Um das Erbe der Väter Roman von Leni Behrendt
Das Theater des Provinzstädtchens war bis auf den letzten Platz gefüllt...
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Um das Erbe der Väter Roman von Leni Behrendt
Das Theater des Provinzstädtchens war bis auf den letzten Platz gefüllt. Über den erwartungsfrohen Menschen lag eine fühlbare Spannung, die sich von Minute zu Minute steigerte. Das kleine Theater hatte nämlich einen Gast, einen prominenten Schauspieler, den die meisten Besucher nur vom Film her kannten. Heute waren sogar die Logen besetzt, die sonst gewöhnlich leer blieben. Die meisten Bewohner des Städtchens hatten nicht so viel Geld, um sich die teuren Plätze leisten zu können. Und warum auch, man saß im Parkett ja ebenso gut. Der Landadel und die Industrie, die zahlreich vertreten waren, hatten heute diese Plätze inne – obgleich der größte Teil von ihnen nicht besser gestellt war als die anderen Bürger der Stadt. Eben öffnete sich wieder eine Logentür, und Kommerzienrat Hartmann, eine der maßgebendsten hiesigen Persönlichkeiten, nahm mit seiner Familie in den roten Sesseln Platz. Die eben Angekommenen wurden von den Theatergästen mit großem Interesse gemustert. Man hatte reichlich Muße und konnte sich über die Familie Hartmann unterhalten, sehr diskret und unauffällig – versteht sich! Der Kommerzienrat war erst seit ungefähr einem halben Jahr in der Stadt ansässig. Er besaß große Unternehmungen, deren Zweigniederlassungen über die ganze Welt verstreut waren, und hatte bisher mit seiner Familie bald hier, bald dort gelebt. Sein Dasein war eigentlich eine einzige Hetze gewesen, bis sein Sohn herangewachsen war. Nun hatte er an ihm eine vortreffliche Stütze und konnte sich endlich mehr Ruhe gönnen als bisher. Der junge Doktor Hartmann zeigte für die Unternehmungen im Auslande nicht viel Interesse, und so war denn der Vater dabei, die kleineren Niederlassungen aufzulösen und nur die größten bestehen zu lassen, die von vorzüglichen Kräften geleitet wurden.
Damit konnte er auch seinem sehnlichsten Wunsch nachgeben und endlich, endlich irgendwo festen Fuß fassen. Es wurde auch Zeit dafür, denn er war mittlerweile siebzig Jahre alt geworden. Es zog ihn in die Heimatstadt zurück, in der schon sein Großvater und sein Vater segensreich gewirkt hatten. Ihnen hatten hier die große Schneidemühle und die Zuckerfabrik gehört, die auch der Kommerzienrat noch sein eigen nannte. Außerdem war er Besitzer eines kleinen Bankgeschäftes, das jedoch in der Hauptsache seinen eigenen Unternehmungen zugute kam. Der Kommerzienrat war nicht nur ein tüchtiger Geschäftsmann, sondern er besaß auch noch eine glückliche Hand; und so konnte man sagen, sein großes Vermögen sei nicht bloß erworben, sondern wirklich erarbeitet worden. Das gaben auch alle, die ihn kannten, ohne weiteres zu. Er war ein so grundreeller Kaufmann, wie es auch seine Väter gewesen waren. Als Hartmann von einem in Amerika verstorbenen Verwandten gar noch ein dort befindliches großes Unternehmen erbte, stand er so sicher da wie nur wenige andere Handelsherren. Seinen einzigen Sohn hatte er ganz im Sinne der Vorfahren erzogen und größte Sorgfalt auf dessen Ausbildung verwandt. Er durfte mit ihm auch in jeder Hinsicht zufrieden sein, denn er war ihm eine sehr zuverlässige Stütze geworden. Alle Hoffnungen, die man auf ihn setzte, hatte der Sohn erfüllt; und so war das Verhältnis zwischen ihm und dem Vater geradezu ideal zu nennen. Mit Wohlgefallen ruhten die Blicke der Theaterbesucher auf seiner hohen, schlanken Gestalt, der man ganz gewiß nicht ihre siebzig Jahre anmerkte. Trotz seines schneeweißen Haars wirkte er so elastisch, so jugendlich, daß mancher Vierziger sich vor ihm hätte verstecken können. Dazu trugen wohl die leuchtenden blauen Augen bei, die vor Lebens- und Schaffensfreude strahlten.
Seine Gattin war klein und fein, sanft und gütig, wurde vom Gatten und von ihren beiden Kindern gehätschelt und geliebt und war vor jedem rauhen Lüftchen so ängstlich behütet worden, als sei sie eine kostbare Treibhauspflanze. Der Sohn, Doktor Gisbert Hartmann, bot mit seiner hohen, sportgestählten Gestalt, dem scharfgeschnittenen, kühnen Gesicht und den leuchtenden Blauaugen, einem Erbteil seines Vaters, einen äußerst angenehmen Anblick. Er war überhaupt ganz und gar das verjüngte Ebenbild seines alten Herrn und galt nicht nur als bestaussehender Mann, sondern auch als beste Partie in weitem Umkreise. Und nun das Nesthäkchen der Familie, die sinnverwirrend schöne, grazile, vergötterte und verzogene Roswitha. Die Herrenwelt riß sich um die Gunst dieses eigenwilligen Persönchens, und nicht nur deshalb, weil sie eine reiche Erbin war. Sie verdrehte den Herren der Schöpfung nur zu leicht die Köpfe und lachte sie hinterher aus. Sie war ein Sonnenkind, das in einer ganz entzückenden Weise durch das Leben tändelte und keine Ahnung hatte, wie furchtbar grausam es oft sein kann. Das Töchterchen war geradezu der Abgott der Familie und war es gar nicht anders gewohnt, als daß alles nach seinem Willen ging. Denn nicht nur Eltern und Bruder vergötterten das entzückende Persönchen, sondern man tat es überall, wohin es auch kam. Wie ein zaubersüßes Elfchen war sie anzuschauen, als sie in ihrer taufrischen Unberührtheit und Holdseligkeit neben dem Vater saß und ihre leuchtenden, schimmernden Augen umherschweifen ließ. Das zarte Blau des duftigen Kleides ließ das Antlitz lilienhaft zart erscheinen, und das lichthelle Lockenhaar flimmerte in metallischem Glanz. Plötzlich blieben ihre Blicke an einer Loge haften, und unwillkürlich hob sie das Opernglas, um deutlicher sehen zu können. Doch schon legte sich des Vaters Hand unauffällig auf ihren Arm und drückte ihn herunter. »Roswitha, Mädel, vergiß nicht, daß wir im Mittelpunkt des Interesses stehen.«
Bis zur Stirn hinauf stieg ihr ein tiefes Rot der Beschämung, und der Vater betrachtete sein Töchterlein mit heimlichem Entzücken. »Du, Papi, die vier Herrschaften in der gegenüberliegenden Loge kenne ich ja noch gar nicht?« fragte sie den Vater, der leise und belustigt lachte. »Papi, wer sind die Fremden?« »Bist doch ein närrisches Mädel«, entgegnete er mit leichtem Spott, »so sehr kann dich der Anblick dieser Menschen erregen, du seltsames Kind? – Ein ganz schlimmer Frauenfresser ist der Held da drüben, meine Kleine. Das Gruseln würde dich packen, könntest du hören, was man von diesem ›Mann ohne Herz‹ erzählt. Die Frauen sollen ihm so wenig gelten, daß er sie nicht einmal sieht. Wenn die da drüben eine Ahnung davon hätten, wie sehr sie dich beeindrucken – ihre Geringschätzung würde dich kopfscheu machen, kleine Ita; denn sie pflegen über jedes Interesse, das man ihnen entgegenbringt, mit stolzer Gelassenheit hinwegzusehen – der Graf Starkenborn nebst Anhang.« »Papi, das sind doch nicht…?« »Ssst, Kleine, sei um Himmels willen vorsichtig, du bist hier nicht allein!« mahnte der Vater. Soeben ertönte wieder ein Klingelzeichen, und der Kommerzienrat wandte sich seiner Gattin zu, die mit dem Sohne in die Loge zurückkehrte. Dann ging das Spiel auf der Bühne weiter; doch Roswitha war lange nicht mehr so gefesselt wie von den beiden vorhergehenden Akten. Immer und immer wieder ging ihr Blick zu der gegenüberliegenden Loge hin, und sie saß so unruhig in ihrem Sessel, daß der Vater sie ernstlich ermahnen mußte, sich zusammenzunehmen und die anderen nicht zu stören. Noch nie in ihrem Leben hatte Roswitha das Ende eines Theaterstückes mit solcher Ungeduld herbeigesehnt wie heute. Als erste verließ sie die Loge und trat im Foyer hastig hinter einen Pfeiler, vor dem ein alter Diener in
unauffälliger Livree stand und Mäntel auf dem Arme trug. Er mußte wohl der Diener des Grafen Starkenborn sein. Und sie hatte sich nicht getäuscht, denn schon kamen die vier hohen Gestalten auf den Diener zu, der sich tief vor ihnen verneigte. Unwillkürlich fuhren Roswithas Hände zum Herzen, und sie schaute, schaute… O dieser große blonde Mann! Er verkörperte ganz und gar den Helden ihrer Träume, entsprach ganz und gar dem Ideal, das in dem romantischen Köpfchen des kleinen Persönchens spukte. Diese edle, ritterliche Gestalt, dieses herrische Antlitz, das wie aus bräunlichem Marmor gemeißelt zu sein schien, das volle, strahlend-blonde Haar und die blauen, blitzenden Augen, die wie zwei Saphire unter der markanten Stirn lagen! Ganz plötzlich und unerwartet tauchten diese blitzenden Augen in die ihren, und ein mitleidiges, spöttisches Lächeln erschien auf dem Gesicht des Grafen. Wie hatte der Vater gesagt? – Ein Mann ohne Herz! Roswitha wandte den Blick zur Seite, und ein wehes Gefühl stieg in ihr auf. Mechanisch schlüpfte sie in den kostbaren Abendmantel und schritt dann wie eine Träumende an der Seite ihres Vaters, der sie aufmerksam beobachtete, dahin. Nicht ein Wort sprach sie während der Heimfahrt und eilte, als sie in der Villa angelangt war, mit einem kurzen Gutenachtgruß in ihre Zimmer. Dort wartete das gute alte Fräulein Krön auf sie, das Roswitha schon seit deren frühester Kindheit betreut hatte und das jetzt, da es sich von seinem Abgott nicht hatte trennen mögen, sozusagen als Kammerfrau der eigenwilligen kleinen Prinzessin fungierte. Krönchen merkte sofort, daß ihr Goldkind anders war als sonst, daß es etwas erlebt haben mußte, was seine sonnige Gleichmut aus dem Konzept gebracht hatte. Wenn das Kind sonst von einer Veranstaltung zurückgekehrt war,
dann hatte der rote Mund nicht stillgestanden, hatte geplaudert und gelacht, bis Krönchen alles wußte, was ihr kleiner Abgott erlebt hatte. Doch heute war Roswitha still und in sich gekehrt, sprach nicht und gab auch keine Antwort, wenn Krönchen sie nach etwas fragte. Das verdroß das alte treue Mädchen jedoch nicht weiter. Es wußte ja, daß sein kleiner Liebling von selber zu sprechen und sich seinen Kummer vom Herzen zu reden begann, wenn ›das Seelchen‹ sonst nicht mehr aus noch ein wußte. Krönchen kleidete die kleine Herrin mit einer Behutsamkeit aus, als wäre sie die größte Kostbarkeit der Welt und obendrein leicht zerbrechlich. Eben streifte sie Roswitha das hauchdünne, spitzenbesetzte Nachtgewand über, als diese aus ihrer tiefen Versunkenheit auffuhr. Die Augen, diese wundersamen tiefblauen Sterne mit dem ihnen eigenen feuchten Schimmer, hatten einen Ausdruck, als wenn sie in das Märchenland geschaut hätten und nun zur Wirklichkeit zurückgekehrt wären. Sie schüttelte sich leicht und lächelte. »Sag mal, Krönchen, gibt es wirklich eine Liebe auf den ersten Blick?« Krönchen mußte sich sehr zusammennehmen, um ihre Überraschung nicht zu verraten. »Ita, Liebling, deine Frage ist sehr sonderbar«, forschte sie vorsichtig. Doch Roswitha hörte sie gar nicht, sondern war wieder weltentrückt. Willenlos ließ sie sich ins Bett bringen, sich von zärtlichen, behutsamen Händen zudecken und erwiderte wie abwesend den Gutenachtgruß des treuen Krönchens, als dieses zögernd das Zimmer verließ. Sonst hatte die gute Alte allabendlich am Bett ihres kleinen Lieblings gesessen, bis tiefe Atemzüge verrieten, daß dieser eingeschlafen war. Doch heute schien Roswitha kein Verlangen nach ihrer Gesellschaft zu haben. Ihre Augen schweiften über die bekümmerte Dienerin hinweg, als wäre sie gar nicht vorhanden.
So hatte das taktvolle Krönchen das Empfinden, überflüssig zu sein, und schlich leise aus dem Zimmer; sie nahm an, daß der Schlaf ihr Goldkind bald in die Arme nehmen würde, um es hinüberzuführen in das Traumland. Doch der Schlaf, der dieses sorglose, unbekümmerte Glückskind noch nie geflohen hatte, wollte heute nicht kommen. Als Roswitha mit all den Gedanken, die sich hinter ihrer Stirn drängten, nicht fertig werden konnte, erhob sie sich, warf ein leichtes Morgenkleid über und begab sich zu ihrem Vater in dessen Arbeitszimmer. Der Kommerzienrat war nicht wenig erstaunt, daß seine Tochter zu so später Stunde noch zu ihm kam. Er sah es ihr sofort an, daß sie etwas bewegte, womit sie nicht allein zurechtkam. Liebevoll zog er sie auf seinen Schoß, und wie ein Kätzchen schmiegte sie sich an ihn. Dabei schoß es ihm durch den Sinn, warum sie wohl nicht zu ihrer Mutter gehen mochte, wie es eigentlich natürlich gewesen wäre. Die Mutter liebte dieses Sonnenkind doch genauso innig wie er. Aber so war es immer schon gewesen: sein Junge und sein Mädel, beide waren sie immer zu ihm gekommen, wenn sie etwas bedrückte. Sie gingen nur dann zu der zarten, sanften Mutter, wenn sie Freude im Herzen trugen. Als wäre ihre süße Mutti zu schwach, um den rauhen Stürmen des Lebens standzuhalten. »Nun, meine kleine Ita, wo fehlt’s?« fragte er zärtlich und drückte ihr Köpfchen fest an seine Brust. Er spürte den unruhigen Schlag ihres Herzens sehr wohl, bedrängte Roswitha jedoch nicht mit Fragen, sondern wartete, bis das Köpfchen sich hob und die Traumaugen seines Kindes mit grenzenlosem Vertrauen in die seinen schauten. »Papi, ich kann den Grafen Starkenborn nicht vergessen«, sagte sie so leise, daß der Vater sie kaum verstand, sondern ihr die Worte von den zuckenden Lippen ablesen mußte. »Aber Ita, liebes Kind!« entgegnete er tief erschrocken, denn er erkannte auf einmal, daß Roswithas Interesse für den Grafen Starkenborn mehr war als eine plötzliche
aufflammende aber ebenso schnell erlöschende Anteilnahme. Allerdings, der Graf war ein Mann, dessen Anblick ein Mädchenherz schon um seine Ruhe bringen konnte. »Sollte das etwa die Liebe sein, mein Kind«, fragte er besorgt, »die dich bisher glücklicherweise noch verschont hat?« »Ich weiß es nicht, Papi. Aber mir ist so, als ob ich weinen, immer nur weinen müßte«, kam es sehr leise von ihren immer stärker zuckenden Lippen. »Ita, da – das geht doch nicht«, erklärte der Vater hilflos, »dieses Gefühl mußt du unbedingt zu beherrschen suchen, wenn du nicht unglücklich werden willst. Denn gerade die Starkenborn sind ein Geschlecht, das die Tradition hochhält und ehrt als sein kostbarstes Eigentum. Nie würde ein Starkenborn ein bürgerliches Mädchen heiraten, und wenn sein Herz verbluten müßte. Da habe ich nun immer geglaubt, ein noch ganz kindliches, unbekümmertes Mädel zu haben, und muß zu meinem Schrecken sehen, daß es sich schon ganz ernsthaft mit Herzensqualen plagt? Na, wollen hoffen, daß dies alles nur Hirngespinste deines romantischen Köpfchens sind«, zwang er sich zu einem frischen Ton, obgleich ihm sehr ernst zumute war. »Papi, gehört Königsgnade dem Grafen Starkenborn?« »Ja.« »Ach, Königsgnade! Mich packt immer eine ganz tolle Sehnsucht, wenn ich es von weitem sehe«, sagte sie verträumt. »Was gäbe ich darum, könnte ich es aus der Nähe sehen, könnte ich nur eine einzige Stunde darin weilen.« »Kind, die Sehnsucht ist ja nur deshalb so groß, weil es sich deinem Anblick entzieht, dieses märchenumwobene Königsgnade«, lachte der Vater. Doch das Lachen war nicht ganz echt. »Das Gut ist nämlich nur von der einen Seite erreichbar, nur die breite Allee, die von der Chaussee abbiegt, führt dorthin. Wer keinen triftigen Grund hat, kann diese Allee selbstverständlich nicht betreten. Ich stehe
mit dem Grafen in geschäftlicher Verbindung; ein Besuch ist keine direkte Notwendigkeit, kann aber auch nicht schaden. Ich bin daher bereit, in den nächsten Tagen mit dir nach Königsgnade hinauszufahren. Doch mein Töchterlein muß mir gestatten, es bei der Heimfahrt gehörig auslachen zu dürfen, denn Schadenfreude ist und bleibt ja nun einmal die reinste Freude. Wenn du Königsgnade und seinen Besitzer bei nüchternem Tageslicht gesehen hast, dann kannst du feststellen, daß sich dein Märchenprinz nur durch sein faszinierendes Äußeres, sonst jedoch durch nichts von einem gewöhnlichen Sterblichen unterscheidet, und daß sein Schloß ein langweiliger alter Kasten ist.« »Oh, Papi, du bist doch der herrlichste Mann auf der ganzen Welt«, schwärmte die Tochter, und ihre leuchtenden Augen hingen an seinem lachenden Gesicht. »Nun ist mir viel, viel leichter zumute. Du brauchst nur einige Worte zu sagen, und schon fühlt man sich frisch und frei.« Ein prachtvolles Schloß, trutzig und fest wie für die Ewigkeit erbaut, abseits vom Lärm der Welt, berückend schön in seinem Frieden und seiner erhabenen Einsamkeit, dicht am Walde gelegen: das ist Königsgnade! Wenn man den stolzen Bau sieht, fühlt man sich mit einem Schlage in eine andere Welt versetzt, eine Welt, in der unerschütterliche Treue, Ritterlichkeit und Romantik noch nicht ausgestorben sind, wo es noch stolze, aufrechte Menschen gibt; wo man glauben muß, daß Märchen wahr werden können, und wo einem das Herz ganz groß und weit wird angesichts aller der zauberischen Schönheit ringsumher. Diese Gnade des Königs, die dem damaligen Starkenborn zu einem derartigen Prachtbesitz verhalf, war an keinen Undankbaren verschwendet. Er nannte die Herrschaft »Königsgnade«, hütete das Geschenk seines Königs als kostbares Heiligtum und machte es seinen Nachkommen zur Pflicht, es ebenso zu halten wie er.
Und das geschah von Geschlecht zu Geschlecht. Jedes Mitglied des Hauses setzte seine Ehre darein, sich der Gnade des Königs würdig zu erweisen und so zu leben, daß es vor niemandem die Augen niederzuschlagen brauchte. Fortan führten alle Erbsöhne von Königsgnade den Namen »Odalrich«, was soviel bedeutet wie »Herr reichen Erbgutes«, führten ihn durch sechs Generationen bis auf den heutigen Tag. Reich waren die Starkenborn niemals gewesen. Sie hatten jedoch stets so viel gehabt, um ohne Sorgen leben zu können. Jedoch der augenblickliche Besitzer von Königsgnade hatte mit schweren Sorgen zu kämpfen. Denn er war alles andere als ein Geschäftsmann, und so war es nicht zu verwundern, daß er sich nur schwer zu behaupten vermochte, und daß der fast zwei Jahrhunderte hindurch sorglich gehegte und gepflegte Familienbesitz immer mehr verschuldete. Eben betrat Graf Starkenborn das Frühstückszimmer, wo Großmutter, Mutter und Schwester ihn bereits erwarteten. Es folgte eine höfliche, jedoch wortkarge Begrüßung, ebenso wortkarg nahm man das Frühstück ein. »Aufrecht und stolz!« – das war der Wahlspruch dieses Geschlechts. Und aufrecht und stolz waren die Starkenborn allzeit gewesen, die Männer wie die Frauen. Bei der Wahl einer Lebensgenossin für den Erbherrn hatte man stets sorgfältig geprüft und überlegt, und man sah dabei nicht so sehr auf Geld und Gut wie auf die Eigenschaften, die einer späteren Gräfin Starkenborn würdig waren. Die Frau mußte stolz und tugendhaft sein, dazu hellhaarig und blauäugig. Immer waren es die Eltern gewesen, die die Gattin für den Sohn auswählten, und immer hatten sich die Erbsöhne dieser Wahl ohne Murren gefügt. Daher war auch noch nie eine Mesalliance in diesem Hause vorgekommen – aber auch keine Liebesheirat. Erdmuthe, des Schloßherrn Schwester, war eine echte Tochter ihres Geschlechts. Selbst als kleines Mädchen war sie stolz und gelassen gewesen und blieb es auch, als sie
nach zweijähriger Pensionszeit auf das Schloß der Väter zurückkehrte. Sie war dem Bruder so ähnlich, wie Geschwister es nur sein können, doch was bei ihm stolz und männlich wirkte, erweckte bei ihr den Eindruck von Hochmut und Strenge. Erdmuthe zählte bereits siebenundzwanzig Jahre, allein es hatte sich bisher noch kein Freier für sie gefunden. Einer, der es hätte wagen dürfen, um dieses ernste, stolze Mädchen zu werben, war leider bettelarm, und der Besitz, auf dem sein Geschlecht seit Jahrhunderten saß, wurde heute versteigert. Daran dachte wohl auch die Großmutter des Schloßherrn, denn ihre hellen durchdringenden Augen suchten immer wieder die Enkelin, die heute zurückhaltender und hochmütiger wirkte denn je. Diese Großmutter war die bedeutendste aller Frauen, die je ein Starkenborn gefreit, und war somit der Stolz der Familie. Sie war eine geistreiche Frau und stammte aus fürstlichem Geschlecht; trotzdem hatte sie sich nicht besonnen, einem Starkenborn die Hand fürs Leben zu reichen, und war dann so sehr mit der Familie ihres Gatten verwachsen wie keine zweite. Man hatte sich ihrem Scharfsinn und ihrer Klugheit von jeher untergeordnet und tat das auch heute noch. Die Führung des Hauses lag in ihren Händen. Ihre Schwiegertochter Wilhelma sowie die Enkelin Erdmuthe fügten sich ihr ohne Murren und wagten in ihrer Gegenwart nie, eine eigene Meinung kundzutun. Sogar der Schloßherr schien dieser Frau gegenüber keinen eigenen Willen zu haben; es waren jedenfalls noch niemals Meinungsverschiedenheiten zwischen ihnen aufgekommen. Die vier Menschen waren heute noch verschlossener, noch wortkarger als sonst, bis endlich die alte Gräfin das aussprach, was augenblicklich alle am meisten beschäftigte. »Wann findet die Versteigerung statt, Odalrich?« »Um acht Uhr, Großmutter, sie hat also bereits begonnen.« »Die wievielte in diesem Jahre?«
»Die dritte.« »Was ist aus Hellin geworden?« »Erschossen.« »Und Bornstorff?« »Auch erschossen.« Dann tiefe, bedrückende Stille; kein anderer Laut war mehr im Zimmer vernehmbar als das Knistern der Holzscheite im Kamin. Das mit ährenblonder Haarkrone geschmückte Haupt Erdmuthes, kurzes Haar trug in Königsgnade selbstverständlich keine Frau, neigte sich wie unter der Last einer schweren Schuld. Die Blicke des Grafen ruhten minutenlang auf der Schwester, und es war, als träte ein wärmerer Glanz in seine sonst so kalten blauen Augen. »Und wie lange werden wir noch von diesem Schicksal verschont bleiben?« Unbarmherzig nüchtern klang die Stimme der alten Dame. Die stolze Erdmuthe hob den Kopf, und auch der Schloßherr zuckte zusammen. Gräfin Wilhelma schien auf einmal allen Appetit verloren zu haben, denn sie legte Messer und Gabel aus der Hand und lehnte sich mit einer müden Gebärde in den hochlehnigen Sessel zurück. Alle blickten auf die Greisin, die anscheinend vollkommen gelassen eine Frage stellte, die über ihr aller Sein oder Nichtsein entschied. »Wir wollen uns doch nichts vormachen«, klang nun wieder die unbarmherzige Stimme auf. »Man schafft Hindernisse nicht aus der Welt, indem man sich über sie ausschweigt und ängstlich um sie herumgeht. Viel schlimmer ist es, wenn uns die Tatsache, daß Königsgnade für uns verloren ist, überraschend trifft, als wenn wir damit rechnen.« Sie mußten ihr recht geben, die drei Menschen. Sie wußten nur zu gut, wie sehr gerade diese zweiundachtzigjährige Greisin an Königsgnade hing, und bewunderten es, daß sie so hart gegen sich selbst war und sich nichts vorzutäuschen versuchte. »Und da gibt es keine Hilfe«, fuhr sie fort. »Mit einer
reichen Heirat, die uns alle zu retten vermöchte, ist leider nicht zu rechnen, denn die Mädchen, die für den letzten Starkenborn als Gattin in Frage kommen könnten, sind alle nicht reich. Viola Brechten, die vielleicht Hilfe hätte bringen können, hat es ja vorgezogen, eine Frau Richter zu werden. Nun ist sie Witwe, hat den reichen Gatten beerbt und sein Geld noch zu ihrem gehäuft. Und das ist gut so; nun bleibt es uns erspart, sie in unsere Familie aufzunehmen. Außerdem ist es auch eines Mannes unwürdig, sich an eine Frau zu verkaufen. So werden wir uns denn an den Gedanken gewöhnen müssen, eines Tages…« Auf einmal schien es für sie doch zu viel zu sein, über dieses Furchtbare, dieses Unfaßliche sachlich weiterzureden. Sie winkte leicht mit der Hand und erhob sich. Stolz und aufrecht stand sie da – trotz ihrer zweiundachtzig Jahre. Kommerzienrat Hartmann machte sein Versprechen wahr und fuhr einige Tage nach der Unterredung mit seiner Tochter nach Königsgnade. Das Mädchen war so erregt wie ein Kind vor Weihnachten und mußte sich zusammennehmen, um den Vater diese Unruhe nicht merken zu lassen. Mit dem Augenblick, als das Auto in die Schloßallee einbog, fühlte sie sich in eine andere Welt versetzt. Selbst der Kommerzienrat, der bis dahin vergnügt mit seiner Tochter geplaudert hatte, wurde schweigsam. Als sie vor dem Schlosse hielten, warf die Märzsonne ihre letzten Strahlen darüber und tauchte die hohen Fenster in ein Meer von Gold. Königsgnade erschien in seiner fast unwirklichen Schönheit wie ein Märchenschloß. Dieser tiefe Friede ringsumher, dieses Raunen und Rauschen in den alten Bäumen vor dem Schlosse! Der Kommerzienrat dachte resigniert darüber nach, wie verkehrt er handelte, daß er der Tochter Gelegenheit gab, dieses Wunder zu schauen, dessen Anblick selbst ihn, den nüchternen Geschäftsmann, in seinen Bann zwang. Wie
mußte es erst auf seine Kleine mit dem romantischen Köpfchen wirken? Ein verstohlener Blick streifte sein Kind, und ein Seufzer kam über seine Lippen. Roswithas strahlende Augen, die unverwandt an der Prunkfassade des Schlosses hingen, verrieten nur allzu deutlich, was sie empfand, was ihre schönheitsdurstige Seele bewegte. Gottlob, soeben erschien ein Diener! Wenigstens ein erdgeborenes Wesen, vor dessen Gegenwart aller Märchenspuk in nichts zerrann. Dem Kommerzienrat war ganz eigen zumute, als er ihm auf seine Frage zur Antwort gab, daß er den Grafen zu sprechen wünsche. »Erlaucht sind nicht anwesend, mein Herr«, meldete der Alte mit unnachahmlicher Würde, »vielleicht aber kann der Herr Oberinspektor Auskunft geben.« Der kam auch gerade über den Hof und wandte seine Schritte dem Schlosse zu: eine kernige, aufrechte Gestalt mit wetterhartem Gesicht und treuherzigen Augen. Er hatte eine tiefe Stimme, die wie das gutmütige Brummen eines Bären klang. »Wünschen die Herrschaften Erlaucht zu sprechen?« »Ja, Herr Oberinspektor. Doch wir hören soeben, daß Erlaucht abwesend ist. Hartmann ist mein Name.« Nun fuhr der Oberinspektor heftig zusammen, und der Kommerzienrat wußte, warum. »Nein, nein«, begütigte Hartmann, »ich komme in einer ganz neutralen Angelegenheit; ich wollte den Grafen nur aufmerksam machen…« »Darf ich den Herrn Kommerzienrat bitten, mir in mein Büro zu folgen?« warf der Oberinspektor hastig ein. »Danke, Herr Oberinspektor. Was ich zu sagen habe, ist nicht viel; nur eine kleine Warnung. Teilen Sie dem Grafen mit, daß er sich endlich entscheiden müsse.« Er reichte dem Manne, der wie erstarrt dastand, freundlich die Hand und gab Roswitha einen leisen Wink, den Wagen
in Gang zu bringen. Solange sie die Allee entlangfuhren, herrschte Schweigen zwischen Vater und Tochter. Aber als sie auf die Chaussee abbogen und ihnen das alltägliche Leben wieder entgegentrat, war auch der Bann gebrochen, der sie in Königsgnade umfangen gehalten hatte. Als kehrten sie aus dem Märchenlande in die Wirklichkeit zurück, so war ihnen zumute, und bald fand der Kommerzienrat auch seinen Humor wieder. »Nun, mein Kind, ist es gestattet, dich auszulachen?« »Nein, Papi, denn Königsgnade ist ja noch tausendmal schöner, als ich gedacht habe«, entgegnete sie, und ihre Augen leuchteten und strahlten wie zwei Sonnen. »Weißt du, Papi, schon als ich noch ein kleines Mädchen war, wünschte ich mir immer, einmal eine Schloßfrau zu werden. Nicht an die Prachtpaläste Italiens und anderer Länder habe ich dabei gedacht – nein, mein Traumschloß sah so ähnlich aus wie das von Königsgnade. Ein deutsches Ritterschloß war es mit all seiner Schönheit und Romantik.« Der Vater teilte den Geschmack seiner Tochter ganz und gar, doch das durfte er ihr keinesfalls zeigen. Er mußte vielmehr versuchen, ihre Schwärmerei zu unterdrücken, statt sie darin zu bestärken. Es war ihm nicht sogleich möglich, die rechten Worte zu finden. Er empfand, daß er sehr vorsichtig sein müsse. So herrschte eine gute Weile Schweigen, bis Roswitha ganz unvermittelt fragte: »Schuldet Graf Starkenborn dir Geld, Papi?« »Seit wann spreche ich mit meinem kleinen Mädchen über geschäftliche Dinge?« scherzte der Vater. Doch Roswitha hörte den Unterton der Abweisung heraus und wußte, daß der Vater über diese Angelegenheit nicht zu sprechen wünschte. Roswitha befand sich von dieser Stunde an in einer höchst seltsamen Stimmung. Sie, die mit ihrem goldenen Frohsinn wie ein schillernder Schmetterling durch das Dasein
gegaukelt war, Licht und Wärme um sich verbreitend, brach jetzt oftmals ohne jeden ersichtlichen Grund in ein leidenschaftliches Schluchzen aus. Dann wiederum konnte sie ganz still dasitzen und vor sich hinträumen. Die Eltern betrachteten ihr verändertes Kind mit Sorge und geheimer Angst. Der Vater ahnte wohl, was Roswitha bewegte; er schwieg jedoch darüber, um seine zarte, ängstliche Gattin nicht zu beunruhigen. Selbst Gisbert, der von seiner Arbeit stark in Anspruch genommen war, fiel das veränderte Wesen der zärtlich geliebten Schwester auf. Aber am meisten von allen sorgte sich das treue Krönchen um ihren Herzensliebling. Es war ja auch namenlos schwer für dieses behütete, verhätschelte Kind, das bisher nur nach eigenem Wunsch und Willen gelebt hatte und es nicht gewohnt war, auf irgendwelchen Widerstand zu stoßen, mit all dem Neuen fertig zu werden, das plötzlich in sein Leben getreten war. Mit dem feinen, ihr eigenen Instinkt empfand Roswitha, daß sie eine Grenze überschritten hatte, über die hinaus ihre Eltern ihr nicht folgen konnten. Wochenlang rang sie mit der geheimen, ihr Herz erfüllenden Sehnsucht. Ein anderes, gleich ihr verwöhntes Mädchen hätte an ihrer Stelle ohne weiteres Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt, ihres Lebens größten Wunsch in Erfüllung gehen zu sehen. In dem Privatbüro saßen Vater und Sohn zusammen und waren so eifrig in ein Gespräch vertieft, daß sie Roswithas Eintreten vollkommen überhörten. »Nun kommt zu aller geschäftlichen Überbürdung auch noch die Sorge, die die Verwaltung einer solchen Herrschaft mit sich bringt«, sagte der Kommerzienrat unwillig. »Wir haben doch beide keine Ahnung von dem Kram, mein Junge. Übernehmen müssen wir das Gut; wir sind direkt dazu gezwungen, wenn wir nicht unser Geld verlieren wollen. Und dazu noch das niederträchtige Gefühl, den Henker dieser Leute spielen zu müssen, die ein heiliges Recht an ihrer Scholle haben und bettelarm von
ihr gehen müssen. Ekelhaft!« »Papi, von welchem Gute sprichst du?« Die beiden Männer fuhren herum. Da war Roswitha schon an des Vaters Seite, umklammerte seinen Arm mit beiden Händen und sah ihn mit einem so flehenden, beschwörenden Blick an, daß er verständnislos den Kopf schüttelte. »Roswitha, Mädel, wo kommst du her?« »Ihr habt weder mein Klopfen gehört noch meinen Eintritt bemerkt, Papi. So vernahm ich denn deine letzten Worte. Sag, Papi, du sprachst von Königsgnade?« »Allerdings, aber ich weiß gar nicht, Kind…« Sie ließ ihn nicht aussprechen, umklammerte seinen Arm immer fester und sah ihn an, als erhoffte sie von ihm Hilfe in höchster Not. »Papi, du mußt Königsgnade erwerben«, sagte sie mit einer Hast und mit einer Dringlichkeit, die den alten Herrn aufs tiefste beunruhigte. »Schau mal, Papi, dann kann doch der Graf auf seinem Schloß und Gut als Verwalter bleiben und braucht nicht das Erbe seiner Väter zu verlassen. Aber du mußt schnell handeln. Denn wenn ein anderer dir zuvorkommt und Königsgnade erwirbt – wer weiß, ob dieser dann nicht schon einen Verwalter hat, den er einsetzt.« »Sag mal, du Blitzmädel, das ist eine Idee, die keinesfalls zu verwerfen ist«, schmunzelte der Vater, der bei dem Vorschlag seiner Tochter die Ruhe wiedergefunden hatte. »Es fragt sich nur, wie der Graf darüber denkt, wenn man ihm anbietet, als Verwalter auf dem Erbe seiner Väter zu bleiben.« »Du kannst ihm jedenfalls den Vorschlag machen, Papi.« »Werde ich auch, mein Kind. Denn auch uns wäre damit geholfen, wenn er ihn annähme. Wer könnte Königsgnade besser bewirtschaften als er? Wer hat mehr Interesse daran als er, daß das Gut bleibt, was es ist – ein wertvoller Besitz?« Nun kamen für Roswitha erst recht aufregende Tage – Tage
des Hangens und Bangens. Das ging zwei Wochen hindurch. Doch als die Tochter sich eines Abends wieder erkundigte, schüttelte der alte Herr traurig den Kopf. »Die Antwort ist wohl da, mein Kind; aber er – lehnt ab.« »Papi, das ist doch nicht möglich«, stammelte sie fassungslos. Das hatte sie nicht erwartet, das nicht! »Papi, du mußt trotzdem Königsgnade erwerben, du mußt«, bettelte sie inständig. »Und du willst ruhig mit ansehen, wie der Graf mit den Seinen die Heimat verlassen muß und hinausgeht in Armut und Not, Roswitha?« mahnte der Vater. »Denn ihnen bleibt nichts, wovon sie leben können. Im Gegenteil, sie hätten überdies noch eine große Schuld zu zahlen.« Da senkte sie erneut den Kopf, stand noch länger als vorhin da, regungslos und stumm. Doch als sie dann den Blick endlich wieder erhob, lag in ihm nicht mehr stille Verzweiflung, sondern ein Ausdruck tiefen Ernstes. »Ich mache dir noch einen Vorschlag, Papi. Ich will… ich… möchte seine Frau werden.« »Roswitha!« Eltern und Bruder riefen es wie aus einem Mund. Entsetzt fuhren sie auf, als habe sie ein schwerer Schlag getroffen. Still war es im Zimmer, totenstill. Dann sagte der Vater mit verhaltener Stimme: »Ita, mein Herzkind, weißt du überhaupt, was du sprichst, was du verlangst?« »Ja.« Klar und fest klang es, und ebenso klar und fest sah sie den Vater an und hielt seinem Blick stand. »Ich habe in den letzten Wochen viel gelitten, Papi. Wie sehr, könnt ihr euch unmöglich vorstellen. Ich liebe Starkenborn und möchte ihm die Heimat erhalten. Muß ich mich meines starken Gefühls schämen, Papi?« »Kind, mein Mädel!« Der Vater war so erschüttert, daß er nicht weitersprechen konnte. Er zog sein Kind fest ans
Herz. So verharrten sie minutenlang, während Mutter und Bruder sich bemühten, ihre Rührung zu verbergen. Dann hob der Kommerzienrat das Köpfchen seines Töchterchens empor und sah ihm in die unschuldigen klaren Augen. »Du bist noch sehr jung und unerfahren, meine kleine Ita«, sagte er mit bebender Stimme. »Du hast ja keine Ahnung davon und kannst es unmöglich wissen, wie es ist, wenn man für seine Liebe Geringschätzung, ja vielleicht sogar Verachtung erntet. Wenn der sehr hochmütige Graf sich entschließt, über das Hausgesetz hinweg eine Bürgerliche zu heiraten und gar noch eine, die man ihm aufdrängt, dann kann es sich für ihn nur um ein Opfer handeln, das er der Heimat und den Seinen bringt. Wie willst du, ein durch Liebe und gar zu viel Nachsicht verwöhntes Kind, es im Kreise dieser hochmütigen, adelsstolzen Menschen aushalten? Du mußt ja zugrunde gehen. Und dazu ist der Graf noch als ein Mann bekannt, dem die Frauen nichts bedeuten, der kein Herz für sie hat. Wie kannst du dich neben so viel Kälte und Unnahbarkeit behaupten?« »Aber Papi, dann gehört er doch zu mir und wird sich schon an mich gewöhnen. Wenn er sieht, wie sehr ich ihn liebe, dann wird sein hartes Herz schon einmal weich werden. Und wenn er sich auch im allgemeinen nichts aus Frauen macht, wird er mir doch immer die Treue halten.« Der Kommerzienrat lächelte. Es war ein eigenes Lächeln, das seine Lippen umspielte. »Wir wollen einen Kompromiß schließen, Liebling«, sagte er und zwang sich zu einem frischen Ton. »Du machst erst einmal mit der Mutter die Sommerreise – sagen wir auf sechs Wochen – und kommst du dann wieder und bist noch genau derselben Ansicht wie heute, dann verhandeln wir weiter über diesen Punkt. Einverstanden?« Sie nickte lächelnd. Und der Vater war von Herzen froh, wenigstens eine längere Frist zu haben, die es ihm ermöglichte, über alles noch einmal gründlich nachzudenken. Vielleicht würde alles viel besser, als es sich jetzt ermessen ließ, und vielleicht waren es unnötige
Sorgen, die er sich machte. In der großen Welt traten vielerlei Eindrücke an ein junges Menschenkind heran, die imstande waren, dessen Fühlen und Denken zu wandeln. Vielleicht lachte man später über die schwärmerische Liebe der kleinen Ita, die all denen, die ihr nahestanden, jetzt so viele Sorgen bereitete. Doch seine Hoffnung war vergeblich. Als die Mutter von der Reise zurückkehrte und mit Mann und Sohn gemütlich beisammensaß, mußten diese erfahren, daß Roswitha mit ihrer Liebe keineswegs fertiggeworden war. Im Gegenteil – die Neigung hatte sich noch vertieft, und die Sehnsucht war größer denn je. Sie hatte die Tage gezählt, bis sie aus der »Verbannung«, wie sie das Leben in der großen Welt nannte, zurückkehren konnte. »Ach, Papi, was ist alles da draußen gegen unser Zuhause«, erzählte sie. »Die Menschen kamen mir alle so unwahr, so verlogen vor. Und die Männer mit ihrem albernen Geschwätz können mich beinahe zu Tode langweilen. Nein, wenn einer für mich in Frage kommt, dann kann es nur der Graf Starkenborn sein.« War es schon niemals besonders lebhaft in Königsgnade gewesen, so herrschte jetzt geradezu Grabesstille in dem Schloß. Nicht nur die Herrschaft, sondern auch die Angestellten und Arbeiter des Gutes, die zum Teil alte bewährte Leute waren, wußten, daß die Tage gezählt waren, die die Starkenborn auf ihrer Scholle verbringen durften. Als ein Vetter des Schloßherrn in dieser Zeit auf einer Durchreise bei den Verwandten einkehrte, fiel ihm die gedrückte Stimmung gewaltig auf die Nerven. Er war von ganz anderer Art als sein Vetter Odalrich. Er nahm alles, was auch kam, mit vollkommenem Gleichmut hin und versuchte, dem Leben immer nur die beste Seite abzugewinnen. Das hatte er schon damit bewiesen, daß er das Hausgesetz übertrat und eine Bürgerliche zur Frau wählte. Denn diese besaß das, was ihm fehlte, um ein behagliches Leben zu führen – nämlich Geld, viel Geld! Und das Experiment war geglückt. Liebte Graf Bernhard
seine Frau auch nicht gerade schwärmerisch, so war er ihr dennoch herzlich zugetan. Jetzt saß er seelenvergnügt, zufrieden mit sich und der ganzen Welt, beim Nachmittagskaffee und ließ sich durch die Zurückhaltung der anderen nicht einschüchtern. Warum auch? Er war doch sein eigener Herr, war von diesen verschlossenen Menschen gottlob nicht mehr abhängig. Bernhard erfuhr bei diesem Besuch, daß dem Vetter kein Stein von Königsgnade gehöre, und daß es nur eine Frage der Zeit sei, wann er das Schloß seiner Väter verlassen müsse. Er bewunderte die Verwandten geradezu, daß sie so ruhig und sachlich besprechen konnten, worüber anderen Menschen aus Gram und Leid vielleicht das Herz gebrochen wäre. »Steht der Termin schon fest, an dem wir Königsgnade räumen müssen, Odalrich?« Diese rücksichtslose Nüchternheit der Großmutter fand Bernhard unerhört. »Noch ist mir der Termin unbekannt, Großmutter.« »Wer ist denn bei euch der mächtige Mann, der über Sein und Nichtsein gebietet?« erkundigte sich Bernhard nun ganz offen. »Kommerzienrat Hartmann.« »Na, das war ja auch nicht gut anders möglich«, lachte Bernhard belustigt auf. »Es soll mich nicht wundern, wenn auch alles andere haargenau da ist, was nun mal zu einem mächtigen Mann gehört. Verfügt dieser beneidenswerte Herr nicht über ein leutseliges, vor Wohlwollen triefendes Wesen? Pocht er nicht auf seinen Geldsack, daß es kling? Ist er nicht klein und dick, und hat er nicht ein passables, hübsches, launenhaftes Töchterlein, das nur allzusehr gewillt wäre, mit den ringüberladenen Patschen Gold und immer wieder Gold aus dem Schatz ihres Vater zu spenden, nur damit sie Gräfin Starkenborn werden kann?« Nun mußten sie alle lachen, was gewiß selten vorkam und
Bernhard immer kühner werden ließ. »Bernhard, man könnte fast glauben, daß du hellseherisch veranlagt bist«, sagte Odalrich am nächsten Morgen, als sie alle gemeinsam am Frühstückstisch saßen. »Schau her, dieser Brief bestätigt, daß Hartmann wirklich eine Tochter hat, die mich zum Gatten begehrt.« Bernhard sah ihn zuerst verblüfft an. Doch dann lachte er so übermütig und ansteckend, daß der Vetter mitlachen mußte, so wenig ihm im Grunde danach zumute war. »Odalrich, das ist ja einfach gottvoll«, schluchzte Bernhard und wischte sich die Lachtränen aus den Augen. Er beruhigte sich nur langsam und meinte dann: »Damit sich nun alles weiterhin programmäßig entwickelt, möchte ich dir den guten Rat geben, mein lieber Vetter: greife ohne viel Bedenken mit beiden Händen zu.« »Wenn Odalrich so geschmacklos wäre wie du, dann täte er es, mein guter Junge«, sagte die alte Gräfin mit beißendem Spott. Doch Bernhard ließ sich nicht beirren. Er war in diesem Augenblick dickfelliger als je und lachte die alte Dame mit der ganzen Liebenswürdigkeit an, die seiner Schwerenöternatur eigen war. Als Bernhard sich nun mit formeller Verbeugung entfernen wollte, erhob sich der Schloßherr, schob den Arm unter den des Vetters und verließ mit ihm das Zimmer. »Großmutter ist verbittert«, sagte er seufzend, während sie zu Odalrichs Zimmern gingen. »Hinter ihren Worten verbirgt sich ihre Verzweiflung. Ich weiß es wohl am besten, wie sehr sie an Königsgnade hängt, und wie furchtbar ihr der Gedanke ist, es verlassen zu müssen. Darum mußt du es nicht auf die Goldwaage legen, was sie sagt. Du siehst, ich tue es auch nicht. Ich kann jedoch verstehen, daß du nach diesem Vorfall nicht länger bei uns bleiben willst. Und es tut mir aufrichtig leid, daß dein Besuch, der mich ehrlich erfreute, mit einem Mißklang enden muß. Doch wenn es dir eine Genugtuung ist, so sollst du wissen, daß deine Worte doch nicht ohne
Eindruck auf sie geblieben sind. Das weiß ich genau.« »Na, dann will ich diesen Anpfiff getrost hinnehmen«, brummte Bernhard, beinahe schon wieder versöhnt. Er packte den Vetter an den Schultern und sah ihn mit seinen ehrlichen Augen fest an. Die Vettern drückten sich herzlich die Hände. Noch niemals hatten sie sich so gut verstanden wie in dieser Stunde. Es hatte den Kommerzienrat einen schweren Entschluß gekostet, jenen inhaltsschweren Brief an den Grafen Starkenborn zu richten, der in Königsgnade helle Empörung hervorgerufen hatte. Nun warteten er und die Seinen auf eine Antwort – tagelang, wochenlang. Roswitha wurde in dieser Zeit blaß und schmal, und die Ihren konnten das kaum noch mit ansehen. Die Kleine wurde immer gereizter und begegnete der Dienerschaft oft ohne jeden Grund so rücksichtslos, wie es die launenhafteste Weltdame nicht besser gekonnt hätte. Selbst Angela Richter, Roswithas intimste Freundin, wurde so heftig angefahren, daß sie ganz betreten war. Angela war ein entzückendes Geschöpf. In ihrer Sanftheit war sie das ganze Gegenteil des kleinen Sprühteufelchens Roswitha. Sie hing mit inniger Liebe an dem kleinen Dollarprinzeßchen, und das um so mehr, da ihr dessen Bruder nicht gleichgültig war. Auch Angela war sehr reich. Daß sie schon lange verwaist war, hatte sie bis vor kurzem nicht als besonders schmerzlich empfunden, da ihr Bruder stets zärtlich besorgt um sie war, auch dann noch, als er sich mit der schönen Gräfin Viola Brechten verheiratet hatte. Aber dann ereignete sich ein schwerer Unglücksfall in seiner Fabrik. Richter geriet in eine Maschine, die ihm beide Beine abriß. So hätte er sein Leben als Krüppel fristen müssen, hätte der Himmel nicht ein Einsehen gehabt und den Ärmsten zu sich genommen. Die beiden Mädchen saßen eines Tages auf der Couch in
Angelas kleinem Wohnzimmer. Beide waren sehr bedrückt, und die Unterhaltung stockte. Das Hereinbrechen der Dämmerung trug ebenfalls nicht dazu bei, die Stimmung zu heben. Lange Zeit saßen die beiden Freundinnen schweigend nebeneinander, bis Roswitha auf einmal in heftiges Weinen ausbrach. Angela erschrak bis ans Herz heran. Sie versuchte alles nur mögliche, die Freundin zu beruhigen, und dabei erfuhr sie von deren Herzeleid. Beide waren so vertieft, daß sie nicht bemerkte, wie Frau Viola Richter das Zimmer betrat und Zeugin von Roswithas Beichte wurde. Trotz des Jammers, der aus Roswithas Worten sprach, war Frau Viola herzlos genug, hell aufzulachen und im gleichen Augenblick das grelle Deckenlicht einzuschalten. Beide Mädchen fuhren empor und schlossen unwillkürlich die Augen. »Bist du rücksichtslos, Viola«, murmelte Angela. »Dieses helle Licht tut euch beiden Schwärmerinnen gut«, lachte Viola, und die kleine Schwägerin fand dieses Lachen häßlicher denn je. »Nun wird unsere romantische Roswitha wohl zur Vernunft kommen und einsehen lernen, daß es leichter ist, nach den Sternen zu greifen, als einen Starkenborn zu bewegen, ein Mädchen zu freien, das nicht seines Standes ist.« »Warum sollte ich nicht die Gattin des Grafen Starkenborn werden können?« fragte sie sehr von oben herab. Und es war etwas in ihrer Stimme, das die weltgewandte Frau nervös machte. »Liebes Kind, eher steht die Welt köpf, als daß ein solches Wunder geschähe.« Roswithas Augen funkelten wie die einer Katze. »So sollen Sie das Vergnügen haben, die Welt kopfstehen zu sehen. Wollen wir wetten?« »Roswitha!« schrie Angela entsetzt auf, doch das wurde von dem unbändigen Lachen übertönt, mit dem Frau Viola sich
in ihren Sessel zurückwarf. »Köstlich! Einfach köstlich ist das!« rief sie überlaut. »Graf Starkenborn, dieser Mann ohne Herz, als Wettobjekt! Kinder, ich sterbe vor Lachen!« Das wäre gut, dachte Angela, die ihre Schwägerin in diesem Augenblick geradezu haßte. Sie umschlang die Freundin mit beiden Armen. »Ita, komm«, bat sie ängstlich. Doch diese hörte sie gar nicht; sie schaute noch immer auf die Frau, die sich vor Lachen förmlich hin und her wand. »Nun, halten Sie die Wette, gnädige Frau?« Und ehe Angela es verhindern konnte, hatte Roswitha schon die Hand der anderen erfaßt, die ihr plötzlich mit fieberhafter Hast entgegengestreckt wurde. »Angela, schlag durch!« Die weigerte sich. »Nun, kleine Ita, die Wette gilt auch so«, sagte Frau Viola und erhob sich. Ehe die Mädchen so recht zur Besinnung kamen, hatte sie das Zimmer verlassen. »Roswitha, weißt du überhaupt, was du getan hast?« fragte Angela entsetzt. »Wenn Viola nun von dieser Wette etwas verlauten läßt?« »Das ist mir gleich«, brauste Roswitha auf und warf das Köpfchen in den Nacken. »Dieser Frau muß man zeigen, daß man ihrer Bosheit gewachsen ist. Ihre Augen sind mir unheimlich, wie Teufelslichter erscheinen sie mir manchmal.« »Siehst du, Ita, und mit dieser Frau muß ich tagaus, tagein zusammenleben«, sagte Angela bitter. Da vergaß Roswitha ihr eigenes Leid, umfaßte die Freundin mit beiden Armen und zog sie auf die Couch nieder. Genau wie vorhin saßen sie nebeneinander und hingen ihren quälenden Gedanken nach. »Nicht traurig sein, Geli«, tröstete Roswitha, die um das Herzeleid der Freundin gar wohl wußte. »Gisbert wird schon eines Tages merken, welch großer Dummkopf er ist, daß er deine Liebe nicht sieht. Und liebt er dich erst, dann
hast du bei ihm den Himmel auf Erden, das darfst du mir schon glauben.« »Und wenn er eine andere liebt?« fragte Angela bedrückt. »Dazu hat er ja gar keine Zeit, Geli. Nur Arbeit, Arbeit und immer wieder Arbeit füllt seine Tage aus.« »Wie gut du einen aufzurichten verstehst.« Angela fuhr der Freundin zärtlich über die Wange. »Und dabei ist dir selber doch das Herz so schwer. Wenn ich dir doch irgendwie helfen könnte.« Roswitha schüttelte den Kopf. »Das kann wohl niemand, da es noch nicht einmal Papi vermag, der doch stets bereits ist, alles für mich zu tun, wenn es sich um mein Glück handelt.« »Ita, mir ist so bange um dich. Wenn du nun die Wette verlierst, und Viola…« »Das werde ich nicht!« fuhr die kleine Dollarprinzessin auf. »Wie ich es anfangen werde, weiß ich selbst noch nicht. Doch ich will und muß des Grafen Frau werden, schon um deiner vortrefflichen Schwägerin zu zeigen, daß sie nicht jeden Menschen ungestraft verhöhnen kann.« Starkenborn nahm in der Halle dem Gärtner die Rosen ab, schritt zu dem Wagen, der vor dem Portal des Schlosses auf ihn wartete, und ließ sich aufseufzend in die Polster fallen. Das Gefährt hielt eine Stunde später vor dem Bankhause, in dem Odalrich den Kommerzienrat am ehesten zu treffen hoffte. Ruhig und gelassen schritt er dem Bankhause zu. In dem Hause erhielt er von dem Prokuristen den Bescheid, daß der Kommerzienrat in seiner Villa sei. Der Graf dankte freundlich und befahl dem Kutscher, nach der Villa Hartmann zu fahren. Als er an dem Portal die Glocke zog, öffnete sich die schwere Tür geräuschlos, wie von unsichtbarer Hand bewegt. In der Diele trat ihm ein Diener entgegen, und Starkenborn gab seine Karte ab. Sehr schnell kam der Bediente wieder und führte Odalrich zu dem Arbeitszimmer des Kommerzienrates, in dessen Tür
dieser den Besucher bereits erwartete. Als Odalrich des Hausherrn ansichtig wurde, blitzte es in seinen Augen auf. Lächelnd bat der Kommerzienrat seinen Gast, näher zu treten. Und als dieser die geschmackvolle Einrichtung des Zimmers sah, war es ihm, als ließe die Spannung in seinem Innern nach. »Guten Tag, Erlaucht«, begrüßte Hartmann den Grafen und streckte ihm liebenswürdig die Hand entgegen. »Meine Zeit ist zwar knapp bemessen – man erwartet mich bei einer wichtigen Sitzung – doch für ein halbes Stündchen stehe ich Ihnen gern zur Verfügung. – Sorgen Sie dafür, daß wir nicht gestört werden, Karl!« wandte er sich an den Diener, der sich daraufhin mit einer Verbeugung zurückzog. Nun standen sich die beiden Männer gegenüber. Die Augen des Kommerzienrats glitten unauffällig über den feierlichen Anzug seines Besuchers, fielen auf die Blumen in dessen Hand, und ein humorvolles Lächeln zuckte um seinen Mund. »Wollen Sie nicht bitte Platz nehmen?« Mit einladender Handbewegung wies Hartmann auf einen der Ledersessel und zog, nachdem Starkenborn seiner Aufforderung Folge geleistet, sich selber einen Lehnstuhl in dessen unmittelbare Nähe. Sekundenlang herrschte Schweigen zwischen den beiden Herren. Hochmütig, eisig beinahe war der Blick des Grafen, freundlich und aufmunternd der des Kommerzienrates. »Ich glaube zu erraten, was Sie zu mir hergeführt hat«, sagte der alte Herr mit gewinnender Liebenswürdigkeit. »Und ich glaube annehmen zu dürfen, daß Sie den Anlaß meines Hierseins richtig einschätzen.« Wie kühl der Ton dieser Stimme klang, wie ganz anders als die des alten Herrn. »Ich bitte um die Hand Ihres Fräulein Tochter, Herr
Kommerzienrat.« Jetzt wurde Starkenborn des humorvollen Lächelns gewahr, das abermals um des Hausherrn Lippen huschte und seine Haltung wurde daraufhin noch kühler, noch ablehnender. Doch es schien, als ob sein Gegenüber das absolut nicht bemerkte. »Meine Tochter sowie ich nehmen Ihre Werbung gern an«, entgegnete Hartmann ohne Zögern. Und dann lachte er auf: »Na, da wird meine Ita selig sein! Sie sind nämlich ihre stille Liebe.« Nun mußte auch der Graf lächeln. Es sah aus, als ob jemand einem anderen von einer harmlosen Äußerung seines Kindes erzählt; aber es war immerhin ein Lächeln, das den hoheitsvollen Gast zugänglicher erscheinen ließ. »Lassen Sie uns in dieser Stunde ganz aufrichtig sein«, sagte der Kommerzienrat sehr herzlich, »lassen Sie uns von Mann zu Mann sprechen. Warum Sie um meine Tochter werben, Erlaucht, das weiß ich, auch meiner Familie ist es bekannt, meine Tochter selbstverständlich nicht ausgeschlossen. Wir wollen deshalb jede Verschleierung der Tatsachen vermeiden und uns bemühen, ehrlich zu bleiben und die Dinge beim richtigen Namen nennen. Ich bot Ihnen die Hand meines Kindes an, und Sie nehmen diesen Vorschlag nach langem Ringen, wie ja Ihr wochenlanges Schweigen beweist, an. Sie tun es aus Liebe zur Heimat, aus Pflichtgefühl den Ihren gegenüber. Mit dem Augenblick, da Sie sich durch Ihr Wort binden, meine Tochter zu Ihrer Gattin zu machen, steht Ihnen das Geld zur Verfügung, das Sie benötigen, um Königsgnade von allen Schulden zu befreien. Denn dann gehören Sie auch zu unserer Familie, und wir halten es stets so, daß einer dem anderen treu zur Seite steht. Als Gegenleistung hierfür verlange ich nichts weiter von Ihnen, als daß Sie gut zu meinem Kinde sind. Meine eigenwillige Ita gestand mir, längst gehöre Ihnen ihr Herz, und sie beschwört es mit tausend Eiden, Sie seien die große Liebe ihres Lebens. Sie erklärte mir ferner, schon als Kind
habe sie sich danach gesehnt, in Königsgnade leben zu dürfen. Wie das alles gekommen ist, entzieht sich meiner Kenntnis. Ich weiß nur, daß Sie auf der Stelle gesiegt hatten, als meine Tochter Sie zum ersten Male sah. Sofort besaßen Sie Gewalt über ihr Herz. Bisher war es noch keinem Mann gelungen, ihre Liebe zu gewinnen, obgleich sie weit in der Welt herumgekommen ist und dabei genug Männer kennengelernt hat, die sie keineswegs allein des Geldes wegen verehrten. Wir versuchten, diese Neigung zu unterdrücken, suchten sie abzulenken – umsonst. Meine Tochter hat sich in wenigen Wochen so sehr verändert, daß man es nicht für möglich halten sollte. Sie war es auch, die mir den Vorschlag machte, Sie als Verwalter zu gewinnen, falls ich Königsgnade übernehmen müßte. Und als Sie auf diesen Vorschlag nicht eingingen, erklärte, sie kurz und bündig, sie wolle Ihre Gattin werden. Daß ich davon nicht gerade entzückt war, und es auch heute noch nicht bin, das können Sie mir nicht verdenken, Erlaucht. Ich muß Ihnen dies sagen, denn ich liebe meine Tochter sehr, sie ist der Sonnenschein meines Lebens, und ich möchte sie daher recht von Herzen glücklich sehen.« Der Kommerzienrat machte eine kleine Pause und fuhr dann fort: »Solange ich lebe, kann ich über meinen Liebling wachen und halte die Augen schon offen. Aber ich zähle immerhin siebzig Jahre; und so gesund ich bin und so frisch ich mich auch fühle, so muß ich doch damit rechnen, daß ich nicht allzulange mehr zu leben habe. Dann aber stände mein Mädel mit seinem romantischen Köpfchen und mit seinem unberechenbaren Eigenwillen allein in der Welt. Denn so sehr mein Sohn seine Schwester auch liebt, ist er dennoch nicht imstande, sie in der Weise zu schützen, wie ich es zu tun vermag. Auch er wird einmal eine Familie gründen wollen, und dann steht das Wohl der Seinen selbstverständlich allem anderen voran.« »Zu Ihnen habe ich felsenfestes Vertrauen, Erlaucht. Ich
weiß, die Starkenborn haben ihre Frauen wohl nicht immer geliebt, sie jedoch allzeit geachtet und geehrt und sind ihnen ein starker Schutz gewesen. Und daher kommt es, daß ich trotz allem mit ruhigem Gewissen das Geschick meiner Tochter in Ihre Hände lege.« Mit keinem Wort hatte der Graf die Rede des alten Herrn unterbrochen, und seine Mienen verrieten nicht, wie er sie auffaßte. Jetzt erhob er sich langsam und ergriff die Hand des Kommerzienrates, die sich ihm mit viel Herzlichkeit entgegenstreckte. »Ich danke Ihnen, Herr Kommerzienrat, daß Sie so offen mit mir sprachen, denn ich verstehe Offenheit sehr wohl zu schätzen. Daher will auch ich ganz ehrlich sein – weil ich es sein darf. Lieben kann ich Ihr Fräulein Tochter nicht, da ich sie ja überhaupt nicht kenne. Doch ich gebe Ihnen mein Wort, daß ich meine Gattin schützen, achten und hochhalten werde, soweit es in meiner Macht steht. Denn sie ist es ja, die uns, meinen Angehörigen und mir, ein sorgenfreies Leben nach Königsgnade bringt, und das werde ich nie vergessen. Und daß die Meinen es auch nicht tun werden, lassen Sie meine Sorge sein.« »Das genügt mir fürs erste«, entgegnete der Kommerzienrat, »und daß Sie mit der Zeit meine kleine Ita auch ein wenig liebgewinnen, dafür wollen wir dieses Sonnenkind selber sorgen lassen«, setzte er mit feinem Lächeln hinzu. »Meine Zeit ist nun um – leider. Meine Frau und mein Junge sind verreist und kommen erst morgen wieder. Doch so viel Zeit muß mir noch bleiben, Sie zu meiner Tochter zuführen.« Er schritt mit seinem Gast die breite, teppichbelegte Treppe hinauf. Auf dem Gang des oberen Stockwerks hörten sie eine junge, süße Stimme, und Starkenborn sah, wie es in den Augen des Kommerzienrats aufleuchtete. Gleich darauf betraten sie ein ungemein hübsches Zimmer, dessen Fußboden ein dicker lichtblauer Teppich bedeckte. Auf diesem lag Roswitha und trieb Gymnastik. Die in einer weiten Hose aus zartblauem Samt steckenden Beine
pendelten hin und her. »Knie beugt, Knie streckt!« so ging es in einem fort. Die blonden Locken hingen wirr in das vor Eifer gerötete Gesichtchen. Dicht über dem Fußboden schaukelte sich in einem Ringe ein großer Papagei, ein wahres Prachtexemplar seiner Rasse. Er trat von einem Bein auf das andere, wiegte sich mit Behagen und sah geringschätzig auf seine Herrin herab. Es war ein unbeschreiblich reizendes Bild, das jeden Beschauer sofort gefangennehmen mußte. Das war Schönheit und Anmut und herzerquickende Natürlichkeit. Bei einem so bezaubernden Geschöpf konnte man es wohl verstehen, daß die Eltern ihren Abgott in ihm sahen, es verhätschelten, weil sie nicht anders konnten, und sich dadurch einen kleinen Tyrannen erzogen, der sein eigenwilliges Köpfchen immer und überall durchsetzte. Eben drohte Roswitha mit dem Finger zu dem Papagei hin. »Sag Affe, Coco!« »Ita!« schnarrte der widerspenstige Vogel und blinzelte seine Spielgefährtin lauernd an. Doch die war ganz und gar nicht mit ihm zufrieden und schüttelte unwillig den Kopf, daß die Locken nur so flogen. »Nicht Ita – Affe sollst du sagen!« Doch Coco dachte gar nicht daran, sondern setzte den Ring in heftige Bewegung und legte das Köpfchen schief. Es sah aus, als ob er lachte. Da hielt Roswitha den Ring fest und tippte dem Papagei auf die bunte Brust. »Coco, du mußt unbedingt Affe sagen«, wiederholte sie mit einer Dringlichkeit, als hinge wer weiß was davon ab. »Schau mal, du bist doch ein verständiges Cocolein, und du wirst es deshalb begreifen, daß du Affe sagen mußt, wenn der unausstehliche Modefatzke uns wieder einmal mit seinen blöden Schmeicheleien langweilt. Also, sag schon endlich Affe!« »Ita!« rief der Vater lachend, doch sie sah gar nicht auf. »Gut, daß du da bist, Papi«, sagte sie eifrig, »vielleicht kannst du erreichen, daß Coco Affe sagt, weil doch – « Sie war aufgesprungen – alle weiteren Worte blieben ihr
geradezu in der Kehle stecken, als sie den hochgewachsenen Besucher erblickte. Flammend rot wurde sie, und aus großen Augen schaute sie entsetzt auf den Grafen, der ein Lächeln nicht unterdrücken konnte. »Hier ist meine Tochter, Roswitha, Erlaucht«, stellte der Kommerzienrat vor. »Sie haben sich Ihre zukünftige Gattin wahrscheinlich anders vorgestellt, doch im Leben ist selten etwas vollkommen.« Ein humorvolles Lächeln spielte um seinen Mund. Roswitha stand vor den beiden Männern da wie ein erschrockener, hilfloser Backfisch. Sie sah in der hellblauen Samthose mit dem dazu passenden ärmellosen Pullover so rührend kindlich aus, wie es nur bei ganz jungen, unschuldigen Mädchen möglich ist. »Nun, mein Kind, reiche dem Herrn Grafen die Hand«, ermunterte der Vater. »Er hat soeben um dich bei mir angehalten.« »Papi!« Sie flog in des Vaters Arme und sah von diesem sicheren Platze aus dem Grafen in das Antlitz, das wie aus Erz gegossen zu sein schien. Ach, in der Nähe sah er noch viel hoheitsvoller, viel faszinierender aus als aus der Entfernung. Doch wie er sie ansah, so kalt, so durchbohrend, da hatte sie das Gefühl, als ginge sein Blick ihr durch und durch. Bald jedoch überwand sie die Scheu vor dem unnahbaren Besucher. Was konnte ihr passieren, solange der Papi bei ihr war! Sie warf das Köpfchen zurück, lachte ihr köstlich frisches, unbekümmertes Lachen, löste sich aus den Armen des Vaters und streckte dem Grafen die Hand hin. »Guten Tag, Erlaucht, ich heiße Sie herzlich willkommen. Ist es – ist es wirklich wahr, was Vater sagt?« Sie errötete tief bei dieser Frage. Der Graf lächelte und drückte seine Lippen auf ihr Händchen, das in seiner Rechten zitterte und bebte.
»Ja, gnädiges Fräulein, es ist wahr. Wenn Sie mir das Recht geben wollen, diese Hand für das Leben halten zu dürfen…« »Oh!« machte Roswitha und seufzte tief auf. Sie nahm die Blumen, die er ihr reichte, und steckte das erglühende Gesichtchen hinein. Dann schaute sie über die Rosen hinweg tief in seine Augen, in die beim Anblick dieser leuchtenden, tiefblauen Sterne ein warmer Ausdruck trat. Sie hielt seinem Blick stand, preßte mit den flammendroten Rosen zusammen ihre Hände auf das Herz und sah ihn lange an, als müsse sie sich sein Bild einprägen für Zeit und Ewigkeit. »Nun ist es wahr, endlich wahr«, sagte sie verträumt vor sich hin. »Ja, nun ist es endlich wahr, Liebling«, sagte der Vater mit bebender Stimme und zog sein Kind fest an sich, hob dessen Köpfchen zu sich empor und sah ihm in die unschuldsvollen Augen. »Dein Wunsch ist in Erfüllung gegangen. Und nun ist es an dir, zu zeigen, ob du nicht nur Wünsche haben kannst, sondern ob du auch Pflichten hoch und heilig hältst. Vergiß nie, welche Opfer dieser Mann dir bringt, wenn er dich heiratet. Es ist nun in deine Hand gegeben, ihm dieses Opfer so leicht wie möglich zu machen. Schäme dich nicht, ihm deine Liebe zu zeigen, Ita, denn Liebe erzeugt Gegenliebe. Wenn du ihn immer mit deiner Liebe umgibst, wird er dir sein Herz nicht auf die Dauer verschließen können.« Jetzt liefen helle Tränen über das Antlitz des erschütterten Mannes, und er zog sein Kind fest an seine Brust. »Papilein!« sagte da ein weiches, süßes Stimmchen, »ich werde dir ganz gewiß keine Schande machen.« Das klang so naiv, daß der Vater unwillkürlich lachen mußte. »Na ja, bist ja ein tapferes Kerlchen und hast das Herz auf dem rechten Flecke; das hast du ja schon oft bewiesen. Doch nun heißt es für mich leider, euch zu verlassen; ich
muß den auf mich wartenden Herren wenigstens persönlich Bescheid sagen, daß ich für sie heute nur wenige Minuten zu sprechen bin.« »Einen Augenblick noch, Papi«, bat Roswitha. »Ich will mich nur ganz schnell umkleiden, und da Mutti und Gisbert nicht zu Hause sind, ist niemand da, der Herr von Starkenborn so lange Gesellschaft leisten kann.« Schon war sie im Nebenzimmer verschwunden. Nach erstaunlich kurzer Zeit erschien sie wieder. Sie trug ein duftiges Kleid aus mattgelben Spitzen und war anzuschauen wie ein Märchenbild. Die wirren Locken waren geordnet, und die Augen strahlten und leuchteten wie zwei Sonnen. Sie trug eine mit Wasser gefüllte Vase in der Hand, steckte die Rosen hinein und stellte sie auf den Tisch. »So, Papi, jetzt kannst du meinetwegen gehen.« »Ist auch allerhöchste Zeit«, erwiderte der und sah nach der Uhr. »Verflixt spät ist es geworden. Ich werde mich bemühen, so schnell wie irgend möglich zurück zu sein. In der Zwischenzeit könnt ihr beide frühstücken.« Er nickte ihnen noch einmal freundlich zu und verließ dann eilig das Zimmer. Nun wurde es Roswitha doch recht beklommen zumute. Der Vater war nun fort, und ihr lag die Pflicht ob, diesen schweigsamen, unnahbaren Besucher zu unterhalten. Ihre Augen streiften mit leiser Scheu seine Gestalt. »Bitte – lassen Sie uns doch Platz nehmen«, sagte sie mit einer Unsicherheit, die dem weltgewandten jungen Mädel sonst fremd war. »Oder wäre Ihnen ein anderes Zimmer lieber, Herr von Starkenborn?« »Wenn es dir recht ist, dann bleiben wir hier, Roswitha«, entgegnete er und lächelte leicht, als sie zusammenzuckte und ihn erschrocken ansah. »Ach ja, selbstverständlich«, murmelte sie dann und senkte, bis zur Stirn errötend, den Kopf. Sie rückte ihm einen der zierlichen Sessel zurecht und nahm ihm gegenüber Platz.
Und als sie sah, mit welcher Unsicherheit der hochgewachsene Mann auf dem seidenüberspannten Stühlchen balancierte, das nur für ihre winzige Figur berechnet war, siegte ihr angeborener Frohsinn über Verlegenheit und Scheu, und sie lachte hell und lustig auf. »Ich sehe schon, das ist für so lange Glieder wie die Ihren keine Sitzgelegenheit. Da nehmen Sie wohl lieber den Sessel am Kamin, in dem immer mein Vater und mein Bruder sitzen, wenn sie mich einmal in meinem Reich aufsuchen.« Sie wechselten die Plätze, und nun wurde Roswitha wieder unsicher unter des Grafen Blick, der unverwandt auf ihr ruhte. Sekundenlang saß sie dann, den Kopf tief gesenkt, und wagte es nicht, die Augen zu erheben; sie ärgerte sich unbeschreiblich über ihre Unsicherheit und suchte krampfhaft nach einem Gesprächsstoff. »Sie rauchen doch gewiß?« atmete sie dann befreit auf, von Herzen froh, daß ihr diese Frage eingefallen war. Auf ihr Klingeln erschien ein Diener, den sie beauftragte, Zigarren und Zigaretten zu bringen. Als er damit erschien, gab sie ihm noch leise den Auftrag, für ein Frühstück Sorge zu tragen, worauf der Diener sich sofort zurückzog. »Zigarren oder Zigaretten?« fragte sie dann ihren ungesprächigen Gast. »Zigaretten, wenn ich bitten darf.« Sie schob ihm ein Zigarettenkästchen, Streichhölzer und Aschenbecher hin, und er sah sie prüfend an. »Nach dir, Roswitha.« »Danke, ich bin eine sogenannte Sonntagsraucherin und rauche nur ganz leichte Damenzigaretten.« Da verbeugte er sich leicht, entnahm dem Kästchen eine Zigarette, und sie sah zu, wie er sie in Brand steckte. Coco, den seine kleine Herrin ganz und gar vergessen hatte und der noch immer in seinem Ringe schaukelte, war den ungewohnten Vorgängen mit Neugier gefolgt. Doch mit der Zeit wurde es ihm langweilig, und er machte sich energisch bemerkbar, indem er zornige Rufe ausstieß.
»Affe!« kreischte er zornig. »Affe! Affe!« »Coco!« rief Roswitha entsetzt und drohte dem Papagei. Sie trat zu ihm und hakte den Ring von der Schnur, die von der Decke des Zimmers herabhing. »So, du Bösewicht, für deine Unart kommst du nun in dein Bauer.« »Affe! Affe!« schrie Coco noch einmal aufgebracht, ehe Roswitha mit ihm im Nebenzimmer verschwand. Sie kehrte schnell wieder zurück und lachte den Grafen an, halb verlegen, halb schelmisch. »Das ist ein ganz toller Bursche. Zuerst wollte er durchaus nicht ›Affe‹ sagen, und nun, da er es nicht soll – unglaublich!« »Wem war denn diese liebevolle Bezeichnung zugedacht?« erkundigte sich der Graf lächelnd. »Ach, so einem Affen.« »Einem richtigen aus dem Urwalde?« »O nein«, lachte sie lustig auf. »Den ich meine, der ist ganz und gar nicht urwaldmäßig, im Gegenteil, er tut sehr kultiviert, sieht immer aus, als wäre er einem Modesalon entsprungen, und langweilt seine Mitmenschen mit den blödesten Schmeicheleien.« »Darf man einige davon erfahren, Roswitha?« »Ach, die sind wirklich zu affig«, entgegnete sie geringschätzig, »er will mich durchaus heiraten, das ist doch schon reichlich dumm von ihm, und er verspricht mir die unglaublichsten Dinge, wobei er Süßholz raspelt, daß mir dabei immer ganz übel wird.« »Also magst du es nicht gern, wenn man dir süße Dinge sagt?« »Nein, die sind doch alle erlogen, denn ich weiß recht gut, daß das alles nur dem Vermögen meines Vaters gilt. Meine Person würden diese Herren doch nur als notwendiges Übel mit in Kauf nehmen und mich weit von sich schieben, wenn sie erst im Besitz des ersehnten Geldes wären«, erklärte sie mit einem Ernst, der bei dem sonst so unbekümmerten Mädchen überraschte.
»Roswitha – und ich? Ich sehe dich heute zum erstenmal und habe trotzdem bei deinem Vater um dich geworben«, sagte er und sah sie dabei durchdringend an. Obgleich flammende Röte in ihr zartes Antlitz stieg, hielt sie seinem Blicke stand, offen und frei. »Warum Sie um mich warben, das weiß ich ja«, entgegnete sie tapfer. »Ich habe es gewollt und werde mich darum niemals beklagen.« Nun senkte sie den Kopf, und es herrschte eine tiefe Stille in dem Zimmer, daß einer des anderen Herzschlag zu hören glaubte. »Und warum hast du das gewollt, Roswitha?« Ganz weit beugte er sich vor, so daß sein Kopf fast den ihren berührte, und wenn sie den Blick erhoben hätte, dann wäre es ihr nicht entgangen, mit welcher Spannung er ihre Antwort erwartete. Doch sie hob das Gesicht nicht; sie verkrampfte die Hände im Schoß und sagte leise: »Weil ich mich krank sehnte… nach Ihnen… nach Königsgnade, zu dem es mich hinzieht mit unwiderstehlicher Gewalt. Ich bin ganz elend geworden in all den Wochen.« Sie konnte nicht weitersprechen. Tränen erstickten ihre Stimme. Der Mann vor ihr saß noch immer weit vorgebeugt da, verharrte minutenlang regungslos. Seine Brust hob und senkte sich hastig, sein Atem ging schnell. »Roswitha«, sagte er endlich, und ein leises Beben war in seiner Stimme, »ich danke dir für deine Aufrichtigkeit, danke dir für die Tapferkeit, mit der du mir deine Gefühle offenbarst. Ich will dir in dieser Stunde nichts versprechen, ich kenne dich ja noch gar nicht. Soweit es in meiner Macht steht, will ich dafür Sorge tragen, daß du deinen Schritt nie bereust, das kann ich dir heute schon mit bestem Gewissen zusagen.« Er ergriff ihre Hände, die nun eiskalt in seinen warmen, kräftigen lagen, und drückte seine Lippen darauf.
Sie fuhren beide zusammen, es klopfte an der Tür. Ein Diener erschien und meldete, daß das Frühstück serviert sei. »Gut, wir kommen«, sagte Roswitha hastig und erhob sich. Sie sah den Grafen nicht an, sie bat ihn nur leise, ihr zu folgen. Dann ging sie so eilig vor ihm her, als fürchte sie seine Nähe. Erst am nächsten Morgen bei der Frühstückstafel sah der Graf die Seinen wieder. Zwar suchten sie ihre alte Gelassenheit zu wahren, doch die Unruhe, in der sie sich erklärlicherweise befanden, ließ sich nicht ganz verbergen. Aber diese Frauen, die von jeher Selbstbeherrschung geübt hatten, fragten nicht, erwähnten den vergangenen Tag mit keiner Silbe, ehe nicht das von Tag zu Tag einfacher werdende Frühstück beendet war. Überall gerechnet und gespart, um sich möglichst lange über Wasser halten zu können. Erst als Starkenborn sein Butterbrot verzehrt und den Kaffee getrunken, als er sich in seinen Stuhl gelehnt und eine Zigarette in Brand gesetzt hatte, glaubten die drei Frauen, es vor Ungeduld kaum noch aushalten zu können. Gespannt hingen ihre Augen an seinen Lippen. »Ich habe mich gestern mit Fräulein Hartmann verlobt«, sagte er endlich und tat es mit einer Ruhe und Gelassenheit, als gehöre eine Verlobung für ihn zur Tagesordnung. »Ich kann euch zudem die erfreuliche Mitteilung machen, daß ich überrascht, und zwar angenehm überrascht bin. Der Kommerzienrat ist so wenig Emporkömmling, wie wir alle es sind; denn schon sein Großvater und Vater waren Leute, die den besten Gesellschaftskreisen angehörten. Ebenso die Verwandten seiner Gattin, die durchaus Weltdame ist. Der Kommerzienrat macht in jeder Hinsicht den Eindruck eines vornehmen Herrn der alten Schule, und der Sohn, Doktor Gisbert Hartmann, ist ebenfalls ein vornehmer, gewandter Weltmann, wie es bei solchen Eltern gar nicht anders möglich ist. Die Villa, in der die Familie wohnt, entspricht
vollkommen dem kultivierten Geschmack dieser Leute. Und endlich Roswitha – meine Braut.« Jetzt ging ein feines Lächeln über seine herrischen Züge, was den Damen keineswegs entging. »Was die kleine Roswitha anbetrifft«, fuhr er fort, »so ist sie ungewöhnlich schön, zugleich kindlich naiv, eigenwillig und spielerisch – ein verwöhntes, verhätscheltes Kind, dem zärtliche Eltern- und Bruderliebe das Leben zum Paradiese gemacht haben. Somit verstoße ich mit dem Eingehen dieser Heirat zwar insofern gegen das Hausgesetz, als meine zukünftige Frau bürgerlichen Standes ist – im übrigen aber entspricht sie allen Anforderungen. Sie hat eine tadellose Vergangenheit, ist hellhaarig und blauäugig. Und der nötige Stolz dürfte sich mit der Zeit ebenfalls finden.« »Also gefällt dir deine Braut, Odalrich?« fragte die Schwester leise. »Gefallen? – Ja. – Es dürfte nicht so leicht einen Menschen geben, der dem Zauber dieses kleinen Persönchens widerstehen kann. Allerdings ist sie noch so sehr Kind, daß sie – spielt, je nach Lust und Laune. Heute verlangt sie mich mit dem ganzen Ungestüm ihres Wesens zum Manne, um meiner vielleicht schon nach Wochen überdrüssig zu sein. Vielleicht bin ich ihr kaum mehr als ein Spielzeug. Und wenn sie eines Tages erkennt, daß ich gar nicht der Märchenprinz bin, von dem sie geträumt hat, dann wirft sie mich weg. Der Vater kennt seine Tochter und legt vertrauensvoll ihr Geschick in meine Hände. Er verlangt für die Hilfe, die er uns angedeihen läßt, nichts weiter, als daß ich gut zu seinem Kinde bin.« »So hat die Kleine nichts von dem an sich, was diese reichen, übersättigten Mädchen zumeist kennzeichnet?« fragte die Großmutter. »Nein, nichts. Nur daß sie durch Liebe maßlos verwöhnt ist.« »So können wir also noch ganz froh sein«, sagte die Greisin.
»Ja, Großmutter, das können wir«, antwortete er sehr ernst. »Und darum wollen wir nie vergessen, daß sie es ist, die uns aus aller Not rettet.« Die Damen erwiderten hierauf nichts, und der Graf nahm wiederum nach längerem Schweigen das Wort. »In sechs Tagen begeht Roswitha ihren neunzehnten Geburtstag. An diesem Tage soll die Verlobung gefeiert werden, wozu ihr von meinen künftigen Schwiegereltern herzlichst eingeladen seid. Ich werde Roswitha übrigens noch heute hierherbringen, um sie euch vorzustellen.« Als der Graf eine Stunde später vor seiner Braut stand und sie bat, ihn zu den Seinen zu begleiten, war Roswitha von diesem Vorschlag keineswegs entzückt, obwohl sie gestern noch förmlich danach gefiebert hatte, das Königsgnader Schloß von innen kennenzulernen. Doch jetzt, da sich ihr die Gelegenheit dazu bot, überfiel sie eine ihr selbst unerklärliche Angst. »Mutti ist nicht zu Hause. Sie ist in der Stadt, um Besorgungen zu machen«, versuchte sie einzuwenden. »Und bei ihrer Rückkehr weiß sie dann nicht, wo ich geblieben bin. Mutti ist sehr ängstlich.« »Wir lassen Bescheid zurück, daß wir nach Königsgnade gefahren sind«, entgegnete der Graf zwar freundlich, doch in einem Ton, der keine Widerrede duldete. So kleidete sie sich rasch an und stand nach zehn Minuten vor ihm, zaghaft und sehr niedergeschlagen. Vor der Villa wartete noch der Wagen des Grafen, eine elegante Equipage, die mit zwei herrlichen Pferden bespannt war. Der Graf hob seine Braut in die Polster, und fort ging es in scharfem Trab. Am Schloßportal wollte Odalrich ihr beim Aussteigen behilflich sein; allein sie wehrte sich dagegen. »Nein, laß mich.« Schon war sie aus dem Wagen gesprungen. Wie gebannt hingen ihre Blicke an dem imposanten Bau. »Ich höre meine Angehörigen kommen«, raunte Odalrich
ihr zu. »Reiße dich endlich von dem Anblick des Schlosses los. Du kannst es späterhin noch oft genug von innen und außen betrachten.« Er nahm ihren Arm und führte sie die Freitreppe hinauf. Sie zitterte an allen Gliedern. »Immer noch ängstlich, du törichtes Kind?« flüsterte er ihr zu. »Wenn ich bei dir bin, hast du dich vor nichts und niemand zu fürchten. Merke dir das ein für allemal, kleine Ita.« Aus dem Portal waren soeben die drei Gräfinnen herausgetreten. »Hier bringe ich euch Fräulein Roswitha Hartmann, meine Braut – meine Großmutter«, sagte er vorstellend. Roswitha beugte sich schweigend über die feine Altfrauenhand, die sich ihr langsam entgegenstreckte. »Ich heiße Sie willkommen, liebes Kind, als die Braut des letzten Grafen Starkenborn und die zukünftige Herrin von Königsgnade.« Wie kalt, wie unpersönlich es klang! Roswitha war es, als griffe eine eiskalte Hand nach ihrem Herzen. »Danke«, stammelte sie mit entfärbten Lippen, und der Blick, der zu der unnahbaren Frau hinging, war wie der eines scheuen Rehes. Da lächelte die alte Gräfin, und ihre Hand fuhr über das seidenweiche Gelock des verängstigten Kindes. »Nur keine Furcht, Dollarprinzeßchen; wir beißen so kleine Mädchen wirklich nicht.« Die Greisin ergriff eine Locke und ließ sie prüfend durch die Finger gleiten. »Scheint nicht nachgeholfen zu sein. Prachtvoll, wirklich prachtvoll«, murmelte sie. »Ich habe es bestimmt nicht blondieren lassen, Frau Gräfin.« Die Greisin lächelte und strich wie liebkosend über die zarte Wange des Mädchens. Der Graf lächelte auch, umfaßte die Schultern seiner Braut und führte Roswitha der Mutter zu. »Auch ich heiße Sie als Verlobte meines Sohnes herzlich
willkommen.« Das klang schon etwas freundlicher, und Roswitha atmete erleichtert auf. »Und hier meine Schwester Erdmuthe, Roswitha.« »Willkommen in Königsgnade, Fräulein Hartmann«, sagte das stolze Mädchen ernst. »Ihnen haben wir es zu danken, daß wir die Heimat nicht verlassen müssen.« »Oh, warum danken Sie mir?« fragte Roswitha verwirrt, und ihre tiefblauen Augen schauten fast entsetzt auf die junge Gräfin. »Ich habe doch gar kein Geld, das hat doch mein Vater.« »Das ist dasselbe, kleine Dollarprinzessin«, sagte nun die alte Gräfin. »Erdmuthe hat recht – wir müssen Ihnen danken.« Sie erfaßte Roswithas Hand und betrat mit ihr das Schloß. Das junge Mädchen durchschritt schweigend, beinahe verstört, einen Saal, ein Zimmer nach dem anderen. Zu anderer Zeit hätte dieser Anblick sie in helles Entzücken versetzt. Heute aber kam sie sich vor wie ein Kind, das die Mutter verloren hat und in die Hände böser Menschen gefallen ist. Die Gräfinnen hatten sich zur Verlobungsfeier gerüstet und waren im Begriff, zur Stadt zu fahren. Da erschien, auch festtäglich gekleidet, der Graf. »Ich habe lange darüber nachgedacht, was ich Roswitha als Verlobungsgeschenk überreichen könnte«, sagte er mit einer Hast, die man sonst nicht an ihm gewohnt war. »Es muß schon etwas Eigenartiges sein, wenn es die Beachtung des verwöhnten Kindes finden soll. Nun bin ich auf den indischen Ring aus unserem Familienbesitz verfallen. Was meint ihr dazu, Großmutter, Mama und Erdmuthe?« Mutter und Tochter nickten, und auch die alte Dame war einverstanden. »Das ist ein guter Gedanke von dir, Odalrich. Keine Starkenborn konnte ihn bisher tragen, da er für eine ganz kleine Hand bestimmt ist, aber deiner Verlobten dürfte er passen. Ihn fortzugeben kann und darf uns nicht
schwerfallen. Es wird ihn ja immerhin eine Gräfin Starkenborn tragen. Außerdem, wäre Königsgnade in die Hände der Gläubiger gefallen, so hätten die kaum vor dem Familienschatz haltgemacht. Wer weiß, in wessen Besitz der Ring dann gekommen wäre.« Graf Oldalrich nickte, zog das Etui mit dem Ring aus der Brusttasche, öffnete es und reichte es der Großmutter hin. Noch einmal ging das Familienkleinod von Hand zu Hand. Dann war es Zeit aufzubrechen. Ohne ein Wort zu verlieren, stiegen die vier Starkenborn in den bereits vorgefahrenen Wagen und fuhren ebenso schweigend der Stadt zu. Beim Eintritt in die Villa des Kommerzienrates atmeten die Damen auf, als wäre eine schwere Last von ihnen genommen. Sie waren zugänglicher als sonst, als das Ehepaar Hartmann sie begrüßte. Dann erschien auch Roswitha – glückstrahlend, vor Freude zitternd. Hier im Elternhause, in Gegenwart der Ihren, fürchtete sie die Angehörigen des Grafen nicht. So lernten diese nun erst das Sonnenkind so richtig kennen. »Das ist meine Freundin Angela«, stellte Roswitha diese mit herzlichem Lächeln vor. »Ich verdiene ihre Freundschaft eigentlich gar nicht, denn sie ist viel besser als ich.« »Ita, mache dich doch nicht immer schlechter, als du bist«, wehrte das sanfte Mädchen erschrocken ab. »Würde ich dich sonst so lieb haben, wenn du böse wärst?« »Ach, du bist eben, wie dein Name schon sagt, ein Engel«, meinte Roswitha lachend. Bei der Tafel, an der es an nichts fehlte, unterhielt die Kleine alle Anwesenden mit ihrem entzückenden Geplauder. Ihr Charme war einfach unwiderstehlich. Nach der Suppe erhob sich der Kommerzienrat und gab die Verlobung seiner Tochter bekannt. Er tat es mit wenigen aber herzbewegenden Worten. Dann sprach der Graf. Kurz, knapp und klar dankte er für alle Güte und das ihm entgegengebrachte Vertrauen. Er
versicherte, es würde sein Bestreben sein, sich beider würdig zu erweisen. Darauf nahm er wieder Platz und steckte der Braut außer dem schlichten glatten Verlobungsring auch noch den Reif an den Finger, den er wenige Stunden vorher dem Familienschatz entnommen hatte. »Paßt er?« fragte gespannt die alte Gräfin, die dem Enkel an der Tafel gegenübersaß. »Wie angegossen«, gab dieser zurück und hob dabei Roswithas Hand hoch. »Ich muß hierzu eine Erklärung abgeben«, sagte er dann. »Diesen Ring erhielt einer meiner Vorväter von einem Inder als Dank für irgendeine Gefälligkeit. Es soll ein Zauberring sein. Das sagt man ja vielen indischen Ringen nach«, ergänzte er spöttisch. »Er soll nämlich die Gabe besitzen, jenes Herz zur Liebe zu zwingen, das seine Besitzerin dazu ausersieht. Bisher hat keine Gräfin Starkenborn diesen Ring tragen können, da er so klein ist, daß er bisher keiner unseres Geschlechtes paßte. Roswitha ist also die erste, die diesen Zauberring an unbewehrten Männerherzen ausprobieren kann.« »Na, hören Sie mal, das ist aber dann ein ganz unerhörter Leichtsinn von Ihnen, Graf«, schmunzelte Fürst Hallnitz, »diesem kleinen Racker Roswitha ein so verflixtes Zauberding in die Patschen zu geben. Sie verdreht ja ohnehin den Männern schon genügend die Köpfe.« »Mit dem Ring hat es aber noch etwas Besonderes auf sich«, fuhr der Graf lächelnd fort. »Nur jenes Herz, dem sich das der Besitzerin zu eigen gibt, wird von dem Zauber berührt und erliegt ihm.« »Heiliger Bimbam! Dann können Sie sich ja auf etwas gefaßt machen, Graf!« Jetzt lachte der Fürst prustend auf. »Sei du lieber still, Onkel«, drohte Roswitha ihm, während eine flammende Röte ihr süßes Gesicht übergoß, »sonst sollst du der erste sein, an dem die Kraft dieses Ringes erprobt wird.« »Wenn meine liebe Ehehälfte nichts dagegen hat – dann bitte.« Er schmunzelte immer schalkhafter und behaglicher.
»Darf ich den Ring einmal sehen, Graf Starkenborn? Ich beginne nämlich, mich für ihn zu interessieren. Oder gibt es eine Bedingung, daß der Ring nicht mehr abgenommen werden darf, wenn er erst mal an einem Finger sitzt?« »So weit reicht mein Wissen leider nicht«, entgegnete der Graf. Es lag etwas so Ironisches in seinen Worten, daß der Fürst ihn aufmerksam ansah. »Mein lieber Freund, wie ich sehe, scheinen Sie nicht allzusehr an die Zauberkraft des Ringes zu glauben?« forschte er, und das Lächeln, das daraufhin auf dem Antlitz des Grafen erschien, machte seine Vermutung zur Gewißheit. »Ich möchte dir den Ring gern geben, Onkel, doch er geht nicht ab. Hilf mir doch bitte, Odalrich«, bat Roswitha. Aber wie sehr sich der Graf auch bemühte – der Ring ließ sich am Finger wohl hin und her drehen, aber nicht wieder von ihm abziehen. Es war plötzlich sehr still im Zimmer geworden. Alle gewahrten mit heimlichem Unbehagen, wie nach und nach jeder Blutstropfen aus des Grafen Gesicht wich. »Das habe ich nicht geahnt«, murmelte er, als müsse er sich entschuldigen. »Wir werden morgen einen Juwelier aufsuchen und den Ring aufsägen lassen.« »Nein… Nein!« wehrte die kleine Braut. Sie umklammerte den Ringfinger, als fürchte sie, man könne ihr das Schmuckstück entreißen. Mit Entzücken blickte sie auf den großen grünlichen Stein, der so stark funkelte, daß er fast das Auge blendete. Wie Feuer lohte es in seinem Innern, und während Roswitha auf ihn blickte, war es ihr, als blicke sie in eine unermeßliche Tiefe. »Zeig mal, Ita, sitzt der Ring denn wirklich so fest?« fragte Gisbert die Schwester, die ihm daraufhin die Hand entgegenstreckte. »Tatsächlich«, stellte er fest, nachdem er den Ring nach allen Seiten hin und her gedreht hatte. »Da kann einem wirklich bald gruseln.«
»Wenn man ein solches Hasenherz besitzt wie du… dann ja«, neckte ihn die Schwester. »Doch nun habe ich über diesen Ring wirklich mein Geschenk für Odalrich vergessen. Einen Augenblick!« Schon war sie aus dem Zimmer geeilt, kehrte aber nach zehn Minuten wieder zurück, mit roten Wangen und mit Augen, die vor freudiger Erregung strahlten. »Darf ich die Herrschaften bitten, uns zu folgen«, erklärte sie mit gehobener Stimme. Sie nahm den Arm des Verlobten und führte diesen, die übrigen folgten ihnen, die Treppe hinab, bis zu dem Portal der Villa. Draußen stand ein Wagen, eine große Luxuslimousine, an deren Steuer ein Chauffeur saß. »Hier ist mein Verlobungsgeschenk, Odalrich«, jubelte Roswitha. »Den Fahrer bekommst du gratis und franko dazu, nicht wahr, Lorenz?« Sie lachte zu dem Mann hin, der nun ausstieg und sich tief verneigte. »Du freust dich ja gar nicht, Odalrich«, sagte Roswitha enttäuscht, als der Graf regungslos verharrte. »Doch, Roswitha. Wie kannst du nur auf eine derartige Vermutung kommen?« fuhr er aus tiefen Gedanken auf. »Ich bin nur überrascht, sehr sogar. Hab vielen Dank, kleine Ita.« Er zog ihre Hände an die Lippen, und sie strahlte ihn an. »Von meinem eigenen Gelde habe ich ihn gekauft«, erklärte sie mit allerliebster Wichtigkeit. »Papi hat auch nicht eine Mark dazulegen brauchen.« Jetzt wurde auch der Wagen von den anderen bewundert. Dann begab man sich wieder ins Haus zurück. Endlich war der Hochzeitstag da. Ein sonniger Oktobertag, wie er nicht schöner gedacht werden konnte. Schon am Tage vorher hatten sich viele Gäste in Königsgnade eingefunden, die voller Erwarten die Stunde herbeisehnten, in der sie die Braut des stolzen Odalrich zu Gesicht bekommen würden. Man hatte in der Hauptsache ältere Herrschaften zu dem Fest geladen. Zu der Jugend zählten außer dem Grafen
Bernhard und seiner Frau Annelore nur noch zwei Vettern und eine Base. Und diese waren eigentlich die einzigen, die mit der »Mißheirat« des Familienoberhauptes einverstanden waren. Denn den älteren Herrschaften verursachte sie schwere Pein. Und sie alle meinten, es wäre wohl auch noch auf andere Art Rat zu schaffen gewesen. Nichtsdestoweniger waren sie sehr begierig, das neue Familienmitglied endlich kennenzulernen. Annelores Anwesenheit erregte bei mehr als einem Mißfallen. Bisher hatte Bernhard nicht die »Geschmacklosigkeit« besessen, seine Frau bei einer Familienfestlichkeit zu präsentieren. Doch diesmal hatte er nicht lange gefragt, sondern die Gattin einfach mitgebracht. Nun ja, wenn sogar Odalrich solche Geschichten machte und unter seinem Stande freite, was sollte man da von anderen verlangen? Er ging ihnen ja direkt mit schlechtem Beispiel voran! Roswitha war begreiflicherweise sehr aufgeregt und erwartete den Verlobten mit fieberhafter Ungeduld. Sie sah ganz elend aus von all dem Trubel der letzten Wochen. »Warum so aufgeregt?« fragte der Graf Roswitha, die an einem Tisch lehnte und vor Erschöpfung kaum stehen konnte. »Hast du den zweiten Ring mitgebracht, Odalrich?« fragte sie ängstlich, statt eine Antwort zu geben. Er lächelte. »Gewiß, Kind. Komm, wir stecken ihn auf den Zeigefinger der linken Hand. Bei der Trauung werden die Ringe ja sowieso gewechselt.« Dann ging es zum Standesamt. Als Graf Bernhard Roswitha zum erstenmal sah, war er verblüfft. Wie hatte Odalrich auch nur eine Minute zögern können, dieses schöne Geschöpf zu seiner Gattin zu machen? Nach der standesamtlichen Trauung nahmen das junge Paar, Eltern, Bruder und die Trauzeugen im Hause des Kommerzienrats ein kleines Frühstück ein. Dann begaben sich alle nach Königsgnade, das in vollstem Festschmuck
prangte. Die auswärtigen Gäste begannen sich bereits einzufinden. Der Bruder der Kommerzienrätin war noch nicht erschienen, wurde aber jeden Augenblick erwartet. Als Roswitha fertig angekleidet war, weinte die Kommerzienrätin plötzlich so laut auf, daß die junge Braut erschrocken auffuhr: Ohne ihres Kleides zu achten, kniete sie vor der Mutter nieder, die wie gebrochen in einem Sessel lehnte, und schmiegte sich fest an sie an. Die Tränen der Mutter fielen in den Brautkranz der Tochter. »Wer ist denn hier eigentlich die Unvernünftigste, unsere Mutti oder unsere Kleine?« fragte der Kommerzienrat, der soeben in das Zimmer trat und die seltsame Gruppe sah. Unmittelbar hinter ihm erschienen die drei Gräfinnen, der Fürst und Gisbert. Sie alle wünschten die Braut zu sehen, bevor sie an den Altar trat. Zugleich mit ihnen hatte Odalrich das Zimmer betreten, und ein Schatten flog über seine Züge, als er seiner jungen Gattin ansichtig wurde. Rasch versuchte sie sich aus den Armen der Mutter zu lösen; doch es war ihr nicht so schnell möglich, wollte sie nicht den hauchdünnen Schleier zerreißen, der sie umwallte. Da kam der Vater zu Hilfe. »Aber Mutti, wer wird denn so unvernünftig sein«, sagte er gütig zu der fassungslos schluchzenden Frau. »Ita ist uns ja nicht verloren, sie bleibt sogar in unserer nächsten Nähe, und wir können sie sehen, so oft wir wollen.« Roswitha erhob sich langsam. Sofort war die Zofe an ihrer Seite, ordnete etwas an Kleid und Schleier und atmete erleichtert auf, daß beides nicht so mitgenommen war, wie man hatte befürchten müssen. Der Graf trat jetzt zu seiner Braut. Er bat sie, Platz zu nehmen, damit er ihr den Schmuck anlegen könnte, ohne den die Braut eines Starkenborn nicht vor den Altar treten durfte. Wie das in der goldenen Kassette, die den Schmuck barg, glänzte und gleißte!
Roswitha mußte die Augen schließen, als sie einen Blick hineintat. Die Hände des Grafen zitterten ein wenig, während er das Geschmeide befestigte. Alle blickten wie gebannt auf die wunderschöne Braut, die wie ein Märchenbild vor ihnen stand. Geheimnisvoll und dunkel schauten die Augen aus dem weißen Antlitz. Sie erschien allen seltsam fremd, und der Kommerzienrat mußte sich abwenden, weil ihm die Tränen in die Augen traten. Nun war Roswitha mit dem Schmuck aus dem Starkenborner Familienschatze geschmückt. Sie trug ihn mit der ganzen Unbekümmertheit, die ihr eigen war, und konnte sich nicht erklären, warum alle anderen so tiefernst, ja geradezu erschüttert waren. Dann wanderte sie von Arm zu Arm. Alle wagten sie kaum zu berühren, küßten nur die weiße Stirn unter der Myrtenkrone und traten dann stumm zurück. Roswithas Blicke suchten den Gatten, der schweigend etwas abseits stand. Sie schritt auf ihn zu und legte ihre Hand auf seinen Arm. Dann schritt das junge Paar davon. Was nun folgte, war für Roswitha wie ein Märchen, das an ihr vorüberglitt wie ein Traum. Sie wußte kaum, was mit ihr geschah, und ebensowenig sah sie die prüfenden und entzückten Blicke, die auf ihr ruhten. Erst als sie an der festlich geschmückten Tafel saß, beim Anblick der lachenden und schmausenden Gäste, fand sie sich in die Wirklichkeit zurück. Zum Essen hatte sie weder Lust noch Zeit. Es gab ja allzuviel des Neuen und Interessanten zu beobachten. Alle die vielen unbekannten Menschen, deren Blicke mit mehr oder minder freundlichem Ausdruck auf sie gerichtet waren, lenkten sie ab. Und dort… dort saß ja auch Frau Viola. Scharf sah sie zu ihr herüber, und unwillkürlich überlief es Roswitha kalt bei dem wahrhaft teuflischen Ausdruck ihres Gesichts.
Eben trank sie dem Grafen zu, sie erhob ihr Glas mit einer betont vertraulichen Gebärde. Oder gab sie ihm etwa ein Zeichen, dessen Bedeutung nur sie beide kannten? In Roswitha erwachte Mißtrauen. Verstohlen ging ihr Blick zu dem Gatten hin. Der hatte den heimlichen Gruß der schönen Frau bemerkt, denn er tat ihr Bescheid, ebenso heimlich und vertraut, und er lächelte dabei; eigenartig und seltsam war dieses Lächeln. Roswitha war es, als öffnete sich vor ihr ein Abgrund, der viele Schrecknisse in seiner Tiefe barg, die sie bisher weder kannte noch ahnte. Das Herz tat ihr plötzlich so weh, daß sie beide Hände darauf preßte. Sie stöhnte auf, ganz leise. Doch der Gatte vernahm es und neigte sich zu ihr hin. »Roswitha, was hast du, Kind, du bist ja plötzlich so blaß?« »Ich habe nichts«, wehrte sie hastig ab, »ich bin wohl nur müde.« »Bald ist ja alles überstanden, kleines Mädchen«, tröstete er, »und dann fahren wir beide in die weite Welt hinaus. Freust du dich darauf, Roswitha?« »Ja… nein, ich weiß nicht«, stammelte sie verwirrt. Sie sah wie gebannt zu der Frau hinüber, die sich an ihrer Verwirrung geradezu zu weiden schien und deren Gesicht ein so höhnisches Lächeln verzerrte, daß es Roswitha wie eine Teufelsfratze erschien. Nun schrak sie heftig zusammen, denn Frau Viola beugte sich vor und trank auch ihr zu. »Nicht wahr, kleine Gräfin, nichts geht über ein reines Gewissen«, sagte sie lächelnd, und es war an der Tafel außer Roswitha nur noch Angela, die den Sinn dieser Worte verstand. »Roswitha, was soll das bedeuten, was will diese Frau von dir?« wandte sich der Gatte an sie. »Ich… ich weiß nicht«, wich sie seiner Frage aus. »Nun, das kommt mir aber höchst sonderbar vor«, meinte er ungläubig. »Mir auch«, entgegnete Roswitha und warf den Kopf in den
Nacken, »ein Mann, der an der Hochzeitstafel mit einer anderen Frau heimlich Zeichen tauscht.« »Roswitha, es ist mir hier nicht möglich, auf diese unerhörte Beschuldigung näher einzugehen«, sagte er leise, »du wirst mir jedoch später erklären müssen…« »Jawohl«, gab sie kurz zurück, »denn was ich behaupte, kann ich auch verantworten.« Sie schauerte zusammen wie im Fieber. Nahm denn dieses Essen gar kein Ende? Sie war kaum noch imstande, die Blicke Frau Violas zu ertragen. Was wollte sie überhaupt von ihr? Was hatte sie nur? Sahen die Umsitzenden denn gar nicht, was hier vor sich ging, sah keiner von ihnen die Teufelsfratze dieser Frau? Endlich, endlich wurde die Tafel aufgehoben, und ohne rechts oder links zu schauen, eilte Roswitha aus dem Saale in ihr Ankleidezimmer. In dem Vorzimmer, das die Gemächer der jungen Gattin abschloß, hatten sich die nächsten Angehörigen versammelt, um das junge Paar vor der Abreise noch einmal zu sehen und ihm Lebewohl zu sagen. Außerdem hatten sie noch eine Überraschung für Roswitha. Gisberts und Angelas Herzen hatten sich nämlich endlich gefunden, heute, in all dem Trubel. Die Verlobung sollte sogar noch bekanntgegeben werden, ehe das junge Paar abgereist war. Starkenborn war schon anwesend; es fehlte also nur noch Roswitha. Endlich trat auch sie ein. Sogleich fiel ihr Angela um den Hals und lachte und weinte vor Freude. »Ita, ich bin ja so glücklich, so unbeschreiblich glücklich!« Und obgleich sie der Freundin nicht verriet, worüber sie eigentlich glücklich war, hatte diese es dennoch sofort erfaßt. »Na, also, lange genug hat es ja gedauert, daß ihr…« Sie verstummte und starrte mit entsetzten Augen nach der Tür, durch die soeben Frau Viola eintrat. Roswitha hatte das Gefühl, als risse ihr eine unsichtbare Hand das Herz
aus der Brust. Auch alle übrigen sahen der Eintretenden mit Befremden entgegen. Aber ohne sich um die eisige Ablehnung zu kümmern, mit der jedermann ihr augenscheinlich begegnete, schritt sie zielbewußt auf Roswitha zu, die entsetzt vor ihr zurückwich und sich an ihren Vater klammerte. »Gut, daß ich Sie noch treffe, kleine Gräfin«, sagte Frau Viola in einem Ton, der jeden empörte. »Ich komme, um Ihnen zu der gewonnenen Wette zu gratulieren.« »Viola!« rief Angela entsetzt aus, flog auf ihre Schwägerin zu, faßte deren Arm mit beiden Händen und sah ihr in die funkelnden Augen, flehend, beschwörend. »Viola, liebe Viola, sei doch gut«, bettelte sie mit zuckenden Lippen. Doch diese Worte hörte Viola nicht. Ihre Augen ruhten funkelnd auf dem jungen Weibe, das sich noch immer fest an den Vater geklammert hatte und aussah, als müsse es jeden Augenblick zusammenbrechen. Wilder Triumph stand in den Augen der gefährlichen Frau. Sie stieß die kleine Schwägerin zur Seite, daß sie taumelte. »Was die Kleine nur hat«, sagte sie in einem Ton, dessen gespielte Freundlichkeit in keinem Verhältnis zu ihren flackernden Blicken und ihren verzerrten Zügen stand. »Die kleine Gräfin hat mit mir doch gewettet!« »Viola!« schrie Angela auf. »Ruhig!« fuhr diese sie an und wandte sich dann an den Grafen, der gleich allen anderen wie erstarrt dastand. »Ihre kleine Gattin scheint sich nicht gerade der gewonnenen Wette zu erfreuen«, dabei zeigte sie hämisch lächelnd auf Roswitha. »Ach, Sie wissen wohl noch gar nicht, worum es sich handelt? Die kleine Frau ist nämlich eine Wette eingegangen, daß es ihr gelingen würde, dem Grafen Starkenborn, dem ›Mann ohne Herz‹, Ehefesseln anzulegen, was bisher alle anderen Frauen vergeblich erstrebten. Angela kann es bezeugen, sie war dabei, als die Wette abgeschlossen wurde.«
Sie blickte triumphierend im Kreise umher. Dann fuhr sie mit ganz besonderer Betonung fort: »Graf Starkenborn als Wettobjekt! Wenn das keine Sensation ist! Jedenfalls würde ich es als Unterlassungssünde betrachten, sie der Welt vorzuenthalten.« Alle saßen da wie versteinert, zumal die Gräfinnen Starkenborn glichen leblosen Standbildern. Kaum anderes erschien der Graf. Hochaufgerichtet stand er da; seine Augen hafteten mit eigentümlichem Ausdruck an der sehr erregten Frau, und in seinen Mundwinkeln lag tiefste Ironie. Und Roswitha? Daß ein Mensch so blaß sein konnte wie sie! Ihre Lippen waren wie verkrampft von ungeheurem Schmerz. »Sie wollen diese Wette doch nicht etwa ableugnen, kleine Gräfin?« fragte Viola lauernd. Sie trat auf Roswitha zu, und es schien, als wollte sie das junge Weib umfassen. Da kam auf einmal Leben in Roswithas Gestalt. »Rühren Sie mich nicht an!«, gebot sie mit einer Stimme, die gar nicht ihrer kleinen Person zu gehören schien. »Ich leugne diese Wette nicht ab. Ich habe noch immer den Mut besessen, für meine Worte und Taten einzustehen. Ja, ich habe mit Ihnen gewettet, daß Graf Starkenborn mein Mann werden würde!« »Ita, so wüte doch nicht gegen dich selbst!« rief Angela schluchzend. Doch Ita winkte unwillig ab und wandte sich wieder Frau Viola zu, die eine derartige Haltung von diesem kindlichen jungen Geschöpf nicht erwartet hatte. »Es ist nur schade, gnädige Frau, daß Sie nicht schon früher von dieser Wette sprachen und mich an sie erinnerten, solange die Ehe noch nicht geschlossen war. Vielleicht hätte ich Ihnen den Grafen Starkenborn dann abgetreten. Denn die Art, wie Sie ihm heute zutranken, läßt den Schluß zu, daß Sie irgendwelche Ansprüche an ihn geltend zu machen haben.« »Roswitha – genug!«, unterbrach Odalrich sie.
Jetzt legte sich der Kommerzienrat ins Mittel, den diese ganze Szene auf das peinlichste berührt hatte. Er führte Roswitha zu einem Sessel und streichelte ihre Wangen, straffte seine schlanke Gestalt und trat nun so dicht vor Frau Viola hin, daß diese unwillkürlich einen Schritt zurückwich. Doch dann fiel sein Blick auf Angela, die ganz verstört dreinschaute. »Geh, mein liebes Kind«, sagte er zu ihr in gütigem Tone, »was ich deiner Schwägerin zu sagen habe, ist nichts für dich. Gisbert wird dich zurückholen, wenn meine Abrechnung mit dieser Frau beendet ist.« Angela entfernte sich gehorsam, und der Kommerzienrat sah sich noch einmal im Kreise um. Niemand hätte geglaubt, daß diese gütigen Augen so hart, so unerbittlich blicken konnten wie eben jetzt. »Wir sind nun ganz unter uns«, begann er, »und alle Anwesenden können hören, was ich Ihnen zu sagen habe, schöne Frau. Jedoch Angela, die ihren Bruder zärtlich geliebt hat, durfte nicht dabeisein. Denn sonst hätte sie erfahren müssen, daß er keines natürlichen Todes gestorben ist. Nicht wahr, gnädige Frau, Sie wissen schon, was ich meine?« sagte er in einem Ton, daß sie entsetzt zurückwich. »Ich habe nämlich davon munkeln hören, daß eine verführerisch schöne Frau, deren Gatte verunglückte, ein wenig Vorsehung gespielt hat, um die Leidenszeit des armen Krüppels zu verkürzen. Bitte, hübsch ruhig bleiben«, mahnte er ironisch, als sie die Hand auf den Mund preßte, um einen Schrei zu unterdrücken. »Die schöne Frau konnte ja nicht wissen, daß die Pulver, die sie sich von einem gefälligen Arzt hatte besorgen lassen, nicht ungefährlich waren. Schade um den Arzt, der ein anständiger Kerl war, bis eben diese Frau in seinem Leben auftauchte. Jung und unerfahren wie er war, ließ er sich allzuleicht von einem Paar schillernder Augen betören und wurde ihnen gegenüber willenlos. Der arme Mensch hat sein Verschulden gesühnt, hat Hand an sich selber gelegt,
als es ihm zum Bewußtsein kam, was er getan hatte. Hätte er jedoch den Mut besessen, mit einer Last auf dem Gewissen weiterzuleben, glauben Sie mir, Frau Viola, auch er wäre ein Frauenhasser geworden. Wohlgemerkt geworden. Denn das ist kein Mann von Hause aus, sondern er wird es erst durch die Erfahrungen, die er mit Frauen macht. Und nun lassen Sie mich Ihnen noch etwas sagen«, – hier hob sich seine Stimme, wurde schneidend und scharf – »würde eine solche Frau es wagen, meiner Tochter zu dem Gewinnen einer Wette zu gratulieren, die dieses unerfahrene, eigenwillige Kind nur in einem Anfall von unberechenbarem Trotz abgeschlossen haben kann, und zugleich betonen, die Sensation dieser Wette dürfte der Mitwelt nicht vorenthalten werden, dann würde ich dieser Welt eine ganz andere Sensation zu bieten wissen. Bei Gott! – Und diese Frau würde endlich dahinkommen, wohin sie von Rechts wegen gehört – hinter eiserne Gitter. Sollte ich irgendwo ein einziges Wort von dieser übrigens sehr geschmacklosen Wette hören, dann kenne ich ja die Quelle und daß ich dann nicht schweigen werde, das schwöre ich Ihnen! Des weiteren verlange ich, daß Sie sich mit keinem Wort dagegen auflehnen, wenn Angela nicht in das Haus zurückkehrt, in dem Sie Ihren Wohnsitz haben, und das zur Hälfte Angela gehört. Ich will das Kind Ihrem schädlichen Einfluß nicht länger ausgesetzt wissen. Die Kleine gehört durch die Verlobung mit meinem Sohne nun zu unserer Familie, und ich bin dazu da, diese zu schirmen und zu schützen. So, das wäre alles, was ich Ihnen zu sagen hätte.« Er wandte sich von ihr ab, und nun kam Leben in ihre wie zu Stein erstarrte Gestalt. Sehr schnell hastete sie aus dem Zimmer. Arme Frau Viola, wie so anders verläßt du den Ort, wo du deine Trümpfe auszuspielen gedachtest, wie ganz anders, als du es dir vorgestellt, als du es erhofft hattest! »Donnerwetter, ist das eine Kanaille«, sagte der Fürst und
wischte sich den Schweiß von der Stirn. »Gut, daß du diese Waffe gegen sie in Händen hattest, Adolf. Dieser Teufel hätte es wirklich fertigbekommen…«, seine Worte verloren sich in undeutlichem Gemurmel. Der Kommerzienrat wandte sich nun seiner Tochter zu, die unbeweglich in ihrem Sessel lehnte. »Das war nicht recht von dir, mein Kind«, sagte er gütig. »Ein Mensch ist kein Wettobjekt, Roswitha, und schon ganz und gar nicht der Mann, den du mit ganzer Seele zu lieben vorgibst. Aber ich will dir weiter keine Vorwürfe machen. Ich sehe ja, wie du unter deiner Unvernunft, die dir im Leben noch manchen bitteren Streich spielen wird, leidest. Geh, bitte Odalrich um Verzeihung, mein Liebling. Ein Mann wie er wird diese ganze Wettgeschichte als das ansehen, was sie wirklich ist: als Dummheit eines verzogenen kleinen Mädchens, das einer bösen Frau, die es in unverantwortlicher Weise reizte, durchaus zeigen wollte, daß es alles bekommen kann, was es sich in das eigenwillige Köpfchen gesetzt hat. Schau nur, Odalrich sieht gar nicht so böse aus, wie er eigentlich müßte. Geh und bitte ab, was du ihm mit dieser Wette angetan hast, mein Mädel.« Doch Roswitha wollte nicht, auf keinen Fall! Sie warf den Kopf in den Nacken. »Nein, ich gehe nicht, denn ich habe nichts abzubitten!« rief sie mit leidenschaftlicher Heftigkeit. »Die Wette war genauso abgeschlossen, wie Frau Viola es schilderte. Warum soll ich nicht den Frauen zeigen, daß ich jeden Mann bekommen kann, den ich haben will? Ich kann mir meinen Mann eben – kaufen. Geld ist Macht, und die habe ich.« »Roswitha!« unterbrach der Vater sie erzürnt, packte sie bei den Schultern und schüttelte sie leicht. »Weißt du überhaupt, was du sprichst? Vergiß nicht, daß ich das Geld habe, nicht du, und daß du durchaus kein Recht hast, darauf zu pochen. Ich habe nicht geglaubt, daß ich mich eines Tages deiner so zu schämen hätte, wie ich es jetzt tun
muß. Und ich bereue es bitter, dir gegenüber so viel Nachsicht geübt zu haben.« Allein seine Worte fanden nicht den Weg zum Herzen seiner Tochter. Und weil sie nicht zeigen wollte, wie es in ihr aussah, verschanzte sie sich immer mehr hinter Auflehnung und Trotz. »Roswitha, bitte deinen Gatten um Verzeihung!« »Nein!« »Ja, was macht man denn nur mit einem so widerspenstigen Kinde?« fragte der Kommerzienrat verzweifelt, während seine Frau auf die Tochter zuging und ihren Arm um sie legte. Doch Roswitha machte sich von ihr frei. »Laß nur, Mutti… ihr… ihr…« Tränen erstickten ihre Stimme, sie warf den Kopf in den Nacken und floh aus dem Zimmer, als würde sie verfolgt. Betretenes Schweigen herrschte im Kreise der Zurückbleibenden. »Ein verflixter kleiner Racker«, sagte der Fürst mit erzwungener Heiterkeit, »wird Ihnen noch allerlei zu schaffen machen, lieber Graf.« Dieser lehnte mit gewohnter Ruhe am Fenster, und es schien, als schrecke ihn diese Prophezeiung ganz und gar nicht. Er lächelte nur halb belustigt, halb spöttisch. »Ich werde zu Roswitha gehen«, erklärte er ruhig und wandte sich dann an seine Großmutter. »Geht bitte zu den Gästen zurück. Eure lange Abwesenheit dürfte schon längst aufgefallen sein.« Er winkte leicht mit der Hand und schritt der Türe zu. »Nicht zu hart werden, bitte, bitte!« bettelte die Mutter. Da wandte er sich noch einmal um und lächelte ihr beruhigend zu. »Es wird schon nicht«, tröstete ihr Gatte, sah dem Grafen jedoch mit sorgenvollem Blick nach. Als Odalrich das Ankleidezimmer seiner jungen Gattin betrat, saß diese vor dem Toilettentisch, hatte den Kopf
darauf gelegt und schluchzte herzzerbrechend. Die Zofe stand neben ihr, und da sie sich keinen Rat wußte, weinte sie mit ihrer jungen Herrin um die Wette. Bei des Grafen Eintritt schrak sie heftig zusammen und starrte ihn aus großen, erschrockenen Augen an wie ein Kind den schwarzen Mann. »Bereiten Sie alles zur Reise vor, Anni!«, gebot er, und gar zu gern leistete das Mädchen dieser Aufforderung Folge. Dann trat er zu der in Tränen aufgelösten Gattin, legte seinen Arm um ihre zuckenden Schultern und sagte: »Roswitha, du mußt dich fertig machen!« Sie hatte kaum seine Stimme vernommen, als sie auch schon auffuhr und bebend vor Zorn vor ihm stand. »Ich komme nicht mit dir, du, du…« Sie schien nach einem passenden Ausdruck zu suchen, doch er ließ es gar nicht erst dazu kommen. »Mache dich fertig!« gebot er ernst und fest. »Nein!« O nein, das war nicht mehr der Trotz eines verzogenen Kindes, das war feste Entschlossenheit, die ihm aus ihren Blicken entgegenfunkelte. »Und warum willst du die Reise nicht antreten?« »Ich will eben nicht.« »Weshalb hast du mich dann geheiratet, wenn du gleich in den ersten Stunden von mir gehen willst?« »Weil… weil… ich glaubte, weil ich annahm, ein Weiberfeind wie du, so ein Mann ohne Herz, hätte noch nie eine Frau geliebt und…« Sie hielt verblüfft inne, als ein spöttisches Lächeln um seinen Mund irrte. »Ah so! Und du wolltest diesen Weiberfeind die Liebe lehren?« »Ja – und tausendmal ja!« schrie sie ihm entgegen. Sie bebte an allen Gliedern, so daß sie sich kaum aufrecht zu halten vermochte. »Das habe ich geglaubt«, sagte sie nun ruhigeren Tones. »Doch wie sehr ich mich irrte, erkannte ich vorhin. Oder
willst du etwa ableugnen, daß du Beziehungen zu Frau Viola hast?« »Gehabt hast, mußt du sagen, Roswitha. Nein, das kann ich nicht leugnen, ich kann es nicht und will es auch nicht. Doch was ich einmal vor Jahren, als dummer Junge, getan habe, darüber bin ich dir keine Rechenschaft schuldig.« »So, und ich soll dir glauben, daß diese Beziehungen heute nicht mehr bestehen? Solche Lügen finden…« »Mäßige dich, Roswitha«, unterbrach er sie scharf, »ich halte es meiner für unwürdig, auch nur ein Wort weiter über diese Angelegenheit zu verlieren. Mache dich reisefertig.« »Nein, ich komme nicht mit, ich kehre mit meinen Eltern in die Stadt zurück. Mein Vater wird dir schon das Geld geben, das du zur Finanzierung deines Gutes brauchst! Aber unsere Wege gehen auseinander. Ich habe zwar gewußt, daß du mich nicht liebst, doch es war mir unbekannt, daß ich mit einer anderen würde teilen müssen.« Sie wich vor ihm zurück, so weit sie konnte. Am liebsten hätte sie sich versteckt, um seinen eisigen Blick nicht aushalten zu müssen. Mit einem Gefühl des Schreckens gewahrte sie, wie die Adern an seiner Stirn und an seinen Schläfen zu dicken, blauen Strängen anschwollen und wie seine Hände sich zu Fäusten ballten. »So nicht, nein, so nicht!« stammelte sie mit entfärbten Lippen und schlug die Hände vor das Gesicht, um seinen Blick nicht länger zu sehen, der ihr das Herz erzittern ließ in sinnloser Angst. Noch nie in ihrem Leben hatte jemand sie so angesehen, noch nie in ihrem Leben war ihr ein Mensch begegnet, von dem eine derartige Eiseskälte ausging wie von diesem Manne, der hochaufgerichtet vor ihr stand und sich mit fast übermenschlicher Kraft zu beherrschen suchte. »Papi!« stammelte sie. Dann raffte sie sich auf, um zu fliehen, doch er faßte ihre Hände, umspannte sie wie mit
Eisenklammern und hielt sie fest. Minutenlang versuchte sie, sich seinem Griff zu entwinden. Doch dann hielt sie ganz erschöpft inne, denn sie mußte einsehen, daß es unmöglich war, gegen diesen Mann anzukommen. Dennoch gab sie sich nicht besiegt und versuchte eine letzte Gelegenheit. Sie stieß mit den Füßen nach ihm und grub ihre Zähne in seine Hände, daß das Blut unter ihren Bissen hervorquoll. Doch alles war umsonst. Ruhig und unbeweglich stand er da, als sei er aus Stahl und Eisen. Und unerträglich dünkte sie der Blick, mit dem er ihrem zwecklosen Beginnen zusah, verächtlich, voll Ironie. Erschöpft ließ sie sich endlich in einen Sessel fallen. »Ein Barbar bist du, ein brutaler Mensch!« keuchte sie, und ihre Augen funkelten. »In alle Welt werde ich es hinausschreien, wie du deine Frau behandelst!« »Bitte!« entgegnete er mit einer Ruhe, die sie von neuem erschauern ließ. »Dann werde ich etwas anderes bekanntgeben, das nämlich, daß eine Gräfin Starkenborn wie eine Wildkatze tobt und faucht und wie eine ungezogene Range mit den Füßen stößt und beißt. Ich bin nicht so leicht kleinzukriegen, das wirst du mit der Zeit schon einsehen lernen. Es tut mir allerdings leid, wenn du erkennen mußt, daß ich nichts von dem Märchenprinzen an mir habe, der in deinem Köpfchen spukt. Es tut mir auch leid, erkennen zu müssen, daß du des Spielzeuges, als das du mich angesehen hast, bereits überdrüssig geworden bist. Doch ich lasse mich nicht in die Ecke werfen und mich auch nicht wieder aus ihr hervorholen, wenn dir gerade die Laune danach steht. Daß du nicht einmal Respekt hast vor der Heiligkeit der Ehe, kennzeichnet deinen Charakter. Solange alles nach deinem Willen ging, war bei dir eitel Sonnenschein. Doch nun, bei dem Auftauchen der ersten Schwierigkeiten, willst du nichts mehr von alledem wissen, was dir früher viel und beinahe alles galt. Das ist die Art eines verhätschelten Kindes, das
jeden Wunsch unbedingt erfüllt haben, aber nichts von dadurch bedingten Konsequenzen wissen will. Du gehörst zu den Frauen, die wohl jemand lieben…« »Ich liebe dich nicht!« warf sie erbittert ein. »… Oder bloß vorgeben, es zu tun«, fuhr er unbeirrt fort. »Deine Liebe mag süß, mag betörend sein, allein sie ist ohne Bestand. Ich möchte dir jedoch eines zu bedenken geben, Roswitha: ein Mann ist wohl dazu imstande, Opfer zu bringen, allein er verträgt es nicht, eine lächerliche Rolle zu spielen. Und ich warne dich davor, mir eine solche zuzumuten. Hüte dich daher, das Hampelmännchen in mir zu sehen, das nur nach deiner Lust und Laune zu tanzen hat, sonst stehe ich für nichts ein.« Ganz dicht war er an sie herangetreten, so daß sein Körper fast den ihren berührte; ganz nahe war ihr sein herrisches Gesicht, in dem jeder Muskel gespannt war. »Willst du nun mit mir reisen, Roswitha?« »Ich, ich fürchte mich, fürchte mich unsagbar vor dir«, stammelte sie, und in ihren weitaufgerissenen Augen stand ein Ausdruck des Grauens. »Willst du mit mir reisen, Roswitha?« Noch einmal diese Frage, hart, kalt, unerbittlich. Sie meinte, das Herz sollte ihr stillstehen. »Ja… ich… nicht so ansehen, bitte!« Unwillkürlich streckte sie die Arme aus, als ob sie nach einem Halt suche. Aber als Odalrich sich erhob, um sie zu stützen, da straffte sich sofort ihre Gestalt, und fast gebieterisch wies sie ihn zurück. »Ich werde mit dir gehen, weil… weil es mir nicht möglich ist, mich deinem brutalen Willen zu widersetzen«, sagte sie ruhiger als zuvor, »doch wenn du erwartest, auch nur eine Stunde Freude an dieser Reise zu haben, dann irrst du.« »Damit habe ich auch niemals gerechnet«, gab er gelassen zurück, »ich bin mit keinerlei Illusionen in diese Ehe gegangen und kann daher auch nicht enttäuscht werden. Wenn man ein so unbeherrschtes, unberechenbares Kind heiratet wie dich, dann fühlt man sich als Erzieher, nicht
als Gatte.« Ohne sie weiter zu fragen, rief er die Zofe herbei. »Alles bereit, Anni?«, fragte er, und das Mädchen bejahte ängstlich. »Dann helfen Sie der Frau Gräfin beim Ankleiden.« Er ließ sich in einen Sessel fallen und sah zu, wie die flinken Hände der Zofe sich an Roswitha zu schaffen machten. Prangend in seinem farbigen Blätterschmuck zog ein junger, lachender Herbstmorgen herauf. Überall öffnete man weit die Fenster, um ihn hereinzulassen, den launischen Gesellen, der leuchten und strahlen und wiederum wild daherbrausen konnte mit Regen und Sturm. Wie sehr aber war er erstaunt, daß zwei Fenster in dem vornehmen Hotel dicht verschlossen blieben. Vielleicht hätte er in seiner herben Frische, hätte er mit seinem blinkenden Sonnenschein dem jungen Menschenkinde, das sich in seiner Verlassenheit schließlich in den Schlaf geweint hatte, ein Trost sein können; vielleicht hätte er mit seinen Sonnenstrahlen einen Widerschein in den Augen geweckt, die sich erst schlossen, als das erste Frührot am Himmel erschien. Es war bereits nach elf Uhr. Odalrich, der die Nacht im Nebenzimmer auf dem Diwan verbracht hatte, war schon lange aufgestanden. Nach dem Frühstück hatte er einen ausgiebigen Bummel durch die belebte Stadt gemacht und wartete jetzt auf das Erscheinen seiner Gattin. Nun sah er wieder nach der Uhr, wie schon unzählige Male an diesem Morgen, und seine Brauen schoben sich unmutig zusammen. Kurz entschlossen erhob er sich, stieg zu dem Wohnzimmer hinauf und lauschte an der Schlafzimmertür. Nichts rührte sich dahinter. »Roswitha!« Erst rief er leise, dann lauter. Klopfte.
»Roswitha!« »Ja, Papi, gleich«, rief sie erwachend. Sie richtete sich empor. Schlaftrunken, wie sie war, vermochte sie Traum und Wirklichkeit nicht sogleich zu unterscheiden. War sie nicht daheim gewesen, eben noch? Und nun? Verstört blickte sie umher. Wo befand sie sich? Dieses Zimmer war ihr vollkommen fremd. Dann aber war sie auf einmal ganz wach, war sich voll bewußt, wo sie sich befand. »Ja, Odalrich, was wünschst du?« Wie müde ihre Stimme klang. Es gab ihm einen Stich ins Herz. »Du mußt aufstehen, Roswitha; es ist schon fast zwölf Uhr, wir müssen heute noch weiter; ich werde dir Anni schicken.« Dann ging er wieder hinunter und wartete. Seine Geduld wurde auf eine harte Probe gestellt. Es dauerte sehr lange, bis Roswitha endlich erschien. Er stand auf, ging ihr entgegen, ergriff ihre Hand und drückte seine Lippen darauf. »Hast du gut geschlafen, Roswitha?« »Danke«, entgegnete sie aufatmend, als sie sah, daß er so war wie sonst, daß er ihr nichts nachzutragen schien. Christian brachte das Frühstück. Heute ließ Roswitha es zu keinem Zwischenfall kommen; sie aß und trank gehorsam, wenn auch ohne rechten Appetit. Als das Geschirr abgeräumt war, reichte Odalrich ihr einen Brief, der die Schriftzüge ihres Vaters aufwies. Mit hastiger Bewegung griff sie danach und drückte ihn erst fest gegen das Herz, bevor sie ihn öffnete und las. Es waren warme, freundliche Worte, die der Vater an sie richtete. Liebevoll ermahnte er sie, gut und verständig zu sein, damit er sich seines Kindes nicht zu schämen brauchte. Und weiter las sie, er hoffe, ihr mit diesem Zeilen am ersten Morgen ihrer jungen Ehe eine Freude zu machen, und gleichzeitig solle ein Blumenstrauß ihr die innigen
Wünsche übermitteln, die er für seinen Liebling hege. Aufblickend entdeckte Roswitha einen von einer Seidenpapierhülle umgebenen Blumenstrauß, der neben ihr auf der Couch lag. Mit leicht zitternder Hand entfernte sie das Papier. Lilien, ihre Lieblingsblumen, in köstlicher Reinheit und Frische, boten sich ihrem entzückten Auge dar. Oh, sie verstand wohl, was der Vater damit meinte, daß er ihr gerade diese Blumen spendete. »Papi, lieber, lieber Papi«, sagte sie leise und merkte gar nicht, wie ihre Tränen unaufhaltsam auf die Blumen niedertropften. Sie hatte den Mann an ihrer Seite vergessen, ebenso alle anderen, die sich hier in dem Frühstückszimmer befanden. Sie sah nur das gütige Antlitz ihres Vaters vor sich und spürte im Herzen eine heiße Sehnsucht nach ihm. »Roswitha, du mußt dich zusammennehmen, die Leute werden aufmerksam«, hörte sie die leise, mahnende Stimme des Gatten sagen. Er, selbstverständlich mußte er es wieder sein, der sie aus dieser köstlichen Versunkenheit riß. Mit feindseligem Blick sah sie ihn an. »Nun ja, mein Erzieher«, sagte sie bitter. »Roswitha, wenn wir in einem solchen Tone miteinander verkehren, dann wird unsere gemeinschaftliche Reise nicht angenehm verlaufen.« Nun sah sie ihn an, groß und verwundert. »Ich habe dich im voraus darauf aufmerksam gemacht, daß diese Reise alles andere als ein Vergnügen für beide Teile werden würde. Du hast jedoch trotzdem auf ihr bestanden, hast mich sogar dazu gezwungen, weil du das Gespött der Menschen fürchtest.« »Also gut, wenn du diesen Ton unter uns wünschst, mir soll es recht sein«, entgegnete er so gelassen, daß sie ihn verblüfft ansah. »Halte dich bereit, damit wir nach einer Stunde weiterfahren können.« Auf dieser Fahrt waren sie nicht ganz so schweigsam wie
am Abend vorher. Sie unterhielten sich wie zwei wohlerzogene Menschen und vermieden alles, was den anderen hätte verletzen können. Aber herzliche Worte fanden beide nicht füreinander. Und so blieb es während der ganzen Reise. Befand Roswitha sich mit dem Gatten allein, so war sie schweigsam und scheu und ging nur gelegentlich ein wenig aus sich heraus, wenn sie ihn auf irgendwelche Naturschönheiten aufmerksam machte. Dabei zeigte sie manchmal sogar einen gewissen Eifer und wurde beinahe zutraulich. Doch sofort, wenn sie sich dessen bewußt wurde, verschwand ihr sonniges Lächeln wieder und machte einer kühlen, konventionellen Liebenswürdigkeit Platz; sie wurde schweigsam und in sich gekehrt, und alles um sie her schien ihr plötzlich verleidet zu sein. Nur in Gesellschaft anderer war sie ganz die alte Roswitha, die alle Welt mit ihrem Reiz, ihrem natürlichen, sonnigen Wesen bezauberte. Sie stand ganz von selbst überall im Vordergrunde und nahm es als etwas Selbstverständliches hin, daß man ihr huldigte. Roswitha ließ das Interesse, das man ihr von allen Seiten entgegenbrachte, ziemlich kalt. Wie ein Schmetterling von Blume zu Blume gaukelt, genoß sie von allem, was sich ihr darbot, das Beste, ohne sich darum zu kümmern, was sie zurückließ. So verlief diese Reise, vor der sie sich außerordentlich gefürchtet hatte, schneller und besser, als sie es für möglich gehalten, und ehe man sich dessen versah, kam der Tag heran, den man für die Heimkehr ins Auge gefaßt hatte. Endlich ging es wieder nach Hause! Dieser Gedanke erfüllte sie so sehr, machte sie so glücklich und stimmte sie so heiter, daß sie mit ihrem Übermut, ihrer Freude jeden mit fortriß. Hätte sie diese Liebe und das Vaterhaus nicht gehabt, in dem sich ihr allzeit weit geöffnete Arme entgegenstreckten – ach, sie hätte an ihrer seelischen Verarmung zugrunde gehen müssen.
Wie wohl fühlte sie sich auch heute wieder daheim. Was hatten Vater und Mutter nicht auch dieses Mal aufgeboten, um dem Töchterlein Freude zu bereiten! Und wie dankte sie ihnen diese Liebe, wie jubelte sie auf, als sie alle ihre geheimen Wünsche erfüllt sah! Was brauchte sie jene anderen vier, die da stumm und steif in ihren Sesseln lehnten und keinen Blick von ihr ließen! Fremd waren sie ihr; ganz und gar fremd. Nichts anderes hatte sie mit ihnen gemein, als daß sie in Königsgnade einige Zimmer bewohnte und gelegentlich mit ihnen am Tische saß. Die Märzsonne schien schon so warm, daß man sich in Königsgnade entschloß, den Nachmittagskaffee auf der Terrasse zu trinken. Heute war der Kaffeetisch sogar festlich gedeckt, und eine Torte stand darauf, die in Zuckerguß die Zahl 34 aufwies. Jedes Familienmitglied erhielt zu seinem Geburtstag eine solche Torte, das ließ sich die Mamsell, die wie die gesamte Dienerschaft schon lange auf dem Schlosse war, nicht nehmen. An diesem Tage war der Schloßherr der Jubilar, und wären die Torte und die Blumen auf dem Tische nicht gewesen, so hätte nichts daran erinnert, daß jemand Geburtstag hatte. Einen solchen Tag festlich zu begehen, sich gar zu beschenken, das kannte man in Königsgnade nicht. Es war doch kein Grund zu besonderer Freude, wenn man ein Jahr älter geworden war. Daß aber Roswitha selbst an diesem Tage abwesend war, schien sogar die nüchterne alte Gräfin zu stören. »Sage einmal, Odalrich, hast du eigentlich eine Gattin, oder hast du keine?«, fragte sie den Enkel, der sich soeben ein Stück Torte auf den Teller legte. »Was für Fragen du manchmal stellst, Großmutter«, entgegnete er achselzuckend. Er horchte auf, denn in Roswithas Zimmern, die ihre Fenster zum Teil nach der Terrasse hatten, wurden Stimmen laut. Einer der Fensterflügel ihres Wohnraumes
war weit geöffnet, und so war auf der Terrasse jedes Wort zu verstehen, das oben gesprochen wurde. »Angela, Liebste, du bleibst bis Sonntag bei mir, ja?« hörten sie die schmeichelnde, bettelnde Stimme Roswithas sagen. »Ich kann doch nicht, Ita! Was würde Gisbert dazu sagen?« »Na, der wird nicht gerade sterben, wenn du mal ein paar Tage nicht bei ihm bist. Ihr macht euch ja lächerlich mit eurer übertriebenen Liebe zueinander.« »Und das sagt eine Frau, die kaum länger verheiratet ist als ich?« lachte Angela hell auf. »Hast du denn ganz und gar vergessen, wie heiß du deinen Mann zu lieben vorgabst?« »Höre doch mit dem Unsinn auf!« unterbrach Roswitha die Freundin heftig. »Das nennst du Unsinn, was anderen Menschen die Seligkeit des Lebens bedeutet?« entrüstete sich nun Angela. »Wenn ich dich nicht kenne, Roswitha, ich müßte dich, deinem Reden nach, für das oberflächlichste Geschöpf unter der Sonne halten.« »Tue es bitte!« war die gelassene Erwiderung. Eine Weile war es still zwischen den beiden, bis Angela fragte: »Spielst du viel auf diesem wunderbaren Flügel, Ita? Ich beneide dich geradezu um dieses Geschenk der gütigen Fürstin.« »Ich habe das Instrument noch nie berührt«, entgegnete Roswitha gleichmütig, »man liebt in Königsgnade keine Musik.« »Oh, das ist allerdings sehr bedauerlich. Ita, da du doch so musikalisch bist. Du hast doch früher immer behauptet, ohne Musik nicht leben zu können, wie hältst du es nun ohne sie aus?« »Man gewöhnt sich an alles, liebe Geli«, lachte Roswitha kurz auf, »ich lebe ja auch nicht ohne Musik, sondern spiele, wie du weißt, zu Hause sehr fleißig.« Angela öffnete das Instrument und schlug ein paar Akkorde an. »Aber das ist ja ein ganz wundervoller Klang«, begeisterte
sie sich, »viel schöner noch, als ich dachte. Mir kribbelt es förmlich in den Fingern.« »Bitte«, meinte Roswitha, »sei du die erste, die auf dem Flügel spielt.« »Um mich unsterblich vor dir zu blamieren«, wehrte sich Angela lachend, »nein, Ita, diesen Triumph gönne ich dir doch nicht. Du bist mir eine verflixt ernst zu nehmende Kritikerin. Aber spiele du etwas, bitte, bitte, etwas recht Schönes.« »Na, was das schon sein wird«, lachte Roswitha, »für dich kommt doch nur die Melodie in Frage, mit der dein verliebter Gemahl dich morgens aufweckt und abends in den Schlaf singt.« Nun klang das Vorspiel eines Tangos auf, erst zaghaft, dann immer voller und sicherer. Schon bei den ersten Takten war zu merken, daß es eine wirkliche Künstlerin war, die dem herrlichen Instrument diese schmeichelnden Töne entlockte. Und nun sang Roswitha noch dazu mit ihrer süßen, zärtlichen Stimme: »So ein Mädel vergißt man nicht, so ein Mädel vergißt man nicht, man kränkt sie nie, man lebt für sie, und andre küßt man nicht. So ein Mädel belügt man nicht, so ein Mädel betrügt man nicht, weil schon ihr Blick das ganze Glück der Welt verspricht. Was kann denn schöner sein, als einer treu zu sein, die einem alles gibt, wenn man sie liebt? – So ein Mädel vergißt man nicht, so ein Mädel vergißt man nicht, ihr leises Wort: »Ich hab’ dich lieb«
ist ein Gedicht. Zufrieden?« lachte Roswitha. »Ach, Ita, du singst das ja wunderbar, viel, viel schöner noch als Gisbert«, schwärmte Angela. »Und dein Gehör! Irgendwer singt ein Lied, und du spielst es ganz einfach ohne Note nach! Und wie du es spielst!« »Na, na, nicht loben, Geli, das verdirbt den Charakter«, entgegnete Roswitha mit leichtem Spott. »Mein liebes Kind, wenn du den musikalischen Unterricht gehabt hättest, den ich jahrelang genossen habe, dann spieltest du ebenso, wenn nicht besser. Und dann ist es auch weiter keine Zauberei, auf diesem unvergleichlichen Instrument eine so einschmeichelnde Melodie zu spielen. Hätten meine Anverwandten das soeben gehört, sie wären vor Entsetzen in Ohnmacht gefallen. Eine Gräfin Starkenborn spielt einen Tango! Nicht auszudenken! Kantaten und Opernmelodien, die ließe man vielleicht noch gelten, aber einen Tango! Das hat heute bestimmt diese geheiligten Räume entweiht.« »Ita, wie kannst du nur so bitter werden«, sagte Angela leise. »Na, um so süßer bist du«, gab diese spöttisch zurück. »Aber nun komm, es wird Zeit, daß wir uns unten sehen lassen.« Einige Minuten später erschienen sie auf der Terrasse. Es war ein reizendes Bild, wie sie Arm in Arm daherkamen. Angela verschwand geradezu neben Roswitha, obgleich auch ihre Schönheit über dem Durchschnitt stand. Nach kurzer Begrüßung nahmen sie auf die Aufforderung der alten Gräfin hin am Kaffeetisch Platz. »Sieht man dich endlich wieder einmal, kleine Dollarprinzessin?« fragte die Gräfin mit beißendem Spott. »Ich habe Odalrich vorhin schon gefragt, ob er eine Frau habe oder nicht.« Alle Weichheit, die Roswitha immer so jung und kindlich erscheinen ließ, war plötzlich aus ihrem Antlitz verschwunden. Stolz blickte sie auf, und niemand hätte in
diesem Augenblick daran zweifeln können, daß Roswitha eine echte Starkenborn werden würde. »Ich habe noch keinen Augenblick vergessen, daß ich mit Odalrich verheiratet bin«, entgegnete sie herb und stolz. »Und er hoffentlich auch nicht, wenn allerdings auch begründete Zweifel vorliegen. Da… da… da!« Sie warf drei Briefe auf den Tisch, die sie ihrem Handtäschchen entnahm. »Das fand ich auf Angelas Schreibtisch.« »Roswitha, wie kommst du dazu, Korrespondenz, die an mich gerichtet ist, an dich zu nehmen?« rief Angela empört. »Viola sandte mir die Briefe mit der Bitte…« »… sie Odalrich zuzustecken, jawohl!« unterbrach Roswitha sie kalt. »Ich habe auch das Kärtchen gelesen, das daneben lag; schließlich habe ich das Recht, in meinem Elternhause Briefe, die frei herumliegen, zu lesen.« War das wirklich die kindliche, spielerische Roswitha, die diese Worte sprach und die in geradezu eisiger Ablehnung im Sessel saß? Angela sah die Freundin fassungslos an, und ihre Augen füllten sich langsam mit Tränen. »Ita, wie kannst du mich nur so verkennen«, sagte sie leise, »Viola hat mir die Briefe zur Weiterbeförderung übersandt, gewiß; doch dazu hätte ich mich niemals hergegeben, ich wollte sie ihr zurückschicken.« »Dann habe ich eben dieses Amt für dich übernommen, Angela«, sagte Roswitha ein wenig freundlicher. »Bitte, nimm die Schreiben an dich«, wandte sie sich an ihren Mann, der gelassen dieser erregten Auseinandersetzung gefolgt war. »Wer mir schreiben will, soll die Post unmittelbar an mich schicken, eine Vermittlung lehne ich ab. Da jedoch Frau Viola weiß, daß ich die Annahme ihrer Briefe verweigere, versucht sie es auf diesem Wege.« »Und warum verweigerst du die Annahme?« wollte Roswitha wissen. »Darüber bin ich dir keine Rechenschaft schuldig, mein
Kind. Es wäre besser, du hättest mehr Vertrauen zu mir; dann wäre uns beiden erheblich geholfen. Bitte, Angela, willst du so gut sein und das da an die Adresse Frau Violas zurückgehen lassen?« Er wandte sich mit leichter Verbeugung an die junge Frau. »Ja, gerne, ich danke dir«, Angela atmete erleichtert auf und griff hastig nach den Briefen, die sie in ihre Handtasche steckte. Dabei traf ein so trauriger, vorwurfsvoller Blick die Freundin, daß diese den Kopf zur Seite wandte. Der Diener brachte soeben den Kaffee, und der duftende braune Trank schien die erregten Gemüter friedlich zu stimmen. Angela bemerkte die Zahl auf der Torte und fragte, was sie zu bedeuten habe. Als sie von Odalrichs Geburtstag erfuhr, war sie ehrlich erschrocken. »Hörst du es, Ita?« sagte sie erregt. »Odalrich feiert heute seinen Geburtstag, und wir haben keine Ahnung davon gehabt.« Roswitha schien das in keiner Weise zu berühren. »Deswegen brauchst du doch nicht so zu schreien«, entgegnete sie spöttisch. »Ist es denn etwas besonders Wichtiges, wenn man Geburtstag hat?« »Aber Ita!« »Verschone mich endlich mit deinen Sentimentalitäten«, fuhr Roswitha auf. »Wenn Gisbert Geburtstag hat, kannst du ihn ja feiern, soviel du magst, doch mich laß bitte mit dergleichen in Ruhe!« Angela schüttelte den Kopf. Was war nur mit Roswitha geschehen? Sie war gar nicht mehr wiederzuerkennen und wurde ja mit jedem Tag unzugänglicher. Vier Wochen später suchte der Kommerzienrat seinen Schwiegersohn in Königsgnade auf. Es war gerade um die Abendstunde, und Starkenborn saß mit den Seinen auf der Terrasse. Der Kommerzienrat sah sehr niedergedrückt aus. »Du läßt dich gar nicht sehen, Odalrich! Ist denn die Verstimmung zwischen dir und Roswitha so groß? Du mußt die Kleine nicht ernst nehmen, mein Junge; sie ist
manchmal noch ein rechtes Kind, dem die Tragweite seines Handelns nicht bewußt ist. Ich befinde mich in einer beinahe verzweifelten Lage. Denn ich muß übermorgen auf alle Fälle meine Amerikareise antreten. Die Auflösung einer Zweigniederlassung macht meine Anwesenheit drüben unbedingt erforderlich. Roswithas Erkrankung wegen ist mein Aufbruch schon mehrfach verschoben worden, doch länger geht das beim besten Willen nicht mehr an. Meine Frau begleitet mich selbstverständlich. Auch Roswitha möchte fürs Leben gern mit uns kommen, allein ihre Gesundheit ist noch nicht wieder so gefestigt, daß sie die Reise wagen könnte. Ihre Lunge braucht noch dringend Schonung, und da wir ein Flugzeug benutzen wollen, wäre sie ununterbrochen erheblichen Temperaturschwankungen ausgesetzt, die für sie gefährlich werden könnten. Doch wo soll sie bleiben, solange wir fort sind?« »Selbstverständlich hier, wohin sie sowieso gehört«, entgegnete der Graf ruhig, und der Kommerzienrat atmete erleichtert auf. »Na ja, gewiß. Ich nahm nur an, du trügest ihr mancherlei nach. Nun, dann ist ja alles in schönster Ordnung, und mir ist es leichter ums Herz. Vielleicht ist es ganz gut, daß alles so kam. Nun ist sie gezwungen, in Königsgnade zu bleiben, und wird sich vielleicht eingewöhnen. Wäre sie gesund, dann hätte ich ihren flehenden Bitten wohl kaum widerstehen können und sie sicherlich mitgenommen.« So brachte der Vater Roswitha am nächsten Tage nach Königsgnade zurück. Sie war zwar noch ein wenig blaß, sonst aber ging es ihr wieder besser. Als der Kommerzienrat sich von ihr verabschiedete, wollte sie ihn durchaus nicht von sich lassen und weinte die bittersten Tränen. »Aber Ita, mein Kind, in vier Wochen bin ich ja wieder bei dir«, tröstete der Vater, dem es augenscheinlich nicht leicht wurde, sich von seinem schier verzweifelnden Kinde zu trennen. »Paß mal auf, was ich dir alles mitbringen werde. Anschließend machen wir gleich noch eine Reise und bitten Odalrich, uns zu begleiten. Und dann wird mein
kleines Mädel über sein heutiges Benehmen lachen.« Er lächelte, obwohl ihm selbst schwer um das Herz war. Ita sah dem Auto, das ihr den Vater entführte, so lange nach, bis es ihren Blicken entschwunden war, und kehrte dann mit müden Schritten in das Schloß zurück. Der Mai war in diesem Jahr strahlender denn je. Es grünte und blühte, wohin das Auge schaute, und die Temperatur war beinahe schon sommerlich. In Königsgnade saß man allabendlich auf der Terrasse, und es war ein Genuß, von dort die Blicke über den Park schweifen zu lassen, der unvergleichlich schön war in seinem jungen Grün. Die Luft war von Blütenduft erfüllt, und das Quaken der Frösche klang aus dem nahen Teich herüber. Ein Lautsprecher spendete schon seit einer Weile weiche, einschmeichelnde Musik, die so recht zu dem herrlichen Abend paßte. Soeben wurden durch den Lautsprecher die täglichen Nachrichten bekanntgegeben. Sachlich, geschäftsmäßig. »Wir geben noch folgende Meldung: Der bekannte Großindustrielle Kommerzienrat Hartmann, der sich mit seiner Gattin auf dem Rückflug von Amerika befand, ist mit seiner Maschine abgestürzt. Das Ehepaar und der Pilot waren sofort tot. Die Leichen konnten geborgen werden.« Roswitha war aufgesprungen. Wie irr starrte sie vor sich hin, dann brach sie mit einem furchtbaren Aufschrei zusammen. Auch die vier Starkenborn hatten sich erhoben und knieten nun neben der regungslosen Gestalt nieder, die auf dem Marmorboden der Terrasse lag. Jeder Blutstropfen war aus des Schloßherrn Gesicht gewichen; er nahm sein junges Weib auf die Arme und schritt langsam, als trüge er eine schwere Last, in das Haus. Wie Schatten folgten ihm die drei Frauen. Hinter ihnen drein klang ein lustiges Marschlied aus dem Lautsprecher. Allein, was er heute immer noch bringen mochte an
Unterhaltung, Nachrichten, Musik, wer achtete seiner noch? Alles war vollkommen verstört, dachte an nichts anderes als an das Leid der jungen Gräfin, die vom Schicksal ins tiefste Herz getroffen, schluchzend und an sich und dem Leben verzweifelnd, auf ihrem Bett lag. Soeben öffnete sie die Augen. Verständnislos irrten ihre Blicke umher, um endlich an Odalrich und den Seinen hängen zu bleiben. Ein Schauer ging durch die zarte Gestalt der jungen Frau. »Papi! Mutti! Papi! Mutti!« Sinnlos vor Schmerz rief sie die Namen, die sie so oft in heißer Liebe genannt, die Namen derer, nach denen sie in jeder Not und Bedrängnis gerufen hatte. Dann blickte sie starr den Gatten an, der bei ihr auf dem Bett saß und ihre zuckenden Hände in den seinen hielt. »Odalrich, sage mir doch, daß es nicht wahr ist! Lieber Odalrich, bitte, bitte!« Sie befreite ihre Hände, packte ihn bei den Armen, schüttelte ihn hin und her. Wortlos wandte er das Antlitz von ihr ab. Auch Gräfin Wilhelma und Erdmuthe konnten sich der Tränen nicht erwehren. Ja, war denn die Welt aus den Angeln gehoben worden, daß diese Menschen weinen konnten!? Und woher kamen Gisbert und Angela so plötzlich? Warum starrten alle sie so an? »Italein, mein Schwesterchen!« Auch Gisbert weinte; sie fühlte es, als er sein Gesicht auf ihre Hand preßte. Angela kniete vor ihrem Bette und barg schluchzend das Antlitz in den Kissen. »Ita, wir sind sofort zu dir geeilt«, begann der Bruder behutsam. Ach ja, nun war kein Zweifel mehr, Papi und Mutti waren tot. Plötzlich fuhr Roswitha auf. »Nein, nicht, das kann ja nicht sein!« schrie sie gellend. Dann sank sie bewußtlos zusammen.
»Daß sie es auf so unbarmherzige Weise hat erfahren müssen, ebenso wie wir«, sagte Gisbert mit tränenerstickter Stimme. Auch er war tief erschüttert. Auch ihn hatte diese furchtbare Nachricht wie mit Keulenschlägen getroffen. Trotzdem hatte sein erster Gedanke der Schwester gegolten. Wie er ging und stand hatte er sich in das Auto geworfen, und Angela hatte sich stumm an seine Seite gesetzt. Und nun mußten sie in Königsgnade hören, daß Roswitha die entsetzliche Kunde bereits erfahren hatte. »Odalrich, ich habe Angst vor der Zukunft«, würgte Gisbert gequält heraus, »wie wird Roswitha das überstehen?« Ja, das wußte der Graf selbst nicht, der immer wieder die zuckenden, eiskalten Hände seines jungen Weibes streichelte, als könnte er ihr dadurch die Ruhe des Herzens wiedergeben. War er doch selbst in tiefster Seele ergriffen durch den Tod des Mannes, der so viel Güte, so viel menschliches Verstehen für ihn gezeigt hatte. Roswitha war wieder zu sich gekommen, sie hatte die Augen geöffnet. »Ita, kleines, tapferes Kerlchen«, sagte Gisbert und neigte sich über sie. »Wir beide müssen jetzt fester zusammenhalten denn je. Nicht wahr, Schwesterchen?« Sie sah ihm sekundenlang ins Gesicht, als fiele es ihr schwer, seine Worte zu begreifen; doch dann schüttelte sie den Kopf, mutlos, verzweifelt. »Du hast Angela, Gisbert, die du am meisten liebst von allen Menschen auf der Welt und die immer bei dir an erster Stelle steht. Aber ich, ich habe niemand, dem ich mehr bin als jeder andere.« Ganz leise flüsterte sie diese Worte, den leeren Blick ins Weite gerichtet, als sähe sie die geliebten Toten in unermeßlicher Ferne. Die ganze Stadt und Umgegend nahm an dem Unglück, das das Haus Hartmann betroffen hatte, herzlichen Anteil. Keiner wollte fehlen, um dem hochgeschätzten und verehrten Kommerzienrat und seiner Gattin das letzte
Geleit zu geben. Und es war ein schier endloser Trauerzug, der sich durch den Königsgnader Park bewegte. Dieser war durch ein schmächtiges Flüßchen von dem angrenzenden Wald getrennt, an dessen Rande sich eine kleine Anhöhe mit einer Gruppe uralter Bäume befand, die ihre breiten Kronen weit in den Himmel hineinreckten. Von hier aus konnte man einen Teil des Schlosses und des Parkes übersehen, und an dieser Stelle wurde der Kommerzienrat mit seiner Gattin bestattet. Der alte Herr hatte bei einem Besuch in Königsgnade dieses einzigschöne Fleckchen Erde gesehen und war von ihm so entzückt gewesen, daß er zu Odalrich geäußert hatte: »Hier möchte ich einmal begraben sein. Dann wäre ich meiner kleinen Ita immer nahe, und das Schloß, in dem sie lebt, grüßte mit seinen Türmen zu mir herüber.« Der Graf hatte sich diese Worte wohl gemerkt. Sie galten ihm als ein heiliges Vermächtnis. Diesem Manne, der so viel für ihn und die Seinen getan und ihnen die Heimat erhalten hatte, stand wohl das Recht zu, auf Königsgnader Boden für immer auszuruhen. Es war der erste dankbare Blick, der Odalrich aus Roswithas Augen traf, als er ihr erzählte, wo die Eltern begraben werden sollten. Nun standen sie an der offenen Gruft, die den großen Doppelsarg bergen sollte. Man hatte die beiden, die ein Leben lang in treuer Liebe miteinander verbunden gewesen und in der gleichen Stunde gestorben waren, auch im Tode nicht trennen wollen. Hand in Hand schliefen sie nun den ewigen Schlaf. Die Trauerfeier war noch nicht zu Ende, als Roswitha ganz plötzlich lautlos zu Boden sank. Sofort nahm ihr Gatte sie in seine Arme und trug sie hinweg, trug sie hinauf in ihr Zimmer, legte sie auf das Bett und saß wie vor Tagen wiederum bei ihr. Lange, lange. Roswitha weinte nicht, sie hatte wohl keine Tränen mehr. »Papi, Mami!« wimmerte sie nur von Zeit zu Zeit, und
dieses trostlose Wimmern schnitt dem, der es hörte, mehr ins Herz, als laute Klagen es vermocht hätten. Das fanden alle, die nach und nach in das Zimmer gekommen waren und nun bedrückt dastanden: Bruder und Schwägerin, die Starkenborner Damen, Fürst Hallnitz mit seiner Gattin und der Schwager des Verstorbenen, Professor Lütgens. Dieser schüttelte immer wieder den Kopf. »Ja, ja, da sagt man von mir, ich sei ein erfahrener Seelenarzt. Und ich muß hier untätig dabeistehen und mit ansehen, wie ein junges Menschenkind so entsetzlich leidet. Arme kleine Ita, dich hat ein unbarmherziges Schicksal schwer getroffen. Ita, Herzchen, sei doch nicht so verzweifelt! Bedenke doch, daß dein Jammer denen, die dich lieben, das Herz zerreißt.« Mit einem Ruck fuhr Roswitha empor, saß aufrecht im Bett. Ihre Augen gingen langsam von einem zum andern. Unheimlich starr war ihr Blick. Dann lachte sie auf, kurz und hart. »Sieh sie dir an, Onkel Arnold«, dabei wies sie auf die drei Gräfinnen und auf den Schloßherrn, »stolz sind sie und aufrecht, doch auch kalt und herzlos. Ich mag sie nicht, sie sollen mich in Ruhe lassen. Ich hasse sie! Ich will fort von ihnen, von Königsgnade, wo man an Leib und Seele friert. So geht doch endlich!« schrie sie gequält auf. »Geht alle – alle! Ich brauche euch nicht!« Sie warf sich zurück, preßte das Gesicht in die Kissen und verharrte regungslos. »Gehen wir also!« sagte der Fürst mit gepreßter Stimme. Schweigend entfernten sich alle, nur der Graf blieb. Ohne sich zu rühren, lag Roswitha da, so daß Odalrich glaubte, sie sei eingeschlafen. Doch ganz plötzlich wandte sie den Kopf: »Du bist noch hier?« fragte sie schroff. »Ja, Roswitha, ich bin noch hier und gedenke auch hier zu bleiben.« »Hast du nicht gehört, daß ich euch alle hasse?«
»Nein, Roswitha, das habe ich nicht gehört, oder will es nicht gehört haben.« »Dann werde ich es so lange sagen, bis du es hören mußt.« »Daran kann ich dich nicht hindern, Roswitha.« »Und wenn ich dich immer wieder beleidige?« »Dann werde ich daran denken, daß es nicht Roswitha Starkenborn ist, die mir dergleichen sagt, sondern ein verzweifeltes Menschenkind, das nicht weiß, was es spricht.« Ganz groß und weit wurden ihre Augen; sie starrte den Gatten an, als sähe sie ihn heute zum erstenmal. Und dann bemerkte sie auch, wie blaß er war. Wie müde, wie angegriffen er aussah. »Du!« sagte sie nur. »Du!« Doch es lag tiefe Bitterkeit in den beiden Worten. Dann wandte sie sich wieder von ihm weg und nahm keine weitere Notiz von ihm. Vollständig ablehnend verhielt sie sich auch in den nächsten Wochen. Die Geschwister waren nicht, wie man angenommen hatte, die alleinigen Erben. Der Graf war in gleicher Weise wie sie bedacht worden, allerdings mit der Einschränkung, daß er je zehntausend Mark an seine Großmutter, Mutter und Schwester abzutreten habe, damit diese nicht bis ins kleinste von ihm abhingen. Die Summe, die Odalrich von dem Schwiegervater zur Rangierung der Königsgnader Verhältnisse erhalten hatte, war in sein Erbteil eingerechnet. Angela erhielt außer einigen Schmucksachen nichts, da sie selbst ein bedeutendes Vermögen hatte. Die Villa ging an Gisbert über. Doch sollte auch Roswitha eine Zufluchtsstätte in ihr behalten. Dann folgten verschiedene Legate für Fräulein Krön und einige Angestellte, die schon längere Zeit im Hause gewesen waren. Zum Schluß hatte der Kommerzienrat noch bemerkt, er hoffe, ganz im Sinne seiner Frau gehandelt zu haben. Gisbert und Roswitha erklärten sich einverstanden, und die
letzten Formalitäten wurden erledigt. Dann übergab der Notar dem jungen Hartmann vier Briefe, die der Kommerzienrat für seine Lieben hinterlassen hatte. »Odalrich, das ist einmal wieder unser gütiger Vater«, Gisbert schritt auf den Schwager zu und streckte ihm beide Hände entgegen. »Wie ich mich mit dir freue, Odalrich.« »Wirklich, Gisbert?« Der Graf sah ihn forschend an, und Gisbert hatte das Gefühl, als wolle er ihn mit seinen Blick durchbohren. Doch er hielt diesem Blick stand – offen, frei. Da ergriff der Graf des Schwagers Rechte. »Ich danke dir, Gisbert«, sagte er und atmete tief auf. Dann hob er die Augen zu dem Bilde des Kommerzienrates empor. Lange, lange verharrte er im Anschauen. Es war, als hielte er Zwiegespräche mit dem Toten, der ihm noch über das Grab hinaus seine väterliche Liebe und Güte bewiesen hatte. Gisbert störte ihn in dieser Andacht nicht. Und als er den tiefen Schmerz in den Augen des Schwagers sah, erkannte er, wie nahe auch ihm der Tod des Vaters ging. Nun hatte er die Gewißheit, daß das Geschick seiner kleinen, geliebten Schwester, um die er immer gebangt hatte, in den treuesten, zuverlässigsten Händen lag, und daß Odalrich in Roswitha stets das Vermächtnis des Mannes sehen würde, dem er so viel Dank schuldete. Angela schluchzte leise vor sich hin, und Roswitha lehnte anscheinend teilnahmslos in ihrem Sessel. Erst als der Bruder ihr den Brief des Vaters in den Schoß legte, kam Leben in ihre Gestalt. Es waren nur wenige Worte, die dieser Brief enthielt, aber sie kamen aus treuem, zärtlichem Vaterherzen. Sie ermahnten Roswitha, unverbrüchlich zu dem Manne zu halten, dem sie sich am Altar angelabt hatte. Odalrich habe nicht nur Anspruch auf ihre Treue, sondern auch auf ihre Liebe; und sie solle zudem bedenken, daß Königsgnade nun ihre Heimat sei. In dem Schreiben, das an den Grafen gerichtet war, sprach der Kommerzienrat die Bitte aus, Odalrich möge das ihm
Zugedachte ohne Bedenken annehmen, denn er betrachte ihn ganz als seinen Sohn. Fühle er sich aber ihm gegenüber zu Dank verpflichtet, so solle er diesen Dank an Roswitha abtragen, deren Geschick er noch einmal vertrauensvoll in seine Hände legte mit der Bitte, ihr ein einsichtsvoller Gatte zu sein. Gisbert möge er ein guter Bruder werden und ihm in Treue verbunden fühlen. Ähnlichen Inhalts waren auch die an Gisbert und Angela gerichteten Briefe. Und es war wie ein Gelübde, als diese drei Menschen sich unter dem Bild des edlen Mannes, der so treu für sie gesorgt hatte, die Hände reichten. Nur Roswitha blieb nach wie vor still. Sie hörte zwar all die lieben Worte, die ihr von Bruder und Schwägerin in dieser Stunde gesagt wurden, erwiderte jedoch nichts darauf. Als sie nach Königsgnade zurückgekehrt war, legte sie sich sofort wieder zu Bett und war in den nächsten Tagen nicht zu bewegen, es zu verlassen. Die Welt prangte im schönsten Sommerschmuck, und die Sonne strahlte lockender denn je vom Himmel herab. Roswitha aber wollte nichts von der Sonne wissen. Sie tue ihr weh, behauptete sie. Und wenn sie gar zu hell ins Zimmer schien, befahl sie, die Vorhänge an den Fenstern zu schließen. Den Gatten, der täglich stundenlang bei ihr weilte, sah sie überhaupt nicht. Und daß er immer verschlossener, immer ernster wurde, daß er kaum noch richtig schlief, sondern die halben Nächte an ihrem Bett verbrachte und ihren unruhigen Schlummer bewachte, bemerkte der selbstsüchtige Trotzkopf nicht einmal. Was gingen sie die Sorgen und Kümmernisse Dritter an? Sie selbst litt. Alles andere war für sie Nebensache. Warum sollte nicht alles so bleiben, wie es jetzt war? Es lag sich doch sehr gut hier, und sie wollte von der Welt nichts mehr sehen oder hören. Was galt ihr das Leben noch? Sollte morgen alles aus sein – immerzu! Sie wäre damit ganz einverstanden! Eines Abends saß man in der großen Schloßhalle
beieinander, denn in dem großen Räume war es erfrischend kühl. Der Tag war unerträglich heiß gewesen, und sogar noch am Abend war es drückend warm. Gisbert und Angela waren vor einer Stunde in Königsgnade eingetroffen und hatten sich nach Roswitha umgesehen. Doch da sie weder durch Bitten noch durch gutes Zureden irgend etwas bei ihr ausrichten konnten, waren sie ziemlich bedrückt zu den anderen zurückgekehrt. In Königsgnade hatte sich inzwischen nichts verändert. Roswitha fand alles genauso vor, wie sie es verlassen hatte. Die Gemächer waren bereit, ihre Herrin aufzunehmen, und ein Gefühl des Geborgenseins überkam die junge Frau, als sie sie wieder betrat. Die Begrüßung mit den Angehörigen ihres Gatten hatte Roswitha, gottlob, hinter sich. Sehr kalt, sehr förmlich war sie ausgefallen. Einträchtig begaben sich die Gatten eine halbe Stunde später nach dem Speisesaale, wo die anderen sie schon erwarteten. So steif und ungemütlich wie früher fand Roswitha die Tafel nicht mehr. Entweder hatte sich hier etwas geändert, oder sie sah alles mit anderen Augen an. Es hatte fast den Anschein, als ruhten die Blicke der alten Gräfin mit Wohlgefallen auf ihr. »Sonne und Seeluft haben deinem Teint wenig anhaben können, mein Kind«, stellte sie fest, »fühlst du dich nun wieder ganz frisch und gesund?« »Danke, ja.« »Hast dort wohl alle gehörig am Bändel gehabt, wie? Mußten sich wohl alle nach deinen Wünschen richten?« Sehr hochmütig klang das, so daß Frau von Wilde Roswitha ganz erschrocken ansah. »Das stimmt nicht, Frau Gräfin«, wandte sie sich an die alte Gräfin. »Wenn wir meiner kleinen Herrin alles zuliebe taten, dann geschah es nur deshalb, weil wir es nicht anders konnten. Frau Gräfin gibt ja selbst so viel Liebe, daß man unwillkürlich Gleiches mit Gleichem vergelten muß.
Und daß man sie dabei ein wenig vergöttert, ist nur zu gut zu begreifen.« »Na ja, das erzählen Sie ihr nur noch«, lächelte die alte Dame. »Schauen Sie einmal, was für ein Gesicht sie macht! Das sieht ganz und gar nicht liebevoll aus.« Nun, das stimmte. Roswitha blickte so hochmütig, so unnahbar drein, wie es nur jemals eine Herrin von Königsgnade getan hatte. »Ärgere mir mein kleines Mädchen nicht, Großmutter!« lächelte der Graf. »Ita ist nämlich furchtbar in ihrem Zorn, und ich möchte dir nicht geraten haben, den herauszufordern.« Am nächsten Morgen stand Roswitha früh auf. Ihr erster Weg war zu der letzten Ruhestätte der Eltern. Der Platz war sehr gepflegt, und ein imposantes Grabmal stand zu Häupten des Hügels, der über und über mit Blumen geschmückt war. Von heißem Schmerz überwältigt, kniete Roswitha an dem Grabe nieder und drückte das zuckende Gesicht in die Blumen. Oh, dieser Friede hier! Sie meinte, er teilte sich auch ihrem Herzen mit. Ihr war beinahe, als vernähme sie des Vaters Stimme. Und leiser und leiser wurde ihr Weinen. Auch Odalrichs erster Gang an diesem Morgen hatte der Ruhestätte seiner Schwiegereltern gegolten. Aber als er sein junges Weib in Tränen aufgelöst hier an dem Hügel knien sah, ging er still wieder davon. Ach, daß es ihm nicht gegeben war, den Weg zu der Gattin Herzen zu finden. In trotziger Abwehr stand sie ihm allezeit gegenüber. So würde kein noch so gut gemeintes Wort aus seinem Munde imstande sein, sie trösten zu können. Als Roswitha ihre Tränen getrocknet hatte und sich erhob, saß ein Vöglein auf dem Grabstein und sang aus voller Kehle. Sie wagte nicht, sich zu rühren, denn sie fürchtete, es zu verscheuchen.
Nun sah sie auch die Schönheit ringsumher, sah das Schloß, das im Strahl der Morgensonne herübergrüßte, und fühlte den köstlichen Frieden, der hier herrschte. Ach ja, nun wußte sie, wo ihre Heimat war: hier, wo ihre Lieben ruhten, deren Grab sie vom Fenster ihres Schlafzimmers aus erblicken konnte; hier, wo sie ihnen so nahe war wie nirgends sonst. Getröstet ging sie zu dem Schlosse zurück und besuchte erst einmal ihr Pferd, das der Vater ihr noch kurz vor seinem Tode geschenkt hatte. Es war ein rührendes Wiedersehen. Sie rief den Stallknecht herbei und gab den Auftrag, es zu satteln. Oh, wie herrlich das war, auf dem Rücken eines Pferdes dahinzufliegen durch den frischen Herbstmorgen! Nun erst wurde sie sich dessen bewußt, wie sehr sie ihre täglichen Ausritte entbehrt hatte. Wie schön war der Wald in seinem bunten Blätterschmuck, wie wundervoll! Wie weit wurde einem in seinem Bereich das Herz. Ja, das war Heimatluft; nun fühlte sie es. Ganz vergnügt war sie, als sie nach Königsgnade zurückkam. Sie kleidete sich rasch um, um bei dem gemeinsamen Frühstück nicht zu spät zu erscheinen. »Wo ist Roswitha?« fragte Graf Starkenborn und ließ sich vor dem Kamin, dem eine wohlige Wärme entströmte, in einen Sessel sinken. Der Novembersturm heulte um das Schloß, und da war es hier in der Halle am gemütlichsten. Wie gewöhnlich saßen die Gräfinnen zusammen, und wie gewöhnlich fehlte die jüngste von ihnen in ihrem Kreise. »Roswitha ist gleich nach dem Kaffee fortgeritten und bis jetzt nicht zurückgekommen«, gab Erdmuthe auf des Bruders Frage Auskunft. »Sag mal, Odalrich, ist es dir auch schon aufgefallen, daß die Kleine tut, was sie will?« fragte die alte Gräfin ihren Enkel, und es klang wie Befriedigung aus ihren Worten. »Ich kann mir nicht helfen: deine kleine Dollarprinzessin
gefällt mir.« »Mir nicht«, entgegnete der Graf gelassen und sah nach der Uhr. »Schon achtzehn Uhr.« In diesem Augenblick betrat Roswitha die Halle. Sie schien alle Furcht vor dem Gatten und den Gräfinnen verloren zu haben und trat ihnen lebhaft und vollkommen unbeschwert entgegen. Sie lachte, als die alte Gräfin sie an ihre Seite winkte und ihr mit der Hand in die Locken fuhr. »Na, Hexlein, wir sind ja so fidel!« »Einer von der Familie muß es doch wenigstens sein«, lachte sie spitzbübisch zu dem Gatten hinüber. »Ist es nicht genug, wenn mein hoher Herr und Gebieter eine wahre Menschenfressermiene aufsetzt? – Brrr! – Odalrich, da kann es einem ja wahrhaft grausen.« So hatten die Starkenborn sie noch nie gesehen, und ihr sprudelnder Übermut riß sie alle mit fort, so daß sie lustig auflachten. Sie waren zuerst wohl selbst darüber erschrocken, doch die Kleine war einfach unwiderstehlich. Wie ein lichter Sonnenstrahl huschte sie durch das düstere Schloß und war auch bei den Gutsleuten ein gern gesehener Gast. Für alle hatte sie ein herzliches Wort und half, wo sie nur konnte. Wenn sie die Dorfstraße entlangritt, hängten die Kinder sich wie Kletten an sie. Dann lachte sie herzlich und fröhlich auf. Ohne daß man dessen eigentlich gewahr wurde, stellte sie in Königsgnade manches geradezu auf den Kopf und war dank ihrer herzbetörenden Art bald der Liebling von jung und alt. Schon wenn Roswitha morgens an der Frühstückstafel erschien, lauschte man ihrem frohen Geplauder mit tiefer Befriedigung und merkte es nicht einmal, wie sehr sie bereits ihre ganze Umgebung beherrschte. Man war daher gar nicht damit zufrieden, als sie eines Morgens durch Frau von Wilde bestellen ließ, sie gedenke künftighin nicht mehr an dem gemeinsamen Frühstück teilzunehmen. Sie sei morgens stets sehr müde und möchte darum länger im Bett bleiben.
Dagegen war nichts zu machen. Zwingen ließ sich dieses eigenwillige Persönchen nicht; es tat ja doch, was es wollte. Zur Mittagstafel erschien sie aber stets sehr pünktlich und gab auf die besorgten Fragen, ob sie sich nicht wohl fühle, ausweichende Antworten. Es war jedoch seltsam, daß sie Frau von Wilde dabei nicht ansehen konnte. So ging es zwei Wochen, bis Frau von Wilde, die jetzt immer das Frühstück mit Roswitha eingenommen hatte, wieder einmal an der Frühstückstafel erschien. Sie war sehr unsicher und verlegen, und man merkte ihr an, daß sie etwas auf dem Herzen hatte, das ihr nur schwer über die Lippen wollte. »Haben Sie mir etwas mitzuteilen, Frau von Wilde?« ermunterte der Graf sie. »Ach ja«, sie atmete befreit auf, »ich muß Erlaucht etwas sagen, selbst auf die Gefahr hin, daß meine kleine Herrin mir sehr zürnen wird. Frau Gräfin treibt nämlich seit zwei Wochen Gymnastik, wenn man ihre Gewaltkuren überhaupt mit diesem Wort bezeichnen kann. Sie hat sich von dem Chauffeur heimlich ein Turnzimmer einrichten lassen und treibt nun allmorgendlich Sport, und zwar in einer Weise, daß ihr das schließlich schaden muß.« Der Graf schien allen Appetit verloren zu haben; er lehnte sich in seinem Stuhle zurück, und seine Miene verfinsterte sich. »Ich danke Ihnen für diese Mitteilung, Frau von Wilde«, sagte er freundlich, erhob sich, machte eine entschuldigende Verbeugung zu den Damen hin und verließ das Zimmer. Dann ging er zu den Gemächern seiner Gattin. »Roswitha!« Sie fuhr zusammen und hielt erschrocken im Rudern inne. »Odalrich – du? Sonst kamst du doch nie!« »Nein, leider nicht!« Kurz und bestimmt klang es, und eine Falte erschien zwischen seinen Brauen, die nichts Gutes verhieß. »Den Sport in Ehren, Roswitha«, sagte er mit einer gewissen
Schärfe, »doch wenn er in Tollheit ausartet, dann ist sein Zweck verfehlt! Wer hat dich überhaupt auf diese hirnverbrannte Idee gebracht?« »Du hast mich hier in meinen Zimmern nicht so anzuschreien, verstehst du? Und was du liebst oder nicht, ist mir höchst gleichgültig.« Ohne ihn noch eines Blickes zu würdigen, ruderte sie weiter. Doch als er nun zu ihr trat, wich sie erschrocken zurück. Wie ein Püppchen hob er sie aus dem Sitz. Es half ihr nichts, daß sie sich mit aller Gewalt dagegen sträubte und mit den Fäusten nach ihm stieß. Nur als sie ihm auf die Schulter schlug, zuckte er so heftig zusammen, daß er sie auf die Erde gleiten ließ. »Ah, also an dieser Stelle ist der gehörnte Siegfried verwundbar«, spottete sie. Doch schon saß sie wieder auf seinen Armen. »Laß mich herunter… du… oder…« Sie schlug wie wild auf ihn ein, doch er ließ sie nicht wieder los, sondern trug sie nach dem Ankleidezimmer, wo er sie in einen Sessel sinken ließ. »So bändigt man widerspenstige kleine Mädchen«, sagte er gelassen und hatte für die Empörung, die ihr aus den Augen sprühte, nur ein ironisches Lächeln. Er drückte auf den Klingelknopf und befahl der unverzüglich erscheinenden Anni: »Helfen Sie der Frau Gräfin, Anni, sie möchte sich ankleiden.« Dann verließ er das Zimmer, ohne Roswitha nur noch eines Blickes zu würdigen. Diese sah ihm wie erstarrt nach. Dann schnellte sie auf, lief in ihr Schlafzimmer, warf sich auf den Diwan und weinte, weinte, als müsse sie die Welt erschüttern mit ihrem leidenschaftlichen Schluchzen. Doch auch das wurde mit der Zeit langweilig. Endlich wurde es Abend. Sie warf sich auf ihr Bett, konnte aber keine Ruhe finden. Elend und verlassen fühlte sie sich und war unzufrieden mit sich und mit der ganzen Welt.
Zornig warf sie sich herum und wühlte den Kopf in die Kissen. Sie wollte nicht immer nach dem Nebenzimmer hinhorchen. Der Mann dort drüben war ihr doch vollkommen gleichgültig! Sie haßte ihn sogar! Ja wirklich, sie haßte ihn! Und doch ertappte sie sich immer wieder dabei, daß sie angestrengt nach dem Nebenzimmer lauschte. Plötzlich wurden ihre Augen ganz groß und weit, und mit einem Ruck saß sie aufrecht im Bett. Was bedeutete das? Ein Stöhnen nebenan? Da, jetzt wieder! Mit einem Satz war sie aus dem Bett und schlich leise zu der Tür, die zum Schlafgemach des Gatten führte. Sie legte ihr Ohr an das Schlüsselloch und lauschte mit angehaltenem Atem. Da, wieder dieses unterdrückte Ächzen! Nun war alles vergessen, was sie sich in den einsamen Stunden dieses Abends vorgenommen hatte; sie dachte nur noch an den, der im Nebenzimmer lag, und – Sekundenlang zögerte sie noch, dann trat sie ein. Es war so dunkel hier, daß sie das Bett nicht sehen konnte. »Odalrich!« rief sie leise. »Wer ist da?« kam es zurück. An dem Klang seiner Stimme konnte sie erkennen, daß er Schmerzen haben mußte. »Ich bin es, Roswitha«, entgegnete sie zaghaft. »Du, Kind? Ich glaubte, du schliefest.« Er schaltete die Nachttischlampe ein, Licht fiel auf sein Gesicht. Mit wenigen Schritten war sie bei ihm. »Hast du Schmerzen, Odalrich?« Er lächelte, als er ihre erschrockenen, angstvollen Augen sah. »Meine Schulter, wenn du Christian herbeirufen wolltest.« Aber sie hörte seine Worte gar nicht, beugte sich über ihn und erblaßte bis in die Lippen, als sie die Jacke seines Schlafanzuges sah, die an der Schulter blutdurchtränkt war.
Halb sinnlos vor Angst rief sie Christian herbei und befahl ihm, sofort den Arzt zu benachrichtigen. Darauf eilte sie in ihr Ankleidezimmer, warf ein Kleid über, holte eine Schüssel mit Wasser und ein leinenes Tuch herbei und kehrte zurück. »Laß doch, Ita«, sagte er verlegen, als sie zu ihm trat und mit Hilfe eines Schwammes versuchte, den festgeklebten Stoff der Jacke von der Wunde zu lösen. Sie biß die Zähne zusammen, als sie sah, wie weh sie ihm dabei tat. Und dann schrie sie leise auf, denn dicht unter seiner Schulter klaffte ein tiefer, ungefähr zehn Zentimeter langer Riß. »Odalrich, um Gottes willen!« »Ich weiß doch, daß das nichts für dein weiches Herzchen ist, kleine Ita«, sagte er leise, »überlasse das weitere Christian!« Doch sie hatte schon das feuchte Tuch ergriffen und preßte es behutsam auf die Wunde. Plötzlich weinte sie auf, so heftig, so hemmungslos, daß er erschrocken zusammenfuhr. »Roswitha, ja, was ist dir denn?« »Ich, ich habe heute früh auf diese Schulter geschlagen«, schluchzte sie bitterlich. »Odalrich, was mußt du von mir denken! Ach, könnte ich dir doch sagen, wie leid mir das tut!« Da ging ein weiches Lächeln über seine Züge. »Du hast es ja nicht gewußt, kleines Mädchen, brauchst dir keine Vorwürfe zu machen. Heute morgen schmerzte die Schulter überdies so wenig, daß ich der Wunde weiter keine Bedeutung beilegte. Der störrische Stier, den man nicht mehr bändigen konnte, und der deshalb für den Schlächter verladen werden mußte, gebärdete sich zum Abschied noch wie toll. Er wollte mich auf die Hörner nehmen, doch traf zum Glück nur die Schulter.« »Und davon sagst du gar nichts? Vernachlässigst die böse Wunde in dieser Weise?« »Aber, Kind, ich werde doch nicht wegen dieser
Geringfügigkeit das Haus auf den Kopf stellen. Ich verachte mich selber, daß ich so zimperlich bin. Aber es schmerzt ganz niederträchtig, und ich bin schlapp wie ein Milchkind.« »Selbstverständlich, bei dem Blutverlust«, entgegnete Rowitha mit zuckenden Lippen. Sie kühlte behutsam die Wunde, und er sah sie dankbar an. »Ah, das tut gut, kleine Samariterin!« Und nach einer Weile: »Zürnst du mir noch sehr, wegen heute morgen?« »Odalrich, bitte sei still, wenn ich mich nicht zu Tode schämen soll.« Dann erschien der Arzt, den Christian herbeigerufen hatte. »Das ist ja eine schöne Bescherung«, sagte er, als er die Wunde untersucht hatte. »Wie ist das nur gekommen, Erlaucht?« Roswitha erklärte es ihm hastig, und er nickte. »Mit Verlaub, es war sehr leichtsinnig, Erlaucht, mich nicht eher rufen zu lassen. Erlaucht haben doch keinen Körper aus Stahl und Eisen. Die Wunde muß unbedingt genäht werden, sonst bleibt eine fingerbreite und ebenso tiefe Narbe zurück, und sonst hört auch die Blutung nicht auf.« Er traf schleunigst seine Vorbereitungen, und Roswitha folgte seinem Tun mit vor Entsetzen weit aufgerissenen Augen. Sie hatte beide Hände fest auf das Herz gepreßt, das so heftig klopfte, als wollte es ihr aus der Brust springen. Der Arzt sah ihre verstörten Mienen und lächelte. »Nicht ängstlich sein, wir geben unserem Patienten ein wenig Chloroform, dann merkt er nichts von der Bastelei.« Er erteilte noch einige Verhaltensmaßregeln, versprach am nächsten Vormittage wiederzukommen und verabschiedete sich. Nun sah Roswitha auch den Diener, der am Fußende des Bettes stand. »Vorläufig brauche ich dich nicht mehr, Christian«, sagte sie freundlich, »du kannst zu Bett gehen, mußt aber jederzeit zur Stelle sein, falls ich deiner bedürfen sollte.« »Aber Erlaucht können doch nicht…«
»Doch, Christian, ich kann es, und ich will es«, entgegnete sie fest. »Das ist eine schlechte Frau, die ihren kranken Mann fremden Händen überläßt, wenn es in ihrer Macht steht, ihn pflegen zu können.« Da ging ein Leuchten über das faltige Gesicht des Alten, und er ging leise hinaus. Roswitha blieb mit dem noch immer bewußtlosen Gatten allein. Der Arzt hatte wohl gemeint, daß der Graf bald erwachen würde; sie hatte jedoch große Angst, als er lange Zeit regungslos dalag. Immer wieder streichelte sie sein Gesicht. »Odalrich, hörst du mich? Odalrich, wache bitte auf«, sagte sie unausgesetzt. Endlich schlug er die Augen auf und sah sie verständnislos an. »Du, Roswitha?« Er wollte sich herumwerfen, doch sie hielt ihn fest. »Nicht, Odalrich, du sollst ruhig liegen.« »Ach ja, richtig«, murmelte er, »was hat denn unser guter alter Pflasteronkel mit mir gemacht?« »Er hat die Wunde genäht und angeordnet, daß du im Bett bleiben sollst. Du bist mir also auf Gnade und Ungnade ausgeliefert.« »Na, das lasse ich mir schon gefallen«, lachte er, verzog dann aber doch das Gesicht, weil jede Erschütterung ihm Schmerzen verursachte. »Willst du nicht Schlafengehen, Ita?« »Ich soll schlafen«, entgegnete sie empört, »und soll dich hier deinem Schicksal überlassen? Du scheinst ja eine gute Meinung von den Frauen zu haben.« Er sah sie lange an, und so eigen war sein Blick, daß sie die Augen niederschlug. »Eine gute Meinung von der Frau habe ich soeben bekommen«, sagte er leise. »Tapfere kleine Ita, ich danke dir.« Sie blendete nun die Nachttischlampe ab, so daß nur noch eine gedämpfte Helle im Raum herrschte, und legte sich
dann. Sein Schlaf war sehr unruhig. Von Zeit zu Zeit öffnete er die Augen. Jedesmal, wenn sein Blick auf Roswitha fiel, bat er sie zu schlafen, hielt aber gleichwohl ihre Hand fest. In den langen bangen Nachtstunden, als sie ihn schwach und hilflos vor sich Hegen sah, flammte in ihr erneut die Liebe zu diesem Mann auf, dem sie vom ersten Augenblick an verfallen war. Sie brannte in ihrem Herzen vielleicht stärker denn je. Aber was mit dieser Liebe beginnen, die er nicht für sich begehrte, die er zwar duldete, jedoch niemals erwidern würde? Konnte sie sich so weit überwinden, das große Gefühl, von dem sie vollkommen beherrscht wurde, hinzugeben, um dafür nichts einzutauschen als bloße Sympathie und vielleicht noch nicht einmal die? Auf einmal fiel ihr Blick auf den Ring, den Zauberring, und ihr Herz begann wie rasend zu pochen. Wie der Stein an ihm gleißte und funkelte! Wieviel Unerforschtes, Unergründliches mochte in seiner geheimnisvollen Tiefe schlummern! Vielleicht war es unrichtig, als Aberglauben zu verlachen, was der Stein verhieß, vielleicht wohnte ihm wirklich eine Kraft inne, die man nicht einmal ahnte. Ach, könnte er mit seinem blinkenden Schein hinunterleuchten in ihres Herzens Kammern. Als ahne Odalrich, was in der Seele seines Weibes vorging, öffnete er die Augen und sah sie an. Blick ruhte in Blick. Lange, unlöslich fast. Wie unter einem Zwange erhob Roswitha die Hand, als wolle sie das, woran sie gedacht, wahrmachen und den Stein hinunterleuchten lassen in ihres Herzens tiefsten Grund. Vor dem flammenden Licht des Juwels schloß er die Augen, lächelte wie traumverloren und schlief weiter. Roswitha war so erregt wie noch niemals in ihrem Leben.
Als wären Jahre vergangen und nicht bloß Stunden, so sehr hatte sich ihr ganzes Inneres gewandelt. Getreulich wachte sie an des Gatten Lager. In solcher Weise verwöhnt zu werden, war für Odalrich etwas ganz Neues. Und die drei Gräfinnen, die soeben eintraten, kannten derartiges auch wohl kaum, denn sie standen zunächst sprachlos da. »Das sind ja nette Geschichten, die du da machst, Odalrich«, sagte die Mutter endlich und trat als erste an des Sohnes Bett. Daß sie zuerst das Wort ergriff, war wohl noch nie vorgekommen. Das war bisher stets der alten Gräfin vorbehalten geblieben. Doch Roswitha, die da so lachend auf dem Bett des Gatten saß, hatte manches umgestoßen, was schon zwei Jahrhunderte hindurch bestanden und hatte es mit einer Grazie und einer Unbekümmertheit getan, als müsse es so sein. Wäre ein erkrankter Schloßherr in früherer Zeit jemals mit der gleichen Liebe und Hingabe gepflegt worden? Wohl kaum! Was man hier sah, widersprach eigentlich aller Tradition; aber seltsam, ein Befremden darüber wollte sich dennoch nicht einstellen. Die Damen lächelten, und die alte Gräfin bemerkte neckend: »Schau, schau, unser kleines Dollarprinzeßchen scheint ja die geborene Samariterin zu sein. Bloß um so verwöhnt zu werden, ließe ich es mir ganz gern gefallen, einmal krank zu sein, übrigens, wie geht es dir, Odalrich?« »Danke, ausgezeichnet«, lächelte er, »bei solcher Behandlung und in solcher Gesellschaft bin ich gar nicht darauf erpicht, schnell gesund zu werden.« »Odalrich!« rief Roswitha entrüstet, und er lachte. »Nun, so schlimm wie man es nach Christians Bericht vermuten mußte, scheint die Krankheit nicht zu sein«, stellte die alte Gräfin mit Befriedigung fest. »Ich bekam keinen geringen Schreck, als ich erfuhr, der Arzt sei gestern
noch spät am Abend hiergewesen. Aber uns zu rufen, das fiel der kleinen Dollarprinzessin nicht ein, wie? Wir haben eben unser Köpfchen für uns!« »Warum sollte ich Frau Gräfin stören?« »Nenne mich ›Großmutter‹, Kind! Wie oft soll ich dir das noch sagen? Jedenfalls freue ich mich, daß du so auf dem Posten bist. Ist schon eine Pflegerin bestellt?« »Nein, denn ich habe mich entschlossen, Odalrich allein zu pflegen; Christian wird mich dabei unterstützen. Der Arzt hat es mir gestattet, und ich werde bleiben, wo ich bin.« Sehr sanft, fast zaghaft strich Gräfin Wilhelma ihr über das Haar, und die alte Gräfin sagte leise: »Gott segne dich dafür, mein Kind!« Wenn es der Wille des Schicksals war, daß die Gatten sich doch noch in Liebe finden sollten, so konnte es kein besseres Mittel dafür geben als Odalrichs Erkrankung. Dadurch, daß die jungen Eheleute fast ununterbrochen allein waren, kamen sie sich von Tag zu Tag näher. Sie tauschten gegenseitig ihre Gedanken aus und sprachen von Dingen, die früher niemals über ihre Lippen gekommen wären. Odalrich hatte gehofft, sobald er genesen wäre, würde alles so bleiben wie bisher; er mußte in dieser Hinsicht jedoch eine große Enttäuschung erleben. Von dem Augenblick an, als der Arzt ihn als wiederhergestellt bezeichnete, war Roswitha wie umgewandelt. War sie vorher kaum von seiner Seite gewichen, so ging sie dem Gatten jetzt aus dem Wege, wo und wann sie es nur vermochte. Er stand geradezu vor einem Rätsel. Vergeblich fragte er sich, wodurch die Veränderung ihres Wesens bedingt sein könnte. Er konnte ja nicht ahnen, wie sehr sie sich quälte, wie sie litt, wie sie in heißem Kampf mit sich selber lag, und wie heftig ihr Stolz sich dagegen wehrte, ihn erkennen zu
lassen, daß all ihr Sinnen und Denken ihm gehörte. Er war jetzt stets ungemein zuvorkommend, ja geradezu ritterlich im Verkehr mit ihr. Aber das bedeutete noch lange keine Liebe. Dadurch wollte er ihr nur seinen Dank für ihre aufopfernde Pflege bekunden. Und Liebe mit Dankbarkeit vergelten? Nein, tausendmal nein! Sie, die früher über jeden Aberglauben gelacht und gespottet hatte, setzte jetzt alle ihre Hoffnungen auf die angebliche Zauberkraft des indischen Ringes. Sie erwartete von ihr, daß sie ihr das Herz des Gatten zuwenden solle. Eben wieder drückte sie den Ring an die Lippen. Wie oft – ach, wie oft schon in den letzten Wochen. Sie wurde nicht gewahr, daß der Gatte leise das Zimmer betrat, das er in letzter Zeit ebenso eifrig aufsuchte, wie er es früher gemieden hatte. Nun konnte sie ihm nicht entschlüpfen. »Halt, Roswitha, laufe mir nicht wieder davon, ich möchte endlich wissen, was ich dir getan habe.« »Nichts«, entgegnete sie und senkte den Kopf, denn sie wollte ihm nicht in die Augen sehen. »Roswitha, mein Mädchen, wo ist all die köstliche Zutraulichkeit geblieben, die du während meiner Krankheit für mich hattest und die mich unendlich glücklich machte? Du bist jetzt viel unzugänglicher, als du es in früherer Zeit warst. Werden wir uns denn immer fremd bleiben? Sollen wir uns niemals näherkommen, die wir uns doch am nächsten stehen sollten?« Da hob sie ganz plötzlich den Kopf und sah ihn lange und forschend an. Doch dann wandte sie den Blick von ihm. In seinen Augen hatte wohl ehrliche Trauer, aber noch lange keine Liebe gestanden. Sie wandte sich schroff von ihm ab, und ehe er es verhindern konnte, war sie aus dem Zimmer geeilt. Er sah ihr nach, Hoffnungslosigkeit im Blick. In der nächsten Zeit fand er keine Gelegenheit, Roswitha in Ruhe sprechen zu können; denn das Weihnachtsfest rückte
immer näher, und die junge Gräfin war stark beschäftigt. Sie hatte von dem Gatten die Erlaubnis erhalten, den Gutsleuten und deren Kindern im Schlosse zu bescheren, was in Königsgnade bisher nicht Brauch gewesen war. Was hätte Roswitha wohl nicht durchgesetzt! In ihrem Eifer, mit dem sie die Vorbereitungen traf, kam sie auch dem Gatten wieder näher. Er hütete sich, etwas zu sagen oder zu tun, was ihre Zutraulichkeit verscheuchen konnte, die wieder langsam zurückzukehren schien. Jedem hatte Roswitha einen Wunsch nicht nur abgelauscht, sondern ihn auch erfüllt, soweit sie dazu imstande war. Und diese durch Liebesbeweise und Aufmerksamkeiten nicht verwöhnten Menschen, die es niemals verstanden hatten, Freude um sich her zu verbreiten, fühlten sich Roswithas Liebesreichtum gegenüber arm. Und wie sie selbst sich freuen konnte über das, was man ihr bescherte! Es war ja nichts Besonderes, und Roswitha hätte sich alles selbst kaufen können, aber es waren Weihnachtsgeschenke und deshalb freute sie sich. Zuletzt führte sie den Gatten an den Gabentisch. Sie schaute ihn an, ob sie seine geheimen Wünsche erraten hätte, doch er blickte seltsam traurig. »Freust du dich denn gar nicht, Odalrich?« fragte sie ihn leise, als sie sich von den anderen unbeobachtet wußte. »Doch, Roswitha, ich danke dir, sehr sogar. Allein das größte, das köstlichste Geschenk wird mir auch heute noch nicht beschert werden, Roswitha?« »Und das wäre?« fragte sie hastig und fühlte das Herz bis zum Halse schlagen. »Alles das, Roswitha, was mir während meiner Krankheit in so reichem Maße zuteil wurde, mich hoch beglückte und mir dann wieder verlorenging.« »Ja… selbstverständlich«, stammelte sie verwirrt und wagte nicht, ihn anzusehen. »Roswitha!« bat er leise und verhalten. Da hob sie schnell den Blick, und als sie seine traurigen Augen sah, lächelte sie und schaute zu den anderen
hinüber. Dann führte sie den Gatten hinter den Tannenbaum und küßte ihn, leise und scheu. »Da – meine Antwort«, sagte sie sehr verlegen und senkte dann schnell den Kopf, denn ein so heißer, strahlender Blick traf sie aus Odalrichs Augen, daß sie heimlich erschauerte. »Roswitha, ich danke dir«, hörte sie ihn leise sagen, und dann eilte sie schnell von ihm fort. Doch es war ihr plötzlich so leicht, so glückselig zumute. All die Freude, die sie im Herzen hatte, hätte sie hinausjauchzen mögen in die Welt. Mit strahlenden Augen saß sie an der Abendtafel und konnte vor Freude kaum etwas genießen. Kein Wunder also, wenn sie sich bei der vorzüglichen Weihnachtsbowle, die nach dem Essen kredenzt wurde, einen allerliebsten Schwips anprostete. Man war ja ganz unter sich. Gisbert und Angela, die man nach Königsgnade gebeten hatte, konnten der Einladung nicht Folge leisten, da Angela Mutterfreuden entgegensah und sich nicht mehr aus dem Hause wagte. Und als gar am späten Abend die Nachricht kam, daß im Hause Hartmann soeben ein strammer Junge angekommen sei, kannte Roswithas Glückseligkeit keine Grenzen. Sie steckte mit ihrem unwiderstehlichen Übermut alle an, behauptete immer wieder, daß die Ankunft des kleinen Erdenbürgers gebührend gefeiert werden müsse, und erreichte es wirklich, daß selbst die Gräfinnen nicht mehr ganz taktfest waren. Der Schloßherr war ebenfalls berauscht, wenn auch nicht von der Bowle. Wohl aber vor Glück. Doch auch die schönsten Stunden haben einmal ein Ende, und so zog man sich endlich zurück, als die Müdigkeit sich nicht mehr bekämpfen ließ. Man nahm jedoch die glückliche Gewißheit mit, daß man sich an diesem Abend sehr nahegekommen war. Roswitha wäre fast gefallen, als sie an des Gatten Seite die
Treppe hinaufstieg. Da nahm er sie einfach auf die Arme, lief wie ein übermütiger Junge mit ihr davon und setzte sie in ihrem Wohnzimmer mitten auf den Flügel. »Oh!« sagte sie hilflos, denn allein von dem glatten Deckel herunterzukommen, war nicht ganz leicht. Da nahm er sie bei den Füßen und drehte sie wie einen Kreisel herum, so daß sie hellauf jauchzte. Ganz erschöpft saß sie dann da und lehnte das Köpfchen gegen des Gatten Brust. »Müde – ins Bettchen gehen«, sagte sie wie ein müde gespieltes, müde getolltes kleines Kind. »Aber, kleines Mädchen, es ist ja noch viel zu früh«, entgegnete er lachend, ließ sich vor dem Flügel nieder, ergriff ihre Füßchen und trommelte mit den Absätzen auf die Tasten. Es klang schauderhaft, aber sie lachten trotzdem wie ausgelassene Kinder. »Odalrich, so heiter habe ich dich ja noch nie gesehen«, sagte Roswitha, und er strahlte sie an, wahrhaft jungenhaft froh und glücklich. »So wohl wie heute habe ich mich auch noch nie in meinem ganzen Leben gefühlt! Und alles das bringt ein so süßes, liebes, eigenwilliges, herzbetörendes kleines Mädchen zuwege.« »Zu viel!« winkte sie ab und wippte auf dem erhöhten und keinesfalls alltäglichen Sitz wie ein kleiner Kobold hin und her. »Heute sagst du mir das, weil du eben nicht mehr genau weißt, was du sprichst, doch morgen, wenn du nüchtern bist…« »Oho!« widersprach er, »beschwipst ist ein gewisses kleines Mädchen, und sogar sehr entzückend beschwipst.« Er schob die baumelnden Beinchen zur Seite, griff in die Tasten und spielte eine Melodie, die sie nüchtern werden ließ. Er neigte sich dicht zu ihr hin, daß seine Stirn die ihre berührte, sein Mund dem ihren ganz nahe war und spielte. Er sprach die Worte zu der Melodie, eindringlich,
verhalten, mit werbender Zärtlichkeit: »So ein Mädel vergißt man nicht, so ein Mädel vergißt man nicht, man kränkt sie nie, man lebt für sie, und andre küßt man nicht. So ein Mädel belügt man nicht, so ein Mädel betrügt man nicht, weil schon ihr Blick das ganze Glück der Welt verspricht. Was kann denn schöner sein, als einer treu zu sein. die einem alles gibt, wenn man sie liebt? So ein Mädel vergißt man nicht, so ein Mädel vergißt man nicht, ihr leises Wort: ›Ich hab’ dich lieb‹ ist ein Gedicht.« Ganz still saß Roswitha da und wagte sich auch dann noch nicht zu rühren, als er längst geendet hatte. Erst als er seinen Mund dem ihren ganz, ganz nahe brachte, schrak sie auf. »Odalrich, du singst Schlager?« fragte sie fast entsetzt. »Ja, wie kannst du, woher weißt du?« Wieder griff er in die Tasten: »Winterstürme wichen dem Wonnemond«, sang er übermütig. »Wie du siehst, ich bin vielseitig, singe Schlager, singe Opernarien, kann auch noch mit Kantaten aufwarten, ganz wie Erlaucht befehlen. Ich hörte nämlich einmal zufällig, daß eine gewisse Roswitha von Starkenborn spöttisch zu ihrer Schwägerin sagte, in Königsgnade würde man in Ohnmacht fallen, wenn in diesen geheiligten Räumen Schlagermelodien erklängen; Opernmelodien und Kantaten ließe man vielleicht noch gelten, doch Schlager? Unmöglich! Also, welche Kantate ist gefällig?« »Nein, nein!« wehrte sie hastig ab. »Ich habe ja nicht
gewußt, daß du so spielen kannst.« »Und wie – paß mal auf!« Wieder ergriff er ihre Füße und schlug mit den Hacken der feinen Brokatschuhe auf die Tasten. »So ein Mädel vergißt man nicht«, ließ sich ganz deutlich die Melodie unterscheiden. Dann hob er plötzlich mit einem Ruck die ganze kleine Person auf seinen Schoß: »Ita, kleine Ita, weißt du auch, daß man am Christabend ganz ehrlich zueinander sein muß?« »Aber…«, warf Ita ein. »Kein ›Aber‹ jetzt! Sag, mein Mädchen, wo ist all deine Liebe geblieben, die du für mich hattest, bevor ich dich überhaupt noch kannte? War es Liebe, Roswitha, oder war es Spielerei?« »Laß mich, Odalrich«, entgegnete sie statt einer Antwort und strebte von seinem Schöße fort. Doch er hielt sie unerbittlich fest. »Erst sage die Wahrheit, Ita!« »Du… du verlangst Liebe von mir, Odalrich, und bist selbst so kalt, so unnahbar!« Da schob er sie mit beiden Armen von sich, so weit er konnte. Und was sie nun in seinen Augen sah, benahm ihr fast den Atem. »Der Zauberring«, stammelte sie. Ihre Augen wurden ganz groß und weit. Sie erhob die Hand, und noch nie hatte der Stein ein solches Feuer ausgestrahlt wie in diesem Augenblick. Beide schlossen die Augen vor dem funkelnden Strahl. »Hast du mich lieb?« fragte sie wie unter einem Zwange. Da war es mit seiner Beherrschung vorbei, stürmisch riß er sie in seine Arme. »Du – du – du – was weißt du von mir, du dummes kleines Mädel! Kannst du auch nur ahnen, wie es in meinem Herzen aussieht, wie es nach dir verlangt, wie es nur in dem einen Rhythmus schlägt: ›Ita, Ita, Ita!‹ Ich danke meinem Herrgott, daß ich dir gegenüber so kalt, so
unpersönlich bleiben, daß ich meine Beherrschung wahren konnte, die mich immer wieder zu verlassen drohte. Wie sehr würde dich die entfesselte Leidenschaft dieses vermeintlich kalten Mannes erschreckt haben. Geflohen wärst du, weit, weit fort, und ich hätte meinem Glück nachtrauern können – für immer!« Seine heißen Küsse erstickten jedes weitere Wort, und vor lauter Glück und Seligkeit schwanden ihr fast die Sinne. Was sich am nächsten Morgen in Königsgnade zutrug, war durch das Hausgesetz der Starkenborn weder verboten noch erlaubt! Der letzte Sproß des stolzen Geschlechts, der herrische, unnahbare Schloßherr jagte hinter seinem lachenden Weibe her wie ein übermütiger Junge. Nun hatte er sie gefangen, hob sie wie ein Püppchen in die Höhe und bedeckte ihr rosiges Gesicht mit Küssen. »Achtzehn, neunzehn, zwanzig«, zählte er zwischendurch lachend, »so, die drei Küsse hatte ich noch zu bekommen!« Dann drehte er sich mit ihr im Tangoschritt. »Man kränkt sie nie, man lebt für sie, und andre küßt man nicht«, sang er übermütig und setzte Roswitha der Gräfin Wilhelmina auf den Schoß. »Da, Mutter, da hast du meinen kleinen Abgott.« Und die Gräfin, gar nicht weiter erstaunt, drückte das junge, lachende Geschöpf an sich und küßte dessen strahlende Augen. »Mädel, Liebes, wie glücklich hast du mir meinem großen Jungen gemacht!« sagte sie leise. Und die alte Gräfin, über deren Hand der Graf sich soeben zur Begrüßung beugte, faßte in seinen blonden Schopf und zog seinen Kopf zu sich heran. »Also auch dich hat die Liebe vollständig unzurechnungsfähig gemacht«, sagte sie; doch es klang nicht tadelnd. »Nimm dich nur in acht, mein Sohn, daß du nicht allzusehr in den Bann dieser verflixt hübschen Augen gerätst, sonst weißt du zuletzt nicht mehr, was du tust.« »Als wenn dir das nicht schon längst widerfahren wäre,
Großmutter«, lachte er, worauf sie im Tone höchster Befriedigung meinte: »Na ja, die kleine Hexe hat ja sowieso ganz Königsgnade auf den Kopf gestellt, da kommt es auf ein bißchen mehr oder weniger nicht an.« Was war das fortan für ein Leben in Königsgnade! Ganz jung wurden sie alle angesichts des seligen Paares! Wie wurde Roswitha von nun an geliebt und vergöttert, und wie dankbar war sie für all diese Liebe! Die Gatten trennten sich kaum noch voneinander. Selbst als der Frühling ins Land kam und der Graf sich viel um die Wirtschaft kümmern mußte, wich Roswitha nicht von seiner Seite. Dann begleitete sie ihn auf den oft recht anstrengenden Ritten, war munter und guter Dinge, kannte keine Ermüdung und freute sich, wenn der Gatte sie einen lieben kleinen Kameraden nannte. Es war an einem sonnigen Spätnachmittag, als sie wieder einmal von einem solchen Ritt zurückkam. Ihr Gatte war verreist, da er an einer Versammlung der Landwirte teilnehmen mußte. Er wollte jedoch im Laufe des Tages zurückkommen. Vielleicht war er sogar schon daheim, und dann würde sie ihn vermutlich an seinem Lieblingsplatz im Park treffen. Sie saß ab und eilte zu dem Plätzchen, das idyllisch und versteckt an einem Weiher lag. Den Gatten traf sie zwar dort nicht an, wohl aber ihre Schwägerin Erdmuthe, die mit einem Herrn auf der Bank saß. Er hatte ihre Hände erfaßt, während sie den Kopf tief gesenkt hielt. Ja, was war denn das? War das wirklich die allzeit gelassene, ausgeglichene Erdmuthe, die da so bitterlich schluchzte? Und wer mochte der Herr sein, der einen ungemein angenehmen Eindruck machte und den Roswitha noch nie gesehen hatte? »Ich habe gehört, daß das Leben in Königsgnade jetzt ganz anders sein soll«, hörte sie den Herrn sagen, und seine
dunkle, warme Stimme flößte ihr sofort Sympathie ein. »Da leidest du doch wenigstens nicht mehr so unter der Herzenskälte deiner Angehörigen, mein armes Kind, sondern hast nun jemand, der dich hoffentlich ein wenig liebhat, nicht wahr?« Nun hob Erdmuthe den Kopf, und ein Lächeln huschte über ihr Gesicht. »O ja, Roswitha hat uns die Sonne ins Haus gebracht«, sagte sie mit warmer Stimme, die gar nicht der stolzen Erdmuthe zu gehören schien. »Aber was ändert das daran, daß wir…« Sie senkte wieder den Kopf. »Erdmuthe, du warst doch bisher immer so tapfer«, sagte der Mann mit leisem Vorwurf. »Soll ich zu all meinen Sorgen auch noch den Schmerz mit mir herumschleppen, den mir deine Verzweiflung verursacht, mein Herz?« »Nein, Herwig, nein!« rief sie erschrocken und fuhr sich über die verweinten Augen. »Ich bin ja auch nicht immer so mutlos.« Sie horchte auf. »Das war doch die Stimme der Großmutter«, sagte sie hastig, »ich muß eilen, Liebster. Wenn sie mich hier sähe, dann… es wäre überhaupt nicht auszudenken, was dann geschehen würde. Eine Gräfin Starkenborn gibt sich ein Stelldichein wie ein kleines Bürgermädchen!« Sehr, sehr bitter klangen die letzten Worte, und über das Antlitz des Mannes huschte ein Ausdruck tiefsten Mitleids. Er zog sie fest in seine Arme, küßte sie lange und zärtlich. »Leb wohl, mein Mädchen, irgendwann werden wir uns wiedersehen. Und wenn du kannst, dann vergiß mich, das wäre das beste für dich.« Die letzten Worte hörte sie wohl nicht mehr, denn sie hastete davon. Roswitha hatte gerade noch soviel Zeit, hinter einen Busch zu springen. Sie sah Erdmuthe so lange nach, bis diese um die Ecke verschwunden war. Dann ging ihr Blick zu dem Manne zurück, der regungslos dastand und die Hände
ausgestreckt hielt, als müsse er die halten, die so plötzlich von ihm gegangen war. Traurig und bedrückt sah er aus; Roswitha kamen vor Mitgefühl Tränen in die Augen. Ohne sich recht bewußt zu werden, was sie jetzt tat, trat sie hervor und stand plötzlich vor dem Manne, der sie wie eine Erscheinung anstarrte. Sie hob ihr von schimmerndem Gelock umrahmtes Antlitz zu ihm empor, die Traumaugen voll auf ihn gerichtet. »Ja, gibt es denn wirklich Feen? Gibt es noch Märchen wunder?« fragte der Fremde ganz verstört. »O nein, mein Herr«, Roswitha lachte hellauf, und zugleich klatschte sie auf das Beinkleid ihres Reitdreß’. »Ich bin wirklich und wahrhaftig ein Mensch aus Fleisch und Blut, und obendrein noch dazu ein neugieriger und fehlerhafter. Ich habe Ihr Gespräch mit meiner Schwägerin belauscht.« »Dann sind Sie…?« »Roswitha Starkenborn, ja.« Da leuchtete es in den Augen des Mannes auf. »Gräfin, man hat mir wohl schon manches von Ihnen erzählt, aber so, nein, so habe ich sie mir doch nicht vorgestellt. Glücklicher Odalrich!« »Und wer sind Sie?« »O Verzeihung! Herwig Ellern.« »Der frühere Besitzer von Ellerbach?« fragte sie hastig und konnte ihre plötzliche Erregung nicht begreifen. »Kommen Sie, Graf Ellern, nehmen wir Platz.« Sie zeigte auf die Bank, auf der er soeben mit Erdmuthe gesessen hatte, und zog ihn zutraulich am Ärmel zu sich hin, was ihm ein Lächeln entlockte. »So, da säßen wir«, sagte sie nun doch ein wenig verlegen, als sie zu Ellern aufschaute, der sie mit unverhohlener Bewunderung ansah. Doch dann nahm sie sich zusammen und wurde ganz sachlich. »Passen Sie auf, Graf Ellern, ich werde fragen, und Sie
werden antworten, ja?« Ihre frische, ungekünstelte Art entzückte ihn, und hätte er nicht schon Erdmuthe Treue geschworen, so wäre dieses liebreizende Geschöpf an seiner Seite sein Schicksal geworden. »Soll ich zur Plaudertasche werden, Gräfin?« fragte er, und wieder huschte ein Lächeln über sein Gesicht. »Graf Ellern, kein Mensch wird zur Plaudertasche, wenn er sich einem teilnehmenden Herzen mitteilt. Wenn Sie nicht sprechen wollen, dann werde ich es für Sie tun. Also: Sie lieben meine Schwägerin Erdmuthe und können sie nicht zu Ihrer Gattin machen, da Sie heimatlos sind. Stimmt’s?« »Ja, woher wissen Sie das? Hat Erdmuthe etwa geplaudert?« »Das glauben Sie von Erdmuthe doch selber nicht«, lachte sie ihn aus. »Sie bisse sich eher selber die Zunge ab, als daß sie nur mit einem Wort ihr Herzensgeheimnis preisgäbe. Nein, Graf Ellern, aber ich habe gelauscht, wie ich Ihnen schon vorhin sagte. Und da ich nicht gerade auf den Kopf gefallen bin, so war es wirklich nicht allzu schwer, mir alles zusammenzureimen. Machen Sie kein so abweisendes Gesicht, Graf Ellern, ich bin jetzt genauso gut eine Starkenborn wie Erdmuthe, und es kann daher keine Neugierde sein, wenn ich mich um das Geschick meiner Schwägerin kümmere, die ich, nebenbei bemerkt, herzlich liebhabe. So, nun sagen Sie mir, ob ich Ihnen helfen kann.« Er drückte die Hand, die sich ihm entgegenstreckte. »Graf Ellern, Ihnen fehlt doch nur Geld«, sagte sie leise und herzlich. »Nur Geld!« lachte er bitter auf. »Als ob damit nicht viel, nein, alles gesagt wäre! Das ist es ja gerade, daß ich arm, bettelarm bin! Darum mußte ich meine Heimat verlassen! Darum darf ich meine Hand nicht nach Gräfin Erdmuthe ausstrecken, sondern muß es mitansehen, wie sie unter ihrer Liebe leidet! Und das soll einen nicht um den Verstand bringen?!« Die letzten Worte stieß er beinahe zornig hervor und
wandte den Kopf zur Seite. Er hatte ein scharf geschnittenes, edelgeformtes Antlitz, in dem Sorge und Kummer sichtbare Spuren hinterlassen hatten. Das Haar des Mannes war schneeweiß. »Graf Ellern, sehen Sie mich einmal an!« Er kam ihrem Wunsche nach, und sie konnte ihm nun ungehindert in die blauen, schwermütigen Augen schauen. »Fällt Ihnen nichts an mir auf?« »Doch«, entgegnete er mit müdem Lächeln. »Sie sind das bezauberndste Geschöpf, das ich je gesehen habe.« »Aber nein, das meine ich nicht«, winkte sie ungeduldig ab, und die Röte der Verlegenheit stieg ihr in die Wangen. Doch dann schüttelte sie sich wie ein kleiner Pudel und lachte hellauf. »Ich bin doch manchmal grenzenlos dumm!« stellte sie freimütig fest und winkte energisch ab, als er widersprechen wollte. »Doch, doch, Graf Ellern, wie hätte ich sonst denken können, Sie wüßten durch bloßes Ansehen, daß Großmutter mich immer ›kleine Dollarprinzessin‹ nennt. Und wissen Sie auch, warum sie das tut?« »Nun?« »Weil ich Geld habe. Und weshalb sollte ich da nicht meiner lieben Schwägerin Erdmuthe helfen?« »Aber gnädigste Gräfin…. ich kann doch nicht…!« »Gewiß können Sie! Hören Sie mich bitte ganz ruhig an. Übrigens werde ich Sie gar nicht viel fragen, ich werde handeln! Wie, weiß ich augenblicklich allerdings noch nicht; allein es wird sich schon ein Weg finden. Zweierlei müssen Sie mir jedoch versprechen. Sich hier in der Nähe aufzuhalten, so daß ich Sie zu jeder Zeit erreichen kann, und keinem Menschen auch nur ein Sterbenswörtchen von dem zu sagen, was augenblicklich nur uns beide angeht. Wollen Sie mir das versprechen, Graf Ellern?« »Aber Gräfin, wissen Sie denn überhaupt, was Sie von mir verlangen?«
»Gewiß weiß ich das; ich werde auch nichts tun, was Ihrer Ehre oder Manneswürde zu nahe treten könnte, darauf gebe ich Ihnen mein Wort. Wenn Sie jedoch einen dickköpfigen Stolz herauskehren wollen, dann allerdings ist von vornherein alles verdorben.« Nun mußte er lachen. Sie war gar zu reizend, wie sie da vor ihm saß und mit der Miene einer Königin Gehorsam von ihm verlangte, dem gereiften Manne, den das Schicksal unbarmherzig gerüttelt und gezaust, den es hartnäckig verfolgt hatte, immer und überall. Sollte es diesen kindhaft kleinen Händen wirklich möglich sein, sein Geschick in andere Bahnen zu lenken? »Nun, geben Sie mir doch schon endlich Ihr Wort!« verlangte Roswitha ungeduldig. Da ergriff er die ihm entgegengestreckte Hand mit warmen Druck. »Schweigen werde ich, Gräfin. Doch ob ich alles annehmen werde, was Sie aus gütigem Herzen heraus für mich zu tun gedenken, das allerdings kann ich Ihnen nicht versprechen.« »Darum ist mir nicht bange, das wird sich mit der Zeit finden«, meinte sie zuversichtlich. »Ich muß jedoch freie Hand haben, und daher soll niemand meiner Angehörigen um meinen Plan wissen. Ich will sie vor die vollendete Tatsache stellen; denn wo viele Köpfe sind, da sind auch viele Sinne. Auch Sie haben nichts weiter zu tun, als abzuwarten.« »Und da soll nun noch einer sagen, daß Märchen nicht Wirklichkeit werden können«, murmelte er. »Nicht sentimental werden, Graf Ellern, das beeinträchtigt die Sachlichkeit, die wir beide in nächster Zeit recht nötig haben. Also, ich habe Ihr Wort?« »Ja, Gräfin.« »Na, das wurde auch höchste Eisenbahn«, entgegnete sie trocken, denn soeben kam Graf Starkenborn den Hauptgang des Parkes entlang. Daß man in Königsgnade von der Anwesenheit des Grafen Ellern in der Heimat wußte, erfuhr Roswitha, als sein
Name eines Tages bei Tisch genannt wurde. Unwillkürlich ging ihr Blick zu Erdmuthe hin. Doch sie saß so gelassen und ruhig da, als ginge sie das Gespräch nichts an. Auch davon, daß Eilerbach wieder einmal seinen Besitzer wechseln sollte, wurde gesprochen. Aber wer den Mut aufbringen würde, diesen vollkommen heruntergewirtschafteten Besitz zu erwerben, das wußte man nicht. Es müsse schon ein edler Idealist sein, meinte man; denn ein Mensch, der auf seinen Vorteil bedacht wäre, könne niemals die Dummheit begehen, ein Gut zu erwerben, auf dem rein nichts mehr zu holen sei. Roswitha lachte spitzbübisch in sich hinein und freute sich auf die Stunde, in der es bekannt würde, wer der neue Besitzer von Ellerbach sei. Daß ein Gutserwerb mit so vielen Laufereien und Scherereien verknüpft seih könnte, hätte sie niemals gedacht. Sie wußte schon manchmal nicht mehr, wie sie es einrichten sollte, von Königsgnade fortzukommen, ohne den Gatten stutzig zu machen. Sie schob stets Angela vor, die sie besuchen müßte, weil sie sich nicht wohl fühlte. »Das dauert ja nur kurze Zeit, Odalrich«, beschwichtigte sie den Gatten, wenn er darüber brummte, daß er wieder einmal allein bleiben sollte. Je näher der Verkaufstermin des Gutes heranrückte, desto unruhiger und zerstreuter wurde die junge Frau. Eines Nachmittags fuhr sie wieder in die Stadt, wo der alte Quendlin sie schon erwartete. »Heute habe ich den Besitzer von Eilerbach endlich soweit«, frohlockte er, »nun müssen wir sehen, daß wir möglichst rasch zum Abschluß kommen. Ich habe das verwahrloste Nest abschätzen lassen, und wir haben Dusel, es ist wirklich nicht viel mehr als ein Butterbrot wert. Über die Taxe gehen wir keinen Pfennig hinaus. Verstanden, kleine Gräfin?« Sie stimmte ihm zu. Dann suchten sie den Besitzer von Ellerbach auf, der sich als unangenehmer Patron entpuppte.
Roswitha eilte danach schnell zu der Pension, in der Graf Ellern wohnte, denn ihr stand nicht mehr viel Zeit zur Verfügung. Sie hatte ihn noch nie besucht, und er war daher sehr erstaunt, sie bei sich zu sehen. Er wurde ganz verlegen, als er Roswitha in sein mehr als einfaches Zimmer führen mußte. »Ein Stuhl für Sie, Gräfin, ein Stuhl für mich, das ist alles.« »Na, die Hauptsache ist doch, daß wir uns nicht auf den Fußboden zu setzen brauchen«, lachte sie. »Wir wollen uns jedoch nicht mit Nebensächlichkeiten aufhalten, ich habe nämlich nicht viel Zeit. Also, ich habe versprochen, Ihnen zu helfen, Graf Ellern, und Sie versprachen, sich von mir helfen zu lassen. Nun beweisen Sie, daß Sie ebenso Wort halten wie ich. Kurz heraus – wollen Sie eine Verwalterstelle annehmen, Graf Ellern?« Er sprang auf, doch sie drückte ihn auf seinen Stuhl nieder. »Ruhe ist die erste Bürgerpflicht«, meinte sie scherzend. »Beantworten Sie zunächst meine Frage, und zwar ebenso kurz und knapp, wie ich sie gestellt habe.« »Ja, ich weiß doch gar nicht, ob ich imstande sein werde, die Stelle auszufüllen.« »Na, das allemal! Sie werden nämlich sehr selbständig wirtschaften müssen, Graf Ellern. Der Besitzer des Gutes hat von der Landwirtschaft keine Ahnung; außerdem können Sie dann heiraten – müssen es sogar, wenn Sie nicht einsam sein wollen.« Da trat ein frohes Leuchten in seine Augen, das jedoch wieder schnell erlosch. »Sie wissen ganz genau, Gräfin, daß ich nur das Mädchen heirate, das ich liebe. Überdies ist es Ihnen genauso bekannt wie mir, daß die alte Gräfin Starkenborn ihre Enkelin niemals einem Verwalter zur Gattin geben würde.« »Doch, sie wird es ganz bestimmt tun«, meinte sie so zuversichtlich, daß er stutzig wurde. »So kennen Sie den Besitzer des Gutes, Gräfin?« »Selbstverständlich, sonst würde ich Ihnen doch nicht empfehlen, auf seinem Gut Verwalter zu werden. Nun
geben Sie endlich Ihre Zurückhaltung auf, und werden Sie zugänglicher.« »Zuerst muß ich wissen, wer der Besitzer ist, und wie das Gut heißt.« »Sollen Sie auch«, lachte sie spitzbübisch. »Also: der Besitzer oder vielmehr die Besitzerin heißt Roswitha Starkenborn, und das Gut ist Ellerbach.« Da sprang er auf und packte ihre Hände, daß sie aufschrie. »Mein Gott, mein Gott«, murmelte er ein über das andere Mal. »Ich werde noch verrückt, bis ich das alles begriffen habe.« »Nur ja nicht!« rief sie entsetzt. »Lassen Sie lieber erst mal meine Hände los, und nehmen Sie Platz, damit ich Ihnen alles der Reihe nach erklären kann.« Sie erstattete ganz genau Bericht, und als sie geendet hatte, bemerkte sie Tränen in seinen Augen. »Daß es so etwas gibt in dieser Zeit«, sagte er leise, und dann wollte er wieder ihre Hände fassen. »Lieber nicht!« lachte sie. »Sie packen gar zu fest zu. Wir müssen übrigens heute abend noch mancherlei besprechen.« »Und zu welcher Stunde soll ich mich bereithalten?« »Um zehn Uhr.« »So spät?« meinte er bedenklich. »Ja, früher geht es leider nicht. Ich muß mich noch von Königsgnade fortstehlen. Und das kann ich nur, wenn alle schlafen. Migräne vortäuschen, das hat auch keinen Zweck. Denn dann stellt Odalrich vor lauter Besorgnis das Haus auf den Kopf, und ich komme überhaupt nicht mehr los.« »Wollen wir nicht lieber mit offenen Karten spielen, Gräfin? Heute noch nach Königsgnade fahren und dort alles sagen?« » – und mir die ganze Überraschung verderben, auf die ich mich wie ein Spitzbube freue? Nein, auf keinen Fall! Wenn alle Formalitäten erledigt sind, dann rücken Sie mit Zylinder und Rosenstrauß im Schloß an: ›Gnädigste Gräfin, ich bitte gehorsamst um die Hand der verehrten Enkelin‹
und so weiter. Und diesen Spaß soll ich mir verderben lassen? – Ausgeschlossen!« Er mußte über ihre drollige Art von Herzen lachen – konnte, durfte es jetzt endlich wieder. Und alles verdankte er diesem kindhaft jungen, bezaubernd schönen Weibe. Ein Gefühl der Ehrfurcht ergriff ihn, und er mußte an sich halten, um Roswitha nicht so zu danken, wie sein Herz es gern getan hätte. »Jetzt muß ich aber zusehen, daß ich nach Königsgnade komme«, sagte sie. »Nur gut, daß die Heimlichtuerei nun ein Ende hat. Ich habe nämlich in den letzten Wochen so viel schwindeln müssen, wie mancher sein Leben lang es nicht tut. Begleiten Sie mich zum Wagen, Graf?« »Aber mit dem größten Vergnügen, Gräfin.« Sie lachten beide wie die Kinder und begaben sich zu dem Hotel, wo Roswitha ihren Wagen untergestellt hatte. Es gab noch vielerlei zu besprechen, und in ihrem Eifer hatte Roswitha zutraulich ihren Arm in den ihres Begleiters gehängt. Als Roswitha im Wagen saß, zog sie ihn zu sich heran, um ihm etwas zuzuflüstern. »Odalrich, findest du nicht auch, daß unsere Kleine seit drei Wochen recht viel unterwegs ist?« fragte die Großmutter den Enkel. »Was heißt ›viel unterwegs‹? Ihre Schwägerin bedarf ihrer«, entgegnete er kurz, »sie ist doch keine Sklavin, die über jeden Schritt, den sie tut, Rechenschaft abzulegen hat.« Das klang gereizt, und die Mutter streichelte seine Hand. »Du leidest am meisten darunter, mein Junge«, sagte sie leise. Das konnte er nicht ertragen. Er sprang auf und lief mit großen Schritten im Zimmer auf und ab. »Ja, wer vollkommen auf Flitterwochen eingestellt ist, der empfindet es bitter, wenn sie zu Ende sind«, meinte die alte Gräfin so spitz wie nur je. »Du wünscht, daß die kleine Frau dir überhaupt nicht mehr von der Seite weicht, und
am liebsten möchtest du sie, wie eine Negermutter ihr Kind, immer auf dem Rücken herumschleppen. Doch unsere kleine Dollarprinzessin ist eben anderer Ansicht. Sie meint, daß vier Monate himmelstürmender Flitterwochenzeit hinreichend genug sind.« Ohne ein Wort zu erwidern, eilte der Graf hinaus, und Gräfin Wilhelma sah ihre Schwiegermutter vorwurfsvoll an. »Ein dummer Junge ist er!« brauste sie auf. »Die Kleine ist wirklich viel vernünftiger als er. Diese ewige Schnäbelei war ja wirklich nicht mehr schön. Odalrich benimmt sich nicht wie ein reifer Mann, sondern wie ein verliebter Primaner.« »Tue doch nicht so empört, Mutter«, lächelte Gräfin Wilhelma. »Dir selbst geht es ja auch nahe, daß das jauchzende Glück der Kinder so kurze Zeit währte.« »Du mußt es ja wissen«, murrte die Greisin, erhob sich mit schroffer Gebärde und verließ das Zimmer. Am Spätnachmittag trat Odalrich wieder zu den Damen, die wie früher stumm und steif beieinandersaßen. »Erdmuthe, willst du mich in die Stadt begleiten?« fragte er die Schwester, »ich habe verschiedene Dinge zu erledigen; zum Abendessen sind wir wieder zurück.« Nur zu gern war Erdmuthe dazu bereit. Und so saßen die Geschwister bald darauf im Fuhrwerk. Das Auto benützte man nur zu größeren Fahrten und bei schlechtem Wetter. Die Besorgungen des Grafen waren bald erledigt. Als es Zeit war, an den Heimweg zu denken, meinte Odalrich so ganz nebenbei: »Wir könnten ja rasch einmal in der Villa Hartmann vorsprechen. Vielleicht fährt Roswitha mit uns zurück. Gleichzeitig können wir uns nach Angelas Ergehen erkundigen. Ich hätte es eigentlich schon längst tun müssen.« Erdmuthe war es recht. Und so suchten sie Frau Angela auf, die sie freudig empfing. Sie sah aber gar nicht kränklich aus – im Gegenteil, sogar sehr gut. »Endlich läßt sich mal wieder einer aus Königsgnade sehen«, lachte sie und führte die Gäste in ihr Wohnzimmer. »Gisbert ist leider nicht zu Hause, er muß aber jeden
Augenblick eintreffen. Du siehst aber gar nicht gut aus, Odalrich. Bist du krank gewesen?« meinte sie mit einem forschenden Blick. »Danke – nein. Ist Roswitha schon lange fort?« »Roswitha?« fragte Angela erstaunt. »Sie ist schon seit mindestens vier Wochen nicht mehr hier gewesen. Mein Gott, Odalrich, was hast du denn?!« rief sie aus, als sie sah, wie sein Antlitz sich verfärbte. Und Erdmuthe? Auch sie war erschreckend bleich geworden. Da kam Angela blitzartig eine Ahnung. »Mein Gott«, sagte sie verstört. Der Graf erhob sich, seine Gestalt straffte sich. »Ich muß mich leider verabschieden«, sagte er. Seine Stimme klang hart und rauh. Wie aus Erz gegossen erschien sein Gesicht, und die Augen flackerten unstet wie bei einem Schwerkranken. Angela hielt die beiden nicht zurück. Sie war froh, daß sie gingen, weil sie so seltsam verstört waren. Sie begleitete den Besuch hinaus und eilte dann in ihr Wohnzimmer zurück, wo sie in leises Weinen ausbrach. Schweigend gingen die Geschwister zu dem Hotel, wo sie ihr Fuhrwerk eingestellt hatten. Plötzlich blieb der Graf stehen und packte Erdmuthes Arm so heftig, daß sie erschrocken zusammenfuhr. »Nicht weitergehen«, raunte er und deutete mit einer Kopfbewegung zu Roswitha hin, die eben dem Grafen Ellern die Hand aus dem Auto entgegenstreckte und ihn nahe an sich heranzog. Odalrich sah, wie beide miteinander lachten, mit welcher Vertraulichkeit Ellern Roswitha die Hand küßte, sah ihre glückstrahlenden Mienen und hörte, daß seine Frau den Grafen nach Königsgnade bestellte. Wie zwei Nachtwandler schritten die Geschwister zu ihrem Wagen. Und hätte man sie später gefragt, wie sie überhaupt nach Hause gekommen seien – sie hätten es nicht zu sagen vermocht.
Als Odalrich das Speisezimmer betrat, in dem er Roswitha lachend bei den Seinen vorfand, hatte er das Gefühl, als würde ihm das Herz aus der Brust gerissen. Seine Hände fuhren zum Kopf, er schrie auf wie ein gequältes Tier und stürzte aus dem Zimmer. »Erdmuthe, was bedeutet das?« fragte die Großmutter mit bleichen, zuckenden Lippen. Die Enkelin schwieg, sah Roswitha schmerzlich und vorwurfsvoll an und verließ dann ebenfalls das Zimmer. »Roswitha, wie soll ich das verstehen?« fragte die Greisin. Ihre Stimme schnitt scharf wie ein Messer. »Das weiß ich selbst nicht«, entgegnete sie und hob die Schultern an. »Dann können wir uns wohl alle zurückziehen und brauchen nicht auf das Abendessen zu warten, da uns allen vermutlich der Appetit vergangen sein dürfte.« Nach einem forschenden Blick auf Roswitha entfernte sich die alte Gräfin, und ihre Schwiegertochter folgte ihr. Roswitha fühlte sich mit einem Mal sterbensbang. Wie aufgeregte Vögel jagten ihre Gedanken hin und her. Sie eilte zu dem Zimmer des Gatten. Hier fand sie die Tür verschlossen. Da zog auch sie sich in ihre Gemächer zurück. Und das Herz wurde ihr noch schwerer. Was war in Königsgnade während ihrer Abwesenheit geschehen? Doch wie sie auch sann und grübelte – Odalrichs Verhalten blieb ihr unbegreiflich. Die zehnte Abendstunde rückte immer näher heran. Roswitha verspürte nun gar keine Lust mehr, Graf Ellern aufzusuchen. Aber einmal Begonnenes mußte auch zu Ende geführt werden, schon deshalb, um vor sich selbst bestehen zu können. So raffte sie sich auf und hastete aus dem Schloß, obwohl noch einige Minuten bis zu der verabredeten Zeit fehlten. Wie ein Dieb schlich sie sich hinweg und stieg in das Auto, das bereits wartete. Als die Schloßuhr mit dumpfen Schlägen die zehnte
Stunde verkündete, huschten zwei Gestalten den Parkweg entlang, der kleinen Pforte zu. Der Schloßherr und, einige Meter hinter ihm, Erdmuthe. Als er jedoch am Zaune anlangte, fuhr das Auto gerade davon. Erst machte er Miene, ihm nachzueilen, besann sich jedoch und blieb zurück. »Odalrich!« Er fuhr herum und sah in die schreckgeweiteten Augen der Schwester. »Ist sie wirklich mit ihm fort?« Das klang wie ein Wimmern. Er antwortete nicht, nickte nur müde, ergriff die Hand der Schwester und zog sie mit sich fort. Auf einer Bank ließen sie sich nieder. »Willst du warten, bis sie zurückkommt, Odalrich?« »Ja.« Da setzte sie sich neben ihn und sah ebenso starr vor sich hin wie er. Nur einmal sprach er – und es klang unendlich bitter: »Wie sollte es auch möglich sein, daß ein Starkenborn glücklich werden kann durch die Liebe?« Erdmuthe schluchzte leise auf. Zwei volle Stunden saßen sie nebeneinander. Kein Laut unterbrach die Stille. Nur ab und zu kam ein Stöhnen aus des Grafen Brust. Plötzlich fuhren sie auf und saßen kerzengerade. Ein Auto hatte an der Gartenpforte gehalten. Diese wurde geöffnet, und nun hörte man ganz deutlich Ellerns und Roswithas Stimmen. »Selbstverständlich werde ich gut schlafen«, klangen der jungen Gräfin Worte durch die Nacht. Dann fuhr das Auto davon. Als Roswitha die Allee entlangeilte, wich sie auf einmal erschrocken zurück. »Odalrich – du?« »Ja – ich.« Diese beiden Worten drangen ihr bis ins Mark. Ohne sich auch nur einmal umzuwenden, hastete sie davon und hörte mit Schrecken, daß der Gatte ihr folgte.
Ganz atemlos vom Lauf langte sie in ihrem Wohnzimmer an. Gleich darauf stand auch Odalrich auf der Schwelle. Die blauen Augen auf ihn gerichtet, blickte sie ihn angstvoll an. Er bemühte sich, ruhig zu bleiben. Aber als er daran denken mußte, daß sie so ganz, ganz anders sei, als sie schien, daß nun all sein Glück in Trümmern liege, da packte ihn der Schmerz mit rasender Gewalt. »Lüge! Lüge ist alles!« schrie er fast sinnlos vor Qual. Entsetzt wich sie zurück. »Du, du – jetzt kenne ich dich!« sagte er mit dumpfer, schwerer Stimme. »Jetzt weiß ich, daß deine unschuldsvolle Miene nichts weiter ist als Verstellung. Alles an dir ist Lug und Trug! Solange der Mann, den du jetzt zu lieben glaubst und den du nach Monaten genauso betrügen wirst wie mich, in der Ferne weilte, brauchtest du ein Spielzeug. Und dafür war ich dir gut genug. Und ich? Was gab ich dir dafür? Meine Seele! Mein Herzblut, mein ganzes Sein!« Die letzten Worte schrie er förmlich heraus. Packte dann Roswitha, die an allen Gliedern zitterte, bei den Schultern, krallte seine Nägel fest in ihr zartes Fleisch und schüttelte ihren Körper mit brutaler Gewalt hin und her. »Du – du – du!« stieß er außer sich vor Zorn und Schmerz immer wieder hervor. Die Frühlingssonne stahl sich in das Zimmer, in dem die blasse Roswitha in den spitzenbesetzten Kissen lag. Jetzt klopfte es leise an die Tür. Ebenso leise erhob Frau von Wilde sich, öffnete und sah die Zofe fragend an, die mit ängstlichem Gesicht vor ihr stand. »Erlaucht wünschen Frau von Wilde zu sprechen«, bestellte das Mädchen und begann zu weinen. »Gnädige Frau, oh, wie sieht Erlaucht aus, wie ein Schwerkranker! Er hat nicht eine Minute geschlafen, sondern ist die ganze Nacht mit dem Pferd unterwegs gewesen.« »Wo befindet sich Erlaucht jetzt?« fragte Frau von Wilde. »In seinem Arbeitszimmer.«
»Es ist gut. Ich komme.« Sie fand ihn in einem Sessel, ganz in sich zusammengesunken. Bei ihrem Eintritt erhob er den Kopf. Und sie erschrak über den Ausdruck tiefster Qual, der auf seinem Gesicht lag. Er sprang auf, holte einige Male tief Atem, reckte sich in den Schultern und wandte sich dann Frau von Wilde zu. »Frau von Wilde, ich appelliere in dieser Stunde an Ihre Treue, die Sie für unser Haus haben. Ich bitte Sie, sich durch nichts von meiner Gattin bestechen zu lassen und etwas zu tun, was gegen Ihre Ehre und Gewissen geht. Sie darf ihre Zimmer nicht früher verlassen, bis ich nicht selbst – wohlverstanden, Frau von Wilde – bis ich nicht selbst die Erlaubnis dazu gebe. Sie darf weder Briefe wegschicken noch empfangen. Und will sie sich nicht fügen, dann bitte ich Sie, mir Nachricht zukommen zu lassen. Wollen Sie mir Ihre Hand darauf geben, Frau von Wilde?« Doch sie schüttelte den Kopf und sah ihn traurig an. »Nein, Erlaucht, ich gebe kein derartiges Versprechen«, entgegnete sie mit tränenerstickter Stimme. »Ich weiß, daß meine Herrin niemals etwas tat, was eine solche Behandlung rechtfertigt. Was vorgefallen ist, weiß ich nicht. Doch ich erlaube mir zu sagen, daß manchmal der Schein trügt.« Zuerst sah er sie verständnislos an, doch dann lachte er hart auf. »Selbstverständlich! Hätte mir eigentlich denken können, daß Sie sich auf die Seite Ihres Abgottes stellen würden! Lassen Sie sich jedoch gesagt sein, daß…! Ach, wozu noch?« Mit müder Gebärde winkte er ab. Die Verzweiflung, die in dieser Bewegung lag, sagte mehr, als Worte es vermocht hätten, wie es in seinem Innern aussah, wie sehr er litt. »Es ist gut, Frau von Wilde.« Damit war sie entlassen. Schwereren Herzens, als sie gekommen war, kehrte sie zu Roswitha zurück. Die junge Frau war inzwischen erwacht. Ganz still lag sie
da. Sie mochte nicht aufstehen, nichts genießen. Sie war seelisch genau wieder so niedergebrochen wie nach dem Tod der Eltern. Und der Graf brauchte nicht zu befürchten, daß sie ihre Zimmer verlassen würde. Sie hatte weder Lust noch Kraft dazu. Schon in den ersten Morgenstunden übergab sie Frau von Wilde einen Brief mit der Weisung, ihn sofort bestellen zu lassen. Als diese einen Augenblick zögerte, sah Roswitha sie mit einem so stolzen, offenen Blick an, daß die alte Dame unwillkürlich die Augen senkte. Sie nahm den Brief an sich und ließ ihn in aller Heimlichkeit durch den Chauffeur bestellen. In dem Brief, der nur wenige Worte enthielt, bat Roswitha den Grafen Ellern, die letzten Formalitäten mit Vater Quendlin allein zu erledigen, da sie leicht erkrankt sei und in den nächsten Tagen nicht zur Stadt kommen könne. Er möchte jedoch sofort, wenn alles in Ordnung sei, seine Werbung in Königsgnade vorbringen. Von all dem Schrecklichen, das sich auf dem Schloß zugetragen hatte, schrieb sie kein Wort. Warum sollte sie den Mann, der schon so viel in seinem Leben gelitten hatte, beunruhigen? Helfen konnte er ihr ja doch nicht! Der Brief gelangte an seine Adresse. Doch der, den Graf Ellern darauf als Antwort schrieb, erreichte Roswitha nicht. Er wurde von ihrem Gatten abgefangen und lag wie eine stumme Anklage ungeöffnet auf dessen Schreibtisch. Aus diesem Grunde erfuhr Roswitha nicht, daß Graf Ellern einige Tage verreist war, und aus diesem Grunde traf auch der Graf ihn nicht an, als er ihn aufsuchte, um sich mit ihm auseinanderzusetzen. Eine Woche war vergangen. Die Stimmung in Königsgnade wurde immer bedrückender und verzweifelter. Der Graf ließ sich nur noch höchst selten im Schloß sehen, kam kaum noch vom Pferd herunter und verbrachte die Nächte in der Stadt, aus der er immer erst, schwer berauscht, gegen Morgen zurückkehrte, um dann bis zum Mittag zu schlafen.
Er, der den übermäßigen Genuß von Alkohol bisher als eines Mannes unwürdig verachtet hatte, trank nun selbst, um die Qualen seines Innern zu betäuben. Gräfin Wilhelma und Erdmuthe hatten jeden Morgen verweinte Augen, und die alte Gräfin kommandierte in einer Weise im Haus herum, daß es kaum noch zum Aushalten war. In der Einsamkeit ihrer Gemächer sah und hörte Roswitha nichts von alledem. Vielleicht hätte sie sonst ihren Trotz fallenlassen und die nötigen Aufklärungen gegeben. Auf Krönchens und Frau von Wildes bittende Worte hatte sie nur eisige Ablehnung, und Gisbert und Angela, die sie aufsuchen wollten, ließ sie nicht einmal vor. Traurig und bedrückt mußten diese nach Hause zurückkehren und waren um nichts klüger als auf der Hinfahrt. Denn auch von dem Grafen hatten sie nichts erfahren können, was ihnen über die veränderten Verhältnisse im Schloß hätte Aufschluß geben können. »Der arme Odalrich dauert mich von Herzen«, sagte Gisbert tiefbekümmert. »Er leidet furchtbar und geht zugrunde, wenn das nicht bald anders wird. Wenn unsere kleine Ita nur nichts angestellt hat, dessen Tragweite sie sich in ihrer Naivität gar nicht bewußt war. Sie dauert mich lange nicht so wie Odalrich. Daß ein so charakterfester Mann wie er sich von einer Frau derartig aus der Bahn werfen läßt, ist mir ein Rätsel. Es wird schon stimmen, daß die Liebe Männer seiner Art dann am stärksten packt, wenn sie um ihretwillen leiden müssen.« Das alles hätte sich Roswitha eigentlich selbst sagen müssen. Aber dazu war sie nicht, in der Lage. Es war alles in ihr so wund und wehe, so aufgewühlt bis zum tiefsten Herzensgrund, daß sie gewiß nicht weniger litt als der Gatte. Das also war ihres Mannes Liebe, die heiße, große, unsterbliche Liebe, die lediglich nach dem Schein urteilte und verdammte! Was war für sie Liebe ohne Vertrauen! Was konnte es ihr
später noch nützen, wenn er, nachdem alles geklärt war, reuig und zerknirscht zu ihr käme! Ach, ihr Glück, ihr jauchzendes, großes Glück war tot. Von allem, was einst war, blieb ihr bestenfalls nichts weiter als ein Durchschnittsglück, wie es die meisten ihrer Schwestern hatten. Nach einer Woche bitterster Qual hatte der Himmel endlich ein Einsehen und schickte sich an, die Bewohner von Königsgnade aus den Banden, in die sie sich verstrickt hatten, zu lösen. Eines Tages erschien Graf Ellern im Schloß, in feierlichem Anzug, mit Zylinder und Blumenstrauß. Was wollte Ellern hier? Woher nahm er den Mut, diese Schwelle zu überschreiten? Was bedeutete der strahlende Blick, mit dem er umherschaute und der jeden einzelnen der Starkenborn zu suchen schien? Er verneigte sich, kam näher und blieb vor der alten Gräfin stehen. »Gnädigste Gräfin, ich habe die Ehre.« »Schon gut, Graf Ellern«, winkte die Greisin müde ab, denn sie war schon ganz zermürbt von all dem Leid der letzten Tage. »Dann wissen gnädigste Gräfin -?« »Allerdings«, entgegnete sie, und auf einmal lag wieder all ihr Stolz in Haltung und Ton. »Und, offen gestanden, ich bewundere Ihren Mut, Graf Ellern.« »Ja, ich weiß nicht«, sagte er nun ratlos, »hat Gräfin Roswitha nicht…?« Er hielt verdutzt inne, denn der Schloßherr, der bisher regungslos in seinem Sessel gelehnt hatte, fuhr so heftig auf, als wollte er sich auf den Besucher stürzen. Und Erdmuthe, warum sah sie ihn mit so starren, beinahe erloschenen Augen an? »Gnädigste Gräfin«, nahm Ellern wiederum das Wort, »meine Verhältnisse erlauben es mir endlich, um die Hand der Gräfin Erdmuthe anzuhalten. Aber, wo ist Gräfin Roswitha?«
»Hier«, ertönte es von der Tür her. Soeben war die jüngste Gräfin Starkenborn eingetreten. Stolz, hochaufgerichtet stand sie da. Ihre flammenden Blicke gingen von einem zu anderen. Sie trat auf Ellern zu und ergriff seine Hände. Als Odalrich das gewahrte, schien er sich auf ihn stürzen zu wollen. Und wer weiß, was geschehen wäre, hätten Mutter und Großmutter ihn nicht mit Aufbietung aller Kraft zurückgehalten. »Roswitha, verlaß auf der Stelle das Zimmer«, rief die alte Gräfin gebieterisch. »Hast du kein Herz in der Brust, daß du dies alles ruhig mit ansehen kannst, daß du…« »Bitte, kein Wort weiter«, unterbrach Roswitha sie kalt. »Hier, Erdmuthe«, sie wandte sich an die Schwägerin, die sie mit starren Augen ansah, »hier bringe ich dir den Mann, den du liebst und der dich zur Gattin begehrt; er ist in der glücklichen Lage, dich auf das Erbe seiner Väter führen zu können.« Sie fuhr unwillkürlich herum, denn Odalrichs Brust entrang sich ein qualvolles Stöhnen, das sie bis ins Mark erschütterte, und zugleich erblaßte sie unter seinem Blick. »Roswitha!« Es war der Schrei eines fast schon zu Tode gehetzten Menschen, der endlich Aussicht auf Rettung sieht. »Laß nur, später!« winkte sie ab, denn sie wollte nicht weich werden, um keinen Preis. »Graf Ellern wird euch alles auseinandersetzen. Ich, ich bin wirklich nicht in der Lage dazu.« Ein hochmütiges Kopfneigen. Dann ging sie davon, in einer so stolzen Haltung, daß niemand mehr daran zweifeln konnte, wie sehr sie eine echte Starkenborn war. »Ja, was hat das zu bedeuten«, fragte Graf Ellern ratlos. Und als Erdmuthe, die als erste aus ihrer Erstarrung erwachte, ihm hastig alles erklärte, da mußte er sich in einen Sessel sinken lassen, denn er konnte sich kaum noch aufrechthalten. »Odalrich, wie konntest du das nur glauben?« fragte er
vorwurfsvoll den Schloßherrn, der den Kopf in die Hände gestützt hatte und regungslos dasaß. »Wenn so viel Süße und Reinheit, wie deine Gattin sie ihr eigen nennt, täuschen sollten, dann wäre diese Erde nicht wert, daß man nur noch eine Minute auf ihr verweilte. Sie half aus gütigem Herzen heraus und erhält solchen Dank dafür!« In kurzen Worten schilderte er nun, wie er Roswitha kennengelernt, wie sie ihm ihre Hilfe angeboten und wie sehr sie sich gefreut habe, ihre Lieben mit dem, was sie getan hatte, überraschen zu können. Er war zu Ende. Die despotische alte Gräfin weinte fassungslos. Odalrich, der die ganze Zeit, ohne sich zu bewegen, dagesessen hatte, sprang plötzlich auf und eilte mit solcher Hast davon, als gelte es, seine Seligkeit zu retten. Er stürmte die Treppen hinauf in das Wohnzimmer seiner Gattin. Dort sank er ihr stumm zu Füßen und barg seinen Kopf in ihrem Schoß. Ein heftiges, stoßweises Schluchzen brach aus seiner Brust, daß sein ganzer Körper bebte. Roswitha saß stumm und steif da, kämpfte mit dem bitteren Schmerz, der sie vollständig beherrschte, und hatte für den Mann zu ihren Füßen kein gutes Wort. Plötzlich hob er den Kopf, und sie sah in sein qualverzerrtes Gesicht. »Roswitha, ich werde wahnsinnig, wenn du nicht verzeihst!« Da lächelte sie traurig und weh. »Doch, Odalrich, ich verzeihe dir. Nur, wie es früher war, kann es nun nicht mehr sein. Zu tief hast du mein Herz verwundet. Was nützt mir deine Liebe ohne dein Vertrauen?« Wieder das qualvolle Stöhnen, das ihr die Seele zerriß. »Roswitha, ich will ja warten, still und geduldig, bis du mir ganz verzeihst«, stieß er hervor. »Ich weiß ja, wie schuldig ich bin, und will alles tun, um gutzumachen. Nur darfst du
mir nicht die Hoffnung nehmen, daß alles noch einmal so zwischen uns werden wird wir früher! Anders ertrage ich es nicht, ich gehe sonst zugrunde.« Roswitha wußte wohl, wie inhaltsschwer seine Worte waren. »Odalrich, wir werden uns eine Zeitlang trennen«, sagte sie leise und begütigend. Doch da fuhr er auf, als habe ihn ein Schlag getroffen. Er umfaßte sie mit beiden Armen, als müßte er sie festhalten. »Nein, Roswitha, nein, das darfst du mir nicht antun!«, flehte er. »Ich gebe dir mein Ehrenwort, daß ich dich niemals belästigen, daß ich nie etwas tun werde, was dich quälen oder verstimmen könnte. Doch ich muß dich sehen, täglich, stündlich. Ich liebe dich so, daß ich ohne dich nicht mehr leben kann. Geh nicht von mir, Roswitha, bitte, geh nicht von mir!« Endlich gab sie nach. »Nun gut, ich bleibe.« Da legte er seinen Kopf in ihren Schoß und wurde innerlich ganz ruhig. Wie der Graf seiner jungen Gattin in den nächsten Wochen begegnete, mit solcher Zartheit, solcher Geduld, so war wohl selten eine Frau von einem Manne umworben worden. Roswitha nahm alles das mit leisem, wehem Lächeln hin, das, neu wie es an ihr war, sie vollends unwiderstehlich machte. Sie war immer gleichmäßig freundlich, doch weiter auch nichts. Man wetteiferte förmlich miteinander, sie zu verwöhnen, ihr Liebes zu erweisen. Sie ließ es sich lächelnd gefallen und hatte auf die herzlichen Bitten aller, sie möge Odalrich doch verzeihen, stets nur die eine Antwort, daß sie ihm schon längst verziehen habe. Aber niemand wollte ihr das glauben. »Ita, sei doch wieder lieb zu Odalrich«, bat Erdmuthe auch heute, als der Bruder traurig aus dem Zimmer gegangen war. »Was er verschuldet hat, ist doch wirklich nicht unverzeihlich. Er war ja sinnlos in seinem Schmerz und wurde daher ungerecht. Schau nur, Ita, selbst ich habe an
deine Schuld geglaubt, so sehr war der Schein gegen dich. Ich kann wirklich nicht so glücklich sein, wie ich es möchte, solange zwischen dir und Odalrich nicht wieder alles so ist wie einst. Denn ich muß mir immer wieder sagen, daß letzten Endes ich die Veranlassung zu eurer Entfremdung gewesen bin.« »Das ist ja Unsinn«, fuhr Ita auf. Aber Erdmuthe ließ sich nicht abweisen. »Italein«, schmeichelte sie, »wenn du Odalrich jetzt nachgingest, deine Arme um seinen Hals legtest und ihn freiwillig küßtest, ich glaube, er wäre ganz närrisch vor Freude.« »Wird auch einmal wiederkommen, Erdmuthe. Doch jetzt, nein, jetzt kann ich es noch nicht«, entgegnete Roswitha. »Laß aber nicht mehr allzuviel Zeit darüber verstreichen, Ita, denn Odalrich leidet schwer.« Und so ging es weiter. Hatte sie einen vertröstet und lief dann einem anderen in den Weg, so konnte sie gewiß sein, daß das Betteln von neuem anfing. Krönchen sah sie jeden Tag vorwurfsvoller an, und Frau von Wilde war sehr niedergedrückt. »Ita, Herzkind, so nachtragend darf man wirklich nicht sein«, warnte das treue Krönchen. »Auch du hast Schuld, mein Liebling. Wenn du es auch gut gemeint hast, eine Täuschung war es doch. Du willst nicht nachgeben, verschanzt dich immer mehr hinter deinem Stolz, wie du es nennst, aber der ist nichts weiter als Trotz. Höre auf mich, es könnte sonst eine Zeit kommen, da du für dein Leben gern deinen Fehler gutmachen möchtest. Vielleicht ist es dann aber zu spät, und du wirst bitterlich weinen!« »Womit deine schreckliche Moralpauke hoffentlich beendet ist«, lächelte Roswitha und streichelte der treuen Alten zärtlich die Wange. »Ich weiß nicht, was ihr alle von mir wollt? Führen wir nicht eine friedliche Ehe?« »Ja, nur daß der eine Teil langsam aber sicher dabei zugrundegeht«, entgegnete Krönchen. »Das hätte dein Papi erleben müssen! Er würde sich darüber zuschanden gegrämt haben.«
»Ach ja, mein lieber Papi«, seufzte Roswitha, und ihre Augen füllten sich mit Tränen, »morgen ist sein Sterbetag.« Als sie am anderen Morgen zum Grabe der Eltern ging, um den Hügel mit Blumen zu schmücken, traf sie dort schon Odalrich an. Das Grab verschwand fast unter Blumen, und Roswitha hatte Mühe, die ihren noch unterzubringen. Wie weh ihr zumute war! Wie vieles hatte sie, seitdem die Eltern von ihr gegangen waren, erlebt und erlitten! Ihr Blick streifte den Gatten, der in Gedanken versunken dastand. Sein Schmerz, mit dem er der Toten gedachte, war aufrichtig. Diese Gewißheit machte Roswitha zugänglicher. Sie wehrte seinen Arm nicht ab, den er um ihre Schultern legte, ließ sich gutwillig nach der Bank führen und saß still neben ihm. Tiefer Friede herrschte ringsum; wie schön war alles hier! Da legte Roswitha ganz sacht den Kopf an des Gatten Brust, und er drückte sie fest an sein Herz. »Ita, meinst du nicht auch, daß wir so treu zusammenhalten müßten wie die lieben Toten da unten?« begann er behutsam. »Meinst du nicht auch, daß es im Leben der beiden ebenfalls Differenzen gegeben hat, die ihre große Liebe zueinander immer wieder siegreich zu überwinden vermochte?« »Odalrich, du hast mir doch versprochen…« Er schrak zusammen. »Wohl, wohl, Roswitha«, sagte er schnell, »wie du bist, so bin ich mit dir zufrieden. Ich habe ja die Gewißheit, daß du mir gehörst, und daß keine Macht auf Erden uns auseinanderreißen kann. Wären wir nicht so fest miteinander verwachsen, wie wir es sind, dann könnten wir beide nicht so um unsere Liebe leiden, wie wir es tun. Aber sieh nur, wer jetzt alles kommt, um deinen Eltern einen Gruß zubringen.« Lächelnd deutete er auf die beiden Gräfinnen, Erdmuthe und deren Verlobten. Sie alle wollten den beiden Toten, denen sie alle viel, sehr viel verdankten, Blumen bringen. Später stellten sich auch noch Gisbert und Angela ein, und
als gar noch Vater Quendlin daherkam, mußten alle unwillkürlich lachen, so wenig ihnen danach zumute war. »Ja, da glaubte wohl jeder, allein zu sein«, schmunzelte der alte Herr. »Haben ein verflixt hübsches Plätzchen erwischt für ihren langen Schlaf, unser lieber und verehrter Herr Kommerzienrat und seine gütige Frau.« Er legte seine Blumen zu Füßen des Hügels nieder, weil auf diesem selbst kein Platz mehr war. Dann ging sein Blick zu Roswitha, die an des Gatten Seite stand. »Nun, kleine Gräfin, haben wir den Herrn Verwalter schon tüchtig bei den Ohren genommen?« scherzte er, und da mußte sie lachen. »Der läßt sich auch schon bei den Ohren nehmen, Vater Quendlin! Sehen Sie nur, wie er mich auslacht!« »Anlacht«, widersprach Graf Ellern und blickte sie herzlich an. Die gedrückte Stimmung begann sich langsam zu heben, und man war schon wieder ganz vergnügt, als man einträchtig dem Schlosse zuschritt. Wieder war die Zeit herbeigekommen, die den Jägern die liebste des ganzen Jahres ist. Graf Starkenborn hatte zwar die Jagdleidenschaft niemals so über sich Herr werden lassen, um vollkommen von ihr unterjocht zu werden, allein er ging gleichwohl gern auf die Jagd. Seit einigen Tagen war er einem Bock auf der Spur. So war er denn viel auf der Pirsch. Aber das war Roswitha ganz und gar nicht recht. Die Jagd schien ihm wirklich näher am Herzen zu liegen als sie! Doch sie ließ es ihn nicht merken, wie sehr sie ihn vermißte. Eines Tages war Odalrich bereits am Nachmittage fortgegangen. Als er um Mitternacht noch nicht zurückgekehrt war, packte Roswitha heftige, fiebernde Angst. Es war doch schon oft genug vorgekommen, daß ein Mann auf der Jagd verunglückt war. Wenn Odalrich nun etwas zugestoßen wäre? Sie hielt es im Bett nicht mehr länger aus. Sie erhob sich, öffnete das Fenster und lauschte in die Nacht hinaus.
Und je länger sie dort stand, desto größer wurde ihre Angst. Krönchens Worte kamen ihr in den Sinn. Wenn sie nun gutmachen wollte und wäre nicht mehr imstande dazu? Was die junge Gräfin in diesen wenigen Stunden zwischen Mitternacht und Morgengrauen durchlitt, dagegen verblaßte alles bisher Erduldete. Sie merkte trotz ihres leichten Gewandes nicht, wie kühl die Nacht war. Sie zitterte am ganzen Körper, und es hätte sich schwer sagen lassen, ob vor Seelenangst oder vor Kälte. Als sie endlich ein Geräusch hörte, war alles Leid vergessen. So schnell die Füße trugen, eilte sie in das Nebenzimmer, wo der Gatte gerade die Büchse von der Schulter nahm. »Roswitha«, rief er erschrocken und zog sie an sich. Zitternd schmiegte sie sich an ihn und fuhr ihm mit beiden Händen über das Gesicht. »Odalrich, oh, ich habe große, unbeschreibliche Angst gehabt, dir könnte etwas zugestoßen sein.« Er führte sie behutsam zu einem Sessel, ließ sich in ihn nieder und zog sie auf seinen Schoß. Er wagte es nicht, sich zu rühren. Er hatte das Gefühl, als solle es ihm die Brust zersprengen, so rasend klopfte sein Herz. Würde es nun doch wiederkommen, das Glück, das jubelnde, jauchzende Glück? Kaum, daß er sich zu atmen getraute, um nicht zu verscheuchen, was wie ein köstlicher Traum war. Ach, daß es mehr wäre als nur ein Traum! Immer heftiger köpfte sein Herz. Auf einmal hob Roswitha den Kopf und sah in seine Augen. »Odalrich, nicht wieder fortgehen«, bettelte sie, »ich will nicht noch einmal so große Qualen um dich erdulden wie heute nacht.« »Roswitha?« fragte er atemlos, und sie nickte. »Ich hab’ dich sehr, sehr lieb, Odalrich.« Da stieß er einen so jauchzenden Schrei aus, daß sie erschrocken zusammenfuhr.
Sehr lange währte es, bis er sich einigermaßen beruhigt hatte. »Oh, wie glücklich ich bin! Gehst du nun auch nicht wieder so lange von mir fort?« fragte sie, und er lachte glücklich. »Ich werde mich hüten, mein Liebling. Wenn ich nur geahnt hätte, wie sehr du mich erwartetest, wäre ich zu dir gelaufen, was nur die Beine hergegeben hätten; doch ich saß ahnungslos beim Förster, wo wir den erlegten Bock begossen.« »Hätte ich nur gewußt, wo du bist, ich wäre durch die Nacht zu dir gelaufen.« »So lieb hast du mich, kleine Ita?« fragte er leise, und ihm wurden die Augen feucht. »Oh, dann ist mir nicht mehr bange um mein Glück. Denn immer und für alle Zeit wirst du die Sonne meines Lebens sein. Wie sehr werden alle hier im Hause sich freuen, und wie sehr dich verwöhnen. Ganz Königsgnade hast du auf den Kopf gestellt mit deiner zauberischen Süße! Sie und das Holdselige, das Strahlende deines Wesens habe ich einmal für Lug und Trug gehalten! Ach, Liebling, wenn du wüßtest, was ich in den letzten Wochen gelitten habe, weil ich glaubte, im Recht zu sein. Kannst du dich nicht ein wenig in meine Seele hineinversetzen?« »Odalrich, bitte, sei nicht mehr traurig«, bettelte ein süßes Stimmchen. »Auch ich habe Schuld, weil ich dir etwas verbarg. Doch nie, nie mehr will ich ein Geheimnis vor dir haben, Liebster; zu schwer habe ich darunter leiden müssen.« Da lächelte er schon wieder. »Daß dein Herzchen so voll Liebe und Güte ist, das haben alle hier erfahren dürfen. Du hast nicht nur mich glücklich gemacht, sondern auch Erdmuthe. Hast den alten Herren und Damen in der Ahnengalerie bewiesen, daß du eine echte Starkenborn bist, so aufrecht und stolz, wie kaum jemals eine unseres Geschlechts war.«
-ENDE-