Ullstein Abenteuer Die Handlung dieses Romans spielt 1810 während des letzten Feldzugs der napoleonischen Truppen in Po...
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Ullstein Abenteuer Die Handlung dieses Romans spielt 1810 während des letzten Feldzugs der napoleonischen Truppen in Portugal, als sich die Briten unter Wellington auf die Festung Torres Vedras bei Lissabon zurückziehen müssen. Bei einem Stoßtruppunternehmen wird der Scharfschütze Matthew Dodd von seiner Einheit, dem 95. Regiment, abgeschnitten. Allein auf sich gestellt, versucht Dodd, zu Fuß wieder Anschluß an die englische Armee zu finden. Dabei trifft er auf eine Gruppe portugiesischer Freischärler. Zusammen mit den schlecht ausgerüsteten und militärisch unerfahrenen Kleinbauern führt Dodd mehrere Monate lang im Gebirge einen erbitterten Kleinkrieg gegen die Eroberer, bis sein Trupp schließlich von den Franzosen gnadenlos aufgerieben wird.
C.S.Forester
Tod den Franzosen!
Scan von Kaahaari
Ullstein Abenteuer Ullstein Buch Nr. 21092 im Verlag Ullstein GmbH, Frankfurt/M – Berlin Titel der englischen Originalausgabe: Death to the French Übersetzung: Hans-Joachim Neumann Deutsche Erstausgabe Umschlaggestaltung: Hansbernd Lindemann Titelillustration: Archiv für Kunst und Geschichte, Berlin Alle Rechte vorbehalten First published 1933 All rights reserved © der Übersetzung 1988 by Verlag Ullstein GmbH, Frankfurt/M – Berlin Printed in Germany 1988 Gesamtherstellung: Ebner Ulm ISBN 3 548 21092 9
Vom selben Autor in der Reihe der Ullstein Bücher: Fähnrich zur See Hornblower (422) Leutnant Hornblower (441) Hornblower wird Kommandant (462) Der Kapitän (481) An Spaniens Küsten (502) Unter wehender Flagge (529) Der Kommodore (555) Lord Hornblower (570) Hornblower in Westindien (598) Hornblower auf der Hotspur (2651) Zapfenstreich (2834) Brown von der Insel (21009) Die »African Queen« (21015) Die Kanone (21083)
CIP-Titelaufnahme der Deutschen Bibliothek Forester, Cecil Scott: Tod den Franzosen!: Roman / C. S. Forester. [Übers.: Hans-Joachim Neumann]. – Dt. Erstausg. – Frankfurt/M; Berlin: Ullstein, 1988 (Ullstein-Buch; Nr. 21092: Ullstein-Abenteuer) Einheitssacht.: Death to the French
ISBN 3-548-21092-9 NE:GT
l. Ein halbes Dutzend Reiter bahnte sich einen Weg den halsbrecherischen Pfad hinauf. Ihr Anführer fiel allein schon durch seine Erscheinung auf – seine Haltung im Sattel war vorzüglich. Zudem trug er ein auffallend blaues Mantelcape und einen unlackierten Zweispitz; all das hob ihn deutlich ab von den roten Umhängen und den Federbüschen der meisten seiner Begleiter. Als er die Spitze des Hügels erreichte und mit scharfem Blick auf das unübersichtliche Gelände vor sich hinabsah, traten einige der Qualitäten zutage, die ihn zum Führer bestimmten: Ihn umgab eine Aura von Autorität und gesetzter Selbstsicherheit; seine blauen Augen erfaßten das Tal mit einem Blick, der sofort alle wichtigen Einzelheiten wahrnahm. Die große, arrogante Nase machte deutlich, warum ihn die einfachen Soldaten »Conky« oder auch »Der langnasige Bettler, der es den Franzosen besorgt« nannten; das Majestätische seiner Erscheinung aber erklärte, warum ihn seine Untergebenen daneben halb unterwürfig, halb ehrerbietig als den »Pair« bezeichneten. Zu seinen Füßen befand sich eine Kolonne Infanteristen mit roten Uniformröcken in Ruhestellung; direkt voraus erkannte sein untrügliches Auge kleine grüne Punkte in der Landschaft, zerstreute Gruppen von Männern, die hinter Bäumen und Bodensenken Deckung suchten. Gelegentliche Qualmwölkchen zeigten ihm, daß dort unten ein Scharmützel mit dem Feind im Gang war. Generalleutnant Lord Wellington zog mit einem Ruck seinen Säbel auf den Sattelknopf, öffnete darauf sein 6
Notizbuch, schrieb einige Worte auf eines der Blätter und riß es heraus. Ein scharlachroter Dragoneroffizier sprengte sofort heran und nahm das gefaltete Blatt entgegen. »An General Craufurd«, war alles, was ihm gesagt wurde. Der Dragoner wiederholte mechanisch »An General Craufurd« und lenkte sein Pferd den steilen Hang unmittelbar vor sich hinunter. »Zeit für Craufurd, sich zurückzuziehen, Murray«, sagte Wellington. »Jetzt will ich mir ansehen, wie die Marschkolonnen über den Fluß setzen.« Er wendete sein Pferd, gab ihm die Sporen und im nächsten Augenblick klapperten die Hufe wieder den steinigen Pfad hinunter. Funken stoben auf, und Ausrüstungsgegenstände rasselten, als der Rest des Stabs mitzuhalten versuchte; denn halsbrecherisches Tempo und eine ungestüme Sorglosigkeit um Gefahren zeichneten die raschen Stellungswechsel des Oberbefehlshabers im offenen Gelände aus. Der Dragoneroffizier jedenfalls würde reichlich zu tun haben, seinen Posten wieder einzunehmen, nachdem er den Befehl, der diese Geschichte in Gang setzt, weitergegeben hatte. Ein Signalhorn ertönte von links. »Eine Gewehrsalve, dann zurückziehen«, sagte der Leutnant zu sich, als er die hohen, langgezogenen Töne hörte. »Aber nicht sofort. Wo ist bloß der Vorpostentrupp?« Der Krummsäbel baumelte an seiner Seite, als er über die Kuppe des kleinen Hügels schlenderte, um ihn zu suchen. In den Augen eines traditionsbewußten Militärs mußte seine Uniform lächerlich zusammengesucht erscheinen: Sie war dunkelgrün anstelle scharlachrot – jenes Rot, das sich in fünfzig Feldschlachten so viel 7
Ehre erworben hatte; die schwarzen Litzen, die Bärenmütze, der pelzverbrämte Dolman hingen über die Schultern; alles wirkte – ausgerechnet bei einem Infanteristen – wie die Karikatur einer Husarenuniform mit dem Krummsäbel als der größten Regelwidrigkeit des seltsamen Aufzugs. Trotzdem war er durchaus logisch, denn das 95. Regiment zu Fuß knüpfte an einige Traditionen der Husaren aus der Zeit an, als diese noch eine berittene Freischärlertruppe bildeten. Andererseits waren die Farbe des Umhangs und die Zierkordel der Feldtrompete ausdrücklich keine Anleihe bei den Husaren – sie erinnerten vielmehr daran, daß für das erste mit Gewehren ausgerüstete Regiment der britischen Regierung die Hofjäger deutscher Prinzen rekrutiert worden waren. Wie auch immer – niemand dachte daran, sich über die fantastische Kostümierung aufzuregen; das 95. Regiment zu Fuß – die Gewehrbrigade – hatte sich in den knapp zehn Jahren seines Bestehens einen glänzenden Ruf erworben, auf den jede ältere Einheit neidisch sein konnte. »Eine Gewehrsalve, dann zurückziehen«, wiederholte der Leutnant für sich, als das Signalhorn noch einmal lauter ertönte. Knatterndes Gewehrfeuer war von der Linken zu hören, als wollte es die Dringlichkeit des Trompetensignals unterstreichen. Das Dutzend Soldaten, das auf der Kuppe des Hügels die Befehle des Leutnants erwartete, rührte sich nicht. Sie kannten ihren Offizier und sie vertrauten ihm, obwohl er erst 19 Jahre alt war. Zweimal waren sie mit ihm quer durch Spanien marschiert, nach Coruna und Talavera – um gar nicht erst von den Gewaltmärschen nach Walcheren zu reden –, und sie wußten, daß sie sich auf ihn verlassen konnten. Der Leutnant beschattete mit der Hand
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seine Augen, als ein metallisches Klappern unten im Tal hörbar wurde und einer der erwarteten Vorposten den Hügel heraufgelaufen kam. »Sie sind reichlich spät dran, Sergeant«, fuhr ihn der Leutnant an. »Jawohl, Sir. Wir wären fast hinter die feindlichen Linien geraten und mußten einen Umweg machen«, erklärte der Sergeant und fügte fast entschuldigend hinzu: »Dodd wird vermißt, Sir.« »Dodd vermißt?« »Jawohl, Sir. Ich hab ihn nach vorne geschickt...« »Haben Sie eine Ahnung, was mit ihm passiert ist?« »Nein, Sir. War kein Schuß aus seiner Richtung zu hören.« Wieder ertönte das Signalhorn, diesmal inmitten von vereinzeltem Musketenfeuer. »Wir können nicht auf ihn warten«, sagte der Leutnant; eine Entscheidung, die er bereits hundertmal im Kopf durchgespielt hatte. »Schade um ihn. Aber ich denke, er wird schon wieder zu uns stoßen. Aufschließen da hinten. Linksum – vorwärts marsch.« Die Halbkompanie setzte sich in Bewegung, die Gewehre im Anschlag. Die 95er gehörten zu Craufurds berühmter Leichten Division, deren Soldaten ausgesprochen stolz darauf waren, immer die ersten und die letzten auf dem Schlachtfeld zu sein. Nun deckten sie Wellingtons Rückzug auf die sicheren Stellungen bei Torres Vedras – ein Rückzug, bei dem mehr Gefangene gemacht werden sollten, als man hatte zurücklassen müssen. Heute aber würde ein eigener Verlust zu melden sein – Schütze Matthew Dodd hatte Pech gehabt und war versprengt worden.
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2. Soldat Matthew Dodd hatte ebenfalls bereits gemerkt, daß er von seiner Einheit abgeschnitten worden war. Im Augenblick allerdings war er vollauf damit beschäftigt, sein Leben zu retten, und hatte keinen Augenblick Zeit, um über etwaige Folgen nachdenken zu können. Er wollte gerade durch einen Olivenhain zu seinem Trupp zurückkehren, als er unmittelbar vor sich fremdartig klingende Stimmen hörte und zwischen den Bäumen unbekannte Uniformen erkannte. Schwitzend vor Angst und hakenschlagend flüchtete er durch das Unterholz im Tal und versuchte, den Feind, der ihm den Rückzug versperrte, irgendwie zu umgehen. Nach einer halben Stunde atemloser Rennerei glaubte er schließlich, keinen Gegner mehr vor sich zu haben; ein plötzlicher Anruf aber machte ihm schlagartig klar, daß er nur auf eine andere Einheit gestoßen war. Eine Muskete knallte nicht weit entfernt, und die Kugel schlug in einen Baumstumpf wenige Meter neben ihm. Er machte kehrt und lief weiter, den Hügel wieder hinauf. In dieser Richtung, das wußte er, entfernte er sich zwar von seinen Kameraden; mit seinem bißchen Soldateninstinkt aber ahnte er auch, daß er nur hier der französischen Vorhut entkommen konnte. Hinter ihm erschollen Kommandos, und das Krachen im Unterholz sagte ihm, daß ihn etwa ein Dutzend Männer verfolgten. Er hetzte den steilen Hang hinauf, wobei ihm sein Tornister auf dem Rücken herumtanzte und die Munitionstaschen hart gegen die Rippen schlugen. Schließlich fand er aus dem Olivenhain heraus und hatte den 10
mit Heidekraut bewachsenen Abhang vor sich. Ohne die schützende Deckung unter den Bäumen blieben ihm nur zwei Möglichkeiten: entweder einfach weiterlaufen – oder aber stehenbleiben und sich ergeben. Doch Dodd war nicht der Typ, der so schnell aufgab. Mit stampfendem Schritt keuchte er den Hügel hinauf. Zwanzig Sekunden später erschien der erste seiner Verfolger am Rande des Wäldchens und konnte ihn nun deutlich erkennen. Einer nach dem anderen kamen die französischen Soldaten jetzt aus dem Gehölz hervor, rissen ihre Musketen hoch und schossen auf ihn. Aber Dodd war schon gut hundert Yards entfernt, und es bestand keine ernstliche Gefahr mehr, auf diese Entfernung von einem vor Anstrengung atemlosen Mann mit einer Muskete getroffen zu werden. Dodd hörte das Krachen der Schüsse, aber keine der Kugeln kam ihm gefährlich nahe. Er kletterte den Hang so lange weiter hinauf, bis der letzte Schuß verklungen war. Dann fühlte er sich etwas sicherer und hielt einen Augenblick inne, um zurückzuschauen. Die eine Hälfte der Franzosen lud gerade die Gewehre nach; die andere Hälfte machte sich daran, den Abhang zu ersteigen. Dodd stürzte weiter durch das filzige Heidekraut. Der Hügel war, wie alle Hügel in Portugal, steil und felsig; öde ragte er zwischen zwei bewaldeten Tälern auf und schien endlos hoch. Dodd kämpfte sich weiter vorwärts, aber seine Schritte wurden schwerer und schwerer, als der Abhang noch steiler wurde. Etwa nach der Hälfte des Aufstiegs blieb er stehen und sah wieder hinunter. Die Franzosen hatten die Verfolgung aufgegeben und sammelten sich, um zur Landstraße zurückzumarschieren. Dodd biß die Zähne zusammen. Er warf sich zwischen das Heidekraut und drückte das Gewehr an die 11
Schulter; unter seinem Körper spürte er dabei schmerzhaft einen kantigen Stein. Er spannte den Hahn, prüfte, ob die Waffe auch richtig geladen war, und richtete den Lauf ins Tal. Eine kurze Muskete würde ein Haus auf hundert Yards Entfernung verfehlen, mit seinem langläufigen Gewehr aber konnte er eine Gruppe von Männern auf die doppelte Distanz sicher treffen. Er drückte den Abzug durch, und der Hahn mit dem Feuerstein sprang nach vorne. Das Pulver zündete – bei trockenem Wetter gab es in neun von zehn Fällen keine Ladehemmung –, und der Schuß löste sich krachend. Durch den Qualm sah er unten im Tal, wie einer der Franzosen schwankte. Er stürzte zu Boden und rollte einige Meter den Abhang hinunter, wo er liegenblieb. Die Franzosen brachen in Wutgeheul aus und nahmen die Verfolgung augenblicklich wieder auf. Dodd sprang auf die Füße und kletterte den Hang weiter hinauf. Einoder zweimal wurde noch hinter ihm hergeschossen, doch die ungenau gezielten Schüsse gingen weit daneben. Nach ein paar hundert Yards schließlich gaben die Franzosen die Verfolgung endgültig auf und kehrten zu der Stelle zurück, wo sich ein paar Kameraden um den Verletzten kümmerten. Dodd hatte sich dafür gerächt, daß man ihm den Rückweg zu seiner Einheit versperrt hatte. Die blanke Wut hatte ihn dazu getrieben, den Schuß abzufeuern. Solch eigenmächtige Aktionen einzelner Soldaten wurden von den englischen Offizieren im Krieg auf der spanischen Halbinsel allerdings nicht gern gesehen: Nach Ansicht des Oberbefehlshabers brauchte der ungebrochene Kampfgeist der Männer ausdrücklich keinen besonderen Ansporn.
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3. Ein Dutzend französischer Soldaten marschierte auf einer Nebenstraße in Portugal. Ihr Aufzug wirkte reichlich heruntergekommen – der wenig haltbare, einstmals blaue Stoff der Uniformen hatte sich nach Monaten im Freien verfärbt und zeigte nun grüne, weiße und rote Flecken; dazu war jede Uniform vielfach geflickt worden. Auch die verbeulten Tschakos hatten ihre Form verloren, und das billige Blechzierat auf den Mützen und Uniformröcken war längst stumpf und schmutzig. Weißer Straßenstaub reichte ihnen bis an die Knie; ihre bärtigen Gesichter starrten vor Schmutz. Jeder Soldat marschierte gebeugt unter der Last seines schweren Tornisters – oben war der zusammengerollte, schwere Wintermantel festgeschnürt, und an den Seiten baumelten die unterschiedlichsten und seltsamsten Gegenstände herunter. So verschieden die Anhängsel bei jedem Soldaten auch waren, etwas schleppte jeder von ihnen gleichermaßen – acht harte und flache Brotlaibe mit einem Loch in der Mitte, die wie chinesische Münzen mit einer Schnur zusammengebunden waren. Eine Ähnlichkeit, die auch den Franzosen bereits aufgefallen war; in der Armee wurden die Brote nur »Bargeld« genannt. Jeder Laib wog etwa acht Pfund und stellte die Tagesration eines Soldaten dar. Ein französischer General hielt seine Fürsorgepflicht dem gemeinen Soldaten gegenüber für erfüllt, wenn er ihm pro Tag ein solches steinhartes Brot zukommen ließ – alles andere hatte er sich gefälligst selbst von den Bauern auf dem flachen Land zu beschaffen. Als der 13
Vormarsch nach der Niederlage bei Busaco wieder in Gang gekommen war, wurden an jeden Soldaten vierzehn dieser acht Pfund schweren Brote ausgeteilt; weitere Rationen sollte es erst wieder geben, wenn man bis Lissabon vorgestoßen war. Demnach mußten die Männer vor sechs Tagen Busaco verlassen haben. Und sechs Tagesmärsche vor ihnen lagen die uneinnehmbaren Stellungen bei Torres Vedras, von denen sie allerdings noch nichts wußten. Niemand in der gesamten französischen Armee hatte bislang von diesen Stellungen gehört. Sergeant Godinot führte die kleine Gruppe an; mit den sechs Soldaten hinter ihm – Boyel, Dubois, dem kleinen Godron und den anderen – war er befreundet. 200 Yards voraus befand sich zudem noch die aus zwei Mann bestehende »Vorhut«; 200 Yards hinter ihnen folgte die »Nachhut«. Denn obwohl der Trupp inmitten des französischen Expeditionskorps marschierte, mußte man dauernd auf der Hut vor Hinterhalten sein – in Portugal war schlichtweg jeder jedem feindlich gesinnt. Selbst als Godinot haltmachen ließ und sich die erschöpften Männer am Rande der Straße in den Schatten warfen, hielt einer der Soldaten Wache. »Wie weit ist es denn noch, bis wir endlich bei deinem Onkel sind, Sergeant?« fragte Boyel. Ein Onkel von Godinot war General in Soults Armee, die weit im Süden stand; während des 800 Meilen langen Fußmarsches hatte der Sergeant seinen Leuten immer wieder jene goldenen Zeiten ausgemalt, die ihnen bevorstanden, wenn sie sich erst einmal unter dem Kommando des Generals befinden würden. Godinot zuckte mit den Schultern.
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»Wartet ab«, antwortete er. »Keine Sorge; früher oder später kommen wir schon hin. Sind wir nicht auch bis hierher ohne größere Probleme gekommen?« »Ohne größere Probleme ..., daß ich nicht lache«, sagte der kleine Godron. Er lag auf dem Rücken und streckte seine schmerzenden Füße aus. »Geschlagene sechs Monate sind wir jetzt unterwegs. Wenn es hochkommt, haben wir dabei bestenfalls einmal die Woche was Ordentliches zu essen gekriegt. Dazu Monat für Monat mindestens eine Schlacht und jeden Samstag Belagerungen.« »Das nenn ich Dankbarkeit«, sagte Godinot und grinste dabei über das ganze Gesicht, wobei seine weißen Zähne aus dem sonnenverbrannten Gesicht mit dem schwarzen Bart hervorleuchteten. »Wer hat sich denn bei dem Juwelier bedient, als wir Astorga genommen haben? Hör ich da nicht drei goldene Uhren in deinem Tornister ticken – du undankbare Giftschlange. Wie du die Dinger bis jetzt behalten hast, ist mir schleierhaft. Die kleine spanische Hure in Rodrigo hat mir meinen Anteil genommen. Aber ich krieg ihn schon wieder, wird nicht lange dauern. Wart erst mal ab, bis wir zu meinem Onkel gekommen sind.« »Glaubt bloß nicht das Märchen von Godinots Onkel«, warf irgendwer ein. »War alles Lüge, womit er uns in sein Regiment gelockt hat.« »Und wo wärst du jetzt, wenn ich bei der Musterung nicht auf dich aufgepaßt hätte?« hielt Godinot dagegen. »Du würdest dir den Hintern in Polen oder sonstwo abfrieren, mein Kleiner. Und kein guter Papa Godinot würd dir die Nase abputzen, weil du es noch nicht kannst. Ihr Blaugesichter kriegt ja gar nicht mit, wenn's euch mal gut geht.«
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»Blaugesichter« nannte man bei den Franzosen die frisch eingezogenen Rekruten, weil sie noch nicht an den engen Kragen der Uniform gewöhnt waren und im Gesicht vor Atemnot immer blau anliefen. »Na ja«, fuhr Godinot fort, »vielleicht...« Weiter kam Godinot nicht, mitten im Satz wurde er durch einen lauten Anruf des Wachposten unterbrochen. Unmittelbar danach krachte ein Schuß. Der ganze Trupp war augenblicklich auf den Beinen. Mit dem Gewehr in der Hand rannten alle hinter Godinot zu dem Wachposten, der, die rauchende Muskete noch in Händen, angestrengt durch die Olivenbäume starrte. »Ein Engländer in grüner Uniform«, sagte er und deutete auf die Bäume. »In dieser Richtung.« »Hinterher!« brüllte Godinot. Seit dem Debakel bei Busaco wußte jedermann im 8. Korps nur zu genau, wie gefährlich diese grünen englischen Soldaten werden konnten. Der ganze Trupp stürzte sich in den Olivenhain und verfolgte den flüchtenden Engländer durch die tief herabhängenden Äste. Nach fünf Minuten atemloser Hetzjagd erreichten sie die Begrenzung der Pflanzung und standen plötzlich vor einem hohen Hügel ohne Bäume. Hundert Yards vor ihnen kletterte der dunkelgrün gekleidete Engländer den Abhang hinauf. Godinot kniete nieder und zielte, wobei er ruhig durchzuatmen versuchte. Aber der hastig abgefeuerte Schuß ging daneben. Auch die anderen kamen jetzt aus dem Olivengehölz gelaufen, legten das Gewehr an und drückten ab. »Feuer einstellen«, kommandierte Godinot. »Neu laden. Die anderen zu mir!« Zusammen mit einem halben Dutzend Männer drängte er den Hügel hinauf. Aber der Engländer mußte entweder längere Beine oder mehr Puste haben – mit 16
jedem Schritt vergrößerte sich der Abstand zwischen ihnen. »Laßt ihn laufen!« rief Godinot schließlich. »Unsere Dragoner an der rechten Flanke werden ihn schon kriegen.« Die Männer kletterten atemlos weiter. »Los, kommt zurück«, befahl Godinot. »Wenn wir weiter so rumtrödeln, schaffen wir es heute abend nicht mehr bis zum Bataillon.« Lustlos stiegen die Männer den Hügel wieder herunter und überließen den Engländer sich selbst. Der Zwischenfall konnte sie kaum aufregen; seit einem Monat kam es tagein, tagaus zu Schießereien mit englischen Vorposten. Schon war die Sache halbwegs vergessen, da wurden sie erneut drastisch daran erinnert. Hinter ihnen knallte ein Schuß, und Boyel fiel mit dem Gesicht nach vorne zu Boden. Er rollte eine kurze Strecke den Abhang hinunter; Blut spritzte aus seinem Hals. Alle schrien aufgeregt durcheinander. Der kleine Godron kniete neben Boyel; die anderen stürmten wie ein Mann wieder den Hügel hinauf. Ruhig hing ein Pulverdampfwölkchen in der Luft und markierte die Stelle, von der aus der Engländer geschossen haben mußte. Gerade als sie anfingen, den Abhang zu besteigen, sprang er aus der Deckung auf und rannte weiter den Hügel hinauf. Fünf Minuten später war allen die Aussichtslosigkeit einer Verfolgung klargeworden. Sie kehrten zu Godron zurück, der weinend Boyel in seinen Armen hielt. Die nur eine Unze schwere Bleikugel hatte ein großes Loch in seinen Hals gerissen, und Blut durchtränkte bereits seinen ganzen Uniformmantel.
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»Wenn du deinen Onkel triffst, grüß ihn von mir«, murmelte Boyel kaum noch hörbar. »Ich schaff es nicht mehr.« Blut schoß aus Boyels Mund; dann war er tot. Godron schluchzte hemmungslos, als Godinot niederkniete, um den Toten zu untersuchen. »Er ist für unseren Kaiser gefallen«, sagte Godinot und richtete sich wieder auf. »Der erste von uns«, fügte Dubois bitter hinzu. »Wir waren sechs, als wir mit dir losmarschiert sind. Jetzt sind noch fünf übrig. Und morgen ...« »... sind es vielleicht nur noch vier«, fügte Godinot rauh hinzu. Der Tod ging ihm so nahe wie allen anderen. Aber die Disziplin mußte aufrechterhalten werden, und dabei blieb keine Zeit für unnütze Sentimentalität. »Wir müssen auf jeden Fall heute nacht noch das Bataillon erreichen.« Geschickt durchsuchte er die Taschen und die Ausrüstung des Toten. »Sein Geld«, sagte er. »Genau elf Francs. Ihr seid Zeugen. Das Geld kommt in die Regimentskasse. Hier, die Patronen werden verteilt. Socken. Will die jemand? Nein, dann nehm ich sie; kann ich gut gebrauchen. Sonst noch was?« Er nahm die Muskete des Toten und schmetterte sie mehrfach gegen einen wenige Schritte entfernten Felsen. »Nehmt euch sein Brot«, sagte er. Die Männer rührten sich nicht. »Ich hab gesagt, ihr sollt sein Brot nehmen. Dubois, Godron, jeder einen Laib. Brot darf man im Krieg niemals liegenlassen. Und jetzt zurück auf die Landstraße.« »Wollen wir ihn denn nicht begraben, Sergeant«, protestierte Dubois. Godinot schätzte den Stand der Sonne ab. 18
»Keine Zeit mehr«, antwortete er. »Wir müssen unbedingt noch heute zum Bataillon. Beeilt euch.« Widerwillig gehorchten die Männer und trotteten den Abhang hinunter. Auf der Landstraße angekommen, stellten sie sich wieder in Marschordnung auf. Sechs Freunde waren sie gewesen, als Godinot sie vor neun Monaten zuhause unter seine Fittiche genommen hatte. Jetzt waren sie nur noch zu fünft – fünf Männer mit schwerem Herzen und hängendem Kopf. Der sechste aber lag da draußen irgendwo auf dem Abhang eines Hügels, wo er den ganzen Winter über bleiben würde – eine widerlich verfaulende Masse, über die sich die Krähen hermachten, bis schließlich Sonne und Regen seine abgenagten Knochen ausbleichten.
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4. Matthew Dodd kletterte den Hügel weiter hinauf. Sobald er sich einigermaßen sicher fühlte, setzte er sich hinter einen Ginsterstrauch, um sein Gewehr neu zu laden. Die Prozedur nahm einige Zeit in Anspruch, und damit die Waffe bei Gefahr immer schußbereit war, mußte jede sich dafür bietende Gelegenheit genutzt werden. Dodd nahm eine Patrone aus seinem Munitionsbeutel und riß das Geschoß – eine Bleikugel von einem halben Inch Durchmesser – aus der Papierumhüllung. Dann schüttete er etwas Pulver in den Lauf und auf die Zündpfanne, deren Schutzdeckel er sorgfältig schloß. Anschließend faltete er die leere Patronenhülse zusammen und stieß den Pfropfen mit dem Ladestock, den er aus der Halterung am Gewehr gezogen hatte, im Lauf fest. Als er die Kugel in die Mündung drückte, blieb sie jedoch nach wenigen Inches stecken; das Geschoß war etwas zu groß. Ein leidiges Problem – die Armeeführung stellte keine besonders hohen Anforderungen an die Genauigkeit bei der Herstellung von Munition. Um die festsitzende Kugel ganz den Lauf hinunterzustoßen, griff er nach einem kleinen Holzhammer, der an einer kleinen durch den Griff gezogenen Schnur von seinem Gürtel hing. Der Umstand, daß Dodd überhaupt ein solches Werkzeug mit sich führte, wies ihn als gewissenhaften Soldaten aus, denn der Hammer gehörte nicht zur vorgeschriebenen Ausrüstung. Den Kolben auf die Erde gestellt, setzte er den Ladestock auf die verklemmte Kugel und schlug mehrmals kräftig mit dem Hammer auf dessen Ende; Muskete und Ladestock 20
zusammen waren dabei so lang, daß sie nur von einem großgewachsenen Mann halbwegs leicht gehandhabt werden konnten. Die Schläge trieben die Kugel schließlich den Lauf hinunter, bis sie sicher auf dem Pfropfen saß. Dann verstaute Dodd den Hammer wieder am Gürtel und schob den Ladestock in seine Halterung am Gewehr. Jetzt mußte alles nur noch einmal überprüft werden, und die Muskete war erneut schußbereit. Dodd führte die nötigen Handgriffe ohne nachzudenken aus; während der vielen Monate des Ladedrills auf dem Kasernenhof hatte er eine geradezu mechanische Präzision erlangt, die verhinderte, daß er selbst in Augenblicken höchster Anspannung etwa zuerst die Kugel und dann den Pfropfen in den Lauf stopfte, die Pulverladung vergaß, den noch im Lauf steckenden Ladestock versehentlich mit abschoß oder sonst irgendeinen der rund fünfzig Bedienungsfehler machte, mit denen sich ungeübte Rekruten zu Anfang herumplagten. Erst jetzt fand er die Gelegenheit, über seine Lage nachzudenken und zu überlegen, was weiter geschehen sollte. Zunächst aber ließ er sich unter dem Ginsterbusch nieder und nahm den Tornister ab; in den drei Jahren, die der Feldzug nun schon dauerte, hatte er gelernt, aus jeder Situation das denkbar Beste zu machen. Irgendwo weiter südlich befand sich sein Regiment und damit sein Zuhause, seine Freunde, sein ganzer Stolz – und seine Zukunft. Alles, was er im Grunde wollte, war, dorthin zurückzukehren. Die Erfahrung aus zahlreichen Nachhutgefechten sagte ihm allerdings, daß sich sein Regiment seit gut zwei Stunden in Eilmärschen absetzte; er aber war notgedrungen in die entgegengesetzte Richtung gelaufen. Nun befand sich zwischen ihm und dem vielleicht schon zehn 21
Meilen entfernten Regiment nicht mehr bloß die feindliche Vorhut, sondern wahrscheinlich bereits der Hauptteil der gegnerischen Armee. Der kleine Trupp jedenfalls, der ihn verfolgt hatte, war sicher nur deshalb so allein marschiert, weil sich die Frontlinie weiter vorne befand. Anders ausgedrückt bedeutete das: Wenn er seinem Regiment zu folgen versuchte, lief er dem Feind direkt in die Arme. Aber es mußte irgendeinen Weg geben; den Anschluß nicht zu verlieren, war die allererste militärische Grundregel gewesen, die man ihm beim Regiment beigebracht hatte – damals, vor fünf Jahren in Shornecliffe, als Sir John Moore auf seinem Schimmel die Reihen entlanggeritten war, um das Exerzieren der Rekruten zu überwachen. Im Südosten lag der Tejo; die Landstraße an seinem Ufer führte nach Lissabon und damit zu den britischen Linien. Matthew Dodd war auf dieser Straße mindestens ein Dutzend Mal marschiert. Um dorthin zu kommen, mußte er allerdings die Flanke der angreifenden französischen Truppen umgehen. Dodd hatte noch nie eine Landkarte von Portugal zu Gesicht bekommen und selbst wenn, hätte er sie nicht lesen können: seine gesamten geographischen Kenntnisse beruhten ausschließlich auf eigener Anschauung. So starrte er zum Himmel hinauf und versuchte sich die landschaftlichen Gegebenheiten 1000 Quadratmeilen im Umkreis in Erinnerung zurückzurufen. Die Franzosen stießen auf zwei Hauptstraßen vor. Hier bot sich eine, wenn auch geringe Chance für ihn – die dritte, hoffentlich dann unbewachte Straße am Fluß. Mit etwas Glück würde er in drei, vier Tagen den Tejo erreichen können, und von dort aus wären es dann nur noch zwei, vielleicht drei Tage Fußmarsch bis zu den britischen Stellungen bei Alhandra. 22
In seinem Brotbeutel hatte er noch etwa zwei Pfund des sogenannten »Armeebrotes« – ungesäuerter Zwieback, der nur wenig genießbarer war als die Verpflegung der Franzosen – und eine Rinderkeule mit einigen Streifen Fleisch. Als durchaus umsichtiger Soldat hatte sich Dodd etwas von der spätnachts noch ausgegebenen Ration aufgespart. Denn oft genug hatte er miterleben müssen, daß die Vorposten erst nach Mitternacht ins Lager zurückkehrten, wenn die mageren Bullen schon längst geschlachtet, zerlegt und das gekochte Fleisch an die Soldaten ausgegeben worden war. In den beiden Bauchtaschen fanden sich außerdem noch 55 Patronen und ein Päckchen Feuersteine – er konnte sie deutlich mit den Fingern spüren. Alles in allem war er mit dem geladenen Gewehr und dem langen Bajonett an seiner Seite für einen normalen Soldaten bestens ausgerüstet. Über andere Unzulänglichkeiten seiner Uniform machte er sich dabei keine weiteren Gedanken. Er stand auf und blickte vorsichtig um sich, ob nicht irgendwo Feinde zu sehen waren. Als er nichts entdeckte, begann er stur in südöstlicher Richtung durch das Heidekraut davonzustapfen. Vor ihm lag offenes, hügeliges Gelände ohne jede Deckung. Einen gewissen Schutz bot allerdings die grüne Uniform; ein knallrot gekleideter Infanterist – neun Zehntel der Soldaten in Wellingtons Armee trugen rote Uniformen – wäre im Gelände ungleich auffallender gewesen. Zudem waren die Knöpfe und Rangabzeichen schwarz und reflektierten somit nicht das Sonnenlicht. Der alte Herzog von York mit seinen Horse Guards hatte sich für diese Neuerungen nicht gerade begeistern können; nachdem er sie sich aber erst einmal zu eigen gemacht hatte, setzte er sie auch konsequent durch. So war auch das lange Bajonett, das gegen Dodds Hüfte 23
schlug, im Grunde ein kurzes Schwert. Flankier und Scharfschützen mochten wohl um ihren Ruf fürchten, wenn sie vorne auf ihre Gewehre ein Bajonett stecken mußten, gelegentlich aber waren auch sie in Kämpfe Mann gegen Mann verwickelt. Bis heute ist die Gewehrbrigade stolz auf ihre schwarzen Knöpfe und Rangabzeichen; wenn bei den anderen Regimentern »Bajonett aufpflanzen« kommandiert wird, so heißt das hier noch immer eigensinnig »Schwert aufpflanzen«, und das Gewehr wird nicht über der Schulter, sondern in der Hand getragen. Der dunkelgrüne Punkt bewegte sich langsam den Abhang hinunter. Der Hügel mündete in einem Felsvorsprung, unter dem sich ein gewundenes Tal öffnete, das sich zwischen den anderen Hügeln verlor. Dodd hoffte, irgendwo dort einen kleinen Bach oder einen Pfad zu finden. Vielleicht sogar eine richtige Landstraße – was allerdings unwahrscheinlich war, denn in Portugal gab es nur wenige befestigte Straßen. Vorsichtig näherte er sich der Abbruchkante. Dann ließ er sich in das Heidekraut nieder und kroch auf allen vieren vorwärts, um das Gelände unter sich zu erkunden. Tatsächlich erblickte er ein in der Sommerhitze fast ausgetrocknetes und mit Felsen übersätes Bachbett, an dessen Rand ein kleines, aus grauen Steinen errichtetes Bauernhaus stand. Ein winziger Acker, aus dem offensichtlich mehrere Generationen in mühevoller Arbeit die Steine herausgeklaubt hatten, um etwas anbauen zu können, umgab das Haus. Einsame Häuser bedeuteten Gefahr für einen einzelnen Mann. Dodd starrte lange Zeit unbewegt hinunter. Kein Bewohner ließ sich blicken, auch Rauch stieg nicht auf. Nichts rührte sich. Besonders verdächtig 24
wirkte das nicht, denn auf Wellingtons Befehl hin hatten alle Einwohner diesen Teil des Landes verlassen müssen. Die zurückgebliebenen Nahrungsmittel wurden vernichtet; Frauen, Kinder und die gebrechlichen Alten zogen mit den britischen Truppen fort – Dodd erinnerte sich genau an die tristen Flüchtlingskolonnen während des britischen Rückzugs. Wer dagegen noch eine Muskete oder Pike tragen konnte, war mit der vagen Hoffnung in die Berge gegangen, vielleicht einen versprengten Franzosen zu fangen. Es war also keineswegs ungewöhnlich, wenn der Eigentümer seinen Besitz verlassen hatte. Aber möglicherweise befanden sich Franzosen im Haus. Auf dem kleinen, durch eine graue Steinmauer von dem Feld abgetrennten Hof lag jedenfalls ein seltsames weißes Bündel – selbst Dodd mit seinen scharfen Bauernaugen konnte nicht erkennen, was es war. Vielleicht bloß zurückgebliebener Hausrat. Trotzdem beschloß Dodd, dem Gehöft besser doch nicht näher zu kommen – auch wenn nichts auf die Anwesenheit von Franzosen hindeutete. Sein Blick folgte dem Lauf des Bachs, an dessen Ufer er einen gewundenen Trampelpfad entdeckte. Wenn er sich auf dem Hang jenseits der Kammlinie hielt, konnte er sicher das nächste Tal erreichen; ein kleines Gehölz würde ihm dabei Deckung bieten, bis er schließlich weit außer Sichtweite auf den Bach und damit den Pfad stoßen würde. Auf allen vieren kroch er zurück über die Hügelkuppe, blickte sich kurz um und marschierte auf die Baumgruppe zu. In dem kleinen Wäldchen bewegte er sich mit äußerster Vorsicht. Das Gefälle des Waldbodens gab ihm in etwa die Marschrichtung an – ein allerdings höchst unzuverlässiges Orientierungsmittel, was Dodd 25
sehr wohl wußte. Hinter jedem Baumstamm konnten zudem Feinde lauern. Ständig auf der Hut vor plötzlich auftauchenden Franzosen, arbeitete er sich langsam von Baum zu Baum vorwärts. Jeder Schritt wollte genau bedacht sein. Alle Vorsichtsmaßnahmen aber schützten ihn nicht vor einer bösen Überraschung: Etwas traf ihn an der Schulter. Es war nur eine simple Buchecker, aber Dodd fuhr zusammen, als habe ihn eine Kugel getroffen. Aus dem bereits herbstlich gelben Blattwerk eines Baumes starrte jemand auf ihn herunter – er hatte schlichtweg vergessen, auch auf die Kronen der Bäume zu achten. »Pst! Pst!« sagte der Unbekannte. »Inglez!« »Ja«, antwortete Dodd. »Sim.« In der Stille unter den Bäumen traute er sich nur zu flüstern. Jemand kletterte die Äste herunter. Dann erschien ein Paar baumelnder, in absonderliche Fetzen gekleidete Beine – aus den beiden Stoffröhren, einem Mittelding zwischen Reitbreeches und normaler Hose, ragten zwei schmutzige Füße. Ihr Besitzer ließ sich behende auf den Boden gleiten und näherte sich ihm mit schlenkernden Tanzschritten. Eine blöde triumphierende Grimasse lag auf seinem dunkelhäutigen Gesicht – in dem vorsichtig voranpirschenden Dodd mit seiner grünen Uniform hatte er sofort einen Engländer erkannt. Der Junge war offensichtlich geistesgestört. Er stieß einige stockende Laute hervor, die Dodd nicht verstand. Seine Kenntnisse des Portugiesischen beschränkten sich auf jene paar Worte, die man brauchte, um Wein zu kaufen. Der Idiot packte seine Hand und zog ihn zum Rand des Gehölzes, wo er auf das nur knapp zweihundert Yard entfernte graue Haus zeigte. Dann redete er von neuem auf den noch immer verständnislosen Dodd ein, packte wieder seine Hand 26
und versuchte ihn nochmals in Richtung auf das Gehöft zu zerren. Endlich schien er den Grund für Dodds Unwillen zu spüren. Ein neuer Wortschwall brach hervor. Als der Idiot schließlich die Sinnlosigkeit des Versuchs erkannte, verlegte er sich auf eine Art Pantomime: Er beschattete mit der Hand die Augen und starrte in das Gelände vor sich; dann schüttelte er die Hand verneinend. Der Sinn des Ganzen war klar – in der Umgebung gab es keine Feinde. Als ihn der Idiot erneut in Richtung auf das Haus zog, leistete Dodd keinen Widerstand mehr. Alles war ruhig. Nur der kleine Bach plätscherte leise in seinem felsigen Bett, als sie sich dem einsamen Gebäude näherten. Dodd blieb überrascht stehen. Auf dem Hof vor dem Eingang zum Haus lag ein Toter in einer Blutlache. Es war ein alter, weißhaariger Mann mit erstaunlich ruhigen Gesichtszügen. »Sim, sim«, murmelte der Idiot, der noch immer Dodds Hand festhielt. Sie gingen um das Haus herum. Dort fanden sie eine tote Frau. Dodd hatte sie als seltsames weißes Bündel vom Felsen aus gesehen. Ihr Kopf mit dem grauen Haar war voller Blut, ebenso ihre Hände – sie hatte wohl noch versucht, nach der Waffe zu greifen, die sie töten sollte. Außerdem war sie fast nackt – man hatte ihr die armseligen Kleider bis über die Brüste hochgezerrt. Es war ein trauriges Bild, das sich dort vor dem Haus zwischen den Hügeln bot – der große, kräftige Soldat in seiner grünen Uniform mit dem unruhig brabbelnden Irren und dem nackten Leichnam auf der Erde. Dodd stand versunken da, als der Idiot plötzlich wie in Trance vorstieß: »Morran os Franceses!«
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Tod den Franzosen! Dieser Racheschwur hallte durch ganz Portugal. Er mußte ihn schon oft gehört haben. Dodd schreckte aus seiner düsteren Stimmung hoch. Er machte ein paar Schritte über den Hof, blieb aber auf einmal stehen, als habe er etwas vergessen. Er beugte sich nach vorne und schloß mit unbeholfener Zartheit die blutigen Kleider der toten Frau und faltete ihre zerschundenen Hände vor der Brust. Dann wandte er sich ab; der Idiot folgte ihm. Der kleine Hof war übersät mit den Habseligkeiten der ermordeten Eheleute. Schon früher hatte Dodd geplünderte Gehöfte gesehen, diesmal aber berührte ihn der Anblick besonders. »Cavalheiros«, sagte der Idiot und zeigte dabei auf die Abdrücke von Hufen; einige Pferde hatten neben dem Hoftor gestanden. Dodd nickte, dies war eindeutig das Werk von französischen Dragonern. Der Idiot deutete auf das Tor und ahmte gestikulierend aufsitzende Reiter nach, die davonritten. Dann zeigte er auf die Spuren der Hufe – sie führten von dem kleinen Wäldchen weg in die Hügel. Für Dodd war das ein wichtiger Hinweis; Kavallerie hielt sich also irgendwo in der Nähe auf. Seit er von seinem Regiment abgeschnitten worden war, stießen die französische Vorhut, die Nachhut und die normale Infanterie wenig geordnet vor. An den Flanken aber erfüllte die Kavallerie nach wie vor ihre Deckungsaufgaben. Ihr nun begegnet zu sein bedeutete, daß er seinem Ziel bereits ein kleines Stück nähergekommen war. »Also gut!« sagte Dodd mit Nachdruck. Hier war für ihn nichts mehr zu tun; er mußte weiter. Mit der Hand deutet er nach Südosten und fragte: »Tagus?« Dann erinnerte er sich an den portugiesischen Namen des Flußes. »Tejol« 28
Das gehauchte »j« war schwer auszusprechen. Trotzdem glaubte er, sich einigermaßen verständlich gemacht zu haben. Doch auf dem Gesicht des Idioten zeigte sich keine Spur von Begreifen. »Tejol« fragte er noch einmal. Der Idiot murmelte irgend etwas Unverständliches, das auch nicht im entferntesten an Portugiesisch erinnerte. Mehr war aus ihm nicht herauszubringen. Dodd drehte sich um und begann den Trampelpfad neben dem Bach entlangzugehen. Eine Sekunde später kam der aufgeregt schnatternde Idiot hinter ihm her. Zusammen ließen sie das einsame Haus mit den beiden Toten hinter sich und marschierten in das Tal hinunter – ein versprengter englischer Soldat und ein humpelnder Idiot. Als sie endlich aus den Wäldern mit Buchen und Korkeichen herauskamen, ging die Sonne bereits unter. Dodd überlegte, wo sie die Nacht verbringen sollten – auf keinen Fall wollte er das Risiko eingehen, sich im Dunkeln zu verirren. Vor allem aber kam es darauf an, einen Platz zu finden, an dem sie von niemandem überrascht werden konnten. Am sichersten waren sie wohl, wenn sie auf freiem Feld zwischen den Hügeln kampierten. Feuer allerdings konnten sie dort keines machen, das wäre zu auffällig. Und sie mußten endlich etwas trinken. Bei der leichten Division hatte Dodd gelernt, auch bei größter Hitze tagsüber so wenig Wasser wie irgend möglich zu sich zu nehmen. Abends trank er dafür um so mehr. Der simple Wunsch ließ sich rasch erfüllen. Neben ihm plätscherte der Bach, und so kniete er einfach nieder, um zu trinken. Er schüttete den lauwarmen Rest aus seiner Wasserflasche – die bei der Armee »Canteen« genannt wurde –, füllte sie erneut und trank noch 29
einmal. Schließlich ließ er die Flasche ganz mit Wasser vollaufen und hängte sie sich wieder um den Hals. Der Idiot neben ihm gab sich nicht so viel Mühe: Er legte sich einfach am Ufer auf den Bauch, stützte sich mit den Händen auf zwei Kiesel mitten im Bach, beugte sich vor und schlürfte gierig das vorbeifließende Wasser. Dodd fühlte sich durch den Anblick an einen Bibelvers erinnert, den er einst in der Kirche gehört hatte, als er Knecht bei einem Bauern gewesen war – irgendein Feldherr nahm nur jene Männer zu Kriegern, die wie Vieh das Wasser aus dem Fluß soffen und nicht mit der Hand schöpften. Es wurde jetzt rasch dunkler. Links von ihnen erhob sich ein größerer Hügel, auf den Dodd zumarschierte, nachdem er den Pfad verlassen hatte. Knapp unterhalb der Kuppe befanden sich ein paar Ginstersträuche. Dodd wählte den nach Osten gewandten Teil des Gebüsches; hier würden sie etwas geschützt sein, wenn nachts Westwind mit Regen aufkam. Er schnallte den Tornister ab, packte den großen Schutzmantel aus und zog ihn an. Dann lud er sein ganzes Gepäck wieder auf die Schultern; im Notfall mußte er sofort aufbruchbereit sein. Der Idiot hatte die ganze Zeit über aufmerksam zugeschaut. Als Dodd nun das Brot und die Rinderkeule aus dem Brotbeutel hervorholte, kroch er im letzten Licht des Tages näher und streckte bettelnd die Hände aus. In Dodd stritten die Gefühle miteinander: Einerseits wollte er der hungernden Jammergestalt etwas zu essen geben. Andererseits aber mußte er mit einer Zweitagesration mindestens zehn Tage auskommen, wenn er sein Regiment wiederfinden wollte. Die Pflicht gebot ihm, alles für sich zu behalten, das Mitleid aber verlangte zu teilen. Trotzdem blieb er hart und kaute 30
stoisch vor sich hin, ohne weiter auf die Bettelei zu achten. Der Zwieback war furchtbar trocken und das Fleisch fast ungenießbar zäh. Der Ochse hatte wohl auf dem 100 bis 200 Meilen langen Treck nichts Richtiges zu fressen bekommen, bevor er geschlachtet worden war. Dazu kam der geradezu fahrlässige Umgang der Regimentsküche mit dem grob zerlegten Vieh – das Fleisch dampfte noch, da wurde es bereits in die großen Garkessel geworfen und eine knappe Stunde gekocht. Gerade lange genug, um für die am Abend vor Heißhunger ungeduldigen Männer genießbar zu sein. Nur selten während seiner fünf Jahre bei der Armee hatte Dodd eine bessere Verpflegung erlebt. Und davor hatte er als elftes Kind eines Tagelöhners mit zehn Schilling in der Woche oft noch weniger zu essen gehabt. Zufrieden biß er in das faserige Fleisch. Als er die Reste seiner Mahlzeit wieder im Brotbeutel verstauen wollte, fing der Idiot leise an zu jammern. Er streckte seine Hände vor und brachte dabei auf derart anrührende Weise bittende Laute hervor, daß Dodd schließlich nachgab. Er riß ein Stück Brot ab und drückte es dem Idioten zusammen mit dem übriggebliebenen Fleisch in die Hand; dabei schimpfte er sich innerlich einen hirnlosen Dummkopf. Das Gejammere wandelte sich in Freudengegrunze. Es war jetzt ganz dunkel geworden und Dodd hörte nur noch, wie der Idiot auf dem Zwieback herumkaute. Nach den krachenden und splitternden Geräuschen zu urteilen, würde er wohl selbst die Rinderknochen vertilgen. In seinem Mantel zusammengekauert überdachte Dodd vor dem Einschlafen noch einmal die Ereignisse des Tages, als er am nächtlichen Himmel einen schwachen Lichtschimmer wahrnahm. Er stand auf, griff nach seinem Gewehr und pirschte sich an den Abhang 31
des Hügels heran. Hier fand er die Erklärung für die seltsame Erscheinung: So weit das Auge reichte, erstreckte sich zur Rechten und zur Linken den ganzen Talboden hinauf endlose Reihen von Lichtpunkten – die Biwakfeuer einer großen Armee. Ein solches Bild hatte er schon oft vor sich gehabt. So konnte er auch anhand der unregelmäßigen Reihen mit Feuerstellen in etwa abschätzen, wie stark die Armee war, die da unten lagerte. Die dunklen Stellen zwischen den Feuern ließen zudem auf Pferdekoppeln schließen und damit auf den Umfang von Kavallerie und Artillerie. Doch das alles erregte kaum seine Aufmerksamkeit. Kein Offizier würde ihn heute oder in den nächsten Tagen nach seinen Beobachtungen fragen; und für ihn war es gleichgültig, ob da unten nun 20 000 oder 40 000 Mann lagen. Ihn interessierte nur, daß er augenscheinlich auf den linken Flügel der französischen Armee gestoßen war, deren Marschkolonnen er morgen umgehen mußte. Noch aber war die Armee etwa fünf Meilen entfernt; die Vorposten würden ihm hier auf dem Hügel also wohl kaum zu nahe kommen. Er kehrte zum Gebüsch zurück, den Idioten an seiner Seite, der leise durch das Heidekraut raschelte. Dann lockerte er die Trageriemen und schob seinen Tornister nach oben bis unter das Genick, um ihn als Kissen zu benutzen. Als er sich zum Einschlafen zurechtlegte, bemerkte er noch, daß sein Mantel über die Knie hochgerutscht war. Über sich erblickte er den Nachthimmel mit den leuchtenden Sternen – viel hellere Sterne, als man sie jemals im dunstigen England sehen konnte. Eine leichte Brise erhob sich, die ihn hier auf der windabgewandten Seite des Hügels kaum frösteln ließ. Ganz in der Nähe machte sich der Idiot im
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Heidekraut wie eine wildlebende Katze ein Lager zurecht und brabbelte dabei monoton vor sich hin. Kurz vor dem Einschlafen kam Dodd noch ein anderer, halb vergessener Bibelvers in den Sinn, den er einmal in der Kirche gehört hatte – daß die Vögel Nester und die wilden Tiere ihre Höhlen haben, der Menschensohn aber nirgendwo sein Haupt zur Ruhe betten kann. Dodd hatte noch nie bemerkt, daß ihm dieser Vers immer durch den Kopf ging, wenn er im Freien übernachtete. Ein oder zwei Minuten später fiel er unweigerlich in den Schlaf – und so geschah es auch diesmal. Tatsächlich war es gerade einmal acht Uhr abends und Dodd bewies lediglich die Fähigkeit des englischen Soldaten, zu jeder Tageszeit schlafen zu können. Eine besondere Begabung, von der bereits zu Zeiten der Feldzüge Marlboroughs berichtet worden war.
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5. Während der Nacht wälzte sich Dodd ein paarmal hin und her, schlief ansonsten aber ruhig. Beim kleinsten Geräusch wäre er sofort hellwach gewesen, doch nichts rührte sich. Der Schrei eines Käuzchens und das entfernte Heulen eines Fuchses waren normale Geräusche, die von seinem Gehirn nicht wahrgenommen wurden und ihn darum auch nicht weckten. Er war schon lange Soldat. Dodd erwachte, als der Tag zu dämmern begann. Ein leichter Regenschauer ging nieder, und die Tropfen glitzerten auf dem großen Mantelstoff. Etwas steif setzte er sich auf und blickte um sich. Mit der Bewegung wachte auch der Idiot auf – ansonsten blieb alles still. Dodd ging hinüber zu dem steilen Abhang des Hügels, aber der feine Regen verhinderte die klare Sicht ins Tal. Er begann mit den Vorbereitungen für den Tag. Zunächst tat er frisches Pulver auf die Zündpfanne seines Gewehrs, während er die Waffe mit dem Oberkörper vor der Feuchtigkeit schützte. Dann lehnte er das Gewehr vorsichtig an einen Strauch, öffnete die Befestigungsbänder seiner langen Gamaschen und zog Schuhe und Strümpfe aus. In seinem Tornister befand sich noch ein zweites Paar aus Wolle. Das zog er nun an, nachdem er die Füße im feuchten Heidekraut sorgfältig gereinigt hatte. Peinlich genau achtete er darauf, links jenen Strumpf anzuziehen, den er zwei Tage zuvor rechts getragen hatte. Danach schlüpfte er in seine Schuhe und befestigte wieder die Gamaschen. Noch ein paar Bissen Brot und ein Schluck Wasser und 34
er konnte zu einem weiteren zwölfstündigen Gewaltmarsch aufbrechen. Widerwillig warf er dem Idioten etwas Brot hin. Der arme Kerl schlang den Brocken wie ein Wolf hinunter und zitterte dabei nur so vor Kälte. Dodd machte sich auf den Weg quer über den Hügel. So weit das in dem strömenden Regen möglich war, versuchte er sich von der Kuppe aus die Einzelheiten der Landschaft mit ihren kreuz und quer verlaufenden Hügeln einzuprägen; in einem der Täler da unten hatte er gestern abend die Lagerfeuer gesehen. Die Marschroute war heute nicht ungefährlich, führte sie doch genau durch die französische Vorhut. Möglicherweise traf er dabei auf Trupps, die Nahrungsmittel suchten, Plünderer, Nachzügler oder sogar reguläre Einheiten auf dem Vormarsch. Jenseits der Straße mußte er zudem mit zum Flankenschutz eingesetzter Kavallerie rechnen. Binnen der nächsten zwei Stunden konnte er bereits tot oder wenigstens in Gefangenschaft geraten sein – Gefahren, die ihm auch den ganzen weiteren Tag über drohen würden. Aber im Augenblick erfreute er sich noch seines Lebens und der Freiheit, und als echter Soldat verdrängte Dodd einfach jeden Gedanken an die düstere Zukunft. Der Regen wurde immer stärker, als er weiter vordrang. Nach kurzer Zeit schon waren seine Hosen durchnäßt, und obwohl der Mantel den Regen einigermaßen abhielt, liefen ihm kleine Wasserbäche in den Kragen und den Körper hinunter – ein ausgesprochen unangenehmes Gefühl. Der humpelnde Idiot neben ihm jammerte vor Schmerzen; Dodd versuchte, möglichst nicht daran zu denken, wie die nackten Füße des armen Teufels von dem scharfkantigen Fels, über den sie marschierten, zugerichtet wurden. Er beruhigte
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sich jedoch mit dem Gedanken, daß er ihn ja nicht aufgefordert hatte mitzukommen. Sie waren jetzt zwei Stunden unterwegs, und das Gelände wurde immer schwieriger. Dodd verschärfte seine Aufmerksamkeit; die Hauptstraße mußte bald in Sicht kommen. Angestrengt starrte er auf die dunstige Landschaft vor sich, um die Straße irgendwie ausfindig zu machen, aber der niedergehende Regen versperrte noch immer die Sicht. Der einzige Vorteil bestand im Augenblick daran, daß der Wind in etwa aus Nordwesten wehte. Behielt er den Wind weiterhin im Rücken, kam er zwar etwas von seiner eingeschlagenen Marschrichtung ab, das Marschieren selbst aber würde angenehmer werden. Schließlich erreichten sie einen kleinen Bach. Hier im Gebirge hatte das bißchen Regen bereits ausgereicht, das Rinnsal merklich anschwellen zu lassen; nun gurgelte das Wasser bedrohlich zwischen den Kieseln. Als Dodd mit hochgerafftem Mantel durch das Wasser stapfte, fiel ihm etwas ein: Wenn es weiterhin so stark regnete, mußten die über die Ufer getretenen Bäche seine Bewegungsmöglichkeiten bald gefährlich einschränken. Denn alle Gewässer flossen in südwestlicher Richtung – Dodd hatte die Wasserscheide zwischen dem Tejo und dem Meer noch nicht passiert. Jenseits des Baches erhob sich ein weiterer steiler Hang; verbissen begann Dodd hinaufzuklettern. Der Wind hatte inzwischen kräftig aufgefrischt, und der Regen ging nun wolkenbruchartig nieder – ein Wetter, das sich nur vorstellen kann, wer jemals einen Herbststurm auf der Iberischen Halbinsel miterlebt hat. Oben bildete der Hügel ein von jäh abfallenden Böschungen umgebenes Plateau und ging nicht in einen der sonst üblichen sanften Abhänge über; der Abstieg bereitete Dodd darum einige Mühe, bevor sich das 36
nächste Tal vor ihm öffnete. Was er dort ungenau durch die Regenschauer erkannte, ließ ihn sofort in Deckung gehen. Von links kommend führte die Hauptstraße quer durch das vor ihm liegende Teil und weiter rechts steil einen Hang hinauf, ohne im geringsten auf das Gefälle Rücksicht zu nehmen; man konnte über die Kühnheit der Ingenieure, die sie erbaut hatten, nur staunen. Die Straße war von Menschen, Tieren und Fahrzeugen aller Art total verstopft. Offensichtlich bewegte sich ein Hauptteil der französischen Armee über diese eine Landstraße vorwärts. Unmittelbar vor Dodds Eintreffen waren die letzten regulären Truppen vorbeimarschiert, und nun wälzte sich der unübersehbare lange Troß – den eine Armee von 100 000 Mann unumgänglich hinter sich herschleppte – durch das Tal. Dodd lag im Heidekraut, während der Regen monoton niederging, und beobachtete die feindlichen Kolonnen; neben ihm wimmerte der Idiot leise vor sich hin. Selbst er spürte wohl die Notwendigkeit, still zu liegen, wenn französische Truppen in der Nähe waren. Soweit Dodd blicken konnte, verkeilten sich die Fahrzeuge meilenweit zu einer endlosen Schlange; darunter an die fünfzig Geschütze mit den dazugehörigen Munitionswagen und Hunderte von Bauernkarren. Es waren die primitivsten Vehikel, die man sich denken konnte: auf einem stabilen Balken saß ein klobiges, kastenförmiges Gestell aus festem Holz, das nach oben hin weit auslud. In simplen Löchern durch den Balken drehten sich die Achsen mit den starr montierten Rädern unter nervtötendem Kreischen. Jeder Karren wurde von acht Ochsen gezogen, die paarweise im Joch gingen und von unwilligen spanischen oder portugiesischen Hilfskräften angetrieben wurden; 37
drinnen lagen jeweils drei oder vier kranke oder verwundete Franzosen, die andauernd herumgeschleudert wurden und ohne Schutz vor dem Regen jeden Tag zu Dutzenden starben. Ein trübes Schicksal, das aber allemal der Aussicht vorzuziehen war, zurückgelassen zu werden und damit auf Gnade oder Ungnade der portugiesischen Bauern ausgeliefert zu sein. Für die Fahrzeuge gab es durchweg zu wenig Zugtiere – Dodd konnte zum Beispiel beobachten, daß die meisten Geschütze nur mit fünf statt sechs Pferden bespannt waren. Die Steigung überforderte die schwindenden Kräfte der Tiere – mochten die Treiber auch noch so fluchen, nach nur wenigen Yards blieb jedes Gefährt an der Steigungsstrecke unweigerlich stehen. Andere Zugtiere wurden nun herbeigeschafft, um das überforderte Gespann zu verstärken. Dann legten sich die Pferde wieder ins Zeug und rückten den Hügel unter Peitschenknallen und dem Geschrei der Treiber ein kurzes Stück weiter hinauf, bis irgendein Stein das Ganze erneut zum Stehen brachte. Schließlich mußten die Männer selbst Hand anlegen und mit aller Kraft an den Zuggeschirren zerren, um das Hindernis zu überwinden und der Hügelspitze ein paar Yards näherzukommen. So ging es mühselig immer weiter, bis man endlich die Kuppe des Hügels erreicht hatte. Dort wurde dann das verdoppelte Gespann angeschirrt und wieder ins Tal geführt, um den nächsten Wagen hinaufzuziehen; eine tödliche Anstrengung, die durch Hunger, Regen und Sturm noch verschlimmert wurde. An einem Tag war vielleicht ein Dutzend solcher Steigungen zu schaffen und vor den Männern lagen aber noch viele solcher Tage.
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Dodd konnte nur vermuten, wo er sich befand. Am besten, er wartete einfach ab, bis die Prozession langsam an ihm vorbeigezogen war. Er wollte unbedingt die andere Seite der Landstraße erreichen; aber die Kolonne so weit zurückzuverfolgen, bis er hinter der Nachhut ungestört hinüberwechseln konnte, hieß, den ganzen Weg zweimal machen. Da war es schon besser, in all dem Regen und Wind einfach liegenzubleiben. Dodd war zwar bald bis auf die Haut durchnäßt, rührte sich aber nicht – in vielen Kriegsjahren hatte er sich einen nachgerade unerschöpflichen Vorrat an Geduld zugelegt. Erst spät am Nachmittag waren die letzten Gespanne endlich hinter dem Hügel außer Sicht. Dem Troß folgte ein Haufen kranker und verwundeter Männer zu Fuß, die sich mit stumpfem Blick auf der steinigen Straße dahinschleppten, und ein Infanteriebataillon als Nachhut. Auch nachdem die Infanteristen verschwunden waren, wartete Dodd noch ab – aus Angst vor Nachzüglern und Plünderern, die der Armee vielleicht folgten. Aber es kam niemand mehr. Kein Franzose blieb freiwillig hinter der Nachhut zurück, seit bekannt geworden war, daß portugiesische Freischärler ihre Gefangenen gelegentlich bei lebendigem Leibe rösteten, in Wasser kochten oder mittendurch sägten. Kurz vor Einbruch der Dunkelheit konnte Dodd schließlich hinunterklettern, die Straße überqueren und den gegenüberliegenden Abhang besteigen. Der Regen hatte inzwischen zwar etwas nachgelassen, aber der Wind drehte nun nach Nord und wurde von Minute zu Minute kälter. Dodd war froh, seinen durchfrorenen Gliedern etwas Bewegung verschaffen zu können – der Idiot jedoch, der ihm noch immer folgte, wurde dauernd von Kältekrämpfen geschüttelt. Alle paar Yards stürzte 39
er und kroch auf allen vieren weiter, bis er wieder auf die Beine kam. Es war eiskalt, dafür trockneten nun der Wind und die Anstrengung ihre Kleider. Dodd hastete durch die Dämmerung, um möglichst weit von der Landstraße wegzukommen, bevor es endgültig dunkel wurde. Dabei mußte er an seine Regimentskameraden denken, die jetzt wahrscheinlich um ein prasselndes Feuer saßen; mit ein bißchen Glück hatten sie Schweine- oder Rindfleisch zum Abendessen und vielleicht sogar für jeden einen Schluck Schnaps. Feuermachen kam für ihn natürlich nicht in Frage – noch waren die Franzosen viel zu nahe – und auch zu essen würde es nur wenig geben. Dodd schlug sein Lager wieder auf freiem Feld auf. Im Tal oder in einem Wäldchen wollte er auf keinen Fall übernachten – dort streiften die Patrouillen bevorzugt umher. Wie am gestrigen Abend fand er auch diesmal ein freistehendes Gebüsch, an dessen windabgewandter Seite er sich niederließ. Der Widerschein der französischen Lagerfeuer hinter ihm sorgte dabei für eine Spur von Behaglichkeit. Mit ein bißchen Glück würde er morgen die eigenen Stellungen – und damit sein Regiment – ohne größere Schwierigkeiten erreichen können. Seltsamerweise bettelte der Idiot nicht um Essen. Er lag etwas abseits, und Dodd konnte seine Zähne deutlich klappern hören. Am nächsten Morgen weckte der Idiot Dodd, noch bevor es richtig hell geworden war. Durch einen plötzlichen Schrei wurde Dodd regelrecht aus dem Schlaf gerissen. Hastig sprang er hoch, griff nach seinem Gewehr und starrte angestrengt in die Dämmerung, um den Feind auszumachen. Doch nichts rührte sich, nur der Idiot brüllte. Als Dodd zu ihm hinüberging, erhöhte sich die Tonlage des Geschreis, 40
das in ein schrilles Lachen überging. Dodd kniete neben ihm nieder; im Zwielicht erkannte er den Idioten, der auf dem Rücken liegend unheimlich lachte und dabei mit den Armen wild um sich schlug. Dann formten sich aus dem Gelächter angsterfüllte Worte, und der Idiot versuchte, sich aufzurichten, fiel aber sofort wieder kraftlos zurück. Keine Zweifel – der arme Kerl delirierte im Fieberwahn. Dodd mußte sich umgehend Gedanken machen, was er mit ihm anfangen sollte. Während er sich für den Tagesmarsch fertig machte, fällte er eine Entscheidung. Wenn er bei dem Idioten blieb, mußten sie beide verhungern. Und wenn er ihn mitschleppte, würde er niemals die Franzosen überholen und zu seinem Regiment zurückkehren können. Es blieb nur eine Möglichkeit – ihn hier zurückzulassen. Der Idiot würde dann wohl verhungern, wenn ihn das Fieber nicht schon vorher umbrachte. Dodd unternahm einen oberflächlichen Versuch, dem Idioten im Heidekraut ein Lager zurechtzumachen. Dann wandte er sich mit schlechtem Gewissen, aber eisern entschlossen ab und ließ den Idioten allein, der wieder über irgendeine Fieberhalluzination zu lachen begonnen hatte. Das letzte, was Dodd noch von ihm hörte, war ein hinausgeschrienes »Morran os Franceses« – ein durchaus passender Abschiedsgruß. Ohne Dodd würde der Idiot so lange brüllen und lachen, bis er erschöpft in ein Koma fiel und einsam auf diesem windgepeitschten Hügel starb. Für einen Soldaten gab es allemal Wichtigeres zu tun, als einem armen Irren in seiner letzten Stunde beizustehen – Dodds Entscheidung mußte jedermann einleuchten, der sich noch nicht in einer vergleichbaren Situation befunden hatte.
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6. Dodd hatte sich fest vorgenommen, nachmittags nicht mehr querfeldein zu marschieren. Spätestens dann durfte er sich vor Patrouillen halbwegs sicher fühlen und konnte an der ersten Kreuzung, die er erreichte, einen Weg einschlagen, der ungefähr in seine Richtung führte. Schon am Vormittag war er an einem überaus verlockenden Pfad vorbeigekommen, hatte ihn aber nicht benutzt. Zweimal auch hatte er in der Entfernung graue Dörfer gesehen, die er aber außer Sicht im weiten Bogen umging. Aus einem der Dörfer war Rauch aufgestiegen – was in der gegenwärtigen Lage sowohl die Anwesenheit von Franzosen als auch von Portugiesen bedeuten konnte. Ein nach den gestrigen Regenfällen zu einem reißenden Strom angeschwollener Bach, an dem er vorbeikam, gab ihm schließlich neue Hoffnung; erstmals floß ein Bach nicht in Richtung Meer, sondern zum Tejo. Und dort wollte er hin. Dodd marschierte mit gleichmäßigem, raumgreifendem Schritt; ein Mann wie er, der unter Craufurd bis Talavera gekommen war, benötigte keine Ruhepausen. In der weglosen Einöde vor Lissabon konnte man aufs Geratewohl durch die Landschaft laufen und dabei doch leicht alle menschlichen Ansiedlungen umgehen. Zumeist hielt sich Dodd auf den Hängen der Hügel und vermied tunlichst die Kammlinie. In die Täler stieg er nur ab, wenn seine Marschroute es unumgänglich machte; unten angekommen, sprang er vorsichtig von Deckung zu Deckung, bis er die andere Seite erreicht hatte. Während des ganzen Vormittags war er niemandem begegnet – 42
kein Bauer arbeitete auf den Feldern, nirgends weideten Kühe oder Schafe und niemand schien sich um eine Herde verwilderter Schweine zu kümmern, die er in einem Gehölz am Bachufer entdeckte. Das alles war nicht sonderlich auffällig, hatte Wellington doch angeordnet, jedes Lebewesen aus der Gegend fortzuschaffen, bevor die Franzosen auftauchten. So war die Ernte verbrannt worden, und die Felder blieben unbearbeitet; alle Dörfer waren menschenleer. Dem Gegner, der darauf baute, sich aus dem besetzten Land versorgen zu können, wurde damit eine drastische Lektion in der Kunst der Kriegsführung erteilt. Nebenher sollte die Verwüstung eines ganzen Landstrichs das schreckliche Vorbild für spätere Generationen liefern, die mit Giftgas und hochbrisanter Munition den Vorläufer möglichst noch zu übertreffen suchten. Dodd selbst gestattete sich solche Sentimentalitäten angesichts der Zerstörungen allenthalben nicht. Er war seit seinem 17. Lebensjahr Soldat, und seine einzige Aufgabe bestand darin, Franzosen (je nach der politischen Weltlage auch Russen oder Deutsche) zu töten und dabei so lange wie möglich am Leben zu bleiben. Konnte man die Franzosen durch irgendeine geniale Strategie aushungern, statt sie als lebende Zielscheiben vor sein Gewehr zu treiben – um so besser. Seine Hochachtung vor »Conky Alty«, dem »langnasigen Arthur« – offiziell Viscount Wellington – würde dadurch zwar steigen, ansonsten aber wäre es ihm herzlich gleichgültig. Und schließlich waren es ja auch bloß Portugiesen, deren Häuser angezündet wurden und deren Felder brachlagen. Mit der typischen Arroganz des Engländers hielt er die Portugiesen nicht für wirklich vollwertige Menschen; selbst jetzt noch, da portugiesische Bataillone sogar Seite an Seite mit der 43
Leichten Division kämpften und sich zusammen mit den 95ern bei Busaco und Coa und anderswo tapfer geschlagen hatten – Schlachten im übrigen, die Dodd mit Stolz erfüllten. Plötzlich krachten rechts vor ihm ein paar Musketen; Dodds Nerven gerieten für einen Augenblick in Aufruhr. Dort vorne wurde gekämpft. Sein Gewehr schußbereit in Händen, schlich er vorsichtig weiter. Rein instinktiv bewegte er sich dabei auf einen kleinen Buckel zu, von dem aus er die Kämpfenden am besten würde überblicken können. Sein Herzschlag raste bei dem Gedanken, daß sich englische Soldaten womöglich in unmittelbarer Nähe aufhielten. Sehr wahrscheinlich schien das zwar nicht, aber vielleicht war er in ein Vorhutgefecht geraten. Der Hang des Hügels fiel steil in einen felsigen Abgrund ab – die Schlucht eines Wildbachs, der unterhalb des Hügels in seinem Bett schäumte. Das Gewehrfeuer hatte inzwischen fast völlig aufgehört, Dodd hörte nur noch einige wenige Schüsse, die aus größerer Entfernung zu kommen schienen. Dann vernahm er von rechts, wo sich der Wildbach außer Sicht um den Hügel schlängelte, das Geräusch von Pferdehufen – jemand galoppierte mit Höchsttempo den Felspfad herauf. Zwischen einigen weiter entfernt liegenden Felsbrocken tauchte ein Mann auf, der so schnell lief, wie Dodd noch nie jemanden hatte laufen sehen. 20 Yards hinter ihm kam ein französischer Dragoner, dessen erhobener Säbel aufblitzte, als er sich im Sattel weit vorlehnte und seinem Pferd wie verrückt die Sporen gab. Dodd schoß der Gedanke durch den Kopf, warum der Läufer nicht einfach den Steilhang hinaufkletterte, wohin ihm der Reiter nicht folgen konnte. Vor lauter 44
Angst hatte der Mann wohl völlig den Kopf verloren. Dodd drückte das Gewehr an die Schulter, um der Hetzjagd ein Ende zu machen. Er hatte dabei keinerlei Zweifel, auch wirklich einen Franzosen im Visier zu haben – französische Dragoner waren ihm oft genug untergekommen; deutlich erkannte er den mit kleinen Glöckchen verzierten Tschako und den nach französischer Mode nicht gestutzten Schwanz des Pferdes. Er spannte den Hahn, zielte sorgfältig und drückte ab. Mit einem Gewehr einen Mann im vollen Galopp auf eine Entfernung von gut 200 Yards zu treffen, war ungeheuer schwer. Dodd mußte wohl danebengeschossen haben, denn der Dragoner ritt einfach weiter. Gerade als Dodd mit fliegender Hast neu laden wollte, holte der Dragoner den Mann zu Fuß ein. Der Säbel blitzte wieder auf, als ihn der Franzose niedersausen ließ – gerade so wie Jungen, die mit einem Stock Brennesseln köpften. Der Mann taumelte mit den Armen über dem Kopf, stürzte aber erst nach dem zweiten Hieb zu Boden. Weit von seinem Pferd heruntergebeugt, schlug der Franzose weiter auf den schmerzgekrümmt am Boden Liegenden ein. Dann stach er mehrfach in den Körper. Er wendete sein Pferd, gab ihm die Sporen und riß zugleich am Zügel, bis das widerstrebende Tier immer und immer wieder über sein Opfer trampelte. Schließlich ritt er im Schritt davon, die Brust geschwellt vom Bewußtsein seines Triumphes. Währenddessen war Dodd noch nicht einmal so weit, eine neue Kugel in den Lauf zu stoßen, und fluchte hundserbärmlich auf die Waffe. Offensichtlich war es für einen zweiten Schuß zu spät. Gerade als der Dragoner zwischen den Felsen verschwand, ertönte von der gegenüberliegenden Wand der Schlucht eine ungleichmäßige Gewehrsalve. Das Pferd stürzte und 45
warf dabei den Dragoner ab. Im gleichen Augenblick stürmte eine Handvoll Männer den gegenüberliegenden Hang herunter, überquerten den Bach und packten den Benommenen, als er sich gerade aufsetzen wollte. Um den Gefangenen herum versammelt, beratschlagten sie kurz, dann zerrten sie ihn hoch, und der Trupp machte Anstalten, auf Dodds Seite die Schlucht hinaufzuklettern. Es waren ohne Zweifel portugiesische Bauern – und damit Freunde. Dodd ging den Abhang hinunter zu jener Stelle, wo sie den hilflosen Dragoner umstanden. Als sie ihn wahrnahmen, griffen sie zu ihren Waffen und kamen herbeigelaufen. Einige von ihnen hatten Piken, zwei oder drei auch Musketen, eine davon sogar mit einem aufgepflanzten Bajonett, und alle machten den Eindruck, ihre Waffen auf jeden Fall auch gebrauchen zu wollen. »Inglez«, rief ihnen Dodd eifrig entgegen, als sie näherkamen. Seine grüne Uniform machte eine solche Erklärung unumgänglich, denn für die Portugiesen trugen Engländer in der Regel rote Uniformen. Ungläubig starrten sie ihn an, bis sich ihr Anführer nach vorne drängte und ihn in Augenschein nahm. »Sim, Inglez«, entschied er und ließ einen Wortschwall auf seine Leute niedergehen. Dann wandte er sich erneut an Dodd und sagte etwas Unverständliches. Er wiederholte den Satz. Als Dodd nicht reagierte, streckte er den Arm aus und schüttelte dessen Gewehr. »Espingarda raiada«, wiederholte er ungeduldig. »Gewehr«, antwortete Dodd. »Gewehr«, ahmte der andere die Laute nach. »Sim, sim, espingarda raiada.«
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Er drehte sich zu seinen Freunden um und sprach das Wort noch einmal betont aus, wobei er mit ausgreifenden Gesten die Rotation einer Gewehrkugel darzustellen versuchte. Augenscheinlich handelte es sich bei ihm um einen Portugiesen von überdurchschnittlicher Intelligenz. Langsam schlenderte der Trupp zurück zu dem benommenen Dragoner, der mit auf dem Rücken gefesselten Händen und einem Seil um die Fußknöchel zwischen den Felsen lag. Sein Gesicht hellte sich auf, als er Dodds Uniform erkannte. Kaum hatte ihn der Führer der Portugiesen jedoch erreicht, trat er ihm ins Gesicht, und dann, als der Dragoner nach hinten auf den Felsboden fiel, noch einmal in den Unterleib. Der Franzose stöhnte auf und krümmte sich vor Schmerz zusammen. Das schien ein ungeheurer Spaß zu sein; alle Portugiesen schrien vor Freude, als er sich so am Boden wand. Der Franzose wälzte sich auf den Bauch, aber einer der Portugiesen rammte ihm die Spitze seiner Pike in das Hinterteil seiner Reithosen; er brüllte vor Schmerz auf und rollte wieder auf den Rücken. Was seinen Peinigern die Möglichkeit gab, ihn unter Hohngelächter dorthin zu treten, wo es bekanntlich am allermeisten weh tut. Dodd hielt das nicht mehr aus. Wie der ritterliche Held aus irgendeinem Abenteuerroman für Knaben drängte er sich nach vorne und zerrte die Rohlinge weg von dem am Boden liegenden Mann. »Kriegsgefangener«, rief er. Instinktiv spürte er, daß sie ihn besser verstanden, wenn er laut redete und sich einer Kleinkindersprache bediente; mit erhobener Stimme zeigte er auf den Gefesselten. »Er Kriegsgefangener. Kriegsgefangener darf nicht verletzt werden.«
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Er blickte um sich und erkannte im lauernden Gesichtsausdruck der Portugiesen, daß man noch immer nicht verstand. Vielleicht konnten seine verschwindenden Spanisch- und Portugiesischkenntnisse weiterhelfen. »Prisonerado«, sagte er. »Captivado, Nao damagado.« Der Anführer nickte. Wahrscheinlich hatte er irgendwo schon einmal von dieser absurden Konvention gehört, daß man Kriegsgefangene nicht foltern durfte. Ein erneuter Redeschwall brach los. Auf seinen Befehl hin stellten zwei der Männer den Dragoner auf die Füße, der nun leicht schwankend zwischen ihnen stand. Ein weiterer Befehl und noch bevor Dodd irgend etwas tun konnte, senkten drei andere Männer ihre Piken und stießen sie dem Dragoner in den Leib. Der Franzose hatte nicht lange zu leiden, bis er sein Leben aushauchte. Währenddessen starrte Dodd entsetzt vor sich hin, und die anderen grinsten sich gegenseitig an. Als er endlich tot war, wurden ihm die blutigen Kleider vom Leib gezerrt; einer der Männer warf sich dabei den blauen Umhang mit den Schulterabzeichen aus geknoteter Schnur über, ein anderer zog sich die weißen Reithosen an. Besser als ihre eigenen waren diese blutverschmierten Kleidungsstücke allemal. Danach machte man sich für den Abmarsch fertig. Der Anführer tippte Dodd auf die Schulter – die Sache war klar: alle erwarteten, daß er mitkam. »Inglezes?«, fragte er und zeigte in seine Marschrichtung. Der Anführer schüttelte den Kopf und wies nahezu in die entgegengesetzte Richtung. Mit weitausholenden Gesten forderte er ihn erneut auf mitzukommen; dabei fiel auch das Wort Franceses. Ohne Zweifel versuchte 48
er Dodd zu erklären, was dieser schon längst wußte – daß nämlich zwischen ihm und den Engländern die ganze französische Armee stand. Dodd zeigte auf sich selbst und dann nach Südosten. »Tejo«, sagte er. »Alhandra. Lisboa.« Der Anführer nickte und zuckte mit den Schultern. Vom Tejo und Lissabon hatte er schon einmal gehört, aber der Fluß war ganze 50 Meilen entfernt und die Stadt selbst über 100 Meilen; so richtig mochte er da nicht an ihre Existenz glauben. Er schulterte seine Muskete und gab Dodd ein unmißverständliches Zeichen, ihm zu folgen. Dodd schloß sich ihnen ohne weitere Bedenken an; immerhin schlugen sie den Weg nach Süden ein, und das lag in etwa auch in seiner Richtung. In nur knapp zwei Monaten Guerillakrieg hatten die Portugiesen bereits einige grundlegende militärische Verhaltensregeln gelernt: So marschierte ein Mann auf Befehl des Anführers an der rechten Flanke, ein zweiter an der linken; ein dritter Mann sicherte nach vorne. Derart mit Flankenschutz und Vorhut versehen, bestand nur wenig Gefahr, vom Gegner überrascht zu werden. Sie stiegen den Abhang hinunter und wandten sich dann dem Pfad zu. Dort befand sich das tote Pferd, von dem bereits alle brauchbaren Gegenstände abgeladen worden waren. Ein Stückchen weiter lag auch der tote Portugiese. Irgend jemand grüßte mit der Hand in Richtung auf den Leichnam und machte eine Bemerkung über Joao, woraufhin alle ein wenig gezwungen lachten – in Gedanken an den toten Joao, der nicht genug Verstand besessen hatte, die Felsen hinaufzuklettern, als er von einem Reiter verfolgt wurde. Mehr sollte von Joao nicht in Erinnerung bleiben.
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Dodd fand sein ganzes Leben nicht heraus, was eigentlich vorgegangen war und wer da genau gegen wen gekämpft hatte, bevor er mitten in das Scharmützel hineingeriet. Er konnte nur vermuten, daß irgendein Erkundungstrupp oder eine zur Vorhut gehörende Dragonereinheit auf Freischärler gestoßen war. Wie es aber dazu gekommen war, daß jene Männer, mit denen er jetzt marschierte, die strategisch günstige Position in der Schlucht hatten einnehmen können, obwohl noch weiter oben der Kampf Mann gegen Mann tobte, blieb völlig unklar; ebenso wie die Frage, was aus den anderen am Kampf beteiligten Männern geworden war und warum seine neuen Freunde keinerlei Anstrengungen unternahmen, wieder Anschluß an ihren eigenen Truppenverband zu finden. Portugiesische Freischärler zeichneten sich eben nicht durch jene strenge Disziplin aus, die beispielsweise bei den 95ern zu Fuß herrschte. Die Männer kannten sich gut aus. Nach kurzer Zeit schon verließen sie den zuerst benutzten Trampelpfad und schwenkten auf einen wesentlich unauffälligeren, aber schwerer gangbaren Weg ein. Ohne Eile marschierten sie hügelauf und hügelab und durchquerten Flüsse und Wälder, während die Sonne immer tiefer sank. Dann wechselten sie auf einen Weg, der in das Gebiet mit den höchsten Hügeln führte. Einige Hänge erklomm der Pfad in Serpentinen, andere Hügel wieder führte er direkt hinauf, wobei er sich schließlich in nichts mehr von einem ausgetrockneten Wasserlauf unterschied. Selbst die Kräfte eines marschgewohnten Soldaten der 95er ließen bei einer solchen Daueranstrengung allmählich nach. Dodd hatte seit zwei Tagen nichts Richtiges mehr zu essen bekommen und war die ganze Zeit über hart marschiert. Nun wurde ihm schwindlig und das Herz pochte ihm heftig in der Brust, 50
als er hinter dem großen Anführer der Portugiesen die Hänge hinaufkeuchte. Das Gewicht seiner Waffen und des Tornisters machten ihm immer mehr zu schaffen, und an schwierigen Wegstücken kam er dauernd ins Stolpern. Wenn er dabei ausglitt, trat ihm der Nachfolgende rücksichtslos in die Hacken, und der Vordermann wartete nicht einen Augenblick. Als es zu dämmern begann, mühten sie sich noch immer den felsigen Pfad bergauf, und Dodd hatte das Gefühl, völlig am Ende seiner Kräfte zu sein. Fast am Ende des alptraumartigen Marsches wurde er doch noch einmal gefordert – ein steiler Hang erwies sich als eine letzte Schwierigkeit, die der Trupp aber ohne Unterbrechung augenblicklich anging. Der Marschtritt verlangsamte sich; dann ging es noch ein paar Yards weiter über Felsboden. Hinter einem Vorsprung schließlich erblickte Dodd zu seiner Rechten eine vermutlich mehrere hundert Fuß senkrecht abfallende Felswand. Vor ihm jedoch öffnete sich ebenes Gelände – ein ausgedehntes Felsplateau mit mehreren Lagerfeuern, an denen kleinere Gruppen von Männern hockten. Der Anführer tippte Dodd auf die Schulter und führte ihn an den Lagerfeuern vorbei zum entgegengesetzten Ende des Plateaus. Dort bildeten mehrere Felsvorsprünge eine Art Höhle, vor der ein großes Feuer brannte und zwei auf Stangen befestigte Sturmlaternen zusätzlich Licht verbreiteten. Neben dem Feuer saßen zwei schwarzgekleidete Priester und zwischen ihnen ein stämmiger Mann in einer schäbigen blauen Uniform, deren Silberpaspeln am Kragen und den Ärmelenden stumpf geworden waren. Der Anführer trat an die Sitzenden heran, grüßte und erklärte – soweit Dodd das verstehen konnte – die Gründe für dessen Anwesenheit. 51
»Capitao Mor.« Mit dieser Erläuterung wandte er sich noch einmal an Dodd und verließ ihn dann. Ein Capitao Mor, ein Großkapitän – soviel immerhin war Dodd klar, daß man darunter in Portugal eine bedeutende Persönlichkeit verstand. Irgend etwas zwischen einem Großgrundbesitzer und einem Gouverneur, der von Amts wegen zugleich auch die in seinem Bezirk ausgehobenen Truppen befehligte. Der Mann musterte ihn und sprach ihn dann auf Portugiesisch an. »Nao comprehend«, antwortete Dodd. Holpernd versuchte es der Capitao Mor in einer anderen Sprache, die Dodd für Französisch hielt. »Nao comprehend«, antwortete er nochmals. Der Capitao Mor wandte sich daraufhin an einen der neben ihm sitzenden Priester, der Dodd in einer weiteren Fremdsprache anredete, wobei er das Kreuz schlug und die Handbewegung des Rosenkranzbetens machte. Dodd ahnte den Sinn des Ganzen und beeilte sich, der Unterstellung zu widersprechen. »Nao, nao, nao«, verneinte er nachdrücklich. In seinem Regiment gab es zwar auch Katholiken, oftmals sogar tapfere Burschen; als Kind aber hatte man ihm derart mit Greuelgeschichten von päpstlichen Verbrechen zugesetzt, daß er sich selbst jetzt noch durch die Vermutung, er könne Katholik sein, beleidigt fühlte. Von Dienern des Papstes und Portugiesen würde er sich nicht länger ausfragen lassen; entschlossen zeigte er erst auf sich selbst und dann hinaus in die Nacht. »Tejo«, sagte er. »Lisboa. Ich. Morgen.« Auf den Gesichtern zeigte sich keine Spur des Verstehens. »Tejo«, wiederholte er ärgerlich und schlug sich dabei an die Brust. »Lissabon. Tejo, Tejo, Tejo.« 52
»Tejo?« fragte der Capitao Mor Dodd noch einmal ausdrücklich. »Sim. Tejo, Tejo, Tejo.« »Bernardino«, rief der Capitao Mor zu einer der anderen Gruppen hinüber, die um ein Lagerfeuer saßen. Jemand kam auf sie zu. An hatte er die gleichen Lumpen wie alle, auf dem Kopf aber trug er einen Tschako der englischen Infanterie – die Regimentsnummer 43 blitzte deutlich im Schein der Flammen auf. Es war nur ein Junge, der Dodd freundlich anlächelte, als ihm der Capitao Mor einige Befehle gab. Dodd verstand »Tejo« und »Lisboa« – für ihn durchaus verheißungsvolle Worte. Bernardino nickte und lächelte noch einmal. Dann drehte sich der Capitao Mor wieder zu Dodd um und machte ihm mit höflichen Worten und Gesten klar, daß er sich zurückziehen könne. Bernardino führte ihn zu einem anderen Lagerfeuer. Über den Flammen hing ein eiserner Kessel, aus dem ein Geruch von Zwiebeln aufstieg, der dem hungrigen Dodd geradezu himmlisch vorkam. Bernardino forderte ihn freundlich auf, Platz zu nehmen, beschaffte von irgendwoher einen hölzernen Napf und füllte ihn mit einer großen Portion Eintopf aus dem Kessel. Dann drückte er ihm ein dickes Stück Brot in die Hand und drängte ihn, noch immer lächelnd, zum Essen – eine Einladung, die man Dodd nicht zweimal geben mußte. Er holte Messer und Löffel aus seinem Tornister und stürzte sich wie ein Wolf auf das Essen. Doch selbst jetzt, da er sich vor Sattheit kaum noch zu rühren vermochte, kam ihm sein größtes Problem wieder in den Sinn. »Lisboa? Tejo?« fragte er Bernardino. »Sim. Sim.« Bernardino nickte eifrig mit dem Kopf und redete heftig auf Dodd ein, bis er merkte, daß er 53
nicht verstanden wurde. Dann versuchte er es mit Zeichensprache. Die Erklärung des abstrakten Ausdrucks »morgen« erforderte dabei eine Vielzahl von Gesten, schließlich aber hatte er Erfolg, und Dodd gab sich mit der Auskunft zufrieden. Als er mit dem Essen fertig war, begann ihm der Kopf auf die Brust zu sinken; er wickelte sich in seinen Mantel und war in der angenehmen Wärme neben dem Feuer bald eingeschlafen. Der Wachsamkeit der Portugiesen allerdings schenkte Dodd kein Vertrauen – Ausrüstung und Stiefel behielt er an, und während der ganzen Nacht lag das Gewehr griffbereit.
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7. Während des folgenden dreitägigen Marsches gewann Bernardino den Eindruck, daß der Engländer, um den er sich zu kümmern hatte, verrückt war. Dodd hatte nur einen Gedanken und sprach nur von einer Sache: Er wollte zum Tejo. Auf jeden Fall. Pausen gönnte er sich keinen Augenblick länger als unbedingt nötig; in der Morgendämmerung war er als erster auf den Beinen, und er wollte selbst dann noch weitermarschieren, als Bernardino vor Erschöpfung nicht mehr weiterkonnte. Von den indischen Pilgern, deren einziger Wunsch es war, im Ganges zu baden, hatte Bernardino noch nie gehört. Ein-, zweimal aber waren ihm Spanier oder Portugiesen begegnet, die nach Santiago de Compostella oder einen anderen Wallfahrtsort pilgerten und die ihm ebenfalls etwas übergeschnappt vorgekommen waren; Dodd erinnerte ihn an diese Pilger. Und so erzählte er jedermann, in seiner Obhut befinde sich ein verrückter Engländer, dessen einziger Wunsch es sei, einmal im Leben den Tejo mit eigenen Augen zu sehen. Für Bernardino war das mindestens so aufregend wie das lange Gewehr, das der Engländer mit sich schleppte und von dem es hieß, man könne damit einen Mann auf eine halbe Meile Entferung absolut sicher töten. Wenn erst der aberwitzige Wunsch des Engländers erfüllt wäre, den Tejo zu erreichen, wollte ihn Bernardino in die Nähe der Franzosen locken und dann eine Vorführung dieses Kunststücks miterleben. Bernardino fand einen Haufen Zuhörer, denen er das alles erzählen konnte, denn die Landschaft, durch die sie 55
jetzt kamen, war keineswegs verlassen. Zwar hatte jeder Priester und jeder Alcalde den Evakuierungsbefehl erhalten, aber die Vormarschwege der kämpfenden Armeen führten nicht unmittelbar durch die Gegend. Zudem hatte Wellington nicht persönlich herkommen können, um die ordnungsgemäße Durchführung seines Befehls zu überwachen. Und nur wegen irgendeiner Anordnung von oben verbrannten die armen Bauern noch lange nicht ihre Ernte und schickten ihre Frauen nach Lissabon, während sie selbst in die Berge gingen, um dort vielleicht auch noch zu verhungern. Hin und wieder fanden sich zwar verwüstete Landstriche, die irgendein ungewöhnlich energischer Capitao Mor von seiner Miliz hatte räumen lassen, ansonsten aber standen die Schaf- und Viehherden überall auf den Weiden und wurden die Felder gepflügt, um die Wintersaat auszubringen. Dodd konnte darüber nur den Kopf schütteln; sollten die Franzosen jemals in diese Gegend kommen, vermochten sie so ohne weiteres ihr Vorhaben in die Tat umsetzen, jedes Dorf zum Durchfüttern eines Bataillon während einer Woche heranzuziehen; eine Division würde wenigstens einen ganzen Tag versorgt werden müssen. Selbst verhielt er sich den Dorfbewohnern gegenüber, bei denen Bernardino ihn abends einquartierte, durchaus anständig: Er übersah sogar geflissentlich die Aufdringlichkeiten der Weiber, deren Augen angesichts seiner kraftvollen Erscheinung schier übergingen und die ihm die ganze Zeit nur zu gern vorgejammert hätten, wie sehr sie ihre eingezogenen Ehemänner vermißten. Dodd ignorierte sie verärgert; ihre Weigerung, all ihr Hab und Gut zu vernichten, gefährdete schließlich sein Regiment.
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Eines Tages führte die Straße, auf der sie marschierten, einen kleinen Hügel hinauf und dann weiter in ein grünes Tal. Bernardino machte auf dem Kamm des Hügels halt und wies mit einer weitausholenden Geste nach vorne. »Eis!« rief er. »Tejo.« Dabei sah er erwartungsvoll Dodd an, um sich die Wirkung dieser so heiß ersehnten Mitteilung nicht entgehen zu lassen. Er wurde reichlich enttäuscht. Dodd starrte nur kurz auf die flache Landschaft mit dem breit in seinem Felsbett dahinströmenden grünen Fluß und marschierte dann achtlos weiter. Und als ihr Feldweg auf die Hauptstraße am Flußufer traf, bog er einfach ein, ohne sich um Bernardinos Führung zu kümmern oder auch nur einen weiteren Blick auf jenen Fluß zu verschwenden, nach dem er die letzten Tage so oft gefragt hatte und für den er immerhin 65 Meilen weit zu Fuß gelaufen war. Bernardino zupfte ihn am Ärmel, um ihn darauf aufmerksam zu machen, aber Dodd schüttelte ihn nur unwillig ab. »Lisboa«, sagte Dodd und wies unwirsch nach vorne. Bernardino blieb nichts anderes übrig, als sich auf einen weiteren 65-Meilen-Marsch nach Lissabon einzustellen. Der Tejo fließt nur auf kurzen Strecken durch fruchtbares und bebautes Land. Schon bald kamen sie darum wieder in eine felsige und sandige Einöde; ein Plateau, das sich hoch über das Flußufer erhob und von Einschnitten durchzogen war, auf deren Grund Wildbäche über die Felsen zu dem im Tal liegenden Fluß stürzten. Die Landstraße verlief schnurgerade über die Hochebene und überquerte die Schluchten auf hochgewölbten Steinbrücken. Gelegentlich lag abseits der Straße ein kleines Dorf, dessen Bewohner ihren 57
kargen Lebensunterhalt damit fristeten, ein paar verkrüppelte Schafe auf die verdorrten Weiden im Gebirge zu treiben. Dodd war hier schon zweimal mit seinem Regiment vorbeigekommen. Er erinnerte sich genau, und mit jedem Bild, das wieder vor seine Augen trat, wurde er immer aufgeregter und drängelte schließlich derart, daß Bernardino neben ihm herrennen mußte, um Schritt zu halten. Eines Morgens waren sie endlich nur noch 30 Meilen von Alhandra entfernt, wo die Frontlinien bis zum Fluß reichten. Ein guter Tagesmarsch noch und sie hatten die Front erreicht und damit die britische Armee und das Regiment; kurz, alles, wonach Dodd sich sehnte. Doch dann begegnete ihnen ein Trupp portugiesischer Freischärler an einer Stelle, an der die Straße vom Fluß abbog, der in einer weiten Schleife um einen vorspringenden Bergrücken führte. Die Männer waren nicht ganz so abenteuerlich ausgerüstet wie andere Partisanen, die Dodd gesehen hatte: Zum Teil hatten die Männer richtige Uniformteile an, andere wieder besaßen Musketen und Bayonette, und einige Männer trugen sogar den über dem Bauch gekreuzten Gürtel der Soldaten. Dodd und Bernardino wurden angehalten und vom Anführer reichlich unfreundlich ausgefragt. Bernardino antwortete gewohnt beredsam und selbstbewußt – ausführlich berichtete er über den Engländer, der unbedingt nach Lissabon wollte, sein Gewehr, mit dem man einen Mann auf eine Meile Entfernung treffen konnte, die Anweisungen des Capitao Mor und noch vieles mehr. Der Anführer lachte nur rauh über das alles und schüttelte den Kopf; dann erklärte er Bernardino, daß die Franzosen den Weg nach Alhandra und Lissabon 58
blockierten. Bernardino sah Dodd fragend an. Aber Dodd hatte nichts von dem verstanden, worüber gesprochen worden war, und außerdem ärgerte er sich ziemlich über das müßige Geschwätz. Er versuchte sich durch die Gruppe zu drängen. »Lisboa«, rief Dodd. »Alhandra.« Eifrig Portugiesisch auf ihn einredend hielten sie ihn zurück. Schließlich verstand er, was sie wollten; er hatte das Wort »Franceses« aufgeschnappt. »Franceses?« fragte er. »Sim, sim, Franceses«, schrien alle durcheinander und zeigten die Straße hinunter. Wie um ihre Worte zu unterstreichen, ertönte in diesem Augenblick ein lauter Warnruf des Postens, der eine Viertelmeile weiter unterhalb auf der Straße Wache hielt. Wild gestikulierend kam der Posten herbeigelaufen. Gespannt hielten alle Ausschau nach dem Grund für den Alarm, und ein paar Männer kletterten auf ein Mäuerchen am Straßenrand, um besser sehen zu können. Eine lange Kolonne von Reitern bewegte sich auf sie zu; ein Blick genügte – es waren französische Dragoner. Sofort brach – ganz unmilitärisch – Panik aus. Einige Männer versuchten davonzulaufen oder stürmten den Dragonern blindlings entgegen. Andere wieder zielten mit ihren Musketen auf die Franzosen, die noch mehr als zehnmal so weit entfernt waren, als die Gewehrkugeln überhaupt reichten. Nur Dodd handelte planmäßig – eine instinktive Reaktion, erlernt in vielen Gefechten, an denen er teilgenommen hatte. Sein Blick richtete sich auf die hinter ihnen liegenden Steinbrücke – aber auf diese Möchtegernsoldaten war wohl kein Verlaß, wenn die Dragoner erst angriffen. Nach rechts hin fiel das Gelände sanft ab und bot, abgesehen von ein 59
paar Steinwällen, keine Deckung gegen Reiter. Aber links von ihm war man halbwegs sicher – hinter einem Acker stieg der Boden, mit Felsbrocken übersät, steil an. »Hierher!« brüllte Dodd. »Hier entlang, ihr Idioten!« Handzeichen und das eigene Vorbild sind eine internationale Sprache, die auch hier verstanden wurde. Alle kletterten eiligst über die Mauer und liefen über das Feld zu den Felsen. Aus irgendeiner Muskete, die mit noch gespanntem Hahn getragen wurde, löste sich dabei ein Schuß, ohne jemanden zu verletzen. Erst einmal auf der Flucht, würden sie ohne Zweifel laufen bis ihnen die Luft wegblieb; darum brüllte Dodd etwas Heiseres und warf sich hinter einen geeigneten Felsen. Die anderen machten es ihm augenblicklich nach. Bernardino, der jauchzend vor Begeisterung neben Dodd kniete, lugte über den Rand des Felsens. »Tirar!« rief er. Oder zumindest etwas, was so ähnlich klang. Was er wollte, wurde klar, als er erst auf Dodds Gewehr und dann in Richtung der Franzosen deutete. Aber Dodd schüttelte verneinend den Kopf, die Entfernung war noch viel zu groß. Enttäuscht maulte Bernardino vor sich hin. Der Oberst an der Spitze der Dragoner dachte nicht daran, die zu Fuß viel beweglicheren Männer zwischen den Felsen frontal anzugreifen. Dafür waren ihm im Guerillakrieg schon zu viele unangenehme Lektionen erteilt worden – er hatte seine Leute kreuz und quer durch Portugal und Spanien geführt und dabei dauernd mit dieser Partisanenseuche zu tun gehabt. Mit Freischärlern war also immer zu rechnen, jetzt aber wollte er das Regiment nur in Ruhe die Straße entlangmarschieren lassen und erkunden, ob irgendwo 60
reguläre Truppen standen. Das Gelände jenseits der Straße mußte trotzdem vom Gegner gesäubert werden, damit die ungeschützte Marschkolonne nicht in das feindliche Gewehrfeuer geriet. Auf seinen Befehl hin schwenkte darum ein Trupp Dragoner langsam auf das Feld. Am entgegengesetzten Ende angekommen, saßen die Reiter ab. Ein paar Mann blieben bei den Pferden zurück, der Rest griff nach den kurzen Karabinern und schwärmte zwischen den Felsen aus, während die anderen Reiter in Marschformation auf der Straße weiterzogen. Dodd beobachtete die in offener Linie vorgehenden Dragoner. Mit ihren hohen Stiefeln, dem Helm und dem hinderlich langen Säbel wirkten sie denkbar ungeeignet für ein Stoßtruppunternehmen zu Fuß. Angst machten sie ihm jedenfalls nicht; vielleicht konnte man sie sogar umgehen und der eigentlichen Kolonne ein bißchen Schwierigkeiten machen. Er sah sich nach seinen bunt zusammengewürfelten Kameraden um, die ihn wie ihren Führer anstarrten. Mit einem lauten Schrei sprang er hoch, winkte mit ausgestrecktem Arm den Männern zu und rannte los – nicht in Richtung auf die Straße, sondern parallel dazu quer über den Abhang des Hügels. Die anderen zögerten. Doch Bernardino schien Dodds Vorhaben verstanden zu haben. Er rief ihnen ein paar Erklärungen zu, und nun liefen alle hinter ihm her. Ohne genau gezielt zu haben, schossen die ausgeschwärmten Dragoner mit ihren Karabinern auf sie, aber niemand wurde getroffen, und Dodd und seine Leute stürmten schreiend über den Felsboden jetzt wieder direkt auf die Straße zu. Dort ritten die Dragoner in Dreierreihen, und Dodd feuerte mitten hinein; ein Mann stürzte aus dem Sattel. Sofort schossen auch die anderen, und ein oder zwei Kugeln fanden wie durch ein Wunder sogar ein Ziel. Die 61
Kolonne auf der Straße geriet in Unordnung, als irgendein junger, noch unerfahrener Offizier den Säbel zog und mit seinem Pferd in Richtung auf die Felsen sprengte; dabei brüllte er seinen Leuten zu, ihm zu folgen. Mit dumpfem Aufprall stürzten die Pferde auf dem steineübersäten Boden. Dodd, der sein Gewehr in einem Tempo nachlud, das man nur durch jahrelangen Waffendrill erlernt, streckte den jungen Offizier nieder, dessen Pferd sich als einziges noch auf allen vieren hielt. Andere Dragoner schossen im Sattel sitzend wild um sich; nur wenige saßen ab und eröffneten vom Straßenrand her gezielter das Feuer. In diesem Augenblick griff der abgesessene Reitertrupp wieder in das Geschehen ein. Die Männer, die sich wegen ihrer Ausrüstung nur schwerfällig fortbewegen konnten, hatten das Feld mit seiner Begrenzungsmauer überquert und mußten die Partisanen gleich erreicht haben. Dodd sah sie näherkommen und rief seinen Leuten etwas zu. Bernardino, der vor Aufregung zitterte, wiederholte den Warnruf mit überschnappender Stimme. Im nächsten Augenblick rannten alle wieder den Hügel hinauf und ließen ihren langsameren Verfolger rasch hinter sich. Atemlos hetzten sie quer über den Bergrücken, um die Kolonne noch einmal abzulenken; dann stürmten sie erneut den Abhang hinunter und schossen auf die hilflosen Reiter. Dodd hatte keinerlei Mitleid; Franzosen zu töten war sein Auftrag. Wenn die Franzosen ihm dabei nichts anhaben konnten, um so besser. Rücksichtslos schoß er auf die lange Reiterkolonne, lud neu und schoß wieder. Genauso wie seine Kameraden, als sie nahe genug heran waren. Erneut konnten die abgesessenen Dragoner nicht rechtzeitig eingreifen, und so gelang es Dodds Leuten 62
auch noch ein drittes Mal, sich entlang des Bergrückens abzusetzen und dann anzugreifen. Die in Panik geratenen Dragoner auf der Landstraße vermochten nichts dagegen zu tun. Ihnen war es gewissermaßen vorbestimmt gewesen, nach tausend oder mehr Meilen Landstraße in einen solchen Hinterhalt zu geraten – kein Wunder, daß sie aus hilfloser Angst unterwegs alle Dörfer in Brand setzten und jeden aufhängten, der das Pech hatte, ihnen in die Hände zu fallen. Erst als der Bergrücken endete und sich die Straße wieder dem Flußufer näherte, kamen sie für heute noch einmal davon. Dodd erkannte den spitzen Winkel, in dem die Straße auf den Fluß zulief und rief seine Männer zurück. Die Gefahr war hier einfach zu groß, in die Enge getrieben zu werden, außerdem war er reichlich erschöpft von der Rennerei zwischen den Felsen. Dodd schrie und schwenkte die Arme und kletterte dann den Bergrücken wieder hinauf. Weiter unterhalb bewegte sich das Kavallerieregiment langsam die Straße entlang. Der letzte Reiter drehte sich im Sattel um, schüttelte die Faust und fluchte hinter ihnen her; Dodd und seine Leute konnten darüber nur herzlich lachen. Für die Partisanen vom Tejo bedeutete das eine erste aufregende Kriegserfahrung. Auf der Landstraße lagen ein halbes Dutzend toter Reiter und Pferde, deren Ausrüstung man nun plündern konnte; von den eigenen Leuten dagegen war niemand verwundet worden. Voller Respekt ruhten ihre Blicke auf Dodd, und Bernardinos Augen leuchteten geradezu vor Begeisterung für den großgewachsenen Soldaten in seiner grünen Uniform mit den schwarzen Tressen. Er marschierte neben ihm und sah ihn dabei unterwürfig wie ein Hund an. Als sich Dodd auf einem Felsen oberhalb der Straße niederließ 63
und das Kinn in die Hände stützte, setzte sich Bernardino ganz vorsichtig neben ihn, um die Gedanken des großen Mannes tunlichst nicht zu stören. Dodd hatte reichlich Anlaß zum Grübeln. Offensichtlich blockierten französische Truppen jetzt auch noch den letzten verbliebenen Zugang nach Lissabon. Damit war er endgültig von seinen Landsleuten und seinem Regiment abgeschnitten; sein Versuch, die französische Armee zu umgehen, hatte zu nichts geführt. Irgendwann waren die Franzosen wohl nach links geschwenkt und hatten sich dann wieder zurückgezogen; wahrscheinlich waren sie auf englische Stellungen gestoßen. Die einzige verbleibende Hoffnung bestand darin, daß sich womöglich die ganze Armee auf dem Rückzug befand – zumindest die Kavalleristen hatten die Straße in Richtung Frankreich benutzt. Nur besagte die Marschrichtung eines einzelnen Kavallerieregiments natürlich noch nichts über die Bewegungen einer ganzen Armee. Wahrscheinlicher war es sogar, daß sie nur nach einer Möglichkeit gesucht hatten, den Tejo zu überschreiten. Nun, da sein ursprünglicher Plan gescheitert war, blieb Dodd nichts anderes übrig, als zunächst einen sicheren Unterschlupf zu finden; erst wenn er Genaueres über die französischen Truppenbewegungen herausgefunden hatte, würde er sich einen neuen Plan zurechtlegen können. Die veränderten Umstände ärgerten Dodd nicht und ließen ihn auch keineswegs den Mut verlieren. Ein Soldat, der jahrelang an der Front ist, entwickelt notgedrungen eine gewisse philosophische Gelassenheit gegenüber Schicksalsschlägen. Geht ein Plan schief, macht man eben einen anderen – das ist alles. Für Verzweiflung bleibt da kein Platz – Dodds Charakter ließ Verzweiflung zudem gar nicht erst zu. Beim 64
Regiment hatte man ihm eingebleut, daß er unbedingt seine Pflicht zu erfüllen hatte, nötigenfalls bis in den Tod; ein einfacher Glaubenssatz für seinen einfachen Verstand. So lange er noch atmete und einen Gedanken im Kopf hatte, tat er, was ihm befohlen worden war. Und so lange er das zu tun versuchte, blieb ihm keine Zeit, über Erfolg oder Mißerfolg nachzudenken. Der einzige Lohn für seine Pflichterfüllung lag in dem Bewußtsein, eben diese Pflicht erfüllt zu haben. Das allein war es, was seinen Stolz ausmachen würde; nicht seinen Ruhm – der einfache Soldat verschwendete keine Gedanken an etwaigen Nachruhm; ebensowenig wie jene Männer, die ein Jahrhundert später bei Ypern im Giftgas umkamen. Die Portugiesen neben Dodd machten einen Lärm wie ein Nest junger Elstern; immer wieder erzählten sie aufgeregt von ihren Heldentaten während des vergangenen Scharmützels und schmückten die Berichte dabei von Mal zu Mal mehr aus. Dabei gaben sie voreinander mit ihren verschiedenen Beutestücken an und tanzten vor Begeisterung wild umher. Sie ähnelten in keiner Weise den hartgesottenen Partisanen aus Beira, die Dodd früher einmal begegnet waren; jene Männer waren gegen die drei Invasionen Portugals ins Feld gezogen, nachdem sie hatten miterleben müssen, wie ihre Häuser zerstört und ihre Frauen vergewaltigt worden waren. Dieses abgelegene Gebiet am Ufer des Tejo aber wurde erst jetzt von den Ausläufern des Kriegs erreicht. Dodd fragte sich ernstlich, was diese Männer wohl tun würden, wenn sie einmal auf ein französisches Regiment leichter Infanterie trafen; und dann fiel ihm ein, daß er womöglich selbst bald Zeuge eines solchen Zusammenstoßes werden konnte. Er mußte unbedingt 65
Vorbereitungen treffen, um beim Auftauchen der französischen Armee nicht überrascht zu werden: Zunächst aber galt es, das Heimatdorf oder das Versteck der Portugiesen ausfindig zu machen. In seiner Erinnerung suchte er nach einigen portugiesischen Begriffen; dann stieß er den Anführer in die Seite und versuchte es mit dem Wort für Stadt. »Vilha?« fragte er. Die Männer schien die Frage zu verwirren; tatsächlich gab es im Umkreis von 30 Meilen keine Stadt. Dodd überlegte und dann hatte er eine Idee. »Posada?« fragte er. Wo es eine Weinhandlung gab, mußte auch ein Dorf sein. Die Gesichter der aufmerksam lauschenden Portugiesen hellten sich augenblicklich auf. Natürlich stand jetzt unbedingt ein Posada-Besuch an. Wie hatte man nur vergessen können, daß ein derart grandioser Sieg angemessen gefeiert werden mußte. Zustimmender Jubel erhob sich; eilig packten alle ihre Beutestücke zusammen und machten sich voller Aufregung an den triumphalen Heimmarsch. Mit einladenden Gesten bedeuteten sie Dodd, ihnen zur Landstraße zu folgen; etwa nach einer Meile bogen sie dann auf einen schmalen, geröllübersäten Pfad ab, der den Bergrücken hinaufführte. Dort, umgeben von hohen Felstürmen, lag in einem kleinen Seitental ihr Heimatdorf versteckt – nicht mehr als zwanzig steinerne Gebäude. Ohne erkennbaren Plan ordneten sich die Häuser um einen offenen Platz in der Mitte, dazwischen fanden sich an mehreren Stellen große, übelriechende Dunghaufen; ein schnellfließendes Flüßchen durchzog das Dorf in Richtung auf den Tejo und diente zugleich als Trinkwasserlieferant und Abwasserkanal. Vor den Häusern erschienen jetzt die Frauen, Greise und Kinder, um die siegreichen 66
Heimkehrer zu begrüßen. Zwischen dem Felsen pickten ein paar magere Hühner herum, und vier streifenförmige Felder, aus denen von Hand die Steine herausgeklaubt worden waren, erstreckten sich bis hinunter zu dem grünlichen Wildbach; ein unfruchtbarer Boden, dem die Bewohner ihr bißchen Lebensunterhalt geradezu abringen mußten. Dazu kamen ein paar Schweine und weiter oben auf den Hängen einige angepflockte Kühe, die das wenige Grünzeug, das zwischen den Felsen wuchs und wohl gerade zum Überleben reichte, abgrasten. Die in Fetzen gekleideten Weiber und die fast nackten Kinder – kein Kind hatte mehr als ein Stoffteil am Körper – staunten nur so, als sie ihre Waffen und Siegestrophäen schwenkend in das Dorf zogen. Die Männer sammelten sich vor der Weinkneipe und drängten Dodd voller Ehrerbietung, auf einer der Steinbänke Platz zu nehmen. Rasch wurde Wein in hölzernen Becher gebracht, und alle tranken und redeten lautstark durcheinander. Neugierig beäugte jedermann Dodd als den unglaublichen Engländer, der mit Hilfe der tapferen Dörfler die Franzosen besiegt hatte. Dann schien den Männern etwas einzufallen: Dodd wurde der noch halbvolle Becher weggenommen und ein neuer in die Hand gedrückt. Dies sei sein bester Wein, beteuerte der posada – vinho valeroso, wie ihm von allen Seiten nachdrücklich bestätigt wurde. Als Dodd Kaubewegungen machte, wurde etwas zu essen herbeigeschafft; wie kleine Kinder beschlossen daraufhin alle anderen, es ihm nachzumachen. Während die Frauen das Essen brachten, schwatzten die Männer in der Kneipe weiter und ließen sich auch durch den Imbiß weder bei ihren Erzählungen noch beim Trinken 67
stören – vor allem aber nicht beim Trinken. Es sah jetzt ganz danach aus, daß sich ein ungehemmt fröhliches Dorffest entwickelte – einer jener raren Festtage, an denen die armen portugiesischen Bauern endlich einmal nicht mehr über die hohen Preise für alles zu jammern brauchten und die elende Schufterei und die dauernden Existenzsorgen vergessen konnten. Bernardino, der von Beruf Maultiertreiber war und entsprechend rauhe Sitten an den Tag legte, tauschte mit einem Mädchen in einer dunklen Ecke Zärtlichkeiten aus. Schließlich holte jemand eine Gitarre hervor, und bald wurde getanzt und gesungen. Da erhob sich Dodd, und alle Augen richteten sich auf ihn, als er drei der jüngeren Männer ein Zeichen gab, ihm zu folgen. Unter seiner Führung verließen sie das Dorf und wandten sich wieder dem Felspfad zu; zwei der Männer postierte Dodd in Sichtweite der Landstraße. Dann ahmte er das Anlegen der Gewehre nach, zeigte auf den Verlauf der Straße und beschattete seine Augen mit den Händen, als ob er beobachtete. Auf einmal schien er auf der Landstraße etwas entdeckt zu haben, zielte mit der Muskete und rief laut »Peng!«. Mit der Hand hielt er die beiden Männer daraufhin fest und bedeutete dem dritten, zum Dorf zurückzulaufen. Breit grinsend und mit dem Kopf nickend gaben dieMänner zu verstehen, daß sie Dodds Absicht begriffen hatten. Um ihnen die Dauer ihrer Wache deutlich zu machen, wies Dodd noch auf die Sonne und dann in Richtung Westen. Den dritten Mann schickte er den Hügel hinauf, von wo aus man einen besseren Überblick hatte. Als das erledigt war, kehrte Dodd zurück ins Dorf. Wo sich die zwanzig Bauern gegen den Angriff von hunderttausend Soldaten verschanzen sollten, war ihm völlig unklar; immerhin aber wirkte der Anblick der 68
steilen Felswände, die ringsum die Schlucht umgaben, einigermaßen beruhigend. Er ging hinunter zum Ufer des kleinen Flusses. Das Wasser rauschte zwischen dem Geröll, und auf der Oberfläche bildeten sich überall kleine Wirbel und Schaumkronen. Immerhin war das Gewässer so breit, daß man Einzelheiten auf dem gegenüberliegenden Ufer kaum ausmachen konnte. Dann hielt Dodd den Atem an – weiter unten, an einer Biegung des Flusses, war etwas aufgetaucht: ein weißes Boot; Dodd sah die Ruder aufleuchten. Vorsichtig schlich er sich am Felsufer des Flusses an. Das Boot bewegte sich flußabwärts und versuchte dabei die Stromschnellen an der Flußbiegung geschickt auszunutzen. Irgend etwas ließ ihn stutzen – die Ruder tauchten äußerst gleichmäßig in das Wasser ein. Dodd erkannte den Pullrhythmus sofort wieder – er war zu oft ausgeschifft worden, um nicht mit dem Rudertakt der Navy vertraut zu sein. Das Boot kam immer näher. Dodd erkannte das am Bug montierte Geschütz und die weiße Flagge, die am Heck flatterte; an der Ruderpinne stand ein Offizier, und die Männer beugten sich über ihren Riemen. Laut schreiend und mit den Armen winkend rannte er am Ufer entlang. Doch die Besatzung kümmerte sich nicht um ihn – während der langen Flußreise von Alhandra hatten schon so viele Portugiesen am Ufer gewunken. Wenn er doch nur eine rote Uniform angehabt hätte! Das Boot umrundete die Biegung, und der Offizier stieg auf die Sitzbank im Heck, um den kommenden Flußabschnitt besser überblicken zu können. Als er keine Franzosen entdeckte, die versuchten, den Fluß zu überqueren, setzte er sich zufrieden wieder hin und legte das Ruder um. Das Boot beschrieb einen Bogen und hielt nun auf die Mitte des Flusses zu, um die ganze 69
Kraft der Strömung auszunutzen. Von der Strömung erfaßt, schoß das Boot mit dem Vierfachen der ursprünglichen Geschwindigkeit um die Biegung. Dodd rannte noch immer schreiend und winkend am Ufer entlang, doch nichts geschah. Einmal noch winkte ihm der Offizier kurz zu, aber bereits wenige Minuten später war das Boot jenseits der Biegung unter den überhängenden Felsen außer Sicht. Dodd blieb nichts anderes übrig, als zum Dorf zurückzugehen und seine Überlegungen wieder aufzunehmen, wie man den Franzosen in diesem Gebiet schaden konnte.
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8. »Steilwände! Mein Gott, nichts als Steilwände!« stöhnte Sergeant Godinot, als er auf die Stellungen bei Torres Vedras blickte. »Das Fort dort oben auf dem Hügel ist so stark befestigt wie das bei Rodrigo – schaut euch bloß einmal die Geschütze in den Schießscharten an. Sieht so aus, Leute, als kommen wir um ein Gefecht nicht herum, bis wir endlich in Lissabon sind. Noch drei Meilen nur solche Hügel.« »Von so was hast du uns zuhause aber nichts erzählt, Sergeant«, sagte Fournier, der neben ihm stand. »Die Engländer hatten nicht die Güte, mir vorher schon Bescheid zu sagen«, antwortete Godinod und fügte mit gesenkter Stimme hinzu: »Und sonst hat es auch niemand getan.« »Was in Gottes Namen ist das da in der Schlucht?« fragte Dubois und zeigte nach unten. Alle starrten hinunter, aber niemand wußte eine Erklärung. Die Schlucht verlief quer zu den Stellungen und war mit irgend etwas aufgefüllt worden; Genaueres war nicht zu erkennen. Und schon gar nicht auf diese Entfernung. Außerdem konnten sie sich einfach nicht vorstellen, daß hunderttausend Olivenbäume, Wurzelwerk, Äste und anderes in die Schlucht geworfen worden waren, um eine Sperre zu errichten, durch die keine Maus durchkam; von einem ausgewachsenen Mann ganz zu schweigen. »Noch mehr Steilwände«, bemerkte Godinot, als sich vor der marschierenden Kompanie ein neuer Ausblick eröffnete. Ein weiterer Abhang war abgetragen oder 71
gesprengt worden; zurückgeblieben war eine zehn Fuß hohe Böschung, die man nur mit einer Leiter ersteigen konnte. Mit Kanonen bestückte Schanzen rechts und links der Böschung, von denen aus das Gelände bestrichen werden konnte, ließen ahnen, was jenen drohte, die so etwas versuchen sollten. »Und dort oben lauter Rotröcke«, fügte Godron hinzu und wies mit dem Finger in Richtung auf die Hügel. Tatsächlich hatte die britische Armee Stellung hinter der vordersten Verteidigungslinie bezogen, um den Partisanen Rückendeckung zu geben, die alle Schanzen besetzt hielten. Die Kompanie marschierte weiter. Die französische Vorhut fühlte nachts rechts vor, um herauszufinden, wie weit die Befestigungsanlagen reichten, gegen die man vorrückte. Sergeant Godinot und seine Leute waren Teil einer Kompanie, die sich an der äußersten Flanke befand. Dabei marschierten sie parallel zu den feindlichen Stellungen gleichbleibend in südlicher Richtung. Zu ihrer Rechten erstreckte sich eine dreiviertel Meile weit ein kahles Tal bis hin zu den Sperranlagen; das Tal wirkte wie mit einem Besen leergefegt: kein Baum, kein Gebüsch, nicht einmal der kleinste Felsbrocken fand sich mehr dort. Truppen, die sich hier zum Angriff formieren wollten, würden das ohne die geringste Deckung und unter schwerem Beschuß tun müssen. »Jemand hat sich da ganz schön Mühe gegeben«, knurrte Fournier. »Nicht so viel Mühe, wie du schon bald haben wirst, wenn wir das da im Sturm nehmen werden«, lachte Godinot, wobei ihm selber nicht ganz wohl zumute war. »Im Sturm nehmen? Glaubst du wirklich, wir hätten jemals eine Chance, da durchzukommen? Nie im 72
Leben!« antwortete Fournier. Er war zwar gerade erst ein Jahr lang Soldat, militärische Unmöglichkeiten aber erkannte auch er, wenn er sie vor Augen hatte. »Irgendwie wird es schon klappen«, verkündete Godinot voller Optimismus. Aus einer der Schanzen schoß eine Rauchwolke hervor, und über ihre Köpfe hinweg heulte eine Kanonenkugel, die im Abhang oberhalb von ihnen einschlug. »Wir befinden uns wohl auf dem Privatbesitz Seiner Exzellenz«, bemerkte Godinot. Der Hauptmann an der Spitze der Kompanie verstand diesen mit Geschützdonner vorgetragenen Hinweis und führte die kleine Kolonne ein Stückchen weiter den Hügel hinauf, bevor es weiterging. Hier allerdings war das Gelände unwegsam und denkbar ungeeignet zum Marschieren; die Soldaten gerieten dauernd ins Stolpern; Flüche wurden allenthalben laut. Vor den gegnerischen Stellungen gab es keine Straßen, nicht einmal einen simplen Pfad. Kurze Zeit später schimpften und fluchten dann bereits alle Männer in der Kolonne, während sie sich schwankend und unter der Last ihrer Tornister gebeugt über den holprigen Boden quälten. Schließlich aber ging ihnen die Puste aus, und das Geschimpfe verstummte; alles, was noch zu hören war, war das Geräusch von genagelten Stiefeln auf dem Felsboden und das Knirschen der Ausrüstungen. Ein- oder zweimal wurde halt gemacht – sehr zur Freude der Soldaten –, dann aber kam der Oberst nach vorne geritten, und die Kompanie setzte sich augenblicklich wieder in Bewegung: So viele Informationen wie möglich mußten über dieses unerwartete Hindernis in der denkbar kürzesten Zeit beschafft werden; das felsenübersäte Hügelgelände machte 73
dabei den Einsatz von Kavallerie unmöglich. Es ging hügelauf und hügelab – wobei die Steigungen zum Teil derart steil waren, daß man nur auf Händen und Füßen vorankam. Als sich Sergeant Godinot umwandte, sah er, wie sich die Abstände zwischen den einzelnen Kompanien immer mehr vergrößerten; die Vorhut war bereits auf besorgniserregende Weise auseinander gezogen. Trotzdem wurde weitermarschiert, bis hinter dem letzten Kamm auf einmal ein Tal mit einem Fluß auftauchte – der Tejo. »Hast du nicht gesagt, wir würden die Stellungen irgendwie umgehen, Sergeant?« fragte Fournier spöttisch und deutete dabei nach rechts. Dort konnte man in der Ferne das Wasser glitzern sehen, dazu ein Sumpfgebiet und überflutete Felder; sie reichten unmittelbar bis an jene Stelle, wo sich zwei weitere, stark befestigte Schanzen am Ufer des Tejo erhoben. Einer der Grundbesitzer aus dem Tejogebiet war offenbar dazu gezwungen worden, an einer Engstelle des Flusses ein vier Meilen langes Sumpfgelände aufstauen zu lassen, um dadurch die Lücke zwischen den Befestigungsanlagen, den Hügeln und dem Tejo zu schließen. Angesichts dessen wußte selbst Godinot, der stets eifrig bemüht war, seine Leute bei Stimmung zu halten, nichts mehr zu sagen. Wortlos starrte er vor sich in – selbst dann noch, als der Befehl zum Halten gegeben wurde und sich die erschöpften Männer zu Boden fallen ließen. Mit ihnen gekommen waren auch drei Stabsoffiziere, die ihre Pferde am Zügel führten; durch ihre Fernrohre beobachteten sie nun den vor ihnen liegenden Fluß. Dann wandten sie sich plötzlich ab, ohne noch ein Wort zu verlieren.
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Godinot konnte sich gut vorstellen, was sie im Hauptquartier berichten würden – Enttäuschung und Bestürzung waren ihnen förmlich anzusehen. Trotzdem versuchte er ungebrochen, gute Laune zu verbreiten. »Die haben wohl was Erfreulicheres entdeckt als das da drüben«, rief er. Eisiges Schweigen war die einzige Antwort auf seinen aufdringlichen Optimismus. Selbst die vor Erschöpfung und Hunger zu fast keinem Gedanken mehr fähigen Leute wußten sehr wohl, daß der Feind nicht die eine Flanke seiner Stellungen derart befestigen würde, um dann die andere Flanke gänzlich ungeschützt zu lassen. Mit ihrer Vermutung lagen die Männer durchaus richtig: Diese vorderste Frontlinie (der noch weitere in die Tiefe gestaffelte Verteidigungsstellungen folgten) bildete die 22 Meilen lange Basis eines gedachten Dreiecks zwischen dem Meer und dem Tejo; Lissabon und das umliegende Gebiet befanden sich an der Spitze dieses Dreiecks – hier war die britische Armee und die portugiesische Bevölkerung sicher, während der Gegner außen vor bleiben mußte und dabei allmählich verhungerte. Zu einer Zeit, da an Stacheldraht und Maschinengewehre noch lange nicht zu denken war, hatten britischer Einfallsreichtum und portugiesischer Fleiß bereits eine uneinnehmbare Stellung geschaffen. Der Hauptmann versammelte die vier Sergeanten um sich und erteilte seine Befehle. »Sergeant Bossin übernimmt mit seinen Leuten heute nacht die Wache. Die Aufstellung der Posten werde ich selber überwachen. Der Rest kann die Zelte aufschlagen und Essen machen.« Während der Hauptmann das anordnete, versuchte er den Sergeanten in die Augen zu sehen – aber sein Blick 75
irrte ab. Es war schwer, derart bestimmt aufzutreten, wenn man zugleich den stummen Vorwurf auf den Gesichtern der anderen ablesen konnte. Ein eisiger Wind blies, und es fing an, leicht zu regnen. »Schlagen wir das Lager hier auf?« fragte Godinot. »Ja. So lauten die Befehle.« Der Hauptmann wußte, daß es der Disziplin schadete, wenn er Kritik daran verlauten ließ, welche Härten die von oben gekommenen Befehle den Männern auferlegten; diesmal aber hatte er vor sich selbst eine Entschuldigung. Die Sergeanten kehrten zu den erschöpften Männern zurück, die noch immer auf dem kahlen Abhang lagerten. Sie waren dermaßen ausgepumpt, daß selbst die Mitteilung, heute werde eine Essensausgabe nicht stattfinden, keinerlei Protest mehr hervorrief. In der Tat hegten die Männer keine Hoffnung mehr auf etwas zu essen: den ganzen Tag über waren sie unter dauernder Feindberührung marschiert und hatten dabei keine Gelegenheit gefunden, durch Plündern einige Nahrungsmittel zu beschaffen. Müde machten sie sich daran, Vorbereitungen für die Nacht zu treffen. Ein halbes Dutzend Freiwilliger – deren Füße nicht ganz so wundgelaufen waren – kletterte den Hügel hinauf, um im Buschwerk Feuerholz zu schneiden. Fournier und Lebrun bauten aus einer Decke – mit deren Besitz sie dauernd prahlten und die bereits etliche Wendungen des Krieges mitgemacht hatte – so etwas wie ein kleines Zelt. Bald auch brannten ein paar kümmerliche Feuer, die allerdings mehr Qualm als Wärme lieferten. Nur an einer Feuerstelle entwickelte sich eine gewisse zielgerichtete Geschäftigkeit: Ein Kessel hing bereits über den Flammen, und ein einzelner Mann zerlegte Fleisch, um daraus für sich selbst und 76
seine besten Freunde ein Abendessen zu bereiten. Das Fleisch stammte von einem kleinen weißen Hund, den er am Morgen bei Marschbeginn bemerkt und sofort geschossen hatte. Über die Schultern gehängt und mit auf den Bauch herabbaumelnden Pfoten hatte er das Tier dann den ganzen Tag lang mitgeschleppt. Jetzt war er gerade dabei, es recht fachmännisch abzuhäuten, auszuweiden und zu zerlegen und das Fleisch Stück für Stück in den Kessel zu tun. Hungrig beobachteten ihn die anderen; aber der Hund war nur klein, und so konnten sie sich keine Hoffnung machen, etwas abzubekommen. Jemand brachte dem Hauptmann in seinem etwas abseits stehenden Zelt einen Teller mit dem Gericht. Obwohl er es mit hungrigen Augen ansah und den herrlichen Geruch einsog, verzichtete er mit einer resignierenden Geste und kaute weiter auf seinem steinharten Zwieback herum: Solange seine Männer leer ausgingen, durfte er einfach kein Fleisch essen. Es wurde jetzt rasch dunkel, und die Lagerfeuer brannten allmählich nieder. Die zusammengekrümmten, mit Fetzen bekleideten Männer wickelten sich fester in ihre Mäntel und krochen geradezu in den Erdboden, um ein bißchen Schutz vor der durchdringenden Kälte zu finden. Im Grunde waren die Männer des 8. Korps noch halbe Kinder – frisch eingezogene Rekruten, aus denen in aller Eile Bataillone zusammengestellt worden waren, und die man ohne jede Ausbildung oder militärische Erfahrung und katastrophal ausgerüstet auf die endlos öde Landstraße in Richtung Portugal geschickt hatte. Zur gleichen Zeit reiste jener Mann, der dies zu verantworten hatte, in seinen ausgedehnten Provinzen umher und prunkte vor den verblüfften Zeitgenossen mit seiner prachtvollen neuen Braut – eine echte Habsburger Prinzessin, Sproß eines Geschlechts mit fünfzig 77
Kaisern, die er mit dem Recht des Siegers für sich beansprucht hatte. Im Laufe der Nacht frischte der Wind immer mehr auf. Ächzend und murrend wälzten sich die Männer herum, um etwas wärmer und bequemer zu liegen. Die Geräusche der Wachablösungen störten sie dabei nicht; an das Anrufen der einzelnen Posten waren sie gewöhnt. Dreimal machte der Hauptmann während der Nacht die Runde und kontrollierte die Freiwachen und die vorne liegenden Posten. Vorsicht war dringend geboten, denn schon mehrfach hatten sich Portugiesen an schlafende Truppen herangeschlichen, einem halben Dutzend Männern die Kehle durchgeschnitten und sich dann wieder unbemerkt davongemacht.
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9. Selbst die noch fast kindlichen Soldaten des 8. Korps konnten an der Strömungsrichtung des Flusses erkennen, ob sie sich nun auf dem Vor- oder dem Rückmarsch befanden. »Was bedeutet das, Sergeant?« fragte der junge Bernard. »Geht es jetzt wieder in Richtung Heimat?« Tatsächlich bildete das Regiment die Spitze einer langen Kolonne, die auf der Landstraße am Tejo-Ufer marschierte und sich dabei von den feindlichen Stellungen entfernte. »Gott allein weiß, was das bedeuten soll«, antwortete Godinot unwirsch. »Vielleicht treffen wir jetzt endlich Godinots Onkel«, ließ sich Fournier hören. »Ja, hoffentlich«, sagte Godinot. Selbst mochte er allerdings nicht so recht daran glauben: Am Tejo gab es keine Brücken und darum war es unwahrscheinlich, daß sie einfach irgendwo den Fluß überschritten, um sich der noch weit entfernt stehenden Südarmee anzuschließen. Fournier ergriff wieder das Wort: »Das glaube ich nicht. Bernard hat recht. Es geht wieder nach Hause. Jeder von uns kriegt ein neues Paar Schuhe und Godron hoffentlich auch neue Hosen – bevor ihn die spanischen Damen zu Gesicht bekommen und vor Verzückung in Ohnmacht fallen.« Alle lachten über diesen Scherz. Seitdem sie vor den Befestigungsanlagen unzweifelhaft kehrtgemacht hatten
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und in eine andere Richtung abmarschierten, hatten die jungen Männer ihr Lachen wiedergefunden. Sie kamen an einem toten Pferd vorbei, das neben der Straße lag. »Die Dragoner befinden sich also vor uns«, bemerkte Godinot und betrachtete dabei den von der einsetzenden Fäulnis bereits aufgeblähten Kadaver. »Woran willst du denn erkennen, daß es eines von unseren Pferden ist?« fragte Godron. An dem toten Tier befand sich kein Stück mehr der ursprünglichen Ausrüstung. »Am Brandzeichen, mein Sohn«, antwortete Godinot. »Wann endlich wirst du die einfachsten soldatischen Regeln lernen?« »Wenn das also eines von unseren Pferden ist, und sich die Dragoner vor uns befinden«, wandte Bernard nachdenklich ein, »dann kommt mir das aber wie ein Rückzug vor. Was meint ihr?« »Mag schon sein«, gab Godinot zu, besann sich dann aber eines anderen: Er durfte nicht zulassen, daß sich die jungen Männer zu viel Hoffnungen machten. »Die Dragoner werden wohl auf jeden Fall zurückgezogen, ganz gleich, was wir tun – die gegnerischen Stellungen angreifen oder selbst Stellung beziehen. Ich denke, wir sind hier, um als Flankenschutz den Fluß zu sichern.« Das nahm ihnen den Wind aus den Segeln: Die Aussicht, noch länger in Portugal bleiben zu müssen, war für die Männer alles andere als erfreulich. So blieben sie stumm, bis ein neues Ereignis die Diskussion wieder in Gang kommen ließ. Ein Stabsoffizier kam herangeritten. Die Hufe seines Pferdes klapperten auf der gepflasterten Straße, als er an der Marschkolonne vorbeigaloppierte und neben dem Oberst haltmachte, der an der Spitze der Kolonne ritt. 80
»Neue Befehle. Und neue Befehle bedeuten immer Schwierigkeiten«, bemerkte Bernard scharfsinnig. Er hatte recht. Irgendwo weiter vorne bog die Straße vom Fluß ab und führte ohne große Steigungen zwischen den zwei Kuppen eines Bergrückens hindurch, der sich unmittelbar bis zum Fluß erstreckte. In das Felsgewirr zwischen der Landstraße und dem Fluß zweigte ein schmaler und steiniger Pfad ab. Hier legte das Bataillon eine kurze Marschpause ein. Gerüchte – von denen wie üblich niemand wußte, woher sie stammten – verbreiteten sich unter den Soldaten: am anderen Ende des Pfades würde man Quartier beziehen. Offenbar aber erwartete der Oberst keinen freundlichen Empfang – auf seinen Befehl hin rückte das Bataillon in Kampfformation auf dem Pfad vor. »Sieht so aus, als wäre unser Rückmarsch hier zu Ende«, sagte Godron nachdenklich. Aber Fournier rief nur: »Jungs, heut nacht haben wir ein festes Dach über dem Kopf. Und zum Essen gibt es warme Suppe.« Genau in diesem Augenblick krachte an der Spitze der Kolonne ein Schuß, etwa ein Dutzend Schüsse folgte. Die Männer kamen zum Stehen, dann ging es ein paar Schritte weiter, dann wurde wieder haltgemacht. Das Gewehrfeuer nahm währenddessen an Heftigkeit zu, verstummte zwischenzeitlich fast und flammte schließlich erneut auf. Godinot und seine Freunde, die sich an der Flanke der Kolonne befanden, renkten sich keineswegs den Hals aus, um zu sehen, was vorne vorging: Beim Vormarsch in Portugal wurde die Truppe mindestens zwei- bis dreimal am Tag in ein solches Scharmützel verwickelt. Dann jedoch kam der Hauptmann die Reihen der Marschierenden entlanggeritten, seinen Trommler direkt hinter sich. Mit 81
prüfendem Blick maß er den steilen Hang neben dem Weg und suchte den Hügel nach einer Stelle ab, an der man angreifen konnte, bevor er sich umwandte und der wartenden Kompanie ein Zeichen gab. Mit stoischem Gleichmut machten sich die Männer daran, die Böschung hinaufzuklettern. »Das Gelände bis zum Fluß vom Gegner säubern!« rief der Hauptmann ihnen zu. Jedermann wußte genau, was zu tun war: Die Kompanie schwärmte aus, bis sie eine langgezogene Linie bildete, und bewegte sich so langsam den Abhang hinauf. Gelegentliches Gewehrfeuer und ein paar Rauchschwaden knapp unterhalb der Hügelkuppe zeigten an, wo sich die Vorhut mit dem Gegner herumschlug. Zunächst jedoch traf die Kompanie auf keinen Widerstand; erst als sie schon auf halber Höhe des Hügels war, schoß auf einmal Pulverdampf hinter einem Felsen hervor und über die Köpfe pfiff eine Kugel hinweg. Der Schütze sprang hoch und lief vor ihnen den Abhang hinauf. Für einen Augenblick drohte die Gefechtslinie in Unordnung zu geraten, als einige Heißsporne die Verfolgung aufnehmen wollten; dann aber kehrte wieder Ruhe ein, und das geordnete Vorrücken ging weiter. Oben auf dem Abhang lagen jedoch mehr Männer auf der Lauer, und das Gewehrfeuer nahm zu. Mit klappernden Ausrüstungsgegenständen stürzte einer der Männer aus der Gefechtslinie zu Boden. Da und dort wurde das Feuer unregelmäßig erwidert. »Laßt euch Zeit und schießt erst, wenn ihr etwas im Visier habt!« brüllte Godinot die Männer seiner Abteilung an. Einige seiner Leute drehten sich daraufhin zu ihm um und grinsten ihn an. In der französischen 82
Armee herrschte ein freundschaftlicher Umgangston zwischen den Unteroffizieren und ihren Leuten, und so war es zwischen ihnen schon mehrfach zu Auseinandersetzungen über den rechtzeitigen Einsatz des Gewehrs gekommen. Sie befanden sich jetzt knapp unterhalb der Hügelkuppe. Wer immer sich ihnen auch in den Weg gestellt hatte, wenn er nicht genau aufpaßte, war ihm die Rückzugsmöglichkeit bald versperrt. »Da drüben ist ein Engländer«, rief Fournier auf einmal. »Ein Engländer mit einer grünen Uniform!« Jetzt konnten ihn auch die anderen sehen; wild gestikulierend und schreiend wies er die Männer ein, die sich unterhalb der Hügelkuppe gesammelt hatten. Seine Uniform war für jedermann deutlich auszumachen, und rasch wurde auch der Sinn seiner Handzeichen klar. Der Hauptmann galoppierte zwar mit geschwungenem Säbel die Gefechtslinie entlang und befahl seinen Männern, den Hügel im Sturm zu nehmen, aber der grünuniformierte Soldat hatte sich eine überaus günstige Stellung ausgesucht: Er und seine Leute machten plötzlich kehrt und liefen so schnell wie irgend möglich über die Hügelkuppe davon; dabei achteten sie peinlich genau darauf, nicht zum Fluß abgedrängt zu werden. Ohne ausdrücklichen Befehl schwenkten die Franzosen nun nach rechts, um den Flüchtenden im Eilschritt den Weg abzuschneiden, während die Vorhut, mit der es die Portugiesen zuerst zu tun gehabt hatten, die Verfolgung aufnahm. Einer der Portugiesen stolperte und rollte den Hang hinunter; bevor er noch wieder auf die Füße gekommen war, hatte ihm Godinot schon das Bajonett durch den Leib gerannt. Auch Fournier, der sich neben Godinot befand und schrecklich aufgeregt
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war, stach auf ihn ein; vor Schmerzen gekrümmt starb der Mann auf der Stelle. Oben auf der unwirtlichen Kuppe des Hügels löste sich die Gefechtsformation der Kompanie endgültig auf – wenn in Linie vorgehende Soldaten im unübersichtlichen Gelände und bei dauernden Richtungsänderungen erst einmal anfangen zu laufen, läßt sich eine geregelte Marschformation nicht mehr aufrechterhalten. Die beiden französischen Kompanien zerfielen in kleinere Gruppen, die ungeordnet die Hänge des Hügels durchstreiften, während es immer dunkler wurde und ein sintflutartiger Regen niederging – was das Durcheinander nur noch größer machte. Ohne daß es zu einer klaren Entscheidung kam, wurde das Gefecht in dieser alptraumhaften Landschaft mit den riesigen Felsbrocken, verkrüppelten Bäumen und dem niedrigen Gebüsch ausgetragen. Wer von den Franzosen feige oder auch nur müde war, fand dabei reichlich Gelegenheit, sich abzusetzen und zwischen den Felsen ein Versteck zu suchen; mutigere und weniger kopflose Männer irrten dagegen ziellos umher. Selbst als die Dunkelheit hereinbrach, krachten hier und da noch immer vereinzelte Musketenschüsse und fanden Männer in diesem chaotischen Gefecht den Tod. Gerade als Godinot mit zwei oder drei seiner Leute einen kleinen Einschnitt hinaufkletterte, kamen ihm Lebrun und Fournier entgegen, zwischen sich jemanden, der sich kaum noch auf den Beinen halten konnte. Es war Godron. »Der Engländer hat auf ihn geschossen«, berichtete Fournier. »Der Engländer?« »Ja, so wahr mir Gott helfe!« »Wo hat es ihn erwischt?« 84
»Er hat einen Bauchschuß abbekommen.« Eine kurze Pause trat ein. Allen war klar, was ein Bauchschuß bedeutete. Und daß nur Feiglinge das Schlachtfeld verließen, um einen Verwundeten nach hinten zu bringen – oft genug hatte man ihnen das eingebleut. Zugleich aber war auch allen klar, daß man einen Verwundeten – selbst wenn er bereits im Sterben lag – nicht einfach zurücklassen konnte, wenn die Gefahr bestand, daß er portugiesischen Freischärlern in die Hände fiel. Godinot wurde von dem Dilemma durch einen lang anhaltenden Trommelwirbel erlöst, der weit hinter ihm erschallte. Dann fiel die Trommel in einen anderen Rhythmus – zuerst ein langer Wirbel, gefolgt von drei einzelnen Schlägen, dann ein kurzer Wirbel und erneut drei einzelne Schläge, die wiederholt wurden. Es war das Rückzugssignal. Ein Uniformmantel, durch dessen Ärmel und Taschenöffnungen zwei Musketen gesteckt wurden, dienten als eine Art Bahre für Godron; gemeinsam schleppten sie ihn zurück zum Kamm oberhalb des Pfades, wo sich die beiden Kompanien sammelten. Die Sonne war inzwischen untergegangen, durch die im Westen aufgerissenen Wolken aber fiel ein letzter, verschwindender Rest von Tageslicht. Der Hauptmann machte einen niedergeschmetterten Eindruck, als ihm von den Sergeanten die Mannschaftsstärken gemeldet wurden: Hier wurde jemand vermißt; ein anderer wieder war gefallen und nun brachte man einige persönliche Gegenstände aus seinem Tornister mit. Düster starrte der Hauptmann auf den Hügel und auf den letzten Schimmer des Tageslichts dahinter. Sie hatten eine klare Niederlage erlitten und konnten noch nicht einmal Rache dafür nehmen: In der Dunkelheit war nicht daran zu denken, die Männer noch 85
einmal in das Felsengewirr zu schicken; ebensowenig, wie die Vermißten jetzt suchen zu lassen. Er konnte nur für sie hoffen, eher den Tod gefunden zu haben als den Portugiesen in die Hände gefallen zu sein. Bis es völlig Nacht geworden war, ließ der Hauptmann die Kompanie in der Hoffnung warten, ein oder zwei der vermißten Männer könnten wieder auftauchen; dann führte er die Kompanie widerstrebend den Abhang des Hügels hinunter; auf dem Pfad gelangten sie schließlich zu einer Ansammlung von Steinhäusern – das Nachtquartier des Bataillons. An jenem Abend, als der kleine Godron dem Arzt unter den Händen wegstarb, war das Bataillon bester Laune. Nicht nur, daß jedermann ein Dach über dem Kopf hatte – auch wenn es nur das Dach eines schmutzstarrenden Kuhstalls war –, es war auch für alle genug zu essen da. Zwischen dem Dorf und dem Fluß lag ein Kartoffelfeld; anscheinend hatte man noch versucht, die Kartoffeln auszugraben und in den Tejo zu schütten, aber es waren noch immer genug da, wenn man nur danach wühlte. Zudem war eine lautstark blökende Ziege mit zwei Zicken in das Dorf gelaufen, als sie gerade einrückten. Und das bedeutete Suppe für alle – mit mehr als nur dem Geruch von Fleisch. Nicht genug damit, hatte schließlich irgendwer noch ein einzelnes, offenbar verirrtes Huhn gefangen, das zwischen den Misthaufen herumgelaufen war und eine willkommene Zutat zum Essen der Offiziere darstellte. Auch Öl war genug vorhanden – Zaunpfosten und latten fanden sich in so großer Menge, so daß man nicht gezwungen war, Obstbäume zu fällen. Jedermann fand Platz an einem großen prasselnden Feuer und konnte sich den ersten Abend seit Wochen wieder einmal richtig aufwärmen. 86
Die Sache mit dem Wein allerdings war weniger erfreulich: jemand hatte im Keller der Dorfkneipe alle Fässer eingeschlagen, und nun war der ganze Fußboden mit Wein bedeckt. Trotzdem war in den Fässern zumindest für den Bedarf der Offiziere genug zurückgeblieben, und was man vom Boden aufschöpfte, reichte allemal, um die Männer rundum zufrieden zu machen. Es war ein wunderschöner, lautstarker Abend. Über den Umstand, daß die Ziegen und das Huhn die einzigen Lebewesen waren, die man im Dorf angetroffen hatte, machte sich niemand auch nur eine Sekunde Gedanken. Natürlich hätte es mehr Spaß gemacht, wenn eine oder zwei Frauen so nett gewesen wären, im Dorf zu bleiben, um etwas für Unterhaltung zu sorgen. Im Augenblick aber war das nicht so wichtig – die Männer hatten in letzter Zeit einfach zu schnell und zu weit marschieren müssen, um diesem Thema noch sonderliche Aufmerksamkeit zu schenken. Sie waren einfach nur glücklich, etwas zu essen und trinken zu haben und im Warmen ausgelassen sein zu können. Fournier kam und ließ sich schwerfällig neben Sergeant Godinot nieder. »Ich glaube, Godron wird sterben«, begann er das Gespräch. »Glaube ich auch. Armer Teufel«, antwortete Godinot. Fournier machte eine Pause, bevor er weiterredete: »Kannst du dich noch an den Tag erinnern, als wir wieder zum Bataillon kamen? Wir waren weiter hinten beim Schanzen gewesen?« »Du meinst, als Boyel getötet wurde? Ja.« »Boyel war der Freund von Godron«. »Er war auch mein Freund.«
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»Beide sind von demselben Mann getötet worden«, sagte Fournier mit Bestimmtheit. »So? Wie kommst du darauf?« fragte Godinot. »Es ist wahr. Ich kann es beschwören. Ich hab ihn so deutlich gesehen wie meine Hand, als er Boyel erschossen hat. Und heute hatte ich ihn zweimal im Visier. Wieso habe ich ihn nicht treffen können? Wieso hat das keiner von uns vorher gekonnt? Sag mir das!« »Keine Aufregung«, beruhigte ihn Godinot, dem der Ausdruck auf Fourniers Gesicht nicht entgangen war. »Du weißt doch, daß viel mehr Kugeln danebengehen als treffen.« »Da wird aber ein ganz schöner Haufen Kugeln nötig sein, um ihn zu treffen«, antwortete Fournier. »Leg dich hin und vergiß das Ganze einfach«, beschwichtigte ihn Godinot. »Morgen fühlst du dich schon besser.« Aber es brauchte mehr als diese freundliche Aufforderung, um den abergläubischen Fournier wieder zu beruhigen; als Godinot damit endlich Erfolg hatte, war es schon ziemlich spät. Die Feuer brannten nieder. Während das Bataillon schlief, machten die Wachtposten ihre Runde um das Dorf. Dabei waren die Wachsoldaten so aufmerksam wie man nur sein konnte, wenn das eigene Leben davon abhing. Aber keiner der Postengänge reichte hinunter bis ans Flußufer. Und so sah auch niemand eine Anzahl von dunklen Schatten, die sich entlang des Wassers an der Schlucht vorbeischlichen; von dem Hügel, auf dem das Gefecht am Tage stattgefunden hatte, wechselten die Schatten auf einen Hügel jenseits der Schlucht.
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10. Am nächsten Morgen war das Bataillon höchst erfreut zu erfahren, daß nicht weitermarschiert werden sollte. Derart angenehm eingerichtet wie hier, mit ausreichend zu essen und einem Dach über dem Kopf gegen das Wetter, hatten alle schon vergessen, wie sehr sie sich noch gestern nach dem Rückzug gesehnt hatten. Doch müßig sollten die Männer nicht bleiben, jedenfalls nicht alle. Zwei Kompanien blieben zur Bewachung des befestigten Quartiers zurück, flickten ihre Kleider und brachten in Ordnung, was immer nötig war. Die übrigen vier Kompanien traten, ausgerüstet nur mit ihren Waffen und Munition, in lockerer Marschformation an und begannen, den Hügel, auf dem gestern das Gefecht stattgefunden hatte, von jenen Partisanen zu säubern, die ihnen so zugesetzt hatten. Es war ein sorgfältig durchgeführtes und höchst kompliziert angelegtes Unternehmen. Drei Kompanien schwärmten so weit aus, bis die Schützenreihe über das gesamte Gebiet von der Straße bis zum Fluß reichte; zwischen den einzelnen Männern lagen dabei etwa ein Dutzend Yards. In Abständen entlang dieser Linie waren die vier Züge der vierten Kompanie plaziert, um wirkungsvoll eingreifen zu können, wenn man auf die Partisanen stieß – die zwanzig Mann eines Zuges würden dafür wohl ausreichen. Dann setzte sich das Ganze unter zahllosen Schwierigkeiten beim Halten der Abstände und beim Ausrichten über den Hügel in Bewegung. Sieben Meilen waren es bis zu der Stelle, an der die Landstraße wieder auf den Fluß stieß. Sie 89
brauchten dafür sieben lange Stunden, angefüllt mit Flüchen und Ausrutschern, langweiligen Wartepausen im Regen, bis die Schützenreihe wieder formiert war, und Herumstochern in tropfnassen Büschen auf der Suche nach versteckten Feinden. Am Ende hatten sie überhaupt nichts gefunden. Einige der Männer feuerten zwar ihre Musketen ab, aber das waren nur jene Idioten, die immer mit ihren Musketen herumballern mußten – auch wenn es gar kein Ziel gab. Auf dem Hügel befand sich einfach niemand, und der einzige Hinweis darauf, daß sich jemand hier aufgehalten hatte, waren nur ein paar nackte Tote, die im Regen herumlagen. Ein oder zwei Leichname konnten nicht identifiziert werden, und so hielt man sie für Portugiesen; in den übrigen erkannte man die seit gestern vermißten Franzosen. Jedermann war schlecht gelaunt, durchnäßt und erschöpft, als sie gegen Abend am Fluß auf die Vorposten des benachbarten Bataillons stießen; eine weitere Suche erübrigte sich damit. Durch die eisige Nacht und den strömenden Regen marschierten sie auf der Landstraße mit dem knochenbrecherischen Pflaster zurück. Als sie schließlich ins Dorf gewankt kamen, lag immerhin ein gewisser Trost in dem Umstand, daß sie von den Wachen des Hauptquartiers bereits mit brennenden Feuern und heißer Suppe erwartet wurden – auch wenn die Suppe an diesem Abend kein bißchen nach Fleisch schmeckte und eigentlich nichts anderes enthielt als Kartoffeln und Wasser. Schütze Matthew Dodd hatte seine Pflicht gut erfüllt, als er 300 Mann derart in Trab gehalten und dadurch die Schuhsohlen der 300 Männer abgenutzt hatte. Schwierig war es nicht gewesen, allerdings hatte es ihn das Letzte an Kraft gekostet, dem Dorf seine Anordnungen klarzumachen – nicht zuletzt auch deshalb, weil 90
Bernardino all seine Gesten hoffnungslos falsch übersetzt hatte. Am schwersten war es gewesen, die Dorfbewohner davon zu überzeugen, daß alle Nahrungsmittel, die nicht fortgeschafft werden konnten, vernichtet werden mußten. Sie würden ihre Häuser verlassen, um in die Berge zu gehen, und ihr Vieh mitnehmen, die Vernichtung von Essen aber mußte ihrem archaischen Verstand wie eine Gotteslästerung erscheinen. Mit seinen eigenen Händen hatte Dodd darum die Kartoffeln ausgraben und auf einem Karren zum Flußufer bringen müssen, bevor sie ihm zur Hilfe geeilt waren; eigenhändig auch hatte er die Fässer eingeschlagen. Gleichwohl hatten sie im Verlauf der 66 Stunden zwischen dem Abmarsch der Dragoner und dem Auftauchen der Infanterie reichlich viel geschafft. Als deren Ankunft schließlich signalisiert wurde, hatte er nur eine der elementaren strategischen Regeln angewendet und auf dem einen Hügel angegriffen, während die Frauen und das Vieh auf einem anderen Schutz suchten; ebenfalls wenig Aufwand bedeutet hatte es, seine Leute danach im Schutz der Nacht auf den anderen Hügel zu verlegen, um dem zweiten Angriff zu entgehen, der nach Dodds Ansicht (immerhin war er seit fünf Jahren Soldat und kannte sich mit der militärischen Denkweise aus) unumgänglich kommen mußte. Eine ebenso simple wie außerordentlich wirkungsvolle Strategie. Dodd saß an diesem Abend neben einem getarnten Feuer in der Nähe des Tejoufers. Er sah keinen Grund, warum er seine Nadelstichtaktik nicht die nächsten zwei oder drei Tage fortführen sollte, solange sich die Franzosen noch in der Nähe befanden und der Hunger sie nicht zum Rückzug zwang. Dann würde er 91
aufbrechen und zu seinem heißgeliebten Regiment zurückkehren können. Zwei oder drei Tage, dachte Dodd; dann mußten die Franzosen ihre Vorräte aufgebraucht haben. Damit unterschätzte Dodd, was französische Truppen auszuhalten vermochten, wie eisern entschlossen der kommandierende Marschall war, und – obwohl er damit eigene Erfahrungen hatte sammeln können – zu welch langwierigen, alptraumhaft-logischen Absurditäten der Krieg führen konnte. Es war ihm schlechterdings unmöglich, sich vorzustellen, daß die Franzosen geschlagene drei Monate hier am Tejo bleiben würden, während sie allmählich verhungerten und Seuchen und Unterernährung ein Opfer nach dem anderen forderten. So lange, bis jeder dritte Mann gestorben war, ohne auch nur einen Feind vor Augen bekommen zu haben, während die Engländer im Schutz ihrer Stellungen Ruhe hatten und Fett ansetzten. Mit den Schiffen, die den Hafen von Lissabon anliefen, kamen für sie Brot, Rindund Schweinefleisch aus England. Damit würden sie ganz bequem abwarten, bis ihre grimmigen, aber unsichtbaren Verbündeten ihr Werk getan und die französische Armee derart dezimiert hatten, daß man einen Ausbruch wagen und den Gegner nun etwa gleichstark zum Kampf stellen konnte. Diese Strategie war genauso einfach wie die von Dodd; in beiden Fällen erforderte sie feste Entschlossenheit und die Fähigkeit, sich durch die öffentliche Meinung nicht beirren zu lassen, um den größtmöglichen Vernichtungseffekt zu bewirken. Einen einfachen Schützen mit dem Oberbefehlshaber zu vergleichen, mag zwar unangemessen erscheinen, beide aber waren durch dieselbe Schule gegangen.
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Das Dorf hatte sich wirklich alle Mühe gegeben, die Nahrungsmittel vor den Invasoren in Sicherheit zu bringen. Die Kinder waren zusammen mit den Tieren ins Gebirge geschickt worden, während Männer und Frauen daran schufteten, die große Vorratsscheune des Dorfs leerzuräumen. Säcke mit Korn und Mais hatte man die Steilhänge hinaufschleppen müssen, eine Arbeit, bei der die Frauen den Männern an Körperkraft in nichts nachstanden. Zunächst waren zwei abgelegene Hohlwege, die dicht mit Erdbeerbüschen bewachsen waren, mit Kornsäcken aufgefüllt worden. Als es aber darum ging, auch das Mehl fortzuschaffen, hatten die Leute gegen Dodds Absicht erst einmal Widerstand geleistet. Sie diskutierten lautstark miteinander, drehten sich dann um und versuchten Dodd, der von alledem nichts begriff, ihre Ansicht irgendwie verständlich zu machen. Schließlich packte die üppige Maria, Mutter der hübschen Agostina, auf die Bernardino ein Auge geworfen hatte, Dodd am Arm und zog ihn hinter sich her; dabei ging sie gebeugt, als würde sie einen Mehlsack schleppen. Sie folgten einem schlüpfrigen und gewundenen Ziegenpfad über die Hügelkuppe und stiegen auf der anderen Seite, wo der Fluß grünlich schimmernd und breit dahinströmte, wieder ins Tal ab. Ein kaum erkennbarer Weg führte hinunter zum Flußufer und endete dort abrupt. Rechts und links des kleinen Strandstücks, auf das dieser Pfad mündete, erhoben sich am Flußufer die gewohnten, an die 40 Fuß hohen und überhängenden Felsbrocken, deren Basis von dem winterlich angeschwollenen Gewässer umspült wurden. Ohne einen Augenblick innezuhalten, zog Maria, die Dodd immer wieder aufforderte nachzukommen, ihr bauschiges Kleid hoch und stapfte barfüßig ins Wasser. 93
Unmittelbar unter der Wasseroberfläche erstreckte sich ein langgezogener Felsgrat, der die wildschäumenden und beängstigend heftigen Wirbel an dieser Stelle verursachte. Bis zu den Knien in gurgelndem Wasser ging Dodd auf diesem Grat hinter Maria her. Dann bogen sie um einen Felsen und unmittelbar vor sich erblickte Dodd die ideale Zufluchtstätte: Ein kleiner Strand erstreckte sich in einem Winkel zwischen den Felsen, die das Wasser hier ausgewaschen hatte; eine Beobachtung selbst von oben würde dadurch außerordentlich schwierig, wenn nicht gar unmöglich werden. Und es gab eine kleine Höhle, die man in ein paar Stunden Arbeit mit der Spitzhacke leicht erweitern konnte. Dazu war der Zugang zum Strand nur über den unter Wasser liegenden Felsgrat möglich; bei Niedrigwasser lag er zwar ohne Zweifel im Trockenen – nur so hatten ihn die Dorfbewohner überhaupt entdecken können –, ansonsten aber würde niemand etwas von seinem Vorhandensein auch nur ahnen. Mit allen mimischen Mitteln, die ihm zur Verfügung standen, brachte Dodd seine Begeisterung für dieses Versteck zum Ausdruck, und die Dorfbewohner sammelten sich um ihn und freuten sich wie Kinder an seinem Beifall. Hierher brachte man nun die Alten, was an wenigen Haushaltsgegenständen noch übriggeblieben war und so viel Nahrungsmittel, wie in der beschränkten Zeit herbeigetragen werden konnte – der Weg war einfach zu lang und steil, um alles, was vielleicht nötig gewesen wäre, auch wirklich in das Versteck schaffen zu können. Eine Menge Getreide mußte, wie es zu Anfang auch geplant gewesen war, auf dem Hügel versteckt werden; ein Teil des Korns aber konnte nur noch in einen Silo nahe der Dorfscheune geschüttet werden, dessen Öffnung dann mit Unkraut verstopft 94
wurde. Die Stunden zwischen dem Gefecht mit den Dragonern und dem Scharmützel mit der Infanterie waren mehr als ausgefüllt gewesen mit Arbeit. Seit dem letzten Gefecht war alles friedlich geblieben. Dodd hatte sich mit dem vor Vergnügen glucksenden Bernardino auf den Hügel vorgepirscht und den kompliziert geplanten Angriff beobachtet, der auf dem anderen Hügel ablief – jenem Hügel, von dem sie sich zurückgezogen hatten. Er hatte die Mannschaftsstärke der im Dorf zurückgebliebenen Truppe gezählt und war zu dem Schluß gekommen, angesichts ihrer zehnfachen Überlegenheit einen Angriff selbst während der Abwesenheit der Hauptstreitmacht nicht wagen zu können. Und er hatte gesehen, wie zwei Gräber ausgehoben und zwei Männer begraben worden waren – daß einer davon Godron war, den er selbst am Abend zuvor angeschossen hatte, war ihm allerdings nicht bewußt. Mit Leichtigkeit hätte er ein oder zwei Weitschüsse auf die sich zwischen den Häusern bewegenden Gruppen von Soldaten abgeben können, aber er verzichtete darauf: Auf dem Hügel hinter ihm befanden sich für ihr Überleben wichtige Schafe und Kühe, und er wollte auf keinen Fall, daß die Franzosen angelockt wurden, hier herauf zu kommen, wo sie vielleicht das Vieh entdeckten. Als sie sich auf den Rückweg zum Fluß machten, erregte etwas am gegenüberliegenden Ufer Dodds Aufmerksamkeit – man hätte es für eine lange Reihe von Perlen halten können, aufgezogen auf eine unsichtbare Schnur. Er sah noch einmal hin, aber die Entfernung betrug mehr als eine halbe Meile und so konnte er keine Einzelheiten ausmachen. Sein erster Eindruck aber war durchaus richtig gewesen: Die glitzernden Perlen entpuppten sich bald als die Helme einer langen 95
Kolonne von Kavalleristen, die am gegenüberliegenden Ufer langsam vorüberzogen. Um jedoch herausfinden zu können, welcher Nationalität sie wirklich angehörten, waren sie zu weit weg. Dodd starrte angestrengt hinüber, war sich aber noch immer nicht sicher. »Portugezes«, befand Bernardino knapp, während er seine Augen mit der Hand beschattete und die Kolonne weiter beobachtete. Bernardino besaß wunderbar scharfe Augen – mit denen er sogar besser sah als Dodd –, und so begnügte sich Dodd mit seinem Urteil. Immerhin sprach dafür, daß er hohe Federbüsche auf den Helmen zu erkennen glaubte. Das gegenüberliegende Flußufer war also besetzt und wurde gegen die Franzosen verteidigt; später einmal würde sich schon irgendein wundersames Mittel finden lassen, das eine halbe Meile breite Gewässer zu überqueren. Dodd nickte beifällig angesichts der vorausschauenden Planung durch Lord Wellington: Wenn er erst einmal über den Fluß gekommen war, würde er dort auf Freunde treffen, die ihn nach Lissabon und damit zurück zu seinem Regiment bringen konnten. Allerdings bestand im Augenblick keine Möglichkeit, das Gewässer zu überwinden. Boote schien es keine mehr zu geben – wenigstens in diesem einen Punkt waren Wellingtons Anordnungen befolgt worden –, und Dodd konnte nicht so weit schwimmen. Alles, was ihm also blieb, war sehnsuchtsvoll den am anderen Ufer entlangziehenden portugiesischen Dragonern nachzublicken und sich dann wieder der aktuellen Aufgabe zuzuwenden, den Franzosen nicht in die Hände zu fallen.
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11. Das vierte Bataillon des 46. Linienregiments fand endlich Gelegenheit, sich selbst wieder auf Vordermann zu bringen – wie man sagen muß, zum ersten Mal, seitdem es aufgestellt worden war. Bis vor kurzem noch hatte ein französisches Infanterieregiment aus drei Bataillonen bestanden. Seit aber der Krieg gegen Österreich zu Ende gegangen war und der Feldzug in Spanien sich seinem Höhepunkt näherte, hatte man die Unmassen von 18jährigen Rekruten – Ernte zweier hintereinander vorgezogener Musterungswellen –, die zuhause die Kasernen nur überfüllten, einfach zu Bataillonen zusammengefaßt, willkürlich bereits in Spanien stehenden Regimentern zugewiesen und als Verstärkung für die geplante große Offensive gegen Wellington in Marsch gesetzt. Viel Soldatisches war nicht dran an den paar hundert schlecht ausgebildeten Jungen, dem aus allen Himmelsrichtungen zusammengekommenen Dutzend Offizieren und den wenigen Sergeanten aus den heimatlichen Kasernen. Ihr bißchen Kampferfahrung hatten sie auf dem endlos langen Marsch von Frankreich nach Portugal bei Scharmützeln mit spanischen Guerillas, portugiesischen Freischärlern und britischen Vorposten gesammelt. So war das untaugliche 8. Korps in der Schlacht bei Busaco vernünftigerweise weiter hinten gehalten worden, während Ney die Veteranen der anderen Korps zum vernichtenden Frontalangriff auf die britischen Stellungen geführt hatte.
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Bisher hatten sie noch nicht erfahren, welchen Vorteil es bot, Teil eines Regiments zu sein – eines regulären Regiments mit einem Stab, Versorgungstrain und erfahrenen Offizieren. Das ihnen zugeteilte halbe Dutzend Mulis hatte bereits vor Monaten auf den mörderischen Gebirgsstraßen in Spanien seinen Geist aufgegeben. Alle Unterlagen und Abrechnungen des Bataillons – Unmassen von beschriebenem Papier, das den französischen Bürokraten so außerordentlich wichtig ist – waren verschwunden. Selbst die cantiniere, mit der jede französische Einheit prahlte, die noch Achtung vor sich empfand, war verloren gegangen: Eine andere Einheit hatte sie sich angeeignet, die über mehr Erfahrungen verfügte und die Garantie dafür bot, nötigenfalls für den Transport der Feldküche einen Muli zu stehlen und die höchst zweifelhaften Segnungen dieser Küche vor Angriffen der feindseligen Freischärler zu schützen. Das 4. Bataillon der 46er konnte dagegen absolut nichts sein eigen nennen, was nicht auf den Rücken seiner pensionsreifen Offiziere oder erst 18 Jahre alten Soldaten nach Portugal geschleppt worden war. Seit dem Abmarsch aus Frankreich hatte die Versorgung mit Lebensmitteln einzig darauf beruht, was man auf dem ausgeplünderten Land an Getreide noch hatte zusammenkratzen können; gekocht wurde daraus ein Essen, bei dem die Anweisungen des Halbdutzend überlasteter Sergeanten das Zuwenig der Natur ersetzen mußten. Kein Wunder also, daß von 800 Mann, die ursprünglich spanischen Boden betreten hatten, nur 600 Portugal erreichten und bloß 500 überlebt hatten, um sich in dem kleinen Dorf zu sammeln. Der Oberst hatte sich aus seiner gedankenverlorenen Lethargie immerhin so weit aufraffen können, um den Befehl zu geben, das Dorf und die Felder nach 98
Nahrungsmitteln abzusuchen; das Regiment mußte sich Reserven zulegen. Selbst seine abgestumpften Augen waren bei den Worten »Regiment« und »Reserven« aufgeleuchtet, denn bisher hatte das Bataillon keine Essensvorräte besessen, abgesehen einmal von den Bündeln »Bargeld«, die den Männern vor dem Bauch baumelten. Aber kaum war alles zusammengetragen worden und damit das Überleben der Männer für ein paar Tage gesichert, hatte man das meiste schon wieder aufgebraucht. 500 dem Verhungern nahe Männer sind wohl sehr fähig, die Bestände eines kleinen Dorfes restlos zu verzehren – vorausgesetzt, die Bewohner hatten genug Zeit, mit Sack und Pack zu flüchten. Vorhanden waren noch ein kleiner Haufen Kartoffeln und ein oder zwei Säcke mit Korn, das man in den Winkeln der Scheune zusammengekratzt hatte – mehr nicht. Wenn nicht ein Wunder geschah und die Armeeführung, die sich um solche Dinge sonst nicht kümmerte, eingriff, würde das Bataillon in wenigen Tagen wieder in den gewohnten Zustand des Halbverhungertseins zurückfallen. Da raffte sich der Oberst erneut auf: Zweimal hintereinander schickte er eine Kompanie in das Gebiet jenseits der Landstraße, und mit viel Glück brachten sie jedesmal etwas zu essen mit. Dabei erwischten sie auch einmal ein kleines Mädchen, das Schafe hütete; ohne sich von ihren Tränen beeindrucken zu lassen, trieben sie die ganze Herde davon. Ein älteres Regiment hätte ihr, so jung sie auch sein mochte, wohl noch weit mehr Anlaß zu Tränen verschafft. Ein anderes Mal entdeckten sie ein alleinstehendes und verlassenes Gehöft und fanden dort derart viel Korn und Mais, daß die Vorräte von der versammelten Vorhut nicht mehr weggetragen werden konnten; ein Karren mußte zusätzlich beladen 99
und von Hand zurück ins Dorf gezogen werden. Der drohende Hunger aber konnte dadurch nur für ein oder zwei Tage verhindert weden, denn 500 Männer verzehren pro Tag eine enorme Menge Lebensmittel; selbst zwanzig Schafe reichen da nicht lange. Dazu kam, daß die Kornrationen immer unbeliebter wurden: Die Mühle auf der anderen Straßenseite war niedergebrannt worden, und so konnten die Männer ihr Korn nur zwischen zwei Steinen zerquetschen; das Produkt wurde dann zu einer Art Brei verkocht, gegen den spätestens nach der fünften Mahlzeit der Magen heftig aufbegehrte. Als Sergeant Godinots Kompanie an der Reihe war, das Gebiet jenseits der Straße nach etwas Eßbarem zu durchkämmen, erwartete sie dort eine unangenehme Überraschung. Nach fünf Meilen trafen sie auf eine Marschkolonne – eine französische Einheit mit lauter abgebrühten Veteranen aus Reyniers 2. Korps. Der befehlshabende Offizier der Neuankömmlinge ließ seine Leute halten und kam dann auf die Kompanie zugeritten. Die Männer konnten jedes Wort des Gesprächs verstehen, das zwischen ihm und dem Hauptmann gewechselt wurde. »Was tun Sie hier? Essen requirieren?« »Ja«, antwortete der Hauptmann. »Das dürfen Sie hier nicht. Nach dem Armeebefehl steht uns dieses Gebiet zum Requirieren zu.« »Aber uns bleibt nichts anderes übrig – das Bataillon hat sonst nichts.« »Kommt überhaupt nicht in Frage. Alles, was hier zu finden ist, brauchen wir für uns selbst. Nehmen Sie Ihre Trauergestalten von Rekruten und verschwinden Sie aus meinem Gebiet.« So leicht aber ließ sich der Hauptmann nicht einschüchtern. 100
»Ich habe Befehl von meinem Oberst erhalten, hier nach Nahrungsmitteln zu suchen. Ich bestehe darauf, weiterzumachen.« »Sie bestehen also darauf?« Der Oberst wandte sich um und brüllte seinem wartenden Bataillon einen Befehl zu. Das Geklappere von Stahl ertönte entlang den Reihen, als die Bajonette aufgepflanzt wurden. »Also, mein Herr«, sagte der Oberst, »würden Sie jetzt bitte nicht länger meine Zeit und die meiner Männer in Anspruch nehmen. Ich meine jedes Wort so, wie ich es sage. Machen Sie, daß Sie mit Ihren Jammergestalten aus meinem Gebiet verschwinden.« Die Männer des 2. Korps – Veteranen der Schlacht von Austerlitz, die vier Feldzüge in Spanien mitgemacht hatten – würden mit ihrem Bajonett gegen den eigenen Vater vorgehen, wenn es um etwas zu essen ging; und beide Seiten wußte das auch. Der Hauptmann konnte nichts anderes tun, als damit zu drohen, sein Oberst werde sich im Hauptquartier über diese Nötigung beschweren. »Soll er sich doch beschweren, so viel er will«, sagte der Oberst mit einem Achselzucken. »Vorher aber wird Sie mein Hauptmann Gauthier zur Landstraße zurückbegleiten. Nur für den Fall, daß Sie vielleicht auf die Idee kommen sollten, mein Territorium woanders wieder zu betreten, nachdem Sie uns verlassen haben. Ich wünsche Ihnen einen schönen Tag, Herr Hauptmann.« So blieb der Kompanie nichts anderes übrig, als mit eingezogenem Schwanz zurückzumarschieren. Flüche wurden dabei in den Reihen laut – Flüche, die später auch den Männern selbst gelten sollten, als der im Dorf gebliebene Rest des Bataillons zur Begrüßung vor die 101
Türen trat und dabei erfahren mußte, daß sie mit leeren Händen heimgekehrt waren. Sie sahen zwar, wie der Hauptmann Bericht erstattete und dann mit dem Pferd des Obersten – dem einzigen Tier, das dem Bataillon geblieben war – davonritt; als er aber gegen Abend wiederkam, wirkte er enttäuscht und unzufrieden: Im Hauptquartier hatte man den Befehl an das 4. Bataillon des 46sten Regiments über die Zuweisung eines bestimmten Geländes für Requirierungsmaßnahmen bestätigt. Blieb ihnen immer noch der Bergrücken am Fluß, um etwas Eßbares aufzutreiben – eine allerdings nicht sonderlich vielversprechende Aussicht, wenn man sich all die Felsen und Schluchten vor Augen hielt, aus denen das Gebiet bestand. Am nächsten Morgen traten vier Kompanien an, um den Bergrücken zu durchkämmen. Da und dort zogen sich kleine, weitverzweigte Wege über das Gebirgsmassiv hin, Ziegenpfade zumeist, auf denen nur für einen einzigen Mann Platz war. »Hier oben müßten wir doch eigentlich Ziegen finden«, brummte Lebrun, als er sich hinter Godinot stolpernd und rutschend den Pfad bergauf quälte. »Andere Tiere können hier nicht mehr leben.« »Ziegenfleisch könnte mir schon gefallen«, sagte Bernhard, der ewige Optimist. »Schön kleingeschnitten und mit Zwiebeln angemacht.« »Die Leute, die wir verjagt haben, als wir hier zum ersten Mal gewesen sind, müssen noch irgendwo in der Nähe sein«, sagte Dubois und drängte sich damit in das Gespräch. »Und auch ihre Schafe und ihr Vieh. Etwas vom Rind wäre mir schon lieber als alles Ziegenfleisch.«
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»Hört euch das bloß an, Leute! Rindfleisch«, rief Lebrun. »Auf silbernen Platten vielleicht, serviert von hingebungsvollen nackten Mädchen?« »Wär nicht schlecht«, stimmte Dubois zu. Irgendwo vorne krachte eine Muskete, noch vor der Spitze der sich endlos hinziehenden Kolonne. »Das ist eines von Dubois' hingebungsvollen Mädchen mit ihrer Donnerbüchse«, sagte Lebrun. »Zum Abendessen steht ihr heute wohl der Sinn nach Franzosengulasch.« Noch immer bewegte sich die Kolonne weiter den Pfad hinauf. Gelegentlich krachte an der Spitze ein Schuß: Nach einer Weile kamen sie an einem Toten vorbei, der neben dem Weg lag – ein Franzose mit einem bläulichen Loch auf der Stirn, dessen Gehirn auf den Ginstersträuchern verspritzt war. Lebrun verkniff sich einen Witz darüber. Bald darauf wurde der Befehl an Sergeant Godinots Zug durchgegeben, einen nach rechts abzweigenden Weg zu nehmen. Diese Anweisung kam jedoch erst in dem Augenblick an, als sie bereits den bezeichneten Weg erreicht hatten – ein weiterer Ziegenpfad, der von jenem Weg abbog, auf dem sich die Kompanie vorwärts bewegte. Zur Linken konnten sie in einiger Entfernung den Rest der Kompanie hören, die sich mühselig den Hang hinaufarbeitete; sie waren jedoch noch keine 20 Yards weit gekommen, da hatten sie die Kompanie auch schon durch die wirren Felsen und das dichte Unterholz aus dem Blick verloren. »Habe ich also doch recht gehabt mit meinen Ziegen«, murmelte Lebrun und zeigte dabei hinunter ins Tal.
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»Verdammte Ziegen!« rief Fournier. »Mann, das sind Schafe. Verstehst du, Schafe! Zum Essen gibt's geschmortes Hammelfleisch!« Überall entlang des Pfades fanden sich Hufabdrücke und Dung von Schafen; voller Gier drängten die Männer vorwärts. Weiter weg auf der linken Seite setzte das Gewehrfeuer wieder ein. Godinot versuchte auszumachen, was dort vorging, konnte aber nichts erkennen. Dann krachten rechts ein oder zwei Schüsse; offenkundig war das Bataillon über den ganzen Hügel ausgeschwärmt, zu sehen aber war niemand – weder Freund noch Feind. Der Weg zwischen den Büschen führte nun abwärts. Es war keine der unzähligen Senken, dazu ging es zu lange und zu steil nach unten. Einmal konnten sie weit unter sich den mächtigen und grünen Tejo sehen, bevor er durch eine weitere Biegung des Weges ihren Augen wieder entzogen wurde. Immer weiter ging es abwärts, bis der Fluß erneut in Sicht kam, diesmal war er schon wesentlich näher. Schließlich endete der Pfad unmittelbar am Ufer und Godinot und seine Leute sahen sich überrascht an. »Die Schafe müssen wohl woanders langgelaufen sein, Sergeant«, meinte Fournier. »Wir finden sie trotzdem«, antwortete Godinot. »Zurück auf den Weg, Jungs!« Sie kehrten dem Fluß den Rücken zu und stürmten den Hügel wieder hinauf. Rechts voraus war erneut Gewehrfeuer zu hören. Godinot ließ seine Leute haltmachen und lauschte angestrengt. Scheinbar hatten sie an einer unbewachten Stelle die Angriffslinie des Feindes durchbrochen; die Portugiesen mußten sich also in allernächster Nähe befinden. Da löste sich ein Schuß direkt vor ihnen. Godinot winkte Fournier und Bernard, 104
und zu dritt schlichen sie vorsichtig weiter, während die anderen zurückblieben. Möglichst ohne Lärm zu machen, versuchten sie, dem Pfad durch das dornengespickte Unterholz hügelauf zu folgen. Plötzlich hörten sie, wie sich etwas unmittelbar vor ihnen bewegte, und gingen geräuschlos neben dem Pfad in Deckung. Jemand kam auf sie zugerannt. Godinot brachte sich in Position und sprang dann auf: Er packte den Mann, und mit einem Krachen stürzten beide auf den Pfad. Fournier und Bernard eilten herbei und halfen, den Gefangenen zu fesseln – es war ein sehr alter und gebeugter portugiesischer Bauer. Sein Gesicht sah aus wie eine alte braune, von Runzeln übersäte Kartoffel und wirkte mindestens ebenso ausdruckslos. Er duckte sich vor den Franzosen, die um ihn herumstanden, und glotzte bewegungslos vor sich hin. Gemeinsam führten sie ihn zurück zu den anderen, die noch immer warteten. »Los, haltet Wache«, befahl Godinot. »Du, du und du.« Drei der Männer griffen nach ihren Musketen und patroullierten den Pfad auf und ab, damit sie nicht überrascht wurden. Währenddessen wandte sich Godinot dem Gefangenen zu und versuchte, sich an einige Worte Portugiesisch zu erinnern, die er einmal aufgeschnappt hatte. Seine Absicht war, nach Lebensmitteln, den Schafen, Vieh und Getreide zu fragen. »Alimento«, sagte Godinot und beugte sich dabei weit über den Gefangenen. »Ovelha. Gado. Garo.« Der Gefangene antwortete nicht, hockte bloß da und starrte vor sich hin. Godinot wiederholte seine Worte; als der Gefangene immer noch still blieb, biß er die Zähne zusammen, spannte den Hahn seiner Muskete und drückte die Mündung an das Ohr des Bauern. »Alimento«, drängte Godinot. 105
Der Gefangene holte tief Luft, ließ ansonsten aber keinen Ton verlauten. »Alimento«, wiederholte Godinot und versetzte dem Mann mit dem Lauf der Muskete einen Schlag auf den Kopf; aber auch das nutzte nichts. »Lassen Sie mich mal, Sergeant«, sagte jemand. »Verdammt noch mal. Sag mir, wo diese Schafe sind?« Der Mann hatte sein Bajonett aufgepflanzt und stach dem Bauern mit der Spitze etwa ein Inch tief in den Arm; dann drehte er die Waffe in der Wunde um. Diesmal kam zwar ein Stöhnen von den Lippen des Gefangenen, sonst aber war nichts zu verstehen. »Das reicht«, griff Godinot ein; ihm wurde übel. »Wir nehmen ihn mit. Bringt ihn her.« Irgendwer fesselte dem Mann die Hände auf dem Rücken zusammen; ihn hinter sich herzerrend kletterten sie den Pfad wieder bergauf. Das Gelände war hier dermaßen unübersichtlich und dicht bewachsen, daß sie zum Rest des Bataillons nicht wieder aufschließen konnten, und nur mit Schwierigkeiten fanden sie den Weg über den Hügel zurück ins Dorf. Traurig starrte der alte Mann auf die Verwüstungen, die die Invasoren dort angerichtet hatten. Der Kompaniefeldwebel, Adjutant Doguereau, war erfreut, sie wiederzusehen. »Ein Gefangener, Sergeant? Hervorragend! Er wird uns erzählen, wo er seine Lebensmittel versteckt hat.« »Also mir hat er nichts sagen wollen«, sagte Godinot. Doguereau sah hinunter auf den alten Mann, der vor Godinots Füßen zusammengebrochen war. Dort, wo er den Stich des Bajonetts erhalten hatte, tropfte noch immer Blut von seinem Ärmel. »Ach wirklich?« antwortete Doguereau. »Ich denke, mir wird er es schon sagen. Mir und Sergeant Minguet.« 106
Adjutant Doguereau war in Ägypten dabeigewesen und wußte, wie man Gefangene zum Sprechen bringen konnte. Sein dunkles Gesicht verzog sich zu einem bitteren Grinsen. »Bringt ihn in die Arrestzelle, und sagt dann Sergeant Minguet, er soll sich dort bei mir melden.« Sergeant Godinot erfuhr nie, was Adjutant Doguereau und Sergeant Minguet in jenem Raum eines der Bauernhäuser, der als Arrestzelle diente, mit dem alten Mann anstellten. Ebensowenig wie irgend jemand sonst, denn Doguereau schickte die beiden einsitzenden Soldaten weg, bevor er ans Werk ging. Das Bataillon hörte nur die schrecklichen Schreie des alten Mannes, die fast so klangen wie die Schreie eines kleinen Kindes. Später ließ Doguereau Sergeant Godinot mit einem Arbeitstrupp antreten. Als er aus dem Arrestgebäude herauskam, zog er den alten Mann hinter sich her. Der Gefangene konnte sich nur mit Mühe auf den Beinen halten, dennoch führte er sie zum Dorf hinaus auf die Felder, wo er in einer Ecke auf einen Unkrauthaufen zeigte. »Hier graben«, befahl Doguereau. Der Trupp machte sich an die Arbeit und räumte das Unkraut zur Seite. Darunter befand sich ein Brett; als sie es hochstemmten, hatten sie einen regelrechten Schatz vor sich: Der trichterförmige Silo zu ihren Füßen war bis zum Rand gefüllt mit Unmassen von Mais; als sie anfingen, den Mais beiseite zu schaufeln, fanden sich darunter auch noch Steinkrüge mit Olivenöl. »Bringt das ganze Zeug zum Regimentsstab«, ordnete Doguereau an und rieb sich dabei die Hände. »Und was soll mit dem Gefangenen geschehen, mon adjudant«, fragte Godinot. Der arme alte Mann lag mit 107
tränenüberströmtem Gesicht neben der Silogrube. »Sollen wir ihn laufenlassen?« »Nein, auf gar keinen Fall. Schafft ihn zurück in die Arrestzelle. Er wird uns wohl noch mehr zu sagen haben, wenn ich mich noch einmal mit ihm beschäftige.« Doch der alte Mann sollte keine anderen Nahrungsmittelverstecke mehr verraten; noch in derselben Nacht erhängte er sich in der Zelle. Die Stimmung im Bataillon hob sich. Nicht nur hatte man eine Tonne Mais und gallonenweise Olivenöl gefunden, eine andere Einheit hatte beim Durchsuchen des Hügelgeländes auch noch vier Stück Vieh aufgetan, die in einer Schlucht versteckt gewesen waren; von dem Hirten allerdings, der auf die Tiere aufgepaßt haben mußte, hatte man keine Spur entdecken können. Alles in allem würde der Proviant für die 500 Mann etwa eine Woche reichen; dafür war der Preis eines Toten und zwei in einem Hinterhalt auf dem Hügel verwundeten Männer nicht zu hoch gewesen.
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12. Während der nächsten Tage ließ Adjutant Doguereau das Dorf und die Felder von Arbeitstrupps nach weiteren Verstecken absuchen. Jeder Misthaufen wurde auseinander gepflückt und jeder Felsbrocken umgedreht, die Fußböden der Bauernhäuser aufgerissen und die Feldränder abgegangen – überall wurde herumgestöbert, doch ohne Erfolg. Als die Vorräte erneut zur Neige gingen, gab Doguereau den Befehl, einen weiteren Gefangenen zu machen. Dazu allerdings hatte man auf dem Hügel bereits mehrere Stoßtrupps vergeblich eingesetzt; offenkundig waren die Bauern, die sich dort verborgen hielten, inzwischen zu schlau geworden, denn bislang hatte man ihr Hauptversteck noch nicht ausfindig machen können. »So geht es also nicht«, befand Adjutant Doguereau. »Wenn wir einen Mann in unsere Gewalt bringen wollen, müssen wir uns etwas anderes einfallen lassen. Ich befehle daher: Heute nacht rücken kleine Truppen zu fünf oder sechs Mann auf den Hügel aus, um sich dort zu verstecken. Und ich sage euch voraus, ehe noch der Morgen graut, ist uns jemand in die Hände gefallen. Strengt euch an!« So kam es, daß Sergeant Godinot gegen Mitternacht mit einem kleinen Trupp den Hügel hinaufkletterte. Möglichst leise schlichen sie den Weg entlang; als sie nahe bis an den felsübersäten Gipfel herangekommen waren, gingen sie im Unterholz in Deckung. Dichter Regen fiel diesen Abend – man hatte den Eindruck, es regnete jetzt immer –, und ein kalter Wind pfiff. In der 109
Dunkelheit drängten sich alle zusammen, um sich aufzuwärmen; aus Furcht, gehört zu werden, wagte niemand ein Wort zu sagen. Alle diese Männer waren miteinander befreundet – Godinot und seine besonderen Vertrauten Fournier, Dubois, Lebrun und Bernard; dazu noch aus dergleichen Einheit Catrin und Guimblot. Als der Morgen dämmerte, zeigte sich, daß Godinot in der Dunkelheit möglicherweise nicht das günstigste Versteck gewählt hatte. Als Hinterhalt eignete sich der Platz kaum, da man von hier aus nicht den ganzen Ziegenpfad überblicken konnte, und auch Deckung war nicht ausreichend vorhanden. Godinot hatte eher an eine Wegekreuzung gedacht, die ihm eine größere Chance verschaffen würde, einen Fang zu machen. Also sammelte er seine Leute wieder um sich und folgte dem Pfad weiter; jeder Mann mußte dabei gebückt gehen, um die Deckung nicht zu verlassen, und sich so leise wie möglich den Hang hinaufzubewegen. Nach einiger Zeit hatten sie den Hügel überschritten, ohne etwas gesehen oder gehört zu haben. Es war sehr schwierig, einen geeigneten Hinterhalt zu finden. Immer mehr beschlich sie jetzt das ungute Gefühl, von einem Verrückten losgeschickt worden zu sein – obwohl sie sehr wohl wußten, daß sich auf dem Hügel zwanzig weitere Trupps befanden und es schon einen ausgesprochenen Glücksfall bedeutet hätte, wenn sie gleich am ersten Tag einen Gefangenen machten. Sie waren eben junge französische Soldaten, und es ging ihnen noch die Geduld ab, sich im eisigen Regen auf den Boden zu pressen und auf ihre Chance zu warten; ihnen lag mehr, auf den Beinen zu bleiben und diese Chance zu suchen. Das aber konnte möglicherweise böse Folgen nach sich ziehen. Denn auf dem Hügel befanden sich noch andere Männer, die mit den Wegen und dem Gelände 110
viel besser als sie vertraut waren und die sich dazu noch weitaus leiser und schneller bewegen konnten. Die Franzosen waren gekommen, um einen Hinterhalt zu legen, statt dessen marschierten sie nun selbst in einen. Für den Rest seines Lebens überkam Sergeant Godinot Scham, wenn er sich daran erinnerte – mit welcher Einfalt er seinen Trupp in den Tod geführt hatte und in welche Panik er im Augenblick der Gefahr geraten war. Ein hoher, abgeplatteter Felsbrocken hatte den Pfad überragt, und von diesem Felsen war der Tod über sie gekommen. Eine Gewehrsalve löste sich mit betäubendem Krachen, Pulverrauch stieg auf, und durch den Rauchvorhang stürmte der Gegner auf sie zu. Rechts und links neben Godinot stürzten seine Männer zu Boden. Irgend jemand schrie. Besonders zwei Eindrücke brannten sich dabei in Godinots Erinnerung ein – zum einen, wie Guimblot einen Schwall von Blut auf seine Füße erbrach; und zum anderen die wilde Attacke des Gegners mit dem grünen Engländer an der Spitze, den aufblitzenden Bajonetten und dem wirbelnden Qualm. Jemand machte kehrt und lief davon. Auch Godinot flüchtete den Pfad hinunter. Als er losgelaufen war, hatte ihn Panik überwältigt, und so stürzte er immer schneller werdend davon, stolperte über Steine und zerriß sich an den Dornen die Uniform. Wie ein Verrückter rannte er hügelab und schüttelte seine Verfolger ab; schließlich wurde er langsamer, bekam etwas Luft und konnte wieder einen klaren Gedanken fassen. Dubois war bei ihm. Stupide wiederholte er dauernd, daß er verwundet sei – eine Kugel hatte seinen Arm glatt durchschlagen. Einen Augenblick später tauchte der wild mit seiner Muskete herumfuchtelnde Fournier auf. 111
»Ich hab wieder auf ihn geschossen«, rief er aufgeregt, »und ihn verfehlt. Der Kerl ist schwer zu treffen.« »Wo sind die anderen?« fragte Godinot. Die Antwort wußte er schon im voraus. Er fragte nur, um irgend etwas zu sagen. »Alle tot«, antwortete Fournier. »Bernard hat einen Herzschuß abbekommen. Und Guimblot...« »Ich hab Guimblot gesehen«, schnitt ihm Godinot das Wort ab. Betroffen sahen sie einander an. Godinot fühlte sich beschämt, derart in Panik geraten zu sein. »Da kommen sie wieder!« schrie Dubois und zerrte Godinot am Arm. Irgendwo im Unterholz hatte ein Ast geknackt, und das Geräusch löste bei ihnen erneut Panik aus – Schuld daran war womöglich der verwundete und heftig zitternde Dubois, denn Panik ist bekanntlich eine ansteckende Krankheit. Sie rannten über den Hügel davon und hetzten blindlings den Pfad entlang, bis Dubois vom Blutverlust ohnmächtig wurde. Jetzt erst verbanden sie ihn und brachten ihn ins Dorf zurück. Dort erwartete Sergeant Godinot ein ausgesprochen unerfreuliches Gespräch mit seinem Hauptmann, dem er erklären mußte, wie es dazu hatte kommen können, daß mehr als die Hälfte seines Trupps gefallen war. Entschuldigungen für eine Niederlage gelten nicht beim Militär – nur der Sieg entschuldigt alles. Als jedoch auch die übrigen Trupps nach und nach aus dem Gebirge zurückkehrten, stellte sich heraus, daß auch sie Verluste gehabt hatten. Allein aus Dubois' Kompanie mußte zahlreiche Verwundete zum Feldscher gebracht werden; und zwischen den Felsen waren noch eine ganze Reihe Toter zurückgeblieben. Zudem hatten verschiedene Männer den Engländer in der grünen Uniform gesehen. 112
Mehrfach war sogar auf ihn geschossen worden, ohne ihn jedoch zu treffen. Am Abend trat Fournier auf Sergeant Godinot zu. »Ich will etwas Geld haben, Sergeant«, sagte er. »Geben Sie mir welches.« Sergeant Godinot vermochte nicht so recht einzusehen, wozu man Geld hier draußen brauchen könnte. »Machen Sie sich darüber mal keine Gedanken«, antwortete Fournier. »Geben Sie mir Geld.« Godinot gab diesem verrückten Einfall nach und zog zwei oder drei Kupfermünzen aus der Tasche – das würde wohl für etwas Schnaps reichen, wenn es nur Schnaps zu kaufen gäbe. Fournier schleuderte die Münzen beiseite. »Ich will richtiges Geld«, drängte er. Jetzt erst verstand Godinot, was er wirklich wollte – Silber. Das Wort dafür ist im Französischen gleichbedeutend mit dem für Geld. Godinot kramte einen spanischen Taler hervor, eine von insgesamt vier Münzen, die er für den Notfall in sein Hemd eingenäht hatte. Fournier wog das Geldstück in der Hand. »Ich will noch einen Taler haben, Sergeant«, bettelte er. »Bitte geben Sie mir noch einen.« Irritiert blickte Godinot ihn an und tat mit einem gewissen Widerwillen, worum er gebeten worden war. Erst als er später am Abend Fournier mit einem eisernen Löffel und einer Kugelgußform am Feuer sitzen sah, verstand er halbwegs, was Fournier vorhatte: Er goß aus dem Silber Gewehrkugeln, um sicherzugehen, daß er den Engländer beim nächsten Mal auch treffen würde. Von den anderen Männern am Feuer ließ sich Fournier dabei nicht zuschauen. So machten sie ihre Scherze über den allgemeinen Mangel an Munition und Fourniers 113
Eifer, Ersatz zu beschaffen. Daß er Silber schmolz, konnten sie allerdings nicht ahnen, und ließen ihn beim Arbeiten bald in Ruhe. Denn das Gießen von Kugeln war ein durchaus verbreiteter Zeitvertreib – Männer, die mit ihren Schießkünsten unzufrieden waren, fertigten sich oftmals eigene Kugeln, um an Munition zu kommen, die brauchbarer war als die offiziell verteilte. Richtig nervös wurde Sergeant Godinot jedoch erst, als der Schütze Fournier beim Antreten am nächsten Morgen fehlte. Desertiert konnte er nicht sein, das war jedermann klar – niemand würde zu den Portugiesen überlaufen; und um sich zu den Engländern durchzuschlagen, hätte er zuerst die Stellungen der halben französischen Armee überwinden müssen. Sergeant Godinot konnte seinem Hauptmann also nur berichten, was er von Fourniers Absichten wußte; im übrigen war er der Meinung, daß Fournier irgendwo da draußen auf dem Hügel sein mußte und versuchte, den grünen Engländer zu erschießen. Der Hauptmann zuckte bloß mit den Schultern in der Hoffnung, Fournier werde irgendwie lebend zurückkehren. Es sollte nicht so kommen. Voller Sorge wartete Godinot mehrere Tage auf ihn, aber er tauchte nicht wieder auf. Godinot bekam nie heraus, was mit ihm wirklich geschehen war. Damit war der Fünfte aus der kleinen Gruppe von Freunden gefallen – Boyel hatte es zuerst erwischt, Godron als zweiten; Lebrun und Bernard waren in dem Hinterhalt vor ein oder zwei Tagen getötet worden; und nun blieb auch noch Fournier verschwunden. Nur Dubois war übriggeblieben – mit einem Loch im Arm. Ihn besuchte Sergeant Godinot am Verbandsplatz des Bataillons, nachdem er einen Tag zuvor die Erlaubnis dazu beim Oberst eingeholt hatte. 114
»Morgen marschieren wir nach Santarem ab«, berichtete Godinot. »Wer ist wir?« »Wir alle. Du und ich. Wir sollen uns als Zimmerleute oder Seilemacher oder Bootsbauer betätigen – dafür jedenfalls wurden Männer angefordert.« »Wer hat das getan?« »Na, das Hauptquartier. Der Oberst hat heute morgen bekanntgegeben, daß alle Männer, die was vom Zimmern, Bootsbau, Seilemachen oder von Schmiedearbeit verstehen, dem Adjutanten gemeldet werden müssen. Da habe ich dich und mich gemeldet. Ich habe noch nicht mal was anderes als die Wahrheit sagen müssen. Denn als ich ihm erzählt habe, daß meinem Vater ein Drittel der Chantier Naval gehört hat und daß wir beide unser halbes Leben auf kleinen Booten im Hafen von Nantes zugebracht haben, hat er unsere Namen gleich aufgeschrieben. Morgen sollen wir uns in Santarem melden.« »Santarem?« fragte Dubois etwas unsicher. »Santarem liegt 20 Kilometer den Fluß runter«, antwortete Godinot. »Bei Gott, Mann, kannst du dich nicht mehr erinnern, daß wir dort durchgekommen sind?« Aber seit er durch die Einberufung vor einem Jahr – er war damals erst siebzehneinhalb gewesen – von zuhause weggeholt worden war, hatte Dubois durch zu viele Orte marschieren müssen, um sich auch nur an die Hälfte davon noch erinnern zu können. »Morgen muß es deinem Arm also besser gehen«, sagte Godinot. »Wegen einer halben Kugel darfst du nicht so lange krank bleiben.« Das Geschoß, das man aus dem Arm von Dubois herausoperiert hatte, war nur eine halbe Musketenkugel 115
gewesen – augenscheinlich sägten die Portugiesen ihre Kugeln entzwei, damit die Chance größer wurde, etwas zu treffen. »Es geht mir schon besser«, sagte Dubois. »Ab übermorgen bin ich wieder für leichten Dienst tauglich geschrieben. Glauben sie, in Santarem werden wir mit Essen versorgt?« »Es wird ihnen nichts anderes übrigbleiben, wenn wir was arbeiten sollen«, antwortete Godinot. Beide sahen sich an. Nahrungsmittel waren im Bataillon wieder knapp geworden – an diesem Morgen hatte es nur einen Liter Maisbrei für jeden gegeben. »Die Widerlinge vom 2. Korps müssen sich wohl dazu bequemen, etwas von dem Rindfleisch abzugeben, das sie sich im Gebiet jenseits der Straße beschafft haben.« Jedermann im Bataillon glaubte fest daran, das 2. Korps veranstalte in seinem Requirierungsgebiet jeden Tag Gelage mit Rindfleisch – eine grotesk falsche Vermutung. Dubois schmatzte mit den Lippen. »Rinderbraten«, murmelte er, »mit fetter Soße.« Er sprach die Worte mit derselben Ehrfurcht aus, mit der er einst über Kaiser Napoleon geredet hatte. Adjutant Doguereau hatte bereits die meisten der Bewerber für den Einsatz in Santarem ausgesondert. Nach dem Regimentsbefehl war er von der Hälfte der Männer im Bataillon mit den tollsten Geschichten über Kenntnisse als Zimmermann oder Seiler bestürmt worden. Alle wollten sie so rasch wie möglich weg vom Bataillon, dem öden Dasein in den beengten Unterkünften, dem dauernden Hunger und den nicht endenwollenden, ergebnislosen Gefechten mit den Partisanen oben auf dem Hügel. Die unglaublichsten Lügen hatten sie vorgebracht über ihre Erfahrungen im Umgang mit Booten und ihre 116
Fähigkeiten als Schmied. Aber Adjutant Doguereau hatte diese Burschen, die vor kurzem noch hinter dem Pflug gegangen waren oder einen Bauernkarren gelenkt hatten, nichts vormachen können. Schließlich traten unter dem Befehl von Sergeant Godinot nur 30 Mann an und erhielten den Befehl, auf der Landstraße nach Santarem zu marschieren. Santarem war eine langgestreckte und verwinkelte Stadt mit weißen, hohen Häusern, eingezwängt zwischen die Straße und den Fluß. Als sie in den Ort einmarschierten, wies kein Anzeichen auf normales Leben hin – alle Bewohner waren bereits vor Wochen geflohen. Um so betriebsamer ging es auf der Hauptstraße zu, wo Gruppen von Männern überall an der Arbeit waren; die aus roter Wolle geknüpften Schulterstücke der Pioniertruppe beherrschten dabei die Szene. Dann erkannten sie den weißhaarigen alten General Eble, einen überaus populären Soldaten, der mit seinem Stab im Schlepptau steifbeinig die Hauptstraße entlangging. Ein Sergeant der Sappeure übernahm sie schließlich und brachte sie zu ihrer Unterkunft – einem großen Speicher direkt am Flußufer. »Hier werdet ihr Blaugesichter die nächsten Monate zubringen«, brüllte der Sergeant von den Sappeuren. »Und hier werdet ihr auch arbeiten. Bei Gott, hart arbeiten!« »Was für eine Arbeit ist das überhaupt?« fragte Godinot. »Wir schlagen eine Brücke über den Fluß. Auf Pontons. Und wenn wir damit fertig sind, bauen wir noch eine. Das macht dann zwei.« Godinot blickte durch das offene Eingangstor des Speichers hinaus auf den Anlegekai, an dem der Fluß breit und grün vorüberrauschte. Zwei Pontonbrücken 117
über diesen reißenden Fluß zu schlagen, die dazu noch fest genug sein mußten, um Artillerie zu tragen, würde ein schweres Stück Arbeit werden. »Ja, schaut euch das nur gut an«, sagte der SappeurSergeant. »Laut Plan brauchen wir 200 Schwimmpontons. Viele davon mit vier, einige nur mit zwei Grundankern. Dazu kommen noch zehn Kilometer Tau für die Anker und den Fahrdamm. Die Gesamtlänge des Damms für beide Brücken beträgt eineinhalb Kilometer. Und das alles aus stabilem Holz.« »Liegen denn Bauholz, Grundanker und alles andere schon bereit«, fragte Godinot ein bißchen fassungslos. »Nein«, antwortete der Sergeant knapp. »Aber in der Stadt gibt es eine Reihe schöner Häuser. Wir reißen sie ab und benutzen die Stützbalken. Und die Nägel. Nägel fehlen uns nämlich auch. Bevor wir allerdings anfangen können, die Häuser abzureißen, müssen wir uns erst mal das Werkzeug dazu selber bauen. Das haben wir nämlich auch nicht – abgesehen von ein paar Schmiedehämmern. Aber an den Balkonen ist genug Eisen dran. Daraus können wir uns Hämmer, Sägen, Äxte und Breitbeile machen. Natürlich haben wir auch keinen Hanf für die Haltetaue. Allerdings gibt es hier drei Speicher, die bis oben hin voll sind mit Wollballen. Wir müssen ausprobieren, ob es auch Wollseile tun – und wenn das nicht hinhaut, versuchen wir es mit Tauen aus Leinen, Heu oder Stroh, oder wir knoten jedes noch so kleine Stückchen Schnur zusammen, das sich in den Unterkünften findet. Natürlich gibt es auch keinen Teer, um die Pontons abzudichten. Ich glaube, General Eble hat sich noch keine Gedanken über die Probleme mit dem Teer gemacht. Klar, wir haben Olivenöl. Ist hier jemand, der weiß, wie man einen haltbaren Anstrich aus Olivenöl machen kann? Sieht nicht so aus. Da unten auf 118
der Straße haben sie schon mal ein paar Versuche angestellt. Wenn ihr eure Nasen in den Wind haltet, könnt ihr sie vielleicht riechen.« Von den Zuhörern war die lange Ansprache des Sappeur-Sergeanten mit kühler Schweigsamkeit verfolgt worden. Französische Soldaten finden bei weitem nicht so viel Gefallen daran, spontan ihre Meinung zu sagen, wie etwa ihre Gegner von jenseits des Kanals. Das ganze Gerede vom Brückenbau aus Hauspfosten, um damit über einen Fluß zu kommen, der eine halbe Meile breit war, mußte ihnen allzu unglaubwürdig erscheinen. Der Sergeant von den Sappeuren wußte das nur zu genau, konnte aber nichts anderes dagegen unternehmen, als das Thema zu wechseln. »Es ist jetzt fünf Uhr«, sagte er. »Zu spät, um heute noch etwas zu tun. Melden Sie sich morgen früh um fünf Uhr mit Ihren Leuten zum Dienst, Sergeant.« Rasch brachte noch Godinot jenes Thema zur Sprache, das ihnen am meisten am Herzen lag. »Was ist mit der Essensausgabe, Sergeant?« fragte er. »Essensausgabe? Essensausgabe!? Heißt das, ihr Blaugesichter wollt was zu essen? Ich weiß wirklich nicht, warum ihr überhaupt nach Santarem gekommen seid. Lauft zum Quartiermeister und seht zu, ob er noch etwas hat. Die Tagesrationen sind schon vor einer Stunde ausgegeben worden.« »Was gab es denn, Sergeant?« fragte Dubois. »Mais«, antwortete der Sappeur-Sergeant. »Unreifen Mais. Ein Pfund pro Mann. Wurde vor einer Stunde verteilt. Vielleicht ist noch was übrig, aber da hab ich so meine Zweifel.« Zufälligerweise hatte der Sergeant von den Sappeuren nicht recht. Jeder Mann in Sergeant Godinots Trupp erhielt das ihm zustehende Pfund Mais. Alles, was ihnen 119
jetzt noch zu tun blieb, war, das Getreide so gut es eben ging zu zerstoßen und daraus über einem Feuer, für das sie das Holz noch irgendwo stehlen mußten, einen Brei zu kochen. Ein kümmerliches Gericht für Männer, die harte körperliche Arbeit leisten sollten.
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13. Das Leben unter den Partisanen auf dem Felshügel am Fluß wurde außerordentlich schnell zur Routine. Zeit ihres Lebens waren die Bauern an dauernde harte Arbeit gewöhnt und übernahmen begeistert alle anstehenden Aufgaben – nichts zu tun, verdarb ihnen nur die Laune. So schoben sie ohne Widerspruch Wache auf dem Bergrücken und mühten sich ab, die Felshöhle am Fluß derart zu vergrößern, daß sie Platz für alle bot. Aufgabe der Frauen war es dagegen, auf das Vieh im Gebirge aufzupassen und es immer wieder auf neue Weiden zu treiben – magere Weiden zwar, aber ausreichend, um das Vieh gerade am Leben zu erhalten. Streit zwischen den Leuten kam angesichts der dauernden Bedrohung durch einen französischen Überraschungsangriff gar nicht erst auf. Alles wurde sachlich und mit klarem Verstand betrieben. Wenn Gewehrfeuer auf dem Bergrücken anzeigte, daß ein Angriff bevorstand, wußte jedermann genau, was zu tun war: Die kleine Schafherde wurde hinunter zum Fluß getrieben und dann Stück für Stück auf den Rücken der Männer und Frauen über die geheime Furt zu dem kleinen Strandstück vor der Höhle getragen. Das größere Vieh versteckten die Frauen in abgelegenen Felsspalten, wo man es notgedrungen unbewacht zurücklassen mußte, weil auch die Weiber Schutz in der Höhle suchten. Bewaffnet mit ihren Musketen erstiegen die Männer schließlich den Hügel, um sich dem Feind zum Gefecht zu stellen: Für all das war reichlich Zeit vorhanden, denn die Franzosen kamen 121
auf den steilen Zugpfaden und im dichten Unterholz nur langsam voran; zwischen den ersten Warnschüssen und dem Auftauchen der Franzosen an jeder beliebigen Stelle, an der sie gefährlich werden konnten, vergingen oft Stunden. Der allererste Gegenangriff, unternommen nur wenige Tage nach der Ankunft der Franzosen, hatte vielleicht den größten Erfolg gezeitigt: Kurz nach Tagesanbruch waren sie durch einen Musketenschuß alarmiert worden. Dodd hatte nach seinem Gewehr gegriffen und war zusammen mit Bernardino zu dem hohen, abgeplatteten Felsen auf der Hügelkuppe geeilt, den die Bauern den »Tisch« nannten. Von dort aus hatte er einen guten Überblick auf das, was weiter unten vorging. Die üblichen Angriffsvorbereitungen waren im Gang – vier Marschkolonnen arbeiteten sich auf schwindelerregenden Ziegenpfaden durch das Unterholz den Hügel hinauf. Dodd konnte die einzelnen Kolonnen bei ihrem langsamen Marsch bergauf deutlich ausmachen, wenn sie eine nach der anderen durch eine Bodenwelle sichtbar wurden. Jeweils eine Kompanie bildete eine solche Kolonne, und selbst auf diese Entfernung konnte er in der klaren Luft erkennen, daß die eine Kolonne die Bärenfellmützen der Infanterie trug und die andere die Federbüsche der voltigeurs – »kleine Bommelchen« nannte er sie bei sich. Die beiden übrigen Kompanien des Bataillons blieben zur Sicherung des Befehlsstandes zurück. Auffallend war, daß der Vormarsch der Angreifer nur langsam vorankam, dauernd mußte haltgemacht werden, damit die Vorhut nicht den Kontakt zur Kolonnenspitze verlor. Das verschaffte den drei Wachtposten, die Alarm gegeben hatten, die Möglichkeit, auf andere Wege auszuweichen und aus der Entfernung auf den Bandwurm aus Soldaten zu 122
schließen, der sich den Hang hinaufquälte. Dodd und sein halbes Dutzend Leute fanden so ausreichend Zeit, sich einen Plan zurechtzulegen. Sie schlichen den Kamm entlang und erreichten die Flanke der einen Kolonne, die sie durch heftiges Gewehrfeuer endgültig zum Stehen brachten. Gleichwohl war es ein Tag der Verluste geworden. Die restlichen Kolonnen hatten sich in kleinere Trupps aufgelöst, die über die ganze Hügelkuppe verteilt waren – so weit verteilt jedenfalls, wie das zwölf kleineren Trupps auf einem ausgedehnten und von Schrunden durchfurchten Gipfelplateau überhaupt möglich war. Einer dieser Trupps mußte auf das Vieh gestoßen sein, jene vier Zugochsen, die vor dem Dorfpflug gegangen waren, bevor die Franzosen auftauchten. Vermutlich hatte ein weiterer Trupp auch Miguel aufgestöbert – er wurde jedenfalls vermißt. Vielleicht war er schon tot, und sein Leichnam lag irgendwo da draußen im Gebirge. Niemand wußte, was aus dem guten alten Miguel geworden war, und am Abend beweinten ihn die Weiber in der Höhle heftig – wie es schien, sogar mit größerer Inbrunst, als die Männer den Verlust der Zugochsen bejammerten. Den ganzen nächsten Tag suchten sie den Hügel nach Miguel ab, ohne eine Spur von ihm entdecken zu können; erst am Abend kehrte einer der auf dem Gebirgskamm postierten Männer mit Neuigkeiten über ihn zurück. Er hatte beobachtet, wie Miguel aus dem Dorf getragen und nahe den Feldern begraben worden war. Daß es sich um Miguel gehandelt habe, war sicher – selbst auf die große Entfernung hatte er ihn erkennen können. Die Franzosen mußten ihn ins Dorf gebracht und dort ermordet haben. Erneut brach unter den Weibern Wehgeschrei aus. Gegen Ende seines Lebens 123
hatte Miguel ein einsames Leben geführt, denn seine Frau war gestorben und seine Söhne hatten sich freiwillig zur Armee gemeldet. Aber im Dorf war jeder mit jedem verwandt, seit Generationen hatte man immer wieder untereinander geheiratet, selbst wenn der nahe Verwandtschaftsgrad das unstatthaft erscheinen ließ (was in solch abgelegenen Dörfern allerdings nichts Ungewöhnliches war). Und so wurde Miguel jetzt von lauter Kusinen, Nichten und Schwiegertöchtern beweint. Die zweite Neuigkeit der Wachtposten auf dem Hügel ging dagegen in der allgemeinen Trauer fast unter – die Franzosen hatten das Lebensmittelversteck in Miguels Erdsilo entdeckt. Gleichwohl blieb Miguels Tod nicht lange ungerächt. Eines Morgens kam Bernardino aufgeregt zu Dodd und den anderen gelaufen und führte sie zum »Tisch«, wo sie sich sorgfältig versteckten. Weiter unten im Tal sah man ein halbes Dutzend Männer den Pfad heraufkommen. Tief gebückt bewegten sie sich vorwärts und befleißigten sich dabei einer derart angestrengten Vorsicht, daß Bernardino einen verstohlenen Lacher nicht unterdrücken konnte, als er auf sie zeigte: Es war einfach zu komisch, wie umsichtig sie dahinschlichen und dabei keine Ahnung hatten, daß sie beobachtet wurden. Dodd selbst legte den Hinterhalt: Er berechnete die ungefähre Marschrichtung des kleinen Trupps und eilte dann mit seinen Leuten den Hang hinauf an eine Stelle, wo sie die Ankunft des Gegners abwarten konnten, ohne selbst gesehen zu werden. Auf dem Bauch liegend legte er das Gewehr schußbereit vor sich, und die anderen machten es ihm nach. Als die Franzosen dann auf dem Weg schon deutlich zu erkennen waren und sich auch in Schußweite befanden, drehte er sich um und starrte 124
seine Männer derart finster an, daß sie ihren augenblicklichen Impuls unterdrückten und die Gewehre nicht abfeuerten. Statt dessen warteten sie geduldig auf eine günstigere Gelegenheit, die sich nach Dodds Einschätzung bald ergeben mußte. Die auf eine Entfernung von zehn Yards abgegebene Salve und der unmittelbar darauffolgende Angriff mit Dodd an der Spitze hatten durchaus Wirkung gezeigt: Drei Mann waren tot, ein weiterer verwundet – Pedro hatte ihm die Kehle in einem Augenblick durchgeschnitten, als ihm Dodd gerade den Rücken zuwandte –, und die Überlebenden hatten sich auf dem Ziegenpfad aus dem Staub gemacht, als sei der Teufel persönlich hinter ihnen her. Dodd wäre es lieber gewesen, wenn alle getötet worden wären, aber sieben Männer durch eine Salve aus nur sieben Musketen selbst auf nur zehn Yards Entfernung treffen zu wollen, war mehr, als man füglich erwarten konnte – gleichwohl war es schade, denn Dodd konnte sich sehr gut die demoralisierende Wirkung auf das Bataillon vorstellen, wenn eine ganze Abteilung einfach spurlos verschwand. Eine Verfolgung hatte er untersagt und Bernardino zurückgerufen, der auf dem Pfad den Flüchtenden hinterherlaufen wollte. Es war sinnlos, wie verrückt auf dem Hügel herumzurennen, wo man möglicherweise noch auf andere Feinde stieß. So etwas konnte nur gefährlich werden. Statt dessen tat Dodd das einzig Vernünftige, indem er seine Leute auf den »Tisch« zurückbeorderte, um von dort aus das Hügelgelände im Auge zu behalten und nach weiteren Trupps abzusuchen. Als er nichts entdecken konnte, schickte er Späher los, um den Feind aufzuspüren. Auf diese Weise konnten sie den Tag über noch zwei weitere kleine Gruppen ausfindig machen; 125
lautlos durch das Unterholz schleichend, brachte Dodd seine Leute jedesmal in Angriffsposition, aber keine der Attacken war mehr so erfolgreich wie die erste – die Salve hatte die Franzosen gewarnt, und nun war es unmöglich geworden, nahe genug an sie heranzukommen. So blieb ihnen nichts anderes übrig, als die Franzosen auf dem Rückmarsch ins Dorf in ein langgezogenes Scharmützel zu verwickeln, bei dem reichlich Schießpulver verbraucht und nur wenige Leute verletzt wurden – ein paar Portugiesen allerdings trugen Fleischwunden davon. Alles in allem aber war es ein siegreicher Tag gewesen: Das französische Vorhaben, kleine Trupps im Schutz der Dunkelheit auf dem Hügel einzusetzen, war zunichte gemacht worden. Dazu besaß nun jeder einzelne Mann auf dem Hügel eine gute französische Muskete mit Bajonett und Munition, die man den Getöteten abgenommen hatte. Am nächsten Tag kam es zu einem rätselhaften Zwischenfall, den Dodd niemals richtig verstehen sollte. Er war am späten Nachmittag gerade auf der Hügelkuppe unterwegs gewesen, Bernardino unmittelbar hinter sich, als er plötzlich den Luftzug einer Kugel ganz nah an seinem Gesicht spürte und zugleich aus dem Gebüsch zu seiner Rechten das Krachen eines Musketenschusses hörte. Augenblicklich warf er sich hin und starrte angestrengt in die Richtung, aus der der Schuß gekommen war. Eine kleine Pulverdampfwolke, die noch im Gezweig der Büsche hing, verriet ihm, wo sich jener Schütze befinden mußte, der ihn nur knapp verfehlt hatte. Dodd wußte allerdings nicht, ob er es mit nur einem Mann oder 20 zu tun hatte. Also kroch er in Deckung hinter einen Felsen und richtete sein Gewehr
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vorsichtig in etwa auf jene Stelle, an der sich der Gegner versteckt haben mußte. Wie eine Schlange kroch Bernardino derweil den Pfad hinauf – vielleicht hatte er vor, den Gegner an der Flanke zu umgehen oder den Angriff der anderen Hügelverteidiger anzuführen, die durch den Schuß zweifellos bald angelockt werden würden. Dodd beobachtete die Umgebung über den Lauf seines Gewehrs. Rasch hatte er eine Bewegung im Gebüsch ausgemacht. Er wußte, was sich dort tat – dieses Spielchen hatte er schon oft mitgemacht: Irgend jemand versuchte, seine Muskete neu zu laden – eine verteufelt schwierige Sache, wenn man am Boden lag und versuchte, in Deckung zu bleiben. Dodd gab sich Mühe, aus den Bewegungen auf die Lage von Kopf und Füßen des nachladenden Mannes zu schießen. Dann zielte er genau dazwischen, schoß und warf sich augenblicklich wieder hinter seinen Felsen. Kein Schuß antwortete. Auf dem Bauch liegend robbte sich Dodd von dem Felsen in Richtung des Pfades, bis er nach etwa 20 Yards eine Erdsenke erreicht hatte, in der er fremden Blicken entzogen war. Hier konnte er, auf dem Rücken liegend, seine Waffe nachladen. Glücklicherweise klemmte die Kugel diesmal nicht, sondern rutschte den Lauf glatt hinunter bis auf den Pfropfen. Die Waffe neben seinen Kopf gelegt, rollte er sich auf den Bauch und legte wieder an. Dann kroch er weiter zu einem anderen Felsbrocken, von dem aus er das Gebüsch übersehen konnte, auf das er geschossen hatte. Er drückte das Gewehr an die Schulter und zielte, konnte aber keine weitere Bewegung mehr ausmachen. Angespannt lauschend erfaßten seine Ohren nur das Geräusch, wie jemand weiter hinter ihm durch das 127
Gebüsch schlich. Es war ohne Zweifel Bernardino – das Rascheln kam aus seiner Richtung. Dodd verhielt sich ganz ruhig. Alle seine Sinne waren aufs äußerste angespannt. Aufmerksam beobachtete er das undurchdringliche Gestrüpp auf irgendein Lebenszeichen der Feinde – sie mußten ja keineswegs alle dicht beisammen gelegen haben und krochen jetzt vielleicht schon aus allen Richtungen auf ihn zu. Mit eiserner Ruhe lag er still. Die Anspannung war so groß, daß seine Ohren nachgerade zuckten, als ein Fehltritt Bernardinos etwas Lärm verursachte. Nach schier endlos langer Zeit tauchte im Gebüsch rechts von ihm auf einmal das Oberteil eines englischen Infanterietschakos auf: Bernardino versuchte den uralten Trick, seine Kopfbedeckung mit einem Stock hochzuhalten, um das feindliche Feuer auf sich zu ziehen. In diesem Fall war das keine schlechte Idee, wußte Dodd doch nun genau, wo sich Bernardino befand. Mit dem Wissen, daß diese Flanke gesichert war, konnte er nun eigene Schritte wagen. Er löste den Hahn seines Gewehrs – Dodd war ein viel zu umsichtiger Soldat, um mit einer gespannten Waffe im Unterholz herumzukriechen – und begann, sich langsam vorwärts zu bewegen. Fest auf den Boden gepreßt, arbeitete er sich auf Zehen und Ellbogen durch das Gestrüpp; jedes Inch, das er vorankam, bedeutete dabei eine ungeheure Anstrengung. Schließlich konnte er seinen Gegner sehen – oder zumindest einen Teil davon. Denn zu erkennen war nur ein Stück von einer Gamasche und der Ausschnitt einer extrem verdreckten weißen Hose. Ganz langsam veränderte er seine Position, aber auch danach war von seinem am Boden ausgestreckten Gegner nicht mehr zu erblicken. Sorgfältig zielte er auf das Hosenbein und 128
schoß. Dodd war sich sicher, getroffen zu haben; bevor ihm der Pulverdampf die Sicht nahm, meinte er sogar, eine plötzliche Bewegung des Beins wahrgenommen zu haben. Als er jedoch näher hinsah, hatte sich nichts gerührt. Vorsichtig zog er sich von jener Stelle zurück, von der aus er den Schuß abgegeben hatte; dann brachte Dodd noch einmal das eines Schlangenmenschen würdige, äußerst schwierige Kunststück zustande, am Boden liegend nachzuladen. Danach kroch er in einem enger werdenden Halbkreis wieder vorwärts. Mit ausgestrecktem Arm reckte er seinen Ladestock, auf den er seine Uniformmütze gesetzt hatte, hoch über das Gebüsch. Kein Schuß wurde darauf abgegeben, dafür antwortete nach einiger Zeit Bernardino von rechts auf das Signal. Es konnte kein Zweifel bestehen, sie hatten beide Flanken des Gegners im weiten Bogen umgangen. In der Nähe jener Stelle, von der aus geschossen worden war, konnte sich also niemand mehr befinden – wie viele Männer es auch gewesen sein mochten. In Dodd begann sich ein Verdacht zu regen, aber er war viel zu mißtrauisch und gelassen, um sein Leben bei dem voreiligen Versuch zu riskieren, diesen Verdacht zu untermauern. Also schlich er, wenn auch angestrengt und mühsam, weiter vorwärts; bedächtig robbte er durch das Gestrüpp und wechselte alle paar Yards seine Richtung, um nicht über einen hervorstehenden Kiesel kriechen zu müssen, der ihn womöglich ein oder zwei Inch nach oben gedrückt hätte. Schließlich erreichte er die Deckung des Gegners und fand seinen Verdacht bestätigt. Die ganze Zeit über war hier nur ein einzelner Mann gewesen, und Dodd hatte ihn bereits mit dem ersten Schuß getötet. Die Kugel war in der Leistengegend eingedrungen und hatte die Hauptarterie im Oberschenkel durchschlagen; binnen 129
zwanzig Sekunden mußte der Mann gestorben sein. Wie schlafend lag er inmitten einer großen Lache aus geronnenem Blut auf der linken Seite. Nur ein paar Tropfen Blut waren dagegen aus einer zweiten Wunde am Knie ausgetreten, die ihm erst nach dem Tod beigebracht worden sein konnte. Bernardino, der ein paar Sekunden später eintraf, fand es außerordentlich belustigend, daß sie derart viel Zeit und Energie darauf verschwendet hatten, einem Toten hinterherzujagen. Zugleich aber zeigte er sich auch beeindruckt von der Tatsache, daß Dodd den Mann mit zwei Schüssen zweimal getroffen hatte – und das beide Male auf eine Entfernung von mehr als fünfzig Yards. Den Ladestock hielt der Tote noch in der rechten Hand; ein eindeutiger Hinweis darauf, daß der Tod ihn beim Nachladen ereilt hatte. Die linke Hand dagegen war zur Faust geballt. Als Bernardino ihn auf den Rücken drehte, um seine Taschen zu durchsuchen, fiel etwas aus dieser Hand – jene Kugel, die er gerade hatte in den Lauf stecken wollen. Sie besaß nicht die normale, langweilig-graue Färbung; eher schien sie zu glänzen und wie mit Eis überzogen zu sein. Dodd hob sie ohne Eile auf. Die Kugel hatte nicht das übliche Gewicht und schien auch nicht aus Blei zu bestehen. Daß sie aus Silber gemacht sein könnte, schoß Dodd zwar durch den Kopf, glauben aber mochte er daran nicht. Eine Kugel aus Silber war jenseits seiner Vorstellung, und so kam er schließlich zu der Überzeugung, daß den Franzosen wohl die Munition knapp wurde, und sie deshalb Kugeln aus irgendwelchem Altmetall gießen mußten. Mit einer müden Handbewegung warf er die Kugel ins Gebüsch. Die Angelegenheit aber gab noch mehr Rätsel auf: Der tote Mann mußte sich hier schon eine ganze Weile 130
versteckt gehalten haben – wahrscheinlich sogar seit der Dämmerung des vorangegangenen Tages. Mit Sicherheit hatte er dabei mehrfach die Gelegenheit gehabt, auf andere Vorbeikommende das Feuer zu eröffnen, bevor Dodd aufgetaucht war. Ein Grund allerdings, warum sich der Mann ganz allein in feindliches Gebiet gewagt hatte und dann ausschließlich daraufgewartet hatte, auf Dodd zu schießen, war schlechterdings nicht einzusehen. Dodd mußte das unverständlich bleiben, denn von dem alten Aberglauben hatte er noch nie gehört, daß man zum Töten einer hochgestellten Persönlichkeit oder eines mit diabolischen Kräften begabten Menschen eine silberne Kugel verwendete. Und in aller Bescheidenheit hätte er sich nicht im entferntesten auch nur vorzustellen gewagt, welch ungeheure Bedeutung er in der verwirrten Fantasie des armen Tournier bekommen hatte. Schließlich gab Dodd das Herumrätseln auf, nachdem er zu dem Schluß gekommen war, die Sache habe für sein Wohlergehen und das seiner Leute keine Bedeutung. Soweit er das beurteilen konnte, schien auch niemand sonst noch einen Gedanken an die Angelegenheit zu verschwenden. Ein weiterer Franzose war eben tot und damit wieder ein kleiner Schritt auf dem richtigen Weg getan. Der Tod dieses Franzosen war nicht mehr interessant, jetzt konnte es nur noch darum gehen, den Tod des nächsten in Angriff zu nehmen. So verging Tag um Tag. Unverändert drängte sich das Bataillon in den überfüllten Bauernhäusern und Schuppen im Dorf, und unverändert auch hungerten und froren die Portugiesen im Gebirge. Meistens ging Tag und Nacht ein wolkenbruchartiger, alles durchdringender Regen nieder, dazu pfiff ein eisiger Wind; die geringe Betriebsamkeit des Bataillons erklärte 131
sich größtenteils aus diesem Wetter. Immer wieder auch brach Hunger im Dorf aus, öfter aber noch auf dem Hügel. Dodd vermutete inzwischen, die Franzosen wollten so lange bleiben, wo sie waren, bis der Mangel an allem Lebensnotwendigen sie endlich vertrieb. Es war also ein Wetthungern und er wollte, daß seine Seite am längsten aushielt. Das durch die Feuchtigkeit bereits teilweise verdorbene, gleichwohl unersetzliche Mehl und Korn wurde darum mit nachgerade religiösem Eifer gehortet. Darum auch hatte man als erstes die fünf Kühe geschlachtet und verzehrt – ihre Fütterung bereitete Schwierigkeiten, und dauernd bestand zudem die Gefahr, daß sie dem Feind bei einem neuerlichen Angriff in die Hände fielen. Dann hatte man die Schafe gegessen, angefangen mit jenen Tieren, die an Unterernährung oder Schwäche eingegangen waren. Die ausschließliche Fleischkost aber machte die Portugiesen unruhig – sie waren noch nie große Fleischesser gewesen. Lautstark verlangten sie nach Brot, ein Wunsch, der ihnen von Dodd mit eiserner Miene abgeschlagen wurde; unterstützt wurde er dabei von der alten Maria, die für das Lebensmittellager am hinteren Ende der Höhle verantwortlich war. Sie schien vernünftiger zu sein als die anderen und beantwortete alle Bitten um Brot oder in Öl gebackenen Kuchen mit einem bestimmten »Nao, nao«. Aus dem näselnden Tonfall sprach dabei ihre ganze Verachtung für die männliche Hälfte der Menschheit und deren Beitrag zum allgemeinen Wohlergehen, angefangen von der Hausarbeit bis hin zur Planung eines Feldzuges – obwohl im Falle dieses Krieges die beiden Beiträge nicht so deutlich voneinander unterschieden werden konnten.
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Natürlich ahnten die armen Bauern für ihre Zukunft das Schlimmste voraus: Ihre Felder blieben unbestellt, ihre Häuser wurden zerstört und jetzt waren sie auch noch gezwungen, die Mittel für ihren Lebensunterhalt zu verzehren, ohne daß auch nur ein Samenkorn übrigblieb, aus dem später wieder etwas wachsen konnte. Die etwa 20 kranken und hungernden Schafe, die zweimal täglich über die geheime Furt getragen wurden, stellten nun ihren einzigen verbliebenen Besitz dar; ging auch der noch verloren, hatten sie nichts mehr. Dann würden sie verhungern müssen – ob die Franzosen nun abrückten oder blieben. Doch abgesehen von ein paar nebensächlichen Fragen konnte man darüber nicht diskutieren, denn eine grundlegende Tatsache ließ sich nicht bestreiten: Lieferte man den Franzosen die Lebensmittel ab, war die Aussicht umzukommen ungleich größer als hier im Gebirge zu bleiben und Hunger zu leiden. An das Schicksal, das Miguel ereilt hatte, erinnerte sich jedermann nur zu gut. Inzwischen verstand Dodd schon ein bißchen von dem, was um ihn herum geredet wurde. Dabei mußte er sich die Sprache so aneignen wie ein kleines Kind, das die ersten Worte lernt. Wenn Dodd etwa ein Substantiv und ein Verb benutzte und daraus einen Satz bildete, hatte er von diesen drei Begriffen nicht die geringste Ahnung; denn was »Substantiv«, »Verb« oder »Satz« bedeutete, wußte er nicht. Ohne lesen oder schreiben zu können, bereitete ihm das Lernen so beträchtliche Schwierigkeiten. In gewissem Sinne fiel er auf den Entwicklungsstand eines 18 Monate alten Kleinkindes zurück – er bekam zwar das meiste von dem mit, was man ihm sagte, zum Antworten aber hatte er nur eine kleine Auswahl von Substantiven und Verben zur Verfügung, die auch nicht im entferntesten zueinander 133
passen wollten. Gleichwohl litt sein Ansehen nicht unter den Albernheiten, die er vorbrachte; wer wie er derart erfahren war im Umbringen von Franzosen, würde sich in den Augen der Bauern niemals lächerlich machen.
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14. Von den wenigen Aktivitäten im Dorf, in dem das 4. Bataillon in Ruhestellung allmählich verrottete, entging den scharfäugigen Spähern auf dem Hügel kaum etwas. Die Wachposten sahen alles: Etwa die weiter betriebene, aber zumeist erfolglose Suche auf den Feldern nach Nahrungsmitteln; oder wie kleine Gruppen von stets bewaffneten und wachsamen Männern Brennesseln und eßbares Unkraut einsammelten, um ihre dürftigen Rationen aufzubessern. Jedesmal meldeten die Späher weiter, wenn ein kleiner, unwilliger Versorgungstrupp vom Stab beim Bataillon eintraf – was aber nicht oft vorkam. Und sie wußten Bescheid, wenn Krankheiten den ausgemergelten Truppen zu schaffen machten, denn es entging ihnen auch nicht, wie sich die Kranken zum Lazarett schleppten und wie die Toten zur Bestattung weggeschafft wurden – ein Anblick, der ihnen Freude bereitete. Es konnte kein Zweifel bestehen, als Folge des wochenlangen Aufenthalts im Freien und der schlechten Ernährung war die Ruhr ausgebrochen. Als sie Dodd die Krankheit mit weitausholenden, lebhaften Gesten schilderten, nickte er grimmig. Kein lebender Soldat, der mit der Ruhr nicht schon irgendwie zu tun gehabt hatte. Bernardino aber grinste nur breit, als er vom Kamm des Hügels aus mit einer Handbewegung den riesigen Umfang der Bataillonslatrinen umschrieb, die andauernd von Soldatenmassen bevölkert waren. Dodd blieb natürlich nicht lange verborgen, daß die Franzosen dort unten über keinerlei Arzneimittel verfügten; ebensowenig wie die gesamte französische 135
Armee, die in Unterkünften rund um Santarem zusammengepfercht war. Aussicht auf Nachschub mit Medikamenten bestand nicht. Denn die 150 Meilen Gebirgsstraße zwischen den Franzosen und der Frontlinie in Spanien wurden von Horden hungernder Freischärler blockiert, die Wellington auf die Beine gebracht hatte. Nicht ein Brief – geschweige denn eine Nachschubkolonne – war zu den Franzosen durchgekommen, seit sie vor drei Monaten mit dem Vormarsch begonnen hatten. Während der ganzen Zeit, bei Belagerungen, Schlachten und zahllosen unentschiedenen Scharmützeln, hatten sie sich nur von dem ernähren können, was das Land hergab – ein Land zudem, das von Natur aus arm war und das sich größtenteils unbebaut vor ihnen ausdehnte. Nur einmal war es ihnen gelungen, Nachrichten von sich nach Frankreich zu übermitteln – der Bote hatte von 600 Mann eskortiert werden müssen, die sich auf der Landstraße Yard um Yard vorgekämpft hatten; dabei war die Hälfte der Soldaten am Wegesrand tot zurückgeblieben. Selbst Dodd, der die militärischen Fähigkeiten der Franzosen durchaus zu schätzen wußte, konnte sich nur über die verzweifelte Lage wundern, in die sie geraten waren. Wovon Dodd allerdings keine Vorstellung hatte, war die eiserne Entschlossenheit des kommandierenden Marschalls; noch nie war ihm etwas über die Belagerung von Genoa zu Ohren gekommen, bei der eben dieser Marschall die Stadt mit Truppen verteidigt hatte, die als Tagesration nur ein halbes Pfund Haarpuder erhielten, während sich die Gefangenen gegenseitig auffraßen, weil man ihnen überhaupt nichts zu essen gegeben hatte. Niemand hätte geglaubt, daß der Marschall tatsächlich versuchte, diese Heldentat zu wiederholen, daß er dabei so lange aushalten würde, bis 136
30 000 Mann an Seuchen gestorben waren, und man derart geschwächt nicht länger einer englischen Armee entgegentreten konnte, die sich zu einem Ausfall bereit machte. Im übrigen vermochte Dodd nicht einzusehen, warum sich die Engländer nicht endlich rührten. Denn von hoher Politik verstand er nichts, und so hatte er auch keine Ahnung von jener Kabinettskrise in England, durch die womöglich die Opposition an die Macht kommen konnte – was die sofortige Abberufung Wellingtons aus seiner uneinnehmbaren Stellung zur Folge haben würde. Ebensowenig war er zunächst in der Lage, die strategische Gesamtsituation zu verstehen oder auch nur die übergeordneten militärischen Gründe für das unbedingte Verharren auf den Positionen entlang des Tejo zu begreifen. Einen gewissen Einblick in die eigentliche Ursache all dieser Vorgänge erhielt er erst, als er vom Fluß her Geschützdonner vernahm. Obwohl weit entfernt, war der Lärm doch deutlich zu hören. Dodd, der in der Dämmerung gerade auf einem Hang des Hügels unterwegs war, als das ferne Donnern an sein Ohr drang, machte halt und lauschte mit gespannter Aufmerksamkeit. Angesichts der Bedeutung, die dieses Donnern für ihn haben konnte, schlug sein Herz heftiger. Mit Sicherheit wurden schwere Geschütze abgefeuert. Eine regelrechte Schlacht fand zwar wohl nicht statt – dafür waren nicht genug Kanonen im Einsatz. Auch um eine Belagerung konnte es sich nicht handeln, dazu wieder feuerten die Geschütze zu ungleichmäßig. Allein, daß Kanonen schossen, aber war für Dodd bereits ungeheuer wichtig, denn es bedeutete, daß die Franzosen in nicht allzu großer Entfernung mit feindlichen Einheiten in Berührung gekommen waren. Jeder Gegner der Franzosen aber war Dodds Freund. 137
Wahrscheinlich handelte es sich um Briten oder Portugiesen, auf jeden Fall aber um reguläre Truppen – das Vorhandensein von Artillerie bewies es. Wenn er sich nur zu ihnen durchschlagen konnte – bald wieder wäre er bei seinem Regiment, seinem eigentlichen Zuhause. Die Pflicht jedes guten Soldaten besteht nun einmal darin, unbedingt Verbindung zu seinem Regiment zu halten. Er lauschte wieder auf den Geschützdonner. Es wurden keine Salven abgegeben, deutlich aber waren einzelne Schüsse voneinander zu unterscheiden. Dank seiner Erfahrung konnte er aus der Lautstärke in etwa die Entfernung abschätzen. Ganz sicher rührte der Donner nicht von den englischen Stellungen her – das Geschützfeuer mußte ein gutes Stück näher liegen. Was aber befand sich bloß ein Dutzend Meilen weiter unten am Fluß? Der einzige Ort von einiger strategischer Bedeutung, der ihm einfiel, hieß Santarem; ganz sicher allerdings war er sich nicht, wie weit entfernt Santarem nun wirklich lag. Er drehte sich zu Bernardino um. »Santarem?« fragte er. »Wo?« Es dauerte einen Moment, bis Bernardino dahintergekommen war, was man in fragte. Dann aber gab er die richtige Auskunft. »Fünf«, sagte er und hielt dabei fünf Finger hoch. Fünf portugiesische Meilen waren zehn Meilen oder ein bißchen mehr; der Geschützdonner kam also mit Sicherheit aus Santarem. »Wir gehen«, ordnete Dodd mit Bestimmtheit an. Er schlug die Richtung zur Höhle ein, um für den Ortswechsel Vorbereitungen zu treffen. Die Neuigkeit, daß ihr Anführer vorhabe, nach Santarem zu marschieren, rief bei den Bewohnern der Höhle unterschiedliche Reaktionen hervor: Einige 138
wollten ihn begleiten, andere wieder bedrängten ihn, doch zu bleiben. Dodd überging ihre Einwände mit ein paar Anordnungen: Sie mußten hier aushalten, denn noch waren Lebensmittel zu bewachen und das Bataillon in Schach zu halten. Zudem wußte er, daß es gefährlich werden würde, die französischen Stellungen zu überwinden. Wo ein oder zwei Mann vielleicht durchkamen, mußte ein Trupp von einem Dutzend Männer mit Sicherheit auffallen. Natürlich würde er Bernardino mitnehmen – Dodd konnte sich einen derart gefährlichen Fußmarsch quer durch Portugal ohne Bernardino nicht mehr vorstellen; sollten sie auf andere portugiesische Partisanen treffen – was sehr gut möglich war –, würde er ihm außerordentlich nützlich sein, um sich verständlich machen zu können. Dodd packte seinen Vorratsbeutel voll mit ungesäuertem Brot, das er von einem Stapel in der Höhle nahm, den Maria in einer Reihe von Backtagen mit einem improvisierten Ofen und einem getarnten Feuer allmählich angesammelt hatte. Er warf sich seinen Mantel über, überprüfte Munition und Feuersteine und füllte seine Feldflasche am Fluß. Jetzt war er marschbereit. Auch Bernardino war fertig, er hatte alle seine Vorbereitungen einfach wie ein Affe nachgeahmt. Gemeinsam gingen sie los – zunächst den steilen Pfad bergauf, dann über den felsigen Hügel und von dort aus weiter bis zu jener kleinen Straße, die vom Dorf zur großen Überlandstraße führte. Äußerste Vorsicht war hier geboten: Patrouillen, Wachposten oder umherstreifende Einheiten konnten die Straße entlangkommen. Mißtrauisch schlichen sie hinunter an die Straßenböschung und hielten durch den strömenden Regen nach allen Seiten Ausschau. Als sie den Eindruck gewonnen hatten, daß alles sicher sei, 139
stürmten sie die Böschung hinauf, überquerten die Straße und erstiegen den Hang auf der anderen Seite. Eilig kletterten sie weiter, bis ihnen Felsen und Gebüsch wieder einigermaßen Deckung boten. Sie befanden sich jetzt auf dem langgestreckten und flachen Bergrücken, auf dem ihr erstes Gefecht mit dem Bataillon stattgefunden hatte. Bereit, sich beim Auftauchen von Franzosen sofort flach auf den Boden zu werfen, schlichen sie vorsichtig weiter. Doch der strömende Regen bot ausreichenden Schutz, und sie sahen niemanden. Dodd wählte eine Marschroute quer über den Hügelrücken; durch das Buschwerk und die Felsen bahnten sie sich einen Weg, bis sie wieder oberhalb des Tejoufers herauskamen. Dodd wollte sich nicht allzu weit vom Fluß entfernen; nicht so sehr, weil ihnen der Fluß die ungefähre Marschrichtung angeben konnte – die Landstraße auf der anderen Seite des Hügels eignete sich dafür mindestens ebenso gut –, sondern weil sein Instinkt ihm sagte, daß dem Fluß in der gegenwärtigen Lage eine entscheidende strategische Bedeutung zukam. Was wiederum bedeutete, daß alles, was sein Schicksal beeinflussen konnte, im Augenblick mit dem Fluß zusammenhing. Mit starrem Blick sah er, als er mit Bernardino am Ufer entlangging, auf die breiten, grünen Wassermassen, die träge zwischen den Felsen dahinflossen, und auf das Treibgut, das von den Wasserstrudeln herumgewirbelt wurde. Vor einiger Zeit hatte er beobachtet, wie ein britisches Kanonenboot hier vorbeigefahren war. Die Hoffnung, noch einem zu begegnen, aber hegte er nicht. Vermutlich hatten die Franzosen am Flußufer bei Alhandra längst Geschützbatterien aufgestellt, um solche Erkundungsfahrten in Zukunft unmöglich zu machen. Dodd hatte so eine Ahnung, daß der Kanonen140
donner bei Santarem etwas mit derartigen Aktivitäten britischer Einheiten auf dem Fluß zu tun haben mußte. Keine Vorstellung allerdings hatte er, welcher Art diese Aktivitäten sein mochten. Je mehr er darüber nachdachte, um so mehr beeilte er sich, ohne die Vorsichtsmaßnahmen dabei außer acht zu lassen; auch weiterhin bestand unverändert die Gefahr, plötzlich auf den Gegner zu stoßen. Nur die entfernte Aussicht auf eine Gelegenheit, wieder mit seinen Freunden zusammenzukommen, aber erfüllte ihn bereits mit freudiger Erregung. Niemals kam Dodd in den Sinn, daß es für England womöglich von größerem Nutzen war, wenn er hier draußen die Partisanen anführte, als irgendwo mit dem 95. Regiment eine Stellung zu halten. Ein solches Ansinnen wäre ihm freilich recht eigenartig vorgekommen, denn er wußte genau, wo er hingehörte und was seine Pflicht war. England hatte eine Menge Geld und die tiefsten Gedanken seiner Schlauesten Köpfe darauf verwandt, aus ihm einen guten Soldaten zu machen; wäre da nicht der Krieg gewesen, hätte es ihn auch für halb so viel Geld und Schinderei zu einem braven Bürger erziehen können – in diesem Falle aber wäre Dodd der Meinung gewesen, besser überhaupt kein Geld auszugeben. Im Laufe des Tages war das Geschützfeuer weitgehend abgeklungen. Nur gelegentlich noch war etwas zu hören; was immer auch in Santarem vorging, dieser ferne Kanonendonner bestätigte, daß es noch nicht ganz zu Ende war. Erst am späten Nachmittag erreichten sie das Ende des Hügels, wo die Landstraße wieder den Fluß berührte. Hier machten sie halt, um ihr weiteres Vorgehen zu überdenken. Santarem war zwar nicht mehr als vier Meilen entfernt, aber die Hochfläche 141
senkte sich hier fast bis zum Flußufer ab, und zudem lag nur ein kurzes Stück voraus eine weitere kleine Ortschaft an der Straße. Ein Dorf aber bedeutete französische Truppen und damit den Zwang zu größter Vorsicht. Dodd ließ seinen Blick über das Gelände jenseits von Hügel und Fluß schweifen, ohne eine sichere Marschroute für ihr weiteres Vorgehen entdecken zu können. Mit dem überraschten Bernardino dicht hinter sich wechselte er darum auf die andere Seite der Hügelkuppe und beobachtete von dort aus das Gebiet an der Landstraße. Auch hier war keine Möglichkeit zu erkennen, wie sie weiterkommen konnten: Im weiten Umkreis dehnte sich flaches Land, da und dort von Dörfern und Gehöften unterbrochen. Auf den Wegen dazwischen waren an verschiedenen Stellen marschierende französische Einheiten zu sehen. Ohne Zweifel würde es ein schwieriges Unterfangen werden, diese Ebene zu durchqueren. Bernardino tat seinen Unwillen über solche Aussichten lautstark kund: Er war dafür, wieder umzukehren. Ein Mensch, weniger halsstarrig und mit nicht so ausgeprägtem Sinn für militärische Pflichterfüllung wie Dodd, wäre darauf vielleicht eingegangen. Aber die britische Armee hätte sich nie jenen glänzenden Ruf erworben, den sie jetzt besaß, wenn sie immer schon beim ersten Anzeichen von Schwierigkeiten zurückgeschreckt wäre. Und so dachte auch Dodd nicht daran, aufzugeben. Sicher, zunächst schien er ein kurzes Stück zurückzumarschieren, aber das diente nur dazu, einen anderen Weg ausfindig zu machen. Bernardino murmelte denn auch verbittert vor sich hin, als er merkte, daß Dodd keineswegs an Heimkehr dachte. Dodd aber ließ sich von seinem Geschimpfe nicht stören, verstand er 142
doch davon nicht einmal jedes zwanzigste Wort. Etwa eine Meile auf dem Hügel hinter ihnen reichte ein dichtes Wäldchen, das sich weit in die Landschaft ausdehnte, bis unmittelbar an die Straße. Von dessen Rand aus würde man einen Ausblick haben, der die Lage möglicherweise in einem anderen Licht erscheinen ließ. Vorsichtig kletterte Dodd hinunter zur Straße. Als er sich überzeugt hatte, daß kein Franzose in Sicht war, eilte er über die Fahrbahn und verschwand zwischen den Bäumen. Im Inneren dieses Wäldchens begegneten sie dann jenem Mann, der ihnen weiterhelfen sollte. Das Zusammentreffen kam für alle drei Männer völlig überraschend. Vorsichtig hatten sie sich von Baum zu Baum vorangepirscht, dabei angestrengt auf jedes verdächtige Geräusch horchend, als sie einander gleichzeitig am jeweils gegenüberliegenden Rand einer Lichtung erblickten. Alle drei warfen sich sofort in Deckung und griffen instinktiv nach ihren Waffen. Für eine Zehntelsekunde aber hatte Bernardino den Fremden deutlich erkennen können und dabei gesehen, daß er keine Uniform trug. Er rief ihm etwas auf portugiesisch zu und bekam umgehend in derselben Sprache eine Antwort. Von Dodd angestoßen, erhob sich Bernardino daraufhin und trat hinaus ins Freie. Darin lag ein gewisses Risiko, denn ein verfolgter Portugiese würde möglicherweise erst schießen und dann Fragen beantworten. Diesmal aber hatten sie Erfolg: Auch der andere Mann erschien auf der Lichtung, und so konnte ihm Bernardino ihre Lage schildern. Der Fremde war ein gedrungener, kleinwüchsiger Mann mit einem Messer vor dem Bauch und einer Muskete in der Hand; mit argwöhnischem Blick musterte er Dodds kräftige
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Erscheinung, während Bernardino die Anwesenheit des Engländers erklärte. Der Fremde führte sie ein Stück durch den Wald, ließ sich dann auf Hände und Knie nieder und kroch durch eine versteckte Öffnung in das dichtstehende Unterholz. Nach ein paar Yards weitete sich das Gehölz zu einer kleinen Freifläche um den Stamm eines hohen Baums; an diesem Stamm lehnte eine kleine Hütte, deren drei Seitenwände aus Zweigen und Ästen gebaut worden waren. Im Inneren der Hütte lag, von ein paar Stoffresten nur notdürftig bedeckt, ein alter Mann mit wirrem weißen Haar und Bart, der stöhnte und leise vor sich hin murmelte. »Mein Vater«, stellte ihn der Fremde vor. Dann kniete er sich neben die Jammergestalt nieder und versuchte sie etwas bequemer zu betten. Dabei flüsterte er Zärtlichkeiten wie zu einem Weinen Kind. Der alte Mann siechte tödlich an Folgen von Unterernährung oder Verkühlung, Typhus, Pest oder Lungenentzündung dahin – wahrscheinlich jedoch an Lungenentzündung, zumindest nach seiner flachen, stoßweisen Atmung und dem Flattern seiner Nasenflügel zu urteilen. Tränen standen in den Augen des kleinwüchsigen Mannes, als er die Hütte wieder verließ und sein Gesicht Dodd und Bernardino zuwandte; Tränen, die ihm über die Wangen liefen und sich in den dünnen Barthaaren verloren. Bernardino war zu jung und hatte in letzter Zeit vom Krieg zu viel sehen müssen, als daß ihn die Leiden eines alten Mannes noch sehr berührt hätten, der eher heute als morgen sterben würde. Eingehend erläuterte er, daß Dodd dringend nach Santarem wollte, um den Grund für das Geschützfeuer dort herauszufinden. Der gedrungene Mann schüttelte den Kopf und zeigte auf seinen Vater. 144
Er könnte ihn nicht verlassen, erklärte er. Darauf entspann sich auf der kleinen Lichtung eine Diskussion, während es allmählich dunkler wurde und Regenwasser monoton von den Baumwipfeln herabtropfte. Auch Dodd griff in das Gespräch ein. »Ich gehe Santarem«, sagte er. Dann hielt er seine Hand zum Beobachten über die Augen und rief »Bumm, bumm«, weil in seinem schmalen Wortschatz die portugiesischen Begriffe für »Kanone« und »sehen« fehlten. Der kleinwüchsige Mann nickte; Bernardino hatte ihm inzwischen einen angemessenen Eindruck von dem vermitteln können, was der Engländer tun wollte. Aber der Mann wies nur auf seinen Vater und schüttelte den Kopf. Um ihnen als Führer zu dienen, würde er seinen Vater nicht verlassen. Bernardino fragte ihn nun, ob sie denn auch ohne seine Führung bis auf Sichtweite an Santarem herankommen konnten. Darauf antwortete der gedrungene Mann wiederum nur mit einem Schütteln des Kopfes. Unterwegs gab es viele Franzosen. Es war also nahezu ausgeschlossen. Vielleicht könnte er sie nachts hinbringen. Wer sich aber in dem Gebiet nicht bestens auskannte, der brauchte sich erst gar nicht Hoffnungen auf einen Durchbruch zu machen. So blieb ihnen nichts anderes übrig, als auf den Tod des alten Mannes zu warten. Glücklicherweise dauerte es nicht lange – nur 36 Stunden. Dodd und Bernardino halfen dem Sohn beim Begräbnis, wobei Bernardino reichlich mürrisch war und sich soweit wie möglich von der Arbeit zu drücken versuchte. Er hielt das Ganze für überflüssig und nicht für seine Aufgabe. Der untersetzte Mann aber weinte hemmungslos und bejammerte in einem fort den Umstand, daß sein Vater ohne letzte Beichte gestorben war und daß kein Priester ihn zu 145
Grabe trug, was für ihn unzählige Jahre des Fegefeuers zur Folge haben mußte. Auch Dodd ging das nicht mehr zu Herzen. Sein Geschäft war der Tod und davon hatte er in den letzten Jahren reichlich zu Gesicht bekommen. Er nahm an einem Krieg teil, und Krieg ohne Tod war einfach undenkbar. Überhaupt konnte er sich eine Welt ohne Krieg kaum vorstellen, kämpfte England doch, seit er als kleines Kind in einem Röckchen herumgelaufen war. Außerdem verfügte Dodd über viel zu viel gesunden Menschenverstand, um auch nur einen Gedanken an eine derart fantastische Idee wie eine Welt ohne Krieg zu verschwenden. Die aktuelle Aufgabe, Franzosen zu töten, Hungers sterben zu lassen oder mit Seuchen zu malträtieren, nahm ihn da weitaus mehr in Anspruch.
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15. Nachdem sie im Waldboden ein flaches Grab ausgehoben und den Leichnam mit dem weißen Haar ganz mit Erde bedeckt hatten, machten sie sich bei Einbruch der Nacht wieder auf den Weg nach Santarem. Der untersetzte Mann hatte die Wahrheit gesprochen, als er ihnen erzählte, daß sie ohne seine Hilfe nachts den Weg nicht finden würden. Sie robbten über zahlreiche Felder und marschierten im Zickzack durch die regennasse Dunkelheit, indem sie sich jeweils von einem Orientierungspunkt in der Landschaft zum nächsten bewegten – einem Baum etwa oder einem Pflug, der nicht mehr benutzt wurde. An einer bestimmten Stelle ergriff der untersetzte Mann dann besondere Vorsichtsmaßnahmen: In der Dunkelheit sahen sie, wie er sich in einen Entwässerungsgraben neben einem Feld duckte, und taten es ihm nach – der Boden des Grabens war trogförmig befestigt, und so konnten sie sich beim Gehen mit den Füßen auf jeder Seite abstützen. Keine 30 Yards weiter hörten sie, wie eine Streife den Anruf eines Wachposten beantwortete – offensichtlich passierten sie gerade ein Dorf. Nachdem sie eine lange Zeit gewartet hatten, krochen sie weiter. In einiger Entfernung verließen sie dann den Graben, schlichen über das Pflaster der Landstraße und ließen sich in einen anderen Graben gleiten. Kriechend und robbend ging es immer weiter. Sie kamen über ein dicht mit Unkraut bewachsenes Feld, und schließlich hörten sie das Rauschen des nahen Tejo. Wenig später hatten sie die Uferböschung erreicht und konnten weiter unten 147
die dunkle Oberfläche des Wassers erkennen. Sie arbeiteten sich an der Böschung noch ein paar Yards weiter vor, dann gab ihnen ihr Führer ein Zeichen und beugte sich mit äußerster Vorsicht über den Rand des Abhangs. Sie taten es ihm nach, und, angeleitet von seinen geflüsterten Anweisungen und schmerzhaften Stößen mit dem Finger, ließen sie sich unter die Abbruchkante der Böschung gleiten. Das Wasser reichte hier bis auf zehn Fuß an das Niveau des Ufergeländes heran; der höchste Wasserstand des Winters war jetzt erreicht. Jenes senkrecht aufragende Stück der Abbruchkante, das noch im Trockenen lag, war bedeckt von Pflanzen, die zwischen den Felsbrocken mehr schlecht als recht ihr Dasein fristeten – Dodd hielt sie für Myrtensträucher. Sie boten ausreichend Deckung, und hier warteten sie durchnäßt und müde auf die Morgendämmerung. Bernardinos Zähne klapperten wie wild. Am Morgen stieg vom Fluß Nebel auf und ging später in jenen Dauerregen über, der jetzt schon seit Wochen anhielt. Nur gelegentlich klarte der Himmel so weit auf, daß ein guter Ausblick möglich war. Während solcher Schönwetterphasen wurde deutlich, daß ihr Führer gute Arbeit geleistet hatte. Jenseits einer weiten Biegung des Flusses konnten sie die weißen Häuser von Santarem erkennen, die sich entlang den Anlegekais der Stadt erstreckten; auf den Kais selbst herrschte rege Geschäftigkeit. Dann entdeckten sie auf dem anderen Flußufer etwas, das Dodds Herz heftiger schlagen ließ – eine lange Reihe roter Uniformen; das blasse Sonnenlicht wurde von den geneigten Musketenläufen reflektiert. Jenseits des Flusses stand also britische Infanterie – genau dort, wo Dodd vor langer Zeit portugiesische Kavallerie beobachtet hatte. Gleichmäßig zog sich die 148
rote Linie am Ufer entlang flußabwärts und wurde erst durch eine Senke in der Landschaft allmählich seinem Blick entzogen. Man hatte also genug Truppen von der Besatzung der britischen Verteidigungsstellungen abziehen können, um jenseits des Flusses einen schlagkräftigen Kampfverband aufmarschieren zu lassen. Dadurch waren die Franzosen nun gänzlich eingekesselt – auf der einen Seite lagen die englischen Stellungen und die Partisanen, auf der anderen befanden sich der Fluß und die Truppen an dessen jenseitigem Ufer. Das alles erklärte die Kanonade bei Santarem jedoch noch nicht; bis es so weit war, mußten sie noch ein bißchen warten. Wenig später krachten Geschütze auf dem gegenüberliegenden Ufer. Unmittelbar darauf antworteten Kanonen aus Santarem. Dodd starrte angestrengt auf die Flußbiegung, um herauszufinden, worauf die britischen Geschütze zielten. Auf diese Entfernung war es allerdings sehr schwer, Einschläge zu beobachten. Dann entdeckte er etwas anderes. Eine lange Rauchsäule stieg vom Ufer auf, beschrieb einen weiten Bogen über den Fluß und mündete zwischen den Häusern von Santarem. Eine weitere Rauchsäule folgte, dann noch eine, während sich das französische Geschützfeuer verdoppelte. Dodd renkte sich vor Verwunderung fast den Hals aus, bevor er eine Erklärung für diese Erscheinung fand. Raketen! Seit langem schon gab es in der britischen Armee ein oder zwei Raketenbatterien, über die jedermann Witze riß. Raketen waren als Waffe einfach zu unzuverlässig und ausgefallen. Die Wilden konnte man damit vielleicht erschrecken oder... Dodd begann den Grund für ihren Einsatz zu ahnen. In Santarem gab es irgend etwas, was die Engländer unbedingt in Brand 149
setzen wollten. Dieses Etwas konnte man vermutlich vom jenseitigen Ufer aus sehen. Woraus wiederum folgte, daß es sich unmittelbar am Flußufer befinden mußte. Dodd war lange genug Soldat, um sich vorstellen zu können, worum es sich handelte – eine Brücke oder zumindest Baumaterial für eine Brücke, Boote oder Pontons und Holz für eine Fahrbahn. Dodd zupfte an seinem struppigen Bart, der ihm in den letzten Wochen am Kinn gewachsen war, und dachte lange nach. Eine Rakete nach der anderen stieg über dem Fluß auf, während die Geschütze in Santarem versuchten, die Raketenbatterie außer Gefecht zu setzen; zugleich waren die Kanonen auf dem anderen Ufer bemüht, die Artillerie in Santarem niederzuhalten. Plötzlich hörten sie Lärm, der von oberhalb ihres Verstecks kam und sie aufschreckte. Besorgt sahen sie einander an und kauerten sich tiefer in die Myrtenbüsche. Von dem Feld, unter dessen Abbruchkante sie lagen, ertönten Peitschenknallen, das Knirschen von Zuggeschirren und laute Kommandos auf französisch. Dodd wußte genau, was dort vorging, gab aber keinen Laut von sich, um seine Begleiter aufzuklären; selbst wenn er die Sprache so weit beherrscht hätte, um etwas zu sagen, wäre er stumm geblieben. Denn den Lärm, den eine in Stellung gehende Batterie verursachte, kannte er nur zu gut. Bernardino und der gedrungene Mann aber blieben nicht lange ahnungslos. Mit einem infernalischen Krachen eröffneten die sechs Geschütze 50 Yards hinter ihnen gleichzeitig das Feuer. Man hatte sie hierhergeschafft, um die Engländer von der Flanke her zu beharken. Der Pulverdampf von den Geschützen trieb flach über den Boden und wallte auf sie nieder. Nur ihre Beherrschung verhinderte, daß sie husten mußten. Sie hörten die Befehle des Offiziers, mit denen 150
Schußrichtung und Erhöhung der Kanonen korrigiert wurden, und dann dröhnten die Geschütze immer und immer wieder. Dodds Standpunkt lag zu niedrig, um erkennen zu können, worauf geschossen wurde; und nur um das herausfinden zu wollen, würde er sich nicht anstrengen. Hier in ihrem Versteck aber waren sie in tödlicher Gefahr. Also krochen sie weiter durch das Myrtengebüsch und suchten nach einer besseren Deckung. Bernardinos Lippen bewegten sich, als er leise ein Gebet zu sich sprach; eine unsinnige Bemühung, denn dadurch kam zu dem furchtbaren Lärm nur ein weiteres Geräusch hinzu: Trotz seines gesunden Menschenverstandes konnte er einfach nicht einsehen, daß sie durch die entsetzlichen Detonationen allein nicht zusätzlich gefährdet waren. In noch größere Gefahr gerieten sie jedoch ein paar Minuten später, als jemand in einiger Entfernung an die Uferböschung trat und über das Wasser sah. Wie erstarrt lagen die drei zwischen den Sträuchern – ein kurzer Blick des Fremden hätte gleichwohl ausgereicht, sie zu entdecken. Aber er suchte nicht nach Menschen und wäre wohl auch außerordentlich überrascht gewesen, unmittelbar vor den Mündungen seiner Geschütze einen englischen Soldaten und zwei Portugiesen vorzufinden. Er hielt vielmehr Ausschau nach einem Platz, um die Pferde zu tränken. Die unmittelbare Umgebung mit dem zehn Fuß tiefen Steilhang bis zur Wasseroberfläche eignete sich dafür offenkundig nicht. Schließlich wurden die Pferde an einer 300 Yards entfernten Stelle ans Ufer getrieben – was noch immer gefährlich genug, aber nicht zu gefährlich war. Dodd, Bernardino und der kleinwüchsige Mann duckten sich den ganzen Tag über zwischen den Büschen, während die Geschütze immer dann über ihren 151
Köpfen dröhnten, wenn ihr Ziel nicht gerade verdeckt war, die Pferde in der Nähe getränkt wurden und die Raketen ihre Qualmspuren über den Fluß zogen. Soweit Dodd sehen konnte, bewirkten sie nichts. Damit eine Rakete etwas in Brand setzte, während zahlenmäßig starke und wachsame Feuerlöschtrupps bereit standen, war das Zusammentreffen einer weitaus größeren Anzahl günstiger Faktoren nötig, als man jemals erwarten konnte; zudem war nicht damit zu rechnen, daß eine Rakete auch nur auf 100 Yards genau das Ziel traf. Alles in allem wurde nach Dodds Ansicht von den Beteiligten nur Schießpulver verschwendet. Vielleicht kam der befehlshabende Offizier der Raketenbatterie jenseits des Flusses im Laufe des Tages zu der gleichen Ansicht, der Beschuß jedenfalls ließ allmählich nach. Auch die Geschützstellung auf dem Feld oberhalb der drei Männer stellte das Feuer schließlich ein, vermutlich weil der Gegner nicht mehr auszumachen war, und Stille breitete sich erneut aus – unterbrochen nur gelegentlich von plötzlichem Gelächter und Gesprächsfetzen der unsichtbaren Artilleriesoldaten und dem endlosen Gegurgel des Flusses unterhalb von ihnen. Später am Tag erwies sich noch einmal ihr außergewöhnliches Glück: Das Klappern und Knirschen von Zuggeschirren war zu hören, als die Pferde wieder vor die Geschütze gespannt wurden, und später das Knallen von Peitschen und das Geschrei der Mannschaften, als die Tiere angetrieben wurden, mit aller Kraft die Geschütze aus dem Erdreich herauszuzerren, in das sie durch den Rückstoß beim Schießen eingesunken waren. Dann rasselten die Geschütze über das Feld davon, und das Schreien ging in regelrechtes Gebrüll über, als endlich die gepflasterte 152
Landstraße erreicht war; mit wachsender Entfernung aber verstummte bald auch dieser Lärm allmählich immer mehr. Als die Batterie abgerückt war, begann Bernardino mit der Ruhelosigkeit und mangelnden Erfahrung seines Alters ganz selbstverständlich, seine steifgewordenen Glieder zu strecken. Dann fing er an, nach oben zu klettern, um einen Blick über den Rand des Felsabbruchs zu werfen, ob sich noch Feinde oberhalb von ihnen aufhielten, doch Dodd packte ihn an der Schulter und zwang ihn, wieder still zu liegen. Ob der Gegner nun verschwunden war oder nicht, vor Einbruch der Nacht würden sie ihr augenblickliches Versteck sowieso nicht verlassen können. Der Blick über den Felsrand bedeutete dabei nur ein Risiko, das allein eingegangen wurde, um die eigene Neugierde zu befriedigen, und obwohl Dodd genauso gespannt war wie Bernardino, hatte er keineswegs die Absicht, sich einer derartigen Gefahr auszusetzen. Denn die Beruhigung von Verstand und Physis war nach Dodds Überzeugung keineswegs wichtiger als so lange am Leben zu bleiben, wie es der Einsatz nur irgend zuließ – vor allem aus dieser Überzeugung erklärt sich, daß Dodd fähig gewesen war, fünf Feldzüge heil zu überstehen. Für den Rest des Tages verharrten sie bewegungslos im Gebüsch, ab und zu durchnäßt vom niedergehenden Regen. Für ihre Gesundheit mußte das nicht unbedingt Folgen haben – Menschen, die dauernd im Freien leben, verkühlen sich nur selten. Immun gegen Lungenentzündung oder ein rheumatisches Fieber aber waren sie nicht, und in vielen Jahren – sollten sie denn noch so lange leben – würde sie der Rheumatismus plagen und zu Krüppeln werden lassen. Vielleicht war 153
es in 30 Jahren soweit. Männer Anfang der Zwanzig – und das sind fast alle Soldaten – machen sich allerdings nur selten Gedanken über Krankheiten, die sie 30 Jahre später möglicherweise bekommen. Dodd dachte den ganzen Nachmittag über nach, kam aber zu keinem endgültigen Entschluß. In Santarem lagerte Material zum Bau einer Brücke, das die Engländer in Brand zu setzen versuchten; daraus ergab sich für ihn die Aufgabe, es, wenn irgend möglich, selbst in Flammen aufgehen zu lassen. Daran konnte kein Zweifel sein; nicht zu beschäftigen brauchte ihn dabei die Überlegung, ob das Vorhaben, die Brücke zu zerstören, womöglich gar nicht so dringend war – nicht dringender jedenfalls als die ganz generelle Absicht, auf alle Fälle zu vernichten, woran auch immer der Feind gerade mit Eifer baute. Wenn schon Kavallerie, Fußtruppen und Artillerie aufgeboten wurden, um die Brücke niederzubrennen, dann hatte auch Dodd das zu versuchen; die ungelöste Frage im Augenblick war nur, wie das bewerkstelligt werden sollte. Er konnte Santarem deutlich genug sehen, ebenso die hohen Speicher an den Hafenkais. Ein paar tausend Mann lagen dort; nachts würden die Menschen in einer derart vollgestopften Stadt überall auf, in oder unter dem Baumaterial schlafen oder Wache schieben. Nur ungern mußte er sich eingestehen, daß es – soweit er das im Augenblick beurteilen konnte – schlechterdings unmöglich war, in Santarem einzudringen und die Brücke in Brand zu setzen. Ein Mann ohne Uniform konnte es vielleicht schaffen; seine Uniform abzulegen aber würde aus ihm einen Spion machen und ihn damit der Gefahr aussetzen, den Tod eines Spions zu erleiden. Dodd glaubte an die weitverbreiteten und übertriebenen Begriffe von militärischer Ehrenhaftigkeit und weigerte 154
sich darum, eine solche Möglichkeit überhaupt in Betracht zu ziehen – obwohl er nur zu gut wußte, daß ihn die Franzosen auch dann erschießen oder hängen würden, wenn er ihnen derart nahe bei ihren Stellungen in die Hände fallen sollte. Obwohl die Aufgabe im Augenblick reichlich undurchführbar erschien, hörte Dodd nicht ganz auf, darüber nachzudenken. Vielleicht fand sich ein anderer Weg, die Hindernisse zu umgehen. Eine umfassendere Erkundung vom weit vorgeschobenen Rand des Waldes aus, in dem sie ihren gegenwärtigen Führer getroffen hatten, würde möglicherweise neue Erkenntnisse bringen – Dodd konnte sich zwar nicht vorstellen, welche, hoffte aber darauf. Als es zu dunkeln anfing, machte er sich darum mit den anderen auf, um zum Versteck des kleinwüchsigen Mannes zurückzukehren. Im Zwielicht gestatteten sie zunächst Bernardino, seinen Wunsch von vorhin zu verwirklichen und hinaufzuklettern, um über den Felsrand zu spähen. Wie erwartet war das Feld leer und der Weg zur Landstraße frei. Als es schließlich ganz dunkel geworden war, begannen sie dann, ganz steif geworden, mit dem Rückmarsch – über die Felder, durch die Abflußgräben und vorbei an dem Dorf, in dem zu dieser frühen Abendstunde die Lagerfeuer lichterloh brannten. Kurz nach Mitternacht erreichten sie den Waldrand und konnten sich etwas aufwärmen, als sie sich im Eilschritt der Hütte näherten, wo der alte Mann gestorben war. Total müde und hungrig, hatten sie ausgesprochen schlechte Laune. Dodd war enttäuscht über den unbefriedigenden Ausgang seines Spähtruppunternehmens, aber nicht halb so verärgert wie seine Begleiter. Zwei Nächte lang hatten sie nicht geschlafen und einen ganzen Tag denkbar unbequem unter 155
nervenaufreibenden Umständen zubringen müssen, sie waren naß bis auf die Knochen, verdreckt und alles tat ihnen weh. Und das nur, weil er diesen unbegreiflichen Wunsch hatte, Santarem zu sehen – so jedenfalls drückten sie es vor sich selbst aus. Selbst Bernardinos Vertrauen in Dodd war für kurze Zeit erschüttert, hatte er es doch nicht geschafft, den Franzosen durch eine neue, raffinierte Heldentat eine Niederlage beizubringen; Bernardino aber gehörte zu jenen Menschen, die dauernd etwas Neues verlangen. Er schimpfte vor sich hin, als sie sich in der kleinen Hütte zusammendrängten, die ihnen doch keinen absoluten Schutz vor dem Regen bieten konnte. Und er protestierte lautstark, als ihm Dodd Knie und Ellbogen auf der viel zu engen Schlafstatt in die Seite drückte. Um den Protest lange aufrechtzuerhalten aber war er zu müde. Bald daraufwaren alle drei fest eingeschlafen, dicht zusammengedrängt wie die Schweine im Stall und fast genauso schmutzig. Gleichmäßig rauschte der Regen zwischen den Bäumen.
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16. Der diesige Morgen brachte die üblichen drei Problemstellungen des Militärs: Angriff, Verteidigung und Nachschub. Sie teilten den letzten Rest ihres Brotes mit dem kleinwüchsigen Mann – wie er sich in der Wildnis vor ihrem Auftauchen hatte behaupten können, blieb ihnen unklar; vermutlich wohl nur sehr schlecht – und versuchten das weitere Vorgehen zu besprechen. Bernardino war allerdings durch die vorangegangenen Ereignisse derart mißmutig geworden, daß er sich anmaßte, Dodd einen eigenen Plan aufzudrängen: Mit dem kleinen Mann als neuem Rekruten wollte er ins Dorf zurückkehren und dort die Störangriffe auf das Bataillon wieder aufnehmen. Auf dem Hügel gab es zu essen, Freunde und einen Feind, den man attackieren konnte. Hier im Wald aber war nichts. Als Dodd jedoch nur sagte »Santarem sehen« und das stur wiederholte, wurde er regelrecht wütend. Von Strategie verstand er nichts, und die unter Umständen entscheidende Bedeutung des in Santarem lagernden Baumaterials für einen Brückenschlag blieb ihm unbegreiflich. Der kleinwüchsige Mann trug nur wenig zur Diskussion bei. Wenn er jemals Eigeninitiative besessen hatte – wofür es allerdings keinerlei Hinweise gab –, war sie mit dem Tod seines Vaters geschwunden. Er wollte Franzosen töten und war offenkundig bereit, dies unter fremdem Befehl zu tun. So äußerte er auch nichts, als Dodd im Tonfall eines endgültigen Entschlusses noch einmal »Santarem sehen« sagte, aufstand, das Gewehr schulterte und sich in Richtung Waldrand in 157
Bewegung setzte, während Bernardino wütend mit den Füßen aufstampfte. Zuletzt aber schloß sich der murrende Bernardino Dodd doch noch an, und auch der kleinwüchsige Mann kam mit, ohne noch ein Wort zu verlieren. Was man aus der Ferne von der landeinwärts gerichteten Flanke Santarems sehen konnte, war nicht gerade sehr vielversprechend. Eine Festungsmauer umgab auf einer Seite die kleine Stadt, durch deren Tore man sich nur unter größten Schwierigkeiten unbemerkt würde Eintritt verschaffen können. Bernardino wurde vor Nervosität ganz zappelig, als Dodd seine Blicke unentwegt hin- und herwandern ließ und dabei versuchte, dem kleinwüchsigen Mann Fragen zu stellen. Schließlich aber trat ein Zufall ein, der Dodds Pläne auf dramatische Weise verändern sollte und Bernardinos Herz mit Freude erfüllte: Zwischen ihnen und der Stadt erstreckte sich eine halbe bis dreiviertel Meile weit flaches Gelände. Jenseits davon, vor dem Tor am stromaufwärts gelegenen Ende der Stadt, tat sich nun auf einmal etwas, woraus vielleicht auf Aktivitäten von einiger Bedeutung geschlossen werden konnte: Zu erkennen war zunächst nur eine kurze Kolonne ausmarschierender Truppen, gefolgt von einem Wagen – auf diese Entfernung ließen sich zwar keine Einzelheiten ausmachen, aber Dodd war überzeugt, daß es sich um ein Fuhrwerk und nicht um ein Geschütz handelte. Dann kam noch ein Wagen, dann noch einer und noch einer. Wagen auf Wagen schloß sich an, bis Dodd sicher war, daß er nicht bloß eine unwichtige militärische Unternehmung wie etwa einen Versorgungskonvoi oder ähnliches vor sich hatte. In diesem Augenblick wurde ihm klar, daß er herausfinden mußte, was hier vorging. »Gehen zur Straße und nachsehen?«, sagte Dodd. 158
Er machte kehrt und stürmte zurück in den Wald; Bernardino folgte ihm hocherfreut, war dies doch der richtige Weg zurück zum Dorf. So schnell es eben ging, wenn man bei jedem Schritt gewärtig sein muß, auf irgendeine in der Nähe herumstreifende französische Patrouille zu stoßen, liefen sie unter den Bäumen weiter. Selbst hier im Inneren des Waldes war der Lärm der Wagenkolonne auf dem Straßenpflaster noch zu hören – ein fernes Rumpeln, dessen Tonhöhe jeweils um ein oder zwei Noten schwankte, wenn einer der Wagen über einen Graben oder eine Brücke fuhr. Am Ende erreichten sie eine Stelle im Wald, von der aus die Landstraße gut zu überblicken war. Dodd warf sich zu Boden und robbte vorwärts, um hinter dem Stamm eines Baumes hervorzuspähen. Auch die anderen krochen durch den Regen herbei. Die Spitze der Kolonne mit der Vorhut hatte die Stelle bereits passiert – ungleich interessanter aber war, was jetzt kam. Dodd hatte durchaus richtig gelegen, als er vermutete, daß die Franzosen eine Brücke bauen wollten. Die ersten Fuhrwerke sahen seltsam aus, jeweils zwei Munitionswagen der Artillerie waren zusammenmontiert worden. Darauf türmten sich mehrere Pontons, schwere, ungefüge Boote, von denen man immer vier oder fünf Stück ineinander gesetzt hatte. Die Anzahl dieser Fahrzeuge war beträchtlich – eines nach dem anderen rollte vorbei. Dodd fielen dabei besonders die Zugtiere auf – kümmerliche und unterernährte Pferde, deren Rippen aus dem Fell hervorstachen; ein Wunder, daß sie sich überhaupt noch weiterschleppen konnten, von den Lasten, die sie ziehen mußten, ganz zu schweigen. Die französischen Fuhrmänner aber scherten sich herzlich wenig um ihren Zustand und prügelten wie wild auf die 159
armen Tiere ein, die auf dem Pflaster dauernd stolperten und ins Rutschen gerieten. Dodd zweifelte nicht daran, daß noch ein paar Wochen Futtermangel die französische Armee alle Zugtiere kosten würde. Hinter den Fahrzeugen, die mit den Pontons beladen waren, kam zuletzt noch eine lange Reihe von Trainwagen und Bauernkarren, auf denen sich die verschiedensten Ausrüstungsgegenstände zum Bau einer Pionierbrücke häuften: allein vier Fuhrwerke waren mit Seilen beladen und auf nicht weniger als 30 Wagen türmte sich Bauholz. Bevor noch der letzte Wagen vorbeigerollt war, hatte Dodd bereits beschlossen, alles in seiner Macht Stehende zu tun, um den Vormarsch der Brückenbauabteilung zu stören. Er war oft genug als Begleitmannschaft eingesetzt gewesen und wußte so besser als jeder andere, wie wenig man eine auf der Landstraße weit auseinandergezogene Wagenkolonne im Grunde schützen konnte. Und er wußte auch, daß es ebenso wirkungsvoll war, eines der Pferde des Feindes zu töten, wie einen Feind selbst. Er drehte sich zu seinen Begleitern um. »Caballos«, flüsterte er, »Caballos«, und brachte sein Gewehr in Anschlag. Die beiden legten neben ihm an und fast gleichzeitig krachten die drei Schüsse. Ein Pferd aus einem der Sechsergespanne stürzte und verfing sich dabei im Zuggeschirr; ein weiteres Pferd schlug auf drei Beinen aus, offensichtlich war sein viertes gebrochen. Dodd sprang sofort auf und rannte, die beiden anderen unmittelbar hinter sich, zurück in den Schutz der Bäume, wo er ungestört nachladen konnte. »Pferde«, wiederholte Dodd, während er die Kugel in den Lauf stieß. 160
Die beiden anderen nickten. Diese Art der Kriegsführung verstanden sie. Mit Höchstgeschwindigkeit stürmte Dodd ein kurzes Stück durch das Gehölz parallel zur Landstraße, bevor er sich wieder dem Waldrand zuwandte. Die Kolonne war in Unordnung geraten. Das Fuhrwerk, auf dessen Gespann sie geschossen hatten, stand unbeweglich und hilflos da, dahinter staute sich alles. Die Leute auf den Wagen suchten nach ihren Waffen, Männer schrien herum, Pferde brachen aus – überall herrschte das totale Durcheinander, die übliche Folge eines plötzlichen Überraschungsangriffs. Da die Eskorten an der Spitze und den Flanken der Kolonne jeweils noch mehr als eine Meile oder weiter entfernt waren, brauchten die drei zunächst keinen Gegenangriff zu befürchten; hinzu kam noch, daß die Fuhrleute, wie nicht anders zu erwarten, eine übertriebene Vorstellung von der Stärke des Angreifers hatten und im übrigen vollauf damit beschäftigt waren, sich um ihre Gespanne zu kümmern. Ein junger Offizier näherte sich auf der Straße im Galopp der Stockung. Für einen Augenblick richtete Dodd sein Gewehr auf ihn, betätigte den Abzug jedoch nicht, als er sich vorzustellen versuchte, was der Offizier anordnen würde. Mit einem strengen Blick gab er seinen Gefährten zu verstehen, sich ebenfalls zurückzuhalten. Auf Befehl des Offiziers scherte das erste Fuhrwerk hinter dem steckengebliebenen Wagen aus und begann, die Stockung zu umfahren; die übrigen Fuhrwerke schickten sich an, ihm zu folgen. Gerade setzte der erste Wagen zum Vorbeifahren an und stand quer auf der Straße, als Dodd noch einmal schoß. Eine Sekunde später war das Chaos komplett – zwei bewegungsunfähige Fuhrwerke blockierten die schmale Pflasterstraße jetzt völlig. Die Fuhrleute tobten vor Wut, 161
und Pferde schlugen wie wild aus, während Dodd mit einer Eile sein Gewehr nachlud, die er sich in fünf Kriegsjahren antrainiert hatte. Eine dritte Salve fällte schließlich noch ein paar weitere Pferde und vollendete das Zerstörungswerk. In den folgenden hektischen Minuten lud und schoß dann jeder der drei nach eigenem Gutdünken, wobei noch an mehreren Stellen Pferde zu Boden gingen, bis Dodd seine Gefährten dazu brachte, das Feuer einzustellen. Sie waren regelrecht in einen Taumel geraten; um ihre Aufmerksamkeit zu erregen, mußte er sie darum an der Schulter fassen und heftig schütteln. Einige der Männer auf den Fuhrwerken hatten inzwischen ihre Musketen gefunden und schossen nun blindlings in das Gehölz. Kugeln schlugen vereinzelt in die Baumstämme, der eigentliche Grund für Dodds Feuereinstellung aber waren sie nicht. Vielmehr näherte sich ein Trupp Soldaten rasch von der Spitze der Kolonne her, ein weiterer Trupp kam von deren Ende. Sie waren noch ein gutes Stück entfernt, als Dodd, der unbedingt am Leben bleiben wollte, um das Gefecht woanders weiterzuführen, davonlief. Während sie noch außer Atem so durch den Wald rannten, bedauerte Dodd, nur zwei und nicht 30 Mann bei sich zu haben – damit hätte er leichtes Spiel gehabt und die langgezogene, verwundbare Wagenkolonne richtig angreifen können. Drei Mann aber waren dafür einfach zu wenig. Als die Eskorte endlich jene Stelle an der Straße erreichte, von der aus geschossen worden war, machte sie irritiert einen Augenblick halt, denn das Gewehrfeuer hatte aufgehört. Schließlich drangen die Soldaten, wenn auch nicht sehr weit, in das Gehölz vor, vom Feind aber war keine Spur zu entdecken. Sie durchsuchten noch das Unterholz, als den Offizieren auf 162
einmal bewußt wurde, die Wagenkolonne in der Zwischenzeit ohne Bewachung zurückgelassen zu haben – ein ungutes Gefühl beschlich sie, das sich unmittelbar darauf noch verstärkte, als Gewehrfeuer von einer Anhöhe weiter vorne an der Spitze der Kolonne ertönte. Für die Begleitmannschaften wie die Fuhrleute der Kolonne sollte dies ein Tag voller Aufregungen werden: die Eskorte verbrachte einen Gutteil ihrer Zeit damit, die Landstraße meilenweit hinauf- und hinunterzuhetzen und ohne Aussicht auf Erfolg einen Gegner zu jagen, der sich bei ihrer Annäherung stets sofort zurückzog, um irgendwo anders wieder aufzutauchen und die Angriffe fortzusetzen. Selbst wenn man die 300 Mann der Begleitmannschaft entlang der Straße aufgestellt hätte, um jede Stelle unter Kontrolle zu halten, hätten sie nicht nutzloser sein können – auf zehn Yards wäre nur ein Soldat gekommen. Währenddessen bemühten sich die Fuhrleute, die Wagen irgendwie wieder in Gang zu bekommen, indem sie die verletzten Pferde aus den Zuggeschirren herausschnitten und durch Tiere ersetzten, die von den wenigen besser besetzten Gespannen entbehrt werden konnten. Erst als Truppen zur Verstärkung eintrafen, konnte die Situation bereinigt werden. Ein Bataillon – das 4. des 46. Regiments – wurde in den Unterkünften in einem Dorf etwas weiter die Straße hinauf alarmiert, ein weiteres kam aus Santarem, von wo die Kolonne erst vor kurzem aufgebrochen war. Dadurch wurde es dann möglich, Posten in ausreichender Anzahl entlang der gefährlich langen Straße aufzustellen und dabei noch genügend Mann zurückzubehalten, um die Fuhrwerke ohne Gespann aus dem Weg zu schaffen. Natürlich dauerte das eine Weile – am Ende des Tages war die Wagenkolonne genau drei Meilen weit gekommen. 163
Dodd lag mit seinen beiden Begleitern am jenseitigen Waldrand im Deckung, wohin sie sich vor der Verstärkung zurückgezogen hatten, und konnte mit dem Ergebnis des Tages durchaus zufrieden sein – einmal davon abgesehen, daß sie alle drei völlig erschöpft waren und sich kaum noch auf den Beinen halten konnten. Auch seine frühere Autorität war wiederhergestellt. Bernardino etwa freute sich diebisch über ihre Taten: Ungeachtet seiner Erschöpfung brach er dauernd in Gekichere darüber aus, wie sich die in Panik geratenen Fuhrleute wieder sammelten, was für ein Durcheinander in der Kolonne herrschte und wie die Eskorte atemlos hin- und herrannte. 1000 Mann hatte man am Ende aufbieten müssen, um die Fuhrwerke gegen nur drei Angreifer zu verteidigen. Dodd wurde dafür womöglich mehr Bewunderung entgegengebracht, als ihm eigentlich zukam – sowohl Bernardino als auch der kleinwüchsige Mann glaubten fest daran (die Verständigungsprobleme verhinderten zudem eine Richtigstellung der Situation), er habe den Angriff auf die Wagenkolonne von Anfang an geplant, und das gefährliche Spähtruppunternehmen nach Santarem, über das sie zuvor so erbittert geschimpft hatten, sei ein unumgänglicher Teil eben dieses Plans gewesen. Dodds Ansehen stieg dadurch schlagartig. Mehrfach mußten sich Dodd, der davon jedoch nichts verstand, und der desinteressierte kleinwüchsige Mann von Bernardino anhören, was sie tagsüber vollbracht hatten. Aber selbst Bernardinos Aufgeregtheit legte sich nach einiger Zeit und machte Gedanken Platz, die auch Dodds Überlegungen völlig beherrschten – das Problem des Hungers nämlich und die fehlende Aussicht, ihn zu stillen. Gerade war Bernardinos frohe Erregung 164
schlechter Laune gewichen, als sich der kleinwüchsige Mann plötzlich erhob und im Dunkeln zwischen den Bäumen verschwand. Bemardino war zu müde und hungrig, um ihn auch nur zu fragen, wohin er ginge. Dodd schnallte seinen Gürtel etwas enger und versuchte, sich mit dem Gedanken abzufinden, daß es am Abend nichts zu essen und morgen kein Frühstück geben würde. Kaum war er etwas eingenickt, da ließ sich der kleinwüchsige Mann wieder vernehmen, der sie offenbar suchte und mit gedämpfter Stimme nach ihnen rief. Sie antworteten ihm, und schon tauchte er als vager Schatten zwischen den Bäumen auf. Dann drückte er Dodd etwas Feucht-Lauwarmes in die Hände; auch Bemardino schien von ihm auf diese Weise beschenkt zu werden. »Was ist das?« fragte Bernardino. »Vom Pferd«, antwortete der kleinwüchsige Mann, der nie viel Worte verlor. Zum ersten Mal hatte sich einer von Dodds Gefolgsleuten schlauer erwiesen als er selber – ihm waren die Dutzende von Pferdekadavern neben der Landstraße nicht in den Sinn gekommen, aber der kleinwüchsige Mann hatte daran gedacht und den Weg zu einem davon gefunden. Nicht nur das, er hatte auch noch seinen Verstand richtig zu gebrauchen gewußt, nachdem er sein Ziel erreicht hatte: Selbst in der Dunkelheit und dauernd in größter Gefahr, vom umherstreifenden Gegner überrascht zu werden, hatte er daran gedacht, daß es angesichts derart vieler Feinde in der Nähe riskant war, Feuer zum Kochen zu machen; zugleich aber würden sie sich an dem ungekochten Muskelfleisch eines verhungerten Kleppers die Zähne ausbeißen. Also hatte er den Bauch des Pferdes aufgeschlitzt, in den noch warmen Eingeweiden nach 165
der Leber gesucht und davon jenes große Stück abgeschnitten, das ihnen so seltsam vorgekommen war. Dodd hatte schon früher Pferdefleisch gegessen – ohne das zu tun, hätte kein Soldat fünf Feldzüge auf der iberischen Halbinsel überleben können, wo kleine Armeen geschlagen werden, große aber verhungern –, bislang jedoch hatte es wenigstens immer den Anschein gehabt, als sei es zuvor gekocht worden. So hungrig wie heute aber war er noch nie gewesen, zudem war es zu dunkel, um noch erkennen zu können, was man da eigentlich zu sich nahm; und nicht zuletzt führte er bereits seit zwei Monaten das Leben eines Wilden. Also kostete er ein Stück von seinem Batzen Fleisch, biß noch einmal ab und dann immer wieder. Wenig später hatte er im Dunkeln sein Mahl beendet, ebenso wie die beiden anderen. Dank der Tatsache, daß sie alle seit langem ein hartes Leben unter freiem Himmel führten, waren sie mit einer Verdauung gesegnet, die selbst mit rohem Schindmährenfleisch fertigwerden konnte. Danach schliefen sie alle tief und fest, bis Dodd aufwachte und seine Gefährten weckte, besaß er doch die Fähigkeit, zu jeder Nachtstunde wach werden zu können, die er sich vor dem Einschlafen vorgenommen hatte. Bis zur Morgendämmerung waren es noch zwei Stunden, und die beiden fühlten sich wie vor den Kopf geschlagen, trotteten aber hinter Dodd her, als er sich auf den Weg durch den Wald zurück zur Landstraße machte. Dank der Dunkelheit passierten sie die Straße ohne weitere Gefahr und marschierten den Hügel auf der anderen Seite hinauf. Bernardino ging allmählich auf, was Dodd beabsichtigte; vor Freude darüber schlug er die Faust in die offene Hand: Bereits gestern abend hatte die Kolonne jene Stelle hinter sich gelassen, wo 166
der Wald bis an die Straße heranreichte. Jeder weitere Angriff mußte darum von dem Hügel jenseits der Straße erfolgen; eben jenem Hügel, von dem aus sie vor Wochen die Dragoner attackiert und sich mit dem 46. Regiment ihr allererstes Scharmützel geliefert hatten. Doch nichts ist so unsicher wie ein militärischer Plan: Als die Sonne aufging, die Kolonne die Zeltreihen des Nachtlagers auf freiem Feld neben der Straße jenseits des Waldes abbaute und sich zu einem schwerfälligen Zug auf der Landstraße neu formierte, zeigte sich, daß die gestern abend eingetroffene Verstärkung über Nacht geblieben war und sich nun darauf vorbereitete, den Tag über mitzumarschieren. Statt der jeweils knapp 150 Mann, die sich eineinhalb Meilen voneinander entfernt an der Spitze und am Ende der Wagenkolonne befanden, waren nun kampfstarke Abteilungen über die gesamte Länge verteilt. Dodd beobachtete die Kolonne von der Kuppe des Hügels aus und beschloß, nichts zu unternehmen. Die lange Dienstzeit unter einem General, dem noch kein einziges Geschütz im Gefecht abhanden gekommen war, hatte selbst dem einfachsten Soldaten aus den Reihen seiner Armee den Unterschied zwischen einer erfolgversprechenden und einer unsinnigen Operation eingeprägt. Keiner der beiden Gefolgsleute von Dodd widersprach seiner Entscheidung: Ihr Vertrauen in ihn war grenzenlos. Mit lahmen Knochen schleppten sie sich hinter ihm her, als er über die Hügelspitze auf das Dorf zu marschierte. Vielleicht erfüllte Bernardino dabei die Aussicht, in Agostinas Arme zurückzukehren, mit frohen Erwartungen, wahrscheinlich aber war er selbst dafür zu erschöpft. Je mehr sie sich dem Dorf näherten, um so vorsichtiger wurde ihr Vorgehen, bis sie schließlich jene 167
Stelle am Fuße des Abhangs erreichten, von der aus man das zwischen zwei Hügeln liegende Dorf erkennen konnte. Alles sah unverändert aus, nur ein paar Franzosen bewegten sich zwischen den Häusern – Dodd vermutete, daß man die Verstärkung für die Eskorte der Kolonne größtenteils von hier abgezogen hatte. Ein paar Männer waren mit der nie enden wollenden Suche nach etwas Eßbarem beschäftigt – wenn schon nicht nach versteckten Lebensmittellagern, so doch wenigstens nach Brennesseln –, da und dort humpelten ein paar Kranke und Verwundete umher. Auch jenseits des tiefen Tals, auf dem Hang des gegenüberliegenden, steileren Hügels, rührte sich nichts von Bedeutung. Damit allerdings war zu rechnen gewesen: Es entsprach keineswegs den Gepflogenheiten von Partisanen, sich gut sichtbar in der Landschaft zu postieren. Dodd schlug eine andere Marschrichtung ein – weg vom Fluß und hin zu der geschotterten Straße, die sie mit genau derselben Vorsicht kreuzten, mit der Dodd und Bernardino sie fünf Tage zuvor in entgegengesetzter Richtung passiert hatten. Jetzt befanden sie sich in unmittelbarer Nähe ihrer Freunde, und Dodd fühlte sich bei dem Gedanken, sie wiederzusehen, angenehm berührt. Als er die steilen Ziegenpfade hinaufkletterte, legte er darum gehörig Tempo zu – soweit die Steigung dies zuließ und ohne die gebotene Vorsicht zu vernachlässigen, um nicht einer französischen Patrouille oder einem schießfreudigen Spähtrupp der Portugiesen in die Arme zu laufen. Bis sie auf dem Pfad den Gipfel erreicht hatten, trafen sie jedoch keinen solchen Trupp, obwohl Dodd mit Absicht einen Weg gewählt hatte, auf dem sie mit großer Wahrscheinlichkeit auf einen dieser Trupps hätten stoßen müssen. Dodd schnalzte ärgerlich mit der 168
Zunge, als er hier halt machte, um etwas Luft zu schöpfen; daß sie keinem Spähtrupp begegnet waren, schien darauf hinzuweisen, daß die Portugiesen nachlässig geworden waren, seit er sie zur Erfüllung einer gewichtigeren Aufgabe an anderer Stelle verlassen hatte. Selbst wenn sie zu dem Schluß gekommen waren, die Masse des Feindes sei zur Landstraße abgezogen, hätten sie auch weiterhin auf der Hut sein müssen. Dodd sah sich um, aber die Unebenheit des Geländes und der dichte Bewuchs verhinderten einen Überblick. Kräftig ausschreitend überquerte er die Hügelkuppe, stieg in die Senke hinunter und kletterte den nächsten Hang wieder hinauf. Dann aber entdeckten er und Bernardino im gleichen Augenblick etwas, das sie veranlaßte, wie gebannt stehenzubleiben; trotz angestrengter Beobachtung blieb ihnen völlig unklar, was es eigentlich war: Vor ihnen erstreckte sich ein Stück flaches Gelände mit nur wenig überwucherten Felsen und niedrigem Gebüsch, an dessen entgegengesetztem Ende ein dorniger Baum sein Dasein fristete. Die Äste dieses Baums wuchsen nach unten, als wollten sie etwas verdecken, das sich dahinter verbarg. Durch diesen Vorhang aus Ästen erblickten sie nun undeutlich zwei Männer, die seltsam unbeweglich an dem Stamm lehnten. Der eine war mit hängenden Armen merkwürdig nach vorne gebeugt, der andere neigte sich so weit zurück, daß man sich wunderte, warum er nicht zu Boden fiel. Das Ganze war seltsam und unheimlich. Dodd hielt das Gewehr in Anschlag, als er sich, von Fels zu Fels springend, dem Baum näherte. Erst als er fast unmittelbar vor ihm stand, konnte er Einzelheiten erkennen: Die beiden Männer waren mit Bajonetten an den Baum genagelt worden – vermutlich sogar mit ihren 169
eigenen Waffen, denn die Scheiden an ihrer Seite waren leer; wer auch immer das getan hatte, immerhin hatte er noch so viel Mitgefühl besessen, sie danach wenigstens zu erschießen. Dodd betrachtete die Gesichter der Toten. Trotz aller Verletzungen erkannte er sie – es waren Portugiesen, zwei von den Männern, die zusammen mit ihm den Hügel verteidigt hatten. Einer davon war Pedro, der dem Franzosen bei dem Gefecht die Kehle durchgeschnitten hatte. Bernardino, der sich neben Dodd befand, stammelte abwechselnd Flüche und Gebete. Der kleinwüchsige Mann äußerte sich wie üblich gar nicht. Für ihn waren das nur zwei weitere Leichen in einem Land, in dem sich der Tod täglich hunderte holte. Dodd zwang sich schließlich selbst zu dieser Ansicht, obwohl ihn die Sache eigenartig berührte und unter seiner braunen Haut reichlich bleich hatte werden lassen. Dann machte er kehrt und setzte seinen Marsch über den Hügel fort. Zug um Zug offenbarte sich ihnen dabei die ganze Tragödie: In ihrer Abwesenheit war der Hügel im Sturm genommen worden. Den nächsten toten Portugiesen fanden sie auf dem Pfad, der zum Fluß hinunter führte. Und vor dem Eingang zur Höhle hinter der geheimen Furt lag die alte Maria, ebenfalls tot; man konnte sich in etwa vorstellen, was sie mitgemacht haben mußte, ehe sie gestorben war. Was Dodd sich allerdings nicht vorzustellen vermochte, waren alle Einzelheiten der Ereignisse: Nie sollte er etwa in Erfahrung bringen, daß sich der Oberst des Bataillons schließlich zum Eingeständnis seiner Unterlegenheit durchgerungen und zwei Bataillone aus Neys 6. Korps zur Unterstützung angefordert hatte, um den Berg von den lästigen Freischärlern endgültig zu säubern. Nie auch würde sich Dodd jenes Gemetzel 170
ausmalen können, das diese blutrünstigen Männer veranstaltet hatten, nachdem sie bei Nacht aufmarschiert waren, um in der Morgendämmerung überraschend anzugreifen. Und – vielleicht zu seinem Glück – er sollte auch nie erfahren, auf welche Weise man einen der Gefangenen gefoltert hatte, um aus ihm die Lage der geheimen Furt herauszupressen, noch was die brutalen Soldaten mit Agostina und den jungen Mädchen gemacht hatten. Im Laufe des Tages wurde immer klarer, daß der Berg verlassen war. Die Männer und Jungen waren alle tot, Frauen und Mädchen – mit Ausnahme der alten Maria – verschwunden. 1300 Mann, von allen Seiten zu einem konzentrischen Angriff angetreten, hatten das Gebiet leergefegt und nichts Lebendiges zurückgelassen. Dabei konnte man Neys Soldaten noch nicht einmal einen richtigen Vorwurf für das, was sie mit ihren Gefangenen getan hatten, machen. Seit drei Jahren führten sie nun einen alptraumhaften Krieg in Spanien und Portugal. Oft genug hatten sie mitansehen müssen, was der Feind mit ihren Kameraden angestellt hatte. Die gefangen genommenen Männer waren mit Waffen in den Händen und ohne Uniformen angetroffen worden; sie hatten also den Tod verdient. Nicht minder bösartig als die Männer waren die Frauen gewesen; im übrigen brauchten Soldaten nach drei Jahren des Feldzugs einfach etwas Entspannung. Hätten sich die Dummköpfe nur darauf verstanden, den allmächtigen Kaiser als ihren Herrn anzuerkennen, wären die Frauen nicht Opfer solcher Brutalitäten geworden. Natürlich war alles Eßbare abtransportiert worden. Dodd tröstete sich darüber mit der Überlegung hinweg, daß Lebensmittel, die für 20 Menschen 30 Tage lang reichten, 500 Menschen gerade einmal einen einzigen 171
Tag versorgen würden; dabei wußte er noch nicht einmal, daß alles tatsächlich unter 1300 Mann aufgeteilt worden war – was kaum mehr als knapp einen Mundvoll für jeden bedeutet hatte. Für Dodd und Bernardino lag ein Fluch auf dem Hügel. Sie erinnerten sich an die fröhlichen Menschen, mit denen sie so lange zusammengelebt und die an ihrer Seite immer wieder dem Tod ins Gesicht gesehen hatten. Besonders Dodd war eine zu ernste Persönlichkeit, um – wie die meisten Soldaten – über den glücklichen Zufall lächeln zu können, daß allein jener Entschluß, den Grund für das Geschützfeuer in Santarem herauszufinden, sein Leben gerettet hatte, während die anderen bereits ihrem Tod entgegengegangen waren. Auf keinen Fall konnte Dodd zulassen, daß irgend etwas auf dem Hügel verändert wurde. So blieben die beiden toten Männer an ihren Baum genagelt, bis sie verwest waren, und Maria blieb mit verrenkten Gliedern vor dem Eingang der Höhle liegen. Die Gefahr war einfach zu groß, durch Aktivitäten in dieser Richtung einem weiteren Spähtrupp aus dem Dorf zu verraten, daß es noch Überlebende auf dem Hügel gab.
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17. Sergeant Godinot kam zu dem Schluß, das Leben in Santarem sei trotz der harten Arbeit, die ihm und seinen Männern abverlangt wurde, weit mehr nach seinem Geschmack als das im Dorf beim Bataillon. Die Schinderei war ein regelrechter Segen: Endlich gab es etwas zu tun, statt in den Unterkünften bei lebendigem Leibe allmählich zu verrotten, während der immerwährende Regen auf das Dach trommelte; außerdem war mit den abgebrühten Veteranen aus dem 2. und 6. Korps weitaus besser zusammenzuarbeiten als mit den hilflosen, von Krankheiten geschwächten Rekruten seines eigenen Bataillons – einmal abgesehen von Dubois, mit dem er seit seiner Kindheit befreundet war. Binnen kurzem hatten sie die städtische Mühle und die öffentlichen Backöfen wieder in Gang gebracht, damit die Männer endlich Brot anstelle des ungenießbaren Maisbreis zu essen bekamen. Rasch auch hatten sie mit jener Lebensfreude, die bezeichnend ist für die besten französischen Soldaten, aus den eigenen Reihen eine Musikkapelle aufgestellt, die Konzerte gab, so oft es die Arbeit zuließ. Und die Offiziere flanierten mit Damen am Arm durch die Straßen, wodurch der Ort ein bißchen wie zuhause wirkte – auch wenn diese Frauen Männeruniformen trugen und niemand bei ihren Spaziergängen durch die Stadt den geringsten Zweifel daran hatte, was sie in Wirklichkeit waren. Es gab auch andere Frauen in der Stadt, die den Blicken der Männer auswichen und sich dicht an die Hauswände hielten; Frauen mit Tränen in den Augen, 173
die manchmal sogar Selbstmord begingen; Frauen, die Neys gottlosen Veteranen beim Requirieren von Lebensmitteln weiter im Landesinneren in die Hände gefallen waren. Der Brückenbau ging rasch seiner Vollendung entgegen, ein Verdienst des alten Generals Eble. Er war einfach allgegenwärtig, um die Leute anzutreiben, Befehle zu geben und Inspektionen vorzunehmen. Wo immer er auch auftauchte, brach Hektik aus und wurde schneller gearbeitet – in den Schmieden etwa, wo die Männer angestrengt versuchten, aus eisernen Balkongittern Stahlsägen und -äxte herzustellen; in der Werkstatt zur Anfertigung von Beschlägen, wo Nägel mühselig geradegeklopft werden mußten; bei jener Häuserzeile, die von den Männern in fieberhafter Eile niedergelegt wurde, um an das Bauholz heranzukommen; oder in der Malerwerkstatt, dem Schuppen zum Bootsbau, in dem Godinot die meiste Zeit zubrachte, und der Seilerei, wo sich die Männer abmühten, wahre Wunder zustande zu bringen. Am beliebtesten war dabei vielleicht das Abbruchkommando – Abbruch durchaus wörtlich verstanden –, denn Heerscharen von Ratten bevölkerten jene alten Häuser, die abgerissen wurden. Während der Arbeit bot sich oft die Gelegenheit, eine zu fangen. Eine Ratte bedeutete in den folgenden Wochen, als es keine Fleischrationen mehr gab, eine köstliche Bereicherung für jedermanns Speiseplan. Männer, die während des Feldzuges beim Plündern einen guten Schnitt gemacht hatten, wurde nachgesagt, für eine fette Ratte einen ganzen Silbertaler zu zahlen; trotzdem war es schwer, überhaupt einen Anbieter zu finden, denn für Geld konnte sich hier niemand irgend etwas kaufen, und
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Aussicht, jemals wieder nach Hause zu kommen, bestand kaum noch. Wenn etwas schlecht an diesem Leben war, schlechter noch als das Essen, dann waren es diese Zukunftsaussichten. Niemand wußte, was außerhalb der Armee, in der sie dienten, vorging. Der Kaiser, in dessen Namen sie kämpften, lebte vielleicht schon nicht mehr, und die Russen waren in Paris einmarschiert; oder die anderen Armeen in Spanien waren bis zu den Pyrenäen zurückgeworfen worden und hatten sie hier in Portugal einfach ihrem Schicksal überlassen. Sicher war nur, daß man noch einen Landstreifen von 20 mal 20 Meilen besetzt hielt, aus dem man so lange würde Nahrungsmittel herauspressen müssen, bis irgend etwas passierte – was, vermochte sich allerdings niemand vorzustellen. Der Bau der Brücken war ein Tonikum gegen die wachsende Verzweiflung, wenn auch ohne große Wirkung. Erfahrene Soldaten konnten sich einfach nicht vorstellen, wie eine Armee auf einer wackeligen Pontonbrücke über einen Fluß setzen wollte, während ein beweglicher und wachsamer Gegner zugleich darauf wartete, dabei über sie herzufallen. Und selbst wenn es gelang, auf die andere Seite des Flusses zu kommen, erwartete sie dort nur das Ödland im Süden Portugals. Blieben sie hingegen, wo sie waren, mußten sie unweigerlich verhungern. Die einzige noch offengebliebene Rückzugsmöglichkeit aber führte über die fürchterlichen Bergstraßen, auf denen sie hierher gekommen waren; eine Aussicht, die ebenso wenig verlockend war wie die beiden anderen. Das Gefühl, hilflos und von allem abgeschnitten zu sein, demoralisierte jeden einzelnen. In den Werkstätten machten bittere Scherze über Godinots Onkel die Runde – Dubois hatte den anderen 175
von der verwandtschaftlichen Beziehung erzählt. Die einzige Richtung, aus der etwas zur Besserung ihrer Lage kommen konnte, war Süden, wo 200 Meilen jenseits des Tejo Soult mit der Hilfe von General Godinot Andalusien in Schach hielt. Erst wenn er dieses Fürstentum aufgab und zum Tejo vorrückte, würde ein frischer Wind blasen können; die Mehrzahl der Männer glaubte denn auch, die Brücke werde zu diesem Zweck errichtet. So verging kein Tag, an dem Godinot nicht von irgendeinem Witzbold gefragt wurde, ob es Neuigkeiten von seinem Onkel gebe und wann man endlich das Vergnügen haben werde, ihm zu begegnen. In der Tat wurde die Brücke in Anspielung darauf von den meisten Männern nur Onkel Godinots Brücke genannt. Aber Godinots Onkel erschien nicht, so oft sie auch nach ihm fragten. Ungeachtet aller Schwierigkeiten und Enttäuschungen schritt der Bau der Pontons voran. Es war eine knochenbrecherische Mühe. Alles wurde behelfsmäßig zusammengepfuscht: Kielhölzer und Spanten der Boote, für die eigentlich passend gewachsenes Naturholz gebraucht wurde, mußten aus Bodenbrettern zurechtgeschnitten werden, wobei sich die praktisch unbrauchbaren Sägen und Äxte wie Blei verbogen, wenn man sie nicht vorsichtig genug ansetzte. Das verfaulte Holz derart zu biegen, daß man es zur Beplankung verwenden konnte, war eine weitere langwierige Prozedur, die endlos wiederholt werden mußte, bis wenigstens etwas halbwegs Brauchbares zustande kam. Nägel waren im wahrsten Sinne des Wortes wertvoller als Gold; ihr Verbrauch wurde peinlich genau kontrolliert und jedermann hatte seinen Bedarf abzurechnen. Als Folgeerscheinung der unzureichenden handwerklichen Fähigkeiten klafften die Verfugungen 176
der Boote auseinander und mußten mit jedem nur erdenklichen Material abgedichtet werden. Gleichwohl hatte die Kalfaterung völlig dicht zu sein, mußte man sich doch auf die Pontons unbedingt verlassen können, wenn eine Armee mit 100 000 Mann, Geschützen und Fuhrwerken erst einmal über die Brücke rückte. Der Anstrich zum Abdichten, der bei den Experimenten herausgekommen war, erwies sich allerdings als nahezu unbrauchbar – versuchsweise auf ein Stück Holz aufgetragen und ins Wasser gehalten, trieb er bereits nach ein bis zwei Stunden an der Oberfläche. Auch das zusammengebastelte Tauwerk dehnte sich und riß schließlich. Einzig das Problem mit den Grundankern konnte zu jedermanns Zufriedenheit gelöst werden – in Portugal fanden sich überall ausreichend große Felsbrocken für diesen Zweck. Sobald einer der Pontons – ein plumpes und schwerfälliges Fahrzeug – fertig war, schleppte man ihn zum Kai und ließ ihn mit Hilfe einer Ablaufbahn, an der Godinot mitgebaut hatte, zu Wasser. Hier wurde der Ponton dann vertäut, um zu prüfen, ob er auch wasserdicht und stabil war; zwei von drei Pontons mußten dabei noch einmal repariert werden, bevor man sicher sein konnte, daß sie die Belastung einer darübermarschierenden Armee aushaken würden. Danach zog man sie wieder aus dem Wasser und stapelte sie auf den Kais neben den wachsenden Bergen mit Bohlen für den Fahrdamm und Kabelwerk. Der Fluß brodelte. Ungestüm schäumend schoß er an den Kaimauern vorbei. Der vorherrschend aus westlicher Richtung kommende Wind stand gegen die Strömung und peitschte das Wasser zu großen, kabbeligen Wellen mit Schaum auf den Spitzen auf. Godinot blickte voller dunkler Vorahnungen über die 177
dunkle Masse aufgewühlten Gewässers. Vor einer ans andere Ufer reichenden Brücke würde sich die Strömung stauen. Er konnte sich gut vorstellen, was dann passierte, wenn nur ein Tau riß oder ein Anker nachgab: die Brücke würde auseinanderbrechen, die Einzelteile würden flußabwärts getrieben, und die Armee, falls sie gerade über die Brücke setzte, in zwei wehrlose Hälften geteilt. Godinot konnte noch etwas anderes sehen, wenn er über den Fluß blickte: Daß auf dem anderen, niedriger liegenden eintönigen Ufer portugiesische Kavallerie lag, war bereits bekannt. Eines Morgens aber hatte Godinot Dubois am Arm gepackt und hinübergezeigt. Ein roter Streifen hob sich vor dem nichtssagenden, grau-grünen Hintergrund ab; ein Streifen, der sich gleichmäßig durch die Landschaft dahinzog und dabei den sanften Bodenwellen mit ihrem Auf und Ab folgte. An seinem oberen Rand trug dieser Streifen eine Corona aus blitzendem Stahl: Dort drüben marschierte eine Brigade rotberockter Soldaten. »Engländer!« rief Dubois und starrte hinüber, während sich Godinot hastig umdrehte, um seine Beobachtung dem nächsten Offizier zu melden. Als er zurückkam, stand Dubois noch immer am Kai und starrte mit offenem Mund auf das, was sich dort drüben tat. Am anderen Ufer war inzwischen ein halbes Dutzend kleiner Gebilde aufgetaucht, die wie Raupen aussahen. Gerade als Godinot neben Dubois trat, wendeten sie und öffneten sich in zwei Teile. Zwischen den Punkten jenseits des Wassers herrschte rege Geschäftigkeit. Dann stieg für ein paar Sekunden eine weiße Rauchwolke auf, die wie ein Baumwollballen aussah, und unmittelbar vor ihnen schoß auf dem Fluß eine Fontäne hoch. Die von der Wasseroberfläche 178
abgeprallte Kanonenkugel summte wie ein Bienenscharm über sie hinweg und krachte in eines der oberen Stockwerke des Lagerhauses hinter ihnen. Unmittelbar danach schlug ein weiteres Geschoß etwas weiter entfernt in den Kai ein und schleuderte eine Wolke aus Steinsplittern hoch. Wie durch ein Wunder wurde niemand verletzt. »Mir will fast scheinen«, sagte Dubois und äffte dabei den unerschütterlichen Tonfall der Veteranen nach, »die Engländer haben angefangen, Notiz von unseren Aktivitäten hier zu nehmen.« Da zersplitterte die nächste Kanonenkugel eine Tür ganz in der Nähe; alle Gelasssenheit fiel plötzlich von Dubois ab, und er ging ebenso schnell wie Godinot hinter dem Lagerhaus in Deckung. Für einen Augenblick stockten sämtliche Arbeiten in Santarem. Berittene Melder jagten mit trappelnden Hufen durch die Straßen und zu den Toren hinaus, um den Batterien Anweisung zu geben, die frechen Störer zu vertreiben. Währenddessen schlugen die Kanonenkugeln mit schöner Regelmäßigkeit in der Stadt ein. Dann jedoch explodierte eine Kartätsche mit einem trockenen Knall in der Luft, und ein Schrapnellregen ging mitten auf der Hauptstraße nieder, dem zahlreiche Soldaten aus der dort versammelten Menge zum Opfer fielen. Angst machte sich breit und verdrängte das anfängliche Interesse: Nur die britische Artillerie war in der Lage, mit dieser neuartigen Munition umzugehen, die von den Franzosen gefürchtet wurde wie nichts anderes. Es folgten jedoch nur wenige Sprenggranaten, denn der Gegner hatte es auf die Zerstörung des Materials für den Brückenbau abgesehen, nicht auf die Menschen. Hinter einer Ecke des Lagerhauses hervorblinzelnd, sah 179
Godinot, wie ein festgemachter Ponton voll getroffen wurde und auseinanderflog. An mehreren Stellen wiesen die festen Mauern des Lagerhauses bereits Einschußlöcher auf. Plötzlich ertönte lautes Hufgetrappel und kündigte die Ankunft einer Persönlichkeit von besonderer Wichtigkeit an. So war es denn auch – es erschien kein geringerer als der Oberbefehlshaber persönlich, Marschall Massena, begleitet von General Eble und Marschall Ney, einer Reihe von Adjutanten, seinen übergelaufenen portugiesischen Ratgebern und drei Dutzend weiteren Hochrangigen. Massena stieg vom Pferd und humpelte einen Seitenweg zum Fluß hinunter. Er faßte Dubois am Arm und schob ihn um die Ecke des Lagerhauses, um sein schweres Fernrohr auf dessen Schulter abstützen zu können. Godinot fühlte sich belustigt, als er den Gesichtsausdruck sah, den Dubois dabei hatte. Ohne Zweifel empfand er es als besondere Ehre, das Fernrohr eines Prinzen des Kaiserreichs stützen zu dürfen; zugleich aber hätte Dubois auch ohne weiteres auf diese Ehre verzichten können, hatte sie doch zur Folge, mitten im Beschuß ohne jede Deckung im Freien stehen zu müssen. Massena reichte das Fernrohr zurück an seinen Adjutanten und drehte sich ohne ein Wort um; dankbar eilte Dubois wieder zurück zu Godinot hinter das Lagerhaus. Kurz darauf ratterten Geschütze in die Stadt und gingen auf den Seitenstraßen, die zum Fluß führten, in Stellung, von wo aus sie dann das Feuer auf den Gegner eröffneten. Weitere Geschütze folgten flußabwärts. Wer auch immer der britische General auf der anderen Flußseite war, seine Hoffnung, die französische Brücke möglicherweise mit nur einer Batterie Sechspfünder zerstören zu können, hatte bei 180
ihm offenkundig den gesunden Menschenverstand aussetzen lassen. Bald schossen an die 30 Geschütze zurück, die auch noch den Vorteil der Deckung für sich hatten. Eine ganze Weile hielt die britische Batterie dem schweren Beschuß stand, schließlich aber mußte sie aufgeben: Die Geschütze wurden wieder aufgeprotzt, und die Batterie zog ab. Jetzt erst waren die französischen Offiziere in der Lage, ihre Leute zu sammeln und mit der Tagesarbeit zu beginnen. Die Verwüstungen hielten sich in Grenzen: Nur ein einziger Ponton war gesunken, und in den Werkstätten hatte es ein bißchen Durcheinander gegeben; das war auch schon alles. Im Laufe des Tages wandte die berittene britische Artillerie dann eine andere Taktik an: Sie erschien plötzlich im Galopp an einer unerwarteten Stelle und feuerte eilig ein paar Schüsse ab, die zwischen den Häusern einschlugen, wurde aber jedesmal rasch wieder von den wartenden gegnerischen Batterien vertrieben. Selbst die britische Artillerie mit ihren brillanten Offizieren und ihrer hervorragenden Ausrüstung hatte bislang noch nicht die Technik entwickelt, Geschütze aus der Deckung schießen zu lassen, während ein Offizier als vorgeschobener Beobachter das Feuer lenkte. So leicht aber ließen sich die Briten nicht von einem Vorhaben abbringen, in das sie sich einmal verbissen hatten. Am nächsten Morgen bot sich den französischen Augen auf dem gegenüberliegenden Ufer der Anblick einer Reihe von niedrigen Erdwällen – die Briten hatten damit begonnen, sich mit ihren Geschützen einzugraben; selbst dem konzentrierten Feuer der französischen Kanonen sollte es den ganzen Tag über nicht gelingen, diese Stellungen zu zerschlagen.
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Am Morgen darauf waren die Schanzarbeiten beendet und die Geschütze eingebaut. Vom französischen Ufer aus konnte man nur noch deren Mündungen sehen, die aus den Schießscharten hervorlugten; die Bedienungsmannschaften selbst befanden sich vollständig in Deckung. Zu den Kanonen waren noch weitere Zerstörungsinstrumente gekommen: Zischend und kreischend stieg eine Rauchspur aus den Stellungen auf und näherte sich im weiten Bogen den Kaianlagen, wo sie neben ein Lagerhaus stürzte und mit einem blauen Feuerblitz explodierte. Zum Glück trafen die Raketen ihr Ziel nur höchst selten so präzise. Zwar mußten sich die Männer, darunter auch Dubois und Godinot, mit Wasserfässern und -eimern in Deckung bereithalten, um gegebenenfalls Feuer zu löschen, zum Einsatz aber kamen sie so gut wie nicht. Einige Raketen fielen gleich in den Fluß, andere wieder wurden vom Wind abgetrieben und gingen absurd weit vom Ziel entfernt nieder, und zweimal stiegen sogar Raketen auf, die wieder auf die englische Seite zurückstürzten. Godinot ahnte, daß trotz solcher Fehlschläge und trotz des Umstandes, daß die französische Artillerie weit nach rechts und links außen verschoben worden war, um die britischen Schanzen von der Seite her zu bestreichen, diese englische Demonstration zumindest in einer Hinsicht Wirkung zeigen würde: Einmal gab es noch immer genug Einschläge in der Stadt, um die Arbeit in den Werkstätten gefährlich zu machen. Wichtiger aber war die Überlegung, daß die Operation, Brücken bei Santarem über den Fluß zu schlagen (hatte man sich je über die Folgen Gedanken gemacht?), kaum mehr durchführbar war, seit sich gut verschanzte Artillerie dem Übergang in den Weg gestellt hatte. Als dann am späten Nachmittag Karren, Fuhrwerke und 182
Geschützwagen in die Stadt zu strömen begannen – Godinot vermutete, daß es sich dabei um die gesamte Transportkapazität handelte, deren sich die Armee noch rühmen konnte –, fühlte er sich in seiner Vermutung bestätigt. »Morgen rücken wir ab«, verkündete er Dubois und nickte dabei mit dem Kopf in Richtung der Fuhrwerke, die auf der Hauptstraße abgestellt waren. »Wie willst du das wissen«, fragte Dubois, der ewige Skeptiker. »Es gibt tausenderlei Gründe, warum ...« »Merk dir, was ich sage«, antwortete Godinot. »Morgen rücken wir ab, wenn wir es nicht schon heute nacht tun.« Er sollte recht behalten. Den ganzen Abend über arbeiteten die Brückenbauer hart daran, die fast fertiggestellten Brückenteile auf Wagen zu verladen – eine ungeheure Leistung, denn inzwischen war eine riesige Menge an Baumaterialien zusammengekommen. Die einzige Möglichkeit, die Pontons abzutransportieren, bestand darin, jeweils zwei Geschützwagen zusammenzuflanschen und die großen, plumpen Boote obenauf zu setzen. Um sie dort hinauf zu bugsieren, erwiesen sich jene Rollenblocks und Flaschenzüge als außerordentlich praktisch, die vor den hochgelegenen Fenstern des Lagerhauses für Wolle hingen und einst zum Hochziehen der Ballen gedient hatten. Für den Einsatz dieser Gerätschaften, einem wahren Gottesgeschenk, wurde Godinot von General Eble belobigt. Schließlich füllten Tauwerk und Bohlen für die Fahrbahn eine riesige Zahl von Fuhrwerken. Nach dem Abschluß der Verladeaktion waren alle völlig erschöpft und bis auf die Knochen durchnäßt – der Regen, der mit Unterbrechungen den Tag über gefallen war, hatte sich bei Einbruch der Nacht zu einem 183
Dauerwolkenbruch verstärkt. Trotzdem wurde Befehl gegeben, die Brückenbauabteilung habe um fünf Uhr früh abmarschbereit zu sein – von jetzt an gerechnet also in gerade noch drei Stunden. Nochmals größter Anstrengungen bedurfte es dann, bei Tagesanbruch die endlose Kolonne richtig auf den Weg zu bringen. Die ausgemergelten Pferde gerieten dauernd ins Rutschen und stürzten auf dem Pflaster, Zuggeschirre und -seile rissen. Schließlich aber klappte es. Strikter Befehl war ergangen, möglichst nah aufzuschließen, und so setzte sich der Konvoi, gut eineinhalb Meilen nichts als Fuhrwerke, langsam aus der Stadt heraus flußaufwärts in Bewegung – wie Dubois bald herausfinden sollte, exakt in Richtung auf jenes Dorf, wo das 4. Bataillon des 46. Regiments Quartier bezogen hatte. Zusammen mit Godinot und der Hälfte der Brückenbauabteilung marschierte er im vorderen Teil der Kolonne. Alle waren sie müde, erschöpft, hungrig und vor allem schlecht gelaunt, denn mit Ausnahme der Offiziere möglicherweise wußte niemand, wohin die Reise genau gehen sollte. Das Marschtempo war so langsam wie bei einem Begräbnis. Alle paar Minuten mußte im Regen halt gemacht werden, damit die stockende Kolonne zu ihnen aufschließen konnte; von Minute zu Minute wurden sie dabei weiter durchnäßt und jede Marschpause ließ sie mehr frieren. Godinot, der sich auf dem schlüpfrigen Steinpflaster vorankämpfte, war froh, noch ein Paar guter Stiefel sein eigen nennen zu können. Stiefel wurden in der französischen Armee allmählich knapp; gut die Hälfte der Männer um ihn besaß keine mehr, besonders aber jene, die vom 6. Korps gekommen waren. Die Füße hatten sie statt dessen mit Fetzen aus rohem Leder umwickelt, die von Kadavern des 184
Verpflegungsviehs oder toter Pferde stammten. Zumindest in einer Hinsicht erwiesen sich diese Fußlappen als durchaus brauchbar – wenn man sie mit dem Fell nach innen trug, blieben die Füße warm. Ansonsten aber waren sie denkbar unpraktisch: Plötzlich gingen sie kaputt, und dem unglücklichen Besitzer blieb nichts anderes übrig, als auf der Pflasterstraße barfuß weiterzulaufen. Die meisten Männer waren zudem mit Lumpen bekleidet, die kaum mehr den elementarsten Anstandsregeln genügten; ein paar der Leute trugen sogar Zivilkleidung wie Mäntel oder Hosen, die gelegentlich ins Auge fallende Blutspuren aufwiesen. Alle zusammen ähnelten sie eher einem Haufen Bettler als der Pionierabteilung einer regulären Armee – einem Haufen entmutigter Bettler, um genau zu sein: Der offenkundige Fehlschlag der Operation in Santarem hatte ihr Selbstvertrauen reichlich angeschlagen. So brach auch sofort überall Fluchen und Schimpfen aus, als schon kurz nach Marschbeginn Musketenfeuer ertönte, das von weit voraus befindlichen Teilen der Kolonne herkam. Eine Meldung der Vorhut brachte daraufhin die Kolonnenspitze zum Stehen und alarmierte die Eskorte, die sofort die Kolonne entlang zum Brennpunkt des Geschehens eilte. Im Laufschritt war das eine weite Strecke für die unterernährten und ausgepumpten Männer. Endlich angekommen, hatte sich der Gegner in nichts aufgelöst; etwas anderes war allerdings auch nicht zu erwarten gewesen. Spuren des gegnerischen Angriffs dagegen gab es zuhauf – Fuhrwerke, deren halbe Pferdegespanne tot waren und die jetzt die Straße blockierten; wild ausschlagende Pferde, die angeschossen worden waren; Fuhrleute, die ihre Zugtiere wieder unter Kontrolle zu bringen versuchten; fluchende Offiziere. Ein dichtes Gehölz 185
reichte an dieser Stelle bis an die Straße heran; bald sollten die Soldaten der Eskorte herausfinden, daß dort drinnen keine Aussicht bestand, den unfaßbaren Gegner in die Hände zu bekommen. Kaum aber hatten sie am Waldrand halt gemacht, um wieder etwas zu Atem zu kommen, wurden dort, von wo sie gerade gekommen waren, erneut Musketenschüsse abgefeuert; die Hälfte der Eskorte – darunter auch der vom Pech verfolgte Godinot und Dubois – mußte daraufhin zurückrennen, nur um ein weiteres zusammengeschossenes Gespann vorzufinden, das den Vormarsch der Kolonne nun zusätzlich behinderte. Nach Ansicht der schimpfenden Soldaten sollte eine Begleitmannschaft von 300 Soldaten doch wohl ausreichend sein für eine Kolonne mit Fuhrwerken, die zudem noch umgeben war von einer Armee mit 100 000 Mann. Auf der iberischen Halbinsel aber hatten solche militärischen Grundsätze keine Bedeutung. In derart schwierigem Gelände konnten 300 Mann eine eineinhalb Meile lange Kolonne keineswegs vor einem beweglichen Gegner schützen. Und daß der Gegner selbst im Zentrum des französisch besetzten Gebiets noch immer aktiv war, stand außer Zweifel. Niemand dachte allerdings darüber nach, wie viele Gegner genau die Kolonne angegriffen hatten. Man war sich sicher, daß weniger als 50 Mann wohl kaum die Dreistigkeit besitzen würden, überlegene Kräfte auf diese Weise zum Kampf herauszufordern. Auch deswegen fiel die Entscheidung, ob man nun die Eskorte in einzelne Trupps aufteilen oder den Feind im Wald verfolgen sollte, so enorm schwer. Noch komplizierter wurde die Situation, als sich die Landstraße dann jenen Gebirgsausläufer hinaufwand, der aus dem Hinterland von Lissabon bis hierhin zum Tejo reichte, denn die 186
Einheiten zum »Bekämpfen des Feindes« hatten nun eine andere Aufgabe – die Zugtiere jeweils eines Fuhrwerks mußten ausgeschirrt werden, um ein anderes Wagengespann den Weg hügelauf zu verstärken, bevor man wieder ins Tal abstieg und das ohne Pferde zurückgelassene Fuhrwerk nachholte. Natürlich tat sich dadurch in der Kolonne eine große Lücke auf, an deren talseitigem Ende ein Haufen bewegungsunfähiger Fuhrwerke herumstand, Pferde aus- oder eingespannt wurden und alle Aufmerksamkeit ausschließlich der fieberhaften Arbeit galt – ein geradezu ideales Ziel für jemanden, der die Absicht hatte, mit dem Gewehr aus der Deckung des Waldes dort mitten hineinzuschießen. Ein geringfügiger Unterschied in der Tonhöhe bei einigen der Schüsse ließ Godinot aufhorchen. Ein eigenartiges Klingen schwang da mit: Es war der Abschußknall eines Gewehrs und nicht der einer Muskete. Er hatte diesen Knall bereits früher gehört, oft genug sogar. Als er genauer lauschte, war er sicher, daß nur ein einziges Gewehr schoß. Dann überlegte er, wer dahinterstecken mochte – der Gedanke lag nahe, denn das Bataillon hatte genau an dieser Stelle erstmals gegen jene Freischärler gekämpft, die von dem grün uniformierten Engländer angeführt worden waren. Godinot fühlte sich dadurch in der Ansicht bestätigt, daß sie von einer größeren Einheit angegriffen wurden, hatte der grüne Engländer doch bei ihrem letzten Zusammenstoß einen durchaus eindrucksvollen Trupp angeführt. Sich allerdings vorzustellen, daß sie bloß von drei Mann derart in Aufregung versetzt wurden, hätte Godinot und seine Kameraden ziemlich erstaunt. Soweit zumindest Dodd darauf Einfluß hatte, sollten sie auch nicht dahinterkommen. Dodd hatte sein Geschäft unter einem Soldaten gelernt, der über die Fähigkeit verfügte, die 187
relative Bedeutung einer Sache präzise einzuschätzen, und der auf Erden der Letzte gewesen wäre, nur wegen eines taktischen Gewinns eine Position von strategischer Bedeutung aufzugeben. So wußte sich Sergeant Godinot auch auf alles keinen rechten Reim zu machen, als er nach einem entsetzlich anstrengenden Tag ein wenig mit Adjutant Doguereau von seinem Heimatbataillon schwatzte, das aus den Quartieren ausgerückt war, um der Kolonne Geleitschutz zu geben. Adjutant Doguereau erzählte Godinot den neuesten Klatsch aus dem Bataillon, und wie sie erst kürzlich mit Hilfe einiger Bataillone aus dem 6. Korps den Hügel oberhalb des Dorfes von jener Bande gesäubert hatten, die so lästig gewesen war. »Wir haben sie regelrecht ausradiert«, berichtete Adjutant Doguereau. »Jeden einzelnen. Die Gefangenen wurden erschossen – ihr Kerle von der Brückenbauabteilung habt uns ja nicht einmal genug Seile dagelassen, um einen Banditen aufzuhängen, wenn wir ihn erwischen. Die übrigen haben wir auf dem ganzen Hügel gejagt und schließlich auch allesamt gekriegt. Einer hat versucht, durch den Fluß zu schwimmen. Armer Teufel! Und dann die Weiber! O Mann, die Weiber!« Adjutant Doguereau schnalzte in Erinnerung an diesen Abschnitt der Ereignisse mit den Lippen, bevor er Godinot die aufregende Geschichte von der Höhle und der geheimen Furt erzählte, die dorthin führte. Irgendwie aber vermochte Sergeant Godinot kein besonderes Interesse für jenen Teil der Schilderung aufzubringen, wie Neys Männer ein Kind – einen kleinen Jungen – gefangengenommen hatten; selbst unter Androhung des Todes hatte er sich geweigert, das Geheimnis zu verraten, war dann aber doch zusammen-
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gebrochen, als man zu wirkungsvolleren Mitteln gegriffen hatte. »Was ist denn nun mit diesem grünen Engländer«, fragte Godinot. »Zur Hölle mit dir und deinem grünen Engländer«, sagte Adjutant Doguereau. »Das halbe Bataillon redet nur von dem grünen Engländer. Den gibt es gar nicht. Ich jedenfalls und auch niemand sonst hat ihn an dem Tag gesehen.« »Ihr habt auf dem Hügel also keinen Engländer gefangengenommen?« »Nein. Ich hab' es dir doch gesagt, da ist keiner gewesen. War auch nie einer.« »Aha«, sagte Godinot. »Jetzt ist er aber wieder da. Dort im Wald.« »Woher willst du das wissen. Hast du ihn etwa gesehen?« »Das nicht«, sagte Godinot, »aber ich habe ihn gehört. Den Abschußknall eines Gewehrs erkenne ich genau, wenn ich ihn höre.« »Ach was!« antwortete Doguereau. »Und ich weiß genau, was Einbildung ist, wenn ich ihr begegne.« Diese Art von Argument war nicht geeignet, Godinot zu überzeugen. Seine Nerven waren durch die Angelegenheit aufs äußerste gespannt. So empfand er es schon als ausgesprochen beruhigend, daß die Kolonne während des Vormarsches am nächsten Tag nicht wieder von einem menschlichen Gegner in Aufruhr versetzt wurde. Die Landstraße hatte den Wald zwar hinter sich gelassen, auf der gegenüberliegenden Seite aber erhoben sich jetzt die beiden Hügel – der eine eher langgestreckt und niedrig, der andere massiv und steil. Zwischen beiden lag die Kommandostelle des 46. Regiments. Die 189
zwei Hügel boten einem Gegner von beliebiger Stärke die ideale Ausgangsstellung für einen Angriff auf die langgezogene Fahrzeugkolonne, auch wenn diese nun von mehr als 1000 Mann eskortiert wurde. Aber nicht ein Schuß war den Tag über zu hören. Godinot gelangte allmählich zu der Überzeugung, daß der erfolgreiche Angriff auf den Berg, von dem ihm Doguereau berichtet hatte, womöglich doch die Truppe des Engländers weitgehend dezimiert hatte. Die Tatsache allerdings, daß der Engländer selbst hatte entkommen können, bestärkte in dem ansonsten durchaus realistischen Godinot den langsam aufkeimenden und furchteinflößenden Verdacht, daß dieser Engländer über irgendwelche außersinnlichen Kräfte verfügte. An diesem Tag blieb Godinot allerdings kaum Zeit, darüber nachzudenken. Die Arbeit bei der Wagenkolonne nahm ihn reichlich in Anspruch, erwies sich doch die Talfahrt auf der anderen Seite des Gebirgsausläufers als noch schwieriger als der Aufstieg einen Tag zuvor. Unbarmherzig prasselte der Regen nieder; die Straße selbst war mit Schlaglöchern übersät, in denen die überanstrengten Pferde ins Stolpern gerieten und sich die Beine brachen. Fuhrwerke rutschten in Straßengräben und außer Kontrolle geratene Wagen rammten ihren Vordermann. Ein vom Regen unterspülter Abzugskanal brach unter dem darüberrollenden Gewicht ein und hielt die gesamte Kolonne so lange auf, bis ein Trupp Pioniere eine Art Hilfsfahrbahn hergerichtet hatte, über die dann mit Hilfe verdoppelter Gespanne und einem 100 Mann starken Trupp zum Schieben die schwerfälligen Gespanne weiterbewegt werden konnten. Als es Nacht wurde, hatte man das Tagesziel noch immer nicht ganz erreicht und war darum gezwungen, im strömenden Regen neben der Landstraße ein 190
behelfsmäßiges Lager aufzuschlagen, natürlich bei halber Ration – halbe Rationen aber bedeuteten in dieser Armee Viertelrationen. Ebenfalls nicht gerade förderlich für die Stimmung wirkte ein Gerücht, das sich am nächsten Morgen in den Reihen ausbreitete, ein Wachposten sei mit durchschnittener Kehle aufgefunden worden. Am nächsten Nachmittag erreichten sie endlich jenen Ort, zu dem man sie geschickt hatte. Er erwies sich als einer der abgelegensten Winkel Portugals: ein kleines, aus Steinen erbautes Dorf. Soweit Godinot verstand, hieß es Punhete. Ganz offensichtlich aber hatte man die Brückenbauabteilung nicht wegen des Dorfes hierher entsandt. Das Ziel war vielmehr ein Fluß mit dem fantastisch anmutenden Namen Zezere, der schäumend aus den Bergen zu Tal schoß und sich in die Fluten des Tejo ergoß. Hier, eine halbe Meile von der Mündung entfernt, bezog die Abteilung Quartier, wo einem die englische Artillerie auf dem anderen Ufer des Tejo nichts anhaben und man vom Feind nicht beobachtet werden konnte. Während die Brücken weitergebaut wurden, mußten gleichzeitig die bereits fertigen Teile gestapelt, Hütten zum Schutz der Teile vor dem Wetter errichtet und am Strand Ablaufschienen für die Boote gezimmert werden. Laut Plan sollten hier die Pontons und sogar größere Teile der Brücke zu Wasser gebracht werden, um sie dann, sobald die Entscheidung gefallen war, den Tejo zu überschreiten, für die Engländer unerwartet den Fluß hinunterzuflößen. Sergeant Godinot betrachtete den reißenden Gebirgsfluß mit seinen Felsen und Stromschnellen und schüttelte nur den Kopf, als er an das Vorhaben dachte. Er verstand etwas vom Umgang mit Booten auf einem raschfließenden Gewässer; als Kind hatte er viele 191
glückliche Stunden auf flachen Loire-Kähnen zugebracht und konnte sich darum das Chaos vorstellen, das die unerfahrenen Landratten von der Brückenbauabteilung dabei anrichten würden. Für sein Verständnis war es darum nur richtig, ausreichend Material für zwei Brücken bereitzustellen: Sollte der Versuch tatsächlich unternommen werden, würde von all dem, was zertrümmert oder vom Fluß weggerissen wurde, genügend übrigbleiben, um damit wenigstens eine Brücke errichten zu können. In Godinot regte sich allmählich der Verdacht, der Bau der Brücken geschehe lediglich zum Schein, vergleichbar etwa dem Lungenflattern eines Erwürgten – wobei der Vergleich zwischen einem Erwürgten und der französischen Portugalarmee durchaus passend war. Die Franzosen selbst hatten das Gefühl, Stück für Stück zu sterben und ihre letzten Kräfte dabei an unsinnige Unternehmungen zu verschwenden. Wenn die Brücken also nicht zum Einsatz kamen, bedeutete das, binnen kurzem den Rückzug anzutreten. Jenseits des Zezere konnte Godinot die Berge in Mittelportugal erkennen, Gipfel für Gipfel eine Warnung vor all den Schwierigkeiten entlang der Straße, die sie würden benutzen müssen. Die Arbeit ging trotzdem mit aller Kraft weiter. Den Männern wurde befohlen, das Gelände am Zezere zu ebnen – eine gigantische Arbeit –, dazu noch Gebäude zu errichten und die Brücken mit Material aus dem Dorf Punhete fertigzustellen. Die ganze Zeit über würden die Männer dabei kein Dach über dem Kopf haben, und so waren sie gezwungen, sich aus Gestrüpp selbst kleine Hütten zu bauen – etwas, was die Veteranen des 2. und 6. Korps vor langer Zeit schon einmal gelernt hatten. Hier drinnen fristeten sie im Dauerregen ein kärgliches 192
Dasein, versorgt von unregelmäßig eintreffenden und niemals ausreichenden Nachschubkolonnen mit Lebensmitteln, die vom Hauptquartier nur widerwillig losgeschickt worden waren. Trübsinnig gab Dubois Godinot zu verstehen, sie hätten den falschen Posten gewählt: Wenn es nicht genug zu essen gibt, sorgen stets jene Männer zuerst ausreichend für sich, die die Aufsicht über den Proviant haben, bevor sie all den Habenichtsen auch nur ein bißchen mehr zukommen lassen.
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18. Die drei Landstreicher auf dem Hügel sahen sich mit dem stets drängenden militärischen Problem des Nachschubs konfrontiert. Wie üblich litten sie furchtbar an Hunger, ohne jedoch eine Vorstellung zu haben, woher sie Nahrung beschaffen sollten. Zum Frühstück hatten sie zwar den letzten Rest der Pferdeleber verzehrt, die der kleinwüchsige Mann in der Nacht für sie beschafft hatte; viel aber war es nicht gerade gewesen, und die letzte Mahlzeit lag auch schon zwölf Stunden zurück. Jetzt wurde es wieder dunkel und kalt, und so schien die Erde ein ziemlich trübsinniger Ort zu sein. Dodd besaß die Fähigkeit, seinen Gürtel einfach enger zu schnallen und das Gefühl des Hungers mit philosophischer Gelassenheit hinzunehmen, Bernardino aber hatte nicht das Temperament dazu. Zudem machte sich Dodd Sorgen um die Zukunft. Er sah keine rechte Möglichkeit, Lebensmittel aufzutreiben. Was er dagegen tun konnte, blieb ihm schlechterdings unerfindlich. Der langsame Hungertod hier oben auf dem Hügel war vielleicht auch nicht schlimmer als durch die Hand der Franzosen zu sterben, wenn sie ins Tal stiegen und sich ergaben. Aber selbst wenn man ihm gute Behandlung zugesichert hätte, wäre ihm die Aussicht, sich ergeben zu müssen, fast so zuwider gewesen wie der Tod selbst. Er wollte leben. Er wollte zurück zu seinem Regiment. Und er wollte herausfinden, welche Ziele die Brückenbauabteilung verfolgte, und dann etwas zu ihrer Vernichtung beitragen. 194
Der zuletzt geäußerte Wunsch war Ausdruck eines geringfügigen, zugleich aber bezeichnenden Sinneswandels, der bei Dodd unter dem Eindruck des selbständigen Handelns während der vergangenen Wochen stattgefunden hatte. Obwohl Soldat der leichten Infanterie und damit an ein gewisses Maß der Selbständigkeit gewöhnt, hatte er zuvor doch völlig im Banne der militärischen Tradition gestanden, auf Befehle zu warten und nichts anderes zu tun, als eben diese Befehle besagten. Mehr wurde von einem einfachen Soldaten nicht erwartet; sich darüber hinauszuwagen, hatte in der Regel Ärger zur Folge. Selbst zu jener Zeit noch pflegten Unteroffiziere ihre Leute normalerweise mit Worten zu bedenken wie: »Sie haben nachgedacht? Sie werden hier nicht fürs Nachdenken, sondern fürs Gehorchen bezahlt« – eine Zurechtweisung, die sich wortwörtlich bis heute erhalten hat. Die Disziplin in einem Schützenregiment war allerdings niemals so streng gewesen wie die in einem Linienregiment. Im Gefecht hatte ein Schütze eben mehr zu tun, als mit tausend Kameraden in einer Linie Schritt zu halten, was immer auch geschehen mochte. Zugleich aber war die Disziplin auch wieder starr genug, um den Schützen Dodd als einen durchaus eigenwilligen Mann erscheinen zu lassen; in immerhin fünf Feldzügen hatte er sich nun schon als mutiger und entschlußfreudiger Soldat erwiesen. Es war ein weiter Weg gewesen vom Vögelverscheuchen, Garbenbinden und Heumachen am Fuße der sanft gewellten Hügel in Sussex, wo er seine Kindheit verbracht hatte, über die heimatliche Kaserne mit dem Exerzierplatz und dem Scharmützel bei Busaco bis hin zu dem Versuch, eine gewisse Rolle in den Plänen des Marschalls Prinz von Esslingen und jenen 195
des Generalleutnants Viscount Wellington, Ritter des Bath-Ordens, zu spielen. Dodds Magen jedoch würde durch derart hochfliegende Pläne nicht gefüllt werden, und schon gar nichts nutzten sie dem hungernden Bernardino. Ein ziemlich niedergeschlagener und mißvergnügter Portugiese sollte sich denn auch neben Dodd ein Nachtlager zwischen den Felsen zurechtmachen, ohne etwas zu Abend gegessen zu haben. Trotzdem gab es einen Hoffnungsschimmer: Der kleinwüchsige Mann, der scheinbar nie schlief, war weggegangen, als sie sich gerade hingelegt hatten – offenkundig mit der Absicht, etwas Eßbares zu suchen, obwohl er nie ein Wort über seine Vorhaben verlor. Gestern erst hatte er ein ordentliches Stück Pferdeleber mitgebracht, und so galt Bernardinos ganze Zuversicht der Unternehmung des kleinen Mannes. Sein Vertrauen war derart groß, daß er trotz des Hungers schließlich einschlief. Ein paar Stunden nach Mitternacht – ein erster Streifen Helligkeit schickte sich gerade an, die Dunkelheit der Nacht zu vertreiben – wachte Dodd plötzlich auf. Ein seltsames Geräusch war an sein Ohr gedrungen; ein Geräusch, das nicht aus der Natur stammte. Sein Unterbewußtsein hatte es aus den anderen Geräuschen herausgefiltert und geprüft, schließlich in sein Bewußtsein dringen lassen und ihn geweckt. Dodd richtete sich auf, das Gewehr in der Hand; neben ihm regte sich Bernardino, der erst allmählich zu sich kam. Auf dem felsübersäten Abhang weiter unten rührte sich etwas. Dodd lauschte mit gespitzten Ohren. Über dem Hügel lag ein Dunstschleier, der die schwindende Dunkelheit undurchdringlich machte und ihm die Sicht versperrte. Dann hörten sie beide ein Knirschen und Klappern, ohne Zweifel das Geräusch von Pferdehufen 196
auf Felsboden. Mit einem Satz war Dodd auf den Beinen. Leise wie der Hund eines Wilddiebs schlich er sich auf die Seite, um aus einer weniger gefährdeten Position einen Blick auf die neue Bedrohung werfen zu können. Erneut ertönte das Hufklappern und dann eine Stimme, die Portugiesisch sprach – es war die Stimme des kleinwüchsigen Mannes. Dodd ging auf sie zu und erkannte wenige Augenblicke später im Nebel den Portugiesen und neben ihm ein plumpes Etwas im Dämmerlicht – ein großes, starkknochiges Maultier mit nur einem Auge, vom Zuggeschirr wundgeriebenen Stellen und herabhängenden Lippen, die gelbe Zähne enthüllten. Der kleinwüchsige Mann tätschelte die Kuppe des Maultiers. »Essen«, sagte er. Wie üblich gab er sich wortkarg. Für den erfreuten Dodd war das Versorgungsproblem damit etliche Tage im voraus gelöst. Nun erschien auch Bernardino mit breit grinsendem Gesicht. Sie nahmen das einäugige Maultier zwischen sich und führten es über den Hügel bis zu einer Stelle, die ein gutes Stück unterhalb des Kammes knapp über dem Fluß lag. Dodd war zu dem Schluß gekommen, der Qualm eines Feuers ließe sich hier am besten verbergen; im übrigen würden ihnen der anhaltende Nebel und Regen ausreichend Schutz bieten. Der kleinwüchsige Mann zog das Messer aus dem Gürtel und setzte es dem Maultier an die große Halsschlagader; gerade wollte er zustechen, da bemerkte Dodd, daß sowohl das Messer als auch die Hand und der Unterarm des kleinen Mannes ganz mit Blut verschmiert waren. Dodd konnte sich gut vorstellen, woher das Blut stammte – es war wohl kaum möglich, ein Maultier aus dem Zugtierbestand einer Kolonne zu stehlen, ohne mindestens einen Wachposten töten zu müssen. Dodd 197
mochte seit einiger Zeit das Leben eines Wilden geführt haben; derart verwildert aber war er doch nicht, als daß er keinen Anstoß mehr daran genommen hätte, wie mit einem in dieser Weise beschmutzten Messer geschlachtet wurde. Den beiden anderen gelang es nicht, ihre Erheiterung über seine Vorbehalte zu verbergen; trotzdem nahm Bernardino das Messer, kletterte hinunter zum Fluß und säuberte es peinlich genau. Dann brachte er es wieder zurück und reichte es dem kleinwüchsigen Mann. Das Messer durchtrennte die großen Blutgefäße der Kehle. Dabei verkrampfte sich das Maultier vor der zustoßenden Klinge und riß sich von dem Seil los, mit dem es an einem Pflock festgebunden war; wild umherspringend drohte es nun in den Fluß zu stürzen. Der kleinwüchsige Mann erkannte die Gefahr und umklammerte mit den Armen den Hals des Maultiers, ohne vor den herumwirbelnden Hufen zurückzuschrecken. Mit einigem Recht darf vermutet werden, daß in diesem Augenblick die weitere Zukunft Europas, soweit sie zumindest durch Dodds Plan zur Zerstörung der Brücke berührt wurde, von einem panisch um sich tretenden und geschundenen Maultier mit aufgeschlitzter Kehle abhing. Der kleinwüchsige Mann hatte schließlich Erfolg. Zwar stürzte das Maultier mit klappernden Hufen ab, fiel aber nicht ins Wasser, sondern blieb zwischen den Felsen auf der Seite liegen. Vergeblich versuchte es noch ein- oder zweimal, wieder auf die Beine zu kommen, das in dicken Strahlen aus der zerstörten Halsschlagader hervorsprudelnde Blut aber ließ seine Kräfte rasch schwinden; wenig später lag es bewegungslos da und war endgültig tot. Ihnen stand jetzt ein großes Stück Arbeit bevor. So gut es eben ging, versuchte Dodd einige Anweisungen 198
zu geben. »Feuer«, sagte er, reichte Bernardino seine wertvolle Büchse mit dem Zunder und zeigte dann auf das Maultier. »Viel Feuer, viel, viel.« Bernardino rannte los, um Pflanzenöl zu sammeln, und machte sich dann mit Feuerstein, Zunder und Lunte daran, ein Lagerfeuer in Gang zu bringen. Unterdessen begann der kleinwüchsige Mann, das Fell des Maultiers abzuziehen und eine Keule auszulösen. Dodd selbst tat, was ihm der unauslöschliche militärische Instinkt gebot: Mit dem Gewehr in der Hand stieg er auf die Kuppe des Hügels und bezog Posten auf dem »Tisch«, ohne dabei die beiden Leichname weiter zu beachten, die direkt daneben noch immer an den dornigen Baum genagelt waren. Er wollte auf der Hut sein für den Fall, daß eine Patrouille des Feindes durch den Qualm des Feuers angelockt wurde oder auch nur zufälligerweise auftauchte. Daß zu solchen Sorgen kein Anlaß bestand, konnte er allerdings nicht wissen: Noch immer war fast das gesamte im Dorf einquartierte Bataillon damit beschäftigt, die Brückenbauabteilung auf der Landstraße zu eskortieren. Nur ein paar Leute hatte man zur Versorgung der Kranken zurückgelassen. Mit dem Fleisch des Maultieres veranstalteten sie eine regelrechte Freßorgie. Bernardino und der kleinwüchsige Mann aßen so lange, bis sie nichts mehr hinunterbekamen. Dann kletterte der kleinwüchsige Mann den Hügel hinauf bis zu jenem Platz, an dem Dodd auf Wache lag. Mit der Hand zeigte er auf das Feuer und ließ sich dann demonstrativ nieder, um an Dodds Stelle weiter Ausschau zu halten. Er war ein Mensch, der sich weitaus mehr Gedanken machte als Bernardino. Als Dodd zurückkam, hielt der völlig mit Maultierblut besudelte Bernardino gerade große Fleisch199
brocken, die er auf einen Ladestock gespießt hatte, über die Flammen. Dodd aß voller Gier. Als er endlich satt war, bekam Bernardino auf einmal wieder Hunger und verlangte nach mehr. Dodd ließ ihn so viel essen, wie er konnte; er hatte eine ganze Weile mit nur halben Rationen hinter sich und würde noch einige Zeit mit halben Rationen auskommen müssen, wenn Dodds Pläne Wirklichkeit wurden. Dodd selbst würde sich so gut wie irgend möglich darauf vorzubereiten haben. Schließlich aber hatte sogar Bernardino genug. Gerade wollte er sich in der angenehmen Wärme neben dem Feuer ausstrecken, um den in vielen Nächten verpaßten Schlaf nachzuholen, als er von Dodd schon wieder hochgescheucht wurde. Er mußte neues Pflanzenöl beschaffen und Dodd dabei helfen, noch mehr Fleisch zu braten. Bernardinos Gesicht hatte ebenso wie das von Dodd eine leuchtend rote Färbung angenommen. Die Hitze des Feuers war derart groß, daß sie ihre Gesichter mit der Hand schützen mußten, während sie das aufgespießte Fleisch über die Flammen hielten. Eine primitivere Art der Zubereitung gab es nicht. Dodd bestand darauf, das Fleisch sorgfältig anzubraten, damit es möglichst trocken wurde. Natürlich verkohlte das Fleisch dabei an den Rändern, aber das war nicht zu verhindern. Das Fleisch war zäh und voller Sehnen und hatte einen süßlichen Geschmack; für Männer jedoch, die hungrig genug gewesen waren, rohes Pferdefleisch zu essen, bedeutete ein gebratenes Maultier den reinsten Luxus. Zudem hatte Dodd noch nicht ein einziges Mal in seinem Leben erfahren, was das hieß, gutes Essen; dasselbe galt für Bernardino. Es war die reinste Ironie, daß alles Geld und alle Mühe, die in diesem Krieg vertan wurden, auch noch dazu dienten, jedem einzelnen 200
Beteiligten jeden Tag geradezu lukullische Genüsse zu bereiten. Der Haufen mit geröstetem Fleisch, Steaks und saftigen Rippenstücken wurde größer und größer, obwohl sich Dodd und Bernardino gelegentlich ein oder zwei besonders verlockende Bissen genehmigten. Bernardino betrachtete mit staunenden Augen den riesigen Berg aus Fleisch, ohne allerdings zu verstehen, wozu das Ganze dienen sollte. Zum Fragen jedoch blieb keine Zeit; den ganzen Tag über war er mit Fleischbraten und Ölsammeln beschäftigt. Erst als ein guter Zentner gerösteten Fleischs zusammengekommen war, schien sich Dodd zufriedenzugeben, und Bernardino konnte endlich schlafen gehen. Zusammengerollt wie eine Katze lag er neben der niedergebrannten Glut des Feuers. Die Wärme und der ungewohnt volle Bauch ließen ihn volle 13 Stunden bis zum nächsten Morgen durchschlafen. Als er aufwachte, waren Dodd und der kleinwüchsige Mann gerade dabei, Vorbereitungen für einen weiteren Fußmarsch zu treffen. Sie luden sich das gebratene Fleisch auf, indem sie es in alle vorhandenen Beutel und Taschen stopften. Auch Bernardino mußte das tun, sobald er auf die Füße gekommen war. Als sie losmarschierten, hatte jeder von ihnen schwer zu tragen – an die 40 Pfund Fleisch pro Mann. Dodd aber fühlte sich glücklich. Sie hatten jetzt genug zu essen für etwa drei Wochen, vorausgesetzt, das Fleisch verdarb nicht. Und selbst wenn es schlecht wurde, machte das nichts. Lieber Maultierfleisch voller Maden als gar kein Fleisch. Obwohl Dodd den Ausdruck »ausgewogene Ernährung« noch nie gehört hatte und das Wort »Kalorien« noch nicht einmal erfunden war, hätte er wohl gerne die Hälfte des Fleisches für die gleiche 201
Menge Brot eingetauscht; solange ein solcher Tausch jedoch nicht im Bereich des Möglichen lag, verschwendete er auch keinen weiteren Gedanken daran. So hatte das peinlich genaue Braten des Fleisches, bis es fast völlig ausgetrocknet war, vornehmlich den Sinn gehabt, das Fleisch für einen möglichst langen Zeitraum haltbar zu machen. Denn obwohl der Frühling nicht mehr weit sein konnte, war es noch immer empfindlich kalt. Sie traten nun einen gefährlichen Marsch an, und – notgedrungen – wußte nur Dodd, welchem Zweck er eigentlich diente. Unterhalb des Hügels erreichten sie die Landstraße und nahmen die Verfolgung der Wagenkolonne auf. Weiter flußaufwärts aber liefen der Fluß und die Straße zusammen; rechts und links der Straße erstreckte sich zudem etwas ebeneres und offenes Gelände, in dem verstreut kleine Weiler lagen, die von Gruppen besetzt gehalten wurden. Hier war nur äußerst langsam voranzukommen – dauernd mußten sie durch Gräben kriechen, von Gebüsch zu Gebüsch schleichen und endlos lang in Deckung bleiben, wenn sich irgendwo ein Gegner zeigte. Eine andere Möglichkeit, das Land zu durchqueren, bestand nicht. Auch Kriegslisten und Verkleidung hätten nichts genutzt – die militärische Lage in Portugal ließ einfach nicht mehr zu, daß man den Anschein eines friedlichen Zivilisten erweckte, der eine Privatreise unternahm. Denn friedliche Zivilisten gab es nicht mehr, ebensowenig ein Privatleben. Die Franzosen würden jeden in ihrer Gewalt, der nicht Franzose war, erhängen oder erschießen, wenn sie ihn nicht folterten. In dieser Gegend hatten sie das schon seit etlichen Wochen getan, bis nur ein paar Einheimische übriggeblieben waren, die
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auch noch wie wilde Tiere unter freiem Himmel hausen mußten – wie Dodd und seine Begleiter. Gleichermaßen undurchführbar war die Idee, nachts auf der Landstraße zu marschieren. Entlang der Straße gab es zahlreiche Militärposten und kleine Dörfer, die dauernde Umwege erforderten; außerdem besaß Dodd Verstand genug, einen Nachtmarsch durch unbekanntes Gelände nicht ernstlich in Betracht zu ziehen. Sie befanden sich jetzt außerhalb des Gebietes, in dem sich der kleinwüchsige Mann auskannte; und von Bernardinos Kenntnissen als Maultiertreiber war kaum zu erwarten, daß sie sich auf jeden Graben und jedes Dickicht erstreckten. Es blieb also nichts anderes übrig, als sich wie bisher vorwärts zu bewegen. Dabei mußten sie auf ihren Umwegen, die sie von der Landstraße entfernten, genauestens auf alle verfügbaren Hinweise achten, um die Brückenbauabteilung nicht versehentlich zu überholen, die sich mit einem Vorsprung von 24 Stunden irgendwo vor ihnen auf ein Ziel zu bewegte, das Dodd unbedingt in Erfahrung bringen wollte. Die Chancen, lebendig durchzukommen, waren nur gering. Dodd hatte das von Anfang an gewußt. Seine Überlegungen aber hatten ihn schließlich zu dem Schluß kommen lassen, daß es seine Pflicht sei, auch ohne ausdrücklichen Befehl sein Leben für eine selbstgestellte Aufgabe aufs Spiel zu setzen, statt es wie eine Begabung nutzlos für jenen großen Tag aufzusparen, da er zum Regiment zurückkehren würde. Verglichen mit der Brücke, die von den Franzosen gebaut wurde, erschien ihm sein Leben nicht besonders wichtig. Und so setzte er es eben ein, nicht gerade mit Begeisterung, aber auch ohne zu zögern; gleichmütig wäre wohl der richtige Ausdruck für seine Haltung gewesen, denn
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Dodd wirkte keineswegs, als habe er sich in sein Schicksal ergeben. Welche Tücken ihr Fußmarsch haben würde, zeigte sich, als sie bereits unmittelbar nach dem Aufbruch durch Gräben und Ackerfurchen kriechen mußten, was furchtbar anstrengend war; dazu kam noch die dauernde Nervenanspannung. Später sollte sich Dodd an die genaue Abfolge der Ereignisse nicht mehr erinnern können; auch nicht daran, wie viele Tage sie unterwegs gewesen waren, bevor sie entdeckt und verfolgt wurden. Nur Kleinigkeiten blieben ihm im Gedächtnis haften – etwa die Form der Blätter in jenem kleinen Gehölz, in dem sie einen halben Morgen über versteckt gelegen und auf die Gelegenheit gewartet hatten, ein Stück freies Gelände zu überqueren. Oder die braune, mineralische Färbung des Bachs, an dem sie sich gerade niedergehockt hatten, als die Patrouille sie aufstöberte. An die lange, atemlose Hetzjagd danach konnte er sich nicht mehr so deutlich erinnern. Sie war ihm wie ein bedrohlicher und zugleich unverständlicher Alptraum erschienen. Dodd entsann sich, wie sie mit einem »Hallo« angerufen worden waren, und wie die schreienden Franzosen hinter ihnen herliefen; wie sein Herz wild gepocht hatte, und wie seine Beine immer mehr an Kraft verloren hatten, während die Last auf seinem Rücken unerträglich schwer geworden war; wie das Geschrei der Verfolger eine weitere Patrouille angelockt hatte, die plötzlich aufgetaucht war und ihnen den Weg abgeschnitten hatte; und wie er geglaubt hatte, keine Luft mehr zu kriegen und keinen Schritt weiter tun zu können und welch gewaltiger Willensanspannung es darum bedurft hatte, einen anderen Fluchtweg einzuschlagen und dabei seinen müden Beinen noch mehr Tempo abzuverlangen. Und er erinnerte sich 204
daran, daß erst Bernardino und dann der kleinwüchsige Mann völlig ausgepumpt hingestürzt waren, und wie er mit sich gekämpft hatte, nicht einfach stehenzubleiben und die ganze Schinderei mit einem letzten Aufbegehren in Ehren zu beenden. Er konnte es kaum fassen, daß ihn schließlich niemand mehr verfolgte und er sich nicht mehr zu jedem Schritt zwingen mußte. Er warf sich zu Boden, schnappte nach Luft und wartete darauf, daß sich sein wie ein schwerer Hammer schlagendes Herz allmählich beruhigte. Als er sich wieder zu rühren vermochte, kroch er ein Stück vorwärts, um durch das lichte Unterholz einen Blick auf den Kamm des Hügels zu werfen, wo sich seine Verfolger am Fuße eines hohen, alleinstehenden Baumes gesammelt hatten. Zur Feier der Gefangennahme von zwei weiteren Partisanen zogen sie gerade Siegesbanner auf – seltsame schwarze Fahnen, die von einem waagerechten Ast herabhingen und auf eine groteske Weise im Wind schaukelten: Es waren Bernardino und der kleinwüchsige Mann, seine beiden letzten Freunde. Sie bedeuteten ihm etwas, auch wenn er von dem einen nicht einmal den Namen erfahren hatte. Offenbar waren beide von einer Einheit gefangen genommen worden, die der Brückenbauabteilung etwas Seil zum Hängen von Banditen vorenthalten hatte. Er empfand Trauer, als er die jämmerliche Szene beobachtete. Das hinderte ihn jedoch nicht daran, den Blick rasch wieder abzuwenden, die Lage neu einzuschätzen und die nächste gefährliche Viertelmeile seines Weges vorauszuplanen. Andere an seiner Stelle hätten jetzt aufgegeben, viele zumindest gezögert, einige wenige aber hätten wie er weitergemacht. Auch danach sollte Dodds Odyssee ein wahrer Alptraum bleiben: Er mußte jetzt mit der Einsamkeit 205
fertigwerden, die ihm schließlich schwer zu schaffen machte. Mehrmals ertappte er sich dabei, wie er sich unterwegs murmelnd selbst Anweisungen für die Marschrichtung gab – gewöhnlich in jenem kindlichen Portugiesisch, das er die letzten Monate gesprochen hatte. Einsamkeit, die dauernde körperliche Anstrengung, die Nervenanspannung und das schlechte Essen stürzten seinen wachen Verstand in ein düsteres Labyrinth, hielten ihn aber nicht von der Verfolgung seiner selbstgestellten Aufgabe ab. Von seinem gebratenen Maultierfleisch aß er kaum noch etwas, Hunger schien er keinen mehr zu haben. Unbeirrt aber marschierte er immer weiter. Das Geschützfeuer mußte wohl an jenem Tag eingesetzt haben, als Bernardino gehängt worden war. Seitdem hatte es das monotone Hintergrundgeräusch zu Dodds einsamen Gedanken abgegeben. Es kam von weit her – nur ein schwaches Grollen aus großer Entfernung war wahrzunehmen – und hielt ohne jede Unterbrechung oder Veränderung an. Nur eine einzige Form der Kanonade brachte ein derart gleichförmiges Gedröhne hervor – eine Belagerung. Irgendwo hämmerte eine Armee mit Kanonenkugeln auf eine Steinmauer ein, um eine Bresche zu schlagen, während jemand anderes versuchte, dies durch Geschützfeuer zu verhindern. Dodd registrierte den Lärm und manchmal blieb er stehen, um genauer hinzuhören. Er kam weit aus dem Süden her, aus 50 Meilen Entfernung oder mehr. Was immer aber dieser Lärm auch bedeuten mochte, die Zerstörung der Brücke wurde dadurch nur noch dringlicher. Dodd marschierte während des ganzen Tages, auch am nächsten und übernächsten Tag, dauernd das ferne Grollen im Ohr. Die ganze Zeit über war es dagewesen; so blieb sein Gehör, dem jetzt etwas 206
Gewohntes fehlte, auch weiterhin geschärft, als das Dröhnen bei Einbruch der Dämmerung auf einmal verstummte. Am Nachmittag erreichte Dodd den Zezere, und noch am gleichen Abend hatte er auch wieder die Brückenkonstruktion vor Augen. Dodd war jetzt etwa 25 Meilen Luftlinie von jener Stelle entfernt, von wo aus er nach Punhete aufgebrochen war; alle geschlagenen Haken und Umwege mitgerechnet, mußte er aber an die 50 Meilen zurückgelegt haben – den größeren Teil davon auf Händen, Knien und dem Bauch.
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19. Völlig unerwartet traf Dodd auf den Fluß und blieb überrascht am Rande des Steilufers stehen. Er hatte nun schon zahlreiche Gewässer zu Fuß durchwatet, diesmal aber lag ein wildbewegter Fluß vor ihm, der schäumend zwischen Felsen dahinströmte und unpassierbar war. Wenn es weiter stromabwärts zwischen dieser Stelle und dem Zusammenfluß mit dem Tejo noch eine Furt gab, wurde sie vom Gegner vermutlich kontrolliert. Um den Fluß zu überschreiten, würde er also weiter stromaufwärts marschieren müssen, bis er entweder eine noch benutzbare und feindfreie Brücke fand – was allerdings höchst unwahrscheinlich war – oder eine Stelle entdeckte, die schmal genug war, um auf die andere Seite zu gelangen. Womöglich würde er dabei bis zu jenen Bergen vordringen, in denen der Fluß entsprang. Bevor er sich jedoch auf den Weg ins Landesinnere machte, kam er nicht umhin, noch einmal die Landstraße zu beobachten; er wollte sichergehen, daß er die Brückenbauabteilung noch nicht überholt hatte. Er rutschte den 50 Fuß hohen und fast senkrechten Steilhang hinunter und marschierte dann am Ufer weiter, das tosende Wasser unmittelbar neben sich. Es war nur schwer voranzukommen, denn der Fluß füllte sein Bett ganz aus und der Steilhang reichte fast unmittelbar an das Wasser heran. Immer wieder mußte Dodd den Hang hinaufklettern und einen Blick über die Abbruchkante werfen, um nach dem Feind Ausschau zu halten und festzustellen, ob die Landstraße noch in Sichtweite war. Je weiter er dabei vorankam, um so 208
mehr verlor der Hang an Höhe und Gefälle. Dodd begann sich Sorgen zu machen, daß er bald ohne die Deckung dieses natürlichen Grabens würde auskommen müssen. Schließlich beschloß er, den Graben zu verlassen, der nun derart flach geworden war, daß er keine Deckung mehr bot und damit eine zusätzliche Gefährdung bedeutete. Denn mit dem leichteren Zugang zum Wasser erhöhte sich das Risiko, zufällig auf Franzosen zu treffen, die ihre Pferde saufen ließen oder Wäsche wuschen. Er war gerade zu diesem Entschluß gelangt, als er die Brückenbauabteilung entdeckte. Es konnte keinen Zweifel geben – dort unten hatte sie ihr Lager aufgeschlagen, den schimmernden Tejo im Rücken. Deutlich waren die ordentlich am Ufer gestapelten Pontons, die Berge von Holz für die Fahrbahn und riesige Haufen mit Tauwerk zu erkennen. Dodd konnte einige Männer sehen, die eiligst ein niedriges Schutzdach über den aufgehäuften Baumaterialien errichteten; andere Männer wieder hämmerten direkt am Ufer an etwas herum, was Dodd für Ablaufschienen zum Wassern der Pontons hielt. Inzwischen war die Dämmerung hereingebrochen, und Dodd blieb nur wenig Zeit zum Beobachten. Als es dann ganz dunkel geworden war, marschierte er ein Stück weiter flußaufwärts und suchte sich in einer unterspülten Stelle des Steilhangs einen Schlafplatz. Wie an den Tagen und in den meisten Nächten zuvor regnete und stürmte es auch diese Nacht ununterbrochen, und Dodd ging kurz vor dem Einschlafen noch der alte Bibelvers durch den Kopf, in dem es heißt, daß jeder Fuchs seine Höhle und jeder Vogel sein eigenes Nest habe.
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Einmal angenommen, man hätte ihn jetzt fragen können, ob er glücklich sei, Dodd hätte keine Antwort gewußt. Daß es unbequem war, daß er fror, Hunger hatte und verlaust war, daß ihm seine Kleider in Fetzen vom Leib hingen und Füße, Ellbogen und Knie vom dauernden Marschieren und Kriechen wundgescheuert waren und bluteten, all das hätte er zugegeben; ebenso wie die dauernde tödliche Gefahr und daß er nicht ernsthaft damit rechnete, sein freiwilliges Abenteuer zu überleben. Mit dem Gefühl, glücklich zu sein, aber hätte das alles nichts zu tun gehabt – darüber machte er sich keine Gedanken. Daß er es nicht tat, war vielleicht ein Beweis dafür, wie glücklich er sich tatsächlich fühlte. Er war ein Soldat, der seine Pflicht tat, so gut er eben konnte. Dabei wäre er der erste gewesen zuzugeben, daß er mit seinen bisherigen Unternehmungen und seinen Vorhaben unter dem Befehl eines Offiziers weit mehr Erfolg gehabt hätte. So, wie die Dinge nun einmal lagen, brauchte er sich keine Vorwürfe zu machen (über die er allerdings auch nicht nachdachte) – ein seelischer Zustand, der vom wahren Glück nicht weit entfernt ist. Aufs äußerste erstaunt aber wäre er gewesen, hätte man ihm gesagt, daß die Darlegung seines Denkens und Fühlens eines Tages ganze Absätze in einem gedruckten Buch füllen würde. Der feuchten Dämmerung folgte der übliche kühle und dunstige Morgen. Dodd streckte sich, um seine steif gewordenen Glieder zu lockern, und hielt Ausschau nach etwaigen Feinden, bevor er sich am Ufer des rauschenden Flusses bis zu jener Stelle vorarbeitete, von der aus er die Bauarbeiten an der Brücke sehen konnte. Mit aller Dringlichkeit wurde ihm nun bewußt, daß er sich nur so gut wie irgend möglich vorbereitet auf sein Unternehmen einlassen durfte. Er war allein; sollte 210
etwas schiefgehen, würde niemand da sein, den Versuch noch einmal zu wiederholen. Soweit er sehen konnte, bestand jedoch kein Grund zur Eile. Also beschloß er, den ganzen Tag lang – und wenn nötig, sogar noch länger – mit der Beobachtung dessen zuzubringen, was unten am Fluß vor sich ging. Zwischen den Felsen fand er ein Versteck. Er hoffte, dort zumindest so lange in Sicherheit zu sein, wie niemand unmittelbar daran vorbeiging. Von hier aus starrte er auf den Fluß und das Gewühl an dessen Ufer. Ganz nahe am Ufer befand sich ein Trupp Bootsbauer, die damit beschäftigt waren, Beplankungen auf die Spanten von zwei Pontons zu nageln. Etwas weiter vom Fluß entfernt brannte im Winkel zwischen zwei grob zusammengezimmerten Bretterzäunen, die notdürftig den Wind abhielten, ein Feuer; über dem Feuer hingen mehrere große Kessel. Einige Männer versuchten hier, das praktisch unbrauchbare Holz zu biegen. Dodd hatte keine Vorstellung, wozu sie das taten; er sah nur das Feuer und mußte vor Freude schlucken, als er sich vorstellte, wie sehr es ihm von Nutzen sein würde. Dahinter war offenkundig jemand damit beschäftigt, die Oberseite eines Pontons anzumalen – jedenfalls wurde der Ponton mit einer Masse beschmiert, die aus einem weiteren in der Nähe stehenden Kessel geholt wurde. In noch größerer Entfernung standen zwei Schuppen mit Tauwerk, hinter denen eine Seilerbahn lag. Dodd erkannte sie wieder; vor langer Zeit hatte er einmal in Dover eine solche Seilerbahn in Betrieb gesehen, als er von der Kaserne in Shorncliff zu einem Ausflug in die Stadt gekommen war. Ganz weit weg lagerte schließlich eine riesige Menge säuberlich aufgestapeltes Bauholz; Dodd nahm an, daß es sich dabei um die Planken für die Fahrbahn handelte, die bereitlagen, um auf den 211
gespannten Tauen verlegt zu werden – falls es jemals gelingen sollte, die Pontons richtig in Position zu bringen. Den ganzen Tag über behielt Dodd das Geschehen dauernd im Auge. Er hatte sich eine schwierige Aufgabe gestellt und so versuchte er sich alles, was er sah, möglichst genau einzuprägen, damit er sich dort unten im Dunkeln jederzeit zurechtfinden konnte. Indem er sich hier einen Busch und dort eine Bodenwelle merkte, legte er einen Weg fest, der ihn selbst bei größter Dunkelheit von Orientierungspunkt zu Orientierungspunkt auf den Bauplatz führen würde. Ohne Nervosität oder Hektik beobachtete er immer weiter – eine Tätigkeit, auf die er durch Drill und Erfahrung, vielleicht auch den Mangel daran, bestens vorbereitet war. Das ereignislose Leben als Knecht auf einer Farm und die strenge Disziplin während seines Militärdienstes erwiesen sich jetzt als nützlich. Sein Verstand brauchte nicht dauernd neue Anregungen. Er blieb einfach liegen und käute seine Erkenntnisse wieder, gelassen wie eine Kuh. Erst gegen Ende des Tages wurde er wieder aufmerksamer. Er mußte unbedingt herausfinden, ob auf dem Bauplatz Wachposten aufzogen, und wenn ja, wie viele und wo. Als es Abend wurde, sah er, wie die Männer mit der Arbeit aufhörten und am Ufer entlang zu einer Doppelreihe mit Notunterkünften – kleinen Hütten aus Ästen und Laubwerk – abrückten. Beim letzten Schimmer des Tageslichts beobachtete er dann, wie die Wache aufmarschierte und die einzelnen Posten besetzt wurden. Nur zwei Mann befanden sich auf dem Bauplatz; jeder von ihnen bekam das halbe Gelände als Wachabschnitt zugewiesen. Dodd vermutete, daß sie mit keinem Angriff rechneten – nichts hätte den Franzosen 212
wohl weniger in den Sinn kommen können. Aus eigener Erfahrung wußte Dodd, daß die Wachen vielmehr die eigenen Leute daran hindern sollten, Bauholz zum Feuermachen zu stehlen – denn nur zu oft besteht das Leben des einfachen Soldaten allein aus der dauernden Suche nach Brennmaterial, wobei er nicht sonderlich wählerisch sein kann. Zwischen den Hütten jedenfalls konnte Dodd bereits die ersten Lagerfeuer erkennen. Dodd hätte vielleicht schon diese Nacht die Brücke angreifen können, übte sich aber in Geduld und beschloß, noch einen Tag zu warten. In dieser Nacht war der Mond ausnahmsweise einmal am Himmel zu sehen. Er verbreitete ein fahles, trübes Licht, das hell genug war, um jede seiner Aktivitäten zusätzlich in Gefahr zu bringen. So tat es ihm auch nicht leid, in der Nacht weiter auf der Lauer zu liegen: Er wollte alles über Postenrundgänge und Wachwechsel herausfinden. Mit dem normalen Wachsystem der Franzosen kannte er sich einigermaßen aus – er hatte oft genug als Nach- oder Vorhut in Hörweite der Franzosen Wache schieben müssen –, diesmal aber versuchte er so viel wie möglich darüber in Erfahrung zu bringen. Dabei wurde ihm rasch klar, daß er mindestens eine Stunde ungestört bleiben mußte, wenn er jenen Plan verwirklichen wollte, den sein langsamer, aber logisch arbeitender Verstand entwickelt hatte. Die ganze Nacht über blieb er in seinem Versteck und döste über längere Zeiträume ein, wachte aber bei jedem ungewöhnlichen Geräusch stets sofort wieder auf. In der klaren und stillen Nacht konnte er ganz genau hören, was sich in 300 Yards Entfernung tat. Als es endlich Morgen wurde, wußte er, was er hatte herausfinden wollen.
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Am nächsten Morgen änderte sich das Wetter erneut. Zwar blieb jetzt ein scharfer Wind, der gelegentlich von heftigen Regenschauern unterbrochen wurde, als erstes Anzeichen des kommenden Frühlings aber war es spürbar wärmer geworden. Dodd lag noch immer in seinem Versteck. In größeren Abständen wurde er immer wieder vom Regen durchnäßt, ein paarmal aber brannte auch die Sonne auf seinen Rücken und erwärmte ihn angenehm. Als die Sonne herauskam, nutzte er die günstige Gelegenheit und packte seine letzten 13 Patronen aus, um sie zu trocknen. Obwohl er den ganzen Winter über ausgesprochen sorgfältig mit seiner Munition umgegangen war, erwiesen sich zwei Patronen als unbrauchbar. Wie viele außerdem nicht mehr zu benutzen waren, wußte er nicht. Eine Patrone aber, die im Gewehrlauf nicht zündete, konnte gefährlich werden. Die Beschäftigung mit seiner Munition hinderte Dodd keineswegs daran, seine Beobachtungen fortzuführen. Den ganzen Tag über sah er dem Fortgang der Arbeiten am Fluß zu. Ein weiterer Ponton wurde fertiggestellt – schon der zweite, seit er sich in seinem Versteck befand – und noch mehr Tauwerk in den Schuppen aufgehäuft. Am Nachmittag beobachtete er zwei hin- und herschwankende Soldaten, die mit jeweils einem großen Kessel aus dem etwas entfernt liegenden Dorf kamen; an jener Stelle, an der die Pontons mit Farbe abgedichtet wurden, stellten sie die Kessel ab. Wahrscheinlich enthielten sie Farbe, Teer oder Fett – wenn man die Kessel nicht mit Flußwasser gefüllt hatte. Für sein Vorhaben konnte auch das nützlich sein. Überhaupt passierte nichts, was eine Änderung seiner Pläne nötig gemacht hätte. Als es schließlich Nacht wurde, aß er ein wenig von seinem getrockneten Maultierfleisch. Er mußte sich zum 214
Essen regelrecht zwingen: Zum einen war selbst ein derart unerschütterlicher Soldat wie Dodd aufgeregt, wenn er sich auf ein Abenteuer wie dieses einließ; zum anderen hatte er nun schon seit einer Woche nichts anderes mehr gegessen als kalten Maultierbraten; und schließlich empfand er einen zunehmenden Widerwillen gegen das Fleisch, das noch nie besonders appetitlich gewesen war. Trotzdem nahm Dodd etwas zu sich, denn es war nicht sicher, wann er wieder etwas zu essen bekommen würde, sollte er seine nächtliche Unternehmung tatsächlich überleben. Aus seinem Tornister und seinen Uniformtaschen packte er aus, was ihn behindern konnte, und verstaute die Sachen in seinem Versteck. Vielleicht würde er sie später holen können, vielleicht auch nicht. Weit schwerer fiel dagegen die Entscheidung, das Gewehr ebenfalls zurückzulassen: Kein guter Soldat gab seine Waffe jemals aus der Hand, denn ohne Waffe war man kein Soldat mehr – eine Verhaltensweise, die noch aus vorgeschichtlichen Kriegen herrührte. Der Verlust des Gewehres bedrückte Dodd. Es hier zu lassen, bedeutete unwiderruflich, das Bayonett wie ein Messer benutzen zu müssen – was nach simplem Mord und damit unsoldatischem Verhalten aussah. An den Tatsachen änderte das allerdings nichts: Das Gewehr würde ihn nur behindern; und brauchen würde er es nur, wenn sein Unternehmen fehlschlug. Es war einfach das klügste, es hier zu lassen. Was Dodd denn auch tat. Die Scheide mit dem Bayonett schob er sich auf den Rücken, wo sie beim Kriechen über Felsen am wenigsten klappern würde oder irgendwo hängenbleiben konnte. Er überprüfte, ob sich das Bayonett leicht aus der Scheide ziehen ließ und ob sich der wertvolle
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Zunder noch in seiner Tasche befand. Dann machte er sich auf den Weg zu seinem Abenteuer. Er hielt sich dicht ans Flußufer, denn hier war die Gefahr, auf den Feind zu stoßen, am geringsten. Mit seinen zerschundenen Ellbogen und Knien kroch er über scharfkantige Felsen. Als der Mond noch einmal hinter einer Wolke auftauchte, mußte er nahezu eine Stunde lang bewegungslos in einer Spalte ausharren, bevor es weiterging. Die am Himmel vorbeiziehenden Wolken verdeckten schließlich wieder den Mond und hüllten alles in tiefste Dunkelheit; mit den Wolken kam zudem Regen auf, der Dodd auf dem Rest seines Weges als hervorragende Deckung diente. Endlich ließ er sich hinter ein paar flachen Felsen nieder; ohne die geringste Bewegung flach auf den Boden gepreßt, lag er hier keine 20 Yards vom äußersten Punkt des Wachrundganges entfernt. Hier wartete er ab; es war nicht einmal Mitternacht, und er würde womöglich noch etliche Stunden damit zubringen müssen, den günstigsten Augenblick abzupassen. Das Warten zerrte an den Nerven. In nahezu gleichen Zeitabständen konnte er hören, wie sich die Wache im Gleichschritt näherte und dann wieder entfernte. Nur manchmal gab es eine kurze Unterbrechung, bevor sich der Posten auf seinem Rundgang erneut entfernte – eine Tortur, denn der auf seinem Gesicht liegende Dodd vermochte nicht zu erkennen, ob der Posten nun halt gemacht hatte, um einen Blick auf den vorbeirauschenden Fluß zu werfen, oder in die Dunkelheit zwischen den Felsen starrte und überlegte, ob sich dort ein feindlich gesinntes menschliches Wesen verbarg. Doch er blieb unentdeckt, und manchmal ließ die Nervenanspannung sogar etwas nach, wenn der
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Posten am anderen Ende seines Rundganges mit seinem Kameraden redete. Langsam vergingen die Stunden; zweimal waren die Wachsoldaten abgelöst worden. Dodd überlegte bereits, ob es nicht besser wäre, sofort loszuschlagen, als einer der günstigen Umstände eintrat, auf die er gewartet hatte. Einer der Posten rief jemanden laut an, sein »Qui vive?« hallte durch die Nacht. Auf den Anruf kam eine ruhige Antwort – der wachhabende Offizier machte seine Runde. Dodd zwang sich, noch etwas zu warten; die Dinge entwickelten sich durchaus in seinem Sinne. Eine Viertelstunde später wurde erneut jemand angerufen. Diesmal war es der Sergeant mit der Wachablösung. Dodd hörte, wie die Posten wechselten und die abgelöste Wache davonmarschierte. Mit geschärften Sinnen wartete er weiter ab; er mußte genügend Zeit verstreichen lassen, bis überall wieder Ruhe eingekehrt war – wobei 20 Minuten endlos sein können, wenn man währenddessen absolut nichts zu tun hat. Er geduldete sich schließlich so lange, bis die Schritte des Postens wieder in der Ferne verhallten. Dann schlich er sich geräuschlos bis zu einem 20 Yards vor ihm liegenden Felsen, in dessen Nähe der Posten bei seiner Rückkehr vorbeikommen mußte. Er zog sein Bayonett aus der Scheide und duckte sich. Die Posten wechselten ein paar Worte miteinander, und Dodd spannte alle Muskeln an. Als der Posten endlich näher kam, sprang er so leise und behende wie ein Leopard nach vorne. Das Bayonett des Schützenregiments war die ideale Waffe für einen lautlosen Mord – lang und scharf, dabei schmal und an der Spitze leicht nach oben gebogen. Dodd stieß mit aller Kraft von unten zu. Das Bayonett 217
drang unter den Rippen in den Körper, durchstieß die Leber und das Zwerchfell und zerfetzte mit der Spitze die großen Blutgefäße direkt am Herzen. Soldat Dubois vom 4. Bataillon des 46. Regiments starb, ohne auch nur einmal noch aufgestöhnt zu haben. Er war bereits tot, als er noch auf seinen eigenen Füßen stand. Dodd packte mit der linken Hand den Schaft der Muskete, die sich Dubois umgehängt hatte; mit der rechten Hand dagegen ließ er den Griff des Bayonetts los und faßte den Mann um die Taille, um ihn am Fallen zu hindern und geräuschlos zu Boden gleiten zu lassen. Einer der Wachposten war damit erledigt. Dodd bückte sich, zog das Bayonett mit einem heftigen Ruck aus dem Leichnam und schob es, blutverschmiert wie es war, zurück in die Scheide. Dann hob er die schwere Muskete des Franzosen mit ihrem aufgesetzten Seitengewehr vom Boden auf und schlich mit über die Schulter gehängter Waffe den Postenweg entlang. Im Schatten hinter dem Schuppen hielt er an; in der Dunkelheit konnte der herankommende zweite Posten von dem ruhig abwartenden Dodd nur eine aufrecht stehende Gestalt und das Schimmern eines Bayonetts erkennen. Daß ein Engländer hier stand und nicht sein Kamerad Dubois, den er erst vor zwei Minuten zuletzt gesehen hatte, kam ihm dabei nicht im entferntesten in den Sinn. Er sagte irgend etwas, als er herantrat. Vielleicht schoß ihm als allerletzter Gedanke durch den Kopf, daß Dubois plötzlich verrückt geworden war, als die dunkle Gestalt plötzlich einen Schritt nach vorne tat und ihm den Gewehrkolben auf den Kopf schmetterte. Das Töten des letzten Postens erforderte nicht mehr absolute Geräuschlosigkeit; zudem sorgt ein Gewehrkolben sicherer als das Bayonett dafür, daß kein Alarm gegeben werden kann. Dodd schlug mit solcher 218
Kraft zu, daß der Schaft der Muskete hinter dem Schloß zerbrach; die schwere Schulterstütze hing nur noch an ein paar Holzfasern und schaukelte hin und her, als Dodd die Waffe für den Fall, noch einmal zuschlagen zu müssen, wieder hob. Dazu aber kam es nicht mehr, der Mann war sofort zu Boden gegangen. Dodds Gesichtsausdruck wurde hart, als er sich über ihn beugte. Gewöhnlich töten Soldaten keine Verwundeten, der Erfolg dieses Unternehmens aber hing davon ab, daß der Mann unbedingt den Mund hielt. Dodd hätte nicht gezögert, ihm die Kehle durchzuschneiden, doch das war nicht mehr nötig: Aus dem zertrümmerten Schädel floß das Gehirn des Mannes wie Brei. Dodd stand jetzt nichts mehr im Weg, seinen Plan zu verwirklichen. Die Kontrollrunde des Offiziers hatte bereits stattgefunden, und die Posten würden erst in zwei Stunden abgelöst werden. Eine Stunde sollte zur Ausführung seines Vorhabens reichen. Er lauschte gespannt auf irgendein Anzeichen dafür, daß die schwachen Geräusche die Aufmerksamkeit der Soldaten weiter oben am Flußufer erregt hatten. Als er nichts hörte, ging er sofort ans Werk und lief zum Bauplatz am Fluß. In den Schuppen mit Tauwerk fand er eine Unmasse nur locker verdrillter und haariger Trossen; mit seinem Bayonett schnitt er sich davon einen Arm voll zwei Fuß langer Seilstücke zurecht. Dann tastete er sich zu jener Stelle vor, wo die Kessel mit der Flüssigkeit zum Abdichten der Pontons abgestellt worden waren. In den Kesseln befand sich noch genug von dieser Flüssigkeit. Dodd griff hinein und stellte fest, daß der Inhalt aus einem halbfesten Öl bestand, das ausgezeichnet brennen würde. Er tauchte die Seilstücke
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als ganzes in das Gebräu und verteilte sie unter den aufgestapelten Pontons. Danach schnitt er sich eine weitere Ladung Seilstücke zurecht und tränkte sie ebenfalls mit Öl, denn noch lagen nicht überall zwischen den Pontons Zünder. Den Rest verteilte er auf die Haufen mit Holzplanken für die Brückenfahrbahn. Einen Augenblick lang dachte er darüber nach, ob er eine Verzögerung riskieren durfte, um mehr Zünder zu verteilen, und kam zu dem Schluß, daß eine solche Verzögerung zu rechtfertigen sei: Also schnitt er noch mehr Seile zurecht, tränkte sie mit dem Öl und schleuderte sie zwischen das Holz. Dann kippte er den Rest der Flüssigkeit in dem einen Kessel über einem Stapel Pontons; den anderen Kessel leerte er über einige der im Schuppen lagernden Tauwerkhaufen. Anschließend lief er zum Flußufer hinunter, wo er mehrere Feuerstellen gesehen hatte. Mit dem Fuß durchstöberte er die Asche, bis er ausreichend Glut fand. Sie würde ihm die Arbeit abnehmen, mit Feuerstein, Stahl, Zunder und der langsam brennenden Lunte ein Feuer zu entfachen. Er nahm seinen alten und zerbeulten Tschako ab, schaufelte mit dem Fuß Glut hinein und rannte damit etwas ungeschickt, aber schnell, zurück zu den Schuppen. Dort schüttete er die Glut über dem ölgetränkten Tauwerk aus. Das sollte reichen, um ein schönes Feuer zu entfachen. Die Seile ließen sich am leichtesten in Brand setzen; waren sie erst einmal zerstört, so vermutete Dodd, würden sie am schwersten zu ersetzen sein. Die Vernichtung des Tauvorrats war also gleichbedeutend mit der Zerstörung der gesamten Brücke. Das Öl knisterte und zischte, und Dodd stieg ein Bratengeruch in die Nase, den er aus portugiesischen Küchen gut kannte. Dann fing eines der Seile Feuer; die 220
kleine Flamme loderte auf, sank wieder in sich zusammen, loderte erneut auf und erfaßte schließlich den ganzen Haufen, der wie eine Fackel in Flammen aufging. Dodd beobachtete kurze Zeit, wie die Flamme auf das übrige Tauwerk übersprang. Dann ergriff er eines der brennenden Seilstücke und eilte damit auf den Bauplatz hinaus. Jedes ölgetränkte Stück Tau, an das er sich noch erinnern konnte, zündete er an. Alles brannte hervorragend, und bald schlugen aus den Holzhaufen und den aufgestapelten Pontons die ersten kleinen Flammen. Seit Dodd das aufgehäufte Tauwerk in Brand gesetzt hatte, waren noch keine fünf Minuten vergangen. In diesem Moment ertönte ein Schrei und am Flußufer, wo die Franzosen lagerten, brach plötzlich ein Chaos aus. Dodd wußte nun, daß ihm keine Zeit mehr für weitere Zerstörungen blieb. Er schleuderte seine Fackel zwischen die Pontons und rannte in die Dunkelheit flußaufwärts. Mit seinem Gewehr wäre er vielleicht noch einen Augenblick länger geblieben und hätte ein oder zwei Schüsse auf die Franzosen abgegeben, damit sich die Flammen noch mehr ausbreiten konnten; aber das Gewehr befand sich in seinem Versteck. Kurz bevor er flüchtete, zeigte ihm ein letzter Blick auf das Tauwerk jedoch, daß dies gar nicht mehr nötig war: Die Schuppen hatten sich bereits in die reinsten Glutöfen verwandelt. Der Anblick der auflodernden Flammen beflügelte Dodd ungeheuer, als er am Flußufer um sein Leben rannte. Die Männer, die jetzt im Eiltempo auf den Bauplatz zuliefen, würden das Feuer nur noch sehr schwer löschen können. Von den französischen Hütten her schallte ein Trommelwirbel herüber.
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20. Es war am zweiten Tag, nachdem die Brückenbauer am Ufer des Zezere ihr Feldlager aufgeschlagen hatten, als zuerst der kaum vernehmbare Donner einer fernen Beschießung zu hören war. Das Dröhnen kam weit aus dem Süden, und jedermann konnte dem Lärm nach auf eine Belagerung schließen. Welche Stadt allerdings unter Beschuß stand und wer dort Belagerer und Belagerter war, vermochte niemand unter den Soldaten zu sagen. Selbst die Männer des 2. und 6. Korps waren bei ihrem Vormarsch in Spanien nie bis in die Gegend südlich des Tejo vorgedrungen; die Kenntnisse der Leute über die spanische Landschaft jenseits des Flusses waren entsprechend gering. Nur Oberst Gille, unter dem Oberbefehlshaber General Eble, der eigentliche Kommandeur der Brückenbauabteilung, hatte eine Erklärung. »Klingt nach Ihrem Onkel, Sergeant«, sagte er während einer Pause beim Inspizieren der Arbeiten an den Pontons zu Sergeant Godinot. »Wenn Sie meinen, Oberst«, antwortete Godinot. »Die andalusische Armee belagert wohl gerade Badajoz«, erläuterte Oberst Gille. »Sie haben sich endlich also doch in Bewegung gesetzt. Bloß...« Oberst Gille brach mitten im Satz ab und behielt den Rest für sich. Die lockere Disziplin in der französischen Armee ließ zwar ein ungezwungenes Gespräch zwischen einem Oberst und einem Sergeanten zu, gestattete dem Sergeanten aber nicht, dem Oberst Fragen zu stellen. Godinot konnte darum Oberst Gille nicht dazu zwingen, den Satz zu beenden, dessen »bloß ...« aber sprach 222
Bände. Im übrigen mußte er darauf warten, daß der Oberst das Gespräch fortsetzte. »Ihr Onkel ist ein glänzender Offizier«, fuhr Oberst Gille fort. »Ich habe ihn gut gekannt, als ich zum Stab des Prinzen vom Eckmühl in Polen gehörte. Was gäbe ich dafür, ihn mit seiner Brigade auf der anderen Seite des Flusses aufmarschieren zu sehen. Wenn bloß der Graf von Dalmatien ...« Wieder ließ Oberst Gille einen Satz unvollendet. »Nun, wir werden sehen«, schloß er etwas lahm, bevor er zu einer anderen Werkstatt davonging. »Sie haben hier gute Arbeit geleistet, Sergeant.« Sergeant Godinot vermochte die Gedankengänge von Oberst Gille noch nicht einmal zu erahnen; so viel aber war ihm zumindest klar, daß der Lärm der Beschießung von Badajoz dem Stab nicht die vermutete Freude bereitete. Bewies er doch, daß Soults Armee (den Oberst Gille etwas förmlich den Grafen von Dalmatien nannte) zwar auf dem Vormarsch war, daß dieser Vormarsch zugleich aber nicht besonders erfolgreich verlief. Statt ihnen mit seiner ganzen Armee zu Hilfe zu kommen, hatte Soult lediglich einen Teil seiner Truppe gegen jene Festungen eingesetzt, die das südliche Portugal beherrschten. Jetzt belagerte er gerade Badajoz. Sollte er hier mit seinem Angriff Erfolg haben, würde er als nächstes Elvas einnehmen müssen – eine größere, besser ausgerüstete und stärker bemannte Festung. Danach kamen noch ein halbes Dutzend kleinerer Forts – Albuquerque, Olivenza und wie sie noch alle hießen. Monate würden vergehen, bevor er so den Tejo erreichen konnte. Monate? Die französische Armee verhungerte, jeden Tag starben Hunderte. Kein Wunder, daß dem französischen Stab der Lärm der fernen
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Beschießung wie das Läuten von Totenglocken über all ihren Hoffnungen erschien. Von all dem wußte Sergeant Godinot natürlich nichts. Die Verzweiflung des Hauptquartiers aber spürte er genauso wie seine Kameraden; bestätigt wurde dieses Gefühl schließlich durch den Umstand, daß die unzureichenden Tagesrationen noch einmal unter das an sich schon gesundheitsschädigende frühere Niveau gesenkt wurden. Bei ihrer Ankunft am Zezere hatten die Männer im Umland mit ihren Musketen noch Jagd auf kleine Vögel gemacht. Anstelle der Kugeln waren dabei kleine Säckchen mit Kieseln benutzt worden, bis die Jagd plötzlich durch eine Anweisung des befehlshabenden Generals unterbunden wurde. Die Armee hatte keine Munitionsreserven mehr und konnte sich deshalb die Verschwendung von Schießpulver für Spatzen und Drosseln nicht leisten. In Lumpen gekleidet, barfüßig, hungrig und von Seuchen geplagt drohte die französische Armee in Portugal auseinanderzufallen. Ungeachtet der bei den Soldaten umgehenden Gerüchte über einen Rückzug ging der Brückenbau weiter. Noch immer mühten sich die Zimmerleute mit unbrauchbarem Material ab, stellten die Seiler Taue her und bauten die Schiffsbauer Boote. Die Arbeiten waren jetzt nahezu abgeschlossen, trotzdem war jedermann klar, daß man auch danach noch würde hierbleiben müssen, um gegebenenfalls die Brücke tatsächlich über den Fluß zu schlagen. Also fristeten die Mannschaften weiterhin ihr dürftiges Dasein in den Hütten oberhalb des Flusses. Kaum besser erging es den in Häusern des Dorfs untergebrachten Offizieren – mit Ausnahme des jeweils wachhabenden Offiziers, für den die Männer am Ende der Lagerstraße einen hölzernen Schuppen direkt
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neben den Hütten der Wachmannschaften errichtet hatten. Der Wachdienst stellte keine hohen Anforderungen. Tagsüber standen zwei Posten auf dem Hügel, nachts kamen noch zwei weitere hinzu, um die chronisch mit Brennmaterial unterversorgten Männer am Stehlen des Baumaterials zu hindern; mehr Posten waren nicht nötig. Der Wachtrupp bestand nur aus 15 Soldaten, einem Sergeanten und einem Trommler – nur einmal alle drei Wochen war so jeder einzelne Mann dran mit Wacheschieben. Der Tag, an dem Sergeant Godinot Unteroffizier der Wache war, hatte nicht anders angefangen als jeder andere Tag auch. Sicher, ein Melder war aus Santarem gekommen und hatte General Eble den Befehl überbracht, sich im Hauptquartier zu melden – seine Ordonnanz berichtete ihnen von dem Befehl, und dann hatten sie gesehen, wie der General davonritt –, aber das war nicht weiter wichtig gewesen. Zu diesem Zeitpunkt stellte der Dienst den Sergeanten der Wache in keiner Weise vor schwierige Aufgaben: Es gab keine Betrunkenen, mit denen man sich herumschlagen mußte, weil keiner der Männer seit sechs Wochen etwas anderes als Wasser zu trinken bekommen hatte. Und bei Routinekontrollen der Ausrüstung fehlte nie etwas, weil die gesamte Ausrüstung der Männer längst durch Gebrauch oder Beschädigung praktisch vollständig verlorengegangen war. Schließlich konnte auch niemand von diesem Teil der Armee desertieren; keiner der Männer hätte freiwillig die Bratpfanne des soldatischen Lebens gegen die offenen Flammen der Gefangennahme durch die Freischärler eingetauscht. Zudem waren die Engländer weit weg. Alles, was Sergeant Godinot zu tun hatte, war die Posten richtig aufzustellen und rechtzeitig 225
für ihre Ablösung zu sorgen. Die übrige Zeit verbrachte er damit, dösend am Eingang der Wachhütte zu sitzen, während seine Leute drinnen ihre vierstündige Freiwache verschnarchten. In der Nacht kam ein stürmischer Wind mit Regenschauern auf; gelegentlich trat der Mond hinter den Wolken hervor. Im ganzen Lager war es ziemlich ruhig. Von seinem Sitzplatz aus konnte Godinot gerade noch das Gurgeln und Plätschern des hochgehenden Zezere hören. Er hatte viel Zeit, einfach nur dazusitzen und über seinen Hunger nachzusinnen, sich Gedanken über den Verlauf des Feldzuges zu machen und an jene glückliche Zeit zurückzudenken, als er noch ein Schuljunge in Nantes gewesen war, der sonntags auf einem Boot fuhr, immer genug zu essen hatte und nie länger als ein paar Tage mit eingerissenen Kleidern herumlaufen mußte. Seinen Tschako hatte er auf den Knien abgestellt und strich sich in Gedanken bedächtig über den Kopf – bevor er befördert und zum neugeschaffenen 4. Bataillon versetzt worden war, hatte er in einer Grenadierkompanie Dienst getan; und die Pelzmützen der Grenadiere neigten dazu, das Haupthaar des Mannes dünn werden zu lassen. Gerade hatten die Posten zum letzten Mal gewechselt und den jungen Dubois unten am Fluß als Wache zurückgelassen. Godinot hoffte, daß wenigstens Dubois den Feldzug heil überstehen würde. Alle anderen – Boyel, der kleine Godron, Fournier und die übrigen – waren tot. In Nantes kannte er die Mutter von jedem einzelnen – Frauen, die in Tränen ausbrechen und ihm die Schuld an deren Tod geben würden. Die unglücklichen Frauen wußten noch nicht einmal, daß ihre Söhne gefallen waren, obwohl der Tod von Boyel bereits nahezu drei Monate zurücklag. Solange die Armee hier in Portugal eingeschlossen 226
blieb, konnten sie auch nichts davon erfahren. Doch das würde nicht immer so bleiben. Bald schon würden sie sich wieder in Bewegung setzen – an dieser Stelle entdeckte Godinot, daß seine Überlegungen anfingen, sich im Kreis zu drehen. Er schüttelte sie ab, stand auf und warf einen Blick auf die Uhr, die in der Wachhütte an der Wand hing – die einzige noch funktionstüchtige Uhr an diesem Frontabschnitt. Es war noch eine Stunde Zeit bis zur nächsten Wachablösung. Er trat hinaus in die Nacht, blieb stehen, rieb sich die Augen, und sah genauer hin. Unten am Flußufer lag ein roter Schein wie von einem Feuer. Eingerahmt wurde dieser Schein von langen Reihen funkelnder Punkte, die wie Kerzenlichter aussahen. Als er näher hinsah, dehnte sich einer dieser Punkte aus, wurde heller und roter. Ein anderer Lichtpunkt bewegte sich dort unten hin und her. Jemand setzte die Brücke in Brand. – Nein, die Brücke stand bereits in Flammen! »Wache ausrücken!« schrie Godinot. »Los, raus, ihr Bastarde. Beeilung!« Er weckte die sich schläfrig herumwälzenden Männer mit Fußtritten. Den Trommler packte er am Kragen und stellte den noch halb schlafenden Mann auf die Beine. »Gib Alarm! Hast du mich verstanden? Du sollst Alarm geben! Die anderen zu mir.« Er stürmte den Hügel hinunter, die verschlafene Wache hinter sich. Beim Laufen sah er plötzlich, wie hohe Flammen aus einem der Schuppen schossen, in denen das Tauwerk gelagert war. Ein Windstoß steigerte das Brandgeräusch zu einem Brüllen. Ohne sich weiter darum zu kümmern, eilte er weiter, um die unersetzliche Brücke zu retten. Das Tauwerk war am wertvollsten und brannte am stärksten. Er sprang mitten in die Flammen 227
hinein und versuchte, etwas von dem Tauwerk herauszuholen, aber die Hitze trieb ihn wieder zurück. Sich zu den Männern umdrehend, die hinter ihm kamen, rief er: »Eimer und Wasser her! Nehmt eure Tschakos – oder was immer ihr kriegen könnt!« Weiter oben am Flußufer riß ein Trommelwirbel die Soldaten aus dem Schlaf. Wenig später war alles auf dem Weg hinunter zum Fluß – einige Männer schleppten Eimer, andere Kochkessel. Eine Löschkette – eine doppelte Löschkette – wurde vom Flußufer zu den Schuppen mit Tauwerk gebildet. Doch mit nichts anderem als Eimerladungen voll Wasser ließ sich der Brand nicht bekämpfen. So zerrten die Männer ganze Haufen brennender Seile nach draußen und versuchten, die Flammen mit Holzlatten auszuschlagen. Doch die Arbeit überstieg einfach ihre Kräfte: Flammen schlugen aus den abgestellten Pontons; die Bretter für die Fahrbahn – trockenes und sprödes Holz – standen gleich stapelweise in Flammen, jeder Stapel so hoch wie ein Haus; Windböen verteilten die Funken überall. Männer mit Brechstangen versuchten, die mächtigen Haufen auseinanderzuzerren und das brennende Holz zum Ufer zu schleifen – was aufgegeben werden mußte, nachdem zwei große Stapel von den Wassermassen in Richtung Tejo weggeschwemmt worden waren und damit verlorengingen. Mit im Tejo treibendem Holz konnten die Franzosen ebensowenig anfangen wie mit verbrannten Brettern. Schließlich bekamen sie das Feuer unter Kontrolle. Der Anblick aber, der sich ihren Augen im trüben Licht der ersten Dämmerung bot, war niederschmetternd. Gut drei Viertel des Tauwerks und die Hälfte der Pontons waren verbrannt; die andere Hälfte war durch an den gestapelten Pontons hochgeschlagenen Flammen zu228
mindest teilweise ein Opfer des Feuers geworden. Pontons mit halbverbrannten Seitenwänden lagen an verschiedenen Stellen am Flußufer. Nur ein wirres Geknäuel war von den sorgfältig aufgespleißten Taurollen übriggeblieben, die in den Schuppen gelagert hatten. Größtenteils unbeschädigt waren dagegen die Holzplanken für die Brückenfahrbahn, die sich allerdings auch am leichtesten hätten wieder ersetzen lassen. Alles in allem war die Brücke so gut wie zerstört. Sie neu zu bauen, würde viel Zeit in Anspruch nehmen – und alles dafür brauchbare Material hatte man bereits verwendet. Die völlig ausgepumpten Mannschaften und Offiziere ruhten sich erschöpft am Flußufer aus und starrten trübsinnig auf die verkohlten Überreste. Niemand sagte oder tat irgend etwas. Eine düstere Stimmung und Niedergeschlagenheit hatten sie überwältigt. Selbst als der alte und weißhaarige General Eble auf seinem abgemagerten Pferd den Hügel heruntergeritten kam, rührte sich niemand. Sie starrten ihn nur stumpfsinnig an, als er seinen Blick über die verwüstete Szenerie wandern ließ. Selbst Sergeant Godinot war zu müde und im Innersten getroffen, um jene gebührende Aufmerksamkeit zu zeigen, die er als Sergeant der Wache eigentlich hätte an den Tag legen müssen. Dubois war tot und der Gedanke daran hielt ihn völlig gefangen. Oberst Gille und die übrigen Offiziere erhoben sich, als General Eble auf sie zuritt, und nahmen mit zitternden Gliedern Habachtstellung ein. Jedermann konnte hören, was der General sagte. »Hier liegen noch überall haufenweise Holz, Pontons und Tauwerk herum. Warum haben Sie nicht aufräumen lassen?«
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Oberst Gilles weiße Zähne erschienen in seinem rußgeschwärzten Gesicht, als sich seine Lippen voll bitterer Ironie verzogen. »Zu Befehl«, war alles, was er sagen konnte. »Das nennen Sie totale Zerstörung, Oberst Gille? Nur gut, daß ich hergekommen bin, um die Durchführung meiner Befehle selbst zu überwachen.« Oberst Gille blieb nichts anderes übrig, als die Hände an der Hosennaht zu halten und die Abkanzelung möglichst unbewegt über sich ergehen zu lassen. »Reden Sie, Mann. Seit einer Stunde schon sollten die Leute bei der Arbeit sein. Warum haben Sie das nicht angeordnet?« Ein Hauch von Zweifel zeigte sich jetzt auf dem Gesicht des Pionieroffiziers. Während dieses alptraumhaften Feldzuges war alles möglich. Der General oder sie selbst konnten verrückt geworden sein. »Verdammt, Oberst«, sagte der schließlich in Wut geratene General Eble mit Schärfe. »Reißen Sie sich zusammen, Mann, genauso wie Ihre Leute. Warum haben Sie meine Befehle nicht ausgeführt?« »Befehle?« wiederholte Oberst Gille stumpfsinnig. »Vor drei Stunden habe ich Ihnen den Befehl überbringen lassen, daß die Brücke restlos niederzubrennen sei und die Soldaten der Abteilung zu ihren Einheiten zurückzukehren haben. Morgen beginnt die Armee mit dem Rückzug.« Die Gesichter der Offiziere hellten sich auf. Sogar Oberst Gille lächelte. Plötzlich erinnerte er sich an etwas, griff in die Tasche und zog eine Meldung heraus, die ihm während der hektischsten Löscharbeiten übergeben worden war. »Die Pontons wieder aufstapeln«, ordnete er an. »Schafft das Tauzeug auf einen großen Haufen und 230
zündet es an. Auch das Holz für die Fahrbahn wieder anzünden. General, so war es auch schon heute Nacht...« Oberst Gilles Versuch, General Eble darüber aufzuklären, wie die Brücke in der Nacht schon einmal vorzeitig in Brand geraten und dann gelöscht worden war, braucht hier nicht nachvollzogen zu werden. Wenn sich eine Armee angesichts eines kampfstarken Gegners auf einen gefährlichen Rückzug vorbereitet, bleibt nur wenig Zeit für komplizierte Erklärungen. Wieder übertönte das Prasseln und Fauchen der Flammen das Rauschen des Flusses. Der Wind trieb den Rauch in einer langgestreckten Wolke über das offene Land. Bald war von der Brücke, an der Hunderte von Männern drei Monate gearbeitet hatten, nichts mehr übriggeblieben als eine Reihe weißer Aschehaufen, aus denen noch etwas Qualm aufstieg. Auf der Landstraße bewegte sich bereits ein langer Zug Artillerie auf den Sammelpunkt in Santarem zu – jene Batterien, deren Geschütze an der Mündung der beiden Flüsse aufgestellt worden waren, um ein mögliches Übersetzen zu decken. Nach den Geschützen zogen die beiden Infanteriebataillone ab, die hier aus dem gleichen Grund in Stellung gegangen waren. Daß es sich dabei um Bataillone handelte, war leicht an ihrer Gliederung zu erkennen: Jedes Bataillon unterteilte sich in sechs Kompanien, von denen jeweils eine die Bärenfellmütze der Grenadiere und eine die grünen Federbüsche der voltigeurs trug. Ohne diese Unterscheidung hätte man annehmen können, die gesamte Marschkolonne bestünde nur aus einem einzigen Bataillon. Der Winter ohne Nahrungsmittel hatte Folgen gezeitigt. General Eble zeigte auf die vorrückende Kolonne und sagte zu Oberst Gille: »Beeilung. Geben Sie den Leuten 231
ihre Marschbefehle, Oberst. Sie hätten als erstes abrücken sollen. Jetzt wird die Hälfte der Männer ihr Regiment verpassen.« Es dauerte eine Weile, jedem für einen Trupp verantwortlichen Unteroffizier die feuilles de route auszuhändigen. Nahezu jedes Regiment der französischen Armee war in der Brückenbaukolonne vertreten. Wie üblich wurden keine Essensrationen ausgegeben; vom Armeestab war auch nicht zu erwarten gewesen, daß er Nahrungsmittel aus einem nicht vorhandenen Nachschublager an Männer schickte, die noch heute am Standort des Stabes eintreffen würden. Die Mittagszeit lag jetzt schon lange zurück, und keiner der Männer hatte seit dem Vortag etwas gegessen. Und das angesichts eines Fußmarsches von 20 Meilen oder mehr. Kein Wunder, daß die Gesichter der Männer beim Abrücken verdrossen wirkten. Am schlimmsten war die Gruppe unter Sergeant Godinot. Ihre 20 Mann (einst hatte der Trupp aus 30 bestanden; die übrigen zehn, Opfer der Seuche, lagen jetzt tot in ihren Gräbern) waren körperlich geschwächt und neigten innerlich zur Meuterei. Gerade einmal vor einem Jahr eingezogen, war ihnen durch die Summe all ihrer höchst unerfreulichen Erfahrungen mit dem Militär jedes Bedürfnis, ihrem Vaterland zu dienen, restlos ausgetrieben worden. Godinot hatte einige Gespräche zwischen ihnen aufgeschnappt, aus denen deutlich hervorging, daß sie nur noch den Wunsch hegten, zu den Engländern überzulaufen – sie wären sogar zu den Portugiesen desertiert, wenn nur die geringste Aussicht bestanden hätte, einen solchen Schritt zu überleben. Das allerletzte aber, was sie tun wollten, war mit der französischen Armee durch die entsetzlichen Berge, an die sie sich nur zu gut erinnerten, zurückzumarschieren 232
– dabei ständig die Engländer im Nacken und rundum die verhaßten Partisanen. Noch immer halbe Kinder und nicht voll ausgewachsen, waren sie durch monatelange Unterernährung und das ausschließliche Leben im Freien stark geschwächt; völlig ausgehungert, vermochten sie sich nur mehr mühselig voranzuschleppen. Gleichwohl hatten einige von ihnen noch genug Kraft, General Eble und die anderen vorbeireitenden Offiziere auszupfeifen, als diese sie auf der Landstraße nach Santarem überholten. Sergeant Godinot gelang es nicht, sie davon abzuhalten. Voller Sorgen dachte Sergeant Godinot daran, daß er mit diesen Männern bis zur kommenden Morgendämmerung eine Strecke von 25 Meilen zurücklegen mußte, an deren Ende sie womöglich ein weiterer Gewaltmarsch oder eine Schlacht erwartete. Seit Dubois tot war, gab es niemanden mehr in der Gruppe, dem er noch trauen konnte. Eine schwierige Zeit stand ihm bevor, und er würde erst wieder aufatmen können, wenn sie in Nossa Senhora do Rocamonde angekommen waren – wie er seinen feuilles de route entnahm, lautete so nämlich der erstaunliche Name jenes Dorfes, in dem das 46. Regiment die ganze Zeit über einquartiert gewesen war. Der Fußmarsch erwies sich als noch schlimmer, als er erwartet hatte. Daß das Geflüster zwischen den Männern hinter ihm nichts Gutes bedeutete, wußte er. Vermutlich überlegten die Leute, ob 20 Männer, die sich zusammentaten, von den Partisanen nichts zu fürchten hatten und fähig waren, sich bis zu den englischen Vorposten durchzuschlagen. Jeden Augenblick konnte die Meuterei ausbrechen. In der Tat hatte er es ständig mit Ungehorsam und Widersetzlichkeiten bis zur Befehlsverweigerung zu tun. Dauernd jammerten die Männer, 233
sie seien müde und wollten rasten; wurde ihnen dann eine Pause zugestanden, wollten sie nicht wieder aufbrechen. Godinot bettelte und drängte; Gewalt anzuwenden wagte er nicht. Nach dem Militärgesetzbuch durfte er bei bei einem tätlichen Angriff zwar jene Soldaten erschießen, die den Gehorsam verweigerten, im Augenblick aber ließ die Situation so etwas nicht zu. Schon beim ersten Anzeichen dafür, daß er Gewalt anzuwenden versuchte, hätte man ihm ein Bayonett in den Leib gerannt oder eine Kugel durch den Kopf geschossen. Mit nur einem Mann aus ihren Reihen, dem er trauen konnte und der ihm den Rücken freihielt, hätte er die meuterischen Hunde schon eingeschüchtert. So aber blieb ihm nichts anderes übrig, als zu bitten und Scherze zu machen und dabei scheinbar die sotto voce vorgebrachten Unverschämtheiten zu ignorieren, die an sein Ohr drangen. Wie nicht anders zu erwarten war, nahmen die Schwierigkeiten nach Einbruch der Dunkelheit noch zu. Auf dem Pflaster rutschend und stolpernd ging Sergeant Godinot am Ende der kleinen Kolonne, drängte seine Leute immer weiter und hatte ein Auge darauf, daß keiner die Dunkelheit dazu nutzte, sich davonzumachen. Er versuchte, den Leuten Mut zu machen, indem er ihnen die Essensrationen ausmalte, die nach der Ankunft beim Bataillon ausgegeben würden. Erfolg hatte er damit keinen. Die Männer erinnerten sich noch daran, wie die verteilten Rationen ausgesehen hatten, bevor sie zur Brückenbauabteilung abkommandiert worden waren, und so konnten sie sich recht gut vorstellen, wie diese Rationen nach zwei weiteren Hungermonaten beschaffen sein würden. Schließlich kam der Augenblick, da sich die gesamte Gruppe im Straßengraben zu Boden fallen ließ und 234
beteuerte, keinen Schritt mehr tun zu können – nicht für alle Sergeanten der christlichen Welt. Godinot tat sein Bestes. Er griff ins Dunkel, packte einen Soldaten am Kragen, den er für den Rädelsführer hielt, und zerrte ihn hoch. Dasselbe tat er mit einem zweiten und einem dritten Mann. Wäre er unbeliebt gewesen, hätten sie ihn wohl jetzt getötet; so aber schonten sie sein Leben während der Rauferei, die sich nun am Rande der Straße entspann. Irgendwer trat nach Godinot, und jemand stieß ihn nach hinten. Jemand anderes faßte seine Muskete an der Mündung und schwang den Kolben in der Dunkelheit knapp über dem Boden wie eine Sense. Der Dummkopf führte den Stoß mit ganzer Kraft; am Bein getroffen stürzte Godinot mit einem Schrei zu Boden. Dann liefen alle auf einmal davon wie ein Haufen Schuljungen (viel mehr waren sie wohl auch noch nicht), die man bei einem Streich erwischt hatte. Zurück blieb Godinot, der auf der Straße kniete und versuchte, wieder auf die Beine zu kommen. Godinot konnte sich aufrichten, aber nicht allzulange auf zwei Beinen halten. Der Knöchel des rechten Fußes war gebrochen; zu gehen oder auch nur zu stehen bereitete ihm größte Schmerzen. Nur sehr mühselig vermochte er sich auf der Straße weiterzuschleppen, und von seinen Leuten kam keiner zurück, um ihm zu helfen. Was aus ihnen wurde – ob sie nun zu ihrem Bataillon zurückkehrten, den Plan verwirklichten, zu den Engländern überzulaufen, an Hunger starben oder den Portugiesen in die Hände fielen – wird sich niemals klären lassen. Zwei Tage später wurde Godinot von portugiesischen Partisanen gefunden. Sie sahen erschreckend aus, als sie auf ihn stießen – halbnackt, vor Hunger bis auf das Skelett abgemagert und ebenso wie der hungernde und 235
durstige Godinot halb verrückt geworden über der eigenen Notlage und der ihres Landes. Sie waren über den Zezere gekommen und hatten ohne Erbarmen die französische Armee angegriffen, als diese sich gerade für den Rückzug sammelte. Godinot war der erste Nachzügler, den sie aufgriffen, und er sollte nicht der letzte bleiben. Obwohl er geistig verwirrt war, als sie auf ihn trafen, ließen sie ihn nicht am Leben.
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21. Schütze Dodd wurde in seinem Versteck, wohin er sich nach dem Brandanschlag auf die Brücke zurückgezogen hatte, nicht weiter gestört. Selbst wenn man ihn bei seiner Flucht während des Alarms beobachtet hätte, waren alle doch zu sehr damit beschäftigt gewesen, das Feuer zu bekämpfen, um sich einem einzelnen Mann in den Weg zu stellen. Dodd erreichte den Schutz der Felsen und vergewisserte sich, daß sein Gewehr und der Rest seiner Ausrüstung noch vorhanden waren. Zu seinem eigenen Erstaunen hielt er die zerbeulten Reste seines Tschakos noch immer in Händen. Vom Regen durchweicht, hatte die Glut nur ein oder zwei Löcher hineinbrennen können. Er stülpte den Tschako wieder auf seinen wirren Haarschopf und zog den Kinnriemen unter seinem verfilzten Bart fest. Flußabwärts waren die Flammen der brennenden Brücke zu erkennen, dazu die herumlaufenden Männer der Löschtrupps, die aussahen wie die Teufel auf einem altmodischen Bild mit der Darstellung der Hölle. Trotz seiner Erschöpfung beobachtete er voller Erregung ihre Bemühungen; je länger das Feuer brannte, desto sicherer wurde er sich, erfolgreich gewesen zu sein. Und er war stolz auf sich – wenn auch nicht in dem Maße, wie er es ausgeschlafener und im Vollbesitz seiner Kräfte gewesen wäre. So aber empfand er vor allem Überdruß und einen Anflug von Verzweiflung, nachdem seine Bemühungen derart vom Erfolg gekrönt worden waren. Er hatte Heimweh – nicht nach den grünen Hügeln von Sussex; er sehnte sich vielmehr nach 237
seinem Regiment, dem gemeinsamen Marschieren mit grüngekleideten Truppen, den rüden Scherzen mit seinen Kameraden, dem Schwatzen am Lagerfeuer und überhaupt einem schicksalsergebenen Dasein ohne den dauernden Zwang zu eigenverantwortlichem Handeln. So mußte er sich auch regelrecht zwingen, noch Interesse für jene Szenerie der Verwüstung aufzubringen, die bei Anbruch der Dämmerung offenbar wurde – die großen Aschehaufen, die halb verbrannten Pontons und die ausgepumpten Brückenbaupioniere, die augenscheinlich völlig niedergeschmettert zwischen den Trümmern ihrer Arbeit am Boden lagen. Seine Aufmerksamkeit erwachte erst wieder, als er im Laufe des Tages beobachtete, wie Infanterie und Artillerie auf der entfernten Landstraße flußabwärts abrückten und wie sich die erschöpfte Brückenbauabteilung noch einmal aufraffte, die Reste der Brücke zusammenkarrte und das Werk der Zerstörung vollendete. All das sah auffallend nach Vorbereitungen für den Rückzug aus. Dann marschierte auch die Brückenbauabteilung davon, aufgeteilt in kleinere Einheiten – einige entlang der Landstraße, andere auf zwei Trampelpfaden, die vom Dorf ins Hinterland führten. Ganz zum Schluß rückte ein Trupp berittener Offiziere und Ordonnanzen ab; nachdem auch sie verschwunden waren, blieb das Flußufer menschenleer zurück. Nur zwei große Aschehaufen, aus denen Rauch aufstieg, kennzeichneten noch den am weitesten vorgeschobenen Frontabschnitt der französischen Armee. Mit Sicherheit diente der Abzug der Zusammenziehung von Truppen. Die Konzentration von Einheiten aber konnte nur zwei Dinge zur Folge haben – Angriff auf die britischen Stellungen oder Rückzug. Dodd kannte den Zustand der französischen Armee zu genau, 238
um eine Offensive gegen die englischen Stellungen für möglich zu halten. So blieb nur der Rückzug; daß er dabei in aller Bescheidenheit glaubte, die französische Armee dazu gezwungen zu haben, ist ihm nicht vorzuwerfen. Rückzug bedeutete zugleich aber auch, daß seiner Rückkehr zum Regiment bald nichts mehr im Wege stehen würde; eine Aussicht, die ihn weit mehr als die Durchführung seines Anschlags auf die Brücke in Aufregung versetzte. Er zwang sich regelrecht, bis zum nächsten Tag zu bleiben, wo er war, und machte sich dann mit aller gebotenen Vorsicht auf den Fußmarsch über Land. Auf nahezu exakt demselben Weg, den er zuvor vornehmlich auf Händen und Füßen hatte bewältigen müssen, ging es nun zurück in Richtung Santarem. Was er dabei zu sehen bekam, bestätigte ihn nur in der Annahme eines unmittelbar bevorstehenden Rückzuges. Wie die deutschen Truppen in Frankreich 106 Jahre später, hatten auch die Franzosen jene Dörfer und Weiler niedergebrannt, in denen sie den Winter über untergebracht gewesen waren. Alles war in Flammen aufgegangen und zerstört worden; wo man auch hinsah, stieg Rauch in die Luft. In der Tat war das von den Franzosen besetzte Gebiet mit seinen in Brand gesetzten Dörfern und unbearbeiteten Feldern, auf denen das Unkraut wuchs und sich kein Leben mehr rührte, der reinste Alptraum. Überall lagen Leichen herum – tote Menschen und Tiere, einige davon bereits skelettiert, andere furchtbar aufgebläht; da und dort baumelten auch Männer – und Frauen – von Bäumen und Galgen. Das mochte zwar alles sehr gespenstisch sein, am natürlichen Charakter dieser Folgen des Krieges änderte sich dadurch aber nichts. Der Krieg war eben eine gottgewollte Sache, und so wurde Dodd von der 239
Schreckenslandschaft, durch die er wanderte, auch nicht sonderlich berührt. Wie sollte er auch, war er doch auf dem Weg zu seinem Regiment? Die vielen Toten, die er hinter sich zurückgelassen hatte, machten auf Dodd keinerlei Eindruck: Er dachte weder an die Franzosen, deren Tod er geplant und bewirkt hatte, noch an all die Portugiesen, die um ihn herum gestorben waren – angefangen mit dem Idioten, dem er zuerst begegnet war, bis hin zu Bernardino und dem kleinwüchsigen Mann vor einer Woche. Fünf Feldzüge hatten ihn gleichgültig werden lassen, was das Leben von Portugiesen oder Franzosen anging. Als Dodd Santarem erreichte, waren von der Stadt nur noch Trümmer übrig – wie von einem im Herbst abgefallenen Blatt im darauf folgenden Frühling kaum mehr Reste vorhanden sind. Unmittelbar hinter Santarem stieß Dodd auf die erste englische Patrouille; die Engländer waren aus ihren Stellungen heraus zum Gegenangriff angetreten. Hervorragende Köpfe kommen manchmal zu ähnlichen Überlegungen: Dieses eine Mal hatten die Gedankengänge des Marschalls und Prinzen von Esslingen und von General Lord Wellington übereingestimmt. Genau an jenem Tag, da letzterer seiner Armee den Befehl zum Angriff auf die geschwächten Franzosen gegeben hatte, war der erste zu dem Schluß gelangt, daß sich seine Armee nicht mehr länger halten konnte. Angriff und Rückzug fanden gleichzeitig statt. Die leichten Dragoner waren auf der Landstraße gerade den Franzosen auf den Fersen, als Dodd in entgegengesetzter Richtung auftauchte. Der befehlshabende Leutnant der Patrouille sah Dodd überrascht an. »Um Gottes willen, wer sind Sie denn?« fragte er.
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Dodd erschauerte beim Klang der englischen Sprache. Zu antworten bereitete ihm jedoch Probleme; immerhin hatte er sich mehrere Monate lang mit einer fremden Sprache abmühen müssen. »Dodd«, sagte er gedehnt. »Schütze im 95. Regiment, Sir.« Der Leutnant starrte ihn vom Pferd herab an. Er hatte den Krieg über schon so manche Seltsamkeit zu sehen bekommen; nichts davon war aber vergleichbar irritierend gewesen. Auf dem wirren Haarschopf balancierte ein unbeschreiblich zerbeulter und verknitterter Tschako; darunter kam das vertraute, von der Sonne rot-schwarz verbrannte Gesicht eines Engländers zum Vorschein. Bedeckt war dieses Gesicht, aus dem zwei blaue englische Augen rechtschaffen hervorschauten, mit einem struppigen hellblonden Bart. Bei der britischen Armee teilte sich Dodd mit Eccles, seinem Vordermann in der Schützenlinie, die Benutzung eines Rasiermessers; bei den Portugiesen aber hatte Dodd ein Rasiermesser noch nicht einmal zu sehen bekommen. Der grüne Umhang und die Hosen waren derart zerschlissen, daß darunter an verschiedensten Stellen die nackte Haut zu sehen war; von den ehemals schwarzen Tressen hingen nur noch Reste an einzelnen Fäden; aus den Schuhen schließlich lugten gar die Zehen hervor. Trotzdem bemerkte der Leutnant mit seinem scharfen Blick sofort, daß nicht ein wichtiger Teil der Ausrüstung fehlte. Das Gewehr in der Hand des Mannes war sorgfältig in Ordnung gehalten worden, und das lange Bayonett steckte wie üblich in der Scheide. Alles schien vollständig vorhanden zu sein – die Munitionstaschen vor dem Bauch ebenso wie die Überbleibsel des von Trageriemen gehaltenen Mantels auf dem Rücken. Als der Leutnant Dodd erblickt hatte, 241
war sein erster Gedanke gewesen, »ein Deserteur«. Fahnenflucht ist das Übel aller Berufsarmeen, gewöhnlich aber kommen Deserteure nicht lächelnd auf die nächste Patrouille zu, dazu noch mit ihrer gesamten Ausrüstung. Im übrigen würde auch niemand jemals von den 95ern desertieren. »Versuchen Sie etwa, Ihr Bataillon wiederzufinden?« fragte der Leutnant. »Jawohl, Sir«, antwortete Dodd. »Hm«, murmelte der Leutnant und kam dann langsam zu einem Entschluß. »Das Bataillon liegt nur zwei Meilen entfernt von hier an der Landstraße. Sergeant Casey!« »Ja, Sir.« »Bringen Sie diesen Mann rüber zu den 95ern. Und machen Sie Colonel Beckwith Meldung.« Der Sergeant lenkte sein Pferd an die Spitze der Kolonne; Dodd stellte sich neben ihn. Dann gab der Leutnant dem Rest der Patrouille ein Kommando, und er und seine Leute ritten klappernd auf der Landstraße davon. Zurück blieben Dodd und sein Begleiter, um auf einem Trampelpfad neben der Fahrbahn den anderen Flügel der Vorhut zu erreichen. Der Sergeant lehnte sich im Sattel bequem zurück und ließ sein Pferd auf der Straße ruhig im Schritt gehen, während Dodd neben ihm marschierte. Worte wechselten sie keine miteinander, denn weit mehr als sein Leutnant war der Sergeant davon überzeugt, mit Dodd einen Deserteur vor sich zu haben; und Dodd selbst war viel zu aufgeregt, um sprechen zu können. Die Sonne brach durch die Wolken und verbreitete als sicheres Vorzeichen des nahenden Frühlings eine angenehme Wärme. Weiter links von ihnen machte sich gerade eine längere Kolonne nach einer Rast fertig zum 242
Abmarsch; es war die 1. Division – gut zu erkennen an der als Vorhut eingesetzten Brigade Guards mit ihren Bärenfellmützen und scharlachroten Uniformen. Dodd sah, wie sich die silbern glänzenden Männer des Musikkorps erhoben und die Trommler ihre Trommelstöcke etwa in Höhe des Mundes hoben. Und er hörte das Dröhnen der Trommeln, als die Stöcke auf die Trommelfelle schlugen. »Br-rr-rrm, br-rr-rm«, tönten die Trommeln. Kurz darauf erschallte über den verwüsteten Feldern der hohe Ton der Querflöten, als sich der in den Farben Rot, Schwarz und Gold schimmernde Menschenstrom auf die Landstraße ergoß: Man erzählt von Alexander so mancher auch von Herkules und Hektor und Lysander Weiter entfernt waren noch mehr Truppen in Bewegung; etwa ein Regiment in Kilts, das an der Spitze einer Kolonne gerade über eine Bodenwelle marschierte. Das Sonnenlicht wurde von den Musketenläufen reflektiert, und die Federbüsche flatterten, während die lange Reihe der Kilts im Gleichtakt schwang. Im hellen Sonnenlicht atmete Dodd mit offenem Mund tief durch; er hatte es geschafft. Wie der Leutnant vorausgesagt hatte, stießen sie nach einer Weile tatsächlich auf die 95er. Die Soldaten waren neben der Straße aufmarschiert und warteten auf den Befehl zum Abrücken, denn einmal mehr sollten die 52er und die Portugiesen als Angriffsspitze dienen. Sergeant Casey führte seinen Mann zu der Stelle, an der Colonel Beckwith mit seinen Adjutanten und weiteren Offizieren neben der Kolonne stand und Ordonnanzen die Pferde der Offiziere am Zügel bereithielten. 243
»Was gibt's?« fragte der Colonel. Beckwith, der beliebte Kommandeur der 95er, trug den Spitznamen »Der alte Was gibt's«, weil er mit dieser Floskel jedes Gespräch zu eröffnen pflegte. Der Sergeant berichtete, was er wußte. »In Ordnung, Sergeant, das reicht«, sagte Beckwith. Der Sergeant salutierte, wendete sein Pferd und führte es davon, während ihm Beckwith nachblickte. Wenn es irgendwelche schmutzige Wäsche zu waschen gab, würden die 95er dies nicht vor Außenstehenden tun. »Also, wer zum Teufel sind Sie?« sagte Beckwith schließlich. »Schütze Dodd, Sir. Aus der Kompanie von Mr. Fotheringham.« »Aus der Kompanie von Captain Fotheringham«, korrigierte ihn Beckwith etwas gedankenverloren. Den Winter über hatten offenbar einige Beförderungen stattgefunden. Der Colonel musterte Dodds bizarre Uniform von oben bis unten. Was zuvor bereits dem Leutnant aufgefallen war, blieb auch ihm nicht verborgen – daß der Mann scheinbar alles getan hatte, um seine Ausrüstung zusammenzuhalten. »Dodd«, murmelte Colonel Beckwith vor sich hin. Er gehörte zu jenen Offizieren, die sich die Namen und Werdegänge jedes einzelnen Mannes ihrer Einheit merkten. »Wie war das bloß. Ach ja, Matthew Dodd. Ich erinnere mich. Sie sind in Shorncliff in die Armee eingetreten. Jetzt sehen Sie allerdings mehr wie Robinson Crusoe aus.« Die Adjutanten und Offiziere im Hintergrund lachten kurz auf, denn der Vergleich paßte perfekt zu Dodds Aussehen. Nur Dodd verstand nichts – von Robinson Crusoe hatte er noch nie etwas gehört. 244
»Wo haben Sie sich denn herumgetrieben?« fragte der Colonel. Er versuchte, seiner Stimme einen ernsten Ton zu geben. Vielleicht war der Mann ja wirklich ein Deserteur; der Sergeant hatte eine entsprechende Anspielung gemacht. Andererseits würde niemals jemand von den 95ern desertieren. »Ich wurde von unseren Leuten abgeschnitten, als wir uns in die Stellungen zurückgezogen haben«, sagte Dodd, dem das Sprechen noch immer etwas schwerfiel, »und war seitdem hier draußen unterwegs, um wieder Anschluß zu finden.« »Hier draußen unterwegs?« wiederholte der Colonel und warf dabei einen Blick auf die verwüstete Landschaft. Allein deren Anblick erklärte zur Genüge, warum die Uniform des Mannes so aussah. Zudem sah ihm der Mann ohne jede Arglist ins Gesicht. Schließlich hatte der Colonel noch nie dem weichen Sussex-Tonfall widerstehen können. »Ist hier irgend jemand, der Ihre Aussage bestätigen kann?« fragte der Colonel. »Ich denke schon, Sir. Vielleicht Mr. – Captain – Fotheringham, Sir...« »Jetzt, wo Sie es sagen, erinnere mich daran, daß sie vermißt gemeldet wurden«, sagte der Colonel gedankenverloren. »Matthew Dodd. Kein Eintrag in die Personalakte. Fünf Dienstjahre. Vimiero. Corunna. Flushing. Talavera. Busaco.« Wort für Wort kamen die ruhmreichen Namen von den Lippen des Colonels, der jedoch zu sehr in die Angelegenheit vertieft war, um wahrzunehmen, daß sich hier eine günstige Gelegenheit zu sentimentalen Erinnerungen bot. »Jawohl, Sir«, sagte Schütze Dodd.
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»Sie wollen doch nicht etwa mit uns weitermarschieren?« fragte der Colonel. »Erst müssen Sie sich weiter hinten bei der Kommandantur melden.« Dodds Vorfreude verflüchtigte sich augenblicklich angesichts der Möglichkeit, nicht sofort zu seiner Einheit zurückkehren zu dürfen. »Oh, Sir«, wandte Dodd ein. Dem Colonel zu widersprechen erforderte mehr Mut als das Anzünden der französischen Brücke. »Könnte ich nicht...« »Verstehe ich das richtig? Sie wollen jetzt gleich wieder mitmachen?« fragte der Colonel. »Jawohl, Sir. Bitte, Sir.« »Also gut. Ich denke, das wird sich machen lassen. Melden Sie sich heute abend beim Quartiermeister und sagen Sie ihm, er soll Ihnen in meinem Namen ein neues Paar Schuhe, einen Mantel und Hosen geben, damit Sie nicht mehr so nackt rumlaufen. Und, verdammt noch mal, bis morgen früh sind diese Haare und der Bart verschwunden.« »Jawohl, Sir. Und danke, Sir.« Dodd wollte gerade salutieren, als der Oberst noch einmal nachfragte. »Was haben Sie denn nun die ganze Zeit über getrieben. Wovon haben Sie gelebt? Wie haben Sie das bloß angestellt?« »Es ging, Sir, ich hab' mich irgendwie durchgeschlagen, Sir.« »Sieht ganz so aus«, sagte Beckwith nachdenklich. Nähere Einzelheiten würde er wohl nie erfahren. Vielleicht verbarg sich dahinter ein regelrechter Roman; dieser wortfaule Mann aus Sussex aber ließ sich bestimmt nicht dazu bringen, mehr darüber zu erzählen. »Meinetwegen, Sie sind wieder dabei. Kehren Sie fürs erste in Ihre alte Kompanie zurück.« 246
Es sollte noch sehr viel Zeit vergehen, bis der Roman tatsächlich aufgeschrieben werden konnte. Unter großen Schwierigkeiten mußte alles aus verstreuten Hinweisen zusammengetragen werden, die sich in den Tagebüchern von französischen Offizieren und englischen Soldaten fanden. Dodd selbst schilderte seine Erlebnisse nie als Ganzes. Nur manchmal erzählte er während langer Abende am Lagerfeuer kleine Episoden, wenn etwa die Brandyration größer ausgefallen war als sonst oder irgendwer ein oder zwei Quart Landwein erbeutet hatte. Diese Episoden fanden dann Eingang in jene zahlreichen Tagebücher, die von den Männern der Gewehrbrigade geführt wurden. Erst viele Jahre später, als Dodd ein vom Rheuma geplagter Veteran war, der nahezu senil geworden mummelnd neben dem Kamin saß, erzählte er dem Doktor und dem jungen Sohn des Gutsbesitzers Teile der Geschichte. Weil er aber niemals gelernt hatte, möglichst knapp zu berichten, vermischten sich die Erzählungen von seinem – vermeintlichen – Eingreifen in den Ablauf der Historie schließlich untrennbar mit seinen Erinnerungen an Waterloo und die Erstürmung des Badajoz. An der Sache selbst änderte das nicht im geringsten etwas. Für den einfachen Soldaten gab es damals keine Medaillen oder Orden, nur Ehrgefühl und Pflichterfüllung. Und so fiel es bereits der nachfolgenden Generation schwer zu begreifen, wie derart abstrakte Begriffe einst für den mürrischen und kahlköpfigen alten Säufer, der einmal Schütze Dodd gewesen war, Bedeutung gehabt haben konnten.
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22. Dodd wurde von seinen Kameraden mit Gelächter begrüßt, als sie ihn erkannten; etwas beschämt war er auf Befehl von Captain Fotheringham zu seinem Zug hinübergegangen. Schütze Barret, der Witzbold der Kompanie, nannte ihn sofort »König der Kannibaleninseln« – ein Spitzname, der bald überall verwendet wurde. Sie alle hatten gut lachen; nach einem in trockenen Unterkünften verbrachten Winter war jeder einzelne Soldat gut genährt und ordentlich gekleidet – ganz im Gegensatz zu den zahlreichen barfüßigen und unbekleideten lebenden Skeletten, mit denen es Dodd zu tun gehabt hatte. Zudem war die Stimmung in der Truppe sehr gut, denn bei der Armee wußte man, was selbst in England noch nicht bekannt war – daß sich nämlich das Kriegsglück gewendet hatte. Die scheinbar unbesiegbare Macht des französischen Kaiserreiches war vor ihren Augen zusammengebrochen. Nicht nur die französische Armee hatte dabei eine Niederlage erlitten, auch das französische System an sich; die neue, schreckenerregende Kriegstechnik, mit der 19 Jahre lang ganz Europa überrannt worden war, hatte endlich versagt. Als die Hornisten Signal gaben und die Männer zum Einsatz als Vorhut abrückten, taten sie es darum mit freudigem Herzen. Sie waren auf dem Vormarsch und mit den Franzosen ging es bergab. Der Sieg war in greifbare Nähe gerückt, auch wenn die großen Schlachtennamen Salamanca und Vittoria noch in der Zukunft lagen. Heiterkeit herrschte in den Reihen der Männer 248
und Scherzworte flogen während des Marsches hin und her. Dodd fühlte sich im siebten Himmel. Er war wieder bei seinem Regiment mit seiner kameradschaftlichen und freundschaftlichen Atmosphäre. An der Spitze der Kolonne spielte das Musikkorps mit der Hälfte seiner Bläser – laut und wie üblich schrecklich schrill. Der Straßenstaub und der Geruch all der schwitzenden Männer kamen ihm vor wie ein Abglanz des Paradieses, der Gleichtakt der marschierenden Füße und das Klappern der Ausrüstungen wie Harfen und Zimbeln. Wie in Trance setzte er mit den anderen Fuß vor Fuß. Bei der Ankunft auf dem zugewiesenen Feldlagerplatz zog die portugiesische Wache auf und präsentierte das Gewehr. Sie entbot ihren Gruß dem 95. Regiment; nicht jenem einzelnen Mann, der erst vor kurzem von einem Abenteuer zurückgekehrt war, das nicht weniger Mut, Entschlossenheit und Initiative erfordert hatte, als sich je ein Soldat in der Geschichte des Regiments rühmen konnte. Für eine solche Überlegung hätte Dodd allerdings nur Spott übrig gehabt. Er wartete auf seine Brotzuteilung, denn nach Brot war er regelrecht ausgehungert. Auch Salz würde es geben. Seit sechs Wochen hatte er kein Salz mehr zu sich genommen – Salz, mit dem er den Geschmack des stinkenden Maultierfleisches, das er zuletzt gegessen hatte, wenigstens etwas hätte verbessern können, war ja nicht vorhanden gewesen. Mit ein bißchen Glück würde es vielleicht sogar noch einen Schluck Brandy geben. Als er essend am Boden saß und sich voller Behagen am Feuer aufwärmte, fiel ihm auf einem entfernten Hügel noch weit jenseits der englischen Lagerfeuer ein flackernder Lichtpunkt auf. Er dachte nicht weiter darüber nach; womöglich gehörte das Feuer zu einem
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französischen Vorposten oder einem Trupp von portugiesischen Partisanen. Das Feuer war tatsächlich von Partisanen gemacht worden – um damit Sergeant Godinot bei lebendigem Leib zu Tode zu rösten. Dodd ahnte davon ebensowenig wie von der Existenz eines Mannes mit Namen Sergeant Godinot. Er wußte nur, daß es ihm gelungen war, von Eccles eine zusätzliche Portion Salz zu bekommen. Verschwenderisch tauchte er sein Brot in das Salz, und dann hörte er überhaupt nicht mehr auf zu kauen.
Ende
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