Cover DIE-Reihe, Kriminalromane Delikte, Indizien, Ermittlungen
Hans Pfeiffer Tote Strombahnen
Kriminalroman
Der Arz...
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Cover DIE-Reihe, Kriminalromane Delikte, Indizien, Ermittlungen
Hans Pfeiffer Tote Strombahnen
Kriminalroman
Der Arzt Dr. Ronn führe eine glückliche Ehe, meinen Kollegen und Nachbarn. Dieser Eindruck jedoch ist falsch, niemand käme darauf, was sich innerhalb seiner vier Wände wirklich abspielt, und niemand ahnt, was Ronn vorhat: Er plant den Tod seiner Frau. Was mag den Mann dahin gebracht haben – fragt der Autor und versucht es zu ergründen –, nur im Verbrechen noch einen Ausweg zu sehen, zu glauben, der Tod eines anderen verhelfe ihm zu einem neuen Leben? Hans Pfeiffer gestaltete den Roman frei nach einem Fall, der sich Anfang der sechziger Jahre ereignete.
Hans Pfeiffer
Tote Strombahnen
Verlag Das Neue Berlin
3. Auflage Verlag Das Neue Berlin, Berlin • 1984 (1974) Lizenz-Nr.: 409-160/184/84 • LSV 7004 Umschlagentwurf: Erhard Grüttner Printed in the German Democratic Republic Gesamtherstellung: Grafischer Großbetrieb Völkerfreundschaft Dresden 622 183 7 00200
„Der Mensch, der sich vom lebendigen Kreislauf seiner zwischenmenschlichen und gesellschaftlichen Beziehungen abtrennt, gleicht den toten Strombahnen des Adernsystems: er verödet und wird verödet.“ Maurice Porteur, Psychologie de la solitude humaine
DOKTOR RONN Sonntag, 21. August Während meine Frau, immer einige Schritte voraus, über den Waldboden stapft, ruft sie schwärmerisch: „Nein, Reg, ist es nicht himmlisch! Dieser Duft, diese Stille!“ Gisela bleibt stehen, wendet sich um und blickt mich herausfordernd an. „Diese Einsamkeit! Wunderbar, nicht?“ Ich murmle etwas, was sie als Zustimmung hinnimmt. Zufrieden trottet sie weiter. Ab und zu stößt sie kehlige Entzückungslaute aus. Glücklicherweise merkt Gisela mir nicht an, daß ich die Natur gegenwärtig unter anderen Gesichtspunkten betrachte als sie. Ich halte Ausschau nach einer geeigneten Stelle, wo ich Giselas Leiche für immer verschwinden lassen könnte. „Dort!“ ruft Gisela. Ihr massiger Körper kommt abrupt zum Stehen. Sie zeigt auf einen Vogel. „Ein Eichelhäher! Du siehst ihn doch, ja?“ 8
„Natürlich sehe ich ihn.“ „Er kündet unsere Nähe an. Der Wächter des Waldes!“ Trotz seines Geschreis ein untauglicher Wächter, denke ich. Er würde mir beim Graben zuschauen und nichts verraten. Dichte Brombeerhecken ziehen sich vom Weg tief in die Kiefernschonung hinein. Eine brauchbare Stelle. Nein, nicht einsam genug. Beerensucher könnten die Hecken durchkämmen. Überhaupt sind hier die Wälder nicht weitläufig genug. Man müßte schon den Harz wählen. Es ist wie eine Zwangshandlung. Jedesmal, wenn ich mich von Gisela zu einer Spazierfahrt oder einem kurzen Sonntagsausflug überreden lasse, überfällt mich unterwegs die gleiche Frage: Wie schaffe ich mir meine Frau vom Halse? Zum ersten Mal tauchte dieser Wunsch ganz unerwartet auf. Das war im August vorigen Jahres gegen Abend. Ich durchstreifte mit Gisela wieder einmal die Bastei. Auf einer Felsenkuppe waren wir stehengeblieben. Gisela schwindelte es vor dem Abgrund zu ihren Füßen. Wir waren allein. Ein kräftiger Stoß jetzt, dachte ich plötzlich, und alles ist vorbei. Meine beiden Probleme wären mit einem Schlag gelöst: Ich wäre Gisela los und könnte Steffi heiraten. In diesem Augenblick mußte die Tiefe ihren Bann verloren haben. Gisela riß ihren Blick los, nahm meinen Arm und ging mit mir weiter. Heute bin ich froh, daß ich damals gezögert hatte. Eine so plumpe Tat wäre nicht gut ausgegangen. Da muß man schon feiner zu Werke gehen. Zum Beispiel die Leiche verschwinden lassen … Und so begann ich mit dem Einfall zu spielen. Aber es ist eben nur Spiel geblieben. Ich betrachtete Tümpel und Teiche, Dickichte und Sandbrüche plötzlich mit einem 9
ganz anderen Blick, ahnte Möglichkeiten und verwarf sie wieder. Ich spürte, der bloße Gedanke an diesen letzten Ausweg genügte schon, all meine Schwierigkeiten leichter zu ertragen. Die Phantasie bleibt die beste Medizin. Jetzt wird der Waldweg breiter. Gisela wartet, bis ich sie eingeholt habe. Schweigsam laufen wir nebeneinanderher. Auf einmal packt sie mich bei der Schulter und reißt mich zurück. Sie deutet nach vorn. Ein Fuchs trabt leichtfüßig über den Weg. „Meister Reineke“, flüstert Gisela andächtig. Dieses ewige romantische Geschwätz! Diese abgegriffenen Redensarten! Meister Reineke! Ich stelle mir vor, wie „Meister Reineke“ im Dickicht plötzlich zu scharren beginnt, weil ihn ein bestimmter Geruch anlockt. Und wie er die Decke von Kiefernnadeln und Moos, die ich über Gisela gebreitet habe, aufkratzt und alles ans Licht bringt. Ich muß doch ein Idiot sein, an diesen Plan überhaupt noch einen einzigen Gedanken zu verschwenden! Eine Leiche vergraben! Etwas Dümmeres hätte mir gar nicht einfallen können. Gib’s auf! Du bist an diese Frau gekettet, die du vor zwanzig Jahren, aus welchen Gründen auch immer, geheiratet hast. Dein Leben ist so und so verpfuscht, also trage es mit Geduld. Ich würde es ja tragen, ich trüge es noch zwei Jahrzehnte weiter, wäre Steffi nicht gekommen und hätte mir die Möglichkeit eines anderen, neuen, glücklichen Lebens gezeigt. Wie soll ich, diese Möglichkeit immer vor Augen, weiterleben mit diesem schnaufenden Walroß neben mir, das vor Rührung über ein Eichhörnchen Tränen vergießt, mich aber zugrunde richtet? 10
Wir haben unsern Rundgang beendet. Auf der Schneise steht mein weißer Wartburg. Ich öffne Gisela von innen die Tür. Aufgeregt atmend steigt sie ein. Eichelhäher, Fuchs und Eichhörnchen waren die richtige Gemütsnahrung für sie. Davon zehrt sie nun wieder eine ganze Woche. Zwischendurch wird sie mir einige Daumenschrauben anlegen, mehrere Seelenmassagen durchführen und diverse Giftpfeile gegen Steffi abschießen. Soll denn das so weitergehen, Jahr für Jahr? Selbst meine Urlaubsreise im nächsten Monat mit Steffi ans Schwarze Meer ist mir nur ein schwacher Trost. Eine Hoffnung allerdings bleibt mir: Giselas Koronarsklerose. Aber bis Gisela mal der Schlag trifft, bin ich vielleicht sechzig. Und das dauert immerhin noch acht Jahre. Wie soll das bloß weitergehen.
GISELA RONN Sonnabend, 27. August, nachmittags Warum achte ich nicht mehr auf die Bahnstationen, wenn der Zug hält? Früher machte es mir Spaß, über die Ortsnamen nachzudenken, Thumirnicht oder Pomoissel oder … Wer am Ende ist wie ich, hat dafür kein Interesse mehr. Die Sonne scheint mir heiß ins Gesicht. Aber ich kann nicht vom Fenster wegrücken, jeder Platz im Abteil ist besetzt. Und immer noch eine Stunde Fahrt, bis ich bei Friederike bin. Ein Wäldchen. Ein Steinbruch. Ein Bahndamm. Auf einer Wiese steht ein ausrangierter Omnibus. Er 11
besitzt keine Räder mehr. Die Fenster sind leere Löcher. Warum hat man ihn gerade hier abgestellt, mitten auf freiem Feld? Ich bin auch so ein Ding, das nutzlos herumsteht. Aber wenn ich Friederike so etwas sage, lacht sie. „Mutter, du wirst wieder sentimental.“ Friederike ist ein realistischer Mensch. Und sie hat mir gegenüber einen Vorteil: sie verabscheut meinen Mann. Warum kann ich Reg nicht hassen? Liebe ich ihn immer noch? Hoffentlich ist Friederike daheim, Sie wird sich wundern, wenn ich plötzlich vor der Tür stehe. Wie begründe ich meinen Besuch? Daß ich einfach wieder einmal davongelaufen bin? Sie wird sagen: „Laß dich doch endlich von diesem Kerl scheiden.“ Ich habe mehrmals von Reg die Scheidung verlangt. Er hat sich immer wieder dagegen gesträubt. Sage ich ihr, daß ich vor meiner Abreise wieder einen Herzanfall hatte? Sie wird erwidern: „Er ist dein Ruin.“ Sage ich ihr: „Ich habe einen Brief für Reg zurückgelassen und ihm gedroht, mir das Leben zu nehmen, wenn er sich nicht von dieser Frau trennt?“ Friederike wird entgegnen: „Wie kannst du dich nur so vor dem Doktor erniedrigen!“ Sie nennt ihn „Doktor“, seit sie aus dem Hause ist. Um nichts in der Welt würde sie das Wort „Vater“ aussprechen. Habe ich mich wirklich erniedrigt, als ich heut vor der Abreise Reg diesen Brief auf den Tisch legte? Er wird ihn lesen und zerreißen. Vielleicht zerreißt er den Brief auch nicht und zeigt ihn Steffi. Und die beiden lachen sich schief über mich. Wäre ich nur einen Tag früher weggefahren! Dann 12
wäre mir diese Situation erspart geblieben. Und der neue Herzanfall. Reg war zu Krankenbesuchen unterwegs, als der Briefträger die Post brachte. Da war dieser Brief vom Reisebüro dabei. Reg erhielt die Mitteilung, die Ausstellung der Transitvisa für Bulgarien würde sich verzögern. Aber der Reisetermin für ihn und Fräulein Steffi Kuntze sei dadurch nicht gefährdet. Reg will also seinen Urlaub mit diesem Flittchen verbringen! Und mir hatte er erzählt, diesmal müßte er allein Urlaub machen, um sich einmal richtig erholen zu können! Reg und Steffi im Bungalow in Nessebar! Ich weigere mich, mir das vorzustellen. Ich könnte es auch gar nicht. Mir fehlt Steffis Gesicht. Ich habe alles heimlich durchsucht, um ein Foto von Steffi zu entdecken. Was hat sie mir voraus? Nur ihre Jugend? Was noch? Sinnlos, darüber nachzudenken. Es ändert nichts. Trotzdem fragt man sich immer wieder: Was wäre, wenn Reg dieser Steffi nie begegnet wäre? Welche Macht hat der Zufall über unser Leben? Ebensogut könnte ich fragen, warum mußten sich David und Reg in diesem polnischen Dorf treffen? David Mayen, mein erster Mann, entstammte einer alten Arztfamilie. Sie war seit Generationen in dieser Kleinstadt ansässig. Wir kannten uns schon als Kinder. Mein Vater, ein recht liberaler Pfarrer, der Goethe, Herder und Dostojewski mehr las als die Bibel, war mit Davids Vater befreundet. Zwei Jahre nachdem David die Praxis seines tödlich verunglückten Vaters übernommen hatte, heirateten wir. 1938 wurde unsere Tochter Friederike geboren. David war ein sensibler, gebildeter Mann, menschen13
freundlich, der Kunst aufgeschlossen, großzügig, ein wenig verträumt, anhänglich. Wie ich konnte auch er sich leicht begeistern, an einem Gedicht, einer Sonate, am Abendhimmel, für einen anderen Menschen. Reg ist anders. Gefühle, sagte er mal, stammen aus der Mottenkiste des vorigen Jahrhunderts. Gedichte würden eines Tages von Computern hergestellt. Und was die Liebe betrifft, so empfänden die Sperlinge auch nur in den Wochen der Hormonausschüttung Liebesgefühle. 1941, bei Beginn des Rußlandfeldzuges, war meine Ehe mit David zu Ende. Er wurde als Wehrmachtsarzt eingezogen. In den folgenden Jahren sahen wir uns für wenige Wochen, während kurzer Urlaubstage. Wir waren schon für immer getrennt. 1944 kam David an ein Frontlazarett in Polen. Im November tauchte in seinen Briefen zum ersten Mal der Name eines Dr. Reginald Ronn auf. Ronn war Stabsarzt und Davids unmittelbarer Vorgesetzter. David schrieb in seiner zurückhaltenden menschenfreundlichen Art, Dr. Ronn sei ein angenehmer Kollege, politisch gar nicht borniert, es ließe sich gut mit ihm arbeiten und reden. Dann, am Silvestertag 1944, kam das entsetzliche Telegramm: „Dr. Mayen am 27.12. für Führer, Volk und Vaterland gefallen.“ Wie war mir damals zumute? Welche Gefühle bewegten mich? Was sagt das schon: Gefühl. Was ist Schmerz, Trauer? Ich lebte von da an in einem Zustand ständiger Betäubung, einer Art Taubheit der Sinne. Und doch schien nicht ich es zu sein, die betroffen war. Die Welt selbst war verändert. Die Rhododendronbüsche im Garten hatten ihr Grün verloren. Die Menschen befanden sich wie im Nebel. Das Haus war noch mein Haus, aber auf eine merkwürdige Art defor14
miert, wie es manchmal im Traum mit bekannten Orten geschieht. Nachts war es am schlimmsten. Wenn Friederike schlief, saß ich unten im Wohnzimmer und suchte Trost bei jenen Versen, die ich früher oft gedankenlos vor mich hingelesen hatte: „Zum Bleiben ich, zum Scheiden du erkoren, Mir ist das All, ich bin mir selbst verloren.“ Dann weinte ich und verwünschte den Dichter, dessen Worte meinen Jammer vervielfachten. Etwa zehn Tage nach der Todesnachricht meldete mir Maria, ein Herr Dr. Ronn wolle mich sprechen. Sie hatte hinzugefügt: „Er möchte Ihnen einige Dinge von Herrn Doktor überbringen.“ Bisher hatte ich jeden Besucher zurückgewiesen. Aber hier machte ich eine Ausnahme, denn ich hoffte, etwas über die letzten Stunden meines Mannes zu erfahren. Vielleicht brauchte ich die tröstliche Lüge, daß er einen leichten Tod gehabt hatte. Als ich die Treppe hinunterging, sah ich im Flur einen jungen Mann stehen, der mir interessiert entgegenblickte. Er trug Zivilkleidung. Ich schätzte sein Alter auf zwanzig, später erfuhr ich, er war einunddreißig. Verglichen mit meinem Mann, erschien er fast klein. Aber das bewirkte nur seine gedrungene Gestalt. Der muskulöse Körperbau verriet Kraft und Vitalität. Sein dunkelblondes Haar, militärisch kurz geschnitten und sorgfältig gescheitelt, lag eng am Kopf an. Wahrscheinlich benutzte er Brillantine. Seine randlose eckige Brille ließ einen Studienrat vermuten. Aber die braunen Augen milderten den etwas strengen Eindruck wieder. Als er mir die Hand entgegenstreckte, verbeugte er 15
sich knapp und sagte, als Freund meines Mannes sei er tief betroffen von dessen jähem Tod. Ich fürchtete Formalitäten und bat den Gast ins Wohnzimmer. Ich ließ Maria eine Flasche Wein bringen. Dann begann Ronn zu erzählen. Es war eine quälende Angelegenheit. Der Mann sprach stockend. Anscheinend fiel es ihm schwer, Zugang zu andern Menschen zu finden. Ich mußte viele Fragen stellen, ehe ich ein zusammenhängendes Bild von den Ereignissen erhielt, die zu Davids Tod geführt hatten: ein Stoßtruppunternehmen in einem polnischen Wäldchen. Schwere Granatsplitterverwundung eines Feldwebels, der im Wäldchen zurückbleibt. David macht sich auf, den Verletzten ärztlich zu versorgen. Wird selbst neben dem Sterbenden tödlich getroffen. Und ich hatte so viele Fragen. „Ist es denn üblich, daß sich der Arzt selbst zum Kampfplatz begibt?“ Ronn erklärt, daß das durchaus nicht üblich sei, die Verwundeten würden in der Regel zum Verbandplatz gebracht. „Aber warum ist dann David …?“ „Ich weiß es nicht.“ „Und Sie haben ihn nicht zurückgehalten?“ „Ich wußte nichts von seinem Entschluß.“ „Also könnte er noch leben, wenn er das Übliche getan hätte.“ Ronn hörte aus meinen ruhigen Fragen die Verzweiflung heraus. Er versuchte mir Trost zuzusprechen: „David war ein guter Arzt. Er hat vielen Menschen geholfen.“ „Auf unübliche Weise“, ergänzte ich, „und Sie doch wohl auch.“ Er sah mich verständnislos an. Weiß er nicht, was ich meine? dachte ich verwirrt. Er nennt sich Davids Freund. Aber dann müßte ihm bekannt 16
sein, welche Aufgabe sich David in all den Jahren als Wehrmachtsarzt gestellt hatte! Noch während seines letzten Urlaubs im Oktober 1944 sagte er verzweifelt: „Ich hole einem Mann einen Granatsplitter aus dem Körper, damit er für den nächsten Sturmangriff wieder auf die Beine kommt.“ Deshalb versuchte David anfangs, den Genesungsprozeß hinauszuzögern. „Aber mehr als eine Verzögerung war es nie. Dann begann ich den Tauglichkeitsgrad herabzusetzen. Manchen, den ich nach den Bestimmungen hätte an die Front schicken müssen, habe ich nur fürs Heimatgebiet tauglich geschrieben. Jetzt müssen zwei Ärzte gemeinsam den Tauglichkeitsgrad bestimmen. Aber wo finde ich schon gleichgesinnte Kollegen …“ Ronn hatte sich mit David angefreundet. Also hatte mein Mann diese Chance genutzt, um mit Ronn gemeinsam Soldaten das Leben zu retten. Deshalb meine Äußerung: „Sie beide gemeinsam.“ Aber Ronn schien nicht zu wissen, was ich meinte. Oder glaubte er, daß ich von alledem nichts weiß? Er getraute sich nur nicht, darüber zu sprechen. Also brach ich das Thema ab. Das Gespräch schleppte sich dahin. Ronn äußerte, der Krieg würde in einer gigantischen Katastrophe enden. Ihn würde es schon auch noch erwischen. „Aber Herr Ronn …“ „Und wenn ich’s überlebe, was dann?“ „Sie sind doch Arzt.“ „Ach, Frau Mayen“, sagte er mit einem Seufzer, „was wissen Sie. Wir sind alle für ein normales Leben verloren.“ „Was soll ich denn dann sagen, Herr Ronn. Auch für Sie wird alles weitergehen.“ 17
Er lächelte skeptisch und sprang auf. „Ich darf meinen Zug nicht verpassen, gnädige Frau.“ Ich war froh, daß der Besuch zu Ende war. Ronn stand schon auf der Türschwelle, als er stehenblieb. „Dürfte ich noch einen Blick auf die Arbeitsstätte meines Freundes werfen?“ Sein Wunsch war mir verständlich. Immerhin hatten David und er Seite an Seite schlimme Tage durchgestanden, das bindet. Ich bat ihn, mir zu folgen. Wir gingen durch das Wartezimmer, den Warteraum für Privatpatienten, den Ordinationsraum. Ab und zu verweilte Ronn vor einem Instrumentenschrank oder einem Gerät und prüfte es fast andächtig. „Eine fabelhafte Einrichtung“, bemerkte er, „die hat sich Ihr Gatte was kosten lassen.“ Das war wohl eine ziemlich unangebrachte Bemerkung, es schien mir am besten, sie zu übergehen. „Verschleudern Sie die Praxis nicht, gnädige Frau. Nach dem Krieg wird ihr Wert sicher noch steigen.“ Nun kam mir Ronn wirklich komisch vor. Solche Überlegungen anzustellen, nachdem er eben noch erklärt hatte, für ihn sei sowieso alles zu Ende! Man durfte wohl seine Gedanken nicht so ernst nehmen, die pathetisch-sentimentalen ebensowenig wie die altklug-berechnenden. Er schwätzt einfach so vor sich hin, dachte ich. Nachdem er sich verabschiedet hatte, vergaß ich ihn augenblicklich. Ein halbes Jahr später, im Hochsommer 1945, tauchte Dr. Ronn ein zweites Mal bei mir auf. Es war ein heißer Tag wie heute, vor fast genau einundzwanzig Jahren. 18
Ich hatte mir nach Kriegsende auf dem Rathaus eine Aushilfsarbeit gesucht, beim Wohnungsamt. Ein Viertel der Einwohner Cronens waren Umsiedler. Sie mußten, soweit das möglich war, menschenwürdig untergebracht werden. Ich selbst hatte zwei Familien in meiner Villa aufgenommen und war viel unterwegs, um bei der Beschaffung von Räumlichkeiten behilflich zu sein. Als Frau des Arztes Dr. Mayen gelang es mir gerade bei manch früherem Patienten, ein offenes Ohr und ein leerstehendes Zimmer zu finden. Ich arbeitete nicht, um Geld zu verdienen. David hatte mir einiges Vermögen hinterlassen. An einem Spätnachmittag im Juli also klingelte es. Friederike ging öffnen und kam mit Dr. Ronn zurück! Diesmal bot er einen fast grotesken Anblick. Er war teils militärisch, teils zivil gekleidet. Ronn trug Offiziershosen und Stiefel. Aber das viel zu enge beigefarbene Jackett hatte wohl einmal, den Knöpfen nach zu urteilen, zu einem Damenkostüm gehört. Die grellbunte Krawatte hob sich unvorteilhaft vom angeschmutzten weißen Hemd ab. In der Hand hielt er ein viereckiges schwarzes Musterköfferchen, wie man es manchmal bei Handlungsreisenden sieht. „Willkommen, Herr Ronn“, sagte ich und reichte ihm die Hand. Und ich konnte mir die Bemerkung nicht verkneifen: „Also doch noch einmal davongekommen.“ Er blickte mich ernst an und nickte. „Wenn Sie wüßten! Von Leipzig bis hierher. Drei Tage unterwegs! Waggondächer! Ruinen! Landstraßen!“ „Kommen Sie doch erst mal herein!“ „Haben Sie denn überhaupt Zeit für mich?“ fragte er schüchtern. „Natürlich.“ 19
Während wir ins Haus gingen, sagte Ronn: „Wissen Sie, ich hatte in Dresden zu tun. Und da dachte ich, bis Cronen ist es nicht weit, und du sagst Frau Mayen guten Tag.“ „Das ist sehr lieb von Ihnen.“ „Wird mir eine Rüge vom Chef einbringen, diese Fahrt nach Cronen. Ich habe meinen Urlaub überschritten. Wer rechnet denn auch damit, daß eine Reise von hundertfünfzig Kilometern fast drei Tage dauert!“ Wir betraten das Wohnzimmer. Die Luft war drückend und stickig. Ich bat Ronn, sein Jackett abzulegen. Aber er beharrte darauf, es anzubehalten. „Wie geht es Ihnen, Frau Mayen?“ fragte er, wie es so seine Art ist, ohne jede Überleitung. „Mir kommt es vor, als sei ein halbes Jahrhundert vergangen, seit Sie im Januar …“ Plötzlich stand mir wieder alles vor Augen, was sollte ich antworten. Ich lächelte mühsam. „Man versucht sich eben einzurichten, Herr Ronn.“ Er nickte, als habe er das erwartet. Dann sagte er: „Ein liebes Kind, Ihr Töchterchen.“ Friederike stand am Tisch und sah den Besucher neugierig an. Warum hatte er die weite Reise gemacht? Um mir solche Banalitäten zu sagen? Dann fiel mir ein, daß ich ihm noch keine Erfrischung angeboten hatte. Ich ließ Friederike eine Flasche Kirschmost aus dem Keller holen. Ronn trank drei Gläser und sagte entschuldigend: „Die Hitze.“ „Trinken Sie nur.“ Ich goß ein viertes Glas ein. Er trank schweigend auch das vierte leer. Dann raffte er sich zu der Bemerkung auf, nach seiner Entlassung aus 20
der Kriegsgefangenschaft habe er an einer Leipziger Klinik eine Anstellung gefunden. Dann wußte keiner mehr, was er sagen sollte. Ronn stand abrupt auf. „Jetzt muß ich mich auf den Weg machen. Acht Stunden Fußmarsch bis Dresden – ich möchte gerne morgen früh den Zug nach Leipzig bekommen.“ „Aber Sie können doch mit dem Zug von Cronen …“ „Der letzte ist vor einer Viertelstunde gefahren.“ „Und morgen früh …?“ „Da erreiche ich den Anschlußzug in Dresden nicht. Nein, nein, ich mache mich jetzt auf. Aber ich habe eine große Wasserblase an der Ferse. Wenn ich eine Nadel und etwas Jod bekommen könnte? Und eine Mullbinde?“ „Aber natürlich.“ Ich erhob mich, um Jod und Binde herunterzuholen. Aber auch Ronn stand auf. „Bemühen Sie sich nicht erst. Ich gehe gleich mit.“ Während wir nach oben gingen, bemerkte ich, daß er humpelte. Bei seiner Ankunft war mir das gar nicht aufgefallen. Wir betraten das Sprechzimmer, er blieb an der Schwelle stehen. „Das ist ja schrecklich!“ Um Platz für die einquartierten Familien zu bekommen, hatte ich die Einrichtung des Behandlungsraumes, des Wartezimmers und des Arbeitszimmers einfach zusammengeschoben. Ich hatte den Raum nicht wieder betreten, er war für mich eine tote Zone im eigenen Haus. Nachdem ich Jod und Binde gefunden hatte, sagte ich: „Ziehen Sie den Stiefel herunter. Ich seh’ mir den Fuß mal an.“ „Aber Frau Mayen“, protestierte er, „der Arzt bin ich hier! Ich steche die Blase auf, dann kann ich wieder ganz 21
gut laufen. Die fünfundvierzig Kilometer schaffe ich schon.“ Er duldete auch nicht, daß ich dabeiblieb. Es war ihm wohl peinlich. Während ich wieder hinunterging, überlegte ich, ob ich ihn auffordern sollte, hier zu übernachten. Er ging bereitwillig auf das Angebot ein. „Brauchen Sie etwas?“ fragte ich ihn. „Müssen wir noch etwas besorgen? Rasierzeug und so?“ „Trage ich alles bei mir“, erwiderte er. „In diesem Koffer befindet sich mein ganzer Besitz.“ Das konnte ich nicht glauben. „Doch, Frau Mayen, es ist so.“ Er öffnete das Köfferchen. Darin sah es wirklich armselig aus: eine Garnitur Unterwäsche, Taschentücher, Rasierzeug, Seife, einige Tablettenröhrchen, ein medizinisches Wörterbuch, mehrere Zwiebeln, Möhren, ein Kanten Brot und ein Paket Kunsthonig. „Heimatlos“, sagte er mit einer merkwürdigen Mischung von Triumph und Trauer, „besitzlos, bedürfnislos.“ „Sie Ärmster“, sagte ich teilnahmsvoll. Er lachte. „Das hat seinen Vorteil, Frau Mayen. Man ist nirgends zu Hause und überall.“ „Wenn Sie das so erstrebenswert finden“, sagte ich skeptisch. „Es ist mein Schicksal“, meinte er düster. „Nun“, erwiderte ich, „wollen wir erst mal zu Abend essen. Vielleicht bringt Sie das auf andere Gedanken.“ Inzwischen war Friederike, die bis dahin im Garten gespielt hatte, hereingekommen. „Ich bereite das Abendessen“, sagte ich zu ihr, „vielleicht holst du ein Spiel und leistest Herrn Doktor etwas Gesellschaft.“ 22
Als ich dann später hereinkam, um den Tisch zu decken, sah ich, daß Friederike und Ronn einträchtig aus Knetmasse Figuren formten. Ich weiß nicht mehr, was es zum Abendbrot gab. Ronn machte mir fortwährend Komplimente über das Essen: „Wirklich vorzüglich, wirklich. Sie wissen ja nicht, was es heißt, jetzt in einer Großstadt zu leben. Seit vierzehn Tagen ernähre ich mich fast ausschließlich von Rübenblättern.“ „Rübenblätter?“ fragte Friederike verständnislos. „Du kennst doch Rüben!“ „Ja“, sagte Friederike. „Davon die Blätter. Zu Suppe verkocht.“ Er stand auf, ging zu seinem Köfferchen und holte die Packung Kunsthonig heraus. Er legte sie vor Friederike auf den Tisch. „Du ißt doch gern Süßes, nicht wahr?“ „Aber nein“, sagte ich, „den behalten Sie mal für sich. Wir haben noch einen Fünflitertopf voll Honig vom vergangenen Jahr. Bienenhonig natürlich. Wollen Sie ihn probieren?“ Er winkte ab. „Nun sehen Sie sich mal dieses Stück Kunsthonig an! Ein bißchen Zuckerlösung, ein bißchen Salzsäure. Und was habe ich dafür bezahlt? Vierzig Mark!“ Ich hatte von Schwarzmarktpreisen keine Ahnung, doch ich wußte, daß sie ziemlich hoch waren. „Ich kann mir vorstellen, daß man es jetzt ohne Beziehungen in der Großstadt schwer hat.“ „Beziehungen“, sagte Ronn resigniert, „woher sollte ich die wohl haben. Keine Freunde, keine Verwandten.“ „Und Ihre Eltern?“ 23
„Die wohnten in Schlesien. Ich habe sie noch nicht wiedergefunden.“ „Und sonst haben Sie niemanden?“ „Ist auch gut so.“ „Warum sollte das gut sein?“ „Weil die Einsamkeit unser Schicksal ist.“ „Aber Herr Ronn!“ „Warum protestieren Sie? Aus Konvention? Das Leben hat sinnvoll zu sein! Oder man hat es wenigstens mit Anstand hinter sich zu bringen. Aber Sie und ich – wir haben doch wohl beide nicht mehr allzuviel zu erwarten.“ Dieser Mann hatte in wenigen Stunden eine merkwürdige Verwandlung durchgemacht. Ging ich auf ihn ein, versuchte ich mich in seine verwickelten Gedankengänge hineinzufinden, ließ er seine anfängliche Zurückhaltung fallen. Zweifellos brauchte er Menschen, die ihm offen und vertrauensvoll entgegenkamen. Nachdem ich Friederike ins Bett gebracht hatte, saßen wir noch bei einer Flasche Wein zusammen. Draußen wurde es schon dunkel. Plötzlich sagte Ronn: „Glauben Sie nichts von dem, was ich vorhin gesagt habe, Frau Mayen.“ Ich blickte ihn erstaunt an. „Ich weiß einfach nicht, wie es weitergehen soll mit mir.“ „Mein Gott, Ronn“, rief ich. „Der Krieg ist vorbei. Sie sind gesund. Sie leben!“ „Was man so leben nennt! Straßen voll Schutt! Ein muffiges möbliertes Zimmer. Fremd, allein …“ „Aber es liegt an Ihnen, was Sie aus Ihrem Leben machen!“ „Wenn Sie wüßten, wie unbeholfen ich bin. Nie brauchte ich für etwas zu sorgen. Essen, Quartier, Klei24
dung – das war beim Militär alles geregelt. Und nun bin ich plötzlich mir selbst überlassen. Sie sehen ja, ich habe es noch nicht einmal zu einer Hose gebracht.“ „Leider sind Ihnen Davids Sachen viel zu groß …“ Ich wollte ihn aufmuntern. „Sie sind Arzt. Ärzte werden jetzt so gebraucht.“ „Würde man mich zum Beispiel hier in Cronen brauchen?“ Ich blickte ihn an. Er sah in die Dämmerung hinaus. Ich war verwirrt. Steckte hinter der Frage mehr als berufliches Interesse? Er schaute noch immer in die Abendröte. „Cronen braucht Ärzte, Herr Ronn.“ „Könnte ich hoffen, daß Sie mir die Praxis überlassen? Natürlich kann ich sie jetzt nicht kaufen. Aber pachten. Und vielleicht im Laufe der Jahre …“ Er brach ab und schwieg. Plötzlich war alles anders für mich geworden. Selbst wenn ich die Praxis verkaufte, würde ich doch hier wohnen bleiben, in Cronen, wo ich groß geworden bin, wo ich Freunde und Bekannte besitze, in diesem Haus, in dem ich so viele schöne Jahre verlebt habe. Ronn würde im gleichen Haus wohnen, er würde Davids Arbeit übernehmen und auf irgendeine Art mit meinem Leben verbunden sein. Das ist in einer Kleinstadt nicht anders. Noch immer wartete er auf meine Antwort. Ich konnte sie ihm heute nicht geben. Wir hatten zuviel über David gesprochen. David war mir noch zu nahe. „Vielleicht“, sagte ich zurückhaltend, „sollten wir die Sache überschlafen, Herr Ronn. Und morgen in aller Ruhe …“ 25
„Morgen früh muß ich fort!“ unterbrach er mich fast heftig. „Müssen Sie wirklich unbedingt morgen früh schon fort?“ „Was kommt es jetzt noch darauf an“, räumte er ein und erhob sich unerwartet wie immer. „Also dann bis morgen, Gisela.“ Ja, da sprach er zum ersten Mal meinen Vornamen aus, der schüchterne Reginald Ronn. Wie kann man nur so scheußliche Zigarren rauchen! Der Mann neben mir gibt bittere blaue Wolken von sich. Gott sei Dank, jetzt steht er auf und holt seinen Koffer aus dem Gepäcknetz. Auch die übrigen erheben sich, einer nach dem andern, greifen nach Taschen, Koffern, Jacken. Ich bin da. Hoffentlich ist Friederike zu Hause! Könnte ich doch immer bei ihr bleiben. Aber sie hat es mit Mann und Kind schon eng genug in ihrer Neubauwohnung. Wenn ich da an mein Haus denke, an die geräumige romantische Villa hinter Rhododendronbüschen! Ich gehöre nach Cronen. Doch Cronen ist mir verleidet. Wie eine Kristallvase, die einen Sprung hat.
DOKTOR RONN Sonntag, 28. August, abends Nun hat mir Gisela also die Entscheidung abgenommen, durch ihren Brief. Sie hat sich selbst das Todesurteil gesprochen. Ich bin jetzt fest entschlossen. Sie muß sterben. 26
Danach wird die Luft wieder klar sein, wie nach dem Platzregen vorhin. Steffi ist vor einer halben Stunde gegangen. Ich sagte: „Das Wetterleuchten kommt immer näher. Warte doch, bis das Gewitter vorüber ist.“ Aber sie wollte nicht bleiben. Sie hatte Angst, Gisela könnte heute zurückkehren. „Hab doch keine Angst, Steffi. So schnell kommt die nicht wieder.“ „Weißt du das so genau?“ „Verlaß dich drauf.“ Aber von dem Brief, den mir Gisela gestern bei ihrer Abreise hinterließ, konnte ich Steffi natürlich nichts erzählen. Damit darf ich sie nicht belasten. Ich muß dieses Problem selber lösen, ich ganz allein. Dieser Brief! Wie oft habe ich ihn inzwischen schon gelesen. Das heißt, einen Brief kann man das Blatt, das sie aus einem Schulheft gerissen hat, gar nicht nennen. Was Gisela gerade in die Hand kommt, alte Schulhefte von Friederike, die Rückseite von gedruckten Mitteilungen, alles benutzt sie für ihre Anweisungen. Das ist bei ihr zum Tick geworden. Statt etwas mit mir zu besprechen, erteilt sie mir schriftliche Befehle: „Der Wagen muß zur Durchsicht. – Das Dach ist undicht, in der Bodenkammer ist schon der Schwamm. Wenn du nach Leutendorf kommst, sprich mit dem Dachdecker. – Morgen abend besuchen uns Winters. – Am Freitag ist Wirtschaftsgeld fällig. – Gestern nacht hat im Labor wieder das Licht gebrannt.“ Öffne ich die Schublade, quillt ein Berg von Zetteln heraus. Eine Dokumentation von Giselas Entfremdung. Dieser gestrige Brief ist ein richtiger Erpresserbrief! Ich kenne ihn fast auswendig.
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„Lieber Reg, ich gebe Dir eine Woche Frist. Entweder Du trennst Dich von Steffi, oder ich mache Schluß, für immer. Seit heute weiß ich endgültig, Deine Liebe zu mir ist erloschen. So bleibt mir nur noch eines: mich von Dir zu scheiden, indem ich aus dem Leben scheide. Das wäre meine letzte Hilfe für Dich. Ich befreie Dich von mir. Laß Dir das alles noch einmal durch den Kopf gehen.“ Ihr Selbstmord als letzter Liebesbeweis! Von jeher hat sie ihre Tyrannei als Nächstenliebe getarnt. Sie weiß genau, ihr Selbstmord würde mich gesellschaftlich vernichten. Ich brauche nur an Dr. Marzahn zu denken. Marzahn ist Hals-Nasen-Ohren-Spezialist. Seine Frau war Chefärztin eines Krankenhauses. Eines Tages fand man sie erhängt. Das große Rätselraten begann: Wie, eine so erfolgreiche Frau! So begabt! Beruflicher Ärger? Nicht mehr als gewöhnlich. Eine Liebesgeschichte? Nichts bekannt. Vielleicht Krebs? Obduktion ohne Befund. Was dann? Ja, was blieb dann wohl übrig? Cherchez l’homme! Nur der Ehemann kann dahinterstecken! Ich kannte Marzahn als netten, ruhigen Kollegen. Von Frauengeschichten keine Spur. Wo keine ist, muß man sie suchen. Man fand keine. Also suchte man weiter, bohrte, stellte Vermutungen an, flüsterte, spielte Detektiv. Schließlich bringt sich eine so charmante Frau nicht ohne Grund um! Das Gerücht verwandelte den guten Marzahn allmählich in einen Unhold, der seine Frau in den Tod getrieben hatte. In einer Kleinstadt wie Cronen wäre der Selbstmord 28
Giselas für mich genauso verhängnisvoll wie eine Scheidung. Gisela ist hier aufgewachsen und überall bekannt. Sie hat es schon immer verstanden, sich beliebt zu machen. Alle Schuld an ihrem Tode fiele auf mich. Ich wäre in Cronen unmöglich. Deshalb hofft sie, mit ihrer Erpressung Erfolg zu haben. Genau das Gegenteil wird sie erreichen. Ich werde mich trennen. Aber nicht von Steffi, sondern von Gisela. Jetzt, wo es so ernst wird, muß ich äußerst vorsichtig zu Werke gehen. Denn ich habe Angst. Nicht die Angst, ich könnte einen Fehler machen und überführt werden. Mit dieser Angst werde ich schon irgendwie fertig, kraft meiner Intelligenz. Ich habe andere Angst. Die steckt viel tiefer in mir, so wie die faulende Wurzel eines Zahnes, die den ganzen Körper vergiftet. Es ist die Angst, Gisela könnte merken, daß ich sie töten will. Diese Angst hat mich wohl auch damals auf der Bastei zurückgehalten, Gisela hinunterzustoßen. Ich fürchtete, im gleichen Augenblick, da ich den Arm heben würde, könnte sie sich umwenden und süffisant fragen: „Du willst mich wohl hinabwerfen, Reg, mein Lieber, nicht wahr?“ Das ist immer Giselas größter Triumph gewesen: mir wieder mal hinter die Schliche gekommen zu sein. Nie hat sie anderes im Sinn gehabt. Eine ihrer Lieblingsredensarten lautet: „Du weißt schon, dich erwische ich immer.“ So hatte sie mich vor zwei Jahren natürlich auch dabei erwischt, als ich grade einen Brief von Steffi verbrennen wollte, einen der wenigen Briefe, die mir Steffi zu schicken gewagt hatte, postlagernd natürlich, denn ich bin ein 29
vorsichtiger Mensch. Ich hatte den Brief gerade ins leere Ofenloch gesteckt und angezündet, als Gisela ins Zimmer trat und sofort fragte: „Du verbrennst wohl Liebesbriefe, wie?“ Jeder andere hätte sich in einer so verfänglichen Situation mehr oder weniger elegant herausgeredet. Aber ich kann mich schlecht verstellen. Ich werde rot, und Gisela sieht sofort, da ist wieder mal was nicht in Ordnung. Also faßte sie ins Ofenloch, zog das glimmende Papier heraus und las mit zusammengekniffenen Augen: „Mein Herzallerliebster Reg, du mein Leb –“ Na, die letzten zwei verkohlten Buchstaben zu ergänzen fiel ihr nicht schwer. Das Schlimmste, sie sagte nichts. Sie lächelte nur. Und das sagte alles: Hab’ ich dich also wieder einmal erwischt, Freundchen! Und sie sah mich dabei mit einem Blick an, den ich nur zu gut kenne. Mit diesem Blick schaute mich meine Mutter immer an, wenn ich eine harmlose Dummheit begangen hatte. Zum Beispiel, als ich mir ein Fünfpfennigstück aus ihrer Geldtasche genommen hatte, um mir dafür Lakritze zu kaufen. Ausgerechnet, als ich aus dem Bäckerladen trat und mir ein Stück abbiß, mußte sie vorbeikommen! „Ich habe das Geld gefunden“, murmelte ich. Sie betrachtete mich mit demselben höhnisch-skeptischen Blick, den ich später zu meinem Entsetzen auch an meiner Frau entdeckte. Diese Angst, erwischt zu werden, bin ich nie losgeworden. Sie verfolgt mich bis in die Träume. Immer wieder träume ich dasselbe: Ich habe einen Menschen umgebracht und tief vergraben – im Keller, unter der Erde oder unter einer Betondecke. Und dann kommen Leute und fangen aus einem rätselhaften Grun30
de zu graben an. Und ich stehe dabei und weiß, sie werden das finden, was ich versteckt habe. Diese Angst muß ich bezwingen. Kann man Angst überwinden, die so tief steckt? Ich muß mir bewußt machen, wie sehr ich Gisela überlegen bin. Daß ich ihrer intuitiven Schläue schöpferische Intelligenz entgegenzustellen habe, die mich vor jedem Fehler schützt. Natürlich muß ich nun einiges tun, um Giselas chronisches Mißtrauen zu beschwichtigen. Vielleicht sollte ich ihr einreden, ich hätte mich von Steffi getrennt? Und sollte ihr Zeichen meiner wiedererwachten Zuneigung geben? Das wäre ein kluger Schachzug! Trotzdem, das wichtigste bleibt die Ausführung der Maßnahme selbst. Wie töte ich Gisela? Ich habe ja einen großen Vorteil, der meinem Plan zugute kommt: Nach außen ist meine Ehe intakt. Von Steffis Existenz weiß niemand außer Gisela, und die weiß, warum sie den Mund hält. Außerdem führe ich ein unauffälliges Leben. Wer käme schon auf den Gedanken, ich wolle mich meiner Frau entledigen. Die meisten Leute stellen sich einen Mörder als einen schlecht maskierten Gorilla vor. Ach, ihr Lieben, unter Kirschbäumen liegen die Toten! Es war im April 1945. Unser Kriegslazarett befand sich auf einem Gutshof bei Torgau. Die Amerikaner hatten das Dorf mit Granatwerfern beschossen. Es gab Verwundete. Ich operierte bei Kerzenschein. Zuletzt brachte man mir einen Jungen, dem der Oberarm zermalmt war. Ich mußte den Arm absetzen. Ich klemmte die Arterien ab, dann durchsägte ich den zersplitterten Oberarmknochen dicht unter dem Schultergelenk. Der Hilfssanitäter 31
nahm mit einer Schaufel den Arm vom Boden auf und brachte ihn hinaus. Ich folgte ihm, um eine Zigarette zu rauchen. Es war ein milder Frühlingsabend, die Kirschbäume blühten schon. Der Soldat begrub den Arm unter einem Kirschbaum. Vielleicht blüht der Baum heute noch. Niemand weiß, was darunter liegt. Wer sieht das Abgestorbene unter den Gesichtern. Wer ahnt, wie gründlich Gisela mein Leben zerstört hat. Wir hatten ein Jahr nach Ende des Krieges geheiratet. Kennengelernt hatte ich Gisela anderthalb Jahre früher, durch ihren ersten Mann. Im Oktober 1944 wurde ein Oberarzt Mayen an das Frontlazarett versetzt, das ich als Stabsarzt leitete. Das Lazarett befand sich in einer polnischen Schule. Mayen war fast zehn Jahre älter als ich, so an die Vierzig, ein Kleiderständer von einem Mann. Eines Tages, an einem Novemberabend, betrat ich das Lehrerzimmer. Es diente uns Ärzten als Aufenthaltsraum. Das Zimmer war eisig kalt. Unser Heizmaterial reichte nur für die Turnhalle, in der etwa siebzig Verwundete lagen. Mayen saß in einem Winkel des Zimmers vor dem Radio und lauschte irgendeiner Sinfonie. Er hatte die Uniformbluse abgelegt. Auf dem weißen Oberhemd trug er einen dunklen Schlips. Mayen zitterte vor Kälte. „Warum sitzen Sie denn ohne Uniformjacke da?“ fragte ich ihn. „Weil ich mir dann etwas menschlicher vorkomme.“ Ah, dachte ich. So einer ist das. Spielt sich zähneklappernd die Illusion eines friedlichen Lebens vor! Allmählich fanden wir Gefallen aneinander. Wir merk32
ten, vom andern ging keine Gefahr aus. Das bedeutete schon viel in jener Zeit. Inzwischen war es Dezember geworden. An unserm Abschnitt herrschte Ruhe, aber beim Versuch einer Frontbegradigung waren allerhand Leute verwundet worden. Wir hatten bis abends am Operationstisch gestanden. Mayen übernahm den Nachtdienst für die hier verbliebenen Schwerverletzten. Nachdem ich die Ergänzungen für die Krankenblätter diktiert hatte, ging ich in den Krankensaal. Ich mußte mich aufwärmen. Mayen saß bei verhängter Lampe am Tisch und las. Ich fragte: „Einen Grog?“ Mayen schloß das Buch und nickte. Ich goß heißes Wasser in die Gläser, schüttete Zucker nach und rührte um. Die Turnhalle in Mayens Rücken lag im Dunkel. Während ich Kognak einfüllte, hörten wir in der Finsternis die Laute, die wir sonst nicht mehr hörten: das Knarren der Stahlmatratzen, den hundertfachen Atem, die Geräusche des Schmerzes. „Warum sind Sie eigentlich Arzt geworden?“ fragte Mayen. Ich mag solche Fragen nicht. Sie zielen immer auf grundsätzliche Erklärungen. Unter Kollegen halte ich sie sogar für taktlos. Deshalb beschloß ich, Mayen eine Abfuhr zu erteilen. „Eine reine Prestigefrage“, sagte ich. Das saß! Er erstarrte richtig. Sicher hatte er humanitäres Gerede erwartet. „Mein Vater hatte ein Geschäft. Herrenkonfektion. Wir kamen ganz gut über die Runden. Bis zur Weltwirtschaftskrise. Wir wohnten in einer kleinen schlesischen 33
Industriestadt. Die Hälfte der Arbeiter lebte vom Stempeln. Wer braucht da Konfektion! Die Leute waren froh, wenn ihnen ein Flickschneider die Lumpen noch mal zusammenrichtete. Mein Vater machte Bankrott, ich hatte grade das Abitur hinter mir. Das war einunddreißig. Aus der Traum.“ Ich nahm einen großen Schluck. Die Wärme füllte mich von innen aus. Ich war zufrieden, so dazusitzen und an die Vergangenheit zu denken. „Irgendwo hätte ich sicher unterkommen können, als Sparkassenvolontär oder Bürolehrling. Aber ich mietete in Breslau ein Zimmer und schlug mich als Hilfsarbeiter durch. Haben Sie mal Möbel geschleppt?“ „Ich kann mir denken …“ „Ja, denken“, sagte ich nachsichtig. „Am schlimmsten spürte ich’s in den Schultern. Die Tragriemen! Wenn ich atmete, platzte mir fast die Lunge. Haben Sie mal im Sommer bei vierzig Grad Außentemperatur am Hochofen gestanden und Zuschläge gekippt?“ „Von der Hitze könnten wir jetzt etwas brauchen“, sagte Mayen philosophisch. Seine Antwort brachte mich richtig in Wut. Was wußte dieser Herr im weißen Hemd von der ausdörrenden Glut am Schmelzofen! „Aber ich habe mich mit meiner Arbeit nie abgefunden. Ich betrachtete mich als zeitweilig deklassiert. Meine Gelegenheit kam mit Hitler. Ich sagte mir, jetzt suchst du dir einen Beruf, der Zukunft hat.“ „Einen mit tausendjähriger Garantie“, bemerkte Mayen ironisch. Ich lächelte duldsam. „So bin ich Militärarzt geworden.“ Ich ging in die Küche, machte Wasser heiß und stöberte noch etwas Käse auf, den ich in Würfel schnitt. Oben bereitete ich den zweiten Grog. 34
„Ich habe alles mitgemacht. Polen, Frankreich, Norwegen. Nach Beginn des Rußlandfeldzuges wurde ich zum Oberarzt befördert. Vormarsch bis vor Moskau, Rückzug. Heute bin ich Stabsarzt, sitze in dieser polnischen Schule und hab’ das Gefühl, auch hier werde ich mit dem Hintern nicht warm. Prost, Kamerad Mayen!“ Mayen trank mit kleinen, lautlosen Schlucken und blickte mich trübsinnig an. „Ich hasse meine Arbeit.“ „Und die chirurgischen Kenntnisse, die wir hier sammeln können? Dafür reichen in normalen Zeiten drei Menschenalter nicht aus!“ „Allerdings“, sagte Mayen, „der Himmel bewahre uns Mediziner vor friedlichen Zeiten.“ „Fängt der Mediziner erst zu philosophieren an …“ „Wenn Sie wüßten, woran ich alles am Operationstisch denke.“ Er wies mit dem Daumen hinter sich. „Der Junge, der Achtzehnjährige, der jetzt im Dämmerschlaf liegt …“ „Nun ja, ein Schock. Erste Feindberührung. Als ich zum ersten Mal die Stalinorgeln hörte …“ „Scopolamin spritzen. Das ist unser einziger Ausweg. Ich stellte mir vor, wie er mit sechs Jahren die Schultüte erhielt.“ Ich lächelte höflich. „Der Exitus vorhin. Ein Mann von vierzig, mit drei Kindern!“ Ich lächelte gelangweilt. „Und der Obergefreite Nentwig, dieser Bauer mit der Granatsplitterverletzung. Beide Hoden exstirpiert. Ein Mann wie ein Baum und achtundzwanzig Jahre. Was für ein Leben hat er vor sich? Und wie wird er das seiner Frau beibringen?“ „Seien Sie doch nicht sentimental. Behinderte Liebe, 35
Ehekonflikte – na ja. Abstrahieren Sie davon! Gewebe ist zerstört. Wir müssen es lebensfähig erhalten.“ Ich holte Atem. Jetzt konnte ich ihm die richtige Antwort geben. „Mayen, was ist der Mensch? Ein vielschichtiges Wesen. In mehreren Bereichen zu Hause. Er arbeitet, denkt, fühlt, das ist sozusagen die Sphäre der …“ Ich suchte nach einem passenden Wort. „Die gesellschaftliche Sphäre“, half Mayen aus. Ich nickte zustimmend. „Der Mensch entsteht aus der Vereinigung zweier Zellen. Er nimmt Nahrung zu sich, scheidet Reste aus, wächst, vermehrt sich, schrumpft zusammen, stirbt. Biologische Vorgänge. Dieser Stoffwechselprozeß unterliegt chemischen Gesetzmäßigkeiten. Atmung, Glykolyse, Energie, Eiweißsynthese, Nukleinsäuren – der große Bereich der Biochemie. Und dann dringt ein Granatsplitter in den Kopf. Eine Explosion zerreißt die Lunge – physikalische Prozesse. Was ist die letzte unteilbare Einheit all dieser Vorgänge? Das Atom. Alles atomare Vorgänge: Großdeutsches Reich, eine Liebesnacht, diese Käsereste, die Scopolamininjektion, Nentwigs gurgelndes Stöhnen. Selbst unser Gespräch jetzt, ein Hauch bewegter Luft, Atome stoßen aneinander, alles ein Tanz der Atome. So muß man das sehen.“ Aber Mayen fertigte mich schroff, fast feindselig ab: „Lieber Ronn, das ist doch Nonsens!“ „Wie Sie wollen“, sagte ich steif, „dann entschuldigen Sie mich jetzt wohl, ich bin müde.“ Impulsiv legte er seine Hand auf meinen Arm. „Lieber Kamerad Ronn, ich wollte Sie nicht kränken. Sicher, der Mensch unterliegt zugleich biologischen und gesellschaftlichen Gesetzmäßigkeiten. Aber man kann doch nicht die 36
höheren Formen der Organisiertheit auf die niederen zurückführen. Die Liebe durch molekulare Prozesse erklären! Den Schmerz durch nervale Reaktionen! Den Krieg durch physikalische Wirkungen.“ „Lieber Mayen, habe ich diesen Krieg gemacht?“ „Aber Sie fühlen sich wohl darin.“ „Mein Gott, Mayen, wir tun, was wir können. Uns werden Verwundete auf den Operationstisch gelegt, die flicken wir nach besten Kräften zusammen.“ „Damit sie erneut verheizt werden können.“ „Und wie soll ich das verhindern?“ Sein Starrsinn brachte mich allmählich in Wut. „Wenn einem der Unterleib zerfetzt ist, schneide ich, was geschnitten werden muß. Und wenn einer die Nerven verliert, spritze ich Scopolamin. Worüber soll ich am Operationstisch nachgrübeln? Da wäre Grübeln lebensgefährlich.“ Er schwieg. „Ich bin Arzt“, sagte ich heftig, „kein Politiker! Kein General!“ „Auch als Arzt haben Sie Möglichkeiten …“ Das Schweigen wurde von jenen Lauten unterbrochen, die die Vorgänge unter Mull, Gips, Schienen und Leukoplast begleiteten: glucksende, pfeifende, keuchende, rasselnde, tropfende Geräusche. Dann sagte Mayen leise: „Wir könnten mancherlei tun, Ronn …“ Ich erhob mich. Ich hatte keine Lust, mich auf solche Dinge einzulassen. In den nächsten Wochen war es an unserem Frontabschnitt wieder sehr ruhig. Am zweiten Weihnachtsfeiertag erhielt Mayen Post von daheim. Im Brief befand sich ein Foto, er zeigte es beim Abendessen. „Meine Frau Gisela und unser Töchterchen.“ 37
Ich blickte höflich auf das Bild und sah eine Frau und ein etwa sechsjähriges Mädchen, beide auf einem mäßig hohen Felsen sitzend. Die Frau mochte an die Vierzig sein. Sie hatte ein alltägliches Gesicht mit hohen Backenknochen und einem kleinen, fülligen Mund. Das wird mal eine Dickmadam werden, dachte ich flüchtig. Ich stelle mir gern vor, wie Leute in zehn, zwanzig Jahren aussehen werden. Es ist alles vorgeprägt, schon im Kindergesicht, die Stirnfalten, die Furchen zwischen Nase und Mund, das Doppelkinn oder die Verknöcherung. So war mir klar, wie diese Frau zwanzig Jahre später aussehen würde. Und ich habe recht behalten! Sie ist zu diesem schwerfälligen Koloß geworden, den ich damals in ihrer vollschlanken Figur bereits vorgezeichnet fand. Am dritten Weihnachtsfeiertag unternahm Leutnant Kaiser, Zugführer unseres Bataillons, mit einem Feldwebel und zwei Mann einen Aufklärungsvorstoß. Es kam zu einem Feuergefecht. Der Feldwebel blieb mit einem Brustdurchschuß im Wäldchen zurück. Kaiser holte zwei Krankenträger, um den Schwerverletzten zu bergen. Mayen schloß sich den dreien an. Drei viertel Stunden später kehrten nur Kaiser und einer der beiden Krankenträger zurück. Auf meine Frage nach Mayen antwortete Kaiser: „Beide tot. Granatsplitter. Tragische Sache.“ Da Anfang Januar 1945 die Ostfront noch immer ruhig war, erhielt ich fünf Tage Heimaturlaub. Länger stand mir als Unverheiratetem nicht zu. Als ich mich abmeldete, sagte der Regimentskom38
mandeur: „Ich gebe Ihnen sieben Tage. Fahren Sie in Cronen vorbei, und überbringen Sie Frau Mayen Grüße und Beileid des Regiments!“ Um den 10. Januar traf ich in Cronen ein. Seit langer Zeit trug ich wieder einmal Zivil. Heute will es mir scheinen: aus unbewußter Erinnerung an Mayens Uniformhaß. Cronen, an das ich nun seit zwei Jahrzehnten gekettet bin, ist ein kleiner Ort zwischen dem Oberlauf der Spree und der polnischen Grenze. Ich hatte den Namen dieser Stadt noch nie gehört, und ich betrachte das auch heute durchaus nicht als Bildungslücke. In meinem Leben habe ich eine ganze Reihe von Kleinstädten kennengelernt, bei deren Anblick sich einem der Magen umdreht. Trotzdem fand ich mich mit diesen Städtchen immer ab. Irgend etwas Liebenswertes entdeckte ich an ihnen, sei es ein schöner Hintergrund, ein Wald zum Beispiel oder ein Fluß. Aber Cronen kann nichts dergleichen zu seiner Entschuldigung anführen. Es macht sich in der Gegend breit, ohne Gesicht und ohne Geschichte. Vor der Stadt Sand und hinter der Stadt Sand. Rechts und links plattes Land. Ab und zu eine Ansammlung von Kiefern. Mir ist diese Kleinstadt niemals Heimat geworden. Kleinstädter kann ich nicht ausstehen. Ihnen fehlt das ruhige Selbstbewußtsein, das mir an den Menschen auf dem Lande so gefällt. Ihnen fehlt auch die Nachsicht des Großstädters, der seine Nase nicht in die Angelegenheiten seiner Nachbarn stecken kann, weil er genaugenommen gar keinen Nachbarn hat. Der Kleinstädter ist ein ewig verdrießliches Wesen. Er ärgert sich über sich selbst, weil er nicht wie die andern 39
ist. Und er erbost sich über die andern, weil sie nicht so sind wie er. Aber als ich Cronen das erste Mal sah, wußte ich dies alles noch nicht. Im Januar 1945 herrschte ein kalter Winter. Vielleicht war es die dicke Schneedecke, die Cronens Schäbigkeit romantisch verhüllte. Hier hat also Mayen gelebt, dachte ich, als ich den Bahnhof verließ. Immerhin brauchte ich zwanzig Minuten, um von einem Ende der Stadt zum anderen zu kommen. Mayens Villa wurde von seinem Großvater erbaut. Ein kleiner Park mit Taxussträuchern und Blautannen umgibt sie. Vom Eingangstor bis zur Haustür ist der Weg mit Rhododendronbüschen bewachsen. Ich hatte plötzlich den Eindruck, daß Mayen ein ziemlich wohlhabender Mann gewesen sein mußte. So eine Art Landlord, der vielleicht nur zum Spaß Arzt spielte und sonst ausritt, altertümliche Gedichte las, Mozart hörte und den Apotheker, den Rechtsanwalt, den Pfarrer und den Schuldirektor zur Teegesellschaft einlud. Dann stand ich auch schon vor der Haustür. Ein ältliches Dienstmädchen öffnete. „Sprechstunden finden nicht mehr statt“, sagte sie, es klang wie ein eingelernter Text. „Ich möchte einige persönliche Gegenstände von Doktor Mayen überbringen.“ Sie starrte mich an, als käme ich von sonstwo, öffnete weit die Tür, überholte mich im Flur und lief wortlos davon, eine Treppe hinauf. Kurz darauf kam Gisela Mayen herunter. Sie trug einen weiten, selbstgestrickten Pullover. Er milderte die Fülle des Körpers etwas. Ich verbeugte mich flüchtig. „Doktor Ronn. Ich war mit Ihrem Gatten befreundet. 40
Sein Tod hat mich schmerzlich betroffen. Mein tiefgefühltes Beileid, auch im Namen des Regimentskommandeurs.“ Ihre Hand lag warm, weich und leicht verschwitzt in meiner. Ich hatte das Gefühl, daß sie mich trotz ihrer Trauer mit ihren graublauen Augen ziemlich genau betrachtete. Ernst erwiderte ich ihren Blick. Sie nickte und sagte: „Ich danke Ihnen, Herr Ronn. Mein Mann hat immer so nett über Sie geschrieben. Wollen Sie nicht ablegen?“ Das Dienstmädchen nahm mir Hut und Mantel ab. Frau Mayen begleitete mich ins Wohnzimmer und ließ eine Flasche Wein bringen. Während uns eingeschenkt wurde, saßen wir uns stumm und förmlich gegenüber. Erst als die Hausangestellte verschwunden war, hob Frau Mayen ihr Glas und sagte leise: „Auf meinen Mann.“ Wir tranken schweigend einen Schluck. Dann schien Frau Mayen das Zeremonielle für beendet anzusehen. Sie forderte mich mit geradezu forscher Stimme auf: „Und nun erzählen Sie mal!“ Ich erzählte von der gemeinsamen Arbeit mit ihrem Mann, den seltenen ruhigen Abenden mit Musik, Grog und Gespräch. Vom mißglückten Stoßtruppunternehmen am dritten Weihnachtsfeiertag und dem tragischen Ereignis im Wäldchen. Als ich mit dem Bericht fertig war, sagte Frau Mayen: „So kurz vor dem Ende. Glauben Sie mir, das ist besonders bitter!“ „Denken Sie immer daran, Frau Mayen, Ihr Mann hat vielen Menschen geholfen!“ Sie wollte wissen, ob ich im Sinne ihres Mannes weiterarbeiten würde. Wie ich solche Phrasen liebe! „In seinem Sinne!“ erwiderte ich höflich. 41
„Dann haben Sie also darüber gesprochen?“ „Worüber?“ Aber dieser konkreten Frage wich sie plötzlich aus. Weiß der Himmel, was ihr Mayen alles über mich geschrieben hatte! Plötzlich fragte sie, ob sie mir die Praxisräume zeigen dürfte. Dieses Wühlen in Erinnerungen! Aber ich konnte ihr den Wunsch schlecht abschlagen. Ich sah das Wartezimmer für die Kassenpatienten und das Wartezimmer für die Privatkundschaft. Das Arbeitszimmer mit dem Schreibtisch, den Karteikästen, dem Rauchtischchen und den zwei Ledersesseln. Schließlich das Sprechzimmer, das einer Klinik alle Ehre gemacht hätte. Die Chrombehälter für die Spritzen glänzten. Auf den Instrumentenschränken kein Staubkörnchen. Wahrscheinlich machte das ältere Fräulein immer noch jeden Tag sauber. Ich zeigte Verständnis. „Eine fabelhafte Praxis. Wirklich tragisch.“ Ich gab mir einen Ruck. „Leider, mein Zug. Es ist nur ein kurzer Urlaub, wissen Sie.“ Das Dienstmädchen half mir in den Mantel, Frau Mayen begleitete mich bis zur Haustür. Am gleichen Tag, als ich Gisela Mayen besuchte, war die Rote Armee zum Generalangriff an der Ostfront angetreten. Ich mußte meinen Urlaub abbrechen, stieß ostwärts der Oder zu meinem Regiment, das sich mit dem ganzen Armeekorps in heilloser Flucht nach rückwärts befand. Wir marschierten zu Fuß über Breslau, Zittau und Gablonz bis nach Prag. Dort erhielten wir Marschbefehl nach Sachsen. In sinnlosen Gewaltmärschen gelangten wir in die Gegend von Torgau. In einem Gutshof richtete ich für ein Panzergrenadierbataillon ein provisorisches Lazarett ein. Mitte April geriet ich in amerikanische Gefangenschaft. Ich arbeitete einige Wo42
chen im Kriegsgefangenenlazarett in Weißenfels. Ende Juni, als die Amerikaner Sachsen verließen, wurde ich aus der Gefangenschaft entlassen. Ich war frei! Aber wie sah meine Freiheit aus! Dr. Reginald Ronn, Stabsarzt der Wehrmacht, hatte sein Leben auf die sichere Chance eines Berufsoffiziers im Sanitätsdienst aufgebaut. Und nun stand er da! In meine schlesische Heimatstadt konnte und wollte ich nicht zurückgehen. Zuerst fand ich bei Bekannten in Leipzig Quartier, gerade an dem Tag, als die Rote Armee einmarschierte. Ich ließ mich registrieren, bekam Arbeit in einem Krankenhaus zugewiesen und hätte mich vielleicht eingelebt, irgendwie, wenn meine Gedanken nicht immer öfter in eine kleine Stadt namens Cronen gewandert wären. So benutzte ich ein verlängertes Wochenende, um Frau Mayen zu besuchen. Eine solche Reise war im Juli 1945 ein regelrechtes Abenteuer. Heute fährt man, bei gutem Anschluß in Dresden, nicht einmal drei Stunden. Damals brauchte ich drei Tage. Ich hatte mir auf dem Leipziger Hauptbahnhof einen Platz auf dem Dach des Zuges erkämpft. Nach einer Stunde Fahrt ging es nicht mehr weiter. Die Muldenbrücke in Wurzen war von den Militärposten der Roten Armee besetzt. Eine Krankenschwester behauptete, in Eilenburg käme man sofort über die Brücke. Also Fußmarsch nach Eilenburg, zwanzig Kilometer. In Eilenburg warteten an die zweitausend Menschen darauf, die Brücke passieren zu dürfen. Bereits in diesem Augenblick war mir klar, daß mein dienstfreies Wochenende nicht ausreichen würde, um rechtzeitig wieder zurück zu sein. 43
Trotzdem blieb ich und verbrachte die Nacht im Menschengewimmel auf der Muldenwiese. Am nächsten Morgen durften wir über die Brücke. Stunden später fuhr sogar ein Zug nach Dresden. Ich schlief in den Ruinen am Bahnhof. Der Zug nach Cronen, der am folgenden Vormittag fahren sollte, fiel aus. Wieder Fußmarsch, Übernachtung bei einem Bauern, endlich kam die gedrungene Silhouette der Kirche Cronens in Sicht. Es war bereits Mittag, als ich an Mayens Villa läutete. Was mir zuerst auffiel – das Praxisschild hing noch immer am Zaun: „Dr. med. David Mayen, praktischer Arzt und Geburtshelfer“. Diesmal öffnete die Tochter. Friederike war damals sieben Jahre und wild wie ein Junge. In dem mageren Körper steckte allerhand Zähigkeit. Auch heute noch fällt mir Frau Friederike Stephan mit ihrem quirligen Wesen auf die Nerven. Die Kleine hüpfte auf dem Rhododendronweg vor mir her. Frau Mayen erschien an der Haustür und erkannte mich sofort wieder. „Herr Ronn“, sagte sie erfreut. Sie wollte meine Hand gar nicht wieder loslassen. „Sie haben doch hoffentlich etwas Zeit mitgebracht?“ Ich sagte ihr nicht, daß ich eigentlich keine Zeit mehr hatte. Gegen Abend schlug mir Frau Mayen vor, in der Villa zu übernachten. Mir war es ganz angenehm, nach den Strapazen der Reise endlich wieder einmal in einem Bett schlafen zu können. Als sich Frau Mayen ums Essen kümmern mußte, blieb ich mit Friederike allein. Ich sollte ihr aus Plastilina ein Schaf und einen Schäferhund formen. Das Schaf ähnelte einem Nilpferd und der Hund einem Elefanten. Friederike gefielen die Kreaturen. Sie quengelte so lan44
ge, bis ich nach und nach eine Kuh, ein Pferd und einen Schäfer formte. Mich stieß diese alberne Tätigkeit ab, aber für Frau Mayen war es selbstverständlich, daß ich den gleichen Spaß an der Sache hatte wie ihre Tochter. Als sie hereinkam, sagte sie: „Na, ihr zwei, ihr habt euch wohl gut unterhalten?“ Sie nickte zufrieden, als Friederike begeistert rief: „O ja, guck mal, die schönen Tiere!“ Ich wurde erst erlöst, als Frau Mayen einen Teewagen hereinschob und munter rief: „Nun wollen wir mal sehen, was Küche und Keller bieten!“ Der Keller bot einiges, nämlich einen fast achtjährigen Hagebuttenwein, süß und schwer wie Lacrimae Christi. Die Küche bot Wellfleisch, Brot, Butter und Gewürzgurken. Das war damals ein Festessen. „Mein Mann besaß eine ausgedehnte Landpraxis“, erklärte Frau Mayen, „und manche Patienten haben mich auch heute noch nicht vergessen.“ Nach dem Abendessen wurde Friederike ins Bett gebracht. So brauchte ich den angefangenen Schäfer nicht fertigzustellen. Ich atmete auf, rauchte Sorte II, goß mir Wein nach und fühlte mich wohl. Als sich Frau Mayen wieder zu mir setzte, fragte sie: „Wie gefällt Ihnen eigentlich Ihre Arbeit in Leipzig?“ „Seit zwei Wochen gebe ich T.A.B.-Cholera-Schutzimpfungen. Täglich fünfhundert. Nicht sehr erhebend. Eine Maschine könnte das auch.“ „Ja, der Dienst in einer Klinik ist wenig verlockend.“ „Es gibt feste Dienststunden und geregelten Bereitschaftsdienst. David hatte bestimmt Tag und Nacht keine Ruhe. Noch dazu, wenn er auch die Landbevölkerung zu betreuen hatte. Die kann sich erst nachts leisten, krank zu sein.“ 45
Sie lächelte, trank einen Schluck und fragte: „Hatten Sie vor dem Krieg keine Praxis?“ Ich wurde hellhörig. „Nein“, erwiderte ich, „ich war Berufsoffizier.“ „Ah so.“ Sie stand auf und öffnete das Fenster. Draußen wurde es dunkel. Sie blieb vor dem Fenster stehen. Ich konnte ihr Gesicht nicht mehr deutlich erkennen, als sie fragte: „Sind Sie sehr ehrgeizig, Herr Ronn?“ „Ehrgeizig? Wieso?“ „Weil ich Sie sonst fragen möchte, ob Sie die verwaiste Praxis übernehmen würden?“ Das also war es! Sie fürchtete um die Praxis. Sie hatte Angst vor gesellschaftlicher Entwurzelung. Denn selbst wenn sie etwas Vermögen besaß – wie lange würde sie damit im gewohnten Stil leben können? Vielleicht müßte sie das Praxisinventar verschleudern, sogar die Villa verkaufen. Sie erwartete Hilfe von mir. Sie suchte die starke Hand eines Mannes, die alles wieder ins rechte Gleis führte. Was soll ich nur tun? dachte ich fieberhaft. Mein Leben völlig umstellen? In die Kleinstadt ziehen, in die Einöde? Privatpraxis, Arbeit ohne Ende, völliger Verzicht auf eine wissenschaftliche Laufbahn? „Wollen wir nicht lieber morgen darüber sprechen?“ fragte ich zögernd. „Aber Sie müssen doch morgen zurück …“ Vor dem Einschlafen durchdachte ich alles noch einmal. Ging es ihr nur um die Praxis? Es ging ihr um mehr. Wer gleich am ersten Tag ein solches Angebot macht, hat mehr im Sinn. Weibliche Aktivität schockiert mich, aber sie rührt mich zugleich auch. Wem schmeichelt es nicht, als Not46
helfer angerufen zu werden! Welcher Mann weigert sich, in einer solchen Situation ja zu sagen! Unüberwindliche physische Abneigung war nicht im Spiel. Sollte ich da noch zögern? Ich entschloß mich, ihr Angebot anzunehmen. Mit dem Bewußtsein, das Richtige zu tun, schlief ich endlich ein. Gisela würde wieder einen Mann, Friederike einen Vater und Cronen einen neuen Arzt bekommen. Wie konnte ich damals ahnen, daß ich mich durch meine Gutmütigkeit selber in das schlimmste physische und psychische Gefängnis bringen sollte! Und nun liegt eine Herkulesarbeit vor mir: die Befreiung aus diesem Gefängnis. Das Gewitter ist vorüber. Nur in der Ferne blitzt es noch. Hoffentlich ist Steffi vorhin trocken nach Hause gekommen!
STEFFI KUNTZE Sonntag, 28. August, abends Als ich vorhin Regs Haus verließ, sahen wir schon die ersten Blitze am Nachthimmel. Reg wollte mich nicht heimgehen lassen. Aber ich muß damit rechnen, daß Gisela zurückkommt. Kaum war ich zu Hause, als auch schon ein wahrer Platzregen herunterbrach. Jetzt steht das Gewitter direkt über der Stadt. Unaufhörlich blitzt und donnert es. Ich dürfte nicht zum Fenster hinaussehen und tue es doch. Ich zittere am ganzen Körper. Mit fünfundzwanzig noch solche Angst! Aber dagegen hilft auch kein vernünftiges 47
Zureden. Die Erinnerung sitzt tief, hält Blitze und Krachen ganz anderen Kalibers bereit: das Dresdener Feuermeer, durch das wir liefen, im Februar fünfundvierzig. Ich, die Vierjährige, die Mutter und meine beiden Geschwister. Gisela ist also gestern wieder einmal ausgerissen. Verstehen kann ich es schon. Daß sie durch diesen dummen Brief des Reisebüros von unsern Urlaubsplänen erfahren hat, war sicher ein Schock für sie. Das hat bestimmt auch den Herzanfall ausgelöst. Reg war gerade unterwegs. Deshalb hatte sie Dr. Winter kommen lassen, der nebenan wohnt. Giselas Kreislauf ist wirklich sehr schlecht. Reg gibt ihr höchstens noch ein Jahr. Aber sie hat wenigstens keine Ahnung, wie es um sie steht. Es muß schrecklich sein zu wissen, bald ist alles zu Ende. Arme Gisela. Wenn sie einmal nicht mehr ist, fängt mein Leben erst richtig an. Das Leben mit Reg, unser gemeinsames Leben. Wie das klingt: dann fängt mein Leben erst richtig an! Als hätte ich bisher gar nicht richtig gelebt. Die zwei Jahre mit Reginald Ronn sind ja schon viel mehr, als ich vom Leben zu erhoffen gewagt hatte. Bis dahin war wirklich viel schiefgegangen, war alles schiefgegangen. Und geht eigentlich heute noch schief. Einen Mann lieben, der verheiratet ist – das gehört nicht gerade zu den erfreulichsten Arten der Liebe. Manchmal denke ich, ich bin dazu verurteilt, von einer ausweglosen Situation in die andere zu geraten. Es gibt ja solche Menschen. Ihr Leben verläuft ausgesprochen tragisch. Immer wieder finden sie sich in einer Sackgasse. Vielleicht habe ich mich deshalb so in die Liebe zu 48
Reg verrannt, weil ich schon zwei Enttäuschungen hinter mir habe. Bereits im ersten Ausbildungsjahr als medizinischtechnische Assistentin ereilte mich mein Schicksal. Und zwar in Gestalt des phantastischsten Chemiedozenten, den diese nüchterne Wissenschaft jemals hervorgebracht hat. Es war, als hätte Dr. Pätzold die Chemie persönlich erfunden. Er handhabte sie wie ein Waschmittel, das alle Unklarheiten und Trübungen beseitigte. Die Dinge waren auf einmal durchschaubar und erhielten einen eigenen Glanz. „Chemie ist die Ordnung der Welt, die alles miteinander verbindet, das Große und das Kleinste!“ Dr. Pätzold sah toll aus. Groß, schlank, mit eisblauen Augen, wie ich sie sonst nur bei Siamkatzen gesehen habe. Er ging immer leicht vornübergeneigt, als suche er etwas. Für seine fünfzig Jahre war er erstaunlich vital und lustig. Eines Tages fragte er mich, warum ich im Unterricht so schweigsam sei. War der Mann verrückt, mich das zu fragen? Merkte er nicht, wie sehr ich ihn liebte? Oder war er so raffiniert, daß er den Naiven spielte? In meiner Verzweiflung schrieb ich ihm einen Brief, den ich nach der Lektion geschickt zwischen zwei seiner Bücher schob. Ich warf ihm vor, daß er mich zwinge, dauernd an ihn zu denken statt an das Periodensystem, und er müsse mir deshalb einige Privatstunden geben, sonst würde es mit einer Vier enden. In der nächsten Lektion vermied es Pätzold, mich anzusehen, und da war mir klar, er hatte nur sein Spiel mit mir getrieben. Nach dem Unterricht suchte ich ihn auf und bat um ei49
ne Aussprache. Er fertigte mich mit der unverschämten Bemerkung ab, er hätte mich für vernünftiger und reifer gehalten. Ich ging heim, schloß mich für zwei Tage in meiner Bude ein, bekam am nächsten Tag Fieber, zwei Tage später einen Ausschlag, der sich als Masern herausstellte. „In Ihrem Alter ungewöhnlich“, sagte der Arzt; er ahnte ja nicht, daß ich ständig von ungewöhnlichem Pech verfolgt werde. Als ich wieder aufstehen durfte, war das erste Ausbildungsjahr zu Ende. Beim Gedanken, daß nach einigen Wochen alles weitergehen würde, wurde mir übel. Das Wort Chemie konnte ich nicht mehr hören, ich hatte einfach eine seelische Sperre gegen das Fach. Kurzerhand beschloß ich, mir etwas anderes zu suchen. Am Zaun des Pathologischen Instituts hing ein Schild: „Hilfskräfte gesucht“. Gemeint waren Leute, die die Versuchstiere versorgten, Mäuse, Ratten, Meerschweinchen. Ich nahm die Stelle an, bekam aber Schwierigkeiten, als die feste Anstellung erfolgen sollte, weil ich meine Ausbildung als MTA unterbrochen hatte. Irgendwie muß sich das doch regeln lassen, dachte ich und ging zu meinem Chef. Dr. Karl Gilbricht war ein mächtiger, massiger Mann, dabei behende, elastisch. Ehrfurchtgebietend und charmant zugleich. Es gibt Leute, die brauchen von sich aus gar nichts zu tun, und doch schüttet ihnen jeder sein Herz aus. Gilbricht war so etwas wie ein geborener Beichtvater. Ich erzählte ihm alles. Auch die Sache mit Dr. Pätzold. Schließlich sagte er: „Also, kleines Fräulein, Sie gehen hübsch zurück und beenden erst mal Ihre Ausbildung. Rattenscheiße zusammenkratzen, wie? Wäre doch jam50
merschade um Sie! Aber wenn es Ihnen Spaß macht, in Ihren Ferien hier zu arbeiten, bei mir sind Sie immer gern gesehen.“ So arbeitete ich in jenem und auch im nächsten Sommer einige Wochen bei Gilbricht. Bald zeigte es sich, daß der Herr der Ratten und Mäuse seinerseits einen Beichtvater brauchte. Ich fühlte mich von so viel Vertrauen geehrt. Gilbricht war mit einer attraktiven Frau verheiratet, die irgendeine Position in der Konzert- und Gastspieldirektion hatte und dauernd auf Reisen war. „Was fange ich verrückter Kerl mit der charmantesten Frau an, die nicht in meinem, sondern in irgendeinem Hotelbett liegt!“ fragte er und lachte dröhnend. „Das meinen Sie doch nicht im Ernst“, sagte ich. „In tiefstem Ernst. Ich kann nicht allein sein, Steffi. Ich habe Angst vor diesen Abenden daheim, allein. Verstehen Sie das?“ Ich versuchte es zu verstehen. So erlebte ich drei abwechslungsreiche Jahre mit Charles. Dann wurde mir endgültig klar, daß seine Frau tatsächlich so attraktiv und charmant sein mußte, wie er immer behauptete. Denn von einer Trennung oder Scheidung war nie die Rede. Ich sagte ihm, daß ich mich nicht länger zum Narren machen ließe. „Steffilein“, erwiderte er und schlug sich an den Brustkasten, „der einzige Narr in dieser vertrackten Situation bin ich.“ Aber das half mir auch nicht weiter. Es ist eben mein Schicksal, daß alles so endet. Jedenfalls gab ich meine Stellung auf, zog um und bin dann hier am Kreiskrankenhaus gelandet, als medizinischtechnische Assistentin. 51
Ein halbes Jahr später lernte ich Dr. Ronn kennen. Es gehört wohl auch zu meinem Schicksal, daß ich mich immer in ältere Männer verliebe. Wenn ich genau sein will: in viel ältere. In ausgesprochen fürsorgliche Männer, die mich verwöhnen und mir ein Gefühl der Geborgenheit geben. Ganz im Gegensatz zum ersten Mann, den ich in meinem Leben kennenlernte: meinem Vater. Der war bissig, heftig, ewig verdrießlich. Zwei Jahre nach dem Krieg kam er aus der Gefangenschaft. Ich habe nie den richtigen Kontakt zu ihm gehabt. Mein Vater war Straßenbahnfahrer. Das Schichtsystem brachte ein unregelmäßiges Leben mit sich. Er war magenkrank, oft mußte er wochenlang Diät halten. Seine Arbeit, das lange Stehen bei Wind und Wetter, strengte ihn sehr an. Ich kenne ihn nur hart, mißgelaunt, jähzornig. Mit dreizehn sagte ich zu meiner Mutter: „Heiraten? Nie! Ich mag einfach die Männer nicht. Die regen sich über jede Kleinigkeit auf. Dauernd brüllen oder jammern sie.“ Heute tut mir mein Vater leid. Ich war sicher damals sehr ungerecht zu ihm, aber er war es auch zu mir, und solche doppelte Entfremdung läßt sich später kaum noch beheben. Selbst wenn es beide wollen. Als ich Reg kennenlernte, war er gerade fünfzig geworden. Aber er sieht viel jünger aus, höchstens wie achtunddreißig. Er ist kräftig, muskulös, mit einem breiten, ausdrucksvollen Gesicht. Das Kinn hebt sich mit seinem blauschwarzen Schimmer von der sonstigen Blässe des Gesichts ab. Das kommt von seinem starken Bartwuchs. Auf jeden Fall sieht er bedeutend aus. Die dunkle Brille verdeckt die Fältchen unter seinen Augen. Ich bin richtig stolz auf ihn, der lebenserfahren, hochgebildet und zärtlich ist. 52
Reg ist praktischer Arzt in Cronen, einer kleinen Kreisstadt in der Lausitz. Er wohnt am Rand der Stadt, in einer würdigen, altertümlichen Villa. Ich habe ein möbliertes Zimmer bei einer fast achtzigjährigen Lehrerwitwe gemietet. Das Einfamilienhaus steht am andern Ende der Stadt. Der Ort liegt im Tal, und von meinem Fenster aus kann ich Regs Villa sehen. Es ist schlimm, wenn man verliebt ist und in einem so kleinen Nest wohnt. Wir können uns hier nirgends zusammen zeigen. Gleich gäbe es den schönsten Klatsch. Für einen Arzt wäre das nicht gut. Das untergräbt die Autorität, sagt Reg. Er hat eine hohe Meinung von seinem Beruf und verlangt, daß der Arzt stets Vorbild sein soll. Natürlich kann ich Reg nicht besuchen. Ich wollte ihm aber gar zu gern einmal mein Zimmer zeigen. Da sagte ich zu meiner Wirtin: „Ich glaube, ich habe die Grippe. Würden Sie so lieb sein und mal bei einem Arzt anrufen? Vielleicht bei Doktor Ronn?“ So konnte mich Reg sozusagen offiziell besuchen. Das war vielleicht ein Spaß! Aber sonst müssen wir vorsichtig sein, auch in Dingen, an die man gar nicht denkt. Wenn man jung ist, einigermaßen gut aussieht und nicht verheiratet ist oder wenigstens einen festen Freund aufzuweisen hat, macht man sich immer gleich verdächtig. Irgendwas stimmt da nicht, denken die andern, und sie denken es nicht nur, sie machen auch ziemlich deutliche Anspielungen. Also habe ich mir einen Freund erfunden, der lebt in Dresden und studiert an der TU; die Kolleginnen haben es akzeptiert und lassen mich mit dummen Fragen in Ruhe. So schön es ist, von meinem Fenster aus Regs Haus zu 53
sehen und ihn immer nahe zu wissen, so nervenaufreibend ist auch die Nähe. Wollen wir uns mal für eine Stunde allein haben, müssen wir uns wer weiß was für Schliche ausdenken. Anfangs fuhr ich mit der Bahn bis ins nächste oder übernächste Dorf. Dort holte mich Reg dann mit dem Wagen ab. Aber das unterließ er bald, als uns eine von seinen Patientinnen vor dem Bahnhof traf und sagte: „Mal eine Spazierfahrt mit der Gattin, Herr Doktor?“ Er ist eben im ganzen Umkreis bekannt. Manchmal fahren wir nur so ins Grüne. Aber die wenigen Sommermonate gehen schnell vorbei. Wir sind auch schon abends, wenn es zeitig dunkel wird, an abgelegene Stellen des Elbufers gefahren. Dann sitzen wir im Wagen nebeneinander, rauchen eine Zigarette, und wenn Reg dann seinen Arm um mich legt und mich küßt, möchte ich für alle Ewigkeit so sitzen bleiben. Wie im Traum höre ich mir seine Worte an, spüre seine Hände auf meinem Körper und fühle mich wunderbar geborgen. Einmal, als wir wieder so dasaßen, rissen zwei junge Burschen die Tür auf. Ich war so erschrocken, daß ich dann gar keine Lust mehr hatte, wieder auf einen einsamen Platz zu fahren. So verfiel ich auf den Ausweg, Hotelzimmer zu mieten. Aber so gern Reg dann für einige Stunden aus Cronen zu mir kam, merkte ich doch, daß er von dieser Art Heimlichkeit nicht sehr begeistert war. Einige Male, wenn Gisela zu ihrer Tochter verreist war, habe ich es gewagt, abends im Dunkeln Reg zu Hause zu besuchen. Aber der Gedanke, Gisela könnte vorzeitig zurückkommen, beunruhigte mich derart, daß ich sehr unaufmerksam war. Manchmal hätte ich heulen können. 54
Um so glücklicher bin ich, daß wir jetzt unsern Urlaub gemeinsam am Schwarzen Meer verbringen können. Zum ersten Mal für drei Wochen zusammen! Wenn ich unsere erste Begegnung in einem Roman geschildert fände, bestimmt würde ich dann sagen: wie phantasielos. Aber eigentlich wäre das ungerecht. Ich glaube, sehr viele Möglichkeiten, wie sich zwei Menschen begegnen können, gibt es gar nicht. Fünfzehn, zwanzig? Und das ist nun an dieser alltäglichen Variante wieder das Eigenartige: Obwohl Reg gar nicht tanzt, lernte ich ihn in einer Tanzpause kennen. Macht das unsere Begegnung nicht schicksalhaft? Es war am Abend des 1. Mai vor zwei Jahren. An diesem Abend veranstaltet der Kreisvorstand der Gewerkschaft Gesundheitswesen jedes Jahr im Kulturhaus ein geselliges Beisammensein für alle Mitglieder. Ehepartner wie üblich herzlich eingeladen. Einige Monate vorher war ich als medizinisch-technische Assistentin ans Kreiskrankenhaus Cronen gekommen. Obwohl ich auf Tanzvergnügen nicht sonderlich versessen bin, ging ich natürlich hin, um neue Gesichter und Menschen kennenzulernen. Ich war ohne große Erwartungen gekommen und wurde deshalb auch nicht enttäuscht. Diese Veranstaltung war wie viele andere vorher auch. An den Tischen hockten Gruppen und Grüppchen beisammen, die ihr eigenes Leben führten, miteinander tranken, tanzten und über Witze lachten. Man unterschied die Individuen als Nichtraucher, Zigarettenraucher, Pfeifenraucher und Zigarrenraucher. Daneben saßen die Ehefrauen und plauderten nicht weniger intensiv. Man hatte auch bald die tanzwütigen Kollegen heraus 55
und die Mauerblümchen. Obwohl bei unsern Veranstaltungen stets das weibliche Element überwiegt. Ich wurde ziemlich oft geholt, und zwar meist von einem jungen Assistenzarzt namens Eberlein. Nach ungefähr zwei Stunden fühlte ich mich aber derartig gelangweilt, daß ich beschloß, mich für eine Weile dem ganzen Treiben zu entziehen. Ich verließ den Saal und ging durch den rückwärtigen Ausgang ins Freie. Hinter dem Kulturhaus befindet sich der Parkplatz. Er ist von Bäumen und Büschen umstanden. Ich hatte vier oder fünf Gläser Wein getrunken und fühlte mich sehr wohl. Ich lehnte mich an einen Baum und steckte mir eine Zigarette an. Dann hörte ich Schritte. Ein Mann kam auf mich zu. Das heißt, er näherte sich dem Wagen, der einige Meter von mir entfernt stand. Mich sah er gar nicht, weil ich mich im Schatten des Baumes befand. Als er den Wagen aufschloß, erkannte ich den Mann wieder. Er hatte mit einer Dame im lila Kostüm nicht weit von mir im Saal gesessen. Er war mir wohl deshalb aufgefallen, weil er weder tanzte noch zu irgendeiner Gruppe zu gehören schien. Einmal hatte ich Kreisarzt Dr. Winter bei den beiden gesehen. Später sah ich die Dame noch einmal zusammen mit anderen fröhlichen Damen. Aber der Mann saß da und verbreitete Einsamkeit um sich. Oder bildete ich mir das bloß ein? Plötzlich glaubte ich auch den Grund seiner Teilnahmslosigkeit zu erkennen: die Frau. Sie war mindestens fünfzehn Jahre älter als er. Meine Güte, wie konnte dieser gutaussehende Mann bloß eine solche Schreckschraube heiraten. Dieser Herr also war es, der jetzt gerade den Wartburg 56
öffnete. Er holte eine Taschenlampe heraus, klappte die Motorhaube auf und begann irgend etwas auszubauen. Schließlich hielt er ein etwa faustgroßes Gehäuse in der Hand und begann mit dem Schraubenzieher darin herumzustochern. Die Taschenlampe hatte er zwischen Oberarm und Hüfte geklemmt. Es war eine mühselige Sache, die Lampe verrutschte immer wieder. Ich trat aus dem Schatten des Baumes. „Soll ich Ihnen die Lampe halten?“ fragte ich. Er hob nicht einmal den Kopf in meine Richtung und sagte nur: „Wenn Sie so nett sein würden.“ Ich nahm die Lampe. „Muß ich die Zigarette ausdrücken?“ Er schüttelte den Kopf. „Wäre ein zu großes Opfer.“ Blöde Antwort, dachte ich, blöder Kerl. Er zeigte mir, wohin ich den Lichtstrahl richten sollte. Schweigend arbeitete er weiter. Ich sah, daß er in dem Plastgehäuse irgendein Stück Draht befestigen wollte. „Kabelriß?“ fragte ich, bloß um etwas zu sagen. „Zündverteiler“, war sein ganzer Kommentar. Ich begann mich über seine unhöfliche Art zu ärgern. Er hat dich bestimmt noch nicht einmal angesehen, dachte ich. Am liebsten hätte ich ihm die Taschenlampe vor die Füße geworfen. „Ist nicht gerade die richtige Zeit für eine Reparatur“, begann ich erneut. Jetzt blickte er auf. Anscheinend war er wütend, daß er mir wieder antworten sollte. Eingebildeter Fatzke! „Ich mußte den Wagen schon bei der Abfahrt anschieben lassen“, erklärte er widerwillig. Wieder arbeitete er schweigend weiter. Die Situation war mir fast körperlich unangenehm. Er schien wirklich die Eigenschaft zu haben, zwischen sich und andere Men57
schen einen leeren Raum zu stellen. Ich machte einen letzten Versuch. „So eine schwierige Reparatur, dabei ist der Wagen fast neu.“ „Wenn Sie wüßten, wie ich zu diesem Wagen gekommen bin!“ sagte er und lächelte plötzlich. Dabei sah er mich einen Augenblick an. Dann bohrte er den Schraubenzieher wieder ins Gehäuse, stieß einen Schnaufer aus, was anscheinend bedeutete, daß die Reparatur beendet war, und murmelte: „Na also.“ Während er das Gehäuse im Motorraum zu befestigen begann, fragte ich: „Und wie sind Sie zu dem Wagen gekommen?“ Jetzt lachte er sogar, es war ein herzliches Lachen. Er richtete sich auf. „Den Wagen hat mir ein Patient verkauft. Ein alter Bauer. Das heißt, so alt ist er noch gar nicht, Aber er hat eine um fünfundzwanzig Jahre jüngere Frau – ein richtiges Flittchen. Fährt mit dem Wartburg weg und kommt tagelang nicht heim. Nächtelang, müßte man besser sagen. Da hat der Alte den Wagen einfach verkauft.“ „Eine originelle Art, die Ehe zu retten“, bemerkte ich. „Nun“, erwiderte er, „jetzt fährt sie vielleicht per Anhalter.“ Wir lachten beide. Er zog die letzte Schraube fest. „Solche Ehen gehen eben schief“, kommentierte ich weise. „Welche Ehen?“ „Wo die Frau so viel jünger ist.“ „Ich weiß nicht. Das hängt doch wohl von den betreffenden Partnern ab.“ „Da haben Sie auch recht.“ Jetzt schien er fertig zu sein. Er stieg in den Wagen 58
und startete. Der Motor sprang an. Er schaltete ab, kam heraus und schloß die Motorhaube. Ich gab ihm die Taschenlampe zurück. „Gratuliere“, sagte ich. „Vielen Dank. Sind Sie neu hier? Hab’ Sie noch nie gesehen.“ „Ja, ich bin erst vor einigen Monaten als medizinischtechnische Assistentin ans Kreiskrankenhaus Cronen gekommen.“ „Doktor Ronn“, sagte er und verbeugte sich knapp, während er sich die Hände an einem Lappen reinigte. „Steffi Kuntze.“ Dann fragte ich: „Gefällt es Ihnen in Cronen?“ Ronn blickte mich erstaunt an. „Diese Frage müßte ich Ihnen eigentlich stellen.“ Er warf den Lappen unter den Sitz. „Aber ich kann Ihre Frage verstehen, Fräulein Kuntze. Wer hier ist, ist am Ende der Welt.“ „Vor allem, wenn man fremd ist. Und allein.“ Er nickte. „Stell’ ich mir scheußlich vor. Möbliertes Zimmer. Die Abende. Na, Hauptsache, die Arbeit macht Spaß, wie?“ Er verschloß die Wagentür und machte Anstalten, wieder ins Haus zu gehen. Ich warf meinen Zigarettenstummel auf die Erde und trat ihn aus. „Ich gehe auch wieder hinein“, sagte ich und schloß mich ihm an. „Kommen Sie nicht wenigstens manchmal nach Dresden?“ fragte er. „Dort wohnen meine Eltern.“ „Aber …?“ „Ich verstehe mich nicht besonders mit ihnen.“ „Ah so.“ 59
„Außerdem fährt der Zug immer kurz vor Dienstschluß. Und der nächste kommt erst halb neun in Dresden an. Da ist es zu spät fürs Theater oder Konzert.“ „Pech“, sagte er und schien mit seinen Gedanken ganz woanders zu sein. Aber als wir durchs Foyer gingen, sagte er plötzlich: „Ich habe manchmal in Dresden zu tun. Vielleicht klappt’s mal, und ich nehme Sie im Wagen mit.“ „Das wäre schön. Danke, Herr Doktor.“ Er nickte mir zu und ging in den Saal. Ich machte mich noch etwas frisch. Als ich mich an meinen Tisch setzte, schoß Dr. Eberlein schon auf mich zu. Während wir tanzten, blickte ich zu Dr. Ronn. Die lila Dame saß wieder neben ihm. Und plötzlich wußte ich, daß mir dieser junge, rotblonde Riese, der mich verliebt anblickte, höchst gleichgültig war, daß mich nur einer interessierte: Dr. Ronn. Der ahnte natürlich nichts von alledem. Das glaubte ich jedenfalls. Heute weiß ich, daß er den ganzen Abend nur Augen für mich hatte – allerdings, ohne daß ich es merkte. In den nächsten Wochen dachte ich nur noch an ihn. Ich dachte an die abgelebte dicke Frau an seiner Seite. Ich hatte auch erfahren, daß Ronn selber schon an die Fünfzig sein mußte, und fragte mich, was ihn so jugendlich erhalten hatte. Ich versuchte mir unsere Begegnung in Erinnerung zu rufen und mir vorzustellen, wie er diesen oder jenen Satz gesagt hatte. Ich vergegenwärtigte mir seinen offenen, klaren Blick, aus dem ich so viel Einsamkeit herauslesen konnte. Das von Herzen kommende Lachen. Die klangvolle Stimme, die so ausdrucksstark ist. 60
Drei Wochen später traf ich ihn wieder, als er mir eine Blutprobe zur Untersuchung brachte. „Nun“, fragte ich, „und wann müssen Sie mal nach Dresden?“ Er wußte natürlich gleich, woran ich ihn erinnerte. „Nächsten Freitag, siebzehn Uhr.“ Als wir an diesem Freitag kurz vor sechs Uhr Dresden erreichten, sagte Ronn: „Sie können sich doch denken, daß ich heute gar nichts in Dresden zu tun habe.“ Das war vor mehr als zwei Jahren. Heute kommt es mir vor wie ein Jahrzehnt. Oder wie gestern. Und immer wieder frage ich mich, womit habe ich so viel Glück verdient? Und wodurch so viel Unglück verschuldet, wieder einen verheirateten Mann lieben zu müssen? Ich komme einfach aus dieser tragischen Situation nicht heraus! Freilich, wenn Gisela eines nicht mehr fernen Tages stirbt … Reg ist ein guter Arzt, auf seine Diagnose kann ich mich verlassen.
GISELA RONN Sonnabend, 10. September, nachts Ich kann nicht einschlafen. Wie sollte ich auch, nach dieser Nachricht! Reg hat sich entschieden. Gegen Steffi, für mich! Ich könnte lachen und weinen, ich weiß nicht, ob dies die schönste oder die schlimmste Stunde meines Lebens ist. Als ich heimkam, war Reg nicht da. Ich hatte es auch 61
gar nicht erwartet. Sicher aß er mit Steffi irgendwo auswärts zu Abend. Gegen neun hörte ich dann seinen Wagen. Gleich darauf huschte das Scheinwerferlicht über die Wohnzimmerdecke. Wenige Minuten später betrat Reg das Wohnzimmer. „Da bist du ja wieder“, sagte er, und es war genau so, wie es Friederike vorausgesagt hatte. Reg tat, als wäre ich nur mal eben ein Stündchen zu einem Plausch bei Christel März gewesen. „Wie geht es Friederike?“ fragte er. „Gut.“ „Und Mäxchen?“ „Ich hatte ihn die ganze Woche bei mir.“ „Fein“, sagte er. Damit hatte er seiner Meinung nach das notwendige Maß an höflichem Interesse bekundet. „Hast du schon zu Abend gegessen?“ fragte ich ebenso höflich. „Ich hab’ keinen Hunger.“ Mit einem Seufzer fiel er in den Sessel am Fenster und starrte schweigend vor sich hin. Sonst kam er immer ziemlich aufgekratzt von Steffi heim. In letzter Zeit fing er sogar an, mir dies oder das über Steffi zu erzählen: „Du kannst dir ja gar nicht denken, wie überarbeitet das arme Ding ist.“ Oder: „Gestern hat sie wieder scheußlichen Ärger mit dem Stationsarzt gehabt. Angeblich fehlte ein Blutbild, aber Steffi weiß genau, daß sie es angefertigt hat.“ Reg ist wie ein Kind. Er merkt nicht einmal, wie sehr er mich mit seinem Mitteilungsbedürfnis kränkt. Für ihn bin ich eben nichts anderes als ein Mülleimer, in den er jeden Schmutz ausschüttet. Um so mehr beunruhigte mich heute seine Schweigsamkeit. 62
„Hast du Ärger gehabt?“ fragte ich. Ich vermied, Steffis Namen zu nennen. Er schüttelte den Kopf. War es vielleicht die Wirkung meines Briefes? Plötzlich stand er auf und holte eine Flasche „Urahn“ aus dem Schrank. Das war noch erstaunlicher. Denn Reg trinkt höchstens mal ein Glas Wein. Aber Kognak, Wodka und überhaupt harte Sachen verabscheut er seit einiger Zeit. Eines Tages hatte er nämlich schreckliche Zahnschmerzen. Er spülte den hohlen Zahn mit Alkohol durch, um den Schmerz zu betäuben. Er behielt einen tüchtigen Schluck Weinbrand längere Zeit im Mund. Bald war seine Mundhöhle eine einzige Wunde. „Soll ich mir die Magenschleimhaut auch so vom Schnaps zerfressen lassen?“ fragte er. Und von diesem Tage an war ihm der Geschmack an jedem Gläschen Kognak verleidet. Nun saß er im Sessel und trank schon das zweite Glas. Ich war sprachlos. Er sah meinen Blick und sagte: „Auch einen Schluck?“ Ich zögerte einen winzigen Augenblick, dann bejahte ich. Er holte ein Glas für mich. Er holte es, er bediente mich. Was war bloß geschehen? Hatte ihn mein Brief doch noch zur Vernunft gebracht? Hatte ich instinktiv den Ton getroffen, den er versteht? Die richtigen Argumente gefunden? Das mußte es sein! Nun schenkte er auch mir ein und nickte mir zu. Ich erhob das Glas ebenfalls und trank es in einem Zug aus. Er lächelte und sagte anerkennend: „Einen Zug hast du.“ Im Laufe der nächsten halben Stunde tranken wir jeder noch zwei oder drei Gläschen. Reg hatte den Fernsehapparat eingeschaltet, wir brauchten also nicht miteinander 63
zu reden. Sonst war mir das nur lieb, aber heute hätte ich zu gern gewußt, woran ich mit Reg war. Gegen zehn stand er plötzlich wortlos auf und ging hinaus. Ich hörte ihn erst ins Bad und dann hinauf ins Schlafzimmer gehen. Als der Fernsehfilm zu Ende war, ging ich mich duschen. Reg war noch wach, als ich ins Schlafzimmer trat. Manchmal liest er im Bett, nicht sehr lange meist, weil er schnell müde wird und einschläft. Heute aber lag er mit offenen Augen da, ohne zu lesen. Ich legte mich hin und griff nach dem Buch auf meinem Nachttisch. Aber ich war nicht bei der Sache. An Regs starrem Blick spürte ich, daß ihn etwas sehr beschäftigte. Ich fühlte sein Schweigen fast wie einen physischen Schmerz. Schon vor Jahren hatte ich Reg vorgeschlagen, er möge doch in seinem Arbeitszimmer schlafen. Seit fünf Jahren ist die körperliche Liebe zwischen uns tot. Ich finde es einfach nicht in Ordnung, wenn man Nacht für Nacht, Jahr für Jahr gleichgültig nebeneinander liegt. Aber Reg wollte das nicht wegen Maria, unserer Haushaltshilfe. Sie könnte ja irgend jemandem erzählen, daß Herr und Frau Doktor getrennte Schlafzimmer haben. Reg aber möchte den Eindruck erwecken, unsere Ehe sei völlig intakt. Ich legte das Buch auf den Nachttisch und schaltete meine Lampe aus. Wenige Augenblicke später löschte auch Reg das Licht. Ich wartete darauf, den Schnarcher zu hören, der Regs Schlaf einzuleiten pflegt. Es blieb still. Mir wurde ganz komisch zumute. Ich begann unregelmäßig zu atmen und fürchtete zugleich, Reg könnte meine Nervosität bemerken. 64
Plötzlich fühlte ich Regs Hand auf meinem Haar. Die Hand blieb liegen. Ich war wie erstarrt. Reg sagte kein Wort. Endlich, fast dem Ersticken nahe, holte ich Luft. In diesem Augenblick drückte Reg seine Lippen auf meine Stirn. Erschreckt fuhr ich empor. Unsere Köpfe stießen aneinander. „Au“, sagte Reg. Ich selber spürte vor Aufregung keinen Schmerz. Mit fahriger Hand schaltete ich Licht ein und blickte zu Reg. Der lag, auf den rechten Ellbogen gestützt, da und schaute auf die Bettdecke hinunter. „Was ist denn los?“ fragte ich bestürzt. „Was ist bloß passiert?“ Ich mußte ihn mit dieser dummen Frage ziemlich beleidigt haben. Er murmelte etwas von Liebe, und ich begann mich furchtbar über mich selbst zu ärgern. Reg gibt mir einen Kuß nach langer, langer Zeit, und ich benehme mich wie eine alte Jungfer. Mache alles wieder kaputt! Ich kenne doch Reg. Ich müßte doch wissen, wie er auf ein solches Verhalten reagiert! Wie konnte ich mich nur so albern benehmen! „Entschuldige“, sagte ich und drückte seine Hand. Ich legte meinen Kopf auf seinen Arm, um zu zeigen, wie sehr ich mich schämte. „Übrigens“, sagte Reg plötzlich, „ich habe Schluß gemacht mit Steffi.“ Diese Mitteilung brach so unvermittelt über mich herein, daß ich überhaupt nichts erwidern konnte. Ich lag wie versteinert, während sich meine Gedanken überschlugen: Schluß gemacht. Heute. Endgültig? „Ist das wirklich wahr, Reg?“ fragte ich schließlich noch voller Zweifel. „Wir werden allmählich wieder zueinanderfinden müssen, Gisela“, sagte er ruhig. Er wagte nicht, mich anzublicken. 65
Das verstand ich nur zu gut. Er hatte aus meinem Brief herausgelesen, was mir in diesem Moment klar bewußt wurde: Ich liebte ihn noch immer. Meinetwegen hatte er Steffi aufgeben müssen, und das war ihm bestimmt nicht leichtgefallen. Diese Romanze mußte er erst vergessen. Dabei wollte ich ihm nach Kräften helfen. „Ja, wir fangen noch einmal von vorn an, Reg“, sagte ich entschlossen und sah ihn zustimmend nicken. „Ganz von vorn.“ „Leicht wird es nicht sein, Gisela. Unser Zusammenleben hat sich in letzter Zeit nur auf deine schriftlichen Anordnungen beschränkt.“ „Aber was blieb mir denn anderes übrig, versteh doch! In dieser Situation! Du warst ein Fremder für mich geworden. Es gab ja nur noch Streit zwischen uns, und immer wegen dieses …“ Ich wollte Steffis Namen nicht aussprechen. „Das ist ja nun vorbei“, räumte Reg ein, „erwarte nur nicht gleich zuviel. Es ist ein langwieriger Prozeß.“ „Das weiß ich doch auch, Reg.“ „Dann schlaf gut, Gisela.“ Er legte sich auf die Seite. Kurz darauf war er eingeschlafen. Ich liege da und grübele. Reg knirscht mit den Zähnen. Wühlt es doch in ihm? Auch mir geht so viel durch den Kopf. Meint Reg seine Entscheidung ernst? Oder wird sie ihm morgen leid tun? Ging die Trennung von ihm aus? Dann allerdings kann er morgen schon wieder weinend in Steffis Arme zurückkehren. Aber wenn sie sich von ihm getrennt hätte – aus welchen Gründen auch immer –, dann wäre die Affäre wohl endgültig zu Ende. Ist sie seiner überdrüssig geworden? Hat sie ihn endlich durchschaut? 66
Wir waren erst einige Monate verheiratet. Damals litt ich unter plötzlich auftretenden krampfartigen Kopfschmerzen. Eines Abends kamen sie so heftig, daß ich das Essen nicht zubereiten konnte. Ich legte mich hin. Als Reginald von den Krankenbesuchen heimkehrte, fand er mich im abgedunkelten Schlafzimmer. Und da geschah etwas Merkwürdiges. Ich hätte seinen Ärger verstehen können, weil das Abendessen noch nicht fertig war. Wenn er gesagt hätte: „Na, so schlimm wird’s wohl nicht sein, daß du dich gleich hinlegen mußtest.“ Für einen solchen spontanen Verdruß hätte ich Verständnis gehabt. Aber was erwiderte er? „Ich habe seit heute morgen wahnsinnige Magenkrämpfe, daß ich mich kaum noch auf den Beinen halten kann.“ Dann folgte eine lange Erörterung über die mutmaßlichen Ursachen seiner Magenkrämpfe, von denen allerdings mittags noch keine Rede gewesen war. Von meinen Kopfschmerzen wurde an diesem Abend nicht mehr gesprochen. Als ich mir im vergangenen Jahr in der Augenklinik ein Hagelkorn am rechten Lid entfernen ließ, sagte ich danach zu meinem Mann: „Meine Angst war ganz unnötig. Doktor Theuerkauf hat die Sache wirklich gut gemacht.“ Und Regs Kommentar: „Übrigens sagte Frau Busch heute, von allen Ärzten, die sie kennt, sei ich der beste Diagnostiker. Nett, nicht?“ Reginald bezieht alles auf sich selber, alles geschieht nur um seinetwillen. Er denkt immer nur an sich. Das wird natürlich auf die Dauer einem jungen Ding wie Steffi nicht gefallen. Dazu muß man nachsichtig und verständnisvoll sein wie ich. Seine naive, manchmal rücksichtslos erscheinende Ich-Bezogenheit hat für mich et67
was Possierliches, macht ihn mir so liebenswert. Aber Steffi? Ich kann mir gut vorstellen, daß sie sich zu einem radikalen Schnitt entschlossen hat. Aber was soll nun werden? Nach der Sache mit Steffi wird sich Reg hoffentlich nicht gleich wieder in ein neues Abenteuer stürzen. Denn ein Don Juan war er nie. Noch bis heute ist mir ein Rätsel, wieso er sich überhaupt in Steffi verlieben konnte. Das kleine Biest muß es darauf angelegt haben, ihn einzufangen. Wer weiß, welche Qualitäten die zu bieten hat. Wahrscheinlich ein guter Betthase und weiter nichts. Einen sensiblen Mann wie Reg konnte das auf die Dauer ja auch nicht zufriedenstellen. Aber wie soll es nun weitergehen? Wenn man einfach dort anfangen könnte, wo man aufgehört hat! Aber es war ja nicht so, daß unsere Liebe plötzlich zu Ende war, weil eine andere Frau in Regs Leben trat. Nicht Regs Verhältnis mit Steffi hat unserer Liebe den Todesstoß versetzt. Weil Regs Liebe zu mir tot war, verliebte er sich in Steffi. Aber das habe ich wohl auch falsch gesehen. Damals glaubte ich, Reg hätte mich aus Liebe geheiratet; dabei hatte er alles genau berechnet. Warum war mir nicht schon damals aufgefallen, daß er all seine Habseligkeiten mit sich führte, als er mich besuchte. Und wie breit er sein trauriges Los ausmalte. Durch seine gespielte Hilflosigkeit provozierte er gradezu mein Mitgefühl. Er wollte sich ins gemachte Nest setzen! Und ich mit meiner Gutmütigkeit habe ihn auch noch dazu ermuntert! Fehlende Liebe – das war der ungedeckte Scheck, den mir Reg präsentierte und den ich leichtgläubig entgegennahm, um eine Ehe darauf zu gründen. Manche Ehe ist damals unter ähnlichen Umständen 68
geschlossen worden und schließlich gescheitert – oft Jahre oder Jahrzehnte später. Wie oft habe ich Reg gebeten, endlich klare Verhältnisse zu schaffen. Nun ist meine Geduld belohnt. Reg ist zu mir zurückgekehrt. Die Westminsteruhr im Wohnzimmer schlägt eins. Ich bin immer noch hellwach. Vielleicht sollte ich eine Schlaftablette nehmen. Aber das Kalypnon legt sich immer so auf meinen Kreislauf. Bin ich wirklich glücklich jetzt? Wird es nicht vielleicht neue Komplikationen geben? Reg hat zwei Jahre eine junge Frau geliebt, er hat mit ihr geschlafen, daraus hat er mir gegenüber nie ein Geheimnis gemacht. Einmal kam er, wie schon oft, um fünf Uhr morgens von Steffi nach Hause. Ich stand auf und ging in die Küche, um ihm etwas zu essen zu machen. Sie dachte natürlich nie daran, daß ein Mann auch mal etwas essen muß. Er saß auf dem Küchenschemel und starrte vor sich hin. „Guten Morgen, Reg“, sagte ich und blickte ihn forschend an. „Was ist los? Hattet ihr Streit?“ Er schüttelte den Kopf. Schweigend betrachteten wir, wie sich das Brot bräunte. Das Wasser kam ins Kochen, ich schüttete Kaffee aufs Filterpapier und goß Wasser auf. Die beiden Brotscheiben wickelte ich in ein Tuch, damit sie warm blieben, bis der Kaffee fertig war. Plötzlich, ohne Überleitung, sagte Reg: „Manchmal habe ich Angst vor ihr.“ Ich begann mich mit der Kaffeekanne zu beschäftigen. Wenn man Reg nicht anblickt, dann spricht er sich leichter aus. So fuhr er auch gleich darauf fort: „Ich bin nicht mehr genügend vital für sie …“ 69
Reg schien überhaupt keinen Sinn dafür zu haben, in welch groteske Situation er mich auf diese Weise brachte und wie taktlos er war. Hinzu kam, daß er früher niemals über solche Dinge mit mir gesprochen hatte. Es war, als frage er einen Eskimo um Rat, wie man sich gegen Sonnenbrand schützt. Reg hat nie versucht, mich für unsere körperlichen Beziehungen zu interessieren. Im August 1945 war er in mein Haus gezogen. Es muß kurz nach Weihnachten gewesen sein, als wir das erste Mal miteinander schliefen. Reg hatte an jenem Abend Bereitschaftsdienst. Gegen sieben war er mit unserem alten „Adler“ nach Bösdorf hinausgefahren, zu einem plötzlich erkrankten Mädchen. Er hatte eine Gehirnhautentzündung diagnostiziert, die Überführung ins Kreiskrankenhaus in die Wege geleitet und noch einige Krankenbesuche gemacht. Ziemlich durchfroren kehrte er gegen halb zehn zurück. Ich lag schon im Bett. Es gab auch in den Weihnachtstagen Stromsperre, und beim Schein der stinkenden Notkerzen zu sitzen war nicht gerade gemütlich. Ich hörte Reg in die Küche gehen, wahrscheinlich wollte er sich noch eine Tasse Kräutertee oder Malzkaffee bereiten. Eigentlich hat er heute einen Glühwein verdient, dachte ich, zog mir den Morgenrock über und holte eine Flasche Wein aus dem Keller. Ich ging in die Küche. „Trinken Sie noch ein Glas Punsch mit mir?“ Er drückte mich impulsiv an sich. „Sie sind wirklich ein Prachtstück, Gisela!“ Er sah meine Verlegenheit und lachte. „Dann tragen wir eben beide saloppe Kleidung!“ Er zog sein Jackett aus und legte den Schlips ab. „Gehen Sie schon ins Wohnzimmer“, bat ich. 70
Ich legte Holz nach, um das Wasser schneller zum Kochen zu bringen. Währenddessen suchte ich einige Kerzenreste zusammen. Mit dem heißen Getränk und vier brennenden Lichtern ging ich dann ins Wohnzimmer. Die Fettmasse in den runden Pappschälchen knisterte und entwickelte übelriechende Rauchfäden. Um so angenehmer duftete der Punsch. Nach einer halben Stunde waren wir in Stimmung geraten, deshalb schlug ich vor, noch eine zweite Flasche zu holen. Ich hatte mich auch schon erhoben, um in den Keller zu gehen, als Reg seine Hand auf meine legte. „Nein“, sagte er leise, „gehen Sie doch nicht weg.“ Ich setzte mich wieder. Er hielt noch immer meine Hand. „Aber in einer Minute bin ich doch wieder da“, erwiderte ich. „Selbst das ist noch zu lange, Gisela.“ Ich blieb sitzen und rührte mich nicht. Ronn stand auf und kniete sich neben meinen Sessel. Er blickte mich an, ich sah ihn an, aber ich sah durch ihn hindurch. Gerade in diesem Augenblick mußte ich wieder daran denken, daß vor ziemlich genau einem Jahr David sein Leben gelassen hatte. Reg, den Müdigkeit und alkoholische Erhitzung wehrlos gegen sein angestautes Verlangen gemacht hatten, drängte mich zur Couch. Es war ihm gleichgültig, daß ich mit Geist, Gefühl und Sinnen abwesend war. Und so ist es immer geblieben. Am Anfang unserer Ehe dachte ich immer, Reg würde schon noch lernen, sich auf mich einzustellen. Aber diese Hoffnung hat sich nicht erfüllt. Manchmal versuche ich mich zu erinnern, ob mich David glücklicher gemacht hatte. Er war auf Gefühl und 71
Zärtlichkeit bedacht, er zeigte sich dankbar für meine Hingabe. Reg forderte sie als selbstverständliches Recht. Er hat sich nie die Mühe gemacht, meine Empfindungen zu wecken und mir die Gewißheit zu geben, er wolle mehr als rein körperliche Befriedigung. Er ist egoistisch wie ein kleines Kind. Allerdings wurde mir das erst später klar. In der ersten Zeit unseres Zusammenseins nahm ich die Äußerungen seines Charakters hin, ohne ihre Ursachen zu verstehen. Anfangs sah es so aus, als sei Reg einzig und allein um mein Wohl besorgt. Es war mir gelungen, unsern Wagen über den Krieg hinaus zu retten. David hatte den „Adler“, Baujahr 1934, kurz vor unserer Heirat gekauft. Als David zur Wehrmacht einberufen wurde, war der Wagen gut seine 140 000 Kilometer gefahren. Aber man konnte sich immer noch auf ihn verlassen. Als Reg die Praxis wieder eröffnete, bemühten wir uns deshalb um keinen neuen Wagen. Der „Adler“ gehörte mir. Aber selbstverständlich überließ ich ihn Reg für seine dienstlichen Fahrten. Wir hatten das vertraglich geregelt. Da Reg als Umsiedler keinerlei Vermögen besaß, entrichtete er mir für die Nutzung der Praxiseinrichtung, der Räume und des Wagens monatlich achthundert Mark. Reg zahlte pünktlich und zuverlässig. Auch die Silvesternacht hatte er wieder bei mir verbracht. Am Neujahrsmorgen erschien er zum gemeinsamen Frühstück und legte mir, noch bevor ich den Kaffee eingegossen hatte, diskret einen Briefumschlag auf den Frühstücksteller. Neugierig öffnete ich das Kuvert. Es enthielt in sauber geordneten Scheinen die Miete für Januar! 72
Und schon schob er mir das blaue Oktavheft zu, in dem ich zu quittieren pflegte. Ich mußte ihn ziemlich verblüfft angeschaut haben. Er sagte: „Aber Gisela, wir haben doch einen Vertrag geschlossen!“ Ich küßte ihn. „Reg, wir werden bald einen ganz anderen Vertrag schließen, auf Lebenszeit.“ Er nickte ernst. „Jaja, das schon. Aber ich möchte doch meine Schulden pünktlich begleichen.“ „Ach, du Pedant!“ „Auch in finanziellen Dingen muß Ordnung herrschen, Gisela.“ „Reg, ich liebe dich doch. Ich gehöre dir mit allem, was ich habe. Aber du betrachtest dich immer noch als Pächter. Sieh doch unser Verhältnis menschlich! Nicht so pedantisch materiell.“ „Nimm mal an, Gisela, ich hätte dir die Miete heute nicht bezahlt. Und morgen auch nicht. Würdest du da nicht denken: Aha, jetzt glaubt er wohl, er braucht nicht mehr zu zahlen, nun schlägt er aus meiner Liebe auch noch Kapital?“ Er drängte mir das Geld auf. Ich nahm es. Ich redete mir ein, diese Gewissenhaftigkeit zeuge von seinem redlichen Charakter. Es war gerade umgekehrt. Reg fürchtete, ich könnte eines Tages merken, daß ihn tatsächlich recht materielle Gründe zur Heirat veranlaßt hatten. Nur deshalb gab er sich so übertrieben genau in finanziellen Dingen. So ist Reg. Er unterschiebt andern Leuten seine Motive. Denn ich kann mit ruhigem Gewissen sagen: Mir wäre nicht im Traum ein solcher Gedanke gekommen. So verstand ich auch damals noch nicht, die richtigen Schlußfolgerungen aus Regs Verhalten zu ziehen. Ich 73
war in den ersten Jahren unserer Ehe überzeugt, wenn sich nur jeder von uns beiden bemühe, würden wir schon harmonisch zusammen leben. Dazu konnte eine gemeinsame Arbeit viel beitragen. Deshalb schlug ich Reg eines Tages vor, meine Tätigkeit beim Rat der Stadt aufzugeben und lieber in der Praxis mitzuarbeiten. „Fein“, sagte Reg, „da kann ich gleich eine Arbeitskraft einsparen.“ Er lachte wie über einen Witz. Ich habe mich oft gefragt, warum Reg so viel lacht. Manchmal folgt jedem Satz, den er sagt, ein Gelächter, auch wenn er gar nichts Komisches gesagt hat. Deshalb dachte ich anfangs immer, er sei ein ziemlich lustiges Haus, aber das ist gar keine echte Lustigkeit, eher ein Krampf. Er lachte und fragte dann: „Wird es dir auch nicht zuviel werden? Der Haushalt, das Kind. Du liest gern.“ „Aber ich habe doch jahrelang in Davids Praxis mitgearbeitet, Reg.“ Ich blickte ihn forschend an. Seine Miene verriet nicht, ob er sich über diese Bemerkung ärgerte. Denn er wird leicht wütend, wenn ich Davids Namen erwähne. Ob das Eifersucht ist? „Ich habe einfach Freude daran, Reg, wenn ich mit dir zusammenarbeiten kann. Ich bin bei dir, sogar bei den Krankenbesuchen, dann brauchst du nicht mehr allein durch Nacht und Nebel zu fahren, wir sind immer zusammen.“ „Immer.“ Er nickte, und ich hatte das Gefühl, er sei begeistert von meinem Vorschlag. Ich stellte bald fest, daß der ganze Betrieb sehr schwerfällig lief. Reg mochte ein guter Arzt sein, aber von Arbeitsorganisation verstand er nichts. 74
„Ich habe mich stets in einem festgefügten System befunden“, erklärte er, „beim Kommiß gab es keinen individuellen Spielraum, sondern nur Dienstvorschriften. Daran waren wir gebunden, ob Stabsarzt oder Hilfssanitäter.“ „Dem ist abzuhelfen, Reg.“ „Paß nur auf, daß es keine Überorganisation wird, Gisela. Sobald du so etwas in die Hand nimmst …“ Er lachte wieder. „Was soll denn das heißen, Reg?“ fragte ich etwas verärgert. „Du hast einen Hang zur Bürokratie.“ „Aber Reg! Ordnung muß sein! Auch in deinem Beruf!“ „Nun, bisher habe ich mich immer noch ganz gut zurechtgefunden.“ „Gerade das ist dein Irrtum, Reg. Ich erinnere dich nur an Frau Bratsky.“ „Frau Bratsky?“ „Du weißt ganz genau, was ich meine, Reg. Als sie zum zweiten Mal wegen ihrer Magengeschichte in die Sprechstunde kam, hast du sie als Frau Friemel angeredet. Die Frau des Bürgermeisters mit einer Frisöse zu verwechseln! Du weißt, wie schrecklich peinlich so etwas ist!“ Reg murmelte vor sich hin, was ich durchaus nicht leiden kann, und erst, als ich eine klare Antwort forderte, sagte er, er hätte eben ein schlechtes Gedächtnis für Gesichter. „Eben“, sagte ich, „eben, weil du ein schlechtes Gedächtnis hast, können solche Vorfälle immer wieder geschehen.“ „Die Bratsky sieht der Frisöse aber auch ziemlich ähnlich!“ 75
„Reg“, sagte ich mit Nachdruck – man muß mit ihm immer sehr nachdrücklich reden –, „Reg, das sind doch Ausflüchte. Du kannst dir Gesichter und Namen nicht merken, gut, das ist nun mal so. Aber dann müssen wir uns doch etwas einfallen lassen, was dir künftig solche Situationen erspart. Ich werde ein übersichtliches System für die Führung der Krankengeschichte ausarbeiten, dann bist du über jeden Patienten rasch im Bilde. Glaub mir, das macht dich sicherer und fördert den Kontakt zwischen dir und deinen Patienten.“ Ich versuchte auch, in das Chaos im Wartezimmer Ordnung zu bringen. Ich beobachtete, an welchen Tagen und zu welcher Stunde der stärkste und der geringste Andrang zu verzeichnen war. Ich entwarf für die Patienten, die sich in Nach- und Weiterbehandlung befanden, ein ausgewogenes Bestellsystem, so daß sich die Wartezeiten verringerten. Das sprach sich herum, und die Patienten erkannten das dankbar an. So kann ich in aller Bescheidenheit sagen, ich habe Reg geholfen, in Cronen Fuß zu fassen und ein beliebter Arzt zu werden. Er lernte, sich die kleinen und großen Sorgen der Leute anzuhören und darauf einzugehen. Mochte er mit seinen Gedanken manchmal wer weiß wo sein – er verstand es trotzdem, zuzuhören und einen guten Rat zu geben. Selbst heikle Situationen wußte er elegant zu meistern. Ich denke da an die Sache mit Schellhorns Töchterchen. Schellhorns hatten eines Tages ihr Töchterchen Carmen wegen eines heftig juckenden Ekzems auf dem Handrücken in die Sprechstunde gebracht. Reg sah sich die Hand an und sagte: „Ich verschreibe etwas gegen den Juckreiz.“ Dann ging er zum Waschbecken, wusch sich die Hän76
de und nickte mir zu: Ich sollte mich mit dem Kind beschäftigen. Er bat die Eltern, am Tisch Platz zu nehmen, und während ich mich mit dem Kind unterhielt, versuchte ich mitzuhören, was Reg den Eltern zu sagen hatte. „Carmen ist Ihr einziges Kind?“ fragte er. Frau Schellhorn bejahte. „Möchten Sie noch Kinder haben?“ Frau Schellhorn schien einen Augenblick verlegen, blickte zu ihrem Mann und sagte dann: „Wir wissen nicht so recht. Manchmal denken wir ja, manchmal nein. Trotzdem, es wäre ganz schön, ein Mädchen und ein Junge. Aber …“ Sie brach ab und lächelte etwas unschlüssig. „Ja“, sagte Reg, „wenn ich Ihnen einen Rat geben dürfte: Belassen Sie es bei diesem einen Kind. Diese Hautkrankheit verschwindet und kommt wieder. Und vor allem: sie ist erblich. Und deshalb gibt es keine Garantie dafür, daß Ihr zweites Kind davon verschont würde.“ Er sah den Schrecken in den Augen der Eltern und legte väterlich seine Hand auf Frau Schellhorns Arm. „Die Krankheit ist leider endogen bedingt, verstehen Sie? Sind in Ihren Familien schon ähnliche Fälle vorgekommen?“ Schellhorn schüttelte den Kopf. Aber Frau Schellhorn sagte: „Eine Schwester meines Vaters. Sie hat mit sechzehn Selbstmord begangen. Deswegen.“ Schellhorn wurde blaß. Auch Reg hatte es bemerkt. „Verstehen Sie nun, daß ich Ihnen die Wahrheit sagen mußte?“ „Ja“, murmelte Schellhorn. „Natürlich werden wir alles tun“, fuhr Reg fort, „um den äußerst quälenden Juckreiz zu mindern.“ 77
Als dann Schellhorns gegangen waren, warf ich Reg vor, er habe die Eltern mit seiner brutalen Offenheit zu sehr schockiert. Aber Reg behauptete, das sei die einzig richtige Art, mit den Patienten umzugehen. Peter Neubert, ein zehnjähriger, ziemlich lebhafter Junge, dessen Vater die Gärtner-Produktionsgenossenschaft in Cronen gegründet hatte, bekam eines Tages Fieber. Nicht sehr hoch, es schwankte zwischen 38 und 38,5. Zur gleichen Zeit war eine Grippeepidemie ausgebrochen. Reg hielt Peters Erkrankung für einen grippalen Infekt. Aber die Fieberzäpfchen blieben ohne Wirkung. Sobald sie weggelassen wurden, war das Fieber wieder da. Auch ein Sulfonamid änderte nichts daran. Das Fieber hielt an. Nach etwa zehn Tagen klagte der Junge über Schmerzen in der Achselhöhle. Reg stellte fest, daß die Lymphdrüsen geschwollen waren. Nach wenigen Tagen ging die Schwellung zurück. Das Fieber blieb unverändert. Dann bekam Peter eine Mandelentzündung. Reg war erleichtert. Nun zeigte sich wenigstens ein klinisch einwandfreies Bild. Die Mandelentzündung klang ab. Das Fieber blieb. Der Fall war unklarer als je zuvor. Aber Reg ließ nicht locker. Er ordnete in den nachfolgenden Wochen wohl mehr als ein Dutzend Tests an. Nacheinander konnten eine tuberkulöse Lymphknotenerkrankung, eine bakterielle Infektion und der Verdacht auf Anämie ausgeschlossen werden. Mehrmals in der Woche besuchten wir Peter. Ich hatte immer ein schlechtes Gewissen. Zwar konnten wir jedesmal sagen: „Das und das ist es nicht.“ Aber was war es dann? 78
Eines Tages, als wir den Jungen wieder besuchten, lag ein dicker, gelbgefleckter Kater auf seinem Bett. Peter balgte sich mit dem Tier herum. Die Mutter sagte: „Junge, paß doch auf! Du schmierst mir wieder das ganze Bett voll Blut!“ Tatsächlich sahen wir auf dem Bettbezug mehrere Blutflecken. Reg fragte Peter: „Hat dich die Katze schon öfter gekratzt?“ „Na klar. Ist doch nicht schlimm. Sie spielt doch.“ Reg nickte mir zu. „Eine Blutprobe.“ „Was denn“, rief Peter, „schon wieder Blut ziehen?“ Reg vermutete eine ziemlich seltene Virusinfektion, die durch Katzen übertragen wird. Sie ist diagnostisch schwer nachzuweisen. Der erste Befund war negativ. Bei der dritten Blutentnahme hatten wir den Beweis: Katzenkratzkrankheit. Ja, Reg ist wirklich zähe, hartnäckig und gewissenhaft, wenn es um die Diagnose geht. Zugleich besitzt er auch den raschen Blick, den manche Intuition nennen. Reg hält allerdings nicht viel von Intuition. Er nennt es einfach Beobachtungsgabe, Kombinationsvermögen und Erfahrung. Ernst Truthahn arbeitete als Kraftfahrer beim Rat des Kreises. Als er eines Tages zum ersten Mal in unsere Sprechstunde kam, blickte ihn Reg nur kurz beim Eintreten an und sagte: „Sie haben doch was mit der Schilddrüse.“ Truthahn, ein blasser, hagerer Fünfziger mit einem schmalen Oberlippenbärtchen, ließ sich auf den Stuhl fallen. „Ich weiß nicht, Herr Doktor. Ich weiß nicht. Aber ich will es Ihnen gleich vornweg sagen, ich hab’ ganz oben angefangen, und alles umsonst. Ewig dieser Schwindel, diese Übelkeit. Schon ein paarmal mußte ich mit dem 79
Wagen rechts ranfahren, weil mir schwarz vor Augen wurde. Und überall Schmerzen. In der Schulter, im Rücken, mal hier, mal dort, es wandert. Und immer müde. Und doch kann ich nachts nicht schlafen. Ich liege da im Dunkel. Das Herz geht wie ein Hammerwerk. Ich schwitze, ich habe Angst.“ Reg unterbrach ihn: „Sie sagten, Sie hätten ganz oben angefangen. Was meinten Sie damit?“ „Meine Frau sagte, du spinnst ja, du mit deinen vielen Leiden. Da dachte ich, du gehst gleich zu einer Kapazität. Also ich hin nach Dresden zu Professor Hädrich. Der hörte mich gar nicht erst an, guckte mir bloß in den Hals und sagte, ich hätte es mit den Mandeln. Ich dachte, mit den Mandeln bestimmt nicht, aber vielleicht mit den Nerven. Also wieder nach Dresden zu Professor Kornfeld. Dieser Kornfeld klopfte mir ans Knie und sagte, ich hätte was mit dem Kreislauf, ich sollte doch mal zu Professor Hädrich gehen. Dort konnte ich natürlich nicht wieder hin. Also ging ich zu einem anderen Internisten. Natürlich wieder privat. Der meinte, organisch wäre alles in Ordnung, ich sollte meine Beschwerden einfach nicht ernst nehmen, und gleich würde ich mich besser fühlen. So krebse ich jetzt schon ein ganzes Jahr herum, von Facharzt zu Facharzt …“ „Nun, nach meiner Ansicht haben Sie eine Schilddrüsenvergrößerung.“ „Dann glauben Sie mir, Herr Doktor?“ „Was?“ „Das Herzklopfen – und die Angst! Das Zittern. Und die ständige Müdigkeit. Das hat mir doch keiner bisher geglaubt!“ Truthahn war ganz aufgeregt, er schien richtig glücklich, daß endlich jemand seine Krankheit ernst nahm. 80
So hätte alles gut gehen können. Reg war angesehen und beliebt. Aber leider mußte ich allmählich erkennen, daß Regs Freundlichkeit und Hilfsbereitschaft oft nur Routine war, wenn nicht noch schlimmer: eine Maske, die seine Gleichgültigkeit und Gefühlskälte verbergen sollte. Reg hatte in Dresden ein Medikament gegen Peters Viruserkrankung beschafft. Wir fuhren zu Neuberts. Reg übergab Peters Mutter die Arznei und erklärte ihr, in welchen Abständen das Mittel verabreicht werden mußte. Frau Neubert bedankte sich. Als Reg sich von Peter verabschiedete, befahl er: „Morgen wird die Katze ertränkt!“ In Peters Augen traten Tränen. „Na, na“, rief Reg burschikos, „du willst doch nicht noch einmal ein Vierteljahr ins Bett!“ Er wandte sich an die Mutter: „Sie sorgen mir dafür, Frau Neubert, daß das Tier wegkommt.“ Peter begann zu schluchzen. „Aber er könnte die Katze doch behalten, wenn er sich vorsieht“, wandte ich ein. „Du spielst nicht mehr so wild mit ihr, Peter, nicht wahr, dann kratzt sie dich auch nicht.“ Ruhig, fast freundlich, entgegnete Reg: „Aber Gisela, ein zehnjähriger Junge!“ „Und außerdem“, sagte ich hartnäckig, „hat die Katze die Viren nur übertragen. Das Tier selber ist doch gar nicht krank.“ „Ja, was machen wir denn dann?“ fragte Peters Mutter unschlüssig. „Bitte die Katze behalten!“, rief Peter. „Schaffen Sie das Tier weg, Frau Neubert, es ist besser so!“ sagte Reg und verließ das Zimmer. 81
Als ich heraustrat und zu Reg in den Wagen stieg, empfing er mich mit einer Schimpfkanonade. „Das geht ja nun wohl doch zu weit, Gisela! Wenn ich eine Anordnung gebe, hast du dich nicht einzumischen, noch dazu in Anwesenheit des Patienten!“ „Ich will dir nur helfen, Reg.“ „Ah, deine berühmte Hilfe!“ „Ich will nicht, daß man über dich sagt, du hättest kein Gefühl, kein Mitgefühl …“ „Die Predigt kenne ich!“ rief Reg. „Die Mayensche Gefühlsduselei, o ja! Ist mir nicht unbekannt!“ „Laß bitte David aus dem Spiel. Er war Arzt aus Berufung. Und du hast kein Recht, dich über ihn lustig zu machen.“ „Ich mache mich über dich lustig! Über deine Einstellung, die du kritiklos von ihm übernommen hast. Mitgefühl, Verständnis, Mitleid! Der Patient will sich der Autorität des Arztes unterwerfen, er braucht sie; ohne den Glauben an die ärztliche Autorität gibt es keinen Glauben an die Macht des Arztes. Und ohne diesen Glauben ist alle ärztliche Kunst umsonst.“ Immer häufiger endeten solche harmlosen Vorfälle in Streit. Was mich dabei so erschreckte, war die Geringfügigkeit des Anlasses. Kleine Meinungsverschiedenheiten wuchsen sich bei Reg plötzlich zu prinzipiellen Haltungen aus. Sagte ich etwa: „Ich glaube, Reg, wir müssen bald neues Verbandmaterial bestellen“, so erwiderte er recht bissig: „Seit wann nimmt deine Diktatur plötzlich demokratische Züge an?“ Fragte ich arglos auf nächtlicher Heimfahrt von Krankenbesuchen, ob er müde sei, antwortete er: „Wie sollte ich müde sein! Deiner Meinung nach darf ein Arzt doch niemals müde sein!“ 82
Warum wurde er gleich immer so aggressiv? So absolut? So prinzipiell? Ich weiß es nicht. Ich weiß es bis heute nicht. Zuerst hatte ich gehofft, die gemeinsame Arbeit würde uns einander näherbringen. Nun mußte ich erkennen, daß dieses nahe Zusammensein mir immer mehr Regs Widersprüche und Schwächen offenbarte. Deshalb entschloß ich mich, nicht länger mit Reg zusammenzuarbeiten. Ich hoffte dadurch die Reibungsflächen zwischen uns zu verringern. Reg war nur allzu schnell bereit, auf meinen Vorschlag einzugehen. So kam eine schlimme Zeit für mich. Ich fühlte mich ausgesetzt wie in einem Hohlweg. Links und rechts unübersteigbare Wände. Vor mir ein schmaler Pfad: die alltäglichen eintönigen Beschäftigungen. Friederikes Schularbeiten kontrollieren. Einkaufen. Eine abendliche Plauderstunde bei Christel März. Alle häusliche Arbeit lag in den Händen Marias. Sie hielt die Wohnung in Ordnung, wusch, nähte, stopfte und kochte. Damit ich nur den wöchentlichen Küchenzettel zusammenstellen durfte, gab es nervenaufreibende Kämpfe mit ihr, die das als Eingriff in ihre alten Rechte ansah. Die Tage waren endlos. Ich begann wieder viel zu lesen. Aber nach zwei, drei Stunden wurde ich müde. Dann hörte ich von Frau Müller-Rosenow, der Leiterin des Cronener Heimatmuseums, sie brauche dringend eine Hilfskraft. Ich bot ihr meine Mitarbeit an. Sie war begeistert, zumal sie keine zusätzlichen Mittel beantragen mußte. Ich war nicht auf finanzielles Entgelt angewiesen. Nun saß ich jeden Tag einige Stunden in dem weißgetünchten, sonnigen Zimmer des Heimatmuseums, schrieb Schautafeln, beschriftete Faustkeile, Spinnräder, Trach83
tenröcke und stellte Kollektionen zusammen. Hier und da übernahm ich auch eine Führung. Es dauerte nicht lange, bis mir Reg mit ironischen Bemerkungen meine Tätigkeit zu verleiden begann. Einmal äußerte er, ich sei selber schon zu einem Museumsgegenstand geworden. Schließlich forderte er, ich solle die Tätigkeit aufgeben. „Das ist einer Arztfrau unwürdig! Die Leute werden noch denken, wir wären auf das Geld angewiesen.“ „Du weißt genau, daß ich nichts dafür bekomme.“ „Willst du dir ein Plakat an die Brust binden: ‚Ich arbeite umsonst‘?“ So gab ich schließlich auch diese Arbeit auf. Dann führte ich noch einmal einen langen Kampf mit Reg, um wenigstens seine Quartalsabrechnungen zu übernehmen. Sie beschäftigten mich aber auch nur Tage. Die übrige Zeit kam ich mir jedoch nutzlos und ausgeschlossen vor. So wurde Friederike immer mehr mein einziger Lebensinhalt. Wenn sie aus der Schule kam, erzählte sie mir gleich ihre großen und kleinen Erlebnisse. Am meisten schwärmte sie von ihrem Deutschlehrer Hans Schellhorn. Ich konnte Friederike gut verstehen. Manchmal durften wir Eltern im Unterricht hospitieren, und ich ertappte mich oft selber dabei, wie rasch ich seiner Persönlichkeit erlag. Er trug nicht irgendein Gedicht vor, er trug sich vor, seine Liebe, seine Ehrfurcht, seine Begeisterung gegenüber der Schöpferkraft des Dichters. Dieser Mann war wirklich mit dem Herzen bei seiner Arbeit. Auch Friederikes Sorgen teilte ich getreulich mit ihr. Ihren Verdruß am neuen Chemielehrer, der ihr die Lust an diesem Fach verdorben und einen Leistungsabfall von der Eins auf die Drei bewirkt hatte. Ihren Kummer über die Freundin, die eifersüchtig darüber wachte, daß 84
sie nicht mit anderen Klassenkameraden ihre Freizeit verbrachte. So nahm ich teil an allen kleinen Freuden und Nöten des Kindes, wir sprachen über alles. Nur über eines sprachen wir damals nie: über Reg. Zwischen Reg und Friederike liegt ein Abgrund. Er hat Friederike niemals schlecht behandelt. Er hat nicht mit ihr geschimpft und sie nicht geschlagen, weil man Luft weder beschimpfen noch schlagen kann. Sie war für ihn Luft. Aber selbst das ist ihm nicht einmal bewußt geworden. Anfangs, als das Kind noch um seine Zuneigung warb, habe ich manchmal gesagt: „Reg, du hast nicht nur mich geheiratet, du hast auch ein Kind erhalten. Du mußt seine Persönlichkeit zur Kenntnis nehmen.“ Aber das gab ich bald auf. Reg hat kein Interesse für Kinder. Er weiß nicht, woran sie Spaß haben. Er weiß nicht, was sie kränkt oder traurig macht. Er weiß auch nicht, was sie am meisten brauchen: Anerkennung und Liebe. Reg überließ alles mir, und es ist mir auch gelungen, allein damit fertig zu werden. Ich kümmerte mich um Kleidung und Schularbeiten. Ich ging in die Elternabende, ich übernahm ein Lernkollektiv für schwächere Schüler. Ich erteilte Lob für gute Leistungen und kritisierte Trägheit und Versagen. Ich organisierte Geburtstagsfeiern und nahm an Wandertagen teil. Ich sorgte dafür, daß Friederike Sport trieb. Ich half ihr bei der Suche nach einem Beruf. Manchmal fuhr ich mit Friederike nach Dresden. Das waren die schönsten Stunden für uns: durch die Straßen zu bummeln, die Schaufenster zu betrachten, ein Eis in der Milchbar zu essen oder uns einen Film anzusehen. 85
Ich bereue es nicht, daß Friederike mein einziges Kind geblieben ist. Reg behauptete zwar immer, er wolle mit mir ein Kind haben, aber das war nur Gerede. Ich habe mich immer dagegen gesträubt. Ich erlebte ja täglich, wie wenig sich Reg um Friederike kümmerte. Sollte ein zweites Kind in gleicher Lieblosigkeit aufwachsen? Natürlich hatte Reg nicht viel Freizeit. Aber statt diese wenige Zeit mit uns zu verbringen, widmete er sie bald vollständig seinem seltsamen Hobby. Das heißt, mir erschien es als Hobby. Er selbst bezeichnete es als wissenschaftliche Forschung. Eines Tages, es muß vor etwa zehn Jahren gewesen sein, sagte er beim Frühstück: „Ich werde mir den Vorratskeller ausbauen.“ Ich blickte ihn verständnislos an. „Die Einmachgläser und Obsthürden haben auch im Kohlenkeller Platz. Den Vorratskeller baue ich mir zu einem Versuchslabor aus.“ „Du willst die Winteräpfel im Kohlenkeller lagern? Der Kohlenstaub verdirbt doch das Obst! Und außerdem, wozu brauchst du denn ein Labor? Das Kreiskrankenhaus fertigt alle Analysen an …“ „Keine Analysen. Tierversuche.“ „Tierversuche?“ „Mit Ratten.“ „Ja, aber um Himmels willen, Reg, wozu …?“ „Gisela, ich habe dir schon vor einiger Zeit gesagt, ich will hier heraus.“ „Das ist mir das Neueste. Aus Cronen?“ „Ich hab’ dieses Nest satt, satt, satt! Ich bin vierundvierzig, Gisela, und versauere hier als Kleinstadtarzt!“ „Du hast eine so schöne, verantwortungsvolle Arbeit …“ 86
Er höhnte: „Furunkel aufschneiden! Fieberzäpfchen verordnen! Welche Verantwortung!“ Reg schmierte sich verdrießlich ein Honigbrötchen. Dann sagte er ruhig: „Ich habe über neue Forschungen gelesen. Verhaltenslehre. Sehr interessant. Untersuchungen an Ratten, Fischen, Eidechsen, Spatzen. Ich will mich etwas damit beschäftigen und die Ergebnisse einem entsprechenden Institut vorlegen. Vielleicht könnte ich dann dort als Assistent weiterarbeiten.“ „Und wann willst du die Zeit dafür finden, Reg?“ „Dir ist es doch nur um deine Obsthürden zu tun!“ „Wenn du das Labor brauchst, dann mußt du es dir eben einrichten. Ich wünschte nur, die Arbeit lohnt sich.“ So begann das Unternehmen „Rattengesellschaft“. Zuerst räumte Reg den Vorratskeller aus. Dann weißte er ihn mit Kalklauge. Vom alten Köhler, der seine Tischlerwerkstatt schloß, besorgte er sich Arbeitstische aus dicken Bohlen. Er trieb einen Patienten auf, der ihm Drahtkäfige baute. In einer Zoohandlung entdeckte er riesige Aquarien. Hobelspäne lieferte ihm regelmäßig die Glaserei Wittekind. Schließlich war es soweit. Als er eines Abends durchs Gartentor fuhr, hupte er dreimal. Das war für mich das Zeichen herunterzukommen. Der Wagen stand vor der Haustür. „Hilfst du mir mal, den Kasten ins Labor zu bringen?“ fragte Reg liebenswürdig. Ich packte mit an. Der Kasten war nicht schwer, aber ungefüge. Reg ging rückwärts die Treppe hinunter, ich folgte ihm, unten stellten wir den Kasten auf einen Tisch. „Willst du mal sehen?“ fragte Reg und hob den Deckel ein wenig. Ich blickte in den Kasten und sah wimmelnde Schatten. Ein beizender Geruch drang aus der Kiste. 87
„Was ist da drin, Reg?“ Er hob den Deckel höher. Jetzt sah ich es: Ratten! Struppige graue Riesen mit langen, nackten Schwänzen. Eine Ratte stellte sich auf die Hinterbeine, ihre Barthaare zitterten, ich sah zwei spitze Vorderzähne. Entsetzt trat ich zurück. Reg lachte. „Sind sie nicht allerliebst, Gisela? Es gibt keine zärtlicheren Väter, Mütter, Kinder, Onkel, Tanten und Großeltern als diese Tiere. Nie würde eine die andere beißen. Sieh doch mal, wie die große Ratte die beiden kleinen unterkriechen läßt.“ „Ekelhaft!“ Er schloß den Deckel. „Du wirst dich an sie gewöhnen.“ Reg verbrachte nun jede freie Minute im Labor. Ich weiß nicht, was er da unten trieb. Ist es schon befremdlich, daß sich ein Mann stundenlang im Keller verkriecht – noch unbehaglicher war mir zumute, wenn ich daran dachte, in welcher Gesellschaft er sich befand. Trotzdem brachte ich lange Zeit für Regs Experimente Verständnis auf. Als er mir zwei Jahre später ein etwa vierzig Seiten umfassendes Versuchsprotokoll in die Maschine diktierte, war ich sogar stolz auf dieses Ergebnis. Und ich faßte einen schnellen Entschluß. Ich wollte Reg helfen, einen neuen Start zu versuchen. Unverfänglich erkundigte ich mich, welche wissenschaftliche Einrichtung sich für seine Experimente interessieren würde. Reg sagte, sie fielen in den Bereich der Zoologie. „Die Verhaltenslehre“, erklärte er, „untersucht das arttypische Verhalten und seine inneren Ursachen. Es ist ein völlig neuer Forschungszweig …“ 88
Ich hörte nicht weiter hin. David hatte einen Studienfreund gehabt, Arno Reinmacher, der von der Medizin zur Zoologie übergewechselt war. Nach Davids Tod hatte mir Reinmacher einen sehr lieben und tröstlichen Brief geschrieben, aber ich hatte die Verbindung nicht weiter aufrechterhalten. Ich wußte nur, daß er jetzt eine Professur hatte. Ich schickte Regs Manuskript an Reinmacher und unterbreitete ihm die Pläne meines Mannes. Ich bat den Professor, ob er mir, in Erinnerung an alte Zeiten, dabei behilflich sein könnte. Ein paar Tage später kam die Antwort. Reinmacher bat mich, wenn es mir irgend möglich wäre, selbst zu ihm zu kommen. Ich war ebenso aufgeregt wie glücklich. Ich erfand eine Stippvisite bei Friederike. Reg argwöhnte nichts. Reinmacher, bei dem ich mich telegrafisch angemeldet hatte, erwartete mich. Fast hätte ich ihn nicht wiedererkannt. Er trug jetzt eine Brille, sein Haar war grau geworden. Flüchtig dachte ich, ob David jetzt auch graue Haare hätte. Reinmacher war lieb wie in alten Tagen. Nachdem wir einige Erinnerungen ausgetauscht hatten, sagte Reinmacher: „Liebe Gisela, was ich Ihnen sagen muß, hätte ich nicht gern einem Brief anvertraut. Geschriebenes klingt immer so unwiderruflich.“ Mein Herz begann unruhig zu schlagen. Diese Einleitung ließ nicht viel Gutes erwarten. „Ich will Sie hier nicht mit den Problemen der Verhaltensforschung langweilen. Sie wird auch bei uns immer mehr praktische Bedeutung erhalten, beispielsweise bei der industriemäßigen Züchtung von Nutztieren. Aber was Ihr Mann da mit den Ratten in seinem Labor angestellt 89
hat – entschuldigen Sie, daß ich es so hart ausdrücke –, ist Spielerei. Ohne jeden Wert. Überhaupt nichts Neues. Er äfft längst bekannte Experimente nach. Ihrem Mann fehlt jegliche Selbständigkeit in der wissenschaftlichen Fragestellung.“ Ich schämte mich entsetzlich. Reinmacher sprach mir in seiner burschikosen Art Trost zu. Als ich mich verabschiedete, hätte ich beinahe Regs Versuchsprotokolle vergessen. Professor Reinmacher gab mir die Hand. „Ein tüchtiger Arzt wie er – und verrennt sich in solch abstruse Ideen! Machen Sie das Ihrem Mann in aller Freundschaft klar.“ Das war leichter gesagt als getan. Als ich spätabends nach Cronen zurückkehrte, war Reg glücklicherweise noch unterwegs. So brauchte ich ihm wenigstens nicht sofort die traurige Botschaft mitzuteilen. Der nächste Tag war ein Mittwoch. Reg hatte den Nachmittag frei. Als er nach dem Mittagessen aufstand und zu seinen Ratten gehen wollte, sagte ich: „Reg, ich habe ja wirklich nichts gegen die Ratten.“ Er blieb stehen und blickte mich mißtrauisch an. „Du kannst sie ja auch behalten und weiter damit spielen.“ „Spielen?“ rief er erbost. „Spielen!“ So berichtete ich ihm schweren Herzens, daß Professor Reinmacher Regs Versuche als Spielerei bezeichnet hatte. Anfangs befürchtete ich, Reg würde sich vernichtet in den Keller verkriechen. Aber Reinmachers Urteil schien sein Selbstbewußtsein überhaupt nicht erschüttert zu haben. Er erging sich in heftigen Schmähungen gegen den Professor: „Das ist ein 90
seniler Trottel! Ein theoretischer Holzwurm. Verkalkt durch sein Amt. So steril wie arrogant! Und der maßt sich ein Urteil über meine Versuche an! Ich will dir sagen, warum. Weil er Aktivität fürchtet! Weil er keine dynamischen Leute neben sich duldet. Nullitäten braucht er, Liebediener und Leisetreter und Lobhudler, die seine Göttlichkeit nicht in Frage stellen!“ Als ich vorsichtig versuchte, sein wutverzerrtes Bild von Reinmacher zu korrigieren, richtete er sofort das Feuer gegen mich: „Und du sei jetzt mal lieber ganz still. Statt diesen Reinmacher noch zu verteidigen, solltest du mir erklären, warum du diesem Banausen ohne mein Wissen das Manuskript gegeben hast!“ „Ich wollte dir doch helfen, Reg. Ich dachte, meine Bekanntschaft mit Reinmacher könnte dir den Weg ebnen.“ „Du siehst ja, was du wieder angerichtet hast. Mir Steine in den Weg gelegt. Ganze Felsbrocken! Dieser Mann hat doch seine Verbindungen und wird verhindern, daß ich Kontakt zu anderen Instituten aufnehme. Mein Gott, Gisela, du hast mich praktisch zum Tode verurteilt.“ Wie ein Kind, das an den Tisch schlägt, an dem es sich gestoßen hat, schlägt auch Reg wild um sich. Immer ist ein anderer schuld an seinen Schwierigkeiten, niemals er selbst. Aber es sollte noch schlimmer kommen. Unzufrieden mit sich und seinem Leben, begann nun Reg immer öfter, seinen angestauten Zorn nach außen, gegen andere, zu richten. Einige Wochen später fand im Klub der Intelligenz ein Diskussionsabend über internationale Fragen statt. Reg, der seit einiger Zeit dem Klubvorstand angehörte, sagte: „Da möchten wir wohl hingehen.“ „Wer kommt denn?“ 91
„Hans Malchin, Professor für Philosophie.“ Wir gingen also in den Klub. Der Dezemberabend war schneidend kalt, im Klubraum empfing uns die trockene Hitze der Gasheizung. Malchin, ein überraschend junger Mann, der trotzdem kein Haar mehr auf dem Kopfe hatte, ging in seinem Referat auch auf den konterrevolutionären Putsch in Ungarn ein. In der anschließenden Diskussion meldete sich Reg entgegen seiner Gewohnheit als erster zu Wort. „Herr Professor“, sagte er, „Sie haben versucht, den Zusammenhang dieser tragischen Ereignisse mit der Roll-Back-Politik des Weltimperialismus nachzuweisen. Sie haben uns mit vielen Einzelheiten vertraut gemacht, die diese Hypothese stützen sollen.“ „Das ist keine Hypothese“, warf Malchin ein, „sondern ein Fakt.“ „Ich betone“, fuhr Reg mit fast leiser Stimme fort, „daß ich Ihre Fakten akzeptiere. Aber was ich zu bedenken gebe, sind die vorschnellen Schlußfolgerungen, die Sie aus diesen Fakten ziehen. Ökonomische Interessen, politische Doktrinen, Klassenkampf – schön und gut, aber ich halte den Menschen für vielschichtiger. Die imperialistische Aggression ist die eine Seite – die andere ist die menschliche Aggressivität überhaupt.“ „Als Naturtrieb?“ fragte Malchin ruhig. „Wenn Sie so wollen, als Naturtrieb. Als Kampftrieb, der sich gegen den Artgenossen richtet. Unser tierisches Erbe, Herr Professor.“ Reg zerbiß das Wort „Professor“ förmlich zwischen den Zähnen. Nur ich verstand in diesem Augenblick, daß sich Reg nicht Professor Malchin, sondern Professor Reinmacher gegenübersah. 92
„Ich möchte Ihnen eine Beobachtung schildern, Herr Professor, die ich kürzlich in meinem Rattengehege machen konnte. Ratten sind untereinander recht friedliche Tiere, wenigstens innerhalb einer Sippe. Wehe aber, wenn ich eine Ratte aus einer anderen Sippe ins Nest setze. Was dann passiert, ist widerlich, schaurig. Der Fremdling kann minutenlang unbemerkt bleiben, bis schließlich eine Ratte von ihm Witterung nimmt. Da zuckt es wie ein elektrischer Schlag durch dieses Tier. Es stößt einen hohen gellenden Schrei aus, der die ganze Sippe alarmiert. Mit gesträubten Haaren, mit Augen, die fast aus dem Kopf quellen, macht sich die Rattensippe auf die Jagd nach dem Fremdling. Ersparen Sie mir Einzelheiten seines schrecklichen Todes – hier vollzieht sich ein Massaker, das menschliche Dimensionen annimmt.“ Reg schien die lähmende Stille nicht zu bemerken. „Wohlgemerkt, die Aggression richtet sich gegen den eigenen Artgenossen. Genau wie beim Menschen!“ „Der Schmerbauch mit der kahlen Platte!“ zitierte Schellhorn. „Das Unglück macht ihn zahm und wild. Er sieht in der geschwollenen Ratte sein ganz natürlich Ebenbild.“ „Sehr witzig!“ sagte Reg bissig. „Ich finde dieses Faustzitat auch sehr witzig“, warf Professor Malchin ein. „Es parodiert Ihre merkwürdige Theorie. Oder haben Sie nicht soeben eine Rattensippe als Gesellschaftsordnung bezeichnet?“ „Das Tier tritt uns in verschiedenen Gesellschaftsordnungen entgegen. Die Graugänse zum Beispiel als Gesellschaft der Liebe. Die Ratten als Gesellschaftsordnung des Parteienhasses. Das ist wissenschaftlich belegt!“ „Nun, Herr …“ „Doktor Ronn.“ 93
„Doktor Ronn, ich zweifle gar nicht daran, daß sich Ihre Ratten tatsächlich so verhalten haben. Aber …“ „Aber?“ „Aber mit der Beobachtung und Erklärung dieses Verhaltens ist Ihre Arbeit als Naturwissenschaftler beendet. Statt dessen beginnen Sie unwissenschaftliche Schlußfolgerungen daraus zu ziehen und landen bei einer durch und durch reaktionären Philosophie.“ „Nun, dann hat dieser Klub wenigstens auch seinen Konterrevolutionär. Darf ich wenigstens noch heimgehen und meine Zahnbürste holen?“ Ich erinnere mich noch, daß aus dem Gastzimmer in der unteren Etage das grelle Lachen einer betrunkenen Frau zu hören war. Aber hier oben war es unheimlich still. Rechtsanwalt Möbius wiegte unruhig seinen Kopf. Apotheker Schmalfuß sah auf die Tischplatte nieder. Oberleutnant Kant bewegte die Lippen, als formuliere er lautlos irgendwelche Einwände. Kreisarzt Dr. Thimm wechselte mit Hans Schellhorn einen Blick. Ich wäre am liebsten hinausgerannt. Dann hob Schellhorn die Hand, er meldete sich zu Wort. Ich hoffte inständig, er würde zu einem anderen Thema übergehen, um die gespannte Atmosphäre zu entladen. In diesem Augenblick sagte Reg prononciert laut in das Schweigen hinein: „Ich bitte um Entschuldigung.“ Ich atmete auf. „Aber ich wurde provoziert.“ Ich hielt es nicht mehr aus. Ich riß meine Handtasche an mich und stürzte hinaus. Ich hörte noch, wie Hans Schellhorn gerade sagte, Dr. Ronn möge doch bitte mal erklären, ob er an einem sachlichen Meinungsstreit überhaupt noch interessiert sei. 94
Im Vorraum setzte ich mich in einen Sessel und blieb still sitzen, bis ich mich wieder etwas beruhigt hatte. Warum lasse ich mich nur immer wieder aus der Fassung bringen? dachte ich. Ich hatte es doch in letzter Zeit öfter erlebt, wie er andere Menschen reizte, manchmal mit feinen Nadelstichen, manchmal mit der Keule, und wie er sich dann bitter beklagte, wenn sie zurückschlugen. Als ich nach einiger Zeit den Klubraum wieder betrat, hatte sich die Spannung anscheinend doch gelockert. Reg schien gerade einen Grundgedanken seiner Theorie entwickelt zu haben: „Es läßt sich also sagen, daß jede Tierart über stammesgeschichtlich erworbene, das heißt angeborene Verhaltensweisen verfügt. Diese verändern sich nach den Gesetzen der Mutation und der Selektion und ermöglichen die Anpassung an die Umwelt.“ Er blickte Malchin an, Malchin nickte zustimmend. „Nun hat man jedoch festgestellt“, fuhr Reg fort, „daß diese angeborenen Verhaltensweisen äußerst stabil sind. Selbst der Mensch behält Verhaltensweisen bei, die er in stammesgeschichtlich weit zurückliegenden Entwicklungsstufen, also in der Reihe seiner tierischen Vorfahren, erworben hat. Es ist unglaublich für einen Laien, bis in welche Einzelheiten ein liebestoller Mann einem balzenden Vogelmännchen gleicht. Es ist genauso unglaublich, wie alle menschlichen Konflikte, bis zu Revolution und Krieg, dem Aggressionstrieb der Tiere ähneln!“ „Nun, wer mit so viel Beredsamkeit seine Verwandtschaft mit dem Tier betont, sollte sich allerdings das Tier etwas genauer ansehen. Da Sie ein sehr belesener Mann sind, kennen Sie doch sicher die neuesten Forschungen über die Lebensweise der Menschenaffen. Das sind sehr friedliche kooperative Tiere, die keinerlei erblich bedingte Aggressionen zeigen.“ 95
„Bei den Ratten ist das anders.“ „Warum blicken Sie so fasziniert in den Rattenkäfig? Was drängt Sie, eine höhere Entwicklungsstufe wie die menschliche Gesellschaft auf die niedere des Tieres zurückzuführen?“ „Sie hat sich daraus entwickelt.“ „Aber auch darüber hinaus.“ „Auch der Mensch ist ein biologisches Wesen.“ „Was niemand leugnet. Aber nicht nur ein biologisches Wesen allein. Was unterscheidet den Menschen vom Tier? Er produziert selber, was er zum Leben braucht. Arbeit ist ein gesellschaftlicher Vorgang. Der Mensch ist also nicht nur ein biologisches, sondern auch ein gesellschaftliches Wesen, nicht nur ein Produkt der Natur, sondern ein Produkt seiner eignen Geschichte. Aber Sie verengen den Menschen zu einem blinden Triebwesen.“ Malchin griff nach dem Bierglas und trank einen Schluck. Dann wischte er sich den Mund und wandte sich an alle: „Das Verhalten von Tieren zu untersuchen ist die eine Sache. Eine andere ist es, daraus Schlußfolgerungen für den Menschen zu ziehen.“ „Tasten wir nur ja nicht die Würde des Menschen an!“ rief Reg dazwischen. „Der Mensch ist doch so erhaben! Die Krone der Schöpfung! Aber die Verhaltensforschung stürzt ihn von diesem Sockel herab!“ „Indem sie soziale Konflikte aus der biologischen Fehlentwicklung des Menschen erklärt. Den Krieg als naturgegeben, als angeborene, ewige menschliche Äußerung. Herr Doktor Ronn, das hat wohl mit Wissenschaft nichts mehr zu tun! Das ist reaktionärste Gesellschaftsphilosophie!“ „Wenn ich derart mißverstanden werde“, sagte Reg in 96
beleidigtem Ton, „werde ich eben meine Konsequenzen ziehen.“ Er erhob sich. „Nehmen Sie bitte zur Kenntnis, Herr Schmalfuß, daß ich meine Mitarbeit im Vorstand niederlege. Ich möchte der Klubleitung nicht zumuten, mit einem Reaktionär an einem Tisch zu sitzen.“ Dr. Schmalfuß, der Klubvorsitzende, blickte sich hilflos um. Ein rascher Entschluß fiel ihm schwer. Schließlich murmelte er: „Nun, ich weiß wirklich nicht …“ Ich fühlte, daß ich etwas tun mußte, und meldete mich zu Wort. Erleichtert sagte Schmalfuß: „Ja bitte, Frau Ronn.“ Malchin wandte mir seinen Blick zu. Reg schaute gekränkt in die Luft. Ich sagte: „Wahrscheinlich ist jetzt hier ein ganz falscher Eindruck entstanden. Und ich bin wohl im Moment die einzige, die diesen Eindruck korrigieren kann. Mein Mann hat diese Tierversuche sehr ernsthaft betrieben. Leider stieß er mit seinen Ergebnissen auf das Unverständnis eines maßgeblichen Zoologen. Deshalb reagierte mein Mann heute abend so empfindlich. Er steht noch ganz unter dem Eindruck der Meinungsverschiedenheit mit Professor Reinmacher. Es ging meinem Mann bestimmt nicht darum, sich über historische Gesetzmäßigkeiten zu äußern. Er wollte seine Versuche, seinen Forscherdrang rechtfertigen.“ Einige nickten beifällig. Malchin sah nicht aus, als hätte ihn meine Erklärung überzeugt. Aber da Reg plötzlich die Lust zu weiteren Angriffen verloren hatte, wandte man sich schließlich einem anderen Problem zu. Natürlich richtete sich Regs Zorn zu Hause wieder gegen mich. „Du glaubst, du hättest mir mit deinem Ge97
rede geholfen! Blamiert hast du mich! Dich ausgerechnet auf diesen Reinmacher zu berufen! Mich so lächerlich zu machen!“ Pathetisch schrie er: „Warum muß mir immer so etwas passieren!“ Immer häufiger versuchte nun Reg, mich für alles verantwortlich zu machen, was ihm mißlang. Er empfand Vergnügen, mich zu demütigen. So begann er beispielsweise, mich beim Essen zu beobachten. Reg ißt ziemlich hastig, besser gesagt, er schlingt alles in sich hinein. Da er außerdem wenig ißt, hat er seine Mahlzeit immer eher beendet als ich. Mich zwingt mein künstliches Gebiß dazu, bedächtig zu kauen. Obwohl ich gern esse, bin ich nur mit halber Freude dabei. Jeder Bissen scheint mich aufzuquellen. Eine Woche Nahrungsaufnahme ohne Zurückhaltung bringt drei Wochen Selbstvorwürfe und Fasten mit sich. Verringere ich dann mein Gewicht um einige Pfund, wächst mein Hunger danach um so stärker. Ein tückischer Kreislauf, über den ich keine Macht habe. Reg begann also damit, mir beim Essen zuzuschauen. Er legte sein Besteck auf den Teller, stützte die Ellbogen auf den Tisch und das Kinn auf die gefalteten Hände. Dann blickte er mich an. Ich tat, als bemerkte ich es nicht. Das hält man nicht lange durch. So stellte ich törichte Fragen: „Ist was?“ Oder: „Wolltest du mir etwas erzählen?“ Reg verneinte. „Laß dich nicht stören.“ Nach einer Weile schob er mir die Schüssel mit dem Gulasch oder die Platte mit den Koteletts zu und fragte freundlich: „Möchtest du noch ein Häppchen kosten?“ 98
Irgendwann, irgendwo hatte ich diesen Satz einmal gesagt, und nun klang er mir aus Regs Mund als scheußliche Parodie entgegen. Dabei weiß Reg ganz genau, wieviel Appetitszügler ich schon probiert, wie viele Schlankheitskuren ich schon ohne Erfolg hinter mich gebracht habe. Natürlich mokierte sich Reg auch bald über die ersten Anzeichen meines Alterns. Er hat gut reden. Er ist nicht nur mehrere Jahre jünger als ich, er wirkt auch viel jünger. Statt glücklich über dieses Geschenk der Natur zu sein, betrachtet er es als sein eigenes Verdienst. Bei jeder Gelegenheit hält er mir vor, ich würde mich vernachlässigen. Dabei versuche ich alles, gepflegt auszusehen. Was ich nie tun wollte, habe ich getan: die ergrauenden Haare blondiert. Ich trage Schuhe mit höheren Absätzen. Ich pudere und schminke mich auch. Ich mache jede Mode mit. Und trotzdem mußte ich eines Tages entdecken, daß Reg eine andere Frau liebt. Reg will und kann nicht begreifen, daß alle Dinge ihre Zeit haben. Ein blühender Baum paßt nicht in den Herbst. Welke Blätter beunruhigen uns nur im Mai. Wir müssen uns damit abfinden, daß wir eines Tages die Zähne verlieren, Krampfadern bekommen und die Haut sich furcht. Gewöhnlich tragen das Eheleute leichter, sie altern miteinander. Reg aber scheint zu glauben, er bliebe ewig jung. Armer Reg, dafür wird es eines Tages plötzlich über dich kommen. Und dann ist nur ein Mensch da, der dich versteht. Ich, deine Frau. Heute glaube ich, Regs ironische Kritik war immer nur ein Scheingefecht. Er suchte sich einfach ein Alibi für seinen Seitensprung. Es schlägt schon halb vier. Vielleicht kann ich doch 99
noch etwas schlafen. Ich glaube, nun wird vielleicht doch noch alles gut werden.
STEFFI KUNTZE Sonnabend, 10. September, nachts Schon der zweite Verkehrsunfall heute nacht. Diesmal ein Motorradfahrer. Soll gegen einen Baum geprallt sein. Milzriß, schwere innere Blutungen. Die Operation wird vorbereitet. Inzwischen bestimme ich die Blutgruppe des Verunglückten. Wenigstens bin ich beschäftigt. Manchmal, wenn ich Nachtbereitschaft habe, passiert gar nichts. Dann sitze ich da, höre Radio, schlafe, wache auf, trinke Kaffee und ärgere mich über die verlorene Zeit. Die Zentrifuge sirrt. Die Blutkörperchen trennen sich von der Serumflüssigkeit. Könnte ich doch Reg auch so einfach von Gisela trennen! Zwanzig Jahre sind die beiden miteinander verbunden. Glücklich ist keiner dabei. Das heißt, wahrscheinlich ist Gisela glücklich. Denn sie hat doch nichts auszustehen. Sie bläst sich auf als die arme betrogene Ehefrau und spielt die Märtyrerin. Das gibt ihr ständig neuen Antrieb, sich auf alle mögliche Weise an Reg zu rächen. Sie ist richtig erfinderisch im Aushecken immer neuer Gemeinheiten. Sie beherrscht alle Tricks, von der feinen Ironie bis zur Erpressung. Jetzt entnehme ich der Zentrifuge die vom Serum getrennten Blutkörperchen und schwemme sie in physiologischer Kochsalzlösung auf. 100
Aufschwemmung – ich kann an dieses Wort niemals denken, ohne dabei Giselas aufgeschwemmten Korpus vor mir zu sehen. Ich kann verstehen, daß ein sensibler Mann wie Reg an den Massen der Gattin leidet. Gisela beruft sich zwar auf hormonale Störungen, und wahrscheinlich kann sie wirklich nichts dafür, daß ihr Gewicht auf 185 Pfund gestiegen ist. Aber daß Reg fast physischen Abscheu davor empfindet, ist ebenfalls eine Tatsache. Und wenn sie dauernd so schwitzt, könnte sie doch wenigstens Reg zuliebe ein Desodorant verwenden. Wer so viel ästhetisches Feingefühl wie Reg besitzt, muß von alldem peinlich betroffen sein. Und Liebe läßt sich nicht herzaubern, wenn die physische Anziehung erloschen ist. Außerdem ist sie an allem selber schuld. Sie ist so schrecklich unmodern. Sie kann einfach nichts aus sich machen. Und sie will es auch gar nicht. Einmal sagte Reg zu ihr: „Warum benutzt du eigentlich nie einen Lippenstift?“ „Wozu soll ich denn einen Lippenstift nehmen?“ „Weil dir das etwas Farbe gibt, etwas Leben.“ „Du willst also sagen, ohne Lippenstift sehe ich alt und scheußlich aus!“ „Das habe ich nicht gesagt …“ „Genau das hast du gesagt! Eine Frau, die sich noch natürlich gibt, mißfällt dir. Aber diese angemalten Puppengesichter …“ Es folgte dann noch ein längerer Vortrag Giselas, in dem sie tränenreich forderte, wenn Reg sie nicht um ihrer selbst willen liebe, solle er es gefälligst sein lassen. Dann fügte sie noch hinzu: „Aber da du anscheinend erst glücklich bist, wenn ich auch so herumlaufe wie tausend andere – bitte! Dann werde ich eben Farbe auflegen!“ 101
Und Gisela legte auf. Anscheinend verwechselt sie Gesichtskosmetik mit Ölmalerei. Sie sah mit ihrem verschmierten zyklamenroten Mund, der Puderschicht und den dickschwarzen Augenbrauen so lächerlich aus, daß Reg das einzige tat, was sie bezweckt hatte; er sagte: „Laß es lieber sein, Gisela.“ Aber sie läßt es nicht sein. Sie macht sich einen Spaß daraus, Reg öffentlich zu blamieren. Sah ich doch neulich, wie mir Gisela auf der Bahnhofstraße entgegenkommt. Immer mit der Ruhe, dachte ich, sie kennt dich ja nicht. Ich konnte gerade noch ein Lachen unterdrücken. Gisela kam in einem Dirndlkleid dahergestampft. Ihr faltiger Hals wuchs massiv aus dem lächerlichen Spitzenbesatz des Ausschnitts hervor. Der Saum des Ärmels grub sich tief in die fleischigen Oberarme ein. Das Mieder platzte fast aus den Nähten. Und dann die weiße Schürze über dem Bauch, es war urkomisch! Hinter ihr gingen grinsend zwei junge Burschen, und ich hörte, wie der eine sagte: „Kiek ma die Olle. Hasch mir, ick bin der Friehling!“ Sicherlich denken die Cronener nicht viel anders über ihre liebe Frau Doktor Ronn. Reg hat es wirklich nicht leicht. Aber wer will schon so einer Frau klarmachen, daß man sich nicht gewaltsam wieder jung machen kann. Daß man höchstens zum Gespött der Leute wird. Wenn der Zug ’raus ist, kommt er nicht wieder zurück. Reg sagt auch immer, ein Mann, der noch auf der Höhe seiner Leistungskraft steht, braucht eine junge Frau, sonst wird er selber zu schnell senil. Das ist eben ein Naturgesetz. Sie hat ja auch alles mögliche angestellt, um Reg und 102
mich auseinanderzubringen. Nicht etwa mit plumpen Drohungen, o nein! Sondern auf die feine englische Art. So entdeckte Gisela plötzlich ihre Vorliebe fürs Frühaufstehen. Und zwar immer dann, wenn Reg mit mir zusammen die Nacht auswärts verbracht hatte. Meistens machte er sich dann gegen fünf auf, um rechtzeitig vor Beginn der Sprechstunde daheim zu sein. Lieber schlief er zu Hause noch eins, zwei Stunden, aber er mußte das Gefühl haben, sich nicht abhetzen zu müssen. Und siehe da, seit Gisela von unserm Verhältnis wußte, stand sie plötzlich bei Regs Heimkehr auf und kochte ihm Kaffee und weiche Eier. Nicht aus Fürsorglichkeit, sie hatte ganz andere Gründe. Das war für sie die fröhliche Folterstunde. „Na, mein Lieber, hattest du eine gute Fahrt?“ flötete sie und schüttete Kaffee auf das Filterpapier. „Gab es diesmal auch keine knarrenden Betten?“ fragte sie besorgt und füllte das kochende Wasser ein. „Wie war sie denn heute, deine Steffi? War sie gut?“ höhnte sie und goß Kaffee und Milch in die Tasse. Ich bewundere Reg immer wieder, daß er diese Sticheleien so ruhig über sich ergehen läßt. Aber Männer haben da wohl ein dickeres Fell. Vielleicht liegt es auch nur an seiner Großzügigkeit. Und weil er weiß, daß Gisela schwer krank ist und es nicht mehr lange machen wird. Reg sagt immer, diese kleinen Gemeinheiten wären gar nicht das schlimmste. Viel furchtbarer sei die jahrzehntelange Vergiftung seines Lebens durch Gisela. Alle Versuche, noch etwas aus seinem Leben zu machen, hat sie ja systematisch hintertrieben. Als er damals hoffte, mit Hilfe seiner Tierversuche noch die wissenschaftliche Laufbahn einschlagen zu kön103
nen, war es Gisela, die ihm alles versaute. Der Gedanke, sie müßte eines Tages wegen Reg mit nach Berlin oder Leipzig ziehen, entsetzte sie. Sie hängt mit allen Fasern an diesem Kaff und an ihrer Villa. Ebenso schrecklich war ihr aber auch der Gedanke, Reg könnte die Woche über allein in der Universitätsstadt wohnen. Das ließ ihre Eifersucht nicht zu. Sie wollte ihn immer am Gängelband haben. Immer sollte er von ihr abhängig bleiben. Jeden Versuch zur Selbständigkeit erstickte sie schon im Keim. Was hat sie nicht alles unternommen, um die Rattenexperimente zu hintertreiben! Instinktiv witterte sie in den Ratten eine Gefahr für ihren Besitzanspruch. Womit sie ja auch gar nicht so unrecht hatte. Erst versuchte sie es mit Gejammer: „Ach, diese Ratten, nein, wenn ich das Fell anfassen müßte, ich würde tot umfallen!“ „Dann faß es doch nicht an!“ Einige Wochen später: „Um Himmels willen, da sind ja ganz kleine Ratten dabei. Die haben sich doch nicht etwa vermehrt?“ „Das war nicht zu verhindern, Gisela.“ „Und wenn sie durch das Gitter kriechen? Die Tür zernagen? Ins Haus eindringen, in die Zimmer?“ „Direkt ins Schlafzimmer. In dein Bett. Nachts trippeln dir kalte Pfötchen übers Gesicht.“ Nach Monaten, als Reg die Ratten immer noch hatte, begann sie demonstrativ Fichtennadelessenz zu versprühen, sobald Reg ins Zimmer trat. Während sie auf das Gummibällchen drückte, schnupperte sie eifrig an Reg herum. „Sag mal, was riecht da bloß so merkwürdig? Dein Haar? Oder deine Wäsche? Ich glaube, du nimmst bereits die Ausdünstung dieser Tiere an, Reg.“ Es ist wirklich nur reines Mitleid, wenn Reg noch im104
mer bei dieser Frau ausharrt. Aber gerade seine Anständigkeit macht ihn mir doppelt liebenswert. Daran erkennt man eben seinen Charakter. Er könnte es sich ja leicht machen und sagen, was geht mich diese Frau noch an, ich gehöre zu Steffi. Aber wenn er das täte, würde ich denken: Wenn er seine erste Frau einfach so abschiebt – könnte er das nicht auch eines Tages mit mir tun? Reg soll anständig bleiben bis zuletzt. So, nun das verdünnte Empfängerserum auf die Tüpfelplatte. Dazu Testserum alpha. Verklumpung. Gisela und Reg. Gisela, für sich allein gesehen, mag ja ein ganz passabler Mensch sein. Verbunden mit Reg, gibt es nur eine häßliche Verklumpung. Aber ich – ich bin eben für Reg die richtige Blutgruppe. Sozusagen Blutgruppe Null, die sich mit allem verträgt. Reg und ich, wir passen zusammen. Keine Verklumpung, die ideale Verbindung. Zweite Tüpfelplatte. Testserum beta. Wieder Verklumpung. Also Blutgruppe AB. Nun noch die Kreuzprobe. Telefon. Mensch, können die nicht noch eine Sekunde warten! „Labor. Kuntze. Wie? Na dann nicht.“ Abgang der Milz. Die ganze Arbeit umsonst. Schnell noch die Instrumente reinigen, dann habe ich wieder Ruhe. Also, das muß ich Reg wirklich mal erzählen: Ich bin für ihn die Blutgruppe Null. Vielleicht macht er ein neues Kosewort daraus: meine kleine Null. Süß! 105
DOKTOR RONN Sonntag, 11. September, abends So, die Ratten wären gefüttert. Viel ist nicht übriggeblieben von der stolzen Sippe. Ich habe sie in letzter Zeit ziemlich vernachlässigt. Seit feststeht, daß Gisela nicht mehr lange dasein wird, habe ich merkwürdigerweise das Interesse an den Ratten verloren. Ich staune über mich selber, wie gut gestern nacht alles geklappt hat. Alle Befürchtungen, ich könnte mich durch irgendeine Unachtsamkeit doch noch verraten, waren umsonst. Gisela hat mein Geständnis geschluckt. Ich finde, es war psychologisch sehr fein berechnet. Kein großer Aufwand, kein Seelenschmalz, kein Pathos, ganz einfach: „Übrigens, mit Steffi habe ich Schluß gemacht.“ Zuerst sah es allerdings so aus, als hätte ich einen schweren Fehler begangen, als ich Gisela unerwartete Liebesbezeigungen erwies. Wie konnte ich das nicht bedenken! Man macht nicht unvorbereitet Annäherungsversuche an eine Frau, der man seit Jahren deutlich genug seine Abneigung gezeigt hat. Von irgendeiner Berührung gar nicht zu reden. Gisela war ganz schön erschrocken. Dabei hatte ich ihr nur einen Kuß auf die Stirn gegeben. Da fuhr sie auch schon hoch und schrie: „Was ist denn los, Reg, was ist denn nur los mit dir?“ Nur ein Kuß. Ich Unglücksrabe! Aber meine Intelligenz ließ mich nicht im Stich. Ich zog mich einfach beleidigt zurück und murmelte: „Du machst es mir wirklich schwer, dir meine Liebe zu beweisen“ oder etwas in der Art. Da schien es, als würde 106
sie weich. Wie ein Berg Himbeereis, der von der Waffel rutscht und zu Boden platscht. Sie musterte mich durchdringend, warf sich der Länge nach hin und starrte zur Zimmerdecke empor. Sie sagte nichts. Und ich hütete mich auch, etwas zu sagen. Jetzt nur nicht wieder etwas falsch machen! Abwartend betrachtete ich meine auf der Bettdecke gefalteten Hände. Plötzlich erzitterte das Bett. Gisela hatte sich auf die Seite geworfen. Und schon spürte ich ihren Kopf auf meinem Oberarm. Ihr Haar kitzelte mein Ohr. Aber ich rührte mich nicht. „Ist das wirklich wahr, Reg?“ fragte sie mit ihrer imitierten Kinderstimme, die sie immer annimmt, wenn sie etwas aus mir herauspressen will. Wie ich diese heuchlerische Wertlosigkeit hasse! Aber die Hoffnung, mich wieder einfangen zu können, machte sie blind. Wie ein Krake, dachte ich, der seine Saugnäpfe vorschnellt, um sein Opfer festzuhalten, und nicht merkt, daß er ins offene Messer stößt. Weil sie glauben wollte, daß ich mich wieder in ihre Fangarme zurückbegebe, glaubte sie mir. So einfach ist das. Ich habe keine Skrupel, nein, bestimmt habe ich die nicht. Gisela hat es ja nicht anders gewollt. Nichts ist mehr rückgängig zu machen. Sie täuscht sich nur selbst, wenn sie glaubt, wir könnten von vorne anfangen. Sie hat ein Spiel gespielt, darin kann nur einer gewinnen. Ihr Spiel hieß: Ich will einen Mann, den ich unterjochen kann, bis er hilflos ist wie ein Kind. Und dann biete ich ihm großmütig meine Hilfe an und sonne mich in meiner eignen Güte. 107
Dieses Spiel hat sie verloren. Hinter ihrer sogenannten Hilfsbereitschaft und Fürsorge verbirgt sich nur Despotie. Warum kommt denn ihre Tochter Friederike niemals hierher nach Cronen? Warum muß immer Gisela bis nach Thüringen fahren, wenn sie ihre Tochter einmal sehen will? Sie weiß schon warum. Freiwillig setzt nicht mal Friederike den Fuß in diese Villa, in der nur Giselas Machtanspruch gelten soll. Hätte ich doch wenigstens gleich am Anfang gemerkt, daß sie mich eingefangen hatte wie die Spinne das Insekt. Plump und einfach eingefangen auf die banalste und phantasieloseste Weise. Ich weiß noch, am dritten Weihnachtsfeiertag, als ich nachts heimkam. Sie brachte mir Glühwein. Ich hätte diesen Trick durchschauen müssen! Wein, Stimmung, Lachen und nicht viel unterm Morgenrock! Sie hatte gleich bemerkt, daß ich Charakter habe und eine Frau danach nicht sitzenlasse. Als es geschehen war, fragte sie mich vorwurfsvoll: „Bist du jetzt glücklicher?“ Diesen Satz habe ich nie vergessen. Jedesmal danach habe ich ihn wieder erwartet. Aber sie sagte ihn nicht mehr, sie ließ mich fühlen, welch große Gnade sie mir jedesmal erwies. Hingabe nannte sie es. Eine Gabe! Ein Geschenk! Ich habe keinen Spaß mehr an der Sache gehabt, weil es ihr keinen Spaß machte. Aber ein grobschlächtiger Mensch wie sie hat dafür kein Gefühl. So fing alles an. Wo die Liebe fehlt, nistet sich Gleichgültigkeit ein. Und wenn Herrschsucht dazukommt, wird aus der Gleichgültigkeit bald Haß. Ich war schon sieben Jahre Arzt, als sie sich in meine Praxis einmischte und mir jeden Schritt vorschrieb. Da 108
führte ich meine Kartei nicht richtig, da mußten die Patienten zu lange warten, da betonte ich zu sehr meine Autorität – dutzendweise könnte ich ihre Vorwürfe aufzählen! Aber sie wollte ja auch nicht mich. Sie wollte irgendeinen Mann, irgendeinen, der zufällig Arzt war. Er sollte ihr die Villa und den gewohnten Lebensstandard erhalten. Ihre gesellschaftliche Stellung in der Kleinstadthierarchie als „Frau Doktor“. Jahr für Jahr, wenn dieser oder jener Kollege zum Sanitätsrat oder Medizinalrat ernannt wurde, stellte sie mir die gleiche Frage: „Und du? Warum bist du diesmal wieder nicht dabei? Warum bemühst du dich nicht darum, wenigstens mir zuliebe?“ Sie hat von meiner Arbeit nicht das mindeste begriffen. Als ich Schellhorns vor einem zweiten Kind warnte. Oder als ich von Peter verlangte, die Katze abzuschaffen. Oder … Ich könnte hundert Beispiele aufzählen. Schellhorn hat mir später für meinen offenen Rat gedankt. Und Peters Mutter sagte mir nach Jahren: „Wir hätten keinen ruhigen Augenblick mehr gehabt, wenn die Katze im Haus geblieben wäre. Immer die Angst, der Junge könnte sich von neuem was holen!“ Aber alle Beweise für die Richtigkeit meiner Entscheidungen hinderten Gisela niemals daran, sich weiterhin wie der liebe Gott aufzuspielen. Professor Reinmacher schob sie vor, um meine wissenschaftliche Laufbahn zu durchkreuzen. Im Klub stellte sie mich als Doofmann hin. Vor Tochter und Schwiegersohn, weil ich keinen Titel bekam, als Versager. Und das alles unter der Beteuerung, sie wolle mir ja bloß helfen! Was ich bin, bin ich ohne sie geworden! Ich brauche ihre Hilfe nicht, ich habe sie nie gebraucht! 109
Ich kann mir selber helfen! In den letzten Tagen habe ich unablässig darüber nachgedacht, wie ich zu Werke gehen muß. Absturz auf der Bastei – lächerlich! Ein Grab im Wald – einfallslos! Mein Plan muß ebenso einfach, wie wissenschaftlich exakt sein. Die meisten, die so etwas vorhaben wie ich, sprechen sich selber das Todesurteil. Sie glauben, nur ein komplizierter Plan sei auch todsicher. Irrtum! Je mehr Rädchen ineinandergreifen, desto größer wird auch die Gefahr einer Panne. Da vermasselt der eine sein Alibi. Der andere läßt den Jackettknopf zwischen den Fingern seines Opfers zurück. Und wer kalkuliert schon den Zufall ein! Da brennt die Sicherung durch, wenn sie grade im Fahrstuhl stecken. Oder die Freundin des Opfers kommt plötzlich zu Besuch. Schnee ist überraschend gefallen, und das Muster der Schuhsohlen bleibt als Visitenkarte zurück. Und dann all diese idiotischen Versuche, seine Spuren zu verwischen! Jeder Versuch, sie zu beseitigen, hinterläßt neue Spuren. Alles Dilettanten! Nur wer bei einer solchen Sache wissenschaftlich vorgeht, hat Erfolg. Die Wissenschaft ist fähig, eine Raumsonde auf dem Mars zu landen. Sie kann Wüsten in Weizenfelder verwandeln. Warum sollte sie dann nicht mir zu dem bißchen Glück verhelfen, auf das ich ein Recht habe wie jeder Mensch. Und das mir durch die Ehe mit Gisela zwanzig Jahre lang versagt blieb. Der wissenschaftlich berechnete Mord – das ist meine einzige Chance. Nicht jeder besitzt sie. Aber ich. Ich 110
bin Arzt, ich kenne mich aus in den Geheimnissen des Körpers. Giselas Leiche darf kein Zeichen von äußerer Gewalt zeigen. Der Tod muß ganz natürlich aussehen. Am besten wie Herzschlag. In diesem Fall schreibt der Leichenschauarzt den Totenschein aus, und alles geht seinen Gang. Vermutet er aber einen unnatürlichen Tod, beantragt er eine Sektion. Dann wird es ernst. Dann ist meine Chance gleich Null, die Tat verheimlichen zu können. Deshalb muß ich den wachsamen Augen meiner Herren Kollegen entgehen. Ich muß verhindern, daß sie ihre Augen überhaupt auf mich richten – indem ich verhindere, daß ihnen Gisela auf den Tisch gelegt wird. Tod durch Kreislaufversagen, so muß es aussehen. Jetzt muß ich mir nur noch überlegen, wie es tatsächlich geschehen soll. Es muß eine Todesart sein, die die Annahme eines Herzschlages nahelegt. Äußere Gewalteinwirkung scheidet aus. Dazu bin ich auch nicht fähig, das hat sich schon damals auf der Bastei erwiesen. Nein, es muß geschehen, wenn ich gar nicht da bin. Ich darf sie nicht ansehen, wenn es geschieht, und ich darf ihr keine Gelegenheit geben, mich anzusehen. Ich darf nicht dabeisein! Das hätte noch einen Vorteil: Ich besäße ein Alibi. Am besten, es geschieht, wenn ich mit Steffi am Schwarzen Meer bin. Zweitausend Kilometer entfernt! In Frage kommt natürlich nur Gift. Es müßte ein Gift sein, das keine sichtbaren Spuren hinterläßt, damit Herzschlag vermutet werden kann. Arsenik vielleicht? Es wirkt zu gewaltsam, zu explosiv. Außerdem führt es zu körperlichen Veränderungen. 111
Oder Zyankali? Kommt auch nicht in Frage. Wie sollte ich Gisela veranlassen, freiwillig Zyankali zu sich zu nehmen? Denn das ist das Hauptproblem, das ich noch lösen muß. Gisela müßte ja, während ich weit weg bin, das Gift freiwillig einnehmen. Wie erreiche ich das? Ich könnte das Gift als ein Medikament ausgeben. Morphium? Verengt die Pupillen. Das fiele bei der Leichenschau bestimmt auf. Atropin? Hat die entgegengesetzte Wirkung, also auch unbrauchbar. Oder ein Schlafmittel? Das wäre zu überlegen. Ein Barbiturat am besten. Der Tod erfolgt durch Lähmung des Atemzentrums. Voriges Jahr hatte sich eine fünfzehnjährige Schülerin mit einer Überdosis Schlaftabletten das Leben genommen. Wenn wir nicht durch die äußeren Umstände – leeres Tablettenröhrchen und Tablettenreste auf dem Tisch – aufmerksam geworden wären, hätte ich an der Leiche nichts Auffälliges entdeckt. Ich sollte im Lehrbuch für Pharmakologie über Barbiturate nachlesen und darauf meinen Plan aufbauen. Zum ersten Mal muß ich jetzt an das Wort „Mord“ denken. Bisher nannte ich es einfach „Giselas Tod“. Aber es ist Mord. Trotzdem sträubt sich etwas in mir, dieses Wort zu gebrauchen. Ja, ich finde es sogar höchst unpassend, mich als Mörder zu bezeichnen. Wer ist schon Mörder schlechthin? Die meisten Mörder kommen durch Zufall und nur ein einziges Mal in die Verlegenheit, so etwas zu tun, 112
und auch das nicht gerade begeistert. Sie sind also Mörder für eine Minute oder Stunde oder, wenn es hoch kommt – ich meine mich selbst –, für wenige Tage. Und was wiegt ein solch kurzer Augenblick angesichts eines ganzen Lebens! Man versteht mich. Mörder ist eine reine Abstraktion. Mörder sein ist keine Dauererscheinung, sondern ein Ausnahmezustand. Haben wir den Mord erst hinter uns gebracht, sind wir wieder Vater, Arzt, Steuerzahler und Straßenverkehrsteilnehmer. Ich werde meinen Plan noch genau ausarbeiten. Wie bringe ich Gisela dazu, während meiner Abwesenheit das Gift zu nehmen? Wofür ich mich auch entscheide – mein Plan muß ein Meisterwerk der Logik sein, die Krönung meiner Intelligenz. Das Weißbrot ist verschwunden. Die Ratten haben reinen Tisch gemacht. Es ist gleich neunzehn Uhr. Ich muß mich noch umziehen und zu Abend essen. Winters wollen um acht kommen.
DOKTOR WINTER Sonntag, 11. September, abends Man kann sagen, was man will: Ronns Heim hat Atmosphäre. Nicht, daß ich sie bei mir zu Hause vermisse und ihn deshalb beneide. Ich bin in dieser Hinsicht ziemlich anspruchslos. Bei Ingrid, meiner Frau, ist es da schon ein wenig anders. Ihr imponiert diese weinlaubumrankte Villa, der Erker mit seinen porphyrgefaßten Fenstern, die 113
gediegene Gemütlichkeit des Wohnzimmers, die dicken Teppiche, die den Schritt dämpfen, die tiefen Sessel und die alten Kupferstiche an den Wänden. „Es hat eben Stil“, sagt Ingrid und schaut mich dabei herausfordernd an. Und ich antworte dann etwa: „Na, wennschon, aber einen altväterlichen.“ Oder: „Wenn es nach mir ginge, schliefe ich auch auf dem Fußboden.“ Dann nickt Ingrid resigniert, nur einmal, ein einziges Mal, entgegnete sie: „Ronn weiß eben, wie man es einer Frau gemütlich macht.“ Na, ich bin ihr deshalb nicht böse. Ich weiß, daß Ingrid eine kleine Schwäche für Ronn hat. Und sie weiß, daß ich es weiß. Manchmal ziehe ich sie deswegen ein bißchen auf, manchmal macht sie sich sogar selbst darüber lustig. Wenn ich mir’s genau überlege, ist auch Ingrid die treibende Kraft gewesen, daß wir uns mit Ronns etwas befreundet haben. Und meistens ist sie es, die unsere Besuche bei Ronns arrangiert. Vielleicht täusche ich mich auch. Vielleicht täuscht sich Ingrid selbst. Vielleicht ist es gar nicht Ronn, der sie anzieht, sondern die Atmosphäre: Ronn über Plüschteppiche schreitend. Ronn im Sessel versinkend. Ronn vor einem Kupferstich von 1724: „Fälschlich schmeichelnder Tiger“. Einen gewissen Eindruck macht Ronns Häuslichkeit aber auch auf mich. So wie einen Dinge in einem Museum beeindrucken, die ihre Geschichte haben. Im Wohnzimmer schwebt der bittere Geruch von altem gedunkeltem Holz, Büchern und Rosmarin. Ich habe keine besondere Ehrfurcht vor der Tradition. Aber wenn man ihr sozusagen körperlich begegnet, zieht sie einen doch in ihren Bann. Hier hat sich der Atem von 114
drei Ärztegenerationen niedergeschlagen. Schon Gisela Ronns Schwiegervater und dessen Vater waren als Ärzte in Cronen ansässig. Was der alte Sanitätsrat Gottlieb Hieronymus Mayen an Kupferstichen und kolorierten Drucken zusammengetragen hatte, bewahrte und ergänzte sein Sohn David, den vor allem antikes Mobiliar interessiert haben soll. Ob ein Biedermeierspiegel, ein Teakholzsekretär oder die geschnitzte Bauerntruhe von 1684 – er lebte in diesen Möbeln, und sie lebten mit ihm fort. Ich spotte gern über verstaubtes Spießbürgertum. Aber daneben gibt es wohl eine Art ehrwürdig-humaner Bürgerlichkeit, die sich trotz Goldschnitt-Goethe und Kaffeekränzchen weltoffen und tätig hält. Auch an Ronn, der in diese Familie eingeheiratet hat, scheint die Tradition nicht spurlos vorübergegangen zu sein. Er hat sich ihr angepaßt, er lebt mit ihr. Ich wurde erst vor zwei Jahren als Kreisarzt nach Cronen berufen. Unser Neubaukomplex steht in unmittelbarer Nähe von Ronns Villa. Wir wohnen also fast Tür an Tür. So ergab sich, daß wir auf der Straße hier und da ein Wort miteinander wechselten. Dadurch lernten sich auch die beiden Frauen kennen. Vor etwa einem Jahr begannen wir, die Ronns ab und an zu besuchen. Wenn ich mich recht erinnere, ging die erste Einladung von Gisela Ronn aus. Ich habe den Eindruck, daß sie gern Menschen um sich hat. Mit Ronn selbst bekam ich nicht so rasch Kontakt. Er gehört zu den verschlossenen Charakteren, die sich andern gegenüber nur zögernd öffnen. Am meisten imponiert mir an Ronn, daß er immer eine Möglichkeit findet, seinen vielseitigen Interessen nachzugehen. Er interessiert sich für alle möglichen wissenschaftlichen Fragen. Wenn wir dann zusammensitzen, hat 115
er immer ein interessantes Problem beim Schopf. Dann verliert er seine Zurückhaltung, er redet leidenschaftlich und nachdrücklich wie ein Lehrer, der versucht, seine ungläubigen Schüler zu überzeugen. Wenn ich von seinen Problemen auch nicht allzuviel verstehe, so bin ich doch nicht immer seiner Meinung. Aber das erhöht seine Beredsamkeit noch, und ehe ich mich’s versehe, hat Ronn unsern Disput in einen Monolog verwandelt. Heute allerdings ging es weder um Milchstraßensysteme noch um den Säuberungsmechanismus der Wirbeltiere. Wir saßen zu viert am Rauchtisch, dessen Messingplatte mit orientalischen Ornamenten verziert ist. Ronn füllte uns Rotwein in geschliffene böhmische Gläser. Dann wandte er sich an seine Frau, die neben ihm auf dem Ledersofa saß: „Dir auch, meine Liebe?“ „Ich weiß nicht recht“, erwiderte sie unentschlossen. „Rotwein kann nicht schaden“, entgegnete er und schenkte ihr ein. In sein eigenes Glas goß er kaum mehr als einen Fingerbreit. Ronn hob das Glas. Wir tranken uns zu. Ich setzte ab, behielt das Glas aber in der Hand. „Vielleicht können wir bald ein besonderes Ereignis feiern“, sagte ich bedeutungsvoll. Ronn sah mich forschend an. Gisela leerte währenddessen mit einigen großen Schlucken ihr Glas. „Ich habe Sie zum Sanitätsrat vorgeschlagen“, fuhr ich fort. Gisela setzte vorsichtig ihren Pokal ab. Ronn sagte gar nichts, dann blickte er Gisela an, Gisela blickte strahlend ihn an und küßte ihn dann auf die Wange. Plötzlich sprang sie auf und umarmte mich. „Na, na, keine Bestechung, Frau Ronn.“ Ich lachte. „Sanitätsrat!“ Gisela Ronn klatschte in die Hände wie 116
ein Kind. Ihr Blick wanderte zum Ölbild des alten Sanitätsrat Gottlieb Hieronymus. Ich lächelte. Ich kannte Gisela Ronn doch so gut, um zu wissen, was jene unbewußte Reaktion bedeutete. „Ihr Mann hat es wirklich verdient“, sagte ich zu Gisela. „Tag und Nacht unterwegs, immer für seine Patienten da – das verdient einfach Anerkennung. Mich wundert nur, daß es nicht schon viel früher erfolgt ist.“ „Uns wundert das gar nicht, nicht wahr, Gisela?“ Sie schüttelte den Kopf, ohne etwas zu erwidern. „Ich sollte nämlich schon vor Jahren Sanitätsrat werden“, erklärte mir Ronn. „Damals war Thimm noch Kreisarzt. Er konnte mich nicht leiden. Er hat die Sache schließlich hintertrieben.“ „Und das haben Sie so hingenommen?“ „Das war nicht die einzige Intrige gegen mich. Wenn ich Ihnen erzählen würde, wie man mir hier in all den Jahren mitgespielt hat …“ Er brach ab und fügte hinzu: „Stimmt’s, Liebling, das wäre ein ganzer Roman. Wenn ich nur daran denke, wie mich Thimm aus dem Klubvorstand hinausgedrängt hat und …“ „Laß doch die alten Geschichten jetzt“, sagte Gisela und legte ihren Arm um seine Schultern. Ronn nickte und füllte die Gläser nach. „Sie werden auch schon noch dahinterkommen“, murmelte er unheilvoll, „wenn Sie erst lange genug in Cronen sind.“ „Lieber Herr Ronn“, rief Ingrid lachend, „Sie machen uns ja richtig Angst!“ „Ihnen geschieht nichts, Frau Winter!“ Der gute Ronn schien davon so überzeugt zu sein wie ein Prophet von seiner eignen Weissagung. Ingrid nahm das noch immer als Scherz. Doch Ronn fuhr düster fort: „Sie gehen unberührt durch diese 117
Schlangengrube. Die Brut beißt nur solche wie mich. Der eine hat Glück und der andere Pech. So ist das, Frau Winter. Deshalb werde ich ewig ein Pechvogel bleiben.“ „Sie sollen nicht immer so pessimistisch sein!“ sagte Ingrid vorwurfsvoll. Ich merkte, wie Ronns Worte in ihr nachwirkten. Er mußte ein feines Gespür für Ingrids mitleidige Seele haben. „Das sage ich meinem Mann auch immer“, griff Frau Ronn ein. Sie drückte ihm einen Kuß auf die Stirn, was Ronn sofort zu beschwichtigen schien. „Du hast ja recht, Gisela“, sagte er und küßte ihre Hand. Sie lächelte glücklich. „Wissen Sie eigentlich, daß ich darüber nachgedacht habe, warum Sie eine so glückliche Ehe führen, Frau Ronn?“ fragte Ingrid plötzlich. Ich wußte sofort, daß die Frage eigentlich Ronn galt, und er sprang auch darauf an: „Es ist die einfachste Sache der Welt, Frau Winter. Weil wir so gegensätzlich sind. – Manchmal“, sagte Ronn zu Ingrid, „halten Sie uns bestimmt für ein schrecklich albernes Paar. Habe ich recht?“ „Wieso?“ fragte Ingrid betroffen. Wenn wir von Ronns heimgingen, witzelten wir tatsächlich öfter über das liebevolle Getue der beiden. Aber Ingrid fing sich sofort und steuerte wieder einmal geschickt auf eine erträgliche Wahrheit zu. „Ja, Herr Ronn, so unrecht haben Sie da nicht.“ „Witzblattfiguren also“, sagte Ronn mit komischem Bedauern zu seiner Frau. „Nein, nein“, widersprach Ingrid, „das ist anders. Man denkt: Schon so lange verheiratet die beiden – und noch so verliebt. Wenn man darüber lächelt, dann höchstens aus Neid.“ 118
„Na, na“, sagte Ronn, „Sie haben’s gerade nötig.“ „Nicht weil ich es nötig hätte, Herr Ronn, sondern weil man’s mal nötig haben könnte.“ Und bevor die Ronns fröhlichen Einspruch erheben konnten, fuhr Ingrid spielerisch fort: „Lassen Sie uns mal so lange verheiratet sein wie Sie – vielleicht bin ich meinem Mann dann längst davongerannt! Oder er mir. Oder … oder … Man ist ja heute einiges gewohnt.“ „Ob es eigentlich auch in der Ehe bestimmte Gesetzmäßigkeiten gibt, die Harmonie garantieren?“ fragte ich. „Natürlich“, erwiderte Ronn. „Das Gesetz der Gegensätzlichkeit.“ „Sie meinen also, nur gegensätzliche Naturen könnten sich lieben?“ Ronn wollte antworten, aber Gisela kam ihm zuvor. „Das sind doch alles lebensfremde Redensarten: Gegensätze ziehen sich an. Oder: Gleich und gleich gesellt sich gern.“ „Wenn meine Frau schon über die Ehe philosophieren kann …“, bemerkte Ronn liebevoll. „Während du dich ganz auf die Praxis beschränkst“, neckte ihn Gisela. „Auch in der Praxis ist sie mir meilenweit voraus, ich schwöre es!“ Gisela lehnte sich an seine Schulter. „Es ist wohl alles eine Sache der Einstellung, Frau Winter.“ „Ja, mein Schatz“, fügte Ronn ernst hinzu, „das ist es wirklich.“ Ingrid war damit nicht zufrieden. Sie wandte sich jetzt direkt an Ronn: „Aber Sie sagten doch eben, weil Sie gegensätzliche Naturen seien …“ „Fragen Sie doch unsere Philosophin!“ Ronn lachte. „Ob gegensätzlich oder nicht, das besagt gar nichts“, 119
fuhr Gisela fort. „Eine stille, zurückhaltende Frau kann einen leidenschaftlichen Mann lieben, weil sie das Gegensätzliche fasziniert, weil sie es als Ergänzung empfindet. Sie kann es aber auch hassen, weil es fremd und beunruhigend für sie ist.“ „Beunruhige ich dich sehr, Kleines?“ fragte Ronn sie in komisch inquisitorischem Ton. „Umgekehrt können zwei Menschen, die einander sehr ähnlich sind, zwei verträumte, sensible Naturen“ – an dieser Stelle blickte Gisela Ronn einen winzigen Moment auf das Ölbild ihres Mannes an der Wohnzimmerwand –, „sehr glücklich und einträchtig miteinander leben. Aber sie können sich auch schrecklich miteinander langweilen …“ Ronn hatte inzwischen eine neue Flasche Rotwein geöffnet, jetzt rief er: „Ich bin bereit zu beichten, dich zwanzig Jahre gelangweilt zu haben!“ „Nehmen Sie ihm diese Beichte ab?“ fragte Ingrid. „Meine Frau hört nichts lieber als Sündenbekenntnisse!“ Wir lachten alle. „Sehen Sie, Frau Winter“, setzte Gisela Ronn ernsthaft fort, „ob gegensätzlich oder ähnlich, darauf kommt es nicht an. Es kommt auf die Einstellung an. Und auf den guten Willen. Ob man bereit ist – nun ja, eben ob man bereit ist.“ „Ob man bereit ist“, echote Ronn, „eben darauf. Jetzt wissen wir’s ganz genau.“ „Ach“, sagte Ingrid, „Sie wollen uns Ihr Rezept nur nicht verraten.“ „Welches Rezept?“ „Für Ihre gute Ehe, Herr Ronn.“ „Aber Frau Winter“, erwiderte Ronn, „Sie wollen 120
doch nicht behaupten, daß Sie ein solches Rezept brauchen!“ Was Ingrid antwortete, kann eben nur Ingrid antworten, und deshalb wird es für mich nie eine andere Frau geben. Sie sagte: „Glücklicherweise kennt mein Mann das beste Rezept.“ „Und das wäre?“ „Wird nicht verraten, Herr Ronn.“ Ronn schmunzelte. „Wir haben eben alle unsere Geheimrezepte, nicht wahr, Gisela?“ Wir blickten alle drei Gisela Ronn an, ganz unwillkürlich, wie man jemanden ansieht, an den eine Frage gerichtet worden ist. In den wenigen Augenblicken, in denen sich Frau Ronn nicht mehr am Gespräch beteiligt hatte, war eine merkwürdige Veränderung mit ihr vorgegangen. Sie hing schlaff und teilnahmslos in dem Ledersofa. „Ja, ja, natürlich“, antwortete sie auf Ronns lustige Anspielung, ihre Stimme war flach, automatenhaft, gleichgültig. Ingrid fragte betroffen: „Ist Ihnen nicht gut, Frau Ronn?“ „Doch, doch, natürlich.“ Sie griff ziellos nach der Rotweinflasche. „Darf ich Ihnen nachgießen?“ Sie schien gar nicht bemerkt zu haben, daß ihr Mann soeben erst unsere Gläser gefüllt hatte. Ronn nahm sanft ihre Hand und hielt sie einen Augenblick fest, entzog ihr die Flasche und stellte sie wieder auf den Tisch zurück. Anscheinend wurde ihr erst jetzt die Situation bewußt. Sie lächelte und sagte: „Entschuldigen Sie. Ein kleiner Anfall von Müdigkeit. Bitte entschuldigen Sie.“ „Es ist ja auch schon spät“, sprang ihr Ingrid bei. „Wir müßten uns entschuldigen.“ 121
„Nein, nein, bleiben Sie doch noch …“ „Es ist wirklich kein Grund aufzubrechen“, bestätigte Ronn. Dann wandte er sich an Gisela: „Mach dich doch etwas frisch, Liebes.“ Sie nickte und ging hinaus. Ronn fühlte sich veranlaßt, eine Erklärung zu geben: „Sie schläft in letzter Zeit sehr schlecht. Dazu der labile Blutdruck …“ „Zu hoher Blutdruck?“ fragte Ingrid. „Mal zu hoch, mal fällt er rapid ab. Sie sackt dann förmlich zusammen. Ich bin ernstlich besorgt.“ Ich nickte. Ich hatte sie neulich selbst untersucht, bevor sie zu ihrer Tochter fuhr. Mit ihrem Kreislauf stand es wirklich nicht zum besten. Ich sagte: „Vielleicht sollten Sie Ihre Frau doch einmal einem Internisten vorstellen? Professor Liebscher in Dresden ist ein Studienkollege von mir.“ „Danke“, erwiderte Ronn, „ich werde auf Ihr Angebot zurückkommen.“ Ingrid hatte sich schon erhoben. Als wir das Wohnzimmer verließen, kam Gisela Ronn gerade zurück. Sie machte noch einen höflichen Versuch, uns zum Bleiben zu bewegen, aber es war ja auch wirklich Zeit zu gehen.
GISELA RONN Sonnabend, 24. September, vormittags Mit Regs Trennung von Steffi begann meine Befreiung. Am vergangenen Sonntag rief mich Reg plötzlich in den Keller. Er hatte schon den ganzen Vormittag unten rumort. 122
Ich blieb oben auf dem Treppenabsatz stehen. „Du weißt doch, daß ich diesen Raum höchst ungern betrete.“ „Hilf mir doch mal etwas tragen, Gisela, bitte.“ „Na schön, wenn es unbedingt sein muß.“ Ich hielt mir das Taschentuch vor den Mund und ging hinunter. Die Tür zum Labor stand weit offen. Als ich über die Schwelle trat, blieb ich erstaunt stehen. Die Glaskästen und Gitterkäfige waren verschwunden. „Wo sind denn diese – die Ratten?“ Reg deutete auf die Kiste in der Ecke. Es war die gleiche Kiste, in der er die Ratten einst gebracht hatte. Reg mußte wohl den Ekel auf meinem Gesicht gesehen haben, als ich auf die Kiste blickte. „Keine Angst, Gisela“, sagte er, „ich öffne sie nicht wieder.“ Ich seufzte erleichtert auf. Dann sah ich, daß die Behälter bereits gesäubert in der Ecke standen. Reg hatte die Aquarien und Käfige übereinandergestapelt. Die Tische waren zersägt, die Lichtkabel und Infrarotstrahler abmontiert. Die Kellerfenster standen weit offen, und als ich das Taschentuch vom Mund nahm, atmete ich frische, klare Herbstluft. Wie ein Spuk, dachte ich. Nur die Geräusche in der Kiste erinnerten mich noch an die Bewohner des Kellers. „Also faßt du bitte mal mit an?“ „Wenn nur der Deckel nicht aufspringt …“ Reg schob einen Holzspan durch die Haspe. Wir nahmen die Kiste auf und trugen sie hoch zum Wagen, der schon vor der Haustür stand. „Wo willst du sie denn hinbringen?“ „Nach Dresden. Zu einem Tierhändler.“ „Heute, am Sonntag?“ „Ich hab’ ihn vorgestern angerufen. Er weiß Bescheid.“ 123
„Na, dann viel Glück. Und paß auf, daß keine in der Kiste zurückbleibt!“ Er lachte. „Ich lasse die Kiste gleich dort.“ „Bist du zum Abendessen zurück?“ „Mach dir keine Umstände. Ich esse eine Kleinigkeit im Luisenhof.“ Als Reg zum Tor hinausfuhr, winkte er. Ich winkte zurück. Endlich war ich die Ratten los. Einem Schiff, heißt es, bringen sie Glück, einem Haus Unheil. Der Aberglaube hat so unrecht nicht. Aber nun sind die Tage des Unglücks vorbei. Das bewies die dritte große Freude, die mir Reg in diesen Tagen bereitet hat. Wir hatten – was seit Jahren nicht mehr vorgekommen war – eine Theatervorstellung im „Volkshaus Cronen“ gesehen, Hauptmanns „Fuhrmann Henschel“. Als wir heimfuhren, sagte Reg: „Eigentlich lohnt es sich bei so kurzen Wegen nie, den Wagen zu nehmen. Wenn wir laufen, brauchen wir nicht länger als zehn Minuten.“ „Dann laß uns doch in Zukunft laufen.“ „Ich wollte dir das nicht zumuten, Gisela, mit deinen Krampfadern. Du sagst immer, sie machen dir so zu schaffen.“ „Das stimmt. Aber mehr beim Stehen als beim Gehen.“ Ich war überwältigt von Regs Fürsorglichkeit. Während Reg den Wagen in die Garage brachte, dachte ich, vielleicht ist wirklich etwas dran an dieser Dialektik, von der immer so viel gesprochen wird. Vielleicht müssen tatsächlich die Widersprüche zwischen zwei Menschen erst mal so richtig aufeinanderprallen, bis es 124
zu einer Verständigung kommt. Reg ist wie umgewandelt, aufmerksam, liebevoll. Ich hätte nie geglaubt, daß er sich so ändern kann. Noch vor wenigen Wochen hätte er gesagt: „Du mit deinen Krampfadern! Iß nicht so viel! Dann brauchen die Beine nicht zwei Zentner zu tragen!“ Heute macht er sich Sorge, ob ich einen Weg von zehn Minuten schaffe. Am nächsten Tag, beim Abendessen, sagte Reg: „Wir sollten wirklich mal etwas gegen die Krampfadern unternehmen, Gisela. Meinst du nicht auch?“ „Läßt sich da überhaupt noch etwas machen, Reg?“ „Natürlich. Operativ oder medikamentös.“ „Medikamentös? Ich weiß nur, daß in einem bestimmten Stadium operiert wird.“ „In fortgeschrittenem Stadium, gewiß.“ „Du meinst, bei mir …?“ „… kann davon überhaupt nicht die Rede sein! Was sind denn Krampfadern? Vom lebendigen Kreislauf abgetrennte Gefäße. Tote Strombahnen sozusagen. Im Spätstadium, wenn sich Geschwüre bilden, operiert man. Aber noch nicht bei dir. Da reicht eine Tablettenkur völlig aus.“ „Was gibt man denn da?“ „Einen Penizillinstoß.“ „Penizillin?“ fragte ich etwas verwundert. „Immerhin besteht die Gefahr einer Thrombophlebitis. Deshalb das Penizillin.“ „Das Allheilmittel!“ Ich lachte. „Was würdet ihr Ärzte ohne Penizillin anfangen!“ „Dann müßte man es erfinden!“ erwiderte Reg und lachte herzlich mit. Inzwischen war Regs Urlaubstermin immer näher ge125
rückt. Natürlich ließ er sich nicht anmerken, ob er darunter litt, daß nun alles anders gekommen war. Am Mittwochnachmittag war er nach Dresden zum Reisebüro gefahren. Als er heimkam, legte er die beiden Visa auf den Tisch, die auf seinen und Steffis Namen ausgeschrieben waren. „Ich mache dir einen Vorschlag, Gisela. Wir zwei fahren zusammen nach Nessebar. Wir verschieben den Termin. Ich leite alles in die Wege.“ Das war wirklich ein Überfall! Im ersten Augenblick war ich begeistert von Regs Vorschlag. Aber dann kamen mir doch Bedenken. Ich selber hatte nie die Absicht gehabt, an Steffis Stelle mitzufahren. Im Gegenteil, ich glaubte, es wäre ganz nützlich, wenn Reg allein reisen würde. Er könnte dadurch Abstand zu den Dingen gewinnen. Reg bemerkte mein Zögern. „Ich kann dich verstehen“, sagte er. „Das Schwarze Meer hat natürlich Reizklima, und bei deinem Kreislauf … Ich müßte mich vorher vielleicht mit Winter beraten.“ Es war nun für mich entschieden. „Warum so viele Umstände, Reg. Fahr du allein. Ich wäre dir jetzt nur ein Hindernis.“ „Ach, Unsinn.“ „Doch, doch. Du fährst allein und kommst erholt und ausgeglichen zurück.“ Er zerriß Steffis Visum und warf die Schnitzel in den Papierkorb. Es war eine endgültige Geste. Heute früh ist Reg nach Berlin-Schönefeld gefahren, mit dem Wagen. Das Flugzeug nach Burgas startete am Vormittag. Jetzt befindet sich Reg sicher schon am Meer. 126
Früher wäre ich froh gewesen, für einige Tage allein zu sein. Aber nun ist es plötzlich anders. Jetzt fehlt mir Reg auf einmal. Ich fühle mich schrecklich nutzlos und allein. Auch Maria ist nicht da. Reg hat ihr übers Wochenende Urlaub gegeben. Er meinte, wenn er nicht zu Hause sei, gäbe es auch nicht so viel zu tun. Ich habe einen glänzenden Einfall! Ich werde nächste Woche zu Friederike fahren! Da vergeht die Zeit schneller. Ich muß ihr auch berichten, was sich hier alles ereignet hat. Und wie gut Reg jetzt zu mir ist. Sie wird es nicht glauben wollen. Sie wird es glauben müssen. Jetzt kann kommen, was will, pfeif drauf, jetzt trinke ich einen Kognak. Einen doppelten. Einen großen doppelten. Er hat mir noch immer geholfen. Wäre ich nur nicht so allein im Haus. Ich muß auch noch das Penizillin einnehmen, Reg hat es mir eingeschärft: „Halte dich genau an meine Anweisung. Wenn ich nicht da bin, hast du Ruhe. Falls sich Nebenwirkungen einstellen, werde nicht gleich nervös, das ist ganz normal.“ „Was für Nebenwirkungen?“ „Nichts Besonderes. Leichte Übelkeit. Müdigkeit manchmal, starkes Schlafbedürfnis. Manchmal auch gar nichts. Es ist individuell verschieden.“ Das Röhrchen mit den Penizillintabletten. Das ist wirklich ein Stoß! Gleich zehn auf einmal! In einem Glas Wasser auflösen, sagte Reg. Und rasch hintereinander trinken, es sei ziemlich bitter. Und dann ins Bett legen. Löst sich schlecht auf. Trotzdem, ich trinke es in einem Zug. Scheußliches Zeug, gallebitter, pfui Teufel!
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DOKTOR RONN Sonntag, 9. Oktober, abends Jetzt beginnt es auch noch zu regnen. Ich schalte den Scheibenwischer ein. Das leise Summen macht die Stille im Wagen erträglicher. Steffi schweigt. Wir nähern uns Cronen. Und ich schweige auch. Ich habe Angst. Die zwei Wochen in Nessebar waren schrecklicher als die zwanzig Jahre mit Gisela. Mein Plan war von so genialer Einfachheit gewesen. Er konnte nicht scheitern. Warum ist er dann doch gescheitert? Die Ungewißheit lähmt mich. Mir ist jedes Wort zuviel. Trotzdem darf ich mir nichts anmerken lassen. Im Gegenteil, ich muß fröhlich erscheinen! Steffi hat es ja gut gemeint. Als ich heute nachmittag aus Bulgarien zurückkam und in Schönefeld in meinen Wagen steigen wollte, hörte ich plötzlich hinter mir ein unterdrücktes Lachen. Steffi hatte sich hinter dem Wagen versteckt! Sie war mit dem Zug nach Schönefeld gefahren, um mich abzuholen. Ein andermal hätte mich eine solche Überraschung sehr erfreut. Aber heute … Während mich Steffi umarmte, während sie einstieg und dann neben mir Platz nahm, blickte ich sie immer wieder heimlich an. Irgendein Alarmzeichen in ihrem Gesicht? Nichts! Sie war so wie sonst. Jetzt fahren wir fast zwei Stunden. Gisela kann doch gar nicht mehr leben! Aber nichts in 128
Steffis Verhalten deutet darauf hin, daß Gisela nicht mehr lebt. Niemand weiß, was ich in den zwei Wochen in Nessebar gelitten habe. Bald nach meiner Ankunft hatte ich das Telegramm mit der Todesnachricht erwartet. Tag um Tag verging. Kein Telegramm. Und Tag für Tag schrieb ich die versprochenen Ansichtskarten an Gisela, die nach menschlichem Ermessen längst tot sein müßte. Ich schrieb: „Liebe Gisela, ich habe prächtiges Wetter hier. Das Meer ist noch ganz warm.“ Aber statt zu baden, lag ich stundenlang im Bett und grübelte. Ich schrieb: „Liebe Gisela, mir geht es gut. Ich beginne mich zu erholen.“ Tatsächlich ging es mir elender von Stunde zu Stunde. Das vergebliche Warten auf die Todesnachricht versetzte mich in unbeschreibliche Unruhe. Ich schrieb: „Liebe Gisela, ich denke viel an Dich.“ Das stimmte als einziges. Ich dachte unaufhörlich an sie. Was ist bloß schiefgegangen? Hat sie doch etwas gemerkt und mir wieder ein Schnippchen geschlagen? Die Ungewißheit wurde zur Angst. Zwei Wochen Angst! Und auch von Steffi kein Wort über Gisela! Also steht fest: Gisela lebt noch. Der Plan war so einfach gewesen. Statt Penizillin hatte ich Kalypnon ins Glasröhrchen getan. Wenn sich Gisela an meine Vorschrift gehalten hat, muß sie eine tödliche Dosis geschluckt haben. Wie hat sie das bloß überstanden? Es gibt nur eine Erklärung. Sie hat die Tabletten gar 129
nicht genommen, sie hat wieder einmal alles besser wissen wollen. Oder hat gedacht, nun habe ich Reg wieder fest an mich gekettet, wozu noch die Krampfaderkur? Oder hat es einfach vergessen. Oder … weiß der Teufel, was da passiert ist. Alles so todsicher eingefädelt. Sie sollte die Tabletten nehmen, während ich schon in Nessebar sein würde. Wenn Maria am Montagmorgen wieder zurückkam, hätte sie Gisela tot aufgefunden. Man hätte einen Herzschlag vermutet und mich telegrafisch zurückgerufen. Ach, Steffi, wenn du wüßtest, mit welchem Entsetzen ich jetzt in Cronen einfahre! „Würdest du bitte halten“, sagte Steffi. Sie steigt immer schon am Ortseingang aus und geht die letzten fünf Minuten bis zu ihrer Wohnung zu Fuß. Ich öffne die Tür. Steffi macht keine Anstalten auszusteigen. „Ist etwas nicht in Ordnung, Reg?“ „Alles in Ordnung, Steffi.“ „Aber?“ „Es war ein anstrengender Tag. Morgens noch in Bulgarien, strahlender Sonnenschein, hier Regen.“ „Wann sehen wir uns wieder, Liebster?“ „Ich rufe dich an.“ „Laß mich nicht zu lange warten.“ Sie gibt mir einen Kuß und steigt aus. Ich fahre rasch an, winke ihr im Vorbeifahren mechanisch zu, sehe im Rückspiegel, wie sie dasteht und mir nachblickt, gebe Gas und fahre durch die menschenleere Stadt. Jetzt biege ich in die Clara-Zetkin-Straße ein. Hier stehen nur noch einzelne Villen. Ich suche beide Straßenseiten nach einem Polizeiauto ab. 130
Man muß das Schlimmste befürchten. Nun steigt die Straße leicht an. Oben, hinter der Laterne, sehe ich die riesige Trauerweide an unserm Gartentor. Die Straße liegt still und verlassen. Kein Wagen, kein Fußgänger. Langsam, mit Abblendlicht, fahre ich bis vors Tor. Im Wohnzimmer brennt Licht! Ich schalte den Motor ab, nehme den Schlüsselbund aus dem Handschuhfach und schließe fast geräuschlos die Wagentür. Ich blicke nochmals die Straße entlang. Dann betrete ich durch die Seitentür den Garten, gehe an den Büschen vorbei bis zur Haustür und versuche sie so leise wie möglich zu öffnen. Das Schnappschloß ist gut geölt, es springt unhörbar auf. Ich stehe im Flur. Ich stehe da, ohne mich zu bewegen. Aber einfach so dastehen ist auch keine Lösung. Ich betrachte den Garderobenständer. Kein fremder Mantel. Kein Hut, der mir nicht gehört. Nur Giselas Wildledermantel, ihre Kostümjacke, ihre Samtkappe. Ich atme auf. Sage mir zugleich: Das will nichts bedeuten. Vielleicht sitzen sie in Mantel und Hut in meinem Arbeitszimmer und warten auf mich. Oder haben sich’s im Wohnzimmer gemütlich gemacht, bei meinem Kognak. Jetzt höre ich Stimmen. Also doch. Musik plötzlich. Anscheinend sitzt Gisela vor dem Fernsehapparat. Ich hänge meinen Mantel und Hut an die Garderobe und gehe langsam die Treppe empor. Jetzt stehe ich vor dem Wohnzimmer. Tatsächlich, der Fernsehapparat läuft. 131
Schon will ich die Tür öffnen. Aber dann ziehe ich die Hand zurück. Ebenso lautlos, wie ich gekommen bin, gehe ich hinaus, steige in den Wagen und löse die Handbremse. Vorsichtig lasse ich den Wagen auf der leicht abfallenden Straße rückwärts rollen. Etwa zweihundert Meter vor unserm Haus starte ich und fahre, nun mit aufgeblendetem Licht, bis zum Tor, hupe dreimal, steige aus, öffne weit das Tor und fahre bis vor die Garage. Der Ablauf von tausendmal genauso abgelaufenen Vorgängen. Vor der Garage steige ich aus. Ein Lichtschein fällt aus der Haustür. Gisela kommt! Sie hat denselben kurzen, wiegenden Schritt wie immer. Sie breitet die Arme aus, ich tue mechanisch das gleiche. Wir umarmen uns. „Reg!“ prustet es feucht an mein Ohr, „Reg, du bist wieder da!“ Ich mache mich los, schüttle ihr die Hand „Gut siehst du aus, Gisela.“ „Frag mich nicht, was ich durchgemacht habe!“ Sie läßt meine Hand nicht mehr los, wendet sich um und strebt aufs Haus zu, mich förmlich hinter sich herziehend. Dabei plaudert sie aufgeregt: „Deine Penizillinkur, na weißt du! Mir kam die Sache ja gleich so komisch vor. Also, Reg, von Erfolg keine Spur! Und die Nebenwirkungen! Wenn ich das vorher gewußt hätte …! Na, ich werde dir alles erzählen, so komm doch schon.“ Wir sind im Hausflur. Plötzlich fällt mir ein, mein Mantel hängt noch am Garderobenständer! Doch sie merkt es nicht. 132
Wir gehen die Treppe hinauf. Im Wohnzimmer schaltet sie den Fernsehapparat aus. Neben ihrem Sessel, auf dem Rauchtischchen, steht eine halbleere Kognakflasche und ein Schwenker, fingerbreit gefüllt. Gisela sieht meinen Blick und lächelt verlegen. „Wenn man so allein ist, Reg …“ Wir setzen uns. Sie nimmt einige Ansichtskarten zur Hand. Meine lieben Grüße aus Nessebar. „Vielen Dank, daß du mir so getreulich geschrieben hast, jeden Tag. Sie kamen fast alle zugleich an. Vorgestern. Eine vor drei Tagen. Ich war schon in Sorge. Aber Frau Winter sagte, die Post gehe sehr lange, auch die Luftpost.“ Sie holt ein zweites Glas. „Du trinkst doch ausnahmsweise ein Gläschen mit, zur Begrüßung?“ „Natürlich.“ Während sie eingießt, frage ich: „Und die Penizillinkur, sagtest du, hat nicht gewirkt?“ „Überhaupt nicht. Mir wurde furchtbar schlecht. Zweimal habe ich gebrochen. Dann bin ich eingeschlafen. Und weißt du, wann ich aufgewacht bin? Überhaupt nicht!“ Ich trinke hastig den Kognak. „Überhaupt nicht?“ murmele ich. „Maria hat mich geweckt, Montag früh. So lange hatte ich geschlafen. Von Sonnabend bis Montag!“ „Das verstehe ich nicht“, sage ich und hebe das Glas, um mir noch einmal einschenken zu lassen. Es ist wie ein böser Traum, in dem Tote wieder mit uns leben. Gisela hat zweieinhalb Gramm Kalypnon überstanden! 133
In diesem Augenblick sehe ich mich auf dem Bauernhof von Arno Sauer. Mitten auf dem Hof liegt ein Misthaufen, ein dampfender, sorgfältig geschichteter Würfel Mist. Ich komme über den Hof und sehe etwas aus dem Misthaufen hervorkriechen, verschmiert, verkrustet, blutig. Eine kleine graue Katze. Sie taumelt, kommt auf mich zu, streicht um meine Füße. In diesem Moment tritt Sauer aus der Scheune. „Ist ja nicht zu glauben, Herr Doktor“, sagt er und hat ganz kleine, erschreckte Augen. „Ich hab’ sie gestern getötet. Eine Luftgewehrkugel in den Kopf. Hab’ den Kadaver verbuddelt. Und jetzt …“ Heute verstehe ich die Angst in seinem Blick. Ich versuche mich zusammenzunehmen. Irgendeine Erklärung muß ich Gisela geben! „Vielleicht“, sage ich nachdenklich, „hat irgend etwas die Wirkung des Penizillins abgeschwächt oder verstärkt. Irgendein anderes Medikament.“ „Aber sonst habe ich doch nichts genommen, Reg.“ Dann fällt ihr etwas ein: „Außer …“ Sie bricht plötzlich ab. „Außer?“ Ich ahne, was jetzt kommt. Und frage streng: „Hattest du vorher vielleicht Kognak getrunken?“ Kleinlaut erwidert sie: „Zwei große doppelte. Du warst den ersten Tag fort, ich fühlte mich so allein.“ „Schon gut, Gisela, verstehe ich. Aber siehst du, der Alkohol paralysiert die Wirkung des Penizillins partikulär, wie er andererseits bestimmte Nebenwirkungen potenziert. Osmotische molekulare Vorgänge, verstehst du?“ Glücklicherweise versteht sie das Kauderwelsch nicht. „Jedenfalls“, sagt sie, „hat sich diese Kur für mich erledigt.“ 134
„Aber nein“, erwidere ich, „wir versuchen es noch einmal, außerdem bin ich dann ja wieder da.“ „Nicht mit Penizillin“, erklärt sie störrisch. „Es ist die einzige Möglichkeit“, erwidere ich mit Festigkeit. Sie zeigt sich beeindruckt. „Wenn du meinst …“ „Du willst doch die Krampfadern endlich loswerden, Gisela.“ „Also schön. Wann?“ „Sobald du dich etwas erholt hast.“ Ich brauche Zeit, um mir über die wirkliche Ursache dieses Fiaskos klarzuwerden. Und während ich auf Giselas Drängen von meiner Reise berichte, gehen meine Gedanken bereits ihre eigenen Wege. Mein Unternehmen ist gescheitert. Betrachten wir es also als Generalprobe …, aus der man einiges lernen kann. Mit Sicherheit weiß ich jetzt zweierlei. Ich war hinsichtlich der objektiven Grundlagen zu leichtsinnig. Ich habe mich auf eine mittlere tödliche Dosis verlassen, statt eine absolut tödliche Menge zu geben. Außerdem habe ich noch einen subjektiven Fehler begangen. Ich habe mein Alibi für wichtiger gehalten als die persönliche Kontrolle des Vorgangs. Ich hätte nicht wegfahren dürfen, sondern mich vom ordnungsgemäßen Ablauf der Vergiftung überzeugen müssen. Diesen Fehler werde ich beim nächsten Mal nicht wiederholen. „Warum freust du dich so, Reg?“ fragt Gisela. „Ich freue mich? Wieso?“ „Du schmunzelst ja richtig.“ „Ah so, ja. Stell dir vor, beim Rückflug kamen wir in 135
ein Gewitter. Wenn wir in einen Luftwirbel gerieten, sackte das Flugzeug manchmal mehrere Meter ab. Einer nach dem andern mußte zur Tüte greifen.“ „Du auch?“ „Als einziger nicht.“ „Du hast eben gute Nerven, Reg.“ Weiß Gott, in den nächsten Wochen brauche ich gute Nerven.
STEFFI KUNTZE Mittwoch, 9. November, abends Diesen Tag werde ich nie vergessen, sowenig wie meinen eigenen Geburtstag. Der 9. November. Ruhelos wandere ich durch mein Zimmer, bleibe am Fenster stehen, blicke in die Nacht hinaus. Im Nebel sieht das Licht der Straßenlaterne groß wie der Mond aus, wenn er einen Hof hat. Ich öffne das Fenster, atme die feuchtkalte Luft. Von den Ästen fallen Tropfen auf dürres Laub. Ein richtiger Sterbetag. Es ist noch keine Stunde her, daß Regs Wagen aus dem Nebel auftauchte, und noch keine Viertelstunde, daß er wieder im Nebel verschwand. Regs Besuch hatte mich erschreckt. Denn er hält sich sonst sehr genau daran, niemals in meine Wohnung zu kommen. Als Reg eintrat, sagte er kein Wort der Begrüßung. Er umarmte mich stumm und drückte mich an sich. Dann hörte ich seine Stimme dicht am Ohr: „Gisela.“ 136
Im ersten Augenblick wußte ich nicht, was das bedeuten sollte. Dann fuhr er fort: „Herzschlag. Plötzlich und unerwartet.“ Ich fühlte seine Arme schlaff werden. Er löste sich von mir und ließ sich in den Sessel fallen. Ich sagte etwas ganz Sinnloses: „Willst du nicht den Mantel ablegen?“ Ich hängte den Mantel über eine Stuhllehne. Dann setzte ich mich auf die Couch, Reg gegenüber. Giselas Tod mußte ihn härter getroffen haben, als er nach außen zeigte. Er wirkte sehr verstört. Immerhin, dachte ich, sie haben zwanzig Jahre zusammen gelebt. Irgendwie bindet das aneinander. Reg sah zu Boden, als er sagte: „Du erfährst es als erste, Steffi.“ Ich fragte: „Wie ist es denn passiert?“ Reg zuckte mit den Schultern. „Ich war unterwegs, weißt du …“ „Soll ich uns einen Kaffee machen, Reg?“ „Einen starken.“ Ich ging in die Küche, um Wasser aufzusetzen. Gleichzeitig war ich froh, jetzt nicht bei Reg sitzen zu müssen. Im Grunde waren wir beide glücklich, daß der Tod unerwartet schnell all unsere Probleme gelöst hatte. Doch keiner wagte in diesem Augenblick, das offen vor dem andern auszusprechen. Vor der Majestät des Todes werden wir eben doch ganz klein. Ich wünschte mir nur eins: Reg möge bald wieder gehen. Auf dem Küchenstuhl wartete ich auf das Sieden des Wassers. Die nächsten Wochen werden schwer sein, dachte ich, für Reg, für uns beide. Aber danach werden 137
wir beide endlich so leben können, wie ich es mir immer ausgemalt habe. Wir werden zusammen wohnen. Wir werden ein richtiges Schlafzimmer mit richtigen Ehebetten haben – natürlich ein neues Schlafzimmer! Neue Möbel, neue Gardinen, eine neue Bettumrandung. Nichts mehr soll Reg an die Vergangenheit erinnern, alles wird neu, auch die Tapeten. Wir werden morgens aufwachen und uns im Bett aalen. Reg muß sich dann nicht mehr in aller Frühe davonstehlen, um pünktlich wieder in Cronen zu sein. Wir werden zusammen verreisen, ohne Angst, daß uns Bekannte entdecken könnten. Wir werden auch die Reise nach Bulgarien nachholen, auf die ich wegen Giselas Zustand verzichten mußte. Und beim nächsten Gewerkschaftsvergnügen am 1. Mai werde ich nicht mehr als medizinisch-technische Assistentin unter albernen Kolleginnen sitzen, sondern neben Reg. Als Frau Ronn. Vielleicht sollte ich sogar nur noch Reg erlauben, mich Steffi zu nennen. Für die andern bin ich von jetzt an Stephanie. Frau Stephanie Ronn. Während ich den Kaffee mahlte, kam Frau Schütthorn in die Küche, meine Wirtin. Sie machte sich mit sinnlosen Handgriffen im Geschirrschrank zu schaffen. Natürlich hätte sie gern gewußt, wer mein Besuch war. Aber diesen Gefallen konnte ich ihr nicht tun. Als ich wieder ins Zimmer trat, schien sich Reg etwas gefangen zu haben. Er zwang sich sogar zu einem Lächeln. „Wenn ich dich jetzt nicht hätte, Steffi …“ Nachdem ich die Tassen gefüllt hatte, versuchte ich ein Gespräch in Gang zu bringen. „Bei einem Herzschlag hat sie wenigstens nicht gelitten.“ 138
Er nickte trübe. „Du kamst von Krankenbesuchen zurück. Und als du wegfuhrst – gab es da keine Anzeichen? Fühlte sie sich unwohl?“ Seine Hand hob sich in vager Bewegung. Wo mag es sie getroffen haben, mußte ich plötzlich denken. In der Küche? Vor dem Fernsehapparat? Auf der Couch? Im Keller? Beim Abendessen oder im Bett? Aber da Reg nicht darüber sprach, mochte ich ihn jetzt nicht fragen. „Als ich wegfuhr, so gegen siebzehn Uhr“, sagte er schließlich, „war sie noch ganz munter.“ „Ja“, erwiderte ich, „so ist das oft.“ „Wir hatten Tee getrunken, und als ich ging, begann sie abzuräumen. Nach neun kam ich zurück. Schon als ich aus der Garage trat, sah ich im Wohnzimmer Licht brennen, aber auch im Schlafzimmer. Ich wunderte mich. Wenn Gisela schlafen ging, löschte sie stets im Wohnzimmer das Licht. Aber Gisela war nicht mehr im Wohnzimmer. Ich trat ins Schlafzimmer, um ihr guten Abend zu sagen. Sie schien schon zu schlafen. Ich ging wieder hinaus, ins Bad, um zu duschen. Dann wollte ich mich auch niederlegen. Und erst in diesem Augenblick …“ Reg sprach nicht weiter. Was zu sagen war, war gesagt. Ich goß ihm Kaffee nach. Dann hob er den Kopf und sah mich an. „Wir haben noch nie darüber gesprochen, Steffi, wie es einmal sein wird, wenn Gisela … ich meine, wie danach alles weitergehen wird. Natürlich wollen wir so schnell wie möglich heiraten. Aber bis dahin müssen wir uns noch ein wenig gedulden, meinst du nicht auch?“ „Ja“, sagte ich mechanisch, „ein wenig schon.“ 139
Der Nebel hatte sich plötzlich auch auf meine Zukunftsbilder gelegt. Ich hätte heulen können. So nahe alles und doch noch so fern. „Wenn man uns jetzt miteinander sehen würde, hieße es gleich: Na, der Doktor hat sich aber schnell getröstet! Das würde man doch sagen, nicht wahr?“ „Sicher, Reg, das würde man sagen.“ „Und würde vielleicht auch fragen, wo hat er denn die nur so schnell her? Vielleicht hat er schon vorher was mit ihr gehabt. So denken die Leute, stimmt’s?“ „Ja, so denken sie, Reg.“ „Siehst du. Und deshalb müssen wir den alten Zustand noch eine Weile beibehalten, so schwer uns das auch fällt.“ Ich nickte. „Glaub mir, Steffi, es fällt mir sehr schwer.“ Ich glaubte es ihm auch ohne diese Beteuerung. Ich stand auf, lief zu ihm hin und umarmte ihn. Ich küßte ihn, weinte wohl auch einen Augenblick und sagte: „Es ist schon richtig, Reg, ich hatte das gar nicht so bedacht.“ „Man muß alles vorher bedenken, wenn alles glatt gehen soll“, sagte er ein wenig belehrend, aber er hatte ja recht. Habe ich so lange ausgeharrt, kann ich auch noch ein halbes Jahr länger warten. Das Glück läuft uns nicht fort. „Und jetzt muß ich wirklich gehen“, sagte Reg und stand auf. „Ich muß Doktor Winter anrufen, damit er den Totenschein ausstellt. Die Vorbereitungen für die Beerdigung. Trauerkarten drucken lassen. Friederike benachrichtigen – mir graut vor all diesen Formalitäten!“ „Könnte ich dir jetzt wenigstens zur Seite stehen.“ „Ich werde die Praxis für mehrere Tage schließen. Ei140
niges kann auch Maria erledigen. Vielleicht kommt auch Friederike sofort, was ich allerdings bezweifle.“ Er drückte mich an sich und zog sich dann den Mantel über. „Ruf mich morgen an, Steffi, bitte.“ „Natürlich, Reg.“ Er öffnete die Tür. Ich sagte: „Geh rasch durch den Korridor, Frau Schütthorn ist neugierig und hängt bestimmt am Fenster. Dreh dich draußen nicht noch einmal um.“ Wortlos drückte mir Reg die Hand und ging. Ich öffnete das Fenster und schaute ihm nach. Seine Gestalt verlor sich schnell im Nebel. Wie durch Watte hörte ich die Geräusche des abfahrenden Wagens. Nun muß ich doch wohl das Fenster schließen. Der nasse Dunst schlägt sich schon im Zimmer nieder. Arme Gisela. 9. November. Ein Tag, den ich nie vergessen werde. Endlich hat sich mein Schicksal zum Guten gewendet.
DOKTOR RONN Mittwoch, 9. November, nachts Beinahe hätte für mich alles in einem tödlichen Fiasko geendet. Beinahe! Dabei war anfangs alles so gut gelaufen. Gisela befand sich bereits im Koma, als ich von meinen Krankenbesuchen zurückkam. Ich rechnete damit, daß ihr Tod im Lauf der nächsten Stunde eintreten würde. Ich war sofort zu Steffi geeilt. Steffi hat keinen Verdacht geschöpft. Also mußte ich 141
mich einigermaßen normal benommen haben. Ich entschied mich, weiterhin diese dumpfe Gefaßtheit an den Tag zu legen, die man von einem Hinterbliebenen erwartet. Dann kam ich heim. Die Fahrt durch den Nebel hatte mich bereits nervös gemacht. Ruhe, Ruhe, Ruhe, dachte ich, du mußt jetzt ganz ruhig vorgehen. Ehe du Dr. Winter vom Tode Giselas benachrichtigst, überprüfst du noch einmal die Situation im Schlafzimmer. Und da passierte es! Noch jetzt denke ich mit Schauder daran. Ich mußte es vorhin, vor einer Stunde, übersehen haben: Der Leichnam begann sich rosa zu färben! Am Knöchel des rechten Fußes hatte sich ein Ödem gebildet, ähnlich einer Brandblase. Eine heiße Welle durchflutete mich. Nun war alles verloren. In diesem Augenblick wünschte ich, an Giselas Stelle zu liegen und alles hinter mir zu haben. Nicht mehr denken, nichts mehr entscheiden müssen. Ich eilte ins Arbeitszimmer hinunter, suchte nach den Blättern, auf die ich mir Notizen aus Poulssons Lehrbuch der Pharmakologie geschrieben hatte, fand sie schließlich in der Schreibtischschublade und überflog sie: „Barbiturate … im Wasser schwer löslich … werden gewöhnlich rasch resorbiert … Nebenwirkungen: Übelkeit, Erbrechen, verschiedene Exantheme … toxische Dosen lähmen die Kapillarwände … Todesursache Lähmung der Atmung oder sekundäre Pneumonie …“ Das war es also, was ich nicht bedacht hatte! Ein Wort übersehen: „Exantheme“. 142
Ich hatte mich darauf verlassen, daß man Gisela die Schlafmittelvergiftung ebensowenig ansehen würde, wie ich sie damals der Schülerin Meinel angesehen hatte! Wahrscheinlich ein Zufall bei der Meinel … Und auf einen solchen Zufall hatte ich mich also verlassen! Meine Hauptsicherung ein Zufall! Der Zufall, daß eine Vergiftung bei zwei Menschen denselben Verlauf nimmt und dieselben äußeren Symptome zeigt! Sie hat nicht denselben Verlauf genommen. Diese Blase am rechten Knöchel ist eines dieser „verschiedenen Exantheme“, von denen das Lehrbuch spricht. Und die Rosafärbung? Was ist das für eine idiotische Sache? Davon habe ich in keinem Buch etwas gelesen. Ich hasse Gisela wie noch nie zuvor. Diese Heimtücke, diese Hinterlist, diese abgrundtiefe Bosheit, noch im Tode! Ich müßte schon unwahrscheinliches Glück haben, wenn Dr. Winter das übersehen sollte. Ich saß und saß und grübelte. Mein Herz schlug wie ein Zementklumpen gegen die Rippen. Mein Kopf war wie leergepumpt. Ich saß und saß und suchte nach einem Ausweg. Irgend etwas mußte ich unternehmen! Eine Alternative gab es doch immer! Angenommen, ich hätte wirklich Glück. Schwache Beleuchtung im Zimmer, flüchtige Untersuchung, weil ich Winter dabei in ein Gespräch verwickele … Nein, darauf kann ich mich nicht verlassen. Natürlich bildete ich mir in diesem Augenblick nur ein, daß Gisela lächelte. Sie durfte nicht noch im Tod über mich triumphieren! Mir mußte etwas einfallen! 143
Verflucht, verflucht, was mach’ ich bloß! Gibt’s überhaupt noch einen Ausweg? Hab’ ich mich jetzt ans Messer geliefert? Und dann hatte ich einen Einfall … Einen irrsinnigen Einfall. Aber was blieb mir anderes übrig? Was ich unter allen Umständen vermeiden wollte, gerade das mußte ich jetzt tun! Es gab nur eine Möglichkeit. Sollte Winter Verdacht schöpfen und einen natürlichen Tod bezweifeln, mußte ich ihm die Möglichkeit eines Selbstmordes plausibel machen! Glücklicherweise hatte ich damals Giselas Drohbrief nicht vernichtet. Ich fand ihn in meinem Schreibtisch und las ihn nochmals sorgfältig durch: „Lieber Reg, ich gebe Dir eine Woche Frist. Entweder Du trennst Dich von Steffi, oder ich mache Schluß, für immer. Seit heute weiß ich endgültig, Deine Liebe zu mir ist erloschen. So bleibt mir nur noch eines: mich von Dir zu scheiden, indem ich aus dem Leben scheide. Das wäre meine letzte Hilfe für Dich. Ich befreie Dich von mir. Laß Dir das alles noch einmal durch den Kopf gehen. Gisela.“ Es geht eben nichts über eine gut funktionierende Intelligenz. Sie ist das Produkt langer Unterdrückung. Gisela hat mich findig gemacht. Ich schnitt die ersten zwei und die letzten drei Zeilen der Schulheftseite einfach weg. Der Rest sieht wie der Abschiedsbrief eines Selbstmörders aus. Sollte Winter
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einen Herzschlag bezweifeln, werde ich ihn eben davon überzeugen, daß sich Gisela das Leben genommen hat. Sicher, Selbstmord zieht eine Obduktion nach sich. Aber Selbstmord ist besser als Mord. Und die Obduktion wird nur bestätigen, was wirklich geschehen ist: Tod durch Schlafmittelvergiftung. Nun mußte ich noch etwas arrangieren. Das Glas, aus dem Gisela die tödliche Flüssigkeit getrunken hatte, war leider von mir inzwischen gereinigt worden. Ich löste mehrere Kalypnontabletten in Wasser auf, schüttete die Flüssigkeit ins Waschbecken und achtete darauf, daß im Glas nur ein Bodensatz zurückblieb. Dann brachte ich Glas und Brief auf Giselas Nachttischchen. Aber rechtzeitig fiel mir ein, daß ich dadurch Winter sozusagen mit der Nase auf die Selbstmordvariante stoßen würde. Deshalb stellte ich das Glas im Badezimmer auf die Konsole überm Waschbecken. Den Abschiedsbrief legte ich daneben. So. Das wäre die zweite Sicherung. Aber ich hoffte, ich hatte mir durch die entsprechende Beleuchtung die Chance verschafft, einen natürlichen Tod vorzutäuschen. Im letzten Augenblick, als ich Winter schon rufen wollte, kam mir noch die glänzende Idee, wie ich das blasenähnliche Exanthem verschwinden lassen konnte. Ich wickelte eine Brandbinde um Giselas rechtes Fußgelenk. Beruhigt betrachtete ich mein Werk. Vielleicht nahm es Winter nicht so genau bei einer Kollegenfrau. Und außerdem behielt ich immer noch die Selbstmordvariante in der Hinterhand. Nun ist es drei Viertel elf. Sicher schläft Winter schon. Es hilft nichts. Bis morgen früh darf ich nicht warten. 145
Ich rufe ihn jetzt an. Dr. Winter, Kreisarzt. Cronen 27 49. Summton. Der Hörer wird abgenommen. Jetzt: „Ja, Doktor Winter …“
DOKTOR WINTER Donnerstag, 10. November, morgens Ich habe mich zur Ratssitzung heute vormittag entschuldigt. Ich sitze am Schreibtisch und weiß nicht, was ich tun soll. Könnte ich wenigstens mit Ingrid darüber sprechen! Aber in so einem Fall ist mit Ingrid nicht zu reden. Früher war ich einfach ihr Mann. Heute bin ich ein Mann, der ein Amt hat: „Du bist Kreisarzt, du entscheidest, du trägst die Verantwortung.“ Ich habe immer sehr rasche und spontane Entschlüsse gefaßt, die ich nachher oft bereue – selbst wenn sie sich als richtig erwiesen haben. Ich kenne meinen Fehler. Ich bin mir dieses Fehlers sogar in dem Augenblick bewußt, da ich ihn immer wieder von neuem begehe. Versuche ich dann, ihn zu vermeiden, verfalle ich leicht ins Gegenteil: Ich zögere Entscheidungen zu lange hinaus. Ingrid versteht das nicht. In ihr hat sich die Vorstellung festgesetzt, mein Amt müßte mich zu einem energischen Menschen gemacht haben. Wenn ich ihr heute früh erzählt hätte, vor welches Dilemma mich mein voreiliger Entschluß gestellt hat – sie würde mich glatt fragen: „Willst du nicht doch lieber dein Amt zur Verfügung stellen?“ Hätte doch Ronn nicht gerade mich zur Leiche seiner 146
Frau gerufen! Andererseits kann ich ihn auch verstehen. Gerade in einer solchen Situation brauchte er mehr als einen Arzt, der einfach nur den Totenschein ausfüllt. Als Ronn mich gestern nacht anrief, war Ingrid bereits im Bett. Ich saß noch am Schreibtisch und arbeitete eine Vorlage für die Ratssitzung aus. Da läutete das Telefon. „Hier Ronn“, hörte ich und die hastige, atemlose Frage: „Können Sie bitte gleich mal zu mir herüberkommen?“ „Ja, natürlich …“ Ich wartete auf eine Erklärung. Es dauerte sehr lange, bis Ronn endlich antwortete: „Meiner Frau ist – es ist ihr etwas zugestoßen.“ „Was denn, um Himmels willen? Ein Unfall?“ „Kommen Sie bitte bald.“ „Moment!“ rief ich. „Soll ich etwas mitbringen?“ „Nein, danke, das ist – nicht mehr nötig.“ Noch bevor ich eine weitere Frage stellen konnte, hatte er aufgelegt. Ich wollte Ingrid Bescheid sagen, aber sie war schon eingeschlafen. Als ich vor die Haustür trat, sah ich dichten Nebel. Ich hatte mir keinen Mantel übergezogen, bis zu Ronns Villa sind es nur ein paar hundert Schritte. Einige Minuten später drückte ich auf die Klingel am Torpfeiler. Im gleichen Augenblick sagte eine Stimme: „Ich bin schon hier.“ Ronn hatte an der Gartentür auf mich gewartet. Stumm drückte ich ihm die Hand. Er wandte sich um und ging mir voraus. Dann tauchte die Laterne über der Haustür aus dem Nebel hervor. Die Tür stand offen. Ronn ließ mir den Vortritt. 147
Im Hausflur blieb ich stehen und wartete auf Ronn, der die Haustür abschloß. Als er meinen erstaunten Blick sah, kam ihm anscheinend das rein Mechanische dieser Handlung zum Bewußtsein. Er schlug sich die flache Hand an die Stirn, schüttelte besorgt den Kopf und schloß wieder auf. Er deutete auf die Treppe und murmelte: „Im Schlafzimmer.“ Er eilte voran. Oben angekommen, öffnete Ronn die erste Tür gegenüber dem Treppenaufgang und ließ mich eintreten. Ich hatte sofort ein merkwürdig feierliches, vielleicht auch beklemmendes Gefühl. Mein Blick überflog den Raum und nahm flüchtig Umrisse, Farben, Beziehungen wahr. Eine rote Kajütenlampe aus Messing, die in der Mitte über dem Ehebett hing, war das einzige Licht. Es hüllte das Zimmer in milchig rötliche Dämmerung. Ich war etwas erstaunt über die seltsame Atmosphäre, die dieses schummrige Licht hervorrief. Es wirkte ausgesprochen kitschig, wenn nicht komisch. Aber über Geschmack soll man nicht streiten. Ein bis zum Boden reichender Brokatvorhang bedeckte die Fensterfront. Die linke Seite wurde von einer Schrankwand ganz ausgefüllt. Rechts neben der Tür sah ich ein Rokokotischchen mit einem goldumrandeten ovalen Spiegel. Der Schrankwand gegenüber, mit dem Kopfende in eine Nische gerückt, stand ein niedriges, modernes Ehebett. Die Tagesdecke, aus dem gleichen Brokat wie die Vorhänge, war zur Hälfte zurückgeschlagen, auf die linke Seite des Bettes. Auf der rechten Seite lag Gisela Ronn. 148
Sie schlief anscheinend. Ihre gefalteten Hände ruhten auf der Steppdecke. Die Kajütenlampe beleuchtete ein blasses Gesicht. Ronn war an der Tür stehengeblieben. Ich trat an das Bett. Frau Ronns Augen waren geschlossen. Das Gesicht kam mir ein wenig gedunsen vor, aber ich konnte mich täuschen. Eine Atembewegung war nicht zu erkennen. In dem Augenblick, als ich mich auf die Bettkante setzte und die Decke zurückschlug, war ich mir gewiß, eine Tote vor mir zu haben. Ich tastete nach dem Puls. Das Handgelenk war kühl. Ich blickte zu Ronn. Er nickte und sagte beherrscht: „Ich wollte nur noch Ihre Bestätigung.“ Ich fragte ihn: „Haben Sie ein Stethoskop zur Hand?“ „Ich habe mich bereits selbst überzeugt …“ Er hob resigniert beide Hände. „Ich hole es herauf.“ Ich winkte ab. Mir lag nichts daran, die schmerzliche Situation unnötig zu verlängern. Jetzt hätte ich aufstehen müssen. Doch ich war wie gelähmt. Wie viele Tote habe ich schon gesehen. Aber wenn es einen Menschen trifft, der uns nicht fremd ist, stellen sich doch Gefühle der Betroffenheit und Erschütterung ein. Es war erst wenige Wochen her, als wir alle vier abends zusammengesessen hatten. Und daß Gisela Ronn gesagt hatte, in der Liebe komme es nicht auf Gegensätze oder Ähnlichkeit, sondern auf die Einstellung an. Arme Gisela, armer Ronn. Glücklich sind doch immer die Toten. Wie wird Ronn weiterleben ohne seine Gisela? Ronn stand noch immer an der Tür. 149
Es war Zeit zu gehen. Ich stand auf und blickte noch einmal auf die Tote. „Waren Sie dabei, als es – passiert ist?“ Ronn schüttelte den Kopf. „Ich war zu Krankenbesuchen unterwegs.“ Fast tragisch, dachte ich. Andern Menschen helfen, während die eigene Frau stirbt. „Sie hat sich noch ins Bett legen können“, sagte ich, „vielleicht fühlte sie …“ Ronn hob verzweifelt die Schultern. „Und kein Vorzeichen?“ fragte ich teilnahmsvoll. „Ich meine, als Sie sie am Abend verließen?“ „Nichts. Plötzlicher Herztod, nehme ich an.“ „Kein Zweifel, die Vorgeschichte läßt keinen andern Schluß zu.“ „Würden Sie mir gleich den Totenschein ausstellen?“ „Ja, natürlich. Das heißt, ich habe nichts mit. Sie sagten ausdrücklich …“ „Einen Augenblick“, sagte Ronn, „ich hole einen.“ Er verließ das Zimmer, ich hörte, wie er die Treppe hinunterging. Nach wenigen Sekunden stand er mit dem Totenschein wieder vor mir. „Brauchen Sie eine Unterlage?“ fragte Ronn. Er deutete auf das Nachtschränkchen neben dem Bett seiner Frau, auf dem mehrere Bücher lagen. Ich nahm eins davon und füllte darauf den Totenschein aus: „Akutes Herzversagen. Grundleiden: chronische Herzinsuffizienz.“ Dann legte ich das Buch zurück und reichte Ronn den Totenschein. Bevor ich die Leiche wieder zudeckte, beugte ich mich noch einmal herab. Der Körper war beweglich, die Totenstarre noch nicht eingetreten. Als ich die etwas angehobenen Beine geradestreckte, rutschte das Nachthemd über die Knie empor. Ich wollte 150
es herunterziehen. Da entdeckte ich an der Innenseite des linken Knies ein größeres blasenförmiges Gebilde. „Sehen Sie doch mal, eine Brandblase!“ sagte ich zu Ronn. Er beugte sich ebenfalls herab. „Tatsächlich. Sie muß sich noch verbrannt haben. Vielleicht am Wasserkessel, beim Teekochen.“ Den Verband am Fußgelenk hatte ich zunächst nicht weiter beachtet. Ein unentschuldbares Versäumnis, das ich mir nur aus meiner Rücksicht auf Ronn erklären kann. Vielleicht auch aus der Tatsache, daß ich Giselas Herzschwäche kannte und eigentlich keinerlei Zweifel über die Todesursache hegte. Ich wickelte nun den Verband ab und sah eine gleiche, wenn auch kleinere Blase am Knöchel. „Aber wenn sie sich verbrannt hat“, sagte ich, „warum verband sie sich dann nur den Knöchel? Und ließ die viel größere Blase am Knie unbedeckt?“ Ronn starrte wie hypnotisiert auf das Knie seiner Frau. Auch ich sah mir die Blase noch einmal genauer an. Nun kam es mir so vor, als wäre es gar keine Verbrennung. „Die Farbe“, sagte ich zu Ronn. „Die Oberhaut ist verfärbt.“ „Vielleicht sieht es auch nur verfärbt aus.“ „Möglich, bei dieser Beleuchtung. Schalten Sie doch mal das Deckenlicht an!“ Ronn stand noch immer da und starrte auf die Blase. Ich ging zum Lichtschalter neben der Tür. Aber die Lampe an der Decke blieb dunkel. Wahrscheinlich war die Glühbirne durchgebrannt. Ich schraubte den roten Glasschirm der Kajütenlampe ab. Darunter verbarg sich eine normale Glühbirne, die nun das darunterstehende Bett mit der toten Gisela Ronn grell beleuchtete. 151
Mein Eindruck bestätigte sich. Die Blase war bläulichviolett verfärbt. „Also keine Brandblase“, sagte ich ratlos und blickte zu Ronn. „Aber was dann?“ „Ich weiß nicht“, murmelte Ronn. Die Apathie in seiner Stimme sagte mir, daß ich von ihm keine Aktivitäten mehr erwarten konnte. Ich hatte Mitleid mit ihm. Trotzdem mußte ich diesen merkwürdigen Symptomen nachgehen. „Haben Sie den Prokop da oder sonst ein Werk über forensische Medizin?“ fragte ich ihn. Ich war so in meine Untersuchung und Überlegungen vertieft gewesen, daß ich nicht bemerkt hatte, wie Ronn das Zimmer verließ. Ich ging zur Tür, die noch offenstand. Gerade wollte ich ihn rufen, als er mit schleppenden Schritten die Treppe heraufkam. Zuerst erschien sein Kopf in meinem Blickfeld, dann der Oberkörper, dann die rechte Hand, fast in Brusthöhe. Die Hand hielt ein Wasserglas. Ronn blieb vor mir stehen und streckte mir wortlos das Glas entgegen. Es war ein gewöhnliches Wasserglas mit einem eingeschliffenen rhombischen Muster. Auf dem Boden des Glases befand sich ein winziger Rest Wasser, das einen weißen Bodensatz gerade bedeckte. Ich sah Ronn an, er sah mich an, dann sagte er unendlich müde: „Kosten Sie mal!“ Ich benetzte den Zeigefinger mit der Flüssigkeit und kostete. Es war gallebitter. Ronn hob die linke Hand. Jetzt erst sah ich, daß er noch ein Stück Papier mit nach oben gebracht hatte. Er reichte es mir. Liniiertes 152
Papier, anscheinend aus einem Schulheft herausgerissen, von oben bis unten beschrieben. Ich las: „ich mache Schluß, für immer. Seit heute weiß ich endgültig, Deine Liebe zu mir ist erloschen. So bleibt mir nur noch eines: mich von Dir zu scheiden, indem ich aus dem Leben scheide.“ Ich ließ den Zettel sinken. „Verstehen Sie jetzt?“ fragte Ronn tonlos. Trauriges, peinvolles Schweigen. Dann raffte sich Ronn auf. „Sie litt seit langem an Schlaflosigkeit. Deshalb hatte ich ihr Kalypnon verordnet. Wenn ich gewußt hätte, daß sie es dafür verwendet …“ Er brach fassungslos ab. Ich nahm behutsam seinen Arm und führte ihn die Treppe hinunter. Wir gingen ins Wohnzimmer und setzten uns an den Rauchtisch. Aber Ronn stand sofort wieder auf und holte eine Flasche Weinbrand. „Jetzt brauche ich doch einen Schluck“, sagte er und goß uns reichlich ein. „Aber warum hat sie das nur getan?“ fragte ich verstört. „Sie war doch ein so vernünftiger, lebensfroher Mensch!“ Diese Feststellung hing lange im Raum, bis Ronn endlich sagte: „Äußerlich, lieber Winter, nur äußerlich.“ Er trank aus und fügte hinzu: „Sie hat sich vor anderen Menschen immer so tapfer zusammengenommen. Aber nervlich war sie schon seit langem äußerst labil. Immer gereizt und verstimmt. Sie trank in letzter Zeit mehr, als sie sich zumuten durfte. Endogene Depressionen. So etwas bleibt ja doch immer intra muros, nicht wahr? Innerhalb der vier Wände …“ 153
Was hat der dicke Plüschteppich alles verschluckt, der „fälschlich schmeichelnde Tiger“ alles gehört? Ist das Holz von der Zeit gedunkelt? Nur von der Zeit? Wieviel Häuser sind Festungen mit Schießscharten, durch die kein Blick nach innen dringt? Da hilft auch keine Frage nach dem Warum. Warum eine Frau, die einen so liebenswürdigen, aufmerksamen Mann hat, plötzlich sagt: „Deine Liebe zu mir ist erloschen.“ Endogene Depressionen. Keine äußere Ursache. Die Wurzeln reichen hinab in tiefe dunkle Gänge. Arme Gisela, armer Reg. Lassen wir’s fallen, dieses fatale Thema! Begraben wir es intra muros! Ich griff selbst zur Flasche und schenkte uns noch einmal ein. Schweigend erhob ich das Glas. Trinken wir auf die, die jetzt Ruhe hat vor den selbstgeschaffenen Gespenstern. „Soll ich die Nacht bei Ihnen bleiben, Ronn? Ich würde nur Ingrid rasch Bescheid geben.“ Ronn wehrte ab. „Sehr nett von Ihnen. Ein Mann muß allein damit fertig werden.“ „Nehmen Sie wenigstens ein Beruhigungsmittel.“ „Ist schon geschehen. Also gehen Sie heim, es ist schon spät genug. Und grüßen Sie Ihre Frau.“ Wir standen auf. Dabei fiel mir ein, daß ich ja nun eine falsche Todesursache auf dem Formular eingetragen hatte. Ich setzte mich wieder und sagte: „Ich muß ja noch einen anderen Totenschein ausfüllen.“ Ronn fragte: „Wollen Sie’s denn nicht dabei belassen?“ „Wobei?“ „Bei Ihrer ursprünglichen Diagnose.“ „Sie stimmt doch aber nicht mehr.“ Ich zog meinen Druckstift aus der Jackettasche. 154
„So genau“, sagte Ronn, „will es doch keiner wissen.“ Ich legte den Stift auf den Tisch und blickte Ronn befremdet an. So genau will es keiner wissen! Ich empfand plötzlich eine heftige Wut gegen mich selbst. So genau will es keiner wissen! Und diesen Mann habe ich zum Sanitätsrat vorgeschlagen. Aber dann dachte ich an den Schock, den er vorhin erlitten hatte. Kommt heim von der Arbeit und findet seine Frau tot im Bett. Versöhnlich sagte ich: „Lieber Ronn, ich brauche Ihnen doch wohl nicht zu erklären, wie exakt wir gerade bei der Feststellung der Todesursache …“ „Aber es ist ein Selbstmord!“ unterbrach er mich. „Selbstmord! Wenn sich das herumspricht, Winter! Selbstmord einer Arztfrau. Versetzen Sie sich doch einmal in meine Lage!“ „Das geht auch vorüber.“ „Sie wohnen noch nicht lange genug in der Kleinstadt“, sagte er düster, „um mich verstehen zu können. Lebenslänglich verurteilt, in diesem Nest zu hocken. Da sieht die Sache etwas anders aus.“ „Aber Sie können doch jederzeit an einen anderen Ort …“ „Wohin? An irgendeine Poliklinik? Ich liebe meine Selbständigkeit. Und was würde aus dem Haus und dem Grundstück?“ „Kann man verkaufen.“ „Mit Verlust. Wer zieht denn in dieses gottverlassene Kaff? Außerdem, in meinem Alter verändert man sich nicht mehr. Ich bin an Cronen gefesselt.“ „Aber Sie sind hier zu Hause, kennen viele Menschen.“ 155
„Viele Leute kennen – ist das wirklich ein Gewinn? Es ist eine Strafe, Winter. Jedenfalls hier in der Kleinstadt. Kein Schritt, der nicht beobachtet und kommentiert wird. Der Fleischermeister ist Ihr Patient. Die Konsumverkäuferin ist die Frau Ihres Patienten. Der Verkehrspolizist kennt Sie von der Kraftfahrerschulung. In der Handschuhfabrik sind Sie Betriebsarzt. Freundlich sind die Leute ja alle, manche sogar unterwürfig. Aber hintenherum, mein Lieber, da hat jeder sein Histörchen über Sie zu erzählen. Dem einen sind Sie zu mürrisch, dem andern zu munter. Dort zu vorsichtig, da zu großzügig. Und wenn Sie nur ein einziges Mal das Pech gehabt haben, eine Appendizitis für eine Pyelonephritis zu halten – das vergißt man Ihnen nicht, solange Sie leben. Sind Sie krank, heißt’s, der ist Arzt und kann sich selber nicht helfen. Strotzen Sie vor Gesundheit, heißt es, der kann sich in einen Kranken nicht hineinversetzen.“ „Das erscheint Ihnen nur heute alles so grau in grau.“ „Ich sehe die Dinge realistisch. Was meine lieben Mitmenschen betrifft, da habe ich keine Illusionen mehr. Und wenn Cronen morgen erfährt, daß sich meine Frau das Leben genommen hat – lieber Freund, Gisela ist hier alteingesessen, da beginnt das große Rätselraten. Warum hat das die Ärmste getan? Ich weiß es nicht. Sie wissen es nicht. Gisela selbst wußte es vielleicht nicht einmal genau. Aber die Leute werden es wissen! Da können Sie mal die Phantasie der Volksseele kennenlernen! Zehn, zwanzig Versionen werden die Runde machen, und immer werde ich das Opfer sein.“ „Im Gegenteil. Ich glaube, jeder wird Mitgefühl mit Ihnen empfinden.“ „Gott erhalte Ihnen Ihre Unschuld. Es mag ja noch angehen, wenn sie sich nur über mich die Mäuler zerreißen. 156
Aber dabei bleibt es ja nicht. So etwas weitet sich aus, auf den ganzen Stand. Eine Arztfrau, natürlich! Wieder mal die Ärzte! Sie wissen ja, was dann jedesmal an Aggressionen frei wird!“ Als ich Ronn kurz nach Mitternacht verließ, hatte ich keinen neuen Totenschein ausgestellt. Und immer wieder frage ich mich, warum? Aus Freundschaft? Freunde sind wir eigentlich nicht. Aus Mitleid? Ist Ronn der Typ, der Mitleid erregt? Aus Kollegialität, aus falsch verstandener Solidarität? Ich weiß keine Erklärung! Ich weiß es einfach nicht. Der Nebel war inzwischen gestiegen und kam als feiner Nieselregen herab. Ich war zu aufgewühlt, um schlafen zu können. Ohne Mantel lief ich an unserm Neubau vorüber, angetrieben von Kognak, Trauer, Selbstvorwürfen. Hinter dem Neubauviertel hätte ich umkehren sollen. Aber ich ging weiter. An der rechten Seite der Straße lagen Schrebergärten. Es roch nach fauligem Laub, Kartoffelkraut und letzten Astern. Links begannen die riesigen neuen Hallen des MAC, Maschinen- und Apparatebau Cronen. Das Gerippe der Stahlträger stach dunkel gegen die breitflächigen Milchglasscheiben in der Werkhalle ab, die von Neonlicht taghell erleuchtet waren. Ich hörte das feine Summen der Maschinen, das sich auf den Boden unter meinen Füßen zu übertragen schien. Im Hof, von hohen Bogenlampen erleuchtet, standen in langen Reihen riesige Kessel für den Export bereit. Der frische Lack glänzte im Regen in allen Farben, lindgrün, kobaltblau, rot. Ich ging weiter und befand mich bald auf der Land157
straße nach Wastewitz. Die Dunkelheit nahm zu, der Regen wurde dichter. Meine Haare klebten vor Nässe, in dünnen Rinnsalen lief mir das Wasser über die Stirn. Nach einigen hundert Metern drehte ich um und ging zurück. Gegen eins kam ich zu Hause an. Ich weckte meine Frau und berichtete ihr von Giselas Tod. Ingrid war sehr erschüttert. Aber ich fühlte mich zu erschöpft, um mich noch mit ihr zu unterhalten. Trotzdem ging ich, ehe ich mich niederlegte, in mein Arbeitszimmer und nahm Prokops „Forensische Medizin“ aus dem Regal, um über Schlafmittelvergiftung nachzulesen. Ich fand bestätigt, bei Barbituratvergiftung können sich Blasen bilden, die man mit Brandblasen verwechseln kann. Und noch etwas entdeckte ich. Die mir völlig unbekannte Rosafärbung der Leiche wurde bereits vor dreißig Jahren von Dervieux festgestellt, allerdings wohl nur in einem einzigen Fall. Und dieser Zufall hatte sich hier wiederholt. Kaum lag ich im Bett, war ich auch schon eingeschlafen. Jetzt ist es neun Uhr. In diesem Augenblick beginnt die Ratssitzung. Ich habe mich entschuldigt. Nun werde ich doch noch teilnehmen. Aber vorher muß ich noch einmal zu Ronn. Ich werde einen neuen Totenschein ausstellen. Sicher wird er wieder die gleichen Argumente vorbringen wie gestern nacht. Ronn öffnet mir selbst. Er wirkt jetzt gefaßter als vor zehn Stunden. Ich teile ihm mit, warum ich gekommen bin. Ronn blickt mich verständnislos an. 158
Ich wiederhole: „Bitte, geben Sie mir den Totenschein. Ich muß einen neuen ausstellen.“ Ronn nickt wortlos. Wir gehen hinein, ins Wohnzimmer, setzen uns, Ronn sagt mehr feststellend als fragend: „Sie haben es sich also anders überlegt.“ „Lieber Ronn, ich hätte von Anfang an korrekt sein müssen, in unser beider Interesse.“ Er antwortet nicht. „Ich verstehe sehr gut, daß Sie das Gerede der Leute fürchten. Aber das dauert zwei, drei Wochen, dann ist alles vergessen.“ Ronn reagiert nicht. Ich spüre seine Skepsis. So gern möchte ich ihm Mut machen, seine Zweifel zerstreuen. „Ronn, durchdenken Sie doch die Situation ruhig und vernünftig! Bestimmt sind Ihre Sorgen unbegründet. Vielleicht haben Sie nicht mehr ganz zeitgemäße Vorstellungen von Cronen und seinen Menschen. Das ist doch nicht mehr die alte, kleine, verträumte Stadt, in der die Zeit stehenblieb. Sie ist zu einer modernen Industriestadt geworden. Mit Tausenden neuer Menschen – Arbeitern, Ingenieuren, Angestellten. Glauben Sie mir, die haben ganz andere Probleme als Ihr Fleischermeister und die Rentnerin Mehlhose in der Töpfergasse. Die haben andere Dinge im Kopf, als sich Klatschgeschichten über den Tod einer Frau Ronn zu erzählen.“ Aber meine Worte erreichen Ronn nicht. Oder er will sich einfach nicht überzeugen lassen. Er setzt erneut an: „Wenn man erfährt, daß meine Frau obduziert werden soll …“ „Aber lieber Ronn, nehmen Sie doch mal an, ein Verwandter eines verstorbenen Patienten würde solche 159
Einwände machen. Was würden Sie als Arzt ihm wohl antworten?“ „Es geht ja nicht um eine Verwaltungssektion, sondern um eine gerichtsmedizinische!“ sagt Ronn verbissen. Man sieht richtig, wie er sich einen inneren Ruck gibt. „Läßt sich denn das wirklich nicht vermeiden?“ „Lieber Kollege, Sie wissen doch genausogut wie ich, daß nun die Dinge ihren Gang gehen.“ Ronn steht wortlos auf und holt den Totenschein von der Kommode. Mit einer demonstrativ heftigen Bewegung zerreißt er das Papier und wirft die Schnitzel auf den Tisch. Stumm schiebe ich ihm den neuen Schein zu. Er sieht das Kreuz hinter der Rubrik „nicht natürlicher Tod“. Und liest als Todesursache: „Verdacht auf Tablettenvergiftung.“ Ich stehe auf und nehme den Totenschein mit. Ronn begleitet mich nicht hinaus. Ich kann es nicht ändern, daß er verärgert ist. Er weiß, was ich jetzt tun muß: eine gerichtsmedizinische Obduktion beantragen und die Kripo benachrichtigen.
DOKTOR WALTHARI Freitag, 11. November, abends Der Fall Ronn begann für mich heute nachmittag. Das heißt, als er begann, sah es noch nicht wie ein Fall aus. Eher wie eine Routinesache. Ich arbeite jetzt das zwölfte Jahr am Institut für gerichtliche Medizin. Wie viele Sektionen ich bisher durchgeführt habe, kann ich nicht genau sagen. Es können 160
zweitausend sein oder dreitausend. Allmählich bekommt man einen Blick dafür, welcher Fall unkompliziert ist und welcher zu einem Problem werden könnte. Eine Tablettenvergiftung wie bei Frau Ronn ist für uns in der Regel überhaupt kein Problem. Das geht alles seinen genau festgelegten Gang. Vorgeschichte, Obduktion, histologischer Befund, toxikologisch-chemische Untersuchung. Reine Routine. Oft wird dieses Wort geringschätzig ausgesprochen. Aber in der Naturwissenschaft beruhen die meisten Ergebnisse auf täglicher Routine. Routine, im guten Sinn, ist die zur Methode gewordene Erfahrung. Unserer Arbeit, ich weiß, haftet noch immer etwas Makabres an. Es ist der uralte Schauder vor dem Tod. Eine Art magischen Denkens, daß der Tote in Frieden ruhen soll. Bis vor wenigen hundert Jahren galt es noch als Frevel, einen Leichnam zu öffnen. Heute Weiß jeder, daß oft nur eine Obduktion einwandfrei klären kann, woran ein Mensch gestorben ist. Und trotzdem gibt es noch immer Vorbehalte gegen unsere Arbeit. Aber ich bin gewiß, wir werden diese Vorbehalte mehr und mehr abbauen. Ich kam heute gegen fünfzehn Uhr mit meinem Kollegen Dr. Sonnthau in Cronen an. Wir waren froh, bei diesem scheußlichen Nieselregen schon nach einer knappen Stunde am Ziel zu sein. Manchmal sind wir bei Außensektionen Hunderte von Kilometern unterwegs. Im Kreiskrankenhaus, wo wir die Sektion der Frau Ronn durchführen sollten, erwarteten uns bereits Staatsanwalt Zeh und der Sachbearbeiter der Kripo, Oberleutnant Harry Kant, der die Ermittlungen führt. Ich erfuhr, 161
daß die Tote die Ehefrau des in Cronen praktizierenden Arztes Dr. Ronn sei. Dann gingen wir an die Arbeit. Wir begannen mit der äußeren Besichtigung der Leiche. Bereits dabei achteten wir auf jede Veränderung am Körper der Toten. Jede Wunde, jede Druckstelle wird im Protokoll vermerkt. Der kleinste Kratzer kann unter Umständen von Wichtigkeit sein. Selbst unter den Fingernägeln sehen wir nach. Vielleicht finden sich Haare oder Fasern darunter ein Hinweis darauf, daß ein Abwehrkampf stattgefunden haben könnte. Als der Sektionsgehilfe die Tote umwendete, entdeckten wir auf der Gesäßseite einige braunrote, punktförmige Hautvertrocknungen in fast symmetrischer Anordnung, jeweils zwei im äußeren oberen Quadranten jeder Gesäßbacke. Sonnthau sah mich an, ich blickte Sonnthau an. Staatsanwalt Zeh trat unwillkürlich einen Schritt näher. „Typische Injektionsstellen“, sagte ich. Lage und Färbung der vier Einstiche wurden im Protokoll festgehalten wie bereits vorher die „Holzerschen Blasen“ an Knie und Knöchel und die „Rosafärbung“ der Hautoberfläche. Vorsichtshalber präparierten wir das Gewebe um die Einstichstellen für spätere Untersuchungen heraus. Eine Obduktion kann noch nicht endgültig beweisen, ob eine Vergiftung vorliegt. Das ergibt erst die toxikologischchemische Untersuchung im Labor. Trotzdem fanden wir schon bei der Sektion bestimmte Hinweise. So stellten wir ausgeprägte Ödeme in Lunge und Gehirn fest. Das ist ein wichtiges Symptom. 162
Im Magen entdeckten wir Tablettenreste. Wir trockneten sie, lösten sie auf in alkoholischer Kobaltsalzlösung und fügten einige Tropfen alkoholischer Lithiumhydroxydlösung hinzu. Die Flüssigkeit färbte sich blauviolett. Diese Zwikkersche Vorprobe erhärtete Winters Vermutung einer Schlafmittelvergiftung. Aber die Zwikkersche Reaktion ist nicht eindeutig. Ihr muß stets der quantitative Giftnachweis folgen. Dabei stellen wir die Menge des Giftes fest, die sich im Körper befindet. Für diese toxikologisch-chemische Untersuchung, die nur im Labor vorgenommen werden kann, ist der „große Giftansatz“ erforderlich. Zu diesem Zweck entnahmen wir dem Leichnam die Nieren, die Hälfte von Leber und Gehirn, außerdem Magen und Mageninhalt, Dünn- und Dickdarminhalt, schließlich Urin und Blut aus Herz- und Schenkelvenen. Später setzten wir uns mit Staatsanwalt Zeh und Oberleutnant Kant zusammen, um die Obduktion auszuwerten. Zeh, ein kleiner, hagerer Sechziger, durch ewige Magenbeschwerden immer etwas gereizt und mißmutig, eröffnete das Gespräch. Er berichtete kurz über die Tatortbesichtigung. Man hatte die Leiche im Ehebett gefunden und einen Abschiedsbrief und das Wasserglas sichergestellt, in dem sich vermutlich Tablettenreste befanden. Wir nahmen das Glas an uns, um den weißen Bodensatz ebenfalls im Labor untersuchen zu lassen. Oberleutnant Kant ergänzte die Ausführungen von Zeh und faßte zusammen: „Tatortbesichtigung und Vernehmung des Ehemanns ergaben, daß wahrscheinlich Selbstmord vorliegt.“ 163
Dann erhielt ich das Wort. Ich legte das vorläufige Ergebnis der Obduktion dar. Der Verdacht auf Tablettenvergiftung habe sich erhärtet, wahrscheinlich handele es sich um eine Barbituratvergiftung. Das endgültige Sektionsprotokoll sei Mitte nächster Woche zu erwarten. „Allerdings“, fügte ich hinzu, „geben uns die vier Injektionsstellen zu denken.“ Oberleutnant Kant blickte mich an. Dann fragte er in das Schweigen hinein: „Etwas nicht in Ordnung, Doktor?“ „Auf jeden Fall muß festgestellt werden, welche Injektionen die Frau erhalten hat und von wem.“ „Eine Kleinigkeit“, sagte Kant, „ich werde Doktor Ronn selbst fragen.“ „Gut. Dann habe ich noch eine Frage an Sie, Herr Staatsanwalt. Wer hat die Leichenschau vorgenommen?“ „Doktor Winter. Unser Kreisarzt.“ „Der Kreisarzt? Der praktiziert doch nicht. Warum gerade er?“ „Ronn hatte ihn darum gebeten. Die beiden sind Nachbarn, die Frauen kannten sich, Winter hat wohl auch Einblick in Frau Ronns Krankheit gehabt, hörte ich. Wie das eben in der Kleinstadt so ist. Warum fragen Sie?“ „Ich frage mich, ob Doktor Winter die vier Einstichstellen bemerkt hat.“ „Müßte er, wie?“ „Müßte er.“ „Ja, man kann ihn fragen. Ist das wichtig?“ „Nicht für unsern Fall. Also gut, Sie bekommen dann unsern Befund.“ Zeh erhob sich. Aber Kant machte keine Anstalten aufzustehen. 164
„Haben Sie noch Fragen, Herr Kant?“ Zeh setzte sich wieder, ein wenig mißmutig und ungeduldig, wie mir schien. Kant nahm sich Zeit mit der Antwort. Er sah mir kühl in die Augen und stellte fest: „Sie bezweifeln einen Selbstmord, Doktor.“ Ich kenne Kant schon seit einigen Jahren. Wir haben verschiedene Fälle gemeinsam aufgeklärt, zuletzt den Fall einer Kindesmißhandlung mit tödlichem Ausgang. Ich halte Kant für einen bemerkenswerten Mann. Er wird so an die Fünfzig sein. Ein massiger Kerl, dessen Figur einen natürlichen Respekt hervorruft. Dichtes, kurzgeschnittenes Haar, das sich schon weiß färbt. Die hellgrauen Augen sind mit grüngoldenen Flecken durchsetzt. Die Nase scheint etwas zu klein geraten zu sein, der Mund dafür fast zu voll. Was mir so an ihm imponiert: Er ist kein „Fachidiot“, sondern belesen und vielseitig interessiert. Ich kenne auch seine Lebensgeschichte in groben Umrissen. Er hatte Anfang der fünfziger Jahre mit dem Philosophiestudium begonnen und dann, zuerst ohne Begeisterung, auf einen Parteiauftrag hin seinen Dienst in der Volkspolizei aufgenommen. Später schickte man ihn in die Abteilung K, und er fing an, Interesse an seinem Beruf zu finden. Man rühmt seine Ausdauer und seine Zähigkeit. Er hat Gespür für Zwischentöne. Sonst hätte er mir soeben diese Frage nicht gestellt. Denn ich hatte bisher meinem Zweifel an einem Selbstmord keinerlei Ausdruck gegeben. Ich erwiderte: „Sie vermuten richtig, Herr Kant. Ob es tatsächlich Selbstmord ist, kann ich erst sagen, wenn ich mir über die vier Injektionen klar bin.“ „Vielleicht klären sie sich ganz harmlos auf“, sagte er. 165
OBERLEUTNANT KANT Sonnabend, 12. Nov., nachts Auf Blatt Nr. 1, mit grünem Faserstift: Was spricht für einen Selbstmord der Gisela Ronn? 1. Ihr Abschiedsbrief. 2. Ihre Fingerabdrücke auf dem Giftglas. 3. Die Eigenart des Gifts: es ist wegen seines stark bitteren Geschmacks als Mordgift ungeeignet. Und jetzt auf Blatt Nr. 2, mit rotem Stift: Was spricht gegen einen Selbstmord? Der Faserstift ist schon wieder ausgetrocknet! Aus dem Vierfarbensatz nutzt sich immer der rote zuerst ab. Schlußfolgerung: Ich verwende den roten am häufigsten. Grund? Weil ich meistens mehr belastendes als entlastendes Material finde. Diesmal besteht allerdings diese Gefahr nicht. Auf drei entlastende Indizien kommt nur ein belastendes: die Injektionen. Chris bringt den Tee. Also schon wieder zehn. Ich blicke auf die Uhr: fünf Minuten nach zehn. Chris stellt die Tasse auf den Schreibtisch. „Danke, Chris.“ Sie nickt und lächelt. Es ist ein ganz zartes, flüchtiges Lächeln, das anscheinend vor sich selber erschrickt, so rasch verbirgt es sich wieder. Und ich denke: Wer nach achtzehn Jahren seinen Mann noch so anblicken kann … „Liebe Chris“, sage ich noch. Chris ist schon an der 166
Tür, wendet mir noch einmal ihren Blick zu und verläßt das Zimmer. Ich greife nach dem Teeglas. Drei Eßlöffel Teeblätter in eine Tasse kochende Milch geschüttet, dazu zwei Eßlöffel Zucker. Das schwere, süße Getränk, das wie Kaffee aussieht, wird mich noch lange wach halten. Manchmal frage ich mich, was ist das eigentlich, was ich tue. Poetische Naturen, die gern übertreiben, könnten mich einen Jäger nennen. Vielleicht braucht die Literatur solche übersteigerten Bilder. Ich jedenfalls habe mich nie als „Jäger“ gefühlt. Der größte Teil meiner Arbeit ist sehr prosaisch. Man sitzt in einem nüchternen Amtszimmer, an einem zerkratzten Schreibtisch, nimmt Anzeigen auf, befragt Zeugen, vernimmt Beschuldigte, stellt immer dieselben Fragen nach immer demselben Schema, schreibt Berichte, durchblättert Protokolle, bildet sich Meinungen. Im großen und ganzen Büroarbeit. Dabei fühle ich mich ausgesprochen wohl. Manche unserer literarischen Kriminalisten sondern dauernd Stoßseufzer ab: „Wenn ich bloß nicht diese Arbeit machen müßte! Ich bin ein Widerspruch meiner selbst! Eigentlich dürfte es Leute wie mich gar nicht mehr geben!“ Es gibt uns aber, und es wird uns noch auf absehbare Zeit geben, auch wenn es eigentlich nicht so sein sollte. Aber mit dem, was sein soll, habe ich mich während meines Philosophiestudiums ausgiebig beschäftigt. Heute habe ich mit dem zu tun, was ist. Also Blatt Nr. 2, mit rotem Stift: Die Injektionen. Rot? Nur noch blaßrosa. Vielleicht hat Beate einen noch schreibfähigen Faserstift. Ich gehe in Beates Zimmer. Meine fünfzehnjährige 167
Tochter liegt im Bett und liest noch. Aus dem Kofferradio dröhnt irgendein Beat. Beat oder Pop oder Soul. Ich unterdrücke eine Bemerkung und bitte Beate lediglich, die Musik leiser zu stellen. Beate erweist mir die Gnade und streckt lässig die Hand nach dem Metallknopf aus. „Hast du mal einen roten Faserstift, Beate?“ „In der rechten Schreibtischschublade, Vati.“ Ich finde gleich zwei. „Du kannst einen behalten“, sagt sie. „Danke.“ „Ich könnte dir ja nächste Woche gleich mal zehn schenken.“ „Nächste Woche?“ „Zum Geburtstag.“ „Ah ja“, murmele ich, „wenn dir nichts Besseres einfällt …“ Ich beeile mich hinauszukommen. Nächste Woche: der neunundvierzigste … Ich denke mit Entsetzen daran. Sei nicht so dramatisch! Aber immerhin mit leichtem Schauder. Also nun endlich in roter Schrift: Die Injektionen. Wie wir gestern nach der Obduktion vereinbart hatten, suchte ich noch einmal Dr. Ronn auf, um ihn wegen der Injektionen zu befragen. Ich kenne Ronn nur flüchtig. In einer kleinen Stadt kennen sich die meisten Menschen nur flüchtig. Man trifft sich hier, man begegnet sich dort, findet sich bei irgendeiner Sitzung wieder zusammen, nickt sich auf der Straße zu, hat einen ungefähren Eindruck vom andern und ordnet ihn in eine seiner Schubladen ein: Interessanter Mann. Kluger Kopf. Netter Kerl. 168
Arroganter Bursche. Oder: Altes Ekel. Wo hatte ich Ronn bisher eingeordnet? In die erste, glaube ich. In die neutrale. Nicht positiv und nicht negativ: einfach ein interessanter Mann. Lernt man den Menschen ein bißchen näher kennen, versagt die Schubladenmethode. Heute würde ich hinzufügen: Ronn ist bestimmt auch ein kluger Kopf. Und ein arroganter Bursche dazu. Sicher, auch wieder nur Schublade. Aber keinesfalls wäre er in eine einzige einzuordnen. Ich hatte ihn also gestern nachmittag angerufen, er sagte, natürlich sei es ihm recht, wenn ich gleich mal vorbeikäme. Ich läutete am Gartentor. Ronn erschien selbst, um zu öffnen. Zum ersten Mal betrachtete ich ihn mit bewußter Aufmerksamkeit. Ronn kam mit raschen, weit ausgreifenden Schritten auf mich zu. Man findet diesen Gang bei Menschen, die ohne Umwege ihr Ziel ansteuern. Er öffnete das Tor und begrüßte mich. Ich sagte: „Da wäre noch etwas zu klären, Herr Doktor.“ „Ja, bitte, kommen Sie nur.“ Zum ersten Mal fiel mir auf, wie leise er sprach. Die klanglose Stimme paßte nicht zu seiner kräftig-gedrungenen Gestalt. Im Hausflur nahm er mir den Mantel ab und hängte ihn über einen Bügel. Wenn das Chris sehen würde! Ich halte nämlich nichts von Kleiderbügeln. Er deutete auf eine Tür. „Bitte.“ Ich betrat zum ersten Mal sein Arbeitszimmer. Es wirkte ausgesprochen altmodisch. Die Möbel stammten 169
sicher noch aus der Vorkriegszeit. Ledersessel, ein schwerer, wuchtiger Schreibtisch, ein mächtiger Bücherschrank aus dunkelgebeizter Eiche. Ölbilder in verschnörkelten Goldrahmen. Warum gibt es nichts in diesem Zimmer, das etwas über die Persönlichkeit seines Bewohners aussagt? Oder ist gerade das seine Persönlichkeit? Chris und ich, wir kaufen uns gern immer wieder ein neues Möbelstück – sei es eine Lampe oder ein Sessel oder auch nur ein Blumenbänkchen, irgend etwas, das einen neuen Akzent setzt, das Ausdruck der Zeit ist, der Jahre, die mit uns vergehen und mit denen wir uns verändern. Aber hier schien die Zeit stillzustehen. Flüchtig kam mir der Gedanke: Ronn ist ein Untermieter, der nichts in seinem Zimmer verändern will. Oder durfte … Wir ließen uns an einem runden Tischchen nieder. Die Glasplatte darauf glänzte spiegelblank. Und da entdeckte ich doch einen individuellen Akzent in diesem Raum. Einen zarten Farbtupfer, der sich fast ironisch von der dunklen Strenge des Hintergrunds abhob: ein geblocktes Buntfoto. Ronn hatte es vor Augen, wenn er am Schreibtisch saß. Das Bild zeigte die Erdkugel, vom Mond aus gesehen. Inmitten eines schwarzen Himmels hängt hell die blaugrüne Scheibe der Erde. „Ein großartiges Bild“, bemerkte ich. „Gefällt es Ihnen?“ „Ich würde es mir auch ins Zimmer hängen.“ „Ja, es ist faszinierend.“ „Interessieren Sie sich für Astronomie?“ „Ein wenig. Möchten Sie etwas trinken, Herr Kant? Kaffee? Brunnen? Ein Bier?“ 170
„Dann bitte Brunnen.“ Ronn ging hinaus. Ich zündete mir eine Zigarette an. Ronn kam mit zwei Flaschen Margonwasser zurück, holte Gläser und goß ein. Das Wasser war gut gekühlt. „Betreiben Sie ernsthafte astronomische Studien, Doktor Ronn?“ „Dazu reicht meine Zeit nicht. Ich lese hier und da über neue Forschungsergebnisse.“ „Also eine Art Hobby?“ „Wie man’s nimmt.“ „Und was interessiert Sie nun gerade an astronomischen Tatsachen?“ „Ihre revolutionäre Wirkung auf unser Denken.“ „Ah“, sagte ich, „ein sehr interessantes Problem.“ „Ja, über wirkliche Probleme machen sich die Menschen meist keine Gedanken.“ „Darüber habe ich mir leider auch noch keine gemacht, Herr Doktor.“ Ronn rückte seine Brille zurecht. Dann wies er auf das Farbfoto. „Dieses Bild ist eine Art Gleichnis unserer Existenz, Wenn Sie wissen, was ich damit meine?“ „Nun, ich könnte mir denken …“, sagte ich unbestimmt und ließ das Ende des Satzes fallen. Ronn wurde lebhaft. „Sehen Sie die unendliche Finsternis des Raums. Man kann seine tödliche Kälte förmlich spüren. Und inmitten dieser eisigen Einsamkeit schwebt verloren unser Planet. Wissen Sie, wie winzig unser Lebensraum eigentlich ist? Zweitausend Meter nach oben, paar hundert Meter in die Tiefe. Wäre die Erde nur so groß wie ein Apfel, so könnte man unseren Lebensraum mit dem Hauch der Feuchtigkeit vergleichen …“ Ronn fuhr mit dem Finger über die Brunnenflasche, 171
die sich in der Zimmerwärme mit einer feinen Wasserschicht beschlagen hatte. Sein Finger hinterließ eine dunkle Spur. „Das ist unser Lebensraum. Auf ihm spielt sich alles ab, Liebe und Krieg, Krankheit und Freude, Fortschritt, Enttäuschung, Hoffnung und Verzweiflung. Eine ameisenhafte Existenz, nicht wahr? Und daneben die Unendlichkeit der Zeit! Verkürzten wir die Entwicklung der Erde auf vierundzwanzig Stunden – wissen Sie, wann der Mensch in Erscheinung trat? In den letzten zwei Sekunden. Und dabei ist die Geschichte der Erde nur eine Sekunde in der Gesamtentwicklung des Universums.“ „So ist es.“ „Aber es gibt ja nicht nur diese Unendlichkeit im Großen, Herr Kant, diese Grenzenlosigkeit des Universums, den Makrokosmos. Sie spiegelt sich in der Unendlichkeit des Mikrokosmos wider.“ „In der atomaren Welt.“ „Bis zu den kleinsten Bausteinen des Lebens. Die Struktur der Gene, der Träger unserer Eigenschaften – die geringste Veränderung in der Anordnung dieser Bausteine genügt, um neue vererbbare Eigenschaften entstehen zu lassen.“ Ronn goß sich Wasser nach und trank in langen Schlucken. Ich schwieg. Ronn wurde von seinem Thema fortgerissen. Es mußte ihn sehr bewegen. „Wissen Sie eigentlich, daß die Herrschaft des Menschen auf dieser Erde schon morgen zu Ende sein kann?“ Mir fiel sein triumphierend-eifernder Ton auf. „Das ist mir neu, Herr Ronn.“ „Den meisten sind diese Dinge tatsächlich unbekannt. Es ist unwiderlegbar bewiesen, daß das Kraftfeld der Er172
de im Verlauf ihrer Entwicklung schon einige Dutzend Male zusammengebrochen ist. Das magnetische Kraftfeld aber bewahrt uns Lebewesen vor der tödlichen kosmischen Strahlung. Bricht nun das Kraftfeld zusammen, so dringt diese Strahlung ungehindert auf uns ein. Die Folge: sprunghafte massenhafte Veränderung der Gene. Mutationen unvorstellbaren Ausmaßes. Auf diese Weise ist einst die Herrschaft der Saurier zu Ende gegangen. Auf diese Weise wird auch die Herrschaft des Menschen zu Ende gehen, andere, besser angepaßte Lebewesen werden an seine Stelle treten. Es gibt Anzeichen, daß eine neue Polverschiebung beginnt. Und sie leitet stets den Zusammenbruch des Schwerefeldes ein. Diese Perspektiven passen kaum in unsere fortschrittstrunkene Epoche, nicht wahr?“ Ronn lachte dünn auf. „Sehen Sie, das meine ich mit den Auswirkungen von Astronomie und Molekularbiologie auf unser Denken. Unser Weltbild ist hoffnungslos veraltet., Unser Leben, unsere Zivilisation, unsere individuelle Existenz – alles das Werk eines gigantischen Zufalls. Tatsächlich lebt der Mensch in totaler Einsamkeit am Rande des Alls, das taub und gleichgültig ist für unsere kleinlichen Freuden und Leiden.“ „Das scheint Sie sehr zu belustigen, Herr Doktor?“ „Es belustigt mich nicht. Aber es beunruhigt mich auch nicht. Ich ziehe einfach Schlußfolgerungen aus Fakten und stelle fest, daß der Mensch keiner religiösen und politischen Heilslehren mehr bedarf, um leben zu können. Es gibt keine Werte, die uns sagen, was wir zu tun und zu lassen haben. Unser Schicksal wird von keinem Gott mehr entschieden und keinem historischen Gesetz, sondern von jedem Individuum selbst.“ 173
„Nun, dazu wäre doch wohl einiges zu sagen“, warf ich ein. Ronn nickte. „Nun kommen Sie mir bestimmt mit Engels und Marx. Größe des Menschen, Gesetzmäßigkeit seiner Geschichte, Unendlichkeit des Fortschritts, Höherentwicklung bis zum Gehtnichtmehr.“ „Herr Doktor, Engels war nicht ganz so dogmatisch, wie Sie ihn sehen. Irgendwann sprach auch er davon, daß die Existenz der Erde und ihre Bewohnbarkeit einst ein Ende haben werden. Und daß die Menschheit nicht nur eine aufsteigende, sondern auch eine absteigende Bewegung kennt. Aber zugleich nannte er das ein Problem unfruchtbarer Phantasie. Es berührt unsere gegenwärtige Geschichte in keiner Weise.“ „Das ist natürlich eine Frage der Einstellung. Der moderne Mensch denkt eben in kosmischen Dimensionen.“ „Ich bezweifle, daß Sie sich mit Ihren Schlußfolgerungen auf dem Stand moderner Naturwissenschaften befinden, Herr Doktor. Mir scheinen Ihre Ansichten eher von gestern zu stammen.“ Ronn legte die Beine übereinander, verschränkte seine Arme und lächelte mokant. Ich fand seine Haltung geradezu provozierend, aber ich durfte mich jetzt nicht provozieren lassen. So ruhig wie möglich sagte ich: „Gerade die neuesten sowjetischen und amerikanischen Forschungen beweisen, wie recht Engels hatte, wenn er vom universalen Zusammenhang der Welt sprach.“ Ronn schlenkerte einen Arm durch die Luft und schnipste verächtlich mit zwei Fingern. „Der Mensch und der Himmel – eine Harmonie! Ich wiederhole: Das ist das Weltbild des Mittelalters!“ „Vielleicht müssen wir zu dieser Ansicht zurückkehren, nur auf einer höheren Stufe. Natürlich sprechen wir nicht 174
mehr von Harmonie. Ich würde einen Begriff wählen, der der Wirklichkeit besser entspricht: Zusammenhang. Ob ein Atom oder ein Milchstraßennebel – die materielle Welt gehorcht einer einheitlichen Gesetzmäßigkeit. Was die Alten einst Sphärenmusik nannten, ist doch nichts weiter als ein poetischer Ausdruck für das Zusammenspiel unendlicher kosmischer Kräfte. Und wenn Sie sagen, unser Planet schwebe verloren und isoliert im All, so halte ich das eben für eine veraltete Ansicht. Neunzehntes Jahrhundert. Und was Sie den Zufall unserer Existenz nennen – vielleicht ist es wirklich ein Zufall, daß gerade auf unserm Planeten Leben entstand. Aber als es entstanden war, entwickelte es sich nach den Gesetzen unserer materiellen Lebensweise. Auch die individuelle Existenz eines Herrn Doktor Ronn in Cronen.“ Nun war ich meinem Vorsatz doch untreu geworden. Ich hatte mich zu einer Diskussion hinreißen lassen. Aber überrascht sah ich, wie Ronn versöhnlich zu lächeln begann. „Herr Kant, es macht wirklich Spaß, mit Ihnen zu debattieren. Wer in Cronen sonst hat schon Interesse an solchen Problemen.“ „Sie fühlen sich nicht wohl hier?“ „Kleinstadt“, bemerkte er geringschätzig, „ein Kuhdorf. Ein Grab für jeden Höhenflug.“ „Unsere Umwelt ist das, was wir aus ihr machen.“ Ronn winkte ab. „Reden wir nicht darüber. Wenn ich von Cronen spreche, kommt mir die Galle hoch.“ „Warum sind Sie dann hiergeblieben?“ „Meine Frau wollte nicht fort. Sie ist hier groß geworden, hatte vielerlei Bindungen …“ Er brach ab und blickte finster vor sich hin. „Dann müßte sie sich doch eigentlich hier in Cronen sehr wohl gefühlt haben.“ 175
Ronn zuckte mit den Schultern. „Müßte sie.“ „Warum schied sie dann aus dem Leben?“ „Wer schaut schon in einen nervlich labilen Menschen hinein, Herr Kant. Nicht einmal der Ehemann, wieviel weniger ein Arzt.“ „Doktor Winter sprach von endogenen Depressionen. Wie ist Ihre Meinung dazu?“ „Ich bin der gleichen Ansicht.“ „Ich sagte Ihnen ja schon am Telefon, Herr Doktor, daß ich noch einige Fragen habe.“ „Was ist da noch zu fragen, Herr Kant? Liegt doch alles offen auf der Hand, in trauriger Klarheit.“ „Wenn ich den Fall abschließen soll, muß ich nachweisen, daß alles klar ist.“ „Natürlich. Entschuldigen Sie.“ „Ich verstehe, daß es Ihnen schwerfällt, über all diese Dinge zu sprechen. Aber es läßt sich leider nicht vermeiden. Bitte versuchen Sie, meine Fragen so genau wie möglich zu beantworten.“ „Selbstverständlich, Herr Kant.“ Ronn hatte seine mokante Haltung aufgegeben. Er saß jetzt vor mir, den Oberkörper etwas vorgeneigt, die Ellbogen auf die Knie gestützt, seine braunen Augen blickten mich groß und fragend an. „Herr Doktor Ronn“, sagte ich, „Sie haben an dem Abend, als Ihre Frau starb, Doktor Winter gegen dreiundzwanzig Uhr angerufen.“ „Ich kann Ihnen beim besten Willen nicht mehr sagen, wie spät es war. Ist das denn so wichtig?“ „Bei Ihrer ersten Vernehmung sagten Sie mir jedoch, Sie hätten Ihre Frau bei Ihrer Heimkehr gegen einundzwanzig Uhr tot aufgefunden!“ „Es war schon halb zehn. Ich habe es nochmals über176
prüft. Hier habe ich die Liste meiner Hausbesuche an jenem Abend. Eine Zusammenstellung aller Krankenbesuche zwischen achtzehn und einundzwanzig Uhr. Ich bin bestimmt nicht vor halb zehn zurückgewesen. Darf ich Ihnen das Verzeichnis mitgeben?“ Ich winkte ab. „Selbst wenn Sie also erst halb zehn heimgekehrt sind, riefen Sie Doktor Winter erst anderthalb Stunden später an.“ „Ja, aber was verwundert Sie so daran, Herr Kant? Ich war schockiert. Wie gelähmt. Ich hockte da und trank Kognak, um mich erst mal zu beruhigen, und dachte an alles mögliche.“ „Warum haben Sie gerade Doktor Winter angerufen?“ „Warum? Also ich verstehe nicht … Doktor Winter wohnt gleich nebenan. Wir sind befreundet. Er hat meine Frau auch kürzlich behandelt.“ „Hat Doktor Winter bei der Leichenschau etwas über die vier Injektionsstiche geäußert?“ „Injektionsstiche?“ „Bei der Obduktion wurden vier Injektionskanäle in der Gesäßmuskulatur entdeckt.“ „Ach, die.“ „Sie wissen davon?“ „Aber natürlich. Ich habe doch Gisela die Injektionen selbst gegeben.“ „Wann?“ „Ja, warten Sie …“ Er begann lautlos zu rechnen. „Etwa vierzig Stunden vor ihrem Tode habe ich damit begonnen. Gisela war an einem ziemlich starken grippalen Infekt erkrankt. Dieser naßkalte November …! Ich stellte den Beginn einer Lungenentzündung fest und sagte, es ist besser, ich gebe dir Penizillin.“ 177
Nun hat sich die Sache also doch ganz harmlos aufgeklärt. Nur der Ordnung halber, und weil ich Dr. Waltharis pedantische Gewissenhaftigkeit kenne, fragte ich noch nach der Art des Penizillins. „Es war kein Depotpenizillin.“ „Und was bedeutet das, Herr Doktor?“ „Mit dem wasserlöslichen Penizillin halte ich den Spiegel gleichmäßig hoch, verstehen Sie?“ Als er sah, daß ich mir seine Erklärung notierte, fügte er noch hinzu: „Ja, eine Million Einheiten.“ Ich hatte meine Frage gestellt und eine Antwort erhalten. Ich konnte mich von Ronn verabschieden. Heute vormittag rief ich Dr. Walthari an und teilte ihm Ronns Angaben mit. „Das bestärkt mich in meiner Annahme“, sagte Walthari, „daß an der Geschichte etwas faul ist. Wie Sie aus dem Obduktionsbefund ersehen werden, hat Frau Ronn keine Lungenentzündung gehabt.“ „Sie haben keinerlei Anzeichen festgestellt?“ fragte ich betroffen. „Keine.“ „Aber er sprach vom Beginn einer Lungenentzündung …“ „Mich wundert nur, wie plump dieser Mann lügt. Obwohl gerade er wissen müßte, daß er uns nichts vormachen kann.“ „Gut, nehmen wir an, es lag tatsächlich keine Lungenentzündung vor. Aber er hat geglaubt, den Beginn einer Lungenentzündung festgestellt zu haben – ich meine, er könnte sich doch in der Diagnose geirrt haben?“ „Ronn ist kein Student im fünften Semester.“ „Sie halten also eine falsche Diagnose für ausgeschlossen?“ 178
„Bei einem Mann mit seiner Erfahrung? Ja!“ „Absolut ausgeschlossen?“ „Mit großer Wahrscheinlichkeit.“ Ich seufzte. Wenn Dr. Walthari sagte, ‚mit großer Wahrscheinlichkeit‘, meinte er meistens: mit ziemlicher Sicherheit. Aber er läßt sich nicht gern darauf festnageln. Statt ‚mit Bestimmtheit ja‘ zu sagen, sagt er lieber ‚mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit‘. Gerichtsmediziner sind vorsichtige Leute. Aber warum ist Walthari nicht ebenso vorsichtig in seinem Urteil über Ronn? „Läßt sich die Injektion von Penizillin nachweisen?“ „Wir werden es versuchen.“ „Was könnte er sonst gespritzt haben?“ „Wir müssen die chemische Untersuchung abwarten.“ „Könnte er ihr das Kalypnon eingespritzt haben?“ „Ausgeschlossen.“ „Warum?“ „Weil wir Tablettenreste im Magen gefunden haben.“ „Ah ja, natürlich.“ „Sehen Sie“, sagte Walthari mit einem gewissen nicht überhörbaren Triumph in der Stimme, „jetzt kommen auch Ihnen Zweifel.“ Etwas verdrießlich erwiderte ich, er hätte mir den Zweifel erst ins Ohr gesetzt. Und deshalb hätte ich noch eine Frage: „Könnte man jemandem unbemerkt eine tödliche Menge Schlafmittel geben? In irgendeiner Speise? Oder in einem Getränk?“ „Ebenso unwahrscheinlich. Barbiturate sind sehr bitter. Und für eine Vergiftung sind zahlreiche Tabletten nötig.“ „Wieviel?“ „Ist individuell sehr verschieden. Jedenfalls eine größere Menge. Nein, das Opfer würde es unbedingt merken.“ 179
„Also bleibt als einzige Möglichkeit, daß die Frau die Tabletten selber genommen hat?“ „Ja.“ „Aber damit ist Ihrem Zweifel an einem Selbstmord jede Grundlage genommen, Doktor.“ „In Ihren Augen – ja!“ „Was heißt in meinen Augen? Schließlich gibt es keine Privatlogik für mich.“ Walthari erwiderte, wir sollten die chemische Analyse abwarten. Vielleicht stoße man doch auf ein anderes Gift. Dann müßte man sowieso die Hypothese einer Schlafmittelvergiftung neu überdenken. Ich dankte Walthari und legte auf. Und ich wußte genau, was er jetzt dachte: Jetzt habe ich die Angel ausgeworfen, und Kant hat angebissen. Ich hatte angebissen. Penizillin gegen Lungenentzündung – aber keine Lungenentzündung nachweisbar. Wirklich, ein Haken. Oder sagen wir, ein Häkchen. Selbstmord oder …? Nicht so schnell. Ehe man weitergeht, muß die eine der Alternativen erst widerlegt werden. Wäre ein Selbstmord der Frau Ronn undenkbar? Nach der Tatortbesichtigung hatte Ronn erklärt, seine Frau habe schon mehrmals Selbstmordabsichten geäußert. Es gab keinen Grund, daran zu zweifeln. Aber es war eben Ronns Behauptung. Kann noch jemand diese Behauptung bestätigen? Ich dachte an Dr. Winter, der angedeutet hatte, mit Ronn und seiner Frau Kontakt gehabt zu haben. Inzwischen war es Mittag geworden. Sonnabend mittag. Eine ungünstige Zeit für solche Gespräche. Aber als 180
ich Winter anrief, erklärte er sich sofort bereit, bei mir vorbeizukommen. Ich fragte ihn zuerst, ob er mir etwas über die Ehe der Ronns sagen könne. „Eine geradezu ideale Ehe, würde ich sagen, Genosse Kant. Ich erinnere mich, als wir das letzte Mal bei Ronns waren, etwa vor einem Monat, kamen wir auf Eheprobleme zu sprechen. Und dabei sagten wir den Ronns, daß uns ihre Ehe, überhaupt die Art, wie sie miteinander umgingen, imponiere …“ „Doktor Winter, entschuldigen Sie, jetzt wiederholen Sie sich.“ „Bitte?“ „Sie sagten doch bereits, Ihrer Meinung nach hätten die beiden eine gute Ehe geführt. Können Sie mir Fakten nennen?“ „Ja“, sagte Winter gedehnt, „Fakten – das ist so eine Sache. Der Außenstehende kann doch immer nur nach Eindrücken urteilen. Ich weiß nicht so recht, was ich Ihnen da erzählen soll.“ „Erzählen Sie, was Sie für wichtig halten.“ „Doktor Ronn ist ein ziemlich verschlossener, zurückhaltender Mann, auf den ersten Eindruck sogar etwas abweisend. Frau Ronn war ein sehr liebevoller Mensch, sie war zärtlich, ich meine, sie zeigte ihm, daß sie ihn liebte. Es gibt da so ein paar Kleinigkeiten, wissen Sie, eine Geste …“ „Ich verstehe.“ „Ja, was soll ich sonst noch sagen? Sie ergänzten sich beide. Man hat nie von Spannungen oder dergleichen gehört. Wäre auch unvorstellbar.“ „Sie kennen den Abschiedsbrief der Frau Ronn, Doktor Winter?“ 181
„Ja, er gab ihn mir zu lesen.“ „Erinnern Sie sich noch an den Inhalt?“ „So ungefähr. Ich war ziemlich durcheinander in jener Nacht.“ „In diesem Brief äußerte Frau Ronn, sie sei sicher, die Liebe ihres Mannes sei erloschen. Wie erklären Sie das, wenn die Ehe intakt, ja sogar ideal war?“ „Ich bin kein Psychiater, Genosse Kant. Spannungen zwischen Eheleuten – nun, wo gibt es die nicht? Die Psychologen sind sich darüber einig, daß gerade die Bewältigung von Spannungen und Konflikten zwei Menschen um so enger zusammenschließt. Gewitter reinigen die Luft.“ Das mußte ich zugeben. Auch zwischen Chris und mir hatte es schon manches Mal gewittert. Trotzdem wissen wir beide, daß uns nichts, aber auch nichts trennen kann. „Vergessen Sie bitte auch nicht“, fügte Dr. Winter hinzu, „daß Frau Ronn unter Depressionen litt. Gerade ihr Typ neigt dazu, ins Extrem auszupendeln, mal in euphorische, mal in depressive Stimmung.“ „Grundlos?“ „Ja und nein. Was sich dem einen Menschen als Lappalie darstellt, kann der Depressive während seines Tiefs als Katastrophe empfinden.“ „Das heißt also, für Sie, Genosse Doktor Winter, ist der Fall klar?“ „Wie meinen Sie das?“ „Labilität, Depressionen – irgendein nichtiges Ereignis wird als bedrohlich empfunden, ein harmloser Konflikt als unlösbar. Das Gift erscheint dann als einziger Ausweg.“ „So würde ich es sehen.“ 182
Jetzt ist es nachts halb elf. Ich starre auf meine beiden Zettel: einer mit roter Schrift, das einzig belastende Indiz. Frau Ronn hatte keine Lungenentzündung gehabt, die Injektionen sind nach Waltharis Meinung noch immer ungeklärt. Der Bogen mit grüner Schrift vermerkt jetzt vier Indizien, die für einen Selbstmord sprechen: Der Abschiedsbrief. Frau Ronns Fingerabdrücke auf dem Glas. Schlafmittel sind ungeeignet als Mordgift. Frau Ronn war ein labiler, depressiver Mensch. Es steht 4: 1 für einen Selbstmord. Unsinn. Seit wann fange ich an, Menschenkenntnis durch Arithmetik zu ersetzen? Und menschliche Beziehungen in Zahlenverhältnissen auszudrücken? Weil ich zuwenig Fakten habe? Ich habe zuwenig. Gut, das Farbfoto der Erdkugel. Nichts Persönliches sonst in seinem Zimmer. Der Weltraum zwischen abgelebten Möbeln. Ronn als Untermieter im eignen Haus. Was beweist das? Gut, Ronn ist ein überheblicher, glatter Bursche. Soll ich auf Antipathie einen Verdacht gründen? Warum Antipathie? Warum wird er mir, je länger ich über ihn nachdenke, immer unsympathischer? Es muß irgendeine Kleinigkeit sein, etwas ganz Belangloses, was aber doch sein Wesen so sehr bestimmt, daß es Unbehagen in mir hervorruft. Gut, er hat zuviel geredet. Aber wer wird nicht nervös, wenn er dem Bohrer des Zahnarztes oder den Fragen eines Polizisten ausgesetzt ist? Zugegeben, er versuchte mir die Liste seiner Hausbe183
suche aufzudrängen. Brauchte er ein Alibi für die Todeszeit seiner Frau? Was trieb er in den zwei Stunden zwischen seiner Heimkehr und dem Anruf bei Winter? Seine Erklärungen schienen mir ziemlich weit hergeholt. Aber was tut der Mensch nicht alles im Schockzustand? Die Frage ist nur, ob sich Ronn überhaupt in einen Schockzustand versetzen läßt. Ich halte ihn für ausgesprochen gefühlskalt. Sonst hätte er in seiner Lage nicht so gelassen und konzentriert über magnetische Kraftfelder, Genmutationen und mittelalterliches Weltbild gesprochen. Ganz abgesehen von seiner Philosophie. Es wirkte schon fast komisch, wie er Biologie und Astronomie bemühte, um seinen Nihilismus zu begründen. Das alles ist merkwürdig oder fragwürdig. Aber nicht die Ursache meiner Antipathie. Eigentlich gab er sich doch ganz aufgeschlossen, fast charmant, heiter sogar. Heiter? Nein. Es ist etwas ganz anderes. Ich sehe ihn vor mir, mit seinem etwas erstarrten Blick, und höre ihn lachen. Er lacht zuviel. „Der moderne Mensch denkt eben in kosmischen Dimensionen“ – Lachen. Als hätte er etwas sehr Lustiges gesagt. „Wer in Cronen hat schon Interesse an solchen Problemen“ – Lachen. Es war kein, lautes Lachen, keine Herzlichkeit, eher ein mitleidiges Grinsen, ein Lachen, das man sieht, aber nicht hört, so ein Mundwinkel verziehen: Was weißt du armes Würstchen schon von solchen Problemen! Das war es wohl. Er lachte grundlos, deshalb wirkte 184
sein Lachen verkrampft, ich konnte nicht mitlachen und kam mir deshalb hölzern, humorlos und viel zu amtsmäßig vor. War das vielleicht die Ursache meines Unbehagens? Eindrücke alles, doch keine Fakten. Fragen ohne Antwort.
DOKTOR WALTHARI Mittwoch, 16. November, abends Die letzten Takte des Allegro verklingen. Ich setze die Brille auf und blicke ins Programmheft. Zweiter Satz: Scherzo. Als die Violine erneut beginnt, nehme ich wieder die Brille ab. Valentin Kirsanows Gestalt verschwimmt mit den emporwirbelnden Kadenzen des Scherzos. Ich kann mich nicht konzentrieren. Meine Frau wippt den Fuß im Takt. Eine alte Dame vor mir riecht nach Mottenpulver. Die Kunstblumen auf der Bühne ärgern mich, ich fühle mich persönlich beschämt. Jemand räuspert sich. Ein Stuhl knarrt. Draußen hupt ein Auto. Die Ronn hatte keine Lungenentzündung. Meine Frau neigt sich nach vorn. Sie hat ihren Mund leicht geöffnet und scheint fast den Atem anzuhalten. Mein Verhältnis zur Musik ist freundschaftlich, aber nicht verliebt. Ich gehe gern ins Konzert, ohne Kenner zu sein. Gabriele dagegen verfolgt die Variationen des Themas bis in seine letzten Feinheiten. Für mich ist Musik ein185
fach ein angenehmes Geräusch, das meine Gedanken in Bewegung setzt. Als ich noch Gedichte schrieb, hatte ich meine besten Einfälle im Konzert. Nur heut ist es anders. Vielleicht bin ich einfach zu müde. Mottenpulver, Kunstblumen und Autohupen unterwerfen sich Logik und Phantasie. Noch einmal: keine Lungenentzündung. Aber Ronn hatte ihr deswegen Penizillin gespritzt. Wir haben den Penizillinnachweis versucht. Und kein Penizillin gefunden. Außer einer tödlichen Dosis Kalypnon haben wir nichts gefunden. Stille plötzlich. Der zweite Satz ist zu Ende. Dreißig Leute benutzen den Augenblick erleichtert zum Husten. Ein Blick ins Programmheft. Dritter Satz: Moderato. Ein Blick zu Gabriele, es reicht nur zu einem mechanischen Lächeln. Sie kennt dieses Lächeln. „Was ist denn?“ flüstert sie. „Du weißt doch. Diese Sache.“ Sie legt beruhigend ihre Hand auf meine. Kant hatte es anscheinend wirklich eilig. Er tauchte gestern nachmittag im Institut auf, gerade als ich den Obduktionsbefund diktierte. „Nun, Doktor?“ „Nun, Herr Kant?“ „Habt ihr das Penizillin nachgewiesen?“ „Haben wir nicht. Wie erwartet.“ „Was heißt ‚wie erwartet’?“ „Heißt gar nichts. Pech gehabt. Oder auch nicht …“ „Mal langsam. Penizillin ist nicht sicher nachweisbar?“ 186
„Sagte ich Ihnen schon am Telefon. Manchmal ja, manchmal nein. Das hängt von verschiedenen Umständen ab.“ „Verstehe. Also haben Sie kein Penizillin nachweisen können. Weil der Nachweis unter bestimmten Umständen versagt oder weil überhaupt kein Penizillin gespritzt wurde.“ „Wobei ich die zweite Möglichkeit für die wahrscheinlichere halte.“ „Aus welchen Gründen?“ „Wenn ich jemandem Gift spritzte, würde ich sagen, es war Penizillin. Eine Penizillininjektion ist nicht sicher nachweisbar – also die ideale Schutzbehauptung für den Täter.“ Kant antwortete nicht, dachte nach, sagte dann mit leisem Triumph: „Aber außer dem Kalypnon haben Sie eben kein anderes Gift nachgewiesen?“ „Gift? Nein. Nur noch Prothazin, in therapeutischer Menge.“ „Prothazin? Und was besagt das?“ „Nichts, was uns interessieren könnte. Ein Medikament mit dämpfender Wirkung. Setzt Reflexe herab, beruhigt.“ „Also was bleibt? Kalypnon. Die Schlafmittelvergiftung. Na gut. Das ist etwas Handfestes, daran halte ich mich. Etwas anderes haben Sie nicht gefunden. Etwas anderes ist also nicht da. Und wenn etwas anderes da sein sollte, können wir’s nicht beweisen. Ist das logisch?“ Es ist logisch. „Sie wollen also den Fall abschließen?“ „Muß ich.“ Aber so sehr war ich gar nicht davon überzeugt, daß er es mußte. Und noch weniger, daß er es wirklich wollte. 187
Er verhielt sich zu spielerisch, was nur bedeuten konnte, er erprobte neue Möglichkeiten. Den Fall abschließen? „Glaub’ ich nicht, Herr Kant.“ „Was bleibt mir denn anderes übrig, Doktor? Ich habe nicht so viel Zeit wie unsere Fernsehdetektive.“ „Ja“, erwiderte ich, „das ist natürlich ein Argument.“ Er warf sich mit Schwung in einen Sessel und seufzte mitleiderregend. „Sprechen Sie sich ruhig aus, Doktor.“ Ich grinste ihn an. „Sie sind ja doch nicht zu überzeugen.“ „Wovon, Himmelherrgottnochmal, wovon?“ „Sie können es sich nicht leisten, eine Selbstmordermittlung noch länger hinzuziehen. Dieses Argument, Herr Kant, stimmt aber nur unter einer Bedingung: daß es wirklich Selbstmord ist. Aber gerade das müssen wir ja erst beweisen!“ „Was zu beweisen war, ist bewiesen.“ Kant war anscheinend davon selbst nicht so überzeugt, denn er fragte fast unmittelbar darauf: „Diese vier Injektionen – könnte da auch dieses Prothazin gespritzt worden sein?“ „Könnte schon.“ „Aber …?“ „Ist für uns völlig uninteressant. Der Tod erfolgte durch Kalypnon. Außerdem hätte Ronn gar keinen ersichtlichen Grund, die Prothazininjektionen zu verschweigen.“ „Aber er hat auch keinen Grund, Penizillininjektionen zu erfinden und eine Lungenentzündung dazu.“ Und dann hatte Kant plötzlich einen Einfall, für den er keine Begründung wußte. 188
Er sagte: „Warum haben wir eigentlich nicht noch einmal mit Doktor Winter gesprochen?“ „Was erhoffen Sie sich davon?“ Kant fuhr fort: „Ich kenne Winter, seit er in Cronen ist. Ein bewährter, korrekter Staatsfunktionär und Genosse. Und dann diese Nachlässigkeit bei der Leichenschau.“ „Ich nehme an, er hat die Leichenschau ziemlich großzügig vorgenommen. Nur der Form halber, aus kollegialer Rücksicht.“ „Die beiden sollen miteinander befreundet sein, sagte Zeh. Wobei mich wundert, was Ronn und Winter miteinander verbindet. Ronn ist ein Wirrkopf, voll abstruser Ideen.“ „Vielleicht fühlte sich Winter gerade davon angezogen.“ Kant nickte. „Wäre schon möglich. Ronn hat so etwas an sich …“ Er brach ab, verschränkte die Hände im Genick und blickte zum Fenster hinaus. „Wenn Winter“, sagte er, „aus kollegialer Rücksicht die Leichenschau großzügiger vornahm, als er verantworten konnte – vielleicht hat er auch noch andere Dinge übersehen, die für uns wichtig wären?“ Er blickte noch immer hinaus, als er hinzufügte: „Wollen Sie mitkommen, wenn ich Winter noch mal aufsuche?“ „Das ist nicht üblich, Herr Kant …“ „Aber notwendig.“ Ich weiß nicht, was er damit gemeint hatte. In dieser Sache ging es um einige medizinische Fragen, vielleicht wollte er sich einfach meiner Mithilfe versichern. „Gut“, sagte ich, „ich gebe dem Chef Bescheid, daß ich nach Cronen fahre.“ 189
Als wir an Winters Tür läuteten, öffnete er uns selbst. Er behielt die Türklinke in der Hand und sah uns ziemlich bestürzt an. Man sagt manchmal: Dieser Mensch sieht aus wie das verkörperte schlechte Gewissen. So sah Winter aus. Mit hastigen, sich verhaspelnden Sätzen bat er uns hereinzukommen, riß die Tür zu seinem Arbeitszimmer auf, murmelte, er wolle nur seiner Frau Bescheid sagen, sie würde einen Kaffee kochen, und ehe wir ihn zurückhalten konnten, war er auch schon verschwunden. Wir setzten uns, blickten uns an, Kant schüttelte den Kopf und stellte sich anscheinend die gleiche Frage wie ich. Warum haben wir Winter so erschreckt? Dann erschien er wieder an der Tür, rief, der Kaffee würde gleich fertig sein, lief wieder davon, kam nach wenigen Minuten mit einem Tablett und drei Tassen zurück, die er mit fahrigen Bewegungen vor uns hinstellte, und erklärte uns umständlich, wir würden Instant-Kaffee trinken, der wäre doch rascher zubereitet. Wieder eilte er hinaus, kam mit einer Kanne heißen Wassers zurück, erkundigte sich eingehend, wieviel Zucker und Milch wir wünschten, schüttete Kaffeepulver in die Tassen, goß Wasser auf, schob uns das Milchkännchen und die Zuckerdose zu, bediente sich selbst und mußte nun endlich, notgedrungen, fragen: „Kommen Sie in der Sache Ronn?“ „Ja“, antwortete der Oberleutnant, „es haben sich noch einige Probleme ergeben.“ „Dann hat Ihnen Ronn wohl alles erzählt?“ fragte Winter und klopfte dabei mit dem rechten Mittelfinger irgendwelche geheimnisvollen Rhythmen auf die Tischplatte. Kant schien zu spüren, daß wir doch nicht umsonst 190
gekommen waren. Er vermied deshalb eine direkte Antwort auf Winters Frage und sagte in seiner charmantberuhigenden Art: „Vielleicht erzählen Sie uns alles selbst der Reihe nach.“ Winter faßte das anscheinend als Bestätigung seiner geheimen Ängste auf. Er atmete hörbar ein und erklärte, mit dem Versuch, seiner Stimme Festigkeit zu geben: „Ich bin natürlich bereit, die Konsequenzen zu tragen.“ Und so erfuhren wir, was in jener Nacht in dem Schlafzimmer der Ronns vor sich gegangen war. Wir erfuhren, daß Winter den Tod der Frau anfangs für einen Herztod gehalten und dementsprechend auch die Diagnose auf dem Totenschein vermerkt hatte. Wir erfuhren, wie er dann zufällig die Holzerschen Blasen und nach Wegnahme des roten Lichts die Rosafärbung der Leiche festgestellt hatte. Wir erfuhren von der Auseinandersetzung zwischen Dr. Winter und Dr. Ronn um die Diagnose auf dem Totenschein und die Korrektur am nächsten Tag. Nach diesem Bericht blickte uns Winter sichtlich erleichtert an. Kant äußerte sich nicht. Also sollte ich das Gespräch mit Winter aufnehmen. „Hat Doktor Ronn Sie vor oder während der Leichenschau auf die Holzerschen Blasen aufmerksam gemacht?“ „Nein.“ „Auch nicht auf die Rosafärbung der Leiche?“ „Die Verfärbung war anfangs wegen des roten Lichts nicht zu erkennen gewesen.“ Ich wandte mich an Kant: „Betrachtet man einen Gegenstand von rötlicher Farbe durch rotes Glas, erscheint er weiß.“ „Und grünes Glas läßt ihn schwarz erscheinen. Ich hatte als Kind einen Optik-Baukasten.“ 191
Dann fragte er Winter: „Bloß eines möchte ich wissen, warum haben Sie die Leichenschau beim Schein einer roten Lampe vorgenommen?“ „Weil es anfangs die einzige Lichtquelle im Schlafzimmer war. Die Deckenlampe brannte nicht.“ „Aber Sie hatten doch die Nachttischlampen zur Verfügung.“ „Nachttischlampen? Außer der defekten Deckenlampe gab es nur diese rote Kajütenlampe über den Ehebetten.“ „Na schön“, sagte Kant, „nun noch eine andere Frage. Wie reagierte Doktor Ronn, als Sie schließlich die Holzerschen Blasen und die Rosafärbung entdeckt hatten?“ Winter dachte nach. Dann hob er bedauernd die Hand. „Ich weiß nur, Ronn war ebenso bestürzt wie ich. Jedenfalls mußte er während der Untersuchung das Schlafzimmer verlassen haben. Ich wollte ihn etwas fragen, aber er war nicht mehr im Zimmer. Ich ging zur offenen Schlafzimmertür, und da kam er von unten herauf. Er brachte das Wasserglas und den Abschiedsbrief der Toten mit.“ „Ich habe da noch eine Frage“, sagte ich. „Glas und Brief befanden sich also nicht im Schlafzimmer?“ „Nein.“ „Bestimmt nicht neben der Toten? Auf dem Nachttischchen vielleicht?“ „Bestimmt nicht. Er brachte das Glas und den Brief von unten mit.“ „Das haben wir bereits bei der Tatortbesichtigung festgestellt“, schaltete sich Kant ein. „Dadurch erklären sich auch Ronns Fingerabdrücke auf dem Glas.“ „Wo hatte denn Doktor Ronn das Glas und den Brief entdeckt?“ fragte ich. „Im Bad“, erwiderte Kant. 192
„Wo befindet sich das Bad?“ wollte ich wissen. „Im Erdgeschoß“, sagte Winter. „Und das Schlafzimmer?“ „Im ersten Stock.“ Kant blickte mich forschend an, sagte aber nichts. „Sie stellen da so merkwürdige Fragen“, sagte Winter leise, „ist etwas nicht in Ordnung?“ „Alles in Ordnung, Doktor Winter“, antwortete Kant, nachdem er sich durch einen Blick mit mir verständigt hatte. „Und jetzt“, fuhr er fort, „wollen wir Sie nicht länger belästigen. Doktor Walthari will, soviel ich weiß, heute abend noch ins Konzert.“ „Dann wünsche ich viel Vergnügen“, sagte Winter. Als er uns hinausbegleitete, schien er wieder Mut gefaßt zu haben. „Und was den Totenschein betrifft, ich meine, ich habe ja meinen Fehler korrigiert, nicht wahr?“ „Sicher“, sagte Kant. Aber Winter war anscheinend an Kants Meinung nicht viel gelegen. Er blickte mich an. Ich blieb stehen. „Nehmen wir an, Ihnen als Kreisarzt wäre zu Ohren gekommen, so wie Sie hätte einer Ihrer Kollegen gegen seine Pflichten verstoßen.“ „Ich werde ein Disziplinarverfahren gegen mich beantragen“, murmelte Winter düster. „Sie unternehmen in dieser Sache jetzt überhaupt nichts!“ sagte Kant. „Jawohl“, erwiderte Winter. Kant setzte sich für einige Minuten in meinen Wagen. „Sieht verdammt nach einem Arrangement aus, was?“ fragte er. „Zweifellos“, bestätigte ich. „Und die Brandbinde hat natürlich Ronn selbst angelegt, um die Blase am Knöchel zu verdecken. Aber die Blase am Knie hat er in seiner Aufregung übersehen.“ 193
„Und das Tollste, Walthari: Bei der Tatortbesichtigung habe ich keine rote Kajütenlampe bemerkt. Sondern zwei ganz normale Nachttischlampen. Er muß also die rote Lampe speziell für Winter angebracht haben, um die Rosafärbung der Leiche nicht sichtbar werden zu lassen.“ „Ich habe da auch noch etwas, Herr Kant.“ „Ah ja, worauf zielten Sie eigentlich mit Ihren letzten Fragen?“ „Der Abschiedsbrief, den Ronn angeblich unten im Badezimmer gefunden hat – das ist ganz untypisch.“ „Sie meinen, weil man den Abschiedsbrief von Selbstmördern oft nahe bei der Leiche findet?“ „Ja.“ „Bei manchen. Bei andern wiederum nicht.“ „Ich würde sagen, es ist die Regel. Sehen Sie, ein Mensch vor dem Selbstmord – das ist ein Zustand, in dem das vernünftige Denken bereits ausgeschaltet ist. Er handelt rein affektiv. Der Affekt legt Schichten frei, die sonst verdeckt sind. Unterbewußte Schichten, über die er keine Macht mehr hat. Er fällt sozusagen in einen entwicklungsgeschichtlich früheren Zustand zurück, in dem Vernunft und gesellschaftlich anerzogene Verhaltensnormen ausgeschaltet sind. Ein Tier verkriecht sich vor dem Tode. Warum sucht auch der Selbstmörder mit Vorliebe den Tod in der Einsamkeit, in Parks, Wäldern, Kellern, Dachböden? Jedenfalls stellen wir eine fast unheimliche Gleichförmigkeit solchen affektiven Verhaltens fest. Und eine solche gleichförmige archetypische Reaktion ist auch die Tatsache, daß Selbstmörder ihren Abschiedsbrief neben sich legen. Frau Ronn hat das nicht getan.“ Kant antwortete nicht. Hatten meine Argumente keine Beweiskraft? Oder bezog er sie stillschweigend in seine 194
eigenen Zweifel ein? Ich erfuhr es nicht mehr. Er gab mir plötzlich die Hand. „Viel Spaß im Konzert.“ Das Moderato verklingt. Valentin Kirsanow setzt die Violine ab. In der Stille hört man nur den Atem der Menge. Früher hatte ich im Konzertsaal die besten Einfälle. Allerdings waren das Gedichte. Heute beschäftigt mich dieser Ronn. Und das ergäbe höchstens einen Groschenroman, in Talmigoldschnitt.
OBERLEUTNANT KANT Freitag, 18. November, mittags Nun kann ich den Fall Ronn doch abschließen. Anfangs war ich von Frau Ronns Selbstmord überzeugt. Dann kam Dr. Walthari mit seinen Bedenken, die mich teils überzeugten und mir teils spekulativ vorkamen, vor allem die Theorie mit dem Selbstmordbrief. Waltharis Zweifel zeigten mir einige Widersprüche in dem scheinbar klaren Sachverhalt, und ich schloß nun selber ein Tötungsverbrechen nicht mehr aus. Aber nun bin ich sicher, Frau Ronn hat ihrem Leben selbst ein Ende gesetzt. Ich weiß sogar, daß sie sich seit langem mit diesem Gedanken trug. Als ich mich am Mittwochabend nach dem Gespräch mit Dr. Winter von Walthari verabschiedete, war uns klar, daß der Fall nun in ein neues Stadium getreten war. Donnerstag rief mich Walthari an. Er hatte im Konzert nochmals alles durchdacht; dabei war ihm eingefallen, daß vor Jahren das ARCHIV FÜR KRIMINOLOGIE 195
über einen Giftmord berichtet hatte, der unserm vielleicht ähnlich war. „Ich habe nach dem Konzert meine Frau heimgebracht und bin gleich noch einmal ins Institut gefahren, um den Bericht herauszusuchen. Der Fall läßt sich in einem Satz wiedergeben: Der Mörder verabreichte seinem Opfer Gift unter dem Vorwand, es sei eine harmlose Arznei.“ „Eine interessante Hypothese.“ „Mehr als eine Hypothese. Ein Modellfall!“ „Mit Modellen ist das so eine Sache, Doktor. Sie verführen leicht dazu, sich die Wirklichkeit nach dem Modell zusammenzuzimmern!“ „Herr Kant, nehmen wir doch den Fall einmal als Arbeitshypothese. Und wir haben eine Erklärung, wie es möglich ist, ein Barbiturat als Mordgift zu verwenden. Frau Ronn hat es freiwillig genommen! Leuchtet Ihnen das nicht ein?“ „Natürlich leuchtet’s mir ein. Aber was ist dann mit den vier Injektionen?“ Widerstrebend erwiderte Walthari: „Vielleicht war es tatsächlich Penizillin …“ „Aber wir geraten doch da in einen Teufelskreis, Doktor! War es kein Penizillin, dann war es nach Ihrer Meinung ein Gift. Aber Sie wissen nicht, welches. War es aber kein Gift, könnte es doch Penizillin gewesen sein. Aber das läßt sich nicht nachweisen.“ „Ja, zugegeben“, erwiderte Walthari, „ein echtes Dilemma.“ Ich hatte das Gefühl, überhaupt nicht mehr klar denken zu können. „Wissen Sie was“, sagte ich gereizt, „Ihre Injektionen, Hypothesen und archetypischen Reaktionen in allen Ehren, aber ich halte mich jetzt an meine Fakten.“ 196
„Müssen wohl ziemlich solide Fakten sein“, bemerkte Walthari trocken, „daß man sich daran festhalten kann.“ „Hatten Sie sonst noch einen Einfall im Konzert, Doktor?“ „Haben Sie sonst noch Fakten außer der roten Lampe, Oberleutnant?“ Er sah wenigstens nicht, daß ich grinsen mußte. „Also, Doktor, wie müßte es Ihrer Meinung nach weitergehen?“ „Bitte versuchen Sie doch mal festzustellen, welche Medikamente Frau Ronn in letzter Zeit genommen hat. Ich weiß ja auch nicht, ob uns das weiterbringt.“ „Schön“, sagte ich, „schön. Vielleicht sollte ich auch mal ins Konzert gehen.“ Ich hörte einen glucksenden Lacher, und wir verabschiedeten uns friedlich. Mittags um dreizehn Uhr wurde Gisela Ronn beerdigt. Für den Nachmittag bestellte ich Maria Schenk, Ronns Haushälterin, ins Amt. Maria Schenk, zweiundsechzig Jahre, klein, kugelig, mit kunstvoll um den Kopf geschlungenen Zöpfen, erschien in Schwarz. Von der kurzen Befragung bei der Tatortbesichtigung wußte ich, daß sie seit drei Jahrzehnten im Hause Mayen tätig war. Ich erklärte Fräulein Schenk, ich brauchte noch einige Auskünfte. „Antworten Sie bitte so genau wie möglich.“ „Genauigkeit ist mir angeboren, Herr.“ Sie kannte meinen Namen. Aber sie ließ ihn weg. Alles an ihr war etwas altertümlich, in ehrbarer Weise altertümlich. Zuerst versuchte ich, sehr behutsam natürlich, ihre Meinung über die Ehe der Ronns zu hören. Ich erfuhr aber nichts weiter, als daß es eine sehr 197
glückliche Ehe gewesen sei. Herr und Frau Doktor wären immer sehr liebevoll zueinander gewesen, höflich und aufmerksam. Ich hatte den Eindruck, daß Fräulein Schenk den Ronns nicht einfach nur diente, sondern ihnen mit Herz und Sinn ergeben war. Dann brachte ich das Gespräch auf Dr. Ronn. „Ein feiner Herr“, sagte sie, „immer so bescheiden, so still, so vornehm. Eben ein feiner Mann!“ Das war nicht eben viel. „Zu Ihren Aufgaben gehörte auch die Reinigung der Zimmer?“ „Zu meinen Aufgaben? Ich bin Haushälterin! Die Reinigung der Praxisräume und Wohnung besorgt Frau Seibt!“ Sie war so ehrlich entrüstet, daß ich fast versucht war, mich zu entschuldigen. „Und Frau Seibt“, wurde mir erklärt, „kommt täglich für zwei Stunden. Ich hatte lediglich aufzupassen, daß Frau Seibt auch ordentlich putzt.“ „Fräulein Schenk, Sie wissen doch sicher, wie die einzelnen Zimmer eingerichtet sind.“ „Mit geschlossenen Augen könnte ich jedes Möbelstück aufzählen, Herr.“ „In der Wohnung hat sich wohl auch nicht viel verändert?“ „Ja, was sollte sich denn da verändern? Herr Doktor Mayen hatte damals die Villa wunderhübsch eingerichtet. Da ist alles so geblieben.“ „Und Doktor Ronn war damit einverstanden, daß alles so blieb?“ „Sonst wäre es ja nicht so geblieben, nicht wahr?“ „Oder wünschte hauptsächlich Frau Ronn keine Veränderung?“ 198
„Frau Doktor sagte immer, so wie es ist, bleibt es. Sie hatte doch recht! So eine hübsche gediegene Einrichtung. Dunkle Eiche, wissen Sie.“ „Stammte die Kajütenlampe im Schlafzimmer noch von Herrn Doktor Mayen?“ „Was denn für eine Kajütenlampe?“ „Die rote über dem Ehebett.“ Sie schaute mich mißtrauisch an. „Ich kenne keine rote Lampe. Oder meinen Sie die, die vor Jahren mal im Flur hing? So ein Messinggestell mit rotem Glasschirm? Aber im Schlafzimmer hat die nie gehangen!“ „Nun etwas anderes, Fräulein Schenk. Wissen Sie, ob Frau Ronn, kurz bevor sie starb, krank war?“ „Wie kommen Sie denn darauf? Frau Doktor hatte ihre Herbsterkältung längst hinter sich. Die stellte sich immer Mitte Oktober ein, ganz regelmäßig.“ „Ein Rückfall vielleicht?“ „Bestimmt nicht. Müßte ich doch wissen. Ich mußte ihr dann immer eine Schwitzpackung bereiten.“ „Eine Schwitzpackung?“ „Darin war Frau Doktor genau wie ich. Bei Erkältung Lindenblütentee und Schwitzpackung.“ „Keine Tabletten? Keine Spritzen?“ „Bei einer Erkältung? Na hören Sie mal! Das Gift muß ’raus aus dem Körper. Rausschwitzen! Aber heute wird ja über solche Hausmittel bloß gelacht!“ „Frau Ronn hielt wohl nichts von Tabletten und Spritzen?“ „Wieso? Sie nahm doch immer Tabletten gegen ihre Kopfschmerzen. Und auch Schlafmittel. Manchmal auch Tropfen für den Kreislauf.“ „Wissen Sie, wie die Tropfen heißen?“ 199
„Da müssen Sie schon Herrn Doktor selbst fragen.“ „Ich würde ihn jetzt nicht gern noch einmal belästigen. Vielleicht weiß sonst noch jemand darüber Bescheid?“ „Sagen Sie mal, wozu wollen Sie das eigentlich alles wissen? Sie stellen aber wirklich merkwürdige Fragen, Herr.“ „Fräulein Schenk“, sagte ich, „es tut mir ja selber leid, daß ich Sie so ausfragen muß. Aber bei einem Selbstmord müssen wir alles genau klären, ehe wir einen Fall abschließen können. Für Herrn Doktor Ronn wäre das doch viel schwerer, würde ich jetzt all die Dinge mit ihm besprechen. Und Sie wissen doch auch Bescheid“, log ich tapfer weiter. Das leuchtete ihr ein. „Na ja, wenn das so ist, die Friederike, die weiß sicher, wie die Tropfen heißen.“ „Ach so, Frau Ronns Tochter.“ „Aus erster Ehe, wissen Sie, mit Herrn Doktor Mayen. Sie wohnt in Thüringen. Aber heute, zur Beerdigung, ist sie hier. Bloß, dann müssen Sie bald mit ihr sprechen, sie fährt heut abend wieder zurück.“ „Heute schon?“ „Sie ist nur zur Beerdigung hergekommen.“ „Und bleibt nur einen Tag hier?“ Zögernd erwiderte Fräulein Schenk: „Sie versteht sich nicht sehr gut mit dem Herrn Doktor.“ Als ich die alte Frau entließ, gab ich ihr eine Vorladung, für Friederike Stephan mit. Das Gespräch hatte nichts Neues gebracht. Daß sonst im Schlafzimmer keine rote Lampe hing, wußte ich schon. Daß Ronn Doktor Winter damit täuschen wollte, wußte ich ebenfalls. Aber wenn ich dies in Zusammenhang 200
mit Ronns ganzer Einstellung brachte, wie sie auch Doktor Winter bei der Auseinandersetzung um den Totenschein erlebt hatte, fand es eine vielleicht harmlose Erklärung: Ronn wollte vermeiden, daß der Selbstmord seiner Frau als Selbstmord erkannt wurde. Weil er Angst vor dem Klatsch hatte. Friederike Stephan erschien heute früh, pünktlich um halb neun. Ich bat sie um Verständnis, daß sie ihre Heimreise verschieben mußte. „Macht nichts“, sagte sie großzügig, „fahre ich eben heute mittag. Falls wir bis dahin fertig sind“, fügte sie hinzu. „Sie haben sich ja allerhand vorgenommen, Frau Stephan.“ Ich ließ mir den Personalausweis vorlegen. Friederike Stephan, geborene Mayen. Sechsundzwanzig Jahre alt, Textilingenieurin. Gestalt: klein. Ich würde sagen, zierlich. Augenfarbe: braun. Mit dem kurzen, struppigen Haar, den Ponyfransen, der winzigen Nase in dem zu kleinen Gesicht und den hastigen Bewegungen ein koboldartiges Persönchen. Ich wies sie darauf hin, daß sie berechtigt sei, die Aussage zu verweigern. Sie erwiderte, dazu bestehe kein Grund, im Gegenteil. „Verstanden Sie sich gut mit Ihrer Mutter?“ „O ja – es fiel mir nicht leicht, Mutter allein zu lassen.“ „Nun, allein war sie ja wohl nicht.“ „Sie war allein. Ganz allein.“ „Wollen Sie damit sagen, daß sie innerlich vereinsamt war?“ „Ronn ist ein mürrischer Eigenbrötler. Ein richtiger Muffel. Andere Menschen sind ihm völlig gleichgültig, der denkt doch nur an sich.“ 201
„Ein sehr hartes Urteil.“ „Das meine Mutter mit mir teilte.“ „Das überrascht mich etwas, Frau Stephan. Bisher hörte ich immer, die Ehe sei glücklich gewesen.“ „Glücklich! Für meine Mutter war sie ein einziges Martyrium! Oder glauben Sie, sie wäre begeistert davon gewesen, daß Ronn eine Geliebte hat?“ Ich ließ mir meine Überraschung nicht anmerken, sondern fragte: „Hatte oder hat?“ „Hätte sich Mutter sonst das Leben genommen, wenn die Sache ausgestanden gewesen wäre?“ „Sie glauben also, der Grund für den Freitod Ihrer Mutter sei diese andere Frau gewesen?“ „Das ist keine Frau! Das ist ein Flittchen!“ „Kennen Sie ihren Namen?“ „Irgendeine Steffi. Ist hier in der Poliklinik MTA. Wirft sich diesem doppelt so alten Kerl an den Hals! Sogar ans Schwarze Meer wollte sie mit ihm fahren!“ „Wie lange kennen sich die beiden schon?“ „Genau weiß ich das auch nicht. Jedenfalls schon Jahre.“ „Und das meinten Sie mit dem Martyrium dieser Ehe?“ „Nicht das allein.“ „Was noch?“ So begann Friederike die Geschichte der Ehe zu erzählen, wie sie sie sah. Und wie ihre Mutter sie gesehen hatte. Ich merkte bald, wie stark Friederikes Meinung durch ihre Mutter geprägt worden war. Mir wurde noch etwas klar. Frau Ronn hatte tatsächlich unter schweren Depressionen gelitten. Je unerträglicher sie das Leben an der Seite dieses Mannes empfand, desto krampfhafter versuchte sie, den Anschein einer glücklichen Ehe aufrechtzuerhalten. Ihre Tochter war der einzige Mensch, 202
zu dem sie sich flüchten konnte, um ihr Herz auszuschütten. „Aber helfen“, fügte Frau Stephan hinzu, „helfen konnte ich ihr auch nicht. Mehrmals schlug ich ihr vor, sich scheiden zu lassen. Sie behauptete immer, Ronn lehne eine Scheidung ab. Aber im Grunde ist sie selbst wohl auch davor zurückgeschreckt. Sie war zu sehr in diesen kleinbürgerlichen Vorstellungen befangen. Nur kein Aufsehen, nur kein Gerede! Und Ronn hat diese Haltung meiner Mutter rücksichtslos ausgenutzt und sie so in den Tod getrieben.“ „Können Sie das mit Sicherheit sagen, Frau Stephan?“ „Immer wieder hat sie ihm geschrieben, er solle doch diesem Flittchen den Laufpaß geben.“ „Entschuldigen Sie – sie hat ihm das geschrieben?“ „Es gab Zeiten, wo sie mit ihm nur schriftlich verkehrte. Mit dem Mann war ja nicht zu reden. Entweder beschimpfte er Mutter, oder er stellte sich stur. Sie hatte einfach nicht mehr die Nerven für persönliche Auseinandersetzungen, verstehen Sie? Aber erreicht hat sie nichts – weder mit Bitten noch mit der Drohung, sich das Leben zu nehmen“ „Sie trug sich also tatsächlich mit Selbstmordabsichten?“ „Ein anderer Ausweg blieb ihr nicht mehr.“ Ich hatte nach neuen Indizien für einen Mord gesucht und war dabei auf neue Indizien für einen Selbstmord gestoßen. Beinahe hätte ich Dr. Waltharis Frage vergessen, sie war ja nun bedeutungslos geworden. Ich stellte sie trotzdem. Ich brauchte Fakten, um Waltharis Zweifel endgültig zu widerlegen. „Erinnern Sie sich, Frau Stephan, welche Medika203
mente Ihre Mutter in letzter Zeit zu sich genommen hatte?“ „Sie nahm vorbeugend gegen ihre Migräne Moloid. Dann ein Kreislaufmittel, das ihr Ronn verordnet hatte, ich glaube Pholedrin oder so ähnlich. Und dieses Kalypnon gegen ihre Schlaflosigkeit. Dann hat sie auch noch eine Krampfaderkur gemacht. Die Krampfadern machten ihr schwer zu schaffen, physisch wie psychisch. Ronn hatte sich mehr als einmal über ihre Krampfadern lustig gemacht. Deshalb entschloß sie sich zu einer Penizillinkur.“ Ich horchte auf. Penizillin! Welche Ironie! Ich fragte mich zwar, warum er dann die Lungenentzündung erfunden hatte, aber das war jetzt unwichtig. Trotzdem wollte ich mich noch einmal vergewissern: „Eine Penizillinkur, sagten Sie?“ „Ja. Leider völlig zwecklos. Es gab unangenehme Nebenerscheinungen, Erbrechen, tagelanger Schlaf, aber als sie erwachte, waren die Krampfadern immer noch da. Ronn sagte, sie sei selber schuld, sie hätte vor der Kur Kognak getrunken, das verträgt sich nicht.“ „Und wann war die Kur?“ „Ja, so genau … Ich weiß nicht, jedenfalls ist es noch nicht lange her.“ „Einige Monate?“ „Nein, nein, so lange nicht. Kurz vor ihrem Tode.“ Gegen elf war unser Gespräch beendet. Ich blieb sitzen und dachte über das Gespräch nach. Nun also doch ein Selbstmord. Eine simple Dreiecksgeschichte: älterer Ehemann verliebt sich in jüngere Frau. Kleinbürgerliche Tragödie, Kleinstadttratsch, kleinkariert alles, selbst die anschei204
nend tragische Lösung des Konflikts, der ebenso den Stoff für eine Komödie hergegeben hätte. Enttäuscht? Nur erleichtert, daß die Sache endlich abgeschlossen ist. Ich werde jetzt den Abschlußbericht schreiben. Enttäuscht ist höchstens einer: Walthari. Aber Irrtümer gehören auch zu seinem Brot.
DOKTOR WALTHARI Freitag, 18. November, abends Abblenden, aufblenden, abblenden. Nasses Laub, Rübenblätter und Lehmklumpen machen die Straße gefährlich glatt. Archimedes soll in der Badewanne gesessen haben, als er das Prinzip des Auftriebs von Körpern im Wasser entdeckte. Und ausgerufen haben: Heureka! Ich hab’s! Eine hübsche Legende, die ein Filmregisseur erfunden haben könnte. Denn Entdeckungen werden meist auf ganz prosaische Weise gemacht. Jedenfalls unsere Entdeckung, daß Ronn doch ein Mörder ist. Es begann heute vormittag mit einem Anruf von Kant, er wolle den Fall abschließen, es liege zweifellos Selbstmord vor. Das darf doch nicht wahr sein, dachte ich, und im selben Augenblick dachte ich, er wird nicht aufgeben. Er will nur meinen Widerstand herauslocken, will ein ermunterndes, ein anfeuerndes Wort von mir hören! Was er mir dann jedoch in Stichworten über das Gespräch mit Friederike Stephan berichtete, die Schlußfolgerungen, die er daraus zog – das bewies mir, es war ihm ernst, die Akte Ronn zu schließen. 205
Auch die Sache mit den Injektionen wäre jetzt geklärt, sagte Kant, Frau Stephan habe bestätigt, daß ihre Mutter eine Penizillinkur gemacht habe. „Wann?“ fragte ich. „Kurze Zeit vor ihrem Tod.“ „Die Injektionseinstiche waren frisch, nicht älter als achtundvierzig Stunden!“ „Ja, ja, aber hat denn das überhaupt noch eine Bedeutung?“ „Handelte es sich bei der Kur um Tabletten oder Injektionen?“ Schweigen. Dann erklärte er: „Danach habe ich nicht gefragt.“ „Aber das ist doch wichtig.“ „Gut“, sagte er resigniert, „ich melde mich gleich wieder.“ Nach einer halben Stunde war er wieder am Apparat. „Eine Tablettenkur, Doktor.“ „Gegen welche Infektion?“ „Gegen ihre Krampfadern.“ „Heureka!“ murmelte ich. „Wie bitte?“ „Ich bin in einer Stunde in Cronen.“ Ich schaffte es in drei viertel Stunden. Nachdem ich mir Kants Bericht angehört hatte, sagte ich: „Krampfadern sind verdickte Adern, in denen sich das Blut staut. Tote Strombahnen. Da hilft nur ein chirurgischer Eingriff. Aber Penizillin – das ist völliger Unsinn. Das zum ersten. Zum zweiten: Nachdem Frau Ronn das angebliche Penizillin genommen hat, hat sie tagelang geschlafen. Auch das ist unmöglich.“ „Auch unter Alkoholeinfluß?“ „Auch dann. Das einzige, was an dieser Geschichte 206
stimmt, ist der lange Schlaf. Erkennen Sie den Zusammenhang?“ Kant ist ein ebenso rascher wie gründlicher Denker. Er erwiderte: „Das könnte bedeuten, Ronn hat seiner Frau eine Krampfaderkur mit Penizillin vorgegaukelt – und ihr statt Penizillin das Gift verabreicht.“ „Beim ersten Mal ohne Erfolg. Vielleicht war die Dosis zu gering. Beim zweiten Mal hat er ihr so viel Kalypnon gegeben, daß sie nicht mehr erwachte.“ „Eine neue Variante“, sagte Kant ruhig. „Nur klärt sie auch nicht alle Widersprüche. Was bedeuten die vier Injektionen? Und wie erklärt sich der Abschiedsbrief?“ Es war eine verteufelte Geschichte. Fanden wir für ein Indiz eine Begründung, verdunkelte sich sofort der Sinn für irgendein anderes. Etwas blieb immer unerklärlich. „Gehen wir systematisch heran“, schlug Kant schließlich vor. „Versuchen wir, die Unbekannten zu eliminieren! Also nochmals: die Injektionen.“ „Sind jetzt eigentlich unwichtig geworden, seit wir wissen, wie Ronn vorging.“ „Wir wissen es nicht, wir nehmen an“, korrigierte Kant. „Und außerdem gebe ich mich mit einer solchen Erklärung nicht mehr zufrieden, Doktor. Die vier Injektionen waren bisher ein Grundpfeiler Ihrer Theorie. Und nun, wo sie nicht mehr hineinpassen, werfen Sie sie einfach hinaus.“ Er fügte hinzu: „Also gut, lassen wir die Injektionen beiseite. Schlagen wir eine andere Richtung ein.“ Er zog die Akte Ronns aus dem Schreibtisch und suchte den Abschiedsbrief der Toten: „Schauen Sie sich den Brief doch noch einmal genau an, Doktor.“ Ich sah ihn mir genau an. „Frau Ronn muß eine sehr sparsame Frau gewesen sein.“ 207
„Warum?“ „Weil sie oben und unten keinen Rand gelassen hat. Das soll auf Sparsamkeit hindeuten.“ „Sind Sie unter die Graphologen gegangen?“ „Außerdem hat sie das erste Wort des Briefes mit kleinem Anfangsbuchstaben geschrieben.“ „Darauf hat auch der Schriftsachverständige hingewiesen. Er hält auch nicht für ausgeschlossen – eben wegen des fehlenden Randes oben und unten – daß der Brief ursprünglich länger war und oben und unten ein Stück Text abgeschnitten worden ist.“ „Von wem?“ „Frau Stephan, die Tochter der Toten, will wissen, daß ihre Mutter früher schon Selbstmorddrohungen geschrieben hätte. Wenn nun dieser angebliche Abschiedsbrief in Wirklichkeit Teil eines älteren Drohbriefes wäre?“ „Etwas reichlich spät, diese Schlußfolgerung.“ „Bin ich ein Superdetektiv?“ fragte Kant mürrisch. „Ich hätte sofort daraufkommen müssen.“ Ich weiß, wieviel Überwindung es Kant kostet, einen Fehler oder eine Nachlässigkeit einzugestehen. „Nun“, sagte ich, „immerhin sind Sie noch rechtzeitig genug drauf gestoßen.“ „Ich werde vom Sachverständigen prüfen lassen, wann dieser Brief geschrieben worden ist.“ Abblenden, aufblenden, abblenden. Rübenblätter, Dreckklumpen, glitschige Straße. Also Mord. Wenn der Brief tatsächlich älteren Datums ist, gibt es keinen Zweifel mehr.
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OBERLEUTNANT KANT Donnerstag, 24. Nov., nacht Zehn Minuten nach zweiundzwanzig Uhr. Ich verlasse das Amtsgebäude und rutsche gleich beim ersten Schritt aus – Glatteis. Das Wetter ist umgeschlagen. Eine klare Frostnacht. Der Heimweg zu Fuß wird mir guttun. Diese Viertelstunde frische, kalte Luft. Die Schaufenster sind schon für Weihnachten dekoriert. Puppen, Modelleisenbahnen, Mondraketen, Fotoapparate, Filmprojektoren, Transistorradios, Waschmaschinen, Kühlschränke. Fünf Plastikdamen mit schrägen Augen stellen Pelzmäntel zur Schau. Pralinenschachteln sind zu einer Pyramide geschichtet. Viel Tannengrün, Silberfäden, viel Licht. Alles so liebevoll, so freundlich. Ich sehe es und sehe es nicht. Heute habe ich die Akte Ronn geschlossen. Vor sechs Tagen, nach dem Gespräch mit Friederike Stephan und mit Dr. Walthari, hatte für mich die letzte Runde begonnen. Noch am gleichen Tag stellte ich fest, daß Ronns Geliebte, die medizinisch-technische Assistentin am Kreiskrankenhaus Cronen, Steffi Kuntze heißt. Steffi Kuntze, fünfundzwanzig Jahre alt. Am gleichen Abend konnte ich noch einige Erkundigungen zur Person einholen. Steffi Kuntze gilt als zuverlässige, gewissenhafte Angestellte. Obwohl sie sich gut mit ihren Kolleginnen versteht, wirkt sie etwas verschlossen. Man weiß wenig über sie. Ich nehme an, sie hat es geschickt verstanden, ihr Verhältnis mit Ronn geheimzuhalten – sicher eine Meisterleistung weiblicher Diplomatie. Steffi Kuntze wurde zum Sonnabend früh 209
vorgeladen. Nach Friederike Stephans Schilderung hätte ich einen grell aufgedonnerten Vamp erwarten müssen, ein männerverschlingendes Ungeheuer. Steffi Kuntze, ein großes, schlankes Mädchen, trug ihr dunkelblondes Haar zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Lider und Wimpern waren unaufdringlich getönt, ihre Bewegungen gerundet und weich. Sie wirkte weder anmaßend noch aufdringlich, sondern eher unsicher. „Ich habe noch einige Fragen zu dem Selbstmord von Frau Ronn“, leitete ich die Vernehmung ein. „Aber ich kannte Frau Ronn gar nicht.“ „Möglich. Doch dafür Herrn Doktor Ronn.“ Mit einer reflexhaften Bewegung zerrte sie an einer Haarsträhne und murmelte, ohne mich anzublicken: „Sicher, durch meine Arbeit kenne ich alle Ärzte in Cronen.“ „Diese Art Bekanntschaft meine ich natürlich nicht, Fräulein Kuntze.“ Sie antwortete nicht, sondern faßte erneut nach der Haarsträhne und begann sie um den Zeigefinger zu wickeln. „Fräulein Kuntze, niemand wirft Ihnen vor, daß Sie Doktor Ronn lieben.“ Das Mädchen machte eine Bewegung, als wollte es vom Stuhl aufspringen. Dann rutschte sie in sich zusammen und blickte mich verstört an. Ich wartete. Schließlich sagte sie mit sehr leiser Stimme: „Hat Herr Ronn selbst …?“ „Wann haben Sie Herrn Doktor Ronn kennengelernt?“ „Ich meine, ob Herr Ronn über mich – ob er über uns gesprochen und …“ Ich unterbrach sie: „Ich möchte es von Ihnen wissen, Fräulein Kuntze. Also, seit wann kennen Sie sich?“ 210
„Über zwei Jahre.“ „Wann erfuhren Sie, daß Frau Ronn Selbstmord begangen hat?“ Steffi Kuntze biß auf ihre Unterlippe. Sie zögerte sichtbar mit der Antwort. „Also, wann hörten Sie es?“ „Ja, am nächsten Tag. Man sprach in der Klinik davon.“ Ich sah ihr an, daß sie log. „Haben Sie Telefon, Fräulein Kuntze?“ „Nein.“ „Fräulein Kuntze, ich mache Sie darauf aufmerksam, daß Sie die Wahrheit zu sagen haben!“ bemerkte ich ziemlich scharf. Steffi Kuntze scheint eine etwas ängstliche Natur zu sein. Sie wurde ganz blaß und umklammerte krampfhaft den Riemen ihrer Schultertasche. „Sie wollen sich doch Unannehmlichkeiten ersparen, nicht wahr?“ Sie nickte stumm. „Also nun noch einmal: Wann hat Ihnen Herr Ronn mitgeteilt, daß seine Frau tot ist?“ „Noch am selben Abend“, erwiderte sie stockend. Wieder wartete ich. Sie fuhr fort: „Doktor Ronn kam zu mir, um es mir mitzuteilen – als erstem.“ „Wann war das?“ „Gegen halb zehn.“ „Und was sagte Doktor Ronn?“ „Ich weiß nicht, warum Sie … was diese Fragen alle bedeuten!“ rief das Mädchen beunruhigt. „Es hat nichts zu bedeuten, als daß ich wissen muß, was an jenem Abend geschah.“ 211
„Warum fragen Sie nicht Herrn Doktor Ronn selbst?“ „Mit Doktor Ronn habe ich schon gesprochen. Wußten Sie das nicht? Also, was sagte Herr Ronn an jenem Abend?“ „Daß seine Frau einen Herzschlag erlitten hat.“ „Waren Sie sehr überrascht von dieser Nachricht?“ Wieder zögerte sie. „Ja und nein. Ich hatte schon lange damit gerechnet …“ „Sie haben also den Tod von Frau Ronn erwartet?“ „Erwartet – wie soll ich sagen, erwartet direkt nicht.“ „Aber …?“ „Frau Ronn war schwer krank. Und da mußte man mit dem Schlimmsten rechnen. Doktor Ronn hat das sehr belastet. Er hat sich mit mir darüber ausgesprochen, das ist doch verständlich, nicht wahr?“ „Sie glaubten also an einen Herzschlag?“ „Doktor Ronn doch auch! Zu dieser Stunde wenigstens – es hat sich ja erst später herausgestellt, daß es … daß Frau Ronn sich das Leben genommen hat.“ „Ist Doktor Ronn ein guter Arzt?“ „Ein sehr guter.“ „Müßte er es dann nicht sofort bemerkt haben?“ „Ich weiß nicht. In der Aufregung kann man schon etwas übersehen.“ „Hat Ihnen Doktor Ronn später selbst gesagt, daß es Selbstmord war?“ „Das habe ich dann am nächsten Tag im Krankenhaus erfahren, wirklich!“ „Ich glaube Ihnen schon. Wie nahmen Sie diese Nachricht auf? Was dachten Sie sich dabei?“ „Ich habe versucht, sowenig wie möglich daran zu denken. Verstehen Sie das nicht? Man macht sich Vorwürfe und …“ 212
Sie konnte den Satz nicht zu Ende sprechen, weil sie plötzlich zu weinen begann. Ich ließ ihr etwas Zeit, sich wieder zu beruhigen. „Sie glauben also selbst, Fräulein Kuntze, daß Ihr Verhältnis mit Doktor Ronn seine Frau veranlaßt hat, sich das Leben zu nehmen?“ „Wir haben kein Verhältnis miteinander!“ stieß sie leidenschaftlich hervor. „Wir lieben uns!“ „Vielleicht erzählen Sie mir erst einmal, wie Sie sich kennengelernt haben.“ Immer noch zögernd, bemüht, mehr zu verschweigen als offen zu berichten, schilderte sie mir, wie aus der zufälligen Bekanntschaft mit Ronn bald eine tiefe Liebe geworden war. Ich zweifelte nicht im geringsten daran, daß sie dem Mann von Herzen zugetan war. Aber immer wieder nahm sie diese Liebe auf eine ihr selbst unbewußte, merkwürdig versteckte Art zurück, indem sie betonte, es sei eben ihr Schicksal, sich in verheiratete Männer zu verlieben. Ich wollte wissen, ob Ronn ihr die Ehe versprochen habe. „Nein“, erwiderte sie spontan, „und ich habe das auch nie von ihm verlangt! Doktor Ronn hätte sich niemals scheiden lassen. Das wußte ich. Deshalb wollten wir erst heiraten, wenn Frau Ronn …“ Fast unhörbar fügte sie hinzu: „Halten Sie mich bitte nicht für gefühllos. Aber jeder Mensch hat doch ein Recht auf Glück, nicht wahr?“ „Und nun wollen Sie also heiraten?“ „Im nächsten Jahr.“ Steffi Kuntze sagte das so zuversichtlich, daß ich dieses Thema lieber fallenließ. In ein oder zwei Tagen würde sie von Ronn für immer getrennt sein. Wie sollte ich sie auf diese Katastrophe vorbereiten? 213
Als ich Steffi Kuntze nach einem mehr als zweistündigen Gespräch entließ, verabschiedete sie sich ziemlich erleichtert. Ohne etwas Böses zu ahnen, ging sie, und man konnte wohl auch nicht erwarten, daß sie ihrem Geliebten etwas Böses zutraute. Am Montag besorgte ich mir die Genehmigung für eine Hausdurchsuchung. Dabei fand ich einige Quittungen über Bücher, die Ronn Ende Oktober in der Deutschen Bücherei in Leipzig entliehen hatte. Es waren zwei Neuerscheinungen über Toxikologie und ein pharmazeutisches Werk. Mit Dr. Walthari fuhr ich nach Leipzig. Wir sahen die Bücher Seite für Seite durch. Auf einer Seite entdeckte ich zwei kleine Zeichen am rechten Rand, Unter der Lupe stellten sie sich als ein Punkt und ein dünner, knapp einen Millimeter langer Strich dar, von grüner Farbe. Ronn hatte die Bestellzettel mit einem grünen Faserstift ausgefüllt. Durch Versuche stellte ich fest, daß solche Spuren entstehen, wenn einem der Stift aus der Hand fällt. Wir waren hier also auf eine Buchseite gestoßen, die Ronn gelesen haben mußte. Walthari nahm sich den Text vor. Dann sagte er: „Ich glaube, jetzt weiß ich, was Ronn seiner Frau injiziert hat.“ Er wies auf die linke Seite: „Prothazin. Erinnern Sie sich? Prothazin übt eine dämpfende Wirkung aus und sollte wahrscheinlich verhindern, daß sein Opfer das Gift wieder ausbrach.“ Wir durchblätterten auch die beiden andern Bücher, entdeckten aber keinen äußeren Hinweis mehr, welche Abschnitte Ronn noch gelesen hatte. „Damit steht fest“, sagte Dr. Walthari, „daß sich Ronn nach dem Scheitern seines ersten Mordanschlags toxiko214
logisch genauer informiert hat. Er wollte das zweite Mal ganz sichergehen, vor allem hinsichtlich der Menge des Giftes. Unerwünschte Nebenerscheinungen versuchte er durch die Prothazininjektionen zu dämpfen und auszuschalten.“ Dienstag nachmittag trug ich Staatsanwalt Zeh das Ergebnis der Untersuchung vor. Er teilte meine Ansicht, daß Ronn des Mordes hinreichend verdächtig sei, und ordnete die Verhaftung Ronns an. Ich werde nie vergessen, wie wir Ronn festnahmen. Die Hausdurchsuchung hatte ihm wohl klargemacht, wie es um ihn stand. Aber was ich dann erlebte, hätte ich nie für möglich gehalten. Eine Erklärung für diese Situation findet man wohl nur darin, daß Ronn sein Leben in einem Zustand der Selbsttäuschung verbracht hatte und sich die Wirklichkeit zurechtbog, bis sie seinen Wünschen und Vorstellungen entsprach. In der Stunde seiner Verhaftung wurde mir klar, daß Ronn dieses Verhalten bis zu vollkommener Illusion entwickelt hatte. Was er nicht wahrhaben wollte, existierte einfach nicht für ihn. Er drängte es einfach so weit von sich fort, bis eine völlig irreale Situation entstand, die nur ein einziger, nämlich er selber, für real hielt. Maria Schenk hatte den beiden Genossen und mir geöffnet und auf die Frage, wo sich Ronn befinde, mit dem Daumen nach oben gewiesen. Wir stiegen die Treppe empor. Im oberen Flur sah es aus wie bei einem Umzug. Zwei Kleiderschränke versperrten uns fast den Weg. Erst dachte ich, Ronn habe sich verbarrikadiert. An der Wand lehnten hochkant die Ehebetten, daneben standen die Nachttischchen und die Frisierkommode. Der Spiegel war merkwürdigerweise verhängt. 215
Die Schlafzimmertür fanden wir weit offen. Wir traten ein. Auf einer Steigeleiter stand Ronn. Sein weißer Arztkittel war mit Farbe beschmiert. Ronn hielt eine Malerbürste in der Rechten und in der Linken einen Eimer. Er strich die Wand neben der Tür mit zartblauer Farbe an. Als Ronn mich erblickte, rief er fröhlich von der Leiter herab: „Schon Feierabend, Herr Kant? Jetzt bekomme ich wohl Hilfe. Na, dann mal alle Mann ’ran!“ Er lachte glucksend. „Bitte kommen Sie herunter, Herr Ronn.“ Er kletterte herab und zeigte auf die noch ungestrichene Fläche. „Finden Sie nicht auch, dieses Rosa ist scheußlich. Konnte es nie leiden. Jetzt komme ich endlich zu blauen Wänden.“ Er kicherte. „Blau wie das Weltall.“ Sorgfältig legte er die Bürste auf ein Zeitungsblatt neben dem Farbeimer. „Der Maler wollte erst nächsten Monat den Auftrag übernehmen. Da dachte ich, legst eben selber Hand an. Heimwerker in Aktion, was?“ Er lachte heftig und wies auf die blaue Wand. „Also mal ehrlich, sagt Ihnen die Farbtönung zu?“ „Herr Ronn“, sagte ich geduldig, „wir kommen mit einem Haftbefehl. Bitte ziehen Sie sich um.“ „Oh“, sagte er, „wann soll ich denn dann das Zimmer fertigstreichen?“ „Das, Herr Ronn, wird sich finden. Also bitte, beeilen Sie sich!“ Als ich Ronn wenig später zur ersten Vernehmung vorführen ließ, warteten Staatsanwalt Zeh und ich vergeblich auf die üblichen Proteste und Beteuerungen, die Verhaftung müsse doch wohl ein Irrtum sein. Mir saß ein Mann gegenüber, der mich gelassen, fast 216
treuherzig anblickte. Noch bevor ich die Vernehmung überhaupt eröffnete, meinte er mit einem um Verzeihung bittenden Lächeln: „Nun macht uns also meine Frau noch nach ihrem Tode Schwierigkeiten, nicht wahr?“ „Es wird sich bald herausstellen, Herr Ronn, wer von uns beiden Schwierigkeiten bekommt.“ „Nun, Herr Kant, Schwierigkeiten haben Sie wohl auch genug gehabt. Immerhin brauchten Sie fast vierzehn Tage, um die Wahrheit herauszufinden.“ Ich fragte überrascht: „Heißt das, Sie wollen ein Geständnis ablegen?“ „Was bleibt mir anderes übrig?“ Der raffinierteste, kaltblütigste Mörder, der mir in meiner jahrelangen Praxis begegnet war – bereit zu einem Geständnis! – Das paßte nicht zu ihm. Kühl erwiderte ich: „Dann sagen Sie, was Sie zu sagen haben.“ „Ach Gott, Herr Kant, da ist nicht viel. Sie hätten es einfacher haben können, ohne diese ganze Effekthascherei: Haussuchung, Verhaftung, Sensationen!“ „Kommen Sie endlich zur Sache!“ Ronn nickte und sagte seufzend: „Unterlassene Hilfe, darauf läuft alles hinaus. Es wird mich die Zulassung als Arzt kosten, fürchte ich.“ „Beschränken Sie sich auf Tatsachen!“ „Bitte“, erwiderte Ronn. „Tatsache ist, daß meine Ehe schon lange nicht mehr in Ordnung war. Tatsache ist, daß ich in Steffi Kuntze, die Sie ja inzwischen kennengelernt haben, eine verständnisvolle Partnerin fand. Tatsache ist, daß meine Frau davon wußte und verlangte, ich solle mich von Steffi trennen. Tatsache ist, daß ich das ablehnte.“ Tatsache, Tatsache, Tatsache. 217
Ich konnte kaum noch zuhören. Nimm dich zusammen! Tatsache, Tatsache, Tatsache. Es war reiner Hohn. „Und Tatsache ist, daß meine Frau mit diesem Problem nicht fertig wurde und sich das Leben nahm.“ „Tatsache ist aber auch“, sagte ich ruhig, „daß Sie diese Tatsache gegenüber dem Leichenschauarzt Winter vertuschen wollten. Durch Vortäuschung eines natürlichen Todes und …“ „… und durch rotes Licht, Anlegen der Brandbinde et cetera et cetera. Ja. Es wäre mir auch gelungen, aber Winter ist pedantischer, als ich geglaubt hatte.“ Mit einer Handbewegung schob er die Erinnerung an Dr. Winter weg. Es war offensichtlich, daß er von Winter sehr enttäuscht war. Plötzlich verzog sich sein Mund zu einem Lachen. Ich sah das gleiche Grinsen, mit dem er unsere Kontroverse über die kosmische Einsamkeit beendet hatte: das Grinsen eines Mannes, der es besser weiß. „Ich will Ihnen sagen, wie es wirklich gewesen ist. Als ich gegen Viertel zehn zurückkam, fand ich Gisela in tiefer Bewußtlosigkeit im Bett liegen. Neben ihr das Glas und der Abschiedsbrief. Natürlich hätte ich sofort etwas unternehmen müssen, um Gisela zu retten. Aber dazu war es zu spät. Das wird Ihnen jeder Arzt bestätigen, bei dieser Menge Gift. Und um ganz ehrlich zu sein, ich hätte auch keinen Finger gerührt, wenn es noch Zweck gehabt hätte. Ich war froh, daß es so gekommen war. Die beste Lösung für uns drei. Natürlich muß ich jetzt dafür geradestehen.“ So also sah Ronns Taktik aus! Er versuchte durch ein Teilgeständnis zu retten, was noch zu retten war. Ronn blickte mich erwartungsvoll an. Ihm war klar, jetzt mußte es sich entscheiden, ob er 218
diese Version an den Mann bringen konnte. Denn er wußte nicht, was und wieviel ich wußte. „Herr Ronn, Sie hatten bei unserm ersten Gespräch zugegeben, daß Ihre Frau früher schon Selbstmordabsichten geäußert hatte.“ „Das ist richtig.“ „In welcher Form?“ „Ich verstehe nicht …“ „Hat sie Ihnen das in einem Gespräch gesagt? Oder wie sonst?“ „Im Verlauf einer Auseinandersetzung. Eben als Drohung: Wenn du nicht von dieser Frau läßt, dann nehme ich mir den Strick. Wie man das eben so sagt.“ „Hat sie diese Drohung jemals schriftlich ausgesprochen?“ Eine winzige Bewegung, als wollte er seine Haltung straffen. Er blickte mich ruhig an und erwiderte: „Schriftlich? Wie kommen Sie darauf?“ „Bei der Haussuchung fanden sich schriftliche Anweisungen Ihrer Frau dutzendweise.“ Er lächelte traurig. „Damit haben Sie wiederum einen Beweis, wie sich meine Frau aufspielte.“ „Antworten Sie auf meine Frage! Hat Ihre Frau jemals schriftlich mit Selbstmord gedroht?“ „Ich sagte doch nein!“ Ich schob ihm Giselas „Abschiedsbrief“ zu. „Und das da?“ Er betrachtete den Brief eingehend, dann schob er ihn mir zurück. „Das ist doch ihr Abschiedsbrief.“ „Der Wochen früher geschrieben wurde. Und zu einem andern Zweck!“ „Das ist der Brief, den meine Frau hinterlassen hat. Mehr kann ich dazu nicht sagen.“ 219
„Dann können Sie mir vielleicht erklären, wo sich jener Brief gleichen Inhalts befindet, den Ihnen Ihre Frau vor einiger Zeit auf den Tisch gelegt hat?“ Er versuchte mich dümmlich anzustarren. „Es gibt einen Zeugen dafür, Herr Ronn.“ „Meine liebe Friederike wahrscheinlich“, murmelte er. „Wenn Sie der auch nur ein einziges Wort glauben …!“ Ich wies Ronn nach, daß der „Abschiedsbrief“ Teil eines umfangreicheren Briefes war. Die Zeilen reichten oben und unten bis dicht an den Rand. „Meine Frau hat jedes Fetzchen Papier beschrieben, ein Zeichen für ihren Geiz.“ Er kämpfte ebenso plump wie spitzfindig um die Echtheit des „Abschiedsbriefes“. Am nächsten Tag hielt ich Ronn die Aussagen von Maria Schenk vor, Frau Ronn habe ihre Grippeerkrankung stets mit Hausmitteln kuriert. Außerdem sei ihre herbstliche Erkältung schon vier Wochen vor ihrem Tode vorübergewesen. Ronn stellte sich einfach stur. Er leugnete klugerweise die Aussage der Haushälterin nicht, behauptete aber, die Hausmittel seien ja der Grund gewesen, weshalb seine Frau der Maria nichts von ihrer erneuten Erkrankung gesagt hätte. Sie habe ganz einfach kein Vertrauen mehr zu Schwitzkuren und Lindenblütentee gehabt, sich aber gescheut, das gegenüber Maria zuzugeben. Ich wandte mich einem andern Indiz zu. „Sie betreiben doch allerhand Hobbys, Herr Ronn.“ Er sah mich mißtrauisch an. „Die Tierversuche damals. Astronomische und naturphilosophische Lektüre – wie sieht es eigentlich mit Ihrer fachlichen Weiterbildung aus?“ Er sprach vom Studium der Fachpresse, Weiterbildungsveranstaltungen, 220
Kongressen. „Lesen Sie auch neuere fachwissenschaftliche Werke größeren Umfangs?“ Er wußte nicht, was er antworten sollte, zögerte, rettete sich schließlich in ein vages „Dazu komme ich kaum“. „Ja oder nein?“ Wieder eine ausweichende Geste. „Sie sind kürzlich nach Leipzig gefahren, um sich in der Deutschen Bücherei drei fachwissenschaftliche Werke zu leihen. Aus welchem Anlaß?“ „Ach ja“, räumte er ein, „hatte ich ganz vergessen. Meine Frau klagte in letzter Zeit über Schlaflosigkeit. Ich hatte ihr deshalb Kalypnon verordnet, war mir aber über die Wirkung nicht ganz sicher wegen ihres Kreislaufs. Deshalb wollte ich mich über die neuesten Forschungsergebnisse auf dem Gebiet der Barbiturate unterrichten.“ „Aber Sie haben doch sicher auch anderen Patienten Kalypnon verordnet?“ „Gewiß.“ „Und dafür reichten Ihre Kenntnisse aus?“ „Ich hatte eben das Bedürfnis, mich über die neuesten Forschungsergebnisse zu informieren.“ Ich kam nicht voran. Ronn war schlau genug, die belastenden Indizien nicht zu leugnen. Er versuchte, ihnen eine harmlose Bedeutung zu geben. Er schien tatsächlich zu glauben, damit Erfolg zu haben. Aber der große Philosoph begriff eines nicht: Es mochte ihm gelingen, dieses oder jenes Indiz zu verharmlosen; aber daß sich alle zu einem Gesamtzusammenhang ordneten, konnte er nicht verhindern. Am nächsten Tag saß Ronn wieder vor mir. Die Einzelhaft, die Vernehmungen, die Konfrontation mit immer neuen Indizien, die ihn überraschten und 221
zwangen, stets nach neuen Ausflüchten zu suchen, hatten den überheblichen Mann allmählich immer unsicherer gemacht. Zwar hielt ihn immer noch die Hoffnung aufrecht, wir würden niemals entdecken können, auf welche Weise er seiner Frau das Gift beigebracht hatte, aber nun war es soweit, ihm auch diese Hoffnung zu nehmen. „Sie sagten neulich, Sie hätten den Selbstmord Ihrer Frau als beste Lösung betrachtet.“ „Es ist die beste Lösung. Wenn Sie“, fügte er hinzu, „den Charakter der drei beteiligten Personen kennen würden.“ „Warum ließen Sie sich eigentlich nicht scheiden?“ „Das konnte ich mir als Arzt in einer Kleinstadt nicht leisten.“ „Benutzte Ihre Frau stets nur Hausmittel vor ihrer letzten Erkrankung?“ „Nein, natürlich nicht. Sie nahm Moloid, Kalypnon, Pholedrin isis, manchmal auch Schmerztabletten.“ „Ihre Frau hatte Vertrauen zu Ihnen? Ich meine als Arzt?“ „Meine Frau hat mich stets für einen guten Diagnostiker gehalten.“ „Was würden Sie zu einem Arzt sagen, der einen Schnupfen für eine Blinddarmentzündung hält?“ „Sie erwarten doch darauf keine Antwort von mir, Herr Kant!“ „Und ein Arzt, der eine Lungenentzündung feststellt, wo es gar keine Lungenentzündung gibt?“ „Was wollen Sie damit sagen?“ „Laut Obduktionsbefund war die Lunge Ihrer Frau o. B. Aber Sie behandelten Sie wegen einer Lungenentzündung.“ 222
„Ist Ihnen bei Ihrer Arbeit noch nie ein Irrtum unterlaufen?“ „Erhielten Sie öfter Besuch von Friederike?“ „Wenn sie kam, besuchte sie nicht mich, sondern ihre Mutter.“ „Warum verstanden Sie sich eigentlich nicht mit Ihrer Stieftochter?“ „Sie befand sich völlig unter dem Einfluß meiner Frau.“ „Und wann besuchte Ihre Frau ihre Tochter das letzte Mal?“ „Weiß ich nicht mehr. Im Oktober, glaube ich, nach ihrer Grippe.“ „Also hatte Ihre Frau doch im Oktober die Grippe?“ „Das sagte ich doch schon. Ja! Und im November noch mal.“ „Stimmt es, daß Sie sich öfter über die Krampfadern Ihrer Frau lustig machten?“ Die Antwort kam viel zu laut und zu heftig: „Das ist doch wohl eine völlig absurde Idee!“ Er preßte noch hervor: „Hat wohl auch die gute Friederike behauptet?“ „Bei ihrem letzten Besuch hat Ihre Frau Friederike von einer Krampfaderkur erzählt.“ Ronn antwortete nicht. Das Schweigen wurde schließlich unerträglich für ihn. Er fragte schwächlich: „Krampfaderkur?“ Ich nickte. „Aber …“, wandte er ein, unterbrach sich, räusperte sich nervös, seine Stimme war plötzlich belegt, wie zerbrochen, „aber da muß sie sich verhört haben. Es gibt keine Krampfaderkur. Krampfadern können nur chirurgisch entfernt werden.“ „Haben Sie das auch Ihrer Frau gesagt?“ 223
„Wir haben nie über solche Kur …“ „Sie haben zweimal eine solche Kur vorgenommen. Mit Penizillin!“ „Das ist doch Unsinn!“ sagte er flüsternd. „Penizillin gegen Krampfadern.“ „Wirklich?“ „Ja, ja, ja!“ „Deshalb gaben Sie ihr auch gar kein Penizillin! Sie gaben ihr in Wirklichkeit Kalypnon!“ Es war ein makabres Schauspiel. Ronn brach, im wahren Sinne des Wortes, zusammen. Sein Kopf sackte nach vorn, seine in steter Spannung gehobenen Schultern fielen herab, seine Finger vollführten unkontrollierte, krampfartige Bewegungen. Er hatte sich in der letzten Zitadelle verschanzt und sie für uneinnehmbar gehalten. Im gleichen Augenblick, als ich eindrang, gab er auf. Gestern, teilweise in Gegenwart Dr. Waltharis, der die medizinische Seite des Mordfalls für unsere Beweisführung zu klären hatte, schilderte Dr. Ronn Gründe, Planung und Hergang der Tat. Er bestätigte auch die letzte Hypothese Waltharis. Ronn hatte seiner Frau tatsächlich Prothazininjektionen gegeben, um zu verhindern, daß sie das Gift wieder ausbrach. Ich glaube zu wissen, was den plötzlichen Zusammenbruch Ronns bewirkt hatte: die Erkenntnis, daß sein so raffiniert geplantes Verbrechen nicht perfekt, sondern so stümperhaft war wie eben jedes Verbrechen. Vielleicht dämmerte ihm auch, was er uns gegenüber allerdings nie zugeben würde: daß der Mörder nicht nur einen andern Menschen tötet, sondern zugleich auch sich selbst. 224
Ginge es nach mir, würde ich auf den Aktendeckel schreiben: „Tote Strombahnen“. Der Fall Ronn ist nicht nur ein vulgärer Mordfall. Er ist die Katastrophe eines Mannes, dessen Leben oder, ich sollte besser sagen, dessen menschliche Beziehungen allmählich abgestorben sind, verödet. Wie Ronn die Tat beging, weiß ich nun in allen Einzelheiten. Warum er sie beging, hat er zu erklären versucht. Alles mögliche hat er dafür verantwortlich gemacht, andere Menschen, Cronen, die Nazizeit, selbst die kosmische Einsamkeit mußte wieder herhalten. Ich glaube, die Verödung begann in seinem Innern, mit seiner Isolierung von der Gesellschaft. Er war unfähig, seine eigenen Wünsche mit seinen Möglichkeiten in Übereinstimmung zu bringen. Völlig unverständlich aber wird mir sein anachronistisches kleinbürgerliches Bestreben bleiben, unter allen Umständen nach außen den biederen Ehrenmann und Ehemann zu spielen, selbst um den Preis eines Mordes. Die inneren Prozesse dieser Verödung bleiben verborgen. Ihnen nachzugehen ist nicht mehr meine Aufgabe. Es ist halb elf, als ich meine Wohnung betrete. Sicher schläft Chris schon. Aber aus Beates Zimmer höre ich noch Beatmusik. Ich öffne die Tür und blicke meine Tochter an. Sie lächelt und schaltet wortlos Radio und Licht aus. Wo fängt unsere Macht an, und wo hört sie auf? Wir leben in einer gemeinsamen Welt. Aber in ihr hat jeder Mensch noch seine eigene. Kenne ich die meiner Frau? Meiner Tochter? Geh schlafen, Alter, du bist bald fünfzig, da kommen einem manchmal nachts solche Fragen.
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