Bernhard Borge
Tote Männer gehen an Land
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Auf dem Haus liegt ein Fluch. Vier Men...
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Bernhard Borge
Tote Männer gehen an Land
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Auf dem Haus liegt ein Fluch. Vier Menschen sind hier auf unerklärliche Weise umgekommen. Unheilvolle Vorzeichen verkünden, daß seine Macht noch nicht gebrochen ist... Bernhard Borge schuf einen völlig neuen Typ des Kriminalromans, in dem er die Abgründe der menschlichen Seele auslotet. ISBN 3 548 10094 5 Titel der norwegischen Originalausgabe: D de menn går í land Übersetzt von Karl Christiansen Januar 1981, Verlag Ullstein Umschlagentwurf: Hansbernd Lindemann Umschlagfoto: Sabine Reinhardt, Overath
Dieses E-Book ist nicht zum Verkauf bestimmt!!!
Inhaltsverzeichnis VORWORT.......................................................................... 3 ERSTES KAPITEL Das Kaperschiff »Krebs« ..................................................... 4 ZWEITES KAPITEL Eine schwarze Katze von ungewöhnlicher Größe.............. 22 DRITTES KAPITEL Der Mann im Ölzeug .......................................................... 36 VIERTES KAPITEL »Auch die Finsternis hat ihre Götter«................................ 50 FÜNFTES KAPITEL Experiment mit einer alten Kommode................................ 66 SECHSTES KAPITEL Arne zieht Kreuz 2 .............................................................. 79 SIEBENTES KAPITEL Zwischenspiel im Regen ..................................................... 96 ACHTES KAPITEL Pastor Flateland geht in die Offensive............................. 113 NEUNTES KAPITEL Ein Pfarrhofsboden - und fünf neugierige Menschen ...... 127 ZEHNTES KAPITEL Tancred verschwindet ...................................................... 145 ELFTES KAPITEL Das rote Meßgewand ....................................................... 158 ZWÖLFTES KAPITEL Die Sünde wider das Zehnte Gebot .................................. 177 DREIZEHNTES KAPITEL Tote Männer gehen an Land ............................................ 197 VIERZEHNTES KAPITEL Zwei Hypothesen .............................................................. 217
VORWORT And now this spell was snapt: once more I viewed the ocean green, And hok'd far forth, yet little saw Of what had else been seen Like one that on a lonesome road Doth walk in fear and dread, And having once turn'd round, walks on, And turns no more his head; Because he knows a frightful fiend Doth close behind him tread. Coleridge: »The Rime of the Ancient Mariner«. Es ist eine Reihe seltsamer Gerüchte im Umlauf über das Schicksal meines Freundes Arne Krag-Andersen; keines entspricht jedoch der Wahrheit, die tatsächlich weit seltsamer ist. Da ich selbst die Ereignisse erlebt habe, mit denen sich die Zeitungen im Herbst 1938 so stark beschäftigten, habe ich mich entschlossen, diese Geschichte niederzuschreiben. Se non é vero, é ben trovato, sagt ein italienisches Sprichwort - was heißen soll: wenn es nicht wahr ist, so ist es gut erfunden. Da ich jedoch von Natur ein völlig phantasieloser Mensch bin, würde ich niemals selbst etwas Derartiges austüfteln können. Man nehme dies als Garantie für die Zuverlässigkeit meines Berichtes. Das Buch ist unzweifelhaft ein bißchen zu sensationell geworden. Ich bin daher dankbar, daß mein Freund Bernhard Borge jegliche literarische und juristische Verantwortung für die Herausgabe übernommen hat. Die moralische Verantwortung trage ich - aber damit nehme ich es nicht so genau. Paul Ricken -3-
ERSTES KAPITEL Das Kaperschiff »Krebs« Diese Geschichte spielte sich in der guten alten Zeit ab, als das Böse - wie viele Leute annehmen - noch nicht endgültig in die Welt gekommen war. Jedenfalls nicht in dieses auserwählte Land der Unschuld und des Aquavits: Norwegen. Sie begann in einer Februarnacht des Jahres 1938; eine gemütliche kleine Gesellscha ft saß in Arne Krag-Andersens Villa in Ullerasen versammelt, und die Stimmung entsprach dem tiefen, unvergleichlichen Wohlbefinden vergnügter Feststunden. Natürlich wissen die meisten Leser, wer Arne Krag-Andersen ist. Alle kannten damals Arne - jedenfalls alle Leute von Welt. Er gehörte zu jenem bewunderungswürdigen Menschenschlag, der unweigerlich alle Oberkellner dahin bringt, sich wie die Diener eines orientalischen Fürsten aufzuführen. Selbst der unzugänglichste Ober berührte - bildlich gesprochen - den Boden mit der Stirn und flüsterte: »Sahib! - Sahib!«, wenn Arne z. B. in den Roten Saal eintrat. Seine Herrschaft über den sonst völlig unbotmäßigen norwegischen Kellnerstand war souverän und wunderbar - wie Aladins Macht über den Geist der Lampe. Denn er war so etwas wie ein König in Oslo, nicht zuletzt wegen seines Geldes. Selbst auf seinen Steuererklärungen war er sehr reich, und es wurde behauptet, daß die Zahlen im amtlichen Steuernachweis nur einen schwachen Abglanz seiner wirklichen Vermögensverhältnisse darstellten. Es lag etwas vom Gepräge der Kriegskonjunktur über Arnes Karriere, seit er das Handelsgymnasium mit durchweg guten Zensuren und zwei leeren Händen verlassen hatte, und bis er jetzt - erst einunddreißig Jahre alt - als Direktor der Mexican Oil Ltd. in der ganzen Welt seine Geschäfte machte. Arne begnügte sich nicht damit, Geld zu verdienen; er zeigte -4-
auch ein hervorragendes Talent, wenn es galt, Geld auszugeben. Seine Autos, Segelboote und Landhäuser waren Legion, und vor allem liebte er es, sich mit festlich-frohen Menschen zu umgeben. Fast jeden Abend parkte eine lange Wagenreihe vor seiner Villa in Ullerasen, und es verging kaum ein Wochenende, ohne daß ein Bauer oder Fischer, der das eine oder andere seiner Landhäuser beaufsichtigte, fernmündlich angewiesen wurde, alles für eine größere Invasion vorzubereiten. Arnes Gesellschaften zeichneten sich nicht allein durch erlesene Speisen und kostbare Weine aus. In der Regel ereignete sich im Laufe eines solchen Abends etwas Unerwartetes und Phantastisches; eine kleine Komödie, die in Szene gesetzt wurde, um die Stimmung aufzupulvern. Selten lud Arne zum Wochenende ein, ohne vorher Gerüchte zu verbreiten, daß etwas Makabres geschehen würde - was denn auch oft eintraf. Eines Abends wurde eine junge Schauspielerin hysterisch und schoß einen Architekten nieder, der ihr, wie sie behauptete, untreu geworden sein sollte. Er fiel jedoch so bequem, als er »tot« niedersank, daß die Komödie sofort durchschaut wurde. Oft spielte Arne auch selbst die Hauptrolle in seinen Dramen. Eines Tages wurde z. B. eine lustige Gesellschaft durch drei fremde Herren gestört, die gekommen waren, um die Wohnung zu pfänden und zu versiegeln; Direktor Krag-Andersen hatte sein Grundstück leider dem Gerichtsvollzieher übergeben müssen. Und so brachen denn die Gäste voll kaum verhehlter Schadenfreude auf - um am nächsten Tage in Aftenposten zu lesen, daß Arne Krag-Andersen eine kleine Fabrik in Vestfold gekauft hatte - eine Barinvestition von soundso vielen Hunderttausenden. Aber dieser Abend gehörte zu seinen weniger ausgefallenen Veranstaltungen. Wir waren nur sechs Personen und hatten uns nach einem lukullischen Mahl in die tiefen Sessel vor dem Kamin sinken lassen - gerade in der rechten Verfassung für die heilige Stunde des Nachtwhiskys. Arne war wie gewöhnlich der -5-
vollkommene Wirt, höflich und aufmerksam gegen alle und in glänzender Stimmung. Neben ihm saß seine Freundin, Monika Winterfeldt, die Erbin der einen Vermögenshälfte des alten Winterfeldt und im übrigen eine verfeinerte Orchidee, das Ergebnis vieler Generationen wirtschaftlicher Unabhängigkeit. Tancred Cappelen-Jensen war auch ein echter Sohn der oberen Schicht: lang, faul und englisch gekleidet. Dank einem reichlichen mütterlichen Erbe hatte er immer das rechte Verständnis für »the importance of doing nothing« gehabt; er war unerhört träge, aber auf eine kultivierte und anziehende Art, die alle entwaffnete, ausgenommen seinen Vater. Mit ihm war seine Frau, Ebba, ein aufgewecktes Mädchen mit einem süßen, aber energischen kleinen Myrna-Loy-Gesicht. Der Fünfte im Bunde war Ebbas und Tancreds guter Freund, Kriminalschriftsteller Karsten Järn, ein junger Mann, der sich bereits so etwas wie einen Namen in der norwegischen Kriminalliteratur gemacht hatte und schon auf eine lange Reihe von Büchern zurückblicken konnte. Ich muß gestehen, daß ich nicht zu seinen fleißigsten Lesern gehörte. Ich verlange von einem Kriminalroman, daß es darin vor allem gemütlich zugehe. Der Mord hat auf einem behaglichen, alten englischen Schloß mit Golfbahn und Reitpferden - stattzufinden, in der Nähe eines idyllischen kleinen Dorfes, wo der Detektiv im Gasthaus einkehren und sich einige Seidel guten kalten Bieres einverleiben kann. Doch in Järns Büchern gibt es selten Gelegenheit zum Genuß des edlen Gebräus, oder zum Halten der Steigbügel, wenn die junge, schöne Lady Patricia St. Mawr sich in den Sattel schwingt. Über Järns Romanen liegt regelmäßig ein Hauch von Oktobernebel, öden Moorstrecken, Werwölfen und feuchtkalten Grabkellern. Sie verstehe n sicher, worauf ich hinauswill, wenn Sie Bücher wie »Der Wolfmensch«, »Die Erzählungen des Totengräbers« und »Der Moormann« gelesen haben. Übrigens ist Järn Mitglied der Gesellschaft für Psychische Forschung und wie wild hinter -6-
allem her, was der Nachtwelt angehört. Zum Schluß muß ich mich wohl selbst vorstellen: Paul Rickert, stud, jur. (Mein Studium hatte bis zu diesem Zeitpunkt etwa neun Jahre gedauert; ich habe nämlich einen ausgesprochenen Hang zur Gründlichkeit.) Über mich läßt sich nicht viel mehr sagen, als daß ich Krag-Andersens bester Freund war; diese Freundschaft hatte nach und nach dazu geführt, daß ich sozusagen seine rechte Hand wurde. Wie erwähnt, entwickelte Arne einen Hang zu großzügiger Geselligkeit, aber da er noch nicht über den roten Teppich vor der Frogner Kirche geschritten war, bedurfte er einer kundigen Hand zur Durchführung dieser Geselligkeit. Es ist so eine Sache, dafür Zeit übrig zu haben, wenn man gleichzeitig die Ölfelder bei Tampico und die Amsterdamer Börse im Auge behalten soll. Andererseits kann man eine so anspruchsvolle Aufgabe nicht einer phantasielosen Haushälterin überlassen. Hier sprang ich also ein. Ich habe nämlich immer ein ausgesprochenes Organisationstalent für Festlichkeiten aller Art und für die Herbeischaffung fehlender Damen und Herren im letzten Augenblick gehabt. Nach und nach nahm ich einen wesentlichen Teil des Privatlebens meines Freundes in die Hände. Ich war es, der die Getränke beschaffte, die Menüs zusammenstellte; der dafür sorgte, daß die Eisschränke immer wohlgefüllt waren; und ich war es, der die letzte Hand an das Tischarrangement legte, der Köchin Anweisungen erteilte und die Stubenmädchen anstellte und entließ. Als Arne anfing, sich Monika zu widmen, war ich es, der Blumen und Bonbonnieren kaufe n mußte, und oft geschah es sogar, daß ich mit ihr ausgehen mußte, wenn Arne auf einer wichtigen Konferenz war oder eine Geschäftsreise unternahm. Wie gewöhnlich hatte ich auch an diesem Abend alle Einzelheiten arrangiert; er selbst tat nie etwas anderes, als die traditionelle Überraschung zu organisieren, die gleichsam zu seinen Gesellschaften gehörte. -7-
Auch diesmal hatte er mit einer Überraschung aufzuwarten, doch war es eine nicht besonders aufregende Sache - von der Art, mit der auch gewöhnlichere Sterbliche ihre Gäste zu unterhalten pflegen. Während jedoch ein Durchschnittsmensch schon beim Empfangscocktail mit der »Sensation« herausgeplatzt wäre, wartete Arne, bis wir in Ruhe und Gemächlichkeit in den tiefen Sesseln saßen und das große Wohlbehagen auf uns niedersinken ließen. »Wenn ich euch heute abend hierher gebeten habe«, begann er - »so geschah das natürlich vor allem, weil ich gern die alte Garde um mich versammelt sehe. Doch habe ich noch ein anderes Motiv, ich möchte ein Ereignis feiern. Ich bin Gutsbesitzer geworden. Heute vormittag schloß ich den Kauf eines größeren Grundbesitzes ab - fast eine Art Herrenhof drunten im Sörland. Eigentlich sollte ja der Tag auf dem Gut gefeiert werden, da aber vierhundert Kilometer eine ganz hübsche Entfernung sind, hoffe ich, ihr werdet entschuldigen, wenn wir die Feierstunde in aller Bescheidenheit hier zelebrieren.« »Du willst doch wohl nicht sagen, daß es noch Häuser gibt, die du nicht gekauft hast?« sagte Tancred lächelnd. »Ich glaubte, ganz Norwegen gehörte dir.« »Wo liegt denn dein Hof?« warf Ebba ein. »In der Nähe von Kragerø, hoffe ich?« »Ziemlich weit westlich«, erklärte Arne. »Draußen an der Vest-Agder-Küste. Nicht weit von der kleinen Stadt Lillesund auf einer Halbinsel, die Heilandet heißt.« »Was sagst du da?« entfuhr es Järn. »Heilandet? Dort habe ich ja auch ein Haus. Dann werden wir ja Nachbarn?« Ich wühlte in meinem Unterbewußtsein. Was hatte ich doch neulich über Heilandet gehört oder gelesen? Mit diesem Namen verband sich etwas seltsam Bekanntes. Monika hatte offenbar das gleiche Gefühl, denn sie fragte gleich: -8-
»Heilandet? Woher kenne ich nur den Namen? Ich glaube fast, daß ich mich vor gar nicht so langer Zeit schon einmal damit befaßt habe.« »Das kann sein. Du hast vermutlich die merkwürdige Geschichte von dem verlassenen Schiff gelesen«, sagte Järn. »Direkt vor Heilandet war ja der estnische Frachter ›Tallin‹ gegen Neujahr aufgefunden worden.« Nun entsann ich mich auch. Zwischen Weihnachten und Neujahr hatte ein heftiger Sturm an der Südwestküste gewütet, und eines Morgens in der Dämmerung hatten einige Fischer einen Dampfer entdeckt, der steuerlos eine Meile vor Heilandet dahintrieb. Als man an Bord ging, zeigte sich, daß das Schiff verlassen war; die gesamte Besatzung war verschwunden. Abgesehen von einem kleineren Leck hatte das Fahrzeug jedoch keinen besonderen Schaden erlitten und ließ sich ohne Schwierigkeit nach Lillesund einschleppen. Selbstverständlich wurden sofort Nachforschungen nach der verschwundenen Besatzung angestellt, doch ohne jedes Ergebnis. »Das sogenannte ›Tote Schiff‹ der Zeitungen«, sagte Arne. »Ja, ich hörte davon, als ich hinüberfuhr, um mir den Hof anzusehen. Die Bevölkerung dieser Gegend ist sehr abergläubisch und hat sich irgendeine komische Theorie in Verbindung mit einer hundert Jahre alten Sage zurechtgebastelt.« »Was für ein Haus hast denn du da draußen, Karsten?« fragte Monika. »Eine kleine Fischerhütte direkt an der See«, antwortete Järn. »Ich pflege mich dort aufzuhalten, wenn ich Ruhe haben will. Ich darf wohl sagen, daß ich die Verhältnisse dort recht gut kenne. Und was das estnische Schiff betrifft, so hege ich nicht den geringsten Zweifel, daß die Küstenbevölkerung mit ihrer Auffassung recht hat.« »Und worauf geht die hinaus?« fragt Ebba. An ihrer Myrna-9-
Loy-Nase bildeten sich einige ironische Fältchen. »Sie geht kurz darauf hinaus, daß die ›Tallin‹ von einem Gespensterschiff gekapert worden ist«, erklärte Järn. »Genauer gesagt: von dem Kaperschiff›Krebs‹, das von Kapitän Jonas Korp geführt wird.« »Aber was ist denn eigentlich ein Gespensterschiff?« fragte ich. »Meinst du, daß dort eine Art moderne Seeräuberfregatte operiert?« »Nein, ich meine ein wirkliches Gespensterschiff. Das Fahrzeug, von dem ich rede, ist weit über hundert Jahre alt.« Järn wandte sich an Arne: »Du bist ja in Heilandet gewesen und hast daher zweifellos die Geschichte des Kapitäns Jonas Korp gehört, der einen Pakt mit dem Teufel schloß, um sich und sein Schiff zu retten?« Järn war ganz ernst; nicht die Andeutung eines Lächelns war in seinem Gesicht zu finden. Aber wir anderen waren ja in dieser Richtung einiges von ihm gewohnt. »Das ist schon möglich«, räumte Arne ein. »Aber ich kann nicht gerade behaupten, daß ich dieser Geschichte besonderes Gewicht beigemessen hätte. Daher glaube ich, du wirst sie uns erzählen müssen.« »Ja, erzähl«, rief Monika aus. »Ich liebe Spukgeschichten.« Es war Järn deutlich anzumerken, daß er die Situation genoß. Er ließ sich tief in den Sessel zurücksinken und nippte nachdenklich an seinem Whiskyglas. »Wie angedeutet, liegt der Ausgangspunkt dieser Geschichte in der Kaperzeit«, begann er. »Also in den schwierigen Jahren von 1807 bis 1814, als Norwegen mit England im Kriege lag. Von norwegischer Seite wurde der Krieg in erster Linie als Kaperkrieg geführt, d. h. Priva tpersonen rüsteten Seeräuberschiffe aus und erhielten einen sogenannten Kaperbrief, worauf sie auszogen und englische Handelsschiffe plünderten. Schiffe und Ladungen fielen außer einer Abgabe an -10-
die Staatskasse an Kapitän und Besatzung. Die Folge war, daß viele der Kaperkapitäne sich im Laufe kurzer Zeit große Vermögen erwarben. Die meisten der norwegischen Kaperkapitäne waren in Sörland zu Hause, vor allem im Küstengebiet westlich von Kristiansand. Die Schiffswerften der Sörlandstädte arbeiteten Tag und Nacht, und die ganze Gegend erlebte eine einzigartige Hochkonjunktur, während das Wirtschaftsleben überall sonst im Lande von der Blockade gelähmt war. Nach Sörland wurden auch die meisten Prisen eingebracht, und die ganze Vest-AgderKüste wurde mit englischen Luxuswaren, kostbaren Stoffen usw. überschwemmt. - Na, dies alles gehört ja zum Mittelschulpensum des norwegischen Geschichtsunterrichts. Kommen wir zur Sache. Einer der kühnsten Kaperkapitäne war ein Schiffer von Heilandet namens Jonas Korp. Schon im Jahre 1807 rüstete er die Schaluppe ›Krebs ‹aus, verschaffte sich einen Kaperbrief und unternahm eine Reihe waghalsiger Fahrten kreuz und quer durch die Nordsee. Immer hatte er Glück; schon auf seinem ersten Raubzug kaperte er zwei große britische Handelsschiffe, und nach ein paar Jahren war er einer der reichsten Männer dieses Landesteils. Doch es erging ihm wie dem alten König Midas; der Reichtum brachte ihm kein Glück. Er fand fast keinen Schlaf. Wenn er an Land war, erfüllte ihn eine unbezähmbare Rastlosigkeit, unruhig ging er in seinem Zimmer auf und ab oder stand am Fenster und spähte über das Meer hinaus. Heimlich ging das Gerede, daß es nicht immer mit rechten Dingen zuginge, wenn die ›Krebs‹ hinauszog. Man hörte Gerüchte von falschen Flaggen und gebrochenen Versprechen und von einem Schiff, das sogar an einem heiligen Weihnachtstag gekapert worden sei. Es wurde erzählt, daß Korp nicht nur feindliche Schiffe kaperte, sondern auch neutrale, ja sogar dänische Schiffe hatten vor der ›Krebs‹ die Flagge streichen müssen, und die -11-
ganze Besatzung hatte über die Planke springen müssen, damit es keine Zeugen des Verbrechens gäbe. Andere meinten, daß der Goldhunger den Kapitän an Land nicht zur Ruhe kommen ließe, sondern ihn immer wieder aufs Meer hinaustriebe, neue Schiffe zu plündern. Jedenfalls war es so, daß die Leute ihm nach Möglichkeit aus dem Wege gingen, und selbst seine eigene Mannschaft lebte in ständiger Angst vor ihm. Im Grunde hatte er nur einen einzigen Freund: eine riesige schwarze Katze, die immer bei ihm war und ihn auf allen Raubfahrten mit der ›Krebs‹ begleitete. Die Katze saß ihm entweder auf der Schulter oder rieb sich behaglich an seinen Stiefeln, und wenn er an Land war, folgte sie ihm wie ein Hund. Der einzige Mensch, mit dem sich Korp näher einließ, war ein Mann namens Jörgen Uhl, ein ehemaliger Pfarrer, der wegen einiger skandalöser Weibergeschichten seine Pfarrei hatte verlassen müssen. Es wurde behauptet, daß er sich gut auf die magischen Wissenschaften verstehe, und die Bevölkerung von Heilandet glaubte, daß er sich der Schwarzen Kunst bediene, um sich die Frauen gefügig zu machen und sie in die Gewalt des Teufels zu bringen. Es wurde sogar von Hexensabbaten gemunkelt, die auf dem Pfarrhof stattgefunden haben sollten. Zum Schluß wurde er tatsächlich entlarvt und zog es vor, mit der ›Krebs‹ in See zu stechen - als einfacher Kapergast. Auf Grund seiner Gerissenheit und seiner magischen Künste wurde er bald zweiter Mann an Bord und Korps rechte Hand. Es hieß, daß die ›Krebs‹ nicht zuletzt wegen Uhls magischer Künste das Glück immer auf ihrer Seite hatte und ihre Fahrten fortsetzen konnte, während andere Kaperschiffe von britischen Kriegsschiffen aufgebracht wurden und die Seeräuber auf dem Grunde der Nordsee oder im Gefängnis endeten. Doch schließlich sah es so aus, als ob auch die ›Krebs‹ von ihrem Schicksal ereilt würde. An einem Sommertag des Jahres 1812 kam die Schaluppe mit einer großen englischen Korvette -12-
ins Gefecht, und nach einem viertelstündigen Feuerwechsel sah es an Bord der ›Krebs‹ schlimm aus. Die Segel hingen in Fetzen, mehrere Besatzungsangehörige waren getötet, und das Schiff begann zu sinken. Außerdem hatten sie den größten Teil ihrer Munition verschossen und konnten das Feuer der Engländer bald nicht mehr erwidern. Während des ganzen Kampfes hatte Uhl sich unter Deck gehalten; er hatte sich in der Kajüte eingeschlossen; niemand durfte ihn stören. Nun hörte man, wie er mit einer seltsam heiseren Stimme nach Korp rief, der sofort zu ihm hinunterging, nachdem er das Kommando eine m Dritten übergeben hatte. Es verging eine gute Weile, ehe sich der Kapitän wieder zeigte. Inzwischen war die Lage hoffnungslos geworden; die Engländer hatten bereits zwei Enterboote ausgesetzt. Aber gerade als der Stellvertreter Korps auf eigene Initiative die Flagge streichen wollte, tauchten Korp und Uhl plötzlich wieder an Deck auf. Beide hatten leichenblasse Gesichter, doch strahlte eine merkwürdige dunkle Kraft aus ihren Augen. Und im gleichen Augenblick geschah das Wunder: ohne daß ein Schuß von der ›Krebs‹ gelöst worden wäre, flog die englische Korvette in die Luft; sie wurde völlig pulverisiert. Der Sage nach sollen sich Korp und Uhl an diesem Tage dem Teufel verschrieben haben. Ihnen wurde aus der Patsche geholfen, und sie mußten sich dafür verpflichten, auf ewig als fliegende Holländer über das Meer zu fahren und jedes siebente Jahr ein Schiff für den Satan zu kapern; d. h. sie sollten ihm die Seelen des Schiffes bringen. Mit Hilfe seiner magischen Kräfte gelang es Uhl, auch die Mannschaft mit in den Pakt zu zwingen - alle, mit Ausnahme eines Mannes, der über Bord sprang und von Fischern gerettet wurde, nachdem er sich acht Stunden lang über Wasser gehalten hatte. Und der Sage nach soll die ›Krebs‹ nicht gesunken sein, sondern bis auf den heutigen Tag auf dem Meere segeln. Seither geht in jedem siebenten Jahr in der Nordsee ein Schiff unter geheimnisvollen Umständen verloren, -13-
und selbst wenn das Wrack gefunden wird, findet man doch nie eine Spur von der Mannschaft. Und im Winter, wenn es gegen Neujahr geht und stürmt und Schiffe in Seenot kommen, dann pflegen die Leute der Vest-Agder-Küste zueinander zu sagen: ›Nun ist die ›Krebs‹ unterwegs, um die Seelenschuld für den Bösen einzulösen‹.« Järn lehnte sich im Sessel zurück und zündete sich eine Zigarette an. Er hatte mit tiefer, monotoner Stimme gesprochen; hatte die ganze Zeit dagesessen und in die Flammen gestarrt, als ob er diese Bilder darin sähe. Ein Scheit platzte, und eine hohe, flache Flamme fuhr wie ein Feuersegel empor; einen Augenblick lang sah es aus wie ein brennendes Schiff. Ein etwas drückendes Schweigen lag im Raum; es wurde von Tancred gebrochen, der die ganze Zeit mit einem leisen Lächeln im Mundwinkel dagesessen hatte. »Das war natürlich eine interessante Geschichte«, sagte er trocken. »Und ich räume ein, daß sie sich in einem deiner künftigen Kriminalromane zweifellos gut ausmachen würde. Nicht wahr: die alte, unheimliche Sage, die in der wohligen Kaminecke im ersten Kapitel erzählt wird, während der Oktoberregen gegen die Fenster peitscht? Ja, das ist ganz ausgezeichnet. Aber, Hand aufs Herz: glaubst du etwa selbst daran?« »Selbstverständlich«, antwortete Järn unangefochten. »Ich halte mich für einen einigermaßen aufgeklärten Menschen. Ich teile nicht den modernen Aberglauben, der Materialismus heißt.« »Natürlich gehen hin und wieder in der Nordsee Schiffe verloren«, warf Arne ein, »ohne daß man deswegen im Hexeneinmaleins nachzuschlagen braucht, um eine Erklärung dafür zu finden. Willst du vielleicht behaupten, daß dein Kaperschiff jemals gesehen worden sei?« Järn nickte. -14-
»Ja, das ist es eben. Es gibt Leute, die das Schiff gesehen haben.« »Das sind zweifellos dieselben Leute, die auch die Seeschlange gesehen haben«, erklärte Tancred. »Ich selbst habe einen dem Alkohol verfallenen Freund, der einmal alle seine Bekannten auf einem weißen Krokodil den Drammensvei hinunterreiten sah. Er hatte offenbar gute Anlagen für die okkulten Wissenschaften.« »Nein, gehen wir doch einmal auf den Gesichtspunkt unseres Freundes ein«, schlug ich vor. »Was für Leute haben die ›Krebs‹ gesehen? Schiffsbesatzungen in Seenot?« »Das wäre naheliegend«, sagte Järn. »Aber die Fälle, von denen ich weiß, gehören in einen anderen Zusammenhang. Die ›Krebs‹ hat nämlich nicht nur einen Auftrag; sie beschäftigt sich nicht allein damit, Handelsschiffe im Wintersturm zu jagen; sie hat auch noch andere Aufgaben. Aber das ist eigentlich eine andere Geschichte.« »Erzähl die auch«, bat Monika. »Das heißt ja tauben Ohren predigen, aber sei es drum. Wie erwähnt, wurde Korp bald ein sehr reicher Mann. Und für einen Teil seines Geldes baute er sich schon in den ersten Jahren ein großes Haus. Aber er ließ sich nicht in Lillesund nieder wie die anderen Fischer, die durch die Kaperkonjunktur steinreich geworden waren. Er ließ sein Haus in Heilandet bauen, auf einem besonders öden Abschnitt der Küste - zwischen nackten, wilden Felsen mit dem Blick aufs Meer. Er ließ den Bau prächtig einrichten, vor allem mit Dingen, die er sich von gekaperten Schiffen angeeignet hatte. Darunter befand sich auch eine Anzahl kostbarer Gemälde, die er von einem Schiff genommen hatte, das sie für einen namhaften britischen Kunsthändler expedieren sollte. Diese Dinge waren sogar zu einer Zeit gekapert worden, als Kaperfahrten verboten waren und die meisten britischen Schiffe unter freiem Geleit -15-
fuhren; es war also glatter Seeraub. Wie dies alles nach Heilandet auf den Kaperhof gekommen war, wußte niemand zu sagen, jedenfalls war es nicht über das Prisengericht in Lillesund oder Kristiansand gegangen. Korp liebte diese Kunstschätze, und nachts, wenn er nicht schlafen konnte, ging er oft von Zimmer zu Zimmer durch das ganze Haus und bewunderte seinen Reichtum. Hin und wieder begleitete Jörgen Uhl ihn auf diesen nächtlichen Wanderungen, doch in der Regel war er allein - ohne andere Gesellschaft als der seiner großen, schwarzen Schiffskatze. Kurz bevor er auf seine letzte Fahrt mit der ›Krebs‹ hinausfuhr - d. h. auf die angeblich letzte Fahrt -, hinterließ er ein seltsames Testament. In diesem Dokument vermachte er das Haus und sein gesamtes Vermögen seinem Neffen, Ole Dörum. Doch stellte er die ausdrückliche Bedingung, daß niemals irgendeine Veränderung an dem Haus vorgenommen werden dürfe. Nichts sollte angebaut und nichts sollte abgerissen werden, und jedes Stück Möbel, jeder Teppich und jedes Gemälde sollte dort bleiben, wo es sich befand. Falls die Bewohner des Hauses gegen dieses Gebot verstießen, sollte sie ein Fluch in Gestalt eines Unfalls oder Todesfalles treffen. Im Falle einer wesentlichen Veränderung aber wü rde Korp selbst mit der ›Krebs‹ zurückkehren, an Land gehen und fürchterliche Rache üben.« Järn machte eine wirkungsvolle Kunstpause und nahm einen neuen Schluck aus dem Whiskyglas. Es war, als ob er seine eigene Geschichte abschmecke. Dann fuhr er fort: »Fest steht jedenfalls, die Bevölkerung von Heilandet glaubt blind daran, daß dieser Fluch immer noch wirksam ist, und sie kann viele Geschichten erzählen, die diesen Glauben zu bekräftigen scheinen. Schon Korps erster Erbe, der Neffe, versuchte im Jahre 1825 einige Möbel zu verkaufen, starb aber plötzlich an einem Herzschlag, bevor es zum Abschluß kam. In den achtziger Jahren wollte einer der Nachkommen den -16-
Westflügel des Hauses umbauen, doch wurde er unter dem zusammenbrechenden Gerüst begraben, und der Umbau wurde aufgegeben. Gegen die Jahrhundertwende stürzte einer der Bewohner so unglücklich, daß er mit der Hand durch eine Fensterscheibe fuhr und diese zerbrach. Im Laufe von vierundzwanzig Stunden starb er an Blutvergiftung. Und als ein Bruder des jetzigen Besitzers vor zwanzig Jahren einer Reparatur wegen auf das Dach kletterte, verlor er plötzlich das Gleichgewicht und brach sich das Genick. Für die Augenzeugen sah es so aus, als ob er plötzlich aus dem Gleichgewicht gestoßen worden sei. Jedesmal, wenn etwas Derartiges geschah, hieß es, daß man in der folgenden Nacht die Umrisse eines Schiffes draußen im Meeresnebel gesehen habe. Ich habe selbst mit einem alten Fischer dort gesprochen, Morten Prebensen, der darauf schwört, daß er diesen Anblick als Junge erlebt habe - als er einmal mit seinem Vater zum Fischen draußen war. Seine Beschreibung paßt genau auf die alten Kaperschaluppen; das Fahrzeug bewegte sich mit großer Geschwindigkeit und wirkte, als ob es aus Nebel gemacht sei. Es ist verständlich, daß die Bevölkerung dieses Haus wie die Pest fürchtet, und die dort wohnen, wagen kaum etwas anzurühren, kaum, daß sie den Flur scheuern oder die Möbel abstauben. Es ist, als habe der alte Korp einen unsichtbaren Wächter auf dem Hof eingesetzt, ein Wesen, das acht gibt, daß nichts verändert wird, und das blitzschnell zuschlägt, wenn jemand sich über diese Anordnung hinwegsetzt.« Järn beugte sich vor und warf den Zigarettenstummel in den Kamin. Dies war die schlimmste Massenanhäufung von Phantasterei, die ich jemals aus seinem Munde gehört hatte - und das will nicht wenig besagen. Ich hatte ihn sehr im Verdacht, daß er zumindest die Hälfte der Geschichte selbst hinzugedichtet habe. Alles in allem hatte ich oft den Eindruck gehabt, daß Järn nicht wenig von einem Schauspieler hatte; es ist ja undenkbar, daß -17-
man in unserem vortrefflichen Jahrhundert - mit Elektrizität, Flugzeugen, Demokratie und allgemeiner Schulpflicht - einem solchen geistigen Mittelalterdunkel verfallen kann. »Bist du selbst in diesem Spukhaus gewesen?« fragte ich. »Nein, leider nicht. Ich würde viel darum geben, wenn ich einmal dort übernachten könnte. Aber ich habe es sehr genau von außen studiert; es wirkt seltsam anziehend, wie ein riesiger grauer Felsblock, der sich dem Seewind entgegenstemmt. Und es ist etwas Eigenes um diese Mauern und Fenster, sie leben, sie strahlen förmlich böse Geheimnisse aus. Man muß unwillkürlich an Poes Novelle ›The House of Usher‹ denken. Herrgott, welch ein wunderbarer Platz! Aber man kommt dort nicht hinein, der Hof wird von einem alten, unzugänglichen Sonderling bewohnt.« »Von wem?« »Eivind Dörum, dem Letzten seines Stammes. Fast ein Halbidiot - alle, die längere Zeit auf dem Kaperhof gewohnt haben, werden bestenfalls Halbidioten. Er duldet niemand anderen als seine Haushälterin in der Nähe. Übrigens gibt es wohl niemanden - außer mir selbstverständlich -, der ein besonderes Interesse daran hätte, in seinen geheiligten Bezirken herumzuschnüffeln; die Bevölkerung schlägt einen ziemlich großen Bogen um das Haus.« Arne hob die Hand. »Einen Augenblick«, sagte er. »Hier muß ich dich berichtigen. Der Kaperhof gehört nicht mehr dem alten unzugänglichen Sonderling Eivind Dörum. Von heute an gehört er einem weit liebenswürdigeren und gastfreieren Mann, nämlich dem bekannten Direktor Arne Krag-Andersen aus Oslo. Meine Damen und Herren, es ist meine Übernahme des Kaperhofs, die wir im Augenblick feiern.« Das war ein typischer Krag-Andersen-Effekt! Selbstverständlich war er sich seit langem darüber klar, daß Järn -18-
ein Haus in Heilandet besaß, und kannte auch die Kapersage. Er hatte unseren phantasievollen und nichtsahnenden Freund ermuntert, die Geschichte zu erzählen, um darauf selbst den wirkungsvollen Punkt aufs I zu setzen. Wir anderen hoben spontan die Gläser und erwiesen ihm unsere vorbehaltlose Huldigung. Järns Gesicht leuchtete auf wie eine Sonne. »Das ist doch zu schön, um wahr zu sein«, rief er aus. »Du willst doch nicht sagen, daß -?« »Ja, gewiß. Selbst alte Sonderlinge sind nicht so unzugänglich, wenn ihr Grundstück bis zum Dachfirst verschuldet ist und sie einfach Konk urs gemacht haben. Ich bekam den Hof unverhältnismäßig billig - mit all seinen Kunstwerken und prachtvollen alten Möbeln ist er ein Vermögen wert -, und das Komische war, daß ich beim Kauf keine Konkurrenten hatte. Järn hat recht: die Leute dort meiden das Haus wie die Pest. Der Alte war in einer Zwangslage; er mußte das Haus mit allem Inventar verkaufen, er riskierte nicht den Versuch, sich etwa durch Versilbern der Gemälde aus der Klemme zu ziehen; dann hätte ihn ja Jonas Korps Rache ereilt! Und somit bin ich also der stolze Besitzer des imposantesten Spukhauses unseres Landes; Dörum hat sogar auf das Rückkaufsrecht verzichtet.« Arne stand jetzt offensichtlich ein wenig unter dem Einfluß des Whiskys. Er lehnte sich mit einer Miene im Sessel zurück, als ob er gerade Rockefeller aus dem Ölmarkt geschlagen hätte. »Übrigens habe ich ziemlich profane Absichten; ich gedenke die dunklen Mächte herauszufordern und werde den Kaperhof einfach in ein Sommerhotel umgestalten. Was meint ihr dazu? Im Sommer ist es - trotz Järns Schilderungen - herrlich in Heilandet; es ist ein jungfräuliches Land mit vielen Möglichkeiten. Im Laufe von fünf Jahren kann ich dort einen kleinen Badeort schaffen. Ich werde in der Times inserieren, mein Hotel sei ein altes Spukhaus, das die geheimnisvollsten schottischen Burgen bei weitem übertrifft; die englischen -19-
Touristen werden wie ein Heuschreckenschwarm kommen...« »Das ist ja eine recht ausgefallene Idee«, sagte ich, indem ich Järn einen schnellen Seitenblick zuwarf. Sein Gesichtsausdruck hatte sich völlig verändert, er sah aus, als ob er seinen eigenen Ohren nicht traue: was war dies für eine ungeheure Blasphemie? »Ach so, das ist also dein Plan«, sagte er mit Nachdruck. »Ich glaube, den solltest du lieber nicht durchführen. Du würdest selbst von Jonas Korps Rache getroffen werden.« Arne brach in ein herzliches Gelächter aus. »Jonas Korp soll ein willkommener Gast in meinem Hause sein«, erklärte er. »Meine Tür wird dem alten Seeräuber immer offenstehen. Und ich werde eigens eine Landungsbrücke für die ›Krebs‹ anlegen lassen. Will Jörgen Uhl Hexensabbate veranstalten, so werde ich für die bezauberndsten Hexen sorgen, die in Oslo zu finden sind. Tullik und Mosse und Bibben und Vivi. Trinken wir auf die alten Piraten, daß es ihnen bei uns nie an etwas mangeln möge. Wir wollen sie an unsere Brust drücken! Prost!« Järn schüttelte den Kopf. »Du bist ein Barbar«, sagte er. »Oder noch schlimmer: du bist zivilisiert. Du bist ein Produkt der modernen Zivilisation, die den Tempel durch die Börse und die Kathedrale durch den Ölturm ersetzt hat. Du glaubst nicht an übernatürliche Mächte, bewahre; du hast das Handelsgymnasium absolviert, du bist ein aufgeklärter Mensch. Aber ich warne dich! Es könnte dir ergehen wie jenem dänischen Schriftsteller, der nach dem vierzehnten Glas Pernod das Gravitationsgesetz leugnete. Er demonstrierte seine Überzeugung, indem er zum höchsten Fenster des Runden Turms hinausspazierte. Ich will dir verraten, daß er sich den Hals brach.« Es lag ein erstaunlich verbissenes Pathos in Järns Stimme. Dann leerte er sein Whiskyglas auf einen Zug. Als er das Glas niedersetzte, schien es, als habe ihn der Alkohol ein wenig -20-
besänftigt. Er fuhr in freundlicherem Tone fort: »Du bist im schlimmsten Sinne des Wortes ein Amerikaner, Arne. Du würdest die Notre Dame in Paris kaltblütig in eine Fabrik für grüne Seife umwandeln. Und nun dies mit dem Kaperhof! Ich warne dich. Du bist ein Tempelschänder, ein Wandale, ein... nein, es gibt wirklich äußerst wenig, was zu deinen Gunsten spricht. Ja, übrigens, etwas doch, etwas sehr Wichtiges...« Zu diesem Zeitpunkt hatte unser Freund, der Kriminalschriftsteller, endgültig die Eisenmaske fallenlassen. Sein Gesicht löste sich in einem großen Lächeln: »Es läßt sich wirklich nicht leugnen, daß du einen ganz ausgezeichneten Whisky führst.«
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ZWEITES KAPITEL Eine schwarze Katze von ungewöhnlicher Größe Mir war, als hätte Arnes Stimme einen merkwürdigen Unterton, als er mich eines Augustabends anrief und mich bat, zu ihm zu kommen. Die Art, wie er sprach, wirkte irgendwie angestrengt, so, als ob er eine Gräte im Halse hätte. Nun, vielleicht litt er noch an den Nachwehen eines feuchtfröhlichen Abends... Er war drei Wochen verreist gewesen und hatte sich in Heilandet aufgehalten, teils, um Ferien zu machen, teils, um die Umgestaltung des Kaperhofs vorzubereiten. Soviel ich wußte, hatte er das Haus seit unserem Abend im Februar schon einige Male besucht, doch war dies das erste Mal, daß er dort länger wohnte. In der Zwischenzeit hatte ein Verwalter den Hof betreut. Monika saß bei ihm, als ich kam. Während Arnes Abwesenheit waren wir sehr viel zusammen gewesen - in allen Ehren natürlich; man soll bekanntlich nicht begehren seines Nächsten Weib, Ochsen, Esel, Gesinde oder was sonst sein ist. Aber wir hatten einige recht muntere Wochen miteinander verbracht und einen prächtigen freundschaftlichen Kontakt gefunden. Wir waren allen möglichen und unmöglichen Einfällen gefolgt: hatten mit dem Kajak um die Wette gerudert, waren als Mary und Lorang verkleidet in die finstersten Kneipen des Ostends gegangen, hatten herzlich gelacht bei den ernsten Stellen der Festvorstellung des Nationaltheaters und erlebten mit Arnes Sechs-Meter-Jacht vor Dröbak eine vollkommene Havarie. In den leichtberauschten Morgenstunden hatten wir uns den Weg nach Majorstuen abgekürzt, indem wir durch den -22-
Untergrundbahntunnel gingen und uns jedesmal in den Nebentunnel stürzten, wenn die Holmenkollbahn mit Nilpferdgebrüll vorbeibrauste. Aber wir hatten auch philosophische Spaziergänge unternommen und über Abgründiges gesprochen. Ich hatte das Gefühl, daß Monika eine Art Verwandlung in diesen Wochen durchmachte; offensichtlich wollte sie sich von irgend etwas befreien; sie legte kein Gewicht mehr auf ein würdiges, ladylikes Wesen. Ich entdeckte, daß sie eine Menge Humor besaß; sie konnte plötzlich den Kopf zurückwerfen und förmlich mit Trompetenstößen aus vollem Halse lachen. Es war, als ob die blasse, verfeinerte Orchidee im Begriff sei zu verschwinden, um einer wilden Heckenrose Platz zu machen. Ich war etwas enttäuscht, als ich feststellen mußte, daß sie in Arnes Gegenwart ganz in den alten, vornehmen Stil zurückgefallen war. Das Ganze war also nur ein Intermezzo gewesen; nun verschloß sie sich wieder, sie hatte sich ausgetobt. Aber sie war entzückend anzusehen in ihrem geblümten dünnen Sommerkleid, ich fühlte mich an Botticellis »Frühling« erinnert. Nur daß Botticelli ein weit schwächerer Künstler war als der Herrgott. Mein Freund Arne war dagegen nicht so lieblich anzusehen. Sein Gesicht war grau und müde, und unter seinen Augen lagen auffällige dunkle Ringe. Das war kaum eine Folge des Alkohols; Arne war immer ein wahrer Dorian Gray gewesen, was seine Unberührtheit von äußeren Spuren seines Lebenswandels betraf. Aber er hatte zweifellos Sorgen. »Hallo, Alter«, sagte ich. »Leidest du an großem Weltschmerz? Du sieht aus wie ein Vegetarier. War die Reise ein Mißerfolg?« Arne deutete gebieterisch auf einen Sessel. »Nimm Platz«, sagte er. »Mix dir ein Getränk nach eigenem Geschmack. Leider bin ich heute nicht ganz in Form. Dieses -23-
verdammte Haus macht mir graue Haare.« »Der Kaperhof?« »Jawohl - richtig geraten. Wenn ich nicht so amerikanisch nüchtern wäre, hätte ich mich schon längst freiwillig als Mitglied der Gesellscha ft für Psychische Forschung eingetragen.« »Du willst andeuten, daß du Gespenster gesehen hast?« »Hätte ich sie wenigstens gesehen. Trotz allem ist doch etwas Reelles und Gutmütiges an einem alten, melancholischen in Laken gehüllten Skelett. Aber dies hier - pfui Teufel. Es ist geradezu unanständig, auf diese Art zu spuken.« Seine Stimme klang nicht überzeugend munter. »'raus mit der Sprache, Arne, Du weißt, ich bin ein feinhöriges Auditorium.« Er schob das Glas beiseite und beugte sich über den Tisch zu mir vor. »Hör zu, Paul. Du kannst bezeugen, daß ich keine alte Dame bin. Ich habe immer damit angegeben, daß der liebe Gott vergessen hätte, mir Nerven in den Körper zu legen, als er mich schuf. Jedenfalls stimmte das im Geschäftsleben und bei physischen Gefa hren. Und ich habe, so wahr mir Gott helfe, nie an andere Gespenster geglaubt, als an den Staat und das Finanzamt. Kannst du da verstehen, daß ein solcher Blödsinn einen aus dem Konzept bringt?« »Aber mein Lieber, komm nur erst mit der Geschichte heraus, dann werden wir sehen, was Onkel für dich tun kann. Du gehst ja wie die Katze um den heißen Brei.« »Also schön. Hier hast du ein kurzes Resümee meiner Erlebnisse. Ich habe sie bereits Monika geschildert, und sie haben nicht den geringsten Eindruck auf sie gemacht.« »Arne ist reif für eine Nervenklinik«, erklärte Monika. »Oder sollen wir lieber sagen ein Trinkerheim?« -24-
Ich spitzte die Ohren. War es denkbar, daß ihr Ton ihm gegenüber sich abgekühlt hatte? Oder war es nur die Ironie als Deckmantel schamhafter Liebe? »Also«, fuhr Arne unberührt fort, »die Geschichte fängt damit an, daß ich in Lillesund einige Handwerker aufsuchte, damit sie das Haus instand setzen; ich mußte die größten Anstrengungen machen, um sie zum Mitkommen zu bewegen. Unter anderem war das berühmte zerbrochene Fenster noch nicht repariert; es war seit der Jahrhundertwende unberührt geblieben, als es - du entsinnst dich an Järns Bericht? - durch einen unglücklichen Zufall von einem Bewohner des Hauses eingestoßen wurde, der dann an Blutvergiftung starb. Niemand hatte seither gewagt, das Fenster zu berühren - nicht einmal mein Verwalter Ludvigsen übrigens auch ein ziemlich abergläubischer und verängstigter kleiner Trottel, aber ich konnte keinen besseren finden. Genug davon. Ich nehme also einen Glasermeister mit hinauf in das Zimmer im ersten Stock, wo das Fenster eingeschlagen ist. Nebenbei bemerkt, war dies das Schlafzimmer des alten Kapitäns Korp; die Wände sind mit einer infernalisch gelben Farbe gestrichen - ›Das gelbe Zimmer‹, das klingt wie der Titel einer Novelle von Poe, nicht wahr? -, und alles steht noch genau wie zur Zeit des Kaperkapitäns. Vor diesem Zimmer haben die Leute die größte Angst - und nicht ohne Grund, wie du bald verstehen wirst. Also: mein Freund, der Glasermeister, steht am Fenster und entfernt die Glasscherben; ich selbst stehe ein paar Meter hinter ihm und genieße die schöne Aussicht über das Meer und die Schären. Es war am hellen Vormittag, und es wäre mir nie eingefallen, an dunkle, übernatürliche Mächte zu denken. Da geschieht es plötzlich: Der Mann hat gerade die neue Scheibe aufgenommen und sich auf die Fensterbank gesetzt, um das offene Fenster heranzuziehen, da geht ein spürbarer Ruck durch seinen Körper, als ob eine unsichtbare Hand ihm einen kräftigen Stoß in den Rücken versetzt habe. Er greift mit der freien Hand -25-
nach vorn, findet aber keinen Halt und stürzt mit einem herzzerreißenden Schrei hinaus. Gott sei Dank hatte ich die Geistesgegenwart, mich mit einem Tigersprung nach vorn zu werfen und ihn an den Fuß gelenken zu packen. Die Fensterscheibe fällt hinaus und zersplittert unten, aber ich konnte ihn wenigstens wieder ins Zimmer hineinziehen. Verständlicherweise war der Mann fast besinnungslos vor Schreck, er war sich selbstverständlich darüber klar, daß nic ht ich ihm den Stoß versetzt hatte, aber das macht die Situation ja nicht gerade angenehmer. Kaum hat er seine fünf Sinne wieder einigermaßen beieinander, nimmt er ziemlich kühl Abschied von mir und begibt sich auf den Weg nach Lillesund, den er vermutlich in Rekordzeit zurücklegt. Du wirst vielleicht verstehen, wenn ich sage, daß diese Episode nicht ganz geheuer wirkte?« »Das verstehe ich durchaus«, sagte ich. »Deine Gänsehaut ist völlig berechtigt. Aber müssen wir unbedingt eine übernatürliche Erklärung dafür suchen? Es ist durchaus denkbar, daß der Mann einen leichteren Herzkollaps oder etwas Ähnliches erlitten hat. Dergleichen ist doch schon vorgekommen...« Arne nickte. »Wir wollen es hoffen. Der Mann sah übrigens nicht ganz gesund aus. Ich hatte gleichzeitig zwei weitere Handwerker eingesetzt: einen Anstreicher, der die Wände unten in meinem Schlafzimmer streichen sollte, und einen Tischler für die Instandsetzung einer Tür. Sie machten sich beide davon, als sie entdeckten, was mit dem Glaser passiert war. Seither ist es mir tatsächlich nicht möglich gewesen, in Lillesund Handwerker zu finden. Die Geschichte scheint wie ein Lauffeuer durch die Stadt gegangen zu sein, und ich mußte das Einsetzen der Scheibe und die Türreparatur selbst besorgen. Das Anstreic hen gab ich auf; dergleichen liegt mir nicht.« -26-
»Und dir passierte nichts? Die Gespenster unternahmen keinen Mordversuch an dir?« »Nein, zum Glück nicht. Aber ein paar Tage später geschah am Abend etwas Neues. Und das ist das Seltsamste, was ich bis zum heutigen Tag erlebt habe...« Ich stellte fest, daß seine Hände ungewöhnlich nervös waren. Entweder fingerte er fieberhaft an der Sessellehne, oder er beugte sich über den Tisch vor, um eine Streichholzschachtel in Streifen zu zerfasern, die er dann in mikroskopisch kleine Splitter zerbrach. Nach einer kurzen Pause, in der er sich einen neuen Drink mixte, der zu drei Teilen aus Gin und zum vierten aus einem Tonikum bestand, fuhr er fort: »Ich setzte mich in das große Zimmer im Erdgeschoß und rauchte eine Zigarette, während ich den letzten Stanley GardnerRoman las; der Raum liegt direkt unter dem ›Gelben Zimmer‹. Es mochte wohl gegen acht Uhr abends sein, und draußen rieselte ein friedlicher Abendregen zur Erde. Während ich in eine von Perry Masons hervorragenden Verteidigungsreden vertieft war, entdeckte ich plötzlich, daß jemand über mir geht. Im ersten Augenblick glaubte ich natürlich, es sei die Haushälterin Marie Mikkelsen; der Verwalter konnte es nicht sein, denn er befand sich in Lillesund. Doch da fiel mir ein, daß Marie eine Heidenangst vor diesem Zimmer hat und sich dort nie hineintraut, ohne daß sie ausdrücklich angewiesen wird, Staub zu wischen oder den Flur zu scheuern. Übrigens waren diese Schritte auch auffällig schwer und langsam; es knarrte kräftig in den Dielen, als ob ein sehr schwerer Mann dort oben ginge. Ich legte das Buch aus der Hand und trat in die Küche, wo ich feststellte, daß Marie an dem Herd beschäftigt war. Alle Wetter, dachte ich, also muß sich ein Dieb im Hause befinden. Das heißt: eigentlich dachte ich etwas ganz anderes, aber das wollte ich mir nicht eingestehen. Ich wußte ja recht gut, daß niemand ins Haus gekommen sein konnte und gar in den ersten Stock hinauf, ohne daß ich es gemerkt hätte. So fesselnd ist -27-
Stanley Gardner auch wieder nicht. Also gut. Ich bewaffnete mich mit einem soliden Knüppel, ging über den Korridor und die Treppe zum ersten Stock hinauf. Ich versuchte, mich so leise wie möglich hochzupirschen, aber die Stufen knarrten trotzdem unter mir; wenn sich jemand dort oben befand, mußte er mich kommen hören. Vor der Tür lauschte ich. Es war drinnen ganz still. Da drückte ich blitzschnell die Klinke nieder und stieß die Tür auf -« Arne hatte, während er erzählte, eine neue Streichholzschachtel zu Atomen pulverisiert; nun ergriff er sein Glas und nahm einen besonders tiefen Zug. Wenn das geschauspielert ist, dachte ich, dann ist er ein Meister. »War jemand drin?« fragte ich. Nun war ich wirklich mitgerissen. »Ja«, sagte er. »Es war jemand drin. Auf dem Fußboden. Etwas Schwarzes und Zottiges mit zwei glühenden, schwefelgelben Augen. Es war eine riesige Katze.« »Jonas Korps Schiffskatze!« entfuhr es mir. »Weiß der Teufel. Ich starrte sie wie hypnotisiert an. Und sie starrte mich an mit zwei ätzenden bösen Augen; es war, als ob alles Teuflische der Natur in diesem Blick konzentriert sei. Es war die größte Katze, die ich je in meinem Leben gesehen habe. Sie war, Gott helfe mir, über einen halben Meter lang, ein wahres Ungetüm von einer Katze, langhaarig und zottig wie ein Bär. Sie krümmte den Rücken und fauchte mich an. Es war wie das Zischen einer giftigen Schlange. Sonst habe ich Katzen ziemlich gern, jedenfalls kleine Katzen. Aber der Anblick dieses Untiers machte mich völlig rasend. Mechanisch hob ich den Knüppel und schlug mit aller Kraft nach ihr. Das Tier fuhr blitzschnell zur Seite; einen Augenblick glaubte ich, es würde mir ins Gesicht springen, aber dann schlüpfte es mit einem abscheulichen Fauchen an mir vorbei und verschwand wie ein schwarzer Schatten die Treppe -28-
hinunter. Ehe ich die Verfolgung aufnahm, warf ich rasch einen Blick ins Zimmer. Es war leer, völlig leer - und die Fenster waren verriegelt. An ein Versteck war nicht zu denken. Dann lief ich die Treppe hinunter. Die Katze war spurlos verschwunden; im Korridor stand ein Fenster offen; dadurch mochte sie entkommen sein. Ich war ziemlich durchgedreht nach dieser Episode und hütete mich, Marie oder dem Verwalter ein Wort davon zu sagen; es ist ja fast unmöglich, neue Leute für dieses Haus zu bekommen. Ich fange an zu verstehen, warum.« »Aber du mußt ja völlig blau gewesen sein, Klein Arne«, sagte Monika mit milder Stimme - so, wie etwa der Arzt mit einem schwierigen Patienten spricht. »Du kannst doch nicht ernstlich anfangen, an Gespenster zu glauben? Du, der eisenharte Geschäftsmann, der Direktor der Mexican Oil Ltd.?« »Ich glaube nur, was ich sehe«, erklärte Arne etwas ärgerlich. »Ich war ganz nüchtern und normal, absolut nicht für Halluzinationen empfänglich. Das bin ich nie gewesen. In einem dritten Fall erlebten die Haushälterin und ich gleichzeitig ein ebenso seltsames Phänomen, das mich an Poltergeister glauben lassen könnte: An der Wand des großen Zimmers hängt - neben vielen anderen Werken alter Meister - ein ganz kleines Gemälde, das offenkundig während des frühen französischen Rokokos gemalt worden sein muß. Es stellt einen lachenden Pierrot dar, der eine Pierrette durch die dunk len Bäume eines Gartens verfolgt, während ein melancholischer Bajazzo dem Auftritt zuschaut. Das Bild ist phantastisch raffiniert und stilsicher in der Ausführung; es ist nicht signiert, doch hege ich den Verdacht, daß es sich um einen echten Watteau handelt - oder mindestens um einen seiner begabtesten Schüler. Daher beschloß ich, es mit nach Oslo zu nehmen, um es von einem Kunstexperten beurteilen zu lassen. Am Abend vor meiner Abreise nahm ich es -29-
deshalb von der Wand, packte es sorgfältig ein und stellte es in eine Ecke der Stube. Am nächsten Morgen komme ich zusammen mit Marie ins Zimmer, und wir bleiben beide wie versteinert stehen. Auf dem Flur liegt ein Haufen zerknülltes Papier und Bindfadenenden, und an der Wand hängt wieder der Watteau. Nicht genug damit: alle Gegenstände, die ich in den Raum gebracht hatte - also alles, was nicht aus der Zeit des alten Kaperkapitäns stammt -, sind mehr oder weniger zerstört. Meine beste Shagpfeife liegt zerbrochen im Aschenbecher, ein silbernes Zigarettenetui ist in Stücken zerdreht, die Zigaretten zerquetscht, ein Pullover, den ich auf einem Stuhl hatte liegenlassen, ist völlig zerfetzt, und auf dem Boden liegen außer dem Stanley Gardner-Buch noch ein paar andere Bücher in Makulatur verwandelt; das eine ist sogar quer durchgerissen. Marie war selbstverständlich ganz außer sich vor Angst, und ich mußte meinen ganzen Charme aufbieten, um zu verhindern, daß sie sofort den Hof verließ. Ich mußte ihr versprechen, daß ich kein Bild mehr von der Wand nehmen würde, da sie sonst nicht einen Tag länger im Hause bleiben wollte. Ich kann sie vorläufig leider nicht entbehren; sie ist sehr tüchtig, und ich bekomme in dieser Gegend unter keinen Umständen eine neue Haushälterin. Sie hatte seit vielen Jahren bei meinem Vorgänger, Eivind Dörum, gedient; das ist es wohl, was sie an das Haus bindet. Aber selbstverständlich muß ich sehen, daß ich das Bild bei nächster Gelegenheit nach Oslo bekomme.« Im Nebenzimmer klingelte das Telefon. Arne ging hinein und nahm den Hörer ab, indem er die Tür hinter sich schloß. Ich wandte mich an Monika. »Glaubst du das, was er da redet?« fragte ich. »Oder erzählt er nur Märchen?« Sie zuckte die Achseln. »Ich weiß wirklich nicht, was ich glauben soll. Man kann bei -30-
Arne ja nie ganz sicher sein; er ist ungefähr so zuverlässig wie der Wetterbericht. Du weißt, daß er ein Phantasielügner ist und Schauspiele inszeniert. Aber ich muß gestehen, daß ich sehr neugierig auf das Haus bin.« Fünf Minuten später kam Arne wieder herein. Er ließ sich schwer in den Sessel fallen und schüttelte ratlos den Kopf. »Nein, das übersteigt doch alle Grenzen«, sagte er. »Das war ein Ferngespräch aus Lillesund. Ludvigsen, dieses Rindvieh von einem Verwalter, hat gekündigt. Fristlos.« »Weshalb?« fragte ich. »Weil er sich einfach nicht mehr traut, länger in dem Kaperhaus zu wohnen. Es ist dort heute etwas Neues passiert, etwas besonders Entsetzliches, was ihm den letzten Mumm genommen hat, dem Armen. Er wollte nicht am Telefon sagen, was es war. Ich bin gezwungen, meine Ferien zu verlängern; ich muß morgen nach Heilandet zurückreisen; der Hof kann nicht verlassen dastehen - mit all den Wertsachen. Und die Haushälterin wird ganz sicher nicht allein dort wohnen bleiben.« Arne stützte das Kinn auf die Faust und blickte ziemlich vergrämt vor sich hin. Plötzlich leuchtete es in seinem Gesicht auf, als ob ihm ein glücklicher Gedanke gekommen sei. Er wandte sich an mich. »Hör mal, Paul. Ich habe eine gute Idee. Wie gesagt, kann ich den Kaperhof nicht unbewohnt stehenlassen; ich muß einen zuverlässigen und handfesten Menschen dort haben, der ihn verwaltet, nicht einen dieser lächerlich ängstlichen Bauern. Du bist selbstverständlich der Mann, Paul. Ich biete dir hiermit die Stellung eines Verwalters auf dem Kaperhof an.« Ich bedachte mich einen Augenblick. Das war ein unerwarteter Vorschlag. Aber weshalb nicht? Meine Neugier war von Arnes phantastisehen Geschichten erregt worden. Ein Spukhaus muß man doch erlebt haben, ehe man seine Gebeine zur Ruhe legt. -31-
»Du bist ja immer mein getreuer Paladin gewesen, Paul«, fuhr Arne fort. »Du hast mir in mancher Klemme beigestanden; du darfst mich auch diesmal nicht im Stich lassen. Ich werde selbstredend dafür sorgen, daß du wie ein Fürst dort leben kannst, und wenn du ein Gehalt haben willst, kannst du die Höhe selbst festsetzen. Deine einzige Pflicht ist, daß du dich des Hofbetriebes ein wenig annimmst, daß du ein bißchen nach dem Pferd siehst, dem einzigen Haustier, und daß du eventuell auftauchende Einbrecher in die Flucht schlägst. Leute aus Heilandet und dem Lillesundbezirk werden dort allerdings nie einen Einbruch wagen...« »All right. Ich schlage ein.« »Ausgezeichnet. Dann ist es abgemacht.« »Ja. Wann soll ich meine neue Stellung antreten?« »Du kannst morgen mit mir hinreisen. Karsten Järn wohnt übrigens jetzt in seinem Hause dort, so daß du nicht ohne Gesellschaft bist. Hättest du nicht auch Lust, mitzukommen, Monika?« »Schrecklich gern«, sagte Monika. »Ich bin furchtbar gespannt auf das Haus, das eine solche Vorschußreklame bekommen hat. Garantierst du dafür, daß wir es richtig gräulich und unheimlich dort haben werden?« »Das glaube ich versprechen zu können.« »Dann freue ich mich kolossal. Wir nehmen morgen den ersten Zug. Ich gehe gleich nach Hause und packe die Koffer.« Es war blendendes, mildes Augustwetter, als wir am nächsten Tage - gegen Abend - mit dem Bus in Lillesund eintrafen. An der Haltestelle standen Ludvigsen, der ehemalige Verwalter, und Marie, die Haushälterin, um uns abzuholen. Ludvigsen war ein kleiner spitzmausartiger Bursche von der Sorte, der es schwerfällt, Menschen in die Augen zu sehen. Er wirkte reichlich duckmäusig und befangen, als er nach kurzer Vorstellung unsere Koffer nahm und sie den Weg hinunter trug. -32-
Marie war das typische »alte Mädchen«, das nie geheiratet wird aus dem einfachen Grunde, weil es zu häßlich für diese Welt ist. Ihr Gesicht erinnerte an eine der komisch geformten Rüben, die hier und da im Herbst als Abnormität auf die Zeitungsredaktionen getragen werden. Irgend etwas sagte mir, daß sie stark religiös interessiert sei. Im übrigen aber wirkte sie nett und treu, sie machte einen tiefen, verlegenen Knicks, als ich ihr die Hand gab. »Bringen Sie die Koffer ins Hotel Victoria, Ludvigsen«, sagte Arne. »Ein Glas Pilsner wird uns guttun nach dieser langen Reise.« Lillesund gefiel mir auf den ersten Blick. Es ist eine dieser reizenden Liliputstädte, von denen wir so viele an der Sörlandküste haben. Zahlreiche weiße, gelbe und blaue Puppenhäuser mit Blumentöpfen vor den Fenstern, eine Straßenpflasterung wie ein Waschbrett, aber mit kleinen Grasbüschelchen zwischen den Steinen, alte, vergilbte Schilder mit Schnörkelbuchstaben: Mikkel Sörensen, Schuhmacher - und über dem Ganzen ein unbeschreiblicher Duft von ölgestrichenen Holzwänden, salzigem Seewasser, getrockneten Fischen und frischen Krabben. Die Hauptstraße führte in steilen Korkenzieherwendungen zum Marktplatz hin, in dessen Mitte ein Zeitungskiosk von Kathedralenformat prangte, zweifellos der Stolz der Stadt und ihre größte Sehenswürdigkeit. Herrgott, wie vergnüglich müßte es sein, sich hier eine Zeitlang niederzulassen, dachte ich, und der große Mann zu sein, z. B. sich in den heftigen Kulturkampf zwischen Lillesundsposten und Lillesunds Tidende zu stürzen. Na ja, man würde es wohl bald satt werden. Solche idyllischen Kleinstädte sind auf die Dauer eine Hölle. Hier am Markt lag das größte Hotel der Stadt: das »Victoria«. Es war ein großes gelbes Holzhaus mit Veranda; wir ließen uns nieder und bestellten Bier. Madame Baldevinsen, die Wirtin, schwer und üppig wie ein Roggenacker im August, kam gleich -33-
mit einer ganzen Batterie Bierflaschen auf einem silbernen Tablett. Ich leerte ein Glas auf einen Zug und fiel vor Wohlbehagen in den Korbstuhl zurück. Arne wandte sich an Ludvigsen, der verschämt und mit hängenden Ohren dasaß und an seinem Schlips fingerte. »Ja, nun müssen Sie mit der Sprache heraus, Ludvigsen. Weshalb haben Sie Ihre Stellung gekündigt? Was hat Sie denn so schrecklich ins Bockshorn gejagt?« Ich sah, daß der arme Ludvigsen sich vor der Antwort krümmte; es ist ja höchst unmännlich, einzugestehen, daß man Angst hat. Er schluckte ein paarmal, bevor er seinen Bericht begann - zuerst ein wenig stockend und tastend, dann ging es leichter. »Das ist eine ausgesprochene Teufelei mit diesem Haus«, begann er. »Ich bin sonst nicht so abergläubisch. Ich geb' nicht so viel drauf, was die Leute sagen. Aber das ist eine Teufelei. Ich bring' es nicht fertig, da noch länger zu wohnen. Das geht mir auf die Nerven. Ich hab' es früher auch schon gemerkt, es liegt sozusagen in den Wänden, und ich glaub', daß Herr Direktor es auch gemerkt haben. Aber erst gestern bekam ich es mit eigenen Augen zu sehen. So was hab' ich mein Lebtag nicht gesehn! Wie gesagt - das war also gestern. Am Vormittag. Die Uhr konnte wohl elf oder so ungefähr sein. Ich steh' direkt vor dem Haus und seh' mir die Stachelbeerbüsche an; der Mehltau war schlimm in diesem Jahr. Da guck' ich zufällig nach einem Fenster im ersten Stock 'rauf, ja, das war grad das Fenster zum gelben Zimmer. Und was krieg' ich da zu sehn? Zwei gelbe Augen, gelb wie die Sünde. Erst glaub' ich, daß Satan selbst oben steht, um mich mit den Augen zu fotografieren, aber dann seh' ich, daß es 'ne Katze war. Eine mächtige Katze, groß wie ein wahres Teufels... Und ich denk' mir also: bist du in das Haus 'reingekommen, du Biest, so wird Ludvigsen jedenfalls Manns -34-
genug sein, dich wieder 'rauszukriegen. Und so geh' ich also 'rein ins Haus und die Treppe 'rauf und ins gelbe Zimmer. Aber da ist keine Katze. Und Tür und Fenster sind zu. Da denk' ich mir, vielleicht hast du nicht richtig gesehen, Ludvigsen, vielleicht hast du diesen widerlichen Anblick in einem anderen Fenster gehabt, vielleicht war's nebenan, denk' ich. Und so geh' ich in das Zimmer nebenan, aber da ist auch keine Katze. Im ganzen Haus ist keine Katze zu sehen. Nicht, daß ich ein ängstlicher Mann bin, aber eine Teufelei ist das doch mit dem Haus, und ich will da nicht länger drin wohnen. Herr Direktor müssen vielmals entschuldigen...« Ludvigsens primitiver Bericht machte einen ausgesprochen zuverlässigen Eindruck, er wirkte weit stärker auf mich als Arnes Geschichten; hier konnte jedenfalls nicht die Rede von Phantasielügen sein. Wir blieben noch eine halbe Stunde sitzen und unterhielten uns; Ludvigsen war unerschütterlich in seinem Entschluß, während Marie - zum Teil war das Monikas Diplomatie zu danken - sich noch einmal überreden ließ, ihre Stellung im Kaperhof zu behalten. Wir brachen auf und gingen zum Anlegeplatz hinunter. Dort lag Arnes Boot bereit, ein nagelneuer gelber Segler mit chromvernickeltem Außenbordmotor. »Hinein«, sagte Arne. »Nun geht es dem Abenteuer entgegen.« Er setzte den Motor in Gang. »Und was glaubst du nun?« fragte ich Monika. »Glaubst du, wir werden hier etwas Besonderes erleben? Wir, die wir mit elektrischem Licht, Kühlschrank und Psychoanalyse aufgewachsen sind?« »Ja«, antwortete sie. »Ich habe tatsächlich das Gefühl, daß wir eine ganze Menge erleben werden. Vielleicht mehr, als uns guttut.«
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DRITTES KAPITEL Der Mann im Ölzeug Nach kurzer Zeit waren Lillesunds Spielzeughäuser und Miniaturhafen hinter uns verschwunden, und unser Motorboot tuckerte zwischen kleinen, niedlichen Inseln dahin, wo weiße Fischerhütten sich tief in den Buchten aneinanderschmiegten. Schafe grasten auf den Holmen, und ein Kutter mit Segeln von Packpapierfarbe und mit Netzen und Fischkästen an Deck tauchte plötzlich aus einem der Sunde auf. Ein frischer Wind jagte kurze Seen den steinigen Strand und die glattgescheuerten Felsen hinauf und weiße Gischt stob wie Fontänen hoch, wo Schären oder Klippen die Wasseroberfläche durchbrachen. Nachdem wir eine Weile durch die launenhafte Schärenwelt gekreuzt waren, erblickten wir einen langgestreckten, hohen Landrücken, eine steile Silhouette, die sich scharf gegen den Himmel abzeichnete; wilde, nackte Felshänge kamen in Sicht. Es war schwierig, sich vorzustellen, daß eine Insel in dieser Gegend so groß sein könnte; es mußte ein Stück Festland sein, eine mächtige Landzunge, die sich kühn gegen das Meer vorschob. »Heilandet«, erklärte Arne. »Nur die andere Seite ist bewohnt. Dort befindet sich eine kleine Ortschaft mit zerstreuten Höfen zwischen den Felsen.« Er legte das Ruder um und steuerte die Halbinsel an; dann fuhren wir die sturmzerrissene und ungastliche Küste entlang. Wir waren ziemlich müde von der Reise, zumindest Monika, und dank einem tolpatschigen Manöver Arnes, das mir die halbe Nordsee über den Buckel gejagt hatte, war ich völlig durchnäßt. Ich hatte nur den einzigen Gedanken, mich vor ein warmes Feuer zu setzen und so bald wie möglich etwas Starkes und -36-
Alkoholhaltiges in Reichweite zu bekommen. Aber weder das Land vor uns noch die Schärenkette hinter uns versprach einen gemütlichen Kamin, einen guten, tiefen Sessel und einen Keller voller verstaubter, lackverkapselter Flaschen. Ich wollte Arne gerade fragen, ob er sich nicht in der Richtung geirrt habe, als sich uns ein überraschender Anblick bot. Die steile, unzugängliche Küste wich plötzlich einem Stück ebenen Geländes - am Ende einer kleinen Bucht. Und dort hinten unter den Steilhängen, etwa hundert Meter von der See entfernt, lag ein großes, lang gestrecktes Haus, im alten Stil gebaut. Es bestand aus Erd- und Obergeschoß plus Boden, aber die Länge des Gebäudes und die Felswände ringsum waren daran schuld, daß das Haus trotzdem so flach wirkte, als ob es vor dem Meere Schutz suchend in sich zusammenkröche. Es mußte einmal weiß gewesen sein, war aber offenbar seit vielen Jahren nicht mehr gestrichen worden. Die Abendsonne blinkte in einer langen Reihe schwarzer Fenster, und etwas, was eine Art Garten vorstellen sollte, duckte sich an die Hauswand. »Der Kaperhof«, sagte Arne und machte eine Geste wie der Reiseführer eines Rundfahrt-Autobusses. Ich konnte mir nicht helfen, aber mir wurde fast feierlich zumute, als wir vom Anlegeplatz hinaufgingen und die massive Haupttür unter einem stilechten Empireportal erreichten. Arne steckte einen gewaltigen Schlüssel ins Schloß; die Tür schwang auf, und wir betraten eine große Halle. Sofort hatte ich das Gefühl, daß ich um hundert Jahre zurückversetzt worden sei. Die Empiremöbel, Stoff und Muster der Portieren, die Gemälde und Kupferstiche an den Wänden, die Schiffsmodelle unter den mächtigen Dachbalken - alles war so, wie es zur Zeit des Napoleonkrieges gewesen sein mußte. Wir steuerten eilig eine riesige kupferglänzende Küche an, wo Marie sofort begann, ein Essen auf dem imponierenden Herd zuzubereiten. Marie hatte ziemlich blaß und ängstlich gewirkt, -37-
als wir den Hof erreichten, aber wie auf Grund eines stillschweigenden Übereinkommens wurde nichts mehr gesagt von schwarzen Katzen oder anderen unheimlichen Wesen, und als wir in die Küche kamen, vergaßen wir die ganze Geschichte. Soviel ich weiß, kommt es selten vor, daß sich Gespenster hungrigen Leuten zeigen, die sich nur darauf konzentrieren, wie delikate gelbbraune Pfannkuchen in einer glühend heißen, von Butter zischenden Pfanne gewendet werden. Als wir gegessen hatten, zeigte Arne uns das Haus; zuerst bekamen wir das Watteau-Gemälde zu sehen. Es war meisterhaft und wurde den höchsten Erwartungen gerecht; es hätte allein für sich einen ganzen Museumssaal verdient. Überall im Hause waren Möbel und Tapeten im gleichen Stil gehalten. Arne war ein sehr eifriger Cicerone; bald zog er uns zu einem Bild, das eine Koppel schläfriger Jagdhunde darstellte, bald zu einer jungen Frau mit Korkenzieherlöckchen oder zu einer Gruppe draller Nymphen, und er nannte die Namen französischer und englischer Künstler des 18. Jahrhunderts. Auch bei den Möbeln nannte er Namen, Stilarten und Jahreszahlen - mit dem besonderen Stolz, den Fürsten an den Tag legen, wenn sie selbst ihre Sammlungen zeigen. Doch ließ er es auch nicht an Bemerkungen fehlen, die auf das künftige Badehotel anspielten. Diese Wand sollte weggerissen werden, dort sollte eine Bar eingerichtet, und hier sollte das Orchester untergebracht werden. Das Haus hatte so viele Räume, daß ich die Übersicht verlor, und viele wirkten wie kleine Säle. Wir kame n auch in eine Bibliothek mit dunklen, handgebundenen Bänden hinter verstaubten Glastüren - und in eine kleine Rüstkammer, deren Wände mit altmodischen Waffen aller Art bedeckt waren: breitklingige Haudegen, Kavalleriesäbel mit vergilbten Goldschnüren, plumpe Reiterpistolen mit kunstvollen Kolben, ehrwürdige Karabiner und schwere Hinterlader. Schließlich betraten wir einen Raum, der am Ende des langen -38-
Ganges im Obergeschoß lag. Es war ein sehr großes Zimmer mit einem Bett in der einen Ecke, aber sonst mit Möbeln, die eigentlich nicht in ein Schlafzimmer gehören; ein ungewöhnlich schöner Tisch, ein paar elegante Schränke mit Schnitzereien und einige erlesene Stühle mit Stickereien auf dicken Seidenbezügen. Dies waren offenbar die wertvollsten Möbel des ganzen Hauses. Ein mannshoher Spiegel war mit langen Schrauben an der Wand befestigt, die die Nordflanke des Hauses bildete; der Spiegel reichte bis zum Fußboden hinunter und war so vom Alter mitgenommen, daß man einem Seeungeheuer ähnlich sah, wenn man hineinblickte. Die Wände hatten einen widerlich gelben Farbton; mit einem von Järn entliehenen Ausdruck möchte ich sagen, daß sie an einen »Sonnenaufgang in der Hölle« erinnerten. »Hier seht ihr also das gelbe Zimmer«, sagte Arne. »Kapitän Korps Schlafzimmer. Gemütlich, nicht wahr? Hier pflegt die schwarze Katze sich zu zeigen. Und dort drüben in der Ecke stehen die höchsteigenen Schaftstiefel des Seeräubers. Ja, dieses Haus hat Atmosphäre; man könnte geradezu Lust bekommen, seine Hochzeitsnacht hier zu verbringen.« Ich ging die Wände entlang und betrachtete die Gemälde. Es waren sieben bis acht Bilder von leicht bekleideten jungen Damen, die sich offenbar große Mengen Cremetorte einverleibt hatten und ungewöhnlich dicke Sahne im Kaffee zu nehmen pflegten. »Wie hoch würdest du den Wert dieser Gemäldesammlung veranschlagen?« fragte ich. »Allein diese Bilder hier sind gegen Hunderttausend wert«, erwiderte er. »Das sind Maler der Boucher- und FragonardSchule. »Woher weißt du das? Wie kannst du überhaupt wissen, was das Inventar wert ist?« »Ich kaufe ja nicht die Katze im Sack - von der schwarzen -39-
Katze abgesehen, die offenbar gratis ist. Ich bin ja schließlich kein Anfänger, was Geschäfte betrifft. Als ich im Februar hier war, brachte ich einen kleinen Stab von Fachleuten mit: zwei Gemäldeexperten, einen Innenarchitekten und Spezialisten für alte Stilarten, einen Bauarchitekten und einen Versicherungsagenten. Ich habe für alle Gemälde verbindliche Gutachten erhalten - abgesehen von dem Watteau, den ich deshalb mit nach Oslo nehmen wollte, um ihn von einem dritten Experten untersuchen zu lassen. Echtheit und Wert der Möbel stehen fest. Allein die Einrichtung ist das Fünffache dessen wert, was ich für das ganze Grundstück ausgegeben habe.« »Da wäre es wohl ein schwerer Schla g für dich, wenn hier z.B. ein Brand ausbräche?« »Ich bin schließlich kein Vollidiot. Selbstverständlich habe ich alles versichern lassen - sowohl gegen Diebstahl als auch gegen Brand.« Monika hatte sich ans Fenster begeben und blickte hinaus. Die Aussicht über Schären, und Klippen war großartig - »Inseln ringsum wie Vogeljunge« -, weit draußen ging der Meereshorizont in den Himmel über. Der alte Seeräuber muß eine unbändige Sehnsucht nach dem Meer verspürt haben, wenn er an diesem Fenster stand. Plötzlich rief Monika aus : »Dort kommt wahrhaftig das erste Gespenst. Es sieht aus, als ob es auf dem Wege hierher sei.« Arne und ich traten ans Fenster. Drunten kam ein Mann über den Strand gegangen mit deutlichem Kurs auf das Haus zu. Er trug einen Filzhut, Windjacke und Gummistiefel. »Wenn das ein Widergänger ist, dann kann er nicht viel länger als fünfundzwanzig Jahre tot sein«, sagte ich. Als wir etwas später in die Küche kamen, befand sich jedoch Marie in einem munteren Gespräch mit dem Widergänger, der mit Tasse und Kuchenteller am Tisch saß und darauf wartete, -40-
daß der Kaffee kochen sollte. Nun erkannte auch Arne den Gast und stellte ihn uns als Lehnsmann des Distrikts, Arnt Sörensen, vor. Er war ein strammer Vierziger, und man hörte gleich, daß er aus dem Ostland gebürtig war. »Ich wollte nur mal hereinschauen, als ich sah, daß jemand im Hause war«, sagte er und stopfte sich die Pfeife mit BurleyTabak. »Ich pflege den Strand entlang zu promenieren, wenn ich nichts anderes vorhabe. Ich suche nämlich etwas, und Sie werden vielleicht denken, ich sei närrisch, wenn Sie hören, worum es sich handelt. Aber tatsächlich sehe ich nach, ob nicht etwas an den Strand getrieben wird, etwas, was vielleicht Licht auf die geheimnisvolle Angelegenheit wirft, die wir hier vor acht Monaten erlebten.« »Spielen Sie auf die Geschichte mit dem estnischen Schiff an?« fragte Arne. »Eben. Das Schiff, das wir gegen Neujahr ohne eine Seele an Bord fanden. Ich entsinne mich des Morgens noch gut. In der Nacht hatten wir einen Höllensturm gehabt, und dann kam die Meldung, jemand habe ein Schiff vor Heilandet treiben sehen. Ich war selbst mit im Lotsenboot, und wir fanden das Schiff eine Seemeile vor der Schärenkette - direkt vor dem Hause hier. Es war ein Frachter von ungefähr viertausend Tonne n, schwarz und häßlich, und es sah nicht nach Leben an Bord aus, niemand antwortete, als wir es anpreiten. Der Sturm hatte sich so weit gelegt, daß wir an Bord gehen konnten. Ich kam als erster über die Reling und ging gleich durch das ganze Schiff. Logis und Kajüten sahen aus, als seien sie eben verlassen; kein Zeichen deutete auf Verwirrung oder Panik. Höchstens, daß einzelne Kojen zerwühlt waren, als ob die Freiwache gerade auf kurzen Bescheid ausgetörnt war. Sonst war da keine Spur von plötzlichem Aufbruch; die Mannschaftskisten standen mit den Schlüsseln im Schloß auf ihren Plätzen; verschiedentlich fanden wir Geld, Uhren und andere Wertsachen unter den Kopfkissen. -41-
Es war seltsam, daß sie es so eilig hatten von Bord zu kommen, wenn das Schiff keine anderen Schäden hatte als ein kleines Leck: es waren ein paar Fuß Wasser im Laderaum.« »Waren die Rettungsboote weg?« fragte ich. »Zwei davon. Aber sie müssen gesunken oder aufs Meer hinausgetrieben sein. Wir fanden sie nicht.« »Es ist wohl nicht so rätselhaft, daß die Mannschaft verschwunden ist«, wandte Arne ein. »Wahrscheinlich hielten sie die Lage für gefährlicher, als sie war. Es kann ja sein, daß das Schiff jeden Augenblick auf eine Schäre geworfen werden konnte. Sie gingen in die Boote und kamen um.« »Die Maschine war in Ordnung«, erklärte der Lehnsmann. »Aber nun kommen wir an das eigentliche Mysterium. In einem Laderaum fanden wir siebzehn große Kisten mit Maschinenteilen - für irgendeine kleine mittelamerikanische Republik bestimmt - Costa Rica, so weit ich mich entsinne. Aber aus den Schiffspapieren ging hervor, daß diese Partie zwanzig Kisten umfassen sollte. Drei davon waren also entfernt worden, und es war deutlich zu erkennen, daß diese Kisten unten gelegen hatten; die oberen Kisten waren zur Seite geschoben oder umgekippt worden, und es befand sich ein leerer Raum, wo die anderen gestanden hatten. Komisch, nicht wahr: die Mannschaft läßt ihre gesamte Habe und ihre Wertsachen liegen und nimmt sich statt dessen die Zeit, drei Kisten Maschinenteile zu bergen. An dieser Geschichte ist irgend etwas faul. Daher kann ich die Sache nicht ganz fallenlassen, und ich wurde auch von der Osloer Polizei ersucht, alles zu tun, um sie aufzuklären. Wenn ich also Zeit und Gelegenheit habe, unternehme ich einen Abstecher hier heraus. Und wenn Sie auf irgend etwas von Interesse stoßen sollten, wie zum Beispiel Wrackteile der Rettungsboote - oder meinetwegen auch Leichen -, die an Land getrieben wurden, so wäre ich Ihnen dankbar, wenn Sie mich -42-
unterrichten würden.« Lehnsmann Sörensen blieb zum Abendessen da und wanderte dann allein in die Augustnacht hinaus. Es war ziemlich spät geworden, und wir hatten einen anstrengenden Tag gehabt, so daß wir daran denken mußten, in die Koje zu gehen. Wir schraubten den Docht unserer anheimelnden Paraffinlampe herunter, und die Dunkelheit, die bisher nur in den Ecken gelauert hatte, rückte uns mit einem Male ganz nahe auf den Leib. Draußen in der Halle tanzten phantastische Riesenschatten die Wände entlang - im Schimmer der flackernden Stearinkerzen. Wir vergewisserten uns, daß die Haustür fest verschlossen war, und tasteten uns dann die Treppe hinauf. Marie war wieder bleich und verängstigt und wagte nicht, allein zu schlafen; so wurde beschlossen, daß sie und Monika das große Eckzimmer teilen sollten. Arne und ich demonstrierten unseren Mannesmut, indem wir uns jeder für sich in die daneben liegenden beiden Räume begaben. Mein Zimmer hätte bei Tageslicht sicher einen recht gemütlichen Eindruck gemacht mit Himmelbett, verblichenen Radierungen an den Wänden und dem Modell eines altmodischen kleinen Kriegsschiffes mit einer Kanone auf dem Vorschiff. Jetzt bei Nacht wirkte es nicht ganz so gemütlich, und als ich die eiskalte Decke über mich zog, war mir, ehrlich gestanden, etwas beklommen zumute. Wenn der Schlaf unter normaleren Verhältnissen sich einzufinden weigert, dann gilt es als kluger Schachzug, das Licht anzuzünden und nach einem spannenden Kriminalroman zu greifen. Die Verlagsreklame hatte in dieser Hinsicht Järns Bücher besonders warm empfohlen. Doch hatte ich das Gefühl, der Kaperhof sei nicht der rechte Ort zur Lektüre der »Erzählungen des Totengräbers«. Statt dessen griff ich zu Wodehouses unsterblichem Meisterwerk »Very good, Jeeves!« Humor ist der beste Angstvertreiber, in Gesellschaft mit Bertram Woster fühlt man sich sicher vor allen dunklen Mächten. Ich -43-
schlief mit einem vergnügten Lächeln ein und konnte am nächsten Morgen beim Frühstück erzählen, daß ich weder etwas Ungewöhnliches gehört noch gesehen habe. Das hatte auch keiner der anderen. Trotzdem fühlte ich mich nicht sonderlich beruhigt. Es war etwas an diesem mächtigen Haus, den alten Dingen, dem Meere draußen und den öden Felsen ringsum - etwas, das mir einen leichten Schauer über den Rücken laufen ließ, selbst als ich geröstetes Weißbrot mit Marmelade aß. Eigentlich war geplant, daß wir diesen Tag benutzen wollten, um die Umgebung ein wenig zu erkunden. Aber schon am Morgen war der Himmel bedeckt, und im Laufe des Vormittags begann es Bindfäden zu regnen, eine wahre Sintflut. Wir waren daher ziemlich überrascht, als wir plötzlich Besuch bekamen. Zwei Gestalten in Regenmänteln tauchten auf dem winzigen Fuhrweg auf, der durch die kleine Talschlucht zwischen den Felshängen zum Hause führte. Zu meiner Freude erkannte ich in der einen Karsten Järn. Er wurde von einer jungen Dame in weißem Regenmantel begleitet. Ihre dunklen Locken waren triefnaß vom Regen und umrahmten ein hübsches, pikantes kleines Gesicht. Sie wirkte entschieden anziehend, machte aber andererseits einen stillen und eingeschüchterten Eindruck, als ob sie von irgendeiner heimlichen Angst bedrückt würde. »Ich hörte auf dem Postamt von eurer Ankunft«, sagte Järn. »Dergleichen spricht sich ja an einem Ort wie diesem sofort herum. Ich wollte also mal vorbeikommen, um mich zu erkundigen, wie ihr die erste Nacht auf dem Kaperhof geschlafen habt. Die Haarfarbe ist die gleiche, sehe ich. Nicht ein einziges weißes Haar? Aber das kommt noch, meine Freunde, das kommt noch... Vielleicht darf ich Frau Lizzie Fahle vorstellen. - Ja, du kennst wohl Arne noch von früher, Lizzie? Dies ist Monika Winterfeldt und hier ist Paul Rickert...« -44-
»Ich komme eigentlich mit einer Einladung zu Ihnen«, sagte Lizzie Fahle, nachdem alle Händedrücke glücklich überstanden waren. »Als mein Mann und ich hörten, daß Sie gekommen seien, waren wir uns einig, daß wir Sie gern so bald als möglich bei uns sehen möchten. Wir sind ja fast Nachbarn. Gerade heute paßt es uns außerordentlich gut. Wir wären dankbar, wenn Sie zum Mittagessen kommen würden. Wir sind ja fest ansässig hier auf Heilandet, verstehen Sie, und haben es ziemlich einsam. Mein Mann freut sich immer, neue Menschen kennenzulernen, vor allem Leute, mit denen er diskutieren kann.« Natürlich nahmen wir die Einladung an. Sowohl Monika als auch ich waren gespannt, was für Nachbarn Arne hier draußen hatte. Eine andere Frage war es allerdings, wie wir einigermaßen wohlbehalten die zwei bis drei Kilometer bis zu Fahles Haus durch den Regen kommen sollten. Alle Pfade hatten sich in kleine Bache verwandelt, Lizzies Schuhe und Strümpfe waren triefnaß, und Monika sagte, daß sie nichts anderes als Sandalen anzuziehen habe. Aber Arne fand sofort einen Ausweg. »Wir nehmen Pferd und Wagen«, sagte er. »Ich habe ja ein kleines Pferd draußen, das gehörte zum Hof; ich wollte es zum Materialtransport gebrauchen. Es weidet zwischen den Felsen; doch pflegt es sich nie weit zu entfernen. Vielleicht kommst du mit, Paul, dann gehen wir es holen.« In Regenmäntel gehüllt und mit einem Halfter gewaffnet zogen wir hinaus, um Arnes Pferd zu suchen. Unterwegs erzählte er mir von unserem neuen Gast und ihrem Mann. »Fahles wohnen in dem sogenannten Pfarrhof«, sagte er. »Also auf Järgen Uhls altem Hof; du entsinnst dich wohl des ›Kaperpfarrers‹, Korps zweiten Mann auf der ›Krebs‹. Sie wohnen dort übrigens erst seit vier Monaten; sind also ebenso neu in der Gegend wie ich. Ich kaufte den Kaperhof im Februar und Fahle übernahm den Pfarrhof im April. Er ist NorwegischAmerikaner und eigentlich als Theologe in den USA ausgebildet, aber er hat sich hier in Heilandet niedergelassen, -45-
um kulturgeschichtliche Studien zu betreiben; er ist ein sehr merkwürdiger Mann. Lizzie stammt aus Horten, hat aber ein Jahr bei Verwandten in Lillesund gewohnt, wo sie Fahle kennenlernte. Sie ist ein etwas weicher Typ, finde ich, aber im übrigen charmant und plietsch. Sie heiratete Fahle kurz nach seiner Ankunft.« »Mit welchen kulturgeschichtlichen Studien beschäftigt er sich denn?» fragte ich. »Er studiert meines Wissens volkstümlichen Aberglauben, Magie, Besessenheit und ähnlichen Blödsinn«, sagte Arne. »Er will eine Abhandlung darüber schreiben; besonders interessiert er sich für die Kapersage.« »Aber das muß ja der ideale Umgang für Järn sein?« bemerkte ich. »Ja, das sollte man annehmen.« Wir fanden das Pferd unter einigen Bäumen, wo es vor dem Unwetter Schutz gesucht hatte. Es war ein kleiner gedrungener Nordländer, der sich als ungewöhnlich zutraulich und folgsam erwies. Außer angeschossenen Wasserbüffeln sind Pferde für mich die gefährlichsten Tiere auf der Erdoberfläche, aber dieses ließ sich ruhig das Halfter anlegen und auf den Hofplatz führen, wo wir es vor ein seltsam vorsintflutliches Fahrzeug spannten. Ich hatte gerade nach Monika, Lizzie und Järn gerufen, als plötzlich ein Elchhund angelaufen kam, mit freundlicher Neugierde an meinen Schuhen schnüffelte und hingebungsvoll wedelte. »Das ist Tass«, erklärte Arne, »nicht mit dem russischen Nachrichtenbüro zu verwechseln. Er gehört dem früheren Besitzer hier, Eivind Dörum, und pflegt oft zu Marie zu kommen, die ihn füttert und bemuttert. Fein, daß sie ihn hier hat, wo wir zu Mittag fortwollen; dann hat sie nicht solche Angst, allein zu sein.« Wir pferchten uns in den Wagen, und als alter -46-
Reserveartillerist ergriff ich persönlich die Zügel und gab dem Zugtier den Befehl zum Abmarsch. Der Weg schlängelte sich zwischen den Hängen dahin. Hin und wieder folgte er dem Grunde enger Schluchten mit kräftigem Graswuchs und Laubwald zwischen den steilen Bergwänden, doch in der Regel ging es über windzerzauste, heidebedeckte Hochflächen, wo nur einige Wacholderbüsche und Findlinge sich über die Landschaft erhoben. Ich begann mich zu fragen, ob Arne es wirklich schaffen würde, hier einen populären Badeort zu gründen. Aber vielleicht wirkte die Landschaft wegen des Regens besonders ungastlich. Ein paarmal trafen wir Frauen und Kinder, die in dem Dreckwetter unterwegs waren und Blaubeeren in große Eimer sammelten. »Jetzt sind es nur noch ein paar hundert Meter«, sagte Lizzie. »Die kleine Mauer, die wir eben passierten, bildet die alte Grenze des Pfarrhofs.« Wir waren in eine enge Schlucht mit hohen Bäumen geraten, eine Art Hohlweg unter dunklen, dichten Laubkronen. Weiter vorn nahmen wir ein langes, weißes Gebäude wahr, und ich wollte gerade das Pferd zu einem kleinen Endspurt aufmuntern. Aber in diesem Augenblick geschah etwas Seltsames. Das Pferd hielt plötzlich an und blieb stocksteif stehen. Es legte die Ohren flach zurück und wirkte, als ob es wie versteinert auf etwas weiter vorn am Wege starrte. Zuerst verstand ich nicht, was es sein könne; der Weg lag leer vor uns, und kein Laut war zu hören außer dem hohlen Klatschen der Regentropfen. Ich fuhr das Tier scharf an und hieb ihm einige Male über den Rücken, bis Monika mein Handgelenk ergriff. Aber das Pferd rührte sich um keinen Zoll, seine Ohren legten sich nur noch flacher. Dann bemerkte ich endlich, daß ein Mann aus dem Hause getreten war; er hatte eine Weile unbeweglich oben auf der Treppe gestanden; nun kam er rasch den Weg herunter und ging -47-
uns entgegen. Er war ein mächtiger Bursche, in Ölzeug, Seestiefeln und Südwester. Das wetterzerfurchte Gesicht verriet nichts über sein Alter; seine Augen lagen tief unter dichten, buschigen Brauen. Seine Kleider waren sehr naß. Eine Sekunde lang begegneten mir seine Augen, und ic h fuhr zusammen: sie waren blicklos. Sie waren wie graue Pfützen mit Pupillen wie Regentropfen darin. Oder vielleicht erinnerten sie an Seewasser, eine eiskalte Meeresfläche, die Nordsee im Dezember - mit blinden, wogenden Tiefen. Ich saß einen Augenblick wie gelähmt. Es ist möglich, daß nun hinterher die Phantasie mit mir durchgeht und daß ich unfreiwillig etwas hinzudichte; vielleicht hatte die Angst des Pferdes mich angesteckt. Während der Fremde näher kam, geriet das Pferd jedenfalls völlig außer sich, und als er uns passierte, zitterte es wie Espenlaub. Kaum aber war er vorbei, da warf es sich ins Geschirr und zog mit einem Ruck an, der uns fast aus dem Wagen geworfen hätte. In wildem Galopp lief es den Weg hinan, und nur mit dem größten Kraftaufwand und den härtesten Artilleriemethoden gelang es mir, das Pferd zum Stehen zu bringen, als wir über fünfzig Meter an dem Hof vorbeigefahren waren. Es hielt zitternd an und schielte ängstlich nach hinten. Alle Versuche, es zurückzuführen, waren vergeblich; wir mußten es abschirren und an einen Baum binden. Ich weiß nicht, ob die anderen diesen Zwischenfall so wie ich erlebt hatten, aber wir waren die ganze Zeit auffallend stumm. Auf dem Rückweg brach Arne das Schweigen: »Hat sich ja verdammt komisch aufgeführt, das Tier. Wer war übrigens dieser merkwürdige Mann, Frau Fahle?« Lizzie war offensichtlich nervös; ihre Augen flackerten, und ihre Wangen waren blaß. »Das ist jemand, der meinen Mann hin und wieder besucht«, sagte sie. »Ich ahne nicht, was er bei uns zu suchen hat; ich kann -48-
ihn nicht ausstehen. Er heißt übrigens Rein.« »Vielleicht ist er identisch mit dem Vestlandsteufel, den Nils Kjaer einmal getroffen haben will«, rief ich aus. »Kein Wunder, daß das Pferd von einem solchen Gespenst verängstigt wird...« Die Worte klangen nicht so leicht und munter, wie ich es gewünscht hätte. Sie hatten eine Tendenz, sich in meinem Halse zusammenzuklumpen. Während wir die Treppe zum Haupteingang hinaufgingen, warf ich Järn einen Seitenblick zu. Er zeigte als einziger ein fast unmerkliches Lächeln, ein MonaLisa-Lächeln. Als Lizzie den Türklopfer ergriff und einige kurze, kräftige Schläge ertönen ließ, wandte er sich mir zu und flüsterte mir ins Ohr: »Halt die Augen offen. Ich glaube, diese Mittagsgesellschaft wird sehr interessant.«
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VIERTES KAPITEL »Auch die Finsternis hat ihre Götter« Die hohe Tür glitt auf, und wir nahmen in der dunklen Halle die Umrisse einer Männergestalt wahr. Es war Fahle. Ich konnte seine Gesichtszüge nicht gleich erkennen, aber schon näherte er sich der Schwelle. Noch bevor er den Mund öffnete, machte er einen wunderlich starken Eindruck auf mich. Seine Gestalt war klein, gedrungen und kräftig wie die eines Mittelgewichtsringers, sein Rücken war leicht gebeugt, die Arme hingen lose herab; ein Körper, in dem jeder einzelne Muskel unter der wachen Kontrolle des Gehirns stand. Was jedoch den Blick fing, war das Gesicht des Mannes; es hatte eine graue, pergamentartige Haut, die wie ein strammer Handschuh über den Schädel gezogen war; die Lippen waren schmal und farblos, die Nasenflügel dünn und sensuell. Unter kurzgeschorenem steingrauem Haar wölbte sich die Stirn wie ein mächtiger Globus zu den Augenbrauen nieder: die Augen selbst waren dunkelbraun und voller Leben wie bei einem Italiener, sie hatten aber auch einen hellwachen Ausdruck von Intelligenz und scharfer Beobachtungsgabe. Vor allem waren es die Augen, die diesem Gesicht Jugend verliehen; sonst war sein Alter unbestimmbar; er konnte vierzig - fünfzig - sechzig, ja, schließlich auch siebzig Jahre alt sein. Er streckte uns die Hand entgegen und lächelte herzlich: »Schön, daß Sie gekommen sind; wir sehen allzu selten zivilisierte Menschen hier bei uns in der Wildnis. Treten Sie näher. Du kannst in die Küche gehen, Lizzie, und das Essen fertig machen.« Seine Stimme war sehr einschmeichelnd und angenehm; er hatte einen ganz leichten amerikanischen Akzent. Monika und -50-
ich wurden vorgestellt, worauf wir alle in die Stube geführt wurden. Sie erinnerte stark an die Stube auf dem Kaperhof; das Haus hatte ungefähr den gleichen Stil, außen und innen, nur in kleinerem Format. Auch hier fanden wir alte Möbel, Kupferstiche, Gemälde und Schiffsmodelle. Aber alles war mit einem besseren Geschmack arrangiert als bei uns; dort war der Reichtum zum Teil allzusehr aufgehäuft. Fahle schenkte Cocktails in kleine, delikate Gläser ein. Eine dickflüssige smaragdfarbene Flüssigkeit rann aus dem Shaker. »Diesen müssen Sie mit Andacht trinken«, sagte Fahle lächelnd. »Der enthält echten Absinth, den ich aus Portugal mitgebracht habe.« »Trinken Geistliche Absinth?« fragte Arne. »Ich hatte geglaubt, das täten sie nicht mehr, seit die lastervollen Tage des Papsttums vorbei sind. Ich glaubte...« »Nennen Sie mich nicht einen Geistlichen«, unterbrach ihn Fahle freundlich. »Das ist eine Laufbahn, die ich schon seit langem aufgegeben habe; ich ziehe es vor, dem Herrgott auf andere Weise zu dienen. Wie Sie vielleicht wissen, beschäftige ich mich in aller Bescheidenheit mit kulturhistorischen Studien; ich habe mich auf ein ganz entlegenes Nebengebiet der Kulturgeschichte spezialisiert: den Satanismus. Insofern handelt es sich um eine Fortsetzung meines geistlichen Amtes; will man dem Guten dienen, so muß man zuerst einmal das Böse analysieren. Ich arbeite an einer kleinen Abhandlung über dieses Gebiet.« Järn blickte mit neugieriger Miene von seinem Cocktailglas auf. »Und aus welchen Quellen schöpfen Sie?« fragte er. »Nicht aus den okkulten, lieber Järn, absolut nicht aus den okkulten. Ich sammle exaktes Material, wo immer ich es finde; ich spüre alte Sagen und Hexengeschichten aller Art auf, so wie sie noch im Bewußtsein einer primitiven und abergläubischen -51-
Bevölkerung lebendig sind. Ich arbeite ungefähr nach der gleichen Methode wie die Brüder Grimm. Vielleicht haben Sie den Mann bemerkt, der gerade das Haus verlassen hat, gerade bevor Sie kamen? Er heißt Rein - und ist eine meiner besten Quellen. Er verfügt über ein gewaltiges Material auf diesem Gebiet; Bauern und Fischer haben oft ein phantastisches Gedächtnis, wenn es sich um solche alten, unheimlichen Geschichten handelt, die mit allen Einzelheiten von Geschlecht zu Geschlecht überliefert werden. Ich interviewe diesen Fischer ein paarmal in der Woche - immer mit gleich großem Erfolg; er ist eine folkloristische Schatzkiste.« »Ich kann verstehe n, daß er Experte für unheimliche Sagen ist«, warf ich ein. »Unser Pferd geriet jedenfalls in eine geradezu panische Angst, als wir ihm begegneten. Es lief Amok...« »Was Sie nicht sagen! Na ja, er ist ja eine etwas eigenartige Erscheinung und hat kein besonderes Verhältnis zu Tieren, der arme Kerl. Unter uns gesagt, ist er nicht ganz richtig im Oberstübchen, wie man es in so entlegenen Distrikten leicht wird; meine Frau kann ihn übrigens auch nicht ausstehen. Aber sonst ist er harmlos... Nein, sehen Sie, da kommt Lizzie mit dem Essen; gehen wir zu Tisch. Trinken Sie aus, Fräulein Monika, trinken Sie aus, meine Herren. Dieser Cocktail ist ein echter, alter Hexentrunk, den man immer erst probieren sollte, bevor man sich mit okkulten Dingen beschäftigt.« Fahle hatte zweifellos recht: es war ein Hexentrunk. Ich fühlte mich spürbar berauscht nach diesem einen Gläschen. Es durchtönte mich wie eine leise, aufreizende Musik; als ich mich erhob, hatte ich plötzlich das Gefühl, als ob grünes Blut durch meine Adern liefe; flüssiger Smaragd. Die Dame des Hauses hatte eine große dampfende Suppenterrine auf den Tisch gesetzt, um den wir uns gruppierten. Lizzie war eine vortreffliche Köchin: sowohl die Spargelsuppe, der Hammelbraten wie das Krokanteis -52-
schmeckten wie die Freuden des mohammedanischen Paradieses. Und Fahle war ein ausgezeichneter Wirt, der während der ganzen Mahlzeit eine gewandte und geistreiche Unterhaltung über alle möglichen Gebiete führte: bald diskutierte er mit Monika einen modernen Roman, bald behandelte er die Möglichkeit des Kaperhofes als Badehotel mit Arne und mir oder er gab Järn Tips für eine neue Kriminalnovelle. Doch fiel mir auf, daß er seine Frau ein wenig von oben herab behandelte; er wandte sich ihr nur selten zu, um ihr eine knappe Anweisung zu geben - als sei sie sein Dienstmädchen. Sie wiederum war die Untertänigkeit selbst, gehorchte augenblicklich jedem Wunsch und hing an den Lippen ihres Mannes, wenn er mit seiner angenehmen, geschliffenen Stimme sprach; hin und wieder blickte sie ihm mit einem geradezu hypnotisierten Ausdruck in die Augen. Ich dachte im stillen: welch eine seltsame Ehe, und grübelte darüber nach, wie sie so verblüffend schnell zustande gekommen sein mochte. Wir waren bei den Zigarren, dem Kaffee und dem Likör einem ausgezeichneten Cointreau - angelangt, als ich die Initiative zu einem neuen Thema ergriff, das nach meinem Gefühl schon lange in der Luft lag. Ich fühlte mich von unbezähmbarer Neugierde getrieben. Zu Fahle gewendet sagte ich: »Wenn Sie eine Abhandlung über alten Aberglauben, Teufelsbesessenheit und dergleichen schreiben, dann weihen Sie wohl auch der Kapersage ein Kapitel?« Er nickte eifrig. »Selbstverständlich. Mit diesem Kapitel beschäftige ich mich gerade jetzt ein außerordentlich interessantes Thema. Und meine Arbeitsumgebung ist in diesem Fall ideal: dieses Haus hat ja, wie Sie wissen, keinem Geringeren gehört als Jörgen Uhl, dem dämonischen ›Kaperpfarrer‹. Die meisten Dinge, die Sie hier im Hause sehen, haben einmal diesem alten Rabauter gehört.« -53-
»Was weiß man eigentlich von ihm?« fragte Monika. »Eine ganze Menge. Ich selbst habe so umfassendes Material über ihn gesammelt, daß ich fast seine Biographie schreiben könnte. Er war einige Jahre hier im Bezirk Heilandet als Pfarrer tätig gewesen, mußte aber dann in größter Eile mit Korp in See stechen, als sich herausgestellt hatte, was er wirklich trieb. Er hatte angefangen, eine waschechte Satanisten-Sekte zu gründen. Sie soll gegen dreißig Mitglieder umfaßt haben, fast ausschließlich Frauen. Eine dieser Fraue n, eine junge Kaufmannstochter aus Lillesund, brach nach einer hier im Hause zelebrierten orgiastischen schwarzen Messe zusammen und informierte die Behörden...« »Aber das klingt ja ganz unglaublich«, wandte Arne ein. »Eine waschechte Satanistensekte hier - unter einer so primitiven und gottesfürchtigen Bevölkerung?« »Gar nicht so unglaublich, wie es sich anhört. Es ist schon richtig, daß eine dunkle pietistische Religion in diesem Gebiete unseres Landes eine eiserne Hand auf alles Lebende gelegt hat; alle leben im Schatten eines strengen und unerbittlich strafenden Jehova. Aber gerade dort, wo die Religion am strengsten und finstersten ist, findet der Satanismus den besten Nährboden. Satan kommt als ein Befreier; er sammelt eine Unterwelt zu Aufruhr. All die verkümmerten Instinkte, all die unterdrückten Triebe läßt er los; jeder ihm gewidmete Kult wird zu einer gewaltigen Entladung alles Ursprünglichen in der Menschennatur. Übrigens ist dieser Jörgen Uhl eine starke Persönlichkeit gewesen. In seiner Jugend hatte er in einer Reihe europäischer Länder studiert und war gelehrt wie ein alter Jesuit. Wahrscheinlich war er gerade seines gefährlich großen Wissens wegen als Geistlicher in diese entlegene Gegend verbannt worden. Er war von Natur der geborene Empörer; in Frankreich war er mit modernen Gedanken in Berührung gekommen, die die alten Götterbilder umgestürzt hatten. Aber ohne Religion -54-
konnte er nicht leben. Er bekehrte sich und rief die Finsternis an. Auch die Finsternis hat ihre Götter. Uhls starkes Triebleben und seine große Macht über die Frauen mochten mitbestimmend gewesen sein: er wurde ein Satanspriester von reinstem Wasser. Mit einem ungeheuren Haß wandte er sich gegen alles, was er früher einmal geglaubt hatte. Es wird behauptet, daß er sich ein Kreuz unter jede Ferse habe tätowieren lassen - um mit jedem Schritt auf das christliche Symbol treten zu können...« Fahle sprach mit einer ruhigen, nüchternen Stimme, die jedoch von einer seltsamen Intensität war. Hin und wieder zog er kräftig an seiner Zigarre, inhalierte tief und ließ den Rauch langsam durch die Nasenlöcher entweichen. Ich betrachtete Lizzie; sie schien immer noch völlig hypnotisiert zu sein von den Worten ihres Mannes. Arne machte eine unruhige, ruckartige Bewegung, als ob er etwas von sich abschütteln wolle. »Das klingt ja höchst seltsam und subtil«, sagte er. »Aber ich glaube, es ist ziemlich einfach, die Psychologie eines solchen Mannes zu deuten. Er war einfach ein loser Schürzenjäger, der sich dieses satanistischen Blödsinns bediente, um die Mädchen dahin zu kriegen, wo er sie haben wollte. Laienprediger - die sich auch hervorragend auf die Brechung des sechsten Gebotes verstehen - arbeiten nach einer ähnlichen Methode. Das Verfahren ist ja bis zum Überdruß in Boccaccios ›Decameron‹ beschrieben worden. Was den Satanismus selbst betrifft, so ist der wohl auch kein Mysterium mehr; die moderne Psychologie hat alle Teufelsbesessenheiten, Hexenvisionen usw. erschöpfend als reine Hysteriephänomene erklärt; die Geständnisse der Hexen sind auf Suggestion zurückzuführen. Nachdem dies alles aufgeklärt ist, verstehe ich eigentlich nicht, daß jemand noch Wert darauf legen kann, sich mit solchen Dingen zu beschäftigen - in unserer Zeit.« Fahle hatte sich erhoben; er lehnte am Kaminsims und streifte -55-
die Asche von der Zigarre. Um seinen Mund spielte ein leichtes ironisches Lächeln, aber seine Augen nahmen einen fast fanatischen Ausdruck an; offensichtlich hatten wir jetzt sein Lieblingsthema berührt. »Warum nicht gerade in unserer Zeit?« sagte er. »Das Thema hat heute eine größere Aktualität denn je zuvor. Nehmen Sie die modernen Diktaturstaaten; was sieht man da anderes als Satanismus; organisiert als politische Massenbewegung - mit religiösen Symbolen, mit kultischen Ritualen? Der Mensch kann nicht ohne einen Kultus leben. Der reine Materialismus ist eine psychologische Unmöglichkeit; wenn der Mensch Gott verloren hat, wendet er sich unweigerlich an die Finsternis, um sie zu beschwören. - Was ist übrigens Hysterie anderes als eine ohnmächtige Redensart, erfunden von einem phantasielosen deutschen Arzt, der einmal Voltaire gelesen hatte. Eine Redensart erklärt nichts. Die alten katholischen Exorzisten - die Teufelsaustreiber - wußten zweifellos weit mehr über die Abgründe der menschlichen Seele, als sich die moderne Psychiatrie in ihrer Kurzsichtigkeit träumen läßt. Der Satanskult hat uralte Wurzeln. Er hat seinen Ausgangspunkt im Pankult der Antike, im Grunde ist Satan kein anderer als der verwandelte Pan - der Gott in Bocksgestalt; alle Götter der Antike wurden ja nach dem Sieg des Christentums zu Dämonen degradiert. Immer wieder erhebt er sein Haupt unter der Diktatur des Katholizismus; im Mittelalter entstanden eben die manichäischen und albigensischen Kirdien, die den Teufel als ihren Wohltäter verehrten. Die Albigenser lehrten, man müsse ›die Sünde durch die Sünde überwinden‹, das große Prinzip der Sexualorgien. Sie hatten ihren eigenen Papst in Toulouse, ihr Konzil in Lyon; es wurde zum Kreuzzug gegen sie aufgerufen, und der heilige Dominikus, der Gründer der Inquisition, rottete sie mit unerbittlicher Grausamkeit aus. Aber ihre Lehre lebt weiter; in immer neuen Formen taucht sie wieder auf, vom Ende des Mittelalters bis weit in das 18. Jahrhundert -56-
hinein brodelt Europa von Hexenprozessen. Noch am 20. August 1877 wurden in San Jacobo, Mexiko, fünf Hexen gerichtlich verurteilt von dem Alcalden Castillo und lebend verbrannt. In Gegenwart des Popen wurde 1879 die Hexe Agrafena Ignatiewna in der russischen Stadt Wratchewo verbrannt. - Man bildet sich ein, daß die sogenannte Aufklärung des 18. und 19. Jahrhunderts den Satanismus ausgerottet habe, das ist ein Irrtum. Im Gegenteil wurden Voraussetzungen für einen neuen und intensivierten Satanismus geschaffen - gerade aus dem Lebensgefühl des 19. Jahrhunderts heraus; das so mächtig in Swinburnes großem Gedicht ›Songs Before Sunrise‹ zum Ausdruck kommt: ›Thou art smitten, thou God, thou art smitten, Thy death is upon thee, o Lord!‹ « Ich hatte das Gefühl, daß Fahle sich förmlich in Ekstase geredet hatte, obwohl seine Stimme immer noch beherrscht klang; aber seine Augen glühten wie zwei Kohlen in dem mageren Gesicht. »Wollen Sie damit andeuten, daß es in unserer modernen Zivilisation immer noch solche Teufelssekten gibt?« fragte ich. »Es wimmelt davon. In Frankreich hat man z.B. die Vintrasisten, eine Sekte, die von Pierre-Michel Vintras im Jahre 1839 gegründet wurde und auf der alten Lehre der Albigenser fußt. Als Kuriosum sei erwähnt, daß es 1887 zwischen dieser Sekte und den sogenannten Rosenkreuzlern zu einem ›okkulten Krieg‹ kam; Boullan, der Führer der Vintrasisten, wurde dabei durch magische Mittel umgebracht. Die Zahl dieser Sekten hat in den letzten hundert Jahren außerordentlich zugenommen, und der okkulte Krieg geht unaufhörlich weiter.« Ich bemerkte, daß Järn Fahle geradezu mit den Augen verschlang; dies mußte ja Musik in den Ohren unseres Freundes sein; Ich war selbst - gegen meinen Willen - ganz gefesselt und wagte mich mit einer naiven Frage vor: -57-
»Sollen wir das so verstehen, als ob Sie tatsächlich an die Existenz eines persönlichen Teufels glaubten?« Es war, als ob einige Engel durchs Zimmer gingen, nicht einmal so wenige, übrigens. Fahle brach in ein trockenes Lachen aus. »Nein, nun habe ich den Eindruck, daß ich anfange, Sie mit meinem Gerede zu langweilen«, sagte er ausweichend. »Lassen Sie mich Ihnen lieber das Haus zeigen; hier gibt es noch eine ganze Reihe interessanter Dinge zu sehen.« Wir begleiteten ihn in ein kleines, dunkles Zimmer; es war die Bibliothek. Vom Flur bis zur Decke waren die Wände mit alten, ledergebundenen Werken bedeckt; die Rücken waren von eifrigem Gebrauch stark abgegriffen. »Jörgen Uhls Bibliothek«, kommentierte Fahle. »Die größte Sammlung des Landes an alter okkulter Literatur.« Ich nahm einen besonders zerlesenen Band heraus, öffnete die Spange, die die Deckel zusammenhielt, und schlug ihn auf gut Glück auf. Auf dem dicken, verblichenen Papier stand mit umständlich verschnörkelten Buchstaben geschrieben: Sich unsichtbar zu machen. Stich einer Fledermaus das Äug aus unnd verwahr es alsdann bey dir, schmier dir Fledermausblut auffs Gesicht. Nimm den Koppf von einem schwartzen Kater, koch den in süss Milch unnd Bier, unnd trink dass, darauff bisstu unsichtbar 9 Stunden lang. Alle im Hauss schlaffen zu machen. Nimm auss einem Eulenkoppf die Augensterne, der eine schwimmet, der ander sinket. Nimm den so schwimmet unnd einer todten Mauss zahn unnd legs under die Türschwelle, darauff schlaffen sie alle biss dass er forttgenommen ist. Alle im Hauss tantzen zu machen. Schreib auff ein Espenblatt diese Wortt: -58-
Elle Elleam. Faginia. Fagina. Graton - und legs unter die Türschwelle, allsdann tantzen sie alle. Arne, der hinter mir gestanden und mir über die Schulter gesehen hatte, brach in Lachen aus. »Gott bewahre mich vor solchem himmelschreienden Blödsinn«, rief er aus. »Oder ist es vielleicht humoristisch gemeint?« »Kaum«, sagte Fahle lächelnd. »Das ist eine Abschrift von Siperiandus ›Buch der Schwartzen Kunst‹, geschrieben 1569 an der Hochschule zu Wittenberg, ein sehr ernstes Werk. Übrigens glaube ich, daß die Wissenschaftler sich mit ihren Urteilen hüten sollten, ehe sie diese Methoden experimentell erprobt haben. Noch hat kein Professor der Chemie sein Gesicht mit Fledermausblut eingeschmiert und Katzenkopfsuppe in Milch und Bier getrunken. Es wäre denkbar, daß der Herr Professor eine schlimme Überraschung erlebte, wenn er es versuchte...« »Ich zweifle nicht daran, daß er einige recht peinliche Minuten auf der Herrentoilette zubringen müßte«, sagte Arne. Ich hatte meine Prüfung der Buchrücken fortgesetzt. Ganz unten fand ich einige neuere Bücher, die Fahle offenbar selbst mitgebracht haben mußte. Alle Titel drehten sich um das gleiche: Dr. Bataille: »Le diable au XIX siècle«, P. Christian: »Histoire de la magie«, Jules Delassus: »Les incubes elles succubes«, J.K.Huysmans: »Làbas«, Gérard Massey: »Devil of Darkness«, Przbyzewski: »Der Kult der Satanskirche«. »Ich möchte Ihnen gern das Allermerkwürdigste hier im Haus zeigen«, sagte Fahle. »Ich habe nämlich einen Fund gemacht. Es ist mir der Nachweis geglückt, daß Jörgen Uhl wirklich das trieb, dessen man ihn verdächtigte. Eines Tages, als ich unten im Keller war, entdeckte ich, daß ein Stück der Mauer einen helleren Ton hatte als die Wand ringsum. Es war deutlich zu erkennen, daß hier eine Tür zugemauert worden sein mußte. Ich holte eine Hacke und fing -59-
an, die Mauer an dieser Stelle einzureißen; tatsächlich zeigte sich eine Tür. Es gelang mir, sie zu öffnen, und ich kam in einen Raum, der... Nun, Sie werden selbst sehen. Hol eine Paraffinlampe, Lizzie.« Die Dame des Hauses gehorchte, und eine Minute später folgten wir unserem Wirt eine dunkle Kellertreppe hinab. Als Lizzie Miene machte, uns zu folgen, wandte er sich um und sagte mit milder, pastorenhafter Stimme - die jedoch keinen Widerspruch duldete: »Du kannst hier oben bleiben, Liebe. Wir kommen bald wieder herauf - such uns inzwischen etwas Gutes. Vielleicht etwas Obst?« Lizzie machte mechanisch kehrt und ging in die Stube zurück. Es war etwas auffallend Gedrücktes in ihrem Wesen. Fahles patriarchalische Art begann mich zu irritieren. Ich bin nämlich sehr aufgeschlossen und fordere Freiheit für die Frau - selbst in der Ehe. Wir kamen in den pechschwarzen Keller hinab und bewegten uns langsam durch die Dunkelheit wie eine Prozession Mönche durch die Katakomben. Fahle hielt vor einer Tür an, die tief in der Wand lag; die Mauer ringsum war recht uneben; man sah die Spuren der Hacke. »Hier ist es.« Er drückte die Klinke nieder; die Tür glitt mit einem Geräusch auf, als ob man eine Katze am Schwanz zieht - was ich übrigens nie tue. Wir kamen in einen großen Raum ohne Fenster; zunächst konnte ich nur die kalten, nackten Wände wahrnehmen, als sich aber Fahle mit der Lampe der einen Längswand näherte, erblickte ich etwas ganz Phantastisches. Ein mächtiger Tisch - oder ein Altar - stand an der Wand; auf diesem befanden sich zwei mächtige Silberkandelaber, und zwischen ihnen hing ein meterhohes Kruzifix an der Wand -60-
oder besser gesagt: die abscheuliche Karikatur eines Kruzifixes, in Holz geschnitzt und mit einer grellen, obszönen Farbe bemalt. Ein Goya hätte nicht etwas Schreckeinjagenderes schaffen können. Fahle stellte die Lampe auf den Tisch. »Was Sie hier sehen, ist nichts Geringeres als eine Kapelle zu regelrechtem Teufelsdienst«, sagte er. »Hier hielt Jörgen Uhl seine Schwarzen Messen ab.« Ich fühlte Monikas warmen Körper an meiner Seite; sie hatte mich instinktiv am Arm gepackt, während sie Fahle anstarrte. »Und worin bestand die ›Schwarze Messe?‹« fragte sie mit fast flüsternder Stimme. »Ich glaube, daß ich in irgendeinem Kriminalroman etwas darüber gelesen habe, aber ich bin mir nie darüber klargeworden, worauf das eigentlich hinaus sollte.« Unser Wirt hatte sich neben der Paraffinlampe auf den Tisch gesetzt; er verschränkte die Arme, während er langsam mit den Beinen pendelte. »Die Schwarze Messe«, sagte er, »ist die höchste kultische Handlung des Satanismus; sie ist Vintras zufolge das große Opfer, das der Bock, der Böse, an dem Lamm vollbringt, um die Macht zu erlangen. Sie ist das apokalyptische Tier, das seinen Rachen öffnet, um die Gerechten zu verschlingen. Sie ist Gottes Schwert, von Satan gestohlen, um Gott selbst damit zu treffen. In ihrem Wesen ist sie eine Parodie der katholischen Messe. Eine glänzende Schilderung der Schwarzen Messe ist in Huysmans' ›Labas‹ enthalten; übrigens etwas für Sie, Järn. Was geschieht, ist in kurzen Zügen folgendes: die Gemeinde versammelt sich um den Priester, der in ein zinnoberrotes Meßgewand gekleidet ist mit einem umgekehrten Kreuz auf dem Rücken - dem Zeichen, daß Christi Herrschaft zu Ende ist. Rot gekleidete Chorknaben schwingen Räucherbecken, die einen betäubenden, erstickenden Dunst ausströmen. Der Priester beginnt mit dem Ritual, das in einer entsetzlichen Verhöhnung und Verfluchung des Kruzifixes besteht; es gipfelt damit, daß er -61-
die heiligen Hostien besudelt, das Brot und den Wein, auf die sich dann die Gemeinde stürzt. Das Ganze endet in einer wüsten Orgie, wobei Männer und Frauen das Gefühl haben, sie paaren sich mit dämonischen Wesen - Inkuben und Sukkuben - oder sogar mit Satan selbst - dem großen priapeischen Bock. Es ist der schäumende Aufruhr der Unterwelt gegen die tausendjährige Unterdrückung der Menschennatur durch die Kirche. In diesem Raum sind vor hundertfünfundzwanzig Jahren ziemlich makabre Dinge geschehen; diese Wände haben viel gesehen. Werfen Sie übrigens einmal einen Blick auf die Wand dort.« Er hob die Paraffinlampe, und wir sahen, daß an der Wand einige seltsame - offenbar hebräische - Zeichen in roter Kreide standen. »Diese Striche dort erzählen eine ganze Menge. Das ist Jehovas kabbalistisches Monogramm - Jod und He -, aber umgekehrt geschrieben - der okkultistischen Lehre zufolge die furchtbarste aller Blasphemien. Chavajoh - der wahre okkulte Name des Teufels.« »Welch ein Museum von Narrheiten!« rief Arne aus. Ein paar große rostbraune Flecken auf dem Tisch hatten meine Aufmerksamkeit gefangen. Ich deutete darauf: »Was ist denn das, Fahle? Weinflecken?« »Eher Blut. Es geschah oft, daß Frauen während der Messe nackt auf den Altar ge legt und mit Blut besprengt wurden, damit sie die in den Lebenssäften enthaltenen magischen Kräfte Mumienkräfte nennt Paracelsus sie - aufnehmen sollten. Es ist nicht unwahrscheinlich, daß es sich sogar um Menschenblut handelt; das wurde für besonders wirksam angesehen. Die französischen Hexen des 17. Jahrhunderts stahlen oder kauften Kinder zu diesem Zweck; die Hexe La Voisin hatte auf ihren Schwarzen Messen zweitausendfünfhundert Kinder geopfert, ehe sie gefaßt wurde. In solchen Zusammenhängen kann man die viel verleumdeten Hexengerichte vielleicht besser -62-
verstehen.« Ich verspürte plötzlich, wie eine Welle der Übelkeit in mir aufstieg; ich empfand einen intensiven Abscheu vor diesem Ort. Fahle hatte offenbar meine Reaktion wahrgenommen, denn er sah mich an und lächelte: »Sie haben wohl fürs erste genug?« »Ja, danke«, murmelte ich. »Ich glaube, für heute reicht es aus.« Wir gingen wieder die Treppe hinauf und wechselten sofort das Gesprächsthema, als wir in die Stube traten. Den Rest des Nachmittags war Fahle nur der bezaubernde und angenehme Gastgeber, und als wir gegen acht Uhr aufbrachen, hatten wir alle Annehmlichkeiten genossen, die ein physisches Wohlbehagen bedingen. Trotzdem empfand ich es fast als eine Erlösung, wieder an die frische Luft zu kommen. Während das Pferd uns im Zuckeltrab heimwärts führte, unterhielten wir uns über die Ausbeute unseres Besuches. Järn ließ seine Bewunderung für Fahles großes Wissen um okkulte Dinge erkennen, für seine umfassende Geistesbildung überhaupt; während Arne seiner Hochachtung für Küche und Keller Ausdruck gab. Monika machte geltend, daß sie ihn für einen Haustyrannen halte - und zwar einen von der übelsten Sorte-, was ich vorbehaltlos unterschrieb. Ich glaube aber, daß wir alle recht stark von seiner Persönlichkeit gefesselt waren. Wir hatten nur noch wenige hundert Meter bis zum Kaperhof vor uns, als sich etwas Neues und in hohem Grade Unerwartetes ereignete. Bisher hatte ich immer nur aus zweiter Hand erfahren, daß sich seltsame Dinge auf dem Hof zutrugen; doch hatte das meine Skepsis nicht zu erschüttern vermocht. Wir Juristen wissen ja, wie unzuverlässig Zeugenaussagen sein können. Nun bekam ich zum ersten Male etwas mit eigenen Augen zu sehen. Weit vorn auf dem Wege sahen wir eine Gestalt laufen; es war eine Frau. Hin und wieder mäßigte sie ihr Tempo, um Atem -63-
zu schöpfen, lief dann aber wieder schneller, als ob sie von etwas Entsetzlichem verfolgt werde. Bald erkannten wir, daß es Marie war, und kurz darauf hatte sie unseren Wagen erreicht. Die Ärmste hatte kaum natürliche Anlagen zum Marathonlauf, und nun hatte sie ihrem umfänglichen Körper das äußerste abgerungen; sie war nahezu blau im Gesicht, und ihr Atem ging wie bei einem erregten Tier. Aus ihren Augen leuchtete das kalte, nackte Grauen. »Der Hund!« schnappte sie. »Der Hund! - Tass - es ist furchtbar - o Herrgott.« »Aber was in aller Welt soll das bedeuten, liebe Marie?« rief Arne aus, indem er ihr in den Wagen half, wo sie wie ein abgeschossener Vogel sofort niedersank. Monika mußte ihr den Arm um die Schulter legen, um sie zu beruhigen. Nach ein paar Minuten Wiederbelebungsarbeit kam sie so weit zu sich, daß sie erzählen konnte, was sie erlebt hatte. Tass - der kleine Elchhund - war den ganzen Nachmittag in der Nähe des Hofes herumgestreift; vor einer ha lben Stunde war er dann in die Küche gekommen, um etwas zu fressen zu bekommen. Plötzlich hatte er angefangen, sich höchst seltsam aufzuführen; mit allen Anzeichen des Mißbehagens schnüffelte er in der Luft, als ob er etwas Fremdes und Abstoßendes wittere. Dann hatte er böse geknurrt und gekläfft - nach dem Treppenhaus hin und hatte wie ein Rasender mit den Pfoten an der Tür gekratzt. Marie hatte - halb geistesabwesend - die Tür geöffnet, und wie ein abgeschossener Pfeil war Tass die Treppe zum Obergeschoß hinauf geflogen; sie hatte ihn den Korridor entlang laufen hören - in Richtung auf das gelbe Zimmer. Dort muß die Tür offenbar angelehnt gewesen sein, denn Marie hatte gehört, wie sie aufgeschoben wurde. Einen Augenblick darauf war das Haus von einem Mark und Bein erschütternden Hundegeheul erfüllt, einem so entsetzlichen Ton, daß das Mädchen alles fallen ließ, was sie in den Händen hielt; zwei Teller waren auf dem Fußboden zerbrochen. Aber das Geheul -64-
hatte nur eine Sekunde gedauert, dann herrschte wieder Grabesstille. Was war mit dem Hund geschehen? Marie hätte um ihr Leben nicht gewagt, nach oben zu gehen; sie hatte sich nach einigen Minuten zu uns auf den Weg begeben. Ihre Wangen flammten hektisch, während sie mit uns sprach. Das Pferd hielt vor dem Hof; wir sprangen aus dem Wagen und nahmen im Wettlauf die Treppe hinauf vier Stufen auf einmal. Vor der Tür des gelben Zimmers - sie war geschlossen blieben wir allesamt stehen, als ob wir uns scheuten, sie zu öffnen. Ich sah, daß auch Arne jetzt nervös war, er wies ähnliche Anzeichen wie an jenem Vormittag in Oslo auf; seine rechte Hand ballte und öffnete sich fieberhaft. Doch er war es, der die Initiative ergriff: er legte mit einer Bewegung, die unbefangen wirken sollte, zwei Finger auf die Klinke und drückte sie herab. Wir anderen folgten ihm ins Zimmer. Der Anblick, der sich uns dort bot, durchfuhr mich wie ein elektrischer Stoß. Vor uns auf dem Boden lag der Elchhund tot in einer Blutlache; seine Brust war von einer großen Stichwunde aufgerissen. Das Gesicht war unheimlich zerfetzt, wie von den Klauen einer ungewöhnlich starken Katze. Einige Sekunden lang blieben wir alle wie gelähmt stehen. Järn war der erste, der etwas sagte: »Sieh einmal an«, murmelte er. »Nun bricht es los, meine Freunde, nun bricht es los...«
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FÜNFTES KAPITEL Experiment mit einer alten Kommode »Und dabei hatte ich diese Reise als eine Art Urlaubsfahrt angesehen«, sagte Arne und wischte sich den Staub von den Knien, als er sich nach der Untersuchung des toten Hundes aufrichtete. »Ich hatte eigentlich damit gerechnet, morgen schon nach Oslo zurückkehren zu können - nachdem ich Paul als Verwalter eingesetzt habe. Aber ich sehe ein, daß ich genötigt sein werde, meinen Aufenthalt zu verlängern. Das ist ja eine tolle Geschichte! Ich reise nicht, bevor dies hier aufgeklärt ist.« Järn lächelte triumphierend - wie ein Untergangsprophet, auf den niemand hatte hören wollen und der sich nun freut, daß seine Prophezeiungen eintreffen. »Aber wie stellst du dir denn eine Erklärung hierfür vor?« fragte er mit milder Ironie. »Es konnte doch unmöglich jemand hier hereinkommen. Die Haupttür hattest du ja abgeschlossen, bevor wir gingen, so führte der einzige Durchgang durch die Küche. Und dort hielt Marie sich auf.« »Marie hatte die Küche vielleicht für einige Minuten verlassen«, wandte ich ein. »Es kann sich jemand hereingeschlichen haben, während sie für einen Augenblick im Keller oder in einem der Zimmer war.« »Das hätte der Hund merken müssen.« »Aber das tat er ja auch, nicht wahr?« »Gewiß«, räumte Järn ein. »Aber erst, als dieser unbekannte X, von dem ihr redet, sich hier oben im gelben Zimmer befand. Ihr müßt euch übrigens darüber klar sein, daß Hunde - und viele andere Tiere ebenfalls - vieles ahnen und wahrnehmen, was für die meisten Menschen verborgen ist.« Arne lächelte angestrengt. -66-
»Du meinst also, daß der - Mörder, so werden wir ihn wohl nennen können, einfach plötzlich hier auftauchte? Daß er als eine Art übernatürliches Wesen durch das Dach oder durch die Wand gekommen ist?« »Ganz recht«, sagte Järn und ließ sich sehr würdevoll in einem Empirestuhl nieder. »Und du nennst dich Kriminalschriftsteller? Ich bildete mir ein, daß dein Beruf voraussetzt, daß du eine Situation einigermaßen analysieren kannst - zumindest ein so leichtes Problem. Es sollte doch nicht so schwierig sein, eine Erklärung dafür zu finden, wie der Hundemörder ins Haus gekommen ist. Hier sind ja zahllose Fenster, die er erbrochen haben kann, und schließlich kann er ja mit Hilfe eines Dietrichs durch die Haupttür gekommen sein.« »Aber welches Motiv mag der Betreffende nur gehabt haben, daß er den armen Hund tötete?« fragte Monika. Sie stand neben mir und war blaß wie eine Anemone. Ich spürte, daß sie zitterte. »Diese Person interessiert sich offenbar für irgend etwas hier im Hause«, antwortete Arne. »Er ist hinter irgend etwas her. Und da ist es klar, daß er erst den Hund aus dem Wege räumen mußte, da dieser ihn sonst bei der nächsten Gelegenheit aufspüren würde. Wenn wir annehmen, es sei derselbe Mann, der hier schon früher ›gespukt‹ hat, so hat er höchstwahrscheinlich ein bestimmtes Fenster, das er von außen öffnen kann, ein Fenster, das in einen der unbewohnten Räume führt, die nie betreten werden. Ja, in diesem Riesenhaus würde es mich gar nicht wundern, wenn er sich auf längere Zeit in einem dieser Räume häuslich niederließe, einen Schlafsack mitbrächte und hier übernachtete, um hin und wieder bei passender Gelegenheit ein wenig zu spuken. Ich halte es nicht für ausgeschlossen, daß er sich in diesem Augenblick irgendwo im Hause ve rsteckt hält. Daher schlage ich vor, daß wir jetzt das ganze Gebäude -67-
durchsuchen und alles, vom ersten bis zum letzten Zimmer, genauestens durchkämmen.« Das klang nicht besonders angenehm, war aber wohl trotzdem das Vernünftigste, was wir tun konnten. Mit Taschenlampen bewaffnet durchstreiften wir das ganze Haus, von dem riesigen, pechschwarzen Dachboden bis hinunter in die großen, eiskalten Kellerräume. Überall, wo nicht wir selbst oder Arnes Leute schon gewesen waren, wirkte alles so verstaubt und vergessen, als ob seit hundert Jahren niemand seinen Fuß dorthin gesetzt habe. Wir kamen in ein Zimmer, das Arne vergessen hatte, als er uns das Haus zum ersten Male zeigte; die Lichtkegel unserer Lampen glitten über Stühle, Tisch und Flur, alles von fingerdickem Staub bedeckt. Alle Fenster und Türen waren sorgfältig abgeschlossen, und wir fanden kein Anzeichen, daß ein Fenster geöffnet worden wäre. »Das muß ein ganz routinierter Einbrecher gewesen sein«, bemerkte Arne; »wahrscheinlich ist er mit Hilfe eines Nachschlüssels frech durch den Haupteingang gekommen und hat ihn wieder hinter sich abgeschlossen. Und dann ist er einfach zur Küchentür hinausspaziert, als Marie sie bei ihrer Flucht offenstehen ließ. Der Hund überraschte ihn also, als er sich in dem gelben Zimmer befand, und er mußte ihn niederstechen. Gleichzeitig muß sich die mächtige Teufelskatze, die unser unbekannter Freund anscheinend überall mit sich führt, auf den Hund gestürzt und ihn übel zugerichtet haben.« »Aber da ist immer noch etwas, was ich absolut nicht verstehe«, sagte ich. »Aus welchen Beweggründen sollte ein Mensch mit einer großen schwarzen Katze auf den Fersen hier im Hause herumschleichen? Was sucht er? Einen alten Seeräuberschatz hinter einer der Kommoden? Wenn ihn die Gewinnsucht treibt, dann sollte es doch genug hier geben zur Deckung seines Bedarfs. Die Wände bersten ja förmlich von Wertsachen, aber es sieht doch nicht danach aus, als ob daran -68-
gerührt worden sei.« »Das kann ich vorläufig noch nicht sagen«, räumte Arne ein. »Wahrscheinlich haben wir es mit einem Verrückten zu tun. Aber das macht die Lage ja nicht gerade erfreulicher.« Wir waren mit der Durchsuchung fertig und standen unten in der Halle. Die Taschenlampen hatten wir abgeschaltet, um die Batterien zu sparen, und wir konnten einander nur undeutlich in dem schwachen Schimmer des Spätsommerabends wahrnehmen. Einer von uns zündete eine Zigarette an, und das Aufzischen des Streichholzes enthüllte Järns spöttisches Lächeln. »Aber wie sieht denn deine Theorie aus?« fragte Arne ein wenig verdrossen. »Ich habe mir noch keine endgültige Theorie gebildet«, antwortete Järn. »Aber ich möchte dich daran erinnern, daß ich dich bereits im Winter, als du den Hof kauftest, vor den Kräften warnte, die möglicherweise hier wirksam seien. Du entsinnst dich vielleicht ›Jonas Korps Rache‹? Bisher wurden nur stumme Tiere getroffen. Doch keiner von uns weiß, wie die nächste Katastrophe aussehen wird. Wenn ich an deiner Stelle wäre, würde ich jetzt, da es noch Zeit ist, jeden Versuch aufgeben, etwas an diesem Hause zu ändern.« »Aber das ist ja glatter Irrsinn!« Arne ging mit den Händen in der Tasche unruhig auf und ab. Dann blieb er direkt vor Järn stehen. »Du hast vielleicht Angst, daß du selbst auch von dieser ›Rache‹ getroffen werden könntest? Du wagst wohl nicht mehr, deinen Fuß in dieses Haus zu setzen?« »Nein, nur zu gern, wenn ich willkommen bin. Ich bin allzu sehr Kriminalschriftsteller und Wissenschaftler, um mir eine solche Chance zu Beobachtungen aus erster Hand zu vergeben. Außerdem meine ich, daß ich selbst völlig außerhalb der Gefahrenzone stehe. Du bist es, der vorsichtig sein sollte, Arne. -69-
Ich warne dich.« Es schienen außer Järn noch andere mit der Rache des Kaperkapitäns zu rechnen. Auch unsere liebe Marie hatte dieser drohenden Möglichkeit ins Auge gesehen; als wir in die Küche kamen, fanden wir sie reisefertig angezogen und von Koffern und Paketen umgeben. Sie dachte nicht daran, auch nur noch eine Nacht auf dem Kaperhof zuzubringen; nicht eine Stunde länger als notwendig wollte sie unter einem Dach bleiben, wo dergleichen passierte. Wir mußten dafür sorgen, daß sie sofort nach Hause fahren konnte; sie wohnte fünf oder sechs Kilometer entfernt. Zum Glück zeigte sich Järn sofort von seiner ritterlichsten Seite und stellte sich als Kutscher zur Verfügung. Noch einmal wurde das Pferd vorgespannt, und zehn Minuten später hörten wir sie in das Abenddunkel hinausfahren. Arne und ich nahmen inzwischen jeder einen Spaten und begruben den toten Hund zwischen einigen Büschen vor dem Hause. »Ich bat Marie vorhin, Eivind Dörum nichts davon zu erzählen«, sagte Arne. »Aber man kann wohl ebensogut den Wind bitten, nicht mehr zu wehen; morgen weiß selbstverständlich der ganze Ort davon, und Pastor Flateland wird seiner Gemeinde im Bethaus noch mehr Teufelsangst einjagen. Dörum selbst wird sicher meinen, die Sache mit seinem Hund sei unsere Schuld. Wenn es nicht sein eigenes Tier gewesen wäre, dann hätte ich übrigens angenommen, daß er selbst hier auf seinem ehemaligen Grundstück herumgeistert; er ist verrückt genug dazu. Er ist nicht umsonst mit dem alten Jonas verwandt...« Ich glaube nicht, daß ich den Mund zu voll nehme, wenn ich feststelle, daß die zweite Nacht auf dem Kaperhof weit ungemütlicher war als die erste. Es ist kein Kunststück, sich in einem Haus schlafen zu legen, wo irgendeine schwarze Katze umgeht; ist man - wie ich - ein Tierfreund, so besteht kein Grund, sich zu ängstigen. Etwas ganz anderes dagegen ist es, bei unverschlossener Tür irgendwo zu schlafen, wo möglicherweise -70-
ein Wahnsinniger na chts auf den Gängen herumschleicht. Folglich hielt ich es für angebracht, P.G. Wodehouse hervorzusuchen und mich in sein früher erwähntes Werk »Very good, Jeeves!« zu vertiefen. Ich schlug das Kapitel »Jeeves and the Song of Songs« auf und war gerade bei der Stelle angelangt, wo der junge Tuppy Glossop »Sonny Boy« singen sollte (vor einem rasenden Publikum, das ohne sein Wissen diesen Schlager schon viermal an diesem Abend gehört hatte), als ich einschlief. Doch leider versank ich nicht in eine glückliche traumlose Ruhe. Ganz im Gegenteil. Ich hatte in dieser Nacht einen ungewöhnlich scheußlichen Traum. Ich befand mich plötzlich auf einem Kutschbock und hielt Arnes Pferd am Zügel, genau wie am Vormittag, als wir zum Pfarrhof gefahren waren. Doch im Traum war ich ganz allein im Wagen, und statt unter dem dichten Laubdach des Hohlweges dahinzurollen, befanden sich Pferd und Wagen im Kaperhof und fuhren den langen dunklen Korridor entlang, der sich durch das ganze Obergeschoß zieht. Genau wie am Vormittag hielt das Pferd plötzlich an und blieb stocksteif stehen; ich versuchte, es zum Weitergehen zu bewegen, aber es war hoffnungslos. Statt dessen übertrug sich die Angst des Tieres auf mich, und es packte mich das beklemmende Gefühl, daß etwas Entsetzliches geschehen würde. Plötzlich - ohne daß ich gemerkt hätte, daß sich die Tür des gelben Zimmers öffnete - stand ein Mann am Ende des Korridors. Langsam kam er auf mich zu gegangen. Es war derselbe Mann, dem wir im Hohlweg begegnet waren und den Fahle als den Fischer Rein bezeichnet hatte. Als er näher kam, sah ich, daß er völlig durchnäßt war; das Wasser troff von seinem Ölzeug, und ich wußte, daß es Seewasser war. Schon stand er neben dem Wagen. Ich sah ihn nicht mehr, ich starrte über die Ohren des Pferdes hinweg nach vorn, aber ich wußte, daß er da war. Eine eiskalte Woge des Schreckens flutete in mir hoch; ich versuchte vom Kutschbock herunterzuklettern, -71-
aber ich konnte kein Glied rühren. Und mit einem Male fühlte ich, daß ich mich zu dem Manne umwenden müsse, sein Gesicht sehen müsse mit den großen seegrauen Augen und den blicklosen Pupillen... Glücklicherweise erwachte ich in diesem Augenblick, schweißgebadet wie nach einem Dampfbad. Ich brauchte einige Zeit, um mich so weit zu sammeln, daß ich ein Licht anzünden konnte, um »Very good, Jeeves!« wieder hervorzusuchen und fieberhaft über den jungen Tuppy Glossop weiterzulesen. Am nächsten Tage herrschte strahlendes Wetter. Der Himmel war wolkenlos, die Sonne wärmte wie im Juli, und eine ganz leichte Brise trieb niedliche, ungefährliche Wellen gegen den Strand. Die ganze Natur war von der milden und gleichzeitig hektischen Stimmung erfüllt, die den Übergang vom Sommer zum Herbst so unsagbar bezaubernd macht. Nun, da ich am Fenster stand und hinausblickte über die Schären und das Meer, war es mir mit einem Male klar, daß es trotz allem nicht so dumm von Arne war, den Umbau des Kaperhofs zu einem Sommerhotel zu planen. Das schöne Wetter und ein von Monika herbeigezaubertes erlesenes Frühstück ließen uns die gestrigen Ereignisse fast vergessen. Ich war fest entschlossen, den Tag mit vollen Zügen zu genießen, und während ich den duftenden Kaffee eingoß, murmelte ich einen Omar-Chajjam-Vers (den ich eingerahmt zu Hause in Oslo an der Wand hängen habe): Ah, fill the Cup : - what boots it to repeat How Time is slipping underneath our Feet: Unborn TOMORROW and dead YESTERDAY, Why fret about them if TODAY be sweet! Als wir dann Monika beim Aufwaschen halfen, hatten wir nicht mehr das geringste Gefühl von drohenden Wolken am Horizont, und nach einer wohlverdienten Ruhepause und ein -72-
paar Zigaretten gingen wir an den Strand hinunter, um zu baden. Als wir dort unten lagen und uns sonnten, hörten wir einen Motor von der See her rattern. Monika legte ihre Sonnenbrille als Lesezeichen in Margaret Mitchells »Vom Winde verweht«; Arne legte ein dickes Buch über Petroleumbohrungen in Mexiko aus der Hand, und ich blickte von Linklaters »Wirtshaus zum Pelikan« auf - Wodehouse hielt ich nämlich als eine Art Reserve für den Abend zurück. Ein Motorboot tauchte zwischen den Schären auf, gebräunte Arme winkten uns eifrig zu, und eine halbe Minute später gingen Ebba und Tancred Cappelen-Jensen mit je einem eleganten Koffer in der Hand an Land. Nach einer Serie herzlicher Händedrücke und »nein, ist das aber riesig nett!« erklärten sie, daß sie gekommen seien, um uns bei der Aufklärung der Kaperhofmysterien zu helfen. Sie dankten im voraus für die freundliche Einladung, als Arnes Gäste im Hause zu wohnen. Eigentlich hätte ich auf diesen Besuch vorbereitet sein sollen. Am Abend vor der Abreise hatte ich Tancred im Theatercafe getroffen und ihm selbstverständlich von Arnes seltsamen Erlebnissen erzählt. Ich hatte auch erwähnt, daß Arne, Monika und ich sofort hinausfahren würden, um die Dinge etwas näher zu untersuchen. Alle Menschen haben ja ihr Steckenpferd. Die einen spielen Domino, andere züchten Rosen, und wieder andere beschäftigen sich mit Briefmarkensammlungen. Das Steckenpferd des Ehepaars Cappelen-Jensen waren Kriminalprobleme. Wie bereits erwähnt, gehörte Tancred der zum Untergang verurteilten Kapitalistenklasse an und war folglich unglaublich faul. Alle, die ihn kannten, waren deshalb ziemlich überrascht, als er ein sehr gutes Staatsexamen machte und anschließend freiwillig die Stellung eines Polizei- Assistenten in irgendeinem entlegenen Nest übernahm. Dort blieb er länger als ein Jahr und trug dem Vernehmen nach nicht wenig zur Aufklärung des Brekke-Mordes bei, der mehrere Monate auf der ersten Seite -73-
sämtlicher Zeitungen behandelt wurde. Aber diese Arbeit hatte ihn offenbar stark angegriffen, denn als er nach Oslo zurückkehrte, erklärte er, daß er sich mindestens ein Jahr lang ausruhen müsse. Er setzte sich in einen guten Ohrensessel und studierte Kriminalistik, und statt dem Rate des Vaters zu folgen und in eine solide Anwaltsfirma einzuheiraten, vermählte er sich mit Ebba Lindkvist. Ebba bereitete sich mit Psychologie als Hauptfach auf die Erlangung des Magistergrads vor; vor allem interessierte sie sich für Kriminalpsychologie. Übrigens wurde behauptet, daß die gemeinsame Begeisterung für Agatha Christie die beiden zusammengeführt habe. In ihrer behaglichen Wohnung ganz am Ende des Kirkevei hatten sie eine wirklich imponierende Kriminalbücherei: Conan Doyle, Austen Freeman, Chesterton, Biggers, Agatha Christie, Dorothy Sayers usw. Eigentlich hätten Hercule Poirot und Lord Peter Wimsey Trauzeugen sein müssen, als Ebba und Tancred die Ehe eingingen, während Chestertons Detektivpfarrer, Vater Brown, die Trauung hätte vollziehen müssen. Kaum hatte Tancred das Motorboot bezahlt, als er schon anfing uns auszuquetschen. Wir berichteten, was wir erlebt, gesehen und gehört hatten; wir wiederholten die Schilderung des Lehnsmanns über das estnische Schiff und erzählten von dem Mittagessen bei Fahle und dem getöteten Hund. Das Ehepaar lächelte immer skeptischer, vor allem, als ich von dem verängstigten Pferd erzählte und von Järns düsteren Auslegungen. »Ihr werdet bald selbst erleben, daß hier nicht alles mit rechten Dingen zugeht«, sagte Arne mit einem Lächeln. »Da ihr so verdammt ungläubig seid, könnte es ganz interessant sein, ein kleines Experiment durchzuführen. Wir werden unser Gespenst einfach provozieren, dann könnt ihr die Wirkung selbst beurteilen.« »Und wie willst du das arrangieren?« fragte Ebba. Ihre -74-
intelligente Himmelfahrtsnase bekam eine neugierige kleine Falte. »Sehr einfach. Wir stellen nur ein Möbelstück um, der alte Widergänger wird ja rasend, wenn wir sein Mobiliar umgruppieren.« Arne, Monika und ich warfen Bademäntel über und begleiteten die neuangekommenen Gäste zum Hof hinauf. Dort wurden sie sofort in ein großes und recht gemütliches Zimmer einquartiert, worauf Arne sie durch das Haus führte. Sie legten beide einen starken Forscherdrang an den Tag; sie untersuchten die Möbel, Gemälde und Waffensammlung genau, als ob sie Fingerabdrücke erwarteten, oder sie prüften die Tapeten und klopften an die Wände, als ob sie auf der Jagd nach Geheimtüren und verborgenen Räumlichkeiten seien. Schließlich kamen wir in das gelbe Zimmer; hier wollten die Möbel- und Tapetenuntersuchungen des Detektivpaars kein Ende nehmen. Doch schienen sie wenig Erfolg zu haben. Arne sah ihnen lächelnd zu. »Unser lieber Widergänger wird kaum eine Spur hinterlassen«, sagte er. »Übrigens finde ich, daß wir unser Experiment in diesem Zimmer hier durchführen könnten. Ihr seht die Kommode dort - schieben wir sie einfach in die gegenüberliegende Ecke.« Ich hätte Arnes Einfall als einen reinen Scherz aufgefaßt und nicht daran gedacht, daß er ihn durchführen würde. Das war ja alles ziemlich albern. Aber es sah ihm ähnlich. Die Kommode war ein riesiges Möbelstück - mit Platz für Leinen und Laken einer ganzen Gemeinde; Arne, Tancred und ich mußten gemeinsam die Schultern dagegen stemmen, um sie in die andere Ecke zu manövrieren. »Und was meinst du, was jetzt geschehen wird?« fragte Tancred, indem er sich den Staub von den Händen klopfte. »Abwarten«, entgegnete Arne. »Kapitän Korp hat ein -75-
ausdrückliches Verbot gegen derartige Umstellungen erlassen. Sie wird nicht ungestraft bleiben.« »Ich bin mir darüber klar, daß du uns ein Zauberkunststück vormachen willst. Seid so freundlich, die Ärmel aufzukrempeln, damit wir euch kontrollieren können, Herr Bellini. Ihr haltet sicherlich etwas vor uns verborgen.« Arnes Lächeln war sphinxartig geworden. »Ich schlage vor, wir schließen das Zimmer ab und überlassen Ebba den Schlüssel«, sagte er. »Wie ihr seht, sind die Fenster verriegelt, und einen zweiten Schlüssel gibt es nicht. Dann wollen wir auf eure Ankunft anstoßen, ehe wir zum Strand hinuntergehen, um das Badeleben wiederaufzunehmen. Das Wasser ist heute famos. Unten auf den sonnenwarmen Felsen vergaßen selbst Tancred und Ebba, daß sie eigentlich nach Heilandet gekommen waren, um Gespenster zu entlarven. Das Wasser war glasklar, so salzig, daß einem die Haut brannte, und gerade richtig kalt. Wir hatten ein Plateau direkt neben der Bucht gefunden, eine breite Felsbank, auf der wir uns ausruhen und durch sämtliche Poren Sonne und Luft einsaugen konnten, so daß wir nach und nach die ansprechende Hautfarbe der Malaien annahmen - soweit wir sie uns nicht bereits zugelegt hatten. Wir wurden faul und dösig, wie es sich für Malaien gehört; schließlich brachten wir es eben noch fertig, einen Satz zu sagen, müde eine Fliege zu verscheuchen oder eine Seite der Lektüre umzublättern. Aber später am Nachmittag merkten wir, daß es doch schon Herbst geworden war; die Luft wurde kühl, es kam eine lebhafte Brise auf, und wir beeilten uns, ins Haus und in die Kleidung zu kommen. Dann ließen wir uns hungrig an dem vortrefflich gedeckten Tisch nieder. Den Abend über blieben wir plaudernd in der Stube sitzen - jeder mit seinem Drink vor sich - und alle von dem Wohlbehagen durchströmt, das einem idealen Sommertag, mit »doing nothing« verbracht, zu folgen pflegt. -76-
Das Nachtdunkel hatte sich vor die Fenster gelegt; draußen war ein türkischer Halbmond, und ein kalter Wind sauste durch die Stachelbeerbüsche vor der Hauswand. Wir hatten längst Arnes albernes »Experiment« vergessen und befanden uns mitten in einer lebhaften Diskussion über die Hotelpläne unseres Freundes. Er gab seinem Bedauern Ausdruck, wie abergläubisch und düster pietistisch die einheimische Bevölkerung hier war; er fürchtete Scherereien - vor allem von Seiten derjenigen, die ständig ins Bethaus trabten und unter Pastor Flatelands eisenharter Geistesdiktatur standen. »Das kommt von der Sexualverdrängung«, erklärte Ebba und biß energisch in einen Spargel. »Die ganze Bevölkerung von Heilandet sollte zwangsmäßig einem Psychotherapeuten vorgeführt werden. Aberglaube, Angst, Pietismus und dergleichen sitzen im Unterleib. Nervöse Spannungen im Solarplexus...« »Dann muß wohl auch mit Järns Solarplexus etwas nicht in Ordnung sein«, warf Monika ein. »Weshalb nicht ein Bethaus in Verbindung mit deinem Badehotel einrichten, Arne?« schlug Tancred vor. »Du könntest ja Magister der Psychologie engagieren, damit sie der Bevölkerung Vorträge über moderne Sexualmoral halten. Im Laufe eines Jahres werden alle Gespenster verschwinden.« »Ich habe einen anderen Vorschlag«, begann ich. »Du könntest-« Mitten im Satz wurde ich unterbrochen. Direkt über unseren Köpfen erhob sich ein höllischer Spektakel, als ob eine Dampfwalze durch das Zimmer führe. Mit einem kräftigen Stoß, der die Wände erzittern ließ, erreichte der Lärm seinen Höhepunkt; dann wurde alles wieder still. Wir blieben wie gelähmt sitzen und blickten uns einige Sekunden mit herabhängenden Unterkiefern an; keiner von uns sah sonderlich geistvoll aus. Ich fühlte mich von einer ähnlichen -77-
Eiswoge durchschauert wie während des Traums in der letzten Nacht. Arne war der erste, der sich wieder faßte; er erhob sich mechanisch und griff nach der Taschenlampe über dem Kamin. »Jetzt soll mich doch der-!« rief er aus. »Das kam aus dem gelben Zimmer. Gehen wir sofort hinauf; du hast den Schlüssel, Ebba.« Dieses Mal hatten wir es alle gehört; Suggestion war undenkbar. Eine wilde Jagd von Gedanken raste mir durch den Kopf, während wir die dunkle Treppe hinaufgingen. Jetzt - in wenigen Augenblicken - würden wir es sehen - ja, was eigentlich? Ein Tier - einen lebenden Menschen - oder-? Das Traumbild der triefnassen, in Ölzeug gekleideten Gestalt tauchte in meiner Phantasie auf. Vielleicht stand er jetzt unbeweglich in dem gelben Zimmer - direkt vor der Tür - und wartete auf uns? Eins war sicher; wenn wir es mit einem lebenden physischen Wesen zu tun hatten, dann würde er dieses Mal keine Zeit haben, uns zu entwischen. Ich straffte unwillkürlich die Muskeln, um auf einen Kampf vorbereitet zu sein. Wir waren angelangt. Arne leuchtete das Schlüsselloch mit der Taschenlampe an. »Gib mir den Schlüssel!« Ebba reichte ihm ihn. Er steckte ihn ins Schloß und drehte um. Ein paar Sekunden später standen wir im Zimmer. Arne ließ den Lichtkreis über Wände, Fußboden und Decke gleiten. Daß das Zimmer leer war, wußte ich intuitiv in dem Augenblick, als wir über die Schwelle traten. Aber mir entfuhr ein leiser Ausruf, als das Strahlenbündel in eine der Zimmerecken fiel. Eine ziemlich begreifliche Reaktion. Die Kommode war auf ihren ursprünglichen Platz zurückgeschoben worden.
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SECHSTES KAPITEL Arne zieht Kreuz 2 Wenn ich später im Leben an diese Episode zurückdachte, dann stand sie immer wie etwas Flimmerndes, Traumartiges vor mir, wie etwas, das bei wachem Bewußtsein erlebt zu haben, ich eigentlich nicht zugeben kann. Wenn die Menschen der Vorzeit Widergänger sahen oder auf die Unterirdischen stießen, so soll das dem Vernehmen nach keinen sonderlich starken Eindruck auf sie gemacht haben; es bestätigte ja nur ihr Weltbild. Aber wir modernen, hochnäsigen Menschen des technischen Zeitalters, die wir mit dem Kausalgesetz in der Hosentasche einhergehen und das Universum als eine gelöste Geometrieaufgabe ansehen, wir ertragen es ganz einfach nicht, etwas Derartiges zu erleben. Wenn sich auch nur einen Augenblick der Verdacht in uns regt, daß das Rechenexempel nicht stimmt, dann werden wir hilflos wie Kinder, und die große fledermausartige Dunkelangst schlägt über uns zusammen. So standen wir also da, fünf Repräsentanten der souveränen modernen Zivilisation, ausgerüstet mit allem Wissen und aller Besonnenheit, die das Ergebnis eines zwölfjährigen Schulbesuchs, regelmäßiger Zeitungslektüre und gründlicher Studien im »Hausbuch des Wissens« ist, da standen wir und starrten sprachlos und wie erschlagen eine alte Kommode an. Ich warf einen Seitenblick auf Tancred. Seine selbstsichere Miene war einen Augenblick lang verschwunden; er sah aus wie ein zwölfjähriger Schuljunge, der eine Lektion nicht gelernt hat. Aber er gewann schnell die Fassung wieder. »Gehen wir nun ganz systematisch ans Werk«, sagte er mit etwas gekünstelt phlegmatischer Stimme. »Die Fenster sind verriegelt. Und unser Zauberkünstler kann auch nicht Zeit -79-
gehabt haben, durch den Korridor zu entkommen. Also muß hier ein geheimer Ausgang sein.« »Selbstverständlich«, sagte Ebba, die wieder die alte geworden war, mit vor Eifer funkelnden Augen. »Wir sind uns doch wohl darüber einig, daß hier gerade jemand gewesen sein muß, nicht wahr? Und zwar eine ganz robuste Person; ich glaube nicht, daß Kommoden der Drang innewohnt, sich vo n selbst zu bewegen. Auch glaube ich nicht, daß ein solcher Schwergewichtler durch die Vierte Dimension verschwinden kann wie ›Der Geist von Canterville‹ in Oscar Wildes Novelle. Also muß der Betreffende durch die Decke, den Fußboden oder eine der Wände verschwunden sein.« Ebba sprach rasend schnell; ihre Wangen glühten. »Die starke Balkendecke können wir außer Betracht lassen. Ebenso den Fußboden; die Stube liegt ja direkt darunter, nicht wahr? Zwei der Wände scheiden ebenfalls aus : die Fassadenwand mit dem Fenster - und die zum Gang hin. Es bleiben also noch zwei Möglichkeiten. Was liegt hinter dieser Wand da, Arne?« »Eine kleine Kammer, die ich nicht benutze. Und die gegenüberliegende Wand bildet einen Teil der Nordflanke des Hauses. Sollte unser Gast dort durch eine unsichtbare Tür hinausgegangen sein, so wäre er direkt an die frische Luft gekommen ein Fall von etwa sechs Metern.« »Sehen wir uns erst einmal die kleine Kammer an.« Arne holte eine Paraffinlampe, und wir durchsuchten sowohl die Kammer als auch alle übrigen Räume der Etage mit größter Gründlichkeit. Auch die Wände des gelben Zimmers wurden Gegenstand der denkbar sorgfältigsten Untersuchung - doch ohne jedes Ergebnis. Es fand sich nicht die geringste Spur von dem ungebetenen Gast und auch keine Andeutung einer Geheimtür. Tancred sank resigniert in einen Lehnstuhl und trocknete sich die Stirn ab. -80-
»Fünf Punkte für Järn«, seufzte er. »Und fünf Punkte minus für Tancred Cappelen-Jensen. Es geht abwärts mit den exakten Wissenschaften. Mir gefällt das hier nicht. Ich habe Edgar Allan Poe nie leiden mögen.« »Wäre es nicht denkbar, daß derjenige, der den Poltergeist spielt, einfach in der Kommode hier wohnt?« schlug ich vor. »In der untersten Schublade zum Beispiel? Ich könnte mir gut denken, in diesen Ze iten der Wohnungsnot in ein so geräumiges Möbelstück einzuziehen.« Aber mein Versuch, die Sache ins Lächerliche zu ziehen, fand keinen Anklang. Arne gähnte und schlug vor, daß wir in die Koje kriechen sollten; er habe morgen früh etwas in Lillesund zu besorgen und wollte gern noch ein bißchen Schlaf haben. Übrigens habe es ja den Anschein, als ob dieser Klopfgeist nicht direkt bösartig sei; er operiere hauptsächlich vor vierundzwanzig Uhr und störe nicht die Nachtruhe. Die Nachforschungen könnten ja morgen fortgesetzt werden. Gute Nacht, meine Damen und Herren. Ich war etwas erstaunt, wie ruhig er das Ganze plötzlich nahm. Er hatte doch nicht selbst dieses Schauspiel inszeniert? Bei Arne war nichts unmöglich. Ich lag noch eine Weile grübelnd da, nachdem ich mich hingelegt hatte. Aber ich mußte den Verdacht fallenlassen. Arnes Alibi war in Ordnung. Der Hund war getötet worden, während wir uns auf dem Pfarrhof befanden, und er war ebenso entsetzt gewesen wie wir anderen. Wohl wußte ich, daß die Schwäche meines Freundes für Komödien und »surprise parties« keine Grenzen kannte, aber der Hundemord stand auf einem anderen Blatt, das war nicht sein Stil. Aber worin lag dann die natürliche Erklärung? Wer könnte ein Interesse an solchen Narrenstreichen haben? Und wie in aller Welt sollte jemand es fertigbringen... Abstraktes Denken liegt mir wohl nicht; ich schlief schon -81-
während der Problemstellung ein. Das Sonnenbad tat seine Wirkung; ich schlief erstaunlich gut in dieser Nacht. Die Kräfte des Lichtes sind unfehlbar he ilsam, und ich empfehle hiermit allen, die auf alten Herrenhöfen übernachten sollen, sich mindestens vier Stunden lang vorher zu sonnen, ehe sie sich in das blaue, gelbe oder grüne Zimmer schlafen legen. »Heute gehen wir Karsten besuchen«, sagte Tancred und langte nach der Himbeermarmelade. »Es macht mir Spaß, einmal zu sehen, wie ein Kriminalschriftsteller wohnt, während er seine gehaltvollen Schilderungen von Nachtmenschen und Werwölfen hervorbringt. Ist es weit zu gehen, Arne?« »Ein Weg von zwanzig Minuten.« Arne trank seinen Kaffee aus und erhob sich vom Frühstückstisch. »Ihr könnt mich ja zum Anlegeplatz begleiten, dann werde ich euch den Weg zeigen. Ihr werdet schon allein hinfinden; ich muß, wie gesagt, einmal kurz mit dem Motorboot nach Lillesund hinüber.« Ebba, Monika, Tancred und ich gingen den schmalen Pfad am Ufer entlang. Draußen über dem Wasser kreisten schreiende Möwen, der Seewind brachte einen urfrischen Tang- und Salzgeruch mit, einen Dunst wie vom Morgen aller Zeiten. Tancred ging mit einem geistesabwesenden Ausdruck und kaute auf einem Streichholz; es war ihm deutlich anzumerken, daß er ein kniffliges Problem wälzte. »Nun?« bemerkte ich. »Was machen die grauen Zellen? Funktionieren sie?« Er schüttelte den Kopf. »Mehlsuppe«, brummte er und spuckte Streichholzfasern aus. »Zähe, unbrauchbare Mehlsuppe. Es ist unfaßbar, daß eine solche Niete wie ich das Staatsexamen machen konnte. Ich begreife tatsächlich nichts von dem, was hier vor sich geht. Selbst wenn wir annehmen, das Zimmer habe einen Geheimausgang - was aber nicht der Fall ist -, ist es völlig -82-
unerklärlich, daß ein Außenstehender die Kommode zurückgeschoben haben könnte. Nur wir fünf wußten von dem ›Experiment‹, und wir verloren einander nicht einen Augenblick aus den Augen. Wir haben es offensichtlich mit einem Zauberkünstler von Houdinis Format zu tun.« »Das Wahrscheinlichste ist wohl, daß irgend jemand versucht, Arne vom Hof zu vertreiben«, meinte Ebba. »Jemand, der darauf spekuliert, daß selbst moderne, aufgeklärte Menschen abergläubisch werden, wenn sie einer starken Suggestion ausgesetzt sind. Der Betreffende bedient sich also der alten Sage - und tut es sehr wirkungsvoll.« »Aber Herrgott, das ist doch eine entsetzlich banale Erklärung«, sagte ich. »So lösen ja sämtliche Kriminalschr iftsteller ihre ›ghost stories‹ auf. Abgesehen also von Järn, der mit echten Widergängern operiert.« »Die banalste Erklärung ist immer die richtige«, stellte Ebba fest. »Du mußt nicht zu viel auf Karsten hören, Paul. Er glaubt an Gespenster, weil er damit seinen Lebensunterhalt verdient.« Der Pfad bog auf eine schmale Landzunge hinaus, und vor uns lag eine blaugestrichene Fischerhütte, ein hübsches, gepflegtes Sörlandshaus mit blendend weißen Spitzengardinen vor den Fenstern. Järn war gewiß in mancher Hinsicht eine Bohèmien-Natur, aber offenbar nicht, wenn es sich ums Wohnen handelte; hier war er ein geschworener Anhänger der Ideale des Bürgertums. Ein paar Minuten später öffnete er uns die Tür; er war sehr dankbar, daß wir ihn bei der Arbeit störten. Wir wurden in ein Zimmer geführt, wo mir als erstes einige phantastische Reproduktionen von Breughel und Goya - typisch für den makabren Geschmack unseres Freundes - auffielen. Die Wände waren zum großen Teil mit Bücherregalen verkleidet. Am Fenster stand ein alter Schreibtisch aus Eichenholz, auf dem sich ein paar charakteristische Gegenstände befanden: ein Papiermesser in der Form eines arabischen Krummsäbels, eine -83-
kleine vergoldete Sphinx, die die prosaische Mission hatte, als Briefbeschwerer zu dienen, einige Federhalter mit eingravierten Hieroglyphen und endlich ein riesiger Aschenbecher mit geschnitztem Totenkopf. Eine Unzahl von Zigarettenstummeln verriet, daß der Kriminalschriftsteller eine fruchtbare Periode hatte. Mitten auf dem Tisch lag ein dickes Buch aufgeschlagen. Ich blickte auf das Titelblatt; es war Camille Flammarions »Das Unbekannte«. »Fabelhaftes Material«, kommentierte Järn. »Eine Sammlung von mehr als fünfhundert okkulten Beobachtungen, wissenschaftlich analysiert. Stoff für meine nächsten ze hn Bücher.« »Du siehst den Wald vor lauter Bäumen nicht«, bemerkte ich. »Hier geschehen doch gleich um die Ecke die unheimlichsten Dinge. Weshalb begräbst du dich in Büchern, statt dir den Stoff direkt aus dem Leben zu holen?« Und ich erzählte ihm meine Geschichte von der Kommode. Er war gleich Feuer und Flamme. »Habe ich es nicht gesagt? Bedarf es wirklich noch weiterer Beweise, um den Amerikaner zu bewegen, sich den Kohlenstaub von der Hornbrille zu putzen? Solche Menschen wollen ja nicht sehen, gegen die Dummheit-« »Gegen die Dummheit kämpfen selbst Kriminalschriftsteller vergebens«, unterbrach ihn Tancred und warf sich auf das weiche Sofa. »O du alter mondsüchtiger Werwolfmann, Freund und Bruder aller Toten, gib uns einen Drink. Wir sind fahrtenmüde Wanderer, die Schutz und Gastrecht in deinem Haus suchen.« Järn holte Gläser und eine Flasche Club Port. »Ich würde gern etwas mehr über diesen Fahle erfahren«, sagte Monika, »und über Lizzie. Die Leute interessieren mich wirklich. Erzähl, was du weißt, Järn...« »Über Fahle weiß ich nicht viel mehr als ihr«, antwortete -84-
Järn. Er hat etwas von. einer Sphinx an sich und hat keinem Menschen von seiner Vergangenheit erzählt - außer daß er viele Jahre in Amerika gelebt hat und dort wohl als Geistlicher tätig war. Nic ht einmal seiner Frau hat er sich anvertraut. Ich kenne Lizzie seit fast einem Jahr; ihr Schicksal ist recht seltsam. Im Alter von dreizehn Jahren verlor sie ihre Eltern und wohnte von da an abwechselnd bei ihren Verwandten, die sie bei jeder Gelegenheit fühlen ließen, daß sie von ihrer Gnade lebte. Im vorigen Jahr kam sie von Horten nach Lillesund, um dort bei ihrem Onkel und ihrer Tante zu wohnen. Die beiden taten ihr Bestes, um den letzten Lebensmut aus ihr herauszuschikanieren...» »Sie wirkt wahrhaftig nicht, als ob sie über den Björnsonschen Überschuß verfüge«, warf ich ein. »Eher ist sie vom Ibsenschen Schwermut geprägt. Wie alt ist sie übrigens?« »Erst einundzwanzig Jahre. Das Mädchen ist intelligent und hätte sich längst einen guten Job beschaffen können. Aber ihre verwünschte Familie wollte sie nicht freigeben, ehe sie mündig war...« »Jede Person, die das achtzehnte Lebensjahr vollendet hat, kann selbständig Abmachungen über Annahme von Arbeit treffen«, wandte ich ein. »Kommentar Ragnar Knoph: ›Norwegisches Recht‹, § 15.« »Also gut. Jedenfalls haben sie ihr die Ohren vollgepumpt mit Phrasen über Pflichtgefühl und Dankesschuld, und mit ihrer weichen Natur hat sie sich gebeugt und ihr Dasein als Mädchen für alles fortgesetzt. Da tauchte also Fahle in der Arena auf. Er traf sie zufällig in einem Laden - eines Tages im April, glaube ich -, sie kamen ins Gespräch, und er machte gleich einen überwältigenden Eindruck auf sie. Sie vertraute sich ihm an, und das Ende vom Liede war, daß er ihr eine Stellung als Haushälterin auf dem ›Pfarrhof‹ anbot. Sie sagte mit Freuden zu; endlich hatte sie die Chance, auf eigenen Füßen zu stehen; dieser Fremde hatte ihr plötzlich eine Art magischer Kraft -85-
gegeben, sich von der Familie loszureißen. Nach einem entsetzlichen Streit mit Onkel und Tante zog sie nach Heilandet. Einen Monat später war sie mit Fahle verheiratet. Anscheinend hat in Amerika das moderne Tempo selbst die Theologen angesteckt.« »Aber es ist doch klar, daß er sie ebenfalls unterdrückt«, erklärte Monika. »Sie kann kaum jemals unselbständiger gewesen sein als jetzt; den Eindruck habe jedenfalls ich von dem Verhältnis. Diese Heirat, glaube ich, wird sie noch einmal bereuen. Mir gefällt der Fahle nicht; ich finde, der Mann hat etwas Verschlagenes und Undurchsichtiges an sich - und dann sein ekelhaftes Gerede von Hexen und Teufelsanbeterei! Ich kann mich mit seinem Aussehen auch nicht befreunden - so ungefähr stelle ich mir die liederlichen Mönche der Renaissance vor...« Wir hatten etwa zehn bis zwölf Minuten geplaudert, als es plötzlich an der Haustür klopfte. Järn ging hinaus und öffnete; einen Augenblick später kam er mit Lizzie zurück. »Wenn man von der Sonne spricht, dann scheint sie«, sagte er. »Wir haben eine volle Viertelstunde lang über dich und deinen Mann getratscht, Lizzie. Nimm Platz, und trink auch ein Glas Portwein; das ist gesund für den Astralleib. Nein, ich vergesse ja ganz vorzustellen: Lizzie Fahle Cappelen-Jensen und Frau...« Ich stellte fest, daß Lizzie in noch höherem Grade als zuvor nervös und unruhig wirkte. Ihre Augen hatten einen merkwürdig gehetzten Blick, wie bei einem jungen Tier, das man in die Falle getrieben hat. Järn nahm sich ihrer väterlich an, zog sie neben sich aufs Sofa und reichte ihr ein bis zum Rande gefülltes Glas. »Du siehst etwas durchgedreht aus, Kleines. Ist etwas Unangenehmes passiert?« Lizzie nahm einen tiefen Zug, und gleich kam Farbe in ihre blassen Wangen; ihre Augen glänzten auf. -86-
»Dieser Rein ist wieder bei meinem Mann«, sagte sie. »Und da halte ich es nicht zu Hause aus. Der Mensch bringt eine merkwürdige Kälte mit, die gleichsam das ganze Haus erfüllt. Ich weiß nicht, wie ich es erklären soll... ich würde es nie wagen, dem Mann die Hand zu drücken... ich habe das Gefühl, sie würde sich wie kalte, schleimige Fischhaut anfühlen. Ich ging also gleich, als er kam, und kam hier herüber. Ich bin gewiß lächerlich nervös - ganz ohne Grund -, aber du pflegst ja so beruhigend auf mich zu wirken, Karsten.« »Was Sie nicht sagen?« rief Tancred interessiert aus. »Kann Karsten auf irgendeinen Menschen beruhigend wirken? Na ja, man hat ja schon von Leuten gehört, die in Madame Tussauds Schreckenskabinett eingeschlafen sind.« »Besucht Rein Sie immer noch?« fragte ich. »Hat er Ihrem Mann noch mehr Sagen zu erzählen? Ist er mit seinem Vorrat nicht bald zu Ende?« »Ich habe keine Ahnung, wovon die beiden miteinander reden«, sagte Lizzie. »Sie schließen sich in einem Zimmer ein und bleiben dort oft mehrere Stunden lang. Ich habe Rein nicht einen einzigen Satz sagen hören; solange ich mich im gleichen Raum befinde, ist er stumm wie das Grab. Übrigens - einmal habe ich seine Stimme doch gehört, durch die Wand. Ich pflege nicht zu horchen, aber...« »Was sagte er?« fragten Monika und ich wie aus einem Munde. »Ich schnappte nur drei Worte ohne Zusammenhang auf: gehen an Land -; vermutlich war er mitten in einer Geschichte. Seine Stimme war heiser und flüsternd, und ich verstehe nicht, woher es kommt, aber mir wurde gleich ganz schwindlig und elend; ich mußte mich hinlegen. Es war das erste Mal, daß er meinen Mann besuchte - irgendein Tag im Mai. Seither war er regelmäßig bei uns, zweimal in der Woche.« »Wie hast du es eigentlich bei deinem Mann?« sagte Järn und -87-
legte ihr vertraulich den Arm um die Schultern. »Ist alles so, wie es sein soll?« »Mir geht es glänzend«, erklärte sie und wurde plötzlich ganz steif. »Ich habe ihm für so vieles zu danken; er hat mir geholfen, ein selbständiger Mensch zu werden. Aber er verbirgt etwas vor mir, er will nicht damit heraus. Ich weiß, daß er etwas vor mir versteckt...« »Nun?« Tancred beugte sich vor und betrachtete sie aufmerksam. Auch sein Interesse war jetzt offensichtlich erwacht. Lizzie leerte das Glas und fuhr fort: »Oben auf unserem Boden befindet sich ein kleiner Raum, in dem ich nie gewesen bin. Mein Mann hat mir strikt verboten, ihn zu betreten. Er sagt, daß der Fußboden morsch sei; man könne durch die Dielenbretter treten und sich das Bein brechen. Ich habe nicht einmal hineinblicken können; die Tür ist verschlossen, seit ich bei ihm bin. Und ich habe einen solchen Respekt vor ihm, daß ich ihn nicht bitten wollte, mir den Schlüssel zu leihen. Ich möchte mich so ungern in seinen Augen lächerlich machen; er hat gesagt, die Neugierde sei das albernste Laster der Frauen. Aber ich kann mir nicht helfen: ich bin immer neugieriger geworden. Eines Nachts vor einem Monat... könnte ich noch etwas Wein haben, Karsten?« Järn schenkte ihr Glas voll, und sie führte es zum Munde. Erst jetzt fiel mir auf, wie bleich und dünn ihre Hand wirkte. Es war eine Hand, die Rodin hätte modellieren können als Symbol der menschlichen Hilflosigkeit. Ich empfand plötzlich intensives Mitleid. »Unsere Schlafzimmer liegen nebeneinander«, fuhr sie fort. »Und eines Nachts vor einem Monat, als ich nicht schlafen konnte - hin und wieder finde ich des Nachts keinen Schlaf -, hörte ich auf einmal, daß mein Mann aufstand. Es war gegen zwei Uhr, glaube ich. Und ich hörte ihn mit einem -88-
Schlüsselbund rasseln, während er die Bodentreppe hinaufstieg. Kurz darauf ertönten seine Schritte direkt über mir, und dann hörte ich, daß er den verschlossenen Raum öffnete. Ich blieb liegen und lauschte mehrere Stunden lang; es war ganz still dort oben. Am nächsten Tage wagte ich nicht, ihn zu fragen, was er auf dem Boden getrieben habe. Er sollte nicht glauben, daß ich ihn bespitzele; er ist ja sonst immer so rücksichtsvoll gegen mich, und ich wollte mich nicht unwürdig erweisen. Aber sieben-, achtmal konnte ich seither kontrollieren, daß sich dies wiederholte. Ich verstehe nicht, weshalb er kein Vertrauen zu mir hat, warum er etwas vor mir verbergen muß...« Sie fuhr sich über die Stirn; ihre Wangen röteten sich stark. »Ich sollte mich schämen«, sagte sie. »Es ist selbstverständlich furchtbar indiskret und taktlos von mir, derartiges zu erzählen. Aber ich mußte mich jemandem anvertrauen. Und dieser Wein war sehr stark; ich habe wohl die Kontrolle verloren...« Lizzie blieb noch bei Järn, als wir eine Stunde später aufbrachen. Unser Freund hatte keinen Augenblick die väterlich beschützende Rolle aufgegeben. Jetzt ha tte sie ihm offenbar etwas unter vier Augen anzuvertrauen. »Scheint sich außerordentlich für die kleine Frau zu interessieren«, bemerkte Tancred auf dem Heimweg. »Ich hatte den Eindruck, daß er sie genau studierte. Er will sie wohl als Figur in seinem nächsten Schauerroman: ›Die Frau, welche schrie‹ oder ›Das Geheimnis des Dachbodens‹ benutzen.« »Du bist ein schlechter Psychologe, Tancred«, sagte Ebba. »Die Studien, die er in diesem Falle anstellt, sind sicher ganz anderer Art. Und wenn ein Roman daraus wird, dann dürfte er eher den Titel bekommen ›Das Dreieck‹.« »Ich bin wirklich sehr gespannt darauf, Herrn Fahle kennenzulernen«, sagte Tancred.. »Seine nächtlichen Abstecher -89-
auf den Dachboden lassen ja alle möglichen Schlüsse zu.« »Vielleicht gibt er sich einem heimlichen Jugendlaster hin«, schlug Ebba vor. »Ja - und da hat er wohl eine große pornographische Bibliothek auf dem Boden eingeschlossen«, fügte Monika hinzu. »Ich sagte schon, daß mir der Mann nicht gefällt.« Tancred kaute energisch auf einem neuen Streichholz. »Gott weiß, ob er nicht irgendeine Verbindung mit dem hat, was auf dem Kaperhof vor sich geht«, sagte er. »Diesem Bodenraum gedenke ich jedenfalls einen Besuch abzustatten, bevor ich Heilandet verlasse. Und wenn ich einen Einbruch begehen müßte...« Am Abend saßen wir wieder in der Stube des Kaperhofs beisammen. Järn hatte unseren Besuch vom Vormittag erwidert, und Arne war von Lillesund zurückgekehrt. Nach dem Abendessen beschlossen wir, eine Partie Karten zu spielen; wir einigten uns auf Poker. Unser Gastgeber schaffte Whisky und Soda herbei, und dann stürzten wir uns in das edle Hasardspiel. Wir setzten kein Limit, doch im Anfang waren unsere Einsätze klein und wir spielten vorsichtig. Dann versuchte Arne ein paarmal, die Einsätze in die Höhe zu treiben, doch in beiden Fällen wurde er beim Bluff erwischt. Järn schaufelte die Gewinne mit einem alles durchschauenden Lächeln ein. Arne fuhr fort zu verlieren. Er hatte permanentes Pech, wollte aber nicht aufgeben. Er bluffte immer gröber. Komisch, daß er ein so dilettantischer Pokerspieler war, dachte ich. Man sollte das Gegenteil erwartet haben... Wieder wurden die Karten ausgeteilt. Diesmal erhielt ich ein Königspaar. Ich kaufte drei neue Karten und bekam einen neuen König. »Wieviel Karten willst du haben, Arne?« »Keine.« -90-
Arne war bestrebt, wie die Sphinx von Giseh auszusehen, Herrgott, versuchte er uns vorzumachen, daß er auf Anhieb einen straight oder flush erhalten habe? Den Trick kannten wir. Ich eröffnete, indem ich zehn Kronen bot; dieser Pott sollte mein werden. »Erhöhe auf fünfzig«, sagte Arne mit fester Stimme und schob einen Haufen Jetons über den Tisch. Die anderen warfen ihre Karten hin. »Du bist ja ein reicher Mann«, sagte ich. »Du kannst es dir leisten, ein paar von den Grünen zu verlieren. Fünfzig dazu, Herr Direktor.« »Und hundert dazu.« Arnes Antwort kam sofort. Der Jetonhaufen auf dem Tisch wuchs zu einer Cheopspyramide. »Ich will ›sehen‹«, replizierte ich. »Ich bin mir darüber im klaren, daß du nicht ein Zweier-Paar besitzt. Wenn du deine Schande ungern offenbar werden lassen willst, darfst du gern so davonkommen. Kapituliere sofort, dann bekommst du fünf Kronen zum Trost.« Arne legte mit großer Würde vier seiner Karten auf den Tisch. Es waren Herz Bube, neun, acht und sieben. »Karten teilen, verdoppeln oder tauschen«, schlug er vor. Ich blickte ihm in die Augen. Er machte den Eindruck, als ob er sich krampfhaft bemühe, selbstsicher zu erscheinen, wie wenn ein drittklassiger Einbrecher vor einem Geldschrank ertappt wird und versucht, den eleganten Arsène Lupin zu spielen. Übrigens ist dieses Angebot ja fast immer ein Zeichen der Schwäche. »Verdopple«, erklärte ich. »Von nun an solltest du dich an den Schwarzen Peter halten, Arne. Komm jetzt mit der letzten Karte. Ich habe drei Könige.« Mit einem großen, freundlichen Lächeln legte er eine Kreuz zehn auf den Tisch. Es war ein glänzend gelungener Bluff »um die Ecke« - psychologisch vorbereitet durch eine Reihe von Scheinmanövern. Kein Zweifel, daß der Direktor der Mexican -91-
Oil Ltd. Poker spielen konnte. Und ich war es, der sich künftig besser an die harmlosen Kartenspiele für Minderjährige halten sollte. Im Laufe weniger Minuten hatte ich einen Betrag verloren, der zwei Monatsgehältern eines norwegischen Beamten entsprach. Arne legte die Karten zusammen. »So, jetzt schlage ich vor, daß wir zu einem spannenderen Spiel übergehen«, sagte er. - »Ein Hasard, wobei nicht Geld, sondern Nerven eingesetzt werden.« »Aber das ist doch kein Fair Play, das Spiel jetzt abzubrechen«, wandte ich ein. »Hier sitze ich als ein ruinierter Mann und durste nach Revanche...« »Mach dir keine Sorgen um deine Finanzen.« - Arne schenkte neuen Whisky ein und nahm selbst einen fülligen, kugelrunden Schluck. »Die Summe, die du an mich verloren hast, kannst du als einen bescheidenen Vorschuß auf dein Verwaltergehalt ansehen. Nein, jetzt wollen wir ein wirklich spannendes Spiel anfangen. Aber ich muß den Damen leider sagen, daß sie diesmal nicht mitmachen können. Trotz der Frauenemanzipation gibt es noch Wildnisse, wo Männer Männer sind und wo nur die Tugenden des Krieges zählen. Prost Jack London.« Arne sprach in einem Tonfall, als ob er Verse deklamiere; dies deutete darauf, daß er angesäuselt war. Er war in der Shakespeare-Stimmung, offenbar im Begriff, ein kleines Drama auszuhecken. Um eine Kunstpause auszufüllen, ging er zum Kamin und legte einen Kloben auf. Es war ein prächtiger holländischer Kachelkamin, mit Windmühlenmotiven geschmückt. »Nun rede mal normal«, sagte Ebba. »Was für eine Art Spiel meinst du? Und wieso sollen wir Mädchen nicht mitmachen dürfen? Ist es etwas Gefährliches?« Arne wandte sich zu uns um. Er steckte die Hände in die Taschen und blieb mit dem Rücken an das Kaminsims gelehnt -92-
stehen. »Ja«, antwortete er. »Möglicherweise ist es gefährlich. Sowohl psyc hisch als auch physisch. Aber wir sind ja vier kräftige Mannsleute, und unsere Nerven als auch die Muskulatur sind in Ordnung. Ich schlage vor, daß wir jeder einen Einsatz machen, um aufzuklären, was hier eigentlich im Hause vor sich geht. Wir wissen, daß unser Gespenst vorzugsweise das gelbe Zimmer heimsucht. Ich schlage daher vor, daß wir der Reihe nach dort oben übernachten. Allein.« »Warum allein?« rief ich aus. »Können wir unser Nachtquartier nicht zusammen dort einrichten, die ganze Bande? Das wäre doch-« »Beruhigend, meinst du? Ja, schon möglich. Aber dann ist es wenig wahrscheinlich, daß wir irgend etwas erleben oder sehen. Gespenster zeigen sich selten vor größeren Versammlungen. Sie haben Angst, daß man sie am Gewand zupft und das Teleplasma als ein ganz gewöhnliches persilgewaschenes Laken entlarvt. Nein, nur wenn wir einzeln operieren, haben wir eine Chance, dem Feind auf die Pelle zu rücken. Und vergiß nicht die sportliche Seite der Angelegenheit. Ich sagte ja, daß dies ein Spiel sein sollte, eine Nervenprobe.« »Ich finde die Idee ausgezeichnet«, stimmte Järn zu. »Es ist an der Zeit, daß wir methodisch und wissenschaftlich ans Werk gehen. Und es ist an der Zeit, daß ihr verhärteten Materialisten eins verpaßt bekommt, daß euch die Puste wegbleibt.« »Meinst du, daß wir den Kampf mit dem Kaperkapitän völlig unbewaffnet aufnehmen sollen, Arne?« fragte Tancred. »Nur mit einer tapferen Seele und zwei leeren Fäusten? Oder willst du uns mit einem Kruzifix ausrüsten?« »Ich glaube, ein kleiner Browning würde sich besser machen. Ich habe eine 7,65 mm-Pistole, die wir auf den Nachttisch oder unter das Kopfkissen legen können. Wollen wir also mit dem -93-
Spiel beginnen? Ich schlage vor, daß wir die Reihenfolge auslosen, meine Herren.« »Weshalb soll ich kaltgestellt werden?« protestierte Ebba. »Ich erhielt eine Prämie für Pistolenschießen und habe nicht die geringste Angst vor alten Kaperkapitänen. Ich bestehe darauf...« »Ausgeschlossen«, unterbrach Arne. Er hatte sich wieder an den Tisch gesetzt und begann, die Karten zu mischen. »Dies ist ein Spiel für Männer.« Er breitete die Karten fächerförmig vor sich aus. »Zieht nun jeder eine Karte. Pik zählt am höchsten, Kreuz am niedrigsten. Wer am niedrigsten zieht, soll heute nacht im gelben Zimmer liegen. Wer die nächstniedrige Karte zieht, morgen nacht und so fort. Du kannst beginnen, Paul.« Ich war immerhin so angeheitert, daß ich dies für einen recht munteren Einfall hielt. Es ist unglaublich, wie mutig man vom Trinken wird; selbst das feigste Würstchen wird nach drei Whiskys zu einem Cäsar, der kühnen Schrittes in den Rubikon hinauswatet. Aber ich konnte trotzdem eine gewisse Erleichterung nicht verbergen, als ich feststellte, daß ich Pik König gezogen hatte. Arne deckte seine Karte auf; es war Kreuz zwei. »Niedriger kann man leider nicht kommen«, sagte er mit milder Resignation. »Also werde ich die erste Wache schieben.« Järn zog Karo vier und Tancred Karo Bube. »Mit anderen Worten«, fuhr Arne fort, »werde ich das Zimmer heute nacht einweihen, Järn beginnt morgen nacht mit seinen okkulten Forschungen, Tancred folgt übermorgen, und Paul kommt zum Schluß. Er wird das Begräbnis für uns alle besorgen, nachdem wir der Reihe nach am Morgen mausetot im Bett gefunden wurden, vor Schreck gestorben.« Monika verzog das Gesicht. »Mir gefällt das nicht«, sagte sie. »Dies ist ein kindischer -94-
Einfall, der recht unheimliche Folgen haben kann. Man kann ja nicht wissen, was...« »Der Plan ist mit vier gegen zwei Stimmen angenommen«, stellte Tancred fest. »Und die Stimmen der Opposition sind übrigens ungült ig wie heutzutage bei den meisten Abstimmungen in Europa. Ich erkläre mich völlig solidarisch mit unserem Gastgeber: dies ist ein wirklich spannendes Spiel. Und ich glaube, daß wir der Lösung des Problems im Laufe dieser vier Nächte entschieden näher kommen werden.« Järn nickte. »Das glaube ich auch«, sagte er. »Ihr werdet sowohl der Lösung als auch der Nervenklinik - entschieden näher kommen.«
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SIEBENTES KAPITEL Zwischenspiel im Regen Als ich am nächsten Morgen gegen halb zehn herunterkam, herrschte eine richtig gemütliche Frühstücksstimmung in der Stube. Ebba und Monika waren bereits dabei, einen leckeren Tisch zu decken, und die frühen Strahlen der Augustsonne liebkosten den kalten Kalbsbraten, glitten genießerisch über die Ölsardinen und entzündeten ein goldenes Morgenfeuer in der Marmeladenkruke. Tancred hatte sich bedächtig am Kamin niedergelassen, wo er eine alte Nummer der New York Gazette studierte. »Grüß Gott«, sagte ich. »Wie ich sehe, hat unser Gastgeber sich noch nicht eingefunden. Befindet er sich noch unter den Lebenden?« »Ja, ich hörte ihn im Schreckenskabinett herummurksen«, sagte Ebba. »Ich klopfte an, um zu sehen, wie es ihm ginge, aber aus irgendeinem Grunde hatte er die Tür abgeschlossen. Er komme bald, sagte er. Also hat er es wohl überlebt. Doch fand ich, daß seine Stimme etwas belegt klang.« »Das hat nichts zu sagen«, meinte Monika. »Arne ist eitel wie eine französische Hetäre und will sich nicht unter Menschen sehen lassen, ehe er nicht sein Morgenritual beendet - und sein Gesicht mit Lavendelseife bearbeitet hat. Na, da kommt er ja.« Die Treppe knarrte; einen Augenblick später öffnete sich die Tür und Arne kam herein. Mir fiel sofort sein seltsam starrer Ausdruck auf; sein Gesicht wirkte fast wie eine Tonmaske. Die Haut war grau wie nach einer langen Nachtwache. »Aber hör mal«, rief ich aus. »Du siehst ja völlig verkatert aus. Hatte der Kaperkapitän eine Flasche in der Tasche? Oder hast du eine neue Poe-Novelle erlebt? Erzähl uns alles.« -96-
Er schüttelte den Kopf. »Da ist nichts zu erzählen. Ich habe eine schlaflose Nacht gehabt; das ist alles. Und nun bin ich hungrig wie ein Wolf. Gehen wir gleich frühstücken.« Es herrschte ein fast bedrückendes Schweigen am Tisch. Arne saß starr wie ein indisches Götterbild da; seine Bewegungen waren mechanisch und seine Augen völlig ausdruckslos. Wir anderen blickten ihn verstohlen von der Seite an. Seine Hand war unsicher; als er die Spitze seines Frühstückseies abschlagen wollte, traf das Messer den Eierbecher. Eine Assoziation ließ mich an einen nervösen Festredner denken. »Die Nacht war mit anderen Worten eine Enttäuschung?« begann Tancred. »Du hast nichts erlebt, was in das Dagblad zu kommen verdient? Keine Erscheinungen? Keine Geräusche? Nicht einmal ein wenig Kettengerassel?« »Nein, trostlos wenig von der Sorte. Ich hatte eine sehr ruhige Nacht. Fast zu ruhig. Die Stille in diesem Zimmer ist geradezu quälend; sie liegt einem wie ein Druck auf der Brust; ich hatte das Gefühl, taubstumm zu sein. Ich konnte tatsächlich wegen dieser bleischweren Stille nicht einschlafen. Nun, es mag auch an der Schwüle gelegen haben, die in der Luft liegt. Wir werden wohl im Laufe des Tages einen kleinen Wolkenbruch erleben.« Arne schien doch nicht so hungrig zu sein. Nachdem er sich ein paar Scheiben Brot und etwas schwarzen Kaffee einverleibt hatte, erhob er sich und wischte sich den Mund mit der Serviette ab. »Ihr müßt mich jetzt entschuldigen«, sagte er. »Ich muß noch einmal nach Lillesund hinein. Ein paar Ferngespräche mit Kristiansand - und dann muß ich mit dem Architekten und dem Baumeister wegen der Umgestaltung des Hauses reden. Ich weiß, ich bin ein schlechter Gastgeber, aber ihr müßt euch solange auf eigene Faust behelfen. Bis nachher.« Ebba und Monika machten nach dem Frühstück einen kleinen Spaziergang; Tancred und ich ließen uns vor der Sonnenseite -97-
des Hauses nieder. Er war immer noch mit der amerikanischen Zeitung beschäftigt. »Was ist denn an diesem alten Blatt so aufregend?« fragte ich. »Das ist eine Zeitung, die ich ganz zufällig in einem der Zimmer fand. Arne muß sie bei sich gehabt haben, als er im Frühjahr hierher kam. Sie trägt das Datum vom 29. März. Und es ist eine recht interessante Nummer. Sieh selbst.« Er reichte mir das Blatt. Ich konnte nicht gleich einsehen, wieso es etwas sonderlich Interessantes enthalte. Auf der ersten Seite häuften sich die üblichen amerikanischen MammutSchlagzeilen: WHOLESALE MURDER IN OKLAHOMA - FRANCO APPROACHES THE MEDITERRANEAN AT VINAROSPRESIDENT CARDENAS SEIZES ALL FOREIGN OILINVESTMENTS IN HIS COUNTRY-NAZI GANGSTERS TERRORIZE VIENNA usw.
»Aber das sind doch gewöhnliche graue Alltagsnachrichten«, wandte ich ein. »Der März muß ein langweiliger Monat gewesen sein.« »Sieh dir Seite vier an. Unten.« Ich blätterte um. Und dort fand ich es. Eine verhältnismäßig lange Meldung, die zweifellos recht sensationell war. Folgende Überschrift: BIG NORWEGIAN MAN OF BUSINESS BUYS HAUNTED HOUSE!
Es folgte eine sehr gekürzte Fassung der Kapersage, eine schmeichelhafte Charakteristik der Position Krag-Andersens im Geschäfts« leben sowie eine kurze Darlegung seiner Pläne über die Umgestaltung des »haunted house« zu einem Sommerhotel internationalen Gepräges. »Phantastisch!« entfuhr es mir. »Wie in aller Welt kann diese Klein-Kleckersdorfer Nachricht in eine große amerikanische Zeitung gekommen sein?« -98-
»Dergleichen ist guter Füllstoff für sämtliche Zeitungen der Welt. Und du darfst nicht vergessen, daß Arne wirklich›a big man‹mit guten Verbindungen in allen großen Ländern ist. Auch zur Presse.« »Aber welchen Zweck verfolgt er...« »Zweck? Aber Lieber, du kennst doch sein nie ruhendes Bedürfnis nach publicity. Außerdem ist dies wohl der Auftakt zu einem gewaltigen Reklamefeldzug für das Sommerhotel. Aber ich möchte wissen, ob nicht...« »Was möchtest du wissen?« »Na... nichts Bestimmtes. Ich glaube, ich werde jetzt einen kleinen Spaziergang machen. Zum Postamt. Telefonieren will ich auch ein wenig. »Wollen wir nicht ein wenig rudern, Paul?« schlug Monika vor, die kurz darauf zurückkam. »Ich habe solche Lust, mir die Schären ein wenig anzusehen.« »Aber es sieht so aus, als ob ein Unwetter heraufzieht«, wandte ich ein. »Mir gefallen die schwarzen Wattebäusche am Horizont nicht.« »Spielt keine Rolle. Komm, nehmen wir das alte Boot.« Wir ruderten hinaus. Monika lag über die Reling gebeugt und ließ die Finger durch das Wasser gleiten; sie trug ein schneeweißes Kleid, das ihre schwanenweichen Formen betonte. Ich bewunderte das Spiel des Sonnenlichtes in ihrem dunkelblonden Haar, die vornehm gemeißelten Nasenflügel und ihre launisch geformte Ohrmuschel. Was für Dilettanten waren Phidias und Praxiteles doch eigentlich gewesen? Was waren ihre schönsten Marmorphantasien anderes als bloßes Machwerk, verglichen mit einer lebendigen Frau. »Wovon träumst du?« fragte ich. Sie blickte auf und lächelte. »Ich denke an eine Geschichte, die Oscar Wilde einmal Fritz -99-
Thaulow in Paris erzählt haben soll«, sagte sie. »Willst du sie hören?... Ein junger Dichter hatte sich in einer kleinen Stadt niedergelassen; jeden Tag unternahm er lange, einsame Spaziergänge. Wenn er in sein Logis zurückkam, fragten ihn die anderen Gäste, was er erlebt habe. Und er antwortete dann, daß er Tritonen und Najaden gesehen habe, als er über die Brücke vor der Stadt gegangen sei. Und im Waldesdickicht hatten Faune und Elfen getanzt. Jeden Tag erzählte er solche Märchen. Aber als er dann wieder eines Tages über die kleine Brücke ging, da sah er wirklich Tritonen und Najaden im Fluß, und als er in den Wald kam, tanzten dort Elfen und Faune. Als er ins Hotel zurückkehrte, umringten ihn die anderen wie gewöhnlich und baten ihn zu erzählen. ›Was haben Sie heute erlebt?‹ Aber er blieb stumm. Und als sie die Frage wiederholten, antwortete er: ›Nichts‹.« »Wie kommt es, daß du gerade jetzt an diese Geschichte denkst?« fragte ich nach einer kleinen Pause. »Weil ich finde, daß sie eigentlich auf Arne paßt. Unverbesserliche Phantasielügner werden seltsam stumm, wenn sie tatsächlich etwas erlebt haben. Deshalb war er beim Frühstück so still und verschlossen.« »Fängst auch du an zu glauben, daß hier übernatürliche Dinge geschehen?« »Ich weiß nicht mehr, was ich meinen und glauben soll. Ich weiß nur, daß etwas Unheilverkündendes in der Luft liegt. Als ich heute Arnes Gesichtsausdruck sah, bekam ich Lust, sofort wieder nach Hause zu fahren. Aber da ist noch etwas, das mich zurückhält - die Neugierde vielleicht; auch in mir lebt wohl ein kleiner Detektiv. Ruhen wir uns jetzt ein wenig aus, Paul... Herrgott, wie gut es tut, auf dem Wasser zu sein...« Wir hatten vielleicht drei Viertelstunden gerudert, als es zu regnen begann. Während wir plauderten, hatten wir nicht darauf geachtet, wie rasch die schwarzen Wolken heraufzogen. Monika -100-
legte sich einen roten Ölmantel um die Schultern. »Da siehst du: meine schlimmen Prophezeiungen treffen ein. Und nun sind wir bald im Atlantischen Ozean, der schon so manchen Seemanns Grab wurde. Wir müssen sehen, daß wir eine der Inseln hier anlaufen.« Ich ruderte auf eine verhältnismäßig große Insel zu, die wenige hundert Meter entfernt lag; dort, in einer Bucht, erblickte ich eine kleine, graue Hütte. Ich ruderte mit dem Sturzregen um die Wette, der mit jeder Sekunde heftiger niederprasselte; wenige Minuten später vertäuten wir unser Boot an einem Stein und liefen zur Hütte hinauf. Ich fühlte mich naß und durchsichtig wie eine Qualle, als wir endlich eintraten; wir ließen uns auf einigen alten Netzresten nieder und schöpften Atem. Es war nicht gerade eine ideale Unterkunft. Die Wände waren vom Schwamm zerfressen, und an verschiedenen Stellen rieselte das Wasser munter durch das baufällige Dach. Die Luft war mit einem Geruch von verrottetem Tang und Fischabfall gesättigt. Aber trotzdem liegt eine eigene Poesie darin, vor den Naturgewalten geschützt an einer solchen öden Stelle zu sitzen in Gesellschaft einer anziehenden Frau. Durch eine gesprungene kleine Fensterscheibe hinter uns konnten wir die im sintflutartigen Regen zerfließende Welt draußen wahrnehmen. »Hier haben wir es ja fast wie Jonas im Walfischbauch«, sagte ich und legte meinen Arm um ihre Schulter. »Abgesehen davon, daß wir zu zweien sind. Entschieden ein Vorteil, nicht wahr?« Sie blickte vor sich hin. Das Haar klebte ihr fest am Gesicht, die nasse Haut hob den starken, plastischen Bogen ihres Jochbeins hervor. Sie glich einem wilden Mädchen, einem Steinzeitmädchen, das vor einem Lagerfeuer hockt und in die Flammen starrt. Plötzlich preßte sie sich impulsiv an mich. »Ich habe Angst, Paul.« -101-
»Wovor?« »Es sind in diesen Tagen so viele seltsame Dinge geschehen. Die Atmosphäre ist hier gleichsam wie vergiftet. Und vor alle m mache ich mir um Arne Sorgen. Er hat sich so... so verändert. Ich glaube, daß ihm eine wirklich ernste Gefahr droht.« Ihr Parfüm kitzelte mir in der Nase; es war, als ob mir jemand einen Strauß Narzissen ins Gesicht hielt. Ich spürte eine warme, rote Woge in mir aufsteigen; einen Augenblick lang mußte ich mich heftig zusammennehmen, um nicht aus der Rolle des netten Onkels zu fallen. »Du sollst nicht begehren deines Nächsten Weib, Ochse, Esel, Gesinde...« Ich klopfte ihr beschützend auf den Arm. »Nimm es mit der Ruhe, Liebe. Das Ganze ist sicher nichts als ein schlechter Scherz, den irgendein hiesiger Humorist in Szene gesetzt hat. Und mach dir Arnes wegen keine Sorgen; es gehört mehr als ein paar alte Gespenster dazu, um...« Ich hielt inne, als ich bemerkte, wie unaufmerksam sie war. Dann legte ich einen Finger an ihr Kinn und drehte ihr Gesicht zu mir. »Wie steht es eigentlich mit dir und Arne, Monika. Ist das Verhältnis unverändert gut?« Sie blickte zu Boden. Ihre Züge erstarrten. »Ich weiß nicht. Reden wir von etwas anderem, Paul. Weißt du noch, wie herrlich wir es damals hatten, als wir zwei in Oslo waren? Als wir so ausgelassen und verrückt waren...« »Ob ich das noch weiß? Das ist ja nicht mehr als eine Woche her.« »Nein... tatsächlich. Ich fühlte mich so wunderbar frei in jenen Tagen. Als sei ich eine Blume oder ein Vogel. Sonst habe ich immer das Gefühl, mit einer Stahlstange in mir herumzulaufen. Nun kam wieder der Rückfall - diese Zeit hier unten wurde es schlimmer denn je zuvor. Verstehst du, was ich meine? Ach, kannst du mir nicht helfen, Paul... kannst du mir nicht das zurückgeben... das andere Gefühl...« -102-
Sie hob das Antlitz und blickte mich an. Ihre Augen waren nackt und hilflos; ihr Mund öffnete sich mit feuchten Lippen. Sie war wie ein verängstigtes kleines Mädchen, das sich an den Erwachsenen klammert und gleichzeitig Frau, Vollreife Frau mit jeder Faser. Ich wurde völlig überrumpelt. Hatte ich eine Wahl? Sinkt nicht selbst ein Schlachtschiff, wenn es einen Volltreffer unter die Panzerdecke erhält? Der nette Onkel gab den Geist auf und ging auf der Stelle unter. Ich zog sie an mich und küßte sie leidenschaftlich auf den Mund. Oh, diese schönen, unverantwortlichen Augenblicke, wenn die Zeit, unsere alte Tyrannin, im Raum still steht, wenn die ganze eisenharte Welt sich in Duft und Musik auflöst und wenn die Wirklichkeit selbst wieder urfrisch und saftig wird wie die Schnittfläche einer eben geöffneten Ananas? Welcher Champagner aus dem edelsten Weinkeller kann den wirklich echten und nüchternen Rausch des Lebens imitieren?... Ich weiß nicht, wie lange es dauerte - zehn Sekunden, vielleicht auch eine Viertelstunde. Eng umschlungen tranken wir Schönheit aus jeder kleinsten Berührung; ihre Augen waren in einem selig entspannten und genießenden Ausdruck geschlossen; ich tastete den willigen, weichen Körper hinunter. Mit halbem Ohr erfaßte ich, daß der Regen zu einem Wolkenbruch geworden war; kompakte, prasselnde Wassermassen fielen auf das gebrechliche Dach. Eine Urzeitstimmung streifte mich: so hatten die Menschen vor hunderttausend Jahren Schutz gesucht vor der blinden Wildheit der Natur, so hatten sie geliebt und beieinander Wärme am Lagerfeuer gesucht, während Säbeltiger und Mammut dort draußen im Dunkel vorbeidonnerten. Monika, Monika... Die Bezauberung wurde wie mit einem Axthieb gebrochen. Ich merkte plötzlich, daß sie unter meinen Händen erstarrte. Sie hatte den Kopf gehoben und starrte mit weit geöffneten Augen zum Fenster. Dann schrie sie. Ein leiser, aber durchdringender Angstausbruch. -103-
»Paul! Sieh dort!« Als ich mich zum Fenster wandte, durchfuhr auch mich ein elektrischer Stoß des Schreckens. Draußen stand ein Mann, in Ölzeug und Südwester, sein Gesicht war nur wenige Zentimeter von der Scheibe entfernt; ich sah die mageren fahlen Züge hinter Strömen grauen Regenwassers; zwei Augen starrten mit einem seltsam blinden Blick in den Raum. Die Gestalt wirkte verschwommen, als sei sie nur eine Verdichtung der rauschenden Wassermassen. Aber ich hatte den Mann augenblicklich wiedererkannt. Es war der Fischer Rein. Das Gesicht entglitt plötzlich ins Regenmeer, verschwand wie ein Traumbild. Monika und ich blieben eine Minute lang still sitzen; wir warteten darauf, daß die Tür sich öffne. Doch niemand kam. Ich erhob mich mechanisch und ging hinaus. Kein Mensch war zu sehen; die Insel lag wie ein riesiger, nackter Troll da und kehrte dem Unwetter den Rücken zu. Kein anderes Leben war in der Landschaft als zerzauste Heide und niedergeregnete Gräser. Ich stellte fest, daß kein weiteres Boot an dieser Seite der Insel gelandet war: unser eigenes dümpelte melancholisch in der Bucht. Ich kehrte zu Monika zurück. »Der Mann muß menschenscheu sein. Offenbar hatte er keine Lust, uns Gesellschaft zu leisten.« Ich versuchte, das leichthin zu sagen, merkte aber, daß meine Stimme heiser und unsicher klang. Monika blickte mich mit großen verängstigten Augen an. »Hast du gesehen, wer er war?« flüsterte sie. »Es war der Mann, dem wir auf dem Wege zum Pfarrhof begegneten - als das Pferd scheute.« »Ja, ich weiß es. Aber das ist kein Grund, sich von diesem Halbirren bange machen zu lassen.« »Was mag er hier zu tun gehabt haben?« »Er ist wohl an Land gegangen - genau wie wir -, um bei diesem Höllenwetter ein Dach über den Kopf zu bekommen. Findest du das so seltsam?« -104-
»Aber er kam ja nicht herein!« »Nein - er muß menschenscheu sein, wie gesagt. Komplexe also. Du wirst sehen, er hat als Kind eine allzu strenge Erziehung gehabt. Oder vielleicht ist er einfach ein Gentleman, der unser Idyll nicht stören wollte.« Ich spürte selbst, wie unecht meine Worte klangen. »Hast du sein Boot gesehen?« »Nein. Aber die Insel ist groß. Er muß auf der anderen Seite an Land gegangen sein. Hoffen wir, daß er einen anderen Unterschlupf findet.« Ich sprach mit trockener, nüchterner Stimme, um Monika und mich selbst - zu beruhigen. Einen kurzen Augenblick lang hatte mir die Angst wie ein eiskaltes Messer bis auf den Knochen geschnitten. Klarer als je begriff ich, weshalb Lizzie vor diesem Mann eine solche Angst hatte. Aber ich könnte es schwer in Worten ausdrücken. Es war, als ob dieses Wesen etwas vom Schrecken der Öde in der Natur mit sich führte, etwas von dem Grauen des Meeres selbst, das immer in der Volksphantasie gelebt und Ungeheuer gezeugt hat wie den Meermann und den fliegenden Holländer. Wer war er? Ein Fischer gewiß, ein ganz gewöhnlicher Fischer... Monika zitterte immer noch, als ich wieder den Arm um sie legte. »So, so, Liebe. Don't be afraid of the big, bad wolf. Kein Grund zur Nervosität.« Ich glitt ganz natürlich wieder in meine alte Rolle; der nette Onkel war wieder von den Toten auferstanden, Monika beruhigte sich sofort. Aber der schöne, vertrauliche Kontakt war unterbrochen. Und auf eine Weise war ich dankbar für diese makabre Unterbrechung. Hätte ich nicht um ein Haar gegen das Zehnte Gebot gesündigt? Von dem Sechsten ganz zu schweigen... Das Unwetter trieb ebenso plötzlich vorüber, wie es gekommen war. Nach einigen Minuten legte sich der Regen, -105-
und dann brach die Sonne durch die Wolken. Monika erhob sich. »Machen wir, daß wir zurückkommen«, sagte sie. »Ich will nicht gern eine Minute länger als unbedingt notwendig hierbleiben.« Als wir wieder an Bord gegangen waren und ich mich gerade in die Riemen legen wollte, rührte sie an meine Hand. »Vergiß diese Episode, Paul. Ich war nicht recht bei Sinnen; den ganzen Tag war ich nervös gewesen. Und tu mir einen Gefallen, sei so lieb. Erwähne es mit keinem Wort den andern gegenüber. »Selbstverständlich nicht«, erwiderte ich ein wenig über ihren trockenen Ton verstimmt. »Und ich werde deinen Namen auch nicht in mein Triumphbuch eintragen: Paul Rickerts galante Abenteuer - Darf nicht an Kinder unter achtzehn Jahren verkauft werden. Du darfst ganz beruhigt sein.« »Sei nicht albern. So hatte ich es nicht gemeint. Aber es geht die andern nichts an.« Ich ruderte mit langen, zähen und demonstrativ maskulinen Zügen dahin. Die Insel lag hinter uns wie ein schlafender Trollkörper mit mächtigen, unförmigen Muskelknoten. Ich ließ den Blick über die launische Landschaft gleiten; seltsame runde Formationen schossen überall empor wie Kartoffelknollen; tiefe Buchten drängten sich zwischen steile Felswände. Hier gab es zweifellos viele Verstecke für ein Boot. Doch es war keins zu sehen. Während der ganzen Rückfahrt sprachen wir nicht ein Wort miteinander. Monika saß wie auf der Hinfahrt da und ließ die Finger durch das Wasser gleiten. Über uns kreisten die Seeschwalben; ihre Schreie klangen wie eine Diskussion unter erregten Bergensern. Ich spürte plötzlich einen drückenden Schmerz in der Magengegend und wußte: das war das Gewissen, das schlechte Gewissen... das äußert sich ja immer -106-
wie eine schnell wachsende Geschwulst. War ich eigentlich ein völlig moralloser Mensch? Was war das für eine Art, hinter dem Rücken seiner Freunde, die Taten der Finsternis mit ihren Freundinnen zu tun? Ich würde es nicht mehr wagen, nach dem Geschehenen Arne in die Augen zu blicken. In die Ecke, Paul Rickert, in die Ecke! »Vielen Dank, Paul«, sagte Monika, indem sie den winzigen Landungssteg enterte. »Das war ja nicht gerade...« Sie unterbrach sich, als sie meinen vergrämten Gesichtsausdruck bemerkte. - »Nimm es nicht so tragisch, mein Junge. Die Fahrt war schön. Und wir können sie ja ein andermal wiederholen. Wenn der Himmel wolkenlos ist.« Arne kam am späten Nachmittag zurück. Sofort, als er mich erblickte, ging er auf mich zu und legte mir die Hand auf die Schulter. Die Geschwulst in der Magengegend schwoll auf Fußballgröße an. Er konnte doch unmöglich wissen...? Aber zum Glück war es falscher Alarm. »Mein lieber Verwalter«, sagte er. »Es ist wohl an der Zeit, daß du anfängst, die schweren Pflichten zu erfüllen, die du übernommen hast. Kannst du mit Pferden umgehen?« »Das lernte ich auf der Kavallerieschule«, murmelte ich. »Ausgezeichnet. Dann darfst du mal in der näheren Umgebung nach unserem Pferdchen suchen. Wir werden es bald gebrauchen, und außerdem muß es gestriegelt werden. Nimm es mit in den Stall; dort findest du Striegel und Bürste.« Erst als ich eine halbe Stunde später als Pferdefriseur beschäftigt im Stall stand, wurde mir die furchtbare Tatsache bewußt. Ich hatte mich in Monika verliebt. Nicht genug, daß ich gemeinerweise meines Nächsten Frau begehrte; ich war sogar sterblich und bis über beide Ohren in sie verliebt. Ich, Paul Rickert, der immer die Fahne der Freundschaft hochge halten hatte und dessen Tugenden als loyaler und zuverlässiger -107-
Kamerad sprichwörtlich waren, ich befand mich, milde gesagt, in einem Dilemma. Ich sah ein, daß ich kein starker Charakter war, kein strenger Cato oder Cromwell, wenn es um die heiligen Gesetze der Sittlichkeit ging. Wie lange würde ich der Versuchung widerstehen können? - Das hing von Monika ab. War sie in mich verliebt? Oder war es nur auf eine flüchtige Hysterie zurückzuführen, daß sie dort draußen in der Hütte so voll grenzenloser Hingabe ge wesen war? Gewiß war sie hinterher kalt und reserviert gewesen. Und sie hatte mich gebeten, die Episode zu vergessen. Aber war es ihr Ernst? Ich war mir darüber klar, daß ich sie nicht kannte. Sie war gleichsam in zwei verschiedene Menschen gespalten: ein vornehmes, gemessenes und sarkastisches Mädchen der Oberklasse und ein springlebendiges Naturwesen mit einem tiefen Brunnen von Angst und Wildheit in sich. Sie wandelte sich ganz unberechenbar aus dem einen in das andere. Was war Maske und was war Gesicht bei ihr? Wenn das ihr wirkliches Gesicht war, das sie mir in den berauschenden Augenblicken dort draußen auf der Insel gezeigt hatte - dann war sie in mich verliebt. Und in diesem Fall war ich verraten und verkauft. Lebewohl, Freundschaft, lebe wohl Luthers Kleiner Katechismus, lebt wohl alle ethischen Bande unter den Menschen; ich trete hiermit ins Tierreich ein... Ich wurde in meinen philosophischen Betrachtungen dadurch unterbrochen, daß das Pferd plötzlich unruhig wurde. Es warf nervös den Kopf zurück und zuckte lebhaft mit dem Körper. »Nicht doch, es sitzen keine Bremsen auf dir, Schwarzer«, sagte ich. »Steh still. Bilde dir nicht ein, daß du ein Vollblutaraber seist. Deine Vorfahren kamen nur von Nordfjord.« Es antwortete mit einem Wiehern und steilte gleichzeitig hoch, so daß es mir die Striegelbürste aus der Hand schlug. Seine Ohren legten sich flach zurück, und in die großen melancholischen Augen kam ein fast panischer Ausdruck. Es -108-
schielte nach der offenen Stalltür. »Was in aller Welt-?« Ich wandte mich um. Dort standen zwei Männer auf dem Hofplatz. »Kommen wir ungelegen?« ertönte Fahles milde kultivierte Stimme. Ich ging hinaus und schloß die Tür hinter mir. »In keiner Weise«, antwortete ich. »Womit kann ich dienen?« Der andere Mann war eine höchst eigenartige Erscheinung. Er war krumm und schief wie ein alter Postbote; seine Hände waren riesengroß und gichtgekrümmt; wie zwei schwere Heugabeln hingen sie ihm zu den Knien hinunter. Sein Gesicht war unverhältnismäßig breit mit vorspringenden, fast mongolischen Backenknochen; es war teilweise von wochenalten Bartstoppeln bedeckt. Die Augen lagen wie zwei kleine Spalten in der verrunzelten Haut; sie hatten einen gelben, stechenden Blick. Der Mann war in Ölzeug, obwohl kaum eine Wolke am Himmel zu sehen war. »Dieser Herr will gern mit Krag-Andersen sprechen«, erklärte Fahle. »Darf ich vorstellen: Eivind Dörum - der ehemalige Besitzer des Kaperhofs.« Der Mann streckte die eine Heugabel vor; sein Händedruck war kalt und klamm. »Kann ich 'n Direktor jetzt sprechen?« brummte er aus dem Kehlkopf herauf. »Ich hab' da was ganz besonders Wichtiges.« Er hob das rechte Augenlid, während er sprach, so daß das Auge plötzlich kugelrund wurde. Ich mußte unwillkürlich an einen Waldkauz denken. »Ja, Krag-Andersen ist da«, sagte ich. »Kommen Sie nur mit.« Als ich Dörum zum Hauptgebäude begleitete, ertönte wieder ein heftiges Wiehern aus dem Stall, das Pferd riß an seinem Seil. Als ich zurückkam, stand Fahle da und guckte durch das Stallfenster. Er lächelte still. »Das Tier ist nervös. Wirklich ungewöhnlich nervös. Seltsam mit Pferden, nicht wahr? - sie, haben eine besonders enge Beziehung zu der Angst in der Natur, zur Unterwelt des Daseins -109-
überhaupt. Daher hat auch die Volksphantasie Satan mit Pferdefüßen ausgestattet.« »Wollen Sie nicht hereinkommen und eine Tasse Kaffee trinken?« schlug ich schnell vor. Ich fühlte mich ausgesprochen unwohl in der Gegenwart dieses Mannes, vor allem, wenn er auf sein Lieblingsthema zu sprechen kommen drohte. »Nein, vielen Dank«, sagte er mit einer kleinen Verbeugung. »Ich muß wieder heim an meine Arbeit. Ich wollte nur ein wenig frische Luft schnappen. Da traf ich Dörum und begleitete ihn hierher. Ich benutzte die Gelegenheit, ihn ein wenig über die Kapersage zu interviewen.« »Erfuhren Sie etwas Neues?« »Nun ja, besonders mitteilsam ist der Mann ja nicht. Aber er gab mir wenigstens eine interessante Auskunft. Der Sage nach soll jedes siebente Jahr hier ein unbemannt treibendes Schiff vor der Küste gefunden werden. Die Geschichte mit dem estnischen Schiff spielte sich im Dezember 1937 ab. Im November 1930 wurde das Wrack eines englischen Fischdampfers unter analogen Umständen gefunden. Und im Februar 1923 war es ein norwegischer Kutter namens ›Bess‹...« »Weshalb geht dieser Dörum in Ölzeug, wenn strahlender Sonnenschein ist?« fragte ich. Fahle hob den Zeigefinger mit einer vielsagenden Bewegung an die Stirn. »Ich fürchte, daß in dieses Mannes Seele immer trübes Wetter herrscht. Aber nun muß ich sehen, daß ich nach Hause komme. Auf Wiedersehen, Herr Rickert. Grüßen Sie Ihre Freunde.« Zehn Minuten später kam Dörum wieder heraus. Er war knallrot im Gesicht, und seine Augen glühten in phosphorgelber Wut. Mit einem wunderlich humpelnden Rhythmus - wie ein angeschossener Bär - kam er über den Hofplatz gejagt. Als er mich erblickte, hob er drohend die eine Riesenhand. »Pack!« zischte er. »Verdammtes Großstadtpack! Aber ich werd' euch's schon zeigen!« Dann verschwand er den Weg -110-
hinunter. Ich ging zu den anderen hinein. »Hast du ihn geschlagen, Arne?« fragte ich. »Er war ja völlig auf achtzig. Es fehlte nicht viel, daß er platzte.« Arne lachte. »Er wollte den Kaperhof zurückkaufen. Für die Verkaufsumme. Irgendwie hat er Kapital aus dem Boden gestampft. Unter anderem hat er sicher große Beträge von den Betbrüdern der Gemeinde bekommen. Es scheint ein weitverbreiteter Wunsch zu sein, daß das Geschäft wieder rückgängig gemacht wird. Ich lehnte also ab und erinnerte ihn daran, daß er kein Vorkaufsrecht auf das Grundstück habe. Das war ihm bis jetzt anscheinend noch nicht recht klargeworden.« »Du hättest ihn nicht reizen sollen«, warf Monika ein. »Aber Liebe, ich empfahl ihm doch nur, sein Geld für etwas Besseres und Nützlicheres anzuwenden - z.B. für die Anschaffung eines Rasierapparates. Aber er war wohl nicht sonderlich zu Scherz und Kurzweil aufgelegt. Und er tobte natürlich, weil sein Hund hier im Hause getötet worden war. Sonst ist er ja nicht als ausgesprochener Tierfreund bekannt.« Ich erzählte die neue Episode mit dem Pferd. Arne nickte lächelnd. »Diesmal kann ich es verstehen«, sagte er. »Eivind Dörum ist als Tierquäler berüchtigt. Sein Hund ertrug ihn noch zur Not. Aber mit dem armen Gaul hat er es ganz entsetzlich getrieben. Kein Wunder, daß das Tier außer Rand und Band gerät, wenn er plötzlich auftaucht.« »Er drohte mir mit der Faust, als er draußen an mir vorbeiging«, sagte ich. »Er erklärte, daß er es uns schon zeigen werde.« »Mir kam er auch mit recht kräftigen Drohungen.« »Ach nein? Was sagte er denn?« Arne blickte interessiert auf seine wohlgepflegten -111-
Fingernägel. »Er beschwor das Gespenst seines Uronkels. Die ›Krebs‹ würde wiederkehren, sagte er. Jonas Korp würde an Land gehen, und sein Fluch würde mich treffen. Innerhalb eines Monats würde ich ein toter Mann sein. «
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ACHTES KAPITEL Pastor Flateland geht in die Offensive Am Abend hatten Tancred und ich das Schachbrett hervorgeholt und uns in eine Ecke der Stube zurückgezogen, wo wir uns in das königliche Spiel vertieften. Wir waren mitten in einem wilden Muzio-Gambit; ich hatte Läufer und Springer in einem verzweifelten Angriff gegen den Punkt F 7 geopfert und stand nach fünfzehn bis zwanzig Zügen ziemlich miserabel. Tancred, der sonst dem Leben gegenüber eine leichtsinnige Einstellung hat, wird tierisch ernst, wenn es sich um Schach handelt, und nun hatte er mit deutscher Gründlichkeit meine unsolide Eröffnung widerlegt. »Wie ich sehe, hast du deine gierigen Augen auf Monika geworfen«, äußerte er plötzlich und unternahm einen Bauernvorstoß ins Zentrum. »Was sagst du da? Wie kannst du-?« In meiner Verwirrung setzte ich meinen einen Turm aufs Spiel. Ich warf einen ängstlichen Seitenblick ins Zimmer, aber wir waren glücklicherweise allein. Tancred schlug den Turm mit einer gelassenen Bewegung, ehe er fortfuhr. »Mein lieber Freund, ich bin Psychologe und ein ganz guter Beobachter. Und ich will dir eine kleine Warnung geben. Du hast eine Schwäche dafür, Muzio-Gambit zu spielen - auch im Leben, scheint es. Du solltest diese Eröffnung vermeiden. In Bilguers Handbuch wirst du lesen, daß sie für weiß verloren ist.« »Hat sich das Verhältnis zwischen Arne und Monika nicht abgekühlt?« »Von ihrer Seite, aber nicht von seiner. Und er ist von Natur eifersüchtig wie Othello, seltsamerweise. Ich vergaß wohl, -113-
Schach zu sagen.« Da bemerkte ich plötzlich, daß sich über uns jemand auf den Dielen bewegte. »Wer ist denn jetzt in dem gelben Zimmer?« fragte ich. »Ach, das ist nur Karsten, der seine Vorbereitungen für die Nacht trifft«, sagte Tancred. »Heute ist er ja an der Reihe.« »Ich gebe diese Partie auf. Wollen wir mal hinaufgehen und sehen, was er dort treibt?« »Gern.« Als wir in das Schlafzimmer des Kaperkapitäns kamen, bot sich uns ein ganz seltsamer Anblick. Järn hatte das große Bett in die Mitte des Zimmers geschoben; jetzt lag er auf den Knien und zeichnete mit roter Kreid e etwas auf den Fußboden. Er hatte zwei große konzentrische Kreise gezogen, so daß der innere das Bett umschloß. Um den gleichen Mittelpunkt hatte er einen regelmäßigen, fünfeckigen Stern gezogen, dessen Zacken ein wenig über den Außenkreis hinausragten. Also so:
Er hatte angefangen, Zahlen, Buchstaben und seltsame Zeichen in den Ring zwischen den beiden Kreisen zu zeichnen. Er blickte nicht einmal auf, als wir eintraten; sein Gesichtsausdruck war streng und konzentriert wie der eines Forschers am Mikroskop. »Aber es war doch heute gar nicht so warm?« sagte Tancred bekümmert. »Du mußt sehr empfänglich für Sonnenstiche sein, lieber Karsten.« »Was in aller Welt machst du da?« rief ich aus. »Das ist doch wirklich beunruhigend.« »Ich mache ein Pentakel«, antwortete Järn unberührt. -114-
»Ein was?« Järn erhob sich und legte die Kreide aus der Hand. Um seinen Mund spielte das nachsichtige Lächeln des Fachmannes. »Es ist nicht zu erwarten, daß Menschen, die die elementarsten okkulten Tatsachen leugnen, verstehen können, was der Begriff Magie besagt«, sagte er und klopfte sich den Kreidestaub ab. »Ihr seid euch selbstverständlich nicht darüber klar, daß gewisse Zahlen, Buchstaben und geometrische Figuren eine geheime Kraft haben. In unserer Zeit ist die Geometrie ein geistloses Werkzeug für Ingenieure und Landmesser geworden. Von den Zahlen weiß man weiter nichts, als daß sie sich gut im Bankbuch ausmachen. Und daß die Buchstaben jede Bedeutung verloren haben, kann man feststellen, wenn man irgendeinen beliebigen Artikel in der Tagespresse liest. Aber in älteren und weiseren Zeiten dachte man tiefer. Man wußte, daß einzelne Wörter, Zahlenkombinationen und Figuren magische Eigenschaften hatten. Die babylonischen Kabbalisten zum Beispiel...« »Verehrter Dozent«, unterbrach ihn Tancred. »Überspring die Einleitung, bitte. Blättere weiter im Manuskript. Erkläre uns mit nüchternen Worten, weshalb du mit roter Kreide auf den Fußboden kritzelst und unserem Gastgeber große Ausgaben für die Reinemachefrau aufbürdest.« Järn setzte sich langsam in einen der Empirestühle und kreuzte mit würdiger Bewegung die Arme. Bei der Plazierung seiner Beine vermied er es sorgfältig, auf einen der Kreidestriche zu treten. »Wie gesagt, habe ich ein Pentakel gemacht«, sagte er. »Ein Pentakel ist eine Art magischer Festung, die gegen alle möglichen böswilligen Wesen aus den Nachtregionen Schutz gewährt. Oder jedenfalls gegen fast alle. Es ist eine Sicherheitsmaßnahme, die seit vielen hundert Jahren von den okkulten Forschern beachtet wird, beim Studium der -115-
Widergänger zum Beispiel. Ihr werdet solche Experimente in ›Carnacki‹, dem spannenden Buch von William Hope Hodgson, beschrieben finden. Die Konturen dieses Sterns bilden - ob ihr es nun glaubt oder nicht - eine Wand, die kein dämonisches Wesen durchdringen kann.« »Du kannst mit anderen Worten, beschützt von der ›Wand‹, ruhig in deinem warmen Bett liegen und deine Notizen machen? Während Kaperkapitäne, Satanspriester und schwarze Katzen rasch von links hereinströmen?« Tancreds Ironie prallte von Järn völlig ab. »Ganz recht. Eben das gedenke ich zu tun.« Monika war mir den ganzen Nachmittag und Abend aus dem Weg gegangen. Sie war verschlossen wie eine Muschel und wollte offenbar mit keinem anderen als mit Ebba reden. Es beunruhigte mich, daß Tancred in mir lesen konnte wie in einem offenen Buch, und ich forschte aufmerksam in Arnes Zügen, um herauszufinden, ob er auch etwas gemerkt hatte. Doch sah es nicht so aus. Schon gegen zehn Uhr gingen Monika und Ebba hinauf, um sich schlafen zu legen. Wir Männer blieben in der Stube sitzen und ließen es uns bei einem Abendwhisky wohl sein. Schon beim ersten Schluck merkte ich, wie meine Sehnsucht nach Monika wie eine Violinsaite zu schwingen begann. Ich trank vorsieht ig. Der Alkohol hat ja eine bedenkliche Fähigkeit, Hemmungen zu lösen. Doch ich wollte mich von jetzt an beherrschen. Von nun an wollte Paul Rickert den schmalen Pfad der Selbstzucht gehen... Eine Weile war Järn über seinem Glase eingenickt, als er sich schließlich mit einem Ruck erhob. »Nein, nun bin ich zum Umfallen müde«, gähnte er. »Es ist am besten, jetzt gleich in die Koje zu gehen. Gute Nacht also alle miteinander. - Ach ja, ich wollte euch noch um etwas -116-
bitten.« Er nahm einen kleinen, durchsichtigen Briefumschlag aus der Brusttasche und entnahm ihm einige kleine gummierte Zettel und drei Menschenhaare. »Würdet ihr so nett sein, die Tür mit diesen drei Haaren zu versiegeln, nachdem ich mich eingeschlossen habe? Klebt sie auf beiden Seiten der Türspalte fest - parallel übereinander - mit einem Zentimeter Abstand.« Unser Freund schien von Stunde zu Stunde exzentrischer zu werden. Arne schüttelte resigniert den Kopf. »Was soll denn das nun wieder heißen?« fragte ich. »Sei nicht so naiv«, wies mich Tancred zurecht. »Dies ist doch elementare Magie. Schon die babylonischen Kabbalisten bedienten sich dieser Methode, nicht wahr, Karsten? Übrigens finde ich die Idee ausgezeichnet. Nun können wir kontrollieren, ob du dich nicht im Laufe der Nacht aus dem Zimmer schleichst. Und es kann auch keiner zu dir hereinkommen, ohne das Siegel zu brechen.« Wir nahmen die Paraffinlampe und begleiteten Järn hinauf. Er war so schläfrig, daß er sich eben noch die Mühe machte, aus der Hose zu fahren, bevor er ins Bett fiel. Als wir mit der Versiegelung der Tür fertig waren, hörten wir schon seine schnarchenden Atemzüge von drinnen. In dieser Nacht erlebte ich einen neuen Alpdruck. Es begann als schöner Traum: Ich war mit Monika allein auf einer Insel, umgeben von glasklarem, ganz stillem Wasser. Wir saßen eng umschlungen im Mond licht auf einem Felsen und flüsterten einander wunderbare Worte zu. Sie trug ein kleines Goldmedaillon um den Hals; ich öffnete es - in der Hoffnung, mein Bild darin zu finden, doch das Foto stellte ein sich bäumendes Pferd dar. -117-
»Weshalb hast du das Bild eines Pferdes in deinem Medaillon?« fragte ich. In ihre Augen kam ein Ausdruck des Schreckens. »Ein Pferd?« flüsterte sie. In diesem Augenblick erscholl ein Wiehern draußen in der Dunkelheit, ein wilder Laut, der gleichsam die ganze Nacht und den Raum ausfüllte. Ein Menschenschatten tauchte vor uns auf dem Felsen auf; Monika schrie auf und packte mich am Arm. Ich wandte mich um und sah Fahles Gestalt unbeweglich im Mondlicht stehen; sein Gesicht glänzte wie Silber. »Störe ich?« fragte er mit milder Stimme. »Haben Sie das Pferd gehört? Ein ungewöhnlich nervöses Tier, nicht wahr? Sehen Sie dort« - er wies auf die See hinunter; da trieb ein Pferdekadaver mit weit aufgesperrtem Maul. Die großen Zähne waren zu einem häßlichen Grinsen entblößt. »Das ist die Angst in der Natur«, fuhr Fahle fort. »Und nun werde ich Ihnen erklären, weshalb Satan mit einem Pferdefuß ausgestattet ist...« Dieser absurde Traum stand in allen Einzelheiten leuchtend klar vor mir, als ich erwachte. Ich zündete ein Streichholz an und blickte auf die Uhr. Es war halb zwei. Ich legte mich auf die andere Seite und versuchte, wieder einzuschlafen. Doch das ging nicht, diese unheimlichen Bilder ließen sich nicht aus meinen Gedanken vertreiben. So konzentrierte ich mich darauf, den Traum zu deuten. Soweit ich verstand, war er nur ein verwirrtes Mixtum compositum der Dinge, die ich am Tage erlebt hatte, aus dem Zusammenhang gerissene Sätze Stimmungen - zufällige Episoden, die verschmolzen waren. Das Ganze unter Zusatz einiger Eßlöffel freier Phantasie in einem Topf zusammengerührt. Ich entsann mich nun, daß Monika ein solches kleines Goldmedaillon trug; ich hatte es bemerkt, als wir draußen in der Hütte waren. Die Unruhe wollte nicht von mir weichen; sie lag wie ein schmerzendes Geschwür irgendwo in der Herzgegend. Ich stand auf und trat an das offene Fenster, um etwas frische Luft zu schöpfen. Blau und sternenhell lag draußen die Nacht; ich blieb -118-
stehen, bezaubert von der massiven, trollhaften Schwere der Landschaft. Die verkrümmten Stachelbeerbüsche an der Mauer nickten und wiegten sich leise in der Nachtbrise, sie glichen alten Weibern, die mit sich selbst flüstern. Ein Ruck durchfuhr mich, als ich plötzlich sah, daß sich etwas über den Hofplatz bewegte. Dann erkannte ich, daß es der Schwarze war. Ich hatte ihn nach dem Striegeln wieder laufen lassen, aber nun zog es ihn wohl doch wieder zum Stall zurück. Mit einem Male wurde mir klar, daß er es war, den ich wiehern gehört hatte, als ich schlief, und dadurch hatte der Traum seine unheimliche Wendung genommen. Beruhigt ging ich ins Bett zurück. Dann schlief ich traumlos bis zum frühen Morgen. Ich stand in Hemdsärmeln und schäumte von Rasierseife, als Tancred zu mir hereinkam. »Wollen wir nicht einmal sehen, wie es unserem babylonischen Kabbalisten geht?« fragte er. Ich spülte die Seife ab und ging mit ihm den Korridor hinunter. Vor der Tür des gelben Zimmers blieben wir stehen; Tancred untersuchte die drei Haare. »Das magische Siegel ist intakt«, konstatierte er. »Niemand hat diese Tür heute nacht geöffnet. Hallo, Karsten! Lebst du noch?« Keine Antwort. Eine eiskalte Ahnung schoß in mir auf: sollte es möglich sein, daß -? Tancred öffnete die Tür, und wir traten ein. Järn lag unbeweglich mit einem Ausdruck tiefer Bewußtlosigkeit auf dem Rücken. Ich eilte ans Bett und schüttelte ihn. Er stöhnte im Schlaf - Gott sei Dank, so hatte ich mich also zu früh geängstigt. Dann blinzelte er uns aus todmüden Augen an. »Ach, ihr seid es«, murmelte er. »Ich war tief in der Unterwelt. Herrgott, wie fest ich geschlafen haben muß - die ganze Nacht. Wieviel Uhr ist es?« -119-
Weder Tancred noch ich beantworteten die Frage; beide starrten wir entgeistert auf den Fußboden; wir hatten gleichzeitig eine seltsame Entdeckung gemacht. »Da hast du aber Pech gehabt, du alte Schlafratte«, erklärte Tancred. »Du hast ein recht spannendes Erlebnis versäumt. Sieh dir mal den Fußboden an.« Järn setzte sich hellwach im Bett auf und blickte in die von Tancred gewiesene Richtung. »Und es war kein Wunder, daß ihm ein Ausruf der Verblüffung entfuhr« - wie er es selbst in einem seiner Kriminalromane ausgedrückt hätte. Auf dem Fußboden rings um das Bett war eine Reihe deutlich markierter schmutziger Fußspuren zu sehen. Sie zogen sich in mehreren großen Kreisen rund um das »Pentakel« und führten dann zum Fenster hinaus. Und hier standen auch die schweren Schaftstiefel des Kaperkapitäns - einen halben Meter voneinander entfernt, mit den Spitzen zur Wand weisend. Es war, als ob dort ein Wesen gestanden hätte - in breitbeiniger Seemannsstellung -, um aufs Meer hinauszustarren. Tancred ging hin und untersuchte die Stiefel. Er verglich die Sohlen mit den Spuren auf dem Flur. Dann fuhr er mit dem Finger über das Leder und führte ihn an die Zungenspitze. »Die Spuren stammen von diesen Stiefeln«, stellte er fest. »Und sie sind tatsächlich ganz naß - von Salzwasser sogar. Es scheint, daß diese Stiefel auf eigene Faust einen Spaziergang in die See unternommen haben - um dann wieder umzukehren und ruhelos im Zimmer herumzuwandern.« »Seht ihr, daß sich nicht eine einzige Fußspur innerhalb des Pentakels befindet«, sagte Järn. »Dieses Wesen hat mein Bett umkreist und vergebens versucht, die magische Wand zu durchbrechen. Vielleicht bringt euch das zu der Einsicht, daß meine Methoden doch etwas für sich haben? Zu dumm, daß ich ein solches Murmeltier bin; dies hätte ich sehen sollen...« Wir riefen die anderen und setzten sie ins Bild. Wieder -120-
machten wir uns an eine systematische Untersuchung des Zimmers - doch blieb sie ebenso ergebnislos wie die vorhergehenden. Arne zog mich in das nebenan gelegene Kämmerchen. »Hältst du es für möglich, daß Järn selbst dies hier arrangiert hat?« fragte er. »Als eine Art frommen Betrugs? Um die Richtigkeit seiner Anschauungen zu beweisen - he? Er ist ja ein bißchen übergeschnappt.« »Aber wie soll er das gemacht haben?« wandte ich ein. »Das Siegel an der Tür ist unverletzt; dafür kann ich garantieren. Und das Fenster war geschlossen.« »An das Fenster denke ich gerade. Er kann sich mit diesen Stiefeln heruntergelassen haben, ist dann an die See ge gangen, um dann wieder heraufzuklettern und das Fenster hinter sich zu schließen. Vergiß nicht, daß er Kriminalschriftsteller ist.« »Nun bist du ein schlechter Kriminalschriftsteller. Nur indische Fakire können sich ohne Tau aus sechs Meter Höhe herunterlassen. Und im Bettzeug fanden sich keine verdächtigen Falten.« »Arne sank resigniert auf einen Stuhl.« »Ich kapituliere«, seufzte er. »Ich trete in die Gesellschaft für Psychische Forschung ein. Und zwar morgen schon.« Am Frühstückstisch entspann sich eine sehr lebhafte Diskussion über das Geschehene. Aber es kam nichts dabei heraus. Tancred und Ebba versuchten vergeblich durch dieses Gestrüpp von was? wer? wie? und weshalb? zu dringen. Während Järn sich fortgesetzt Vorwürfe machte, daß er so fest geschlafen habe. Arne machte dem unfruchtbaren Gespräch ein Ende, indem er vorschlug, daß wir hinausgehen und baden sollten. Das Wetter war ideal, und ein frisches Bad würde uns nach dieser Geschichte guttun. Der Vorschlag fand warmen Beifall. Wir hatten uns auf unser sonnenwarmes Felsplateau gelegt -121-
und sogen begierig die letzten Strahlen der Sommersonne ein. Das Wasser war azurblau, und weit draußen blinkten die Schären wie ein silberweißer Heringsschwarm. Die Natur war faul und zufrieden wie der Herrgott am siebent en Tage; kleine Wellen leckten sachte an den Uferfelsen. Die Welt des Tages ist die Wirklichkeit, philosophierte ich. Die Welt der Nacht ist Schwindel und Betrug. Es ist Blödsinn, daß es in der Natur etwas geben soll, wovor man Angst haben könnte. Nein, la ssen wir uns jetzt ein wenig den Bauch von der Sonne bescheinen... »Es kommt jemand hier herüber«, sagte Ebba. Ich hob den Kopf. Ganz recht, dort kam ein Mann über die Felsen gegangen - mit langen entschlossenen Schritten. Kein Zweifel, daß er auf uns zu hielt. Er war schwarz gekleidet, wie zu einer Beerdigung; auf dem Kopf trug er einen breitkrempigen flachen Hut ebenfalls schwarz - von der Art, wie ihn die Maler in den achtziger Jahren trugen. Er war Zehengänger und bewegte sich wie ein Wattvogel; über den Handgelenken trug er lange, steife Manschetten, die er bei etwa jedem zehnten Schritt hochzog. Als er näher kam, konnte ich sein Gesicht studieren. Es war sehr schmal und lief in ein spitzes Kinn aus; unter einer sorgfältig gekämmten Stirnmähne lagen zwei eng beieinander sitzende fanatische Augen. Die Nase war lang und scharf, und der Mund saß wie ein dünner Strich in dem bleichen Gesicht. »Was ist das für eine Vogelscheuche?« rief Tancred aus. »Das ist der Savonarola von Heilandet«, sagte Arne und schob seine Sonnenbrille zurecht. »Pastor Flateland. Nun wird es heiter.« Der Mann blieb vor uns auf dem Plateau stehen - zwischen uns und der Sonne. Er stellte sich so, daß sein Schatten auf Arne fiel. »Ich höre, daß Sie sich weigern, den Hof an Eivind Dörum zurückzuverkaufen«, sagte er. Er bemühte sich, hochnorwegisch zu sprechen, aber der Dialekt schlug im Tonfall durch. -122-
»Das stimmt«, räumte Arne ein. »Es ist ein gesundes Geschäftsprinzip, daß man einen Abschluß nicht rückgängig machen soll.« »Aber ich möchte Sie dringend ersuchen, es in diesem Falle zu tun. Ich darf ruhig sagen, daß ich den ganzen Ort hinter mir habe, wenn ich dieses Ersuchen an Sie richte.« »Bedaure - aber da kommen Sie leider vergebens.« »Halten Sie an Ihrem Plan fest, den Kaperhof in ein Sommerbordell umzuwandeln?« »Sie meinen vermutlich ein Sommerhotel?« Arne lächelte liebens würdig. »Fremdwörter sind Glückssache. - Ja, Herr Flateland, an dem Plan halte ich fest. Finden Sie nicht, es ist an der Zeit, daß mal ein frischer Wind durch dieses gottverlassene Nest zieht?« »Sie haben sich in diesem Gedanken verhärtet? Sie wollen ihn wirklich durchführen?« »Ja, seien Sie sicher.« »In diesem Falle werden sie einen Fluch über Heilandet bringen ein Unheil, das den ganzen Bezirk überkommen wird. Sind Sie sie darüber klar? Sehen Sie nicht ein, daß Sie sich zum Sendboten des Teufels machen? Einem Werkzeug Leviathans?« Seine Stimme schwoll und ließ große Kraftreserven ahnen. Mir wurde klar, daß dieser Mann in Betstunden eine große Wirkung haben mußte, wenn er mit vollem Orchester spielte mit Pauken und Trompeten. In einem langsamen Crescendo fuhr er fort: »Ich denke nicht nur an die Hurerei, die in einem solchen Sommerhotel florieren wird, alle die Versuchungen des Fleisches, die das moderne Badeleben mit sich bringt - wenn Menschen schamlos ihre Körper voreinander entblößen. (Hier warf er Ebba und Monika einen strafenden Blick zu.) Ich denke nicht nur an das Kartenspiel, die Trunksucht und Unzucht, die -123-
daraus folgen werden ja, vielleicht werden wir sogar einen Tanzboden und ein Kino bekommen? Ich weiß, daß dies alles Satans Unkraut ist und daß es selbst in frommen und einfältigen Seelen - wie bei den Brüdern und Schwestern unserer kleinen Gemeinde - Wurzeln schlagen könnte. Wir werden uns mit Zähnen und Klauen gegen diese Seuche wehren; die babylonische Hure soll nicht ihren Einzug in Heilandet halten. Aber ich denke nicht allein hieran...« Flateland machte eine Kunstpause und zog seine Manschetten hoch. Dann hob er die rechte Hand mit einer dramatischen Gebärde. Kein Zweifel, daß er sowohl vom lieben Gott wie von der Gemeinde beauftragt war, hier einzugreifen. Nun kam der letzte Satz - maestoso fortissimo: »Ich denke an die handgreiflichen Satansmächte, die hier entfesselt werden, wenn Sie Ihren Plan durchführen. Wir wissen, daß das Teufelswerk bereits auf dem Kaperhof begonnen hat; Schwester Marie hat vor uns Zeugnis abgelegt, was sich hier ereignet hat. Und es wird bald schlimmer werden: das Meer wird seine Toten zurückgeben; der ganze Bezirk wird vielleic ht heimgesucht werden. Wir werden uns nicht mit Ihrem leichtfertigen Spiel mit dem Feuer abfinden, verstehen Sie das? Bruder, gehen Sie in sich und erkennen Sie, daß Sie gefehlt haben; es ist eine große und gefährliche Sünde, die Mächte der Finsternis herauszufordern.« Arne lag immer noch behaglich auf dem Rücken, die Hände über dem Bauch gefaltet. Eine Zigarette wippte zwischen seinen Lippen. »Herr Flateland, darf ich fragen, ob Sie finanziell an diesem Grundstück interessiert sind? Haben Sie und Dörum in aller Heimlichkeit eine kleine Aktiengesellschaft gebildet?« Der Pastor bekam einen noch strengeren Zug um den Mund. »Keineswegs. Aber ich habe dazu beigetragen, daß der erforderliche Betrag zusammenkam. Und nun frage ich Sie zum -124-
letztenmal, Krag-Andersen, sind Sie bereit, den Verkauf rückgängig zu machen?« »Beantworten Sie mir erst eine Frage, Herr Flateland - heißen Sie nicht Alexander mit Vornamen?« »Ja... wieso das?« »In diesem Falle möchte ich mit Diogenes sagen: Alexander, sei so gut und tritt zur Seite, damit die Sonne mich bescheinen kann. Sie haben eine besondere Gabe, Schatten zu werfen, lieber Flateland.« Der Pastor trat unwillkürlich einen Schritt zur Seite, eine komische, abrupte Bewegung, die an einen unbeholfenen Tanzschritt erinnerte. Ebba hatte schon lange mit hummerrotem Gesicht dagesessen; jetzt konnte sie nicht mehr länger an sich halten; sie brach in ein unbeherrschtes Gelächter aus. Zwei böse Flammen schossen in Flatelands Wangen auf; die schwarzen Augen bekamen einen Ausdruck alttestame ntarischen Zorns. In diesem Augenblick war er fast prachtvoll anzusehen. »Wer eines Dieners des Herren spottet, der verhöhnt auch den Allmächtigen«, rief er aus. »Und das rächt sich, meine Freunde, das rächt sich. Ich erinnere daran, was in Davids 68. Psalm, Vers 22 steht: ›Aber Gott wird den Kopf seiner Feinde zerschmeißen, den Haarschädel derer, die da fortfahren in ihrer Sünde.‹ Leben Sie wohl.« Er wandte uns den Rücken zu und ging zum Wege zurück. Nach vielleicht zwanzig Schritten hielt er inne und wand te sich um. »Ich werde Mittel und Wege finden, euch zu vertreiben!« rief er. Dann ging er weiter. Tancred blickte ihm aus großen verwunderten Augen nach. »Solche Menschen, glaubte ich, kämen nur in Kincks Novellen vor«, sagte er. »Aber der existiert ja tatsächlich. Ich bin sehr beeindruckt.« -125-
»Das war Drohung Nr. 2 im Laufe von vierundzwanzig Stunden«, stellte Arne fest. »Meine Popularität scheint zu schwinden.«
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NEUNTES KAPITEL Ein Pfarrhofsboden - und fünf neugierige Menschen Arne und Monika zogen sich nach einer Weile ins Haus zurück; sie wollten sich offenbar allein sprechen. Ich folgte ihnen besorgt mit den Augen; stand eine Bereinigungsszene bevor? War ich vielleicht der Anlaß? Sie wirkten kühl und gemessen. Doch war mir so, als ob es irgendwo in seinen Augen funkelte. Ich hatte die Assoziation einer Verkehrsampel, die rotes Licht zeigt. Wir anderen blieben liegen und genossen das Dolce- farniente-Leben des Badeplatzes. Ebba starrte gedankenvoll auf ihre rotlackierten Zehen. Dann wandte sie sich an Järn. »Du kennst ja die Verhältnisse hier draußen, Karsten. Hast du den Eindruck, daß dieser Flateland ein wohlhabender Mann ist?« »Ja, es heißt, daß er ein paar Dukaten in der Kiste habe«, sagte Järn. »Er ist sicherlich nicht so unempfänglich für die Güter dieser Erde. Weshalb fragst du?« »Er sagte, er habe dazu ›beigetragen‹, daß Dörum nun den Kaperhof zurückkaufen kann. Aber ich glaube nicht, daß dieser Laienprediger Wohltätigkeit betreibt; er hat schon ein gutes Auge für den lieben alten Mammon. Es ist etwas an seinen Fingern, was darauf schließen läßt; er blättert mit ihnen in der Luft, wenn er redet - als ob er die ganze Zeit unsichtbare Geldscheine zählt. Wißt ihr was - nun habe ich eine Theorie, was hier vor sich geht.« »Laß hören, Klein Sherlock.« Tancred stützte sich auf die Ellbogen und lächelte seine Frau aufmunternd an. -127-
»Ich glaube, daß Flateland selbst mächtig scharf auf dieses Grundstück ist. Ihr habt ja bemerkt, wie er das Gesicht verzog, als Arne etwas Derartiges andeutete. Ich bin sicher, daß in erster Linie er den Rückkauf des Hofes finanzieren will; Dörum ist nur ein Strohmann; er figuriert als der Mann mit dem moralischen Recht. Falls Arne jetzt das Haus zurückverkaufte, würde Flateland wahrscheinlich der wirkliche Besitzer werden und mit seine m ganzen Hof hier einrücken.« »Aber wie kann er so albern sein zu glauben, daß Arne diese Goldgrube jetzt zurückverkauft?« wandte ich ein. »Dazu noch gegen die Kaufsumme, die zweifellos lächerlich niedrig war? Arne müßte ja ein vollkommener Idiot sein...« »Nun komme ich zur Pointe. Ich glaube, Flateland hat hier den Widergänger gespielt, sei es auf eigene Faust oder mit Unterstützung seiner getreuen Untertanen. Die Absicht ist klar, die Methode ist recht wirksam; darüber sind wir uns wohl einig. Wenn es sich so verhält, dann hatte er guten Grund zu der Annahme, daß Arne jetzt weich geworden sei und den Hof am liebsten so bald wie möglich wieder los sein möchte. Folglich läßt der Pastor einen Versuchsballon steigen... Ach ja, ich kann mir gut denken, daß sich der Kaperhof zu einem großen flotten Bethaus umbauen ließe - vielleicht auch zu einem kleinen Vatikan - für Papst Alexander I. von Heilandet. Aber leider hat er unsere guten Nerven unterschätzt.« Järn schüttelte den Kopf. »Liebe Ebba, du vergewaltigst die Tatsachen«, sagte er. »Eine gewöhnliche physische Person kann nicht durch Wände und geschlossene Fenster gehen. Wie willst du die Sache mit der Kommode erklären? Oder das, was heute nacht geschah?« »›Das Mysterium der wandernden Langschäfter?‹ Ein feiner Titel, nicht wahr?« Auf Ebbas Nase bildeten sich einige spottlustige Fältchen. »Nein, ich gebe zu, daß es rätselhaft aussieht. Aber ich sah einmal in einem Zirkus, daß eine Dame in -128-
eine Kiste eingeschlossen, durchgesägt und wieder zusammengesetzt wurde. Ohne daß Alleskleber gebraucht wurde. Das war noch seltsamer. Und trotzdem gibt es für solche Zauberkunststücke eine furchtbar einfache Erklärung.« »Nun bekommen wir wieder Besuch«, erklärte ich. Dieses Mal war es Lizzie; aus hundert Meter Entfernung winkte sie uns zu. Sie trug ein kurzes Kleid mit Schmetterlingsmuster; es paßte entzückend zu der zarten Mädchengestalt. Ihre Arme flatterten unbeholfen, während sie den Felsenhang hinunterlief; sie war wirklich reizend; Järns Gesicht strahlte bei ihrem Anblick auf. Ich empfand es jetzt als etwas fast Perverses, daß dieses bezaubernde Mädchen mit dem alten Sonderling Fahle verheiratet sein sollte. »Ich dachte mir schon, daß ihr hier draußen liegt und badet«, sagte sie, als sie uns erreicht hatte. »Darf ich euch ein wenig Gesellschaft leisten?« »Lassen Sie sich nur nieder und fühlen Sie sich zu Hause«, sagte ich. »Wollen wir uns übrigens nicht duzen? Ich heiße Paul.« »Ich möchte mich schrecklich gern mit euch allen duzen«, antwortete sie. »Es ist ein solcher Abstand zwischen den Menschen, wenn man ›Sie‹ zueinander sagt. Ich habe ja keine anderen Freunde hier auf Heilandet, und hin und wieder fühle ich mich schrecklich einsam. Heute ist mein Mann nach Lillesund gefahren und kommt erst gegen Abend zurück. Ich hielt es nicht mehr aus, mutterseelenallein in dem großen Haus zu sitzen; deshalb kam ich hierher.« »Hier bist du immer willkommen«, versicherte Ebba. Lizzie hatte neben Järn Platz genommen; nun saß sie, die Arme um die Knie geschlungen, da und blickte über das Wasser. Immer noch lag eine geheime Unruhe in ihrem Blick; ich merkte, daß sie etwas auf dem Herzen hatte. »Ja, wahrhaftig - ich wollte euch ja noch um etwas bitten«, -129-
begann sie unsicher. »Vielleicht werdet ihr es lächerlich finden, aber... Ich habe also durch einen Zufall entdeckt, wo mein Mann den Schlüssel zum Bodenraum versteckt...« Es entstand eine kleine Pause; wir blickten sie abwartend an. Järn rührte an ihre Schulter: »Du meinst das Kabuff, das du nicht sehen durftest? Und worin er selbst sich oft nachts aufhält?« »Ganz recht. Ich muß wissen, was er dort oben treibt. Es ist, als ob dieses Geheimnis eine Wand zwischen uns bildet; ich halte es vor Neugierde einfach nicht mehr aus. Heute habe ich also die Chance, die Sache aufzuklären. Aber - ich traue mich einfach nicht allein in den Raum; ich bin so idiotisch nervös. Deshalb hatte ich mir gedacht, euch zu fragen, ob - ob -« »- ob wir nicht mitkommen wollen?« vollendete Tancred den Satz. »Ehrlich gestanden, bin ich selbst ebenso neugierig. Nur zu gern, liebe Lizzie, nur zu gern. Wenn du nicht mit diesem Vorschlag gekommen wärest, so fürchte ich, daß ich im Pfarrhof eingebrochen und die Sache auf eigene Faust untersucht hätte. Was meinen die anderen?« »Selbstverständlich kommen wir mit«, sagte Ebba eifrig. »Ich habe eine Schwäche für alte Dachböden.« »Aber geht denn das«, wandte ich zaghaft ein. »Ich meine; ist dies nicht etwas - was wollen wir sagen? - etwas unpassend von uns? Es würde sich weniger gut machen, wenn Fahle...« »Wie gesagt, kommt er nicht vor heute abend nach Hause«, unterbrach mich Lizzie nervös. »Herrgott, ihr müßt ja glauben, ich sei völlig überspannt - und das bin ich gewiß auch. Aber versucht mich zu verstehen; ich hege absolut kein Mißtrauen gegen meinen Mann, im Gegenteil; ich empfinde fast zu viel Respekt vor ihm. So, daß ich nicht wage, mich seiner Verachtung auszusetzen. Aber ich muß diese Unruhe loswerden - und ich wäre euch so dankbar, wenn ihr mir helfen wollt. Findest du, daß das nicht richtig von mir ist, Karsten?« -130-
»Durchaus nicht.« Järn stand auf und begann sich anzukleiden. »Du tust das einzig Richtige. Entschuldige den Ausdruck, aber auch ich habe großes Interesse daran, deinem Mann in die Karten zu sehen.« Einige Minuten später standen wir marschbereit. Anfänglich war ich ein wenig ärgerlich, daß unser hübsches Badeidyll auf diese Weise abgebrochen wurde. Aber nun fühlte ich mich von der Neugierde der anderen angesteckt. Ein feiner kribbelnder Strom der Spannung rieselte mir im Blut - fast wie damals, da ich als Junge mit glühenden übernächtigten Augen den »Schatz auf der Seeräuberinsel« bis in die Morgenstunden las. »Wir wollen noch hinübergehen und sehen, daß wir Arne und Monika mitbekommen«, sagte Ebba. »Dann sind wir ein ganzes Expeditionskorps.« Doch als wir ins Haus kamen, zeigte es sich, daß die beiden fortgegangen waren. Wir hinterließen einen Bescheid und begaben uns nach dem Pfarrhof. Ebba und ich gingen ein Stück vor den anderen. »Ohne Zweifel ist Lizzie von einer Todesangst gegenüber ihrem Mann erfüllt«, sagte sie und köpfte einen Löwenzahn am Wegrand. »Gott weiß, was für ein Mensch er sein mag. Hast du ›Villa Nachtigall‹ von Agatha Christie gelesen? Diese Novelle handelt von einer Frau, die sich Hals über Kopf in einen fremden Charmeur verliebt und ihn heiratet. Sie hat keine Ahnung von seiner Vergangenheit, wird aber von Mißtrauen geplagt, und eines Tages wird ihr klar, daß er ein Lustmörder ist. In einer Kommodenschublade hatte er ein Bündel alter Zeitungsausschnitte abgeschlossen, die von einem Verfahren gegen ihn ha ndelten. Einige Verbrecher bewahren solche Dinge auf, um sie hin und wieder hervorzuholen und alte Erinnerungen aufzufrischen. Vielleicht ist dies ein analoger Fall?« »Nein, pfui Teufel, hör auf«, rief ich aus. »Offen gesagt, ist mir der Mann selbst unheimlich.« -131-
Unwillkürlich mußte ich an den Alpdruck denken, der mir den Schlaf gestört hatte. Noch einmal stand alles wieder klar vor mir: das Bild in Monikas Medaillon - der Pferdekadaver, der im Wasser trieb - Fahles Gesicht mit dem silberweißen Mondglanz. »Du wirkst so geistesabwesend, Paul. Wälzt du Probleme?« »Ich hatte einen scheußlichen Traum heute nacht, und der quält mich noch. - Vielleicht kannst du ihn mir deuten? Du hast ja Freud studiert.« »Laß hören.« Ich erzählte ihr den Traum in allen Einzelheiten - d. h. den Anfang veränderte ich ein wenig; ich wollte nicht, daß Ebba Verdacht wegen meiner Gefühle für Monika schöpfen sollte. »Im allgemeinen kann man einen Traum nicht deuten, ohne daß man die Vorgeschichte des ›Patienten‹ kennt und seine freien Assoziationen zu den Elementen des Traumes hört«, sagte Ebba, als ich mit dem Erzählen fertig war. »Aber in diesem Falle läßt es sich schon machen; dein Traum ist überaus einfach; er operiert mit ganz elementaren Symbolen.« Sie bekam einen Ausdruck strenger und kategorischer Wissenschaftlichkeit, während sie sprach; es fehlte ihr nur noch ein weißer Kittel und eine große Hornbrille zum Forscher. »Also - halt dich gut fest: das kleine Goldmedaillon ist ein weibliches Sexualsymbol; es repräsentiert Monika als Geschlechtsobjekt. Im Traum öffnest du das Medaillon und findest das Bild eines sich bäumenden Hengstes darin - war es nicht so?« »Inwieweit es ein Hengst oder eine Stute war...«, begann ich. »Selbstverständlich war es ein Hengst. Also ein männliches Sexualsymbol - das in diesem Falle Arne repräsentiert; sie trägt ja auch sein Bild im Medaillon...« »Davon hatte ich keine Ahnung«, wandte ich ein. Mir war jetzt klar, daß ich dieses Thema nie hätte zur Sprache bringen -132-
sollen. »Das Unterbewußtsein weiß solche Dinge. Mit anderen Worten wurde angedeutet, daß Arne Monikas Geliebter ist - was ja auch zutrifft. Aber der Traum enthüllt außerdem, daß du sie begehrst... du öffnetest ja das Medaillon, um dein eigenes Bild darin zu finden, nicht wahr - und du willst sie allein besitzen. Folglich sorgst du dafür, daß dein Rivale liquidiert wird; im nächsten Bild siehst du einen Pferdekadaver im Wasser treiben. Das Symbol ist beibehalten; in Wirklichkeit siehst du Arnes Leiche. Der Traum drückt einen Todeswunsch aus.« »Aber Fahle? Weshalb sollte ausgerechnet er auftauchen?« »Das ist eine Art Wiederholung der Episode beim Stall gestern, als das Pferd scheu wurde. Du verbindest den Mann mit der Angst, nicht wahr - du räumtest vorhin gerade ein, daß er dir unheimlich ist; du siehst wohl in ihm etwas Geheimnisvolles und Mephistophelisches. Wenn man im Traum das Verbotene tut, dann meldet sich immer die Angst - meist in Form einer Gestalt, die man fürchtet. Du entsinnst dich vielleicht aus deiner Kindheit: immer, wenn du etwas ausgefressen hattest, pflegte der Butzemann oder der Teufel in deinem Gewissen aufzutauchen...« »Nie im Leben«, protestierte ich. »Ich habe eine vernünftige Erziehung gehabt und bin nie im Leben abergläubisch gewesen. Und nun will ich nichts mehr hören. Du beschuldigst mich ja der schrecklichsten Dinge. Hurerei und Haß und Mord und ja, war da sonst noch was?« Ebba lachte. »Nimm es nicht so tragisch, lieber Paul. Wir sind doch allesamt Raubtiere und Gesetzesbrecher, wenn wir schlafen. Der Traum ist eine Art Ventil, verstehst du; wir müssen ab und zu etwas von unserem unterdrückten Triebleben abreagieren. Desto anständiger werden wir, wenn wir wieder aufwachen.« Ich gelobte mir, daß ich nie mehr jemandem meine Träume -133-
erzählen würde, jedenfalls keinem, der Psychologie studiert. Vor allem war ich besorgt, weil auch sie mich als Sünder gegen das Zehnte Gebot entlarvt hatte. Wie sollte das nur enden? Sie erriet meine Gedanken. »Sieh nicht so schuldbeladen aus. Ich werde keinem Menschen erzählen, daß du in Monika verliebt bist; ein Analytiker muß diskret sein, weißt du. Übrigens kann ich dich damit erfreuen, daß auch sie eine große Schwäche für dich hat.« »Ich weiß wohl, daß sie mich als Kameraden schätzt, aber glaubst du, daß sie -?« »Durchaus. Und dies ist nicht gemeine Psychoanalyse, Paul; es ist mein nie versagender weiblicher Instinkt, der mir das sagt. Kopf hoch, junger Mann.« »Aber was meinst du, wie ich es anpacken soll? Arne ist ja mein Freund...« »Ja, und selbst wenn du ihn im Traum ermordest, willst du ungern seine Freundschaft verlieren? Er wäre wohl nicht begeistert, wenn du ihn aus dem Felde schlägst. Aber ich glaube doch, daß dieses Verhältnis zwischen Arne und Monika jetzt so gut wie ausgebrannt ist; der Bruch kann jeden Augenblick kommen. Und da lohnt es sich wohl, die kurze Zeit geduldig zu sein. Alles kommt zu dem, der wartet, Paul...« Wir waren im Hohlweg angelangt, in der engen Schlucht. Die Sonne sprühte durch das Laubdach und bildete eigentümlich flimmernde Lichteffekte; es war, als ob wir uns in einem grünen Aquarium bewegten. Ein paar große gelbe Schmetterlinge flatterten lautlos über unseren Köpfen. Alles ringsum war so still, als ob die Natur ihren Mittagsschlaf abhielte. Die drei anderen hatten schließlich Ebba und mich eingeholt. »Genau hier war es, wo das Pferd damals plötzlich stehen blieb«, erklärte Järn. »Ist das der Pfarrhof, den wir dort sehen?« Tancred wandte -134-
sich an Lizzie. Sie antwortete nicht auf die Frage, sondern starrte wie hypnotisiert auf das Haus. »Gott, da ist der Mann schon wieder«, rief sie aus. Auf der Treppe vor dem Haupteingang stand ein Mann. Er hatte offenbar gerade den Türklopfer angeschlagen, und jetzt blickte er abwartend zu den Fenstern des Obergeschosses hinauf. Ich kannte die Gestalt: es war der Fischer Rein. Dann wandte er uns das Gesicht zu; er hatte unsere Schritte gehört. Selbst auf hundert Meter Abstand meinte ich die blicklosen, toten Augen zu sehen. »Ich verstehe nicht, weshalb er uns immer noch aufsucht«, flüsterte Lizzie. »Mein Mann kann doch nichts mehr mit ihm zu bereden haben.« »Aber ich hätte nichts gegen ein Schwätzchen mit ihm«, sagte Tancred trocken. »Vorausgesetzt, daß er Sinn für Geselligkeit hat. Nein, leider geht er schon wieder...« Der Mann wollte offensichtlich nichts mit uns zu tun haben. Er entfernte sich mit schnellen Schritten in der anderen Richtung des Weges. Als wir das Haus erreichten, verschwand er um eine Biegung. »Er scheint kein ganz reines Gewissen zu haben«, meinte Ebba. »Hallo, was war das?« Es raschelte in den Büschen auf der anderen Seite des Weges; ich bemerkte einen dunklen Schatten, der über das Gestrüpp des Wegrandes hinschoß. »Das war ein Tier«, konstatierte ich. »Und ein gar nicht so kleines. Gibt es hier Füchse auf Heilandet?« »Du hättest lieber Luchse sagen sollen«, meinte Järn. »Das war nämlich eine Katze. Eine mächtige schwarze Katze. Seht, da ist sie wieder...« Und nun sahen wir sie alle; sie lief den Weg entlang in der Kurve, hinter der Rein gerade verschwunden war. Sie war ein -135-
wirklich imponierendes Exemplar ihrer Gattung. Ich mußte an Arnes Schilderung des Tieres denken, das er im gelben Zimmer gesehen hatte: »... ein Ungetüm von einer Katze, langhaarig und zottig wie ein Bär...« »Vielleicht ist es das Katzenvieh, das den Kaperhof heimgesucht hat«, sagte ich. »Jenes Phantom, das den letzten Verwalter ins Bockshorn gejagt - und den armen Hund so übel zugerichtet hat. Wir fanden ja Kratzwunden von Katzenkrallen an der Hundeleiche.« »Kann sein«, sagte Tancred. »Sie paßte nicht so übel zu der Beschreibung. Zu diesem Drama gehört eine schwarze Katze, und sie spielt eine nicht unwichtige Statistenrolle.« »Es sah so aus, als ob sie hinter Rein herliefe. Glaubst du, daß sie ihm gehört?« »Nicht unwahrscheinlich; der Bursche wird mir immer interessanter. Hatte er bei seinen früheren Besuchen hier eine Katze bei sich, Lizzie?« »Nicht daß ich wüßte - man nimmt doch keine Katzen so mit? - Aber vielleicht war sie draußen geblieben... wollt ihr nicht eintreten?« Lizzie hatte die Tür geöffnet; wir begleiteten sie durch den Korridor in die Stube. »Wartet hier einen Augenblick; ich werde eine kleine Petroleumlampe holen. Es ist ziemlich dunkel auf dem Boden.« Während wir auf sie warteten, packte mich wieder ein beklemmendes Gefühl. War es nicht kindisch von uns, um nicht zu sagen unverschämt, den privaten Bezirk eines Fremden auf diese Weise auszuspionieren? War es nicht ein frecher Einbruch in das Privatleben eines anderen? Aber schließlich hatte uns ja die Dame des Hauses darum gebeten wie um einen Gefallen. Und obgleich sie wohl ein wenig überspannt war, sah ich jetzt doch die Berechtigung ihrer Handlungsweise ein. Ich war selbst Zeuge gewesen, wie einschüchternd Fahle auf sie wirkte, und es -136-
lag etwas Hinterhältiges und Heimliches in seiner geschmeidigen Liebenswürdigkeit. Daß Lizzie neugierig war, konnte ich gut verstehen; eine Frau muß das Recht haben zu wissen, was ihr Ehemann in ihrem gemeinsamen Heim treibt. »Dies ist aber wirklich ein feiner alter Stich«, erklärte Tancred. Er stand in einer Ecke des Zimmers und studierte mit Kennermiene einen verblichenen Kupferstich. Wir anderen traten näher. Das Bild hing ziemlich verborgen in einer Nische und stellte einen Mann im Ornat eines Geistlichen dar. Die Details waren raffiniert ausgearbeitet fast wie auf einem japanischen Aquarell. Vor allem hatte der Künstler viel Sorgfalt auf die Hände verwandt, die der Mann lose im Schoß gefaltet hielt; sie waren schmal und wohlgeformt, hatten aber zugleich etwas Insektenhaftes an sich; sie wirkten unbeschreiblich abstoßend. Leider war der Stich von einigen großen, braunen Flecken verschandelt; einer davon verdeckte fast das ganze Gesicht des Mannes. »Schade, daß es so zugerichtet ist«, sagte Tancred. - »Das Gesicht hätte ich gern gesehen.« »Ein interessantes Bild«, murmelte Järn. »Die Hände erinnern mich an...« »Entschuldigt, daß ich euch so lange warten ließ«, sagte Lizzie, die in diesem Augenblick mit der brennenden Lampe hereinkam. »Ich mußte erst neues Paraffin auffüllen.« »Wen stellt dies hier dar, Lizzie?« Tancred deutete mit einer Kopfbewegung auf den Kupferstich. »Jörgen Uhl, den Kaperpfarrer - dem ursprünglich dieser Hof gehörte. Was ihr dort im Hintergrunde seht, ist Lillesund Anno 1810. Ich habe das Bild nie ausstehen können... Nun schlage ich vor, daß wir gleich auf den Boden gehen; ich will es so gern hinter mir haben. Nachher lade ich euch zu Kaffee und Likör ein - ich habe das Wasser schon aufgesetzt.« Von Lizzie geführt, gingen wir die schmale Treppe hinauf, -137-
deren Stufen von der häufigen Benutzung ausgehöhlt waren; kurz darauf standen wir auf einem geräumigen altertümlichen Dachboden. Das Tageslicht sickerte sehr spärlich durch ein winzig kleines, verstaubtes Fenster. Wir folgten Lizzie in die Dunkelheit hinein, unsere Schatten glitten wie groteske Schimären hinter uns her. Ich fühlte, wie sich etwas Klebriges über mein Gesicht legte, und fluchte laut, während ich die Spinnweben wieder abwischte. Im Schein der Paraffinlampe sah ich eine mächtige Spinne sich an der Wand herunterlassen und auf dem Fußboden verschwinden. Lizzie blieb am Ende eines kleinen Ganges stehen; hier stellte sie die Lampe neben eine niedrige Tür mit verrostetem schmiedeeisernem Schloß. Sie zog einen rostigen Schlüssel aus ihrer Kleidertasche und steckte ihn in das große Schlüsselloch. Aber sie zögerte, ihn umzudrehen. »Hier ist es«, flüsterte sie. »Aber - ich traue mich nicht, als erste hineinzugehen. Will einer von euch so nett sein und...« »Darf ich«, sagte ich und trat zur Tür. Ich bin nie besonders mutig gewesen. Aber hin und wieder überwindet die Neugierde meine angeborene Feigheit, und ich habe immer eine Schwäche für geheime Gänge und dunkle, unbekannte Räume gehabt. Als Zwölfjähriger lancierte ich einen neuen Sport in meinem Freundeskreis: Die Kellerforschung. Nie wurde mein Rekord von den anderen Jungen geschlagen: allein in der Gegend von Majorstua hatte ich hundertzwölf Keller inspiziert - von denen der in Suhmsgate 3 der spannendste war. Mehrmals kam ich in die Klemme, wenn ich auf wü tende Hauswarte stieß, die in ihrer Torheit glaubten, ich sei auf ganz ordinäre Kellerdiebstähle aus. Aber das brach nie meinen guten Sportsgeist: immer aufs neue erlebte ich die edle und erschauernde Wollust des Forschers, wenn ich in das große Unbekannte hineinging... Jetzt war ich von einer ähnlichen Spannung erfüllt. Und den -138-
anderen ging es, nach ihren Gesichtern zu urteilen, ebenso. Tancred vermochte nicht zu verbergen, daß er auf der Stufe eines Zwölfjährigen stand, wenn es solche Dinge galt. Ich drehte den Schlüssel um und öffnete die Tür. Dann nahm ich die Lampe auf und trat ein. Die anderen folgten mir dicht auf den Fersen. Der Raum war etwa vier Meter im Quadrat groß und hatte eine kleine Dachluke. Das erste, was ich wahrnahm, war ein gebrechlicher Rohrstuhl und eine prähistorische Schatulle, die auf dem Boden stand. Hierauf stand ein hoher Leuchter und ein altmodisches Schreibgerät mit Tintenfaß und Streusandbüchse aus Silber; auf dem heruntergelassenen Schreibbrett lag ein dickes, handgeschriebenes Manuskript. Im übrigen wirkte der Raum wie eine Art Rumpelkammer. In der einen Ecke stand ein mächtiger, rostiger Anker, flankiert von zwei alten Schiffskompassen. Wie in den Schaukästen eines Museums waren an den Wänden ein Paar Ruder aufgestellt, eine Laterne mit rotem Glas, ein Fernrohr, ein Stapel Logbücher und eine Kiste mit Taljen. An der Rückwand hing eine Reihe Rettungsringe von verschiedenen Schiffen. Und rechts von der Schatulle war in Schulterhöhe ein dicker Draht quer durch den Raum gespannt, an dem eine ganze Ölzeuggarderobe hing. Sie erfüllte den Raum mit einem faden süßlichen Geruch. Ob ein Zimmer gemütlich oder ungemütlich ist, hängt von jenem Undefinierbaren ab, das man Atmosphäre nennt und das von den Menschen geschaffen wird, die im Laufe der Zeit darin gewohnt haben. Dieser Raum könnte wie die Rumpelkammer eines netten alten Schiffers ausgesehen haben - ein geheiligter Bezirk, worin er seine Andenken aufbewahrt und worin er sich gern mit einer Pfeife niederläßt, um seinen Erinnerungen an die See nachzuhängen. Doch die Atmosphäre hier war anders. Meine Nerven reagierten auf etwas Unwirkliches, etwas Totes und gleichzeitig abnorm Lebendiges, das in der Luft lag; -139-
vielleicht war es die Stimmung, die ein Taucher erlebt, wenn er in die Kajüte eines gesunkenen Schiffes kommt. Lizzie war gleich bei der Schwelle stehengeblieben; dort stand sie nun unbeweglich wie eine Bildsäule und ließ den Blick durch den Raum schweifen. »Das ist doch seltsam«, murmelte sie verwundert. »Weshalb hat er solchen Plunder gesammelt? Und weshalb sollte ich das nicht sehen dürfen?« »Exzentrische Sammler wo llen dergleichen wohl gern für sich allein haben«, meinte ich. »Ich kannte einmal einen Mann, der Haarspangen und Schneckenhäuser sammelte - er war sonst ganz normal -, aber er zeigte diese Schätze keinem Menschen, nicht einmal seiner Frau. Dergleichen kommt vor.« Ich war mir darüber klar, daß diese Erklärung ein wenig gesucht klang, und ich glaubte selbst nicht daran. »Das kann unmöglich mein Mann ins Haus geschafft haben«, meinte Lizzie. »Wo sollte er z.B. an diesen Anker geraten sein? Ich bin sicher, daß dies Dinge sind, die hier seit der Zeit des Kaperpriesters liegen.« »Da sind aber auch neuere Sachen.« Tancred hob die Hand und deutete auf die Rückwand. »Sieh dir mal den Rettungsring dort an - dort ganz rechts.« Auf dem weißen Rettungsring stand mit großen Buchstaben der Name »Tallin«. »Der muß also von dem estnischen Schiff stammen«, rief Ebba aus. »Ja, aber nun schlägt's dreizehn...« Es entstand eine drückende Pause. Ich versuchte meine Gedanken zu ordnen: wie war dies zu erklären? Wunderliche und groteske Vermutungen wirbelten durch meine Phantasie. »Es ist doch wohl nicht anzunehmen, daß er den Namen selbst draufgemalt hat?« sagte ich. »Nein.« Ebba hatte sich vor den Rettungsring gestellt. »Dies -140-
ist keine Fälschung. Die Farbe ist mehrere Jahre alt, und es ziehen sich Salzstreifen über die Buchstaben. Ich glaube, dieser Ring lag erst ganz kürzlich im Wasser.« »Bravo, Klein Sherlock.« Tancred trat unberührt an die Schatulle und blickte auf das Manuskript, das dort lag. »Einige Betrachtungen über den Satanskult im 19. und 20. Jahrhundert«, las er auf dem Umschlag. »Was meinst du zu dem Titel, Karsten?« Järn antwortete nicht; er war damit beschäftigt, das Ölzeug zu untersuchen und inspizierte genau jedes einzelne Stück. Er erinnerte an einen wählerischen Kunden in einem Konfektionsgeschäft. »Seid so nett und rührt hier nichts an«, bat Lizzie mit nervöser Stimme. »Ich möchte nicht, daß man merkt, daß wir hier oben gewesen sind. Nun habt ihr wohl genug gesehen, nicht wahr? Können wir nicht wieder hinuntergehen?« »Einen Augenblick, Lizzie.« Järn war bei dem letzten Stück Ölzeug angelangt. »Ich habe hier etwas entdeckt, was...« Er kam nicht dazu, den Satz zu beenden. Eine milde, gedämpfte, aber gleichzeitig durchdringende Stimme ertönte im Raum: »Ich sehe, Sie haben meine kleine Höhle gefunden.« Wenn jemand mir plötzlich einen Kübel Eiswasser über den Rücken gegossen hätte, wäre mir der Schreck nicht tiefer in die Glieder gefahren. Ich fuhr auf dem Absatz herum. In der Tür stand Fahle - lächelnd wie eine der archaischen griechischen Statuen. Ich merkte in der Eile, daß die anderen ebenso verwirrt reagierten wie ich. Keiner von uns hatte ihn kommen gehört; er stand einfach da wie aus dem Boden geschossen. »Ich sehe, daß Lizzie Sie über meine Geheimniskrämerei orient iert hat. Neugierde ist menschlich, nicht wahr, Kleines?« Lizzie war leichenblaß, und ihr Blick war gläsern; es sah aus, -141-
als ob sie im Begriff sei, in Ohnmacht zu fallen. Järn trat rasch neben sie. »Sie - Sie müssen entschuldigen, daß wir - daß wir hier eingedrungen sind«, stammelte ich. »Es ist ja furchtbar unverschämt von uns, zu....« Ich spürte, daß ich geranienrot im Gesicht war; die Situation war einfach phantastisch peinlich. »Aber keine Ursache, lieber Rickert, keine Ursache. Mein Haus ist ja freies Territorium für unsere Gäste, und hier sind weder Selbstschüsse noch Fußangeln ausgelegt.« Sein Tonfall war wohlwollend ironisch. »Sie müssen entschuldigen, wenn ich Sie durch mein plötzliches Erscheinen erschreckte; meine Besorgungen in Lillesund waren schneller erledigt, als ich dachte. Da Sie mein kleines Geheimnis nun einmal enthüllt haben, ist es vielleicht angebracht, daß ich Ihnen eine Erklärung gebe.« Er zog ein großes, schneeweißes Taschentuch hervor und wischte sich langsam über den Mund. Dann fuhr er fort: »Dieser Raum ist ganz einfach mein Arbeitszimmer, und die meisten Dinge hier sind Jörgen Uhls Andenken von seinen Kaperfahrten. Er war nämlich einmal zu Hause, nachdem er auf der ›Krebs‹ angemustert hatte - und bevor er auf immer verschwand.« Diesmal trocknete Fahle sich die Stirn ab. Ich hatte den Eindruck, daß er mit diesen Kunstpausen Zeit gewinnen wollte. »Es ist warm heute. Wo war ich doch stehen geblieben? Ja... nun sind Sie sich wohl darüber klar, daß ein jeder Raum seine eigene Aura hat - jedenfalls wissen Sie das, Järn; es strahlt von solchen alten Gegenständen etwas aus; sie teilen etwas von ihrem früheren Besitzer mit. Zur Zeit arbeite ich also an einer Abhandlung, worin die Schilderung der Kapersage eine bedeutende Rolle spielt. Nirgends sonst im Hause habe ich einen so unmittelbaren Kontakt mit meinem Thema bekommen wie gerade hier - nachts -, wenn die Dinge sich gleichsam in der -142-
Dunkelheit öffnen und reden. Ich habe das Gefühl, daß die Vergangenheit weiter in diesen Gegenständen lebt, in diesen Wänden: alles ist so unberührt hier...« »Aber warum durfte ich dann nicht...?« begann Lizzie. »Das will ich dir sagen. Der Grund, weshalb ich diesen Raum ganz für mich allein haben wollte, ist der, daß moderne Menschen - auch du, Lizzie - eine solche Atmosphäre so leicht stören. Selbst tote Dinge haben eine Art Scheu; sie schließen sich ab, wenn sie von zu vielen Augen gesehen werden; sie weigern sich, mehr zu erzählen. Ich wollte lauschen, was diese Dinge mir zu sagen haben - völlig ungestört; ich habe das Vertrauen dieses Raumes zu gewinnen gesucht. Verstehen Sie, was ich meine? Nehmen Sie es mir nun nicht übel, wenn ich vorschlage, daß wir das Gespräch anderswo fortsetzen...« Erst jetzt traten Ebba und Tancred näher und stellten sich vor. Auch diese selbstbewußten Menschen wirkten sehr bedrückt von der Situation, aber Fahle war augenscheinlich völlig unbeschwert. Als wir über den Boden hingingen, wagte ich mich mit einer Frage vor: »Aber der Rettungsring von dem estnischen Schiff, Fahle? Wie ist der...« »Ach ja, ich erwartete, daß einer von Ihnen danach fragen würde. Den fand ich auf einer der Inseln an Land getrieben irgendwann im April, glaube ich. Und ich nahm ihn mit hierher und verleibte ihn der Sammlung ein; ich fand, er gehörte dazu. Die Geschichte mit der ›Tallin‹ hat ja der alten Sage eine gewisse Aktualität gegeben... Jetzt glaube ich, daß das Kaffeewasser unten kocht. Sie müssen sich auf jeden Fall noch eine Weile hinsetzen und eine Tasse mit uns trinken.« »Ich kann mir nicht darüber klarwerden, ob der Mann eine wirkliche Persönlichkeit oder ein Scharlatan ist«, sagte Ebba, als wir uns eine halbe Stunde später auf dem Heimweg befanden. »Möglicherweise beides«, meinte Tancred. »Das eine schließt -143-
das andere nicht aus. - Wenn er sich die Erklärung in der Eile ausgedacht hatte, dann war es jedenfalls eine beachtliche Improvisation; es klang fast wie ein Gedicht in Prosa. Er scheint etwas von einem Künstler an sich zu haben.« »Aber ich beneide Lizzie nicht«, erklärte Ebba. »Ich glaube tatsächlich, daß ich dich als Ehemann vorziehe, obwohl du ziemlich untalentiert bist.« Järn schritt mit undurchdringlicher Miene am Wegrand dahin. »Nun?« sagte ich. »Hast du wichtige Entdeckungen gemacht?« »Zwei«, antwortete Järn. »Laß hören.« »Erstens: Fahle ha t seiner Sammlung nicht nur einen Rettungsring ›einverleibt‹. Ich untersuchte das Fabrikationszeichen der letzten Ölzeug-Garnitur.« »Und was fandest du?« »Sie war in Estlands Hauptstadt hergestellt; der Lappen enthielt den Namen ›Tallin‹. Mit anderen Worten: Das Ölzeug muß einem Mitglied der verschwundenen Mannschaft gehört haben.« Järn machte eine wirkungsvolle Pause, damit diese Erklärung Zeit habe, tief in uns einzusinken. »Wir haben dich sicherlich unterschätzt, Karsten«, sagte Ebba beeindruckt. »Und was hast du sonst noch entdeckt?« Der Kriminalschriftsteller beeilte sich nicht mit der Antwort. Aber schließlich rückte er damit heraus: »Ihr müßt es ja selbst gesehen haben. Ihr konntet wohl nicht umhin, etwas Seltsames zu bemerken, als Fahle sich mit dem Taschentuch über das Gesicht fuhr. Fiel euch da nicht die auffällige Ähnlichkeit zwischen seinen Händen - und den Händen des Pfarrers auf dem Kupferstich auf?«
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ZEHNTES KAPITEL Tancred verschwindet Als ich an diesem Abend zu Bett ging, mußte ich feststellen, daß die fünf Tage, die ich auf dem Kaperhof gewohnt hatte, an meinen Nerven nicht spurlos vorübergegangen waren. Ich erlebte wieder etwas von der elementaren Dunkelangst meiner Kindheit; die Nacht ringsum schien mir von unsichtbaren Wesen bevölkert zu sein, die nur auf eine Gelegenheit warteten, um mich anzugreifen. Jeder Schatten des kleinen Zimmers schien eine unbewegliche Gestalt, ein feindlich gesinntes Monstrum zu verbergen; ich fuhr zusammen, wenn die Dielenbretter unter meinen Füße knarrten. Ich hatte einfach eine Heidenangst, allein zu sein. Schnell zog ich mich aus und kroch unter die Decke. Dann zündete ich mir eine Zigarette an. Während ich so dalag und Rauchringe gegen die Flamme meines kleinen Stearinlichtes blies, zwang ich mich, meine Gedanken zu konzentrieren. Ich resümierte, was ich erlebt hatte, seit ich hierher gekommen war, die Bilder passierten rasch Revue: Das Pferd, das im Hohlweg scheute - der getötete Hund - die verschobene Kommode - die Episode in der Hütte - die Fußspuren um Järns »Pentakel«. Am stärksten erwiesen sich die Eindrücke von heute vormittag: die Katze, die hinter Rein herlief - der Kupferstich - der Bodenraum mit der seltsamen »Sammlung« - Fahles plötzliches Erscheinen Lizzies Angst vor ihrem Mann. Ich hatte das Gefühl, mitten in einen völlig unwahrscheinlichen Schauerroman von Karsten Järn versetzt zu sein; alles dies hatte etwas von dem gleichen unwirklichen Gepräge, wie die Fiebervisionen eines bösen Traumes. Würde ich im nächsten Augenblick in meiner eigenen behaglichen Wohnung am Frognervei aufwachen? Und mir geloben, daß ich nie mehr Hummer mit Mayonnaise zu Abend -145-
essen würde? - Nein, du bist wach, Paul Rickert... Ich mußte versuchen, wissenschaftlich ans Werk zu gehen. Wie pflegte der Meisterdetektiv zu seinem unbegabten Freund zu sagen? Sie verstehen doch, lieber Watson, daß diese Steine zusammen ein Muster ergeben. Aber wenn wir dieses sinnreiche Geduldspiel lösen wollen, dann ist es erforderlich, daß wir die richtigen Schlüsse zie hen. - Meine Vernunft sagte mir, daß es hier ein verborgenes Muster geben müsse; es lag ein Motiv und ein menschlicher Wille hinter dem, was hier im Hause geschah. Aber wen hätte ich Grund zu verdächtigen? - Bedienen Sie sich nun meiner deduktiven Methode, Watson. Könnte es Dörum oder Flateland sein? Beide hatten sie scharfe Drohungen gegen Arne geäußert; sie hatten beide ihre triftigen Gründe, ihn vom Hofe zu vertreiben. Dörum wollte seinen Besitz wiederhaben, und der verschrobene Fanatiker Flateland sah in dem geplanten Sommerhotel ein Teufelswerk, eine drohende Gefahr für den ganzen Bezirk. Vielleicht hatte Ebba recht mit ihrer Theorie: daß er selbst auf das Grundstück scharf sei. Aber war es denkbar, daß diese primitiven Menschen Phantasie genug hätten, um ein solches Schauspiel zu arrangieren? Das klang nicht wahrscheinlich. Arne hatte zweifellos Phantasie, und sein Motiv konnte ganz einfach die Freude am Spiel mit seinen Freunden sein; er liebte ja derartige Komödien. Und die Kunst zu bluffen beherrschte er virtuos, das hatten wir beim Pokerspiel erfahren. Aber sein Alibi war unangreifbar; er war ja in mehreren Fällen mit uns zusammen gewesen, während sich die Dinge ereigneten. Und im übrigen hatte er sich in Oslo befunden, als Ludvigsen, der frühere Verwalter, seinen großen Schock erlebte. Und Karsten Järn? Er hatte hier seit fast einem Monat gelebt also auch zu dem Zeitpunkt, als Arne seine ersten unheimlichen Erfahrungen mit dem Kaperhof machte. Alles, was sich hier ereignet hatte, entsprach in seltsamer Weise dem Stil seiner eigenen Kriminalromane. Als Arne in jener Nacht auf seine -146-
Hotelpläne zu sprechen kam, hatte er ihm eine kleine Strafpredigt gehalten und ihn des Sakrilegs bezichtigt. Und er hatte seine Warnungen später wiederholt. War es denkbar, daß unser okkulter Freund den Poltergeist spielte, um Arne von der Durchführung seines Vorhabens abzuschrecken? Nein... auch Järn hatte ein hieb- und stichfestes Alibi; er war in unserer Mitte gewesen, sowohl als der Elchhund getötet wurde und auch als die Kommode verschoben wurde. Ich mußte ihn von der Liste streichen. Rein? Fahle? Der menschenscheue Fischer hatte zweifellos Dreck am Stecken. Deutete nicht manches darauf hin, daß er mit der schwarzen Katze hier gewesen war? Auch Fahle kam mir jetzt geheimnisvoller vor denn je. Woher sein übertriebenes Interesse für die Kapersage? Und wie war es zu erklären, daß sich auch eine Garnitur Ölzeug von der »Tallin« unter Jörgen Uhls »Andenken« befand? Rein und Fahle schienen in engem Kontakt miteinander zu stehen; vielleicht arbeiteten sie in irgendeinem verdächtigen Komplott zusammen? Aber in diesem Falle war es unmöglich, ein Motiv zu finden... Ich kam nicht weiter; meine Gedanken bewegten sich in einem Wald von Fragezeichen. Mein gesunder Menschenverstand weigerte sich rundweg, eine übernatürliche Erklärung zu akzeptieren. Aber ich spürte die nervöse Phantasie in mir wühlen: nur ein einziger kleiner Schock noch, Paul Rickert, und du wirst abergläubisch wie ein Bantuneger... Ärgerlich über mich selbst, blies ich das Licht aus und legte mich auf die Seite. Am nächsten Morgen erlitt ich fast den Schock, den ich gefürchtet hatte. Tancred hatte diesmal in dem gelben Zimmer übernachtet. Er hatte darauf bestanden, daß wir die Tür nach Järns Rezept versiegeln sollten - das ergäbe eine ausgezeichnete Kontrolle, behauptete er -, und so geschah es auch. Tancred hatte nicht im mindesten nervös gewirkt, als er uns gegen halb zwölf gute -147-
Nacht sagte; im Gegenteil funkelte es vergnügt in seinen Augen, als ob er sich auf ein spaßiges Erlebnis freue. ›Heute Nacht werde ich dem alten Piraten mindestens eines seiner Geheimnisse entreißen‹, war sein letztes Wort. Am Morgen gingen wir geschlossen hinauf - Ebba, Monika, Arne und ich - um Tancreds Bericht zu hören. Nach dem, was in der vorletzten Nacht geschehen, waren wir jetzt sehr wißbegierig. Das Siegel war auch dieses Mal intakt; niemand konnte während der letzten zehn Stunden die Tür passiert haben. Wir klopften an, erhielten jedoch keine Antwort. Dann öffneten wir die Tür, auf so gut wie alles gefaßt - ausgenommen das absolut Unglaubliche: das Zimmer war leer! Das Fenster war wie gewöhnlich verriegelt. Das Bettzeug wies Anzeichen eines plötzlichen Aufbruchs auf; die Decke lag halb auf dem Fußboden. Der Schlafanzug lag unbenutzt beim Kopfkissen. »Gottlob war er angezogen«, stellte Ebba fest. »Sein Zeug ist weg. Dann wird er sich jedenfalls nicht erkälten.« »Der erste Gedanke der Hausfrau«, kommentierte Arne und ging zum Nachttisch. »Den Revolver hat er nicht mitgenommen, sehe ich. Aber er hat die Sicherung gelöst. Das deutet auf Alarmbereitschaft.« »Die alten Schaftstiefel sind auch verschwunden«, rief ich aus. »Die standen gestern dort in der Ecke.« »Ihr werdet sehen: die Stiefel haben ihn entführt.« Arne bemühte sich, die Situation humoristisch zu nehmen. Aber die Bemerkung löste keine Heiterkeit aus. Er war selbst ziemlich blaß, und Monika wirkte hochgradig nervös. »Verschone uns mit deinen zynischen Witzen, Arne.« Ihre Stimme klang erregt. »Sie wirken unecht. Ich kann absolut nichts Komisches hierin sehen.« »Sehr richtig«, murmelte ich und sank in den nächsten Sessel. Mir war ganz schwindlig. Ebba trug es mit der größten Fassung. -148-
»Verfallen wir nun nicht in Passivität.« Eine energische Falte bildete sich zwischen ihren Augenbrauen. »Wir müssen herausfinden, wie dies geschehen konnte. Ich habe nicht einen solchen Überfluß an Ehemännern, daß ich es mir leisten könnte, einen zu verlieren.« Sie trat ans Fenster und löste die Haken. Dann versuchte sie, es aufzustoßen, doch es blieb wie angeleimt. »Ist dieses Fenster zugenagelt, Arne?« »Nein, aber es ist nicht so leicht aufzukriegen. Seit die neue Scheibe eingesetzt wurde, ist es nicht geöffnet worden. Ich wollte es nicht versuchen, denn wenn es schiefgeht, ist es unmöglich, einen Glaser»meister in Lillesund zu finden, der es repariert. Ihr wißt ja, wie es dem letzten erging...« »Ich glaube schon, daß ich es schaffe«, meinte Ebba. »Leih mir dein Taschenmesser, Paul.« Sie begann vorsichtig, den Fensterrahmen zu bearbeiten, indem sie abwechselnd die Klinge und die Fingerspitzen benutzte. Es begann im Holz zu knarren, und nach einer kleinen Weile ließ sich das alte Fenster überreden; mit einem klagenden Seufzer glitt es weit auf. »Seht an«, sagte Ebba zufrieden. »Ich hätte eine erstklassige Einbrecherin werden können.« Sie lehnte sich hinaus und blickte sich um. Zuerst schien nur die Außenwand sie zu interessieren; sie blickte forschend nach links zur Hausecke. Dann ließ sie den Blick über das Gelände schweifen - und stieß fast augenblicklich einen kleinen Schrei aus. »Hast du etwas entdeckt?« fragte ich. Wir anderen hatten uns hinter sie gestellt. »Ja. Seht dort unten.« Sie deutete auf den kleinen Anlegeplatz, der sich etwa hundert Meter unterhalb des Hauses befand. Dort - am äußersten Rande der Brücke - standen die -149-
großen Seestiefel des Kaperkapitäns. Ebba zog sich mit triumphierender Miene vom Fenster zurück. »Nun glaube ich endlich zu verstehen, wie einige Dinge hier zusammenhängen. Das Mysterium ist nicht ganz so abgrundtief, wie es scheint. Hol mal deine Diebslaterne, Arne, dann werde ich euch auf eine nette Expedition führen.« Wir gingen alle vier zum Landungssteg hinab. Ebba, eifrig wie ein Terrierwelpe, lief uns voran; ihr Gesicht strahlte vor Entdeckerfreude. Es sah nicht so aus, als ob ihr der Verlust des Ehemannes sonderlich nahegegangen wäre. Sie ging in das kleine Boot und löste das Tau. Ich blieb stehen und starrte die Stiefel an. »Kommt an Bord, ihr auch!« rief sie uns zu. »Und nehmt das Tau mit...« »Meinst du, daß wir rudern sollen?« fragte Arne verwirrt. »Klar. Das ist gesund vor dem Frühstück. Hebt den Appetit. Eine Ruderfahrt von vier Metern. Kommt endlich!« Wir folgten der Aufforderung. Ebba legte sich vorn im Bug auf den Bauch. »Köpfe 'runter!« kommandierte sie. »Wir wollen in die blaue Grotte. Fertig?« Sie packte einen der morschen Pfähle und zog das Boot unter die Brücke. Diese war über eine schmale Kluft in der Felswand gebaut, und es war ziemlich dunkel darunter. Wir kamen überraschend weit, ehe wir an etwas Hartes stießen. »Nun geht es nicht weiter. Reich mir die Lampe, Arne.« Ebba richtete den Lichtkegel auf eine mächtige, verrottete Bohle, die, auf eine kleine Felstafel dicht über der Wasseroberfläche gestützt, senkrecht vor uns stand. Sie war teilweise von Algen bedeckt und hatte im übrigen die gleiche Farbe wie die Felswand ringsum; es war unmöglich, sie im Schimmer des von draußen eindringenden Tageslichts zu -150-
erkennen. Ebba schob die Bohle zur Seite, und wir blickten in einen tiefen Tunnel, der die natürliche Fortsetzung der schmalen Kluft bildete. »Ganz gut getarnt, nicht wahr?« Unsere Anführerin bemühte sich, trocken und sachlich zu reden. »Nun krieche ich voran, und ihr folgt.« Sieben acht Meter tiefer, weitete sich der Gang aus, indem die Decke steil anstieg; wir konnten aufrecht gehen und hatten auc h genug Ellbogenraum. Weiter hatte der natürliche Einschnitt offenbar nicht geführt; hier wurden die Wände uneben und trugen Spuren von Spitzhacken. Diese Verlängerung war das Werk von Menschenhänden. Monika und ich bildeten die Nachhut. In dem schwachen Licht nahm ich die feine, weiche Kurve ihres Halses wahr; das kleine Goldmedaillon reflektierte den Schein der Taschenlampe. Ich spürte einen Klumpen von Eifersucht in der Brust bei dem Gedanken, daß sie Arnes Bild in dem Medaillon trug. Seit fast vierundzwanzig Stunden war sie sonderbar abweisend gegen mich gewesen; war sie sich vielleicht selbst nicht über ihre Gefühle im klaren? Liebte sie Arne immer noch, oder scheute sie sich nur, mit ihm zu brechen? Unwillkürlich streckte ich den Arm aus und gab ihrer Hand einen leichten Druck. Sie wandte mir das Gesicht zu und lächelte, indem sie die heimliche Liebkosung erwiderte. Nein... der Kontakt zwischen uns war trotz allem nicht gebrochen; es ging ein berauschendes Kribbeln durch meine Nerven - von der Handfläche geradewegs ins Herz. Die Höhle führte mit ungefähr der gleichen Steigung wie der Abhang über uns nach oben. Wir blieben vor einer sehr steilen, fünfzig bis sechzig Zentimeter breiten Steintreppe stehen; Ebba ließ den Lichtkegel die schmalen, hohen Stufen hinaufgleiten. »Jetzt befinden wir uns innerhalb des Kaperhofes«, erklärte sie. »Wir haben ein Loch in der Grundmauer passiert. Geht jetzt vorsichtig. Rechts ist ein Geländer.« -151-
Die Treppe mündete auf einen kleinen Absatz, und weiter führte auch der Gang nicht. Ebba drückte einen Handgriff an der rechten Wand nieder; eine Tür glitt lautlos auf - und einige Sekunden später standen wir wieder in dem gelben Zimmer. Der Geheimausgang wurde ganz einfach von dem großen Spiegel getarnt, der an der Tür festgeschraubt war und sie völlig verbarg. Nach einer kurzen Untersuchung zeigte Ebba, wie die Tür sich von innen öffnen ließ: ganz oben auf der linken Seite des Spiegelrahmens war ein kleiner Zapfenmechanismus unter dem Holz versteckt; ein Stück des Rahmens ließ sich aufschieben wie ein gewöhnlicher Federkasten. Hier befanden sich frische Spuren von einer Messerklinge, die in den fast unsichtbaren Spalt gezwängt worden war; die Farbe war teilweise abgekratzt. »Diese Spuren waren gestern nicht hier«, sagte Ebba. »Das ist mein Mann, der Detektiv, der hier mit seinen Instrumenten zugange war. Es hatte eine dicke Schicht alter Farbe über diesem Geheimschloß gelegen; der alte Pirat wollte wohl nicht, daß jemand seine Fuchsröhre findet. Und dieser kleine Mechanismus ist auch nicht entdeckt worden bis heute nacht.« »Aber es sieht doch so aus, als ob hier Leute aus und ein gegangen sind«, sagte ich. »Diese Tür ist ja sozusagen keinen Augenblick in Ruhe gelassen worden.« »Der unbekannte Gast war zweifellos auf diesem Wege hereingekommen, gewiß. Aber er hat sich nicht des Mechanismus im Spiegelrahmen bedient, um wieder hinauszugelangen. Während er sich hier drinnen aufhielt, ließ er die Tür angelehnt.« »Das war wahrhaftig eine Überraschung für mich«, sagte Arne. »Aber selbstverständlich war es die einzige logische Erklärung, daß sich hier ein solcher Gang befinden mußte. Du imponierst mir, Ebba. Du machst Charlie Chan, Poirot und Philo Vance ernsthaft Konkurrenz. Wie konntest du so spornstreichs -152-
zur Brücke hinuntergehen und wissen, daß wir dort den Eingang zu diesem Tunnel finden würden?« »Weil die Schaftstiefel dort unten standen. Ich kenne ja Tancreds Einfälle und Methoden ein wenig. Mir war klar, daß er diesen geheimen Gang heute nacht gefunden haben mußte und daß er nicht der Versuchung widerstehen konnte, auf so rätselhafte Weise zu verschwinden. Er hatte gewiß unseren Scharfsinn auf die Probe stellen wollen; die Stiefel, die er auf die Brücke gestellt hatte, sollten uns einen Tip geben.« »Du bist wirklich ziemlich auf Draht«, erklärte ich. »Aber das kommt wohl, wenn man verheiratet ist; das wirkt Intelligenzschärfend.« »Weder Tancred noch ich haben in diesem Falle besonders viel Intelligenz entfaltet; wir haben fast unsere ganze Innung blamiert. Selbstverständlich hätten wir den Gang gleich am ersten Tag finden müssen. Wir untersuchten diese Wand allzu oberflächlich: du garantiertest ja dafür, Arne, daß sie einen Teil der Nordflanke des Hauses bildet, und wenn wir eine verborgene Tür finden sollten, so würde sie direkt in den Weltraum führen. Wir hätten dir nicht so ohne weiteres glauben sollen.« »Aber ich versichere dir ich hatte nicht die geringste Ahnung, daß...« »Nein, sicher nicht. Aber wir hätten eine Ahnung haben sollen, daß dies eine Doppelwand ist. Die Innenwand ist allerdings recht dick, so daß man nichts Verdächtiges bemerkt, wenn man daran klopft. Aber wir hätten so umsichtig sein sollen, dieses widerspenstige Fenster zu öffnen. Wenn man sich hinauslehnt, kann man nicht umhin zu entdecken, daß der Abstand vom Fensterrahmen zur Hausecke auffallend größer ist als der entsprechende Abstand auf der Innenseite des Zimmers. Und es ist auch auffällig, daß es an der ganzen Nordseite des Hauses kein Fenster gibt, weder hier noch unter uns in der -153-
Kaminstube. Und von diesem Spiegelarrangement ganz zu schweigen: ein an die Wand geschraubter mannshoher Spiegel das riecht ja meilenweit nach dem Grafen von Monte Christo. Selbstverständlich hätten wir sofort mit einem soliden Schraubenzieher darauf losgehen sollen... Nein, ich bin mit unserem Einsatz nicht zufrieden; der qualifiziert uns bestenfalls als geistig Minderbemittelte...« Ebba zündete sich mit verdrossener Miene eine Zigarette an. Doch ein leises Funkeln im Augenwinkel verriet, daß sie trotz allem ganz zufrieden mit sich war. »Ich finde im Gegenteil, daß du einen Cocktail verdienst«, behaup tete Arne. »Einen Spezialcocktail, vom Hoteldirektor persönlich komponiert. Ich will gern meine Dankbarkeit beweisen; ein solches alles Spukhaus ist gleichsam nicht komplett ohne Geheimtür und den dazugehörigen unterirdischen Gang. Nun fehlt nichts mehr; jetzt ist der Kaperhof ernstlich eine Touristen-Attraktion geworden...« Eine Stunde später tauchte Tancred mit lächelndem Gesicht wieder auf. Er bestätigte, daß er den verborgenen Ausgang während der Nacht gefunden hatte und daß er sich gegen Morgen auf diesem Wege ins Freie begeben hatte. Inzwischen habe er in der Umgebung gewisse Untersuchungen angestellt. »Erlebtest du heute nacht sonst noch etwas?« fragte ich. Wir saßen im Sonnenschein auf der Treppe. Tancred nickte und lehnte sich träge gegen das Geländer zurück. »Um ein Haar hätte ich das Gespenst persönlich begrüßen können«, sagte er. »Aber ich habe die Chance einfach verspielt.« »Erzähl!« »Ich habe einen sehr leichten Schlaf und erwache von dem leisesten Geräusch. Ebbas Schnarchen hat zum Beispiel -154-
wiederholt die Harmonie unserer Ehe bedroht. Also: ich erwachte plötzlich gegen drei Uhr und war sicher, daß ich etwas gehört hatte. Dann bemerkte ich erneut ein seltsames, schmirgelndes Geräusch irgendwo außerhalb des Zimmers. Ratten konnten es nicht sein; es klang, als ob sich jemand eine Treppe hinauf taste - in triefnassen Seemannsstiefeln. Nun ist ja der Gehörsinn nicht besonders zuverlässig; man kann selten ganz sicher sein, woher Lauteindrücke kommen. Aber in diesem Falle war ich überzeugt, daß sich jemand an der Außenwand bewege. Ich griff nach dem Revolver und löste die Sicherung. Es verging eine halbe Minute. Dann hörte ich es wieder; jetzt war es an der Wand direkt hinter dem Spiegel, es quietschte metallen, als ob jemand langsam einen Türdrücker niederdrückt...« Tancred unterbrach den Satz und riß ein Streichholz an. Er wirkte irritierend phlegmatisch. »Und dann?« fragte Monika ungeduldig. »Dann schoß ich also meinen Bock. Die Nerven spielten mir einen Streich. Man hat ja nie völlige Kontrolle über sich, wenn man gerade erwacht ist. Ich setzte mich also plötzlich im Bett auf - und da knarrte das alte Möbel so heftig, daß ich meinte, man müsse es über ganz Heilandet hören. Das Wesen draußen wurde jedenfalls alarmiert; einen Augenblick später verschwanden die Schritte wieder. Doch jetzt hatte ich die Spur, und die folgende Stunde verbrachte ich mit der Untersuchung des Spiegels. Schließlich fand ich denn auch, was ich suchte. Ich bedaure, daß ich den Rahmen ein wenig ramponiert habe, Arne, aber das ließ sich nicht vermeiden; es geschah im Interesse der Wissenschaft.« »Daß du wie ein gekidnapptes Baby verschwandest und uns anderen einen veritablen Nervenschock verursachtest, geschah das auch im Interesse der Wissenschaft?« warf ich scharf ein. Tancred machte ein unschuldig erstauntes Gesicht. -155-
»Nein, versuch nun nicht wie der kleine Lord Fauntleroy auszusehen«, sagte Ebba. »Es war wirklich rücksichtslos von dir. Jedenfalls gegen die anderen hier, die nicht wissen, daß du so komisch konstruiert bist.« »Da bitte ich wirklich um Entschuldigung. Ich hatte ja die Stiefel auf den Landesteg gesetzt, um euch einen kleinen Wink zu geben - und das hattet ihr doch kapiert, nicht wahr. Wie gesagt, hatte ich einige wichtige Untersuchungen durchzuführen.« »Was hast du untersucht?« »Darüber können wir später reden. Da sind einzelne Fäden, die jetzt so langsam anfangen zusammenzulaufen.« »Aber welche Absicht hatte Jonas Korp mit diesem unterirdischen Gang?« fragte Arne. »Das ist ziemlich einleuchtend. Der alte Pirat hatte den Behörden gegenüber kein reines Gewissen. Nach seinen Kaperfahrten hatte er immer das Prisengericht umgangen und damit den Staat um große Geldbeträge betrogen. Es bestand immer die Möglichkeit einer Entdeckung und einer Polizeirazzia auf dem Kaperhof. Daher richtete er diesen Gang ein, damit er zu jeder Zeit ungesehen aus dem Hause schlüpfen - und sogar die wertvollsten Gemälde mitnehmen konnte; der Tunnel konnte im Notfall als Lagerraum dienen. Daß die Geheimtür ins Schlafzimmer führte, ist ganz logisch; er wollte nicht riskieren, in der Nacht überrascht zu werden; der Abstand zum Ausgang mußte so kurz wie möglich sein. Übrigens soll er sich dem Vernehmen nach ja sehr viel in dem gelben Zimmer aufgehalten haben; hier bewachte er wie ein Zerberus seine Schätze und hielt Ausguck über das Gelände.« »Glaubst du nicht, daß er diesen Tunnel auch für andere Zwecke benutzt haben kann?« sagte Ebba. »Um zum Beispiel einen Teil des Kapergutes ungesehen ins Haus schmuggeln zu können? Daß er mit anderen Worten eine Art Transportkanal -156-
war?« »Sehr gut möglich. Ich glaube, daß wir nun auch den Grund für seine wunderliche Anordnung gefunden haben, die jegliche Umstellung oder Veränderung im Hause untersagt. Hier war ein Geheimnis, das er unbedingt für sich bewahren wollte: er wollte nicht, daß jemand den verborgenen Ausgang fände. Der wäre ja unweigerlich entdeckt worden, wenn man aus ästhetischen Gründen darauf verfallen wäre, den häßlichen alten Spiegel loszuschrauben. Gerade das sollte diese drastische Anordnung verhindern. Ein ganz logisches Rechenexempel, nicht wahr?« »Aber offenbar muß einer sein Geheimnis durchschaut haben - vor uns«, sagte ich. »Unser anonymer Gast.« »Gewiß. Ohne seine wohlwollende Unterstützung hätte ich die Lösung des Problems kaum so schnell gefunden. Jedenfalls können wir uns jetzt mit der Tatsache beruhigen, daß alle diese mystischen Phänomene hier im Hause eine trostlos banale und natürliche Erklärung gefunden haben. Das ist ein ha rter Schlag für unseren Freund, den psychischen Forscher.« Arne hatte grübelnd dagesessen und mit einem kleinen Stock an seinen Turnschuhen gebastelt. Er wandte sich an Tancred. »Ich bin sicher, daß unser Gast seinen Besuch heute nacht wiederholen wird«, erklärte er. »Es ist klar, daß er hier etwas ganz Bestimmtes will, und nun wissen wir also, auf welchem Wege er kommt. Eigentlich ist ja Paul an der Reihe, allein hier im gelben Zimmer zu übernachten, wie aber die Dinge liegen, schlage ich vor, daß wir ihm allesamt Gesellschaft leisten. Dann haben wir die besten Aussichten, unsere Bekanntschaft mit dem Widergänger zu vertiefen. Was meint ihr dazu?« »Gelesen und genehmigt«, sagte Tancred. »Im letzten Akt müssen sich alle Auftretenden auf der Szene versammeln. Ich glaube, daß wir noch einen überraschenden Endeffekt erzielen werden, ehe der Vorhang fällt.«
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ELFTES KAPITEL Das rote Meßgewand Gegen Mittag bedeckte sich der Himmel wieder, und Tancred und ich suchten aufs neue die Schachfiguren hervor, als es draußen zu tröpfeln begann. Schach und Regenwetter gehören nun einmal zusammen, wenn man auf Ferien ist, und wir ließen uns in einem kleinen Zimmer neben der Kaminstube nieder. Diesmal vermied ich den Muzio-Gambit und spielte statt dessen eine vorsichtige Damen-Bauern-Eröffnung. Doch ich konnte kein rechtes Interesse für das Spiel aufbringen; bald standen meine Steine so eingeklemmt wie die Passagiere eines Osterzuges. »Die systematische Einengung der feindlichen Stellung ist eine Strategie, die von Dr. Tarrasch warm empfohlen wird«, sagte Tancred. »Du spielst allzu energielos, Paul.« »Ich fürchte, ich bin nicht ganz bei der Sache«, räumte ich ein. »Offen gesagt, beschäftigt mich etwas ganz anderes. Weshalb bist du eigentlich so verdammt geheimnisvoll? Kannst du mir nicht sagen, worauf deine Untersuchungen heute morgen hinausliefen?« »Aber gern.« Er lehnte sich im Sessel zurück. »Vor allem hörte ich mich hier unter der Bevölkerung über verschiedene Dinge um. Unter anderem über Rein, das unbekannte X in unserer Aufgabe. Niemand weiß jedoch etwas über ihn; er hat nie in dieser Gegend gewohnt, und man weiß nicht einmal, wo er wohnt.« »Und was hast du sonst noch unternommen?« »Dann ließ ich mich von einem Fischer mit dem Motorboot nach Lillesund fahren. Dort versuchte ich den Glasermeister aufzuspüren, von dem Arne gesprochen hatte; den, der beinahe -158-
aus dem Fenster gefallen wäre, weißt du. Aber er war einfach nicht zu finden.« »Deine ›Nachforschungen‹ sind mit anderen Worten völlig ergebnislos gewesen?« »Nicht völlig. Es waren einige telegrafische Auskünfte für mich eingetroffen, die ich vorgestern aus Oslo telefonisch erbeten hatte.« Er zog drei zerknitterte Telegramme aus der Tasche und strich sie vor mir glatt. In dem einen stand : PANIKARTIGE KAPITALFLUCHT BALTISCHE STAATEN STOP WAHRSCHEINLICH INVESTIERUNG MITTELAMERIKA STOP - KASPERSEN
Das zweite stand offenbar mit diesem in engem Zusammenhang: VERMUTUNG NICHT UNBEGRÜNDET STOP PREKÄRE SITUATION NACH REVOLUTION IN MEXIKO STOP VERMUTE NEUNZIG PROZENT VERLOREN STOP - SASTAD
Ich blickte Tancred verwundert an. »Seit wann in aller Welt hast du angefangen, dich für internationale Wirtschaftsfragen und mittelamerikanische Revolutionen zu interessieren?« fragte ich. Vorgestern früh - genau neun Uhr fünfundfünfzig. Aber du hast ja das dritte Telegramm noch nicht gesehen; das ist das interessanteste. Es enthält tatsächlich den Schlüssel zu dem, was hier auf dem Kaperhof vor sich geht; das ist jedenfalls meine Hypothese...« Ich starrte und starrte auf das Formular; kein Zweifel, daß Tancred mich durch den Kakao zog. Das Telegramm enthielt nur ein einziges, bedeutungsloses Wort und einen Namen: -159-
ANDERTHALB - HEIDE
»Was soll denn das heißen?« rief ich aus. »Anderthalb? Das Wort besagt doch überhaupt nichts - außer, daß der Absender vielleicht einen kleinen Dachschaden hat. Wer sind übrigens Sastad, Kaspersen und Heide? »Drei wertvolle Bekanntschaften - ausgesprochene Fachleute, die mich über Gebiete orientieren können, von denen ich keine Ahnung habe. Wie gesagt, habe ich jetzt ein paar neue Interessen.« »Du willst also nicht mit der Sprache heraus?« Tancred beugte sich einen Augenblick über das Brett, machte eine lange Rochade und lehnte sich dann wieder zurück. »Lieber Paul, ich spiele im Augenblick Schach mit einem unsichtbaren Gegner. Die Partie hat eine sehr fesselnde Entwicklung gehabt und nähert sich nun dem Endspiel. Es wäre schlechte Strategie, wollte ich meine Pläne allzufrüh verraten. Es liegen Kombinationen in der Luft, laß dir das gesagt sein.« »Aber Herrgott, schließlich bin doch nicht ich dein Gegner?« »Gewiß nicht. Aber ein kluger Schachspieler weiht auch die Zuschauer nicht ein; die haben oft eine bedauerliche Neigung, sich ins Spiel einzumischen... Sieh da, nun bekommen wir wieder von unserer neuen Freundin Besuch. Sie hat wohl nicht viel Sinn für das traute Heim im Pfarrhof.« Auch ich blickte aus dem Fenster. Lizzie kam über den Hofplatz gegangen; sie trug ihren weißen Regenmantel und machte einen verlassenen und zerzausten Eindruck in dem nassen Wetter. Nach unserem gestrigen peinlichen Besuch auf dem Pfarrhof hatte ich ihr manchen bekümmerten Gedanken gewidmet; wie mochte Fahle sie behandelt haben, nachdem wir gegangen waren? Es war etwas undefinierbar Unheildrohendes in seinem Mienenspiel, als er uns zur Tür geleitete - höflich und ruhig wie immer. Tancred blickte mich bedeutungsvoll an, -160-
indem er sich erhob. »Das Mädchen hat es nicht gut«, sagte er. »Es ist begreiflich, daß sie uns als eine Art Klara Klug in der Spalte ›Erleichtern Sie Ihr Herz‹ benutzt. Hören wir, was sie uns dieses Mal anzuvertrauen hat.« Als wir in die Stube kamen, waren die anderen bereits mit Lizzie im Gespräch. Sie war auffallend erregt, ihre Wangen waren fieberhaft gerötet, und sie konnte ihre Hände keinen Augenblick lang stillhalten. Arne überredete sie, den Mantel abzulegen und sich zu setzen. »Was ist los?« fragte Ebba und legte ihr die Hand mütterlich auf die Schulter. Etwas in Lizzies Augen deutete darauf hin, daß sie am Rande eines Nervenzusammenbruchs stand. Mit einer hilflosen Bewegung strich sie sich das Haar aus der Stirn. Ihre Finger zitterten. »Ich - ich kann nicht mehr bei ihm wohnen«, kam es halblaut. »Ich halte es nicht mehr aus.« »Ist er brutal gegen dich?« An Ebbas Kinn bildete sich der scharfe Zug der Frauenrechtlerin, die ein Opfer der Tyrannei des Patriarchats wittert. »Nein, durchaus nicht - durchaus nicht. Physisch brutal ist er nie gewesen. Er ist ja im Gegenteil so rücksichtsvoll, daß es fast - anomal wirkt.« Es fiel ihr schwer, die Worte zu finden, und ihr Blick flackerte. »Aber da ist etwas - etwas, was ich nicht richtig erklären kann. Ich traue mich einfach nicht mehr, länger mit ihm zusammenzuleben.« Monika hatte eine Karaffe mit Kognak geholt; sie goß ein Glas voll und reichte es Lizzie. »Trink das, Liebe. Und sei nur ruhig; hier bist du unter guten Freunden. Erzähl uns nun, weshalb du dich eigentlich mit diesem Mann verheiratet hast.« -161-
Lizzie trank das Glas halb leer und hustete. Dann zwang sie sich, Monika in die Augen zu sehen. Sie schluckte hart, als ob es sie eine große Anstrengung kostete, auf diese Frage zu antworten. Aber schließlich kam es: »Laßt es mich lieber sagen, wie es ist. Wir - sind nicht verheiratet.« »Was sagst du da? Ihr seid nicht verheiratet?« Monikas Stimme klang ehrlich verblüfft. »Nein. Er verabscheut Geistliche und wollte darum von einer kirchlichen Trauung nichts wissen. Und im übrigen ist seine norwegische Staatsangehörigkeit noch nicht in Ordnung; er ist immer noch Amerikaner, und es muß wohl ein Aufgebot in Amerika bestellt werden, ehe wir eve ntuell heiraten können. Er hat gesagt, mit der Formalität habe es Zeit. Aber er wollte, daß wir als in aller Form getraut gelten - mit Rücksicht auf die Verhältnisse hier.« »Aha, er ist nicht von den Behörden begeistert?« warf Tancred ein. »Diese Auffassung teilt er mit vielen.« »Aber war es denn wirklich deine Absicht gewesen, ihn zu heiraten?« fragte Ebba. Wieder schien Lizzie etwas im Halse zu haben. »Das - ist so schwer zu sagen. Es bedeutete so viel für mich, von meinen Verwandten in Lillesund freizukommen; ich fühlte, daß ich ihm Dank schuldig war. Und er hat so große Macht über mich; ich bin gleichsam nur Wachs in seinen Händen; ich glaube, er könnte alles mit mir anstellen. Trotzdem kenne ich ihn gar nicht; er ist so weit, weit fort - ich weiß nicht, wer er eigentlich ist und was er von mir will. Das ist es, was mich so ängstlich macht. Ich habe ab und zu das Gefühl, als führe ich das Leben einer Schlafwandlerin - und ich muß jetzt von ihm fort...« »Ist etwas Neues passiert, da du deinen Beschluß so plötzlich gefaßt hast?« Tancred beobachtete aufmerksam ihr Gesicht. »Nicht etwas eigentlich Neues; ich bringe es nur nicht fertig, -162-
dieses Leben hier länger fortzusetzen. Nachdem ihr gestern gegangen wart, wurde es schlimmer denn je zuvor. Ich hatte das Gefühl, ein großes Verbrechen begangen zu haben, indem ich euch die Kammer zeigte. Und er strafte mich, indem er sich in seine Bibliothek einschloß, ohne ein Wort zu mir zu sagen. Ich fühlte mich so verzweifelt allein in diesem düsteren Hause, wo alles so kalt und fremd ist - fast wie auf einem anderen Planeten; jeder einzelne Gegenstand haßt mich gleichsam. Mir war schwindlig, ich dürstete nach frischer Luft, aber ich wagte mich nicht hinaus - ich weiß, er mag nicht, daß ich mich aus dem Hause entferne, obwohl er nie etwas darüber gesagt hat. Es ist, als ob er mich mit unsichtbaren Banden fesselt... Und heute kam Rein wieder - zum weiß Gott wievielten Male - die beiden gingen zusammen in den Keller hinunter. Ich hielt es nicht mehr aus - ich mußte gehen - fort, fort - ehe ich verrückt wurde.« Die Worte kamen abwechselnd in einem reißenden Schwall und dann wieder stoßweise; ihre Augen glänzten wie bei einem verängstigten Tier. Einen Augenblick glaubte ich, sie würde einen hysterischen Anfall bekommen. Monika ließ sie den Rest Kognak austrinken, und Ebba sagte beruhigend: »Du hast sicherlich ganz richtig reagiert, Lizzie; du paßt nicht gut zu Fahle. Aber was hast du jetzt vor? Sag es nur, wenn wir dir irgendwie helfen können.« Lizzie hatte einigermaßen die Fassung wiedergewonnen; sie erhob sich und griff nach ihrem Regenmantel. »Ich will zu Karsten gehen«, sagte sie. »Er ist so gut zu mir, und ich habe ihn sehr gern; wir gehören zusammen. Seid herzlich bedankt für eure Freundlichkeit, es tut mir furchtbar leid, daß ich euch immer mit meinen dummen Problemen behellige, aber es tat gut, sich auszusprechen. Jetzt möchte ich gern gehen.« Sie wandte sich um. In diesem Augenblick klopfte es an der Haustür - dreimal kurz und bestimmt. Lizzie drehte sich mit -163-
verzerrtem Gesicht um. »Das ist er«, flüsterte sie. »Sagt nicht, daß ich hier bin. Laßt mich zur Hintertür hinaus.« »Du kannst ganz beruhigt sein«, sagte ich. »Das ist nur dein Freund Karsten; er pflegt immer um diese Zeit vorbeizukommen. Ich werde ihm aufmachen.« Ich trat in den Korridor und öffnete die Tür. Im nächsten Augenblick spürte ich, wie mir das Blut ins Gesicht schoß. Draußen stand Fahle. Er trug einen alten Regenmantel und einen breitrandigen Hut. Er schlug das Regenwasser vom Hut, indem er sein stereotypes Statuenlächeln lächelte. »Meine Frau befindet sich hier, nicht wahr? Darf ich eintreten.« Ich glitt automatisch zur Seite und ließ ihn passieren. Ich war überrumpelt, nicht imstande, einen Vorwand zu finden, um ihn aufzuhalten. Mit schnellen, federnden Schritten ging er direkt in die Stube, grüßte die Gesellschaft kurz und stellte sich direkt vor Lizzie. Mit ruhiger, sicherer Stimme, als ob er zu einem Kinde spräche, sagte er: »Es ist am besten, wenn du jetzt mit mir nach Haus kommst, meine Liebe.« Er fing ihren Blick auf; sie sah ihn mit einem leeren, versteinerten Ausdruck an. Ich mußte an eine japanische Federzeichnung denken, die einmal starken Eindruck auf mich gemacht hatte, als ich klein war; sie stellte einen Sperling dar, der von einer Schlange hypnotisiert wurde. »Ja, ich komme«, murmelte sie tonlos und steckte ihre Hand unter seinen Arm. Mit gesenktem Nacken folgte sie ihm zur Tür, gehorsam wie ein kleines Mädchen, das eben unartig gewesen war und es nun wieder gutmachen will, um der Strafe zu entgehe n. Der Auftritt machte einen völlig lähmenden Eindruck auf uns. Wir blieben einfach stehen und starrten die beiden an; es war, als ob diese ruhige, entschlossene Stimme uns alle -164-
gebannt habe. Ebba war die einzige, die Anstalten zu einer Art Protest machte. Sie trat einen Schritt vor und hob die Hand. »Aber?« begann sie. Fahle wandte sich im Türrahmen um und blickte sie fest an. »Sie müssen dieses Intermezzo entschuldigen«, sagte er gedämpft. »Meine Frau ist nicht ganz gesund; sie hat ziemlich hohes Fieber, und ich hatte ihr ausdrücklich untersagt, bei diesem Wetter auszugehen. Ich will nicht, daß sie sich eine Lungenentzündung zuzieht; deshalb kam ich, um sie zu holen. Leben Sie also wohl einstweilen; wir sehen uns bald wieder. Komm nun, Lizzie...« Die Tür schloß sich hinter ihnen. Durch das Fenster sah ich, wie sie sich über den Hofplatz entfernten. Der Wind fing sich in seinem schwarzen Mantel; er erinnerte an einen großen Raben. Er hatte Lizzie den Arm um den Leib gelegt; sie bewegte sich mit langsamen, apathischen Schritten, als ob sie ganz in sich zusammengesunken sei. Ebba ließ sich in einen Sessel fallen; sie war offensichtlich erschultert. »Nein, das ist der Gipfel«, rief sie aus. »Er muß ein professioneller Hypnotiseur sein! Ich begreife nicht, was mit uns los war. Ich pflege sonst nicht an Autoritätsangst zu leiden.« »Der Bursche hat eine besondere Gabe, Menschen so zu beeindrucken, daß sie sich wie kleine Rotzjungen vorkommen«, stimmte Tancred zu. »Das war gerade so, als sei man in der Schule beim Mogeln erwischt worden. Ich hatte fast erwartet, daß er uns eine Strafarbeit diktieren werde.« »Es ist verdammt schade um Lizzie«, sagte Ebba. »Sie muß in einer Hölle leben; Fahle ist ja ein waschechter Despot. Nicht brutal, sagte sie? - Ich glaube, ich sah es - diese Form von Brutalität ist die allergefährlichste, Caligula als Jesus verkleidet!« Arne hatte sich selbst etwas Kognak eingeschenkt und nippte -165-
jetzt von seinem Glase. »Auf mich wirkt Fahle, ehrlich gesagt, ziemlich normal«, sagte er. »Er hat wohl patriarchalische Neigungen und etwas exzentrische Interessen, aber ich glaube, er ist ein kluger Kopf. Dagegen will es mir jetzt fast so vorkommen, als ob Lizzie nicht ganz bei Trost sei. Sie ist offensichtlich hysterisch, und Gott weiß, ob sie nicht an Verfolgungswahn und fixen Ideen leidet.« »Aber man kann doch gar nicht anders, als ihre Partei ergreifen«, rief Monika erbost aus. »Jeder, der mit einem solchen Menschen zusammenlebt, muß übernervös werden.« Eine halbe Stunde lang blieben wir noch sitzen und diskutierten dieses Verhältnis. Plötzlich schlug Ebba mit der flachen Hand auf den Tisch und erhob sich. »Ich gehe«, erklärte sie resolut. »Ich werde mit diesem Kerl reden. Und ich gedenke ihm meine Meinung zu sagen. Wenn Lizzie nicht Kraft genug hat, sich selbst aus diesem Sumpf zu ziehen, dann muß man ihr helfen. Ich gehe sie holen - und wenn ich Polizeigriffe oder Feuerwehrmethoden anwenden müßte.« Ebba trat in den Gang und begann, sich den Regenmantel und Gummistiefel überzuziehen. Arne folgte ihr. »Liebe, gute Ebba, es ist ein schöner Zug von dir, daß du für deine unterdrückten Mitschwestern kämpfst, aber findest du nicht, daß du dich hier in anderer Leute Privatangelegenheiten einmischt?« »Ich gehe!« wiederholte Ebba und stieß den Fuß demonstrativ in den Gummistiefel hinein. Arne lächelte ironisch. »Findest du nicht, daß die Rolle eines Retters der bedrängten Unschuld besser zu Don Quijote paßt?« »Du bist ganz ekelhaft geworden, Arne.« Monikas Stimme war fast heiser vor Ärger geworden. »Soll ich dich begleiten, Ebba?« »Nein danke, ich gehe lieber allein.« Ebba knöpfte sich die -166-
Regenhaut dicht am Halse zu, so daß sie einer kleinen Jeanne d'Arc in schimmernder Rüstung glich. »Jetzt bin ich wirklich in Kampfstimmung, will ich euch sagen, und ich freue mich auf diese Abrechnung. Ich komme bald wieder - mit Lizzie. Bis nachher.« »Viel Glück!« winkte ihr Arne nach. »Ich bin stolz auf dich. Gib nur dem Drachen, was er verdient, St. Georg!« Ebba blieb auffällig lange fort; ein, zwei, drei Stunden vergingen, ohne daß sie sich zeigte. Draußen goß der Regen in melancholischen Strömen nieder. Nichts kann trostloser sein als eine herbstliche Schärenlandschaft in gleichmäßigem, unablässigem Regen; es ist, als ob die ganze Natur sich erkältet habe und nun das Bett hüte. Es hustet und krächzt irgendwo in den Wolken, und es trieft monoton aus allen verschnupften Dachrinnen. Hin und wieder niest ein Windstoß gegen die Wände. Alle Symptome sind da; der Herrgott hat kalte Füße bekommen. Wir hatten der Abwechslung halber eine Art Bridge angefangen, machten aber Culbertson keine Ehre mit unserem Spiel. Ich bemerkte daß Tancred unruhig nach der Uhr zu schauen begann. »Nun?« fragte Arne. »Bist du bange, daß Ebba umgekommen ist?« »Es dauert etwas lange, finde ich. Sie braucht nicht mehr als eine halbe Stunde für den Weg, also eine Stunde hin und zurück. Und nun ist sie schon seit über drei Stunden fort.« »Sie wartet vielleicht, bis es aufhört?« »Dann müßte sie dort eventuell übernachten. Ich glaube kaum daß sie dazu aufgelegt ist. Und übrigens regnete es genau so stark als sie ging.« »Du wirst sehen, es ist eine Repressalie für dein Verschwinden heute morgen.« -167-
Weitere zwanzig Minuten vergingen. Nun wurde Monika unruhig. Sie begann, nervös an ihrem Medaillon zu fingern. »Nein, das gefällt mir ganz und gar nicht«, sagte sie. »Es muß etwas passiert sein, Gott weiß, worauf dieser unheimliche Bursche verfallen sein mag.« Tancred legte die Karten zusammen und erhob sich. Seine indolente Maske war verschwunden; in seinen Augen lag ein Ausdruck der Anspannung. Trotz allem ist also auch er ein Mensch mit Gefühlen und Nerven, dachte ich - nicht nur ein schlapper und arroganter Snob. »Es ist vielleicht am besten, daß wir einmal nach ihr sehen, sie kann sich unterwegs den Fuß verstaucht haben. Jedenfalls werde ich jetzt zum Pfarrhof hinausgehen.« »Um sie zu holen?« Arne setzte wieder das ironische Lächeln auf. »Wirst du auch schon überspannt, Tancred? Dies entwickelt sich ja fast zu einer Komödie: daß die Ehemänner zwischen den Höfen hin und her laufen, um ihre leichtfüßigen Ehefrauen zurückzuholen Glaubst du, Fahle ist ein Sittlichkeitsverbrecher?« »Mir gefällt seine Visage nicht«, äußerte Tancred trocken und ging in den Korridor. »Selbstverständlich werden wir dich begleiten«, versicherte Arne. Wir hatten bereits angefangen, uns wasserdicht anzuziehen, als wir draußen eine Regenhaut knistern hörten. Ich öffnete die Tür; es war Ebba, die die Treppe hinaufkam. Sie war atemlos wie nach einem langen Dauerlauf und wirkte hochgradig erregt. »Aber Mädchen, wo bist du so lange gewesen? Wir wollten gerade eine Hilfsexpedition starten. Wir glaubten, du seist verunglückt oder man habe dich vergewaltigt.« »Gar nicht so übel geraten.« Ebba lehnte sich gegen den Türrahmen, indem sie sich zwang, ruhiger zu atmen. »Ich habe -168-
etwas Phantastisches erlebt, ich hätte nie geglaubt, daß so etwas im 20. Jahrhundert möglich sei. Oh, ich habe viel zu erzählen. Ich bin fast den ganzen Weg gelaufen, um schnell heimzukommen und euch zu berichten. Aber erst muß ich einen Drink haben; den brauche ich jetzt wirklich.« Ebba warf sich in einen Sessel vor dem Kamin. Sie suchte Puderdose und Lippenstift hervor. »Mein Gott, wie ich aussehe aber das ist nicht anders zu erwarten nach allem, was ich mitgemacht habe. Gib mir einen Pink Gin, Arne - dann werdet ihr die Geschichte aller Zeiten hören. Schade, daß Karsten nicht hier ist; das wäre Stoff zu einer Novelle in seinem Genre.« Arne holte Angosturabitter und eine Flasche Golden Cock; er mixte einen Drink für uns alle fünf. Ebba übereilte sich nicht mit ihrem Bericht; sie lag in entspannter Haltung da und genoß das hellrote Fluidum.« »Verfalle nun nicht dem Alkohol«, warnte Tancred. »Der stumpft das Gedächtnis ab und stimuliert die Phantasie bedenklich. Du hast uns lange genug auf die Folter gespannt. Komm jetzt mit der Geschichte.« »All right.« Ebba schüttelte ihre nassen Locken. »Laßt mich der Reihe nach erzählen, wie es vor sich ging. Ich traf also vor ungefähr drei Stunden beim Pfarrhof ein und spürte, daß meine Kampfstimmung inzwischen ziemlich abgekühlt war; es ist komisch, wie kalter Regen und nüchternes Nachdenken einem den Mumm nehmen. Am liebsten wäre ich umgekehrt, aber das wäre zu erbärmlich gewesen; ihr hättet mich zu grausam auf den Arm genommen. Deshalb nahm ich mich zusammen und klopfte an die Tür. Fahle öffnete. Ich dachte, jetzt gilt es: Mut in der Brust, Grips im Kopf, Stahl in Armen und Beinen und damit marschierte ich wie ein Polizeiinspektor hinein und verlangte Lizzie zu sprechen. Er setzte sein widerliches Seraphlächeln auf und -169-
sagte, sie habe sich hingelegt; sie sei krank und müsse wohl für ein paar Tage das Bett hüten. Es sei nicht ratsam, daß sie jetzt mit jemandem spreche; sie müsse Ruhe für ihre Nerven haben. Ja, denkt euch, das wollte er mir weismachen, das Schwein! Zum Glück geriet ich wieder völlig außer mich und sagte ihm in bildreichen Wendungen, was ich von ihm hielt. Ich erzählte ihm, daß es eine ausgesuchte Unverschämtheit uns gegenüber gewesen sei, Lizzie auf diese Weise abzuholen. Ich sagte ihm, daß ich ihn für einen Sadisten und Frauenquäler von der Art hielte, auf die man eine Abschußprämie aussetzen müßte. Ich sagte ihm, wir wären uns darüber klar, daß er nicht mit Lizzie verheiratet sei, sondern sie einfach wie ein beliebiges Versuchstier eingesperrt halte. Ferner, daß sie nicht eine Sekunde länger unter seinem Dach bleiben wollte und daß ich das Haus nicht ohne sie verlassen würde. Diese Salve hatte anscheinend nicht die geringste Wirkung auf ihn, es war, als ob ich mit Schrot auf ein Schlachtschiff geschossen hätte Er lächelte nur noch liebenswürdiger und sagte, er glaube, wir mißverstünden die Situation. Infolge ihrer unglücklichen Erziehung sei Lizzie immer noch sehr nervös und leide unter den seltsamsten Zwangsvorstellungen; heute habe sie anscheinend wieder einen solchen Anfall gehabt. Wenn ich so sehr darauf bestünde, solle ich selbstverständlich mit ihr sprechen dürfen; er hoffe, daß sie sich inzwischen etwas beruhigt habe, so daß sie selbst für die Beseitigung dieses Mißverständnisses sorgen könne. Damit führte er mich in Lizzies Schlafzimmer und ließ mich mit ihr allein. Ich vergewisserte mich daß er nicht an der Tür lauschte. Lizzie lag im Bett und wirkte ebenso apathisch wie vorhin, als sie uns verlassen hatte; sie sah mich geistesabwesend an und lächelte stumpf wie ein Narkotiker. Ich setzte meine ganze Willenskraft ein, um sie zum Aufstehen und Mitkommen zu bewegen, aber es war völlig zwecklos. Sie habe einen Hysterieanfall gehabt, erklärte sie - wir sollten doch um Gottes -170-
willen kein Wort von dem glauben, was sie erzählt habe; sie lebe nur in ihren eigenen Phantasien und Einbildungen, wenn sie diese Anfälle habe. Selbstverständlich sei sie mit Fahle verheiratet, und sie habe es sehr gut bei ihm; er sei immer so verständnisvoll und nachsichtig, wenn ihre Nerven mit ihr durchgingen. Sie sprach mit einer klanglosen, müden Stimme, doch lag eine eigene Entschlossenheit in ihrem Tonfall; sie ließ sich nicht überreden. Es nützte absolut nichts, daß ich ihr erklärte, das habe Fahle ihr suggeriert; das lehnte sie als ihre eigene Zwangsvorstellung ab. Zum Schluß bat sie mich freundlich zu gehen; sie wolle gern versuchen, ein wenig zu schlafen; der Schlaf sei die beste Medizin gegen solche Nervenkrisen. Als ich wieder in die Stube hinauskam, erhob sich Fahle mit einem wohlwollenden und butterweichen Ausdruck - und fragte, ob ich nicht einen Augenblick Platz nehmen und einen Schnaps mit ihm trinken wolle. Am liebsten hätte ich ihm eine schallende Ohrfeige gegeben, so wütend war ich über diese schmähliche Niederlage. Aber ich dachte mir, wenn ich jetzt ginge, dann hieße das völlig unverrichteter Dinge nach Hause kommen. Ich verspürte plötzlich den Drang, diesen merkwürdigen Mann näher zu studieren; etwas wollte ich von meinem Besuch haben, und Psychologie ist ja mein Fach. Deshalb nahm ich mit Dank an. Er schenkte mir etwas Grünes ein, ein starkes Getränk mit Anisgeschmack; er behauptete, dies sei der echte, alte Absinth. Und dann begann er zu plaudern. Er erzählte mir von der Arbeit, mit der er beschäftigt sei, und berichtete mir vor allem von Jörgen Uhl, dein Kaperpriester. Darauf fing er an, den Satanismus und seinen Kult zu schildern...« »Das ist sein Spezialgebiet«, unterbrach ich. »Genau den gleichen Vortrag hatte er uns anderen gehalten, bevor du und Tancred hierherkamen.« »Darüber bin ich mir klar«, fuhr Ebba fort. »Ich konnte leicht -171-
feststellen, daß er eine sorgfältig eingeübte Lektion hersagte. Aber er trug durchaus nicht übel vor. Er malte seinen Stoff in farbenreichen Bildern aus; hin und wieder schlug er interessante Nebenpfade ein, las einige Zeilen aus einem alten Buch, oder fügte eine makabre Anekdote ein. Er führte aus, wie geheime okkulte Gesell-Schäften bestimmte historische Ereignisse beeinflußt hätten, und er schilderte, wie der Schwarze Kult seit Jahrhunderten eine seltsame Anziehungskraft auf die menschliche Seele ausgeübt habe. Gegen meinen Willen wurde ich immer mehr von seinen Darlegungen mitgerissen, und ich begann zu verstehen, wie dieser Mann eine solche hypnotische Macht auf Lizzie ausüben konnte. Seine Stimme war die ganze Zeit über beherrscht, nahm aber nach und nach einen fast magischen Tonfall an; er legte tatsächlich einen grotesken Charme an den Tag. Die Situation war ziemlich seltsam. Da saß ich - eben noch schnaubend hereingestürmt, um eine arme tyrannisierte Mitschwester zu retten und jetzt völlig hingerissen von einem Vortrag über idiotischen alten Aberglauben...« Ebba warf verärgert die Locken zurück und konzentrierte sich einige Sekunden auf ihren Fink Gin; sie behielt den Schluck einen Augenblick im Munde, als ob sie mit Zahnwasser spülte. »Ich muß diesen Absinthgeschmack loswerden«, erklärte sie. »Das Getränk war verdammt heimtückisch - sicherlich trug es dazu bei, daß ich wie narkotisiert sitzen blieb. Also weiter... dieser Monolog dauerte wohl gut zwei Stunden; da meinte er wohl, er habe mich hinreichend bearbeitet und könne nun zum nächsten Programmpunkt übergehen. Denn daß das Ganze nach einem infamen Programm abrollte, darüber hege ich nicht den geringsten Zweifel. Also: er erhob sich plötzlich und schlug vor, daß wir in den Keller hinuntergehen sollten, um uns Jörgen Uhls »Teufelskapelle« anzusehen, die er euch vor einigen Tagen gezeigt hatte. Meine physische Abneigung ihm gegenüber war nun völlig einer kribbelnden Neugierde gewichen; wie gesagt, -172-
war ich von dem grünen Getränk auch reichlich umnebelt, so daß ich nichts gegen den Vorschlag einzuwenden hatte. Fahle zündete eine kleine Paraffinlampe an, und dann stiegen wir buchstäblich - in die Unterwelt. Ihr seid ja selbst in dem abscheulichen Kellergelaß gewesen ausgenommen du, Tancred-, und ihr habt auch Fahles seltsame Schilderungen gehört, was dort vor sich gegangen sein soll. Ich weiß nicht, welchen Eindruck es auf euch gemacht hat; auf mich wirkte es wie eine Art Delirium. Wie er so da stand mit erhobener Lampe und die Bedeutung der Zeichen an der Wand erklärte, ähnelte er mehr den je einem lasterhaften Mönch. Er unterstrich seine Worte mit schnellen Handbewegungen; das tanzende Schattenbild an der Wand glich einer großen, unruhigen Fledermaus. Ich bekam plötzlich das unheimliche Gefühl, daß dieser Mann gleichsam zu diesen Dingen hier unten gehörte; er war selbst ein Teil des Raumes hier, genau wie das karikierte Kruzifix und der ›Altar‹ mit den großen Silberkandelabern. Mir wurde unwohl, und ich ging einen Schritt auf die Tür zu. Ich wollte wieder nach oben. Aber Fahle hielt mich an; er legte mir die Hand auf den Arm. ›Gehen Sie noch nicht‹, sagte er. ›Erst muß ich Ihnen noch etwas zeigen. Sie sind ja ein Mensch mit Phantasie, Frau Cappelen-Jensen. Stellen Sie sich jetzt darauf ein, der echten Schwarzen Messe beizuwohnen. Ich möchte Ihnen einmal demonstrieren, wie es tatsächlich vor sich ging.‹ Einen Augenblick war ich im Zweifel, was ich tun sollte; eine Stimme in mir sagte, daß ich mich zurückziehen mußte. Aber meine Neugierde gewann wieder die Oberhand, und ich beschloß, bis an die äußerste Grenze zu gehen. Ich berief mich innerlich darauf, daß ich mir vorgenommen hatte, diesen Menschen psychologisch zu studieren; ich war hier, um Beobachtungen zu machen und Material zu seiner Analyse zu sammeln. ›All right‹, antwortete ich. ›Ich werde versuchen, ein hellhöriges Publikum zu sein.‹ ›Warten Sie hier so lange‹, sagte -173-
er. ›Ich komme gleich zurück.‹ Worauf er die Lampe auf den Tisch stellte und sich in die Dunkelheit hinaustastete. Mehrere Minuten vergingen. Während ich allein war, merkte ich, wie die makabre Stimmung des Gelasses langsam in meinen Körper eindrang - wie durch eine Art osmotischen Drucks. Ich versuchte, sie mir vom Leibe zu halten, indem ich einen Schlager pfiff - ›Music makes me‹ - während ich herumging, und mir das Inventar beschaute. Ich blieb vor dem Kruzifix stehen. Obwohl ich nie ein besonders strenger Gegner von Blasphemien gewesen bin, krümmte sich etwas in mir beim Anblick dieser Figur. Ich hatte nie gewußt, daß Farben Metallgrün, Zinnober und Kadmiumgelb - so schneidend zusammenklingen können, daß sie förmlich auf das Ohr wirken - wie ein freches, boshaftes Hohngelächter. Da bemerkte ich mit einem Male einen starken Räucherdunst. ›Sie bewundern das Kunstwerk?‹ hörte ich Fahle direkt hinter mir. Ich wandte mich um - und bekam fast einen Schock. Er hatte sich in ein phantastisches Kostüm gekleidet, eine Art Priesterornat von knallroter Farbe, der ihm bis zu den Füßen reichte. Er hielt ein großes qualmendes Räucherbecken in der Hand. Wäre ich ganz nüchtern gewesen, dann hätte ich wohl das Komische, das burlesk Lächerliche der Situation erkannt. Aber mein Sinn für Humor hatte mich offenbar verlassen; irgendein Instinkt schlug Alarm: hier drohte wirklich eine Gefahr. Ich stand völlig sprachlos und wie erstarrt da und blickte ihn an. Er strich mit der Hand liebkosend über den roten Seidenstoff und erklärte, dies sei Jörgen Uhls Meßgewand; es sei während der Schwarzen Messen benutzt worden, die der Kaperpfarrer hier im Hause veranstaltet hatte. Es sei mit dem Räucherbecken in einer Kiste verschlossen gewesen, die Fahle gefunden hatte, als er sich den Zugang zu diesem vermauerten Raum erbrach. Auf dem Rücken des Gewandes war mit Goldfäden ein umgekehrtes Kreuz eingestickt worden; damit solle symbolisiert werden, daß die Herrschaft Christi zu Ende sei, erklärte er. -174-
Mit langsamen, zögernden Bewegungen setzte er das Becken auf den Tisch und zündete die beiden großen Kerzen an. Dann machte er die Paraffinlampe aus und stellte sie in den Schatten; sie gehörte nicht zum Ritual. ›Und nun schlage ich vor, daß wir ein kleines Schauspiel aufführen‹, sagte er mit weicher, verschleierter Stimme. ›Sie sind als Psychologin daran interessiert, die Abgründe der menschlichen Seele zu studieren, nicht wahr? Aber wenn man ein Gebiet wie dieses wissenschaftlich erforschen will, dann muß man den Weg des Sich- Einlebens gehen. Wir wollen eine Schwarze Messe rekonstruieren; gestalten wir uns die Illusion so lebhaft wie möglich. Ich bin jetzt der Priester, der die Zeremonie leitet, und Sie sind ein weiblicher Adept, der in das sukkubische Mysterium eingeweiht werden soll. Legen Sie sich vor den Lichtern auf den Altar und machen Sie sich bereit, die Mumienkräfte zu empfangen.‹ Mit einem Male wurde mir klar, daß der Mann tatsächlich im Begriff war, mich zu hypnotisieren; es legte sich eine Schicht von weichem Samt über mein Bewußtsein; einen Augenblick lang war ich sozusagen in Trance gewesen. Fahle hatte mir die Hand auf die Schulter gelegt und mich sanft gegen den Tisch geschoben, während er meinen Blick festhielt und melodisch psalmodierend sprach. Sein Gesicht war ganz nahe; in dem matten Lichtschimmer wirkten die Züge uralt und eingetrockne t wie bei einer Mumie. Nur die Augen waren jung und infam lebendig; sie glänzten von reinem, unverhülltem Trieb. Ich spürte seinen Atem an meinem Hals, und ich hatte die abscheuliche Vorstellung, daß er unter dem Meßgewand nackt sei. Ich pflege ja sonst nicht wie eine lavendelduftende alte Jungfer auf zudringliche Mannsleute zu reagieren, aber jetzt packte mich einfach die Angst. Ich machte eine plötzliche Bewegung zur Seite, um zum Ausgang zu laufen, aber Fahle hielt mich fest. Er packte mich am Arm und zo g mich zurück. -175-
In diesem Augenblick rief ihn Lizzie von oben. Der Griff um meinen Arm lockerte sich; er blickte unwillkürlich hoch. Ich benutzte die Gelegenheit, mich frei zu machen; die kleine Unterbrechung machte, daß ich die Fassung wiedergewann. ›Es tut mir leid, aber jetzt möchte ich gern gehen‹, sagte ich eiskalt und ging schnell zur Tür. Er folgte mir. ›Sie dürfen das bitte nicht mißverstehen‹, murmelte er mit ängstlicher Stimme. ›Das war ja nur als Spiel gemeint, als ein scherzhaftes Experiment.‹ ›Unsere Auffassungen von Scherz sind verschieden, antwortete ich. ›Guten Tag‹. Und damit segelte ich ebenso grimmig hinaus, wie ich gekommen war. Ich fühlte mich erst sicher, als ich mich ein gutes Stück unterwegs befand. Dann lief ich direkt nach Hause, und hier habt ihr mich also. Eine ganz interessante Geschichte, nicht wahr?« »Dir hätte also ein ›Schicksal schlimmer als der Tod‹ gedroht.« Arne nickte lächelnd. »Aber ich warnte dich, Ebba. Es ist nicht klug, sich in das Privatleben anderer Leute einzumischen. Wenn Fahle darauf ausging, dich ins Bockshorn zu jagen - und das ist ihm ja auch glänzend gelungen -, so hatte er sich das zweifellos als kleine Strafe für dein Auftreten gedacht. Diese Geschichte bestätigt den Eindruck, den ich von ihm habe: ein intelligenter und exzentrischer Mann mit starkem Sinn für das Dramatische.« »Quatsch.« Ebba rümpfte die Nase. »Der Mann ist ja einfach verrückt. Erotomane mit schizophrener Veranlagung; das ist meine Diagnose. Diese kulturhistorischen Studien haben ihn nach und nach völlig meschugge gemacht. Obwohl es auch eine paralysis generalis sein kann...«
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ZWÖLFTES KAPITEL Die Sünde wider das Zehnte Gebot Wir hatten seit vierundzwanzig Stunden nichts von Järn gesehen; dies deutete darauf, daß er einen energischen Tag am Schreibtisch verbracht hatte. Aber wenn ein Autor so intensiven Umgang mit den Erscheinungen der Geisterwelt pflegt und immer neue Schrecken aus dem Tintenfaß beschwört, dann muß er wohl hin und wieder nüchterne, erdgebundene Menschen aufsuchen. Ein Dichter muß daran erinnert werden, daß, was er schreibt, Gott sei Dank nicht mit der Wirklichkeit übereinstimmt - das ist eine alte Gesundheitsregel für das Geistesleben. Und am späten Nachmittag tauchte unser Freund auch ganz richtig auf begleitet von Lehnsmann Sörensen, den er unterwegs getroffen hatte. Ebba zog Järn beiseite, um ihm die letzten Kommuniques über Lizzie und Fahle zu geben, während wir anderen sitzen blieben und mit dem Lehnsmann plauderten. »Sie haben hier ja wahrhaftig einen Sturm im Wasserglase angerichtet«, sagte Sörensen und kratzte in seiner Stummelpfeife. »Die Leute reden von nichts anderem, als den übernatürlichen Dingen, die hier auf dem Hof vorgehen sollen. Ist etwas an diesen Gerüchten?« »Zweifellos etwas«, räumte Arne ein. »Wenn man den Elefanten auf eine Maus reduziert. Aber die Maus hat sehr wenig mit dem Übernatürlichen zu tun, glaube ich.« Er berichtete in kurzen Zügen, was sich in der letzten seltsamen Woche ereignet hatte. Der Lehnsmann spitzte immer mehr die Ohren und sperrte vor Erstaunen Mund und Nase auf, als Arne ihm von dem geheimen Gang erzählte. »Das ist mir wirklich völlig neu. Aber auf jeden Fall wird das Problem dadurch vereinfacht. Es können nicht viele hier in -177-
Heilandet etwas von dem Gang wissen. Dieser Friedensstörer muß ja außerordentlich gute Gelegenheit zum Studium der Örtlichkeit gehabt haben; wahrscheinlich hat er direkt im Hause gewohnt. Sagen Sie, haben Sie Gründe, Eivind Dörum zu verdächtigen?« »Tja - vielleicht.« Arne berichtete kurz von seinem letzten Gespräch mit dem früheren Besitzer und zitierte Dörums Drohung. Gleichzeitig schilderte er auch den Zusammenstoß mit Flateland. »Ja, Flateland ist von Ihren Hotelplänen wenig begeistert«, versicherte der Lehnsmann. »Er versucht jetzt, die Gemeinde zu bewegen, das Haus unter Denkmalschutz zu stellen, so daß es Ihnen einfach verboten wird, Veränderungen vorzunehmen.« Arne lachte. »Typische Sektiererpolitik; wenn es nichts nützt, Himmel und Hölle anzurufen, geht man einfach zu den lokalen Behörden. Aber da kommt er zu spät; ich habe längst die Genehmigung der Gemeinde, und alle Papiere sind in Ordnung. Es macht mir wirklich Spaß, dieses Päpstlein zu verärgern. Und er wird kein Mittel scheuen, um mir Knüppel zwischen die Beine zu werfen; er glaubt, dieses Hotel werde den moralischen Untergang Heilandets bedeuten.« »Allerdings.« Der Lehnsmann lächelte. »Die Schwefelpredigten, die er im Bethaus gehalten hat, zeigen schon gewisse Folgen. Der Aberglaube schießt empor wie das Unkraut nach dem Regen. Die Leute haben geradezu angefangen, Spökenkieker zu werden.« »Ach nein? Was für Visionen haben sie denn?« Järn war es, der vom anderen Ende des Zimmers aus in das Gespräch eingriff; er war plötzlich aufmerksam geworden. »Ach, es ist die alte Geschichte mit dem Gespensterschiff. Einer der Fischer hier - Tönnes Tobiasen - behauptet, die ›Krebs‹ durch die Schären segeln gesehen zu haben, als er beim Makrelenfang war. Ich sprach gerade mit ihm vor ein paar -178-
Stunden. Er war sehr erregt und meinte, dies sei eine Warnung, daß bald etwas Furchtbares geschehen werde. ›Behemoth und Leviathan sind über uns‹, erklärte er. Wie Sie verstehen werden, nimmt er regelmäßig an Flatelands Bibelstunden teil.« »Wieso konnte er annehmen, daß er die ›Krebs‹ gesehen habe?« fragte ich. »Das Signalement stimmt: ein kleines nebelgraues Schiff mit altertümlichem Rumpf und entsprechender Beseglung natürlich auch eine kleine Kanone auf dem Vorschiff. Er habe es in einigen hundert Meter Entfernung gesehen, behauptete er; es glitt lautlos zwischen den Inseln hindurch in den Nebel hinein, anscheinend befand sich kein Mensch an Bord. Ja, Flateland kann die Leute schon zu Visionären machen.« »Apropos die ›Krebs‹«, sagte Arne. »Sie erwähnten letzthin, daß Sie mit der Aufklärung des Tallin-Mysteriums beschäftigt seien. Haben Sie etwas Neues von Interesse erfahren?« »Nein, leider nicht. Ja, d. h. - Järn hat mir gerade erzählt, daß Fahle Ölzeug und einen Rettungsring von dem estnischen Schiff aufbewahrt. Ich glaube, ich werde morgen einmal bei Fahle vorsprechen und mich erkundigen, wie er in den Besitz dieser Dinge gelangt ist.« »Wissen Sie etwas über den Mann?« warf Monika ein. »Nur, daß er Norwegischamerikaner ist, hier seit vier Monaten wohnt und sich als gesetzestreuer Bürger erwiesen hat.« »Man kann auf mancherlei Art gesetzestreu sein«, kam es scharf von Ebba. Ich sah, daß Arne ihr einen Blick zuwarf, der sehr beredt »Halt den Mund - blamiere dich nicht noch mehr!« sagte. Den ganzen Nachmittag hatte er sie wegen ihrer mißglückten »Aktion« gegen Fahle zum besten gehalten und versucht, ihr zu erklären, daß sie sich wie ein Idiot aufgeführt habe. Nun lenkte er das Gespräch rasch auf eine andere Spur. »Ich möchte Ihnen einen Vorschlag machen, Sörensen. Haben -179-
Sie Lust, sich an einem kleinen Abenteuer zu beteiligen? Wir haben guten Grund zu der Annahme, daß dieses Wesen auch heute nacht hier spuken wird; deshalb hatten wir gedacht, in dem gelben Zimmer Wache zu halten. Es ist wohl an der Zeit, daß ein Vertreter des Gesetzes an diesen Nachforschungen teilnimmt; ich gehe nämlich davon aus, daß das norwegische Gesetz einen Paragraphen enthält, der es Gespenstern untersagt, den Frieden des Privatlebens zu stören. Könnten Sie sich denken, uns Gesellschaft zu leisten?« Der Lehnsmann kaute auf seiner Stummelpfeife; in seinen Augen funkelte es launig. »Ich kam hier fast in der Hoffnung her, daß Sie mich um etwas Derartiges bitten würden«, sagte er. »Das ist gerade etwas für einen arbeitslosen Landvogt. Es ist trostlos lange her, seit ich eine wirkliche Verhaftung vorgenommen habe.« Nach dem Abendessen unterhielt Sörensen uns mehrere Stunden mit Geschichten aus seiner Dienstzeit; sie waren nicht gerade sprudelnd ulkig, aber schließlich hat die norwegische Polizei sich ja nie durch tieferen Humor ausgezeichnet. Doch machte er einen zuverlässigen und sympathischen Eindruck, und ich empfand es als absolut beruhigend, daß er heute nacht bei uns sein würde. Eine unheimliche Stimmung hält man sich leichter vom Leibe, wenn man mit einem solchen kerngesunden Alltagsmenschen zusammen ist, phlegmatisch wie ein Bär und mit einem durchschnittlichen, soliden Ochsenverstand.« Kurz nach Mitternacht gab Arne schließlich das Signal zum Aufbruch, und wir gingen alle sechs in Jonas Korps Schlafzimmer. Unser Gastgeber bestand darauf, daß wir kein Licht anzünden, am liebsten nicht einmal ein Streichholz anreißen sollten; das würde man auf weiten Abstand von draußen sehen können. Er sprach mit gedämpfter Stimme und wirkte fast wie ein übernervöser Theaterregisseur, als er uns -180-
anwies, wie wir sitzen sollten; er placierte uns entlang der Wand, an der sich der Spiegel befand, so daß wir nicht sofort entdeckt werden würden, wenn jemand durch die Geheimtür hereinkäme. Ich empfand es fast als eine Erleichterung, daß über diesem Arrangement ein schwacher Schimmer von Komik lag; alle Einfälle Arnes hatten unweigerlich melodramatisches Gepräge. Wir hatten uns Sitzkissen mitgebracht, damit die Wartezeit nicht allzu unbequem werden sollte. Ich selbst ließ mich in der innersten Ecke nieder und sorgte dafür, daß ich Monika an meine Seite bekam. Ich suchte ihre Hand im Dunkeln und spürte aufs neue den lebendigen vibrierenden Kontakt zwischen unseren Fingern. Sie lehnte sich langsam an mich; es lag etwas Intimes und Vertrauliches in dieser leichten Berührung; unsere Körper redeten eine stumme Sprache miteinander. Es begann sich draußen wieder aufzuklären; ab und zu schaute der Halbmond zwischen den schwarzen treibenden Wolken hervor. Ein Ausschnitt des Zimmers wurde in kleinen Abständen von diesem matten Mondschein erleuchtet: undeutlich sah ich die großen Schaftstiefel, die wieder auf ihren Platz in der gegenüberliegenden Ecke gestellt worden waren. Seit dem, was sich in Järns Nacht ereignet hatte, verursachte mir ihr Anblick immer ein unbehagliches Gefühl. Zwar war ich mir jetzt klar darüber, daß das Phänomen eine äußerst einfache und natürliche Erklärung hatte, aber trotzdem... »Nun, Krag-Andersen, was glauben Sie, wie lange werden wir warten müssen?« hörte ich den Lehnsmann flüstern. Das Leuchtzifferblatt auf Arnes Armbanduhr bewegte sich in der Dunkelheit. »Höchstens zwei Stunden. Es ist selbstverständlich nicht hundertprozentig sicher, daß wir heute Nacht Besuch erhalten, aber ich habe es im Gefühl. Wir müssen auf jeden Fall versuchen, uns bis zur Morgendämmerung wachzuhalten. Falls jemand eine Stärkung braucht, so habe ich eine Reiseflasche -181-
hier.« »Was sollen wir machen, wenn der Besucher kommt?« flüsterte Tancred. »Ich setze voraus, daß er nicht nur aus Teleplasma besteht.« Einem Geräusch nach zu urteilen, untersuchte Arne das Magazin seines Revolvers. »Wenn wir ihn hinter der Wand hier hören, müssen wir uns bereit halten und mäuschenstill sein, bis er ganz hereingekommen ist. Dann blende ich ihn mit der Taschenlampe, und Sie können ihn dann mit diesem Revolver kitzeln, Lehnsma nn, und ihn bitten, sich wie ein netter, gebildeter Mensch aufzuführen. Sollte er Schwierigkeiten machen, so müssen wir gemeinsam dafür sorgen, daß er zur Vernunft kommt, d.h. - die Frauen müssen sich wohl darauf einstellen, Zuschauer zu sein.« »Ich hätte ein paar Handschellen mitnehmen sollen«, murmelte Sörensen leise. »Aber dies war ja nicht vorauszusehen.« »Gewiß nicht. Ich habe ein solides Tauende mitgenommen; das kann eventuell die gleichen Dienste tun.« Dann folgte eine lange Pause; wir saßen wie unbewegliche Holzfiguren gegen die Wand gelehnt und lauschten angespannt. Unsere Armbanduhren tickten in der Stille; die Minuten krochen dahin, ohne daß wir etwas Auffälliges hörten. Hin und wieder rüttelte ein Windstoß an den Mauern, und es tönte hohl durch den Schornstein wie in einer alten Orgelpfeife. Hin und wieder gluckste es leise; wenn der eine oder andere sich einen kleinen Angstvertreiber nahm. Über eine Stunde war vergangen; die lange Wartezeit fing an, mir auf die Nerven zu gehen. Ich hatte meine Sinne so lange und intensiv angespannt, daß ich, bald für eine Halluzination reif war. Mindestens eine Viertelstunde hatte ich auf die alten Schaftstiefel gestarrt - irgendwohin muß man ja blicken, während man lauscht und die bekamen nach und nach ein immer -182-
seltsameres Aussehen; es war, als ob sie langsam lebendig wären. Ein völlig absurder Gedanke packte mich; wie wenn plötzlich etwas im Zimmer selbst geschehen würde? Angenommen, diese Stiefel fingen an, sich fortzubewegen?... Nein, offen gesagt, Paul Rickert, das ist deiner nicht würdig; derartiges erlebt man nur im Trinkerheim. Monika lehnte sich enger an mich; ihr Kopf glitt sacht auf meine Schulter; sie war im Begriff einzuschlafen. Der würzige, süße Duft ihrer Haut lag wie eine Liebkosung rings um mich in der Luft. Es berauschte mich, ihre lebenswarme Nähe zu spüren, aber gleichzeitig wurde ich mir peinlich bewußt, daß dieses leidenschaftliche Kontaktgefühl immer in der Dunkelheit aufflammte, als ob es das Tageslicht nicht ertrüge. Weshalb konnte ich mich nicht ermannen zu sagen: du gehörst mir, zerreiße alle anderen Bande, alles andere ist bedeutungslos? Weshalb war ich so klugfeige und so Onkel-Paul- vorsichtig? Weil alles zu dem kommt, der wartet, hatte Ebba gesagt. Ich drückte Monika kräftig die Hand, um sie aufzuwecken; Arne durfte uns nicht in dieser Situation sehen. Später - Monika, später... Ich warf einen Blick auf die Uhr; sie näherte sich halb zwei. Der Lehnsmann scharrte ungeduldig mit dem Fuß. »Ich fürchte, wir machen heute nacht einen sehr mage ren Fang«, brummte er. »Ssssss, ruhig!« flüsterte Ebba zischend. »Habt ihr das eben gehört?« Ich preßte das Ohr fest an die Wand und lauschte. Ja, da bewegte sich unzweifelhaft etwas ganz in der Nähe, und diesmal war es nicht ein Windstoß. Das fast unhörbare Geräusch war genauso, wie Tancred es beschrieben hatte; ein Quietschen von nassen Stiefeln. Irgend jemand kam langsam die schmale Steintreppe draußen herauf; ich hörte es auch schwach im Geländer knarren. -183-
Alle sieben hielten wir den Atem an; ich sah die Silhouette von Arnes Oberkörper; er hatte sich aufgerichtet. Meine Nerven kribbelten und juckten, und das Herz lärmte wie ein ganzes Jazzorchester in meiner Brust. In wenigen Augenblicken würde sich die Tür öffnen - wer würde hereinkommen? Vielleicht niemand? Vielleicht nur ein kalter Windstoß. Unwillkürlich legte ich den Arm um Monika; um mich der eigenen Angst zu erwehren, mußte ich einen anderen Menschen zu beschützen haben. Das Wesen draußen hatte die kleine Plattform erreicht; die Schritte hielten inne, und ich hörte, wie die Klinke niedergedrückt wurde. Mir war, als dauerte es eine ganze Ewigkeit, bis sich die Spiegeltür langsam und anscheinend von selbst öffnete. Noch ein paar Sekunden vergingen; Herrgott, nun bekam ich einen Krampf im linken Bein; nun konnte ich es in dieser Stellung nicht mehr aushalten... Kalte Kellerluft strömte durch die dunkle Türöffnung. Dann kam eine Gestalt zum Vorschein, ein großer Mensch in Ölzeug und Seestiefeln. Er trat in das Zimmer und blieb vor dem Bett stehen. In diesem Augenblick flammte der Lichtkegel aus Arnes Taschenlampe auf, und der Lehnsmann sprang vor; der Revolver blinkte in seiner Hand. »Stillgestanden! Hände hoch!« Die Gestalt machte eine Kehrtbewegung zu uns, und wir blickten in ein großes, bärtiges Gesicht mit panisch verzerrten Zügen. Es war Eivind Dörum. Sein Ölzeug raschelte, als er automatisch die mächtigen, klauenartigen Fäuste in die Höhe hob; die gelben Augen blinzelten hilflos in dem scharfen Licht. Doch dann machte er einen heftigen Ausfall in Richtung auf die Spiegeltür. Sörensen und Tancred warfen sich von zwei Seilen über ihn; Järn und ich waren auch hochgekommen und versuchten zu helfen. -184-
Der Mann hatte Riesenkräfte und kümmerte sich nicht um die Waffe, die Sörensen ihm in den Rücken preßte. Tanc red schüttelte er wie eine kleine Klette ab, und ich selbst bekam einen Faustschlag, daß ich gleichzeitig den Großen Bären und die Cassiopeia vor meinem Blick tanzen sah. Er blieb stehen und schlug mit den Armen um sich wie ein gereizter Gorilla; Sörensen bekam einen Ellbogen in die Magengegend und taumelte gegen die Wand; der Revolver fiel zu Boden. Aber der Lehnsmann sprang wieder vor und packte eine der fuchtelnden Fäuste. Mit einem blitzschnellen Jiu-Jitsu-Griff warf er den Mann zu Boden. Järn kam hinzu und hielt seine Beine fest »Na, Dörum, wollen Sie jetzt ein artiger Junge sein, oder müssen wir Sie binden?« sagte der Lehnsmann. »Ich will Ihnen ungern das Handgelenk verstauchen.« »Ich will mein Papier zurück haben!« stöhnte Dörum und wandte sich hilflos unter dem Eisengriff des anderen. »Ich will mein Papier zurück haben!« »Was für ein Papier meint er?« Sörensen blickte zu Arne empor, der lächelnd dastand und mit seiner Taschenlampe spielte. »Er spielt vermutlich auf den Kontrakt an, mit dem er auf das Rückkaufrecht verzichtet hat. Er scheint zu glauben, daß ich das Dokument irgendwo hier im Hause aufbewahre und daß er das Rückkaufrecht wiedererlangt, indem er sich einfach in den Besitz des Papieres setzt. Ziemlich naiv, lieber Dörum. Sie wissen also nic ht, daß es so etwas wie eine Grundbucheintragung gibt. Sie halten ein wenig Jura studieren sollen, ehe Sie sich dem schwierigen Gewerbe des Einbrechers zuwandten.« »Hängt es so zusammen, Dörum? Sind Sie deshalb immer wieder hier eingebrochen und haben die Rolle eines Gespenstes gespielt? Heraus mit der Sprache, Mann!« Sörensen verschärfte den brutalen Griff. Dörums Gesicht verzog sich vor Schmerz; er -185-
starrte Arne voller Trotz und Haß an, während er etwas Unverständliches grunzte. Der Ausdruck in den siechenden gelben Augen deutete darauf, daß Fahle mit seiner Charakteristik recht hatte; in der Seele dieses Mannes herrschte sicherlich ständig trübes Weller. »Nein, es hal keinen Sinn, ein Verhör dritten Grades zu beginnen, Sörensen.« Arne setzte sich und griff zur Flasche. »Lassen Sie ihn lieber los und versuchen wir, ihm gut zuzureden. Wollen Sie einen Schnaps, Dörum?« Der Mann wirkte nicht sonderlich streitlustig, als er sich vom Boden erhob; er rieb sich das Handgelenk und sah uns mit einem düsteren, gedrückten Blick an. Er trank gierig aus der Flasche, die Arne ihm reichte und fiel apathisch in einen Sessel. Ich empfand fast Mitleid mit ihm; er ähnelte einem großen häßlichen Köter, der Prügel erhalten hatte. »Weshalb haben Sie heute nicht die schwarze Katze mitgebracht? Erzählen Sie uns nun alles, Dörum. Sie waren ein sehr talentiertes Gespenst, und wir möchten jetzt gern die Einzelheiten dieser Geschichte aufklären.« Eine volle Viertelstunde versuchten Arne und Sörensen den Mann ins Kreuzverhör zu nehmen. Vergeblich; er wollte sich nicht zu der geringsten Erklärung herbeilassen. Weder der barsche Ton des Lehnsmannes noch Arnes freundliche Überredung nützte etwas; Dörum stierte sie nur verständnislos an und wiederholte monoton wie ein Kind, daß er sein Papier wiederhaben wollte. Schließlich erhob sich der Lehnsmann erbost. »Schön, schön, dann werden Sie also mit mir kommen, Dörum. Wir werden Sie schon früher oder später zum Sprechen bringen. Versuchen Sie jetzt nicht noch mehr Scherereien zu machen, ich habe ein sicheres und gutes Logis für Sie.« Arne legte ihm die Hand auf den Arm. -186-
»Lassen Sie ihn lieber gehen, Lehnsmann; ich möchte nicht, daß er bestraft wird. Wir müssen daran denken, daß er diesen Hof ein Menschenalter lang besessen hat; es ist verständlich, daß er aus alter Gewohnheit hier noch ein wenig herumlatscht. Und es ist auch verständlich, daß er sein Haus gern wieder zurück haben möchte; ehrlich gesagt, schnitt er bei diesem Geschäft ziemlich schlecht ab. Er ist ein alter Mann, der sich nicht mehr ganz darüber klar ist, was er tut, und er tut mir aufrichtig leid.« »Aber er ist eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit«, wandte Sörensen ein. »Er müßte zum mindesten in einer Anstalt interniert werden.« Arne schüttelte den Kopf. »Er wird es sicherlich nicht wagen, diese Besuche zu wiederholen. Er hat jetzt Lehrgeld bezahlt. Lassen Sie ihn gehen.« »Wie Sie wollen.« Der Lehnsmann zuckte die Achseln und gähnte; er war offenbar zu schläfrig, um ganz diensteifrig zu sein. »Aber nun muß ich sehen, daß ich nach Hause komme; es ist schon bald Morgen. Sie können noch ein Stück mit mir kommen, Dörum; ich will jedenfalls noch ein ernstes Wort mit Ihnen reden. »So hatte ich mit meiner Hypothese also doch recht«, sagte Ebba am nächsten Morgen beim Frühstück. »Zwar hatte ich auf Flateland getippt, aber in der Hauptsache hatte ich recht. Die Absicht war tatsächlich, Arne so einzuschüchtern, daß er das Geschäft rückgängig macht.« »Aber kann man einem geistesschwachen Menschen ein so subtiles Motiv zutrauen?« wandte ich ein. »Der Bursche wirkte ja nicht sonderlich aufgeweckt.« »Es ist immer noch denkbar, daß Flateland der geistige Urheber ist. Übrigens glaube ich durchaus nicht, daß Dörum so beschränkt ist, wie er wirkt. Ich glaube, er simuliert; es lohnt -187-
sich immer, in einer solchen Situation den geistig Minderbemittelten zu spielen. Möglicherweise leidet er an der fixen Idee, daß er den Kontrakt wiederhaben muß, aber seine wichtigste Absicht mit diesen Besuchen war zweifellos, uns abergläubisch zu machen. Es ist ja einle uchtend, daß gerade er und kein anderer - den heimlichen Gang kannte; es war außerordentlich naheliegend für ihn, daß er den Gang auf diese Weise ausnutzte.« »Aber wie konnte er darauf verfallen, die große Kommode zurückzuschieben?« »Sehr einfach.« Ebba kaute sachlich an einem Radieschen. »Wir hätten sofort darauf kommen müssen, daß Dörum der Poltergeist war. Nicht wahr: er hat hier über sechzig Jahre auf dem Hof gewohnt; er weiß, wo jedes einzelne Möbelstück seit den Tagen des Kaperkapitäns gestanden hat. Während eines seiner Besuche entdeckt er sofort, daß die Kommode umgestellt ist. Er hat ein doppeltes Motiv, sie wieder zurückzuschieben: erstens will er uns, die wir in der darunter liegenden Stube sitzen, Angst einjagen, und zweitens ist er selbst schockiert, als er sieht, daß die strenge Anordnung verletzt wurde; die Angst vor ›Jonas Korps Rache‹ sitzt ihm noch im Blut; aus alter Gewohnheit sorgt er dafür, daß das Möbel an seinen rechten Platz gestellt wird. Es gehören ja Riesenkräfte dazu, dies in wenigen Sekunden zu schaffen, aber wir konnten ja später erfahren, daß er kein Waisenknabe ist. Wir verstehen also jetzt, weshalb er das Watteau-Bild wieder aufhängte und Arnes Sachen während eines früheren Besuches zerfetzte. Was den Hundemord betrifft...« »Ja, darüber denke ich gerade nach«, sagte Arne. »Ist es wahrscheinlich, daß er seinen eigenen Hund getötet haben soll?« »Du hast ja selbst gesagt, daß er ein berüchtigter Tierquäler sei. Gewiß soll er gegen diesen Hund sonst relativ nett gewesen sein, aber nun drohte der, Dörums Pläne hier im Hause zu durchkreuzen; deshalb mußte er aus dem Wege geschafft -188-
werden. Daß er an jenem Tage so scharf darauf war, in das gelbe Zimmer zu kommen, deutet darauf, daß er seinen Herrn gewittert hatte. Alles fügt sich logisch ineinander, nicht wahr?« »Eine Frage noch«, sagte ich. »Wie hängt es eigentlich mit der schwarzen Katze zusammen. Wir sahen ja, daß sie hinter Rein herlief...« »Wer sagt, daß es nur eine schwarze Katze in Heilandet gibt? Du solltest deine zoologischen Kenntnisse auffrischen, Paul. Bekanntlich ist die Katze in Norwegen ein ziemlich verbreitetes Haustier, und es ist nicht so schwierig, sich ein schwarzes Exemplar zu beschaffen. Dörum hat also eine solche Katze großgezogen und - sagen wir mit Schweineleber gefüttert, damit sie ein wirklich imponierendes Format bekommt. So daß sie als eine Art Katze von Baskerville auftreten und den gewünschten Eindruck auf Verwalter Ludvigsen und Direktor Arne KragAndersen machen kann... Gewiß, die Erklärung ist trostlos banal, ich gebe das zu, und ich kann wohl verstehen, daß du so melancholisch dreinschaust, Karsten. Aber so von aller Poesie verlassen ist nun einmal die Wirklichkeit.« Järn machte wirklich einen melancholischen Eindruck, wie er so resigniert in den leeren Eierbecher starrte. Es war, als wolle er frei nach Obstfelder sagen: »Ich bin wohl auf den falschen Planeten gekommen. Hier ist es so langweilig.« »Ja, die meisten Mysterien schrumpfen hoffnungslos zusammen, wenn man die Tatsachen analysiert«, bemerkte Tancred und kostete anerkennend von den eingemachten Pflaumen. »Ich glaube, ich kann eine ebenso plausible und ebenso banale Theorie über das estnische Schiff beibringen. Es ist, als ob man eine komplizierte mathematische Aufgabe mit vielen Wurzelzeichen und Potenzen und Klammern reduziert; zum Schluß bleibt im Zähler a + b und im Nenner 2 stehen.« »Auf die Lösung dieser Rechenaufgabe bin ich gespannt«, sagte Arne. -189-
»Nun ja, von einer Lösung kann man eigentlich noch nicht reden; wie gesagt, handelt es sich um eine plausible Hypothese. Die Geschichte scheint einen außenpolitischen Hintergrund zu haben: In Estland fürchtet man zur Zeit eine russische Expansion; man meint, daß die Sowjets im Laufe eines Jahres die baltischen Staaten annektieren werden. Ich habe mit einigen wohlinformierten Leuten in Oslo darüber gesprochen, und erst gestern erhielt ich die telegrafische Bestätigung, daß zur Zeit eine lebhafte Kapitalflucht aus Estland eingesetzt hat. Die besitzenden Klassen dort haben keinen Grund, der Zukunft hoffnungsvoll ins Auge zu sehen, und nun bereitet man sich also auf die Katastrophe vor. Die estnischen Geschäftsleute versuchen, ihr Kapital so unbemerkt wie möglich zu exportieren - vorzugsweise nach kleinen mittelamerikanischen Staaten, die man kaum mit der Lupe auf der Karte entdeckt. Laßt euch noch einmal an die wesentlichen Tatsachen der ›Tallin‹-Affäre erinnern. Ich resümiere, was der Lehnsmann euch erzählte: Das Schiff wird - nach einem kräftigen Wintersturm - vor einem besonders öden Teil der norwegische n Küste treibend gefunden; es ist in gutem Stand, aber die Mannschaft ist spurlos verschwunden, und zwei der Rettungsboote fehlen. Drei der nach Costa Rica destinierten zwanzig Kisten mit Maschinenteilen sind aus dem Laderaum entfernt, und es zeigt sich, daß diese drei ganz unten gelegen haben müssen; die oberen Kisten waren beiseite geräumt worden. Sollte es nun so schwierig sein, diese Tatsachen zu kombinieren?« »Die drei Kisten enthielten Goldbarren«, schlug Ebba eifrig vor. »Und dann kam es zu einer Meuterei an Bord...« »Bravo, Klein Sherlock; dein Gedanke zündet wie ein Blitzstrahl. Ja, selbstverständlich hängt es so zusammen. Es handelte sich einfach um einen getarnten Goldtransport. Die Mannschaft wußte, was die Ladung enthielt, und schmiedete ein Komplott. Während das Schiff in heftigem Sturm die Küste -190-
passierte, hievten sie einfach ihre Vorgesetzten über Bord; eine Meuterei läßt sich am einfachsten bei hohem Seegang durchführen. Darauf fierten sie die beiden Rettungsboote los und gingen mit ihrer Beute von Bord.« »Aber ein solches Komplott wäre doch zum Scheitern verurteilt«, wandte ich ein. »Selbst wenn sie an Land kämen, würden sie schnell entdeckt werden. Eine Bande ausländischer Seeleute, die drei schwere Kisten über die Landstraßen schleppt, würde sehr bald Aufsehen erregen.« »Ein sehr richtiger Einwand«, sagte Tancred, »aber du hast mich unterbrochen. Wir können davon ausgehen, daß dieses Unternehmen von vornherein sorgfältig geplant war und daß die Mannschaft sicherlich nicht an Land gegangen is t. Wahrscheinlich haben wir es mit einer internationalen Bande zu tun, die genau über diesen Goldtransport informiert war und dafür sorgte, daß ihre Leute an Bord der ›Tallin‹ angeheuert wurden. Die Bande hat zweifellos ein größeres Motorfahrzeug an einer vereinbarten Stelle vor der Küste bereitliegen gehabt. Die Kisten wurden auf dieses Fahrzeug geschafft, das dann bei Nacht und Nebel wieder in See stach.« »Wie willst du dann erklären, daß wir diese Gegenstände von der ›Tallin‹ auf Fahles Dachboden fanden?« fragte Järn herausfordernd. »Was den Rettungsring betrifft, so hat er ja selbst die Erklärung gegeben, und ich kann nicht einsehen, weshalb wir daran zweifeln sollten. Daß er auch im Besitz des Ölzeugs ist, deutet darauf, daß er auf eine an Land getriebene Leiche gestoßen sein muß, möglicherweise ein Opfer der Meuterei. Oder wahrscheinlicher noch ein Mitglied der Mannschaft, das von einer Sturzsee über Bord gespült wurde und dem man dann einen Rettungsring nachwarf.« »Was du nicht sagst! Darf ich darauf aufmerksam machen, daß Fahle vier Monate später nach Heilandet kam, als deine -191-
hypothetische Meuterei stattgefunden haben kann?« »Richtig. Er hat die Leiche irgendwo an einer abgelegenen Schäre angeschwemmt gefunden; dort kann sie gut monatelang gelegen haben. Nach allem, was wir von Fahle gesehen haben, wundert es mich nicht, daß er das Ölzeug mitnahm, um es seiner kuriosen ›Sammlung‹ einzuverleiben. Das ist eben sein Stil; er liebt es, solche morbiden Dinge im verborgenen zu tun. Doch im übrigen kann ich nichts Geheimnisvolles mehr in dieser Geschichte sehen. Selbstverständlich besteht kein eigentlicher Zusammenhang zwischen der ›Tallin‹- Affäre und dem, was sich hier auf dem Kaperhof zugetragen hat. Nur ein zufälliges Zusammentreffen von Umständen hat den Aberglauben hier so üppig ins Kraut schießen lassen.« Järn erhob sich, verärgert wie ein Kardinal, der allzulange einer Diskussion zwischen irrgläubigen Protestanten zugehört hat. »Ich wußte nicht, daß du so völlig phantasielos bist, Tancred, du schusterst da ja ein ganz gewöhnliches Jungenbuch zusammen. Nun halte ich es nicht mehr aus, euch zuzuhören; ich muß nach Hause an meine Arbeit. Ihr werdet schon bald erfahren, daß ihr überhaupt nichts aufgeklärt habt: so talentlos ist die Wirklichkeit nicht.« Offen gestanden, war ich selbst enttäuscht, daß das Problem eine so triviale Lösung gefunden hatte. Aber es ist die alte Geschichte: wenn man etwas erlebt, was vom poetischen Schimmer des Unwahrscheinlichen umstrahlt ist, dann taucht immer das platte, prosaische Kausalgesetz auf und stellt sich vor: »Ich war es, das auch hier dahinter stand.« Nicht zum wenigsten war ich von Tancred enttäuscht. Als ich ihn später im Laufe des Tages fragte, was es mit den beiden anderen Telegrammen auf sich gehabt habe, die er gestern erhalten hatte, antwortete er ausweichend, daß er sich wohl auf einer falschen Spur befunden haben müsse; was das rätselhafte -192-
»Anderthalb« bedeuten sollte, bekam ich nicht aus ihm heraus. Mir wurde klar, daß seine Geheimniskrämerei und seine dunklen Redensarten von einem Schachspiel mit einem »unsichtbaren Gegner« reiner Bluff waren. Er hatte nicht mehr als wir anderen von den Zusammenhängen gewußt, aber er hatte es darauf angelegt, den Begabten und Allwissenden zu spielen - eine ziemlich alberne Haltung, fand ich. Nein, sollte ich jemals versehentlich dazu kommen, einen Kriminalroman zu schreiben, dann würde ich auf keinen Fall ihn als Modell für den Detektiv benutzen. Dann schon lieber Ebba... Nachdem die Sache aufgeklärt war, stellte sich eine allgemeine Aufbruchstimmung auf dem Kaperhof ein. Unser Gastgeber beschloß, am nächsten Morgen nach Kristiansand zu fahren, um mit Architekt Arstad zu sprechen, der die Pläne für das Sommerhotel ausgearbeitet hatte; Arne wollte erst zurückkommen, wenn der Materialtransport geordnet war. Ebba und Tancred stellten fest, daß sie hier nichts mehr auszurichten hatten, und wollten deshalb mit dem ersten Morgenzug nach Oslo zurückfahren; Monika erklärte, daß sie sie begleiten wolle. Demnach mußte ich allein im Hause wohne n bleiben, um bis auf weiteres meine Pflichten als Verwalter zu erfüllen. Wir beschlossen, am Abend ein kleines Abschiedsfest zu veranstalten; aus diesem Anlaß wurde ich mit dem Ruderboot losgeschickt, um fünf oder sechs große Taschenkrebse bei dem nächsten Fischer einzukaufen, der nicht weit von Järn entfernt wohnte. Es war Tönnes Tobiasen, der Mann, der die »Krebs« in der letzten Nacht gesehen zu haben meinte, ein robuster Bursche mittleren Alters, mit einem wetterzerfurchten, strengen Pietistengesicht. Während er die mächtigen, zappelnden Krebse mit dem Kescher aus seiner Reuse holte, begann ich ihn auszufragen, und er gab mir eine Schilderung seines Erlebnisses, die er mit Zitaten aus der Offenbarung Johannes kommentierte. Trotz allem wirkte der Mann verhältnismäßig glaubwürdig; er konnte eine verblüffend detaillierte Beschreibung des seltsamen -193-
Fahrzeugs geben. Gewiß hatte Sörensen die »Spökenkiekerei« dieses Mannes mit einigen höhnischen Bemerkungen beiseite gefegt, doch fühlte ich mich nicht mehr so restlos sicher, daß dies überspannter Blödsinn war. Macht man bei einer Halluzination wirklich so genaue Beobachtungen? Leider beging ich wohl den Fehler, einen etwas ungläubigen Ton anzuschlagen. Als ich die Krebse an Bord hatte und wieder heimrudern wollte, hob Tobiasen plötzlich die Hand - ich erkannte Flatelands Gebärde und sagte mit starker, pathetischer Stimme: »Die Sünder und die Gottlosen haben wenig Furcht vor dem Tier mit den sieben Häuptern. Aber ich weiß, daß der Tag des Schreckens kommen wird, und die Schalen des Zornes werden ausgegossen. Nehmt euch nur in acht dort auf dem Kaperhof. Ich weiß, daß euch ein Unglück treffen wird. Viel früher, als ihr es selbst ahnt!« Unser Abschiedsfest gelang ziemlich daneben. Arne säuselte sich, milde gesagt, einen an, und sein Ton Monika gegenüber wurde immer gereizter, er benutzte jede Gelegenheit, ihr eins auszuwischen. Und sie antwortete ihm eiskalt und bissig. Sie drückten sich gewiß mehr indirekt aus, doch konnte kein Zweifel bestehen, daß sich hier eine unterdrückte Wut auslöste. Wir hatten begonnen, von Lizzie zu sprechen; Monika verteidigte sie gegen Arnes höhnische Ausfälle, und das Gespräch artete in eine ziemlich primitive Diskussion über das weibliche Geschlecht als solches aus. Arne charakterisierte die Frau im allgemeinen - und meinte natürlich Monika im besonderen - als beschränkt, oberflächlich, intrigant, unzuverlässig, hysterisch, klatschsüchtig, hündisch - kurz als ein völlig lächerliches Geschöpf. Er schloß damit, daß er sagte, das einzige, was man mit einer Frau vornehmen könne, sei, hin und wieder eine Stunde mit ihr im Bett zu verbringen; in einem kalten Land wie Norwegen lasse sich das zur Not empfehlen, -194-
wenn man z.B. in einem Haus ohne Zentralheizung wohne. Dies ließ den Becher überfließen. Monika erhob sich, weiß vor Zorn, und marschierte aus dem Zimmer. Wir anderen blieben eine Weile sitzen und versuchten, das Gespräch in Gang zu halten, aber es wirkte sehr gequält. Das war durchaus nicht die gemütliche, sentimentale Abschiedsstimmung, die einen das Glas heben und mit bewegter Stimme singen läßt: »Should old acquaintance be forgot-!« Arne wirkte verdrossen und krampfhaft zynisch. Unter dem Vorwand, daß wir morgen so früh aufstehen müßten, sagten wir einander nach einer halben Stunde gute Nacht und brachen auf. Ich hatte etwa eine Dreiviertelstunde im Bett gelesen, als ich mit einmal vorsichtig tastende Schritte auf dem Korridor hörte. Sie hielten direkt vor meiner Tür; mein Herz tat einen förmlichen Sprung, als ich bemerkte, daß die Klinke la ngsam niedergedrückt wurde. Was war dies nun? Die Tür glitt leise auf und da stand Monika. Sie trug ein bis an die Füße reichendes Nachthemd von cremegelber spinnwebdünner Seide mit eingelegten Spitzen über der Brust; es saß stramm wie ein Handschuh bis zu den Hüften und weitete sich unten zu einer Kaskade von weichen Falten. Das dunkelblonde Haar fiel ihr über die Schultern, weich und wie zufällig, als ob der Wind es gerade dorthin geweht hätte. Ich hatte sie niemals erregender, betörender schön gesehen. Sie legte den Zeigefinger auf den Mund und schloß die Tür behutsam hinter sich. Dann kam sie zu mir und setzte sich auf die Bettkante. Die Seide umknisterte sie elektrisch. »Gott sei Dank, daß du wach bist«, flüsterte sie. »Nun ertrage ich Arne nicht länger. Ich muß ein wenig mit dir unter vier Augen reden, ehe ich reise. Kann ich mich ein Weilchen bei dir hinsetzen?« In mir tanzten kleine Flammen wie Irrwische auf einem dunklen Moor. Nun war ich endgültig verloren; nun rutschte ich -195-
den Abgrund hinunter, daß Funken um meine Knöchel sprühten. Ich zog sie zu mir herab und suchte ihre Lippen. Sie erwiderte den Kuß mit ihrem ganzen Körper. »Paul... liebster Paul.« Oh, die Summe alles dessen, was schön ist in der Welt: Möwenflug und Musik, Sonnenaufgang und der Duft feuchten Grases, Drosselschlag in der Sommernacht... Monika, du bist mein, mein... Ich erwachte um die Stunde der Dämmerung. Ich strömte in einem blauen Weltraum des Wohlbefindens: mein Körper war wie aus einem unendlich leichten Stoff gemacht; ich war ein Ballon von dünner Seide mit Helium gefüllt, und jetzt stieg ich zu den Sternen empor. Zu Monika, die auf dem Großen Bären saß. Noch im Schlaf wußte ich, was geschehen war, und streckte die Hand nach ihr aus. Dann schlug ich die Augen auf und sah, daß ich allein war. Aber ich hatte nicht geträumt; im Kissen war der Abdruck ihres Kopfes, und ein schwacher Duft von Narzissen hing noch in der Luft. O wilde, herrliche Monika, schon dein Name ist wie eine Liebkosung und eine Schwalbe und sieben Regenbogen auf Erden... Ich fühlte etwas Kaltes und Metallisches unter meiner rechten Schulter; es war das kleine Goldmedaillon, das von ihr abgeglitten war. Ich öffnete es und sah, daß es leer war. Das kleine Bild war entfernt. Und dann versank ich aufs neue in einem sammetdunklen Nirwana, wo alles Begehren ausgelöscht war.
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DREIZEHNTES KAPITEL Tote Männer gehen an Land Früh am nächsten Morgen fuhr ich die anderen mit dem Motorboot nach Lillesund; von dort aus sollten sie mit dem Bus nach Kristiansand, wo Monika, Ebba und Tancred den Zug nach Oslo nehmen wollten. Es war ein unfreundlicher nebliger Herbstmorgen; weit draußen von der See her stöhnte eine Heulboje wie ein krankes Tier durch den Meeresnebel. Die Schären wirkten ungewöhnlich trostlos zu dieser Tageszeit, wie düstere Versteinerungen der Einsamkeit lagen sie im Wasser. Wie ich so am Ruder saß, spürte ich, wie das brausende, unverantwortliche Glücksgefühl von heute nacht von »des Gedankens Blässe angekränkelt« wurde. Arne war während des Frühstücks überaus wortkarg gewesen, und jetzt starrte er finster wie eine Gewitterwolke über das Wasser. War das die gewöhnliche Katerstimmung nach dem Fest? Saß ihm nach der gestrigen Szene noch ein Giftstachel in der Seele? Oder hatte er einfach etwas von dem gemerkt, was zwischen Monika und mir vorgefallen war? Nicht mit einem Wort hatte er etwas Derartiges angedeutet. Aber nun mußte ich jedenfalls Mann genug sein, die Konsequenzen meines Sündenfalls auf mich zu nehmen; mochte es mit unserer Freundschaft auf Biegen oder Breche n gehen. Haben nicht alle Dichter von Sappho bis Sigurd Hoel uns gelehrt, daß das Recht des Lebens allem anderen vorgeht? Man müßte doch zu einem Chirurgen gehen und sich diese Gewissensgeschwulst aus dem Bauch herausoperieren lassen können. So daß man end lich ein echter Primitivist und Lebensanbeter werden kann. Monika hatte die alte Maske blasierten, überlegenen Gleichgewichts angelegt. Ihrem Profil war nichts anzumerken, als sie dort an der Reling saß und sich von den Spritzern das -197-
Gesicht duschen ließ; sie wirkte kalt und fern wie ein Meermädchen. Nur wenn wir ab und zu einen schnellen Blick wechselten, schmolz es in ihren Augen. Eine Sekunde lang hatte mich ein Verdacht gestreift: War es vielleicht nur ein Racheakt gegen Arne, daß sie ihm mit mir untreu gewesen war? Vielleicht war ich nur eine Art Ventil für sie gewesen, ein zufälliges Mittel, um sich abzureagieren? Aber schon ein einziger von ihren Blicken erstickte jeden Zweifel: dies war kein Humbug, dies war echt. Wir legten bei der Landungsbrücke vo n Lillesund an. Als wir die Koffer an Land gebracht und sie zur Bus-Haltestelle getragen hatten, wandte Arne sich an mich: »Nun mußt du also versuchen, deinen neuen Job so gut auszufüllen wie du kannst; ich werde dir heute nachmittag Geld schicken; vermutlich bin ich in einer Woche wieder da. Falls du mir etwas mitzuteilen hast, kannst du Architekt Arstad in Kristiansand anrufen; ich werde dort einige Tage wohnen.« Er schrieb mir die Telefonnummer auf. Dann lächelte er plötzlich. »Vergiß nicht, daß du jetzt an der Reihe bist, im gelben Zimmer zu übernachten. Du bist der einzige von uns, der die große Nervenprobe, allein in dem Zimmer zu liegen, noch nicht durchgemacht hat. Ich hoffe, du hältst dich an die Spielregeln, obwohl wir dich nicht kontrollieren können.« »Ich werde mit dem größten Vergnügen heute nacht dort liegen«, versicherte ich. »Ehrenwort!« »Mir gefällt es nicht recht, daß wir von Heilandet wegfahren, ohne Lizzie von dem widerlichen Kerl weggeholfen zu haben«, sagte Ebba, »aber ich habe, ehrlich gesagt, alles getan, was ich konnte; mehr konnte ich nicht ausrichten. Ich hoffe nun, daß Karsten sie nicht im Stich läßt. Na, da kommt unser Bus...« Ich half ihnen, das Gepäck in den Wagen zu tragen, und dann verabschiedeten wir uns herzlich. Als Monika mir die Hand -198-
drückte, flüsterte sie leise: »Laß uns nicht Lebewohl sagen, Paul. Wir sehen uns bald wieder, und dann werde ich mit Arne reinen Tisch gemacht haben. Ich werde dir sofort schreiben, wenn ich in Oslo eintreffe. Sehne dich inzwischen ein bißchen nach mir.« »Willst du, daß ich mit ihm rede jetzt?« »Nein, nein, laß mich das ordnen. Und inzwischen laß es dir gut gehen, mein Junge. Und laß dir danken, daß du mich wieder aufleben ließest.« Auf dem Heimwege fragte ich mich, weshalb ich mich eigentlich in diese scheußliche Gegend hatte verbannen lassen. Gerade jetzt hatte ich weniger denn je Lust, allein auf dem Kaperhof zu wohnen, von öden Felsen und schwermütiger See umgeben. Weshalb hatte ich es mir nicht im letzten Augenblick anders überlegt, den lächerlichen Verwalterposten aufgegeben und Monika nach Oslo begleitet? Das wäre ein Wortbruch gegenüber Arne; sicherlich war es der liebe, alte Diktator in der Magengegend, der mich davon abgehalten hatte: »Nur ein Verbrechen zur Zeit, Paulchen.« Aber sollte ich denn immer der Laufbursche dieses Mannes bleiben? War es nicht bald an der Zeit, daß ich anfing, mein eigenes Leben zu leben? Daß ich z.B. mein Studium beendete und mich nach einer menschenwürdigen Arbeit umsah - und sei es, daß ich nur einen Hocker im Justizministerium abwetzte? Alles andere war besser als gleich einer Qualle auf dem Meer des Daseins herumzutreiben. Eine Woche würde ich es wohl noch aushalten können, hier allein zu wohnen - vielleicht würden mir einige Tage in der Wüste sogar guttun -, wenn aber Arne wieder da sein würde, wollte ich ihm die Karten auf den Tisch legen. Ich wollte ihm sagen, daß ich jetzt meinen eigenen Weg gehen werde und daß ich die Absicht hätte, Monika zu heiraten. Und dann wollte ich heim nach Oslo fahren und versuchen, ein Mensch mit Knochen im Leibe zu werden statt nur mit Knorpeln wie bisher. -199-
Im Laufe des Nachmittags besuchte mich Järn. Er schien in besserer Stimmung als sonst zu sein; seine Augen glänzten fast hektisch. Zuerst glaubte ich, daß er getrunken habe. »Schade, daß die anderen abgereist sind, ohne daß ich ihnen auf Wiedersehen sagen konnte«, sagte er. »Ich habe mich wohl etwas unverschämt aufgeführt, als ich gestern ging. Nun komme ich eben vorbei, um euch eine spannende Neuigkeit zu erzählen. Lizzie befindet sich im Augenblick in Oslo. In meiner Wohnung. Ich habe gerade mit ihr telefoniert.« »Was soll denn das heißen?« »Daß ich sie einfach entführt habe. Nicht nach dem alten Rezept mit Strickleiter und dergleichen; es war entschieden prosaischer. Wie du dich entsinnst, erwähnte der Lehnsmann, daß er Fahle aufsuchen wollte, um ihn wegen dieser Sachen von der› Tallin‹ zu vernehmen. Nun... gestern nachmittag traf ich also Sörensen auf dem Heimweg vom Pfarrhof. Lizzie hatte ihm aufgemacht und ihm erklärt, Fahle sei nicht zu Hause; er komme erst in ein paar Stunden zurück. Sie war beim Kofferpacken und hatte dem Lehnsmann erzählt, daß sie für ein paar Wochen mit Fahle verreisen werde. Er wolle sie in ein Kurheim bringen, wo sie Pflege für ihre schlechten Nerven finden könne. Als ich dies hörte, war mir klar, daß es schnell zu handeln galt. Jetzt oder nie! Ich ging spornstreichs zum Pfarrhof, und im Laufe weniger Minuten hatte ich sie überredet, mit mir zu kommen. Ich machte ihr einfach einen Heiratsantrag. Die Koffer waren ja bereits gepackt, so daß wir uns nur auf den Weg zu machen brauchten; an der Küste beschaffte ich ein Boot, und in Lillesund setzte ich sie in ein Auto, so daß sie den Abendzug erreichen konnte. Ich gab ihr den Schlüssel für meine Wohnung in Oslo und versprach, in ein paar Tagen nachzukommen. Das darf man wohl einen Coup nennen, nicht wahr?« Es fiel Järn schwer, seinen Stolz zu verbergen. »Das klingt ja fast wie eine Novelle im ›Familienblatt‹«, sagte -200-
ich. »Wenn dir nur keine Unannehmlichkeiten daraus entstehen. Bist du sicher, daß sie nicht mit Fahle verheiratet ist?« »Absolut. Sie hat es mehrere Male gestanden - in völlig nüchternem und normalem Zustand -, wenn sie es Ebba gegenüber später leugnete, so war das selbstverständlich auf Fahles hyp notischen Einfluß zurückzuführen. Und im übrigen habe ich die Sache ganz einfach im ›öffentlichen Anzeiger‹ untersucht. Seit Fahle sich hier im Lande befindet, ist nie ein Aufgebot für die beiden bestellt worden. Nein, ich hätte es mir nie verziehen, wenn ich jetzt nicht eingegriffen hätte; Lizzie mußte weg von dem Mann - weit weg -, und das geschah faktisch im letzten Augenblick. Es ist ein greulicher Gedanke, daß sie schon so lange mit diesem Monstrum zusammengelebt hat. Ich habe eine ähnliche Type in meinem Buch ›Der Wolfsmensch‹ geschildert.« Järn war und blieb der alte; ich konnte nicht umhin zu lächeln. »Und nun wartest du also auf den nächsten Vorstoß des Feindes?« Er nickte. »Ja, ich bleibe noch einige Tage hier in Heilandet, um zu sehen, was der Mann sich vornimmt. Ich bin auf eine Abrechnung mit ihm gefaßt. Er ist ein gefährliches Wesen, und ich bin mir darüber klar, daß er im Besitz gewisser Kräfte ist, gegen die die wenigsten Menschen sich zu wehren wissen. Aber zum Glück beherrsche ich die weiße Magie.« Der Kriminalschriftsteller sprach mit trockener, sachlicher Stimme wie ein Physiker, der über die Atomtheorie doziert; da war kein Zweifel, daß er sich selbst ernst nahm. Ich glaube, ich hätte stärker auf das Komische in seinen Auslassungen reagiert, wenn ich nicht jene geheime Unruhe gespürt hätte, die mich jedesmal packte, wenn der Name Fahle fiel. Wir plauderten noch über verschiedene Dinge. Als ich ihm erzählte, daß ich die kommende Nacht in dem gelben Zimmer zu verbringen gedachte, blickte er mich bekümmert an. -201-
»Das ist ein gefährliches Spiel, Paul. Denk daran, daß du hier jetzt allein wohnst. Ich möchte dir dringend davon abraten.« »Hat man sich auf ein Spiel eingelassen, dann muß man auch die Regel einhalten«, sagte ich. »Und ich habe mein Wort gegeben, daß ich guten Sportsgeist zeigen werde. Außerdem bin ich kein Hasenfuß.« »Das ist am hellichten Tage leicht gesagt. Geh jedenfalls kein unnutzes Risiko ein; laß mich das Pentakel für dich da oben zeichnen.« Ich lachte. »Wird kaum mehr notwendig sein. Dörum hat seine Gespensterkarriere jetzt wohl aufgegeben.« »Du willst doch wohl nicht sagen, daß du an diese idiotische Erklärung glaubst?« schnaubte Järn ärgerlich. »Aber es läßt sich doch nicht leugnen, daß Dörum -?« »Nein, gewiß nicht. Tancred kohlte etwas von ›zufälligen Zusammenhängen‹, die angeblich alles erklären sollten. Aber daß Dörum plötzlich hier auftauchte, ist tatsächlich der einzige Zufall bei der ganzen Sache. Es ist, als ob ein streng aufgebautes Drama auf der Bühne gespielt wird, und mit einem Male mischt sich ein Betrunkener von der Galerie her ein. Man soll dann nicht glauben, der Betrunkene sei die Hauptperson des Stückes.« »Und trotzdem decken Ebbas und Tancreds Theorien sich mit allen Tatsachen...« »Keineswegs. Ihre Hypothesen sind nicht nur phantasielos, sondern auch sehr verschwommen und in kaum einem Punkt durch Tatsachen bewiesen. Und ein paar Fakten haben sie frech übersehen. Erstens: wie wollen sie die Reaktionen des Pferdes erklären? Weshalb lief es bei Reins Anblick Amok? War es ein Zufall, daß Fahle vor dem Stall stand, als das Tier zum zweiten Male mit panischer Angst reagierte? Zweitens: wie wollen sie die Fußspuren rings um das Bett erklären? War es ›Zufall‹, daß sich nicht eine einzige innerhalb des Pentakels befand? Ebba und Tancred betrachten die Tatsachen etwa so wie der -202-
Farbenblinde ein Gemälde; dort, wo rote und grüne Pinselstriche sind, sehen sie nur die graue Soße des Zufalls...« Eine Stunde später ging Järn, nachdem er erst angeboten hatte, im Hause zu übernacht en - z.B. in dem Raum neben dem gelben Zimmer -, so daß ich jedenfalls nicht das Gefühl hätte, allein zu sein. Seine verschrobenen Auffassungen hatten mich nach und nach jedoch so gereizt, daß ich ihm keine Zugeständnisse machen wollte, indem ich mich ängstlich zeigte. So antwortete ich, daß ich mich ebensogut gleich daran gewöhnen könne, allein zu wohnen. Als letzte Aufmunterung vom Fallreep aus sagte er, daß ich so schnell wie möglich das Haus verlassen und zu ihm kommen solle, falls sich in der Nacht etwas Ungewöhnliches ereignen sollte. Es sei schon früher vorgekommen, daß Menschen vor Schreck starben. Obwohl Järn nicht die angenehmste Gesellschaft war, die man sich unter solchen Umständen denken konnte, bereute ich dennoch bald, daß ich sein Angebot abgelehnt hatte. Der Gedanke, mutterseelenallein fern von allen Menschen hier in dem Riesenhaus zu bleiben, beunruhigte mich mehr und mehr. Wir sind alle so großschnäuzig, solange die Sonne noch nicht untergegangen ist; wir treiben so sicher auf dem Tageslicht dahin. Hat da jemand etwas von Dunkelheit gesagt? - Die gibt es nicht; die hat es nie gegeben. Nils Kjær schreibt irgendwo über die alten Karaiben, »deren Leichtsinn keine Grenzen kannte«, daß sie morgens ihre Betten verkauften, weil sie vergaßen, daß es jemals Nacht gewesen sei. Und sie verbrachten den Tag in Saus und Braus. Doch »wenn die Dunkelheit über sie hereinbrach, dann kam ein großer Jammer über die alten Karaiben; eine Erinnerung tauchte in ihren flüchtigen Hirnen auf, und mit Weinen und Wehklagen liefen sie herum und suchten nach ihren Betten«. Als ich so in der Stube am Fenster saß, konnte ich ihre Gemütsverfassung gut verstehen. Sollte ich Järns Rat folgen und mich nicht in das gelbe Zimmer legen? Ich mußte mir zu meinem Ärger gestehen, daß er -203-
es fertiggebracht hatte, mir Angst zu machen. Aber schließlich war es ja sein Beruf, die Leute das Gruseln zu lehren, ob er vielleicht nur mit mir experimentiert hatte? Nein, das war Feigheit, jetzt mußte ich mir selbst beweisen, daß ich kein Weichling und kein willensschwacher Kujon war; hatte ich mir etwas vorgenommen, so mußte ich es auch durchführen. Dies war einfach eine Charakterprobe. Ich begann demonstrativ in der Stube aufzuräumen, während ich die Marseillaise pfiff - dieser Leuchter gehört auf das Kaminsims; der Aschbecher muß geleert werden; dort muß ein wenig Staub gewischt werden... Dann zündete ich die Paraffinlampe an und setzte mich gelassen in einen Sessel, um zu lesen. Nicht Wodehouse dieses Mal, nein, ein strenges und ernstes Buch, das geeignet ist, einem suchenden Menschen zu helfen bei seinem Bestreben, sich selbst zu überwinden. Ibsens »Brand«... Doch ich kam nicht recht voran. Immer wieder ertappte ich mich, daß ich von der Dichtung aufblickte; verstohlen lugte ich in den großen Raum, in dem die Schatten mit jedem Augenblick dichter wurden. Quälende Vorstellungen drängten sich mir auf; sie kamen gleichsam auf einem Besenstiel durch die Finsternis geritten. Woran erinnerte mich doch die Schilderung, die Tönnes Tobiasen von dem Phantomschiff gegeben hatte? Ach ja, sie paßte genau auf das kleine Schiffsmodell droben in meinem Schlafzimmer. Seltsam... was knackte dort eben? Herrgott, das weißt du doch das alte Holzwerk zieht sich bei jeder Temperaturveränderung zusammen. Nimm dich zusammen und lies weiter. Wo waren wir stehengeblieben? Immer noch auf Seite 1. »He, Fremder, nicht so schnell. / Wo bist du?« - »Hier« - »Du verläufst dich.« Nach zwei Akten blickte ich auf die Uhr. Halb elf bereits Zeit, zu Bett zu gehen. Ich schlug das Buch zu, gähnte laut und lange und ging dann entschlossenen Schrittes nach dem Zimmer des Kaperkapitäns. -204-
Kaum hatte ich die Schwelle überschritten, fuhr ich schon heftig zusammen. Eine hohe Gestalt bewegte sich mir mit einer qualmenden Lampe in der Hand entgegen. Der verdammte Spiegel, natürlich nein, meine Nerven waren nicht ganz in Ordnung. Der Lampenschein flackerte über die alten Gemälde von drallen Rokokofrauen in verdrehten, wollüstigen Stellungen; mit der phosphorgelben Tapete als Hintergrund und in dieser diffusen Beleuchtung lag fast etwas Infernalisches über diesen Gestalten. Mein Schatten fiel auf das schmale Bett, das mir jetzt wie ein offener Sarg vorkam. Noch einmal flüsterte die vorsichtige Stimme in mir: Welchen Zweck hat das alles? Geh hin und leg dich in dein eigenes Zimmer! Aber mein besseres Ich antwortete: Ein Mann, ein Wort! Gestärkt von Brands Forderung den Geist des Kompromisses zu scheuen, kleidete ich mich aus und zog den Schlafanzug an. Die Luft war drückend; ich öffnete ein Fenster. Draußen weht ein herber Wind; der Himmel war bedeckt; und ein zottiger Nebelschleier trieb über die Landschaft; auf der See hatten sich dicht Nebelbänke gebildet. Wieder hörte ich die ferne Boje, die im Takt mit den Dünungen melancholisch aufheulte; es war, als ob die tote Natur selbst in diesem Ton zu Worte kam. Nein, es war trotz allem gut, in einer solchen Nacht im Hause zu sein. Kopf hoch, Antonius. Ich prüfte Arnes Revolver noch einmal und legte ihn in Reichweite neben das Bett. Dann machte ich die Lampe aus und kroch unter die Decke. Ein wenig später war ich fest eingeschlafen. So schlafen die Menschen auch in einem Hause, das in wenigen Stunden in einem Erdbeben zusammenbricht oder von einem Blitz getroffen wird. Wenn wir in die Zukunft schauen könnten - und seien es nur fünf Minuten -, würden wir bald vor Schlaflosigkeit vergehen. Ich weiß nicht, was mich geweckt hatte - ob es ein Geräusch war oder ein unerklärlicher Instinkt. Das Unterbewußtsein wurde alarmiert, ein rotes Gefahrensignal leuchtete in meinem Traum auf: du mußt aufwachen, Paul, du mußt aufwachen! Ich -205-
hatte das Gefühl, eine dunkle Kellertreppe hinaufzustürzen, um an die frische Luft zu kommen; ich erreichte den Ausgang und gleichzeitig öffnete ich die Augen und blickte mich verwirrt im Zimmer um. Ich brauchte ein paar Sekunden, um zu wissen, wo ich war; dann erinnerte ich mich und kehrte mein Gesicht mechanisch dem großen Spiegel zu. Der Mond war offenbar durch einen Riß in der Wolkendecke gedrungen; die Spiegelfläche reflektierte einen milchene n Widerschein des schwachen Lichtes. Was war das? Etwas bewegte sich dort - war es ein Stuhl, ein Tisch? Nein, es war das ganze Spiegelbild, das sich langsam nach links schob. Plötzlich ging mir auf, daß die Tür sich öffnete. Es knarrte im Holz, die Scharniere quietschten... die dunkle Öffnung wurde breiter. Ich war vor Schreck völlig gelähmt; mir war, als läge ich an Händen und Füßen gefesselt in einer Wanne eiskalten Wassers. Weiße Kältewellen spülten mir über die Kopfhaut, schlugen wie eine Brandung im Nacken zusammen und glucksten mir das Rückgrat hinunter. Weder früher noch später im Leben habe ich eine so panische Angst verspürt. Nun tauchte eine hohe Gestalt in der Türöffnung auf und glitt auf das Bett zu... das Ölzeug knisterte. Da kam noch eine... und noch eine... du großer Gott, eine ganze Prozession! Erst jetzt überwand ich die Lähmung, und mit einer blitzschnellen Reflexbewegung griff ich nach dem Revolver. Hätte ich ihn zu fassen bekommen, so hätte ich das ganze Magazin blindlings und desperat entleert. Aber ich streifte nur eben den Kolben mit den Fingern, da wurde ich von einem heftigen Schlag auf den Kopf getroffen, als ob eine ganze Felswand über mir zusammenstürze, und ich verlor sofort das Bewußtsein. Ich kann nicht mit Sicherheit sagen, wie lange ich besinnungslos da lag; es können kaum mehr als zwei oder drei Minuten gewesen sein. Da kam ich auf eine wunderliche Weise teilweise wieder zu mir - es war eine Art narkotischer Zustand zwischen Traum und Wachsein. Eine träge Benommenheit füllte -206-
meinen schmerzenden Kopf; das Gehirn war noch betäubt und hatte keine Kontrolle über den Körper; ich war nicht imstande, ein Glied zu rühren. Der Mondschein war inzwischen stärker geworden, und ich konnte beobachten, was im Zimmer vor sich ging, doch alle Umrisse schwankten und wogten vor meinem Blick. Die Szene hatte den Charakter eines Alpdrucks; sie spielte sich gleichsam auf dem Meeresgrunde ab. Mindestens fünf Gestalten glitten jetzt durch das Zimmer, alle in Südwester und Ölzeug; es war mir, als kämen sie in einem wogenden Rhythmus über den Flur, wie Taucher, die sich durch das Wasser bewegen. Sehstörungen bewirkten, daß ich die Gesichter nicht deutlich wahrnehmen konnte; unter den schwarzen Südwestern zerflossen alle Züge zu glatten, mondartigen Fläche n. Die Tür zum Gang war geöffnet worden; eine der Gestalten hatte sich dort hingestellt und machte weisende Gebärden; die übrigen waren damit beschäftigt, die Bilder von den Wänden zu nehmen, um sie dann hinauszutragen. Neue Wesen glitten in den Raum, eins hob einen Sessel auf die Schulter, während andere an schwere Stücke gemeinsam Hand anlegten. Währenddessen gestikulierte die Gestalt an der Tür immer noch, bald mit langsamen, bald mit schnappender Bewegungen, wie ein großer Hummer, der seine Scheren bewegt Alles ging still, fast lautlos vor sich; vielleicht hatte der Schlag auch mein Hörvermögen gelähmt. Ein paar Minuten lang war ich apathischer Zuschauer, dann senkte sich wieder der violette Schleier vor mein Gesichtsfeld und ich versank aufs neue in Ohnmacht. Dieses Mal mußte es lange gedauert haben, ehe ich wieder zu mir kam. Im Traum kämpfte ich mich durch ein dichtes Meer von Rauch das mich fast erstickte. Irgendwo in den Rauchmassen war jemand, der meinen Namen rief: »Paul, Paul!« Es war Monikas Stimme. Ich mußte zu ihr, es galt das Leben, ich lief wie wahnsinnig, überall schossen Flammen hervor, und es knackte und knisterte wie von einem gewaltigen -207-
Scheiterhaufen. »Monika, wo bist du?« Als ich erwachte, verspürte ich erst nur einen hämmernden Schmerz im Kopf, und es fiel mir schwer zu atmen. Dann bemerkte ich, daß sich tatsächlich Rauch im Zimmer befand, ein wolliger Schleier wogte über dem Fußboden. Das Zimmer war von einem intensiven gelben Schein vom Fenster her erfüllt, und die Luft war heiß wie in einem Dampfbad. Blitzartig fiel mir jetzt ein, was geschehen war; es war keine Traumphantasie gewesen; alle Bilder waren von den Wänden entfernt, und von den Möbeln waren nur das Bett, der Spiegel und die große Kommode übriggeblieben. Ein knatterndes Geräusch pflanzte sich durch das Holz fort: Das Haus brannte! Ich sprang aus dem Bett und schrie bei der plötzlichen Bewegung vor Schmerz auf; dann torkelte ich zur Tür. Sie war von außen abgeschlossen! Der Rauch sickerte ständig durch die Spalten und da: Schlüsselloch. »Paul!« Träumte ich immer noch? Das war ja Monikas Stimme! Herrgott, ich hatte Halluzinationen; nun mußte ich sehen, daß ich herauskam, ehe ich wieder zusammenbrach. Nach Atem ringend, schwankte ich fieberhaft nach dem kleinen Mechanismus neben dem Rahmen. Aber auch dieser Ausgang war versperrt: der Mechanismus war zertrümmert wie von einem kräftigen Hammerschlag. Mir schwindelte; das Zimmer begann sich zu drehen, der Fußboden rotierte wie ein Strudel. Nun war ich verloren... »Paul!« Nein, das konnte keine Einbildung sein; der Ruf kam von draußen, und nun hörte ich Tancreds Stimme. Mit einer heftigen Anstrengung gelangte ich bis ans Fenster. Es war geschlossen, mir war, als verginge eine Ewigkeit, bevor es mir gelang, die Haken zu lösen; die ganze Zeit kämpfte ich verzweifelt gegen eine Ohnmacht an. -208-
Unten standen Ebba, Tancred und Monika. Sie winkten eifrig und schrien erleichtert auf, als sie mich erblickten. Tancred war im Begriff, eine Leiter gegen das Fenster anzulegen. »Immer mit der Ruhe!« rief er. »Hier kommt die Rettungsmannschaft. Kannst du allein herunterkommen? Wirf erst dein Zeug hinaus. Wir halten die Leiter... komm jetzt!« Von Funken umsprüht, kletterte ich hinab. Etwas später lag ich angekleidet und erschöpft mit dem Kopf in Monikas Schoß, die mir die Stirn streichelte und eine Flasche an meine Lippen führte. Aufs neue sickerte Lebenskraft in mich ein. Gewiß spannte sich immer noch der große Nußknacker um meine Schläfen, und den Körper empfand ich wie einen Klumpen Gelee nach dem brutalen Schlag. Aber ich war in keiner Weise unzufrieden mit dem Leben. Ich lag mit geschlossenen Augen da und genoß die Berührung der Fingerspitzen und den kühlen Duft ihres Kleides. Ich fühlte mich plötzlich wie ein vom Sturm verwüstetes Wrack, das an einer paradiesischen Küste plötzlich an Land getrieben ist. »Mein lieber, lieber Junge; ich habe mich so um dich geängstigt. Wir kamen wahrhaftig im letzten Augenblick...« Darüber konnte wohl kein Zweifel bestehen. Der Kaperhof stand in hellen Flammen; der mächtige Holzbau brannte wie ein ausgedörrter Pappkarton. Auch der Nordflügel war nun von einem Feuermeer eingefangen; oben in Korps Schlafzimmer leckten die Flammenzungen gegen die Decke; die phosphorgelben Tapeten entzündeten sich gleichsam von selbst. »Hier haben gewisse Leute einen recht fetten Fang gemacht«, bemerkte Tancred und deutete auf die Fenster im Erdgeschoß. »Wirf nur einen Blick dort in die Stube.« Trotz der Flammenmauer und des Rauchteppichs konnten wir einige Einzelheiten in dem brennenden Zimmer wahrnehmen; es wirkte völlig nackt; ich sah nicht ein einziges Stück Möbel. Dort, wo die Wände noch nicht Feuer gefangen hatten, erkannte -209-
ich helle, rechteckige Flecken. Überall waren die Bilder entfernt! Tancred wandte sich zu mir um. »Du mußt uns doch einiges zu erzählen haben, Paul.« »Kommt noch«, sagte ich. »Laßt mich nur erst einmal zur Besinnung kommen. Erzählt mir erst, wie ihr darauf verfallen seid, hier aufzutauchen.« Er lächelte. »Wir haben ein strategisches Umgehungsmanöver gemacht, um den Feind zu verwirren. Ich war mir darüber klar, daß irgend etwas heute nacht hier geschehen würde; wir verließen daher den Zug nach ein paar Stationen und nahmen ein Auto zurück nach Lillesund. Aber leider warteten wir zu lange mit der Fahrt hier heraus. Wir hä tten schon vor einer Stunde hier sein sollen.« »Sollten wir nicht etwas unternehmen, um diesen Brand zu löschen? Es gibt doch hier in Heilandet so etwas wie eine Feuerwehr?« Tancred nickte. »Der Mann, der uns hier herausfuhr, ist schon unterwegs, um Hilfe zu holen. Doch ich fürchte, das ist vergebene Liebesmüh.« Ebba starrte auf die See hinaus, als habe sie eine Entdeckung gemacht. Plötzlich deutete sie eifrig: »Seht dort draußen!« Die Wolkendecke hatte sich teilweise aufgelöst; der Mond stand klar über der Landschaft, und der Nebel war ein Stück ins Meer hinausgetrieben, so daß wir ziemlich weit sehen konnten. Ebbas Zeigefinger war auf etwas Graues gerichtet, das sich zwischen der Schären bewegte, ungefähr einen Kilometer vom Land. Es war ein Schiff, ein kleines Segelschiff, das vor dem frischen Landwind dahertrieb. »Alle Wetter!« rief Tancred aus. »Da haben wir sie! Da segeln sie hin mit Norwegens wertvollster Gemäldesammlung! -210-
Ins Motorboot, daß wir ihnen sofort nachsetzen. Wir müssen jedenfalls versuchen, an sie heranzukommen, damit wir sehen, wer es ist.« Nie zuvor hatte ich Tancred so erregt gesehen; seine Augen leuchteten; er glich einem Jungen vor einem spannenden Indianerfilm. »Wie fühlst du dich, Paul? Kräftig genug, um mitzukommen?« Ich hatte mich bereits erhoben und reichte Monika die Hand. Von nun an sollte nie ein Zeichen der Schwäche mehr von mir kommen. Paul Ricken hatte seine Feuertaufe überstanden. »Ich komme schon«, sagte ich mit leicht zitternder Stimme. »Also los.« Wir liefen alle vier zum Boot hinunter. Ich machte einen tapferen Versuch, den Außenbordmotor in Gang zu setzen, aber die Schnur entglitt mir. Ich hatte die Herrschaft über meine Hände noch nicht wiedererlangt; sie zitterten immer noch, und ich hätte kaum einen Brummkreisel in Gang setzen können. Tancred mußte mich ablösen, und nach einigen Sekunden fauchten wir in die Dunkelheit hinaus. Nie werde ich diese phantastische Fahrt vergessen. Hinter uns lag die Landschaft von einem riesigen Brand illuminiert; selbst auf weitem Abstand flackerte der gelbe Widerschein von den Felsen auf. Überall auf dem mächtigen Gebäude schossen wahre Feuereruptionen empor. Der Kaperhof erinnerte in diesem Augenblick an einen Vulkan, der seit langem gewaltige destruktive Kräfte aufgespeichert hatte - um plötzlich in prachtvolle und alles verzehrende Raserei auszubrechen. Ringsum lag das Inselvorfeld in silbergraues Licht gehüllt, ein toter und mondartiger Kontrast zu dem Naturschauspiel an Land. Und vor uns glitt die Silhouette eines unwirklichen Schiffes den dichten Nebelbänken entgegen. Nach und nach kamen wir in ziemlich hohen Seegang, aber -211-
wir hatten den Wind mit uns, und das Boot war gut. Es hackte sich energisch vorwärts über die Wogenrücken, während der Motor kläffte wie ein wütender Jagdhund. Bald ha tten wir mehrere hundert Meter aufgeholt; der Abstand verminderte sich mit jeder Minute, und der Umriß des Schiffes zeichnete sich immer deutlicher im Mondlicht ab. Das Schiff war von der Größe einer Jacht oder eines großen Kutters, aber die Masten waren höher als bei irgendeinem modernen Fahrzeug dieses Formats, und die Segel waren von einem sehr altmodischen Schnitt. Der Rumpf mündete achtern in ein eigentümlich hohes Heck aus von der Form einer Muschel und hatte dieselbe nebelgraue Farbe wie die Segel. Ziemlich genauso hatte das kleine Schiffsmodell in meinem Schlafzimmer ausgesehen; unzweifelhaft war es dieses Schiff, das Tönnes Tobiasen vor drei Nächten beobachtet hatte. »Wir müssen sie einholen, ehe sie im Nebel verschwinden«, erklärte Tancred, der am Ruder saß. »Wir müssen es schaffen! Wenn wir auf zehn bis fünfzehn Meter heran sind, mußt du den Scheinwerfer einschalten, Paul.« »Aber wollen wir so nahe heran?« fragte ich. Ich fühlte mich noch nicht ganz wohl in meiner neuen Rolle als unerschrockener Pfundskerl. »Wie, wenn sie schießen?« »Das Risiko nehmen wir auf uns; wir müssen sie uns etwas näher ansehen. Sollte eine kugelrunde Kanonenkugel vom Modell 1810 angesaust kommen, dann werfen wir uns flach ins Boot.« Nun lagen wir keinen Steinwurf weit mehr dahinter. Ich konnte bereits graue Gestalten wahrnehmen, die über das Deck glitten, und achtern standen zwei Männer unbeweglich nebeneinander; offenbar behielten sie uns im Auge. Etwas, was einem Tier glich, bewegte sich auf der Reling vor ihnen. Monika hielt mein Handgelenk mit einem krampfartigen Griff; unsere Pulse schlugen um die Wette. -212-
Der Vorsprung war auf weniger als dreißig Meter herabgemindert, als etwas Unerwartetes geschah. Ohne daß der Wind an Stärke zugenommen hätte, erhöhte das Schiff plötzlich seine Fahrt in auffallendem Maße - es wirkte wie ein Ruck -, und im Laufe von wenigen Sekunden war der Abstand wieder größer geworden. »Sie fahren uns davon!« rief Tancred. »Der Scheinwerfer!« Ich gehorchte; das scharfe Strahlenbündel bohrte sich in die Nacht. Nun lag die dichte Nebelwand direkt vor uns, und wir hatten keine Chance mehr mitzukommen. Das Schiff schoß für einen Segelkutter in unglaublich schneller Fahrt dahin; wie ein großer Vogel sauste es in den Nebel und verschmolz mit ihm. Aber einen Augenblick lang hatte der Lichtkegel uns ein klares Bild von der kleinen Gruppe achtern gegeben. Die beiden Männer standen mit gekreuzten Armen da und beobachteten uns; der eine war in Ölzeug; der andere trug einen dunklen, flatternden Überwurf. Ich hatte sie sofort wiedererkannt: es waren Rein und Fahle. Das Tier, das nun auf Reins Schulter gesprungen war, erwies sich als eine schwarze Katze. Tancred legte das Ruder um, und das Boot fuhr im Bogen zurück. »Nun haben wir wenigstens gesehen, was wir sehen mußten«, sagte er. »Das war wahrhaftig ein gut arrangiertes Schauspiel; sowohl der Regisseur als auch die Auftretenden verdienen jedes Lob. Willst du das Ruder ein wenig übernehmen, Paul? Ich muß mir erst einmal eine Zigarette anstecken.« »Wie konnten sie uns nur so davonfahren?« fragte Monika. Ihr Gesicht war immer noch wie erstarrt vor Gemütsbewegung, und sie ließ mein Handgelenk nicht los. Tancred inhalierte tief. »Das Boot hat selbstverständlich einen kräftigen und ziemlich leise arbeitenden Dieselmotor, den sie in Gang setzten, als wir zu nahe kamen. Daß wir ihn nicht hörten, lag einfach daran, daß unsere kleine Mühle einen solchen -213-
Höllenlärm machte. Und den Auspuffdunst hätten wir gesehen, wenn nicht Nebel auf dem Wasser gelegen hätte.« »Laß uns versuchen, den Motor abzustellen«, schlug Ebba vor. »Vielleicht können wir dann etwas hören.« Wir taten, wie sie sagte. Doch waren keine anderen Geräusche in der Nacht als das Brausen des Windes und der Wogen und das Heulen der fernen Boje. »Sie haben ihren Motor auc h abgestellt«, kommentierte Tancred trocken. »Nun brauchen sie ihn ja nicht mehr, und sie haben nicht die Absicht, von uns gehört zu werden... Nein, sehen wir, daß wir so schnell wie möglich an Land kommen; ich fange an, mich nach einem dampfenden Grog und einem warmen Bett zu sehnen. Karsten muß sich wohl dareinfinden, heute nacht noch Gäste aufzunehmen. Und dann mußt du uns deine Geschichte erzählen.« Als wir wieder zum Kaperhof hinaufkamen, hatte sich eine ansehnliche Schar Leute dort versammelt. Sie standen in einem ehrerbietigen Halbkreis um das brennende Haus. Keiner machte den Versuch, zu löschen; keiner hatte auch nur einen Wassereimer mitgebracht. Sie starrten nur wie hypnotisiert in das prasselnde Flammenmeer. »Es ist die alte Geschichte«, sagte Tancred. »Die Norweger sind eine Nation von Zuschauern. Obwohl das in diesem Falle seine besondere Ursache haben mag.« Ich berührte einen Mann an der Schulter. »Kann man denn nichts unternehmen, um diesen Brand zu löschen?« fragte ich. Der Mann wandte sich um; es war Pastor Flateland. In dieser Beleuchtung glich er mehr denn je einem grotesken Watvogel. Das fanatische Gesicht glühte vor Triumph. »Nein, Bruder, hier läßt sich wohl nichts machen«, sagte er -214-
und glättete seine Stirnlocke mit einer mageren Hand. »Nichts konnte auch Sodom und Gomorra mehr retten, als der große Zorn über ihnen war. Dies ist die Strafe für das Spiel mit den bösen Mächten. Hier wird nie ein Sommerhotel stehen; so geht alles Blendwerk der Sünde in Rauch auf!« Ich führe hier nur kurz an, was an den folgenden Tagen geschah. Wir übernachteten bei Järn und bekamen schon am nächsten Morgen vom Lehnsmann Besuch, der uns gründlich ins Verhör nahm. Am frühen Vormittag rief ich Architekt Arstad an, um Arne von dem Geschehenen zu unterrichten. Arstad antwortete, daß Krag-Andersen ganz richtig bei ihm übernachtet habe, aber vor einer Stunde gegangen sei. Er würde ihm den Bescheid sofort ausrichten, wenn er wieder da sei. Die Nachricht von dem Brand und der Entführung der Kunstschätze des Kaperhofes verbreitete sich wie ein Steppenbrand; schon in den Nachmittagszeitungen wurde sie als Sensation aufgemacht. Im ganzen Lande wurde die Polizei alarmiert, und am folgenden Tage standen Reins und Fahles Steckbriefe - neben einer Beschreibung des Schiffes - in den Morgenausgaben. Wir wurden jetzt auch von einer Polizeikommission aus Kristiansand verhört und ersucht, bis auf weiteres in Heilandet wohnen zu bleiben, damit wir bei den Nachforschungen zur Verfügung stünden. Auch an diesem Tage tauchte Arne nicht auf. Neue Anrufe bei Architekt Arstad blieben ergebnislos. Krag-Andersen war nicht zurückgekehrt. Er schien vom Erdboden verschwunden zu sein. Am nächsten Morgen äußerten einzelne Zeitungen den Verdacht, daß der bekannte Geschäftsmann möglicherweise ermordet worden sei. Der Pfarrhof wurde selbstverständlich gründlich von der Polizei durchsucht, und wir nahmen an der Untersuchung teil. Wir konnten feststellen, daß Fahle nicht viel von seinem Eigentum mitgenommen hatte. Wo der Kupferstich von Jörgen Uhl gehangen hatte, war jetzt nur noch ein Fleck zu sehen. Aus -215-
der alten okkulten Bibliothek waren fünfzehn bis zwanzig Bücher entfernt, und oben aus dem Bodenraum waren das Manuskript, das Ölzeug und ein Teil der kleineren Gegenstände verschwunden. Alles übrige ha tte er zurückgelassen. Am vierten Morgen nach der Brandnacht wurden wir zur Identifizierung einer Leiche hinzugezogen, die am Vorabend an der Küste angetrieben worden war. Der Tote wies am Hinterkopf die Spur eines kräftigen Schlages auf, der jedoch kaum tödlich gewesen war; die Todesursache war Ertrinken. Er trug Ölzeug, das der Fabrikmarke nach in Estlands Hauptstadt Tallin hergestellt worden war. Der Tote war Arne Krag-Andersen.
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VIERZEHNTES KAPITEL Zwei Hypothesen Als wir an jenem Nachmittag in Järns Stube um den Kaffeetisch saßen, fühlte ich mich ziemlich niedergeschlagen und elend. Diese letzte Katastrophe hatte einen tiefen Eindruck auf mich gemacht. Ich erlebte meine eigene Gemeinheit in tausendfach vergrößertem Maßstab; da hatte ich meinen Freund hintergangen und ihm seine Freundin gestohlen - und dann war er plötzlich tot, wahrscheinlich ermordet! Nun hatte mein schlechtes Gewissen sich zu einem großen offenen Magengeschwür entwickelt. Dies ließ sich nie wieder gutmachen; das war fast so, als hätte ich ihn selbst getötet. Und Monika schien es ähnlich zu gehen; bleich und mit rotgeränderten Augen saß sie da und starrte vor sich hin. Tancred warf uns über die Kaffeetasse hinweg einen teilnahmsvollen Blick zu. »Ihr beide seht ja ungewöhnlich schuldbeladen aus«, bemerkte er. »Ich kann deine Selbstvorwürfe gut verstehen, Paul. Aber ehe du dir die Tragödie über den Kopf wachsen läßt, solltest du jedenfalls wissen, daß es Arnes Absicht war, dir in jener Nacht das Leben zu nehmen.« »Was sagst du da? Arnes Absicht war, mir -?« Ich fuhr halb vom Stuhle empor. »Ganz recht.« Tancred verzog nicht eine Miene. »Ich erzählte dir ja schon bei früherer Gelegenheit, daß Arne eine Othellonatur wäre. Und er stand dem, was zwischen dir und Monika vorging, durchaus nicht blind gegenüber. Er beschloß, dich zu opfern - etwa so, wie man den Läufer bei einem wilden Muzio-Gambit opfert. Dieses Spiel hier war womöglich noch wilder...« -217-
»Ich glaube, es täte uns gut, jetzt eine reelle Aufklärung dieser faulen Geschichte zu bekommen«, warf Ebba ein. »Besonders täte es Paul und Monika gut. Das Leben gehört den Lebenden, nicht wahr? Mach nun mal etwas frischen Durchzug, Tancred, so daß wir alle Teufeleien auslüften. Du mußt ja den ganzen Zusammenhang kennen - denn du wußtest ja, was in jener Nacht auf dem Kaperhof geschehen würde!« Tancred nickte. »Und ich war mir auch darüber klar, wer hinter dem Ganzen stand und was seine Absicht war. Ich habe wohl keinen Grund mehr, mein Wissen geheimzuhalten. Er stellte die Kaffeetasse aus der Hand und lehnte sich faul zurück. Die energischen Augen bildeten einen wunderlichen Kontrast zu seinen trägen, blasierten Zügen. Ein großer Taugenichts und ein guter Schachspieler, dachte ich. Er fuhr fort: »All right - ich werde versuchen, die Einzelheiten dieses Falles darzulegen, der meines Wissens eine der frechsten und größtangelegten Schwindelaffären in unserer Kriminalgeschichte ist. Gewiß enthält meine Theorie noch einige Löcher, einzelne Vermutungen schweben vorläufig noch in der Luft, weil mir Unterlagen über gewisse Personen und Begebenheiten fehlen. Doch im ganzen gesehen hängt alles logisch zusammen. Diese Erklärung ist tatsächlich die einzig denkbare. Sehen wir erst, was uns der Fund von Arnes Leiche zu sagen hat. Nach Aussage des Polizeiarztes war er etwa drei Tage lang tot gewesen, also hat er sich in der Brandnacht nicht in Kristiansand aufgehalten. Ich weiß nicht, was dieser Architekt Arstad für ein Mann ist, jedenfalls war er ein Stein in Arnes Spiel. Arne brauchte für diese Nacht ein Alibi, und dafür sollte also Arstad sorgen, indem er erklärte, daß Krag-Andersen bei ihm übernachtet habe. Dann kommen wir zu dem Ölzeug, in das die Leiche gekleidet war; das konntest du ja identifizieren, Karsten; es war dasselbe Stück, das auf dem Pfarrhofsboden -218-
gehangen hatte. Was können wir daraus schließen? Ganz einfach, daß Fahle ihn mit dem Kostüm ausgerüstet hatte und daß Arne mit Fahle und Rein an dem nächtlichen Unternehmen teilgenommen hatte; er hat faktisch bei sich selbst eingebrochen. Arne war eine der Gestalten, die du durch die Spiegeltür hereinkommen sahst, Paul; ich möchte darauf tippen, daß er dich besinnungslos schlug. Und nachdem das Inventar an Bord gebracht und der Kaperhof in Brand gesteckt worden war, fuhr er mit dem Schiff ab. Doch dort draußen wurde er selbst von den anderen niedergeschlagen und über Bord geworfen. Indem ich mich ein wenig unter der Bevölkerung hier umhörte, konnte ich feststellen, daß Arne sich in der Zeit von April bis August des öfteren für längere Zeit auf dem Kaperhof aufgehalten hatte. Wenn er uns hatte glauben lassen, daß er auf einer Geschäftsreise sei, dann befand er sich in Wirklichkeit hier. Zu einem frühen Zeitpunkt schon muß er den geheimen Eingang unter der Brücke entdeckt haben. Wir können nämlich feststellen, daß er das ganze Drama inszeniert hatte. Nicht wahr, er war doch auch der erste, den wir verdächtigen wollten? Darüber war er sich schon selber klar, und als geriebener Pokerspieler brachte er es trotzdem fertig, uns zu bluffen. So gut wie jedesmal, wenn etwas geschah, hatte er sein Alibi in Ordnung. Dann saß er entweder in Oslo - vierhundert Kilometer vom Tatort - und nahm in Zeugengegenwart einen Telefonanruf von einem tief erschrockenen Verwalter entgegen oder er befand sich bei uns, so daß wir kontrollieren konnten, daß er jedenfalls seine Finger nicht im Spiel hatte. Wir aber, die wir Arnes dramatische Technik von früheren Gelegenheiten kennen, wir sollten wissen, daß er immer mit sorgfältig instruierten Mitspielern arbeitete. Denkt zum Beispiel an die Ep isode im Vorjahre, als die drei Herren vom Gerichtsvollzieheramt in seine Gesellschaft hineinplatzten, um die Wohnung zu versiegeln. Und auch dieses Mal hatte er solche Statisten; wir dürfen davon ausgehen, daß Rein immer die -219-
anspruchsvolle Rolle des Widergängers - mit einer dazu geeigneten schwarzen Katze - spielte. Versuchen wir einmal, uns die einzelnen Spukphänomene auf dem Kaperhof zu erklären - welche tiefere Absicht sich hinter diesem Schauspiel verbarg, werden wir später untersuchen. Zunächst haben wir die drei ›Erlebnisse‹, von denen Arne Paul und Monika am Tage vor der Abreise erzählte. Zwei von diesen Geschichten sind zweifellos frei erfunden, um Eindruck auf die Zuhörer zu machen und einen fruchtbaren Nährboden für ihre späteren Erlebnisse zu schaffen. Ich habe selbst festgestellt, daß der Glasermeister in Lillesund nicht existiert. Die Episode mit dem Watteau-Bild und den zerstörten Gegenständen in der Stube hat Arne für seine Haushälterin inszeniert - und damit für den gesamten Bezirk. Es ist ein Zug in Arnes Spiel, daß Paul den Verwalterposten auf dem Kaperhof übernehmen soll; also muß Ludvigsen fortgegrault werden. Dies läßt sich ohne Schwierigkeiten mit Hilfe Reins und der schwarzen Katze ordnen, indem der geheime Gang eingeweiht wird. Worauf Arne mit Paul und Monika nach Heilandet fährt, damit diese Augenzeugen ganz bestimmter Dinge werden sollen. So kommen wir zum Hundemord. Während Marie allein im Hause ist, soll sie einer ähnlichen Schockbehandlung wie Ludvigsen ausgesetzt werden: schwarze Katze am Fenster usw. Rein war aus diesem Anlaß mit der Katze in das gelbe Zimmer gegangen, er wird jedoch von dem Hund überrascht und tötet ihn. Die Wirkung entspricht den Erwartungen: Marie verläßt den Hof und verbreitet eine neue Angstwelle über Heilandet. Während des Besuchs auf dem Pfarrhof haben Arne und Fahle in einem unbewachten Augenblick das ›Kommodenexperiment‹ verabredet; diese Szene soll für Paul und Monika aufgerührt werden, während Arne bei ihnen sitzt, also ein unantastbares Alibi hat. Ihm ist es nur recht, daß sich die Zahl der Augenzeugen erhöht, indem auch Ebba und ich auftauchten. -220-
Und das Schauspiel wird fortgesetzt: Arne richtet es so ein, daß wir Männer der Reihe nach allein im gelben Zimmer übernachten. Neben seiner rationalen Absicht spielte hier auch sein Hang zur Mystifikation eine Rolle. Nach seiner eigenen Übernachtung simuliert er sehr raffiniert, daß er etwas erlebt habe, aber nicht mit der Sprache herauswolle. Als dann Karsten an der Reihe ist, mischt Arne ihm ein Schlafmittel ins Getränk. Den Rest im Glase konnte ich unbemerkt in eine kleine Flasche gießen, die ich einem Chemiker in Kristiansand schickte; die Analyse ergab Veronal. Karsten schläft also die ganze Nacht wie ein Stein und wacht nicht auf, als Arne die Fußspuren um das Pentakel arrangiert. Arne hat ja aus Karstens eigenem Munde gehört, wie ein solches Pentakel ›wirkt‹, und es amüsiert den Pokerspieler, dem Okkultisten in seinen Theorien recht zu geben. In der dritten Nacht, als ich in Korps Zimmer übernachte, mischt sich jedoch ein Unbefugter ein. Arne hat für diese Nacht nichts ›Übernatürliches‹ inszeniert, und als er hört, daß ich trotzdem Besuch hatte - oder fast bekommen hätte -, ist ihm klar, daß ein Außenstehender versucht hat, einzudringen; wahrscheinlich errie t er gleich, daß es der halbverrückte Dörum war. Das paßt ausgezeichnet in Arnes Spiel; er will ja, daß es so aussieht, als ob ihn jemand vom Hof schrecken wolle, und nun kann er den Verdacht auf eine ganz bestimmte, konkrete Person lenken. Nachdem der Geheimgang gefunden wurde, richtet er es so ein, daß die ganze Gesellschaft - dazu der Lehnsmann - in dem gelben Zimmer Wache hält, worauf Dörum denn auch geschnappt wird. Der arme Schwachkopf hat sicherlich kein anderes Motiv für diesen Besuch gehabt, als daß er sein ›Papier‹ wiederhaben wollte. Als der Lehnsmann ihn abführen will, tritt Arne mit einem Male als sehr beredter Verteidiger auf und besteht darauf, daß er laufen gelassen wird. Ein listiger Schachzug: wenn Dörum weiter auf freiem Fuße ist, wird er kaum ein Alibi haben, wenn der letzte Akt des Dramas gespielt -221-
wird; dann wird es sehr naheliegend sein, ihn der Brandstiftung zu verdächtigen.« Tancred machte eine Atempause und schenkte sich Kaffee nach. »Der Zusammenhang fängt an, mir langsam zu dämmern«, warf ich ein. »Aber ich bin mir immer noch nicht ganz klar, welches Motiv Arne hatte, diesen ganzen Apparat in Gang zu setzen.« »Gerade du solltest imstande sein, diese Frage zu beantworten, Paul; du hast ja genügend Material in der Hand gehabt. Entsinns t du dich der amerikanischen Zeitung, die ich dir zeigte - New York Gazette vom 29. März? Darin lautete eine der Überschriften: ›President Cardenas seizes all foreign oil investments in his country. ‹ Und später zeigte ich dir ein Telegramm folgenden Inhalt s: ›Vermutung nicht unbegründet. Prekäre Situation nach Revolution in Mexiko. Vermute neunzig Prozent verloren.‹ Sollte es so schwierig sein, hier zwei und zwei zusammenzulegen? Ein gebildeter und zeitungslesender Mensch weiß selbstverständlich, daß Cardenas Präsident von Mexiko ist. Als Direktor der ›Mexican Oil Ltd.‹ hat Arne ungefähr sein ganzes Kapital in mexikanischem Öl investiert. Doch gegen Ende März unternahm also Cardenas einen brutalen und unerwarteten Vorstoß gegen die ausländischen Spekulanten; er beschlagnahmte einfach alles ausländische Ölkapital in Mexiko ohne die geringste Entschädigung. Dies ist ein furchtbarer Schlag für Arne, der damit etwa neunzig Prozent seines Vermögens verliert. Dies wurde mir telegrafisch von einem Osloer Makler bestätigt, der gut über Arnes Vermögensverhältnisse informiert ist. Unser Freund steht plötzlich völlig ohne liquide Mittel da; ein Konkurs liegt drohend in der Luft. Aber er besitzt immerhin noch den Kaperhof mit seinen wertvollen Kunstschätzen. Zu diesem Zeitpunkt kommt er mit Fahle in Verbindung. Dieser Mann ist Norwegischamerikaner und hat sich gerade auf -222-
Heilandet niedergelassen, angeblich, um kulturhistorische Studien zu betreiben. Doch dürfen wir annehmen, daß ihn die Schätze des Kaperhofs hergelockt haben: in der New York Gazette hat er die Meldung über dieses Haus gelesen, über die Kapersage und über den norwegischen Geschäftsmann, der ›the haunted house‹ gekauft hat, um es in ein modernes Sommerhotel umzuwandeln. Er sieht Möglichkeiten für einen großen Schlag, reist sofort hierher und läßt sich auf dem Pfarrhof nieder. Mit hervorragendem Schauspielertalent übernimmt er die Rolle des exzentrischen Forschers und Folkloristen. Arne und Fahle haben miteinander Fühlung genommen und sich bald richtig als Mitglieder der heimlichen Bruderschaft der Gauner erkannt. Sie entwerfen einen kühnen Plan. Er setzt voraus, daß sie sich ein altes Fahrzeug von der Größe einer kleinen Jacht anschaffen, ein Schiff, das so umgebaut wird, daß es als die ›Krebs‹ in Erscheinung treten kann. Ich nehme an, daß Fahle das geordnet hat. Wo das Schiff beschafft und wo es umgebaut wurde, wissen wir vorläufig nicht, aber das wird kaum hier im Land geschehen sein. In der Zeit vor dem Coup lag es irgendwo in den Schären versteckt gut getarnt in irgendeiner schmalen Bucht.« »Ich glaube, ich kann sagen, welche Insel es als Basis gehabt hat«, unterbrach ich. Und ich erzählte, was Monika und ich draußen, in der Hütte erlebt hatten. »Mir fiel besonders auf, daß sich auf dieser Insel viele Verstecke für ein Boot befanden«, fügte ich hinzu. »Verdammt noch mal, daß du mir diese Beobachtung nicht früher mitgeteilt hast; dann hätten wir dort eine Razzia durchführen können.« Tancred blickte mich tadelnd an. »Na ja, also weiter. Fahle sorgte auch dafür, daß das Boot bemannt wurde, und durch Rein stand er mit der Besatzung ständig in Verbindung. Wo Fahle diese Leute hergeholt hat, wissen wir nicht; dies ist eines der fehlenden Glieder in unserer Kette; aber das spielt für die Theorie als Ganzes keine Rolle. -223-
Wahrscheinlich handelt es sich um eine amerikanische Gangsterbande, die unter Fahles Führung steht und auf einen Bescheid von ihm nach Norwegen gekommen war. Wie wir wissen, ist die Bevölkerung hier in Heilandet ziemlich abergläubisch; und die Episode mit dem estnischen Schiff hat der alten Kapersage neue Nahrung gegeben. Diese psychologische Tatsache also wollten Arne und Fahle ausnützen. In der Sage heißt es ja, wie wir uns erinnern, daß im Falle einer wesentlichen Veränderung im Kaperhof Jonas Korp mit der ›Krebs‹ zurückkehren und fürchterliche Rache nehmen werde. Diese ›wesentliche Veränderung‹ hatte Arne schon vor seinem wirtschaftlichen Fiasko und seiner Begegnung mit Fahle ernstlich geplant; es war seine Absicht, hier ein Hotel einzurichten. Aber nun erhält dieses Projekt eine neue, psychologische Bedeutung: nun legt er es darauf an, die Bevölkerung herauszufordern, indem er der alten Bestimmung trotzt. Dann läßt er es spuken, und es wird dafür gesorgt, daß die Bevölkerung ihre Augenzeugen hat - Ludvigsen und die Haushälterin-; so wird ihr Glaube an die Kapersage bestärkt. Auch wir sollen nun einige unheimliche Phänomene erleben; wir sollen nämlich später bestätigen, daß man versucht hat, Arne aus dem Haus zu vertreiben. Inzwischen wird Flateland - ohne es zu wissen - ein Statist in Arnes Drama. Der Sektierer sieht ja in dem geplanten Hotel eine moralische Gefahr für Heilandet; er bearbeitet seine Gemeinde im Bethaus und bringt sie immer mehr gegen Krag-Andersen auf; er redet den leichtgläubigen Menschen ein, daß ›Satansmächte‹ den ganzen Bezirk bedrohen. Und wir sind Zeugen, wie Dörum und Flateland Arne mit Drohungen kommen. Alles geht planmäßig. Dann brennt eines Nachts der Kaperhof nieder, und die Bevölkerung ist überzeugt, daß dies ›Jonas Korps Rache‹ ist; außerdem wurde die ›Krebs‹ vor der Küste gesichtet. Niemand unternimmt etwas, um den Brand zu löschen; hier wagen sie nicht, sich einzumischen, denn -224-
dies ist ja ›die Strafe für das Spiel mit den bösen Mächten.‹ Wie euch wohl schon längst klargeworden ist, lief der Plan auf einen Versicherungsschwindel hinaus. Arne wollte seine Pleite damit wettmachen, daß er den Wert des KaperhofInventars verdoppelte. Alle wertvollen Einrichtungsgegenstände sollten per Schiff weggeschafft werden, worauf nur noch der Hof niedergebrannt und die Versicherungssumme abgehoben zu werden brauchte. Vor einigen Tagen rief ich einen Versicherungsmann in Oslo an und bat ihn, zu untersuchen, wie groß die Summe sei. Ich bat ihn, mir so zu telegrafieren, daß kein Unbefugter verstehen könne, worum es sich handelte; ich lief ja Gefahr, daß mein Telegramm Arne ausgehändigt würde; dergleichen nimmt man hier auf dem Lande nicht so genau. Meine Frage war: ›Für wieviel Millionen ist der Kaperhof versichert?‹ Und die telegrafische Antwort lautete: ›Anderthalb.‹ Das erklärt, weshalb ein so großer Apparat in Gang gesetzt wurde; wenn es sich um eine solche Summe handelt, entfaltet man gern ein wenig Energie. Für den Fall, daß das Schiff also beobachtet werden sollte, war es als ›Krebs‹ maskiert. Hier taucht die Frage auf: war es nicht etwas naiv anzunehmen, eine Versicherungsgesellschaft würde an Gespenster glauben? Versicherungsleute sind nüchterne Menschen und würden kaum die Erklärung hinnehmen, ein fliegender Holländer habe das Haus in Brand gesteckt. Nein, gewiß nicht - aber der Plan lief auf ein raffiniertes psychologisches Doppelspiel hinaus. Punkt A: Die Bevölkerung sollte glauben, der Kaperkapitän sei zurückgekommen, um seine Rache zu vollbringen. Und wenn irgendein Fischer zufällig das Schiff sehen sollte, würde er natürlich darauf schwören, daß es die ›Krebs‹ sei; seine Zeugenaussage ließe sich leicht als Halluzination ablehnen. Der Lehnsmann würde gutachtlich aussagen, daß die Eingeborenen hier überspannt und ›spökenkiekerisch‹ seien; natürlich würden sie bei einer solchen Gelegenheit derartiges ›sehen‹. Der -225-
Kaperhof ist ja von Sagen und Aberglauben umsponnen. Es ist, wie wenn die Seeschlange unmittelbar vor einer Naturkatastrophe gesehen wird; die Wissenschaft kann das Phänomen leider nicht anerkennen. Punkt B: Die Versicherungsgesellschaft sollte überzeugt werden, daß der Brand von der Bevölkerung angelegt worden sei. Und hier wären unsere Zeugenaussagen schwer ins Gewicht gefallen. Zunächst wäre Grund, Dörum zu verdächtigen; wir könnten bezeugen, daß er die Rolle des Gespenstes gespielt hat, um Arne wegzuekeln. Dies mißlang, und so besteht aller Grund zu der Annahme, daß er das Haus aus Rache abgebrannt hat, weil er keine Möglichkeit mehr sah, wieder in seinen Besitz zu kommen. Doch selbst, wenn es nicht gelingen sollte, die Schuld auf Dörum abzuwälzen, ließen sich genug Indizien dafür finden, daß einer der anderen Bewohner der Gegend der Brandstifter war. Wir konnten bezeugen, daß Arne von Flateland bedroht worden ist. Entweder dieser selbst oder einer seiner fanatischen Anhänger könnte als Pyromane aufgetreten sein, um das ›Verhängnis‹ abzuwehren. Das Motiv war klar: der Prediger hätte alles getan, um Arnes Hotelpläne zunichte zu machen. Selbstverständlich war nicht beabsichtigt, daß wir beim letzten Akt zugegen sein sollten - Paul ausgenommen. Folglich sorgte unser Gastgeber dafür, eine Art Aufbruchstimmung zu schaffen, nachdem der Fall ›aufgeklärt‹ war. Ich wußte ja, was bevorstand, aber ich wollte Arne nicht merken lassen, daß ich ihn durchschaut hatte. Übrigens hatte ich keine Beweise; er mußte im Augenblick der Tat beobachtet werden - oder am besten etwas früher. Deshalb unternahm ich das Scheinmanöver: ich tat, als glaubte ich an deine Dörumtheorie, Ebba, und dann reisten wir also mach Hause«. Leider kamen wir etwas zu spät zurück; das war mein Fehler; ich wußte nicht, daß es so lange dauerte, mit Pferd und Wagen von Lillesund hier heraus zu fahren. Es tut mir aufrichtig leid, daß ich dich nicht gewarnt hatte, Paul; ich hätte dich bereden sollen, die Nacht bei Karsten -226-
zu verbringen. Aber ich hoffte, rechtzeitig da zu sein. Ursprünglich war es nicht Arnes Absicht, daß du in der kritischen Nacht auf dem Kaperhof zurückbleiben solltest. Er hätte dich unter irgendeinem Vorwand weggeschickt - und später hättest du dann als Zeuge figuriert. Doch nachdem er entdeckt hatte, was zwischen Monika und dir vor sich ging - wir dürfen davon ausgehen, daß Rein ihn auf die Spur gebracht hatte; er sah euch ja in einer intimen Situation draußen in der Hütte -, in diesem Augenblick erwachte der Mörder in Arne. Seine Absicht war, dich mit draufgehen zu lassen; deine verkohlte Leiche sollte auf dem Brandgrundstück gefunden werden, und er hätte vermutlich eine große Nummer daraus gemacht, daß sein bester Freund einem desperaten Pyromanen zum Opfer gefallen ist. Er selbst hatte sich ja ein Alibi geschaffen. Dem Plane nach sollten die Sachen mit dem Schiff nach einem vereinbarten Ort an der Küste geschafft werden, worauf Arne zu seiner Basis in Kristiansand zurückkehren und das weitere abwarten wollte. Fahle sollte angeblich mit Lizzie nach einem Sanatorium gereist sein; sie packte ja die Koffer an jenem Nachmittag, als Järn sie entführte. Es spricht wirklich zu deinen Gunsten, Karsten, daß du sie vor dieser ›Nervenkur‹ rettetest. Fahles Absicht war es zweifellos, sie mit an Bord zu nehmen und sie ihre Heimat nie wieder sehen zu lassen; sein Plan wich nämlich um einiges von dem Arnes ab. Wir kennen den Rest der Geschichte: während der Ausreise wurde Arne von seinen eigenen Komplizen getötet. Sie wollten sich nicht mit einem Teil der Versicherungssumme abspeisen lassen, sondern zogen es vor, mit der ganzen reichen Beute zu verschwinden. Trotz allem war Arne ein Anfänger auf der Bahn des Verbrechens; mit dieser Möglichkeit hatte er nicht gerechnet! So hängt es also zusammen. Ich weiß nicht, ob dem noch etwas hinzuzufügen ist. Ich glaube, wir können sagen, daß die -227-
Welt um ein okkultes Mysterium ärmer geworden ist.« »Wie kam Arne eigentlich in der letzten Zeit mit Fahle in Verbindung«, fragte ich. »Er war doch fast ununterbrochen mit uns zusammen.« »Du vergißt seine Fahrten nach Lillesund. Dort hatten sie ihren festen Treffpunkt; ich habe mich vergewissern können, daß sie dort verschiedentlich miteinander gesehen worden sind. Daß eine heimliche Verbindung zwischen den beiden bestand, geht auch aus der Art und Weise hervor, in der Arne über Fahle sprach. Immer versuchte er, die exzentrischen Seiten des Mannes zu decken; nach der Affäre mit Lizzie stellte er sie als hysterisch hin. Er wollte verhindern, daß Ebba sich in Fahles Privatleben mischte, und nach ihrem Besuch auf dem Pfarrhof versuchte er, sie lächerlich zu machen und die Geschichte zu bagatellisieren. Er wollte nicht, daß wir seinem Kompagnon allzuviel Aufmerksamkeit widmeten. Außer einem durchtriebenen Schurken war Fahle auch ein Erotomane...« Es entstand eine kurze Pause. Järn hatte lange mit einer Miene dagesessen, als koste es ihn die größte Überwindung, diesen Ausführungen zuzuhören. Als er feststellte, daß Tancred nichts mehr zu sagen hatte, kam wieder Leben in ihn; mit einer kampflustigen Bewegung ließ er ein Stück Zucker in die Kaffeetasse fallen. »Das war also deine Theorie«, sagte er. »Ich räume ein, daß du in einigen Punkten gute Beobachtungen gemacht hast, Tancred, aber die Theorie ist unvollständig. Über eine Reihe von Tatsachen bist du leicht und elegant hinweggegangen, weil sie nicht in dieses Bild passen. Ich habe eine andere Erklärung, die wohl weniger ›natürlich‹ ist, dafür aber besser mit der Wirklichkeit übereinstimmt. Ich zweifle nicht daran, daß deine Darstellung teilweise richtig ist - also hinsichtlich der Rolle, die Arne gespielt hat. Es war zweifellos seine Absicht, dieses Schauspiel zu arrangieren, -228-
um einen Versicherungsschwindel vorzubereiten. Es stimmt auch wohl, daß er mit Fahle in Verbindung getreten ist, der ihm Schiff und Mannschaft verschafft hat, und es ist wohl eine Tatsache, daß Arne von seinen Mithelfern getötet wurde, nachdem der Coup durchgeführt war. Soweit kann ich mit dir einig sein. Aber damit ist das Problem ja gar nicht gelöst. Ich möchte deine Aufmerksamkeit auf das lenken, was du als Löcher in deiner Theorie bezeichnest und was du nun mit einem losen Kitt von Vermutungen abzudichten versuchst. Du vermutest, daß dieses Schiff irgendwo im Ausland beschafft und umgebaut worden ist; du vermutest, daß die Mannschaft eine amerikanische Gangsterbande unter Fahles Leitung gewesen sei. Es ist eigentlich bewundernswert, wie du solche Banden aus der Luft zauberst: eine ›Bande‹ hatte ja auch auf der ›Tallin‹ gemeutert, nicht wahr? Gib zu, Tancred, daß dies ziemlich lose zusammenhängt; vor allem hast du auch nicht den geringsten Versuch gemacht, zu erklären, wer Fahle und Rein eigentlich sind. Ich werde diese Löcher für dich ausfüllen. Nehmen wir uns erst einmal Fahle vor. Was kennzeichnet ihn? Er ist ehemaliger Theologe, und sein Hauptinteresse ist das Studium des Satanismus - ja, das ist nicht allein sein Interesse, das ist die Luft, in der er lebt und atmet. Auf diesem Gebiet verfügt er über einzigartige Kenntnisse. Übrigens macht er den Eindruck eines weitgereisten und erfahrenen Weltmannes von außerordentlich sicherem Auftreten. Und er hat eine seltsam zwingende Macht über Frauen; selbst eine so nüchterne Frau wie Ebba wäre fast von ihm hypnotisiert worden. Aber haben wir nicht von einer anderen Person gehört, auf die diese Beschreibung paßt: ein weitgereister und weltkluger Mann, der auch Theologe war, der auch im schwarzen Kultus lebte und atmete, der auch Erotomane war und eine enorme Macht über Frauen hatte? Ein Mensch, von dem gerade Fahle uns eine so lebendige Schilderung gegeben hat, ein Wesen, das er so gut, so intim kannte, wie man sonst nur sich selbst kennt? -229-
Wir waren im Zweifel, wie alt Fahle sein könnte; sein Alter war undefinierbar. Aber als Ebba mit ihm allein im Keller war, als er sich in das rote Meßgewand gehüllt hatte und über sie gebeugt stand, da hatte sie plötzlich den Eindruck, daß seine Züge uralt und mumienhaft waren. Und Fahle ist tatsächlich auch älter als wir alle fünf zusammen. Er ist nämlich identisch mit Jörgen Uhl. Nur indem wir dies einsehen, können wir die Löcher in deiner Theorie ausfüllen, Tancred: dies erklärt all die ›exzentrischen‹ Seiten Fahles, es erklärt die undefinierbare Angst, die wir ihm gegenüber immer gefühlt hatten, und es erklärt, wieso sich das Ölzeug und der Rettungsring von der ›Tallin‹ in der Andenkensammlung des Pfarrhofs befanden. Als zweiter Mann an Bord der ›Krebs‹ hatte er selbst das estnische Schiff mit gekapert. Für mich ist es auch einleuchtend, daß Rein und Jonas Korp ein und dieselbe Person sind. Arnes Plan lief also darauf hinaus, alles wertvolle Inventar aus dem Hause zu entfernen und einen Versicherungsschwindel durchzuführen. Aber damit verging er sich gegen die alte Bestimmung, daß nichts aus dem Kaperhof entfernt werden dürfte; er lieferte sich damit jenen gefährlichen Kräften aus, vor denen ich ihn die ganze Zeit gewarnt hatte. Er brauchte Mithelfer zu diesem Unternehmen. Doch die Ironie des Schicksals wollte, daß er sich gerade mit den Männern verbündete, die gekommen waren, seine Pläne zunichte zu machen, und er wurde faktisch ein Opfer der Rache Jonas Korps. Der Kaperkapitän holte sein Eigentum in jener Nacht, und das Schiff, das ihr verfolgtet, war wirklich die ›Krebs‹. Die Welt ist nicht um ein okkultes Mysterium ärmer geworden - im Gegenteil. Diese Theorie klingt vielleicht verrückt. Aber ich mache dich darauf aufmerksam, daß du sie nicht widerlegen kannst, Tancred; sie deckt sich nämlich mit allen Tatsachen. Das tut dagegen deine Hypothese nicht. Drei Fragen wirst du kaum -230-
beantworten können. Erstens: Wie willst du die Tatsache erklären, auf die ich euch schon früher aufmerksam gemacht habe: die Ähnlichkeit zwischen Fahles Händen und den Händen auf dem Kupferstich? Zweitens: Weshalb nahm Fahle gerade diesen Stich mit, einen Haufen alter Bücher über Magie und eine Auswahl von Andenken aus dem Bodenraum? Drittens: Weshalb hatte das Pferd panische Angst vor Rein? Ich erinnere daran, daß Fahle vor dem Stall stand, als das Tier zum zweiten Male wild wurde.« Järn schlug ein Bein über das andere und wippte herausfordernd mit der Schuhspitze. Seine Miene sagte: Jetzt habe ich dich festgenagelt! Tancred lächelte ein wenig müde. »Ich muß dich damit enttäuschen, daß ich darauf antworten kann«, sagte er. »Was die geheimnisvolle Ähnlichkeit betrifft, so ist sie einfach auf deine eigene Phantasie zurückzuführen, Karsten; keiner von uns anderen hat sie festgestellt. Den Kupferstich und die Bücher hat Fahle mitgenommen, weil sie sehr wertvoll und leicht zu transportieren waren; der Stich war ja ein kleines Meisterwerk, und die Bücher waren seltene, alte Kleinodien. Die Sachen auf dem Boden wurden mitgenommen, weil man sie an Bord des Schiffes brauchte, und das Ölzeug wurde bei der Aktion selbst benutzt. Was das Pferd betrifft...« Tancred zögerte ein wenig, als ob er nicht recht weiter wüßte. Aber Ebba kam ihm gleich zu Hilfe. »Laß mich das erklären«, sagte sie eifrig. »Dies gehört zur Psychologie, und da bin ich zu Hause. Es war ganz sicher Dörums Nähe, die das Pferd das letzte Mal unruhig machte; es ist eine Tatsache, daß er das Tier früher mißhandelt hatte. Dörum geht, wie wir wissen, immer in Ölzeug - selbst wenn strahlender Sonnenschein herrscht. Man braucht nicht viel von Tierpsychologie zu wissen, um zu verstehen, daß dieses Pferd vor allen Männern in Ölzeug Angst haben mußte; es verband diese Kleidung mit dem Erlebnis der Grausamkeit. Daß Tiere und Kinder so reagieren, ist durch zahllose Experimente -231-
erwiesen; es handelt sich um das Phänomen, das man als ›bedingte Reflexe‹ bezeichnet. Auf einen bedingten Reflex war es zurückzuführen, daß das Tier bei Reins Anblick scheute, d. h. nicht der Mann selbst erschreckte das Tier, sondern das Ölzeug, das er anhatte.« »Bravo!« rief Tancred aus. »Das war dein letzter okkulter Strohhalm, Karsten; du bist genötigt, dich damit abzufinden, daß die Geschichte eine natürliche Erklärung hat.« »Aber meine Version ist immer noch nicht widerlegt«, erklärte Järn. »Und meine Erklärung ist die lückenloseste. Ich ziehe es vor, meine zu glauben.« »Und wir unsere«, sagte Ebba. »Es ist sonnenklar, daß Tancreds Theorie bestätigt werden wird, sobald die Polizei Fahle und Rein hochnimmt. Aber reden wir jetzt von etwas Netterem.« »Ja, tun wir das«, stimmte Monika zu. »Was gedenkt ihr, Paul und mir zur Hochzeit zu schenken?« In gewissem Sinne behielt Järn den letzten Trumpf. Fahle und Rein wurden nie gefunden, und niemand hat seither das Schiff gesehen, mit dem sie verschwanden. Ihre Steckbriefe wurden der Polizei der meisten europäischen und überseeischen Länder zugestellt, doch nirgends ließen sie sich in den Karteien identifizieren. Jetzt ist die Sache längst eingeschlafen. Tancred und Järn halten heute noch jeder an seiner Lösung des Problems fest. Ich hatte oft gedacht, daß es Spaß machen müßte, einen Kriminalroman zu schreiben, worin man eine Vielfalt von Fäden so ausspinnt, daß sie schließlich ein ganz unauflösbares Gewirr bilden, und worin man die unerklärlichsten Dinge geschehen läßt - so daß der Leser sich fragen würde: wie in aller Welt wird der Verfasser es fertigbringen, dies aufzulösen? Das Buch sollte mit folgendem Satz schließen: Der Fall wurde nie aufgeklärt. -232-
Selbstverständlich müßte man dann für ein Jahr wegen der vielen wütenden und rachgierigen Leser verschwinden, aber es wäre trotzdem der Mühe wert. Ich stelle fest, daß meine Aufzeichnungen über die Ereignisse auf dem Kaperhof vor neun Jahren ein solches Buch geworden sind.
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