Das neue Abenteuer 196
Maxim Gorki: Tschelkasch
Verlag Neues Leben, Berlin 1962
V 1.0 by Dumme Pute
Der Abdruck di...
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Das neue Abenteuer 196
Maxim Gorki: Tschelkasch
Verlag Neues Leben, Berlin 1962
V 1.0 by Dumme Pute
Der Abdruck dieser Übersetzung,
aus dem Russischen von August Scholz,
erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Aufbau-Verlages Berlin
Umschlagzeichnung und Illustrationen: Erhard Schreier
Lizenz Nr. 303 (305/76/62)
Druck: (140) Neues Deutschland, Berlin N 54 · 5697 ES 9 A
Der blaue südliche Himmel ist ganz von Staub verdunkelt; die glühende Sonne blickt wie durch einen dünnen grauen Schleier auf das grünliche Meer. Sie spiegelt sich kaum in der Flut, die immer wieder von den Ruderschlägen, den Dampferschrauben, den scharfen Kielen der türkischen Feluken und sonstigen Wasserfahrzeugen durchschnitten wird, die nach allen Richtungen den engen Hafen durchfurchen. In die granitnen Hafenmauern eingezwängt, ächzen die Wogen des Meeres unter den riesigen Lasten, die auf ihrem Rücken hingleiten, und schlagen murrend und schäumend gegen die Flanken der Schiffe und gegen das Ufer, schmutzig von allerhand Unrat. Das Klirren der Ankerketten, das Dröhnen der Kupplungen an den Waggons, die die Frachten anfahren, das metallische Klingen eiserner Platten, die von irgendwoher auf das Straßenpflaster fallen, das dumpfe Aufschlagen von Balken, das Poltern der Lastkarren, das Pfeifen der Dampfer, das bald durchdringend schrill, bald dumpf heulend die Luft durchschneidet, das Geschrei der Hafenarbeiter, Matrosen und Zollsoldaten - all diese Klänge fließen zu einer betäubenden Musik des Arbeitstages zusammen und schweben ruhelos schwankend tief unter dem Himmel über dem Hafen. Und immer neue und neue Klangwellen steigen von der Erde empor - bald mit dumpfem Grollen alles ringsum gewaltsam erschütternd, bald gellend scharf die heiße, staubige Luft zerreißend. Der Granit, das Eisen, das Holz, das Pflaster des Hafens, die Schiffe und Menschen - alles läßt in mächtigen Akkorden den leidenschaftlichen Hymnus an Merkur erschallen. Aber die Stimmen der Menschen sind schwach, lächerlich und kaum zu hören, und auch sie selbst, die diesen Lärm ursprünglich erzeugt haben, erscheinen lä-
cherlich und kläglich; ihre staubigen, zerlumpten Figürchen, gekrümmt von der schweren Last der Waren auf dem Rücken, flitzen geschäftig bald hierhin, bald dorthin, in Wolken von Staub, in einem Meer von Hitze und Lärm, und erscheinen so nichtig im Vergleich mit den sie umgebenden Eisenkolossen, Warenbergen, donnernden Eisenbahnwagen und alledem, was sie geschaffen haben. Ihr eignes Werk hat sie zu Sklaven gemacht und erniedrigt. Die unter Dampf stehenden mächtigen Riesendampfer pfeifen, zischen und ächzen tief auf, und in jedem Laut, den sie erzeugen, klingt es wie Spott und Verachtung gegen diese staubigen grauen Menschlein, die auf ihrem Verdeck herumkriechen und die gewaltigen Rümpfe mit den Erzeugnissen ihrer Sklavenarbeit anfüllen. Bis zu Tränen lächerlich scheinen die langen Reihen der Lastträger, die auf ihren Schultern Tausende von Pud [1 Pud = 16,330 kg] Getreide in die eisernen Schiffsbäuche tragen, um nur ein paar Pfund dieses selben Getreides für ihren Magen zu verdienen. Hier diese abgerissenen, schweißtriefenden, von Müdigkeit, Lärm und Hitze stumpf gewordenen Menschen, und dort die imposanten, in der Sonne blitzenden, von ebendenselben Menschen geschaffenen und in letzter Linie nicht durch die Kraft des Dampfes, sondern durch die Muskeln und das Blut ihrer Schöpfer in Betrieb gesetzten Maschinen - diese Gegenüberstellung war ein ganzes Poem grausamer Ironie. Der Lärm erdrückte, der Staub reizte die Nasen und machte die Augen blind, die Hitze sengte den Körper und erschöpfte ihn, und alles ringsum schien gespannt, schien die Geduld zu verlieren und bereit zu einer Entladung, einer grandiosen Katastrophe, einer Explosion, die das Luftreich reinigen und ein freies und leichtes Atmen er-
möglichen würde, worauf dann, statt dieses wüsten, ohrenbetäubenden, zur Verzweiflung treibenden Getöses über der See und der Stadt und am Himmel Ruhe, Helligkeit und Wohlbehagen herrschen würden. Zwölf gleichmäßige helle Glockenschläge tönten durch das geschäftige Treiben. Als der letzte metallene Laut verhallt war, klang die wilde Musik der Arbeit schon leiser. Eine Minute später war sie nur noch ein dumpfes, unzufriedenes Murren, und jetzt konnte man auch die Stimmen der Menschen und das Klatschen der Wogen deutlich hören. Es war Mittag. Die Hafenarbeiter hatten ihre Arbeit liegenlassen und sich in lärmenden Gruppen über den Hafen zerstreut. Bei den Hökerweibern erstanden sie allerhand Eßbares und setzten sich gerade zum Mittagessen nieder, auf dem Straßenpflaster in einer schattigen Ecke - da erschien Tschelkasch - Grischka Tschelkasch, der gehetzte alte Wolf, gut bekannt dem Hafenvolk, ein leidenschaftlicher Säufer und ein gewandter und kühner Dieb. Er war barfüßig und ohne Mütze, in abgetragenen alten Samthosen und einem schmutzigen Kattunhemd mit zerfetztem Kragen, der seine eckigen, von trockener brauner Haut bedeckten Knochen sehen ließ. Sein wirres, angegrautes schwarzes Haar und das verschlafene scharfgeschnittene Raubvogelgesicht ließen erkennen, daß er eben erst aufgewacht war. An einem schwarzbraunen Schnurrbartende hing ein Strohhalm, und ein anderer Strohhalm hatte sich in den Borsten der linken Backe verfangen, hinters Ohr aber hatte er sich ein kleines, eben erst abgerissenes Lindenzweiglein gesteckt. Lang und hager, knochig, leicht gebeugt, schritt er langsam über das Pflaster, und während die lange gebogene Nase in der Luft schnupperte, ließ er seinen scharfen
Blick ringsum schweifen, wobei seine kalten grauen Augen blinzelten, als ob sie unter den Hafenarbeitern nach jemandem suchten. Der lange und dichte dunkelbraune Schnurrbart zuckte dabei wie bei einem Kater, und die Hände auf dem Rücken rieben einander, wobei die langen, krummen und zähen Finger sich umeinander drehten. Selbst hier, inmitten Hunderter solch zerlumpter Gestalten wie er, lenkte er sogleich die Aufmerksamkeit auf sich - durch seine Ähnlichkeit mit einem Steppenhabicht, durch seine raubgierige Hagerkeit und diesen lauernden Gang, der leicht und ruhig schien, innerlich aber in Erregung und wachsam war wie der Flug eines Raubvogels, an den er erinnerte. Grischka Tschelkasch näherte sich einer Gruppe von Schauerleuten, die es sich im Schatten eines mächtigen Stapels von Kohlenkörben bequem gemacht hatten. Ein stämmiger kleiner Bursche mit einem dummen rotgefleckten Gesicht und unlängst zerkratztem Hals erhob sich, schritt neben Tschelkasch her und sagte gedämpft: "Die Matrosen vermissen zwei Ballen Manufaktur, sie haben schon danach gesucht." "Na und .?" fragte Tschelkasch, ihn mit ruhigen Augen messend. "Was ,und'? Ich sage dir, daß sie danach suchen, weiter nichts." "Soll ich ihnen vielleicht suchen helfend" Er warf einen höhnischen Blick nach der Richtung, in der das Packhaus der "Freiwilligen-Flotte" lag. "Scher dich zum Teufel!" Der Bursche machte kehrt. "Halt! Wo hast du dir denn das da wieder geholt? Haben dich schön zugerichtet! .
Hast du Mischka nicht gesehen?" "Schon eine Ewigkeit nicht mehr", meinte der andere und ging zu seinen Gefährten zurück. Tschelkasch schritt weiter, und alle Welt begrüßte ihn als guten Bekannten. Er aber, der sonst so vergnügt und voll Witz war, schien heute nicht bei Laune zu sein und gab nur kurze, abgerissene Antworten.
Hinter einem Warenstapel kam plötzlich ein Zollwächter in staubiger dunkelgrüner Uniform in militärisch strammer Haltung hervor. Er trat Tschelkasch in den Weg und stellte sich in herausfordernder Pose vor ihn hin, die Linke am
Griff des Seitengewehrs und mit der Rechten nach Grischkas Kragen fassend. "Halt! Wohin willst du?" Tschelkasch trat einen Schritt zurück und richtete seinen Blick mit einem spöttischen Lächeln auf den Beamten. Dieser bemühte sich, seinem stark geröteten, gutmütigschlauen Gesicht einen drohenden Ausdruck zu geben, was er dadurch zu erreichen suchte, daß er die Backen aufblies, die Brauen emporhob und die Augen weit aufriß. Das sah höchst komisch aus. "Wie oft hab' ich dir's gesagt: Zeig dich nicht hier im Hafen, sonst zerbrech' ich dir die Knochen im Leibe! Und da bist doch wieder da?" schrie der Wächter zornig. "Sei gegrüßt, Semjonytsch! Haben uns lange nicht gesehen!" sagte Tschelkasch ruhig und reichte ihm die Hand. "Mag dich am liebsten überhaupt nicht sehen . Mach, daß du fortkommst!" Dennoch drückte Semjonytsch die Hand, die Grischka ihm hinhielt. "Sag mal", versetzte Tschelkasch, während er Semjonytschs Hand mit seinen zähen Fingern festhielt und sie vertraulich schüttelte, "hast du Mischka nicht gesehen?" "Was für einen Mischka? Ich kenne keinen Mischka! Scher dich endlich fort. Wenn dich der Packhausinspektor sieht, dann ." "Den Rothaarigen, mit dem ich das letztemal auf der ,Kostroma' zusammen gearbeitet habe", fuhr Tschelkasch eigensinnig fort. "Sag lieber: mit dem du zusammen gestohlen hast! Im Krankenhaus liegt er, dein Mischka, 'ne Eisenstange hat ihm das Bein zerschmettert. Nun mach aber, daß du fortkommst - geh im guten, sonst muß ich dich beim Kragen nehmen ."
"Aha, siehst du wohl! Und du sagst, du kennst Mischka nicht . Sehr gut kennst du ihn . Was bist du denn heute so ärgerlich, Semjonytsch?" "Hör mal, du - schwatz jetzt nicht, sondern geh!" Der Zollwächter wurde ärgerlich und suchte, während er sich scheu nach allen Seiten umsah, seine Hand aus Tschelkaschs Pranke zu befreien. Tschelkasch sah ihn unter seinen dichten Brauen hervor ruhig an und fuhr, seine Hand immer noch festhaltend, fort: "Dräng mich doch nicht so! Laß mich erst ein weilchen mit dir plaudern, dann geh' ich schon von selbst! . Na, erzähl mir mal - wie geht's denn? Was macht deine Frau, die Kinderchen? Alles gesund?" Und mit blitzenden Augen, die Zähne fletschend, fügte er spöttisch lächelnd hinzu: "Will dich schon immer mal besuchen, aber es fehlt mir an Zeit . muß immerzu saufen ." "Laß den Besuch lieber sein . und spar dir deine Spaße, knochiger Satan! Gehst du jetzt schon in die Häuser stehlen?" "Wozu denn? Finden wir beide hier nicht genug schöne Sachen? Das reicht doch, bei Gott, Semjonytsch! . Sollst wieder zwei Ballen Manufaktur beiseite geschafft haben? . Sei vorsichtig, Semjonytsch, laß dich nicht schnappen!" Der empörte Semjonytsch begann zu zittern, und geifernd versuchte er etwas zu sagen. Endlich ließ Tschelkasch seine Hand los und schritt mit seinen langen Beinen zurück, dem Hafentor zu. Der Zollwächter folgte ihm schimpfend und fluchend. Tschelkasch war heiter geworden, er hatte die Hände in die Hosentaschen gesteckt, pfiff leise durch die Zähne vor sich hin, ging langsam und machte auflachend nach rechts
und links bissige Spaße. Man zahlte ihm mit gleichem zurück. Am Hafenausgang untersuchten ihn die beiden wachhabenden Soldaten, dann beförderten sie ihn mit einem leichten Stoß zum Tor hinaus. "Siehst du wohl, Grischka, wie dich die Obrigkeit schützt!" rief jemand aus dem Haufen der Schauerleute, die nun nach dem Essen auf der Erde lagen und ruhten. "Ich bin barfuß, und Semjonytsch paßt auf, daß ich mir den Fuß nicht stoße", antwortete Tschelkasch. Tschelkasch überschritt den Straßendamm und ließ sich auf einem Pfosten gegenüber der Tür einer Schifferkneipe nieder. Aus dem Hafentor fuhr unter lautem Gepolter eine Reihe beladener Wagen. Leere Wagen rasten ihnen entgegen mit den Fuhrleuten, die auf ihnen herumhüpften. Der Hafen war voll ätzendem Staub und heulendem Getöse. In diesem rasenden Durcheinander fühlte sich Tschelkasch ausgezeichnet. Er dachte an das solide Geschäftchen, das ihm in Aussicht stand - ein Geschäft, das ihm nicht viel Mühe machen würde, nur einige Gewandtheit erforderte. Er war überzeugt, daß er über genügend Findigkeit verfügte, und mit den Augen blinzelnd träumte er davon, wie er morgen früh feiern würde, wenn erst die bunten Geldscheine ihm aus der Tasche guckten. Da dachte er an den Kameraden Mischka. Er hätte ihn so nötig gebraucht, wenn er sich nicht das Bein gebrochen hätte. Tschelkasch schimpfte für sich und dachte, allein werde er kaum fertig werden mit der Sache. Wie wird die Nacht? . Er sah zum Himmel empor und blickte dann die Straße entlang. Sechs Schritt von ihm entfernt saß am Trottoir auf dem Pflaster, mit dem Rücken gegen einen Prellstein gelehnt,
ein junger Bursche in einem blaugestreiften Hemd und ebensolchen Hosen, mit Bastschuhen und einer zerrissenen roten Mütze. Neben ihm lag ein kleiner Sack und eine Sense ohne Stiel, die mit Stroh wie mit einem Strick umwickelt war. Es war ein strammer, breitschultriger blonder Junge mit gebräuntem Gesicht und großen blauen Augen, die gutmütig und vertraulich zu Tschelkasch herüberschauten. Tschelkasch fletschte die Zähne, streckte die Zunge heraus, schnitt eine fürchterliche Grimasse und starrte ihn mit glotzenden Augen an. Der Bursche blinzelte erst unsicher, dann aber lachte er hell auf, rief mitten im Lachen: "Na, so 'n komischer Kauz!" und wälzte sich, ohne erst aufzustehen, mit ungeschickten Bewegungen von seinem zu Tschelkaschs Prellstein hinüber, wobei er Sack und Sense im Staube hinter sich herschleifte. "Hast ordentlich einen gehoben - was, Bruder?" meinte er und zog ihn am Hosenbein. "Kann schon sein, Milchkälbchen, kann schon sein", bekannte Tschelkasch lächelnd. Der gesunde, gutherzig dreinschauende Junge mit den hellen Kinderaugen gefiel ihm gleich auf den ersten Blick. "Kommst vom Mähen, was?" "Woher sonst? Hab 'ne Werst heruntergemäht und 'nen Groschen verdient. Faules Geschäft! Eine Menge Menschen, alles Hungerleider, die die Preise drücken. Sechzig Kopeken am Kuban, wo sie früher drei, vier, fünf Rubel zahlten ." "Früher! Früher zahlten sie dort schon drei Rubel, wenn sie bloß mal 'nen richtigen Russen zu sehen bekamen. Hab' mich vor zehn Jahren selber damit durchgeschlagen. Kam ich in so 'n Kosakendorf, rief ich nur: ,He, ein Russe
ist da!' Gleich kamen sie, guckten mich an, befühlten, bewunderten mich - schwapp, waren drei Rubel verdient! Essen und Trinken gab's noch dazu. So lebte ich damals!" Der Bursche riß zuerst vor Erstaunen den Mund auf. Dann aber begriff er, daß Tschelkasch seinen Scherz mit ihm trieb, schnalzte mit der Zunge und lachte. Tschelkasch blieb ernst, nur unter seinem dichten braunen Schnurrbart zuckte es wie verstohlenes Lachen. "Bist doch ein komischer Kauz, redest lauter Unsinn, und ich denk' wirklich, es ist wahr .!" "Ich spreche doch von früher ." "Hör auf!" unterbrach ihn der Bursche mit einer abwehrenden Handbewegung. "Was bist du denn eigentlich von Beruf? Schneider . oder Schuster?" "Ich?" fragte Tschelkasch gedehnt - und nach einigem Nachsinnen fügte er hinzu: "Ich bin Fischer ." "Fischer? Sieh mal an! Also fängst du Fische?" "Weshalb Fische? Die Fischer hier fangen nicht nur Fische: die Leichen der Ertrunkenen oder alte Anker oder versunkene Schiffe - kurz, was vorkommt. Es gibt dafür besondere Angeln ." "Flunkre doch nicht! Bist vielleicht einer von den Fischern, die singen: Wir werfen unsre Netze auf trocknem Ufer aus, wir fischen fremde Schätze in Speicher oder Haus ." "Hast du solche Fischer schon mal gesehen?" fragte Tschelkasch mit einem lauernden Lächeln. "Gesehen - nein! Aber gehört hab' ich davon ." "Und sie könnten dir gefallen?" "Warum nicht? . Ganz nette Jungs - frei und unabhän-
gig ." "Was sollte dir denn die Freiheit? Liebst du denn die Freiheit?" "Wie sollt' ich nicht? Bist dein eigener Herr, kannst gehn, wohin du willst . das wäre was! Wenn man nicht über die Stränge schlägt und keinen Stein am Halse hat amüsier' dich, so gut du kannst, man darf nur Gott nicht vergessen ." Tschelkasch spuckte verächtlich aus und wandte sich ab. Der andere fuhr fort: "Jetzt geht's mir nicht zum besten . Der Vater ist tot, die Mutter alt, die Wirtschaft klein und der Acker ausgesogen - was kann man da groß anfangen? Leben muß man doch - aber wie? Erst dachte ich: Gehst als Schwiegersohn in ein besseres Haus. Ja, wenn der Schwiegervater das Tochterteil gleich auszahlen wollte - aber tut er's denn? Da soll man sich nun jahrelang für schinden . bedank' mich schön dafür. Ja, wenn ich hundertfünfzig Rubelchen zusammenschaffen könnte! Da könnt' ich mich schon auf die Beine stellen! Ich sagte: Willst du der Marfa ihr Teil auszahlen? Nicht? Auch gut, es gibt Gott sei Dank noch mehr Mädels im Dorf! Dann war' ich ein freier Mann, siehst du!" Er seufzte tief auf. "Aber so! Was bleibt mir weiter übrig, als zu ihm ins Haus zu ziehen? . Wollt' mir am Kuban ein Stück Geld machen - zwei-, dreihundert Rubel, und ich bin ein gemachter Mann. Aber es hat nicht geklappt. Jetzt geh' ich als Knecht. Mit meiner Wirtschaft komm' ich nicht zurecht, unmöglich!" Der junge Bursche hatte keine Lust, Schwiegersohn zu werden, sein Gesicht wurde traurig und verfinsterte sich. Er wälzte sich schwer auf der Erde hin und her. Tschelkasch fragte: "Wohin willst du jetzt?"
"Wohin ich will? Nach Hause, das kannst du dir doch denken." "Das kann ich mir gar nicht denken. Ebensogut könntest du in die Türkei wollen ." "In die Türkei!" sagte der Bursche gedehnt. "Welcher Rechtgläubige geht denn dahin?" "Bist doch 'n dummer Kerl", sagte Tschelkasch seufzend und wandte sich wieder von ihm ab. Ein unklares, langsam heranreifendes ärgerliches Gefühl kribbelte irgendwo in der Tiefe und hinderte ihn, sich zu konzentrieren und zu überlegen, was in dieser Nacht geschehen würde. Der ausgescholtene Bursche murmelte halblaut etwas und warf von Zeit zu Zeit schielende Blicke auf den Landstreicher. Er blies seine Backen komisch auf, wobei er die Lippen spitzte und mit den zusammengekniffenen Augen lächerlich häufig blinzelte. Er hatte offenbar nicht erwartet, daß sein Gespräch mit diesem schnurrbärtigen Vagabunden so schnell und kränkend zu Ende sein würde. Der schenkte ihm weiter keine Aufmerksamkeit. Er pfiff nachdenklich vor sich hin, während er auf dem Pfosten saß und mit der nackten schmutzigen Ferse den Takt dazu schlug. Der Bursche wollte das Gespräch wiederaufnehmen. "Du, Fischer, bist du oft betrunken?" "Hör mal, Milchkalb", versetzte Tschelkasch plötzlich, "möchtest du heute nacht mit mir zusammen arbeiten? Sag schnell!" "Was denn arbeiten?" fragte der Bursche mißtrauisch. "Na, was man dich heißt . Fische wollen wir fangen . du sollst rudern ." "Warum nicht? Mir ist's recht. Arbeiten kann ich . wenn ich dabei nicht in die Patsche komme . Es scheint
mir nicht ganz geheuer in deiner Gesellschaft ." Tschelkasch spürte etwas wie ein Brennen in der Brust. "Hör mal, du Schwätzer, nimm dich in acht!" flüsterte er böse. "Sonst kleb' ich dir eine, daß dir Hören und Sehen vergeht." Er war aufgesprungen, mit blitzenden Augen, zerrte mit der Linken an seinem Schnurrbart und ballte die Rechte zu einer harten, sehnigen Faust. Der Bursche erschrak, blickte ängstlich umher und sprang ebenfalls auf. Sie maßen einander mit den Blicken und schwiegen. "Nun?" fragte Tschelkasch rauh. Er zitterte am ganzen Leibe und war wütend über die Keckheit dieses Jungen, der ihm solche Dinge zu sagen wagte. Während des Gesprächs hatte er ihn nur verachtet. Jetzt haßte er ihn förmlich wegen seiner klaren blauen Augen und seines frischen, sonnverbrannten Gesichts, wegen seiner kurzen, kräftigen Hände - namentlich aber, weil jener ein Heimatdorf und ein Vaterhaus hatte, weil ein wohlhabender Bauer ihn zum Schwiegersohn nahm; und er haßte ihn wegen seines ganzen vergangenen und zukünftigen Lebens und vor allen Dingen, weil er, der unschuldige Knabe, gleich ihm die Freiheit zu lieben wagte, ohne ihren Wert auch nur zu begreifen. Es ist stets unangenehm zu sehen, daß ein Mensch, den man geringer und unbedeutender achtet als sich selbst, dieselben Dinge liebt oder haßt wie man selbst und einem auf diese Weise ähnlich wird. - Der Bursche blickte auf Tschelkasch, in dem er den Herrn zu fühlen begann. "Ich hab' ja . nichts dagegen", begann er, "ich such' ja eben Arbeit. Ob's bei dir ist oder bei einem ändern . mir ist es gleich. Ich meinte nur, du siehst mir nicht . nach
Arbeit aus, viel zu . abgerissen. Ich weiß wohl, es kann jedem mal so gehen . Mein Gott, wieviel Trinker hab' ich nicht schon gesehen . Das waren noch ganz andere Kerle als du!" "Na, schon gut, schon gut. Bist also einverstanden?" fragte Tschelkasch schon um vieles milder. "Abgemacht - topp! Was zahlst du?" "Das richtet sich nach der Arbeit . wie der Fang ausfällt. Fünf Rubel können's werden. Verstanden?" Nun, da es sich um Geld handelte, erwachte wieder das bäurische Mißtrauen in dem Burschen. Er wollte genau sein und verlangte dieselbe Genauigkeit von seinem Arbeitgeber. "Das ist mir nicht sicher genug, Bruder." "Laß gut sein, schwätz nicht", schnitt Tschelkasch ihm das Wort ab, "wollen in die Schenke drüben gehen!" Und sie schritten nebeneinander die Straße entlang Tschelkasch mit der überlegenen Miene des Gebieters, seinen Schnurrbart streichend, und der junge Bauer mit dem Ausdruck der Bereitwilligkeit, sich unterzuordnen, zugleich jedoch voll Furcht und Mißtrauen. "Wie heißt du eigentlich?" fragte Tschelkasch. "Gawrila", versetzte der Bursche. Als sie in die schmutzige, verräucherte Schenke hereingekommen waren, trat Tschelkasch an den Schanktisch und bestellte im vertraulichen Ton eines Stammgastes Kohlsuppe, Bratfleisch, Tee und eine Flasche Branntwein. "Schreib alles an!" sagte er zum Wirt, worauf dieser schweigend nickte. Gawrila bekam gewaltigen Respekt vor seinem Arbeitgeber, der trotz seines landstreicherhaften Aussehens so bekannt war und soviel Kredit genoß.
"Jetzt wollen wir etwas essen und vernünftig reden", sagte Tschelkasch. "Setz dich solange hin - ich hab' nur noch einen Gang vor." Er ging hinaus. Gawrila sah sich in der Schenke um - sie lag im Keller, war feucht und dunkel und roch beklemmend nach gebranntem Schnaps, Tabakrauch, Teer und noch etwas Scharfem. Gawrila gegenüber saß am nächsten Tisch ein betrunkener Matrose mit rotem Bart, von Kohlenstaub und Teer geschwärzt. Er brummte ab und zu, von Schlucken unterbrochen, ein Lied vor sich hin, das aus abgerissenen und verstümmelten Worten voller Zisch- und Kehllaute zu bestehen schien. Er war offenbar kein Russe. Hinter ihm saßen zwei sonnverbrannte schwarzhaarige Moldauerinnen in zerlumpten Kleidern, die gleichfalls mit betrunkener Stimme ein Lied krächzten. Noch weitere Figuren, ebenso betrunken, ebenso lärmend und abgerissen, tauchten im dunklen Hintergrund der Schenke auf. Gawrila wurde unheimlich. Er wünschte, daß der Alte bald wiederkäme. Der Lärm in der Schenke floß in einen Laut zusammen, und es schien, als ob hier ein Riesentier brüllte, das über hundert verschiedene Stimmen verfügte und, gereizt und blind, aus dieser Steingrube auszubrechen trachtete. Gawrila fühlte, wie sich etwas Schweres und Betäubendes auf seine Glieder legte, und ein Nebel umzog seine Augen, die neugierig und angsterfüllt in der Schenke umherblickten. Tschelkasch kehrte zurück, und sie begannen plaudernd zu essen und zu trinken. Beim dritten Glas wurde Gawrila betrunken. Er machte den Versuch, seinem Herrn, der ihn so vortrefflich bewirtete, irgend etwas Angenehmes zu sagen. Aber seine Zunge war bereits schwer geworden,
und er vermochte die Worte, die sich in ganzen Wellen in seine Kehle drängten, nicht mehr herauszubringen. Tschelkasch sah ihn mit spöttischem Lächeln an und sagte: "Bist du aber ein Kerl! Hat kaum fünf Gläschen getrunken und ist schon im Tran! Wie willst du denn jetzt arbeiten?" "Keine Angst, Bruder, 's wird schon werden!" stammelte Gawrila. "Ich . ich hab' dich so gern . komm, gib mir einen Kuß!" "Nun, nun . Da, nimm noch einen!" Gawrila trank und war bald so weit, daß ihm alles ringsum in gleichmäßigen, wellenartigen Bewegungen zu schwanken schien. Das war unangenehm und verursachte ihm Übelkeit. Sein Gesicht nahm einen albern-schwärmerischen Ausdruck an, er versuchte zu sprechen und brachte doch nur ein lächerliches Gestammel über die Lippen. Tschelkasch blickte ihn unverwandt an, als erinnere er sich an etwas, drehte seinen Schnurrbart und lächelte düster. Der Lärm der betrunkenen Gäste toste immer noch weiter; nur der rotbärtige Matrose war auf seinem Platz eingeschlafen. "Na, laß uns gehen", sagte Tschelkasch und erhob sich. Gawrila versuchte aufzustehen, war jedoch nicht mehr imstande dazu und begann blöde vor sich hin zu lächeln und zu schimpfen. "Der ist angelangt", brummte Tschelkasch und setzte sich wieder ihm gegenüber auf seinen Stuhl. Gawrila grinste ihn nur an und lachte in einem fort. Tschelkasch fühlte deutlich, daß das Schicksal dieses Menschen in seine Hand gegeben war, daß er es ganz nach seinem Belieben so oder so wenden konnte. Er konnte diesen
Burschen im engen Rahmen seines bäuerlichen Daseins glücklich machen - oder sein Leben zerbrechen wie eine Spielkarte. Das Bewußtsein, solch eine Macht über einen Menschen auszuüben, bereitete ihm eine eigene Art Wollust. Er tat ihm leid, der Junge, der so unversehens zwischen seine Wolfsklauen geraten war, und er empfand ihm gegenüber ein gewisses Gefühl väterlicher Fürsorge . Er faßte Gawrila unter den Armen, und indem er ihn behutsam vor sich herschob, führte er ihn in den Hof der Schenke. Hier ließ er ihn im Schatten eines Stapels Holz zu Boden gleiten, während er selbst ihm gegenüber Platz nahm und seine Tabakpfeife ansteckte. Gawrila wälzte sich noch ein Weilchen knurrend auf seinem harten Lager und schlief dann ein. "Na, bist du fertig?" fragte Tschelkasch halblaut seinen Gefährten, der sich mit den Rudern zu schaffen machte. "Gleich bin ich soweit. Die Dolle hier wackelt - kann man nicht mal mit dem Ruder draufschlagen?" "Nein, nein - nur keinen Lärm machen! Drück sie mit der Hand fest, sie wird schon halten." Sie machten sich leise an einem Boot zu schaffen, das am Heck einer mit Sandelholz und Zypressenbalken beladenen, zu einer ganzen Flottille gehörenden türkischen Feluke befestigt war. Die Nacht war dunkel, am Himmel zogen dichte große Wolkenfetzen dahin, und das Meer lag ruhig und schwarz da wie dickes Öl. Ein salzig-feuchtes Aroma stieg von ihm auf, leise rauschend klatschten die Wellen gegen das Ufer und die Schiffsplanken und schaukelten fast unmerklich Tschelkaschs Boot. In der Ferne sah man die dunklen Umrisse der Schiffe mit den bunten Laternen an ihren hoch aufragenden Masten.
"Fahren wir!" rief Tschelkasch leise. Mit einer kräftigen Bewegung des Steuerruders trieb er das Boot auf dem schmalen Wasserstreifen zwischen den Segelschiffen vorwärts. Unter den Ruderschlägen schimmerte die Flut wie in bläulichem Phosphorlicht, und ein langes Band dieses mild glänzenden Lichtes schien auch dem schnell dahinschießenden kleinen Fahrzeug zu folgen. "Na . Was macht denn der Kopf? . Tut er weh?" fragte Tschelkasch gutmütig. "Schrecklich! Wie Eisen dröhnt er. Will ihn gleich mal mit Wasser feucht machen." "Unsinn! Da, nimm - feucht dich von innen an! Das hilft besser als Wasser", sagte Tschelkasch und reichte Gawrila seine Flasche.
"Seh mir einer - Gott segne es!" Ein leises Schlucken ließ sich hören. "Das schmeckt, was? Halt . genug!" rief Tschelkasch. Das Boot glitt wieder lautlos zwischen den Schiffsrümpfen vorwärts. Bald hatte es die enge Gasse hinter sich und fuhr ins offene Meer hinaus, dessen schimmernde Fläche sich in unbegrenzte Weiten zu verlieren schien. "Na - wie gefällt dir das Meer?" fragte Tschelkasch den Gefährten, der mit gleichmäßigen Ruderschlägen das Boot kräftig vorwärts trieb. "Ganz gut - nur etwas ängstlich wird einem", versetzte Gawrila. "Ängstlich! So 'n Dummkopf!" brummte Tschelkasch spöttisch. Er, der Dieb, liebte das Meer über alles. Seine aufbrausende, nervöse Natur, die stets nach starken Eindrücken lechzte, schwelgte förmlich in diesem gewaltigen, schrankenlos elementaren Anblick. Für ihn klang aus Gawrilas Worten etwas wie eine Lästerung. Er saß auf der Bank am Steuer und schaute vor sich hin, ruhig, voll heftiger Sehnsucht, recht lange, recht weit auf der samtglatten Flut dahinzufahren. Ihr leises Rauschen klang wie das stille Atmen eines schlafenden Riesen und erfüllte ihn mit einem wohligen Empfinden des Friedens, das seine Seele von allen Schlacken läuterte und ihn zum besseren Menschen machte. "Wo hast du denn das Fangzeug?" fragte plötzlich Gawrila, während er seine Augen unruhig durch den Bootsraum schweifen ließ. Tschelkasch fuhr aus seinem Sinnen auf. "Das Fangzeug? Das hab' ich hier hinten ." "Wo denn? Ich seh' nichts ."
In der Tat war kein Fahrzeug da. Es war für Tschelkasch beschämend, vor diesem Burschen zu lügen, und andererseits war er ärgerlich darüber, daß Gawrila ihn durch die Frage aus seinem Sinnen aufgestört hatte. "Ach was, kümmere dich nicht darum!" fuhr er schroff auf. "Brauchst deine Nase nicht in alles zu stecken. Bist zum Rudern gemietet - also rudre! Und wenn du deine Zunge nicht besser in acht nimmst, kann's dir schlecht gehn . verstanden?" Gawrila ließ einen Augenblick die Ruder sinken und sah ihn unruhig an. "Rudre . Hörst du, Lümmel?" schrie Tschelkasch ihn wütend an. Gawrila fuhr zusammen und griff wieder in die Ruder. Geräuschvoll, mit hastigen, nervösen Stößen trieb er das Boot vorwärts. "Setz gleichmäßiger ein!" rief Tschelkasch. Er hatte sich erhoben und heftete seinen grausam kalten Blick auf Gawrilas zitterndes, bleiches Gesicht. Mit vorgebeugtem Körper, wie eine große Katze, die zum Sprung ansetzt, stand er da. Man hörte das böse Knirschen seiner Zähne und ein leises Knacken, das von seinen Gelenken herzukommen schien. "Wer schreit da?" ließ sich von der See her eine grobe Stimme vernehmen. "Rudre doch, verdammter Satan!" zischte Tschelkasch. "Leise mit den Rudern! . Ich schlag' dich tot, du Hund . vorwärts, vorwärts: eins - zwei, eins - zwei! Nur ein Mucks - und ich reiß dich in Stücke!" "Himmlische Jungfrau! . Muttergottes!" flüsterte Gawrila, zitternd und kraftlos vor Furcht und Anstrengung. Das Boot wendete und fuhr zum Hafen zurück, wo die dunklen Stämme der Masten emporragten und die bunten
Lichter der Laternen in die Nacht hinaus leuchteten. "Wer brüllt denn da? Heda!" tönte es von neuem zu den beiden herüber. Aber die Stimme klang schon aus weiter Entfernung, und Tschelkasch beruhigte sich. "Brüllst selber, alter Freund!" antwortete er höhnisch dem unbekannten Rufer. Dann wandte er sich zu Gawrila, dessen zitternde Lippen immer noch Gebete murmelten. "Dein Glück, Bruder", sagte er. "Wenn uns die Kerle verfolgt hätten - es wäre dein Ende gewesen. Ich hätte dich - zu den Fischen befördert!" Jetzt, da sich Tschelkasch beruhigt zu haben schien, wagte auch Gawrila wieder zu reden, obwohl er noch am ganzen Leibe zitterte. "Hör mal", begann er in flehendem Tone, "gib mich doch frei! Um Christi willen bitt' ich dich: Laß mich gehen! Setz mich irgendwo ans Ufer . tu's, ich bitte dich! Ich bin ja hier verloren . Denk an Gott, laß mich laufen. Bin dir doch zu nichts nütze . versteh' mich nicht auf solcherlei Dinge . Herr des Himmels . so mit mir umzugehen! So meine Seele zu verderben . Eine Sünde ist's, wahrhaftig . solche Geschichten ." "Was für Geschichten?" fragte Tschelkasch scharf. "He, was für Geschichten?" "Dunkle Geschichten, Bruder . laß mich, mein Lieber - laß mich, um Gottes willen ." "Ach was, schweig! Wenn ich dich nicht brauchte, hätte ich dich nicht mitgenommen. Verstanden? Und jetzt sei still!" "Herr, mein Gott!" rief Gawrila laut aufseufzend. "Na, na - wirst doch nicht etwa flennen?" versetzte Tschelkasch, für den die Furcht des Burschen etwas Belustigendes hatte. Aber Gawrila vermochte sich nicht mehr
zu halten; er weinte, schluchzte, schneuzte sich und rückte unruhig auf seiner Bank hin und her. Dabei ruderte er mit der Kraft der Verzweiflung - wie ein Pfeil schoß das Boot dahin. Sie fuhren jetzt wieder durch die enge Gasse zwischen den dunklen Rümpfen der Schiffe. "Hör mal, du", fuhr Tschelkasch den Gefährten an, "wenn dich etwa jemand ausfragt: du weißt von nichts! Verstanden?" "Ach, mein Gott!" konnte Gawrila nur antworten. "Ich bin ein verlorener Mensch!" "Laß endlich das Winseln!" sagte Tschelkasch leise, doch mit Nachdruck. Mechanisch, ohne jede Kraft zum Widerspruch ruderte Gawrila weiter. Jetzt tauchte die granitne Mauer des Hafens aus dem Dunkel auf . das Klatschen der Wogen, menschliche Stimmen, Gesang vernahm man dahinter. "Halt!" rief Tschelkasch leise. "Leg die Ruder weg! Stemm dich mit den Händen gegen die Wand! Leise, du Hund!" Gawrila stützte sich mit den Händen gegen das schlüpfrige Gestein und schob geräuschlos das Boot an der Mauer entlang vorwärts. "Die Ruder her!" rief Tschelkasch. "Und dein Paß - wo ist der? In dem Beutel da - her damit! - Na, rasch, rasch . Jetzt wirst du wohl nicht mehr ausreißen! Und wenn du nur einen Mucks hören läßt . na, du weißt schon!" Mit einem jähen Ruck schwang er sich, immer mit den Händen nach irgend etwas greifend, an der Mauer empor und verschwand dahinter. Gawrila schrak zusammen - so rasch war das gegangen. Er fühlte, wie die verwünschte Beklemmung und Furcht von ihm wich, die dieser schnurrbärtige magere Spitzbube
ihm eingeflößt hatte . Wenn er jetzt entfliehen könnte! Er atmete frei auf und sah sich rings im Kreis um. Zu seiner Linken erhob sich die dunkle Masse irgendeines Bauwerks, ungeheuer, einem machtigen todesstillen Sarge vergleichbar. Rechts von ihm zog sich die schlammigfeuchte kalte Steinmauer der Mole hin. Hinter ihm starrten gleichfalls gespenstische schwarze Schatten in die Höhe - und vor ihm lag unter dem von dunklem Gewölk bedeckten Himmel groß und schweigend die See. Es ging wie ein schwerer Druck, ein unheimlicher Schauer von diesem nächtlichen Bild aus, und Gawrila empfand eine Furcht, die ärger war als jene, die Tschelkasch ihm eingeflößt hatte. Krampfhaft umkrallte diese Furcht seine Brust und drückte ihn wie einen hilflosen Klumpen auf die Ruderbank des Bootes nieder. In bangem Warten saß Gawrila da, beklommen von der düsteren Größe und Schönheit der nächtlichen Szenerie, die ihn umgab. Er sehnte Tschelkasch herbei. Und wenn er nun nicht mehr wiederkäme? Jetzt regte sich etwas hinter der Mauer. Man hörte ein Plätschern, ein leises scharrendes Geräusch. Gawrila lauschte . der Atem stockte ihm. "Je! Schläfst du? Halt fest . vorsichtig!" ließ Tschelkasch sich leise vernehmen. Von der Mauer glitt ein schwerer großer Gegenstand herab, würfelförmig von Gestalt. Gawrila fing ihn auf und brachte ihn im Boot unter. Ein zweiter Würfel folgte. Dann tauchte quer über der Mauer Tschelkaschs lange Figur auf, die Ruder und Gawrilas Beutel kamen irgendwoher zum Vorschein, und gleich darauf saß Tschelkasch wieder, schwer atmend auf seinem Platz am Steuer. Ein freudiges Lächeln erhellte Gawrilas Gesicht.
"Bist du müde?" fragte er Tschelkasch schüchtern. "Kannst du dir wohl denken, Mondkalb", versetzte Tschelkasch. "Jetzt rudre, was das Zeug hält! Wirst 'nen schönen Schnitt machen, Bruder! Die halbe Arbeit ist getan . jetzt heißt es, den Kerls aus den Augen zu kommen. Dann gibt's Geld, und heidi! zu deiner Maschka! Sie heißt doch Maschka - was, mein Jungchen?" "N-nein", erwiderte Gawrila kurz. Er dachte jetzt nur daran, wie er so rasch wie möglich ans Ziel gelangen könnte. Seine Lunge arbeitete wie ein Blasebalg, seine Arme wie stählerne Sprungfedern. Das Wasser rollte und gurgelte unter dem Boot, und das blauschimmernde Band hinter ihm erschien breiter und lichter. Gawrila war in Schweiß gebadet, doch er ruderte aus voller Kraft weiter. Zweimal in dieser Nacht hatte er namenlose Angst durchlebt, nicht zum drittenmal wollte er sie durchkosten. Nur rasch ans Ufer, fort von diesem entsetzlichen Menschen, der ihn noch in den Tod oder ins Gefängnis bringen würde. Er wollte gar nicht mehr mit ihm sprechen, ihm in allem zu Willen sein. Sobald er erst glücklich von ihm losgekommen, wollte er eine Dankmesse zum heiligen Wundertäter Nikolaus lesen lassen. Ein heißes Gebet hätte er jetzt zum Himmel emporsenden mögen - allein er hielt an sich, ächzte weiter wie ein Dampfkessel und warf nur ab und zu verstohlen einen Blick auf Tschelkasch. Der saß am Steuer, hager, lang, nach vorn gebeugt, und durchdrang mit scharfen Augen das Dunkel wie ein Vogel, der am liebsten auffliegen und dem Boot vorauseilen möchte. Mit der einen Hand hielt er das Steuer, mit der anderen zupfte er an seinem Bart, unter dem ein Lächeln die dünnen Lippen umspielte. Tschelkasch war mit dem Ergebnis seines Beutezugs, mit
sich selbst und mit dem Burschen, den er gehörig in Schrecken versetzt und zu seinem Sklaven gemacht hatte, zufrieden. Es war ihm ein Genuß, diesen frischen jungen Burschen in seiner Gewalt zu sehen, und er suchte ihn aufzumuntern. "He!" begann er lächelnd. "Bist wohl gehörig erschrokken, was?" "Hat nichts zu sagen", versetzte Gawrila und räusperte sich. "Brauchst dich nicht mehr so abzuhetzen. Noch eine gefährliche Stelle - dann machen wir Feierabend. Kannst jetzt etwas ausruhen." Gawrila zog für einen Augenblick die Ruder ein, wischte sich mit dem Hemdsärmel den Schweiß vom Gesicht und begann wieder zu rudern. "Leise, nur leise", flüsterte Tschelkasch, "das Wasser schwatzt es sonst aus. Jetzt müssen wir an einem Tor vorbei . Leise doch, hörst du? . Die Leute hier verstehen keinen Spaß . könnten uns am Ende 'ne Handvoll Bohnen an den Kopf pfeffern, daß wir für immer genug haben." Fast lautlos glitt das Boot jetzt durch die Wogen. Von den Rudern nur fielen schimmernde Tropfen nieder, und bläuliche, rasch verschwindende Flecke bezeichneten die Stellen, wo sie aufs Wasser ge-
fallen. Immer dunkler, immer schweigsamer war die Nacht geworden. Wie eine schwere Decke senkte sich der Himmel, an dem das Gewölk sich gleichförmig verteilt hatte, auf die Fluten herab, deren lauer, salziger Duft jetzt noch kräftiger aufstieg. "Wenn's doch regnen wollte!" sagte Tschelkasch leise. "Dann würden wir sicher und ungesehen wie hinter einem Vorhang vorüberfahren." Links und rechts von dem Boot erhoben sich über dem Wasser die dunklen Umrisse der Gebäude und Fahrzeuge. Auf einer der Barken bewegte sich ein Licht, es ging jemand mit einer Laterne hin und her. "Das sind die Kordons!" flüsterte Tschelkasch kaum hörbar. Gawrila war, als er das Boot so vorsichtig vorwärts trieb, von angstvoller Spannung erfüllt. Die Augen schmerzten ihm vom unablässigen Schauen in das nächtliche Dunkel, aus dem heraus er jeden Augenblick den Alarmruf: Halt, ihr Diebe! erwartete. Als jetzt Tschelkasch von den Kordons sprach, durchzuckte ihn jäh der Gedanke: Wie, wenn ich nun schreien, wenn ich Leute zu Hilfe rufen würde? Schon hatte er sich auf der Bank emporgereckt, schon mit voller Brust Atem geholt und den Mund zum Schreien geöffnet - da traf es ihn plötzlich wie ein furchtbarer Peitschenhieb, und in jähem Schrecken brach er mit geschlossenen Augen vor der Bank zusammen . Vor dem Boot, fern am Horizont, erhob sich aus der schwarzen Masse des Wassers ein gewaltiges, in bläulichem Flammenschein schimmerndes Schwert, das die nächtliche Finsternis zerteilte, mit seiner Schneide über die Wolken am Himmel glitt und sich dann als breiter Lichtstreifen auf die Brust des Meeres senkte. In diesem
hell schimmernden Abschnitt wurden plötzlich dunkle, schweigende, vom nächtlichen Nebel halb verhüllte Schiffskolosse sichtbar, die wie auf ein Kommando dieses meergeborenen Feuerschwertes vom Grunde der See emporzusteigen schienen. Jetzt richtete es sich wieder auf, durchschnitt abermals mit seinem Lichtschein die Nacht und senkte sich dann in einer anderen Richtung nieder. Und wiederum tauchten dort, wo es sich auf die Fluten legte, aus dem Dunkel die Umrisse von Schiffen hervor, die bisher unsichtbar gewesen waren. Das Boot, in dem Tschelkasch saß, hielt an und schwankte wie im Zweifel hin und her. Gawrila lag auf dem Boden, das Gesicht mit den Händen bedeckt, während Tschelkasch ihn mit dem Ruder in die Seite stieß und leise, mit kaum verhaltener Wut, zischte: "Dummkopf! Das ist der Zollkutter, weiter nichts . und das Licht kommt von der elektrischen Laterne . Steh auf, du Tölpel! Wenn das Licht auf uns fällt, sind wir beide verloren . Mach schon! Vorwärts!" Einer der Stöße hatte Gawrila empfindlich in den Rükken getroffen. Während die Furcht noch seine Augen verschloß, sprang er auf, nahm seinen Platz auf der Bank wieder ein, griff tastend nach dem Ruder und brachte das Boot von neuem in Gang. "Leise - ich schlag' dich wahrhaftig noch tot! . Was für ein Dummkopf, hol's der Teufel . Was bist du denn so erschrocken vor dem dummen Licht? Eine Laterne ist's, weiter nichts - das ist der ganze Zauber! . Schmuggler suchen sie - aber uns sollen sie nicht erwischen! . Nur Mut, Junge - jetzt sind wir weit vom Schuß!" Er ließ seinen Blick triumphierend in die Runde schwei-
fen. "Jetzt sind wir aus der Gefahr heraus", fuhr er fort. "Uuah . hast wirklich Glück, du Strohkopf!" Gawrila schwieg und ruderte aus aller Kraft, wobei er beständig nach dem bald hierhin, bald dorthin gerichteten Flammenschwert schielte. Es wollte ihm nicht in den Kopf, daß es sich um nichts weiter als um eine Laterne handelte. Unwillkürlich beugte er sich beim Rudern vornüber in der Angst, jeden Augenblick müsse ein furchtbarer Hieb auf seinen Nacken niedersausen. Er arbeitete nur noch mechanisch, wie ein Apparat - als hatten die furchtbaren Eindrücke dieser Nacht alles menschliche Empfinden in ihm getötet. Tschelkasch dagegen genoß seinen Triumph. Seine an Erschütterungen jeder Art gewöhnten Nerven hatten sich beruhigt. Um seine Lippen zuckte es lüstern, und in seinen Augen glomm eine begehrliche Flamme. Er befand sich in vortrefflicher Stimmung, pfiff durch die Zähne vor sich hin und sog den feuchten Duft des Meeres in tiefen Atemzügen ein. Und sooft seine Blicke auf Gawrila haftenblieben, lächelte er gutmütig. Ein Wind erhob sich und fuhr, die Wogen aufrührend, übers Meer hin. Der Himmel war gleichmäßig von leichten unbeweglichen Wolkenschleiern verhängt. "Na, Bruder, komm endlich zur Besinnung!" sagte Tschelkasch zu Gawrila. "'s ist höchste Zeit. Bist ja gar kein Mensch mehr - ein Sack voll Knochen, weiter nichts. Es ist doch alles zu Ende jetzt, hörst du?" Gawrila war es schon ein Trost, wenigstens eine menschliche Stimme zu hören, wenn es auch nur die Stimme von Tschelkasch war. "Ich höre schon", antwortete er leise. "Bist du eine Butterseele! . Na, setz dich zur Ab-
wechslung mal hier ans Steuer, und ich will in die Ruder greifen. Bist wohl gehörig müde, was?" Gawrila tauschte mechanisch seinen Platz. Als Tschelkasch dem armen Burschen während des Platzwechsels in das geängstigte Gesicht sah und bemerkte, wie er auf den zitternden Beinen schwankte, tat er ihm noch mehr leid. "Na, nun hab keine Angst mehr!" sagte er, ihm auf die Schulter klopfend. "Hast dafür schön verdient, ich lasse mich nicht lumpen. Den vierten Teil kriegst du ab - einverstanden?" "Ich . will gar nichts haben. Wenn ich doch nur erst wieder am Ufer wär!" Tschelkasch spuckte ärgerlich aus und legte sich kräftig in die Ruder, wobei er mit seinen langen, dürren Armen weit ausholte. Das Meer war inzwischen erwacht - kleine schaumbefranste Wellen bedeckten seine Oberfläche, stießen und neckten sich gegenseifig und zerstoben in feinen Gischt. Die Wogen klatschten und ächzten, alles ringsum war wie von einem harmonisch abgetönten verhaltenen Geräusch erfüllt. Das nächtliche Dunkel wurde nach und nach lebendig. "Sag mal", begann Tschelkasch wieder, "wenn du jetzt ins Dorf kommst - da nimmst du ein Weib, nicht wahr? Und dann geht's ans Ackern und Säen, und dein Weib kriegt Kinder - so viel Kinder, daß du nicht Futter genug hast, sie alle zu ernähren . he? Und da wirst du dich nun dein Leben lang schinden und plagen, was? Hübsche Aussichten ." "Was heißt Aussichten .", versetzte Gawrila gedrückt, "was soll man denn machen ." "Halt mehr nach rechts", rief Tschelkasch ihm zu, "wir sind bald am Ziel. N-ja, das wäre erledigt . ein tüchtiges
Stück Arbeit! Nur eine Nacht lang zu tun - und fünf Hunderter verdient! Was sagst du dazu, he?" "Fünf Hunderter?" wiederholte Gawrila ungläubig. Und dann fuhr er erschrocken zusammen und fragte, mit dem Fuß an einen der Ballen stoßend: "Was ist denn eigentlich da drin?" "Eine sehr teure Sache. Wenn's im Handel verkauft wird, bringt es wenigstens tausend Rubel. Na, ich mach's billiger . Ein feines Geschäftchen, was?" "Das will ich meinen", versetzte Gawrila, der noch immer an Tschelkaschs Worten zu zweifeln schien. "Fünf Hunderter . wenn die unsereinem mal zuflögen!" Er seufzte tief auf und gedachte seiner fernen Heimat, seiner ärmlichen Bauernwirtschaft mit all ihrer Not und ihrem Jammer, seiner alten Mutter und alles Lieben und Teuren, um dessentwillen er auf Arbeitsuche durch die Welt zog und um dessentwillen er auch die Angst und Mühe dieser Nacht auf sich genommen hatte. "Könnten einem auf die Beine helfen . fünf Hunderter!" wiederholte Gawrila. trübselig seufzend. "Glaub's wohl", versetzte Tschelkasch. "Da rutschst du gleich mit der Eisenbahn ab! Und wie dich die Mädels mit einemmal gern hätten - ei, ei, ei! Und ein Haus würdest du hinbauen . Das heißt, zum Haus möcht's am Ende nicht reichen ." "Das mein' ich auch . zum Haus wär's zuwenig. Das Holz ist bei uns teuer." "Na, vielleicht würde der Schwiegervater was zulegen. Ein Pferd hast du wohl, was?" "Ein Pferd ist da . aber es ist bloß 'ne alte Schindmähre ." "Dann würdest du also ein anderes kaufen. Ein schönes
Pferd . eine Kuh . Schafe . allerhand Geflügel . was?" "Schweig schon! . Ach, wenn das möglich wär' . Herr des Himmels! Das war' ein Leben!" "Glaub's wohl - ein feines Leben wär's! Kann's gut begreifen, hab' auch mal im eigenen Nest gesessen. Hatte einen Vater, der gehörte zu den reichsten Leuten im Dorf ." Tschelkasch begann langsamer zu rudern. Das Boot schaukelte träge auf den Wellen, die mutwillig gegen seine Planken klatschten und immer lebhafter und unruhiger wurden. Die beiden Insassen blieben eine Weile stumm in Nachdenken versunken. Tschelkasch hatte nur vom Dorf zu reden begonnen, um Cavvrila zu trösten - jetzt aber riß ihn der Gedanke daran mit fort. "Die Hauptsache im Leben des Bauern, Bruder, ist die Freiheit", begann er laut zu reflektieren. "Bist dein eigner Herr, hast dein Haus - und wenn es auch nicht viel wert ist, 's ist immer dein. Die Henne auf dem Hof, das Ei, der Apfel - alles ist dein. König bist du auf deinem Fleckchen Erde! . Und dann die Ordnung . Morgens, wenn du aufstehst, erwartet dich deine Arbeit, im Frühjahr diese, im Sommer jene, im Herbst und Winter wieder eine andere. Wohin du auch ausfliegen magst - immer kehrst du in dein Nest zurück. Da ist's warm . da ist Friede . ein richtiger König, was?" Begeistert pries Tschelkasch die Vorzüge und Rechte des Bauernlebens und vergaß dabei vollkommen seine Schattenseiten. Gawrila hörte ihm eifrig zu: Er dachte nicht mehr daran, mit wem er es zu tun hatte, sondern sah in Tschelkasch einen Bauern, wie er selbst einer war, einen Menschen, der gleichsam durch den Schweiß vieler Gene-
rationen an die Erde festgeklebt und durch die Erinnerungen seiner Kindheit mit ihr verbunden war, doch in trotziger Willkür sich von ihr und der Sorge um sie losgerissen hatte und für diese Trennung jetzt die verdiente Strafe trug. "Das ist alles richtig, Bruder", sagte er, "alles ganz richtig! Und nun sieh dich mal an, was du jetzt ohne Grund und Boden für 'n Kerl bist! Was! . Nein, Bruder, Mutter Erde kannst du sowenig vergessen wie deine eigene leibliche Mutter!" Tschelkasch versank in stilles Brüten . Er spürte ein schmerzhaftes Würgen, das er jedesmal empfand, wenn seine Eitelkeit - die Eitelkeit des kecken Abenteurers, der sich vor den seßhaften Alltagsmenschen etwas dünkt - von irgend jemand verletzt wurde. Namentlich wenn der Betreffende ihm als unbedeutender Wicht erschien. "Dummes Zeug", versetzte er barsch. "Glaubst am Ende, ich hab' das alles im Ernst gesagt! Was du dir nicht einbildest!" "Bist doch ein spaßiger Kerl", meinte Gawrila schüchtern. "Hab' ich denn von dir gesprochen? Es gibt doch viele Leute von deiner Art! Herr, du meine Güte, wieviel unglückliches Volk treibt sich in der Welt rum! Lauter arme Schlucker ." "Nun greif mal wieder stramm in die Ruder!" herrschte Tschelkasch ihn kurz an. Nur mit Mühe vermochte er die Flut von heftigen Schimpfworten zu unterdrücken, die sich ihm in die Kehle drängten. Sie wechselten wieder die Plätze, und Tschelkasch, der nach dem Sitz am Steuer hinüberstelzte, hatte nicht übel Lust, Gawrila einen Fußtritt zu geben, daß er ins Wasser flöge. Er fand jedoch nicht die Kraft, diese Absicht auszuführen. Schweigend saßen sie beide da. Aber Gawrilas Anblick rief Tschel-
kasch immer wieder das Bild des Dorfes vor Augen. Er gedachte der Vergangenheit und vergaß sogar, das Boot zu lenken, das von der Strömung ins Meer hinausgetrieben wurde. Als ob die Wogen erraten hätten, daß das leichte Fahrzeug ohne Leitung sei, schleuderten sie es wie ein Spielzeug immer höher empor, wobei sie unter den Ruderschlägen mit sanftem bläulichem Schimmer aufleuchteten. Bilder der Vergangenheit zogen an Tschelkaschs Geist vorüber - einer fernen Vergangenheit, die durch ein elfjähriges Stromerleben wie durch eine hohe Mauer von der Gegenwart getrennt war. Er sah sich als Kind, sah das Dorf, seine Mutter - ein rotwangiges kugelrundes Frauchen mit gutmütigen Augen -, sah die rotbärtige Hünengestalt und das strenge Gesicht des Vaters; er sah sich als Bräutigam neben der üppigen, allzeit heiteren schwarzäugigen, langzöpfigen Anfissa . Dann wieder erblickte er sich als stattlichen Gardisten, die Mutter als runzlige Alte und den Vater als grauhaarigen Greis mit arbeitsgebeugtem Rücken. Er sah den Empfang, den das Dorf ihm bereitete, als er vom Regiment zurückkehrte, sah, wie sein Vater neben ihm, dem hübschen fixen Kerl mit dem flotten Schnurrbart, stolz vor allen Leuten einherschritt . Er fühlte sich gleichsam angeweht von dem weichen, versöhnlichen Hauch der Heimatluft, die ihm die liebevollen Worte der Mutter, die verständigen Reden des Vaters zutrug neben vielen anderen, längst verklungenen Lauten und dem frischen Duft des feuchten, eben aufgetauten Ackerbodens. Und alle diese Bilder schienen nur in seinem Geist aufzutauchen, um ihm die Fehler und Torheiten, die er begangen, doppelt stark zum Bewußtsein zu bringen. Er fühlte sich als ein Entgleister, Einsamer, der aus der angestammten Lebensordnung herausgerissen und als
unnütz beiseite geworfen worden war. "Heda, wohin fahren wir denn?" fragte ihn plötzlich Gawrila. Tschelkasch fuhr zusammen und hielt mit dem unruhigen Blick des Diebes Umschau. "Was, zum Teufel, wohin sind wir denn geraten? . Faß doch kräftig in die Ruder, wir sind bald da." "Hast wohl ein bißchen geträumt?" meinte Gawrila lächelnd: Tschelkasch sah ihn scharf an. Der Kleine schien wieder zu sich gekommen zu sein, er schaute ruhig und heiter, ja beinahe triumphierend drein. "Müde bin ich geworden." Tschelkasch brummte vor sich hin. "Jetzt haben wir also nichts mehr zu fürchten wegen des Zeugs da?" fragte Gawrila. Er stieß mit dem Fuß gegen die Ballen. "Nein, kannst dich beruhigen. Gleich liefern wir sie ab, und dann gibt's Geld . N-ja!" "Wieviel? Fünfhundert?" "Mindestens." "Das ist 'ne Sache! . Schönes Geld! Das könnte so ein armer Schlucker wie ich gut gebrauchen. Ach, da wollte ich ihnen ein Liedchen pfeifen!" "Den Bauern, was?" "Das versteht sich! Da würde ich gleich ." Und Gawrila erhob sich mit kühnem Flug ins Reich der Phantasie. Tschelkasch dagegen schien niedergeschlagen. Sein Schnurrbart hing melancholisch herunter, die Augen waren eingefallen und glanzlos, und er sah bedrückt und traurig aus. Der kühne Raubvogelausdruck war einer schlaffen Nachdenklichkeit gewichen.
Eine kräftige Bewegung des Steuers, und das Boot hielt auf einen großen dunklen Koloß zu, der aus dem Wasser emporragte. Der Himmel war wieder ganz mit dichten Wolken bezogen, und ein feiner lauer Regen begann niederzurieseln. "Halt! Leiser!" kommandierte Tschelkasch. Das Boot stieß gegen den Rumpf einer Barke. "Schlafen wohl, die Teufelskerle!" knurrte Tschelkasch, indem er mit dem Bootshaken ein paar Taue ergriff, die vom Bord des Schiffes herabhingen. "Die Schiffstreppe ist nicht heruntergelassen . Nun regnet's . Hätt' auch früher anfangen können! He, ihr Schlingel! . he!" "Ist Selkasch da?" schnurrte oben auf dem Verdeck eine freundliche Stimme, die offenbar keinem Russen gehörte. "Laß die Treppe runter!" rief Tschelkaseh unwirsch. "Willkommen, Freund Selkasch!" "Zum Henker noch eins - die Treppe, schwarzer Teufel", brüllte Tschelkasch. "Oh, er ist ärgerlich heute . Ei ei!" "Vorwärts, Gawrila!" rief Tschelkasch dem Gefährten zu. Eine Minute später standen sie auf dem Verdeck, von dem drei dunkle bärtige Gestalten, die in einer eigentümlich zerhackten fremden Sprache lebhaft schwatzten, in das Boot der beiden Ankömmlinge hinunterblickten. Ein vierter, der in einen langen faltigen Mantel gehüllt war, trat auf Tschelkasch zu und schüttelte ihm schweigend die Hand, worauf er Gawrila mißtrauisch ansah. "Morgen früh möcht' ich das Geld haben", versetzte Tschelkasch kurz. "Jetzt will ich schlafen. Komm, Gawrila! Oder hast du Hunger?" "Nein - aber müde bin ich", sagte Gawrila, und nach
fünf Minuten schnarchte er schon in dem Kielraum der Barke, während Tschelkasch neben ihm saß, irgend jemandes Stiefel anprobierte und eine traurige Melodie vor sich hin pfiff. Dann streckte er sich, ohne den Stiefel auszuziehen, neben Gawrila hin, schob die Hände unter den Kopf und starrte zum Verdeck empor. Die Barke wiegte sich leicht auf der schwankenden Flut; ein wehmütiges Knarren, als wenn zwei Hölzer aneinanderreihen, tönte irgendwoher; der feine Regen sickerte leise aufs Verdeck hernieder, und die Wellen klatschten monoton gegen die Planken . Alles das klang so traurig wie das Wiegenlied einer Mutter, die hoffnungslos auf das Schicksal ihres Sohnes blickt . Tschelkasch fletschte die Zähne, hob den Kopf empor, schaute ringsum und legte sich, irgend etwas vor sich hin murmelnd, wieder auf den Boden. Er streckte die Beine weit von sich und lag da wie eine gewaltige Schere.
Tschelkasch erwachte zuerst und warf einen unruhigen Blick auf seine Umgebung, gewann aber sogleich seine volle Sicherheit, als er Gawrila sah, der ruhig schnarchend neben ihm lag. Das halb kindliche, sonnverbrannte gesunde Gesicht war von einem glücklichen Lächeln verklärt er mußte etwas Angenehmes träumen. Tschelkasch schöpfte tief Atem und kletterte dann auf der schmalen Strickleiter zum Verdeck empor. Durch die Öffnung des Kielraumes sah man ein Stück bleigrauen Himmels; es war bereits hell, doch herbstlich trübe und traurig. Zwei Stunden später kehrte Tschelkasch zurück. Sein Gesicht war gerötet, sein Schnurrbart keck nach oben
gedreht. Er trug ein Paar feste hohe Stiefel, Lederhosen und eine Joppe, was ihm das Aussehen eines Jägers gab. Das Kostüm war schon abgetragen, doch dauerhaft und wie für ihn gemacht. Er sah darin breiter aus, seine knochigen Glieder erschienen runder, und seine ganze Gestalt bekam etwas Forsches, Kriegerisches. "He, du Kälbchen - steh auf!" rief er, Gawrila mit dern Fuß anstoßend. Gawrila sprang auf und starrte Tschelkasch, den er in seiner Schlaftrunkenheit nicht sogleich erkannte, mit erschrockenen Augen an. Tschelkasch brach in Gelächter aus. "Sich mal an - du bist's!" sagte Gawrila, in sein Lachen einstim-mend "Bist du ein Herr geworden!" "Das geht bei unsereinem rasch. Aber ängstlich bist du ha, ha! Wie oft wolltest du heute nacht wohl sterben, he?" "Sag doch selbst: Ich war das erstemal bei solchem Geschäft! Unglücklich könnt' ich mich machen fürs ganze Leben." "Na - und wie steht's: Möchtest du noch einmal fahren?" "Noch einmal? Das heißt . ja . wie soll ich dir's sagen? Um welchen Preis? Darauf kommt's an .!" "Na, sagen wir mal - für zwei Regenbogenfarbige ." "Zweihundert Rubel heißt das? Warum nicht? . Das können wir überlegen ." "Wenn du dich aber dabei unglücklich machst .?" "Vielleicht mach' ich mich auch nicht unglücklich", sagte Gawrila mit pfiffigem Lächeln. "Vielleicht läuft's gut ab - dann bin ich fürs ganze Leben ein gemachter Mann!" Tschelkasch lachte vergnügt. "Na schön - lassen wir jetzt die Spaße. Wir müssen ans
Land rudern . vorwärts!" Sie saßen wieder im Boot - Tschelkasch am Steuer, Gawrila auf der Ruderbank. Über ihnen wölbte sich der regengraue, gleichmäßig bewölkte Himmel, und das mattgrüne Meer spielte mit ihrem Boot, hob es auf den leicht gekräuselten Wellen empor oder bewarf es mit schimmernden salzigen Spritzern. Weit vorn, in der Richtung der Bootsspitze, sah man den gelben Streifen des sandigen Ufers, und hinter ihnen dehnte sich schrankenlos die freie See, aufgewühlt von den eilenden Schwärmen der Wogen, die da und dort schon mit schimmernd weißen Schaumkronen geziert waren. Geradeaus in weiter Ferne fuhren zahlreiche Schiffe auf dem Rücken des Meeres dahin, während zur Linken ein Wald von Masten aufstieg und die weißen Häuserviertel der Stadt sich erhoben. Ein dumpfes, rollendes Getöse klang von dort herüber und mischte sich mit dem Klatschen der Wogen zu einer kraftvollen Musik. Feiner Nebel, der die Gegenstände voneinander zu entfernen schien, lag wie ein aschfarbener Schleier über dem Ganzen . "Das wird gegen Abend was Gehöriges geben", meinte Tschelkasch mit einer Kopfbewegung zur See. "Sturm?" fragte Gawrila, der mit seinen Rudern kräftig die Wogen durchschnitt. Er war schon von Kopf bis Fuß naß von den Sturzwellen, die der kräftige Seewind ins Boot warf. "Allerdings - Sturm .", bestätigte Tschelkasch. Gawrila sah ihm eine Weile mit gespannter Neugier ins Gesicht. "Wieviel haben sie dir denn gegeben?" fragte er endlich, als Tschelkasch das Gespräch noch immer nicht auf das Geld brachte.
"Da!" sagte Tschelkasch, zog etwas aus der Tasche und hielt es Gawrila hin. Gawrila sah eine Anzahl regenbogenfarbiger Banknoten, und in seinen Augen begann alles grellbunt in den Farben des Spektrums zu schimmern. "Ach, du! . Und ich dachte immer, du lügst mir was vor! . Wieviel ist denn das?" "Fünfhundertvierzig!" "Das - lohnt sich!" flüsterte Gawrila, während seine gierigen Blicke den fünfhundertvierzig folgten, die wieder in Tschelkaschs Tasche zurückwanderten. "Ein schönes Stück Geld . A-ach, wenn man doch auch mal .", seufzte er gedrückt. "Das gibt 'ne Schmauserei, mein Bürschchen!" rief Tschelkasch entzückt. "Ja, das wird 'ne Sache! Hab keine Angst, Bruder, du kriegst deinen Teil ab . Die vierzig
geb' ich dir, was? Bist du zufrieden? Kannst sie gleich haben - willst du?" "Wenn's dich nicht benachteiligt . warum nicht? Ich nehm's an!" Gawrila zitterte am ganzen Leibe vor Erwartung - doch mischte sich noch ein zweites, ätzendes, beklemmendes Gefühl in sein Empfinden. "Ha, ha, ha! Du Teufelsbraten du! ,Ich nehm's an!' Bitte, nimm's doch an! Ich bitt' dich auch schön, nimm's! Ich weiß ja nicht, was man mit Geld anfängt . sei so gut, befrei mich davon! Was für ein guter Junge - er nimmt's an!" Tschelkasch reichte Gawrila ein paar rote Scheine. Der Bursche zog sogleich die Ruder ins Boot, nahm mit bebender Hand das Geld und steckte es unter das Hemd, wobei er die Augen zusammenkniff und hörbar die Luft in sich einsog, als ob er ein brennend heißes Getränk schlürfte. Tschelkasch betrachtete ihn mit spöttischem Lächeln. Gawrila hatte wieder die Ruder ergriffen und trieb das Boot in nervöser Hast vorwärts - mit niedergeschlagenen Augen, als ob er vor irgend etwas bangte . "Bist du aber ein habgieriger Kerl! . Das ist nicht hübsch von dir . Na ja - bist eben ein Bauer!" bemerkte Tschelkasch nachdenklich. "Was kann man auch alles mit Geld erreichen!" rief Gawrila, der plötzlich in leidenschaftlicher Erregung aufloderte. Und in abgerissenen Sätzen, voller Hast, als ob er den eigenen Gedanken nachjagte und die Worte unterwegs aufläse, begann er vom Leben im Dorf zu sprechen, mit oder ohne Geld: Wohlleben, Ehre, Freiheit, Vergnügen auf der einen Seite - und auf der anderen .? Tschelkasch hörte ihm aufmerksam mit ernstem Gesicht
zu, wobei in seinen halbgeschlossenen Augen etwas aufblitzte. Ein selbstzufriedenes Lächeln spielte von Zeit zu Zeit um seinen Mund. "Wir sind da!" unterbrach er zuletzt Gawrilas Rede. Eine Woge hob das Boot empor und warf es glatt ans sandige Ufer. "Na, siehst du, Bruder - jetzt ist alles zu Ende! Das Boot müssen wir noch weiter ans Land ziehn, damit die Flut es nicht wegspült! Es wird abgeholt. Und wir beide sagen uns nun Lebewohl! Von hier bis zur Stadt sind's acht Werst . willst du wieder zurück in die Stadt, hm?" Auf Tschelkaschs Gesicht lag immer jenes gutmütigverschmitzte Lächeln, das auf irgendeine Überraschung für Gawrila hindeutete. Er schob die Hand in die Tasche und ließ die leise raschelnden Geldscheine durch seine Finger gleiten. "Ich?" versetzte Gawrila auf seine Frage. "Ich? Nein . ich geh' nicht in die Stadt . ich ." Er stotterte und stockte in seiner Rede. Tschelkisch sah ihn verdutzt an. "Was fehlt dir denn? Hast wohl 'n Krampf?" fragte er. "Es ist nichts weiter .", versetzte Gawrila. Aber sein Gesicht wurde abwechselnd rot und blaß, und er drehte und wand sich unschlüssig, als ob er sich auf Tschelkasch stürzen wollte und zugleich ein anderes Verlangen hätte, das zu unterdrücken ihm schwer wurde. Tschelkasch fand das aufgeregte Wesen des Burschen seltsam und war gespannt auf das Weitere. Gawrila begann auf ganz sonderbare Weise zu lachen es glich fast einem Weinen. Den Kopf hielt er gesenkt, so daß Tschelkasch sein Gesicht nicht sehen konnte. Nur seine Ohren, die bald rot wurden, bald erblaßten, guckten
hervor. "Na, zum Teufel", begann Tschelkasch mit einer unwilligen Handbewegung, "hast dich in mich verschossen, was? Stellt sich an wie 'n verliebtes Mädchen! . Oder wird dir der Abschied von mir so schwer? Rede endlich, Saugkalb . was willst du? Sonst geh' ich meiner Wege ."
"Wie - du willst fortgehen?" schrie Gawrila mit gellender Stimme, daß das sandige Ufer von seinem Schrei erbebte. Auch Tschelkasch fuhr zusammen. Plötzlich stürzte Gawrila vor, warf sich zu seinen Füßen nieder, umfaßte sie mit seinen Armen und zog ihn an sich heran. Tschelkasch schwankte, fiel schwer zu Boden und holte zähneknirschend mit seinem langen Arm zu einem Faustschlag aus. Er kam jedoch nicht zum Schlagen: Ein blödes, bittendes Flüstern Gawrilas ließ ihn mitten im Hieb
innehalten. "Mein Täubchen! Liebster, Bester . gib mir das Geld! Gib mir's um Christi willen - was soll's dir eigentlich? . In einer einzigen Nacht verpraßt du's . Und ich brauch' Jahre, um so viel zusammenzukratzen . Gib's, ich will für dich beten . ewig . In drei Kirchen will ich beten . für die Rettung deiner Seele . Du läßt sie in den Wind flattern, die schönen Papierchen . und ich würde sie in den Boden stecken . Ach, gib sie mir doch . Was sollen sie dir? Tust ein gutes Werk . machst mich reich! Bist doch sowieso ein Entgleister . find'st nicht mehr zurück . und ich, ich würde . oh, gib es mir, mein Lieber . gib es mir!" Starr vor Staunen, Entrüstung und Schrecken, saß Tschelkasch auf dem Ufersand, mit zurückgelehntem Körper, auf die Arme gestützt, und sah mit weit aufgerissenen Augen schweigend auf den Burschen, der seinen Kopf zwischen die Knie des Daliegenden zwängte und schwer atmend seine Bettelreden flüsterte. Endlich stieß Tschelkasch den Zudringlichen zurück, sprang vom Boden auf, fuhr mit der Hand in die Tasche und warf Gawrila die bunten Scheine hin. "Da, friß sie!" rief er zitternd vor Aufregung, Abscheu und Mitleid für den habgierigen Sklaven vor ihm. Und als er ihm das Geld hinwarf fühlte sich Tschelkasch als Held. "Hätt' dir von selbst mehr gegeben. Hast mich gestern an der schwachen Saite gepackt, als du vom Dorfe sprachst. Wirst dem Bürschchen helfen, dacht' ich. Ich wollte nur sehen, was du machen wirst . ob du bitten wirst oder nicht. Und du . ach, pfui, du Filz, du Bettler! . Wie kann man sich denn um Geld . so wegwerfen! Dummkopf! Geizige Teufel seid ihr . verkauft euch für fünf Kopeken, habt nicht ein bißchen Selbstachtung!"
"Du, mein Lieber . mag dich Christus behüten! Was hab' ich jetzt! Jetzt bin ich reich!" wisperte Gawrila in höchstem Entzücken, während er, am ganzen Leibe zitternd, das Geld in die Hemdbrust steckte. "Ach, du mein Lieber! Solange ich lebe, vergess' ich dir's nicht . nie! Meiner Frau und meinen Kindern werde ich befehlen: ,Betet für ihn!'" Tschelkasch hörte sein freudiges Stammeln, sah sein strahlendes, von triumphierender Habgier entstelltes Gesicht und fühlte, daß er, der Dieb, der Stromer und Heimatlose, sich niemals so bis zur Selbstvergessenheit erniedrigen könnte. Nein, nie würde er so sein können! Und dieser Gedanke, dieses Gefühl erfüllte ihn mit dem Bewußtsein seiner Freiheit und gab ihm Haltung hier am leeren Meeresstrand vor Gawrila. "Du hast mich glücklich gemacht!" rief dieser, während er die Hand seines Wohltäters gegen sein Gesicht preßte. Tschelkasch schwieg und fletschte wie ein Wolf die Zähne. Gawrila ließ seinem Redestrom weiter freien Lauf: "Was mir nicht alles durch den Kopf ging . als wir vorhin fuhren! . Ich dachte: Willst du Ihm eins mit dem Ruder geben . über den Schädel: Das Geld ist mein, und ihn . kopfüber ins Meer . Wer wird ihn finden? . Und wie findet man ihn: wer wird fragen, wer ihn totgeschlagen hat? Ist doch am Ende keine Person, um derentwegen man Lärm macht . Überflüssig ist er auf Gottes Erde . wer sollte wohl für ihn eintreten? So dachte ich, siehst du ." "Gib das Geld her!" brüllte Tschelkasch, während er Gawrila an der Gurgel packte . Gawrila versuchte sich loszureißen, aber Tschelkasch packte mit beiden Händen zu, und jener lag bald am Bo-
den, blöde glotzend, mit den Fingern krampfhaft nach einem Halt greifend und mit den Beinen zappelnd. Tschelkasch zog ihm das Geld aus dem Hemd hervor und stand nun vor ihm, straff emporgestreckt, sehnig, mit dem Ausdruck eines siegreichen Raubtiers. Er lachte boshaft vor sich hin, während sein Schnurrbart in dem eckigen, scharfgeschnittenen Gesicht nervös zuckte. Niemals in seinem Leben war er so schmerzlich gekränkt, nie so in Wut versetzt worden. "Bist du nun glücklich?" fragte er Gawrila voll bitteren Hohns, wandte ihm den Rücken und schritt der Stadt zu. Kaum aber war er zwei Schritt entfernt, als Gawrila mit der Behendigkeit einer Katze aufsprang und, noch am Boden kniend, mit voller Wut einen großen runden Stein Tschelkasch an den Kopf warf. "Da!" rief er boshaft, während Tschelkasch mit einem Aufschrei nach seinem Kopf griff, sich jählings umwandte und nach kurzem Wanken mit zu Boden gekehrtem Gesicht zusammenbrach. Gawrila erstarrte bei diesem Anblick. Und als er dann sah, wie Tschelkasch vergeblich bemüht war, sich wieder aufzurichten, wie er mühsam den Kopf aufhob und das Bein anzog und schließlich, am ganzen Leibe zitternd, liegenblieb, stürzte er davon in die neblige Steppe, über der eine zottige, finstere Regenwolke hing. Die Wogen kletterten zischend an dem sandigen Ufer empor, vermischten sich mit dem Sand und flössen dann wieder abwärts. Der Gischt schäumte, und die Sturzwellen zerstoben im Wind. Es regnete. Anfangs fein und dünn, wurde der Regen bald stärker und goß in klaren Bächen vom Himmel. Meer und Steppe waren wie mit einem Netz aus Wasserfäden verhängt. Hinter diesem Netz war Gawrila verschwunden.
Eine ganze Weile sah man nichts als den strömenden Regen und den langen Menschen, der im Sande am Ufer des Meeres lag. Aber plötzlich tauchte mitten in dem Regen wieder Gawrilas Gestalt auf - hastig, wie im Flug, eilte er auf Tschelkasch zu. Er stürzte vor ihm nieder und begann ihn auf dem Boden hin und her zu wenden. Er faßte mit der Hand in eine schlüpfrige rote Flüssigkeit, die sich noch warm anfühlte. Erschrocken fuhr er zusammen und wandte sein bleiches, verstörtes Gesicht zur Seite. "Höre, Bruder - steh auf!" flüsterte er hastig Tschelkasch ins Ohr. Dieser kam zur Besinnung, stieß Gawrila von sich und sagte mit röchelnder Stimme: "Fort von mir . geh!" "Bruder! Verzeih! . Der Satan hat mich verführt!" flüsterte Gawrila zitternd, während er Tschelkaschs Hand emporhob und küßte. "Geh . geh fort!" kam es heiser aus Tschelkaschs Kehle. "Nimm die Sünde von meiner Seele . Bruder, verzeih!" "Verd . Geh endlich! . Geh zum Teufel!" schrie Tschelkasch plötzlich und richtete mühsam seinen Oberkörper auf. Sein Gesicht war finster und bleich, und die trüben Augen schlossen sich halb . wie schlaftrunken. "Was willst du noch? . Hast das Deinige getan . so geh jetzt! Marsch!" Er versuchte, dem von seiner Reue niedergedrückten Gawrila einen Fußtritt zu versetzen, war jedoch nicht dazu imstande und wäre hingestürzt, wenn nicht Gawrila seine Schultern umfaßt und ihn aufrecht gehalten hätte. Ihre Gesichter berührten sich jetzt - beide waren bleich, kläglich, voll Entsetzen. "Pfui!" rief Tschelkasch, seinem Helfershelfer in die
weitgeöffneten Augen spuckend. Dieser wischte sich ruhig mit dem Ärmel das Gesicht ab und sagte in flehendem Ton: "Tu, was du willst . nicht ein Wort will ich sagen. Nur verzeih mir bitte, um Christi willen!" "Geschmeiß! . Nicht mal 'nen Mord bringt das ordentlich fertig!" rief Tschelkasch verächtlich, riß unter seinem Rock ein Stück vom Hemd ab und umwickelte sich damit schweigend den Kopf. "Hast du das Geld genommen?" fragte er dann durch die Zähne. "Nichts hab' ich genommen! Ich brauch' nichts! . Nur Unglück hab' ich davon gehabt ." Tschelkasch steckte die Hand in die Rocktasche, zog die Scheine heraus, steckte einen davon wieder in die Tasche zurück und warf die übrigen Gawrila hin. "Da - nimm sie und geh!" "Nichts nehm' ich, Bruder . Ich kann nicht! Verzeih mir!" "Nimm sie sofort, sag' ich!" brüllte Tschelkasch unter wildem Augenrollen. "Verzeih mir . dann will ich sie nehmen .", bat Gawrila und fiel in den nassen Sand zu Tschelkaschs Füßen nieder. "Unsinn . wirst sie auch so nehmen, Geschmeiß!" sagte Tschelkasch überzeugt, und während er Gawrilas Kopf mit Mühe bei den Haaren emporhob, warf er ihm die Scheine ins Gesicht. "Nimm nur, nimm! Sollst nicht umsonst gearbeitet haben! Nimm sie, fürchte dich nicht! Schäm dich nicht, daß du um ein Haar einen Menschen totgeschlagen hast. Nach solchen wie mich fragt ja niemand. Danke schön! werden sie dir noch sagen, wenn sie's erfahren. Da, nimm!"
Gawrila sah, daß Tschelkasch lachte, und es wurde ihm leichter ums Herz. Er hielt das Geld mit festem Griff umfaßt. "Verzeihst du mir, Bruder? Du willst nicht, was?" fragte er weinerlich. "Was soll ich verzeihen? 's gibt nichts zu verzeihen!" versetzte Tschelkasch, sich vom Boden emporrichtend. "Heut schlägst du mich blutig, morgen ich dich ." "Ach, Bruder, Bruder .!" seufzte Gawrila, indem er betrübt den Kopf schüttelte. Tschelkasch stand vor ihm und lächelte seltsam, der Lappen um seinen Kopf wurde mehr und mehr von Blut durchtränkt und sah schon fast wie ein türkischer Fez aus. Es goß in Strömen. Das Meer rollte dumpf, und die Wogen schlugen jetzt wild und rasend gegen den Strand. Die beiden Männer am Ufer verharrten eine Weile in Schweigen. "Na, leb wohl!" sagte Tschelkasch schließlich spöttisch und schickte sich an zu gehen. Er schwankte unsicher auf den zitternden Beinen und hielt den Kopf so sonderbar, als ob er ihn zu verlieren fürchtete. "Verzeih, Bruder!" bat Gawrila noch einmal. "Macht nichts!" versetzte Tschelkasch trocken und schritt von dannen. Sein Gang war noch immer schwankend, und seine Linke stützte nach wie vor den Kopf, während die Rechte mechanisch an dem langen braunen Schnurrbart zupfte. Gawrila blickte ihm noch lange nach, bis er im Regen verschwand, der immer reichlicher aus den Wolken niederströmte und die Steppe ringsum einhüllte. Dann nahm Gawrila seine durchnäßte Mütze vom Kopf,
bekreuzigte sich, sah auf das Geld, das er immer noch fest umschlossen in der Hand hielt, atmete tief und erleichtert auf, steckte die Scheine in die Hemdbrust und ging mit festem, breitem Schritt am Meeresufer in entgegengesetzter Richtung davon. Das Meer heulte, warf große, schwere Wogen auf den Ufersand und zerstäubte sie zu Schaum und Gischt. Der Regen peitschte wütend Wasser und Land . Der Sturm brauste . Alles ringsum war von wildem Geheul, Getümmel und Getöse erfüllt . Der Regen machte Himmel und Meer unsichtbar. Bald hatte die strömende Regenflut den roten Fleck abgewaschen von der Stelle, da Tschelkasch gelegen hatte. Fortgespült waren auch die Spuren, die Tschelkasch und der junge Bursche im Ufersand zurückgelassen hatten . Nichts blieb an dem einsamen Meeresufer übrig zur Erinnerung an das kleine Drama, das sich dort zwischen zwei Menschen abgespielt hatte.
Heft 197 Herbert De Lamboy; Hans-Peter Schulze Rückkehr auf dem Irawadi
Mitten im Dschungel Vietnams liegt ein Flugplatz der französischen Fremdenlegion. Dicht daneben befinden sich Versorgungsdepots und ein Lager mit Napalmbomben. Zu der dort stationierten Einheit gehören auch die beiden Legionäre Lucien und Georg. Obwohl sie noch die Uniform der Legion tragen, sind sie doch schon keine rechten Legionäre mehr - sie wollen fliehen und warten auf eine günstige Möglichkeit. Da fällt eines Nachts das Lager mit den Napalmbomben einer Aktion der vietnamesischen Partisanen zum Opfer. Flugplatz und Depots geraten in Unordnung, nur eine Kuriermaschine ist noch einsatzfähig. Geistesgegenwärtig nutzen beide die Situation aus. Es gelingt ihnen, sich der Maschine zu bemächtigen. Als sie auf die kleine Rollbahn einschwenken, setzt unverhofft ein Transportflugzeug zur Landung an .
Maxim Gorki 1868 - 1936
Alexej Maximowitsch Peschkow wurde in NishniNowgorod, dem heutigen Gorki, geboren. Schon in frühen Jahren erfuhr er das Elend der armen Bauern und der darbenden Menschen in den Städten am eigenen Leib. Mit elf Jahren lief er aus dem Haus seines Großvaters fort und schlug sich als Tellerwäscher, Hauslehrer und Gelegenheitsarbeiter in verschiedenen Berufen durchs Leben. Eine große Fußwanderung führte ihn bis nach Tiflis. Hier erschien unter dem Namen Maxim Gorki (der Bittere) seine erste Erzählung, "Makar Tschudra", die seine Erlebnisse auf der Wanderschaft widerspiegelt. Bald folgten weitere Arbeiten, so auch die Erzählung "Tschelkasch", sein erster Roman, "Foma Gordejew", und einige Dramen, u. a. "Die Kleinbürger" und "Nachtasyl". 1905 beteiligte sich Gorki am Moskauer Aufstand. Seit jenen Tagen bestand seine Bekanntschaft mit Lenin. Unmittelbaren Niederschlag fanden die revolutionären Ereignisse des Jahres 1905 in dem Roman "Die Mutter", dem Hohenlied auf den Kampf der Arbeiterklasse. 1913 kehrte Maxim Gorki aus der Emigration auf Capri, wo er seit 1906 gelebt hatte, in seine Heimat zurück. Nach der Oktoberrevolution widmete er einen Großteil seiner Kraft der Förderung junger talentierter Autoren und. war selbst als Schriftsteller unermüdlich tätig. Von 1921 bis 1928 hielt er sich wegen seines Lungenleidens abermals in Italien auf. Es entstanden die Romane "Das Werk der Artamonows" und "Das Leben des Klim Samgin", eine Darstellung des Lebens in Rußland vom Ende der siebziger Jahre des 19. Jahrhunderts bis 1917.
Aufschlußreich über die Jugendjahre Gorkis ist die dreiteilige Autobiographie, die unter den Titeln "Meine Kindheit", "Unter fremden Menschen" und "Meine Universitäten" erschien. Von der weit über die Grenzen seiner Heimat hinausreichenden Bedeutung Maxim Gorkis, des "Stammvaters der Sowjetliteratur", zeugen die unzähligen Übersetzungen seiner Werke in fast alle Sprachen der Welt.