Berte Bratt
Umwege zum Glück
Reni hat sich begeistert in ihr Medizinstudium gestürzt. Sie vernachlässigt darüber eine...
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Berte Bratt
Umwege zum Glück
Reni hat sich begeistert in ihr Medizinstudium gestürzt. Sie vernachlässigt darüber einen guten Freund in ihrer Heimatstadt. Als sie ihn verliert, ist sie tief getroffen. In ihrer Verwirrung hat sie keinen Blick mehr dafür, was echt ist und was nur Schein.
Schutzumschlag und Illustration: Nikolaus Moras Textredaktion: Ilse May Bestell-Nummer 6662 © 1971 Franz Schneider Verlag München-Wien ISBN 3 505 06.662 1
Eilbrief aus Wien Es war Donnerstag, neunzehn Uhr einundzwanzig. Ich hatte meine Bücher weggeschoben und mein Portemonnaie umgestülpt. Vor mir lag die Summe, die mich bis zum Monatsende am Leben erhalten sollte. Ich fing an zu zählen. Es war eine leichte Arbeit. In der Schule war ich schon im Rechnen schwach gewesen. Kein Wunder, daß ich dann in der Mathematik noch sehr viel schwächer war. Und noch weniger ein Wunder, daß ich deswegen durchs Abitur rasselte. Nur mit vielen Nachhilfestunden klappte es beim zweiten Anlauf. Trotzdem kostete es mich in diesem Augenblick wenig Mühe, meine Vermögensverhältnisse zu überblicken: Ich kam auf dreiundzwanzig Mark vierzehn Pfennige. Wo in aller Welt war das Geld bloß geblieben? Mein
Monatswechsel war gar nicht schlecht. Ich hatte hundert Mark mehr als meine Freundin Jessica, und trotzdem hatte sie immer noch Geld, wenn ich gegen Monatsende pleite war. Dabei war es noch nicht Monatsende! Es war genau gesagt der Zwanzigste. Also, zehn Tage sollte ich nun von meinen dreiundzwanzig Mark leben. Das konnte ja heiter werden! Die Miete überwies Vati klug genug direkt an Frau Hansen. Die Mensamarken kaufte ich immer sofort, wenn ich Geld bekommen hatte, das hatte ich meinen Eltern auf Ehrenwort versprechen müssen. Also hatte ich ein Dach über dem Kopf und das tägliche Mittagessen. Alles andere mußte ich mit Hilfe der dreiundzwanzig Mark schaffen. Wo war nur das Geld geblieben? Ja, da waren nun die schönen, langen Stiefel. Natürlich waren sie teuer gewesen, aber so todschick! Ich hätte sie vielleicht entbehren können, ich hatte Schuhzeug genug, aber sie hatten mich so angelächelt aus dem Schaufenster. Dann war all das Obst, das ich gekauft hatte – an dem Abend, als Jessica und ihr Freund hier waren. Dann die vielen Schokoladetafeln. Wenn ich es mir überlegte, waren es sehr viele gewesen. Beinahe eine Mark pro Tag nur für Schokolade. Reni Thams, sagte ich zu mir selbst, hier muß was geschehen. Du bist ein leichtsinniges Huhn, du hast keine Ahnung von vernünftigem Wirtschaften. Denk an Madeleine! An Madeleine dachte ich sowieso oft. Madeleine ist meine ältere Schwester. Ihre Mutter heiratete meinen Vater, Madeleine war damals achtzehn und ich siebzehn. Es dauerte nicht lange, dann waren wir dicke Freundinnen und fühlten uns unbedingt als Schwestern. Und das, obwohl wir ganz verschieden sind. Madeleine ist hübsch, und was bin ich? Ich bin über und über mit Sommersprossen dekoriert. „Wenn du noch eine einzige Sommersprosse mehr gehabt hättest, wärest du braun“, sagte einmal mein Freund Uwe. Mein Mund ist viel zu groß. „Den brauchst du“, sagte Uwe. „Ein kleinerer würde heißlaufen bei deinem Dauerplaudern.“ Meine Haare sind – ja was sind sie? Meine Freunde sagen rotblond, ein paar weniger nette Menschen zu Hause in Hirschbüttel sagen „die freche rothaarige Tochter von Direktor Thams“. Madeleine ist vernünftig und begabt. Ich bin – so sagen meine Eltern – unvernünftig, und was die Begabung betrifft – nun ja, es
gibt Bereiche, wo ich vollkommen, hoffnungslos unbegabt bin. Zum Beispiel Kochen und Handarbeit und Mathematik. Andrerseits war es die Meinung der gesamten Familie, daß meine Veranlagung mich dazu berechtigte, Medizin zu studieren. Ich interessiere mich für die Ärztekunst. Ich habe immer das Gefühl gehabt, es müßte was Wunderbares sein, kranken Menschen helfen zu können und vielleicht sogar Menschenleben zu retten. Vorläufig war ich allerdings nicht imstande, ein Menschenleben zu retten, es sei denn einen Ertrinkenden, denn schwimmen kann ich sehr gut, und außerdem habe ich die Rettungstechnik gelernt. Das wäre aber auch das einzige, was ich in puncto Lebenretten tun könnte, vorläufig. Denn ich war vorerst im ersten Semester und sehr damit beschäftigt, die menschlichen Körperteile auseinanderzuhalten und ihre lateinischen Benennungen zu lernen. Zum Beispiel hätte ich an diesem Abend die Knöchel der menschlichen Hand schön pauken müssen, aber meine finanzielle Situation wirkte sehr ablenkend. Es war wirklich verflixt! Natürlich könnte ich Papa um mehr Geld bitten, ich würde es auch bekommen; aber es war Ehrensache für mich zu zeigen, daß ich nach dem aufgestellten Plan – von meinen klugen und wirklich großzügigen Eltern ausgeklügelt – leben konnte. Der Plan umfaßte auch Kleidung, aber nicht Stiefel für 130 Mark! Er umfaßte „ein bißchen Naschen“, aber nicht eine bis zwei Schokoladetafeln pro Tag. Das Auto? Nein, das kostete wirklich nicht viel. Steuern und Versicherung zahlte Papa direkt. Ich brauchte nur für Benzin, Öl und Pflege aufzukommen. Bis jetzt hatte ich keine großen Ausgaben damit gehabt. Es war ein alter VW, der lange seine Pflichten als Vertreterwagen in Papas Fabrik erfüllt hatte. Dann fand Vati, daß dieser Vertreter einen größeren Wagen verdient hatte, und ich bekam den VW als Dank und Anerkennung, weil ich wirklich das Abitur schaffte, und letzten Endes sogar ganz gut – minus Mathematik natürlich. Trotz hohen Alters und einer stattlichen Zahl zurückgelegter Kilometer lief der Wagen ausgezeichnet, und ich liebte ihn heiß und innig. Da ich auch eine gewisse technische Begabung habe, konnte ich ihn ganz gut pflegen. Und wenn er zu dreckig wurde, mußten Jessica und ihr Freund Falko mir helfen. Dann wurde gewaschen, geputzt, poliert, Staub gesaugt, bis mein guter alter Theodor seine ganze Jugendfrische wiederhatte. Dafür durfte Falko ihn sehr oft borgen!
Nein, mein Theodor hatte wenig Geld gekostet. Also waren es nur die Stiefel – ach nein; die Schallplatten! Und wenn ich es mir überlegte – zweimal hatte ich keine Lust auf das Mensaessen gehabt und Jessica in ein teures und feines Restaurant eingeladen – und dann waren da die Kinokarten – und die Reparatur des Tonbandgerätes, es war ja an einem Tanzabend runtergefallen – o ja, es läpperte sich schon zusammen! Es blieb mir nur eins übrig. Ich mußte dividieren: 23,14 durch 10 – das gab – das gab – 2,31. Zwei Mark einunddreißig Pfennig durfte ich pro Tag verbrauchen, von heut bis zum Dreißigsten! Welch Glück, daß der November nur 30 Tage hat! Nun ja. Zu verhungern brauchte ich nicht. Nur keine Schokolade gab es und keine anderen Leichtsinnigkeiten! Ich legte das Portemonnaie in die Tasche und konzentrierte mich auf die Knöchel der menschlichen Hand. Das Klingeln der Türglocke riß mich aus meinen wissenschaftlichen Studien. Ach so, nur einmal, dann war es für Frau Hansen und nicht für mich. Also, wie weit war ich nun: Daumen heißt pollex, Zeigefinger index – das war ja logisch, index, indizieren, das würde ich schon behalten – Mittelfinger… „Herein!“ Es hatte geklopft. Da stand Frau Hansen mit einem Brief in der Hand. „Eilbrief für Sie, Fräulein Thams. Luftpost, aus Österreich. Von Ihrer Schwester!“ So, dachte ich, du hast dir aber reichlich Zeit gelassen, den Brief zu studieren, du möchtest wohl auch durchs Kuvert lesen können, so wie ich dich kenne, du neugierige Ziege! „Tausend Dank, Frau Hansen, es tut mir leid, daß der Briefträger bei Ihnen geklingelt hat…“ „Oh, das macht gar nichts. Er hat wohl Ihre Karte nicht gesehen, es ist ja dunkel im Flur.“ Das stimmte wohl. Denn sonst konnte man meine angepiekste Karte mit „Irene Thams, 2 X klingeln“ gar nicht übersehen. „Hoffentlich ist es nichts Schlimmes“, sagte Frau Hansen und sah erwartungsvoll aus. „Das ist es bestimmt nicht“, antwortete ich und legte den Brief neben mich, obwohl ich zum Platzen gespannt war. Wenn sie dachte, ich würde ihn in ihrer Anwesenheit aufmachen und ihr womöglich etwas daraus vorlesen, dann hatte sie sich aber gründlich geirrt!
„Na dann gute Nacht“ – sie gab offenbar ihr Vorhaben auf. „Gute Nacht, Frau Hansen! Ich habe noch zu lernen, ich muß weitermachen.“ Kaum hatte sie die Tür hinter sich zugemacht, war schon der Brief aufgerissen. Nanu – da fiel ein Fünfzigmarkschein raus! „Liebste Reni, zu meinem Schrecken entdecke ich, daß es schon der Achtzehnte ist, und am Zweiundzwanzigsten hat Christel Geburtstag. Würdest Du wie immer ein Engelchen sein und mir ein Geschenk besorgen? Lauf in ein Schallplattengeschäft und kaufe – nein, nichts von dem, was Du mit Verzücken und hingerissen an der Plattenbar per Kopfhörer genießest, sondern etwas, was Du feierlich und ungestört in einer Abhörkabine vorgespielt bekommst. Nämlich Brahms’ Klavierkonzert Nr. 2. Stereo! Ich weiß, daß Christel sich die Platte wünscht. Etwas teuer wird es, aber vielleicht möchtest Du Dich daran beteiligen? Dann schreib Deinen Namen dazu auf die beigefügte Karte, laß alles versandfertig verpacken und gib Deinem Theodor die Sporen, Richtung Postamt, und dann schickst Du es als Eilpäckchen. Bist Du so lieb? Dieser Schein ist das einzige, was ich an deutschem Geld habe. Du darfst den Rest als Honorar behalten. Oder als VorschußGeburtstagsgeschenk, oder nur so. Wie Du willst. Es ist verboten und sehr riskant, Geld so zu schicken, ich bete nur, daß der Brief nicht durchleuchtet wird, dann ist es nämlich Essig! Es geht uns wunderbar hier. Wien ist ein Märchen. Aber denk bloß nicht, daß ich den ganzen Tag rumwandern kann und Schlösser und Kunstwerke besichtigen! Erstens habe ich ja Hausfrauenpflichten, ich koche hinter einem Vorhang im Flur und wasche ab in unserem Schlafzimmerwaschbecken. Zum Glück ist Kai nicht wählerisch – er ißt mit Appetit die äußerst einfachen Gerichte, die ich zusammenschmurgele. Weißt du, wir waren so glücklich, als wir diese beiden möblierten Zimmer zu einem erschwinglichen Preis bekamen, daß wir sie trotz fehlender Küche nahmen. Wir wohnen so herrlich zentral, das bedeutet ja sehr viel für meinen fleißigen Göttergatten. Er ist den ganzen Tag unterwegs mit Kassettenrekorder und Photoapparat und hat schon sehr viele interessante Reportagen gemacht. Abends wird das Aufgenommene redigiert, und dann ist es meine Pflicht, das Redigierte per Schreibmaschine aufs Papier zu bringen. Ja, und dann hat er immer Post vom norwegischen und dänischen
Rundfunk zu beantworten, dabei kann ich ihm ja leider nicht helfen. Aber wir haben es unsagbar schön, und ich danke dem lieben Gott, daß ich damals im Krankenhaus anfing, an die liebe Inge in Norwegen zu schreiben. Ohne diese Korrespondenz hätte ich meinen Kai nie kennengelernt. Nicht auszudenken, daß er womöglich jemand anders geheiratet hätte und ich vielleicht auch! Wo es doch sonnenklar ist, daß wir für einander geschaffen sind! Wie geht es nun dir, Schwesterchen? Arbeitest du fleißig? Weißt du, es ist möglich, daß Kai und ich zu Weihnachten nach Hirschbüttel kommen, Kai hat in Hamburg etwas mit seinem Verleger zu besprechen. Vielleicht können wir das Nützliche mit dem Angenehmen kombinieren. Das wäre was!! Ich muß aufhören! Ich habe weder Kartoffeln noch Kaffee im Haus, ich muß zum Kaufmann rennen und laufe dann schnell zum Postamt und schicke dies als Eilbrief. Also, Renilein, nicht vergessen: Brahms, Klavierkonzert Nummer 2! Tausend liebe Grüße, Deine Leni Ich faltete den Brief wieder zusammen. Nichts geht über eine gute Schwester! Ich starrte verliebt auf den Fünfzigmarkschein. Die Platte würde höchstens 25 kosten. Fünfundzwanzig Mark – ach nein, das Porto, Eilpäckchen, also 2 Mark –, 23 Mark konnte ich zu meinem Vermögen dazuaddieren. Ich war ja plötzlich reich! Ich konnte zum Beispiel jetzt sofort zum Automaten an der Ecke laufen und mir eine Tafel Schokolade holen! Nach zehn Minuten saß ich wieder an meinem Tisch, studierte die Knöchel der Hand und knabberte Nußschokolade. Zwischendurch liefen meine Gedanken nach Wien. Ich freute mich so schrecklich für Madeleine. Wie hatte sie vor Glück gestrahlt an ihrem Hochzeitstag voriges Jahr! Es war eine so schöne Hochzeit, nur die Familie und unsere allernächsten Freunde. Ich war Brautjungfer. Erich Eller, unser Arzt und Freund, hatte die beste Rede des Abends gehalten, Mutti mußte natürlich ein paar Tränchen der Rührung wegtupfen – so sind ja die Mütter. Ach, wie hatte sich alles schön für Madeleine gefügt! Kai hatte sein philologisches Staatsexamen, Madeleine das Abitur hinter sich
gebracht. Und zwei Monate danach war Kai beim norwegischen und zugleich beim dänischen Rundfunk als Auslandskorrespondent angestellt worden und konnte heiraten. Die beiden flogen dann raus in die weite Welt, und ein Jahr später war ich an der Reihe, mich selbständig zu machen. Mutti brachte mich nach Kiel – oder vielmehr, ich brachte sie, denn wir fuhren in meinem Theodor, und sie mußte brav mit der deutschen Bundesbahn zurückfahren. Schon am ersten Tag hatte ich Jessica kennengelernt, und wir mochten uns gleich gern. Sehr gern sogar. Jessica kam aus Süddeutschland, fühlte sich wohl fremd hier im Norden und war froh, daß sie gleich eine Norddeutsche als Freundin bekam. Wir verbrachten öfters den Abend zusammen. Nur donnerstags nicht. Donnerstags war Jessica immer bei ihrer Patentante zum „Freßabend“, wie sie sich ausdrückte. So ein Glückspilz! Wenn sie von dem Donnerstagsessen erzählte, lief mir das Wasser im Mund zusammen! Wenn ich bloß auch so eine Patentante hätte! Nein, woran dachte ich – ich mußte doch lernen!
Die arme Frau Hansen! „Kommst du mit eine Schallplatte kaufen?“ fragte ich Jessica und hielt ihr die Wagentür auf. „Schon wieder!“ sagte Jessica. „Du ruinierst dich! Was willst du heut kaufen?“ „Brahms, Klavierkonzert Numero 2“, sagte ich und ließ den Motor an. „Höre ich richtig? Bist du dabei, ein seriöser Mensch zu werden, Reni?“ „Bin ich doch seit je, du hast es nur nie verstanden. Na, wie war es gestern?“ „Reizend und sättigend. Schweinefilets mit jungen Erbsen, nachher Aprikosencreme.“ „Hör auf, Jessica!“ „Und gefüllte Sandtorte nachher zum Kaffee.“ „Jessica, du bist grausam. Ich wette, daß es heut in der Mensa Kartoffelsuppe gibt!“ „Das ist gut. Du solltest diese Woche recht genügsam leben, damit du am nächsten Donnerstag recht viel Appetit hast. Du bist nämlich mit eingeladen.“ „Wie in aller Welt kommt das?“ „Na, ich habe dich ja ein paarmal erwähnt, vielleicht sogar in einer netten Art; du weißt, was einem so manchmal über die Lippen rutscht –, und gestern sagte dann Tante Christiane: ,Bring sie doch mit, Jessica’ – so einfach ist es.“ „Wie himmlisch! Paß auf, glaubst du, daß der Opel da wegfährt – ja, tatsächlich, gesegnet sei er – hat uns sogar zwanzig Minuten Parkzeit hinterlassen! Was für ein guter Mensch – also zwanzig Minuten für Plattenkauf und Post!“ In der Mensa gab es durchaus keine Kartoffelsuppe, sondern Linsensuppe. Nachher gingen wir zum Bäcker und kauften Apfelkuchen. Bei mir zu Hause machten wir dann Kaffee. „So“, sagte ich. „Nun ist sie schon wieder an meinem Schrank gewesen! Sie muß einen zweiten Schlüssel haben, das ist die einzige Erklärung!“ „Wie merkst du das?“ fragte Jessica. Ich erklärte ihr meine „Falle“. Ich hatte aus dem Strumpffach ein zusammengerolltes Paar genommen und ganz oben zu der
Kaffeedose und der Zuckertüte gelegt, aber so dicht an den Rand, daß es beim Türöffnen runterfallen mußte. Und jetzt lag das Paar hübsch bei den anderen Strümpfen! „Wenn ich bloß begreifen könnte, was sie eigentlich sucht!“ sagte ich. „Oder gibt es Menschen, die aus lauter Neugier überall rumschnüffeln, ohne etwas Bestimmtes zu suchen?“ „Und ob es das gibt!“ rief Jessica. „Nicht alle haben ein solches Glück wie ich. Meine Frau Manders ist ein Engel, sogar ein dezenter Engel. Sie würde nie eine Schublade oder einen Schrank bei mir aufmachen! Aber frage bloß Falko, was er erlebt hat. Nicht hier, es war, bevor er nach Kiel kam. Hat er dir nie von seiner Zuckerdose erzählt?“ „Nicht daß ich wüßte, es sei denn, du bist seine Zuckerdose!“ „Dose nicht, höchstens seine Zuckerpuppe! Weißt du, was er gemacht hat? Er stellte eine unzerbrechliche Zuckerdose so in den Schrank, wie du heut deine Strümpfe gelegt hattest, also so, daß sie runterfallen mußte, wenn die Tür aufgemacht wurde. Als er eines Tages nach Hause kam, stand erstens die Dose in einem anderen Fach – er hatte sie nämlich zu seiner Unterwäsche gestellt –, und zweitens war sie voll Zucker. Als er sie reinstellte, war sie halbvoll gewesen. Außerdem entdeckten seine Argusaugen etliche Zuckerkörnchen auf dem Teppich, dicht am Schrankrand. Er hatte eine dreifache Freude an dieser Geschichte: Erstens war die Olle kuriert, zweitens hatte er extra Zucker umsonst bekommen, drittens war es ihm eine Wonne, an die Arbeit zu denken, die die Frau gehabt hatte! Es gibt doch nichts Schlimmeres, als Zucker von einem Teppich wegzukriegen!“ Ich mußte lachen. „Du, das werde ich tun! Ich muß mir nur eine Plastikdose besorgen, mein Porzellan-Näpfchen wäre mir zu schade. Aber nun zurück zu der Einladung. Ich freue mich ganz schrecklich, nicht nur wegen des Essens! Ich möchte doch so gern deine Patentante kennenlernen. Aber ich muß im Bilde sein, bevor ich da reinplatze, also bitte, klär mich auf!“ „Mensch, das habe ich dir doch längst alles erzählt. Tante Christiane ist seit vielen Jahren Witwe. Sie war mit einem Gutsbesitzer verheiratet. Jetzt hat der Sohn das Gut, und Tante Christiane hat eine nette Wohnung am Stadtrande…“ „… und heißt Frau von Waldenburg, das weiß ich. Aber da ist doch noch eine?“
„Ja, ihre Kusine, Studienrätin, Name Neuberger, Vorname Isolde, ich nenne sie Tante Isa. Ich habe sie schon als Kind getroffen und darf sie also weiterhin duzen und betanten. Beide riesig nett. Sie nennen sich selbst die Bremse und das Gaspedal. Tante Isa ist die vernünftige, die Tante Christiane bremst, wenn sie zu unternehmungslustig ist, und Tante Christiane gibt Gas und versetzt Tante Isa einen Schubs, wenn sie zu bedächtig und vorsichtig ist.“ „Wohnen sie denn schon lange zusammen?“ „Nein, erst ein Jahr. Als Tante Isa eine Anstellung hier in Kiel bekam, war Tante Christiane begeistert und schlug sofort vor, sie sollten sich zusammentun. Tante Christiane fühlte sich wohl etwas einsam in der großen Wohnung, die sie nur mit ihrem Hund teilte – ach ja, richtig, wenn du in dem Haus das beste Kristall zerdepperst oder einen Kaffeefleck auf die Brüsseler Spitzendecke machst, wird es dir sofort verziehen; aber falls du ein einziges abfälliges Wort über den Hund Bicky sagst, wirst du nie mehr einen Schnitzelbissen oder ein Kuchenkrümelchen dort kriegen!“ „Ich werde mich hüten! Außerdem mag ich Hunde gern.“ „Auch wenn sie hochspringen und dir das Gesicht ablecken? Das tut Bicky nämlich grundsätzlich. Sie betrachtet alle Besucher als liebe Freunde, die nur ins Haus kommen, um mit ihr zu spielen. Tante Christiane sagt immer, daß Bicky der ungezogenste und glücklichste Hund in ganz Deutschland ist!“ „Na, dann bin ich wohl so einigermaßen im Bilde. Ach ja, richtig, was ist mit dem anderen Mädchen, das auch immer Donnertags da fri – ich meine speist?“ „Mädchen ist gut! Sie hat einen Sohn von anderthalb Jahren. Sie war nur ganz kurz verheiratet, ihr Mann starb nach einem Autounfall. Ach, die Anke ist ein nettes Menschenkind. Sie mußte mit den Studien aufhören, weil sie das Kind erwartete. Jetzt ist der Kleine bei Ankes Schwiegereltern in Hamburg, und Anke besucht ihn jedes Wochenende. Sie hat im Frühjahr ihre Studien wieder aufgenommen, und wenn alles gut geht, wird sie in einem Jahr fertige Zahnärztin sein.“ „Ist sie auch mit den Donnerstagstanten verwandt?“ „Nein, nur bekannt. Aber die Geschichte kann sie dir selbst erzählen, wenn sie es will.“ „Also nächsten Donnerstag das gute Kleid anziehen, Haare kämmen und Blumen kaufen…“ „Nein, um Gottes willen – nun ja, weil du das erste Mal ins Haus
kommst, aber es darf nur eine winzige Kleinigkeit sein, sonst schimpfen die Tanten ganz furchtbar. Sie haben die Auffassung, daß arme junge Studentinnen ihr Geld vernünftiger anlegen sollen als für Tantenblumen.“ „Sympathische Tanten. Allerdings bekam ich gestern dreiundzwanzig Mark von meiner Schwester, per Eilbrief. Wenn du wüßtest, wie neugierig Frau Hansen aussah, als sie ihn mir brachte!“ Plötzlich sah Jessica aus, als dächte sie angestrengt über etwas nach. „Sage mal – du hast doch noch das Kuvert von dem Eilbrief?“ „Klar, in meiner Handtasche.“ „Her damit. Und dann einen Briefbogen. Jetzt soll die Olle etwas zu lesen bekommen. Sie weiß doch, daß dein Schwager Journalist und Rundfunkkorrespondent ist?“ „Und ob sie das weiß. Sie weiß auch, daß Mutti sich einen neuen Wintermantel gekauft hat, daß Vati Geburtstag gefeiert hat, daß Kai und Madeleine noch zwei Jahre warten wollen, bis sie Kinder kriegen, und daß…“ „Danke, das reicht. Mit anderen Worten, sie weiß alles, was in deinen Privatbriefen zu lesen gewesen ist.“ „Bestimmt, jedenfalls aus meiner ersten Zeit hier.“ „Fein. Morgen früh läßt du also das Eilbriefkuvert auf dem Tisch liegen, und den Inhalt werden wir jetzt fabrizieren.“ Jessica fing an mit „Wien, 18. November. Liebste Reni! Ich muß dir heut ganz schnell schreiben, weil ich mit meiner großen Nachricht rechtzeitig bei dir ankommen möchte. Du weißt ja, daß Kai wegen seiner Arbeit oft Dinge erfährt, die der Öffentlichkeit nicht zu Ohren kommen. Heut hat er mir etwas anvertraut…“ Jessica hörte mit dem Schreiben auf und sah mich fragend an. „Du, auf was für einen Leim würde sie am sichersten gehen? Was interessiert sie am meisten?“ „Soraya, Kaiserin Farah, Jacqueline Onassis und alle europäischen Prinzessinnen“, sagte ich ohne Bedenken. „Du solltest nur sehen, was für bunte Zeitungen immer in der Küche herumliegen. Sie liest die wildesten Gerüchte und glaubt jedes
Wort!“ „Fein. Bleiben wir bei Farah.“ Jessica schrieb weiter. Ich guckte über ihre Schulter und konnte mir kaum ein lautes Lachen verkneifen. „ – denke dir bloß – aber es muß unter uns bleiben, wir könnten die größten Unannehmlichkeiten riskieren, falls es z.B. in Kiel bekannt würde –, also, Kai hat eine Dame getroffen, die sich als die Kammerzofe der Kaiserin Farah entpuppte! Von ihr hat er erfahren, daß die Kaiserin sich morgen auf eine ganz private Reise nach Deutschland begibt. Sie wird nur von einer Hofdame und der Kammerzofe begleitet und reist unter dem Namen“ – Jessica machte eine Pause, dachte nach. Ihr Blick schweifte über mein Bücherregal, wo aus unerfindlichen Gründen Goethe sei mit seinem „Faust“ vertreten war. Mutti hatte mir geholfen, die Bücher zu packen; den Faust schiebe ich ihr in die Schuhe. Dann schrieb Jessica weiter: „Marthe Schwerdtlein. Also, sie wird per Bahn am Sonntag den 23. nach Kiel kommen. Sie fährt die Nacht durch und kommt mit dem Zug frühmorgens 5.52 Uhr an. Sie fährt ganz unauffällig in einem gewöhnlichen 1. Klasse-Wagen, und um nicht erkannt zu werden, hat sie ihre Haare goldblond färben lassen. Falls gutes Wetter ist, trägt sie ein – “ Jessica überlegte, lachte vor sich hin – „zart lila Kostüm mit Silbernerz, falls Regen“ („Mensch, Reni, was trägt eine Kaiserin bei Regen? Na, ist ja auch egal.“) – „einen durchsichtigen rosa Plastikmantel. Sie fährt anschließend per Taxe, die am Seiteneingang des Bahnhofes auf sie wartet, zum Hotel Conti, wo sie frühstücken und sich ausruhen wird. Dann zieht sie sich um – wahrscheinlich Chinchillapelz – geht zu Fuß zum Oslokai und besteigt das Schiff, und es geht nordwärts. Also, wenn du sie aus allernächster Nähe sehen möchtest, mußt du sehr früh aufstehen! Sieh zu, daß du nicht verschläfst. Und wie gesagt, kein Wort! Wenn Kai wüßte, daß ich dir dies erzählt habe, würde er mir bestimmt ganz böse werden. Er kann jeden Augenblick kommen, ich mache Schluß und laufe zur Post. Viel Vergnügen, herzliche Grüße Deine Madeleine.“ Jessica las stolz ihr Werk durch. „Wenn sie auf diese Geschichte reinfällt…“ sagte ich. „Das mit den goldblonden Haaren ist eben zuviel! Und dann Marthe
Schwerdtlein!“ „Warte es ab!“ sagte Jessica. Sie faltete den Brief zusammen und steckte ihn in Madeleines Eilbriefkuvert. „Morgen läßt du diesen Brief liegen – nein, nicht mitten auf dem Tisch, das wäre zu auffällig. Paß auf, wir stecken ihn in ein Buch – so, jetzt guckt die Eilpostmarke so schön raus –, und das Buch läßt du auf dem Nachttisch liegen, so daß die Ecke des Briefes ganz genau auf die Tischecke zeigt, siehst du, so! Und dann stellst du deinen Wecker übermorgen auf fünf und tust so, als ob du aufstehst. Dann glaubt sie erst recht an die ganze Sache.“ „Jessica!“ sagte ich. „Du bist eine ganz Gerissene!“ „Ich bin bei Falko in die Lehre gegangen“, schmunzelte Jessica. „Du, er wird sich totlachen, wenn ich dies erzähle!“ „Nur noch eine zweite Tasse Kaffee“, sagte ich und schaltete den Schnellkocher ein. „Nachher muß ich lernen!“ Am folgenden Tag stellte ich mit Genugtuung fest, daß das Buch auf meinem Nachttisch ein Ideechen anders lag und daß nur die Hälfte der Eilpostmarke sichtbar war. Abends stellte ich mit gemischten Gefühlen den Wecker auf fünf. Der Gedanke, so früh aus dem Schlaf gerissen zu werden, und das an einem Sonntag, war mir furchtbar; aber noch furchtbarer wäre es, wenn Frau Hansen sich zum Bahnhof begeben sollte, ohne daß ich es wußte! Ich wachte auf – nicht durch das Klingeln des Weckers, ich schaffte es grade noch, ihn abzustellen, bevor er einen Ton von sich gegeben hatte. Was mich weckte, waren kleine Geräusche aus der Küche. Ein Wasserhahn wurde aufgedreht, eine Gasflamme angemacht, Pantoffelschritte über den Terrazzofußboden. Es war viertel vor fünf. Neue Schritte, diesmal von festen Straßenschuhen. Kaffee wurde eingegossen. Na, sie wollte sich wohl stärken, bevor sie ihre Expedition machte. Zu Fuß! Sonntags fuhren die Straßenbahnen ja nicht so früh. Fünf nach fünf verließ meine holde Wirtin das Haus. Es war noch stockfinster draußen, aber im Licht einer Straßenlaterne sah ich sie grade noch um die Ecke verschwinden. Was war es für ein Genuß, in das warme Bett zurückzukriechen! Wenn ich natürlich auch zu gern ein Mäuschen in einer Ecke der Bahnhofshalle gewesen wäre!
Die Donnerstagstanten „Habe ich es gut!“ sagte Jessica und kuschelte sich förmlich in den Sitz neben mir. „Du bist ein Glückspilz, Reni!“ „Weil ich den Theodor habe, meinst du?“ „Ja, im Augenblick meinte ich das. Es ist himmlisch, per Auto zum Donnerstagsabend gebracht zu werden. Und Anke wird sich freuen! Es ist lieb von dir, daß…“ „Daß ich drei Minuten und einen Fingerhut Benzin spendiere, so daß wir sie abholen können? Ja, ich bin unnormal lieb, ich merke, wie die Engelsflügel wachsen, der Rücken juckt mir schon.“ „Du, was macht übrigens der Drachen? Ist sie sauer nach ihrer Expedition zum Bahnhof?“ „Durchaus nicht! Weißt du, ich glaube, daß sie meint, der Brief ist wirklich von Madeleine gewesen, und daß sie – Madeleine also – mich zum besten halten wollte!“ „Aua, daran habe ich nicht gedacht.“ „Ich auch nicht. Es war Mutti, die mich auf den Gedanken brachte.“ „Du hast deinen Eltern von unseren Schandtaten erzählt?“ „Na klar. Sie haben sich schiefgelacht. Ich bekam die Antwort heut, und Mutti schreibt, vielleicht hat die Olle gar nicht kapiert, daß der Brief für sie persönlich komponiert war.“ „Das ist ja schade. Aber, immerhin, wir brachten sie an einem Sonntag dazu, vor fünf aufzustehen, das ist schon etwas. Jetzt die nächste Straße rechts, Reni, und dann das dritte Haus links.“ Anke stand schon auf dem Bürgersteig. Eine hübsche junge Frau von etwa dreiundzwanzig. Was für ein Schicksal, mit zweiundzwanzig Witwe zu werden, dachte ich. „Kriech hinten rein, Jessica, aber setz dich nicht auf die Tantenblumen“, ermahnte ich. „Anke ist Ehrengast und soll vorne sitzen. – Ja, ich darf wohl Anke sagen, oder?“ „Klar!“ lächelte Anke. „Furchtbarer Gedanke, daß Sie mich Frau Meyer nennen sollten.“ „Sagt euch doch gleich du!“ schlug Jessica vor. „Das ist doch viel einfacher.“ „Mir soll es recht sein“, sagte Anke. „Es endet doch damit, warum dann nicht gleich?“ „Mir aus der Seele gesprochen“, antwortete ich und reichte ihr
eine Sekunde die Hand, dann brauchte ich sie zum Schalten. „Das feierliche Brüderschafttrinken müssen wir nachher besorgen.“ „Mit Apfelsinensaft“, erklärte Jessica. „Bei den Tanten gibt es keinen Alkohol, jedenfalls nicht donnerstags.“ „Gott sei Dank, erstens mag ich keinen Alkohol, zweitens darf ich nicht, weil ich fahre. – Kinder, was habe ich für einen Hunger!“ „Wer hat den nicht?“ kam es vom Rücksitz. „Ich habe kein Mittagessen gehabt. Du, Anke?“ „Wo denkst du hin, Mittagessen an einem Donnerstag? Denk an Tante Christianes Bratensoße!“ „Na, da seid ihr ja, Kinder, herzlich willkommen – wie geht es, Jessica – Ankelein, was macht das Söhnchen – und Sie sind also Reni, wie nett, Sie kennenzulernen – Himmel, da haben wir das Raubtier, Christiane, wo ist Bickys Ball, damit man sie ablenken kann – na, schon geschehen, Reni hat ihren Kuß weg!“ Ich stand bereits da, wischte mir lachend das Gesicht ab und rettete mit knapper Not die Blumen. Dann stürzte Bicky sich auf Jessica, und ich konnte die Dame begrüßen, die uns die Tür aufgemacht hatte. Das mußte also Tante Isa sein, Frau Neuberger. Groß, schlank, mit strahlenden, dunkelgrauen Augen unter einer hohen Stirn. Die Hand, die sie mir reichte war fest und schmal, ihr Lächeln voll Wärme. Wie war sie doch hübsch! „Aber Kind, das sollten Sie doch nicht – aber wie sind sie schön, ich mag ja Fresien zu gern, tausend Dank, aber das gibt es nie mehr, verstehen Sie? Bicky, laß Tante Jessica los, du furchtbares Tier, geh und hol deinen Ball – ja, Christiane kommt gleich, sie steht wahrscheinlich bis zu den Ohren in der Soße – na, da ist sie…“ Ein lächelndes Gesicht mit „Küchenrosen“ auf den Wangen und einer etwas mitgenommenen Frisur kam in einem Türspalt zum Vorschein. Hinter Tante Christiane lief eine Küchenmaschine auf Hochtouren. „Herzlichst willkommen, Kinder! In drei Minuten bin ich da. Ach, Jessica, guck nach, ob die Salzstreuer auf dem Tisch stehen – und wenn du ein Engel bist, Anke, spülst du Bickys Futternapf ab unter dem Wasserhahn im Bad!“ „Und was soll ich machen?“ fragte ich lächelnd. „Bickys Ball holen, wenn ich bitten darf. Dazu müssen Sie sich vor dem Bücherschrank auf den Bauch legen und mit irgend etwas unter dem Schrank suchen!“ Erst als wir um den hübsch gedeckten Tisch saßen und uns auf
den duftenden Inhalt einer enormen Schüssel konzentrierten, kam Ruhe über uns. „Tante Christiane, du kochst wie ein Engel!“ sagte Jessica. Anke stimmte zu, und ich nickte mit vollem Mund. Wenn man sich sechs Tage in der Woche mit billigem Mensaessen sättigt und sich sonntags mit Kakao und Butterbroten begnügt, dann ist es ein Ereignis, wenn man sich plötzlich einer astronomischen Anzahl wunderbarer brauner Fleischbällchen gegenübersieht. „Haben Sie schon immer so gern gekocht, Frau von Waldenburg?“ fragte ich. „Eigentlich ja, aber es war früher sozusagen nur mein Steckenpferd. Erst vor anderthalb Jahren ging es im Ernst los. Bis dahin hatte ich meine reizende Haustochter, dann hat das Ungeheuer geheiratet und ließ mich allein, so eine Unverschämtheit! Dann habe ich eine Zeitlang für Bicky und mich allein gewirtschaftet…“ „Wobei du selbst die Reste des Hundefutters gegessen hast“, warf Frau Neuberger ein. „Wie üppig!“ lachte Jessica. „Das Hundefutter ist in diesem Haus immer das Beste im ganzen Kühlschrank!“ „Klar, wenn ich die Schweineherzen für Bicky vom Schlachter bekam, habe ich immer eins für mich selbst zurückbehalten. Herz in Sahnesoße ist doch phantastisch gut! Ja, und dann kam Isa, und dann machte das Kochen erst richtig Spaß, und am allerschönsten ist es donnerstags. Hungrige Studentinnen zu füttern ist doch eine Wonne! Reni, nehmen Sie doch noch ein Fleischbällchen, das kriegen Sie nicht jeden Tag! Ich habe das Rezept von Senta, meiner eben erwähnten norwegischen Haustochter.“ „Oh, ist sie Norwegerin? Dann verstehe ich – die Norweger scheinen Spezialisten für Gehacktes und Gemahlenes zu sein. Meine Schwester hat nämlich einen Norweger geheiratet…“ „Ach, haben Sie auch Beziehungen zu Norwegen? Ja, Senta konnte unwahrscheinlich gut kochen. Sie wird im Frühjahr ihre Abschlußprüfung als Diätköchin hier in Kiel machen, ungefähr gleichzeitig wird ihr Mann das Staatsexamen machen, er wird Zahnarzt. Leider wohnen sie genau am entgegengesetzten Ende der Stadt, ich sehe Senta viel zu selten, aber hoffentlich schaffen wir es, sie an einem Donnerstag zu überreden, herzukommen!“ „Und ich lernte Tante Christiane durch Senta kennen, oder vielmehr durch ihre Zwillingsschwester Sonja“, erzählte Anke. „Übrigens, Tante Christiane, ich habe eben einen Brief von Sonja,
sie hat ein verwaistes Gepardenkind adoptiert und erzählt von 42 Grad Hitze.“ „Sag mal, sitzt sie dann genau auf der Äquatorlinie mit ihrem Gepard?“ fragte ich. „Ja, es fehlt nicht viel. Sie sitzt irgendwo im nördlichen Kenya, ihr Mann arbeitet dort für ein englisches wissenschaftliches Institut. Ich freue mich so schrecklich für Sonja, sie verdient es, daß ihr größter Wunsch in Erfüllung ging!“ „War das Gepardenkind ihr größter Wunsch?“ fragte ich. „Nein, Afrika war ihr größter Wunsch! All ihre Träume zogen nach Süden! Als wir uns kennenlernten vor bald zwei Jahren, übrigens hier bei Tante Christiane, war sie ganz aus dem Häuschen vor Glück“, erzählte Anke. „Sie hatte grade mit Senta zusammen eine Ostafrikareise in der Fernsehlotterie gewonnen, und auf der Reise lernte sie dann ihren Mann kennen. Er ist Zoologe, und jetzt sitzen sie also ziemlich dicht beim Äquator und forschen, das heißt, erforscht, zusammen mit zwei anderen Wissenschaftlern, und Sonja und die beiden anderen jungen Ehefrauen betätigen sich als Sekretärinnen und Köchinnen.“ „Man könnte beinahe neidisch werden!“ sagte ich. „Das müßte phantastisch sein. Ich möchte ja auch so wahnsinnig gern nach Afrika!“ „Sie müssen eben feste studieren“, meinte Frau von Waldenburg. „Ich habe mir sagen lassen, daß Afrika dringend Ärzte braucht! Jessica, nimm doch, die Schüssel steht vor dir – was, schon satt? Und ich wollte grade sagen, daß ihr ein Loch für den Nachtisch lassen müßt!“ „Das wissen wir doch, Christiane“, lächelte Frau Neuberger. „Deinen verflixten Nachtischen habe ich es zu verdanken, daß ich bald durch die Gegend kugeln werde.“ „Natürlich, schieb es nur mir in die Schuhe, weil du nicht genügend Selbstbeherrschung hast!“ schmunzelte Frau von Waldenburg. „Ich muß jetzt um eine Pause von fünf Minuten bitten, soviel Zeit brauche ich, um den Nachtisch servierfertig zu machen. Ach, Mädchen, seid lieb und stellt die gebrauchten Sachen in die Durchreiche. Meine Anwesenheit ist anderswo dringend notwendig!“ Wieder brummte die Küchenmaschine, Geschirr klapperte, es wurde mit Löffeln gekratzt. Inzwischen ertönte ein „Verflixt noch mal“ und „Nein, so was“ –, dann klappte die Backofentür zu, und es
wurde still. „Störe sie bloß nicht“, sagte Frau Neuberger, als Anke etwas in die Küche tragen wollte. „Sie ist jetzt bei einer heiligen Handlung!“ Die heilige Handlung wurde mit dem schrillen Klingeln eines Küchenweckers abgeschlossen. Wieder Klappern, ein „Aua“ und gleich darauf „Mensch, ist das heiß“ –, und dann erschien die rotwangige Köchin mit einem stolzen Lächeln auf dem Gesicht und einem Riesengebilde auf einer runden Platte in den Händen. „Himmel!“ rief ich. „Das ist ja eine Omelette Surprise!“ Unter einer enormen Haube aus golden gebräuntem Eischnee fand sich eine dicke Schicht Vanilleeis, darunter eine ebenso dicke Schicht Pfirsiche und Aprikosen, und alles war auf einen delikaten Tortenboden gebettet. Jessica und Anke kannten das Gericht nicht und sperrten die Augen und ganz besonders die Münder auf. „Drei- und eine halbe Minute in einem beinahe weißglühenden Backofen“, erklärte Frau von Waldenburg. „Dann ist das Eiweiß goldgelb geworden und das Eis noch nicht geschmolzen. Aber jetzt heißt es zugreifen, Kinder, und alles muß aufgegessen werden, hört ihr?“ „Du bist unmöglich, Christiane“, seufzte Frau Neuberger. „Ich kündige dir bald als Köchin!“ „Aber liebstes Isachen, ich mußte ja all die Eiweiß verwenden – du weißt doch, daß ich nie etwas umkommen lasse!“ „Und woher hattest du die vielen Eiweiß?“ „Übriggeblieben vom Eismachen, da brauche ich ja nur das Eigelb!“ „Und wozu brauchtest du das Eis?“ „Für die Omelette Surprise, was sonst?“ „Tante Christiane, ich segne deine Logik“, lachte Anke. „Dies ist das Schönste, was ich je in meinem Leben gegessen habe.“ „Genau das sagte auch meine große Jugendliebe“, seufzte Frau von Waldenburg. „Seinetwegen machte ich zum ersten Mal so eine Omelette, lieber Himmel, was habe ich für ein Lampenfieber gehabt!“ „Und dann hat er dir gleich einen Heiratsantrag gemacht?“ fragte Jessica. „Von wegen Heiratsantrag! Er fraß die ganze Omelette auf und außerdem ein paar Filets Mignonne, etliche Zentner Krokanteis, eine unglaubliche Anzahl fritierte Schollenfilets…“
„Aber doch wohl nicht alles auf einmal?“ fragte ich entsetzt. „Nein, ein paar Wochen hat er dazu gebraucht, o du Schande, wie habe ich den Kerl verwöhnt – und dann verlobte er sich mit einer Freundin von mir, deren Kochkünste mit Mühe und Not für ein Spiegelei und eine Tasse Pulverkaffee ausreichten! Und ich saß da mit einem Kloß im Hals, nachts heulte ich das Kissen pitschnaß und überlegte mir sehr, was einfacher wäre, Zyankali zu nehmen oder zum Fenster rauszuspringen. Schließlich machte ich weder das eine noch das andere – nur die Erfahrung, daß alles vorübergeht, auch die tiefste unglückliche Liebe. Ja, noch mehr, es wurde mir allmählich klar, daß ein bißchen unglückliche Liebe sozusagen zur Allgemeinbildung gehört. Man muß sie durchmachen, so wie Schule und Tanzstunden und Masern und Keuchhusten und den ersten Kuß.“ „Na, dann kann ich mich ja auf etwas gefaßt machen“, seufzte ich. „Dann habe ich was Schönes vor mir.“ „Haben Sie nie eine unglückliche Liebe gehabt, Kind? Das müssen Sie nachholen. Es ist sehr lehrreich. Wie alt sind Sie? Zwanzig? Ja, aber dann ist es höchste Zeit. Ich hatte mit vierzehn meinen ersten Liebeskummer.“ Jessica sah mich gedankenvoll an. „Hast du wirklich nie einen Freund gehabt, der dich sitzen ließ, Reni?“ „Nein“, sagte ich, beinahe schuldbewußt. „Aber ich habe zwei oder drei Verehrern den Laufpaß gegeben.“ „Ich sage es ja“, seufzte Jessica. „Sommersprossen und rote Haare sollte man haben, dann stehen die Jungen Schlange!“ Jetzt mischte sich Frau Neuberger ins Gespräch. „Nein, es liegt nicht am Aussehen, Jessica“, sagte sie. „Ich glaube, es liegt daran, ob ein Mädchen sie selbst sein kann. Also nicht verkrampft, nicht nervös, sie soll sich keine Mühe geben, beliebt zu sein…“ „Richtig, Isa!“ rief Frau von Waldenburg. „Das war ja bei mir das Unglück! Ich hatte immer Angst davor, die Rolle des Mauerblümchens spielen zu müssen – und ich mußte es! Wenn ihr wüßtet, wie oft ich als Wanddekoration dasaß, während meine Freundinnen tanzten! Bis mir eines Tages alles piepe war und ich dachte, ich bin wohl nicht der Typ, den die Männer mögen. Also hieß es, nicht mehr daran zu denken – und von dem Augenblick an hatte ich plötzlich Freunde. Und als ich mich dann verliebte, war es
gegenseitig und endete mit Heirat und einer glücklichen Ehe und zwei Kindern!“ Während Frau von Waldenburg sprach, versuchte sie, unauffällig und halb geschützt von den Blumen auf dem Tisch einer geheimnisvollen Beschäftigung nachzugehen. Zwei Sekunden später verkündeten ein lautes Schmatzen und die Spitze eines wedelnden Schwanzes, daß Bicky unter dem Tisch sich ihre Zuteilung an Omelette Surprise zu Gemüte führte. „Nun erzählt, Kinder“, sagte Frau Neuberger, als wir nachher im gemütlichen Wohnzimmer beim Kaffee saßen. „Was habt ihr nun erlebt seit vorigem Donnerstag? Ich meine natürlich solche Erlebnisse, die man alten Tanten erzählt, die anderen will ich gar nicht wissen!“ „Meinst du denn, daß wir euch nicht alles erzählen?“ fragte Anke lächelnd. „Ich bin doch nicht ganz blöd! Denkst du vielleicht, ich habe alten Tanten alles erzählt, als ich Zwanzig war?“ „Wetten, daß du keine solchen Tanten hattest wie wir“, sagte Jessica. „Ihr seid nun mal ganz anders, und das wollte ich grade beweisen: Ich wollte von unserer neusten Schandtat erzählen!“ „Ach du Schreck, dann sind wir nachher verpflichtet, euch eine Moralpredigt zu halten! Nun ja, dann schieß los!“ Nun erzählte Jessica von meiner neugierigen Frau Hansen, von meinen runtergefallenen Strümpfen und dann von dem Brief. Ich fügte einen Bericht über das sonntägliche Frühaufstehen meiner Wirtin hinzu. Zuletzt holte ich Jessicas zusammengedichteten Brief aus der Tasche und zeigte ihn den Tanten. „Kinder, seid ihr ein paar ausgekochte… Übrigens verkehrt der frühe Zug gar nicht sonntags, daß ihr es wißt!“ „Du liebe Zeit, daran habe ich nicht gedacht!“ „Frau Hansen zum Glück auch nicht“, versicherte ich. „Denn daß sie kurz nach fünf das Haus zu Fuß verließ, darauf kann ich schwören, ich hing doch mit der ganzen oberen Körperhälfte zum Fenster raus.“ Frau Neuberger schüttelte den Kopf. „Und ihr habt gar kein Mitleid mit der armen alten Frau, die bei Nacht und Nebel zum Bahnhof trottete?“ „Warum sollten sie?“ rief Frau von Waldenburg. „Es wäre ganz was anderes gewesen, wenn die Mädchen der Frau direkt den Blödsinn erzählt hätten, als einen geschmacklosen Aprilscherz oder
so was. Aber einen Brief in einem Kuvert im eigenen Zimmer liegen zu lassen ist doch ganz was anderes! Wenn die Frau ein anständiger Mensch wäre und nicht rumgeschnüffelt hätte, wäre ihr das alles erspart geblieben. Ich finde, offen gesagt, daß ein Fußmarsch zum Bahnhof um fünf Uhr an einem Sonntagmorgen eine sehr milde Strafe für eine solche Gemeinheit ist!“ „Ungefähr dasselbe schrieb Mutti“, sagte ich. „Sie schreibt Moment mal…“ Ich wühlte in meiner Handtasche, wo allerlei überraschende Dinge zum Vorschein kamen, nur nicht der Brief von Mutti, den ich vorlesen wollte. „Heiliger Bimbam!“ stöhnte ich. „Der Brief liegt irgendwo in meinem Zimmer! Wenn sie den gelesen hat!“ „Wenn?“ wiederholte Jessica. „Sie kann ihn bestimmt schon auswendig!“ „Sie wird mir kündigen!“ sagte ich. „Kaum“, meinte Frau Neuberger. „Den Wunsch wird sie sich schön verkneifen müssen. Welchen Grund sollte sie angeben? Sie kann ja nicht offen sagen: ,Weil man mich in einem Brief beleidigt hat, den ich unerlaubt gelesen habe!’ Nein, sie wird den Brief schon schlucken müssen! So, das war also eure Schandtat, Kinder? Dann können wir uns die Moralpredigt schenken. Aber ich bin gespannt auf Ihren Bericht nächsten Donnerstag, Reni!“ „Nächsten – ja aber – bedeutet das denn, daß ich auch zum nächsten Donnerstag eingeladen bin?“ „Na klar! Sie sind doch heut aufgenommen bei den Donnerstagsfres – ich meine, bei unseren Donnerstagsgästen!“ „Selbstverständlich!“ bestätigte Frau von Waldenburg. „Nun sag mal, Anke, was macht das achte Weltwunder? Du hast ihn doch am Sonntag besucht?“ „Das Weltwunder hat eine Zahncremetube erwischt und damit das ganze Küchenfenster beschmiert“, berichtete Anke. „Außerdem hat er die Sonnenbrille meiner Schwiegermutter in den Backofen gesteckt und einen Löffel ins Klo geschmissen.“ „Seine armen Großeltern!“ seufzte Frau Neuberger. „Die verzeihen ihm alles“, sagte Anke. „Sie lieben ihn abgöttisch, und ich könnte ihnen keinen größeren Gefallen tun als ein paarmal beim Staatsexamen durchzufallen, damit ich noch ein paar Jahre studieren und Peterchen bei ihnen lassen müßte.“ „Ja ja,“ sagte Frau Neuberger. „Du mußt sie verstehen, Anke.“
„Das tu ich doch, Tante Isa. Ich weiß sehr gut, daß der Kleine ihnen der einzige Trost, der einzige Lichtpunkt war, als Peter starb.“ „Wie alt war dein Söhnchen damals?“ fragte ich. „Vierzehn Tage. Meine Schwiegermutter sagte damals, daß der liebe Gott ihnen einen neuen Peter geschenkt hatte – nun ja, wißt ihr, ich lasse sie den Kleinen verwöhnen und verhätscheln noch ein Jahr, wenn ich auch weiß, daß ich nachher die furchtbare Aufgabe haben werde, alles gradezubiegen.“ „Übrigens, Anke, ich fahre am Sonntag nach Hamburg. Ich möchte so gern zu einer Kunstausstellung. Du kannst abends mit mir zurückfahren, wenn du willst.“ „Wunderbar, Tante Isa. Aber werdet ihr denn nicht alle beide fahren?“ „Da kennst du Tante Christiane schlecht! Ich versuche gar nicht mehr, sie zu solchen Ausflügen zu überreden.“ „Denkst du, ich verlasse mein Raubtier einen ganzen Tag?“ Frau von Waldenburg setzte sich besser zurecht, so daß Bicky ihr auf den Schoß springen konnte. „Außerdem bin ich ziemlich ungebildet, wenn es sich um Gemälde handelt. Ich bleibe zu Haus, schreibe ein paar Briefe, backe einen Kuchen, gehe mit Bicky spazieren, und wenn mir noch Zeit übrig bleibt, höre ich ein paar schöne Platten.“ „Was Musik betrifft, ist Tante Christiane nämlich nicht ungebildet“, erklärte Jessica. Nachher kam unser Gespräch auf Kai und Madeleine, und ich erzählte die ganze romantische Geschichte, wie die beiden sich über die liebe Inge kennengelernt hatten. Die Zeit verging, Frau von Waldenburg brachte Obstsalat mit Schlagsahne „statt Rausschmeißerkaffee“, wie sie sagte, und ein urgemütlicher Abend war zu Ende. „Weißt du, worauf ich mich freue?“ sagte ich, als wir wieder im Wagen saßen. „Ich freue mich darauf, Mutti und Vati von den Donnerstagstanten zu erzählen.“ „Wenn du wüßtest, wie meine Mutter sich darüber freut, daß ich diesen festen Punkt in Kiel habe“, sagte Anke. „Ist deine Mutter allein?“ fragte ich. „Ja. Mein Vater starb, als ich noch klein war, und ich habe keine Geschwister. Mutti ist leider sehr allein. Aber zu Weihnachten kommt sie nach Hamburg! Meine Schwiegereltern haben sie eingeladen und ihr sogar die Fahrkarte geschenkt!“ „Wie schön, daß du dich mit deinen Schwiegereltern so gut
verstehst, Anke!“ sagte ich. Sie schwieg ein Weilchen. Dann sagte sie: „Wir werden uns öfter treffen, Reni – darüber freue ich mich nebenbei gesagt sehr. Da ist es besser, daß du ein bißchen mehr über mich erfährst. Jessica, du weißt Bescheid, du darfst Reni die ganze Geschichte erzählen. So, nun sind wir gleich da. Ach, Reni, du brauchst doch nicht bis ans Haus zu fahren! Na, dann tausend Dank und auf Wiedersehen nächsten Donnerstag.“ „Anke ist sehr allein“, sagte Jessica, als wir beide weiterfuhren. „Sie hat ein Studiendarlehen und kann sich keine großen Sprünge leisten. Es ist schwer genug für sie, das Geld für die wöchentlichen Hamburgreisen aufzubringen.“ „Ach, weißt du, dann fahre ich sie am Sonnabend hin! Zurück fährt sie ja mit Frau Neuberger.“ „Großartig! Ich gehe morgen bei ihr vorbei und sage es ihr. Sie kommt sehr selten zu mir.“ „Von wegen deiner Schäferstündchen, ja, ich verstehe! Was solltest du mir übrigens über sie erzählen?“ „Eine lange und traurige Geschichte. Wie spät haben wir es? Menschenskind, gleich elf – na ja, ich werde versuchen, es kurz zu machen. Also, Anke wurde von einem Kommilitonen namens Peter verführt. Sie war jung und unerfahren und vollkommen ahnungslos. Als ihr klar wurde, daß sie schwanger war, und sie es Peter erzählte, war er – nun ja, ich kann leider kein anderes Wort gebrauchen –, er war gemein zu ihr, zu guter Letzt schmiß er sie einfach raus. Dann wollte es das Glück, daß sie mit den Zwillingen Sonja und Senta bekannt wurde. Sentas Mann, also damals Verlobter, studiert ja auch Zahnmedizin hier in Kiel. Durch die beiden lernte sie Tante Christiane kennen, und die mobilisierte ihren Anwalt, der Anke dann dazu verhalf, etwas Geld von dem feinen Peter zu kriegen.“ „Aber Peter hat sie ja doch geheiratet?“ „Ja. Peter erlitt einen furchtbaren Autounfall und wurde ganz gelähmt. Er wußte selbst, wie es um ihn stand. Da ließ er Anke telegrafisch benachrichtigen. Sie kam, und sie wurden an seinem Krankenbett getraut. Peter wollte wohl, daß seine Eltern dieses Enkelkind als Trost haben sollten, und es sollte ehelich geboren werden. Nun ja, das Kind kam, und Anke wußte, daß sie vielleicht jahrelang an einen Mann gebunden sein würde, den sie nicht liebte, ja, den sie beinahe verabscheute. Sie würde seine Krankenpflegerin werden und nie eine richtige Ehefrau. Aber dann starb er nach kurzer
Zeit. Für seine Eltern furchtbar, aber seien wir ehrlich: für Anke eine Erlösung. Ja, so war also die Geschichte. Und jetzt muß ich ins Heiabettchen! Wenn der Professor mich morgen etwas fragt, werde ich in Ohnmacht fallen müssen, das wird mein einziger Ausweg, es sei denn, ich setzte mich jetzt hin und büffelte bis Mitternacht und noch länger!“ „Gute Nacht dann, Jessica. Es war ein schöner Abend!“ „Gute Nacht, Reni. Ich bin so froh, daß du unter die Donnerstagsfresser aufgenommen bist.“ „Jessica, wenn die Tanten den Ausdruck gehört hätten!“ „Ssss – sage es keinem Menschen –, aber sie gebrauchen ihn selbst! Ganz im geheimen! Aber bleiben wir meinetwegen bei den Donnerstagsspeisern. Das ist dir wohl fein genug? Alles für die Bildung!“
Ein nicht vorhandenes Fünfmarkstück Ich war vollkommen perplex. Als ich nach Hause kam und Muttis Brief mitten auf dem Tisch vorfand, machte ich mich auf alles gefaßt. Daß Frau Hansen ihn gelesen hatte, dafür würde ich meine Hand ins Feuer legen. Dann wußte sie also den ganzen Zusammenhang, daß Jessica und ich den geistesschwachen Brief fabriziert hatten, daß wir es waren, die sie am Sonntag zum Frühaufsteher gemacht hatten. Na, es war ja auch unsere Absicht gewesen, sie zum Nachdenken zu bringen. Aber ich hatte doch ein bißchen Magendruck. Natürlich konnte sie mir keine direkten Vorwürfe machen, sie mußte ja „ihr Gesicht behalten“. Aber sie würde bestimmt sauer wie eine Essiggurke sein und bei jeder Gelegenheit meckern! Lieber Himmel, was hatte ich mir da eingebrockt! Am nächsten Morgen traute ich meinen eigenen Ohren nicht. Ich ging in die Küche, um meine Margarinepackung aus dem Kühlschrank zu holen, und da stand meine neugierige Liese. „Guten Morgen, Frau Hansen“, sagte ich und versuchte, meine Stimme natürlich klingen zu lassen. „Ach, guten Morgen, Fräulein Thams! Na, gut geschlafen? Hatten Sie nun gestern einen netten Abend?“ Ihre Stimme war zuckersüß! „Ja – o ja, sehr nett, mit wunderbarem Essen – hoffentlich habe ich Sie nicht gestört, als ich nach Hause kam…“ „Nein, gar nicht, Sie gehen ja immer so leise.“ Wir wechselten noch ein paar ausgesprochen freundliche Worte, und ich trollte mich zurück in mein Zimmer mit der Margarine. Was in aller Welt – hatte sie etwa nicht Muttis Brief gelesen? Doch, bestimmt, ich kannte sie! Nach der letzten Vorlesung erzählte ich Jessica mein Morgenerlebnis. „Das ist doch klar wie dicke Tinte!“ meinte Jessica. „Entweder würde sie sauer und wütend sein oder zuckersüß, nämlich um dir klarzumachen, daß sie keine Ahnung von dem Brief deiner Mutter hat! Du hast jetzt zu glauben, daß sie ihn gar nicht gelesen hat! Übrigens, was hast du heut nachmittag vor?“ „Ich muß mein schlechtes Gewissen beruhigen. Das heißt Briefe schreiben. An Madeleine und an Uwe. Ich habe ihn furchtbar
vernachlässigt.“ „Uwe, ist das der in Aachen?“ „Stimmt. Ich habe mindestens drei unbeantwortete Briefe von ihm.“ „Dann kann es auch nicht allzu ernst mit der Liebe sein!“ Ich dachte nach. „Ich weiß nicht. Ich habe mich so an Uwe gewöhnt. Er ist ein feiner Kerl und ein guter Kamerad. Ich kenne ihn seit mehr als zwei Jahren, und wir haben es immer riesig nett zusammen gehabt. Aber… es ist nicht so, daß ich vor Sehnsucht heule. Und etwas mit Verlobung und so ist zwischen uns nie zur Sprache gekommen, aber…“ „Aber er ist verliebt, wolltest du sagen?“ „Ich glaube schon. Ja, wenn ich es mir überlege, hat er wohl ab und zu so was angedeutet.“ „Und du bleibst kühl?“ „I wo, von wegen kühl, ich mag ihn furchtbar gern, ich weiß niemanden, den ich lieber mag. Ich weiß nicht, woran es liegt: Wenn wir zusammen sind, ist es großartig, und wir verstehen uns so gut, aber wenn wir auseinander sind, ja, dann denke ich nicht so sehr viel an ihn.“ „Dann ist es nicht das Richtige!“ stellte Jessica fest. „Aber jetzt verlasse ich dich, um den zu treffen, an den ich immer denke und der bestimmt der Richtige für mich ist!“ „Na, dann brauche ich dich nicht zu fragen, was du heut nachmittag vorhast!“ lachte ich. „Verlaß dich ruhig auf deine Phantasie“, sagte Jessica und verschwand um die Ecke. Ich lud drei Kommilitoninnen in den Wagen, und wir fuhren zur Mensa. Nach dem Essen, das sich in vielen und wesentlichen Punkten von dem gestrigen Donnerstagsessen unterschied, trollte ich mich nach Hause in meine Bude. Ich dachte darüber nach, was Jessica gesagt hatte. Daß es wohl nicht das Richtige war mit Uwe und mir. Ja aber – warum eigentlich nicht? Wir hatten es doch immer riesig nett, wir verstanden uns so gut, und ich freute mich wirklich darauf, ihn in den Weihnachtstagen wiederzusehen. Eigentlich verdiente er einen langen und netten Brief. Er war immer so hilfsbereit, immer guter Laune, immer verständnisvoll. Also setzte ich mich hin und schrieb. Ich schrieb länger und wärmer als sonst, erzählte ihm, wie ich mich auf unser Wiedersehen
freute, erzählte, daß ich hier in Kiel beinahe nie ausging. Ich erinnerte ihn an unsere allernettesten Ausflüge und Abende in Hirschbüttel. Kurz gesagt, es wurde ein beinahe liebevoller Brief daraus, und ich ging extra zum Briefkasten damit, dann würde er wohl noch mit dem Nachtzug mitkommen. Dann hatte ich ein gutes Gewissen und setzte mich hin zum Lernen. Der Brief an Madeleine war nicht so eilig. Sonnabend morgen und keine Vorlesung – herrlich! Ich blieb lange im Bett, stellte fest, daß es der Neunundzwanzigste war, ich konnte den Rest meines Geldes verbrauchen, Montag war der Erste, und ich würde meinen Wechsel kriegen. Theodor war vollgetankt, ich konnte glatt nach Hamburg und zurück fahren – also schnell zum Supermarkt und meine Einkäufe machen, nachher mußte ich noch Strumpfhosen kaufen. Dann geschah das, was nachher mein Glück wurde: Meine besondere Strumpfhosenmarke war ausverkauft, man bekäme sie wieder Anfang der Woche, sagte die Verkäuferin. Na, dann wie der Blitz nach Hause, ein paar Brote für unterwegs streichen – zusehen, daß keine Briefe rumlagen, und dann los zu Anke. Es regnete, und die Straßen waren glatt. Ich entschuldigte mich, daß ich so langsam fahren mußte. „Gott sei Dank, daß du das tust“, sagte Anke. „Ich habe Angst vor regennassen Straßen. Bei solchem Wetter erlitt Peter seinen Unfall.“ Ich schwieg ein Weilchen, dann sagte ich: „Jessica hat mir die ganze Geschichte von dir und Peter erzählt, Anke. Du tust mir wahnsinnig leid.“ „Jetzt brauchst du kein Mitleid mehr zu haben“, sagte Anke leise. „Jetzt habe ich es ja gut. Wenn ich erst das Examen hinter mir habe, dann wird es schon gehen. Ich werde dann zurück nach München fahren, und dort hat man mir eine Stellung versprochen. Und dann habe ich ja Klein Peterchen. Weißt du, wenn man ein Kind hat, für das man die ganze Verantwortung trägt, dann sieht das Leben ganz anders aus.“ „Hast du…“ fing ich an, aber ich unterbrach mich selbst. „Was wolltest du fragen?“ „Nein, es war eigentlich nichts. Wirklich nichts.“ „O doch“, kam es von Anke. Ich hatte die Augen auf die Straße gerichtet und konnte Ankes Gesicht nicht sehen, aber ich hatte das
Gefühl, daß sie ein kleines Lächeln um den Mund hatte. „Du würdest bestimmt fragen, ob ich nun mein Söhnchen wirklich lieb habe, so wie man sein Kind lieben soll, wo ich doch Peter nicht lieben konnte.“ „Nun ja, so was Ähnliches habe ich wohl gedacht.“ „Ja, siehst du, ich glaube, wir Frauen sind da ganz komisch geschaffen. Ich liebe Peterchen über alles auf der Welt, und wenn ich ihn auf dem Schoß habe oder mit ihm spiele, oder ihn nur ansehe, dann denke ich, daß alles, was ich durchmachte, eigentlich kein zu hoher Preis für dieses Glück war.“ „Hättest du deinen Mann nie lieb gewinnen können?“
Anke schwieg ein Weilchen.
„Nein“, sagte sie zuletzt. „Peter hat einmal ein paar Worte gesagt,
die für immer wie eine undurchdringliche Wand zwischen uns gestanden hätten. Er hat mich so tief verletzt, wie ein Mensch einen anderen Menschen nur verletzen kann. Wenn ich ihn heiratete, geschah es aus zwei Gründen: Damit mein Kind ehelich geboren werden konnte, und dann meiner Schwiegereltern wegen. Und die haben mir alles gegeben, was Peter mir nicht gab. Die beiden habe ich sehr lieb. Und sie sollen nie zu wissen bekommen, wie Peter sich damals benommen hat. Er soll in ihrer Erinnerung als der gute, liebe Sohn weiterleben.“ „Aber haben sie denn nicht gefragt…“ „Ich habe ein paar kleine schneeweiße Lügen gebraucht, und ich bin davon überzeugt, daß der liebe Gott mir das verziehen hat!“ Jetzt waren wir an der Autobahneinfahrt. Von links kam der ganze Lübecker Verkehr, und es hieß scharf aufpassen. Autobahnfahren bei Nässe verlangt Konzentration, und wir schwiegen beide. Anke sagte mir, wann ich abbiegen mußte, und als wir am Stadtrand von Hamburg waren, versicherte sie, jetzt könne sie mit der Straßenbahn weiterfahren, was ich natürlich ablehnte. Ich wollte sie doch bis zur Tür bringen. „Aber dann kommst du mit und guckst dir meinen Sohn an, nicht wahr?“ „Das möchte ich wahnsinnig gern, aber nur ein paar Minuten. Es fangt ja schon an, dunkel zu werden, und der Himmel weiß, ob wir auch Nebel kriegen!“ Ich war nie selbst im Hamburger Stadtgebiet gefahren und mußte immer noch sehr aufpassen. Endlich hielten wir auf einem Parkplatz
ein paar Minuten von unserem Ziel entfernt. Als Anke an der Wohnungstür klingelte, hörten wir drinnen eine Stimme: „Ach, da ist sie – komm, Peterchen, Mutti ist da!“ Ein kleiner blonder Knirps kam uns auf dicken, noch etwas unsicheren Beinen entgegengelaufen. Angezogen war er wie ein kleiner Prinz, in dunkelblauem Samt mit weißem Krägelchen und weißen Manschetten. Er war zum Fressen! „Peterchen, mein Schatz!“ Schon hatte Anke ihn auf dem Arm, und ihre Augen leuchteten. Die Schwiegereltern waren reizend. Wie lieb von mir, daß ich Anke gefahren hätte, und jetzt würden wir gleich Kaffee trinken – meine Proteste nützten überhaupt nichts. Kurz darauf saßen wir bei Kaffee und selbstgebackenem Kuchen vor dem Kamin. Da stand ein Bild von einem jungen Mann. Er war außergewöhnlich hübsch. Wenn er auch so charmant gewesen war – ja, dann konnte ich beinahe verstehen, daß Anke – Dann bekam ich zu wissen, was das Wunderkind sich in der vergangenen Woche geleistet hatte – mein Vater hätte ausgefressen gesagt –, und die meisten von seinen Schandtaten wurden als erstaunliche Willensäußerungen, Wissensdurst und Erfindungsgeist dargestellt. Die arme Anke! Sie hatte recht, sie würde nachher sehr viel „gradebiegen“ müssen. Aber ich fühlte mich überzeugt daß sie das schaffen würde, ohne seinen Willen zu brechen, seinen Wissensdurst zu löschen oder seinen Erfindungsgeist lahmzulegen. Es war natürlich viel zu spät, als ich endlich aufbrach. Anke brachte mich zum Parkplatz, und als ihr Sprößling lautstark zu verstehen gab, daß er mitwollte, wurde ihm ein von Oma gemachtes bildschönes Mäntelchen angezogen, dazu Mützchen und Handschuhe – von Oma in einem komplizierten Muster gestrickt. „Es graut mir vor der Autobahn“, sagte ich. Das Wetter war widerlich, es nieselte, und der gefürchtete Nebel fing an, seinen grauen Schleier auszubreiten. „Fahr doch die alte Strecke!“ schlug Anke vor. „Nichts ist einfacher, du biegst in die erste Straße links ein, da siehst du schon die gelben Schildchen mit der Nummer 4. Du fährst ihnen nach, bis du in Eidelstedt bist, da ist die Straße nach Kiel ganz deutlich beschildert. Dann vermeidest du auch die scheußliche Bundesstraße 404.“ Ich bedankte mich, der Kleine winkte und sagte „Widesen Tanteni“ und Theodor und ich brausten los.
Die Strecke war einfach genug zu finden, aber ich hatte das Gefühl, daß sie mit lauter roten Ampeln gespickt war. Immerzu mußte ich halten und warten, der Motor lief und fraß Benzin. Gott sei Dank, daß ich heut vormittag die Strumpfhosen nicht kaufen konnte! Dieser Tatsache war es zu verdanken, daß ich einen Zehnmarkschein in der Tasche hatte und also ein bescheidenes Quantum Benzin tanken konnte, wenn es notwendig werden würde. Da hatten wir endlich die Ausfahrt aus dem Kreisverkehr in Eidelstedt. Jetzt fuhr ich auf einer schönen, mehrspurigen Straße, wenig Verkehr, o wie herrlich! Und dann hatte ich mich doch verfahren! Erst ziemlich spät entdeckte ich, daß ich auf der Straße nach Pinneberg war! Später war es mir allerdings ein Trost zu erfahren, daß ein versierter Autofahrer wie Frau von Waldenburgs Sohn dasselbe erlebt hatte. Aber in diesem Augenblick war ich nur ziemlich verzweifelt. Runter von der schönen Straße, zurück nach Eidelstedt, wieder in den Kreisverkehr rein – und dann war ich endlich auf dem richtigen Weg. Theodor räusperte sich und bekam einen Schluckauf. Ich stellte auf Reserve und versuchte gleichmäßig zu fahren, nicht allzu schnell – das konnte ich wegen des Nebels sowieso nicht – und auch nicht zu langsam. Wirtschaftlich fahren, glaube ich, nennt man es. Aber ich hatte noch mindestens 50 Kilometer vor mir. Na, vielleicht würde ich es schaffen – schön wäre es, wenn ich meinen letzten Zehner nicht auszugeben brauchte. Ich blieb eisern auf fünfzig Stundenkilometer, brauchte lange nicht zu schalten oder zu bremsen – der gute Theodor, er würde es schon schaffen! Der Nebel wurde dichter. Wie froh war ich doch, daß ich nicht auf der Autobahn war. Ich hatte genug gesehen von Auffahrunfällen und Massenkarambolagen wegen schlechter Sicht und zu hoher Geschwindigkeit. Theodor keuchte wieder. Na, dann also nichts wie in eine Tankstelle, und zwar die allererste, die ich sah. Mit der allerletzten Puste kroch Theodor hin vor eine Zapfsäule, dann verstummte der Motor endgültig. Es war eine Münztankstelle, kein Mensch zu sehen. Himmel! Ich hatte ja keine Münzen! Einen einzigen Zehnmarkschein und ein Fünfpfennigstück!
Es war mir klar, was ich zu tun hatte: Warten. Es war überhaupt nichts anderes zu tun. Ja doch – vielleicht einen Wagen anhalten? Es war kühl und feucht, und ich fror. Ich fummelte rum im Wagen nach einem Halstuch, das bestimmt irgendwo liegen mußte. Dann – o Glück, o Freude – wurden Theodor und ich von ein Paar Scheinwerfern angestrahlt. Ein Ford kam angerollt und hielt hinter mir. Schon war ich an der linken Tür, mit meinem Geldschein in der Hand. „O bitte – entschuldigen Sie –, können Sie einen Zehnmarkschein wechseln?“ Die Tür ging auf, und ein gutaussehender junger Mann stand vor mir. „Es tut mir furchtbar leid, ich habe grade festgestellt, daß ich nur ein einziges Fünfmarkstück habe. Ist Ihr Tank ganz leer?“ „Leergekratzt! Ich bin mit den allerletzten Tröpfchen bis hierher gekommen!“ Der Fremde runzelte die Stirn. „Was machen wir denn – halt! Haben Sie einen Kanister?“ „Ja, aber er ist leer!“ „Meiner auch. Holen Sie ihn bitte, dann werden wir es schaffen. Passen Sie mal auf. Ich lasse das Benzin direkt in meinen Kanister laufen, Sie halten den Ihren daneben, und in dem Augenblick, wo ich ,jetzt’ sage, schieben Sie ihn unter den Strahl.“ „Es ist furchtbar lieb von Ihnen, aber wie soll ich dann zahlen?“ „Lieber Himmel, das ist doch Nebensache, Sie können doch nicht die Nacht hier verbringen. Her mit dem Kanister!“ Ich holte ihn, und wir machten es, wie der Fordfahrer gesagt hatte. Als das Benzin anfing, in seinen Kanister zu laufen, hielt ich den meinen ganz dicht daneben, und als er „jetzt“ sagte, hatte ich schon die Kanisteröffnung unter dem Strahl. „Man muß sich zu helfen wissen“, sagte der junge Mann fröhlich lächelnd. „Sie meinen, Sie müssen mir zu helfen wissen?“ „Nun ja, in diesem Fall. Machen Sie die Haube auf, ich gieße die teuren Tropfen ein. Wie weit wollen Sie, doch nicht nach. Hirschbüttel?“ Er hatte mein Autokennzeichen gesehen. „Nein, Gott sei Dank, nur nach Kiel.“ „Das schaffen Sie jetzt spielend. Und ich auch. Außerdem werden wir bestimmt eine offene Tankstelle im Stadtgebiet finden.“
„Und wo darf ich meine Schulden morgen oder Montag bezahlen?“ „Hier ist meine Karte, Anschrift steht drauf.“ „Tausend Dank. Moment mal – “ Ich fand wie erwartet einen Papierfetzen in meiner Tasche und kritzelte Namen und Adresse darauf. „Damit Sie wissen, wer Ihnen das Geld schuldig ist! Ich komme dann gleich Montag früh und…“ „Bitte nicht Montag früh! Dann treffen Sie mich nicht, ich muß nämlich schrecklich früh los. Erst nachmittags, so ab drei, bin ich da.“ „Das paßt mir eigentlich gut, denn ich habe eine Vorlesung Montag ganz früh…“ „Ach, Sie studieren?“ „Ja. Medizin.“ „Achnee! Ich werde Sie bestimmt aufsuchen, wenn ich mal irgend ein Wehwehchen habe.“ „Tun Sie das lieber nicht, ich bin erst im ersten Semester! Ich muß nun weiter, Herr – “ ich warf einen Blick auf die Karte „Herr Jährner. Vorerst tausend, tausend Dank, ich weiß gar nicht, wie ich dies wiedergutmachen kann.“ „Vielleicht gebe ich Ihnen diesbezüglich einen Tip, wenn wir uns wiedersehen“, lächelte Klaus Jährner. „Also bis Montag dann, – und gute Weiterfahrt, Doktorchen!“ Er wartete, bis ich den Motor gestartet hatte und wieder auf der Landstraße war. Dann überholte er mich, und beim Vorbeifahren hupte er einen Abschiedsgruß. Kurz danach war sein Wagen im Nebel verschwunden. Ein paar Kilometer vor Kiel fand ich eine offene Tankstelle und tankte für fünf Mark. Dann hatte ich noch zwei fünfzig, um Montag meine Schulden zu zahlen, und zwei fünfzig als Reserve – falls Papas Scheck nicht pünktlich käme. Was an sich äußerst unwahrscheinlich war. Ich saß im Wagen und lächelte vor mich hin.
Schock in der Morgenstunde Es wurde ein regnerischer Sonntag. Ich verbrachte ihn zum Teil damit, meine Unterwäsche und meine Blusen zu waschen. Dabei wanderten meine Gedanken die verschiedensten Wege. Sie gingen nach Aachen – ob Uwe wohl meinen Brief schon hatte? Na ja, wenn nicht, würde er ihn morgen früh bekommen. Er würde sich bestimmt freuen. Wenn ich ihn richtig kannte, und das tat ich nun wohl nach diesen zwei Jahren, würde ich spätestens Mittwoch seine Antwort haben. Hatte ich nun zu herzlich geschrieben? Ach was. Ich hatte doch nichts geschrieben, was ich nicht meinte. Ich schätzte wirklich seine Freundschaft sehr hoch. Er war eine angenehme Selbstverständlichkeit in meinem Leben. Wenn er auch nicht direkt spannend war. Ob er auch so phantastisch gewesen wäre, wenn er ein hilfloses Mädchen an einer Münztankstelle getroffen hätte? O ja. Bestimmt. Uwe war doch ein feiner Kerl. Aber ein so hübsches Lächeln wie Klaus Jährner hatte er nicht. Er hätte brav und treuherzig geholfen, aber nie wäre ihm die Idee gekommen, eine junge Medizinstudentin „Doktorchen“ zu nennen. Nun hör auf, Reni, sagte ich zu mir selbst. Was ist das alles für Quatsch! Morgen zahlst du hübsch deine zwei fünfzig, und die Sache ist erledigt. Und Mittwoch kriegst du einen lieben, netten Brief von Uwe. In drei Wochen treffen wir uns in Hirschbüttel. Was werden wir uns alles zu erzählen haben! Ach ja, richtig, ich mußte ja ein Weihnachtsgeschenk für ihn kaufen. Ich hatte für ihn schon ein Buch ausgesucht. Wenn das Geld kam, würde ich gleich hingehen… Zu schade, daß Uwe so weit weg war. Wie nett wäre es gewesen, wenn wir in der gleichen Stadt studiert hätten. Ich wusch und dachte, dachte und wusch, und als ich hungrig wurde, machte ich mir Kakao und Wurstbrote. Heut war der zweite Tag ohne richtiges Mittagessen. Wenn ich morgen das Geld bekommen hatte, wollte ich anständig essen. Ich würde die Mensa links liegen lassen – ausnahmsweise! Montags kam die Post immer früher. Wenn ich Glück hätte, würde ich sie kriegen, bevor ich zur Vorlesung mußte. Und ich hatte Glück! Ich stand auf der Treppe, gestiefelt und gespornt, mit der
Collegmappe unter dem Arm und dem Autoschlüssel in der Hand, als der Briefträger mir den heißersehnten Einschreibbrief von Vati brachte. Ich quittierte, bekam meinen Brief und noch einen. Na, eben schnell einen Blick darauf werfen, bevor ich startete! Ich setzte mich hinters Steuer und guckte mir den anderen Brief an. Du liebe Zeit, Uwe hatte sich aber beeilt! Dann hatte er also doch meinen Brief am Samstag bekommen und sofort geantwortet! Es lag eine steife weiße Karte im Kuvert. Kein geschriebenes Wort. Die Karte war doppelt, und ich machte sie auf. IHRE VERLOBUNG GEBEN BEKANNT
GISELA THOMAS, STUD. ING.
AACHEN.
UWE AGERSTEDT, STUD. ING.
HIRSCHBÜTTEL.
Es wurde mir nebelig vor den Augen, und ich schnappte nach Luft. Uwe! Uwe verlobt! Ich mußte es noch einmal lesen. Ja. Uwe Agerstedt, Hirschbüttel. Mein Uwe – die Selbstverständlichkeit in meinem Leben – Uwe, der zwei Jahre lang mein treuer Begleiter gewesen war – Uwe, der mich in den Armen gehalten und mich geküßt hatte – oft – sehr oft – Uwe, dem ich vor drei Tagen so liebevoll geschrieben hatte! Um Gottes willen – was hatte ich geschrieben? Einen langen Brief, wärmer und zärtlicher als je zuvor – und der hatte sich mit seiner Verlobungsanzeige gekreuzt! Das Blut schoß mir in die Wangen, und mein Herz machte Sprünge des Entsetzens. Alles war ein einziges Durcheinander in meinem Kopf. Ich hatte Uwe verloren – wie gemein, daß er mir nur die Anzeige schickte und kein geschriebenes Wort –, und jetzt, in diesem Augenblick vielleicht, las er meinen Brief. Was sollte ich bloß machen? Wie sollte ich „mein Gesicht retten“? Es tat weh, Uwe zu verlieren, aber der Gedanke, daß ich ihm grade jetzt so geschrieben hatte, der war nicht auszuhalten. Ich hatte mich nie in meinem Leben so gedemütigt gefühlt! Was sollte ich bloß tun? Das einzige, was ich tun konnte, war, mich hinzusetzen und zu heulen! Das tat ich dann auch. Ich weiß nicht, wie lange ich da augenwischend und naseputzend
gesessen hatte, als ich Schritte hörte. Ich befand mich noch auf dem Hof, wo Theodor immer die Nächte verbrachte. Ich mußte weg von hier – da kam Frau Möller vom zweiten Stock, um ihren Mülleimer auszukippen. Wer weiß, ob nicht Frau Hansen dasselbe vorhatte, also nix wie los. Ich hatte weiß Gott nicht den Wunsch, grade jetzt Frau Hansen zu treffen und ihr die Sensation zu verschaffen, daß ich heulend im Wagen saß, statt in der Vorlesung zu sein. Ich putzte mir noch einmal gewaltig die Nase und startete den Motor. Aber wohin? Zur Vorlesung war es zu spät, außerdem hatte ich keine Lust, mit rotgeweinten Augen da aufzukreuzen. Ich konnte zur Bank fahren und mein Geld holen. Ich mußte es sogar. Und dann tanken. Auf dem Parkplatz an der Bank fand ich eine freie Lücke neben einem kleinen blauen Fiat. Als ich ausstieg, hörte ich Hundebellen. Da saß ein kleiner schwarzer Hund in dem Fiat – liebe Zeit! Das war ja Bicky! Das Fenster war einen Spalt offen, Bicky bohrte die Schnauze durch, ich konnte sie grade mit einem Finger kraulen. Sie wedelte wild. Kein Zweifel, daß sie mich wiedererkannte. „Bickychen, ich kann nicht hier bleiben – ja, du bist ganz lieb, aber ich muß gehen – dein Frauchen kommt bestimmt bald, und sie darf mich nicht mit diesem verheulten Gesicht sehen – Bickylein, nicht so winseln…“ Schon zu spät! Da kam Frau von Waldenburg. „Nein, Reni, sind Sie es, unterhalten Sie sich mit Bickylein? Ja, sie haßt es, allein im Wagen zu warten, aber was soll ich tun? Wie geht’s? Aber Kind, was haben Sie? Sie haben ja geweint!“ „Oh, das – das ist nichts-“ „Ist das nichts? Wenn Sie anscheinend eine Vorlesung schwänzen und hier mit roten Augen rumstehen – so, Kind, kommen Sie in meinen Wagen, Sie sollen nicht grade im Freien heulen, es weint sich sehr viel besser unter einem Dach!“ Ja, die Tränen kullerten mir schon wieder aus den Augen, ich war wütend, weil ich mich nicht beherrschen konnte! Zu meiner Entschuldigung muß gesagt werden, daß ich gar keine Übung auf dem Gebiet Liebeskummer hatte. Dies war das erste Mal. Bicky verlangte, auf meinen Schoß zu kommen, und ich blieb sitzen und kraulte sie. Die Tränen versiegten allmählich. „So, Kindchen. Nun brauchen Sie bestimmt einen Menschen, bei dem Sie Ihre Sorgen abladen können. Wie wäre es mit mir? Ich
glaube, ich habe Verständnis, und noch eins, ich kann schweigen. Darauf gebe ich Ihnen mein Ehrenwort.“ „Da bin ich auch ganz sicher“, sagte ich. „Und vielleicht hat das Schicksal es gut mit mir gemeint, daß ich Sie grade heut treffe. Aber andererseits, Sie mit meinen lächerlichen Sorgen zu belästigen – Und Ihre Zeit in Anspruch zu nehmen-“ „Ach Quatsch! Dann kriegt Isa eben Joghurt als Nachtisch statt des Puddings, den ich eigentlich machen wollte. Ich habe massenhaft Zeit. Sie können ruhig auspacken – ach was, du kannst ruhig auspacken, mit unseren Donnerstagsmädchen duze ich mich aus Prinzip, ich bin hiermit deine Tante Christiane – also, erleichtere dein Herz, Kind!“ „Tausend Dank – ich meine, daß ich Tante sagen darf, – ja, vielleicht brauche ich grade eine Tante mit Erfahrung und Lebensweisheit, denn jetzt hat es mich erwischt. Das, worüber du am Donnerstag gesprochen hast. Ich habe schon Keuchhusten und Masern und den ersten Kuß hinter mir, und jetzt ist der Liebeskummer dran.“ „Ach, armes Hascherl, das tut weh, ich weiß schon. Hat er dich sitzen lassen oder habt ihr euch nur verzürnt?“ „Keine Spur von verzürnt. Aber heut bekam ich“ – ich schluckte – „seine Verlobungsanzeige. Ich hatte keine Ahnung.“ „Hattest du denn irgendwelche – ja, was soll ich sagen – Anrechte auf ihn?“ „Anscheinend nicht. Aber er ist seit zwei Jahren mein Freund gewesen, er hat zu der Zeit keine andere Freundin gehabt und ich keinen anderen Freund. Vor einem Jahr fing er mit seinen Studien in Aachen an, und wir schrieben uns regelmäßig – in den Semesterferien waren wir zusammen – und nun plötzlich…“ „Männer!“ sagte Tante Christiane. „Aber Reni, überleg dir, hast du ihm vielleicht den Eindruck gegeben, daß er dir doch nicht soviel bedeutete? Hast du ihn irgendwie vernachlässigt oder-“ „Ja – ich habe ihm eine Zeitlang nicht geschrieben, ich bin furchtbar schreibfaul – und in seinem letzten Brief sagte er auch nichts über unsere Freundschaft und so – er erzählte nur von seiner Arbeit und erwähnte einen Kommilitonen – “ „Also keine Kommilitonin?“ Ich stutzte. „Kommi – weißt du, das ist vielleicht möglich – Moment mal“ Ich wühlte in der Handtasche. Nach den vielen Geschichten mit Frau
Hansen trug ich die allerpersönlichsten Briefe am liebsten bei mir. „Ja – hier – ja, die Anrede ist auch anders, nur ,Liebe Reni’- sonst schrieb er immer was Ulkiges oder Liebevolles, aber diesmal nur liebe Reni – mal sehen – “ Ich las den Brief noch einmal – und tatsächlich! Da stand ja gar nicht: ,mit einem Kommilitonen’, es stand: ,mit einer Kommilitonin’. „Du hast wohl den Brief ziemlich schnell und oberflächlich gelesen“, meinte Tante Christiane, „wenn du das nicht gleich gesehen hast!“ „Ja – a“, gab ich zu. „Das habe ich vielleicht.“ „Das macht mir etwas klar, Renilein. Du erzähltest doch neulich, daß du ein paar Freunden den Laufpaß gegeben hast, nicht wahr? Und es sei nie vorgekommen, daß jemand dich hatte sitzen lassen. Wollen wir uns darüber einigen, daß du in diesem Punkt ein bißchen verwöhnt bist? Daß es dir nie eingefallen ist, dein Uwe könnte sich für ein anderes Mädchen interessieren?“ „Ja – a – “, gab ich zögernd zu. „Und du bist dir deiner Sache so sicher gewesen, daß du sogar seine Briefe sehr oberflächlich gelesen hast? Um ganz unbarmherzig ehrlich zu sein: Uwe und seine Briefe waren selbstverständliche Dinge in deinem Leben. Du hast nie Herzklopfen seinetwegen gehabt, du warst nie glühend, nervös, zappelig, himmelhoch verliebt. Stimmt das?“ „Ja, das stimmt. Aber ich habe ihn immer sehr gern gehabt.“ „Das ist doch was ganz anderes. Nun versuche mal, die Sache mit seinen Augen zu sehen. Er war höchstwahrscheinlich, jedenfalls anfangs, ganz schrecklich verliebt. Nicht wahr?“ „Doch, ich glaube schon. Madeleine nannte ihn immer ,der Jüngling, der dir aus der Hand frißt.“ „Und er hat ja merken müssen, daß er für dich nur ein netter Freund und eine angenehme Gewohnheit war und nichts mehr.“ „Ja – vielleicht – “ „Hat er überhaupt erwähnt, daß er dich gern heiraten möchte?“ „Ja, er hat so was angedeutet, aber dann bin ich immer ausgewichen, ich wollte gar nicht darüber sprechen.“ Tante Christiane nickte. „Siehst du! Dann trifft er also ein Mädchen, das ihm das alles entgegenbringt, was du ihm nicht geben konntest. Ein glühendes Verliebtsein, eine vorbehaltlose Liebe. Er erlebt etwas, was er mit dir nie erlebt hat. Es wird ihm klar, daß dieses Mädchen die richtige
Frau für ihn ist. Nun muß er dich darauf vorbereiten, und das macht er durch den kleinen Brief, der kühler ist als sonst. Und er will dich dadurch zum Nachdenken stimmen, daß er etwas von einer Kommilitonin andeutet. Wahrscheinlich hat er den Plan, dir reinen Wein einzuschenken, wenn er wieder von dir gehört hat. Aber du läßt überhaupt nichts von dir hören, und was soll er da machen? Es ist doch ganz natürlich, wenn er denkt: Na, ihr ist es ja anscheinend egal, das erleichtert mir eigentlich die Sache, vielleicht hat sie schon einen neuen Freund. Vielleicht hat sie deswegen seit langem nicht geschrieben –, und dann bleibt ihm nichts anderes übrig, als dir die Anzeige zu schicken. Glaubst du nicht, daß dies der Zusammenhang ist?“ Ich hatte aufmerksam zugehört. Jetzt nickte ich. „Doch, ich glaube, daß du recht hast.“ „Siehst du, Renilein, du bist gar nicht ganz zusammengeknickt. Du möchtest weder Zyankali nehmen noch zum Fenster rausspringen. Gott sei Dank! Darf ich nun etwas ganz Unbarmherziges sagen?“ „Ich bitte dich darum, Tante Christiane.“ „Du bist im Grunde gar nicht so schrecklich unglücklich. Aber – du bist in deiner Eitelkeit verletzt. Das ist es.“ Ich merkte, wie die Röte in meine Wangen schoß. „Nun, Kind? Bist du ein so großer Mensch, daß du dies zugeben kannst? Hast du den Mut, gegen dich selbst so unbarmherzig ehrlich zu sein?“ Tante Christianes Stimme war mild und sanft, und die Gute legte ihre Hand über die meine. „Ja, Tante Christiane. Ich werde versuchen, so ehrlich zu sein. Aber du weißt noch nicht alles. Ich habe so was Furchtbares getan, und ich weiß gar nicht, wie ich mich aus der Tinte wieder rausretten soll.“ „Nanu? Was denn?“ Da erzählte ich von dem Brief an Uwe, dem verflixten, verdammten Brief, der sich mit der Verlobungsanzeige gekreuzt hatte. „Aua!“ sagte Tante Christiane. „Das ist ja schlimm. Dann müssen wir überlegen, was zu tun ist. Diesen Brief hast du wohl in einer einsamen Stunde geschrieben, und du hast gedacht, es wäre eigentlich nett, wenn Uwe jetzt hier wäre? Ja, siehst du. Und dann hattest du ein schlechtes Gewissen, weil du lange nicht geschrieben
hattest – und das Gewissen brachte dich dazu, etwas zu liebevoll zu schreiben, um deine Unterlassungssünden wiedergutzumachen?“ „Genau so ist es, Tante Christiane. Haargenau. Bist du Gedankenleser?“ „Nein, aber ich bin eine alte Frau mit Lebenskenntnis und mit gewissen Jugenderfahrungen. Weißt du was, Reni? Natürlich mußt du ihm schreiben. Du mußt ihm herzlichst gratulieren und sagen, daß du dich sehr für ihn freust. Und dann – ja dann –, wie wäre es, wenn du ihm ganz einfach die Wahrheit sagtest? Wenn du erzähltest, wie es dazu kam, daß du diesen gefühlvollen Brief schriebst? Du mußt sozusagen mit einem Lächeln schreiben, du mußt es bagatellisieren, mußt über dich selbst schmunzeln, verstehst du? Schreib so, daß Uwe die muntere kleine Reni wiedererkennt, das nette Mädchen, das er immer als Kamerad behalten kann, auch wenn seine große Liebe einer anderen gehört. Schreib doch ein paar Worte darüber, daß du dich darauf freust, seine Braut kennenzulernen, frag ihn, was er sich als Verlobungsgeschenk wünscht – schreib leicht und unbeschwert. Und vor allem: Sag ihm die Wahrheit über deinen Gefühlsausbruch in dem Brief.“ Ich blieb sitzen und ließ die klugen Worte so richtig in mich hineinsinken. Dann lächelte ich. „Ich bedauere nur eins, Tante Christiane. Daß dein Wagen so klein ist.“ „Ich bedauere es gar nicht, besonders wenn es darum geht, eine Parklücke zu finden. Aber was in aller Welt hat mein Wagen mit deinen Problemen zu tun?“ „Nicht mit meinen Problemen, sondern mit der Lösung der Probleme, das heißt mit meiner Dankbarkeit! Wenn du einen Mercedes hättest, könnte ich dich jetzt umarmen, aber das geht in diesem Puppenwagen nicht, und besonders nicht mit dem Kö – ich meine, mit dem süßen Hündchen auf dem Schoß!“ „Dann holst du es eben am Donnerstag nach!“ lächelte Tante Christiane. „Nun Kopf hoch, Kind, es ist alles nur halb so schlimm! Arbeite fleißig, mach es dir nett mit Jessica und Anke, und eines Tages taucht der Mann auf, der dir das richtige Herzklopfen verschafft, der, in den du dich restlos verliebst. So, und nun müssen wir weiter, sonst kriegt Isa heut nichts zu essen, und du vernachlässigst deine Pflichten.“ „Tante Christiane – ich danke dir tausendmal, zehntausendmal – du hast mir so phantastisch geholfen – “
„Aber es tut noch ein bißchen weh, nicht wahr? Na ja, das mußt du eben über dich ergehen lassen, viele haben es schlimmer! Alles geht vorüber! In drei Tagen ist Donnerstag, was möchtet ihr essen? Ich habe an einen Schweinerollbraten gedacht, ist das o.k? In drei Tagen sieht die Situation schon ganz anders aus, Reni. Wetten, daß du mit einem fröhlichen Lächeln bei uns eintrudelst?“ Ich ging auf die Bank, dann fuhr ich nach Hause, um den Brief an Uwe zu schreiben. Ich hatte keine Ruhe, bis ich den nicht losgeschickt hatte. Wie ich ihn schreiben sollte, hatte Tante Christiane mir wunderbar klargemacht. Was für ein Segen, daß ich sie heut getroffen hatte – von allen Menschen grade den einen, den ich brauchte! Mir wurde ganz warum ums Herz, wenn ich an sie dachte! Dann beugte ich mich über den Briefblock und schrieb an Uwe.
Ein schmerzstillendes Mittel Die Lust, irgendwo fein zu essen, war mir vergangen. Als die Mittagszeit kam, fuhr ich zur Mensa, und unterwegs steckte ich den Brief ein. „Na, da bist du ja!“ ertönte es, als ich aus Theodor ausstieg. „Ich dachte du wärest in der Chirurgischen Klinik und Theodor auf dem Autofriedhof. Was ist denn mit dir los, warum hast du geschwänzt?“ „Sei mir nicht bös, Jessica, ich erzähle dir nachher alles – “ „Ja, darum möchte ich auch sehr bitten! Ich muß dir aber die traurige Mitteilung machen, daß Falko und ich schon gegessen haben, du mußt zusehen, wie du ohne uns zurechtkommst. Trinkst du Kaffee bei mir? Dann kaufe ich jetzt Kuchen, und du drückst das Gaspedal so tief wie es geht und fährst nach dem Essen zu mir.“ „Nicht direkt, Jessica. Ich habe etwas zu erledigen. Bist du gegen halb vier zu Hause? Fein, dann komme ich, und Kuchen kann ich selbst besorgen.“ „Was in aller Welt hast du denn vor?“ „Schulden zahlen“, sagte ich. „Das werde ich dir auch nachher erzählen!“ Jessica verschwand mit ihrem Falko, ich schloß den Wagen ab und nahm Richtung auf die kulinarischen Genüsse der Mensa. Aber bevor ich vier Schritte in dieser Richtung gegangen war, erklang eine Stimme neben mir: „Guten Tag, Doktorchen! Ich bin’s! Habe ich das nicht fein ausgerechnet?“ Ich drehte den Kopf und sah direkt in das lächelnde Gesicht von Klaus Jährner. „Ach – guten Tag – grade dachte ich an Sie – “ „Das höre ich gern! Machen Sie das bitte weiter! Ich habe auch an Sie gedacht, und als ich mich vor einer halben Stunde von meinen Pflichten losreißen konnte, dachte ich, fahr mal schnell zu dieser Studenten-Abfütterungsstelle, da triffst du sie vielleicht – und sehen Sie, wie wunderbar es geklappt hat!“ „Und ich wollte doch um drei Uhr zu Ihnen und meine Schulden zahlen – “ „Ja, verstehen Sie, so lange wollte ich nun nicht warten. Wissen Sie noch, was Sie am Samstag sagten? Sie wüßten gar nicht, wie Sie dies mit dem Tanken wiedergutmachen sollten. Nun ist mir etwas
eingefallen. Sie können wirklich etwas für mich tun!“ „Das ist ja großartig. Und was?“ „Sie können mit mir zu Mittag essen. Im Bellevue oder wo Sie wollen, nur nicht hier!“ Ich überlegte eine Sekunde. Ja sagen? Mit einem Mann ausgehen, den ich zufällig an einer Tankstelle getroffen hatte? Ach was! Ich schuldete keinem Menschen Rechenschaft. Ich war erwachsen, ich konnte tun, was ich wollte. Und ich war so furchtbar einsam. Grade heut war ich so einsam. Mein Hals tat noch weh nach all dem Weinen heute früh. Das Schicksal hatte es wieder gut mit mir gemeint, daß es mir einen netten, freundlichen, hübschen jungen Mann schickte. „Ja – ja tausend Dank – es wäre furchtbar nett – “ „Fein. Gehen wir ins Bellevue? Lassen Sie Ihren Wagen hier, da steht er gut, wir holen ihn hinterher.“ Er führte mich zielbewußt zu seinem hübschen, frischgeputzten Ford. „Wie können Sie sich so mitten am Tag freimachen?“ wunderte ich mich. „Ich dachte, Sie hätten bis drei Uhr zu tun?“ „Habe ich auch. Augenblicklich bin ich bei einem schwierigen Kunden – einem auswärtigen“, lachte Klaus Jährner. „Schämen Sie sich, Sie haben also gelogen!“ „Nun ja. Aber sind Sie nicht eigendlich geschmeichelt, weil ich gelogen habe, um Sie zu treffen?“ Das war ich natürlich. „Fahren Sie immer so rum in der Gegend, zu Kunden also?“ „Nein, nicht immer. Gewöhnlich hocke ich in einem Büro und lasse andere fahren. Sagen Ihnen die Worte Marktanalyse, Verbrauchermarkt und Werbung etwas?“ „O ja. Ein bißchen. Ich meine so was aus dem Munde meines Vaters gehört zu haben. Damit beschäftigen Sie sich?“ „Eben. In einer großen Fabrik sind, wie bekannt, Fachleute damit beschäftigt, die Produkte herzustellen. Aber sie sollen ja auch an den Mann gebracht werden, und meine schöne Aufgabe ist es, mich um diese Seite der Sache zu kümmern. So, hier wären wir, sehen Sie, gleich eine Parklücke, Glück muß man eben haben!“ „Moment mal – zuerst möchte ich – hier, bitte, meine Schulden: Zwei fünfzig, das stimmt doch?“ „Ach du liebe Zeit, muß das sein? Na gut, vielen Dank, brauchen Sie eine Quittung? So, das Geld wird getrennt gelegt, das Zweimark
und das Fünfzigpfennigstück sollen meine Glücksgroschen sein!“ „Hoffentlich bringen sie Ihnen dann recht viel Glück!“ „Haben sie doch schon! Sie haben mir die Bekanntschaft mit Ihnen verschafft, und ich muß sagen, es war ein außerordentlich niedriger Preis. Dafür hätte ich gern mehr bezahlt. So, Doktorchen, es geht jetzt an die Fütterung. Haben Sie Hunger?“ „O ja – wenn ich es mir überlege…“ „Ich auch, ohne zu überlegen!“ Es wurde eine riesig nette Mahlzeit. Nicht nur, daß das Essen wunderbar war – himmlisch nach zwei Tagen mit Butterbrotmittag – oder daß wir am Fenster saßen mit einem herrlichen Ausblick. Das netteste war die Gesellschaft! Klaus Jährner war lustig, witzig, voll Humor, er hatte ein hübsches Lächeln – und er war ein vollendeter Kavalier. O, wie tat das gut nach dem Schock heute früh! Ich wünschte, Uwe hätte mich jetzt gesehen. Und wie es mein Selbstvertrauen stärkte nach der furchtbaren Demütigung! Ich brauchte nicht allein zu sein, kaum war ein Freund aus meinem Leben verschwunden, wartete schon der nächste auf mich! Er war außerdem viel hübscher als Uwe, und erwachsen, kein armer Student, sondern ein Mann in einem verantwortungsvollen Beruf. Was ich eigentlich, in der Tiefe meiner Seele, in diesen paar Stunden empfand, wurde mir erst viel später klar. Tief da drinnen war ein Punkt, der furchtbar weh tat, ganz scheußlich weh, und Klaus Jährner war mir eine schmerzstillende Tablette. So eine Tablette, die zwar die Ursache des Schmerzes nicht beseitigt, aber für eine gewisse Zeit Linderung verschafft. Während wir aßen, erzählte er, daß er Volkswirtschaft studiert und außerdem eine Handelsschule besucht hatte. Seine Familie lebe in Niedersachsen, er selbst sei in Kiel hängengeblieben, nachdem er hier studiert habe. Ich erzählte von meinem Zuhause in Hirschbüttel, von Kai und Madeleine, ich vertraute ihm mein Alter an, und ohne es eigentlich zu wollen, erzählte ich ihm auch die Geschichte von Frau Hansens sonntäglichem Frühaufstehen. Er lachte aus vollem Halse und gab dann ein paar ulkige Geschichten aus seiner Studienzeit zum besten. Er hatte auch allerlei Erfahrungen mit Zimmervermieterinnen. „Jetzt habe ich es aber besser“, fügte er hinzu. „Ich habe das unwahrscheinliche Glück gehabt, eine Wohnung zu kriegen,
allerdings eine Miniwohnung. Wenn man sich in der Küche umdrehen will, muß man raus auf den Flur gehen, und die Badewanne ist gerade groß genug, ein Paar Strümpfe drin zu waschen. Außerdem liegt die Wohnung im fünften Stock in einem Haus ohne Lift. Aber sonst ist sie wirklich nett. Sie sollten mich mal besuchen!“ Was sollte ich dazu sagen? Ich lächelte nur und fing an, über die Donnerstagstanten zu erzählen. „Ein paar solche Tanten hätte ich während meiner Studienzeit auch gern gehabt!“ seufzte Klaus. „Ich hatte Vollpension bei einer Witwe, und als ich eine Woche ihre Kochkünste studiert hatte, begriff ich, weshalb sie so früh Witwe geworden war. Es gehörte Jugend und eine sehr gute Konstitution dazu, ihre Menus zu überleben!“ Der Ober brachte den Nachtisch, und da Nachtische schon immer meine Schwäche waren, hatte ich für ein paar Minuten Vollbeschäftigung. „Fahren Sie oft nach Hamburg?“ fragte Klaus. „Nein, es war das erste Mal. Aber ich werde es künftig wohl öfters tun. Ich habe eine Freundin hingebracht, die jedes Wochenende ihren Sohn dort besucht.“ „Wissen Sie was?“ sagte Klaus. „Wie wäre es, wenn Ihre Freundin nächstes Wochenende abgeholt statt hingebracht würde? Dann fahren wir beide Sonntag früh los, gucken uns die Weihnachtsausstellungen an, gehen in den Zoo, wenn Sie Lust haben, und dann holen wir Ihre Freundin ab. Ist das vielleicht eine Idee?“ „Sogar eine phantastisch gute!“ sagte ich. „Darauf freue ich mich!“ „Und ich erst!“ lächelte Klaus. Etwas später tauchte ich mit einem Kuchenpaket in der Hand bei Jessica auf. Ich hatte reichlich gekauft, denn ich rechnete damit, daß Falko bei ihr sein würde. Was auch zutraf. „Nun?“ sagte Jessica. „Hast du deine Schulden bezahlt?“ „Habe ich.“ „Hattest du Schulden, Reni?“ fragte Falko. „Hüte dich davor, nichts ist schlimmer, als den halben Monatswechsel gleich am Ersten ausgeben zu müssen, weil man Schulden gemacht hat.“ „Keine Sorge“, beruhigte ich ihn. „Meine Schulden betrugen zwei fünfzig, und als ich bezahlt hatte, bekam ich Kalbsschnitzel mit
Gemüse und Schokoladenpudding mit Schlagsahne.“ „Nähere Erklärung ist dringend erwünscht“, forderte Jessica. Ich erzählte. Von der Begegnung an der Tankstelle und von Klaus Jährners Auftauchen heute. „Aber das alles erklärt nicht, warum du heut sämtliche Vorlesungen geschwänzt hast!“ sagte Jessica und sah mich streng an. „Ach so – das war eine andere Geschichte. Übrigens, heute traf ich deine Tante Christiane, mit der ich Brüderschaft getrunken habe – das heißt, nicht getrunken, das müssen wir nachholen, aber die ich also Tante nennen darf. Jessica, was du sonst auf dieser Welt besitzest, weiß ich nicht, aber deine Patentante ist ein Wert, um den ich dich beinahe beneide!“ „Das sei dir erlaubt, solange du mich nicht um Falko beneidest“, sagte Jessica und legte ihren Arm um Falkos Hals. Er küßte schnell ihre Wange. „Ach Reni, was ich fragen wollte“, wandte er sich zu mir. „Brauchst du Theodor am Sonntag?“ „Nein, ganz bestimmt nicht. Ihr könnt ihn gern haben.“ „Du bist ein Goldstück, Reni, tausend Dank. Was hast du denn am Sonntag vor, wenn man fragen darf?“ „Du darfst gern fragen, es ist kein Geheimnis. Ich fahre mit Klaus Jährner nach Hamburg, und dann nehmen wir Anke mit zurück.“ „Donnerwetter, den hat’s aber gepackt!“ meinte Jessica. „Aber was sagt dein Uwe dazu?“ „Ach der“, sagte ich und versuchte, meine Stimme sehr unbeschwert und sehr leicht klingen zu lassen. „Der sagt nichts, der hat doch schon längst eine andere Freundin; außerdem war es nie so ernst mit uns.“ „Hm“, sagte Jessica und sah mich forschend an. „Nun ja, das wirst du selbst am besten wissen. Aber Glück hast du, Reni! Kaum hat Uwe eine andere Freundin, taucht bei dir sein Nachfolger auf, mit einem feudalen Auto – und Kalbsschnitzel und Schokoladenpudding an einem Montag! Habe ich es nicht immer gesagt – rote Haare und Sommersprossen müßte man haben!“ Es war Abend. Mein Taktgefühl hatte es mir geboten, Falko und Jessica zu verlassen. Ich fuhr nach Hause in meine Bude. Es war so still in der Wohnung. Vielleicht war Frau Hansen ausgegangen. Ich machte das Licht an, und plötzlich kam mir mein Zimmer so furchtbar leer vor. Mit einemmal überwältigte mich ein
Einsamkeitsgefühl, etwas, was ich bis jetzt nie erlebt hatte. Die Wirkung der „schmerzstillenden Tablette“ hatte nachgelassen. Der schmerzende Punkt in meinem Inneren wuchs und wuchs, tat immer mehr weh. Jessica und Falko hatten einander – Uwe und seine Gisela hatten einander. Aber ich, ich war allein, so furchtbar, so schrecklich, so schmerzlich allein! Ich drehte das Radio auf, nur um Stimmen zu hören. Denk an was anderes, Reni! Denk an Weihnachten! Bald fährst du nach Hause – zu Mutti und Vati –, vielleicht kommen Kai und Madeleine zum Heiligen Abend, Silvester kommen Erich und Christel. Freue dich doch darauf, alle wiederzusehen! Christel und Erich hatten einander. Kai und Madeleine hatten einander. Mutti und Vati hatten einander. Nur ich war allein, das Haus war still, und mein Zimmer war tot und leer. Dann kam, was kommen mußte. Zwei dicke Tränen kullerten über meine Wangen, und es wurden mehr und immer mehr. Zum ersten Mal in meinem zwanzigjährigen Leben saß ich einen Abend allein und weinte bitterlich.
Tante Christiane hat das Wort Morgens sieht immer alles anders aus. Man hört Stimmen von der Straße, Schritte auf der Treppe. Wasserhähne werden aufgedreht, ein Flötenkessel pfeift, Frühstücksgeschirr klappert. Überall sind Menschen, ein neuer Arbeitstag beginnt, und man ist selbst eins der kleinen Rädchen in der großen Maschine der Stadt, der Gesellschaft. Ich hatte keine schlaflose Nacht verbracht, ich war nicht appetitlos geworden, ich war nicht arbeitsunfähig. Der kleine Punkt tat noch weh, aber meine Vernunft war wach und aktiv und machte es mir klar, daß dies wirklich kein großer Liebeskummer war. Was hatte Tante Christiane gesagt? Es war meine Eitelkeit, die verletzt war. Wie hatte sie recht! Außerdem war die Bekanntschaft mit Klaus Jährner mir wirklich eine große Hilfe, und ich freute mich sehr auf Sonntag. Also, es ging mir besser, und das abendliche Heulen wiederholte sich nicht. Was mir am besten half, war jedoch ein Briefchen von Uwe: „Liebe Reni! Tausend Dank für Deine Glückwünsche! Ja, wir werden uns schon einen Wunsch einfallen lassen und dir mitteilen, was Du uns schenken darfst! Ich möchte Dir nur sagen, daß ich Dir so dankbar bin. Wie hast Du recht gehabt! Wenn ich es mir überlege, habe ich wohl ein oder zweimal etwas in Richtung Verlobung zwischen Dir und mir angedeutet, und Du hast klugerweise immer von diesem Thema abgelenkt. Du hast also die Situation viel klarer erfaßt als ich. Zwischen Dir und mir war immer nur Kameradschaft, und zwar eine ganz reizende. Das darf man aber nicht mit Liebe verwechseln! Ich habe es getan, Du warst aber die Einsichtige von uns beiden. Was die große Liebe ist, weiß ich jetzt. Bei Gisela und mir war es Liebe auf den ersten Blick! Wir sind sehr, sehr glücklich. Ich habe Gisela von Dir erzählt, und sie freut sich sehr darauf, Dich kennenzulernen. Wir werden den Heiligen Abend hier bei ihren Eltern verbringen. Am zweiten Feiertag fahren wir aber nach Hirschbüttel und bleiben dort bis zum Semesterbeginn. Also werden wir uns mit Dir treffen, und darauf freuen wir uns beide. Gisela läßt herzlich grüßen.
Und ich – ich bin und bleibe mit allen guten Wünschen Dein alter Kamerad Uwe.“ Diesen Brief bekam ich am Donnerstag morgen. Mit dem Resultat, daß ich fröhlich und lächelnd bei den Donnerstagstanten aufkreuzte. Tannenzweige in einer großen Bodenvase im Flur, ein schöner Adventskranz im Wohnzimmer. Eine mollige Behaglichkeit und eine schöne vorweihnachtliche Stimmung. „Ach, Reni“, klang Tante Christianes Stimme durch den Türspalt zur Küche. „Könntest du mir einen Augenblick helfen?“ Ich schob vorsichtig Bicky von meinem Schoß und stand auf. Tante Christiane machte die Tür hinter mir zu. „Was soll ich machen, Tante Christiane?“ „Gar nichts – nun ja, du kannst ja das Wasser von den Kartoffeln abgießen, aber ich wollte eigentlich nur fragen, wie es dir geht.“ „Oh, es geht gut. Ich habe heut einen Brief von Uwe bekommen. Er ist ein feiner Kerl, er erwähnt nicht meinen dummen sentimentalen Brief. Er schreibt – nun ja, er schreibt sehr nett über unsere Kameradschaft und so. Weißt du, Tante Christiane, jetzt bin ich direkt neugierig, seine Gisela zu treffen!“ „Siehst du, Kind, was habe ich gesagt? Es war alles nur halb so schlimm. Und vielleicht hast du bisher nie die Kunst gelernt, Enttäuschungen hinzunehmen? Vielleicht hast du nie richtige Probleme gehabt?“ Ich überlegte es mir. „Vielleicht nicht – jedenfalls nicht, was Liebe betrifft, da bin ich wohl verwöhnt. Ich habe eigentlich nur eine einzige Schwierigkeit gehabt, das war, als Vati mir erzählte, er würde wieder heiraten und ich bekäme eine Stiefschwester.“ „Aber mit der verstehst du dich doch bestens.“ „Und ob! Wir sind dicke Freundinnen. Aber anfangs habe ich geheult, weil ich meinte, da käme jemand und nähme mir meinen Papa weg. Was natürlich Blödsinn war. Im Gegenteil. Niemand nahm mir etwas weg, Papa schenkte mir eine reizende Mutti und eine prima Schwester!“ „Und deine Schwester? War es für sie auch schwierig?“ „Anfangs ja. Weißt du, ich blieb ja in meinem Zuhause und in der Schule und in – in – “
„In deinem Milieu, meinst du?“ „Ja, eben! Aber Madeleine wurde sozusagen entwurzelt, sie verlor ihr Zuhause, wurde weggerissen von ihrer Heimatstadt, von ihrer Schule und ihren Freundinnen. Außerdem ist sie nicht so impulsiv wie ich, sie schließt nicht so leicht neue Freundschaften. Ja, als mir das alles klar wurde, tat sie mir furchtbar leid, und ich versuchte, lieb zu ihr zu sein – und dann ging es großartig.“ „Siehst du“, bestätigte Tante Christiane lächelnd. „Du kannst, wenn du willst!“ „Was kann ich?“ „Denken! Und anscheinend auch richtig handeln. So, nun stell die Teller in die Durchreiche und schmuggele dieses Tellerchen für Bicky unter meinen Stuhl – und dann rufe die Bande zu Tisch!“ Es war reizend gedeckt im Eßzimmer, mit Tannenzweigen und roten Kerzen, und das Essen war ein Gedicht. Zu meinem Staunen standen heut Weißweingläser auf dem Tisch. „Hab keine Angst, Reni“, sagte Tante Christiane. „Diesen Wein kaufte ich im Sommer in Österreich, grade um etwas im Haus zu haben, was man auch Autofahrern vorsetzen kann. Mein Sohn hat mich ausgelacht und behauptet, den Wein könne man mit gutem Gewissen Säuglingen in die Flasche tun. Außerdem kriegt ihr nur je ein Glas. Aber das eine Glas brauchen wir dringend, denn Reni und ich müssen nun feierlich Brüderschaft – ich meine, Tantenschaft trinken.“ „Hier muß man sich ranhalten!“ rief Tante Isa. „Der Himmel weiß, wann es das nächstemal Wein hier in diesem Hause gibt. Darf ich mich anschließen, Reni? Dann haben wir es hinter uns, und früher oder später würde es ja doch dazu kommen!“ Ich freute mich ehrlich darüber. Jetzt hatte ich das Gefühl, ganz und gar bei den Donnerstagstanten aufgenommen zu sein! „Wie ist es gemütlich bei euch!“ sagte Anke nachher beim Kaffee. „Wenn man die ganze Woche nur zwischen Vorlesungen und Zahnklinik und einer einsamen Bude pendelt und abends ganz allein zwei Schnitten ißt, dann es es himmlisch, in einem gemütlichen Wohnzimmer zu sitzen, mit Adventskranz und Blumen.“ „Ich wünschte, meine Schülerinnen hätten dieselbe Einstellung“, seufzte Tante Isa. „Ich wollte mit meiner Klasse eine nette Adventsfeier veranstalten, aber damit kam ich nicht an! Wenn die Gören das Wort Feier oder Fest hören, dann wollen sie nur
Beatmusik und Tanz. Kerzen und Kuchen und Tannenzweige und Weihnachtsmusik lassen sie vollkommen kalt.“ „Wie alt sind die Mädchen?“ fragte ich. „Fünfzehn bis sechzehn.“ „Dann hat die Jugend sich geändert in den letzten fünf Jahren“, meinte ich. „Als ich fünfzehn war, haben wir ein entzückendes Adventsfest mit unserer Klassenlehrerin gehabt. Versteh mich bitte richtig, ich habe nichts gegen Beatmusik und Tanz, aber alles zur richtigen Zeit!“ „Weißt du“, sagte Anke langsam. „Ich glaube, daß deine Schülerinnen zu jung sind, um das zu begreifen. Oder vielleicht liegt es am Elternhaus? Daß sie nicht gelernt haben, sich über ein ruhiges, sagen wir besinnliches Fest zu freuen?“ „Ich weiß es nicht“, antwortete Tante Isa. „Ich sage mir immer, als ich selbst fünfzehn war, war ich auch bestimmt ein Problem für Eltern und Lehrer, wenn auch die Probleme, die ich ihnen verschaffte, von einer anderen Art waren. Überhaupt haben wohl immer, in allen Generationen, die Alten ihre erfahrenen Köpfe über die Jugend geschüttelt.“ „Ich habe mit meinen Kindern eigentlich nie Probleme gehabt“, sagte Tante Christiane. „Natürlich, sie haben Sachen ausgefressen, als sie klein waren, und manchmal hat ein Gewitter das sonnige Familienglück getrübt, aber das kommt wohl in jeder Familie vor. Große Probleme haben sie mir aber nie verursacht. Wir waren gute Kameraden und sind es noch.“ „Tante Christiane, wenn ich mal Kinder kriege, komme ich zu dir und nehme Unterricht in Kindererziehung!“ Jessica lächelte. „Komm nur, aber ich weiß nicht, ob ich eigentlich zuständig bin. Ich habe nie Pädagogik oder Kinderpsychologie studiert. Ich habe nur ein bißchen gesunden Menschenverstand gebraucht. Und ich habe immer Zeit für meine Kinder gehabt! Wenn sie mit ihren Fragen kamen, habe ich nie gesagt „quengele nicht“ oder „laß mich in Ruhe“, oder „ich habe jetzt keine Zeit.“ Wenn es auch manchmal verdammt schwierig war, alles stehen und liegen zu lassen, um einem wissensdurstigen Kind auf seltsame Fragen zu antworten.“ „Waren die Fragen so seltsam?“ „Naja, sagen wir, außerordentlich variiert. Warum man Apfelsinen mit Kernen drin macht, warum der Mond nicht am Tag scheint, warum die Menschen in Afrika schwarz sind – oder wie mein damals vierjähriger Sohn wissen wollte, ob er in einer
Plastiktüte geboren wurde.“ „Was?“ riefen wir gleichzeitig. Tante Christiane lachte. „Ja, das habe ich auch gesagt! Es zeigte sich, daß der Kleine zugesehen hatte, wie die Katze Junge warf. Und er fand es äußerst interessant, daß sie in einer Hülle zur Welt kamen und daß die Katzenmutter dann die „Plastiktüte“, wie er sagte, zerriß und die Kleinen befreite.“ „Du hast also deine Kinder rechtzeitig aufgeklärt, Tante Christiane“, sagte Jessica. „Aufgeklärt“, wiederholte Tante Christiane. „Wißt ihr, ich hasse das Wort ,aufklären’. Wenn ich einem Kind von den Gefahren des Straßenverkehrs erzähle oder erkläre, daß man mit Kinderkrankheiten oder Erkältungen angesteckt werden kann, oder andere von den tausend Sachen, die man einem Kind beibringen muß, dann spricht man nicht von Aufklärung, weil es so natürlich und so sonnenklar ist, daß man einem Kind so was sagt. Aber in dem Augenblick, wo es sich um das Einfachste und dabei das Schönste und das Wichtigste im Leben handelt, dann heißt es plötzlich ,Aufklärung’, und man diskutiert in vollem Ernst, wann man einem Kind erzählen soll, wie es zur Welt gekommen ist. Warum macht man alles so kompliziert? Wenn meine Kinder wissen wollten, woher der Senf kommt oder warum keine Affen in unseren Wäldern leben, habe ich ihnen die Wahrheit gesagt. Warum sollte ich lügen oder dumme Märchen erzählen, wenn sie wissen wollten, woher sie kamen? In dem Augenblick, wo sie fragten, bekamen sie eine wahre Antwort. Etwas später erklärte ich ihnen, so gut ich es konnte, was ich selbst über Erbanlagen und Chromosomen und so was weiß. Ich brachte sie dazu, zu verstehen, wie wunderbar der liebe Gott dafür gesorgt hat, daß das Leben weitergeht, daß die Tierwelt und die Menschheit bleibt und immer größer wird. Nein, meine Kinder haben nie ,Sexprobleme’ gehabt!“ „Ich finde“, sagte Anke langsam, „daß in unserer Zeit viel zu viel auf dem Sexualgebiet geschrieben und gesprochen und gezeigt wird! Es bleibt ja nichts übrig, was man selbst – ja, wie soll ich es sagen –, was man zusammen mit dem Menschen, den man liebt, entdecken kann.“ „Du hast ganz recht, Anke. Und warum ist es so geworden? Eben weil bis vor wenigen Jahren vielzuviel verschwiegen wurde! Meine Generation hat erhebliche Fehler gemacht, die vorige Generation noch schlimmere. Macht ihr es besser, Kinder! Ihr seid jetzt an der
Reihe! Aber vergeßt nicht: Aufklärung bedeutet nicht Sexwelle und Pornofreiheit, beileibe nicht! Aufklärung bedeutet Offenheit, Hand in Hand mit Respekt vor der weisen Natur, Hand in Hand mit Ästhetik! Ihr verurteilt das Alte, das tu ich auch. Ich habe versucht, es besser zu machen, und empfand dabei eine sehr große Verantwortung. Vergeßt nicht die Verantwortung, die ihr habt, Kinder! Es hat keinen Sinn, wenn man das Alte über Bord wirft, schnell irgend was anderes an Stelle des Weggeworfenen einzuführen, nur weil es anders ist. Was man an Stelle des Alten einführt, muß genau überlegt, genau geplant und mit dem größten Verantwortungsgefühl ausgedacht sein!“ Tante Isa nickte zustimmend. „Ganz recht, Christiane. Und das gilt nicht nur in puncto Sexaufklärung. Es gilt auf jedem Gebiet, das die Jugend für reformbedürftig hält. Nichts umstürzen, ohne einen besseren Ersatz parat zu haben! Nicht nur aufgeregt gegen dies oder jenes demonstrieren, sondern erst dann, wenn man wirklich zeigen kann, daß man eine bessere Lösung hat und daß diese Lösung verantwortungsbewußten Köpfen entsprungen ist!“ Es entstand eine Pause. Anke war es, die endlich sprach. „Was haben wir für kluge Tanten“, sagte sie, und Jessica und ich nickten. „Ach, was ich noch sagen wollte“, sagte Tante Isa, als wir schon aufgestanden waren, um uns zu verabschieden. „Wenn ihr in fünf Minuten im Wagen sitzt, wird ganz bestimmt die eine oder die andere von euch sagen: ,Was machen wir nun mit den Tanten zu Weihnachten?’ Ja ja, ihr lächelt schon, ihr denkt schon daran. Dazu möchte ich euch außerordentlich deutlich sagen, daß ihr gar nichts machen dürft! Außer einem lieben Händedruck wollen wir überhaupt nichts haben, verstanden?“ „Aber Tante Isa – “ „Nix mit aber! Ihr dürft keinen Pfennig für eine Topfpflanze, eine Pralinenschachtel oder einen Blumenstrauß ausgeben, ist euch das klar? Dies ist ein regelrechtes Verbot, verstanden?“ „Tante Isa, hör doch eine Sekunde: Wenn wir uns etwas einfallen lassen, was wirklich, buchstäblich keinen Pfennig kostet, dürfen wir dann?“ „Ja, falls ihr beweisen könnt, daß es nichts, aber auch gar nichts, gekostet hat. Sonst…“ „Was sonst?“
„Sonst kriegt ihr den Po voll! Alle drei! Nun raus mit euch, fahr vorsichtig, Reni, und herzlich willkommen nächsten Donnerstag!“
Ausflug in die Großstadt Es war strahlendes Winterwetter und erster Advent. Ich war richtig in Festtagsstimmung, als ich aufwachte. Mein Gewissen war goldrein, ich hatte die letzten Tage sehr fleißig gearbeitet, hatte keine Vorlesung geschwänzt und abends tüchtig gebüffelt und mich auf den bevorstehenden Präparierkurs vorbereitet. Jetzt verdiente ich einen freien Tag. Ich zog das schicke Kleid an, das ich kurz vor meiner Abreise von zu Hause gekriegt hatte. Dazu den Pelz, den mein großzügiger Vater mir in einem schwachen Augenblick geschenkt hatte. Es war allerdings nur ein Fohlenmantel, aber er war gut gearbeitet, sah nett aus und war wunderbar warm. Dann die katastrophal teuren Stiefel, die im November meine ganzen Finanzen durcheinandergebracht hatten. Schon klingelte es zweimal an der Haustür, und nach weiteren drei Minuten saß ich neben Klaus Jährner in seinem schönen Wagen und war mir vollkommen darüber im klaren, daß Frau Hansen am Fenster klebte. Meinetwegen! Der Kavalier und der Wagen konnten sich beide sehen lassen! Klaus Jährner konnte phantastisch fahren. Ich meine es beurteilen zu können, da ich selbst doch so gern fahre. Aber es war auch schön, ausnahmsweise Mitfahrerin zu sein und gar keine Verantwortung zu haben. Er sah auch blendend aus, und er hatte die fröhliche Sicherheit des erwachsenen Mannes. Kein Student, der um die nächste Prüfung bangte, der sehnlichst auf den Monatswechsel wartete, der Ärger mit der Zimmervermieterin hatte, der sich oft Brote und Pulverkaffee zu Mittag einverleibte, wenn die Mensa zu war. Was wohl Uwe heut machte? Bestimmt war er bei Giselas Eltern zu Mittag eingeladen. Sie würden über Aussteuer und Zukunftspläne und Heirat und Wohnung sprechen, und Uwe würde Giselas Eltern mit „Mutti“ und „Vati“ anreden. „Na, Doktorchen? Sie sind so schweigsam. Haben Sie medizinische Probleme?“ Klaus Jährner drehte für eine Sekunde den Kopf und lächelte mich an. Sein Lächeln war ein klein wenig spöttisch, aber gleichzeitig voll Wärme.
„Nein, gar nicht –, ich hab höchstens ein Weihnachtsgeschenkproblem!“ „Kann ich Ihnen dabei helfen?“ „Ich fürchte, nein. Ich stehe nämlich der Notwendigkeit gegenüber, zwei furchtbar netten Tanten etwas zu schenken, was buchstäblich nichts kosten darf!“ „Nanu, sind Sie so schlecht bei Kasse?“ „Nein, das nicht, aber…“ Ich erzählte von dem strikten Verbot der Tanten. „Ach du liebe Zeit, das ist doch ganz einfach! Zerbrechen Sie sich deswegen nicht Ihr süßes Rotköpfchen! Ich kriege doch unzählige Taschenkalender als Reklame, ich werde Ihnen die beiden hübschesten aussuchen, das ist doch eine gute Lösung?“ „Wunderbar, ich bin ganz schrecklich dankbar.“ „Ach, da ist eine Tankstelle mit meiner Marke, ich tanke lieber voll – “ er bog rechts ein, und wir blieben sitzen und warteten. Vor uns waren ein paar Autos. „Ja, wovon sprachen wir? Ach so, ja, die Taschenkalender. Ja, was kriege ich nun dafür?“ Er sah mich mit einem verschmitzten Lächeln an, und ich fühlte, daß mir die Röte ins Gesicht stieg. „Sie haben die Bedingung vergessen“, sagte ich. „Sie dürfen nichts kosten. Keinen Pfennig!“ „Ich werde Ihnen ganz bestimmt keinen Pfennig abnehmen“, sagte Klaus, und seine Stimme war leise und warm. Plötzlich lag sein rechter Arm um meine Schultern. „Dies wäre dann für den ersten Kalender“, flüsterte er, und im nachten Augenblick hatte er mich geküßt. Was soll man sagen, wenn man so überrumpelt wird? Früher, habe ich mir sagen lassen, gab man dem frechen Jüngling eine Ohrfeige. Das kam nun nicht in Frage! Erstens bin ich nicht so altmodisch, zweitens war ich eigentlich nicht besonders böse, und drittens – nun ja – drittens wäre eine Wiederholung mir nicht unbedingt unangenehm. „Es sind aber zwei Kalender“, sagte Klaus leise und nahm mir die Zahlung für den zweiten ab. Dann folgte eine Pause. Er nahm meine Hand zwischen die seinen. „Du, kleines Rotschöpfchen“, sagte er. „Ich verkaufe dir gern ein paar Dutzend Kalender!“
„Nimmst du immer Vorschußzahlung?“ fragte ich. „Wenn es möglich ist, ja“, lachte Klaus. „Möchtest du noch etwas kaufen?“ „Ich werde es mir überlegen“, antwortete ich leise. Die Wintersonne strahlte, ich saß so bequem in dem schönen Wagen, ich hatte einen herrlichen freien Tag in einer Großstadt vor mir, ich hatte einen ungeheuer charmanten Kavalier… war es vielleicht ein Wunder, daß ich in Hochstimmung war? Bevor wir in Hamburg einrollten, hatten wir an einem Rastplatz Pause gemacht. Ich hatte Klaus Vorschußzahlung für zwanzig Jahre Taschenkalender gegeben. Oder vielleicht noch mehr. Ich habe nicht gezählt. „Kleines sommersprossiges Doktorchen“, flüsterte Klaus. Er strich mir übers Haar, über den Nacken, die Schulter – und etwas an seiner Handbewegung brachte mich dazu, Uwe und seine Gisela total zu vergessen. Ich sperrte die Augen auf. Die ganze Stadt strahlte und leuchtete. Ganz Hamburg schien für Weihnachten geschmückt zu sein. „Aber Kindchen, das ist doch nichts Neues!“ Klaus lächelte. „Du hast doch – wie alt bist du, zwanzig – dann hast du doch mindestens neunzehn Mal weihnachtsgeschmückte Straßen gesehen.“ „Aber nie in einer Großstadt! Ich kenne überhaupt Hamburg nur sehr oberflächlich. Und Weihnachten habe ich doch immer in Hirschbüttel verbracht. Da ist es nicht allzu spannend. Den Heiligen Abend zu Hause – da haben wir es übrigens immer schrecklich nett – und am zweiten Feiertag das große Fest im Werk für die Angestellten mit Frauen und Kindern.“ „Im Werk? Sag mal, was ist das eigentlich für ein Werk? Was stellt man da her?“ „Elektrogeräte, schlicht und ergreifend. Heizöfen und Handmixer und Rasierapparate und Brotröster und – “ „Was? Sprichst du etwa von den HI-BÜ-Werken?“ „Na klar, was sonst? Mein Vater ist ja Direktor da.“ „Ach du heiliger Bimbam, wo habe ich meine Gedanken gehabt, natürlich weiß ich, daß der Direktor Thams heißt. So, es ist also die Tochter der Hibüwerke, die mir die Ehre gibt, mit mir in meinem bescheidenen Wagen zu fahren, und die ich…“ „Ich hoffe nur eins“, sagte ich leise. „Daß es das rothaarige Doktorchen ist, das du… und nicht die Tochter der Hibüwerke!“ „Ist es auch“, sagte Klaus. „Ich wußte ja nicht, daß die beiden ein
und dieselbe Person sind. Mensch, da ist ein Parkhaus, nichts wie rein, Glück muß man haben, kein Besetztschild!“ Wir fuhren die mächtige Spirale hoch und immer höher, bis wir endlich einen freien Platz fanden. Da war kein Mensch. Nur Autos. „So“, sagte Klaus. „Jetzt möchte ich eins feststellen.“ „Was denn?“ fragte ich ahnungslos. Er legte die Arme um mich, drückte mich fest an sich. „Ob die Tochter der Hibüwerke so schön küßt wie mein kleines Doktorchen“, flüsterte Klaus. Im Lift standen wir dicht aneinander, und Klaus hielt seinen Arm um mich. Seine Augen hatten einen neuen Glanz, sein Lächeln eine neue Wärme. Ob ich selbst auch anders aussah als vorhin? Dann wanderten wir zusammen raus in die große, farbenprächtige, strahlend geschmückte Stadt. Heute war das Leben schön. Und wie schön! Es machte mir einen Heidenspaß, mit Klaus durch die großen Geschäftsstraßen zu gehen, die Schaufenster zu studieren, die Menschen zu beobachten. „Hast du Hunger, Doktorchen? Wir sind jetzt in der Nähe von meinem Lieblingslokal. Wenn wir viel Glück haben, kriegen wir einen Tisch, und was Gutes zu essen kann ich dir versprechen!“ „Du darfst aber nicht so verschwenderisch sein, Klaus! Du brauchst bestimmt deine mühsam zusammengearbeiteten Kröten für Weihnachtsgeschenke und so was.“ „Ist schon erledigt. Außerdem möchte ich heut feiern. Und nicht nur das, woran du denkst“ (er drückte meinen Arm fest an sich), „sondern auch die Tatsache, daß ich gestern ein wirklich gutes Geschäft gemacht habe. Den Verdienst werden wir jetzt aufessen!“ „Na, waren es Polstermöbel oder eine Anbauküche oder ein Kleiderschrank?“ „Nichts von alledem. Es war ein Gemälde.“ „Was? Ich denke, du bist in der Möbelindustrie? Betätigst du dich auch als Kunsthändler?“ „Als Kunsthändler und Autohändler und Teppichhändler und sonst was du willst. Du ahnst natürlich nicht, daß ich der geborene Verkäufer bin? Ein Freund von mir behauptet, ich brächte es fertig, am Silvesterabend einen Abreißkalender für das vergangene Jahr zu verkaufen! Diesmal hatte ein Bekannter von mir ein recht nettes Bild zu verkaufen, und ich habe meine Spürnase mobilisiert und fand den richtigen Abnehmer. Dreitausend Mark hat er bezahlt, davon fielen
300 als Provision auf mich!“ „Ja, aber – zahlen denn deine Freunde auch Provision?“ „Na klar. Siehst du, das ist eine Kunst, Freundschaft und Geschäfte auseinanderzuhalten.“ „Also wenn ich dich bäte, mein – na ja, sagen wir zum Beispiel, dieses Armband zu verkaufen, und du bekämst fünfzig dafür, dann müßte ich dir fünf Mark geben?“ „Klar! Aber ich könnte herzlich gern nachher das Zwanzigfache für dich ausgeben, für ein Geschenk oder ein feines Souper.“ Ich mußte lachen. „Du bist aber ein komischer Kauz!“ „Das ist schon möglich, aber nicht wegen meiner Geschäftsprinzipien. Oder meintest du komisch als Privatmensch?“ „Beides, fürchte ich. Wohin gehen wir jetzt? Du scheinst so zielbewußt zu sein!“ „Bin ich auch. Ich führe dich jetzt in die Unterwelt. Paß mal auf, hier wären wir!“ Es ging eine Treppe runter in ein Kellerlokal, das sich als ein entzückendes chinesisches Restaurant entpuppte. „Hast du Erfahrungen mit chinesischem Essen?“ fragte Klaus. „Ja, soviel wie ein junger Hund mit altem Tokayer“, sagte ich. „Ich weiß nur, daß die Chinesen faule Eier essen, und danach ist mir nicht zumute!“ „Schade, sie schmecken nämlich gar nicht schlecht. Aber du kriegst schon was anderes. Wie wäre es mit Pekingente oder einem Chop Suey mit Krabben?“ „Alles ist mir recht, ich bin ja doch ahnungslos.“ „Dann bestellen wir eine Portion Ente und eine Portion Chop Suey, und du kannst von beidem die Hälfte essen!“ Während wir auf das Essen warteten, guckte ich mich um. Riesig gemütlich war es hier! Die Gäste waren äußerst verschiedenartig. Da saßen zwei kleine gelbe, schwarzhaarige Männer und löffelten Reis – was sage ich, sie „löffelten“ nicht – sie „stäbten“! Sie brachten es fertig, den körnigen Reis mit Stäbchen in den Mund zu praktizieren! Dort eine Gesellschaft waschechter Deutscher, zwei davon aßen auch mit Stäbchen. Dort ein amerikanisches Ehepaar, dann ein junges Paar, das ich als Indonesier oder so was Ähnliches diagnostizierte. Als der Ober – in einem fußlangen weißen Gewand – mir Eßstäbchen hinlegte, erblaßte ich.
„Ich bringe es dir bei“, tröstete Klaus. „Es ist gar nicht schwer, und das Essen schmeckt viel besser mit Stäbchen!“ Die ersten fünf Minuten war ich sagenhaft ungeschickt, aber dann ging es tatsächlich besser, und es machte einen Heidenspaß, die schönen, knusprigen Entenhautstückchen mit den Stäbchen wie mit mit einer Zange zu fassen und sie zum Mund zu führen. Klaus erklärte mir, daß die Haut das Feine bei der Pekingente ist. Das andere Gericht, von dem ich auch mit Wonne die Hälfte aß, war ein Gedicht! Nein, wie können die Chinesen doch kochen! „Ich glaube, ich muß einen Chinesen heiraten!“ sagte ich. „Wo ich doch so wahnsinnig gern gut esse!“ „Würde ein Deutscher nicht genügen, wenn er viel von chinesischem Essen verstünde und dir ein chinesisches Kochbuch als Morgengabe schenkte?“ „Ich werde es mir überlegen“, sagte ich, und dann konzentrierte ich mich sehr darauf, die letzten Reiskörnchen aus der blaugemusterten Porzellanschale rauszukriegen. Dabei sah ich Klaus nicht an. Seine Stimme hatte einen so eigenartigen Klang gehabt. Als wir dann hinterher eingemachte Lychees gegessen hatten, stöhnte ich vor Sattheit. „So, nun bin ich wirklich für alle Anstrengungen gestärkt!“ „Hast du denn besondere Anstrengungen vor dir?“ fragte Klaus schmunzelnd. „Und ob! Wenn du ahntest!“ „Natürlich ahne ich. Weihnachtsgeschenke für die ganze Familie kaufen.“ „Von wegen! Nein, aber falls du morgen früh um acht gegen jegliche Vermutung wach sein solltest – “ „Gegen jegliche Vermutung! Schäme dich! Dann bin ich schon unterwegs!“ „Gut, dann denk an mich. Denn Punkt acht betrete ich zum ersten Mal den Präpariersaal, mit Kittel, Gummischürze, Gummihandschuhen und Präparierbesteck.“ „Hoffentlich auch mit einem Wiederbelebungsmittel – ich meine nicht für die Leichen, sondern für dich, wenn du in Ohnmacht fällst!“ „Daß du mir bloß nicht so was heraufbeschwörst! Übrigens, ich glaube schon, daß ich es schaffen werde. Ich kann Blut und Wunden und sogar Knochensplitter sehen, ohne hysterisch zu werden. Dann werde ich wohl auch ein bißchen an einem alten tiefgekühlten Bein
rumschnippeln können.“ „Eine Ausdrucksweise habt ihr Mediziner!“ Klaus schüttelte den Kopf. „Weißt du, ich glaube, wir versuchen uns selbst dadurch Mut zu machen“, sagte ich. „Übrigens habe ich einen Wahlspruch, der mir immer gut geholfen hat, der wird mir auch beim Sezieren helfen.“ „Und der wäre?“ „Es ist nicht schlimmer für mich als für andere.“ Klaus nickte. „Gut. Sehr gut. Eigentlich, glaube ich, bist du ein ganz vernünftiges Mädchen.“ Ich mußte lachen. „In dem Punkt weicht deine Meinung entschieden von der Meinung meiner Eltern ab! Mein armer Vater sagt immer, daß seine einzige Tochter schon ein paar gute Eigenschaften hat, aber daß ich zu weit hinten in der Schlange stand, als die Vernunft verteilt wurde.“ „Einzige Tochter? Ich denke, du hast eine Schwester?“ „Nur eine angenommene, sozusagen. Madeleine ist die Tochter meiner Stiefmutter. Nein, ich bin der einzige Thams-Sproß. Ich fing mein Leben damit an, einen erheblichen Fehler zu machen, nämlich den, daß ich als Mädchen auf die Welt kam. Dabei hatte Vati sich bestimmt einen Sohn gewünscht, der einmal das Werk übernehmen könnte.“ „Das ist ja schlimm! Dann mußt du ihm wohl einen Schwiegersohn verschaffen, der einspringen kann!“ „Das wäre vielleicht was! Und er könnte mich dann als Betriebsärztin anstellen!“ Wieder hatte Klaus eine andere, eine gedämpfte Stimme gehabt. Ich stand auf. Im Hintergrund hatte ich eine Tür mit einem D entdeckt. Das paßte mir gut, unter anderem weil ich für ein paar Minuten gern weg wollte. Klaus sollte Zeit haben, von diesem Gesprächsthema wegzukommen. Ich stand und wusch mir die Hände, und dabei sah ich mich selbst im Spiegel an. Kein Mensch konnte behaupten, daß ich eine Schönheit war, mit meinen Sommersprossen und meinem großen Mund. Ein kleines, junges, unerfahrenes Mädchen aus einer Kleinstadt, eine blutjunge Anfängerin auf allen Gebieten des Lebens – was sah wohl ein erwachsener, welterfahrener Mann in mir? Zweimal war das Wort „heiraten“ gefallen. Meinte er etwas
damit oder war es nur Zufall? „Reni, komm zu dir!“ sagte ich zu mir selbst. „Kämme nun deine zerzausten Zotteln, tu ein bißchen Puder auf all deine braunen Inseln und bilde dir keinen Blödsinn ein!“ „Was machen wir nun?“ fragte Klaus, als wir wieder im Freien waren. „Für den Zoo ist es zu spät, es wird bald dunkel. Wollen wir ins Kino gehen?“ „Ja – a – , falls es was Vernünftiges gibt.“ Wir blieben vor dem Schaukasten eines Kinos stehen. „Dies sieht ja vielversprechend aus“, meinte Klaus schmunzelnd. Die Filmfotos zeigten hauptsächlich äußerst spärlich angezogene Mädchen und ein paar heiße Liebesszenen. „Wollen wir uns den mal angucken?“ „Ach, weißt du – lieber nicht.“ „Nanu, warum? Glaubst du etwa an der Klapperstorch?“ „Ja“, sagte ich. „Ich bin nämlich in meinem Studium noch nicht bei den Geburten! Nein, im Ernst, Klaus, es gibt Dinge, die ich nicht so in allen Einzelheiten vorgeführt haben möchte. Warum soll man alles so breittreten? Es ist nicht nötig, denn aufgeklärt bin ich seit vierzehn Jahren, und ich sage, wie meine Freundin Anke vor ein paar Tagen sagte: ‚Es bleibt ja nichts übrig, was man selbst, zusammen mit dem Menschen, den man liebt, entdecken kann’.“ Klaus drückte meinen Arm, beinahe zärtlich, an sich. „Du kleiner kluger Rotschopf. Den Gesichtspunkt respektiere ich. Und ich möchte auch viel lieber mit dir auf Entdeckungsfahrt gehen als ins Kino!“ Ich suchte verzweifelt ein neutrales Gesprächsthema und fand es zum Glück, und zwar in einem Schaufenster. „Sieh dir bloß den schicken kleinen Fernseher an, Klaus! So einen möchte ich schon haben, für Reisen und für meine Bude – das ist doch ein Batteriegerät, nicht wahr? Manchmal vermisse ich das Fernsehen sehr!“ „Kannst du nicht deinen reichen Vater dazu bringen, daß er dir einen Fernseher schenkt?“ „Denkste! Zu Hause kämpft er wie ein Löwe dagegen, daß ich zuviel fernsehe. Ich muß brav artig die Programme ankreuzen, die ich besonders gern sehen möchte, und das darf ich dann auch. Aber nachher wird ausgeschaltet. Wir dürfen uns vom Fernsehen nicht verdummen lassen, wir dürfen das Lesen und das Denken nicht verlernen, sagt er. Natürlich sehen wir Nachrichten und so was und
gute Schauspiele und Tier- und Naturfilme, und Mutti hat außerdem eine Vorliebe für alte Spielfilme, die sie in ihrer Jugend schon einmal gesellen hat. Aber wir lassen nie den Apparat nur so weiterdudeln, wir gucken uns nie Dinge an, die uns nicht unbedingt interessieren. Und wenn ich bloß das Wort Fernseher für meine Studentenbude erwähnen würde, dann weiß ich genau, was ich zu hören bekäme! Ich würde vor der Flimmerkiste sitzen, statt zu lernen, ich würde zu spät ins Bett gehen und so weiter – was übrigens alles stimmt!“ „Dein Vater scheint aber sehr vernünftig zu sein!“ meinte Klaus. „Ist er auch. Und Mutti auch, und Madeleine. Ich bin die einzige Unvernünftige der ganzen Familie. Vati hätte vielleicht Madeleine so einen Minifernseher geschenkt, aber mir nie!“ „Du kannst ja zu mir kommen und fernsehen, wenn etwas dich ganz besonders interessiert.“ „Das ist nett von dir! Übrigens kann ich ja auch zu den Donnerstagstanten gehen, sie haben einen schicken Farbfernseher.“ „Aha. Habt ihr denn keinen?“ „O doch. Ein Riesending. Bevor wir es gelernt hatten, es richtig einzustellen, hatten die Personen immer karmesinrote Gesichter, und Bäume und Wälder waren gallengrün.“ Klaus fragte noch nach diesem und jenem aus Hirschbüttel und aus meinem Elternhaus, und ich erzählte bereitwillig. Ich war froh, daß wir ein neutrales Gesprächsthema hatten, und ein bißchen geschmeichelt, weil Klaus so viel Interesse an meiner kleinen Welt zeigte. Als es uns allmählich zu kalt wurde, wärmten wir uns bei einer Tasse Kaffee im schönen Alsterpavillon auf. „Im Frühjahr ist es hier märchenhaft schön“, erzählte Klaus. „Dann werden wir wieder herfahren. So ein Frühlingsabend an der Alster- und dann gehen wir auch in den Zoo und in ‚Planten und Blomen’ und fahren vielleicht nach Blankenese…“ „Na, dann brauchen wir wohl mehrere Tage“, meinte ich. „Sag mal, ahnst du zufällig, wo du deinen Wagen hast?“ „O ja, eine Ahnung habe ich schon. Aber es ist ziemlich weit. Bist du müde von dem vielen Laufen? Wollen wir lieber ein Taxi nehmen?“ „Können wir nicht mit der Straßenbahn fahren?“ bat ich. „Mit der Bahn? Warum denn?“ „Du wirst lachen, aber es macht mir Spaß! Ich bin ja beinahe nie
mit der Straßenbahn gefahren! In Hirschbüttel gibt es keine, und wenn ich in Großstädten gewesen bin, hatten wir immer Vatis Wagen.“ Klaus lachte. „Ja, die Zeiten ändern sich! Gut, Doktorchen, ich lade dich hiermit feierlich zu einer interessanten Fahrt mit der Straßenbahn ein!“ Die Bahn war proppenvoll. Wir standen dicht aneinandergedrängt. So nahe, daß ich immer Klaus’ Atem gegen meinen Hals spürte. Es war so schön gewesen, der ganze Tag war so schön – und doch empfand ich es als eine Erleichterung, als wir Anke abgeholt hatten und zu dritt zurück nach Kiel fuhren. Es war ein Gefühl, das ich selbst nicht verstand.
Nach Hause
Ich saß hinter dem Steuer, neben mir saß Anke, und auf dem Rücksitz lagen unsere Koffer, für die Weihnachtsferien gepackt. „Du bist wirklich ein Engel, Reni!“ sagte Anke dankbar. „Daß du den Umweg über Hamburg machst…“ „Na weißt du, so schlimm ist der Umweg auch nicht! Wann kommt nun deine Mutter?“ „Heut abend! Ich zähle schon die Stunden! Ich freue mich so wahnsinnig auf sie. Und du?“ „Ob ich mich freue, meinst du? Und ob! Auf Vati und Mutti und ganz besonders auf Madeleine. Ich habe sie so lange nicht gesehen! – Du, es war aber reizend nett letzten Donnerstag! Und wie fein hatten wir das Geschenkproblem gelöst!“ Das hatten wir nämlich! Ich kam mit meinen beiden Taschenkalendern an, Jessica hatte aus Resten ein Paar Topflappen für Tante Christiane und ein Lesezeichen für Tante Isa gebastelt, und Anke brachte zwei Ableger von ihren eigenen Topfpflanzen, in winzige Töpfchen gepflanzt. Was wir alle mitbrachten, war ein Würstchen für Bicky. Jessica hatte erklärt: „Bicky hat uns nicht verboten, Geld auszugeben!“ Es war ein sehr schöner Abend gewesen, und ich freute mich schon auf den ersten Donnerstag nach den Ferien! „Ja, heut fährst du nun nicht so vornehm wie neulich“, sagte ich. „Findest du nicht Klaus’ Wagen wunderbar?“ „O doch. Er ist sehr schön.“ Sie sagte kein Wort über Klaus. Dabei war er doch so nett, so höflich, so hilfsbereit gewesen. Fragen wollte ich nicht. Aber es war eigentlich sonderbar, daß sie nichts sagte. Das läge doch so nahe! „Ich war übrigens bei Senta“, sagte Anke nach einer Weile. „Du weißt…“ Ich nickte. „Ja, ich weiß. Tante Christianes ehemalige Haustochter, die Schwester von deiner Freundin in Afrika mit dem Gepard.“ „Ja, ganz recht. Senta und ihr Mann fahren heut nach Norwegen in die Weihnachtsferien, aber wenn sie zurückkommen, will sie sich an einem Donnerstagabend losreißen und mit zu den Tanten kommen.“ „Großartig! Ich freue mich darauf, sie kennenzulernen.“
„Ich wünschte, du hättest auch die Gelegenheit, Sonja zu treffen. Sie ist ein feiner Kerl. Ja, zwei schöne Dinge habe ich doch durch Peter. Ich habe mein Söhnchen, und ich habe eine gute Freundin, die allerdings in einem anderen Erdteil sitzt!“ „Durch Peter? Ich denke, du hast Sonja und Senta bei Tante Christiane getroffen?“ „Habe ich auch. Ich ging hin, um mit Sonja zu sprechen, weil ich wußte, daß sie Peter kannte, und weil ich so verzweifelt war. Ich war schwanger, und Peter wollte überhaupt nicht mit mir sprechen. Dann dachte ich, daß Sonja… Aber als sie meine traurige Geschichte zu hören bekam, wollte sie gar nichts mehr mit Peter zu tun haben, Gott sei Dank. Sonst – sonst hätte sie vielleicht dasselbe Schicksal gehabt wie ich. Sie hätte nie ihren Heiko kennengelernt, sie hätte nur Kummer und Probleme gehabt. Aber es kam zum Glück anders. Sie heiratete einen großartigen Mann, den sie über alles auf der Welt liebt, und nun arbeiten sie gemeinsam in Afrika. Ihr Mann ist Wissenschaftler – Zoologe –, und sie ist seine Assistentin und Köchin und Sekretärin.“ „Dann muß sie dir ja ewig dankbar sein, daß du sie damals gewarnt hast.“ „Das ist sie auch. Siehst du, Reni, es ist nicht leicht, ein verliebtes junges Mädchen zu warnen. Die meisten würden es als eine widerliche Einmischung betrachten und wurden beleidigt werden. Nun ja, vielleicht bin ich auch übertrieben ängstlich. Ich traue ganz einfach diesem – was soll ich sagen – diesem charmanten Typ nicht.“ „Aber Anke! Es gibt doch Gott sei Dank sehr charmante Männer, die auch anständig sind und auf die man sich verlassen kann.“ „Sicher gibt es die. Aber ich glaube, daß viele Mädchen, die einen so sehr charmanten Verehrer haben, vor lauter Verliebtheit vergessen, zu untersuchen, was hinter dem Charme steckt. Sie kommen gar nicht darauf, daß so ein Mann nur auf ein Abenteuer aus ist, oder auf irgendwelche Vorteile…“ „Was für Vorteile?“ „Nun ja, wenn es zum Beispiel ein sehr wohlhabendes Mädchen ist, mit Mitgift und so was.“ Wir waren jetzt im Hamburger Stadtgebiet, und ich mußte beim Fahren sehr aufpassen. Erst als wir in der etwas ruhigeren Straße waren, wo Ankes Schwiegereltern wohnten, sagte ich: „Es ist ja kein Wunder, Anke, daß du nach deinen bitteren
Erfahrungen andere Mädchen warnen möchtest.“ Anke streckte sich nach hinten und nahm ihren Koffer. Ich hielt auf dem Parkplatz in der Nähe des Hauses. Sie reichte mir die Hand: „Danke dir tausendmal, daß du mich hergebracht hast. Und frohes Fest, Reni!“ „Danke gleichfalls, Ankelein. Grüß Peterchen und deine Schwiegereltern.“ Anke machte die Tür auf. Dann drehte sie den Kopf und sah mich an. „Du hast recht, Reni. Ich möchte allen Mädchen sagen, daß sie sich nicht mit einem Mann einlassen sollen, den sie nicht durch und durch kennen. Mit seinen guten und schlechten Seiten, mit allem, was in ihm steckt. Ja, das möchte ich allen Mädchen sagen. Allen Mädchen – auch dir, Reni.“ Sie schlug die Autotür hinter sich zu. Ankes Worte klangen mir noch in den Ohren, als ich allein weiterfuhr. Was hatte sie vorhin gesagt? „Wenn es zum Beispiel ein sehr wohlhabendes Mädchen ist, mit Mitgift und so was…“ Ich war ein solches Mädchen. Ich hatte einen wohlhabenden Vater mit einem großen, bekannten Werk, ich würde auch eine Mitgift bekommen. Meine Gedanken gingen zurück zu dem Sonntag mit Klaus in Hamburg. Wir hatten geschwätzt und geplaudert, er hatte nach meinem Zuhause gefragt, und ich hatte willig losgeplaudert. Er hatte aus mir rausgekriegt, daß wir einen großen Farbfernseher haben, daß Mutti zum Geburtstag einen Nerzpelz bekam, daß wir einen Mercedes und ein Sommerhaus im Tessin besitzen. Dann war er ja auch Mittwoch bei mir gewesen und hatte die beiden Kalender gebracht. Er hatte Kaffee bei mir getrunken und mich schnell geküßt und mir ein paar liebe – sehr liebe – Worte ins Ohr geflüstert – und mir ein Päckchen in die Hand gesteckt, mit dem ausdrücklichen Befehl, ich dürfte es erst am Heiligen Abend aufmachen. Dann hatten wir ein leises Geräusch auf der anderen Seite der Tür gehört. Klaus hatte wie ein Blitz die Tür aufgerissen und stand Frau Hansen direkt gegenüber. „Ach, ich wollte grade klopfen und fragen, ob Sie mehr kochendes Wasser brauchen“, sagte sie geistesgegenwärtig. Ich bedankte mich, und sie zog sich zurück. Aber die Lust auf weitere Küsse hatte sie uns genommen. Die beiden Kalender hatte er mir jedenfalls versprochen, bevor er etwas über mich wußte.
Ach was, zerbrich dir bloß nicht den Kopf, Reni, sagte ich zu mir selbst. Zum Kuckuck mit all dem bösen Verdacht, Klaus ist ein netter Kerl, und es ist nur Anke, die durch ihr eigenes Schicksal so ängstlich geworden ist. Wenn er nun in mich verliebt ist, wenn er mich sogar gern heiraten möchte, dann kann er es doch nicht lassen, nur weil mein Vater Geld hat! Was kann denn Klaus dafür? Oder ich? Ich drehte das Autoradio auf. Da spielte man gerade Melodien aus „Im weißen Rössl“. Ich gab Gas und sang aus vollem Halse: „Was kann die Reni denn dafür, daß sie so reich ist? Was kann die Reni denn, die Reni denn dafür?“ Fröhlich singend erreichte ich das wohlbekannte gelbe Ortsschild, das mir sagte: Du bist in deiner Heimatstadt. Zehn Minuten später hielt ich vor unserem Haus. Schon wurde die Tür aufgerissen, und im nächsten Augenblick hing ich an Papas Hals. „Wo ist Mutti? Und ist Madeleine schon da?“ waren meine ersten Fragen. „Madeleine hat vor einer Stunde aus Kassel angerufen, sie werden bald hier sein. Und Mutti kommt gleich. Nur möchte ich einen Augenblick mit dir sprechen, mein Kind.“ „Bevor ich Mutti guten Tag sage? Was ist denn, Paps, ist was nicht in Ordnung?“ „Doch, doch, bestens, allerbestens sogar – komm, häng deinen Mantel auf – wir gehen einen Augenblick rein zu mir!“ Was in aller Welt bedeutete dies? Vati war irgendwie so feierlich, aber es war nicht so wie früher, wenn ich „in Vatis Zimmer“ Rechenschaft über meine Sünden ablegen mußte oder wegen des Zeugnisses eine Standpauke bekam. Aber etwas war los. Ich fühlte mich wie ein lebendiges Fragezeichen. „Setz dich, mein Mädel. Ich möchte dir nur etwas erzählen.“ „Papa, ich werde ganz nervös! Was ist es bloß?“ Papa lächelte, ein kleines, glückliches Lächeln. „Sag mal, Reni – du hast eine junge und hübsche Stiefmutter, nicht wahr?“ „Mußt du mich hier reinzerren, um mir das zu erzählen?“ „Sie ist grade zweiundvierzig geworden…“ „Natürlich weiß ich, daß Mutti zweiundvierzig ist!“
„Ja, also, in unserem Zeitalter ist eine zweiundvierzigjährige Frau noch jung – “ „Natürlich! Mutti ist jung, und sie ist hübsch, nur muß sie ein bißchen auf ihre Linie aufpassen. Sie hat im Frühherbst etwas zu viel zugenom – “ plötzlich hielt ich inne und riß die Augen auf. „Papa! Jetzt ist der Groschen bei mir gefallen! Mutti kriegt ein Kind!“ Papa lächelte. „Das erzähle ich ja grade!“ „Das tust du gar nicht, du hast herumgedruckst wie eine alte Oma, die dem Enkel erklären muß, daß er nicht vom Klapperstorch gebracht worden ist! Paps, du bist sagenhaft ungeschickt, und ich bin sagenhaft froh!“ Ich gab meinem leicht errötenden Papa einen blitzschnellen Kuß, dann rannte ich durch die Halle, durchs Wohnzimmer und ins kleine Eckzimmer, Muttis privates Reich. „Mutti! Warum habt ihr es mir nicht schon längst erzählt! Wann kommt es? O Mutti, es ist ja großartig, nein, wie ich mich freue!“ Mutti küßte mir die Wange und lächelte. „Findest du es wirklich großartig, Renilein? Ja, weißt du, das gleiche hat Madeleine auch geschrieben!“ „So, das hat sie! Sie weiß es also, und ich bekomme es erst jetzt zu wissen. Dabei – “ Ich musterte Muttis mollig gewordene Figur – „dabei hast du es schon ziemlich lange gewußt!“ „Mach mir bloß keine Vorwürfe, da ist dein Papa zuständig! Wir hatten uns doch geeinigt, ich sollte es meiner Tochter erzählen und Papa der seinen, und er hat immer so rumgedruckst…“ „Sag mal, denkt er vielleicht, ich glaube an den Storch?“ „Ach, um die Seite der Sache ging es doch nicht! Er meinte, ihr – also du und Madeleine – würdet es komisch finden, ja sogar peinlich, daß eure alte Mutter…“ „Von wegen alt!“ „Nun ja, so ein Babychen stellt ja die ganze Hausordnung auf den Kopf, und du hast es großartig hingenommen, als Madeleine und ich hier eindrangen.“ „Eindrangen ist gut! Mutti, das will ich nicht gehört haben! Willst du in vollem Ernst behaupten, ihr habt gedacht, daß ich nicht hundertprozentig begeistert sein würde?“ „Na, mit zwanzig ein Geschwisterchen zu kriegen…“ „Himmel, wie seid ihr dämlich – o Verzeihung, ich meinte – ich meinte…“
„Du meintest genau dämlich, du unverschämte Göre“, sagte Mutti lachend. „Gut, ich gebe es zu. Also du bist wirklich glücklich darüber?“ „Und wie! Mutti, die ganze Sache hat nur gute Seiten. Erstens, du und Vati, ihr liebt einander, habe ich recht?“ „Das hast du, Kind!“ „Na also! Und wenn zwei Menschen sich lieben, sollen sie doch ein gemeinsames Kind haben dürfen! Zweitens: Madeleine und ich kriegen ein gemeinsames Geschwisterchen, dann werden wir uns noch mehr als Schwestern fühlen. Drittens, wenn du nun einen Sohn kriegst – ich halte schon die Daumen –, hat Vati jemanden, der das Werk übernehmen kann, und ich bin nicht dazu verpflichtet, einen zu heiraten, der den ganzen Laden weiterführen kann!“ Mutti wollte grade antworten, als Vati erschien, der anscheinend meine letzten Worte gehört hatte, denn er war es, der mir antwortete: „Aber Kind, du willst doch nicht im Ernst behaupten, daß du das als eine Verpflichtung empfindest?“ „Ich weiß nicht – doch, jedenfalls so halbwegs. Das wäre doch schön für dich, Papa…“ „Mein liebes Kind!“ sagte Papa. „Laß dies ein für allemal gesagt werden: Wenn du einen guten, netten Mann liebgewinnst und er dich, dann heiratest du ihn, ob er Arzt oder Malermeister, Wissenschaftler oder Tierpfleger ist! Wenn du denkst, ich würde mit meinem ollen Laden dem Glück meiner Tochter im Wege stehen, dann kennst du mich schlecht! Und wenn wir auch keinen Sohn kriegen, wenn auch weibliche Drillinge im März ankommen…“ „Im März!“ rief ich. „In drei Monaten schon!“ Ich weiß nicht, was ich weiter gesagt hätte, denn die Türglocke läutete. Ich rannte los und öffnete. „Lenchen!“ „Renilein!“ Strahlend, lächelnd, hübscher denn je stand Madeleine in der Tür. Da kam auch Kai, mit Koffern schwer beladen. Was gab das für ein Wiedersehen! Nein, wie war es schön, beisammen zu sein, die ganze Familie beisammen! Daß das Wiedersehen zwischen Madeleine und Mutti besonders herzlich war, versteht sich von selbst. „So!“ sagte Vati endlich. „Nun genug geküßt, ihr wollt bestimmt Hände waschen und Näschen pudern und so was, und ich will endlich meinen Nachmittagskaffee haben!“
„Habt ihr eigentlich zu Mittag gegessen?“ fragte Mutti. „Wenn nicht, habe ich einen wirklich guten Eintopf, ich wärme ihn ganz schnell auf…“ Kurz danach saßen wir drei „Weitgereisten“ beim Eintopf, während Mutti den Kaffee aufbrühte. Dann gab es ein urgemütliches Kaffeestündchen. Wir kamen vor lauter Fragen und Antworten kaum dazu, von dem verlockenden Weihnachtsgebäck zu essen. „Na, Reni?“ fragte Kai zuletzt, nachdem ich alles mögliche über meine Studien, meine Freundinnen und die Donnerstagstanten erzählt hatte, „was macht denn die Liebe?“ „Nachdem Uwe sich verlobt hat, meinst du? Oh, danke der Nachfrage! Ob ich verliebt bin, weiß ich nicht so genau, aber ich habe einen äußerst attraktiven Verehrer.“ „Nähere Einzelheiten dringend erbeten“, verlangte Papa. „Nein, zu Einzelheiten sind wir noch nicht gekommen, so gut kennen wir uns noch nicht!“ „Du weißt sehr gut, was ich meine, du freche Göre. Wie heißt er, wie alt ist er, was macht er, wofür interessiert er sich?“ „Für mich!“ „Und für was sonst? Politik, Kunst, Wissenschaft, Sport? Hat er ein Steckenpferd?“ „Ich weiß nicht“, sagte ich ehrlich. „Tatsächlich, ich weiß es nicht. Er verkauft Möbel, das ist sein Beruf, und er hat Volkswirtschaft studiert, und… Ja, für Sport interessiert er sich, glaube ich, und er kann phantastisch gut Auto fahren. Ja, und er sieht sehr gut aus.“ „Sieh zu, daß du ihn besser kennenlernst“, riet Kai. „Nicht wahr, Madeleine? Bevor wir heirateten, wußten wir alles voneinander, alle Fehler und Schwächen und alle guten Seiten.“ „Ach, die hast du auch?“ fragte ich und wurde dafür von Madeleine an den Haaren gezogen. „Mein Eheweib behauptet es“, sagte Kai. „Aber du weißt, Liebe macht blind. Hör, kleine Schwägerin, ein ernstes Wort. Du bist ein sehr charmantes kleines Menschenkind – nein, nicht unterbrechen – , und außerdem bist du oder wirst du einmal ein reiches Mädchen. Bevor du, impulsiv wie du immer bist, einen Kopfsprung in eine Verlobung machst, mußt du, noch gründlicher als andere Mädchen, den Gegenstand deiner Liebe kennenlernen. Um es sehr brutal zu sagen, du mußt herausfinden, was er mehr liebt, dich oder dein Geld.“
„So, nun höre ich dies heute zum zweiten Mal. Meine Freundin Anke…“ „Ist ein kluges Mädchen, falls sie dasselbe gesagt hat!“ „Kai hat recht, Reni“, sagte Madeleine in ihrer lieben, sanften Art. „Und ich möchte noch etwas hinzufügen: Heirate nicht einen Mann, weil er charmant ist und dich mehr oder weniger anbetet. Heirate ihn, wenn du ganz, ganz sicher bist, daß du ihn liebst! Wenn du Herzklopfen kriegst, wenn du ihn auf der Straße siehst, wenn du in jedem Gesicht nur nach Ähnlichkeiten mit ihm Ausschau hältst, wenn du vor einem Stelldichein mit ihm das Gefühl hast, die Uhrzeiger bewegen sich überhaupt nicht. Wenn du weißt, daß du ohne einen Seufzer auf alles verzichten könntest, nur um ihn zu behalten –, auf dein Auto, deinen Pelz, deinen Schmuck, die jährlichen Reisen, deine Bücher, deine Schallplatten, kurz, auf alles, was dein Leben so richtig angenehm macht.“ „Empfindest du es so?“ fragte ich kleinlaut. „Das tu ich! Seit dem Augenblick, wo ich Kai zum ersten Mal sah!“ Ich schwieg. So hatte ich es nie empfunden. Ich hatte viele Freunde gehabt, war auch zwischendurch verliebt gewesen. Aber so wie Madeleine es ausdrückte –, nein, das hatte ich nie erlebt. Aber schön müßte es sein!
Wie ich denken lernte
„Das ist doch ganz einfach, Reni! Du nimmst in jeder zweiten Reihe eine Masche zu auf beiden Seiten der vier Trennmaschen, dann bildet sich die Raglanschrägung ganz allein.“ Ich schwitzte über einer kleinen weißen Strickarbeit, Madeleine beschäftigte sich schnell und mühelos mit einer zartgelben. „Weiß und gelb sind neutral“ hatte Madeleine mir erklärt, als wir die Wolle kauften. „Solange wie wir nicht ahnen, ob wir ein Schwesterlein oder ein Brüderlein zu bestricken haben…“ Jetzt gab sie sich alle Mühe, mir ihr „Patentverfahren“ zu erklären: Babyjäckchen, die man von oben nach unten strickt, damit das Anstricken später, wenn das Kind größer geworden ist, leicht und einfach geht. Es war der dreiundzwanzigste Dezember. Vati hatte sich in sein Arbeitszimmer zurückgezogen. Im Wohnzimmer war Kai dabei, den großen Weihnachtsbaum aufzustellen. Oben in den Schlafzimmern tobte die Vormittagshilfe, die putzfreudige Frau Braun, mit Eimern, Lappen und Staubsauger. In der Küche war Mutti dabei, geheimnisvolle kulinarische Wunder zu vollbringen, und im kleinen Zimmer saßen Madeleine und ich mit unserer Babywolle und trugen zu der Garderobe unseres gemeinsamen Geschwisterchens bei. „Du, erzähl mir doch von deinem Freund“, bat Madeleine. „Ich habe ja gar keine Vorstellung von ihm! Ich muß doch wissen, wie der Mensch ist, der sich für meine Schwester interessiert!“ „Ich wünschte, ich wüßte es selbst“, seufzte ich. „Wieso?“ „Ach, Lenchen, ich bin so unsicher! Ich habe so darüber nachgedacht, nachdem Papa gestern fragte. Weißt du, ich ahne nicht, wofür er sich interessiert, außer für Autofahren und das Geschäft und mich! Aber das ist nicht einmal das Schlimmste. Ich weiß nicht, welche Interessen ich selbst habe, wenn überhaupt welche! Ja, mein Studium interessiert mich selbstverständlich und du und Mutti und Vati – und schicke Schallplatten und hübsche Kleider –, aber als Vati gestern nach Politik und Kunst und Wissenschaft und was war es noch fragte, da wurde es mir plötzlich furchtbar, beängstigend klar, daß ich Politik todlangweilig finde und von Kunst nichts verstehe, daß ich überhaupt ein durch und durch oberflächliches Wesen bin!“ Madeleine lächelte. „Etwas hast du jedenfalls“, sagte sie. „Du hast Selbsterkenntnis.
Außerdem bist du ein anständiger Mensch und ein guter Kamerad, das steht fest.“ „Ja, aber Madeleine, du mußt zugeben, daß bei mir ein Vakuum ist, wo andre Menschen ein Gehirn haben!“ „Nein, das gebe ich durchaus nicht zu. Wenn das der Fall wäre, könntest du nicht studieren! Aber vielleicht kann ich dir sagen, welchen Fehler du immer machst.“ „Ja, sag es mir bitte.“ „Du bist zu eilig und zu impulsiv. Du siehst ein interessantes Fernsehprogramm, du liest ein fesselndes Buch, du hörst von einem aktuellen Problem, du bewunderst ein Kunstwerk. Du sagst: ,Das ist aber prima’ oder ,Mensch, ist das hübsch’, oder Ja, der da, der hat eigentlich recht.’ Aber du versuchst nicht, tiefer in die Sache einzudringen. Verstehst du, was ich meine, Renilein?“ „Ja – a“, sagte ich zögernd. „Es ist bestimmt was dran, aber – kannst du mir nicht ein Beispiel sagen?“ „Natürlich kann ich das, sogar viele. Wir sahen zum Beispiel den „Don Carlos“, weißt du noch, das Gastspiel…“ „Natürlich erinnere ich mich daran!“ „Ja, siehst du, ich rannte nachher zur Leihbibliothek und borgte ein Buch über diese damalige Zeit, also ein historisches Werk, ich las die reinen geschichtlichen Tatsachen über den jungen Carlos, über sein trauriges Schicksal und über die Inquisition. – Ja, und nun etwas anderes: Wir haben uns in unseren Gesprächen mit Erich viel mit dem Rassenproblem beschäftigt, das liegt ja nahe wegen Christel. Du sagtest, und ich bin ganz deiner Meinung, daß die Hautfarbe gar keine Rolle spielt, du unterscheidest nur zwischen netten und nicht netten Menschen. Aber du hast bestimmt nie darüber nachgedacht, woher das Rassenproblem kommt. Du hast nichts über die Entstehung oder die Entwicklung dieses Problems gelesen. Hast du nie einer Sache gegenübergestanden, die dich zum Weiterdenken brachte?“ „Ja – doch – “, sagte ich. „Erst kürzlich. Vor einer Woche. Und zwar beim Sezieren. Ich hatte ein Präparat vor mir, es war die Hand einer alten Frau. Kaum als menschliche Hand zu erkennen, so gekühlt und desinfiziert –, aber ich stand also da, und plötzlich dachte ich daran, wieviel Arbeit diese alte Hand wohl geleistet hatte. Die Knochen waren verkalkt, zum Teil deformiert. Es war die Hand einer Frau, die viel geschuftet hatte. Dann dachte ich, wie es kam, daß diese Hand vor mir lag und als Studienobjekt diente. Vielleicht
lag ein Bein auf einem anderen Tisch, vielleicht war Jessica dabei, die andere Hand zu sezieren. Warum lag diese Frau nicht in einem Grab? Ja, ich weiß, daß diese Präparate meist von Menschen stammen, die ganz arm sterben, und vor allem ganz einsam, von Menschen, die keine Familie haben. Und dann tat die alte Frau mir so leid. Vielleicht war sie jahrelang allein, all die ihren waren gestorben, hatte sie vielleicht todeinsam in einer kleinen Bude gewohnt, war sie womöglich ganz allein gestorben, hat man sie erst nach Tagen tot im Bett gefunden? Ja, dann taten plötzlich alle einsamen alten Menschen mir so furchtbar leid, und ich dachte daran, daß es doch möglich sein müßte, diesen Menschen zu helfen, ihnen das Leben ein bißchen zu erleichtern. Aber ich kenne ja keine, ich weiß nicht, wo solche Menschen zu finden sind.“ „Aber dann gib doch nicht gleich auf!“ rief Madeleine. „Wenn es wirklich dein ehrlicher Wunsch ist, einsamen Alten zu helfen, dann kann dir entweder der Gemeindegeistliche oder das Sozialhilfeamt Auskünfte geben! Reni, hier spreche ich von Interessen und Steckenpferden, und du sitzest da still und bescheiden und bist dabei, dir eine so schöne Aufgabe zu suchen! Laß dich doch nicht von einer solchen lächerlichen Kleinigkeit hindern, daß du nicht weißt, wo du jemanden finden sollst! Du würdest ganz leicht sehr viele finden. Und wenn du ein paar Freundinnen hast, die mitmachen würden, dann könntet ihr ein wahrer Segen für eine ganze Menge alter einsamer Menschen werden! Wenn das kein Interesse ist! Und viel nützlicher als mein Carlos-Hobby!“ „Ich werde Jessica und Anke mobilisieren“ sagte ich. „Und vielleicht die Donnerstagstanten um Rat fragen. Es wäre zu schön, wenn wir wirklich etwas für ein paar alte Menschen tun könnten.“ Madeleine lächelte ihr gutes, warmes Lächeln. „Siehst du, Reni, alles liegt bei dir parat. Du brauchst nur einen ganz kleinen Schubs. Von einer lebendigen Schwester oder einer toten Hand. Aber, Menschenskind, was hast du da gemacht? Du hast ja ganz vergessen, ein Knopfloch zu machen. Hier hilft nichts, du mußt sechs Reihen auftrennen!“ Das Gespräch mit Madeleine war wie ein seelisches Bad für mich gewesen. Ich fühlte mich so froh, etwas in meinem Inneren war aufgeräumt, war klar und übersichtlich geworden. Ich hatte Lust, etwas anzufangen, meine Kräfte zu gebrauchen, etwas zu leisten! Ich freute mich darauf, weiterzustudieren, und ich freute mich sehr darauf, Jessica und Anke in meinen neuen Plan einzuweihen.
Frohes Fest Unser Heiliger Abend wurde genauso schön wie immer, das heißt eigentlich noch schöner. Nichts geht über das Nachhausekommen, wenn man eine Zeit weg gewesen ist. Und dann zu Weihnachten! Tannenduft, Kerzen, herrliches Essen, reizende Geschenke! Bücher, Schallplatten, eine Garnitur sehr feine Unterwäsche, eine schöne Bluse – mit all diesen Geschenken wurde ich verwöhnt; alle waren so unsagbar lieb zu mir! Als die Bescherung zu Ende ging, stand Papa auf und kam zu mir. „So, mein Kind, und jetzt kriegst du dein Geschenk von mir. Nur um eins bitte ich dich sehr: Hüte es gut, sei vorsichtig, daß du es nie verlierst!“ Ich machte ein kleines, altmodisches, samtbezogenes Etui auf. Da lag auf einem winzigen dunkelroten Kissen ein Paar Ohrringe, zwei schneeweiße Perlen, von einer wunderbaren, feinen Goldarbeit umkränzt. „O Papa, wie sind sie schön – aber die – habe ich doch schon gesehen – wo nur?“ „Da“, sagte Papa und führte mich zu der Wand mit den alten Familienfotos. Ja richtig, da war es! Meine Urgroßmutter, Papas Großmutter, trug sie. „Sie bekam sie als Verlobungsgeschenk von meinem Großvater, es war im Jahre 1885! Dann erbte meine Mutter sie, ich kann mich gut daran erinnern, daß sie sie nur zu ganz großen Feierlichkeiten trug. Dann sollte meine älteste Schwester sie haben, aber da sie keine Kinder bekam, gab sie sie mir. Ich sollte sie für meinen kleinen Wildfang, wie sie sagte, aufheben. Ich sollte warten, bis besagter Wildfang vernünftig genug geworden sei, darauf aufzupassen und sie nicht zu verlieren. Vor allem müßte er verstehen, daß die Ohrringe eine Familienkostbarkeit sind!“ „O Paps, ich freue mich ganz schrecklich! Du ahnst nicht, wie gut ich sie hüten werde. Was ist das für ein schönes Stück, ich meine, ein schönes Paar!“ „Meine Mutter ließ Schrauben daran machen, weil sie keine Löcher in den Ohrläppchen haben wollte“, erklärte mir Papa. „Ich weiß nicht, ob du…“
„Ach nein, Papa, so olle Löcher in den Ohren möchte ich nicht haben. Die Schrauben sehen doch schön fest aus, warte mal, ich probiere gleich…“ Die Schrauben waren ausgezeichnet, und die Ohrringe – ja, sie standen mir einfach! Ich fiel Papa um den Hals. Natürlich hatte ich etwas Schmuck, wenn auch nicht so besonders feinen – ja, doch, ein paar Sachen von meiner Mutter hatte ich schon, aber die lagen nun vorläufig im Banksafe. Diese Ohrringe waren nicht nur das Wertvollste, sondern unbedingt auch das Schönste von allem, was ich besaß! O, wie sorgfältig würde ich sie hüten! In Kiel würde ich ein Bankfach mieten und sie nur bei ganz großen Anlässen holen und am nächsten Tag zurückbringen. „Immer nur drin im Haus tragen“, ermahnte mich Mutti. „Erst in der Garderobe anschrauben, und wenn du weggehst, die Ohrringe in deine Tasche legen!“ Das versprach ich feierlich. Endlich kam ich dazu, das Päckchen von Klaus aufzumachen. Es war ein sehr hübscher Anhänger für die Autoschlüssel, mit einem klitzekleinen Portemonnaie dran. Darin lag ein Kärtchen: „Links für die Münztankstelle, rechts für Parkgroschen – und das ganze Ding soll dich an unsere erste Begegnung erinnern!“ Wirklich eine nette Idee. In diesem Augenblick dachte ich mit wirklicher Sympathie an Klaus. Ob sich doch aus unserer Freundschaft eine große Liebe entwickeln könnte? Plötzlich hörte ich Ankes Stimme, ihre Abschiedsworte in Hamburg, als sie aus dem Wagen stieg: „Dies möchte ich allen Mädchen sagen. Allen Mädchen. Auch dir, Reni.“ Warum auch mir? „Reni, alter Faulpelz, woran denkst du eigentlich? Bist du bei deinem Klaus oder beim Sezieren?“ Es war mein Schwager Kai, der mich unsanft aus meiner Versunkenheit riß. Jetzt erst wurde es mir klar, daß die beiden eifrigst dabei waren, Weihnachtspapier, Bändchen und Karten wegzuräumen und die überall verstreuten Geschenke einigermaßen systematisch zu ordnen. Mutti ging in die Küche, Vati machte die Rotweinflaschen so liebevoll auf, wie nur er es kann, und kurz danach saßen wir um den
wunderbar gedeckten Weihnachtstisch und ließen uns die , knusprig gebratene Pute mit Maronenfüllung schmecken. Die Tage vergingen viel zu schnell. Betriebsfest im Werk für alle Angestellten mit Familie. Ich spielte herrlich mit den Kindern, das machte mir immer Spaß. Ich mußte lächeln, als der Weihnachtsmann erschien. Es war Kai, der sich lammfromm die rote Kluft angezogen hatte. Er zeigte sich als Schauspieler von Format! Ich merkte mir eine bestimmte Sache: Wenn er mit den Kindern sprach und die üblichen sanften Moralpredigten hielt, lief es immer auf dasselbe hinaus: Seid nett zueinander! Ob vielleicht der Junge vom Nachbarn anders ist als du, ob er lieber andere Spiele spielt, ob er anders angezogen ist als du, ob er vielleicht aus einem anderen Land kommt (aha! Die Gastarbeiter! dachte ich -), das hat alles nichts zu bedeuten. Er lehrt dich Dinge, die dir fremd sind, du lehrst ihn das, was du kannst, und ihr werdet Freunde! Findet ihr nicht auch, daß es sehr schön ist, gute Freunde zu haben? Und ob die Kinder das fanden! Sie schienen mit dem diesjährigen Weihnachtsmann außerordentlich zufrieden zu sein. Ich wußte schon, warum Kai seine Weihnachtsmann-Ansprache in diesem Stil hielt: Dies war sein großer Gedanke, ja noch mehr, es war seine Lebensaufgabe: Zur Verständigung zwischen Völkern und Rassen das Seine beizutragen. Deswegen arbeitete er, als Norweger, in dem ehemaligen Feindesland und sprach dessen Sprache fließend. Zur Zeit war er allerdings in Österreich, aber er war auch lange in Deutschland als Reporter tätig gewesen und würde wahrscheinlich von Wien nach München ziehen. Deswegen war es ihm das Natürlichste und Selbstverständlichste auf der Welt, eine Deutsche zu heiraten, obwohl sein Vater in einem deutschen Konzentrationslager ums Leben gekommen war. Ja, Kai hatte eine Lebensaufgabe! Alle hatten Ideale, Steckenpferde, Lebensaufgaben, Interessen. Und ich? Bis mir dieser Gedanke mit den einsamen Alten gekommen war, hatte ich mich eigentlich nur für eins interessiert: für stud. med. Irene Thams aus Hirschbüttel! Das sollte aber jetzt anders werden! Dann waren wir bei Uwes Jugendparty mit all seinen Freunden hier in der Heimatstadt. Ich stand ihm gegenüber, reichte ihm die Hand, sah das offene, nette Gesicht, in dem ich jeden Zug kannte. Ich weiß nicht, was gesagt wurde. Ich weiß nicht, ob es vielleicht
doch ein klein bißchen weh tat – nur ein klein bißchen. Aber ich weiß, daß Uwe sagte: „Und hier ist Gisela. Gisela, hier ist deine neue Freundin Reni!“ Ich drückte eine kräftige kleine Hand, ich sah in ein paar helle, kluge, blaue Augen. Gisela war keine Schönheit, aber sie sah lieb und gescheit aus. „Furchtbar nett, dich kennenzulernen, Reni“, sagte sie herzlich. „Ja, wir machen doch wohl keinen Umweg um das blöde Siezen? Uwes Freunde sind doch meine Freunde!“ „Ganz deiner Meinung“, antwortete ich. „Ich habe mich sehr darauf gefreut, dich zu treffen.“ „Wir müssen zusehen, daß wir nachher ein bißchen zum Plaudern kommen, Reni. Vorläufig muß ich ja hier neben meinem Auserkorenen bleiben und Hände drücken!“ Am Tisch ging es lebhaft her. Reden wurden gehalten, Gelächter erklang. Man frischte Schulgeschichten auf, Uwe wurde tüchtig durch den Kakao gezogen. Ich kannte ja alle in der Gesellschaft so gut! Wir waren zusammen aufgewachsen, waren zusammen in die Schule gegangen, hatten eine Menge gemeinsame Erinnerungen. Die einzigen „Außenseiter“ waren Kai, Erich und Christel. Das heißt, die beiden waren es eigentlich auch nicht, sie lebten schon zwei Jahre in Hirschbüttel, und als junger Arzt war Erich ja in Verbindung mit vielen Menschen gekommen. Christel fühlte sich auch wohl hier. Sie erlebte nicht mehr, daß die Leute hinter ihrem Rücken flüsterten wegen ihrer Hautfarbe. Die Hirschbütteler hatten sich daran gewöhnt, daß die junge Arztfrau eine Mulattin war – und vielleicht hatte es ihr auch geholfen, daß sie ein häufiger und sehr gern gesehener Gast in meinem Elternhaus war. Dann ging es ans Tanzen, die Stimmung war hoch, und meine alten Kameraden aus der Kindheit sorgten weiß Gott dafür, daß ich mich nicht als Mauerblümchen fühlen mußte! Ich tanzte auch mit Erich, der mir stolz von den geistigen Fortschritten seines zweijährigen Sprößlings erzählte. Ich tanzte mit Kai, der mich in erprobter Schwagerart neckte, und auch mit Uwe, der sich so nett und munter und unkompliziert wie immer benahm. Es war ziemlich spät, als ich fühlte, jetzt müßte ich meine Fassade etwas auffrischen. Uwes Zimmer war als Garderobe für uns Mädchen hergerichtet, und da traf ich Gisela. „Na, endlich sieht man dich!“ rief sie. „Wollen wir hier ganz geheim eine Zigarette rauchen und fünf Minuten verschnaufen?“
„Verschnaufen ja, rauchen nein“, sagte ich. „Bis jetzt habe ich das Rauchen vermieden.“ „Kluge Medizinerin!“ lobte Gisela. „Ich rauche übrigens nur ganz selten, ab und zu eine abends, und manchmal bei Partys, zum Beispiel jetzt!“ Sie zündete eine Zigarette an und machte es sich bequem auf Uwes Couch. Sie schlüpfte aus den Schuhen und legte die Beine hoch. Ich kuschelte mich in einen Sessel. „Wirst du auch Bauingenieur?“ fragte ich. „Nein. Elektroingenieur. Kannst du dir so was Praktisches denken? Uwe baut Häuser, und ich mache die elektrischen Installationen! Dabei kann ich dir sagen, daß ich alle Erleichterungen für die Hausfrauen einplanen werde. Du ahnst ja nicht, welche vollautomatisierte Küchen ich vor meinem inneren Blick schon sehe!“ „Habt ihr euch nun auf dem Baugebiet oder dem Elektrogebiet kennengelernt?“ „Weder noch! In Bonn haben wir uns kennengelernt, nein, nicht wie du denkst in der Beethovenhalle oder im Bundestagshaus! Wir sind buchstäblich mit den Köpfen aufeinandergeknallt vor einem Riesenfernrohr in der Bonner Sternwarte!“ „Was?“ „Genau! Es war ein phantastischer Sternenhimmel, so einmalig klar, außerdem bestand die Möglichkeit, einen Satelliten zu sehen, also fuhr ich kurzerhand nach Bonn. Ich wollte endlich den Sternenhimmel durch ein richtiges großes Fernrohr sehen. Und mein Herzallerliebster hatte genau denselben Gedanken gehabt, mit dem Resultat, daß wir vor dem Fernrohr wie zwei Ziegenböcke mit den Stirnen zusammenstießen! Dann kamen wir ins Gespräch und fuhren zurück nach Aachen, jeder mit einer Beule am Kopf. Du weißt: Uwe und seine Astronomie!“ Wußte ich? Ich mußte nachdenken. Ach ja, Uwe hatte manchmal erzählt, daß er solche Bücher las. Er hatte mir dieses oder jenes Sternbild am Himmel gezeigt, wenn wir spätabends nach Hause gingen. Aber er hatte wohl bei mir keinen Widerhall gefunden. Ich wußte von den Sternen nur, daß sie die Nacht schön und stimmungsvoll machen, daß sie schrecklich weit weg sind und daß es Planeten und Fixsterne gibt. War Uwe denn so außergewöhnlich interessiert an Astronomie? „Und das ist auch dein Steckenpferd?“ fragte ich.
„Das kann ich dir sagen! Ich habe einfach an den Knöpfen abgezählt, ob ich Astronomie oder Elektrotechnik studieren sollte. Und da ich einen Knopf am Mantel verloren und wie immer vergessen hatte, ihn anzunähen, wurde es Elektrotechnik. Aber es ist gut so. Dann ergänzen sich unsere Berufe, und wir haben die Astronomie als ein wunderschönes gemeinsames Nebeninteresse!“ Gemeinsame Interessen – da war es schon wieder. Alle hatten ein großes Interesse, ein Ziel, etwas, was wert war, es zu studieren, es zu pflegen, sich ihm zu widmen. Nur ich saß da und fühlte mich dumm und oberflächlich und geistig hundefaul. Wartet bloß, dachte ich. Wartet bloß, liebe Eltern, liebe Freunde, liebe Schwester! Die verwöhnte, sommersprossige Reni hat endlich denken gelernt. Wartet bloß! Aus der frechen rothaarigen Göre des Direktors Thams wird vielleicht doch mit der Zeit etwas werden!
Alles auf einmal „Die Idee ist tatsächlich gut!“ sagte Jessica. „Prima!“ bestätigte Anke mit vollem Munde. Ich konnte überhaupt nichts sagen, ich hatte grade von meiner Stollenscheibe ein enormes Stück abgebissen und mußte das zuerst runterkriegen. Wir saßen in meiner Bude bei Kaffee und einer reichen Auswahl von Muttis Plätzchen. Theodor hatte auf der Rückfahrt von Hirschbüttel erheblich mehr als bei der Hinfahrt zu verfrachten gehabt: Kleingebäck, Stollen, all meine Weihnachtsgeschenke, Käse und Konservendosen, ein warmes Plaid und ein elektrisches Heizkissen. „Für die Füße, wenn du abends lernen mußt“, war Papas Kommentar, als er das gute Stück brachte – auf meinen Bericht hin, daß es in meiner Bude fußkalt war. Ich hatte Anke und Jessica zum Kaffee eingeladen und ihnen meinen Plan vorgelegt. Ob wir nun jede eine alte, einsame Frau „adoptierten“ und ihr mindestens einmal in der Woche Besorgungen machten und ein Stündchen oder zwei bei ihr verbrachten? Damit sie etwas hatte, worauf sie sich freuen konnte? Damit sie wußte, daß an einem bestimmten Wochentag ein Mensch käme, mit dem sie plaudern konnte? Damit sie fragen und erzählen konnte, alles loswerden, was sie sonst allein mit sich herumtrug – und einen Kontakt mit der Jugend kriegen? „Das machen wir!“ sagte Anke. „Unbedingt. Natürlich haben wir eine Menge um die Ohren und wenig freie Zeit, aber wißt ihr, was Mutti immer sagt? Je mehr ich zu tun habe, desto besser reicht die Zeit.’“ „Allen Respekt vor deiner Mutter!“ Jessica schmunzelte. „Aber Logik ist anscheinend nicht ihre Stärke!“ „Und ob es das ist!“ widersprach Anke. „Es ist doch sonnenklar, je mehr man zu tun hat, desto genauer muß man seine Zeit einteilen, und das richtige Einteilen ist die halbe Arbeit! Ihr werdet sehen!“ „Übrigens“, meinte Jessica, „es gibt doch meines Wissens schon solche Jugendorganisationen, die etwas für alte Menschen tun.“ „Um so besser!“ sagte ich und goß mehr Kaffee ein. „Dann schließen wir uns der Organisation an. Und wir werden doch bestimmt noch ein paar Kommilitoninnen mobilisieren können. Du auch, Anke?“
„Ich werde es versuchen. Nein, vielen Dank, Reni, ich kann nicht mehr, ich bin wie genudelt!“ Jessica konnte auch nicht mehr, also legte ich die restlichen Plätzchen zurück in die Dosen und holte meine Strickarbeit. „Um alles in der Welt!“ rief Jessica. „Seit wann strickst du?“ „Seit zwei Wochen“, sagte ich. „Abgesehen von den seltsamen Gebilden, die ich notgedrungen in der Schule stricken mußte.“ Anke guckte sich die Arbeit an. „Reni! Nun sag mal – das wird doch eine Babyjacke, sogar nach Muttis Rezept, Modell Nahtlos, von oben nach unten, nicht wahr? Wer in aller Welt – du erwartest doch kein Baby?“ Ich mußte lachen. „Es kommt doch wohl vor, daß man auch für die Babys anderer Frauen strickt?“ „Oh, ich hab’s kapiert! Deine Schwester! Du kriegst einen Neffen oder eine Nichte.“ „Falsch!“ „Ach, natürlich, deine Freundin Christel, die reizende Mulattin! Sie kriegt Nummer zwei!“ „Nicht daß ich wüßte!“ „Ich gebe es auf“, sagte Jessica. „Für mich brauchst du dich nicht anzustrengen, ich kriege kein Kind. Nun sag es doch!“ „Gut. Ich stricke für mein Brüderchen.“ „Dein was?“ „Oder Schwesterchen. Hoffentlich wird es ein Junge, damit Vati…“ „Reni, ist das wahr? Du, das ist doch großartig! Freust du dich nicht schrecklich?“ „Und ob ich das tu! Ich bin nur böse auf meine Eltern, weil sie es so lange verschwiegen haben! Das Baby kommt schon im März, ich muß also fleißig arbeiten!“ „Im März, das paßt doch wunderbar, dann haben wir Semesterferien, und du kannst für deinen Vater kochen, während deine Mutter…“ „Armer Papa“, sagte ich. „Stricken geht zur Not, aber Kochen!“ „Und wenn du nun ein Brüderchen kriegst, dann bist du sozusagen entthront?“ fragte Jessica. „Zum Teil ja!“ „Dann kannst du ja sehen, welche deiner Verehrer es ernst meinen!“ sagte Jessica. „Wer dich liebt, so wie du bist, und wer sich
ein großes Werk anheiraten möchte!“ „Was macht dein Freund Klaus?“ fragte Anke. „Er ist augenblicklich auf einer Geschäftsreise. Ich habe ihn nur einmal kurz gesehen. Na, er meldet sich schon, wenn er zurückkommt.“ Dann erzählte Jessica von ihrer Weihnachtsfeier, Anke zeigte Bilder von Peterchen am Weihnachtsbaum und Peterchen auf seinem neuen Rodelschlitten, und wir sprachen nicht mehr von Klaus. Ich zeigte natürlich meine schönen Ohrringe, und die beiden brachen in laute Entzückensrufe aus. Wir kamen aus dem Erzählen und Fragen gar nicht raus. Ehe wir’s uns versahen, war es spät geworden, und ich ging in die Küche, um ein paar Brote und etwas Tee zu machen. „Bei Ihnen ist es ja lebhaft heut“, sagte Frau Hansen, die eine erstaunliche Fähigkeit hatte, zu ahnen, wann ich in die Küche gehen würde. Dann hatte sie immer da zu tun. „O ja, wir müssen uns ja alles von den Weihnachtsferien erzählen“, sagte ich nichtsahnend. „Ach, Anke, bringst du mir bitte die blaue Platte aus dem Schrank?“ Anke kam und ließ die Tür hinter sich offen. Drin saß Jessica und guckte in eine Illustrierte. „Du liebe Zeit!“ rief sie. „Reni, hast du diese Geschichte über die Fahrraddiebe gelesen?“ Da geschah es. Frau Hansen platzte. „Schon wieder diese Farah Diba!“ fauchte sie. Ich konnte mir kaum das Lachen verbeißen. „Nicht Farah Diba, Frau Hansen. Fahrrad-Diebe! Leute, die Fahrräder klauen! Wie kommen Sie bloß auf Kaiserin Farah?“ Frau Hansen warf mir einen Blick zu, so sanft und milde wie eine Mischung von Vitriol und Salzsäure. „Sie sollten sich um Ihre Studien kümmern und nicht den ganzen Nachmittag verquasseln, und das so laut, daß unsereiner dauernd gestört wird!“ „Frau Hansen, es tut mir leid, ich ahnte nicht…“ Peng! Frau Hansen hatte schon den Schauplatz verlassen. Die Tür knallte hinter ihr zu. „Das war die Quittung für ihren Sonntagsspaziergang zum Bahnhof damals“, seufzte Jessica. „Jetzt haben wir den Salat! Wenn dir nur nicht demnächst gekündigt wird!“
„Ach, Blödsinn! Sie ist ja die ganze Zeit direkt leutselig gewesen, heut hat sie vielleicht Bauchweh oder so was. Das gibt sich!“ „Ich bin mir nicht so sicher“, sagte Jessica. „Ich habe das Gefühl, daß diese Geschichte wohl die ganze Zeit unter der Oberfläche rumort hat, und das unglückselige Wort Fahrraddiebe hat alles wieder hochgespült.“ „Das kann ja gut werden! Hier, meine Damen, ich habe euch zu Ehren eine Dose Krabben aufgemacht, bin ich nicht lieb? Und die Wurst ist aus Hirschbüttel, von Muttis Hoflieferanten!“ Es wurde spät, bevor die beiden gingen. Wir hatten es so urgemütlich, daß wir die Zeit vergaßen. Dann kam der Donnerstag, und wir verlebten einen riesig netten Abend bei den Tanten. Ich hatte der Versuchung nicht widerstehen können: Ich steckte die Ohrringe in die Tasche und schraubte sie vor dem Garderobespiegel bei den Tanten an. Sie wurden auch aufrichtig bewundert. Tante Christiane hatte eine alte Brosche aus derselben Zeit und verstand so richtig diese hauchfeine Goldfiligranarbeit zu würdigen. „Und was für wunderbare Perlen!“ sagte Tante Isa. „Damals hatte man keine Zuchtperlen, die da sind so echt, wie Perlen es nur sein können!“ Tante Christiane stand auf, um in ihrer „Hexenküche“ einen ihrer komplizierten Nachtische anzurichten. Ich stellte die Teller vom Hauptgericht in die Durchreiche und trug die Kartoffelschüssel raus. Plötzlich klingelte das Telefon. „Ach, geh ran, Reni“, rief Tante Christiane. „Wenn es für mich ist, werde ich in zehn Minuten zurückrufen!“ Also ging ich ran. „Hier Senta Skogstad. Ich spreche bestimmt mit einem der Donnerstagsmädchen?“ „Ja, hier ist Reni Thams.“ „Ach Reni, guten Tag, ich habe durch Anke schon viel von Ihnen gehört. Hören Sie, Reni: Ich komme grade nach Hause und entdecke, daß ich meinen Hausschlüssel vergessen habe, und mein treuloser Mann ist heut in Lübeck und kommt spät zurück, und unsere Wirtsleute sind ausgeflogen. Es ist so verdammt kalt auf der Treppe, fragen Sie doch bitte, ob ich zu euch kommen darf, ich nehme eine Taxe.“ „Ich hole Sie ab!“ rief ich. „Zu fragen brauche ich gar nicht – nicht wahr, Tante Christiane?“ rief ich durch die Küchentür. „Es ist
Senta, die ausgesperrt ist – ich hole sie gleich!“ „Kind, es sind vierzig Minuten zu fahren!“ „Macht nichts! Hören Sie, Senta? Ich hole Sie ab – wie – ach so. Ja, dann geht es schneller. Fein, ich mache mich auf den Weg. Warten Sie, schreiben Sie sich doch meine Autonummer auf, damit Sie mich gleich finden.“ Ich schlüpfte in den Mantel, während ich Tante Christiane erklärte, Senta könne grade einen Bus erreichen. Ich würde sie an der Bushaltestelle am Bahnhof abholen. „Fein, Reni, dann warten wir mit dem Nachtisch, bis ihr zurück seid.“ „Fahr vorsichtig, Kind“ – das letztere kam von Tante Isa. Am Bahnhof parkte ich so dicht an der Bushaltestelle, wie es überhaupt möglich war, und nach zehn Minuten kam der Bus. Eine schlanke Gestalt löste sich aus der Menschentraube, die aus dem Bus quoll, und nahm Richtung Parkplatz. „Hallo Senta, hier bin ich!“ „Reni, Sie sind ein Engel. Nein, so was Dämliches, wie ich es bin! Aber zu meiner Entschuldigung sei gesagt, daß ich heut früh eine solche Aufregung hatte, daß ich alles vergaß, auch den Hausschlüssel. Und in der Diätküche hätte ich um ein Haar das Diabetikeressen mit dem Ikterusessen verwechselt. Na, das hätte einen Skandal gegeben!“ „War es denn so schlimm – ich meine die Aufregung?“ fragte ich. „Schlimm? Himmlisch war es, zu schön, um wahr zu sein! Meine Schwester kommt! Sie wissen doch, daß Sonja…“ „Mitglied eines wissenschaftlichen Teams in Kenya ist und ein verwaistes Gepardkind hat.“ „Ja, und denken Sie sich, ihr Mann ist nach England gerufen zu einer wichtigen Besprechung mit seiner Brötchengeberin, und Sonja fährt mit! Direkt nach London, dort 3-4 Tage, dann ein Blitzbesuch in Norwegen bei unseren Eltern, und dann – dann will sie ein Wochenende hier bei mir verbringen! Mit Ehemann! Ich freue mich so, daß ich den ganzen Tag nicht essen konnte!“ „Schade“, sagte ich. „Denn bei den Tanten warten sie jetzt mit dem Nachtisch, bis wir da sind.“ „Den werde ich bestimmt essen können! Ich kenne die Nachtische von Frau von Waldenburg – ich meine, Tante Christiane! Ach, immer noch verplappere ich mich. Wissen Sie, solange ich da
Haustochter war, haben wir uns gesiezt, erst in diesem Jahr hörten wir mit diesem Blödsinn auf!“ Ich mußte an etwas denken, was Kai gesagt hatte. Daß in seinem Vaterland alle jungen Menschen sich duzen schon bei der ersten Begegnung. Das erzählte ich jetzt Senta. „Na klar tun wir das, – ich bin ja auch Norwegerin. Also das Siezen und gnädige Frau und Ihr Herr Gemahl und wie das alles heißt, das hängt mir schon zum Halse raus.“ „Warum sitzen wir beide dann hier und siezen uns?“ „Weil Sie – weil du deutsch bist!“ „Blödsinn. Wir duzen uns, Senta!“ „Gott sei Dank. Wie himmlisch! Ach du liebe Zeit, ist die neue Brücke schon in Betrieb! Mensch, es ist eine Ewigkeit her, seit ich hier war! Was macht Bicky? Ist sie nicht goldig?“ „Und ob! Was sie macht? Sie frißt – ich meine, sie geruht zu speisen – unter Tante Christianes Stuhl, am liebsten Eis und Kuchen und Pudding!“ „Da hat sich also nichts geändert“, sagte Senta trocken. „Bicky ist ein Schatz und Tante Christiane auch.“ „Und Tante Isa“, fügte ich hinzu. „Ist sie bestimmt, ich kenne sie nur noch nicht so gut. Ach, hier sind wir ja schon. Du fährst wunderbar, Reni, meinen Respekt!“ Es war, als ob Jessica und ich Senta schon immer gekannt hätten. Sie glitt in unsere Donnerstagsrunde so einfach und natürlich, als sei sie seit eh und je dabei. Anke schrie laut auf vor Entzücken, als sie erfuhr, daß Sonja kommen würde. „Ich muß sie sehen!“ rief sie. „Auch wenn sie nur für ein Wochenende hierbleibt.“ „Ich auch!“ sagte Tante Christiane. „Kinder, wißt ihr was? Wenn sie kommt, lassen wir den Donnerstag auf Samstag fallen, und ihr kommt alle – also die Anwesenden plus Sonja.“ „Denkst du!“ sagte Tante Isa. „Und die armen Männer? Ist es dir klar, daß Sonja und Senta je einen solchen haben?“ „Ach du liebe Zeit, das hatte ich wirklich vergessen. Gut, also Ehemänner sind mitzubringen, und ihr drei – sie guckte lächelnd Anke, Jessica und mich an –, wer von euch einen Freund hat, nehme ihn mit!“ Jessica strahlte, Anke lächelte resigniert, und ich – was machte
ich? Ich sah mich um in dieser fröhlichen Runde und wußte mit einemmal, daß Klaus nicht hier hineinpassen würde. Warum, das war mir nicht klar. Es war nur so ein Gefühl. „Ich möchte wissen, was mein Göttergatte eigentlich macht“, sagte Senta. „Ich habe doch einen Zettel in den Briefkasten geworfen, damit er weiß, daß er mich hier abholen soll. Wenn er bloß nicht mit einem Plattfuß oder mit leerem Tank oder durchgebrannten Zündkerzen liegengeblieben ist! Aber die Wirtsleute werden wohl zurück sein und mich reinlassen.“ „Ich fahre dich nach Hause, Senta“, versprach ich. „Es ist aber scheußlich weit, Reni. In der Luftlinie ist es wie ein Nichts, aber wir haben die ganze Kieler Förde zwischen uns, ist dir das klar? Zuerst von hier das ganze Ostufer entlang und dann zurück am Westufer!“ „Ach, ich werde es wohl überleben, und ich habe Benzin genug. Aber vielleicht machen wir uns dann so langsam auf den Weg?“ Kurz danach saßen wir zu viert im Wagen. Ich brachte zuerst Anke und dann Jessica nach Hause, und dann ging es weiter und immer weiter, über die bekannte Hochbrücke über den Kaiser Wilhelm-Kanal und dann weiter in eine für mich ganz unbekannte Gegend. „Du wohnst aber auch da, wo die Füchse sich gute Nacht sagen!“ stellte ich fest. Senta lachte. „Weißt du, wie wir in Norwegen sagen? ,Östlich der Sonne und westlich des Mondes!’ Aber in unserer Familie sind die Begriffe über weit und nah ganz durcheinandergebracht, seit Sonja sich in Afrika häuslich niedergelassen hat.“ „Und sie ist gern dort?“ „Gern ist gar kein Wort. Sie ist restlos in Afrika verliebt. Ich kann es übrigens verstehen, ich war ja auch ganz kurz da.“ „Ich weiß. Ihr hattet ja eine Afrikareise gewonnen.“ „Das haben wir! Und nie ist ein Gewinn in so hohem Maße auf die richtigen Menschen gefallen. Weißt du, Sonja war besessen und ihr Mann auch. Und als sie jung verheiratet waren, haben sie Margarinebrote gegessen und sich nie den allerkleinsten Luxus geleistet. Sie haben gespart und gespart, um wieder nach Afrika reisen zu können. Und dann bekam Heiko – mein Schwager – dieses phantastische Angebot von einem englischen wissenschaftlichen
Institut. Zusammen mit einem englischen und einem schwedischen Ehepaar arbeiten sie nun an einem – ja wie soll ich sagen – einem zoologischen Kartenwerk. Heiko und Sonja haben sich für vier Jahre gebunden. Ich gönne es ihnen so innig, sie haben ja jahrelang für dieses eine Ziel gearbeitet –, aber ich vermisse meine Schwester sehr. Es ist ein scheußliches Gefühl, wenn die Hälfte von einem Ganzen weggerissen wird.“ „Das Ganze ist also die Zwillingskombination!“ „Ganz recht! Apropos recht, jetzt die zweite Straße rechts, Reni.“ Ich schlängelte mich an einer roten Warnlampe vorbei, dann ging es ein Stück aufwärts auf einer engen Straße, und dann waren wir da. „Hoffentlich findest du jetzt zurück!“ sagte Senta besorgt. „Es ist ein bißchen kompliziert wegen der Umleitung kurz vor der Brücke.“ „Kannst du es mir auf dem Stadtplan zeigen?“ Ich holte einen etwas mitgenommenen Faltplan aus der Türtasche. „Mensch, wie hast du den Plan zugerichtet! Na, ich darf dir keinen Vorwurf machen. Unsere Faltpläne sehen genauso aus. Paß mal auf: Wir sind jetzt hier – dann fährst du so, links rum – diese Straße ist gesperrt…“ Senta erklärte eifrig und genau, ich nickte und verstand. Dann guckte ich mich um. „Aber hier zu wenden…“ „Ist nicht so schlimm. Steig mal aus, ich zeige dir, wie wir es immer machen.“ Ich ging ein paar Schritte mit Senta, sie zeigte mir, daß man ein Stückchen weiterfahren mußte, dann gab es eine Einfahrt, wo man ein paar Meter rückwärts reinfahren konnte, dann ging es mühelos. „Aber Senta, wie kommst du jetzt rein? Guck doch nach, ob dein Mann schon da ist, sonst müssen wir im Wagen warten!“ Senta warf einen Blick hinter das Haus und lächelte. „Er ist da! Jedenfalls ist sein Wagen da!“ In dem Augenblick wurde die Haustür aufgerissen, und Senta lief einem blonden jungen Mann in die Arme. Sie winkten mir zu, und ich machte mich auf den Rückweg. Senta hatte wirklich sehr vernünftig den Weg erklärt. Ich schaffte es, ohne mich zu verfahren. Als ich zur Hochbrücke kam, war ich im Bilde. Ich dachte an das, was Senta von ihrer Schwester erzählt hatte. Wieder ein Mensch mit einem klaren Ziel, einem glühenden Interesse, einer Lebensaufgabe – noch viel mehr als Uwes
Astronomiesteckenpferd. Ein Mensch, nicht viel älter als ich selbst und doch willig, alle möglichen Opfer auf sich zu nehmen, um das eine große Ziel zu erreichen. Wer weiß, dachte ich. Vielleicht erlebe ich auch einmal so was. Oder vielleicht wird ein großes, glühendes Interesse aus meinem Plan mit der Hilfe für alte, einsame Menschen. Oder vielleicht erlebe ich einmal etwas, was wie ein Blitz bei mir einschlägt und etwas in mir erweckt – Theodor keuchte. Der Arme, ich hatte heut viel von ihm verlangt. Ich hielt an einer Münztankstelle und tränkte meinen getreuen Theodor für fünf Mark. Denn jetzt hatte ich immer mindestens ein Fünfmarkstück bei mir! Es war sehr spät, als ich nach Hause kam. Das Tor zum Hof war zu, ich mußte mich mit dem schweren Schloß abquälen, dann wieder zurück und abschließen. Endlich stand ich in meinem Zimmer. Ich war redlich müde. Auf dem Tisch lag ein Brief. Nanu? Ein Brief ohne Briefmarke, also nicht durch die Post gekommen. Ich machte auf und traute meinen Augen nicht. Das Zimmer wurde mir gekündigt zum 15. Februar. Ohne Kommentar, ohne jegliche Erklärung. Ganz einfach gekündigt. Na, das war ja eine schöne Bescherung! Ich hängte den Mantel in den Schrank, nahm die Pelzmütze ab, und dabei streifte meine Hand den rechten Ohrring. Ach du liebe Zeit, ich hatte vergessen, die Ohrringe abzunehmen. Mit beiden Händen griff ich an meine Ohrläppchen, um meinen schönen Schmuck vorsichtig abzuschrauben. Da stockte mir der Atem. Meine linke Hand bekam ein nacktes Ohrläppchen zu fassen. Ich hatte einen von Urgroßmutters Ohrringen verloren.
Der einzige Ausweg Wenn ich an die Stunden und Tage zurückdenke, die darauf folgten, kriege ich noch nachträglich eine Gänsehaut. Ich war nie in meinem Leben so verzweifelt gewesen. Wenn mir Theodor geklaut worden wäre, wenn ich meine sämtlichen medizinischen Lehrbücher verloren hätte, wenn mein Armband in die Kieler Förde gefallen wäre – nichts davon hätte mich halb so unglücklich machen können! Wenn ich das alles schildern sollte, was ich unternahm, um den Ohrring wiederzufinden – das würde Bände füllen! Erstens – mitten in der Nacht – mit Taschenlampe raus zum Tor, Theodor durchwühlt, Handschuhfach, Türtasche, unter den Fußmatten nachgesehen, unter den Sitzen. Nichts. Dann den Hausflur, die Küche – ich mußte ja durch Frau Hansens Küche, um in mein Zimmer zu kommen. Wieder raus, zu Fuß zur Tankstelle, es war nicht weit. Hier hatte ich gestanden – von dieser Säule hatte ich gezapft – da glitzerte etwas – von wegen! Ein Stück Zellophan von einer Zigarettenpackung. Hatte ich die Ohrringe noch, als wir losfuhren? Hatten die drei anderen wohl zufällig gesehen, ob ich sie im Wagen noch hatte? Für heut nacht mußte ich das Suchen aufgeben. Ich heulte dicke Tränen vor Verzweiflung. Wie sollte ich es wagen, Papa wieder unter die Augen zu treten? Papa mit seinem ausgeprägten Familiengefühl, Papa, der alle geerbten Sachen so liebevoll hütete! Ich wußte ganz genau, wieviel es bedeutete, daß er mir diesen wunderbaren Schmuck geschenkt hatte. Und dann hatte ich die Hälfte davon verloren – als ich ihn zum ersten Mal trug. Um sieben Uhr am nächsten Morgen war ich bei Jessica und fand sie splitternackt vor dem Waschbecken vor. „Deine Ohrringe? Menschenskind, hast du etwa – warte mal, doch, Reni, als wir uns verabschiedeten, hattest du sie, darauf kann ich schwören! Ich guckte sie nämlich noch einmal an, grade als ich aus dem Wagen stieg. Ich bin hundertprozentig sicher!“ Dann ließ ich die erste Vorlesung sausen und fuhr die ganze Strecke von gestern abend. In Sentas Straße war ich ja ausgestiegen. Jetzt war es einigermaßen hell, jetzt konnte ich suchen. Als ich in die kleine Straße einbog, mußte ich an einem eigenartigen Gefährt vorbeifahren. Mir wurde es heiß und kalt: Es
war ein kleiner Straßenreinigungswagen, der sowohl Fahrbahn als auch Bürgersteige sauberfegt. Da, wo ich gestern abend gegangen war, lag nichts, aber auch gar nichts auf der Straße. Sie war sauber wie ein Parkettboden. Noch einmal Theodor durchwühlen. Nichts. Dann Anzeige in der Zeitung, mit Versprechen: „Hohe Belohnung…“ Dann zum Fundbüro bei der Polizei. Nichts. Gar nichts. Auf die Anzeige kam keine Antwort. Jessica hatte mir versprochen, die Geschichte für sich zu behalten. Ich wollte nicht bemitleidet werden, und Vorwürfe hören mochte ich erst recht nicht. Ich war so außer mir, daß ich kaum an die Zimmerkündigung dachte. Es war ja auch keine Katastrophe. Am 15. Februar war das Wintersemester bald zu Ende, ich würde wohl für die kurze Zeit einen Unterschlupf finden – vielleicht bei Jessica, oder vielleicht würden die Donnerstagstanten sich erbarmen. Nach einer Woche gab ich es auf. Ich nahm den übriggebliebenen Ohrring und ging in ein sehr feines und bekanntes Juweliergeschäft. Als ich mein Anliegen vorgebracht hatte, holte man den Chef. „Schade“, sagte er, „sehr schade. Ein so schönes Stück! So was kriegt man heutzutage nicht mehr. Nachmachen? Ja – möglich ist es, wir könnten es schon tun, aber es wird teuer. Die Perle ist wertvoll – das ist die eine Seite der Sache –, das bißchen Gold ist erschwinglich – aber diese Arbeit!“ „Und – wie teuer würde es ungefähr werden?“ fragte ich bebenden Herzens. Der Juwelier guckte wieder durch die Lupe und sah sich noch einmal die Perle an. Zehn Minuten später verließ ich das Geschäft. Ich hatte zu wissen bekommen, wenn ich mich mit einer Zuchtperle begnügen würde – und nur ein Fachmann könne den Unterschied sehen –, könnte man mir für zwölf- bis fünfzehnhundert Mark einen Ohrring nacharbeiten. Wo in aller Welt sollte ich fünfzehnhundert Mark hernehmen? Plötzlich blieb ich stehen. Theodor! Ich mußte Theodor verkaufen! Papa würde mir böse werden, aber das würde vorübergehen. Ein altes Auto zu verkaufen war doch nichts im Vergleich dazu, einen unschätzbaren alten Familienschmuck zu erhalten. Es eilte – es war ganz furchtbar eilig. Der Juwelier hatte gesagt,
er brauche mindestens einen Monat; diese Arbeit wolle er selbst überwachen, er hätte nur einen Mann in der Werkstatt, dem er sie anvertrauen könne. Also, in einem Monat mußte ich fünfzehnhundert Mark besitzen – in einem Monat mußte ich Theodor für mindestens fünfzehnhundert Mark an den Mann gebracht haben. Mit dem Kopf voller Probleme ging ich zur Vorlesung. Ich mußte ja Theodor gleich verkaufen! Ich wagte es nicht, die Bestellung beim Juwelier aufzugeben, bevor ich das Geld hatte. Als ich zum Mittagessen ging, sah ich einen wohlbekannten Wagen da stehen, und schon kam Klaus mir entgegen. „Klaus!“ rief ich. „Du kommst wie gerufen! Ich wußte nicht, daß du schon zurück bist!“ „Ich kam spät gestern abend“, erklärte Klaus und ergriff meine beiden Hände. „Was hast du, kleines Doktorchen, du bist ja ganz blaß um die Sommersprossen rum!“ „Klaus, ich brauche Hilfe, und ich glaube, du bist der einzige, der mir helfen kann!“ „Nanu, was hast du denn? Komm, wir fahren irgendwohin und essen anständig zu Mittag, und du erzählst mir alles.“ Alles? Nein, das wollte ich ja nicht. Nicht, warum ich unbedingt Geld haben mußte. Als wir uns gegenübersaßen und Klaus ein Essen bestellt hatte, das sich in allen wichtigen Punkten sehr vom Mensaessen unterschied, lächelte er sein hübschestes, liebevollstes Lächeln. „Na, Kleines, was hast du denn auf dem Herzen?“ „Klaus – du hast doch gesagt daß du der geborene Verkäufer bist?“ „Bin ich auch.“ „Ob Gemälde oder Autos oder Fernsehgeräte…“ „Willst du ein Gemälde verkaufen?“ „Nein, mein Auto. Kannst du es für mich tun? Gegen deine üblichen zehn Prozent?“ „Klar, wird gemacht. Sieh zu, daß du es innen und außen gründlich waschen und polieren läßt, damit der erste Eindruck gut ist. Wann muß er zum TÜV?“ „In anderthalb Jahren.“
„Hast den letzten TÜV-Schein?“
„Habe ich. Keine Beanstandungen.“
„Großartig. Und wieviel verlangst du dafür?“ „Soviel wie möglich.“ „Gut, ich kümmere mich darum!“ Der Ober brachte das Essen, und während er servierte, dachte ich daran, wie blitzschnell Klaus sein ganzes Wesen ändern konnte: In einem Augenblick war er liebevoll und zärtlich, im nächsten nur noch der sachliche und praktische Geschäftsmann, der es ganz natürlich fand, auch von einer Freundin zehn Prozent Provision zu nehmen. Dann mußte ich innerlich lächeln. Er würde bestimmt bei der nächsten Gelegenheit die zehn Prozent für irgend etwas anlegen, was mir viel Freude bereitete. Es war mir jetzt leichter ums Herz. Klaus würde es schon schaffen. „Nun sag mal, Doktorchen, warum willst du den guten alten Theodor eigentlich verkaufen?“ „Das – das erzähle ich dir später!“ „Wie du willst, mein Mädelchen. Ich habe einen kleinen Verdacht – du willst bestimmt einen neuen Wagen haben!“ „Das wäre nicht unmöglich.“ „Gib mir nur Bescheid, wenn es soweit ist, ich helfe dir gern beim Kauf.“ „Das ist sehr lieb von dir. Aber vorerst geht es darum, Theodor zu verkaufen.“ „Das ist mir klar. Ich mache es schon, darauf kannst du dich verlassen. So, und nun erzähle mir, wie es in Hirschbüttel war, ich habe dich ja seit Weihnachten kaum gesehen.“ „Oh, es war sehr schön! Eine große Neuigkeit bekam ich auch zu wissen. Denk dir, ich bekomme ein Geschwisterchen!“ „Was?“ „Ein Geschwisterchen. Mutti kriegt ein Kind!“ „Du heiliger Bimbam! Wie alt ist denn deine Mutter?“ „Zweiundvierzig, und Papa zweiundfünfzig. Madeleine und ich haben schon das Baby auf den Namen „Spätlese“ getauft!“ „Du scheinst dich darauf zu freuen!“ „Und wie! Es ist doch großartig! Wenn zwei Menschen sich so lieben wie meine Eltern, sollten sie doch ein gemeinsames Kind haben!“ „Und wenn es nun ein Junge wird?“ „Ich halte ja dauernd die Daumen dafür. Mein Vater würde vor Freude an die Decke springen!“
„Und du?“ „Ich springe mit! Erstens weil ich es Vati innig gönne, zweitens weil mir dann diese verflixte Verantwortung abgenommen wird. Weißt du, als einziges Kind würde ich immer die Verpflichtung fühlen, dafür zu sorgen, daß das Werk weiterginge, daß es in der Familie bliebe.“ „Wäre das nicht eine schöne Verpflichtung?“ „Kann ich nicht behaupten. Ich will doch Ärztin werden, und wenn ich keine Lust zum Heiraten haben sollte, will ich es lassen können. Verstehst du nicht, daß ich mich viel freier fühlen würde, wenn ich einen Bruder hätte? Ich würde sofort dem kleinen Schreihals jede Verantwortung in die Wiege legen.“ „Und außerdem die halbe Erbschaft?“ „Na klar!“ Der Ober brachte den Nachtisch. Als er weg war, sagte Klaus, als wäre das Thema Brüderchen nun erledigt: „Und wie war es denn sonst? Viele nette Partys, schöne Geschenke…“ „O ja, ich kann mich wirklich nicht beklagen. Moment mal, ich habe doch grade die Photos von Weihnachten gekriegt. Interessieren sie dich?“ „Aber sehr! Alles, was dich angeht, interessiert mich doch!“ Wieder war seine Stimme voll Zärtlichkeit und sein Lächeln voll Wärme. „Hier – Madeleine und ich mit Theodor vor dem Haus.“ Er sah sich das Bild lange an. „Ein schönes Haus habt ihr! Und groß!“ „O ja, das haben wir. Gemütlich ist es auch, das versteht Mutti gut. Hier sind wir alle am Teetisch in Muttis Zimmer. Da ist eine Aufnahme vom Heiligen Abend. Und dies – ach, das sieht ja verrückt aus –, das ist von der Party bei Uwe, von seiner Verlobungsgesellschaft. Wir waren wohl alle in hoher Stimmung!“ Er sah sich das lustige Gruppenbild an. Mit einemmal runzelte er die Stirn. „Sag mal – wieso kommt eine Negerin mit zu der Party?“ „Negerin? Von wegen, sie ist Mulattin. Das ist meine Freundin Christel, die Frau von Madeleines Arzt.“ „Hat der Arzt eine Farbige geheiratet?“ „Klar hat er das. Christel ist ein entzückendes Menschenkind, und du solltest mal ihr Söhnlein sehen, es ist zum Fressen!“ „Wie ist das bloß möglich!“ sagte Klaus. „Wenn er auch Pech
gehabt hat – er brauchte doch nicht gleich zu heiraten! Natürlich müßte er für das Kind sorgen, aber…“ Es dauerte tatsächlich eine halbe Minute, bis ich verstand, was Klaus dachte. „Du irrst dich völlig! Sie waren beinahe drei Jahre verheiratet, als der Kleine geboren wurde. Sie haben geheiratet, weil sie sich lieben. Ist das nicht ein einfacher und sehr klarer Grund?“ Klaus schüttelte den Kopf, sah sich wieder das Bild an. „Der da, neben ihr – ist das der Arzt?“ „Ja. Sieht er vielleicht nicht glücklich aus?“ „Er sieht jedenfalls gut aus. Sehr gut. Und mit dem Aussehen ein Niggermädchen zu heiraten!“ „Christel ist eine herzensgute, intelligente und hochgebildete Dame!“ sagte ich, und ich hörte, daß meine Stimme eine neue Schärfe hatte. Klaus hatte es wahrscheinlich auch gehört. Er sah aus, als ob er etwas antworten wollte, aber er überlegte es sich anders. Als er wieder sprach, ging es um den Autoverkauf. Das war ja auch im Augenblick das Wichtigste. Aber ich würde ihm schon bei der nächsten Gelegenheit sagen, was ich über Rassenhaß und engstirnige Vorurteile dachte! Klaus versprach, recht bald von sich hören zu lassen, und bat mich wieder, Theodor auf Hochglanz zu bringen. Was ich auch tat.
Ein Blitz schlägt ein Es war Samstag nachmittag. Ich saß in meiner Bude und versuchte zu lesen. Wenn ich den Blick durchs Fenster schweifen ließ, sah ich Klaus’ eleganten Ford. Mein Theodor war weg. Vor zwei Stunden hatte Klaus ihn abgeholt, um ihn einem Interessenten vorzuführen. Ich war wahnsinnig gespannt. Zum zwanzigsten Mal sah ich auf die Uhr. Wenn er bloß genug für den Wagen bekäme – soviel, daß ich Montag zum Juwelier gehen und den Ohrring bestellen konnte! Klaus sagte ja immer, er sei der geborene Verkäufer. Und Theodor war in Ordnung! Seine Tachometerzahl war allerdings etwas hoch, er hatte viele Kilometer hinter sich, der Gute! Aber er lief noch einwandfrei. Klaus hatte den Kraftfahrzeugbrief, die Steuerquittung, die Versicherungspapiere, beide Schlüsselgarnituren, den TÜV-Schein und den Kraftfahrzeugschein mitgekriegt, außerdem eine Vollmacht von mir, den Wagen in meinem Auftrag zu verkaufen. Der eventuelle Käufer wohnte auswärts. – Sie mußten ja eine Probefahrt machen und dann verhandeln –, natürlich brauchte er Zeit, nur nicht ungeduldig werden! Ich zwang mich selbst, weiterzulesen. Was würde Vati dazu sagen? Und was sollte ich ihm sagen, wie sollte ich es begründen, daß ich Theodor verkauft hatte? Na, kommt Zeit, kommt Rat. Jedenfalls würde ich zwei Ohrringe haben, wenn ich Vati wiedersah, und er ist kein Juwelenexperte. Er würde nicht sehen, daß die eine Perle eine Zuchtperle war. Wenn ich einmal zu Geld kommen sollte, würde ich die Perle gegen eine richtige, echte, „wildgewachsene“ Perle austauschen lassen. Wenn Klaus bloß – Ich sprang auf und rannte durch die Küche und den Flur. Es hatte zweimal geklingelt. Ich zerrte Klaus förmlich mit in mein Zimmer und machte die Tür zu. „Klaus, ich bin so gespannt!“ Er lächelte verschmitzt. Aus seiner Brieftasche nahm er ein Kuvert, aus dem Kuvert einen Stoß Geldscheine. Langsam und feierlich legte er sie fächerförmig auf den Tisch.
Zwölfhundert – dreizehn-, vierzehn-, fünfzehn „O Klaus!“ - sechzehn – siebzehn – und dann ein paar kleinere Scheine und etliche Münzen. „Klaus! Wie in aller Welt – du bist doch ein Genie – Mensch, wie bin ich froh! Ich könnte dich vergolden! Nun sag mal, wer hat den Wagen gekauft und bar bezahlt?“ „Ein Kollege von dir, ein junger Arzt. Er wohnt weit außerhalb und studiert in Hamburg. Er braucht den Wagen für seine Wochenendfahrten nach Kiel.“ „Moment mal – ein Arzt, der noch studiert?“ „Nun ja, er absolviert sein Fachstudium am Tropeninstitut in Hamburg, er wird wohl Tropenarzt oder wie es nun heißt. Also, dein Theodor lief auf der Probefahrt wie ein Engel, hier ist das Geld und hier eine Erklärung vom Käufer, daß er den Wagen gekauft hat. Du mußt ihn dann gleich Montag abmelden. Und hier, also zweitausend hat er bezahlt, davon kriege ich zweihundert, dann kommt noch – ja, ich mußte ja per Taxe zurück, sechzehn Mark dreißig – dann habe ich noch sicherheitshalber das Öl wechseln lassen, hier sind die Quittungen –, und nun freue ich mich sehr darauf, daß du dein Versprechen hältst und mich vergoldest!“ Ich warf nur ganz schnell einen Blick auf die Papiere. Die Erklärung, mit einer klaren, deutlichen Schrift geschrieben, auf einem Bogen mit „Dr. med. Manfred Ingwart“ in der oberen Ecke. Dann die Quittung für das Öl – und da traute ich meinen Augen nicht. „Aber Klaus, bist du denn wahnsinnig! Ein Vierzigeröl, und bei dieser Kälte – der Wagen wird ja in einer Woche im Eimer sein!“ „Nee, hör mal einer die Kleine an, glaubst du, daß du etwas von Autotechnik verstehst? Überlaß das ruhig mir!“ „Ich bin doch nicht von gestern! Ich weiß genau, daß ich im Herbst immer zum Zehneröl übergehe, und ich wette, daß du das auch tust!“ „Denkst du vielleicht, daß der Karren so gelaufen wäre mit dem dünnen Geschwapse? Jetzt lief er, als wäre er fabrikneu, und sieh du bloß, wieviel Geld du dank des kleinen Tricks bekommen hast!“ „Trick nennst du das? Ich nenne es Betrug, ganz einfach Betrug! Der arme Mann hat viel mehr bezahlt, als der Wagen wert ist – aber eins sage ich dir, solche krummen Dinger mache ich nicht mit!“ „Nun immer langsam, sei nicht hysterisch! Und du willst die
Tochter eines erfolgreichen Geschäftsmannes sein!“ Jetzt kochte ich vor Wut. „Mein Vater ist der ehrlichste Mensch auf der Welt, und er hat mich zu einem ehrlichen Menschen erzogen! Wenn ich dies mitmachte, könnte ich ihm nie mehr in die Augen sehen! Du lieber Himmel, sollte ich dastehen als eine gemeine Betrügerin…“ „Gegenüber deinen Niggern im Kulturzentrum Hirschbüttel! Gegenüber deiner Mutter, der auch etwas Besseres einfallen sollte, als in ihrem Alter noch Kinder in die Welt zu setzen – “ „Raus!“ schrie ich. „Verschwinde, ich kann dich nicht mehr sehen!“ Ich riß die Tür auf: „Verschwinde, oder ich schreie!“ Zum ersten Mal segnete ich Frau Hansens Neugierde. Als sie in der Küche zum Vorschein kam, fand Klaus es wohl doch besser, sich aus, dem Staube zu machen. Du lieber Himmel, jetzt saß ich fein in der Tinte! Ich hörte, daß Klaus den Wagen startete. Und da wurde es mir trotz allem leichter ums Herz. Er verschwand aus meinem Leben, und in diesem Augenblick wußte ich, daß ich ohne ihn viel besser mit meinen Problemen fertigwerden würde. Ich wollte keine Ratschläge und keine Hilfe! Ich würde genau das tun, was mein Gewissen mir sehr klar und sehr deutlich sagte. Nach einer langen Busfahrt und geduldigem Suchen fand ich endlich das Haus Hasensteg 21 in einem kleinen, abgelegenen Dorf, etliche Kilometer von der Stadt entfernt. Es war dunkel geworden, es war schwer, die Hausnummern zu unterscheiden. Aber da, in einem Vorgarten, sah ich meinen Theodor. Theodor, der gar nicht mehr meiner war! Es war ein niedriges Backsteinhaus mit hübschen Gardinen und mit vielen Blumen an den Fenstern. Ich hörte Schritte. Um die Hausecke kam ein junger Mann im Overall, mit einem leeren Eimer in der Hand. Ich ging näher. „Guten Tag, ich suche Herrn Doktor Ingwart.“ „Ja? Das bin ich selbst.“ Ich schluckte mein Staunen herunter. So hatte ich mir einen Dr. med. mit Spezialfach Tropenkrankheiten nicht vorgestellt. „Mein Name ist Irene Thams…“ „Ach, die Autobesitzerin – ich meine…“ „Die ehemalige Autobesitzerin! Herr Doktor, es ist mir so furchtbar peinlich, aber ich muß es Ihnen sagen – Sie sind bei dem
Kauf häßlich betrogen worden. Ich bekam es erst vor einer Stunde zu wissen, und da bin ich sofort in einen Bus…“ „Kommen Sie doch rein, Fräulein Thams.“ Er hielt mir die Tür auf, stellte den Eimer ab und öffnete eine Tür zu einem kleinen, urgemütlichen Wohnzimmer. In einem Schaukelstuhl saß eine alte Dame mit einer Strickarbeit, die sie jetzt sinken ließ. „Muttchen, dies ist Fräulein Thams, von der ich den Wagen heut gekauft habe, Fräulein Thams, dies ist meine Mutter. Nehmen Sie doch Platz, ich komme sofort, ich muß mir nur die Hände waschen.“ Frau Ingwart reichte mir eine schmale, weiße Hand. „Es tut mir leid, daß ich störe, gnädige Frau.“ Es war etwas an Frau Ingwart, was es mir als ganz natürlich erscheinen ließ, diese Anrede zu gebrauchen. Sie war so durchsichtig fein, so zart, sie sah aus wie eine kleine Porzellanpuppe. „Sie stören doch nicht!“ sagte sie freundlich. „Im Gegenteil, wir sehen so selten Menschen bei uns hier in der Einsamkeit. Es ist für mich direkt aufheiternd, ein junges Gesicht zu sehen. Wollen Sie nicht Ihren Mantel ablegen? Es ist bestimmt sehr warm hier drin.“ Damit hatte sie recht. Ich zog meinen Mantel aus, und da kam Doktor Ingwart ohne Overall. Er trug jetzt einen bequemen Pulli. „Nun, Fräulein Thams, nun erklären Sie bitte – oder müssen Sie mit mir allein sprechen?“ „O nein, gar nicht, Ihre Mutter darf es gern hören. Ich hatte doch einem Bekannten den Auftrag gegeben, den Wagen zu verkaufen…“ „Ja, und da haben Sie auch einen tüchtigen Verkäufer gehabt! Er brachte mich tatsächlich dazu, zweihundert mehr zu zahlen, als ich mir eigentlich leisten kann. Aber alles, was recht ist, der Wagen läuft ja tadellos!“ „Das ist es ja eben! Kein Wunder, daß der Wagen tadellos läuft, wenn der Motor einen kräftigen Schuß superdickes Öl reingekriegt hat! Der Wagen ist gar nicht schlecht, im Gegenteil, er ist sehr gut, aber so wunderbar, wie Sie denken, ist er nicht! Herr Doktor, Sie müssen sofort das Öl wechseln. Sie dürfen unter keinen Umständen bei dieser Kälte mit dem dicken Öl fahren, sonst ist der Motor in einer Woche im Eimer! Ich habe Normal-Winteröl mitgebracht, wollen wir es gleich wechseln? Und eine neue Probefahrt machen?“ Doktor Ingwart sah mich mit großen Augen an. „Das ist ja allerhand“, sagte er endlich. „Und ob es allerhand ist! Betrug ist es, und das habe ich auch
Herrn Jährner gesagt und mich gründlich mit ihm verkracht. Und dann bin ich hierhergefahren, und nun bitte ich Sie tausendmal um Entschuldigung. Und wenn Sie den Kauf rückgängig machen wollen, selbstverständlich – “ „Ich meinte es nicht so“, sagte Doktor Ingwart. „Mein allerhand’ bezog sich nicht auf Herrn Jährners Unehrlichkeit, sondern auf Ihre Ehrlichkeit und Ihre spontane Handlungsweise!“ „Ja, aber ich mußte doch blitzschnell handeln, ich zitterte ja davor, daß Sie vielleicht schon unterwegs mit Theodor wären.“ „Theodor?“ „Ja, mein – ich meine, Ihr Wagen – ich habe ihn immer Theodor genannt.“ Plötzlich mußte ich schlucken, und ich fürchte, daß meine Stimme zitterte. „Sie haben den Wagen nicht gern verkauft?“ kam die milde Stimme von Frau Ingwart. „Nein, sehr ungern, aber ich mußte. Ich brauche das Geld.“ „Ich verstehe“, sagte der junge Arzt. „Gut, wollen wir das Öl gleich wechseln?“ Wir gingen raus, er machte die Außenlampe an der Hausecke an, und so konnten wir ganz gut sehen. „Na, das ist vielleicht ein schöner Sirup!“ sagte er, als das dicke Öl langsam in die alte Konservendose lief, die er darunterhielt. „Eins begreife ich bloß nicht, daß Herr Jährner diesen Trick angewendet hat, da es doch gar nicht um sein Geld ging.“ „O doch. Es ging um seine Prozente. Ich habe ihm zweihundert Mark bezahlt.“ „Na, der ist mir vielleicht einer!“ „Das kann man wohl sagen. Ich habe ihn rausgeschmissen und hoffe innig, daß ich ihn nie mehr zu Gesicht bekomme!“ „Und Ihre zweihundert Mark?“ „Sind futsch. Das habe ich davon, daß ich einem Menschen Vertrauen schenkte, ohne ihn richtig zu kennen. Eine teure, aber sehr nützliche Lehre. So, das wär’s, jetzt können wir den Motor starten.“ Er sprang wunderbar an und lief schön regelmäßig, wenn auch nicht grade leise. „Nun, etwas anders ist er ja“, sagte Doktor Ingwart. „Wollen wir ein Stückchen fahren?“ Er setzte sich ans Steuer, und zum ersten Mal saß ich auf dem Beifahrersitz meines Theodor. Es war ein seltsames Gefühl. Wieder kam mir ein Kloß in den Hals. Es war verdammt schwer, sich von
Theodor zu trennen. Doktor Ingwart legte den Gang ein und fuhr, ruhig und sicher und sehr vorsichtig. „Ich muß mich so langsam daran gewöhnen“, erklärte er. „Ich habe vor einem Jahr den Führerschein gemacht, und seitdem bin ich nur hin und wieder gefahren.“ „Gute Straßen haben Sie hier gerade nicht!“ meinte ich, als Theodor einen Hopser machte. „Nein, da haben Sie recht! Überhaupt, wir wohnen ja hier denkbar weit weg von der sogenannten Zivilisation, aber friedlich ist es. Mein Vater hat das Haus gekauft, als er eine große wissenschaftliche Arbeit begann.“ „Lebt Ihr Vater nicht mehr?“ „Nein. Er starb vor sechs Jahren. Ohne seine große Arbeit vollendet zu haben, leider. Aber das, was er geschrieben hat, war mir sehr nützlich.“ „Ihr Vater war auch Arzt?“ „Ja. Er war lange Zeit Missionsarzt in Afrika.“ „Deswegen!“ rief ich. „Wieso deswegen?“ „Ach, Herr Jährner erzählte doch, daß Sie am Tropeninstitut arbeiten.“ „Stimmt. Deswegen brauche ich einen Wagen. Ich fahre ja mindestens einmal in der Woche hierher und schaue nach meiner Mutter und helfe ihr. Es ist mir gar nicht recht, daß sie hier allein wohnt. Nun ja, wir haben eine nette und hilfsbereite Nachbarin, aber trotzdem…“ Plötzlich wechselte er das Thema: „Sind Sie aus Kiel?“ „Nein, ich studiere in Kiel. Ich wohne in einem kleinen Nest, in Hirschbüttel.“ „Kenne ich gut – als Ursprungsort der Hibügeräte.“ „Wirklich? Das werde ich meinem Vater sagen. Ich bin nämlich sozusagen die Tochter der Hibüwerke!“ „Was? Dann begreife ich allerdings nicht…“ Er verstummte. „Warum ich meinen Vater nicht um Geld bitte, statt meinen Wagen zu verkaufen? Weil ich – weil ich…“ „Um Gottes willen, das brauchen Sie mir doch nicht zu erzählen. Sagen Sie mir lieber, was Sie studieren.“ „Medizin.“ „Was? Dann sind wir ja Kollegen!“ „Das dürfte ein bißchen übertrieben sein. Ich bin erst im ersten
Semester.“ „Immerhin! Wollen wir jetzt zurückfahren? Nehmen Sie doch das Steuer, Sie kennen den – wie hieß er nun gleich – den Theodor, Sie können schneller fahren. Ich möchte gern den Motor hören, wenn Sie im vierten Gang fahren.“ Wir wechselten die Plätze, ich gab Gas und ließ Theodor zeigen, was er konnte. Es war mir, als sänge der Motor mir ein Abschiedslied, und ich mußte schlucken und schlucken. Dann waren wir wieder beim Hasensteg 21 und stiegen aus. „Ja“, sagte Doktor Ingwart, „ich möchte den Wagen schon haben, wenn Sie ihn ein bißchen billiger verkaufen.“ „Klar. Ich bin doch hoffentlich ein anständiger Mensch!“ „Ja, den Eindruck habe ich unbedingt“, versicherte er. Er wollte grade den Wagen abschließen, als mir etwas einfiel. „Ach, Herr Doktor, ich glaube, ich habe einen Stadtplan im Wagen liegen lassen, in der Türtasche.“ Er machte wieder auf und fuhr mit der Hand in die Tasche. „Stimmt. Ach du liebe Zeit, wie behandeln Sie einen Faltplan? Moment mal, da muß man Ihnen helfen!“ Er breitete den Plan aus, plötzlich sagte er: „Nanu!“ und stand da mit etwas in der Hand. „Hier, Fräulein Thams – haben Sie den nicht vermißt?“ Ich hielt die Hand auf. Und in der nächsten Sekunde stand ich da und starrte fassungslos auf – Urgroßmutters Ohrring. „Geht es Ihnen nicht gut – Sie sind so blaß?“ Doktor Ingwarts Stimme brachte mich in die Wirklichkeit zurück, und ich versuchte, aus dem unbeschreiblichen Durcheinander in meinem Kopf heraus eine halbwegs vernünftige Antwort zusammenzukriegen. „Es war ja nur wegen des Ohrringes – “ fing ich an, und dann brach die Sintflut los. Alles, was ich in den letzten Tagen durchgemacht hatte, meine Angst, meine Verzweiflung, mein Schamgefühl, dann alles mit Klaus, und obendrein die Zimmerkündigung – alles ballte sich zusammen zu einem Riesenknäuel. Und in dieser Sekunde fühlte ich, wie das ganze Knäuel sich auflöste. Alle Sorgen wurden von mir genommen, und die Tränen der Erleichterung stürzten mir aus den Augen. Ich weinte, daß mein ganzer Körper bebte. Es wäre zwecklos gewesen, wenn ich versucht hätte, mich zu beherrschen. Dies mußte raus! Ich konnte mein Taschentuch nicht finden, ich wischte die Tränen mit meinen Strickhandschuhen weg und gab dem nächsten Tränenstrom freien
Lauf. Nie in meinem Leben hatte ich so geweint. Dann wurde ein Arm um meine Schultern gelegt, meine Tränen wurden mit einem großen Herrentaschentuch abgewischt, und eine ganz sanfte Stimme klang in meine Ohren: „So, Kleines. Jetzt geht es Ihnen besser, nicht wahr? Da war wohl etwas, was raus mußte?“ Ich drückte mein verheultes Gesicht gegen seine Schulter, noch ein paar Mal schluchzte ich – dann endlich hörte es auf. Ich hob den Kopf und sah ihm ins Gesicht. Ich wollte erklären, wollte mich entschuldigen. Aber ich brachte kein Wort über die Lippen. Ich sah ein Paar Augen, ein Paar dunkelblaue Augen, voll Verständnis, voll Güte, voll Mitgefühl – und dann flammte in meinem Inneren ein großes, weißes Licht auf. Ein Blitz hatte bei mir eingeschlagen.
Es kommt alles ins Lot Im Flur wurde mir der Mantel behutsam ausgezogen, dann wurde eine Tür aufgemacht und das Licht in einem kleinen Badezimmer angeknipst. „Hier ist ein frisches Handtuch“, sagte Manfred Ingwart und machte die Tür hinter mir zu. Ich wusch mir das Gesicht, kämmte meine Haare, putzte mir die Nase, zupfte meinen Pulli zurecht und sah danach ein bißchen manierlicher aus. Durch die offene Tür zu einer kleinen Küche sah ich Frau Ingwart mit einer Teekanne in der Hand. Sie nickte freundlich. „Gehen Sie ins Wohnzimmer, gleich gibt es eine Tasse schönen heißen Tee!“ „So!“ sagte Doktor Ingwart, als er mich in einem bequemen Sessel untergebracht hatte. „Wollen Sie etwas erzählen oder alles für sich behalten? Kann ich etwas für Sie tun?“ „Ich muß schon erzählen, damit Sie mich nicht für hysterisch halten“, sagte ich. Ich tauchte die Hand in die Tasche und holte den Ohrring heraus. „Diesen hier“, sagte ich, „habe ich seit neun Tagen verzweifelt gesucht. Einen neuen machen zu lassen würde fünfzehnhundert Mark kosten. Da sah ich keinen anderen Ausweg, als Theodor zu verkaufen.“ Er nahm den Ohrring, sah ihn an, schüttelte den Kopf. „Ein Auto zu verkaufen wegen eines solchen kleinen Dinges“, sagte er. „Das geht weit über meinen Verstand.“ „Es war auch nicht direkt wegen des Ohrringes, sondern wegen meines Vaters“, versuchte ich zu erklären. In diesem Augenblick kam Frau Ingwart mit dem Tee, und erst als der eingegossen und eine Platte belegter Brote auf den Tisch gestellt war, konnte ich den Zusammenhang erzählen. Frau Ingwart sah sich den Ohrring an. „Was für ein schönes Stück!“ sagte sie. „Ich kann verstehen, daß Sie verzweifelt waren und sogar Ihr Auto opfern wollten.“ „Und daß ich heulte, als ich plötzlich dastand mit dem Ohrring in der Hand?“ „Ja, das verstehe ich auch. Arme Kleine, was haben Sie für Aufregungen durchgemacht! Dann zum Schluß diese Geschichte mit
Ihrem betrügerischen Bekannten…“ „Den betrügerischen Bekannten segne ich im Augenblick“, sagte ich. „Von ihm habe ich heut eine nützliche Lehre erhalten, und außerdem – ohne ihn wäre, ich nicht hierhergekommen und hätte meinen Ohrring nicht zurückgekriegt.“ Doktor Ingwart schmunzelte. „Na, das hätten Sie wohl, ich hätte ihn ja früher oder später gefunden.“ „Ich bin aber doch froh über die ganze Geschichte“, erwiderte ich. „Sie hat mir die Augen geöffnet, und ich bin viel klüger geworden. Was für ein Genuß war es, Klaus Jährner rauszuschmeißen!“ Mutter und Sohn lachten, und ehe ich mich’s versah, hatte ich alles über Klaus erzählt, über seine Kommentare zu der Tatsache, daß eine Mulattin meine gute Freundin war, und zu der Möglichkeit, daß ich einen Bruder bekäme. „Ach nein!“ lächelte Frau Ingwart. „Dabei kann Ihre Frau Mutter ja nicht die jüngste sein!“ „Sie ist zweiundvierzig“, klärte ich sie auf. „Ich war auch genau zweiundvierzig, als mein Jüngster geboren wurde – der da!“ Sie nickte verschmitzt zu ihrem Sohn hinüber. „Meine beiden ersten Kinder starben früh. Das Tropenklima wurde ihnen zuviel – aber dieser hier, der war zäh, das hat er von mir!“ „Sind Sie zäh, gnädige Frau?“ „Und wie!“ rief der Sohn. „Muttchen ist jetzt achtundsechzig und benimmt sich, als wäre sie vierzig! Sieht aus, als könnte sie jeden Augenblick zusammenbrechen, und dabei – “ „Dabei bricht sie gar nicht zusammen, es sei denn vor Verzweiflung, wenn ihr Sohn unbedingt eine Patientin aus ihr machen will! Ein bißchen Schnupfen, und ich werde in Decken eingepackt und darf mich nicht rühren. Ein kleines Wehwehchen im Rücken, und ich darf nicht einen Eimer heben, ja kaum zum Kaufmann gehen!“ „Eine Viertelstunde bergab, und dann zurück mit schweren Taschen“, unterbrach der Sohn. „Meine Mutter ist ein lieber Kerl, aber was sie sich zumutet, geht auf keine Kuhhaut! Aber daß du zäh bist, Muttchen, das stimmt schon, wenn du auch wie eine Porzellanfigur aussiehst.“ Ich nickte. „Ja, Meißner Porzellan! Da hat Ihr Sohn recht!“ „So, hat er das? Und wie sehen Sie aus?“
„Ich? Wie eine Keramikfigur nach einer mißglückten Brennung“, sagte ich lachend und zeigte auf meine Sommersprossen. Dann lachten wir alle drei und tranken die zweite Tasse Tee in allerbester Stimmung. Als ich aufbrechen wollte, kam Doktor Ingwart und legte mir ein großes Kuvert hin. „So, Kleines. Hier sind die Autopapiere, hier die Schlüssel. Nun steigen Sie in Ihren Theodor und fahren hübsch im eigenen Auto nach Hause.“ „Aber – aber Herr Doktor – “ „Ach, lassen Sie den Doktor, wir sind doch Kollegen! Das Geld bringen Sie mir dann, oder ich hole es.“ „Ich habe es bei mir! Das heißt das, was Herr Jährner mir brachte. Es fehlen zweihundertvierzig Mark und 30 Pfennig – für das dicke Öl und dann das dünne Öl, das ich mitgebracht habe, und dann seine Provision und die Taxe zurück in die Stadt – “ „Die hat er auch berechnet, der Geizkragen?“ platzte Frau Ingwart heraus. „Aber ich habe etwas Geld zu Hause, ich bringe es Ihnen morgen, ganz bestimmt! Und wenn es nicht genug ist, rufe ich Vati an. Aber kann ich dies überhaupt annehmen? Sie haben ja ein Recht auf Theodor!“ Empört widersprach Manfred Ingwart: „Hören Sie mal, was denken Sie von mir! Ich bin doch kein Ungeheuer! Die Bundesrepublik ist voll Gebrauchtwagen, ich werde mal sehen, ob ich nächste Woche einen in Hamburg finde. Sollte ich da ausgerechnet darauf bestehen, Ihren geliebten Theodor zu behalten?“ Seine Augen hatten denselben Ausdruck wie vorher, draußen, als er mir die Tränen abwischte. Und mit einemmal fühlte ich mich so glücklich – so glücklich, wie ich nie in meinem Leben gewesen war! Kurz darauf saß ich in meinen geliebten Vehikel. Sein guter alter Motor war ein bißchen laut, er lief mit meinem Herzen um die Wette. Und morgen – morgen würde ich wieder hinfahren! Morgen würde ich Manfred Ingwart wiedersehen! Vielleicht hatte ich nicht das ganze Geld. Dann mußte ich noch einmal hin! Ja. Bei mir hatte tatsächlich der Blitz eingeschlagen! Als ich alles zusammenkratzte, das Geld für zwei teure neue
Lehrbücher, das Geld für Naschen und neue Strumpfhosen und Friseur und was ich sonst für den Rest des Monats geplant hatte, kam ich auf zweihunderteinundsiebzig Mark. Davon hatte Manfred Ingwart zweihundertneunundfünfzig Mark und siebzig Pfennig zu bekommen. Blieben mir also zwölf Mark 30 Pfennig. Am folgenden Morgen telefonierte ich nach Hause. Mutti kam an den Apparat, und ich bat sie, mir baldigst hundert Mark zu schicken. „Du mußt mir glauben, daß es notwendig ist“, rief ich. „Ich schreibe dir heut und berichte alles. Wenn du die ganze Geschichte erfahren hast, wirst du einsehen, daß ich das Geld haben muß!“ Dann erzählte ich ihr, daß es mir glänzend ging und daß kein Grund zu Sorge bestand, und sie versprach, das Geld sofort zu schicken. Danach ging ich zurück in meine Bude, ergriff den großen Brief block, setzte mich hin und schrieb an Mutti. Ich erzählte ihr die ganze Geschichte. Eines aber behielt ich für mich selbst: Meine Gefühle, als Manfred Ingwart mir in meine verweinten Augen sah. Nach meinem üblichen Kakao-Butterbrot-Sonntagsmittagessen machte ich mich hochklopfenden Herzens auf den Weg. Meine Haare waren sorgfältig gebürstet, meine Nase fein gepudert, und ich trug den hübschen Pulli, den ich zu Weihnachten bekommen hatte und der mir so gut stand. Bei kaltem, klarem Winterwetter fuhr ich aus der Stadt. Auf der freien Landstraße gab ich Gas, und eins-zwei-drei war ich vor dem lieben kleinen Haus Hasensteg 21. Eigentlich dauerte die Fahrt gar nicht so lange, wenn man mit dem eigenen Wagen fuhr und auf die unzähligen Bushaltestellen keine Rücksicht zu nehmen brauchte. Man brauchte gut eine Viertelstunde von der Stadtgrenze. Nicht weiter als mein Schulweg in Hirschbüttel. Damals wanderte ich zu Fuß achtzehn Minuten – das heißt, gewöhnlich lief ich wie eine Olympiadeanwärterin, mit offenem Mantel und dem letzten Frühstücksbrotbissen im Mund, und schaffte es in vierzehneinhalb Minuten. Nun ja, heut war Sonntag. Werktags würde viel mehr Verkehr sein – aber trotzdem, so weit war es nun auch nicht. Das sagte ich auch Frau Ingwart, die mich empfing. Ihr Sohn sei grade auf einen Sprung zum Nachbarn, er käme gleich wieder, ich solle meinen Mantel ablegen, gleich gäbe es Kaffee. „Nein, mit dem Wagen ist es eigentlich nicht weit“, pflichtete mir
Frau Ingwart bei. „Und trotzdem – wir hatten mal einen Studenten hier, er mietete unsere Mansarde, aber es wurde ihm doch zu weit, obwohl er einen Roller hatte.“ Da machte mein Herz einen Hochsprung. „Bedeutet das, daß Sie – daß Sie ein Zimmer zu vermieten haben? Daß es jetzt frei ist?“ „Ja, an sich haben wir das, aber, wie gesagt, wer will so weit weg von der Stadt wohnen?“ „Ich!“ rief ich. „Mit tausend Freuden! O bitte, bitte, Frau Ingwart, falls Sie wieder vermieten wollen – wissen Sie, mein Zimmer ist mir gekündigt worden…“ „Nanu“, sagte Frau Ingwart erstaunt. „Haben Sie was ausgefressen?“ Ich erzählte die ganze Geschichte von damals im Herbst und wie Frau Hansens Wut kürzlich wieder hochgespült wurde, weil Jessica, diesmal wirklich nichtsahnend, von den Fahrraddieben gesprochen hatte. Während ich erzählte, kam Manfred Ingwart. Beide lachten Tränen über Jessicas und meine Schandtat. „Da bin ich beruhigt“, sagte Frau Ingwart. „Ich habe viele und große Fehler, nicht wahr, Manfred? Aber das Lesen fremder Briefe gehört nicht dazu. Ach, da ist ja Kijana.“ Manfred stand auf und machte die Tür auf. Wir hatten vom Garten ein Miauen gehört. Herein kam eine bildschöne Katze mit einem Fell von einer eigenartigen, goldbraunen Farbe. Sie war schlank gebaut und hatte einen feinen kleinen Kopf. Bedächtig und anmutig schritt sie durchs Zimmer und sprang dann auf Frau Ingwarts Schoß. „Was für ein wunderbares Tier!“ sagte ich. „Aber die Rasse kenne ich nicht.“ „Es ist ein Äthiopier“, berichtete Frau Ingwart. „Wir hatten ein sehr schönes äthiopisches Pärchen mit aus Afrika gebracht, dies ist der Sohn.“ „Dem Namen nach müßte es ja ein Weibchen sein – es war doch etwas, was mit a endete?“ „Kijana. Das bedeutet Jüngling. Es ist Suaheli.“ Sie erzählte, daß sie jahrelang in Afrika gewohnt hatten, in einem abgelegenen Dorf in Tanzania oder Tanganyika, wie es damals hieß. Manfreds Vater war dauernd in seinem Landrover unterwegs gewesen und hatte gegen Krankheiten, Aberglauben und Schmutz gekämpft – und gegen das Tropenklima. Die beiden Kinder, die in Europa geboren waren, schafften es nicht. Sie bekamen eine
Tropenkrankheit und starben trotz der verzweifelten Versuche des Vaters, sie zu retten. Dann wurde Manfred geboren. „Zu früh kam er auch noch, der Strolch!“ sagte Frau Ingwart lächelnd. „Mein Mann wollte ja, daß ich im Missionskrankenhaus entbinden sollte, aber mein Sohn wünschte es anders! Vierzehn Tage vor dem Termin meldete er seine Ankunft, und so eilig hatte er es, daß unser Boy eben nur seine Frau Choksi holen konnte. Die spielte Hebamme, und sie schaffte es vorzüglich, abgesehen davon, daß ihre und meine Begriffe in puncto Hygiene etwas auseinandergingen. Aber jedenfalls, als mein Mann an jenem Abend von seinen unzähligen Krankenbesuchen nach Hause kam, fand er mich im Bett mit einem gesunden Jungen im Arm!“ „Und da blieb er auch!“ stellte Manfred schmunzelnd fest. „Ja, beinahe ein Jahr lang. Also nicht im Arm, sondern an der Brust! Ich dachte, warum sind die Kinder im Dorf gesund, warum gedeihen sie so herrlich, warum mußten meine eigenen beiden sterben? So beschloß ich, die einfache und weise Natur walten zu lassen. Ich trank literweise Milch, Ziegenmilch – Kuhmilch hatten wir nicht –, damit meine eigene Milchproduktion erhalten blieb. Ich ließ mir von Choksi zeigen, wie man ein Baby in einem Tuch auf dem Rücken trägt, und so trug ich Manfred, auch wenn ich ins Dorf ging oder wenn ich in unserem Gärtchen arbeitete. Oh, was für ein schönes Gefühl war es, den kleinen weichen, warmen Körper an der eigenen Haut zu fühlen, und wie richtig ist es, daß die Babies immer „Tuchfühlung“ mit der Mutter haben! Und wie herrlich war es zu merken, daß mein kleiner lebendiger Rucksack immer schwerer wurde! Er nahm prächtig zu, ohne feine Patentnahrung, ohne Kalorienausrechnen und – nunja, ohne alles, was besorgte europäische Eltern ihren Kleinen zukommen lassen. Das einzige war, daß er häufiger und gründlicher gewaschen wurde als seine kleinen schwarzen Spielkameraden. Er sprach Deutsch und Suaheli durcheinander, dann kam auch Englisch dazu. Aber lange, glaube ich, betrachtete er Suaheli als seine eigentliche Sprache!“ „Können Sie es noch?“ fragte ich. „Freilich! Meine Mutter und ich sprechen es manchmal spaßeshalber – oder wenn wir nicht wollen, daß andere Menschen uns verstehen!“ „Das muß eine große Umstellung für Sie gewesen sein, als Sie nach Deutschland kamen“, meinte ich.
„Das kann ich wohl sagen. Aber schließlich mußte ich ja eine Schulausbildung haben. Bis ich vierzehn war, hatte ich Muttchen als Lehrerin. Ja, sie war zum Glück Lehrerin von Beruf, bevor sie heiratete. Eines Tages waren die Kräfte meines Vaters zu Ende. Er hatte eine schwere Krankheit durchgemacht – Amöbenruhr –, und er sah wohl selbst ein, daß es nicht mehr so weiterginge. Also verließen wir schweren Herzens unser Häuschen und unsere guten Freunde da unten. Mein Vater, der Norddeutscher war, wollte in seine Heimat zurück. Nun ja, so kam es also, daß wir hier landeten. Nach ein paar Jahren kamen die Nachwirkungen der bösen Krankheit. Mein Vater bekam einen Leberabszeß – und dann –, ja dann waren Muttchen und ich allein.“ Eine Pause entstand. Dann stand Frau Ingwart auf. „Kinder, der Kaffee ist ja kalt geworden, ich mache schnell frischen. Ach, Manfred, zeig doch Fräulein Thams die Mansarde. Wenn es also wirklich Ihr Ernst ist – “ „Und ob!“ rief ich. „Ich bin ganz überglücklich bei dem Gedanken!“ Die Mansarde war nett und praktisch eingerichtet. Was ich brauchte, war alles da. Ein anständiger Schreibtisch, eine Kommode, das Bett in einer Nische mit Vorhang – herrlich, dann konnte kein Mensch es sehen, wenn ich keine Zeit gehabt hatte, das Bett zu machen! – und ein Bücherregal. Letzteres voll dicker Bücher, die sehr nach Fachliteratur aussahen. „Ja, es sind meine Bücher aus der Studienzeit“, erklärte Manfred. „Soll ich sie vorerst stehenlassen, vielleicht brauchen Sie sie?“ „Und ob ich das tue! Ich begreife nicht, wie ich zu all diesem komme. Wie habe ich es nur verdient, soviel Glück zu haben?“ „Was das betrifft“ sagte Manfred, „bin ich es, der Glück hat. Es ist mir eine große Erleichterung zu wissen, daß meine Mutter nicht allein im Haus ist. Es stimmt schon, daß sie „zäh“ ist, wie sie immer sagt. Und sie wird böse, wenn ich sie an ihr Bandscheibenleiden erinnere – das hat sie nämlich. Aber schließlich ist sie bald siebzig, sie sollte sich etwas schonen können.“ „Deswegen kommen Sie jedes Wochenende und erledigen das wöchentliche Großreinemachen?“ fragte ich. „Nun ja, das tue ich. Diesmal fahre ich aber leichteren Herzens weg, weil ich weiß – ja, übrigens, wann können Sie einziehen?“ „Morgen, wenn Sie wollen!“
„Aber das Semester ist bald zu Ende, dann fahren Sie doch wohl nach Hause?“ „Das steht noch gar nicht fest. Es ist möglich, daß ich mir für die Semesterferien einen Job suche. Das machen meine Freundinnen auch.“ Ich hatte bis zu diesem Augenblick keine Sekunde an einen Ferienjob gedacht. Ich mußte, mußte dieses Zimmer haben, wenn ich auch vorläufig nicht nach Hause kommen könnte. Ich mußte hierbleiben, bei der reizenden alten Dame, in diesem Häuschen, bei der hübschen Katze, in dem idyllischen kleinen Dorf – und – und – nun ja, da war also noch ein Grund! Nach einer weiteren Tasse Kaffee wollte ich aufbrechen. „Dann sehen wir uns am Samstag hier?“ fragte Manfred. „Ich muß ja leider noch heut abend nach Hamburg.“ „Heut! Aber du liebe Zeit, das muß ich ja auch! Fahren Sie doch mit! Ich hole ja immer Sonntagabend eine Freundin, die übers Wochenende ihren kleinen Sohn besucht!“ Wenn ich bloß Anke noch am Telefon erwische, damit ich sie orientieren kann! dachte ich. „Das paßt ja wunderbar, Fräulein Thams, wann fahren Sie?“ „Ich – ich habe versprochen, meine Freundin anzurufen und die Uhrzeit mit ihr zu verabreden“, log ich und bat in meinem Inneren um Verzeihung wegen der Lüge. „Anrufen können Sie hier“, sagte Manfred. „Das Telefon steht im Schlafzimmer meiner Mutter.“ Er führte mich dort hinein und ließ mich allein. Ich hatte die Nummer von Ankes Schwiegereltern aufgeschrieben und bekam Anke noch zu fassen. Sie wollte grade zum Bahnhof und war freudig überrascht, als ich versprach, sie in zwei bis drei Stunden abzuholen. „Wunderbar, dann kann ich selbst Peterchen baden und ins Bett bringen!“ rief sie begeistert. „Was hast du übrigens in Hamburg vor? Wieder etwas mit deinem Klaus?“ „Nein“, sagte ich. „Mit dem habe ich mich endgültig verkracht.“ „Gott sei Dank“, entfuhr es Anke.
Fahren wir gemeinsam! „Ich kann es nicht fassen!“ sagte ich. Wir hatten die ersten zehn Kilometer hinter uns. Wir fuhren die alte Strecke, wo wenig Verkehr war. Ich konnte mich mit gutem Gewissen mit meinem Mitfahrer unterhalten, was ich bei sehr starkem Verkehr nie tue. „Was können Sie nicht fassen? Daß Sie noch Ihren Theodor haben?“ „Ja, das, natürlich - und daß all meine Sorgen mit einem Schlag vorbei sind! Ich habe Urgroßmutters Ohrring wieder, und ich habe ein entzückendes Zimmer – “ „Bei Leuten, die Ihre Briefe nicht lesen“, ergänzte Manfred. „Und ich habe sogar die Aufgabe, der ich mich grade als – als – ja, was soll ich sagen – als Steckenpferd widmen wollte.“ „Was ist das für eine Aufgabe?“ Ich erzählte von meinem Plan, etwas für alte Menschen zu tun, ihnen die Einsamkeit ein bißchen aufzuhellen, ihnen Besorgungen abzunehmen. „Und jetzt habe ich es im Haus!“ sagte ich. „Sie können sicher sein, Ihre Mutter wird keinen vollen Mülleimer tragen und keine schwere Einkaufstasche, solange ich im Hause bin! Aber – über Tag werde ich ja weg sein!“ „Mir ist es eine große Beruhigung zu wissen, daß ein Mensch da ist, der jeden Abend heimkommt und sich vergewissert, daß meine Mutter nicht krank geworden ist und daß ihr nichts zugestoßen ist! Aber sagen Sie, wie kamen Sie auf den Gedanken mit der Hilfe für alte Menschen?“ „Ich kann es gern erzählen, auf die Gefahr hin, daß Sie über mich lachen!“ Ich erzählte von dem Präparat auf dem Seziertisch, von der Hand der alten Frau – erzählte es, so wie ich es Madeleine erzählt hatte. Manfred lachte nicht. Er saß still und horchte. Dann legte er einen Augenblick seine Hand auf die meine auf dem Steuer. „Was sind Sie für ein liebes kleines Mädchen“, sagte er, und seine Stimme war ganz sanft. Nachher erzählte er von seiner Arbeit, was mich natürlich brennend interessierte. Er machte jetzt einen Kursus im
Tropeninstitut. Dann wollte er im März eine Arztvertretung übernehmen. „Und da verdiene ich viel Geld!“ sagte er glücklich. „Es ist der praktische Arzt bei uns im Dorf, der endlich Urlaub machen wird. Er ist froh, daß er eine Vertretung kriegt, und ich bin froh, daß ich das Geld verdiene und zu Hause bei meiner Mutter bleiben kann, jedenfalls die vier Wochen.“ Ich wußte noch jemanden, der froh war! Ich segnete die Dunkelheit im Wagen. Er konnte bestimmt nicht sehen, daß mir eine heiße Rote in die Wangen schoß. „Und nachher?“ fragte ich. „Nachher werde ich für ein Jahr als Assistenzarzt im Tropenkrankenhaus arbeiten. Aber dann – “ „Wieso ,aber’?“ „Weil es dann problematisch für mich wird. Dann müßte ich ja eigentlich in die Tropen, um die Krankheiten an Ort und Stelle studieren zu können. Hier im Norden kriegen wir ja nie die ,frischen’ Fälle zu sehen. Ich möchte sehr gern in einem Krankenhaus in einer Hafenstadt arbeiten, Mombasa vielleicht oder Dar-es-Salaam – “ „Also unbedingt Ostafrika?“ „Am liebsten ja. Da kenne ich die Sprache, was natürlich ein großer Vorteil ist. Und – ich möchte so gern dorthin zurück. Wissen Sie, wenn man dieses Land einmal kennengelernt hat, wird man besessen. Man ist daran gebunden mit Herz und Seele, man sehnt sich immer zurück. So geht es meiner Mutter auch. Ich sehne mich nach der Natur, nach den weiten Steppen, nach dem herrlichen Tierleben, nach der Sonne, der Vegetation, nach den Farben – und nach den Menschen! Diese lieben Dunkelhäuter, die meine ersten Freunde waren! Und sehen Sie, Reni: In diesem Volke gibt es Hunderttausende, die Hilfe brauchen! Menschen, die in den entferntesten Winkeln des Landes wohnen. Menschen mit Lepra, mit Amöbenruhr, mit den scheußlichen Parasitenkrankheiten. Ich habe Menschen dahinsiechen sehen, weil ihr ganzes Innere von Hakenwürmern und anderen Parasiten aufgefressen wurde. Ich möchte versuchen, den Kranken zu helfen und den noch Gesunden klarzumachen, wie sie diese Krankheiten vermeiden und bekämpfen können! Sie trinken verseuchtes Wasser, sie baden in Gewässern, wo sie sich todsicher eine Bilharziose – eine der scheußlichsten Wurmkrankheiten – holen, sie werden mit Lepra angesteckt, weil sie die einfachsten Schutzmaßnahmen nicht kennen. Wenn Sie wüßten, wieviel da zu tun ist, wie dringend die Menschen Hilfe nötig haben!
Sie brauchen nur in irgendeine Stadt in den Tropen zu fahren, schon sehen Sie die Bettler, grauenhaft verstümmelte Menschen, die hockend, kriechend, oft erblindet, um Almosen bitten. Ich habe einen jungen Mann gesehen, der flach auf dem Bauch über die Straße kroch. Ich habe einen gesehen, der keine Arme hatte und die geschenkten Münzen mit dem Mund entgegennahm. Ich habe eine alte Frau gesehen, die zwei eitrige Höhlen statt Augen hatte – ich könnte noch viel mehr erzählen. Ist etwas nicht in Ordnung, will Theodor nicht mehr?“ Ich hatte am Straßenrand angehalten. „Theodor will schon“, stammelte ich mit zitternder Stimme. „Aber ich kann nicht fahren, während ich heule!“ Ja, ich weinte schon wieder, ich konnte nichts dafür! Wieder legte sich ein tröstender Arm um meine Schultern. Manfred fragte nicht, warum ich weinte. Er strich mir übers Haar, ließ mich in Ruhe, bis ich die Augen gewischt hatte, das Taschentuch wieder einsteckte und den Gang einlegte. „Es war wohl ein bißchen zuviel für Sie“, sagte er leise. „Sehen Sie, diese Schreckensbilder sind mir vertraut. Ich denke wohl nicht daran, daß es für einen anderen Menschen – “ „Es war gut, daß Sie’ es erzählten“, sagte ich. Dann schwiegen wir beide. Er gab mir Zeit, wieder zu mir zu kommen. „Sie sagten, Sie beherrschen die Sprache in Ostafrika“, sagte ich endlich. „Ich dachte immer, da gäbe es unzählige Stammessprachen.“ „Ja, das stimmt. Aber mit Suaheli kommt man immer durch. Natürlich kennt nicht jeder Mensch in jedem Dorf Suaheli, aber es findet sich immer jemand, der es versteht.“ „Man braucht also dringend Ärzte da unten?“ „Und ob! Man braucht junge, kräftige Ärzte, die die unmenschlichen Strapazen auf sich nehmen können. Viele der Ärzte sind ganz überarbeitet, sie haben jahrelang keinen Urlaub gemacht.“ „Warum vertreten Sie nicht lieber einen Arzt dort unten als in einem Dorf in Norddeutschland?“ „Vorläufig mache ich diese Vertretung, um Geld zu verdienen. Ich überlege immer, ob ich so leichtsinnig sein soll, für eine oder zwei Wochen runterzufahren und mich zu orientieren. Erstens wegen der Möglichkeit einer Vertretung, zweitens über die Frage, ob ich an einem Krankenhaus in einer Hafenstadt eine Zeitlang arbeiten
könnte.“ „Und Ihre Mutter?“ „Kommt mit! Herrgott, sie sehnt sich ja genauso zurück wie ich!“ „Lassen Sie doch das Autokaufen. Dann haben Sie genug für eine Flugkarte nach Afrika.“ „Ja, das sagen Sie so!“ „Im Ernst: Wegen dieser Wochenendfahrten brauchen Sie keinen Wagen. Ich bringe ja Anke sonnabends hin und hole sie Sonntag abend ab, dann hole ich Sie gleichzeitig und bringe Sie zurück. Und wie ist es mit Ihrer Vertretung, kriegen Sie dann den Wagen des zu vertretenden Arztes?“ „Ja, er hat es mir angeboten.“ „Na also! Dann warten Sie doch ein Weilchen.“ „Und ich soll es als ganz selbstverständlich hinnehmen, daß Sie meinetwegen jedes Wochenende zweimal nach Hamburg fahren?“ „Erstens ist es nicht Ihretwegen (lieber Gott, verzeih mir die Lüge!), zweitens ist das das Allerwenigste, was ich tun kann, nachdem Sie mir Theodor zurückgaben – und drittens – – “ Ich schwieg, und wieder kam diese verräterische Röte in mein Gesicht. „Ja, drittens?“ wiederholte Manfred leise. „Drittens – tu ich es gern. Furchtbar gern.“ Wieder eine kleine Pause. „Gut, Reni. Machen wir es vorläufig so. Warum sollen wir nicht gemeinsam fahren, wenn wir es beide gern tun?“
Count down Du lieber Himmel. Wie gut hatte ich es! Wie glücklich war ich! Ich ging von einer Freude zur anderen, mein Dasein war eine Kette von Annehmlichkeiten! Erstens konnte ich nun gleich am Montag morgen Frau Hansen mitteilen, daß ich am nächsten Tag ausziehen würde. Zweitens bekam ich Geld von Mutti. Drittens war ich nun ganz beruhigt in Puncto Ohrringe. Sie lagen sicher in einem Banksafe zusammen mit dem Kraftfahrzeugbrief und ein paar anderen wichtigen Papieren. Viertens ging es mit einemmal ganz großartig mit der Arbeit! Ich lernte schneller denn je, es machte mir plötzlich soviel Spaß. Im Präparierkurs wurde ich gelobt, in den Vorlesungen war ich aufmerksamer denn je und kriegte alles mit. Schlagartig hatte ich das Gefühl, daß ich gewaltige Fortschritte machte. Dann hatte ich nette Stündchen mit Jessica und Anke – kurz gesagt, alles war schön. Und das Allerschönste, das kann ich nicht ausdrücken. Es lebte in mir, es füllte mich, es gab mir Kraft und Arbeitsfreude, es war mein erster Gedanke morgens und mein letzter abends. Ich konnte im Wagen sitzen oder in meinem Zimmer – meinem geliebten Mansardenzimmerchen –, und plötzlich ging es wie ein Blitz durch mein Herz und meinen Kopf: Nur noch neunundfünfzig Stunden, dann fährst du nach Hamburg! Wieder hörte ich Manfreds Stimme, hörte seine Erzählung im Auto, als er mich zum Heulen gebracht hatte. Ich fühlte seinen Arm um meine Schultern, und zum ungezählten Mal hörte ich den sanften Klang seiner Stimme, als er sagte: „Warum sollen wir nicht gemeinsam fahren, wenn wir es beide gern tun?“ Als ich mit meinen Siebensachen bei Frau Ingwart aufkreuzte, wurde ich herzlichst von ihr und Kijana begrüßt. Sie bat mich, runterzukommen, wenn ich ausgepackt hätte, wir müßten ein paar Dinge besprechen. Es waren lauter praktische Fragen wegen Hausschlüssel, Badbenutzung und so weiter. Die Miete – niedriger als bei Frau Hansen – würde Vati direkt an sie überweisen. „Ja, noch eins“, sagte ich. „Darf ich meinen Eltern Ihre Telefonnummer geben für alle Fälle? Ich habe durchaus nicht vor, Ihr Telefon ständig zu benutzen, aber wenn mal Not am Mann wäre,
dürfen sie dann – “ „Aber selbstverständlich! Sie dürfen auch selbst telefonieren, wenn es was Wichtiges ist!“ „Dann müßte es sehr wichtig sein“, sagte ich. „Ich werde nie telefonieren, um ein ewiglanges Freundinnengeschwätz zu halten! Aber dann ist noch etwas: Jeden Donnerstag werde ich ziemlich spät nach Hause kommen. Ich sage es gleich, damit Sie Bescheid wissen.“ „Das ist doch Ihre Sache! Kommen Sie, wann Sie wollen! Hoffentlich ist er recht nett!“ Das letzte kam mit einem verschmitzten kleinen Lächeln. „Sie irren sich! Es ist kein „er“, es sind zwei „sie“! Zwei Nenntanten, meine Donnerstagstanten, bei denen ich mich mit zwei Freundinnen einmal in der Woche nudeldick satt esse – an „AntiMensa-Essen“, wie meine Freundin Jessica sagt! Ich werde ganz leise sein, wenn ich dann spät nach Hause komme, damit ich Sie nicht störe.“ „Übrigens“, sagte Frau Ingwart, „ich werde Sie auch nicht stören, das verspreche ich. Ich habe einen fleißigen Sohn und weiß, wie wichtig die Arbeitsruhe ist. Wenn Sie etwas auf dem Herzen haben oder sich einsam fühlen sollten, dann kommen Sie, ich werde mich jederzeit freuen. Aber ich werde Sie nicht mit Geplauder und KaffeeEinladungen und so was belästigen.“ „Nur eins müssen Sie mir versprechen“, bat ich. „Legen Sie bitte abends vor dem Zubettgehen Ihre Einkaufsliste auf die Konsole im Flur. Dann nehme ich sie mit und bringe Ihnen abends die Waren. So habe ich es mit Ihrem Sohn abgemacht.“ „Du liebe Zeit!“ seufzte Frau Ingwart. „Jetzt hat er Sie auch auf mich gehetzt! Das kann ja gut werden!“ Ich mußte lachen. „Es wird nicht gut, es ist schon gut, Frau Ingwart. Jedenfalls für mich!“ Als ich dann zwei Häkchen im Bad, zwei im Flur und einen kleinen Platz für meine Eßwaren im Kühlschrank bekommen hatte, war alles in Ordnung. Ich verabschiedete mich und ging nach oben. Ich zog den Vorhang der Bettnische zur Seite, um das Bett zu beziehen. Ich hatte eigene Bettwäsche, aber das, was bezogen werden sollte, hatte Frau Ingwart mir hingelegt. Da mußte ich laut lachen: Mitten auf dem Federbett lag Kijana friedlich zusammengerollt und schlief fest und sanft. Ich ließ ihn
schlafen. Das Bett konnte ich später beziehen! „Was ist mit dir geschehen, Reni?“ fragte Tante Christiane, als wir zu dritt eintrudelten. „Hast du zufällig sechs Zahlen richtig im Lotto getippt?“ „Nein, aber den großen Treffer in der Lotterie des Schicksals“, sagte ich. „Ich erzähle es bei Tisch!“ Jessica und Anke wußten schon, daß ich vor zwei Tagen umgezogen war. Die näheren Einzelheiten erfuhren sie aber erst jetzt. „Mensch, hast du ein Glück!“ rief Jessica. „Wann dürfen wir dich besuchen und deine neue Bleibe bewundern?“ fragte Anke. „Nächste Woche, vielleicht Donnerstag nachmittag, dann fahren wir nachher direkt hierher?“ „Nein, halt!“ mischte sich Tante Isa ein. „Nächster Donnerstag fällt auf Sonnabend, da kommen ja Sonja und Senta mit Ehemännern und außerdem mit einem Afrikafilm. Ja, Senta bringt Projektor und Leinwand mit. Wie ist es mit euch, bringt ihr eure Freunde mit?“ „Worauf du dich verlassen kannst!“ rief Jessica. „Falko freut sich schon auf das gute Essen!“ „Und du, Anke?“ „Leider Fehlanzeige“, sagte Anke. „Ich werde schon meine Wochenendfahrt ausnahmsweise ausfallen lassen, aber einen Freund kann ich nicht hervorzaubern. Der sitzt nämlich in München.“ Das war mir eine Überraschung! Ich hatte nicht geahnt, daß Anke einen Freund hatte. Aber wie freute ich mich für sie! „Und du, Reni?“ „Ich? Ja ich habe – ich meine – genügt es, wenn ich euch Anfang der Woche anrufe und Bescheid sage?“ Denn in diesem Augenblick war mir etwas eingefallen. Wenn überhaupt ein Mensch sich brennend dafür interessieren würde, Heiko und Sonja zu treffen, mit ihnen zu sprechen, ihren Film zu sehen, dann war es Manfred. Um das zu erleben, würde er es vielleicht über sich ergehen lassen, als mein Freund vorgestellt zu werden! Ich erzählte die Geschichte vom Ohrring, von Theodor, von Klaus’ Geschäftsmethoden, – ja, ich erzählte alles, von dem kleinen Häuschen, von meiner neuen Bude, von der äthiopischen Katze, natürlich auch von dem freundlichen Autokäufer, der sofort den Kauf rückgängig gemacht hatte.
Kurz gesagt, ich erzählte alles, bis auf eins: Daß ich zum ersten Mal in meinem Leben restlos, hilflos, vorbehaltslos verliebt war! „Wie früh kannst du am Samstag losfahren, Anke?“ fragte ich, bevor wir uns trennten. „So früh du willst – hast du wirklich die Absicht, mich hinzufahren?“ „Unbedingt. Kannst du schon um acht morgens?“ „Klar! Das ist mir sogar lieb, weil ich ja am nächsten Wochenende gar nicht hinkomme. Weißt du, die Möglichkeit, Sonja zu treffen, lasse ich mir nicht entgehen. Der Himmel allein weiß, wann sie sich das nächste Mal von ihrer Arbeit und ihrem Gepard und ihrem geliebten Afrika losreißen kann.“ „Also dann um acht, Anke!“ Dann hieß es wenden und zurückfahren, aus der Stadt hinaus. An einer Bushaltestelle trat ich plötzlich auf die Bremse. Denn da stand doch eine Gestalt, die – der Nacken da – und die Schultern – Dann drehte der Mann sich um, und ich sah sein Gesicht und gab wieder Gas. Ich mußte lachen. So weit war es mit mir gekommen, daß ich überall Manfred sah! Um acht wollten Anke und ich starten; um halb zehn würden wir da sein – um zehn konnte ich Manfred holen. Jetzt war es elf Uhr abends. Also in 24 Stunden – plus 11 – in 35 Stunden würde er sich neben mich in den Wagen setzen. Ich war zwanzig Jahre alt. An Freunden hatte es mir nie gefehlt. Ich hatte getanzt, hatte mit Jungen Ausflüge gemacht, hin und wieder war auch ein Küßchen gefallen. Aber dies hier – Ob er mich nur als ein kleines, unbedeutsames Etwas betrachtete? Ein kleines Mädchen, das eben getröstet werden mußte, weil es weinte? Nein. Als wir uns verabschiedeten, lag etwas in seiner Stimme – etwas – etwas, was mich zitternd glücklich machte. Ich fuhr langsamer. Ich war schon auf unserem kleinen Seitenweg. Es war dunkel im Haus, nur in Frau Ingwarts Schlafzimmer brannte noch die kleine Nachttischlampe. Ich bemühte mich sehr, Theodors Tür leise zu schließen, und ich machte die Haustür lautlos hinter mir zu und schlich auf Strümpfen die Treppe hinauf.
Auf meinem Bett lag Kijana. Ich nahm ihn auf den Arm, kraulte ihn am Hals. Er schnurrte zufrieden. Ich legte meine Wange an sein seidenweiches Fell. In diesem Augenblick hatte ich soviel Zärtlichkeit in mir. Es tat direkt gut, ein bißchen davon an den Mann – ich meine, an die Katze zu bringen. Ich ging ins Bett, stellte den Wecker. Wenn er morgen früh klingelte, würde ich bei Stunde 28 in meinem persönlichen count down sein!
Stunde Null „Sie sind so schweigsam, Reni!“ sagte Manfred. Das Hamburger Stadtgebiet lag hinter uns, ich hatte den vierten Gang eingeschaltet, und wir kamen flott voran. „Bin ich? Das liegt vielleicht daran, daß ich eigentlich so viel zu sagen hätte, daß ich nicht weiß, womit ich anfangen soll.“ „Fangen Sie mit meiner Mutter an. Wie geht es ihr?“ „Großartig! Sie schimpft jeden Tag!“ „Nanu?“ „Weil ich jeden Morgen den Mülleimer leere und ihn ausspüle und mit frischem Papier auslege.“ Manfred lachte. „Ach so! Nehmen Sie bloß keine Rücksicht auf das Schimpfen! Aus derartigen Anlässen hat sie mich die letzten zehn Jahre beschimpft!“ „Im Ernst, es geht Ihrer Mutter sehr gut, und ich habe es wunderbar bei ihr. Übrigens, tausend Dank, daß Sie mir Ihre Lehrbücher zur Verfügung gestellt haben! So habe ich grade achtzig Mark gespart!“ „Das freut mich. Es ist ja auch nötig, nachdem Sie um zweihundert Mark betrogen worden sind!“ „Nur halb so schlimm. Mutti hat mir extra Geld geschickt. Haben Sie etwas dagegen, daß wir durch Neumünster fahren? Ein Kaufhaus hat grade ein paar Sonderangebote, und ich soll doch für Ihre Mutter einkaufen.“ Manfred lachte. „Fahren Sie über Neumünster oder Paris oder Istanbul, ganz wie Sie wollen!“ „Oder über Nairobi“, schlug ich vor. „Ja, das am liebsten. Ich hätte nichts dagegen, mit Ihnen kreuz und quer durch Ostafrika zu fahren!“ Ich mußte schlucken vor lauter Glück! Er hätte nichts dagegen – das bedeutete jedenfalls, daß er mich leiden mochte. Plötzlich war es mir, als flögen kleine goldene Engel durchs Auto, und die Motorengeräusche waren Harfenklänge in meinen Ohren! „Übrigens“, sagte ich, „heut in einer Woche werde ich mit einem jungen Ehepaar zusammentreffen, das das wirklich gemacht hat. Ich meine, es ist durch Ostafrika gefahren.“ „Wirklich? Eine Gruppenreise mitgemacht, meinen Sie?“ „Das auch. Aber sie wohnen dort unten, in Nord-Kenya. Er ist
Zoologe und arbeitet in einem englischen Forschungsteam.“ „Sie Glückspilz!“ rief Manfred. „Ich glaube, ich gebe Ihnen eine Liste voller Fragen mit. Fragen Sie doch bitte – “ „Fragen können Sie selbst“, sagte ich. „Sie können herzlich gern mitkommen!“ „Im Ernst?“ „Ja, im Ernst. Zu meinen Donnerstagstanten. Nächste Woche sind sie ausnahmsweise meine Sonnabendstanten. Wir haben diesmal eine Einladung ‚mit Ehemann oder Freund’“. „Sie müssen mich also als Ihren Freund vorstellen?“ „Ja – a, das muß ich schon.“ Oh, diese verflixte Röte, die schon wieder auf meinen Wangen brannte! „Aber Reni, dann müssen wir uns ja wohl oder übel duzen?“ „Ja, das wäre wohl das beste.“ Mein Gesicht glühte. „Dann fangen wir doch sicherheitshalber gleich an? Damit wir in die Gewohnheit kommen?“ „Ja – wenn Sie wol – , wenn du willst!“ „Ich wüßte nichts, was ich lieber wollte! Was für gesegnete Donnerstagstanten!“ Ein kleiner goldener Engel saß lächelnd auf dem Lenkrad, ein anderer auf meiner Schulter. Ach, was sage ich da. Es war Manfreds Hand, die sich einen Augenblick auf meine legte. Und wer meine Wange küßte, war nicht ein goldener Engel, sondern Manfred. Und ausgerechnet in dem Augenblick mußte ich die Gedanken bei der Abzweigung in die Stadtmitte von Neumünster haben und bei den preiswerten Erbsendosen und Weinkrautdosen, die ich dort kaufen sollte! Es schien Manfred und seiner Mutter eine Selbstverständlichkeit zu sein, daß ich mit ihnen zu Mittag aß. Frau Ingwart fand es ganz großartig, daß er am nächsten Sonnabend zu den Tanten mitkommen durfte, um das „Afrika-Ehepaar“ zu treffen. Ich mußte alles erzählen, was ich wußte: wie die beiden eisern gespart hatten mit dem einen Ziel vor Augen, nach Afrika zu kommen, wie sie sich als Reiseleiter betätigt und auf dieser Reise die Verwalterin der Mary GreenStiftung kennengelernt hatten und wie ihnen durch sie das Glück in den Schoß gefallen war. „Afrika scheint ein merkwürdiges Land zu sein“, sagte ich. „Immer höre ich von Menschen, die afrikabesessen sind.“ „Du wirst es auch werden!“ versicherte Manfred. Wie schön war es, daß er „du“ sagte! – “Warte bloß, bis du da gewesen bist!“
„Du sprichst, als hätte ich schon die Flugkarte in der Tasche.“ „Na, das hast du wohl kaum, aber natürlich wirst du einmal hinfahren. Du mußt es dir eben von deinem Vater als Geburtstagsgeschenk wünschen, oder du mußt dir das Geld in den Semesterferien verdienen. Du sagst, daß dieses junge Ehepaar mit einem einzigen Ziel vor Augen gearbeitet hat. Tu doch das auch!“ „So wie du? Du hast ja auch das Ziel, dort zu arbeiten – du für die Menschen, so wie Heiko und Sonja für die Tiere. Überhaupt, es müßte schön sein, ein festes Ziel zu haben, sich hundertprozentig sicher zu sein, wofür man leben will!“ „Haben Sie denn kein festes Ziel, Kind?“ fragte Frau Ingwart. „Ich – ich glaube, ich fange jetzt an, eins zu sehen. Aber es liegt noch weit weg. Ich muß sehr viel arbeiten und schaffen, bevor ich es erreichen kann.“ Am Sonntag lud ich Manfred und seine Mutter zu einer Autofahrt ein. Frau Ingwart freute sich darüber wie ein Kind und genoß den Ausflug in die wunderschöne Natur. Die Luft war beinahe frühlingshaft. Die Umgebung von Kiel ist ja auch einmalig schön, es hat schon seinen Grund, daß sie „die Holsteinische Schweiz“ heißt. Daheim war Frau Ingwart dann redlich müde und brachte keinen überzeugenden Protest zustande, als Manfred und ich den Mittagsabwasch erledigten. „Wie wird es mit deinen Plänen für die Semesterferien?“ fragte Manfred. „Hast du schon einen Job, oder fährst du doch nach Hause?“ „Ich habe keinen Job, aber ich möchte recht gern einen haben. Vielleicht kann ich danach für ein paar Tage nach Hause und das Baby begutachten, das Ende März ankommen soll.“ „Ende März – “, wiederholte Manfred. Er sah aus, als dächte er an etwas Bestimmtes. „Sag mal, an was für einen Job hast du gedacht?“ „Ich weiß nicht so recht – vielleicht Autowaschen an einer Tankstelle – oder Serviererin. Am allerliebsten hätte ich natürlich etwas, was mit meinem Studium zu tun hätte. Vielleicht kann ich in einem Krankenhaus Böden aufwischen und Becken leeren!“ „Warum nicht versuchen, vertretungsweise irgendwo als Arzthelferin zu arbeiten? Arzthelferinnen sind rar!“ „Ja, aber ich kann ja nicht – ich weiß nicht, was man da alles machen muß!“ „Kannst du zum Beispiel Erste Hilfe leisten?“
„Ja, das habe ich gelernt. Heimkrankenpflege auch.“ „Und ich darf voraussetzen, daß du das Alphabet kennst?“ „Das Alphabet? Ja, das gehört zu den wenigen Sachen, die aus meiner Schulzeit hängengeblieben sind. Wenn du bloß keine Mathematik von mir verlangst!“ Manfred legte plötzlich das Geschirrtuch weg. „Borgst du mir Theodor für ein Stündchen?“ „Selbstverständlich, was hast du denn vor?“ „Sage ich dir nachher. Ich muß schnell machen. Schlüssel, Autopapiere – in deiner Handtasche? Vielen Dank, bis gleich!“ Was hatte er nur vor? Er dachte doch nicht etwa dran – Mein Herz sprang, als mache es einen Purzelbaum. Ob ich als Helferin für Manfred arbeiten dürfte? Ich räumte das Geschirr ein und setzte Kaffeewasser auf. Kijana kam und miaute, und ich legte frisches Futter auf seinen Teller. Dann hörte ich, daß Frau Ingwart aus ihrem Zimmer kam. „Nanu, wo ist mein unberechenbarer Sohn?“ „Er hat Theodor geborgt und wollte bald zurück sein“, sagte ich. „Soll ich den Kaffee aufbrühen?“ „Ach Kind, Sie haben wirklich genug getan, den Kaffee brühe ich auf, wenn mein Sprößling zurückkommt.“ Nach einer weiteren Viertelstunde erschien der Sprößling, vergnügt und lächelnd und mitteilungsbedürftig. „Reni, paß mal auf! Wärst du bereit, eine Woche auf Probe als Arzthelferin zu arbeiten und wenn das gut geht, nachher vier Wochen bei mir Helferin zu sein?“ „Ob ich – du lieber Himmel, und ob ich bereit bin!“ „Weißt du, in Doktor Sagenaus Praxis ist die Situation die, daß seine Frau als Helferin arbeitet. Sehr praktisch, nur hat das Ganze den Nachteil, daß die beiden nie zusammen Urlaub machen können. Wenn ein ganz fremder Arzt die Vertretung macht, muß eine Helferin da sein, die sich gut auskennt mit den tausend Sachen, die der vertretende Arzt nicht wissen kann. Die Helferin muß wissen, wo jedes Skalpell und jede Pipette sich befindet. Sie muß das ganze Karteisystem im Kopf haben. Sie muß wissen, wo jedes Wäschestück liegt, wo die Laborvorräte sind und wie und wann alles nachgefüllt wird.“ „Und das soll ich alles in einer Woche lernen?“ „Du sollst eine Woche zusammen mit Frau Sagenau arbeiten, ihr alles abgucken, sie kurz und klein fragen und dann zeigen, daß du
alles kapiert hast. Daß du keine Laborarbeiten machen kannst, spielt keine Rolle. Ich bringe dir schon das Wichtigste bei, einfache Urinuntersuchungen, Hämoglobinbestimmungen und so was. Das ist ja etwas, was jeder junge Anlernling sehr schnell begreift. Also, wenn du es dann gut schaffst, nimmt Dr. Sagenau seine Frau mit in den Urlaub, und wir beide werden den Laden schmeißen. Was sagst du dazu?“ „O Manfred – ich werde mir wahnsinnig viel Mühe geben. Ich möchte es ja so furchtbar, furchtbar gern. Ich werde es schon schaffen. Ich werde es schaffen!“ „Ach ja, richtig, ich muß ja bei dir einbrechen, Reni“, sagte Manfred, kurz bevor wir uns für die Rückfahrt nach Hamburg fertigmachten. „Ich brauche ein Buch, das oben bei dir steht.“ „Bitte sehr, ich laufe vor und sehe zu, daß das Zimmer einigermaßen ordentlich aussieht. Außerdem ziehe ich die Vorhänge vor die Nische, damit du nicht entdeckst, daß Kijana auf meinem Bett liegt“, rief ich und rannte nach oben. Gleich darauf kam Manfred. „Du hast dich ja gemütlich eingerichtet“, sagte er. „Gefällt dir das Zimmer?“ „Und wie! Ich fühle mich pudelwohl! Und wenn du wüßtest, wie ich meinen abhandengekommenen Ohrring segne! Ohne den wäre ich bestimmt nicht hier gelandet!“ Da legte Manfred seine Hände auf meine Schultern, seine Augen waren genau wie damals, als ich ganz verheult vor ihm stand. Ich begegnete seinem Blick – und alle Worte waren überflüssig. Er zog mich an sich, dicht an sich, und sagte ganz leise: „Ich segne ihn auch, Reni.“ Ich schloß die Augen. Ich hatte nie geahnt, daß es so schöne Augenblicke in einem Menschenleben geben kann.
Das Schicksal meint es gut mit mir „Du bist mir vielleicht eine!“ sagte Jessica. „Eine was?“ „Na, eben nur ,eine’. Du organisierst deine löbliche Altershilfe, Anke und ich laufen uns die Füße wund für unsere beiden Omas, und was tust du?“ „Viel mehr als ihr! Ihr geht einmal in der Woche zu euren Omas und kauft für sie ein und macht sauber, und was mache ich? Ich mache jeden Tag Besorgungen, ich kippe jeden Tag den Mülleimer aus, Sonntag habe ich abgewaschen und werde es weiterhin jeden Sonntag tun, und – “ „Gut, also bist du doch nicht ,eine’. Aber daß du es dir praktisch eingerichtet hast, das steht fest! Alles im Haus, nette Wirtin, Telefon, Badbenutzung und sogar Lehrbücher – und die Gelegenheit, deine „Altershilfe“ zu praktizieren!“ Ich lächelte. „Ja. Du hast recht. Ich habe ein unwahrscheinliches Glück gehabt.“ „So siehst du auch aus! Übrigens, wie wird es am Samstag, hast du nun einen Freund, den du zu den Tanten mitbringst?“ „Ja.“ „Aha“, sagte Jessica. Ich arbeitete wie ein Kuli. Das heißt wie ein geistig arbeitender Kuli. Ich schwänzte keine Vorlesung, ich las und paukte, wie ich es nie in meinem Leben getan hatte. Und es machte mir die größte Freude. Ich war einfach ungeduldig, wollte immer mehr und immer schneller lernen. Ich konnte Mutti und Vati schreiben, daß es mit meinen Studien sehr gut ginge, daß zwei Professoren mich gelobt hätten – und daß ich in den Semesterferien als Arzthelferin arbeiten wollte. Natürlich erzählte ich auch, wie reizend Frau Ingwart war, und erwähnte nebenbei, daß ich den Sohn, der nur zum Wochenende nach Hause kam, recht sympathisch fände. Bei meiner eifrigen Arbeit vergingen die Tage trotz allem schnell – und der Samstag kam. Ein Samstag, den ich nie in meinem Leben vergessen werde. Was hatten unsere Donnerstagstanten sich doch für Mühe gemacht! Das ganze Wohnzimmer war umgeräumt, im Hinblick auf die Filmvorführung. Im Eßzimmer war der Tisch ausgezogen und ganz reizend gedeckt.
„So, Mädels“, sagte Tante Christiane – „ja, ich meine nicht Sonja und Senta, die sind heut Ehrengäste, aber ihr drei, ihr müßt mir heut helfen. Anke, du holst die Teller aus dem Wärmeraum am Herd und stellst sie auf den Tisch. Jessica, du kümmerst dich um all die Blumen, die unsere Kavaliere gebracht haben. Reni, du legst das Gemüse auf und streust Petersilie auf die Salzkartoffeln. Wer von den Herren ist erfahren in puncto Bratenaufschneiden?“ Manfred meldete sich. „Ich habe soviel seziert, gnädige Frau, ich glaube schon, daß ich auch mit einem Braten fertig werde – “ „Was das betrifft“, sagte Heiko, „möchte ich bemerken, daß auch ein Zoologe sezieren kann!“ So kam es, daß Manfred und Heiko sich über dem riesengroßen Braten trafen, und schon fing das Gespräch an, das für uns von so großer Bedeutung werden sollte. Bei Tisch ging es äußerst lebhaft zu. Unzählige Fragen, Erzählen, Lachen, eine einmalige fröhliche Tischrunde. „Es ist doch eine Erleichterung, endlich den Unterschied zwischen den Zwillingen zu erkennen!“ lachte Tante Christiane. „Wenn Sonja keine Afrikabräune hat und ihre Haare normal lang trägt, kann kein Mensch den Unterschied sehen!“ „O doch“, lächelte Heiko Brunner. „Ich habe mich seltsamerweise nie geirrt!“ „Was ich mir auch sehr verbitten möchte!“ lachte Sonja. „Aber Rolf würde schon aufpassen. Er kennt uns nämlich auch auseinander.“ Ich saß Sonja gegenüber. So sah sie also aus, die junge Frau, die so verbissen zielbewußt gearbeitet hatte, die auf jeden Luxus verzichtet und eisern durchgehalten hatte, um das einzige Ziel zu erreichen: dorthin fahren zu können, wohin es sie immer hinzog. All ihre Kräfte, all ihr Können, ihr ganzes Leben für das Erhalten der Tiere und der Natur einzusetzen. Dabei sah sie wie eine ganz gewöhnliche, fröhliche junge Frau aus. „Was macht Ihr Gepardkind?“ fragte ich quer über den Tisch. „Sehnt sich nach Frauchen, hoffe ich jedenfalls!“ „Haben Sie Bilder von ihm?“ „Klar. Das heißt einen Filmstreifen, und nicht von ihm, sondern von ihr. Sie ist ein Mädchen und heißt Kito.“ „Hat sie so schöne Smaragdaugen?“ fragte Manfred.
„Eben! Und da ich nicht wußte, wie Smaragd auf Suaheli heißt, nannte ich sie – “ „Edelstein“, ergänzte Manfred. „Wie sind Sie überhaupt zu dem Tier gekommen?“ Über Sonjas Gesicht ging ein Schatten. „Ein Freund von uns brachte sie mir. Das Muttertier war in eine Drahtschlinge geraten. Es blieb unserem Freund nichts anderes übrig, als ihm den Gnadenschuß zu geben. Ja, er ist Wildwart und riskiert jeden Tag sein Leben im Kampf gegen die Wilderer! Neben dem armen halbtoten, gepeinigten Tier lag ein totes Junges und eins, das noch schwache Lebenszeichen von sich gab. William – unser Freund – wickelte es in seine Jacke, flößte ihm etwas Wasser ein – das arme Ding war kurz vor dem Verdursten – und brachte es mir. War das vielleicht eine Arbeit, das arme kleine Wesen über den Berg zu bringen! Ich klaute Pipetten aus unserem Labor und fütterte meine Kito mit Dosenmilch, ich ließ Babynahrung aus einer Apotheke in Nairobi kommen, und wir schafften es! Jetzt ist Kito groß und kräftig. Ihr werdet sie gleich sehen! Sie ist anhänglich wie Bicky und genauso zahm. Wir lieben und verwöhnen sie um die Wette. Und für mich ist es – ja, wie soll ich es ausdrücken, es ist mir, als habe ich ein Stück des herrlichen afrikanischen Wildlebens im Haus. Ich habe ein richtiges wildes Tier, das mein Freund ist, nachdem ich so oft in Zoos auf der verkehrten Seite des Gitters stand und immer nur gucken durfte. Jetzt balgen wir uns, Kito und ich, oder wir halten unser Mittagsschläfchen zusammen. Sie liebt es, ihren Kopf auf meine Brust zu legen. Es ist so schön, daß – ja, daß mir die Worte einfach fehlen!“ Dann saßen wir im Wohnzimmer beim Kaffee. Bicky kam zu mir wie immer. Aber sie sprang nicht auf meinen Schoß. Sie blieb stehen, schnupperte mißtrauisch an meinem Kleid, machte kehrt und ging rüber zu Sonja. „Nanu, was ist denn mit Bicky los?“ fragte Jessica. „Hast du sie beleidigt, Reni?“ „Ach, sie schnuppert bestimmt Kijana“, erklärte ich. „Er schmust ja immer mit mir und schläft in meinem Bett!“ Ein dreistimmiges Lachgebrüll war die Antwort. Sonja lachte, daß ihr die Tränen kamen, Heiko und Manfred konnten vor Lachen kein Wort rausbringen. „Reni!“ kam es endlich von Manfred. „Weißt du, was du gesagt hast? Weißt du, wie das klingt bei Menschen, die täglich Suaheli
sprechen und nicht wissen, wer Kijana ist? Du hast behauptet, du schmusest mit einem Jüngling, der in deinem Bett schläft!“ Nun schrien die anderen auch vor Lachen, und es dauerte ein paar Minuten, bis ich dazu kam, zu erklären, wer Kijana war. Endlich kamen wir zu der Filmvorführung. „Es ist nur mein persönlicher, sehr laienhafter Film“, sagte Sonja. „Unsere Männer im Team, besonders mein eigener, drehen ja richtige Filme, die sich sehen lassen können. Ihr dürft hier nicht allzu große Erwartungen haben!“ Der Film war aber gut. Er zeigte das primitive Wohnhaus und das Labor des Forscherteams, dann ein Versteck, das sie für Kamera und Kameramann gebaut hatten, damit man die wildlebenden Tiere in Ruhe filmen konnte. Wir sahen Szenen aus der täglichen Arbeit, dann kamen die Aufnahmen von Sonja mit ihrem herrlichen jungen Gepard. Dann ein sehr dunkler Streifen, wo man eben noch ein paar Tiere ahnen konnte. „Ja, was soll ich tun?“ sagte Sonja. „Wenn eine Genette sich zeigt, dann drehe ich los mit Optimismus und Gottvertrauen. Ich kann ja keinen Scheinwerfer auf das Tier richten! Hier ist übrigens etwas ganz Süßes. Was sagt ihr zu diesem Erdhörnchen? Ja, da kommt wieder was Großes…“ „Das ist doch eine Netzgiraffe!“ rief Manfred. „Und da – GrevyZebras – Frau Brunner, haben Sie dies in dem Uasogebiet gedreht?“ „Stimmt. Wir verbrachten einmal unser freies Wochenende in Samburu Lodge und machten von dort eine Pirschfahrt – ja, da ist einer der berühmten Gerenuks, die auch hier leben – da eine Herde Oryxantilopen – wieder ein Gerenuk – “ Wir riefen laut durcheinander vor Begeisterung. Ein bildschönes, schlankes Gazellentier stand auf den Hinterbeinen und streckte den langen schlanken Hals, holte sich Blätter von einem Baum. Leider war die Szene allzu kurz, so was Schönes hätte ich stundenlang anschauen können! Zuletzt kam eine Aufnahme von dem Lodge mit all den kleinen Gästehäuschen an einem Fluß. „Da kann man auch Krokodile sehen!“ erklärte Heiko – und der Film war zu Ende. Die Fragen prasselten über die beiden „Afrikaner“ nieder. „Sie wohnen also nicht allzu weit von Uaso?“ fragte Manfred. „Nur einen Katzensprung – mit unserem Kleinflugzeug“, erklärte Heiko. „Etwa anderthalb Flugstunden.“ „Ohne Flugzeug geht es wohl nicht bei den Entfernungen“,
meinte Manfred. „Nein, das stimmt. Sie haben bestimmt von unseren fliegenden Ärzten da unten gehört?“ „Natürlich. Wenn das damals üblich gewesen wäre, als mein Vater in Tanzania arbeitete, dann wäre er auch ein fliegender Arzt gewesen und hätte sich nicht so schnell überanstrengt. Na, ich werde dann wohl fliegen lernen müssen!“ „Ja, das rate ich Ihnen! Wann kommen Sie uns besuchen?“ „Am liebsten gleich, aber – nun ja, mal sehen. Ich möchte vorerst nur nach Nairobi und Mombasa, um mich zu orientieren, und dann wieder nach Hause und weiterlernen. Aber es wäre schon wertvoll für mich, wenn ich mit ein paar Menschen da unten sprechen könnte.“ „Doktor Ingwart!“ rief Tante Isa. „Ich kann Ihnen einen Tip geben! Ich habe grade einen Prospekt von einem Reiseunternehmen bekommen. Sie können für weniger als achthundert Mark FrankfurtNairobi und zurück fliegen und eine Woche in Nairobi bleiben! Machen Sie das doch, lassen Sie das Hotel in Nairobi links liegen, fahren Sie nach Mombasa.“ „Und zu uns!“ rief Sonja. „Sie ahnen nicht, wie begeistert wir sind, wenn wir mal ein neues Gesicht sehen!“ „Wir holen Sie in Nairobi ab“, sagte Heiko. „Und machen eine Pause in Samburu. Heiko kann wunderbar auf dem komischen kleinen Flugfeld da landen! Wir zeigen Ihnen alles, was Sie grade auf dem Film gesehen haben!“ Manfred guckte von dem einen zum anderen, zuletzt blieb sein Blick an mir hängen. „Ja, wenn man es so preiswert machen kann, dann – – darf ich Ihnen schreiben, wenn es soweit ist?“ „Und ob! Ich werde Kuchen backen und Kito eine rosa Rosette um den Hals binden“, sagte Sonja. „Und Sie mit einem der fliegenden Ärzte’ zusammenbringen“, versprach Heiko. „Das wird eine inhaltreiche Woche“, meinte Tante Christiane. „Das Dumme ist, daß man bei dieser superbilligen Reise den Aufenthalt nicht verlängern kann – ja, ich habe auch den Prospekt studiert – aber andererseits – “ „Anderseits ist eine Woche genau sieben Tage mehr als nichts“, stellte Manfred fest. „Ein Tag in Nairobi – die Nacht im Zug – Tag in Mombasa – nachts zurück – zwei Tage Uaso, Übernachtung in
Samburu Lodge – “ „Und zweieinhalb Tage bei Kito und uns!“ rief Sonja begeistert. „Kommst du mit, Reni?“ Sie merkte anscheinend nicht, daß sie mich duzte – mir war es schon recht! „Ja“, sagte ich. „Wenn Manfred mich mithaben will!“ „Daran soll es nicht scheitern“, versicherte Manfred. Es wurde sehr spät, bevor wir endlich aufbrachen. Die Zwillinge mit ihren Ehemännern zwängten sich in Rolfs Miniauto, den Rest der Gesellschaft stopfte ich in Theodor rein und verteilte sie, wo sie hingehörten. Dann waren wir allein im Wagen, Manfred und ich. „Reni“, sagte er und legte seine Hand auf meine. „Wenn ich daran denke, daß wir beide in absehbarer Zeit vielleicht nach Uaso kommen, dann – “ „Kennst du die Gegend schon? Ich denke, Uaso liegt in Kenya, du hast doch in Tanzania gewohnt?“ „Nein, ich war nie dort. Aber ich habe etliche Filme davon gesehen und bin ganz wild darauf, dort hinzukommen. Das ganze Reservat ist ja voller zoologischer Seltenheiten.“ „Ich denke, du interessierst dich für die Menschen mehr als für die Tiere?“ „Für beides“, sagte Manfred. „Natürlich denke ich in erster Linie an die unzähligen Menschen, die Hilfe brauchen. Aber wer einmal in Ostafrika gewesen ist, denkt immer an diesen unfaßbaren, diesen überwältigenden Tierreichtum zurück, und man hofft und betet, daß er erhalten bleibt! Ach, Renilein, du ahnst ja nicht, was für Aufgaben es da zu lösen gibt! Auf Heiko Brunners Gebiet und auf meinem. Ich habe dir etwas von den furchtbaren Krankheiten erzählt. Wie viele Menschen, glaubst du, hätte man retten können, einfach durch Aufklärung? Wenn du wüßtest, wie hoch zum Beispiel die Säuglingssterblichkeit ist – “ „Aber deine Mutter sagte doch – “ fing ich an. „Muttchen war wohl damals nicht imstande, die Situation richtig zu sehen. Sie sah nur all die gesunden Kleinen und dachte nicht an all die, die schon in den ersten Lebenswochen gestorben waren. Sie sah wohl nur all die molligen kleinen schwarzen Babys, die quietschvergnügt in ihrem Tuch auf dem mütterlichen Rücken hingen.“ „Also braucht man auch Kinderärzte“, sagte ich.
„Und ob man sie braucht!“ Wir schwiegen eine Weile. Vielleicht dachten wir an dasselbe. „Sag mal“, fragte Manfred nach einer Pause. „Was werden deine Eltern dazu sagen, wenn du mit einem Mann ganz einfach nach Afrika fliegst? Sind sie so großzügig, daß sie da nicht protestieren würden?“ „Großzügig sind sie schon“, sagte ich. „Aber ich gebe zu, daß ich grade diese Art der Großzügigkeit bei ihnen noch nicht beansprucht habe!“ Wieder schwieg Manfred. Dann kam es: „Einen Ausweg gäbe es natürlich.“ „Welchen denn?“ fragte ich und bog ein in unseren holprigen Hasensteg. „Bevor wir losfahren, könnten wir ja heiraten“, sagte Manfred. „Wenn du nichts dagegen hast.“
Ein Jahr später Ich sitze in meiner Mansarde im Hasensteg 21. Hier habe ich all meine Bücher und meinen Kram. Aber die Bettnische hat Kijana jetzt allein, ganz für sich. Denn unser Schlafzimmer ist unten, hinter dem Wohnzimmer. Ich habe heute einen Brief von Sonja bekommen. Er liegt hier vor mir, mit seiner blauen „Air-Mail“-Marke und den hübschen Briefmarken aus Kenya. „Frau Irene Ingwart“, steht da mit Sonjas klarer Handschrift. Ja. So heiße ich seit einem dreiviertel Jahr. Ich habe Sonjas Brief gelesen, und er hat die Erinnerungen aus dem letzten Jahr wieder so nahe gebracht. Alles, was wir erlebt haben seit dem denkwürdigen Samstagabend bei den Donnerstagstanten. Als das Semester zu Ende war, hatten wir grade Zeit, für zwei Tage nach Hirschbüttel zufahren. Jessica wurde in meiner Mansarde installiert, mit dem strengen Bescheid, auf Muttchen aufzupassen und ihr schwere Eimer und Taschen aus der Hand zu reißen. Als ich am ersten Abend in Hirschbüttel Papa gute Nacht sagte, strich er mir übers Haar: „Dies hätte ich nicht gedacht, mein Mädel!“ „Daß ich einmal heiraten würde?“ „O doch, damit habe ich schon gerechnet. Aber daß du so viel Vernunft in deiner Wahl zeigen würdest!“ „Mit anderen Worten, du magst Manfred?“ „Das kann ich wohl sagen. Übrigens kannst du dich morgen ein paar Stunden mit Mutti unterhalten, denn ich habe mit Manfred zu reden; daß du es nur weißt.“ Ich half Mutti, das Babykörbchen zurechtzumachen, und wir hatten weiß Gott keine Schwierigkeit, die Zeit totzuschlagen! Die beiden Mannsbilder tauchten erst aus Papas Zimmer auf, als das Mittagessen auf dem Tisch stand. „So ein Starrkopf!“ sagte Papa und schlug Manfred auf die Schulter. „Aber Gott sei Dank, klug ist er auch und hat wohl eingesehen, daß der Klügere nachgibt!“ Zwischen dem Brathuhn und dem Pfirsichkompott erfuhren Mutti und ich, worin Manfreds Klugheit bestand. Er hatte sich nach zweistündiger Überredung meines Vaters
damit einverstanden erklärt, 1. daß ich vorerst meinen Monatswechsel wie bisher haben sollte, 2. daß wir als Hochzeitsgeschenk eine dreiwöchige Afrikareise bekamen, und 3. daß Papa ihm helfen durfte, die sehr gründliche Ausbildung zu kriegen, die ein Arzt haben muß, bevor er in Afrika ein „fliegender Arzt“ werden kann. Papa war erstaunlich gut im Bilde. Ich ahnte nicht, daß er über die Verhältnisse in Ostafrika stoßweise Bücher gelesen hatte! „Was ist mit Chirurgie?“ fragte Vati. „Was mit Geburtshilfe?“ „Das stimmt, damit muß ich mich schon beschäftigen“ sagte Manfred sehr zahm. „Na also. Siehst du, ich interessiere mich doch so brennend für die ganze Entwicklungshilfe, und wenn ich nun dir ein bißchen unter die Arme greife, dann helfe ich ja auch den Menschen da unten! Es dauert noch fünf Jahre, bis Reni ihr Staatsexamen machen kann. Lerne alles, was du brauchst, nutze diese fünf Jahre aus. Meinetwegen kannst du gern zwischendurch eine Vertretung machen, damit du Geld verdienst – aber du brauchst Zeit für die Chirurgie und die Geburtshilfe, – und Kinderheilkunde!“ „Halt!“ rief ich. „Ich werde Kinderärztin! Worauf ihr euch verlassen könnt!“ Ich schaffte die Probewoche in Dr. Sagenaus Praxis, und dann kam der feierliche Augenblick, wo Manfred und ich allein da waren und die ganze Verantwortung trugen. Da gab es vielleicht zu tun! Ich war todmüde, wenn ich abends nach Hause kam, und konnte kaum begreifen, wie Manfred es durchhielt. Er hatte ja die ganze Besuchsrunde zu machen. Es kam auch vor, daß er mitten in der Nacht weg mußte. Es wurde mir klar, daß ein Landarzt dringend Urlaub braucht! Eines Tages, als unsere Vertretung zu Ende ging, klingelte das Telefon kurz nach der Sprechstunde. Es war unser München. „Renilein, störe ich nicht? Na das ist ja gut. Hier ist ein Telegramm für dich, soll ich es aufmachen?“ „Ja bitte, bitte!“ ich hörte Papierrascheln und drückte den freien Daumen – einer lag am Telefonhörer. „Hörst du, Reni?“ „Und ob ich höre!“ Muttchen las langsam und deutlich: „Gut angekommen. Ich grüße Schwester und Schwager. HansWolf gang.“
Ich schrie so laut vor Freude, daß Manfred vor Entsetzen hochsprang. Ich schlang meine Arme um seinen Hals: „Manfred! Ein Junge! Ein Junge! Ich habe einen Bruder!“ Und dann fing ich an, vor Freude zu heulen! An einem sonnigen Frühjahrstag standen wir vor dem Altar in der Kirche, in der ich zwanzig Jahre vorher getauft worden war. Ich soll damals so geschrien haben, daß man kaum die Worte des Pastors hören konnte. Ich hatte Papa feierlich versprochen, diesen Skandal nicht zu wiederholen. Ich trug Madeleines Brautkleid und Urgroßmutters Ohrringe. Jessica und drei meiner alten Schulfreundinnen waren Brautjungfern. Mutti war wieder gertenschlank und hübscher denn je, Vati strahlte wie die Sonne, und unser Muttchen wischte sich ein paar Tränen der Rührung von den Wangen. „Wenn meine einzige Tochter heiratet, wollen wir eine richtige Hochzeit haben!“ hatte Vati bestimmt. Also waren Verwandte und Freunde von nah und fern gekommen. Daß die beiden Donnerstagstanten dabei waren, war mir eine große Extrafreude! Dann ging es zurück zum Hasensteg 21. Manfred hatte dies und jenes zu tun, da flatterten Luftpostbriefe zwischen ihm und Mombasa, zwischen ihm und Nairobi und zwischen mir und Sonja. Als die Regenzeit da unten vorbei war, wurde es Ernst. Wir brachten Muttchen und Kijana nach Hirschbüttel und installierten sie in Madeleines Zimmer. Meins wurde von dem lautstarken Stammhalter bewohnt. Wir küßten die Familie ab, setzten uns wieder in den Wagen und fuhren nach Frankfurt. Als wir im Flugzeug saßen, fürchtete ich einen Augenblick, daß ich gleich aufwachen und mich selbst in der Bude bei Frau Hansen wiederfinden würde. So schön könnte doch nur ein Traum sein! Unsere Ostafrikareise übertraf meine tollsten Erwartungen. Wenn ich jetzt an meinem Arbeitstisch sitze und die Augen zumache, sehe ich noch den Obstmarkt in Nairobi, wo ich für zwei Mark eine Unmenge reife Mango und Passionsfrüchte kaufte. Ich sehe das ganze, bunte Straßenleben, all die schwarzen Gesichter, die wachen – und sehr geschäftstüchtigen! – braunen Augen. Ich sehe die Elefantenzähne über Kilidini Road in Mombasa, und ich sehe die Bettler, auf die mich Manfred vorbereitet hatte und die doch einen gewaltigen Eindruck auf mich machten. Und ich spürte, stark und
bewußt, einen Drang zum Helfen! Und was konnte ich tun? Ein paar Münzen hinlegen – nichts weiter. Vorläufig! Aber eines Tages komme ich zurück, dann werde ich etwas für euch tun! Das versprach ich mir und ihnen. Wir machten eine Flugsafari in die bekannten, tierreichen Gebiete in Kenya und Tanzania. Ich habe Serengeti erlebt, ich habe die Baumlöwen in Manyara gesehen, ich war im Ngorongorokrater. Wir haben auf dem herrlichen Naivashasee eine Bootsfahrt gemacht, und wir haben in dem bezaubernden Klubhaus am Baringosee übernachtet. Die letzte Woche war die schönste. Wir waren zurück in Nairobi, und da wurden wir per Kleinflugzeug von Heiko und Sonja abgeholt. Zwei wunderbare Tage verbrachten wir bei ihnen und ihren netten Mitarbeitern, einem schwedischen und einem englischen Ehepaar. Ich durfte mit Kito spielen, wir fuhren per Landrover raus ins Gelände mit William, dem netten Wildwart, der mit Heiko und Sonja befreundet war. Wir schliefen nachts in einem „Gästezelt“ und hatten es schöner denn je! Dann flog Heiko uns ins Uasogebiet, und wir wohnten drei Tage in dem bezaubernden Samburu-Lodge, das aus lauter kleinen Häuschen besteht, jedes Haus für zwei Personen. Dreimal machten wir Pirschfahrten und erlebten alles, was wir auf Sonjas Film gesehen hatten: Wir sahen die Dikdiks, die Netzgiraffen, die Oryxantilopen, die bildschönen Giraffengazellen und die schönen, feingestreiften Grevyzebras mit ihren großen, runden Ohren. Zwischendurch schwammen wir im schönen Schwimmbecken des Lodges oder saßen mucksmäuschenstill und warteten auf die niedlichen Erdhörnchen, die sich bis zum Beckenrand heranwagten, um die hingestreuten Brotbissen zu sammeln. Dann saßen sie auf den Hinterbeinchen und zeigten ihr hübsches weißes Bäuchlein, stützten sich auf den buschigen Schwanz und knabberten so eifrig wie unsere Eichhörnchen in Europa. Ich hätte Wochen dort verbringen können. Aber die Pflichten warteten zu Hause auf uns. Ich stieg ins zweite Semester, und Manfred trat seine Stellung als Assistenzarzt im Tropenkrankenhaus an. Wir sehen uns viel zu selten. Wenn er übers Wochenende nicht Dienst hat, kommt er nach Hause – im eigenen Wagen! Papa hatte noch einen Vertreterwagen zu vergeben, der Gute! Und wenn mitten in der Woche die Sehnsucht zu groß wird, fahre ich mit Theodor für
ein paar Stunden zu ihm. Aber dieser Zustand dauert ja nicht ewig. Bald sind wieder Semesterferien, dann ziehe ich zu meinem Mann, und in einigen Monaten ist sein Assistentenjahr zu Ende, dann wird er in Kiel in einer Unfallklinik arbeiten und hier zu Hause wohnen. Oh, es geht schon vorwärts mit uns! Wir werden es schaffen! Zwischendurch kriege ich Briefe von Sonja. Wir haben uns richtig befreundet bei unserem Besuch dort im Sommer. Heut kam wieder einer. Der, der hier vor mir liegt. Ich lese ihn noch einmal, und es tut weh – es tut so furchtbar weh – und ich frage mich immer, wieder wieso es möglich ist – warum muß so was passieren? „Liebe Reni, erwarte heut keinen fröhlichen Brief. Ich bin ganz geknickt, ich habe zwei Tage geheult – ich muß es mir von der Seele schreiben. Ach, das ist Quatsch, ich kann es ja nicht loswerden, aber ich muß es einem Menschen erzählen. Unser William ist tot. Unser guter, lieber William. Es ist nicht zu fassen. Vor zwei Tagen wurde er schwerverletzt hierher gebracht. Du weißt selbst, wie weit es zum Arzt ist. Er war von Wilderern angeschossen worden. O Reni – wenn Ihr bloß dagewesen wäret! Wenn Manfred dagewesen wäre! Wer weiß, vielleicht hätte er William, den Vater von vier Kindern, retten können. Wir gaben über Funk Bescheid an das Krankenhaus in Nairobi, und Heiko flog gleich mit William los. Ich war mit. Ich saß neben William, ich sah, wie er jede Minute matter wurde, ich hielt seine Hand, und ich versuchte die undeutlichen Worte zu verstehen, die er flüsterte. Ich mußte mein Ohr dicht an seinen Mund legen, und ich verstand nur drei Worte, die mühsam über seine Lippen kamen: „Chui – katika – mtego – “ Leopard in Falle – das war es, was er mir erzählen wollte. Dann flüsterte er etwas über Frau und Kinder – „mke“ – „watoto“ – dann fielen seine Augen zu. Ich sagte ihm, er solle sich keine Sorgen machen, wir würden uns um die Familie kümmern. Ich weiß nicht, ob er es gehört hat. Ich bildete mir ein, daß ich einen ganz, ganz schwachen Händedruck fühlte. Dann wurde es still, und Williams Lippen wurden blaß, und sein liebes, schwarzes Gesicht war ganz unbeweglich. Als wir in Nairobi landeten, wo der Krankenwagen bereit stand, war William tot. Reni, verstehst du, daß ich zwei Tage geheult habe?
Ein Mann, ein guter, wertvoller Mensch, tat seine Pflicht. Er war Wildwart aus Überzeugung, er liebte die Natur, er liebte sein Land mit dessen Tierreichtum. Erlebte glücklich mit seiner Frau und vier Kindern. Er war erst zweiunddreißig, ein junger, nützlicher Mensch, ein durch und durch guter Mensch. Irgendein Unbekannter, ein Mann, der Geld braucht und weiß, daß er ein paar tausend Schilling für ein Leopardenfell kriegen kann, ein gewissenloser Schuft steht in Gefahr, erwischt zu werden. Er sieht William kommen – und er schießt und trifft William in die Brust! Demnächst wird irgendeine reiche Dame, vielleicht in Europa, das Fell von diesem Leoparden tragen. Die Frau eins reichen Mannes, der damit angeben will: Seht bloß, wie weit ich es gebracht habe, ich kann meine Frau in die teuersten Felle hüllen! Diese Frau ist nicht nur ein Tierquäler. Sie ist eine Mörderin! Ja, ich möchte es ihr ins Gesicht schreien: Sie Mörderin! Sie haben schuld, daß vier Kinder vaterlos geworden sind. Sie sind schuld an den Tränen einer verzweifelten jungen Witwe! Denn es sind Williams Frau und seine Kinder, die das Fell bezahlt haben, es ist William, der es bezahlt hat mit seinem Leben. Entschuldige mich, Renilein. Es tat gut, dies loszuwerden. Aber ich fühle mich so verzweifelt machtlos. Was kann ich tun – was soll ich bloß tun? Kito kommt grade und legt ihren Kopf auf meinen Schoß. Ich zittere um sie. Seit einiger Zeit lasse ich sie im Zwinger, und dann fahren wir mit ihr raus, lassen sie laufen, behalten sie aber immer im Auge und rufen sie zurück. Allein darf sie keine Ausflüge machen. Oh, die verdammten Fallen und Drahtschlingen! Wir führen ein sonderbares Leben. Aber ich würde mit keinem Menschen auf der Welt tauschen. Du wirst dasselbe erleben, Reni. Eines Tages wirst du auch irgendwo in einem entlegenen Dorf sitzen, du wirst einen überarbeiteten Mann haben, du wirst selbst schuften und kämpfen und Menschenleben retten, und mitten in Arbeit und Kampf gegen Krankheit und Tod wirst du fühlen, daß du mit niemandem tauschen möchtest. Du wirst wissen, daß du eine Lebensaufgabe hast, zusammen mit dem Mann, den du liebst.“ Muttchen rief mich zum Abendbrot. Ich warf einen Blick in das Fernsehprogramm, schaltete den Apparat ein und gleichzeitig das Tonbandgerät. Wenn es interessante Fernsehsendungen gibt, nehme ich immer den Ton auf, damit Manfred wenigstens den hört, auch
wenn ich ihm nicht das Bild aufheben kann! Aber das kommt ja noch, erfunden ist es schon, es muß nur billiger werden! „Was gibt es, Reni?“ fragte Muttchen. „Ein Programm über Raubkatzen. Eine neue Folge in „Sterns Stunde.“ Die Sendung war hochinteressant. Dies hätte Sonja sehen müssen – und Heiko – ach was, sie konnten die herrlichen Tiere ja in der freien Natur sehen. Da wurde auch etwas über die Leopardenfelle gesagt! Ich horchte auf. Ja – daß jetzt ein internationales Übereinkommen über eine absolute Schonzeit besteht – und daß der Schwarzhandel zugenommen hat. Zuletzt wurden ein paar Zeilen aus einem Brief vom Direktor der Nationalparks in Kenya vorgelesen. Nachher war ich froh, daß ich das Tonbandgerät angeschlossen hatte. Dann konnte ich den Schluß wieder und wieder spielen, bis ich ihn auswendig konnte: „Das Schmerzlichste ist zu wissen, daß einige unserer besten Leute sterben müssen, nur weil eine Frau irgendwo auf der Welt als Statussymbol einen Mantel aus Leopardenfellen wünscht. Ein solcher Mantel ist wunderschön, teuer und – illegal. Nur dann, wenn ein solcher Bedarf nicht bestünde, gäbe es keinen bewaffneten Kampf und unser Leben wäre nicht unaufhörlich in Gefahr. Können diese Frauen das nicht verstehen?“ Die Sendung war zu Ende, ich schaltete den Apparat aus. „Nun, Kind? Du siehst so gedankenvoll aus?“ „Ja, Muttchen. Ich denke ja auch! Ich denke daran, daß die Arbeit für Mensch und für Tier Hand in Hand gehen muß. Ich denke daran, daß man nicht unbedingt nach Afrika, fahren muß, um die Leoparden zu schützen, oder nach Indien, um die Tiger zu schonen, oder nach Amerika, um die Ozelots zu retten. Das können wir tun, wo wir auch sind, am allerbesten in den großen Städten! Da, wo viele Menschen sind, Menschen, mit denen man sprechen kann, die man vielleicht aufklären kann.“ „Das stimmt schon. Aber für den Beruf, den du und Manfred gewählt habt, werdet ihr schon in die Tropen fahren müssen!“ „Ja, das müssen wir! Ach Muttchen, weißt du, woran ich denke? Vor einem Jahr war ich noch ein gedankenloses Mädchen, ein fröhliches, sommersprossiges Etwas, das langsam anfing, sich
Sorgen zu machen, weil es gar kein Lebensziel hatte. Und was habe ich jetzt? Ein so wunderbares Ziel, ein so sicheres Ziel – ich bin in der sagenhaft glücklichen Lage daß ich eine sehr gute Ausbildung kriege, und alles, alles, was ich lerne, werde ich in dem Kampf gegen Krankheit und Tod einsetzen. Hand in Hand mit dem Mann, den ich liebe! Wir sind jung, wir haben das Leben vor uns. Wir sind gesund, wir haben ein gemeinsames Ziel! Ich frage dich nur, Muttchen: Hat das Schicksal es nicht gut mit mir gemeint?“