Tempel der Unsterblichen von Adrian Doyle
Dies ist die Geschichte eines Betrugs. Die Geschichte zweier Geschöpfe, die ...
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Tempel der Unsterblichen von Adrian Doyle
Dies ist die Geschichte eines Betrugs. Die Geschichte zweier Geschöpfe, die sich aufs Blut bekämpften, bis das Schicksal ihnen das Gedächtnis nahm – und ihre Persönlichkeit. Seither ist Lilith Eden nur noch ein Schatten ihrer selbst. Sie ahnt nicht, daß sie den Mann an ihrer Seite eigentlich mit allen Mitteln bekämpfen müßte. Landru aber, der tausend Jahre lang vampirisches Leben über die Erde säte, hat seine Erinnerung wiedererlangt. Und nun giert es ihn danach, seine Erzfeindin büßen zu lassen. Aber nicht Rache allein ist sein Ziel – er vertritt auch die Interessen eines Kindes, das der leibhaftige Satan ist …
Was bisher geschah … Als durch eine Seuche die meisten Vampire sterben und sich das Gleichgewicht zwischen Gut und Böse verschiebt, wird Gabriel geboren, eine Inkarnation Satans. Erst ist sich der Knabe seiner Identität nicht bewußt, doch schließlich erkennt er seine Aufgabe: ein Tor zur Hölle zu öffnen, das von der Bruderschaft der Illuminati in einem Kloster bei Rom bewacht wird. Letztlich scheitert das Vorhaben, nicht zuletzt durch Lilith Eden, Tochter eines Menschen und einer Vampirin, die gemeinsam mit ihrem ärgsten Feind Landru durch das Tor in die Hölle – eine Dimension, die durch den Fall des Engels Luzifer entstand – gerissen wird. Bei der Flucht aus den Gefilden der Hölle werden ihre Persönlichkeiten gelöscht, während Salvat, Führer der Illuminati und in Wahrheit der Erzengel Michael, den Klosterberg sprengt und das Tor versiegelt. Lilith und Landru wissen nichts mehr über ihr früheres Leben; nicht einmal, daß sie Vampire sind! Über Landrus Tarnidentität Hector Landers finden sie erste Spuren. Die seinen weisen nach Paris, die ihren nach Sydney. In Frankreich wird Landru mit seiner dunklen Vergangenheit konfrontiert und erfährt als erster die Wahrheit. In Australien findet Lilith den Ort ihrer Geburt, wird aber von der dortigen Macht nicht mehr erkannt. Schließlich greift Moskowitz sie auf, ein Kollege von Liliths ehemaliger Freundin Beth MacKinsey. Doch Moskowitz kennt Liliths wahre Identität nicht und weiß auch nicht, daß sie Beth unter dem verderblichen Einfluß des Lilienkelchs vor Monaten getötet hat. Derweil kommt es in Paris zur Begegnung zwischen der Werwölfin Nona und Landru. Landru erkennt seine Geliebte nicht – ein mörderischer Kampf entbrennt, bis Nona flieht. Da sucht Gabriel, der den Untergang des Klosters überlebt hat, Landru auf und bietet ihm einen Pakt an, den Landru nicht ablehnen kann. Der Knabe gibt ihm seine verlorenen Erinnerungen zurück. Daraufhin folgt Landru
Nona und erfährt von ihr, daß sie im Dunklen Dom war, der Heimstatt der Hüter, wo einst die Dunkle Arche nach der Sintflut strandete. Der Dom ist zerstört – aber Nona spürte eine mächtige Präsenz. Landru muß in Erfahrung bringen, was dort geschieht – schließlich war er selbst einer jener Hüter, die mit dem Lilienkelch das Geschlecht der Vampire über die ganze Erde verbreitet haben. Zuvor aber kümmert er sich um die immer noch identitätslose Lilith, denn mit ihr hat er besondere Pläne … Derweil erwacht im Dunklen Dom der letzte der Kelchhüter – Anum, der damals auch der erste Hüter war. Zugleich taucht in Indien unter schrecklichen Umständen der Lilienkelch wieder auf, und in Nepal endet die dunkle Geschichtsschreibung der Blutbibel. Sie wurde überwacht von sieben Kindern, die damals aus der Dunklen Arche entlassen wurden; nun kehren die Sieben in die Arche zurück und geben Anum all ihre Kraft. Die Blutbibel selbst bleibt dort zurück, als Anum aufbricht und den Lilienkelch an sich bringt – bereit, sein Amt als Hüter wieder aufzunehmen … Kommt denn, ihr Adler und Jaguare, und tut euer Werk, tut, was eure Pflicht ist. Daß eure Klauen, daß eure Zähne mich sofort töten, denn ich bin ein Mann ohne Angst … aus dem Rabinal Achi 1523, tief im Westen Yucatáns Pedro Grijalva zog seinen Degen und stieß ihn in die Luft. Triumph verzerrte die eben noch beherrschten bärtigen Züge des Oberleutnants. »Also ist es wahr: Es gibt sie tatsächlich, die geheime Stadt! Hier verstecken sie ihren Reichtum vor uns!« Zögernd löste sich sein Blick von den verheißungsvollen Bauten, die ihm aus dem satten Grün des Dschungels entgegen schimmer-
ten, und nickte seinem Gefangenen zu: »Du hast dein Wort gehalten und uns den Weg gewiesen – deshalb will auch ich das meine halten: Von dieser Stunde an bist du frei und darfst gehen, wohin es dich zieht!« Grijalva senkte den Degen und zerschnitt gönnerhaft die Handfessel des Maya-Kriegers. Fast gleichzeitig aber näherte sich von der Seite eine andere Klinge, durchtrennte die Kehle des Indios und bohrte sich im Anschluß, ohne auch nur merklich zu stocken, tief ins Herz des schon tödlich Verletzten. Ohne einen Laut der Klage, die rauchfarbenen Augen gläsern starr, sank der Maya zu Boden. »War das nötig? Er hatte mein Wort, du anmaßender –« Grijalva, sonst selbst nicht eben wählerisch in seinen Mitteln, schien den Mörder mit seinen Blicken erdolchen zu wollen. »Ihr wart schon immer sehr verschwenderisch, was euer Wort angeht …« Die Wut in Grijalvas Augen schien über die Ufer treten zu wollen. Bevor dies aber geschah, errichteten sich Dämme, deren Ursprung er selber nicht zu ergründen vermochte. Abrupt wandte er sich den Mannen zu, die ihm von Cortés unterstellt worden waren, um die sagenhafte Goldstadt der Ungläubigen aufzuspüren. Während zur gleichen Zeit Pedro de Alvarado offiziell die Provinz Soconusco an der Pazifikküste bereiste, um die Quiché zu unterwerfen, galt Grijalvas Auftrag als streng geheim. Nur ausgesuchte Soldaten begleiteten ihn. Kerle, die weder Tod noch Teufel fürchteten. Grijalva wollte gerade das Wort erheben, um die von ihm angeführte Armee auf das bevorstehende Gemetzel einzuschwören, als auch schon die ersten fremden Geschosse auf sie einhagelten. Links von Grijalva brach röchelnd ein Soldat zusammen, dessen Hals von einem Pfeil durchbohrt worden war, und auch der Respektlose, an dessen Degen noch das Blut des Indios klebte, wankte
unter einem Treffer. Grijalva registrierte aus den Augenwinkeln, wie eines der fast lautlosen Projektile in den ungepanzerten Schulterbereich des Mörders einschlug. Dann hatte er keinen Blick mehr für seinen obskuren Begleiter übrig. Grijalva verstand sein Kriegshandwerk. Präzise bellte er Befehle, und immer mehr feurige Zungen leckten aus den Läufen der Vorderlader. Bleierne Kugeln fällten halbnackte Körper. Die erste Angriffswelle kam verhältnismäßig rasch zum Erliegen. Das Krachen der Pulverladungen schockte die Wilden bis ins Mark. Das Verderben, das die »Donnerstöcke« der fremden Eroberer zu speien vermochten, hatte sich gewiß längst bis zu ihnen herumgesprochen. Ein Gegenmittel fanden sie trotzdem nicht, denn es war etwas völlig anderes, von solchen Wunderwaffen zu hören oder ihre Wirkung am eigenen Leib zu erfahren … Grijalva machte selbst einen Ausfallschritt und brachte die bis dahin geschulterte Flinte in Anschlag. Einen der schreiend Davonlaufenden traf er in den Rücken. Nachdem er nachgeladen hatte, verfehlte er einen anderen knapp. Die Aromen des Dschungels waren ätzendem Pulvergestank gewichen, der als vergilbte Nebelschwaden zwischen Bäumen und Büschen trieb. Als sich Pedro Grijalva wenig später wieder aufrichtete, bemerkte er ganz in der Nähe jenen Mann, dessen aufrührerisches Benehmen von vorhin aus dem Gedächtnis des Oberleutnants gewischt worden war – wie von Geisterhand. »Don Cristóbal … Wie geht es Euch? Ich hoffe, Ihr seid nicht …?« Der Angesprochene machte eine wegwerfende Geste. Grijalva mußte unwillkürlich schlucken. Die Art und Weise, wie der Edelmann dort stand, erinnerte an einen unerschütterlichen Fels in gischtender Meeresbrandung. Don Cristóbal hatte Hernán Cortés nach eigener Aussage regelrecht bekniet, um an dieser Mission teilnehmen zu dürfen. Er schien von Anfang an keinen Zweifel gehegt
zu haben, daß der lange Marsch durch diesen feindseligen, unwegsamen und dichten Urwald von Erfolg gekrönt sein würde. Grijalva wünschte, er wäre auch nur halb so zuversichtlich gewesen. Aber um so größer war seine Genugtuung jetzt. Er sah sich nach ihrem Gefangenen um, der sie – um seine Haut zu retten – hierher geführt hatte. Aber er konnte ihn nirgendwo erblicken. Vielleicht hatte ihn ein Pfeil niedergestreckt. Oder er war sofort beim ersten Anzeichen eines Angriffs in die Wildnis geflüchtet … Achselzuckend stapfte Grijalva auf den Mann zu, von dem er kaum mehr wußte als den Namen – und daß Cortés einen Narren an dem charismatischen Edelmann gefressen hatte. Grijalva hatte sich während des mehrtägigen Fußmarsches manches Mal die Frage gestellt, warum der Konquistador das Kommando nicht gleich an Don Cristóbal übertragen hatte – aber sobald er in die Augen seines heimlichen Rivalen blickte, erlosch jede Eifersüchtelei. »Würdet Ihr mir wohl behilflich sein?« Aus Don Cristóbals rechter Schulter ragte ein gefiederter Pfeilschaft. Die Spitze war von schräg oben eingedrungen und steckte so tief, daß sie möglicherweise sogar die Lunge angekratzt hatte … »Zieht ihn heraus – und schaut mich nicht an, als läge ich bereits als Madenfraß unter der Erde!« Die Scham kroch als leichte Rötung unter Grijalvas wettergegerbte Gesichtshaut. Er wußte selbst nicht, warum seine im allgemeinen gefürchtete und bei Vorgesetzten überaus geschätzte Entschlußkraft unter dem sezierenden Blick dieses Mannes dahinschmolz wie Butter in der Tropensonne. Der Oberleutnant überwand die Kluft zwischen sich und dem Edelmann und griff nach dem hölzernen Schaft. Seine Umgebung schien von ihm abzurücken. Die Geräuschkulisse senkte sich auf einen derart niedrigen Pegel, daß Grijalva das Rauschen des eigenen
Blutes in den Ohren zu hören meinte. »Ihr hattet Glück, daß der Pfeil nicht vergiftet war …« »Woher wollt ihr wissen, daß er das nicht war?« Grijalva schauderte wider Willen. Don Cristóbals Bemerkung verursachte ihm ein bis dahin ungekanntes Grausen, so heftig, daß er sich selbst kaum wiedererkannte. »Worauf wartet Ihr noch?« Grijalva tat, worauf sein Gegenüber drängte. Mit einem schmatzenden Geräusch lösten sich ein Teil des Schaftes und die Pfeilspitze aus Don Cristóbals kerzengeradem Körper. Ein Schwall dunklen Blutes folgte, versiegte aber fast augenblicklich wieder, als würde sich die Wunde neben dem Brustpanzer blitzschnell verschließen. Grijalva blinzelte ungläubig. Kein Mensch besaß ein solches Heilfleisch … »Stimmt etwas nicht?« Der Oberleutnant zuckte zusammen. »Eure …«, setzte er heiser an. Als er sich wenig später von Don Cristóbal abwandte, hatte er auch diese Episode vergessen – genau wie den Tod des gefangenen Maya, der sie zu dieser vielversprechenden Stadt geführt hatte. Die Stadt … Grijalvas Gedanken beschäftigten sich wieder ausschließlich mit den Prachtbauten, die durch das Blattgrün des Urwalds zu ihnen herüber schimmerten, und mit den Reichtümern, die sie beherbergen mochten. Rasch führte er eine Zählung der ihm verbliebenen Männer durch. Dann stieß er an der Spitze seiner überlegen bewaffneten Armee in die heiligsten Bezirke der Siedlung vor. Daß Don Cristóbal zurückblieb und erst sehr viel später nachfolgte, fiel zunächst weder Grijalva noch einem anderen Soldaten auf. Die Gedanken der von Cortés entsandten Streitmacht kreisten um das Gold der Maya – in keinem der Köpfe existierte ein Bild, das die
hier lebenden, hier geborenen Indios als Menschen zeichnete. Zumindest in keinem der menschlichen Köpfe …
* Die Maske drückte. Er hätte sie sich am liebsten vom Gesicht gerissen. Aber sie drückte seit fast achthundert Jahren, und die Momente, in denen er tatsächlich auf sie verzichtet hatte, waren rarer als die Goldmünzen in seiner Tasche. Im Dämmerlicht des Waldes gab sich der unter dem Inkognito »Don Cristóbal« reisende Landru ganz seiner sinnlichen Wahrnehmungskraft hin und sog die Düfte dieser vor Leben schier berstenden Enklave in sich sein. Tiefe Atemzüge wölbten seine Brust und sprengten fast den mattglänzenden Panzer, der aus einer der besten spanischen Schmieden stammte; den Panzer, der – mochte er auch noch so kunstfertig gearbeitet sein – niemals den perfekten Schutz zu bieten vermochte. Aber die Schulterwunde war schon nicht mehr zu spüren, im Grunde war sie vergessen … Ungeachtet der ihn umgebenden Gefahren schloß Landru die Augen. Er wollte den Momenteindruck in sich konservieren – und sich noch einmal klar ins Bewußtsein zu rufen, warum er die Strapazen des Dschungelmarsches auf sich genommen hatte. Seit nunmehr sechs Jahren begleitete er die Expeditionen und Eroberungszüge der Spanischen Krone und vernachlässigte darüber völlig die Pflichten, die in der Alten Welt auf ihn warteten. Auf ihn, den Hüter. Den Mann, der zu keinem anderen Zweck erweckt worden war, als vampirisches Leben über die ganze Erde zu verbreiten. Landru erzitterte innerlich, denn inzwischen wußte er es besser. Auch wenn ihm die Gründe vorenthalten wurden …
So genau, als wäre es gestern gewesen, erinnerte er sich des Moments, als seine Füße zum erstenmal die Küste Yucatáns betreten hatten. Er hatte sich von den anderen entfernt und ein Stückweit in den Dschungel zurückgezogen, um die endlos langen Tage auf See zu vergessen und Zwiesprache mit dem einzigen Partner zu halten, den er wirklich respektierte. Der flüchtige Aufenthalt vor der Insel, die sie Isla Mujeres getauft hatten, zählte für ihn nicht – er war nicht einmal mit an Land gegangen. Deshalb, um zu diesem neuen Kontinent zu gelangen, hatte er sich dem wagemutigen Hernández de Córdoba angeschlossen, nicht eines winzigen, vom Ozean umspülten Eilands wegen! Doch dann, dort in der Einsamkeit unbekannter Pflanzen, Vögel und Tiere, hatte das magische Kleinod, mit dem er in den Dialog getreten war, ihn regelrecht geschockt. Er solle keine neuen Sippen gründen, keine einheimischen Kinder dem Ritual zuführen, das Vampire aus ihnen geformt hätte, hatte der Lilienkelch ihm zu verstehen gegeben – und Landru, wie zu Stein erstarrt, hatte zurückgefragt, warum er dann diese beschwerliche Seereise überhaupt hatte auf sich nehmen müssen; warum die Macht im Kelch ihm nicht schon früher, noch in der Alten Welt, erklärt habe, sie wolle hier keine Kinder haben … Doch der Kelch hatte sich einer Antwort enthalten und eisern geschwiegen. In seiner ersten Enttäuschung hatte Landru die Expedition abbrechen und auf sofortige Umkehr drängen wollen – doch dann, vielleicht aus Trotz und gekränktem Stolz, hatte er sich entschieden, dem Mann, der mit seiner ganzen Kraft und Überzeugung hinter der Expedition stand, doch nicht ins Handwerk zu pfuschen. Hernández de Córdoba hatte sich in den zurückliegenden Wochen seinen Respekt verdient. Und so hielt es Landru für vertretbar, den Seefahrern zu gestatten, den Küstenverlauf immer weiter zu erkunden und kartographisch zu verzeichnen. Lange brauchte es danach nicht mehr, bis sie auf die ersten Zeug-
nisse einer zwar unterlegen scheinenden, nichtsdestotrotz aber hochinteressanten Kultur stießen. Zumindest Landru war sofort völlig fasziniert von dem stolzen Menschenvolk, das sich Maya nannte – und dessen Sprache er mit Hilfe der Hütermagie binnen weniger Stunden zu beherrschen lernte. Je größeren Einblick er in die hier ansässige Zivilisation erhielt, desto unverständlicher reagierte er auf die strikte Art und Weise, mit der ihm der Kelch verwehren wollte, die Saat vampirischen Lebens auch in diesem Teil des Globus zum Gedeihen zu bringen. Immer mehr Verbitterung baute sich in ihm auf, und er kümmerte sich kaum noch um das Taktieren, das Hernández de Córdoba und seine Seefahrer fern der Heimat betrieben. Er wußte ohnehin, was die eigentlichen Beweggründe waren, die zur Bewilligung dieser teuren Entdeckungsfahrt geführt hatten: Sklaven, Gold und neues Land sollten der Heimat erschlossen werden. Friedlich hatten sich die Besatzungen der Schiffe nur anfänglich gegeben, als es noch galt, zunächst die wahre Stärke des künftigen Gegners auszukundschaften. Die Maya hatten jener ersten Expeditionsflotte schwere Verluste beigebracht, als sie das wahre Gesicht und die Absichten der fremden »Besucher« durchschauten. Und Landru hatte keinen Finger gekrümmt, um diese erste Vertreibung der Spanier aus dem vermeintlichen »Goldland« zu verhindern. Er hatte lediglich darauf geachtet, selbst mit heiler Haut davonzukommen und gemeinsam mit den Überlebenden zurückzukehren in die Alte Welt. Seinerzeit hatte er nicht geglaubt, die Reise über die unberechenbaren Weltenmeere in absehbarer Zeit noch einmal anzutreten. Doch schon bei der erstbesten Gelegenheit, die sich ihm geboten hatte, war er diesem Vorsatz untreu geworden und hatte sich der Flotte von Cortés angeschlossen, dem es gelang, das Reich der Azteken binnen eines einzigen Jahres zu unterwerfen. Nur Yucatán erwies sich als härtere Nuß. Die hier lebenden Splittervölker der Maya leisteten erbitterten Widerstand, und es mochte
noch Jahre, vielleicht Jahrzehnte dauern, bis die letzte befestigte Stadt eingenommen und der letzte legitime Maya-König besiegt war … Landru beendete das Abschweifen seiner Gedanken ins Gestern. Durch die geschlossenen Augen hindurch meinte er sehen zu können, wie Pedro Grijalva an der Spitze seiner Soldaten in die hiesige Maya-Stadt einbrach. Ganze Salven von Schüssen drangen an sein Gehör, nicht selten noch übertönt von den schrillen Todesschreien der Bewohner. Grijalvas Männer machten auch vor Frauen und Kindern nicht halt. Landru hatte nur allzu oft dabei zugesehen, wenn die spanischen Horden wie ein Schwarm ausgehungerter Heuschrecken irgendwo einfielen, vergewaltigten, zerstörten und plünderten. Er brauchte die Augen nicht zu öffnen, um zu wissen, was geschah. An diesem Tag, der ihm ewig im Gedächtnis haften bleiben würde, irritierte ihn besonders, wie nahe ihm dieses völlig sinnlose Töten ging, obwohl er vorhin doch selbst noch zynisch und ohne mit einer Wimper zu zucken das Leben eines Maya beendet hatte. Aber der war ein Verräter gewesen, eine Schande für das eigene Volk, das in Landru … … immer noch eine ihm selbst Befremden verursachende Saite zum Klingen brachte. Nein, dachte er, denke nicht einmal daran, es zu tun … Du würdest teuer dafür bezahlen! Du könntest mehr verlieren als dein Leben – vergiß es! Noch eine ganze Weile stand er da und »lauschte« dem Gewicht des Lilienkelchs, den er auf allen Wegen mit sich führte – auch auf diesem. Die Ledertasche an seinem Gürtel schien plötzlich zentnerschwer und ihn zu Boden zerren zu wollen, gerade so, als wollte der Kelch darin seinem Besitzer zu verstehen geben, was er von dessen Gedanken hielt.
Ein leiser Seufzer wehte aus Landrus Mund. Dann öffnete er die Augen, um seine Umgebung wieder an sich heranzulassen. Seine Hand tastete in den Beutel und berührte das Objekt der Macht. Den Gegenstand, der über Leben und Tod gebot, weil er den, der Blut aus seinem Kelche trank, tötete und neu belebte … Täuschte er sich, oder klebten seine Fingerkuppen tatsächlich am Lilienkelch fest, als berührten sie von Rauhreif überzogenes Metall? Landru glaubte das eigene Blut im Mund zu schmecken, und die Kehle trocknete ihm aus, während er nach einer möglichen Rechtfertigung für das suchte, was er vorhatte. In diesem Augenblick begriff er eines jedenfalls kristallklar: Daß er sich die ganze Zeit über eingeredet hatte, selbst nicht die Motivation zu kennen, die ihn zu dieser abermaligen Reise ins Reich der Maya verführt hatte, war eine Lüge. Er hatte die Gründe immer gekannt, sie sich nur nicht eingestanden … Beim Dom und allen Hütern, durchfuhr es ihn, gib diesen wahnsinnigen Gedanken auf – noch ist Zeit! Aber die Idee hatte zu lange in ihm gegoren und war bereits zu mächtig geworden. So mächtig, daß er sich nach einem abermaligen tiefen Atemzug in Bewegung setzte und Pedro Grijalva in die von seiner Armee heimgesuchte Stadt folgte.
* Jahrhunderte später … Tikal fuhr mitten in der Nacht von seinem Lager auf und griff sich an die Kehle. Er zitterte fast anfallartig, sein Herz raste. Kalter Schweiß glänzte auf fahler Haut, von der vor dem Schlafengehen alle Schminke entfernt worden war. Entsprechend nackt und verletzlich fühlte sich Tikal trotz seines Lendenschurzes.
»Viejo …?« Seine Stimme wehte schwach durch die kleine Ziegelsteinhütte. Viejo antwortete nicht. Sie lag auch nicht mehr neben ihm. Im offenen Herd schwelte noch eine Restglut, deren glimmender Widerschein die Behausung leidlich erhellte. Tikals Augen waren so genügsam, daß sie sich rasch in der Düsternis zurechtfanden. Er fand bestätigt, was ihm schon sein bloßes Gefühl gesagt hatte: Seine Schwester war fort! Benommen kam er auf die Beine. Die Hütte war winzig klein. Sie bestand praktisch nur aus diesem einen Raum. Es gab lediglich noch ein mit Brettern abgedecktes Erdloch, in dem Nahrungsmittel gelagert wurden. Obwohl es groß genug war, um einen Menschen aufzunehmen, verschwendete Tikal keinen Gedanken an die Möglichkeit, Viejo könnte dort sein. Er ging zur Feuerstelle, legte ein paar getrocknete Blätter auf, die fast augenblicklich entflammten, und kehrte dorthin zurück, wo er an Viejos Seite eingeschlafen war. Im helleren Licht, das nun herüberflackerte, entdeckte er etwas, was nur seine Schwester zurückgelassen haben konnte: eine mit Glyphen bedeckte dünne Steinplatte! Noch während Tikal danach griff, überkam ihn ein Schauder, der ihm alle Kraft aus den Gliedern zu saugen drohte. Das Gefühl, gleich etwas Entsetzliches zu erfahren, begrub ihn wie ein Erdrutsch unter sich. Den ganzen Tag hatte sich Viejo seltsam benommen – eigentlich schon die ganzen letzten Tage über … Obwohl die Tafel kaum Gewicht besaß, fiel es ihm unsagbar schwer, sie aufzuheben und so zu drehen, daß er imstande war, sich die von Viejo hinein geritzten Figurenfolge begreiflich zu machen. Ein paar Atemzüge später entglitt die Tafel seinen Händen und zerschellte auf dem mit Steinen ausgelegten Boden der Hütte. Tikal schwankte, rang aber sein Entsetzen nieder und stürzte aus der Hütte – eine von vielen am Fuß des Pyramidentempels. Finstere Nachtkühle umfächelte ihn. Sie schien den Schweiß auf
seiner Haut zu Eiskristallen gefrieren zu lassen. Tikal achtete nicht darauf. Die Nachricht, die ihm Viejo hinterlassen hatte, war absolut unmißverständlich, und daß sie sich wie eine Diebin davongeschlichen hatte, unterstrich nur, wie verzweifelt ernst es ihr damit war. Sie hatte den frühen Tod der Eltern nie verwunden, und auch nicht, was mit Becan, ihrem anderen Bruder, geschehen war. Tikal liebte seine Schwester über alles. Er kannte niemanden, der es eher verdient gehabt hätte, sein Glück zu finden. Unbewußt ballte er die Fäuste, während er die Treppe zum Tempel hinaufhetzte. In jede Stufe waren Glyphentexte eingearbeitet. Sie lobpreisten die Namen der acht Gottkönige, die über Mayabs Zukunft wachten. Zukunft! Tikals Atem flog. Irgend etwas schien ihn festhalten und daran hindern zu wollen, Viejo zu folgen. Aber er setzte sich gegen den Sog, der an ihm zerrte, durch. Die Öllichter säumten den Lauf der Treppe und markierten auch den höchsten Punkt des Stufentempels … Dann war Tikal auf der Plattform angelangt, dort wo zu Zeiten der nächtlichen Sonne geopfert wurde. Und wohin es nun auch Viejo getrieben hatte … Tikal war sofort überzeugt, daß die Gestalt, die sich schemenhaft vom Altartisch abhob, nur seine über alles geliebte Schwester sein konnte. Noch während er auf sie zurannte, rief er sie beim Namen. »Nicht, Viejo, tu es nicht …!« Für Momente vergaß er sogar die immense Gefahr, der er sich aussetzte. Auch wenn es den Anschein hatte, als ruhte die Anlage zu dieser Nachtstunde von sämtlichen Priestern verwaist unter der erdrückenden Schwärze des Himmels, so konnte man sich dessen doch kaum gewiß sein. »Viejo …!« Noch in der Annäherung glaubte er zu sehen, daß sich Viejo, die
mit dem Oberkörper auf der Altarplatte lag, bewegte. Aber die Lichter, die an den Außenrändern der am höchsten gelegenen Plattform aufgestellt waren, vermochten den Opferbereich kaum aufzuhellen, so daß er sich geirrt haben konnte. Tikal überbrückte die Distanz zwischen sich und dem Altar so schnell wie noch nie in seinem Leben. In seinem Kopf war kaum noch Platz für irgendeinen anderen Gedanken als: Sie darf es nicht tun! Sie darf mich nicht auch noch … allein lassen! Und noch während er dies dachte, war er bei ihr, packte sie mit beiden Händen und – Sie fühlte sich beinahe so leblos an wie ein mit Sand gefüllter Beutel! Beinahe … Die skulptierte Opferszene auf dem Altarstein schien Tikal zu verhöhnen, als wollte sie ihm zuraunen: Zu spät! Du kommst zu spät! Ich habe ihr Blut bereits gekostet und bin davon angetan. Sie war tatsächlich voller Blut. »Viejo …!!« Sie hatte sich die Adern an beiden Unterarmen längs aufgeschnitten. Anfangs mußte das Blut regelrecht herausgeschossen sein. Mittlerweile strömte es nur noch unmerklich nach, und das hieß nichts anderes, als daß – »Viejo!« Tikal drehte seine Schwester auf den Rücken, und was er schon nicht mehr erwartet hatte, geschah: Ihre Lider flatterten wie die Brust eines kleinen Vogels, unter dessen Flaumgefieder ein ängstliches Herz pochte. Dann sprangen sie auf. »Ich bin es, Tikal, dein Bruder – erkennst du mich?« Erschüttert stellte er fest, daß ihm längst klargeworden war, nichts mehr für sie tun zu können. Jede Wundversorgung kam zu spät. Er krümmte sich.
»Tikal … verzeih …« Es war kaum mehr als ein Hauch, der sich von ihren blassen Lippen löste. Tikal wünschte sich mehr Helligkeit, um noch einmal die Anmut ihrer Züge betrachten zu können, solange sie atmete. Der Tod, das wußte er aus Erfahrung, würde sie schändlich behandeln. Der Tod war häßlich, und genau das würde sich auch auf Viejos Antlitz niederschlagen. »Natürlich – natürlich verzeihe ich dir. Aber warum hast du das getan? Du –« Er verstummte. Die Kalligraphie in Stein, die sie ihm hinterlassen hatte, gab Aufschluß über diese Frage. Sie schilderte Viejos Leidensweg, die sich das Sterben ihrer Nächsten noch viel mehr zu Herzen genommen zu haben schien als Tikal. Vielleicht hätte sie früher darüber reden sollen, mit ihm. Oder hatte sie es etwa versucht, und er hatte ihr kein Gehör geschenkt? Hatte ihn die eigene Trauer taub für die Hilfeschreie seiner Schwester gemacht? Tikal ertappte sich dabei, wie es nicht nur seine Blicke, sondern auch machtvoll seine tiefverborgenen Sehnsüchte auf den Dolch zog, der neben dem Altar lag und mit dem sich Viejo die Lebensadern aufgeschnitten hatte. Sollte er es ihr nachtun? Sollte er ihr dorthin folgen, wohin schon so viele vorausgegangen waren – und wo noch Platz für zahllose Neuankömmlinge war? Dieselbe monströse Kraft, die ihn vorhin daran hatte hindern wollen, die Suche nach Viejo aufzunehmen, schien nun darauf zu drängen, die Klinge zu ergreifen und die einzige noch verbliebene Möglichkeit zu wählen, um seiner Schwester auch künftig … Viejos bittersüße Stimme brachte sein noch gar nicht vollendetes Gedankengebäude zum Einsturz. Sie flüsterte: »Tikal … Wenn du schon da bist, so bitte ich dich: Tu du es! Erlöse du mich! Du weißt, was ich meine … Und hör nicht auf das, was ich sage, wenn ich nicht mehr die bin, die du kanntest! Verschließ deine Ohren vor
meinem Flehen und Drohen … du weißt, wovon ich rede. Versprich mir das!« Als wäre nicht alles schon schlimm genug, erinnerte sie Tikal nun auch noch an das vielleicht Schrecklichste, was ihnen bevorstand. Er schauderte. Nicht einmal, sondern so anfallartig wie bei seinem Erwachen unten in der Hütte, als er sofort gespürt hatte, daß diese Nacht einen entsetzlichen Preis von ihm verlangen würde. Seine Hände lösten sich von Viejo, die nun rücklings auf dem kalten Steintisch lag und ihn aus halb offenen Augen anstarrte. Ihr Blick war klar wie das Wasser in einem Brunnen. Ihr Verstand schien es auch: Sie wußte genau, was sie von ihm erbat … »Das – kann ich nicht!« »Du mußt! Bitte …!« Es kostete sie die letzte Kraft, dieses entwürdigende Flehen. Tikal hatte ein Gefühl, als säße eine Kröte in seinem Hals, als müßte er ersticken. »Du erwartest wirklich …?« »Du weißt, wie es geht … Wir wissen alle, wie es die Priester tun … Aber ich will, daß du es tust, du, mein Bruder …« Ihre Stimme erlosch. Ihre Augen schlossen sich. Sie hatte das Bewußtsein verloren und glitt nun unaufhaltsam in jenen Zustand, der – Nein, dachte Tikal. Nein …! Wie benebelt beugte er sich zu Viejo hinab und hob sie auf. Sie war leichter als je zuvor, als er ihren noch weichen und biegsamen, noch warmen Körper schulterte und mit ihm zur steil abwärts führenden Treppe eilte. Dabei unterdrückte er jeden Zweifel an der Richtigkeit solchen Tuns im Ansatz. Tikal schwitzte. Aber er zitterte nicht mehr. Und noch während er die Stufen hinabstieg, spürte er durch ihr Kleid hindurch, wie Viejos Körper erkaltete. Unaufhaltsam zu dem wurde, wovor sie sich gefürchtet hatte – mehr als vor dem Sterben
… »Laß mich heraus – sofort! Wenn du nicht augenblicklich die Gewichte entfernst, werde ich wütend – furchtbar wütend!« Die Drohungen wurden nicht nur von der überschlagenden Stimme, sondern noch von anderem Toben unterstrichen. Fäuste hämmerten und stemmten sich von unten gegen die Verbretterung, und Tikal beobachtete mit Sorge, wie seine Schwester jene berserkerhaften Kräfte entwickelte, von denen er bislang immer vermutet hatte, sie entsprängen dem Aberglauben und der Übertreibungssucht der Menschen … »Beruhige dich, Viejo. Laß uns reden …« »Beruhigen? – Reden?« Hätte er nicht genau gewußt, wen er in die leergeräumte Vorratsgrube gebettet hatte – gebettet wie eine Schlafende, nicht wie eine Tote –, beim Klang der Stimme, die sich schrill durch das Holz und die darüber aufgetürmten Säcke fraß, wären Tikal Zweifel gekommen. Aber nicht nur Viejos Stimme, auch ihr ganzes Gebaren hatte sich ins Extrem verändert. Tikal räusperte sich. »Wie – wie fühlst du dich?« Er wußte nicht, wie lange er der eigenen Frage hinterhergelauscht hatte, bis ihm auffiel, daß das Hämmern und Keifen unter den Barrikaden, die er in weiser Voraussicht errichtet hatte, verstummt war. Barrikaden gegen die Angst, die ihn – natürlich – knebelte. Tief in seinem Hirn wartete eine Panikattacke darauf, hervorzubrechen und den letzten Funken Verstand in ihm zu ersticken. Er ließ es nicht zu, aber es kostete ihn eine schier unmenschliche Kraft. Draußen herrschte immer noch die Nacht. Viejo war nicht lange tot geblieben. Nicht lange tot … Die gespenstische Wahrheit, die hinter dieser fast lapidaren Feststellung lauerte, riß eine weitere Schranke in Tikals Kopf nieder. Er fühlte sich wie ein in die Enge getriebenes Wild. Seine Witterung hatte die Nähe des Jägers aufgenommen, und dieser schien nur noch
darauf zu warten, daß es sich eine Blöße gab, die er gnadenlos ausnutzen würde. Er seufzte gequält und preßte die Knöchel seiner Fäuste gegen die von Blut durchrauschten Schläfen. Wie konnte er nur glauben, Viejo würde ihn …? »Ich fühle mich glänzend!« Die Stimme aus der Tiefe schnitt wie ein scharf geschliffenes Messer in seine Gedanken. »Du lügst!« preßte er hervor. Seine Arme fielen schlaff herab, und er hatte nicht einmal die Kraft, sich zu erheben. »Früher hättest du mich keiner Lüge bezichtigt«, warf sie ihm vor, und wenn er genau hinhörte, klang sie plötzlich wieder beinahe wie früher. »Viejo, bitte, du weißt nicht, was es für mich bedeutet, dich so reden zu hören. Überhaupt zu begreifen, daß du zurückgekehrt bist, nachdem ich dich mit eigenen Augen sterben sah …« »Ich war nie fort«, widersprach sie. »Aber jetzt muß ich gehen. Sei vernünftig. Stell dich mir nicht in den Weg, dann geschieht auch nichts, was ich bedauern müßte. Laß mich heraus!« Tikal schluckte hart. »Ich … ich möchte, daß du bleibst«, sagte er. Dabei hatte er das Gefühl, neben sich zu stehen und einem anderen zuzuhören. »Ich kam zu spät, das werde ich mir nie verzeihen – aber wenn du bleiben würdest … für immer … würde ich besser auf dich aufpassen, das schwöre ich!« Ihr Schweigen schien die Zeit anzuhalten. Schließlich sagte sie: »Du weißt nicht, was ›für immer‹ bedeutet. Aber ich weiß es jetzt. Mein Herz hat aufgehört zu schlagen. Mein Geist schwebt. Es ist wie in einem Traum, über den die Zeit keine Macht hat. Aber ich spüre Durst, schrecklichen Durst …« Tikal wich das Blut aus dem Kopf. Ihn schwindelte. Was habe ich getan? dachte er. Wie konnte ich vergessen, was aus ihr wird, wenn sie …
Er war außerstande, sich den absehbaren Folgen seiner Kurzschlußhandlung in voller Konsequenz zu stellen. »Wir finden – Möglichkeiten«, sagte er. »Du kannst deinen Durst – an mir stillen.« Sie lachte. Es hörte sich verächtlich an, und sie schien es zu merken, denn sie stellte das Gelächter abrupt wieder ein und erklärte: »Das wird mir nicht reichen. Du hättest tun sollen, worum ich dich bat. Nur durch deine Feigheit konnte es soweit kommen, daß ich … Gefallen an meiner neuen Existenz finde.« »Du hast wirklich erwartet, daß ich dir das Genick breche, nachdem dein Herz zu schlagen aufhörte?« »Ja!« Tikal hatte sich noch nie schlechter und selten hilfloser gefühlt. »Du bist immer noch meine Schwester – immer noch das, was ich am meisten liebe.« »Hör auf! – Hör auf, dich selbst zu betrügen! Sieh der Wahrheit ins Auge: Ich liebe dich nicht mehr! In meinem Traum bin ich nicht mehr die Duldsame, die ihren Kummer lieber in sich hineinfrißt, als ihn hinauszuschreien. In meinem Traum bin ich ein Ungeheuer, dem es danach giert, in den Hals eines Menschen zu beißen und dessen Blut zu trinken, so lange, bis ich satt bin – und ich fürchte, das wird nie geschehen. Nie mehr. Ich bin verflucht. Aber ich leide nicht unter diesem Fluch. Mach jetzt auf! Ich werde dich schonen. Du warst einmal mein Bruder, und ich erinnere mich, daß ich dich mochte, auch wenn ich nun kaum noch die Bedeutung dieses Wortes kenne.« Sie all dies reden zu hören, schnürte Tikal das Herz eng. »Vielleicht hätte ich es wirklich tun sollen«, sagte er bitter. »Ich muß ein Narr gewesen sein, es nicht zu tun – oder dich einfach liegenzulassen, bis sie kommen und –« »Deine Einsicht kommt immer noch nicht zu spät. Mach auf, und ich verlasse dich auf der Stelle. Ich könnte gar nicht anders, denn ich fühle mich zu ihm hingezogen!«
»Ihm?« Tikal erwachte wie aus fiebriger Benommenheit. Viejo schwieg. Tikal glaubte nicht, daß sie sich jemals mit einem Mann eingelassen hatte. Dennoch ahnte er, was hinter ihrer Bemerkung steckte. Es wurde viel geredet, und bei einigen Opferungen von Verstorbenen war es zu Merkwürdigkeiten gekommen, die zu bestätigen schienen, was hinter vorgehaltener Hand gemunkelt wurde … »Ich kann dich nicht gehen lassen, zumindest noch nicht!« wies er ihr Verlangen zurück. »Ich habe einen Fehler begangen, dessen bin ich mir fast sicher. Aber ich will nicht gleich den nächsten und vielleicht noch schwerer wiegenden begehen. Laß mir etwas Zeit. Ich muß nachdenken …« »Zeit?« Ihre Stimme wurde wieder zu jenem schrillen Mißklang, der Tikal durch Mark und Bein ging. »Was gibt es da zu bedenken? Meinst du, mein Durst wird geringer, je länger ich in diesem verdammten Loch stecke …?« Tikal fröstelte. Schwerfällig kam er auf die Beine und ging schwankend zum Herd. Ihn fror plötzlich so sehr, daß er an nichts anderes mehr denken konnte als an ein wärmendes Feuer. Mit unbeholfener Hast schichtete er Brennbares auf. Der Anblick der schon fast erkalteten Asche erinnerte ihn an das, was aus Viejo werden würde – aus jedem von ihnen, eines Tages. Mit Mühe gelang es ihm, das Feuer in Gang zu setzen, und als es endlich aufloderte, vermochte es die Kälte, die wie Gift durch sein Fleisch kroch, auch nicht zu vertreiben. Von Viejo war in der ganzen Zeit erstaunlicherweise nichts mehr zu hören – aber daraus zu schließen, sie hätte sich mit der Vertröstung ihres Bruders abgefunden, wäre sicher grundfalsch gewesen. Tikal hatte den Beginn eines neuen Tages noch nie so herbeigesehnt wie heute. Aber die unsichtbare Last, die er mit sich schleppte, wich auch in Gesellschaft anderer nicht von ihm. In manchem Blick, dem er während der täglichen Arbeit auf dem Feld begegnete, glaubte er Arg-
wohn und Mißtrauen zu lesen. Die Fragen nach Viejo wiegelte er mit dem Hinweis ab, sie habe sich unwohl gefühlt und sei deshalb zu Hause geblieben. So etwas kam vor und wurde in aller Regel auch nicht angezweifelt. Dennoch fühlte sich Tikal bei seiner Lüge ertappt und nutzte die erstbeste Gelegenheit, um heimzukehren. So froh er am Morgen gewesen war, Viejo entfliehen zu können, so erleichtert fühlte er sich jetzt, ihr wieder nahe zu kommen. Dieses Gefühl hielt genau solange an, wie er brauchte, um durch die Tür ins Innere der Adobehütte zu gelangen und die dortige Verwüstung zu erkennen, ein Chaos, das nur Viejo angerichtet haben konnte. Offenbar hatte sie ihm mit ihrem scheinbaren Sich-in-ihr-Schicksal-Fügen nur Sand in die Augen streuen wollen und die erstbeste Gelegenheit abgewartet, um auszubrechen. Die Stärke, die nötig gewesen war, um der Grube zu entkommen, entfremdete Viejo ihrem Bruder endgültig. Viejo lebte nicht mehr – sie war oben auf der Tempelplattform gestorben! Das, was jetzt irgendwo unterwegs war – unterwegs zu IHNEN –, würde keinen Moment zögern zu verraten, was Tikal versucht hatte. Was habe ich getan? Er sank auf die Knie und riß die Arme nach oben. Doch rasch kam er wieder auf die Beine, um die vielleicht einzige Chance zu nutzen, die ihm noch blieb …
* Pomoná zog sich die Dornenschnur durch die Zunge und sah zu, wie das Blut aus ihrem offenen Mund quoll. Nach einer Weile wanderte ihr Leidensblick aus dem Fenster hinaus zur nächtlichen Sonne, und die Schmerzen, die sie sich zufügte, erreichten einen ersten Höhepunkt.
Harziger Duft aus Räuchergefäßen legte sich wie Kleister auf ihre Atemwege. Ich ersticke! dachte sie. Auch diese Qual opferte sie dem Volk, über das sie in ihres Vaters Abwesenheit herrschen durften … Zapata erlöste seine Blutsverwandte auf dem Höhepunkt ihrer Schmerzen – sie hätte dasselbe für ihn getan. Er entfernte die Schnur, schälte den auch jetzt noch ekstatisch zuckenden Körper aus seiner Kleidung, hob ihn auf, trug ihn hin zu dem steinernen Becken, das in den Boden eingelassen war, und versenkte Pomoná in dem vorbereiteten Bad, das ihr Linderung schenken sollte. Pomonás geschmeidiger Körper verschwand vorübergehend komplett in der zähen Blutmasse, deren Oberfläche sich augenblicklich schloß. Zapata murmelte eine Beschwörung, deren Klang schon nicht mehr an Pomonás Ohren drang. Doch dann durchstieß ihr Kopf zeitlupenhaft die spiegelglatte Fläche – so langsam, daß sich nicht einmal eine leicht kräuselnde Bewegung darauf abzeichnete. »Es ist … wunderbar«, sagte sie. Neben ihrem Kopf erschien eine Faust, die sich öffnete und Zapata entgegenstreckte. »Komm doch auch. Du weißt, wie sehr ich dich allen anderen vorziehe …« Zapata lächelte. Er kauerte neben dem Beckenrand und betrachtete die ihm entgegengehaltene Hand. »Du bist erschöpft. Du hast dir eine Tortur zugemutet, die deinen Körper geradezu nach etwas Ruhe und Entspannung schreien läßt …« »Ich entspanne am besten, wenn du bei mir bist«, versicherte Pomoná. »Warum läßt du mich so betteln? Bin ich über Nacht häßlich geworden?« Zapata richtete sich neben dem Becken zur vollen Größe auf. Wenige Handgriffe genügten, um aus der handgewebten Herrschertracht zu steigen und sie neben sich auf den Steinboden sinken zu lassen. »Du bist von allen am besten gewachsen …«
Pomonás Bemerkung schien an ihm abzuperlen wie das Blut von ihrer Haut. Sie badete bis zum Hals darin und hatte dennoch das Gefühl, es gäbe eine unsichtbare Trennschicht, die eine Kluft zwischen ihr und dem »kostbaren Wasser« aufrecht erhielt. Pomoná spürte durchaus die belebende Labsal dieses Bades, für das etliche Untertanen ihr Leben hatten geben müssen – zugleich war der Kontakt mit dem klebrigen Naß seltsam gedämpft. Es mochte an den ätherischen Ölen liegen, mit denen sie sich salbte, aber die Möglichkeit, daß auch etwas gänzlich anderes hinter diesem Empfinden lauern könnte, beunruhigte sie so sehr, daß sie abwartete, bis Zapata zu ihr herabgestiegen war. Dann fragte sie ihn: »Spürst du es auch?« Er blickte sie fragend an, während es den Anschein hatte, als ließe er sich von einer imaginären Strömung auf sie zutreiben. »Es kommt mir vor«, fügte sie erklärend hinzu, »als hätte sich die Qualität des … Bades seit dem letzten Mal verändert. Zum Nachteil …« Zapatas unsichtbare Hände griffen nach ihrer Taille. »Es ist wie immer. Ich merke keinen Unterschied. Die Temperatur …« »Es ist nicht die Temperatur«, fiel sie ihm ins Wort. »Es ist … wie eine Verweigerung.« »Eine Verweigerung?« Sie wußte, wie wahnsinnig ihre bemühten Versuche, ein Gefühl zu erklären, klingen mußten. »Es ist das erste Mal, daß ich intuitive Ablehnung zu fühlen glaube …« »Wessen Ablehnung?« »Du erinnerst dich an die letzte Opferung?« wich sie aus. »Natürlich.« »Dieser Mann, der unter meinen Händen starb und von dessen Blut ein Teil in dieses Becken einfloß … Ich sah in seine Augen, und ich wurde noch nie zuvor von einem ähnlich heftigen, stummen Aufschrei durchdrungen wie im Moment seines Todes! Es war …« »Es war?«
»… als würde mich ein Fluch treffen!« Zapatas Miene spiegelte wider, was er von ihrem Wahn hielt. »Die Dämpfe«, sagte er, »haben dir zugesetzt. Vielleicht solltest du eine Weile darauf verzichten. Du fügst dir auch ohne solches Beiwerk schon genug an Schmerz zu. Deine Opfer werden erhört …« »Ich hoffe es. Vater wäre erzürnt –« »Vater ist fort.« Pomoná riß die Augen auf. »Ja, aber er wird wiederkommen! Er hat versprochen, eines Tages wiederzukehren, um nach uns zu sehen. Denkst du etwa …?« Zapata beschwichtigte: »Nein, natürlich wird er sein Versprechen halten, auch wenn es lange her ist. Auch wenn ich … mich kaum noch an sein Gesicht erinnern kann.« Pomoná drängte sich an ihn, als suchte sie eine Art von Wärme, die ihr das Bad nicht geben konnte. Seine Worte erinnerten sie an die Ängste, von denen sie heimgesucht wurde. »Er besucht mich manchmal in meinen Träumen. Deshalb könnte ich nie vergessen, wie er aussah …« Zapata brachte ihren Anflug von Schwärmerei auf den nüchternen Nenner: »Eines Tages wird er wiederkommen, es sei denn, ihm ist etwas zugestoßen.« Pomoná riß ihre Augen noch weiter auf. Aber sie unterdrückte die Frage, die ihr auf der Seele brannte, und als sie dann auch noch spürte, daß Zapata längst bereit war, ihr zu schenken, wonach sie sich im Augenblick am meisten sehnte, gab sie sich ganz diesem flüchtigen Rausch des Vergessens hin. Seine Hände liebkosten ihre vollen Brüste, und nach einer Weile tauchte Pomoná zurück in die Tiefe, wo sie ihn – blind vor Blut und nur ihrem Tastsinn folgend – mit ihren Berührungen schier zur Raserei brachte. Der Mangel an Atemluft machte ihr nichts aus. Als Zapata es nicht mehr aushielt, zerrte er sie aus der Tiefe nach oben, ignorierte ihre gespielten Proteste und plazierte sie so, daß er
sie stehend von hinten nehmen konnte. Dabei sah er zu, wie das Blut von Pomonás Haut und Haar perlte, als fände es keinen Halt daran. Als würde es davon abgewiesen. Zapata beugte sich vor und ließ seine Zunge über ihr Rückgrat gleiten. Alles, was er schmeckte, war das Salz ihrer Haut. Es erregte ihn so sehr, daß er meinte, sein Geschlecht verwandele sich in puren, unbiegsamen Stahl. Pomoná stöhnte so laut, als teilte sie diese Imagination mit ihm. Ihre Gedanken, während sie die Eruptionen in sich spürte, ahnte er nicht einmal: Welch sinnlose Säfte. Welch taube Saat … »Zapata?« Der Ruf kam aus dem Mund Cuyos, des Ältesten, der im Eingang des Gemachs stand. Weder Pomoná noch Zapata empfanden Scham, weil ihr lustvolles Treiben einen Zeugen erhalten hatte. »Was ist? Was duldet so wenig Aufschub, daß du …?« Cuyo schnitt Zapata das Wort mit barscher Geste ab. Er trat jetzt vollends in den Raum und offenbarte, daß er nicht allein gekommen war. In seinem Gefolge war eine Gestalt, die Cuyo grob am Arm gepackt hatte und mit sich zerrte. Es schien ihr nichts auszumachen. Die beiden Badenden erkannten sofort, warum. »Warum gestattest du einer Kreatur, den Palast zu betreten?« ereiferte sich Zapata. »Schaff sie hinaus! Übergib sie den Priestern! Ich verstehe nicht …« Zapata verstummte, als er den schmachtenden Blick bemerkte, mit dem ihn die Gestalt anstarrte. Langsam dämmerten ihm die Zusammenhänge. »Habe ich sie …?« Cuyo bejahte. »Ihr Name ist Viejo. Sie kratzte mit ihren Fingernägeln am Tor des Palastes und bettelte um Einlaß. Den Namen dessen, den sie suchte, wußte sie nicht …«, der Ton von Cuyos Stimme wurde zynisch, »… aber ich denke, sie hat ihn nun gefunden«, kommentierte er die unmißverständliche Art und Weise, wie das untote Mädchen Zapata mit stierem Blick und offenem Mund betrachtete. »Wann ist sie gestorben?«
»Sie sagt: schon heute Nacht.« »Unter welchen Umständen?« »Sie hat sich selbst getötet.« »Welch Ungehorsam und welche Vergeudung. Aber ich verstehe immer noch nicht …« »Das wirst du, gleich. Wenn sie dir erst erzählt hat, was ich bereits weiß. – Ich dachte mir, du würdest dich gern persönlich darum kümmern. In letzter Zeit warst du wenig draußen an der frischen Luft …«
* Tikal stockte jäh in seinem Lauf. Er war in einen spitzen Stein oder einen Knochen getreten, und den Laut, der aus seiner Kehle fahren wollte, konnte er nur noch ersticken, indem er reflexartig den Unterarm hochriß und gegen den Mund preßte. Eine Weile hielt Tikal den Atem an und lauschte furchtsam. Der Geschmack des Zinnoberrots, mit dem er seine Haut vor Arbeitsantritt eingefärbt hatte, legte sich ihm metallen auf Zunge und Gaumen, während sein Herz hart bis in den Hals hinein pochte. Das Dämmerlicht der nächtlichen Sonne wob Schatten zwischen kniehohem Gras, Dornengestrüpp und den überall verstreut wachsenden, hochstämmigen Ceiba. Nur einen Steinwurf entfernt lag ein kleines Maisfeld, dessen oben abgeknickte Halme ebenso erstarrt in das Tagdunkel ragten wie alles andere auch. Nicht das leiseste Lüftchen wehte – aber das kannte Tikal nicht anders. Wind war ihm so fremd wie Sturm. Das einzige, was hin und wieder spürbar die Luft aufrührte, war heftiger Regen oder der Flügelschlag niedrig vorbeifliegender Vögel: hinterlistige Harpyie, Aasgeier oder … Seine Gedanken gerannen. Unkontrollierbare Angst schien unter der Farbe, die seine Haut bedeckte, hervorzubrechen, als wollte sie
eine Fessel bilden, die Tikals Flucht stoppen sollte. Mit geballten Fäusten blickte er zitternd zur nächtlichen Sonne empor. Sie erhörte sein Flehen, sein lautloses Gebet nicht. Sie schenkte ihm auch keine Zuversicht und legitimierte nicht den Frevel, den er im Begriff stand zu begehen … Er blickte zum Dorf zurück. Vereinzelt hörte er Stimmen aus den Adobehütten schallen. Auch auf den Straßen und Plätzen herrschte reges Treiben wie jeden Tag. Tikal setzte sich ins Gras und tastete vorsichtig nach der verletzten Stelle seines Fußes. Ein Dorn hatte sich ins Fleisch gegraben. Tikal nahm sein Messer und entfernte ihn. Das wenige Blut, das herausquoll, würde ihn – so hoffte er wenigstens – nicht verraten. Als er fertig war, umwickelte er die Wunde mit einem provisorischen Verband. Dazu schnitt er einen schmalen Streifen von seinem Lendenschurz ab. Bevor er aufstand, warf er noch einmal Blicke in alle Richtungen. Am längsten verweilte er dort, wo sich Palast und Tempel noch weit über die Kronen der heiligen Bäume erhoben. Nein, dachte er, die nächtliche Sonne hat noch nie einen der meinen erhört oder beschützt. Sie steht ganz auf Seiten der Tyrannen! Ihre Lieblinge sind die schrecklichen Schönen, die im Palast leben und auf dem Tempel richten … Tikal hatte übers Jahr erst seine Eltern, dann seinen Bruder und nun auch noch seine Schwester verloren. Seinem Bruder Becan war das Herz bei lebendigem Leib aus der Brust geschnitten worden – so schnell und mit solcher Raffinesse, daß Tikal fürchtete, Becan könnte noch lange genug bei Bewußtsein gewesen sein, um das Grauen, das er zu Ehren der Tyrannen erleiden mußte, in seiner ganzen Tragweite zu begreifen. Becans warmes Herz war von Hand zu Hand gewandert, von Mund zu Mund, und Tikal hatte es fast den Magen umgedreht, als er die dunkle Lust in den Augen der Bestien hatte aufleuchten sehen – ihre Freude am Töten, den Genuß, mit dem sie den abseitigen Trunk in ihre Kehlen fließen ließen. Bis zum allerletzten Tropfen.
Schon damals waren der Haß und die Verachtung in Tikal angeschwollen wie ein Fluß nach starkem Regen, und nun, nachdem ihn auch noch Viejo verlassen hatte, gab es kein Halten mehr! Der Wall, der die Bewohner der Stadt und des umliegenden Landes zu Gefangenen machte, war die für jeden sichtbar gezogene Grenze, hinter der das Unbekannte begann. Vielleicht endete dort die Welt auch ganz einfach. Vielleicht begann jenseits davon das Große Nichts oder ein von Ungeheuern bewohnter Sumpf … Tikal schauderte. Kein Ungeheuer, versuchte er sich Mut zuzusprechen, konnte schlimmer sein als SIE. Niemand wußte, wie alt die Herrscher waren und wie weit ihr Regime der Unterdrückung in die Vergangenheit zurückreichte. Die verrinnenden haab* jedenfalls schienen ihnen nicht das geringste anhaben zu können, und so blieben sie ewig zeitlos und unbegreiflich für ihre sterblichen Untertanen … Tikal setzte sich wieder in Bewegung. Dabei wurde ihm bewußt, wie verzweifelt und hoffnungsarm ein Mensch wirklich sein mußte, um es zu riskieren, den Zorn der Tyrannen auf sich zu laden. Aber er verdrängte Einsichten dieser Art. Das hohe Gras streifte seine Hände. Aber er kam, obwohl er ein wenig hinkte, gut voran. Dabei hielt er nicht nur die Landschaft, sondern auch den hohen Himmel im Auge. Auch von dort drohte Gefahr – vielleicht die ärgste überhaupt … Niemand schien auf ihn zu achten. Auch nicht die Bauern, die im nahegelegenen Weiler, außerhalb der Stadt, lebten. Trotzdem fing Tikal an, schneller zu laufen. Aus einem Baum erhob sich ein Schwarm kleinerer Vögel, die er aufgeschreckt hatte. Die nächtliche Sonne hatte ihren Zenit überschritten. Tikal biß sich auf die Unterlippe. Plötzlich war er drauf und dran, wieder umzukehren – sich zu stellen. Doch dann kehrten die Erinne-
*haab ist das Sonnenjahr der Maya, das 365 Tagen entspricht
rungen zurück: seine Eltern, Becan, Viejo … Die Bilder drängten ihn zu noch größerer Eile, und noch verzweifelter hastete er auf den gewaltigen Erdwall zu, der seine Welt wie in einer erdrückenden Umarmung umschloß. Irgendwann kam Tikal dort an und hetzte den Steilhang nach oben, auf Händen und Füßen wie ein Tier. Die Verletzung behinderte ihn kaum noch, weil er sich gar nicht gestattete, daran zu denken und auch sonst jeden überflüssigen Gedanken ausschaltete. Was ihn dort oben, auf dem Scheitelpunkt des Walls, erwarten würde, vermochte er nicht zu sagen – nicht einmal ungefähr. Falls andere Menschen je über diesen Punkt hinweg gesehen hatten, dann behielten sie ihr Wissen aus Angst vor Strafe für sich. Sie wären auch lebensmüde Narren gewesen, wären sie damit hausieren gegangen. Ohne ein einziges Mal zurückzublicken, erstieg Tikal den Wall, dessen Erbauer niemand mehr kannte. Vielleicht hatten ihn die Tyrannen selbst dereinst errichtet, wahrscheinlicher aber eine Generation, die an dieser Anstrengung zugrunde gegangen war … Tikal verlor jedes Zeitgefühl. Der Aufstieg kostete ihn seine ganze Kraft, und als er dann endlich den Gipfel erreicht hatte, ließ er sich einfach niedersinken. Dunkle Nebel waberten vor seinem Blick, groteske Ausgeburten seines strapazierten Verstandes. Eine Weile war er nicht einmal imstande, den Kopf zu heben, um sich umzuschauen und zu ergründen, wie es denn nun jenseits der ihm vertrauten Welt aussah. Dann aber erwartete ihn ein unbeschreiblicher Schock. Hinter ihm erstreckte sich immer noch die Landschaft, die er von klein auf kannte, aber vor ihm … vor ihm hörte einfach alles auf? Tikal fand keine Worte für das, was seine Augen quälte, sobald er geradeaus blickte und den Versuch unternahm, eine Vorstellung von dem zu gewinnen, was sich auf der anderen Seite des Walls erstreckte. Es war, als würden seine Blicke völlig verdreht, verbogen und entstellt in seinen Kopf zurückgeschleudert. Es war grauenvoll!
Auf die Ellbogen aufgestützt lag er da und kniff die Augen zu kleinen Schlitzen zusammen. Es änderte nichts. Was durch die schmalen Spalten Einlaß in sein Gehirn fand, verursachte ihm schlimmere Pein als eine Folter. Der Schmerz schien seinen Schädel von innen heraus auszuhöhlen. Er schrie – erst leise, dann immer lauter. Vor ihm war eine … Wand. Eine Barriere, deren Natur nur einem bösen Zauber entspringen konnte! Oder narrten ihn seine Sinne? Wurden sie getäuscht, um zu verhindern, daß Tikal das Paradies jenseits des Walls erspähte und sich von dessen Lockungen verführen ließ …? Tikal wirbelte herum, als er ein Brausen vernahm, wie es nur kraftvolle Schwingen verursachen konnten. Die Augen nun wieder weit offen, starrte er auf den gewaltigen Schatten, der sich vor die Scheibe der nächtlichen Sonne geschoben hatte. Ein Schatten, der genau aus der Richtung kam, in der sich der Palast der Unbarmherzigen erhob! Die Angst ließ Tikal den Speichel im Mund gefrieren – zumindest fühlten sich seine Zunge und der Gaumen plötzlich an, als wären sie von Rauhreif bedeckt … Völlig außer sich kam der junge Maya auf die Beine. In seinen Augen irrlichterte es, als es keinen Zweifel mehr gab, daß Viejo es tatsächlich getan, ihn wahrhaftig verraten hatte …! Es war nicht mehr Viejo, tröstete er sich, doch diese Einsicht verfehlte ihre Wirkung. Immer näher kam das geflügelte Ungetüm, von dem Tikal nicht einen Moment annahm, es könnte nur das sein, was es zu sein vorgab: eine Fledermaus mit gewaltiger Spannweite. Wie gelähmt stand er da, unfähig, dem Verderben auszuweichen. Wohin hätte er auch flüchten sollen? Hinter seinem Rücken war immer noch das Nichts, und dort unten, wo solche wie er lebten, konnte er auch keine Hilfe erwarten. Von niemandem!
Noch im Flug veränderte die Fledermaus ihre Haltung. Ihre krallenbewehrten Klauen stellten sich Tikal entgegen. In dem Moment, als der Flügelschlag bereits sein Haar zerzauste und Tikal meinte, die gekrümmten Klauen in sein Fleisch eindringen zu fühlen, übernahm etwas anderes die Regie über seinen Körper. Etwas, das nicht einfach dastehen und sich hinschlachten lassen wollte. Und ehe Tikal richtig begriff, was er eigentlich tat, sprang er erst zur Seite, drehte sich dann um hundertachtzig Grad … … und warf sich gegen die fürchterliche Mauer, die sein Bewußtsein mit der Wucht eines Keulenhiebs auslöschte.
* Es war kein Zufall, daß Zapata wußte – genau wußte –, wohin er sich zu wenden hatte. Nicht nur das untote Mädchen Viejo, auch ihr das Gesetz brechender Bruder war von ihm einst initiiert worden. Wie jedem anderen Bewohner der Hermetischen Stadt war Tikal der Keim ins Blut gepflanzt worden. An den Hälsen eines jeden hier gefangenen Maya prangte das sichtbare Symbol für dieses Ritual, dem sich niemand entziehen durfte und dies auch nicht konnte. Das System war perfekt. Nichts Lebendigem würde je die Flucht daraus gelingen. Dafür sorgte schon die magische Grenze, die sich als undurchdringlich für jeden Bewohner der Hermetischen Stadt erwies. Selbst für uns, dachte Zapata, die wir darüber gebieten. Nur unser Vater besitzt den Schlüssel. Er allein vermag zu kommen und zu gehen nach Belieben … Der Halbwüchsige, von dem die Untote berichtet hatte, stand genau dort, wo Zapata es erwartet hatte. Die Bilder waren eindeutig gewesen für jemanden, der in ungezählten Sonnenläufen Bekannt-
schaft mit jedem Baum und jedem Stein seiner Umgebung geschlossen hatte. Auch wenn Cuyo recht haben mochte: Er war lange nicht mehr außerhalb des Palastes unterwegs gewesen. Das Treiben dort langweilte ihn. Kaum jemals geschah etwas Aufregendes. Es war der immer gleiche Trott. Tikals Verbrechen verdiente den Tod – gleichwohl zollte Zapata dem jungen Mann aber durchaus auch leise Bewunderung, überhaupt auf die Idee gekommen zu sein, sich die Gegenwart seiner Schwester über den Tod hinaus bewahren zu wollen, obwohl diese nach dem Sterben nichts anderes mehr war als eine … eine … Er vergaß, weiter nach dem richtigen Begriff zu forschen. Sein Opfer hatte ihn entdeckt. Seine Reaktion ließ keinen Zweifel. Wie hypnotisiert starrte Tikal seinem Richter entgegen. Seinem Richter und … Henker, dachte Zapata. Kraftvoll peitschten seine Schwingen die sonst stille Luft. Und dann trennte den Vampir nur noch ein einziger Flügelschlag von dem Blutquell, den er sich munden lassen wollte, bevor die Seele daraus entschwand. Der Vampir löste den Impuls aus, der seine Maske fallen ließ und ihm jene Hülle zurückgab, in der er einst das Blut seines Vaters aus dem Lilienkelch empfangen hatte. Im selben Augenblick löste sich Tikal aus seiner Starre, und noch ehe Zapata ihn berühren konnte, warf er sich todesverachtend gegen die Wand aus Kelchmagie. Die Wand, die beim Kontakt mit dem Keimträger purpurfarben zu explodieren schien!
* Pomoná hatte ihren Jadeschmuck – Ohrgehänge, Halskette und Fingerringe – angelegt, ansonsten war sie immer noch so nackt wie während des Bades.
Neben ihr lag die Kopfbedeckung aus Quetzal-Federn bereit, die sie nur anläßlich öffentlicher Opferungen trug. Pomoná hatte sich angeboten, in Zapatas Abwesenheit die Untote, in der sein Keim zum Ausbruch gekommen, unschädlich zu machen. Das Blut, das in den Adern der Bevölkerung floß, war viel zu rar, viel zu kostbar, um es mit solch unerwünschten Kreaturen zu teilen. Die Vampirin wollte gerade in den kunstvoll gewebten Corte steigen, einen knöchellangen, nur aus einer Stoffbahn gefertigten und in der Taille von einem Gürtel zusammengehaltenen Rock, als sie aus den Augenwinkeln eine Bewegung bemerkte. Sie drehte sich um. »Du? So schnell hatte ich nicht mit deiner Rückkehr gerechnet. Hast du es nicht genossen, deine Beute –« »Meine Beute ist verschwunden«, sagte Zapata, auf dem Fenstersims kauernd, wo er sich gerade seiner Flügel entledigt hatte. »Das macht es spannend, oder?« Pomonás Augen leuchteten auf. Kalt und grausam. »Heißt das …?« Zapatas Erwiderung war unmißverständlich: »Kümmere du dich um die Jaguare – ich verständige inzwischen die anderen!« Während Zapata aus dem Gemach eilte, um die restlichen Mitglieder der Familie zusammenzutrommeln, entledigte sich Pomoná wieder ihres Schmucks. Er wäre bei der bevorstehenden Jagd nur hinderlich gewesen.
* Tikal kam zu sich. Zunächst wußte er nicht, ob die Stille, die ihn umgab, bereits Bestandteil jener Welt war, in die man nach dem Tode Einzug hielt. Auch hatte er zwar das Gefühl, die Augenlider zu heben, aber da sich zunächst nichts an der Schwärze seiner Umgebung änderte,
vermochte er auch daraus nicht eindeutig abzuleiten, noch am Leben zu sein. Doch dann wich die gnädige Benommenheit einem unerhörten Schmerz. Schmerz, wie Tikal ihn zuvor nicht gekannt hatte – als stünde sein Körper in Flammen, wäre jeder einzelne Nerv von Säure zerfressen! Wo bin ich? dachte er. Er lag nicht mehr im Freien und nicht auf Gras. Diese Unterlage war hart wie Stein. Tikals Erinnerung reichte bis zu dem Moment, als er gegen das Hindernis geprallt war, den Atem des Tyrannen im Nacken. Was war danach mit ihm geschehen? War es ihm gelungen, die Barriere, die sich vor ihm aufgetürmt hatte, zu durchbrechen …? War dies die andere Seite? Der Ort, dessen Gesicht kein Bewohner Mayabs kannte? Erst als er sich aufzurichten versuchte, merkte Tikal, daß er gefesselt war. Nicht nur an Armen und Beinen, auch sein Kopf wurde von breiten Bändern festgehalten, so daß er ihn nicht zu drehen, geschweige denn zu heben vermochte! Reflexartig spannte Tikal seine Muskeln an, aber alles, was er damit erreichte, war, daß der Schmerz sich noch steigerte und ihn schier umbrachte. Beinahe wäre er in die nächste Ohnmacht geglitten. Sein heiseres Stöhnen veranlaßte eine Stimme im Dunkeln, ihn zu fragen: »Wie lautet dein Name?« Tikal schrak zusammen, und seine Verblüffung half ihm dabei, den Schmerz etwas zurückzudrängen. Jemand war bei ihm. Ganz nah … Wer? Die Antwort darauf konnte nur lauten: Einer von IHNEN! Vermutlich der Geflügelte, der ihn auf dem Wall angegriffen hatte! Offenbar hatte man ihn zur Stadt zurückgeschleppt und in einen der berüchtigten Kerker des Palastes geworfen!
Trotz seiner Verfassung wurde sich Tikal schnell eines Widerspruchs in dieser These bewußt: Wenn die Tyrannen aus Viejos Mund von seinem Vergehen erfahren hatten und auf seinen Fluchtversuch aufmerksam geworden waren, wieso kannten sie dann nicht einmal seinen Namen? Oder wollte man nur die Bestätigung, nicht den Falschen erwischt zu haben? Unsinn, dachte Tikal. Das haben SIE nicht nötig. Er kniff die Lippen zusammen. »Du willst nicht antworten, das verstehe ich. Du denkst, du wärst unter Feinden …« Wo – sonst? Durch Tikals Kopf spukten plötzlich tausend Gedanken, die sich an Irrwitz zu überbieten versuchten. »… aber das Gegenteil ist der Fall«, fuhr die wohlklingende Stimme fort. »Wir sind hier, um dich zu schützen. Um deinem Leben neuen Sinn zu geben.« Tikal wurde weiter von Schmerzen traktiert, hatte aber den Eindruck, als ließen sie langsam nach. Nichtsdestotrotz hielt er an der Überzeugung fest: Sie wollen mich quälen. Erst geben sie sich als meine Retter aus, dann – »Noch einmal: Wie heißt du?« »Tikal.« Er sah keinen Grund mehr, es zu verschweigen. In seiner Lage konnten ihm keine Nachteile daraus erwachsen. »Ich bin Calot.« Für einen flüchtigen Moment hätte Tikal geschworen, diesen Namen schon einmal gehört zu haben – aber wann, wo und in welchem Zusammenhang, daran konnte er sich beim besten Willen nicht erinnern. »Warum tötest du mich nicht endlich, Calot?« fragte er rauh. »Ich weiß, daß ich ohnehin sterben werde, und ich gebe zu, ich fürchte die Marter … aber viel schlimmer als das, was ich gerade aushalte, kann es nicht mehr werden …« »Es tut uns leid«, erwiderte der Unsichtbare. »Wir mußten dir das
antun. Sonst wäre es ihnen ein leichtes, dich überall aufzuspüren – und das würde auch unser Schicksal besiegeln.« Diese Worte stürzten Tikal in noch größere Verwirrung. Irgend etwas in ihm hätte nur zu gern geglaubt, unter Freunden zu sein, aber die Umstände sprachen absolut dagegen. Freunde hätte ihn nicht zu fesseln brauchen. »Was habt ihr getan?« brüllte er. »Weshalb fühle ich mich wie bei lebendigem Leib gesotten? Meine Haut …« Er hatte das Bedürfnis, sie zu berühren, aber selbst das verhinderten die Lederstriemen. »Es wäre besser gewesen, deine Bewußtlosigkeit hätte noch etwas angehalten«, sagte die Stimme. »Dann wären deine Schmerzen soweit abgeklungen gewesen, daß es dir leichter gefallen wäre, uns unsere guten Absichten zu glauben. Aber du bist sehr stark – und das wiederum kann uns nur zugute kommen …« Tikal mußte an Viejo denken und schluckte. Hätte er nur einen Bruchteil der Stärke besessen, die ihm Calot offenbar zubilligte, dann wäre seine Schwester nie dem Gedanken verfallen, sich selbst opfern zu müssen, um dem täglichen Elend zu entfliehen. Dann hätte er sie moralisch aufrichten können – und sich selbst auch. »Ihr habt keine Ahnung«, stieß er hervor. »Nicht die geringste …« In diesem Augenblick entstand Bewegung in der Finsternis. Eine oder mehrere andere Personen näherten sich Calot. Tikals Gehör fing ein Flüstern auf, dem die Anspannung anzumerken war. Als es verstummte, sagte Calot: »Es fängt an. Sie durchkämmen die Stadt. Wir müssen jetzt sehr vorsichtig sein. Diese Bestien wittern sogar deine Angst! Kein Wort mehr, bis es vorüber ist!« Tikal begehrte auf: »Aber –« »Kein Wort mehr!« Unsichtbare Hände stopften ihm eine Knebel in den Mund. Er würgte und bäumte sich in seinen Fesseln auf, zumal ihm auch noch ein Tuch durch den Mund gezogen und verknotet wurde. Nur durch die Nase bekam er noch Luft. Auf den häßlichen Schmerz, der zuvor jede Bewegung begleitet
hatte, wartete Tikal diesmal vergeblich. Es tat immer noch weh, aber die Pein war nicht mehr halb so fürchterlich wie anfangs. Bewahrheitete sich, was Calot indirekt erklärt hatte: Flauten die Beschwerden ab? War er tatsächlich … unter Freunden? Aber wie hatten sie ihn gefunden – und wo war er?
* Der Palast spie sie aus wie das pure Verderben: Bestien an Bestien geleint! Zapata führte sie an, dicht gefolgt von Pomoná und seinen anderen Geschwistern. Mühelos hielten sie Schritt mit den geschmeidigen Killern, denen die Witterung, auf die sie angesetzt waren, längst in Fleisch und Blut übergegangen war. »Such!« bellte Zapata dennoch stakkatoartig. »Such! Such! Such!« Jeder Vampir stachelte den ihm vorauseilenden Jaguar mit seiner Stimme an. Starke Stricke verbanden die Handgelenke der Tyrannen mit den Halsringen der ihnen triebverwandten Tiere. Es erhöhte den Reiz, denn dadurch bewegte sich die Jagd in jedem Moment am oberen Limit. Der Rausch verlieh den Vampiren Flügel, ohne die tatsächlichen Flügel bemühen zu müssen. Vampir und Jaguar – eine intensivere Partnerschaft war kaum denkbar. Und es hatte den Anschein, als würden die Raubkatzen diese Überzeugung ebenso teilen und genießen wie ihre Herren … Am Fuß der hoch aufragenden Palastmauern trennten sich die acht Paare und versprengten sich in alle Richtungen, um nach dem von Zapata beschriebenen Frevler zu suchen. Niemand war in der Lage, die Wälle zu überwinden – die Tyrannen wußten dies und hatten ihr Wissen bereitwillig an die Menschen weitergegeben, die unter ihrem Joch litten. Aber es gab immer wieder Unverbesserliche,
die sich einbildeten, die magisch gezogene Grenze doch überschreiten und der Gefangenschaft entfliehen zu können. Meist gelang es, sie noch vor Erreichen der Barriere zu stellen, doch mitunter schafften sie es, den Erdwall zu ersteigen und zur eigentlichen Mauer ihres Kerkers zu gelangen. Die Frevler kamen bei der Berührung des Feldes nicht etwa um, sondern wurden von dessen magischer Entladung an einen beliebigen Punkt innerhalb Mayabs geschleudert! Der Ort, wo sie landeten, ließ sich auch für die Tyrannen nicht voraussehen, doch hatten sie sich eine andere Eigenart dieses Vorgangs zunutze gemacht: Die magische Entladung brandmarkte die Betroffenen, und auf die Erkennung dieser »Witterung« waren die Jaguare der Vampire abgerichtet worden. Selbst über die innerhalb der Barriere größtmögliche Entfernung vermochten die Tiere sie aufzunehmen – – und zumindest jenes, dessen Leine Zapata führte, fand auch jetzt die Spur. Die Raubkatze zerrte wie toll am Strick und drängte vorwärts. Ihre Muskeln wurden unter dem gefleckten Fell zu schwellenden Strängen. Trotz seiner übermenschlichen Kraft hatte der Vampir Mühe, den Jaguar im Zaum zu halten. Das äußerlich so ungleiche und in gewisser Weise doch artverwandte Paar raste fast wie im Fluge dahin. Einem Beobachter mußte es vorkommen, als fänden sie ihren Weg blind. Aber es gab keinen solchen Beobachter. Die Kunde, daß die Tyrannen einmal mehr zur Jagd aufgebrochen waren, mußte sich wie ein Lauffeuer verbreitet haben, und so hielt die Angst alle Bewohner der Stadt in ihren Behausungen. In den hintersten Winkeln ihrer Hütten und Häuser mochten sie sich verkrochen haben, bebend vor Furcht und der vagen Hoffnung ergeben, daß die Jäger an ihnen vorüberziehen würden. Zapata lachte kehlig. Der Gedanke amüsierte ihn, die Jagd selbst verschaffte ihm ein Hochgefühl, wie er es lange nicht mehr verspürt hatte. Sein Blut kroch nicht träge wie sonst durch seine Adern, son-
dern floß nunmehr spürbar darin, und etwas wie imaginäres Fieber verschaffte ihm die Illusion von hitziger Erregung, noch genährt von der Aussicht auf einen Erfolg der Hatz. Ein wunderbares Gefühl war das. Cuyo hatte recht gehabt: Viel zu lange war er, Zapata, nicht mehr draußen gewesen. Beinah hatte er schon vergessen, wie großartig es war, der eigenen Kraft freien Lauf zu lassen und sie zudem noch mit der eines Jaguars zu messen. Das Tier führte ihn in einen Teil der Stadt, wo sich eine erkleckliche Anzahl von Hütten dichter als anderswo aneinander drängten. Ihr Anblick erinnerte Zapata an verängstigtes Vieh, und tatsächlich roch und schmeckte er die Angst, als atmeten die Mauern aus Erde und Flechtwerk dieses Aroma. Natürlich wußte Zapata, daß die Quelle dieses Duftes jenseits der Hüttenwände lag. Wie groß mußte die Furcht der Menschen sein, wenn selbst Wände sie nicht halten konnte? Wieder lachte der Vampir, doch der Laut gerann ihm schon im nächsten Moment in der Kehle. Der Vorwärtsdrang des Jaguars schwand. Und schon stand das Tier auf der Stelle, wenn auch noch immer erregt, heiser fauchend und grollend und den Kopf hin und her wendend im Versuch, die Witterung von neuem aufzunehmen. Ohne Erfolg. Die unsichtbare Fährte schien hier an dieser Stelle zu enden. Oder sie war – ausgelöscht worden. Ein Gedanke, der Zapata nicht zum ersten Mal befiel. Schon bei vorangegangenen Jagden war ihm dieser Verdacht mitunter gekommen. Denn nicht jede Jagd war von Erfolg gekrönt gewesen. Ab und an (viel zu oft, gestand er sich ein) waren die Gejagten unauffindbar geblieben. Den Grund dafür hatten die Vampire nie in Erfahrung bringen können. Die Opfer blieben verschwunden – wie vom Erdboden verschluckt … Zapata hatte in der Vergangenheit intensiv darüber nachgedacht, gewiß angestrengter und länger als seine Brüder und Schwestern.
Und die Ergebnisse, zu denen er dabei gelangt war, wollten ihm ganz und gar nicht gefallen. Hinter dem unerklärlichen Verschwinden jener, die von der Barriere an einen anderen Ort geschleudert worden waren, schien ihm eine Art System zu stecken, wenn auch eines, das er nicht durchschaute. Es war nur eine unbestimmte Ahnung, die Zapata in dieser Hinsicht hatte, aber sie verursachte ihm ein ungutes Gefühl, und das allein genügte ihm als Beweis, daß es Grund zur Sorge gab. Seine Geschwister waren der Ansicht, daß die Barriere manche der Flüchtlinge verschlang, um sich deren Energie einzuverleiben. Zapata teilte diese Meinung nicht. Er wußte, daß etwas anderes dahinter steckte. Nur – was? Und würde dieser Tikal mit seinem Namen die Liste derer verlängern, die verschwunden blieben? Daran zumindest wollte Zapata noch nicht denken! Immerhin war es gut möglich, daß er in einer der umliegenden Hütten Zuflucht gefunden hatte. Und der Vampir würde in diesem Fall nicht nur ihn, sondern auch jene, die ihm Unterschlupf gewährten, grausam strafen! Ein kraftvoller Ruck brachte den Jaguar an Zapatas Seite. Er beugte sich zu dem Tier hinab und löste den Strick vom Halsband. Dann schickte er den Jaguar mit gezischtem Befehl los. Wie von der Feder geschnellt preschte die Raubkatze vor und drang in die nächststehende Hütte ein. Augenblicklich brandete jenseits der Mauern panisches Geschrei auf. Aber es währte nicht lange … In jeden Winkel der Hütte drang der Jaguar vor, und Zapata vermochte zu sehen, was auch das Tier sah. Keine Spur von dem flüchtigen Verräter! Und was Zapata auch an Möglichkeiten versuchte, die Kreaturen in den Hütten zum Reden zu bewegen, nichts fruchtete. Er erhielt keinen Hinweis auf den Verbleib Tikals, und schon gar nicht fand er den Burschen selbst.
So zogen der Vampir und der Jaguar schließlich von dannen, ohne Erfolg gehabt zu haben. Nicht jedoch unverrichteter Dinge.
* Schmerz hatte Tikal in die alles auslöschende Schwärze hineingestoßen. Und nun drängte Schmerz ihn auch wieder aus jenem molochartigen Schlund hervor. Sein Schädel schien ihm ums Doppelte angewachsen in der Zeit der Ohnmacht, und er meinte, er würde sich blähen wie ein lederner Ballon, den jemand aufblies, dem es egal war, ob er platzte. Das Band um seine Stirn saß jetzt noch enger als zuvor und – Zuvor? Was war zuvor geschehen? Wo befand er sich? Was hatte all das zu bedeuten? Tikal wollte sich aufrichten, doch die Fesseln verbanden ihn noch immer unlösbar mit dem steinigen Untergrund. Allerdings genügte der bloße Versuch, sich zu bewegen, um den Schmerz in seinem Kopf noch an Stärke gewinnen zu lassen. Tikal stöhnte auf und schloß die Augen, kaum daß er sie geöffnet hatte. Wodurch sich freilich nichts änderte. Die Dunkelheit hinter seinen Lidern war so absolut wie jene, in der er gefangen lag. »Du bist wach.« Die Stimme schien ihm wie die eines Geistes, körperlos und wispernd. Das leise Bedauern darin irritierte Tikal, fachte aber zugleich auch seinen Trotz an. »Das paßt dir nicht, he?« gab er zurück. »Hättest mich lieber tot gesehen, was? Nur zu – schlag mich noch einmal. Und gib dir mehr Mühe dabei, du feige Kreatur!« Tikal hatte die Augen wieder aufgerissen. Angestrengt starrte er ins Dunkel – und erschrak!
War da nicht etwas wie eine Bewegung gewesen? Ein flüchtiges Huschen nur, als – schüttle jemand den Kopf …? Tatsächlich kam ihm die Dunkelheit um ihn her auf einmal – nun, weniger finster vor. Als gäbe es irgendwo außerhalb seines Gesichtsfeldes ein ganz schwaches Licht, dessen kaum wahrnehmbarer Schein zwar nicht ganz zu ihm her reichte, aber immerhin genügte, um Schatten aus dem Finstern zu trennen, wenn auch ohne ihnen Kontur zu geben. »Du mißverstehst all dies noch immer gründlich«, antwortete ihm die Stimme. Calot … Der zugehörige Name fiel Tikal erst jetzt ein, und wieder schien er ihm vertraut, ohne daß er gewußt hätte, in welchem Zusammenhang er ihn schon einmal gehört haben könnte. »Was gibt es daran zu mißverstehen?« fragte Tikal freudlos. Er zerrte an seinen Fesseln, und wieder erreichte er damit nichts weiter, als daß der Schmerz in seinem Kopf neu aufflammte. »Es ist nur zu deinem Besten«, erklärte Calot. »Natürlich. Damit ich mich nicht wehren brauche, wenn ihr …« »Wir sind nicht deine Feinde!« Leiser Zorn oder wenigstens doch Unmut schwang in Calots Worten mit. Sanfter fuhr er nach kurzer Pause fort: »Wir gehören nicht zu ihnen. Im Gegenteil. Wir hassen sie vielleicht sogar noch mehr als –«, er hielt kurz inne, »– das Volk, das einst auch das unsere war.« »Wovon redest du?« fragte Tikal. Zu seiner eigenen Überraschung klang seine Frage wirklich interessiert, war sein Tonfall nicht länger trotzig, und die Angst in ihm klang ab, ein kleines bißchen wenigstens. »Wer seid – ihr?« »Jene, zu denen du bald gehören wirst.« »Das ist keine Antwort.« Calot seufzte wie von schwerer Sorge geplagt und schwieg dann sekundenlang, wohl weil er nach den rechten Worten suchte.
»Die meisten von uns«, begann er dann endlich, »sind auf dem gleichen Weg wie du hierher gelangt, Tikal.« »Dann liegt dieser Ort tatsächlich jenseits des Walls?« Hoffnung ließ Tikals Herz schneller pochen und seine Stimme fast überkippen. Wieder nahm er diese seltsame Bewegung im Dunkeln wahr, dort, wo er Calot vermutete. »Nein«, erwiderte er, »aber wir alle hofften einst, ihn zu überwinden – und fanden uns doch nur in einem Kerker wieder, wenn auch von anderer Art als jener, in dem wir unser Leben zuvor fristen mußten. In gewisser Weise haben wir aber doch eine Art von Freiheit erlangt. Zumindest können uns die Tyrannen hier nichts mehr anhaben.« »Wie ist das möglich?« wollte Tikal wissen. Zweifel und Enttäuschung erstickten ihm die Stimme fast. »Wenn ihr nicht über den Wall gelangen konntet und euch noch im Herrschaftsbereich der Tyrannen befindet – wie könnt ihr dann trotzdem frei von ihnen sein?« Calot gab einen leisen Laut von sich, und Tikal meinte, das Lächeln, das damit einhergehen mußte, spüren zu können. Aber es war kein angenehmes Gefühl, weil die gewohnte Wärme eines Lächelns fehlte. »Sie sind – nun, wie soll ich sagen? – blind für uns«, sagte Calot dann. »Blind?« echote Tikal. »Ich verstehe nicht –« »Du wirst es verstehen, glaube mir. Und es tut mir jetzt schon leid.« Ein kieksender Ton drängte über Tikals Lippen. »Du redest wahrlich wirres Zeug.« Calot schwieg. Aber Tikal sah, wie etwas in seiner Nähe sich rührte. Calot schien sich erhoben zu haben, und plötzlich wurde es heller um sie her, weil Calot die Quelle des vagen Leuchtens nicht länger verdeckte. Ein Feuer; oder vielmehr ein Glutherd, der einige Meter entfernt gloste, verursachte den schwachen Schein. Er genügte jedoch nicht,
um Tikal wirklich sehen zu lassen. Er erkannte nur einige schattenhafte Gestalten, deren Zahl er nicht einmal abschätzen konnte. Aber sie war groß – größer jedenfalls, als er es in Anbetracht der herrschenden Stille erwartet hätte. Einer der Schemen – Tikal ging davon aus, daß es sich um Calot selbst handelte – entfernte sich. Er näherte sich dem Glühen, beugte sich dort nieder, dann kehrte er zurück, und er – – brachte etwas von der Glut mit. Einen Stab, der wohl darin gesteckt hatte und aus Metall bestand, denn er glühte in waberndem Rot. Sekunden später erkannte Tikal, daß es sich dabei um einen schlanken Pfahl handelte – denn Calot brachte das glühende Ding nahe genug an sein Gesicht heran, daß sich der sengende Hauch, der davon ausging, in seine Haut fressen konnte! »Tu das weg!« verlangte Tikal. »Verflucht, was soll das?« Im glutroten Schein konnte er Calots Züge nur unter dämonisch anmutender Schminke erkennen. Wie blutbestrichen sahen sie aus und wie die eines Ungeheuers, weil Teile davon im Dunkeln blieben und tiefe Falten sich mit Schatten füllten. Aber all dies war nichts im Vergleich zu Calots – Augen? Nein, verbesserte sich Tikal stumm, der andere besaß gar keine Augen! Wo sie sich einmal befunden hatten, war nurmehr verbranntes Fleisch, narbig und feucht schwärend! Und plötzlich wußte Tikal, was ihm bevorstand! »Nein!« Sein Schrei gellte durchs Dunkel. »Ich sagte ja schon, daß es mir leid tut«, sagte Calot, und sein Bedauern klang zutiefst ehrlich. Trotzdem stieß er mit dem glühenden Eisen zu! Licht, wie seine Augen es greller nie zuvor geblickt hatten, blendete Tikal. Und stürzte ihn noch im selben Atemzug in einen Pfuhl feurigster Schmerzen.
Und zugleich in tiefste Finsternis, die nie mehr von ihm wich …
* Zapata kehrte als letzter in den Tempel- und Palastbezirk zurück. Seine Brüder und Schwestern hatten die Jagd bereits vor ihm abgebrochen, wie er erfolglos. Sie brachten die Jaguare zurück in den Pferch, der genügend Platz bot, um die Tiere bei Bedarf mit lebendem Futter zu versorgen und damit ihren natürlichen Jagdtrieb zu unterstützen. Zapata und die seinen hatten schon manch vergnügliche Stunde damit zugebracht, solcherlei Schauspiele zu beobachten … Vielleicht, überlegte der Vampir, sollten sie dies auch jetzt tun. Es wäre gewiß angetan gewesen, sie auf andere Gedanken zu bringen. Er kam jedoch nicht dazu, den Vorschlag zu äußern. Das Auftauchen eines Priesters hinderte ihn daran, und dessen Anblick ließ ihn den Gedanken ohnedies vergessen. Der Priester war unübersehbar aufgeregt – einerseits; andererseits nistete auch Angst in seinen bleichen Zügen, als hätte er eine Nachricht zu übermitteln, von der er fürchtete, sie könne ihn den Kopf kosten. »Was ist?« herrschte Zapata ihn an, seine Beunruhigung mit autoritärem Ton tarnend. »Herr«, setzte der Priester an, »es ist …« Seine Stimme wollte ihm versagen, oder zumindest wußte er nicht, wie er in Worte fassen sollte, was er zu sagen hatte. Zapata half ihm auf die Sprünge, indem er die Faust in den Kragen seines Gewandes drehte und den Priester zu sich heran zog. »Hör auf zu stammeln, du Wurm! Sonst stopfe ich dir deine Zunge in den Rachen!« Er stieß den anderen so heftig von sich, daß der im Staub landete. Ohne sich zu erheben, begann der Priester von neuem: »Herr … es
ist … jemand ist gekommen.« »Und?« »Herr, Ihr versteht nicht«, der Priester hob in beschwörend anmutender Geste die Hände, »jemand ist – von draußen gekommen!« »Von draußen?« Pomoná hatte die Frage hervorgestoßen, entsetzt und ungläubig. »Das ist unmöglich!« befand Zapata. »Was tischst du uns da für eine Lüge auf?« »Es ist wahr, ich schwör’s bei meiner Treue!« greinte der Priester. Zapata funkelte ihn an, und die anderen Vampire zogen den Kreis um ihn eng und enger, bis der Atem des Priesters so keuchend klang, als läge eine Schlinge um seinen Hals. »Ist es – unser Vater?« fragte Zapata schließlich. Wenn der Priester nicht log – und ein immer stärker werdendes Gefühl verriet dem Vampir, daß der andere die Wahrheit sprach –, dann war dies die einzige Möglichkeit. Denn nur ihr Vater vermochte von draußen nach drinnen zu gehen, wie es ihm beliebte. Nur er besaß den Schlüssel – oder was immer es ihm auch ermöglichte, die Barriere zu durchdringen. »N-nein, es ist – eine Frau«, antwortete der Priester zitternd. »Oder eher wohl – eine Bestie …!« »Was heißt das?« fragte nun Cuyo ungehalten. »Seht selbst.« Mit matter Geste wies der Priester in Richtung des Palastes. Ohne ein weiteres Wort stürmten die Vampire los, die von Stelen gesäumte Freitreppe hinauf und in den Palast hinein. Der Weg zu der mysteriösen Besucherin wurde ihnen gewiesen. Sie brauchten nur der Spur des Todes zu folgen. Es war kaum möglich zu sagen, wie viele Priester ihr Leben gelassen hatten, wohl in dem Versuch, die Fremde aufzuhalten. Ihre Leiber waren verheert und zerrissen, die Farbenpracht ihrer Gewänder in Blut ertrunken.
Zapata erreichte den Saal, in dem sie erwartet wurden, als erster. So abrupt blieb er stehen, daß die anderen gegen ihn prallten. Doch dann, als auch ihre Blicke in den Saal fielen, erstarrten auch sie mitten in der Bewegung – – weil es ihnen unmöglich schien, daß es sich bei der jungen Frau dort um jene Bestie handeln konnte, die das Massaker unter der Priesterschaft angerichtet hatte! Sie sah so – unschuldig aus, so verletzlich. Und im gleichen Maße auch bezaubernd und schön. Endlich fand zumindest Zapata seine Sprache wieder. »Wer bist du? Und was willst du? Wie kommst du hierher?« Die Fremde lächelte wissend. »Eine Menge Fragen, die du hast. Welche soll ich zuerst beantworten?« Der Vampir öffnete den Mund zu einer Erwiderung, aber eine rasche Handbewegung der jungen Frau ließ ihn innehalten. »Ich entscheide selbst, worauf ich antworte, wenn du gestattest«, sagte sie. »Nun?« »Euer Vater schickt mich.« »Vater?« wiederholte Zapata ungläubig. »Aber –« »Du glaubst mir nicht?« fragte die Fremde. »Du wirst es wohl müssen – wie sonst, wenn er mir nicht die Erlaubnis und Macht gegeben hätte, wäre ich wohl durch die Barriere gelangt?« Dagegen konnte weder Zapata noch einer der anderen etwas sagen. Es mochte also durchaus Wahres an den Worten der jungen Frau sein. »Warum kommt er nicht selbst?« fragte Pomoná. »Oh, er wird kommen«, lautete die Antwort. »Aber er schickte mich voraus, als Botschafterin sozusagen.« »Und welche Botschaft bringst du, davon abgesehen, daß du uns die Rückkehr unseres Vaters ankündigst?« hakte Pomoná nach. Die Nachricht, daß ihr Vater endlich, nach all der Zeit wieder zu ihnen
kommen wollte, zauberte ein Lächeln auf ihre Lippen und stimmte sie versöhnlich, wie auch ihre Geschwister. »Das will ich euch sagen«, begann die Fremde, und dann tat sie kund, was ihr aufgetragen worden war. Was sie zu sagen hatte, ließ Verwirrung in den Zügen der Vampire zurück. Aber sie zweifelten nicht daran. Zu vieles in den Worten der Fremden und auch in dem, was sie nicht wirklich ausgesprochen hatte, überzeugte sie davon, daß sie tatsächlich eine Gesandte ihres Vaters war. »Wer bist du? Verrate uns deinen Namen«, bat Zapata. Etwas von der Ehrfurcht, die er vor seinem Vater hatte, klang in seiner Stimme mit. Und der Blick der Fremden zeigte deutlich, daß ihr diese Art der Ehrerbietung über die Maßen gefiel. »Mein Name ist Nona. Und ich hätte nichts dagegen, wenn wir uns einander noch näher vorstellen würden – du und ich.« Ihre Stimme war pure Verheißung.
* Sydney, Australien Sie lag auf dem Bett, und Landru, der stundenlang auf sie eingeredet hatte, studierte ihr ins Dunkel eingebettete Gesicht, das nicht einmal im Schlaf seine Anspannung verlor. Der uralte Vampir mit den graumelierten Schläfen stand in der Tür, die aus dem Schlafzimmer führte. Überall in der Wohnung roch es nach Tod. Die Schulter an den kühlen Holzrahmen gelehnt, die Beine überkreuzt und die Arme vor der Brust verschränkt, harrte Landru aus. Die tiefe Nacht und die herrschende Stille ermöglichten es seinen Gedanken, mit einer Leichtigkeit zu fliegen wie lange nicht mehr.
Alle Last schien von ihm abgefallen. Er fühlte sich wie neugeboren. Erinnerungssplitter aus Jahrtausenden huschten an seinem geistigen Auge vorbei. Einst hatten er und die seinen im Uruk der sumerischen Zeit die Menschen regiert. Später war er dann als Hüter wiedererstanden, mit dem Auftrag, vampirisches Leben über die Erde zu säen. Tausend Jahre lang hatte er das getan, bis ihn der Ruf ereilte, in den Dunklen Dom heimzukehren und sein Amt an den nächsten Hüter abzugeben. Es war der Anfang vom Ende gewesen, der Beginn des schleichenden Niedergangs, der die Alte Rasse seither – und in jüngster Vergangenheit durch seine Schuld sogar radikal – dezimiert hatte. Die Zeit nach dem Verlust des Lilienkelchs war von der unablässigen Suche und der Jagd nach diesem verschollenen Unheiligtum bestimmt gewesen. Und nach seinem Aufenthalt in der »Hölle« *, war er monatelang bar jeder Erinnerung, wer oder was er war, umhergeirrt. Erst Tage vor seiner Ankunft in Sydney hatte er sein Gedächtnis und seine alte Persönlichkeit wiedererlangt. Dank eines Kindes, das keines war, sondern … … der leibhaftige Satan? Auf Landrus Zügen erschien ein Ausdruck von tiefverwurzelter Abscheu. Und seine Augen transportierten diesen abseitigen Blick zu der Frau, die seine Aufmerksamkeit fesselte: Lilith Eden. Landrus Erzfeindin schlief tief und fest, obwohl er ihr zuvor drastisch demonstriert hatte, wozu er fähig war – welches Monstrum sich hinter der Maske des agilen Fünfzigjährigen verbarg, auf dessen linker Wange eine Kreuznarbe prangte. Sie schlief, weil er sie glauben gemacht hatte, ein ebensolches Monster zu sein. Du bist wie ich! hatte er ihr suggeriert. Du denkst und fühlst wie ich, und du mußt dir dies eingestehen, sehr bald schon, sonst wirst du eines
*siehe Höllen-Zyklus VAMPIRA T16-25
schrecklichen Durstes sterben … Er wußte, wovon er sprach. Er war selbst ewig dürstend. Ewig gierend. Mit langsamen Schritten entfernte er sich von seinem Standort und ging auf Lilith zu, die, wenn er sie anschaute, ihn manchmal an ihre Mutter erinnerte. An Creanna. Auch ihr war er persönlich begegnet auf der langen Straße seines Lebens, auf einem der staubigen Nebenwege der Zeit, und damals hatte sie sein Vertrauen auf schmählichste Weise enttäuscht … Unwillkürlich tasteten Landrus Blicke über das vermeintliche Kleidungsstück, das Liliths Körper hauteng umschmiegte. Dieses … Ding, das ein Jahrhundert zuvor zum erstenmal versucht hatte, ihn umzubringen! Er blieb zwei Schritt von ihr entfernt stehen und fragte sich, ob es denn wirklich so einfach gewesen wäre, sie jetzt zu töten, wie es den Anschein erweckte. Die Halbvampirin sah aus, als könnte sie kein Wässerchen trüben – als wäre sie die Wehrlosigkeit in Person … Landru hielt es für geraten, diesem Anschein zu mißtrauen, auch wenn er ohnehin nicht in seiner Absicht lag, sie mit einem schnellen Tod davonkommen zu lassen. »Lilith?« Er raunte ihren Namen – nicht weil er sie wirklich wecken wollte, sondern lediglich, um sicherzugehen, daß sie auch wahrhaftig schlief. Sie zeigte keine Reaktion, worauf er noch einen Schritt näher auf sie zuging. Menschliche Augen hätten nichts in diesem Zimmer zu erkennen vermocht. Es war stockfinster. Und dieses Gespinst aus Schwärze erfühlte Landru wie etwas greifbar Festes. Dunkelheit war Energie – und der ideale Nährboden für seine Magie. Hütermagie!
Im nachhinein war es für ihn kaum noch vorstellbar, daß er sich dieser Kräfte eine ganze Zeitlang nicht mehr bewußt gewesen war, nachdem das Tor, hinter dem Luzifers Reich lauerte, ihn wieder ins Diesseits ausgespien hatte. Ihn und Lilith. Die Frau, die letztlich Schuld am Niedergang der Alten Rasse trug. Ihr beharrliches Handeln hatte Landru nicht nur zum Verdammten gestempelt, sondern auch zum Seuchenträger, der nach seiner Rückkehr aus dem Zeittunnel von Uruk den Tod über die Mehrzahl der Kelchkinder gebracht hatte. Und es verblüffte ihn, wie wenig Haß dieser Gedanke tatsächlich in ihm entfachte. Noch vor einem Jahr hätte er sich Gelegenheiten wie diese nicht entgehen lassen, sondern sie genutzt, um den vor ihm liegenden bildschönen Körper bis zur Unkenntlichkeit zu verheeren. Das Blut dieses Balgs zu trinken. Und ihm jeden Knochen im Leib zu zermalmen. Er lächelte bizarr. Irgendwann in den Tagen und Wochen ihrer gemeinsamen Identitätssuche hatte Lilith ihm eines nachts erzählt, daß das anthrazitfarbene Ding, das ihren wohlproportionierten Körper wie eine zweite Haut umspannte, ihr im Monte Cargano das Leben gerettet hatte. Beim Angriff einer furienhaften Frau habe sich das Kleidungsstück in einen Panzer von undurchdringlicher Härte verwandelt und sie vor dem Raubtiergebiß der Angreiferin beschützt. Landru hatte keinen Grund, daran zu zweifeln. Er hatte schon ganz andere Möglichkeiten dieses Symbionten zu spüren bekommen – aber wenn Gabriels Worten zu trauen war, den Worten eines gestaltgewordenen Satans, dann handelte es sich hier nicht mehr um den ursprünglichen Symbionten, der jeden attackiert hätte, in dessen Adern schwarzes Vampirblut strömte, sondern um eine Art Replikat. Das verstorbene Sippenoberhaupt von Sydney, Herak, hatte es in seinen Gen-Labors aus einem winzigen Stückchen des Originalsymbionten züchten lassen. Welche genauen Ziele er damit verfolgte, was er überhaupt mit sei-
nen Gen-Experimenten bezweckte, darüber konnte auch Landru nur Spekulationen anstellen. Vermutlich aber hatte Herak einen Weg gesucht, um den Schöpfungsakt des Lilienkelchs künstlich zu vollziehen. Der Gedanke, modernste Wissenschaft mit uralter Vampirmagie zu verweben und auf diese Weise eine neue Rasse zu erschaffen, war nicht einmal schlecht. Schlecht war nur, was Herak in seinem zunehmenden Größenwahn daraus gemacht hatte … Nun, Herak war längst tot, und in ganz Sydney schien kein einziges früheres Sippenmitglied mehr zu existieren, nicht einmal deren Dienerkreaturen … Landru verbannte die müßigen Gedanken und tauschte sie gegen solche, die ihm mehr Befriedigung verschafften. Unvergessen waren die Momente, da er Lilith so nahe gewesen war wie einst ihrer Mutter. In Rom hatten sie miteinander geschlafen – zwei verwandte Seelen, wie es geschienen hatte, die gegenseitigen Halt suchten. Die Erinnerung daran war Landru nicht unangenehm, nur … befremdlich. Inzwischen hatte er zu seiner wahren Geliebten zurückgefunden, der einzigen, die ihm zu geben vermochte, was er wirklich brauchte. Aber davon durfte und würde Lilith nichts erfahren. Zumindest noch nicht. Er beugte sich über das Bett. Über die Frau, die im Schlaf wie eine Ikone wirkte. Wunderschön und auf eine Weise unnahbar, daß selbst er seine Scheu überwinden mußte, die unsichtbare Grenze zu übertreten. Beide Hände streckte er nach ihr aus und formte daraus eine Schale, deren Öffnung nach unten zeigte, als wollte er etwas über die Schlafende ergießen. Und tatsächlich, leise, fast unhörbar knisternd, umzüngelten Blitze Landrus Hände, die schließlich auf Liliths bloßliegende Haut übersprangen, als wäre es eine Form von Elektrizität, in der sie verbren-
nen sollte. Doch Landru hatte dergleichen nicht im Sinn. Er achtete sogar sorgsam darauf, daß das, was er tat, für Lilith unfühlbar blieb, sie nicht aus ihrem traumbeladenen Schlaf aufweckte. Er wußte nicht, wie stark oder wachsam sie gegenwärtig war. Überaus behutsam ging er zu Werke, um nicht schon im Ansatz zu gefährden, was er mit ihr plante. Seine größte Sorge galt dem Symbionten. Falls er in Landrus Vorgehen einen Angriff sah, würde es schwierig werden. Aber noch blieb das Mimikrykleid, das sich beliebig nach den Vorstellungen seiner Trägerin formte, passiv. Gabriel hatte Landru verraten, daß dieses lebende Kleidungsstück kein schwarzes Blut mehr forderte, sondern sich mit kleinen Mengen menschlichen Blutes zufrieden gab. Herak hatte offenbar etwas erschaffen, was er selbst ohne Gefahr hätte tragen können. Daß Lilith Eden nunmehr das schwarze Blut von Vampiren trinken mußte, um zu überleben, lag indes nicht in Heraks Verantwortung. Diese Wandlung ging laut Gabriel auf Gott selbst zurück – ein Schaudern durchlief Landru –, der im Garten Eden Liliths neue Bestimmung festgelegt hatte. Es würde schwierig werden, diese »Programmierung« aufzuheben; selbst für Gabriel, der die Inkarnation des ewigen Widersachers war. Konzentriert wie selten zuvor durchdrang Landrus Hütermagie den Körper der Schlafenden. Liliths Haut wurde transparent und gab das darunter liegende Netz von Adern und Blutgefäßen preis. Landru spürte das darin zirkulierende Blut, das genau dem Saft entsprach, den er zum Überleben brauchte. Denn es war rot. Dunkelrot. Das Erbteil ihres menschlichen Vaters. Behutsam legte Landru seine Rechte auf Liliths Brustbein, darauf bedacht, den Symbionten nicht zu berühren. Dann öffnete er die Schleuse zu dem Machtreservoir, das Gabriel in seinem Geist verankert hatte. Wie der Knabe ihn geheißen hatte,
vermied er es, die dunkle Kraft bewußt wahrzunehmen – es hätte ihn vermutlich mehr gekostet als nur sein Leben. Auch so spürte er noch das ungeheure Potential, das seinen Geist auf unergründeten Wegen verließ und in Lilith Eden überströmte. Als sich Landru Minuten später wieder aufrichtete und auf leisen Sohlen den Raum verließ, hatte der Symbiont immer noch nicht reagiert. Offenbar akzeptierte er, was auch Lilith akzeptieren würde. An der Beschaffenheit ihres Blutes hatte sich nichts geändert. Nichts außer der Kleinigkeit, daß es nicht länger rot, sondern schwarz war. Schwarz wie eines Hüters Blut und Seele …
* Tage und Nächte später Unsichtbar jenseits des dichten Blätterdaches ging die Sonne unter. Das ohnedies nur dämmrige Licht hier unten, am Grunde des Dschungels, wurde noch trüber. Der Abend flocht Grau ins allgegenwärtige Grün und sog die Kraft der Farben ab. Und als erhielten sie eben diese Kraft, weil nichts wirklich verlorenging in dieser Welt, erwachten Wesen lärmend zum Leben, die den Tag verschlafen hatten, faul und satt von der Beute der vorangegangenen Nacht und nun bereit, ihrer Gefräßigkeit von Neuem freien Lauf zu lassen. Für menschliches Empfinden kaum wahrnehmbar sank im Zuge all dessen die Temperatur, wohl aber reagierten die Moskitos darauf. Flirrende Schwärme entstanden wie aus dem Nichts, leise sirrend und begierig, ihren Blutdurst zu stillen. Ohne zu zögern, fielen sie über den jungen Indio her, der ihre Stiche wie aus langer Gewohnheit stoisch ertrug. Vor der blassen Haut der jungen Frau mit dem Haar wie Rabengefieder schreckten die Moskitos jedoch zurück. Und auch den dritten
in der Reihe jener Wanderer verschonten sie – ganz so, als verschmähten sie deren Blut. Der Gedanke ließ Lilith Eden trotz der schwülen Hitze schaudern; vielleicht trug auch der Anblick des Mannes, der etliche Schritte vor ihr ging, dazu bei. Unwillkürlich hatte sie wieder zu ihm hingesehen, nachdem sie in den vergangenen Stunden (und Tagen!), fast unbewußt jede Nähe zu ihm gemieden und selbst den Blickkontakt aufs Nötigste beschränkt hatte. Hector Landers … Nein, nicht Hector Landers. Nicht mehr. Es fiel Lilith schwer, sich an den neuen, den wahren Namen ihres Gefährten zu gewöhnen. Landru. Lilith war sich nie sicher gewesen, was sie für diesen Mann empfand, und sie war es auch jetzt nicht. Weniger vielleicht noch denn je zuvor. (Für diesen Mann? wisperte ein tonloses Stimmchen zwischen Liliths Gedanken, das sich vor Tagen in Sydney erstmals zu Wort gemeldet hatte und seither nicht verstummen wollte. Ist er das denn – ein Mann? Ein – Mensch?) Lilith gab sich die Antwort im Stillen selbst. Nein! Landru war kein Mann, nicht einmal menschlich. Schließlich hatte er selbst sich ihr offenbart – als Vampir … Haßte sie ihn? Nein, gewiß nicht. Obgleich jenes hartnäckige und unmöglich zu ignorierende Stimmchen Lilith zuflüsterte, daß sie wohl allen Grund hätte, Landru zu hassen. Hatte er doch den einzigen Menschen getötet, von dem Lilith sich Aufschlüsse über ihre Vergangenheit hatte erhoffen dürfen – und der fast ihr Freund geworden war. Nachdem sie vor Wochen ohne jede Erinnerung an ihr eigenes Wesen und Leben in einem italienischen Kloster erwacht war, hatte
Lilith Eden auf der Suche nach sich selbst eine Spur gefunden, die sie nach Australien führte. In Sydney war sie einem Mann begegnet, der sie offensichtlich gekannt hatte – oder zumindest doch die, die sie einmal gewesen war. Moskowitz war sein Name gewesen, Pressefotograf sein Beruf, und er hatte Lilith zunächst alles andere denn Sympathie entgegengebracht. Zwar war die Ablehnung letztlich einem freundschaftlichen Verhältnis mit väterlichem Unterton gewichen, doch hatte die Zeit nicht mehr genügt, diese Beziehung zu vertiefen oder gar bis zu einem Punkt fortzuführen, wo Lilith Antworten auf wenigstens ein paar ihrer Fragen hätte finden können. Zuvor nämlich war Landru, der zeitgleich einer Fährte in seine eigene Vergangenheit gefolgt war, in Sydney aufgetaucht – und hatte Moskowitz umgebracht! Um Lilith dann zu eröffnen, daß er seine Erinnerung wiedererlangt hätte und nunmehr bereit sei, auch sie heimzuführen – in den Schoß ihrer beider Familie … … und die sollte also hier beheimatet sein, inmitten des Niemandslandes von Mesoamerika? Obwohl sie keinen wirklichen Grund hatte, Landrus Worte anzuzweifeln, konnte Lilith, so sehr sie sich auch bemühte, nicht glauben, daß ihre eigenen Wurzeln hier liegen sollten. Der Dschungel, das Land selbst, die Städte, die sie im Laufe ihrer bisherigen Reise aufgesucht hatten – all das war ihr nicht im mindesten vertraut erschienen; nur fremd. Unsagbar fremd. Nicht der allergeringste Funke irgendeiner auch nur annähernd angenehmen Emotion hatte auf dem Weg hierher in Lilith gezündet. Sie fühlte sich einzig verloren und einsam. Andererseits aber – war es denn in Sydney anders gewesen? Nein, auch dort war sie sich als Ausgestoßene vorgekommen, eine Fremde unter Fremden in der Fremde. Und genau dasselbe hatte sie in Rom, ihrer vorherigen Station, empfunden. Lilith war fast überzeugt davon, daß sie sich an jedem Ort dieser Welt so und nicht anders gefühlt hätte – als gehöre sie nicht dorthin,
nirgendwohin. Sie war ein Niemand und hatte nichts. Konnte sie in dieser Situation nicht einfach auf Landru vertrauen, darauf, daß er ihr einen Weg in eine lebenswerte Zukunft wies? Sie mußte es. Und sie wollte es. Von Herzen gerne – – und doch vermochte sie es nicht bis in die letzte Konsequenz. Ganz egal, wie sehr Landru beteuerte, sie wären einander gleich, von derselben Art und Rasse … … zu gewaltig schien Lilith der Unterschied zwischen ihr und Landru, und das zarte Band, das anfangs ohne Zweifel zwischen ihnen bestanden hatte, war zerrissen oder zumindest doch sehr dünn geworden, nachdem er Moskowitz ohne echten Grund getötet hatte. Lilith konnte sich nicht vorstellen, daß sie zu einer solchen Tat fähig wäre. Und sie wollte sich nicht vorstellen, daß sie je dazu fähig gewesen war … Aber als würden ihre Zweifel sie von neuem hervorlocken aus der Tiefe, in die Lilith sie verbannt hatte, vernahm sie in ihrer Erinnerung wieder Landrus Worte: Du bist wie ich … Eine Vampirin … Für Sekunden schloß Lilith die Augen, als könne sie damit ihren Blick auch vor der Wahrheit verschließen. Blind schritt sie durch das kniehohe Gestrüpp, das den kaum benutzten Dschungelpfad bedeckte. Haisund Kiefermuskeln schmerzten, weil Lilith alle Worte und Laute krampfhaft zurückhielt, die sich Bahn brechen und von ihrer Verzweiflung künden wollten. Dann aber schrie sie plötzlich doch auf! Weil sie strauchelte und fiel. Farne dämpften ihren Sturz, der weiche Boden schluckte jeden Ton. Ächzend richtete Lilith sich auf. »Landru!« Die schleifenden Schritte, nun schon ein beträchtliches Stück von ihr entfernt, verhielten. »Was ist?« drang Landrus Stimme zu ihr. Pflanzenfilz und niede-
res Strauchwerk entzogen ihn Liliths Blicken. »Laß uns eine Rast einlegen«, antwortete sie. »Bist du erschöpft?« Lilith zögerte kurz, ehe sie erwiderte: »Ja.« Das war gelogen, und Landru wußte es wohl auch. Lilith fühlte sich allenfalls ein klein wenig matt, aber keineswegs müde oder gar erschöpft. Worüber sie sich wunderte, nicht erst seit heute; zumal sie seit ihrem Erwachen in jenem Kloster keine Nahrung zu sich genommen hatte – zumindest keine, die sie bei sich behalten hätte … Doch wenn Landru recht hatte, gab es ohnehin nur eines, das sie nähren konnte … Aber damit wollte Lilith sich nicht einmal in Gedanken befassen. Trotzdem aber wußte sie, daß der Tag und die Stunde kommen würden, da sie sich dem Notwendigen und der Wahrheit nicht länger würde verweigern können – Der Grund, aus dem sie Landru um diese Pause bat, war ein anderer: Er war schmächtig und jung, nicht älter jedenfalls als 16 oder 17 Jahre, fast ein Kind also noch – Pepe, der Indiojunge, den Landru in der letzten größeren Ansiedlung als Führer angeworben hatte – angeblich als Führer; denn Lilith hätte schon blind sein müssen, um nicht zu erkennen, daß Landru keinen Führer brauchte. Ganz offensichtlich kannte er den Weg, wo das Ziel auch liegen mochte, selbst gut genug. Weshalb Pepe sie dennoch begleiten mußte, darüber hätte Lilith nur Vermutungen anstellen können. Aber sie zwang sich, genau dies nicht zu tun … Dem schwarzlockigen Knaben jedenfalls stand die Erschöpfung ins zwar magere, nichtsdestotrotz aber fast mädchenhaft hübsche Gesicht geschrieben. Seine Wangen wirkten eingefallen, der Glanz seiner Augen war einem stumpfen Schimmer wie von altem Metall gewichen. Trotzdem gab er mit keinem Wort zu erkennen, wie es um seine Kräfte stand. Und so sah Lilith sich gezwungen, dem Jungen wenigstens eine Atempause zu verschaffen. Während sie sich vollends aufrichtete, ging Pepe näher an einen der umstehenden Büsche heran und begann, dunkle Beeren von sei-
nen Zweigen zu pflücken. Als Lilith zu ihm trat, lief Pepe schon rubinfarbener Saft aus den Kinnwinkeln, wie das Blut einer inneren Verletzung. Er zupfte weitere Früchte vom Strauch, ohne sie sich jedoch in den Mund zu stecken. Stumm hielt er sie schließlich Lilith hin, den Blick der dunklen Augen fast unterwürfig zu ihr aufgerichtet. Sie schüttelte lächelnd den Kopf. »Danke, aber ich bin nicht hungrig.« Nur – durstig … nach … Liliths Lächeln gerann. Nein! Ihre Finger streiften Pepes Haar, flüchtig nur wie ein vorbeifliegender Vogel, und zuckten dann zurück, weil sie fürchtete, jede längere Berührung könne etwas auslösen, dem sie sich bislang standhaft verweigert hatte. Hastig wandte Lilith sich ab – und schrak zurück! Mit Mühe unterdrückte sie einen leisen Schrei. Lautlos wie ein Schatten war er an ihre Seite getreten – oder auf welche Weise auch immer dorthin gelangt … Landru. Er überragte Lilith um ein gutes Stück, aber nicht nur deshalb erschien seine Gestalt ihr bedrohlich. Etwas wie eine Aura umgab ihn, unsichtbar und doch spürbar dunkel und eiseskalt in einem. Und allein der Glaube, sie zu fühlen, genügte, um den Wunsch nach Distanz zu ihm zu wecken. Landru lächelte, wissend und zufrieden. Lilith erwiderte es, unglücklich und bitter. Er hatte sie zweifelsohne beobachtet und die richtigen Schlüsse aus ihrem Verhalten und ihren Reaktionen gezogen. Landru mußte einfach zufrieden sein, befand Lilith sich doch offensichtlich auf dem richtigen Weg; dem Weg, den er ihr zugedacht hatte und auf den er sie führte – aber tatsächlich auch zurück in ein Leben, wie es
einmal gewesen war? Als könne er auch Liliths Zweifel aus ihren Zügen lesen, sprach Landru sie an, wohl nur, um diese Zweifel nicht weiter keimen zu lassen. Ein beiläufiger Blick seiner nachtfarbenen Augen traf den jungen Indio. »Du hast die Rast für ihn erbeten, nicht wahr?« fragte er. Lilith nickte. »Siehst du denn nicht, daß er fast am Ende seiner Kräfte ist? Willst du ihn quälen?« Landru antwortete nicht gleich, ganz so, als müsse er über seine Antwort nachdenken. Und der Ausdruck seines Gesichtes erweckte ganz den Eindruck, als täte er es wirklich. »Nein«, sagte er dann gedehnt, »nein, sie zu quälen war nie Teil meiner Absichten.« »Sie?« hakte Lilith nach, hörbar verwirrt. »Die Menschen«, erwiderte er knapp. »Aber …«, Lilith zögerte, nach Worten suchend, »du … Vampire töten Menschen.« Ihr Tonfall drückte Verwunderung aus, dennoch sprach sie leise; zum einen, weil das Gespräch als solches ihr abnorm schien, zum anderen, weil sie nicht wollte, daß Pepe es mit anhörte. Landru nickte gemessen und lächelte in vermeintlich väterlicher Art, die in seinen Zügen jedoch zu etwas Bizarrem geriet. »Wir«, und er betonte dieses Wir auf eine Weise, daß Lilith sich eingeschlossen fühlen mußte, »töten unsere Opfer, bisweilen jedenfalls. Aber wir bringen ihnen den Tod auf angenehmem Wege und zeigen ihnen zugleich, daß es sehr wohl ein Leben danach gibt.« Schweigend wandte Lilith sich ab, ging ein paar Schritte in die ursprüngliche Richtung. Der Pfad durch das tropische Dickicht war nur zu erkennen, wenn man von seiner Existenz wußte, und schon nach ein paar Metern verlor er sich im Grau der Dämmerung, die nur wenige Schritte weiter bereits zur Nacht wurde.
»Wie weit ist es noch?« fragte sie nach einer Weile, ohne zu Landru zurückzusehen. Eine plötzliche Berührung, kalt wie von der Hand eines Toten, ließ sie frösteln. Wieder war Landru ohne jedes Geräusch in ihre Nähe gekommen. »Nicht mehr weit.« »Das sagst du schon seit … Tagen.« Seit wie vielen Tagen eigentlich? fragte sich Lilith stumm. Wann waren sie in Sydney aufgebrochen? Sie wußte es nicht. Wohl auch deshalb, weil sie auf ihrem Weg von Australien nach Mittelamerika verschiedene Zeitzonen durchreist hatten und der Tag nach wenigen Stunden schon wieder in die Nacht übergegangen war und umgekehrt. Aber Lilith wußte auch nicht, wie lange sie schon in diesem Land unterwegs waren – zunächst mit Flugzeugen, die mit jedem Zielflugplatz kleiner und klappriger geworden waren, dann mit einem geländegängigen Fahrzeug, und seit gestern nun, da die Wege für den Jeep unpassierbar geworden waren, zu Fuß. Noch immer wurde die Gegend stetig unwegsamer, und irgendwann, so meinte Lilith, mußten sie den Punkt erreicht haben, an dem ein Fortkommen überhaupt nicht mehr möglich war – Landrus Stimme unterbrach ihre Überlegungen, die ohnedies zu nichts geführt hätten. Denn über ihr Ziel hatte Landru ihr in all der Zeit nichts verraten; nichts außer Andeutungen jedenfalls. »Du solltest wieder lernen, in anderen Dimensionen zu denken, was Entfernungen und Zeit anbelangt. Beides existiert nicht – für uns.« Wieder diese eigentümliche Betonung. Landru ließ wahrlich keine Gelegenheit ungenutzt, um Lilith auf seine Sicht der Dinge einzuschwören. Und seine Methode verfing, langsam, Stück um Stück … Lilith nickte. »Vielleicht hast du recht.« »Gewiß doch.« »Wir sollten aufbrechen«, meinte sie dann, »bevor es vollends
dunkel wird.« Landru blinzelte ihr verschwörerisch zu. »Du vergißt: Unsere Augen kennen so etwas wie völlige Dunkelheit nicht.« Lilith wies zu Pepe hin, der gerade spärliche Flüssigkeit aus einem Blatt sog, daß er von einem Busch gerissen hatte. »Aber seine.« Landru zuckte gleichgültig die Schultern. »Ein Problem, das sich leicht lösen läßt. Ich hatte es ohnehin vor. Ob ich es jetzt tue oder später, das macht keinen Unterschied.« Er ging auf den jungen Indio zu. Lilith beeilte sich, mit ihm Schritt zu halten. »Was hast du vor?« fragte sie mißtrauisch und vage erschrocken in einem. Eine dunkle Ahnung stieg in ihr auf. Eine unsichtbare Schlinge legte sich um ihren Hals und nahm ihr mehr und mehr den Atem. Fließendes Frösteln unter ihrer Haut verdichtete sich zu einer eisigen Kruste. Landru warf ihr einen Blick zu, der von abseitigem Amüsement und kaum verhohlener Begierde kündete. »Bei jeder Rast«, sagte er, »sollte man – einen Bissen zu sich nehmen.« Sein flüchtiges Lächeln zauberte elfenbeinernen Schimmer ins Dämmer. »Nein, bitte …« Liliths Hand stieß vor – und griff ins Leere. Als hätte Landru mit einem einzigen Schritt die Distanz von zweien überwunden, so rasch hatte er sich von ihr entfernt – und dann auch schon den Indiojungen erreicht. In geradezu freundschaftlicher Geste legte er Pepe den Arm um die Schulter und zog ihn an sich. Wer nicht wußte, welch ein Monstrum sich hinter Landrus Maske verbarg, hätte keinen Argwohn gehegt bei diesem Anblick, der fast an den eines Vaters und seines Sohnes gemahnte. Lilith jedoch fand ihn entsetzlich und niederschmetternd. Und doch schwieg sie. Tat nichts. Weil Landru seinerseits doch nur tat, was die Art der vampirischen Rasse ihm diktierte – und was demzufolge auch ganz in ihrem eigenen Sinn sein mußte.
Landru legte die Finger seiner Linken unter Pepes Kinn und dirigierte das Gesicht des Jungen so, daß ihre Blicke einander trafen. In völliger Stille, ohne jedes Wort ging dies vonstatten, und ebenso lautlos erlosch der kaum erwachte Glanz in den Augen des jungen Indios, wie abgeschaltet. Sekundenlang verharrten die beiden starr wie versteinert, dann wandte Landru noch einmal den Blick in Liliths Richtung. Das stumme Flehen in ihrem Blick schien ihn zu belustigen. Ein beinahe schon vergnügtes Lächeln spielte einen Moment lang um seine Lippen. Doch schon im nächsten war es verschwunden! Als Landru seine Kiefer auseinander riß wie ein Raubtier im Beutesprung. Kleinen, aus Knochen kunstvoll gearbeiteten Dolchen gleich ragten ihm die Eckzähne unter der Oberlippe hervor. Seine rechte Hand grub sich in den dunklen Schopf des Jungen und zerrte ihm den Kopf in den Nacken. Pepes Mund öffnete sich, aber kein Laut kam über seine bebenden Lippen. Nur – stumme Schreie. Der Dschungel selbst und alles, was in ihm lebte, schien den Atem anzuhalten. Die Geräuschkulisse, vorhin noch so vielfältig und fast schon lärmend, war erstorben. Lilith wußte nicht, seit wann; ihre Aufmerksamkeit galt ganz und gar dem unwürdigen Schauspiel, das Landru ihr bot und in dem Pepe nicht einmal Statist, sondern bloß Requisite war. Ihre Lippen bewegten sich so stumm wie die des Jungen. Doch Landru hatte längst keinen Blick mehr für Lilith. Der Anblick und der Duft seines Opfers schienen ihn regelrecht gefangengenommen zu haben. Er zelebrierte ein ganz eigenes Ritual, und nichts und niemand würde ihn darin stören können. In der atemlosen Stille glaubte Lilith zu hören, wie Landrus Zähne die Haut des Indios durchstießen und in den Fluß des Herzens darunter eintauchten. Das Geräusch danach indes entsprang nicht nur ihrer Einbildung.
Das gierige Schlürfen, das heftige Schlucken – beides war wirklich. Und grauenhaft. Liliths Perspektive veränderte sich, als sie langsam in die Knie sank, weil ihre Beine zu zittern begannen und ihr Gewicht nicht länger tragen wollten. Sie wünschte sich, es wäre nur ein Zeichen von Schwäche gewesen, die das Entsetzen des Szenarios ihr aufzwang. Doch sie wußte, daß es noch einen anderen Grund dafür gab – – Verlangen. Unausgesprochenes und lange verleugnetes Sehnen, es Landru gleichzutun. Hinzugehen und wie er aus dem Aderwerk des Indios zu trinken, um jenen Durst zu stillen, den sie so lange hatte verleugnen können. Eine Unmöglichkeit, dachte Lilith wie mit fremdem Geist. Wenn ich tatsächlich eine Vampirin bin, wie konnte ich dann all die Zeit ohne das Elixier meiner Rasse überdauern, ohne Schaden zu nehmen? Die Konsequenz des Gedankens vermochte ihr keine Beruhigung zu vermitteln, denn sie schlug sich in einer weiteren Frage nieder: Was um alles in der Welt bin ich nur für eine Kreatur? Die Antwort drängte ohne jedes Zutun in ihre Gedanken: Wenn ich bin wie Landru, dann bin ich – eine Bestie … Lilith erwartete den Schock, den ihr diese Antwort versetzen mußte; und er kam – nicht jedoch in der befürchteten Härte … Sie hatte alles Zeitgefühl verloren und wußte nicht, wie lange Landru sich am Blut des Indios gelabt hatte, als er plötzlich von ihm abließ. Sein Mund war dunkel verschmiert wie der eines Kindes, das noch Mühe hatte mit ordentlichem Eßgebaren. Sein Gesicht jedoch sprach diesem Vergleich auf grausige Weise Hohn, denn in Landrus Zügen spiegelte sich die pure Lust an seinem widerwärtigen Tun wider. Ohne Pepe loszulassen, der schon wie vom Tode schwer in seinem Arm lag, wandte der Vampir sich Lilith zu. »Komm«, flüsterte, »komm her zu mir.«
Sie schüttelte den Kopf und ignorierte den Wunsch, seiner Aufforderung einfach Folge zu leisten. »Nein, bitte«, begann sie leise, »erspare mir das. Ich möchte nicht …« »Du mußt.« Landrus Worte klangen nicht wie ein Befehl, und sie waren es auch nicht; sie waren nur eine Feststellung der Tatsachen. Und Lilith sah sich kaum noch imstande, eben diese Tatsachen zu leugnen. Ich muß … Landru streckte die freie Hand in ihre Richtung, eine einladende Geste. Sein Nicken war aufmunternd, dann bewegte er die Finger, winkte Lilith zu sich. Wieder schüttelte sie den Kopf. Sinnloses kam unverständlich von ihren Lippen. Und sie ging. Wie in Trance näherte sie sich Landru. Und Pepe. Lilith wollte es vermeiden, den Jungen anzusehen. Aber wie unter Zwang, gegen den sie nicht ankam, starrte sie doch auf ihn. Die beiden blutigen Male an seinem Hals, daumenbreit voneinander entfernt, schienen sich zu bewegen, flüsternden Mündern gleich, unhörbar ihre Worte und doch eine einzige fürchterliche Lockung. »Spürst du es?« Landrus Stimme klang heiser. Seine Eckzähne waren wie von dunkler Patina überzogen. Lilith schwieg, schluckte hart und trocken, ihre Kehle brannte – – vor Aufregung? Vor Durst? Sie spürte Landrus Hand an ihrem Arm. Seine Finger schlossen sich sanft, aber doch auch fest darum und zogen sie zu Pepe hin. »Nimm ihn dir«, flüsterte Landru rauh. »Nimm dir, was noch in ihm ist.« »Niemals«, erwiderte Lilith zittrig. Hastig fuhr ihre Hand hoch an ihre Oberlippe. Dahinter – ein vager Schmerz, gepaart mit einem dumpfen Druck, nicht wirklich un-
angenehm, nur überraschend und in seiner Bedeutung erschreckend. Zwei Spitzen wie von Nadeln berührten ihre Unterlippe, und das eigenartige Gefühl im Oberkiefer verging. Liliths lang gehegte Zweifel an ihrem wahren Wesen verkümmerten binnen einer einzigen Sekunde. Sie brachte ihr Gesicht, immer noch wie gegen unsichtbaren Widerstand ankämpfend, näher an den Hals des Jungen heran. Einmal noch verfing sich ihr Blick in seinen Zügen. Sie erinnerte sich der spärlichen Gespräche, die sie auf dem Weg mit Pepe geführt hatte. Jetzt wünschte Lilith, sie hätte es nicht getan. Es war zwar nicht viel, was der Junge ihr erzählt hatte – über sein Leben, sein Zuhause und seine Familie. Aber es war genug, um Mitleid und Skrupel in Lilith zu schüren. Ihre Lippen öffneten sich, zögerlich, berührten dann die warme Haut des Halses. Sie schmeckte den salzigen Schweiß, und süß stieg ihr der Duft des Blutes in die Nase. Und dann – verbat Lilith sich jedweden Gedanken. Agierte nur noch, ohne zu darüber nachzusinnen, was sie da eigentlich tat. Sie ergab sich ganz und gar ihrem nunmehr unleugbaren Wesen, ihrem wiedererwachenden Ich. Und dieses Erwachen ging nicht zäh und Schritt um Schritt vonstatten, sondern glich einer Explosion, einem befreiten Aufbrüllen ihres tiefsten Inneren. Was dort auch eingekerkert gewesen sein mochte, es war jetzt endlich seiner Fesseln ledig und ließ sich nicht länger bändigen. Lilith saugte. Trank. Bis ihr die Sinne schwanden.
* Lilith kam nicht langsam zu sich, klomm nicht mühsam hervor aus
den Trümmern der Schwärze, die sie unter sich begraben hatten. Sie erwachte übergangslos. Von einer Sekunde zur nächsten war sie wieder bei Sinnen, schockartig fast – und sie fühlte sich in einem solchen Maße elend, daß sie davon überzeugt war, sich nie zuvor schlimmer gefühlt zu haben. Ihr war übel. Speiübel im beinahe wörtlichen Sinne. Doch Lilith erbrach sich nicht. Zum ersten Mal seit langem behielt ihr Körper bei sich, was sie ihm gegeben hatte. Aber gerade diese Tatsache steigerte den Brechreiz noch. Sie hatte Blut getrunken, Pepes Blut! Lilith konnte spüren, wie es ihre Eingeweide mit seiner Wärme erfüllte, und obgleich es im Grunde ein durchaus angenehmes Gefühl war, verabscheute sie es. Und sich selbst. Für das, was sie getan hatte. Wie aus Zufall – und doch konnte es unmöglich Zufall sein – fiel ihr Blick just in diesem Moment auf den reglosen Körper, der neben ihr im Farnkraut lag, im Dämmerlicht kaum mehr als ein Schemen – – in den jetzt Bewegung kam! Der junge Indio, den Lilith eben noch für tot gehalten hatte, rührte sich. Laute wie nach langem, tiefem Schlaf kamen ihm über die Lippen, und dann machte er Anstalten, sich zu erheben, so mühsam, als müßte er die Kontrolle seiner Glieder erst noch erlangen. Eine andere Gestalt löste sich aus den Schatten, ohne Hast und doch blitzschnell. Landru beugte sich zu Pepe hinab, seine Hände faßten nach dem schmalen Gesicht des Indios – und die folgende Bewegung wirkte routiniert, wie schon unzählige Male ausgeführt. Lilith schloß entsetzt die Augen. Ihre Ohren jedoch konnte sie nicht verschließen. Ein mürbes Knacken und Knirschen, dann ein dumpfer Laut. Als sie schließlich die Lider wieder öffnete, lag Pepe von neuem am Boden, wieder tot, das Gesicht auf unmögliche Weise von Lilith abgewandt. »Was hast du getan?« entfuhr es ihr angewidert. Sie sah zu Landru auf. Sein Lächeln schimmerte im grauen Licht. »Er wäre uns nur ein Klotz am Bein gewesen«, sagte er leichthin,
und dann, bedeutungsvoller: »Wo ich dich hinführe, erwarten uns Diener von ganz anderer Qualität.« Verächtlich stieß er mit dem Fuß gegen den Leichnam und verhalf ihm zu einer allerletzten Bewegung. Der Tote rollte herum, der starre Blick seiner weit aufgerissenen Augen traf Lilith und fuhr ihr tief unter die Haut und bis ins Mark hinein. Es kam ihr vor, als erstünde sie selbst geradewegs vom Tode, so schwer fiel es ihr, aufzustehen. Landru reichte ihr hilfreich die Hand, doch Lilith ignorierte sie. »Fühlst du dich gekräftigt?« fragte er lauernd. Lilith hätte gerne verneint, aber sie nickte fast automatisch, denn in der Tat fühlte sie sich – ja, wie eigentlich? Sicher, immer noch schlecht und niederträchtig, weil sie den Jungen … – aber das war nur die eine Seite; andererseits nämlich fühlte sie sich wirklich gestärkt und auf unliebsame Art und Weise wohl, wie ein Mensch, der ein üppiges Mahl zu sich genommen hatte. »Du siehst, ich hatte recht«, sagte Landru. Sein Lächeln allein bestärkte Liliths Ekel vor sich selbst. Aber sie nickte wieder, wenn auch zögernd wie gegen ihren Willen. Alles, was Landru ihr erzählt hatte, schien der Wahrheit zu entsprechen, und alles Sträuben half nichts: Er wußte, wer sie war, und sie konnte nichts anderes tun, als sich in das Offensichtliche zu fügen. »Laß uns gehen«, bat sie nur und schritt schon voran, weiter in jene Richtung, in die Landru sie zuvor bereits geführt hatte. Lilith ertrug den Anblick des toten Indios nicht länger, weil sie sich die bange Frage nicht länger stellen mochte, ob nicht sie letztlich an diesem Tod die Schuld trug. Landrus Lächeln sah sie nicht; wohl aber spürte sie es, als eisigen Hauch, der ihren Rücken streifte. Ohne ihr Zutun veränderte sich ihr Mimikrykleid und überzog die nackte Haut unterhalb ihres Nackens mit fließender Schwärze, die dort wieder erstarrte und zu ganz eigenartigem Stoff wurde. »Laß mich vorangehen«, verlangte Landru.
Sie ließ ihn passieren und ein paar Schritte weit laufen. Erst dann ging Lilith selbst weiter. Landrus Nähe, mochten sie einander auch noch so ähnlich sein, war ihr unheimlich. Immer weiter führte er sie durch den Dschungel, dessen Grün mittlerweile vollends verblichen war. Liliths besonderer Blick – wie auch der Landrus – nutzte das wenige Licht, das noch durch das dichte Blätterdach herabkam, und überzog alles ringsum mit rötlichem Schimmer, als leuchte ein blutfarbener Mond ihnen den Weg. Schweigend gingen sie ihn; Lilith, weil sie mit keinem Wort an neuen, bislang ungenannten Wahrheiten rühren wollte, und Landru sagte nichts, weil er wußte, daß die Erkenntnis sich gerade erst in Liliths Bewußtsein verankerte und mithin noch den Boden bereitete, in den er später weitere Saat einbringen konnte. Wenn sie erst einmal am Ziel angelangt waren … Stunde um Stunde verstrich auf diese Weise. Die nächtlichen Stimmen des Dschungels klangen weit entfernt, flüsterten nur, weil um Landru und Lilith her alles in Schweigen verfiel, als ließe ihre bloße Nähe jedes Tier verstummen. Irgendwann, der neue Tag mochte bereits begonnen haben, veränderte sich die Umgebung. Der urwaldartige Wuchs trat zurück, Steppenland an seine Stelle, wenn auch noch immer waldreich. Insgesamt aber verlor sich die Unwegsamkeit des Landes. Der Marsch wurde weniger beschwerlich, blieb jedoch eintönig. Obwohl Lilith sich innerlich in Aufruhr befand und tausend Gedanken sie bewegten, hatte die Monotonie ihres Dahinwanderns etwas Einschläferndes. Fast kam sie sich schon vor wie eine Schlafwandlerin, und so fühlte sie sich wie aus tiefer Trance gerissen, als Landru unvermittelt stehenblieb und sie fast gegen ihn prallte. »Was …?« setzte sie an, doch er gebot ihr mit einer knappen Geste zu schweigen. Witternd wie ein Tier kam er Lilith vor. Seine Nasenflügel vibrierten ganz leicht, während er den Kopf zeitlupenhaft drehte, und sein Blick lotete die Nacht schier aus. Dann, nach einer beträchtlichen
Weile, erschien ein schmales Lächeln auf seinen Lippen, und er nickte, sichtlich zufrieden und erleichtert. »Wir sind unserem Ziel ganz nahe«, sagte er. »Endlich –«, er sah Lilith fest in die Augen, »– wieder zu Hause.« Seine Hand faßte nach der ihren, umschloß sie, dann ging er weiter, Lilith mit sich führend wie ein Kind. »Komm, ich bin sicher, sie erwarten uns schon.« »Wer sind sie?« fragte Lilith. Noch immer wußte sie nicht, wer und was am Ziel auf sie wartete, und sie war nicht sicher, ob sie es wirklich wissen wollte … »Unsere Kinder!« Wie vom Donner gerührt blieb Lilith stehen. Kein Schlag, überhaupt nichts hätte sie heftiger treffen können als Landrus leichthin erwiderte Antwort. »Unsere – Kinder?« echote sie. Landru zog sie weiter, nickte nur und lächelte. Zu weiteren Fragen, obwohl sie ihr im Dutzend auf der Zunge brannten, kam Lilith nicht. Denn plötzlich – Landru zog sie schnurstracks geradeaus. Doch Lilith lief nach links. Weil – irgend etwas sie nicht geradeaus laufen lassen wollte! Landrus Griff verhinderte, daß Lilith sich wirklich von ihm entfernte. Mit einem Ruck zog er sie wieder zu sich heran – – und Lilith wandte sich umgehend nach rechts! Als könne sie einfach nicht hinter Landru hergehen. Sie taumelte und strauchelte wie eine Betrunkene umher, doch der Vampir ließ ihre Hand nicht los, verstärkte im Gegenteil den Druck seiner Finger um die ihren noch und zog Lilith unnachgiebig mit sich. »Was ist nur mit mir?« stieß Lilith hervor. Sie verstand nicht, was da vorging. Es war ebenso unheimlich wie unerklärlich. »Es ist gleich vorüber«, erwiderte Landru, ohne den Blick zu lösen
von seinem Weg, den Lilith partout nicht als den ihren akzeptieren konnte. Sie kam sich vor wie ein Magnet, der von einem anders gepolten abgestoßen wurde. Und mit jedem Schritt, den sie letztlich doch Landru nachfolgte, fiel es ihr schwerer, einen Fuß vor den anderen zu setzen. Als herrsche eine zunehmend stärker werdende Schwerkraft. Und schließlich wurde diese Kraft so stark, daß Lilith nicht mehr laufen konnte. Ihr ganzer Körper schien ihr mit einemmal bleischwer, und es kam ihr vor, als sauge der Boden sie zu sich hinab. Sie stürzte, doch Landru blieb weder stehen noch ließ er ihre Hand los. Stoisch schritt er weiter und zerrte Lilith unbarmherzig hinter sich her. Sie hörte das Rascheln von Gras und Gestrüpp um sich her, das Brechen kleiner Zweige, doch alles klang gedämpft, als müsse es eine Membrane durchdringen, ehe es ihr Ohr erreichte. Lilith fühlte sich wie durch schlammiges Wasser geschleift. Dann plötzlich kam sie zur Ruhe. Landru war stehengeblieben. Riesengroß schien er Lilith aus ihrer Perspektive; wie eine Statue aus schwarzem Stein ragte er vor ihr auf. Seine Stimme kam ihr wie Donner vor. »Steh auf!« »Ich kann nicht …« Ein kräftiger Ruck, der ihr Schultergelenk schmerzen ließ, dann hing Lilith regelrecht an Landru, noch immer von seinem Arm gehalten. Nur wenige Schritte vor ihnen schien sich die Nacht solcherart zu verdichten, daß selbst die Sicht eines Vampirs ihr keine Bilder mehr abzutrotzen vermochte. Erst der zweite Blick zeigte Lilith, um was es sich dabei handelte – ein Wall aus dunkler Erde ragte steil auf, sein oberes Ende verlor sich in der Dunkelheit. Und für einen flüchtigen Moment sah Lilith ein Tier, monströs und riesig, das sich durch Erdreich wühlte.
Sie schloß die Augen, um die unmögliche Vision zu vertreiben – und fühlte sich schon wieder vorangezerrt, Landru zog sie mit sich, als er nun auf den Erdwall zuging. Lilith hatte mit dem gleichen Phänomen zu kämpfen wie zuvor. Ihre Beine und auch ihr Kopf wollten in jede andere Richtung als jene, die Landru angab. Aber auch diesmal gab es kein Entkommen aus seinem Griff. Und im Grunde wollte Lilith ihm ja auch folgen. Der Wall stieg weniger steil an, als Lilith eben noch angenommen hatte. Landru stapfte die Flanke hinauf, zunächst noch mühelos. Erst weiter oben wurde der Aufstieg beschwerlicher. Das lockere Erdreich gab unter jedem Schritt nach und machte bestenfalls einen halben daraus. Lilith kroch längst auf Knien dahin und stützte sich mit der freien Hand ab. Als die Krone des Walls fast schon zum Greifen nahe war, mußte auch Landru sich auf alle Viere niederlassen, um den Rest der Distanz zu überwinden. Oben war der Wall gerade breit genug, daß man darauf stehen konnte. Jenseits dieser höchsten Stelle fiel er steil ab. Lilith blickte nach links und rechts, ein Ende oder einen wie auch immer gearteten Markierungspunkt konnte sie jedoch nicht ausmachen. Der Erdwall verschmolz zu beiden Seiten mit der Nacht und mochte noch tief in die Finsternis hineinreichen. Unter sich machte sie weite, von kniehohem Gras bestandene Flächen aus. Hohe Bäume und Palmen ragten daraus hervor, und nicht allzu weit entfernt erkannte sie etwas, das ihr wie ein von Menschenhand angelegtes Feld vorkam, auf dem irgendein Getreide wuchs. Die Feststellung all dessen nahm nicht mehr als zwei oder drei Sekunden in Anspruch. Deutlich länger beschäftigte Lilith etwas anderes: die Nacht jenseits des Walls. Sie schien ihr – dunkler als auf der anderen Seite. Lilith schüttelte den Kopf, als könne sie den unmöglichen Eindruck damit vertreiben. Landru regte sich noch immer nicht, sagte nichts und machte kei-
nerlei Anstalten, irgend etwas zu tun. Schließlich brach Lilith das Schweigen. »Ist das –«, sie wies hinab zum Ende des Erdwalls, »– unser Ziel?« Landru nickte. »Und –«, Lilith zögerte kurz, »– was ist das?« Verwirrung verzerrte ihre Züge, ihre Hände vollführten eine hilflose Geste, und sie hob vage die Schultern. Landru streckte die Hände vor und ließ den Blick über das dunkle Land schweifen. »Dies ist«, sagte er feierlich, »unser Reich.« Ehe Lilith zu einer Erwiderung auch nur ansetzen konnte, begann Landru die Flanke des Walls hinabzusteigen. Lilith stand noch sekundenlang da, unfähig, etwas zu sagen oder zu tun, dann folgte sie ihm. »Warte!« rief sie. »Was –« Weiter kam sie nicht. Ihr linker Fuß versank in der lockeren Erde; dadurch stolperte sie, und schon stürzte sie vornüber und haltlos hinab! Der Aufprall unten war weniger schlimm, als sie es befürchtet hatte. Das Gestrüpp, das ihren Sturz bremste, war zwar dornig, aber der Symbiont schützte Lilith vor Verletzungen. Zumindest vor Verletzungen durch Dornen und dergleichen. Wovor er sie nicht bewahren konnte, waren messerscharfe, nadelspitze Klauen! Der Prankenhieb kam zugleich mit dem Grollen und Fauchen ohne jede Vorwarnung aus den Schatten der Nacht. Und er zerriß Liliths Gesicht!
* Endlose Sekunden verrannen, in denen Lilith meinte, sie sei erblindet. Ein sehniger und doch pelzigweicher Körper prallte gegen sie,
noch immer fauchend und grollend, während ihr Gesicht in Flammen zu stehen schien. Dann endlich, während sie ziellos um sich schlug, auf Widerstand traf und neue Verletzungen erlitt, hatte sie das Blut aus ihren Augen geblinzelt – und sah … … die Bestie! Ein gewaltiges Tier, geballte Aggressivität, die aus nichts anderem zu bestehen schien als aus Krallen, Zähnen und unbändiger Kraft. Seine Augen starrten wie rotglühende Sterne auf Lilith nieder. Wieder schlug die Raubkatze mit einer Pranke nach ihr. Klauen pflügten blutige Furchen in Liliths Schulter. Der Tritt, mit dem sie das Tier auf Distanz brachte, war nur ein zufälliger Treffer und brachte ihr nicht mehr als eine Sekunde Aufschub. Dann war das Biest wieder heran. Lilith meinte schon zu spüren, wie sich die Krallen von neuem in ihr Fleisch gruben – – doch da verlor der Jaguar mit einemmal das Interesse an ihr. Ein neuer Gegner war aufgetaucht, und instinktiv schien das Tier zu erkennen, daß es sich bei ihm um den gefährlicheren handelte. Der Jaguar schnellte auf Landru zu, prallte mit vollem Gewicht gegen dessen Brust und Bauch und riß ihn nieder. Ein wüster Kampf entbrannte, den Lilith kaum zu verfolgen vermochte. Zum einen ging der Schlagabtausch zwischen Tier und Vampir viel zu schnell vonstatten, zum anderen machte der Schmerz, der in ihren Wunden wühlte, sie nahezu blind und taub für jede andere Wahrnehmung. Jedoch – der Schmerz ließ nach, langsam, kaum merklich im Grunde, aber er tat es. Weil ihre Verletzungen heilten! Wie von unsichtbaren Chirurgenhänden vernäht und verschweißt, schlossen sich die blutgefüllten Klüfte in Haut und Fleisch. Lilith beobachtete es staunend, aber ihre Überraschung war nicht annähernd so groß, wie sie es hätte sein müssen. Denn etwas anderes, das sie erst jetzt feststellte, wog vielfach schwerer.
Die Farbe ihres Blutes; es war – – schwarz! »Nein!« flüsterte sie entsetzt. Aber es war nicht nur eine Täuschung im Dunkel der Nacht: In Liliths Adern floß schwarzes Blut. Das Blut eines Vampirs, ohne jeden Zweifel … Hatte sie denn daran gezweifelt? fragte sie sich im stillen. Offenbar doch, all dem zum Trotz, was sie bislang erfahren und erlebt hatte und was ihre Zweifel eigentlich schon hätte ausräumen müssen. Aber irgendwie hatte sie, ganz tief in sich, doch noch einen winzigen Funken von Hoffnung gehegt, alles könnte letztlich doch ganz anders sein, sich als Irrtum oder Täuschung erweisen … Vorbei. Wie auch der Kampf zwischen Landru und dem Jaguar. Lilith wußte nicht, ob die Stille schon andauerte oder eben erst eingesetzt hatte. Erschrocken wandte sie den Kopf, blickte in die Richtung, wo das erbitterte Ringen eben noch im Gange gewesen war. Hatte der Jaguar Landru etwa –? An einen solchen Ausgang des Kampfes wollte Lilith nicht denken! Schließlich war Landru – ja, was war er? Ihr Verbündeter und Gefährte? Oder noch weit mehr? Landru erhob sich, richtete seine zerrissenen Kleider, so gut es noch ging, und strich über seine Wunden, als könne er sie einfach fortwischen. Und es schien, als könne er es tatsächlich … Der Jaguar kauerte neben ihm, glich in seiner Haltung einem geprügelten Hund, aber das war es nicht, was Lilith erstaunte. Seine Augen fesselten ihre Aufmerksamkeit. Denn es waren nicht länger die eines Tieres – – sondern die eines … Menschen?
*
Man hat die Türen zu einem wunderbaren Schatz geschlossen. Man hat die Flamme des Tempels gelöscht. In den verlassenen Straßen schweifen verlorene Schatten und Gespenster mit leeren Augen umher. Miguel Angel Asturias Seit Minuten nun schon fühlte Chiquel sich nicht imstande, auch nur das geringste Glied zu rühren. Entsetzen und Furcht hatten tief in ihm eisige Wurzeln geschlagen. Fast meinte er inmitten seiner sich überschlagenden Gedanken den Wunsch auszumachen, die Starre möge nie mehr von ihm abfallen. Weil die Folgen furchtbarer sein mochten als alle Greuel, die er sich vorstellen konnte. Und seiner Phantasie waren in dieser Hinsicht kaum Grenzen gesetzt … Was hatte er nur getan? Leichtsinnig war er gewesen, geradezu frevelhaft fahrlässig! Um ein Haar hätte er eine Schuld auf sich geladen, die nie mehr zu tilgen gewesen wäre. Sie wog ohnedies schon schwer, obwohl er die Gefahr im letzten Moment noch abgewendet hatte; schwer genug vielleicht, daß ihm die Strafe, die er dafür empfangen würde, unerträglich sein mochte; schlimmer also als jede Selbstkasteiung, der Chiquel sich in seinem schier ewig langen Dasein aus freien Stücken unterzogen hatte. Dennoch würde er sie hinnehmen, ohne Widerwort oder gar Gegenwehr. Er sah ein, daß er jede nur denkbare Strafe verdient hatte – dafür, daß er (im übertragenen Sinne jedenfalls) die Hand erhoben hatte gegen seinen eigenen Vater! Buchstäblich im allerletzten Augenblick hatte Chiquel Verbindung zu seinem Jagdtier aufgenommen und somit gesehen, was es gesehen hatte – ein Gesicht, das ihm trotz der fürchterlichen Wunden, die es verunstaltet hatten, vertraut gewesen war wie kaum ein anderes. Obwohl Chiquel kein Wort über seinen unentschuldbaren Fehler
verloren hatte, schienen seine hier versammelten Geschwister Bescheid zu wissen. Vielleicht hatten sie aus den Augen ihrer Jaguare mitangesehen, was draußen an der Grenze vorgefallen war. In jedem Falle musterten sie ihren Bruder mit Verachtung. Doch selbst dies konnte ihre Freude über den Grund des Zusammentreffens nicht mindern. Ihrer aller Vater war zurück – endlich! Und wie die Wölfin es vor Tagen angekündigt hatte, war er nicht allein gekommen. In seiner Begleitung befand sich eine Frau … … in der sie, seine Kinder, fortan ihre Mutter sehen! Den Sinn dieses seltsamen Befehls zu hinterfragen – der Gedanke allein war ihnen schon verboten. Erlaubt waren ihnen einzig bedingungsloser Gehorsam und alles, was ihrem Vater zum Wohlgefallen sein mochte. Die lähmende Auswirkung dessen, was durch Chiquels Unachtsamkeit geschehen war, ließ allmählich nach. War es eben noch gewesen, als würde die Zeit stillstehen, so geriet ihr gewaltiges, unsichtbares Räderwerk nun allmählich wieder in Gang. Und kaum war sie wieder von Bedeutung, drängte die Zeit auch schon. Zapata, der Chiquel am nächsten saß, erhob sich als erster. »Laßt uns aufbrechen, um Vater in Empfang zu nehmen«, sagte er, derweil er schon einer der Fensteröffnungen zustrebte. »Vater – und Mutter«, erinnerte Cuyo ihn mit ganz eigener Betonung und freudlosem Lächeln. »Natürlich.« Zapata nickte, auf gleiche Art lächelnd. Dann wandte er sich um. »Chiquel«, sagte er, »benachrichtige du die anderen. Wir brechen auf. Und vergewissere dich, daß alles für die Ankunft unseres Vaters in der Stadt bereit ist.« Und nach einer kurzen Pause setzte er hinzu, in durchaus wohlmeinendem Ton: »Und, Chiquel, du hältst dich besser im Hintergrund, wenn wir Vater gegenübertreten.« Chiquel nickte stumm und verließ den Raum, fast fluchtartig, um zu den Brüdern und Schwestern zu eilen, die sich nicht an dieser
Wacht beteiligt hatten. Die drei verbliebenen Vampire gingen unterdessen auf die Fenster zu. Auf halbem Wege schon verwandelten sie sich, um fliegend den Raum zu verlassen. Wenig später schlossen sich ihnen vier weitere Schatten an, die ebenfalls aus dem Palast aufgestiegen waren. Ihre ledernen Schwingen pflügten die Nacht. Dumpfes Rauschen begleitete ihren Flug und war noch weit unter ihnen zu hören, wo sich von plötzlicher Furcht gepackte Menschen tiefer als sonst in ihre Lager und Hängematten kauerten. Gerade so, als wüßten sie, daß die schlimmste aller Zeiten ihnen noch bevorstand – – und jetzt anbrach.
* Der Anblick war bizarr, unheimlich und faszinierend in einem. Sie kamen aus dem Dunkel der Nacht wie aus dem Nichts und fielen regelrecht vom Himmel nieder. Für Lilith sah es aus, als lösten sich eigentümlich geformte Trümmerstücke aus dem Schwarz des Firmaments. Im Fall jedoch veränderten sich ihre Konturen, als forme der Wind sie neu. Für den Moment fast schwerelos, landeten die Gestalten schließlich im kniehohen Gras. Momentelang kauerten sie in hockender Stellung da, bevor sie sich wie auf ein geheimes Zeichen hin synchron erhoben. Acht waren es, vier Männer und vier Frauen, die sich vor ihr und Landru zu einem lockeren Halbkreis formierten. Und Lilith konnte, der Absonderlichkeit ihres Erscheinens zum Trotz, die Augen kaum von den Fremden wenden. Von solcher Wohlgestalt waren sie, daß Lilith sich von ihrem Anblick in Bann geschlagen fühlte. Nie zuvor hatte sie schönere Menschen gesehen. Unweigerlich kam ihr der Gedanke, diese Acht müßten einst Statuen gewesen
sein, von kunstfertigster Hand gestaltet bis ins kleinste Detail und dann erst mit dem Odem des Lebens erfüllt. Der matte Glanz, mit dem das spärliche Licht ihre vielfarbig bemalte Haut überzog, bestärkte Lilith noch in ihrem Vergleich. Aber der eigentümliche Zauber des Szenarios verflog, rascher als er entstanden war. Denn der zweite Blick offenbarte Lilith andere Eindrücke, die sich eben noch hinter den Masken aus Anmut und beinah schon überirdischer Schönheit verborgen hatten. Jetzt erst sah Lilith die Kälte in den Augen der Fremden und wurde der bedrohlichen Aura gewahr, in die sie sich hüllten wie in unsichtbare Mäntel. Trotzdem fühlte sich Lilith keine Sekunde lang in Gefahr. Denn da war noch mehr, was von den acht alterslos scheinenden Wesen ausging – ein Hauch imaginärer Wärme, der sowohl ihr als auch Landru gleichsam entgegenbrandete. Zudem drückte die Haltung der Fremden eine eigenartige Mischung aus Demut und Freude aus, die Lilith ein nicht unangenehmes Gefühl vermittelte; im Gegenteil glaubte sie darin jenes Gefühl zu erkennen, das sie so lange ersehnt hatte – das Gefühl, willkommen und … … nach Hause gekommen zu sein? Es verwirrte sie. Einerseits wollte Lilith sich diesem Gefühl ergeben, andererseits aber schreckte sie davor zurück und wollte es sich verbieten. Sie verstand sich selbst kaum – ganz zu schweigen von dem, was hier vorging. Zu weiteren Überlegungen, die ohnedies fruchtlos geblieben wären, kam sie nicht. Landru faßte ihre Hand und geleitete sie schweigend auf die Fremden zu. In der Mitte des Halbkreises blieben sie stehen. Mit der freien Hand zeichnete Landru dessen Linie nach. »Nun?« fragte er schließlich, und sein Tonfall war ebenso gespannt wie feierlich. »Erkennst du sie wieder?« Lilith sah ihn an und dann wieder zu den Fremden hin, die ihr, obwohl sie einen nach dem anderen sekundenlang musterte, fremd blieben.
»Ob ich sie wiedererkenne?« fragte sie schließlich verwirrt. »Ich … Nein, weshalb sollte ich …?« Ein Ausdruck gelinder Enttäuschung huschte über Landrus Züge. Er seufzte. »Ich hatte gehofft, daß diese Begegnung die Fesseln um deine Erinnerung lösen würde.« »Aber warum …?« Landru sah Lilith an und lächelte larmoyant. »Weil ich glaubte, daß du wenigstens deine Kinder nicht ganz vergessen hättest.« »Nein …!« »O doch.« Landru wies in die Runde. »Du bist ihre Mutter.« »Und du …?« fragte Lilith. Sie ahnte, nein, sie wußte die Antwort. Landrus Andeutungen, die er seit ihrem Zusammentreffen in Sydney gemacht hatte, ergaben mit einemmal einen Sinn. Wenn auch einen, den Lilith weder verstehen noch akzeptieren wollte. »Ich bin ihr Vater«, bestätigte der Vampir und musterte ihre Kinder, eines nach dem anderen und ganz in der Art eines Vaters, der stolz war auf seine Stammhalter. Lilith fühlte sich hilflos angesichts der ungeheuerlichen Eröffnung, unfähig etwas zu sagen oder gar zu tun, weil nichts der Situation angemessen schien. Wieder ließ sie den Blick wandern und diesmal länger in jedem einzelnen Antlitz verweilen. Sie suchte nach etwas Vertrautem, das ihr verraten hätte, daß Landrus Behauptung den Tatsachen entsprach. Doch sie fand nichts dergleichen, nicht einmal ein vages Indiz dafür, daß sie auch nur eines ihrer »Kinder« je zuvor gesehen hätte. Sie blieben ihr fremd. Landrus sachte Berührung schreckte sie aus ihren Gedanken. Seine Stimme klang belegt, sein Ton war bedauernd. »Daß du unsere Kinder nicht mehr erkennst, trifft mich tief. Aber mehr noch macht mir zu schaffen, daß du dich nicht mehr an die Nächte erinnerst, da wir sie zeugten.« Lilith schloß die Augen, weil sie das Unbehagen, das ihr die Vorstellung verursachte, nicht zeigen wollte. Den anderen mochte es
vorkommen, als lausche sie in sich. Zögernd berührte Lilith dann ihren flachen Bauch. Hatte er sich tatsächlich einst gewölbt, als diese Kinder in ihrem Leib herangewachsen waren? Sie schüttelte kaum merklich den Kopf. Zumindest daran hätte sie sich doch erinnern müssen! Eine Geburt (acht Geburten!) konnte sie doch nicht einfach vergessen haben! Irgend etwas, zumindest der Hauch einer Erinnerung mußte doch übriggeblieben sein … Aber Lilith empfand nichts dergleichen. »Möglicherweise hilft es dir, wenn du die Namen unserer Kinder hörst.« Landrus Stimme drang wie aus weiter Ferne zu ihr. Erst als sie die Augen wieder öffnete, fühlte Lilith sich wirklich zurück in dieser Welt, die ihr nach wie vor fremd vorkam und doch die ihre sein mußte. Fast schien es ihr, als lösche jedes einzelne von Landrus Worten einen winzig kleinen Teil ihrer Zweifel aus. Und irgendwann mußte einfach Gewißheit an deren Stelle treten. Schritt um Schritt gingen sie gemeinsam die Reihe ab. Vor jedem der Kinder blieben sie einen Augenblick lang stehen, so daß Lilith Gelegenheit hatte, deren Züge zu studieren. Landru nannte die Namen. »Pomoná … Zapata … Cuyo …« Lilith sah sich kaum imstande, die Namen zu behalten. »… und Chiquel.« Chiquel war der letzte im Halbrund Stehende. Sein Gesicht war schön und ebenmäßig wie das seiner Geschwister; vom Wuchs her mochte er ein klein wenig schmächtiger sein denn seine Brüder, und seine Züge wirkten eine Spur mädchenhaft – – und unverkennbar nistete Furcht darin! Sichtlich bemüht versuchte Chiquel, Landrus Blick standzuhalten. Aber der flackernde Schimmer darin verriet ihn. Landru lächelte überlegen.
»Chiquel, Chiquel …«, wiederholte er. Lilith konnte den Blick nicht vom Gesicht ihres fast noch knabenhaften Vampirs wenden. Seine Augen … Seltsam, sie schienen Lilith vertraut … Der Jaguar von vorhin tauchte unvermittelt in ihren Gedankenbildern auf. Der Jaguar mit diesen eigenartigen Augen, die ihr auf geradezu unheimliche Weise menschlich vorgekommen waren – – und in die sie nun, indem sie Chiquel anschaute, ein zweites Mal sah? Unmöglich! Oder nicht? Das Flackern in Chiquels Blick verstärkte sich. Seine Züge schien er kaum noch im Zaum halten zu können. Fast weinerlich sah er drein, in jedem Falle aber verzweifelt. Und Landru entließ ihn nicht aus seinem Bann. Aus den Augenwinkeln registrierte Lilith, daß die anderen dieses merkwürdige stumme Duell sehr aufmerksam verfolgten, ohne ihr Interesse freilich offen zu zeigen. Sie beobachteten es nur mit verstohlenen Blicken. Die Stille, in der es vonstatten ging, lastete wie ein tatsächliches Gewicht über ihnen allen, und als es fast unerträglich wurde, brach Landru endlich das Schweigen. »Du warst dumm und dreist«, sagte er, leise und knurrend wie ein Tier, »und mehr noch: du hast dich versündigt, Chiquel – gegen deinen Vater!« Der Angesprochene rang sichtlich nach Worten, und es dauerte Sekunden, bis er endlich entgegnen konnte: »Aber, Vater, laßt Euch erklären … Ich wollte doch nie …« »Aber du hast es getan!« Landrus Stimme war Donner. »Ja, aber …« »Schweig!« Chiquel nickte stumm, am ganzen Leibe bebend.
»Du weißt, daß solcher Frevel nicht ungesühnt bleiben kann«, erklärte Landru. »Ja, Vater.« Chiquel senkte das Haupt, demutsvoll, schicksalsergeben. Atemlose Stille kehrte ein. Überlaut klang darin das Rascheln von Landrus Kleidung, als er den Arm ausstreckte und die Hand auf Chiquels Scheitel legte – ganz so, als wollte er ihn segnen. Aber das lag keineswegs in seiner Absicht. Ganz und gar nicht. Im Gegenteil – Es gab kaum ein äußeres Anzeichen dafür, was Landru tat. Allenfalls ein kaum sichtbares purpurfarbenes Flimmern, das seine Hand wie ein feiner Gazehandschuh umhüllte, für einen so kurzen Moment nur, daß es ebensogut eine Täuschung sein konnte. Aber etwas geschah. Etwas Fürchterliches, kaum zu Beschreibendes. Ein Vater strafte seinen Sohn. Auf eine Weise, die nicht zu verstehen war, nur – zu sehen. Und zugleich war allen, die es mit ansahen, als müßten sie Chiquels Leiden selbst erdulden. Kräfte flossen, von denen nur Landru wußte, daß Hütermagie ihre Quelle war. Noch immer bescherte es ihm ein Hochgefühl, endlich wieder daraus schöpfen zu dürfen, und fast war er Chiquel dankbar dafür, daß er ihm neuerlichen Anlaß dazu gab. Chiquel schrie auf und sank in die Knie, als drücke Landrus Hand ihn nieder. Tatsächlich aber war seine eigene Kraft ihm nicht länger nutzbar. Zwar war sie noch in ihm, aber sie wandte sich gegen ihn, wütete in ihm und vergewaltigte sein Fleisch, seinen ganzen Leib. Unter der mit Glyphen und Figuren bemalten Haut zuckte es, als wüchsen dort mit einemmal Geschwüre zu Dutzenden, die obendrein noch ein unmögliches Eigenleben führten und hin und her zuckten. Chiquels Knochen verformten sich mit mahlendem Knirschen. Die Adern schwollen ihm an, als tobe das schwarze Blut darin, und zogen sich als fette dunkle Stränge über seinen Körper.
Chiquel mußte Höllenqualen erleiden. Und der Moment, da er daran zerbrechen mußte, war spürbar nahe. Doch Landru ließ nicht nach. Wie bleiche Spinnenbeine lagen seine Finger mittlerweile um Chiquels Schädeldecke, entließen das kreischende Etwas, in das Chiquel sich längst verwandelt hatte, nicht aus ihrem Griff. Bis plötzlich – »Hör auf!« Liliths Hand drosch Landrus Arm beiseite! Seine Finger lösten sich. Chiquel, kaum noch zu identifizieren, fiel zur Seite, blieb wimmernd und sich windend liegen, und noch immer tobte die entfesselte Kraft in ihm. Landru fuhr herum. Sein Blick brannte, sein Gesicht war eine Maske des Zorns, und für einen Moment befiel Lilith der Gedanke, daß dies das wirkliche Gesicht des Vampirs sein könnte. »Du wagst es …?« geiferte er. Lilith trotzte seinem Blick mit eisiger Miene. In ihren Augen jedoch lag ein Funkeln, das von Energien gespeist wurde, deren Vorhandensein sie selbst überraschte. »Du hättest ihn umgebracht!« fuhr sie Landru an. »Und? Er hatte jeden Tod verdient«, behauptete er. »Kein Kind hat den Tod durch seines Vaters Hand verdient«, erwiderte sie kalt – und ergänzte dann mit einem kleinen, aber eisigen Lächeln: »Und jede Mutter würde solches verhindern.« Sekundenlang maßen sie einander noch stummen Blickes. Das Schweigen ihrer Kinder meinte Lilith derweil fast zu hören, so angespannt und zugleich auch erfüllt von beinahe greifbarem Entsetzen war es. Und schließlich – gewann Lilith die Machtprobe. Landru wandte den Blick ab und ließ sie stehen. Sein eigenartiges Lächeln sah sie nicht … »Wir gehen«, befahl er barsch.
Seine Kinder wollten ihm schon folgen, als Liliths Stimme sie innehalten ließ. »Was geschieht mit ihm?« Sie wies hinab auf Chiquel, der sich inzwischen zwar ein klein wenig erholt hatte, jedoch noch weit entfernt war von seiner vorherigen Form – was durchaus wörtlich zu verstehen war, denn noch immer sah sein Leib aus, als wäre er inwendig zertrümmert worden. »Laßt ihn liegen«, meinte Landru verächtlich. »Nein!« Liliths Tonfall war bestimmend und duldete keinen Widerspruch. Und tatsächlich wandten ihre Kinder sich ihr zu, wenn auch nur zögernd und spürbar unsicher und ängstlich. »Pomoná, Zapata«, Lilith wies auf die beiden, deren Namen sie sich hatte merken können. »Helft eurem Bruder, tragt ihn.« Die beiden Angesprochenen blickten zu Landru hin, erwarteten eine Äußerung seinerseits. Doch er schwieg, und sein Blick verriet keine Regung. »Tut es!« verlangte Lilith. »Macht schon!« Einen kurzen Moment zauderten Pomoná und Zapata noch, dann traten sie vor, beugten sich zu Chiquel hinab und zerrten ihn hoch, um ihn dann mit sich zu schleifen. »Na also«, meinte Lilith. Mit ihrem Lächeln wollte sie Landru treffen wie mit einem Nadelstich, aber er gab nicht zu erkennen, ob es ihr gelungen war. Erst als Lilith sich dem Zug der Maya-Vampire anschloß und ihm den Rücken zukehrte, gestattete Landru sich seinerseits ein neuerliches Lächeln – ein tief zufriedenes, und er mußte an sich halten, um nicht aufzulachen. Sein Plan gelang besser, als er es zu hoffen gewagt hatte. Lilith Eden, das verfluchte Balg der Hure Creanna, tappte offenen Auges in die Falle – – eine Falle, die er schon vor Jahrhunderten errichtet hatte, ohne auch nur zu ahnen, daß sie einmal geeignet sein könnte, hinter einer Widersacherin zuzuschnappen, die damals noch gar nicht geboren
war …
* Anno Domini 1523, Yucatán Durch den treibenden Pulverdampf der Musketen hindurch sah Pedro Grijalva, wie der keulenschwingend auf ihn zustürmende Wilde fiel und sich mehrmals überschlug, bevor er zuckend liegenblieb. Den Rückschlag seiner Flinte nahm der Oberleutnant kaum wahr; er stemmte bereits den Kolben gegen die Pflastersteine des öffentlichen Platzes, um sofort nachzuladen. Überall im weiten Rund der Lichtung, auf der sich die Stadt erhob, hielt der Tod reiche Ernte. Es war der Preis des Feldzugs, den sie führten. Der Preis eines jeden Krieges … Als Grijalva einem seiner Männer zusah, wie dieser einen Indio, der sich mit der Streitaxt schützend vor seine Angehörigen gestellt hatte, erst niederschoß, sich dann bückte, die Axt aufhob und damit ausholte, um die am Boden kniende Frau zu köpfen, spülte ihm die Übelkeit unverdaute Essensreste vom Vortag nach oben. Trotzdem schritt er nicht ein, sondern beruhigte sein Gewissen damit, daß der Mann den Ruf seines Kommandanten im Blutrausch ohnehin nicht gehört hätte. Die Streitaxt sauste herab. Im Geiste sah Grijalva schon, wie der Kopf der jungen Frau vom Rumpf abgeschlagen wurde … … in der Realität allerdings trat dieses Ereignis nicht ein. Grijalva traute seinen Augen nicht, als er sah, wie statt dessen der Soldat starb, und zwar, weil er sich die Axtklinge gegen den eigenen Hals schmetterte und röchelnd zusammenbrach! Im ersten Moment schob Grijalva ein Mißgeschick seines Untergebenen als mögliche Erklärung vor. Doch dann wurde er darauf aufmerksam, daß es überall auf dem Platz zu ähnlichen Vorfällen kam.
Die immer noch vereinzelt krachenden Schüsse trafen keine MayaKrieger mehr, sondern die eigenen Leute! Sie strecken sich gegenseitig nieder … Der Gedanke wälzte sich träge wie zähe Lava durch Grijalvas Hirn, und er fragte sich, welcher böse Zauber wohl über die Soldaten gekommen sein mochte. Seit die Konquistadoren ihr wahres Gesicht auf diesem Kontinent gezeigt hatten, waren sie hundertfach von ihren primitiven Gegnern verflucht worden. Die übelsten Krankheiten hatten die Maya-Völker ihnen an den Hals gewünscht – doch stets waren sie selbst es gewesen, die von Epidemien dezimiert wurden, von Krankheitserregern, die der Feind aus Übersee einschleppte. Fassungslos, den Lauf der eigenen Flinte wie abwesend zu Boden gesenkt, stand Pedro Grijalva da – abwartend, ohne allerdings sagen zu können, worauf er denn wartete. Etwa darauf, daß auch ihn der Wahn überkam, sich die Mündung unters eigene Kinn zu halten, den Hahn zu spannen und mit dem Daumen den Abzug zu betätigen? Hinter ihm rief jemand leise seinen Namen. Grijalva drehte sich um, mühsam wie in einem Alptraum, und sah, wie ihm Don Cristóbal entgegenkam – unheimlicher, präsenter als jemals zuvor! Es mochte an der Aura liegen, die den Edelmann wie ein unheiliger Schein umfloß, daß sich ihm alle Aufmerksamkeit zuwandte, nicht nur die Grijalvas, auch die der Stadtbewohner. »Ihr –« Der Oberleutnant wollte mehr als das sagen, erschrak aber vor dem Klang seiner eigenen, armselig krächzenden Stimme, aus der tiefe Niedergeschlagenheit und Enttäuschung herauszuhören war. Er räusperte sich, kaum fähig, auch nur einen Arm zu heben. Mitten auf dem großen Platz stand er so regungslos, als würde ihn die Stille, die sich jäh über das Schlachtfeld gesenkt hatte, einzementieren. Grijalva brauchte nicht hinter sich zu blicken, um zu begreifen, warum es so still geworden war.
Ich bin der letzte, dachte er dumpf, aber das Grauen fast missend, das diese Erkenntnis eigentlich in ihm hätte auslösen müssen. Die anderen sind tot oder liegen im Sterben1. Warum er noch nicht bei ihnen lag, erfuhr er von »Don Cristóbal«, in dessen Händen ein Kleinod ruhte, wie Grijalva es noch nie in seinem Leben gesehen hatte …
* Landru vermochte das Gefühl, als Gottheit verehrt zu werden, nicht angemessen zu genießen – weil er wußte, was für eine Gratwanderung er betrieb. Die mit gesenkten Häuptern am Boden kauernden Maya sahen in ihm den Retter, der vom Himmel herabgestiegen war und sich die Züge des Feindes angelegt hatte, um diesen zu täuschen und zu vernichten. Es gab keinen Grund, ihnen dies auszureden. Einen Schritt vor Pedro Grijalva blieb er stehen und sagte in der Sprache, die kein Maya beherrschte: »Komm mit. Du darfst mir zusehen. Ich lese in deinen Augen tausend Fragen. Aber nur jene, die du selbst noch nicht kennst, werde ich beantworten. Die anderen … sie sind nicht von Belang.« Er lüftete kurz das falsche Gesicht, so daß Cortés’ Beauftragter einen Blick auf sein echtes erhaschen konnte und endgültig begriff, daß er es mit keinem normalmenschlichen Wesen zu tun hatte. Dann richtete er das Wort an die im Staub liegenden Geschöpfe, von denen diese wundervolle Stadt erbaut worden war. In perfektem Yukatekisch fragte er, diesmal für Grijalva unverständlich: »Wer ist euer König? Er möge vor mich treten!« Nicht lange, und aus einem der Bauten löste sich eine prächtig gekleidete und mit Jadeschmuck überhäufte Gestalt, die sich bislang geflissentlich im Hintergrund gehalten hatte, nun aber offenbar den
Zeitpunkt gekommen sah, sich ins rechte Licht zu rücken. Landru wartete, bis der Stadtkönig auf ein paar Schritte herangekommen war, dann schickte er ihm einen magischen Blitz, der ihn vor den Augen seiner Untertanen zu Asche verbrannte. Das entsetzte Raunen der Bevölkerung brachte er mit den Worten zum Verstummen: »Freut euch, denn heute ist der Tag, an dem ein neues Zeitalter beginnt! Ein Zeitalter, in dem ihr keinen Feind mehr zu fürchten braucht, denn ich werde euch Könige geben, die euch vor jedem, der eure Schätze stehlen will, beschützen werden! Keine Versager wie dieser, der euch sehenden Auges in den Tod geschickt hat! Diese neuen Könige werde ich aus eurer Mitte erwählen! Blut von eurem Blut und Blut von meinem Blut wird den Anbruch der neuen Zeit besiegeln. Wer sich dem nicht fügen will, der soll jetzt das Wort erheben – oder für immer schweigen. Ihr aber, die ihr an die Zukunft und die Kraft der Veränderung glaubt, folgt mir zu eurem Tempel. Dort werden wir gemeinsam das Fest begehen, bei dem ich euch die Gebieter schenke, die euch künftig behüten werden!« Landru schwieg kurz, um seine mit volltönender Stimme über den Platz getragene Botschaft wirken zu lassen. Er war sicher, daß sie gehört und verstanden wurde. Selbst von den Jüngsten, die sich jetzt noch furchtsam an ihre Mütter schmiegten – diese Mütter aber vielleicht noch heute als neue Könige verlassen würden. Landru hatte ein feines Gespür dafür, ob die Saat seiner Worte aufging oder nicht. Sie tat es. Die Menschen hier hatten überlebt – weil er für sie eingetreten war. Weil ein mächtiger Zauberer wie er die feindliche Armee gezwungen hatte, sich selbst zu besiegen! Landrus Aura – sein ganzes Auftreten – ließen keine Zweifel, daß er ein überirdisches Wesen war. Der Kelch in seiner Hand aber wog schwerer als bei jeder Sippengründung davor. Er versuchte die Beklommenheit zu verdrängen, aber es gelang ihm nicht. Ich mißbrauche mein Amt, dachte er, trotz der Hitze frierend. Ich muß wahrhaftig den Verstand verloren haben …
Aber selbst diese drastische Selbsteinschätzung vermochte ihn nicht daran zu hindern, den eingeschlagenen, verderblichen Pfad weiter zu beschreiten. Im Beisein von Grijalva, den er wie eine hölzerne Marionette neben sich herlaufen ließ, erstieg er den größten Tempel der Stadt. Es dauerte nicht lange, bis die Maya ihnen folgten. Und ihre Kinder darbrachten wie Opfergaben, auf daß der herabgestiegene Gott die künftigen Könige daraus bestimmen möge …
* Seit acht Jahrhunderten bereiste Landru nun schon die Welt und strafte sie mit immer neuer Brut, die aus dem Geheimen heraus über jene Törichten herrschte, die sich als Krone der Schöpfung betrachteten – und auch so benahmen. Die Kelchtaufe war ein ehernes Ritual, in dessen Verlauf einem Menschenkind schwarzes Blut aus dem Lilienkelch eingeflößt wurde, bis es daran zugrunde ging. Im Tod erst streifte es sein Menschsein ab wie eine alte Haut und konnte danach – wiedererweckt von der mächtigsten Magie, die es überhaupt gab – als Vampir auferstehen. Auch dieses Fest, diese Zeremonie unterschied sich – so hatte es jedenfalls den Anschein – in ihrem Ablauf nur optisch von allen vorausgegangenen. Die Szenerie war eine andere, die Menschen wiesen einige archetypische Merkmale auf, die für Kelchkinder neu waren, aber sonst … Nichts deutete darauf hin, daß Landrus Hinwegsetzen über das Verbot, auf diesem Grund und Boden eine Sippe zu zeugen, Folgen haben würde. Folgen für ihn selbst. Mit jedem weiteren Kind, das er aus seinem Menschsein in den Stand eines Mächtigen erhob, wuchs seine Zuversicht, die Botschaft, die ihm der Kelch vor Jahren übermittelt hatte, fehlgedeutet zu ha-
ben. Warum sollten in diesem Teil der Welt auch andere Regeln gelten als sonstwo? Es hätte nicht nur keinen Sinn ergeben, sondern auch im Widerspruch zu dem gestanden, was Landru einst bei seinem Amtsantritt im Dunklen Dom mit auf den Weg gegeben worden war: Mehre die deinen – auf daß sie herrschen über das Menschengeschlecht! Die immer noch nicht ganz erstickten Zweifel an der Richtigkeit dessen, was er tat, veranlaßten Landru, sich auf insgesamt acht Vampire zu beschränken, denen er sein eigenes Blut aus dem Unheiligtum zu trinken gab. Gift und Lebenselixier in einem. Qualvoll gestorben, erstanden die Kinder berstend vor Energie wieder auf! Binnen weniger Wochen und Monate würden sie unter Schmerzen zu voller Größe heranwachsen, auch innerlich gereift, wie es sich für Wesen, die mit fast absoluter Macht ausgestattet waren, geziemte. Landru schloß ein jedes Kind von dem Moment an in sein Herz, da es den ersten tiefen Atemzug nach dem Tode tat. Liebe war es mit Sicherheit nicht – aber eine Art von Besitzanspruch, der ihn in dieser Ausprägung selbst überraschte. Im allgemeinen wurden Sippen anders gegründet. Im allgemeinen wählte der Hüter ein Kind aus, das er zum Sippenoberhaupt krönte, und erst wenn dessen Blut vom Tod geschwärzt war, wurden damit die anderen Mitglieder der Sippe getauft. Hier hatten alle, nicht nur das Oberhaupt, Landrus Blut geschmeckt. Bewußt wurde ihm dies erst, als der Akt beendet war. Erst da zerriß der Schleier vor seinem Verstand und er begriff, was er getan hatte. Neben ihm stand immer noch Pedro Grijalva – unfähig, in Worte zu kleiden, was ihm auf der Seele brannte.
Benommen löste Landru die hypnotische Fessel. »Wie hat es dir gefallen?« fragte er, als könnte ein Gespräch ihn von seinem abermaligen Fehlverhalten ablenken. »Gefallen?« Grijalva quollen die Augen aus den Höhlen. »Ich weiß nicht, wer du bist, aber nur der leibhaftige Teufel könnte –« »Du verstehst nichts«, schnitt Landru ihm das Wort ab. »Sie verstehen es …« Seine Geste schloß alle ein, die der Zeremonie noch beiwohnten. Aber auch in deren Augen leuchtete Entsetzen am Rande der Panik. Landru prallte vor ihren Blicken zurück. Und innerlich auch vor sich selbst. Wieder wurde ihm klar, daß dies keine der üblichen Taufen gewesen war. Normalerweise erschuf der Lilienkelch Vampire im Geheimen – nicht öffentlich – damit auch diese im Geheimen herrschen und lenken konnten. Hier aber … Was habe ich getan? Er setzte den Kelch auf dem Boden ab, richtete sich wieder auf und preßte sich die Fäuste gegen die Schläfen. So fest, daß er glaubte, seine Knochen knirschen zu hören. Diese Gelegenheit nutzte Pedro Grijalva. Instinktiv hatte er begriffen, wie wertvoll der Kelch war, der jetzt zu seinen Füßen stand. Und instinktiv griff er danach, um ihn mit sich in den Untergang zu reißen.
* Unter anderen Umständen wäre Pedro Grijalva keine drei Schritte weit gekommen, ohne daß Landrus magische Kräfte ihn von den Beinen gefegt hätten.
Hier und jetzt aber schaffte es der Spanier unbehelligt sogar vorbei an den noch ganz im Bann der Taufen stehenden Maya, hin zum äußersten Rand der Tempelplattform. Und ehe Landru seine Gefühlsirrungen wieder unter Kontrolle gebracht hatte, und auch ehe einer der Indios dem dreisten Kelchräuber nachsetzte, hatte dieser bereits die steile Treppe erreicht. Als er die Stufen hinunterhetzte, kam er fast zwangsläufig ins Straucheln. Er schrie, stürzte und kugelte zusammengekrümmt abwärts – all dies, ohne den Kelch loszulassen! Auf halber Strecke jedoch verlor er das Bewußtsein, und Landru, der sich vor aller Augen in eine Fledermaus verwandelt hatte und in die Lüfte stieg – was ihm endgültig den Nimbus einer Gottheit bescherte –, sah gerade noch, wie sich das magische Kleinod verselbständigte, von Stufe zu Stufe hüpfte, dabei jedesmal gespenstisch aufglomm und schließlich unten auf dem Platz mit einem häßlichen Mißklang aufschlug und – zerschellte! Das Maul der Fledermaus gebar einen unhörbaren Schrei. Im selben Moment … … schien die Zeit stillzustehen. Schien das Räderwerk des Kosmos in seinem Lauf zu stoppen! Landru fühlte sich, als würde er mit seinen ledrigen Schwingen in Wasser eintauchen, das sofort um ihn herum massiv gefror. Er bekam keine Luft mehr. Seine Umwelt schien zu implodieren – in ihn zu stürzen. Die Spanne zwischen zwei Herzschlägen dehnte sich schier ins Unendliche, und über allen Wahrnehmungen schwebte ein Schleier von purpurner Farbe, lag der Atem einer Magie, die sich für den Mißbrauch, der mit ihr betrieben worden war, in kaum vorstellbar perfider Weise rächte! In dem Moment nämlich, der vielleicht nie mehr aufhören würde, stürzte all das auf Landru ein, wovor er sich gefürchtet hatte, seit ihm klar geworden war, daß er der Versuchung, das Kelchritual auch hier durchzuführen, erliegen würde.
Ein finsteres LICHT materialisierte in seinem Schädel, als wollte es durch seine Augen hindurch einen Blick auf die Folgen des Ungehorsams werfen, dessen er sich schuldig gemacht hatte. ICH WEISS, glaubte er eine Stimme in sich brüllen zu hören, WAS DICH SO BESESSEN MACHT, AUSGERECHNET HIER VAMPIRE ZU ZEUGEN – WÜSSTE ICH ES NICHT, KÖNNTE MICH NICHTS DARAN HINDERN, DICH MIT IHNEN ZU BEGRABEN. Der Kelch ist – zerstört, dachte Landru benommen, und ihn schauderte im Eis der geronnenen Zeit. Aber die »Stimme« überschwemmte ihn förmlich, ertränkte die eigenen Gedanken. DIE KINDER, DIE DU GEZEUGT HAST, WILL ICH DIR LASSEN – NUR DIR. EBENSO WIE DIE MENSCHEN, AUS DEREN MITTE DU SIE GERISSEN HAST. ICH WILL SIE DORT EINSCHLIESSEN, WO KEIN AUGE SIE JE ERBLICKEN KANN … Und Landru erfuhr, wie der Kerker beschaffen sein würde, in dem die hier gezeugten Kelchkinder von dieser Stunde an lebendig begraben sein würden – sie und die Menschen, mit deren Blut sie in Zukunft auskommen mußten. Warum? begehrten seine Gedanken nun doch gegen die erstickende Präsenz des LICHTS auf. Warum tust du das? Aus welchem Grund darf auf diesem Boden kein Vampir gezeugt werden? Ich begreife nicht, warum – WEIL ICH ALLEIN BESTIMME, WANN DIE ZEIT DAFÜR REIF IST, wurde er zurechtgewiesen. UND WEIL NICHT JEDER DIE TAUFE VERDIENT. WEIL NICHT JEDER GEEIGNET IST … Landru lauschte den Worten nach, die ihn zwar unbefriedigt ließen – ihn zugleich aber tiefer bewegten als jede Zwiesprache mit der Macht im Kelch zuvor. ICH WOLLTE SEHEN, WIE WEIT DU GEHEN WÜRDEST, OB DU DICH WIRKLICH ÜBER DAS VERBOT HINWEGSETZEN WÜRDEST, fuhr die »Stimme« fort. DESHALB LIESS ICH DIE TAUFE DER KINDER ZU. ABER ICH FORMTE SIE ZU NOCH PERFEKTEREN TYRANNEN, ALS DU ES DIR VORSTELLEN
KONNTEST. DENN DER KEIM ERMÖGLICHT ES IHNEN, NICHT NUR DURCH IHRE AUGEN, SONDERN AUCH DURCH DIE IHRER OPFER ZU SCHAUEN. SO KANN ES NIE EIN AUFBEGEHREN GEBEN – IHRE HERRSCHAFT NIE EIN ENDE HABEN, UND SIE WERDEN EWIG LEBEN. DAS DRAUSSEN ABER WERDEN SIE NIE MEHR SEHEN NOCH BETRETEN … In einer machtvollen Vision erlebte Landru, was das LICHT prophezeite – und erschaffen würde. Sobald der Kosmos weiteratmete und diese schreckliche Sekunde, in der alles angehalten schien, vorbei war! Jetzt!
* Als er neben den Scherben des Kelchs landete, fügten diese sich wieder aneinander, als würde die Zeit rückwärts laufen, als wäre das Unglück, das den Lilienkelch zerbrochen hatte, nie geschehen. Er ist nicht zerstörbar, glaubte Landru, der wieder seine wahre Gestalt angenommen hatte, zu begreifen. Zumindest nicht von Menschenhand … Er blickte auf und sah oben am Rand der Tempelplattform seine Kinder auftauchen. Tyrannen, acht an der Zahl und anders als alle Täuflinge zuvor. Er winkte ihnen zu, und sie winkten nach kurzem Zögern zurück. Und im nächsten Moment begann das, was der Kelch angekündigt und was Landru in der Vision vorausgesehen hatte. Über die hoch im Zenit stehende Sonne fiel ein Schatten. Über die ganze Stadt ergoß sich Düsternis und stahl die Pracht ihrer Farben. Die Erde bebte, und die Rinde des Planeten gebar einen Wall, der die künftige Grenze der Welt – dieser Welt – markierte. Darüber spannte sich etwas noch Unüberwindlicheres. Zu dem nur ich den Schlüssel besitze, dachte Landru. Ein Schlüssel,
den er an keinen hier weitergeben durfte, weil das LICHT es verboten hatte. Mit diesen Gedanken hob er den Kelch auf und stieg damit die Stufen hinauf, dorthin, wo die Angst in tausend Gesichtern stand. Und nie mehr daraus weichen würde.
* Gegenwart Die Nacht neigte sich dem Ende zu, als das Ziel ihres Marsches endlich vor ihnen auftauchte. Noch aber war ihnen der freie Blick darauf durch Bäume und Hügel verwehrt, und nur ab und an sah Lilith Teile eines mächtigen Schutzwalls, der ein weiträumiges Areal zu umschließen schien. Stufenförmig angelegte und in ihrer Größe beeindruckende Gebäude überragten den Wall. Aber es war nicht dieser ebenso fremdartige wie faszinierende Anblick, der Lilith am meisten beschäftigte. Zum allergrößten Teil galt ihre Aufmerksamkeit – – dem Tag. Der keiner war. Denn obwohl sich die Schwärze der Nacht zurückgezogen hatte, wurde es nicht wirklich hell. Der Himmel erlangte lediglich die Farbe von Asche, und auch rings um Lilith her gewann nichts seine echte Farbe zurück. Alles schien grau, und fast kam sie sich vor wie der Teil einer lebendig gewordenen Schwarzweißfotografie. Und die Sonne – Lilith hob den Blick. – ein dunkles Rund im Himmel war sie, einem Loch gleich, das alles Licht zu schlucken schien, anstatt es zu verstrahlen. »Unsere Kinder und deren Volk nennen sie ›nächtliche Sonne‹.« Landru hatte sich, einmal mehr, unbemerkt zu ihr gesellt, nach-
dem Lilith, in ihre Betrachtungen versunken, ein Stückweit zurückgefallen war. Die Vampire gingen voran, und mittlerweile trennten Lilith wohl an die fünfzig Meter von ihnen. »Was hat es damit auf sich?« fragte Lilith und wies zum fahlen Firmament hinauf. »Alles zu seiner Zeit«, antwortete Landru ausweichend. »Nach und nach werde ich dir alles Wichtige erklären, und vielleicht gelingt es mir ja, deine Erinnerung zu wecken.« »Es ist … seltsam«, meinte sie, den Blick noch immer himmelwärts gerichtet. Zugleich aber ging sie, wohl eher unbewußt, ein klein wenig geduckt, fast so, als fürchte sie, der Himmel könnte einstürzen. »Einzigartig ist der geeignetere Ausdruck«, sagte Landru. »Einen Ort wie diesen gibt es nirgends sonst auf der Welt.« Sie passierten ein kleines Dorf aus verstreut liegenden Häusern, dazwischen breiteten sich Äcker und Felder aus. Männer, Frauen und Kinder hatten dort ihr Tagwerk aufgenommen. Als sie des Zuges ansichtig wurden, ließen sie die Arbeit ruhen und knieten nieder, wo sie gerade standen, und neigten ihre Häupter so tief dem Boden zu, daß es aussah, als wollten sie ihre Gesichter im Staub verbergen. Weder Landru noch einer der anderen Vampire schienen von dieser Ehrbezeugung recht Notiz zu nehmen. Lilith indes tat es sehr wohl und blieb überrascht stehen. »Was soll das?« fragte sie. Landru verhielt im Schritt. »Sie grüßen uns, was sonst?« Er zuckte die Schultern. »Aber das ist …«, begann Lilith und fand das Wort nicht, mit dem sie ihre Abscheu vor solcher Unterwürfigkeit treffend beschrieben hätte. »Ich möchte das nicht«, sagte sie schließlich nur. »Du wirst dich daran gewöhnen«, meinte Landru lächelnd. Und nach kurzer Pause: »Wieder gewöhnen.« Sein Lächeln vertiefte sich. Lilith blieb ihm eine Erwiderung schuldig. Ihre Blicke aber verrie-
ten unmißverständlich, wie unwohl ihr war, als sie weiterging. Sie schritt weiter aus, und bald schon hatte sie zu den anderen aufgeschlossen. Gerade als sie jenen Wall erreichte, den Lilith bereits aus der Ferne gesehen hatte. Der Weg, den sie gekommen waren, fand seine Verlängerung in einer Brücke, die über einen schlamm- und wassergefüllten Graben führte, der den Wall an seiner äußeren Seite umlief. Jenseits davon reichte der zur Straße werdende Weg dann tiefer hinein – – in die Stadt. Lilith blieb stehen, atemlos. Denn was sie sah, waren Zeugen beeindruckender Baukunst. Zugleich aber war der Anblick bedrückend. Lilith konnte sich vorstellen, unter welchen Mühen die geradezu gewaltige Tempel- und Palastanlage einst errichtet worden sein mußte. Und gewiß hatten etliche der beteiligten Arbeiter ihr Leben dabei gelassen. Diese Stadt atmete Leid und Tod. Lilith konnte es gleichsam riechen, schmecken und fühlen. Und beides rührte nicht nur von Vergangenem her, sondern war spürbar gegenwärtig. »Ist es nicht wunderschön?« Landrus Arm wand sich schlangengleich um ihre Schulter. Lilith wollte sich ihm entziehen, brachte es aber nicht fertig, weil sie sich wie betäubt vorkam. Dabei begannen die Absonderlichkeiten gerade erst. Hatte die Stadt eben noch einen geradezu verlassenen Eindruck erweckt, kam nun Bewegung in die Schatten, die zwischen den Gebäuden nistete. Menschen traten ins Dämmerlicht der nächtlichen Sonne und näherten sich der Straße, die zu den Pyramidentempeln hinführte. Sie taten es zielstrebig, aber sichtlich zögernd, als bereite jeder einzelne Schritt ihnen Mühe. Schließlich säumten sie den Weg, und kaum tat einer der Vampire den ersten Schritt, fielen die Menschen auf die Knie nieder wie jene, die draußen auf den Feldern gearbeitet hatten. Leises Flötenspiel hob an, Trommeln schufen einen Rhythmus, in dessen Takt sich die Vampire in Bewegung setzten.
Lilith wollte nicht weitergehen, aber Landru zog sie mit sich. Ihre Blicke irrten förmlich umher; es gab so vieles zu sehen, daß sie nicht wußte, wohin sie zuerst schauen sollte, und so registrierte Lilith letztlich nichts wirklich im Detail. Außer den Menschen … Wie auch die Vampire hatten sie ihre Haut gefärbt, weniger aufwendig allerdings, und auf schwer zu beschreibende Weise auch weniger feierlich. Die Bemalung der Vampire zeigte Glyphen und Figuren, die der Menschen war eher nur hingeschmiert, wie um der bloßen Färbung willen. Wo keine Farbe zu sehen war, im schwachen Licht ohnedies kaum von Leuchtkraft, wirkte die Haut der Männer, Frauen und Kinder grau und krank. Aber selbst unter der farbigen Maskerade erkannte Lilith noch die geradezu erschreckend ausgemergelten Züge vor allem der Erwachsenen. Als litten sie unter mangelnder Ernährung und – Lilith konnte sich den wahren Grund der Auszehrung nur allzu lebhaft vorstellen. »Wo führen sie uns hin?« fragte sie leise an Landru gewandt. Mit einem Neigen des Kopfes wies sie auf die Vampire, die wie in einer feierlichen Prozession vor ihnen herschritten. »Nach Hause«, gab Landru knapp zurück. Der Tempelbezirk lag auf einer Anhöhe. Steile und lange Treppen führten hinauf. Lilith erkannte, daß die Menschen, die das letzte Stück des Weges flankierten, sich von den bisherigen unterschieden. Die Kleidung dieser Männer und Frauen war von edlerer Art, aufwendig gearbeitet, und trotz ihres Farbenreichtums wirkte sie uniformenhaft. Im Vergleich dazu schienen ihre Gesichter geradezu kalkig. »Die Priesterschaft«, erklärte Landru unaufgefordert. Er hatte Liliths fragenden Blick bemerkt. »Priesterschaft?« echote sie. »Welche Aufgaben erfüllen diese – Priester?« Landru lächelte milde.
»Du wirst alles erfahren«, sagte er nur. »Alles zu seiner Zeit.« Lilith wollte sich damit nicht begnügen, schwieg aber, weil sie die Stufen inzwischen erreicht hatten und nun mit dem Aufstieg begannen. Die Musik blieb hinter ihnen zurück und verklang schließlich ganz, als sie vor einem der Paläste anlangten. Das Gebäude sah aus, als lägen drei Quader aufeinander; die Kantenlänge des unteren mußte gute hundert Meter betragen, die der darüberliegenden jeweils etwas weniger. Nach oben hing verjüngte sich das Bauwerk dann in Stufen, während ganz obenauf drei Tempelpyramiden zu sehen waren. Die Priester hatten sich den Vampiren angeschlossen und blieben mit ihnen zurück, als Landru nun vortrat, Lilith an seiner Hand. Er stieg ein paar der Stufen zum Palasteingang empor. Dann wandte er sich um, den Vampiren und der Priesterschaft zu. »Meine Kinder«, begann er, »lange habe ich euch alleine gelassen, gewiß viel zu lange. Aber ich sehe –«, er ließ den Blick schweifen, als überblicke er die ganze Stadt, »– ihr habt euch wohlentwickelt und zu meiner Zufriedenheit verwaltet, was wir euch überließen.« Sein Griff um Liliths Hand verstärkte sich ein klein wenig. »Zu meinem Bedauern«, fuhr Landru dann fort, »hat eure Mutter aus ungeklärten Gründen ihre Erinnerung verloren. Ich hoffe aber, daß sie hier an diesem Ort wieder genesen wird. Und ich erwarte von euch, daß ihr alles tut, um ihr dabei zu helfen.« Die Vampire nickten stumm, bedächtig. »Wir sollten alles so richten, wie es einst war«, sprach Landru weiter. »Vielleicht wird ihr das eine oder andere vertraut vorkommen und ihre Erinnerung schließlich neu beleben.« Lilith hörte all dem zu, als gehöre sie nicht zu diesem Szenario. Fast meinte sie, sich selbst wie von außerhalb ihres Körpers beobachten zu können, als wäre sie nur ein Geist, der zufällig über dieser Stadt schwebte. Was Landru im weiteren sagte, hörte sie kaum. Ein allmählich anschwellendes Rauschen wie von nahender Meeresflut füllte ihre Oh-
ren. Und schließlich ihren ganzen Kopf. All das, was sie erfahren und erlebt hatte, schien ihr plötzlich wie eine riesenhafte Woge, die über ihr zusammenschlug. Ihre Kraft schien abzufließen wie durch geöffnete Ventile. So schwach fühlte sie sich mit einemmal, daß ihre Beine nachgaben. Ehe sie stürzte, fühlte sie sich von Landru aufgefangen. Lilith sah noch, daß er etwas die Treppe hinabrief. Doch für sie blieben seine Lippen stumm. Dann löschte alles verschlingende Schwärze auch dieses Bild aus.
* Mérida wußte, daß sie etwas Besonderes war. Sie hatte es immer gewußt, von Kindesbeinen an. Ihr war etwas Außergewöhnliches bestimmt im Leben. Und die Tatsache, daß sie einst in den Stand einer Priesterin erhoben worden war, bedeutete für sie nur einen weiteren Beweis dafür. Ihre Bestimmung jedoch sah sie damit noch nicht erreicht. Im Gegenteil schien Mérida ihr privilegiertes Amt lediglich ein Mittel zum Zweck, ein weiterer Schritt zum Ziel. Denn dieses Ziel waren letztlich die Gottkönige ihres Volkes selbst – oder vielmehr: das Geheimnis der Tyrannen! Sie wollte es lüften und erfahren, was hinter denen stand, die dieses Land seit so langer Zeit schon knechteten, daß die Anfänge wie in Nebel verschwunden und allenfalls noch Legende waren. Wieviel Wahres daran war, darüber ließen sich heute nur noch Mutmaßungen anstellen. Mérida aber war einzig an der wirklichen Wahrheit interessiert. Denn in ihr mochte der Schlüssel liegen, der diesen Kerker, in dem ihr Volk eingesperrt war, öffnen konnte. Und sie selbst wollte es sein, die diesen Schlüssel fand – und benutzte! Und damit die Tyrannei beendete.
Ein hehres Ziel und ein kaum erreichbares zugleich, das wußte Mérida sehr wohl. Aber sie war bereit, alles dafür zu geben, bis hin zu ihrem eigenen Leben. Und sie war ihm schon sehr nahe gekommen – im Grunde näher, als sie es je zu hoffen gewagt hatte. Aus keinem anderen Grund hatte sie seit ihrer frühen Jugend den Gottkönigen stets zum Wohlgefallen gehandelt. Die Priesterweihe war schließlich ihre Belohnung gewesen – und damit hatte sie sich in den unmittelbaren Dunstkreis der Tyrannen eingeschlichen. Allerdings war es für Mérida auch schwieriger geworden, ihren Plan weiter zu verfolgen. Nur selten konnte sie sich unbeobachtet von den anderen Priestern fühlen und dann versuchen, Dinge in Erfahrung zu bringen, die anderen verwehrt blieben. Manches Mal war sie sogar ertappt worden, wenn sie in verbotene Räume eingedrungen war. Doch stets war ihr eine geeignete Ausrede eingefallen, und dann hatte sie die Dinge immer eine Weile lang ruhen lassen, ehe sie wieder aktiv geworden war. Trotzdem hatte Mérida bis heute nichts entdeckt, was sie entscheidend vorangebracht hätte. Nun aber sah sie ihre Chance gekommen – in der Rückkehr jenes Wesens, das die Gottkönige selbst ihren Vater nannten. Mérida schauderte bei dem Gedanken. Um wieviel schrecklicher mußte dieser Vater sein, wenn doch schon solche Tyrannen von ihm abstammten? Eigentlich aber galt ihr Interesse nicht einmal ihm – sondern viel mehr ihr: jener Frau, die in seiner Begleitung in die Hermetische Stadt gekommen war. Er hatte sie die Mutter der Gottkönige genannt – – obwohl die Legenden nicht von ihr berichteten! Wer war sie? Was war sie? Auf diese Fragen wollte Mérida Antworten finden. Denn sie spürte intuitiv, daß diese Frau der Schlüssel sein konnte, nach dem sie so lange suchte. Unbemerkt (darin hatte Mérida in all der Zeit ein geradezu un-
heimliches Geschick entwickelt) hatte sie sich aus dem Priestertempel gestohlen und in den Palast eingeschlichen, wo das Paar Quartier bezogen hatte. Mérida lächelte bei dem Gedanken. Quartier schien ihr die denkbar unpassendste Bezeichnung für dieses Bauwerk, das vor Prunk schier strotzte. Seine Farbenpracht war verschwenderisch, und allein die Verzierungen der Wände mußten einst jahrelange Arbeit erfordert haben. Die Etagen ließen sich kaum zählen, weil sie ineinander verschachtelt waren. Ein völlig Unbedarfter konnte hier wohl Tage umherirren, ohne den Weg hinaus wiederzufinden. Mérida aber war schon einige Male hiergewesen und hatte sich die Örtlichkeiten eingeprägt. Zwar konnte sie jetzt nur vermuten, welchen Teil des gewaltigen Palastes die Fremden bezogen hatten, aber es fiel ihr nicht schwer, es herauszufinden: Zweifelsohne residierten die »Eltern« der Tyrannen im prächtigsten Stockwerk. Und sie irrte sich nicht. Hastig zog Mérida sich hinter eine Ecke zurück, als aus einer Tür unweit von ihr entfernt eine Gestalt trat. Zapata, wie sie feststellte, als sie um die Mauer lugte. Er ging in die entgegengesetzte Richtung davon, und Mérida wagte sich hervor. Lautlos schlich sie zu jener Tür hin und lauschte dann mit angehaltenem Atem. Sie vernahm eine Stimme – die jener Frau, in der die Tyrannen ihre Mutter sahen. Ein stilles Lächeln huschte über Méridas Gesicht. Das Schicksal schien ihr wohlgesonnen. Sie kam ihrem Ziel schneller näher, als sie es gehofft hatte. Vorsichtig spähte sie durch die Türöffnung. Der Raum dahinter war leer, von der prachtvollen Ausstattung einmal abgesehen. Die Stimme drang durch eine weitere Tür, die aus diesem Raum in einen anderen führte. Mérida wollte in das Zimmer schlüpfen … aber es blieb beim Wollen.
Eine Hand hielt sie an der Schulter zurück, drehte sie herum. Und noch ehe sie auch nur den geringsten Laut ausstoßen konnte, hatte sein Blick ihre Lippen versiegelt – – und ihren Geist weit geöffnet. Der Vater der Tyrannen vermochte darin zu lesen wie in einem Codex.* Landru erhob sich von dem Lager aus Fellen und derbem Leinen. Nackt und reglos lag ihm die Priesterin nun quasi zu Füßen. Ihr Blick war stier, ihre dunklen Augen wie mit einer gläsernen Schicht überzogen. Sie war hübsch, obwohl sie wie alle hier kränklich aussah mit ihrer fahlen Haut und ihren wenig üppigen weiblichen Attributen. Aber sie hatte etwas, zweifelsohne – Dennoch hatte Landru keine besondere Freude daran gehabt, sie zu nehmen. Fast mechanisch waren seine Stöße gewesen, und im Grunde hatten sie keinem anderen Zweck gedient, als ihr Blut zumindest ein wenig in Wallung zu versetzen, auf daß es ihm halbwegs mundete. Es hatte trotzdem schal geschmeckt, wie abgestanden. Letztlich war es auch egal. Denn das Blutmahl aus Méridas Ader war für Landru eher nebensächlich gewesen. In der Hauptsache ging es ihm um etwas anderes. Und in gewisser Weise war es eine doppelt glückliche Fügung, daß er auf die Priesterin gestoßen war. Zum einen hatte er ihren lang gehegten Plan, den sie ihm bereitwillig verriet, kaum daß er ihren Willen unterjocht hatte, vereiteln können. Und zum anderen war sie genau das Opfer, das er brauchte. Während Landru sich ankleidete, begann Mérida sich auf dem La-
*Codex (Mehrz. Codices) nennt man die »Bücher« der Maya; sie bestehen aus langen Streifen von Rindenpapier, die mit einer Kalkschicht überzogen sind, auf die der Schreiber Texte und Bilder malte.
ger zu regen. Der Keim, den nicht erst sein Biß, sondern schon die Initiierung ihr eingepflanzt hatte, gedieh. Und nach einer Weile erhob sie sich, von widernatürlichem Leben erfüllt. »Folge mir«, befahl der Vampir.
* Chiquel hatte sich etwas erholt. Aber er sah immer noch furchtbar aus. Sein Anblick drehte Lilith förmlich den Magen um und stach wie glühende Nadeln in ihrer Brust. Sie fühlte sich so elend wie eine Mutter, die ihr Kind leiden sieht, ohne etwas dagegen tun zu können. Lilith wollte den Gedanken vertreiben, aber er blieb. Weil er in mein Denken, in mein Herz gehört? fragte sie sich, nicht ganz so unsicher, wie sie es erwartet hätte … Die Frage nach Chiquel war ihr als erste von den Lippen gekommen, kaum daß sie in einem anderen Raum des Palastes erwacht war. Ohne jedes Wort hatte Landru Zapata angewiesen, sie zu Chiquel zu bringen. Und nun saß sie an dessen Lager und konnte nichts anderes tun, als mit ihm zu leiden, eine ganze Weile schon. Zunächst hatte Lilith ihm Trost zugeflüstert, aber er schien sie nicht einmal zu hören. Wie im Fieber lag er da, sein Leib noch immer entstellt. Zähe Bewegung unter seiner Haut verriet, daß dort etwas geschah, sich zurückformte. Aber Chiquel war noch weit von seiner völligen Genesung entfernt. Lilith überlegte, ob sie Landru bitten sollte, Chiquel zu helfen, als eine Stimme ihre Gedanken stocken ließ. »Mutter?« Einen Moment lang zögerte Lilith, dem leisen Ruf zu folgen, dann aber wandte sie sich doch um. Zapata stand in der Tür. In seinem Gesicht las Lilith einen eigenar-
tigen Widerstreit von Emotionen; da war etwas wie Unterwürfigkeit, aber sie schien ihr – nun, nicht ganz echt irgendwie, und sie wurde wieder und wieder von anderen Ausdrücken verdrängt, so vielfältig, daß Lilith nicht imstande war, sie einzeln zu erkennen. »Was ist?« gab sie schließlich zurück. »Vater bittet dich, zu ihm zu kommen.« Lilith warf noch einen Blick auf Chiquel. Sie konnte ihm ohnehin nicht helfen, also konnte sie ihn auch, zumindest für eine Weile, alleine lassen. Und außerdem hatte sie sowieso gerade mit dem Gedanken gespielt, Landru zu suchen. Zapata geleitete sie hinaus und dann durch Korridore und über Treppen, bis er schließlich mit einladender Geste in einen weiteren Raum wies. Jenseits der Tür sah Lilith ein in den Boden eingelassenes Becken, das mit dunkler Flüssigkeit gefüllt war. »Ein Bad?« fragte sie. »Ich dachte, Landru …« »Er möchte, daß wir dich erst vorbereiten …« »Vorbereiten? Worauf?« »Das wird er dir selbst sagen«, erklärte Zapata. Lilith trat ein. Im Hintergrund des Raumes, von der Tür aus nicht zu sehen, warteten Pomoná und eine ihrer Schwestern. Jetzt traten sie zu Lilith. Schweigend wollten sie ihre Kleidung abstreifen, doch noch bevor sie den Symbionten berühren konnten, gebot Lilith ihnen mit einer Handbewegung Einhalt. Sie hatte selbst schon versucht, sich dieses seltsamen Kleidungsstücks zu entledigen – und es schmerzhaft gebüßt, weil es sich wie mit tausend Zähnen in ihrer Haut verbiß. Nur mit gedanklichen Befehlen ließ es sich bewegen, und dies tat Lilith nun. Sie hieß den Symbionten, sich zu einem schmalen Band zu formen, das um ihre Hüften lag. Die beiden Vampirinnen und Zapata beobachteten den Vorgang staunend, aber sie schwiegen. Mit stummer Geste bedeuteten sie Lilith dann, in das Becken zu steigen.
Die Flüssigkeit war angenehm warm, und Lilith wollte sich schon mit einem wohligen Seufzer hineinsinken lassen, als sie die Farbe erkannte und den Duft wahrnahm. »Das ist – Blut!« Angewidert wollte sie auffahren, doch Pomoná und ihre Schwester, die ihr gefolgt waren, hielten sie sanft zurück. »Natürlich«, sagte Pomoná. »Ist es nicht herrlich?« Lilith versuchte, jeden Gedanken und alles Gefühl abzuschalten, um einfach über sich ergehen zu lassen, was immer man mit ihr vorhatte. Doch es gelang ihr nicht. Statt dessen – fand sie Gefallen an der Badezeremonie. Was nicht zuletzt an den Berührungen durch die beiden Vampirinnen lag. Es schien eine Art ritueller Waschung zu sein, die sie an Lilith vornahmen, aber sie war im höchsten Maße wohltuend – und entlockte Lilith am Ende einen spitzen Schrei höchster Verzückung … Als Lilith das Becken verlassen hatte, begannen die Vampirinnen ihre Haut zu bemalen, und schließlich hängten sie ihr schweren Goldschmuck um den Hals. In all der Zeit versuchte Lilith in Erfahrung zu bringen, was dies alles zu bedeuten hatte, doch sie erhielt kaum Antworten, und wenn, dann nur ausweichende, allenfalls aber geheimnisvolle Andeutungen. »Vater will versuchen, deine Erinnerung mit einem Ritual zu wecken«, hatte Pomoná einmal gesagt, doch auch darunter hatte Lilith sich nichts Konkretes vorstellen können. Nackt bis auf den Goldschmuck und das Hüftband, zu dem sie den Symbionten geformt hatte, wurde Lilith schließlich hinausgeführt – aus dem Bad und dann aus dem Palast. »Wohin gehen wir?« wollte Lilith wissen. Zapata streckte den Arm aus, und Liliths Blick folgte ihm. Er deutete auf eine Stufenpyramide, zu deren Spitze eine steile Treppe emporführte.
»Zum Heiligtum«, sagte Zapata.
* Absonderliche Figuren flankierten den Weg zur Pyramidenspitze – in Stein gemeißelte Schlangen und andere Tiere, Darstellungen von Menschen, die ganze Geschichten erzählten, wenn man sich in sie vertiefte, und dazwischen beschreibende Texte. Aber Lilith hatte für all das kaum einen Blick übrig. Sie konzentrierte sich ganz auf das, was Zapata »Heiligtum« genannt hatte. Erst nachdem sie die Hälfte der Stufen erklommen hatten, erkannte Lilith, daß sich auf der Spitze der Pyramide noch etwas befand; es erinnerte an eine Hütte mit mehreren Türöffnungen und stark geneigtem Dach. Und obwohl es harmlos wirkte, weckte sein Anblick in Lilith ein ungutes Gefühl … Als sie die Treppe fast schon hinter sich hatte, sah Lilith auch die Gestalten, die dort oben auf sie warteten. Landru befand sich unter ihnen, aber er war der einzige, den sie erkannte. Die anderen trugen aufwendig verzierte Gewänder und Masken, die furchterregende Fratzen zeigten und teils mit Federn geschmückt waren. Und dann war da noch – »Was hat das alles zu bedeuten?« wandte Lilith sich an Landru. Ihre Handbewegung schloß alles ringsum mit ein – – auch die junge Frau, deren nackter Leib über und über bemalt war und die ausgestreckt auf einem Steinblock lag, der Lilith an einen Altar erinnerte. Landru hob beschwichtigend die Hände. »Unsere Kinder zelebrieren uns zu Ehren ein Willkommensritual«, sagte er lächelnd. Lilith sah sich unbehaglich um. »Was immer es wird, es scheint mir – barbarisch.« »Nicht doch«, wehrte Landru ab. »Es ist Teil ihrer Kultur, der Ge-
schichte ihres Volkes.« Sein Blick fiel wie zufällig auf die Nackte. Lilith bemerkte, daß der Blick der jungen Frau geradezu hündisch ergeben an Landru hing. »Was hat sie damit zu tun?« fragte Lilith lahm. Sie ahnte die Antwort. Und irrte sich nicht. »Sie ist das Opfer, das uns dargebracht wird«, erklärte Landru. »Das heißt, sie werden das Mädchen – töten?« Landru schüttelte den Kopf. »Nein.« Lilith spürte vage Erleichterung in sich aufsteigen, doch Landrus nächste Worte machten sie nicht nur zunichte, sondern erfüllten sie im gleichen Zuge auch mit eisigem Entsetzen. »Du wirst sie töten!« Seine Hand verschwand hinter seinem Rücken und kam dann mit einem schwarzen Dolch wieder zum Vorschein. Er reichte Lilith die Waffe. »Schneide ihr das Herz aus der Brust«, verlangte er kalt lächelnd. ENDE des ersten Teils
Der Fluch des Blutes von Timothy Stahl Landrus perfider Plan scheint aufzugehen – ein Plan, der aus seiner ärgsten Todfeindin eine Schwester und Verbündete macht! Ohne Erinnerung an ihre frühere Identität ist Lilith ihm vollständig ausgeliefert. Landru schafft sie zu einer Vampirsippe, die ihm treu ergeben ist. Dort soll Liliths Dasein einen neuen, bösen Sinn erhalten, soll sie entgegen ihrem wahren Wesen das Leben einer echten Vampirin führen: grausam, brutal und erbarmungslos. Der Fluch des Blutes entfaltet seine unheilige Wirkung und erschafft eine Lilith Eden, wie es sie nie gegeben hat. Doch nicht alle Mitglieder ihren neuen »Familie« sind ihr wohlgesonnen …