Robert Lory Dracula kehrt zurück
Dracula ist tot, von Jonathan Harker und Professor Van Helsing vernichtet. Der schwar...
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Robert Lory Dracula kehrt zurück
Dracula ist tot, von Jonathan Harker und Professor Van Helsing vernichtet. Der schwarze Graf liegt besiegt, den Eichenpflock im Herz. So endet Bram Stokers legendäre Erzählung - mit einem Irrtum. Denn Dracula ist nicht vollends tot. Eine Starre lähmt seinen Geist, doch wer immer den Pflock aus seiner Brust zieht, wird ihn zu neuem Leben erwecken ... Ein phantastisches Abenteuer erwartet Sie - eine atemberaubende Fortführung von Stokers Roman! Von einem wahren Meister des Horrors geschrieben, wird dieser Band auch Sie unaufhaltsam in seinen Bann ziehen. Ihr
Dieser Roman erschien erstmals 1974 als VAMPIR-Taschenbuch Nr. 5
»Wir haben ihn! Jetzt haben wir ihn!« Der Ruf hallte weit durch die Nachtstille. Ermutigung und Warnung zugleich. Der Rufer zeigte den felsigen Hang hinauf und verhielt in seinem Aufstieg, bis er sich vergewissert hatte, daß sein Begleiter seinen ausgestreckten Arm gesehen hatte. Bei den zinnengekrönten Mauern auf der Kuppe des Hügels schimmerte im Mondlicht eine rennende Gestalt. Der Ruf, in englisch, klang fremd in diesem Land, aber die beiden Männer stammten aus England. Auch der Verfolgte hätte die Sprache verstanden, wenn er die Worte des Engländers gehört hatte, aber er hörte sie nicht. »Nur noch ein kleines Stück - dann ist er unser!« drängte der Mann an der Spitze. »Wenn die Sonne aufgeht, meinst du«, berichtigte ihn sein Gefährte. »Richtig, wenn die Sonne aufgeht. Aber bis wir die Burg erreichen, wird es hell sein. Vorwärts!« Sie stiegen weiter, schneller jetzt, die Mauern des Kastells vor Augen. Die Gestalt, die sie verfolgten, geriet bald außer Sicht, aber jeder von ihnen hatte den hinkenden Gang des Gejagten gesehen. Der Aufstieg war nicht einfach und wurde von der Nacht und dem trügerischen Mondlicht weiter erschwert. Während der Verfolgung hatten sie den
überwachsenen Pfad, der zur Burgruine hinaufführte, verlassen und waren dem Flüchtenden weglos über den Steilhang nachgestiegen. Je höher sie nun auf ihrer Route kamen, desto schwieriger wurde das Gelände. An einigen Stellen waren Felsterrassen zu überwinden, die nur zentimeterbreite Griffe und Tritte für Hände und Füße boten. Aber ihr Tempo war nicht gemächlich, obschon die Logik jedem von ihnen sagte, daß übermäßige Eile unnötig sei; sie hatten ihn jetzt. Er konnte nirgendwohin als in die Mauern der Burg, die sein Heim war. Er mußte im Inneren der Burg sein, bevor es Tag wurde. Trotzdem eilten sie, so schnell sie konnten, ohne sich um Logik zu kümmern. Schließlich stand er selbst außerhalb der Logik der Dinge, nicht wahr? Ein stumpfes Orange am Osthimmel kündigte den nahen Sonnenaufgang an, als die vier vor dem hohen, eichenen Tor anlangten, das ihnen den Eingang in die große Vorhalle versperrte. Sie waren schon einmal im Inneren gewesen und wußten, daß die massiven Torflügel von innen durch eine dicke schmiedeeiserne Stange gesichert werden konnten. Sie hofften, daß er sie in seiner Eile nicht vorgeschoben hatte. Sie stießen, aber so einfach war das Tor nicht aufzubringen. Ihre Schultern krachten hart gegen die massiven Bohlen, doch sie bewirkten nichts. »Die Fenster?« schlug der Jüngere vor. »Alle vergittert«, sagte der andere. »Wir müssen durch das Tor.« »Es sieht ziemlich alt aus«, bemerkte der jüngere der beiden Engländer. »Vielleicht eine Art Rammbock.« Ein Stapel von Bohlen und Holzkloben türmte sich in einem Mauerwinkel, unweit einer eisenbeschlagenen kleinen Tür. Sie zogen den längsten und schwersten Balken heraus und trugen ihn zum Tor. »Die Scharnierbeschläge sehen verrostet aus«, sagte der ältere Mann. »Zielen wir knapp darüber.« Mühsam hob er das hintere
Ende des Balkens, und sie stürmten mit ihrer Ramme gegen das Tor. »Da - es hat nachgegeben!« rief der Senior. »Glück gehabt«, sagte der jüngere Engländer. »Das Holz ist verrottet. Noch zwei oder drei Stöße, und wir sind durch.« Die Eingangshalle hinter dem Tor war still und leer. Der Ältere zog etwas aus seiner Jacke und ging voran. Ihre Schritte hallten laut durch die gewölbte Halle, als sie den gepflasterten Hof rechts liegenließen und in den erhaltenen Wohntrakt der Burg eindrangen. Kurz darauf standen sie zwischen den Bücherwänden des alten Studierzimmers. An der Nordseite hing ein chinesischer Wandteppich. Der Senior zog ihn zur Seite, und sie sahen die Steinstufen, die in den Weinkeller führten. »Wir werden Licht brauchen«, sagte er. Der jüngere Engländer nahm eine Petroleumlampe vom schweren Eichentisch in der Mitte des Studierzimmers und zündete sie an. »Und es ward Licht«, zitierte er fröhlich. Sein älterer Landsmann wandte ärgerlich den Kopf und war im Begriff, etwas über witzige Bemerkungen zu sagen, und daß dies nicht die Zeit dafür sei, aber dann ließ er es sein. Es war eine Fassade, verständlich unter den Umständen und vielleicht notwendig für die geistige Gesundheit des Gefährten. Ihrer beider Vernunft war weiß Gott in Gefahr, bis diese Tat getan wäre. Der jüngere Mann übernahm nun die Führung, und der Schein der hochgehaltenen Lampe warf schwarze Schatten, die verrückt um sie hersprangen, als sie die Steintreppe hinabstiegen. Sie führte in einen gewölbten Raum mit plattenbelegtem Boden. Kauernde Bestien schienen längs der Wände zu lauern. Es war, als ob Dämonen auf sie gewartet hätten. Der Verstand erkannte die gedrungenen Formen als das, was sie waren - Weinfässer, gefüllt mit den besten Rebensäften, deren Europa sich rühmen konnte. Aber in einer Situation wie
dieser konnte man seinem Verstand nicht voll vertrauen. Um so weniger, wenn man wußte - oder auch nur vermutete -, was man jenseits des Weinkellers finden würde. Es war dort in dem achteckigen Raum, genau in der Mitte und mit Abmessungen, die mit der Geometrie des Raums harmonierten. Glänzend poliertes Holz mit goldenen und silbernen Verzierungen im strengen Stil der Frührenaissance reflektierte den Lampenschein. Der Holländer hielt die zwei Gegenstände, die er aus seiner Jacke gezogen hatte, hoch in die Luft und nickte. Still, beinahe andächtig hoben die zwei Engländer den Deckel und klappten ihn ganz zur Seite, so daß er offen blieb. Er lag wie tot im Sarg, umgeben von weißem Satin, mit dem sein Ruheplatz ausgeschlagen war, aber unter seinem Körper war eine Schicht dunkler, fettig aussehender Erde. Er lag wie tot, aber er war nicht tot; diesen Zustand herbeizuführen, waren die beiden Männer gekommen. »Jetzt«, sagte der ältere Engländer leise. Mit seiner linken Hand setzte er den zugespitzten Holzpflock über das Herz dessen, der im Sarg lag. Sein rechter Arm holte weit aus, schlug kraftvolle zu, und der Schlegel in seiner Rechten landete mit hellem, hartem Klang auf dem Pflock. Ein unmenschlicher Schrei zerriß die Luft. Die Gestalt im Sarg richtete sich halb auf. Das Gesicht, das in seiner starren Blässe etwas von aristokratischer Dekadenz hatte, erwachte für einen Moment zum Leben. Ein vollkommenes Gesicht, dachte der junge Engländer, obwohl er vor dem stieren Blick der aufgerissenen Augen zurückschreckte, in denen Schock und ein ungläubiges Begreifen lagen, daß sie nicht mehr sehen würden. Der Schrei erstarb in einem Gurgeln, und der Körper fiel schlaff zurück. »Es ist getan«, sagte der Senior mit dumpfer Stimme. Er griff zum Sargdeckel, dann hielt er mitten in der Bewegung inne. Aus einer der acht Ecken des Raums stachen zwei
Lichtschlitze. Die erhobene Lampe zeigte, was es war. Eine ziemlich große schwarze Katze saß dort auf ihren Hinterkeulen und beobachtete sie. Die beiden Männer schlossen den Sargdeckel und kehrten zurück in den Weinkeller. Unterwegs zur Treppe dachte der jüngere Mann an eine Idee, die er zuvor gehabt, aber wieder vergessen hatte. »Der Holzpflock wird dem Ärgernis ein Ende machen«, sagte er zu seinem Gefährten, »aber vielleicht sollten wir ein übriges tun.« »Nämlich?« fragte der Ältere. »Können wir ihm nicht das Höllenfeuer geben, dem er entsprungen ist?« Der Senior blickte von den Augen des anderen zur Flamme der Petroleumlampe. »Es könnte nicht schaden. Mach, was du willst, aber bring eine zweite Lampe von oben. Eine werden wir brauchen, um unseren Weg hinauszufinden.« Es war ein vernünftiger Rat, und der junge Engländer befolgte ihn; er brachte eine weitere Lampe in den Weinkeller. Als er jedoch versuchte, den achteckigen Raum zu betreten, fand er den Weg versperrt. Irgendwie war eine gemauerte Wand erschienen, wo es zuvor keine gegeben hatte. Wahrscheinlich hatte einer von ihnen beim Hinausgehen unabsichtlich die Vorrichtung ausgelöst, die die Schiebetür bewegte. Sicherlich konnte der dort drinnen nicht... und außer dem Toten im Sarg war da nur diese Katze, die unfähig sein würde, so etwas ... Der junge Mann fröstelte unbehaglich. Der Monat war September. Das Jahr war 1883. Das nächste Dorf hieß Arefu, gelegen im nördlichen Teil des früheren Fürstentums der Walachei, das heute zum Kernland Rumäniens gehört.
Das Jahr ist 1938, der Monat Juli. Der Ort ist New York, genauer gesagt das Hafengebiet auf der Westseite der Halbinsel Manhattan. Es ist fünf Minuten nach Mitternacht. Der Mann, der reglos auf den schmutzigen Bohlen der Anlegebrücke liegt, ist fünfundzwanzig Jahre alt. Er schreit auf, als das Bleirohr seinen Rücken trifft. Das Rohr saust ein zweites Mal auf ihn nieder. Er schreit wieder. Er versucht seine Arme und Beine zu bewegen und fortzukriechen, aber er kann es nicht. Er wird von vier Männern niedergehalten. Der Mann, der auf seinem linken Bein kauert, wird ungeduldig. »Colly. Laß den Blödsinn. Gib diesem Schnüffler den Rest, oder laß es einen von uns tun.« Der Mann namens Colly grinst. »Schnauze, ja? Das ist meine Schau. Ich will unserem kleinen Professor hier eine Lektion geben. Hörst du mich, Professor?« Das Bleirohr schlägt ein drittes Mal mit dumpfem Geräusch auf den Körper. Wieder schreit das Opfer. Der Mann namens Colly lacht. »Wißt ihr, wer dieser Fischprofessor ist, he? Er ist so ein verdammter Gehirnmensch, ein großer Eierkopf. Nicht bloß ein akademischer Grad, sondern gleich zwei. Das bedeutet, daß man ihn mit Doktor anreden muß. Und was macht er mit all diesem Gehirn? Er scheißt sich bei den Bullen an und schnüffelt uns armen Schweinen nach. Macht uns das Leben schwer. Richtig, Professor?« Colly schlägt ein viertes Mal zu. Dann ein fünftes und ein sechstes und ein siebtes und ein achtes Mal. Der Mann auf den faserigen Holzplanken schreit nicht mehr; er stöhnt nur noch. Wie das Bleirohr ein elftes Mal herunterkommt, ist dem Opfer auch das Stöhnen vergangen. Seine Augen sind geschlossen, seine Zunge hängt aus seinem offenen Mund. Der zwölfte Schlag des Bleirohrs gibt ihm den Rest. Colly richtete sich grinsend auf. »Siehst du, Professor - Ge-
hirn ist nicht alles, sage ich immer. In Ordnung, Jungs, zu den Fischen mit ihm. Mal sehen, ob unser Fischprofessor überhaupt schwimmen kann.« Während Colly über seinen Scherz lacht, packen zwei seiner Gefährten den zusammengeschlagenen Zivilfahnder an Armen und Beinen und werfen ihn von der Landungsbrücke ins schmutzige Brackwasser des Hudson River. Colly schmunzelt noch, als er seinen Ford anspringen läßt. Einer seiner vier Männer setzt sich neben ihn, die anderen quetschen sich in den Fond. Der kühle Nachtwind über dem Wasser hat sie alle durstig gemacht, und ihre Gedanken sind schon bei dem Magenwärmer, der sie in der Stammkneipe erwartet. Das erklärt vielleicht, warum sich keiner die Mühe macht, nachzusehen, ob der Professor auch unter der ölig schillernden schwarzen Wasseroberfläche blieb. Er tat es nicht. Mehr tot als lebendig, unfähig, seine Beine zu gebrauchen, ruderte er mit seinen Armen gegen den Ebbstrom, der ihn an Manhattan vorbei hinauszuziehen trachtete. Ein wütender Schmerz stieß immer wieder durch seinen Kopf, und Blut trübte seine Augen. Er kämpfte mit Armen und Instinkt, und schließlich fühlten seine Hände die schleimigen Steinquader einer schrägen Uferböschung.
Man flickte sein Schädeldach mit einer Silberplatte. Man sagte ihm, daß er für den Rest seines Lebens an einen Rollstuhl gefesselt sein werde. Man sagte ihm, daß er seine Fahndung auf eigene Faust und ohne Auftrag der vorgesetzten Dienststelle unternommen habe. Er sei als Kriminologe für Spezialaufgaben eingestellt worden, sagte man ihm, und da er sich der Insubordination schuldig gemacht habe, könne er nicht länger im Polizeidienst bleiben. Auch könne die Stadt nicht für die Fol-
gen aufkommen, die sich aus seinen Verletzungen ergäben. Man erinnerte ihn taktvoll, daß seine finanziellen Verhältnisse dergestalt seien, daß er sich um seine Zukunft keine Sorgen zu machen brauche, und versicherte ihm, daß ein Mann mit seiner Ausbildung und Intelligenz keine Schwierigkeiten haben werde, eine Position in der Wirtschaft zu finden. Wenigstens in diesen letzten Punkten hatten sie recht. Aber es gab Dinge, die dieser Mann zu vollbringen gedachte. Und er beschloß, aktiv zu werden - ob man ihn dafür bezahlen würde oder nicht. Das Opfer von 1938 ließ sich Zeit.
Ebenso wie das Opfer von 1883. Es war ein diesiger, schwüler Spätsommerabend, als das gelbe Taxi vor einem vierstöckigen altersbraunen Ziegelbau zwischen Central Park und East River hielt. Als er die große Banknote wechselte, die er bekommen hatte, spähte der Taxifahrer, ein Veteran der New Yorker Straßen, in die dunstige Nacht hinaus, weniger um sich zu vergewissern, daß er die richtige Adresse gefunden hatte, als vielmehr in dem Bestreben, mögliche Bedrohungen seines weiblichen Passagiers auszumachen. In den alten Tagen hatte man noch gewußt, welche Gegenden der Stadt gefährlich und welche harmlos waren. Heutzutage war keine Gegend frei von Strolchen und kriminellen Fixern, denen ein Leben wenig bedeutete, wenn es zwischen ihnen und einer Geldbörse stand. Die Frau, die er an Bord hatte, war auch genau der Typ, auf den diese Brüder ein Auge hatten. Eine ältere Dame in den Sechzigern, vielleicht sogar in den Siebzigern. Nicht, daß sie schwach oder gebrechlich ausgesehen hätte. Ganz und gar
nicht. Er hatte ihr Gesicht im Rückspiegel beobachtet. Sie hatte die ruhige Würde und Selbstsicherheit des Reichtums. Auch ihre Kleidung - schwarzer Sommermantel und Handschuhe, dazu ein schwarzer Hut, der das aufgesteckte silbrige Haar fast ganz bedeckte - war von bester Qualität und kündete unaufdringlich von Wohlstand und materieller Unabhängigkeit. Ja, die Frau war der Typ, den ein Straßenräuber lohnend finden würde. Doch es war etwas Seltsames an ihr. Die Augen hatten einen Ausdruck, der zur Vorsicht gemahnte. Während der Fahrer sie im Rückspiegel beobachtete, hatte er diese Augen nicht ein einziges Mal zwinkern sehen. Sicher, er hatte sie nicht die ganze Zeit beobachten können - so ruhig war der Verkehr nie -, aber immer, wenn er sie ansah, hatte er diesen abwesenden, starren Blick der blassen Augen bemerkt. Es war, als sähen sie irgendwelche weit entfernten Dinge, vielleicht eine Erinnerung aus ihrer längst vergangenen Jugend. »Ihr Wechselgeld, Madam.« Die Frau hatte zum Hauseingang hinübergesehen. Der Klang seiner Stimme schien sie in die Gegenwart zurückzureißen. Einen Moment schien sie nicht zu wissen, wo sie war, dann lächelte sie und sagte: »Danke, junger Mann. Bitte behalten Sie den Rest. Es war nett von Ihnen, daß Sie um meine Sicherheit besorgt waren.« Ihre Stimme hatte einen ausländischen Akzent, aber das bedeutete nicht viel. Wenigstens ein Viertel seiner Fahrgäste sprachen mit ausländischem Akzent. Nein, in dieser Stimme war noch etwas anderes, als sei ihr nicht bloß das Englische ungewohnt, sondern das Sprechen überhaupt. Aber das war ein einfältiger Gedanke. Er bedankte sich und fuhr weiter. Die Frau in Schwarz stand vor den Stufen des Hauseingangs und blickte an der Fassade hinauf. Es sah beinahe so aus, als lausche sie auf etwas; nach einem Moment nickte sie ein wenig und stieg die Stufen hinauf. Ihre Bewegungen waren unbehol-
fen. Sie drückte den einzigen Klingelknopf, ein altmodisches Ding in einer ornamentierten Messingfassung. Einige Sekunden vergingen, dann drückte sie noch einmal. Ein Schloß klickte, und die große, massive Tür schwang auf. Ein Mann Anfang Dreißig stand in der Öffnung, eine Hand auf der Klinke. Es war ein Riese, gute zwei Meter groß und sicherlich zweihundertzwanzig Pfund schwer. Sein lose sitzendes Hemd und die ausgebeulte Hose konnten nicht verbergen, daß sein Körper der eines muskelbepackten Athleten war. Der Mann hatte dunkelbraune, spanisch aussehende Augen und war völlig kahl. Seine Stimme war tief, aber weich und höflich. »Ja?« »Ich möchte zu Professor Damien Harmon. Ich muß ihn sprechen. Er kann mir helfen.« Der Mann nickte. »Vielleicht, aber der Professor hat heute abend zu tun und wünscht nicht gestört zu werden. Es sei denn, er erwartet Sie. Haben Sie ihn angerufen und eine Verabredung getroffen?« Die alte Frau lächelte. »Ich wußte nicht, daß Professor Harmon ein Telefon im Haus hat.« Der hünenhafte Mann lächelte zurück. »Er hat keins. Ich schlage vor, Sie lassen Ihre Karte oder eine Nummer hier, über die Sie erreicht werden können. Morgen wird er Sie vielleicht anrufen. Obwohl ich nichts versprechen kann. Seine Zeit ist sehr kostbar.« »Und meine«, sagte die Frau mit matter Stimme, »ist sehr kurz. Kann ich ihn nicht heute abend sprechen? Ich werde ihn nicht lange mit meinem Anliegen behelligen.« »Ich wünschte, ich könnte Ihnen helfen, aber ich habe strikte Anweisungen. Außerdem ist der Aufzug defekt; ich weiß nicht, ob Sie bis zum vierten Stock steigen könnten. Und der Professor ist an den Rollstuhl gefesselt.« »Ja, ich weiß von seiner Behinderung. Und was mich betrifft, so haben Sie recht; ich könnte die Treppen nicht steigen.« Die
alte Frau wandte sich um. »Ihre Karte, Madam. Oder eine Telefonnummer?« »Danke, aber ich habe keine Karte. Und wie Ihr Professor, habe ich auch kein Telefon. Ich werde ein andermal wiederkommen.« Sie begann die Stufen hinabzusteigen, mühsam und wankend, als ob ihre Kniegelenke das Gewicht des Körpers nicht tragen könnten. »Ist Ihnen nicht gut, Madam?« fragte der Mann. Eine Hand am schmiedeeisernen Geländer, wandte sie sich halb um. Ihr Körper straffte sich. »Danke, es ist alles in Ordnung. Machen Sie sich keine Gedanken um mich.« Die Tür schloß sich mit leisem Schnappen. Die Frau stand auf dem Gehsteig und blickte wieder hinauf. Ja, dachte sie, die Zeit ist sehr kurz. Vielleicht habe ich zu lange gewartet, aber ich mußte meiner Sache sicher sein. Selbst jetzt bin ich nicht absolut sicher, aber der Zyklus ist bald erschöpft. Es reicht nicht mehr, um anderswo nachzuforschen. Es muß jetzt sein. Es muß hier sein. Sie senkte ihren Kopf und blickte wieder zur Tür. In ihren Augen brannte ein grünes Feuer.
Carmelo Sanchez kehrte ins Wohnzimmer zurück und machte es sich in dem lederbezogenen Ohrensessel bequem, der sein bevorzugter Leseplatz war. Er nahm das Buch auf, in dem er gelesen hatte, einen schmalen Band über Radiophonie, den er erst an diesem Abend aus der Bibliothek des Professors genommen hatte. In den drei Jahren bei Damien Harmon hatte er ungefähr ein Fünftel vom Bücherbestand des alten Mannes durchgeackert.
Die meisten Bücher hatte er allerdings nur angelesen. Mit der einen Hälfte der Bibliothek - derjenigen, die sich aus okkulten und philosophischen Schriften zusammensetzte - wußte Carmelo Sanchez nicht viel anzufangen. Warum wertvolle Zeit mit dem Erwägen des Unwägbaren vergeuden? Er wußte, warum Professor Harmon soviel Zeit mit dem Studium dieser Bände verbrachte, und er wußte auch, daß der alte Mann unverdrossen bemüht war, die dabei gewonnenen Einsichten in die Praxis umzusetzen. Carmelo Sanchez war mehr an den praktischen Aspekten des Lebens interessiert: er las die Bücher und Fachzeitschriften, die sich mit naturwissenschaftlichen Themen befaßten, mit Physik und Elektronik. Das war die Lektüre, bei der er bleiben würde, bis der Professor erfolgreich einen von diesen Zaubertricks demonstrierte, die einen Geist beschwören konnten. Wenn der Dämon dann vor ihnen stünde, würde Carmelo die Studien des Professors vielleicht ernst nehmen. Carmelo Sanchez hatte niemals eine Universität besucht, aber wenn ihm danach gewesen wäre, hätte er in jedem elektronischen Laboratorium seinen Mann stehen können. Das war nicht schlecht für einen armen Puertoricaner, der die letzten fünfzehn Jahre in einem New Yorker Slum gelebt hatte und ein schlechtbezahlter Polizist gewesen war, bis sie ihn vor drei Jahren aus dem Dienst gefeuert hatten. Seine Miene verdüsterte sich, als er daran dachte. Noch immer konnte er sich nicht ohne ein Aufflammen von Haß an die Demütigung erinnern. Niemand unter seinen Kollegen hatte daran gezweifelt, daß es ein abgekartetes Spiel gewesen war. Das Päckchen mit Heroin war nach einem ›Tip‹, daß Polizist Sanchez seine Schweigegelder statt in Scheinen in Naturalien annehme, in seinem Streifenwagen gefunden worden. Die Rechnung war aufgegangen. Innerhalb von zwei Wochen hatte er auf der Straße gesessen, und dabei hatte er sich noch glücklich schätzen können. Ein paar Jahre Knast wären ihm so gut wie sicher gewesen, wäre nicht plötzlich ein geierköpfiger
alter Mann in einem Rollstuhl aufgetaucht. Seine Anwälte hatten den puertoricanischen Expolizisten herausgepaukt. »Warum?« hatte er den alten Mann gefragt. »Warum haben Sie sich für mich eingesetzt?« Der Professor war mit der Hand durch seine weiße Mähne gefahren und hatte beiläufig geantwortet: »Ich suche einen besonders qualifizierten Mann, der für mich arbeitet. Ich habe den Eindruck gewonnen, daß Sie geeignet sind, und von einer Gefängniszelle aus könnten Sie die Arbeit nicht gut tun.« Carmelo Sanchez hatte den Job angenommen, ohne recht zu wissen, was er für den Alten tun würde, und er hatte es später nicht bereut. Die Arbeit hatte ihm Spaß gemacht, trotz der exzentrischen Art seines Brotgebers, und nicht einmal daran konnte er etwas aussetzen. Was Carmelo Sanchez heute war und was er wußte, verdankte er zu einem guten Teil dem breiten und ungewöhnlichen Spektrum von Professor Harmons intellektuellen Interessen. Die Türglocke läutete wieder. Carmelo Sanchez murmelte eine Verwünschung, legte das aufgeschlagene Buch umgekehrt neben sich auf den Boden und stand auf. Zweifellos war es noch einmal diese Frau. Er kannte den Typ. Abgesehen von ihren teuren Kleidern und den grünen Augen schien sie nichts weiter als eine von diesen alten Tanten zu sein, die den wohlhabenden Professor als eine gute Zapfstelle für alle möglichen karitativen Spenden ansahen. Wieder die Türglocke. Sie ließ nicht locker, die Alte. Er hatte diese Beharrlichkeit des öfteren erlebt. Beim ersten Versuch wurden sie von seiner Größe und Statur eingeschüchtert. Dann, nach einigem Nachdenken - wahrscheinlich darüber, wieviel sie kriegen könnten, wenn sie es ein zweites Mal probierten -, rafften sie ihren Mut für einen neuen Ansturm zusammen. In Ordnung, meine Dame, wenn Sie es nicht anders wollen, sollen Sie es ganz genau erfahren ... Als Carmelo Sanchez die Haustür aufriß, ging seine finstere
Entschlossenheit in Verwunderung über. Niemand war da. Nichts, außer einer struppigen schwarzen Katze, einem großen, streunenden Vieh. Katzen läuten nicht, bedachte er. Dann mußte er seinem Gedanken die Beobachtung hinzufügen, daß Katzen zuweilen in offenstehende Häuser eindringen. Das schwarze Biest raste wie ein Geschoß an ihm vorbei und zur Treppe. »Verflucht!« Er warf die Haustür zu, machte kehrt und begann die Jagd auf den Eindringling. »... es gibt einen Punkt, eine Konjunktion der Dimensionen, wo Kontrolle ausgeübt werden kann. Periphere Färbung reduziert sich zu Leere. Die roten, blauen und gelben Töne nehmen mehr und mehr von ihren Komplementärfarben an. Gleichzeitig verdunkelt sich der Kreis von den Rändern her und geht in die erwartete Leere über. Der Praktiker muß nun seine ganze geistige Energie auf das Zentrum und seine reine Weiße konzentrieren, die von Augenblick zu Augenblick heller wird. Bei ihrer größten Intensität kann der Geist, indem er sich diese Energiequelle nutzbar macht, die Kunst der telekinetischen Kontrolle ausüben ...« Die Fingerspitzen gegen seine Schläfen gepreßt, konzentrierte Damien Harmon die weiße Energiequelle, die sich im Vordergrund seines Gehirns gebildet hatte, auf einen Punkt und zielte damit auf das Feuerzeug auf dem Laboratoriumstisch vor ihm. Er konnte das Feuerzeug nicht ›sehen‹, weil seine Augen fest geschlossen waren, doch nichtsdestoweniger wußte - fühlte sah - hörte er genau, wo es war. Der Strahl war weder heiß noch kalt, aber klar und hell und kraftvoll, reine Energie, die durch Knochen, Metall, Haut und Luft ging. Und das Objekt berührte. Berührte und hob. Hob und trug. Trug und... Damien Harmon öffnete seine Augen bei dem kurzen, trocke-
nen Geräusch, mit dem das Feuerzeug die Tischplatte traf. Er hatte die Kontrolle über das Ding verloren, aber er war nicht unzufrieden. Ganz und gar nicht. Er hatte das Feuerzeug nicht nur ein Stück verschoben wie in seinen vorausgegangenen Experimenten, sondern er hatte es angehoben und fast einen Meter getragen. Es war ein Rekord, nicht nur, was Distanz und Gewicht anging - bisher hatte er mit Spielwürfeln und Bleistiften geübt -, sondern auch in der Zeit, die innere Energieleistung zu mobilisieren. Nicht mehr lange, und er würde imstande sein, eine wirkliche Probe seiner Fähigkeiten abzulegen. Bald! »Unglücklicherweise wird dieses Experiment mißlingen, Professor.« Harmon fuhr in seinem Rollstuhl herum. Im Halbdunkel bei der Tür stand eine junge Frau. Der schwarze Mantel und ihr schwarzer Hut zeigten nur ihr von dunklem, aufgestecktem Haar umrahmtes Gesicht. Obwohl sie außerhalb des Lichtscheins seiner Arbeitslampe war, konnte er sehen, daß es ein schönes Gesicht mit feingeschnittenen Zügen und hellen Augen war. Seltsame Augen waren es, die in einer beunruhigenden Verbindung von Grün und Gelb aufblitzten, als sie bemerkten, wie seine Hände zu den Radreifen des Rollstuhls griffen. »Nein, Professor Harmon. Bitte bleiben Sie, wo Sie sind. Wie Sie mich jetzt sehen, ist es gut. Um Ihre unausgesprochene Frage zu beantworten: Wie ich hierhergekommen bin, ist unwichtig. Ich kann nicht lange bleiben und möchte wertvolle Zeit nicht mit unnötigen Erklärungen vergeuden. Dennoch will ich meine erste Bemerkung erläutern. Sie werden niemals Ihr Ziel erreichen. Das Problem Ihrer Querschnittlähmung ist mit telepathischen Kräften nicht zu lösen. Aber ich könnte mir denken, daß Ihre Talente anderen und ebenso lohnenden Aufgaben gewidmet werden können. Ich werde darauf noch zurückkommen. In Antwort auf Ihre nächste Frage: Ja, ich habe
die Fähigkeit, Gedanken zu lesen, obwohl die Metallplatte in Ihrem Schädeldach die Deutung Ihrer Gehirnwellen sehr erschwert.« Harmons einzige Reaktion auf ihre Worte war, daß er sich in seinem Rollstuhl aufrichtete und zurücklehnte. Er sagte nichts und wartete einfach ab. Sie fuhr mit weicher, fast schnurrender Stimme fort: »Es ist mir klar, daß Ihre Versuche zur Selbstheilung nur ein Aspekt unter mehreren sind. Ich weiß von Ihrer Arbeit und was Sie damit bezwecken. Der Kampf gegen das, was Sie das Böse nennen, ist ein lobenswertes Beginnen, aber auf den vollen Gebrauch Ihres Körpers werden Sie dabei verzichten müssen. Darum will ich Ihnen ein Angebot machen - den potentiellen Gebrauch eines anderen Körpers.« Harmon lächelte. »Den habe ich bereits.« Überhaupt, dachte er, wie ist sie an ihm vorbeigekommen? Die Frau erwiderte sein Lächeln. »Ich spreche nicht von Ihrem Diener Sanchez. Ohne seine Körperkräfte und sonstigen Vorzüge geringschätzen zu wollen, es gibt einen anderen Körper von viel größeren Kräften und Fähigkeiten, den Sie sich nutzbar machen könnten.« »Ach ja?« sagte der Professor trocken. »Wollen Sie mir auch sagen, wer derjenige ist, der diese bemerkenswerten Fähigkeiten hat?« »Er ist mein Herr. Sein Leben ist lang gewesen, oder vielleicht sollte ich sagen, seine Leben sind lang gewesen. Er hat viele Male gelebt, und ebenso viele Male war er wie tot.« »Wie tot?« »Wie tot. Aber nicht eigentlich tot, nicht endgültig. Er ist, wie ich sagte, mein Meister. Lebt er, so lebe auch ich - und für eine Zeit danach. Aber nun nähert sich für mich das Ende dieser Zeit. Jedesmal, wenn er das Land der Lebenden verließ, fand ich jemanden, der ihn zurückbrachte. Zu allen Zeiten, in allen Epochen gab es Gläubige, die ich für meinen Zweck gebrau-
chen konnte.« Harmon nickte wieder. »Und diesmal wurde ich auserwählt?« »Ich habe Sie gewählt, den nächsten Zyklus einzuleiten. Es ist eine Ehre, die natürlich nicht ohne Gefahren ist, aber eine, die Sie annehmen werden, wie ich hoffe. Tun Sie es nicht, so werde ich meinen endgültigen Tod finden, von dem es keine Wiedergeburt gibt.« Der Professor bemerkte, daß die junge Frau ihre Augen niederschlug, und sagte: »Sie behaupten, betagt zu sein, aber ich habe nicht diesen Eindruck.« »Sie sehen mich jetzt, wie ich es vorziehe, gesehen zu werden. Die Schaustellung dieser Jugendlichkeit kostet mich ein Stück meiner ablaufenden Lebensspanne, und ich kann sie nicht längere Zeit aufrechterhalten.« »Nun gut«, sagte Harmon. »Ich glaube, am meisten interessiert mich das Warum. Ich meine, warum fiel Ihre Wahl auf mich?« »Ich kenne Ihren Hintergrund und weiß, daß Sie interessiert sind. Ich weiß auch, daß Sie ein Verlangen haben, das durch die Wiedergeburt des Meisters erfüllt werden kann.« »Ich glaube, da drängt sich eine Frage auf«, sagte Harmon. »Die offensichtliche Frage.« »Warum ich ihn nicht selbst zum Leben erwecke? Es gibt gewisse Beschränkungen, über die Sie später unterrichtet werden.« Er zupfte an seinem kurzen weißen Bart, eine Gewohnheit, die er hatte, wenn er nachdachte. »Sie sagen, Sie kennen meinen Hintergrund?« Die junge Frau seufzte. »Ich habe wenig Zeit, Professor, darum will ich mich kurz fassen. Sie stammen aus begütertem Haus und waren ein außergewöhnlich begabter junger Mann, der sich auf den verschiedensten Gebieten der Wissenschaft umtat. Sie erwarben einen Doktortitel mit einer Arbeit über mittelalterliche Philosophie und befaßten sich außerdem mit
Studien der Physik, der Biochemie. Schließlich wandten Sie sich dem neuen Gebiet der Kriminologie zu und traten in den Dienst der Polizeibehörde von New York. Im Juli 1938 machten Sie sich jedoch gewisser Eigenmächtigkeiten schuldig und wurden entlassen.« Harmon hob seine Hand. »Das ist schon genug.« »Ich möchte gründlich sein, Professor. Sie kehrten dann ins akademische Leben zurück. Bis Sie sich im Alter von fünfzig Jahren entschlossen, nur noch Ihren privaten Studien zu leben. Zugleich widmeten Sie sich zwei Nebenbeschäftigungen, die seit Ihrem Rückzug in den Ruhestand den größten Teil Ihrer Zeit und Ihres Interesses in Anspruch genommen haben. Die eine ist das Studium parapsychologischer Phänomene und des Okkulten im weiteren Sinne. Die zweite ist die Kriminologie und das gesellschaftliche Phänomen des Verbrechens das Sie nicht nur studieren, sondern ...« »Ich sagte, daß es reicht.« Die Frau lächelte. »Sie wünschen nicht, daß ich Ihnen sage nur als ein Beispiel für die Genauigkeit meiner Kenntnisse - wo Colly Rourke begraben liegt? Er wurde ermordet, Professor Harmon. Zu dieser Schlußfolgerung würden jedenfalls die Behörden gelangen, wenn ihnen die Tatsache bekannt wären. Ich will hier nicht auf die vielen anderen eingehen, gegen die Sie keinen persönlichen Groll hegten, aber Sie werden mir in diesem Zusammenhang gestatten, Sanchez Vorgänger zu erwähnen, diesen Zirkusathleten - ich glaubte, er war Grieche.« »Sanchez hat niemanden auf mein Verlangen getötet.« »Nein? Vielleicht nicht auf Ihr ausdrückliches Verlangen. Aber das liegt nur daran, daß Sie jetzt anders arbeiten. Eine Begleiterscheinung Ihres Alters, würde ich sagen. Gewalt hat einen bitteren Beigeschmack, nicht wahr? Statt dessen finden Sie nun Ihre Befriedigung darin, die Kleinarbeit zu tun und dann der Polizei anonyme Tips zu geben. Es macht Ihnen Spaß, sie in Verlegenheit zu bringen, nicht wahr?«
Harmons Augen wurden schmal. »Sie sagten, Sie hätten wenig Zeit.« »Das stimmt. Ich muß gehen. Ich habe Ihnen viel geboten. Ich hoffe - auch in meinem eigenen Interesse..., daß Sie sich für das Risiko des Erfolgs entscheiden werden.« Als sie zur Tür ging, sagte der Professor: »Aber Sie haben mir nicht gesagt, wer Ihr Meister ist, oder wo ...« »Seinen eigentlichen Namen spreche ich nicht aus. Er hat mehrere gehabt, und einer von diesen ist Ihnen vertraut. Sie besitzen sogar einige alte Schriften über ihn - und mich. Beeilen Sie sich. Schieben Sie Ihre Entscheidung nicht lange auf. Ich ich muß jetzt gehen!« Plötzlich war etwas wie Panik in ihrer Stimme. Sie lief hinaus, ohne die Tür zu schließen. Harmon rief ihr nach, sie solle warten, bekam aber keine Antwort. Schnell drehte er um und fuhr zurück in sein Arbeitszimmer. Bei seinem Schreibtisch angelangt, drückte er dreimal einen Knopf auf dem unscheinbaren schwarzen Kasten, der rechts neben der Schreibunterlage stand. Ein Knacken kam aus dem Kasten. »Professor?« »Carmelo - die Frau«, sagte Harmon in die Gegensprechanlage. »Lassen Sie sie nicht fort!« »Eine Frau, Sir?« »Sicherlich sahen Sie sie hereinkommen! Jedenfalls ist sie jetzt auf dem Weg nach unten. Halten Sie sie fest!« Sanchez schaltete aus, und der Professor lehnte sich in seinen Rollstuhl zurück. Düstere Bilder und Gedanken drängten sich in seine Vorstellung, doch er unterdrückte sie. Nein, er würde diese Sache nicht seiner Phantasie überlassen, noch nicht. Die Sprechanlage summte. Es war Carmelo. »Tut mir leid, Professor, keine Frau.« »Keine Frau im Haus?« »Nein, Sir. Ich habe alles abgesucht. Keine Frau. Bloß die
Katze.« »Katze?« »Ja. Ein großes schwarzes Ding. Schlüpfte vorhin an mir vorbei ins Haus. Zuerst hatte ich gedacht, sie sei die Treppe hinauf, aber alle Türen vom Treppenhaus waren geschlossen. Aber nachdem Sie mich gerufen hatten, sah ich sie plötzlich die Treppe herunterkommen. Ich verstehe nicht, wie ich sie übersehen konnte.« »Haben Sie die Katze?« »Ob ich sie habe? Ich habe sie mit einem Fußtritt auf die Straße befördert, wo sie hingehört, Sir.« Ein dumpfes Krachen und Poltern kam statt einer Antwort aus der Sprechanlage, so laut, daß Carmelo Sanchez den Eindruck hatte, das Dach sei eingestürzt. »Sir? Was war das?« Der Professor blickte hinter sich, dann sprach er wieder in den schwarzen Kasten. »Carmelo, ich glaube, Sie sollten lieber heraufkommen. Sofort.« »Ist Ihnen was passiert, Sir?« »Nein. Aber die Bücherregale, die Sie so sorgfältig verankert hatten, daß sie nach Ihrer Meinung eine Tonne Bücher würden tragen können, sind umgekippt. Und auf eine sehr seltsame Art und Weise. Nur die mittleren zwei Sektionen liegen unten. Von den Büchern, die herausgefallen sind, liegen mehrere aufgeschlagen am Boden. Und das Seltsame ist, daß es sich um ganz bestimmte Bücher handelt und daß sie nicht so liegen, wie man es nach den Gesetzen der Physik erwarten würde.«
Aus den persönlichen Aufzeichnungen des Pedro de Alvarado über seine Dienstzeit unter Hernan Cortes, dem Eroberer Mexikos:
Mit widerstreitenden Empfindungen beginne ich die Niederschrift der Ereignisse jener Novembernacht, die dem Aufstand der Azteken voranging und die unsere blutige Niederlage angekündigt hätte, wäre nicht General Cortes mit dem Rest der Streitmacht rechtzeitig zurückgekehrt. Weil die am folgenden Tag entbrennende Schlacht Montezuma den Tod brachte und sein Volk auf die Knie zwang, wurden die vorausgegangenen Ereignisse in der Freude über den triumphalen Sieg nicht genauer untersucht, so daß die Frage, warum diese Wilden sich so plötzlich gegen uns erhoben, die sie uns zuvor als Götter angesehen hatten, der Spekulation der nächsten Generation überlassen blieb. Vielleicht sollten diese Ereignisse und ihre Erinnerung besser der Vergessenheit anheimfallen, doch eine innere Stimme drängt mich, diese Dinge, die vor bald vierzig Jahren geschahen und gleichwohl noch heute meine Träume beunruhigen, für eine spätere Zeit zu bewahren. Dieser Aufgabe, so unwillkommen sie ist, kann ich mich nun nicht länger entziehen, sind doch die meisten Zeugen der damaligen Geschehnisse inzwischen in Gottes ewiges Reich eingegangen, unter ihnen der wackere Pater Pamphilio. Es war der Abend eines Tages, der wie so mancher andere vor ihm den barbarischen Zeremonien gewidmet war, mit denen die Indianer ihre heidnischen Götter günstig zu stimmen suchten. Doch gab es diesmal einen Unterschied. Während wir in der Vergangenheit regelmäßig eingeladen worden waren, an diesen Festlichkeiten teilzunehmen, war eine solche Einladung an diesem Tag ausgeblieben. Auch der äußere Ablauf unterschied sich von anderen Anlässen darin, daß die Indianer Vorbereitungen trafen die weniger an ein Fest denn an einen erwarteten Angriff gemahnten. Während sonst alle drei großen Dämme, welche die Inselhauptstadt Tenochtitlan mit dem umgebenden Festland verbinden, mit Tausenden von Fackeln illuminiert wurden, um Göttern und guten Geistern den Weg über den See zu weisen, sa-
hen wir an diesem Abend, daß nur der westliche Damm, der zu den Steingräbern von Tlacopan führt, beleuchtet war. Auch war die Illumination eher spärlich, mit sehr wenigen Fackeln, die in weiten Abständen angebracht worden waren. Ferner wurde im weiteren Verlauf deutlich, daß der heidnische Dämon, der an diesem Tag geehrt wurde, in der Stadt selbst alles andere als willkommen war. Die Indianer entfernten nicht nur die beweglichen Brücken von allen drei Dämmen, so daß die Landverbindungen der Insel unterbrochen waren, sondern sie schlossen auch die großen Stadttore. Pater Pamphilio und ich hatten diese Vorbereitungen von unserem Lager aus beobachtet. Der gute Pater, schon damals mit der Weisheit des Alters gesegnet, war ein ausgezeichneter Kenner dieser Wilden und ihrer ketzerischen Bräuche, denn er hatte die Mühe auf sich genommen, ihre Sprache zu lernen und ihre Lebensweise zu studieren. Bis zum heutigen Tag bin ich sein Bewunderer geblieben, und oft habe ich mir die Frage vorgelegt, warum er es verschmähte, die Fülle seines Wissens zum Nutzen späterer Geschlechter in einer Niederschrift zu bewahren. Aber vielleicht tat er es, und ich weiß nicht davon. Wenn dies so ist, wird sein Bericht viel gelehrter und kenntnisreicher als der meine sein, wußte der heilige Mann doch im voraus, von welcher Art die Zeremonie sein würde, die wir an diesem Abend sehen sollten. Er sagte zu mir: »Sie werden zwei Frauen in einem Boot zum beleuchteten Damm hinausbringen und an einen Pfosten binden. Mit einem Gong müssen die Opfer dann ihren Zerstörer herbeirufen.« »Sie haben dies schon einmal gesehen?« fragte ich ihn. Er sagte, er habe es noch nicht gesehen, wisse aber von seinen indianischen Gewährsleuten einiges über dieses seltsame Ritual, das jeweils zur Zeit des Vollmonds stattfinde. Man habe ihm gesagt, daß der Zerstörer selbst von den Gräbern komme, um seine Opfer entgegenzunehmen.
Dieser Dämon, der von den Azteken ›Sohn der Gefiederten Schlange‹ genannt werde, erscheine in den Vollmondnächten leibhaftig auf dem Damm, aber zu anderen Zeiten sehe man ihn nicht. Pater Pamphilio fügte hinzu: »Es ist wahr, daß ein Priester in Verkleidung die Rolle spielen könnte, aber die Furcht in den Gesichtern der Priester, mit denen ich gesprochen habe, ist nicht gespielt. Heute nacht will ich den Zerstörer mit eigenen Augen sehen, mein Freund. Ich würde Ihre Gesellschaft und Ihre Unterstützung bei diesem Vorhaben zu schätzen wissen.« Wir warteten, bis das Boot der Indianer zu Wasser gelassen und zum Festland gepaddelt wurde. Es blieb nahe an der Südseite des westlichen Damms, und als es sich der Stelle näherte, wo die Opfer nach Pater Pamphilios Auskunft angebunden werden sollten, brachten wir unser Boot zu Wasser. Wir paddelten ungesehen von den Torwachen auf der Nordseite des Damms hinaus in den See, weit vom Lichtschein der Fackeln entfernt. Wir hielten auf gleicher Höhe mit der Stelle, wo die zwei Mädchen nun mit dicken Stricken an den Pfosten gebunden wurden. Aus der Dunkelheit, die uns einhüllte, konnten wir den Schauplatz sehr gut sehen. Denn die Priester, die bald zur Stadt zurückpaddelten, hatten vor ihrem Weggang noch eine Fackel aufgesteckt, die die Szene hell erleuchtete. Die zwei Indianermädchen waren unbekleidet und mit hellroten Streifen bemalt. Sie schienen sich sehr zu fürchten, wozu sie ohne Zweifel allen Grund hatten. Neben den beiden Opfern hatten die Priester ein galgenähnliches Holzgestell zurückgelassen, von dem ein großer Gong an einer Kette herabhing. Der Gong schien aus gehämmertem Gold gemacht und schimmerte im Fackelschein. Aus Gold war auch der Kultgegenstand, den eins der Mädchen in seinen gefesselten Händen hielt und der eine Art Hammer in Gestalt einer gefiederten Schlange zu sein schien. Pater Pamphilio flüsterte mir zu, daß den unglücklichen Op-
fern keine andere Wahl bleibe, als den Dämon mit dem Gong zu rufen. Täten sie es nicht, so würden sie in einer als unehrenhaft betrachteten Weise getötet, und auch ihre Angehörigen würden abgeschlachtet. Er hatte noch nicht geendet, als ich das Mädchen den Hammer heben und kräftig gegen den Gong schlagen sah. Als der goldene Gong mit einem tiefen, metallisch dröhnenden Klang über den stillen Wasserspiegel zu uns herüberhallte, konnte ich ein Schaudern nicht unterdrücken. Gleich darauf kam etwas von der Festlandseite des Damms, das noch schwärzer war als die Finsternis ringsum. »Es ist bloß ein Mensch, größer als die meisten Indianer, aber sicherlich einer von den Priestern«, flüsterte ich Pater Pamphilio zu. Die Gestalt auf dem Damm kam langsam näher, und als sie eine der brennenden Fackeln passierte, sah ich, daß sie ganz unter einem langen schwarzen Umhang verborgen war, dessen Kopfteil oder Kapuze die Gesichtszüge bedeckte. Der Pater ignorierte meine Bemerkung. Es war, als habe er sich in Stein verwandelt, so bewegungslos und unverwandt beobachtete er das Geschehen. Erst als die Gestalt im Umhang die Mädchen erreicht hatte und eins von ihnen packte, hörte ich Pater Pamphilio leise sprechen. Es war der Beginn eines lateinischen Gebets. Ich sah das Gesicht des Unholds nur flüchtig, als er die Kapuze über seinen Kopf zurückstreifte, das erste der nackten Opfer an den Haaren packte und ihm den Kopf in den Nacken riß. Dann konnte ich sein Gesicht nicht mehr sehen, denn es war an der Kehle des unglücklichen Mädchens vergraben. In dieser Haltung verharrte der Schwarze längere Zeit, während die Schreie seines Opfers, die mit seiner Annährung eingesetzt hatten, matter wurden und in einem Röcheln erstarben. Das zweite Mädchen kreischte wie von Sinnen und kämpfte vergeblich gegen seine Fesseln. Dann machte das schrille Entsetzen winselnder Verzweiflung Platz, bis die finstere Gestalt
sich aufrichtete und von ihrem ersten Opfer abließ, das jetzt still und schlaff in seinen Fesseln hing. Während neue Angstschreie über das dunkle Wasser gellten, konnte ich die Gesichtszüge des Schwarzen genauer sehen und erkannte, daß dies kein Aztekenpriester war. Es war ein satanischer Unhold aus den schwärzesten Tiefen der Hölle selbst. Ich will an dieser Stelle nicht versuchen, die blutigen Fangzähne zu beschreiben, die seinem Mund entragten, noch die unheiligen Augen, die über das Wasser in unsere Richtung brannten. Kalte Angst drang bis in meine Knochen und lähmte meine Glieder, und so bemerkte ich nicht gleich, daß unser Boot plötzlich Gegenstand seiner Aufmerksamkeit geworden war. Dann blickte ich zu meinem Gefährten und sah, daß er heftig zitterte. Aber in seinem Gesicht war Entschlossenheit, und während er der Ausgeburt Satans mit beiden Händen sein silbernes Brustkreuz entgegenstreckte, flüsterte er die lateinischen Worte des Exorzismus, mit denen die Diener unserer Heiligen Kirche Satans Günstlinge austreiben. Wunder aller Wunder! Die schwarze Gestalt auf dem Damm hob einen Arm vor das fratzenhafte Gesicht, als wollte sie einen Schwertstich abwehren, und stieß ein heiseres Wutgeheul aus. Dann riß der böse Dämon mit übermenschlicher Kraft die Fesseln des zweiten Mädchens vom Pfahl, packte sein Opfer und hielt es mit beiden Armen an seine Brust gedrückt, während er unaufhörlich in unsere Richtung brüllte. Und als Pater Pamphilio lauter und mit vermehrtem Nachdruck in seiner Teufelsbeschwörung fortfuhr, brüllte der auf dem Damm noch einmal auf und entfloh zum Festland, das Mädchen fest in seinen Klauen. Er eilte schneller, als ein Mensch es vermocht hätte, und schon bald verloren wir ihn aus den Augen. Mein Gefährte saß schweigend, das Kinn auf der Brust. Nach einer Weile nahm er sein Paddel auf und sagte, wir müßten zum Damm und das Mädchen untersuchen, das dort in seinen Fesseln hing. Mit einer Tapferkeit, die ich nicht fühlte, erwähn-
te ich, daß wir uns vielleicht des zweiten Mädchens annehmen sollten und nicht des ersten, doch davon wollte er nichts wissen. Er versicherte mir, daß sie jenseits menschlicher Hilfe sei. Wir paddelten hinüber, ohne unsere Anwesenheit länger zu verheimlichen. Bald kamen wir in den Lichtschein der Fackeln und wurden von den Eingeborenen bemerkt. Aufgeregte Rufe wurden hinter uns laut, man öffnete das Tor und ließ eilig Boote zu Wasser, während Krieger mit Fackeln über den Damm liefen, um die eingezogenen Brücken instand zu setzen. Pater Pamphilio untersuchte das Mädchen sorgfältig und mit einer umständlichen Geduld, die ich angesichts der Erregung unter den Indianern und des Umstands, daß das Mädchen offensichtlich tot war, unnötig und gefährlich fand. So drängte ich ihn, den schrecklichen Ort zu verlassen, bevor die Indianer uns den Rückweg abschnitten, und wir bestiegen unser Boot und brachten uns eilig paddelnd in Sicherheit. Der Pater sagte in seiner ruhigen Art, daß es in dieser Nacht nichts mehr zu tun gebe, daß wir aber eine kleine Streitmacht auserwählter Männer bereitstellen müßten, um der Bestie bei Tagesanbruch in ihren Schlupfwinkel zu folgen und sie zu vernichten. Dies sei, so betonte er, nicht vor Sonnenaufgang möglich. So kam es, daß wir am anderen Morgen, als die ersten Sonnenstrahlen über die östlichen Hügel stießen, wieder von unserem Lager aufbrachen und auf den See hinausfuhren. Wir waren zwölf Männer, verteilt auf zwei Langboote. Ich hatte zehn bewährte Soldaten ausgewählt, die Pater Pamphilio und mich auf unserer Mission begleiteten, und jeder von ihnen war mit einer geladenen Muskete bewaffnet. Der Pater hatte uns gewarnt, daß diese Feuerwaffen nicht gegen das Ungeheuer gebraucht werden sollten, das wir jagten, sondern nur der Abschreckung und Abwehr zu dienen hätten, sollten die Indianer versuchen, uns mit Gewalt von unserem Vorhaben abzuhalten. Obgleich ich mich vor meinen Leuten nicht unwissend geben konnte, war mir durchaus nicht klar, wie Pater Pamphilio sein
Vorhaben ins Werk setzen wollte. Als ich ihn leise nach dem Mittel fragte, mit dem er das Ungeheuer zu vernichten hoffte, zeigte er mir nur ein roh geschnitztes Stück Holz von der Dicke eines Unterarms. Ein Ende war zu einer fein zulaufenden Spitze geschärft, aber auch so schien mir dies kein sehr wirksames Exekutionsinstrument für einen Feind zu sein, an dessen übermenschlicher Kraft und Wildheit zu zweifeln ich keinen Anlaß hatte. Doch ich schwieg und beschloß insgeheim, auf unsere Degen und Musketen zu vertrauen. Wir hatten uns kaum eine halbe Legua von der Inselstadt entfernt, als die Eingeborenen, durch unsere nächtliche Unternehmung bereits mißtrauisch geworden, auf den westlichen Damm hinauseilten, um uns am Betreten der Totenstadt zu hindern. Es waren ungefähr vierzig oder fünfzig, in der Mehrzahl Krieger, aber an der Spitze liefen wohl an die zehn Priester, deren Gewänder in höchst unwürdiger Weise ihre Beine umflatterten. Dem Vorschlag des Paters folgend, ließ ich, kaum daß wir das Seeufer erreicht hatten, acht von unseren Soldaten das Westende des Damms sperren. Die Indianer hatten immer großen Respekt vor unseren Feuerwaffen gezeigt, und ich vertraute darauf, daß es auch diesmal so sein würde. Pater Pamphilio hatte jedoch seine Zweifel. »Ich fürchte, es wird nicht ohne Blutvergießen abgehen«, sagte er zu mir. »Unsere Verfolger werden sich nicht lange auf dem Damm zurückhalten lassen. Wenn sie uns in die Totenstadt eindringen sehen.« Mit resignierter Stimme fügte er hinzu: »Doch was sein muß, muß sein. Mag kommen, was will, dieses üble Ungeheuer soll noch heute zu seinem dämonischen Meister in die Hölle zurückkehren. Der Allmächtige hat mir diese Verantwortung übertragen, und ich muß sie auf mich nehmen.« Wir vier gingen nun ohne Zögern in die Stadt der Totenhäuser und brauchten nicht lange zu suchen, bevor wir die richtige Grabkammer fanden. Auf den Stufen davor lag die junge Indi-
anerin, die der schwarze Dämon am Vorabend mitgenommen hatte. Sie war tot und bleich wie ihre Leidensgenossin, und ihr Hals zeigte eine schrecklich aufgerissene Wunde, aber zu meiner Verwunderung schien nur sehr wenig Blut aus dieser Wunde geflossen zu sein. Als ich Pater Pamphilio auf diese Beobachtung hinwies, sagte er mir, das Gegenteil sei der Fall, und sehr viel Blut sei aus dieser Wunde geflossen. Mit dieser Erklärung ließ er es bewenden, denn er war begierig, in die Grabkammer einzudringen. Ein jäher, durchdringender Schrei empfing uns, als wir mit gezogenen Degen durch den offenen Eingang ins Halbdunkel der Grabkammer traten. Dort auf dem Steinboden kauerte eine große, kohlschwarze Katze mit gelbgrünen, unheimlich glühenden Augen, als wollte sie uns an die Kehle springen. Doch konnte sie uns nicht lange aufhalten. Als Pater Pamphilio dem unreinen Tier sein silbernes Kruzifix entgegenreckte, wich es mit einem schrecklichen Heulen und Fauchen zurück und sprang fort. Wir sahen die Höllenkatze nicht mehr, so groß war die Macht des heiligen Symbols. Dann aber traten wir an den gewaltigen offenen Steinsarkophag und blickten in das Gesicht des Bösen, den zu zerstören wir gekommen waren. Er lag auf dem Rücken, die Arme an den Seiten, unbeweglich in totenähnlichem Schlaf. Er war größer als jeder Indianer oder Europäer; seine volle Länge mochte das Eineinhalbfache der Körperlänge eines normal gebauten Mannes betragen. Sein Körper, zur Gänze in den schwarzen Umhang gehüllt, war breit und kräftig, und sein Brustumfang mochte ohne weiteres das Doppelte dessen ausmachen, was einem gewöhnlichen Mann angemessen ist. War dies alles schon unnatürlich genug, so war es doch vor allem sein Gesicht, das unsere Aufmerksamkeit erregte. Es war kein menschliches Gesicht, obwohl es alle Merkmale eines menschlichen Antlitzes hatte. Der offene Mund mit den zurückgezogenen Lippen sah aus, als könne ihn keine Gewalt
völlig über jene fingerlangen Fangzähne schließen, die vom Unterkiefer aufwärts und vom Oberkiefer abwärts ragten. Die Nase war dick und breit, mit trompetenartig geblähten Flügeln. Die Augen, offen und mit leerem Blick starrend, waren von schwärzlich-purpurner Farbe, die Augäpfel vorquellend und rotgeädert. Die Ohren liefen nach oben spitz zu und verloren sich in dem wirren schwarzen Haar, das die breite und niedrige Stirn umrahmte. Noch erschreckender wurden diese Gesichtszüge durch das getrocknete Blut auf Kinn und Wangen und Lippen. Pater Pamphilio instruierte mich. Es komme auf Entschlossenheit und Schnelligkeit an, sagte er. Er werde den zugespitzten Holzpflock über das Herz der teuflischen Kreatur setzen, worauf ich ihn mit einem Schlag des Musketenkolbens hineintreiben müsse. Es sei wichtig, daß ich diesen ersten Schlag mit aller Kraft führe, und dies müsse nötigenfalls wiederholt werden, bis er mir sagen würde, daß es genug sei. Dann müsse ich meinen Leuten befehlen, den Körper des Unholds durch Feuer zu zerstören, während er die Erde vom Boden des Sarkophags zusammenkratzen und in den See verstreuen werde. Als er das sagte, bemerkte ich diese Erde zum ersten Mal. Sie sah dunkel und feucht aus, ganz anders als die der umgebenden Landschaft, und als ich den Pater darauf aufmerksam machte, pflichtete er mir bei und sagte, daß diese Erde wahrscheinlich von einem fernen Ort stamme, vielleicht sogar von einer anderen Welt als der unsrigen. Dann erklärte er, daß wir nicht länger zögern dürften, und setzte den zugespitzten Holzpflock auf die Brust des schlafenden Unholds. Mit zitternden Händen umfaßte ich den Lauf der Muskete, entsandte ein Stoßgebet zum Himmel, daß Gott mir die nötige Kraft verleihen möge, holte weit aus und ließ den Kolben auf das Ende des Pflocks niedersausen.
Es gab ein krachendes, knackendes Geräusch, als ob der Holzpflock, der von der Wucht des Aufpralls tief in die Kreatur hineingetrieben wurde, zuerst eine harte Schale hätte durchbrechen müssen. Dann bot sich unseren Augen der entsetzlichste Anblick. Die Kreatur richtete sich in ihrem Sarkophag auf, und während ihre riesigen Hände den Holzpflock umfaßten, stieß der Mund zusammen mit einem Strom von Speichel und Blut einen furchtbaren Schrei aus. Die Augen traten aus ihren Höhlen, der Körper unternahm einen taumelnden Versuch, sich ganz zu erheben, und fiel dann in den Sarkophag zurück. Pater Pamphilio sagte: »Der Böse ist tot. Nun müssen Sie meine Instruktionen ausführen lassen. Aber sehen Sie sein Gesicht.« Ich bemerkte, daß eine Veränderung stattfand. Es war, als schmelze das Antlitz des Ungeheuers unter großer Hitze. Der ganze Körper schien zu schrumpfen, obwohl er auch zuletzt noch größer als ein normaler Mensch war. Ich kann nicht sagen, wie lange die Transformation dauerte, aber als sie beendet war, blickten wir in ein Gesicht, das bei aller Fremdheit vertraut schien. Ich sage nicht, daß wir das Gesicht kannten oder schon einmal gesehen hatten, denn das traf nicht zu. Doch wenigstens ich hatte erwartet, daß die Umwandlung der Züge beim indianischen Typ des Azteken enden werde. Zu meinem Unbehagen war das nicht der Fall. Nach der Umformung glichen die Gesichtszüge jenen, wie man sie in Madrid und hundert anderen europäischen Städten jeden Tag sehen kann. Dieser Mann - und nun war er so, daß man ihn einen Mann nennen konnte - war nicht ein Geschöpf der Neuen Welt, sondern der Alten! Rasch gab ich die Befehle zur Errichtung eines Scheiterhaufens und zur Verbrennung des Toten. Es geschah nicht einen Augenblick zu früh, denn gleich darauf wurde draußen eine Muskete abgefeuert, dann eine weitere. Ich stürzte hinaus und
lief zum Damm hinunter, wo ich entdeckte, daß meine Soldaten zwei von den Aztekenpriestern getötet hatten. Sie sagten, die Indianer hätten von unserem Vorhaben erfahren, und um uns an der Ausführung zu hindern, hätten die beiden Priester versucht, die Absperrung zu durchbrechen. Ich winkte die anderen Azteken zurück und rief ihnen zu, daß das Werk getan sei, daß wir ihr Volk von dem grausamen Ungeheuer befreit hätten. Aber sie waren sehr erregt und wollten nicht hören. Die folgenden Ereignisse sind allen bekannt. Der Aufstand konnte erst von unserer Hauptstreitmacht niedergeschlagen werden, die der Allmächtige rechtzeitig in der Stunde unserer höchsten Bedrängnis eintreffen ließ. Als der Aufstand losbrach, wurden wir Spanier auf beiden Seiten des Sees in heftige und wechselvolle Kämpfe verstrickt, sogar der ehrwürdige Pater Pamphilio. Erst einen vollen Tag später suchte ich zu erfahren, ob die Befehle, die ich in der Totenstadt gegeben hatte, ausgeführt worden waren, aber ich konnte die zwei mit der Totenverbrennung beauftragten Soldaten in den Kampfeswirren nicht finden. So suchte ich nach unserem Sieg noch einmal die Grabkammer auf. Nichts deutete darauf hin, daß ein Scheiterhaufen errichtet und abgebrannt worden war, und die Grabkammer selbst war leer. Sogar der mächtige Steinsarkophag mit der fremden Erde war entfernt worden; von wem, blieb mir trotz eifriger Nachforschungen verborgen. Ich vermutete, daß es das Werk indianischer Priester gewesen sei, doch Pater Pamphilio schien diese Meinung nicht zu teilen. Er sagte nicht, was er drüber dachte, und in der folgenden Zeit vermied er jede Erwähnung der Ereignisse jenes Tages, aber ich erkläre wahrheitsgemäß, daß ich den guten Pater Pamphilio nie wieder lächeln sah. Er begann eine gebeugte Haltung anzunehmen, und ein Ausdruck grimmiger Bitterkeit und Resignation grub sich in sein Gesicht und wich nicht mehr daraus.
Es war, als sei er in einem entscheidenden Kampf unterlegen und könne die Niederlage nicht verwinden.
»Ihre Meinung?« fragte Harmon. Er hatte den Text aus dem alten Buch in spanischer Sprache vorgelesen. Carmelo Sanchez betrachtete nachdenklich seine Hände. »Es könnte die verdrehte Phantasie eines Spinners sein«, sagte er nach einer Pause. »Alvarado war ein tüchtiger Offizier, aber als er dies schrieb, muß er sehr alt gewesen sein. Ich könnte mir denken, daß die an Abenteuern und Merkwürdigkeiten reiche Vergangenheit eines solchen Mannes sich in seinen Alterserinnerungen leicht mit Phantastereien vermengt.« »Das ist immer möglich, ja. Aber der Rahmen, in den er die Begebenheit stellt, ist korrekt und historisch belegt. Alvarado war während Cortes Abwesenheit von Tenochtitlan Befehlshaber der zurückgebliebenen spanischen Streitmacht, und es gab einen Aztekenaufstand in dessen Verlauf Montezuma zu Tode kam.« »Und vielleicht beschloß der wackere Alvarado einige vierzig Jahre später, daß er seinen Anteil an der Eroberung des Aztekenreiches der Nachwelt vor Augen führen müsse, und erfand dazu eine phantastische und haarsträubende Geschichte, die ihm die Aufmerksamkeit des Publikums sichern sollte. Wahrscheinlich war er selbst einigen dieser armen nackten Indianermädchen ein klein wenig zu nahe getreten. Oder es könnte eine Fälschung sein. Im Europa des sechzehnten Jahrhunderts zirkulierten ungezählte erfundene Berichte aus der Neuen Welt.« Der Professor dachte darüber nach. »Das ist auch richtig, Carmelo. Aber es gibt einige sehr eigenartige Parallelen in anderen Kulturkreisen, die uns zu denken geben sollten. Das alt-
ägyptische ›Buch der Toten‹ ist über jeden Verdacht erhaben, und der Teil, der sich mit dem Schwarzen Herrn des Blutes befaßt, welcher sich von den frisch getöteten nährt und das Licht des Tages meidet, ist sicherlich nicht unecht. Und die anderen Berichte aus dem siebzehnten, achtzehnten und neunzehnten Jahrhundert, verfaßt von intelligenten und sogar gelehrten Männern, zwei Engländern und einem Franzosen. Was sagen Sie zu diesen Texten? Sind sie auch gefälscht? »Nein, Sir, das wohl nicht, aber die menschliche Einbildungskraft ...« »Spielt der Vernunft zuweilen seltsame Streiche, ich weiß. Aber wenn mehrere Beobachter, die durch Jahrhunderte und Tausende von Kilometern voneinander getrennt sind, das gleiche berichten, dann kann ich nicht mehr an eine bloße Halluzination glauben. Sehen Sie sich das Material an, Carmelo. Man könnte meinen, der Verfasser des Buches aus dem neunzehnten Jahrhundert sei mit Alvarado in jener Grabkammer gewesen. Der Holzpflock im Herzen, die Fangzähne, die große schwarze Katze - schwarze Katze, Carmelo!« »Nun gut, aber vielleicht hatte der Mann die Erinnerungen Alvarados gelesen und ...« »Auch das ist nicht auszuschließen. Aber haben Sie die mehrfachen Hinweise auf den Sohn der Schlange bemerkt? Ich beherrsche das Ungarische sowenig wie Sie, aber ich habe mich viel mit der Materie beschäftigt und weiß, daß diese Bezeichnung sich in ein Wort übersetzen läßt, das Ihnen bekannt sein dürfte: Draculya - oder Dracula.« Sanchez hatte derartiges erwartet. »Ich gebe zu, daß Sie aus all diesen Hinweisen eine gute Theorie entwickelt haben. Ich gebe auch zu, daß die schwarze Katze, die ich sah, die alte Frau, die zuerst an die Tür kam, und die junge Frau, mit der Sie sprachen, Ihre Theorie zu bestätigen schienen. Aber ich bin nicht sicher, ob wir den nächsten Schritt tun sollten, an den Sie denken. Was mich betrifft ...«
»Mein lieber Carmelo, ich bin fest entschlossen, diesen Schritt zu tun. Ich hoffe, daß ich wie immer auf Ihre Unterstützung zählen kann, sollten Sie aber eine unüberwindliche Abneigung gegen dieses Vorhaben hegen, würde ich das verstehen und respektieren.« Harmon schwieg und wartete auf die Antwort. Nach einer Pause sagte Sanchez: »Ich bin dabei, Sir. Wie immer.« Als der gigantische Silbervogel mit der Typenbezeichnung 747 vom New Yorker Kennedy-Flughafen abgehoben hatte und die Küste hinter sich ließ, schnallte Carmelo Sanchez den Gurt los und nahm ein silbernes Feuerzeug und eine lange schwarze Zigarre aus seiner Jackentasche. Sobald das Rauchverbot aufgehoben wurde, flammte sein Feuerzeug auf. Professor Harmon, der neben ihm auf dem Fensterplatz saß, schnitt eine Grimasse. »Muß das sein«, fragte er. »Jedem sein eigenes Laster«, erwiderte Carmelo. Er war normalerweise kein Raucher, aber er fürchtete sich vor Flugreisen. Es war kurz nach 8 Uhr 30, und die Maschine sollte am nächsten Morgen um 8 Uhr 30 in Zürich landen, aber die tatsächliche Flugzeit betrug nur acht Stunden. Also war die Nacht kurz und der folgende Tag länger als die meisten. Carmelo legte das Faltblatt mit der Auswahl von Musik- und Unterhaltungsprogrammen, die man über Kopfhörer empfangen konnte, weg und blies eine graue Wolke Zigarrenrauch aus. Harmon hustete dramatisch. Carmelo sah, daß seine Augen geschlossen blieben, seine Mundwinkel aber entschiedenes Mißfallen zeigten. Er seufzte und drückte die Zigarre aus. Eine Kleinigkeit wie eine Zigarre war es nicht wert, zum Streitobjekt zu werden. Verglichen mit einigen anderen umstrittenen Punkten der letz-
ten Wochen war das Gefühl mit der Zigarre von geradezu lächerlicher Geringfügigkeit. Dabei hatte es eigentlich nur eine grundsätzliche Meinungsverschiedenheit gegeben - über die Ausführbarkeit des ganzen Vorhabens. Zuerst hatte die Frage für Carmelo einfach gelautet, ob es notwendig sei oder nicht, daß sie sich auf diese Sachen einließen. Das war am Tag nach dem Besuch der KatzenFrau gewesen, die von Harmon jetzt nur noch Ktara genannt wurde - nach einem entsprechenden Hinweis in einer seiner alten Schwarten. Aber das nüchterne Licht des neuen Tages hatte den Enthusiasmus des Professors vom Vorabend nicht aufzulösen vermocht, während Carmelos Faszination in der Morgensonne verdampft war. »Sehen Sie, Professor - nehmen wir an, daß dieser Schwarze Meister existiert und daß er derselbe ist, der in all diesen Büchern und Texten erwähnt wird. Warum sollten wir seine Wiederbelebung zu unserem Anliegen machen?« »Bedenken Sie, was geschehen könnte, wenn andere als wir dieses Ungeheuer aus seiner Gruft freiließen«, hatte der Professor geantwortete. »Ktara meint es ernst, Carmelo. Wenn wir ablehnen, wird sie andere finden, obwohl es scheint, daß ihre Zeit abläuft. Nein, Carmelo, wenn dieses Ungeheuer überhaupt wieder zum Leben erweckt werden soll, dann von Leuten wie uns, die es für wünschenswerte Zwecke verwenden können. Natürlich ist die praktische Durchführung des Vorhabens nicht ohne Probleme.« Dieser letzteren Feststellung stimmte Carmelo aus vollem Herzen zu, aber Harmon ließ sich nicht entmutigen. Wie sich zeigte, hatte er die zu erwartenden Schwierigkeiten bereits analysiert und vier Hauptprobleme erkannt, von denen drei logistischer Natur waren. Erstens: Nach Rumänien zu gelangen und zur rechten Zeit das Schloß zu erreichen. Relativ einfach. »Es wird Papierkrieg und eine Menge Formalitäten geben, aber glücklicherweise habe
ich Bekannte in wissenschaftlichen Positionen, die uns den Weg ebnen können.« Zweitens: Dracula und seinen Sarg aus Rumänien fortzuschaffen und in die Vereinigten Staaten zu bringen. Äußerst schwierig. »Theoretisch bieten sich mehrere Möglichkeiten, aber wir werden noch viel über diese Angelegenheit nachdenken müssen.« Drittens: Nach gelungener Rückkehr einen geeigneten Ort als Hauptquartier zu finden, weil das alte New Yorker Stadthaus zu ›öffentlich‹ war. Keinerlei Schwierigkeit, da Harmon ein großes Landhaus in Westhampton an der Südküste von Long Island besaß. »Das Grundstück grenzt auf einer Seite an den Ozean und ist somit ausgezeichnet für unsere Zwecke geeignet. Ich werde einige Renovierungsarbeiten machen und den größten Teil meiner Laboratoriumseinrichtung hinbringen lassen.« Das vierte Problem, das nicht logistisch war, hatte seine besonderen Tücken. Es war, wie der Professor sagte, »das kniffligste von allen. Nämlich, wie können wir den Unhold nach seiner Befreiung aus dem todähnlichen Zustand kontrollieren?« Während der Nacht hatte Harmons ruheloses Gehirn an diesem Problem gearbeitet und war auf eine mögliche Lösung gekommen. Mit der Hilfe flüchtiger Skizzen von zwei Vorrichtungen zeigte er Carmelo, wie er sich die Lösung vorstellte. Danach sollte die Kontrolle von zwei implantierten Mechanismen ausgehen, einem in ihm selbst und einem in Dracula. »Der Mechanismus in mir ist einfach. Gespeist von einer Solenoidzelle, sendet er eine Trägerwelle aus, entweder Ultraschall oder Radio. Die Sendung wird unterbrochen, wenn mein Herz zu schlagen aufhören sollte - mit anderen Worten, wenn ich sterbe. Sie wird ferner unterbrochen, wenn ich diesen Hebel bewege - in mir durch Telekinese. Meine Experimente haben gezeigt, daß ich die Fähigkeit habe, viel schwerere Objekte viel weiter zu bewegen, also sollte dies ohne Schwierigkeiten möglich sein.«
Die zweite Implantation betraf einen Mechanismus, der unmittelbar neben Draculas Herz eingepflanzt werden sollte. »Hier sehen Sie den Empfänger, der auf das Signal meines Senders eingestellt ist. Sobald mein Signal aufhört, findet eine kleine Energieumwandlung statt, die unter Ausnutzung von Draculas eigener Körperwärme diesen zugespitzten kleinen Pfeil in sein Herz treiben wird. Der Pfeil wird aus dem Holzpflock gefertigt, den wir aus seinem Körper ziehen.« Eine gute Idee, fand Carmelo. Doch so überraschend einfach die Sache im Prinzip aussah, so schwierig erschien sie ihm in den Details der praktischen Ausführung. Wie sollten sie die Dinger in die Körper Draculas und des Professors hineinbringen? Harmon hatte auch darauf eine Antwort. »Draculas Empfängermechanismus werde ich selbst einsetzen - bevor der Holzpflock aus seiner Brust gezogen wird. Es ist eine einfache Operation, die in kurzer Zeit bewerkstelligt werden kann. Bei mir selbst wird es nicht so einfach sein, aber ich habe einen Freund, der Chirurg ist und uns wahrscheinlich gefällig sein wird.« »Wenn die Leistung Ihres Senders nicht nach einiger Zeit absinken soll, werden Sie die Batteriezelle periodisch aufladen müssen«, sagte Carmelo. »Richtig. Darüber werde ich mir noch Gedanken machen müssen. Ein Gerät zum Aufladen ist leicht zu beschaffen, aber es muß an den Sender in mir angeschlossen werden. Wenn es nicht drahtlos geht, muß der Chirurg eben ein Abschlußkabel bis an die Hautoberfläche legen. Gibt es noch etwas?« »Blut«, sagte Carmelo Sanchez. »Wenn zutreffend ist, was wir über diesen Dracula gelesen haben, dann nährt er sich von Blut. Wie wollen Sie seine Bedürfnisse befriedigen?« »Blutkonserven lassen sich beschaffen«, sagte Harmon. »Und ich glaube, ich könnte eine chemische Lösung entwickeln, die einen zufriedenstellenden Ersatz bieten würden. Haben Sie noch etwas auf dem Herzen?«
Sanchez seufzte. »Die ganze Idee bedrückt mich irgendwie. Wenn all diese Geschichten über den Schwarzen Meister wahr sind, nehmen wir uns da mehr vor, als wir verdauen können, Professor. Viel mehr, fürchte ich.« Darauf hatte Professor Harmon keine Antwort. Sie trafen ihre Vorbereitungen. Das Haus in Westhampton wurde besichtigt. Notizen wurden gemacht und Reparaturarbeiten in Auftrag gegeben. Geld war kein Hindernis. Material, Laborgeräte und Ausrüstungen wurden auf einer Liste verzeichnet und bei verschiedenen Herstellern bestellt. Pässe und Visa wurden besorgt, und niemand machte Schwierigkeiten - nicht einmal in den drei Fällen, wo diese Dokumente gefälscht waren. Die zwei zur Implantation bestimmten Geräte wurden konstruiert, und nach wiederholten Versuchen und Verbesserungen war Harmon überzeugt, daß sie zuverlässig funktionieren würden. Schließlich blieb nur noch eins zu tun, und an einem sonnigen Samstagmorgen ließ Harmon sich in eine Privatklinik in Queens bringen. Vier Tage später verließ er sie wieder, und nach weiteren sechs Tagen bestiegen er und Sanchez die 747, die sie über einen Ozean und einen halben Kontinent tragen sollte. Zwischen dem Schwarzen Meer und der ungarischen Tiefebene gelegen, nimmt die Volksrepublik Rumänien mit einer Fläche von rund 238 000 Quadratkilometern den gesamten Nordosten der Balkanhalbinsel ein. Die in großem Bogen das Land fast in seiner Mitte durchziehenden Süd-Karpaten und die daran anschießenden, weit nach Westen zurückweichenden Transsilvanischen Alpen teilen Rumänien in zwei Teile. Von den Transsilvanischen Alpen zu der die südliche Landesgrenze bildenden Donau erstreckt sich das Tiefland der Großen und Kleinen Walachei. Das nach Nordwesten umbiegende Karpatengebirge umschließt das Transsilvanische Hochland mit Siebenbürgen. Das östliche Karpatenvorland bis zum Pruth, der
die Grenze zur Sowjetunion bildet, das ehemalige Fürstentum Moldau, ist eine nach Osten zu allmählich abflachende Hügellandschaft. In den vergangenen zwei Jahrhunderten war Rumänien wiederholt das natürliche Einfallstor russischer Expansion in den Balkanraum. Kein Wunder, daß Rumänien seit Beginn der geschichtlichen Zeit - und wahrscheinlich auch vorher - von Schlachtenlärm und den Stimmen fremder Eroberer widerhallte. Die zweimotorige Turbopropmaschine der staatlichen rumänischen Luftfahrtgesellschaft landete um 17 Uhr 30 Lokalzeit auf dem Bukarester Flughafen. Harmon und Sanchez unterzogen sich geduldig den Zoll- und Einreiseformalitäten. Als sie die Abfertigung hinter sich hatten und in die Eingangshalle kamen, trat ein graubärtiger Herr auf sie zu, und Sanchez wurde Zeuge einer unvermutet herzlichen Begrüßung. Als sie vorbei war, sagte Harmon: »Alex, ich möchte dir meinen Assistenten vorstellen, Carmelo Sanchez. Carmelo, ich habe Ihnen bereits von Professor Thorka erzählt.« Und das stimmte. Alexandru Thorka hatte einen Lehrstuhl für Archäologie an der Universität Bukarest. Er und Professor Harmon hatten einander vor Jahren bei einem von der HarvardUniversität veranstalteten internationalen Seminar über Nordafrika kennengelernt und seither miteinander korrespondiert. »Du siehst gut aus, Alex«, sagte Harmon. »Und du, Damien. Eine Freude für meine alten Augen. Ich wäre glücklich, wenn du deinen Aufenthalt ein wenig ausdehnen würdest, vielleicht, um ein paar Tage als mein Gast hier in Bukarest zu verbringen.« »Ich danke dir, Alex, aber mein Zeitplan erlaubt mir keine Abstecher. Du weißt, wie es mit uns älteren Leuten ist. Man lebt immer mit der Sorge, es könne einem nicht mehr genug Zeit beschieden sein, die Vorhaben und Pläne auszuführen, die einen beschäftigen. Wir haben nicht mehr die Zeit für unbekümmerten Müßiggang, die wir uns einst nahmen.«
Sie erreichten einen schwarzen Wagen mit Fahrer, der vor dem Abfertigungsgebäude wartete. Sanchez half Harmon in den Fond, dann nahm er den Sitz neben dem Fahrer. Thorka stieg von der anderen Seite in den Fond und sprach rumänisch mit dem Chauffeur, der auf seine Uhr sah und den Motor startete. Thorka ließ sich in die Polster zurücksinken. »Ich habe ihn angewiesen, direkt nach Piteschti zu fahren«, sagte er in bedauerndem Ton. »Ich kann dich gut verstehen, Damien, und ich respektiere deinen Zeitplan. Es ist mir nicht entgangen, daß dein Brief sehr präzise Angaben über Datum und Zeit enthielt. Warum diese präzise Planung - warum dieser Tag und diese Stunde? Es gibt keinen wichtigen Kongreß, keinen besonderen Feiertag, der mit deinem Besuch zusammenfällt. Nur mit einem Ereignis, das jeder vorausberechnen kann, der einen guten Kalender hat. Mit dem Vollmond.« Die hundert Kilometer von Bukarest nach Piteschti erforderten zweieinhalb Stunden Fahrzeit, obwohl die Straße gut war. Schafherden, Bauernfuhrwerke und die Landstädte Potlogi, Titu-Tirg, Gaeschti, Valea Mae und Topoloveni, wo die Straße sich mit wimmelndem menschlichem und tierischem Leben füllte, zwangen immer wieder zum Verlangsamen. Das Gespräch im Wagen schleppte sich mehr oder weniger gezwungen dahin, und es wurde offensichtlich, daß der Rumäne bemüht war, peinliche Fragen über Harmons Absichten zu vermeiden. Sanchez nahm nicht an diesen Gesprächen teil. Seine Aufmerksamkeit galt der vorbeifließenden Landschaft und dem dörflichen und ländlichen Leben beiderseits der Straße. Seit seiner Jugend ein eher unfreiwilliger Bewohner der Großstadt, fand er offenes Land immer faszinierend. Er liebte diese hart arbeitenden Landleute und die Einfachheit ihres Denkens, die frei war von der Doppelbödigkeit intellektuellen Aufgeklärtseins. Einfach wie ihr Leben war ihre Philosophie, in der das Gute leicht als gut zu identifizieren war, und das Böse ebenso leicht als böse.
»Hier«, sagte Professor Thorka plötzlich. »Die letzte Brücke über den Arges, und wir sind in Piteschti.« Carmelo Sanchez blickte aus dem Seitenfenster von der Brücke, und die silbrigen Lichter auf dem dunklen Wasser des Flusses zwangen seinen Blick unwillkürlich aufwärts, um zu sehen, was er zuvor nicht gesehen hatte. Er fragte sich, ob er absichtlich die Tatsache ignoriert habe, daß der Vollmond aufgegangen war und seinen Zauber über diesen Teil des Planeten breitete. Sie überquerten den Arges, und Sanchez bemerkte, daß Thorka sich weit nach rechts beugte und durch das Wagenfenster aufwärts zu einer felsigen Kuppe spähte, die in Mondlicht gebadet über dem Flußtal aufragte. »Schloß Dracula«, sagte der Professor. Thorka ließ sich auf seinen Platz zurücksinken und sagte: »Richtig. Willst du die Ruinen morgen früh besichtigen?« Harmon schüttelte den Kopf. »Natürlich möchte ich die Ruinen sehen. Gibt es etwas anders in der Gegend, das anzusehen sich lohnt? Aber nicht morgen früh. Heute nacht.« »Damien, in einem Punkt hast du recht«, sagte Thorka. »Das Schloß mag die einzige Attraktion in dieser Gegend sein, die deiner Aufmerksamkeit würdig ist. Aber in dem anderen Punkt irrst du dich. Kein Mensch geht nachts da hinauf.« »Du meinst, keiner von den Einheimischen.« »Ich meine, kein Mensch.« »Du, Alex - abergläubisch?« Thorka versuchte zu lächeln, aber es war nicht überzeugend. »Vorsichtig, mein Freund. Sei nur vorsichtig. Wenn du meine Hilfe wünschst - die Wege sind verwachsen, steinig und steil, und dein körperlicher Zustand verlangt nach Hilfe -, wirst du bis zum Morgen warten müssen.« »Schon gut, Alex. Mr. Sanchez ist jünger und kräftiger als du, und er wird mir hinaufhelfen. Aber ich muß die Ruinen heute nacht besuchen.«
»Dann werden wir direkt zu unserem Quartier fahren und die Formalitäten der Anmeldung erledigen. Danach werde ich mich mit einem guten Buch - wenn ich eins finden kann - auf mein Zimmer zurückziehen und dir den Wagen lassen. Komm zu mir, wenn du zurückkehrst, und wir werden einen Cognac zusammen trinken. Das heißt, wenn es nicht zu spät ist.« Thorka betonte den letzten Satz so, daß Sanchez nicht ganz sicher war, ob das ›zu spät‹ mit der Uhrzeit zu tun hatte oder ob eine andere Bedeutung dahintersteckte. Wenig später ließen sie Thorka in der Herberge zurück, und Sanchez nahm die ungeteerte Landstraße, die dem Ufer des Arges flußaufwärts folgte. Nach wenigen Kilometern näherten sie sich dem Dorf Arefu, von wo nach Harmons Ermittlungen ein Pfad den Berg hinaufführte. Um kein unerwünschtes Aufsehen zu erregen, fuhren sie nicht in das Dorf ein, sondern parkten den Wagen abseits der schlechten Straße. Nun kam der mühsame Teil, dachte Sanchez. Er würde den Professor auf dem Rücken tragen müssen. Er setze das AluminiumTraggestell zusammen, das er für diesen Zweck konstruiert hatte, schob die breiten Gurte über seine Schultern und kniete vor dem offenen Wagenschlag nieder, den Rücken in der Öffnung. Der Professor schob seine Beine rechts und links durch die Tragschlaufen und nahm seinen Platz auf dem schmalen Sitz des Gestells ein. Nachdem er sich mit einem Haltegurt eng an den Rücken seines Trägers geschnallt hatte, nahm Harmon seinen eigenen kleinen Rucksack auf den Rücken, und Sanchez stand auf. Er verschloß den Wagen und machte sich auf den Weg. Der Beginn des Pfads war nicht schwierig zu finden. Kurz vor den ersten Häusern des Dorfs war eine deutliche Lücke im dichten, überhängenden Gebüsch am Straßenrand, und dort zweigte ein gut meterbreiter Trampelpfad ab, der gleichmäßig ansteigend den bewaldeten Hang querte. Harmon und Sanchez entschieden einmütig, daß dies der richtige Weg sein müsse,
und Sanchez begann seinen Anstieg. Nach fünf Minuten - der Pfad war schmaler geworden und unter dem langen, taunassen Gras der Wegränder halb verborgen - zogen Wolken vor den Mond, und sie sahen sich in fast völliger Dunkelheit. Wenn dies das Gehen erschwerte, so war es nur der Vorgeschmack einer weiteren Erschwernis. Zehn Minuten später, nach zwei langen Spitzkehren, die sie fünfzig Meter höher und in einen schönen, aber finsteren Hochwald aus Weißtannen und Buchen gebracht hatten, blieb Sanchez stehen und spähte unschlüssig umher. »Ich sehe keinen Weg mehr.« Harmon konnte auch nicht erkennen, wo es weiterging. Aber die Richtung war klar, so dunkel es auch sein mochte. Er zeigte den Hang hinauf. »In diesem Leben wird einem nichts geschenkt, lieber Freund.« Sanchez stapfte langsam aufwärts, dem Lichtkegel seiner Taschenlampe nach. Aber weil er sein Augenmerk auf den steil ansteigenden, von Baumwurzeln und Felsbrocken durchsetzten Grund richten mußte, lief er immer wieder in die dürren unteren Zweige von Nadelbäumen, die sein Gesicht zerkratzten und sich in seiner Jacke und seiner Traglast verfingen. Er begann zu schwitzen, aber er hielt durch, und einige Zeit später brachte er den Hochwald hinter sich, stützte seine Last auf einem kantigen Felsblock ab und legte eine Verschnaufpause ein. Vor ihnen erhob sich die felsige Kuppe des Hügels, ein Gewirr von Blöcken und Geröll, überwuchert von mannshohem Gestrüpp, Buschwerk und Brombeerranken. »Sieht nicht gut aus«, sagte er. »Vielleicht sollten wir lieber ein Stück nach rechts hinübergehen und sehen, ob es dort besser ist.« Er versuchte sich an die Passagen aus dem Buch des Engländers zu erinnern, die seinen und seines Gefährten weglosen Aufstieg schilderten, Sie hatten es geschafft, und es gab keinen Grund, warum er es nicht schaffen sollte. Andererseits
hatte der alte Bericht nur beschränkten Wert, denn 1914 und 1940 war diese Region von schweren Erdbeben erschüttert worden, die das Gesicht des Bergs durch Felsstürze und Erdrutsche verändert haben mochten. Und als sie langsam über Felsbänke, Blöcke und Geröll höher kamen, konnten sie sehen, daß die Erdbeben am Berg selbst und an dem Gemäuer tatsächlich nicht spurlos vorbeigegangen waren. Obwohl sie ihr Ziel noch nicht sehen konnten, stießen sie auf Teile davon - oder besser Bruchstücke, die einmal Teile davon gewesen waren. Zwischen dem natürlichen Gestein waren immer häufiger verwitterte Ziegel und Hausteine anzutreffen. Sie hatten den Aufstieg auf eine knappe Stunde veranschlagt, Rastzeit eingerechnet, aber er kostete sie eine Stunde und fünfundzwanzig Minuten. Carmelo Sanchez ließ sich auf einen Steinhaufen sinken und streckte die Beine aus, sog schnaufend die angenehm kühle Luft ein. Eine Weile verging, bevor ihm auffiel, daß dieser Luft ein Modergeruch anhaftete, wie man ihn zuweilen auf Friedhöfen antrifft. Schloß Dracula! Noch jetzt sah es eindrucksvoll aus. Feuer und Erdbeben und die Erosion der Zeit hatten Teile der Türme und Mauern zum Einsturz gebracht und in grasüberwachsene Schutthaufen verwandelt, hatten andere Teile abgetragen und zu hohlen Ruinen gemacht, aber noch immer erhob sich der mächtige Bau aus aufeinandergetürmten Quadern trotzig über die kleine, ebene Gipfelfläche, auf der er stand. Mochten Waldrebe und Efeu seine geborstenen Mauern überziehen, mochten Büsche und Bäume in Rissen und Trümmerhaufen siedeln, er schien der Welt zu verkünden, daß keine gegen ihn gerichtete Macht sein Rückgrat brechen würde. Die Legenden sagten, daß die oft umkämpfte Burg niemals erobert worden sei, und sie schrieben dies dem Mut der Verteidiger zu, aber das pflegen Legenden meistens zu tun. Es war etwas in den Steinen selbst, etwas, das
auch der Geruch von Moder und nasser Fäulnis nicht bezwingen konnte. Eine Burg in Ruinen. Aber die Legenden lebten fort. Und Sanchez hatte den Verdacht, daß irgendwo in oder unter den verfallenen Türmen und Mauern noch immer der eigensinnige Geist von Schloß Dracula existierte. Trotzig, stark und gefährlich. Sanchez nahm eine Zigarre aus seiner Jackentasche und zündete sie an. Dann erhob er sich mit seiner Last und ging auf das Bauwerk zu. Ohne zu zögern, trug er den Professor durch den leeren Torbogen in eine Vorhalle, die von den Trümmern ihrer eingestürzten Gewölbedecke erfüllt war. Zur Rechten lag ein geräumiger Innenhof mit erhaltenen Renaissancearkaden auf der einen und gotischen Palasfenstern auf der anderen Seite. Generationen mußten hier gebaut und erweitert haben. Er überquerte den Hof, erstieg eine intakte Treppe zu einem erhaltenen Teil des Wehrgangs. Oben angekommen, lehnte er das Traggestell mit Harmon gegen die Mauer der Brustwehr und blickte hinunter in die trübe Dunkelheit. Dort unten waren die spärlichen Lichter von Arefu, und weiter flußabwärts schimmerten die helleren und zahlreicheren Lichter Piteschtis. Was sie vermißten, war das eine Licht, das für ihr Vorhaben auf diesem Berggipfel notwendig war. Nun, Mond, wir sind bereit, dachte Sanchez. Er tat einen letzten Zug an seinem Zigarrenstummel, dann schnippte er ihn weit hinaus über die Brustwehr und sah den kleinen roten Funken in der Dunkelheit verschwinden. Er wandte sich zu Harmon um. »Den ersten Teil unserer Aufgabe haben wir erfüllt«, sagte er. »Wir sind hier, und es ist eine Vollmondnacht. Aber was nun? Wo sollen wir suchen. Und wo bleibt der Mond?« »Geduld, mein Freund. Wir wurden nicht hierherbestellt, um im Finstern durch diese Ruinen zu tappen.« »Angenommen, wir sind zu spät gekommen - oder zu früh?
Oder ist dieser Aussichtspunkt vielleicht nicht die richtige Stelle, wo wir auf das Zeichen warten sollen?« Harmons Stimme klang seltsam unbekümmert. »Mein lieber Carmelo, für einen Mann, der so entschieden dagegen war, die Gruft des Schwarzen Meisters zu suchen, sind Sie auf einmal mächtig besorgt, daß uns etwas entgehen könnte.« Sanchez lachte, obwohl ihm nicht danach zumute war. »Ich schleppe nicht gern Lasten auf Berge, wenn nichts dabei herauskommt. Und schon gar nicht nachts.« »Geduld. Der Vollmond wird sich im rechten Moment zeigen. Und ich habe das Gefühl, daß der Moment rasch näher rückt.« Sanchez setzte sich auf einen aus der Brustwehr gefallenen Stein, blickte in den Burghof hinunter und wartete. Vielleicht fünfzehn Minuten vergingen, dann sah er aus dem Augenwinkel eine undeutliche Bewegung bei den Füßen des Professors. Aufmerksam geworden, spähte er hin und sah eine große Katze, die hinter ihnen die Treppe heraufgekommen sein mußte. Sein Gedächtnis stellte sofort die naheliegende Verbindung her, aber irgendwie sah dieses Tier nicht wie die Katze aus, die er vor ein paar Wochen in New York durch das Treppenhaus gejagt hatte. Die Größe stimmte, aber der Körper sah knochiger und magerer aus, und die Bewegungen wirkten steif und langsam. Das Fell war nicht glänzendschwarz, sondern stumpf und struppig und mit Grau durchschossen. Und die Augen ... Ja, die Augen sagten alles. Die Augen der anderen Katze hatten mit einer inneren grünlichgelben Glut geleuchtet. Diese waren matt und trüb. Die Katze erreichte die Stelle, wo er saß, und ging an ihm vorbei und den Wehrgang entlang, bis sie ungefähr sieben Meter entfernt haltmachte. Sie blickte langsam in seine Richtung, als wollte sie sich seiner Aufmerksamkeit vergewissern, dann sprang sie auf die Brustwehr und schaute ins dunkle Tal hinab. Er folgte ihrer Blickrichtung und hatte den Eindruck, daß sie
eine Stelle nicht weit vom Fuß der Mauern beobachtete, wo die Reste eines vorgeschobenen Bollwerks wie kariöse Zähne aus Schutt und Gestrüpp ragten. Sollte das vielleicht der Ort sein, wo sie die Gruft zu suchen hatten? Als er seinen Blick zweifelnd auf die Katze richtete, sah er, daß sie sich umgedreht hatte und mit hocherhobenem Kopf zum schwarzgrauen Himmel starrte. Der Mond. Zuerst war es, als habe sich im Nachthimmel ein Spalt geöffnet, durch den weißes Licht auf die Bergkuppe schien. Dann teilten sich die Wolken, schienen vor dem Licht in ihrer Mitte in alle Richtungen zurückzuweichen, und die volle Scheibe des Mondes enthüllte sich in einer eisig weißen Glut. Sanchez schüttelte seinen Kopf. Ihr Vorhaben und die Stimmung dieses verfallenen Ortes waren makaber genug. Es war nicht gut, daß er Gedanken an übernatürliche Erscheinungen duldete, wo eine natürliche Erklärung wahrscheinlich ausreichte. Er blickte wieder zum Tal. Bäume, Büsche und Felsen waren in bleiernes Licht gebadet, in ein unheiliges Grau. Die Katze schaute ihn an, dann sprang sie von der Brustwehr und trottete zurück zum Treppenaufgang, wo sie sich wieder umsah. »Das ist unser Zeichen«, sagte Harmon. »Sie wird uns führen.« Es mußte der Felsblock sein, der anscheinend von der Kuppe gerollt und zwischen den Mauerresten des Vorwerks hängengeblieben war. Daß die Katze hinaufgesprungen war und sich vergewissert hatte, daß die Menschen die Bedeutung der Geste verstanden, schien Beweis genug. Außerdem gab es keine anderen Blöcke in ähnlicher Position. Dieser Felsblock mußte bewegt werden, soviel war klar. Carmelo Sanchez sagte nichts, als er den Professor absetzte und seine Handflächen an die Bergseite des Blocks legte. Auch der Professor schwieg. Sie näherten sich dem Höhepunkt ihres
Unternehmens, und jeder der beiden spürte, daß es irgendwie unpassend und störend gewesen wäre, etwas zu sagen. Der Block sah tonnenschwer aus. Sanchez war darum nicht wenig überrascht, als er ihn ohne übermäßig große Anstrengung aus dem Gleichgewicht bringen konnte. Schwerfällig zuerst, dann mit rasch zunehmender Geschwindigkeit polterte der Block den Hang hinab. Sanchez beobachtete ihn, wie er talwärts raste, immer wieder abprallend und durch die Luft schnellend, bis er schließlich krachend in einem Buschdickicht zur Ruhe kam. Sanchez füllte seine Lungen mit kühler Nachtluft, dann schaltete er die Taschenlampe ein und richtete sie auf die Stelle, wo der Block gewesen war. Wie er erwartet hatte, war dort eine rechteckige Öffnung im Boden. Bröckelnde, von der Zeit und den Elementen verwitterte Stufen führten abwärts. Die Katze sprang in die Öffnung. Sie folgten. Bevor sie New York verlassen hatten, waren sie bei ihren Studien auf die Tatsache gestoßen, daß im fünfzehnten Jahrhundert mehrere unterirdische Gänge angelegt worden waren, die Schloß Dracula in verschiedenen Richtungen mit der tiefer gelegenen Umgebung verbanden. Solche Systeme waren in jener Zeit normaler Bestandteil einer befestigten Anlage gewesen. Ihre Funktion war in erster Linie die von Fluchttunneln, durch welche der bedrängte Adel sich retten konnte, wenn seine militärische Lage aussichtslos wurde. Wahrscheinlich waren die meisten Gänge und Einstiege dieses Systems durch Verfall und Erdbeben verschüttet oder ganz eingestürzt. Das war der Gedanke, der nicht zu Carmelo Sanchez Ermutigung beitrug, als er den Professor durch die enge Röhre abwärts bugsierte. Lange stiegen sie eine gerade Treppenflucht hinab. Sanchez hatte das Gefühl, seit zwanzig oder dreißig Minuten auf dieser Treppe abzusteigen, aber als sie endete und er auf seine Uhr blickte, waren nur vier Minuten vergangen. Der Gang machte einen Knick nach links und setzte sich ziemlich eben fort.
Dann, nach ungefähr vierzig Schritten ging es durch eine Tür oder was davon übrig war. Mit einem einzigen Fußtritt riß Sanchez sie aus den Verankerungen und stieß sie auf den Boden. Das erwartete Krachen splitternden Holzes und der knallende Schlag ihres Aufpralls blieben aus. Es gab nur ein dumpfes, weiches Geräusch, als die Tür aus den Angeln brach und auf dem Boden in Tausende von Stücken zerfiel. Die Luft war von einem pulverigen Nebel erfüllt, und ein Geruch von trockener Fäulnis mischte sich in das abgestandene, moderige Aroma der Luft. Sanchez bückte sich und trat durch die Türöffnung. Der Raum war rund und klein. Er enthielt nur einen Gegenstand. Ein schwerer Sarkophag, offenbar an Ort und Stelle aus mehreren Kalksteinplatten zusammengesetzt, stand in der Mitte. Die Oberflächen waren mit kunstvoll gemeißelten, aber überladen wirkenden Reliefornamenten bedeckt, die Deckplatte bestand aus getriebenem Metall, das wie Goldblech aussah und auf schwere Eichenplanken genagelt war. Die Katze sprang auf diese Deckplatte und sah die zwei Männer an. Dann krümmte sie ihren Rücken und entblößte die spitzen Zähne in einem herausforderndem Fauchen. So jedenfalls dachte Sanchez. Der Professor deutete es als einen Befehl. »Unsere Führerin ist ungeduldig, scheint es. Fangen wir an.« Minuten später waren sie bereit, Harmon zog fünf Kerzen aus seinem Rucksack, um den unterirdischen Raum zu erhellen. Er verwendete zwei teleskopische Krücken als Stützen, während er an der Seite des Sarkophags lehnte, und hängte eine kleine schwarze Tasche um seinen Hals. Sie arbeiteten rasch, doch die Katze fauchte sie weiter an. Der Professor nickte ihr zu. »Nur keine Aufregung, Prinzessin. Hüpfen Sie herunter, und wir können anfangen.« Die Katze sprang auf den Boden. Harmon blickte über den Sarkophag seinen Assistenten an. »Es ist soweit, mein Freund, öffnen Sie den Sarkophag.«
Sofort begann die Katze zu schnurren. Die Gesichtszüge glichen jenen, wie man sie in Madrid und hundert anderen europäischen Städten jeden Tag sehen kann. So hatte Pedro de Alvarado es ausgedrückt. Als Sanchez in den Sarkophag leuchtete, konnte er nur zustimmen. Der Mann ... Nein, kein Mann. Etwas in der Verkleidung eines Mannes. Was da vor ihm ausgestreckt lag, konnte nicht menschlich sein. Es war nicht die Körpergröße. Die Gestalt sah nicht größer und schwerer aus als Sanchez selbst. Es war auch nicht sosehr das Gesicht - abgesehen vielleicht von dem leichten Kräuseln der Lippen, das ein Lächeln anzudeuten schien. Ein erwartungsvolles Lächeln. Aber was war es dann? Sanchez entschied, daß es die makellose Vollkommenheit sein mußte. Das dichte schwarze Haar war perfekt gescheitelt und gekämmt, keine einzige Strähne war fehl am Platz. Das kantige Kinn, das mit kräftig ausgeprägten Kieferbogen in ausgewogener Proportion zur breiten geraden Stirn und den nur wenig betonten Backenknochen stand, verlieh dem Gesicht eine kraftvolle und edle Würde, die von der schmalen, hochrückigen Römernase noch unterstrichen wurde. Er schien Ende Vierzig oder Anfang Fünfzig zu sein. Und sein dunkler Anzug - mit tadellos sitzender Krawatte - war fleckenlos und wie frisch gebügelt. Sogar die rote Nelke in seinem Knopfloch schien frisch zu sein, als ob sie erst diesen Abend gepflückt worden wäre. Er sah wie ein vornehmer Herr aus, der sich nach einem zufriedenstellenden Mittagsmahl zurückgezogen hat. Oder er hätte so ausgesehen, wäre nicht der dicke hölzerne Pflock gewesen, der durch sein Herz getrieben war. »Schnell jetzt. Den Splitter.« Sanchez zog ein scharfes Jagdmesser mit breiter Klinge aus dem Inneren seiner Jacke. Seine linke Hand streckte sich aus, um den Pflock festzuhalten, während er seinen Schnitt machte, aber sie kam Zentimeter vor dem aufrechten Ende des Pflocks zum Stillstand. Er zog sie rasch zurück und bekreuzigte sich hastig. Dann blickte er auf, um zu sehen,
wie Harmon auf seine Bewegung reagierte. Aber Harmons Augen waren auf den herausragenden Pflock gerichtet und schienen nichts bemerkt zu haben. Sanchez biß die Zähne zusammen und streckte seine Linke von neuem aus. Auch diesmal hielt sie inne, wie von einem eigenen Willen gelenkt, aber ihr Besitzer schob sie vorwärts, bis seine Fingerspitzen mit dem schrecklichen Stück Holz in Kontakt kamen. Ein Gefühl von Kälte durchlief seinen Arm. Er bewegte seine kraftvollen Muskeln, um sie zu wärmen, aber die Kälte drohte seinen Widerstand zu überwinden und seine Hand zu lähmen. Nun war er wütend, und mit wütendem Zugriff packte seine Hand den Pflock. »Vorsichtig«, sagte Harmon. »Stoßen Sie nicht gegen den Pflock. Setzen Sie einfach die Klinge auf das Ende und schneiden Sie den Splitter von oben nach unten herunter. Sehr sanft und behutsam.« Es war nicht so einfach, wie es klang. So scharf die Klinge war, das Hartholz widerstand dem Stahl. Nur durch gespannte Konzentration von Willenskraft und präzises Zusammenspiel seiner Muskeln, und erst nachdem er die umgekehrte Technik anwandte und den Pflock niederdrückte, während er das seitlich angesetzte Messer aufwärts zog, gelang es ihm, einen hinreichend langen und nicht zu dünnen Splitter vom Holz zu schneiden. Schweißtropfen rollten von seiner Stirn, als er erleichtert ausatmete und Harmon den Splitter reichte. »Ich brauche auch das Messer.« Sanchez wischte seine Stirn und lehnte sich gegen die feuchtkalte Wand, um zu beobachten, wie Harmon eine Anzahl Skalpelle und ein eiförmiges Ding mit einer Schale aus blauem Plastikmaterial aus seiner schwarzen Tasche nahm. Das Ding hatte die Größe einer Walnuß, und es war das Kontrollgerät, das neben dem Herzen des Vampirs eingepflanzt werden sollte. Was zu seiner Funktionstüchtigkeit noch fehlte, war der kleine Hartholzpfeil, den Harmon jetzt aus dem Splitter auf die richti-
ge Dicke und Länge zurechtschnitzte. Als er mit seiner Arbeit zufrieden war, schliff er den Pfeil mit einem kleinen Stück feinen Sandpapiers nadelspitz zu und steckte ein Ende probeweise in eine Öffnung an einem Ende des blauen Eies. Nun entnahm er seiner Tasche ein kleines Glasröhrchen, schraubte den Verschluß ab und tauchte das aus dem Ei ragende Stück des Pfeils in die farblose Flüssigkeit, die in der Röhre war. Es war ein chemischer Härter, der das Holz des Splitters am Aufquellen hindern und seine Schärfe erhalten sollte. Nachdem der Härter fest geworden war, steckte Harmon den Pfeil ganz in das Ei, so daß nur noch ein winziges Stück der nadelfeinen Spitze zu sehen war. »Nun wollen wir sehen, ob unsere Übertragung die Probe besteht«, sagte Harmon. Er rollte das kleine Ei sehr schnell zwischen seinen Handflächen, um es zu erwärmen. Dann reichte er es Sanchez. Dieser nahm das Ei aus der Hand des Professors und sah, wie Harmons Augen sich auf die Pfeilspitze konzentrierten. Bevor er selbst hinsehen konnte, fühlte er einen winzigen Ruck durch das Ei in seiner Hand gehen. Der Pfeil war in seiner vollen Länge aus dem Ei geschnellt. »Phase zwei«, sagte Harmon nüchtern. Und sofort zog sich das Stück nun versteinerten Holzes wieder zurück. Wie zuvor war nur die Spitze sichtbar. »Zufrieden?« Sanchez nickte. Er hatte bei ähnlichen Proben in New York mitgewirkt und zweifelte nicht mehr daran, daß Harmons telekinetische Kraft den Schalter betätigen konnte, wann immer sie dazu aufgerufen wurde. Doch als Sanchez zusah, wie Harmon die Kleidung des Vampirs öffnete, um den Oberkörper für die Operation freizulegen, war er alles andere als überzeugt. Er glaubte an Harmons chirurgische Geschicklichkeit und an die Richtigkeit und Zweckmäßigkeit der Sicherheitsvorkehrungen. Aber die Berücksichtigung aller bekannten Faktoren mochte nicht genug sein. Nicht, wenn der ganze Plan auf etwas zielte,
das eine im wesentlichen unbekannte Einheit war. Und als er Harmon den ersten Einschnitt machen sah, dachte er unbehaglich, daß es in dieser Welt noch immer viele Dinge gab, die von den Wissenschaften nicht erklärt werden konnten. »Sehen Sie, Carmelo! Sehen Sie nur - es ist unglaublich!« Harmon hatte seine Kontrollvorrichtung eingepflanzt und die Öffnung im Fleisch geschlossen, um die Schnitte zu vernähen. Nun starrte er verblüfft auf seine Arbeit. Sanchez sah warum, als er in den Sarkophag blickte. Die klaffenden Schnittwunden, jede so breit, daß man bequem einen Finger hineinlegen konnte, heilten sich selbst, schlossen sich von unten nach oben, fügten sich zusammen, als ob es keinen Eingriff gegeben hätte. Tatsächlich war nach Minuten nicht einmal die Spur einer Narbe auf der glatten Haut zu sehen. Sanchez blickte besorgt ins Gesicht des Vampirs. Hatten sie etwas getan, das den Unhold vorzeitig zum Leben erweckte? Aber die Züge blieben unverändert. »Ein Wunder«, sagte Harmon. Sanchez bekreuzigte sich abermals. Wunder war nicht ein Wort, das man leichthin gebrauchen sollte. Er vermutete, daß es darüber hinaus nicht ein Wort war, das man mit der Kreatur vor ihnen in Zusammenhang bringen durfte. Der Professor packte seine Instrumente wieder in die schwarze Tasche. Dann bewegte er sich auf seinen Krücken zum Fußende des Sarkophags. Die alte Katze, die bisher stumm auf ihren knochigen Keulen gekauert hatte, ließ wieder ihr Schnurren vernehmen. Carmelo Sanchez wußte, was als nächstes kam, wußte, welches Harmons nächste Worte sein würden. Er empfand Grauen vor diesen Worten. »Jetzt«, sagte Harmon. »Ziehen Sie ihn heraus. Ziehen Sie den Pflock heraus.« Sanchez preßte seine Kiefer aufeinander und umfaßte mit beiden Händen das Ende des hölzernen Pflocks, der den Vampir fast ein Jahrhundert lang an Ort und Stelle gebannt hatte.
Das Holz fühlte sich noch immer kalt an, aber der unerklärliche Widerstand gegen seine Berührung, den er zuerst bemerkt hatte, war verschwunden. Es bedurfte kaum einer Anstrengung, und schon fühlte Sanchez den Pflock sanft und wie geölt aus dem Körper gleiten. Bevor es ihm bewußt wurde, hielt er den herausgezogenen Pflock in seinen Händen; von der scharfen Spitze tropfte dunkelrotes Blut. »Da! Wieder!« sagte Harmon aufgeregt, und Sanchez wußte, noch bevor er hinsah, daß das tiefe Loch in der Brust des Vampirs sich selbst schloß. Und dann... Der Pflock fiel klappernd auf den Steinboden, als der Vampir die Augen öffnete. Öffnete und schloß. Dann geschah eine Weile nichts - bis der Mund sich bewegte, ein wenig zuckte, sich zu einem dünnlippigen Lächeln dehnte ... Die Augen klappten wieder auf, und die dicken, aber spitz zulaufenden Finger streckten und schlossen sich einige Male zu beiden Seiten des Liegenden. Dann kamen die Arme gemächlich hoch, die Hände legten sich auf die Seitenwände des Sarkophags, zogen den Körper hoch. Graf Dracula saß aufrecht. Sein Lächeln wurde breiter. »Wie mir gesagt wird, sprechen Sie Englisch, allerdings ein sehr seltsames Englisch.« Es war ein ungewöhnlicher Satz, um eine Konversation einzuleiten, und wenn es eine geeignete Antwort darauf gab, so blieb sie ungesagt. In der Stille, die auf seine Worte folgte, blickte Dracula von einem zum anderen, und beiden Männern fielen seine schwarzen Pupillen und die deutlichen roten Adern im Weiß seiner Augäpfel auf. Wenn die Augen ihre Blickrichtung veränderten, schienen winzige weiße Lichter in ihren Pupillen aufzublitzen und zu erlöschen. Seine Stimme war tief, ein wohlklingender, voller Bariton, und er sprach mit einem Akzent, der demjenigen Thorkas nicht ganz unähnlich war. Auch hatte er mit Ktara gemeinsam, daß
seine Redeweise den Eindruck erweckte, er sei es nicht gewohnt zu sprechen. Als ob er die Sprache für ein umständliches und unzulängliches Kommunikationsmittel hielte. Als sein Blick jedoch auf die Katze fiel, sprach er sie an, statt eine telepathische oder visuelle Methode zu verwenden; allerdings bediente er sich einer seltsamen Sprache, zu deren Eigenheiten ein ständiger Wechsel der Tonlage zu gehören schien und die zweifellos seit langem vom Angesicht des Planeten verschwunden war. Die Katze schnurrte leise. Sie war noch immer groß, aber sie war nicht länger alt. Das dichte schwarze Fell schimmerte im Kerzenschein, und die ganze Erscheinung sprach von Gesundheit und geschmeidiger Kraft. »Meine liebe Ktara hat wieder einmal ihre Fähigkeiten gebraucht, um mich von den Banden des Todes zu befreien«, sprach Dracula weiter. »Ich bin ihr dankbar, wie ich ihr in der Vergangenheit dankbar gewesen bin, doch weiß ich, daß sie es tut, weil sie muß. Es ist eine Aufgabe, vor der sie nicht versagen darf, ungeachtet aller Belohnungen oder Unannehmlichkeiten, denn andernfalls wäre sie für immer verloren. Während ich bleibe, wie Sie mich gesehen haben -und wenn ich tausend Jahre in irgendeinem vergessenem Land liegen muß. Professor Harmon, auch Ihnen entbiete ich meinen Dank, obwohl Sie nur ein Instrument von Ktaras Willen waren. So geschieht es nicht ohne ein gewisses Widerstreben, daß ich Sie informiere, daß Ihr Blut - und das Ihres Assistenten - das erste sein wird, das heute nacht meinen Durst stillen wird.« Wieder lachte er. »Ah? Sie halten dies für schlecht und undankbar von mir? So mögen Sie denn wissen, daß alle jene, die in der Vergangenheit den Pfahl aus meinem Herzen gezogen haben, auf diese Weise endeten. Ich finde das nicht besonders unehrenhaft. Jene, die den Pfahl herausziehen, tun es schließlich, weil sie etwas von mir wollen. Ich wiederum will etwas von ihnen. Es liegt in der
Natur der Dinge, daß ich die Oberhand gewinne. Ist das nicht einfach, Professor?« Während er sprach, begann sich eine Veränderung seiner Gesichtsstruktur zu vollziehen. Langsam, wie in einem Schmelzprozeß, nahm das Gesicht die Züge an, die der Spanier im sechzehnten Jahrhundert so bildhaft beschrieben hatte. Unter sich verdickenden und zusammenwachsenden Augenbrauen begann die Nase sich abzuplatten und zu verbreitern. Die Augen wurden größer, die Lider dicker. Und während das ganze Gesicht in die Breite ging und der Haaransatz sich in die Stirn vorschob, wurden die Lippen zurückgezogen, um dem Wachstum der Eckzähne Platz zu machen. Erst als Dracula Anstalten machte, seinen Sarkophag zu verlassen, ergriff Harmon das Wort. »Graf Dracula, so einfach ist es nicht«, sagte er ruhig. »Ich schlage vor, daß Sie bleiben, wo Sie sind, wenn Sie wirklich unter den Lebenden zu bleiben wünschen.« Dracula blickte grinsend von Sanchez zu dem Holzpflock auf dem Steinboden. Sein Gesicht erinnerte unheimlich an die gemeißelten Dämonenfratzen mittelalterlicher Architektur. »Sie glauben, Sie könnten mich jetzt noch überwältigen? Nein, Professor, da irren Sie. Sie unterscheiden sich nicht von den anderen. Ich will Ihr Blut. Und was ich will, bekomme ich!« Damit sprang er auf, die Hände ausgestreckt. Der Professor schloß einen Moment seine Augen, ohne sich von der Stelle zu rühren. Plötzlich spiegelte Draculas Gesicht Staunen und Bestürzung. Mit lautem Stöhnen griff er an seine Brust, die hünenhafte Gestalt taumelte, sackte über den Rand des Sarkophags und fiel zu Boden, wo sie auf dem Rücken liegenblieb. Doch schon im nächsten Augenblick richtete der Gefallene sich wieder auf. Sanchez warf dem Professor einen alarmierten Blick zu, doch Harmon antwortete mit beruhigendem Kopfnicken. Er hatte den Pfeil zurückgezogen.
»Nun, mein guter Graf, Sie haben selbst gespürt, daß es nicht so einfach ist. Ich schlage vor, daß Sie bleiben, wo Sie sind. Außerdem würde ich Ihnen raten, daß Sie Ihren Zügen wieder ein mehr menschliches Aussehen geben. Sie werden Ihre scharfen Zähne heute nacht nicht benötigen.« Der Graf schien Harmons Worte zu überdenken, dann kam er der Aufforderung nach. In einem Ton gespielter Unterwürfigkeit fragte er den Professor, ob er aufstehen dürfe. »Eine stehende Haltung wäre würdiger«, begründete er seine Bitte. Harmon nickte. »Sie verstehen Ihre Situation?« »Vollkommen, Professor Harmon. Eine sehr sinnreiche Vorrichtung, die, wie ich ausmache, nicht funktionieren wird, sollte Ihr Herz aufhören zu schlagen. Einstweilen bin ich in Ihrer Gewalt. Aber sagen Sie mir, glauben Sie wirklich, Sie könnten auch ferner über mich gebieten?« Harmon lächelte nur. Dracula wandte sich an die schwarze Katze, die auf den Rand des Sarkophags gesprungen war und dort auf ihren Keulen saß. »Dieser kluge Mann hier, den du diesmal ausgewählt hast, könnte sich als sehr interessant erweisen, meine Süße. Aber ich vergesse mich. Lange ist es her, daß meine Augen sich an deiner lieblichen Mädchengestalt geweidet haben. Darf ich sie jetzt sehen?« Harmon und Sanchez sahen zu, wie die Katze sich erhob und geschmeidig auf den Boden sprang. Aber sie kam nicht an. Sanchez glaubte, vier weiche Pfoten auf der Steinoberfläche landen zu hören, aber wo das Tier sein sollte, stand die junge Frau, die Harmon in seinem Arbeitszimmer besucht hatte. Ihre Schönheit hatte jetzt eine neue Frische. Ihr pechschwarzes Haar und der schwarze Umhang bildeten einen vollkommenen Rahmen für das milchweiße Oval ihres Gesichts mit den schimmernden Smaragdaugen. Sie grüßte die beiden Männer nur mit den Augen, dann sagte sie zu Dracula: »Mein Meister, ich hoffe, du wirst mir meine
Wahl nicht zum Vorwurf machen. Diese Welt, in die du erwacht bist, ist von Menschen mit geringem Verstand, schwachem Willen und noch geringerer Tapferkeit bevölkert. In einer solchen Welt war es nicht einfach, jemanden zu finden, der die notwendigen Qualitäten und Voraussetzungen mitbringt. Diese Männer besitzen sie.« Dracula lächelte. »Und vielleicht noch etwas anderes?« Er wartete keine Antwort ab und zuckte die Achseln. »Es ist nicht wichtig. Mit der Zeit werde ich alles wissen. Es ist jedoch offensichtlich, daß dieser Harmon etwas ganz anderes von mir will als seine Vorgänger. Sprechen Sie, Harmon. Was wollen Sie?« Harmon blickte ihn unverwandt an. »Wissen Sie nicht, was ich will?« Der Graf starrte eine Weile ins Leere, dann wurde sein Lächeln breiter. »Ich weiß, Professor. Sie haben so gehandelt, weil Sie glauben, mich zu einem Werkzeug für Ihre Spiele machen zu können!« »Ich sehe das nicht als Spiel an«, sagte Harmon kalt. »Sie mögen es nennen, wie Sie wollen, Professor«, erwiderte Dracula. »Aber was sind Kriege anderes als Spiele - selbst ihr Krieg da, für den Sie meine Kräfte zu gewinnen hoffen? Ein Krieg gegen das Böse: so sehen Sie es.« Er lachte kurz und schneidend. »Was ist das Böse? Ist Ihrer professoralen Weisheit nicht bekannt, daß jeder Mensch das Böse in direkter Beziehung zu dem definiert, was er für das Gute hält? Aber ich will hier nicht argumentieren und streiten. Wenn Sie die Wirklichkeit in solchen Begriffen zu sehen wünschen, dann tun Sie es von mir aus. Doch was das Hier und Jetzt angeht, so darf ich vielleicht erfahren, welches Ihre nächsten Schritte sein sollen?« »Dies«, antwortete Harmon. Wortlos, aber mit einem schmerzlich-zornigen Ausdruck im Gesicht fing Ktara ihren Meister auf, als seine Knie unter ihm einknickten. - »Eine notwendige Sicherheitsvorkehrung«, erklärte Harmon. »Legen Sie
ihn wieder in den Sarkophag, Carmelo. Er bleibt hier, wie er ist, bis wir ihn nach Hause bringen.« Wieder zu Ktara gewandt, sagt er: »Die Rückreise wird noch manche Schwierigkeit bringen, aber ich habe getan, was ich konnte, um sie so glatt wie möglich abzuwickeln. Werden Sie das gleiche tun?« Sie nickte, worauf Harmon ihr erzählte, wie er sich den weiteren Ablauf vorstellte. Als sie durch den Treppengang zur Oberfläche hinaufstiegen, sagte sie ihm, daß es einen leichteren Sarg gebe, der für den Grafen und seine kostbare Heimaterde passend sei. Doch müsse Sanchez zurückkommen, um sie und den Sarg zu holen. Sie einigten sich darauf, daß Sanchez zuerst Harmon nach Piteschti ins Hotel bringen und dann zurückkehren würde. Als sie wieder an die Oberfläche kamen, hatte sich die dichte Wolkendecke längst wieder geschlossen. Ein leichter Nieselregen ging nieder. Harmon machte Ktara darauf aufmerkam und sagte: »So nützlich die Finsternis und das unfreundliche Wetter später für unsere Zwecke sein mögen, sie werden unseren Abstieg jetzt sehr erschweren.« Das Mädchen lächelte und blickte in die regnerische Dunkelheit auf. Wenige Augenblicke später war die Wolkendecke aufgerissen, und helles Mondlicht lag auf Berg und Tal. »Sehen Sie?« sagte der Professor zu Sanchez, als sie sich an den Abstieg machten. »Es gibt nichts, was wir mit solchen Verbündeten nicht erreichen können.« Carmelo Sanchez schwieg. Er war sich seiner Sache nicht so sicher - schon gar nicht in dem Punkt, der die ›Verbündeten‹ betraf. Einen Sarg um die halbe Welt zu transportieren ist nicht die leichteste aller Aufgaben, erst recht nicht, wenn er besetzt ist. Harmons Plan, schon vor seiner Ankunft in Rumänien bis ins Detail ausgearbeitet, war in der Ausführung umständlich und beschwerlich, aber von zwei grundsätzlichen Erwägungen bestimmt, die keine Zugeständnisse an die Bequemlichkeit zulie-
ßen. Eine war die Wahrscheinlichkeit von Entdeckung, ein Sicherheitsfaktor. Die andere war die - in einem sozialistischen Land für einen Ausländer schwierige - Möglichkeit, durch Bestechung zuverlässige Helfer und Mittelsmänner zu gewinnen. Die lange Reise sollte auf dem Arges beginnen. Sanchez, Ktara und der eingesargte Graf würden noch in der gleichen Nacht mit einem aufblasbaren Floß flußabwärts nach Budesti fahren, wo der Sarg in eine weniger auffällige Kiste verpackt und per Bahn nach Konstanza am schwarzen Meer transportiert werden sollte. Dort mußte er unter Umgehung aller Zoll- und Ausfuhrformalitäten an Bord eines kleinen griechischen Frachters verladen werden, der den Sarg und seine zwei Begleiter nach Iraklion auf der Insel Kreta bringen würde. Ein zweites Schiff, diesmal ein Passagierdampfer, war für den Weitertransport über Palermo nach Genua ausersehen. In Genua würde Harmon, der mit dem Flugzeug von Bukarest über Rom anreisen wollte, zu ihnen stoßen, um gemeinsam mit ihnen und der Kiste an Bord des Luxusdampfes ›Michelangelo‹ den Atlantik zu überqueren. Weil sie die Kiste mit geeigneten Begleitpapieren als Transitgut deklarieren würden, stand zu erwarten, daß es bei den Umladungen keine Schwierigkeiten geben würde. Dafür würde die letzte Etappe der Überführung des Vampirs in die Neue Welt um so schwieriger sein. Die Umgehung des ob seiner Gründlichkeit berüchtigten amerikanischen Zolls, einer Behörde, auf die Harmon keinen Einfluß hatte, erforderte ein hohes Maß an taktischer Schläue und Gewandtheit, dazu genaue Kenntnisse der Kontrollmethoden und der Abfertigungsorganisation. Der Versuch, einzelne Beamte in Schlüsselpositionen zu bestechen, barg ein unkalkulierbares Risiko, dem Harmon nichts abgewinnen konnte. Er wußte, daß er Sanchez eine Menge zumutete, denn sein Assistent würde völlig vom guten Willen der Frau abhängen. Aber er wußte auch, daß Sanchez die Probleme sah und findig sein konnte, wenn sein Überleben davon abhing. Überdies ver-
fügte er über ein wirksames Druckmittel, das Ktara daran hindern würde, die Überführung zu sabotieren: Sollte Harmon bei der Einschiffung in Genua nicht alles in Ordnung finden, so würde ihr Meister keine Chance haben, jemals wieder seine Augen zu öffnen. Nein, alles würde planmäßig ablaufen, dessen war er sicher. Und hatte er den Vampir erst sicher in seinem Haus in Westhampton, dann ... Aber bis dahin würden noch Wochen vergehen. Gegenwärtig konnte er nur sehr wenig tun, und so beschränkte er sich darauf, dem ausgezeichneten Cognac zuzusprechen, den sein Freund ihm eingeschenkt hatte. Professor Thorka hatte nur die Achseln gezuckt, als Harmon ihm erzählte, sein Assistent habe in einer Taverne in Arefu eine Bedienung kennengelernt und sich Hals über Kopf in sie verliebt, und er, Harmon, habe eingewilligt, seinem Angestellten ein paar Tage frei zu geben. Es war eine schwache Geschichte, aber Harmon wußte, daß Alex wegen Sanchez keine weiteren Fragen stellen würde, ob er die Version glaubte oder nicht. Irgend etwas schien Harmons alten Freund jedoch zu beunruhigen, und nach einer Weile kam er auf Umwegen damit heraus. »Der Mond ist wieder zum Vorschein gekommen«, bemerkte er, sich vom Fenster zurückwendend. »Hast du es bemerkt, Damien?« Harmon hatte es in der Tat bemerkt. Ktara war eine sehr nützliche Verbündete. »Ja, das Licht der Nacht geht heute an und aus wie ein elektrischer Schalter.« »Ein hübscher Vergleich«, erwiderte Thorka. »Aber ein elektrischer Schalter wird von jemandes Hand betätigt, nicht wahr?« »Etwas beunruhigt dich, Alex. Was ist es?« Der Rumäne schwenkte nachdenklich sein Glas und blickte wieder aus dem Fenster. »Damien, ich weiß nicht genau, was dich hierher geführt hat. Ich glaube, ich will es auch nicht genau wissen. Wir kennen
einander seit langem, und ich habe volles Vertrauen in deine Ehrlichkeit und Integrität. Darum frage ich nicht gern, was ich dich jetzt fragen werde, und bitte dich im voraus um Entschuldigung. Du wirst hoffentlich verstehen, daß ich es notwendig finde, mich in einem Punkt zu vergewissern. Diese Arbeit oder dieses Vorhaben, das du hier durchführst, ist nicht in irgendeiner Weise politisch orientiert, oder? Indem ich dir helfe, arbeite ich doch hoffentlich nicht unwissentlich gegen die Interessen meines eigenen Landes? Hierüber möchte ich gern Klarheit haben.« Hätte sein Freund die Frage nicht in so ernstem Ton vorgebracht, wäre Harmon in Lachen ausgebrochen. Statt dessen gab er sein Ehrenwort, daß sein Aufenthalt keinen politischen Hintergrund habe, und versicherte, daß alle Befürchtungen in dieser Richtung unbegründet seien. Thorka zeigte sich sehr erleichtert. »Ich selbst bin ein eher unpolitischer Mensch«, sagte er, »und ich hatte auch dich immer für politisch uninteressiert gehalten. Trotzdem hielt ich es für notwendig, meine Frage vorzubringen und eine Antwort zu erhalten.« Er blickte noch immer aus dem Fenster. »Sag mir, Damien, kennst du die alten Geschichten über die Wölfe Transsilvaniens?« »Wölfe?« »Wie du weißt, waren diese Berge in früheren Zeiten sehr reich an Wölfen. In den letzten Jahrzehnten sind diese Tiere sehr dezimiert worden, aber sie sind noch immer relativ zahlreich. In den Erzählungen der Bauern gibt es einen Berg, der von den Wölfen gemieden wird. Dort soll es einmal einen Mann gegeben haben, der sie gegen ihren Willen zu sich rufen konnte und der sie für seine Zwecke gebrauchte. Angeblich verwendete er sie für die Bewachung seines Besitzes, er soll aber auch nicht verschmäht haben, sie zu verspeisen. Die Pointe dieser Erzählung ist, daß die Wölfe nicht seine willigen Diener waren und den Berg wie die Pest mieden, selbst als der
Mann - ein Adliger - vor bald hundert Jahren starb. Weil die Wölfe dem Berg weiterhin fernblieben, glauben die Bewohner der umliegenden Dörfer fest daran, daß der Körper des Adligen, der den Erzählungen zufolge niemals gefunden wurde, noch immer irgendwo dort oben ruht. Weißt du, von welchem Berg ich spreche, Damien?« »Ich nehme an, du meinst den Berg, auf dem die Ruine von Schloß Dracula liegt.« »Nun«, sagte Harmon, »es gibt viele Erzählungen und Legenden, die diesen Berg und das Schloß samt seinem Herrn betreffen, nicht wahr? Jeder weiß, daß die naturverbundene Landbevölkerung schon immer mit schöpferischer Phantasie begabt war. Die langen Winterabende, die Isolierung in abgelegenen Dörfern - all das förderte die Entwicklung erzählerischer Talente. Und natürlich förderte es auch den Aberglauben.« Thorka nickte bedächtig. »Das ist wohl wahr, Damien. Aber als Archäologe habe ich gelernt, solche Geschichten niemals kurzerhand als Phantasiegebilde abzutun. Häufig enthalten sie unter allen Ausschmückungen und dazuerfundenen Arabesken einen wahren Kern. Wenn mehr Wissenschaftler sich ernsthaft mit dem befassen würden, was eine einfache Bauernbevölkerung seit Generationen durch mündliche Überlieferung bewahrt hat, gäbe es wahrscheinlich einige Überraschungen.« »Ich kann nicht umhin, dir zuzustimmen, Alex.« »Trotzdem, Damien, gibt es einige Geheimnisse - oder Phantasiegeschichten, wenn du so willst -, von denen selbst ein alter Wissenschaftler wie ich glaubt, daß man sie besser auf sich beruhen lassen sollte.« Harmon hatte keine Neigung, länger bei diesem Thema zu verweilen. Aber während er noch überlegte, wie er dem Gespräch eine andere Wendung geben könne, öffnete der Rumäne das Fenster. Das Geräusch, das von fern durch die stille Nacht kam, war unverkennbar.
»Ein Wolf«, sagte Carmelo Sanchez, »und nicht weit von hier.« »Es gibt welche in diesen Bergen«, bestätigte Ktara. »Aber Sie können unbesorgt sein. Kein Wolf wird in unsere Nähe kommen - nicht, solange Sie bei Ihrer Last bleiben.« »Ich habe keine Angst«, sagte Sanchez. »Ich weiß, daß Wölfe nur in größter Not Menschen angreifen. Und jetzt ist nicht Winter.« Die Frau sagte nichts darauf, und sie setzten ihren Abstieg fort. Die Last auf Sanchez Schultern war lange nicht so schwer, wie er erwartet hatte. Schon am Anfang, als er den mit Erde und dem hünenhaften Körper gefüllten Sarg angehoben hatte, um ihn aus der unterirdischen Kammer die Treppe hinaufzuziehen, hatte er gemerkt, daß das Ding unnatürlich leicht war. Und oben am Ausstieg hatte er ihn sogar auf die Schultern nehmen können. Es war nicht ganz einfach, den langen und ungefügen Sarg beim Abstieg über den unwegsamen Hang im Gleichgewicht zu halten, aber es war auch nicht allzu schwierig; Sanchez hatte das Gefühl, einen leeren Fichtenholzsarg zu tragen. Bei der ersten Rast, die er einlegte, um das Gewicht von einer Schulter auf die andere zu verlagern, beschloß er, den Sarg zu öffnen und nachzusehen, ob der Graf noch darin liege, denn er war mißtrauisch geworden. Aber Dracula lag im Sarg, wie sie ihn hineingelegt hatten. Er schloß kopfschüttelnd den Deckel. Als er zur Frau aufblickte, sah er sie lächeln. »Ja, ich helfe«, sagte sie. »Ich habe gewisse geistige Kräfte, und ich versprach Ihrem Herrn, daß ich Ihnen helfen würde.« Das mit dem ›Herrn‹ mißfiel Sanchez, aber er schrieb den Gebrauch des Wortes ihrer Unkenntnis zu. »Ich weiß Ihre Hilfe zu schätzen«, sagte er. Nach einer halben Stunde waren sie am Wasser. Der Fluß war weder breit, noch sah er tief aus, aber er hatte eine starke Strömung. Sanchez setzte den Sarg ab und öffnete den Rucksack,
den er unter einem Busch versteckt hatte. Es war derselbe Rucksack, den der Professor bei ihrem gemeinsamen Aufstieg getragen hatte, und er war mit neuem Inhalt gefüllt worden, als er Harmon bei der Herberge abgesetzt hatte. Als Sanchez ein zusammengefaltetes Paket aus gummiartigem Material aus dem Rucksack nahm, bemerkte er, daß Ktara sein Tun mit skeptischen Blicken betrachtete. »Keine Sorge«, sagte er. »Mit diesen Dingern sind andere schon über Stromschnellen gefahren. Das Material hält eine Menge aus.« »Ich hoffe, Sie haben recht«, sagte sie mit blassem Lächeln. »Ich komme nicht gern mit Wasser in Berührung.« In weniger als einer Minute hatte die Preßluftflasche, die Sanchez an eine Ecke des ausgelegten Stoffs angeschlossen hatte, das Floß prall gefüllt. Es war groß genug, um den Sarg und zwei Personen bequem aufzunehmen. Sanchez schraubte die zwei zerlegbaren Stechpaddel zusammen, und zum ersten Mal seit ihrer Landung in Rumänien bewunderte er Harmons Vorausplanung. An alles war gedacht. Sanchez deutete zum Floß. »Steigen Sie ein und nehmen Sie ein Paddel. Ich werde uns abstoßen.« Sanchez schlug kräftig gegen die hölzerne Tür. Sie trug keinerlei Namen oder Inschrift, aber er war sicher, daß er an der richtigen Adresse war. Es mußte die richtige Adresse sein, diejenige, die Harmon ihm beschrieben hatte. Noch war es dunkel, aber er wußte, daß ihm nicht viel Zeit blieb. Bald würde er den kostbaren Schutz der Nacht verlieren. Die Mittelsmänner waren bezahlt und instruiert. Es durfte nicht sein, daß es hier, wo die eigentliche Heimreise begann, zu einer Panne kam. War es möglich, daß er einen dummen Fehler gemacht und sich in der Straße geirrt hatte? Er begann zu schwitzen. Sein Gehämmer mußte früher oder später die Nachbarschaft aufmerksam machen. Und was sollte er machen, wenn die Polizei käme? Alles wäre verloren ...
Nachdem er ein viertes Mal an die Tür gepocht hatte, diesmal bereits in beginnender Verzweiflung, wurde sie einen Spaltbreit geöffnet. »Der Engländer?« fragte eine brüchige Stimme von innen. »Der Amerikaner«, schnaufte Sanchez. »Sie sind spät.« Die Tür blieb, wie sie war. »Besser spät als nie.« Der Wortwechsel war das verabredete Erkennungszeichen. Die Tür wurde geöffnet und zeigte einen runzligen, zahnlosen Mann mit gebeugten Schultern, der weit in den Achtzigern sein mußte. Mit einer kurzen Geste seiner Rechten, in der er einen schweren Hammer hielt, bedeutete er Ktara, die Tür zu schließen, dann ging er ihnen voraus durch einen niedrigen Korridor mit mehreren Türen. Er öffnete die letzte auf der linken Seite und hielt sie für Sanchez und die Frau auf. Sie traten in eine trübe beleuchtete Schreinerwerkstatt mit zwei Werkbänken, einer Menge Werkzeug und einem Vorrat von verschiedenen Hölzern in Form von Brettern und Planken. Eine Geste mit dem Hammer zeigte an, wo Sanchez seine Last abstellen sollte. »Sie sind also Amerikaner?« fragte der Alte. Er sprach ein stockendes Englisch mit schwerem Akzent, und seine verschliffene, zahnlos nuschelnde Aussprache erschwerte das Verstehen. »So steht es in meinem Paß«, sagte Sanchez. Er erwähnte nicht, daß er deren zwei hatte, einen echten amerikanischen und einen falschen spanischen. Der alte Mann nickte. »In den alten Tagen war ich auch in Amerika. Ich bin lange zur See gefahren, als Schiffszimmermann, bevor ich nach Budesti kam.« Da er sah, daß der Alte offenbar nicht daran dachte, sich gleich an die Arbeit zu machen, sagte Sanchez: »Ich bin etwas in Eile.« »Ja, ja. So sind die Amerikaner. Immer in Eile. Aber warum
die wilde Hast, eh? Ist es so, weil ihr glaubt, die Zeit laufe euch davon, und ihr müßt hinterherrennen, um sie einzuholen? Nun, sagen Sie mir, was haben Sie in dieser Kiste, für die ich einen Verschlag machen soll? Es ist ein Sarg, nicht wahr?« Etwas war an dem alten Mann, das Sanchez nicht gefiel. »Ja, es ist ein Sarg«, sagte er. »Aber wir hatten keine andere Kiste, die wir hätten nehmen können. Darum sind wir hier, wie Sie sich vielleicht erinnern werden. Ihre Aufgabe ist, uns einen geeigneten Behälter zu bauen. Was den Inhalt angeht, das ist unsere Sache. Sie sind für Ihre Dienste bereits gut bezahlt worden.« Der Alte lächelte, daß seine zahnlosen Kiefer oben und unten zu sehen waren. »Ich erinnere mich sehr gut daran, danke. Aber ich erinnere mich auch, daß ich, als ich den Auftrag bekam, diese Arbeit zu tun, mir so meine Gedanken darüber machte. Gheorghe, sagte ich zu mir - Gheorghe ist mein Name - Gheorghe, warum will dieser Fremde dir all dieses Geld für eine Kiste bezahlen, die für etwas gemacht werden soll, das jemand in der späten Nachtstunde bringen wird? Das fragte ich mich. Und nun sehe ich, daß das, was mir in der späten Nachtstunde gebracht wird, Ein Sarg ist. Und jetzt frage ich mich etwas anderes. Gheorghe, frage ich mich ...« »Wir kennen Ihren Namen bereits. Fangen Sie endlich an!« Gheorghe blickte Sanchez verständnislos an. »Entschuldigen Sie, guter Herr, aber wenn ich Ihnen sagen soll, was ich zu mir sage, dann muß ich Ihnen auch sagen, wie ich es so zu mir sage. Gheorghe, sage ich mir, angenommen, es wäre etwas Verbotenes und Illegales in diesem Sarg, vielleicht irgendeine Schmuggelware. Ha! Gheorghe ist kein Dummkopf. Er weiß, daß geschmuggelt wird, und er weiß, daß es verboten ist. Ich sage mir, Gheorghe, du sollst hier etwas tun, das der Polizei nicht gefallen wird, etwas, das dich für den Rest deines Lebens ins Gefängnis bringen kann. Und du mußt sehen, was in dem
Sarg ist, für den du einen Verschlag zimmern sollst. Also sage ich Ihnen jetzt, daß Sie den Sarg aufmachen sollen.« Sanchez hatte seinen Mund kaum geöffnet, als er Ktaras schneidende Stimme hörte: »Hören Sie mich an, alter Mann. Sie werden einfach die Arbeit tun, für die Sie mehr als reichlich bezahlt worden sind. Der Sarg wird nicht geöffnet, und Sie haben keine weiteren Fragen zu stellen. Das können Sie auch Ihren zwei Freunden sagen. Oder soll ich es ihnen sagen?« Gheorghe verzog sein faltiges Gesicht und blinzelte dieses unverschämte junge Frauenzimmer mit der kalten Stimme an. »Was für zwei Freunde?« »Die zwei Freunde, die vor der Tür stehen. Die kein Englisch verstehen und darauf warten, daß Sie ihnen das Zeichen geben, hereinzukommen und Ihre Gäste zu überfallen. Die wie Sie selbst den Morgen nicht mehr erleben werden, es sei denn, Sie sagen ihnen, daß sie sehr freundlich hereinkommen und Ihre Gäste begrüßen sollen. Und vergessen Sie nicht, ihnen zu sagen, daß Sie den Sarg untersucht haben und daß nichts Wertvolles darin ist.« Sanchez blickte von der verschlossenen Tür zu Ktara. »Er wollte uns überfallen?« »Wenn nötig. Er wollte uns mit dem Hammer niederschlagen. Die anderen sollten ihm mit den langen Messern, die sie bei sich haben, helfen.« Gheorghes faltige Lider öffneten sich ein wenig weiter als zuvor; sonst war dem alten Gesicht nichts anzusehen. »Wie wie können Sie das wissen?« »Sprechen Sie zu Ihren Freunden, wie ich Ihnen befohlen habe«, sagte sie eisig. »Ich...« Mehr brachte er nicht heraus; dann sperrte er seine Augen noch ein wenig weiter auf. Sanchez sah das Aufflammen in Ktaras Augen, in die der Zimmermann geblickt hatte. Und dann sanken die Lider über Gheorghes Augen, bis sie fast ge-
schlossen waren. In einer tranceartigen Stimme sprach er stockend einen oder zwei Sätze. Die Tür wurde geöffnet, und die zwei Männer - beide mittleren Alters, stämmig, schäbig gekleidet - kamen herein. Auch sie sahen Ktara an, zuerst neugierig, dann mit dem gleichen leeren Starren wie kurz vor ihnen der Schreiner. Die Arme hingen schlaff an ihren Seiten, sie standen wie angewurzelt. »Nun, alter Mann, werden Sie die Arbeit tun, für die Sie bezahlt wurden? Jetzt!« Es war eine andere dunkle Nacht, weniger als drei Wochen später. Harmon, vom Rollstuhl aus über die schwarze See hinausblickend, fragte sich, ob die Dunkelheit natürlich sei, oder ob die schwarzgekleidete Frau an seiner Seite etwas damit zu tun habe. Aber er stellte die Frage nicht laut, und sie verharrte wie gewöhnlich in Schweigsamkeit. Sie war eine geheimnisvolle Person, diese Ktara. Während der Überfahrt hatte sie sich sehr kontaktscheu gezeigt und es vorgezogen, die meiste Zeit allein in ihrer Kabine zu verbringen. Und wenn sie sprach, dann sagte ihr Gesicht noch weniger als ihre Stimme. Ihre telekinetische Fähigkeit machte dem Professor Sorgen. Wenn sie aus irgendeinem Grund entschied, daß es nicht in ihrem Interesse sei, den Grafen von Harmon durch seinen Sender-Mechanismus kontrollieren zu lassen, konnte sie das System lahmlegen. Sie brauchte nur eine telekinetische Gegenkraft einzusetzen, um Harmon daran zu hindern, den kleinen Hebel in seinem Inneren zu betätigen. Sie konnte ihn neutralisieren, und wenn es zu einem Machtkampf käme, würde alles nur von ihrer Laune abhängen. Ein beunruhigender Gedanke, besonders jetzt, wo der Gegenstand seiner überseeischen Nachforschung jeden Augenblick eintreffen mußte. Er entschied sich für einen Versuch, ihren Standort zu ergründen. Die Gelegenheit war günstig, weil sie warten mußten,
und auch die äußeren Umstände - Dunkelheit und Stille, unterbrochen nur von der beruhigenden Monotonie einer sanft auslaufenden Brandung - schienen einem persönlichen Gespräch förderlich. »Sie sind zufrieden mit dem Haus und Ihrer Unterbringung?« »Meine Bedürfnisse sind bescheiden, Professor Harmon.« »Und diejenigen Ihres Meisters? Sind sie auch bescheiden?« Sie sah ihn nicht an, sondern hielt ihre Augen weiterhin auf die dunkle See gerichtet. Bald wurde klar, daß sie diese Frage nicht beantworten wollte. Er versuchte es wieder. »Eines seiner Bedürfnisse sind offensichtlich Sie.« »Ich diene ihm mit meinen Kräften, ja.« »Und das sind andere Kräfte als die seinen, nicht wahr?« Nun schaute sie ihn an. »Sie sind ein schlauer Mann, Professor Harmon. Sagen Sie, was Sie wissen.« »Ihre Fähigkeit, Gedanken zu lesen, zum Beispiel. Er hat sie nicht. Als er das erste Mal zu uns sprach, sagte er: ›Wie man mir sagt, sprechen Sie englische Sie können sich mit ihm telepathisch verständigen, und er kann das gleiche wahrscheinlich mit Ihnen. Aber nur Sie können die Gedanken anderer lesen.« »Und Sie sehen dies als einen Vorteil? Als einen Vorteil für Sie?« »Vielleicht habe ich mehr Vertrauen in Ihren guten Willen als in seinen. Ist es falsch von mir, Ihnen zu vertrauen?« Da war sie - die zentrale Frage. Ihre Antwort: »Vertrauen in den guten Willen eines anderen ist nicht klug.« Harmon antwortete nicht sofort. Nach einer Gedankenpause sagte er: »Sie wissen, warum ich Sie frage. Ich mache mir Sorgen...« »Professor Harmon, Sie haben allen Grund, sich Sorgen zu machen. Sie haben allen Grund, um Ihr Leben und die Leben vieler anderer zu fürchten. Sie kannten die Risiken, als Sie den Pfahl aus dem Herzen meines Meisters ziehen ließen. Einer, der die Risiken kennt und sich auf das Spiel einläßt, kann nicht
eine Versicherung verlangen, daß er nicht verlieren wird.« »Wie - Sie verloren haben?« Er sagte die Worte leise und behutsam. Wieder wandte sie ihre Augen von ihm ab und blickte über das Meer. »Ich habe viele alte Bücher studiert«, fuhr Harmon fort. »Sogar eins, in dem Ihr Name eine Rolle spielt. Die Heimat war einmal dort draußen, nicht wahr? Das Land, wo alles seinen Anfang nahm - für uns und auch für Sie. Wie war es, Ktara? Wie war das erste Land?« Ihre Lippen bewegten sich kaum, als ihre Augen eine Vision des Ortes zu suchen schienen, von dem sie sprach. »Es war ... meine erste Heimat. Und die Ihre, in dem Sinne, wie Sie es meinten. Ein Ort, wo der Umfang menschlichen Wissens weit über das hinausging, was seitdem wiedererlernt wurde. Ein schöner Ort, wo man sich an der Natur erfreuen konnte ...« »Die Legende vom sagenhaften Atlantis, wenn das der Name der ersten Heimat war, ist bis heute lebendig geblieben«, sagte Harmon. »Manche nennen es Eden, manche Paradies oder mit anderen Namen, aber die Geschichten stimmen überein. Ich nehme an, daß das menschliche Wissen zu groß wurde, und das Resultat war, daß die Gartenwelt dem Menschen weggenommen wurde. Manche Legenden lassen durchblicken, daß der Mensch sie selbst zerstörte, andere sagen, daß es aus ihr verbannt wurde.« Ktara nickte unmerklich. »Es läuft auf das gleiche hinaus. Alles Leben auf jenem vergangenen Kontinent. Die alten Götter ...« »Nicht alles Leben«, sagte Harmon. »Wie kommt es, Ktara, daß von allem Leben auf jenem Kontinent nur Sie und Ihr Meister überlebten? Warum -« »Das Motorboot«, unterbrach sie ihn. »Ich höre es.« Harmon hatte außer dem sanften Rauschen der Wellen und ihrer leisen Stimme nichts gehört. Aber er schaltete die starke
Stablampe ein, die er mitgebracht hatte, und ließ den Lichtstrahl im Bogen über das Wasser gleiten, hin und her. Das erwartete Motorboot war eine kleine, offene Barkasse, aber sehr seetüchtig. Harmon war erst in Europa auf diese Lösung gekommen und hatte die Einzelheiten telefonisch und telegrafisch mit einem alten Schiffskapitän abgesprochen, den er seit vielen Jahren kannte. Nachdem Harmon ihm versichert hatte, daß es sich bei der illegalen Einfuhr lediglich um Gegenstände ›von archäologischem Interesse‹ handele, für die er einen unverhältnismäßig hohen Einfuhrzoll würde bezahlen müssen, hatte der Mann sich bereit erklärt, um der Freundschaft, des Abenteuers und des Geldes willen bei dem Unternehmen zu helfen. Später hatte er den Kapitän per Schiffstelegramm zu einem Treffpunkt außerhalb der Zwölfmeilenzone bestellt, wo Sanchez mit einer in Plastikfolie gehüllten Kisten im Wasser wartete. Es war eine kitzlige Methode, aber trotz Küstenwache bei weitem weniger riskant als ein Versuch, den Sarg mit dem Grafen an der Zollkontrolle vorbeizuschmuggeln. Zwar würde die Einwanderungsbehörde bei Überprüfung der Passagierliste feststellen, daß ein Passagier mit spanischem Paß fehlte, aber diese Konfusion würde schließlich in den Akten von Amtsstuben versickern. Wenn alles gutgegangen war, würde Sanchez die Barkasse in die kleine Bucht von Westhampton steuern, denn der Plan sah vor, daß der alte Kapitän weiter östlich abgesetzt werden sollte. Bald konnte auch Harmon das Tuckern eines Schiffsdiesels hören, und nicht lange danach machte er den schwarzen Umriß der ohne Positionslichter fahrenden Barkasse aus. Minuten später wurde die Maschine gestoppt, und ein Anker platschte ins Wasser. Dann kam Carmelo Sanchez mit seiner schwimmenden Kiste an Land gewatet. Alles war gutgelaufen. Bis jetzt. Das Landhaus in Westhampton spiegelte die Lebensart einer längst versunkenen Generation von Reichen. Inmitten eines
erstklassigen Ufergrundstücks von fünf Hektar gelegen, schloß das Anwesen noch ein Gästehaus mit Wohnraum für das Dienstpersonal, vier Garagen, einen Stall für sechs Pferde und ein Gewächshaus ein, das vor einem Monat frisch verglast worden war. Das Herrenhaus selbst war um die gleiche Zeit gründlich restauriert worden. Da es aus einer Zeit stammte, in der man mit Qualitätsmaterial noch nicht gespart hatte, war das dreistöckige Gebäude trotz seiner bald hundert Jahre kerngesund. Aber jeder der fünfundzwanzig Räume hatte mehr oder weniger umfangreicher Instandsetzungen bedurft, und auch die Installationen und elektrischen Leitungen hatten überprüft und ausgebessert werden müssen. Als Harmon die Tür zur Kellertreppe öffnete, bemerkte Sanchez drei leere kleine Packkisten, die an der Wand aufgestapelt waren. »Alles eingetroffen?« fragte er. Der Professor warf Ktara einen Blick zu, dann sagte er: »Darüber müssen wir später noch reden.« Sanchez trug seine Last weiter die Kellertreppe hinunter und ins Laboratorium. Der große Raum war frisch geweißt, und man hatte zwei Reihen blendfreier Leuchtstoffröhren über den neuen Arbeitstischen und Regalen angebracht, aber dem unterirdischen Quartier war eine klamme Feuchtigkeit eigen, die durch nichts zu beseitigen war. Das Ganze sah wie das Laboratorium eines verrückten Wissenschaftlers in einer drittklassigen Filmklamotte aus. Als Sanchez den Sarg in der Mitte des Raums absetzte, wurde hinter ihm ein leises Schnurren hörbar. Er wandte den Kopf und sah die automatische Doppeltür vor dem Aufzugschacht rechts und links in die Wand gleiten. Harmon fuhr seinen Rollstuhl aus der Kabine, und die Tür schloß sich hinter ihm. Der Aufzug war die teuerste Einzelinvestition des ganzen Renovierungsprogramms, und Sanchez war ziemlich stolz darauf, denn
er selbst hatte den Plan für den Einbau angefertigt. »Mein Meister braucht Nahrung«, sagte Ktara. »Werden Sie ihn jetzt wecken?« Sanchez warf Harmon einen schnellen Blick zu und sagte abwehrend: »Warum jetzt? Er sagte selbst, er könne in diesem Zustand tausend Jahre überdauern. Es ist nicht nötig, ihn zu wecken, bis ...« »Bis Sie eine Verwendung für ihn haben?« unterbrach sie ihn. »Professor Harmon, ich bitte Sie, meinen Meister zu wecken. Ich bitte Sie, ihm Nahrung zu geben.« Harmon ignorierte den roten Kopf seines Assistenten und fuhr zu einem Wandregal, um eine von mehreren Glasflaschen aus einem Wärmekasten zu nehmen. Er legte sie in seinen Schoß und fuhr zurück zum Sarg. Sanchez reagierte mit instinktivem Abscheu auf die tiefrote Farbe der Flüssigkeit in der Flasche. Sie sah dem Original viel zu ähnlich. Sie sollten bald erfahren, daß auch der, für den die Flüssigkeit bestimmt war, nicht viel davon hielt. Sanchez löste die Schrauben und nahm den Deckel vom Sarg. Er war nicht begierig, den Grafen anzusehen, aber irgendwie konnte er nicht anders. Der Mann schien die lange Reise gut überstanden zu haben; er lag ruhig und wie schlafend auf dem Rücken, fast genauso, wie sie ihn das erstemal gesehen hatten Draculas Augenlider zuckten, öffneten sich. Sanchez wich unwillkürlich zwei Schritte zurück. Er warf Harmon einen erschrockenen Blick, dann verstand er. Natürlich. Harmon hatte den Pfeil zurückgezogen. Ktara sagte leise: »Professor Harmon hat Nahrung für dich, Herr.« Der Vampir setzte sich aufrecht und hüstelte. »Das Ende unserer Reise, nehme ich an.« Professor Harmon nickte. »Sie sind in meinem Haus. Es liegt an der Südküste von Long Island, einer Insel, die ...« »Genug!« sagte Dracula ungeduldig. »Ktara hat mir mitge-
teilt, wo ich bin.« Seine blutunterlaufenen Augen richteten sich auf die Frau. »Du sagtest etwas von Nahrung.« »Carmelo«, sagte Harmon und streckte die Flasche aus. Sanchez nahm sie widerwillig zwischen zwei Finger und Daumen, trug sie herüber und reichte sie dem Grafen. Als der Vampir die Flasche zum Mund führte, wandte Sanchez sich schnell ab. Im nächsten Moment zersplitterte die Flasche an der Wand. »Was ist das?« rief Dracula aufgebracht. »Eine synthetische Mischung«, antwortete Harmon. »Sie können nicht erwarten, daß wir Sie mit frischem Blut ernähren. Dieses Destillat kommt dem echten Stoff nahezu gleich und...« Draculas Blick ließ ihn verstummen. »Es gibt andere Möglichkeiten, Professor.« »Ich kenne keine, Graf Dracula. Entweder begnügen Sie sich mit dem Ersatz, oder Sie verzichten ganz auf Nahrung. Die Wahl liegt bei Ihnen, aber ich werde nicht dulden, daß Sie den Vorrat zerstören, den ich in mühsamer und gewissenhafter Arbeit hergestellt habe.« »Sie werden nicht dulden! Harmon, Sie sind in der Tat ein Verrückter!« »Und Sie, Graf - Sie sind hungrig«, sagte Harmon. Dracula entblößte sich sein Gebiß, und er sagte: »Sie haben recht, Professor. Ich bin sowohl hungrig als auch schwach. Darum werde ich die Mahlzeit annehmen, die Sie bereitet haben. Aber ich warne Sie, Harmon. Sollte diese kleine Vorrichtung, die Sir mir eingepflanzt haben, auch nur einmal versagen, so werde ich echtes menschliches Blut trinken. Ihres.« Harmons Lächeln sah ein wenig gezwungen aus. »Es gibt noch andere Abwehrmittel gegen Ihresgleichen, Graf.« Dracula lachte. »Ja? Meinen Sie? Nun, vielleicht gibt es welche, aber in den alten Schwarten, die Sie zweifellos verschlungen haben, um sich Informationen über ›meinesgleichen‹ zu verschaffen, gibt es eine Menge Mißverständnisse und Irrtümer. An Ihrer Stelle würde ich mich nicht zu fest auf solche
Abwehrmittel verlassen, Professor. Ihre Anwendung könnte eher meinen Zwecken dienlich sein als den Ihren.« Der Morgen war nicht mehr fern, als Sanchez und Harmon ein hastig bereitetes Frühstück von Spiegeleiern, Schinken und Kaffee aßen. Der Graf war wieder bewußtlos, Ktara hielt sich irgendwo im Haus auf. Es war die erste Gelegenheit für Harmon und seinen Assistenten, ungestört miteinander zu sprechen. »Sie sehen müde aus, Professor. Oder sind es Sorgen?« Harmon schlürfte den heißen Kaffee, verbrannte sich die Zungenspitze und stellte die Tasse zurück. »Ich habe einen besonderen Grund, mir Sorgen zu machen, Carmelo. Nach meiner Rechnung muß die Energiezelle des Senders bald aufgeladen werden. Innerhalb von zwei Wochen. Wenn nicht...« »Aber Sie haben die notwendigen Teile für den Bau einer Schnelladestation längst bestellt und erhalten. Ich sah die Kisten am Kellereingang.« »Richtig, aber als ich ausgepackt hatte, stellte ich fest, daß eine Kiste fehlt. Unglücklicherweise ist es diejenige, deren Inhalt wir am nötigsten brauchen.« »Haben Sie Nachforschungen anstellen lassen?« »Das war nicht nötig. Es scheint, daß diese Arbeit bereits getan wurde. Unter den Briefen, die ich bei meiner Ankunft im Briefkasten fand, war dieser hier.« Harmon zog einen Umschlag aus der Jacke und reichte ihn Sanchez, der einen weißen Briefbogen herausnahm und entfaltete. Der Briefkopf bestand nur aus den Worten ERMITTLUNGSDIENST FÜR TRANSPORTVERLUSTE G.m.b.H. Es gab keine Adresse, keine Telefonnummer, nur den Namen der Firma. Der Text des undatierten, gedruckten Formbriefs war kurz und sachlich: »Sicherlich haben auch Sie schon einmal Ärger mit verlorengegangenen Post- und Frachtsendungen gehabt. In diesen Fällen können Sie sich nun die Mühsal und den Verdruß eigener
Nachforschungen ersparen, wenn Sie unsere Dienste in Anspruch nehmen. Unsere Gebühr, die sich nach dem Wert der jeweiligen Sendung errechnet, beträgt einen angemessenen Bruchteil dieses Wertes. Vermissen Sie eine Sendung, so füllen Sie bitte das anhängende Auftragsformular aus und senden Sie es an die unten angegebene Adresse. Wir danken Ihnen.« Unter dem unsignierten Brieftext war eine druckperforierte Linie, darunter eine Art Bestellschein. Als Adressenangabe war handschriftlich eine New Yorker Postfachnummer eingetragen. Die ›Kennziffer‹ DH 977 war gleichfalls mit der Hand eingefügt. Sanchez blickte auf. »Ihre Initialen und die Postleitzahl von Westhampton.« Harmon nickte. »Was halten Sie davon?« »Jemand hat Ihre Kiste und will sie Ihnen jetzt zurückverkaufen. Postraub, Paketentführung oder Diebsahl, wie immer man es nennen will, verbunden mit einer Lösegeldforderung.« »Das ist auch meine Meinung. Aber ich brauche diese Kiste, und schnell. Wenn wir nicht...« Harmon ließ den Satz unvollendet. Was Sanchez betraf, so gab es keine Notwendigkeit, ihn zu beenden. Er hatte verstanden. Genauer gesagt, er hatte das meiste verstanden. Harmon hatte ihm das Schlimmste noch nicht gesagt. Er konnte Ktara nicht vertrauen und wußte, daß sie Schwierigkeiten hatte, seine Gedanken zu lesen, während sie bei Sanchez keine Mühe haben würde. Darum hatte er seinem Assistenten zwar die Dringlichkeit der Sache zu verstehen gegeben, war dabei aber nicht völlig aufrichtig gewesen. Sie hatten keine zwei Wochen mehr; sie hatten tatsächlich nur noch vier Tage Zeit. Sanford Proctor war Harmons Altersgenosse. Sie kannten einander aus der Zeit gemeinsamer Arbeit für die New Yorker Polizei und hatten in den späteren Jahren lockeren Kontakt gehalten. Proctor hatte im Fahndungsdienst Karriere gemacht und
war inzwischen pensioniert, doch Harmon vermutete, daß er immer noch im Polizeidienst stand. Dann und wann, wenn Harmon Informationen brauchte, pflegte er sich an Proctor zu wenden, und meistens konnte Proctor helfen. So auch heute. »Wir kennen diese Masche, Damien«, sagte er, als Harmon ihn am frühen Morgen. anrief. »Sie läuft ungefähr so, wie du schon vermutet hast. Auf Flughäfen, Güterbahnhöfen und anderen Warenumschlagplätzen werden interessant aussehende Sendungen beiseitegeschafft und irgendwo eingelagert, während die Diebe den jeweiligen Empfänger kontaktieren. Es ist ein ziemlich einträgliches Geschäft, und es läuft in den meisten großen Städten. Wenn du mir diesen Brief überläßt, kann ich vielleicht jemand finden, der sich der Sache annimmt.« »Nein, Sandy, das würde zu lange dauern, und Zeit ist in diesem Fall etwas, wovon ich nicht viel habe. Trotzdem vielen Dank für dein Anerbieten. Ich glaube, ich werde mich lieber selbst mit diesen Leuten auseinandersetzen.« »Du denkst doch nicht daran, ein Lösegeld zu bezahlen, oder?« »Das habe ich nicht gesagt, nein.« Ein Glucksen kam aus der Hörermuschel. »Nein, das hast du nicht gesagt. Aber es ist dir wohl klar, daß jeder andere Weg zur Wiedererlangung deiner Sendung seine Gefahren hat.« »Ja, das ist ein Problem. Ich werde darüber nachdenken müssen.« »Nun, Damien, ich denke, nach all den Jahren kennst du deine Grenzen. Aber solltest du in irgendwelche Schwierigkeiten kommen, laß es mich wissen.« Harmon dankte seinem Freund und legte auf. »Was nun?« sagte Sanchez, der mitgehört hatte. Harmon starrte eine gute halbe Minute das Telefon an, bevor er antwortete. »Sie werden einen Brief austragen. Fragen Sie Ktara, ob sie einen Moment für mich erübrigen kann. Ich möchte, daß sie mit Ihnen geht.« Drei Stunden später betrat ein mittelgroßer, hagerer Mann das
Postamt in der 83. Straße. Er mochte Ende Dreißig oder Anfang Vierzig sein, und es gab nicht viel an ihm, daß die Aufmerksamkeit eines Beobachters hätte fesseln können. Er war die Unauffälligkeit in Person; ein Mann, den man ansah und sofort wieder vergaß, weil nichts von ihm ausging. Diese Eigenschaft war es, die Marty Gavin zu einer ausgezeichneten Wahl für den Job machte, den seine Arbeitgeber ihm zugedacht hatten. In der Eingangshalle des Postamts blieb er stehen, um eine Zigarette anzuzünden, und während er das Zündholz ausblies und sorgfältig in den Sand eines metallenen Aschenbechers neben der Tür legte, ließ er seinen Blick scheinbar achtlos durch den Vorraum gehen. Als er sah, daß niemand ihn beobachtete, ging er zu der Wand mit den Schließfächern, öffnete eins mit einem kleinen Schlüssel, nahm vier Umschläge heraus und steckte sie ohne Eile in die Innentasche seines grauen Anzugs. Als er das Fach wieder geschlossen hatte und sich zum Gehen wandte, stolperte er fast über eine große schwarze Katze, die zwischen ihm und der Tür saß und ihre Pfote leckte. Nach einem Moment der Überraschung schnalzte er dem Tier zu und ging an ihm vorbei und hinaus. Carmelo Sanchez, in einem vorschriftswidrig geparkten Kombiwagen auf der anderen Straßenseite, sah Marty Gavin fortgehen, aber er beachtete den Mann erst, als er hinter ihm eine schwarze Katze aus dem Postamt kommen sah. Das Tier sprang über die Straße und durch die von Sanchez geöffnete Tür auf den Rücksitz. »Er geht jetzt zur U-Bahn, um sich ein paar Stationen weiter mit einem gewissen Vincent zu treffen«, sagte die Frau in Schwarz. »Ich schlage vor, wir lassen den Wagen stehen und folgen ihm zu Fuß.« Der Mann, dem sie folgten, fühlte sich offenbar unbeobachtet. Er sah sich nicht ein einziges Mal um, bis er in der U-BahnStation verschwand. Unten auf dem Bahnsteig mußten sie ren-
nen, um noch in den Zug kommen, den ihr Mann bestiegen hatte. »Geschafft«, schnaufte Sanchez. »Was machen wir jetzt? Wohin fährt er?« »Sieben Stationen. Zur vierzehnten Straße. Dort ist er mit Vincent verabredet.« »Was für einem Vincent?« »Bisher nur Vincent. Wenn ich ihn sehe, werde ich mehr erfahren.« Marty Gavin stieg in der vierzehnten Straße aus, ging zu einem Zeitungskiosk auf dem unterirdischen Bahnsteig und sprach kurz mit einem dicklichen kleinen Mann, der dort stand. Der Mann war Vincent Porro. Die Briefe wechselten den Besitzer, und Marty Gavin ging auf die andere Seite hinüber, um mit einem Gegenzug zurückzufahren. Vincent Porro arbeitete sich nervös durch das Labyrinth der Verbindungstunnel zu der benachbarten Station, wo er den Zug nach Brooklyn nahm. Ktara und Sanchez folgten ihm nicht weiter; es war nicht nötig. Vincent Porro hatte in seinen Gedanken jeden Schritt des vor ihm liegenden Wegs überdacht, bis hin zur Adresse des Lagerhauses in Brooklyn, das sein Ziel war. »Dort übergibt er die Briefe einem gewissen Ernie. Wir können es nachprüfen, wenn Sie wollen.« Sanchez fand das überflüssig. Er wollte zurück zum Wagen und dann nach Westhampton. Der Professor würde auf ihre Meldung warten. Das tat er. Und er war erfreut über das Ergebnis ihrer Fahndung. »Was machen wir?« sagte Sanchez, nachdem er berichtet hatte. »Die Polizei?« Harmon schüttelte seinen Kopf. »Das würde viel zu lange dauern. Können wir uns nicht leisten.« Er warf Ktara einen fragenden Blick zu. Sie antwortete
mit einem Lächeln. »Ja, Professor. Ihre synthetische Mischung kann den Hunger des Meisters nicht stillen.« »Sehr gut«, sagte Harmon, und zu Sanchez gewandt fügte er hinzu: »Warum sollten wir nicht die beste Waffe gebrauchen, die wir haben? Es wird uns eine Gelegenheit geben, zu sehen, wie er seine erste Probe besteht. Und was die Mitglieder der Firma betrifft - sie haben es sich selbst zuzuschreiben.« »Es ist ein interessanter Vorschlag, den Sie mir da machen. Höchst interessant. Ihre Wertmaßstäbe faszinieren mich, Professor. Menschliches Blut dürfe ich nicht haben, sagten Sie mir erst vor ein paar Stunden. Nun scheint es, daß es im Hinblick auf das menschliche Blut verschiedene Grade von Heiligkeit gibt.« »Diese Menschen sind Verbrecher«, sagte Harmon. »Außerdem haben sie etwas von meinem Besitz an sich genommen.« Dracula lächelte ironisch. »Und das ist das Gesetz, gegen das sie verstoßen haben, nicht wahr? Das wichtige Gesetz, das besagt, daß Ihr Eigentum nicht angetastet werden darf. Sehen Sie, Professor Harmon, ich bin in Sachen Moral weder unwissend noch so indifferent, wie Sie meinen mögen. Ich erkenne Ihren Bezugsrahmen und Ihre Wertmaßstäbe. Und doch wollten Sie mit mir über Gut und Böse argumentieren. Das Böse ist eine sehr persönliche Sache, nicht wahr? In diesem Augenblick bin ich für Sie ein geringeres Übel als diese kleinen Diebe und Erpresser, weil ich Ihnen von Nutzen sein kann.« Darauf wußte Harmon nichts zu sagen. Nach einer Pause fuhr Dracula fort: »Aber Ihr privates Moralsystem interessiert mich nicht. Ich werde die mir zugedachte Rolle dieses eine Mal akzeptieren, denn wie meine liebe Ktara Ihnen gesagt hat, hungere ich.« Harmon war sehr erleichtert. Aber es blieb ein ernster Zweifel. »Wenn Sie die Möglichkeit erhalten, mit diesen Männern nach Belieben zu verfahren, dann erhebt sich die lästige Frage ...«
Dracula hob seine Hand. »Ihre Gedanken kommen klar genug zum Ausdruck, obwohl mir die besonderen Fähigkeiten meiner Ktara abgehen. Sie machen sich Sorgen, daß meine Opfer wie ich werden könnten. Wie ich schon erwähnte, basieren viele von den Geschichten, die es über mich gibt, nicht auf Tatsachen. Legenden haben gelegentlich ihr Gutes, aber ...« »Dann ist es nicht so, daß die Opfer von Vampiren selbst Vampire werden?« Der Graf seufzte. »Erstens ist das Wort Vampir, das Sie ständig im Mund führen, nicht zutreffend, aber ich bin seit Jahrhunderten so genannt worden, und so mögen Sie diesen Begriff meinetwegen verwenden, wenn er Ihnen meine Einordnung erleichtert. Zweitens lassen Sie mich sagen, daß der Biß von meinesgleichen dem Opfer keineswegs Unsterblichkeit verleiht - es sei denn, ich wünsche es. In diesem Fall bedarf es einer bewußten Anstrengung von meiner Seite, und ich bin sehr wählerisch, wenn es um die Frage geht, wem ich diese Wohltat erweisen soll.« »Ich würde es nicht eine Wohltat nennen«, sagte Harmon. »Das können Sie halten, wie Sie wollen. Sie dürfen jedoch darauf vertrauen, daß jene, die mir bei diesem Unternehmen zum Opfer fallen werden, völlig tot sein werden. Sie haben mein Wort. Nun, gibt es weitere Beschränkungen, die Sie mir auferlegen wollen?« »Es gibt welche, ja. Sollten Sie von ihrem Kurs abweichen, vergessen sie nicht die kostbare Erde in Ihrer Ruhestatt. Sie könnte ins Meer geschüttet werden, sollte irgend etwas vorkommen.« »Eine finstere Drohung, Professor. Wie Sie vielleicht wissen, habe ich diese Erde seit geraumer Zeit bei mir.« »Seit so langer Zeit, daß es auf der Oberfläche der Erde nicht mehr von ihrer Art gibt.« »Darum würde ich sie nicht gern verstreut sehen«, hatte Dracula erwidert. »Aber ich fürchte Ihre Drohung nicht. Nicht, so-
lange meine Ktara nahe genug ist, um Ihren Verstand in Stücke zu zerreißen. Sie hat gute Gründe, dieses ›Abschreckungsmittel‹ genauso zu fürchten wie ich.« »Dann habe ich nur eine letzte Garantie«, hatte Harmon gesagt. »Ihr Wort, daß Sie meinen Instruktionen folgen werden, bis ich mein Eigentum zurückerhalte.« Vincent Porro öffnete die Tür zur seitlichen Durchfahrt einen Spaltbreit und spähte nervös hinaus. Er hatte kein Geräusch gehört. Vielleicht hatten die anderen ihn zur Tür geschickt, um ihren Spaß mit ihm zu haben und seine Karten zu vertauschen, während er draußen war. Er blickte auf den schweren Revolver in seiner Rechten und seufzte. Er konnte es nicht ändern, aber Schußwaffen machten ihn nervös. »Vincent! Hast du noch nicht nachgesehen? Deine Karten werden kalt.« Ernie, dieser fette Labersack! Vincent konnte sich vorstellen, wie sie zusammen unter der nackten Glühbirne saßen, Ernie und die fünf anderen, und über ihn grinsten. Wenn sie wirklich seine Karten vertauscht hatten, nun, dann ... Er würde nichts tun, außer vielleicht rot werden und schwitzen und stottern. Er würde nicht mal was sagen, und er wußte es. Es war nicht fair. Sie machten sich alle über ihn lustig. Sie versuchten nicht mal, es zu verbergen ... Vincent stand sekundenlang mit angehaltenem Atem, dann spähte er wieder durch den Spalt. Nichts. Trotzdem, jemand konnte im toten Winkel hinter der Tür warten. Er sollte sie ganz öffnen. Vincent Porro hob den Revolver und gab der Tür einen Stoß. Im nächsten Augenblick krachte der Revolver, und Vincent Porro schrie auf. »Vincent, was - uh ...« Ernie Lovell blieb in der offenen Zwischentür zum Büro stehen, starr vor Schreck. Vor ihm ...
Der riesenhafte Mann in dem schwarzen Umhang mußte übermenschliche Kraft haben. Er hatte Vincent Porro aufgehoben und hielt ihn vor seiner Brust. Arme und Beine des Unglücklichen baumelten schlaff, während der Mann in Schwarz ... Was machte er? Er stand über Vincent gebeugt, das Gesicht anscheinend in seinem Hals vergraben. Warum? Und dann bewegte der Schwarze sich so, daß Ernie sein Gesicht über Vincents aufgerissenem Hals sehen konnte. Es war ein unmenschliches Gesicht mit zottigen Brauen und langen, spitzen Fangzähnen. Ernie kreischte, wirbelte herum und stürzte zurück in die Lagerhalle. Er wollte seine Leute zu den Waffen rufen, brachte aber nichts als wirres Gestammel über die Lippen. Die Aufforderung war überflüssig. Der Schuß und die zwei Schreie aus dem Büro hatten genügt, um drei Pistolen und eine alte Thompson-Maschinenpistole zum Vorschein zu bringen. Ernie griff sich eine der Pistolen und fühlte etwas mehr Zuversicht. Dieses Ding - eine FN, Kaliber 9 mm - hatte genug Durchschlagskraft, um das Ungeheuer zu erledigen. Wenn es überhaupt zu erledigen war. Sie standen in einer Reihe und starrten zum offenen Bürodurchgang. Abgesehen von ihrem eigenen Schnaufen hörten sie nur ein widerliches Schlürfen, wie von jemandem, der an einem Strohhalm saugt, wenn fast nichts mehr im Glas ist. Die anderen warfen Ernie Seitenblicke zu, aber er wich ihnen aus. Er wußte, was es war, doch er wollte es nicht sagen; er konnte es nicht sagen. Solche Dinge gab es nicht. Das Glas des Straßenfensters zersplitterte. Die Männer fuhren herum. Etwas flatterte hoch über ihren Köpfen durch den offenen Dachstuhl. Etwas mit Flügen. Dann fiel es herab, verschwand irgendwo zwischen den Kistenstapeln. »Das - das gefällt mir nicht, Ernie«, sagte einer der Männer. »Was ist los, Ernie?« drängte ein anderer. »Wer ist draußen?«
»Niemand, meine Herren«, sagte der riesenhafte Mann, plötzlich zwischen den Stapeln hervortretend. Seine Stimme hatte einen fremdartigen Akzent, und ein schwarzer Umhang war um seinen Körper gewickelt wie - wie Fledermausflügel, dachte Ernie. Aber er hatte keine Fangzähne, nur ein seltsames Lächeln. Tatsächlich, dachte Ernie erleichtert, das andere war bloß eine Sinnestäuschung gewesen! Die Waffen kamen hoch, auch die Thompson, aber nur zwei Pistolenschüsse lösten sich. Beide trafen den Schwarzen, unter die rechte Schulter und in die Mitte, doch er wankte nur ein wenig. Ernies Augen traten aus ihren Höhlen. Beide Kugeln hatten getroffen, die Einschußlöcher waren klar zu sehen, und der Kerl nahm sie und wankte nur! »Los, warum schießt ihr nicht?« schrie Ernie. Er riß seine FN hoch, zielte und begann den Drücker durchzuziehen. Diese Bohne würde er ihm zwischen die Augen pflanzen! Ernie konnte nicht in diese Augen sehen, und plötzlich entdeckte er, daß er den Drücker nicht durchziehen konnte. Sein Finger, seine ganze Hand war irgendwie gefroren! Er blickte zu den anderen und sah sie mit glasigem Blick dastehen, ihre Schießeisen auf den schwarzen Eindringling gerichtet. Keiner konnte feuern. Ernie blickte wieder in die Richtung, in die seine Waffe zeigte. Wieder sah er das flackernde Feuer in diesen zwei brennenden Kohlen, und diesmal konnte er seine Augen nicht mehr abwenden. Die zwei roten Augäpfel begannen vor ihm zu wachsen, als sie näher kamen, als der schwarze Umhang, der sie umgab, sein Gesichtsfeld auszufüllen begann. Sein Körper begann zu zittern. Er wollte schreien, aber er konnte es nicht, konnte seinen Mund nicht aufbringen. Die zwei Kreise aus rotem Feuer waren so nahe, daß sie wie faustgroße Sonnen aussahen, deren Hitze auf seine Stirn brannte ... »Halt!« brüllte Carmelo Sanchez aus dem Bürodurchgang.
»Sie müssen unsere Kiste ausfindig machen. Das können Sie nicht, wenn sie tot sind!« Graf Dracula trat einen Schritt zurück und zog lächelnd eine Augenbraue hoch. »Sie haben recht. Fast hätte ich mich im Genuß des Augenblicks vergessen. Meine Herren, lassen Sie Ihre Waffen auf den Boden fallen. Ich bin überzeugt, daß Sie sich kooperationswillig zeigen werden. Habe ich recht?« Ernie und die anderen nickten benommen. Dracula machte eine einladende Geste zu Sanchez. »Stellen Sie Ihre Fragen.« »Ich will die Sendung mit der Kennziffer DH 977. Sofort. Wo ist sie?« Keiner sagte etwas. »Heraus mit der Sprache. Unsere Geduld schwindet.« Ernies Lippen bebten. »Wir wissen nichts über einzelne Kennziffern. Wir haben nur die von den Sachen, die hier lagern.« Sein Nebenmann nickte eifrig. »Ich kenne nicht mal die hier. Ich und die anderen hier wissen nichts. Ernie ist der Chef, er weiß alles über dieses Lager. Wir anderen sind nur ...« Sanchez brachte ihn mit einer Handbewegung zum Verstummen und konzentrierte sich auf Ernie. »Hat er recht? Sie sind hier der Chef?« »Hier, ja. Aber dies ist nur ein Lagerhaus von ich weiß nicht wie vielen. Wenn wir eine Sendung von Ihnen haben, kann sie in jedem von diesen anderen liegen. Wie sollte ich wissen, in welchem ...« Ernies Stimme verlor sich in einem matten Gemurmel, als Draculas Augen wieder in die seinen brannten. »Sie sollten sich darüber klar sein, mein dicker Freund, daß Sie nur noch leben, weil Sie uns von einigem Nutzen sein können. Wieder bin ich gezwungen, Ihnen das zu verdeutlichen. Nach Ihrer Auskunft und seiner eigenen Erklärung kann Ihr Gefährte hier uns nichts sagen. Ist das richtig?«
»Ja, aber ...« »In diesem Fall schlage ich vor, daß Sie sehr aufmerksam beobachten, was Ihr eigenes Schicksal sein wird, sollten wir Sie so unergiebig wie Ihren Freund finden.« Der ›Freund‹, der sich aus der Schußlinie wähnte und dem Verhör nur noch mit halbem Ohr folgte, fühlte auf einmal, daß ihm etwas geschehen würde, etwas, das schlimmer war als alles, was ... Er öffnete seinen Mund, aber kein Laut kam heraus. Wie zuvor, machte er die Entdeckung, daß er keinen Teil seines Körpers bewegen konnte, nur seine Augen, die auf das Gesicht vor ihm fixiert waren, ein Gesicht, das sich in etwas Unmenschliches verwandelte, ein Gesicht, das näher und näher kam und sich über seine Kehle beugte, während er sich emporgehoben fühlte. Etwas stieß in seine Kehle, und der scharfe, wütende Schmerz preßte einen gurgelnden Schrei aus seinen verkrampften Kiefern. Aber es war nur ein vorübergehender Schmerz, der von der Hitze der Spitzen fortgebrannt wurde. Mit dem Teil seines Geistes, der von der Angst nicht betäubt war, registrierte er den Moment, wo die Hitze sich plötzlich zurückzuziehen begann. Etwas pumpte jetzt all die Wärme, die aus seinem Körper wich, aus seiner Kehle. Die Kälte begann in seinen Händen und Füßen und drang langsam weiter vor, Fühllosigkeit zurücklassend. Sein Blut wurde zu der Stelle an seinem Hals gesogen, wo jetzt das Gesicht des unheimlichen Fremden ruhte. Das Nichts stieg höher und höher, bis er nur noch in den zwei Zentren seines Ich existierte, seinem Herzen und seinem Gehirn. In diesem Moment dachte er an den Tod, und ob nichts als diese Auslöschung des Ich sein würde, wenn er tot wäre, nichts als diese alles durchdringende Kälte und Dunkelheit. Es war vielleicht sein erster philosophischer Gedanke. Es war jedenfalls sein letzter.
»Nun«, grollte Dracula, als er die Augen von seinem gefallenen Opfer abwandte und auf Ernie richtete. »Nun werden Sie alle Fragen, die Ihnen gestellt werden, nach bestem Wissen beantworten.« Ernie nickte. Er zitterte und schwitzte, und seine Augen starrten auf die zwei Reihen nasser roter Zähne, die im Licht der Glühbirne glänzten. Er war dem Wahnsinn nahe. »Haben Sie die Sendung DH 977 hier?« fragte Sanchez. »Nein. Sie muß anderswo sein.« »Der Brief, den wir dem Ermittlungsdienst schickten, wurde hierher gebracht.« »Vielleicht. Ich weiß es nicht, wirklich. Ich sehe diese Briefe nicht durch. Aber wir kriegen alle Briefe, die bei zwei Postfachadressen eingehen; beide sind in Manhattan. Sie bleiben hier, bis sie abgeholt werden.« »Wer holt sie ab?« »Danny. Ich weiß nur diesen Namen. Einmal am Tag kommt er vorbei und nimmt die Briefe mit.« »Ist er heute dagewesen?« »Heute morgen, gegen neun.« Sanchez überlegte. Harmons Antwort war noch nicht abgeholt und weitergeleitet worden. Das war schlecht. »Haben Sie eine Telefonnummer, die Sie anrufen können, wenn es hier unvorhergesehene Schwierigkeiten gibt?« Ernie nickte. »Fein. Wo ist das Telefon? Im Büro?« Ernie nickte wieder. Sie gingen ins Büro. Sanchez gab ihm den Hörer. »Sie wählen die Nummer und geben ihren Namen an, dann sagen Sie, daß es Schwierigkeiten gegeben hat. Das ist alles, mehr nicht. Sie sagen, daß es Schwierigkeiten gegeben hat, und halten Ihren Mund. Ich werde die Verbindung unterbrechen. Verstanden?« »J-ja.« Er konnte an nichts als an diese Zähne denken!
Sanchez konnte das Telefon am anderen Ende läuten hören. Einmal. Zweimal. Dreimal. Dann knackte es. »Hallo.« »Hier spricht Ernie.« Eine Pause. »Ist was? Du weißt, daß du diese Nummer nur in Notfällen anrufen sollst.« »Ja, ich weiß. Schwierigkeiten. Wir haben - Hilfe, es ist ein Vampir!« Sanchez war nicht ganz sicher, daß er schnell genug, auf die Taste gedrückt hatte, um Ernies Todesschrei von den Ohren seines Gesprächspartners fernzuhalten. Er kehrte in die Lagerhalle zurück und hob die Maschinenpistole auf. Die restlichen Männer standen in hypnotischer Trance. Ihre starr ins Leere blickenden Augen schienen nichts wahrzunehmen, als er den Lauf an den Hals des toten Mannes zu ihren Füßen setzte und abdrückte. Dann kehrte er ins Büro zurück und tat das gleiche bei Vincent und Ernie. Der Graf, der wieder sein menschliches Aussehen angenommen hatte, schaute amüsiert zu. »Lachen Sie nur«, knurrte Sanchez. »Was ich mache, tarnt, was hier geschehen ist, und legt eine andere Alternative nahe, nämlich den Überfall von Mitgliedern einer konkurrierenden Bande. Das Problem ist nur, was machen wir mit den anderen hier?« Dracula ging hinaus in die Lagerhalle, immer noch lächelnd, und trat vor die vier Männer. Nachdem er jedem einzelnen von ihnen lange in die Augen geblickt hatte, sagte er: »Ihr habt heute abend nichts gesehen und nichts gehört. Ihr seid nicht im Lagerhaus gewesen. Ernie hat euch nach Haus geschickt, und ihr seid zusammen in eine Kneipe gegangen und habt bis halb zwei Uhr früh Karten gespielt. Dann habt ihr euch getrennt, und jeder ist für sich nach Haus gegangen. Tut das jetzt. Geht nach Haus.« Die Männer machten stumm und gehorsam kehrt und gingen. Keiner blickte zurück.
»Eine einfache Sache«, sagte der Graf. »Aber auch ich kann nicht länger verweilen. Obwohl es noch Stunden bis zum Morgengrauen sind, möchte ich der Grenze nicht zu nahe kommen.« Aus Sanchez Brusttasche meldete sich eine Stimme aus Westhampton: »Er hat recht, Carmelo. Die nächste Phase können Sie allein übernehmen. Viel Glück.« Viel Glück. Als Sanchez hinter dem Lenkrad des Kombiwagens saß, dachte er, daß sie in der Tat viel Glück brauchen würden. Es war wichtig, daß dieser Danny heute noch auftauchte. Nur er konnte sie aus der Sackgasse führen, in die sie mit ihren Nachforschungen geraten waren. Sie mußten diese Kiste haben. Nicht auszudenken, was geschehen würde, wenn die Energiezelle versagte, bevor sie das Ladegerät gebaut hätten. Nach allem, was er heute gesehen hatte, war die Alternative keine angenehme Vorstellung. Fünfundvierzig Minuten später kam ein weinroter Sportwagen die Straße entlang. Einen Block vor dem Lagerhaus schaltete er die Scheinwerfer aus, rollte langsam noch einen halben Block weiter und hielt. Sechseinhalb Minuten vergingen, dann wurde die Tür auf der Fahrerseite geöffnet, und ein großer schlanker Mann in einer karierten Freizeitjacke stieg aus. Er schloß die Wagentür sehr leise und ging gemächlich auf das Lagerhaus zu. Seine rechte Hand war in der Jackentasche vergraben. Als er durch den Lichtkreis einer Straßenlaterne kam, sah Sanchez, daß der Mann Ende Zwanzig oder Anfang Dreißig war, ein Typ wie ein Nachtklubsänger, gutaussehend, selbstbewußt, eitel. Sanchez wünschte, daß er diese verwegen-hübschen Züge sehen könnte, wenn ihr Besitzer entdeckte, was ihn im Lagerhaus, erwartete. Leider war das nicht möglich. Sanchez mußte draußen bleiben und den roten Sportwagen mit einer kleinen Abhörwanze versehen.
Danny Trafalgar schüttete den Rest kalten Kaffee hinunter und widerstand dem Impuls, sich eine weitere Tasse einzuschenken, denn dazu hätte er vom Schreibtischsessel aufstehen und das Büro durchqueren müssen. Er war geistig und körperlich zu erschöpft. Um zwei oder kurz danach war er ins Lagerhaus gekommen, und jetzt war es beinahe acht Uhr früh. Die ersten fünfzehn Minuten nach seiner Ankunft hatte er in einem schockähnlichen Zustand verbracht. Er hatte früher schon Tote gesehen, das war ihm nichts Neues, aber wer immer dies getan hatte, mußte Sadist gewesen sein. Das war kein gewöhnlicher Überfall gewesen, und Danny hatte bereits den Keim einer Theorie. Natürlich hatte er nicht viel tun können, um die Scharte auszuwetzen. Dazu bedurfte es einiger Nachforschungen, und die Entscheidung über einen Gegenschlag lag nicht bei ihm. Im Moment kam es darauf an, die Dinge hier im Lagerhaus in Ordnung zu bringen. Er wählte eine Nummer in einem kleinen Ort auf Long Island und machte eine kurze Meldung. Dann rief er einen seiner Untergebenen an und bestellte einen Lieferwagen und eine Reinigungsmannschaft. Gegen halb vier kamen sie und machten sich an die Arbeit. Weniger als vier Stunden später waren sie fertig und bereit zu gehen. »Ihr habt sie verladen?« fragte er den Fahrer. Der Mann nickte. »In Ordnung. Ihr wißt, wohin sie zu bringen sind. Aber vorsichtig, ja? Keine Verstöße gegen Geschwindigkeitsbegrenzungen und so weiter, hörst du?« Der Fahrer nickte wieder, und kurz darauf hörte Danny den Lieferwagen auf die Straße hinausfahren. Als er in seinen Sportwagen stieg, fühlte er die vier Umschläge in seiner Brusttasche. Wenigstens etwas sah an diesem Morgen vielversprechend aus. Wenn er seine Kennziffern richtig im Kopf hatte, konnten diese Briefe runde sechzigtausend Dollar einbringen. Zweifellos eine Versuchung für jemanden,
seine Organisation aus dem Geschäft zu drängen. Aber das hatten schon andere probiert und später bereut. Wenn man ein Geschäft hatte, das an einem einzigen Tag sechzigtausend Dollar einbringen konnte, hielt man daran fest. Eine Stunde später erreichte er seine Wohnung in Greenwich Village. Er hatte die Wohnungstür kaum hinter sich geschlossen, als er das Telefon läuten hörte. Eine vertraute Stimme meldete sich am anderen Ende. »Danny, ich versuchte dich im Lagerhaus zu erreichen, aber du warst gerade weggefahren.« »Jetzt hast du mich, Albert. Was gibt es?« »Nichts - nur, daß der Alte eine ausführliche Meldung über den Vorfall wünscht. Von dir persönlich. Heute nachmittag im Nassau, pünktlich vierzehn Uhr. Klar?« Danny seufzte müde. »Klar, Albert.« »Außerdem will er deine drei Leute sehen, die es erwischt hat. Gleiche Zeit, gleicher Ort.« »Die Körper? Albert, das ist nicht möglich. Ich habe schon Befehl gegeben, sie einzuäschern. Sie müssen bald an Ort und Stelle sein. Und dort draußen gibt es kein Telefon!« »Dann solltest du gleich in deinen kleinen Flitzer springen und hinterherfahren, mein Lieber. Ich sagte dir, der Alte will sie sehen. In Form von Leichen, nicht als Asche. Zwei Uhr. Im Nassau.« Die Verbindung wurde unterbrochen. Sanchez wunderte sich, als er Danny schon nach ein paar Minuten wieder aus dem Haus rasen und in seinen Wagen springen sah. Das brachte seinen Plan, den Mann in seiner Wohnung zu überrumpeln und zur Herausgabe der Sendung zu zwingen, durcheinander. Aber vielleicht würde sich später am Tag eine Gelegenheit ergeben. Er nahm zwei Lederbeutel aus dem Handschuhfach. Der eine enthielt einen kompletten Satz Dietriche, der andere mehrere Abhörwanzen und ein kompaktes Sendegerät mit Verstärker. Dann stieg er aus dem Kombiwa-
gen und überquerte die Straße. Das Nassau war ein kleines, ziemlich schäbiges Restaurant im Süden Brooklyns, nicht weit vom Lagerhaus. Es war Danny gelungen, die drei Leichen rechtzeitig herbeizuschaffen, und Frank Anthony hatte ihnen wieder eine Kostprobe seiner berüchtigten Pünktlichkeit gegeben, als er Punkt zwei ins Lokal kam. Er hatte die Toten ungewöhnlich lange und sorgfältig untersucht und dann seine Adjutanten instruiert, eine Versammlung ins Restaurant einzuberufen. Frank Anthony war jetzt ein alter Mann, aber noch immer regierte er seine Organisation mit eiserner Hand. Von seinen Leutnants verlangte er unbedingte Loyalität, und er bekam sie, denn er war ein respektierter und gefürchteter Chef, der einen langen Arm hatte und selbst geringe Verstöße unbarmherzig bestrafte. Danny war noch nie bei einer Versammlung der Leutnants gewesen. Er selbst war von niedrigerem Rang, zweiter Mann unter Albert Bosch, einem der sechs Leutnants, die jetzt im Hinterzimmer des Restaurants auf harten Holzstühlen um den Tisch saßen. Danny saß am unteren Ende, dem Alten direkt gegenüber. »Also, Danny«, sagte Frank, »erzähl mir und diesen anderen, welche Theorie du entwickelt hast.« »Nun«, sagte Danny, der sein Lampenfieber geschickt verbarg, »wie ich dir schon sagte, Frank, glaube ich, daß wir es mit einer anderen Organisation zu tun haben, die uns aus dem Geschäft drängen will.« »Und welche Organisation könnte das sein?« »Ich weiß es nicht. Noch nicht. Aber ich will heute nachmittag mit Nachforschungen anfangen. Ich hatte ziemlich zu tun, das Lagerhaus in Ordnung zu bringen und alles.« Der alte Mann warf Albert Bosch einen Blick zu. Albert nickte. »Ich hab nachgesehen, Frank. Dannys Jungen haben wirk-
lich sauber gemacht. Die Bullen könnten den ganzen Tag mit Lupen im Lagerhaus herumkriechen, und sie würden nichts finden.« »Gut«, sagte Frank. »Was ist mit dir, Albert? Hast du eine Theorie über das, was gestern abend passiert ist?« »Nun, da ist Dannys Erklärung«, sagte Albert. »Das ist immer möglich. Dann ist da noch dieses andere Ding.« »Welches andere Ding?« »Du weißt, Frank. Was Ernie am Telefon sagte.« »Richtig. Danny, wie war das? Er schrie etwas von einem Vampir, nicht?« »Richtig, Frank. Das habe ich gehört.« »Und was schließt du daraus?« »Ich denke mir; daß diese andere Gruppe eine dieser Motorradbanden geheuert hat. Es gibt eine Bande, die sich ›Vampire‹ nennt. Die Mitglieder haben den Namen auf ihren Lederjacken. Aber wie ich sagte, ich muß der Sache erst nachgehen.« Frank nickte. »Tu das. Die Erklärung ist nicht schlecht, aber es gibt noch was anderes zu bedenken. Du bist ein junger Mann, Danny, in diesem Land geboren und aufgewachsen. Aber diejenigen unter uns, die aus der alten Heimat sind - wir spotten nicht über gewisse Dinge.« »Wie Vampire? Du meinst diese Vampirmenschen? Frank, ich weiß nicht, aber Vampire töten nicht mit Maschinenpistolen. Jedenfalls nicht in den Filmen, die ich gesehen habe.« Der Alte machte eine Handbewegung. »Die Filmemacher wissen nichts von diesen Dingen. Aber du hast recht. Vampire töten nicht mit Maschinenpistolen. Das haben sie nicht nötig. Du sagtest uns, daß die Waffen deiner Leute zum Teil abgefeuert worden waren. Kommt es dir nicht ein bißchen komisch vor, daß keiner von unseren Jungen einen der Angreifer getroffen zu haben scheint? »Nun, Vincent -« Albert schnitt ihm das Wort ab. »Vincent konnte nicht mal
vernünftig reden, geschweige denn schießen. Aber Ernie konnte einer Taube auf zwanzig Schritte die Schwanzfedern wegschießen, mit einer Pistole.« »Schon gut, schon gut. Ich weiß nicht, warum sie nichts getroffen haben. Vielleicht nahmen die Angreifer ihre Toten und Verwundeten mit.« Frank Anthony klopfte mit den Fingernägeln auf dem rotkarierten Tischtuch herum. »Mit Mutmaßungen kommen wir nicht weiter«, sagte er. »Halten wir uns lieber an das, was wir wissen. Zum Beispiel die Sache mit der Maschinenpistole. Warum haben die Angreifer - wenn es mehrere waren - unsere Jungen derart zugerichtet? Und aus nächster Nähe?« »Ich weiß es nicht, Frank.« »Vielleicht, um etwas zu vertuschen?« »Frank«, sagte Danny, fast bittend. »Um was zu vertuschen?« »Vampire«, sagte der alte Mann, sich zurücklehnend, »töten nicht mit Schießeisen. Das haben sie nicht nötig. Sie haben übernatürliche Kräfte. Auch kannst du sie mit Kugeln nicht umbringen, Danny. Aber wichtiger ist für uns die Art und Weise, wie Vampire töten, wenn sie hungrig sind. Sie beißen ihrem Opfer in den Hals. Dann trinken sie das Blut. Und noch was: warum ist nicht mehr Blut an den Kleidern? Wenn ich mir diese Halsverletzungen ansehe, dann weiß ich, daß diese Männer verblutet sein müssen. Aber wo ist das Blut geblieben? An ihren Kleidern ist es nicht, und nach deinem Bericht waren im Lagerhaus keine Blutlachen, nur Spritzer. Nun, welche Antworten hast du auf diese Fragen? Ich werde es dir sagen: du hast keine Antworten, keine, die ich hören will. Also geh hin und sieh zu, was du herausbringen kannst. Einstweilen - und das geht euch alle an -. müssen unsere Lagerhäuser rund um die Uhr von mehreren Leuten bewacht werden. Und beim geringsten Zeichen von etwas Ungewöhnlichem will ich verständigt werden.« Er machte eine Pause, während er seinen Blick in die Runde
gehen ließ. »Wenn der Angreifer ein Vampir war, ist es möglich, daß er durch einen Zufall unser Lagerhaus wählte. Aber er kann auch gekommen sein, weil wir was von ihm haben, weil eine von den eingelagerten Sendungen ihm gehört. Wenn er sie nicht gefunden hat, könnte er anderswo suchen kommen. Ich weiß, jetzt bin ich derjenige, der mit all den Mutmaßungen aufwartet, aber wir wollen kein Risiko eingehen, nicht mit einem Vampir. Sollten wir irgendwas haben, das ihm gehört, so geben wir es ihm. Schnell und ohne langes Fragen. Hat jeder mich verstanden?« Alle hatten verstanden, sogar ein kahlköpfiger Puertoricaner draußen im allgemeinen Speisesaal des Restaurants. Er steckte sein bleistiftähnliches Abhörgerät in die Tasche, zahlte für seine Pizza und sein Bier und verließ das Restaurant. Es war Abend. Danny hatte eben sein letztes von vielen Telefongesprächen geführt, die er an diesem hektischen Tag auf dem Programm gehabt hatte, als der Summer bei der Tür einen Besucher anzeigte. Er wanderte in die Diele zur Sprechanlage. »Ja?« »Danny. Ich bin es, Donna.« Er hatte vergessen, daß sie heute abend kommen wollte. Einen Moment dachte er daran, ihr zu sagen, sie solle morgen abend wiederkommen. Er war erschöpft, und was er jetzt brauchte, waren ein doppelter Scotch und ein langer Nachtschlaf. »Danny?« Er drückte auf den Türöffner. Er konnte ein bißchen später Schlafengehen. Den Scotch und Donna zusammen - das war auch eine Lösung. Als sie in die Wohnung kam, war Danny froh, daß er sie nicht abgewimmelt hatte. Sie war groß und schlank, beinahe der ideale Mannequintyp. Sie trug ein anliegendes silbriges Satinkleid, und ihr blondes Haar fiel in dichter Masse auf ihre Schultern. Sie merkte sofort, daß Danny heute abend anders war als
sonst. »Danny, ist was nicht in Ordnung?« Nun, es konnte nicht schaden, wenn er davon redete. Es könnte sogar helfen, seine eigenen Gedanken zu ordnen. »Einer meiner Chefs glaubt an Vampire. Du weißt, diese großen Fledermäuse, die sich in Menschen verwandeln können und das Blut ihrer Opfer trinken.« Donna umfaßte ihre Schultern und tat, als schaudere sie. »Oh. Danny, das ist ja gruselig! Wie kommt es, daß dein Chef an sie glaubt - die Vampire?« »Er bildet sich ein, daß ein paar von unseren Freunden von einem Vampir getötet wurden.« »Und - und was meinst du, Danny?« »Na ja, ich habe zufällig die Kehlen dieser Männer gesehen, und es ist möglich, daß sie von großen scharfen Zähnen ...« »Danny, ich will nicht mehr darüber reden. Laß uns über was anderes sprechen.« »Gut.« Er legte seine Hand um ihre Hüften. »Warum gehst du nicht ins Schlafzimmer und ziehst dir was Bequemeres an?« Dabei tätschelte er ihr Hinterteil, und sie kicherte und schmiegte sich einen Moment an ihn, bevor sie zur Tür ging. Sie war noch nicht draußen, als sie etwas wie ein lautes Schlagen hörte. Als sie sich umdrehte, sah sie, daß Danny eine Pistole gezogen hatte und einem der großen Flügelfenster gegenüberstand. Das Fenster war anscheinend von einem Windstoß aufgedrückt worden, und das Geräusch war entstanden, als ein Fensterflügel gegen die benachbarte Wand knallte. Aber das Glas war nicht gebrochen. »Ist - ist jemand draußen, Danny?« »Ausgeschlossen. Da ist kein Balkon oder Sims, nur ein Gitter. Wahrscheinlich war das Fenster nicht richtig geschlossen, und der Wind hat es aufgestoßen.« Er wandte sich zu ihr um und lächelte. »He, ich dachte, ich hätte dir gesagt, daß du dich fertigmachen sollst - für meinen ganz persönlichen Vampiran-
griff.« Er sperrte seine Augen auf, und sein Lächeln wurde zu einer grotesken Fratze, als er seine Arme weit ausbreitete und auf und ab bewegte, um die Flügel einer riesigen Fledermaus zu imitieren. Er hatte erwartet, daß sie in gespieltem Entsetzen eine Hand vor den Mund schlagen und ›Huch!‹ rufen würde. Aber ihr plötzliches Erbleichen und den schrillen Schrei hatte er nicht erwartet. Aber er konnte auch nicht sehen, was Donna sah. Hinter dem Mann, der Fledermaus spielte, war etwas Großes und Schwarzes aufgetaucht, dessen Flügelspanne über Dannys ausgestreckte Arme hinausreichte. Zwischen den Flügeln saß ein scheußlicher kleiner Kopf mit rötlich glühenden Augen und dolchspitzen Zähnen in der aufgestülpten Schnauze. Es schien einfach hinter Danny im Raum zu hängen, ohne eine Bewegung der weit ausgebreiteten Flügel. Jetzt merkte Danny, daß das Mädchen nicht direkt ihn ansah, sondern über seinen Kopf starrte. Seine rechte Hand hielt noch immer die entsicherte Pistole, und als er herumfuhr, hatte er sie schußbereit. Aber er feuerte nicht. Der Anblick der unheimlichen Kreatur lähmte ihn. Dann, bevor er seine Schreckensstarre überwinden konnte, geschah vor seinen Augen das Unmögliche. Die Umrisse der schrecklichen Erscheinung schienen momentan zu verschwimmen, und sie war fort. An ihrer Stelle stand ein Riese von einem Mann, schwarz umhüllt und mit flammenden roten Augen. Als die Augen sich auf Danny konzentrierten, entglitt die Pistole seinen Fingern und fiel auf den Teppich. »W-wer...« »Meine Name ist ohne Bedeutung für Sie. Sagen wir, daß ich einen Ihrer Kunden vertrete und gekommen bin, die Dienste Ihrer Organisation in Anspruch zu nehmen. Wie mir gesagt wurde, sind Sie der Mann, der mir helfen kann.« »Dann waren Sie es gestern abend -«
»Unwichtig. Sie haben eine Kiste in Ihrem Besitz, an der ich interessiert bin. Ihre Kennziffer dafür ist DH 977. Ihren genauen Lagerungsort, bitte.« Dannys Gedanken taumelten wild durcheinander, aber Frank Anthonys Anweisung war so klar gewesen, daß es keine Auslegungsschwierigkeiten gab. »Das Lagerhaus in Merrick, Long Island.« »Die genaue Adresse, bitte.« Danny gab sie. »Ich könnte die Sendung zustellen lassen....« »Das wird nicht nötig sein, Mr. Trafalgar. Wir werden sie selbst abholen. »Plötzlich begann sich das Gesicht des Schwarzen zu verwandeln. Donna stieß einen Laut wie ein Seufzen aus und brach ohnmächtig zusammen. »W-was w-wollen Sie?« stammelte Danny. »Sie meinen, was ich mit Ihnen machen will? Genau das, was Sie verdient haben. Ich habe keine weitere Verwendung für Sie. Ziehen Sie die Vorhänge zu.« Danny gehorchte mit zitternden Händen, aber als er beim zweiten Fenster war, trieb ihn die Angst zu der Frage, warum er das tun solle. »Die Bewohner der Häuser gegenüber können hier hereinsehen«, erklärte der Vampir, »und ich speise gern unbeobachtet.« Ein Arm des Ungeheuers langte an Danny vorbei und zog den Vorhang zu.
Um zehn Uhr hatte der für den Abend vorausgesagte Regen eingesetzt, ein dünnes, eiskaltes Nieseln, das den Straßenasphalt zu einem dunklen Spiegel machte und den Staub ungeteerter Zufahrten und Seitenstraßen in lehmige Schmiere verwandelte. Das Lagerhaus in Merrick lag in einer Sackgasse, die von ei-
ner einzigen Laterne mehr schlecht als recht erhellt wurde, und war zudem von Schuppen, Baustofflagerplätzen und kleineren Gewerbebetrieben umgeben, die abends und an Wochenenden verwaist lagen. Nächtliche Aktivitäten, die in der Nähe von Wohngebäuden mißtrauische Beobachter gefunden hätten, konnten hier so gut wie ungestört vonstatten gehen. Um diese Zeit parkte nur ein Fahrzeug in der Straße, ein Kombiwagen mit hochgeklappter Hecktür. Drei Minuten nach zehn verließ ein großer, kräftiger Mann das Lagerhaus durch eine Seitentür und stapfte durch den Schlamm der Einfahrt zum offenen Tor. Er trug eine längliche kleine Kiste unter dem Arm, die er im Heckraum des Kombiwagens unterbrachte. Er schloß die Klappe und kehrte noch einmal ins Lagerhaus zurück. Acht Männer waren in der Lagerhalle. Einer war von ungewöhnlicher Größe und trug einen schwarzen Umhang; er stand schweigend in der Mitte des Raums. Die sieben anderen lagen in seltsam verrenkten Positionen zwischen den durcheinandergeworfenen Kisten und Behältern, und sie waren alle tot. Als Sanchez jeden der Körper inspiziert hatte, war er befriedigt; diesmal gab es keine verräterischen Spuren, die beseitigt werden mußten. Er selbst hatte einen der Männer getötet, die anderen waren den starken Händen des Grafen zum Opfer gefallen. Den Händen, nicht den Zähnen. Sanchez empfand es als einen erfreulichen Umstand, daß die Blutgier des Vampirs schon früher am Abend befriedigt worden war. Dracula lächelte. »Damit habe ich meine Verpflichtungen erfüllt. Die Kiste mit der Kennziffer DH 977 befindet sich in Ihrem Besitz. Bis zum Morgen haben wir noch mehrere Stunden. Während Sie mit der Kiste nach Westhampton zurückfahren, werde ich - Ihr Einverständnis vorausgesetzt - noch ein wenig die Freiheit genießen, bevor ich mich in die Gewalt des Professors zurückbegebe.« Sanchez sah ihn mißtrauisch an. »Was haben Sie vor, Dracula? Wenn Sie auf Jagd gehen wollen ...«
Mit dem Anflug eines Lächelns schüttelte der Graf den Kopf. »Mein lieber Freund, denken Sie nach. Hätte ich Hunger, wäre hier und jetzt die beste Gelegenheit, ihn zu stillen. Nein, ich werde die Nacht nur mit meinen Sinnen genießen, nicht mit meinem Magen. Sie können sicher sein, daß ich vor Morgengrauen zurück bin. Das liegt allein schon in der Natur der Dinge.« Sanchez überlegte. Draculas Anliegen schien ihm logisch und ungefährlich. Außerdem hatten sie nun endlich die wichtige Kiste, und seine Erleichterung darüber entschied schließlich seinen Entschluß. Er ließ Dracula gehen. Der Regen hatte sich weiter verstärkt und fiel nun in rauschenden Vorhängen, die das alte Herrenhaus in Westhampton einhüllten. Von der See wehte ein gleichmäßiger Wind, der die Bäume schüttelte und die dumpfen Schläge der Brandung herübertrug, so daß sie noch im letzten Winkel des alten Hauses hörbar waren. Im Kellerlaboratorium vibrierten Wände und Boden unter den Erschütterungen der unaufhörlich anrollenden Sturzseen, und das Flackern des Lichts bewies, daß eine Transformatorenstation oder ihre Verteilerleitungen Mühe hatten, ihre Funktion aufrechtzuerhalten. Ktara saß stumm auf einem Stuhl an der Wand und beobachtete mit ausdrucksloser Miene die beiden an Werkbank und Labortisch arbeitenden Männer. Sofort nachdem der Kombiwagen mit kreischenden Bremsen vor dem Haus gehalten und Carmelo Sanchez die Kiste durch den strömenden Regen ins Haus getragen hatte, waren sie an die Arbeit gegangen. Wie ein Berserker hatte Sanchez die Kiste aufgebrochen, um schneller an den Inhalt heranzukommen, und der Professor hatte ihn zur Vorsicht ermahnen müssen, besorgt, daß die empfindlichen Geräteteile Schaden nehmen könnten. »Wenn es jetzt zu einer Fehlfunktion irgendeines Teils käme «, hatte er angefangen, dann war ihm die Anwesenheit der Frau
eingefallen, und er hatte nichts weiter gesagt. Im Laboratorium war alles vorbereitet. Ihre Hände arbeiteten schnell und geschickt, als ob die zwei jeden Handgriff vorher eingeübt hätten, und nur dann und wann gab Harmon eine einsilbige Instruktion oder machte eine kurze Bemerkung. Sanchez regierte darauf mit Fingern und Werkzeug, denn Worte waren unnötig und hätten nur seine Konzentration gestört. Es war ein einfach aussehendes Gerät, das sie bauten, aber jeder darin enthaltene Teil war eine komplexe Einheit für sich. Im ganzen gab es neun solche Teile. Zwei von ihnen waren vorhanden gewesen, bevor Harmon seine Bestellungen gemacht hatte. Fünf weitere - verkleinerte oder geringfügig veränderte Versionen marktgängiger Artikel - waren rechtzeitig eingetroffen, und die letzten zwei waren Sonderanfertigungen nach Professor Harmons eigenen Plänen. Diese beiden waren zusammen mit dem Regelschalter und seinem Gehäuse in der Kiste gewesen, die gestohlen worden war. Harmon und Sanchez hatten sechs von den Einzelteilen zusammengebaut, als von oben ein Krachen kam. Es war die Haustür, nach dem Geräusch und seiner Richtung zu urteilen. Dann kam das zweite Geräusch. Gebell. Harmon blickte erschrocken auf. »Hunde! Was hat das zu bedeuten?« Aber Sanchez war bereits auf den Beinen und lief durch das Laboratorium zu einem Wandregal. Er langte hinter eine Reihe von Flaschen und brachte einen Gegenstand zum Vorschein, den er dort verstaut hatte - für alle Fälle. Der langläufige und großkalibrige Smith & Wesson-Revolver lag schwer in seiner Hand und gab ihm ein beruhigendes Gefühl. Die Kellertür über ihm öffnete sich, als er seinen linken Fuß eben auf die unterste Treppenstufe gesetzt hatte. Es gab keinen Zweifel daran, wer die Tür geöffnet hatte, und die langgestreckte Gestalt, die ihm von oben entgegenschoß, alle vier Fü-
ße in der Luft, war ebenso unverkennbar wie die Bedrohung, die sie darstellte. Diesmal war es nicht der Hund, der bellte. Es war der Revolver. Der Dobermann war tot, als er ankam, aber seine Masse prallte gegen Sanchez Brust und warf ihn auf den Rücken. Bevor er sich aufrappeln konnte, war der zweite Hund die Treppe herunter und über ihm. Als ihm der Dobermann mit schnappenden Kiefern an die Kehle fahren wollte, riß Sanchez abwehrend seinen linken Arm hoch und schlug zugleich mit der Rechten zu. Der Revolverlauf krachte wuchtig auf den Schnauzenrücken des Hundes, und mit einem Schmerzgeheul sprang das Tier von Sanchez und floh mit eingekniffenem Schwanz unter einen Tisch. Sanchez kam auf die Füße, spannte den Hammer des Revolvers und spähte in Erwartung eines weiteren lebenden Projektils die Treppe hinauf. Der Treppenaufgang und die Türöffnung zum Erdgeschoß waren leer. Plötzlich merkte er, daß der Keller nicht leer war. Er wirbelte herum, den Revolver im Anschlag. Wie ihm eben klargeworden war, hatte er einen Zugang zum Laboratorium bewacht, während der andere benützt worden war. Vor der Aufzugstür stand ein finster blickender Graf Dracula, einen weiteren Dobermann neben sich. »Bleiben Sie, wo Sie sind, Mr. Sanchez. Und Ihren Revolver sollten Sie lieber fallen lassen. Sie werden tot sein, bevor Sie Ihren zweiten Schuß abfeuern können - und Sie wissen sicherlich, daß Ihre erste Kugel mir nicht gefährlich werden kann.« Sanchez warf Harmon einen Blick zu. Der Professor nickte. Die Waffe fiel mit dumpfern Gepolter zu Boden. Ein Lächeln kräuselte Draculas Lippen. »Ich danke Ihnen. Professor Harmon, auch Ihnen rate ich, Ihren Platz nicht zu verlassen.« Sein Blick wanderte weiter zu Ktara. »Und du, meine Liebli-
che«, sagte er, »du bleibst ebenfalls, wo du bist.« Ktaras ausdruckslose Miene veränderte sich nicht. Ihr Gesicht zeigte wenig oder kein Interesse für das Geschehen, als ob sie einer Theateraufführung beiwohnte, die sie schon zweimal gesehen hatte. Der Graf zeigte auf das fast fertig zusammengebaute Schnelladegerät und sagte: »Ich sehe, daß in Ihrer wertvollen Kiste alles in Ordnung war. Und man kann Ihnen nicht absprechen, daß Sie fleißig gewesen sind. Aber ich fürchte, daß Sie zu langsam gearbeitet haben, Professor. Viel zu langsam.« Harmon lächelte höflich. »Ich fürchte, ich kann Ihnen nicht ganz folgen.« »Dann lassen Sie mich deutlicher werden, Professor. Während der Stunden, die ich dank Ihrer Großzügigkeit und Güte in wachem Zustand verbringen durfte, habe ich etwas bemerkt. Zweierlei, um es genau zu sagen. Das eine war Ihr an Besessenheit grenzender Eifer, in den Besitz einer bestimmten Packkiste zu kommen. Ein Eifer, der viel zu groß war, um bloß das Verlangen eines Mannes widerzuspiegeln, der ein Stück seines Eigentums zur Hand haben möchte. Ihr Verlangen glich einer verzehrenden Leidenschaft - als ob der Zeitfaktor von allergrößter Wichtigkeit wäre.« »Und das andere, was Sie bemerkt haben?« »Ja. Es betrifft diese kleinen Signale, die ich in mir habe. Die aus der klugen kleinen Vorrichtung kommen, welche Sie mir eingepflanzt haben. Wenn ich meinen eigenen Sinneswahrnehmungen vertrauen darf, dann sind diese Signale schwächer geworden. Nur langsam und sehr allmählich, doch alles in allem in einer sehr dramatischen Weise. Heute, in diesem Moment, sind sie sehr, sehr schwach. Ich habe eine Theorie oder besser, eine Schlußfolgerung -, die sich aus dem Zusammenhang meiner zwei Beobachtungen ergibt. Sind Sie interessiert, sie zu hören?« Harmon war entsetzt. Seine schlimmsten Befürchtungen wa-
ren eingetreten - sein Gerät noch nicht fertig, und er im Begriff, seine Kontrolle über den Vampir zu verlieren. Und dieser wußte Bescheid! Eine fatale, lebensgefährliche Situation, wenn die Energie in der Zelle nicht mehr ausreichte, den Mechanismus des Holzpfeils zu betätigen. Harmon versuchte nicht erst, eine verbale Antwort zu finden. Er drehte seinen Rollstuhl, bis er dem Vampir gegenübersaß, dann schloß er seine Augen und konzentrierte sich. Es mußte genug Energie übrig sein - es mußte reichen! Die Vision des kleinen Hebels in ihm selbst. Die Kraft des Geistes, zusammengefaßt, um den Hebel zu berühren... da! Nun der Druck, die Konzentration telekinetischer Kraft. »Es gibt ein Problem, Professor, das den Einsatz geistiger Energie betrifft. Sie kann von dem Geist neutralisiert werden, der größere Energie besitzt. Mein Geist ist ein solcher. Besonders jetzt, da ich durch reichliche Ernährung gekräftigt bin!« Harmon schwieg. Er hatte sich ganz in sich selbst zurückgezogen. Er mußte den Druck verstärken ... Aber der Hebel gibt nicht nach! Er muß nachgeben! »Mein Geist ist auch ein solcher, Meister.« Ktaras Worte schienen durch den Raum zu schweben und irgendwie in einen ungenutzten Teil von Harmons Gehirn einzudringen. Dracula lachte wieder. Eine kleine Bewegung des Hebels, aber nicht genug... und nun zurück. »Das ist wahr, mein Liebling, Aber du hast nicht die Kraft, meinem Willen zu widerstehen. Nicht einmal in dem Fall, daß ich mich entschließen müßte, dein Gehirn zu kochen, würdest du -« Wieder eine kleine Bewegung... darf mich nicht ablenken lassen ... laß ihn den Abgelenkten sein! Aber nein ... was an Boden gewonnen war, ist wieder verloren ... »Du würdest mich nicht zerstören, Meister. Wer würde noch bleiben, für deine Interessen zu sorgen, wenn der Pflock wieder
in dein Herz getrieben wirft?« »Ich bin unsterblich!« Da! Beinahe ganz ... verdammt! Der Druck... Lange kann ich diese Anstrengung nicht mehr aushalten ... »Auch ich bin unsterblich, Meister. Aber eines Tages könnte ich vielleicht wünschen, meine Tage zu beschließen. Ich fühle deine Gedanken, Meister. Du willst jemand töten. Es kann nicht dieser Harmon sein, denn sein Tod wäre eine Gefahr für dich. Könnte er wie ich hören und fühlen, was in deinem Geist vorgeht, Meister -« Jetzt. Jetzt... die ganze Intensität auf einen Punkt... alles, alles! »Lassen Sie die albernen Versuche, Harmon«, sagte der Graf. »Denken Sie, ich könnte Ihren Geist nicht zerstören und Sie doch am Leben lassen? Passen Sie auf, wie ich...« »Wie Sie den Kampf verlieren!« schrie Carmelo Sanchez. Zu spät erkannte Dracula, was Sanchez zu tun im Begriff war. Zu spät gab er den Hunden das Signal zum Angreifen. Sanchez hatte die Pistole bereits in der Hand, und im nächsten Moment bellte die Waffe auf. Die beiden Hunde überschlugen sich am Boden, bevor sie zum Sprung angesetzt hatten. Harmon schwitzte und zitterte vor Anstrengung, obwohl sein Körper nichts tat. Jetzt! Jetzt! Wieder schoß Sanchez, diesmal auf Dracula. Die Kugeln drangen ohne Wirkung in den Leib des finsteren Grafen ein, doch Dracula war abgelenkt. Für den Bruchteil einer Sekunde lockerte sich der geistige Würgegriff, mit dem er Professor Harmon in seinen Bann hielt. Dann schrie er auf - und stürzte zu Boden. Und Harmon sank erschöpft in seinen Stuhl zurück. Graf Dracula lag auf dem Keramikboden, die zwei Hunde tot zu seiner Seite. Minutenlang blieb alles still. Nur das Rauschen des Regens draußen und das gleichmäßige Donnern der Brandung drangen gedämpft herein.
Zuletzt sagte Sanchez: »Das hätte leicht ins Auge gehen können, Professor.« Harmon richtete sich in seinem Rollstuhl auf und sah sich nach der Frau um. »Ktara...« »Es ist unnötig, mir zu danken. Sie hatten das Glück, daß Ihre geistige Energie und die elektrische Energie der Batterie gerade noch ausreichten. Nun werden Sie Ihr Ladegerät in Ruhe fertigbauen können, und wenigstens diese eine Schwierigkeit wird überwunden sein.« Harmon nickte. »Das mag sein. Aber Sie haben meine Frage nicht beantwortet.« »Ich habe Ihnen nicht geholfen, Professor Harmon. Ich hätte meine geistige Kraft mit Ihrer verbinden und gemeinsam mit Ihnen diesen kleinen Hebel drücken können, aber das habe ich nicht getan. Ich bin an meinen Herrn gebunden. Ich kann nicht gegen ihn kämpfen.« Harmon nickte. »Nun gut, Sie sind an Ihren Meister gebunden. Aber Sie haben einen eigenen Willen. Und Sie gebrauchten ihn, um uns zu helfen - nicht direkt, das gebe ich zu, aber indirekt. Und wo liegt da der Unterschied?« Ktara stand auf und ging an die Seite des gefallenen Vampirs. »Ich werde mich um ihn kümmern«, sagte sie. Dann fügte sie mit einem Blick zu Harmon hinzu: »Sie suchen eine Erklärung. Lassen wir diese gelten: Mein Geist ist, wie Sie sagten, mit einem eigenen Willen ausgestattet. Wenn es möglich ist, tue ich, was mir gefällt. Vielleicht gefiel es mir heute abend, Sie leben zu lassen. Danken Sie mir nicht für eine Laune, Professor Harmon. Morgen abend oder eines künftigen Tages könnte mir etwas anderes einfallen.« Sie wandte sich von ihm ab, um noch einmal über ihre Schulter zu blicken. »Ich muß zugeben, daß ich eine gewisse Neugierde empfinde, was Sie tun werden, nun, da Sie einen gezähmten Grafen Dracula, wie Sie ihn nennen, in Ihrem Dienst haben. Und ob Sie etwas Besseres als bisher mit ihm anzufan-
gen wissen oder nicht.« »So?« sagte Harmon. »Ist er nun wirklich ein gezähmter Graf Dracula?« Die drei blickten in das verzerrte Gesicht des Vampirs. Plötzlich lachte Ktara hart und scharf auf, ein Lachen, das sich über die Geräusche des Regensturms erhob. »Nein. Natürlich nicht.« ENDE
Neues über Hugh Walker zu erzählen, hieße Fledermäuse nach Schloß Dracula zu tragen. Viermal war dieser phantastische Autor schon im DÄMONEN-LAND vertreten, und jeder seiner Romane wurde begeistert von den Lesern gefeiert. Kein Zweifel, daß es beim »Haus der bösen Puppen« nicht anders sein wird. Wieder beschwört Walker das Grauen herauf, mit einer Mixtur von düsteren Legenden und erschreckender Realität. Ein Mann ohne Gedächtnis. Ein Mörder, der nur bei Vollmond seine Opfer sucht. Puppen, die zu leben beginnen. Und solche, die einst Menschen waren - und es vielleicht noch sind? Ein Geheimnis, das jeden, der es zu ergründen sucht, das Leben kostet. Niemand ist sicher vor Hugh Walkers Phantasie. Machen Sie die Probe aufs Exempel. Im DÄMONEN-LAND 17: DAS HAUS DER BÖSEN PUPPEN Hugh Walker