Atlan - Minizyklus 07 Flammenstaub Nr. 03
Todeszone Schimayn von Christian Montillon
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Atlan - Minizyklus 07 Flammenstaub Nr. 03
Todeszone Schimayn von Christian Montillon
Auf den von Menschen besiedelten Welten der Milchstraße schreibt man das Jahr 1225 Neuer Galaktischer Zeitrechnung, das dem Jahr 4812 alter Zeit entspricht. Der relativ unsterbliche Arkonide Atlan, der seit Jahrtausenden im Auftrag der Menschheit wirkt, kämpft in der fernen Galaxis Dwingeloo gegen die mysteriösen Lordrichter. Auf Anregung der Widerstandsgruppe »Konterkraft« reist Atlan zur geheimnisvollen Intrawelt, um dort den Flammenstaub, der eine ultimate Waffe sein soll, zu besorgen. Nach zahlreichen Abenteuern in der gigantischen Hohlwelt gelingt es ihm, diesen zu bergen. Aber er verweigert dessen Herausgabe, davon überzeugt, dass die Anführer der Rebellen zu schwach für seine Verwendung sind. Atlan trägt nun den Flammenstaub in sich und testet die Wirkung erfolgreich gegen die Truppen der Lordrichter. Aber je intensiver er ihn benutzt, desto verheerender ist sein Einfluss auf Psyche und Körper. Auf der Vulkanwelt Ende kann er einen Großteil der lebensgefährlichen Substanz loswerden. Dort findet auch das Treffen mit den Cappins statt. Atlan spekuliert auf die Rückkehr in die Milchstraße, doch der Transfer per Pedopeiler führt ihn in die TODESZONE SCHIMAYN …
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Die Hautpersonen des Romans: Atlan - Der Arkonide will in die Milchstraße zurückkehren. Aruma Cuyt - Der ganjasische Kommandant der CAVALDASCH hat andere Pläne. Carmyn Oshmosh - Die Kommandantin des Beiboots AVACYN bewährt sich im Krisenfall. Abenwosch-Pecayl 966. - Der Clanführer der Juclas folgt seiner Bestimmung.
Ich spüre es. Die Dunkelheit naht. Der Tod eilt mit Riesenschritten herbei. Wenn ich mich niederlege, so fürchte ich, nie wieder aufzustehen. Esse ich, habe ich Angst, es könnte die letzte Mahlzeit sein. Sehe ich ein Neugeborenes, denke ich an meine eigene Kindheit, die viel zu schnell vergangen ist. Ich hasse die, die mein Volk dazu verdammten, schneller und kürzer zu leben als alle anderen Cappins. Ich verachte die, die uns Judas dazu zwangen, so zu sein, wie wir sind. Beginn der letzten Aufzeichnung des Abenwosch-Pecayl 965.
1. Im Kugelhaufen Schimayn: so jung und doch so alt Abenwosch-Pecayl 966. suchte die Zentrale seines Schiffes auf. Mit seiner Ernennung zum neuen Anführer des Clans war die TIA zum Flaggschiff des Clans geworden. Die Arbeiten zum Umbau des Komplexes waren in vollem Gange. Es stellte die Logistiker vor gewaltige Herausforderungen, die 733 miteinander zum Komplex verbundenen Schiffe des Clans grundlegend anders zu gruppieren. Die TIA musste sich als Flaggschiff ungefähr im Zentrum des Schiffsverbundes befinden. Viele der verbindenden, aufgeschäumten Hohlstege mussten abgerissen werden. Dutzende von Piloten hatten ihre Raumschiffe in eine andere Position zu dirigieren. Es war notwendig, dass neue Verbindungsgänge entstanden, damit jedes Mitglied des Clans problemlos in benachbarte oder auch weiter entfernte Schiffe überwechseln konnte.
Der Komplex war eine Errungenschaft seines neunten Vorgängers Abenwosch-Pecayl 957. die der jetzige Abenwosch beibehalten wollte. Er spürte, dass dies eine gute, zukunftsweisende Idee darstellte. Das Vernetzen der Raumschiffe des Ercourra-Clans verminderte das Gefühl, im eigenen Schiff isoliert zu sein. Die Clans der Juclas lebten seit Jahrhunderten in ihren Raumschiffen, seit sie nach Ovarons Rückkehr von den anderen CappinVölkern endgültig aus der Völkergemeinschaft Gruelfins vertrieben worden waren. Sie führten ein unstetes Leben, ständig unterwegs, ohne Heimat, ohne wirkliches Ziel. Sie waren Weltraumnomaden, und das seit so vielen Generationen. Es war Abenwosch-Pecayl 957. zu verdanken, einen ersten großen Schritt getan zu haben, dieser ewigen Wanderschaft entgegenzuwirken: den Komplex. Seit neun Herrschergenerationen bildete nicht mehr nur das einzelne Schiff den Aufenthaltsort eines Juclas, sondern der gesamte Komplex. Dieser bot durch seine Größe die Illusion einer Heimatwelt. Jedes andere Mitglied des Clans war zumindest theoretisch für jeden erreichbar. Der Abenwosch hatte dadurch einen angenehmen Nebeneffekt erzielt. Seine Macht war gestiegen. Wo auf den einzelnen Schiffen früher Anarchie geherrscht hatte, setzte sich in zunehmendem Maß der Gedanke eines gemeinsamen Ganzen durch. Dadurch nahm faktisch auch das Maß der Kontrolle zu, die der Anführer ausüben konnte. Die Idee des 957. war so einfach gewesen. Er ließ die Schiffe des Ercourra-Clans nicht mehr nebeneinander durch den Raum treiben, sondern miteinander. Dazu entwickelte er die ersten Tuilerien, die aufgeschäumten Hohlstege, die erstaunlich feste Konsistenz annahmen und doch flexibel ge-
4 nug blieben, um die miteinander verbundenen Schiffe bei kleineren Synchronisationsfehlern während des Fluges nicht zu gefährden. Verbanden einzelne Tuilerien erst einmal zwei oder durch Verknüpfungen auch mehrere Schiffe miteinander, wurden sie durch Prallfelder vor dem Vakuum geschützt. Der Komplex als Ganzes war auf diese Weise sogar fähig, Überlichtflüge vorzunehmen. Das System funktionierte tadellos, und es war ein geradezu genialer Einfall des neunten Vorherrschers gewesen. Wie Abenwosch-Pecayl 966. schon als Zweijähriger, als er noch seinen Geburtsnamen Scytim getragen hatte, in einer Hypnoschulung gelernt hatte, waren damals die Grundsteine eines neuen Selbstbewusstseins für das Volk der Juclas gelegt worden. Man liebte nach wie vor das wilde Leben und war nicht abgeneigt, tagelang zu feiern. Doch Abenwosch beobachtete, dass die alkoholischen Exzesse nachließen. Auch verzeichnete die Statistik weniger Todesopfer durch Drogen. Der berühmte 957. war ein Visionär ohnegleichen gewesen. Viele seiner Worte waren bis heute unvergessen, und dadurch hatte er dem allgegenwärtigen Tod ein Schnippchen geschlagen; in gewisser Weise war er unsterblich geworden. Jeder Abenwosch musste sich seitdem der Weisheit beugen, die er hinterlassen hatte: Der Komplex ist der erste Schritt zum Ziel. Das Ziel jedoch ist das Ende der Unstetigkeit. Abenwosch trat an sein Kommandopult. Er befahl Dittsil zu sich, den obersten Logistiker des Clans, den er mit der Koordination des Umbaus beauftragt hatte. Es dauerte lange, bis dieser die Zentrale betrat. »Entschuldige, Abenwosch-Pecayl 966. Ich konnte deinem Ruf nicht schneller folgen.« »Was hinderte dich daran?«, brauste der Anführer auf. Er mochte es nicht, wenn man ihn warten ließ. Daran änderte auch die Ehrerbietung Dittsils nichts, die sich darin äußerte, dass er den vollen Namen des Anführers aussprach, statt die seit einigen Generationen übliche Abkürzung Abenwosch zu
Christian Montillon benutzen. »Ich musste …« Der Anführer ließ seinen Untergebenen nicht aussprechen. »Du musstest Dinge erledigen, die wichtiger waren als mein Befehl?« Er lauerte auf die nächsten Worte Dittsils. Wenn dieser die falsche Antwort gab, würde er ihm eine Lektion erteilen! Das käme ihm gerade recht, um die aufgestaute Unruhe loszuwerden, die in ihm kochte, seit er gezwungen worden war, über das Leben und den Tod seines Vorgängers nachzudenken. Dittsil wand sich und blickte schließlich in die grauen Augen seines Anführers. »Nichts ist wichtiger als dein Befehl. Ganz im Gegenteil.« »Warum bist du ihm dann nicht sofort gefolgt?« Abenwosch beugte sich nach vorne, dass sein blauschwarzes Haar über die Schultern strich. »Weil ich durch deinen Befehl daran gehindert wurde.« Du machst dich über mich lustig!, wollte Abenwosch ihm impulsiv entgegenschmettern und an ihm ein Exempel statuieren. Doch ihm wurde rasch klar, was Dittsil damit meinte. Mit äußerster Selbstbeherrschung, einer Gabe, über die nur wenige Juclas verfügten, zwang er sich zur Ruhe. »Du hast dich in einem Interessenkonflikt befunden.« Dittsil nickte eifrig. »Du sagst es, Abenwosch-Pecayl 966. Du hast mir befohlen, der Umstrukturierung des Komplexes erste Priorität einzuräumen. Gerade als dein Befehl, dich hier in der Zentrale aufzusuchen, eintraf, beschäftigte ich mich mit einem Problem, das umgehender Lösung bedarf.« »Berichte mehr darüber.« »Es müssen zwei sehr alte Tuilerien aufgelöst werden. Es heißt, sie seien die ältesten, die überhaupt existieren.« Abenwosch ahnte, was das bedeutete. »Olmon versucht das zu verhindern.« »Er bittet darum, dich sprechen zu dürfen, Abenwosch-Pec…«
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»Ich werde ihn aufsuchen«, würgte der Anführer ihn ab. Ihm war nicht danach, dass Dittsil schon wieder der Etikette Genüge tat und seinen vollen Namen aussprach. Olmon! Er hätte damit rechnen müssen, dass dieser selbst ernannte Bewahrer der Ruhe und Schönheit Schwierigkeiten bereiten würde. Ehe er ihn aufsuchte, musste er sich allerdings noch um etwas anderes kümmern.
* Abenwosch durchsuchte die wenigen persönlichen Hinterlassenschaften seines Vorgängers und glaubte, seinen Augen nicht trauen zu können. Abenwosch-Pecayl 965. war zweiunddreißig Jahre alt geworden, ehe er gestern als zitternder Tattergreis sein verdientes Ende gefunden hatte. Seit langer Zeit hatte er den Clan nicht mehr führen können, aber diese Aufgabe trotzdem nicht niedergelegt. Jetzt war er tot, und der neue Abenwosch, der 966. der diesen Ehrentitel trug, hatte die Herrschaft ergriffen. Endlich führte ein Jüngerer den Clan an. Abenwosch war zwölf Jahre alt. Seiner Meinung nach das ideale Alter für einen Jucla, diese große Verantwortung zu übernehmen. Er stand auf dem Höhepunkt seiner körperlichen Kraft; schon in wenigen Jahren würde es diesbezüglich bergab gehen. Ganz anders sah es mit seiner charakterlichen Stärke aus. Hier hatte er die Spitze seiner Entwicklung noch lange nicht erreicht. Das war ein unabänderliches Problem seines Volkes; es blieb ihnen verwehrt, innere und äußere Reife annähernd gleichzeitig zu erlangen, wie es bei allen anderen CappinVölkern der Fall war. Gelangte ein Jucla im psychologischen Sinne ins Erwachsenenalter, war der körperliche Zenit schon lange überschritten, nahte die Vergreisung und Hinfälligkeit. Abenwosch hatte erwartet, dass sich unter den Hinterlassenschaften seines Vorgängers nichts Nützliches finden ließ. Doch jetzt hielt der neue Anführer des Ercourra-Clans
ein höchst ungewöhnliches Erbe in der Hand. Eine Botschaft, die der alte Abenwosch offensichtlich mit eigener Hand geschrieben hatte. Das passte zu dem senilen und depressiven Schwächling, der er in seinen letzten Lebensjahren gewesen war. Wer tat schon so etwas Unsinniges? Es brachte keinen Nutzen! Nur jemand, dessen Verstand vom Alterswahnsinn zerfressen war, der besser schon längst gestorben wäre, konnte auf so eine Idee kommen. Ich spüre es. Die Dunkelheit naht, las Abenwosch-Pecayl 966. die ersten Worte auf den Folien. Der Tod eilt mit Riesenschritten herbei. Er verzog verächtlich das Gesicht. Aber die nächsten Zeilen verursachten Unruhe in ihm, und es gelang ihm nicht mehr, spöttisch darüber hinwegzugehen. Er las von Angst und Hass, von innerer Qual. Diese Gefühle kannte er nur zu gut, genauso wie sein Vorgänger und wie jeder andere Jucla. Die Angst vor dem frühen, genetisch bestimmten Tod war allgegenwärtig. Ebenso der Hass auf die Takerer, die die Juclas auf diese Weise gezüchtet hatten. Jeder Jucla war prädestiniert, so zu empfinden. Wie sehr er sich auch dagegen sträuben mochte, es gab keine Chance, dieser Prägung zu entkommen. Aggression und Kampftrieb bestimmten den Alltag. Immer häufiger bemerkte der neue Anführer, dass seine Gedanken um diese drei Pole kreisten. Angst. Hass. Aggression. Negative Empfindungen, die sein Inneres auffraßen und ihn in einen Strudel der Gewalt zogen. Was Abenwosch nun las, berührte ihn auf unangenehme Weise. Er hatte seinen Vorgänger stets verachtet, weil er alt und schwach gewesen war. Doch schon die ersten Worte der Hinterlassenschaft machten ihm klar, dass der alte Herrscher vor allem eins gewesen war: ein Jucla. Genauso wie er selbst. Genauso wie jeder andere, der dem Ercourra-Clan angehörte.
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Abenwosch ließ die Botschaft verschwinden, indem er den Schrank seines verstorbenen Vorgängers wieder verschloss. »Zeitverschwendung«, murmelte er ärgerlich, ohne selbst wirklich davon überzeugt zu sein. »Ich habe anderes zu tun! Wichtigeres!« Die Zukunft des gesamten Clans lag in seinen Händen. Er war dafür verantwortlich, alle ihm anbefohlenen Juclas in ein besseres Leben zu führen. Ein Leben, das von neuem Selbstbewusstsein geprägt war. Und nicht von Angst, Hass und Aggression, dachte er. In diesem Moment wurde ihm klar, dass er sich früher oder später genauer mit der Hinterlassenschaft seines Vorgängers beschäftigen musste.
* »Du hast darum gebeten, mich sprechen zu dürfen, Olmon«, sagte Abenwosch wenig später mühsam beherrscht. Er hatte sich entschlossen, den alten Jucla in seiner Kabine aufzusuchen, anstatt ihn zu sich in die Zentrale zu befehlen. Er vermutete, dass es angebracht war, dieses Gespräch ohne die Anwesenheit Dritter zu führen. »In der Tat, Abenwosch.« Olmon stand in dem geöffneten Schott direkt vor seinem Anführer, und er beugte sich übertrieben deutlich herab, um mit ihm auf einer Augenhöhe zu sein. Diese Geste stachelte Abenwoschs Ärger noch stärker an, als es ohnehin schon der Fall war. »Du verhinderst die Ausführung eines meiner Befehle. Was, glaubst du, gibt dir das Recht dazu?« »Komm erst einmal herein«, bat Olmon und gab das Schott frei. »Darf ich offen sprechen?« Abenwosch nickte und folgte ihm ins Innere der Kabine. Hinter ihm schloss sich das Schott. Sofort schlug ihm ein unangenehmer Geruch entgegen: der Gestank des Alters, vermengt mit den muffigen Ausdünstungen der widerlichen Felle, mit denen die enge Kam-
mer voll gestopft war. Vor wenigen Generationen noch waren die Wände der JuclaSchiffe mit Pelzen behangen, nicht mal die Zentrale war davon bewahrt. Abenwosch war froh, dass sich mit dem neuen Selbstbewusstsein auch der Geschmack änderte. Olmon wies auf das lang gezogene Gesicht seines Anführers. »Du bist jung, Abenwosch. Immer noch verunzieren dich die Narben deiner Pubertätsakne.« »Komm zur Sache«, verlangte Abenwosch kühl. »Ich bin längst bei der Sache. Um dir zu erklären, worum es geht, muss ich mit dir über grundlegende Dinge sprechen.« »Wie etwa Pubertätsakne? Beeil dich gefälligst! Ich habe noch anderes zu tun.« »Ich bin alt, Abenwosch, und damit das genaue Gegenteil von dir. Die Jahre haben mich gelehrt, ein wichtiges Gespräch mit Bedacht zu führen. Jedes Wort sollte sorgsam erwogen werden, auch wenn uns nicht viel Lebenszeit zur Verfügung steht. Wir sprachen vor kurzem bereits darüber, dass man sich für manche Dinge Zeit nehmen sollte.« Zufriedenheit breitete sich in seinen Zügen aus, als er sah, dass sein Gegenüber schwieg und ihn auffordernd ansah. Er setzte sich am Tisch nieder und bedeutete Abenwosch, es ihm gleichzutun. »Und da du mir erlaubt hast, offen zu sprechen, sage ich dir, dass ich Reife erlangt habe und du noch nicht.« Abenwosch ballte die Hände zu Fäusten. Er blieb stehen. Jetzt sah er auf den anderen hinab. »Du solltest froh sein, dass niemand Zeuge dieses Gespräches wird! Wenn du diese Worte jemals vor einem Mitglied meines Clans wiederholst, solltest du dir darüber im Klaren sein, dass es nicht ohne Folgen bleiben wird.« Er zog einen Wurfdolch aus der Tasche seiner Kombination und rammte ihn direkt neben Olmons rechter Hand in die Tischplatte. Er blieb mit der Spitze stecken und vibrierte mit dumpfem Summen. »Du bist jung und aufbrausend«, erwiderte Olmon ungerührt. Seine Hand hatte nicht
Todeszone Schimayn einmal gezuckt. »Wie jeder andere Zwölfjährige auch. Ich mache dir deshalb keinen Vorwurf.« Er zog den Dolch aus der Tischplatte und wog ihn nachdenklich in der Hand. »Eine martialische Waffe. Unpräzise und ungeeignet für einen Kampf. Und doch typisch für Juclas an der Schwelle zum Erwachsenwerden. Mit einer Klinge zu töten verschafft eine andere Art der Befriedigung als ein Laserschuss, nicht wahr? Auch ich besaß einen Wurfdolch, als ich jung war.« »Und jetzt bist du alt!«, stieß Abenwosch aus. »Alt und schwach. Ein Tattergreis, genau wie mein Vorgänger am Ende seiner Herrschaftszeit. Vom Leben gebeutelt und vom Schatten des Todes geprägt!« »Und weißt du auch, warum es so ist? Jeder Cappin, der nicht das Pech hatte, als Jucla geboren zu werden, wäre mit meinen neunundzwanzig Jahren noch jung! Wäre nicht einmal an der Hälfte seines Lebens angelangt. Doch uns hat das Schicksal einen anderen Weg zugedacht.« »Das Schicksal?« Abenwosch lachte humorlos. »Was du so bezeichnest, nenne ich beim Namen! Es waren die Takerer, unsere so genannten Brüder, die uns das antaten! Sie führten vor Tausenden von Jahren die genetischen Manipulationen durch, die unser Volk ins Dasein riefen.« »Das weiß ich, Abenwosch«, erwiderte Olmon kühl. »Ein Taschkar erschuf uns als Krieger, als Schutztruppe für die Außenbezirke seiner Galaxis. Noch heute ist unser Volk von den Eigenschaften und Einschränkungen bestimmt, die er damals in uns legte. Wir sind wild, kriegerisch und aggressiv! Voller Hass und voller Angst vor dem Tod, der uns früher ereilt, als es sein dürfte. Obwohl unsere Ärzte und Wissenschaftler die Lebensspanne schon erweiterten, sterben wir nach dreißig Jahren. Nach spätestens fünfundzwanzig Jahren vergreisen wir, doch dann, wenn wir Glück haben und noch fähig sind zu denken, gewinnen wir einen anderen Blickwinkel auf unser Leben.« Abenwosch wollte etwas erwidern, aber
7 ein hartnäckiger Gedanke verschlug ihm die Sprache. Da waren sie wieder, die Eckpfeiler seines Lebens, diesmal von Olmon ausgesprochen: Angst – Hass – Aggression – Kampf – Tod. Genau wie er es vor wenigen Stunden in den Aufzeichnungen seines Vorgängers gelesen hatte. Währenddessen sprudelten die Worte aus Olmon heraus. »Wir kämpfen und wir hassen. Immer wieder werden wir vertrieben, müssen fliehen. Warum sind wir hier, im Kugelhaufen Schimayn vor Gruelfin? Warum, Abenwosch?« »Weil mein Vorgänger so alt war, dass er immer wieder Fehler beging! Weil wir seinetwegen erneut fliehen mussten, als ein Raubzug misslang!« Jetzt lachte Olmon, und es klang rau und völlig humorlos. Er legte den Dolch auf den Tisch. »Vielleicht liegt die Ursache tiefer? Könnte es nicht damit zusammenhängen, dass wir uns überhaupt auf einen Raubzug begeben haben? Weil wir immer noch unstet durch die Galaxis ziehen wie schon seit Hunderten von Generationen? Weil wir immer noch keine Heimat haben, sondern uns mit Gewalt nehmen, was wir benötigen?« »Mein Vorgänger hat uns dem Ziel, unsere Lebensweise zu ändern, keinen Schritt näher gebracht«, sagte Abenwosch kühl. »Und auch du wirst es nicht, Olmon, egal welch hehre Philosophie du auch verbreiten magst. Du bist ein schwacher Greis, der keine Tatkraft mehr in sich trägt.« »Und du, Abenwosch, bist ein Heißsporn, dem Weisheit und Reife fehlen. Durch List und Intrige bist du an die Macht gelangt, aber das heißt nicht, dass du weißt, welche Konsequenz diese Macht nach sich zieht!« »Nun hast du lange genug offen geredet, Olmon. Jetzt ist die Reihe an mir. Ich folge der Tradition, dass das Flaggschiff des Komplexes nahezu im Mittelpunkt steht und von den anderen 732 Schiffen umgeben wird. Das neue Flaggschiff ist meine TIA, und deshalb wird der Komplex umstrukturiert, bis sie sich im Zentrum befindet!« »Du folgst der Tradition, doch nicht ih-
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rem Geist«, widersprach Olmon. »Derjenige, den du mit dem Umbau beauftragt hast, will die ältesten noch existierenden Tuilerien zerstören. Verbindungsgänge, die der Schöpfer des Komplexes selbst gebildet haben soll. Ein Ort, in dem Juclas seit neun Generationen ihre verborgenen Talente ausleben und Schönheit erschufen, die …« »Schweig, alter Mann!«, unterbrach Abenwosch. »Wenn diese Tuilerien tatsächlich so alt sind, wie du behauptest, dann bedeutet das nur eins: Die Schiffe, die durch sie verbunden sind, sind seit neun Generationen nicht mehr von ihrem Platz im Komplex gewichen. Eine viel zu lange Zeit. Sie hätten längst auf Raubzüge gehen und zu diesem Zweck abgetrennt werden müssen. Ich danke dir, dass du mich darauf hingewiesen hast. Ich werde das ändern.« »Aber …« »Deine Redezeit ist abgelaufen, Olmon. Alter und Schwäche haben zu schweigen. Nun werden Jugend und Stärke zur Tat schreiten.« Olmon wandte sich ab. »Wir werden sehen, wohin du uns führst«, murmelte er und öffnete das Schott seiner Kabine. »Du schickst mich grußlos hinaus?«, rief Abenwosch erzürnt. »Du vergisst, mit wem du geredet hast!« »Ich habe mit meinem Anführer geredet, der genauso wie alle anderen Juclas genetisch zur Aggression und zum Kampf vorherbestimmt ist.« Abenwosch verließ den Raum, ohne darauf zu antworten. Wenige Stunden später war die Umstrukturierung komplett. Die TIA befand sich im Zentrum des Komplexes aus den 733 Schiffen des Ercourra-Clans. Die alten Tuilerien waren zerstört, ihre Überreste trieben im All.
xes kam der Anführer des Clans von einem anderen Schiff als dem des berühmten Abenwosch-Pecayl 957. Zum ersten Mal seit neun Generationen war nicht der Sohn des alten Herrschers zum neuen Anführer ausgerufen worden. Abenwosch hätte zufrieden sein können, doch er war es nicht. Er wusste nicht, was ihn hier im Sternhaufen Schimayn erwartete. Diese Region war ihm völlig unbekannt. Er musste sich auf das Kommende vorbereiten. Eine Bestandsaufnahme war notwendig. Welche Dinge des alltäglichen Lebens würden sie in absehbarer Zeit benötigen? Welche Posten mussten neu besetzt werden? Wo regte sich möglicherweise Widerstand gegen den neuen Abenwosch, der bis vor kurzem der völlig unbekannte Scytim, Sohn des Kommandanten der TIA, gewesen war? Solche internen Angelegenheiten waren vorhersehbar und berechenbar. Abenwosch war sicher, dass er dies alles in den Griff bekommen würde, denn fast alle einflussreichen Kommandanten befanden sich in seiner Hand. Aber er kannte nicht die Bedingungen, die in diesem Sternhaufen herrschten. Er befürchtete, dass sie mitten in ein Krisenzentrum geflohen sein könnten. Überall in Gruelfin tobten Kriege. Die alte Ordnung war am Zerbrechen, wie es hieß. Abenwosch wusste nicht wirklich, was an den Gerüchten dran war, die besagten, dass eine geheimnisvolle Macht in Aktion getreten war, die … Er wurde jäh aus seinen Gedanken gerissen, als ein Generalalarm durch das Schiff gellte.
*
Jetzt überfluten mich: Bilder. Sie wirbeln durch mein Bewusstsein. Zahllose alternative Versionen meiner selbst. Der Flammenstaub in mir hat sie für mich sichtbar gemacht. Wesen einer Paral-
Die Machtübernahme, die mit dem Tod seines Vorgängers begonnen hatte, war damit auch nach außen hin vollzogen. Zum ersten Mal seit der Erschaffung des Komple-
2. 25. September 1225 NGZ Atlan: gerettet, verloren und betrogen
Todeszone Schimayn lelrealität, nur durch eine andere Wahrscheinlichkeit von mir getrennt. Von mir? Gibt es dieses Mir tatsächlich? Existiere ich? Wenn ja, liege ich hier auf dem harten Basaltboden, um zu sterben. Der Flammenstaub frisst mich auf. Alles um mich herum hat sich verändert, ein Chaos aus Alternativwelten ist entstanden, und nur ich bin der Anker, der alles zusammenhält. Bin ich das? Warum lebe ich? Warum verblassen die anderen, die ähnlich sind wie ich und doch anders? Sie lösen sich auf, verwehen in der heißen Luft, existieren nur noch in meiner Erinnerung. Die Enge in mir und um mich herum verschwindet. Der fluoreszierende Wirbel, der mein Bewusstsein trübte und schon der ewigen, dunklen Schwärze wich, vergeht. Die Schmerzen, die mich quälen und in das Tal des Todes reißen wollen, weichen. Sie verschwinden nicht, sondern sammeln sich an einer einzigen Stelle. Mein rechter Unterarm steht in Flammen. Er pocht und pulsiert, heiß und eiskalt zugleich. Etwas ist anders. Ich lebe, aber diesem Leben scheint ein grundlegendes Element zu fehlen. Ich kann es nicht benennen, erkenne nicht, worum es sich handelt. Und doch war es immer da gewesen, all die Jahre und Jahrhunderte meiner Existenz. Das Chaos in meinen Gedanken lichtet sich. Die anderen, die mich wie in einem bizarren Spiegelkabinett, das den Besucher tausendfach wiedergibt, umgaben, sind endgültig verschwunden. Aus der Schwärze um mich herum bilden sich wieder Formen. Ich erinnere mich an den einen alternativen Atlan, der Kontakt mit mir aufnahm, als sich Dunkelheit und Kälte endgültig über mich legen wollten. Ich sterbe, sagte er, doch du sollst leben. Leben! Dieses Wort weckt eine weitere Erinnerung. Jetzt weiß ich, was ich tun muss. Ich öffne den Mund, sauge Luft in die Lungen, merke jetzt erst, dass ich nicht geatmet habe. Viel zu lange nicht geatmet habe.
9 Die Luft ist süß. Sie ist heiß, schmeckt nach Schwefel, und doch ist sie süß, süß, so … So süß. Ich atmete sie tief ein, die Luft des Planeten, den ich auf den Namen »Ende« getauft hatte und der zu meinem Grab hatte werden sollen. Hier, auf dieser Welt ohne eigenes intelligentes Leben, hatte ich den finalen Kampf gegen mich selbst austragen wollen. Oder gegen den Flammenstaub in mir. Ich hatte den Kampf verloren. Ich hatte im Sterben gelegen. Oder war ich bereits gestorben?, stieg aus einem verborgenen Winkel meines Bewusstseins eine bange Frage auf. War ich nach dem Kontakt mit dem »anderen« ins Leben zurückgekehrt? Der andere – eine der durch den Flammenstaub zugänglich gemachten alternativen Versionen meiner selbst. Er war mir sehr ähnlich gewesen, kaum von mir zu unterscheiden. Nur winzige Wahrscheinlichkeitsunterschiede hatten ihn von mir getrennt. Er hatte mich gerettet, indem er sich opferte, den tödlichen Flammenstaub aus mir herauszog und in sich aufnahm. Es war zu einer letzten Entladung gekommen, das Basaltgestein war aufgespaltet, der andere von den austretenden Lavamassen verschlungen worden. Er war gestorben, damit ich leben konnte. Jetzt, da sich meine Gedanken klärten, erinnerte ich mich wieder daran, dass der andere mich von der Stelle seines Todes weggeschleudert hatte. Sogar daran hatte der Sterbende gedacht. Ich wäre aus eigener Kraft niemals den entfesselten Gewalten der Explosion entkommen. Ich wandte den Blick dorthin, entdeckte einen neu entstandenen rot glühenden Lavasee, dessen Oberfläche so hell war, dass es in den Augen schmerzte. Blasen stiegen träge an die Oberfläche, zerplatzten mit sattem Schmatzen. Glühende Tropfen verteilten sich in weitem Umfeld, einige landeten noch nahe bei meinen Füßen. Nichts mehr erinnerte an meinen Retter, die glühende Masse hatte ihn restlos beseitigt. Und mit ihm war wohl auch der Flam-
10 menstaub vergangen. Mühsam erhob ich mich aus der liegenden Position. Dabei veränderte sich die Lage meines rechten Arms. Die Hand schleifte über den Boden. Ein mörderischer Schmerz durchzuckte mich von den Fingerspitzen bis in die Schultern. Ich schrie gepeinigt auf und zog den Arm unwillkürlich an den Körper. Mein Unterarm war gebrochen. Ich hatte es im Rausch der Alternativwelten und des nahenden Todes vergessen, selbst als die allgegenwärtigen Schmerzen sich wieder auf diese Stelle konzentrierten. Ich erinnerte mich an den Sturz auf die rechte Hand, der zu dem Bruch geführt hatte. Der Arm war an der Bruchstelle dick geschwollen; durch das Fleisch waren die bloßen zersplitterten Knochen sichtbar. Der ganze Bereich war eine einzige offene Wunde, die dringend medizinisch versorgt werden musste. Dieser Teil meiner Erinnerungen war also tatsächlich Realität und keine durch den Flammenstaub geschaffene andere Wahrscheinlichkeitsebene gewesen. Oder doch? Würde es überhaupt einen Unterschied machen? Noch immer fiel es mir schwer, meine Lage zu analysieren. Die starken Schmerzen verhinderten jeden logischen Gedanken. Dennoch wurden die Fragen in mir immer drängender. Was hatte den anderen dazu bewogen, sein Leben für mich zu geben? Wieso hatte er sich geopfert? Die Antwort würde mir wohl für immer verschlossen bleiben. Ich verspürte tiefe Trauer über seinen Tod. Es war, als sei mit ihm ein Teil von mir gestorben. Der Verlust hinterließ ein Gefühl der Verlassenheit und Einsamkeit in mir, das ich beinahe körperlich wahrnehmen konnte. Oder resultierte diese Leere daraus, dass der Flammenstaub aus mir entfernt worden war, dass ich diese rätselhafte Substanz, die fast zu meinem Tod geführt hatte, endlich wieder losgeworden war? Du täuschst dich!, ertönte plötzlich die Stimme des Extrasinnes in mir. Nach dem Kampf gegen Peonu war er sehr geschwächt gewesen, hatte inzwi-
Christian Montillon schen jedoch zu der üblichen mentalen Stärke zurückgefunden. Du trägst immer noch einen Rest des Flammenstaubs in dir. Der andere hat ihn nicht vollständig entfernt, sondern nur den größten Teil davon. Etwas ist zurückgeblieben, und es wird sich weisen, was das für dich bedeutet! Ich ging nicht näher auf diesen Impuls ein. Nicht jetzt. Es würde die Zeit kommen, zu der ich mich damit beschäftigen musste, doch momentan hatte ich andere Sorgen. Für den Augenblick genügte es, dass der Flammenstaub nicht mehr in unmittelbar tödlicher Konzentration vorhanden war. Ich musste den offenen Unterarmbruch versorgen. Die Schmerzen hämmerten unablässig in mir. Es kostete mich äußerste Kraft, mich in Bewegung zu setzen. Dabei hielt ich den Arm so ruhig wie möglich. Als ich mich einige weitere Schritte von dem neu entstandenen Lavasee entfernt hatte, sank die Temperatur merklich. Es tat gut, der glühenden Hitze entkommen zu sein. Ich beschloss, zuerst den varganischen Schutzanzug zu suchen, den ich achtlos weggeworfen hatte. Es fiel mir schwer, mich zu orientieren, doch schließlich war ich mir sicher, mich dem richtigen Ort zu nähern. Schon von weitem sah ich, dass das komplette Gebiet durch Magmaeruptionen zerstört worden war. An verschiedenen Stellen ragten Bruchstücke von Felsen aus träge dahinfließenden Lavaströmen. Mir bot sich das Bild einer chaotischen, urzeitlichen Welt. Mein letzter Weg vor dem scheinbar unvermeidbaren Tod hatte eine Schneise der Vernichtung hinterlassen. Es hat keinen Sinn, meldete sich erneut mein Logiksektor zu Wort. Der Schutzanzug ist für dich verloren. Dem war nichts hinzuzufügen. Hoffentlich war das Zaqoor-Beiboot, mit dem ich hierher gelangt war, nicht zerstört worden. Dort würde sich mir wenigstens die Chance bieten, den Bruch erstzuversorgen und ein Schmerzmittel einzunehmen. Da der MedoSyntron nicht auf fremde Metabolismen ein-
Todeszone Schimayn gestellt war, könnte ich nicht viel mehr tun. Selbst auf ein Schmerzmittel, das auch bei arkonidischer Physiologie wirkte, konnte ich nur hoffen. Grundlegende Versorgung war jedoch absolut notwendig. Der Unterarm war kompliziert gebrochen. Es bestand die Gefahr, dass die Knochen schief zusammenwuchsen. Um das zu verhindern, musste ich die Knochen richten und eine Schiene anlegen. Schon der Gedanke daran war in höchstem Maß unangenehm. Ich machte mich auf den Weg zu dem Beiboot. Inzwischen fiel mir jeder Schritt schwerer als der vorangegangene. Meine Kräfte schwanden merklich. Mir brach der Schweiß aus, und die Muskulatur oberhalb des Bruches begann unkontrolliert zu zittern. Ich hielt mich mit schierer Willenskraft aufrecht. Ich passierte eine der zahlreichen heißen Quellen des Planeten. Grüngelbes Wasser schoss fontänenartig in die Höhe und stürzte in einen kleinen See. Dann näherte ich mich einer markanten Formation aus uralter, erstarrter Lava, die im Laufe der Jahrtausende schwarze Färbung angenommen hatte. In die zerklüftete Oberfläche waren vereinzelte Rinnen wie Kriechgänge kleinster Tiere eingegraben. Mein Blick wanderte wieder einmal zu dem Bruch. Die nach wie vor sichtbaren zersplitterten Knochenenden boten einen recht makabren Anblick. Ich biss die Zähne zusammen und versuchte meinen Gang zu beschleunigen. Trotz aller Anstrengung taumelte ich mehr, als dass ich ging. Als die DYS-116, das Zaqoor-Beiboot, endlich in der Ferne sichtbar wurde, kam ich ins Nachdenken. Nun, da ich den varganischen Schutzanzug nicht mehr besaß, war mein letztes Hilfsmittel des uralten Volkes verloren gegangen. Von dieser Feststellung aus wanderten meine Gedanken unwillkürlich zu Kythara, der Varganin, die in den letzten Monaten meine Begleiterin gewesen war. Die Intrawelt hatte ich ohne sie betreten, und schon bald nach meiner Rückkehr,
11 nach dem Kampf mit unserem Widersacher Peonu, war sie in meinen Armen gestorben. Die Begegnung mit ihr und damit mein erneutes Aufeinandertreffen mit dem Volk und der Kultur der Varganen schien also nichts weiter als eine Episode gewesen zu sein. Ich erreichte die DYS-116 und suchte sofort den Medo-Bereich auf. Ich schluckte ein Schmerzmittel, das nicht auf den arkonidischen Organismus abgestimmt war und deshalb nur wenig Wirkung zeigte. Den Unterarmbruch selbst zu richten war eine Tortur ohnegleichen. Ich schrie auf, hörte, wie die Knochenenden aneinander rieben und ein hässliches Knirschen verursachten. Neues Blut floss. Die linke Hand, mit der ich die makabre Arbeit verrichten musste, zitterte. Alles drehte sich vor meinen Augen. Ich sank auf den Boden nieder, verlor für kurze Zeit das Bewusstsein. Als ich wieder zu mir kam und mich etwas erholt hatte, säuberte ich die Wunde, legte einen Verband an und schiente den Unterarm notdürftig. Das war dringend notwendig, denn der Zellaktivator würde zwar für eine beschleunigte Heilung, Desinfektion und Zellgewebsheilung sorgen, konnte jedoch kein falsches Zusammenwachsen der Knochen verhindern. Danach legte ich mich müde und kraftlos auf eine Pritsche und schloss die Augen. Augenblicklich schlief ich ein.
* Als ich erwachte, schwamm ich in einem Meer aus Schmerzen, dem ich nur langsam entrinnen konnte. Ich schwang die Beine benommen von der Pritsche und betrachtete sitzend meinen rechten Arm. Die Schiene saß nach wie vor perfekt. Die Wunde pochte unter dem dicken, inzwischen durchgebluteten Verband. Ich verfluchte den Umstand, auf Ende festzusitzen und keinen Zugang zu einer Medostation zu haben, die auf den arkonidischen Metabolismus eingerichtet war. Die beste heutzutage mögliche medizinische
12 Versorgung hätte die Wundheilung und das Knochenwachstum extrem beschleunigen können. Narr! Auf diesen sarkastischen Kommentar hätte ich nur allzu gerne verzichtet. Du befindest dich im Halo von Dwingeloo. Der nächste Mediziner, der sich mit dem arkonidischen Körper auskannte, war buchstäblich Lichtjahre weit entfernt. Etwa sechzehn Millionen Lichtjahre, um genauer zu sein. So weit war ich von der Milchstraße entfernt, und ich hatte keine Möglichkeit, in die heimatliche Galaxis zurückzugelangen. Die turbulenten Ereignisse der letzten Monate hatten mich als Gestrandeten zurückgelassen. Was war mir geblieben? Durch die Kraft des Flammenstaubs, den ich unter vielerlei Gefahren aus der Intrawelt geborgen hatte, war es offensichtlich gelungen, die Macht der Lordrichter in Dwingeloo vorläufig zu brechen. Aber ganz anders sah es in der Milchstraße und der Riesengalaxis Gruelfin, der Heimat der Cappin-Völker, aus. Dort operierten diese nach wie vor geheimnisvollen mächtigen Wesen noch immer. Besonders Gruelfin wurde von ihren Intrigen und Machtplänen in Mitleidenschaft gezogen; entsetzliche Bruderkriege tobten. Die genetisch eng verwandten Cappin-Völker bekämpften sich gegenseitig. Dieses Resümee hinterließ einen schalen Geschmack in meinem Mund. Ich fühlte mich betrogen. Es hatte nicht nur meine Rettung bedeutet, dass mir die größte Menge des Flammenstaubs entzogen worden war. Gleichzeitig war mir auch das geraubt worden, wonach ich in der Intrawelt so lange gesucht hatte und worum ich so hart gekämpft hatte. Mir war bewusst, dass diese Empfindung jeglicher Vernunft widersprach. Dennoch konnte ich sie nicht unterdrücken. Der Logiksektor wies mich augenblicklich darauf hin, dass mir der Flammenstaub nichts nutzte, wenn ich tot war. Eine sehr simple Über-
Christian Montillon legung, Arkonide! Das war es in der Tat, und damit teilte er mir nichts Neues mit. Aber Gefühle standen nun einmal oft jenseits der Logik, und trotz allem, was mich mein langes Leben gelehrt hatte, war ich nach wie vor ein emotionales Wesen. Ich hoffte, dass es nie anders werden würde. Trotzdem musst du in diesem Fall deinen Verstand über das Gefühl setzen. Das war eine Forderung, die all dem entsprach, was das Wesen des Extrasinnes ausmachte. Kühl, vernünftig, nüchtern. Dieses Mal hatte er jedoch absolut Recht. Ich horchte in mich hinein. Befanden sich wirklich noch Restmengen des Flammenstaubs in mir? Spürst du nicht die Kopfschmerzen? Sie sind die Folge davon. Und wie ich sie spürte. Sie waren permanent vorhanden, als bohre sich etwas in meinen Hinterkopf. Nicht einmal das Hämmern in meinem geschwollenen Arm konnte sie vollständig überdecken. Ich stand auf, ging zu dem Pilotensessel der DYS-116. Ich hatte mich lange genug mit dem desolaten Zustand meines Körpers auseinander gesetzt. Ich beschloss, das Alte hinter mir zu lassen und nach vorne zu sehen. Ich musste mir neue Ziele setzen! Auf den ersten Blick existierten zwei Alternativen: die Rückkehr in die Milchstraße oder der Weg nach Gruelfin. Da an beiden Stellen noch die Lordrichter und ihre Truppen aktiv waren, fiel mir die Wahl nicht schwer. Ich musste zurück in meine Heimat, herausfinden, wie sich die Zustände in der Milchstraße entwickelt hatten. Was hatten die Lordrichter dort inzwischen bewirkt? Existierte die alte, mir bekannte Ordnung überhaupt noch? Was geschah auf Arkon, was auf Terra? Viel zu lange war ich notgedrungen der Heimat fern gewesen. Seit fast vier Monaten hielt ich mich in Dwingeloo auf, die Zeit, die ich in der Intrawelt verbracht hatte, mit eingerechnet. Am 2. Juni dieses Jahres war
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ich durch das Transportfeld des Pedopeilers der Cappins gegangen, der die Versetzung über sechzehn Millionen Lichtjahre bewirkt hatte. Inzwischen schrieb man den 25. September. Doch wie sollte ich zurückkehren? Der Empfangs-Pedopeiler ERYSGAN in Dwingeloo war unmittelbar nach meiner Ankunft von den Truppen der Lordrichter zerstört worden. Dessen Kommandant Toragasch hatte die Stellung gerade lange genug gehalten, um uns die Ankunft zu ermöglichen. Die Rückkehr war mir auf diesem Weg also verwehrt. Sechzehn Millionen Lichtjahre waren eine gewaltige Distanz, trotz aller modernen Raumschiffsantriebe. Zumal mir kein fernflugtaugliches Schiff zur Verfügung stand. Gruelfin befand sich ebenfalls in unerreichbarer Entfernung. Was konnten also meine nächsten Schritte sein? So kam es, dass ich in einem kleinen Zaqoor-Beiboot saß und mich fragte, wie ich zurück zur heimatlichen Galaxis gelangen könnte, als die Ortungsgeräte Alarm schlugen. Zwei große feindliche Einheiten näherten sich dem Planeten.
3. Im Kugelhaufen Schimayn: von alters her bestimmt Abenwosch-Pecayl 966. fluchte. Es war, als habe er durch seine Gedanken die Schwierigkeiten erst heraufbeschworen. »Warum wurde Generalalarm ausgelöst?«, rief er. Es ärgerte ihn, dass er nicht sofort automatisch in Kenntnis gesetzt worden war. Er befand sich in der Zentrale der TIA, des neuen Flaggschiffs im Zentrum des Komplexes. Der Heulton gellte in den Ohren. »Das Späherschiff MIRA meldet ein Geschwader der Ganjasen«, berichtete Maliug, der Stellvertretende Kommandant. »Die Schiffe nähern sich uns.« »Ganjasen?«, entfuhr es dem Anführer
verblüfft. Es war weniger eine Frage als vielmehr Ausdruck seines Erstaunens. »Ja, Abenwosch.« Die Ganjasen waren ein Cappin-Volk, das im Inneren Gruelfins siedelte. Wieso hielten sie sich hier, im Halo der Galaxis, so weit abseits ihrer eigentlichen Lebensräume auf? »Verbinde mich sofort mit dem Kommandanten des Späherschiffs!« Abenwoschs Gedanken überschlugen sich. Er hatte sich hier, in den Randgebieten der Galaxis, zu sicher gefühlt. Zu wenig Späher waren ausgeschickt worden, um die Lage zu erkunden. Mussten sie jetzt alle den Preis dafür zahlen? Bis vor kurzem war es Abenwosch noch wichtig gewesen, die Umstrukturierung des Komplexes zu vollenden, als äußeres Zeichen seiner Machtergreifung. Jetzt erkannte er, dass dies ein taktischer Fehler gewesen war, für den es nur eine Entschuldigung gab: die hektische Phase des Machtwechsels. Der Siegesrausch, in dem er gefangen gewesen war, die Trauer und der Zorn über das notwendige schreckliche Opfer. Zum Komplex verbunden waren die Schiffe des Ercourra-Clans nahezu hilflos. Dies war der einzige Nachteil dieser Lebensweise, der sich nun verhängnisvoll auswirken konnte. Kam es zu einer Schlacht, konnten sie sich nur schlecht zur Wehr setzen. »Sprechkontakt zur MIRA.« Der Stellvertretende Kommandant leitete die Verbindung auf Abenwoschs Führungskonsole weiter. »Abenwosch«, erklang eine aufgeregte Stimme. Der Sprecher hielt es nicht einmal für notwendig, sich zu identifizieren. »Ein ganzes Geschwader Kampfschiffe der Ganjasen nähert sich unserer Position. Ein Kontakt wird nicht zu vermeiden sein.« »Genauere Angaben«, forderte Abenwosch knapp. »Mindestens zehn Schiffe der ABENASCH-Klasse und zwei Einheiten der KELTATRON-Klasse. Des Weiteren wenigstens acht Schiffe der KYNOVARON-Klasse.« Der Kommandant ratterte die Angaben
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stur herunter. Abenwosch erkannte, dass sich der Clan in tödlicher Gefahr befand. Zehn Achthundert-Meter-Standardraumer, unter anderem mit Initialstrahlern und Dopplergeschützen bewaffnet. Allein gegen diese besaßen sie nicht die geringste Chance. Wieder fragte sich Abenwosch, was eine derart massive Konzentration an Raumern der Ganjasen hier zu suchen hatte. »Doch das ist noch nicht alles, Abenwosch«, fuhr der Kommandant der MIRA fort. Seine Stimme zitterte vor mühsam unterdrückter Erregung. »Gib eine deutliche Meldung!«, verlangte Abenwosch unwirsch. Er spürte, wie sich seine Verblüffung mit Zorn vermischte. Zorn, der sogar die nagende Angst vertrieb, die sich in ihm breit machte. »Wir haben noch weitere Ortungsdaten«, ertönte es. »Daten, die wir mehrfach überprüften, weil …« »Genug herumgeredet!« Was Abenwosch dann zu hören bekam, verschlug ihm die Sprache.
* Zwei Tage zuvor »Er stirbt.« Wer als Erstes diese Worte in den Mund genommen hatte, war nicht mehr festzustellen. Die Botschaft verbreitete sich mit rasender Geschwindigkeit durch den ganzen Komplex. »Unser Herrscher stirbt.« Die Jüngsten wisperten es hinter vorgehaltener Hand, ohne die ganze Tragweite auch nur annähernd zu begreifen. Einige der zweijährigen Jungen kicherten, als sie es den Mädchen ins Ohr flüsterten. »Der Abenwosch stirbt.« Die Ältesten stießen es mit rauer Stimme hervor, und die Angst stand ihnen ins Gesicht geschrieben. Sie fürchteten die Veränderung, die damit einherging. Sie waren entsetzt wegen des auch ihnen bald bevorstehenden Todes, an den sie wieder einmal drastisch erinnert worden waren.
»Der Anführer unseres Clans stirbt.« Scytim, der Sohn des Kommandanten der TIA, sprach es jubelnd aus. Endlich. Endlich war es so weit. Abenwosch Pecayl 965. sah dem Tod ins Auge. Und das mit zweiunddreißig Jahren! Er war schon lange ein Tattergreis gewesen, schwach und erbärmlich. Viel zu alt, um die Geschicke des ErcourraClans effektiv leiten zu können. »Eine gute Nachricht«, sagte Scytim zu seinem Vater Pelyr. »Unser Clan erhält bald einen neuen Anführer!« Er lächelte seinen Vater vielsagend an. In seinen Augen funkelte der Eifer der Jugend. Sein Vater beugte sich zu ihm herab. Er war dreiundzwanzig Jahre alt und stand damit kurz vor dem Beginn der Vergreisung, die aus ihm im Laufe der nächsten Jahre einen zitternden Schwächling machen würde. »Der Clan braucht dich, mein Sohn.« Scytims graue Augen verengten sich. »Aber Vater … du bist doch derjenige, der …« »Schweig, mein Sohn, schweig!« Pelyr deutete auf das Rangabzeichen, das ihn als Kommandanten der TIA auswies. »Für mich ist dies hier der Gipfel meiner Karriere. Alles andere wäre vermessen. Sieh mich an!« Scytim gehorchte, und er wusste genau, worauf sein Vater hinauswollte. Aber das wollte er nicht akzeptieren. »Du bist nicht zu alt!« »Du enttäuschst mich, Scytim, denn du begehst einen Fehler! Die Zuneigung, die du für mich empfindest, trübt dein Urteilsvermögen. Du darfst niemals zulassen, dass deine persönlichen Gefühle deine Entscheidungen diktieren!« Er legte seinem Sohn die Hand auf die Schulter. Der leichte Druck, den er ausübte, machte klar, dass er nicht den geringsten Widerspruch duldete. »Ich bin zu alt, um den Clan zu führen. Ja, noch bin ich stark, noch bin ich Herr meiner Sinne, aber schon bald werde ich ein Abbild des jetzigen Abenwosch sein. Sieh doch, was aus unserem Anführer geworden ist. Er ist altersstur, hält an seinen Entscheidungen fest, so falsch
Todeszone Schimayn sie auch sein mögen! Doch dann, einen Tag oder auch nur eine Stunde später, gibt er dem Druck der achtjährigen Heißsporne nach und entscheidet wieder anders. Er hat kein Kriegsgeschick, und eines Tages wird einer der Raubzüge, die er verordnet, zu unserem Verderben werden. Willst du wirklich, dass der Clan in wenigen Jahren schon wieder vor derselben Situation steht?« »Vater …« Mehr als dieses Wort brachte Scytim nicht hervor. Für ihn war in diesen Sekunden eine Welt zusammengebrochen. Seit Jahren arbeiteten sie darauf hin, dass Pelyr eines Tages der neue Anführer des Clans, dass ihre TIA zum Flaggschiff gekürt werden würde. Er stöhnte, als sich die Finger seines Vaters schmerzhaft in seine Schulter bohrten. »Aber du, mein Sohn«, nahm Pelyr den Faden wieder auf, »bist zwölf Jahre alt! Auf dem Höhepunkt deiner körperlichen Entwicklung. Das Wenige, was dir an innerer Reife noch fehlt, wirst du bald erlangen, wenn du erst einmal die Verantwortung übernommen hast.« Der Kommandant zeigte ein schmales Lächeln und löste den Griff. »Außerdem werde ich in den ersten Jahren da sein, um dich zu beraten.« »Du wusstest es schon lange«, erkannte Scytim. Er wich dem Blick seines Vaters aus. Wie immer, wenn er stark erregt war, juckte die Narbe an der Nasenwurzel unerträglich. »Du hast all die Vorbereitungen nicht deinetwegen getroffen, sondern meinetwegen.« Seine Stimme war wie ein Hauch. »Welchen größeren Triumph könnte es für einen Vater geben, als dass sein Sohn ihn überflügelt und zum Herrscher wird? Und nun geh und erkundige dich bei denen, die mehr wissen. Sprich mit dem Abenwosch und seinem Sohn. Finde heraus, wann unser Anführer seiner Krankheit erliegen wird. Morgen? Oder erst in einer Woche? Wir müssen es genau wissen. Frag die Mediziner!« Pelyr verschränkte die Arme vor der Brust. »Und bring vor allem die Früchte un-
15 serer Ränke ein. Der Sohn des Abenwosch muss von der Bildfläche verschwinden, damit die genetische Herrschaftslinie unterbrochen wird. Der Platz muss frei sein für dich. Schreite heute noch zur Tat und zeige dem alten Narren und seinem nichtsnutzigen Sprössling, was die Stunde geschlagen hat!« Scytim verließ die Kabine seines Vaters und machte sich auf den Weg. Er durchquerte viele Schiffe und Tuilerien, um das Flaggschiff zu erreichen, in dem der sterbende Abenwosch seinen Wohnsitz hatte. Unterwegs hörte er etliche Versionen dessen, wie es um den Abenwosch stand. Der gesamte Clan befand sich in fieberhafter Aufregung. Er kann kaum noch atmen und seine Medizin nicht mehr bei sich behalten. Es war ein Gerücht – er wird nicht sterben. Noch nicht! Er war bereits tot. Man hat ihn ins Leben zurückgeholt, doch er vegetiert nur noch vor sich hin. Scytim belauschte zwei Vierjährige: Der Alte hatte Sex, das hat sein Herz nicht mehr ertragen. Einen Augenblick lang überlegte Scytim, die beiden für ihre Respektlosigkeit zu bestrafen, doch dann entschied er sich anders. Als er eine der größten und längsten Tuilerien durchquerte, entdeckte er den alten Olmon. Scytim bahnte sich einen Weg bis zu dem greisen Jucla, der sich für seine letzten Lebensjahre der Kunst und ihrer Erforschung verschrieben hatte. Von ihm konnte Scytim endlich eine verlässliche Auskunft erhalten. Olmon war mit dem Abenwosch aufgewachsen, hatte nahezu sein komplettes Leben als der persönliche Berater des Anführers verbracht. Ohne lang zu zögern, fragte er: »Wie geht es ihm wirklich?« Olmon musterte ihn lange. Um Scytim in die Augen sehen zu können, senkte er den Blick ein wenig. »Du bist Pelyrs Sohn«, stellte er schließlich fest, hob die Hand zum Mund und hustete. Er wirkte hinfällig. »Ich gebe dir einen Rat, Junge.
16 Durchbreche nicht das, was natürlich gewachsen ist. Es gibt Dinge, die man nicht verändern sollte.« »Wovon redest du?«, fragte Scytim unwirsch. »Der neue Anführer sei der Sohn des alten Abenwosch.« Scytim spürte, wie Zorn in ihm aufstieg. Olmon gefiel sich in wohl formuliertem, orakelhaftem Geschwätz. Am liebsten hätte er den alten Narren zum Schweigen gebracht, denn mit diesen Worten offenbarte er Wissen. Gefährliches Wissen. Olmon schien über Dinge im Bild zu sein, die noch nicht nach außen dringen durften. »Ich weiß nicht, wovon du redest.« »So?« Olmon lachte rau. »Dann habe ich mich wohl getäuscht. Lass mich dir die Schönheit erklären, die Generationen von Juclas in dieser weit verzweigten Tuilerie hinterlassen haben. Sie legten etwas von sich selbst in die Ausgestaltung, dieser Wände.« Der Greis strich zärtlich über die weiße, gewölbte Begrenzung des Hohlweges. »Niemand hat Zeit!«, zitierte Scytim den Wahlspruch der Juclas. »Sag mir nur eins: Wie ist der Zustand des Abenwosch?« »Gerade du solltest Zeit für Schönheit und Kunst aufbringen, Scytim. Sie offenbaren uns die Wahrheit, wenn wir sie nur verstehen. Wer hoch hinaus will, sollte bis zum Kern der Wahrheit vordringen. Nur dort liegt Weisheit verborgen.« Scytim beschloss, offen zu sprechen. Olmon schien ohnehin über alle geheimen Pläne im Bilde zu sein. »Die Wahrheit, alter Mann, ist ganz einfach. Es bedarf keiner Philosophie, sie zu ergründen. Ich will es dir ins Gesicht sagen. Die Zeit für einen Wechsel ist gekommen.« Olmon sog langsam und tief die Luft ein. Er stützte sich an der Wand ab, sah dann dem Jungen ins Gesicht. »Vielleicht bleibt dem Abenwosch noch ein Tag, vielleicht zwei«, erwiderte er kühl und warf Scytim einen unergründlichen Blick zu. Dann wandte er sich einem in sich verschlungenen Gebilde zu, das aus der Wand der Tuilerie her-
Christian Montillon ausgearbeitet worden war. »Zeit genug für dich, von mir etwas zu lernen.« Scytim ging, ohne ein weiteres Wort zu verlieren. Hinter sich hörte er noch einmal die leise Stimme Olmons. »Komm bald zu mir, Junge, solange ich noch lebe.« Scytim suchte die sieben mächtigsten Schiffskommandanten des Komplexes auf. Jeder einzelne von ihnen wusste, was der Besuch zu bedeuten hatte. Scytim brauchte nicht erst lange Erklärungen abzugeben. Er hatte sie alle in der Hand, denn jeder hütete ein dunkles Geheimnis, das er ängstlich zu verbergen versuchte. Die sieben Kommandanten schlossen sich ihm an. Die Machtergreifung konnte beginnen. Die Intrigen vieler Monate trugen nun Früchte. Zu acht standen sie schließlich vor dem sterbenden Abenwosch in seinem offiziellen Empfangsraum. Neben dem Anführer stand sein schmalbrüstiger Sohn Lakim, ein stets bleicher Vierzehnjähriger. Seit einem verhängnisvollen Zweikampf vor sechs Jahren verband Scytim mit Lakim eine tiefgehende Feindschaft, die schon mehrfach fast eskaliert wäre. Scytim musterte den Greis verächtlich. »Deine Zeit ist abgelaufen, Abenwosch-Pecayl 965.« Es war reiner Hohn, dass er den vollen Herrschertitel aussprach, was normal als Zeichen besonderer Ehrfurcht galt. Der Anführer saß in einem gepolsterten, hochlehnigen Stuhl, die Arme auf den Seiten abgelegt. Seine Augen blickten trübe und waren gelblich verfärbt. Sein rechter Mundwinkel wies nach unten. Er zeigte auf die Herausforderung keine Reaktion. Spärliche weiße Haare hingen lang an beiden Seiten des ausgezehrten, ausdruckslosen Gesichts herab. »Ich bin hier, um dir mit Unterstützung dieser sieben Schiffskommandanten eine Botschaft zu bringen«, fuhr Scytim fort. »Hoffentlich bist du noch fähig, dich an sie zu erinnern.« »Wie redest du mit meinem Vater, deinem Abenwosch?«, brauste Lakim auf. Sein
Todeszone Schimayn schwarzes Haar war kurz geschoren, die Nase stand schief, was ihm ein verwegenes Aussehen hätte geben sollen, in Scytims Augen jedoch nur lächerlich wirkte. Es erinnerte ihn stets an den alten Kampf, den sie miteinander ausgefochten hatten. Scytim wirbelte herum. »Kann der Alte nicht mehr für sich selbst sprechen?« Seine Stimme triefte vor Hohn. Abenwosch öffnete den Mund, und ihm entrang sich ein kehliges Stöhnen. Dumpfe, unartikulierte Laute folgten. Dann, endlich, nach peinlichen Momenten: »Das … das kann ich no-och.« »Vater, du darfst …« »Sei still.« Die Worte waren leise, kaum zu verstehen und doch von zwingender Gewalt. In diesen Sekunden ließ der Sterbende etwas von dem Charisma erahnen, das er einst besessen hatte. »Lass Scytim sprechen.« Das letzte Wort klang wie ein Seufzen, das aus der tiefsten Seele des alten Juclas kam. »Die Botschaft lautet, dass eine neue Zeit anbrechen wird.« Scytim zögerte einen winzigen Moment lang, den hilflosen Greis mit den Tatsachen zu konfrontieren. Doch dann schob er das Mitleid mit dem einstmals Mächtigen, der tief gefallen war, beiseite. »Nicht dein Sohn wird dein Nachfolger werden, sondern ich.« Lakim schrie auf, stieß Scytim an der Schulter. »Was fällt dir ein? Wie kommst du dazu …« »Still, beide!« Der Abenwosch sprach lauter, als Scytim es ihm noch zugetraut hätte. Der Mund blieb offen stehen, Speichel rann über das Kinn und versickerte im Kragen der Uniform. »Erkläre dich«, forderte er dann. »Diese sieben Kommandanten sind zusammen mit meinem Vater die Mächtigsten des Clans. Alle anderen werden dem folgen, was sie wünschen. Und sie alle plädieren dafür, dass nicht Lakim dein Nachfolger wird, sondern ich. Eine neue genetische Herrschaftslinie muss entstehen. Es wird höchste Zeit.«
17 »Mein Sohn wird das zu verhindern wissen«, sagte der Abenwosch. Im Laufe des Gesprächs wurden seine Worte zunehmend sicherer. In seine totenbleiche Gesichtshaut kehrte etwas Farbe zurück. Der innere Aufruhr schien ihm Kraft zu verleihen. »Nun lasst mich allein. Noch bin ich nicht tot. Ich habe eine Aufgabe zu erfüllen. Unsere Ressourcen werden knapp.« »Vater, du darfst sie nicht einfach gehen lassen!« »Darum wirst du dich kümmern«, waren die letzten Worte, die Scytim hörte, ehe sich das Schott des Empfangsraums hinter ihm schloss. Da wusste er, dass der Kampf eröffnet war. Die nächsten Tage würden die Entscheidung bringen. Scytim erstattete seinem Vater Pelyr Bericht und versäumte nicht, über die Schwachheit des Abenwosch zu spotten. Das Mitleid, das ihn unwillkürlich immer wieder überkam, ohne dass er es verhindern konnte, verschwieg er. Der Kommandant der TIA zeigte sich sehr zufrieden. »Ich bin stolz auf dich, mein Sohn. Lakim wird keine Chance gegen dich haben.« »Was wird er tun? Er kann sich gegen den Willen der versammelten Kommandanten nicht durchsetzen!« »Er weiß, dass wir sie alle in der Hand haben. Wenn er kein vollkommener Narr ist, muss ihm klar sein, dass wir gegen ihn intrigiert haben. Er wird also versuchen, das Übel bei der Wurzel zu packen und dich und mich auszulöschen. Wir müssen mit allem rechnen.« Scytims Augen funkelten erregt. »Soll er nur kommen. Es wird sein Ende sein!« Aggression und Zorn stiegen in ihm auf, genau wie es genetisch in seine Rasse gelegt worden war. Er war ein Krieger, und er wollte kämpfen! Der nächste Tag brachte Kampf, doch nicht für ihn. Der Abenwosch befahl einen Raubzug, um die Ressourcen des Komplexes aufzu-
18 stocken. Der äußere Schiffsring sprengte die Tuilerien ab und steuerte das Ziel an, eine abgelegene Handelswelt der Loisooger in nur wenigen Lichtjahren Entfernung. »Der Abenwosch ist ein Narr«, erklärte Pelyr seinem Sohn, als er davon erfuhr. »Er hat nicht genug Informationen eingeholt. Diese Handelswelt wurde erst vor kurzem von den Olkonoren geplündert. Danach wurde dem Handelsposten starker militärischer Schutz gewährt. Unser Anführer hat seine eigenen Schiffe ins Verderben befohlen!« Scytim nahm diese Information kühl zur Kenntnis. An das Schicksal der Schiffsbesatzungen dachte er nicht. Er sah nur die Möglichkeit, die sich ihnen dadurch bot. »Diese Fehlentscheidung werden wir zu unseren Gunsten ausnutzen«, rief er begeistert. Wenig später, noch ehe die ersten Nachrichten von Erfolg oder Misserfolg des Raubzugs eintrafen, rief Pelyr eine Versammlung der Kommandanten der umliegenden Schiffe ein. Alle folgten seinem Ruf, denn die Gerüchte, dass sein Sohn schon bald der neue Abenwosch sein könnte, waren bereits in Umlauf gebracht worden. Niemand wollte sich mit dem künftigen Anführer schlecht stellen. Pelyr wiederholte die Anschuldigungen öffentlich. »Der Blutzoll wird hoch sein«, beendete er die Erklärungen. »Und damit ist endgültig bewiesen, dass weder der jetzige Abenwosch noch sein Sohn fähig sind, den Clan zu führen. Jetzt, da der Vater dahinvegetiert, weder fähig, zu leben noch zu sterben, hätte der Sohn eingreifen müssen! Dieser närrische Raubzug wird viele von uns das Leben kosten. Er gefährdet die Sicherheit des gesamten Komplexes!« Weiter kam er nicht. Jemand bahnte sich rücksichtslos seinen Weg durch die Masse der Zuhörenden, stieß die neugierig herbeigelaufenen Kinder brutal zur Seite. Lakim! »Hört ihr, wie dieser Verräter über meinen Vater spricht? Über euren Abenwosch?« Seine Stimme war hasserfüllt. Er blieb di-
Christian Montillon rekt vor Pelyr stehen. »Ihr seid meine Zeugen, dass dieser Kommandant ein Lügner und ein Feind des Abenwosch und damit des kompletten Clans ist.« Lakims Hand fuhr in die Tasche seiner Uniform. Er zog einen Wurfdolch und presste die Schneide an Pelyrs Kehle, ehe dieser irgendetwas dagegen unternehmen konnte. Der Kommandant war von diesem kühnen Angriff offensichtlich völlig überrascht worden. »Du bist ein Narr, Lakim«, murmelte er kühl. »Du kannst mich nicht umbringen. Nimm den Dolch weg, ehe …« »Der Narr bist du, dass du dich mir ausgeliefert hast!«, zischte Lakim und kicherte. »Deine Rede hat mir genau den Vorwand geliefert, den ich benötigte, um dich aus dem Weg räumen zu können.« Laut fügte er hinzu: »Er ist ein Hochverräter, und er verdient den Tod! Ihr alle habt gehört, was er gesagt hat. Er lästert dem Abenwosch! Womöglich ist er ein Verräter, der mit unseren Feinden gemeinsame Sache macht!« »Ein Kollaborateur!«, rief irgendjemand, und Empörung machte sich breit. »Entferne die Klinge von seinem Hals!«, übertönte eine barsche Stimme das aufgeregte Gemurmel der Menge. Scytim trat mit weit ausladenden Schritten vor, blieb in fünf Metern Entfernung von Lakim und seinem Vater stehen. »Wage es nicht, ihn zu töten oder ihn auch nur zu verletzen.« »Wage du es lieber nicht, näher zu treten«, erwiderte Lakim. Sein Gesicht verzerrte sich zu einer Maske aus Wut und Entschlossenheit. Er drückte die Klinge ein wenig fester an den Hals seines Opfers. Sie schnitt in die Haut, einige Blutstropfen quollen über das glänzende Metall. »Lass dich nicht einschüchtern, mein Sohn!«, rief Pelyr. Nicht die geringste Angst lag in seiner Stimme. »Schweig!«, schrie Lakim mit sich überschlagender Stimme. Seine Hand, die den Dolch hielt, zitterte leicht. Die Schneide bohrte sich tiefer ins Fleisch. Der Kragen der Uniform färbte sich rot.
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»Ich werde niemals schweigen. Der Abenwosch ist ein Narr!« Lakim zog die Klinge durch. Ein Blutschwall ergoss sich über ihn. Pelyrs hämisches Lachen erstarb in einem Gurgeln. Mit ungläubigem Ausdruck in den Augen stand er noch einige Sekunden aufrecht, dann sackte er zusammen und blieb reglos liegen. Scytim zog seinen eigenen Wurfdolch und schleuderte ihn noch in derselben Bewegung. Die Waffe überschlug sich in der Luft. Das Metall warf blitzende Reflexe. Die Klinge drang Lakim genau über der Nasenwurzel bis zum Schaft in die Stirn. Ein Aufschrei ging durch die Menge, als der Killer tot über seinem Opfer zusammenbrach. »Ich habe den Mörder meines Vaters gerichtet«, sagte Scytim laut, trat an die Toten heran, drückte Pelyr die Augen zu und zog den Dolch aus Lakims Stirn. Die Trauer über seinen Verlust wurde von dem Wissen überdeckt, dass ihm nun nichts mehr im Wege stand. Es gab genügend Zeugen dafür, dass er eine notwendige Blutrache vollzogen hatte. Bald kamen die wenigen Schiffe zurück, die bei dem Überfall auf die Loisooger nicht zerstört worden waren. Ihre Kommandanten brachten schlechte Nachrichten. Es gab keinen Zweifel daran, dass ihre Flucht hierher beobachtet worden war. Aus den Vektoren würden die Loisooger den Aufenthaltsort des Komplexes erschließen können. Der letzte Befehl, den der alte Abenwosch-Pecayl 965. gab, war die Flucht in den Kugelhaufen Schimayn. Er starb, als er die Nachricht vom Tod seines Sohnes erhielt.
* Gegenwart Die letzten Stunden waren hektisch gewesen, bestimmt von Triumph, Trauer und Bürokratie. Scytim hatte die zeremonielle Verbrennung des verstorbenen Abenwosch vorbereitet, den Todesritus für seinen Vater durchge-
führt, der ehrlosen Beseitigung Lakims beigewohnt. Die kurzlebige Spezies der Juclas hatte viele Bräuche entwickelt, die sich mit dem allgegenwärtigen Tod beschäftigten. Außerdem hatte er die Umstrukturierung des Komplexes befohlen und sich mit Olmon auseinander gesetzt. Es war keine Zeit geblieben, klar und nüchtern nachzudenken. Und jetzt war es nicht mehr zu ändern. Ob es ein Fehler gewesen war oder nicht – die Schiffe des Clans waren nahezu vollständig zum Komplex verbunden. Sie waren weder zur Verteidigung noch zum Kampf bereit. »Kein Irrtum möglich?«, fragte Scytim den Kommandanten des Späherschiffs MIRA, nachdem dieser sekundenlang auf eine Antwort gewartet hatte. »Wir haben die Ortungsdaten mehrfach überprüft, Abenwosch. Ich schlage vor, dass sich alle Schiffe so schnell wie möglich kampfbereit machen.« Gegen ein Kampfgeschwader der Ganjasen hatten sie keine Chance und erst recht nicht gegen das, was noch geortet worden war. Doch wie war das überhaupt möglich? Hier, im Halo Gruelfins, in einem völlig unbedeutenden Sternhaufen? Abenwosch beendete die Funkverbindung, ohne ein weiteres Wort zu verlieren. Er musste die Tatsachen als gegeben hinnehmen. Er atmete tief durch. Obwohl alles in ihm widerstrebte, obwohl er damit gegen seine Prägung, gegen seine Konditionierung handelte, beschloss er, friedlichen Kontakt zu den Ganjasen zu suchen. »Wir werden uns nicht kampfbereit machen«, setzte er den Stellvertretenden Kommandanten Maliug und die anderen anwesenden Offiziere in Kenntnis. »Ich werde verhandeln.« Nach seinem Befehl herrschte Totenstille in der Zentrale des neuen Flaggschiffs. Vielleicht, dachte Abenwosch, bin ich derjenige, der mein Volk einen Schritt weiterbringt auf dem Weg in eine bessere Zu-
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kunft. Es ist sinnlos, diejenigen zu hassen, die uns als kurzlebige Soldaten schufen. Es bringt uns nicht weiter, die anderen zu verachten, denen ein längeres Leben gegönnt ist. Wir müssen gegen das ankämpfen, was wir zu sein glauben. Doch was nützte eine Tugend wie Selbstbeherrschung angesichts dessen, was auf sie zukam? Welchem Geheimnis waren sie hier unverhofft auf der Spur?
4. Planet Ende Atlan: getäuscht, gerettet, gesprungen Zwei große feindliche Einheiten näherten sich meiner Position. Wie sollte ich mich verteidigen? Im Grunde hatte ich keine Chance. Das Zaqoor-Beiboot verfügte nicht über die Möglichkeiten, sich effektiv zur Wehr zu setzen. Was sollte ich also tun? Fliehen, solange die Feinde noch nicht eingetroffen waren? Das Beiboot verlassen und mich irgendwo auf Ende verbergen? Der Planet war äußerst unwirtlich und bot nicht die Möglichkeit, dort längere Zeit ohne Ausrüstung und Verpflegung zu überleben. Narr! Mehr als dieses kurzen Impulses bedurfte es nicht. Nach allem, was in den letzten Stunden geschehen war, war mein logisches Denkvermögen offenbar immer noch eingeschränkt. Die Schmerzen in Arm und Kopf taten ihr Übriges dazu, dass ich nicht in gewohnter Geschwindigkeit reagieren und analysieren konnte. Ich hatte die Situation völlig falsch eingeschätzt. Ich befand mich in einem Beiboot der Zaqoor, eines Volkes, das zu den Garbyor gehörte, den Truppen der Lordrichter. Wenn die sich nähernden Einheiten von den Ortungsgeräten als »feindlich« eingestuft wurden, war das für mich eine gute Nachricht! Jeder Feind der Zaqoor musste mein Freund sein. Nach wie vor gellte der Alarm durch die Zentrale der DYS-116. Ich stellte ihn ab und
beschaffte mir an den Ortungsgeräten weitere Informationen. Zwei aneinander gekoppelte PedopeilerEinheiten flogen auf Ende zu. Cappins, genauer gesagt Ganjasen! Ich kannte diese gewaltigen eiförmigen Raumer der BAYT-Klasse, die bei einem Maximaldurchmesser von 200 Metern eine Länge von 800 Metern aufwiesen. Ein solcher Pedopeiler hatte mich mit Hilfe einer Pedotransmitterverbindung von der Milchstraße nach Dwingeloo versetzt, wo ich im Transportfeld der kurz darauf zerstörten ERYSGAN materialisiert war. Wie kam ein Pedopeiler ausgerechnet dazu, nach Ende zu fliegen? Ein Zufall war nahezu ausgeschlossen. Ich erinnerte mich an die letzten Sekunden vor dem Tod des anderen, meines Retters. Hatte er nicht zu erkennen gegeben, dass er Hilfe herbeiholen würde? Offensichtlich hatte er durch die Macht des Flammenstaubs ein letztes Mal die Wahrscheinlichkeit manipuliert und sich gewünscht, dass sich mir eine Möglichkeit bot, Dwingeloo zu verlassen. Der Aufopferungswille meines Retters versetzte mich erneut in Erstaunen. Wieder fragte ich mich, weshalb er derart selbstlos gehandelt hatte. Darauf wirst du nie eine Antwort erhalten. Diesem nüchternen Kommentar des Extrasinnes konnte ich nur zustimmen. Es blieb keine Zeit, darüber nachzudenken. Ich musste handeln, ehe es zu weitreichenden Missverständnissen kam. Ich kannte die internen Verschlüsselungskodes der Cappins. In der Milchstraße hatte ich lange in Kontakt mit Heroshan Offshanor gestanden, dem Kommandanten des dort positionierten Pedopeilers SYVERON. Ich sandte eine Botschaft an die sich nähernden Cappins. Darin nannte ich meinen Namen in der begründeten Hoffnung, dass er dem Kommandanten des Pedopeilers bekannt sein würde. Ich musste nicht lange auf Antwort war-
Todeszone Schimayn ten. »Hier spricht Aruma Cuyt, Kommandant der CAVALDASCH. Du bist tatsächlich Atlan, der ehemalige Begleiter des Ewigen Ganjo?« Man erkannte in mir erneut denjenigen, der mit Ovaron persönlich unterwegs gewesen war, der bis heute in weiten Teilen Gruelfins Ewiger Ganjo genannt wurde. »Der bin ich«, bestätigte ich und fügte hinzu: »Ein Freund der Cappins.« Um die letzten Zweifel zu zerstreuen, gab ich kurze Berichte über zerstörte Lordrichter-Einheiten und -Stationen in Dwingeloo. Im Wesentlichen waren diese Kämpfe durch den Einsatz des Flammenstaubs erfolgreich gewesen, den ich in mir getragen hatte. Aruma Cuyt stellte kurze Zwischenfragen, wohl um meine Identität erneut zu überprüfen. Offensichtlich antwortete ich zu seiner Zufriedenheit. »Du bist es also wirklich«, schloss er. »Ich bin begierig, Genaueres zu erfahren. Ein äußerst merkwürdiger Zufall hat mich hierher geführt.« »Ich bitte mit der DYS-116 an Bord deiner CAVALDASCH kommen zu dürfen. Dort werde ich diesen … Zufall erklären können.« Ich legte ganz bewusst eine Pause ein, um klarzustellen, dass es sich um alles andere als einen Zufall gehandelt hatte. »Deine Bitte ist dir gewährt. Ich werde veranlassen, dass du direkt zu mir geführt wirst. Wir haben einiges zu besprechen.« »Ich bitte, dass ich zuerst medizinisch versorgt werde. Danach stehe ich dir gerne zur Verfügung.« Ich hoffte auf eine professionelle Behandlung des Unterarmbruchs. Die provisorische Schiene musste entfernt und eine korrekte Operation durchgeführt werden. Die Mediziner der Cappins konnten bleibende Schäden verhindern. Aruma Cuyt stimmte zu, und kurz darauf startete ich das Zaqoor-Beiboot. Man öffnete mir eine Schleuse in einem der eiförmigen Raumer. Ich landete die DYS-116 im Hangar. Ein Trupp der Ganjasen empfing mich. Ein schlanker, breitschultriger Cappin trat vor und sprach mich an. »Folge mir in die
21 Medostation. Dort wird man sich um dich kümmern.« Der Blick seiner eisgrauen Augen wanderte über meinen rechten Arm, und seine Lippen verzogen sich verblüfft. »Deine Verletzung wird ordentlich versorgt werden.« Ich beachtete den leichten Spott nicht. Der Ganjase führte mich durch einige Gänge, ehe wir in einem Antigravschacht nach oben schwebten. Vor dem Eingang in die Medostation verabschiedete er sich mit knappen Worten. Ich trat ein und begab mich in die Hände einer Ärztin. Die junge Ganjasin wies mich an, auf einer Pritsche Platz zu nehmen, und führte eine rasche Untersuchung durch. »Wir werden eine Operation durchführen«, setzte sie mich in Kenntnis. »Außer den Knochen ist auch deine Unterarmmuskulatur in Mitleidenschaft gezogen. Etliche Fasern sind gerissen. Außerdem wurde ein Nervenstrang beschädigt.« Sie sah mir tief in die Augen. »Die Schmerzen müssen unerträglich sein.« »Seit ich ein Schmerzmittel eingenommen habe, ist es auszuhalten.« Ich verschwieg, dass das Mittel kaum Linderung gebracht hatte. Außerdem dachte ich an die Stunden, ehe ich nach meinen Erlebnissen auf Ende das Beiboot erneut erreicht hatte. Auch da hatte ich es notgedrungen ertragen müssen. »Du hast den Bruch selbst gerichtet und geschient?« In ihren braunen Augen las ich ebenso Erstaunen wie Bewunderung. Ich nickte. »Es war notwendig. Ich wusste nicht, wann Hilfe eintreffen würde.« Sie lächelte, und dabei fiel mir auf, dass sie hübsch war. Die kurzgeschnittenen Haare besaßen exakt denselben Farbton wie ihre Augen. Ich fragte mich, ob es sich um eine Laune der Natur handelte oder ob sie dabei nachgeholfen hatte. Wahrscheinlich war das Letztere der Fall. »Nach der Operation wird es zwei bis drei Wochen dauern, bis dein Arm wiederhergestellt ist. Ich werde dir jetzt ein Betäubungsmittel verabreichen. Du brauchst nichts zu befürchten. Die Operation ist reine Routi-
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ne.« Sie injizierte mir etwas in die linke Armbeuge. Ich sah mich nicht dazu genötigt, ihr zu erklären, dass der Zellaktivator den Heilungsprozess um die Hälfte beschleunigen würde, so dass nur mit einer Rekonvaleszenzzeit von maximal zehn Tagen zu rechnen war. »Es werden keine dauerhaften Beeinträchtigungen zurückbleiben«, hörte ich noch, dann schlief ich ein.
* Ich erwachte mit bohrenden Kopfschmerzen, die inzwischen zur bitteren Normalität geworden waren. Ich wusste, dass sie nichts mit der Operation oder mit Nachwirkungen der Betäubung zu tun hatten, sondern auf die Restmengen des Flammenstaubs in meinem Körper zurückzuführen waren. Das mir bereits bekannte schmale und ebenmäßige Gesicht der ganjasischen Ärztin tauchte in meinem Blickfeld auf. »Es gab wie erwartet keine Komplikationen«, setzte sie mich in Kenntnis. »Wie fühlst du dich?« »Hervorragend«, log ich mit leicht gequältem Gesichtsausdruck. »Ich danke für deine Hilfe.« »Du solltest noch liegen bleiben. Ich werde unseren Kommandanten Aruma Cuyt informieren, dass du erwacht bist. Er möchte mit dir sprechen. Ich werde ihm sagen, dass er aus medizinischen Gründen hierher kommen muss.« »Wie lange war ich betäubt?« »Etwas mehr als eine Stunde.« Sie sagte es mit eigenartiger Betonung. »Was ist?« Sie zögerte, lächelte scheu. »Dein Körper zeigt erstaunliche Reaktionen. Du bist früh erwacht.« Ich verspürte keine Lust, weiter darüber zu diskutieren und das Gespräch damit auf den Zellaktivator und seine Auswirkungen zu lenken. »Ich bin an Verletzungen und körperliche Schmerzen gewöhnt«, wich ich aus und schloss demonstrativ die Augen.
»Ich rufe den Kommandanten«, meinte sie leicht pikiert. Ich hielt die Augen weiter geschlossen und nutzte die Ruhezeit, um nachzudenken. Der Pedopeiler bot mir die Möglichkeit, in die Milchstraße zurückzukehren. Es war ein wirklicher Glücksfall – wenn dieses Glück auch keinesfalls auf einen Zufall zurückzuführen war. Ich musste Aruma Cuyt dazu überreden, eine Pedotransmitterverbindung in die heimatliche Galaxis aufzubauen. Ich legte mir eine Strategie zurecht, wie ich den Kommandanten überzeugen konnte. Die Ärztin, deren Namen ich noch immer nicht kannte, kam zurück und riss mich aus den Gedanken. Obwohl ich die Augen nach wie vor geschlossen hielt, bemerkte ich ihre Annäherung schon, ehe sie mich am Arm berührte. »Versuch dich aufzusetzen«, sagte sie. Unser zurückliegendes Gespräch erwähnte sie mit keinem Wort. Ich bemerkte, dass eine gewisse Kühle in ihren Worten lag. Es gelang mir ohne Schwierigkeiten, mich zu erheben, wenn man davon absah, dass sich die Kopfschmerzen durch die Bewegung verstärkten. Ein sengender Pfeil schien sich in meine Augenhintergründe zu bohren. »Du hast Schmerzen«, stellte sie fest. Sie war eine gute Beobachterin, was eine wichtige Voraussetzung für ihren Beruf bildete. »Nichts, was mit dem Armbruch zu tun hat. Du hast sehr gute Arbeit geleistet … Ich weiß nicht einmal deinen Namen.« »Alyc Timlyn.« Sie fasste meinen Arm, hob ihn an und streckte ihn. Das verursachte keine weiteren Schmerzen. »Wenn du über deine Probleme reden willst, wende dich an mich.« Sie bog und streckte jeden einzelnen meiner Finger. »Der Kommandant wird gleich eintreffen. Wenn dich das Reden zu sehr mitnimmt und dir übel wird, rufe mich. Es ist möglich, dass es dich überanstrengt. Ich kann deinen Kreislauf mit Medikamenten unterstützen.« »Das wird nicht nötig sein«, versicherte ich. Zum ersten Mal seit meinem Erwachen
Todeszone Schimayn betrachtete ich meinen Arm genauer. Der Bereich zwischen Handgelenk und Ellenbogen lag unter einem dichten Verband verborgen. Ich spürte nichts außer starker Kälte. Als ich die Ganjasin darauf ansprach, erklärte sie: »Die Kälte lindert die starke Schwellung des Gewebes. Ich habe eine spezielle Salbe aufgetragen, ehe ich dir den Verband angelegt habe.« Da öffnete sich das Schott der Medostation, und Aruma Cuyt traf ein. Ich zweifelte keinen Augenblick daran, dass es sich um ihn handelte. Er war groß, muskulös und strahlte ein starkes Charisma aus. Er trug seine Uniform mit sichtlichem Stolz. »Atlan«, begrüßte er mich. Ich erkannte seine befehlsgewohnte Stimme wieder, die ich bereits über Funk gehört hatte. Ich erhob mich. »Kommandant, ich danke dir für deine Hilfe.« Er nickte knapp und blickte mir in die Augen. Dann kam er direkt zur Sache. »Ich habe lange nachgedacht. Lass mich dir schildern, was geschehen ist, Atlan, ehemaliger Begleiter Ovarons. Die CAVALDASCH befand sich im Überlichtflug, als urplötzlich ein Triebwerksschaden auftrat und uns zwang, in den Normalraum zurückzukehren. Höchst ungewöhnlich.« Etwas Raubtierhaftes zog in seinen Blick ein. Er neigte den Kopf nach vorne und strich sich durch die kurzen schwarzen Haare. »Doch damit nicht genug, erfolgte der Rücksturz innerhalb eines Sonnensystems, und zwar ganz in der Nähe eines unbewohnten Planeten, auf dem wir bei einer routinemäßigen Ortung die Emissionen eines Zaqoor-Beiboots feststellten. Und in diesem Boot befand sich niemand anders als du, Atlan. Eine der bedeutendsten Persönlichkeiten in unserem gegenwärtigen Kampf gegen die Garbyor und ihre Herren, die Lordrichter. Ein bemerkenswerter Zufall.« »Wie ich dir schon über Funk mitteilte, handelte es sich um alles andere als einen Zufall.« »Ich bin nicht geneigt, an so etwas wie Schicksal oder Vorherbestimmung zu glau-
23 ben.« »Davon rede ich nicht«, stellte ich klar und erwähnte den Flammenstaub und seine Fähigkeit, die Wahrscheinlichkeit zu manipulieren. Die genaueren Umstände ließ ich allerdings unerwähnt. Ich war davon überzeugt, dass der mysteriöse Triebwerksschaden der CAVALDASCH von meinem sterbenden Retter »gewünscht« worden war. Der andere hatte mir damit eine Möglichkeit geschaffen, in die Milchstraße zurückzukehren. Aruma Cuyt schien der ungewöhnlichen Erklärung Glauben zu schenken. »Ich hörte davon, welche Schlachten in Dwingeloo stattgefunden haben«, sagte er. »Auch deine Rolle darin blieb nicht unerwähnt. Es gibt vermutlich zurzeit keinen einzigen Cappin in ganz Dwingeloo, der nicht von Atlans großen Taten gehört hat. Du hast den Lordrichtern große Niederlagen zugefügt. Dafür ist dir jeder Cappin zu Dank verpflichtet.« Ich berichtete ihm nähere Einzelheiten über die Kämpfe, die unter meiner Leitung geführt worden waren. Cuyt wiederum konnte mir andere strategische Details zur Lage der Auseinandersetzungen liefern. Dabei erklärte er auch, warum er sich hier in Dwingeloo aufhielt. »Die CALVADASCH ist nicht der einzige Pedopeiler, der sich in dieser Galaxis befindet. Wir bilden die Rückendeckung für die ERYSGAN, die bereits vor längerer Zeit hier stationiert wurde. Ich bin auf dem Weg, mich mit der ERYSGAN und deren Kommandanten Toragasch zu treffen.« Die Worte trafen mich hart und verursachten ein flaues Gefühl. Erneut hatte ich eine Information weiterzugeben; Worte, die Aruma Cuyt überhaupt nicht gefallen würden. »Ich habe eine schlechte Nachricht für dich. Die ERYSGAN bildete die Empfangsstation für mein Schiff,« – oder für Kytharas Schiff, durchzuckte es mich – »als ich hierher nach Dwingeloo reiste. Schon zum Zeitpunkt meiner Ankunft wurde die ERYSGAN von den Garbyor schwer attackiert und kurz darauf zerstört.«
24 Aruma Cuyts Miene versteinerte. »Ich kannte Kommandant Toragasch seit meiner Kindheit«, sagte er schließlich. Seine Lippen entblößten breite Zähne. »Sein Tod ist ein schwerer Verlust für unser Volk. Nicht der einzige, den wir in diesen Tagen zu beklagen haben.« »Du hast mein Mitgefühl.« »Wir haben den Pedoleitstrahl der ERYSGAN seit geraumer Zeit nicht mehr anpolen können. Wir befürchteten schon lange, dass dort eine Katastrophe stattgefunden hat. Doch wir konnten uns nie sicher sein. Deine Worte bestätigen unsere schlimmsten Befürchtungen.« Seine Gesichtszüge verhärteten sich. »Wer ermöglichte dir den Pedotransfer hierher?« »Heroshan Offshanor. Sein Pedopeiler in der Milchstraße trägt den Namen …« »Ich weiß von Offshanor und der SYVERON«, unterbrach mich der Kommandant. »Wir müssen über etwas anderes sprechen, Atlan. Die Macht der Lordrichter in Dwingeloo ist gebrochen.« Ich hörte seiner Stimmlage an, dass er offensichtlich dieselben Schlussfolgerungen wie ich gezogen hatte. »Was nichts anderes bedeutet«, ergänzte ich, »als dass sie den anderen Orten, an denen sie nachweislich tätig sind, größere Aufmerksamkeit zuwenden werden.« Ein Schatten legte sich über das Gesicht meines Gegenübers. »Und um es beim Namen zu nennen, werden sich die Lordrichter um die beiden Galaxien kümmern, die unsere Heimat bilden. Mein Gruelfin und deine Milchstraße.« »Ich möchte dich bitten, dass du mir den Transfer in die Milchstraße ermöglichst.« Ich beobachtete ihn bei diesen Worten genau. »Ich muss wissen, welche Zustände dort inzwischen herrschen.« Ich war am 2. Juni 1225 NGZ nach Dwingeloo vorgestoßen, vor mittlerweile fast vier Monaten. Was war in dieser Zeit geschehen? »Ich kenne die genaue Position der SYVERON. Sie wartet dort, bis mir die Rückkehr möglich ist.« Dabei war ursprünglich
Christian Montillon natürlich an eine Rückkehr mit Hilfe der ERYSGAN gedacht worden, bevor alles anders gekommen war. »Ich bin geneigt, dir diesen Wunsch zu erfüllen«, entschied Aruma Cuyt zu meiner Erleichterung. »Ich kann dir damit im Namen meines Volkes für deine Hilfe danken.« »Dann bitte ich dich den Transfer vorzubereiten, während ich in der Medostation bin. Ich möchte keine Zeit mehr verlieren.« Eifer hatte mich gepackt. Noch vor wenigen Stunden war es unmöglich erschienen, in absehbarer Zeit die Milchstraße erreichen zu können; jetzt lag die Rückkehr greifbar nahe vor mir. Wenn die beiden eiförmigen Raumer, die gemeinsam den Pedopeiler CAVALDASCH bildeten, sich trennten, konnte zwischen ihnen ein Transportfeld aufgebaut werden. Die SYVERON bildete die Empfangsstation, an der der technisch erzeugte Pedoleitstrahl endete. Danach konnte ich mit der DYS-116 durch die Pedotransmitterverbindung den Sprung in die Milchstraße durchführen. Dazu fädelten sich die Ganjasen an Bord der DYS-116 in den Pedoleitstrahl ein und transportierten sich und das komplette Beiboot samt Inhalt bis zur Empfangsstation. Offshanors SYVERON befand sich 2763 Lichtjahre von Vassantor entfernt im Ortungsschatten einer namenlosen Sonne. »Ich werde alles organisieren und mich so schnell wie möglich wieder bei dir melden«, sagte Aruma Cuyt.
* Ich verbrachte die nächste Stunde in der Medostation. Alyc Timlyn untersuchte mich noch einmal und war sichtlich zufrieden. Ich saß wie auf glühenden Kohlen. Die Fragen, die in mir aufstiegen, verdrängten erstmals das schreckliche Geschehen auf Ende. Was war zwischenzeitlich auf Arkon geschehen oder im Sol-System, was mit all den Freunden und Wegbegleitern, die ich zurückgelassen hatte? Ich wartete ungeduldig auf Aruma Cuyts Rückkehr.
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Als der Kommandant endlich die Medound fragte mich, ob ich ihn jemals wiedersestation betrat, lag ein freundliches Lächeln hen würde. auf seinen Zügen. »Ich freue mich, dir mitteilen zu können, dass deiner Heimkehr * nichts im Wege steht«, begrüßte er mich. Carmyn Oshmosh ging neben mir. Jetzt »Allerdings möchte ich dich bitten, uns die erst fiel mir auf, dass tiefe Ringe unter ihren DYS-116 zur Verfügung zu stellen. Das Augen lagen. Zaqoor-Beiboot könnte uns möglicherweise Ohne mich anzuschauen, dozierte sie: Aufschlüsse über die Technik der Garbyor »Die AVACYN besitzt leistungsstarke Imbringen. Ich weiß, dass wir unsere Erwartunpulstriebwerke. Der maximale Überlichtfakgen nicht zu hoch schrauben dürfen, aber tor liegt bei 45 Millionen. Sie verfügt über vielleicht ergibt eine genaue Untersuchung zwei Initialstrahler, zwei Initialetwas.« Dopplergeschütze, einen Initial-Punktator, »Das sollte machbar sein.« außerdem Thermo- und Impulsstrahler so»Im Austausch stelle ich dir die AVAwie …« CYN zur Verfügung.« Er lachte rau. »Es ist Ich nahm die Daten in mich auf, hoffte jeeines unserer Beiboote, das im Übrigen wedoch, dass ich niemals in Verlegenheit komsentlich leistungsfähiger ist als die DYS116. Die AVACYN gehört der NAMEIRE-Klas- men würde, die Bordbewaffnung in Aktion erleben zu müssen. »Wann bist du gebose an. Zehn Besatzungsmitglieder. Die ren?«, fragte ich die hagere Ganjasin, als sie Kommandantin Carmyn Oshmosh wird dich eine Pause machte. auf deinem Sprung begleiten.« Leicht verwirrt sah sie mich an, ehe sie Wie auf ein Stichwort hin betrat eine haantwortete. Ich errechnete, dass sie 1176 gere Ganjasin die Medostation. Dunkle AuNGZ geboren war. Ehe ich ein Gespräch in gen blickten aus einem Gesicht, das von tiefGang bringen konnte, ratterte sie weitere schwarzem Haar umrahmt wurde und von Daten der AVACYN herunter und listete die vielen Falten durchzogen war. Sie hielt die derzeitigen Besatzungsmitglieder auf. Schultern eingezogen. »Die AVACYN steht So kam es, dass ich die Pilotin Myreilune unter meinem Kommando. Meine Mannnamentlich begrüßen konnte, als wir die schaft wird dich an dein Ziel bringen«, sagte Zentrale des Beibootes betraten. Sie hatte ihr sie leise. Haar hell gefärbt, was ungewöhnlich für eiAuf den ersten Blick erkannte ich, dass ne Ganjasin war. Sie war fast doppelt so alt sie über keinerlei Selbstbewusstsein verfügwie ihre Kommandantin und war stark gete. Ich fragte mich, was sie für den Posten schminkt. Sie bedachte mich mit einem lanals Kommandantin qualifiziert haben mochgen Blick und wirkte hocherfreut, dass ich te. ihren Namen kannte. »Es ist mir eine Ehre, »Ich danke dir.« Ich ließ mir meine Zweidich in deine Heimat bringen zu dürfen«, erfel nicht anmerken. klärte sie. »Ich bin auf dem Weg zu meinem BeiIch wiegelte sie mit einer Floskel ab. boot«, erklärte sie. »Du kannst mich beglei»Ich hörte von deinen Großtaten während ten.« der Kämpfe gegen die Garbyor.« Myreilune »Wenn Kommandant Cuyt einverstanden war ihre Begeisterung deutlich anzumerken. ist?« »Es gibt viele Berichte, geradezu unglaubliDieser nickte. »Es ist alles geklärt. Die che Nachrichten. Was davon ist wahr?« Trennung der Einzelraumer ist bereits einge»Vielleicht kommen wir irgendwann daleitet, das Transportfeld wird in Kürze aufzu, die Gerüchte mit den tatsächlichen Ergebaut werden.« eignissen zu vergleichen.« Ich wandte mich Ich verabschiedete mich von Aruma Cuyt
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wieder Carmyn Oshmosh zu. Die Kommandantin stand schweigend neben uns. Die Pilotin der AVACYN ließ sich nicht abspeisen. Sie redete unablässig weiter, verwickelte mich in ein Gespräch, obwohl meine Antworten recht einsilbig blieben. Carmyn Oshmosh entfernte sich schließlich ohne ein weiteres Wort, überließ mich ganz ihrer Pilotin. Dieses Verhalten nahm ich mit Befremdung zur Kenntnis. Myreilune schien durch die Wucht ihrer Persönlichkeit über ihre schüchterne Kommandantin zu dominieren. »Wie hast du diese Heldentaten nur vollbringen können?«, fragte Myreilune. »Ich bewundere dich und kann es kaum glauben, dir von Angesicht zu Angesicht gegenüberzustehen.« Ich nickte höflich, schwieg aber. Daran störte sie sich nicht. »Meine Familie steht seit fünf Generationen im Dienst der …« Ich schaltete innerlich ab. Weitere Besatzungsmitglieder lernte ich nicht mehr kennen. Die Startfreigabe erfolgte und erlöste mich vom Redeschwall der Pilotin. Sie lenkte die AVACYN in den freien Weltraum und wendete das Schiff. Wir näherten uns dem aktivierten Transportfeld und rasten hinein. Die so lange vermisste Heimat wartete auf mich!
5. Im Kugelhaufen Schimayn: Zeichen der Zeit »Kein Zweifel möglich!«, sagte Abenwosch-Pecayl 966. zu Maliug, dem Stellvertretenden Kommandanten des Flaggschiffes TIA. Um ihn herum herrschte hektischer Betrieb in der Kommandozentrale. »Es handelt sich um eine Pedopeiler-Sammeleinheit.« »Abgesichert von mehreren kampfkräftigen Schiffen der Ganjasen«, ergänzte Maliug. Abenwosch glaubte zu wissen, dass es nicht viele dieser gewaltigen Einheiten gab, die in der Lage waren, ein Transportfeld
über etliche Millionen Lichtjahre aufzubauen. »Seit vielen Generationen wurde kein Pedopeiler mehr im Halo von Gruelfin gesichtet«, murmelte der Anführer des ErcourraClans nachdenklich. »Was hat das zu bedeuten?« »Was sollen wir tun, Abenwosch?« »Meine Entscheidung hat sich nicht geändert!«, antwortete er aggressiv. Seine Hände ballten sich zu Fäusten. »Ich werde Kontakt aufnehmen und verhandeln.« »Überdenke deinen Entschluss«, riet Maliug. »Ein Kampf …« »Ein Kampf würde tödlich für uns enden«, unterband Abenwosch jedes weitere Wort. »Wir können den Kurs nicht mehr ändern. Wir sind bereits entdeckt worden. Selbst eine radikale Absprengung aller Tuilerien würde uns nicht schnell genug die Flucht ermöglichen oder Kampfbereitschaft herstellen.« »Der Kommandant des Pedopeilers sucht Kontakt«, setzte der Leiter der Abteilung Funk und Ortung ihn in Kenntnis. Abenwosch atmete tief ein. Nun war es also so weit. Jetzt würde sich zeigen, ob er den Anforderungen als Anführer gewachsen war. Einen Augenblick lang dachte er wehmütig an seinen Vater. Außerdem werde ich in den ersten Jahren da sein, um dich zu beraten, hatte er gesagt. War das wirklich erst zwei Tage her? So viel war seitdem geschehen. Vor Abenwoschs Augen stieg das grausame Bild auf, als Lakim die Klinge durch den Hals seines Vaters gezogen hatte. Wieder sah er das Blut und den ungläubigen Ausdruck in den gebrochenen Augen seines Vaters, erinnerte sich, wie er tot zu Boden gestürzt war. Doch ebenso fühlte er erneut die Befriedigung, die es ihm gebracht hatte, den Dolch zu schleudern und seinem Konkurrenten das Leben zu nehmen. Abenwosch riss seine Gedanken gewaltsam in die Gegenwart zurück. »Leg das Gespräch auf meine Konsole!«, befahl er. »Kommandant Sabylchin von der MAR-
Todeszone Schimayn KASCH«, ertönte kurz darauf eine nüchterne Vorstellung. »Abenwosch-Pecayl 966. des ErcourraClans der Juclas«, erwiderte er kühl. Er konnte aus der Stimmlage des anderen nicht auf dessen Gemütsverfassung schließen. »Wir haben keinerlei feindliche Absichten.« Ein abgehacktes, völlig humorloses Lachen drang aus dem Lautsprecher. »Das würde euch auch nicht gut bekommen, Abenwosch.« »Was wünschst du? Wir haben anderes zu tun.« Er wusste, dass diese Worte kühn gewählt waren. Er wollte keineswegs zugeben, dass sie sich in einer nahezu ausweglosen Lage befanden, falls sich die Ganjasen zu einem Angriff entschließen sollten. Deshalb spielte er Selbstsicherheit vor, die er keineswegs empfand. Sabylchin ging auf die Provokation nicht ein. »Ich frage mich, was ein Clan der Juclas ausgerechnet hier zu suchen hat.« »Dieselbe Frage könnte ich dir stellen.« Eine kurze Pause entstand. »Deine Schiffe sind zum Komplex-Modus verbunden. Die MARKASCH hingegen ist ebenso kampfbereit wie die Schiffe meines Begleitschutzes. Du bist nicht in der Position, Fragen zu stellen, sondern tätest gut daran, sie zu beantworten.« In Abenwosch brannte Ärger auf. Mit äußerster Anstrengung zwang er sich, äußerlich ruhig zu bleiben. Dennoch bebte seine Stimme, als er fortfuhr. »Wir sind bereit, dieses Gebiet zu verlassen, wenn du es wünschst, Sabylchin.« Dieses Eingeständnis der Hilflosigkeit entfachte die Flamme der Wut in ihm noch stärker. Doch es war unabdingbar notwendig, sich zu demütigen. »Auf dieser Basis können wir zusammenkommen. Deine Einsicht ehrt dich. Also lass es mich klar ausdrücken: Du hast hier nichts zu suchen.« Aber du?, dachte Abenwosch unwillkürlich. Fast hätte er die Worte laut ausgesprochen und damit das bisher Erreichte zunichte gemacht. Er musste diplomatisch bleiben. »Du wirst dich mit deinem Clan von hier
27 zurückziehen und die Begegnung mit uns augenblicklich und unwiederbringlich vergessen. Ich bin ein besonnener Mann, und darüber solltest du froh sein. Doch denke immer daran, dass du dich in Gefahr begibst, falls du jemals irgendjemandem von unserer Begegnung berichten solltest.« »Ist das eine Drohung?« »Wer sich in Gefahr begibt, wird darin umkommen.« »Das ist keine Antwort.« »Zieh dich zurück, Abenwosch, und sei froh, dass du ausgerechnet auf mich getroffen bist. Ein anderer wäre nicht so nachsichtig mit dir. Dieser Tag hätte für dich und deine Sippen einen völlig anderen Verlauf nehmen können. Ich erwarte, dass du dich augenblicklich entfernst. Sabylchin Ende.« Die Verbindung war unterbrochen, ehe Abenwosch noch etwas erwidern konnte. Er starrte noch einige Sekunden lang die Kommandokonsole an. »Du hast es gehört«, befahl er dem Piloten. »Rückzug! Wir verschwinden von hier.«
* »Wie kann dieser Ganjase es wagen, so mit uns zu sprechen?«, schrie der Stellvertretende Kommandant und schlug mit der Faust gegen seine Konsole. »Er hat uns gedroht! Das können wir nicht auf uns sitzen lassen!« »Schweig, Maliug!«, rief Abenwosch scharf. »Wir werden uns zurückziehen, weil wir sonst sterben!« In der Kommandozentrale machte sich wütendes Gemurmel breit. »Kein Jucla darf sich so etwas gefallen lassen!« – »Wir müssen zurückschlagen!« – »Noch nie ist so etwas geschehen.« Worte wie »Beleidigung« und »Ehre« machten die Runde. Abenwosch nahm das Geschehen scheinbar ungerührt hin. Er wusste, dass er jetzt nicht den Kopf verlieren durfte. Dies war seine Bewährungsprobe, und er würde sie bestehen. Er würde nicht zulassen, dass der gesamte Clan in den Untergang gerissen
28 wurde. »Rückzug!« Sein erneuter Befehl übertönte den Lärm. »Sofort!« Der Pilot zeigte keine Reaktion. Abenwoschs Gestalt straffte sich. »Führe sofort meinen Befehl aus oder verlasse deine Station und stirb! Ich dulde keine Rebellion!« Seine Stimme war kalt wie ein Eishauch. In der Zentrale verstummte jedes Wort. Eisige Stille herrschte, die erst durch eine Meldung des Piloten unterbrochen wurde. »Der Komplex wird sich entfernen«, meldete er nüchtern und gab einen Kurs ein. Die Daten wurden an die übrigen Schiffe des Komplexes überspielt und mit den dortigen Bordrechnern synchronisiert. »An die Arbeit!«, rief Maliug. »Habt ihr nichts zu tun? Abenwosch-Pecayl 966. erwartet ein reibungsloses Funktionieren des Bordablaufs.« Zufrieden bemerkte Abenwosch, dass der Stellvertretende Kommandant den kompletten Ehrentitel ausgesprochen hatte. Er hatte die Rebellion im Keim erstickt. Wenn ihm das nicht gelungen wäre, wäre seine Autorität für alle Zeiten zerstört gewesen. Für alle Zeiten? Das Ende aller Zeiten wäre in diesem Fall wohl schon in wenigen Augenblicken in Form eines massiven Angriffs der Ganjasen angebrochen. »Folge mir in den Besprechungsraum, Maliug«, verlangte Abenwosch. Während der Komplex seine Flugrichtung änderte und auf neuen Kurs ging, verließ Abenwosch die Zentrale und suchte den daneben liegenden Besprechungsraum auf. Dort ließ er sich am Tisch nieder. Er musste nicht lange warten, bis Maliug ebenfalls eintrat und sich das Schott hinter ihm schloss. Abenwoschs Backenzähne mahlten aufeinander. Durch seinen ausgeprägten Überbiss berührten sich die Schneidezähne kaum. Er warf dem Stellvertretenden Kommandanten des Flaggschiffes einen durchdringenden Blick zu, sprach jedoch kein Wort. Das war auch nicht nötig. Er bot Maliug keinen Platz an. Diese Geste zeigte überdeutlich, wie ernst es ihm war.
Christian Montillon Maliug wand sich unbehaglich. »Es tut mir Leid, Abenwosch. Ich habe für einen Augenblick die Beherrschung verloren.« »Mehr hast du nicht zu sagen?« »Ich danke dir dafür, dass du mich zu dir gerufen hast. Ich hoffe, dass dein Vertrauen zu mir wiederhergestellt ist.« »Ich erwarte absoluten Gehorsam in Krisensituationen«, stellte Abenwosch klar. »Es war mir gelungen, einen Kampf mit den Ganjasen zu verhindern, und im nächsten Moment fällst du mir in den Rücken! Warum sollte ich dir noch vertrauen? Vertrauen ist keine Bringschuld, Maliug. Man muss es sich verdienen.« »Ich war deinem Vater stets ein guter Stellvertreter, seit vielen Jahren. Das weißt du.« »Er hat immer positiv von dir gesprochen«, bestätigte Abenwosch. »Solange ich denken kann.« Und darüber solltest du froh sein. »Dein Vorgehen war weise«, lobte Maliug. Abenwosch versuchte, diese letzten Worte einzuschätzen. Bemühte sich Maliug nur, seinen Kopf aus der Schlinge zu ziehen, oder war er wirklich davon überzeugt? »Du hast dich nicht von deinen Instinkten leiten lassen wie wir anderen. Jeder von uns hätte uns in die Schlacht und damit in den Tod geführt.« »Ist dir klar, was dann letzten Endes geschehen wäre?«, erwiderte Abenwosch leise. »Die, die uns zu dem machten, was wir sind, hätten triumphiert! Wir hätten genauso gehandelt, wie sie es vor Jahrtausenden bestimmten.« Er zog die Augenbrauen hoch. »Aber wir müssen unserer Konditionierung widerstehen! Anders handeln, als wir es immer getan haben! Darin liegt der Weg in unsere Zukunft, und dann werden wir eines Tages die wahren Sieger sein.« Maliug nickte stumm. Er bringt keine weiteren Schmeicheleien vor, erkannte Abenwosch. Auch hat er meinen Ehrentitel nur ein einziges Mal komplett ausgesprochen, draußen,
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als alle anderen es hören konnten. Als es wirklich zählte und ihn etwas kostete. Dieser Gedankengang überzeugte ihn von der Ehrlichkeit seines Gegenübers. »Du wirst deinen Posten behalten«, entschied er. »Bis auf Weiteres übergebe ich dir das Kommando über die TIA. Ich muss in meiner Eigenschaft als Anführer dieses Clans wichtige Dinge bedenken. Koordiniere du unseren Rückzug. Suche eine Gegend, die frei ist von jeglichem Schiffsverkehr.« Maliug machte sich auf, den Besprechungsraum zu verlassen und in die Kommandozentrale zurückzukehren. Als er das Schott erreicht hatte, hielt Abenwosch ihn zurück. »Eins noch. Nimm Kontakt mit Kommandant Sabylchin auf und teile ihm mit, dass es einige Zeit dauern wird, einen Kursvektor für den Komplex zu errechnen. Und wenn du ihn nicht mehr länger hinhalten kannst, wähle keine allzu große Fluggeschwindigkeit.«
* Der nächste Schritt kostete Abenwosch erneut Überwindung. Aber er wusste, dass er Hilfe brauchen konnte. Einen Rat, den sein toter Vater ihm nicht mehr geben konnte. Er nahm Kontakt zum alten Olmon auf. »Wenn du mich sprechen möchtest«, antwortete dieser über die Kommunikationsanlage, »erwarte ich dich in meiner Kabine.« Abenwosch überlegte zuerst, den Alten zu sich zu befehlen, entschied sich jedoch anders und schluckte seinen Stolz hinunter. Es würde ohnehin schneller gehen, wenn er sich selbst auf den Weg machte. Er hatte keine Zeit zu verschwenden. Er verließ die TIA, nutzte Transportbänder, eilte durch eine Unzahl Tuilerien und stand bald dem greisen Jucla gegenüber. Wieder einmal. »Vor zwei Tagen in der großen Tuilerie bat ich dich, mich bald aufzusuchen«, sagte Olmon zufrieden, als sie sich am Tisch gegenübersaßen. »Ich freue mich, dass du die-
ser Einladung gefolgt bist. Du hast erkannt, dass das Ungestüm der Jugend nicht alles ist, Abenwosch?« »Ich war bereits gestern bei dir«, erinnerte er. Olmon winkte ab. »Dabei ging es nicht um den Kern der Sache. Diese Begegnung zählt nicht. Dennoch musste ich mit Bedauern feststellen, dass du meinem Rat nicht gefolgt bist. Das war ein Fehler. Du hast eine falsche Entscheidung getroffen.« Das habe ich in der Tat, dachte Abenwosch. Aber nicht so, wie du denkst. Sein Fehler war es gewesen, die Schiffe des Clans nicht kampfbereit zu machen, sondern den Komplex umzustrukturieren. Dass er zu diesem Zweck die alten Tuilerien zerstört hatte, bereute er nicht. »Ich will dich davon in Kenntnis setzen, was geschehen ist«, sagte er, ohne näher auf die Bemerkung des Alten einzugehen. »Also benötigst du die Dienste eines Beraters?« Olmon kicherte rau. »Es ehrt mich, dass du dabei an mich gedacht hast.« »Du hast meinem Vorgänger als Berater gedient.« »Und als Freund.« »Das qualifiziert dich dazu, auch mir einen Rat zu geben.« »Ich nehme dein Friedensangebot an.« Die Worte berührten Abenwosch unangenehm. Er fühlte sich immer stärker zu Olmon hingezogen. Er berichtete dem Greis von der Begegnung mit der MARKASCH und dem Gespräch mit Kommandant Sabylchin. »Du hast den Rückzug befohlen«, wiederholte Olmon bedächtig. »Damit hast du eine gute Entscheidung getroffen, die ich dir nicht zugetraut hätte. Es steckt mehr in dir, als ich bislang glaubte.« Schwerfällig erhob er sich und wanderte in der engen Kabine hin und her. Einen Moment lang fühlte sich Abenwosch, als sei er wieder der junge Scytim und rede mit seinem Vater. Er verdrängte den Gedanken ebenso wie das in ihm aufblitzende Bild blutbesudelten Metalls und
30 blickloser, starrer Augen. »Meine Mannschaft drängt es danach zu kämpfen.« »Es wäre ein Kampf gewesen, der uns alle vernichtet hätte.« »Was wäre, wenn wir jetzt den Komplex auflösen, in Kampfformation gehen und zurückkehren? Die Ganjasen sind uns überlegen, aber ein Sieg ist möglich!« »Bist du bereit, gleich nach deinem Amtsantritt zum Verräter zu werden, nur um die Gelüste deiner Untergebenen zu befriedigen? Bist du bereit, einen hohen Blutzoll zu zahlen, nur um möglicherweise einen unehrenhaften Sieg zu erringen?« Wie zufällig wanderte Olmons Hand über die Tischplatte und strich mehrfach über die Kerbe, die der Wurfdolch Abenwoschs gestern hinterlassen hatte. »Das bin ich nicht, und das weißt du.« »Ich sehe dir an, dass du in Wirklichkeit über etwas ganz anderes nachdenkst.« »Was würdest du tun?«, fragte Abenwosch ablenkend. Er war an der Meinung des Alten tatsächlich interessiert. Zwischen ihnen herrschte eine stille Übereinkunft, ein wachsendes Vertrauen. Der Alte schwieg einen Augenblick. »Hier im Halo Gruelfins ist heimlich ein Pedopeiler stationiert worden. Und wenn wir schon mit diesem Geheimnis konfrontiert sind, stellt sich die Frage, ob es für uns lukrativ sein könnte. Sehen wir den Tatsachen ins Auge: Unser Schiffsmaterial ist ausreichend, kleine und wehrlose Planeten auszurauben, aber gegen gut ausgerüstete Kampfschiffe sind wir unterlegen. Wenn wir jedoch hier bleiben und beobachten …« Er sprach den Satz nicht zu Ende. »Du denkst wie ich, Olmon.« »Wer hätte das gestern noch gedacht? Ich bin nicht der weltfremde, sentimentale Narr, für den du mich hältst. Ich habe lediglich einen anderen Blickwinkel als du.« Neben der Aussicht auf möglichen Profit hielt Abenwosch die Neugierde im Griff. Was suchte ein Pedopeiler so weit abseits vom Machtzentrum der Ganjasen? »Wir werden uns in den Ortungsschatten einer
Christian Montillon Sonne begeben und dort vorsorglich den Kampfmodus der Flotte herstellen«, entschied Abenwosch. »Dann werden wir abwarten und sehen, was hier tatsächlich vor sich geht.«
6. Atlan: bittere Erkenntnisse Der Transport vollzog sich völlig unspektakulär. Wir jagten in das Pedotransmitterfeld, und scheinbar ohne jeglichen Zeitverlust traten wir aus dem Empfangsfeld wieder aus. Sechzehn Millionen Lichtjahre in einem Atemzug. Eben hatte sich die AVACYN noch in Dwingeloo befunden – nun war ich mit ihr zur Milchstraße zurückgekehrt. Erleichterung erfasste mich. Aber auch große Sorge. Wieder fragte ich mich bang, was während der letzten Monate hier in der heimatlichen Galaxis geschehen war. Waren die niederträchtigen Pläne der Lordrichter erfolgreich gewesen? War das mir zuletzt bekannte Machtgefüge möglicherweise schon zerbrochen? Hatten die Lordrichter, ähnlich wie es in Gruelfin geschehen sein sollte, die Milchstraße in einen blutigen Krieg gestürzt? Ich wandte mich an die Kommandantin Carmyn Oshmosh. »Ich möchte möglichst schnell …« In diesem Augenblick erkannte ich, dass etwas ganz und gar nicht nach Plan verlaufen war. Wir waren im Empfangsfeld eines Pedopeilers materialisiert, aber es handelte sich nicht um die SYVERON! Wir befanden uns auch nicht in der Nähe der namenlosen Sonne, in deren Ortungsschatten wir Heroshan Offshanors Pedopeiler zurückgelassen hatten. »Was ist hier los?«, dröhnte Carmyn Oshmoshs Frage durch die Zentrale. Von einer Sekunde auf die andere war sie wie verwandelt. Sie hielt ihren Körper gestrafft, ihre Augen blitzten vor Erregung. Ihre Stimme drang bis in den letzten Winkel des Raumes. Myreilune, die Pilotin, schwieg. Sie starr-
Todeszone Schimayn te auf die Anzeigen ihrer Displays und wirkte mehr als verwirrt. Ypt Karmasyn, eine 38 Jahre alte Ganjasin, meldete sich zu Wort. Sie war für Funk und Ortung zuständig. Pockenartige Narben verunzierten ihr rundliches Gesicht, das nicht besonders vorteilhaft von schwarzem Haar umrahmt wurde. »Eine Nachricht des Kommandanten des Pedopeilers kommt herein. Es handelt sich um die MARKASCH.« Diese Mitteilung traf Carmyn Oshmosh wie ein Schlag. Ihre ohnehin blasse Gesichtshaut verlor noch mehr Farbe. »Die MARKASCH?«, rief sie. Der Name schien ihr geläufig zu sein. Ich beobachtete sie verblüfft. Plötzlich war sie ganz Kommandantin und alles andere als eine farblose Persönlichkeit. Im Gegenteil – Carmyn Oshmosh strahlte gewaltiges Charisma aus und behielt in dieser Notsituation den Überblick. Sie sprach mit dem Kommandanten der MARKASCH. Betrachte die Sternenlandschaft, meldete sich mein Logiksektor. Ein böser Verdacht stieg in mir auf. Wir waren offensichtlich nicht an dem Ziel materialisiert, mit dem wir alle gerechnet hatten. Ein anderer Pedopeiler hatte uns als Empfangsstation gedient. Das konnte kein Zufall sein. Ich dachte an Aruma Cuyt, der uns auf den Weg geschickt hatte. Die Worte, die wir gewechselt hatten, stiegen wieder in mir auf … werden sich die Lordrichter um die beiden Galaxien kümmern, die unsere Heimat sind. Mein Gruelfin, deine Milchstraße … Außerdem glaubte ich die uns umgebenden Sternenkonstellationen zu erkennen. Ich hatte sie schon einmal gesehen, mich sogar längere Zeit hier aufgehalten. All diese Überlegungen führten zu einem einzigen Ergebnis: Dies war nicht die Milchstraße. Wir befanden uns im Sombreronebel. Carmyn Oshmosh bestätigte diese Schlussfolgerung. Sie hatte den ersten Informationsaustausch mit der MARKASCH beendet und setzte uns von dem in Kenntnis, was ich längst wusste. »Gruelfin!«, rief sie.
31 »Aruma Cuyt hat uns nach Gruelfin geschickt!«
* »Du wusstest nichts davon?«, vergewisserte ich mich, obwohl ihre Reaktion für sich sprach. Sie trat dicht vor mich. »Was immer Aruma Cuyt dazu bewogen hat, uns zu betrügen, ich war nicht eingeweiht.« Empörung stand ihr ins Gesicht geschrieben. »Was hast du im Gespräch mit dem Kommandanten der MARKASCH erfahren?« »Sein Name ist Sabylchin. Er hat uns erwartet. Aruma Cuyt hat ihm unsere Ankunft angekündigt. Mehr weiß ich noch nicht.« »Ich muss mit ihm sprechen«, verlangte ich. Carmyn Oshmosh nickte. »Ihm blieb angeblich noch keine Zeit, die Situation einzuschätzen. Er sagte, er wurde durch Aruma Cuyts Ankündigung selbst überrascht. Sabylchin wird sich in Kürze wieder bei uns melden, bat uns, bis dahin abzuwarten.« Sie lächelte bitter. »Das heißt, eigentlich war es weniger eine Bitte als vielmehr ein Befehl.« Uns blieb nichts anderes übrig, als zu gehorchen. In mir kochte es. Cuyt hatte mich betrogen, seine Freundschaft war nur gespielt. Es war ihm wohl sicherer erschienen, mich anzulügen, als zu versuchen, mich zu überzeugen. Also hatte er mich schlicht vor vollendete Tatsachen gestellt. Seine Methode war hinterhältig, aber effektiv. Oder wärst du freiwillig hierher nach Gruelfin gesprungen anstatt die Milchstraße aufzusuchen? Die Funkerin Ypt Karmasyn meldete sich erneut zu Wort: »Soeben wurde eine Nachricht freigegeben, die schon vor unserem Aufbruch in die Bordsysteme eingespeist worden ist.« Dann griff sie nach einer Flasche, die in einer Spezialhalterung an ihrem Sitz steckte. Darin befand sich ein Getränk von sämiger Konsistenz. Die Funkerin nahm einen kräftigen Schluck. »Auf meine Konsole!«, befahl die Kom-
32 mandantin. Jetzt, da sie gefordert war, war nichts mehr von ihrer Unscheinbarkeit übrig geblieben. Sie entschied schnell und effektiv, konnte sich auf die neuen Begebenheiten sofort einstellen. Ich wunderte mich nicht mehr, wie sie ihren Rang erreicht hatte. Sie rief mich zu sich. »Die Botschaft stammt von Aruma Cuyt und ist an dich adressiert.« Ich stellte mich neben Carmyn Oshmosh, die in ihrem Stuhl saß. Auf dem Hauptbildschirm der Konsole erschien das Gesicht des Kommandanten der CAVALDASCH. »Atlan«, sprach er mich an, als sei es keine Aufzeichnung, sondern der Beginn eines Gespräches. »Was ich getan habe, ist mir nicht leicht gefallen. Du weißt inzwischen, dass ich zu einer List gegriffen habe, und dafür entschuldige ich mich ausdrücklich. Ich habe nicht aus egoistischen Gründen so gehandelt, sondern aus Liebe zu meinem Volk. Und aus einer Notwendigkeit heraus. Es war keine einfache Entscheidung. Ich musste sie schnell treffen, und ich konnte kaum jemanden befragen. Nur ein Berater stand mir beiseite. Du kennst Eide Symtosch nicht, aber ich möchte betonen, dass er mit mir einer Meinung war.« Aruma Cuyt schwieg und schloss die Augen. Seine Worte arbeiteten in mir. Was halfen mir die Beteuerungen des Kommandanten? Nach wenigen Sekunden redete er weiter. »Ich sagte dir in unserem Gespräch, dass ich nicht an Zufall und Schicksal glaube. Dennoch scheint es, als habe es so sein sollen, dass ausgerechnet ich dich auf diesem verlassenen Planeten gefunden habe. Mir steht ein Pedopeiler zur Verfügung und damit die Möglichkeit, dich nach Gruelfin zu schicken. Ich bitte dich um Vergebung, und ich betone noch einmal, dass ich es einzig und allein aus Liebe zu meinem Volk und zu meiner Heimat getan habe. Gruelfin braucht dich. Ich habe unehrenhaft gehandelt, und diese Schuld wird immer auf mir lasten. Ich bitte dich, den Ganjasen in der MARKASCH jede dir mögliche Unterstützung
Christian Montillon zukommen zu lassen, denn sie haben eine wichtige Aufgabe zu erfüllen. Du genießt einen guten Ruf unter den Angehörigen meines Volkes, und du verfügst über gewaltige Erfahrung. Ich wiederhole meinen Appell, Atlan: Hilf meinem Volk!« Jetzt erst öffnete Cuyt die Augen wieder. Bis jetzt war seine Stimme hart gewesen, doch nun wurde sie unsicher, als schäme er sich dessen, was er zu sagen hatte. »Kommandant Sabylchin von der MARKASCH ist soeben durch einen vollautomatisierten Funkspruch angewiesen worden, dir unter keinen Umständen die Rückkehr nach Dwingeloo zu erlauben oder den Weg in die Milchstraße zu ermöglichen. Es gibt noch etwas, das ich dir berichten muss. Ein Bote teilte unserem Volk mit, dass möglicherweise sogar Ovarons Bewusstsein in Gefahr sei. Nicht nur alle Völker der Cappins brauchen deine Hilfe, sondern auch der Ewige Ganjo, dein ehemaliger Weggefährte. Suche Kommandant Sabylchin auf, er wird dir mehr darüber berichten.« Wieder schwieg er kurz. »Ich wünsche dir alles Gute und jeden nur denkbaren Erfolg. Und bitte vergiss nicht, dass ich mir darüber im Klaren bin, was ich getan habe.« Danach wurde der Bildschirm dunkel. Carmyn Oshmosh warf mir einen bedeutungsvollen Blick zu, dann wandte sie sich an Ypt Karmasyn. »Ist soeben ein automatisierter Funkspruch abgegangen?« Die Funkerin bejahte. »Als die Wiedergabe der Botschaft Aruma Cuyts begann«, präzisierte sie. »Ich konnte es nicht verhindern, denn …« »Ich weiß«, unterbrach die Kommandantin. »Ich will sofort unterrichtet werden, wenn sich Sabylchin wieder meldet! Bis dahin warten wir auf dieser Position ab.« Sie wandte sich an mich. »Wir sollten uns zurückziehen. Wir müssen ungestört reden.« Carmyn Oshmosh führte mich in einen winzigen Raum. Auf einem Beiboot von 70 Metern Länge wie der AVACYN blieb wenig Platz für alles, was nicht dringend notwendig war, zumal sich zurzeit zehn Besat-
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zungsmitglieder an Bord befanden. »Ich bin genauso überrascht wie du«, versicherte sie. »Davon bin ich überzeugt.« Wir standen nahe zusammen, die schmucklosen Metallwände des kleinen Raumes im Rücken. Carmyn Oshmosh sah zu mir auf. Obwohl sie nicht gerade klein war, überragte ich sie um einige Zentimeter. »Vor dem Sprung glaubten wir, den Pedoleitstrahl der SYVERON in der Milchstraße angepolt zu haben. Aruma Cuyt muss die Kennung der CAVALDASCH hier in Gruelfin verfälscht haben. Er hat uns ebenso getäuscht wie dich.« »Eine groß angelegte Irreführung, die er in kürzester Zeit plante«, folgerte ich bitter. Ich hatte mich nur wenige Stunden an Bord seiner CAVALDASCH aufgehalten. »Ich kann verstehen, dass er so handelte.« Sie lächelte flüchtig. »Auch wenn ich es nicht gutheiße.« »Er sprach davon, dass Ovarons Bewusstsein in Gefahr sein könnte. Was weißt du darüber?« »Ich höre zum ersten Mal davon. Auch der Bote, den Aruma Cuyt erwähnte, ist mir unbekannt.« Ihre Antwort überraschte mich nicht. Ich verknüpfte viele Erinnerungen mit Ovaron. Vor langer Zeit hatte er einen Zellaktivator getragen, der in seinem Fall zu einem qualvollen körperlichen Ende geführt hatte. Die Pedotransferfähigkeit vertrug sich nicht mit dem Zellaktivator, so dass er nach Jahren, in denen er nur in einer Nährflüssigkeit überleben konnte, schließlich im Jahr 3580 alter Zeitrechnung starb. Später stellte sich heraus, dass sein Geist immer noch existierte und letztendlich mit Hilfe eines Gängers des Netzes nach Gruelfin zurückkehren konnte. Ich hatte seit vielen Jahrhunderten nichts mehr von ihm gehört. Es hieß, dass … Der plötzliche Alarm riss mich aus meinen Erinnerungen.
* Carmyn Oshmosh und ich rannten zurück
in die Zentrale. Dort war hektische Aktivität ausgebrochen. Myreilune gab hastig einen Ausweichkurs ein. Ypt Karmasyn, die pockennarbige Orterin, meldete: »Der Pedopeiler wird angegriffen.« Um uns loderte der Weltraum in grellen Farben. Ein ganjasisches Schiff der KELTATRON-Klasse von 450 Metern Länge verging unter dem konzentrierten Beschuss der noch unbekannten Angreifer. Dicht neben der AVACYN explodierte es. Glühende und in der eisigen Kälte des Vakuums sofort erlöschende Trümmerteile sausten in alle Richtungen. Myreilune hatte bereits unsere Schutzschirme aktiviert. Ein winziges Trümmerstück des zerstörten Schiffes verdampfte im zweifach gestaffelten Hochenergie-Hybridschirm. Doch davon spürten wir nichts. Nicht die geringste Erschütterung durchlief die Zentrale. Wieder bewies Carmyn Oshmosh ihre Führungsqualitäten. Sie stellte sich sofort auf die neue Situation ein. Angesichts des um uns herum tobenden Kampfes behielt sie einen kühlen Kopf. »Ich brauche genaue Daten!«, befahl sie in Richtung Ypt Karmasyns. Dann wandte sie sich an mich. »Deine Erfahrung kann uns helfen.« Das war eine weise Entscheidung. Ich versuchte mir einen Überblick zu verschaffen. Die Orterin meldete: »Bei den Angreifern handelt es sich um Takerer. Sie sind in der Überzahl, und noch weitere Einheiten fallen aus dem Hyperraum. Die MARKASCH hat kaum eine Chance.« »Das ist nicht unser Kampf!«, rief Myreilune. In der Stimme der Pilotin flackerte Panik auf. »Niemand von uns sollte hier sein!« Die Takerer bildeten ebenso ein Volk der Cappins wie die Ganjasen. Ich erlebte zum ersten Mal einen Teil jenes Bruderkrieges, der Gruelfin mit Chaos und Tod überzog und der auf die Intrigen der Lordrichter zu-
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Christian Montillon
rückging. In Dwingeloo hatte ich bereits davon gehört. Und genau deswegen hatte Aruma Cuyt mich hierher geschickt. Mitten hinein in die Hölle. War es also doch unser Kampf oder zumindest der aller Ganjasen? Ich war der einzige Nicht-Cappin an Bord. Der Pedopeiler hatte das Feuer auf die Angreifer längst eröffnet. Strahlenschüsse jagten durch den Weltraum. »Weitere Einheiten fallen aus dem Hyperraum«, meldete die Orterin. »Ebenfalls takerisch. Sechs 800-Meter-Raumer. Außerdem …« Ich hörte nicht hin. Unwillkürlich durchzuckte mich ein Gedanke. Es war genau wie bei meinem ersten Pedotransmittersprung nach Dwingeloo. Nur dass diesmal einige Minuten vergangen waren, ehe der Angriff begann. Damals stürmten Truppen der Garbyor die ERYSGAN, heute kämpfte Cappin gegen Cappin. Doch es schien auf dasselbe Ende hinauszulaufen – die Zerstörung des Pedopeilers. »Kontakt zur MARKASCH«, rief Ypt Karmasyn. »Kommandant Sabylchin.« »Atlan«, ertönte die markige Stimme des Ganjasen. Ich bemerkte, dass er mich als Verantwortlichen ansprach, nicht Carmyn Oshmosh. »Es bleibt keine Zeit. Schließ dich uns an. Hilf uns bei der Verteidigung. Der Pedopeiler darf unter keinen Umständen zerstört werden. Sabylchin Ende.« Die Verbindung brach ab. »Mehrere Treffer! Noch halten die Schutzschirme«, setzte Carmyn Oshmosh ihre Besatzung in Kenntnis. Auf die Kompetenzfrage ging sie nicht ein. Dann gab sie weitere Befehle. »Ausweichkurs! Feuer auf die Takerer eröffnen!« Die Schlacht hatte begonnen.
7. An Bord der TIA: Zeit und Vergänglichkeit Abenwosch-Pecayl 966. triumphierte. Er hatte Recht behalten! Es war lohnenswert gewesen, in der Nähe des Pedopeilers zu
bleiben und zu beobachten. Der Stellvertretende Kommandant der TIA meldete, dass etliche Schiffe aus dem Hyperraum gefallen waren und das Feuer auf die CAVALDASCH eröffnet hatten. »Dort hat eine Schlacht begonnen, Abenwosch. Bei den Angreifern handelt es sich ebenfalls um Cappins. Genaueres konnten wir bislang nicht herausfinden. Mehrere Einheiten der Ganjasen sind bereits gefallen. Auch ein Schiff der Angreifer explodierte unter konzentriertem Beschuss.« »Ich brauche weitere Einzelheiten, Maliug!« »Noch läuft die Ortung«, vertröstete dieser seinen Anführer. »Die ersten Schüsse sind erst vor wenigen Augenblicken abgefeuert worden.« »Ich verlange, dass ich bald über alles informiert werde. Du trägst die volle Verantwortung. Um welches Volk handelt es sich bei den Angreifern, mit wie vielen Einheiten sind sie aufgetaucht? Welchen Verlauf nimmt die Schlacht?« Der Stellvertretende Kommandant bestätigte und entfernte sich. Abenwosch blieb im Beratungsraum des neuen Flaggschiffes zurück. Er war nicht allein. Nach wie vor befand sich der alte Olmon bei ihm. In den letzten Stunden war er ihm nicht von der Seite gewichen. »Ich merke, dass du immer unruhiger wirst.« Abenwosch lehnte sich mit dem Rücken gegen die Wand und sah zu dem alten Jucla auf, der ihm in den sich überschlagenden Ereignissen zu einem Ruhepol geworden war. Zum einzigen Ruhepunkt, der ihm Sicherheit gab. Abenwosch stieß ein kurzes Lachen aus. In der Tat überschlugen sich seine Gedanken. »Wie sollte es anders sein? Dies ist mein erster Tag als Abenwosch, gestern starb mein Vater. Seitdem habe ich einen groben Fehler begangen, habe dennoch den Clan vor der Vernichtung bewahrt, und …« »Und du hast einen Berater gewonnen«, unterbrach der Greis die hektisch vorgebrachte Aufzählung. »Mich, den du noch vor
Todeszone Schimayn zwei Tagen für deinen Feind gehalten hast.« »Feind ist wohl kaum das richtige Wort.« »Du warst der Meinung, ich sei nicht für dich, also war ich in deinen Augen gegen dich.« Olmon verschränkte die Arme vor der Brust. »Dein Feind.« In Abenwoschs erschöpfter Seele regte sich tatsächlich etwas. Olmon bezeichnete es als Unruhe. Er selbst nannte es Kampfeswillen, die Lust, zu töten und seinen Aggressionen freien Lauf zu lassen. Das zu tun, wozu er als Jucla bestimmt war. Sein Inneres war aus dem Gleichgewicht geraten, seit er während der Konfrontation mit Kommandant Sabylchin seine Ohnmacht eingestanden hatte. Ein taktischer Rückzug entsprach nicht der Mentalität der Juclas. Alles in ihm hatte danach gedrängt, in einen Kampf ohne Rückkehr zu ziehen und so viele Gegner wie möglich mit in den Untergang zu reißen. »Du schweigst, Abenwosch?« »Ich denke darüber nach, was ich bin. Welchen Weg ich eingeschlagen habe. Und ob es richtig ist, wie ich handle.« »Was richtig oder falsch ist, wirst du nicht in der Hektik erkennen. Ich sagte es dir schon bei unserer Begegnung in den Tuilerien: Gerade du brauchst Ruhe. Wer Verantwortung trägt, muss nach der Wahrheit streben. Nur dann findest du die Weisheit, die du benötigst, um den Clan zu führen. Und die Wahrheit wiederum liegt in der Schönheit verborgen, die sich dir erst erschließt, wenn du innehältst. Du darfst deine Entscheidungen nicht übereilt treffen.« Philosophie, dachte Abenwosch verächtlich. Es gelang ihm jedoch nicht mehr so einfach wie noch vor kurzem, die Worte des Alten abzutun. Er spürte, dass Wahrheit in Olmons Worten steckte. Diese Gewissheit brachte sein Inneres noch stärker in Aufruhr. Sein ganzes Leben lang war er der Meinung gewesen, das Alter sei die Zeit der Schwäche und Nutzlosigkeit. Zuletzt hatte er die ultimative Bestätigung seiner Worte im Leben seines Vorgängers gefunden. Früher, als er noch seinen Geburtsnamen
35 Scytim getragen hatte, hatte er mit der Unerschütterlichkeit jugendlichen Ungestüms gewusst, dass die Lösung aller Probleme in der Hand seiner eigenen Generation lag. Damals war ihm klar gewesen, dass jeder, der das Ende des dritten Lebensjahrzehnts erreichte, die Existenzberechtigung verwirkt hatte. Vielleicht mit einer einzigen Ausnahme, seinem Vater Pelyr. Denn dieser hielt seinen Körper durch hartes Training beweglich und stark, so dass er noch einige Jahre lang ein gutes Gefäß für seinen flexiblen Geist bilden würde. Scytim, pflegte sein Vater immer zu sagen, es wird Zeit! Zeit für einen Wechsel, Zeit …
* Sechs Jahre zuvor »… dass der Abenwosch abgelöst wird. Doch noch ist es nicht so weit, mein Sohn. Noch heißt es warten.« »Warten und beobachten! Und dann, wenn es so weit ist, zuschlagen.« Der sechsjährige Scytim wusste genau, was sein Vater hören wollte. Er hatte es ihm oft genug gepredigt. Pelyr lächelte milde. »So ist es, mein Sohn. Du hast gut aufgepasst.« Scytim sah zu seinem Vater mit Bewunderung auf. »Ich verinnerliche deine Lehre. Alles andere wäre Dummheit.« »Ich muss in die Zentrale. Die TIA ist ausgewählt worden, einen Raubzug zu leiten.« »Darf ich dich begleiten?« Scytim fühlte in seinem Magen das gewisse Ziehen, das sich immer einstellte, wenn Aussicht auf Kampf und Blut bestand. Er konnte es kaum erwarten, selbst in einen Bodeneinsatz geschickt zu werden und seine Fähigkeiten nicht nur im Training einzusetzen. Er wollte endlich einem Gegner in die Augen sehen, wenn der Blick brach und der Lebensfunke darin erlosch. Er sehnte sich danach, eine Kehle durchzuschneiden und nicht gezwungen zu sein, den im Kampftraining Besiegten aufstehen und wegziehen zu lassen. Die
36 Erregung ließ seine Finger zittern. Pelyr schüttelte den Kopf. »Gedulde dich, Kind.« Scytim hasste es, wenn sein Vater ihn so nannte. Er war kein Kind mehr! Die Zeit der Unmündigkeit war längst vorbei. Andere in seinem Alter hatten den Kampfrausch bereits erleben dürfen, hatten getötet oder waren selbst getötet worden. Der Gedanke daran schreckte Scytim nicht. War es nicht viel besser zu sterben, als untätig abzuwarten? Er schluckte die scharfe Erwiderung, die ihm auf der Zunge lag, hinunter. Diese Diskussion hatte er schon viel zu oft geführt. Einmal hatte er sich in ein Beiboot geschlichen, das auf Raubzug ging. Er war bereit gewesen! Er hatte sich nicht aufhalten lassen wollen, egal was sein Vater sagte. Über die Konsequenzen hatte er sich keine Gedanken gemacht; und sie waren hart gewesen. Er hatte die Strafe für etwas tragen müssen, was nie geschehen war, denn er war noch vor dem Start des Beibootes entdeckt worden. Sein Vater hatte ihn gezüchtigt, körperlich und seelisch. Scytim erinnerte sich genau an jede Einzelheit, aber am deutlichsten sah er die Enttäuschung im Gesicht Pelyrs vor sich. Dieser Anblick war es, der verhinderte, dass er noch einmal gegen den Willen seines Vaters handeln würde. Strafen konnte er ertragen, Wunden würden heilen, Dunkelhaft ging vorüber; aber der Ausdruck in den Augen seines Vaters verfolgte ihn noch heute in seinen Träumen. »Für dich habe ich etwas Besseres vorgesehen, Scytim. Geh, suche Lakim auf.« »Den Sohn des Abenwosch?« Pelyr lächelte schmallippig. »Ich habe ein besonderes Kampftraining für dich arrangiert. Sieh es als Ehre an. Du wirst gegen Lakim kämpfen.« Seine Stimme klang lauernd. »Besiege ihn, Scytim. Demütige ihn vor allen, die zusehen. Zeig, dass die genetische Herrscherlinie nicht alles ist. Lakim ist als Nachfolger seines Vaters ausersehen, aber …« »Er ist ein Schwächling«, rief Scytim im-
Christian Montillon pulsiv. Sein Vater ging nicht darauf ein. »Du kannst heute ein Zeichen setzen, mein Sohn! Tu das, was niemand sonst wagt: Besiege Lakim! Wirf ihn zu Boden, verletze ihn, lass sein Blut fließen. Es wird sich rasch im ganzen Komplex herumsprechen, und das soll der Anfang sein, den Glauben in die genetische Herrscherlinie zu zerstören.« Pelyr wandte sich ab. »Ich vertraue auf dich.« Scytim sah den breiten Rücken seines Vaters, die Uniform, die sich eng über die Schultern spannte. Den von grauem Haar bedeckten Nacken. »Ich werde dein Vertrauen nicht enttäuschen.« Denn schon bald wirst du der Abenwosch sein, und ich, dein Sohn, werde dir irgendwann in die Herrscherposition folgen, wenn wir eine neue genetische Linie geschaffen haben! Scytim blieb allein zurück und versuchte, der Gefühlsflut in seinem Inneren Herr zu werden. Er war enttäuscht, nicht mit in den Kampf ziehen zu dürfen, aber gleichzeitig verspürte er Begeisterung über das bevorstehende Treffen und die Auseinandersetzung mit Lakim. Dazu gesellte sich immer stärkerer Blutdurst. Dem Wunsch seines Vaters würde er nur allzu gerne entsprechen. Er hatte nicht den geringsten Zweifel daran, dass er Lakim besiegen konnte. Demütige ihn … wirf ihn zu Boden … verletze ihn … lass sein Blut fließen … Scytim zog den Wurfdolch, bewunderte die glatte, reflektierende Schneide. Er ließ die Klinge ohne jeden Druck über seinen Handballen gleiten. Das Metall drang trotzdem durch seine oberen Hautschichten. Scytim lächelte, hob den Dolch und ballte die Hand. Dunkel quoll sein Blut zwischen den Fingern hindurch und tropfte zu Boden. Es sollte nicht das letzte Blut sein, das heute fließen würde. Er fieberte dem Kampftraining in der Versammlungshalle des Flaggschiffs entgegen, einem großen Raum, dessen einziger Einrichtungsgegenstand eine erhöhte Plattform war, auf der die Trainingskämpfe stattfan-
Todeszone Schimayn den. Dutzende Neugierige fanden sich ein, um den Kampf zu beobachten. Scytim ließ den Blick schweifen. Wenn bekannt wäre, was heute geschehen wird, wären nicht nur Dutzende gekommen, sondern Hunderte. Es war bei weitem nicht der erste Schaukampf, den der Sohn des Abenwosch ausfocht, aber es würde der erste werden, in dem die ungeschriebene Regel gebrochen wurde. Denn bislang hatte der Sieger von vornherein immer festgestanden – Lakim. Keiner hatte es je gewagt, über den Herrschersohn zu triumphieren, denn so war es Tradition. Deshalb hatten sich alle besiegen lassen, so getan, als seien sie unterlegen. Schwächlinge! Erbärmliche Feiglinge! Die beiden Gegner bestiegen unter großem Geschrei der Zuschauer die Plattform und stellten sich auf ihre Positionen. »Möge der Bessere gewinnen«, sprach Lakim die traditionellen Worte. Scytim musterte ihn verächtlich. Lakim war zwar zwei Jahre älter und einige Zentimeter größer als er, aber er war hager und schwächlich. Syctim lachte. Welcher Hohn aus den festgelegten Eröffnungsworten sprach! »So soll es sein«, antwortete er und führte den Dolch in einem Halbkreis vor seinem Körper, zog dann die Hand an, legte sie an seine Brust und knickte das Handgelenk, so dass die Klinge auf seinen Gegner wies. Lakims Mundwinkel zuckten. Die letzten Worte entsprachen nicht dem Ritual. Nach dem ersten Satz verlief der Kampf üblicherweise schweigend. Scytim hoffte, dass dem Weichling schon in diesem Moment klar wurde, dass dieses Mal alles anders kommen würde. Er stürmte los, stieß die Waffenhand nach vorne. Noch ehe sein Gegner begriff, was geschah, schlitzte die Klinge seine Oberbekleidung über der Schulter auf und schnitt ihm einige der schwarzen Haare ab. Gleichzeitig schlug Scytim mit der Linken zu, rammte Lakim die Faust in die Magengrube.
37 In derselben Bewegung rannte er an seinem Gegner vorbei, wirbelte herum, warf den Dolch in die Luft. Er überschlug sich mehrfach, ehe Scytim ihn mit der Linken wieder auffing. »Was ist, Lakim?«, rief er höhnisch. »Willst du noch lange Maulaffen feilhalten?« Einer der Zuschauer schrie auf, erschrocken, verwundert, begeistert. Beiläufig und zufrieden erkannte Scytim, dass es sich um Lamain handelte. Die unnahbare Lamain, von der er mehr als einmal geträumt hatte. Aufgeregtes Stimmengemurmel machte sich unter den Zuschauern breit. Lakim krümmte sich unwillkürlich, streckte sich nur mühsam wieder. Sein Blick huschte zu seiner Schulter, sah die zerschnittene Kleidung. Die Klinge hatte seine Haut nicht einmal geritzt. »Du wagst es …« »Möge der Bessere gewinnen«, unterbrach Scytim kalt. »Hast du das nicht selbst gesagt?« Lakim brüllte voll Zorn, als er losstürmte. Sein Angriff war plump, Scytim parierte mühelos. Er riss das Knie hoch, rammte es Lakim zwischen die Beine. Dieser schnappte nach Luft und stöhnte. Scytim warf den Dolch erneut in die Luft, stieß mit beiden Handballen gegen Lakims Brust und fing die Waffe auf, ehe sie zu Boden fallen konnte. Lakim taumelte zurück, die Augen fassungslos geweitet. Er trat über den Rand der Plattform, verlor den Halt und stürzte. Hart schlug er rücklings auf, auch der Kopf prallte auf den Boden. Scytim lachte höhnisch. »Ist das alles, was du zu bieten hast?« Lakim stöhnte, rollte sich zur Seite und erhob sich. Sein Gesicht verzerrte sich zu einer Grimasse des Hasses. »Du willst echten Kampf? Du sollst ihn haben!« Er drehte sich zu den Zuschauern um. »Raus hier! Alle raus!« Ein dünner Blutfaden rann aus seinem Mundwinkel über das Kinn. »Du willst nicht, dass jemand deine Niederlage sieht?«, fragte Scytim. »Niemand soll sehen, was hier geschehen
38 wird. Dies ist kein Training mehr, Scytim!« »Das kommt mir gerade recht.« Alles in ihm schrie nach Blut. Sein klares Denken war ausgeschaltet. Demütige ihn … wirf ihn zu Boden … verletze ihn … lass sein Blut fließen … »Was ist?«, schrie Lakim. »Habt ihr es nicht gehört? Raus! Ich bin der Sohn des Abenwosch, und ich befehle es euch!« Scytim lachte. Ein Kampf ohne Regeln war genau nach seinem Geschmack. Vielleicht würde die Gier in seinem Inneren endlich gestillt werden. Einer nach dem anderen verließ die Halle. Scytim wusste, dass sich die Nachricht von den Ereignissen bereits jetzt im ganzen Komplex verbreitete. Das Ergebnis des Kampfes würde nicht geheim bleiben. Damit erfüllte Scytim die Bitte seines Vaters. Und lag es an ihm, dass Lakim mehr forderte? Bald waren die beiden allein. Lakim kletterte wieder auf die Plattform. »Du hast keine Chance«, sagte Scytim kalt. »Ich war bis jetzt immer siegreich.« »Weil jeder dich gewinnen ließ. Bist du so erbärmlich, dass du das nicht einmal weißt?« Lakim spuckte Schleim und Blut auf den Boden. »Pass auf, was du sagst.« »Und du solltest darauf achten, was ich tue.« Scytim ging einen Schritt auf seinen Gegner zu. »Wir werden den anderen nicht töten. Das ist die einzige Grenze.« Lakims Blick flackerte. »Die einzige Grenze«, wiederholte er. Während des letzten Wortes schleuderte er seinen Dolch. Scytim war darüber völlig überrascht und reagierte zu spät. Die Klinge drang ihm in den linken Oberarm. Lakim lachte triumphierend. Du bist ein Narr!, dachte Scytim trotz der Schmerzen, die in ihm explodierten. Jetzt war Lakim waffenlos. Er zog den Dolch aus seinem Arm und unterdrückte einen Schrei. Sein linker Arm wurde taub, der Ärmel seiner Uniform füllte sich mit warmer, schwerer Nässe. »Das hättest du nicht tun sollen!«, schrie er und steckte den Dolch in die Schei-
Christian Montillon de, die er an seinem Bein trug. »Nun habe ich zwei Klingen und du keine.« Doch da zog Lakim eine zweite Waffe. »Dies ist ein Kampf ohne Regeln«, spottete er. »Du kannst aufgeben, wenn du willst.« »Es ist nicht erlaubt, das Kampftraining mit mehr als einer Waffe zu beginnen! Du bist ein erbärmlicher Betrüger.« »Sei vorsichtig, wie du mit dem Sohn des Abenwosch redest. Gib auf, Scytim. Deine Wunde …« »Ich besiege dich auch mit einem Arm.« Scytim stürmte vor, blind vor Zorn. Lakim wich zur Seite aus. Damit hatte Scytim gerechnet. Er wirbelte herum, trat Lakim voll in die Kniekehlen. Sein Gegner stürzte. Scytim war einen Augenblick später über ihm. Rasend vor Wut rammte er seine Faust in Lakims Gesicht. Es knirschte, und Blut schoss dem Getroffenen aus Mund und Nase. Scytim presste Lakims Waffenhand mit dem Knie auf den Boden. Der Sohn des Abenwosch zappelte hilflos unter ihm, hustete, spuckte einen Blutschwall aus. Scytim schlug erneut zu. Das Nasenbein brach. Dann erhob sich Scytim, blickte auf den Wimmernden hinab. »Nicht einmal mit schmutzigen Tricks gewinnst du«, sagte er verächtlich. Er spürte den Schmerz seiner eigenen Verletzung nicht. Triumph erfüllte ihn, als er in das unmenschlich verzerrte Gesicht seines Gegners blickte. Als Lakim sich zur Seite drehte und aufstand, lachte er. »Du willst weiterkämpfen?« Lakim atmete schwer. »Ich werde dich töten, Scytim.« Seine Stimme klang gepresst, spiegelte den Rausch ungezügelter Kampfleidenschaft wider, der auch Scytim ergriffen hatte. »Versuche es.« Lakim stürmte mit gesenktem Kopf heran. Scytim wartete eiskalt ab, hob den Wurfdolch. Er umklammerte den Griff der Waffe, seine Nägel bohrten sich in die Haut des Handballens. Beide Gegner wollten nur noch eins: den
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anderen töten. Leben auslöschen. Den Triumph des Sieges schmecken. Lakim brüllte, rannte ungedeckt weiter. Er rammte den Kopf gegen den verletzten, blutigen Arm seines Gegners. Scytim jaulte vor Schmerz auf. Seine Waffenhand zuckte instinktiv hinab, traf auf Widerstand. Mehr bemerkte er nicht. Seine Wahrnehmung verschwand hinter dunklen Wellen. Er schrie, stürzte, wusste nicht, ob die Schreie, die er hörte, nur von ihm stammten. Alles um ihn herum erlosch, klang plötzlich seltsam gedämpft. Jede Farbe verlor ihre Existenzberechtigung. Es wurde schwarz. Als er wieder zu sich kam, lag er in der Medostation der TIA. Mühsam öffnete er die Augen. Das Licht einer grellen Lampe bohrte sich wie Dolche durch die Augen in sein Gehirn. Es dauerte lange, bis er bemerkte, dass die Lampe nur einen schwachen, trüben Schein abstrahlte. Sein Vater stand neben ihm. »Ihr hättet beide sterben können«, tadelte er. »Fast hätte dein Arm amputiert werden müssen. Es wird Monate dauern, bis du ihn wieder vollständig einsetzen kannst.« »Und Lakim?«, ächzte Scytim. »Dein Dolch steckte bis zum Schaft in seinem Rücken, als man euch fand. Nur eine Notoperation rettete sein Leben.« Scytim atmete schwer. Er schloss die Augen und lächelte. Dieses Mal lag keine Enttäuschung in der Stimme seines Vaters. Sondern Anerkennung.
* Gegenwart »Ich erkenne an, dass du einige gute Entscheidungen getroffen hast«, sagte Olmon. »Dennoch wird dir keine andere Wahl bleiben, als dir Ruhe zu gönnen. Mein Rat an dich ist, innezuhalten.« »Es gilt abzuwarten, welche Nachrichten Maliug bringen wird«, antwortete Abenwosch ausweichend.
»Ich sehe es in deinen Augen, dass der Kampftrieb in dir groß ist. Dennoch darfst du dich nicht in die Schlacht, die dort draußen tobt, einmischen. Überwinde deine genetische Bestimmung, Abenwosch-Pecayl 966. Überwinde dich selbst.« Abenwosch sah zu seinem Berater auf. »Vielleicht wäre es klug zu kämpfen?« »Klug wäre es abzuwarten. Lass die beiden Parteien sich gegenseitig schwächen oder auslöschen. Dann sieh, ob du leichte Beute machen kannst. In den Wirren des Machtwechsels musstest du bereits zu viele überhastete Entscheidungen treffen. Du hast selbst gesehen, wohin das führte.« Nachdenklich musterte Abenwosch sein greises Gegenüber. »Das komplette Leben eines Juclas besteht aus Eile und Hast. Niemand hat Zeit. Wir leben schneller als alle anderen Cappins. Wir bewegen uns schneller als sie, wir schlafen weniger Stunden am Tag, wir …« »Wir lassen unser ganzes Dasein vom Tod bestimmen?« Olmon sank ächzend auf einen Stuhl. »Was willst du damit sagen?« »Warum tun wir Juclas all das, was du gerade aufgezählt hast? Es gibt nur einen einzigen Grund dafür: Wir wissen, dass wir früh sterben werden. Wir vergreisen, wenn andere Cappins noch nicht einmal in der Blüte ihrer Jahre angelangt sind.« Abenwosch schwieg. Was hätte er auch sagen sollen? »Ich habe Studien betrieben«, sagte Olmon überraschend. »In vielen Kulturen heißt es, man solle bedenken, dass man sterben wird, auf dass man klug wird. Für uns gilt umgekehrt: Wir müssen uns nicht bewusst machen, dass wir morgen sterben. Das wissen wir alle. Wir müssen uns darüber im Klaren sein, dass wir heute leben.« »Was nutzt mir dein Gerede?« Abenwosch kam nicht dazu, weiteren Widerspruch vorzubringen. Das Schott des Raumes glitt zur Seite. Maliug stürmte in den Raum. »Wir haben die Angreifer identifiziert. Es gibt keinen Zweifel«, meldete er
40 mit bebender Stimme. »Was hast du zu sagen?«, unterbrach Olmon. Sein Blick war dabei auf das Gesicht des jungen Abenwosch fixiert. Der Stellvertretende Kommandant der TIA beachtete den Alten nicht. »Es sind Takerer!« Abenwosch schloss die Augen, stieß die Luft aus und schlug mit der Faust gegen die Wand. »Takerer«, presste er heraus. Es waren die Takerer gewesen, die in verderblichen genetischen Experimenten vor Jahrtausenden die Juclas geschaffen hatten und sie zu ihrem kurzen, von Aggressionen gesteuerten Leben voller Kampf verdammten. Die Takerer, ihre schlimmsten Feinde. Das personifizierte Böse. »Ist der Kampfmodus unserer Schiffe hergestellt?« Maliug lächelte kalt. »Der Komplex ist völlig aufgelöst, Abenwosch.« »Bedenke, was du tust!«, rief Olmon. Abenwosch beachtete ihn nicht. Alles Reden über Philosophie und Selbstbeherrschung war mit einem Mal bedeutungslos geworden. Sein Herzschlag beschleunigte sich. Dort draußen tobte ein Kampf der Takerer gegen die Ganjasen. Es spielte keine Rolle mehr, was der überhebliche Kommandant des Pedopeilers MARKASCH ihm angetan hatte. Sabylchin kämpfte gegen die Takerer, und damit war er zu einem Verbündeten geworden. »Wir verlassen den Ortungsschutz der Sonne und greifen in den Kampf ein«, entschied Abenwosch. »Tod den Takerern!« »Wir wissen nichts über die genaue Kampfstärke der Takerer«, wandte Olmon von Panik erfüllt ein. »Selbst wenn wir unsere Schiffe den Ganjasen zur Seite stellen, sind die Takerer möglicherweise überlegen. Dort draußen tobt ein Krieg zwischen mächtigen Schiffen, die unsere alten Raumer zerstören können! Maliug, wie viele Einheiten …« »Schweig!«, unterbrach ihn Abenwosch rigoros. »Die Zeit des Redens ist vorbei. Die Zeit des Kampfes ist angebrochen!« Er verließ zusammen mit Maliug den Raum und
Christian Montillon lief in die Zentrale des Flaggschiffes, um den Angriff zu koordinieren.
* »Juclas des Ercourra-Clans! Ich bin erst seit einem Tag euer Anführer, und ihr habt das Recht zu erfahren, warum ich den Angriff befehle. Wir sind Cappins, und doch unterscheiden wir uns von all den anderen Völkern, die sich unsere genetischen Brüder nennen. Wir sind dazu verdammt, ein Leben zu führen, in dem innere und äußere Reife einander entgegenlaufen. Seit unser Volk vor Jahrtausenden gezüchtet wurde, sind wir darauf konditioniert zu kämpfen. Wir verdanken all unser Leid den Takerern. All unser Hass bündelt sich in diesem Namen. Dort draußen sind viele der verhassten Takerer. Dort draußen ist der Feind! Er bekämpft die Ganjasen, die ebenfalls nicht unsere Freunde sind, denn ein Jucla kennt keine Freunde außerhalb seines Volkes. Aber die Ganjasen sind nun unsere Verbündeten denn sie kämpfen gegen den Feind. So wie wir. Unser Leben dient ab jetzt nur noch einem einzigen Ziel: Tod den Takerern! Wir sind schwach, unsere Schiffe sind alt, aber wir haben dem Feind eines voraus: Wir haben Leidenschaft! Wir hassen aus der tiefsten Tiefe unseres Herzens! Wo er Technik hat, um uns zu zerschmettern, haben wir Wagemut und den Einsatz unseres Lebens. Wir wissen, dass wir sterben werden, aber dieses Wissen soll uns nicht mehr bremsen, sondern uns vorantreiben. Denn wenn wir heute sterben, dann soll es so sein. Wir kennen keine Angst! Wir ziehen los! Für uns! Für alle Juclas! Tod den Takerern!«
* Tausend Juclas in den 733 Schiffen des
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Ercourra-Clans schrien: Tod den Takerern.
8. Atlan: Zeuge Um uns tobte die Schlacht mit gnadenloser Härte. Die Angreifer gingen mit aller Gewalt vor. Immer wieder nahmen sie einen Raumer der Ganjasen unter konzentrierten Punktbeschuss, bis dessen Schutzschirm überlastet wurde und zusammenbrach. Sieben Schiffe der Ganjasen waren bereits explodiert, ihre Besatzungen einen grausamen, sinnlosen Tod gestorben. Sie waren die Opfer eines Bruderkriegs, der von den Lordrichtern heimtückisch verursacht worden war. Jene wahren Verursacher dieses Leids hielten sich im Verborgenen. Meine Verachtung gegen sie verstärkte sich in diesen schrecklichen Momenten noch mehr. Im Gegenzug konnten erst drei Raumer der Takerer vernichtet werden, darunter keine einzige der größeren Einheiten. Carmyn Oshmosh bot ein Bild absoluter Konzentration. Sie gab der Pilotin Myreilune Angriffs- und Ausweichkurse vor, erteilte Feuerbefehle und wandte sich immer wieder an mich. Wenn ich es für nötig hielt, befahl ich zusätzlich. Allerdings erfüllte sie ihre Aufgabe mit Bravour, so dass ich kaum in Aktion treten musste. Meist bestätigte ich ihre Vorgaben, was ein verwegenes Blitzen in ihre Augen zauberte. Das Schott öffnete sich, und ein weiteres Besatzungsmitglied betrat die Zentrale der AVACYN. Als die Kommandantin den Neuankömmling bemerkte, zuckten ihre Mundwinkel. Ihre Mimik versteinerte. »Myreilune, ich übertrage dir das Kommando. Weiterhin Angriff. Bei Kontakt mit dem Kommandanten des Pedopeilers wende dich augenblicklich an Atlan oder mich.« Die Pilotin bestätigte. Ich zweifelte nicht daran, dass sie der Aufgabe gewachsen war.
Carmyn Oshmosh wies auf die eingetretene kahlköpfige Cappinfrau. »Komm her. Es wurde Zeit, dass du hier auftauchst.« Schon aus der Entfernung sah ich deutlich, dass mit ihrem Gesicht etwas nicht stimmte. Als sie näher trat, wurde es offensichtlich. Ihre linke Gesichtshälfte wies schreckliche Verbrennungsnarben auf. Die Haut war ledrig rot. Was immer ihr widerfahren war, es hatte sie ein Ohr und ein Auge gekostet. Dass sie überhaupt noch lebte, musste auf eine außergewöhnlich zähe Konstitution zurückzuführen sein. Ein camouflagegefärbter, hervorspringender Metalltrichter glänzte anstelle des Ohrs. Das linke Auge war künstlich und leuchtete in grellem Rot. Ihr natürliches Auge war schwarz. Die ersetzten Organe verliehen ihr ein unheimliches, cyborghaftes Aussehen. Es muss sich um Kaystale handeln, Offizierin zur besonderen Verwendung, machte mir der Logiksektor klar. Carmyn Oshmosh hat dir von ihr erzählt. Sie ist Takererin. »Kommandantin«, sagte Kaystale und wandte sich dann mir zu, begrüßte mich mit Namen. Carmyn Oshmosh hatte mir von der einzigen Takererin an Bord berichtet, als wir uns noch an Bord der CAVALDASCH in Dwingeloo befunden hatten. Damals war noch nicht klar, welche Brisanz in diesen Worten lag. Eine Takererin an Bord eines GanjasenSchiffes, das gegen ihr eigenes Volk kämpfte … In Friedenszeiten hätte das keinerlei Probleme verursacht, doch jetzt könnte es verhängnisvolle Auswirkungen haben. »Sie wird uns keine Schwierigkeiten bereiten«, versicherte die Kommandantin, als habe sie meine Gedanken gelesen. »Ich bin eine Kämpferin«, ergänzte Kaystale kühl. »Für mich zählt, wer mein akuter Anführer ist. Ihm bin ich absolut loyal.« Sie blickte mich an. Das Glühen ihres Kunstauges hätte so manchem zartbesaiteteren Gemüt einen Schauer über den Rücken gejagt. »Gegen wen der Kampf geht, spielt keine Rolle. In diesem Fall kann ich jedoch möglicherweise von besonderem Nutzen sein. Ich
42 kenne mein Volk wie kein anderer an Bord.« Carmyn Oshmosh stimmte zu. »Halte dich bereit. Es ist möglich, dass wir deiner Hilfe bedürfen.« Die Antwort bestand in einem leisen Quietschen. Ich bemerkte, dass es von einigen Metallgliedern stammte, die drei Finger ihrer rechten Hand ersetzten. Kaystale ballte sie zur Faust. »Deshalb bin ich hier.« Ehe ich weitere Fragen stellen konnte, drang Myreilunes Ruf durch die Zentrale. »Mehrere Treffer. Unser Schutzschirm ist geschwächt. Funktionsweise bei sechzig Prozent.« »Ausweichmanöver! Weg von hier!«, rief die Kommandantin. »Kontakt mit Kommandant Sabylchin vom Pedopeiler!« Das war Ypt Karmasyn. »Ich nehme das Gespräch an«, stellte ich klar und versuchte, die bohrenden Kopfschmerzen zu ignorieren, die wieder stärker geworden waren. »Atlan«, erklang eine gehetzte Stimme. »Wir werden verlieren. Flieh mit der AVACYN. Ich werde wieder Kontakt mit dir aufnehmen, und zwar …« »Was?« »Verbindung unterbrochen«, informierte die Funkerin. Wieder setzte sie die Flasche mit dem sämigen Getränk an. »Mehrere Schiffe der Takerer folgen uns. Wir liegen weiterhin unter Beschuss.« – »Zwei weitere ganjasische Einheiten zerstört.« – »Schutzschirme bei vierzig Prozent.« Die Meldungen überschlugen sich. »Wir nehmen einen kurzen Hyperraumsprung vor!«, befahl die Kommandantin. »Und kehren anschließend sofort zurück«, ergänzte ich. Ich hörte Kaystale rau lachen. Sie ist eine Söldnerin. Kampf gefällt ihr. »Wir werden eingekesselt. Ein Entkommen in den Hyperraum ist unmöglich«, meldete Ypt Karmasyn. »Dreißig Prozent!«
Christian Montillon »Feuer!«, befahl ich. »Auf das Takererschiff der KYNOVARON-Klasse.« Der Extrasinn hatte es als die Schwachstelle in der feindlichen Linie erkannt. Es wurde bereits von einem Ganjasenraumer attackiert. »Zusammenbruch der Schirme steht unmittelbar bevor!« Unter dem gemeinsamen Feuer versagten die Schutzschirme der Takerer. Das Schiff verging in einer Feuerlohe. Myreilune nutzte sofort die Chance, jagte die AVACYN in einem haarsträubenden Manöver durch die noch glühenden Teile, ehe sich die Lücke wieder schließen konnte. »Eintritt in den Hyperraum in fünf Sekunden … drei … jetzt.« Etwas von der inneren Anspannung fiel von mir ab, als wir den Normalraum verließen. »Rücksturz«, meldete Myreilune nach wenigen Augenblicken. »Ich programmiere einen Kurs zurück zum Schlachtfeld. Entfernung wenige Lichtminuten.« Ich widerrief meinen diesbezüglichen Befehl nicht. Ich würde nicht eher fliehen, bis ich wusste, wo ich wieder auf Kommandant Sabylchin treffen konnte. Außerdem wollte ich das Wenige an Kampfkraft, das die AVACYN zu bieten hatte, zum Schutz des Pedopeilers nutzen. Die Umstände hatten die Ganjasen zu unseren Verbündeten, die Takerer jedoch zu unseren Gegnern gemacht. Ist es richtig, dass wir auf einer Seite in die Schlacht eingreifen? Diese bittere Frage hätte der Logiksektor nicht erst stellen müssen. Ich fragte mich genau das, seit der erste Schuss gefallen war. Was wusste ich schon über die Hintergründe des Kampfes? Im Moment blieb keine andere Möglichkeit, als diese Überlegung auszuklammern. »Warum gibt es keine Angriffe durch Pedotransferer?«, fragte ich Carmyn Oshmosh. Die meisten Cappins waren fähig, die sechsdimensionale ÜBSEF-Konstante eines anderen Lebewesens anzupeilen und es zu übernehmen, indem sie in dessen Körper überwechselten. Warum versuchten keine
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Takerer, zentrale Stellen der Ganjasen zu übernehmen und umgekehrt? Die Kommandantin blickte mich erstaunt an. »Du weißt nichts von den Abwehrmaßnahmen? Die Pediaklasten …« Weiter kam sie nicht. »Erneuter Hyperraumeintritt!«, gellte Myreilunes Stimme. »Und … Rücksturz.« Wir befanden uns ein wenig abseits des eigentlichen Schlachtfeldes. Uns bot sich ein düsterer Anblick. Während unserer kurzen Abwesenheit hatte sich die Situation noch weiter verschlimmert. Die Worte Kommandant Sabylchins fanden ihre grausame Bestätigung. Die Ganjasen waren eindeutig unterlegen. Das Feuer auf den Pedopeiler hatte sich noch weiter verstärkt. Dann entdeckte ich etwas Ungewöhnliches. Eine Unzahl weiterer, bislang unbekannter Schiffe war aufgetaucht. Die Orterin bestätigte diesen Eindruck, der sich mir im Chaos der schematischen Projektion bot. »Ältere Cappinraumer noch unbekannter Zuordnung haben auf Seiten der Ganjasen in die Schlacht eingegriffen! Mehrere hundert Einheiten. Ständig treffen neue ein.« Schiffe der Takerer explodierten reihenweise, ehe sich deren Kommandanten auf die neue Situation einstellen konnten.
* Die Schlacht erreichte apokalyptische Ausmaße. Zu den sich erbittert bekriegenden Ganjasen und Takerern hatte sich eine bislang unbekannte dritte Partei gesellt. »Ich brauche Details über die Neuankömmlinge«, rief Carmyn Oshmosh. »Ich arbeite daran«, antwortete Ypt hastig. »Die Schiffe sind alt«, sagte Kaystale neben mir. Ihre künstlichen Finger quietschten unablässig. Sie trommelte damit unruhig auf ihren Beinen herum. »Es handelt sich zweifellos um Cappins.« »Die Schiffe weisen die typische Eiform auf«, stimmte ich zu. »Mehr kannst du nicht
dazu sagen?« Wenn überhaupt jemand an Bord, dann sie, kommentierte der Extrasinn. Sie ist eine Söldnerin, die im Laufe ihres Lebens wohl schon vielen Herren gedient hat. Kaystale fuhr mit den Metallgliedern ihrer Finger über die verbrannte Gesichtshälfte. Mit einem hohlen Klingen stießen sie an den Metalltrichter des Ohres. »Ich habe einiges erlebt, aber hier kann ich dir nicht weiterhelfen. Sollten wir aber jemals in einen Kampf Mann gegen Mann verwickelt werden, werden dir die Augen übergehen. Ich wende meine eigenen Methoden an, um mich meiner Gegner zu entledigen.« »Sie hat einen schmutzigen Kampfstil«, sagte Myreilune. Kaystale stieß einen grimmigen Laut aus. »Ich kann die Kennungen der Schiffe nicht zuordnen«, teilte Ypt das magere Ergebnis ihrer Bemühungen mit. »Es tut mir Leid, ich …« Sie brach ab und las gehetzt die Informationen, die in ihrer Station eingingen. Schon wieder griff sie dabei nach der Flasche an ihrem Stuhl. »Was trinkt sie da immerzu?«, fragte ich die Kommandantin verwundert. »Ein Symbiontengetränk, das angeblich die Konzentration stärkt. Sie schwört darauf. In Krisensituationen schüttet sie es ständig in sich hinein.« Ohne aufzusehen, rief die Orterin: »Der Widerstand der Ganjasen ist nahezu erloschen. Die unbekannten Schiffe verzeichnen jedoch gewaltige Erfolge. Immer wieder starten sie selbstmörderische Aktionen. Es kam zu mehreren Kollisionen.« »Selbstmordattentäter?«, vergewisserte ich mich. »Kleine Schiffe reißen auf diese Art wesentlich größere Einheiten der Takerer mit sich in den Untergang.« Kaystales Mundwinkel zuckten. Das rote Glühen ihres Kunstauges schien sich zu intensivieren. »Sehr effektiv. Allerdings zeugt es von Wahnsinn.« Inzwischen konzentrierte sich der Angriff der Takerer auf den Pedopeiler. Salve um
44 Salve schlug in die geschwächten Schutzschirme ein. Es war nur noch eine Frage der Zeit, bis die 800 Meter langen Schiffsgiganten der ABENASCH-Klasse fielen. »Wir setzen alles daran, die Zerstörung des Pedopeilers zu verhindern«, entschied ich. »Wir greifen wahllos Schiffe an, die auf die MARKASCH feuern. Wir zerstören sie oder lenken ihr Feuer zumindest auf uns. Danach fliehen wir sofort.« »Und ich will augenblicklich Kontakt mit Kommandant Sabylchin auf der MARKASCH!«, verlangte Carmyn Oshmosh. In diesem Moment verging ein Teil eines der Pedopeilerschiffe in einer gewaltigen Explosion. Die Hülle zerriss in einem Dutzende von Metern umfassenden Gebiet. Die Triebwerkssektion! Damit war Flucht für den Pedopeiler unmöglich geworden. Myreilune hatte längst einen Kurs eingegeben, der uns näher an das Geschehen heranbrachte. Die AVACYN eröffnete das Feuer auf ein Schiff der KELTATRON-Klasse, das nahezu zehnmal so groß wie unser Beiboot war und unablässig den Pedopeiler beschoss. Unsere Schüsse zeigten kaum Wirkung. »Damit werden wir sie nicht aufhalten können«, sagte ich grimmig. Plötzlich raste eines der neu aufgetauchten Cappinschiffe heran und jagte ungebremst mitten in die feindliche Einheit. Der 450 Meter lange Raumer verging in einer Feuerhölle. Ich konnte darüber keinen Triumph empfinden. Dort draußen waren soeben mindestens achtzig Takerer gestorben und die Besatzung des Selbstmordschiffes ebenfalls. »Weiter! Wir wenden uns dem nächsten Angreifer zu!«, befahl die Kommandantin kühl, ohne auch nur eine einzige Sekunde zu verlieren. Ich bewunderte ihre Professionalität. Sie betrachtete das Sterben um sie herum mit der notwendigen Distanz. Doch es war bereits zu spät. Der Pedopeiler war verloren. »Fluchtkurs!«, schrie Myreilune, während
Christian Montillon ihre Finger über die Sensoren ihrer Station huschten. Ich hörte, wie etwas zersplitterte. Ypt Karmasyns Flasche verbreitete ihren schleimigen Inhalt über den Boden der Zentrale. Die Orterin war bleich geworden. Und das aus gutem Grund. Die Schutzschirme des Pedopeilers waren endgültig zusammengebrochen. Viele Schüsse trafen nun gleichzeitig die Hülle des Raumgiganten. Überall an der Oberfläche loderten Feuer auf. Die Hülle brach an mehreren Stellen. Fluchtkapseln setzten sich ab. Myreilune flog unsere AVACYN in größere Entfernung zum Pedopeiler. Hinter uns erschütterten gewaltige Explosionen das Kontinuum. Die Teilschiffe der MARKASCH zerbarsten. Die Fluchtkapseln wurden ebenso mit in den Untergang gerissen wie mehrere Schiffe der Ganjasen und Takerer, die sich nicht in ausreichender Entfernung befanden. Dank Myreilunes schneller Reaktion befand sich die AVACYN in Sicherheit. Wir ließen ein flammendes Inferno hinter uns zurück. Mit Sabylchin und seiner Mannschaft starb auch jede Möglichkeit, mehr über die Hintergründe zu erfahren, welche Absichten Kommandant Aruma Cuyt gehegt hatte, indem er mich nach Gruelfin schickte.
* Das Sterben war noch nicht zu Ende. Immer noch wurden kleinere Schiffe zerstört, als gewaltige Bruchstücke des Pedopeilers sie mit voller Wucht trafen und die Außenhüllen zerschmetterten. Immer noch versagten Schutzschirme unter gegnerischem Feuer. »Die Reste des ganjasischen Verbandes verlieren den Mut und ziehen ab«, meldete Ypt Karmasyn und ergänzte: »Niemand hat versucht, mit uns Kontakt aufzunehmen.« »Die Kommandanten Aruma Cuyt und Sabylchin haben mich als äußerst wichtige Persönlichkeit angesehen«, meinte ich zu Carmyn Oshmosh, »aber im Moment ist die
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AVACYN ein Schiff wie jedes andere.« »Jeder versucht, sein eigenes Leben zu retten«, kommentierte Kaystale das Geschehen. Ihr war deutlich anzuhören, was sie von der Flucht der Ganjasen hielt. Jemand wie sie hätte niemals so gehandelt. Die Cappinschiffe unbekannter Herkunft flohen nicht. Sie setzten ihre kühnen und selbstmörderischen Angriffe auf die Takerer fort. Mit dem Mut der Verzweiflung zerstörten sie Einheit um Einheit des Feindes. Es ist unlogisch. Sie sind technisch unterlegen. Im Lauf der nächsten Minuten wandelte sich das zahlenmäßige Verhältnis zu Ungunsten der Takerer. Obwohl die Streitmacht der Unbekannten stark dezimiert wurde, fielen noch mehr Einheiten der ehemaligen Aggressoren. »Wir sollten von hier verschwinden«, raunte Carmyn Oshmosh mir zu. Die Zerstörung des Pedopeilers hatte sie hart getroffen. Seitdem hatte sie mir das Kommando ganz übergeben und sich in jene stille, unscheinbare Ganjasin zurückverwandelt, als die ich sie kennen gelernt hatte. »Wir bleiben«, widersprach ich. Ich wollte das Geheimnis der unbekannten Cappinschiffe lüften. Wer hatte hier so beherzt eingegriffen und bereitete den Takerern eine ebenso radikale wie schmachvolle Niederlage? Ihr Erfolg resultiert aus einer immensen Leidenschaft, analysierte der Logiksektor nüchtern. Tiefgehende Emotionen motivieren sie und treiben sie zu Höchstleistungen an. Bald stand der Ausgang der unglaublichen Schlacht fest. Das letzte Schiff der Takerer explodierte. Die technisch veralteten Schiffe der Unbekannten trugen den Sieg davon. Doch der Blutzoll, den sie dafür hatten zahlen müssen, war groß.
9. An Bord der TIA: Blutzeit »Fast vierhundert unserer Schiffe sind
vernichtet«, vernahm Abenwosch-Pecayl 966. Er wusste nicht, wer es gesagt hatte. Der Kampfrausch hielt ihn immer noch im Griff. Abenwosch umklammerte mit beiden Händen die Seiten des Kommandopults. Sein Atem ging schwer, seine Herzfrequenz verringerte sich nur langsam. Er erinnerte sich, dass der Verlauf der Schlacht auch an der TIA nicht spurlos vorübergegangen war. »Wie ist unser Zustand?«, presste er hervor. Der Durst nach Blut und Tod klang langsam ab. »Keine nennenswerten Schäden.« Das war Maliugs Stimme, erkannte Abenwosch. Seine Gedanken klärten sich. »Die Schutzschirme waren nur einige Augenblicke lang überlastet. In dieser Zeit sind mehrere Schüsse in Sektion …« Abenwosch hörte nicht weiter zu. Eine Liste kleinerer Schäden interessierte ihn nicht. Für ihn zählte nur eins: Die Takerer waren besiegt. Die Juclas hatten den Sieg davongetragen. Sie hatten die verhassten Feinde bis auf den letzten Mann ausgerottet. Er löste seine verkrampften Hände, schüttelte sie herzhaft und lehnte sich zurück. Plötzlich schoss ihm eine Erkenntnis durch den Kopf: Der Sieg über die Takerer war keinesfalls das einzig Wichtige. Er war der Abenwosch! Er war verantwortlich für alle Juclas des Ercourra-Clans. Fast vierhundert unserer Schiffe sind vernichtet, hämmerte es nun unablässig hinter seiner Stirn. Fast vierhundert unserer Schiffe sind vernichtet. »Wie viele Schiffe sind noch voll einsatzbereit?« »345«, meldete Maliug. Sein Stellvertreter auf der TIA schien offenbar bei klarerem Verstand zu sein als er selbst. »Beschädigt?«, fragte Abenwosch knapp. »Kaum ein Dutzend.« Weil ein Jucla sich nicht besiegen lässt. Weil ein beschädigtes Schiff immer noch für eine Kollision nutzbar ist. Und ein weiterer Gedanke: Weil der Kampf uns zu wilden Kreaturen macht, die die Kontrolle über
46 sich verlieren. Mehr als die Hälfte der Juclas des Ercourra-Clans waren tot. Dieser Verlust konnte keinesfalls durch die Beute, die die ausgeglühten Wracks der feindlichen Einheiten boten, aufgewogen werden. Aber die Takerer sind tot. Der Feind ist vernichtet! Abenwosch erhob sich. »Maliug, du übernimmst die Koordination. Kümmere dich darum, dass sich die verbliebenen Schiffe sammeln. Ich werde später zu den Überlebenden sprechen.« Ohne die Bestätigung abzuwarten, verließ er die Brücke. Er wanderte durch die stillen Gänge der TIA. Szenen der Schlacht blitzten vor seinem inneren Auge auf: Ein riesiger Takererraumer vergeht unter dem konzentrierten Feuer von acht Juclaschiffen. Wenigstens hundert Feinde sterben in einem einzigen Augenblick. Die TIA ist getroffen. Abenwosch hat eine Entscheidung zu fällen. »Wie stark ist der Schaden?« Von der Antwort hängt die Zukunft ab. Er bereitet alles vor, das Schiff auf Kollisionskurs zu bringen. Abenwosch spricht mit Kommandant Jarim von der KALAR. Plötzlich ist die Verbindung tot. Die KALAR besteht nur noch aus einer Trümmerwolke. Die Meldung lässt auf sich warten. Abenwoschs Herz hämmert in mörderischer Geschwindigkeit. Er selbst gibt den Kurs ein, der eine Takerer-Einheit ins Verderben reißen wird. »Keine größeren Schäden. Waffen und Schutzschirme voll einsatzfähig.« – Abenwosch ändert den Kurs, vergisst im Blutrausch, was eben geschehen war … … neben der TIA treibt das Wrack eines Ganjasenraumers. Ein Dutzend Rettungskapseln vergeht in einer Salve der Takerer. Abenwosch erreichte sein Ziel, kehrte gedanklich in die Gegenwart zurück. Schon auf dem Gang waren die Zerstörungen deutlich zu erkennen. Maliug hatte gemeldet, dass es geringe Schäden gegeben hatte. Offenbar auch hier. Gerade hier. Abenwosch stand vor einem Schott. Das
Christian Montillon sonst glatte Metall wies nach außen gewandte Ausbeulungen auf. Von innen mussten gewaltige Kräfte eingewirkt haben. Er öffnete, trat hindurch. Keine nennenswerten Schäden, hatte es geheißen. Für das Schiff mochte das gelten. Für Abenwosch nicht. Denn auch wenn in den letzten Stunden Tausende Juclas gestorben waren, so traf ihn dieser Anblick härter als alles andere. In der engen Kabine lag der alte Olmon in seinem Blut. Der Boden neben ihm war aufgebrochen, die Wände waren durchlöchert. Olmons Augen waren weit aufgerissen, doch er nahm nichts mehr wahr. Die Pupillen waren ins Unendliche erweitert. Ein gezacktes Bruchstück zerfetzten Metalls ragte aus seiner Brust.
* Abenwosch verließ die Kabine. Sein Gesicht war steinern. »Er war alt«, flüsterte er vor sich hin. »Er wäre sowieso bald gestorben.« Dann dachte er zurück. Früher war er davon überzeugt gewesen, dass ein Jucla am Ende des dritten Lebensjahrzehnts seine Existenzberechtigung verlor. Früher. Als man ihn noch nicht Abenwosch nannte. Als er nur Scytim gewesen war, der junge, niemandem verantwortliche Sohn des Kommandanten der TIA – Pelyr, der ein Opfer der Machtkämpfe geworden war. Es schien Abenwosch, als sei diese Zeit Ewigkeiten entfernt. Dabei trug er die Last seines Amtes erst so kurz. Waren es zwei Tage? Oder schon drei? Während der Schlacht hatte er jegliches Zeitgefühl verloren. Wenige Stunden, die die jugendliche Naivität in ihm für immer ausgelöscht hatten. Er war zwölf Jahre alt, doch innerlich war er älter geworden. Viel älter. Wieder dachte er an seinen Vater. Das Wenige, was dir an innerer Reife noch fehlt, wirst du bald erlangen, wenn du erst einmal die Verantwortung übernommen hast. Wie Recht er behalten hatte.
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Abenwosch-Pecayl 966. schloss die Augen. Noch eine weitere Stimme erklang in ihm, die des alten Olmon … auch wenn uns nicht viel Lebenszeit zur Verfügung steht. Wir sprachen vor kurzem bereits darüber, dass man sich für manche Dinge Zeit nehmen sollte … Abenwosch ignorierte den Wahlspruch der Juclas und nahm sich Zeit zu trauern.
* Stunden später erreichte er seine Kabine. Er öffnete seinen Schrank und griff nach einigen Folien. Er hatte sie aus dem persönlichen Raum seines verstorbenen Vorgängers genommen, als sie im Ortungsschatten der Sonne abgewartet hatten. Seine Hinterlassenschaft. Die letzte Botschaft des Abenwosch-Pecayl 965. Abenwoschs Finger zitterten, als er zu lesen begann. Wie anders diese Zeilen plötzlich klangen. Als er sie zuletzt gelesen hatte, waren sie ihm wie Narretei erschienen, das senile Gejammer eines unmündigen Greises. Ich spüre es. Die Dunkelheit naht. Der Tod eilt mit Riesenschritten herbei. Wenn ich mich niederlege, so fürchte ich, nie wieder aufzustehen. Esse ich, habe ich Angst, es könnte die letzte Mahlzeit sein. Sehe ich ein Neugeborenes, denke ich an meine eigene Kindheit, die viel zu schnell vergangen ist. Eine völlig neue Bedeutung blitzte zwischen diesen Zeilen auf. Und so las er weiter, las von Tod, Selbstzweifeln und Ängsten. Von Hass und von der genetischen Bestimmung des Volkes zu kämpfen.
Epilog 1: Nachricht Eine Funknachricht riss Abenwosch aus der Lektüre. Maliug nahm Kontakt zu ihm auf. »Die Ganjasen sind nicht vollständig geflohen. Nur ein einziger Kommandant ist offenbar kein Feigling.« Abenwosch schwieg. Die zuletzt gelesenen Zeilen hielten ihn nach wie vor in ihrem
Bann. Maliug würde schon sagen, was er mitzuteilen hatte. »Dieser Kommandant sendet pausenlos eine Nachricht. Er bittet, mit dem Anführer der unbekannten Cappinschiffe sprechen zu dürfen.« Abenwosch erhob sich, legte die Hinterlassenschaft seines Vorgängers zurück in den Schrank. »Gibt es einen Grund, warum ich Kontakt aufnehmen sollte?« Maliug zögerte. »Es ist deine Entscheidung, Abenwosch-Pecayl 966.« »Aber ich frage dich. Was würdest du tun?« »Ich würde mir anhören, was er zu sagen hat, und dann entscheiden, ob ich sein Schiff vernichte. Die Ganjasen sind nicht mehr unsere Verbündeten. Die Takerer sind tot, die Verhältnisse haben sich gewandelt.« »Ich nehme das Gespräch an«, entschied Abenwosch. »Wie lautet der Name des Kommandanten?« »Er nennt sich Atlan.«
Epilog 2: Aus der letzten Aufzeichnung des Abenwosch-Pecayl 965. Hass und Tod umgeben mich selbst im Alter, in meinen letzten Lebenstagen. Es wäre kühn, von Wochen oder gar Jahren zu sprechen. Das Ende lässt nicht mehr lange auf sich warten, ich spüre es, ich weiß es. Olmon, mein Freund, spricht immerzu von Schönheit und von Wahrheit. Er verbringt seine verbliebene Zeit damit, sie zu suchen. Er hat Recht, aber er ist ein Träumer. Die Wirklichkeit wird auch ihn eines Tages einholen. Er sagt, Leben sei lebenswert, auch jetzt noch. Aber was hat das Alter mir gebracht? Man kämpft schon um meine Nachfolge. Auch mein Sohn ist davon nicht ausgenommen. Ich sehe die Anzeichen einer Rebellion gegen die genetische Herrscherlinie. Lakim wird der Leidtragende sein, denn er ist zu schwach, um einen Sturm zu überstehen. Ich hoffe nur, ich kann vor ihm sterben, um
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Christian Montillon
nicht vor seiner Leiche stehen zu müssen. Kampf. Immer wieder Kampf. Wenn wir keine anderen Gegner haben, kämpfen wir mit unserem eigenen Volk, Jucla gegen Jucla. Ja, ich glaube, wenn am Ende der Zeiten nur noch ein einziges Intelligenzwesen im
Universum existiert, wird es gegen sich selbst kämpfen, anstatt einfach nur zu leben. ENDE
ENDE
Die Versammlung von Hans Kneifel Durch die Vernichtung des Pedopeilers MARKASCH sieht sich Atlan vorerst jeder Möglichkeit beraubt, in die Milchstraße zurückzukehren. Seine Einmischung in die kriegerischen Auseinandersetzungen innerhalb der Sombrero-Galaxis scheint unvermeidbar. Atlan benötigt nun dringend mehr Informationen. Im Ercourra-Clan leckt man sich die Wunden, schließlich hat man über die Hälfte der Schiffe verloren. Von der Weichen stellenden Begegnung unseres Arkoniden mit deren ClanOberhaupt erzählt Altmeister Hans Kneifel.
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Diesmal ohne lange Vorrede gleich zum zweiten Teil unserer Betrachtung von Atlans literarischem Werdegang. Inzwischen sind wir im April des Jahres 1981 angelangt … Mit dem Jubiläumsband 500 (Die Solaner von William Voltz) kehrt die ATLAN-Serie nach ihrem Ausflug in die Fantasy wieder zur harten Science Fiction zurück. Nachdem Atlan im Jahr 3588 a. D. gemeinsam mit dem Kosmokratenroboter Laire das Fernraumschiff BASIS verlassen hat, um als Auserwählter einen direkten Kontakt mit den Mächten hinter den Materiequellen aufzunehmen (PR-Band 982), bleibt er über 200 Jahre verschollen. Als er schließlich an Bord des legendären Hantelraumschiffs SOL auftaucht, hat er jegliche Erinnerung an diese Zeit verloren. Der Zyklus »Die Abenteuer der SOL«, der die Handlungsjahre 203 bis 220 NGZ umfasst, schildert in seinen ersten 100 Romanen zunächst den Kampf Atlans gegen die chaotischen Zustände an Bord des Hantelraumschiffs sowie die Auseinandersetzung mit HIDDEN-X, einem Fragment der negativen Superintelligenz Seth-Apophis. Die Hefte 600 bis 674 beschreiben schließlich den Kampf gegen Anti-ES und Atlans Odyssee in der Namenlosen Zone. Die Exposeredaktion liegt von Band 500 bis Band 509 bei William Voltz, von Band 510 bis Band 532 bei Marianne Sydow und ab Band 533 bei Peter Griese. Persönlich habe ich diesen Zyklus noch in bester Erinnerung, weil er meinen eigenen Einstieg in die Serie markiert. Im September 1984 erscheint ATLAN-Roman Nr. 675 (Hexenkessel Alkordoom von Peter Griese) und mit ihm der erste Band des neuen Zyklus »Im Auftrag der Kosmokraten«. Atlan wird dort aus seiner Rolle als Orakel von Krandhor gerissen, die er seit dem Jahr 3811 a. D. innehat und von den Kosmokraten in die Galaxis Alkordoom versetzt. Dort nimmt er den Kampf gegen den abtrünnigen Mächtigen Vergalo und seine Helfer auf, die mit dem künstlich erschaffenen Psi-Wesen EVOLO an einer furchtbaren Waffe basteln. Bis Heft 699 trägt Peter Griese die Verantwortung für die Exposes, dann beginnt eine Zeit des stetigen Wechsels. Von Band 700 bis Band 707 ist wieder Marianne Sydow an der Reihe. Die Bände 708 bis 760 teilen sich Sydow und Griese jeweils in Viererblöcken und ab Band 761 bildet Peter Griese ein Pärchen mit H. G. Ewers. Mit Band 700 wird die Handlung zudem nach nur 25 Heften von Alkordoom überraschend in die Galaxis Manam-Turu verlagert; ab Band 750 (EVOLO von Peter Griese) trägt die Serie auch einen neuen Untertitel. Statt »Im Auftrag der Kosmokraten« heißt es nun schlicht »Das große SF-Abenteuer«. Atlan besiegt erst EVOLO und dann auch dessen Ableger, die drei Schwarzen Sternenbrüder. Danach folgt der große Schock für alle Fans: Mit Band 850 wird die ATLAN-Serie im Jahr 1988 eingestellt. Immerhin erscheint im Oktober desselben Jahres noch ein PR-Taschenbuch (Am Rande des Universums), in dem Exposeautor Peter Griese einige jener Ideen verwendet, die er
nicht mehr in die ATLAN-Serie einbringen konnte. Zehn Jahre wird es still um Atlan, auch wenn er natürlich in den PERRY RHODAN-Heften nach wie vor eine tragende Rolle spielt. Im Oktober 1998 entschließt sich der Verlag dann jedoch, eine so genannte Miniserie zu starten. 12 Heftromane um den unsterblichen Arkoniden – der »Traversan-Zyklus«. Dort wird Atlan in das Jahr 5772 v. Chr. verschlagen. Da die entsprechende Zeitmaschine defekt ist, muss er nach Arkon vorstoßen, um die notwendigen Ersatzteile für eine Reparatur zu besorgen. Der Zyklus wird ein großer Erfolg und unter anderem auch in Buchform nachgedruckt. Trotzdem dauert es weitere knapp fünf Jahre, bis man das Experiment wiederholt – diesmal von Beginn an mit der Absicht, bei ausreichenden Verkaufszahlen weitere Miniserien folgen zu lassen. Im Frühjahr 2003 erscheint mit »Attentat auf Arkon« von Uwe Anton (der, unterstützt durch Rainer Castor, auch als Exposeautor fungiert) das erste Heft des »Omega Centauri-Zyklus«. Die Handlung ist im Jahr 1225 NGZ angesiedelt, das dem Jahr 4812 alter Zeitrechnung entspricht. Man nutzt damit die zeitlichen Lücken, die sich mit PR-Roman 1800 (Zeitraffer von Robert Feldhoff) anbieten. Da auch Omega Centauri von den Lesern angenommen wird, startet schon im Sommer 2004 die nächste 12er-Staffel, diesmal unter dem Titel »Obsidian«. Die Handlung schließt direkt an den vorangegangenen Minizyklus an; die Hefte erscheinen vierzehntäglich. Von nun an geht man auch zur durchgehenden Nummerierung über. Band 1 des Folgezyklus »Die Lordrichter« trägt die Nummer 13. Auch die Handlung ist praktisch längst eine fortlaufende (so spielen die Bände 1-50 allesamt innerhalb eines Handlungsjahres), auch wenn die 12er-Zyklen beibehalten werden. Die nächsten drei Staffeln heißen Dunkelstern, Intrawelt (hier wechselt die Exposeredaktion von Uwe Anton zu Michael Marcus Thurner) und Flammenstaub. Die neue ATLAN-Serie hat sich endgültig etabliert. Ich hoffe, dieser kurze Abriss hat euch Spaß gemacht und konnte einen groben Überblick über die wechselvolle Geschichte der Atlan-Publikationen vermitteln. Es ist schön, dass der alte Arkonide endlich wieder eine Heimat hat und dazu habt natürlich auch ihr, die treuen Fans und Leser, beigetragen. Freuen wir uns also gemeinsam auf die Abenteuer, die die Zukunft für Atlan und seine Gefährten bereithält. Damit genug von mir; jetzt kommt ihr zu Wort.