen Szenen. In den Dubliner Gefängnissen harrten fast hundert eingekerkerte Menschen ihrer Aburteilung. Die lange gefürchtete Wirtschaftskrisis begann. Spekulationen hatten die Baumwollpreise hochgetrieben. Die Passiva der zugrunde gegangenen Handelshäuser zählten nach Millionen. Das Staatsdefizit betrug 1847 eine Million Pfund Sterling. Täglich meldeten Handelsunternehmen ihren Konkurs an. Die Kreise um Mister Wellmann und Mister Phelps hatten rechtzeitig ihre Schwindelaktien abgestoßen und lauerten auf neue Beute wie Geier auf Aas. In diesen Tagen, da die Regierung fieberhaft nach einem Ausweg suchte, wurden Entsatzexpeditionen für Sir Franklin ausgerüstet – doch so dürftig, daß sie auf keinen Fall längere Zeit in der Arktis operieren konnten. Es fehlte an Geld. Die geplante Erhöhung der Einkom-
mensteuer um zwei Drittel hatte einen Sturm hervorgerufen, so daß die Gesetzesvorlage zurückgenommen werden mußte. Endlich, noch ehe die Schiffe ausliefen, konnte die Regierung gewaltsam Herr der Lage werden: die Unruhen in Manchester und Glasgow wurden mit Hilfe des Bürgertums unterdrückt, die für den 6. April in Kensington vorgesehene große Chartistendemonstration kurzerhand verboten und überall das Militär mobilisiert. Am 10. April hatte London das Aussehen eines Heerlagers. Militär- und Polizeistreifen beherrschten die Straßen. Wer etwas zu tun hatte, huschte eilig von Haus zu Haus, um nur nicht die Aufmerksamkeit der Patrouillen zu erregen. Einige Frauen, in Umschlagetücher und Mäntel vergraben, schritten der Themse zu. Zwischen ihnen, hochgewachsen und sauber, ein tadelloses Schulenglisch sprechend, Maria Droege. Sie war als Gesellschafterin in einem Bürgerhause untergekommen und plagte sich nun mit den Unarten der Kinder. Ihr Kapital war zu klein gewesen, um ohne Arbeit durchzukommen. Die Arbeit schützte sie zudem vor trüben Gedanken und ständigem Grübeln. Maria hatte schon nach einigen Tagen Verbindung mit Frauen bekommen, die gleichfalls
Angehörige bei der Franklin-Expedition hatten. Da war die Mutter eines Bootsmannes, die Frau eines Hilfsarztes, die Braut eines Vollmatrosen, die sie alle herzlich aufnahmen. Sie lasen sich gegenseitig ihre Briefe und gesammelten Zeitungsausschnitte vor, suchten auf der Landkarte die Gegenden, wo die Lieben vielleicht in Not und Gefahr sein mochten, und fühlten sich einander zugehörig. Eines Morgens war die Nachricht gekommen, unterhalb der Towerbrücke liege die „Enterprise“ zur Ausfahrt in die Arktis bereit. Sir James Ross, der Neffe des Sir John, wolle sich auf die Suche nach Franklin begeben. Die Frauen waren eine zur anderen gelaufen, hatten rasch Briefe geschrieben und eilten nun – ungeachtet aller Gefahr und Unruhe in den Straßen –, das Schiff zu suchen. Es lag längsseits eines Frachters, von dem Proviantkisten übernommen wurden. Die Frauen gelangten unangefochten an Deck dieses Schiffes. Von dort führte eine schmale Laufplanke, gefährlich hoch über dem Wasser, zur „Enterprise“ hinüber. Hier stand ein Schauermann. „Frauen, wohin wollt ihr?“ „Die ,Enterprise’ geht morgen in See? Stimmt das?“ „Das stimmt.“
„Wir wollen Briefe abgeben.“ „Das hättet ihr eher machen können, die Wachen sind eingeteilt. Dem Kapitän wird’s nicht recht sein, daß ihr die Leute noch sprechen wollt.“ „Unsere Männer sind bei Franklin…“ Der Mann machte große Augen. „Bei Franklin?“ sagte er und nahm seine Mütze ab. Dann wurde sein Blick weich, er wandte sich zur „Enterprise“ hinüber und rief: „He –Bill! – Hier kommen Frauen, deren Männer mit Franklin fahren, um Briefe abzugeben.“ Drüben tauchten einige neugierige Gesichter auf. Ein vierschrötiger, trotz des kühlen Wetters nur mit einer Hose bekleideter Seemann rückte das Tuch über dem nackten Hals gerade und rief: „Okay – moment, boy!“ Ein Seil flog herüber, wurde verknotet, dann ging eine Frau nach der anderen über den schwankenden Steg. Manch eine mußte sich auf die Lippen beißen und den Blick heben, damit ihr nicht schwindelte. Sie saßen mit der Freiwache im verräucherten Mannschaftslogis und erzählten. Sie nannten wohl ein dutzendmal die Namen, gaben allerlei Ermahnungen mit und ihre Briefe. Und die Männer hatten Tränen in den Augen und schüttelten ihnen zum Abschied die Hände – immer und immer wieder.
KING-WILLIAMS-LAND
Am 22. April 1848 verließen die Mannschaften ihre Schiffe „Erebus“ und „Terror“, die noch immer hilflos im Eise steckten. An der Westküste des King-Williams-Landes lagen im Abstand von vielen Meilen Proviantlager; denn alles mitzunehmen, was für die weite Fahrt benötigt wurde, war unmöglich. Nahrung und Brennstoff eines einzigen Monats für etwa hundert Leute wiegen bereits 10 600 englische Pfund. Dazu kamen Kocher, Äxte, Spaten, Silber aus den Offiziersmessen und andere Dinge für den Tausch mit den Eingeborenen. Auch Erinnerungsstücke von Verstorbenen führte man mit. Die Männer spannten sich vor die Schlitten oder schoben, soweit Platz für eine Hand war. Andere trugen Seesäcke oder zogen Kisten auf Schlittenkufen hinter sich her. Blanky und Percy waren mit ihren Hunden vorausgezogen, um den Weg zu erkunden, der an manchen Stellen erst mühsam für die großen Bootsschlitten geschlagen und geebnet werden mußte. Erst nach vielen Stunden, während deren man zeitweise längere Pausen einlegen mußte, vereinigten sich die Mannschaften der „Erebus“ und der „Terror“. Sie begrüßten sich, aßen und
legten sich, wo sie standen, nieder, um einige Stunden zu schlafen. Nichts ist so anstrengend, wie schwere Lasten durch unwegsames Gelände zu ziehen. Kapitän Crozier ging mit Kapitän Fitzjames von Gruppe zu Gruppe. Welch große Verantwortung hatten sie auf sich genommen, mit all den Männern den furchtbaren Weg nach Süden anzutreten! Die Verantwortung war selbst einem Sir Franklin zu groß gewesen; er hatte sie gescheut, und gerade er besaß doch die Erfahrung eines Menschenalters arktischer Reisen. Jetzt wollte man es trotzdem wagen! Die Matrosen lagen und schliefen. Wie alt manche geworden waren seit der Abfahrt aus England! Alle trugen Barte, die Gesichter waren verwittert, teils auch durch Frostschäden entstellt und vernarbt. Wie viele würden noch sterben, ehe vielleicht nur ein kleiner Teil die rettenden Siedlungen erreichte! Crozier sah einen nach dem anderen an. Dort lag der Offizierssteward der „Erebus“, den Spazierstock des Admirals im Arm. Hatte es ihm die silberne Krücke angetan, oder war der Stock bequem zum Stützen? – Karl Bauer lag mit dem Kopf auf seiner Segeltuchtasche und hatte die Augen offen. Vielleicht waren die kostbaren, nun schon recht schmutzigen Briefe ein zu hartes Polster zum Schlafen. James’ rote Pu-
delmütze, mit verschiedenfarbigen Wollresten gestopft, leuchtete trotz ihres Alters aus dem Schnee, und Ben, dürr und schlaksig, hatte sich eingerollt wie ein Eichhörnchen im Winterschlaf. Nach drei Tagen, am 25. April 1848, erreichten die Männer das Festland bei Kap Victory. Leutnant Irving, der eine Vorausabteilung führte, hatte den Steinhaufen und das Dokument entdeckt, das Leutnant Gore dort im Vorjahr niedergelegt hatte, und brachte es zu den Kapitänen. Inzwischen war an den Felskuppen ein richtiges Lager entstanden. Zelte wurden errichtet, hier und da surrten Kocher; zwischen allem erhoben sich die Boote auf ihren Schlittenkufen wie vorweltliche Riesentiere. Die Offiziere ließen das Blatt reihum gehen; dann taute Kapitän Fitzjames etwas Tinte auf und schrieb an den Rand: 25. April 1848. Ihrer Majestät Schiffe „Terror“ und „Erebus“ wurden am 22. April fünf Meilen nordwestlich von hier verlassen, da sie seit dem 12. September 1846 im Eise festsaßen. Offiziere und Mannschaft, insgesamt 105 Mann unter Kommando des Kapitäns F. R. M. Crozier, landeten hier in 69° 37’ 42“ nördlicher Breite, 98° 4V westlicher Länge und (da der Platz am Rand nunmehr ausgefüllt war, schrieb er bei der
Unterschrift weiter) brechen morgen, den 26. nach Backs Fischfluß auf. Dieses Papier fand Leutnant Irving unter einem Steinhaufen, den wahrscheinlich Sir James Ross 1831 vier Meilen von hier hat errichten lassen; der verstorbene Leutnant Gore legte es im Juni 1841 dort nieder, James Ross’ Steinhaufen haben wir aber nicht mehr gefunden, und das Papier wurde dahin gebracht, wo Ross’ Steinhaufen gestanden hat. – Sir John Franklin starb am 11. Juni 1847; bis dahin betrug der Gesamtverlust an Toten 9 Offiziere und 15 Mann. F. R. M. Crozier, Kapitän und ältester Offizier. James Fitzjames, Kapitän H. M. S. „Erebus“. Anderntags brachen sie auf, längs der Westküste des Landes nach Süden. Kapitän Crozier richtete nochmals einige ernste Worte an die Männer, schilderte ihnen die Lage und sagte, daß nur eiserne Disziplin und der gute Wille jedes einzelnen Rettung bringen könnten. So begann dieser beispiellose Marsch mit der Gewißheit, daß am Wege der unbarmherzige Tod auf viele Männer wartete.
LONDON
Mister Wellmann hatte Besuch. Phelps, wie immer gut gekleidet und bei jeder Gelegenheit
seine guten Manieren hervorkehrend, war wieder einmal im Hause. Die Herren saßen einander im Rauchsalon gegenüber; sie waren allein, deshalb brauchte keiner von beiden sich zu verstellen. Sie kannten sich. In diesem Falle bedurfte es keiner Maske. „Das Irland-Geschäft floriert?“ fragte Phelps und betrachtete eingehend die Rauchstreifen, die nach jedem Zug aus beiden Enden der Zigarre verschiedenfarbig herauszogen. „Ich kann nicht klagen“, antwortete der Hausherr. „Die Fracht nach Amerika wird weiterhin anfallen.“ „Ich las gestern, daß bisher die genaue Zahl der Opfer der Kartoffelfäule noch nicht ermittelt werden konnte; man spricht von einigen Hunderttausend.“ „Mag sein“, sagte Wellmann. „Das Wesentliche für uns ist, daß sich keine Hand für sie rührt. Was bleibt den armen Menschen denn übrig, als in hellen Scharen auszuwandern?“ „Auf den Schiffen Ihres Unternehmens?“ „Ja – gewiß; sonst fährt niemand von Irland aus. Das Land hat keine Ladung.“ „Wie hoch steht eigentlich die Gewinnquote pro Kopf der Auswanderer?“ fragte Phelps und sandte dem Hausherrn einen listigen Blick durch die Lider zu. Wellmann lachte. „Man spricht nicht gern
über seine Bilanz“, erwiderte er. „Ich habe Verantwortung – nun, die muß man natürlich bezahlen.“ „Sehen Sie, Mister Wellmann.“ Phelps rückte auf seinem Polsterstuhl hin und her. „Bei Ihrer Verantwortung, die doch gewiß mitunter recht drückend ist, würde Ihnen, so denke ich, eine Unterstützung recht gelegen kommen.“ „Sie wünschen in das Irland-Geschäft einzusteigen, wenn ich recht verstehe?“ „Es wäre mir angenehm.“ „Ist das Franklin-Geschäft nicht mehr zu halten?“ „Sie wissen, was mit derartigen Unternehmen zur Zeit zu verdienen ist, Mister Wellmann. Das Kapital liegt fest. – Ich bin aus der ,TransPassage-Company’ ausgeschieden.“ „Nanu!“ „Die Bank von Burns und Canter steht auch vor dem Konkurs. Ich hoffe, daß Sie Ihrem früheren Geschäftspartner in dieser Lage zur Seite stehen, Mister Wellmann.“ „Ich habe Ihre Aktien mit gutem Gewinn verkaufen können, Mister Phelps. Ich schätze Ihre Kenntnisse, das wissen Sie. Besuchen Sie mich doch gelegentlich in meinem Kontor in der Cannon Street!“ „Gern, Mister Wellmann.“ „Wir werden sicher etwas Passendes für Sie
finden. -Aber sprechen wir nicht mehr vom Geschäft, sprechen wir von anderen Dingen! Was gibt es Neues?“ Phelps zog eine Zeitung aus der Tasche. „England hat die Sklaverei in seinen Kolonien aufgehoben“, sagte er. Wellmann setzte ein zufriedenes Lächeln auf. „Sehen Sie – das ist eine erfreuliche Nachricht. Wir gehören einer gesitteten, zivilisierten Nation an, die jedem Menschen das Lebensrecht garantiert.“ Die Männer nickten sich zu. Für Irland gab es nach wie vor nur das Recht der Auswanderung, wenn man noch jung und kräftig genug für die Neue Welt war.
KING-WILLIAMS-LAND
Die Männer waren aufgebrochen und hatten sich in langgestreckter Marschkolonne nach Süden fortbewegt. Zurück blieb ein zertretener Lagerplatz; zurück blieben allerlei Gegenstände, die den Trägern zu schwer und daher überflüssig geworden waren – zurückblieb ein Mann! Er hatte sich hinter einem Hügel verborgen und war still liegengeblieben, als sich die Matrosen vor die Schlitten spannten und die Kolonne abmarschierte. Er hatte Croziers Appell
gehört, hatte auch – mit wachen Ohren – vernommen, wie knapp bemessen die Verpflegung sein würde. Er faßte in diesem Augenblick den Entschluß, den Marsch nach dem Süden nicht mitzumachen. Über das Wie seines weiteren Lebens zerbrach er sich kaum den Kopf. Er wußte nur, daß er bei dieser knappen Kost den weiten Weg nach Kanada hinein kaum überstehen würde. Er hatte nun einmal einen krankhaften Hunger, der Matrose Ewald. Seitdem seine Verpflegungskiste leer war, schien ihm die Sonne weniger hell. Während der Überwinterungen hatte er in jeder freien Minute in den Eislöchern geangelt und viele Fische verspeist. Die Männer waren verschwunden. Er stand auf dem Lagerplatz und stieß mit dem Fuß nach den vielen liegengebliebenen Gegenständen. Ein Kocher ragte aus dem Schnee, eine Schaufel lag daneben, eine Axt seitab. Man würde diese Dinge unterwegs brauchen; aber was half es, wenn man jedes Pfund Gepäck ziehen oder schleppen mußte! Mehrere Dekken waren in ein Segel gerollt; Ewald zerrte sie auseinander – ein Stechzirkel fiel ihm entgegen, dann ein Sextant. Er hob ihn auf. „Hornby“ war darin eingraviert. Einige Meter entfernt stand ein gefüllter Arzneikasten.
Überall war warme Kleidung verstreut, mitunter in fußhohen Haufen. Ewald warf noch einen Blick nach Süden, wohin die vielen Fuß- und Schlittenspuren wiesen; dann drehte er sich um und ging nach Nordwesten davon. Einmal bückte er sich noch und hob eine gefüllte, schwere Büchse auf, die allem Anschein nach Schokolade enthielt. Gleich darauf ging er eilig weiter, aufs Meereis hinaus, den eigenen Spuren entgegen. Hier waren sie vorgestern und gestern entlanggekommen. Draußen vor der Küste lockten die Schiffe, man erzählte, die „Terror“ sollte noch völlig unbeschädigt sein. Der Proviant, der dort noch lag, mußte für einen einzelnen Mann schier endlos lange reichen. Schließlich würde das Schiff wohl auch wieder einmal frei werden; man konnte ein, zwei Segel setzen, sich ans Steuer stellen – wer weiß! Wichtig war nur, daß dort in der „Terror“ ein warmes Quartier winkte, Ruhe und Proviant, viel Proviant. Das Schiff lag im Eis, wie es verlassen worden war. Ewald kletterte auf das schräge Deck hinauf, verschwand im Einstieg, öffnete alle Türen. Herrlich, ein Schiff ganz für sich allein zu haben! Er betrat die Messe, setzte sich auf einen Polsterstuhl, stand wieder auf, befühlte den Leuchter, füllte ihn, schlug Feuer und be-
gann zu heizen. Im Laderaum lagen Kisten, Säcke und Fässer bunt durcheinander. Ewalds Augen leuchteten. Mit einem mächtigen Stück Rauchfleisch und allerlei Kostbarkeiten beladen kam er in die Messe zurück, wo das Feuer im Ofen prasselte. Ein herrliches, ein paradiesisches Leben begann. Die Messe wurde sein Wohnraum, und er verbrachte seine Tage mit Essen, Schlafen und Spazierengehen. Alles sah er sich an, blätterte in den Büchern der Offiziere, zog ihre Uniformen an, las ihre Briefschaften und rauchte ihren feinen Tabak. Er fing sogar an, Tagebuchnotizen zu machen wie der Kapitän eines Schiffes. Alle Signalflaggen, die er fand, zog er an den Flaggenleinen auf. Es war ein Leben, wie er sich’s in seinen kühnsten Träumen nicht hatte erhoffen können. Und – welch köstlicher Gedanke! – während er hier praßte und sich’s wohl sein ließ, zogen die anderen, Schritt um Schritt, durch die Eiswüste, bekamen das kaum Allernotwendigste zum Leben zugeteilt und froren. Ewald konnte es aushalten und notfalls ein alter Mannwerden als Besitzer eines Schiffes, mochte es auch am Ende der Welt liegen. Im folgenden Jahre entdeckte ein streifender Eskimotrupp die im Eise eingeschlossene „Terror“. Die Männer erzählten später einem
Agenten der Hudson-Bay-Company: „Wir fanden einen Mann, der am Tisch saß. Er hatte einen Topf Fleisch vor sich stehen und war tot.“ Der Zug nach Süden wurde zu einem entsetzlich langsam dahinschleichenden Heerwurm. Die kleinste Last drückte und plagte die Männer. In dem unübersichtlichen Gelände löste sich die Marschkolonne bald in einzelne Trupps auf, die man ständig wieder sammeln mußte, um niemanden zu verlieren. Dadurch kam es ganz von selbst so, daß der langsamste Mann das Tempo angab. Dazu waren die beiden Bootsschlitten immer noch viel zu schwer. Die Vorausabteilung, die unter der Führung von Leutnant Irving mit beiden Hundegespannen fuhr, machte den Tagesweg der Marschkolonne mehrmals hin und her und hatte das Glück, ab und zu auf Wild zu stoßen. Wenn es einem abgesplitterten Trupp zuviel wurde, blieben die Männer einfach stehen und machten Rast, wann, wo und wie lange es ihnen behagte. Solch eine Rastgruppe wieder auf die Beine zu bekommen, war recht schwierig; denn bei jedem Halt entstanden die verschiedensten Wünsche. Kaum wurde irgendwo eine Pause eingelegt, so tauten schon einige Männer Schnee, um sich zu waschen, wickelten sich frische Fuß-
lappen um die Beine, fetteten, salbten, massierten. Andere legten sich nieder, wo sie standen, und schliefen auf der Stelle ein. Andere wieder begannen zu schmausen. Diese alle hätte man wohl recht bald wieder zum Weitermarsch bewegen können, wenn nicht die sogenannten Beutemacher das verhindert hätten. Diese hatten sich längst ins Gelände zerstreut, das Messer im Stiefelschaft, die Büchse im Arm; und sie kamen zu ganz verschiedenen Zeiten zurück. Einer brachte eine Handvoll Vogeleier, ein anderer frisch geschossene Sturmvögel, manch einer wohl auch einen Schneehasen. Man hätte den Marsch aushalten können, wenn nicht diese entsetzlich schweren Schlitten gewesen wären. Jeder Schneehügel kostete die Männer Anstrengung über Anstrengung. Sie krochen wie Schnecken über das Gelände. Erreichten sie gar ein Geröllfeld, so mußten stundenweite Umwege gemacht werden. Die tägliche Marschleistung ging kaum über einige Meilen. Crozier war verzweifelt. Wie konnte man vor dem Winter das kanadische Festland erreichen, wenn die Kolonne so träge blieb! Der Arzt hatte alle Hände voll zu tun; denn viele Männer hatten entzündete Augen, manche waren
sogar schneeblind geworden und mußten geführt werden. So wurde eine Tagesrast eingeschoben, damit sich jeder eine Schneebrille fertigen konnte. Die Matrosen saßen vor den Felsen in der Sonne, schnitzelten sich Lederstreifen oder bohrten kleine Löcher in Knochenstückchen, die dann als Lichtblenden dienten. Einer zerrte mit dem Messer ein gemaltes Miniaturbildchen aus der Tasche. Viele Hände griffen danach. Das Bild zeigte ein lächelndes Mädchen, das eine Rose in der Hand hielt. Ein Mädchen! Sie staunten es an wie ein Wunder.
„Sieh nur den Mund!“ „Und wie sie die Hände hält!“ „Blaue Augen – ach!“ In der Arktis kann es geschehen, daß sich acht vernünftige Männer in ein gemaltes Bild verlieben – so sehr verlieben, daß es weh tut. Herrgott – man hat viele Mädchen gehabt und hat sie behandelt… ja wie denn? – Als Zeitvertreib hat man sie betrachtet, hat sie verächtlich und ehrlos gemacht. – Manchmal hat man sie sogar geschlagen. Und nun hat ein gemaltes Bildchen solch eine Macht! Man sitzt mit gefalteten Händen davor, sieht und staunt und begreift, was man versäumt hat. Man wird an diesen Augenblick denken, wenn man wieder daheim ist. Ach – daheim! Vorläufig sitzen sie noch am Felsen und schnitzeln sich Schnee-
brillen. Nach Stunden zog ein Sturm auf. Sie krochen in die Zelte oder unter die Felsen und lauschten in das Toben hinaus. Kapitän Crozier saß stumm inmitten einer Gruppe Matrosen. Sie rauchten, kauten Schiffszwieback und hingen ihren Gedanken nach. William Green, dessen Dudelsack auf dem Schiff zurückgeblieben war, begann zu sprechen: „Vor zweieinhalb Jahren haben wir schon mal so gesessen. Weihnachten war’s, ein paar Kameraden von der ,Erebus’ waren im Schneesturm verschwunden.“ „Ich weiß“, sagte der Kapitän. „Sie haben unter dem Felsen von Ihrem Traum erzählt, ich hab’s wohl behalten: ,Hundert Männer ziehen im Sturm nach Süden – hoffnungslos.’ – Jetzt ist es soweit!“ „Aber wir werden’s schaffen, Mister Crozier.“ „Wir müssen es schaffen.“ „Sie sind doch davon überzeugt, Herr Kapitän?!“ „Gewiß, Leute, gewiß! – Aber ein Kapitän ist eben auch nur ein Mensch mit Zweifeln und schlechten Gedanken – und den Stunden der Angst. – Draußen heult der Sturm; jeder Tag,
den wir festliegen, wird uns einige Menschenleben kosten; denn wir verzehren unseren Reiseproviant.“ „Als Mensch hat der Kapitän aber Freunde“, sagte eine Stimme aus dem Winkel. „Die sind bei ihm in seiner Angst.“ Crozier sah auf. „Sie sind Blanky, nicht wahr?“ fragte er in die Richtung, woher die Trostworte gekommen waren. „Ja, Herr Kapitän.“ „Ich kenne Sie. Sie sind einer von den guten Geistern unserer Expedition, auf deren Worte nie gehört wurde. Wir sind in unseren Gedanken verwandt.“ „Wir brauchten hier nicht zu sitzen“, sagte Blanky, „wirklich und wahrhaftig nicht. KingWilliams-Land kann man von Osten her umfahren.“ „Ich weiß, Blanky. Sagen Sie, was hat Kapitän Ross getan, damit den Männern in den langen Wintern der Mut nicht ausging?“ „Er hat unter seinen Leuten gesessen und alles mit ihnen geteilt. – Wie Sie, Herr Kapitän.“ „Blanky, ich werde keine Warnung in den Wind schlagen. Wenn ich etwas falsch mache, so sagen Sie mir das ohne Scheu, hören Sie.“ „Ja, Mister Crozier. – Ich glaube, wir machen jetzt schon etwas falsch. Ich meine, wir sollten nach Nordosten gehen. Am Lancaster-Sund
wird man uns suchen – wirklich und wahrhaftig, Mister Crozier.“ „Ich habe daran gedacht; aber wir haben wenig Proviant. Wenn wir am Lancaster-Sund ankommen und dort monatelang auf ein Schiff warten müßten, wie furchtbar wäre das! So marschieren wir immerfort, ohne Pause, nach Süden und haben die Hoffnung, eines Tages Menschen zu treffen.“ „Unser Weg ist ein Weg ohne Ende.“ „Alles hat ein Ende, auch unsere Wanderung, Männer. Wir haben unsere Pflicht getan, wie es verlangt wurde. Jetzt gehen wir nach Süden um unseretwillen und um uns in London auf den Trafalgar-Square zu stellen und es allen zu sagen, die satt zu Hause sitzen, was wir erlitten haben im Eis. Die Kaufleute sollen begreifen, wie teuer ihr Gewinn draußen erkauft wird, die Politiker sollen verstehen lernen, wieviel Blut der Ruhm und die Ehre der britischen Krone kosten. Wir wollen es allen sagen – der Admiralität, der Königin, den Finanzleuten! Und wir wollen sie fragen: ,Was sind wir euch wert?“‘ „Zwanzigtausend Pfund Sterling“, sagte Blanky. „Wir haben die Nordwest-Passage nicht gefunden“, erwiderte Crozier bitter, „die Rechnung Sir John Franklins hatte ein Loch.“ Die Männer senkten die Köpfe. Manch einer
begriff erst jetzt, daß das Unternehmen gescheitert war. Die Aufgabe konnte nicht gemeistert werden. Alles war eigentlich umsonst gewesen – alles. Im Juni 1848 fuhren von der Baffin-Bai aus die Schiffe „Enterprise“ und „Investigator“ auf die Suche nach Sir Franklin und seinen Männern. Die „Enterprise“ wurde von Sir James Ross befehligt. Er kannte die Arktis seit 1819, war mit Sir Edward Parry auf drei Expeditionen gefahren und hatte vor nicht allzu langer Zeit, 1841, als Befehlshaber der Schiffe „Erebus“ und „Terror“ das Süd-Victoria-Land in der Antarktis entdeckt. Er galt als erfahrener Polarforscher, war sehr ausdauernd, von kleiner, kräftiger Gestalt und für diese Aufgabe einer der geeignetsten Leute. Allerdings hielt er diese Suchexpedition nach wie vor für ein überflüssiges Unternehmen und war überzeugt, daß „Erebus“ und „Terror“ bei seiner Rückkehr wohlbehalten auf der Themse liegen würden. Der mit ihm befreundete MacClintock fuhr als sein Untergebener auf demselben Schiff. Die „Investigator“ wurde von Kapitän Bird befehligt, dessen Erster Offizier Mac Clure war. Sie kamen nur sehr schwer vorwärts, da immer noch keine besseren Wetterverhältnisse
für die arktische Seefahrt eingetreten waren. Das Packeis wurde zu ungeheuren Bastionen zusammengepreßt, so daß sie im Juni an der Küste Westgrönlands festlagen.
KING-WILLIAMS-LAND
Der Sturm toste schon seit Tagen. Über den Strand kroch ein Mann. Aus einer Kopfwunde rann das Blut und zeichnete seine Spur. Mehrfach stürzte er nieder, sank mit dem Kopf auf die Steine; aber er riß sich stets wieder taumelnd hoch, als wäre etwas hinter ihm, was ihn unermüdlich trotz seiner schweren Wunde vorwärtstrieb. Ein Zelt klebte am Felsen. „Leutnant“, schrie der Verletzte, „Leutnant!“ Sie kamen heraus, so rasch das bei diesem Sturm möglich war. „Percy, Menschenskind! – Was ist passiert?“ Der Matrose hing in ihren Armen. „John Black“, stöhnte er, „mit dem Schlitten – weg!“ „Damned! Black! – Hätten ihn an die Wand stellen sollen!“ Leutnant Irving preßte einen Tuchballen gegen die Wunde. „Den Doktor!“ rief er, „den Doktor!“ Der Wind riß die Worte wie Fetzen vom Mund.
Ein Mann stolperte davon. Sie legten Percy, den schweigsamen Bastler, in den Windschatten. Nach einer Weile schlug er die Augen wieder auf und sah die Männer an. „War Black allein?“ forschte der Leutnant. „Nein“, hauchte Percy, „Treet und James – alle drei.“ „Schurkenstreich“, sagte Irving und sah auf. „Was wollen die damit erreichen? Meinen sie, allein nach Kanada zu kommen? Sorgen Sie für den Mann!“ rief er den anderen zu. „Ich muß zum Kapitän.“ Crozier und seine Männer schliefen. Der Leutnant berichtete kurz, was vorgefallen war. „Fahnenflucht“, sagte der Kapitän, „aber es ist beinahe aussichtslos.“ „Mister Crozier“, ließ sich Blanky vernehmen. „So aussichtslos ist die Sache nicht. Die drei passieren all unsere Proviantlager. Können sich überall gut versorgen, meine ich.“ „Es muß etwas geschehen“, antwortete Francis Crozier. „Wenn wir nichts unternehmen, gehen wir an Disziplinlosigkeit zugrunde. Wir müssen ihnen mit dem zweiten Schlitten nachfahren.“ „Ich übernehme das, Herr Kapitän“, sagte Irving. „Sie haben einen Hundeschlitten meiner Abteilung gestohlen und den Lenker schwer verletzt.“
„Nehmen Sie mich mit“, sagte Blanky. „Gut“, sagte der Kapitän. „Sie lenken den Schlitten. Laden Sie alles ab und stecken Sie noch etwas Verpflegung in die Taschen. Es steht zwei zu drei; aber ihr beiden seid schneller und könnt sie überraschen. Sicher findet ihr sie im nächsten Depot.“ „Herr Kapitän, ich bitte um Erlaubnis, daß ich ein standrechtliches Urteil vollstrecken darf.“ „Männer“, sagte Crozier und sah sich im Zelt um. „Was verdient ein entsprungener Mörder, der einen anderen bei der Flucht schwer verletzt, in unserer Lage?“ „Den Tod.“ Während Doktor Stanley den Verletzten behandelte und sorgfältig verband, jagte Blanky mit seinem Hundegespann auf der Spur der Flüchtigen durch den Sturm nach Süden. Hinter ihm hockte, das Gewehr im Anschlag, Leutnant Irving. – Pfeilgeschwind ging es ohne die hemmende Ladung. Die Hunde kläfften, aber sie zogen, als ob der Teufel ihnen folgte. In einer Senke lagen Kisten und Säcke. „Da!“ rief Blanky. „Sie hoffen auf die Vorräte in den Depots.“ „Vorwärts, Blanky!“ „Hü – joh!“ Die Peitsche sauste über die Hunde hin, das
Gespann ruckte, und pfeilgeschwind ging es in einer Wolke Staubschnee weiter, immer am Rande des Meereises entlang. Juli 1848. Auch im Stillen Ozean tobte der Nordsturm. Südlich der Bering-Straße kreuzten zwei Schiffe mühsam nach Norden auf. Es waren die Segler „Plover“ und „Herald“, die von der Bering-Straße aus die Suche nach Franklins Expeditionsschiffen aufnehmen sollten. An Bord war als geographischer Fachmann Leutnant Pullen, der genaue Instruktionen der Admiralität erhalten hatte. Für das Jahr 1848 kam diese Suchexpedition allerdings nicht zum Einsatz, da „Plover“ vor Erreichen der Basis an der asiatischen Küste einfror. „Herald“ mußte infolge der ungünstigen Eisund Witterungsverhältnisse umkehren. „Halt! – Stehenbleiben!“ Leutnant Irving verhielt, das Gewehr im Arm, gegenüber der Felswand, vor der das Proviantlager, Kisten mit Segelplanen bedeckt, errichtet war. Die drei dort beschäftigten Männer warfen sich nieder. Stille. Die Schlittenhunde standen und sahen mit steil aufgerichteten Ohren zu Irving herüber. Drüben krachte ein Schuß, und neben dem
Leutnant stiebte der Schnee auf. Die Burschen machten ernst. Irving trat ruhig hinter einen Felsen, warf sich dort aber blitzschnell nieder und kroch, so rasch es die Pelzkleidung gestattete, seitwärts zwischen die Hügel. Drüben fielen zwei Schüsse, sicherlich mehr aus Aufregung; denn ein Ziel konnten die Schützen kaum haben. Ein langgezogener Pfiff kam vom Strand her. Die Hunde sprangen herum und spitzten die Ohren. Noch ein Pfiff – da setzte sich das Gespann in Bewegung und lief, trotz der verwirrten Leinen, mit dem heftig schlenkernden Schlitten davon. Oh, Blanky verstand sich auf Hunde. Hinter den Kisten tauchten fluchend zwei Männer auf. Wie unvorsichtig, dachte Irving und drückte ab. Drüben ging Treet mit einem Schmerzenslaut in die Knie. Die anderen kümmerten sich nicht um den gefallenen Kumpan; sie krochen ein Stück zur Seite und eröffneten dann ein wahres Schnellfeuer auf den Felsblock, hinter dem der Leutnant verschwunden war. Irving lag inzwischen schon wieder an einer ganz anderen Stelle. Er sah, wie es drüben aufblitzte; die Pulverwölkchen standen gleich schmutzigen Wattebäuschen vor dem Felsen, aber er schoß nicht. Er wollte seine Schüsse
sicher anbringen. Blanky streichelte inzwischen die Hunde, die ihn freudig bellend umsprangen, ordnete dann die Leinen und pflockte Percys Gespann nahe dem seinen an. Nun konnte er sich an der Jagd beteiligen. John Black und James hatten bald das Nutzlose ihres Beginnens erkannt. Sie schossen nicht mehr, sondern verhielten sich ganz still hinter den Kisten. Was beginnen? Sie wußten weder, wie viele Gegner sie vor sich hatten noch wo sich diese befanden. Sie begriffen aber, daß ohne ihr Gespann die Lage aussichtslos werden mußte. Black schickte deshalb James fort, nach den Hunden Ausschau zu halten. Aber James hatte getrunken. Sein erster Blick im Proviantdepot hatte den Brandyflaschen gegolten, und er hatte sie auch gefunden. Und nun – eine solche Lage und Brandy im Kopf! Er kroch am Fuß des Felsens entlang immer weiter von den Kisten weg, kam in eine flache Senke, kroch immer rascher, um dem Leutnant, den er drüben am Felsen vermutete, aus dem Schußfeld zu kommen. Irving konnte ihn allerdings nicht sehen; aber Blanky lag seit einigen Minuten neben den Felsblöcken oberhalb der Senke.
Doch er schoß nicht. Man schießt nicht leicht auf einen Mann, der lange Monate mit einem das Logis geteilt, neben dem man in Sturm und Gefahr gestanden, am gleichen Tau gezogen, aus der gleichen Kanne getrunken hat. Wenn er auch immer ein Stänker gewesen ist – was tut’s! Man war in gleichen Verhältnissen geboren worden, mit knurrendem Magen aufgewachsen, wie er. Man hatte gleich ihm die Hände in den Taschen behalten – wohl auch zur Faust geballt –, wenn ein Lord in seiner Equipage vorübergerollt war und man eigentlich hätte den Hut ziehen müssen. Blanky wußte, daß er auf den ahnungslos Kriechenden schießen mußte. Die Männer hatten beschlossen: Tod! Henker sein ist ein schwerer Beruf. Blanky schloß die Augen. Aber man kann mit geschlossenen Augen nicht zielen. Also zwang er sich zu klaren, kühlen Gedanken. Wir anderen müssen leben, darum… Wer weiß, ob überhaupt einer am Leben bleibt! Oh, du unbarmherzige Welt! James, möchte er rufen, Fahrensmann, Freund, geh weg, kriech zurück, sonst… Der Mann erhob sich, sah herüber – und ließ sein Gewehr sinken.
„Ich muß dich erschießen, James“, sagte Blanky, ohne die Flinte abzusetzen. „Ich weiß“, erwiderte der andere, „mach’s kurz, Blanky.“ Er stürzte im Donner des Schusses nieder wie ein gefällter Baum. John Black hatte den Schuß gehört. Er hob sich halb hinter den Kisten hoch und schrie so laut er konnte: „He! – Ich weiß, daß ihr mit mir abgeht, aber das Depot fliegt dabei in die Luft. Laßt mich in Frieden!“ Alles blieb still. Irving sah Blanky am Strand stehen und winkte. Sie besprachen sich rasch. Es war John Black zuzutrauen, daß er mit Hilfe des eingelagerten Brennstoffs das ganze Depot vernichtete. Ein schwerer Verlust – also hieß es vorsichtig sein. Blanky sicherte von den Steinblöcken aus, indes Leutnant Irving den halsbrecherischen Aufstieg in die Felswand begann, um eine Stelle über John Black zu erreichen. Blanky beobachtete jede Bewegung des Offiziers, wie er alle Griffe vorsichtig prüfte, ehe er das Gewicht verlagerte. Nach etwa zwei Stunden war es geschafft. Irving kroch über einen Felsbuckel und sah das Depot schräg unter sich. Treet lag lang im Schnee; aber wo
war John Black? Da! – In der Nähe des toten James, weit hinten, spähte Black vorsichtig über die Hügel. Wenn er die Hunde in seinen Besitz brachte, waren die beiden Männer hilflos. Irving winkte aufgeregt zu Blanky hinunter. Der Matrose begriff sofort. Gewandt glitt er hinter den Steinen hervor und eilte am Strand entlang zum Halteplatz der Schlitten. Fast gleichzeitig mit John Black langte er dort an. Sie standen sich gegenüber – beide mit schußbereiten Gewehren – Haß in den Augen; aber keiner gab sich eine Blöße, die dem anderen einen Schuß erlaubt hätte. Leutnant Irving mußte vom Felsen aus zusehen. Es war ein Zweikampf, Mann gegen Mann. „Blanky“, sagte John Black, „einer von uns beiden ist zuviel.“ Keine Antwort. „Hat es dir die Sprache verschlagen?“ Keine Antwort. Sie warteten, daß einer von ihnen die Büchse bewegte. Da schoß Leutnant Irving. John Black wandte nur einen Augenblick den Kopf; aber das genügte Blanky, um das Drama zu beenden. Der ehemalige Expeditionsarzt Franklins, Sir John Richardson, leitete die Rettungsexpediti-
on von Kanada aus. Er brach mit zweiundvierzig Mann, vierzig Pferden und fünf Booten von der Hudson-Bai in nordwestlicher Richtung auf. Die Männer waren mit Vorräten reich versehen, hatten aber eine Seuche in ihrem Pferdebestand mitgeschleppt, der nach und nach alle Tiere erlagen. Deshalb mußten die Expeditionsteilnehmer die ganze Ladung in schier übermenschlicher Anstrengung bis zum Athabaskafluß tragen. Am Großen Bärensee bezogen sie Winterlager. Von hier aus operierte Sir Richardson mit dem schon mehrfach erwähnten Reisenden John Rae zusammen. Sie zogen den Mackenziefluß hinunter und erreichten am 3. August 1848 das Eismeer bei Kap Bathurst. Jeder Eskimo, jeder Indianer wurde befragt; aber keiner hatte weiße Männer oder gar Schiffe gesehen. Richardson fuhr in Booten die Eismeerküste entlang bis Kap Parry. Dort ging es nicht weiter. Nach Osten zu war ein Chaos von Eisbergen und Schollen. „Wenn Franklin in diese Hölle geraten ist“, schrieb Richardson in sein Tagebuch, „gibt es keine Hoffnung auf Rettung, auch wenn er sich und die Seinen an die Küste gerettet hat. Hier ist meilenweit eine so völlig öde Eiswildnis, daß der Hungertod unvermeidlich ist.“ Die Männer beschlossen umzukehren, und da war keine innere Stimme, die ihnen sagte, daß
gerade die aufgegebene Richtung die rechte gewesen wäre. Sie gingen über Land zurück nach Kap Krusenstern und vergruben hier ein Boot mit Kleidungsstücken, Lebensmitteln, Zelten und Munition. Als Wegweiser wurden farbige Zeichen an die Kalkfelsen gemalt. Nach diesem Liebesdienst zogen sie in Eilmärschen zurück zum Großen Bärensee. Inzwischen hatte ein starker Nordsturm eine Fahrrinne von Westgrönland nach der PondsBai hinüber aufgerissen, welcher James Ross und Bird mit den Schiffen „Enterprise“ und „Investigator“ folgen konnten. Sie suchten vergeblich die Küste von Cockburn-Land ab, fanden aber weder Nachrichten von Franklin vor noch Eskimos, die sie hätten nach ihm fragen können. Alle Landmarken früherer Entdeckungen wurden gewissenhaft untersucht. Es fand sich ein Steinmal Parrys vom Jahre l819 mit einer nicht mehr lesbaren Meldung. Endlich wehte ein günstiger Wind, den die Schiffe zur Einfahrt in den Lancaster-Sund ausnutzen konnten. Sie hatten mehr Glück als vor Jahren „Erebus“ und „Terror“ in denselben Gewässern. Ohne Pressungen und Stürme erreichten sie die Leopold-Insel in der BarrowStraße. Hier errichteten die Männer ein Lager mit Lebensmitteln; dann wurde gewissenhaft die Umgebung durchsucht. Man brachte In-
schriften an weithin sichtbaren Felswänden an, setzte überall Stangen und Steinhügel und ließ eine große Zahl Flaschenposten zu Wasser, die den Unglücklichen bei Auffindung von dem errichteten Lager Kenntnis geben sollten – leider einige Hundert Meilen zu weit nördlich!
KING-WILLIAMS-LAND
Kapitän Crozier hatte die Marschtaktik geändert. So wie bisher konnte es nicht weitergehen; denn es gab Leute, die ungestüm vorwärtsdrängten und aus Überzeugung marschierten wie Kapitän Fitzjames, Leutnant Irving, Steuermann Sergeant, Blanky und Karl Bauer, der Deutsche. Es gab jedoch auch andere, die jedesmal murrten, wenn es nach der Rast weitergehen sollte, lässig waren in Leistung und Haltung, aber stets nach dem größten Stück Fleisch Ausschau hielten. Endlich gab es Männer, die den Strapazen des Marsches nicht gewachsen waren, kränkelten und nur mühsam das viel zu kleine Tagespensum bewältigten. Daher riß die Kolonne immer wieder auseinander, zog sich in die Länge, zersplitterte, und mehr als einmal hatte man Versprengte suchen und zurückbringen müssen. Jetzt sollte der Transport in Etappen weiter-
gehen. Die Mannschaft wurde in Leistungsgruppen eingeteilt; jede dieser Gruppen, mit Kompaß und Uhr versehen, marschierte nun selbständig. Die Hundeschlitten hielten eine lose Verbindung, und während die langsameren Abteilungen nachrückten, gingen die Männer, die ihr Wochen - bzw. Monatsziel erreicht hatten, auf Jagd oder Fischfang. Trotzdem, das wußte Kapitän Crozier, würde man in diesem Sommer kaum das Festland erreichen können. Doktor Stanley fuhr mit den Hundeschlitten; er wurde überall gebraucht. Die Männer hatten schlimme Füße, hin und wieder gab es auch Verrenkungen. Seeleute sind keine guten Fußgänger, und ein so zusammengewürfelter Haufen Männer wie die Expedition Franklins schon gar nicht. Dazu kam der Mangel an allerlei gewohnten Sachen. Man entdeckte plötzlich, daß eine ganze Gruppe ohne Nadel und Faden war, daß also ein zerrissenes Kleidungsstück zerrissen blieb. Anderswo hatte man Trinkgefäße vergessen oder zur Erleichterung irgend etwas fortgeworfen, was nun dringend benötigt wurde. In der Not fehlen Dinge aller Art, und wer nicht fest ist in seinem Ziel und Wollen, wird über Kleinigkeiten mutlos. In solchen Situa-
tionen, da jeder ein gehöriges Maß an Verantwortung für das Ganze mit sich trägt, braucht man Zuversicht und Selbstvertrauen. Der Mensch hat allein das Glück in seiner Hand und muß es nutzen. Ob mit Gott oder ohne, ist seine Sache – wenn er’s nur hält! Oh, du trostlose Wanderung, wann wirst du ein Ende haben? Wir sind müde und hungrig und krank. Verflucht die, die da vorweg stürmen, als wären es andere Menschen. Wir sind Ballast in ihren Augen – oh, wie sie uns hassen. Ja, wir wollen Ballast sein, recht schwer wollen wir uns machen und sperrig. Die Stürmer sollen nicht denken, daß sie ohne uns das Ziel dort vorn erreichen: Kanada! Die Lage gebar böse Gedanken. Links lag das Land mit seinen wilden, braunen Felsen, rechts das zerklüftete, tückische Meereis. Berge, Täler, Seen und flache Hügel wechselten dort ab; es war eine richtige Landschaft; aber alles schien nur gehässige Kopie wirklichen, warmen Lebens zu sein; denn was das Auge sah, war Eis, blankes, kaltes Eis, das den Tod spiegelte. Aber es gab einen, der stärker war als Eis und Not und trübe Gedanken. Der kam plötzlich von vorn mit dem Hundegespann, stand lachend zwischen den grauen Gestalten, lud ein Fäßchen mit frisch geschossenen Vögeln ab
und sagte: „Da, eßt Leute, vorn gibt’s noch mehr.“ Kapitän Crozier tauchte überall auf, wo man ihn nicht vermutete, wo Stimmungen aufkamen, denen gegenüber die Offiziere und sogar die Gewohnheitsspaßmacher mit ihrem Galgenhumor versagten. Kapitän Crozier schien zu wittern, wo man ihn brauchte; er sprühte Humor; er konnte durch einige Worte für eine ganze Woche Hoffnung hervorzaubern und auch die Nachzügler immer wieder mutvoll weiterhumpeln lassen – nach Süden – nach Süden! Kapitän Crozier – wenige nur kannten seine andere Seele, wenige nur hörten ihn im Traum stöhnen und sahen, wie er Zahlen aufs Papier setzte, grausame, unheimliche Zahlen. Was ißt ein Mensch täglich? Wieviel wiegt das? Wie weit kann ein Mensch mit diesem Gewicht marschieren? Wieviel Tagesrationen überhaupt tragen? – Was wiegt ein Schuß Pulver? Wievielmal darf man ein Stück Wild verfehlen, um bis Kanada zu kommen, ohne zu verhungern? – Und wieder mußten zehn Konservendosen weggeworfen werden. – Und was die Hunde so am Tage fressen! – Und das langsame Marschtempo, dieser Schneckenzug nach Süden… Erbarmen! So viel Sorgen kann ein Kopf al-
lein nicht fassen – und die vielen, unlösbaren Gleichungen, bei denen eine Unbekannte die andere jagt, kann ein Kopf allein nicht lösen! Und er muß es doch! Die „Enterprise“ und die „Investigator“ operierten immer noch in der Barrow-Straße; aber Westkurs konnten auch sie nicht nehmen; immer noch war das Meer nicht frei. Als sie gar westlich der Leopold-Insel vom Packeis bedrängt wurden, befahl Sir James Ross die Rückkehr in die Winterstation Port Leopold. Aber der September brachte Nebel und Sturm, so daß die Schiffe nur mit ungeheurer Anstrengung bis dorthin kamen. Immer noch brannte die Frage nach dem Schicksal Sir Franklins und seiner Männer in aller Herzen. Bisher hatte die ganze mühevolle Sucharbeit nichts genützt. Am Lancaster-Sund in der Barrow-Straße und auf den angrenzenden Inseln war von den Vermißten keine Spur zu finden gewesen. Wie viele Wochen hatte man geforscht und aufmerksam Welle um Welle verfolgt, ob sie nicht einen Nachrichtenzylinder brächte, von denen Franklin so viele mitbekommen hatte! Nutzloses Suchen! Nun stehen die Männer der Suchexpedition mutlos am Fuß der braunen, kahlen Klippen,
über denen das Gletschereis blinkt, und ziehen in ihr Winterlager ein, das so viele Vorräte für Sir Franklin und seine Leute enthält. Wollen sie nicht kommen und essen und sich mit heimnehmen lassen? Das Meer gab keine Antwort, und der Nebel, der da aus dem Norden heranzog, war wie ein Leichentuch. Bald würde wieder graue, stürmische Nacht sein; schon lag die Sonne tief am Horizont. Sie sah Franklins Männer, sie und die Vögel, die nach dem Süden flogen.
KING-WILLIAMS-LAND, SEPTEMBER 1848
Bei Kap Felix errichteten die Männer des Vortrupps das Winterlager. Aus Steinen wuchsen lange, ovale Mauerkränze, wurden sorglich mit Moos verstopft und sollten als Dach die Boote erhalten. In ihrem Schutz konnten so die Zelte stehen; die Felsen mußten auch die Gewalt des Sturms brechen, wenn er in der Winternacht über das Land heulte. Nach und nach trafen die einzelnen Gruppen bei Kap Felix ein. Je später sie kamen, desto müder sahen sie aus, desto größer waren auch die Lücken in ihren Reihen. Nur die Schlußabteilung fehlte noch; aber der Posten auf den Felsen hatte die Männer schon gemeldet. Während einzelne Matrosen auf Handschlit-
ten Steine zusammenfuhren, hatten die Kapitäne auf einer ebenen Fläche das Besteck genommen, um die Karten zu vergleichen. Plötzlich fiel ein Schuß. Die Offiziere sahen auf. Vom Meere her kam in scharfem Tempo ein Hundeschlitten. Der Mann darauf, sie erkannten Leutnant Irving, schwenkte sein Gewehr in der Luft. Was war geschehen? Alles sah ihm entgegen. „Kommen Sie“, sagte Kapitän Crozier. „Er wird wichtige Nachricht bringen.“ Irvings Gesicht glänzte vor Freude. Die Pelzkappe war ihm vom Kopf geflogen und hing mit dem Band an seinem Hals; er achtete nicht darauf. „Mister Crozier!“ rief er, noch ehe er ganz heran war. „Ein toter Pottwal liegt im Eis – eingefroren… Die Hunde fraßen wie toll – das Fleisch ist noch gut und muß nur losgehackt werden.“ Die Hunde hielten japsend. „Das ist allerdings eine erfreuliche Nachricht“, sagte Fitzjames, „ich gratuliere.“ „Fleisch und Tran für den Winter“, ergänzte Crozier, und dann fiel er seinem Leutnant vor allen Männern um den Hals. Fleisch und Tran! – Mein Gott, welch ein Fund. Man hatte auf Robben gewartet und viel, viel mehr gefunden. Die Freude griff wie ein Feuer auf die ande-
ren über. Sie vergaßen ihre Arbeit, sprangen umher, lachten und schwatzten. – Walfleisch war nicht gerade ein Genuß, aber dem Hunger doch gewiß vorzuziehen. Ein Winterlager mit Fleischkeller zu finden, das hätte keiner zu träumen gewagt. Kapitän Crozier war es seit langem wieder einmal leicht ums Herz; hatten sie soviel Unheil erduldet, mußte wohl jeder das Glück freudig begrüßen, wenn es trotz allen Geizes einmal lächelte. Mitten in diese Freude hallte der Ruf des Ausguckpostens. Die Nachzügler kamen. Es nahte ein Zug wie eine sich vorwärts schiebende Walze. Grau die Gesichter, die Kleider, die Herzen, der Geist. – Grau – es liegt etwas Erdrückendes in dieser Farbe, dem grauenvollen Grau. Schwarz ist tröstlich, hat die erhabene Ruhe des Todes, gleicht aus, was die Verschwendung der Farben zuviel des Guten getan hat. Aber dieses Grau ist Vermischung des Lebens mit dem Tode, bringt keine Hoffnung auf Leben oder Sterben, ist Siechtum und geistloses Dämmern. Die Männer warfen sich nieder, ließen willenlos alles mit sich geschehen, was die anderen ihnen zur Erleichterung taten. Warmes Getränk wurde gebracht, Grütze und Zwieback; aber manche wollten nicht einmal mehr essen - die Stiefel wollten sie loswerden und
die erfrorenen Füße aus den nassen Lappen wickeln. Einer hatte das Zahnfleisch voll eitriger Blasen; viele trugen Binden vor den Augen. Viele fehlten. Stumm wurde dieser Zug des Elends begrüßt; stumm kam als letzter Leutnant Back, der für die Nachzügler verantwortlich war. Er ließ den Mann, den er stützte, niedergleiten, trat zu den Kapitänen und legte ohne ein Wort die Hand an die Pelzkappe. Francis Crozier drückte ihm ebenso stumm die Hand. Was brauchte man hier zu reden – man sah genug. Jeder griff zu, die kranken Männer in die Hütten zu bringen. Allmählich kroch die Polarnacht herauf, schickte Nebel und Stürme vorweg. Man verschloß Türen und Zeltvorhänge und legte sich nieder. Der Mensch ist allzu hilflos im Toben der Natur; er hält den Atem an im Sturm und lauscht hinaus, als ob dort draußen Stimmen wären, die er zu fürchten hat.
LONDON
November, Nebel in der Arktis, Nebel über England, notleidende Männer im Eis, wartende Frauen in der düsteren Stadt. Sie wissen ihre
Liebsten draußen in der Einöde, und das Leben ringsum geht weiter, als fehlte niemand. Die Kaufleute haben ihre üblichen zufriedenen Gesichter, der Adel fährt in gewohntem Hochmut einher, die Marktweiber rufen sich heiser, die Seeleute kommen und gehen – aber keiner von denen, die bei Franklin waren. Der Winter kam, und kein Gruß hatte den Weg aus der Ferne in die Heimat gefunden. Die Mädchen, die so etwas leichtnahmen, hatten sich längst einen anderen gesucht; die Bräute waren bleich und die Frauen gramzerfurcht. Es konnte nicht mehr gut ausgehen. Nun kam der vierte Winter, den sie unterwegs waren. Gewiß, auch John Ross hatte vier Jahre im Eis gelegen; aber es war eine Ausnahme, ein Glücksfall, daß er es überstand. Da stimmte etwas nicht mit Sir Franklin. Andererseits konnten doch zwei Schiffe nicht einfach verschwinden. Maria Droege saß bei Frau Greating und nähte. Der dicke Londoner Nebel war bedrückend und ließ die Frauen enger zusammenrücken. Harry, der Junge, saß beim Schein einer Petroleumlampe und las in einem Seemannsbuch. Man sprach nicht viel. Maria hatte sich an das Leben in London gewöhnt. Sie wartete wie alle anderen Frauen;
Karl war ihr Mann und fuhr unter Sir Franklin, so wurde sie unter den Leidensgefährtinnen durchaus als gleichberechtigt geachtet. Da sie für niemanden zu sorgen brauchte, schloß sie sich denen an, die hier und da Beistand nötig hatten, half im Hause und ward ob ihrer stillen Art gern gesehen. Erst hatte es geheißen: „… wenn die Männer wiederkommen.“ Jetzt sagte man wohl: „… wenn man über ihr Schicksal etwas erführe…“ Manche, die in der Familie schon mehr vom Seemannslos erfahren hatten, scheuten sich nicht, die Männer für tot anzusehen. Aber das konnte nicht möglich sein! Maria wartete und würde noch Jahre weiter warten. Als sie gegen Abend heimging, stand im Winkel an der Tür ein junges Mädchen in einem verwaschenen Kleide. Sie hatte die verarbeiteten Hände in ihrer Schürze verborgen und starrte auf die lärmenden Kinder am Tor. Im Vorbeigehen sah Maria, daß sie weinte. Kann man weiterlaufen, wenn ein kummervolles Mädchen weint? Maria Droege blieb stehen und faßte das verhärmte Menschenkind am Arm. Erst jetzt sah sie die Fältchen um die Augen der anderen. „Die Kinder“, sagte das Mädchen. „Entschuldigen Sie schon.“ „Was ist Ihnen?“ fragte Maria teilnahmsvoll.
„Haben Sie ein Kind verloren?“ „Nein“, kam zur Antwort. Nichts weiter. – Und dann, nach einer ganzen Weile, leise, als wäre es eine heimliche Anklage: „Ich hatte einen Liebsten, und der fuhr zur See. Ich blieb allein zurück, und er kam nicht wieder. Wenn die anderen tanzen, so sitze ich abseits; denn ich kann keinen mehr so lieben wie diesen. Wenn die anderen mit ihren Kindern spielen, dann stehe ich von ferne und habe Sehnsucht nach den meinen, die ich nie gebären durfte. – So bin ich nun ein Weib und bin auch wieder keins – was soll mir das Leben noch geben?“ Maria floh durch die abendlichen Londoner Straßen. Sie hörte nicht die anzüglichen Zurufe der Halbwüchsigen, achtete nicht auf Droschken und Bettler, hörte auch nicht das Lachen und den Gläserklang aus den Beletagen, sie dachte immer nur: „O welche Welt – warum können wir nicht glücklich sein, wir Frauen, warum nicht?“ Sie saß in der kalten Herbstnacht auf der Bank im Hydepark, und ihr Herz war leer wie nie zuvor.
PORT LEOPOLD, DEZEMBER 1848
Die Entsatzexpedition des Kapitäns Sir James Ross hatte es nicht leicht in ihrem Lager. Der Winter war schwer, die Mannschaft bestand zum großen Teil aus Neulingen, die nie zuvor im Norden gewesen waren und denen die winterliche Arktis nun überaus furchtbar erschien. Die unmenschliche Kälte, die Eiswüste ringsum, Nacht, Sturm und Nebel vereinigten sich zu einer atemraubenden Symphonie, die alle mit Grauen erfüllte. Verflucht ist dies Land, in ewiger Verdammnis dämmert es dahin, und wehe dem Menschen, der vertrauensselig seinen Fuß hineinsetzt. Er wird eine reißende Bestie finden. Die Kapitäne mühten sich, die trübe Stimmung zu verscheuchen. Sie veranstalteten Geselligkeiten, gaben den Männern Arbeiten auf, ließen das beste Essen bereiten und verteilten verantwortungsvolle Aufgaben. In Fallen wurden Polarfüchse gefangen, mit Halsbändern versehen, an denen Messinghülsen mit Nachrichten befestigt waren, dann wurden die Füchse wieder freigelassen. Wenn Franklins Leute irgendwo in der Wildnis saßen, konnten sie nicht zufällig einen solchen Fuchs schießen? Diese Tiere laufen weit, wenn es sie hungert und sie hinter ihrer kärglichen Nahrung her sind.
Kapitän Crozier konnte dieses Verfahren nicht anwenden, denn jedes Stück Wild war lebensnotwendige Nahrung. Frischfleisch war das einzige Mittel gegen den drohenden Skorbut. Meist wurde es in Streifen geschnitten und roh gekaut. Da hatten es die Kapitäne Ross und Bird in ihrem guteingerichteten Winterlager entschieden besser, und wenn schon ihre Leute mutlos wurden, was sollten da erst die Männer der Franklin-Expedition sagen, die in feuchtkalten Steinhütten und flatternden Zelten hausten und nur die kärglichen Reste ihres dürftigen Lebensmittelvorrates besaßen. Man glaubt manchmal, das Unglück sei so groß, daß es keine Steigerung mehr erfahren könnte. Unglück hat nach unten keine Grenze, allein der Lebensmut des Menschen und seine Tatkraft können es mildern.
KAP FELIX, WEIHNACHTEN 1848
„Wieviel Trost liegt in einer brennenden Kerze!“ Kapitän Fitzjames hatte diese Worte vor sich hin gesprochen, und jeder hörte sie wie das Echo der eigenen Gedanken. Da klebte ein armseliges Lichtlein auf einem Kistendeckel, und ringsum blickten viele feuchte Augen aus wilden Gesichtern wie auf ein Wunder.
Es hatte ein paar Pfund Schokolade gegeben, dazu Walfleisch wie alle Tage und eine winzige Portion Rum. Man bildete sich ein, satt und zufrieden zu sein. Manch einer gedachte vergangener Jahre; aber die Mehrzahl starrte ohne Gedanken auf das Licht wie auf einen Fetisch, der irgend etwas Gutes in dieser ausweglosen Lage für sie tun könnte. Die Männer hatten Vergangenheit und Zukunft vergessen; sie waren gleichgültig geworden. Die Devise: „Heute habe ich noch zu essen, heute lebe ich noch, morgen wird sich’s finden“ war zur Weltanschauung der Matrosen geworden. Im übrigen war das Dasein – wie sagte doch Jules, der Franzose? – „merde!“ – Das verstanden sie alle. Leid veredelt, dachte Kapitän Crozier; er sah die bärtigen, verschmutzten Gesichter beinahe zärtlich an und versuchte, in sich ein Gefühl von Liebe zu diesen Männern zu erwecken. Es gelang ihm nicht. Das Leid hatte viele gemein gemacht, gemein und gleichgültig. – Warum konnte man das Festland nicht erreichen? Weil diese Verzweifelten und Erschöpften nur sich selbst sahen und nicht das Ziel, dem die Vernünftigen zustürmen wollten. An diesem Weihnachtsabend kam ihm erstmalig der Gedanke, mit den willigsten, kräftigsten Männern einfach davonzugehen, den Ballast aus Trotz,
Gleichgültigkeit und Unvermögen abzuwerfen. Hatten sie nicht den Tod im Eis tausendfach verdient? Hinderten sie nicht auf Schritt und Tritt ihre eigene Rettung? Er stand auf und trat hinaus, um die brennende Stirn zu kühlen. Blau und düster lag das arktische Land; der Mond stand über dem Horizont; sein bleiches Licht ließ die Schatten ringsum noch grausiger erscheinen. Er lehnte den Kopf an einen Felsen; aber seine Gedanken fanden nirgends Widerhall. Das Weltall schien tot zu sein, Fels, Eis und Finsternis. Vielleicht war die Erde längst ausgestorben, und sie lebten noch als einzige auf der froststarren Kugel! Drinnen sangen sie ein Lied, eine Mischung aus Tönen und krächzenden, brummenden Geräuschen, der jeder Wohlklang fehlte. Aber er verstand die Worte, die drinnen die Lippen formten. Christmas, Weihnachten, Hoffnung, Erlösung… Kinderwünsche. War es nicht wie eh und je, daß den Männern da drinnen die Herrlichkeiten dieser Welt verschlossen blieben? Einst hatten sie sich mit großen Augen die Nasen an den Fensterscheiben plattgedrückt, hinter denen paradiesische Dinge lagen. Damals mußten sie vom Duft der Schmalzkuchen satt werden und heute vom
Wissen, daß die Welt Besseres, Schöneres hat als Düsternis und Kälte, alten Zwieback und Walfleisch.
Törichtes Menschenherz! Kann man diese Männer hassen um ihrer Sehnsucht nach Geborgenheit, Sattsein und Wärme willen? Kann der Hungrige ein anderes Ideal haben als das Essen? Ach, könnte ich sie alle satt machen und zufrieden, ich gäbe mein Leben darum, dachte der einsame Kapitän, der sein Schiff verloren hatte und nur noch ein paar Schlitten befehligte. Drinnen sangen sie. Vor vielen hundert Jahren ist ein Kind geboren worden, die Welt zu erlösen – uns hat es
vergessen, dachte Francis Crozier, als er hineinging. Im Januar des Jahres 1849 tauchte ein neues Schreckgespenst auf: der Skorbut. Die Männer bekamen Unterhautblutungen, besonders an den Beinen und im Zahnfleisch; es folgten Vereiterungen und Zahnausfall, in den schwersten Fällen Magen- und Darmblutungen. Blanky wußte ein Mittel dagegen: man schlug hart am Ufer das Eis auf und holte mit einem Haken Seetang aus dem Wasser; aber viele weigerten sich, das schmierige, fade Zeug zu essen, oder sie brachen es vor Ekel wieder aus. Im Krankenzelt lagen sie bleich und zusammengefallen, blutarm geworden, apathisch in ihr Schicksal ergeben. „Kapitän“, Blanky stand vor Crozier. „Wir können nicht bleiben, wir gehen zugrunde, wenn wir nicht weiterziehen.“ „Noch ist Nacht, Blanky.“ „Wenn die Männer nicht marschieren, sind sie ohne Mut.“ „Wir haben noch Walfleisch. Ehe nicht Hoffnung auf Jagdbeute besteht, ist der Marsch aussichtslos.“ „Mister Crozier…“ „Wir können nicht gegen die Vernunft anrennen.“ „Wissen Sie, wie es im Krankenzelt aus-
sieht?“ „Zur Genüge.“ „Vorhin ist ein Mann gekommen, der an Zunge und Lippen keine Haut mehr hatte. Er wollte aus einem Blechgefäß trinken und war angefroren, wirklich und wahrhaftig.“ „Das ist seine eigene Schuld. Wir haben oft genug davor gewarnt, bei sehr kaltem Wetter Metall zu berühren. Die Feuchtigkeit der Haut wird sofort zu Eis, Metall und Haut kleben hoffnungslos zusammen.“ „Mister Crozier – darf ich ohne Hemmung sprechen - ich…“ „Sprechen Sie!“ „Mister Crozier – die da drinnen liegen, sind so und so verloren, denen kann keiner helfen. Wenn wir warten wollen, bis sie gestorben sind, gehen wir alle zugrunde.“ „Was Sie verlangen, Blanky, habe ich tausendmal erwogen; aber es ist unmenschlich, teuflisch geradezu.“ „Es ist Notwehr.“ „Blanky, Menschenskind, stellen Sie sich vor, Sie selbst sind einer dieser armen Kerle dort drinnen – und werden von den Kameraden im Stich gelassen. – Welch ein Ende ist das! – Ich kann nicht mit ruhigem Gewissen marschieren, wenn mich zwanzig oder dreißig sterbende Männer, die ich verließ, in ihrer Not
verfluchen und verdammen.“ „Sie verwünschen die Kräftigen so und so. Unsere Lage, Kapitän – wollen wir alle verrecken?“ „Ich kann nicht die letzte Menschenwürde von mir werfen.“ Sie schwiegen. Die Polarnacht gebar tausend furchtbare Gedanken. „Mister Crozier“, Blanky holte tief Luft, „ein letzter Vorschlag sozusagen – müssen die Kranken wissen, daß sie verlassen werden? Man wird ihnen sagen, daß man Hilfe holt; man läßt ihnen das Walfleisch, einige Gewehre, Brennstoff, Mister Crozier.“ „Aus Ihnen spricht die Angst ums Leben.“ Blanky war blaß geworden. „Gewiß nicht, Herr Kapitän“, sagte er betroffen. „Ich biete mich an – zum Donnerwetter, ich werde hierbleiben und bei den Kranken aushalten. – Zum Teufel, wie können Sie von Blanky so etwas denken! Das schmerzt, Mister Crozier, habe nie Angst gekannt.“ „Verzeih mir…“ „Habe oft genug mein Leben in die Schanze geschlagen.“ „Ich wollte dich nicht kränken.“ „Abgemacht, ich steh’ dafür ein und bleibe, Kapitän.“ „Blanky“, sagte Kapitän Crozier und fuhr
nach kurzer Überlegung beinahe zärtlich fort: „Sei mein Freund, Blanky. Vergiß, daß ich Offizier bin; zwischen uns soll keine Schranke sein!“ „Mister Crozier…“ „Sei mein Bruder – du weißt, wir brauchen einander. Ich habe dich prüfen wollen vorhin. Du wirst mir verzeihen und mein Bruder sein, für immer, ja?“ „Ja, Mister Crozier.“ „Sage Francis zu mir, Alter, scheu dich nicht davor!“ „Ja – Francis.“ Niemand sah, wie sich die Männer umarmten; aber wenig später wußten alle, daß der Vollmatrose Blanky zum Bootsmann befördert worden war. Bootsmann Blanky – das war schon etwas, das war sogar recht viel, selbst hier in der Arktis! Nur die Kranken nahmen kaum Notiz davon. Sie lagen teilnahmslos auf ihrem Lager, und wer noch hoffen konnte, betete um Frischfleisch und den warmen Schein der Sonne. Kapitän Crozier ließ niemanden im Stich; er hielt das Winterlager und zwang die Männer durch strengen Befehl, den eklen Seetang zu kauen, auch wenn der Magen sich umkehrte. „Wer leben will, soll sich zum Leben zwingen!“
LONDON, MÄRZ 1849
Die Admiralität tagt. Als einziger Punkt wird behandelt: Rettung der Franklin-Expedition. War man anfänglich etwas leichtfertig über das spurlose Verschwinden der Schiffe hinweggegangen, so sahen sich heute die verantwortlichen Männer recht sorgenvoll an.
Von Bird und James Ross war keine Nachricht eingegangen, die Schiffe „Plover“ und „Herald“ lagen hilflos in den Gewässern der Bering-Straße, und Sir Richardson war von Kanada nach England gekommen. Sein Bescheid: Alles hoffnungslos! Was nun? Der Sekretär sprach: „Die Hauptfrage, meine Herren, ob überhaupt noch Hoffnung besteht, kann wohl kaum be-
antwortet werden.“ Schweigen folgte diesen Worten. Endlich stand der alte Sir John Ross auf und klagte an. „Sie fragen, ob überhaupt noch Hoffnung besteht! Sie fragen das heute, nachdem Sie Jahre hindurch geschwiegen haben! Wie oft habe ich an diese Tür geklopft und gewarnt. Ich wurde als Schwarzseher verschrien; man tröstete mich und sich von einem Sommer zum anderen mit vagen Hoffnungen, während die Schiffe vielleicht irgendwo gescheitert waren und hundert wackere Männer im Eis verzweifelt der Rettung harrten. Sie haben sich die Ohren verstopft, meine Herren, und gedacht: Sir Franklin wird schon wiederkommen! Er kommt nicht wieder. Sie fangen an zu begreifen, daß Ihr Schweigen und Ihr Warten sträfliche Gleichgültigkeit gewesen ist. Vielleicht – ich will nicht sagen wahrscheinlich – ist es in diesem Augenblick schon zu spät, nicht zuletzt durch die Schuld der britischen Admiralität. Meine Herren, hätte man eher auf mich gehört, so wären wir heute nicht im Ungewissen über das Schicksal meines Freundes Sir Franklin. Erkennen Sie Ihre Schuld und setzen Sie jetzt alles ein, um den Verbleib der Unglücklichen zu ermitteln.“ Niemand erwiderte etwas. Der alte John Ross hatte recht. Was sollte man ihm antworten?
Endlich nahm der Sekretär das Wort: „Sir Franklin könnte nach seiner eigenen Angabe fünf Jahre mit den Vorräten aushalten.“ „Wenn die Schiffe nicht verlorengegangen sind.“ „Für diesen Fall: Sir Franklin ist kein Laie und hat lange in der Arktis gelebt.“ „Trotzdem kann er dort oben verhungern.“ „Auch der Eskimo verhungert in der Arktis nicht, und gerade der ist maßlos im Essen und benötigt unvorstellbare Mengen an Nahrung.“ „Man braucht auf Polarexpeditionen nicht nur Nahrung. Wie steht es mit den übrigen Vorräten?“ „Die ,Erebus’ und ,Terror’ sind mit allen nur erdenklichen Mitteln ausgestattet.“ „Es ist natürlich möglich“, ließ sich Admiral Beechey vernehmen, „daß Franklins Verschwinden nur die Ouvertüre zu einem beispiellosen Triumph ist. Wir kennen seinen Mut, seinen Unternehmungsgeist, die keine Grenzen haben. Vielleicht hat er alle Berechnungen umgestoßen und ist auf geradem Wege über den Nordpol gefahren – aber darauf kann sich niemand verlassen. Ich denke, wir sind uns einig, daß höchste Eile geboten ist. Auch wenn keine Rettung der Expedition möglich sein sollte, müssen wir das Äußerste versuchen, Klarheit zu schaffen; denn auf die Frank-
lin-Expedition wartet tatsächlich die Welt – nicht nur Britannien!“ John Ross nickte ihm zu. „Ich stimme dafür“, sagte er, „daß der Preis von zwanzigtausend Pfund Sterling demjenigen zuerkannt wird, der die Mitglieder der Expedition rettet.“ Die Männer sahen sich an. In dieser Stunde wurde ein großes Projekt, die NordwestPassage, fallengelassen, nur um Klarheit über das Verschwinden Franklins zu bekommen und die etwa noch Lebenden zu retten. Der alte Sir Barrow, dessen ureigenster Plan die Forcierung der nordwestlichen Durchfahrt war, konnte an dieser denkwürdigen Tagung nicht mehr teilnehmen. Er hatte sich nach 1845 pensionieren lassen und war 1848 gestorben. So bald nach seinem Tode schon trug man den Traum von der kürzesten Handelsstraße nach China zu Grabe. Die Admiralität gab am folgenden Tage der Welt bekannt: „Die Franklin-Expedition ist verschollen. Wer die Mitglieder der Expedition rettet, gleich, welcher Nation er angehört, erhält den für die Auffindung der NordwestPassage ausgeschriebenen Preis von zwanzigtausend Pfund Sterling.“ Lady Franklin legte dieser Summe noch dreitausend Pfund aus ihrem Vermögen zu. „Wer rettet Franklin?“ schrieben die Zeitun-
gen auf der ersten Seite. * Die Franklin-Expedition verschollen, die Nordwest-Passage aufgegeben – wer den Aktienschwindel mit der neuen Handelsstraße nicht schon früher durchschaut hatte, erlebte jetzt ein böses Erwachen. Das Schwindelunternehmen „Trans-Passage-Company, Gesellschaft zur Nutzbarmachung der nordwestlichen Durchfahrt“ brach über Nacht zusammen. Angeschlossene Unternehmen stürzten mit; die Bank von Burns und Canter schloß ihre Pforten. Draußen lärmten die Sparer, die um ihre oft recht kärglichen Einsätze bangten, und wollten abheben, was ihnen gehörte. Aber die Panzerschränke waren leer, die Kapitalien verloren, in nichts zerronnen wie die Dukaten bei einem Zaubertrick. Man hatte Firmen finanziert; das war so üblich seit jeher. Aber wo das Geld geblieben war, wußte niemand zu sagen, ebensowenig, wer an allem schuld war. Schicksal, Kismet, Pech! Recht peinlich für die Betroffenen, aber nicht zu ändern. So etwas kommt im Geschäftsleben vor, damit muß man sich abfinden. Die Bankiers mußten es auch. Wie rasch erleidet einer Konkurs! Darüber regt man sich nicht auf, wenn man ge-
wandt ist. – Was soll das Geschrei der kleinen Sparer um ihre paar Groschen! Bankgeschäft ist Lotterie, und Lotterien haben Nieten. Das Franklin-Geschäft hatte eine Zeitlang einige Wirtschaftszweige recht gut in Schwung gehalten. – Aus! – Vorbei! Vielleicht startete irgendeiner eine Expedition nach Zentralafrika oder wollte Goldfelder in Australien entdecken. Das Kapital würde sicher ein lohnendes Unterkommen finden. Es ließ sich auch dann Profit aus dem Leben von hundert Männern schlagen, wenn sie irgendwo auf dem Eise lagen und erstarrten. Hoffentlich lagen sie recht fest, damit nicht etwa einer von ihnen auf den Gedanken kam, sich auf den Trafalgar-Square zu stellen und den Leuten ins Ohr zu schreien, wie so etwas in Wirklichkeit aussah. Im April 1849 kamen die Rettungsschiffe „Plover“ und „Herald“ an der Chamisso-Insel wieder zusammen. Sie entdeckten eine unwirtliche Insel, die den Namen Herald-Insel erhielt und sichteten in 71 Grad nördlicher Breite das noch unbekannte Wrangel-Land. Sie fanden keine Spur der Vermißten. Auch Leutnant Pullen suchte mit vier Booten vergeblich die Küste des Eismeeres ab. In der Nähe der BeringStraße konnten die Unglücklichen kaum sein. Inzwischen war die „North Star“, ein Entsatz-
und Vorratsschiff für die Kapitäne Ross und Bird, von England ausgelaufen. Ihr Kommandant, Kapitän Saunders, der früher auf der „Terror“ gefahren war, lenkte das Schiff längs der grönländischen Westküste geschickt nach Norden, konnte aber endlich den Packeismassen nicht mehr ausweichen und saß im Mai 1849 am Wolstenholme-Kap fest. Ross und Bird waren indessen nicht untätig. Sie durchforschten mit ihren Leuten die nördlichen und westlichen Gestade von NorthSomerset bis 72 Grad 38 Minuten nördlicher Breite und untersuchten den WellingtonKanal. Von Franklin und seinen Leuten fand sich nirgends eine Spur.
KAP FELIX, ENDE MAI 1849
Die Schneedecke von King-Williams-Land deckte Küste, Fels und Erdreich; sie deckte aber auch viele tote Männer, die dort ihren letzten Schlaf hielten. Die übrigen, knapp siebzig an der Zahl, hielten im Licht des beginnenden Sommers einen traurigen Appell. Bleich und eingefallen waren ihre Wangen, die Kleider verschmutzt und zerschlissen. Wo war der Glanz ihrer Augen, wo auch nur ein Lächeln! – Sie stanken nach Tran und Moder; aber sie standen noch auf ihren Beinen – man-
cher etwas unsicher nach der Nacht des Todes, wohl auch verwundert darüber, daß das Herz in der eigenen Brust noch klopfte und ruckte. Einer, mit anständig gestutztem Bart, der Kapitän der „Terror“, hielt sich besonders gerade. Er hob hier und da einem den Kopf hoch. Seine Stimme klang jung und frisch, als käme er eben aus Old England, um die Männer heimzuholen. Seine Kommandos zündeten. Die Männer kippten die Boote von den Steinhütten herunter, hoben sie mit Hebeln und Stricken auf die Kufen und packten Kisten, Säcke und Büchsen darauf. Ach, wie klein war die Ladung geworden! Irgendwo an der Küste mußte noch ein letztes kleines Depot liegen, wenn es nicht die Eskimos oder die Eisbären inzwischen geplündert hatten. Außerdem besaßen sie noch ihre Gewehre, Messer, das Fischnetz, die Angeln und die Kraft, der Sonne ins Antlitz zu schauen. Sie marschierten in drei Gruppen ab nach Süden; drei große Zelte blieben stehen. Kranke hatten darin gelegen, Männer, die inzwischen gestorben oder genesen waren oder die eingepackt in den Schlitten lagen. Noch kündeten Decken, Kleider, Jagdgerät und Instrumente von den Bewohnern. Am Strande lagen Walknochen, Faßreifen, ein abgebrochener Gewehrlauf.
Voran marschierten Crozier und Blanky neben einem Hundegespann. Leutnant Irving fuhr, wie immer, als Aufklärer weit voraus; man hörte hin und wieder Schüsse aus seiner Büchse, wenn er hinter Wild her war; ab und zu fand man seine Wegezeichen, die die Richtung andeuteten. Oft mußte man stehenbleiben; aber Kapitän Crozier murrte nicht darüber. Er war froh, daß er die Männer nach dem furchtbaren Winter überhaupt wieder auf die Beine bekommen hatte. Viele waren gestorben, und viele mußten dieses Sterben mit ansehen und begreifen lernen, daß sie selbst unbarmherzig an die Reihe kommen würden, wenn sie nicht marschierten. Nun mühten sie sich mit den schweren Schlitten, und keine Klage kam über ihre Lippen. Die Kapitäne legten Hand an, wenn eine besonders schwierige Stelle kam, und es war, als hätte der Sommer ein Wunder an ihnen allen getan. „Wir kannten vorher unsere Stärke nicht“, sagte Crozier zu Blanky. „Wir waren lau und lebten nach festen Regeln. Das Grauen hat uns erst wecken müssen, damit unsere Augen wieder sehend und die Muskeln wieder stark wurden.“ Blanky lachte. Wie lange hatte er das schon nicht mehr getan! Ach, wie hatte gerade er
sich nach dem Weitermarsch gesehnt! Er und Karl Bauer, der mit Ben in einer kleinen Kolonne einen Handschlitten zog. Immer noch trug der Deutsche seine Segeltuchtasche auf dem Leib; aber auch er war durch sein struppiges Haupt- und Barthaar fast unkenntlich. Trotz aller Anstrengung ging der Marsch langsamer als im Vorjahre vonstatten. Man zog südöstlich. Bis zum Kap Herschel waren es noch fast hundert Meilen Weg; dann müßte die Simpson-Straße überquert werden; schließlich hatte man bis zum Großen Fischfluß noch ein paar Hundert Meilen zu gehen. Keine Sage, kein Heldenlied wird von diesem Marsch durch Eis und Schnee künden, dachte Kapitän Crozier. Wir haben keinen unter uns, der einst in den Häfen singen könnte: . . . ‘ Grimmig jagte der frostscharfe Sturm, Als die Männer nach Süden wankten, Leuchtendes Land, dir entgegen… Und er grübelte nach Worten und Melodien; aber der Weg nahm bald wieder seine ganze Aufmerksamkeit in Anspruch. Unter der Schneedecke lagen kleine Löcher, und man mußte vorsichtig gehen, um nicht einzubrechen und die Beine zu zerschrammen oder gar einen Fuß zu brechen. Im übrigen bot das Land wenig Reize. Die Küste bestand aus Kalksteinfelsen und Reihen von Hügeln; see-
wärts lag eine unebene Fläche von Blöcken und geborstenem Packeis. Nach einer Weile erreichten sie Leutnant Irving. Er stand mit blutverklebtem Bart vor einem mächtigen soeben erlegten Eisbären. Nun wurde auf der Stelle gerastet, und bald kauten sie alle auf dem rohen Fleisch, das, mit Salz bestreut, köstlich mundete. Wie wenig braucht doch der Mensch in solcher Lage, um ein wenig glücklich zu sein! Ein einziger Eisbär für siebzig Menschen und die ewig hungrigen Hunde bedeutete nicht viel; aber sie kauten frisches Fleisch und waren zufrieden. Am Nachmittag sichtete ein anderer ein ganzes Rudel Schneehühner. War das nicht ein Grund, hierzubleiben und das Land nach Beute zu durchstreifen? – Nur keine Eile: Jagdbeute bedeutete neue Lebenskraft, Schutz gegen Skorbut. Der Zeitverlust wird später nachgeholt. Sie jagten und aßen; aber die Zeit rückte unerbittlich vorwärts, ein Tag folgte dem anderen, und der weite Weg verkürzte sich nicht beim Lagern. Gott möge verhüten, daß das Pulver ausgeht! Ende Juni 1849 zog der Forschungsreisende John Rae nochmals den Kupferminenfluß hinunter zur Mündung. Der Coppermines River,
ein vielfach gewundener Strom mit zahlreichen Fällen, entspringt im Point Lake auf den Barren Grounds und mündet im CoronationGolf, den einst Sir Franklin entdeckte. Rae träumte während des Marsches, was er wohl begänne, wenn plötzlich an einer Biegung des Flusses eine große Zahl bärtiger, pelzvermummter Männer auftauchte, die ihm mit brennenden Augen entgegenstarrten. Welcher Jubel, welche Erlösung! Aber der Traum wurde nicht Wirklichkeit, der Strom wurde breiter und einsamer, und an der Mündung lag unberührt das Depot vom Vorjahre. Das Boot indessen mußten streifende Eskimos entdeckt haben: es war aller Eisenteile beraubt und zerstört worden. Von Franklin immer noch keine Spur.
KING-WILLIAMS-LAND
Im Juli 1849 gerieten die Männer in schwieriges Gelände. Der Schnee war völlig zergangen, das Meereis so gut wie unpassierbar und die Küste voller Steinblöcke und schlammiger Wasserlöcher. Große Schwärme von Stechmücken kamen aus ihnen, stürzten sich auf die Menschen und peinigten sie. Hier war man drauf und dran, die Schlitten kurzerhand stehenzulassen; aber womit dann
die Vorräte transportieren und wie über die Gewässer der Simpson-Straße kommen, wenn die Boote zurückgeblieben wären? Aus einer Ersatzkufe wurden drei Rollen gefertigt und – wenn es gar nicht anders möglich war, ein Schlitten nach dem anderen über die Felskuppen gezogen und geschoben. Mitten in dieser schweren, anstrengenden Arbeit starb Kapitän Fitzjames. Er war still unter den Männern marschiert und hatte kaum einmal von seinen Befehlsrechten Gebrauch gemacht. Überall, wo es galt, hatte er mit angepackt und sich anscheinend nur zeitweilig auf seine größere Verantwortung besonnen. Er war Kapitän Crozier in solchen Fällen nicht von der Seite gewichen. Mitten in der Marschkolonne brach er hinter dem Schlitten zusammen. Die Männer schlugen die Zelte auf. Francis Crozier war ein Stück vorausgegangen, um zwischen den Felsbrocken den besten Weg zu erkunden. Doktor Stanley, der Schiffsarzt, untersuchte den Kapitän: das Herz schlug schwach; erst allmählich wurden die Atemzüge länger und ruhiger. Leutnant Wilks stand besorgt vor seinem Kommandanten. „Wie ist das möglich?“ fragte er den Arzt.
„Mister Fitzjames war nie krank.“ Doktor Stanley hob die Schultern. „Sie vergessen, daß man auch an Erschöpfung sterben kann“, sagte er. „Die langandauernde ungewohnte Belastung von Körper und Seele kann den gesundesten Menschen eines Tages zerbrechen.“ „Sie meinen, es steht ernst?“ „Ja. Veranlassen Sie bitte, daß Kapitän Crozier Bescheid erhält!“ James Fitzjames schlug nach einiger Zeit die Augen auf; sein Blick war matt, seine Bewegung müde. „Sorgt euch nicht um mich“, flüsterte er und versuchte zu lächeln. Man war ängstlich bemüht, alles nur irgend mögliche für ihn zu tun; aber er wollte nur Ruhe. Leutnant Wilks blieb im Zelt; er saß dem Kapitän gegenüber, und die Männer sahen sich stumm an. Draußen fielen Schüsse. Die Matrosen hatten einen Eisbären aufgestöbert, aber infolge der Entfernung nicht richtig getroffen. Er floh auf Meereis hinaus und verschwand, ehe sie ihn erreichten, in einem Wasserloch. Die Hunde standen ringsum und bellten. Gewohnte Geräusche, die an das Ohr des sterbenden Kapitäns drangen. Ach, wieviel
lieber hätte er das Rauschen der Leinwand, das Knarren der Blöcke und den polternden Tritt der Matrosenfüße auf den Decksplanken vernommen! Das wäre eine lieblichere Abschiedsmusik gewesen. Aber die See war erstarrt, das offene Wasser weit entfernt und sein Schiff, die „Erebus“, mit geborstenen Planken und Spanten rettungslos eingeschlossen, vielleicht auch schon gesunken. „Leutnant“, flüsterte Fitzjames, „es geht zu Ende – mit mir und den anderen.“ Wilks schüttelte den Kopf und deckte den Kapitän sorglich zu; der aber ergriff seine Hand: „Wie oft habe ich Gott um Gnade angerufen“, stöhnte er, „aber unser Unglück scheint beschlossene Sache zu sein.“ Er hatte die Augen wie im Krampf weit aufgerissen, doch schon spürte der Leutnant, wie die Kraft der Hand nachließ. Fitzjames sank auf das Lager zurück. Im Eingang stand Kapitän Crozier. Wieder ein Toter, dachte er, nun sogar schon Fitzjames! Aus dem Leben gerissen ohne Krankheit! Will das grause Knochengespenst uns keine Ruhe geben? Wie oft hatte er vor Toten gestanden, jetzt ließ ihn der Anblick des sterbenden Mannes schaudern.
Wozu? – Wozu? Die ewige Frage. – Und niemand in der Heimat weiß davon. Die Arktis aber blickte auf die Not der Menschen mit starren Zügen wie ein Götzenbild – teilnahmslos – gleichgültig. Wohl dem, der dieses Land nicht kannte, es lächelte so selten. Tiefblaues Wasser, schneeweiße Eisberge und ein strahlender Sonnenhimmel darüber – dieses Gesicht hatten sie lange nicht mehr gesehen. Jetzt raste der Tod. Eben hatte er Kapitän Fitzjames geholt. Er lag auf seinem letzten Lager. Crozier trat an den Toten heran. Die stillen, ausgeglichenen Züge verrieten nichts mehr vom Kampf der letzten Wochen. Hier war nur noch Ruhe, Frieden, sanftes Verweilen in der Ewigkeit. Das Bild lockte: absolute Ruhe, das Nichts, Nirwana. Mit einem Schlage alles vorbei? Francis Crozier war nicht der Mann, der sich davon verführen ließ. Nein! Vorwärts, damit wir Kanada erreichen! „Schaufelt dem Kapitän ein Grab“, sagte Crozier draußen zu den Männern. „Und dann weiter – ohne Zögern!“
LONDON, JULI 1849
„Lady Franklin.“ Der Sekretär der britischen Admiralität erhob sich hinter seinem Schreibtisch und ging der Besucherin einige Schritte entgegen. „Guten Tag, Mylady, bitte nehmen Sie Platz.“ „Ich komme, um nach dem Verbleib meines Mannes und seiner tapferen Leute zu fragen.“ Der Sekretär suchte einige Blätter zusammen. „Bitte, Mylady“, sagte er und reichte ihr die Papiere. „Die neusten Berichte – wie üblich, ohne jeden Anhaltspunkt.“ Die Frau des Admirals überflog hastig die Bogen. Es waren Meldungen von Walfangschiffen über die von ihnen befahrenen Routen, Protokolle mit Aussagen von Eskimos, Indianern und Pelzjägern, Berichte der Hudson-Bay-Company sowie der kanadischen berittenen Polizei, Abschriften der hinterlegten Meldungen und Sachverständigenurteile. „Sie arbeiten gewissenhaft“, sagte die Frau. „Wir nutzen alle verfügbaren Mittel, Mylady. Jeder Mensch, ob im Staatsdienst oder nicht, der in den arktischen Regionen lebt und arbeitet, wird angehalten, für uns zu forschen. Die Eingeborenen werden genau ausgefragt nach Schiffen und Männern. Zur Zeit operieren neben dem kanadischen Unternehmen des Mister
Rae drei Schiffe von der Davis-Straße und zwei weitere von der Bering-Straße aus im Eismeer und den angrenzenden Gewässern.“ „Und bisher kein Bescheid?“ „Nichts, so bitter das für uns ist. – Wir haben ja auch keine Ahnung, wo sich die Männer befinden könnten. Hat Ihr Gemahl niemals mit Ihnen über die beabsichtigte Reiseroute gesprochen?“ „Kein Wort. Er war in dienstlichen Dingen ganz verschwiegen.“ „Was uns wundert, ist das Fehlen jeglicher Meldungen. Weder in Landmarken noch an Felswänden finden sich irgendwelche Lebenszeichen. Ja, selbst von den vielen Messingzylindern, die wir der Expedition mitgegeben haben, zeigt sich keine Spur. – Sehen Sie, eine Flaschenpost kann verlorengehen, aber nicht Hunderte von gelblblinkenden Messingbüchsen. Die an den Ufern der Davis-Straße wohnenden Eskimos würden wohl auf die Meldung selbst keinen Wert legen – Papier ist für sie nutzlos; aber der Zylinder wäre ihnen eine Kostbarkeit in dieser metallarmen Gegend.“ „Und man hat keinen entdeckt?“ „Keinen einzigen.“ „Merkwürdig.“ „Nicht wahr? – Was konnte Sir Franklin bewegen, sich so versteckt zu halten? Im Juli
achtzehnhundertfünfundvierzig wurden die Schiffe noch in der Melville-Bai gesehen. Sie müssen bei den ungünstigen Eisverhältnissen dieser Jahre im Lancaster-Sund, spätestens aber in der Barrow-Straße überwintert haben. Bisher fand sich nach Angabe der Walfangschiffe nirgends eine Spur. Möglicherweise haben die Kapitäne Ross und Bird oder neuerdings Saunders inzwischen etwas gefunden, wir wissen es noch nicht.“ Mein Gott, dachte Lady Franklin, er wird doch nicht aus falschem Ehrgeiz heraus alles auf eine Karte gesetzt und va banque gespielt haben. John hat in seinem letzten Amt unter mißgünstigen Vorgesetzten viel Ungerechtigkeiten erdulden müssen. Wenn er nun in wahnwitzigem Übereifer der Welt seine wahren Fähigkeiten beweisen wollte, wenn er sich ein fast sträfliches Entweder-Oder gestellt und jede Verbindung zur Heimat, jede Rettungsmöglichkeit verworfen hat… „Bitte überlegen Sie, Mylady“, sagte der Sekretär, „sprach er nicht über seine Pläne? Jeder Hinweis könnte wichtig sein.“ „Ich habe mir fast täglich die Seekarten meines Mannes angesehen. Ich kenne die Küstenlinien der Inseln an der Nordwest-Passage so gut, daß ich sie auch ohne Karte sicher im Kopf habe. Seit Tagen plagt mich ein Traum.
Ich sehe die Männer auf einem entsetzlichen Zug nach Süden. Haben Sie schon einmal daran gedacht, die Prinzregenten-Einfahrt, den Boothia-Golf und den Peel-Sund westlich von North-Somerset-Land absuchen zu lassen?“ „Nein, Mylady…“ „Ich habe mir von Fachleuten erklären lassen, daß wahrscheinlich dort die Lösung des bedrückenden Rätsels zu finden ist.“ „Wir kennen diese Art Fachleute, Mylady. Wir sind schon oft von irgendwelchen Forschungsreisenden auf Möglichkeiten hingewiesen worden. Sie entbehren jeder vernünftigen Begründung.“ „Ich denke, die Admiralität sollte auf jeden Hinweis, den sie bekommt, eingehen.“ „Dann könnten wir die Expedition auf der ganzen nördlichen Halbkugel suchen. Die Hinweise enthalten sehr unterschiedliche Ortsangaben.“ „Aber die Gegenden zwischen NorthSomerset und dem Festland wurden mehrfach erwähnt.“ „Das ist nicht zu verwundern, Mylady. Dieses Gebiet bleibt sowohl von den nördlichen Suchgruppen als auch von der KanadaExpedition unberührt. Es ist ein toter Winkel, wie man so sagt. Jedem, der die Suchmeldungen verfolgt und kritisieren will, drängt sich
natürlich dieser Gedanke auf.“ „Toter Winkel – das gefällt mir nicht, Sir. Sie hätten keinen toten Winkel liegenlassen dürfen.“ „Das Gebiet ist schwer zu erreichen.“ „Eben darum. Lancaster-Sund und BarrowStraße werden fast jedes Jahr von den Walfängern befahren; dort hätten sich die Männer bemerkbar machen können. Wenn sie aber die Schiffe verlassen und südwärts ziehen mußten, kommen sie unfehlbar in diesen toten Winkel hinein. Wenn man die Karte betrachtet, sagt man sich, sie marschieren auf den Großen Fischfluß zu.“ „Eine Frage, Lady: Haben Sie darüber mit Doktor Richard King gesprochen?“ „Ja. – Wie kommen Sie darauf?“ „Das dachte ich mir. – Wir kennen die Ideen dieses Herrn und haben uns mit ihnen auseinandergesetzt. Er ist in den Großen Fischfluß vernarrt, das ist alles. Ich sage Ihnen, Mylady, er ist ein bedeutungsloser Mensch.“ „Wenn ich Sie im Namen aller Angehörigen der Schiffsbesatzungen aufforderte, eine Suchexpedition in den Meereswinkel vor dem Großen Fischfluß zu senden, würden Sie es tun?“ „Ich würde Ihnen zuliebe alles tun, Mylady; aber ich befürchte, die Admiralität wird die Mittel dazu nicht bereitstellen können. Es han-
delt sich immerhin um öffentliche Gelder. Die Entscheidung ist gefällt: Südlich des fünfundsiebzigsten Breitengrades ist nicht nach dem Verbleib Sir Franklins zu suchen, da seine Anwesenheit dort unwahrscheinlich ist. – An diesem Urteil kann ich nichts ändern.“ Lady Franklin erhob sich. „Gut“, sagte sie, „wenn man mir nicht hilft, muß ich mir selbst helfen. Ich werde ein Schiff nach North-Somerset schicken.“ Der Sekretär trat vor. „Vielleicht kann ich Ihnen behilflich sein. Ich könnte Ihnen ein Schiff empfehlen, das zum Verkauf steht. Es ist der Schoner ,PrinzAlbert’. Er wird von einem sehr fähigen Kapitän, Mister Forsith, befehligt. Sicher ist er sofort bereit, in Ihrem Auftrag zu fahren.“ „Meinen Sie?“ „Ich bin aber, das sage ich Ihnen ehrlich, davon überzeugt, daß die Aussendung des Schiffes zwecklos ist. Sir Franklin steht viel weiter nördlich.“ „Wo kann ich mich nach dem Schiff erkundigen?“ „Im Seefahrtsamt, Mylady.“ „Ich danke Ihnen.“
KING-WILLIAMS-LAND, AUGUST 1849
Das Hungergespenst ging um. Kapitän Crozier hielt den Bestand an Schokolade, Rauchfleisch, Zwieback und Salz streng verwahrt. Die Rationen waren zu winzigen Häppchen geworden; die Trupps liefen weit auseinander auf getrennten Wegen, um sich gegenseitig bei der Jagd nicht im Wege zu sein. Leutnant Wilks hatte es am leichtesten. Er zog mit seinen Männern am Rand des Meereises entlang. Bei jeder Rast wurden Löcher ins Eis geschlagen, und bald zuckten die Angelschnüre. Man aß den Fisch roh, gekocht und gebraten und war froh, einen so gut gedeckten Tisch vorzufinden. Die anderen hatten es schwerer; sie schössen mitunter kaum das Allernotwendigste zum Leben. Die Beschwerden und der Mangel rieben die Männer auf; sie kamen nur mühsam vorwärts. King-Williams-Land, eines der trostlosesten Gebiete der Arktis, wurde sogar vom Wild gemieden. Es war nur einzeln anzutreffen, hier und dort umherirrend. Die Jagd auf diese spärlichen Fleischquellen erforderte Gewandtheit; der Robbenfang aber, die Hauptbeschäftigung der Eskimos, setzte Übung und Geschicklichkeit voraus. Crozier und Blanky hielten weiterhin die Spitze. Zu ihnen gesellten sich nach und nach
die kräftigsten und ausdauerndsten Männer. Der hagere blonde Philipp, dessen Stummelpfeife zu seinem Leidwesen nur noch einmal am Tage glimmen konnte, Maat Hornby, der Arzt Dr. Stanley, Steuermann Sergeant, der Matrose Conny von der „Terror“, Karl Bauer, der Schiffsjunge Ben und ein paar andere zwangen sich, dem Kapitän auf den Fersen zu bleiben. Leutnant Irving fuhr mit dem einzigen Hundegespann; die übrigen Vierbeiner liefen mit dem großen Schlitten und wurden, als das Jagdglück abnahm, nach und nach geschlachtet. Noch schwankten die Boote auf den Kufen über das Land. „Mit diesen Schlitten werden wir uns noch zuschanden arbeiten!“ Jupp hielt seufzend inne und reckte den schmerzenden Rücken. Wie lang war doch eine Meile! Wollte denn das trostlose Land gar kein Ende nehmen? All die fröhlichen Matrosen waren zu gramvollen, elenden Menschen geworden, die Hundeknochen abnagten und gierig rohen Fisch verschlangen. „Wißt ihr noch, wie wir auf der ,Terror’ geboxt haben?“ fragte Jupp Steig. Richtig, da saßen sie zufällig zusammen: Jules, der Franzose, mit wirrem, schwarzem Haarschopf; er blickte seinen damaligen Gegner Earlsson er-
staunt an. Ja, man hatte Zeiten erlebt, da man als Königlich Britischer Matrose fröhlich Dienst auf der „Terror“ getan! Wenn die Backschaft antrat, hatte es warmes, dampfendes Essen gegeben, Grütze mit Rauchfleisch und Backpflaumen oder dicke Graupen oder Kartoffeln mit Hering, oder Brotsuppe oder Reis – ach! Adams, der damals so begeistert den Schiedsrichter gemacht hatte, rollte eine Träne in den Bart. Und dann sprach man wieder vom Essen. „Wißt ihr… wie ich damals auf der ,Exeter’ fuhr, einem feinen Passagierdampfer, da gab’s ein Essen, sage ich euch: Nudeln mit Käse. Habt ihr schon mal Nudeln mit Käse gegessen? – Also die Nudeln werden in Salzwasser gedünstet, daß sie noch’n bißchen fest sind, dann wird der Käse angewärmt zugegeben…“ „Bei uns gibt es samstags Zwiebelkuchen, das ist ein Hefekuchen aus Weißmehl; der wird mit roher Zwiebel und Speckstreifen belegt und dann in den Ofen geschoben; der Speck schmilzt und…“ Hundert Rezepte hatten sie im Kopf und tausend wieder vergessen. Sie hörten sich mit einer Begeisterung zu, als wären es die interessantesten Geschichten. Sie hatten den Geschmack der Speisen auf der Zunge und träumten: Wenn ich mir was wünschen dürfte,
dann möchte ich jeden Tag weiter nichts haben als einen Liter heiße Milch, ein großes Stück Brot, ein paar Eier, ein Endchen Rippenspeck… und natürlich Tabak… und ab und zu mal einen Schluck Bier – aber Warmbier muß es sein – und schöne heiße Kartoffeln mit Butter. Ach! Und dabei liebkosten ihre Augen die vier armseligen Köter, die da frierend im Schnee hockten, und sie überlegten, welches Stück wohl für sie abfallen würde. Und in der Admiralität gab es für ihre Auftraggeber sicherlich soeben ein raffiniertes Diner, dessen Dessert allein ihnen auf KingWilliams-Land schon ein Paradies bedeutet hätte. Einmal wieder richtig satt sein! Lady Franklin hatte den Schoner „Prinz Albert“ gekauft und Kapitän Forsith zur Fahrt bereit gefunden. Aber das genügte ihr nicht. Sie wollte einen Generalangriff auf die Arktis beginnen, damit nicht wieder irgendwo ein toter Winkel übrigblieb. So schrieb sie mehrere Briefe an den nordamerikanischen Präsidenten Zachary Taylor, der als General populär geworden und seit März 1849 im Amt war. Ihre Aufrufe an das amerikanische Volk hinterließen einen so tiefen Eindruck, daß sie in der Presse an hervor-
ragender Stelle veröffentlicht wurden. Man begann, eine Teilnahme amerikanischer Schiffe an der Suchexpedition zu erwägen. Indessen stand John Rae wieder an der Nordküste des Kontinents. Er sah unerreichbar fern über dem Treibeis der Meeresstraße das Victoria-Land liegen. Alle Hoffnung, irgend etwas von Franklin und seinen Leuten zu erfahren, hatte getrogen. Nach dieser schmerzlichen Enttäuschung zog der berühmte Forschungsreisende nach Fort Confidence zurück und gab Dr. Richardson Bescheid. Es war, als hätte das Eismeer die Schiffe mit Mann und Maus verschlungen.
KING-WILLIAMS-LAND
Da die Jagd- und Wegeverhältnisse immer schlechter wurden, rückten die einzelnen Trupps am Rand des Meereises entlang. Hier konnten die Männer fischen und ab und zu auch eine Robbe erbeuten. Leutnant Irving hatte sein Gespann aufgeben müssen, die Hunde wurden geschlachtet. Seinen Liebling Daisy durfte er als Begleiter behalten, der Schlitten blieb stehen. Das Hundefleisch befriedigte kaum den ärgsten Hunger. Nach seinem Genuß bildet sich viel Schleim im Munde,, auch füllt es nicht
und sättigt daher kaum. Die Hundelebern, von denen Blanky behauptete, sie wären giftig, hatte man bisher weggeworfen. Das tat manchem weh. Endlich probierte es doch einmal jemand. Der Matrose Greating besorgte sich Brennstoff und briet sich das Fleisch abseits der Kolonne. Die Leber schmeckte gut; aber nach einigen Stunden befiel ihn eine abscheuliche Übelkeit), er bekam Leibschmerzen und Fieber und wurde in ein Boot gepackt. Erst nach Tagen besserte sich sein Zustand, dafür begann sich am ganzen Körper die Haut abzuschälen. „Siehst du“, sagte Blanky, als er den Grund der Erkrankung erfuhr, „Hunde- und Bärenlebern sind giftig, wirklich und wahrhaftig.“ Durch die Sonnenwärme hatte sich das Eis am Ufer aufgelöst, so daß man mitunter in einem Eisbrei watete. Wo große Schollenfelder am Gestade lagen, war ihre Oberfläche weich. Die Schlittenkufen sanken unter der Last ein. Leutnant Irving lief mit seinem Hund weit voraus. Die Marschrichtung war fast östlich geworden; man näherte sich der SimpsonStraße, die schon vor einem Jahr hätte erreicht werden müssen. Irgendwo hinter dem tosenden Treibeis da draußen mußte das Festland liegen. Das Festland mit weiten Schneeflächen, sanf-
ten Hügeln und Wild, viel Wild. Plötzlich schreckte der Leutnant hoch. Was war das? – Vor ihm liefen Spuren über die Eiskruste. Länglichrunde Eindrücke, wie Ketten hintereinander gereiht, bald näher, bald weiter voneinander entfernt. Ihm stockte das Blut. Gott im Himmel – hier waren Menschen gegangen, Menschen in Fellstiefeln mit weichen Sohlen, Eskimos sicherlich. Was tut man in solchem Augenblick? Der Leutnant stand hilflos an der Fährte. In seinem Kopfe wirbelten die Gedanken wild durcheinander; aber die Grundschwingung war eine große, heiße Freude. Menschen! Wie wollte er sie begrüßen! Menschenbrüder, teure, ersehnte Wesen – euch zu treffen, heißt das schon tausendmal verlorene Leben wiederfinden, heißt in die Welt, aus der man sich schon ausgestoßen wähnte, erneut einzutreten, noch einmal geboren zu werden, doch diesmal bereits mit einem wachen Verstand. Oh, welch ein Leben mußte das werden! Wie würde man die Segnungen der Zivilisation auskosten! Ein heißes Bad, ein Glas Wein, rosiges Bratenfleisch von silberner Platte, rote Rosen, das Lächeln einer Frau, den Lichterglanz der Gasbeleuchtung… Verblen-
dete Landsleute, die ihr im Überfluß der Annehmlichkeiten unzufrieden seid, was haben wir euch voraus! Welche Genüsse warten auf uns! Alle Tore der Welt stehen offen, wenn… ja wenn… wenn wir diese Menschen finden, die hier vorübergegangen sind. – Es waren doch Menschen? Gewiß. Es gab kein Tier mit solcher Fährte. Hier waren Menschen auf ihren zwei Beinen gegangen, und von Zeit zu Zeit hatte etwas neben ihnen am Boden geschleift, sicher eine Robbe, die sie erbeutet hatten. Leutnant Irving kniete auf dem weichen Eise nieder und prüfte die Eindrücke, um die Laufrichtung zu erkennen. Die beiden Menschen waren auf das Land zu gegangen. Ob er ihnen folgen sollte? Nach kurzem Überlegen trieb er seinen Stock ins Eis, damit die nachfolgenden Männer auf die geänderte Richtung und die eigenartigen Spuren aufmerksam würden. Dann faßte er den Hund fester und folgte der Fährte zum Lande hin. Bald erreichte Irving ein Geröllfeld am Strand; hier waren keine Trittspuren mehr zu erkennen. Er stieg zwischen den Kalksteintrümmern empor, wo ihm der Hang des Hügels gangbar erschien. Endlich stand er oben, nestelte unter der Jacke das Fernrohr hervor und suchte das Gelände ab.
Nichts! War es möglich, daß zwei Menschen in dem weiten Lande spurlos verschwanden? – Er munterte den Hund zum Spüren auf, aber der blickte ihn erstaunt an – er war nicht zum Fährtensuchen ausgebildet. Irving schalt. Daisy stand schweifwedelnd vor ihm. Was gibt es? Ein Schlittengespann anführen, welche Wonne! Einen geschossenen Schneehasen aufsuchen, warum nicht! Aber jetzt? – Was will er? Weglaufen soll Daisy? – Warum? Leutnant Irving schoß in jede Richtung; dann aber fiel ihm ein, daß er damit vielleicht die Eskimos ängstigen würde. Sicher waren sie gar nicht über den Hügel gegangen, sondern zogen am Strand entlang. Er lief zurück an das Gestade, eilte über den Kies nach Osten, erklomm jede Kuppe, sah über das Meereis, spähte die Küste entlang. Nichts! Vielleicht hatte er sich in der Richtung geirrt, und die Spuren führten aufs Meereis hinaus, wo die Männer jagen wollten. Also zurück zu dieser Fährte. Einsam stand Irvings Stock im Eis. Er eilte achtlos vorüber, klomm zwischen Schollen hindurch, sprang über Spalten, blickte hinter jede Schneewächte und kam schließlich dorthin, wo das Eis in Bewegung war. Scholle um Scholle zog in westlicher Richtung
davon; sie überschlugen sich, schoben sich zusammen, tauchten unter, kamen wieder hoch – hier konnte niemand durch! Leutnant Irving spähte durch das Fernrohr ganz langsam ringsum. Nichts! Als die Mannschaft dorthin kam, wo der Stock im Eise steckte, saß der Leutnant im Schnee und starrte vor sich hin. „Da“, sagte er auf Croziers Fragen und wies neben sich – „Menschenspuren!“ „Irving!“ „Aber nur die Spuren, Kapitän.“ „Haben Sie gesucht? – Ja? – Überall? – Und?“ „Nichts!“ So muß einem Ertrinkenden zumute sein, unter dessen verzweifeltem Griff die Grashalme reißen, an die er sich klammert.
PORT LEOPOLD, 28. AUGUST 1849
Die Kapitäne Ross und Bird waren des Wartens im vereisten Winterhafen überdrüssig. Seit Tagen donnerten die Sprengungen durch die Bucht. Durch das Eis wurden Kanäle geschlagen, Zoll um Zoll rückten die Schiffe „Enterprise“ und „Investigator“ zum offenen Wasser vor. Zurück blieb das Proviantlager.
Ein ganzes Dorf war dort entstanden, eine Siedlung Port Leopold. Ach, wenn man doch Franklin und seine Männer gefunden hätte und nun mit heimbrächte! Wie enttäuschend mußte für die Angehörigen in London die Rückkehr der Suchexpedition sein! Endlich war man auf hoher See; aber schon am folgenden Tage hatten dichte Eisfelder die Schiffe aufs neue umschlossen und trieben sie mit unwiderstehlicher Gewalt nach Osten, der Davis-Straße zu. Vorläufig die beste Richtung, dachten die Matrosen, und sahen dem Kommenden gelassen entgegen.
LONDON, SEPTEMBER 1849
Auf der Towerbrücke standen einige Frauen und sahen den Wassern der Themse nach – Connys alte Mutter, Philipps und Greatings Frau und die Mutter des Schiffsjungen Ben. Schiffe kamen und gingen; sie hießen „Independence“ und „Resolute“, „Sherwood“ und „Good Hope“; aber keines kam mit dem Namen „Erebus“ oder „Terror“, Unterwelt und Schrecken. – Was haben denn nun die Herren der Admiralität von ihrer Expedition? Nichts als Ärger, Mahnungen und Kosten. Und die Kaufleute, die Reeder und Direktoren? Die
holten ihre Frachten weiterhin um die halbe Erde herum. Sie holten sie mit den alten Transportkosten. Wozu hatten sie hundertdreißig Männer hinausgejagt? Jetzt waren sie doch beinahe überzeugt, daß die Nordwest-Passage unbrauchbar blieb. „Rolling home“, klang es übers Wasser, „rolling home.“ Seeleute sangen. Von den Männern Franklins sang wohl keiner mehr. Lautlos tropften Tränen in den Fluß; sie galten Ben, der als Knabe ausgezogen war, das Glück zu finden. Frau Greating legte der Mutter die Hand auf den Arm. „Weine nicht“, sagte sie. „Was sind deine Tränen in dem großen, großen Wasser? – Ich kenne keine Trauer mehr, ich habe mich müde geweint. Jetzt sind meine Augen trocken, und meine Stimme ist rauh. Meine Haut ist welk und mein Haar stumpf geworden. Ich lebe noch, weil mich der Junge braucht – sonst wäre ich schon tot. Sie haben uns die Männer genommen, als wäre Krieg gewesen. Sie sind tot – und drüben jauchzt und tanzt die Stadt, als wäre nichts, gar nichts gewesen.“ „Rolling, rolling home…“ „Sie sind nicht tot“, sagte Connys alte Mutter entschieden. „Tot oder nicht tot – einerlei. Wer tot ist, hat’s überstanden; die anderen haben es noch
vor sich.“ „Ach, daß sie kämen und anklagten! Ich trüge die Brandfackel vor ihnen her!“ „Vielleicht kommen einige.“ „Die werden sie nicht reden lassen, die Männer aus der City. Oder sie erkaufen sich ihr Schweigen mit Geld.“ „Wozu? – Den gemeinen Seemann braucht man nicht zu kaufen; der hat sowieso keine Stimme.“ „Aber die Kapitäne und der Admiral, sie haben es auch am eigenen Leibe erfahren, sie werden klagen.“ „Sie werden Ehren empfangen.“ „Wenn sie nicht alle tot sind.“ „Sie sind nicht tot“, beharrte Connys Mutter. „Ich sehe sie ziehen, sowie ich nur die Augen schließe; aber es ist, als wären ihnen die Füße gebunden, daß sie nicht vorwärts kommen.“ „Die Alte redet irre“, flüsterte Frau Greating Bens Mutter zu. „Sie hört Schiffe sprechen und das Wasser klagen.“ „Maria bleibt lange“, gab diese zur Antwort. „Was wird sie ausrichten?“ „Nichts!“ „Gehen wir ihr entgegen!“ Die Frauen verließen die Brücke, und bald sahen sie Maria Droege langsam auf sich zukommen.
„Du bist zurück?“ „Ja!“ „Was sagt die Lady?“ „Hab’ sie nicht gesehen. Sie ließ mir durch einen Diener sagen, sie bedaure mich, wir trügen gleiches Leid und – und er sollte mir ein Almosen reichen.“ „Und?“ „Ich habe gesagt, ich brauchte es nicht, ich wäre nicht gekommen zu betteln, sondern mit ihr gemeinsam zu kämpfen.“ „Und?“ „Mylady fühlte sich nicht wohl.“ „Sind wir ihr nichts? Fühlt sie keine Gemeinsamkeit mit uns?“ „Die Frau des Admirals hat keine Gemeinschaft mit Matrosenweibern.“ „Mein Gott“, rief Maria, „gibt es das? – Sind wir nicht eins in Leid und Sorge?“ „Es soll Menschen geben, die lieber in Seide verhungern, als vom schlichten Manne ein Stück Brot zu nehmen.“ „Wir gehen zur Admiralität! Ich habe diese ewigen faden Vertröstungen satt.“ „Ich will Rettung für meinen Mann und Brot für mein Kind!“ „Wir holen sie zusammen, alle – alle!“
„Was ist das für ein Getöse auf der Straße?“ fragte wenige Stunden später der Sekretär der Admiralität seinen Schreiber. „Sir, auf der Straße stehen Weiber über Weiber und schreien unverständliches Zeug.“ Der Sekretär trat ans Fenster und öffnete es.
„Gerechtigkeit“, schrie es unten, „Rettung, Brot!“ „Was wollt ihr?“ rief er hinunter. „Unsere Männer!“ scholl es zurück. „Ihr habt sie hinausgejagt.“ „Wer seid ihr?“ Ein junges Weib umfaßte das Gitter. „Wir sind die Frauen derer, die mit Franklin fahren!“ rief sie mit klarer Stimme. „Ihr sollt uns anhören, ihr Herren der Admiralität! Was tut ihr zu ihrer Rettung? – Nichts!“ Die Antwort des Sekretärs ging wieder im Getöse unter. Er schloß das Fenster. Eine Scheibe klirrte. Die Polizei solle die Straße säubern, hieß es. Sie ritten die Straße entlang, eine ganze Reihe; sie sprengten mit Pferden zwischen die Frauen, drängten und schlugen. Sie stellten vor dem Gebäude die Ruhe wieder her. Unter den harten Hufen starb fern der Heimat Maria Droege, die alles verlassen hatte um des Liebsten willen.
KING-WILLIAMS-LAND, SEPTEMBER 1849
„Wir sind zu matt, Kapitän, wir müssen lagern.“ Leutnant Le Vescomte, der Erste Offizier der „Erebus“, saß am Boden; früher wäre er vor dem Kommandanten wohl aufgestan-
den; aber er konnte es nicht mehr ohne fremde Hilfe. Alle Augen sahen auf Francis Crozier, traurige Augen. Seit Tagen blies ein Sturm vom Lande her, der das Gehen zur Qual machte. Ein zweites Winterlager? Unmöglich. Eines Tages würde der Brennstoff zu Ende sein, was dann? Man würde die Schlitten, die Boote als Feuerholz verwenden und – in der Arktis braucht man mindestens alle zwei bis drei Tage eine warme Mahlzeit, wenn man die Kälte ertragen soll. Und unter diesen Umständen sollte man lagern? Kapitän Crozier las den Männern die erlittenen Strapazen an den Augen ab und sagte endlich: „Gut, wir lagern; aber alles, was laufen kann, geht zum Fischen.“ Blanky schlug vor, aus Eisblöcken Iglus zu bauen, wie sie die Eskimos als Wohnung benutzen. Crozier und Irving stiegen auf die Felsenhügel. Tot und öde lag das so oft verfluchte King-Williams-Land im Norden. Sie erkannten in der Ferne Kap Herschel; über der Simpson-Straße brauten die Nebel. Was sollte werden, wenn der Winter kam? Sie pflanzten einen Stock mit einem Fetzen Fahnentuch auf; noch war zu hoffen, daß streifende Eskimos
vorüberzogen. Nach einer Weile tönte Lärm vom Lager her, schließlich fiel ein Schuß. Die Offiziere spähten hinunter. Was war geschehen? Leutnant Irvings Hund, der noch in der Kolonne mitlief, hatte sich der Schokolade im Boot bemächtigt und davon gefressen. Die Matrosen waren, als dies entdeckt wurde, sehr ergrimmt darüber, daß ihnen die Verpflegung vorenthalten worden war, die nun auf diese Weise verloren gegangen war. Es hatte Streit gegeben; in dessen Verlauf verletzte sich Leutnant Wilks an einem Bootshaken so sehr, daß er kurz darauf verblutete. Ein schöner Anfang für dieses verwünschte Lager. Es war den Männern anzusehen, mit welcher Unlust sie an den Iglus bauten. Nach einigen Tagen ging es auch mit Le Vescomte zu Ende. Er versuchte noch ein Lächeln. „Ich sterbe angesichts des Festlandes“, hauchte er. „Ihr kommt hinüber – und – grüßt von mir zu Hause!“ Von den Offizieren der „Erebus“ waren außer den Maaten nur noch der Steuermann Robert O. Sergeant und der Arzt Dr. Stanley am Leben. Aber auch Steuermann Sergeant hatte jeden Mut und alle Energie verloren; es ging ja so entsetzlich langsam vorwärts. Ob man
überhaupt jemals dieses Kanada erreichte? An den Eislöchern gab es gute Beute. In diesen arktischen Gewässern lebten viele Fische in mannigfachen Formen. Der Kapitän wählte die ausdauerndsten Männer als Jäger aus. Sie streiften in Trupps im Lande und auf dem Meereis umher und lauerten auf Beute. Jetzt, wo der Proviant ziemlich aufgebraucht war, mußte viel mehr gefischt und gejagt werden. Jedesmal, wenn Francis Crozier nach einem Streifzug wieder ins Lager kam, verspürte er einen Stich. Wie unachtsam die Männer lebten: Abfälle, Kot, verdorbenes Gerät bedeckten den Platz zwischen den Eishäusern! Kessel und Krüge standen umher, eine Bürste lag vergessen im Schnee, zerrissene Strümpfe, einst aus Decken genäht, unweit davon. „Das ist der Anfang vom Ende“, murmelte er, und in seinen Gesprächen mit Blanky und Irving klang es immer deutlicher durch: Wir müssen uns teilen. – Mögen die Trägen hier an den Fischlöchern sitzenbleiben und angeln; die Männer, die stark und mutig sind, werden marschieren – notfalls auch durch Nacht und Winter. Im Oktober gelang es einer Jagdgruppe, auf einer im Eise liegenden kleinen Insel eine
Herde Moschusochsen zu stellen. Die Tiere bildeten einen engen Kreis. Die plumpen, schmalen Köpfe mit den Hörnern gesenkt, wirkten sie in ihrem dichten Pelz wie kleine Ungeheuer. Den Männern zitterten die Hände; trotzdem traf jeder Schuß. Elf Tiere zählten die glücklichen Jäger, als die letzte Detonation verhallt war. Die Heimkehr glich einem Triumphzug – sie schleppten zwei Ochsen mit sich! Die waren allerdings nur reichlich einen Meter hoch und wohl zwei Meter lang, mehr einem kräftigen Widder als einem Rind vergleichbar. Welcher Jubel zwischen den Hütten und Zelten! Als die Männer im Lager hörten, draußen lägen neun weitere Tiere, machten sie sogleich Schlitten fertig und fuhren trotz der holprigen Oberfläche des Meereises zur kleinen Insel hinüber. Die Jäger wurden beglückwünscht: man nannte sie Lebensretter, Erlöser, Engel. – Fleisch hatten sie gebracht, köstliches, frisches Fleisch. Wo ein Kochofen stand, duftete es lieblich. Die Männer aßen maßlos. Ihr Appetit war nicht zu bändigen. Und wie wohl sie sich fühlten, so satt und voll und zufrieden! Blanky erzählte Schnurren. Er hatte schon unter John Ross an einer erfolgreichen Jagd
auf Moschusochsen teilgenommen. „Die Biester leben von Halmen und Flechten, die sie aus dem Schnee scharren. Wirklich und wahrhaftig, Leute, und man denkt, in dem Frost ist für Rindvieh keine Nahrung. Sir Ross ließ die Herde, die wir trafen, von den Hunden stellen. War gar nicht ungefährlich, sag’ ich euch. Die Tiere zitterten vor Wut und stießen nach den Hunden. Unsere Eskimos haben mit Pfeilen nach ihnen geschossen. Pah, in dem dichten Pelz war das kaum zu spüren, die Dinger prallten ab. Wir haben dann mit unseren Büchsen der Sache ein Ende gemacht. – Da fällt mir ein, auf der Jagd haben die Eskimos frisches Blut mit Schnee gemischt und gegessen, leidenschaftlich gern. – Habt ihr euch die Schädel von den Biestern gut angesehen? – Es soll vorgekommen sein, daß Bleikugeln an ihrer Stirn plattgeschlagen sind – wirklich und wahrhaftig.“ Die anderen staunten. Kapitän Crozier, der regelmäßig Eintragungen in die Logbücher, die wichtigsten Dokumente der Expedition, machte, hatte das freudige Ereignis getreu festgehalten und registrierte lächelnd, daß heute nicht von Essen gesprochen wurde. Heute war die Wirklichkeit schöner, als alle Erzählungen es sein konnten. Die Männer schliefen tief und traumlos wie
lange nicht mehr. Ach, wenn man immer genug Frischfleisch hätte. Man würde dann sicher menschliche Ansiedlungen erreichen, und wenn die Kolonne noch so langsam vorrückte!
LONDON, NOVEMBER 1849
Die englische Öffentlichkeit war bestürzt, die Admiralität ratlos. Kurz hintereinander trafen Dr. Richardson aus Kanada und die Kapitäne Ross und Bird mit ihren Schiff en „Enterprise“ und „Investigator“ in London ein. Das Treibeis hatte sie in raschem Tempo durch den Lancaster-Sund in die Davis-Straße geführt, wo sie endlich freikamen und heimreisen konnten. Sehnlichst waren sie erwartet worden. Nun brachten auch sie keine Aufklärung über das Schicksal der Verschollenen. Man war tief niedergeschlagen und wurde sich klar darüber, daß das Suchen nach der Franklin-Expedition jetzt zur moralischen Pflicht geworden war, wenn England seinen Ruf als Kulturnation nicht gefährden wollte. Der fünfte Winter war angebrochen. Man konnte es ein Wunder nennen, wenn die Männer Franklins noch am Leben waren. Eine Utopie aber war es zu glauben, die Expedition sei noch fähig zu operieren! Man hatte sich gründlich geirrt. Nun rächten
sich mit einem Schlage all die Gleichgültigkeit, all der Leichtsinn der vergangenen Jahre. Hatte nicht John Ross immer wieder gewarnt, waren nicht Dr. Kings wohlgemeinte Ratschläge fast beleidigend zurückgewiesen worden? Hatten nicht Lady Franklin und ungezählte andere immer wieder geschrieben, gewarnt, gefleht? Nun mußten die Lords der Admiralität mit Fingern auf sich weisen lassen und hören: Ihr habt wertvolle Menschenleben leichtfertig geopfert; nun seht zu, wie ihr euch aus der Schlinge zieht! Die Geschäftswelt aber hatte längst andere Dinge im Kopf. Im Kaplande waren Streitigkeiten mit den Buren ausgebrochen, in Indien tobten Kämpfe mit den Aufständischen, man zitterte um Indigo, Pfeffer und andere Handelsgüter. Mit Spanien hatte man gebrochen, die Gesandten wurden gegenseitig ausgewiesen. Eine ähnliche Spannung bestand mit Österreich; die Politik Lord Palmerstons hatte ihm den Namen „Lord Feuerbrand“ eingetragen. Genug Sorgen für Handel und Finanzwelt, was wog demgegenüber eine verschollene Expedition? Gewiß, die Straße nach China wäre hochwillkommen gewesen; aber sie erwies sich als Traum. Nun, die Engländer haben sich nie mit Träumen abgegeben; sie waren seit je Realisten, die alle Unternehmen auf
Heller und Pfennig zu veranschlagen wußten. Für solche Leute paßt keine Sentimentalität, man war das Auf und Nieder von der Börse her gewöhnt. Wer unter die Räder kam, mußte sich zermalmen lassen. Schicksal!
KING-WILLIAMS-LAND, DEZEMBER 1849
Die Nacht toste aus tausend Schlünden. Es fauchte um die Felsen, wirbelte den Schnee hoch und drängte ihn in die feinsten Spalten. Draußen donnerte das berstende Eis, Nordlichter geisterten über den Wolkenfetzen, die Arktis zeigte ihr grimmigstes Gesicht. In diesem wilden Aufruhr waren vier Männer unterwegs. Sie zogen einen Handschlitten, hatten Kap Herschel passiert und stemmten sich nun dem Sturm entgegen. Voran zog Karl Bauer. Von Tag zu Tag hatte er gewartet, daß es weitergehen sollte; aber die Trägen und Müden verlangten, den Winter über im Lager zu bleiben, und Kapitän Crozier wollte sich den Gehorsam in dieser Lage nicht durch Befehle ertrotzen. Aber Karl Bauer wollte nach England und weiter zur Weser, von wo er geflohen war. So keimte in ihm schließlich die Idee, mit einigen Gefährten heimlich davonzugehen, einen
Handschlitten mit Proviant und Munition zu beladen, die Gewehre umzuhängen, bis Kap Herschel am Strand zu marschieren und dann nach dem Kompaß südwärts übers Meereis zu gehen. Er besprach den verzweifelten Plan mit Ben. Zu Steuermann Sergeant sagte er keinen Ton; der war Offizier, jetzt gar Erster der „Erebus“Mannschaft; der würde ihn zurückhalten, notfalls mit Gewalt. Aber es gab noch zwei andere, die gern mitgingen, Barry und Shavel von der „Terror“. Sie waren bisher rüstig marschiert, hatten mehrfach geäußert, sie würden lieber weiterziehen als lagern, und sie hatten sich über das langsame Tempo beklagt. Karl Bauer wußte die beiden zu gewinnen. Er schilderte ihnen die Rettungsmöglichkeiten in so lebhaften Farben, daß sie, von seinen Worten geblendet, bedenkenlos zusagten. Natürlich, die anderen hier faulten in Zelt und Hütte; sie hatten ja schon keinen Willen mehr, zu ihrer eigenen Rettung weiterzuziehen. Sie hockten an den Angellöchern und starrten gierig den Jägern entgegen. Heimlich zogen die vier Männer los, Schokolade, Tee, Hartbrot, Tabak, ein kleines Zelt, Flinten und Munition auf dem Schlitten. Niemand merkte, daß sie flohen; alles hielt sich des Sturmes wegen in den Hütten.
In den ersten Tagen kamen sie gut voran; aber kaum, daß Kap Herschel passiert war, nahm der Sturm eine unvorstellbare Stärke an; dazu wurde es bitterkalt. Sie lagerten kurz unter schützenden Felsen, wärmten etwas Speise, schliefen ein, zwei Stunden und zogen weiter. Noch wagten sie sich, des Sturmes wegen, nicht auf das offene Meereis hinaus; sie stolperten mehr, als sie gingen. Als Karl Bauer im Gehen stürzte, schlug er mit dem Arm hart auf einen Stein und zertrümmerte dabei den so wertvollen Kompaß. Die drei anderen umstanden ihn wortlos. Sie begriffen, was das bedeutete – in dieser Einöde ohne Kompaß. Man konnte auch nicht lagern, um den Tag abzuwarten, der Tag kam erst im Februar; bis dahin war ewige Dämmerung und tiefschwarze Nacht. Sie verhielten einen Augenblick. An der flachen Küste war jetzt kaum Schutz zu finden – und zelten? – Ach nein, weiter! Sie packten die Ladung um, verstauten den Zwieback aus einem Blechbehälter zwischen den übrigen Sachen und warfen diesen mit einigen entbehrlichen Dingen fort. Nur leicht machen! Dann zogen sie ihren Schlitten weiter über Hügel und durch Täler, über Spalten und
Gründe, umgingen große Blöcke, überquerten Schollen, spürten bald Eis, bald Land unter den Füßen. Selbst nach dem Wind konnte man sich nicht richten, er wirbelte, schien fortwährend von anderswo herzukommen, verstummte einen Atemzug lang, um dann erneut böig einzufallen. Schnee peitschte hoch, Eiskörner, Sand. Grausame Arktis. Ben führte im Gehen die Hand zum Boden und steckte ein Stück Eis nach dem anderen in den Mund. Er hatte brennenden Durst, der ihm, sobald die angenehme Kühle auf der Zunge verging, ärger als zuvor erschien. Und dann begann die Kälte ihr verräterisches Spiel. Schlafen, gaukelte sie den Männern vor, schlafen, schlafen, einfach zu Boden sinken. Wie lange sie so dahingestolpert waren, wußten sie nicht. Lange, bange Stunden waren verstrichen. Da sah Karl Bauer im Dämmer vor sich etwas Dunkles auf dem Schnee. Er hielt, bückte sich und hob einen Blechbehälter auf. Ein Blechbehälter? Narrte sie ein höllisches Blendwerk? Das war doch das gleiche Ding, das sie vor Stunden weggeworfen hatten! Ja, derselbe Behälter! Ringsumher lagen die übrigen Teile, deren man sich entledigt hatte. – Im Kreise war man gegangen, im Kreise.
Ben weinte; er ließ sich fallen, wo er stand; aber Karl trieb ihn hoch, schüttelte ihn, so derb er vermochte, und zerrte ihn weiter, immer vor dem Schlitten her. Barry und Shavel schoben. Wieder gings in die Nacht hinein. Aber jetzt hielt Karl direkt auf das Meereis zu, um von diesem verteufelten Inselland wegzukommen, nur fort, nur weiter. Viel, viel später – sicher waren wieder Stunden vorbei – hielt auch er erschöpft an. Er sah sich um: hinter dem Schlitten ging niemand mehr! Barry, Shavel – wo waren sie? Hatten sie gerastet ohne etwas zu sagen? – Sie waren verloren ohne Zelt und Feuerzeug. Er zwang den schlaftrunkenen Ben, ihm beim Aufrichten des Zeltgestänges zu helfen, den Überzug darauf auszubreiten; dann nahm er das Gewehr, schoß und rief. Keine Antwort. Ben war vor Kälte ganz blau angelaufen; er hauchte seine eiskalten Hände an, ohne daß sie eine Spur Wärme bekamen. Karl Bauer sah dem Jungen bekümmert zu; in einem Anflug von Mitleid begann er, ihm Gesicht und Hände mit Schnee zu reiben und sie wieder abzutrocknen. Der Bursche ließ es wortlos mit sich gesche-
hen; er hatte seine Augen geschlossen und schlief wohl schon halb. Nun, eine Stunde sollte er haben. Karl trat vors Zelt, rief wieder, schoß in die Luft. Keine Antwort. – Verfluchtes Land, warum keine Antwort? Es treibt seinen Spott mit uns Menschen seit Jahren. Wir stolpern dahin, es hält uns fest, erbarmungslos, ohne Gnade.
„Barry!“ – Nichts! „Shavel!“ – Nichts! Nur der Sturm faucht und zerrt und wirbelt.
Karl kroch ins Zelt. Der Bursche lag gekrümmt am Boden und schlief. Eine Stunde nur, dachte der Matrose, eine einzige Stunde. Auch er schlief auf der Stelle ein. Aber selbst im Traum noch ging er gegen den Erfrierungstod an. Nicht taub werden, nicht blind und ohne Gefühl. Solange man den Frost noch spürt, erfriert man nicht. Dann war er wieder wach. Ihm klapperten die Zähne. Er tastete nach Ben und fühlte, daß er kalt, starr und leblos war. Er fuhr zurück, als hätte er an glühendes Eisen gegriffen, stolperte hinaus, nahm ein Gewehr vom Schlitten und ging in die Nacht hinein ohne Weg und Ziel. Die Segeltuchtasche mit den Briefen, den so wertvollen, geliebten Briefen, trug er an einem Gurt über der Schulter. „Maria“, sagte er, „ich komme, du wirst warten, ja – ich bin bald bei dir. Ich habe dir lange nicht gesagt, daß ich dich liebe… liebe…“ Irgendwo verlor er das Gewehr; aber die Tasche, die hielt er fest, die würde ihm niemand nehmen, auch nicht dieses verfluchte Land. Erst war da noch seine Stimme, sein unsicher stolpernder Schritt, dann nur noch der Sturm, die Nacht und eine weiche, weiche Schneedecke. *
An den Eislöchern verbrannten die letzten Fackeln. Die Fische kamen hoch und wurden mit dem Netz herausgezogen. Ab und an mußten die Löcher, die ständig wieder zufroren, erneut freigehackt werden; aber man hatte Erfolg. Um Weihnachten herum wurde ein Eisbär erlegt, ein alter sehniger Bursche, auf dessen Fleisch man herumkaute wie auf Stiefelleder; aber was tat das? Der lang andauernde Sturm hatte das Lager völlig verweht; sie mußten sich aus den Iglus herauswühlen wie die Maulwürfe. Ein Zelt war zusammengedrückt worden, die Männer zogen die Latten auseinander, ein bleiches Gesicht starrte gläsern unter den Zeltfetzen hervor. Es war Jules, der kleine Franzose. Hoffnungslos. „Ich kann das nicht mehr mit ansehen“, sagte Francis Crozier eines Tages in seinem Iglu. „Ich ziehe weiter, und wer Mut hat, geht mit mir. Mögen die anderen bleiben, ich kann sie nicht hindern; aber sie sollen uns die Freiheit lassen zu sterben, wo es uns paßt. – Und ich, ich sterbe lieber auf dem Marsch, das Gesicht nach Süden, als hier in dem stinkigen Bau.“ „Bravo, Kapitän“, sagte Leutnant Irving, „bald ist es zu spät. Wir müssen noch im Winter weg, sobald wie möglich.“ „Wir lassen ihnen die Handschlitten, das Fi-
schernetz und einen Teil des Proviants. Sollten wir überraschend auf Eskimos stoßen, so holen wir die anderen nach. Selbstverständlich denken wir bei einer Rettung an sie; aber sie können nicht verlangen, daß wir hier bleiben. So viele Menschen können nicht leicht verpflegt werden.“ „Kapitän, ich gehe mit.“ „Ich auch.“ „Ich gleichfalls.“ „Und mich werdet ihr auch nicht zurücklassen!“ So begannen die Vorbereitungen zur Teilung, und es begann die Feindschaft mit denen, die zurückbleiben wollten. Wieder fielen Worte wie „Ballast“ und „verfluchte Stürmer“; aber das alles konnte den Kapitän nicht dazu bringen, seinem Entschluß zu entsagen, in ganz kurzer Zeit aufzubrechen. Es fanden sich knapp vierzig Männer, die mit ihm ziehen wollten. Vierzig – einst waren es hundertdreiunddreißig gewesen! * Im Januar 1850 wurden die Schiffe „Enterprise“ und „Investigator“ erneut ausgesandt, Franklin und seine Männer zu suchen. Sie fuh-
ren diesmal unter dem Kommando von Kapitän Collinson und Commodore MacClure und hatten Weisung, über den Stillen Ozean und dann durch die Bering-Straße ins Eismeer vorzustoßen. Nur wenige ahnten, daß das wiederum der falsche Weg war.
KING-WILLIAMS-LAND, JANUAR 1850
Die Männer packten ihre Bootsschlitten. Der Aufbruch glich einer Flucht. Sie hatten in den Tagen zuvor wenig Fische gefangen und mehr gedarbt als gegessen. Durch die offenen Vorbereitungen wurde der Haß zu heller Glut angefacht. Die Zurückbleibenden, die Steuermann Warwel befehligen wollte, erhielten Munition, Nahrung und Brennstoff zugeteilt und bekamen wohl zum hundertsten Male das Versprechen, daß sie geholt würden, sobald die Spitzengruppe Verbindung mit Menschen hätte. Wer glaubte das? Man lag im zweiten Winterlager seit dem Verlassen der Schiffe und wußte nur zu genau, was Entfernungen und Nahrungsmangel bedeuteten. So machten sich ein verderblicher Pessimismus, eine wilde Vernichtungswut breit. Wir tanzen miteinander einen großen Toten-
tanz, war die allgemeine Meinung. Leutnant Fairholme führte den Reigen an, und alles andere muß ihm nach, auch ihr. Als der Voraustrupp abzog, gab es mit den Männern im Lager ein regelrechtes Feuergefecht, als ständen sich erbitterte Feinde gegenüber. Leutnant Irving, der mit einigen Männern die Rückendeckung der Abfahrenden übernahm, erhielt dabei einen gefährlichen Steckschuß. Er war während der ganzen Reise vorweggestürmt; das war ihm besser bekommen, als das Kommando der Nachhut. Man packte ihn in den Schlitten und mühte sich besorgt um sein Wohlergehen. Dann marschierten die Männer weiter in flottem Tempo. Sie passierten bald Kap Herschel; voraus suchten Crozier und Blanky den Weg über das Meereis. Irving fühlte sich unzufrieden. Nicht genug, daß sie ihn pflegen und sich um ihn sorgen mußten, nein – sie hatten auch sein Gewicht noch zusätzlich Zu bewegen. Die Wunde schmerzte, und die Tatsache, daß Dr. Stanley nicht versuchte, die Kugel zu entfernen, bewies Irving, daß ihm hier keiner helfen konnte. Er war ein halber Mensch, ein Krüppel sozusagen, eine Last für die Kameraden, die am eigenen Kreuz genug zu schleppen hatten.
Francis Crozier sah fast stündlich nach ihm. Neben Blanky war Irving sein bester Freund, sein Vertrauter seit der Abfahrt von England. Es tat weh, ihn jetzt so leiden zu sehen und nicht helfen zu können. Der Leutnant wollte nicht, daß man ihm half; er bat mehrfach, ihn seinem Schicksal zu überlassen, nicht nach ihm zu fragen, sondern immer weiter und weiter zu fahren und ihn in gutem Angedenken zu behalten. Aber die Männer überboten sich in Liebe zu ihm, und diese Liebe war jetzt unerträglich. Daisy, Irvings Lieblingshund, der letzte des ehemals so schnellen Gespanns, krepierte am Wege. Er lag nach Luft schnappend am Boden; niemand sah zu ihm hin; es war dunkel, und sein Herr starrte in die Sterne. Ein Krampf löschte das Hundeleben aus wie der Wind ein Irrlicht. Als sie dann rasteten und, in Schlafsäcke und Planen gehüllt, ein paar Stunden schliefen, kletterte der Leutnant aus dem Boot. Die Kugel stach wie ein Messer; aber er verbiß den Schmerz; endlich stand er schwankend auf den Beinen. Die Männer schliefen. Ade, mein Kapitän, leb wohl Blanky, Gefährte auf vielen Wegen, farewell ihr Männer von Franklins Expedition, ihr sollt keine Last mit mir haben! Ihr braucht
ein leichtes Gepäck auf eurer weiten Fahrt. Nach einem kurzen Blick über die schlafenden Kameraden stolperte Leutnant Irving in das Dunkel hinein. Die Sterne schimmerten fern und unwirklich wie helle Punkte in einem schwarzen Kristallkelch. Die Luft ging leicht, es war kalt; aber Irving fror nicht. Er ging, taumelte, fiel, raffte sich wieder auf und kam so Schritt um Schritt von den Kameraden fort. Die würden ihn nicht wiederfinden. Dann begann die Wunde fürchterlich zu stechen. Er öffnete den Pelz, fühlte, als er nach dem Verband tastete, seine silberne Medaille auf der Uniform. Stolze Erinnerung: 1830 hatte er die Denkmünze als Zweiten Mathematischen Preis verliehen bekommen! Dann fühlte er, wie ihm schwach wurde; er ließ sich zu Boden gleiten und lag stumm. Lange spürte er nichts. Schließlich begann er zu träumen. Er lag wieder warm eingepackt im Boot, und die anderen zogen über das holprige Eis. Es ruckte und schwankte und stieß. Er riß die Augen auf. – Ja, er lag auf dem Schlitten, sie hatten ihn gesucht und gefunden. O Kameraden, warum ließt ihr mich nicht einsam sterben! Er hörte, wie sie sich im Gehen unterhielten. Sie sprachen vom Essen; einer lobte heiße Kartoffeln mit Butter. Irving glaubte den Duft
davon zu spüren. So schlief er endlich ein. Nach Stunden merkten die Männer, daß sie einen Toten im Boot mit sich führten.
LONDON, JANUAR 1850
Auch der alte John Ross sollte seinem Freunde John Franklin noch einen letzten Liebesdienst erweisen. Er war 74 Jahre alt, und nun trat die Hudson-Bay-Company an ihn heran, um ihm ein Kommando anzubieten. Die Gesellschaft hatte einen namhaften Betrag bereitgestellt, zu dem von Gönnern und Angehörigen der Unglücklichen gesammelte Gelder hinzukamen. Die Schiffe „Felix“ und „Mary“ wurden bemannt und ausgerüstet, um noch einmal vom Lancaster-Sund aus die Suche nach Sir Franklin aufzunehmen. Sir John Ross war ein Leben lang zur See gefahren. Mit neun Jahren hatte er seine erste Reise begonnen, konnte sich in Kriegen auszeichnen und war rasch befördert worden. Die Arktis war seine zweite Heimat. Nun, im hohen Alter, hatte er geglaubt, in Ruhe seinen Erinnerungen und Schriften leben zu können. Sein Buch „Narrative of a second voyage in search of a Northwest-Passage“ war seines Erfolges wegen in viele Sprachen übersetzt worden. Aber oben im Eise lag Sir John
Franklin, der Freund, dem er Hilfe versprochen hatte. Was galten hier die Lebensjahre? Wer konnte da ein ruhiges Alter verlangen? Sir John Ross nahm das Kommando der Entsatzexpedition ohne Zögern an. Aber auch in Amerika waren Lady Franklins Briefe nicht ohne Erfolg geblieben. Henry Grinnel, ein reicher Reeder und Kaufmann, machte sich einen Namen, indem er auf eigene Kosten die Schiffe „Advance“ und „Rescue“ von der amerikanischen Admiralität bemannen ließ. Das Kommando bekam De Haven, ein waghalsiger Seeoffizier, der den Auftrag übernahm, von der Davis-Straße aus nach Franklin zu suchen. Die Welt war in Bewegung.
KING-WILLIAMS-LAND, FEBRUAR 1850
Die Männer standen still. Ein solches Herzklopfen hatten sie lange nicht gehabt. Narrte sie ein Spuk? Im Dämmerlicht des kurzen Tages verhielt ihnen gegenüber auf einem Schneehügel eine Handvoll Menschen – Eskimos! Es gab keine laute Begrüßung. Croziers Leute hielten den Atem an, als fürchteten sie die Erscheinung da vorn zu vertreiben. Dem Kapitän dämmerte es zuerst: „Gerettet!“
Er stieß Blanky in die Seite und wies nach vorn. Der ging einige Schritte auf die Eingeborenen zu – seltsam, wie er schwankte. Dann rief er in alter Erinnerung: „Aja tima!“ und hob die Hand. Ihn würgte das Schluchzen. „Aja tima“, klang es von drüben zurück; dann war er von den kleinen, aufgeregt durcheinander schnatternden Männern umringt. Sie betasteten sein Gewehr, sein langes Messer, und ihm liefen dabei die Tränen über die Wangen. Die Matrosen erwachten aus ihrer Starre. Sie eilten herbei, lachten, redeten, streichelten den kleinen Pelzgestalten die breiten Gesichter mit dem schwarzen struppigen Haar, schenkten ihnen in der Freude der Begegnung tausend Kleinigkeiten.
Die Eskimos waren auf der Jagd, führten aber nichts bei sich als eine kleine Robbe, die sie sofort bereitwillig den Männern überließen. Durch Zeichen und Gebärden machte man ihnen klar, daß man zwei Schiffe im Eise verloren habe, daß man hungrig sei und nach Süden wolle, um Wild zu finden. „Umingarok“, sagten die Eskimos und wiesen über die Meeresstraße nach dem Festlande, „Umingarok.“ „Blanky“, rief Crozier, „was heißt Umingarok?“ „Umingarok?“ Die Eskimos nickten lachend und beschrieben etwas Langes, Meterhohes – ein Fell, Hörner vor der Stirn… „Umingarok!“ schrie Blanky. „Moschusochsen, Kapitän! Im Süden.“ Fast zwei Jahre waren sie umhergewandert, zwei Jahre voller Angst und Hunger und Ungewißheit, und nun trafen sie am Rande der Simpson-Straße Menschen. Kleine Menschen mit strahlenden, breiten Gesichtern. Die Zelte wurden aufgeschlagen, Schnee getaut, gekocht und mit den Fremden geplaudert. Jeder in seiner Sprache. Man verstand kein Wort des anderen; aber man war glücklich. Bald wurde es dunkel. Die Eskimos lagerten ein Stück seitab, als sich die Matrosen zum
Schlafen niederlegten. Ach, daß diese nicht hörten und verstanden, was die Eingeborenen leise besprachen. „Ekaschu, hast du gesehen, die Kablunäs, die weißen Männer, haben den Tod schon im Gesicht.“ „Ja, Nautok.“ „Wenn wir wieder zu den Frauen in unsere Iglus zurückkehren wollen, dürfen wir nicht bleiben.“ „Wir können die Kablunäs mitnehmen; sie haben schöne Dinge, die sie gern verschenken.“ „Oh, sie sind viele, was sollen sie essen? Wir haben nur wenig Fleisch und Rentierflechten in unseren Iglus. Wir würden mit ihnen verhungern.“ „Ja, Nautok, ich glaube auch, für so viele reicht die Nahrung nicht.“ „Laß uns in der Nacht weggehen.“ „Ja, Nautok.“ Welch ein Erwachen am folgenden Morgen! – Manch einer hatte von Heimkehr geträumt, hatte die lachenden Gesichter der Eskimos vor Augen und sah sich gerettet. Grausame Enttäuschung! Sie fraß in ihnen wie ein Feuer: Die Eingeborenen sind verschwunden, sie haben uns im Stich gelassen! Herr im Himmel, warum das?
Wohl liefen einige ihren Spuren nach; aber es zeigte sich bald, daß die Eskimos mit der Verfolgung gerechnet hatten. Die Fährte ging auf festes Eis hinaus und verlor sich zwischen den Blöcken. Aus! Oh, warum mußte man sie treffen, um jetzt desto tiefer in Verzweiflung zu fallen? – Wären sie doch anderswo entlanggezogen! Man hatte so lange keine Menschen getroffen und konnte wohl auch noch lange auf ein Zusammentreffen warten. Aber diese Freude gestern, diese Hoffnung, und nun…! Sie schleppten sich mit den beiden Schlitten weiter, uneins mit sich selbst – manche wollten sogar auf der Stelle liegenbleiben. Lieber den Tod erleiden als weiter diese Qual erdulden! Aber der Kapitän ließ nicht locker. Er bat die Männer, richtete sie auf, versprach ihnen drüben in Kanada Fleisch, Fisch und Rettung: „Wir müssen jetzt unsere Anstrengungen verdoppeln; wir müssen den Rest unseres eigenen Ichs abtöten; denn nur gemeinsam erreichen wir das Festland, gemeinsam oder nie.“ Ach, sie kannten und liebten ihren Kapitän, der nicht eher etwas aß, ehe er nicht den letzten Mann versorgt wußte, der sich nicht niederlegte, bevor nicht der letzte Mann sein La-
ger hatte. Er hätte befehlen können: „Vorwärts!“ Er aber wollte, daß ihm die Leute aus freiem Entschluß folgten. Sie zogen alle weiter, trotz der Enttäuschung und der verzweifelten Lage. Es ging südwärts über das Eis. Leb wohl King-Williams-Land, auf Nimmerwiedersehen! Übermenschliche Anstrengungen warteten auf die Männer. Die Stürme hatten das Packeis zerrissen, in Pressungen zu Bergen aufgetürmt; dazwischen blinkte das Neueis und täuschte gangbare Wege vor, die aber bald an Wänden und Brüchen endeten. Dort quälte man sich mit den großen Schlitten hindurch, Schritt um Schritt, Meter um Meter. Immer wieder wurden Pausen eingelegt; dann ließ man aufatmend die Schlitten stehen, ergriff die Büchse und spürte nach Wild. Endlich, es war inzwischen März geworden, erreichten sie das offene Wasser der SimpsonStraße. Vorsichtig wurden die Boote von den Kufen genommen, ins Wasser gelassen. Es war sehr neblig und die Meeresstraße mit Eisbrocken besetzt. Dennoch fühlten sich die Männer erleichtert, als sie dicht nebeneinander in den Booten saßen und vorsichtig zwischen den Schollen hindurchruderten. Die Straße war nicht breit. Der Nebel hob sich bald nach der Abfahrt; sie sahen an Steu-
erbord die Berge des Adelaide-Landes liegen, das sie ostwärts umfuhren. Kapitän Crozier wußte eine Geschichte zu erzählen: „Im Jahre achtzehnhundertdreiunddreißig wurde eine Abteilung der Expedition des Kapitäns Bock an der Westküste des AdelaideLandes von Eskimos angegriffen. Es kam zum Kampf mit diesen sonst so friedlichen Menschen. Später stellte sich heraus, daß diese mit den südlich wohnenden Indianerstämmen in Feindschaft lebten.“ Kaum, daß die Männer ihm zuhörten. Sie starrten auf die Angelschnüre, die hinter den Booten schleppten. Hier hätte man das Fischnetz gebrauchen können, das sie im Winterlager zurückgelassen hatten. Wer etwas an der Angel spürte, zog sie ein, löste den Fisch, schuppte ihn ab, teilte und aß. Ein Luderleben, dachte der Kapitän; aber er aß auch, als ihm davon angeboten wurde. Am Abend gingen sie an Land, schlugen die Zelte auf und konnten noch in der Dämmerung zwei Polarfüchse erlegen. Das Festland hatte man also erreicht; das Gewässer im Osten hieß die Elliot-Bai. So weit man südlich blicken konnte, war die Mündung des Großen Fischflusses eisfrei – man würde weiterfahren können; denn nun abermals die Schlitten über Land zu schleppen, konnte Crozier von den
geschwächten Männern nicht mehr verlangen. Sie hatten tiefliegende Augen und eingefallene Wangen. Ein Bild des Elends! Der Kapitän hätte die Augen schließen mögen; er wußte, daß er Todgeweihte vor sich hatte. Aber bis zum letzten Atemzug sollte ihn keine Resignation befallen. Solange wir kämpfen, leben wir, darum müssen wir auch dem Tode tapfer ins Auge sehen. Ach, was waren Worte und Begriffe in dieser Lage! Am 30. März ging es nicht weiter. Sie hatten in der Nachbarschaft des Felsens Point Ogle ein Gestadetiefland erreicht, vor dem noch viel Wintereis angefroren war, dessen Aufbruch man wohl oder übel abwarten mußte. So legten sie hier an, stürzten die Boote an Land um und lagerten, lagerten ohne Nahrung. Hatte die Tage zuvor der Tod seine Sense gewetzt, so begann er jetzt eine erbarmungslose Ernte. Von allem Besitz war nur ein beträchtlicher Vorrat an Pulver und Gewehrkugeln geblieben. Außerdem hatten sie ihre Uhren, Kompasse, Fernrohre, Flinten und silberne Gegenstände bei sich, die nahe dem Uferrande mit den Pulverfäßchen und Kisten auf dem Eis gelagert wurden. Kapitän Crozier war mit einigen Begleitern fast täglich auf der Suche nach Wild unter-
wegs. Wenn sie zurückkamen, fehlten jedesmal einige Männer. Zuerst wurden sie noch bestattet, dann einfach unter eines der Boote gelegt, nachdem man die Leichen entkleidet hatte. Eines Nachmittags im April stieß die Jagdgruppe unter Kapitän Crozier zwischen den Bergen auf zwei Moschusochsen. Sie wurden beide geschossen. Sogleich zog man sie ab, aß etwas davon und zerteilte den Rest des Fleisches in tragbare Lasten. Als die Männer aus den Bergen traten und den Hügel zum Lager hinabschritten, sahen sie, daß unten Feuer brannte und gekocht wurde. Hatten die anderen einen Bären erlegt? Einer kam gelaufen. Es war der blonde Earlsson. „Kapitän!“ schrie er von weitem, und seine Stimme überschlug sich, „Kapitän, diese Schweine, diese – o Kapitän!“ Er schlug die Hände vors Gesicht, seine Schultern zuckten. „Earlsson, was ist geschehen?“ Der Matrose nahm langsam die Hände vom Gesicht, in seinen Augen lag das Entsetzen. „Wißt ihr, was sie da unten kochen?“ fragte er tonlos, indes Crozier eine furchtbare Ahnung aufdämmerte. „Sie haben von den Leichen das Fleisch abgeschnitten und…“ Ihn würgte der Ekel.
„Sie sind wie Tiere“, stöhnte er. „Morgen gehen sie mit dem Messer aufeinander los.“ Crozier sah seine Begleiter an; sein Gesicht wurde schreckenerregend. Blanky verließen zum ersten Male in seinem Leben die Nerven; er hob das Gewehr und schoß hinunter in dieses verfluchte Lager, und da warfen auch die anderen ihre Jagdbeute ab, und die Berge gaben das Echo der Schüsse zurück. So lange sich zwischen den Feuerstellen noch etwas regte, übten die Jäger keine Gnade. Die dort unten, obgleich in der Mehrzahl, waren wie vom Blitz getroffen. Nur einer schoß zurück; er traf Harry D. S. Goodsir, den Schiffsarzt der „Erebus“, der in den Schnee niederfiel, Gewehr und Fernrohr unter sich begrabend. Stille. Warum stürzt nicht der Himmel ein? Warum tritt nicht das Meer aus den Ufern und schwemmt alles hinweg, was auf diesem Gestade liegt? Wie kann Gott dazu schweigen? Als die Männer aus ihrer Erstarrung erwachten, liefen sie wie gehetzt zum Strand, vorbei an Feuer, Kessel und Toten. Sie stürzten ein Boot um, zogen es ins Wasser und fuhren in die Schollen hinein. Nach Süden, nach Süden, dem Großen Fischfluß entgegen. Hinter ihnen leuchteten die Feuer noch bis in die sinkende
Nacht. Zur gleichen Zeit startete von England aus der Walfänger Penny mit den Schiffen „Lady Franklin“ und „Sophia“ nach der Baffin-Bai. Auch er sollte die verschollene Expedition suchen. Noch ehe John Ross seine Schiffe zur Abfahrt klar hatte, war Penny mit den Vorbereitungen fertig geworden. Allerdings hieß es jetzt nicht mehr: Wer rettet Franklin? Jetzt fragte man nur noch: Wer findet Franklin? Wo in der weiten Arktis hat sich die Tragödie – denn eine solche konnte es nur sein – abgespielt? Darauf konnten nur die Tagebücher der Expedition erschöpfende Antwort geben; sie würde man finden müssen, wenn von den wackeren Männern keiner mehr am Leben war. Jeder ausfahrende Kapitän erhielt die Weisung: Suchen Sie nach den Schiffstagebüchern! * Noch hielt Kapitän Crozier die wichtigen Dokumente verwahrt. Er saß im Boot, das langsam den Wassern des Großen Fischflusses entgegenfuhr, und hielt die Ruderpinne. Vor ihm auf den Ruderbänken saßen noch neun Mann: Blanky, der treue Freund, Maat Hornby von der „Terror“, die Maate Crouch und Des Voeux von der „Erebus“, Steuermann
Sergeant, der Arzt Dr. Stanley sowie die Matrosen Philipp, Conny und Earlsson. Trauriger Rest einer großen, stolzen Expedition. Offiziere und Mannschaften unterschieden sich nicht mehr voneinander; sie nannten sich beim Vornamen, saßen zusammen auf den Bänken, faßten dasselbe Ruder, teilten Fisch und Fleisch und lauschten auf das Plätschern des Wassers unter dem Bug, das ihnen herrlich dünkte nach der monatelangen Wanderung durch die weißen Einöden des King-WilliamsLandes. Wie rasch war der geringe Fleischvorrat aufgezehrt. Sie erreichten eine Insel in der Flußmündung, auf der sie auf der Suche nach Wild haltmachten. Über dem Ufereis lag eine feste Schneekruste, durch die sie fortwährend hindurchbrachen. Earlsson, der ehedem so kräftige blonde Seemann, wankte wie ein Trunkener. Er vermochte kaum, die Knie zu heben. „Good bless me“, sagte Blanky, „wieder solch ein totes Eiland! Wir könnten einen Moschusochsen gebrauchen oder einen Bären.“ Sie spähten umher, sahen aber nichts als schneeweiße Hügel. Earlsson war gefallen; nun lag er flach im Schnee, ruderte matt mit den Armen und konnte nicht wieder vom Boden aufkommen.
Als sie ihm helfen wollten, starb er in ihren Armen. Er war leicht wie ein Kind; aber sie mußten trotzdem alle anfassen, um ihn ein Stück seitwärts zu tragen. Dann hielten sie eine traurige Mahlzeit: Moos und dazu Salbe aus des Doktors Arzneikasten. „Ist auch nur aus Schweineschmalz gemacht“, sagte er. Dr. Stanley kostete überhaupt in den letzten Tagen viel von seinen Pulvern; der Kapitän hatte ihn schon gewarnt. An diesem Abend schadete er sich ernstlich, indem er, gemeinsam mit Steuermann Sergeant, starkwirkende Arzneien zu sich nahm. Der geschwächte Organismus konnte sie nicht verarbeiten. Als sie im dichten Nebel von der Insel weiterfuhren, waren es nur noch ihrer fünf. Die beiden Maate der „Terror“ hatten sich seitab gehalten und waren nicht wieder aufgetaucht. Zum Suchen war weder Kraft noch Zeit vorhanden. Sicherlich starben sie in irgendeiner Senke an ihren Frostschäden und an völliger Erschöpfung. Blanky, Hornby, Philipp und Conny führten die Ruder, der Kapitän steuerte und zog die lange Angelschnur im Wasser nach. Die Köder, kleine Fleischstückchen, verteidigte er hartnäckig gegen alle Bitten der Männer. Und et tat recht daran; denn am Nachmittag riß ein mächtiger Hecht an der Schnur. Sie aßen ihn
roh, ohne Salz, und der Bursche schmeckte köstlich. „Nun sind unsere Kräfte aufs äußerste angespannt“, sagte Crozier, als sie gegen die Strömung des Flusses anruderten. „Jetzt muß eine Siedlung kommen oder jagdbares Wild – oder irgendein Wunder. – Wir müssen es doch schaffen, Männer, wir wollen doch berichten, wie es der großen Expedition erging, die auszog, Lorbeeren zu erringen, und die dabei den Tod fand.“ „Wir müssen auch Hilfe ins Winterlager schicken, wie wir’s versprochen haben“, sagte Philipp. Der Kapitän schüttelte den Kopf. „Hinter uns ist nichts mehr“, widersprach er. „Wir sind die letzten fünf. Der weiße Tod verfolgt uns; wir sind nur einen Ruderschlag vor ihm.“
LONDON, APRIL 1850
Das Land war in Aufruhr. Die Teilnahme der Welt am Schicksal der großen Expedition zwang die britische Regierung, Schritte zu unternehmen, die ausreichten, die Menschheit zu beruhigen. „Enterprise“ und „Investigator“ unter Collinson und MacClure waren zur Bering-Straße unterwegs. Sie brachten für die „Plover“ den
Befehl mit, sich als Vorratsschiff bei Kap Barrow zu stationieren. Aber all dieses genügte nicht. Jetzt rüstete die Regierung ein ganzes Nordpolgeschwader von vier Schiffen aus, das unter Befehl des Kapitäns T. H. Austin in die Arktis vordringen sollte. Die Schiffe „Resolute“ und „Assistance“, beide über vierhundert Tonnen groß, wurden auf der Werft von Green und Wigram ausgebaut und verstärkt. Zwei Schraubendampf er, „Pioneer“ und „Intrepid“, waren neu angekauft worden und wurden ausgerüstet und bemannt. Als Kommandanten waren die Kapitäne Ommaney, Hamilton, Osborne und Cator verpflichtet worden. Jetzt sollte ein Massenaufgebot an Menschen und Schiffen zum Ziele führen.
GROSSER FISCHFLUSS, MAI 1850
Von Etappe zu Etappe kämpften sich die letzten fünf Männer der Franklin-Expedition den Strom hinauf. Selten genug konnten sie Wild erlegen und dann auch nur kleine Tiere, die sie gerade vor dem Verhungern bewahrten. Sie hielten zusammen in jeder Lage, teilten den kleinsten Bissen miteinander, halfen sich gegenseitig und kamen so, wenn auch recht langsam, immer weiter vorwärts. Der Große
Fischfluß hatte nicht umsonst seinen Namen; aber man besaß kein Netz mehr, das man im Schlepp ziehen konnte, und die einzige Angelschnur brachte nur kläglichen Ertrag. Dann schien die Reise zu Ende zu sein. Man hatte schon seit einigen Stunden ein donnerähnliches Getöse vernommen, und man sah sich nach einer weiteren Flußbiegung plötzlich unterhalb einer Stromschnelle, die man in der Verfassung, in der man sich befand, keinesfalls überwinden konnte. Hier gingen die Männer an Land. Die Schneedecke war an vielen Stellen zergangen, der Fels blickte hindurch. Niedrige, verkrüppelte Sträucher und braunes Kraut, das sich oft schon in wenigen Tagen mit einem grünen Hauch überzog, ließen eine üppige Sommervegetation ahnen. Sie beluden sich mit Munition und den Teilen des letzten kleinen Zeltes. Der Kapitän trug die Logbücher in einem Segeltuchrucksack. So begannen sie am rechten Flußufer ihre Wanderung. Nach einer Weile schon mußten sie rasten. Sie zerteilten einen alten Stiefel, zerkauten und schluckten kleine Lederstückchen. Wenn ein Hund solche Nahrung verdaut – warum nicht auch einmal Menschen, wenn gerade nichts anderes vorhanden ist! Lange hielten sie den Marsch nicht aus. Sie
stützten sich gegenseitig. Endlich sagte Conny: „Ich kann nicht mehr, Kapitän, die Beine wollen nicht mehr mit.“ Er setzte sich zu Boden, es war mehr ein Fallen. „Ich habe deiner alten Mutter versprochen, dich heil wieder mit nach Hause zu bringen“, entgegnete Crozier. „Meine Mutter – sie wird längst tot sein!“ „Ein Versprechen muß man halten.“ „Ach, Kapitän, wir wollen lagern – bis morgen.“ Sie erachteten das Zelt auf dem Ufersand des Flusses, krochen hinein und schliefen. Es war ein Schlaf hart am Rande des Todes. Gegen Morgen erwachte Blanky; er sah Crozier mit offenen Augen auf dem Rücken liegen. „Francis“, sagte er, „mit mir geht’s zu Ende. Ich komme hier nicht weg – wirklich und wahrhaftig.“ „Dann sterben wir zusammen“, entgegnete der Kapitän, ohne die Augen von der Zeltdekke zu wenden. „Nein“, sagte Blanky und richtete sich mühsam auf, „nein, Francis, nimm das Gewehr und geh weiter!“ „Ich laß dich nicht allein.“ „Du bist der Kräftigste, Francis; einer von uns muß doch durchkommen – mit den Büchern, das ist wichtig – Francis!“
Endlich wandte Crozier den Kopf und sah den Freund mit unsagbar traurigem Blick an. Blanky redete weiter: „Einer muß doch erzählen, wie’s war, als wir nach Süden gezogen sind, wie Schnee und Sturm uns überfallen haben. Einer muß es doch den Menschen sagen, wie sie alle gestorben sind, der Leutnant Irving, der Kapitän Fitzjames, Earlsson – der Doktor und all die anderen. – Francis, du mußt übrigbleiben; einer muß sich auf den Trafalgar-Square stellen und muß hinausschreien, wie es ist, wenn hundert Menschen geopfert werden. Die Kaufleute sollen es in ihren Büchern vermerken, und die Börse soll davon widerhallen. – Geh, Francis!“ Die anderen rührten sich nicht mehr. Crozier stand auf. Er hatte noch Kraft in den Beinen, wenn es darauf ankam – aber wie lange noch? – Hatte Blanky nicht recht, daß der Kräftigste gehen mußte? – Die Schiffstagebücher, die wichtigsten Dokumente, waren zu retten und die Geschichte dieses beispiellosen Marsches in den sicheren Tod. „Ich hätte doch auf dich hören sollen, guter Blanky“, sagte der Kapitän endlich. „Zum Lancaster-Sund hätten wir ziehen sollen – gleich im ersten Jahr, mit allen Booten! –
Wir hätten sicher freies Wasser gefunden. Wie wird man uns dort oben suchen!“ Blanky drückte ihm die Hand. „Geh“, bat er, „geh, solange du noch gehen kannst. Nimm das Feuerzeug mit und das Messer – geh, Francis!“ Crozier nahm den Rucksack auf, hob die Flinte vom Zelthaken, gab Blanky wortlos die Hand und ging hinaus, ohne sich umzusehen. Nach einer Weile raffte der Matrose seine letzten Kräfte zusammen und kroch mühsam, Zoll um Zoll, bis zum Eingang vor. Dort ging Crozier. Er schritt der Sonne direkt entgegen,
am Flusse entlang, unsicher, wie ein müder Wanderer. „Francis“, flüsterte Blanky, „Francis!“ Dann legte er den Kopf auf die Hände, als hätte ihn das Sonnenlicht geblendet. Das kleine Zelt stand reglos neben dem großen Strom, und vorn schritt ein einsamer Mann auf die Sonne zu.
LONDON, MAI 1850
Das britische Nordpolgeschwader unter Kapitän Austin war mit hundertachtzig Mann an Bord zur Fahrt nach dem sogenannten arktischen Mittelmeer, zum Lancaster-Sund und zur Barrow-Straße, ausgelaufen. Es war kein freudiger Abschied mit Hurra, Musik und Böllern gewesen, wie damals am 19. Mai 1845, vor genau fünf Jahren, bei der Ausfahrt der „Erebus“ und der „Terror“. – Am 23. Mai lief dann in aller Stille der alte John Ross mit der „Felix“ aus. Er hatte die Fahrt sorgfältig und sehr gründlich vorbereitet, wollte nicht auf seiner letzten Fahrt durch irgendein Versäumnis scheitern. Lady Franklin drückte ihm zum Abschied die Hand; dann kehrte sie dem Schiff den Rücken und fuhr im offenen Kutschwagen davon. John Ross wehte kein blauseidenes Tüchlein nach, als er in See ging.
Der unermüdliche Dr. King, den bisher noch keine Absage entmutigt hatte, sprach abermals bei der Admiralität vor; er bewies die Richtigkeit seiner Überlegungen scharf und treffend; aber es war wieder einmal umsonst. Die Schiffe waren ausgelaufen; sie hatten genaue Order, und die lautete anders als die Vorschläge des Dr. King. Leutnant Pullen, der in Kanada operierte, wollte gerade vom Großen Sklavensee aus zurück nach England gehen, als er einen Brief der Admiralität erhielt, in dem ihm neben seiner Beförderung zum Commodore der Befehl übermittelt wurde, einen zweiten Vorstoß zur Eismeerküste zu versuchen. Dabei sollte das Mackenzie-Delta bis zum Kap Bathurst bereist werden. Er beeilte sich, den Auftrag gewissenhaft auszuführen. * Kapitän Crozier, der letzte Überlebende der Franklin-Expedition, ging Schritt um Schritt den großen Fluß entlang. Die Sonne strahlte aus wolkenlos blauem Himmel. Der Schnee war bis auf einige schmutziggraue Klumpen zergangen, und Crozier hätte wohl mit sich und der Welt zufrieden sein können, wenn hinter ihm nicht der Schauplatz einer großen Katastrophe gelegen hätte. Hunger spürte er keinen mehr. Er hatte wäh-
rend der letzten Tage Wurzeln und Kräuter gegessen, auch mit glücklichen Schüssen zwei Lummen erlegt; aber er konnte nur das frische, warme Blut der Vögel trinken. Es war ihm, als verabscheute sein Magen das feste Fleisch. Er sah nicht nach rechts und nicht nach links, obwohl gewiß einmal jagdbares Wild auftauchen mußte. Mechanisch setzte er einen Fuß vor den anderen und überließ sich im Gehen seinen Gedanken. Er sprach mit den Toten, stand mit Leutnant Irving an Deck der „Terror“. Der Wind rauschte in den Segeln. Weitab zogen palmenwinkende Inseln vorüber. Mit Blanky sprach er, seinem Freunde, der einige Meilen unterhalb im Eingang des Zeltes mit dem Gesicht auf den Händen lag. „Blanky“, murmelte er, „lieber Freund, habe ich dich gefunden, um dich so bald wieder zu verlieren? Ich gehe hier durch den Frühling und du? Ach, wärst du hier und Irving, es liefe sich besser. Ich bin jetzt so allein.“ Er blieb stehen und überlegte, wann er eigentlich zum letzten Male William Greens Dudelsack gehört hatte. – Niemand beantwortete seine Fragen. „Ein Kapitän ohne Schiff und Mannschaft ist doch eigentlich gar kein Kapitän mehr“, überlegte er und schüttelte den Kopf. Wurde er schon närrisch? – Versagten jetzt die Gedanken, da die Beine noch weiterliefen?
„Ich bin noch Kapitän“, murmelte er. „Ich trage die Schiffstagebücher und führe sie weiter, also bin ich noch Kapitän.“ Wieder kam er an eine Stromschnelle. Das Wasser schäumte über die Felsbuckel herab, toste, sprühte. Er bewunderte einen Augenblick lang das Farbenspiel eines Regenbogens in den stürzenden Wassern. Dann ging er weiter, klomm die Hügel hinauf, brach durch kniehohes Buschwerk und stand an einem See, der von dem aufgestauten Fluß gebildet wurde. Der Wasserspiegel schimmerte so blau wie der Himmel hoch über ihm. Am Ufer lag eine Wiese, eine richtige Wiese mit bunten Blumen darin. Der Weiderich, die schönste arktische Pflanze, entfaltete ihre Purpurblüten, Steinbrech und Butterblumen wetteiferten mit ihren Farben, und vereinzelt reckte der arktische Mohn seine Stengel hoch, der dann im Juli und August so herrlich gelb blühen würde. Crozier erlebte das alles wie im Traum. Es konnte ja auch nicht Wirklichkeit sein. Die Wirklichkeit war Schnee und Eis, Sturm, Hunger und Kälte. Und hier lag dieser See wie eine kostbare Agraffe im grünen Samt. Unwirklich schön war das prächtige Bild. Er ging ein paar Schritte aufs Wasser zu, setzte sich auf einen Stein, stützte die Ellenbogen auf die Knie und den Kopf in die Hände.
Das Wasser war klar wie Kristall; er sah Forellen darin stehen; aber sie nützten ihm nichts; er hatte weder Netz noch Angel, und er wollte auch gar nicht immerfort fangen und töten wie in den verflossenen Jahren. Er wollte sitzen und schauen und sich ein ganz klein wenig freuen an allem, was ihm hier beschert wurde. Daß die Kameraden dieses Bild nicht mehr erblicken durften. Sie lagen hinter ihm am Wege, erfroren, entkräftet, erschossen – ach! Dem Kapitän rannen die Tränen über die Wangen, ein warmer Strom, dessen er sich nicht zu schämen brauchte. Er war allein, und es tat gut, so zu weinen um alles, was geschehen war. Ach, daß er kein Dichter war, das Heldenlied zu schreiben, das diesem Marsch, diesem Weg ohne Ende ein würdiges Denkmal gewesen wäre! Konnte er als einziger überhaupt in die Welt zurückgehen, wo alle anderen als Opfer der Arktis in Eis und Schnee lagen? War es nicht doch besser, hier – am Tor zum Leben – einsam zu sterben? Wenn er nur die Schiffstagebücher vorher hätte abgeben können! Ein Agent der Hudson-Bay-Company müßte vorbeikommen, sie an sich nehmen, sie und Croziers Bericht, das Heldenlied, und dann… -
Dem weißen Tod bin ich entronnen, Nun, holder grüner Tod, Komm, führ mich sacht davon. Er starrte eine Weile aufs Wasser, ohne seine Haltung zu verändern. Erst jetzt sah er, daß unweit des Ufers Korbreusen im Wasser standen. Korbreusen? Zum Fischfang? Dann mußten doch… Menschen in der Nähe sein! Er erschrak vor dem Gedanken. Und da – waren das nicht Stimmen? Ja – da sprach ein Kind in fremden und doch so wohlklingenden Lauten. Er erhob sich und wandte sich um. Keine zehn Schritte entfernt stand vor ihm eine Eskimofrau, ein Kind an der Hand. Sie sahen ihn mit großen Augen erstaunt an. Er hob die Hand, wollte sie ansprechen. Da spürte er, wie für ihn die Welt verging. Mit einem Seufzer fiel er mitten in Blumen und Kraut hinein. Eine große Expedition ist ausgezogen, eine Straße zu suchen, Ruhm und Ehre zu finden und Unsterblichkeit.
Sie hat die Straße nicht gefunden, nicht den Ruhm und nicht die Ehre. Niemand steht in London auf dem TrafalgarSquare und schreit es in die Welt, wie es gewesen ist, als hundert Männer starben. Auch der letzte Mund ist für immer verstummt, mit den Blättern der Schiffstagebücher spielen die Eskimokinder. … und das Eis bleibt stumm. * Am 10. August 1850 erfuhr John Ross in der Melville-Bai von Eskimos: „Zwei Schiffe, vom Eis erdrückt – untergegangen – Männer an Küste gerettet – tot.“ * Am 27. August 1850 fanden die Kapitäne Ommaney und Penny am Ostabhang der Bee-
chey-Insel Franklins Winterlager von 1845-46. * Am 26. Oktober 1850 entdeckte Commodore MacClure auf der Suche nach Franklin die Nordwest-Passage. Er erhielt die Hälfte des ausgeschriebenen Preises: zehntausend Pfund Sterling, die Ritterwürde und die Goldenen Medaillen der Londoner und der Pariser Geographischen Gesellschaft. * Im Jahre 1854 fand der englische Reisende John Rae, nachdem er sich jahrelang ohne Erfolge der Suche nach Franklin gewidmet hatte, bei der Wiederaufnahme seiner Arbeit in Boothia-Land bei den Eskimos eine Uhr, vier Messer, silberne Löffel, Teile eines Fernrohrs, den silbernen Knopf des Spazierstocks und Teile des Guelphenordens aus Sir Franklins Besitz. Er erfuhr von den Eskimos Einzelheiten über Ort und Zeit der Katastrophe und ermöglichte durch seinen Bericht die Entdekkung der Überreste der Expedition. * Am 6. Mai 1858 entdeckte MacClintock von der durch Lady Franklin ausgerüsteten „Fox“ in einem Steinhügel am ,Kap Victory’ das einzige Dokument der Franklin-Expedition. Lady Franklin verlor auf der Suche nach ihrem Mann ihr ganzes Vermögen und mußte
sich deshalb gegen die Anklage ihrer Stieftochter Sophia Franklin später vor Gericht verantworten. Die Rätsel der Franklin-Expedition sind bis heute nicht restlos geklärt. Niemand kann erzählen, wie es wirklich gewesen ist.
….UND DAS EIS BLEIBT STUMM* – ROMAN UND WAHRHEIT Wer ein Buch über die Titanic“-Katastrophe zur Hand nimmt, weiß, ehe er eine Zeile gelesen hat, daß das Schiff im Laufe der Handlung untergehen muß. Trotzdem wird er interessiert die Schilderung verfolgen; denn die „Titanic’Katastrophe hat seinerzeit die ganze Welt bewegt, und noch heute finden wir zahlreiche Bücher und Filmstreifen, die sie zum Inhalt haben. Ähnlich verhält es sich mit dem Schicksal der Franklin-Expedition. Ihr rätselhaftes Verschwinden beschäftigte, wie zeitgenössische Presseberichte und Fachartikel beweisen, vor hundert Jahren alle Kulturnationen. Allerdings ist, zum Unterschied zur „Titanic“, die Erinnerung daran verblaßt. Man nimmt davon Kenntnis, ohne sich in die Einzelheiten zu vertiefen. Zwei Weltkriege haben uns Hekatomben von
Toten mit erschütternden Menschenschicksalen gebracht; was ist dagegen ein Ereignis, das wie die Franklin-Expedition ein Jahrhundert zurückliegt? Und doch birgt das Geschehen dieser Forschungsreise mit all ihren Rätseln eine derartige Dramatik, daß man verwundert ist, außer Notizen in den Büchern über die Erforschung der Arktis nicht mehr als einige ältere, fast unbekannte Romanversuche vorzufinden. Ich wurde mit dem Stoff durch einen Tatsachenbericht von Karl Gollnow „133 Mann verschollen im Polareis“ näher bekannt. Der Verfasser hatte es verstanden, auf wenigen Seiten über die Franklin-Expedition und ihr Schicksal erschöpfend Auskunft zu geben. Allerdings mußte er als sachlicher Berichterstatter vor den Rätseln, die dieses Unternehmen birgt, die Segel streichen. Es ist in einer solchen Reportage bekanntlich nicht erlaubt, sich in Mutmaßungen zu ergehen. Eben diese Rätsel waren es, die mich gepackt hatten. Warum ist Franklin von der vorgeschriebenen Route abgewichen? – Warum hinterließ er nirgends eine Nachricht? – Wieso irrte er sich beim Abfassen der einzigen aufgefundenen Urkunde in zwei entscheidenden Zahlen? – Viele Fragen sind bis heute ungeklärt.
Ich besorgte mir Fachliteratur und wußte bereits während der Lektüre, daß ich von diesem Stoff nicht mehr loskommen würde, er verlangte gebieterisch nach Gestaltung. Ein Wagnis freilich – ich mußte alle Rätsel lösen und die Lösungen dem Leser als Tatsachen vorlegen! Es durfte mir dabei niemand eine Unwahrheit in Historie und Logik nachweisen können. Ich war nie in England, ich habe auch niemals die Arktis mit eigenen Augen gesehen, und vor hundert Jahren zog mein Ururgroßvater noch den Pflug durch die Erde des Erzgebirges. Ich hatte eine Gleichung mit vielen Unbekannten vor mir. Zunächst galt es, die Franklin-Expedition aus ihrer Isolierung herauszunehmen und sie im Zusammenhang mit der englischen Geschichte des neunzehnten Jahrhunderts zu betrachten. Sogleich begannen sich die ersten Fragen von selbst zu lösen. Weshalb ist die britische Admiralität in den ersten Jahren so gleichgültig, so absolut wundergläubig über Franklins Verschwinden hinweggegangen? – Die Geschichte antwortet: Weil die Herren Sorgen über Sorgen hatten. Finanzkrise, Intervention in Portugal, Krieg in Asien, das machtvolle Aufbegehren der Chartisten, die irische Hungersnot, eine drückende Kette, die den Lords gewiß einiges
Kopfzerbrechen bereitet hat. Zweitens durfte ich das Unternehmen nicht als die Expedition Franklins betrachten, der ihr den Namen gab und Ruhm, Geld und Ehren empfangen hätte, sondern für mich wurde es die Expedition der hundertdreiunddreißig Männer, von denen jeder sein Einzelschicksal trug und jeder seinen eigenen Tod zu sterben hatte. Nun interessierte mich jeder Bericht, der irgendeine Einzelheit, einen Fund, eine Aussage der Eskimos enthielt. Darauf baute ich meine Handlung auf und verzichtete von vornherein auf einen eigentlichen Helden und seinen Gegenspieler. Der Held ist die erzwungene Lebensgemeinschaft der hundertdreiunddreißig Menschen; ihr Leben, ihre Hoffnungen und ihr Untergang sind das Wesen der Handlung des Buches. Dadurch strömt auf den Leser eine Fülle von Namen, Typen, Charakteren ein, zwischen denen er sich mitunter verlieren mag; aber anders wird er mit der Expedition als Ganzes sicher kaum vertraut werden. Nun zu den historischen Einzelheiten. Soweit mir die Namen der Männer zugänglich wurden – ich bekam durch Vermittlung des Verlages Einsicht in die zeitgenössischen Schriften der geographischen Gesellschaften und Originalübersetzungen englischer Fach-
schriftsteller –, habe ich sie meinen Romanfiguren zugelegt. Leider wurden nur drei Namen aus dem Mannschaftsstande genannt; so sind die Percy, Treet, Ben, Barry, Shavel, und wie sie alle heißen, frei gestaltet, etwa so, wie sie den Menschen in einer derart zusammengewürfelten Mannschaft entsprochen haben. Besonderen Wert legte ich auf die getreue Verwendung aller Fundberichte für den Verlauf des Marschweges sowie auf die zeitliche Eingliederung aller Such- und Rettungsunternehmen. Die wichtigsten Dinge will ich erwähnen: Am Kap Herschel wurde ein Leichnam gefunden, der nur eine Segeltuchtasche mit deutschen Briefen bei sich trug. Diese Briefe müssen für den Mann so wertvoll gewesen sein, daß er sie bis zum letzten Atemzug bei sich hatte. Wieso waren sie wertvoll? Wie kam der Mann als Deutscher zu Franklin? – Aus der Beantwortung dieser sich aufdrängenden Fragen entstand die Figur des Karl Bauer. Auch sonst ließ ich jedesmal dort, wo als bestimmtes Eigentum nachzuweisende Gegenstände gefunden wurden, den Besitzer enden. So den Arzt Dr. Stanley, dessen Schneeschuhe man auf der Montreal-Insel fand, Leutnant Irving in der Nähe des Fundortes seiner silbernen Gedenkmünze, Harry D. S. Goodsir mit Fernrohr und Flinte auf einem Hügel un-
weit des Todeslagers am Point Ogle, in dem der zerfetzte Zustand einiger Leichen sowie der Inhalt der Kessel auf Kannibalismus schließen ließ. Die entkleideten Leichen unter dem umgestürzten Boot, die am Strande gestapelten Pulvervorräte sind ebenso historisch wie beispielsweise der Aufbau des Winterlagers am Osthang der Beechey-lnsel. Der mit zwanzig Pfund Schokolade, verschiedenen Lebensmitteln und Munition beladene Schlitten, mit dem ich Karl Bauer wegziehen lasse, wurde wirklich aufgefunden, ebenso wie die stehengebliebenen drei Zelte mit allen umherliegenden Dingen am Kap Felix. Daneben habe ich alle Aussagen der Eskimos gewissenhaft in die Handlung übernommen, so das Auffinden Ewalds im Schiff, die Begegnung der vierzig Todgeweihten mit jagenden Eskimos im Süden von King-Williams-Land, die Robbe, die man ihnen dabei überließ, die Flucht während der Nacht, endlich das Ende des letzten Überlebenden, das eine Eskimofrau folgendermaßen schildert: „Er saß am Strande, war groß und stark, den Kopf auf die Hände gestützt, die Ellenbogen auf den Knien; als er den Kopf erhob, um mit mir zu reden, fiel er tot hin.“ Alle Suchunternehmen sowie der Inhalt der Besprechungen bei der britischen Admiralität
wurden in historischer Treue chronologisch eingearbeitet. Ich habe alle Einzelschicksale romanhaft gestaltet, desgleichen den Verlauf der Fahrt, soweit er nicht urkundlich oder durch Berichte bestätigt ist. Ebenso das Geschehen um John Black, Karl Bauer, Maria Droege, das Leben auf den Schiffen und in den Lagern. Einige Kleinigkeiten werden vielleicht nicht den historischen Tatsachen entsprechen. Ich habe Urkunden und Berichte von ganz verschiedenem, mitunter sogar sich widersprechendem Inhalt auswerten müssen und konnte deshalb nicht immer genau sein. Selbst das einzige von MacClintock entdeckte Dokument wird in den Quellen verschieden wiedergegeben. So heißt es in anderen Lesarten, Franklin habe zuerst die Cornwallis-Insel umfahren und dann auf der Beechey-Insel überwintert, nicht umgekehrt. In manchen Berichten fehlt Franklins Unterschrift auf dem Dokument, so daß der ursprüngliche Bericht auch von anderen beispielsweise von Leutnant Gore – geschrieben sein könnte. Der Verfasser