Gruselspannung pur!
Torturus kehrt zurück!
von C.W. Bach Dämonenjäger
Mark Hellmann Ein sonderbares Schmatzen ertönt...
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Gruselspannung pur!
Torturus kehrt zurück!
von C.W. Bach Dämonenjäger
Mark Hellmann Ein sonderbares Schmatzen ertönte. Arno Stüfke blieb an der Friedhofsmauer stehen und lauschte. Die Chausseestraße lag im fahlen Mondlicht. Weit und breit keine Menschenseele. Wolgast schlief. Es war gespenstisch still nur dieses widerliche Schmatzen. Der Kellner wurde neugierig. Er dachte kurz nach. Sollte er einfach weggehen? Nein, feige war er nicht. Er ging um die Ecke, dorthin, wo sich das eiserne Portal befand. Es war verschlossen. Stüfke kletterte darüber hinweg. Seine Beine waren wie Blei, als er zwischen den Grabmälern der Verstorbenen entlangging. Dann hörte er das Schmatzen erneut, diesmal lauter als beim ersten Mal. Mark Hellmann - die Gruselserie, die Maßstäbe setzt!
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Bolle fröstelte vor Angst. »Noch können wir umkehren, Rudi«, wisperte er. Sein Bruder sah sich um. »Halt endlich dein dummes Maul, du Flachzange! Wenn du Schiß hast, hau doch ab zu Mami - dich ausheulen.« »Ich hab keinen Schiß«, schwindelte Bolle. Der Ältere grinste höhnisch. »Dann reiß dich gefälligst zusammen. Unser Alter ist tot. Er kann uns nichts mehr tun. Hörst du? Tot! Er liegt in seinem Sarg und vermodert.« Bolle schluckte. Rudi hatte recht. Nie wieder würde Vater einen von ihnen verprügeln können, denn er lag zwei Meter tief in der kalten, feuchten Erde: in einem verriegelten Sarg. Wieso fürchte ich mich also? fragte sich der achtzehnjährige Bolle. Nur Lebendige können einem was tun. Er biß sich auf die Unterlippe. Schuldbewußt senkte er den Kopf und strich über den Stoff des rauhen Futterals, das er trug. Dann sah er seinen Bruder an. »Okay, Rudi, gehen wir weiter!« »Na also.« Rudi schlug ihm anerkennend auf die Schulter. »Wußte doch, daß du ein echter Bohlemann bist.« Gemeinsam setzten sie ihren Weg fort. In der Gartenstraße blickte Bolle in das Schaufenster eines Textilgeschäfts. Er sah sein Spiegelbild: einen untersetzten, breitschultrigen Burschen, unrasiert, in einem verknitterten Parka, verwaschenen Jeans und einem verschnürten Futteral, in dem zwei Spaten klirrten. Bolle dachte an den Vater, zu dessen Grab sie unterwegs waren. Der Alte war ein Tyrann übelster Sorte gewesen. Nachdem man ihn aus der Peenewerft geschmissen hatte, weil er ständig unter Strom stand, rutschte er immer tiefer. Er soff mehr als je zuvor. Schon morgens ging es los. Kaum die Augen auf, hatte er schon eine Pulle am Hals. Wenn die halbleer war, kam er in Form. Dann brauchte er Gesellschaft. Er torkelte aus dem Haus, zu dem Imbißstand gegenüber der Schloßinsel. Dort traf er sich mit Gleichgesinnten. Er soff, bis er voll bis zum Stehkragen war. Abends kam er nach Hause, trank die andere Hälfte der Pulle aus und suchte Streit. Zuerst mit Mutter, anschließend waren sie, seine beiden Söhne, an der Reihe. Vor zwei Wochen dann das abrupte Ende: Vater war auf der Straße tot umgefallen. Der Tod stimmt die Menschen traurig, doch die gepeinigten 3
Familienmitglieder hatten irgendwie aufgeatmet. Bolle seufzte. Dann kam der absolute Hammer! Kaum war er beerdigt, meldete sich die Lottozentrale. Vater hatte heimlich gespielt und gewonnen! Es war, als hätte sie der Blitz getroffen. Der Freudentaumel erstickte bereits nach wenigen Minuten, denn der ausgefüllte Lottoschein war weg! Und ohne Schein keine Gewinnauszahlung. So lautete die Regel. Sie hatten das Haus auf den Kopf gestellt. In jeden Winkel hatten sie gespäht. Jeden Quadratzentimeter abgesucht. Ohne Resultat. Dann die furchtbare Erkenntnis: Der Schein steckte in Vaters schwarzem Zweireiher. Aber den hatte der Alte am Leib! Mutter hatte ihn darin beerdigen lassen, damit er wenigstens im Grab einen soliden und vernünftigen Eindruck machte. Jetzt waren die beiden Brüder auf der Jagd nach dem Schein. Bolle packte das Futteral fester. Als sie in die Wilhelmstraße einbogen, erfaßten sie die Lichtkegel eines Autos. Ein Wartburg. Rudi ging langsamer, schaute dem Fahrzeug hinterher. Mit überhöhter Geschwindigkeit knatterte der klapprige Zweitakter vorüber. Rudi spähte auf seine Armbanduhr. Es war halb zwei. »Glaubst du, die eben haben was gemerkt?« fragte ihn Bolle. »Was sollen die denn merken? Uns steht doch nicht im Gesicht geschrieben, was wir vorhaben, du Nase. Zwei Brüder gehen die Wilhelmstraße lang. Na und? Ist das verboten?« Bolle starrte den Bruder an. »Daß du so cool bleiben kannst.« Rudi zog ein Augenlid herunter und grinste. »Wem würde es nützen, wenn ich Herzflattern hätte? Die Pinke würde verfallen. Vater Staat würde sich die Hände reiben. Meinst du, ich schmeiße ihm den Gewinn vom Ollen auch noch in den Hals?« Bolle sagte nichts. Er tappte neben seinem Bruder durch die Nacht. Je näher sie dem Friedhof kamen, der nur ein paar Querstraßen entfernt lag, desto größer wurde seine Angst. Was, wenn sie jemand erwischte? Nachts, in einem Grab stehend, mit Schaufel und Spaten in den Händen? Allein der Gedanke daran, in flagranti überrascht zu werden, ließ Bolles Zähne aufeinanderschlagen. Vielleicht falle ich dann auch tot um? Genau wie der Alte. Sie verließen die Wilhelmstraße und gingen ein Stück an der Alten Stadtmauer entlang. Schon kam die Chausseestraße in 4
Sicht. Links die lange Friedhofsmauer aus roten Backsteinen, gegenüber das alte, verwahrloste Kino und das Deutsche Haus. Nur noch wenige Minuten, und sie würden vor der Grabstelle des Alten stehen. Unwillkürlich wurde Bolle langsamer. Rudi fuhr wütend herum. »Was ist jetzt schon wieder?« »Mir ist gerade was eingefallen«, flüsterte der Jüngere. »Haben wir was vergessen?« »Nein. Das ist es nicht. Ich mußte an Eurynomus denken.« »Wer, um alles in der Welt, ist Eurynomus?« »Man sagt, er wohne tief in der Erde. Er ist ein Geist, eine Art Wurm, der sich von dem verwesenden Fleisch Beerdigter ernährt. Er nagt die Toten völlig ab, bis auf die Knochen.« Rudi starrte seinen Bruder fassungslos an. Unbeirrt fuhr Bolle fort: »Das ist auch der Grund, weshalb man die Körper von Leichen einbalsamiert. Die Chemikalien sollen die Freßlust von Eurynomus bremsen.« Der Schlag kam hart und ansatzlos. Jäh klappten Bolles Kauleisten aufeinander. Ein mörderischer Schmerz stach bis unter seine Haarwurzeln. Er strauchelte. Das Futteral mit den Spaten fiel ihm aus der Hand. Krachend ging es zu Boden, rutschte in den Rinnstein. Bolle stöhnte laut auf. Er schlug die Hände vors Gesicht. Wimmernd hielt er seinen Unterkiefer. Tränen kullerten über seine glühenden Wangen. »Hast du 'nen Stich?« fuhr er Rudi an. »Nachschlag gefällig?« provozierte der. »Wieso verprügelst du mich?« Rudi deutete auf das Futteral. »Erzählst du noch mal so 'nen Mist, brech ich dir die Knochen, du Weichei. Du scheinst noch nicht geschnallt zu haben, worum es geht. Aber ich werde es dir einbleuen. Darauf kannst du Gift nehmen. Jetzt heb den Krempel da auf und komm! Kapiert?« Bolle betastete seine wackeligen Zähne. Er sah, daß sein Bruder vor Wut zitterte. Schnell bückte er sich und nahm das Futteral mit den Spaten auf. »Wieder eingerastet?« Rudi maß ihn von Kopf bis Fuß. Bolle nickte wortlos. Im Gehen wischte er sich die Tränen aus dem Gesicht. Komischerweise hatte Rudis Schlag auch etwas Gutes bewirkt. Bolles galoppierende Angst war wie weggewischt. 5
Der stechende Schmerz betäubte sie. Kurz darauf waren sie an Ort und Stelle. Zum Glück befand sich der Zugang auf den Gottesacker nicht an der Hauptstraße, sondern an einem baumbestandenen Seitenweg. An der Mauer hing die Friedhofsordnung. Rudi zog eine Taschenlampe hervor, denn durch die dichten Laubkronen der rauschenden Bäume drang kaum Licht. Vorsichtig rüttelte er an dem zweiflügligen Portal. »Zu«, hauchte Bolle. »Was dachtest du denn?« »Ach, nichts.« Behende erklommen sie das Tor und sprangen auf der anderen Seite hinunter. Geduckt schlichen sie weiter. Seit der Beerdigung des Vaters hatten sie den Friedhof nicht wieder betreten. Aber Bolle wußte genau, wo das Grab war. Noch zehn Schritte. * Rudis Spaten stieß zuerst auf Holz. Es klang dumpf und hohl. Sie standen auf dem Sarg, in dem die Leiche ihres Erzeugers lag. Bolle bekam eine Gänsehaut. »Wir haben's geschafft«, hauchte er. »Noch nicht ganz«, sagte Rudi. »Wenn wir den Sarg geknackt haben und mit dem Scheinchen über alle Berge sind, dann haben wir's wirklich geschafft.« Derweil hatte sich eine große, grauschwarze Wolke am Himmel breitgemacht. Feiner Nieselregen setzte ein. Nebelschwaden zogen über die Ruhestätten der verstorbenen Wolgaster hinweg. Die Brüder verdoppelten ihre Anstrengungen. Verbissen schaufelten sie die nasse Erde auf einen Haufen neben der Grube. Bolle dachte daran, daß sie nachher den ganzen Batzen wieder hineinschippen mußten. Er zerquetschte einen Fluch. »Halt!« Rudi hob einen Arm. Bolle starrte ihn fragend an. »Was ist denn los?« »Hör mal!« raunte Rudi. »Da kommt doch jemand.« Um ein Haar wäre Bolle der Spaten aus der Hand geglitten. Wurden etwa seine düsteren Vorahnungen wahr? Lauschend 6
reckte er seinen Hals. Der Regen trommelte. Die Bäume rauschten. Aus der Ferne waren Fetzen von Motorgeräuschen zu vernehmen. Aber Schritte? Bolle hörte keine und atmete auf. »Vielleicht sind es Ratten.« sagte er. »Still doch!« Rudi stand stocksteif. Bolle zeigte auf die Taschenlampe, die am Rand der Grube lag und ihr finsteres Treiben spärlich erhellte. »Soll ich mal die Gegend ableuchten?« fragte er seinen Bruder. Rudi tippte sich an die Stirn. »Dann kannst du ja gleich in die Runde rufen, daß wir unseren Alten ausbuddeln.« Nachdem er eine Zeitlang reglos dagestanden hatte, winkte er ab. »Muß mich geirrt haben«, sagte er. »Schuld ist dein blödsinniges Gelaber über leichenfressende Erdwürmer und solchen hirnverbrannten Käse. - Los, weiter jetzt! Sonst werden wir nie fertig.« Bolle kratzte mit dem Spaten die Erde beiseite, die den Verschluß des Sarges umgab. Dann ging er in die Hocke und rüttelte am Schloß. »Wir hätten eine Zange oder einen Bolzenschneider mitnehmen sollen«, sagte er zu Rudi. »Hast du gewußt, daß man Särge wie Haustüren zusperrt?« Rudi gab keine Antwort. Er nahm die Taschenlampe vom Grubenrand und drückte sie dem Jüngeren in die Hand. Während Bolle leuchtete, hob Rudi mit beiden Händen den Spaten bis über seinen Kopf. Wuchtig ließ er ihn auf das Schloß hinabsausen. Metall knirschte auf Metall. Bolle verzog das Gesicht. Bei diesem häßlichen Ton mußte er sofort an den Zahnarzt denken. Sogleich tat sein zerschundenes Kinn wieder weh. »Kriegst du es auf?« fragte er rauhhalsig. »Schnauze!« zischte Rudi. »Leuchte lieber!« Erneut visierte er sein Ziel an. Bolle sah, wie Rudis Backenknochen vor Anspannung hervortraten. Die Augen des Bruders funkelten. Insgeheim bewunderte Bolle seinen zwei Jahre älteren Bruder. Rudi war ein Original, ein Typ, der vor nichts Angst hatte. Da konnte kommen, was wollte. Rudi behielt die Nerven. 7
Der Spaten donnerte auf die Sargverriegelung. Holz splitterte, Metall wurde verbogen. Triumphierend sah Rudi seinen Bruder an. »Das Ding ist hinüber.« Bolle schluckte. Nur noch wenige Sekunden, dann würden sie in das starre Gesicht ihres Vaters schauen. Er fragte sich, in welchem Zustand der Tote war. Schließlich mußten sie ihn anfassen. Todsicher steckte der Lottoschein in seinem Jackett. Plötzlich sträubten sich Bolles Nackenhaare. Unter seinen Sohlen vibrierte es. Er sah Rudi an. »Merkst du das?« Diesmal sprach auch Rudi mit zittriger Stimme. »Das muß aus der Peenewerft kommen. Dort malochen sie auch nachts. Vielleicht ist ein großes Teil vom Kran geknallt.« Bolle schluckte heftig. Ja, so mußte es sein. Die Erschütterung mußte von der Werft kommen. Woher sonst? Er grinste hilflos. Rudi ballte die Fäuste. »Schluß mit den Albernheiten!« stieß er hervor. »Wir müssen uns konzentrieren. Es geht um die Wurst. Bolle?« »Ja?« »Hol die Tücher raus!« Unter ihren Füßen hatte sich der Boden inzwischen beruhigt. Sie mußten sich tatsächlich getäuscht haben. Dennoch stand Bolle da wie eine Putte aus Sandstein. Der Schreck hatte ihn gelähmt. Seine Gedanken krochen träge durch seinen Schädel. Rudi stieß ihm den Ellbogen in die Seite. »Die Tücher, du Wurmgläubiger!« schnauzte er. »Oder willst du umkippen, wenn ich den Deckel hochklappe? Unser Alter hat zwar schon immer gerochen wie 'n Skunk, aber jetzt ist er - am Verwesen. Da hilft nicht mal ein Wassereimer voll 4711. - Los, rück die Tücher raus!« Zögernd löste sich Bolles Erstarrung. Er knöpfte seinen Parka auf, griff in die Innentasche und zog zwei zerknitterte Baumwollwindeln hervor. Ohne viel Federlesens packte Rudi die eine und schlang sie sich um die untere Gesichtshälfte. Aufmunternd reckte er einen Daumen in die Luft. Bolle folgte dem Beispiel seines Bruders: Schaudernd wickelte er sich die Windel um und knüpfte sie sich im Nacken zusammen. 8
Der Regen war stärker geworden. Fette Tropfen prasselten auf den freigeschaufelten Sarg. Bolles Stimmung sank auf den Nullpunkt. Die Aussicht, geschäftig an der verwesenden Leiche seines Vaters zu werkeln, erfüllte ihn mit grenzenloser Abscheu. Am liebsten wäre er aus der Grube geklettert und davongelaufen. Er hätte sogar auf das viele Geld verzichtet. »Leuchte!« befahl Rudi. Das Tuch vor seinem Mund dämpfte die Sprache. Bolle gehorchte. Er trat beiseite, quetschte sich an den Rand der Grube, so daß Rudi problemlos den Deckel öffnen konnte. Die kalte Erde drückte gegen seinen Rücken. Zitternd senkte sich der runde Lichtfinger der Stablampe auf den Sargdeckel. Rudi bückte sich. Er ließ sich auf Hände und Knie nieder. Energisch rüttelte er am Verschluß, so lange, bis die Scharniere nachgaben. Dann war der Sarg offen! Die beiden waren so gut wie am Ziel. Ein Anfall abergläubischer Furcht galoppierte durch Bolles Körper. Der Strahl seiner Lampe tanzte unruhig hin und her. »Stillhalten, Bolle!« raunte Rudi, ohne aufzusehen. »Wenn ich den Deckel hochhebe, leuchtest dem Alten direkt auf die Brustpartie. Okay?« »Okay.« Bolles Puls hämmerte. Sein Bruder schickte sich an, den schweren Deckel zu lüften. Mittlerweile floß das Wasser ungehemmt über ihre Gesichter und durchnäßte Parka und Jeans. In der Ferne rollte Donner; in Kürze würde es ein heftiges Gewitter geben. Bolle hielt den Atem an, als sich der Sargdeckel knarrend hob. Er schloß die Augen. Da dröhnte ein erstickter Schrei durch die Grube. Rudis Schrei! Gleichzeitig polterte es ohrenbetäubend durch den prasselnden Regen. Wieso hatte Rudi den Deckel fallen lassen? Bolle riß die Augen auf, sah, wie der große Bruder zurückprallte. Rudi preßte sich an den Grubenrand. Er zitterte am ganzen Körper. Die Windel, mit der er sein Gesicht verhüllt hatte, war verrutscht, hing nun schlaff herunter wie ein Segel bei Flaute. »Was ist passiert?« Bolle schüttelte sich. 9
Die Grube war von ätzendem Verwesungsgeruch erfüllt, und das Gesicht des älteren Bruders hatte die Farbe von verfaultem Harzer Käse. »Der Alte«, stammelte Rudi. »Der Alte.« »Was ist mit dem Alten?« Bolle schauderte. Was konnte seinem hartgesottenen Bruder dermaßen zugesetzt haben? Er sah ja aus wie Gevatter Tod persönlich. »Was ist mit ihm? Red schon, Rudi!« Der Bruder stierte glotzäugig auf den zugefallenen Sargdeckel. Als wolle er nicht glauben, was er eben gesehen hatte, schüttelte er unablässig den Kopf. Dann, mit einem Ruck, riß er sich zusammen. Er sah Bolle an. »Er ist total - verstümmelt«, keuchte er. »Im Sarg liegt nur noch ein Klumpen Fleisch.« »Waaas?!« Rudi nickte. »Der paßt in jede Aldi-Tüte.« »Aber der Lottoschein! Was ist mit dem Lottoschein?« »Den können wir abhaken.« Mehr und mehr gewann Rudi seine Kaltblütigkeit zurück. »Oder denkst du, ich klaube mit bloßen Händen in seinen Eingeweiden herum?« Bolle lief es kalt über den Rücken. Schnell nahm er den Lichtstrahl vom Sarg, leuchtete woandershin. »Und?« flüsterte er. »Was machen wir jetzt?« »Was schon? Abhauen, mein Junge.« Endlich war Rudi wieder der alte. »Wir schütten das Grab wieder zu - und dann ab die Post - im gestreckten Schweinsgalopp.« Bolle war gerade im Begriff, erleichtert aufzuatmen, da vibrierte der hölzerne Boden unter ihren Füßen erneut. Diesmal noch stärker als zuvor. Der Achtzehnjährige spürte genau, daß sich direkt unter ihm etwas bewegte. Zudem perlten die Regentropfen auf dem Sarg plötzlich alle in dieselbe Richtung! Die Holzkiste stand jetzt schräg. Bolle staunte Bauklötze. Die Erkenntnis fuhr wie ein Blitzstrahl in seinen Kopf: Die Ursache war beileibe kein heruntergefallenes Teil in der nahegelegenen Werft. Nein, das Vibrieren hatte einen anderen Grund. Und zwar unter ihnen. Sie hatten die Gefahr, in der sie schwebten, völlig unterschätzt! »Rudi!« kreischte Bolle. »Hauen wir ab!« Zu spät. 10
Der Sarg, auf dem sie standen, sackte schmatzend unter ihnen weg, als stünde er auf feinkörnigem Treibsand. Es klirrte, als Bolle die Stablampe aus der Hand fiel. Pechschwarze Nacht, schier übermächtig wie gigantische Fledermausflügel, breitete sich in atemberaubendem Tempo aus. Im Handumdrehen verkleinerte sich der Himmel über ihnen auf die Größe eines Bierdeckels. Die Grubenwände begannen zu bröckeln. Glibbrige Muttererde klatschte auf ihre Köpfe, rieselte ihnen in den Nacken, in Ohren, Mund und Nase. Schreiend krallten sich Bolle und Rudi in die Wand. Zwecklos. Die weiche Erde bot keinen Halt. Unaufhörlich ging es abwärts. Ein Sog, unsichtbar und doch allmächtig, zog sie erbarmungslos in die Tiefe. Ihre Münder füllten sich mit bestialisch stinkender Erde. Sie spuckten. Ohne großen Erfolg. Sie brüllten, doch niemand konnte sie hören. Irgendwann erscholl schauerliches Geheul aus der Tiefe und übertönte ihre Angstschreie. Ungeheuer, seit Tausenden von Jahren verflucht und von der Erde verbannt, schienen mit einemmal aus ihren Schächten zu wollen, als witterten sie frisches, zartes Menschenfleisch, mit dem sie ihren unersättlichen Hunger stillen konnten. Die Hölle! Das war Bolles letzter Gedanke. Willkommen im Reich der Verdammten! Dann füllte sich sein Mund vollständig mit Erde. Bolle hustete, japste nach Luft. Es gab aber keine mehr. Sie war der übelriechenden, ekelhaft schmeckenden Erde gewichen. * Pit Langenbach sah müde aus. Seine Augen waren dunkel umrandet, sein Blick verschwommen. Er stand im hinteren Teil von Karina Wildts Wohnzimmer und war damit beschäftigt, die Hausherrin auf die Palme zu bringen. »Offenbar haben Ihre Poltergeister das Zeitliche gesegnet«, sagte er. »Frau Wildt, wir haben Ihre Wohnung jetzt glatte zwei Wochen observiert. Meine Leute kennen jede Ihrer Hausmilben mit Vornamen. Jedes Staubkorn haben wir unter die Lupe 11
genommen. Bloß gefunden haben wir nichts.« Ich stand an der Tür und tat teilnahmslos. »Wenn Sie nichts finden, dafür kann ich nichts«, fauchte Karina Wildt. »Jedenfalls spukt es bei mir. Dauernd fällt Geschirr aus den Regalen. Nachts bullert es an die Wand, daß einem himmelangst und bange wird. Sagen Sie nicht, das sei normal. Meine Bekannten haben es Ihnen ja wohl bestätigt, Herr Dr. Wolfram und Frau Sanitätsrat Schüttauf. Und Sie? Tun geradewegs so, als hätte ich alles nur geträumt.« Karina Wildt war eine gertenschlanke Brünette Ende Zwanzig. Sie war tadellos gepflegt. Ihre langen, dunkel lackierten Fingernägel glänzten. Frau Wildt trug ein enganliegendes, mintfarbenes Kostüm und bemühte sich erfolglos, intelligent dreinzuschauen. Die Ehefrau des Politikers hielt uns bereits seit einer ganzen Weile in Atem. Sie behauptete steif und fest, in ihrer Wohnung trieben bösartige Geister ihr Unwesen. Doch mein Silberring, der dämonische Aktivitäten anzeigte, hatte nicht reagiert. Ein sicheres Zeichen dafür, daß alles paletti war. Karina Wildt bildete sich den ganzen Zinnober bloß ein. Doch es war schwer, der überaus selbstbewußten Dame ihren Irrtum klarzumachen. Pit ließ sich nicht die Butter vom Brot nehmen. »Frau Wildt«, sagte er eindringlich. »Sie können mir nicht vorwerfen, ich hätte nicht die notwendigen Maßnahmen ergriffen. Aber jetzt muß ich die Aktion stoppen. Ich brauche meine Männer anderswo. Sie sind Polizisten, keine Geisterbanner.« Während Pit weiter mit der Hausherrin stritt, sah ich mich gelangweilt um. Am auffälligsten im Wildtschen Wohnzimmer war die unübertreffliche Geschmacklosigkeit, die hier vorherrschte. An den Wänden klebten giftgrüne Seidentapeten mit kinderkopfgroßen Blumenornamenten. Vor den zwei Fenstern hingen schwere Vorhänge aus türkisfarbenem Samt. Wo man auch hinschaute, standen antike Möbelstücke: Biedermeier, Rokoko, Jugendstil. Alles war zuhauf vorhanden. Der geballte Luxus erdrückte einen geradezu. Die liebevoll ordnende Hand fehlte jedoch völlig. Auch Prunk kann armselig wirken. Das beste Beispiel hatte ich gerade vor Augen. »Ich werde mich über Sie beschweren«, sagte Karina Wildt mit spitzem Mund. »Ihr Name ist Langenfeld, nicht wahr?« 12
»Hauptkommissar Langenbach«, berichtigte Pit. Die Frau hob ihre gezupften Augenbrauen. »Wie auch immer, mein Herr. Sie werden von mir hören. Noch heute abend werde ich meinen Gatten von Ihrer Entscheidung in Kenntnis setzen. Er wird umgehend die erforderlichen Schritte gegen Sie einleiten.« Pit nickte. »Bitte - wenn er nichts Wichtigeres zu tun hat.« Der sinnlosen Diskussion überdrüssig, wandte sich Pit Langenbach verärgert ab. Er nickte der Hausherrin kurz zu. Dann gab er mir ein stummes Zeichen. Wir gingen. Hinter uns donnerte Frau Wildt die Tür ins Schloß. Hauptkommissar Langenbach gab dem Schutzpolizisten, der uns begleitete, die Anweisung, zur Dienststelle zurückzukehren. Der Mann legte grüßend zwei Finger an die Mütze und machte sich auf die Socken. Als wir im parfümierten Treppenhaus der Villa standen, holte mein Freund tief Luft und zwirbelte an seinem Schnauzbart. Vielsagend blinzelte er mich an. »Laß mich raten«, feixte ich. »Du hast Appetit auf ein Zigarillo und ein gepflegtes Pils. Stimmt's - oder habe ich recht?« »Voll ins Schwarze getroffen«, erklärte Pit. »Hausbesuche bei unbefriedigten Hausfrauen können schweißtreibender sein als Verfolgungsjagden auf Serienkiller.« »Oder Kämpfe mit blutrünstigen Dämonen«, ergänzte ich. Pit lachte. »Ich kann's kaum erwarten, mir 'ne wohltemperierte Molle hinter die Binde zu kippen.« Gutgelaunt schlug ich Pit auf die Schulter. »Wohlan, mein Freund. Verlieren wir also keine Zeit.« Wenig später saßen wir im Biergarten eines bekannten Weimarer Lokals. Über uns rauschten die Wipfel knorriger Eichen. Fröhlich zwitscherten Vögel im Geäst. Vor uns, auf dem Tisch, schäumten die Kronen perfekt gezapften Pilseners. Grinsend schwenkten wir die Bierhumpen. Es war ein sonniger Tag. Der Himmel war von einem leuchtenden Blau. Alles um uns herum wirkte friedlich und voller Leben. »Was hältst du von der Wildt?« fragte mich Pit. Er saß mir gegenüber, eine Hand um den Bierhumpen gelegt, 13
paffte genüßlich und sah mich forschend an. »Sie scheint Opfer der Mystery-Welle zu sein, die gerade grassiert«, antwortete ich. »Schalte doch nur mal die Glotze ein! Fast jeder Sender hat seine eigenen Geister.« »Leider komm ich kaum dazu, mir was anzusehen«, seufzte Pit. Dann grinste er breit. »Meine Susanne würde mir die Ohren langziehen, wenn ich meine knappe Freizeit mit dem Fernseher statt mit ihr verbringen würde.« In Gedanken sah ich Pits Frau vor mir, Susanne, eine bildhübsche Blondine, mit sinnlich dreinblickenden Augen - und Kurven, die einem glattweg den Atem stocken ließen. Schnell trank ich einen Schluck Bier. Ich hatte Susanne mal etwas näher kennengelernt. Nein, nicht so, man hatte sie auf mich angesetzt, trotzdem weiß ich seither, was für ein Superweib mein Freund zur Frau hat. Aber lest es doch selbst nach. (Siehe MH 8: Das Blutgericht von Jena) »Möglicherweise glaubt die Wildt tatsächlich, in ihrem Gehöft geht ein Poltergeist um«, sagte ich dann. Pit nickte. »Gar nicht so abwegig. Sie scheint viel allein zu sein und mit ihrer Einsamkeit nicht fertigzuwerden.« Nachdenklich klopfte Pit die Asche seines Zigarillo ab. »Ich hab mit ihren Nachbarn gesprochen. Einer flüsterte mir, die Wildt hätte einen Faible fürs Okkulte.« »Nanu? Wie kommt er darauf?« »Naja. Er glaubt, durch ihr Wohnzimmerfenster gesehen zu haben, daß sie Seancen abhält.« »Womöglich mit Frau Sanitätsrat Schüttauf als Medium, was?« »Warum nicht, Mark?« Pit blieb ernst. »Uns sieht ja auch keiner an, daß wir uns mit überirdischen Phänomenen herumschlagen. Wirf doch mal 'nen Blick in den Spiegel! Wie Dr. van Helsing oder Professor Ambrosius siehst du nicht gerade aus.« »Ich weiß, ich weiß«, winkte ich ab. »Auf dich wirke ich eher wie der Nikolaus, nicht wahr?« »Da liegst du gar nicht so verkehrt«, griente Pit. Immer das alte Lied, dachte ich. Pit Langenbach war bekannt dafür, daß er mich gelegentlich mit meinem zweiten Vornamen aufzog - Nikolaus - und von wegen dem Sack auf dem Rücken und so. Doch allmählich hatte ich mich daran gewöhnt. Die Tische um uns herum füllten sich langsam. Ich schaute auf die Uhr. Es war halb sieben, abends. 14
»Um noch einmal auf Karina Wildt zurückzukommen«, unterbrach Pit das Schweigen, »hast du gewußt, daß sie...?« Mein Handy meldete sich. »Max Unruh?« tippte Pit sogleich. Er meinte den Chefredakteur der Weimarer Rundschau, für die ich noch immer schrieb. »Nein. Es ist Ulrich«, raunte ich leise. Ich hatte ein ungutes Gefühl. Wenn mein Adoptivvater anrief, war immer etwas im Busch. Er beschäftigte sich seit Jahren intensiv mit überirdischen Phänomenen, reiste zu OkkultistenKongressen in der ganzen Welt und besaß Verbindungen zu den berühmtesten Parapsychologen. Er gab mir auch den magischen Ring. »Hallo, Vater?« Ulrichs Stimme klang erregt. »Mark«, sagte er. »Ich weiß nicht, wo du bist. Aber hast du Zeit, nach Land-Med zu kommen? Es ist dringend.« »Was ist passiert?« erkundigte ich mich. Vater schwieg eine Zeitlang. »In Wolgast ist der Teufel los«, sagte er dann. »Ich denke, es gibt für dich allerhand zu tun.« »Ein neuer Fall also.« »Ja, Mark. Das Böse schläft nie.« »Schwarzblüter?« fragte ich und sah, wie Pit Langenbach sogleich seine Ohren spitzte. Ulrichs Antwort kam sehr leise. Aber sie stach wie eine heiße Nadel in mein empfindliches Trommelfell. »Denke ja.« »Und? Was ist es diesmal?« »Ich tippe auf - Wiedergänger.« Trotz der angenehmen Außentemperatur strich ein kalter Hauch über meinen Rücken. Wiedergänger! Zombies! Untote Menschen, die, warum auch immer, ihr Grab verließen und unter dem Mantel der Nacht ihre quicklebendigen Angehörigen aufsuchten. Um sie auf unsagbar gräßliche Weise zu massakrieren. »Gab es schon Opfer?« hauchte ich ins Handy. »Ja. Es gab welche. Sie sehen entsetzlich aus. Verstümmelt, geradezu zerrissen. Mark, die Zeit drängt! Wir müssen sofort handeln. Komm nach Hause, dann besprechen wir die Einzelheiten.« »Okay, Vater. Bin schon unterwegs.« Hastig verstaute ich das Handy. Ich winkte nach der Serviererin, bezahlte unsere Zeche und holte die Autoschlüssel aus der Hosentasche. Dann trabten wir los. Eine Minute später saß ich bereits hinter dem Lenkrad meines 15
BMWs. Pit hockte auf dem Beifahrersitz und zupfte nervös an seinen Schnauzbartenden. Ich hörte, wie er leise vor sich hinmurmelte. Er war leichenblaß geworden. Von einer Sekunde zur anderen wirkte der sonnige Tag nicht mehr so friedvoll und voller Leben. Das Dämonische hatte Einzug gehalten. Es streckte seine widerwärtigen Klauen aus. * Kuddl Morseck rümpfte die Nase. »Hier drin stinkt's wie in einer Leichengruft«, sagte er. Rolf Teske, sein Kumpan, nickte. »Dachte auch, in 'nem Laden, wo Textilien verhökert werden, riecht's anders.« Die beiden jugendlichen Einbrecher tappten durch das dunkle Ladenlokal. Der dünne Strahl einer Taschenlampe wies ihnen den Weg. »Wir sollten auch 'n paar Jeans mitgehen lassen«, schlug Teske vor. »Meine alten gehen schon aus dem Leim.« »Später«, brummte Morseck. »Zuerst klauen wir das Bare.« Teske kicherte. »Wieso lachst du?« fragte Morseck griesgrämig. »Ich mußte an was denken.« »An deine Trulla? Die mit den dünnen Beinen?« Teske prustete. »Quatsch! Mir fiel ein, daß ich mir von dem Zaster, den wir heute nacht mitgehen lassen, morgen neue Klamotten kaufe. Ich finde das voll geil.« »Was, wenn die Scheinchen gezinkt sind?« raunte Morseck. »Dann haben sie dich am Kanthaken, du Pfeife!« Teske zog die Nase kraus. »Hm, daran hab ich gar nicht gedacht.« »Weil du ein Idiot bist.« »Das nimmst du sofort zurück.« Wütend stieß Teske dem Kumpel in die Seite. »He, Kuddl! Hast du Dreck in den Ohren?« »Pst! Gib Ruhe, Alter«, sagte Morseck ungerührt. »Lärm kannst du machen, wenn wir verduftet sind.« Sie umrundeten die Ladentheke. Morseck leuchtete nach der Schublade. Er hatte ausbaldowert, daß die vertrauensselige Besitzerin des Geschäfts ihre Einnahmen erst am folgenden Tag 16
zur Bank brachte. Das hatte ihn auf die Idee gebracht. »Das Brecheisen«, forderte er. Teske stand neben einer lebensgroßen Schaufensterpuppe. Sie hatte ein hübsches Gesicht, lange blonde Haare und trug ein weit ausgeschnittenes Abendkleid. Grinsend griff Teske in das Dekollete und befühlte die fraulichen Rundungen der Puppe. »Du mußt noch ein paar Jahre auf die Koppel, meine Süße«, sagte er zu ihr. »Du bist ja noch unterentwickelt.« »Gib mir endlich das Brecheisen!« schnaufte Morseck grimmig. Es tat ihm schon leid, ausgerechnet den unterbelichteten Teske als Komplizen mitgenommen zu haben. Rudi Bohlemann wäre der geeigneter Bursche gewesen. Aber der schien sich seit gestern in Luft aufgelöst zu haben. Auch Bolle, Rudis Bruder, war untergetaucht. Weiß der Henker, was die beiden auf dem Kerbholz haben. Kuddl Morseck starrte Teske an. »Na? Wird's bald!« Zögernd zog Rolf Teske die Hand aus dem Dekollete. Er griff in den schmutzstarrenden Leinenbeutel, den er bei sich hatte, und reichte seinem Spießgesellen das Werkzeug. Morseck riß es ihm aus der Hand. Während er an der versperrten Schublade werkelte, fragte er sich, wieso die Hintertür, durch die sie ins Geschäft gelangt waren, nicht verriegelt gewesen war. Maren Schulz, die Inhaberin der Boutique, galt zwar als überaus leichtfertig, aber die Tür sperrangelweit aufzulassen? Das ging sogar ihm über die Hutschnur. Kuddl Morseck war nicht voll bei der Sache. Der erste Aufbruchsversuch schlug fehl. Das Eisen rutschte ab und schabte ratschend über die Blende der Schublade. Es splitterte, und ein häßlicher, heller Streifen blieb auf dem Furnier zurück. »Shit!« Wütend trat er mit einem Fuß gegen den Verkaufstresen. »Soll ich mal?« fragte Teske. »Paß lieber auf, daß uns keiner überrascht. Ich krieg das Ding hier schon auf. Verlaß dich drauf!« »Wie du willst«, entgegnete Teske matt. Er schnupperte angewidert. Irgendwas stimmt hier nicht, grübelte er. Zuerst steht die Hintertür offen. Dann stinkt's wie verrückt nach Aas. Ich freß 'nen Besen, wenn hier nicht was oberfaul ist. 17
Er wandte sich an seinen Kumpel. »Ich sehe mich mal um, Kuddl. Okay?« Morseck nickte. »Stehst sowieso bloß dusselig rum.« Rolf Teske verließ den Platz hinter der Theke und tappte in den hinteren Teil des Geschäfts. Er hatte keine Lampe bei sich und nahm die Umrisse der Regale und Schauvitrinen nur schemenhaft wahr. Hier hinten war der Gestank besonders penetrant. Teske hielt sich die Nase zu. Vor einem geöffneten, altertümlichen Schrank, in dem Mäntel und Jacken auf dem Bügel hingen, blieb er stehen. Er steckte seinen Riechkolben hinein. »Puh!« So rochen doch keine Klamotten! Brechreiz überfiel ihn. Teske pumpte Luft, und ihm gelang es, Schlimmeres zu verhindern. Der Gestank muß doch eine Ursache haben, sagte er sich. Kein Rauch ohne Feuer. Aber wo, war das Feuer? Er beschloß, der Sache auf den Grund zu gehen. Vielleicht war Maren Schulz gar nicht so vornehm, wie sie immer tat, und sie züchtete heimlich dicke, fette Ratten im Keller. Teske unterdrückte bei diesem Gedanken ein Kichern. Mehr und mehr gewöhnten sich seine Augen an die Dunkelheit. Im unteren Teil des Schrankes konnte er undeutlich etwas Dunkles erkennen. Es sah fast aus, als würde dort ein langschäftiger Fischerstiefel liegen. Teske schluckte. Plötzlich hörte er sein Herz pochen. Sein Herzschlag schien lauter als die schabenden Geräusche, die Kuddl Morseck mit dem Brecheisen machte. Teske überlegte kurz. Seine Neugierde siegte über die lähmende Angst, die in ihm aufstieg. Er bückte sich. Mit beiden Händen tastete er über den Schrankboden, bis er etwas Zähflüssiges, Wabbliges an seinen Fingerspitzen spürte. Es fühlte sich an, als hätte er in einen Topf Sülze gefaßt, die noch nicht erstarrt war. Rolf Teske fuhr ein mörderischer Schreck durch die Glieder. Blitzartig zuckte er zurück, schnellte in die Höhe und stolperte ein paar Schritte beiseite. Ein Hocker, der ihm im Weg stand, fiel um und rollte scheppernd über die Holzdielen. »Bist du verrückt?« schnauzte Kuddl Morseck. »Hier solchen 18
Radau zu machen!« »Kuddl«, quäkte Teske. »Komm mal schnell her! Hier unten im Schrank liegt wa - was!« »Natürlich liegt da was. Wir sind in einem Geschäft. Da liegt überall was.« Rolf Teske schüttelte sich wie ein Hund, der ins Wasser gefallen war. »Kuddl!« preßte er hervor. »Ich glaube, da liegt eine Leiche.« Vor Schreck rutschte Morseck das Brecheisen aus der Hand. Polternd fiel es zu Boden. Er richtete fluchend den Strahl seiner Stablampe auf den zur Ölgötze erstarrten Komplizen. Teske war leichenblaß. Sein pausbäckiges Gesicht wirkte wie eingefroren. Die langen, struppigen Haare, die auf seinem Kopf wucherten, sahen plötzlich aus wie frisch toupiert. Morseck schauderte. »Im Ernst, Alter?« flüsterte er. »Wenn du es nicht glaubst, komm doch her und leuchte in den Schrank.« Morseck ließ von der störrischen Schublade ab. Auf Zehenspitzen ging er auf Teske zu. Für eine Sekunde erhellte gleißendes Scheinwerferlicht das Innere des Geschäfts. Die beiden Einbrecher verharrten regungslos. Dann war das Auto vorbeigefahren. Morseck schlich weiter. Eine Leiche? überlegte er. Vielleicht Maren Schulz? Stand die Hintertür offen, weil man sie ermordet hatte? Er hielt den Atem an. Der gelbliche Strahl der Lampe senkte sich auf den Schrank, glitt über die aufgehängten Kleidungsstücke und weiter bis auf den Boden. Jetzt sahen sie es genau. »Es ist ein Arm«, sagte Teske tonlos. Morseck nickte stumm. Das Licht der Taschenlampe beleuchtete tatsächlich einen nackten, menschlichen Arm. Er schien jemandem mit brachialer Gewalt abgerissen worden sein. Die zerfetzten Sehnen und Adern wiesen jedenfalls darauf hin. Das Kugelgelenk dagegen schien unversehrt. Es war blitzblank und fiel dadurch sofort auf. »Leuchte mal auf die Hand«, sagte Teske. Der Strahl wanderte zu den Fingern. Morseck sah es sofort. Die Hand war nicht die eines Mannes. Sie 19
war klein, blutverkrustet und hatte sich in ihrer letzten Bewegung verzweifelt zur Faust geballt. Der kleine Finger war gebrochen und unnatürlich weit abgespreizt. Ein dünner Goldring mit grünem Stein glitzerte daran. »Der Ring«, keuchte Morseck. »Ich kenne ihn. Maren Schulz hatte so einen.« Er wandte sich erschüttert ab, knipste die Stablampe aus und zog Teske am Ärmel. »Verduften wir«, sagte er. »Sonst denkt noch jemand, wir hätten was mit dieser Sauerei zu tun.« Teske stand noch immer wie einbetoniert. Sein Gesicht war ein einziges Fragezeichen. Nur langsam kamen seine Gehirnwindungen wieder in Gang. »Das ergibt alles keinen Sinn«, meinte er. »Kein Mensch hat die Kraft, einem anderen den Arm auszureißen. Und wenn doch, wieso liegt das Teil hier im Schrank und nicht irgendwo versteckt? Mensch, Kuddl!« Ein anderer Gedanke ließ seine Augen vor Entsetzen rund werden. »Was hast du?« »Zum Henker!« raunte Teske. »Maren. Wo steckt eigentlich der Rest von ihr?« Für einen Augenblick flackerte Morsecks Blick. Vor seinem geistigen Auge tauchte die hochgewachsene, langbeinige Maren Schulz auf. Die attraktive, junge Frau stand hinter dem Ladentisch und blätterte in einer Illustrierten. Da drang das Geräusch von schlurfenden Schritten durch die Boutique. Ein Kunde kam. Lächelnd blickte Maren auf. Ihr Lächeln gefror. Der Unbekannte langte über die Theke und packte grob ihren Arm. Maren schrie. Der eiserne Griff tat ihr weh. Aber der Fremde ließ nicht los. Im Gegenteil. Mit aller Kraft schleuderte er die Boutiquebesitzerin an ihrem Arm durch die Luft. Dann gab es ein schauerlich anzuhörendes Geräusch, als würde der Sturm einen starken Ast von einem Baum abbrechen. Blut spritzte bis an die Decke, besprenkelte die aufgetürmte Ware ringsum. »Arme Maren«, sagte Morseck. »So einen grausamen Tod hat sie nicht verdient.« Teske hüstelte. »Wer hat es schon verdient, auf diese Weise zu sterben. Ich frage mich, welche fiese Ratte dazu fähig war. Der muß doch total kaputt sein.« Plötzlich ging ein Ruck durch Morsecks Körper. Er knipste die Taschenlampe an, vermied es aber, den Strahl auf den grausigen 20
Fund zu richten. Sein Kumpan sah ihn erstaunt an. »Was hast du vor, Kuddl?« »Wie spät ist es?« fragte Morseck. »Halb drei.« »Okay, ein paar Minuten haben wir noch. Werfen wir einen Blick in den Keller. Ich hab's im Urin, daß wir da unten was aufgabeln, das sehr interessant ist.« Teske rollte mit den Augen. »In den Keller willst du?« »Wir sind das Maren schuldig«, sagte Morseck schlicht. »Wollen wir nicht lieber die Polente.?« »Ich hab gesagt, wir sind es ihr schuldig!« Wild entschlossen packte Morseck das Brecheisen. Er ließ es demonstrativ durch die Luft pfeifen. Dann gab er Rolf Teske einen Wink. Bedächtigen Schrittes verließen die beiden Einbrecher den Verkaufsraum. Während sie die wurmstichige Treppe in den Keller hinabstiegen, schossen die wunderlichsten Gedanken durch Morsecks Kopf. Was, wenn es kein Mensch war, der die Boutiquebesitzerin getötet hatte? Vielleicht war es ein ausgebrochenes Raubtier aus dem Zoo im Tannenkamp? Rasch verwarf er den Gedanken. Das wäre aufgefallen, wenn ein Wolf oder eine Raubkatze durch die Wolgaster Straßen geschlichen wäre. In einer Kleinstadt wie ihrer blieb den Einwohnern kaum etwas verborgen. Irgendwer lauerte immer hinter der Gardine. Also doch ein Mensch? Auf halbem Wege ließ er den Lichtstrahl über Treppe, Wände und die Plattform am Ende der Treppe wandern. Aber es gab weder Blutspuren noch andere Anhaltspunkte. Bis auf den irrwitzigen Aasgestank, der ihnen mit einemmal wieder um die Nasen strich. Auf der unteren Plattform blieben sie stehen. In der weißgetünchten Wand gegenüber der Treppe gab es zwei Türen, die offenbar in unterirdische Lagerräume führten. Morseck leuchtete sie nacheinander an. Er überlegte, welche der beiden er öffnen sollte. Nach kurzem Nachdenken entschied er sich aufs Geratewohl für die rechte. Kalter Schweiß brach ihm aus den Poren, als er langsam die Klinke runterdrückte. Die Tür war nicht verschlossen. Sie quietschte jedoch in den Angeln. »Kuddl, laß uns abhauen«, flüsterte Teske hinter ihm. »Ich hab 21
so ein verdammt beschissenes Gefühl.« Morseck reagierte nicht. Auch er war zutiefst beunruhigt. Alles um sie herum wirkte bedrohlich wie ein gräßlich realistischer Alptraum. Aber er wollte nicht sang- und klanglos verschwinden. Die Abenteuerlust hatte ihn gepackt. Mit Haut und Haaren. Wann gab es in Wolgast schon mal einen deftigen Nervenkitzel? Der Strahl der Taschenlampe glitt in den Raum. Der zittrige Lichtfinger erhellte einige ausrangierte Möbelstücke, zusammengerollte Teppiche, einen Ballen Linoleum, einen runden Tisch mit abgeblätterter Platte, einen riesigen Kleiderschrank, dem eine Tür fehlte. »Ein Abstellraum«, wisperte Teske. »Hier gibt's bloß Gerumpel. Sonst nichts.« Morseck öffnete den Mund, um etwas zu sagen, da war in nächster Nähe ein leises Scharren zu hören. »Da ist einer!« stöhnte Teske. »Ich hab's genau gehört.« Morseck schaltete die Lampe aus. Undurchdringliche Dunkelheit umgab sie. Das Geräusch war verschwunden. Sie lauschten mit angehaltenem Atem. Die Augen hatten sie weit aufgerissen, ohne jedoch irgend etwas erkennen zu können. »Es ist von nebenan gekommen«, sagte Teske leise. »Kuddl, wir sollten die Kurve kratzen. Noch ist es Zeit!« »Abhauen können wir immer noch.« Morseck knipste die Stablampe an. »Aber vorher will ich noch den anderen Raum unter die Lupe nehmen.« »Ohne mich!« Teske wandte sich brüsk ab und tastete sich in Richtung Kellertreppe vor. Das Scharren ertönte erneut. Diesmal ließ Kuddl Morseck das Licht an. Während Teske mitten in der Bewegung erstarrte, schwang er den Lichtstrahl in Richtung Tür. Von Teskes angstverzerrtem Gesicht glitt das Licht durch den Türspalt und weiter bis auf die Plattform. »Das müssen Ratten sein.« Morseck tappte an dem anderen vorbei, ging durch die Tür und blieb lauschend vor der zweiten Kellertür stehen. »In der Nähe gibt es die Getreidespeicher. Ein Schlaraffenland für Ratten. Was meinst du, Rolf?« »Gar nichts«, keuchte Teske. »Ich mach mich dünne. Bye-bye.« Er stieg die Treppe hinauf. »Schißbüx!« rief ihm Kuddl Morseck hinterher. An der Hintertür angelangt, blickte sich Rolf Teske noch einmal um. »Nicht so, Kuddl«, schimpfte er. »Mit der Nummer kannst du 22
heute nicht bei mir landen.« Die Tür knallte, und Kuddl Morseck hörte, wie sich Teskes knirschende Schritte über den Hinterhof entfernten. Jetzt war er allein. Allein? Hinter der rechten Kellertür knisterte es. Wesentlich lauter, als es kurz zuvor gescharrt hatte. Morseck hob das Brecheisen. In den Action-Reißern, die er kannte, rammte der Held jetzt todesmutig mit dem Fuß die Tür auf, sprang wie ein Känguruh in den Raum und erledigte seinen Gegner mit ein paar gutgezielten Karateschlägen. Dann befreite er eine schöne Frau, die ihm sofort schmachtend in die starken Arme sank. Aber er, Morseck, konnte weder Karate, noch war er ein überdurchschnittlich starker Kerl. Zudem wußte er nicht mal, was ihn erwartete, wenn er den geheimnisvollen Raum betrat. Ich werde ebenfalls abhauen, dachte er. Und zwar sofort! Er wirbelte herum - und schrie auf. Auf der Treppe stand jemand! Das fahle Mondlicht, das durch die Scheibe der Hintertür fiel, beleuchtete undeutlich die Umrisse einer abstoßenden Gestalt. Der Kopf war unnatürlich klein, als würde ein Teil davon fehlen. Kleiderfetzen hingen von der Kreatur herunter. Ein Arm baumelte so weit herab, daß er fast die Treppenstufen berührte. Die merkwürdige Gestalt verströmte Verwesungsgeruch, und zwar dermaßen intensiv, daß Morseck instinktiv den Ellbogen hochriß und die Armbeuge an seine Lippen preßte. »Wer, wer bist du?« hauchte er. Er wagte nicht, die Taschenlampe hochzunehmen. Blanker Horror packte ihn. Die Angst preßte ihm die Luft aus den Lungen, fraß sich wie ein Feuer in seine Eingeweide. Die Kreatur stieß einen gurgelnden Laut aus. Sie schien ihn aus ihren glanzlosen, toten Augen zu mustern. Morseck packte das Brecheisen fester. Er verfluchte seinen Entschluß, sich nicht rechtzeitig verdrückt zu haben. Jetzt saß er bis zum Hals in der Tinte. Das Ding, das ihm den Fluchtweg versperrte, war ein Zombie. Das war klar wie Kloßbrühe. Morseck kannte Zombies. In unzähligen Horrorfilmen hatte er vor ihnen gezittert. Allerdings im bequemen Kinosessel, während er warmes Popcorn knabberte und hin und wieder einen Schluck trank. Jetzt stand er einem wirklich existierenden Untoten gegenüber! Auge in Auge! Nur ein 23
halbes Dutzend Schritte trennte sie voneinander. Maren. Morsecks Zähne klapperten. Er biß sich auf die Zunge, stöhnte und krallte seine Finger um Brecheisen und Taschenlampe. Die Kreatur bewegte sich. Sie trat auf die nächst tiefere Stufe. Morsecks Selbsterhaltungstrieb erwachte. Seine Gedanken überschlugen sich. Die Tür hinter mir! schoß es ihm durch den Kopf. Ich muß sie verbarrikadieren, wie in der Nacht der lebenden Toten. Ich darf dieses Ungeheuer nicht zu nahe an mich heranlassen. Dann wäre Feierabend, endgültig. Der Zombie tappte einen weiteren Schritt auf ihn zu, wobei er abermals diesen kehligen Laut ausstieß. Wollte er jemandem ein Zeichen geben? Egal! Kuddl Morseck wirbelte um die eigene Achse, sprang mit einem Satz zur linken Tür, riß sie auf, rannte in den Raum und schleuderte die Tür wieder ins Schloß. Dann tastete er nach dem Schlüssel. Vielleicht steckte er innen? Er hatte Glück. Der Schlüssel steckte. Morseck ließ das Schloß zuschnappen. Erleichtert drückte er seine schweißnasse Stirn an das kühle Holz. Er wollte nicht so enden wie Maren Schulz. Ich will leben, verdammt noch mal! Ich bin doch erst neunzehn! Er hörte, wie der Untote draußen die letzten Stufen hinabstieg. Dann wurde vorsichtig die Türklinke betätigt. »Pech gehabt, Alter!« stieß Morseck verzweifelt aus. Einen Atemzug später knisterte es hinter ihm. Morseck brüllte überrascht auf. Er wollte herumfahren, wegrennen, sich verstecken, die eiskalte Hand jedoch, die ihn beim Genick packte, quetschte erbarmungslos das Leben aus ihm heraus. Wider Erwarten gelang es ihm irgendwie, die Totenklaue abzuschütteln. Er riß die Taschenlampe hoch und blendete den hinterhältigen Angreifer. »Rudi!!!« schrie er. »Rudi Bohlemann!« Der Schock, dem einstigen Kumpel in die blutunterlaufenen Glubschaugen zu sehen, lähmte all seine Kräfte. Seine verkrampften Hände öffneten sich. Es schepperte. Das Brecheisen ging zu Boden. Die Taschenlampe folgte. Aber sie blieb in Betrieb. Ihr gelblicher Strahl erhellte das abstoßende Gesicht vor ihm, das eigentlich gar kein Gesicht war. Es ähnelte mehr einer zerhackten, bluttriefenden Fratze, die nichts Menschliches mehr 24
ausstrahlte. Unfähig, sich zu rühren, spürte Kuddl Morseck, wie er beim Schlawittchen gepackt und mit infernalischer Kraft in den hinteren Teil des Kellers geschleudert wurde. Seine Knochen knackten wie Mikadostäbchen, als er auf den Betonboden krachte. Seltsamerweise fühlte er kaum Schmerzen. Starräugig sah er, wie der untote Rudi Bohlemann das Brecheisen aufhob, einen gurgelnden Freudenlaut ausstieß und schlurfend auf ihn zusteuerte. Kuddl Morseck kniff die Augen zu. Schon ertönte der schrecklich surrende Ton der geschwungenen Stahlstange über ihm. Das anschließende, dumpfe Krachen blieb ihm glücklicherweise ebenso erspart wie die Ankunft des zweiten Untoten, der sich zähnefletschend über seinen verkrümmt daliegenden Körper beugte. * Vincent van Euyen war zweiundvierzig, knapp einsachtzig groß und hatte einen Wohlstandsbauch, was daran liegen mochte, daß er permanent Katzenpfötchen in sich hineinstopfte. Er hatte holländische Vorfahren, war wie ich Bildreporter und hatte aus diesem Grund schon häufig mit mir zusammengearbeitet. Den Kontakt hatten wir nie abbrechen lassen, auch wenn ich inzwischen eigene Wege ging und mich deshalb seltener bei Max Unruhs Rundschau blicken ließ. Als Pit Langenbach und ich in Landfried ankamen, saß er mit Ulrich hinter dem Haus. Vincent saugte nervös am Mundstück seiner Pfeife. Vor ihm, auf dem Gartentisch, lag die unvermeidliche Lakritztüte. Wir schüttelten uns die Hände. »Wie geht's, Vincent?« fragte ich ihn beiläufig. Dann wandte ich mich an Ulrich, meinen Vater. »Wo ist Lydia?« »Du kennst doch Mutter«, erwiderte er. »Sie steht in der Küche und macht belegte Brote. Der Abend kann lang werden.« Rasch trabte ich ins Haus, um Mutter zu begrüßen. Als ich wiederkam, klopfte Vincent gerade seine Pfeife aus, während Pit meinen Vater über die Aktion Karina Wildt aufklärte. »Du solltest dich nicht allzu sehr über sie aufregen«, meinte 25
Ulrich. »Ich kenne Karina. Ihr Mann ist ein Filou, wie er im Buche steht. Er hat seine Frau mutterseelenallein in Weimar gelassen. Karinas Mutter ist, in dem Jahr, als ich Mark auffand, bei einem Flugzeugabsturz ums Leben gekommen. Daraufhin hat ihr Vater seine einzige Tochter ins Heim gegeben. Unschöne Angelegenheit.« Pit steckte sich ein Zigarillo an. »Im Grunde tut sie mir auch leid«, gab er zu. »Immerhin hat sie keinem etwas Böses getan.« »Apropos Böses«, sagte ich an Ulrich gewandt. »Am besten, wir reden gleich Klartext.« Ich schnappte mir einen der weißen Plastikstühle, plazierte ihn am Tisch und ließ mich hineinfallen. Vater räusperte sich, strich bedächtig über sein steifes Handgelenk und schaute mir in die Augen. »Wir dürfen nichts überstürzen, Mark«, sagte er ruhig. Am Klang seiner Stimme hörte ich jedoch einen beunruhigenden Unterton. Alarmstufe Eins. Ich faltete die Hände auf dem Tisch. »Wir sollten aber auch keine Zeit vertrödeln. - Danke, Mutter.« Lydia stellte soeben eine große Platte mit belegten Broten auf den Tisch. »Mögt ihr Bier, Mineralwasser? Oder soll ich euch lieber 'ne Kanne Kaffee brühen?« fragte sie, auf mütterliche Art um unser leibliches Wohl besorgt. Wir antworteten gleichzeitig. »Bier«, sagte Vincent. »Kaffee«, wollte Pit. Und ich »Mineralwasser.« Dann schauten wir uns an. Aber keiner lachte. Mutter lächelte gutmütig. Sie rückte ihre Brille zurecht, strich sich das silbergraue Haar aus der Stirn und ging ins Haus zurück. Sie war achtundsechzig und seit einiger Zeit nicht mehr gut zu Fuß. Als sie im Haus verschwunden war, begann Vater seinen Bericht. Er sprach über das legendäre Tier Hyäna, das im Schoße der Erde wohnt und sich ausschließlich von Teilen beerdigter, menschlicher Körper ernähren soll. Ebenso kam er auf den Nachtvogel Strix zu sprechen, dem man nachsagte, einer ähnlich scheußlichen Vorliebe wie Hyäna zu frönen. Dann erwähnte Ulrich Eurynomus, den sagenhaften Fleischwurm, der angeblich bereits zu Pharaos Zeiten die Erde unsicher machte. Ich schüttelte mißbilligend den Kopf. »Glaubst du im Ernst, ein Fabelwesen wie der Vogel Strix ist Schuld am Auftauchen von 26
Wiedergängern in Wolgast?« »Nein, das glaube ich nicht«, sagte Ulrich scharf. »Aber irgendwas Ähnliches muß die Vorfälle ausgelöst haben. Wir müssen unbedingt herausbekommen, was die Ursache ist. Ich zähle nur auf, Mark. Nichts weiter. Kein Verstorbener steht von selbst auf, verläßt sein Grab und beginnt, des Nachts zu wandeln. Dr. Abaringo hat dies bestätigt. Ich habe ihn heute angerufen.« Dr. Paul Abaringo aus Südafrika gehörte zu uns, den Kämpfern gegen das Böse. Vater hatte den Parapsychologen auf einem Okkultisten-Kongreß in Pretoria kennengelernt. Ich nickte grübelnd. »Tja, ich denke, den Auslöser finden wir nur vor Ort. Ich werde meinen Einsatzkoffer überprüfen und mich dann ins Auto schwingen.« Pit Langenbach massierte sein Kinn. »Ich bin natürlich mit von der Partie.« »Und Susanne?« fragte ich. »Wird eine Zeitlang ohne ihren Pit auskommen müssen.« Lydia tauchte auf. Sie trug einen Bastkorb, in dem unsere Getränke standen. »Der Kaffee ist noch nicht durch«, sagte sie entschuldigend. Ulrich reckte seinen Hals und gab ihr einen Kuß. »Danke, mein altes Mädchen.« Lydia gab ihm scherzhaft einen Nasenstüber, bevor sie ging. Nun redete Vater über die Opfer, die das Auftauchen der Zombies gefordert hatte. Ich erschrak, als ich hörte, daß eine Mutter gleich beide Söhne verloren hatte. Die Burschen hatten versucht, das Grab ihres Vaters aufzuschaufeln. »Mein Informant meint, der Vater hätte kurz vor seinem Tod einen Haupttreffer im Lotto gelandet«, erzählte Ulrich. »Aber der Tippschein blieb unauffindbar. Da sind die Brüder nachts auf den Friedhof, um der Sache auf den Grund zu gehen. Sie kehrten jedoch nie vom Friedhof zurück. Deshalb ist auch nicht bekannt, ob sie bei dem Toten den Tippschein gefunden haben.« »Bah!« machte Vincent van Euyen. »Mich würden keine zehn Pferde dazu bringen, die Grube meiner Vorfahren aufzuschaufeln. Schon gar nicht mitten in der Nacht.« »Ist dein Informant glaubwürdig, Ulrich?« fragte Pit dazwischen. Vater nickte. »Hundertprozentig. Ich kenne ihn seit meiner aktiven Zeit; er ist ebenfalls Polizeibeamter. Leider nimmt man seinen Verdacht nicht sehr ernst.« 27
»Gibt es irgendwelche Zeugen?« forschte ich. »Ich meine, Zeugen, die mit eigenen Augen gesehen haben.?« »Ja«, antwortete Ulrich. »Es gibt einen.« Ich hing an Vaters spröden Lippen. »Und? Was hat er gesehen?« »Er ist Kellner, hatte Spätschicht in einem Lokal. Auf dem Nachhauseweg kam er an der Friedhofsmauer entlang. Da wurde er auf ein seltsames, schmatzendes Geräusch aufmerksam. Erst wollte er weggehen, aber seine Neugier war größer als seine Furcht. Er fragte sich, was nachts auf dem Friedhof schmatzen könnte. Kurzerhand sprang er über den Zaun und sperrte Augen und Ohren auf. Schließlich fand er das Grab, aus dem die abscheulichen Töne kamen.« »Nachzehrer?« Ich war baff. Von Ghulen wurde schon in den Märchen von 1001 Nacht erzählt. Aber auch in alten Pommerschen Sagen war häufig die Rede von schmatzenden Toten. Vor der Christianisierung, die über tausend Jahre zurücklag, herrschten im jetzigen Pommern schauererregende Grabsitten. Damals lebten hier noch die heidnischen Slawen. Vor den Toten hatte man seinerzeit furchtbare Angst. Nicht selten beerdigte man die Verstorbenen bäuchlings. Manchen wurde ein Pflock durch den Leib getrieben, der sie buchstäblich im Erdreich festnagelte. Andere wurden enthauptet oder anders verstümmelt. »Was hat dieser Mann noch entdeckt?« fragte ich. »Er schwört Stein und Bein, daß sich die Erde von dem Grab, an dem er stand, bewegt hat. Dazu erklang ein leises, wimmerndes Pfeifen, eine dünne Rauchsäule züngelte aus verschiedenen Erdritzen. Da hat es ihm gelangt. Er ist auf und davon.« Vincent nickte beeindruckt. »Trotzdem, ein tapferer Kerl, dieser Tablettschwinger.« Lydia stellte Pit Langenbach einen rustikalen Kaffeepott vor die Nase und goß ihm Kaffee ein. Sie neigte ihren Kopf und blickte über ihre Brille in unsere Männerrunde. »Wenn ihr nicht gleich anfangt zu essen, nehme ich die Platte wieder mit.« Ihr vorwurfsvoller Blick blieb auf mir hängen. »Mark, gerade ein junger Mensch wie du braucht regelmäßige Mahlzeiten.« »Mutter, ich bin achtundzwanzig!«, schmunzelte ich. Sie stemmte einen Arm in die Seite. »Um so schlimmer, Junge. Also denn, guten Appetit.« 28
Vincent griff als erster zu. »Setzen Sie sich zu uns, Frau Hellmann«, sagte er kauend. »Gemeinsam macht's mehr Spaß!« Mutter schüttelte den Kopf. »Später. Ich will nur schnell das Kapitel von dem Schmöker zu Ende lesen, den mir Ulrich gegeben hat.« »Ein Liebesroman, he?« Vincent kicherte. »Zum Schluß gibt es immer ein Happyend.« »Von wegen«, widersprach Mutter. »Es ist ein sehr gruseliges Buch.« Vincent staunte mit offenem Mund. »Doch nicht etwa ein Horror-Schocker?« »Wieso sollte eine Frau keine Horrorromane lesen? Eine gepflegte Gänsehaut kann einen müden Kreislauf ganz schön anturnen.« »Um was geht es in Ihrem Buch?« wollte Vincent wissen, während er sich einen neuen Bissen von der Platte angelte. Froh, mit jemandem über ihre Lektüre sprechen zu können, trat Mutter einen Schritt auf Vincent van Euyen zu und sagte: »Es geht um zwei junge Männer: Asvitus und Asmundus. Sie waren sich so zugetan, daß sie ein grausiges Bündnis schlossen. Sollte einer von ihnen sterben, mußte sich der andere mit ihm lebendig begraben lassen.« »Hui!« machte Vincent. Mutter fuhr fort: »Asvitus starb zuerst. Er wurde mit einem Pferd und einem Hund in einer Höhle eingemauert. Asmundus folgte seiner Pflicht. Mit einem gehörigen Vorrat an Lebensmitteln ließ er sich in die Gruft einschließen.« Ich nippte bedächtig an meinem Wasser. Irgendwie kam mir die Story bekannt vor. »Die Jahre vergingen«, erzählte Lydia. »Da zog Ericus, der König der Schweden, mit seinem Kriegsheer durch die Gegend. Er kam an der Höhle vorbei und glaubte, darin sei ein riesiger Schatz verborgen. Er überlegte nicht lange und ließ die Höhle aufbrechen. Aber er fand keinen Schatz. Statt dessen traf Ericus einen Menschen an, völlig verwachsen, übersät mit Wunden, aus denen Blut und Eiter lief. Sogar ein Ohr fehlte dem Höhlenbewohner. Auf Ericus' Befragen begann der scheußlich zugerichtete Asmundus über das schreckliche Bündnis zu berichten. Der König erfuhr, daß Asmundus' toter Freund seinen Geist wiedererlangt hatte. Sogleich hatte sich Asvitus über das 29
eingesperrte Pferd und den Hund hergemacht. Als er die Tiere zerrissen und sich einverleibt hatte, stürzte er sich auf Asmundus. Im Handgemenge riß der Untote dem Freund das Ohr ab. Er wollte Asmundus ebenso zerfleischen wie die armen Tiere, aber der war ein kräftiger Bursche. Asmundus packte sein Schwert, spaltete dem Rasenden den Kopf und durchstieß anschließend das Herz des verruchten Freundes.« Wir schwiegen andächtig, bis Mutter die Stille unterbrach und meinte: »Wie gesagt, laßt es euch schmecken. Ich geh ins Haus. Ihr wißt ja, das letzte Kapitel wartet.« »Asvitus und Asmundus«, murmelte Ulrich. Ich bemerkte, wie Vaters gedankenverlorener Blick in die Ferne schweifte. Vincent stopfte sich grübelnd die Pfeife und setzte sie umständlich in Brand. Auch Pit wirkte nachdenklich. »Kann es sein, daß wir alle dasselbe denken?« fragte ich. Ulrich sah mich an. Er wirkte wie jemand, dessen Erwartungen sich plötzlich erfüllt hatten. »Genauso ist es«, sagte er leise. »Mutter hat uns ungewollt auf die richtige Fährte gebracht. Ich bin jetzt fast sicher: Irgendein Dämon aus einer Zeit, die jenseits unserer Vorstellungskraft liegt, hat durch sonderbare Fügung wieder seine alte Macht zurückerlangt .« »Er läßt Tote auferstehen«, ergänzte Pit. Vincent nuckelte nervös an seiner Pfeife. »Untote, die mordend durch die Nacht ziehen. Brrr! Ein wahrhaftig beängstigendes Spektakel.« Ich stand auf. »Das Schlimme ist: Wer von diesen Zombies angegriffen, verletzt oder getötet wird, wird oft selbst zum wandelnden Untoten. Es sei denn, das Opfer ist auserkoren, den Speisezettel eines Ghuls zu ergänzen.« »Es breitet sich aus wie eine Epidemie«, meinte Ulrich. Jetzt schraubte sich Pit Langenbach in die Höhe. »Mark«, keuchte er. »Wenn wir jetzt losfahren, sind wir gegen zwei Uhr morgens in Wolgast.« Ich nickte und ging ins Haus, um meinen Einsatzkoffer zu holen. * Dieter Bartusch war stinksauer. 30
Der drahtige Dreißigjährige stand im Schlafanzug vor dem Waschbecken, rasierte sich und litt unter dem Gedanken, von der eigenen Ehefrau erpreßt zu werden. Es war kurz vor Mitternacht, der Spielfilm, den sie gemeinsam angeschaut hatten, war zu Ende. Nachdem er den Fernsehapparat ausgeschaltet hatte, war ihm nach Zärtlichkeit zumute gewesen. Er hatte seine Regina in den Arm genommen und gefühlvoll geküßt. Und sie? Bartusch fluchte leise, als er an Reginas Reaktion dachte. »Dieter, du kratzt ja wie ein Reibeisen auf Beinen. Glaub ja nicht, ich springe mit einem Mann in die Federn, der sich wie ein Strauchdieb anfühlt.« Geschickt ließ er die scharfe Rasierklinge über sein Kinn wandern. Als er gerade den Schaum von der Klinge spülte, verspürte er Appetit auf eine Zigarette. Mit dem Rasierer in der Hand tappte er in die Küche, knipste das Licht an und nahm vom Tisch die angebrochene Packung Zigaretten. Er hat bereits einen dieser Sargnägel im Mund, da hatte er das Feuerzeug noch immer nicht gefunden. Sonst steckte es doch in der angefangenen Schachtel. Ärgerlich kaute er auf dem Filter herum. Er überlegte, wo er es zuletzt benutzt und dann hingelegt hatte, kam aber nicht darauf. Er war kein starker Raucher, und es war schon eine Weile her, wo er eine durchgezogen hatte. »Na, dann eben nicht!« Bartusch riß sich die Zigarette aus dem Mund und schleuderte sie beiseite. Wutschnaubend marschierte er ins Badezimmer zurück, um die Rasur zu beenden. Seine Lust, mit Regina Zärtlichkeiten auszutauschen, war ihm vergangen. Soll sie doch sehen, wo sie ihre Streicheleinheiten herkriegt! dachte er erbost. Als er das Badezimmer betrat, stutzte er. Es roch auf einmal irgendwie komisch. So widerlich hatte es hier doch noch nie gerochen! Bartusch hob seine Nase und schnupperte. Angeekelt verzog er das Gesicht. Das stank ja bestialisch, als würde eine Kiste mit verwesenden Tierkadavern in der Ecke vor sich hingammeln. Er überlegte, ob er Regina rufen sollte, ließ es aber dann bleiben. Er legte den Rasierer auf die Konsole und blickte in die Runde. Die Badewanne, der Handtuchhalter, die große Bodenvase mit getocknetem Rittersporn, das Badschränkchen mit den unterschiedlichsten Deos, Cremes, Shampoos, Lotions und 31
Sprays. Daneben das schmale Regal mit Handtüchern, Waschlappen und sonstigem Kram. Bartusch unterzog jeden Gegenstand einer intensiven Geruchsprobe. Vergeblich. Dieter Bartusch spürte, wie sich seine Nackenhaare kräuselten. Kam der abscheuliche Geruch von draußen? Hatte vielleicht einer der Mieter seinen Abfall aus dem Fenster gekippt? Bartusch trat an das gekippte Fenster und atmete konzentriert durch die Nase ein. Fehlanzeige. Die Nachtluft war frisch und würzig. Instinktiv füllte er seine Lungen mit köstlichem Sauerstoff. Dann drehte er sich um. Aus dem Konsolenspiegel blickte ihn sein halbrasiertes, ratloses Gesicht an. Wenn es nicht von draußen kam, schoß es ihm durch den Kopf, dann mußte der Gestank aus der Wohnung herrühren. Aber vorhin, bevor ich in die Küche ging, war doch noch alles vollkommen in Ordnung. Dieter Bartusch war alles andere als ein Angsthase. Seit dreizehn Jahren arbeitete er auf der Peenewerft, schweißte die Nähte riesiger Schiffsteile zusammen. Während seiner Zeit bei der Nationalen Volksarmee diente er bei den Fallschirmjägern. Er war auf über einhundertzwanzig Absprünge gekommen, und das aus dem russischen Lufttraktor AN 2, manchmal aus viertausend Metern Höhe. Da vergaß man ein für allemal, was Angst war. Aber jetzt spürte Bartusch, wie sein Herz ein paar Takte schneller schlug. Sein Puls hämmerte. Eine vage, absurd anmutende Ahnung beschlich ihn. Sollten Regina und er etwa nicht allein in der Wohnung sein? Er beschloß, Regina zu rufen. Vielleicht gab es doch eine harmlose, einleuchtende Erklärung für diesen Verwesungsgeruch. Im Moment, als er sich umdrehte, klickte es. Das Licht ging aus. Er stand im Dunkeln. »Zum Kuckuck!« Er ballte die Fäuste. »Jetzt ist aber Schluß mit dem Spuk!« Die Arme vorgestreckt, tappte er in Richtung Lichtschalter. Wer es auch war, der ihn hier zum Narren hielt, er würde sein blaues Wunder erleben. Er tastete nach dem Knipser - und zuckte erschrocken zurück, ohne ihn betätigt zu haben. Der Schalter fühlte sich ekelerregend schleimig an, als hätte eine Schnecke ihre Schleifspur darauf zurückgelassen. Regina! durchzuckte es sein Hirn. Vielleicht ist ihr was passiert? 32
Laut rief er den Namen seiner Frau. Im Schlafzimmer rührte sich nichts. War Regina eingeschlafen? Bartusch schwankte von einem Extrem ins andere. Was, wenn er sie jetzt wachrüttelte, halb rasiert und verängstigt, und es stellte sich heraus, daß alles einen harmlosen Ursprung hatte? Regina würde sich totlachen. Aber was wäre, wenn. Dieter Bartusch spannte jeden Muskel. Er tastete sich in den finsteren Korridor. Mit einer Hand glitt er die grobkörnige Wand entlang, bis er den Lichtschalter erreicht hatte. Er betätigte ihn sofort. Jäh wurde der schmale Korridor in gleißendes Licht getaucht. Aber außer Bartusch war keiner zu sehen. »Regina, ich komme!« Bartusch rannte ins Schlafzimmer und donnerte mit der Faust auf den Lichtschalter. Wie angewurzelt blieb er an der Tür stehen. Seine Frau lag im Bett. Die Zudecke bis an die Nasenspitze hochgezogen, räkelte sie sich verschlafen. Dann machte sie ein Auge auf und blinzelte ihn kopfschüttelnd an. »Nennst du das eine Rasur?« fragte sie ihn. Dann drehte sie sich auf die Seite. »Mach endlich das Licht aus!« hörte er sie murmeln. Mechanisch folgte Bartusch ihrem Rat. Fassungslos trottete er hinaus, schloß behutsam die Tür und blieb eine Weile hilflos im Korridor stehen. Hatte er Halluzinationen? Narrten ihn Hirngespinste? Der Drang nach einer beruhigenden Zigarette wurde übermächtig. Er beschloß, eine Herdplatte anzuheizen, um sich die Zigarette daran anzustecken. Auf dem Weg in die Küche glitt er plötzlich aus. Fast wäre er lang hingeschlagen. Im letzten Augenblick konnte er sich noch an der Flurgarderobe festhalten. Bartusch richtete sich auf, starrte wie gebannt auf die flauschige, hellgraue Auslegeware, auf der sich ein großer schleimiger Fleck abzeichnete. Was war denn das, um alles in der Welt? Er bückte sich, um den Fleck näher zu betrachten. Angewidert fuhr er wieder hoch. Es stank erbärmlich. Dann ertönte in der Küche ein Geräusch. Bartusch wurde zur Statur. So klang es, wenn jemand die Kühlschranktür aufmachte. Die Tür quietschte, nicht besonders laut, aber er kannte das Geräusch ziemlich genau. 33
Demnach war jemand in der Küche! Jemand, der einen entsetzlichen Geruch ausströmte. Sekundenlang kämpfte Bartusch mit sich. Als er sich aufraffte und um die Ecke in die Küche spähte, bekam er den Schock seines Lebens. Vor dem geöffneten Kühlschrank hockte Maren Schulz, die Boutiquebesitzerin aus der Langen Straße. In ihrer Blutklaue hielt sie ein Stück rohes Fleisch! Die Frau trug völlig verdreckte Jeans; ihr Oberteil mußte einmal eine Bluse gewesen sein. Bartusch sah ein großes Loch in ihrem Brustkorb klaffen, aus dem ungehindert quittengelber Eiter hinausquoll. Als sie zu ihm aufblickte, veränderte sie ihre Position, und Bartusch bemerkte, daß ihr ein Arm fehlte! Jäh kam Bartusch die Erleuchtung. Er hatte zwar nur geringe medizinische Kenntnisse. Doch er wußte: Kein Mensch konnte mit solchen scheußlichen Wunden weiterleben. Das war ein Ding der Unmöglichkeit. Maren Schulz mußte also - tot sein. Und umgehende Tote waren sehr miserable, undankbare Gäste. Bartusch preßte die Zähne zusammen, bis ihn dumpfer Schmerz erfüllte. Während ihn die schmatzende Untote aus blicklosen Augen musterte, glitt seine Hand in den Messerständer. Kaltblütig zog der Ex-Fallschirmjäger das längste von ihnen heraus. Als er den Griff fest in der Faust spürte, atmete er auf. Geduckt näherte er sich dem Kühlschrank. * Der Mann, der für den Nachtdienst eingeteilt war, lehnte gähnend an der Rezeption. Er blätterte gelangweilt in einem Prospekt, trank nebenbei starken Kaffee und aß Spekulatius. Als das Telefon klingelte, nahm er gemächlich ab. »Gasthaus Alter Speicher, Wiedemuth«, leierte er mechanisch. Während er zuhörte, was ihm der Anrufer zu sagen hatte, blickte er auf die Wanduhr im Foyer. Es war kurz nach zehn, abends. Aus dem Restaurant kam eine Kellnerin. Sie war um die Zwanzig, trug Schwarz-Weiß und hielt ein geöffnetes Portemonnaie in der Hand. Vor der Rezeption blieb sie stehen und 34
wartete. Den Hörer in der Hand, nickte Wiedemuth ihr zu. Es kam abends häufig vor, daß die Kellner an der Rezeption Geld wechselten. »Ja, natürlich, mein Herr«, sagte er. »Moment, ich schreibe es mir gleich auf. Hm, Ihr Name ist also van Euyen.« Der Portier schnappte sich einen Stift und kritzelte etwas auf einen Schmierzettel. Dann starrte er seine Kollegin entgeistert an. Die junge Frau blickte neugierig drein. »Nein, Herr van Euyen«, sagte Wiedemuth in den Hörer. »Es ist nicht weit, nur ein Katzensprung. Ungefähr fünf Minuten zu Fuß.« Wiedemuth legte auf. Er machte eine hastige Bewegung. Um ein Haar hätte er den Becher Kaffee umgekippt, der neben dem Telefonapparat dampfte. »Du bist ein bißchen blaß um die Nase herum«, feixte die Kellnerin. »Hattest du ein Gespenst an der Strippe, Heinz?« Wiedemuth starrte sie hingerissen an. »Das gibt's in keinem Gruselroman«, keuchte er. Die Kellnerin vergaß ihr eigentliches Begehren. »Was meinst du, Heinz?« fragte sie. Er beugte sich über die Theke. »Ruft doch eben ein Typ an und fragt, ob wir noch drei Betten frei hätten.« »Na und?« Die Kellnerin war enttäuscht. »Immerhin arbeiten wir in einem Gasthaus.« Wiedemuth kicherte vergnügt. »Das Ulkige ist, dieser van Euyen wollte gleich wissen, ob in der Nähe der Friedhof ist.« Die Kellnerin schüttelte den Kopf. »Die Welt ist schon verrückt«, meinte sie. »Früher kamen die Leute wegen der idyllischen Landschaft hierher. Tja, und heutzutage sind sie eben auf Friedhöfe scharf. - Was soll's, Heinz? - Was anderes: Mach mir mal bitte den Hunderter klein.« * Ich starrte durch die Windschutzscheibe auf die nachtdunkle Fahrbahn. Neben mir, auf dem Beifahrersitz, lümmelte Pit Langenbach und trommelte ungeduldig Märsche auf seinen Oberschenkel. Auf der Rückbank hatte sich Vincent van Euyen 35
häuslich eingerichtet. Wie eine Glucke hockte er da, einen Arm auf meinem Einsatzkoffer, in der anderen die Tüte mit den Katzenpfötchen. Wenn er Appetit darauf kriegte, brauchte er nicht erst lange zu suchen. Wir brausten geradewegs dem Unheil entgegen. Ulrichs Worte fielen mir ein: Es breitet sich aus wie eine Epidemie. Mein Fuß klebte auf dem Gaspedal. Die Lichtsäulen der Scheinwerfer erfaßten ein rotumrandetes Verkehrsschild. Achtzig! Ich tippte auf die Bremse. Wir durchfuhren eine unübersichtliche Kurve. Kurz darauf ging es bergab. Die Abzweigung nach Lassan kam in Sicht. Eine brandgefährliche Ecke. Die vielen an die Bäume genagelten Holzkreuze bewiesen es nachdrücklich. Rechterhand tauchten die Lichter des Hohenseer Autohauses auf. Die gefährliche Einmündung war passiert. Ich schaltete in den höheren Gang, gab mehr Gas - und stieg dann doch plötzlich auf die Bremse! Ich spürte einen Ruck. Vincent van Euyen war gegen meine Rücklehne geprallt. »Gott im Himmel!« schnaubte er. »Was ist denn in dich gefahren, Mark?« »Rehe!« Ich deutete auf zwei dunkle Schatten am Straßenrand. Pit öffnete das Fenster und beugte sich hinaus. »Fahr mal langsamer, Mark«, sagte er. »Die Biester kommen mir irgendwie komisch vor.« Schnell warf ich einen Blick in den Rückspiegel. Die Straße hinter mir war dunkel. Wir fuhren Schrittempo. »Wieso komisch?« meldete sich Vincent. »Sie stehen da und glotzen uns blöde an. Was erwartest du von Rehen, Pit? Daß sie uns zuwinken und uns gute Fahrt wünschen?« Ich schüttelte amüsiert den Kopf. Vincent war unverbesserlich. Das stellte ich immer wieder aufs Neue fest. Aber das mußte ihm der Neid lassen: Er hatte Mut bewiesen, als er sich spontan anbot, Pit und mich zu begleiten. Schließlich fuhren wir nicht in die Ferien, sondern an einen Ort, wo uns Angst und Schrecken erwarteten. Vielleicht sogar der Tod. »Eines von ihnen hat eine tiefe Fleischwunde«, sagte Pit tonlos. »Vielleicht gibt's in Vorpommern noch Wölfe«, versetzte Vincent. »In Polen sollen noch welche leben. Und bis zur Grenze sind es höchstens vierzig Kilometer.« 36
Ich betrachtete die Tiere genauer. Zutraulich standen sie hinter der hellgrauen Leitplanke. Ab und zu senkten sie die Köpfe, um zu fressen. Das eine Reh sah wirklich schrecklich aus. In der Flanke hatte es eine faustgroße, blutige Wunde. Die eingetrocknete Blutspur verlief bis zum Bauch des Tieres. »Es muß doch Schmerzen haben«, sinnierte Pit. »Offensichtlich nicht«, meinte Vincent kauend. »Seht es euch doch an, Männer. Es steht ganz friedlich da, stopft sich die Molle voll und denkt überhaupt nicht daran zu lamentieren.« Ich wandte mich an Pit. »Könnte es eine Schußverletzung sein?« Mein Freund winkte ab. »Die Jäger benutzen Gewehre, Mark. Keine Panzerfäuste oder Granatwerfer.« Da leuchteten hinter mir die Leuchtfinger eines näher kommenden Fahrzeugs auf. »Kopf einziehen, Pit«, warnte ich meinen Beifahrer. »Es geht weiter.« Schnell kam das Auto, das uns folgte, näher. Sekundenlang hörten wir laut anschwellende, stampfende Rhythmen aus dem Wagen hämmern. Mit weit über hundert Sachen schmetterte der Sarg auf Rädern an uns vorüber. Wie ein Spuk verschwand er in der nächsten Kurve. Pit schüttelte den Kopf. »Die Kids sind völlig von der Rolle«, sagte er rauh. »Sie fahren wie die Henker.« Ich nickte betrübt. Die Scheinwerfer meines BMWs holten die ersten Häuser von Wolgast aus der Finsternis. »Die Chausseestraße«, sagte ich. »An der rechten Seite liegt der Friedhof. Wir werden direkt an der Mauer entlangfahren.« »Pustekuchen!« Pit zeigte durch die Frontscheibe auf ein gelbes Schild. Umleitung! Ich blinkte und bog links ab. Eine Reihe Neubaublöcke kam in Sicht. Die Fassaden hatten einen neuen, farbenfrohen Anstrich. Kein Vergleich zu den deprimierenden, trostlosen Grautönen aus DDR-Zeiten. »Wo ist eigentlich unsere Unterkunft?« fragte mich Pit. »Auf der Schloßinsel«, antwortete ich. »Wußte gar nicht, daß es in Wolgast ein Schloß gibt«, meldete sich Vincent. Ich lenkte den BMW vorsichtig durch die links und rechts geparkten Autoreihen der Kochstraße. »Früher gehörte das Gebiet hier den Schweden«, erklärte ich. »Bevor sie abziehen 37
mußten, zerstörten sie das Renaissance-Schloß. Das war ungefähr 1675. Sie zerlegten es in seine Einzelteile und verhökerten alles, was nicht niet- und nagelfest war. Heute sind bloß noch die Fundamente des Schlosses erhalten. Ab 1890 entstanden hier Industriebauten. Nur der Name blieb: Schloßinsel.« »Das ist Vorspiegelung falscher Tatsachen«, maulte Vincent. »Würde dir der Name Industrie-Insel besser gefallen?« Vincent knisterte mit Lakritztüten-Papier. »Wenn du nicht das letzte Wort hast, Mark, bist du nicht zufrieden, was?« Ich antwortete nicht. Die geduckte Gestalt einer dahintrottenden Frau hatte meine Aufmerksamkeit gefesselt. Anscheinend ziellos tappte sie durch die Nacht. Als ich näher herankam, sah ich, daß sie barfuß war und lediglich ein dünnes Nachthemd trug. Ein Träger war von der Schulter gerutscht. »Nanu?« sagte Pit. »Da stimmt doch was nicht.« Ich nickte. »Kein Mensch geht im Nachthemd spazieren.« Rasch hielt ich an, löste meinen Gurt und stieg aus. Die Frau war ungefähr in meinem Alter und hatte ein hübsches Gesicht, über das ungehemmt Tränen liefen. Der Nachtwind blies ihr die langen, schwarzen Haare um den Kopf. »Was ist mit Ihnen?« Ich trat ihr in den Weg. »Soll ich Sie nach Hause bringen?« Schluchzend sah sie zu mir auf. »Nach Hause?« hauchte sie. Ein Schauder durchrieselte mich. Ihr Gesicht war von unsäglichen Schrecken gezeichnet. Die Augen lagen tief in den Höhlen. Die Lippen ihres fein gezeichneten Mundes zitterten. Inzwischen waren auch Pit und Vincent ausgestiegen. Sie bauten sich neben mir auf. »Wo wohnen Sie?« fragte ich. Sie weinte. »Ich bringe Sie gern nach Hause«, bot ich mich an. »Es macht mir nichts aus.« »Ich wohne in der Baustraße. Aber ich will nicht nach Hause.« Sie wirkte wie ein verängstigtes Kind. »Ich will nie wieder dahin zurück. Es ist so schrecklich.« »Steigen Sie ins Auto«, sagte ich. »Die Nacht ist kühl. In Ihrem Aufzug holen Sie sich noch den Tod.« »Den Tod?« Ihre Augen krallten sich in meine. »Ich - ich habe 38
ihn gesehen, den Tod.« Unwillkürlich schnupperte ich. Aber sie hatte keinen Alkohol getrunken. Dafür haftete ihr ein anderer Geruch an. Die Frau roch penetrant nach verdorbenem Fleisch, nach Aas. Ich horchte auf. »Wo haben Sie den Tod gesehen?« »Zu Hause«, wisperte sie. »Ist jemand gestorben?« Sie nickte. Ich spürte, wie ich zappelig wurde. Möglicherweise hielt Bruder Zufall einen Hinweis für uns parat. Damit sich die Frau nicht erkältete, bugsierte ich sie zum Auto und schob sie auf den Beifahrersitz. Vincent reichte mir eine Decke, die er vorausschauend aus dem Kofferraum geholt hatte. Ich legte sie der Frau um die Schultern. »Erzählen Sie!« forderte ich sie auf. Lethargisch starrte sie durch die Frontscheibe. Ich legte ihr eine Hand auf die Schulter. »Haben Sie keine Angst. Alles wird gut. Nichts ist so heiß, wie es gegessen wird. Sagen Sie uns, was Sie gesehen haben.« »Ich habe sie gesehen«, flüsterte die Frau kaum hörbar. »Wer ist das? Sie?« »Maren.« Die Frau sprach, ohne den Blick von der nachtschwarzen Fahrbahn zu lösen. »Maren Schulz. Sie besitzt eine Boutique. Aber sie ist nicht mehr wie früher.« »Ist sie es, die gestorben ist?« bohrte ich ungeduldig. Die Frau im Nachthemd schwieg sekundenlang. »Maren fehlte ein Arm«, seufzte sie dann. »Aber sie hatte trotzdem die Kraft von vier Männern.« »Was hat Maren getan?« »Sie hat.« Ihre Stimme vibrierte. »Sie hat Dieter getötet.« »Dieter?« forschte Pit. »Mein Mann. Er wollte sich rasieren. Ich lag im Bett, bin eingeschlafen. Da hörte ich Lärm. Aus der Küche. Und es stank plötzlich so abscheulich. Ich bin in die Küche gerannt. Da sah ich sie, Maren Schulz. Dieter lag am Boden. Er blutete. Maren stand über ihm. Sie hatte ein Messer. Ich habe geschrien. Marens Lippen waren blutverschmiert. Sie kaute. Die Kühlschranktür stand auf. Ich dachte, sie hätte sich was herausgenommen. Dann sah ich, was sie aß.« Die Frau verstummte und brach in Tränen aus. 39
Wir sahen uns stumm an. Wir ahnten, was Maren Schulz, dieser Zombie, verzehrt hatte. Zombies wie sie fuhren nun mal auf das Fleisch von Toten ab. Die Frau auf dem Beifahrersitz hatte mit ansehen müssen, wie die Untote den eigenen Mann zerfleischte. Etwas Furchtbareres konnte es auf der Welt nicht geben! Einen Moment lang erfüllte mich unbeschreibliches Mitleid. Dann packte mich die Wut. »Machen wir dem Spuk ein Ende«, sagte ich. Vincent pflichtete mir bei. »Die Hotelzimmer hätten wir uns sparen können.« Pit Langenbach erkundigte sich, ob unser Schützling Verwandte in der Gegend hatte. Zögernd nannte uns die Frau die Anschrift ihrer Eltern. Sie wohnten in der Peenestraße, auf der Schloßinsel. Aber womöglich war es angebrachter, wenn wir sie ohne Verzug ins Kreiskrankenhaus brachten. Ihr Zustand war einfach zu schlecht. Sie brauchte professionelle Hilfe. Ich setzte mich ins Auto und brauste los. Aber zu meinem Leidwesen kamen wir nicht sehr weit. Eine Horde Jugendlicher hatte die Fahrbahn blockiert und gestikulierte wild. »Was ist nun schon wieder?« Vincent reagierte verärgert. Ich stoppte. »Was ist passiert, Kids?« erkundigte ich mich. Ein langaufgeschossener Bursche mit Igelschnitt trat an den Wagen. Sein Gesicht hatte die gleiche blaßgelbe Farbe wie sein Sweatshirt. Um den Hals trug er ein Tuch, wie es normalerweise Mädchen tragen. »Haben Sie 'n Handy?« Er starrte mich flehend an. Ich zeigte auf die nahe Telefonzelle. »Kaputt«, keuchte er. »Irgendein Vollidiot hat den Hörer abgerissen. Was ist nun? Haben Sie eines? Ich muß die Bullen anrufen.« Der Igel war völlig von der Rolle. »Unser Kumpel«, raunte er. »Er ist plötzlich wahnsinnig geworden. Wir waren auf 'ner Fete, gleich um die Ecke am Paschenberg. Ricky ging kurz nach draußen, wollte Luft schnappen. Er kam aber nicht wieder hoch. Als wir runter sind, nach ihm sehen, haben wir ihn in 'nem Gestrüpp aufgegabelt. Er war komplett irre, sprang mich an! Er hat versucht, mir die Kehle durchzubeißen. Hier, sehen Sie!« Der Igel lüftete vorsichtig das Tuch. Aus einer frischen Halswunde sickerte Blut. 40
»Wo ist dein Kumpel jetzt?« fragte Pit. »Abgehauen.« Ich donnerte den ersten Gang rein und ließ den Motor aufheulen. Dem Burschen mußte sofort geholfen werden. Vielleicht war es noch nicht zu spät. »Steig ein, Junge. Wir bringen dich in die Klinik.« »Wegen dem Kratzer?« Geringschätzig schob er die Unterlippe vor. »Da lachen ja die Hühner.« Ich wurde langsam wütend. »Einsteigen, habe ich gesagt! Es geht um Leben und Tod.« »Ich hab den Tod gesehen«, flüsterte meine Beifahrerin. Jetzt erst bemerkte der Igelkopf die Frau. »Frau Bartusch? Was machen Sie denn hier?« »Halte keine Volksreden! Jede Sekunde zählt.« Meine Nerven waren bis zum Zerreißen gespannt. Ich hatte Angst um den verletzten Jungen. Dieser Ricky war zum Zombie geworden. Das war ziemlich sicher. Fraglich war nur, ob der Igelkopf den Biß gut überstehen würde. Seine Chancen waren nicht gerade rosig. Ich hoffte inständig, daß er glimpflich davonkam. Würde auch er zum Zombie mutieren, müßte ich ihm wohl oder übel eine Silberkugel verpassen. Der Anblick der angstschlotternden Frau neben mir schien ihn zu überzeugen. Plötzlich gehorchte der Bursche. Behende schob er sich neben Pit und Vincent auf die Rückbank. Ich raste los. Die Reifen zischten über den Asphalt. Mit einem Ohr hörte ich, wie Pit Langenbach über sein Handy die Kollegen von der Schutzpolizei alarmierte. »Ja, zum Teufel!« blökte er. »Ich weiß, daß ich den Notruf gewählt habe. Also, Wachtmeister! Sperren Sie die Ohren auf und hören Sie gut zu.« * »Spreche ich mit der Polizei?« »Ja. Ich bin Hauptwachtmeister Koopmann. Was kann ich für Sie tun?« Gisela Olbricht atmete auf. Sie war achtundsiebzig, seit zwölf Jahren Witwe und sehr nervös. »Ich habe furchtbare Angst«, 41
flüsterte sie in den Hörer. »Bleiben Sie ganz ruhig«, empfahl der Beamte. »Nennen Sie mir Ihren Namen, Ihre genaue Adresse und den Grund Ihres Anrufes. Dann sehen wir weiter.« Die alte Frau nickte bereitwillig. Ihre knotigen Finger umkrampften das schwarze Plastikteil. Sie stand im Wohnzimmer, neben dem Fenster. Eine Stehlampe spendete karges Licht. »Ich heiße Gisela Olbricht und wohne Hafenstraße vier. Im Erdgeschoß. Wenn man reinkommt, gleich rechts. Einmal klingeln reicht.« »In Ordnung. Jetzt zu dem Vorgang.« »Welchem Vorgang?« Sie faltete irritiert ihre zerfurchte Stirn. »Ich meine, was ist der Grund Ihres Anrufs? Sind Sie in Ihrer Wohnung?« »Ja, natürlich. Um diese Zeit gehe ich seit Jahren nicht mehr aus. Es ist ja mitten in der Nacht. Als Alfred, mein verschiedener Mann, noch lebte, er war übrigens auch mal ein Jahr lang Polizist, da sind wir gelegentlich spätabends am Wasser entlangspaziert. Allerdings nur, wenn das Wetter dementsprechend war. Aber mein Alfred lebt schon lange nicht mehr. Er hatte Krebs.« »Bitte, gnädige Frau, Sie sprachen davon, daß Sie Angst hätten. Wovor fürchten Sie sich?« »Im Haus gehen seltsame Dinge vor sich.« »Welcher Art?« »Ich glaube, es spukt.« »Wie bitte?« Der Beamte schnaufte. »Es spukt!« sagte sie lauter. Sie dachte, er hätte sie nicht richtig verstanden. »Wie kommen Sie darauf?« »Über mir wohnen drei junge Leute. Das nennt man wohl WG, hab ich recht? Nun, jedenfalls muß da oben etwas Ungeheuerliches passiert sein. Ich höre zwar ein wenig schwer. Aber ich bin aufgewacht, weil es oben auf einmal so laut war.« »Vielleicht veranstalten Ihre Nachbarn eine Party?« »Nein«, sagte Gisela Olbricht überzeugt. »Ich habe genau gehört, daß jemand geschrien hat. Es war ein gräßlicher Schrei. Ich habe gleich mitgeschrien.« »Ein Schrei also.« »Richtig. Danach polterte es über meinem Kopf, als wäre ein riesiger Felsbrocken vom Himmel gefallen. Kurz darauf klirrte eine 42
Fensterscheibe. Ich hörte, wie die Splitter auf die Straße fielen.« »Ein Fenster ist also kaputt«, meinte der Beamte. Die alte Frau hob lauschend den Kopf. Sie verdeckte die Sprechmuschel und blickte zur Zimmerdecke. Dumpfe, schwerfällige Schritte erklangen. Sie spürte die Vibrationen. »Das Gespenst ist noch da, Herr Polizist«, hauchte sie. »Für Gespenster sind wir normalerweise nicht zuständig. Wir beschäftigen uns mehr mit Straftaten, die von normalen Bürgern begangen werden.« »Aber ich bin mir fast sicher, daß den jungen Leuten oben etwas Entsetzliches zugestoßen ist. Ich würde ja gern hochgehen, um nachzuschauen. Aber ich ängstige mich so.« »Also gut. Ich werde eine Streife vorbeischicken. In ein paar Minuten sind wir bei Ihnen, Frau Olbricht.« »Da gäbe es noch etwas, das mir Kopfzerbrechen bereitet«, sagte sie zögernd. »Das wäre?« »Ich weiß nicht, ob das für Ihre Ermittlungen wichtig ist.« »Sagen Sie's mir trotzdem.« »Nun, es ist solch ein ekelerregender Geruch. Dabei hab ich Fenster und Türen verriegelt. Trotzdem breitet sich hier dieser merkwürdige Geruch in atemberaubendem Tempo aus. Es stinkt wie die Pest. Ich komme mir vor, als wäre ich auf dem Friedhof, bei meinem seligen Alfred.« »Gut. Wir kriegen schon raus, was da bei Ihnen stinkt.« »Halt!« rief Gisela Olbricht plötzlich. »Was gibt's noch?« »Jemand fummelt an meiner Tür. Die Klinke wackelt. Und jetzt geht sie gerade herunter.« * Gisela Olbrichts mysteriöser Anruf löste bei den zuständigen Behörden emsige Betriebsamkeit aus. Man fragte sich, ob die seltsamen Vorkommnisse auf der Schloßinsel mit den Befürchtungen des Weimarer Polizeikommissars zusammenhingen. Hatte dieser Langenbach doch allen Ernstes behauptet, in Wolgast würden Kreaturen ihr Unwesen treiben, die aus einer anderen Dimension gekommen 43
waren. Im Handumdrehen verpaßte die Polizeidirektion in Anklam ihren Leuten einen Maulkorb. Strengstes Stillschweigen wurde verordnet. Jeder verfügbare Beamte wurde, wo auch immer er sich gerade aufhielt, aufgestöbert und auf die Fährte der wandelnden Untoten gesetzt. Die Beamten patrouillierten durch die nachtdunklen Wolgaster Straßen. Doch die Suche nach den verbrecherischen Unholden blieb erfolglos. Außer einem halben Dutzend überdrehter Kids, die völlig konfuses Zeug stammelten, einigen angesäuselten Randalierern und einem Trupp Graffiti-Sprühern waren die Straßen wie ausgestorben. Auch der Besuch bei Gisela Ulbricht in der Hafenstraße brachte keine neuen Erkenntnisse. Die jungen Leute, die über ihr wohnten, sagten zwar übereinstimmend aus, ein übel riechender Typ wäre bei ihnen eingestiegen, aber ebenso schnell, wie er auftauchte, wäre er auch wieder verschwunden. Sie hatten einen Kerzenständer nach ihm geworfen. Dabei war die Fensterscheibe zu Bruch gegangen. Brauchbare Anhaltspunkte? Fehlanzeige. * Der Hof des Wolgaster Kreiskrankenhauses lag im fahlen Schein des Mondlichtes. Zwei Rettungswagen parkten unbeleuchtet und verlassen neben dem Haupteingang. Vereinzelt brannte Licht in den Fenstern der Klinik. Eine stille, friedliche Nacht. Schwungvoll lenkte ich den BMW über den Hof. Drei Armlängen vor dem Eingang stoppte ich. Das Quietschen der Bremsen war kaum verklungen, da erscholl auf der Rückbank ein Schmerzenslaut. Erschrocken drehte ich mich um. Der Igelkopf hatte das Gesicht verzogen. Mein Einsatzkoffer war von Vincents Schoß geglitten und dem Jungen in die Seite gerutscht. Offenbar war ich zu zackig in die Kurve gegangen. Dabei mußte sich das Schnappschloß des Koffers geöffnet haben. Ich sah das obere Teil des Kruzifixes herauslugen und wollte es wieder hineinstopfen. Dabei fielen die Blicke des Kameraden zuerst auf das Kreuz und dann auf meinen Ring. In seinen Augen 44
glitzerte schieres Entsetzen, als er sich daran einen Finger verbrannte. »Das Ding ist ja heiß!« gurgelte er. Ich hatte es schon kurz vorher bemerkt, aber nichts gesagt. Ich hatte ja erst mal den Wagen stoppen wollen. Seine Stimme hatte sich verändert. Sie klang jetzt wie die eines steinalten Mannes. Der Bursche war also infiziert. Er quetschte sich an die Hintertür und rupfte sich mit einer heftigen Bewegung das Tuch vom Hals. Ich sah, wie hellrotes Blut springbrunnenartig aus seiner Halswunde schoß und gegen die Lehnen der Vordersitze spritzte. Die Verletzung war schwerwiegender, als ich vermutet hatte. Jetzt war es nur eine Frage der Zeit. Es würde nicht lange dauern, und er würde sterben. Kurz darauf hätte ich einen waschechten Zombie an Bord. Meine Gedanken galoppierten. Das Prickeln meines magischen Ringes spürte ich bis ins Schultergelenk. »Gefahr!« schrie ich Pit und Vincent zu. »Macht, daß ihr aus dem Auto kommt!« Gleichzeitig drückte ich meine Tür auf und sprang ins Freie. »Dieter«, lallte die Frau im Nachthemd. »Dieter, komm zu mir zurück. Hörst du?« »Steigen Sie aus!« blaffte ich ruppig. »Raus aus dem Wagen, wenn Ihnen Ihr Leben lieb ist.« »Mir ist so kalt«, quäkte sie. Da sprangen die Hintertüren auf. Der schwergewichtige Vincent van Euyen fiel heraus wie ein voller Kartoffelsack. Mein Einsatzkoffer purzelte hinterher. Vincent rappelte sich auf, zerrte den Koffer an seine Brust und stürzte ein paar Schritte beiseite. »Verflixte Kiste!« schimpfte er. »Der Typ wollte mir ans Leder.« Als ich sah, daß auch Pit Langenbach aus dem Auto getürmt war, nahm ich einen tiefen Atemzug. Dann rannte ich auf die andere Seite, riß die Beifahrertür auf und zerrte die Frau vom Sitz. Sie schien die Ursache der plötzlichen Aufregung nicht kapiert zu haben und brüllte wie am Spieß. Als ich die Frau in Sicherheit wähnte, ließ ich von ihr ab. Keine Sekunde zu früh. Der Igelkopf. Wie aus dem Erdboden gestampft, stand er da, nur wenige Schritte vor mir, und glotzte mich an. Eine dunkle Flüssigkeit sickerte aus seinen Augenhöhlen. Blut! »Mark, ich komme von hinten!« schrie Pit. 45
»Sei vorsichtig«, raunte ich. »Am besten, du schnappst dir den Wagenheber.« Ich ließ den Igelkopf nicht aus den Augen. Als ich sah, daß er zu bluten aufhörte, wußte ich Bescheid. Die schwarze Magie hatte sich seines Körpers bemächtigt. Es war in rasendem Tempo geschehen, beinahe übergangslos. Der Zombie trat einen Schritt auf mich zu. Wie in einem zu langsam laufenden Film hob er seine Hände. Geifer tropfte aus seinem verzerrten Mund. Er schien zu überlegen, mit welcher Taktik er mich erledigen konnte. Die Kraft von vier Männern, hatte die Frau gesagt. Ich erwartete seine Attacke. »Vincent!« schrie ich. »Der Holzpflock! Im Koffer!« »Ja, sofort.« Da ging der untote Igelkopf auf mich los. Er wollte mich am Schlawittchen packen. Mit einem Ausfallschritt wich ich seiner verkrümmten Hand aus. Er grabschte ins Leere. Ich verlagerte mein Gewicht auf ein Bein. Das andere ließ ich in wahnwitzigem Tempo emporschnellen. Ein kraftvoller Fußtritt traf den Zombie am Kopf. Es klang, als hätte jemand mit einem Beil auf einen leeren Pappkarton geschlagen. Irgendwo klappte eine Tür ins Schloß. »Hören Sie sofort damit auf, Sie langhaariger Rüpel!« brüllte eine Frau, wahrscheinlich die Ärztin, die Nachtschicht hatte.. »Bleiben Sie, wo Sie sind!« hörte ich Pit rufen. »Oder scharfen Sie eine Eisenstange ran.« »Waaas?« Die Stimme schnappte fast über. Derweil war der Zombie zurückgestrauchelt. Er stieß einen unartikulierten Laut aus, neigte seinen Kopf und betastete mit steifen Fingern seine Schläfe. »Eine Eisenstange, hab ich gesagt!« schrie Pit die Ärztin an. »Eine Axt oder eine Spitzhacke tun es auch. Geben Sie Gas!« Im Unterbewußtsein vernahm ich davoneilende Schritte. Hinter der zufallenden Tür schrillten hysterische Rufe. Der Untote schien seinen Plan zu ändern. Abrupt wandte er sich von mir ab. Er tappte auf die Frau im Nachthemd zu. Mit drei, vier Sätzen war ich bei ihr, stellte mich schützend vor sie. Aus meinen Augenwinkeln sah ich, wie Pit Langenbach um den Zombie herumschlich, um ihm überraschend in den Rücken zu fallen. Pit hatte den Wagenheber. Im Klinikgebäude flammte Licht auf. Ich hörte, wie Fenster 46
aufgerissen wurden. Der Zombie bückte sich, packte einen herumliegenden Pflasterstein und wog ihn in der Hand. Ich tänzelte rückwärts, bis ich aus seiner Reichweite war. Dabei spürte ich das Futteral meiner SIG Sauer unter der Achsel schlingern. Leider nützte mir die Waffe keinen Deut. Sie war mit normalen Patronen geladen. Damit konnte man Zombies wie den Igelkopf kaum beeindrucken, geschweige denn ausschalten. Mit dem Stein in der Faust torkelte der Zombie erneut auf mich zu. Ich duckte mich und wich zurück. Dabei stieß ich gegen die verwirrte Frau. »Vincent!« schrie ich. »Scharf sie endlich aus der Schußlinie!« Da holte der Zombie aus. Ich bemerkte noch, daß er sich für einen Untoten ziemlich schnell bewegte, da spürte ich auch schon einen pfeifenden Luftzug an meinem Ohr. Das Monster versuchte, mir den Schädel zu zertrümmern. Ich reagierte mit einem mörderischen Aufwärtshaken, doch die erhoffte Wirkung blieb aus. Mein Gegner schüttelte sich und griff erneut an. Für einen Moment sah ich, wie sich in seinen toten Augen das Mondlicht spiegelte. Ich wich zurück. Er schien mir folgen zu wollen, aber dann wirbelte er unversehens herum. Der Unhold mußte mitbekommen haben, daß Pit in seinem Rücken den Wagenheber schwang. Der Zombie duckte sich seitwärts ab. Pits Schlag landete auf seiner Schulter. Der Zombie holte in Pits Richtung aus. Mein Freund riß schützend die Arme hoch. Trotzdem war der Aufprall der steinbewehrten Faust gigantisch. Pit ging in die Knie. Er rollte sich jedoch blitzartig wie ein Igel zusammen und entkam so dem zweiten Hieb des Monsters. Unglücklicherweise war Pit bei seinem Angriff der Wagenheber aus der Hand gefallen. Der Zombie bückte sich und hob ihn auf. Mir wurde immer klarer, daß wir ohne geeignete Waffen kaum etwas gegen unseren Gegner ausrichten konnten. Geduldig steckte der Zombie unsere Schläge ein, wie ein Riese, der einen lästigen Zwerg zur Seite schubst. Es war vergeudete Zeit, sich mit bloßen Fäusten an ihm aufzureiben. Immer wieder drang ich auf ihn ein, bombardierte seinen Kopf mit Boxhieben. Das Ergebnis war entmutigend. Der Zombie verspürte keinen Schmerz, er war tot, man mußte ihn schon in Stücke hacken, um Wirkung zu erzielen. 47
Nach einigen grauenvollen Sekunden schlug plötzlich eine Tür. Dann klirrte es auf dem Natursteinpflaster, dicht vor meinen Füßen. Eine Eisenstange rollte auf mich zu! Ohne zu zögern, schnellte ich ihr entgegen, wirbelte sie wie ein Tomahawk durch die Luft und versuchte, den Zombie in die Enge zu treiben. Er stieß einen grauenerregenden Schrei aus. Mit einem tollkühnen Satz sprang er über ein flaches Gebüsch und tauchte in der Finsternis unter. Ich verfolgte ihn ein Stück. Als ich jedoch nicht mehr die Hand vor Augen sah, stoppte ich. In der Dunkelheit hatte ich kaum eine Chance. Schließlich war ich keine Katze. »Er macht sich aus dem Staub!« schrien einige Stimmen. Ich drehte mich um. Am Hauptportal der Klinik wimmelte es von Schaulustigen. Patienten in Morgenmänteln, Personal in weißen Kitteln. Sie diskutierten wild. »Sind Sie in Ordnung?« fragte mich eine bildhübsche Krankenschwester. Sie drängelte sich zwischen den Gaffern durch und blickte mitfühlend zu mir auf. Ich stellte die Eisenstange an die Fassade. »Sicher doch«, sagte ich cool. »Ich fühle mich wie ein Fisch im Wasser.« »Aber Sie bluten im Gesicht. Kommen Sie rein. Ich werde Sie verarzten.« Ich sah mich nach Pit Langenbach um. Er kam gerade kopfschüttelnd auf mich zu. »Unser gemeinsamer Freund hat den Wagenheber mitgehen lassen.« Ärgerlich rieb Pit seine schmerzende Schulter. Während die Patienten wieder in ihre Zimmer verfrachtet wurden, führte uns die Schwester in das Behandlungszimmer. Sie nahm eine aufgeschlagene Illustrierte von der Liege und bat uns, Platz zu nehmen. »Frau Doktor wird gleich nach Ihnen sehen«, versprach sie. »Wo ist die Frau, die mir dabeihatten?« fragte ich. »Frau Doktor ist bei ihr«, antwortete die Schwester. »Ihre Begleiterin scheint einen schweren Schock erlitten, zu haben. Was ist eigentlich passiert?« Pit und ich tauschten Blicke aus. »Das wissen wir auch nicht genau«, meinte ich vage. »Aber was wir wissen, ist, daß Wolgast momentan eines der gefährlichsten 48
Pflaster der Welt ist.« * Der untote Igelkopf kämpfte sich durch das Gestrüpp der Gartenkolonie. Von Zeit zu Zeit blieb er stehen, hob lauschend den Kopf und spähte in die Finsternis. Die Nacht war gespenstisch still. Sogar die Tiere gaben keinen Mucks von sich, bis auf das jämmerliche Bellen eines Hundes, das von weither herübertönte. Der Zombie tappte weiter. Schließlich stieg er über einen flachen Maschendrahtzaun, zertrat ein frisch angepflanztes Blumenbeet und blieb vor einer weiß angestrichenen Holzlaube stehen. Er reckte seinen aufgeschlitzten Hals und schnupperte. In dem kleinen Haus befand sich etwas, das ihn in Erregung versetzte. Unwillkürlich glitt seine Zunge aus dem Mund und fuhr über seine blutverkrusteten Lippen. Er hatte mörderischen Hunger. Er brauchte Fleisch. Das Verlangen, die Zähne in einen warmen Körper zu schlagen, brannte wie ein loderndes Feuer in seinem Innern. Der Zombie drückte die Türklinke herunter. Abgeschlossen. Aber das war für ihn kein ernstzunehmendes Hindernis. Mit unbeschreiblicher Wucht riß er die Tür aus den Angeln und warf sie beiseite. Dann wankte er ins Innere der Laube. Das ohrenbetäubende Gebrüll, das plötzlich darin erscholl, steigerte seine Freßlust ins Unermeßliche. Es klang für ihn wie süße Sphärenmusik. Jäh nahm der Untote eine Fülle hastiger Bewegungen wahr. Im hinteren Teil des Raumes befanden sich zwei Menschen: Ihm lief bereits das Wasser im Mund zusammen. Er stellte sich die Frage, wie er sie umbringen sollte. Sein Instinkt sagte ihm, daß von ihnen keine besonders große Gefahr ausging. Das Mädchen und der Junge hockten auf einem Bett, hatten die Augen aufgerissen und hielten sich umklammert. Sie schienen auch keine Waffen zu besitzen. Ein leichtes Spiel also. Er brauchte nur ein paar Schritte zu tun und die beiden am Hals zu packen. Sie würden ein bißchen zappeln und sich wehren, doch schnell würden ihre Kräfte erlahmen. Dann hatte er freie 49
Bahn. Der Zombie grunzte freudetrunken. Beide Arme vorgestreckt, näherte er sich gemächlich den Umklammerten. Doch seine Opfer spritzten unvermittelt auseinander wie Fett, einer nach links, einer nach rechts. Er blieb stehen. Jetzt mußte er sich für einen von ihnen entscheiden. Sie hatte mehr Fleisch auf den Rippen. Der Zombie fletschte die Zähne und schmatzte genüßlich. Plötzlich schlug es in ihm ein wie ein Blitz. Er war nur noch einen letzten Schritt von dem Mädchen entfernt, hatte eine Hand bereits nach ihrem Hals ausgestreckt, da vernahm er in sich ein dumpfes Rollen. Obwohl er dieses Empfinden zum ersten Mal hatte, wußte er, daß er jetzt alles vergessen konnte, was er vorhatte. Nun mußte er gehorchen. Jemand sprach zu ihm. Jemand, dem er ungeheuren Respekt zollte. Die Gier nach Fleisch verebbte. Demütig neigte der Zombie seinen Igelkopf. Er horchte. Das dumpfe Rollen in ihm schwoll an und artikulierte sich. Eine Stimme sprach zu ihm. Der Zombie erstarrte in Ehrfurcht. Regungslos lauschte er der Stimme seines Meisters. Dem zu Tode verängstigten Mädchen gelang es, sich an ihm vorbeizuzwängen und durch die ausgerissene Tür unbehelligt das Freie zu erreichen. Der Zombie würdigte sie keines Blickes. Wenn er es wollte, würde er jederzeit ein neues Opfer finden. Aber jetzt gab es wichtigere Dinge für ihn. Hochachtungsvoll sog er jeden Laut, den der Meister an ihn richtete, in sich auf. Als die Stimme in ihm verstummte, nickte er pflichtschuldigst und stieß einen kehligen Schrei aus. Dann wankte er aus dem Gartenhäuschen. Er mußte einen Auftrag erledigen. Der Meister hatte es ihm ausdrücklich befohlen. Der Zombie kletterte über den Zaun, wandte sich nach links und tappte unbeirrt in Richtung Schloßinsel. Als er die Gartenkolonie verlassen hatte, herrschte noch eine Zeitlang Grabesstille. Dann, zaghaft und zögerlich, ertönten die ersten Tierstimmen, als erste die des Totenvogels.
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* Der Nachtportier ließ uns ins Haus. »Aha, die Herren aus Weimar«, begrüßte er uns. »Willkommen im Alten Speicher auf der Schloßinsel.« Ich bemerkte, wie sein Blick geringschätzig über unsere verdreckten Kleidungsstücke schweifte. Im Eifer des Gefechts hatte ich gar nicht mitbekommen, daß ich jetzt aussah wie eine mutierte Wühlmaus. »Wir hatten ein paar Probleme unterwegs«, klärte ihn Vincent van Euyen auf. Der Portier wackelte mit seinem Graukopf. »Natürlich«, sagte er mit spöttischem Unterton. »Die Zeiten sind unruhig heutzutage. Man muß froh sein, wenn man morgens aufwacht und nicht tot ist.« An der Rezeption gab er uns die Zimmerschlüssel. »Die Anmeldungen können Sie morgen früh ausfüllen. Ihre Zimmer befinden sich in der zweiten Etage. Ich wünsche den Herren eine geruhsame Nacht.« Er ließ sich auf einen Stuhl plumpsen und wickelte ein Butterbrot aus. Wir wandten uns ab und stiegen die Treppe hinauf. Vincent hatte kaum zehn Stufen hinter sich, als er unvermittelt stehenblieb und mich stirnrunzelnd ansah. »Mir knurrt der Magen«, quäkte er betrübt. Ich schob meine Hemdmanschette zurück, schaute auf die Uhr und klopfte Vincent gutmütig auf die Schulter. »Bis morgen früh wirst du es wohl noch aushalten müssen, Freund Saftschleck. Es ist zwei Uhr durch, mitten in der Nacht. Da gibt es nichts mehr zwischen die Kiemen.« Vincent schluckte. Wie ein geprügelter Hund schlich er die Treppe hoch. Doch mich plagten weitaus größere Sorgen. Der igelköpfige Zombie hatte sich als brandgefährlicher Gegner erwiesen. Seine Umwandlung war in nur wenigen Minuten erfolgt. Ich fragte mich, wo sich das Nest dieser Teufelsbrut befand. Sobald ich mich frischgemacht und umgezogen hatte, würde ich meinen magischen Ring »befragen«. Er würde uns den Weg weisen. Anschließend würde ich mir mit Hilfe des Ringes eine Waffe herstellen. »Wir treffen uns in fünfzehn Minuten«, sagte ich, bevor ich in mein Hotelzimmer schlüpfte. Meine Gefährten wirkten schlapp 51
und kraftlos, aber sie nickten zustimmend. Als ich am blitzsauber bezogenen Bett vorbeiging, war mir, als würde es mich wie ein Magnet anziehen. Für einen kurzen Augenblick beneidete ich all die Feriengäste, mit denen ich Wand an Wand wohnte. Sie waren hierhergekommen, um das Leben in vollen Zügen zu genießen. Was tat ich? Schlug mich mit Ungeheuern herum, die aus der Tiefe der Erde emporkamen, um mir meine Tage zu vermiesen. Doch ich wußte ganz genau, wie wichtig meine Präsenz in Wolgast war. Ich mußte die gräßlichen Untoten vernichten. Um jeden Preis! Das war meine Bestimmung. Ich war der Kämpfer der Rings! Rasch entkleidete ich mich, warf die schmutzigen Sachen auf einen Stuhl und flitzte in die Duschkabine. Abwechselnd brauste ich kalt und heiß. Das brachte meinen Kreislauf gehörig in Schwung. Meine Lebensgeister erwachten allmählich wieder. Als ich mich trocken rubbelte, fiel mir Tessa Hayden ein. Tessa war meine Freundin, eine Zivilfahnderin aus Weimar. Vor meinem inneren Auge erschien ihre bezaubernde Gestalt. Wo mochte sie in diesem Moment stecken? Als ich aus Weimar wegfuhr, war sie gerade im Einsatz. Ich öffnete die Minibar und nahm ein Mineralwasser heraus. Als ich die Flasche öffnete, klopfte es an die Tür. »Herein!« Es war Pit Langenbach, blaß, übermüdet, obwohl er ebenfalls frisch geduscht hatte. Die Enden seines imposanten Schnauzbartes hingen traurig herunter. »Ein Schluck Wasser, Pit?« fragte ich. »Nein, danke«, brummte er. »Am liebsten hätte ich jetzt 'nen starken Kaffee.« »Prima Idee«, fand ich. »Bevor wir abschwirren, lassen wir uns vom Portier einen geben. Ich schätze, der hat eine ganze Thermoskanne in der Hinterhand.« Pit nickte schwach. »Hab gerade meine Susanne angerufen«, sagte er. »Sie sagt, Floh wäre plötzlich krank geworden.« »Ist es schlimm?« fragte ich mitfühlend. Pit liebte seine Tochter über alles. Anna hatten sie sie getauft und nannten sie zärtlich Floh, doch die Kleine wollte so gern Annika heißen. Anna sei ein Name für dicke, alte Tanten. Wenn sie das jemandem erzählte, war Schmunzeln angesagt, und Anna bekam dann ihren Willen und wurde mit Annika angesprochen. Das Mädchen wußte, was es wollte. 52
Pit zuckte mit den Achseln. »Floh ist gegen irgendwas allergisch. Heute abend, beim Essen, schwoll mit einemmal ihr Gesicht an. Susanne hat vor Schreck die Wurstplatte fallen lassen. Sie mußte den Notarzt rufen. Er hat Floh sofort eine Spritze verpaßt.« »Gott im Himmel!« stieß ich aus. »Allergien sind derzeit groß im Kommen.« »Das sagte der Doktor auch. Wenn man nicht rechtzeitig reagiert, schwillt einem die Luftröhre zu oder die Bronchien, und man erstickt jämmerlich. Mark!« Pit sah mich seufzend an. »Wenn wir hier fertig sind, werde ich ein paar Tage Urlaub einreichen. Ich fühle mich irgendwie schuldig.« Seine Sorge steckte mich an. Bevor ich Dracomar, dem Blutdruiden, hoffentlich für immer den Garaus gemacht hatte (siehe MH Band 1), war ich noch ein sorgloser Reporter der Weimarer Rundschau gewesen. Jetzt war ich der erklärte Todfeind sämtlicher Mächte der Finsternis. Auf ihrer Totenliste stand der Name Mark Hellmann ganz oben. Aber was half's? Ich mußte meiner Verantwortung gerecht werden. Pit fuhr sich mit der Hand übers Gesicht. »Was werden wir jetzt tun, Mark?« fragte er müde. Ich rang mir ein Lächeln ab. »Nur Mut, altes Haus. Seit wann läßt du dich unterkriegen? Steck dir ein Zigarillo unter die Nase, dann sieht die Welt schon ganz anders aus.« »Guter Gedanke.« Pit folgte sogleich meinem Rat. Zehn Sekunden später quollen dichte Rauchschwaden durch mein Zimmer. Es pochte ein weiteres Mal an meine Tür, und Vincent van Euyen gab sich die Ehre. Er hatte sein, widerspenstiges Blondhaar nach hinten gebürstet und zückte seine Pfeife. Ich weihte Pit und Vincent in meinen Plan ein. »Deine Aufgabe, Pit, wird darin bestehen, Kontakt mit der hiesigen Polizei zu halten. Es muß gewährleistet sein, daß es keine neuen Opfer mehr gibt. Wenn sich die Zombies weiterhin vermehren wie die Fliegen, haben wir den Kampf verloren.« »Okay«, meinte Pit. »Die Jungs hier scheinen ganz pfiffig zu sein. Aber sie sind noch nicht recht fündig geworden. Ich weiß es von Kommissar Surke, Anklamer Kripo. Jetzt sind sie verunsichert, glauben, sie werden auf den Arm genommen. Die Zeugen, die sie aufgestöbert haben, widersprechen sich am 53
laufenden Band. Einer quasselte sogar von Außerirdischen, die in seinem Keller herumstrolchen sollen.« Ich winkte gelassen ab. »Solches Gefasel kennen wir doch zur Genüge.« »Welche Rolle spiele ich eigentlich?« fragte mich Vincent. »Ich hoffe doch, keine sehr gefährliche.« Ich drehte an meinem Ring, kniff ein Auge zu und sah ihn an. »Wir beide, Vincent, müssen rauskriegen, wo der Ursprung für all das Unheil herrührt. Ich hege da so einen Verdacht.« Vincent verschluckte sich und hustete. »Sag jetzt nicht, du willst mich zu nachtschlafender Zeit auf einen Friedhof schleppen? Zumal auf einen, auf dem sich die Gräber öffnen? Ich hasse Friedhöfe, Mark. Schlimm genug, daß ich mal selber auf einem lande.« »Mach dir nicht in die Hosen«, wies ich ihn zurecht. »Als du mitkamst, hast du genau gewußt, was uns blüht.« »Naja«, erklärte Vincent kleinlaut. »Daß es hier so gespenstisch zugeht, konnte ja kein Mensch ahnen. Wenn ich so an den Igelkopf denke, der mir an den Kragen wollte.« Ich schüttelte den Kopf. Immer dasselbe mit Vincent. Zuerst war er Feuer und Flamme; beseelt von unendlicher Abenteuerlust, dann, wenn die erste Hürde auftauchte, versiegte sein Elan, und er wünschte sich in seine heimischen vier Wände zurück. Aber auf Vincent van Euyens Befindlichkeiten konnte ich jetzt keine Rücksicht nehmen. Mitgegangen, mitgehangen, mitgefangen. Wir besprachen noch einige Details. Dann schnappte ich mir den Einsatzkoffer, klemmte ihn unter den Arm und wandte mich zur Tür. »Wohlan, Jungs. Befreien wir die Stadt von ihrer Geißel.« Es klang fast theatralisch. Als wir auf den dunklen Gang traten, dröhnte überraschend ein Hilferuf durch die Hotelhalle. Pit starrte mich an. »Der Nachtportier!« keuchte er. Polternd stürzten wir die Stufen zum Foyer hinunter. * Mark werden vor Staunen die Augen übergehen, dachte Tessa Hayden verschmitzt, als sie das Lühmannsdorfer 54
Ortsausgangsschild passiert hatte. Gut, wenn man einen heißen Draht zu Lydia Hellmann hat. Grinsend saß Tessa hinter dem Lenkrad ihres Kleinwagens und genoß das prickelnde Gefühl, bald in den starken Armen ihres Freundes Mark zu liegen. Sie liebte ihn noch viel mehr, seit er sich bemühte, ihr treu zu sein. Knapp einen Kilometer hinter der Ortschaft stieg Tessa plötzlich auf die Bremse und blendete ab. Die Leuchtkegel der Scheinwerfer katapultierten ein schmales Mädchengesicht aus der Nacht. Die Kleine war höchstens siebzehn. Sie stand an der Straße und winkte verzweifelt. Tessa hielt. »Fahren Sie nach Wolgast?« fragte das Mädchen, als Tessa die Scheibe heruntergekurbelt hatte. »Bingo, Schätzchen«, versetzte Tessa vergnügt. »Steig ein!« Das Mädchen plumpste auf den Beifahrersitz. Sie trug über der Hose eine schwarze Samtjacke und hatte ihre kastanienbraunen Haare auf dem Kopf zusammengesteckt. »Ich heiße Doro Paschke«, stellte sie sich vor. »Mein Freund ist mit 'ner anderen Käthe auf und davon.« Tessa riß die Augen auf. »Wie?« »Keule hat mir den Laufpaß gegeben.« »Er hat dich allein gelassen? Nachts, in einem anderen Ort?« Das Mädchen nickte. »Wir waren auf einer Geburtstagsfete in Lühmannsdorf. Da hat's bei Keule gefunkt. Er hat ein anderes Girl angebaggert. Ich wurde auf der Stelle entsorgt. Die andere ist blonder als ich. Und ihre Körbchen sind glatte zwei Nummern größer. Verstehen Sie?« »Unverantwortlich.« Tessa gab kopfschüttelnd Gas. »Er kann dich doch nicht einfach so zurücklassen?« »Hat er aber, der Mistkerl!« »Und ein Taxi?« Doro Paschke zog einen Flunsch. Vielsagend rieb sie Daumen und Zeigefinger aneinander. Tessa verstand. Ihre gute Laune war angeknackst. »Manche Bengels gehören.« Da fiel Tessa wieder Mark ein, und sie fragte statt dessen teilnahmsvoll: »Wo wohnst du denn?« »Am Fischmarkt, gegenüber der Schloßinsel.« »Da will ich auch hin.« Nur langsam beruhigte sich Tessa. Das Schicksal ihrer Geschlechtsgenossin berührte sie. »Übrigens, ich 55
bin Tessa Hayden.« »Wollen Sie jemanden in Wolgast besuchen?« Tessa grinste. »Du sagst es.« »Ihren Freund?« bohrte Doro. »Bist ganz schön neugierig.« »Sorry.« Tessa warf ihrer Beifahrerin einen Blick zu. Das Mädchen grinste. Zwei Grübchen kerbten ihre blassen Wangen. »Bin von Natur aus ziemlich wißbegierig«, sagte sie. »Deswegen liegt mir mein Oller schon in den Ohren, ich solle zu den Bullen gehen, wenn ich mit der Penne fertig bin. Da wäre ich goldrichtig, meint er.« »Hm, warum nicht?« »Meinen Sie das im Ernst?« erkundigte sich Doro aufgeregt. »Ein Mädchen bei der Polente? Finden Sie das in Ordnung?« »Es gibt genug Beispiele.« »Echt? Ich kenn keine einzige. Jedenfalls kein Mädel aus meinem Bekanntenkreis.« »Jetzt kennst du eine«, sagte Tessa mit einem Lächeln. »Sie sind Polizistin?« Das Mädchen fuhr schockiert zurück. »Das ist ja ein Ding!« »Hier ist meine Marke.« »Und 'ne Knarre?« flüsterte Doro geheimnisvoll. »Sagen Sie bloß, Sie schleppen auch eine Pistole mit sich herum.« »Klar. Aber nur, wenn ich im Einsatz bin.« Tessas Beifahrerin sank geschafft in die Polster. Tessa merkte, wie Doro sie aufmerksam beäugte. »Polizist zu sein, ist ein immens wichtiger Job«, sagte sie. »Stell dir mal vor, es gäbe keine. Chaos und Anarchie wären die Folgen.« Das Mädchen schwieg beeindruckt. Dann räusperte es sich und sagte: »Von der Warte aus hab ich das noch gar nicht betrachtet.« Tessa lächelte. Sie erinnerte sich daran, daß sie mit siebzehn ähnlich blauäugig wie Doro durchs Leben getappt war. Ihr Interesse hatte ausschließlich Jungen gegolten. Jungen, die so aussahen wie Mark Hellmann. »Den Typen, den Sie besuchen«, wollte Doro wissen, »mischt der auch bei den Grünen mit?« »Nein. Jedenfalls nicht direkt. Er ist Reporter«, antwortete 56
Tessa. Ein Schild wies darauf hin, daß es noch fünf Kilometer bis Wolgast waren. »Sie haben ihm nicht gesagt, daß Sie ihn besuchen wollen, nicht wahr?« Tessa blendete ab. Ein Auto kam ihnen entgegen. »Ich will ihn überraschen. Er hat dienstlich in Wolgast zu tun.« »Bäh!« Doro Paschke winkte wegwerfend ab. »Was gibt es für einen Reporter schon Interessantes in unserer Stadt. In Wolgast gibt es nur eines: gähnende Langeweile. Fragen Sie mich. Ich kann ein Lied davon singen.« Tessa Hayden fielen die Andeutungen ein, die Lydia erwähnt hatte. Ganz so, wie ihre Beifahrerin es behauptete, war es also nicht. Mark war augenblicklich losgefahren, nachdem Ulrich mit ihm geredet hatte. Leider wußte Tessa nichts Näheres. Aber das würde sie schon an Ort und Stelle in Erfahrung bringen. Sie wußte genau, wie man Mark Hellmann um den Finger wickeln konnte. Immerhin bestand er nicht aus Holz. Tessa schaute zu dem Mädchen hinüber. Die Augenbrauen gerunzelt, starrte Doro durch die Windschutzscheibe. Dann gähnte sie, ohne die Hand vor den Mund zu nehmen, und grinste Tessa spitzbübisch an. »Für eine Polizistin sind Sie ziemlich hübsch«, kicherte sie. »Danke, Doro.« Tessa nahm das Gas weg und schaltete runter. Die Scheinwerfer erfaßten die Leitplanken einer scharfen Kurve. Dann ging es bergan, und kurz darauf fuhren sie in die schlafende Stadt hinein. »Hab's ja gesagt«, maulte Doro und deutete auf die verwaiste Straße. »Wenn's dunkel wird, werden sogar die Bürgersteige hochgeklappt.« »Jetzt übertreibst du aber«, widersprach Tessa. »Manchmal ist es doch herrlich, wenn es so schön still.« Sie beendete den Satz nicht. Angestrengt starrte sie durch die Frontscheibe. »Was haben Sie?« fragte Doro beunruhigt. Tessa Hayden gab keine Antwort. Spielte ihr die Fantasie einen Streich? Ihr war, als hätte sie am Rand der Fahrbahn die Schatten einiger Gestalten bemerkt. Unwillkürlich nahm sie den Fuß vom Gaspedal, verfiel ins Schrittempo. Ein folgenschwerer Fehler. 57
Urplötzlich wurde der Kleinwagen von einem wuchtigen Ruck erschüttert. Ehe die Insassen wußten, wie Ihnen geschah, wurde der Corsa seitlich angekantet. Tessa glitt von der Kupplung, rutschte gegen die Fahrertür und schlug mit dem Kopf gegen die Scheibe. Der Wagen machte einen Satz nach vorn und stand. Der Motor war ausgegangen. Tessa hörte, wie Doro gellend aufschrie. Ihr Schrei wurde von dem ohrenbetäubenden Splittern der Frontscheibe noch überdeckt. »Was ist das?« zeterte das Mädchen angsterfüllt. Tessa wußte es nicht. Sie konnte kaum etwas erkennen. Es gelang ihr gerade noch, sich den straff gespannten Sicherheitsgurt abzustreifen, da sah sie, wie eine Gestalt über die Karosserie des Wagens kroch. Die furchterregende Kreatur hielt einen Pflasterstein gepackt. Sie versuchte, sich durch das entstandene Loch ins Innere des Autos zu wälzen, blieb aber vorläufig an den gezackten Scheibenresten stecken. Tessa hielt den Atem an. Die Kreatur stieß gurgelnde Laute aus. Ein übelriechender Luftzug strich herein. Tessa würgte. »Verdammt! Das sind Zombies!« schrie sie. »Raus hier!« »Ich bin eingeklemmt!« kreischte Doro. »Ich kann keinen Finger rühren!« Steiffingrige Blutklauen streckten sich nach den Frauen aus. Die preßten sich zurück in die Sitze, aber die zittrigen Blutklauen näherten sich unaufhaltsam. Tessa schrie um Hilfe. Mit herausquellenden Augen sah sie, wie eine der Klauen das Revers ihres Blazers packte. Tessa strampelte wie von Sinnen mit den Beinen, warf ihren Oberkörper hin und her, um den eisenhaften Griff abzuschütteln. Doch ihre Situation schien ausweglos. Die Blutklaue hielt sie gepackt wie eine Schraubzwinge. Mit infernalischer Gewalt wurde Tessa durch das Loch in der Frontscheibe ins Freie gezogen. Sie öffnete den Mund, um Hilfe zu rufen. Doch unversehens spürte sie einen wahnsinnigen Druck am Hals, der ihr die Luft zum Atmen raubte. Tessa röchelte. Sie drohte zu ersticken. Jetzt konnte sie die Kreatur genau erkennen, mit der sie es zu tun hatte. Der Zombie mußte mal ein junger Bursche gewesen sein. Er trug Jeans, einen zerfetzten Parka, und an den Überbleibseln seiner Haare erkannte sie, daß er mal eine modische Frisur getragen hatte, damals, als er noch lebte. Das 58
mußte vor mehr als tausend Jahren gewesen sein. Sie werden uns töten, sagte sich Tessa. Ich werde Mark nie wiedersehen. Das Mädchen! Der Gedanke an ihre jugendliche Begleiterin jagte Tessa wie eine Kanonenkugel durch den Kopf. Doro war erst siebzehn, und vielleicht würde einmal eine richtige Polizistin aus ihr werden. Obwohl Tessas Sinne schwanden, sammelte sie noch einmal Kraft. Die Angst um das Schicksal der anderen war um vieles größer als ihre Angst um den eigenen Tod. Ohnmächtiger Zorn erfüllte ihren drahtigen Körper. Sie warf sich zur Seite. Der Würgegriff der Klaue wurde lockerer. Schließlich rutschte die Klaue ab. Der Zombie wollte erneut zupacken, Tessa an sich reißen, sie mit aller Gewalt bändigen. Aber die mutige Weimarerin befand sich bereits außer Reichweite. »Hilfe!!!« Tessa schrie so laut, daß das Echo ihr wie ein Donnerwetter um die Ohren trommelte. Sie hörte noch, wie irgendwo Fenster klapperten, wie erschrockene Stimmen aus dem Schlaf gerissener Bewohner ertönten, aber dann wurde sie mit entsetzlicher Kraft zu Boden geworfen. Irgendwie kam Tessa wieder auf die Beine. Sie wollte sich auf den Untoten stürzen, der Doro an den Haaren zog. Da tauchten aus dem Dunkel der Nacht zwei weitere Zombies auf. Einer von ihnen versetzte Tessa einen mörderischen Schlag in die Magengrube. Tessa Hayden fiel der Länge nach hin. Als sie aufschlug, hatte sie bereits das Bewußtsein verloren. Sie spürte nicht mehr, wie sie brutal an den Beinen gepackt und ins Gebüsch geschleift wurde. Doro Paschke erlitt dasselbe Schicksal. Die Zombies verschwanden mit ihrer menschlichen Beute in die schützende Dunkelheit. Wenige Minuten später schrillten Sirenen. Entsetzte Augenzeugen dieses dämonischen Kidnappings hatten die Polizei verständigt. Es dauerte nur kurze Zeit, bis es auf der Straße von Polizisten wimmelte. Aber die Übeltäter waren bereits über alle Berge. Tessa Hayden und Doro Paschke befanden sich in ihrer Gewalt. *
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Als wir ins Foyer gerannt kamen, fanden wir den grauhaarigen Nachtportier rücklings hinter der Rezeption liegend. Ich kauerte mich neben ihn. Unterdessen tigerten Pit und Vincent durch die Halle. Sie rüttelten an der Tür, spähten in jeden Winkel und kehrten dann achselzuckend zurück. »Er lebt«, empfing ich sie aufatmend. Ich hatte den alten Burschen in die stabile Seitenlage gebracht und unter seinen Kopf einen Stapel Prospekte gelegt. Sein Gesicht glich einer Maske aus elfenbeinfarbenem Wachs. Allem Anschein nach mußte er ein schwaches Herz haben. »Ich schätze, jemand hat ihm einen tierischen Schreck eingejagt«, raunte ich. »Fragt sich bloß, wer«, sinnierte Pit. »Die Außentür ist verriegelt. Die Toiletten sind leer. Der Zugang zum Restaurant ist doppelt und dreifach versperrt. Der einzige Zugang zur Halle wäre die Treppe. Tja, aber die sind wir eben runtergekommen.« »Ein Phantom?« hauchte Vincent. Ich befühlte mit dem Daumen meinen Ring. Kein Schimmern, kein Prickeln. Infolgedessen schied eine übernatürliche Erscheinung aus. Mein Ring hätte eine dämonische Aktivität sofort angezeigt. »Mark, sieh nur«, riß mich Vincent aus meinen Gedanken, »ich glaube, unser Sorgenkind kommt wieder zu sich.« Tatsächlich. Der Nachtportier klappte seine Augendeckel auf. Sichtlich verdattert starrte er mich an. »Sie sind ohnmächtig geworden, Herr Wiedemuth«, klärte ich ihn auf. Seinen Namen hatte ich auf dem Plastikschildchen, das er an seinen Jackenaufschlag festgesteckt hatte, entziffert. Der Portier beleckte seine Lippen und holte tief Luft. Dann rappelte er sich auf. Ich stützte ihn. Schwer atmend sank er auf seinen Stuhl. Eine Zeitlang barg er kopfschüttelnd das Gesicht in der Hand, als wolle er irgend etwas nicht wahrhaben. »Was ist passiert?« fragte ich. Beklommen starrte er mich an. »Wahrscheinlich gucke ich zu viel in die Röhre. Da vermischen sich oft Fantasie und Realität. Ich kenne das von meiner Mutter. Sie ist über achtzig. Nachdem sie einen Film gesehen hat, glaubt sie, die Darsteller würden bei ihr im Haus aus- und eingehen. Einmal hat sie sogar jemanden am Telefon mit der Entschuldigung abgewürgt, Pfarrer Fliege sei auf Besuch und sie wolle ihn nicht so lange allein lassen.« »Möchten Sie ein Glas Wasser?« erkundigte ich mich, ohne auf 60
die Schilderung einzugehen. »Nein, davon kriege ich Läuse im Bauch. Geben Sie mir einen Kaffee. Wenn Sie auch einen wollen, es ist genug da.« Vincent kramte geschäftig hinter der Rezeption. »Es war komisch«, sagte Wiedemuth. »Ich stand da, träumte mit offenen Augen, als plötzlich an der Tür gerüttelt wurde. Wie Sie sehen, ist die Tür aus durchsichtigem Panzerglas.« Unwillkürlich warf ich einen Blick zum Eingang. »Und weiter?« Wiedemuth schien zu schaudern. Er schüttelte sich, als hätte er mit eisigem Gletscherwasser geduscht. »Es ist so unglaublich, daß ich es gar nicht aussprechen möchte«, fuhr er fort. »Sie werden mich für komplett durchgedreht halten.« »Bestimmt nicht«, versprach Pit Langenbach. Er stand neben mir. Gedankenvoll zwirbelte er seine Schnauzbartenden. »Erzählen Sie, was Sie gesehen haben. Wir haben selbst schon viele unerklärliche Merkwürdigkeiten erlebt.« Vincent servierte Kaffee. Im Stil eines Oberkellners der Alten Schule baute er das Geschirr auf der Empfangstheke auf. Der Nachtportier nippte behutsam am Rand seiner Tasse. Sein Gesicht sah gleich wieder eine Spur gesünder aus. Dann stellte er die Tasse mit einem Ruck beiseite. »Es war eine Frau«, preßte er hervor, »die draußen vor der Tür stand. Sie sah schrecklich aus. Wie eine wandelnde Leiche. Ihr Gesicht war blutverschmiert. Den Mund hatte sie so weit aufgerissen, daß ich dachte, ihr Unterkiefer wäre ausgekugelt. Sie fletschte die Zähne. Bevor ich umkippte, sah ich noch, daß sie nur einen Arm hatte. Dort, wo er mal in der Schulter gesteckt hatte, klaffte ein großes, schwarzes Loch.« »Brrr!« schnaubte Vincent angewidert. »Eine einarmige, zähnefletschende Frau! Das wirft glattweg alle Klischees über den Haufen.« Wiedemuth hat einen der Zombies erspäht. Die Beschreibung war eindeutig. Ehe ich eine weitere Frage stellen konnte, hörte ich schwerfällige Schritte die Treppe hinuntertapsen. Eine ältere Frau, die sich einen Herrenmantel über die Schultern geworfen hatte, erschien. »Mein Mann hat Zahnweh.« Verdutzt äugte sie von einem zum anderen. »Ich wollte fragen, ob Sie eventuell irgendwo 'ne Schmerztablette haben.« 61
Der Nachtportier hatte sich wieder im Griff. »Aber immer, junge Frau«, sagte er, stand auf, zog eine Schublade auf und kramte eine Zeitlang in dem Fach. Als er den Hotelgast zufriedengestellt hatte, schloß er uns die Tür auf, und wir traten in die Nacht hinaus. Dicht vor uns rauschte Wasser. Wir befanden uns nur wenige Schritte vom Fischerhafen entfernt. Die gepflasterte Hafenstraße war menschenleer. Am Kai schaukelten eine Handvoll vertäuter Kutter. Auf dem gegenüberliegenden Ufer sah ich den dicken Turm der St. Petri Kirche. Um ihn herum quollen fettleibige, graue Wolken. Kühler Nachtwind preschte uns ins Gesicht. Ich reichte Pit meinen Einsatzkoffer. Dann knöpfte ich mein Hemd auf. Auf der linken Brust, in Herzhöhe, hatte ich fünfmarkstückgroßes, siebenzackiges Mal. Die Stelle war völlig unempfindlich, sogar gegen glühende Zigarettenkippen. Wenn ich meinen magischen Silberring draufdrückte und einige Beschwörungsformeln aus dem Futhark-Runenalphabet murmelte, sandte der Ring einen dünnen, laserartigen Strahl aus. Folgte ich ihm, führte er mich geradewegs ins Zentrum der intensivsten, dämonischen Aktivität. Entschlossen drückte ich mir den Ring auf das Mal. Prickelnde Wärme durchströmte meinen Körper. Kurz darauf leuchtete der weißliche Strahl auf. Ich malte die Runen des altgermanischen Wortes Finde auf das Straßenpflaster. Pit und Vincent verfolgten das Schauspiel schweigend. Sekundenlang tanzte der Strahl übermütig umher. Er glitt die Fassade der umliegenden Häuser empor, streifte über Bäume und Sträucher und blieb dann unmittelbar vor meinen Füßen kleben. Ich knöpfte mein Hemd zu. Der Wind blies mir ständig die Haare ins Gesicht. »Deine Waffe, Mark«, erinnerte mich Pit. »Hast du sie mit der richtigen Munition geladen?« Ich löste die Sperre meines Schulterholsters, zückte meine SIG Sauer und ließ den Strahl des magischen Ringes eine Zeitlang über die Pistole wandern. Das Licht verfärbte sich bläulich. Jetzt war ich gewappnet. Der Zombie, der eine meiner geweihten Silberkugeln verpaßt bekam, war ein für allemal ausgeschaltet. Ich schob die Waffe in das Holster zurück. Unser magischer Wegweiser zeigte über die Brücke in die 62
Wolgaster Innenstadt. Wir setzten uns in Bewegung. Als wir die Oberwallstraße entlanggingen, hörte ich von irgendwo den verzerrten Ton einer Polizeisirene schrillen. Ich blieb stehen und horchte. Spielte mir meine Fantasie einen Streich, oder hatte ich eben einen Schrei gehört? Neben uns reckte sich die dreischiffige Basilika der St. Petri Kirche in den Himmel. Der Lichtstrahl glitt suchend an dem Gemäuer empor, kroch jedoch augenblicklich wieder hinunter und zeigte in Richtung Platz der Jugend. »Weiter!« sagte Pit. »Immer der Nase nach.« Ich rührte mich nicht. Eine jäh aufsteigende Unruhe hatte mich in ihren Bann gezogen. Das Gefühl signalisierte höchste Gefahr. Ich schloß die Augen, senkte den Kopf und konzentrierte mich. Irgendwas stimmte hier nicht. Sicher, wir befanden uns auf der Fährte mordlüsterner Zombies, das war kein Zuckerlecken, wir schwebten alle drei in Lebensgefahr. Aber da gab es noch etwas anderes, das mir Kummer bereitete. »Was hat er?« hörte ich Vincent flüstern. »Pst!!!« machte Pit. »Warte, Vincent.« Obwohl ich die Augen fest geschlossen hielt, sah ich in ein Meer von buntschillernden Lichtreflexen. Eine schemenhafte Gestalt löste sich aus dem optischen Farbspektakel. Sie wirkte zerbrechlich und völlig apathisch. Die Gestalt kam mir bekannt vor. Wollte mir mein Ring kundtun, daß jemand, den ich gut kannte, in höchste Gefahr geraten war? Ich spannte die Muskeln, ballte die Hände zu Fäusten. Wer war diese Gestalt? Sie hatte mir den Rücken zugedreht. Zudem waren ihre Umrisse zu verschwommen, um sie zu erkennen. Es deutete aber alles darauf hin, daß es eine Frau war. Ich versank ins Grübeln. Da zerriß ein gigantischer Blitz die mysteriöse Szenerie. Das Bild, das ich vor meinem geistigen Auge hätte, löste sich im Nu auf. Doch bevor es verschwand, sah ich für den Bruchteil einer Sekunde ein schreckgezeichnetes, leichenblasses Gesicht, aus dem zwei ampelgrüne Pupillen stachen. Ich kannte nur einen Menschen, der solche aufdringlich grünen Kontaktlinsen trug. Tessa Hayden.
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* Der Ghul war berauscht vom köstlichen Duft des Fleisches. Er schritt wie ein Feldherr durch das unterirdische Gewölbe und inspizierte die gefesselten Körper der leblosen Menschen, die seine Handlanger hierhergebracht hatten. Hin und wieder bückte er sich. Er preßte seinen verwesten Knochendaumen auf einen der Leiber. War das Fleisch elastisch, stieß er ein zufriedenes, dumpfes Rollen aus. Noch strömten die meisten Körper den Geruch des Lebens aus. Aber nicht mehr lange, dann würde das große Festmahl beginnen. Der Ghul röhrte belustigt. Der Ghul merkte, wie eine fette Ratte über eine seiner Fußklauen huschte. Schnell donnerte er mit der Hacke des anderen Fußes auf den vierbeinigen Nebenbuhler. Ein abgehacktes Quietschen verriet ihm, daß er getroffen hatte. Der Ghul haßte Ratten. Oft schnappten sie ihm die besten Bissen weg. Seine beiden Retter fielen ihm ein. Den zwei Burschen, die ihm die Freiheit geschenkt hatten, als sie ihm das Tor zur Welt öffneten, war er überaus dankbar. Sie hatten ihm auch die zwei Exponate gebracht, die ihm am meisten gefielen. Zwei junge Frauen. Zielstrebig tappte der Ghul durch die nachtschwarze Finsternis. Vor einer Nische des Gewölbes blieb er stehen. Zu seinen Füßen lagen die Körper zweier eng umschlungener Frauen. Die eine war blutjung, die andere kaum älter, jedoch von ebenmäßiger, schöner Gestalt. Er berührte ihre Hälse, um zu prüfen, ob sie noch lebten. Anfangs schleppten seine Gehilfen übel zugerichtete Tote an. Doch jetzt parierten sie. Jeder Neuzugang hatte zumindest noch ein Fünkchen Leben in sich. Er bemerkte, wie sich eine der beiden Frauen bewegte. Es war die ältere. Sie hatte braune, für eine Frau ziemlich kurzgeschorene Haare und samtweiche Haut. Ich werde sie mir bis zum Schluß lassen, nahm er sich vor. Sie soll die Krönung meines Mahls sein. Abermals entstieg seiner Kehle ein rollender Ton. Da sah er, wie die Frau den Kopf zur Seite drehte. Sie wollte ihre Arme von der anderen lösen. Aber die Fesseln hielten. Es 64
waren starke Stricke, die seine Handlanger von den Kuttern im Hafen gestohlen hatten. »Wo bin ich?« wisperte die Frau. Sie schlug die Augen auf. Der Ghul spürte, daß sie ihren Blick auf ihn gerichtet hatte. Er sah ihre grünen Augen. Menschen können in der Finsternis nicht sehen, sagte er sich. Das war schon so, bevor die Menschen anfingen, Kirchen zu errichten. Hatte sich das etwa heute geändert? Der Ghul neigte seinen Knochenkopf und stierte die Frau, die zu seinen Füßen lag, mit unverhohlenem Interesse an. Der Anblick ihrer unnatürlich grünen Augen versetzte ihn in Erstaunen. In solche grellen Augen hatte er noch nie geschaut. Diese Augen funkelten dermaßen hell, daß er seinen Blick abwandte. Licht, in welcher Form auch immer, flößte ihm schieres Entsetzen ein. »Wer bist du?« fragte die Frau. Der Ghul beschattete seine Augenhöhlen. Unbehaglich trat er einen Schritt beiseite. Es war noch nie vorgekommen, daß eine Frau oder ein Mann das Wort an ihn gerichtet hatte. Seine Opfer hatten höchstens geschrien, bevor er sie zerfleischte. Doch niemand hatte ihm eine Frage gestellt. Wie merkwürdig ihre Stimme klang, klopfte es in seinem Schädel. Sein Unbehagen wuchs. »Ich heiße Tessa Hayden«, hörte er sie sagen. Hielt sie ihn etwa für ihresgleichen? Einen dieser auf der Erde wandelnden, schwächlichen Menschen? Der Ghul knackte mit den Fingergelenken seiner Klaue. Ihm wurde klar, daß diese Frau sehr mutig sein mußte. Sie stellte Fragen. Ihm, dem mächtigen Ghul. Möglicherweise war sie eine Hexe, verfügte über Kräfte, die ihm schaden könnten. Mit einemmal sah er alles in einem anderen Licht. Er beschloß, Vorsicht walten zu lassen. Wenn man sich Hexen einverleibte, konnte es Ärger geben. Hexen arbeiteten nicht auf eigene Rechnung. Die meisten von ihnen gehörten zu den Heerscharen des Satans. Und wer sich an Luzifers Gespielinnen vergriff, setzte sich dessen Rache aus. Rasch murmelte der Ghul eine Beschwörung. Das Licht der fürchterlich grünen Augen erlosch. Der Kopf der Frau sank auf den Körper ihrer Nachbarin. Was, wenn sie noch einmal aufwacht und meinen Bannspruch entkräftet? dachte der Ghul. Seine Hochstimmung war einer 65
tiefen Unruhe gewichen. Er hob den Schädel und stieß ein lautes, gurgelndes Rollen aus. Aber diesmal klang es anders als bisher. Unter den Zorn hatte sich Furcht gemischt. Hinter ihm, dort, wo sich der versteckte Eingang des Gemäuers befand, tönten dumpfe Schritte. Der Ghul fuhr herum. Zwei seiner Handlanger schleiften den Körper eines Betäubten hinein. »Genug jetzt!« ließ er sie wissen. Erschrocken ließen die Zombies ihr menschliches Bündel auf den steinernen Boden poltern. Sie standen wie angenagelt. Er wußte, all ihre Sinne waren darauf ausgerichtet, ihm zu dienen. Jetzt wußten sie nicht, was sie weiter tun sollten. Sie gafften ihn aus blutigen Augen an. »Geht mir aus den Augen, ihr Dummköpfe!« hämmerte er in ihre Schädel. Die Zombies neigten ehrfürchtig die Köpfe. Sie schleppten sich in den hinteren Teil des Gewölbes und duckten sich unterwürfig hinter einen Mauervorsprung. Der Ghul schritt nochmals die Reihe der gefesselten Menschen ab. Es war ein halbes Dutzend. Ausreichend für ein großes Fressen. Doch seitdem er in die grünen Augen dieser unheimlichen Frau geblickt hatte, schaffte es nicht einmal der betörende Duft der Gefangenen, ihn von seinem Unbehagen zu befreien. Vielleicht sollte ich um ihre Gunst buhlen? dachte er, während er sich erneut vor ihr aufbaute und sie anstierte. Wenn ich die grünäugige Hexe wach werden lasse und sie dorthin zurückbringen lasse, wo sie meine Gehilfen gefangen hatten, verzeiht sie mir sicher. Die Idee gefiel ihm immer besser. Wenn die Hexe fort war, konnte er endlich mit ruhigem Gewissen das Festmahl einläuten. Lange genug hatte er schließlich darauf gewartet. Der Ghul gab den Zombies, die hinter dem Mauervorsprung kauerten, ein Zeichen. Als die Untoten schaukelnd näher kamen, beugte er sich über die vermeintliche Hexe und verkehrte seinen Bannspruch ins Gegenteil. Die grünen Augen begannen zu leuchten. »Löst ihre Fesseln!« befahl der Ghul. Seine Zombies gehorchten.
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* »Es ist eine Frau«, flüsterte Vincent: Ich hielt den Ring höher. Der Strahl, den er aussandte, streifte über eine geduckte Gestalt, die auf dem hof ähnlichen Platz eines dreistöckigen Hauses kauerte. Wir befanden uns in der Chausseestraße, einen knappen Steinwurf vom Friedhof entfernt. Mit Gewalt hatte ich die besorgniserregenden Gedanken, die sich um Tessa Hayden drehten, von mir geschoben. Ich durfte mich jetzt nicht ablenken lassen. Aber immer wieder tauchte Tessas Gesicht vor meinem geistigen Auge auf. »Ich schwöre es: Es ist eine Frau.« Vincent war baff. »Sie war mal eine Frau«, präzisierte Pit. »Jetzt ist sie ein Monster.« Pit hatte recht. Der Lichtstrahl blieb auf der Gestalt haften. Sie rührte sich nicht. In vorgebeugter Haltung stand sie da, als hätte sie vergessen, was sie als nächstes tun sollte. Ich zog meine Waffe. »Warum rennt sie nicht weg?« fragte Vincent. »Sie scheint auch nicht vorzuhaben, uns anzugreifen. Vielleicht ist sie gar nicht infiziert? Mark, stell dir mal vor, du erschießt aus Versehen den Verkehrten.« »Noch solch ein Spruch, und ich tu es«, brummte ich verdrießlich. Kaum waren meine Worte verhallt, schraubte sich die Gestalt in die Höhe. Ich visierte ihren Kopf an, und Pit leuchtete ihr ins Gesicht. Uns stockte der Atem. Wir schauten in eine grausig verzerrte Maske des Todes. Aber da gab es noch etwas anderes, was mich in Erstaunen versetzte. Ich spürte, daß in der Zombiefrau ungewöhnliche Dinge vorgingen. Mein Finger spielte am Abzug. Aber würde ich tatsächlich schießen? Sie starrte uns an. Irgendwie erinnerte sie mich an Tessa. Obwohl die Zombiefrau gräßlich anzuschauen war, erkannte ich noch die Reste der ehemals gleichmäßigen, fast hübschen Gesichtszüge. Sie rührte sich nicht vom Fleck. »Das muß Maren Schulz sein«, sagte ich, ohne sie aus den Augen lassen. »Die einarmige Boutiquebesitzerin, die den Bartusch in der Küche fertiggemacht hat.« 67
»Großer Gott!« entfuhr es Pit. »Täusch ich mich, oder weint sie?« »Sie weint«, raunte ich. Vincent zupfte an meinem Ärmel. »Jagst du ihr trotzdem deine Silberkugeln in den Leib?« »Nein, ich frage sie, ob sie mit mir gehen will.« Verärgert biß ich mir auf die Lippe. Gefühlsduselei war das Letzte, was uns fehlte. Da könnten wir unsere Gesichter gleich schwarz anmalen. Wir standen einer Untoten gegenüber. Womöglich hatte sie bloß ihre Trickkiste aufgemacht, um uns zu verunsichern. Bei näherer Überlegung kam es mir ziemlich verdächtig vor, daß sie uns hier, in der Nähe des Friedhofs, über den Weg lief. Eine weinende Zombiefrau! Das war absurd. »Ich gehe zu ihr«, sagte Vincent plötzlich. »Das wirst du hübsch bleiben lassen!« fuhr ich ihn an. »Ach was. Glaubst du, nur du allein verstehst was von Frauen?« Ein Schauder lief über meinen Rücken. Narrten mich Hirngespinste? Vincent van Euyen machte tatsächlich Anstalten, sich der Zombiefrau zu nähern. Wollte er das Schreckgespenst etwa in den Arm nehmen und trösten? »Hiergeblieben!« Zum Glück behielt Pit die Nerven. Grob packte er Vincent am Arm und riß ihn zurück. »Bist du wahnsinnig, Vincent? Das Liebchen würde aus dir Hackepeter machen, du Narr!« »Laß mich los!« jaulte Vincent. »Du hast ja keine Ahnung!« Ich warf ihm einen schnellen Blick zu. Seine Augen waren murmelrund, sein Blick flirrte unstet, und er zitterte wie Götterspeise. Mir kam ein schrecklicher Verdacht. »Er ist besessen«, warnte ich Pit. »Sie hat ihn in ihren Bann gezogen.« Pit nickte. »Das haben wir gleich«, sagte er und gab Vincent eine schallende Ohrfeige. Vincents Reaktion verlief völlig anders als erwartet. Anstatt durch den Schmerz wieder in die Wirklichkeit zurückzufinden, stieß er einen gellenden Schrei aus. Trotz seiner Leibesfülle federte er elastisch in seinen Knien, ballte seine Faust und drosch sie Pit ins Gesicht! Überrascht taumelte der Hauptkommissar zurück. Er stand da wie Staunemann, unfähig zu glauben, was ihm da eben widerfahren war. Auch ich war perplex. Bisher kannten wir 68
Vincent van Euyen als überaus friedfertigen Menschen. Er konnte keiner Fliege etwas zuleide tun. Und jetzt schlug er einen Freund! Es half nichts. Ich mußte diesen Spuk beenden. Er ging von der Zombiefrau aus. Das war klar wie das Amen in der Kirche. Ich hob die Waffe, zielte und erschrak. Der Platz, an dem sie noch vor wenigen Augenblicken gestanden hatte, war leer. Jetzt stieg sie gerade über einen flachen Holzzaun und sprang auf die uns abgewandte Seite. Wild entschlossen gab ich einen Schuß auf sie ab. Aber als ich abdrückte, wurde meine rechte Hand hochgerissen. Die Kugel pfiff in die Luft. »Vincent!« schrie ich auf. »Ich werde zu ihr gehen«, lallte er. Es kam zu einem kurzen Handgemenge, dann lag Vincent van Euyen blutend am Boden. Ich sah nach Pit. Er rappelte sich gerade auf und hielt sich sein Kinn. »Der hat einen Schlag wie ein Pferd«, stöhnte er. Vincent van Euyen wälzte sich auf die Seite, hievte sich hoch und sah mich stirnrunzelnd an. »Wieso prügelst du mich?« fragte er einfältig. »Ich denke, wir sind Freunde.« »Eine interessante Feststellung«, sagte ich. »Vincent, du warst gerade dabei, dich auf die Seite unserer Gegner zu mogeln. Deswegen.« Vincent sagte nichts. Er klopfte sich den Schmutz von der Hose und zauberte eine Handvoll Katzenpfötchen aus der Sakkotasche. »Tut mir leid, Jungs«, sagte er schuldbewußt. »Vergessen wir's.« Ich sah mich um. »Pah - die Zombiefrau ist auf und davon.« Wir überquerten die sich im Bau befindliche Straße und wandten uns dem Friedhof zu. Der Strahl zitterte uns voraus. Als wir uns auf die rote Backsteinmauer zubewegten, raschelte es plötzlich im Gebüsch. Zwei Polizisten sprangen heraus. Sie hielten Pistolen in den Händen. »Wen haben wir denn da?« Der Kleinere kam steifbeinig auf uns zu. Er wirkte zu allem entschlossen. »Hände hoch! Aber ein bißchen dalli.« Natürlich ließen wir unsere Arme unten. »Ich bin Hauptkommissar Langenbach aus Weimar«, klärte Pit die beiden auf. »Hier, mein Ausweis!« »Ich sagte - Hände hoch!« Der Polizist kniff die Augen 69
zusammen. Seine Waffe war auf Pits Bauch gerichtet. »Waren Sie es, der vorhin den Schuß abgegeben hat?« »Ja. Ich bin...«, begann Pit erneut. »Halten Sie den Mund!« blaffte der Uniformierte. »Und stellen Sie gefälligst dieses komische Licht aus, das da flimmert.« Er war ein stuckiger, untersetzter Mann Ende Vierzig. Sein kantiges, breitflächiges Gesicht ähnelte einem Feuermelder. Zum Reinschlagen. Ich kam mir vor wie ein ertappter Dieb. Um ihn nicht unnötig zu provozieren, hoben wir zögernd die Arme. Er brachte es glattweg fertig und schoß uns über den Haufen. Seine Nerven schienen blank zu liegen. Mit Zombies hatte man eben nicht jeden Tag zu tun. »Höher!« verlangte er. »Hören Sie!« blaffte Pit wütend. »Die Show, die Sie hier abziehen, könnte Ihre Karriere noch in dieser Nacht beenden. Wir sind selbst hinter den Zombies her. Ich war es, der den Fall überhaupt ins Rollen gebracht hat. Rufen Sie Kommissar Surke in Anklam an. Er wird es Ihnen bestätigen.« »Vielleicht stimmt es, was er sagt«, meldete sich der zweite Beamte aus dem Hintergrund. »Woher sollte er auch Wind davon bekommen haben, was hier abläuft?« »Na, meinetwegen«, sagte der Stuckige nachdenklich. »Dann zeigen Sie mir mal Ihr Papierchen.« Erleichtert nahmen wir die Arme herunter. Der Polizist studierte Pits Ausweis. »Okay«, murmelte er. »Sie sind sauber. - Da hab ich wohl eben 'nen kolossalen Bock geschossen, wie?« »Haben Sie einen Schlüssel für das Friedhofstor?« fragte ich, ohne auf seine Selbstvorwürfe einzugehen. Der Stuckige war wie ausgewechselt. »Klaro. Alles dabei.« Er steckte seine Pistole weg und wühlte in seinen Taschen. Als er den Schlüssel gefunden hatte, drückte er ihn Pit freudestrahlend in die Hand. »Auf wen haben Sie eigentlich vorhin geschossen?« wollte sein Partner wissen. Niemand antwortete ihm. Alle sahen die nachtdunkle Straße hinunter. Eine einsame Gestalt kam auf uns zu. Schon hörte ich das Klappern der Absätze. Die Polizisten griffen instinktiv nach ihren Waffen. Dann löste sich ein aschfahles Gesicht aus der Dunkelheit. »Mich laust der Affe!« entfuhr es Vincent. »Kneift mich mal! 70
Wenn das nicht Tessa Hayden ist, rühre ich ab sofort keine Katzenpfötchen mehr an.« * Doro Paschke litt Höllenqualen. Seitdem die Siebzehnjährige zu sich gekommen war, spürte sie nur eines: Schmerzen. Das fürchterlichen Pochen unter der Schädeldecke trieb sie schier zur Verzweiflung. Jemand mußte ihr einen mörderischen Schlag verpaßt haben. Zudem taten ihre Hand- und Fußgelenke dermaßen weh, daß sie am liebsten ununterbrochen gebrüllt hätte. Zuerst wußte sie überhaupt nicht, wo sie sich befand. Alles um sie herum lag in tiefster Finsternis. Dann merkte sie, daß man sie wie einen Stoffballen zusammengeschnürt hatte. Allmählich setzte die ganze Erinnerung wieder ein. Furchterregende Wesen hatten sie überfallen und hierher verschleppt. Kreaturen, die nichts Menschliches an sich hatten. Die Dunkelheit lag wie ein Leichentuch auf der jungen Frau. Sosehr sie ihre Augen auch anstrengte, sie sah buchstäblich keinen Stich. Doch so ungefähr ahnte sie, wohin man sie verschleppt hatte. Es mußte eine unterirdische Anlage sein, eine Art Grotte oder Keller. Der Geruch modriger Fäulnis war allgegenwärtig. Bisweilen klangen tippelnde Schritte an ihr Ohr. Einmal hatte sie geglaubt, die Schritte kämen von Menschen, die sie gefunden hatten. Aber schnell verflog die Zuversicht. Es waren Ratten. Doro spürte, wie die kalten, nassen Füße der Nager über ihren Körper hinwegtapsten. Sie hörte ihr dünnes, zirpendes Quieken, das klang, als verständigten sich die Ratten untereinander. Ich liege gefesselt in einer riesigen Gruft, sagte sie sich. Aber wo war die nette Polizistin geblieben? Ganz dunkel erinnerte sich Doro daran, daß Tessa eine Zeitlang neben ihr gelegen hatte. Oder hatte sie das auch nur geträumt? Wasser tropfte auf ihren Kopf. Doro rutschte ein Stück zur Seite. Sofort verstärkten sich die brennenden Schmerzen an den Gelenken. Ihre Peiniger hatten die Stricke so fest gezogen, daß ihr irgendwann Hände und Füße absterben würden. 71
Um nicht fortwährend an die scheußlichen Schmerzen denken zu müssen, brachte sich Doro auf andere Gedanken. In den düstersten Farben malte sie sich aus, wer der Urheber dieses skrupellosen Gewaltaktes sein könnte. Vielleicht ein Wahnsinniger? Nein, das schied aus. Wahnsinnige verübten ihre Schandtaten allein, ohne Gehilfen. Ein Entführer, der Lösegeld erpressen wollte, schied ebenso aus. Die Art, wie das Kidnapping verlaufen war, war einfach bizarr. Die Wesen, die sie aus dem Auto gezerrt hatten, glichen Monstern und keinen Menschen. Doro spürte Tränen über ihre Wange rinnen. Insgeheim hatte sie immer daran geglaubt, daß es übernatürliche Wesen gab. Nicht nur, weil das Fernsehen seine Zuschauer ständig mit dem Auftauchen der ungeheuerlichsten Kreaturen in seinen Filmen überschüttete. Nein, hauptsächlich war es ein Gefühl, auf dem Grund ihrer Seele, das ihr verriet, daß es außer Menschen und Tieren noch andere Lebewesen auf der Erde gab. Vielleicht handelten die Ungetüme, die sie hergebracht hatten, im Auftrag eines Mächtigeren? Ihr frierender Körper erzitterte unter einem jähen Angstschauder. Ihre Zähne schlugen aufeinander, daß es laut klapperte. In ihrem Geist erschien die furchteinflößende Gestalt Graf Draculas. Er stand auf dem oberen Absatz einer geländerlosen Steintreppe und starrte sie mit glühenden Augen an. Von seinen Eckzähnen troff Blut, das er mit einem diabolischen Grinsen fortwischte. Unwillkürlich hörte Doro, wie sein weiter schwarzglänzender Umhang im unheimlich säuselnden Nachtwind flatterte. Jetzt war sie fast sicher: Ein Vampir hatte seine Gehilfen ausgeschickt. Er brauchte frisches Blut. Doro schluchzte. In den Romanen, die sie gelesen hatte, benahmen sich die aristokratischen Vampire immer wie vollendete Gentlemen. Sie luden ihre Opfer in Schlösser ein, bewirteten sie mit den auserlesenen Speisen und boten ihnen stilvolle Schlafzimmer an. Hm, nachdem, was sie bislang erlebt hatte, mußte der Auftraggeber ihrer Entführung ein sehr armseliger Vertreter seiner Klasse sein. Er hatte sie in ein finsteres Kellerloch gesperrt. Möglicherweise besaß er nicht mal einen mit rotem Samt gefütterten Sarg, in dem er sich tagsüber zum Schlafe hinlegte. Ein nahes Scharren unterbrach ihre Überlegungen. 72
Doro Paschke spitzte die Ohren. Planten die Ratten erneut, sie heimzusuchen? Oder war sie etwa nicht allein in ihrem Verlies. Ein Funken Hoffnung glomm in ihr auf. »Tessa?« hauchte sie ins Nichts. »Tessa? Bist du es?« Das Scharren hörte auf. Es war mucksmäuschenstill. Bis auf das monotone Tröpfeln über ihr war nicht das leiseste Geräusch zu vernehmen. »Wenn du da bist, gib mir ein Zeichen«, wisperte Doro. »Wenn du mich hörst, dann scharre einfach noch einmal. Dann weiß ich, du hast mich verstanden.« Stille. Dann scharrte es tatsächlich. Doro Paschke holte tief Luft. Tessa hat mir ein Zeichen gegeben, dachte sie. Sie liegt irgendwo neben mir. Vielleicht ist sie geknebelt und kann deswegen nicht sprechen. »Tessa, ich werde versuchen, zu dir zu kriechen. Ich weiß ungefähr, wo du liegst. Aber zur Sicherheit scharre noch mal, ja?« Es scharrte. Doro Paschke hätte jeden Eid geschworen, daß es die nette Polizistin Tessa Hayden war, die ihr ein Zeichen geben wollte. Die neue Hoffnung, die sie sogleich schöpfte, elektrisierte sie. Die Siebzehnjährige spürte eine neue Kraft in sich aufblühen. Das müssen die sagenhaften zehn Prozent sein, von denen so oft die Rede ist, sagte sie sich. Man kann sie nur mobilisieren, wenn man in großer Gefahr schwebt und ganz fest an die Rettung glaubt. Als sie sich anschickte, ihren Platz auf dem feuchtnassen Steinboden zu verlassen, wirbelten unglaubliche Wellen stechender Schmerzen ihren Körper auf. Doro biß sich die Lippen blutig, um nicht loszuschreien. Zentimeter für Zentimeter schob sie sich über den glibbrigen Boden. »Ich komme, Tessa!« Sie lächelte fast. »Paß auf! Gleich bin ich da. Ich werde es schaffen.« Da stieß ihre tastende Hand gegen ein Hindernis. Tessas Fuß? Freudig erregt verdoppelte Doro Paschke ihre Bemühungen. Jetzt waren es ja bloß noch einige Zentimeter, dann war sie bei der neugewonnenen Freundin. Ihre Fingerspitzen fühlten bereits 73
den vermeintlichen Blazer der Polizistin. Plötzlich zuckte Doro zusammen. Ein abstoßender Geruch strömte aus dem Körper aus, den sie für Tessa Hayden gehalten hatte. Wie Essigessenz, nur viel ekliger, stach er in ihre schmerzende Nase. Und es gab noch etwas, das stach. Eine gräßliche Stimme, die ihren Kopf zu zersprengen drohte. Doro hörte sie nicht mit den Ohren, sondern die Stimme erklang direkt in ihrem Schädel. Sie sagte: »Dein Fleisch gefällt mir, Mädchen. Es ist so herrlich weich.« * Tessa Hayden berichtete stockend. Nachdem ich meine Freundin ausgiebig begrüßt hatte, musterte ich sie besorgt. Sie war schmutzig, ihre Kleidungsstücke rochen faulig, und vermutlich hatte sie die Hölle auf Erden erlebt. Je länger sie sprach, um so trockener wurde mein Mund. Mir war, als hätte ich Strandsand gegessen. Wieso hatte mich der Strahl meines magischen Ringes zum Friedhof geführt? Allem Anschein nach befand sich der Aufenthaltsort des gesuchten Dämons doch woanders. Als Tessa ihre haarsträubende Story beendet hatte, bestürmte ich sie mit Fragen. »Du glaubst, es war ein unterirdisches Gewölbe, Tess?« Sie nickte. »Der Keller muß riesig sein, Mark. Ich schätze, er hat die Größe eines Fußballfeldes.« »Und seine Lage? Hast du dir seine ungefähre Lage einprägen können?« »Nein. Leider nicht. Ich wurde sofort bewußtlos.« »Erinnere dich, Tess!« bedrängte ich sie. »Es ist ungemein wichtig. Vielleicht fällt dir doch was ein.« Sie schüttelte den Kopf. »Sorry. Es war ein klassisches Blackout. Klappe zu, Affe tot. Ich hab nichts mitgekriegt.« »Könnte das Gewölbe unter dem Friedhof sein?« »Ich weiß nicht wieso, Mark, aber das glaube ich nicht. Mir schien, als wäre es irgendwie weiter entfernt.« »In welche Richtung?« Tessa deutete nach Nordosten. 74
Ich folgte ihrer Geste. »Also Usedom.« »Vor Usedom liegt die Schloßinsel«, warf Pit Langenbach ein, aber ich war schon einen Tick weiter. »Ich frage mich, wieso man dich wieder zurückgebracht hat«, sinnierte ich. »Wer es auch sein mag, der dich und das Mädchen gekidnappt hat, er hat seinen ursprünglichen Plan aus irgendeinem Grund geändert.« Tessa seufzte. »Die Bestie hat mich genau an die Stelle gebracht, wo man uns überfallen hat. Als ich zu mir kam, saß ich auf dem Fahrersitz meines Wagens. Leider ist die Möhre im Eimer. Da bin ich halt zu Fuß.« In meinem Kopf knisterte es. Grübelnd schaute ich mich um. Die beiden Uniformierten standen da und hielten Maulaffen feil. Sie kamen mir vor wie Statisten aus der Arztserie Dr. Stefan Frank, die urplötzlich im Kreißsaal dem Terminator gegenüberstanden. Pit Langenbach unterbrach meine Grübeleien. Er versetzte mir einen leichten Rippenstoß. Pit erwog die Möglichkeit, daß unser Gegner einen kurzfristigen Tapetenwechsel vorgenommen haben könnte. »Möglich«, gab ich zu. Dann wandte ich mich an die Polizisten. »Sie haben gehört, was Frau Hayden eben sagte. Kennen Sie in Wolgast unterirdische Gemäuer?« Der Stuckige runzelte die Stirn. »Auf Anhieb fällt mir höchstens der Ratskeller ein.« Tessa winkte ab. »Ich kenne zwar den Wolgaster Ratskeller nicht, aber ich halte das für unwahrscheinlich. Wie gesagt, der Raum hatte gewaltige Ausmaße. Außerdem wirkte er, als hätte seit dreihundert Jahren kein Mensch mehr einen Fuß hineingesetzt.« »Dann gibt es wohl nur noch eine Möglichkeit.« Das Gesicht des Polizisten hellte sich auf. »Und zwar das Fundament der ehemaligen Wolgaster Burg auf der Schloßinsel. Vielleicht gibt es dort einen Geheimgang, der in dieses Gewölbe führt. - Potz Blitz, seit heute halte ich nichts mehr für unmöglich.« Mein Handy fiepte. Ich drückte auf Empfang und meldete mich. Es war Ulrich, der mich anrief. »Vater, du?« »Ich muß dich warnen«, raunte er. Seine Stimme vibrierte. »Wo steckst du gerade, Mark?« »Vor dem Friedhofsportal. Der Ring hat uns hergeführt.« 75
»Ist Tessa bei euch?« »Ja«, antwortete ich. »Seit ein paar Minuten.« »Hör zu, Mark«, fuhr Ulrich fort. »Ich bin die halbe Nacht durchs Internet gesurft und habe dann über alten Wälzern gebrütet. Dabei bin ich auf eine überraschende Erkenntnis gestoßen.« »Mach es nicht so spannend. Steht eine Zeitreise an?« »Ich denke, das wird nicht nötig sein«, entgegnete Vater. »Jedenfalls fand ich heraus, wer dein Gegner ist. Mark, halt dich fest. Es ist ein mit allen Wassern gewaschener Ghul.« »Brutus Kasput? Ich dachte, der wäre hinüber.« (Siehe MH 11, Ghul-Alarm in Ostberlin!) »Nein. Nicht Brutus Kasput. Es ist ein anderer Ghul. Sein Name ist Torturus.« »Torturus? Sagt mir nichts.« »Deswegen rufe ich dich an. Der Geisterbanner Bern ward, der im elften Jahrhundert lebte, hatte Torturus schon einmal aus dem Verkehr gezogen. Das Scheusal wurde gestreckt, gevierteilt und anschließend verbrannt. Man hob eine Grube aus und schüttete seine Asche metertief in die Erde. Danach wurde die Stelle mit einem magischen Drudenfuß versiegelt.« »Er hat es dennoch geschafft, sich wieder zu materialisieren.« »Dieser Ghul ist krankhaft machtbesessen. In Wollin und im versunkenen Vineta, dieser sagenhaften, in der Ostsee versunkenen Stadt, hat er versucht, die Herrschaft an sich zu reißen. Seine Gehilfen rekrutierte er aus den Gräbern. Es kam ihm zugute, daß durch die schrittweise Einführung des Christentums die Erdbestattung die heidnische Sitte des Verbrennens ablöste. Torturus beabsichtigte, sich mit einer Armee von Wiedergängern zu umgeben. Fast wäre sein grauenvoller Plan gelungen. Aber zum Glück gab es Bernward, einen Benediktinermönch mit unerhört starken übersinnlichen Fähigkeiten. Der Geisterbanner überlistete Torturus, lockte ihn in eine Falle und vernichtete ihn.« »Mit welchen Mitteln?« fragte ich aufhorchend. »Wurde das überliefert?« »Leider nicht präzise. Aber wir können davon ausgehen, daß deine Silberkugeln diesmal nicht ausreichen werden.« »Du machst mich neugierig, Ulrich«, sagte ich. »Soll ich das Monstrum pfählen und in Stücke hacken, so wie einst Bernward, der Mönch?« 76
Mein Adoptivvater schwieg einen Augenblick. Er schien zu zögern. Ich hörte seinen Atem pfeifen. »Ja«, meinte er dann, »wenn du Torturus außer Gefecht gesetzt hast, wirst du ihn in seine Atome zerlegen müssen.« »Trübe Aussichten. Sag bloß Mutter nichts davon. Sonst steht sie noch Kopf vor Angst.« »Keine Sorge, Mark. Ich bin stumm wie ein Grab.« Kurz darauf beendete Ulrich das Gespräch. Ich steckte das Handy weg und blickte in fünf entsetzte Gesichter. »Wen willst du in Stücke hacken?« Vincent van Euyen tupfte sich die Schweißperlen aus seinen Geheimratsecken. »Den Ghul Torturus«, gab ich zur Antwort. »Er ist das Geschöpf, hinter dem wir her sind.« * Doro Paschke gefror das Blut in den Adern. Statt der erhofften Freundin befand sie sich nun in Gesellschaft eines unaussprechlich schrecklichen Ungeheuers, das scharf auf ihr Fleisch war. Zum Glück war es stockdunkel, und ihr blieb der Anblick des Monsters erspart. Die Hoffnung, die sie vorwärtsgetrieben hatte, zerplatzte wie eine Seifenblase. Tessa Hayden war fort, wohin auch immer. Doro spürte einen schwachen Luftzug. Sie schrie auf. Auf ihre Schulter hatte sich etwas Schweres gelegt. Doro fühlte eine unerträgliche Kälte durch den Stoff ihrer Jacke. Das gespenstische Wesen berührte sie. Auf der Stelle setzten ihre Schmerzen wieder ein. Sie rollte sich zusammen wie ein Igel. Der Druck auf der Schulter wurde schwächer und verschwand. »Geh weg, du Monstrum!« brüllte sie. Ein langgezogenes, dumpfes Rollen ertönte. Kurz darauf erscholl das Rollen in ihrem Kopf. Es artikulierte sich zu einer Stimme. »Wie heißt du, Mädchen?« Doro zitterte. Das Monstrum spricht mit mir, bevor es mich umbringt und mich auffrißt. Doro war wie gelähmt. So mußte es sein, wenn man regungslos im Rollstuhl saß und auf die Hilfe anderer angewiesen war. »Ich warte auf Antwort!« rollte es. »Wenn du verstockt bist, 77
töte ich dich sofort.« »Doro«, hauchte sie hastig. »Ich heiße Doro.« »Ein sonderbarer Name.« »Und? Wie heißt du?« Jetzt klang das Rollen wie eine Geröll-Lawine in ihrem Schädel. »Tor-tu-rus. - Ich - bin - der - mächtige - Tor-tu-rus.« »Den Namen habe ich noch nie gehört.« »Das wird sich jetzt ändern.« »Was hast du vor?« »Ich werde bald euer König sein.« »Es gibt heute keine Könige mehr.« »Auch das wird sich ändern«, polterte es. »Es gibt niemanden, der mich aufhalten kann. Der Mönch Bernward ist längst von den Würmern gefressen.« Doro hatte keine Ahnung, was dieser Torturus da faselte. Wenn er ein Geist war, woran sie fest glaubte, dann war er ein total verrückter Geist. Er wollte König werden! Was für ein erbärmlicher Unfug. Ein bestialisch stinkendes Ungeheuer, das in einer gottverlassenen Grotte saß, maßte sich an, über die Menschheit herrschen zu wollen. Womöglich auf einem gewaltigen Thron, der aus Leichenteilen gefertigt war, in der Knochenklaue einen blankpolierten Totenschädel. Wahnwitz! »Wer war die Frau, die bei dir war?« rollte es in Doros Kopf. »Kennst du sie?« »Nein«, wisperte Doro. »Du lügst!!!« kam es prompt zurück. »Treib keine Spielchen mit mir. Sie ist eine Hexe. Ich weiß es. Sag mir, was du mit ihr zu tun hast. Und keine Lügen. Verstanden?« Totenstille. Torturus wartete. »Ich weiß wirklich nichts«, weinte Doro. »Dann wirst du sterben«, ließ der Ghul sie wissen. »Bevor der Morgen graut, wird nur noch ein Berg Knochen von dir übrig sein. Du hast es so gewollt.« »Aber ich sage die Wahrheit.« »Du stirbst trotzdem.« Die barmherzige Ohnmacht, in die Doro fiel, wäre ihr wie eine Erlösung vorgekommen. Der Ghul wandte sich grimmig ab. Im Hintergrund hallten schlurfende, sich nähernde Schritte. Seine untoten Handlanger 78
kamen. Unter ihnen die einarmige Zombiefrau. Sie war es, die ihrem Gebieter etwas von unerhörter Bedeutung mitzuteilen hatte. Torturus gewährte ihr eine kurze Audienz. Sein Groll verwandelte sich in eiskalten Zorn. Er war nahe dran, die Zombiefrau in Stücke zu reißen. Wie konnte sie so dreist sein, ihm eine derartig schlechte Botschaft zu überbringen. Wo blieb der Respekt, der ihm gebührte? Nur mühsam bezwang sich der Ghul. Er beschloß, seine Zombies noch einmal auszuschicken. * Es gab einen lauten Knall. Ich sah, daß dicht vor uns ein Dachziegel auf dem Straßenpflaster zerschellte. Sofort flog ein Fenster auf. Ein Mann mit schwarzem Bart wollte wissen, was los war. Wir gingen gerade die Hafenstraße in Richtung Spitzenhörnbucht entlang. Die beiden Polizisten waren nicht mit von der Partie. Sie hatten Befehl, bis zur Ablösung am Friedhof Wache zu schieben. Mir war es recht. »Was treiben Sie da unten?« rief uns der Mann aus dem Fenster zu. Im selben Augenblick stürzten zwei, drei weitere Dachziegel auf die Straße. Eine von ihnen hätte Tessa Hayden um ein Haar voll erwischt. Pit richtete den Lichtfinger seiner Taschenlampe aufs Dach. Wir sahen gerade noch, wie ein plumper Schatten hinter dem Dachfirst verschwand. »Nanu? Fassadenkletterer?« Vincent krauste die Nase. »Möglicherweise ein Späher, der seinem Boß unser Kommen ankündigt«, vermutete Pit. »He, Sie da unten!« rief der Schwarzbart beleidigt. »Die Herren sprechen wohl nicht mit jedem, he?« »Erfaßt«, sagte ich wahrheitsgemäß. Wir gingen weiter. Nachdem ich meinen Ring an Tessas Körper gerieben hatte, hatte ich ihn erneut aktiviert. Diesmal zeigte er uns den richtigen Weg. Der Schwarzbart fluchte und knallte das Fenster zu. Anscheinend hatten wir uns eben einen neuen Feind gemacht. Aber was juckte es eine deutsche Eiche, wenn sich eine 79
Sau daran rieb? Die Straße krümmte sich nach rechts, führte uns jetzt am Ufer der Spitzenhornbucht direkt zur Hornwerft, die sich am äußersten Ende der Schloßinsel befand. Da knackte es hinter einer Mauer. »Achtung!« Ich war auf der Hut. Jeden Augenblick konnte einer der Wiedergänger auf uns losstürzen. Aber nichts passierte. Geduckt schlichen wir weiter, bis der dünne Lichtstrahl meines Ringes am Fuße einer Mauer haften blieb, vor der ein drei Meter hohes Strauchwerk wucherte. »Wir sind da«, sagte ich rauhhalsig. Pit fackelte nicht lange. Er zog seine Pistole, leuchtete und glitt ins Gestrüpp. Ich sah, wie er in die Hocke ging und im Schein der Stablampe die bröckelnde Mauer untersuchte. »Bäh, wie es hier stinkt«, fluchte er. »Wir scheinen auf der richtigen Fährte zu sein«, meinte Vincent, während er eine kleine Kamera aus der Tasche zog. »Ich werde ein paar Fotos fürs Familienalbum schießen.« Als Fotoreporter untertrieb er da ganz gehörig. Plötzlich begann es unter unseren Sohlen zu rumoren. Tessa stieß einen überraschten Schrei aus. »Zum Teufel, was ist denn das schon wieder?« schrillte Vincent. Er tat einen Satz beiseite, als hätte er sich aus Versehen gegen einen heißen Herd gelehnt. Wir starrten auf die Straße und erlebten den Beginn eines alptraumhaften Schauspiels. Die Pflastersteine, auf denen wir standen, zitterten mit einem Mal. Stück für Stück hoben sie sich, als würde ein Maulwurf von gigantischen Ausmaßen einen unterirdischen Gang schaufeln. Der Sand, der zwischen die Fugen gefegt worden war, fing an zu glimmen. Ein rötlich pulsierendes Licht sickerte aus der Straße. Wir spritzten beiseite. Mit gemischten Gefühlen beobachtete ich, wie sich die ebene Straße in ein buckliges Etwas verwandelte. Das ging wohl kaum mit rechten Dingen zu, sagte ich mir. Probehalber donnerte ich eine geweihte Silberkugel in einen der aufmüpfigen Steinhaufen. Die Wirkung war phänomenal! Kegelförmige Lichtsäulen schossen aus den Erdritzen und ballten sich in der Luft zu kugeligen Gebilden, aus denen Funken sprühten. Es war, als ob ein Vulkan ausgebrochen wäre, und das mitten auf der Schloßinsel, vor den Toren von Deutschlands zweitgrößter Insel. 80
Der Ghul, der Torturus hieß, bereitete uns einen heißen Empfang. Er wollte uns mit seinen magischen Spielchen beeindrucken. Ich war gespannt, welche Karte er als nächste aus seinem stinkenden Ärmel zog. »Mark!« brüllte Pit Langenbach von der anderen Straßenseite. »Ich hab den Durchgang.« Er brach ab. Schüsse peitschten durch die Nacht. Sie kamen aus Pits Waffe. Ich kannte den Klang. Die ersten Pflastersteine »hüpften« aus ihrem Kiesbett und flogen durch die Luft. Ich zog den Kopf ein. Jetzt mußte ich alles auf eine Karte setzen. Sonst erledigte der Ghul meinen besten Freund. Die P 6 in der Faust, hetzte ich über die lebendig gewordene Fahrbahn. Ich kam mir vor, als rannte ich über glühende Kohlen. Als ich mit einem tollkühnen Satz ins Gebüsch sprang, erwartete mich eine faustdicke Überraschung. Pit Langenbach lag bäuchlings auf dem Erdboden. Sein rechter Arm steckte in einem Erdloch. Sofort erkannte ich, daß Pit nicht freiwillig diese unbequeme Stellung eingenommen hatte. Offenbar versuchte jemand, ihn mit aller Gewalt ins Erdreich zu zerren. Pit hatte den Kopf zwangsläufig seitlich auf die Erde gepreßt. Aus einem schreckgeweiteten Auge starrte er mich an. »Es zieht mich hinunter!« brüllte er in Panik. Ein eiskalter Schrecken packte mich. Zentimeter um Zentimeter glitt Pit tiefer ins Erdreich. Meine Gedanken überschlugen sich. Das Weihwasser! Ich brauchte Weihwasser. Wenn ich es in das Erdloch goß, könnte es klappen. »Vincent!« schrie ich. »Mein Einsatzkoffer!« Ich sah, wie Vincent mit sich kämpfte. Vor ihm lag die pulsierende Straße, aus der sich unablässig Steine lösten, durch die Luft flogen und polternd wieder niederfielen. »Ich komme!« Vincent van Euyen biß die Zähne zusammen und sprang wie eine Gemse auf mich zu. Neben mir plumpste er zu Boden. »Gut gemacht, altes Haus.« Ich packte den Koffer, ließ das Schnappschloß aufspringen, riß einen Flakon Weihwasser heraus und entstöpselte ihn hastig. Dann legte ich mich auf den Boden und schüttete etwas von der Flüssigkeit in das Loch. Das mörderische Gebrüll, das aus der Tiefe erscholl, bewies, daß meine Aktion Wirkung hinterlassen hatte. Gedankenschnell packte ich Pit am Kragen und zog ihn aus der Gefahrenzone. 81
Schnaufend sah er mich an. »Das nenne ich Timing«, prustete er. »Was ist mit deinem Arm?« fragte ich besorgt. Pit biß die Zähne zusammen. »Geht schon wieder.« Während er prüfend sein Schultergelenk abtastete, hörte ich plötzlich ein merkwürdiges Geräusch hinter mir. Instinktiv federte ich herum - und sah mich einem apokalyptischen Fabelwesen gegenüber. Das Geschöpf hatte die Größe eines Basketballstars. Von seinem kahlen Schädel hingen lange Haarsträhnen bis weit über die breiten Schultern. Das nasenlose Gesicht war nur eine Masse zerklüfteter Fleischlappen. Es hatte sein Maul geöffnet und entblößte zwei Reihen spitz endender Zähne. Die tiefliegenden Augäpfel glotzten mich starräugig an. Sein halb verwester Körper war bis zum Halsansatz in einen kuttenähnlichen Überwurf gehüllt. Es hob einen Arm, als wolle es mich begrüßen. Geduckt verfolgte ich jede seiner Bewegungen. Das mußte Torturus sein! »Du Erdenwurm wagst es, mich herauszufordern?« Die Stimme klang in meinem Kopf, höhnisch und zutiefst geringschätzig! Aus den Augenhöhlen des Ghuls sickerte Schleim, der ihm die zerhackten, löchrigen Wangen bis zum knotigen Kinn hinablief. »Warum nicht?« reizte ich den Schwarzblüter. »Wer bist du schon? Ein aufgeblasener Haufen Aas. Nicht viel, wenn du mich fragst.« Die Kreatur stieß ein wütendes Zischen aus. Offensichtlich hatte es eine hohe Meinung von sich selbst und war nun zutiefst beleidigt. Unauffällig hob ich meine P6. Wenn dieser Ghul tatsächlich jahrhundertelang unter der Erde vor sich hingegammelt hatte, konnte er die Wirkung einer Schußwaffe nicht kennen. Er unterschätzte die Gefahr, in der er sich befand, völlig. Während er mich mit einem schauerlichen Geheul zu beeindrucken trachtete, zielte ich aus der Hüfte. Jetzt! Ich jagte ihm eine geweihte Kugel in den Kopf. Der Ghul schrie auf. Die Wucht des Geschosses warf ihn ein, zwei Meter zurück. In seinem Schädel klaffte ein tiefes Loch. »Wie gefällt dir das?« Ich verpaßte ihm eine zweite Kugel. Der Ghul wich brüllend zurück. Er schleppte sich aus dem 82
Buschwerk auf die Straße. Auf der Stelle verlosch das gespenstische Farbspektakel. Die Lichtfontänen zerplatzten. Auch die Pflastersteine lagen wieder reglos am Boden. Die Macht des Unholdes schien gebrochen. Oder hatte er noch etwas zuzusetzen? Die Pistole im Anschlag, folgte ich dem angeschlagenen Ghul. Soeben war das Monster auf die Knie gesunken. Aufmerksam registrierte ich jede seiner Bewegungen. Es konnte nicht mehr lange dauern, bis es vernichtet war. Auf der anderen Straßenseite, in Nähe des Ufers, sah ich, wie Tessa hinter einem Baum hervorlugte. Sie ließ den Ghul nicht aus den Augen. Und dann ging es, völlig überraschend, los! Sie kamen von allen Seiten. Die einarmige Zombiefrau tauchte als erste auf, in ihrem Schlepptau torkelten zwei weitere Untote. Auch vom Ufer her näherten sich schwankende Gestalten. Der Ghul hatte noch einmal alles in die Waagschale geworfen. Die Zombies kamen näher. Ich empfing sie mit gutgezielten Schüssen. Die Zombiefrau und ihre beiden Begleiter fielen um. Sie zappelten noch ein bißchen, dann lagen sie still. »Mark!« hörte ich Tessa brüllen. »Hinter dir!« Ich hechtete zur Seite. Noch im Sprung riß ich die SIG Sauer hoch und drückte ab. Ein metallisches Klicken. Das Magazin war leer! Im selben Augenblick packte mich eine glitschige Klaue. Einer der Zombies blies mir seinen widerwärtigen Atem ins Gesicht. Ich wirbelte um die eigene Achse, stieß dem Angreifer den Ellbogen unters Kinn und tauchte unter der erhobenen Schlaghand eines anderen Untoten hinweg. Schnell blickte ich mich um. Wir waren umzingelt. Ungefähr ein Dutzend Zombies griffen uns an. Pit und Vincent hatten alle Hände voll zu tun, sich ihres Lebens zu erwehren. Sie kämpften wie die Berserker. Aber die Übermacht war zu groß. Der Ghul! Offenbar schwang er noch immer das Zepter. Ich mußte ihn ein für allemal fertigmachen, sonst würden seine Zombies über uns triumphieren. Ich stellte einem Untoten, der seine Klauen nach mir ausstreckte, ein Bein und sprang auf die Straße. Der Ghul hockte da, starrte in Tessas grüne Augen und stieß gurgelnde, jämmerliche Töne aus. Mit jeder Sekunde, die verstrich, schienen die Laute leiser zu werden, die er ausspie. Aber die Zeit drängte! 83
Ich war in Zugzwang. Zerhacken! schoß es mir durch den Kopf. Man muß seinen Körper in Stücke hacken! Obwohl sich mein Innerstes heftig dagegen sträubte, überwand ich meinen Abscheu. Dieses Miststück hatte vielen Menschen Leid und Elend gebracht. Es hatte Müttern die Söhne genommen, Frauen die Ehemänner. Jetzt sollte es dafür büßen. Ich mußte tun, was getan werden mußte! »Tessa!« raunte ich. »Dreh dich um. Jetzt wird's unappetitlich.« Entschlossen griff ich unter meine Jacke, dorthin, wo ich jetzt den magischen, armenischen Dolch trug. * »Mein Entschluß steht fest«, sagte Doro Paschke. »Ich werde Polizistin.« Tessa Hayden lächelte. »Hast du es dir auch gut überlegt? Es ist ein sehr harter Job.« »Natürlich habe ich es mir gut überlegt. Es gibt doch nichts Wichtigeres, als Menschen zu beschützen. Stell dir mal vor, Tessa, es gäbe keine Polizisten.« »Aber zuerst mußt du gesund werden, Doro.« Sie benutzte dieselben Worte, die Tessa ihr im Auto gesagt hatte, kurz bevor diese gräßlichen Monster angriffen. Tessa mußte schmunzeln, als sie in Doros entschlossenes Gesicht blickte. Die Siebzehnjährige hatte sich aufgerichtet. Ihre Augen funkelten vor Erregung. Tessas Blick wanderte gedankenverloren durch das Krankenzimmer, in dem Doro Paschke lag. Überall, wo man hinschaute, standen Vasen und große Gläser mit Blumensträußen darin. Als sie Doro und die anderen Gefesselten im unterirdischen Verlies fanden, war ihr aller Zustand sehr besorgniserregend. Sie waren unterkühlt, hatten an den Gelenken eiternde Wunden und redeten wirres Zeug. Aber zum Glück schwebte keiner von Torturus' Opfern in Lebensgefahr. Sie würden das Krankenhaus bald als Geheilte verlassen können. »Was ist eigentlich aus den Zombies geworden, Tessa?« fragte Doro plötzlich. Tessa Hayden biß sich auf die Unterlippe und schüttelte traurig 84
den Kopf. Doro verstand. Der hoffnungsvolle Ausdruck in ihrem Gesicht zerschmolz. »Die Ärmsten«, hauchte sie. »Sie tun mir so leid.« Vor dem Haus hupte es. Tessa wandte sich zur Tür. »Das ist Mark«, sagte sie. »Es ist Zeit für mich, Doro.« Feixend kniff das Mädchen ein Auge zu. Tessa zwinkerte zurück. Als sie das Krankenhaus verließ, atmete sie tief durch. Es war ein wundervoller Tag. Der Himmel war strahlend blau. Vögel zwitscherten in den Bäumen. Nichts deutete darauf hin, daß sich die Stadt noch vor wenigen Stunden in den Klauen eines machtbesessenen Ghuls befunden hatte. Beschwingt ging Tessa Hayden auf den blauen BMW zu, der unter einer knorrigen Weide parkte. Das grinsende Gesicht von Mark Hellmann tauchte auf, und Tessas Augen glitzerten grüner denn je.
ENDE Lydia Hellmann überlief es kalt. Hatte sie einen Wahnsinnigen vor sich? Sie wollte den seltsamen Mann abwimmeln, weil er ihr nicht geheuer war. Doch der wich ihr nicht von der Seite und stellte sich sogar vor. »Ich bin Nostradamus, der Seher. - Es handelt sich um das Kind, dem ihr den Namen Mark Nikolaus gegeben habt und das du wie deinen Sohn betrachtest.« »Mark ist mein Sohn!« stellte Lydia klar. »Was weißt du über ihn?« Mit der Antwort des Sehers ging für Lydia eine Welt unter.
Der Ring des Nostradamus heißt C.W. Bachs 31. »Mark Hellmann«-Roman, der hoffentlich alle Leser gruselig-spannend unterhalten wird.
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